Skip to main content

Full text of "Staats- und Gesellschaftslexikon / 22. Wein bis Ziegler"

See other formats




Google 





This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 


It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear ın this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google ıs proud to partner with lıbraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 


We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance ın Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 


atihttp: //books.gooqle.com/ 





Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen ın den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google ım 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 





Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun Öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ıst. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 


Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die ım Originalband enthalten sind, finden sich auch ın dieser Datei — eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 





Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 


Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 








+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ıst, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 











+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sıe das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer ın anderen Ländern Öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es ın jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 


Über Google Buchsuche 





Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 


Den gesamten Buchtext können Sie ım Internet unter|lhttp: //books.google.comldurchsuchen. 





j , 2 , vr —E —8—— war. n, er, 2 R =. Zn 2: EN NS "Ir. NOS FREE 27 RN iR a, ‚L BE X ‚|. zen om ** * v., * F * 8 "TT RXx 24* 5X 
DER ZIEH SI N a NT DIDI DI DZ a! EN 43 I 4 F > TE, N, | SS, Ss a, STZISN. ES Z 
u a RN NT a Da Fur FRE FRI EST, DD, S AS as) as) 70, a — — 

Ss | THESE TITEL T SED, N ZN u RS a, 7a N S- ESS : 
& 0 $. NN SI REN LEN N Er: N ZEN 22 SD, 7% SI [7 NS — N 4 * — E “— — FE x | SIE. SS, N Zn NS 77 SI 2 SI ZB NS 
N. FR 8 SIE, —— — — — —— y ⏑— — TR 
—— — SL; * —“ ER SEEN. z, EN A, NM, MS Lin; —— SS Zr “L BL I FRN_ — — — To. 2, RS ENIEITR 
DE Si. DENN ze DI DIEFDIEANS 7 BR San — — — AR? >, a1 ZN DS ZA | 2 
FISCHE CH EHE HE, TRETEN SLSCHCHERETTEN 
HET ST SM Sn nn 8 Dr) SD: ra a re | ee II SH St IUTIRET ZART ZI ZA 
N De, Dr I uns aD u \ FEN a | FR HE TEL, T SS TS >28 Z2)DZIR 
SITE ECHEHE HEISS DIS SE 1, Sa NISCNEZ * ZI + < + S 
— EN Pi — 2. >. Der OD ⏑— ur >—t — ⏑— ⏑⏑— 


2 > 


* 
7 ISSN 


7 2 . 2 IS ZI j * N 

er, ' SS IA | BIS Er \ SI un NS en, \ II wi ' NS z,) NS ur Vs? N ZH II j * SS . 2 N % * 3 *4 "ER * rn Gen PER DENN 775 fi R \ 7 N 2 — 
EDIT SD Da DES TS TS TEL TS N RAZZIA DEZ! DI + S 
— nn * — ** En CE RZ 5 3 — Zu ER ,) ER =» —— en I, N 27 N | KIN es L le N IN 4. RI . er 2. ng R> ng NS on, ⁊ N ZB N Gy II D, SS 
—8— an — IT RI HEN 5 ST SCHHEILTAR S 
DIESEN 
SISTSFTIE SESTEHEHENS, | 


. J x. 
‘7 Q 2 . —8 —2 — Ne SEN DIS ID N j f 
2 2 R TE. ” . RICH SET E07 I Ze a) ZeN_ 
un aD ARD. SS Eu “a SI ZsT | 7 Se KL N 2:3 63 N — BT SB TS 
TEN ERS, TERN ———— —ñ — F — Den ——⸗ 7 TS tr SZ, T SS N Z9 START 
Ar Kun. Due * N r ’ - N 67 / | r 


©. 
rn 
LS 
#4 IS 1% 
SS, | 
S BG N 
2 * 
N 
SB, N 
SEN 
, ss A 
, N Ar 
Te] 
N S X 
AR 
S 7 
dr — 22 
NZ, Ts 
S — 
SIT 
ZI 


\ — EN - \ \ , Na FRENS Su / + — 
——— Fl 8. ZB REN ZEN 77 IST SONS N TER: 
Er RR 6 wu, EIS 7 RS EN I \ m “Ey NSS 27 SI . N N or, SI 72 N \ ZEN . —— — Dan RG Nie — + Sr; ö SI 272, \ F J * II 7 SI 

2 NN PP ABER ENN —8 A *8 f , ß . EU CHE, A . * — : ⸗ n 2: N —— E ru 1 EN“ * 
N —— — — tt — une” 7 My SITE SD wol ! ZN | Ze L7 7 N 


ST un Ne RD Nr SS ; —8 >“ SD PN, 
7 J fi s * — r N 2 
N Dr — — — SP ar SIE, | SO 1 Ir N en I iD: — 
u N N SI a Sr N N u a N FD —— ! 
ar ZEN Ze N ZEIT — au Fr u une 
“ & N EN — — —— & — ——2— Na —W N $ ANA N fi N {7 N 0 
SP. S 


> 4 « 


X Fe Rs BET SITE 7 „ISD. 2 non "or SI > | 7% RS 177 N — S j 7 LEN J IN 
- en — 7 * F J J 7 N 27 EN N u . N IN 8 uf x - NN A —X Wi a a Den 
; ; RR \ “ N .. N ARFBIENS BEN EN | L N | ‚ IN Zn RS D N Y UN \ 7 —8 — Hy, N 7 N Hl IN i N N il N , ‚ 
. 4 il N N mn 7 N j) "Y —* 8 “ To. 
' 'T f ‘ VAR) * 9 AN N N 2 N — N — N Ar AN dJe —8 30 — J' N I N 
j " NN ff NN N N \ —89— er . MEER N '\ NW \ Y NS MAR ' 
IL OR AR Ar ar AR 








N f 


INN DAR. 


— 
Zr N 
ZZ 
= 
ZH 
ICH 
—— 
SITE 
GL 
zZ 
SI 
2 
SI 
SS 
TS 
I 


Ge 
> 
2 
1 


I 


GG 
FE 
—— 


f 
⸗ 
r 


} MR 
— non SH X $ 
5 8 N u ih RR \ NY, | \ h 
ui * \ 





J N N N u , vr SH ’ ’ 
Bu NZ , ; Na Ma | ON W⸗ | 
Y! * SH > \ $ $ Yu & NER a | N dh, \ IN 9,8 2, S 1) 
Nu J 8 N j N 4J ı Ay | : fi. N ; F N ‘ Ih, N 7 BR — * — 7 
ZN ARNSLEHRNSNDHERN Sr NAAR 2 S 1% N KIND Wo S * > | STAR 


2 

N 

7 

8 

+ 

©; 
- 7 Ps 
SI 
— 

—S 

——— 


EN 
% 
& 
® 
N — 
7 
— — 
N SL 
N 
SI 
N 


AR 
* —1 
— x 
SD 

— 

— S 


FE 


[1 7 h \ 7 AN 

NEN X N 
yı j W M 
y —M * rn \ . R 277 * II 7 J mo 
—— T, N. SH N 7 N ZA N 7 N * —8 ® — AR f —“ 
U ‘ N \ ft \ 0 \\ , 9 / N " . ! N 0 N \ IN ' | ; " fl j — ZT 7 : 
—M X—— , DANSK N Du N I a N 7 Fe T 
ERLERNTE TS ZINK ID RAR — 
ER \ a u Y | * A ‚ a ı \ Eh : 8 dl: N fl 8 \ 2 INS \ r, N ‘ / ” —* 2 T 
INN Te RN u | N, N $ 8 N 9 N dh N + N — — 
I N ef: N 


ZN‘ . N 2 - I N ar B NN ⸗ —X [) ! RN \ fi N 


— 5. N N N \ \ 7 
EN , EN \ S sl: -& 2 N 4 ASS. Gr, N 27 N N RS Dr N |” 
* N a A ee Tr BL; | ET Fu — * SZ, | 
ur — — N u N 277 NS ar N 22 N Z —8 SL GG N N 77 SI . 
v . \ _ * 














2 
Re 


S 








sl 


INT. 1 88 ED GA, N 





/ RENTE SE en uk 
NIE. N — T 8 5 N 
1 ‚ fi n h * r Fa ü - 2 7 vn F / N 
. P} y ' 7 N . u } J —F * % 
Au —— ne DE RR RA NN 
x 7 N —* Sn” GER f} 


— ENG 
INN vr " 
ä N 17 
— —8 
4 de > * 
B “ u 


* ’ \ ’a" 4 
—3 % 4 * v 5 
.. A . + , f b . « - 
R * u Br En — I 
7 X 
. Yon , . BE ut . TER > 2 ! “ 
’ . } ’ . r , * 2 vo . us 3 
DR N BR NEE AEG N nn “ . 4 
’ ’ ’ . - BE : B z — N Ay 
‘ ‘ , Pan A Ri A, * 2 — J 
” . 4 IJ * rn. X en a‘, . DA & th 
L 3 ’ : Tr le N MELLE fi Ar 
” u ’ y 4 . — 3 —8 Sf 
Seh . u & . , a ,r. BT ’ Br 5 
BE SUN ie ur , . . „ef . ; 
. ‘ * ef r 
ı Sr . \ DER N A N‘ S . , . h r N 
. nu: Zn . ' Ne 1) .. PR — 9 
u 2* —* - ‚ 47 « KR) RG 
re D R — Ian — an - on . ur 
or “ ‘ . ; u ’ j Era] * DR Ay N ud v ß R) 
er ji . . ni a FE Rr N A —— Pr 
". \ . J r J ‘ B ‘ Er rn 
. u B B . . f — * 
‘ 5 \ 5 A 2 . 5 \ . ” A J 
* J - 5 — an 7 ‘ I 
‘ ’, Br „’ rn 220 ET 20 J Bu Kur , et — Bar 22 et. we va i B . nn 
Eye Den on a GEBE E, We " - 2 “ ; “ ” fi . rer r DR —8 
" tr, ge) on . r 7 . x B Eu . Yan in " 4 ‘ Da - 
5 . h ’ 24, s —9 J ZT * —8 er [EFT EN m. . . “ nt 8 
F 4 “ ‘ r) EEE PP Vz * 8 IN x an * ir % > ip . 
“ , — Er ur le . u j a DEN a F* J ER, — 
Fer , ER Paz iM ——— * — — * 
Be Fon: h . 4 X —9— — Pa R un 
. — 4 * Fo 4 PN . 
r REN . x u: . . Fa 
” pr ” i " u j Far 4 r 


\ + 
' NZ } v. 
a N ‘ d: D ‚ AN ’ N N N ! ‘ in 1, 8 . 
rn N \ . N, nahe —*— ao N Br, N “a N A 
S RN RR FEN ZAR 
’ F “ir . 









2 Da “ ZN 

















x 
8 
Nr 














‘ 


NEE — — 


N 








\ f , 
\ " "jr j U 
. de we 
j . nf 5. A B — ' 
\ " «WG, N 
j 2 FR CHE si R 
} . . fr — — 
* AL n \ \ 7 N x 
N “ * 
9 
de V 
—— % AN \ 
OR 0 . 
. ni ! ‘ 4 8 
\ 5: IR N 
\ bi 
p 5 2 7 
I d 2 
.r 


! 
’ 
rn R 


—T2 — * 








Neues Eonverfationg-Lerifon. 


—— 


Stants- 
Ge ellfchafts - Serikon. 


— — —— — — — 








In Verbindung mit deutſchen Gelehrten und Staatsmaͤnnern 
herauſsgegeben 


von 


Herrmann Wagener, 
Koͤnigl. Preuß. Juſtizrath. 


Siebenzehnter Band. 
Nefugies bis Saint: Simon. 





Berlin. 
% Seinide. 
1864. 


AE 
on 
ad 
Sso 
V. N 
erg! 


Meingied Heißen die franzäflfchen Galviniften, die in Folge ber religiöfen Ge⸗ 
walimaßregeln Ludwig's XIV. zu drei verfchiedenen Zeiten ihr Vaterland verließen: 
1) vor der Aufhebung des Edicts von Nantes in Meinerer Zahl; 2) unmittelbar 
nachher; 3) nach. der Einverleibung des Fürſtenthums Orange in Frankreich. Die 
gefammie Auswanderung wird auch dfterd mit dem in dieſem Sinne nicht franzoͤſtſch 
gebräuchlichen Worte als le röfuge bezeichnet, und die calviniflifche Diaspora l'eglise 
du refuge oder (freilich ſeht unelgentlich) leglise du desert genannt. Die vor dem 
Ediet Ausgemanderten gingen meiſt nah Holland, England und nach Genf. In er« 
flerem Lande beflanden fchon feit 1578 wallonifch-caloiniftifche Eolonieen, welche die 
Ankommenden zunääft aufnahmen. Ueberall erhielten fie Bürgerrecht und Abgaben- 
freiheit. In Amfterdam war ihre Zahl fo groß und ihre Thätigkeit fo erfolgreich, 
daß einer ihrer Prediger Scion in einem hoͤchſt merfwürbigen an Bürgermeifter und 
Rath gerichteten Briefe rühmend hervorhob, „durch ihren Einzug fei Amſterdam einem 
zweiten Tyrus gleich geworden". Bon Holland aus fegelten auch 84 Familien nad 
dem Gap und gründeten bie noch heute mit A000 Seelen blühenden drei Dörfer in 
„dem Thal der Sranzofen”, 9 Meilen nörbli von der Gapftadt, wo zuerfl von ihnen 
die Eonflantia-Traube gezogen wurde. In Genf beftand fchon feit 1585 die von 
David de Bufancon gegründete Bourse frangaise, an bie ſich die Bedraͤngten anleh« 
nen Fonntn. In England mußte Karl II. trog feiner Abhängigkeit von Ludwig fie 
gewähren laffen. Auf diefe kleineren Eolonieen folgte Im Winter 1685—86 ber 
Hauptſtrom der Auswanderer. Das Revocations⸗Edict vom October 1685 feste in 
elf Artikeln feR, daß im Haufe der Seigneurs fowohl als der Bauern calviniftifche 
Religionsübung verboten fei; daß den Pfarrern, die ſich nicht befehren wollten, 
eine vierzehntägige Brit zum Auswandern geflattet, jede fernere Amtshandlung aber 
bei Saleerenftrafe verboten fei._ Wollten fie ſich bekehren, fo follten fie ihre Privi⸗ 
legien behalten und, falls fle die Rechte ſtudiren wollten, vom Triennium abfolvirt 
fein. Alle Kinder der Calviniſten follten nur katholiſch getauft werben; reformirter 
Schulunterricht wurde bei 500 Livres Strafe verboten; Auswanderung der Laien 
mit Saleerenfirafe bedroht, und die Einleitung erörterte, daß Heinrih IV. das Edict 
von Nantes gegeben babe, um zunaächſt Frieden zu fchaffen, um dann aber die Ab- 
trünnigen der Kirche wieder gewinnen zu können. Er fowohl, wie fein Nachfolger 
felen, der erflere durch feinen Tod und ber letztere durch die Unruhen während feiner 
Megierung daran verhindert worden; die von 16351684 gegen die Galviniften er⸗ 
griffenen Maßregeln fönnten jegt, wo Ruhe fei, zum Abſchluß kommen, damit binfüro 
jede Spur von Anarchie im Reich verfchwinde. Linterzeichnet waren Le Tellier und 
Colbert. Die Emigration, wohl nicht ernftlich gehemmt, wandte fich, je nachdem fte 
einen politifchen Charakter hatte, oder: nur religidfer und bürgerlicher Eriftenz galt, 
nad) verfhiedenen Ricytungen. Die politifche nach Holland, England und der Schweiz, 
vorzugsweiſe aber nach dem erſten Lande; hierher ging auch der reiche Theil der Aus⸗ 
wanderer. Die ärmeren und indifferenten Beftandtheile wurben durch die Rage ihrer Wohn⸗ 
orte beſtimmt. So wurde die Schweiz erfler Stützpunkt der Südfranzofer und Durchgangs- 
ort nach Brandenburg, während bie von Oſten fich größtentheild in der Pfalz nieberließen. 
Ihre Sache wurde Sache aller proteftantifchen Hauptmächte. Wohl niemals hat eine 
fläddtige fo große Genoſſenſchaft gaftlichere Aufnahme gefunden. Die Gründe waren 
einmal fyumpathetifch-religiöfe, wie beſonders in der Schweiz und auch in Holland 
und Brandenburg; ober volkewirthſchaftliche in Rändern, welche, rein aderbauend, 


Wagener, Stastte u. Geſellſch⸗ex. AVI. 1 


2 Neingied. (In Holland.) 


eined ergänzenden induftriellen Elements beburften, wie ganz vorzüglih Brandenburg. 
Denn Induftrie im weiteften Bereich war der Berufokreis der AR. gemorden, und nature 
gemäß geworden, weil ihre Religion die talentvollen Bürgerligen von aller Betheili- 
gung am Staate ausfchloß. Und vom hoben und niederen Adel, der fie einft führte, 
gehörten ihnen nur Wenige noch an. Die Meiftlen waren convertirt. Die Gefammt« 
zahl wird verfchieden angegeben. Nah Holland mögen fih, nach Bayle's Schägung, 
55—75,000, nach der Schweiz, einfchließlic der Hier zuerfi Halt machenden Walden- 
fer, 25,000, nach Deutfchland 25,000, und zwar nach Brandenburg allein etwa 18,000 
gewendet haben, worunter Die auß der Schweiz 1698 eintreffenden Waldenfer mitbe- 
griffen find. Die englifche Einwanderung, fo wie Eleine Züge nach Dänemark und Ruß⸗ 
land fommen weniger in Betracht. Holland wurde zunächft der wichtigſte Stüßpunft für 
ihre politifhen Beftrebungen und von Baple „la grande arche des fugitifs“ genannt. 
Hierher hatten fich Die meiften Ebdelleute und allein 250 Prediger, darunter die Säulen 
der Gemeinde, geflüchtet, zu denen fi bald auch aus Brandenburg ber berühmte 
Marſchall Schomberg Hinzugefellte; Wilhelm von Dranien waren ſte willkommen. 
Er umgab ſich mit calvinifchen Predigern, nahm die Epelleute in Die Armee auf unb 
fand an dieſen und jenen willige Helfer in feinen Plänen gegen Frankreich. NRüd- 
£ehr und Weflitution waren die Hoffnungen der Meformirten, aber fle wollten zurüd« 
ehren nicht als ſich Umfländen fügende Bürger, ſondern als fich auf einen Mechtätitel 
flügende Privilegirte. Die Bedenken der Evelleute, ob es anginge, gegen das Hei⸗ 
mathsland zu Fämpfen, führten zunächft zu Duellen und Zwifl, bis die Eidesleiſtung 
an den Statthalter fie loͤſte. Die Prediger fchrieben und prebigten gegen den König, 
wie Saurin, der audrief, „daß er auf ihn, den er einft als feinen Fürſten ehrte, jetzt 
binblide als auf eine Geißel Gottes”; oder wie Glaube, der prophetiſch fchrieb, 
„Daß der franzöflfche Staat durch und durch von demſelben Stoß durchbohrt fei, ber 
die Proteftanten getroffen, und daß der Widerruf des Edicts nichts in Frankreich 
feft und heilig laſſe“ (Plainte des protestants), ober wie Jurien, ber gegen Ludwig's 
befannten Sag aufflellte, „daß die Könige für die Völker und nicht die Völker für die 
Könige gemacht fein" (Les soupirs de la France), So Gruridfäge vertretend und 
fampfbereit, verfubren fie zugleich praktiſch⸗diplomatiſch. Sie flanden nicht an, in dem 
Zwielpalt zwifchen den Generalflaaten und Wilhelm auf die Seite des Letzteren zu 
treten. „Ich bin genöthigt, Ew. Majeftät zu fchreiben, daß fehr zu befürchten ift, 
daß der Prinz von Oranien in den Generalflasten die Hülfe finden wird, Die er 
eigentlich nicht Haben jollte. Aber er Hat fi fo gut des Vorwandes ber Religion 
bedient, und die Flüchtigen aus Brankrei haben die Calviniſten dieſes Landes fo 
aufgeregt, daß man fich nicht verfprechen darf, daß bie Staaten ihre wirklichen Inter» 
efien im Auge behalten können, wie fie fonft gethban haben würden.” (Depefche des 
Botſchafters d'Aavaux an Ludwig, 10. Juni 1688.) ine andere Depeſche deflelben 
nimmt von der Thatfache Notiz, daß die Anleihe von 400,000 Flor. zur Befefligung 
Amſterdams, die nach der Beflimmung der Wilhelm mit Mecht mißtrauenden General» 
flaaten nur in Raten von 100,000 aufgenommen werden follte, nur dur Die Bes 
tbeiligung der R., binnen wenigen Tagen gedeckt war. (Weiß, Histoire des r&fugies, 
1. 40 und 43.) Diefe Verbindung mußte fie auch nothwendig gegen Jakob II. füh- 
en, obgleich fte feinen Schug genofien hatten. So ficht denn Schomberg an Wil⸗ 
helm's Seite in Irland gegen Jakob und fällt am Fluſſe Boyne, und Abbadie ver- 
öffentlicht feine döfense de la nation britannique. In den Kriegen gegen Frankreich 
bis zu den Briedensfchlüffen von Ryswick (1697) und Utrecht (1713) haben die R. 
in englifchen, Holländifchen und brandenburgifchen Heeren gefochten. Der letzte Briede 
madhte dann ihren Nüdkehröhoffnungen für immer ein Ende. Es war natürlich, daß 
Ludwig XIV. mit Ernft jeden Interventionsverfuch zu Gunſten erklärter Feinde zurüd- 
wies. So blieben fie denn in Holland und bewiefen, was Scion in jenem Briefe 
von ihnen gerühmt hatte, daß „fle ſich mit folcher Leichtigkeit an die Luft und bie 
Sprache des Landes gewöhnten, ald wenn fie aus ihm gebürtig wären.” Die große 
Maſſe von Intelligenz und Reichthum, die fle hier vor ihren Lanböleuten In andern 
Ländern auszeichnete, hatte im Zufammenhange mit jenen Veflrebungen von vorn her⸗ 
“in intenfivere Wirkungen erzeugt, als fonft von Ihnen kund geworben. Außer den 


— — — — — 


Due een — — 


Nefugles. (In Deutſchland.) 3 
großen Rednern Saurin und Claude lebte bier Badnage, der als Diplomat, Apologet 


‚und Geifllicher wirkte, und vor Allem Bayle. Es bildeten fi Parteien, wie Bayle 


denn naturgemäß mit der Mehrzahl der Theologen zerfallen mußte. Ihnen mißftel 
feine Dectrin und ihm ihr anfpruchdvolles Weſen. In einem wohl von ihm her- 
sübrenden Pamphlet: Avis aux refugies sur leur prochain retour en France, 1690, 
rieth er den Geißlichen, „fie möchten ein Weniged von dem fatprifchen Geiſt 
und Ihrem Mepublifanertbum ablaffen, dann würden fie willfommen fein." Bon bier 
aus wurden die religidfen Schwankungen in Frankreich bewacht und vorzügli Bofiuet 
wegen feiner histoire des variations des églises protestahtes befämpft. Hier er- 
ſchienen endlich von dem Mefugis Etienne Lucas herausgegeben die Gazette de Leyde 
und 1684, als Nachbildung des Journal des Savans, bie Nouvelles de la Republique 
de letires. Calviniſtiſche Buchhändler übernahmen den Berlag aller von Franzoſen 
geichriebenen, aber in Frankreich nicht druckbaren Schriften und importirten fie ein. 
Handel und Gewerbe, beſonders der Handel, wurden in Amflervam und Rotterdam, 
Gewerbe in legterer Stadt und in Harlem ausgeübt. In Amſterdam allein wohnten 
15,000 R. mit 16 Predigern. Wan berechnete, daß bis 1709 1,400,000 Florin von 
R. geerbt worden feien. Doc hörte die Blüthe ber Fabriken auf, fobald die Pri-⸗ 
dilegien erlofchen, die überhaupt in dem Lande des Handels nicht dauern Eonnten. 
Das reihe Holland hatte. andere Interefien ald Brandenburg, und fo waren die Be- 
bingungen vorhanden, die nach glänzendem Anfang die Colonie fihnell mit der Menge 
der Bevölkerung verfchmolzen oder viele hinwegtrieben. Nach einem Jahrhundert war 
von 62 Kirchen die Hälfte verſchwunden. In der Schweiz hielten die R. die Ver⸗ 
bindung mit dem. Süden Frankreich noch einige Zeit aufreht. Die Hoffnung, Ihn 
zum Aufftande zu bringen, fcheiterte. Außerdem Tonnten die Genfer fle nicht fürbern 
wie fle wollten, weil Ludwig XIV. mehrfach mit Abfchneidung der Kornausfuhr drohte. 
Die Schmelz blieb alfo vorzugswelfe Durchgangsort. Die im Waadtlande anfäffigen 
5000 Waldenjer verfuchten unter Arnauld bewaffnete Rückkehr nach Savohen und 
gingen, als fie mißlang, 1699 nach Deutfchland, wohin auch ein Jahr vorher bie 
Durch den franzöflichen Raubkrieg aus der Pfalz Vertriebenen größtentheil® pilger⸗ 
ten. Die erfie Golonie im großen Maßſtabe hatte bier Friedrich Wilhelm fogleidy 
nach der Aufhebung herberufen. Es waren befonderd Süd⸗ und Nord» Branzofen. 
Das Edict von Potsdam vom 29. October des Jahres verkündet: daß der Kurfürft 
denen, die unglüdlid; fir dad Evangelium und die Reinheit des Bekenntniſſes leiden, 
eine ſichere und freie Stätte in allen Landestbeilen fichern, Freiheiten, Rechte und 
Vortheile bewilligen wolle. Den aus Holland Herziehenden wird freie Fahrt bis Ham- 
burg bewilligt; den aus dem Süden Kommenden Branffurt a M. als Sammelplag 
angemwiefen, von wo fie über Gleve nach dem Oſten dirigirt werben. Käufer, Die 
baufällig ſeien und die die Beflger nicht audbeflern könnten, würden ihnen übergeben 
und das Baumaterial umfonft geliefert werden. Solche follte jechdjähriger, von 
unten auf bauende zehnjähriger Steueterlaß begünfligen. Bürger» und Innungdrechte 
ſollten gratis verliehen, Geld, Borrätde, Werkzeuge, Land gegeben, Schußzölle 
nah Wunf eingeführt, endlich ein nationaled Schiedbögericht geftiftet werben. 
Bewilligungen, die gegen die Berhältniffe und Audfichten des Eatholifchen Landbauers 
und Arbeiter in Frankreich gehalten, ja verglichen mit Der Lage der Brandenburger, 
die nicht wie die Holländer vollffändig unberührbar Durch folche Privilegien daſtanden, 
obgleich fle bald nachher ihnen feld wieder zu Gute kamen, außerorbentlich zu nennen 
And, und Die heutigen calviniflifch-franzöflichen Gefchichtöfchreiber, wenn ſie jenen Aus⸗ 
bind der l'eglise du desert gebrauchen, veranlaffen müßten, die brandenburgifche Ab- 
theilung als die l’eglise de l'oase abzufondern. Taufende gerade der Aermften folgten 
den Aufruf des Fürſten. Die Neifeloften bezahlte er felbft aus feiner Schatulle. 
Das baare nicht verwendbare Geld nahm er In den Schag und verzinfte ed bis 8 p&t. 
mit breismonatlicher Kündigung. Der von ben abligen Offizieren und Beamten im 
Bereich des ganzen Nöfuge zur Beihülfe geftiiteten chambre du sol pour livre, d. h. 
einer Kaſſe, in die Jeder den 20. Theil feines Gehaltd einzahlte, wies ex alle ein- 
fommenden Strafgelder zu. Ganz arme Arbeiter erhielten «2 Sgr. täglih. Die Be⸗ 
hörben wurden ſogleich formirt. Joſeph Ancillon wurde juge de tous les Frangais; 
1* 


4 Refugled. (In Brandenburg.) 


fein Bruder Charles juge et directeur des Frangais domicilies à ‚Berlin; außerdem 
behielt jede einzelne Emigration ihren Chef. So die aus Mek David Ancillon, einen 
Pfarrer; die aus Isle de Brance den Grafen Beauveau Seigneur d'Eopenſes; Die 
aus Anjou und Poitou den Glaube du Bellay Seigneur d'Anch; die aus ber 
Champagne den Henri de Briquemault Baron de Saint- Onge; die aus Bearn den 
Prediger Abbadie; Hofprediger wurde Baultier de Saint» Blancard. Der Adel trat 
in die Armee ein mit dem franzoͤſtſchen Mange und noch höherem Gehalt und bildete 
fünf größtentbeild aus R. beſtehende Regimenter; die Junker traten zu vier Cadetten⸗ 
Eompagnieen zufanmen. Die Compagnie des grands mousquelaires befand aus« 
ſchließlich aus franzöftfchen Epdelleuten. An die Spige der Armee trat auf furze Zeit 
Schomberg ald Generaliffimus; zugleich wurde er Gouverneur von Preußen. 
Der Gewerbe treibende Theil der Einwanderer ließ fih in der Hauptmenge zu Berlin 
(10,000 Köpfe) nieder; die übrigen vertheilten fi auf Magdeburg, Frankfurt a. D., 
Prenzlau, Schwedt, Koͤnigsberg und Halle. Die Papier⸗ und Tapetenfabrikation, 
die Scharlachfärberei, Weißgerberei, Handſchuhfabrikation, Knopfmacherei, Deftillation, 
Steinfchneide>s und Juwelierkunſt, Seiden- und Bandmeberei, der feine Brauenpuß 
find von ihnen eingeführt; die Lohgerberei, Glas⸗,, Strumpf⸗, Hut-, Licht, Del», 
Wollenwaaren⸗, Eifen« und Chofoladefabrifation von ihnen wefentlich verbeffert wor⸗ 
den. Daß erfle Hotel, die Einführung des Lombarbinftituts rühren von ihnen ber. 
Mie noch heut die Namen Ravene, d'Heureuſe, Humbert, Demeffleur, Godet, Babain, 
Gillet, Baudouin einzelne diefer Richtungen mit Ruhm vertreten. In allen dieſen Din« 
gen find fle unfere, dafür auch gut belohnten, Xehrmeifter gewefen. Jene ſie privile- 
girenden und fhügenden Maßregeln gipfelten 1687 in einem @infuhrverbot aller frem⸗ 
den Wollenwaaren; und 1712 wurde der Ertrag des neu eingeführten Titelfaufs zur 
Stiftung einer Wanufacturenkaffe verwendet, wie überhaupt das ganze Fabrikweſen 
von einem aud ihrer Mitte genommenen Inspecteur general beherrfht wurde. Bon 
den cultivateurs faßen beſonders Gaͤrtner zu Berlin, die vorzüglich Blumen und feine 
Gemüfe zogen und (3. B. die Artifhoden und den Blumenkohl) einführten (Wein⸗ 
bau Hatten fie auch Im Baterlande weniger geliebt), und die Kunſt des Pfropfens 
übten zuerft erfolgreich Die Bouche, Matthieu, Nicolas. In ihren zahlreichen, vielfach 
noch blühenden Zweigen wurden fie mit Recht nad, Sitte und Leiftung einfl von einem 
Mitgliede des Herrenhaufes als ein gärtnerifcher Adel angeführt. Aderbauer faßen 
in den Flecken und Dörfern der Udermarf, im Magdeburgifchen, und um Ruppin, Die 
den Taback acclimatifirten. Konnten fle Hier nun überall ihrer Gonflfioriale und Aels 
teftien- Berfaffung gemäß ungeflört.und geachtet leben, fo geſchah durch die Stiftung 
des college frangais ein weiterer Schritt, fie als Benoflenfchaft beifammen zu halten, 
da bier nur in franzöflfcher Sprache gelehrt werden follte. Der Einfluß der Gemahlin 
Friedrich's I. und ihre Titerarifchen Neigungen befefligten auch den ber Intelligenz leben⸗ 
den Theil der R. im Staate. Als 1700 die Akademie geftiftet wurde, zog Leibnig Char⸗ 
led Ancillon und den Sieur Lacroze hinzu, und 8 M. befanden ſich unter den erften 
Mitgliedern. Die höchſte Steigerung ihres Einfluffes iſt audgebrüdt in der Ein⸗ 
führung der franzöflfhen Sprache in die Verhandlungen diefer Körperichaft, mög- 
li auf die Dauer duch die franzöflihen Neigungen Friedrich's des Gro⸗ 
Ben; nit durch die Bedeutung der fchönen oder wiffenfchaftliden Leiſtungen 
der R. Ja man Fann ohne Ueberhebung fagen, daß Fein einziger bis zum Ableben 
Friedrich's des Großen im äftbetifchen Bebiet etwas geleiftet bat, das fih nur ſelbſt 
mit den ſchwaͤcheren Erfolgen der ringenden beutichen Literatur vergleichen ließe. Sie 
haben weder einen Ramler, noch einen Gottſched geftellt, fo wenig wie fie auf dem 
eracten Gebiet im Verhaͤltniß ihrer Stellung Größen erzeugten. Sie Tonnten eben 
mit einer ererbten eleganten Sprache literariſch verfahren, nicht aber fle im @eifte 
ihrer großen Vorfahren kraftvoll entwideln. Und felbft jene Glaffleität der Form 
ging früh verloren, fel&ft in Holland, wo ihre Gaparitäten dicht verfammelt waren. 
Schon 1691 warnte Racine vor dem „Irangais refugie*, und Boltaire fpricht nur 
Baple davon frei (f. Weiß 1, ©. 94 ff.). Doc gehalten vom Könige und geflügt 
durch Die Achtung gebletende Pofltion ihrer Landsleute des Mittelſtandes konnten fie 
als führende Potenzen Einfluß behalten, bis die Thronbeſteigung Friedrich Wilhelm’ II. 


Nöfugied. (In Berlin.) 5 


and die Revolution die deutfche Sprache und Leiflung in ihr Mecht einfegten. Als 
Geſammtvertretung des für fie im 18. Jahrhundert Erreichbaren mögen bie eklektifchen 
Schriften Ancillon's (ſ. d. Art.) dienen; eined Mannes, der auch In fofern be- 
zeihuend für biefen Theil der R. ift, als er, wie einft Basnage in Holland, in ber 
Gigenfhaft ale Geiſtlicher, Diplomat und philofophirender Schriftfieller vor uns 
erſcheint. Konnen wir alfo die Stellung dieſer Mitglieder der Golonie in Zeiten, 
Die einen Leſſing nad Berlin führten, nicht für berechtigt halten, fo gebietet die Wirk⸗ 
famfeit jenes Mittelkandes der R. um fo mehr unbedingte Anerkennung. Die R. 
in Berlin und anderwaͤrts conflitwirten ein ganz ausgezeichnetes Bürgertbum; ein 
Bürgertbum, das mit Einficht erwarb und dennoch durch patriarchalifche Sitte leuch⸗ 
wie und, obgleich in Kirche umd Bemeindeverwaltung getrennt, mit dem beutfchen 
Bürgerthum ſich als ein Ganzes fühlte, das Erfolge hatte als nothwendiges Ergebniß 
der Lebensmelfe, gewonnen durch Stetigkeit und Billigfeit, nicht aber durch einfeitige® 
Gebahren im Sinne von Hanſemann's Sprüchworte. Während fie nach Ancillon 
mit 50 Thalern der Einzelne eingewandert waren, bezeugten in den Stadttheilen 
Coͤlin und Werder ihre bürgerlich» Rattlichen Wohnhäufer und ihre wohlberufenen 
Sirmen, wie fie gearbeitet. Unbeneidet und hochgeachtet ging aus Ihnen ein charafter« 
volles bürgerlicheß Patriciat bervor, das bis vor 30 Jahren fihtbar führte. Ulle die 
nicht Wenigen, die mit Liebe des unpolirtern, aber gemüthlichern Berlins vor 1848 
fh erinnern, mit Bürgern, die befcheiden und nachbarlich lebten, von Gegenſätzen 
wicht bebrüdt wurden, als noch wahre Bildung mehr galt wie der Rod und Beutel, 
als man noch Sefhmad Fannte und die Bamilien bei aller Zurüdbaltung fi als 
Gruppen eines Allgemeinen zu betrachten mußten, alle diefe ſich Berlins fo Erinnernden 
werden ber franzöflihen Golonie als weſentlich Died Bild mitbeflimmend gedenken 
möflen. Bei den R. fand man der „Urväter Hausrath”, wie Heine fagt, und 
weyäterlicde Bravheit. Die brandenburgifchen Fürſten Hatten den R. diefe den Fürſten 
und dem fie gaſtlich empfangenden Volke Wort gehalten; fie Hatten ſich als ein wirf« 
lies Salz erwielen. 

Bon den übrigen reformirten Bolonieen find hervorzuheben die in Württemberg, mo 
3000 Waldenfer aus den in Frankreich enclavirten Thälern, Pragela und La Peroufe, die 
unter ihrem Führer Arnauld, „pasteur des Vaudois aussi bien que colonel“, vergeb⸗ 
lich von der Schweiz aus bewaffnete Rückkehr verjucht Hatten, bier nun 1699 ausge⸗ 
dehnte Privilegien erhielten. Sie ſiedelten im Schwarzwald an und ergänzten fid 
ans ichweizeriichen und walloniihen R. Im Schwarzwalde bewahrt das Dorf Men⸗ 
toule noch waldenſiſchen Namen und Sitten, die andern nur den Namen; ferner die 
in Heflen-Kaflel, mit etwa 3000 Köpfen einwandernd und in eigenthümlicher Weife 
Hinberufen. Der Landgraf ließ dem Herberufungs⸗Decret eine kurze Befchreibung des 
Landes beifügen, in der bemerkt war, „daß der Ausgangdzoll nur „tres peu de chose“ 
wäre, daß Seine Hoheit 31 Jahre alt fei, 4 Bringen und eine Prinzeifin habe, daß 
er ein wohlaffectionirter Herr gegen Fremde wäre, daß Kaffel Kontainen habe, und 
daß Bier und Speiſe dort billig fein". Gewiß ein lodender Auf. In Hejlen- 
Homburg fprechen 900 Einwohner der Eolonie Friedersdorf noch das Branzäflich der 
Zeit Ludwig's XIV. In Bremen und Hamburg geflattete das firenge Autheranerthum 
idnen feine Ausübung ihres Cultus. Nach Dänemark, Schweden und Rußland gingen 
bedeutend weniger; die meiften nach dem erflen Lande, wo noch heute in Jütland bei 
Sridericia ſich eine ganz gefchloffene Colonie deshalb erhielt, weil die Privilegien nicht 
Brivaten oder Gewerken, fondern nur der Golonie indgefamnit ertheilt waren. In 
Mußland fand der Graf Lazarde im erflen Viertel des Jahrhunderts an der Wolga 
ein Dorf von R., weldhe altfranzdfifche Kleidung trugen, während Mifflonäre, die um 
dieſelbe Zeit jene Colonie am Gap befuchten, außer der Erinnerung, aber einer heilig 
gepflegten Erinnerung, Nichts als erhalten wahrnahmen. 

Ziteratur: Benoit, histoire de la r&evocation de l’edit de Nantes. Drion, 
histoire de l’eglise protestante de France jusqu’a In r&vocation de l’edit de Nantes. 
2 vol. 1855. (Eine vollkändige urkundliche Chronik.) Smedley, history of the 
relormed religion in France. New-York 1834. Cocquerel, histoire de leglise du 
desert. (Paris, 1845.) Weiss, histoire des Refugiss protestans de France jusqu’ä 





6 Regalien. 


la révocation de l'édit de Nantes jusqu'à nos jours. Paris, 1833. Ein ſehr 
anziehend gefchriebenede Bud. Ancillon, Charles, histoire de l’etablissement des 
Frangais refugies en Brandebourg. Berlin, 1690. Erman et Reclam, m&moires 
pour servir à Uhistoire des Refugies dans les etats du Rci. Berlin, 9 vol., 1784 
—90. Bird, history of the foreign Protestants refugees. London, 1846. Sayons, 
histoire de la litörature frangaise à l’etranger. Bhrtholmes, histoire de l’acadömie 
de Prussa Biographieen in Haug, La France Protestante. Kritifche Betrachtungen 
über Einzelne in Voltaire’s siecle de Louis quatorze. 

Regalien. Das deutfche Recht Eennt eine Klafje von Privatrechten, welche nur 
aus Privilegien entftehen können, indem dad allgemeine Recht, aus welchen die ein- 
zelne Berechtigung hervorgeht, fortvauernd als bei der Staatögewalt verbleibend ge⸗ 
dadıt wird. Nicht immer macht jedoch der Staat von diefer Befugnig Gebrauch, 
fondern Häufig überläßt er Die mirflihe Ausübung dieſer Rechte Privaten, indem er 
fie durch befondere Privilegien im einzelnen Falle dazu befähigt. Das find nun eben 
die R. Sie unterfcheiden ſich von den SHoheitörechten durch ihren rein privatrecht⸗ 
lichen Charakter und von den fisfalifchen Rechten dadurch, daß letztere dem Staate 
als zufälligen Subjerte gehören, die R. dem Staate als ſolchem. Die Gegenſtaͤnde 
der R. fünnen ganz verfchiedene und in Feiner Weiſe zufanmenhängende fein, je nadh 
befonderer Gefchichte und der Landeögefeßgebung. Nicht immer bat dieſe Flare Un« 
terfcheidung im Begriffe der R. obgemaltet, ift vielmehr erft ein Nefultat der neueften 
MWiffenfchaft, wie dent ja überhaupt nah Stahl die Nechtswiffenfchaft erft jeit der 
franzoͤſiſchen Revolution zum Flaren Bewußtfein der Grenze zmifchen öffentlihem und 
Privatrecht gelangt if. Dem älteren deutfchen echte waren ‚alle und jede R. fremd; 
e8 war ein zu unverbrüchlicher Grundfaß jener Periode, d. 5. der Zeit vor Bildung 
der Landeshoheit, daß jeder Inhaber eines Achten Eigenthums auf demfelben unum⸗ 
ſchraͤnkter Herr war, alfo auch an Wäldern, Gemäflern und mad in ihnen lebte, Hatte 
jeder Eigenthümer da8 freiefte Dccupationsredt. Bon Bergbau war damals noch feine 
Rede; das änderte ſich mit der Periode, welche mit dem LUntergange der Hohen» 
ftauffen ſchließt. In diefer finden mir die R. nicht bloß vor, fondern fte fpielen fogar 
eine berühmte Molle in dem Kampfe der Kaifer mit der beginnenden Territorialität 
der Peineren Dynaſten und der Municipalität der Städte; befonders wichtig ift Hier 
ber Kampf Friedrich I. mit der Stadt Matland. Der Kaifer erließ nämlich nach der 
erften Niederwerfung diefer Stadt im Jahre 1158 die berühmte Gonflitution über bie 
NR. Sehr bezeichnend nennt er im Eingang vier Doctoren des roͤmiſchen Rechts an 
der Univerfität Bologna als Autorititen, will alfo ganz nach Hohenſtauffen Art den 
Codex juslinianeus dem deutfchen Staatsrecht octroyiren. Es heißt fodann weiter 
wörtlih: „Deinde super justicia regni et de regalibus, quae longo jam tempore 
seu temeritate pervadentium, set neglectu regum regno deperierant, studiare diffe- 
rens, cum nullam possent invenire defensivnem excusationis, tam episcopi quam 
privates et civitates uno ore, uno assensu in manum principis regalia reddidere, 
primique resignantiam Mediolanenses exslitere. Requisitique de hoc jure, quid 
esset, adjudicaverunt: Ducatus, Marchias, CGomitatus, Consulatus, Moneta, Telo- 
nea, Vectigalia, Porlus, ripatica, Molendina, Piscarias, omnemque utilitatern 
ex decursu fluminum provenientem, nec de terra tantum, verum etiam de suis 
propriis capitibus censum annui reddilionem.* Man ſleht alfo, weldyen enormeh 
Umfang die R. damald noch nicht lange nach ihrem Entſtehen genommen batten, mie 
aber neben R., die wir als ſolche noch jegt zu bezeichnen pflegen, ganz excluſtve 
SHobeitörechte, ald über Herzogthümer, Markgrafichaften u. f. w., nebenhergeben, alſo 
von einer principiellen Unterfchetbung Feine Mede if. Damals nahm der Kaifer 
Friedrich alle Diefe R. für fih in Anſpruch; im Jahre 1183 im Koftniger Frieden 
muß er aber erklären: „Nos Romanorum imperator u. f. w., concedimus vobis 
civitatibus, locis et personis socielalis regalia et consuetudines nostras. Es fommen 
dann zwar die gemöhnlichen Mefervate, tbatfächlich aber hat der Kaifer den lombar⸗ 
diſchen Städten R. in umfaflendem Umfange zugeflanden. - In fpäteren Urkunden 
finden wir dann weitere Beiträge über die einzelnen Arten von R. in Deutſchland 
ſelbſt. Unter diefen If} ein fehr merkwürdiges das des Judenſchutzes. Der Kaijer 


Hegalien. 7 


nahm nämlich aus feinem fchirmvoigteilichen Rechte Über bie Kirche die Befugniß in 
Anſpruch, alle Juden auszurotten, um ihr Gut einzuziehen. Der Kaifer wollte aber 
Gnade für Mecht ergeben lafſen, erklärte die fämmtlicyen Juden für befondere Knechte 
feiner Kammer, für welchen Schug ſie eine Reihe willfürlidy erhöhter veränderbarer 
Abgaben zu zahlen Hatten. Diefe Abgaben wurden von dem Kaifer ebenfalls als M. 
verliehen und zmar in oberſter Stelle an den Kurfürften von der Pfalz. Eben in 
biefe Zeit fallt auch die Entflehung des Bergregals. Dieſes verdankt höchſt wahrfchein« 
lich feine Entſtehung dem Umflande, daß eins der älteften und reichten Silberbergwerke 
in Deutfchland und zwar im Harz unter Kaiſer Otto J. auf königl. Grund und Boden eröffnet 
worden war und bon da an fidh die Vorftellung bildete, daß die edeln Metalle über- 
baupt ein Eigenthum des Königs ſeien. Vom Salzregal ift in dieſer Periode nur 
audönabmöweife die Rede. Wie aus dem Forſt⸗ und Wildbann fih allmählich, aber 
erft fpäter ſich das Jagdregal entwidelte, haben wir an einer andern Stelle (flehe 
Tagdaefehgebung) nachgewieſen. Dur Berleifung von Privilegien entflanden dann 
fpäter noch andere R., wie die der öffentlichen Ztfchereien, der Befugniß des Landes- 
bern, in neuangebauten Theilen des Landes Goloniflen anzufegen u. f. w. Die 
KRomaniften jener Zeit erflärten die R. aus der Stelle lex 17 $ 1 Digestorum de 
verborum significatione und lex 1 und 2 ibidem, de Auminibus. Darnach follten 
R. fein: 1) die Landeshoheit über einzelne Difricte; 2) die Hoheit über die Heer⸗ 
Rraße, öffentliche Flüſſe, Häfen und die hieraus entfpringenden nugbaren Mechte, als 
Zölle, Abgaben für Geflattung einer dem allgemeinen Gebrauch hinderlichen Nugung, 
fo wie Abgaben für die durch ein Privilegium geftattete ausſchließliche Benutzung 
diefer Gegenflände; 3) die Münze; 4) der Zehente von Salz⸗ und Bergwerken; 5) 
die Serihtöbarkeit und deren Emolumente; 6) das Confiscationsrecht und das Recht 
auf erblofe Büter; 7) die Lieferungen an den Eaiferlihen Hof; 8) die Landfrohnden; 
9) die Eaiferliden Pfalzen; 10) der alte Genfus und 11) die Hälfte des Schatzes, 
der in loco publico oder in loco religioso gefunden wird. Es liegt auf der Hand, 
daß nady dem flegreichen Vorgange Mailand's auch die deutfchen Fürften, Herren und 
Städte möglihfi viel ehemals ausſchließlich kaiſerliche Mechte für ſich zu ermerben 
ſtrebten; doch war damald noch die Vorftellung allgemein, daß dieſe nur manbdirte 
Rechte fein, deren Ausflug vom Kaifer noch immer bemerkbar blieb. Die mit M. 
belehnten Herren pflegten von da an In Ihren Wappen ein besfallfiges befonderes 
Schild zu führen und zwar ein rothes Feld ohne eine Figur darin. Anders wurde 
e8 in ber folgenden Periode von der Reformation bis zum weftfälifcyen Brieden, in 
welcher zwar die Katfer felbft und die in Ihrem Intereffe wirkenden @elehrten und 
Schriftſteller die Landeshoheit nur als die Summe von einzelnen an ſich unbebeuten- 
den R. auffaßten, melde Auffaffung aber nicht hinderte, daß die Landeshoheit ſich 
allmählich zu einer Quafifouveränität ausbildete. Fortan handelte es ſich nicht ſowohl 
um einen Regalienftreit zwifchen dem Kaifer und den Landesherren, fondern zwifchen 
legteren und deren Ständen und Untertbanen. Da man nun zu fühlen anfing, daß 
man bisher ganz verfchiedene Dinge unter dem gemeinfamen Namen von R. zufammen« 
gefaßt Hatte, fo fuchte man ſich nun und zwar in der Periode nach dem meftfälifchen 
Brieden dadurch zu helfen, daß man von höheren und niederen R. ſprach. Diefer 
nicht ganz klare Unterfchied ift auch in viele moderne Geſetzgebungen und wiflenfchaft« 
lige Compendien übergegangen. ine ähnliche Eintheilung ſchwebt auch dem preußi⸗ 
fen Landrecht vor; gleichwohl müflen wir für die heutige Wiffenfchaft auf unfere 
Aufangb gegebene Unterſcheidung zurüdgehen. Was die heutige Natur der R. und 
ihre Zufunft anlangt, fo find diefelben großentheils ſchon im Begriffe, ihre privative 
Natur zu verlieren und werben es in der Zukunft immer mehr. Das Jagdregal zum 
Beifpiel iR gegenwärtig als folches bereits antiquirt, das Mühlenregal hat gegenwärtig 
einen lediglich landespolizeilichen Charakter, fo wie das Boftregal einen wefentlich 
voltswirthſchaftlichen. Nur beim Bergregal möchte fich wegen der wiberfireitenden 
Interefien der Schürfenden und der Beſitzer der Bodenfläche die regale Natur neben 
der Bergpolizei und Bergbohelt noch erhalten. Daß das fogenannte Münzregal die⸗ 
fen feinen Charakter längft verloren bat, haben wir in dem daſſelbe betreffenden Artifel 


fon ausgeführt. - 


8 Megenmenge, Regeumeflung. Regensburg. (Hocflift.) 


Regenmenge, Regenmeſſung. Es iſt zu verſchiedenen Zwecken, insbeſondere 
bei der Beurtheilung von Entwaͤſſerungsanlagen von Intereſſe, die Größe der atmo⸗ 
ſphäriſchen Niederfihläge für beflimmte Orte in Zahlen audzubrüden, um fie mit 
einander vergleichen zu köͤnnen. Man nennt deöhalb die Höhe, bis zu welcher ber 
in einem gewiflen Zeitraume (gewöhnlih während eined Jahres) gefallene Regen, 
geihmolzene Schnee und Hagel den Boden bededen würde, wenn nichts davon ver⸗ 
dunflete oder in den Boden einzdge, die Regenhöhe oder Negenmenge für den 
Beobadytungsort. Zur Meffung derfelben dient ein Apparat, Regenmeſſer, aud 
Ombrometer genannt, welcher für gewöhnliche Zwecke aus einem oben offenen, ziem⸗ 
lid) weiten Gefäße von genau beflimmter Oberfläche und einem Darunter angebrachten, 
dur eine Deffnung im Boden damit communicirenden, bedeutend engeren und höheren 
eylindriſchen Gladgefäße befteht, deſſen Grundflähe ein rationaled Verhaͤltniß zu 
der Oberfläche des oberen Gefäße bat, z. B. Yo oder Yıoo- An dem Glafe if 
eine Scala angebradht, an welcher man die Höhe des im Innern ſich fammelnden, 
durch atmofphärifchen Niederſchlag in das obere Gefaͤß gefallenen Regenwaflers ab- 
lefen kann. in foldyer Regenmeſſer, der unverändert an derfelben Stelle in bekannter 
Höhe aufgeftellt bleibt und regelmäßig beobachtet wird, liefert dann eine Zahlenreihe, 
welche nach gehäriger Meduction, nach Maßgabe des Blächenverhältnifies der beiden 
Gefäße, die Regenhöhe für den Beobadhtungsort giebt. Vollſtaͤndig bearbeitete 
Beobachtungen diefer Art müfjen folgende Daten darbieten: jährliche Regenmenge; 
monatliche Regenmenge für jeden einzelnen Monat; größte Regenmenge eines 
Zaged; Zahl der Regentage für jeden Monat und einzelne außerordentliche Faͤlle, 
als Wolkenbrüche u. dgl. Als Maßeinheit ift bei derartigen Beobachtungen der Zoll 
und zwar gewöhnlich der Parifer Zoll gebraͤuchlich, und man fagt, die jährliche 
Regenmenge eined Ortes betrage 3. B. 26 Zoll, wenn die Summe fämmtlicher im 
Jahre beobachteter Höhen, im Durchſchnitt mehrerer Jahre, diefe Höhe von 26 Zoll 
ergiebt. Sole Zahlen find alfo, in Betreff des atmofphäriichen Niederfchlages, eine 
Eharakteriftif der zugehörigen Orte; wenn man eine größere Anzahl derfelben mit 
einander vergleicht, fo findet man im Allgemeinen, daß in der Nähe der See und 
der Berge die Regenmenge größer ift, ald im Binnenlande und auf der Ebene Die 
Erklärung hierfür gehört zu den Aufgaben der Meteorologie (f. d. Art. Atmojphäre). 
Die jährliche Megenmenge zu Berlin wird angegeben zu 19,,; Zoll, zu Königb- 
berg 23,5, zu Breslau 23,,, zu Erfurt 12,,, zu Münfter 25,,, zu Düffels 
dorf 24, Zoll. Dagegen findet man zu Cuxhaven 29,,, zu Benebig 29,,, zu 
Tegernfee 43,9, zu Bern 43,3, auf dem St. Bernhard 59,, und zu Bergen in Nor- 
wegen, wo Seefüfle und die Nähe hoher Gebirge zufammentreffen, 83,, Zoll. 

Regensburg. Das ehemalige reihdunmittelbare Hochſtift R. befland aus 
den drei freien Meichöherrfchaften Donanflauf, Wörth oder Wertb und Hohenburg, 
welche letztere am Flüßchen Lautrach zwifchen dem zur Oberpfalz gehörigen Amte 
Nieden und dem neuburgichen Landrichteranite Burg-Lengenfeld lag; ferner gehörten 
dem Bisthum nod ein zweites Hohenburg, am Inn, die Herrſchaft Paächlarn und Die 
Pflegverwaltung in Eberfpeunt, Euting und Wildenderg. Der Bifchof zu R. faß im 
Reichsfürſtenrathe auf der geiftlihen Bank zwifhen den Bifchöfen zu Freiſtng und 
Paffau, und auf den bayerifchen Kreistagen zwifchen eben denfelben. Bon 1763 bis 
1769 war Clemens Wenzedlaus Auguft, Herzog zu Sachſen, von 176987 Anton 
Ignaz Graf Fugget, von 1787 — 89 Marimilian Procop Graf Törring und beim 
Ausbruch der Branzöflihen Mevolution Joſeph Conrad von Schroffenberg, zugleich 
Biſchof von Breifing, Oberhirt des Biothums R. und zwar der zulegt genannte ber 
65., wenn die Reihe der Bifchöfe mit Adelwin im Jahre 791 beginnt, wiewohl bie 
gemöhnlihe Meinung über die Errichtung der dem beiligen Petrus geweibhten Regens⸗ 
burger Kathedrale eine zwiefadhe if, indem man fie bald im Jahre 697 vom Heiligen 
Ruprecht im Klofter St. Emeran, bald im Jahre 736 vom heiligen Bonifacius in 
der Kapelle des Heiligen Stephan fliften und Gaubald oder Baribald ihren erften 
Bifhof fein laͤßt. Der bifchöflihe Sprengel begriff 2 Gollegiaiflifte, 28 Abteien und 
Prälaturen, fo wie 29 Landdechaneien, zu welchen 1383 Pfarr⸗ und Filialkirchen und 
Sacellen gehörten, und erftredie ficy auch Über einen Theil der Oberpfalz und über 


Regensburg. (Stadt) 9 


die datholiſchen Kirchen im Fürſtenthum Sulzbach, in der Landgrafſchaft Leuchtenberg 
und der Grafſchaft Sternſtein. In der Reichsſtadt R. hatte der Fürſt feinen Biſchofs⸗ 
hof, übte aber in derſelben keine Gerichtsbarkeit aus. Seine vornehmſten Beamten 
waren die Mitglieder des Conſiſtoriums, des Hofrathe und der Hofkammer. Das 
Domcapitel beftand aus 15 Gapitularberren und 9 Domsicellaren. Das Erbmarfchall- 
amt des Hochſtifts befleideten die Grafen v. Tdrring, Erblämmerer waren die Frei⸗ 
baren v. Stingelheim, Erbſchenken die Breiherren v. Pfetten und Erbtruchſeſſe die 
Grafen von Zauffichen. Dur den Meichäbeputationdreceh vom Jahre 1803 wurde 
der erzbiſchoͤfliche Stuhl von Mainz in die Kathedralkirche zu R. Übertragen, und die 
Bürden des Bürflen- Kurfürften» Erzlanzlerd des deutſchen Reiches, fo wie die des 
Renopolitan-Erzbifchofd und Primas in Germanien follten auf ewige Zeiten vereinigt 
bleiben, Defjelben Metropolitan» Gerichtsbarkeit umfaßte die ehemaligen Kirchenpro- 
vinzen Mainz, Köln und Trier (fo weit fle ſich auf dem rechten Ufer des Rheins 
befanden, fo wie mit Ausnahme der Staaten des Königs von Preußen) und bie von 
Salzburg, in ſoweit ſich diefe über Länder erſtreckte, welche mit dem Kurfürſtenthum 
Pfalzbayern vereinigt worden waren. Was das Weltliche betraf, fo war die Dota- 
tion des Kurfürſten⸗Erzkanzlers Karl Theodor v. Dalberg aus dem Fürſtenthum 
Ahaffendurg und dem Für ſtenthum M. gebildet worden, welch letzteres die Bes 
ſtgungen des Hochſtifts R., die Stadt dieſes Namens und alle Dependenzien, mit ben 
Capiteln, Abteien und Klöftern, mittelbaren ſowohl ald unmittelbaren, bie fich daſelbſt 
befanden, begriff. Zu dieſer Dotation gehörte überdies die kaiſerliche Stadt Werlar, 
wit dem Titel einer Grafſchaft und in voller Landeshoheit, ferner dad Compoſtelhaus 
zu Sranffurt und die Grundbeflgungen und Mevenuen des Domcapiteld zu Mainz, 
welche gelegen waren und erhoben wurden außerhalb der Aemter, die dem Könige 
von Preußen, dem Landgrafen von Heflen» Darmfladt und den Fürſten von Naffau- 
Uſingen und von Leiningen angewiefen waren. Mittelö dieſer Dotationen war es 
gelungen, dem erflen Fürſten des deutfchen Reichs einen Staat von 241% D.-M,, 
82,000 Einwohnern und 650,000 Gulden Einkünfte zu verfchaffen. 350,000 Gulden 
wies man ibm außerdem aus dem freilich fehr unfichern Ertrag des Mheinſchifffahrts⸗ 
Octroi an. 1810 am 16. Februar trat der Fürfi- Brimas das Fürftentbum RM. an 
Rapoleon ad. Am 9. Mai deſſelben Jahres erfchien des Letztern Commiffarius, der 
General Compans, zur Uebernahme des Landes, und am 22. Mai ein baperifcher, in 
der Berfon Des Breibern v. Weichs, dem jener in Folge des zwifchen dem Kaifer 
der Sranzofen und dem Könige von Bayern zu Paris am 28. Februar 1810 abge⸗ 
ſchloſſenen Bertzages das Fürſtenthum überlieferte. Daffelbe ift bei der Krone Bayern 
ſeiidem geblieben und das Bisthum hat feit Karl Theodor v. Dalberg ſechs Ober⸗ 
dirten gehabt, inel. des jehigen, 1858 inthronifirten Bifchofs Ignaz v. Seneſtrey. 
Regensburg, Baflau, Wien, Ofen⸗Peſth find die vier Städte, welche längs des 
Donaulanfes als Städte die größte Bedeutung haben; als Städte, alfo ihrem archi⸗ 
tektoniſchen und biforifchen Charakter nad, wobei wir der handelspolitifchen Wichtig⸗ 
feit eines Semlin, Giurgewo oder Galacz nicht im Mindeften zu nahe treten wollen. 
Aber — MR. und Balarz! Gewiß waren es handelspolitiſche Verhältniffe, aus denen 
R. hervorwuchs und groß warb: die Einmündung der Naab und des Megen, deren 
Waſſermenge die Donau weiterhin ununterbrochen ſchiffbar und zwar mit der nötbhigen 
Tragfaͤhigkeit fchiffbar macht; der leichte Uebergang über den Fluß, durch die beiden 
Infeln Ober» und Nieder- Wörth vermittelt; die Lage in fruchtbar anmuthiger 
Ebene; gleichweit von den Alpen und dem Thüringer Walde, am noͤrdlichſten Punkte 
dr Donau und nur 18 Meilen vom fübweftlichfien Punkte des Main bei Bamberg 
(äbnlig wie weiter weRlih Ulm- Donau und Gannfladt-Nedar) — diefe Umſtaͤnde zu⸗ 
fımmengenommen mußten fchon in früher Zeit fih bemerkbar machen. Die altrömi- 
ſchen regina eastra, wahrfcheinlich auf einer Teltifchen Nieberlafjung errichtet, mit meh⸗ 
seven Tempeln, einer Handelögefellidhaft und einem Orakel, der Wohnort vieler vor⸗ 
nehmer Mömer, wurden ſchon im 6. Jahrhundert die Nejldenz der Agilolfinger, und 
von Karl dem Großen an war Feine deutſche Stadt fo oft die Reſidenz deutſcher 
Kaifer und der Sig deutjcher Neichstage, als eben R. weldyes auch 1806 den legten 
derfelben fah, fein eigener und des Heiligen roͤmiſch⸗deutſchen Reichs Selbfimörder. 


10 Regensburg. (Stabt.) 


Noch hat R. eine „Geſandtenſtraße“ aus jener roͤmiſch⸗deutſchen Reichszeit, noch beißt 
ein Haus daſelbſt „das venetianiſche Haus“, und noch trägt es den Narcuslöwen 
als Wappen der Handelsrepublik, deren Geſandten es beherbergte. Die erwaͤhnte ge⸗ 
ringe Entfernung zwiſchen R.-Bamberg, Donau⸗Main, mußte ſchon frühzeitig die Idee 
einer Berbindung beider Yläffe und dadurch von Donau und Rhein rege machen, die 
ſchon Karl der Große ausführen wollte. König Ludwig von Bayern rief endlich den 
Zudwigd- oder Donau-Main-Ganal in's Leben, eben fo fehr ein Denkmal 
deutfcher Bebarrlichkeit, ala des Sprühworts „Zu fpät*, das fo oft in Deutichland 
zue Wahrheit geworden. « Bor 100, vor 50 Jahren würde diefer Kanal das gewor⸗ 
den. fein, was man fi von ihm verfpradh, was aber jeht die Eifenbahnen überflä- 
gelt haben. Nürnberg voran wird nicht leicht eine Stadt fo viel architektonifches 
Intereffe aus dem Mittelalter aufzumelfen haben, als R. Der Dom, 1274 bis 1436 
erbaut, if einer der herrlichſten deutſchen Münfter, freilich wie fo viele andere mit 
unvollendeten Thürmen, aber auch bier Hat fich zu deren Ausbau ein Dombau⸗Verein 
gebildet. Die Stirnfeite mit ihrem intereflanten Bortal wurde 1838 vollftindig reflau- 
rirt, fo mie das Innere von allen eniflellenden, fpäteren Sculpturen frei gemacht. 
Die Kathedrale Hefigt mehrere Denkmäler, darunter eins zu Ehren Margarethe Tucher's, 
In Erzguß, von P. Viſcher, 1521, fich beſonders auszeichnet; auch dem legten Erz⸗ 
kanzler Karl Theodor v. Dalberg if ein Grabmal, nah Canova's Zeichnung von 
Zandomechini In Ulabafter, gefeht. Schenswerth find außerdem die Kirche des Schotten- 
kloſters, des einzigen in Deutfchland noch eriftirenden Benebictinerfiifts mit wirklich 
ſchotilaͤndiſchen und irifchen Prieftern, im 12. Jahrhundert geftiftet, das Mutterſtift 
des Wiener Schottenklofterö, welches aber keine Schotten mehr enthält, die Kirche zu 
St. Blaften (ehemals Dominicaner), die zwei Altarblätter von Rubens und die Ka⸗ 
theber des Albertus Magnus enthält, und die Pfarrfirche zu St. Emeran mit in- 
tereffanten Srabmälern und einem freiftehbenden Glodenthurm von 1590. Die Ge⸗ 
bäude der alten berühmten Reichsabtei St. Emeran find felt 1809 der Palaft der 
Fürften Thurn und Taxis, der durch die Gruft und Grab⸗Capelle der fürfllihen Fa⸗ 
milie, geſchmückt mit Dannecker's Salvator- Statue, und Durch die Reitbahn mit Schwan- 
thaler's Basreliefs, die olympiichen Spiele darftellend, fi auszeichnet. St. Emeran 
befaß ehedem eine der berühmteften Sternwarten des ſüdlichen Deutſchlands. Die 
drei gefürfleten, 1803 fäcularifirten Abteien St Emeran, Obermünfler und 
NRiedermünfter hatten in R. zwar ihren Sig, hatten aber fonft wenig, wie daß 
ebemalige Hochſtift, mit der Stadt in politifcher Hinficht etwas ‚gemein. Die Abteien 
Ober- und Niedermünfter waren meibliche Abteien. Die Iegtere wurde um das Jahr 
900 von Judith, Tochter Arnulf's und Großmutter des Kaifers Heinrich IL, ge⸗ 
fliftet. Die Stiftöfräulein waren übrigens den gewöhnlichen Klofterregeln nicht unter⸗ 
worfen und durften aus dem Klofter Heiraten. Das Nämliche galt von denen in 
der. Abtei Obermünfter, melde 896 von Kaifer Ludwig's des Jüngeren Gemahlin 
Hemma gefliftet worden war. Höchft merfmürdig If das Rathhaus, ein Stück beut- 
ſcher Geſchichte von zwei Jahrhunderten, denn von 1663 —1803 war bier der deut⸗ 
ſche Reichötag permanent. Noch find der große Reichätagsfaal, mit Kaifer Karl's V. 
Zhronfeflel, die Stündezimmer mit den Bänfen und den alten Tapeten unverändert. 
Gegenüber vom Rathhauſe fleht der ehemalige Dollinger Hof, defien Wandgemälpe 
den GSiegedfampf des Hans Dollinges gegen den Helden Kralo vor Kaifer Heinrich I. 
darſtellt. R. iſt die Hauptfladt des Megierungdfreifes Oberpfalz; und R., der Sig 
diefer Kreisregierung, eines Bistums und Domeapiteld, mit mehreren Unterrichts⸗ 
Anftalten, Bibliotheken (fürſtlich Thurn⸗ und Taris’fche, die Stadtbibliothek ıc.), einer 
Sternwarte, einer Sammlung von phHfllalifchen und mathematifchen Inftrumenten, der 
vom Profeflor Hoppe, Graf de Bray und Duval 1790 geftifteten botanifchen Geſell⸗ 
ſchaft, dem Hiftorifhen DBerein für die Oberpfalz, vielen induftriellen Anftalten, Han- 
del und 27,875 Ginmohnern nad der Zählung Ende 1861. An der Stelle der alten 
Mille if eine Promenade angelegt, mit mehreren Monumenten, darunter das des 
Aſtronomen Kepler, der 1630 Hier farb. Gelegentlich ſei auch bier erwähnt, daß 
1547 in R. Kaifer Karl's V. natürliger Sohn von Barbara Blumberg, der Wirthin 
des, Boldenen Kreuz", geboren wurde — Don Juan d' Auſtria. Am linken Donau⸗Ufer 


Regensburg. (Stadi.) 11 


liegt die Borflabt Stadt am Hof, und zu diefer führt Die berühmte Megensburger 
Brüde hinüber, aus dem Kleeblatt berühmter deutfcher Brücken die längfte, wie die Prager 
die ſtarkſte, Die Dresdener Die ſchonfte. 1091’ Iang iſt diefer refpectable Bau, deſſen Ritte eine 
1854 errichtete Gedaͤchtnißſaͤule ziert, auf welcher daß Wahrzeichen, das alte Brüden- 
mänuden, wieder aufgeflellt wurde, das 1817 der Sturm berabgeworfen hatte. Die 
Brüde hat 15 Bogen und wurde in zehn Jahren, 1136 — 1146 erbaut. Es fehlt 
R. nit an anmuthigen Spaziergängen vor feinen Thoren und an hiſtoriſch oder 
durch andere Beziehungen wichtigen Punkten in feiner Umgebung, worunter wir vor 
Alm Donauftauf und die Walhalla nennen. Man gelangt nach: lepterer durch 
die Stadt am Hof und über Donauflauf, welches dicht an der Donau liegt; es ifl 
en freundlicher Yleden mit dem Gommerfchloß des Pürften von Thurn und Taris 
and der Ruine der alten bifchöflichen Felle Stauf, auf einem vorfpringenden Gra⸗ 
nitfelfen. Der nächfle Berg if der Salvatorberg und auf ihm lebt eine der herr⸗ 
lichſten Schöpfungen des Eunflfinnigen Könige Ludwig — die Walhalla. Der Fahr⸗ 
weg führt an der Hüdfeite des 304° hohen Berges binauf und dann nach vorn zu 
der Prachttreype, auf welcher man den Tempel auf dem Gipfel erfleigt. Wenn man 
auch mit Mecht das Mißverhältnig des Tempelö zu diefer colofialen Treppe, die grie⸗ 
chiſche Architektur. für eine deutſche Ehrenhalle, ſelbſt Wahl und Anordnung der Büften 
mit noch fo viel echt tadelt, die Kritik verſtummt vor dem Eindrud des herrlichen 
Innern. Nach v. Klenze's Plan wurde diefer Bau, von deſſen Porticus aus man 
eine herrliche Fernſicht bis auf die Alpen bat, aus falzburger und eichflädter Marmor 
in den Jahren von 1830 — 1832 aufgeführt. Wie fchon erwähnt, wurde R. im 6. 
Jahrhundert und zwar 548 die Refldenz der Herzoge von Bayern. Kaifer Friedrich I. 
befreite e8 von der Herzoge Botmäßigkeit und nahm ed unmittelbar an's Meich, bei 
welchem Kaifer Wenzel es zu erhalten 1387 verſprach. 1486 mußte die Stadt, bie 
In tiefe Schulden gerathen war, dem ihr behülflich geweſenen Herzog Albrecht IV. in 
Bayern huldigen, allein Kaifer Briebrich III., der, nebenbei gefagt, bier von den 65 
Heichötagen, welche Überhaupt In R. abgehalten wurden, 1471 den glänzenbften hielt, 
forderte fie an's Reich zurüd und der Herzog mußte fie 1492 wieder ausliefern.. R. 
hatte aufer feiner Stadtmark kein Gebiet. ALS aber der Kurfürfl zu Bayern, wegen 
feiner Berbtndung mit Ludwig XIV. von Branfreih, im Jahre 1705, in den Reichs⸗ 
bann getban und von Kaifer Joſeph I. aller feiner Beflgungen für verluftig erflärt 
worden war, begnabigte der Kaifer die freie Reichsſtadt mit dem bayerifchen Pflegamte 
Stadt am Hof, das fie aber, zufolge der Beflimmungen des Badener Friedens von 
1714, der den Kurfürften im Reich wieder zu Gnaden aufnahm, an benfelben zuräd- 
geben mußte. Im anderer Beziehung noch wurde dieſe blühendſte und volkreichfte 
Stabt Im Mei vom 11. bis 15. Jahrhundert, die eigentliche Hauptflabt Deutfchlands 
während zweier Jahrhunderte, merkwürdig auch dadurch, daß in ihr vor der Säculari« 
fation von 1803 außer. dem reichäfreien Stadtratbe noch vier Reichsſtaͤnde ihren Sig 
batten, wichtig. 1504 erfochten hier die Bayern einen Sieg über die Pfälzer, wobei 
der Kalter Maximilian I., auf Seite der Erfteren, In Lebensgefahr geriet. 1541 
wurde in R. ein Colloquium zwifchen Proteflanten (Melanchthon, Bucer, Piflorius) 
und Katholiken (Ich. und Jul. Pflugk) über Gegenflände ver Dogmatik gehalten, 
deften Zolge Bad Negensburger Interim war; 1542 wandte jich R. der Iutheri- 
hen Lehre zu, die von den In der Stadt refldirenden Würbenträgern der römifchen 
Kirche, von den Jeſuiten, welche ein Collegium daſelbſt hatten, und fonfligen Klofter- 
geifllichen ziemlich unbeläftigt blieb. 1630 fand bier ber Fürftentag flatt, auf welchem 
Wallenftein feines Commando's enthoben wurde, 1632 nahmen der Kurfürft Marimillan 
von Bayern, 1633 Bernhard von Weimar und am 18. Juli 1634 die Kaiferlichen 
RM. ein. 1663 kam der Neihstag nah R. und blich bis 1806 in defien Mauern, 
aur 1713—1714 war er megen der Belt in Augsburg und 1740 — 1744, während 
des Kurfürft von Bayern als Karl VII. Katfer war, in Frankfurt. 1684 am 16. 
Auguf kam bier ein zwanzigjähriger Waffenſtillſtand zwifchen Frankreich theils mit 
Kaifer und Reich, mit Behaltung Straßburgs und ber Reunionen vor dem 1. Auguft 
1681, theils mit Spanien, mit Bebhaltung Lurembnrgs und des Weggenommenen bis 
zum 20, Auguft 1683 zu Stande. Die letzte Sigung der Reichsdeputation am 10. 


12 Regent. 


Mai 1803 wurde durch Eaiferlichen Beſchluß aufgelöt und 1806 mit der Zertrüm⸗ 
merung des Deutfchen Reiches auch die Reichsfreiheit R.’8 aufgehoben, Das an den 
Fürft-Primas und 1810 an Bayern fam. Bei den Gefechten bei Abensberg, 
Eggmühl (f. dv.) und R. wurde R. zweimal von den Defterreihern und Franzoſen 
am 19. und 23, April 1809 erflürmt; diefe Gefechte führen zufammen auch den Ras 
men der Schladht yon M. 

Regent, bezeichnet im allgemeinen Sinne das monardifche Oberhaupt eines 
Staats ohne Rückſichtnahme auf deſſen befondere Titulatur, als Kaifer, König, 
Kurfürft se. Im befonderen Sinne aber verfieht man denjenigen darunter, welcher 
für den eigentlich zur Negierung berufenen Monarchen diefe Hegierung führt, d. 9. 
wenn der eigentliche Monarch, fei es durch WMinverjährigkeit, geiflige und andre Krank⸗ 
beit, Kriegögefangenfchaft oder fonflige längere Abweſenheit dauernd behindert iſt zu 
regieren; oder wenn ein Interregnum flatifindet. In letzterem alle pflegte man zur 
Zeit des deutfchen Reichs den oder die Megenten Reichsverweſer zu nennen. Es gab 
deren in jedem Interregnum, d. 5. zwifchen dem Tode eines Kaifers und der Wahl 
feines Nachfolgerd, auch wenn ein römifcher König da war, zwei, nämlich den Kurse 
fürften von Sachſen für die Länder des fächflichen und den Kurfürften von der Pfalz 
für die Länder des fränkfifchen Nechts. Der Regent nimmt dieſelbe Stelle im Staats⸗ 
recht ein, wie der Bormund im Privatrecht, er repräfentirt die ganze politifche. Ber» 
fönlichfeit de8 Monarchen. Seine Beftellung findet daher auch analog der eines Vor⸗ 
mundes flatt, d. 5. es ift principaliter der naͤchſte großjährige Agnat des Monarchen 
zur Regentſchaft berufen, es kann jedoch ebenfo wie bei der Vormundſchaft auch die 
Mutter oder irgend ein Anderer als tutor dativus zu diefer Function gelangen. Wer 
in jedem einzelnen Balle zur Regentſchaft berufen ifl, das muß ſich nady den Hausge⸗ 
fegen des jeweiligen fürfllihen Hauſes reip. nach der Berfaffung des betreffenden 
Staats richten. Der Regent übt die Hoheitörechte auß zwar im Namen des Monar⸗ 
hen, im Uebrigen aber felbfifländig und nach eigenem Ermeſſen, wie er denn auch in 
feinen Regisrungsbandlungen in erfter Perion zu fprechen berechtigt if. Dies unter- 
fcheidet ihn vom bloßen Statthalter oder Stellvertreter, welcher nur ein für furze und 
vorübergehende Zeit beftelltes oberſtes Organ der Krone if, und welcher flet6 die 
Krone als folche fprechen läßt in der erfien Berfon, und auch als in deren jebes- 
maligem fpeciellen Auftrage die Negierungsacte zeichnet. Die Frage, ob Stellvertre⸗ 
tung. und ob Megentichaft, war befanntlid vor einigen Jahren in Preußen praktiſch 
geworden und hat.befanntlich, bei der dauernden Regierungsunfähigkeit weiland König 
Friedrich Wilhelm’s IV. im Sinne der Iegtern ihre Erledigung gefunden. Indeflen 
waren die Parteien damals darüber uneinig, ob der der Krone zunächſt ſtehende Ag⸗ 
nat bei Eintritt der dauernden Regierungsunfähigkeit diefer, die Regentſchaft Fraft 
feines agnatiſchen Geburtsrechts oder durch Mebertragung durch die Landedvertretung 
zu übernehmen habe. Unſeres Erachtens muß ber erfle Fall angenommen werben, 
und zwar fowohl aus allgemeinen Gründen des monardifchen Principe, als auch 
nach dem pofltiven Wortlaute ber DBerfaflungsurfunde. Wie der König König wird 
unmittelbar durch den Hintritt feine Vorgängers, fo auch der Megent Regent un 
mittelbar Durch die eintretende dauernde Megierungsunfühigkeit des Monarchen. In 
demfelben Sinne fagt denn auch der Artikel 56 der Berfaflungsurkunde: „Wenn 
der König minderjährig oder fonft dauernd verhindert ift, ſelbſt zu regieren, fo über» 
nimmt derjenige folgende Agnat, welcher der Krone am nächften ſteht, die Regent⸗ 
ſchaft.“ Wenn es dann in demfelben Artikel beißt: „Er bat fofort die Kammern zu 
berufen, die in vereinigter Sigung über die Nothwendigkeit der Megentfchaft beſchlie⸗ 
gen", fo kann daB nicht den Sinn haben, als wenn den Kammern die Befugniß zu- 
fteben folle, ein biäheriges bloßes fait accompli zu legaliſtren, alfo dadurch erſt zu 
einem felerlihen Staatdact zu erheben. Es kann vielmehr nur damit gemeint fein, 
worauf eben dad Wort „Nothwendigkeit“ Hindeutet, daß nämlich die Kammern als 
Zandeövertretung darüber zu entfcheiden haben, ob der biäherige Landesherr, dem fie 
durch Eid des Gehorſams verpflichtet waren, nicht mehr fähig fei, die Erfüllung die⸗ 
ſes Eides für feine Perſon zu fordern, fle alſo einem Andern, nämlich dem Megenten, 
zum Gehorſam fortan verpflichtet ſeien. Es erweiß ſich daher diefer Sag als eine 


Negeften. 13 


Gautel gegen die etwaige Ufurpation eines Agnaten gegen den in ber That no im⸗ 
mer tegierungsfähigen Monarchen. Bekanntlich find ſolche Ufurpationsfülle in andern 
Ländern, wie England, Schweden, Rußland, mehrfach vorgefommen. Für den Fall, 
daß fein volljaͤhriger Agnat vorhanden und nicht bereits vorher gefegliche Fürſorge 
für diefen Fall getroffen, verorbnet 6 57 der preußifchen Verfaffungsurfunde, daß dann 
dad Staats miniſterium die Kammern zu berufen babe, welche in vereinigter Sigung 
einen Regenten wählen. Bis jum Antritt der Megentfchaft durch benfelben habe das 
Gtaatöminiflerium die Regierung zu führen. Der M. foll endlih nach Artikel 58 
berfelben Berfaffungs-lrkunde nad Einrichtung ber Megentfchaft durch die vereinigten 
Kammern einen Eid ſchwören, die Berfaffung des Königreichs feſt und unverbrüchlich 
zu halten und in Uebereinflimmung mit derfelben und mit den Gefegen zu regieren. 
Bis zu dieſer Eidesleiftung foll in jedem Kalle das beſtehende Staatöminifterium für 
alle Regierungshandlungen verantwortlich fein. In biefem Baflus befindet ſich ein 
Bort, weldyes merkwürdiger Weiſe bei der füngften Regentſchaftöfrage in Preußen 
gar nicht berädfichtigt worden ift, nämlih das Wort „beflebende”. Hiermit kann 
de nur dasjenige Staatöminifterium gemeint fein, welches im Moment der Uebernahme 
ber Megentfchaft durch den betreffenden Agnaten fidh gerade Im Dienfte befand. Dar» 
nad würde der R. alfo kein Recht haben, vor feiner Eidesleiftung in vereinigter 
Sigung beider Kammern das Staatsminiflerium zu ändern. Bekanntlich bat e8 in 
Preußen gleichwohl flattgefunden und iſt thatfächlich ein Rechtsbedenken dagegen von 
keiner Seite laut geworben. Doch iſt hieraus ein Praͤfudiz durchaus nicht zu ziehen. 

Negeſten nennt man die Auszüge aus ardhivalifchen Urkunden, von denen man 
die häufig weitfchwelfigen und überflüffigen Formalien, fo namentlich die langen Ein⸗ 
leitungen und Bißelfprüdhe, die fchlechte Latinität und fonfliges nicht Efjentielle weg⸗ 
laͤßt. Belbehalten müflen auf jeden Fall fein die Namen der Ausfteller der Urkunde, 
fo wie der Urkunden- Zeugen, Jahre und Datum der Austellung und Angabe des 
Objects, um das es ſich handelt, jo wie die befonderen Merkmale über die Art der 
Ausftellung, namentlich auch der Schrift und gewiſſe Ausdrüde, aus deren Wahl man 
nicht felten auf die Aechtheit oder Falſchheit der Urkunde fchließen kann. Bei den 
Objecten if es von großer Wichtigkeit, auf da6 Maß und die Zahl der flipulirten 
Leitungen und Gegenleiftungen, die Angabe der Grundflüde, deren Productivität, 
deren GEulturart und Bevölkerung zu achten. Don außerordentlicher Wichtigkeit ift 
ferner die Angabe der Unterfehriften und noch mehr der beigefügten Siegel, namente 
li, ob diefelben ber Urkunde aufgebrädt, oder an Streifen von Seide, Leder u. |. w. 
bängend an der Urkunde ſich befinden, von welchem Stoffe die Stegel find und von 
welcher Form, namentlich ob rund oder länglich, ob und welche Figuren auf den Gier 
geln außgeprägt find, namentlih ob ein Mann oder Weib in ganzer Figur, zu Zuße 
oder zu Pferde, mit ober ohne Schild, oder ob fchon daB ganze Siegel nur ein 
Wappenſchild einnimmt mit entfprechenden beraldifchen Figuren, oder ob gar fihon an 
legteren Tincturen zu bemerken find. Die Pedanterie einer früheren Zeit, welche ängfl- 
li Die Archive geſchloſſen hielt und wiffenfchaftlicher Forſchung unzugänglich machte, 
IR Schuld an einer unglaublichen Waffe der gröbften hiſtoriſchen Irrthumer. Wir 
erinnern nur an den unglaublichen, aber gleichwohl viele Jahrhunderte hindurch ges 
laufenen barbarifchen Irrthum, welcher die beiden Worte Faiferlicher Titel semper 
Augustus, indem man an Augere dachte, mit „allzeit Mehrer des Neich8* überfegte. 
Die neuere Zeit hat bereitwillig der Wiflenfchaft Die Archive geöffnet. Da es aber 
der Natur der Sache nach nur wenigen Gelehrten vergönnt fein kann, die Urkunden⸗ 
ſchäe au nur eines einzigen Archivs in originali gründlich zu fludiren, fo ift es 
eine überaus verdienftvolfe Arbeit geweſen, daß die mit der Verwaltung der Archive 
betrauten Perfonen Regeſten von benfelben angefertigt und gefammelt haben bruden 
laffen. Das Meifte Hierfür If geſchehen in England, Belgien und Frankreich, in 
legterem Lande, der Heimath der Staatse-Omnipotenz, ift die Heraußgabe von R. merk 
würbiger Weiſe fat ausfchließlich von gelehrten Privatgefellichaften erfolgt. Bon ven 
deutſchen Staaten - haben die Hanfeftäbte und Mecklenburg das Meifte hierin gethan, 
Preußen, das Land der Intelligenz, und zwar aus Gründen, wie e8 Scheint, einer 
nicht ganz richtig angebrachten Sparfamkelt, nur noch fehr wenig. Es bedarf faum 


14 NReggio. | 


des Deweifed, daß eine allgemeine Herausgabe von R. und deren forgfältige®, ver⸗ 
gleichendes Studium auf allen Gebleten wiflenichaftlicher Forſchung, auf die fittlichen, 
geiſtigen, öfonomifchen und politifchen Zuſtände der Zeiten, welche wir gewohnt find, 
als befonders finflere zu betrachten, ein überauß helles Licht werfen müflen. So z. B. 
giebt eine einzige Urkunde vom Jahre 1106, durch welche Kaifer Heinrich V. dem 
Stift Sanct Simeon zu Trier den Zoll auf der Mofel verleiht, oder vielmehr beftätigt, 
durch den in Derfelben enthaltenen vollfländigen Handeldtarif einen merfwürbigen Aufs 
ſchluß über die Mannichfaltigkeit der damaligen Induſtrie, den weiten Vertrieb von 
Waaren, den Umfang und die Fertigkeit der Schifffahrt Damaliger Zeit; fo Tann man 
aus vielen Urkunden, namentlich foldyen, die die GEiftereienfer-Stifter betreffen, über 
Ader, Wein und befonders Forftcultur noch heute manches Neue und Intereflante 
fernen. Daß das Bekanntwerden folcher. Urkunden unter Umfländen aber auch einen 
hoͤchſt praftifchen, nämlich in baar Geld zu tarirenden Werth haben Tann, baden zum 
Schluß nur noch eins, und zwar auch ein rheinifches Beiſpiel. Nur durch ein zu⸗ 
fälliges Gefpräch eines Mitgliedes einer der fünf rheinifchen Megierungen mit einem 
der Provinzial⸗Archivare iſt es gefchehen, Daß der preußifche Fiscus in einem Proceh 
gegen einen Standesherrn, einen Mechtönachfolger der Ehurfürften von Köln, in 
welchem Proceß eg ſich um die Summe von nicht weniger als 250,000 Thlr. handelte, 
obgeflegt bat. 

RNeggio heißen zwei italienifche Städte, von denen die eine Hauptflabt des cher 
maligen Gerzogthbumd gleichen Namens, die andere die Hauptfladt ber früheren nea- 
politänifchen Provinz Ealabria war. Die erſtere, die Hauptfladt des früheren und 
bis zu den neueften Staatdummälzungen in Italien zum Herzogthum Modena ge- 
börigen Herzogthums, am Teſſone⸗Canal und nabe am Groflolo, mit breiten, theils 
durch Arkaden verfchönerten Straßen, ift ein wohlhabender Ort von 50,370 Ein- 
wohnern und Sig eines Bifchofs. Erwähnenswerth if der Dom, die ſchoͤne Kirche 
Madonna della Ghiaja, mit einer Kuppel und vier anderen an den Seiten, das 
juridifche Gonviet, ein Theil der juridifchen Bacultät, von ber frühern Univerfität in 
Modena hierher verlegt, das Lyceum, mit Lehrfangeln der Jurisprudenz, der Mebicin 
und Chirurgie, mit einem fchönen chemiſchen Laboratorium, einem reichen phyſikali⸗ 
fhen Gabinet und einem Muſeum der Naturgefchichte, welches dem berühmten 
Spallanzani gehört bat, das bifchäflihe Seminar, die öffentliche Bibliothek und das 
Irrenhaus (Stabilimento di San Lazzaro genannt), eined der beſſern in Italien. 
R. bat eine ziemlich bedeutende Induſtrie und einen umfangreichen Handel; fein im 
Monat Mai flattfindender Jahrmarkt iſt einer ber Hauptmärkte Italiens. Bon den 
Bofern gegründet und von den Römern Regionum Lepidi (Regium Lepidum, Forum 
Lepidii) genannt, wurde R., nachdem Conſul M. Aemilius Lepidus eine Straße 
dahin verlegt hatte, eine blühende Stadt, die 409 n. Chr. von Alarich zerflört und 
450 zum Bijchofflge erhoben wurde. Im Mittelalter eine freie Stadt, ergab ſich R. 
Ende deſſelben an Obizzo von Efte, Markgrafen von Zerrara, und wurde 1326 dem 
PBupfte untertban, bis es Johann von Böhmen dem deutfchen Reiche unterwarf. 
R. wechfelte bierauf den Beſitzer mehrmald und fam 1409 wieder an dad Haus 
Eſte, bei welchem es, die Zeit von 1796— 1814 außgenommen, wo e8 ein Theil 
der ci8alpinifchen Republik und des Königreich Italien ausmachte, bis 1859 blieb, 
in welchem Jahre es als ein Theil der Emilia dem Königreich Italien annectirt 
wurde. Während des Beſtehens des napoleonifchen Königreichs Italien war R. bie 
Hauptſtadt des Departements Groflolo, jegt ift es die der Provinz R. Emilia; es 
iſt der Geburtsort Arioſt's und Spallanzani's, und gab dem franzöflihen Marſchall 
Oudinot den Titel eined Herzogs von R. Das andere R., die frühere Hauptflabt 
der neapolitanifhen Provinz Calabria ulteriore J., jeht der italienifchen Provinz 
N. Galabria, an der. Meerenge von Meſſina, nad dem Erbbeben von 1783, das bie 
Stadt faſt ganz zerflörte, neu und ſchön wieder aufgebaut, mit Hafen, Gitabelle, 
Kathedrale und 30,600 Einwohnern, iſt Erzbisthumsfig und ebenfalld ein durch 
Induſtrie und Handel belebter Ort, der, zur Romerzeit Regium Julium oder Rhegium 
genannt, 744 v. Ghr. von Ehalkidenfern aus Meſſana gegründet und nach Anlegung 
des Hafens am fchlläifchen Borgebirge ſehr blühend wurde. Bon bier fuhr man 


Negie. Negiment. 5 


nach Gicilien über. 388 v. Ehr. eroberte Dionyfius und 279 v. Ghr. befegten unb 
plünberten die Gampaner die Stadt, die dann durch Erpbeben wiederholt und im 
Bürgerkriege zwilchen Marius und Sulla ſchwer heimgeſucht, von Auguflnd aber mit 
Mannſchaft feiner Flotte bevölkert wurde. 1543 plünderte fie Heireddin Barbarofla, 
ein Gleiches geſchah ihr von anderen türkifhen Seerräubern 1552 und 1594. Im 
Zaufe dieſes Jahrhunderts wurde R. durch die Landung ded Prinzen von Heſſen⸗ 
Bhilippsthal mit 6000 Mann, die Hier 1807 flattfand, durch den Aufftand ber Cala⸗ 
Grefen unter Andrea und Domenico Romeo, der am 13. Auguft 1847 zum Ausbrud 
fam, doch am 1. September durch die Eöniglichen Truppen niedergefchlagen wurbe, 
burch Die Emeute gegen die Megierung im März 1848 und durch die Ereignifle im 
Auguſt 1860 merkwürdig. Nachdem nämlih am 11. genannten Monatd das erfie 
größere Corps Garibaldi'ſcher Truppen unter Oberſt Eofenz bei Cap Aveni in ber 
Nähe des Capé Spartivento gelandet war, folgte demfelben am 19. Baribaldi felbft, 
der 12 Miglien von M. bei Melito den calabrifchen Boden betrat und fofort R. bes 
fegte,, deſſen Fort nad einem mehrflündigen Kampfe am 20. capituliste, worauf ben 
folgenden Tag zwei neapolitanifche Brigaden von 9500 Mann unter den Generalen 
Melendez und Briganti fih an Oberſt Coſenz auf Gnade und Ungnade ergaben. 
Negie. Darunter verfieht man dasjenige Verwaltungsſyſtem, beziehungsweiſe 
daB Organ dedfjenigen DBerwaltungsiyfiems, wonach der Eigentümer, Privatmann 
oder Staat feine Einnahmen und Ausgaben für feine eigene Rechnung durch bejol- 
dete Berwalter, welche alle Ueberichüfle der Einnahmen über die Ausgaben abliefern, be⸗ 
forgen läßt. Man Tann dies Syſtem Eigenverwaltung im Begenfag ber Ber» 
pachtung nennen. In die Mitte Tieße fih die fog. Gewaͤhrs verwaltung flellen, 
bet welcher Die ſchwache Seite der M., daß das Interefle des activen Verwalters an 
guten Sefultaten fehlt, dadurch verbedt wird, daß der Verwalter, welcher genaue 
Hedgnungen legen muß und wie ein Pächter für einen gewiffen Minimalertrag Haftet, 
Anſpruch auf eine beflimmte Quote des erzielten Mebrertrags bat. Zu den Mängeln 
der Megievermaltung gehört ihre erfahrımgsmäßige Koftfpieligkeit, die Unmöglichkeit 
der Verhütung abfichtlicher Beruntreuungen und die Nothwenbigfeit, wegen der un» 
nmgänglidhen Beaufficktigung der vorgefeßten Behörden bloß zu diefem Zweck ein 


Jahlreiches Beamtenperfonal zu halten. 


Regierung |. Staat. 

Regiment bedeutete urfprünglich Die Bereinigung einer Anzahl von Faͤhnlein 
Fußvolk zu einem taktiſchen Ganzen und kommt diefe Bezeichnung zuerft unter Kaifer 
Rarimilian I. und bei Errichtung der Landslmechte (f. d. Art.) vor. Nach alte 
germaniſcher Sitte, die aus den Zunftverbänden der Städte auch in die Kriegerver- 
bände überging, aus denen ſich fpäter die ſtehenden Heere entwidelten, hatten die 
Landsknechte das Mecht, fich ſelbſt zu richten; der Oberſt über das M. war der oberfte 
Serichtöhere und empfing feine Beftallung vom Kaifer „über fo und fo viel Faͤhnlein 
ein R. aufzurichten”. Zuerft beftanden die Megimenter aus 1014 Fähnlein A 400 
Mann. Als die Fortichritte der Kriegokunſt, die Entwidelung des Feuergewehrs ıc. 
größere taftifche Beweglichkeit forderten, wurben die Regimenter in mehrere Schlacht» 
haufen, Bataillone zerlegt, fo daß das R. allmählich anfing, aus einer taktiſchen 
Einheit eine adminifirative zu werden, und biefen Charakter bat daflelbe für die 
Infanterie (und noch mehr für die Artillerie da, wo diefer Verband überhaupt eriftirt) 
jegt in allen europälfchen Armeen. In der Action bilden die Bataillone die taf 
tifchen Einheiten und bie Regiments⸗Commandeure fungiren als Treffen« resp. bei den 
aus verfchiedenen Waffen zufammengefegten Truppen-Abtheilungen als Detachements⸗ 
Gommandeure. Durchſchnittlich haben die Infanteries-Megimenter 3, in England, Spa⸗ 
nien und in einigen beutfchen Staaten nur 2 Batutllone. Da wo fie, wie In Frank 
reich, Rußland und Oeſterreich, aus 4 Bataillonen befteben, rüden nur 3 derſelben in’& 
Geld, während das 4. ald Depot- oder Erfag- Bataillon zur Ausbildung des Nach⸗ 
ſchubs sc. in der Garniſon zurückbleibt. Es bat diefe Einrichtung den Vortheil, daß 
bereits im Frieden die Stämme diefer Bataillone vorhanden “find, während fie 3.82. 
in Preußen bei eintretender Mobilmachung durch Abgeben von Offizieren und Stamn- 
mannſchaften ber übrigen Bataillone erſt gebildet werben mäflen. In Frankreich und 


16 Negiomontanus. Regnauld (Michel Louis Etienne). 


Rußland werben fämmtliche Rekruten bei den Depot-Bataillonen ausgebildet und dann 
erft den Megimentern nachgeſchickt, fo daß dieſe legteren fletd nur aus völlig ausge» 
bildeten Soldaten beflehen. In einzelnen Heinen Staaten, wie z. B. Sachſen, eriftict, 
meift aus Sparfamkeitögründen der Regiments⸗Verband gar nicht, fondern die ein⸗ 
zelnen Bataillone bilden felbfifländige Körper, die in Brigaben vereinigt werben. Die 
Heiterei wurde früher in Geſchwader formirt, aus diefen die Schwabronen gebildet 
und Diefe von der Zeit des 30faͤhrigen Krieges ab in Megimenter zufammengezogen. 
Bei der heutigen Heiterei bildet das R. nicht nur die abminifirative, fondern auch die 
taktiſche Einheit, namentlich bei der ſchweren Gavallerie, während bei ber leiten bie 
Escadrons vielfach einzeln auftreten: Die Zahl der Escadrons hat bei den Regimen⸗ 
tern im Laufe der Zeiten vielfach gewechſelt; im 18. Jahrhundert befanden die ſchwe⸗ 
ren Regimenter meift aus 6, die leichten aus 8 bis 10 Escadrond; letztere der Leiche 
teren Handhabung Halber früher — namentlih die Hufaren — in zwei Bataillons, 
jegt in Divifionen zu je 2 Escadrons, formirt. Heutzutage beftehen die Regimenter 
aus 4—6 Schwadronen; Defterreih formirt feine Huſaren⸗Regimenter noch zu 8 
Schwadronen, von denen jedoch 2 im Depot zurüdbleiben. Gbenfo läßt Frankreich 
von den 6 Schwabronen, aus denen bie Megimenter im Frieden beftchen, 2 im Depot 
zurück. Die durchſchnittliche Kriegeftärke der Escadron in allen europätfchen Armeen 
beträgt 150, alfo die des Regiments im Felde 600 His 720 Pferde. 

Regiomontenud, fo genannt nach feinem Geburtsorte Königsberg in Franken, 
hieß eigentlih Müller und war geboren den 6. Juni 1436. Ein für feine Zeit aus⸗ 
gezeichneter Mathematiker und Aſtronom, trug er nicht wenig zur Bortbilbung der 
Wiffenfchaft bei, theild durch DVorlefungen, in Wien 1455, theild durch feine zahl- 
reihen, meift in Rürnberg erfchienenen Schriften und durch eigene Beobachtungen. 
Nachdem er eine Reihe von Jahren theils in Wien, theild in Italien gelebt Hatte, 
ließ er fi 1471 in Nürnberg wieder, gründete bafelbft eine Buchbruderei, deren. 
Drude wegen der großen Correctheit bald hochberühmt wurden und jegt felten und 
wertbuolf find. 1474 berief ihn der Papſt "Sixtus IV. nah Nom, um bei der beab- 
fichtigten Meform des Kalenders behülflich zu fein, welchem Rufe er Folge leiftete und 
ala Biſchof von Regensburg zurüdfehrte. Hier flarb er im Juli 1476, nad den 
Angaben Einiger eines gemwaltfamen Todes, nach Andern an der Bel. 

Negnard (Jean Brangois), franz. Luftfpielbichter, geb. 1647 zu Paris, führte, 
- von Jugend auf, feinem Hang zum Heifen folgend, ein abenteuervolles Leben; 1678 
wurde er auf einer Seefahrt von Italien aus nach Marfeille von Seeräubern gefangen 
und nad) Algier gebracht, von wo er, durch Löfegeld befreit, mit einer Provengalin, 
Dis gleichzeitig mit ihm fammt ihrem Wann gefangen genommen war, nad Frankreich 
zurüdfehrte. Auf die Nachricht, Daß deren Mann in ber Sclaverei geflorben fei, wollte 
er fie beirathen, warb aber durch die Ankunft des Todtgeglaubten überrafeht und bes 
gab fi fobann, um ſich von feiner Liebe zu Heilen, auf eine Entdedungsreife nach 
Lappland. In die Heimath zurückgekehrt, Iebte er auf feinem Landgut Grillen der 
Kunft und Wiſſenſchaft. Er verfaßte eine Befchreibung feiner Reifen und daneben 
25 Komödien, die, wie 3. 3. le Joueur, le Distrait, le Lögataire universel, auf dem 
Theätre frangais einen großen Erfolg hatten und zum Theil fih noch jetzt auf der 
franzöflfchen Bühne erhalten Haben. Er flarb den 5. Septbr. 1709. Seine Werke 
find öfters in Geſammtausgaben erfchienen; die legte bat Grapelet (1822 unb 1823 
zu Paris) in 6 Bänden beforgt. 

Regnauld (Michel Louis Etienne), gewöhnlih genannt R. de St.⸗Jean 
b’Angely, geb. 1760 zu St.⸗Fargeau, Sohn eines Tribunals - Präfldenten, ward 
Advocat und 1782 in der Marineverwaltung von Mochefort angeftellt; ex vertrat in 
den Generalfländen von 1789 die Amtei von St.⸗Jean d’Angely, woher der Name 
rührt, den er fich fpäter beilegte. Gr redigirte das gemäßigte Journal de Marfeille, 
erlebte während der Schrediendzeit manche Gefahren, unterflügte den Staatöflreih vom 
18. Brumarie und warb von Bonaparte mit der Ernennung zum Staatörath, Bräfl« 
denten der Section deü Innern im Staatörath, Graf des Kaiferreich u. f. w. belohnt. 
Nach der Reſtauration verlebte er (1895— 1819) vier Jahre im Cril und flarb 1819 
wenige Stunden nach feiner Rückkehr. — Sein Sohn Augufte Michel Marie 


Kegnier (Claude Ambroife). Regulus (Marcus Atilius). 17 


Etienne, Graf v. R. de St.⸗J.-d'A., geb. den 29. Jull 1794 zu Paris, begann 
im ruſſtſchen Feldzug feine militärlfche Laufbahn und ward von Napoleon auf dem 
Schlachtfeld von Waterloo zum Escadronchef ernannt. Seit der Reflauration von 
der Armeelifle geflrichen, organifiste er 1825 in Griechenland mit Fabvier ein Caval⸗ 
lerie⸗ Torps auf europälfhem Fuß und machte die Erpedition des General Maifon auf 
der Rorea 1828 als Freiwilliger mit. Unter der Julimonarchie warb er in dem ihm 
vom Kaiſer verliehenen Grade anerkannt und fobann befördert. Unter der republika⸗ 
nifhen Regierung nach den Junitagen von 1848 ward er Divifionsgeneral. 1851 
batie ex vom 9. bis 24. Januar dad MBortefeuille des Kriegs in Händen. Nach dem 
Staatsſtreich Fam er in den Senat und feit 1854 commanbirt er die verfchlebenen 
Gorps, welche die Faiferliche Garde bilden. 

Negnier (Claude Ambroife), Herzog von Maffa, Großwürbenträger des erſten 
franzöflfchen Kaiſerthums, geb. den 6. April 1736 zu Blamont in Lothringen, war 
beim Ausbruch der Revolution Adsocat in Nanch und wirkte, in die conflituirende 
Berfammlung gewählt, für die neue Organifation der Jufliz und Verwaltung. Während 
der Schreckenszeit lebte er unbeachtet auf dem Lande, kam 1795 in den Math ber 
Alten, wirkte am 18. Brumaire für Bonaparte und betheiligte ſich mit Eifer an ber 
eonfularifchen Reviſion der Verfaſſung. Bonaparte ernannte ihn 1802 zum Juſtiz⸗ 
minifler unter dem Titel des Grand-juge. Bis zu dem Proceh Cadoudal's und Pi⸗ 
chegru's, zu welcher Zeit Fouche wieder fein altes Amt erbielt, mußte er daneben 
auch dad Minifterium ber Polizei verwalten. Bei der Kaiferfrönung ward er zum 
Herzog von Mafla ernannt. Den Sturz des Kaiſerthums, welcher ihm auch feine 


Aemter Toflete, überlebte er nicht lange. Er flach den 24. Juli 19814. — Sein 


Sopn Sylveſtre R., geb. den 3. Dechr. 1783, Departements» Präfeet beim Tod 
ſeines Vaters, ward für die Treue, bie er den Bourbons während der hundert Tage 
bewahrt Hatte, mit der Ernennung zum Pair belohnt. Er flarb den 20. Aug. 1851, 
und ibm folgte fein 1832 geborener Enkel Andre Bhilippe Alfred in der her⸗ 
joglichen Würbe. - 

Regnier (Mathurin), franz. Satiriker, geb. den 21. Dechr. 1573 zu Chartres, 
folgte in feinem dreizehnten Jahre dem Garbinal von Joyeuſe nach Rom, fpäter (1602) 
dem Gefandten Herzog von Bethune ebendabin und wurde nad feiner Rückkehr mit 
einem Kononifat bedacht, deffen Einkünfte er zur Befriedigung feiner Neigung zur 
Boefle, aber auch feiner Bergnügungsluft benußte, bie ihn frühzeitig ins Grab flürzte. 
Er farb den 13. Detbr. 1613. Seine 16 Satiren, neu herausgegeben von Biollet« 
le« Duo (1821) und Lequien (1822), werden von den Franzoſen noch jetzt als der 
erfte gelungene Verſuch ihrer Nation in dieſem Benre gefchägt. 

Regniers Desmaretd (Brancois Seraphin), franz. Orammatifer, geb. den 13. 
Auguft 1632 zu Baris, bildete fich zu einem großen Sprachfenner aus, trat 1668, 
ale ihm das Priorat von Grammont übertragen wurde, in den geiftlichen Stand, 
ward 1670 Mitglied der franz. Akademie, 1684 ihr befländiger Serretär und ſtarb 
den 6. Septbr. 1713. Er war der thätigfte und: bebeutendfle Mebacteur des Dic- 
lionnaire de l’Academie, beffen erfle Ausgabe 1694 erichien; 1705 gab er feine 
Grammaire frangaise heraus, in welcher er bie im Dictionnaire angewandten Prin« 
cipien aus einanderſetzte. 

egulus (Marcus Atilius), ein durch kriegeriſche Tüchtigkeit wie hohe Vater⸗ 
landsliebe berühmter roͤmiſcher Conſul aus plebejiſchem Geſchlechte, erwarb ſich zuerſt 
einen Ruf Durch die Unterwerfung der Falentiner im fündftlichen Italien im Jahre 
267 v. Chr. Während des erflen punifchen Krieges übertrug ihm und dem Conful 
Lucius Nanlius Bolfo der römifche Senat die Ueberfchiffung eines römiſchen Heeres 
nah dem Seftllande Afrifa’s, um Kartbago auf dem eigenen Gebiete anzugreifen (256). 
Die aus 330 Schiffen beftehende römifche Flotte mit 140,000 Mann an Schiffsbe⸗ 
mannung und Zandungstruppen, fließ bei Ecnomus auf die fartbagifche Flotte von 
350 Segeln mit einer der römischen an Zahl gleichen Bemannung und beflegte die⸗ 
felbe vollſtändig. Bald Darauf landeten die Conſuln in der Bat von Clupea an der 
Küfe Afrika's und Regulus begann den Landkrieg gegen die Karthager, mährend bie 
Hälfte der Flotte und Armee nach Italten zurückkehrte. Die Tartdagifchen Städte er⸗ 


Bagener, Staats- u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 2 


18 | Reguly (Anton). 


gaben fi dem Regulus und die numibifchen Völkerſchaften flanden für ihn auf. 
Karthago jchien verloren und bat um Frieden. Allein die Forderungen des Regulus 
— Karthago follte ſich unterwerfen, feine Kriegsichiffe ausliefern und Sicilien und 
Sardinien abtreten — waren zu hart und entflanmten die Karthüger zur entichlofs 
fenften Gegenwehr. Mit ihrem Golde erwarben ſie fi den Beiftand numidiicher 
Reiterfchaaren und in dem Spartaner Zanthippus fanden fle einen vortrefflichen Führer 
für ihre Truppen. Im Jahre 255 murde Megulus — wahricheinlich bei Tunes — 
angegriffen und fo vollfländig gefchlagen, daß nur 2000 Römer ſich durch die Flucht 
retten konnten und er felber gefangen genommen wurde. Im Jahre 250 fandten ihn 
die Karthager, welche bei Banormus in Sieilien dur die Romer eine ſchwere Nie⸗ 
derlage erlitten Hatten, mit einer Gefandtfchaft nach Rom, welche un Frieden und 
Auswechfelung der Gefangenen bitten follte. Regulus hatte verſprochen nad Kar⸗ 
thago zurüdzufehren, wenn die Gefandtfchaft in Rom kein Behdr finden follte. In 
Rom angekommen, fprach Regulus felber gegen den Antrag der Karthager, weldyer in 
Bolge deifen von dem Senate abgelehnt wurde. Trog der Bitten feiner Angehörigen 
fehrte R. nach Karthago zurüd und erlitt dort den Tod unter den graufamflen Qua- 
len. Diefer Bericht über daB Ende des Regulus ift wahrfcheinlich fagenhaft gefärbı 
oder vollkommene Sage, wofür ihn Mommfen (Roͤm. Gef. 1. 518) mit Beſtimmt⸗ 
heit erklärt. 

Heguly (Anton), verdienftvoller ungarifcher Reiſender und Sprachforſcher, geb. 
am 13. Juli 1819 zu Zircz im Weszprimer Comitate in Ungarn, widmete fi früh 
neben feinen juriflifchen Fachſtudien mit befonderer Vorliebe der Gefchichte, namentlich 
der vaterländifchen, zu welchem Behuf er auch umfaflende Sprachſtudien, befonders 
auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforſchung, betrieb. 1839 unternahm er, 
um die ardhivaliichen Quellen des Auslandes Eennen zu lernen, eine längere Reiſe 
dur alle Thelle Deutſchlands, Hollands, Dänemarks und Schwedens. In Gtode 
bolm befeftigte fich fein Entihluß, die Löfung des ſchon von Klaproth und andern 
Zinguiften angeregten und fpäter durch den gründlichen und vorurtbeildfreien Paul 
Hunfalvy in Peſth wieder aufgenommenen und endgültig erledigten Problems über 
den finniſchen Urſprung der Magyaren zur Aufgabe feined Lebens zu machen. Er 
ging noch im Herbſt 1839 nad Helfingford und begann mit der ganzen Begeiflerung 
der Jugend die Sprache und die Borzeit des finnifchen Völkerſtammes zu fludiren. 
Angeregt durch die gründlichen Forſcher auf dem Gebiete des Finnismus, deren ſich 
damals die finnländifche Univerfität in einer feltenen Anzahl vereinigt zu erfreuen 
hatte (vergl, den Art. Finniſche Sprache und Literatur), begab fih R. 1840 tiefer 
in das Innere Finnlands, lebte Monate lang mitten unter den finnischen Bauern und 
fam durch Karelien nad Rappland, wo er mit dem Botaniker Laͤſtadius und dem bes 
. rübhmten Propft Caſtroͤn verkehrte und ſich auch mit Sprache, Mythologie und Sitten 
der Lappen völlig befannt machte. Anfangs 1841 ging er wieder nadı der Haupt⸗ 
ſtadt Finnlands, SHelfingfors, zuräd, und verfuchte jeßt auch mit großer Ausdauer, 
die beiden Hauptdialekte ded Efnifchen, den Dorpater und Mevalenfer Dialekt fidy 
anzueignen. Er trat von bier auß in einen für die Sprachwiſſenſchaft höchſt anregen» 
den und fruchtbaren Verkehr mit den bekannten Sprachforfchern der Belehrten Eftni- 
ſchen Gefellichaft an ber Eaiferlichen Univerfltät zu Dorpat, deren Bulletins aus jener 
Zeit wichtige Auffchlüffe über den damaligen Stand der Forſchungen R.'s enthalten. 
1842 fledelte er nach St. Veteröburg über, um ſich Hier mit den Sprachgelehrten der 
Univerfität und Akademie in Verbindung zu fegen und fich für feine größere Reife zu den 
offfinnifhen Stimmen vorzubereiten. Sein umfichtiger Eifer fand ſowohl in feinem 
Baterlande Ungarn wie auch in Rußland vielfeitige Anerkennung und Unterflügung. 
Am 9. October 1843 ging MR. über Moskau und Niſhnij⸗Nowgorod nad Kajan, 
durchreifte von bier aus die Landflrihe der Wotjaken und Bafchliren und überſchritt 
am 4. (16.) December den Ural. Unter den Wogulen, ald den muthmaßlich nächſten 
Stammverwandten der Magyaren, bielt R. fich eine lange Zeit auf und lernte fie in 
allen häuslichen, gefelligen und feſtlichen Beziehungen Eennen. Er befuchte ferner 
Tomsk, durchfireifte dann die Tundren am untern Ob und lernte unter vielfachen 
Entbebrungen und Strapazen auch die Sprache und das Dolfslehen ver Oſtjaken 


Rehberg (Auguft Wilhelm). 19. 


kennen. Rah Kafan zurüdgelehrt, wandte ex ſich den Sprachen der Morbwinen, 
Tſchuarſchen und Ifcheremiffen zu, deren durch Daß dortige, mie die umgrenzenden 
Gouvernements zerfireute Wohnſitze er auch felbft bereiſte. Von feinen Wanderungen, 
Beobachtungen und Ergebniffen fandte er von Zeit zu Zeit intereffante und Iehrreiche Bes 
richte ein, welche in den Memoiren und Bulletins der St. Beteröburger Akademie der 
Wiſſenſchaft abgedruckt fliehen. Am 15. (27.) Auguft 1846 langte R. in St. Pe 
teröburg wieder an und flellte bier, auf den Wunfd der dortigen berühmten und 
weltbefannten Geographiſchen Gefellfchaft, nady den von ihm während eines faft fieben- 
jährigen Zeitraums mühevoll angefammelten Materialien eine ſprachliche Karte des 
nördlichen Uralgebieted zufammen, eine Arbeit, die feinen Auf für immer begründet 
hat und bie ihn zum erften Finniften feiner Zeit erhob. Die großen Anftrengungen 
feiner Reifen und Studien hatten leider feine Gefunpheit in gefährlicher Weiſe er⸗ 
ichüttert; er ſah ſich gendthigt, ſchon im Sabre 1847 in der Waflerbeilanftalt zu 
Gräfenberg Heilung für feinen angegriffenen förperlihen Zufland zu fuchen; von dort 
aus befuchte er auf kurze Zeit feine Heimath, begab fich aber gleich darauf nach dem 
&ulturfige Deutfchlands, Berlin, wo er mit Männern wie Grimm, Bopp, Schott u. U. 
in eine innige durch wedhfelfeitige Achtung und Anerkennung befefligte Verbindung 
trat, um unter deren Beirath und mit ihrer Hülfe das rieflg angehäufte Material zu 
ſichten und zu verarbeiten. Aber die angeftrengte Arbeit rief feine Förperlichen Leiden 
wieder hervor, und auch dad Amt eines erfien Euflos der Peſther Univerfitätsbiblio- 
thek, welches er nicht ohne große Anſtrengung feitens feiner Gönner und Freunde in 
der Heimath überfam, Eonnte er, troß eines ſchon Im Juni dieſerhalb an ihn ergan⸗ 
genen Rufes, erft im September 1849 antreten. Leider erlaubte ihm feine total ge» 
ſchwächte Geſundheit nicht, Die wiederholt vorgenommene Bearbeitung feiner reichhal⸗ 
tigen philelogifihen und ethnographiſchen Sammlungen durchzuführen; er erlag feiner. 
Krankheit auf einer Villa des Dfener Gebirges den 23. Auguft (4. September) 1858, 
im kaum vollendeten 39. Jahre feines um die Sprachmiffenfchaft hochverdienten Le» 
bens. Ungarn verlor in ihm nicht nur eine der bedeutendſten wiſſenſchaftlichen Kräfte, 
fondern and eine ihrer liebenswürdigſten und gewinnendften Perfönlichkeiten, indem 
ein edles, humanes, vorurtbheildlofes und geiftvolles Streben alle Unternehmungen des 
zu früh dahingeſchiedenen Gelehrten befeelte und förderte Die ungarifhe Akademie 
bat fi) der wiſſenſchaftlichen Hinterlaffenfchaft R.'s auf's Uneigennügigfle angenom- 
men und ift bis zum Augenblid aufs Thätigfte mit den Vorbereitungen zur Heraus⸗ 
gabe feiner “Arbeiten befchäftigt. 

Rehberg, Auguft Wilhelm, geboren 15. Ianuar 1757 zu Hannover, geftorben 
9. Auguft 1836 zu Böttingen ald koͤnigl. bannovericher Geheimer Gabinetsrath a. D., 
bat ſich ſowohl als Staatsdiener wie ald Schriftfteller große Verdienſte erworben, 
Die erſte Jugend hatte er laut eigenem Bekenntniß mit der Erlernung alter und neuer 
Sprachen zugebraht und einige Bekanntfchaft mit den allgemein Intereffanten Seiten 
der Literatur erworben. Eine fehr lebhafte und unbeflinmte Wißbegier trieb ihn zu 
den mannichfultigften Beichäftigungen. Mit der fpeculativen Philofophie brachte er 
einige Sabre, 1775 — 1779, auf den Univerfitäten Leipzig und Göttingen zu und 
dachte aus ihr eine Hauptbeihäftigung feines ganzen Lebens zu machen; während 
feiner Studienjahre hörte er fo wenig ein juriftifches Collegium, als ex fpäter ein 
juriſtifches Eramen beftanden bat; ja in die Logis⸗Liſten der Stubirenden zu Böttin- 
gen war er als Mediciner eingetragen. Ein inniged Breundfchaftsband ſchloß er mit 
dem gleichfalls in Böttingen fludirenden Freiherrn v. Stein, welchen er audy nad 
Naffau begleitete. Beide Snglinge, von einem weiten, flcheren, rafch durchdringenden 
BE, einem feltenen Reichthum des gründlichen Willens, von einer rafllofen nimmer 
ermüdenden Thätigfeit, aber auch von derfelben aufbraufenden Heftigkeit des Blutes. 
Eine von der Akademie der Wiffenfchaften zu Berlin 1779 aufgegebene Preidfrage: 
„Aber das Wehen und die Einfchräntung der Kräfte”, bot R. eine erwünfchte Ge⸗ 
legenbeit, feine Ideen Über die Gründe und die Grenzen ber menfchlihen Erkenntniß 
mit Hoffnung eines günftigen Erfolges vorzutragen. Die Akademie erfannte daß 
Aecefſtt zu, Dadurch wurde bie Aufmerkfamkeit auf einen fungen Schriftfteller gelenkt, 
dem es nicht an Dretfligkeit fehlte, felsftifländig auftreten zu wollen. Die Abhand⸗ 

2% 


20 Rehberg (Auguf Wilhelm). 


lung machte mehr Auffehen, als der Inhalt an fi Hoffen ließ; ein Mitglied ver 
Afademie, dem fle gefallen hatte und den Friedrich II. perfönlih ſchaͤtzte (Merian), 
ward Dadurch veranlaßt, A. zu der Dur Sulger’8 Tod erledigten- Stelle zu empfeh⸗ 
len. Der König erwiberte aber: „Er nehme feine Köche von Hannover, Philoſophen 
aus der Schweiz." in Genfer, Prevoft, erbielt die Stelle, in welcher R.'s Beichäf- 
tigung und feine Denfart eine ganz andere Richtung genommen haͤtten, als fie durch 
die eigentbümlichen Verhältniffe feines Vaterlandes und feiner Beflimmung in dem- 
felben nachmals erhalten haben. Im Jahre 1783 wurde er befonders aus Bezlehung 
auf das Fürſtenthum Osnabrück Secretär des damaligen Fürſtbiſchofs Herzogs von 
Dorf; er Fam in nähere Beziehung zu Juſtus Möfer, welcher bedeutenden Einfluß 
auf ihn gewann. Im Jahre 1786 warb R. mit dem Titel Geheimer Kanzlei⸗Secretär 
als Meferent in Landesfachen bei dem koönigl. Winifterium zu Hannover angeflellt. 
Die Bearbeitung wichtiger Gegenflände wurde ihm übertragen und durch feine freund« 
ſchaftlichen Verbindungen mit Brandes, v. Bremer, Höpfner, warb er fortwährend in 
die Erwägung bedeutender Aufgaben und Berbältniffe des Staats hineingezogen. 
Er begleitete nach dem Tode Friedrich's des Broßen den Minifter v. Beulwig bei 
einer Sendung nad Berlin ald Secretaͤr. Einige Jahre fpäter (1790 — 1793) er⸗ 
fihienen in der Jenaiſchen Allgem. Litteratur-Zeitung feine ausführlichen Beurtheilungen 
der Schriften über die franzöflfche Revolution; vieles davon ift eingefchaltet, manches 
abgeändert in den 1793 erfchienenen „Unterfuchungen über die franzdflfche Revolution 
nebft Tritifchen Nachrichten von den merkwürdigften Schriften, welche darüber in Frank⸗ 
reich erfchienen find." 2 Thle. Seine Etwägung der Ereigniffe, welche die große Welt 
begebenheit herbeigeführt hatten, ber Grundſätze, von denen man ausging, ber Rai⸗ 
fonnements, mit welchen man ſie vertheidigte oder befämpfte, that dar, wie fcharf, 
feft und ficher feln Urtbeil über politifche Angelegenheiten, Einrichtungen und Stree 
bungen ſchon damald war. Was er nachwies und verfündigte, bat der Erfolg mehr 
als beſtaͤtigt, nämlih, das fo viel Ungluͤck und Verwirrung erzeugende Berfeblen 
defien, was man für immer fchon erreicht zu haben glaubte. Dieſes Werk, welches 
größere Aufmerffamkeit auf ſich zog und tieferen Eindruck bervorbrachte, als jebt irgend 
etwas Bedrudtes vermag, hat Viele mehr oder weniger von Verirrungen zurüdgeführt 
oder davor gefchügt, machte aber damals feinen Verfaſſer in Deutfchland fehr unpopu⸗ 
lär und gehäffig, zog ihm auf Iange Zeit die Benennung eined Obfeuranten zu. 
Selbft in dieſen Auffägen erklärte ſich R. für Verbefferung des bürgerlichen Zuſtandes 
der Volker und Aufhebung aller Mißbräuche, welche er aber von oben mit Weis. 
. beit allmählich bewerfftelligt, nicht aber von unten erflürmt haben wollte. Als R. 
in diefem Geifte über die gewaltigen Ereigniffe in Frankreich zu fchreiben - begann, 
fland Geng noch auf den Verzeichniffen der Berliner Polizei in den erften Reihen der zu 
fürdhtenden Anhänger der franzöflfchen Revolution; diefer hat ſelbſt in einem Schrei⸗ 
ben an Ienen anerkannt, wie viel Mehberg zu feiner heilfamen Belehrung und Um⸗ 
änderung beigetragen babe. — Als im Jahre 1797 die Derabfchiebung bed Hof⸗ 
richters und Landraths v. Berlepſch in einer bewegten Zeit die öffentliche Meinung 
fehr gegen fich hatte und die Galembergifchen Stände beſonders durch eine von Pro⸗ 
feſſor Häberlin in Helmſtedt ſechs Wochen vor ihrer Zuſammenkunft erfchienene Schrift 
(über die Mechtöfache des Herrn Hofrichterd, auch Land» und Schatzrath v. Berlepfch, 
Berlin 1797) aufgereizt wurden, dem Landesherrn nicht zu geftatten, einen von ihnen 
gewählten und böchften Orts beftitigten Landrath einfeltig und willkürli zu entlafien, 
machte eine von Rehberg verfaßte, aber nach den eigenen Worten (Borrede ©. 2) 
nicht als officdell anzufebende und wenige Tage vor Zufammentritt der Stände ver- 
breitete „artenmäßige Darftellung der Sache des Herrn v. Berlepſch, Hannover 1797,“ 
einen ſolchen Eindrud, daß dad Streben, die Stände für Herren v. Berlepſch zu ge- 
winnen, wider alles Erwarten vereitelt wurde. R.'s Bemühungen glüädte es, bie feit 
langer Zeit vergeblich verfuchte, ſehr wünſchenswerthe Vereinigung der Galembergifchen 
und Grubenhagiſchen Provinziale Landfchaft zu Stande zu bringen. Im Jahre 1802 
flug Stein bei einem Befuche in Hannover M. vor, in preußifche Dienfle zu treten; 
lebhaft im Zimmer auf und ab gehend, fagte der damalige Ober-Präfldent ſaͤmmt⸗ 
licher weftfälifcher Kammern: „Kommen Sie mit, wir wollen ben Münfterländern bie 


er I. | rei, 2," 


Rehberg (Auguft Wilhelm). 21 


preußifche Accife einimpfen.” R. war jeboch nicht zu bewegen; fle trennten fi, um 
einander nie wieder zu begegnen. R. vermuthete, daß der Einfluß der Walmodenfchen 
und Steinbergſchen Familien — ebler, aber in Standesvorurtbeilen befangener Men⸗ 
ſchen — ihr Verhaͤlmiß allmähliy gelodert babe. (Perg, Leben des Miniſters Frei⸗ 
bern v. Stein, 1. Bd. Berlin 1849, S. 159.) M. begleitete den Minifter v. Arnd» 
walde im Winter 1802/3 nad Osnabrück, um das Fuürſtenthum für Hannover in 
Befig zu nehmen und zu organifiren. Während diefer Zeit erſchien die Schrift „Vieber 
den deutſchen Adel", Göttingen 1803, melde bei dem lebhafteſten Gefühl für die 
wohlbegründeten Rechte und Borzüge des im Lande anfälfigen Adels, doch den Adel 
aufforderte, ſelbſt aufzugeben, was dem Staate nachtheilig, anderen Ständen zu ge 
haͤſſig, drüdend und in unferer Zeit nicht mehr haltbar ſei. Er drang darauf, daß 
der Abel durch höhere Bildung und wohlthätiges Wirken fi auszeichnen und 
in feinee wahren Stellung zu erhalten fuchen müfle. In einem bald darauf 
folgenden Zeitraum war er zweimal Mitglied von Deputationen, melde Na⸗ 
mens des Hannonerfhen Landes an Napoleon gefandt wurden, die erfle nad 
Berlin und Pofen, die zweite in Folge des Tilfiter Friedens nah Maris. 
Das damals erfchienene Buch über „die Verwaltung deutſcher Ränder 1806" deckte 
die Schwächen der früheren preußifchen Verwaltung fo fehonungslos und fehneidend 
auf, daß die Erinnerung daran noch 1815 Niebuhr, Rehberg's großen Verehrer von 
Kindheit an, auf dem Wege zu ihm in Hannover zur Umkehr bewog und diefer fi 
zu einer Öffentlichen Anzeige feiner Schriften erſt verfiehen wollte, wenn R. in ber 
Vorrede eine Ehrenerflärung über feine Angriffe gegen Preußen gegeben Habe (Lebenso⸗ 
Nachrichten, 3. Band, Hamburg 1839, ©. 229). Während der Gewaltherrfchaft des 
„Königreichs Weftfalen" verwaltete R. die Stelle eined Director der indirecten 
Steuern des Aller-Departementd in Hannover. Im Jahre 1814 veröffentlichte er die 
Schrift „über den Eode Napoleon”, welhe Savyigny (Bom Beruf unferer Zeit 
für Gefepgebung und Rechtswiſſenſchaft, 3. Aufl., Heidelberg 1840, ©. 53) eine fehr 
geiftteiche und gründliche nennt, und Thibaut (Leber die Nothwendigkeit eines allge» 
meinen bürgerlichen Rechts für Deutfchland, Heidelberg 1840, ©. 55—88) einer 
recht anerkennenden Mecenfion würdigte. Als Das Land wieder an feinen rechtmäßigen 
Regenten kam, ward R. Mitglied der proviforifchen Regierungs-Gommiffton und bald 
darauf Geheimer Cabinets⸗Rath. So eröffnete fich ihm eine große Laufbahn. Die 
alten Einrichtungen waren zerflört und unterbrochen, fie follten nur zum Theil wieder 
bergeflellt werben. Das Land fühlte jetzt erſt die Folgen des Tangen Drudes für 
Einzelne und für das Ganze im vollen Umfange Die Anfprüche, welche gemacht 
mwurben, gingen fehr weit. Ein Theil des Landes und deſſen Nachbarfchaft blieb noch 
Immer der Schauplah des Kampfes. Neue Provinzen fielen dem neu gebildeten 
Königreiche zu und mußten ‚organifirt werden. Das bei weitem Mehrſte, was von 
oben neu anzuorbnnen und zu leiten war, erforderte die volle Einwirkung und Lenkung 
des thätigen Cabineis⸗Raths. Er übernahm unftreitig oft für die Kräfte eines Eins 
zeinen zu viel; zu feiner Entfchuldigung dient, daß er fich den angemefjenen Beiftand, 
nach welchem er fich fehnte, nicht verfchaffen Fonnte. In einer fpäteren Schrift „Zur 
Geſchichte des Königreihd Hannover in den erften Jahren nad der Befreiung von 
der weſtfaͤliſchen und franzöftfchen Herrſchaft, Göttingen 1826,” Hat A. felbft darge- 
Rellt und entwidelt, was in diefer Reihe von Jahren neu zu fchaffen oder Doch andere 
zu geflalten war. Die glaͤnzendſte Epoche von R.'s Geſchaͤftsleben war die Bere 
fchmelzung fämmtlicher Provinzialflände, jedoch ohne deren Aufhebung, zu einer allge- 
meinen Ständeverfammlung, welche nach feinem Plane zu Stande Fan, da er da⸗ 
mıald ber einzige Mann des Cabinets war, welcher aus eigener Erfahrung und aus 
Kenntniß fremder Berbältniffe mit dem Ständemefen vertraut war, So arbeitete er 
Die Geſchaͤftsordnung nach dem Mufler der englifchen aus, Hatte die Negierungsdrebe 
zu fehreiben und ald Mitglied der Ständeverfammlung murde er von dem PBräffdenten 
au um Abfaffung der Antwort erfucht. Später wurden ihm Hinfichtlich der Bildung 
einer Erſten Kammer Borfchläge abgefordert, welche er auch einreichte. Als aber in 
London beliebt wurde, die Erſte Kammer aud dem Adel mit Hinzufügung einiger weniger 
Gelſtlichen zu formiren und die Zweite bloß aus Mepräjentanten ber Städte und 


- 


22 | Rehfues (Philipp Joſeph von). 


Stifter, fo wie der freien bäuerlichen Landbeſttzer beſtehen zu laſſen, ſah R. eine ſolche 
Maßregel ald nachtbeilig felbf auf die Dauer für den Udel an. In dem Eifer, den 
Plan zu verhindern, ging er unzweifelhaft weiter, als feiner Stellung entfprach, jedoch 
ohne Verfennung der daraus für ihn entftehenden Folgen. Das auffallende Schweigen, 
welches er in den Ständen während der ganzen langen Berbandlung beobachtete, ent» 
ſprach nicht den Erwartungen des in London birigenden Minifters Grafen v. Münfter, 
befien Gunſt fhon durch Verleumdung von R.'s Feinden merklich gefchwächt war. 
R. fah ein, Daß er in Zukunft nichts @rfprießliches mehr werde leiften Eönnen, und 
begehrte daher 1820 feinen Abſchied, welcher gern und mit vielen Lobesertheilungen 
gewährt wurde. Er wählte ’zunähft Dresden zu feinem Aufenthalte, wo er ganz der 
literarifchen Muße Iebend, feine fämmtlichen Schriften, 1., 2. und 4. Band — der 
3. Theil tft nie erfchienen — Hannover 1828—1829 herausgab. Nah Niebuhr’s 
Urtheil (Lebend-Nachrichten, III. Band, Hamburg 1839, S. 214) „gehörte Die Schriften- 
fammlung unftreitig zu den bedentendften Werfen in unferer Sprache". R. perfönlich 
kennen zu lernen, war Niebuhr faft wichtiger als Boethen Eennen zu lernen, den Rahmen, 
ber das Ganze zufammenhält, nannte er meifterhaft, ©. 227. Auch Fr. Perthes 
(Zeben II. Band, Gotha 1855, S. 417) fand die Schriften „überaus anziehend und 
unterrichtend*. Seit 1829 nahm R. in Göttingen feinen bleibenden Aufenthalt, wo 
fein gaſtliches Haus audy jüngeren Leuten zur vielfeitigften wiffenfchaftlichen Anregung 
geöffnet blieb. Die Bewegungen des Jahres 1830 veranlaßten ihn, feine eigenthüm⸗ 
lihen Meinungen über die Gegenftände der fändifchen Beratfung mit anftändiger 
Sreimüthigfeit in der unter Perg Redaction erfcheinenden Hannoverfchen Zeitung zu 
veröffentlichen, für welche er damals, da auch in Hannover die Gemüther wach ge- 
worden waren, lieber jchrieb, weil feine Worte mehr in das Volk dringen konnten, 
als in den Bdltinger gelehrten Anzeigen, denen er freilich auch nicht untreu wurde, 
Diefe in der Abflcht entworfenen Aufjäge, „die Ihm aus eigener Beobachtung und Er- 
fahrung entflandenen Anfichten der Erwägung derer zu unterwerfen, welche berufen 
find, gegenwärtig zu handeln“, erjchtenen verbeflert und vervollftändigt unter dem Titel: 
„Gonftitutionelle Phantafleen eines alten Steuermanns im Sturme des Jahres 1832, 
Hamburg 1832." Im Jahre 1835 gab er noch zwei Eleine Schriften heraus: „Die 
Erwartungen der Deutſchen von dem Bunde ihrer Fürften,” und „Goethe und fein 
Jahrhundert” (eine verfehlte Beurtbeilung), beide in Bran’8 Minerva, und legte 
fur; vor feinem am 9. Auguft 1836 erfolgten Tode noch einmal in den Göttinger 
gelehrten Anzeigen fein politifche® Glaubendbefenntnig ab, bei Der Anzeige des Buches 
von Toequeville „de la Democratie en Amerique,* den R. was die Beobadhtung 
feiner Nation und ihrer Bedürfniffe anbetreffe, noch über Guizot und Thiers ftellt. 
Rehfues (Philipp Joſeph von), geb. 2. October 1779 zu Tübingen, gef. 
23. October 1843 ald Geheimer Ober⸗Regierungs⸗Rath, Regierungsd-Bevollmächtigter 
und Gurator der Univerfität Bonn. Nah empfangener Borbildung auf dem prote⸗ 
ftantifchen Seminar zu Tübingen erhielt er 1801 eine Hauslehrerftelle in Livorno 
und blieb nach baldiger Auflöfung dieſes Verhältniſſes bis zum Jahre 1805 in Ita⸗ 
lien, gab 1802 mit I. F. Tſcharner („zwei reifende Deutſche“) eine Zeitfchrift „Ita- 
lien“ beraus, dem ſich die italienifchen Miscellen, fo mie mehrere Fleine Schriften über 
Sieilien anfchlofien, auch übernahm er diplomatifche Aufträge für bie Königin Karo⸗ 
line von Neapel. Im Jahre 1806 trat er als Bibliothefar und Vorleſer in die 
Dienfle des damaligen Kronprinzen Wilhelm von Württemberg. Während diefer Zeit 
unternahm er eine Reife nach Ober-Italien, Schweiz und Frankreich (Befchreibung 
meiner im Sabre‘ 1808 über Tyrol, Ober: Italien, Schweiz und Frankreich gemachten 
Reife, Srankfurt 1812) und beſchrieb Spanien nach eigener Anficht im Jahre 1808 
und nach ungebrudten Quellen bi8 auf die neuefte Zeit. 4 Bde., Frankfurt 1813, 
welches Werk noch als Manufcript von Guizot franzöflfch bearbeitet wurde. Seine 
Theilnahme an den Befreiungdfriegen bewies er durch die „Reden an das deutſche 
Boll. Nürnberg 1813.° In Folge diefer Geflnnung wurde er 1814 Hofrath und 
Kreis Director zu Bonn; die Beweife von Gefchäftstüchtigkeit, welche er in dieſer 
Stellung ablegte, veranlaßten 1815 feine Berufung zur Armee nad Frankreich. Nach⸗ 
dem Preußen die Mheinprovinz foͤrmlich übernommen hatte, wirkte er eine Zeit lang 


Nehm (Brietris) Rehmann (Sofeph). 23 


zu Köln und Bonn für dad Interefle des Löniglichen Dienfles, murbe 1818 Negie- 
rungsbevollmächtigter an der Rheiniſchen Briedrih:Wilhelms-Univerfität zu Bonn, 
1819 Geheimer Regierungsrath und erhielt wegen feiner Verdienſte um die Organi⸗ 
fetion und Berwaltung diefer Hochfchule 1826 den preußiſchen Erbadel. Seine Thaͤ⸗ 
ügfeit bei Gelegenheit der demagogifchen Unterfucdhungen und bei fonfligen Maßnahmen 
gegen Die deutſchen Univerfltäten haben von liberaler Seite manchen Tadel erfahren. 
Im Jahre 1842 309 er ſich auf fein But am Siebengebirge zuräd und fiarb dafelbfl 
am 21. October 1843. Mit feinen durch Fülle des glücklich beberrichten Stoffes 
außgezeichneten biftorifchen Homanen trat er erft In fpdterer Zeit auf; „Seipio Gicala, 
Leipzig 1832, 4 Bde“, wird für ein in jeder Beziehung vollendetes Kunſtwerk ger 
halten, ja von vielen Kritiken fogar über Walter Scott's befle Arbeiten geftellt. Die 
nachfolgenden Romane: „Die Belagerung des Gaftelle von Gozzo, oder der letzte 
Affeffine, Leipzig 1854" und „Die neue Mebea, Stuttgart 1836" fliehen, obwohl eben- 
falls gelungen, doch jener WMufterarbeit nah. In der originellen, gleichfalld anonym 
(Stuttgart 1843) erſchienenen Schrift: „Ueber Vermögen und Sicherheit des Beſttzes. 
Geſpraͤche zwifhen dem Beamten, dem Breiberen und dem Kaufmann”, taufchen in 
bialogifcher Form die Regierungdgemwalt, der Grundbeſitz und der Handelsftand ihre 
Anfichten über den Urfprung und Fortgang des Nationalreichthums aus, über bie 
brüdendften Laften, welche beionderd das unbewegliche Eigenthum in feiner Ergiebig- 
keit hindern, über Staatöfhuldenwefen und eine Neibe von Pragen, die mehr ober 
weniger wirklich hierher gehören, oder durch geſchickte Seitendiverfionen des dialektiſch 
feingebildeten Verfaſſers mit herangezogen werden. 

Nehm (Friedrich), tüchtiger Gefchichtöfchreiber, geboren am 27. November 1792 
in dem kurheſſiſchen Dorfe Immichenhain, flupirte feit 1808 in Marburg Theologie 
und Geſchichte und feit 1812 in Göttingen ausſchließlich Geſchichte, die er mit einem 
von der theologiſchen Yacultät audgefegten Preis für feine „Historia precum biblica* 
(Böttingen 1814) geihmädt, feit 1815 bis 1847, in welchem Jahre er flarb, in 
Marburg lehrte. Don ihm haben wir: „Handbuch der Gefchichte des Mittelalters * 
(4 Bde, Warburg 1820 - 1839), „Abriß der Gefchichte des Mittelalters" (Kaflel 
1840), „Handbuch der Gefchichte beider Heflen? (2 Bde. Marburg 1842—1846), 
„Lehrbuch der Hiflorifchen Propädeutik und Grundriß der allgemeinen Gefchichte“ 
(Marburg 1830, 2. Aufl, herausgegeben von H. v. Sybel, Marburg). 

Nehmaum (Joſeph), der gelehrtefte Arzt Rußlands, bekannt Durch feine Erpe- 
Bition nach China, feine Kenntniffe in der Mandfchufpracdhe und jeine Keiftungen auf 
ven Gebiete der medicinifhen Literatur, iſt von Geburt ein Deutfcher, indem er im 
Jahre 1779 zu Karlöruhe in Baden geboren ward, mofelbft ex auch feine erſte Aus⸗ 
bildung erhielt. Später fludirte er in Heldelberg und Paris, wandte fi, von Heife- 
drang getrieben, frühzeitig nah Rußland und machte von St. Peteröburg aus, mo 
feine geſchickte Praxis bald die Augen der faſhionablen Welt auf ihn richtete, audge- 
dehnte Reifen in das Innere Rußlands, namentlich nah Moskau, Klein- und Güde 
zußland, wobei er ſich zugleich in der Kunde der offleinellen Gewäaͤchſe des ruſſiſchen 
Reiches umfaffende Kenntniffe erwarb. Als Kaifer Alexander 1. eine Geſandtſchafts⸗ 
reife an den Belinger Hof zur Ablöfung der fchon feit zehn Jahren daſelbſt verwei⸗ 
lenden geiftlichen Ambafjade ausrüftete, lieb R. fih als Arzt bei der Gefandtfchaft 
anftelen und begleitete Die Expedition, welche. leider nur bis Maimatſchin vorbrang, 
von wo aus R. in die Hänge des Altaigebirgs fi begab und weiter gelangte, als 
irgend ein Meifender vor ihm, indem er zugleich die fongarifchen Alpenländer im 
botaniſchen Sinne trefflih ausbeutete und feinen fypäteren gelehrten Nachfolgern 
v. Ledebour, Alerander v. Bunge, Karelin u. U. m. für ihre naturwiffenfchaftlichen 
Forſchungen ‚gleihfam die Bahn brach. Nach feiner Müdkehr aus China, wo er 
zugleich dad Chineſiſche und namentlih Mandſchuriſche fo tüchtig ſtudirt Hatte, daß 
er im Stande war, mehrere meblcinifche Abhandlungen aus dem Mandſchu (mie ver- 
fihiedene Schriften über die Geburtshülfe) in’s Ruſſiſche und Deutfche (St. Peters⸗ 
burg 1810 und Riga 1812) zu Überfegen, erhielt er den Charakter eines Wirklichen 
Staatsraths und den Titel Excellenz, wurde erfter Leibarzt des Kaiferd von Rußland 
uud and in diefer Stellung dem Medicinalweſen bes ganzen rufflichen Reiches vor, 


24 Rehnſtjöld (Karl Guſtav Graf v.) Reich (beutfäeh). 


wo er zur Berbefierung des Heilmefens und namentlich zur Neugeftaltung bes vufflfchen 
Hoſpitalweſens förderlich beitrug. In den legten Jahren feines Lebens, zu Anfange 
der Regierung des Kaifers Nikolaus I, war R. faft immer koörperlich leibend und 
hielt fih Jahre lang in Deutſchland auf, wo Ihn der Gebrauch der boͤhmiſchen Bäber 
ſoweit flellte, daB er 1830 die Rückkehr in fein neues Baterland magte. Gleich⸗ 
wohl verfiel er in fein früheres Leinen bald darauf zurüd und flarb 1831 zu St. 
Petersburg, allgemein geachtet und betrauert. inter feinen vielen ärztlihen Schriften 
zeichnen wir als Die wichtigeren aus die Schrift: „Anzeige eined Mittels, die China» 
sinde zu erſetzen“ (Moskau 1809), feine „Befchreibung einer tibetanifchen Hand⸗ 
apotheke" (St. Petersburg 1811) und die von ihm in Verbindung mit Burbach und 
Crichton herausgegebene „Sammlung für Naturwiflenfhaft und Heilkunde“ (Riga feit 
1815), welche bis zu feinem Tode fortgeſetzt warb. 

Rehnſkjöld (Karl Guſtav Braf von), tüchtiger ſchwediſcher Feldherr unter Karl XI. 
und Karl XI, wurde 1651 zu Stralfund, der damaligen Hauptfladt von Schwediſch⸗ 
Pommern, geboren, befuchte exrft die Hauptfchule feiner Vaterſtadt, dann die Univer⸗ 
fltät zu Lund, nahm 1673 fchwebifche Kriegsdienfte und avancirte noch unter Karl XI. 
zum General en chef der gegen die Dänen kaͤmpfenden fchwebifchen Truppen. Au 
an der Expedition Karl’ X. nach Seeland im Jahre 1700 nahm er thätigen An- 
theil, zeichnete fich aber noch im böberen Maße im großen norbifchen Kriege bei der 
Belagerung Riga's und in der blutigen Schlacht von Narwa aus, was den König 
von Schweden veranlaßte, R. mit dem Obercommande der nah Polen zu birigirenben 
Truppen zu betrauen, in welchem Kriege diefer gleich tapfere wie umfichtige Beneral 
fich feine Hauptlorbeeren erfoht. Im Jahre 1703 fegte er fich In Beſitz von Thorn, 
nachdem er fehon 1702 die Sachfen bei Kliffom gefchlagen und ihnen auch bie ſchmäh⸗ 
liche Niederlage bei Pultusk beigebracht hatte. Auch bei der Erflürmung von Lem- 
berg 1704 war er zugegen; zu feinen glaͤnzendſten Waffenthaten gehörte aber ber 
Sieg, den er 1706 über das fächlliche Kriegsheer bei Frauſtadt erfocht, der für 
Karl XII. ſolch' eine milttärifche Bedeutung batte, daß er ihn unmittelbar nach demfelben 
in den ſchwediſchen Reichs grafenſtand erhob und mit dem Feldmarſchallſtabe belohnte, wie 
er ihm denn bald darauf au eine Stimme im fchmebifchen Senate verlieh. Als’ 
Karl XI. im Verlauf des Krieges mit Peter dem Großen nach Klein-Rupland ging, 
focht R. oft mit wagehalſigem Muthe an der Seite feines Gebieters, dem er trotz 
aller feiner Tapferkeit und Kriegskunſt die ſchreckliche Nieberlage bei Bultawa am 
27. Juni 1709 nicht erfparen konnte. Nachdem er Bedacht genommen, feinen Mon⸗ 
archen in's türkifche Heerlager zu flüchten, commanbirte er die geſchlagene ſchwediſche 
Armee noch eine Zeit lang mit Erfolg dem ruſſiſchen Siegesheere gegenüber, bis er 
fich zu feinem Schmerzge, um nicht dad Leben von Taufenden auf's Spiel zu ſetzen, 
genöthigt fand, fi den Auffen als Krlegögefangener zu ftellen. Sechs Jahre lang 
war er Befangener Peter's des Broßen, der ihn vergeblich zu überreden verfuchte, in 
feine Dienfte als commandirender General zu treten. Erſt 1717 feiner Haft entlaflen, 
fehrte R. ſofort nah Schweden zurück, wurde liebreih von feinem Monarchen aufge 
nommen und von Norwegen aus nad Schonen birigirt, wo er am 18. December 
1718 commanbirte, als Karl XIE vor Friedrichſhall fiel. Auch unter der Königin 
Ulrike Eleonore :ungirte R. ald Kommandeur der ſchwediſchen Neichſsarmee und er- 
lebte noch als ſolcher die drei Friedensabſchlüſſe 1720 mit Preußen, Polen und 
Sannover, 1721 mit Dänemark und im nämlichen Jahre mit Rußland (zu Nyſtaͤdt), 
worauf er fich in’8 Privatleben zurüdgog, ohne fi an den von jenem Zeitpunfte an 
fein Vaterland erfchätternden Fractiondfämpfen der Ariftofraten, die ſich bekanntlich in 
die Parteien der Hüte unter Gyllenborg und der Mügen unter Horn fpalteten, zu be⸗ 
tbeiligen. Er flarb 1722. 

Neid, deutſches, „Heiliges römifhes Reich deutſcher Nation, * 
(Sacrum Imperium Romanum Nationis Germaniae) iſt der Name des im Jahre 1806 
untergegangenen Staats, welcher aus dem mit dem Bertrage von Verdun in bie 
Staatengefchichte eintretenden deutſchen Königreiche und dem daran gehängten 
rtömifhen Kaiſerthume befland. (Vergl. d. Art. Dentiches Kaiſerthum.) Das 
Wort „ Reich * bezeichnete bald das Landgebiet, bald die gefammte vereinigte Reichb⸗ 


un — 1 — — 
“ an m 


Heid (deutfäget). 25 


gewalt (Kaifer und Beichöflände), bald (im engeren Sinne) bie Gefammtheit ber 
Reichsſtaͤnde im Begenfage zum Kaiſer. Das deutſche Reich Hatte ſich im Kaufe der 
Zeit emtfchieden als eine durch Meihsfände beſchränkte Wahlmonarchie, und 
gleichzeitig ald ein aus vielen Barticularftaaten (Territoria) zufammengefegter Staats» 
löryer (Staatenflaat) ausgebilvet. Hiernach ergiebt fih das Doppelfundament 
ver Reichöregierung von ſelbſt. Sie berubte 1) auf dem Principe der Reitysein« 
beit und 2) auf der Maxime der Staatentrennung und particulären 
Selbſtſtändigkeit. Die Reichſgewalt, d. b. das Herrfcherrecht im deut⸗ 
ſchen Befammtftaate (ſog. Reich ſtaate) fland unftreitig dem Kalfer zu: er 
allein galt im Reichsſſtaate als ſouveräner Monarch, und diefe feine Eouverän es 
tit aͤnßerte ſich vorzugsweiſe In feinem Mechte der Sanction der Reichsgeſetze (feinem 
Veto) und der audfchließligen Leitung der auswärtigen Angelegendeiten. Aber fo 
body der Kaifer als Herrfcher über Fürſten und andere vegierende Herren ſcheinbar 
gekellt war, fo war er doch an realer Gewalt der eingefchränktefle Monarch der 
Chriſtenheit. Es ift daher ſehr erflärlih, dag in den legten Zeiten die Publiciſten 
meiſtens dad Meich, oder den Reichsſtaat felbft als das eigentliche Subfeet der Re⸗ 
gierungsgewalt betrachteten. 1) Die königliche Gewalt befland demnach In dem 
Nechte des Kaiſers, die Mechte des Reichs in verfaffungsmäßiger Weiſe auszu« 
üben. Die Wablcapitulation (Art. 1. 6 1) bezeichnet die Megierungsgemalt des 
Kalfers als Königs von Germanien: „LUnfere Böniglihde Gewalt, Amt und Res 
gierung." Jedoch war man wohl Allgemein einverflanden, daß der deutfche König 
(Kaifer) weder als ein Mandatar noch ald ein Beamter des Reichs zu betrachten fei, 
fondern als wahrer und alleiniger fonveränerr Monarch in Deutfchland. Nur hatte 
fh eine Lehre von einer Art von Staatäfouveränetät audgebildet, welche in der Eigen 
fchaft des Reichs als Wahlreih und dem Dafeln einer mächtigen reichsftändifchen 
Körperfchaft wurzelte, ohne aber im Wefentlichen irgend etwas zu erklären. 2) Die 
Lehre gebt bis auf den Sachſenſpiegel zurüd, der (II, 52, 6 1) von „des rikes 
gewalt*, die dee Kaiſer Habe, fpriht. Dem entiprechend gelobte der Kaifer im 
Krönungseide (daſ. IH, 54, 6 2) „dat He it rife vooſta an fine rechte". Hier hat 
man den unverlennbaren Ausdrud für Die Idee der Mepräfentation des Staats durch 
den Souverin. Gaͤmmtliche Reichdfürſten waren daher der Theorie nach bes Kaiſers 
Unterthanen, wenngleich man aus Gourtoifle diefen Ausdruck gern vermied und 
gewähnlih nur von ihrer Subordination ſprach. Der Kalfer ſelbſt galt ale 
Reichsfürſt Hinfichtlich feiner Erblande als Untertban und beziehungsweife als Lehens⸗ 
mann des Reichs. Die Territorien waren, mit Ausnahme der freien Meichöftädte 
und der wenigen Reichsdorfer, melftend (durch Landflände) befchränfte Mon« 
archieen. Aus der Marime ber Reichseinheit leitete man folgende Sätze ab: 1) Das 
Oberauffichtörecht der Reichsgewalt über die Territorialvegierungen überhaupt; 2) das 
Hecht der Reichsgewalt, direct gegen alle mittelbaren und unmittelbaren Reichs ange⸗ 
hörigen ſiskaliſch wegen Berlegung ihrer Neichspflihten, 3. B. wegen Landfriedens⸗ 
Bruch, einzufchreiten; 3) die Unflatthaftigkeit aller gewalttbätigen Selbſthülfe unter 
Heichöglledern; 4) daß abfolut gebletenden oder verbietenden Reichsgeſetzen In keinem 
Zertitorium durch die Randedgefeßgebung derogirt werden könne. Das Prineip der 
Neichs einheit hatte aber fehr durch die fleigende Bedeutung des PBalticularismus ge« 
litten, welchen anfängli die Kaifer ſelbſt durch Verlelhung erorbitänter Privilegien 
und Eremtionen von ben Reichsgerichten nährten; 3) Insbefondere aber Titt die Reichs⸗ 
einheit durch Die endliche Entwidelung der Landeshohelt zu einer etgenthümlichen Net 
von untergeordneter Staatögewalt, und durch die im weftfältfchen Frieden den Reiché⸗ 
Ränden ertheilte Bewilligung des Buͤndnißrechts mit auswärtigen Staaten. Die 
Rasime der Staatentrennung dußerte fih aber gerade darin, daß dem Kaifer 
reihsconftitutionsmäßig unterfagt war, in die Landeöhoheit einzugreifen, fo lange der 

Zandeöherr verfaflfungsmäßig regierte. ’ 

n Gönner, Staater. 5 94 No. VII. 

?) Bütter (Inst, $ 120 fagt: Immo pro indole monarchiae electitiae proprietas 

jurium, quae vol a solo Caesare exercentur, penes imperium est etc. 
Dahin gehört das berühmte Privilegium für Defkerreich von 1156 bei Zoepfl, deutſche 

Staats; und Rechitsgeſchichte, Bo. I, S. 147 Nr. 4. 


. MD _ nn 7. 





26 Reich, deutſches. (Reichsgerichte.) 


Reichsgerichte. A. Das Reichſskammergericht. Sollte der ewige 
Landfriede, den Kaifer Marimilian I. auf dem Wormfer Reichſstage von 1495 aufge- 
richtet hatte, eine Wahrheit werden, fo beburfte er vor Allem eines fländigen oberflen 
Reichsgerichtshofes, welcher denn auch fofort (am 7. Auguft) befchloffen wurde und unter 
dem Namen: Ralferlihed und Neihsfammergeridyt (Camerae Imperialis 
Judicium) am 31. October zu Frankfurt eröffnet wurde. Dies Gericht wurde nad 
mehrfachem Ortömwechfel im Jahre 1689 nad Weglar verlegf, wo es mit dem beut- 
ſchen Meiche fein Ende fand. Seine befondere Eigenthümlichkeit beftand darin, daß 
es nicht wie die älteren kaiſerlichen Hofgerichte von dem Kalfer allein, fondern von 
dem Kaifer und den Heihsftänden gemeinfchaftlih defekt und unterhalten 
wurde. Urfprünglihd nur dazu beflimmt, als Gerichtshof in Landfriedensbruchſachen 
zu fungieren, gewann das Kammergericht allmähli den entichiedenften Einfluß auf 
die Bildung des gefammten deutfchen Rechts; es erfchien fortan ald der Bewahrer 
der Rechtdeinheit in Deutfchland, und feine Praris wurde dad Vorbild für die Rechts⸗ 
pflege in den einzelnen Territorien. Seine Unabhängigkeit 1) von Laiferlichen Wei⸗ 
fungen verfchaffte ihm das höchfte Anfehen als das reichsſconſtitutionsmaͤßig unantafl- 
bare Bollwerk des gefammten deutfchen Mechtöguftandes, und mit fchmerzlichem Bedauern 
vermißt der Patriot jedes Surrogat in der gegenwärtigen Bundedverfaflung. Was 
die Zufammenfegung dieſes Gerichtshofes betrifft, fo beftand derſelbe urſprünglich aus 
einem Rammerrichter ald Borfigendem, der ein Fürft oder ein Graf, mindeſtens 
ein Reichofreiherr fein mußte, und aus 16 Beiflgern (Affefforen), zur Hälfte Doctoren 
des Rechts, zur Hälfte vom Adel. Im Laufe der Zeit wurde die Zahl der Beiſttzer 
verfchiedentlich vermehrt, und fie follte nach dem weftfälifchen Frieden fogar bis auf 
50 gebracht werden. Es iſt aber wegen des unregelmäßigen Eingehens der fländijchen 
Beiträge (fog. KRammerziele) bei dem guten Vorſatz geblieben. 1729 wurbe be#- 
balb die Normalzahl auf 25 feftgeftellt, und ſelbſt diefe ift erft vom Jahre 1782 ab 
wirklich innegehalten worden. Seit 1550 wurden dem Kammerrichter zwei Präſi⸗ 
denten beigegeben. ?) Diefe, fo wie der Kammerrichter und ein Afleffor, wurben 
von dem Kaifer ernannt, die übrigen Affefforen aber von den Neihöfänden, und 
zwar von jedem Kurfürften einer, von den drei evangelifhen Kurfürften abwechſelud 
noch ein vierter, die anderen von den übrigen Meichöftänden nad, Kreifen, mit Räückſicht 
auf deren Meligiondverfchiedenheit. Im Ganzen waren der Kammerrichter, ein Prä- 
fivent und 13 Affefforen Eatholifh, ein Präſident und 12 Aſſeſſoren proteftantiich. 
Die präfentirten Mitglieder ded Kammergerichtd mußten fih vor ihrer wirklichen Auf- 
nahme einer firengen Prüfung vom Kammergerichte felof unterwerfen. Sie wurden 
durch ihr Amt reihsunmittelbar und waren unabfehhbar, außer durch recht⸗ 
liches Urtheil des Kammergerichts felbft oder eine Kammergerichtävifitation. ) Es 
waren beim Kammergerichte 12 Advocaten und 30 Brocuratogen, welche das Gericht 
felbft anflellte, außerdem der fißcale BProcurator und der fiscale Anwalt 
beide vom Kaifer präfentirt. Die Kanzleibedienten und Unterbeamten beflellte und 
befoldete der Kurfürft von Mainz. Die Geſchäfte wurden in Sennten erledigt, 
bei deren Bildung auf gleiche Zahl der katholiſchen und proteflantifchen Witglieber 
Rückſicht genommen oder diefe wenigfiend fingirt wurde. Ergab ſich Stimmengleich- 
heit in einem Senate, fo wurde noch ein anderer Senat zugezogen (fog. Adjunc- 
tton), und wenn auch hierdurch Leine Wajorität erlangt werben konnte, kam bie 
Sade an dad Plenum. War ihr bier gleihes Schidfal beſchieden, fo follte 
nah der K. G.O. von 1495 (6 1) die Stimme des WPräfldenten (Michters) ent- 
fHeiden. Da aber die Proteflanten dies nicht anerkennen wollten, fo konnte es 


1) Den Kaifern, bie fi fühlten, natürlich ein Dorn im Auge! Marimilian war nur mit 
außerfiem Widerſtreben an diefe Selbfl-Amputation gegangen, und man flieht an ten vielen Bor: 
—28 der kaiſerlichen Gerichtsbarkeit, daß man ſich der hohen Bedeutung dieſes Hofe für bie 
freie Medhtsentwidlung wohl bewußt war. . 

2) Der weftfäliihe Frieden (I. P. O. Art. V. 6 53) wollte fogar vier Bräfldenten, was 
nicht zur Ausführung fam. 

3) Im Concept der 8.8.D, von 1613 if ein Abfepungsgrund beſonders ausgezeichnet, 
wenn fie nämlich fid) nicht „der alten Religion oder der Augsburgiſchen Confeſſion gemäß halten, 
fondern ſich befonderen Secten anhängig machen.” 


Kelch, deutſches. (Der Taiferliche Reichshofrath.) 27 


fommen, daß eine Sache ganz liegen blieb, wenn fie nicht etwa an den Meidhs- 
tag abgegeben wurde. Lepteres gefchah immer, wenn die Stimmengleichheit 
auf ber Meinungsverſchiedenheit der Meligiondtheile (itio in partes der Kammergerichts- 
Afiefforen) beruhte. Für das Verfahren mar das Meichälammergericht auf bie 
Heichögefege und die gemeinen gefchriebenen Mechte angewiefen, bejondere Normen 
hatte e8 aber in der mehrfach revidirten Meichöfammergerichtöorpnung (1495, 1548, 
1555; das Eoucept von. 1613 hat niemals formelle Gültigfeit erlangt) und in einie 
gen Reihsfchlüffen, Vifltationsabfchieden und Beichlüffen. Ganz eigenthümlich war 
das dem Bericht durch Drbnung von 1555 ausdrücklich beigelegte Mecht, über zmeifel- 
bafte procefiualiiche Fragen ſelbſt Beſchlüſſe (Decreta oder Senatus consulta Came- 
ralia) zu faflen und dieſe als interimiftifch, dv. 5b: bis zum Erlaffe eines Reichsgeſetzes 
verbindliche Normen zu publiciten, in welchem legteren Balle fle fodann gemeine 
Befheide biegen. Die Gompetenz des R.R.S. umfaßte: 1) alle bürgerlichen 
und peinlicdhen Sachen ded Reichskammergerichtsperſonals, fo wie Fiscalſachen, welche 
das Gericht felbft unmittelbar betrafen, 3. B. die Beitreibung der Kammerziele. 1) 
In dieſen Sachen war dad Gericht die ausschließliche Inſtanz. 2) Klageſachen der Un» 
mittelbaren. Diefe konnten beim R.K. G. fofort (in 1. Infanz) angebracht werden, 
foweit nicht dad denfelben zuftehende Hecht der Austräge (f. d. Art.) in Betracht 
fan, denn alddann konnte die Sache nur in höherer Inflanz an das Kammergericht 
fommen. 3) In Bivilproceffen gegen Mittelbare (Lanpfaflen) Eonnte das 
Kammergericht regelmäßig nur ald Geriht höherer Inflanz und zwar Im Verhält⸗ 
niß zu den Landedgerihtähöfen regelmäßig nur ald dritte und legte Inflanz an- 
gegangen werben, ?) und auch biefes nicht binftchtlih jener Länder, weldye das Pri- 
vilegium de non appellando Hatten. Die Appellationsfumme war regelmäßig 400 
Ihaler. 4) Das R.K. G. nahm Beſchwerden megen verzögerter oder verweigerter 
Rechtspflege aus allen deutſchen Lindern an. 5) Es war Gaflationshof bei Be⸗ 
fhwerden über unheilbare Nichtigfeiten gegen die höheren Landesgerichtähöfe in 
Civil⸗ und Griminalfadhen ſowohl der Landfäfflgen als der Meichdunmittelbaren. 6) 
GEs Hatte aud die fogenanute freimillige Gerichtöbarkeit über Reichsunmittelbare, 


fonnte daher Eonfirmatipnen ertbeilen, Tutoren beftellen, ficheres Geleit geben. Ganz 


aus geſchloſſen dagegen war ſeine Gompetenz a. in allen eigentlichen Regierungsſachen; 
b. in Rechtsſachen der Reichsſtaͤnde; c. in geiſtlichen Sachen; d. in den größeren Reichs⸗ 
lehenſachen und in allen Gnabenfagen; e. in peinlichen Sadıen der Mittelbaren, weil die 
Griminalfurispiction über Diefe ſtets als ein Beſtandtheil der reihäftändifchen Landes⸗ 
bobeit betrachtet wurde. Hinfichtlich der Eriminalfachen der Reichsunmittelbaren (außer 
den Landfriedendbruchfachen) lieg ſich zwar theoretifch die Competenz dead K. G. nicht 
bezweifeln; jedoch wurden diefelben herkommlich vom Neichähofrath verhandelt. Aehn⸗ 
liches galt von Mifheiraths- und Status-Sachen der Reichsunmittelbaren. Gegen die 
Urtdeile des Reichskammergerichts ließ man unter beflimmten DBorausfegungen die 
Rechtsmittel der Supplisation, der Neflitution und der Reviſion zu. 
Durch die beiden erfleren fonnte eine wiederholte Prüfung der Sache durch das Kauı- 
mergericht felbft veranlaßt werben, das dritte Dagegen hatte die Kigenthümlichkeit, daß 
badurh die Sache zur Entfcheidung der fogenannten Reichskammergerichts— 
Bifitation, d. 5. der vom Reichstag ernannten Deputation, verftellt wurde, welche 
jährlich die Gefhäftsführung des R.K. G. prüfen und deſſen Wünfche in Bezug auf 
die Heihögefepgebung vernehmen follte Es war fedoch dadurch unpraftifch gewor⸗ 
den, Daß die fjährlihen (ordentlichen) Viſttationen ſchon 1588 aufgehört hatten, und 
fogar die Iehte, welche von 1767 —1776 gedauert hatte, ohne Beendigung ihres Ge⸗ 
Ihäfts außeinandergegangen war. Dadurch war dem Necurs, der fonft nur in einigen 
Bällen fatihaft geweſen mar,. ein weites Feld geöffnet. 

B. Der kaiſerliche Reichshofrath (consilium imperiale aulicum) hängt 


) Der Ausprud erflärt fi) daraus, daß bie jährlichen ftändifchen Beiträge zur Suftentation 
des Kammergerihts in zwei Zielen, db. 4. Terminen, Pr Aa waren. 

7) Ausnahmen: wenn es 6 um Landfriedensbrudy handelte, ober ber nee elle ſelbſt 
feine Unterthanen vor dem K. G. beklagen wollte, ober wenn ber Beklagte unter einer zwiſchen vers 
ihiebenen Landesherren freitigen Gerichtsbarkeit Rand, 


28 Reich, deutfches. (Der kaiſerliche Reichshofrath.) 


mit der uralten Gerichtsverfaſſung des deutfchen Reichs zuſammen, wonach jeder deut⸗ 
ſche Kaifer das für feine Erblande beſtehende Hofgericht als Reichsgericht und als 
Staatsrath benugen, auch ein Kofgericht zur Ausübung ber kaiſerlichen Gerichtsbar⸗ 
feit in einzelnen Zällen befonder& anordnen und HYufammenfegen konnte. Auf dieſes 
von allen feinen Vorgängern geübte Recht hatte Marimilian nicht verzichtet, als er 
in die Errichtung des R.K.G. mwilligte. Er Tieß daber auch durch das von ihm 
(1501) zunächft für feine Erblande eingerichtete fländige Hofrathscollegium Reichs⸗ 
ſachen behandeln, und behauptete ſich nicht nur in diefem Mechte ungeachtet des als⸗ 
bald von den Reihafländen erhobenen Widerſpruchs, fondern es erhob ſich dies Eolle- 
gium fpäter fogar zum Reichshofrath mit ausfchließlicher Competenz über Reichs⸗ 
ſachen und erbielt als foldher fhon am 24. Mai 1518 eine entfprechende Einrichtung. 
Jedoch wurde diefer Hof erft im weftfälifchen Frieden als ein oberfles, dem Kammer- 
gericht gleichſtehendes MHeichägericht reichögrundgefeplih anerkannt. Er durfte, abge- 
fehen von dem Neihöhof-Bicelanzler, welder von Amts wegen darin Sitz 
und Stimme und bei Verhinderung des Präftdenten vorzüglih vor dem Vicepräſt⸗ 
denten den Vorſttz zu führen das Recht Hatte,!) nur aus 18 Perfonen (Meichs⸗ 
bofrätben) beftehen. Sämmtlihe Mitglieder (außer dem Neichähof - Vicefanzler) 
wurden vom Kaifer allein ernannt und befoldet; fie mußten geborene Deutiche fein, 
der PBräfldent und der Vicepraͤſtdent dem Meichsfürften-, Grafen⸗ ober Herrenſtande 
angehören. Die Reichshofraͤthe wurden nicht bloß aus Öfterreichifchen Unterthanen, 
fondern auch aus andern Neichsländern genommen, ſechs follten der evangelifchen 
Eonfeffton zugethan fein. Es wurde eine Herrenbank und eine Gelcehrtenbant 
unterfchieden, worauf die Räthe nach ihrem Range faßen; ein afademifcher Grab war 
aber nicht erforberlih. Auch bei dieſem Berichtähofe ging der Aufnahme eine Brobe- 
Relation und Prüfung voran. Die Reichshof⸗ oder Neichshofraths- Kanzlei wurde 
vom Kurfürftens@rzfanzler befeßt, Die dabei fungirenden Nechtsanmwalte, fog. Reich s⸗ 
hofraths- oder Reichbagenten, deren 20—30 waren, ernannte der Präfldent, 
während der Reichshoffiſcal vom Kaiſer unmittelbar ernannt wurde. Der Kaifer 
galt ald daB oberſte Haupt des Reichshofraths und oberfter Richter in demfelben, ?) 
fonnte aber dies Nichteramt perfönlih nur in jenen Fällen ausüben, in welchen der 
Hof verfaffungsmüßig ein Votum ad Imperatorem zu erflatten hatte. Wegen dieſer 
engen Verbindung mit der Perſon des Kaiferd wurde der Reichshofrath Durch den 
Tod eines jeden Kaifers fofort aufgelöft, d. 5. ed wurden damit fämmtliche 
Nichterftellen an demſelben erledigt; außer diefem Kalle aber Tonnte kein Mitglied an⸗ 
ders als durch ein Urtheil des Hofes ſelbſt, nach vorgängiger Unterfuchung, abgefegt 
werden. Die Meichöhoffanzlei wurde aber bei dem Tode eined Kaifers bis zur Wies 
derbefegung des Eaiferlihen Thrones nur gefchloffen. Der Reichshofrath hatte einen 
zweifachen Charakter. Er war 1) das eigentlihde Negierungscollegium des 
Reichs (Staatsratb), deſſen fi der Kaifer bei Behandlung aller Regierungsfachen, 
mit Einfhluß der Gnaden⸗ und Reichs lehenſachen, reichsverfafſungsmaͤßig bedienen 
mußte; er mochte ſich nebenbei noch ein beſonderes Cabinet (faiferliches geheimes 
Rathscollegium, kaiſerlichen Hofkriegßgrath oder andere Miniſter) Halten, wenn dieſe 
nur nicht in die reichsgeſetzlichen Befugniſſe des Reichshofraths eingriffen; 2) höch⸗ 
fies Reichsgericht, deſſen Gerichtsbarkeit: mit der des Reichskammergerichts in 
vollfommener Gleichheit concureirte, fo daß theild durch die Wahl des Klaͤ⸗ 
gerd, theils duch die Prävention beflimmt wurde, an welchem von beiden 
Höfen eine Sache zu verhandeln war. Es gehörten aber außerdem noch 
viele Sachen zur Gompetenz des Reichshofraths, worin das Reichskammergericht 
nicht zuftändig war; auch wurden In der Iegten ‚Zeit des Reichs manche Sachen, in 
welchen unftreitig dad Kammergericht auch competent war, regelmäßig an dem R.H.NR. 
verhandelt, weil die Parteien ein befondere® Interefie dabei fanden, fte bier anzu- 





1) Wovon jebod niemals Gebraud, gemacht worben if. 

)RHD. Tit. 1.$ 1. „Unfer kaiſerlicher Reichshofrath, bellen oberfes Hanpt 
und Richter allein Wir und ein jeder Römifcher Kaifer felbft if.“ — Dem entfpres 
hend wird der Meichshofrathspräftdent, als der Stellvertreter bes Kaifers im $ 4 das nachge⸗ 
feste Haupt“ des R.H. R. genannt. 


Reich, deutfches. (Reichsgrundgeſetze.) 29 


bringen. Died war beſonders der Fall bei ſolchen Sachen, bei welchen die kaiſer⸗ 
lide Gnade einen Einfluß Haben Tonnte, wie 3. B. in den Griminalfaden 
der Reihöunmittelbaren. Zur audfchließlichen. Competenz dieſes Hofes ges 
hörten: 1) Sachen bed zu ihm gehörenden PBerfonald, mit Ausfchluß der Beamten 
der Kanzlei, die unter des Kurerzkanzlers Gerichtöbarkeit flanden; 2) Sachen aus den 
zum beutfchen eich pertinirenden italienifchen Ländern, mit wenigen Ausnahmen; 
3) Rechtoſtreitigkeien über Die unmittelbar vom Meih zu Lehen gegebenen 
Sürftenthümer u. dgl.; 4) Streitigkeiten über die Gültigkeit, Auslegung und den 
Berlun Eaiferlicher Privilegien, fo wie über Erwerb und Berluft des Adels, den 
Rang einzelner Neichöflände unter fih und über Faiferliche Preces. Beſonders aus- 
gebehbnt war feine Competenz in @egenfländen ber fog. willkürlichen Gerichts- 
barkeit. In diefer Beziehung. concurrirte ex nicht bloß mit dem R.K. G., fondern zog 
er an ſich Alles, was in irgend einer Weife den Charakter einer Gnadenſache an 
fi trug, alfo namentlich die Ausübung der Laiferlihen Mefervatrechte, insbefondere 
die Berleibung der Reichslehen als oberfter Neihslehnhof, und überhaupt alle 
Arten von Privilegienverleifungen. Das Verfahren des Hofes richtete fi im 
Allgemeinen nach der Kammergerichtöordnung, doch befanden außerdem noch befon- 
bere Reihshofratbsordnungen, melde von den Kaifern ohne Zuziehung der 
Reichs ſtaͤnde erlaffen wurden, unter ihrem unaufbörlichen, aber ſtets obnmächtigen 
Widerfpruche. Doch wurde endlih die proviſoriſche Gültigkeit der (neueften) 
Reichſshofrathsordnung Ferdinand's Ill. vom 16. März 1654 in der Wahlcapitulation 
ausdrüdlich anerkannt. Außerdem dienten ald Normen einige Eaiferlihe Decrete 
und die Conclusa Pleni ded Hofes felbft, nach Analogie der gemeinen Befcheide des 
R.K.G. Das proceflualifche Verfahren Hatte am R.H.R. manche Eigenthümlichkeit; 
namentli wurden die Reſcripte fletd in einer Form erlafien, als wenn fle von der 
Berfon des Kaiferd ſelbſt ausgingen, wie denn überhaupt die Eingaben der Parteien 
immer an des Kaiſers Majeflät gerichtet wurden. Auch gab es Feine Eintbeilung in 
Senate, ſondern alle Sachen wurben im vollen Rathe verhandelt. Der Praͤſtdent 
hatte bei Stimmengleichheit eine entfcheidende Stimme, außerdem aber bier, fo wie 
bei nur geringer Majorität das Mecht, die Sache durch ein Votum ad Imperatoreni 
zur perjänlichen Entfcheidung des Kaiferd zu bringen. Trat aber in Religiondjachen 
eine Meinungsverfchiedenheit zwifchen den Tatholifchen und proteflantifchen Neich&hof- 
räthen ein, fo wurbe den legteren eine fingirte Parität der Stimmen beigelegt und 
mußte daher die Sache an den Neichdtag abgegeben werden. Wegen der Rechtsmittel 
galten faſt durchweg die von R.K. G. befolgten Grundfäge. Das Viſttationdrecht des 
N.H. R. Hatte der Kurerzkanzler; es wurde aber niemald ausgeübt. 
Reichsgrundgeſetze. Als die wichtigfien betrachtete man: 1) Die Urkunden 
Kaifer Friedrich's II. von 1220 (constit. francof. de juribus Principum ecclesiasti- 
corum) und von 1232 (constit. Utin. de juribus Prineipum saecularium), wortn 
er zuerft die geiftlichen, fodann auch die weltlichen Reichsfürſten in ihren hergebrachten 
Regalien, d. 5. in der fogenannten Landeshoheit beflätigte und dadurch den Grundſatz 
der Staatentrennung poſttiv anerkannte. 2) Die Eonftitution 8. Ludwig's 
des Bayern (de jure et excellentia imperii) von 1338. Hierdurch wurde die 
Unabhängigkeit der deutfchen Königewahl vom päpftlicden Stuhle und die unmit- 
telbare Berechtigung bed von den Kurfürften gewählten deutfchen Königs, ſich ſo⸗ 
fort als römifcher Kaifer zu betrachten, und die Entfcheidung der Stimmenmehrheit bei 
der durch die Kurfürften vorzunehmenden Wahl ausgeſprochen. 3) Die goldene 
Bulle (ſ. d. U). 4) Der ewige Landfriede K Maxrimilian's, J. von 1495; eigent- ‘ 
li ein Griminalgefeg des Reiches, aber auch zu den Grundgefegen zu rechnen, weil 
bie Rechtsverfafſung durch das dakin ausgefprochene Verbot aller und jeder Fehde eine 
wefentlich neue Grundlage erhielt, und fpäter mehrfach erneuert, declarirt und beflätigt 
(1521, 1522, 1542, 1548). 5) Die Reichſskammergerichts- und die Reichs— 
hofraths⸗Ordnung von 1495 vefp. 1518. 6) Die Kaiferlide Wahl- 
capitulation (Capitulatio Caesarea), d. 5. ein Stantögrundgefeg, welches jeit 
R. Karl V. (1519) bei jeder Kaiferwahl zwifchen dem Kaifer und den Kurfürften ıc. 
im Namen der fämmtlichen Meichöflände über feine Wahl vertragämäßig errichtet 


* 


0 Hei, deutſches. (Reichsgrundgeſetze). 


wurde und die Bedingungen derſelben, fo wie die Beſchränkungen ſeiner Regierungs⸗ 
gewalt enthielt. Dies war die eigentliche Berfaffungsurfunde des Reichs, aber immer 
nur für dad Leben eines Kaiferd gültig. Sie wurde bei jeder Wahl erneuert und 
zeitgemäß verändert. Im Jahre 1711 einigte man fidh nach langen Verhandlungen 
über eine beftändige Wahlcapitulation, deren man ſich auch feit der Wahl Karl's VI. 
bediente. Deffenungeachtet kamen doch noch Zufäße in die fpäteren Wahlcapitula- 
tionen, weldye zu machen die Kurfürften ald ihr befonderes Recht (jus adcapitulandi) 
behaupteten, obfchon die anderen Reihöftände nicht felten die Anerkennung folder Zu⸗ 
fäge vermeigerten (fog. Passus contradicti). 7) Die fog. deutſchen Religions» Ber« 
träge, nämlich der fog. Baffauer Vertrag, 1552 als proviſoriſches Toleranz» 
geſez und fodann der Neligiondfrieden von Augsburg 1555, als befinitives 
Toleranzgeſetz, worin zuerft unwiderruflich Die Berechtigung der proteflantifchen 
Kirche (der fog. Augsburger Meligiondverwandten, Status Augustanae Confessioni 
addicti) in Deutfchland und ihre Befreiung von der kirchlichen Jurisdiction der fa- 
tholifchen Bifchöfe anerkannt wurde. 8) Die Eoncordate der deutfhen Na- 
tion mit dem päpfllichen Stuhle, nämlih a) das MWormfer Goncordat 
(concordatum Calixtinum) von 1122, wodurch die freie Biſchofswahl dur 
die Domcapitel, unter Anmefenheit eines kaiſerlichen Commiſſars feftgefegt und 
zugleich beflimmt wurde, daß die Belehnung der geiftlichen Fürften als Reichsfürſten 
durch den Kaifer fortan mit dem Scepter gefcheben, die Inveflitur der Bifchdfe mit 
Stab und Ring aber, die als geiftliche Symbole anerfannt wurden, dem Bapfte 
überlaffen fein follte; b. das Wiener (auch fogenannte Afchaffenburger) Eon- 
eordat von 1448, wodurch mehrere Streitigkeiten zwifchen beiden Thellen, indbefons 
dere Über Mentenbezüge (Annaten) und die Befegung geiftlicher Pfründen erledigt 
wurden. 9) Der fogenannte Weftfälifhe Friede von 1648, abgefaßt in zwei 
wesentlich gleichlautenden Inftrumenten, dem Münfterifcben (I. P. M.) und bem 
Osnabrückiſchen (IT. P. O0.) Daß erftere enthält den Friedensſchluß des Kaiſers 
mit Frankreich, das andere mit Schweden. Abgefehen von Ränder » Abtretungen an 
Frankreich und Schweden, Amneflieen und Reſtitutionen vertriebener Fürften und geifl- 
licher Gorporationen, bei welchen legteren vielfach der 1. Januar 1624 als Normal- 
Jahr und Tag (annus et dies decretorius) hinſichtlich des Beſitzſtandes zu Grunde 
gelegt wurde, erhielt vie Meichäverfaflung durch diefen Frieden weſentlich eine neue, 
bleibende Grundlage: a. durch die Crlebigung der fogenannten Gravamına eccle- 
siastica, d. h. durch die Anerkennung und Durchführung des Grundfages der Rechts⸗ 
gleichHeit der Proteflanten mit den Katholiken in allen rethöftaatsrechtlichen Beziehun⸗ 
gen, und dur die Aufftelung von Grundfägen für die Ausübung des religidfen 
Eultus der anerkannten Religionstbeile, und die Einfchränkung des landeöherrlichen 
Neformationdrehtd; b. durch die Erledigung der fogenannten Gravamina publica, 
d. 5. durch Anerkennung der Theilnahme der Reichsſtaͤnde an der Meichöregierung, 
insbefondere ihres Rechtes zu Bündniffen mit fremden Staaten und unter fid. 
10) Wenngleih Fein eigentliches Grundgeſetz, fo gehört doch wegen feiner durchgrei⸗ 
fenden Bedeutung für die politifche Geſtaltung und die rechtlichen Zuflände in Deutſch⸗ 
Iand kurz vor Auflöfung des Neid Hierher: der Reichddeputations⸗Haupt— 
ihluß vom 24. Februar 1803. Er war beflimmt zur Ausführung des Lune- 
viller Friedens von 1801, durch melchen das ganze linke Rheinufer an Frankreich 
abgetreten, der Thalweg ded Rheins ald die Grenze zwifchen Branfreid und Deutfſch⸗ 
Iand feftgefeßt und das Meich verpflichtet worden war, die weltlichen Landeöherren, 
welche dadurch ihre Gebiete verloren hatten, aus ſich felbft zu entfchädigen. Diefe 
Entfhädigungen zu beflimmen, war der Zwed des Reichtdeputatiöns⸗-Hauptſchluſſes. 
Als Mittel diente die allgemeine Säcularifation der geifllichen Territorien und die 
Mediatiftrung der Mehrzahl der Neichöftädte. Zugleich wurden mancherlei Benflonen und 
Nentenbezüge feftgefeht und Beflimmungen über die Nheinzdlle getroffen. Den Entichäbi- 
aungsländern wurde der Fortbeftand ihrer Iandfländifchen Verfafſungen und den chriftlichen 
Gonfefflonen Ihr bisheriger Rechtszuſtand, fo wie der Bellg und ungeftörte Genuß ihres 
Kirchen« und Schulvermögend zugefihert, den Landeöherren aber die Aufnahme auch 
anderer Gonfefflonen und die Verleihung bürgerlicher Rechte an dieſelben freigefteltt. 


NReich, deutſches. (Meicheritterfchaft.) 31 


Reichſritterſchaft. Die ritterlichen Geſchlechter In Schwaben, Franken 
und am Rheine Hatten ſchon feit dem 13. Jahrhundert in Folge der Auflöfung der 
dortigen Herzogthümer nach dem Sturze der Hohenflaufen ihre Unabhängigkeit von 
der Landeshoheit der Fürſten und Grafen zu behaupten gewußt und zur Erhaltung 
ihrer Reihsunmittelbarkeit oder Reichsfreiheit verfchiedene Mitterbünde oder ritterliche 
Geſellſchaften geichloffen !). Hieraus waren allmählich drei größere Vereine (Par- 
teien) hervorgegangen ?), welche ſich endlih (1577) zu einem gemeinfamen corpus 
an einander fchloffen und fih zur Beforgung ihrer Angelegenheiten eine befondere 
mohlgegliederte Organifatton gaben. Danady befanden drei fog. Ritterkreiſe, mit 
einem unter ihnen anf ihren Berfammlungen (ſog. Gorrefpondenztagen) mwechfelnden 
Generaldirectorium. Jeder Mitterkreid fland unter einem Specialdirecto> 
rium, das im ſchwäbiſchen Mitterkreife fletd vom Ganton Donau geführt wurde, 
in den beiden andern wechfelte. Das Cantonsdirectorium befland aud einem 
Ritterhauptmann, einigen Ritterräthen, einem Ausfchuß und dem erforderlichen Kanzleis 
yerfonal. Die Santone hießen: I. In Schwaben: 1) an der Donau; 2) im Hegau, 
Algau und am Bodenfer; 3) am Nedar, am Schwarzwald und an der Ortenau; 4) 
am Kocher; 5) Im Kraihgau. 1. In Franken: 1) Odenwald; 2) Gebürg; 3) 
Röhne⸗Werra, mit dem in befonderer Berfaflung beflebenden Quartier Buchen; 4) 
am Steigerwald; 5) an der Altmühl; 6) an der Baunad. II. Am Rhein: 1) 
Dberrbein; 2) Mitielrdein- und Unterrheinftrom. Es wurde ein Berzeichnig (Rit⸗ 
termatrifel) über die zur Neichöritterfchaft gehörigen Familien und Güter geführt. 
Zur Reception eines neuen Mitglieds gehörte fletd Stimmenmehrheit, ſowohl der 
Mitglieder in den einzelnen Gantonen, ald auch fümmtlicher Cantone eined Kreiſed, 
und fodann Einſtimmigkeit der drei Nitterfreife. Ein zu immatriculirendes reichs⸗ 
freies Gut mußte mindeſtens 6000 Thlr. Werth haben. Daß ein ſolches Gut vom 
Kaiſer oder einem Landesheren zu Reben ging, mar fein Hindernig feiner Anerkennung 
als eined reichäfreien (Vasallagium non involvit homagium). Man unterfchled Reali⸗ 
ken und PBerfonaliften, je nachdem die Familie immatriculisten reichöfreien Grund⸗ 
befig Hatte oder nicht. Außerdem konnten noh Grundbeſitz er vortommen (die von Eini- 
gen ebenfalls Realiſten genannt wurden), welche ohne perfänlich recipirt oder zur Reception 
in die Meichsritterfchaft qualifichrt zu fein, reichöfreie immatriculirte Güter erworben 
batten und über welche die Neichöritterfchaft diefelben echte ausübte, wie über die 
wirklichen Reichöritter. Der Berluft oder die Veräußerung oder Mediatifirung der 
veich8unmittelbaren Büter 309 aber auch, fo lange dad Meich beftand, den Verlufl der 
perſönlichen Reichsunmittelbarkeit keineswegs nad fih. (Immediatus semper et 
ubique immediatus.) Daher mochte eine reich8unmtttelbare Familie fih immer In 
dem Gebiete eined Landesheren aufhalten oder darin ihren Wohnfig nehmen; dies 
bob ihre perfönlidhe Heichöfreiheit fo wenig auf, als die Annahme eined Staatsamts. 
Uebrigens war die Meicheritterfchaft darauf bedacht, die bei ihr immatriculirten Güter 
möglihft innerhalb ihrer Genofſenſchaft zu erhalten. Zu dieſem Zwecke beftand ein 
durch faiferliche Privilegien Beftätigtes fog. ritterfhaftlihed Retractrecht 
(retractus equestris) mit dem. Inhalte, daß fomohl alle Mitglieder der Genoſſenſchaft, 
und unter diefen voran die Verwandten des Veräußerers, ald auch die Genofienfchaft 
jel6R, Die an einen Fremden veräußerten immatriculirten Güter einlöfen Tonnten. In 
derſelben Richtung fuchte die Meichsritterfchaft den Glanz der Familien durch Ein» 
führung eined eigenthümlichen Erbrecht, wonach die Töchter nicht nur von der Erb» 
folge in die Stammgüter, fondern überhaupt von aller väterlichen, mütter» 
lihen und brüderlichen SHinterlaffenichaft gegen eine geringe Ausſteuer im Falle 
der Berheiratbung und vorbehaltlich des ledigen Anfalls audgeichloffen waren, aufrecht 
zu erhalten. Nun if zwar dad von der Meichöritterfchaft angeblich im Jahre 1653 


) Die erfte urkundliche Anerkennung einer reichöfreien Nitterfchaft findet fih in ber Auffor⸗ 
derung R. Friedrich's III. an die Nitterfchait in Schwaben, dem ſchwäbiſchen Bunde. zur "Erhaltung 
bes Lanbfriebens beizutreten. Urk. v. 1478 bei Datt, de pace publ. p. 286. n. 18. 

2) Die fchwähliche Ritterorbnung ift von 1560, die erſte fränlifche von 1590, bie erfle 
rheiniſche von 16852. 


32 Reich, deutſches. (Reichsſtaͤnde. Reichstag.) 


errichtete ſog. Geislinger Statut!) feiner formellen Gültigkeit nach ſehr zweifel⸗ 
haft, ſeinem Inhalte nach ſehr unbeſtimmt, und jedenfalls ſo viel gewiß, daß es die 
kaiſerliche Beſtaͤtigung nicht erhalten bat, allein eben fo gewiß iſt, daß aͤhnliche 
Grundfäge von mehreren reichöritterfchaftlichen Bamilien feither praktiſch beobachtet 
wurden. 2) Neichöftandfchaft Fam. weder der Meichäritterfchaft ald Gorporätion, nod 
den einzelnen HHeichörittern zu; wenn mande Mitglieder im Laufe der Zeit 
den Grafentitel erworben haben, fo ift Dadurch in ihrer flaatörechtlichen Stellung . 
keine DBeränderung vorgegangen. Die Beichlüffe des Reichſstages über Reichs⸗ 
feuern erſtreckten fi daher auch nicht auf die Reichsritterſchaft. Es beruhte auf 
befonderer Verhandlung und Berfländigung, daß file dem Kaifer mitunter fogenannte 
Charitativ-Subſidien (Subsidia caritatis) bewilligt. Die Grundlage für dies 
fe8 Anfinnen des Eaiferlichen Hofes bildete die Rückſicht auf den Faiferliden Schug 
fo wie der Umftand, daß von den Reichsrittern der Reichskriegsdienſt nicht mehr, wie 
in früheren Zeiten, in Perſon und auf eigene Koften geleiftet zu werben brauchte. °) 
Die reichäfreien Beſitzungen ber Neichsritter werden als wirkliche Gebiete (Territoria) 
betrachtet, in welchen ihnen als Gutöherren Iandesherrliche Rechte, namentlich 
auch das für mwefentlich im Begriffe ver Landeshoheit Liegend erachtete Jus refor- 
mandi zufland. Das I. P. O. Art. V. 5 28 fagt dies ausdrücklich und man erfleht 
aus den Belegen bei Kerner J. c. 1. $ 79, daß felbft das Begnabigungdregt 
verurtbeilter Verbrecher von den Reichsrittern, welche Criminalgerichtsbarkeit hatten, 
in Anfpruch genommen und ohne Widerſpruch des Kaiſers audgeübt wurde. Doc 
waren fle wegen der Kleinheit ihrer Territorien und der Unmöglichkeit, auf ihnen voll» 
fländig genügende Staatdeinrichtungen berzuftellen, in ber Ausübung mancher landeb⸗ 
herrlicher Mechte großen Befchränfungen unterworten, theils durch die Neichögewalt, 
tbeild durch das Cantonsdirectorium, wie namentlich in Bezug auf Eriminalfachen, Die 
Militärgewalt und die Befleuerung ihrer Untertbanen. Seit dem Jahre 1653 wurde 
die Neichsritterfchaft in den Wahlcapitulstionen überall, wo es ſich um die Zuſiche⸗ 
sung des Schuged landesherrlicher und anderer bergebrachter Nechte und Breiheiten 
handelte, neben den Reichsftänden genannt. Die Meichäritter hatten auch, wie bie 
Reichsſtaͤnde, das Mecht der Austräge, nur bildete für fle das Gantonsdirectorium bie 
Austrägalinftan. In Bezug auf die Neichsritterfchaft ſtand aber feft, daß ihre Sta- 
tuten und Mitterorbnungen ohne Faiferliche Confirmation Feine @ültigkeit hatten, und 
eben diefe war nötbig zu Hausftatuten der reichsritterlichen Zamilien, wenn fle vom 
gemeinen Reichsrechte abweichende Beflimmungen aufftellen wollten. (Bergl. bie 
wichtige Schrift: „Gefchichte der ehemaligen freien Reichsritterſchaft in Schwaben, 
Sranfen und am Nheinflrom von Dr. Karl Heinrich Freiherr Roth v. Schredenflein.“ 
Tübingen 1859.) 

Neihöftände Neihstag Unter Reichsſtand, status imperii, wurde 
nur derjenige verflanden, welcher auf dem Meichötage wirkli Sig und Stimme (Ses- 
sionem et votum) führte) oder zu führen berechtigt war. Diele Berechtigung ſetzte 
feit dem Jahre 1653, außer der kaiſerlichen Verleihung der Reichsſtandſchaft, eine 
darauf erfolgte reichöcollegialifhe Eooptation und gehörige Habilitation oder 
Qualificirung voraus. Ob fobann die wirkliche Admiffion bereitd erfolgt war 
oder nicht, oder ob fich der cooptirte und gehörig Habilitirte Reichſsſtand etwa feines 
Rechtes nicht bebiente, fei ed, weil er nicht wollte, oder weil er in Folge eine Mer» 
dDiatifirung, d. h. wegen Subjection unter einen anderen Neichöftand zur Zeit nicht 


1) Of. Kerner, Staatsrecht der freien Reichsritterſchaft I. S. 92 ff. 

2) Bei der Nitterfchajt in Schwaben erhielt ein „verziehenes”, b. h. verzichtetes Fraͤulein 
nad) allgemeinem Gebrauch 2500 Fl., bei einigen fränfiihen Yanıilien fogar nur 2000 Fl. zum 
Helrathegut. Kerner 1. c. ©. 94. 

2) Nach Haeberlin, Handbuch III, S. 548, foll fi der Kaiſer ſchließlich mit ber Reichs⸗ 
ritterfchaft über eine jährliche Zahlung von 10,000 Fl. verglichen haben — eine im Verhältniß 
zu ben 1475 reichöfreien Rittergütern, bie man nod im Jahre 1793 zählte, unglaublich geringe 
aumme 

) Ein Sig ohne Botum genügte nicht. Dies —— kam vor bei einigen Reichs⸗ 
beamten, z. B. bei den Grafen v. Pappenheim als Reichserbmarſchaͤllen und ben Grafen 
v. Werthern als Reichserbthürhütern. 








Reich, deutſches. (Reichsſtaͤnde. Reichstag.) 33 


fonnte, kam nicht weiter in Vetracht. Nur mit dieſen Keichsſtaͤnden verhandelte ber 
Kaifer, nus dieſe machten das Neih auß, nur diefe durften dem Zurfürftlichen 
Gollegium ihre Wünfche und Bedenken bei Gelegenheit der Abfafjung der kaiſerlichen 
Bahlcapitulation vortragen, nur dieſen galten auch die kaiſerlichen Zuficherungen, 
weldhe zu Bunften von Kurfürften, Fürſten und „ Ständen” in die Wahlcapitulationen 
oder in andere Meichögefege aufgenommen wurden. Sollten in einzelnen Beziehungen 
noch andere reichöunmitielbare Herren, wie die Neichsritter, unter ſolchen rejchägefceh- 
lichen Beflimmungen witbegriffen werben, fo wurde dies jederzeit befonderd ausge» 
ſprochen. Indgemein gebrauchen die Reichsgeſetze, wenn fle etwas auf fämmtliche 
Reichöftände Bezügliched ausſprechen wollen, die Formel „Kurfürften, Fürſten und 
Stände ded Reichs“. Mitunter werden aber auch, ohne daß damit etmad Anderes 
geiagt werben fol, noch Grafen, Prälaten und Herren ebenfalld genannt.!) Alle diefe 
Klaffen Hatten Eatholifche und proteſtantiſche Mitglieder. Auf dem Reichsſtage 
verhanbelten die Reichsſtaͤnde nah Herfommen regelmäßig in drei Gollegien: dem 
Gollegium der Kurfürften, dem Gollegium der Fürſten, Grafen und Herren 
(fog. Fürſtenrathe) und dem Collegium der Reihsflädte Die Vorredte 
der Heichöflände waren im Allgemeinen: 1) Sig und entfheidende Stimme auf 
dem Meichdtage. Diefe Stimme Tonnte aber Viril- oder Buriat-GStimme fein. 
2) Sie konnten von ihrer Reichsſtandſchaft und der Landesregierung nur nach vorgän- 
gigem Gomitialbefhluß entſetzt ober fuspendirt werden. Handelte es ſich dagegen 
nur um den Mißbrauch des Zoll» oder Münzregals, fo konnte ihnen defien Ausübung 
auch fofort vom Kaifer und nach Umftänden durch Urtbeile der Reichsgerichte vor⸗ 
läufig unterfagt oder entzogen werden. 3) Der Kaifer Eonnte den reihögefegmäßigen 
Erbverbrüderungen der Heihsflände die Eonfirmation nidyt verweigern. 4) Die 
Reihöftände hatten den Rang vor allen Reichsunterthanen; indbefondere war den 
reichs ſtaͤndiſchen Reichsgrafen der Vorrang vor allen ausländifcdyen und inländifchen 
Grafen zugefihert. 5) Die Reichspfandſchaften, welche die Reichöftände inne 
batten, waren unablößlih. 6) Die Reihsftände hatten dad Recht der Autonomie in 
Hinſicht auf ihre Bamilienverhältnifie; jedoch waren die Grenzen defielben nicht unbe⸗ 
firitten; ſie batten ferner 7) das Recht der Bündniffe mit Auswärtigen und der 
Sonderbündnifie unter fich,?) endlich 8) das Recht der Selbfiverfammlung, d. h. daß 
Recht, ih in und außer den Reichstagen nach ihren Gollegien (collegialiter) oder ohne 
foldye Form (circulariter) zu verfammeln, fog. „Tage“ zu halten. Keine Verbindung iſt 
aber von größerem Einfluß auf die Ausbildung der Reichöverfaflung gewefen, als diejenige, 
welche der Religion wegen unter den religiondverwandten Heichöfländen beſtand und 
die Namen ded Corpus Catholicorum und Corpus Evangelicorum führte. Jedes 
Corpus faßte feine Beichlüffe nah Stimmenmehrheit; bei Meinungsdverfchiedenheit der 
beiden Corpura aber (Itio in parles).?) konnte auf dem Neichdtage Fein Befchluß durch 
Stimmenmehrheit zu Stande Fommen. Dad Directorium in dem Corpus Gatholi- 
corum führte Mainz, in dem Corpus Evangelicorum Kur⸗-Sachſen, ungeachtet der 
katholiſchen Religionseigenſchaft des regierenden Haufes, *) und fein Reichsſtand durfte 
von dem Kaifer außerhalb des Reichs vor Gericht oder zur Lehenempfängniß geladen 
werden. Wegen der Gemeinfchaftlichkeit dieſer Rechte betrachtete man alle Reichs⸗ 
Rände ald dem Rechte, keineswege aber dem Range nad gleih. — Betrachten 
wir den rechtlichen Charakter der Neichäftanpfchaft, fo Hatte fich Diefelbe im 
Laufe der Zeit als ein fog. dinglich» perfänliches Recht audgebildet, d. 5. die reale 
Grundlage ihrer Ausübung war die Landesherrlichkeit über cin Land (Territorium), 


— —— — — 





) So z. B. in der W. C. Ar. I 8 2 „Fürſten, Prälaten, Grafen, Herren und Stände 
(die unmittelbare Reichsritterſchaft mit einbegriffen)”. , 

7) 88 gab Kurfürfiengereine, Yürftenvereine (feit 166%), einen Grafenverein (um 1732), 
Stäbteblindniffe, wie die Hanſa u. f. w. 

5) Damit bezeichnete man die Situation, welche entftand, fo oft die Katholifen oder Prote: 
Hanten als Religionstheil in irgend einer Sache, wenn fie aud) bie Neligion nidyt berührte, er: 
Härten, daß fle diefelbe als eine Corporationsfache betrachteten. 

9 Die Broteftanten bildeten den Katholiken gegenüber in reihsrechtliher Beziehung immer 
nur einen einzigen Neligionstheil unter der Baeihnung Evangelici ober Status Augustanae 
eonfessioni addicti. Ihre Trennung in Lutheraner und Reformirte am Hierbei nicht in Betracht. 


Wagener, Etaatt- u. Geſellſch.⸗Lex. XVIl 3 


34 Neich, deutfches. (Reichsſtaͤnde. Reichstag.) 


worauf ein reichsfländifches Sig» und Stimmrecht haftete. Diefes Hecht fand aber 
auf dem Reichstage dennoch nicht dem Lande felbft zu, fondern e8 wurde nur als 
eine perfönliche Befugniß des Landesherrn betrachtet. Dies führte zu der nothwendigen 
 @onfequenz, Daß von mehreren Beflgern eines folchen Landes nur eine, von dem 
Befiger mehrerer foldher Länder auh mehrere Stinnmen geführt wurden, und eine 
Veraͤnderung in diefen Stinnmen nur mit Zuflimmung des Reichstages erfolgen Fonnte. 
Eben deshalb, weil die Reichsftandſchaft ein perfönliches Recht des Landesherrn war, 
beflimmte ſich urfprünglich und regelmäßig auch die Neligionseigenichaft der Stimme 
danach, ob der Landesherr Katholik oder Proteflant war. Doch wurde es hinſtchtlich 
der proteftantifchen Laͤnder üblih, daß man die Stimme, wenn der Landesherr, wie 
3. 3. im Kurhauſe Sachen, wieder Fatholifch wurde, nichts deflo weniger als protes. 
ſtantiſche Stimme fortführen ließ. !) Seitden Zeiten des Kaiſers Ferdinand I. (1653) 
war dem Kalfer reich8conflitutionsmäßig unterfagt, veichöftändifhe Berfonaliften, 
d. 5. Reichéſtaͤnde ohne reihöfländifcheß Territorium zu machen: Der Kaiſer Eonnte 
alfo nicht willfürlig Pair creiren, wie die Könige von England. Die rechtöbeftän- 
dig erworbene Reichsſtandſchaft ging auf alle nachfolgenden Befiger und Erwerber des 
Landes über, worauf fle rubte, fofern die Stimme eine alte, d. h. ſchon vor dem 
weftfälifchen Frieden beftandene Virilftimme war. Bon den neuen, d. h. fpäter 
entflandenen Stimmen läßt fich dies nicht behaupten; hierbei überwog vielmehr bie 
Rückſicht der Verleihung an eine beftlimmte Familie. Hinſichtlich der Errichtung 
newer reihöftändifcher Stimmen galt feit 1653 ausnahmslos der Grundſatz, daß fie 
der Kaifer nicht allein, d. 5. nicht ohne reichsſtaͤndiſche Zuflimmung verleihen Eonnte. 
Eine derartige faiferlicde Verleihung hatte ſeitdem Feine andere Bebeutung, als daß 
ich der ſolchergeſtalt Begnadigte fofort um die reichöftändifche Einwilligung bewerben 
konnte. Welche Dingliche Qualification aber auch der Begnadigte nachmeifen mochte, 
fo ftand e8 immerhin in dem freien Belieben des betreffenden reichöftändifchen Körpers, dies 
jelbe für genügend anzuerkennen oder nicht, und in die Gooptation zu willigen oder die⸗ 
felbe zu verweigern. Sodann war zu unterfcheiden: a. die Errichtung einer neuen 
Kurflimme erforderte außer ber Taiferlichen Verleihung auch Die Zuſtimmung fämmt- 
licher drei reichsſtaͤndiſcher Gollegien und zugleich Erhebung der Länder zu Kurlän- 
dern; b. die Verleihung einer fürftlichen Virilſtimme ſetzte nebft der Eaiferlichen Ver⸗ 
leihung eine Qualification durch den Beſitz einer bedeutenden (nicht reicyBritterfchaftlicyen) 
Immediatherrfchaft und die Erwerbung der Kreisftandfchaft voraus. Zugleich mußte fich der 
Fürſt zur Uebernahme eines ſtandeswürdigen Matricularanfihlagd zu den Kreid- und Heichd- 
laften an Geld und Mannſchaft verpflichten. Hier genügte die Einwilligung des 
Kurfürften- College und des Fürſtenratho, indem die Meclamationen der Reichsſtädte 
fih feine Beachtung zu verfchaffen gewußt hatten. c. Diefelben Beflimmungen galten 
auch bei der Verleihung einer neuen reichögräflichen Stimme In diefem Kalle 
mußte überdies der Candidat noch von einer der Brafenhänke ſpeciell recipirt mer» 
den. d. Alle diefe Grundfäge galten gleihmäßig, wenn von dem Uebergange (fog. 
PBrorogation) einer neuen, nur einer beſtimmten Linie eines Haufes verliehenen 
Virilſtimme auf eine andere Linie durch erbfchaftlichen Ränderanfall die Rede war. 
Derloren ging die NReichöftandfchaft 1) durch die Reichs acht, d. h. durch ein ver⸗ 
urtheilendes, vom Kaifer beflätigtes Erfenntniß des Reichstags; 2) dur Avulfion, 
d. 5. durch Länderabtretung an eine auswärtige Macht, wenn nicht durch einen Staats⸗ 
vertrag das Gegentheil feftgefegt worden war; 3) durh Mediatifirung oder fog. 
Eremtion, d. 5. durch Unterwerfung unter die Landeshoheit eines anderen Reiché⸗ 
ftandes. Für foldye Mediattfirte findet fig fchon feit dem 14. Jahrhundert die Be⸗ 
zeichnung Standesherren, um anzudeuten, daß ihnen ber biöherige Geburtsſtand 
verblieb. Ob die Neichäftandichaft, die auf dem mebiatifirten Territorium baftete, an 
den Eximens überging, war nad Analogie der Grundfäge Über Prorogation zu bes 
urtheilen. — Die bier befchriebenen Neichsflände übten ihre verfafiungsmäßigen Mit- 
regierungdrechte auf dem Reichſtage in den drei bereitö genannten Gollegien aus. 


— — 


) Die Stimmen ber ſaͤculariſirten katholiſchen Staaten, welche an evangeliſche Reihe: 
Hände gelommen waren, wurben bagegen ben katholiſchen Stimmen nicht weiter beigezählt. 


Reich, deuiſches. (Reichsſtaͤnde. Reichstag.) 35 


I. Das Eollegium der Kurfürften, über deren Berfonalien der Art. Kurs 
fürft nachzufehen if. TI. Der Fürſtenrath, gebildet aus den reichöftändiichen 
Bürften, Brafen, freien Herren und Prälaten.?) Es beftanden bis zum Lüneviller 
Srieden 100 Stimmen. Davon maren 94 fürftlihe Virilſtimmen; die Grafen hatten 
4 Guriatflimmen, die fchmähifche, wetterauifche, fränfifche und weftfälifhe Grafenbank; 
die Prälaten, welche nicht als Neichöfürften Virilſtimmen führten, hatten zwei Curiat⸗ 
fimmen, die rheiniſche und die fhmäbifche Praͤlatenbank. Sämmtliche 100 Stimmen 
wurden nach einer Abtheilung in zwei Bänke geführt, die geiftliche und die welt- 
lie Bank, und zwar immer von der geiftlihen Bank zur weltlichen abwechfelnd, 
und überdies mit mannichfachen Alternationen unter mehreren Stimmen nad fefl« 
flebenden Ordnungen. Das Directorium im Fürftenrathe führten von Materie zu 
Materie abwechfelnd Deflerreich und Salzburg. Die Berechtigung zur Führung 
einer fürſtlichen Birilftimme wurde bauptfähli nad dem Beſitzſtande des Hiefür als 
Normalfahr angenommenen Jahres 1582 beurtheilt. Die Fürftenhäufer, welche da⸗ 
mals ſchon eine Virilſtimme batten, wurden als altfürftliche Häufer, im Gegenfag 
der fpäter In den Zürftenfland erhobenen (fog. neufärftlichen) bezeichnet, ohne daß 
dadurch ein vechtlicher Unterfepied auf dem Reichſstage begründet gewelen wäre. Hier⸗ 
nach flellte man den Grundſatz auf, daß jedes fürſtliche Haus fo viele Stimmen von 
jeinen Laͤndern zu führen berechtigt fei, ald es davon 1582 geführt babe. Bon den 
100 Stimmen des Fürftenrathbs waren 55 entfchieben katholiſch,) die Stimme von 
Osnabrück aber bald fatholifch, bald proteflantifch, da dieſes Fürſtenthum abwechſelnd 
einen katholiſchen und einen proteflantifchen Bifchof zum Landesherrn hatte Durch - 
ben Frieden von Lüneville ging in dem Heichöfürftenrathe eine große Veränderung ' 
vor, indem alle geiftlihen Stimmen bis auf Regensburg fäcularifitt wurben und 
18 Stimmen des linken Rheinufers ganz Hinwegftielen. Die Zahl der entfchieden 
fatholifgen Stimmen fant dadurch auf 28 herab. Eine neue Eintheilung und Ver⸗ 
mehrung der Stimmen im Fürſtenrathe, welche im Plane Tag, kam 618 zur Auflöfung 
bes Reichs nicht mehr zur Ausführung. ?) I. Das Bollegium der Reichs» 
Rädte zählte bis zum Jahre 1803 51 Städte mit eben fo viel Stimmen. Die 
Reichsſtandſchaft wurde ebenfo, wie die Kandeshoheit, der fläbtifchen Corporation bei⸗ 
gelegt und nur in deren Namen von dem Magiflrate ausgeübt. Die Meichsflädte 
waren wahre Reichsſtände, aber eben deshalb fo wenig fouveräne Mepubliken, als die 
übrigen Meichöftände fouveräne Zürflen. Ob’ fie eine entfcheibenbe Stimme -auf den 
Heichstage hätten, war In den älteren Zeiten flreitig gewefen; im weflfälifchen Brieden 
wurde fie ihnen aber ausbrüdlich zugeflanden. Nur bei gewiflen Sachen hatten {le 
überhaupt fein Stimmrecht, nämlih a. bei Aufnahme von Neisfländen in 
den Fürſtenrath; b. bei Wieberverleifung folder heimfallenden Reichslehen, 
welche die Reichsftaͤdte nicht berührten, und c. feit 1803 bei Reichkriegen, wor 
gegen ihnen eine laͤngſt gewünfchte Neutralität beigelegt wurbe. Die Neichöfläbte 
verhanbelten in Bänken, ber rheinifchen und der ſchwaͤbiſchen Städtebant; die erflere 
bildeten 14, die leptere 37 Städte Davon wurden 13 ald katholiſch, 33 als pro⸗ 
teftantifh und 5 als gemifcht betrachtet. Durch den Neichbdeputationd - Hauptfchluß 
wurden 45 Städte mebiatifirt, fo daß dad reichéſtaͤdtiſche Collegium nur noch von 
6 Städten: Augsburg, Kübel, Nürnberg, Frankfurt, Bremen und Hamburg, gebildet 
wurde. Das Directorlum führte früher die Stadt, in welcher der Meichätag gehalten 
wurde; alſo feit 1663 Regensburg. Die nach 1803 gebliebenen 6 Städte hatten 
einen Bertrag errichtet, wonach das Direetorium unter ihnen von zwei zu zwei Jahren 
wechſeln ſollte. 


— —— —— 





) Im engeren Sinne hießen Reichsfürſten biejenigen weldhe den Fürftentitel oder einen 
biefem gleichgeachleten, wie Erzherzog, Herzog, Pfalzgraf, Markgraf und Landgraf führten. Der 
Fürftentitel an ſich gab übrigens nod fein Recht auf die Führung einer Virilſtimme, weshalb 
—— welche den Fuͤrſtentitel erwarben, nach wie vor nur ihre Curiatſtimme auf den Grafen⸗ 

rien. 


2) Hinfihfli Der Religionseigenfhaft ber Grafenbänfe ſah man auf die Mehrzahl ber 
* ish ie —— Bank galt für fatholifch, die wetteranifche und fränfifche für proteſtantiſch, 
aͤliſche fü 
T, Aegidi, ve —— nach dem Lüneviller Frieden. 
3* 


36 Reich, deutſches. (Meichäflände. Reichstag.) 


Der Reichſtag oder die allgemeine Reichverſammlung (Comitia im- 
perii universalia) verhandelte die zu feiner Competenz gebdrigen Angelegenheiten un⸗ 
ter den Auſpicien des Kaiſers, d. h. auf ſeine Berufung und unter ſeiner hoheitlichen 
Gewalt. Nur der Kaiſer hatte das Recht, den Reichstag zu berufen und feine Be⸗ 
ſchlüſſe zu ſanctioniren (ſog. Ratificationsreht). Der Kaiſer war verpflichtet, 
mindeſtens alle zehn Jahre, oder ſonſt, ſo oft es des Reiches Nothdurft erforderte, einen 
Reichsſstag zu Halten, und Batte ſich deshalb jedesmal vorher mit den Kurfürſten zu 
verfländigen. Als DBerfammlungsort wurde eine Neichöftadt gewählt. Seit 1663 
war der HHeichötag permanent geworden und batte bis zur Aufldöfung bed Reiche 
jeinen Sig zu Regensburg. Da der Reichdtag nur unter den Aufpicien des Kaiferd 
bandeln fonnte, fo mußte diefer fortwährend auf dem Reichstage gegenwärtig fein, 
entweder in Perfon, was fchon feit dem 17. Jahrhundert außer Gebrauch gekommen 
war, oder durch einen Commiſſarius mit Repraͤſentativ⸗Charakter, der den Titel: Fals 
ferlider Prineipal-Commiſſar führte und nah der Prarid ſtets aus dem 
Fürſtenſtande des Meichd genommen wurde. Auch diefer trat aber nur bei ber feier- 
lichen Eröffnung und am Schluffe des Reichstags perfänlich auf; im Uebrigen handelte 
er mit dem Reichstage fchriftlih dur fog. Eommiffionsdecrete, doc war dem 
Kaiſer unbenommen, fchriftliche Erlaſſe auch unmittelbar an den Reichstag zu richten; 
diefe hießen Hofbecrete. Dem Brincipals Bommiffar war ein fogenannter Con⸗ 
commiffar beigegeben, d. 5. ein Staatsmann ohne Mepräfentativcharatter, meiſt 
ein Minifter des Principal⸗Commiſſars, welcher mit der eigentlichen Geſchaͤftsführung 
betraut war. Auch die Meichäftände erfchienen feit der gedachten Zeit auf dem Reiche» 
tage regelmäßig nur noch dur Geſandte. Das allgemeine Reichsdirectorium führte 
Mainz als Neichserzfanzler, durch den von ihm ernannten Reich directorial⸗ 
Befandten. An daffelbe gelangten alle kaiſerlichen Erlaſſe, Zufchriften und andere 
Eingaben von Meichöfländen oder anderen Perfonen. Die Vervielfältigung zum Be⸗ 
huf der Vertheilung an bie Reichſtagsgeſandten gefchahb durch Dictatur, woher 
der dictirende Secretär den Namen Reihsdictator erhielt. Das Reichsdirectorium 
batte außer der allgemeinen Leitung der Meichötagsverhbandlungen auch die Reichs⸗ 
gutachten und MeichBabfchiede zu entwerfen und die Protokolle, fo wie überhaupt bad 
Reichsarchiv zu bewahren. Die Beranlaffung zu Berathungen des Reichstags gaben 
zunächft die kaiſerlichen Propofitionen, welche durch Hofdecrete oder Commiſſions⸗ 
decrete eingebracht wurden, oder ein vom Kurfürftencolleg ausgehender Geſetzesvor⸗ 
flag oder ein Antrag einzelner Neichöflände oder anderer Perſonen. Das Reichs⸗ 
directorium beflimmte die Neibenfolge der Berathungsgegenflände und follte Diefelben 
längften8 innerhalb zweier Monate nach dem Einlaufe zur Beratbung bringen. Die 
Notification an die Meichdtagägefandten geſchah burh Anfagezettel, welde bie 
Einladung zur Stgung enthielten; dann folgte die Aufforderung zur Infiructions« 
einholung und die Verlaßnahme, d. 5. die Mebereinkunft der Gefandten 
„stando in circulo®, d. 5. ohne ordentliche collegienweife Sigung und ohne foͤrmlichen 
Aufruf zur Abflimmung, über einen Termin zur Eröffnung des Abflimmungsprotofolle. 
Am beflimmten Tage erfolgte fodann die DirectorialsPBropofition, d. h. der 
Vorſchlag zur Befchlußfaflung von Selten des Dirertoriums in circulo, und hierüber 
wurde nunmehr in den einzelnen Gollegien berathen und abgeflimmt und jeve einzelne 
Abftimmung zu Protokoll genommen. Hierauf folgte die Me» und Correlation, 
daB heißt dasjenige der beiden erſten Gollegien, welches mit feinem Befchlufie 
zuerſt fertig war, theilte diefen dem andern mit (fog. Melation); bie bierauf fol» 
gende Erklärung des andern bie Correlation. Dad Kurfürftencolleg und der 
Fürſtenrath feßten in ſolcher Weife ihre gegenfeitige Verhandlung fort, bis eine Ver⸗ 
einbarung erzielt ober Gewißheit erlangt war, daß fie ſich nicht einigen wär- 
den. Im letzteren alle blieb Die Sache beruhen; im erfleren ging fle an das 
Colleg der Neihöflädte, fofern deren Zuflimmung erforderlich war, zu gleichem Ver⸗ 
fahren. Stimmten auch die Reichsſtädte bei, fo lag ein commune {rium (sc. collegiorum) 
vor und der Auffab darüber hieß Reichsgutachten (Consultum s. Suffragium 
imperii). Stimmten aber die Neihäfläpte nicht bei, fo war die Sache wiederum ab- 
getban und befeitigt, da eine Majorität von zweien ber reichsſtaͤndiſchen Collegien 


Neid Gottes, 37 


gegen das dritte nicht galt, und auch der Kaifer Leine entfcheidende Stimme hatte. 
Auf das Meiyägutachten follte der Kaifer fchleunig nach Belrath des Reichévicekanzlers 
durch eine fogenannte Faiferlihe Reſolution feine Meinung erllären. Wenn 
der Kaifer das Heichögutachten ratiflcirte, fo murbe e8 zum Reichſchluß (Gonclu- 
sum imperii) erhoben und damit als Meichögefeg publicationsfählg und vollziehbar. 
Bevor der Reichſtag zu Megensburg permanent geworben war, pflegte man die auf 
einem Meichötage zu Stande gekommenen Reichsſchlüfſe nicht fofort einzeln zu publici- 
en, fondern man verfchob dies regelmäßig bis zum Ende des Reichſtags, wo fle dann 
zufammen und gleichzeitig In einer Urkunde, dem Reichabſchied (Recessus im- 
perii) verfündet wurden. Der legte fog. jüngfle Reichsabſchied ift von 1654. 
Mei Gottes 1), Baoıela Beoö. Die Ewigkeit iſt kürzer ald die Zeit, nur 
ein Tag, das R. ©. Fleiner als die Kirche, denn fehet das R. G. iſt in euch und 
wir find In der Kirche. Die Zeit beginnt, verläuft und endet, die Ewigkeit bat weder 
Anfang, Mittel noch Ende; die Eecleften werden berufen, fammeln ſich, werben eine 
"Einheit ihres Geiſtes, die Kirche bat ihr Bundament und Edflein, ihre feflen Um⸗ 
fhliegungen, Säulen und Ornamente; feldft die heilige Stadt if nicht das NR. G., 
denn fie lieget bloß in der Zukunft, den letzten Geſichten der Offenbarung, nicht au 
in der Vergangenheit. Ferner Iäuft die Zeit nicht neben ber Ewigkeit ber, daß bier 
wäre Zeit und dort Ewigkeit; noch weniger lieget fie zreifchen inne, daß erfi wäre 
Ewigkeit geweſen, jegt Zeit und dann wieder Ewigkeit oder wie Auguftinus fagt, bie 
Zeit iſt nie und in Peiner Weife ein Tropfen aus dem Oceane Ewigfeit. Der Ueber⸗ 
gang aber liegt nahe, aufzufinden das Verbältniß zwifchen dem Wefen des R. ©. 
und ben andern bezüglichen Begriffen ald alter und neuer Bund, Gemeinde, Kirche ır. 
Die vernünftige Greatur Tann e8 erkennen, daß fle nicht Bott fei, nad der Eben⸗ 
bifplichkeit Fönnen ihr die Berbältniffe zu dem Vorbild Bott Klarheit werben; aber 
fie Tann das Weſen Gottes nimmer in einen umfchriebenen Begriff zufammenfaflen, 
weil gerade das Welen Gottes ohne Schranke If. Nicht minder ermangeln wir der 
Definition, was das R. G. fe. Wir wagen nicht den Ausfpruch, vor der Schöpfung 
fei Gott nit König und Kerr geweſen; noch weniger den andern, im füngften Tage 
volfende fi dad R. G. In allen Ausfprüchen der Heiligen Schrift tritt das R. ©. 
uns als die Ewigfeit entgegen, keineswegs ohnmädhtig der Zeit, fondern ſtets ganz 
und gar in derfelben, aber auch ganz und gar ohne dieſelbe. Und find die Ays- 
drüde Simmelreih (Baoılela av oöpavwv) und R. ©. identiſche, mann von einer 
Entwidelung des Himmelreiches geredet wird, fo nur nad dem Berflande als das 
Verhaͤltniß der Menfchen zu a fih ändert. Dagegen bei dem alten Bunde, 
bei der Eccleſte laſſen fih Tag, faſt Stunde ihres Beginnend angeben, und was Ans 
fang hat, bat Wechfel, möglicher Weife Ende; bequeme Bezeichnung für fte if civitas 
Dei, um die menfchlihe und zeitliche Seite als ein Eharafteriftifches hervorzuheben. 
Das N. ©. if ein ewiges Reich im vollfien Sinne, in die Höhe und in die Tiefe, 
in Die Länge und in die Weite, es ift Alles in ihm in Raum und Zeit, weil es ale 
das erfte und legte Wort in einem jeglichen die wahre Griftenz deſſelben ift; auch 
dann, wann die Greatur nach der Freiheit Meiche im Gegenſatz zu dem R. ©. wird. 
Das Heich diefer Welt, noch mehr das Reich des Teufels, ift eine Feindſchaft gegen 
Das R. ©., aber die Herrfchaft deſſelben IR fo groß, daß ſelbſt der Teufel und fein 
Reich nicht Haffen und miderfireben Fünnten, wenn fle nicht Xeben und Obem aus 
Bott Hätten. Ja ihr Haflen und Widerfireben muß einer ber Antriebe werben, welche 
alle Entwidelung zurüdführen in die Einheit des R. G., mann alle Herrſchaft Gott 
übergeben wird. Aber bis gen das Ziel bat das Reich dieſer Welt um der Sünde willen 
Macht über Alle, welchen nicht das Reich der Gnade eine Erlöfung aus dem Mißbrauche der 
Breiheit wird. Letzteres Hat feine Selbſtſtaͤndigkeit, ebenfo wie pie Welt; dennoch: inihm leben, 
mweben und find wir. Das R. Gottes ift fo fehr die Erfüllung aller Tugenden des 
großen und frommen Gottes, daß es Alles bleibt, ob auch Anderes etwas ſei; und 
wie bie Macht in der Gnade und die Gerechtigkeit in der Liebe fich wiederfptegeln, das 


— — — — — — 


) Dieſer Artikel iſt eine Ergänzung des Art. Himmel und Hölle, Kirche, ſonderlich 
eangelifie. 


38 Reichard (Chriſtian Gottlieb). 


Reich der Gnade iſt ein Abbild des R. ©. in einer in Sünde verſtrickten Welt. Der 
Teufel iſt Sünde geworden, die Welt in Die Sünde verfiridt und erlöfungdfäbig. Daß 
diefe Faͤhigkeit zur Wirklichkeit werde, ift nicht das Gute im Menfchen, fondern nad 
der Natur entwidelt fich das Böfe in ibn. Das R. ©. iſt nicht mehr unter und in 
uns, fo weit auch wir felbflftändig find, fondern e8 kommt zu uns als Liebe und 
Gnade, Weisheit, Gerechtigkeit, und Tann Niemand alle Prädicate erfchöpfen. Die 
Form feiner Zukunft war dreifach, zuerft ald Morbereitung auf Geleß und Evange- 
lium, dann als alter und neuer Bund. !) Die Erfcheinung des Sohnes Gottes im 
Fleiſche war eine Erfüllung der Welffagungen des alten Bundes, aber Feine Entwide- 
lung des R. G.; feine That Gottes für fi, feine Macht und Herrlichkeit, fondern 
eine That Gottes für die Menfchen; die perfönliche Einheit Gott und Menſch durch 
Tragung der Sünde und Schuld der gefallenen Greatur die Möglichkeit, daß als 
Segen und nicht ale Verdammniß ihr das Reich Gottes nahe fe. Zwar auch bie 
Berdammniß, die Hölle, ift nicht al Disharmonte eine Erfcheinung des R. ©. ; denn 
es ift der böchfte Preis der freien Herrlichkeit Gottes, daß er auch Greaturen Die end⸗ 
gültige Freiheit gegeben, fich in Selbſtſucht zu verzehren, anftatt in der Liebe Gottes 
das Leben zu haben. Es ift gewiß das MR. G., daß, wer Gott nicht will, erfahre, 
05 e8 an ſich anderes, als den Tod finde. — Es bleibt für unfern Zwed übrig, kurz 
die Gefchichte des neuen Bundes zu fflzziren. Zuerſt eınpfingen bie Apoftel den bei- 
ligen Geiſt, dann gingen fie über zur Thätigkeit für Die neue Gemeinſchaft, welche in 
ihnen begonnen. Im Geſetze des Wachsſsthums und des Werdens lag aber anfäng« 
lich die Schranfe, in Iosgelöstefter Weife eine Behaufung Gottes im Geiſte und in 
der Wahrheit fein zu wollen. Man ſah von allem Uebrigen ab, wenn man nur das 
Eine war. Aber weil man dies Eine, mußte man ſich zu allem WMenfchlichen in Bes 
ziehung fegen; es geftaltete ſich ein Verhältniß des Chriſtenthums zur Wiſſenſchaft, 
zur Kunſt, zur Schule, zum Staate, zu dem Reichthum und den Bütern dieſer Erbe. 
Das Irdifche begann dem ChriftentKum zu dienen; aber ed blieb auch ein Meft im 
Srdifchen, das Chriſtenthum nicht ale Erlöfung zu lieben, fondern als Unterbrüdung 
abzuſchütteln. Es ſteht der legte Kampf noch bevor, nach deſſen Siege die zeitliche 
Entwidelung zur Vollendung fommt, das Ende zum Anfange zurüdkehret, der Sohn 
das Reich Gottes dem Vater Überantwortet und aufgehoben wird alle Herrſchaft und 
ale Obrigkeit und Gewalt, jegliches Abbild verfchlungen wird in das Urbild: 
Reich Gottes. 

Reichard (Chriſtian Bottlieb), fachfensgothaifcher Hofrath und Stadtſyndieus zu 
Lobenftein, geboren zu Schleiz am 26. Juni 1758, geſtorben am 11. September 
1838, bat ſich durch feine Verdienſte um die Geographie einen der bervorragenpften 
Namen erworben. Er Hatte, ald im Jahre 1798 von dem berühmten Aftronomen und 
Geographen Baron v. Zah auf.der Sternwarte Seeberg bei Gotha die äffentliche 
Aufforderung zur Theilnahme aller Eingeweihten an den aftronomifchen und geogra- 
phifchen Arbeiten für die von ihm und Bertuch in Weimar herausgegebenen „ All« 
gemeinen geographiichen Ephemeriden * erfchlenen war, fich bewogen gefunden, dem 
fon in der Jugend mit Vorliebe von ihm erfaßten Fache der Geographie feine Muße⸗ 
flunden audfchlteplich zuzumenden. Vorzugsweiſe erleichtert wat ihm das GErgreifen 
diefer Wiſſenſchaft, da er, von der Natur durch glüdliche Geiſtes anlagen unterflügt, 
auf dem Lyceum zu Schleiz und auf der Univerfltät zu Leipzig während ber Jahre 
1777—81 eine fehr gründliche humaniſtiſche Bildung fich erworben, dabei von feinem 
Vater Johann Georg R. reichhaltige Materialien zum geographifcgen Studlum 
zeitig in die Hände bekommen, mit Mathematik ſich gern beichäftigt und Fertigkeit in 
der Zeichentunft ſich angeübt hatte. Was unter fo günfligen Vorausfegungen ein 

«durch wiffenfhaftlihde Grundlage entwidelted und durch unabläffigen, Acht deutfchen 
Fleiß zur Neife gebildete Talent und eine zum Enthufladmus gefteigerte Vorliebe für 
dad Bach zu wirken vermögen, das bat R. in einem vierzigfährigen Zeitraum durch 
fruchtreiche That bekundet. Seine erfien Proben hatten bei dem Freiherrn v. Zac fo 
günftigen Eindruck gemacht, daß derfelbe ihn fogleich einlud, einen Atlas des ganzen 


) Bergleihhe bie betr. Artilel Bud, altes und nenes Evangelium. 





Neiharb (Chriſtian Gottlieb). 39 


Erdkreiſes mit den damals neueſten Entdeckungen und Beſtimmungen in der Central⸗ 
projection (d. 5. in Eubifcher Form) nach der von Käftner in Göttingen gegebenen 
Idee (auf 6 Tafeln) zu bearbeiten, wobei ihm zugleich die erforderlichen, auf Seeberg 
vorräthigen Materialien zur Benutzung mitgetheilt wurden. Hierdurch fand fih R. 
angeregt, in der höheren Analyfis fi zu befefligen und der Lehre von den Pro- 
jerttonen ſich ganz zu bemeiftern, Unter diefen durch täglichen Umgang mit einem der 
gründlichften Mathematiker, v. Geldern in Lobenſtein (f 1816), beförderten Studien wurde 
er. durch die mit v. Zach bis zu deflen Abreife nach dem fühlichen Branfreich (1807) ge⸗ 
führte lebhafte Correſpondenz vielfach belehrt und ermuntert, und erlangte er von Dies 
jem fcharffichtigen Kenner das Zeugniß, daß feine grapbifchen Arbeiten, bei welchen ' 
er fi) eine richtige Methode der Bergzeichnung angeeignet Hatte, mit den beften Dar⸗ 
ſtellungen der Engländer und Franzoſen den Wettfireit beſtehen Eönnten und daß er 
in Hinſicht auf Sauberkeit, Sorgfalt und Genauigkeit der Kartenzeichnung von Nies 
mandem übertroffen werde. Eben fo erfreulich war für ihn der mit v. Zach's Nach⸗ 
folger auf der Sternwarte Seeberg, dem Baron v. Lindenau, dem fpäteren Staats⸗ 
minifer in Dresden, ſchon vorher begonnene und dann fortgefeßte wiſſenſchaftliche 
Berkebr, der fih fpäter auf mehrere gelehrte Freunde in Gotha ausdehnte und Ver⸗ 
anlaffjung gab, daß R. vom Herzog Auguſt zu Sacfen« Gotha und Altenburg zum 
Hofrath ernannt wurde. In ununterbrochenem Streben erweiterte R. bei der in Ge⸗ 
jellfchaft mit Bertuh von 1805— 7 geführten Redaction der geographiſchen Epheme- 
riden, durch gehäufte Aufträge zu Kartengeihnungen, übernommene Necenflonen und 
andere Abhandlungen in demielben Fache den Kreis feiner Leiftungen. Er Lieferte 
zuerfi für das Induſtrie-Comtoir und geographifche Inflitut zu Weimar, dann für 
Homann's Erben (naher Fembo) in Nürmberg, für die Buch⸗ und 
Kunftbandlung von Friedrich Campe dafelb und für den von Stieler in 
Gotha in Gemeinſchaft mit ihm bei Perthes dafelbft herausgegebenen Hand⸗ und 
Schulatlas eine beträchtliche Reihe von Karten, meift in größerem Formate, die ihm 
megen ihrer VBollfländigkeit und Nichtigkeit und megen ihrer mufterbaften, mit der 
befannten Lehmann 'fchen Theorie wefentlich übereinſtimmenden Situationszeichnung 
unter den Fachkennern des In» und Auslandes den Iauteften Beifall erwarben. Außer⸗ 
dem gab er umfaflende, zur alten Geographie gehörende Werke heraus, beleuchtete 
und berichtete in Eürzeren Abhandlungen manghe vorher im Dunkeln gebliebene oder 
verworrene Materien und recenfirte einige in feine Forſchungen einfchlagende biftorifche 
und geographifhe Werke von Deutfchen, Engländern und Branzofen. Solche Kleinere 
Arbeiten enthalten die älteren „Allg. geogr. Epbemeriden”, die „Monatliche Corre⸗ 
fpondenz*, die „Jenaifhen und Halleſchen Lit. Zeitungen”, die „Neuen allgem. geogr. 
Ephemeriden”, die „Hertha“, die „Annalen der Erd⸗, Völfer- und Staatenfunde von 
Berghaus” und einige Zeitſchriften für deutfche Alterthumskunde. Wir berühren 
unter dieſem reichhaltigen Matertal aus den Karten (im Ganzen 110 Stüd) nur bie 
zwei Erd⸗Hemiſphaͤren in Lambert'fcher Projection, Kleinaften mit allen Routen der 
europäifchen Neifenden, die große Weltkarte nach Mercator's Projection (mit 46 Schiff- 
fahrt8routen), Europa, Deutfchland in 4 großen Blättern und in 1 BI., die europäifche 
Zürtel, Nordamerifa; außerdem das Hauptwerk: „Orbis terrarum antiquus cum the- 
sauro topographico* (19 Karten, meift in größtem Formate, und ein in lateinifcher 
Sprache abgefaßtes alphabetiiches, die alten und neuen Benennungen nad den Auto« 
titäten der Klaſſiker und nach den neueften Berichtigungen der Erbfunde neben ein- 
ander nufführendes Verzeichniß der Orte, Flüfſe, Landfeen, Infeln ꝛc.); die Reduction 
biefes großen Atlaſſes für den Handgebrauch in Schulen, unter dem Titel: „Orbis 
terrarum veteribus cognitus, in usum iuventutis exaratus atque scriptus“ (1830, 
21 Bl.), und „Sermanien unter den Römern“ (1824, Alles in Nürnberg erfchienen). 
Das Wichtige von den Eleineren Schriften, die alte und mathematifche Geographie 
betzeffend, bat R. in einem 1838 erfchienenen Bande gefammelt. Bei R. boten ſich 
tiefe Kenntnig des klaſſiſchen Alterthums, innige Vertrautheit mit allen Fortſchritten 
der neuen Geographie, genaue Bekanntfchaft mit der Mathematif und gewandte An⸗ 
wendung: derfelben, fünftlerifche Meifterfchaft in der geographifchen Darflellung und 
eine vom treueften Gedaͤchtniß unterſtützte fcharfiinnige Combinationsgabe beftindig die 


x 


40 Reichard (Heine. Aug. Ottocar). Weihardt (Joh. Feishr.). 


Hand. Sein mit dem forgfältigften Fleiß bearbeiteter Atlas der alten Welt, weldyer 
alle Theile derfelben in ihrer größten Ausdehnung unter dem Zeitalter des Auguftus 
barftelft, und der dazu gehörige Kommentar haben eine beträchtliche Menge Irrthümer 
in den bis dahin erfchienenen Werken des In- und Auslandes berichtigt, vieles vor⸗ 
her Unbelannte in’® Licht geftellt und diefem Zmeige der Wiffenfchaften dadurch eine 
ganz neue Geftalt gegeben. Kurz, die alte und neue Geographie verdanken R. die 
wichtigften Verbefierungen und vielfache Impulfe zu jenen Fortfchritten, die In der 
neuen gemacht find und noch gemacht werden. 

Reichard (Heinrich Auguft Dttocar), herzoglich ſachſen⸗gothaifcher Director des 
Kriegscollegiums, Geheimer Kriegsrath, wurde zu Gotha am 3. März 1751 geboren. 
Der Geh. Regierungsrath Rüdloff, mit welchem fich feine Mutter nach dem zu früh 
erfolgten Ableben ihres erften Gemahls verbeirathete, Tieß den Knaben dur Privat« 
unterricht zu den Univerfttätsftudien vorbereiten, die er in den juriftifchen Disciplinen 
zu Göttingen, Jena und Leipzig vollendete. Als er 1771 in das elterlihe Haus 
zurücgelehrt war, mußten Gotter und Klüpfel ihn fo für Die fiterarifche Richtung, 
die damals in Gotha vormaltete, zu gewinnen, daß er fein Brotſtudium faft gänzlich 
aufgab und fih nun den Wiffenfchaften widmete. Von je ber hatte er ſich durch 
theatralifche8 Talent audgezeichnet, und feine Liebe zur Bühne wurde befonders durch 
die Bekanntſchaft mit Eckhof, Brandes, Boͤck, Koch und der Seyler'fcher Familie, 
Die gerade damals nah Gotha Fam, vdergeftalt gefleigert, daß er, als eben Herzog 
Ernſt in Gotha ein Hoftheater errichtete, fehr gern die ihm offerirte Direction über- 
nahm. Vielleicht hatte ihn Hierzu noch die befondere Rückſicht bewogen, daß mit jener 
Stelle zugleich eine Anftellung bei der öffentlichen Bibliothek und die Aufflcht über 
die Privatbibliothel des Herzogs verbunden war, denn nach den franzdflfchen und 
italienifchen Vorbildern, welche er daſelbſt fand, bearbeitete er mehrere jehr beliebte 
Bühnenflüde und wandte fein ausgezeichneted Talent auch auf die deutfche Schaufpieler- 
funft, deren Befchichte feinem „Theaterfalender” (Gotha 1775—1800) und „Theater- 
journal” (22 Stüd, ebd. 1777—84) jehr Vieles zu verdanken hat. R. war e8, der 
über AO Jahre den bekannten „Gothaiſchen Hoffalender“ redigirte, der die Gothaer 
„Gelehrte Zeitung” ganz vorzüglig begründete, der bie „Olla Potrida“ (Berlin 
1778—97), den „nouveau Mercure de France“, das „Journal de Lecture“, bie 
„Bibliothek der Romane” (Berlin, fpäter Riga 1778—94, 11 Bde.) berausgab, 
wobei ihm die audgebreitetfte Bekanntſchaft mit den Schriftftellern des In- und Aus⸗ 
landes zum größten Vortheil gereichte. Er war Mitglied mehrerer Ordensgeſellſchaften 
und begünftigte ganz befonder® die Sreimaurerloge, an welcher auch Herzog Ernſt 
theilnahbm. So gerieth er mit Bode in genauere Bekanntſchaft, durch deſſen Hülfe er 
fih an dem Wilhelmsbader Congreſſe betheiligte. In feinen fpäteren Jahren machte 
er mit feiner Gemahlin eine Reife nach Italien, der Schweiz und Frankreich, welche 
er in feiner „Malerifchen Heife durch einen großen Theil der Schweiz" (Iena 1806, 
neue Aufl. Gotha 1827) trefflich befchrieben bat. ‚Gegen die revolutionäre Partei in 
Frankreich trat er In manden Schriften fehr Hart auf und zog ſich deshalb viele 
Feinde zu, welche aber nicht im Stande waren, ihn durch ihre Angriffe von feinen 
loyalen Anftchten abzubringen. Er flarb zu Gotha am 17. März 1828, und Kramer 
befchrieb fein Keben in den „Zeit⸗Genoſſen“, Heft 3, 1830. Außer den bereits 
erwähnten Schriften nennen wir noch „Reiſe ded Grafen GEhoifeul- Gouffler durch 
Griechenland" (12 Hefte, mit franzöflihem Terte, Gotha 178082), „Nercier's 
Nachtmütze“ (aus dem Franzdflichen, Berlin 1784—86, 3 Bde.), „ Revolutiondalmanadı " 
(Söttingen 1793—1803), und befonders feine in fo vielen Auflagen verbreiteten 
Meifehbandbücher, wie „Handbuch für Meifende aus allen Ständen” (die erfte Auflage 
Zeipgig 1785), „Guide des voyageurs en Europe“ (bie erfte Aufl. Weimar 1793) 
und „Der Paffagier auf der Reiſe in Deutfchland und einigen angrenzenden Rändern“ 
(bie erfte Aufl. Jena 1806). 

Keichardt (Joh. Friedr.), deutſcher Publicift und Componiſt, geb. den 25. No- 
vember 1751 zu Königäberg, fludirte ebendafelbfl und zu Reipzig die Mechte und 
wurde 1774 Secretär bei der Tönigl. preuß. Domänenfamme. Das Jahr darauf 
ernannte ihn Briedrich der Große an des verflorbenen Graun's Stelle zum Kapell- 


Reichel (Johann Jakob). 41 


meiſter der italleniſchen Oper zu Berlin. 1782 begab er ſich zu feiner ferneren muſi⸗ 
kaliſchen Ausbildung nach Italien und 1785 nach London und Paris. Während er 
an Iegterem Ort mit der Ausarbeitung feiner Opern „Tamerlan” und „Banthee“ 
befihäftigt war, wurde er durch den Tod Friedrich's des Broßen fehleunig nach Berlin 
zurückberufen und componirte bafelbft eine große Trauercantate. Seine aus Paris, 
wohin er fi Anfangs des Jahres 1792 begeben hatte, datirten und bie dortigen 
Zuflände bewundernden „Bertrauten Briefe” (Hamburg 1792, 2 Bde.) brachten ihn 
in den Huf eines Freundes der Mevolution und hatten die Entlaffjung aus feiner 
Stelle zur Folge. R. lebte jetzt ohne beſtimmten Wirkungdfreis Tängere Zeit in Stock⸗ 
holm und Hamburg, fodann in Danzig, wurde indeſſen vom König Friedrich Wilhelm 11. 
wieder zurücherufen und zum königl. Salinendireetor in Halle ernannt. Nach der 
Schlacht bei Jena begab er fi nad Königsberg; nach dem Frieden von Tilfit aber, 
da er, nah Halle zurüdgelehrt, feine Stelle eingezogen fand, nach Kaffel, wo er 
Hoflapellmeifter wurde. Nachdem er diefe Stelle wieder verloren Hatte, fledelte er 
nach Giebichenſtein über, wo er den 27. Juni 1814 flarb. Unter feinen mufllalifchen 
Arbeiten find feine Liedercompofttionen, befonderd die von Boethe’fchen Liedern, die 
bedeutendſten. In dem perfönlichen Verkehr, den er auf einer feiner früheren Reiſen 
mit Gluck in Wien pflog, fcheint ihm Die Anregung geworden zu fein, die Gluck'ſchen 
Brincipien, was namentlich die Verquickung des Befanged mit der eigenen Seele des 
Worts betrifft, auf das Lied anzuwenden. In einzelnen Liedern, 3. B. „Die Trommel 
gerührt” und „Freudvoll und leidvoll“, bat er die DBerfchmelzung der Melodie und 
des innern Lebens des Wortes fo vollfiändig erreicht, daß er darin von fpäteren 
Liedercomponiften nicht fibertroffen werben konnte. Weniger glüdlich war er in feinen 
Gompofltionen zu den Liedern der Nomantifer, z. B. Tieck's und Schillers. Die 
von ihm redigirte „Muftfalifche Zeitung” bat auch feßt noch funftbiftorifchen Werth. 
Ferner gab er heraus: „Vertraute Briefe aus Paris, gefchrieben 1802 und 1803" 
(Hamburg 1805, 3 Bde.). Ueber den eigentlichen Urbeber des von ihm 1804 heraus⸗ 
gegebenen „Napoleon Bonaparte und das franzdfifche Volk unter feinem Gonfulat” 
flehe den Artikel Schlabrendorf. . 
Reichel (Johann Jakob, in Rußland Jakow Jakowlewitſch), kaiſerlicher Wirk. 
licher Staatérath, der bedeutendſte Numismatiker Rußlands, wurde in Warſchau den 
6. (18.) November 1780 geboren und iſt der Sohn eines Medailleurs, der durch 
feine Beſchäftigung früh den wiffenfchaftlihen Sinn für Münzkunde bei dem verfiän- 
Digen und regfamen Knaben erweckte. DM. erhielt feine erfle Bildung in der War⸗ 
ſchauer Akademie und trat 1802 als Mebailleurftudent beim St. Peteröburger Münz- 
Hofe in ruſſiſche Dienſte. 6 Sabre fpäter, als er bereit durch feine Forfchungen auf 
dem Gebiete der vergleichenden Numismatif ſich einen ehrenvollen Ruf erworben hatte, 
erbielt erden Boften eines Eaiferlichen Medailleurd und wurde 1813 zum Mitglied der Ver⸗ 
mwaltung der Expedition für Anfertigung ber Staatöpapiere und zum Dirigirenden der technie 
Then Abteilung bderfelben ernannt. Bon dem Medallleuramte wurde R. 1846 mit 
Beibehaltung feines vollen Gehalts entlaffen und für den Dienft bei der Erpebition 
erhielt er, außer Rang, Orden und Gehaltszulage, zu verfchiedenen Zeiten Taiferliche 
Gnadengeſchenke bis zum Werthe von 30,000 Rubeln Silber. R. war einer der ger 
fhickteften Arbeiter in feinem Fache und Sat durch feine tiefen und gründlichen For⸗ 
fhungen auf dem Gebiete der numismatifhen Wiſſenſchaften fi nicht bloß einen 
ehrenvollen Namen in Rußland, fondern einen europaͤiſchen Ruhm erworben. Er war 
Gorrefpondent der Eaiferlihen Akademie der Wiffenfchaften zu St. Peteröburg und 
Mitglied der berühmten archäographifchen Commiſſton, als welcher er mit feinen Col⸗ 
legen S. M. Strojew und M. A. Korkunow Theil nahm an dem für die Numis- 
matik epochemachenden Werke dieſer Commiſſton, welches unter dem Titel: „Ssobra- 
nije Russkich Medalei“ (Sammlung rufflfcher Medaillen) zu St. Peteräburg in einer 
großen Prachtausgabe edirt worden iſt. R. war auch einer der Gründer der durch Die 
großartigen Mefultate ihrer Borfchungen höchſt beachtenswerthen arcdhäologifchen Ge⸗ 
fellſchaft zu St. Petersburg und war lange Zeit hindurch als deren Dice - Prafident 
die eigentliche Seele und Triebfeder derſelben. Er machte zu verfchledenen Zeiten 
ausgedehnte Meifen durch ganz Rußland und die Länder des mittleren und weſtlichen 


42 Reichenan. Reichenbach (Georg v. — Heinr. Gottl. Ludw.) 


Europa's, namentlich zum Behuf pesfönlider, an Ort und Stelle vorzunehmender 
numismatifcher Studien. So eriftirt faft fein irgend bedeutfames Münzen⸗ und Me- 
daillen » Babinet in Europa, welches R. nicht beſichtigt haͤtte. Ein leidenfchaftlicher 
Kiebbaber der Numismatil, ſammelte er felbft eine für einen Privatmann ganz unge» 
wöhnliche und überreiche Münzen: und Medaillen «- Sammlung an, vorzüglich aus Dem 
Mittelalter und der Neuzeit, deren Stückzahl weit über 40,000 betrug. Davon kaufte 
ihm noch bei feinen Lebzeiten feine reichhaltige Sammlung ruffifcher Münzen und 
Medaillen der kunſtſtnnige Kaifer Nikolaus 1. im Jahre 1851 für eine große Summe 
ab, indem er diefelbe mit den in der Eaiferlichen Eremitage des Winterpalafted befind- 
lichen Münzen vereinigen Ti. R flarb auf einer feiner Geſundheit wegen unter- 
nommenen Reiſe ind Ausland zu Brüffel, den 30. October (11. November) 1856. 

Neihenan heißen mehrere Ortfchaften, Infeln und Schlöffer Deutfchlands und 
der Schweiz. Wir nennen hier nur die berühmte Infel im Bodenfee und das Schloß 
diefed Namens im Schweizer Canton Braubünden. Erftere, die Infel, 1%, Stunde 
lang und Stunde breit, zum großherzoglich babenfchen Amtsbezirke Conſtanz ge- 
börig, mit den drei Dörfern Ober⸗, Nieder- und Unter» Zell, einer wichtigen 
Meinbaufchule und 1500 Einwohnern, welde ftarten Weinbau und Bifcherei treiben, 
ift durch Fruchtbarkeit und Naturfchönheiten nicht minder berühmt, wie durch die ehe⸗ 
malige Benedictiner- Abtei, in deren alter Kirche dad Grab Kaifer Karl's des Diden 
und viele Meliquien fich befinden und deren Infaflen für die Wiffenfchaft fo viel ge⸗ 
leiftet Haben (Walafried Strabo, Berno, Hermann der Hinkende, Heinrich v. Klingen 
berg ꝛc.). Diefe berühmte und überaus reiche Abtei, deren Blüthe in den Zeitraum 
von 800—1250 fällt und deren Schule man von weit und breit ber befuchte, wurde 
724 unter den Aufpicien Karl Martell’8 von St. Barminius, Der auch der erfle Abt 
geweien, gegründet. Der -Abt führte die reichsfürſtliche Würde, bis die Abtei 1538 
von dem Abte Mar v. Kiorringen gegen eine gewiſſe jährliche Penflon an den Bifchof 
von Konflanz abgetreten wurde. Durch den Reichöbeputationsreceß von 1803 fiel die 
Infel an Baden, der größte Thetl der abteilichen Güter aber an den Banton Thurgau, 
in deffen Umfang fie lagen. Das oben erwähnte Schloß, an der Bereinigung bed 
Hintere und Mittelrheins, in einer der romantifhflen Gegenden, wurde von einem 
Biichofe von Chur erbaut und enthält jeßt ein Penflonat, an welchem Zſchokke Untere 


richt ertheilte und wo fich der flüchtige Herzog von Chartres, der nacdhmalige König 


der Franzoſen Ludwig Philipp aufhielt und ebenfalls Linterricht gab.. Das Schloß 
gehört jegt der Kamille v. Planta. 

Reichenbach (Beorg von), geboren den 24. Auguft 1772 zu Durlach in Baden, 
geftorben 21. Mai 1836 zu München. Er wurde in feiner Jugend für das Militär 
beftimmt, genoß die befondere Gunſt des Kurfürften Karl Theodor von der Pfalz, 
der ihn in den Stand febte, ſich durch Meifen auszubilden und ihn 1794 als Artillerie 
Dffizier in feine Dienfle nahm. Er war ein genialer, erfinderifcher Kopf und tüchtiger 
Mathematiker, von vormaltend praftifcher Nichtung, insbeſondere für Mafchinen- 
Conſtruction, worin er Bedeutendes geleiftet bat. 1811 trat er ald Salinenrath in 
bayerische Dienfte, wo er durch Anlage der bewundernswürbigen Waſſerhebungswerke 
bei Reichenhall und Berchtesgaden ſich große Verdienſte erwarb. Er if einer ber 
Gründer der berühmten Anftalt zur Berfertigung aftronomifcher und geodätifcher 
Suftrumente in Münden und Benebictbeuern, welche gewöhnlich unter ben Namen 
von Upfchneider und Braunbofer genannt wird und deren Leiflungen in einigen Iheilen 
unübertroffen, in allen außgezeichnet find. 1820 wurbe R. Chef des Waflerbaumelend 
und Nachfolger Wiebeking's, verband aber mit biefem Wirkungskreiſe eine ausgedehnte 
Thättgkeit in verfchiedenen Richtungen, als Waffenfabrifation, Berg und Hütten» 
wefen u. U. Die Akademie der Wiffenfchaften nahm ihn unter ihre Mitglieder auf; 
feine Büfte hat König Ludwig in der Walballa aufftellen laſſen. Als Schriftſteller iſt 
er niemals aufgetreten. 

Reichenbach (Heinr. Gottlieb Ludwig), geb. zu Leipzig den 8. Januar 1793, 
ift ein angefehener Naturforfcher, Sohn von Joh. Friedr. Jac. R., der Konrector an 
der Thomasfchule Dafelbft war. Er fludirte Medicin, wurde 1820 als Profeffor der 
Naturwiſſenſchaften nach Dresden berufen, wo er mit der Direstion ber naturhiſtori⸗ 


Neichenbach (Kari Freiherr v. — Ortfchaften.) 43 


ſchen Sammlungen und Anfalten beauftragt ward, das zoologifche Muſeum bedeutend 
vermehrte, einen botanifchen Garten einrichtete und überhaupt fich bleibende Berbienfte 
erwarb. Der Bflanzenfunde, der er mit befonderer Vorliebe ſtets oblag, Hat er ein 
natürliches Syſtem zum Grunde gelegt, welches demjenigen von Juffieu (f. d. Art.) 
nahe verwandt iſt, doch auch manches Eigenthümliche bat. MR. iſt ein ungemein frucht⸗ 
bares Schrififlellee. Sein Hauptwerk: Icones florse germanicae, helveticae et mediae 
Europae, mit mehr ald 1000 Kupfertafeln ift in 18 Quartbänden 1823—1858 er- 
ſchienen, und von ihm felber ind Deutiche überfegt unter dem Titel: Deutfhlands 
Blora. Noch nicht geichlofien ift ein zweites großes Werk: Die vollſtaͤndigſte Na- 
turgefchichte des In- und Auslandes, welches 1841 begonnen warb und von dem bie 
Abthellungen für Säugetbiere und Vögel bereitö erjchienen find. Die große Zahl 
Heinereer Werke und Monographieen fönnen wir hier nicht einzeln aufführen; eö be- 
finden ſich darunter manche, nicht bloß für wiſſenſchaftliche Zwecke, fondern auch für 
den Liebhaber fehr empfeblenswertbe Werke, als Tafchenbuch für Gartenfreunde; Bo⸗ 
tanit für Sreunde der Pflanzenwelt; der Naturfreund 1834—1845 in 38 Heften mit 
Kupfern, und Anderes. 

Neichenbach (Karl Freiherr v.), geboren den 12. Februar 1788 zu Stuttgart, 
wo jein Vater, bürgerlichen Standes, Hofbibliothelar war. Er flupdirte die Rechts⸗ 
wiſſenſchaft, wandte ſich aber bald mit Vorliebe naturmwifjenfchaftlichen und volkswirth⸗ 
ſchaftlichen Studien zu. Als 16jähriger Jüngling fliftete er einen geheimen Bund zur 
Realifirung feiner Idee, ein deutſches Meich auf den Südfee-Infeln zu gründen, und 
betrieb dies jo ernfibaft, daß die Napoleonifche Polizei eine ſtaatsgefaͤhrliche Verbin⸗ 
dung argwöhnte, N. einzog und nach dem Staatögefängniß Hohenasperg lieferte, wo 
er mebrmonatliche Unterfuchung zu beſtehen hatte, dann aber freigelaffen ward. Hier⸗ 
auf nahm er eine mehr praftifche Richtung, legte ſich auf das Studium der großen 
Induſtrie, welche die neuere Beit charafterifirt und in der Gegenwart zu einer Herr⸗ 
ſchaft gelangt if, die man damals noch nicht Fannte. Zunähft war es Eifenprobuction 
und Holzverfohlung in großem Mafflabe, welche er. auf den von ihm angelegten 
Werken zu Villingen und Haufah in Baden betrieb, und wobei fein außerorbent- 
liches adminiſtratives Talent und ungemeiner Scharfblid fich zeigte. Das ibm fehlende 
größere Gapital flellte fi ihm durch feine im Jahre 1821 eingegangene Verbindung 
mit dem Grafen Hugo zu Salm zu Gebot, und nun fuchte und fand er ein hödhft 
ergiebiges Feld für feine Unternehmungen zu Blansko in Mähren, deflen frühere Wal⸗ 
desflille bald durch Eiſenhütten, Holzverfohlungsdfen und eine Reihe von Fabrikations⸗ 
zweigen-zur DBerarbeitung werthuoller Nebenproducte, zu einem geräufchvollen, belebten 
Induftrieplage umgewandelt wurde. Durch gefchidten und glüdlichen Betrieb wurden 
bier große Reichthumer erworben, und mehrere Herrfchaften gelangten in ben Beflg 
Rs, der 1839 vom Könige von Württemberg in den Freiherrnſtand erhoben wurde. 
R. bat fletd neben Dem gefchäftlichen auch das wiſſenſchaftliche Intereſſe gefördert, be⸗ 
Deutende naturbiftoriihe Sammlungen angelegt, unter denen diejenige der Metroriten 
welche er mit befonderer Borliebe behandelt bat, die berühmtefte in ihrer Art iſt und 
jelbf der des britifchen Muſeums nit nachſteht. Seine, metft in Poggendorf's An- 
nalen veröffentlichten Abhandlungen - über Meteormafien find von großem Intereſſe. 
Eine eigenthümliche Entdeckung R.'s if die von ihm mit dem Namen Od bezeichnete 
Kraft, über deren Exiſtenz oder Nichterifteng noch geflritten wird. Diefelbe foll allge- 
mein verbreitet fein, von fenfttiven Berfonen in fonft unerflärlichen Wirkungen empfun⸗ 
ben werden, 3. B. in Ab» und Zuneigung gegen andere Berfonen oder Gegenſtaͤnde, 
und fol als Lichterfcheinung in chemischen Procefien, an den Bolen der Magnete u. f. w. 
wahrgenommen werden können. Näberes darüber findet man in den Odiſch⸗mag⸗ 
netifchen Briefen von Frhrn. v. R. Stuttgart 1852. 

Reichenbach Heißen mehrere Orte in Deutſchland, von denen wir hier nur zwei 
Städte im Königreiche Preußen, und zwar in der Provinz Schleſien, und eine Stabi 
im Königreih Sachen nennen. und die fich alle drei durch eine bedeutende Induſtrie 
auszeichnen. Bon den beiden preußifchen Städten dieſes Namens liegt die eine im 
Regierungs bezirke Breslau, an der Peilan und am Eulengebirge, die andere im Mes 
gierungsbezirke Liegnig, im Kreife Börlig. Die erflere, mit einem Schloffe (Hummel), 


e 


44 Neichenbacher Congreß. 


Baumwollenmanufacturen, Zeugdruckereien, Brauereien, Handel und 6000 Einwohnern, 
hat noch einige alte Befefligungen und iſt durch einige bedeutungsvolle Ereigniffe auch 
in biftorifcher Hinficht bemerfenswerth geworden; nämlich Durch den Steg der Preußen 
unter Friedrich dem Großen am 16. Auguft 1762, durch den Bongreß und Conven⸗ 
tion zwifchen Preußen, Polen, England, Holland und Defterreih am 27. Juni 1790, 
wodurch dad fernere Beſtehen des türkiſchen Reiches geflchert wurde, und durch die 
diplomatifchen Verhandlungen, durch die die großartigen Vorbereitungen zur Befreiung 
Deutfchlands von franzdflicher Oberberrfchaft eingeleitet wurden. In der Zeit des 
Waffenſtillftandes der Alllirten mit Napoleon 1813 trafen der Kaifer Alerander und 
König Friedrih Wilhelm III. in R. zufammen, und englifche Geſandte ſchloſſen dort mit 
Preußen und Rußland Subfldienverträge, in Folge deren die Friedens⸗Unternehmungen 
Napoleon's in Prag abgebrochen und Defterreich fich mit Preußen und Rußland alliirte, fo 
daß auf dem Schlachtfelde bei Leipzig die große Kriegöfrage des Jahrhunderts zu Gunſten 
der deutſchen Waffen entfchleden werden konnte. Das andere preußifche R. ift ber 
deutend Heiner, mit nur 1234 Einwohnern im Jahre 1861, hat jedoch bedeutende 
Bandfabrifation, Gingham⸗ und Nanfingweberei. Bei dem Rüdzuge der Verbündeten 
nah der Schlacht bei Bauten fiel bier am 22. Mai 1813 der franzöflfche General 
Bruyeres, und an demfelben Tage wurde bei dem nahen Markers dorf der Palaſt⸗ 
marfhall Duroe töBdtlih verwundet. Letzterem ift bier 1849 ein Denkmal errichtet 
worden. Das fähflfhe MR. im Kreisdirectionsbezirke Zwickau, mit der großen 
Peterpaulöficche, die fonft dem hieſtgen Deutfchordenhofe unterlag, bedeutenden Fabri⸗ 
Een, wie Streich» und Garnſpinnereien, Eifengießereien und Mafchinenfabrifen, ferner 
Webereien in wollenen und hbalbwollenen Stoffen, Babrifhandlungen ꝛc. und 10,200 
Einwohnern, ift fehr alt und kommt bereit? 1140 als (böhmifche) Stadt vor, die 
feit 1270 den Reußen von Plauen gehörte, und zwar als Göhmifches, fpäter als 
Reichslehn, bis e8 1357 Kaiſer Karl IV. kaufte. 1422 wurde es fächflfh, was es 
feitdem mit Ausnahme des Zeitraumes von 1547—69, wo e8 der Kaiſer wieder den 
Reußen zugetheilt Hatte, geblieben if. Im Jahre 1706 fand eine Zufammenkunft ber 
Könige Auguf von Polen und Karl XI. von Schweden bier ftatt. 

Neichenbacher Congreß, gehalten in der Kreisflabt des Regierungsbeiekee 
Breslau (f. d. vorigen Artikel) im Jahr 1790. Der gefchichtlihe Hintergrund dieſes 
Congreffed war der Krieg Oeſterreichs und Rußlands mit der Hohen Pforte und ber 
am 29. März 1790 zwifchen Preußen und Polen abgefchloffene Vertrag, durch welchen 
beide Mächte ſich ihre Beflgungen garantirten und für den Fall, daß ihre Grenzen 
angegriffen würden oder gegen ihre Rechte und Intereffen feindliche Verſuche gemacht 
werben follten, ſich gegenfeitigen Schug, für den Fall, wenn es nötbih fei, bewaffnete 
Hülfe verfprachen. Preußen nahm damals eine Stellung ein, in ber ihm die Ent⸗ 
ſcheidung der Geſchicke Europa's übertragen ſchien. Im Bunde mit England, Schwe- 
den und der Türkei garantirte ed die Ruhe des Continents gegen die rufftfchen und 
öfterreichifchen Eroberungspläne und ven Beſtand des türkifchen Reihe. Die Are, 
um bie fih Europa dreht, jene Linie, die fi vom Ausfluß der Weichfel bis zu dem 
der Donau erfiredt, fand unter feinem Schug. Allein ſchon ehe die Kataftropbe 


- Fam, hatte es diefe Linie felbft ind Schwanken gebracht, well es am nörblicdden Ende« 


derfelben Danzig und Thorn zur Audfüllung feines Machtgebietd für nothwenbig hielt 
und den Mächten, befonders Rußland, Gelegenheit gegeben batte, es durch das Ber- 
ſprechen des Beſitzes jener beiden Städte aus feiner Schiedsrichterfiellung berauszu- 
locken und zugleich Polen von ihm abzuziehen. Der Plan, den der Minifter Friedrich 
Wilhelm's II. zur neuen Geflaltung des Oſtens ausgearbeitet hatte und mit Eifer 
vertrat, iſt fchon in dem Artikel Sergberg audeinandergefegt worden. Er berubte 
auf einem großen Austauſch, wonach Defterreih Polen, für die Auslieferung Danzige 
und Thorns an Preußen, dur den größten Theil Galiziens entfchädigen und ſich 
dafür durch Belgrad und einen Theil der Moldau und Bosniend auf Koflen der 
Türkei arrondiren Sollte. Kaifer Leopold, der am 20. Februar 1790 in den Erb- 
ftaaten gefolgt war, verwarf jede Abtretung an Polen, verlangte für den Friedens- 
ſchluß mit der Türkei Chozim und einen Theil der Walachei und Bosnien und’ z0g 
ein anjehnliches Heer in Böhmen zufammen; dagegen erwarteten bie preußifchen 


Reichenberg. (Stabt.) 4 


Truppen in Schleflen deu Befehl zum Anfang der Zeindfeligkeiten und am 10. Juni 
verließ Friedrich Wilhelm Berlin, um fih an die Spige der Armee zu flellen. In⸗ 
defien kam Leopold dem König in einem Briefwechfel mit Eröffnung feiner friedlichen 
Geſinnungen entgegen und machte ihn bazu geneigt, die Schwierigkeiten, die ſich dem 
guten Einvernehmen Ihrer Staaten entgegenzuftellen fihienen, auf einem Congreß aus⸗ 
gleichen zu laſſen. Derjelbe wurde zu Reichenbach in der Nähe des föniglichen Huupte 
quartiers am 27. Juni erdffuet. Hetitzberg war dazu berufen worden, um mit ben 
oͤſterreichiſchen Bevollmächtigten, dem Fürſten Reuß und Baron Spielmann, zu untere 
handeln. Er wiederholte feine Idee, wonach die Beflgverhältniffe auf jener Linie vom 
Ausfluß der Weichfel bis zur untern Donau zum Beſten Preußens und auf Koften 
der Türkei verſchoben werben follten, konnte aber damit nicht Durchbringen, da Leopold 
des Rückhalts, den er an Rußland hatte, ficher war, Außerdem arbeitete dem Minifter 
Bifchoföwerder entgegen, der darauf hinwies, daß die Verbündeten Preußens fämmtlich 
unficher felen und die Türfei dem DBerluft eines Theils ihrer nordweſtlichen Provinzen 
jeven Augenblid durch einen Zriedensichluß mit Rußland zuvorfommen könne. Aller 
dings mußte der König beforgen, daß er allein fliehen würde, menn er es auf den 
Krieg ankommen lafjen wollte; er erklärte fich daher gegen Hertzberg und bdiefer mußte 
am 27. Zuli 1790 eine preußifche Declaration gegen eine dflerreihifche außtaufchen, 
in welchen beiden die von ihm bis dahin vertheidigten Länderaustaujche dem Still 
ſchweigen übergeben wurben; Oeſterreich verpflichtete fi zu einem Friedensſchluß mit 
der Türkei auf der Baſis des stalus quo, wie er vor dem Kriege war; der Briebe 
zwifchen dem Kaiſer und der Hohen Pforte kam am 4. Augufi 1791 zu Sziſtowa 
(j. d. Art.) zu Stande. — In demfelben Reichenbach wurden während des Waffen- 
ſtillſtandes, der am 4. Juni 1813 zu Bläfhwig zwifchen den alliirten Preußen und 
Auffen und den Franzoſen abgeſchloffen war (f. d. Art. Freiheltöfriege, Band VII. 
©. 655), am 14. und 15. Juni zwei Subfldienverträge abgeſchlofſen. Durch den 
erften, unterzeichnet von Sir Charles Stewart und dem Staatöfanzler von Karben- 
Berg, machte ſich Großbritannien verbindlich, dem König von Preußen für die legten 
ſechs Donate des Jahres 1813 eine Subſidie von 666,666 Pfd. St. zur Unter- 
haltung einer Armee von 80,000 Bann auszuzahlen. In einem geheimen Artikel 
dieſes Bertraged übernahm der König von Großbritannien und Irland die Verpflich⸗ 
tung, wenn es die Erfolge der alliirten Armeen gefltatten, zur Vergrößerung Preußens 
mitzumwirlen und zwar wenigfiens in ſolchen flatiflifchen und geographifchen Propor⸗ 
tionen, wie fie vor dem Kriege von 1806 waren; durch einen feparisten Artikel vers 
pflichtete fih der König von Preußen, dem Kurfürftentfum Hannover einen Theil ſei⸗ 
ner niederfächlifchen und weftfälifchen Beflgungen mit einer Bevölkerung von 300,000 
Seelen, namentlih das Bistum Hildesheim abzutreten. Der zweite Beitrag, am 
15. Juni von dem Lorb Catheart einerſeits und dem Grafen Neflelrode nebfi dem 
Baron Anſtett andererfeilö unterzeichnet, feßt feft, daß der Kaifer von Rußland eine 
Armee von 160,000, abgefehen von den Befapungen der feften Pläge, ftellt und 
von Broßbritannien bis zum 1. Ianuar 1814 die Summe von 1,333,334 Pfo. St. 
erhält; außerdem verpflichtet fi Großbritannien, die ruſſiſche Flotte, die damals in 
oden engliichen Häfen lag, zu unterhalten (eine Ausgabe, die auf 500,000 Pfd. ger 
ſchätzt wurde), mbgegen Großbrisannien die Freiheit erhielt, viele Slotte nach den 
Zwecken des Krieges zu verwenden. (Die eventuelle Allianz zwiſchen Oeſterreich, 
Breußen und Außland ward am 27. Juli adgefchhloffen und den 9. September in 
Zeplig zu einer definitiven erhoben.) 

Neihenberg, eine der lebhafteſten Fabrikſtaͤdte der öfterreichifchen Monarchie und 
nach Brag der wichtige Ort in Böhmen, an der Neiffe, in der Kriegögeichichte be⸗ 
rühmt durch den Sieg der Preußen über die Deflerreiher am 21. Juli 1757, Mit» 
telpunkt der böhmifchen Baummollenfpinnerei und Weberei, der Leinwand» und Tuch⸗ 
fabrifation mit zwei Schlöffern, Piariften-Collegium, zahlreichen Babrifen in ben er- 
wähnten Zweigen, Iebhaftem Handel und 18,000 Einwohnern, darunter 1000 Prote- 
Kanten. Die. Hiefigen Fabriken liefern jährlihd an 100,000 Stück Tud und andere 
gewalfte Wollfioffe im Werthe von mehr ald 8 Millionen Gulden, über 60,000 Paar 
Strampfs und gegen 30,000 Stüd Leinwand und Baummollenwaaren und bejchäftigen 


4 Reichenſperger (Auguſt). 


Tauſende von Menſchen in und außerhalb der Stadt, in deren Umkreiſe von einer 
"Stunde 38 volkreiche Dörfer (worunter Alt⸗Habendorf, mit großer Tuchfabrik) 
fih finden, deren Bewohner fi von Weberei und Spinnerei nähren. In der Nähe 
von R. liegen der 2904° hohe Jeſchkenberg, berühmt ald Fundort von Halbebel- 
fleinen, und der ebenfalld wichtige Fabrikort Gablonz, Hauptfig der böhmifchen 
Glas⸗ und Schmelzperlenfabrifation und des Handels mit diefen Fabrikaten, der ſich 
bis nach der Levante, Nordafrika, Nord» und Südamerika erftredt, auch mit flarker 
Tuchfabrikation, Woll- und Baumwollenmafchinen » Spinnereien ıc. und 5600 Ein« 
wohnern. ‚ 
Reichenſperger (Augufl), der Name eines Mannes nicht bloß von Bedeutung 
in der parlamentarifchen Geſchichte unfered engeren Vaterlandes ald langjähriger Füh⸗ 
rer der Fatholifchen Frattion im preußifchen Abgeordnetenhauſe, fondern auch in den 
politifchereligidfen Bewegungen der Neuzeit ald Organifator der katholiſchen Vereine 
in Rheinland und Weflfalen auch in weiteren Kreifen befannt und von bedeutendem 
Einfluß. Er ift der Aeltere der beiden Brüder R., deren Namen, da fie im politi⸗ 
fhen wie parlamentarifhen Leben nach denfelben Zielen firebten und ſich in ihren 
gemeinfamen Beftrebungen ſtets gegenfeitig ergänzten, gewöhnlich in Verbindung mit 
einander genannt werden. Auguft MR. wurde 1808 zu Koblenz a. R. geboren, wo 
fein Bater General. Serretär ded damals zum franzäflfhen Kaiferreih gehörenden 
Rhein⸗ und Mofel- Departements war. Die Erziehung im väterlichen Haufe war eine 
fireng religtöfe und orthodox Fatholifche, wie fle dem ächtgläubigen Sinne der Eltern, 
aber zugleich eine lebhaft anregende, wie fle dem hoben geiftigen Bildungsſtande bes 
Vaters entfprah. Zwölf Jahre alt, verlieh Auguft R. das väterlihe Haus, um auf 
dem Gymnaflum in Köln fi zu einer gelehrten Bildung vorzubereiten, vertaufchte 
diefe Schule dann mit der zu Bonn und befland bier das Examen maluritatis. Na 
Abfolvirung eines Trienniums auf den Univerfitäten in leßtgenannter Stadt, in Ber- 
lin und Heidelberg, wo er Jurisprudenz und Cameral⸗Wiſſenſchaften fludirte, trat er 
in den Staatsdienſt 1834, in dem er langfam zu den höheren Aemtern befördert 
wurde. Hieran war wohl nicht ohne Schuld eine erfle Geiftedarbeit des jungen 
Juriflen, welche die rheinischen Nechts - Inftitutionen mit vielleicht allzu Tatholifchem 
Eifer und anfcheinend franzöflfhen Sympathieen gegen bie Beflrebungen der alt= 
preußifchen Bartei, eine ‚Mechtögleichheit für alle preußifchen Provinzen herbeizuführen, 
in Schug nahm. Damals, am Ende der dreißiger Jahre, flanden die Rheinprovinzen 
ſtark im Verdachte, nady Frankreich hinzuneigen und die religidjen Differenzen über 
die Frage wegen der gemijchten Ehe auf das politifche Gebiet binübertragen zu wol« 
len. Nicht mit Unrecht wurde die R.'ſche Schrift als Der Ausprud dieſer Preußen⸗ 
feindlichkeit und der rheinländifchen Antipathieen angefeben. Nach der Beilegung aller 
ſchwebenden Streitigkeiten zu Gunſten der Eatholifhen Kirche durch Friedrich Wil⸗ 
beim IV. wurden auch die einflußreichen PBerfünlichkeiten des Rheinlandes durch Aus- 
zeichnungen geehrt und Auguft R. ſchon 1841 zum Appellations-@erichtörath ernannt. 
Indeß blieb die Haltung der Mheinprovinz trog jener Nachgiebigkeit immer noch 
oppofltionell und Die religidfe Agitation, die auf's Innigfte mit der politifchen Be⸗ 
wegung der Yierziger Jahre zufammenbing, namentlich feit Pius IX. der katholiſchen 
Kirche jelbft den Anſtoß zu Neformen zu geben ſchien, mar dort agiler als irgend 
wo anders in Deutſchland und fuchte immer mehr an Ausdehnung, Macht und Einfluß 
zu gewinnen. Als Gentral-Bereinigungspunft jener katholiſchen Beſtrebungen galten 
fortan die fogenannten „Eatholifchen oder Pius⸗Vereine“, als deren Mitftifter und 
Beförderer Auguſt R. voran zu nennen iſt. Hier zeigte fich zuerft fein hervorragen⸗ 
bes Drgunifationstalent und bie flilfe und geräufchlofe aber nichts beflo weniger un⸗ 
gemein rührige und energifche Thätigkeit, durch die er ſich fpäter im Parlament aus⸗ 
zeichnete. Er führte in mehreren General- Berfammlungen jener religiöfen Vereine 
den Borfig und als die politifche Erregung die religiöfen Beſtrebungen überflutheten 
und zu tödten fehienen, war es Auguſt MR. wieder, der ihnen dadurch ein friſches 
Xeben einhauchte, daß er fle eroberungsfuflig auf das Gebiet der hrifllichen Kunft 
führte und dort eine Propaganda machte für feine Kirche, die ja nicht niedrig an» 
geichlagen werben darf. In feiner Brofchäre: „Einige Worte über den Dombau in 


Reicheuſperger (Peter). 4 


Köln” und in einer anderen dieſer bald folgenden: „Bingerzeige auf dem Gebiete ber 
chriſtlichen Kunfl", behauptete er, daß die chriftlich » germanifche Kunſt lediglich im 
Katholicismus wurzele, daß fie feit der Meformation in Verfall gerathen ſei, und daß 
der Katholicismus feine Lebenskraft und Lebensfülle auch dadurch beweiſen Tünne, 


wenn er dahin firebe, daß fich aus jener in Verfall geratbenen chriftlichen Kunft neue ' 


Blüthen entwidelten. Das praftifche Ziel diefer Schriften war die Bildung von 
Bereinen zur Unterflügung des Kölner Dombaued, und der überrafchende Auffchwung, 
den der großartige Dombau feit dem Anfange der fünfziger Jahre nahm, ift haupt⸗ 
fächlich der Unterfägung jener Vereine zuzufchreiben, an deren Spike R. noch heute 
wirt. Bon größerer Fiterarifcher Bedeutung als jene vorgenannten beflinmten 
Zweden dienenden Brofchüren ift fein größeres Werk: „Die chriftlichogermantfche Baus 
tun und ihr Berbältnig zur Gegenwart”, reich an Gedanken und durch fehr werth⸗ 
volle Beurtheilungen der Kunſtwerke Italiens, Frankreichs und Englands, welche Län« 
der R. aus politifchem Interefie ebenfo wie aus Kunftfinn burchreifte, ausgezeichnet, 
ob aber der Zwed, den der Berfafler.durch die Herausgabe dieſes Werkes verfolgte, 
gelingen wird, der Zweck nämlih, den Katholicismus durch Wiedererwedung des 
urdeutfchen Genius, wie er fich im Mittelalter in den Werken der Kunft äußerte, vor 
den zerfegenden Ideen ber Neuzeit zu ſchützen, das muß der Zukunft überlaffen were 
den. Auch in einer Reihe „DBermifchter Auffäge über chriſtliche Kunft” Huldigt R. 
idealiſtiſchen Anfchauungen, deren praftifch erreichbare Iwecke ungewiß find, oder doch 
in weiterer Ferne liegen. Bon weit praktiſcherer Mealität zeigt eh Auguf R. als 
parlamentarifcher Politiker; zuerfi im Erfurter Parlamente, wo er im Verein mit den 
übrigen Katholifen, und unter ihnen in hervorragender Stellung, feinen und feiner 
religidfen Freunde Antipathieen gegen eine proteftantifche Union unter preußifcher 
Führung’ zum öfteren Ausdrud gab und von feinen Sympathieen für das Fatholifche 
Defterreih Fein Hehl machte. War die Eatholifche Partei, die M. jetzt ſchuf, damals, 
als es fi um deutſche Kragen handelte aus religlöfem Intereffe eine großbeutfche, 
fo ift fle biefes im gewiſſen Sinne auch bis heute noch im preußifchen Abgeordneten» 
baufe unter feiner und feines Bruders Führung und infofern geblieben, als fle das 
Wohl, die Machtftellung und Machtſtaͤrkung der Eatholifchen Kirche in Preußen bei 
allen Fragen innerer und audwärtiger Politik in erſte Reihe flellt und ihre politifche 
Sefinnung von ihren religlöfen Intereflen abhängig macht. Es ift darum nicht Auf 
fällige8, wenn biefe Fraction im Laufe der verfchledenen Seijflonen heute mit der Lin⸗ 
fen und morgen mit der echten gemeinfame Sache macht, und fo fehen wir fie eben 
j0 gut gegen die Anerfennung des Königreich® Italien, wie gegen den franzdflichen 
Handelsvertrag, gegen die Einführung der Civilehe, mie gegen eine Neichöreform im 
unioniftifchen proteftantifchen Geiſte ihr Votum abgeben. Es gehört bei ſolcher 
Einfeitigleit der Partet ein hoher Brad von Klugheit und diplomatiſchem Geſchick 
ihrer Führers dazu, die Erhaltung und Geltendmachung derfelben als einer politifchen 
im parslamentarifchen Leben eines proteflantiichen Staates wie Preußen möglich zu 
machen und wenn biefed der katholiſchen Frartion im preußifchen Abgeordnetenhauje 
in einem ſolchen Maße gelungen ifl, daß fle durch Ihre Abflimmung die Enticheidung 
in den widhtigflen Fragen gegeben bat, fo iſt diefer Erfolg nur der faſt militärifchen 
Diseiplin und der geſchickten Leitung zu danken, weldhe die beiden R. als ihre 
Chefs und ala die Seele der Praction mit Eifer und Glück bandhabten. Namentlich 
zeichnete eh Auguft R. als Parteiführer durch fein hervorragendes Organifationd- 
talent, durch fein diplomatiſches Geſchick und die tactvolle Feinheit in der Behand» 
lung parlamentarifher Fragen aus, wenn er auch, weniger glüngender Redner als fein 
jüngerer Bruder, nicht in dem Grade mie diefer die Aufmerkjamfeit auf ſich zieht. 
Wie Peter das Schwert feiner Partei, if Auguſt R. der Geiſt derfelben, unerfchöpf- 
lich und unermübend in eiferner Gonfequenz. Bid zum Jahre 1863 vom Keeife 
Beckum mit einem Mandate betraut, iſt er für die Legiälaturperione 1863-64 nicht 
wieder gewählt worden. 

Heichenfperger (Peter), koͤniglich preußiſcher Oeheimer Ober - Tribunalsrath in 
Berlin, der jüngere Bruder des DBorgenannten, geboren 1811 in Koblenz, machte 
nach abſolvirten Vorſtudien auf den Univerfitäten Bonn und Berlin fein juriſtiſches 


48 Neid (Sir William). 


riennium, trat dann in ben Bezirk des Jufliz- Senats in Ehrenbreitenflein, wo er 
audgezeichnet durch glänzende Befähigung und firebfamen Eifer ſchnell die niedere Rich⸗ 
tercarriere Durcdymachte und im Jahre 1856 als Rath an den höchſten Gerichtshof 
nah Berlin berufen wurde. Auch Peter R. hängt wie fein vorgenannter Bruder 
mit ganzer Seele an der Eatholifchen Kirche und auch er bat wie Jener dieſe Anhaͤng⸗ 
lichkeit jowopl bei den religiöfen Bewegungen der vierziger Jahre als durch die leb⸗ 
bafte Propaganda, weldye er für die Pius- und Dombau-DVereine machte, namentlich 
aber durch fein parlamentarifches Leben bis zur Evidenz bewiefen. Schon im ver 
einigten Zandtage des Jahres 1847, dem auch er angehörte, war es fein lebhaftes 
Beftreben, die Bildung einer eigenen rein Fatholifchen Partei in die Wege zu leiten, 
aber unter den Flammen der politiſchen Xeidenfchaften fanden ſolche einfeitige Ten⸗ 
denzen wenig Boden. Erſt im Erfurter Parlament gelang es, die Eatholifchen Ver⸗ 
treter In ihrer gemeinfamen Antipathie gegen eine proteflantifche Union unter das 
gemeinfame Parteibanner zu fchaaren, das die beiden R. hoch hielten, und ihrem 
Einfluffe allein und der Unermüdlichkeit, mit der fle ſich geſetzte Ziele verfolgten, war 
ed zuzufchreiben, daß auch im preußifchen Abgeorbnetenbaufe die Fatholifche Fraction, 
obgleih jene Befürchtungen für ihren Glauben durchaus Feine Berechtigung mehr 
hatten, als politifhe Partei zuſammenhielt. Peter R. bat namentlich hierzu durch 
feine Broſchüre „Deutfchlands nächfte Aufgaben” mitgewirkt, in welcher er mit Offen⸗ 
beit den Feldzugeplan feiner Partei entwidelt und ihre Fühnen Pläne und ihre erclu« 
five Stellung zu rechtfertigen jucht. Don lebhaften und leidenſchaftlichem Naturell, 
audgerüftet mit einer glänzenden Rednergabe und mit einer Geiſtesſchaͤrfe, Die ed ver- 
ſteht, die Eleinfte Blöße des Gegners zu bemerken und für fich zu benugen, dabei von 
einer diplomatifchen Slätte und einer genauen Kenntniß der parlamentarifchen Formen, 
if der jüngere R. ein geborener Barteiführer. Seit fein vorgenannter Bruder feinen 
Platz im Haufe der Abgeordneten verloren bat, if Beter R., den man von feinem 
MWahlorte Geldern benannte, der alleinige Führer der Eatholifhen Bartei. — Bür 
feine Berdienfte um die Fatholifhe Kirche ift Peter R. von Papſt Bius IX. mit 
dem Gommandeurs Kreuze ded Ordens des heiligen Gregorius decorirt worden. 

Reichſtadt (Napoleon Franz Joſeph) ſ. Napoleoniden. 

Neid (Sir William), geboren 1791 zu Kinglaffir in der ſchottiſchen Grafſchaft 
Bife, bildete fi zum Ingenieur, trat 1809 in die britifhe Armee, nahm 1810—14 
unter Wellington am SHalbinfellrieg und 1814 unter Ermoutb am Bombarbement 
von Algier Theil und diente dann in Weftindien. 1832 wurde er von der Megierung 
nad Barbadoed gefundt, um die vom Orcan umgeflürzten Regierungdgebäube wieder 
berzuftellen, wurde 1837 Oberfllieutenant, 1838 Gouverneur der Bermudasinfeln und 
1846 Gouverneur von Barbadoed. Er Fehrte 1848 nach England zurüd, wurde 
1849 Gouverneur von Woolwih, 1851 Vorſttzender des Erecutivcomites der Welte 
induftrleauöftelung in London, im September 1851 Gouverneur von Malta und 
avancirte 1856 zum Generalmajor. 1857 trat er von feinem Amte zurüd und farb 
am 31. Det. 1858 zu London. Er bat fih durch feine Schriften über „The law of 
Storms* (Xondon 1841, in mehreren Auflagen feitvem erfchienen) um Meteorologie 
und Sciffahrtöfunde überaus verbient gemacht. Wenige wiflenfchaftliche Fragen find 
durch forgfältige Unterfuhhung der Thatfachen genügender gelöft worden, als von R. 
über dad Gefep der Stürme. Es wird nicht Überflüfilg fein, wenn wir hier die 
Hauptzüge diefer Theorie geben. Es iſt erwielen, daß die Orcane Weſtindiens, die 
Typhons der chinefiihen Meere, die Tornados der Weſtküſte Afrika’s, die Waflerbofen 
und die Fleinen Wirbelwinde, die forsfchreitenden Sandfäulen und felbfl die minder 
heftigen Stürme, die manchmal über England Hinziehen, fänmtlid das Ergebniß ber 
Umdrehung einer Luftſäule find, melde raſch vorwärts rückt, obwahl R. in dieſen 
verfchiedenen Phänomenen einige auffallende Unterſchiede nachweiſt. Auch ift es jegt 
ausgemacht, daß die Stürme der nördlichen und ſüdlichen Halbfugel fi in entgegen- 
nelegten Richtungen bewegen. R. bat mit unendliher Mühe alle auf die großen 
Stürme auf beiden Seiten ded Aequatord bezüglichen Thatſachen gelammelt und mit 
der größten Sorgfalt unterfucht. In den neueren Ausgaben feined werthvollen Budye® 
finden ſich zahlreiche und ſchlagende Beifpiele des allgemeinen Geſetzes, und von biefen 


Heid (Thomas). Kell (Johann Chriſtian). 49 


geleitet, iſt der Seemann jetzt im Stande, ſich, wenn er von dieſen furchtbaren wir⸗ 
belnden Luftmaſſen überfallen wird, in die günſtigſte Stellung zu bringen. R. ſagt 
in feinem Schlußcapitel: „Die ungeheuere Menge Eleitrichtät, die waͤhrend der Orcane 
thätig wird, und die Erfcheinungen, welche die Waflerbofen begleiten, führen unmerk⸗ 
lich zur Erwägung der Brage, ob die Eleftricität als die Urfache großer Stürme 
betrachtet werden kann.“ Unterſucht man übrigens alle Phänomene genauer, fo muß 
der Schluß dahin gehen, daß die @lektrieität durch die Strömung der Luftmaſſe ent 
widelt wird, und daß die Erklärung, weldye die großen Stürme auf die Wirkungen 
der Hide allein zurädführt, der Wahrheit näher kommt. Daß die Richtung der Ro⸗ 
tation durch magnetifche Kräfte beſtimmt wird, ift nicht unwahrfcheinli, da bewegliche 
Körper in ihrem wirklichen Kortgange Teiht durch die Kraft des Erdmagnetismus 
afficirt werben. 

Heid (Thomas), ſchottiſcher Philoſoph und Stifter der bis heute fo genannten 
fhottifhen Schule (f. d. Art.) wurde am 26. April 1710 in der Nähe von 
Aberdeen geboren und machte feine Studien in biefer Stadt. Länger ald es fonfl 
zu gefcheben pflegt, da er gleichzeitig eine Bibliothekarflelle verwaltete. Nachdem er 
auf einer Reiſe durch England Befanntfchaften auf den verfchledenen Univerfitäten ans 
gefnüpft Hatte, warb ihm von der Univerfität Aberdeen ein unter ihrem Patronat ſte⸗ 
hendes Pfarramt übertragen, daß er im Jahre 1752 mit der philofophifchen Profeflur 
in Aberdeen vertaufchte. Auf dem Katheder, mehr noch in einer Titerarifchen Geſell⸗ 
Schaft, deren Gründer R. war, reiften die Gedanken, die er im Jahre 1764 In feinem 
Ingairy into Ihe human mind on the principle of common sense veröffentlichte. 
Da dies Werk befonders gegen Hume gerichtet ift, fo ward ed demfelden im Manu- 
feript vor der Herausgabe mitgetheilt. In demfelbden Jahre nahm MR. die Profeffur 
der Moralphilofophle in Glasgow an, und Hier machte er als hoher Siebziger feine 
beiden berühmteflen Werte, das Essay on the intellectual powers of men, 1785, 
das Essay on Ihe aclive powers of men im Jahre 1788 bekannt. No in feinem 
fehöundachtzigfien Jahre, einige Monate vor feinem Tode, bat er einen Auffag über 
Muskelbewegung und Ihre Veränderung durch das Alter verfaßt. Wiederholte Schlag. 
anfälle machten feinem Leben am 7. October 1796 ein Ende. Das Eigentbümliche 
der Lehren R.'s iſt theils in dem Artikel Beattie (f.d.) fchon hervorgehoben, theile 
fommt ed in der Folge in dem Artikel Schottifhe Schule, auf den ſchon oben 
verwiefen ward, zur Sprache. Derfenige unter R.'s Schülern, der ibm am nächften 
Rand, Duguald Stewart, hat eine ausführliche Lebensgefchichte det Meifters gefchrieben 
(Account of the life and writings of Tho. Reid, 4 vols., Edinb. 1803) und aud 
feine Werke gefammelt. Mehr noch iſt er zu Ehren gefommen, felt die franzöflfche 
PHilofophie feine Einwirkung auf ſich erfuhr; Die Arbeiten der franzöftfehen Eklektiker, 
fo wie Sir William Hamilton’ in Edinburg, ſtützen fih zum großen Theil auf das 
Zundament, das M. gelegt hat. 

Neiffenberg (Friedr. Baron v.), Bibliograph und Gefchichtöfchreiber, geb. den 
14. November 1795 zu Mond, widmete fi, nachdem er Anfangs die militärifche 
Laufbahn betreten, ausſchließlich Titerarifchen Studien, ward 1838 Profeffor der Lite 
ratur in Löwen, 1835 zu Lüttich, aber bald darauf von der Megterung nah Brüffel 
berufen und an die Spige der neugegründeten Edniglihen Bibliothek geftellt. Er 
ſtarb den 18. April 1850. Bon feinen biftorifchen Werfen find hervorzuheben: 
Histoire de l'ordre de la toison d’or (Brüffel 1830); Histoire du commerce et de 
industrie des Pays-bas au 15. et 16. siècle (Brüffel 1822); Documents pour 
servir à l’histoire des provinces de Namur, de Hainaut et de Luxembourg (Brüffel 
1844—48, 5 Bbe.); Histoire du comte de Hainaut (Brüffel 1849, 2 Bde.). 

Reikiawik |. Island. Zu 

Neil (Johann Chriſtian), der Sohn eines Geiftlichen, wurde in dem Dorfe 
Rhaude in OfifriesIand 1759 am 28. Februar geboren. Er liebte ala Kind die 
Jagd, wollte fpäter aber Bergmann werden, für welchen Stand er bis in feine legten 
Tage die entſchiedenſte Achtung behielt; audy ift er bis in feine lezten Jahre ein rüſti⸗ 
ger Jäger geblieben. Seine Schulbildung genoß R. in der Stadt Norden, wohin fein 
Bates feit 1769 verfeßt war. Er verließ diefe Stadt in feinem 20. Jahre, um in 


Bagener, Staats⸗ m. Geſellſch.⸗Lex. AVIl. 4 


50 Neil (Johann Chriſtian). 


Böttingen Medicin zu fludiren; inzwifchen fagte ihm das Leben Hier wenig zu und er 
ging fehr bald von bier nach Halle, wo ex Medel den Aelteren (vergl. den Artikel) 
ſchähen lernte und ſchon ald Student mit Goldhagen, Profeffor der Elinifchen Me- 
bien, in ein freundfchaftliched DBerbältniß trat. Es leidet Teinen Zweifel, daß M. 
bier ſich entfchloß, der Wiſſenſchaft ganz zu leben; gleihwohl fehrte er nach feiner 
Promotion, 1782, in feine Heimath zurüd, um daſelbſt als praftifcher Arzt zu wir- 
fen. Doc ſchon 1787 erhielt ex den Auf als außerordentlicher Profeffor nah Halle, 
auch trat er bier bereitö im folgenden Jahre nah Goldhagen's Tode in deſſen 
Stelle als Elinifcher Lehrer; 1789 wurde er zugleich Stadtphyſteus. So blieb Halle 
der Kreis von R.'s unausdgefegter und bedeutender Thätigfeit bis zum Jahre 1810. 
Gleich Bichat, und angeregt durch deſſen Lehre, ging R. aldbald von dem Geban« 
fen aud, eine völlige Umgeftaltung der Heilkunde durch deren Berbindung mit ber 
Phyſtologie herbeizuführen, und mohl konnte er zur Ausführung des Gedankens 
ſchreiten, da er wie Bichat unter großer Genialität und bei aufopferndem Fleiße 
mit der Anatomie, der Phyſtologie und den praktiſchen Theilen der Heilkunde, haupt⸗ 
fächlicg der Chirurgie und Augenheilkunde, eine Vertrautheit in fich vereinigte, wie 
fie nur bei wenigen Aerzten angetroffen wird. So gründete er zur Aufnahme phy- 
flologifcher und patbologifcher Forſchungen, 1796, das Arhiv für Phyflologie, ein 
wahrhaft nationales, Acht wiſſenſchaftliches und erfprießliches Unternehmen, das nad 
feinem Tode, 1813, der vielverdiente Profeſſor Joh. Friedr. Medel der Jüngere 
fortfegte. Mit diefer Zeitichrift wollte R. nicht bloß die dunklen Gegenflände der . 
Phyſtologie aufbellen, fondern bauptfächlih auch dem finnlofen Hypotheſenweſen 
feuern, überhaupt eine verbefierte Naturlehre auf feſtem Boden gründen. Seine be» 
rühnte Abhandlung über die Lebenskraft in dem erflen Heft biefes Archivs lieferte 
den Beweis, daß der Vitaligmus R.'s ſich innig an die Irritabilität Haller’s an- 
ſchließt: denn M. vereinigte die Nervenkraft mit der Muskelkraft unter dem allgemei» 
nen Begriff einer Grundkraft des Körpers, wodurch der letztere fähig wird, auf eigen- 
thümliche Weife von Außendingen verändert zu werben und eigenthümliche Gegenwir⸗ 
fungen bervorzubringen; auch fucdhte er Haller’ Gründe für die weſentliche Ver⸗ 
fchtedenheit der Muskel» und Nervenfraft zu- widerlegen. Demgemäß entwidelte R. 
die theoretifche Begründung des Vitaliomus auch ungemein Elarer ald die franzöfl- 
ſchen Aerzte. Aber die ihm überbrachte Erfahrung über die Nachtheile der Einfüh- 
sung chemifcher Prineipten in die Theorie der Mebicin und die Bewelfe für die Un» 
abhängigfeit des Lebens von der Materienmifhung batten bei R. fo wenig gefruchtet, 
daß er vielmehr den gegenjeltigen Grundſatz vortrug, natürlich ohne einleuchtende Bes 
weife und ohne nähere Ausführung. R. geht hierbei von dem Gedanken aus, daß 
alle Erſcheinungen entweder Materie oder Vorſtellungen find: der legte Grund beider 
aber fei unerforfhlid. Nur bei dem Hinausgehen über die finnliche Wahrnehmung 
gelange man zu der Ueberzeugung, daß der Grund aller Erfcheinungen tbierifcher 
Körper, die nicht Vorflellungen find, oder nicht mit Vorflellungen als Urſache in 
Verbindung flehen, in der thierifchen Materie, in der urfprünglichen Berfchiedendeit 
ihrer Grundftoffe, fo wie in der Riſchung und Form derfelben beruhen, demnach 
fein Miſchung und Form die allgemeinfte Urfache aller Erfheinun«- 
gen der Körperwelt, ja die Form ſelbſt fei bereits die Folge der 
hemifhen Wahlanziehung der Eleinften Theile. Aus diefen Grund⸗ 
urfachen der Materie follen zunächſt die Eügenſchaften der letzteren hervorgehen. 
Kraft aber fei das Verhältniß der Erfcheinungen zu den Eigenfchaften ber Ma⸗ 
terie, Durch welche fle erzeugt werden. Hiernach beruhen auch die Aeußerungen der 
Lebenskraft auf materiellen Zufländen, welche fi indeß der finnlihen Wahrnehmung 
nicht entziehen. Phyſikaliſch-chemiſcher Art nennt R. auch die Befeße, nach denen 
die Erfcheinungen der organifhen Körper erfolgen. Denfelben Gefegen unterliegen 
die Einwirkungen der Außenwelt ober die Reize und die Ericheinungen des kranken 
Lebens. Die Krankheiten erklärte NR. für Beränderungen in der Form und Miſchung 
der organifchen Materie; dieſe entferne ſich hierdurch von der gefunden Beſchaffen⸗ 
beit, und es ſei daher falih, wenn man glaube, daß ein veränderter Zufland in un⸗ 
bekannten Kräften des Körpers erſt jene Veränderungen in der Materie hervorrufe. 


Heil (Johann Chriſtian). 51 


Indem R. dieſen Satz auch von Seite der Erfahrung zu beweiſen ſuchte, hat er den 
Werth der pathologiſchen Anatomie nicht wenig gehoben. In der Entwickelung aller 
Ideen gehörte R. der Schelling'ſchen Naturphiloſophie an. Mittels verſelben fuchte 
er die von ihm aufgeſtellten Grundfäge zur wiſſenſchaftlichen Vollendung zu bringen; 
auch war er von der Unflarheit dieſer Richtung fo ergriffen, daß er dazu gelangte, 
den Lebensproceh einen potenzirten galvaniſchen Proceß zu nennen, ohne weder daß 
Wehen dieſes Balvanismus, noch die Möglichkeit, wie die Art und den Brad diefer 
Potenzirung näher zu begründen. Berühmt wurbe R. außerdem durch feine Fieber⸗ 
Iehre, deren erſter Band 1799 erfchten; doc bezeichnet R. darin eine große Zahl 
von SKrankheitszufländen als Fieber, welche nicht dahin gehören. Bon größerem 
Werthe find deshalb feine Arbeiten und feine mühfamen Unterfuchungen In der feineren 
Anatomie des Gehirns, zu welchen ihm namentlich die Zerflörung der Univerfltät im 
Jahre 1806 reichliche Muße fchaffte. Er erforfchte Hier Manches tiefer und beftlimmter 
ale Sall, und feine Arbeiten über dieſes wichtige und fehmwierig erkennbare Organ 
baden einen vorzüglichen Werth. Ebenfo wie R. Übrigens Gall's Unternehmungen 
ſehr Hoch fchäßte, fo bat er auch Vieles dazu beigetragen, daß die Erfcheinungen des 
thierifchen Magnetismus forgfältiger unterfucht wurden. Am hHervorragendflen flehen 
indeß feine Leiſtungen in der Pſychiatrie; dieſelben bezeichnen in biefem Gebiete 
gerabehin eine neue Epoche. R. fand bier aber auch einen rüftigen Gehülfen an dem 
berühmten Piychologen Johann Chriftopp Hoffbauer, Profeffor in Halle; mit 
demſelben fuchte er dieſem Zweige der Pathologie dur die innige Verknüpfung 
deffelben mit der Phyſtologie einen wahrhaft wiſſenſchaftlichen Fortſchritt zu ſichern. 
Deshalb ift auch bei diefen Aerzten und ihren Anhängern Feine Rede mehr von einem 
Streite der pfochifchen und fomatifchen Theorie. Doc, laͤßt fich keineswegs behaupten, 
daß es R. gelungen wäre, auch nur den erflen Entwurf zur Begründung einer wiffen- 
ſchaftlichen pfychiſchen Heiltunde zu geben. Zwar ahnte er; daß der feſte Punkt in 
der urfprünglicyen Abweichung aller Seelen gefucht werden muß, indeß ließ fein mehr 
nach außen gerichteter Sinn ihn nie mit Energie in diefer dunfeln Region Yermellen, 
weicher ſelbſt die tieffle Betrachtung ſich kaum zu nähern vermag. In der Zeit bes 
allgemeinen Elends, welches der Krieg herbeigeführt und in welchem bie Univerfität 
Halle aufgehoben wurde, wagte R. es, in einer Stadt, die nie reich, jetzt aber voll 
ſtaͤndig verarmt war, in Bereinigung mit einigen anderen mohlhabenderen Männern 
eine Unternebmung von großem Umfange in’8 Leben zu führen: es wurde in Eurzer 
Zeit eine Badeanftalt in großartigem Styl errichtet, an deren Spitze R. als leitender 
Arzt Aland; fogar ein Theater entfland. Der kühne Geift mußte in der Zeit der all 
gemeinen Unterbrüdung ein regſames Leben in die veröbete Stadt zu bringen. Groß⸗ 
artigere Plaͤne boffte er bei feiner Anftellung in Berlin auszuführen, wo er, 1810, 
die Stelle eines Profeſſors der Mebicin mit dem Titel eines Geheimen Ober » Berg» 
rathes übernahm, namentlich fegte er jeine größte Hoffnung auf die Errichtung eines 
bedeutenden pfochifchen Inſtitutes. Indeß erfähienen feine Pläne für die bedenkliche 
Rage des Staates zu groß: die Bebürfniffe konnten nur halb befriedigt werben. 
Außerdem flanden die bedeutenderen Mlintfchen Inftitute unter anderer Leitung, fo 
wurbe ihm nur die Direction eines Eleinen far die Ausbildung der Aerzte zugeftanden. 
Dei dem auöbrechenden Befreiungskriege entwidelte R. feine Thätigkelt in der Ein- 
richtung von Krankenhäufern, und ber König übertrug ihm, 1813, die Oberleitung 
der zu Halle und Leipzig errichteten Lazarethe. Aber in Berlin ſelbſt Herrfähte in 
demfelben Jahre der Typhus, und R. glaubte oder fühlte fich bereits felber angefteckt, 
noch ehe er die Stadt verlieh. Dennoch traf man ihn faft täglich in der angeflreng- 
teften Ihätigfelt in den Lazarethen der verwundeten Krieger; er fühlte fi unmohl, 
aber er ergab fich keinen Augenblid der Ruhe; erichöpft trat er in die Krankenftuben, 
bis er erſchoͤpft dem Kriegstyphus enblih am 12. November 1813 ſelbſt erlag, in 
derfelben Stadt, in welcher er auf die bedeutendfle Weile gewirkt Hatte. Henri 
Steffens, der, wie er offen mittbeilt, R. in der Wiffenfchaft und In äußeren Wohle 
thaten viel verdantte, befchreibt MR. ald einen großen Mann von fchönen Ebenmaß 
mb flarfem, doch zartem Knochenbau, mit fefter, gebietender Haltung. Nafe und 
ippen waren fein, die Stim groß und ſchoͤn gewölbt, die Augen lebhaft und voller 
4% 


[ 


52 ' Neimarus (Hermann Samuel). 


Tiefe. In feinen Zügen ſprach fich fliller Ernſt und zuruͤckgedraͤngte Heftigkeit aus, 
eine gewiſſe Spannung, welche ein ſtilles Nachſinnen verrieth. Doch überrafchte ber 
Ernft oftmald durch liebenswürdige Gemüthlichkeit. Alles verkündete eine flarke ger 
funde, in fich gefchloffene Natur, die bei dem erſten Anblick zurückſtoßend und anziehend 
zugkih wirkte Von den ihm fremden Naturen trennte er fidh beflimmt; eben fo 
mußten Andere fi gegen oder für ihn enticheiden. Gleichgültig blieb Feiner. Sein 
durchaus praktiſcher Sinn ſchreckte vor feinen Schwierigkeiten zurüd; wo dieſe aber 
entfprangen, erregten jle feinen Zorn. Daher von R.'s Seite oft die harte Beurthei« 
lung des ihm Widerfirebenden, die Verkennung von Freunden und die Ginfeitigkeit 
im Urtheil. Aber R. durfte fireng feln gegen Andere, denn er war ed gegen fi. 
Als Hauptzug feines Charakterd machte fich eine vaftloje Thaͤtigkeit geltend; fo hatte 
er in Halle eine audgebreitete Prarid und wirkte dabei als eifrigfter Lehrer, aufmerkfam auf 
jedes Talent. Immer war er mit Einrichtungen für den Staat und mit großen Plänen 
befchäftigt; gleichwohl war er keinesweges ein eigentlicher fpeculativer Kopf, eben fo 
wenig vermochte er dad mühſame Detail Ded Einzelnen zu entmwideln oder aufzuklären. 
So ausgebreitet übrigens feine Gelehrſamkeit war, fo erfchten ihm doch das lebendige 
Befprüch wichtiger als alle Bücher. Deshalb vermochte er wiſſenſchaftlich ſich mit 
jevem noch fo verfchieden Denkenden zu verbinden. Daher fein Anfcpließen an Kiels 
meier, Horfel, Brandid, Autenrietd, an Joh. Fr. Medel, fo wie an 
mehrere Kantianer; nur behandelte er die Kant'ſche Philoſophie ganz auf feine Weife. 
Syſteme dagegen, welche wie dad Brown’fhe (vergl. den Art. Mediciniſche Syſteme) 
die Heilkunde in enge Grenzen einzufchnüren drobten, hatten für ihn wenig An— 
ziehendes. Das Bild eines vationellen Arztes, wie R. es fich dachte und bei feinen 
Säülern zu entwideln fuchte, findet man in feiner, 1804 erfchienenen berühmten 
Schrift über die Pepinieren entworfen. 

Neimarıd (Hermann Samuel) ift ald Sohn eines Lehrers am SJohanneum in, 
Hamburg am 22. December 1694 geboren und hat in feiner Vaterflabt 4 Schul⸗ 
bildung empfangen, dann aber von 1714 an in Jena Theologie und Philoſophie ſtudirt. 
Bon 1716 an war er Adjunct der philoſophiſchen Facultät in Wittenberg, fpäter 
Rector an der Schule zu Wismar, endlich feit dem Jahre 1728 Brofeffor der orien⸗ 
talifepen Sprachen am Hamburger Gymnaſium, in welcher Stelle er bis zu feinem 
Tpde (1. März 1768) verblieb. Nicht einmal in feinem Unterrichte, gefchweige denn 
in feinen Studien, befchränfte er fi auf Diefen Zweig des Wiſſens. Seine Berbin- 
dung mit Fabricius, deſſen Schwiegerfohn er war, führte ihn zur klaſſiſchen Philologie, 
feine Neigung zur PHilofophie, in welcher Leibnig und Wolff, ganz beſonders wegen 
ihrer Achtung vor dem Zwedkbegriff, die Führer des feine Selbſtſtaͤndigkeit nie verlaͤug⸗ 
nenden Banned wurden. Der teleologifche Geflchtspunft, verbunden mit Hebevoller 
und genauer Beobahtung der Natur, iſt e8 auch, welcher den beiden Schriften, bie 
ex felbft veröffentlicht bat, fo viele Xefer . gewonnen bat, den Abhandlungen über bie 
vornehmften Wahrheiten der natürlichen Religion 1755 und über die (namentlich Die 
Kunft-) Triebe der Thiere 1760. Seine Bernunftlehre (1756) ift eine Elar und ver- 
fländig geordnete Logik. Gin fehr viel wichtigered Werk aber als alle viele beichäf- 
tigte vor und nad ihnen R. in allen feinen Mußeftunden. Bor ihnen, denn ſchon 
im Jahre 1744 mar ein Theil defelben fertig, nach ihnen, denn er Hat noch einige 
Monate vor feinem Tode an demfelben gearbeitet und gefeilt. Es war feine „Apologie 
oder Schugfchrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, gefchrieben von... .. . Ham⸗ 
burg 1767, vielleicht der ſchaͤrfſte Angriff gegen das Chriſtenthum, der bis dahin 
geichrieben war. Die höchft glüdlichen Berhältniffe, in welchen der überall geachtete 
Mann lebte, und die allerdings gegründete Gemwißheit, daß fle alle zerflört fein wür⸗ 
ben, wenn er diefe Schrift befannt machte, können zu einer mildern Beurtheilung ber 
Heuchelei, wie R. ſelbſt ed nennt, bringen, mit der er fein Manufeript in feinem 
Pulte barg, und nur Zweien oder Dreien mittheilte, während er alle Firchlichen Ge⸗ 
brauche mitmachte und für einen Ghriften von altem Schrot und Korn galt. Darin 
aber den wahren Stoicismus zu fehen, wie fein neufter Lobrebner David Strauß, 
beißt den Beweis liefern, dab auch der Haß gegen das Chriſtenthum gang folche Zus 
natifer erzeugt, wie bie Orthodoxie, der Strauß gleich darauf vorwirft, fle Habe dahin 


Neimmann (Jak. Friebr.). Reineccins (Chriſtian). 53 


gebracht, Abraham's Berläugnung der Sarah nicht nur zu entſchuldigen, ſondern zu 
loben. Dur die beiden Kinder R.'s, ven Arzt Johann Albert R., und die geifl- 
reiche Eliſe R., wurde nach des Berfaffere Tode Leffing mit dem Manufeript bekannt, 
und erhielt nur unter der Bedingung, daß der Verfaffer unbekannt bleibe, die Erlaubs 
niß, Einzelne® daraus zu veröffentlichen. So erfchienen jene berühmten „Bragmente*, 
die, meil Leſſing dem Publicum erzählte, er habe das Manufertpt auf der Bibliothek 
zu Wolfenbüttel gefunden, unter dem Namen der Wolfenbüttler fo berühmt und für 
Leffing der Duell großen Aergers und großen Ruhmes geworden find. Gebr bald 
nach der SHeraudgabe fing man übrigens an, auf R. als auf den Verfaffer zu raten, 
fo Daß feine Kinder fogar eine Indiscretion von Seiten Leffing’8 vermutheten. Erſt 
im Sabre 1814, wo Joh. Alb. die Originalfchrift ſeines Vaters der Hamburger 
Stadtbibliothek vermachte, ward es über allen Zweifel erhoben, wer Ihr Verfaffer jet. 
Da befindet fle ſich noch in faubrer Handſchrift und behandelt in fünf Büchern das 
Alte, in fünf anderen das Neue Teftament. Außer den von Reffing und gleich nad 
Leffing’8 Tode von E. 9. Schmidt herausgegebenen Fragmenten find die drei erflen 
Bücher in Niedner's Zeitfchrift von Klofe verdffentliht. Das Uebrige iſt noch ungen 
druckt. David Strauß fchien früher die Abficht zu Haben, dad Ganze zu verdffent- 
lihen, Hat ſich aber begnügt, in feiner Monographie (H. S. R. und feine Schub 
ſchrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Leipz. Brodhaus 1862) dem Verfaffer 
in einem ausführlichen Auszuge feines Werkes ein Denkmal zu fegen. 

Reimmann oder Reimann (Jak. Friedr.), Hat fi durch feinen „DVerfuch einer 
Einleitung in die historia literarta Indgemein. und der beutfchen insbeſondere“ (Halle 
1708 — 1713. 6 Bde.) und durch die „Idea systemalis antiquitatis literariae* (Hil« 
desheim 1718) um die Ausbildung der Literaturgeſchichte in Deutfchland verdient 
gemacht. Er ift den 22. Januar 1668 zu Oröningen im Halberfläbtifchen geboren, 
fludirte in Iena und flarb den 1. Februar 1743 als GSuperintendent zu Hildesheim. 

Neinand (Joſeph Touffaint), franz. DOrientalift, geb. den 4. Dechr. 1795 zu 
Lambesc (Dep. der Nhonemündungen), fludirte unter Sylveſtre der Sach zu Paris 
das Arabifche, Türkiſche und Perfifche und fegte in Italien, als er den Grafen Por⸗ 
talid, Bevollmächtigten beim heiligen Stuhl, als Attahe begleitete, 1818 und 1819 
feine pbilologifhen Studien fort. Wieder in Paris, erhielt er 1824 durch die Pro⸗ 
teetion des Grafen eine Stelle In der Manuferiptenabtheilung der Föniglichen Biblig- 
tet und begann nun inmitten diefer Schäge feine fchriftftellerifchen Bublicationen. 
1832 ward er Bonfervator » Adfunct, 1835 verwaltender Confervator der oriene 
talifchen Manuferipte; 1838 folgte er Sylveſtre de Sacy auf dem Lehrfluhl ded Ara« 
biſchen an der Schule der Tebenden orientaliichen Sprachen. Bon feinen Werken he⸗ 
ben wir hervor: Monuments arabes. persans et turks du cabinet de M. le duc de 
Blacas et d’autres cabinets, consider&s et decrits d’apres leurs rapports avec les 
croyances, les moeurs et l’'histojre des nations musulmannes (1828. 2 vol.); Extraits 
des bistoriens arabes relatifs aux guerres des croisades (1829); Invasions des Sar- 
rasins en France et de France en Savoie, en Piemont et dans la Suisse pendant 
les 8, 9 et 10 siecles 1836; Histoire de Tartillerie (1845), handelnd vom griechi- 
hen Beuer und vom Urfprung des Schießpulvere nach neuen Quellen; Relation des 
voyages fails par les Arabes et les Persans dans l’Inde et à la Chine dans le 9. 
siecle (1845); eine Ueberfegung der Geographie des Abulfeda (1848—1852. 2 vol.); 
Roman de Mahomet en vers du 13. siecle (1831). 

Reineccius (Chriſtian), bedeutender Orientalift und gefchidter Schulmann, ges 
foren den 22. Januar 1668 zu Großmühlingen bei Zerbfl, befuchte das Gymnaſtum 
zu Hildesheim, fludirte zu Helmſtaͤdt, NRofto und Leipzig und fing an legterem Orte 
1695 an’ als Magiſter zu ehren. Im Jahre 1707 wurde er als Nector des Gym⸗ 
naflums zu Weißenfels berufen; biefem Amte fland er mit Eifer und Sorgfalt bis 
zum Sahre 1743 vor, wo er emeritirt wurde. Er flarb am 18. October 1752. Ein 
Vetzeichniß feiner Schriften, die ſich auf das biblifhe Studium und insbeſondere auf 
die bebräifhe Sprache beziehen, Hat er felbft im Jahre 1743 auf zwei Quartbogen 
drucen laſſen. Wir erwähnen nur folgende: „Concordia germanico - latina“ (Lips. 
1708, wieder aufgelegt 1735); „Biblia quadrinlinguia Novi Testamenti* (Lips. 1731) 





54 Heineceind (Reinerus). Reineke Los. 


auf einer Seite iſt der griechifche Grundtert zwifchen ber fyrifchen und neugriechifchen 
Veberfegung ; auf der andern Seite ſtehen Schmid’end lateinifche und Luther's deutſche 
Ueberfegung, unten die griechifchen verfchievenen Lesarten, am Rande der deutfchen 
Ueberfegung häufige gleichlautende Stellen, im Anhange gute Anmerlungen; „der 
Juden Glaube und Aberglaube” (Leipzig 1705); „Muhanımedi fides Islamitica, i. 
e. Alcoranus ex idiomate Arabico, latine versus per Lud. Maraccium, et ex ejus- 
dem animadversioenibus illustratus* (Lips. 1721); „Janua hebraeae linguae v. T. 
etc.“ (Lips. 1733, 8. Ausgabe von Nebfopf beforgt, 1788); „Biblia Hebraica, ad 
optimas quasque editiones expressa, cum nolis masorethicis etc.“ (Lips. 1739.) 
Pol. Hirſching's „Hifkorifch-literarifches Handbuch berühmter und Ddenfwürdiger Per⸗ 
onen", fortgefegt und herausgegeben von Erneſti, 9. Bd., 2 Abth. (Ulm 1806), 
S. 1—4 und Reineccius, „Eurzer Abriß von dem Maße und Berhältnig unferer Kräfte 
an dem Beifpiele Chr. Reineccius, nebft Anhang von der Familie der Reinecciorum“ 
(Reipzig 1754). 

Reineceind, deutſch Reineck (Reinerus), einer der Begründer bes Hiftorifchen 
Studiums in Deutfchland. Er ift den 15. Mai 1541 zu Steinheim im Stift Pa⸗ 
derborn geboren, fludirte zu Marburg, Wittenberg, Jena und Leipzig, ward Profeſſor 
der Gefchichte zu Frankfurt a. d. O., 1583 zu Helmflädt und farb dafelbfi 1595. 
Aus feinen zahlreichen Hiftorifchen und genealogifchen Werken und Editionen alter 
Ghronifen jind hervorzuheben: Historia Misnica; De veteribus Misniae Marchionibus ; 
De Marchionum et Elector. Brandenb. et Burggrav. Norimb. familia; Annales Wit- 
techindi; De Billingorum familia; Chronica Slavorumm. 

Reineke Vos iſt der plattdeutfche Name eines Gedichte von unvergänglichem 
Werthe, welches, reich an lebendiger, kecker Darftellung, beinahe in alle europälfchen 
Sprachen übertragen worben ift und der Thierfage von Wolf und Fuchs euro 
päifche Berühmtheit verfchafft hat. Es zeichnet trefflich die der Thierwelt entnommenen 
Charaktere, laͤßt fle Eigenfchaften der gemeinen Menfchennatur tragen: Selbftfucht, 
niedere Denkungsart, ungebändigte Leidenjchaften. Der Megent der Thiere, Nobel der 
Löwe, wird fortwährend von Meinefe dem Fuchs, feinen Günftling, betrogen. Alle 
Thiere treten gegen ihn als Kläger auf; er bat mit Religion, Völkerrecht, mit den 
beiligften Berhältnifien und jeder Tugend Spott getrieben, verachtet feine Yeinde, 
ſchweigt aber, um fle zu feinen Zweden zu gebrauchen, triumphirt durch Zug und Trug, 
Heuchelei und Berleumdung über alle, erntet Dank und Ehre und zieht fidh, von vielen 
Feinden begleitet, in feine Burg Malepartus zurüd. Zwei verfchiedene Charafterzäge 
find e8, die in allen Bearbeitungen dieſes Stoffes ſich begegnen: die naive Auffaffung 
des Thierlebend und die fatirifche Nichtung, welche auf daffelbe eine Schilderung ein⸗ 
zelner menſchlicher Stände und Einrichtungen überträgt. In jeber fpäteren Bearbei« 
tung ift der erſtere diefer beiden Züge mehr zurüd, der andere mehr in den Vorder⸗ 
grund getreten. Die Sage iſt deutfchen Urfprungs, Hatte ſich im 10. Jahrhundert nach 
den nordweſtlichen Orenzländern bingezogen, warb vornehmlih in Flandern gepflegt 
und theilte fich dem nördlichen Kranfreih mit. Nach dem Branzöftfchen dichtete um 
1170 ein Elſaſſer, Heinrich der Glicheſäre den „Reinhart Fuchs”, von 
welchem Gedicht etwa nur ein Drittel in Bruchſtücken erhalten if, die I. Grimm in 
feinem „Sendfchreiben an K. Lachmann über Reinhart Fuchs“ (Leipzig 1840) heraus⸗ 
gegeben bat. Dagegen bat ſich eine Umdichtung deffelben von einem Ungenannten im 
Anfang des 13. Jahrhunderts erhalten, die I. Grimm (Berlin 1834) herausgegeben 
bat. Um das Jahr 1250 verfaßte in niederländifcher (bolländifcher) Sprache ein ger 
wiffer Willem den „Reinaert”. (Zum erftien Male in das Hochdeutfche überſetzt von 
Geyder, Breslau 1344.) Dieſes bolländifche Gedicht wurde am Ende des 15. Jahr⸗ 
hunderts in das Plattdeutſche überfeht und dies iſt Das unter dem plattdeuifchen Nas 
men „Meinele Vos“ bekannte Gedicht. Als Verfaſſer dieſer Ueberfegung wird von 
Rollenhagen in der Borrede zum „Brofchmeufeler" Nicolaus Baumann genannt, 
der zu Roſtock begraben liege und an der unteren Elbe nach der Oſtſee Hin zu Hauſe 
gewefen fei. In der Vorrede der älteren, Rollenhagen nicht befannten Auflage nennt 

— ſſtcch aber als Verfaffer Hierek v. Allmer (Alkmaer). Deshalb meint Grimm, Hie⸗ 
F habe die niederländifchen Gedichte umgearbeitet und das Werk Hierek's N. Bau⸗ 


Beinerttag... 65 


Mann in's Mieberfächliche übertragen. Die di Ausgabe erfchien 1498 zu Lübeck; 
fie ifE gegenwärtig nur in einem einzigen Origikalbrude bekannt. Derfelbe wurde von 
Hackmann (1711), Bredow (Eutin 1798), Scheller (Braunſchweig 1825), am beflen 
von Hoffmann dv. Fallersleben (Breslau 1834, 2. Ausg. 1851) wiederholt und von 
Karl Tannen (Bremen 1861) für einen größeren und allgemeineren Leſekreis bearbeiten. 
Tannen's Unternehmen iſt das erfie, welches verſucht, das Werk, meldhes bis auf 
Gottſched's Zeiten durch eine Menge von Druden verbreitet und bei Gelehrten und 
Ungelehrten bekannt und beliebt war, dem großen Bublicum wieber zugänglich zu 
machen. Die Ausführung bat von Seiten der Sacdverfländigen, 3. B. von Klaus 
Groth, der eine Vorrede dazu gefchrieben Hat, viel Lob erhalten, und der Flamlaͤnder 

3. Hanfen bat ihrer anerfennenden Beurtbeilung fogar eine ganze Schrift gewid⸗ 
met: „Dietfche Lettertunde. Over Reinaard den Vos en het Nederduitſch“. (Brüffel 
1864.) inter den hochdeutſchen Ueberfegungen des plattdeutfchen Reineke Vos ver- 
bienen genannt zu werden: Die Gottſchediſche (1752) in Profa, worin mit großem 
Fleiße alle Stellen aus den alten fatyrifchen Dichtern in ihrer urfprünglichen Beftalt 
aufgeführt find, welche Baumann in feinen Anmerkungen plattdeutfch gegeben Hatte; 
die von Goethe (1794) in Herametern, eine fchöne Barapbrafe; von &. Schwab 
in Profa (Tübingen), von I. D. Soltau in Knüttelverfen (1802, 2. Aufl, Luͤne⸗ 
burg 1830 und Berlin 1852). Eine freie Nachdichtung des Originals bat Jul. Eb. 
Hartmann geliefert (Leipzig 1855). Ueber einige andere hochdeutſche Ueberfegungen 
und Bearbeitungen des Reineke Vos hat Zul. Zittmann in dem „Literar-biftorifchen 
Taſchenbuch“ von Prub (4. Iahrg., 1846, ©. 453—459) gefprochen, womit zu ver⸗ 
gleichen iſt Kurtze Nachricht von den Büchern und deren lichebern in der Stollifchen 
Bibliothee", der 14. Theil (Iena 1741), S. 589 ff. Vergl. außerdem Höfler in 
Pfeiffer's „Germania” (1. Bd., S. 109 ff. und 371 ff.) und Ludwig Etimüller „Ueber 
Heinhart Fuchs in feinen verfchtedenen Geſtaltungen“ in den „Blättern für Ilterarifche 
Unterhaltung“, 1833, S. 89 ff., 213 ff., 341 ff. Eine lateiniſche Bearbeitung der 
diefem Gedichte zu Grunde liegenden Sage von einem gewiflen Balduin, melde 
vor 1280 entfanden fein muß und bisher den Gelehrten, die fich mit Unterfuchungen 
über jenes Gedicht beicgäftigten, einem I. Grimm („Reinhart Zus" 1834), Mone 
(. Reineke Fuchs“, erläutert und herausgegeben, Stuttgart 1832), Willems („R. de 
Vos“, Bent 1836), Faurlel, Jonckbloet u. A. unbekannt geblieben zu fein feheint, iſt 
von Campbell herausgegeben worden („Reynardus Vuipes. Poema ante a. 1280 
a quodam Balduino e lingua teutonica translatum etc.*, Hagae Comitis, 1859). 
Eine lateinifche Ueberfegung in vierfüßigen Samben hat Hartmann Schopperußs (Francof. 
ad Moenum 1584) unter dem Titel „Speculum vitae aulicae. De admirabili falla- 
cia et astutia vulpeculae Reinikes libri IV. etc.“ herauögegeben. 

Reinertrag. Hiermit kann man im allgemeinen Sinne bezeichnen, was ein 
jedes fruchtivagende Befitzthum nach Abzug ber verwendeten Betriebskoſten feinem Be⸗ 
figer einbringt. Man kann alfo ſowohl von dem M. einer Fabrik, einer Handlung, 
eines Handwerks, eined Grundſtücks ſprechen; im engeren Sinne meint man das 
Letztere und im engften Sinne den produit net Quesnai's und feiner Schule. Zur 
Zeit der Naturalwirthſchaft war der R., d. 5. der jährliche baare Geldgewinn, von 
einem fehr großen Theil von Grundflüden außerorventlih unbebeutend. Wir meinen 
die Bauergüter, auf deren Tüchtigkeit doch weſentlich die Kraft der Nation gebaut if. 
Dez Bauer theilte feine Hufen ein in Weide, Aderland und Brache, die nach Her⸗ 
kommen zu feiner und der Seinigen Nahrung erforderlich war. Er fäete und pflanzte 
nicht fowohl, um aus der Ernte möglihft viel baares Geld berauszufchlagen, fondern 
um Brot, Bier und andere nahrhafte Gegenflänbe zu eigenem Gebraud; reichlich fi 
verfchaffen zu fönnen. In feinem Haufe fehlte es nie an Fleiſch, Speck, Butter, 
Schmalz, Eiern, Mehl; feine flattlichen Pferde und fein übriges Vieh waren wohlge⸗ 
nährt, das felbfibereitete Linnen und die felbfigewebte Wolle feiner Schafe gaben ihm 
jene ſtattliche Landestracht, er brauchte fo gut wie fein baar Geld. Wenn er ver» 
kaufte, geſchah es von feinem Ueberfluß und an feine beflimmten Kunden in der be⸗ 
nachbarten Stadt; und für eine Sünde würde er e8 gehalten haben, eine ber flatt« 
lichen Eichen, die feinen Hof umgränten, niederzuſchlagen und für Gelb zu verkaufen. 


56 | Reinertrag. 


Daflır aber waren er, feine Familie und feine Dienſtleute ſammt und fonders groß, 
ſtark und gefund. Auch der Edelmann pflegte zu jener Zeit nicht fo auf Gelderwerb 
erpicht zu fein; er bewirthfchaftete feine Güter regelmäßig felbft, die ihm leidlich fo 
viel einbrachten, daß er mit feiner Kamille davon leben und auch noch, wie es Hegel 
war, mindeftend den einen feiner Söhne zum Heerdienſt des Könige ausrüflen und 
unterflüßen fonnte. Das wurde Alles anders, feitvem die Lehre von dem Quesnai⸗ 
fyen produit net unter die Leute und beſonders unter die Büreaufraten kam. Gelt« 
dem wurde ald Ziel der Landwirthſchaft raffinirter Geldgeminn Hingeftellt und eben 
der R. in baarem Gelde als das Wichtigfte des ganzen wirtbfchaftlichen Betriebes 
bezeichnet. Wir haben bereitö in dem Art. Nationalökonomiſche Syſteme die Lehre 
Quesnai's als Durch und durch unwahr nachgewiefen, aber auch gleichzeitig bemerft, 
daß fe gleichwohl, namentlich mit Bezug auf die Brundfleuer, noch immer in ben 
Köpfen unferer Büreaufratie fortwirke. Wir werden uns bier nicht wiederholen, fon« 
dern wollen nur angeben, welche entjegliche Mühe man fich zu geben pflegt, auf indi⸗ 
rectem ober bireetem Wege in dem jedeömaligen Falle den fogenannten R. von Grund⸗ 
flüden zu finden. Wir treffen da auf die willfürlihften Anlagen und die unmwillfür« 
lichſten Eingeſtaͤndnifſe. So geftehen die Vertheidiger des rationellen R. zu, daß der- 
felbe eigentlich gar nicht zu finden fei, indem ein und daſſelbe Grundflüd bei einer 
Derfchiedenheit in der Venutzungsweiſe, wie bei der Ungleichheit In den Ern⸗ 
ten und in den Preifen der Grzeugniffe zu verfchiebenen Zeiten nicht dieſelbe 
Mente geben könne. Ebenſo dürfe die Grundfleuer - Befchreibung wegen ihrer 
Kofbarkeit nicht oft verändert werden, obwohl fle fehr bald unbrauchbar werde. Die 
großen Koften find alfo eingeftandener Weiſe meiftentheil$ mweggeworfen. Dan müfle 
ſich daher mit der Annahme eines mittleren R. begnügen, Beftritten wird dagegen 
von dieſer Seite, daß das Maß von Eapital, Intelligenz und Fleiß, über welches der 
Beflger eines Grundſtückes gebietet, von der Außerften Wefentlichkeit fei bei Abſchaͤtzung 
des erwarteten R. Eben fo wird darauf zu wenig Gewicht gelegt, ob der Morgen 
eines Grundflüds einem großen, mittleren oder Eleinen Gompler angehört, obwohl er 
dadurch doch unmwillfürlich reſp. Heiner und größer wird. Den Hinweis auf Mißjahre 
glauben unfere Büreaufraten durch wohlwollende Steuernachläffe befeitigen zu dürfen. 
Bollends ungereimt erfcheint e8 aber, bei Berechnung des fogenannten R. die Hypo» 
thefenfchulden der Grundeigenthümer aus der Anrechnung zu bringen. In den Bes 
fireben nun ferner, über ein ganze Land bin den R. nach gleichen Grundfägen er- 
mitteln zu mollen, ift man bis jegt noch jedesmal zu erhöhten Ungleichheiten und Un⸗ 
gerechtigkeiten gelommen, welche die Kolgezeit noch mehr klar machen wird. ine 
der gewoͤhnlichſten Madinationen zur Ermittelung des R. iſt dann die Meffung und 
Schäßung der einzelnen Grundſtücke oder die Anlegung des Katafters (f. d. Art.). 
Mag nun auch bei Diefem Katafter fo viel bonitirt, clafftrt und- clafilfleirt werden, daß 
alle Solumnen und Spalten voll und übervoll find, mögen die betreffenden Karten 
fo fauber gezeichnet fein, als fie wollen, fo bat man für die wirkliche Ertragsfähig- 
keit der einzelnen Grundſtücke doch noch keinen ficheren Mapflab gefunden. Hunderterlei 
zufällige Nebenumflände können von zwei Brundftüden, die ganz gleich Fataflrirt find, 
dem einen zum Doppelten, dem anderen zur Hälfte des mwillfürlih angenommenen 
Ertrages verhelfen. Man hat daher noch zu anderen Hülfsmitteln feine Zuflucht ge⸗ 
nommen und zwar zur Beachtung des letzten Kaufpreifes der Grundflüde oder des 
Pachtzinfes derfelben. Hiervon iſt ber Kaufpreid etmas ganz Unſticheres. Es kommt 
dabei auf die Perfönlichkeit des Käufers an, auf die Höhe der Anzahlung, auf zeit« 
weilige Speculationen, vorübergehende Conjuncturen u. f. w. Hat man z. B. ein 
Srundftüd gekauft mit einer bedeutenden, wohlbeflandenen Forſt, ohne dag aber ein 
flößbarer Strom oder eine chauffirte Straße in der Nähe vorübergeht, es wird aber 
hernach in der Nähe eine Eifenbahn vorbeigeführt, fo kann der Werth eines foldgen 
Butes ſich plötzlich um das Vierfache fleigern. Der Pachtzins giebt einen etwas 
fiherern, aber doch noch immer unficheren Maßſtab. Die oft verwidelten Pachtbedin⸗ 
gungen und bie Länge oder Kürze der Pachtzeit auf den wirklichen R. zurädzuführen, 
foll man mit Sicherheit wohl unterlaffen. Schließlich ift zur Ermittelung des R. 
(Katafrisung) noch zu bemerken, daß dieſelbe fehr Tangwierig It, doc nicht, trop 


Neinhard (Branz Volkmar). | 57 


aller Minutlofität, Alles genau trifft und fehr ſchnell antiquirt wird. Kurz man fommt 
von einer Fiction zu der anderen, und wahr ift bei der ganzen Geſchichte nur, daß 
die fleuerfordernde Behörde ein Handgreifliches, und zwar dad handgreiflichſte Steuer⸗ 
object, was es giebt, vor ſich bat, demfelben eine willfürliche Steuerkraft unterlegt 
and mittels der bellebten Zufchläge die noch beliebtere Schraube ohne Ende daran 
befeſtigt. Man ift trog allem Reden von Fortfchritt bei der roheflen Steuerverfaffung 
amgelommen, wie fle nur die Alteften unentwickelten Völker gehabt haben, oder mie fie 
In fpäteren Seiten zur Völkerknechtung und Verderbung gedient Bat. Die ganze 
Lehre von einem nad Baargeld zu firirenden R. ift fomit eine der vielen armjeligen 
und bornirten Lügen, an denen dad Syſtem des Liberalismus überreich iſt. 

Reinhard (Branz Vollmar), einer der bedeutendſten beutfchen Kanzelredner, geb. 
den 12. März; 1753 zu Vohenſtrauß, einem Marktfleden im Sulzbadyifchen, wo fein 
Bater Prediger war. 1773 bezog er die Uiniverfität Wittenberg, babilitirte fich eben- 
daſelbſt 1777 ale Privatdocent der Philofophie, ward das Jahr darauf, um aud 
über foftematifche Theologie Borlefungen halten zu dürfen, Barcalaureuß der Theo⸗ 
logie, war darauf fehon im Jahre 1782 zum ordentlichen Profeffor der Theologie 
vorgerüdt und warb, während er neben feinen theologiſchen Vorlefungen auch die 
philoſophiſchen fortfegte, 1784 Propft an der Schloß- und Univerfitätäfirge und 
Affeffor am Provinzial-Eonflftorium zu Wittenberg. Der Ruhm, den er fidh fett biefer 
Zeit ale Prediger erwarb, während fein Name auch in der wiffenfchaftlichen Welt mit 
Ehren genannt wurde und feine Gefhäftstüchtigkeit fiy in der Verwaltung entmwidelte, 
bemog die Megierung, ihn 1792 ala Oberbofprediger, Kirchenrath und Mitglied des 
Oberconfifioriums nad Dresden zu berufen. Seine außerorbentliche Begabung zur 
Bermwaltung zeigte er bier in feiner Thätigkeit und Sorge für das Unterrichtsweſen 
des Kurfürfientbums, in Bifltationen und in der Befegung der Lebrerfiellen an Uni⸗ 
verſtiäten und an den Seminarien. Bon Dredden aus verbreitete fich daneben fein Name 
ale Prediger durch ganz Deutfland und er galt wegen der mohllautenden Sprache 
in feinen Kangelreden, wegen des Rhythmus feines Satzbaues und megen der Kunft 
der Dispofltionen feiner Predigten damald als der Eaffifche Kanzelredner Deutfchland8. 
Seine wiffenfchaftlicden Hauptwerke waren ſchon vor feiner Dresdener Beriode heraus⸗ 
gefommen; 1781 erſchien fein „Verſuch über den Plan, welchen der Stifter der chrifts 
lihen Religion zum Beften der Menfchheit entwarf” (4. Auflage 1798); 1782 fein 
pfychologifcher „Berfuh über das Wunderbare und die Verwunderung“, deffen Fort⸗ 
fegung, die Anmendung auf die Offenbarung des Alten und Neuen Teftaments, jedoch 
nicht erfchienen ift; 1788 und 1789 fein „Syſtem der chriftfichen Moral*, welches 
Bis 1815 mehrfache Auflagen erlebte. Gin Abdruck feiner Wittenberger Vorlefungen 


über Dogmatif wurde von Berger beforgt (Sulzbach 1801), eine zmeite Ausgabe . 


(1806) von R. ſelbſt, eine vierte (1818) von Schott. Die Bibliothek aber, zu 
der die Sammlung feiner Predigten anmuchd, gehört ber Dresdener PBerlode an; 
fie umfaßt (Sulbah 1793 — 1813) 35 Bände. In dieſer fpdtern Seit er- 
ſchien noch feine Abhandlung „über den Kleinigfeitögeift in ber Sittenlehre" (Mei⸗ 
Ben 1801), ferner die Schrift: „Geſtändniffe, meine Predigten und meine Bil⸗ 
dung zum Prediger betreffend" (Sulzbach 1810, 5. Auflage 1811), Was In 
jeinen Predigten und wiſſenſchaftlichen Arbeiten offen vorliegt, iſt in letzterer Schrift 
noch pfychologiſch erklärt, wir meinen die Verbindung des Supranaturalidmus und 
Rationalisnns, das Feſthalten der Glaubensüberlieferung mit pfychologifcher Beweis⸗ 
führung. Seine Sprache und fein Raifonnement gehören durchaus der Aufklärung 
an; mit dieſen weltlichen und verftändigen Mitteln will er aber die Offenbarung ver» 
theidigen. In jener Schrift über den Plan Jeſu will er zeigen, daß e8 vernünftig 
fel, Jeſum um des großen, allumfafenden, einzigen Entwurfes willen, den er zum 
Beften der Menichheit fich ausgebildet Habe und der um feiner Größe willen 
einen höhern Einfluß Gottes vorausfege, für einen Gefandten Gottes zu halten. In 
dee Dogmatik fucht er einen Bergleih und ein Abkommen zwifchen Vernunft und 
Bibel berzuftellen, indem er Beidem, dem Berlangen nach plaufibeln Gründen und 
der Beruhigung bei dem Pofltiven der Offenbarung, gerecht werden will. Die Moral 
M ihm das Gebtet der piuchologifchen Beobachtung und die Wiffenfchaft der Motive; 





58 Reinhard (Earl Friedrich Graf v.). 


in feinen Predigten endlich will er den Glauben recht gründlich in Die Speeialitäten 
des menſchlichen Lebens einführen und wird er deshalb oft hausbacken oder gefucht. 
Die Schwüde des Glaubens treibt ihn in das Weltlich-rationelle und zum Plauſibel⸗ 
machen, die Schwäche der rationelfen Bemeidführung und die Unzufriedenheit mit ber- 
felben treibt ihn dagegen wieder zum Glauben zurüd. Sein aufgeflärter Standpunkt 
machte ihn zu einem Gegner der Kantifchen Philoſophie, noch mehr der Schelling- 
fhen Naturphiloſophie. Dagegen erwarb er fich durch Pie rationelle Sprache feiner 
Beweisführung Anerkennung und Hochſchätzung von Seiten aller Aufgeflärten, wes⸗ 
halb es im Kreife vderfelben großes Auffeben erregte und ihm fehr übel gedeutet 
wurde, ald er in feiner Reformationdpredigt vom Jahr 1800 von der freien Gnade 
Gottes predigte; man fpradh von Hyperorthodoxie, ja von Heuchelei, ald nach einem 
Megierungsdecret Diefe Predigt im ganzen fächflfchen Lande und namentlich unter den 
Predigern verbreitet wurde, — eine Mißdeutung, die fo ungerecht war, wie die ein- 
feitige Bewunderung feiner aufgeklärten Beweisführung unbegründet. Es lebte in ihm 
wirklih noch der alte Blaube neben der rationellen Begründung und in der aufge 
Härten Sprache; aber er war der Lepte, in welchen Beides noch naiv ſich mit einander 
verband. Er flarb den 6. September 1812. Vergl. über ihn Polig, „R. nad feinem 
Leben und Wirken dargeflellt” (Leipz. 1813—15, 2 Bde.) und Boͤtticher's „Dr. F. V. R.“ 
(Dresden 1813). 

Reinhard (Earl Friedrich Graf v.), geb. 2. October 1761 in dem württem⸗ 
bergifchen Städtchen Schorndorf an der Rems, gefl. zu Paris 25. December 1837. 
Sein Bater, Paſtor an der fehönen gothifchen Kirche zu Schorndorf, und feine Mutter, 
eine Frau von hoher Frömmigkeit, wandten auf Diefen ihren Sohn, den Alteflen von 
zwölf Kindern, die aufmerkfamfte Sorgfalt und beflimmten ihn früh für das Stubium 
der Theologie. Dem Gange gemäß, welcher damals den fungen Leuten, bie ſich der 
Theologie widmeten, in Württemberg vorgefchrieben war, bezog R. im breizehnten 
Lebensjahre die niederen Seminare von Denfendorf und von Maulbronn; in feinem 
ftebzehnten Jahre 1778 ging er zur Univerfitit Tübingen über, wo er im obern Se⸗ 
minar der tbeologifchen Facultät fünf Jahre ſich für den geiſtlichen Stand vorbereitete, 
aber auch mit aller Wärme feiner Geiftestriebe dem Studium der Faffifchen PBoefle 
und Literatur, der Bhilofophie und Gefchichte fi Hingab im Umgang mit Landsleuten, 
welche alle fpäter mehr oder weniger in Deutichland befannt geworben find, mit Conz, 
’Stäublin, Ofltander, Pland, Hartmann. Was diefem Kreundfchaftdbunde das Band 
der Begeifterung und eine höhere Einheit verlieh, das war die Poefle, welche durch 
die Laufbahn des Staatsmannes und Diplomaten R. als treue Gefährtin begleitete, 
wozu er in Tübingen Anfloß und Richtung erhalten bat. In dem 1782 erjchienenen 
ſchwaͤbiſchen Mufenalmana find R.'s erſte PVoefleen erfchienen, ja Schiller erfannte 
N. neben fih vor allem ald Dichter an. In der mit dem Beifalle Schiller’8 doch 
ohne den Namen des Lieberfegerd und Dichters 1783 berausgefommenen Ueberfehung 
des Tibullus („Al. Tibullus. Nebft einer Probe aus dem Properz und den Kriegd- 
liedern des Tyrtäus. Mit einem Anhang von eigenen Elegieen.” Zürich) hat R. das 
Berdienft, die erfte Ueberfegung der Elegieen des Tibull im Metrum des Originals 
geliefert zu haben, zu einer Zeit, da nach Klopſtock's Vorgang und durch die damals 
noch ganz junge Voß'ſche Ueberfegung des Homer das deutfche Ohr an den Herameter 
fih zu gewöhnen anfing. Im Jahre 1785 erſchien eine Sammlung von R.'s Ge⸗ 
dichten unter der Auffchrift Epifteln, ebenfalls zu Zürich. M. brachte nach dem 
Abgange von Tübingen zwei und ein halbes Jahr in dem Haufe feines Vaters in 
Balingen zu, wohin diefer inzwijchen als Paftor und Präfident des Conſiſtoriums 
berufen worden war; er fland dem Bater als Vicarius zur Seite. Aber je länger, 
je mebr fühlte fein viel umfaffender, auf die Welt und das Leben gerichteter Geiſt 
das Bebürfniß, den beichränkten Kreid feiner geifllicden Wirkfamkeit zu verlafien und 
die große Welt Eennen zu lernen. Seine Eltern widerfegten fi Anfangs dieſem 
Triebe, allein, da er als Verfaſſer einer 1786 in einer deutſchen Zeitung veröffent- 
lichten fcharfen Eritifchen Beleuchtung des theologifchen Seminars zu Tübingen entdedt 
wurde, hielt der Vater den firebenden Sohn nicht länger zurüd. R. ging zunaͤchſt 
nach der Schweiz, dem Lande feiner poetiſchen Sehnjucht, und lebte an den Ufern bes 


Keinhard (Earl Friedrich Graf v.). 59 


Genfer Sees als Erzieher im Haufe der Familie v. Blonay nicht viel über ein Jahr. 
N. vertaufchte 1787 feine Stelle mit einer ähnlichen in dem Kaufe einer proteftan- 
tifhen Familie in Bordeaux. Diefe berühmte franzöflfche Handelsſtadt ſchloß damals 
eine nicht gewöhnliche Regſamkeit höherer Intelligenz in fi, welche in den Ideen für 
Reformen der Societät fich concentrirte, Männer, die bald ganz Frankreich, ja Europa 
fennen lernen ſollte. R. warb ald Geifteöverwandter voll Talent, Geiſt und Kennt» 
niffen von den Mepräfentanten jener Bewegung begrüßt. So faßte ihn denn die 
1789 auddrechende Nevolution mit verftärkter Macht und gab feinem Leben die Rich⸗ 
tung. Gr blieb aber nicht bei literarifhen Ergüflen feiner Sympathie für die Mer 
volution (oder an die Freiheit, Epitre sur la liberte religieuse) fliehen, er begann 
an Ort und Stelle thätig einzugreifen. Er wurde Mitglied der in Die meiften Städte 
bed inneren und mittäglichen Frankreichs verzmeigten, in Borbeaur fo mächtig wirfen- 
den Societe des amis de la constitulion, eigentlidy einer Filiale des Iacobinerclubs, 
und war dafelbfl angefehen genug, um einen Monat lang (länger geflattete es ihre 
Berfaffung nicht) den Stuhl des Präfipenten einzunehmen. Im Jahre 1791 begleitete 
N. feine Freunde, die Deputisten der Gironde, Vergniaud und Mohyer - Ducos, in 
einem Wagen nah Paris, bier empfahl er fich dem vielgeltenden Abbe Sieyes durch 
Ausarbeitung einer kurzen Darftelung der Kant'ſchen Philofophie und betrat auf deffen 
Empfehlung die diplomatifche Laufbahn; vorber hatte er, vermöge einer formellen Dispen- 
ſation von Seiten feines früheren Landesherrn, des Herzogs von Württemberg, die Erlaub- 
nis, in franzöftfche Dienfle zu treten. Gr übernahm die Stelle eines erſten Gefandt- 
Ichaftöfecretärd in London und führte, ald nad) Ludwig's XVI. Hinrichtung der Marquis 
v. Ghauvelin Halb freimillig, Halb von der englifchen Megierung gezwungen, bie Ge⸗ 
ſandtſchaft verlieg, die Geſchaͤfte bis zu dem gänzlichen Bruche allein fort. Noch ehe 
er England verließ, erhielt er, 16. Februar 1793, feine Ernennung zum erflen Se⸗ 
cretaͤr der franzoͤſiſchen Sefandtfchaft in Neapel. Die Kriegberflärung des Königs 
beider Sicilien gegen Branfreidy nöthigte bald M., Neapel zu verlaflen; er fehrte 
nach Paris zurüd, um über feine Miffton Nechenfchaft abzulegen. Die Schreckens⸗ 
regierung nahm feine Dienfle in Anfpruch: er erhielt die Stelle als Chef der britten 
Abtheilung im Departement der auswärtigen Angelegenheiten und fchritt fo die ganze 
Schreckensepoche, während welcher er im Bructidor für den Dienft des Wohlfahrts⸗ 
ansfchuffes ala Divifionschef requirirt wurde, glüdlih Hindurh. Er behielt letzteres 
Amt auch nad Robespierre's Fall bei bis zum 6. Meffivor des Jahres II, in welcher 
Zeit er zum bevollmächtigten Mintfter bei den Hanfefläbten Bremen, Lübeck und Ham⸗ 
burg ernannt wurde. In Hamburg, wo er nach einer ſchwierigen Unterhandlung ſich 
ald bevollmächtigter Minifter anerkannt ſah, machte R. im Haufe von 3. A. 9. Rei⸗ 
marus dem Jlngern die Belanntfchaft von deffen Tochter Chriſtine und vermählte 
fi dort mit ihr den 12. Detober 1796. Diefe Verbindung brachte R. mit den aus- 
gezeichnetfien Männern Deutfchlands In Berührung, denn das Haus feines Schwieger- 
vaters wie das feines Schwagers Sieveling bildeten damals Mittel- und Vereinigungs⸗ 
punfte für alle Sremden von Bedeutung. (H. Steffens, Was ich erlebte. V. Bd. 
Bredlau 1842. ©. 311 ff. Perthes' Leben. I, Bd. Hamburg 1853, ©. 44, 45.) 
Im Jahre 1798 ging R. ald Gefandter beim Großherzog von Tosfana nad Flo⸗ 
renz, den er bei feiner Ankunft nicht mehr antraf. Die Hauptſtadt war bereitö von 
franzöflihen Truppen befeßt, feine Functionen ald Geſandter vermandelten ſich durch 
diefe Umflände in die eines Commiſſarius der franzöflichen Republik in Toskana; er 
verhinderte namentlich die Wegführung der dortigen berühmten Gemäldegalerie. Die 
Ereigniffe des Feldzugs von 1799, der Verluft der Schlacht an der Trebbia führten 
R.'s Abzug von Florenz herbei. Mit feiner Familie (in Blorenz war ihm ein Sohn 
geboren worden) ſchiffte R. ſich in Livorno ein, um nad Frankreich zurüdzufehren; 
in Zoulon erhielt er die Ernennung zum bevollmächtigten Minifter der Republik in 
der Schweiz, aber faſt unmittelbar darauf zum Minifter der audmärtigen Angelegen⸗ 
beiten.- Na dem 18. Brumalre, den Bonaparte mit Hülfe von Sieyes und von 
Zalleyrand Herbeigeführt, trat R. nach einem Winiflerium von ſechs Monaten feinen 
Platz an Talleyrand wieder ab und wurde als Minifter der franzöflfchen Republik 
nad; der Schweiz gefandt. Dort blieb er bis zum Anfang des Jahres 1802, wo er 


60 Reinhard (Carl Friedrich Graf v.). 


in gleicher Eigenfchaft zum zweiten Male nah Hamburg kam (1802—1805). Die 
gegen die Anflcht feiner Regierung ausgeſprochene Mißbilligung der Verhaftung des 
englifchen Reſidenten Rumbold Foftete ihm die fehmerzliche Trennung von der Kamilie 
feiner Gattin, da er fofort durch Bourrienne in Hamburg erfegt wurde. Kurz nad 
Rückkehr nach Paris den 18. März 1806 wurde R. als Mefldent in den türfifchen 
Donauprovinzgen und Generalcommifjfär der Handelsverhältniffe in der Moldau nad 
Jaſſy gefchidt, eine Art Exil, welches er mit großer Selöftverläugnung annahm, und 
ein Wirkungdfreis, bei welchem er feine ganze Gründlichfeit und Vielſeitigkeit entfal« 
ten fonnte. Seine Berichte aus diefer Zeit galten nach Gagern's Bemerkung (Kritil 
des Voͤlkerrechts, Leipzig 1840, S. 330) im franzdflfchen Gabinet ſtets für Muſter 
nah Styl und Inhalt; fie Haben dazu gedient, die Hohe Wichtigkeit dieſer Fürſten⸗ 
thümer für @uropa und fein Gleichgewicht Hervorzuheben. ine eben fo brutale ale 
unerwartete Gewaltthat rip ihn ploͤtzlich aus dieſem Kreife: auf Anreizung des Fürften 
Dolgorudi Tieß der General Michelten ihn mit feiner Familie und den Beamten des 
Conſulats in dad Innere von Rußland führen; diefe Neife, welche nach Ausſage der 
Koſaken Sibirien zum Ziel haben follte, Hielt inne in Kremetfchuf an. Sobald der 
Kaifer Alerander die Verhaftung R.'s erfuhr, gab er die nöthigen Befehle, ihn in 
Freiheit zu fegen und ihm die Rückkehr nach Frankreich zu geftatten. Nach diefen 
trüben und erfhütternden Erfahrungen, welche R. gemacht, ſchien es, als wollte er 
fh aus dem Dienfle Napoleon’8 ganz zurüdziehen, um fortan nur ſich und 
feiner Bamilie zu leben. Er erwarb einige Beflgungen von reizender Lage am 
Rhein unweit Köln. Im Jahre 1808 wurde RM. zum Gefandten in Kaffel 
bei dem neuen Könige von Weflfalen ernannt — er konnte fih mit der 
Hoffnung ſchmeicheln, in einer höchſt bedenflihen Zeit feinem DBaterlande 
nüglih zu fein, und man braudt Ihn nicht mit E. M. Arndt (Grinnerungen aus dem 
‚Außeren Leben. Leipzig, 1840, S. 109) einen „veutfchen Apoflaten, einen voilligen 
Schergen des Mannes, der fein deutſches Vaterland fchändete,* zu nennen. Im Jahre 
1809 wurde R. vom Kaifer zum Baron erhoben. Die Schlacht bei Leipzig fehte 
dem Königreich Weftfalen und damit R.'s Miſſton ein Ende. Die Eritifche Epoche 
zwifchen der Auflöfung des weftfältfchen Königreih8 und der Wiederherſtellung der 
Bourbond verlebte AR. in Parid, wo er den 26. November 1813 eingetroffen war. 
Der Fürſt Tallegrand, welchen Ludwig XVII. zum WMinifter der ausmärtigen Ange⸗ 
legenheiten ernannt hatte, ließ R., feinen Freund, nicht lange die Muße genießen; er 
Iud ihn am 15. Mai ein, in fein Departement ald Directeur des Chancelleries eins 
jutreten. Bald darauf wurde er zum Staatörath in außerordentlihem Dienft ernannt. 
Als Talleygrand zu dem Wiener Congreffe abreifte, ließ er R. mit dem interimiftifchen 
Portefeuille beauftragt, In Paris zurüd. Mitten unter der niederbeugenden Trauer, 
in welche der ſchnelle Tod feiner Gattin zu Anfang des Jahres 1815 ihn flärzte, 
erfuhr er in Paris die Ruckkehr Napoleon's von Elba. Wie überall, fo auch bier 
vom Pflichtgefähl allein geleitet, verlich R. den 20. März Paris, um dem Könige 
Ludwig XVII. Die Stegel de8 Departements und michtige Papiere, deren Bemahrer 
er war, zu-überbringen. Nach einer mit vielen Gefahren verbundenen Reife gelang 
e8 ihm, Belgien zu erreichen. Nachdem er ſich feiner Miſſton bei dem Könige ent- 
ledigt Hatte, ſchickte R. fih an, definitiv auf feine Güter an den Ufern des Rheines 
ſich zurückzuziehen. Doc war e8 ein Mißverfländniß, oder weil man wichtige Papiere 
dei ihm vermuthete, In Lüttich wurde R. verhaftet, und in Aachen wurden ihm, des 
energiichen Widerſpruchs ungeachiet, feine Papiere genommen und, ob zwar mit feinem 
Mappen verflegelt, nah Wien gefchidt. Den 30. April murde ihm fein Portefeuille 
fammt Entfhuldigungdbriefen vom Bürften Hardenberg, Wilhelm v. Humboldt und 
Anderen zurüdgefandt. Nach einer kurzen Erholung auf feinen Gütern hielt er für 
paflend, nad Gent fidh zu begeben, um dem Könige für die ihm bewieſene Theil⸗ 
nahme feinen Danf abzuflatten. Er war gerade in Gent, al die Schlacht bei 
Waterloo das Ende diefer ganzen Periode befeſtigte. Auf Talleyrand's Drängen ging 
er mit nah Paris, um feinen Platz im Minifterium der ausmärtigen Angelegenbeiten 
wieder einzunehmen. Ludwig XVII. erhob ihn am 22. Auguft zum Grafen. In dem 
Zwiſchenraum, ald Herr dv. Talleyrand feinen Platz an Herrn v. Richelleu abtrat, 


Reinhold (Johann Gotthard von). bl 


ging R. im Sommer auf feine Güter. Hier erhielt er feine Ernennung ald bevoll⸗ 
mächtigten Miniſter am Bundestage zu Branffurt a. M., wo er am 15. Decbr. 1815 
eintraf, und obgleich auf einen feiner Natur und Neigung zufagenden Plag geftellt, 
von allen Seiten geachtet, von vielen Gefandten gefchägt und gefucht, ſich doch nicht 
gücklich fühlte. Zu feiner Exrheiterung diente du® Landleben im Taunus. Im Sommer 
1829 ward er durch den Fürften Polignac zurücdberufen, im October 1830 aber zum 
Sefandten in Dreöden ernannt; aber fchon nach zwei Jahren Fündigte ihm der damalige 
Minifterder auswärtigen Angelegenheiten, Graf Sebaftiani, den 11. Juli 1832 feine definitive 
Zulaffung In den Ruheſtand an. Es fehlte nicht ein Zeichen ehrender Anerkennung 
feiner Verdienſte um den Staat: er wurde, nachdem er 1829 das Großkreuz der 
Ebrenlegion erhalten, den 11. October 1832 zum Pair von Frankreich erhoben und 
Bei dieſer Gelegenheit die großen Raturalifattondbriefe für ihn von den beiden Kanı- 
mern votirt. In den legten Jahren feines Lebens machte er in Begleitung feiner 
zweiten Gemahlin, eined geborenen Fraͤuleins v. Wimpffen, mit welcher er 1825 ſich 
vermäblt Hatte, eine längere und gewiffermaßen eine Abſchiedsreiſe nah England, 
Holland, Belgien und Deutfchland; der Jubelfeier der Univerſttät Göttingen wohnte 
er bei und ſaß ald Mitglied der Fönigl. Akademie der Wiffenfchaften in dem großen 
und merkwürdigen Eirfel denkender Köpfe und wiffenfchaftlicher Männer, welcher im 
September 1837 aus ganz Deutſchland auf der Georgia Auguſta verfammelt war, 
Bald nachher, am 25. December 1837, flarb er nach kurzer Krankheit in feinem Hotel 
zu Paris. Aus dem Sacobiner MR. wurde fpäter ein Liberaler, und in folcher Geſin⸗ 
nung blieb Graf R. bis zum legten Athemzuge ſich gleih. Den intereffanten „Brief 
wechlel zwifchen Goethe und Reinhard in den Jahren 1807 — 1832" — melde ſich 
1807 in Karlabad Eennen lernten — hat 1850 „im Namen der beiden Familien“ 
der Sohn R.'s, damals Gefandter der franzöfifchen Republik in der Schweiz, (Stutt⸗ 
gart) beraudgegeben. 

Reinhold (Iohann Gotthard von), Diplomat und Dichter, 1771 zu Amfterdam 
geboren, wurde in feinem fechdten Lebensjahre auf die herzogliche Militärafademie zu, 
Stuttgart geichidt, wo er mit Schiller Bekanntſchaft machte. Bon feinen Berwandten 
für den Kaufmannsftand beftimmt, hielt er fih, nachdem er die Akademie verlaffen 
hatte, mehrere Jahre in einem angefehenen Handelshauſe Frankreichs auf, kehrte 
darauf nah Holland zurüd und nahm Militärdienfte. Als er 1795 auf Urlaub in 
Hamburg war, lernte er den damaligen holländifchen Geſandten Abbema kennen, der 
ibn fi von feiner Megierung zum Legationdfjerretär erbat. Als jener feinen Abfchied 
nahm, wurde MR. zum Gefchäftöträger bei den KSanfeflädten ernannt. Bon Louis 
Bonaparte, dem König von Holland, in feiner Stelle beftätigt, wurde er von dem⸗ 
fel6ben 1809 zum außerorbentlichen Gefandten am Hofe von Berlin ernannt. Dirfe 
Stelle bekleidete er nur neun Monate; denn ald 1810 Louis Bonaparte die Krone 
niederlegte und Holland dem franzöflfchen Kaiferreich einverleibt wurde, erhielt R. ein 
traitement d’inaclivitö und begab fi nach Paris, mo er, ganz zurüdgezogen, nur 
den Wiſſenſchaften lebte. Von 1814—1823 war er niederländifcher Oefandter in 
Rom; bier erfreute er ſich der größten Anerkennung des Papſtes Pins VII. unv war 
ein väterlicher Freund der niederländifchen Künftler, die fi Damals in Rom befanden, 
und ein Wohlthäter armer Meifender. Im Sabre 1824 wurde er als Minifter der 
auswärtigen Angelegenheiten nach dem Haag berufen, aber fchon rad fehd Monaten 
nah Rom zurüdgefandt. Er blieb daſelbſt bis 1825, im welchem Jahre er fih nady 
Blorenz begab, bei deſſen Hof er gleichfalls beglaubigt war. Bon bier wurde er 
1827 nad) Bern verfegt, mo er bis 1832 verblieb. Zum Gefandten in Kopenhagen 
ernannt, bat er um feinen Abfchted und begab fi nach Hamburg, wo er ganz feiner 
Familie und den Muſen lebte. Er flarb daſelbſt den 6. Auguft 1838. M. Hat 
meifterhafte Sonette gedichtet und treffliche Meberfegungen Iyrifcher Gedichte aus dem 
Griechiſchen, Lateinifchen, Englifhen, Franzöſiſchen und Italieniſchen angefertigt; be> 
fonder8 war Petrarca fein Liebling. Uber alles Zureden feiner Sreunde, feine ſaͤmmt⸗ 
lichen Dichtungen und Ueberfegungen dem Drud zu übergeben, Hatte er ſtets zurüde 
gewiefen; nur einige Proben davon bat er ohne feinen Namen in den Nordiſchen 
Miscellen und im Wufenalmanadı von Chamiſſo und Varnhagen von Enfe im Drud 


62 Reinhold (Karl Leonhard). 


erfcheinen laſſen; von Letzterem ift R.'s „Dichterifcher Nachlaß“ nebft einer biogra⸗ 
phifchen Einleitung von I. 9. v. Weilenberg berausgegeben mworben (2 Bände, 
Leipzig 1853.) | 

Reinhold (Karl Leonhard), der größte Philoſoph, den Defterreich hervorgebracht 
bat, wurde am 26. Dctbr. 1758 in Wien geboren und nady erhaltenem Gymnaflal« 
unterricht als Novize in ein Jefuiten-Gollegium aufgenonmen. Nur ungern verließ er, 
ald Im folgenden Jahre die Collegien der Iefuiten aufgehoben wurden, die liebgewor« 
denen Raͤume und begab ſich zu den Barnabiten, bei denen er ſechs Jahre lang 
Voilofophie und Theologie eifrig trieb, fpäter lehrte. Der intime Umgang mit Män- 
nern, Die für die Ideen Joſeph des Zweiten ſchwaͤrmten, erregte in ihm einen Eonflict, 
dem er fih dur Flucht aus dem Orden und Baterlande entzog. Zuerſt ging er 
nach Leipzig, wo er unter Blatner Philoſophie fludirte; dann ging er nad) Weimar, wo er, 
Wieland gut empfohlen, von dieſem freundlich aufgenommen warb und fpäter deſſen 
Schwiegerfohn ward. Er ward ein fleißiger Mitarbeiter an dem, deutſchen Merkur“ und in 
biefem erfchienen feine Briefe über die Kantifche Philofopbie, vom Jahre 1786 an. 
Die briefliche Erklärung Kant's, daß derfelbe ihn über alled Ermarten gut verflanden 
babe, ward eine Empfehlung R.'s. für die Profeffur der Philofophie in Iena, in ber 
er: ſich ald Lehrer fo außzeichnete, daß durch ihn Jena der wahre Sit deutfcher Phi- 
Iofopbie wurde. Neben feinen DVorlefungen waren es Gonverfatorien, befonders aber 
Schriften, durch die er das Studium der Philofopbie förderte. Seine Hauptfchrift, 
„Berfuch einer neuen Theorie des Vorſtellungsvermögens“ 1789, in der er zuerft, die 
tiefere Begründung des Kantianidmud durch dad, mas er Elementarpbilofopbie nannte, 
zu geben verfuchte, machte fein Verbältni zu Kant etwas Fühler, der ihn bald zu 
feinen hyperkritiſchen Freunden zählte. Seine Beiträge zur Berichtigung biöheriger 
Mißverſtaͤndniſſe Der Philofophie (2 Bde. Leipz. 1790. 92.) leben ganz auf dem 
Standpunkte der Elementarphilofophie. Diefelbe will die Kantifche Theorie vereinfa- 
chen und begründen. Jenes, indem fle die beiden Stämme der Erkenntniß, die Kant 
(f. Bd. 11. S. 50) angenommen, auf die von ihm problematifch gelaffene gemein⸗ 
Ihaftlihe Wurzel des Borflellungsvermögend zurüdführte, diefes, indem fte nicht nur 
wie Kant daraus, daß es fonft Feine Mathematif und Feine Erfahrung geben wäürbe, 
zurüdichloß, daß alfo Zeit, Raum, Gaufalität u. f. m. in und liegen, fondern durch 
eine genaue Zerlegung deſſen, was im Borftelfen und im Bemußtfein liegt, jene 
Formen a priori in ihn nachwies. Daß durch beides M. die Kantifche Lehre weiter 
geführt babe, Haben alle tiefer blickenden Kantianer, felbft ſolche, die ſich ſonſt R. ent» 
gegenftellten, wie Bed (f. d. Art) und Maimon, oder über ihn binausgingen, wie 
Fichte (f. d. Art.), anerkannt, Der Leptere ward denn die PBeranlaffung, daß R. 
fpäter felbft eingeftand, er fei noch nicht weit genug gegangen. Die Necenfion Fichte's 
über den gegen R. gefchriebenen Aeneſidemus von G. E. Schulge machte beide mit 
einander bekannt, ein lebhafter Briefwechfel folgte, der ſich auch fortiegte, als R. 
nah Kiel ging und Fichte fein Nachfolger in Jena wurde. Sm Jahre 1797 
erklaͤrt AR. in der Auswahl vermifchter Schriften öffentlich, mas die Ele 
mentaepbilofophie vergeblich gefucht, babe die Wiflenfchaftölchre gefunden. Wenn 
diefe Erklärung einerſeits ein neuer Beweis ift des fich ſelbſt vergeffenden In⸗ 
terefied für die Wahrheit, welches MR. befeelte, fo war fle andererfeltö von einem 
Stanhpunft auß, der von feber darauf ausgegangen war, in allen ausgeſprochenen 
Anflchten Wahrheit anzuerkennen, leichter als jedem Anderen. Aber auch mit Diefem 
Mebergange zu Fichte hatte R. nicht den Punkt erreicht, auf dem er ſtehen blieb. 
Von Anfang an, fcheint e8, Hat der entfchiedene Subjertivismus der Wiflenfchafte- 
lehre in ihm eine flille Sehnſucht nach einer Ergänzung entfliehen laflen. Der Ob⸗ 
jectivismus, den Scelling in feinem Identitätsſyſtem geltend machte, Fonnte, ſchon 
aus perfönlichen Bründen, A. nicht anfpredhen. Als nun gleichzeitig damit ihm die 
Beflrebungen Bardili's (f. d. Art.) befannt wurden, verfuchte er zuerfl biefen mit 
Fichte, dann Fichte mit Ihm auszuföhnen, und als ihm Beides mißlungen war, er- 
Härte er fi ganz für den Erfteren. Diefer Periode gehören die Beiträge zur leich⸗ 
teren Ueberſicht des Zuflandes der Philofophie beim Anfange des 19. Jahrhunderts an 
(6 Hefte, Hamburg 1801). Diefe Wandelung, in Folge der R. eine völlig Ifolirte 


Neinhold (Ehrifian Gruft Gottlieb Jens). NReinmar von Zweter. 63 


Stellung in der gelebrten Welt bekam, war noch nicht die lezte. Ziemlich in derſel⸗ 
ben Zeit, in welcher Hegel (f. d. Art.) feine Kritif der von unferem Denken an« 
gewandten Kategorieen begann, wurde ed R. deutlih, daB es vor Allem darauf an⸗ 
fonıme, die In dei Sprache, d. 5. dem lauten Denken, niedergelegten Formen Tritifch 
zu erörtern. lm ber Sprachverwirrung unter den Weltweifen, die er im Jahre 1809 
in einer eigenen Schrift rügte, ein Ende zu machen, fchrieb er die Grundlegung der 
Shnonymik (Kiel 1812), an die fi dann einige andere Schriften ſchloſſen, die nicht 
einmal alle in den Buchhandel gekommen find, gefchweige denn, daß fie ein großes 
Bublicum gefunden hätten. Die Berfatilität R.'s, die dies verhinderte, hat ihn mehr 
ald andere Philoſophen in Stand geſetzt; auf fremde Standpunkte einzugehen, und 
dies war neben der Wahrheitöliebe des trefflihen Mannes ein Grund mehr, ihn zu 
einem hochgeachteten Docenten zu machen. Dies iſt er bis zu feinem am 10. April 
1823 erfolgten Tode geblieben. Bon feinen älteren Zeitgenofien iſt eigentlih nur 
Jacobi ihm treu geblieben. Bichte, der eine Zeitlang ihn mit Enthuflasmuß verehrte, 
iR fpäter der gewefen, welcher den Ton der Nichtachtung anfchlug, in dem unfere 
Bhilofophen von R. ſprachen und zum Theil noch fprechen. Eine gute Monographie 
über R. iſt die von feinem Sohn verfaßte Schrift: 8. 2. Reinhold's Leben und lite 
sartfches Wirken. Jena 1825. 

Reinhold (Chriſtian Ernſt Gottlieb Jens), Sohn des Vorbergehenden, geboren 
in Jena 1793, in Kiel gebildet, wo er nach vollbrachten Stubien im Jahre 1820 
Lehrer am Gymnaſium war, zugleich aber als Privatdocent der Philoſophie Vorle⸗ 
inngen bielt. Eine Schrift: Verſuch einer Begründung und neuen Darftellung ber 
logifhen Formen, war fhon 1819 berausgefommen und er war der gelehrten Welt 
nicht unbefannt, als er als Profeflor der Logik und Metaphyſik nach Iena gerufen 
ward. Hier veröffentlichte er außer der oben genannten Biographie feines Vaters die 
Grundzüge eined Syſtems der Erkenntniß⸗ und Denklehre (1825), feine Logik ober 
allgemeine Denkformenlehre (1827). Zugleich betrat er dad Gebiet, auf dem er bie 
meiften Leſer gefunden bat, dad der Befchichte der Philoſophie. Dem Beitrag zur 
Erläuterung der Pythagoreiſchen Metaphyſik (1827), der gegen H. Ritter gerichtet 
iR, folgte dad Handbuch der allgemeinen Gefchichte der Philofophie (3 Bpe. 1828, 29), 
endlich aber dad vor Allem gelefene und lobenswerthe Lehrbuch der Gefchichte der 
Philoſophie (1836. Später noch in drei Auflagen). Die Theorie des menfchlichen 
Erfenntnißvermögens und Metaphyſik (2 Bde. 1832 — 34), das Lehrbuch der philo- 
ſophiſch » propädeutifchen Mfychologie nebſt den Grundzügen der formalen Logik 
(1835. 2. Aufl. 1839), endlih die Wiffenfchaften der praftifhen Philofophie im 
Grundrifie (1837) find außerhalb des Kreifes feiner Zuhörer nicht viel berüdiichtigt 
worden. R. iſt ald Geheimer Hofrath in Iena den 17. Sept 1855 geftorben. In feiner 
Lehre Enüpft er an Kant und an den eignen Vater an, fo aber, daß Tr auf ber von 
ihnen gelegten Baſis weiter baut. Eine Würdigung feines Strebens und Wirkens 
verſuchte Apelt (Ernft Reinhold und Die Kantiſche Philofophie. LXeipz. 1840). 

einmar von Hagenan, fpäterhin der Unterfcheidung von Meinmar von Zweter 
wegen, der alte genannt, war einer der audgezeichnetften Minnefänger, von dem eine 
nicht unbetraͤchtliche Anzahl von Kiedern erhalten iſt. Daß unter ibm die von 
Gottfried im Triftan 4777 ff. fo Hoch gerühmte, aber ſchon verftummte „Nachtie 
gall von Hagenouwe“ zu verfiehen, bat Docen vermuihet, und Lachmann und Ans» 
dere find mit Mecht diefer Vermuthung beigetreten. Dem Zunamen nah if R. ein 
Elſafſer oder Baier; er übte feine Kunft am Hofe von Defterreih und war 1210 ber 
reits geflorben. 

Reinmar von Zweter, ein jüngerer Dichter, von abligem Stande, geboren am 
Rhein, erwachſen in Deflerreih und fpäter am Hof des Böhmenkönigd Wenzel lebend, 
dat einen geiftlichen Leich und einige Hundert Sprüche gedichtet, alle in einer und 
derſelben Stropbenform; der Inhalt derfelben iſt Nlıge oder Lob des fittlichen, flaat« 
lichen, Firchlichen Lebens Deutichlands vom dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts 
on bis in das ſechſste. Weniger bekannt if ver Höfifche Dichter Neinmar von 
Brennenberg geworden. Don allen drei Dichtern bat Simrod einige Lieder in 
„Lieder der Minnefänger* (Elberfeld 1857) unter Nr. 26, 41 und 39 überfegt. 


64 Meilen. Heland (Adrian). 


Reifen. In dem Artikel „Entdedungen, geographiſche“, haben wir in 
einer dazu gehörigen Anmerkung auf „Reifen? verwiefen, doch glauben wir, in ben 
einzelnen Biographieen Reiſender, die fih um die Erweiterung des ‚geographifchen 
Wiſſens bervorgetban, genügend deren Wirken gefchilvert zu Haben. Wir vermeifen 
daher bier lediglich auf die Artikel folcher hervorragender Perfönlichkeiten. 

Heifig (Karl Ehriftian), fcharffinniger PHilologe, geboren am 17. November 
1792 zu Weißenfee in Thüringen, weshalb er vor feinen Schriften confequent ben 
Namen Garolus Reiſtgius Thuringus führte, wurde auf der Klofterfchule zu Moßleben 
gebildet und bezog 1809 die Yiniverfität Reipzig, wo fein Talent bald von Hermann, 

der ihn in die Griechifche Befellfchaft aufnahm, erfannt wurde. Eine Folge feiner 
Hochachtung gegen diefen Lehrer war die mit U. Meineke beforgte pfeudonyme Aub« 
gabe von „Xenophonlis Oeconomicus. Ed. Kusterus* (Leipzig 1812), worin bie 
beabfichtigte faft abfolute Verberrlihung Hermann's mit einem Uebermuthe des Toned 
durchgeführt wurbe, der nicht unverbiente Indignation erregte. Die ſchon In Leipzig 
vorzugdmeife auf Ariflophanes roncentrirten Studien fehte R. in Göttingen fort, bis 
ihn von bier der audgebrochene Krieg vertrieb, indem er als Zreimilliger in ben fädh- 
ſiſchen Banner eintrat und als Freiwilliger diente. Nach Leipzig zurückgekehrt, voll 
endete er feine Schrift „Conjeclaneorum in Aristophanem lib. J. (Xeipzig 1816); 
eine Kortfegung davon war das „Syntagma criticum*, mit welchem R. fih 1818 an ber 
Univerfttät zu Jena babilitirte. Gleichſam eine praftifche Anwendung Der gewonnenen 
Srundfäge war die Tertausgabe der „Nubes* (Leipzig 1820). Im Jahre 1820 
wurde er als Brofeffor an die Univerfltät zu Halle berufen, mo er feinen „Oedipus 
Coloneus“ (Sena 1820 —1823) vollendete. Im Herbft 1828 unternahm er eine 
wiffenfchaftliche Neife nach Stalten, aber ſchon am 17. Januar 1829 flarb er zu Ve⸗ 
nebig, während feiner Krankheit und der legten Lebendtage von feinem Freunde Leo» 
pold Manke treu gepflegt. Seine „Vorlefungen über Tateinifche Sprachwiſſenſchaft“, 
von Hafe (Leipzig 1839) herausgegeben, enthalten eine und andere gute Einzelbemer- 
fung von ihm felbſt und Erinnerungen an ältere Bemerfungen. Sonft find die reich- 
baftigen Anmerkungen des Herausgebers an fi wichtiger als der Text. 

Reiske (Sohann Jakob), gelehrter Orientalift und claffifher Philolog, geboren 
am 25. December 1716 zu Zörbig, im Hallefchen Walfenhaufe erzogen, fegte das in 
Zeipzig 1735 begonnene Studium der Sprachen, beſonders des Arabifchen in Leyden 
(1738—1746) unter großen Entbehrungen fort und warb zugleih Doctor der Me 
dicin. In Leipzig Hatte er dann, obgleich zum Brofeffor der arabifdhen Sprache er- 
nannt (1748), mühfam feinen Unterhalt zu verdienen, bis er 1758 als Hector an 
der Nicolaifchule angeftellt wurde. Er farb am 14. Auguft 1774. Die gefhägten 
Außgaben des Theocrit, der griechifchen Mebner, des Plutarch, des Dionyfius von 
Halicarnaß, des Marimus Tyrius, die „Animadversiones ad auctores graecos* (1757 
bis 1766, A Bde), der „Apparatus criticus ad Demosthenem* (1774 f., 3 Bde.) 
zeugen von großer Beleſenheit und Scharffinn; die „Annales moslemici“ des Abulfeda 
(1754) u. a. von feiner gründlichen Kenntniß des Arabifchen. Seine Selbſtbiographie 
gab feine Battin Erneftine Chriſtine R. heraus (Leipzig 1783), geboren zu 
Kemberg am 2. April 1737, wo ihr Vater Auguft Müller Probft war, geftorben am 
27. Juli 1798. Sie war eine ungemein gelebrte Frau, welche ihren Mann bei feinen 
Arbeiten unterftügte, eine Rede des LKibanius zum erften Male aus einer Handſchrift 
zu Münden herausgab (Leipzig 1775), des Euftathius „Roman von der Hysmine 
und dem Hysminias“ in ihrer „Hellas“ (Mitau 1778, 1. THE.) und eine Rede bes 
Dio Chryſoſtomus in den „Hannoverfhen Anzeigen" (1776) in’® Deutfche überſetzte. 
Bol. noch F. N. Morus „De vita Reiskii“ (Leipzig 1777), „Gelehrter Briefwechſel 
zwifchen R., M. Mendelsfohn und Leffing* (Berlin 1789) und Hirſching's „Hiftorifch- 
Iiterarifches Handbuch", fortgefeßt von Erneſti (9. Bd., 2 Abtheil. S. 41 bis 58). 

Reißiger (Karl Gottlieb) ſ. Muſik. 

Reland (Adrian), gelehrter Orientalift, geboren 1676 in dem Dorfe Ryp in 
Nordholland, geflorben 1718 als Brofeffor zu Utrecht; verfaßte viele Schriften, von 
denen wir nur erwähnen: „Analecta rabbinica etc.“ (Ultraj. 1702); „Dissertationes 
quinqgue de nummis veterum Hebraeorum, qui ab inscriptarum litterarum forma 


Religion. 65 


Semaritse appellanlur“ (ibid. 1709); „De religione muhamedica libri duo“ (ibid. 
1704, 2. Ausg. 1717); „Decas exercitationum philologicarum de vera pronuncia- 
lione nominis Jehovah“ (ibid. 1707); „Palacstina ex ' monumentis veleribus illu- 
strata et charlis geographicis aceuratioribus adornata“ (ibid. 1714, 2 tom. 4.), fein 
belle Werl. Vgl. Hirſching's „Hifkorifch: Kiterarifche® Handbuch berühmter und denke 
würbiger Berfonen”, fortgefegt und herausgegeben von Ernefti, 9. Bd., 1. Abtheil. 
6. 178—82. 

Heligion, ein urfprünglich lateiniſches Wort, über deffen Ableitung geftritten 
wird, bezeichnet daß, durch Vernunft und Gewiſſen vermittelte Bewußtfein ber Ge⸗ 
bundenheit an Gott, das, weil jene beiden den untermenfchlichen Geſchoͤpfen abgehen, 
einen Haupiunterfchied ausmacht zwifchen ihnen und dem Menſchen. Nicht nur im 
leiblichen Sinne richtet einzig und allein der Menſch fein Haupt und feinen Blid 
nach oben. Will man durchaus anflatt des Fremdwortes ein rein deutſches brauchen, 
fo wäre Gottesfurcht oder auch Zrömmigfeit das, welches jenem am meiften ent« 
ſpraͤche. In dem Artikel Gott (Bd. 8 ©. 481 ff), der überhaupt zu dem gegen- 
wirtigen die Ergänzung bildet, und auf den hier zu verweifen ift, wurde gezeigt, daß 
die beiden Verirrungen, in deren fletem Niederhalten die R. befteht, Die übermüthige 
Gottlofigkeit und die fich wegmwerfende Selöfllofigkeit find. Die erflere, die das Ge⸗ 
bundenfein an Gott ausfchließt, Hat zu ihrer Theorie. den Atheismus, die leßtere, die 
das Berußtfein yon diefer Gebundenheit — (von drüdt Trennung aus) — läugnet, 
iR im Pantheismus formülirt. Die wahre Theorie der R., nenne man fie nun Theo» 
logie oder Religionswiſſenſchaft, muß deshalb gleich fehr jene beiden befämpfen und 
widerlegen. Als das Gebundenfein an Bott bat die M. Ihren Grund in Gott, als 
Wiſſen von demfelben ift fle eine Tätigkeit des Menfchen, fe nachdem bie eine oder 
bie andere Seite hervorgehoben wird, erfcheint fle als ein ſich ſelbſt Bezeugen Gottes 
oder als Erhebung zu Bott. Die Ießtere, die mit dem Cultus zufammenfällt, pflegt 
man beſonders in's Auge zu faflen, wenn man von M. fpriht. Dadurch aber iſt ber 
Uebelſtand bervorgetreten, daß man Bott ald ganz unbethetligt bei der MR. angefehen 
bat, etwas, was die leidige Furcht vor Anthropomorphismus noch weiter treiben 
ließ. - Es giebt Viele, die es als eine Berfündigung gegen Bott anfehen, wenn man 
meint, daß Bott an der R. des Menfchen etwas liege; fie denken fi Bott ald einen 
fo vornehmen Seren, dem es ganz gleichgültig ift, was und wie dad Menichenpad 
von ihm denkt. Die Bibel reitet mit einer ſolchen Auffaflung auf das Entſchiedenſte. 
Sie Fennt eine Freude im Himmel, wo der Menſch gläubig wird, fo mie eine Be- 
trübniß des beiligen Geiſtes — (ein Drudfehler im Artikel Bott fagt anflatt deffen 
Bekenntniß), — wo ed nicht gefchieht. In Uebereinflimmung mit ihr bat einer ber 
größten Kirchenlehrer e8 die Ehre Gottes genannt, wenn er vom Menfchen erkannt 
wird, und bat Echelling gelehrt, daß, wie dem edlen Menfchen, fo auch Bott es eine 
Dual fei, verfannt zu werden. Die Sache ift die, daß Bott fi dem Menfchen nicht 
unbezeugt läßt, wie das Licht nicht anders Tann, als leuchten, daß aber dieſes gött- 
liche Licht, ander® ald das finnliche, wo es Teuchtet, fich felber leuchtet, d. h. fich ale 
leuchtend neriß. Wo Bott gemußt wird, da weiß er fich felber, ald von dem Menfchen 
gewußt, denn es kann Gott nichts gefchehen, movon er nicht müßte. Wan kann dek⸗ 
wegen bie R. ein Sichſpiegeln Gottes in dem Bemwußtfein der Menfchen nennen, 
woraus nur Mifverfland oder böfer Wille die Lehre machen kann, daß Gott erſt im 
Benfchen zum Bemußtfein feiner felbft fomme. Wie die, die dieſes thun, an bie 
Stelle Gottes eine traumartig wirkende Naturkraft ſetzen, die ſich im Menfchen die 
ſchläfrigen Augen reibt, fo wieder machen die, welche behaupten, Bott fomme 
ed nicht darauf an, ob die Menfchen ihn erkennen, aus ihm, da fle ja zugeben, daß 
daß ewige Leben in ber Erfenntnig Gottes beſtehe, ein gegen die Seligfeit oder Un⸗ 
feligkeit der Menfchen ganz gleichgäftiges Ungeheuer. Bas Richtige ift, daß der ſich 
felbſt wiſſende Bott ſich auch dem Menfchengeifte zu wiffen thut, und daß er bon 
diefem fo gemußt fein will, wie er felbft fich weiß. Je mehr dies gefchieht, deſto 
mehr ift der Zweck Gottes erreicht, deswegen ift das Erkennen Gottes wirklich, wie 
es ja aud genannt wird, ein Gottesdienfl: es wird Gott vom Menfchen der Dienft 
geleiflet, daß ber Iehtere den Zweck Gottes realifiren bülft. Zwiſchen dem gar nicht 

5 


Bagıner, Staats u. Sefeflfch.-Ler. XY. 


66 Religion, 


Erkennen und dem ganz Erkennen liegen in ber Mitte bie vielen Grade des Ver⸗ 
fennend und SHalberfennend, die, wenn man daß ganz Erfanntwerden Gottes mit 
einer Spiegelung in einem Elaren und eben gefähliffenen Spiegel vergleicht, Spiegelung 
in unregelmäßig geichliffenen und fledigen Spiegeln genannt werben kann. Das 
Refultat derfelben find die verfchiedenen Zerrbilder und unvollſtaͤndigen Bilder, melde 
uns die Ootteöbegriffe der verfchiedenen Religionen barbieten. In feiner derfelben 
hat ſich Bott unbezeugt gelaflen, in allen flieht er daher fein eigenes Antlig, wie es 
der Spiegel des menſchlichen Bewußtfeins ihm wiebergiebt. Mit der Freude aber des 
Erfanntwerbens mifcht ſich die Trauer des Verkanntſeins, fo lange als die Schranfen 
der Nationalität die Form, der Individualität die Klarheit jened Spiegels entftellen. 
Nur in dem, der über diefen beiden Schranken fleht, flieht ſich Bott fo erkannt, mie 
er ich ſelbſt erkennt. Ein foldyer ift der Ehrift; der, welcher ganz Ehrift if und 
darum nicht ein, fondern der Ehrift heißt, erkennt Gott ganz adäquat, die Uebrigen 
-nur fo weit, al8 fie diefen Einen in fich wiederholen, Geftalt in fid gewinnen laflen. 
— Da in allen Religionen, welche (national und individuell) befchränfte Auffaffungen 
Gottes enthalten, die Spiegelung Gottes entflellt ift, fo if darin Erſcheinung Gottes 
und Verborgenheit gemifcht, und man Hat ganz Recht, obgleich fih in ihnen allen 
Gott bezeugt, dennoch nur von der einen, der chrifllicden, zu fagen, daß Gott in ihr 
offenbar geworden fei oder ſich geoffenbart babe. Unter Offenbarung iſt doc bie 
Megation jeder Verborgenheit zu verſtehen, und darum wäre es nicht paflend, wenn 
man, mo ein Reſt von Berborgenbeit blieb, dies Wort brauchen wollte. Hoͤchſtens 
Fönnte man fagen, in den übrigen Neliglonen will Gott fi offenbar machen, in der 
chriſtlichen hat er fich geoffenbart. Mit dem Begriffe der Offenbarung fällt nahezu 
der der Wahrheit zuſammen, Demnach wird man nur die chriſtliche M. die wahre 
nennen dürfen. Daraud folgt aber durchaus nicht, daß die politifche Anflcht berech⸗ 
tigt fei, nach weldyer alle Meltgionen außer der chriftlichen eitel Lüge enthalten. Biel 
mehr, wie Gott jelbft trog alles Verkanntſeins mehr Freude bat an einer niedrig 
ftebenden R. als an der Abweſenheit aller, gerade fo wird auch der Chrift fich zu dem 
frommen Juden oder Muhammedaner mehr angezogen fühlen als zu dem, der gar Feiner 
religiöfen Regung fähig if. Die Berechtigung dieſes Gefühle meift die Religions» 
philoſophie (f. d. Art.) nah. Bisher iſt von der R. nur geſprochen, wie fte ein 
Zuſtand des Menſchen if. Dies ift fie auch vor Allem, oder als folcher beginnt fie. 
Jeder Religionsſtifter bringt zunächft in feinen Anhängern einen anderen Lebentzu- 
ftand hervor und auch das Evangelium erweift ſich als die Kraft, ſelig zu machen. 
Aber fhon auf fehr niedrigen Stufen der Meligion Fommt der Menfch dazu, über 
diefen Zuſtand zu refleetiren und ſich das, was ihn erfaßt Hat und in ihm lebt, ob⸗ 
jectiv zu machen. Geſchieht dies fo, daß dieſer Inhalt zu wirklicher beſtimmter Vor⸗ 
ſtellung wird, dann nennt man den fo objectivirten Inhalt des religiöſen Bewußt⸗ 
feind: Lehre, den Religiond-Inhalt nun oder ihre Lehre bezeichnet man gleichfalls mit 
dem Namen R.; fo wenn man fagt, die chriflliche Neligion ermahne zur Feindes⸗ 
liebe u. f. w. Das Wort bat aljo neben feiner urfprünglichen fubjectiven auch biefe 
objective Bedeutung bekommen, wird eben ſowohl in formellem als in materiellem 
Sinne verflanden. Nicht zufällig, denn daß der Menich feines Verhältniffes zu Gott 
ganz anders ſich bewußt ifl, wo er feinen Bott als dreieinig weiß, ald dort, mo feine 
Religionslehre abflract monotheiftifch, das ift leicht erflärlih. Ein einfeltiges Betonen 
der einen ober der anderen Seite hat in der wiflenfchaftlichen Betrachtung der N. die 
einfeitigen Theorieen der Gefühlötheologie mit ihrer Verachtung der Blaubendlehren 
und wieder ded Orthodoxismus, der in dem Befig der reinen Lehre meinte die Religion 
zu haben, bervortreten laſſen. Die Religion iſt beides, und Die hoͤchſte Religion ver- 
langt. einen Glauben, der weder inhaltölofe Leberzeugungstreue if, noch auch ein 
äAußerliches Wiſſen von Chriſti Werk, fondern Ueberzeugung davon, daß Chriſti Ver- 
dienſt unfer iſt. Bei den Erörterungen über die verjchiebenen Religionen ift auch der 
Unterfchteb von rationaler oder natürlicher und von Hiftorifcher oder pofltiver R. zur 
Sprache gefonmen. Wie in der Wirklichkeit Fein Staat vorkommt, der nicht diefer 
beftimmte, Eein Volk, das nicht ein gewifles beſtimmtes Bolt wäre, fo giebt es Feine 
einzige R., welche nicht einen biftorifchen Anfnüpfungspunft an einen Stifter Hätte 


Keligiondfreiheit. 67 


und alſo poſitiv wäre; und wieder, wenn jede R. eine, wenn auch noch fo entſtellte 
Akfpiegelung des .Botteßantliged war, fo mangelt es Feiner ganz an Wahrheit und 
Bernänftigkeit, fie iſt alfo rational. Zum Pofltiven bildet den Gegenſatz nicht Das 
Rationale, ſondern das Negative, und in der That pflegen die, welche eine Religions- 
lehre aufzuftellen verfuchen, bie fich von allem Poſitiven frei erhält, bei bloßen Nega- 
tionen anzulangen. Daß diefe Abftraction von allem Poſttiven fich dabet natürliche 
A. zu nennen liebt, bat etwas Seltfames, da fie durchweg das Product einer künſt⸗ 
lichen, ja verfünftelten Gultur if. 

Religionöfreiheit ift ein Wort, bei deffen Gebrauch man fehr oft zweifelhaft 
wird, ob es gebildet ift, wie Rede⸗ oder wis Steuerfreibeit, d. h. ob Darunter Frei⸗ 
heit für die Religion oder von ihr verflanden wird. Daß die Mehrzahl unter denen, 
welche fie fordern und preifen, dad Letztere thun, möchte kaum eine Uebertreibung 
fin. Dennoch wird als die eigentliche Bedeutung des Wortes gelten müflen: das 
ungeflörte Recht, feine eignen religidfen Ueberzeugungen zu haben. Zunähft feheint 
8 fi bamit wie mit der Gedankenfreiheit zu verhalten, die, weil man Gedanken 
nicht verhindern kann, etwas Selbſtverſtaͤndliches fei, aber gerade wie bei diefer man 
viel weniger an das Mecht zu denken, ald vielmehr an das Recht, oft recht gedankenlos 
zu fprecden und zu fchreiben, denkt, eben fo bei der M. ganz befonder8 an Die unge» 
Rörte Aeußerung und Ausübung deflen, was den eignen religidfen Ueberzeugungen 
gemäß iſt. Es wäre eracter, wenn man Preibeit des Gottesdienſtes fagte und es 
eine Bedruͤckung gotteödlenftlicher Freiheit nennte, wenn 5. B. dem Juden irgendwo 
verboten würde, den Sabbath, dem GChriften den Sonntag zu feleın; der Sprachge⸗ 
branch aber ift nicht fo exact und man verfleht einmal unter R. die freis ober unges 
ſtoͤrte Religionsübung. Ja man ift noch weiter gegangen, man bat angefangen, 
unter Religionsfreiheit denjenigen Zufland zu verflehen, bei dem es für bie flaatliche 
and bürgerliche Stellung ganz indifferent ifl, welcher Religion Einer if. Das Ver⸗ 
ſchmelzen von fo verfchtebenen Begriffen bat nun die üble Folge gehabt, daß man 
ohne Weitereö was von dem einen gilt auf die anderen angewandt hat, und, weil es 
allerdings widerfinnig if, Einem feine religidfen Ueberzeugungen zu verbieten, es 
auch widerfinnig nennt, daß ein Jude nicht Kirchenpatron werden dürfe (Dagegen 
daf kein Chriſt das Beer'ſche Stipendium befommen Eann, darüber wird nicht gefchrieen). 
Wie zu einer gründlichen Unterfuhung über N. nöthig iſt, daß man fireng zwifchen 
jenen drei Bedeutungen des Worts, fo auch daß man fle von der Freiheit der Con⸗ 
tefflonen unterfcheide; Confeſſtonen find Unterfchiede innerhalb der einen, chriftlichen 
Religion, und zu fagen, von ihnen gelte Alles, mas von Weligionen gilt, iſt gerade 
fo falſch, als wenn man fagen mollte, was von dem Unterſchiede von Juden und 
Chriſten gilt, ganz daſſelbe gilt von dem linterfchiebe eines Schleiermacherlaners und 
eined Anbängers von Neander. Nur in Einigem gleichen fich die Verhältniffe, in 
vielem Anderen geben fle auseinander. Nimmt man nun das Wort AR. in dem zulegt 
angeführten Sinne, fo geht die Forderung derfelben von der Vorausſetzung aus, ent- 
weder daß die Meligion die Geflnnung gar nicht berühre, oder daß der Staat und 
die bürgerliche Gefellfchaft wie eine Actiengefellichaft gar nicht dabei intereſſtrt fei, 
melde Geſinnung die Glieder dieſer Gemeinfchaften Haben. Während man es dulbet, 
daß der in's Land kommende Fremde ſich durch einen Paß legitimirt, und jeden 
Banquier für einen Thoren balten würde, ver einen Caſſirer anftellte, „ohne fich durch 
Referenzen von feiner Ehrlichkeit überzeugt zu haben, nennt man e8 Tyrannei, wenn 
ber Staat, ehe er Einem bürgerliche Rechte einräumt, ihn fragt: „biſt du au 
ſo gefinnt, daß du meine Intereſſen wahrnehmen wirſt?“ Die Antwort liegt in ber 
Erklärung darüber, welches der eigentliche Mittelpunkt feiner Geflnnung if. Dies iſt 
die Religion, denn wie Einer zu feinem Gotte fteht, fo ſteht er überhaupt. Sagt 
man, der Staat folle anflatt einer ſolchen Erklärung erſt abwarten, ob der, dem er 
Rechte giebt, fie mißbraucht, fo gilt Die Antwort, die der eben erwähnte Banquier auf 
eine folcde Zumuthung geben wird, auch bier. Wendet man aber ein, ja, wie weiß 
der Staat, 05 die feierlige Erklärung: dies iſt meine Geflnnung, nicht eine Lüge iſt, 
10 iſt zu antworten: Died zu präfumiren hat der Staat kein Recht, Denn quisquis 
praesumatur bonus u. f. w. Hierin liegt nun auch die Entfcheinung über ben Fall, 

5* 


68 Religionsfriede. Religionsphiloſophie. 


in dem allein in Europa (mit Ausnahme Rußlands) die Forderung der R. praktiſche 
Bedeutung Hat, über die völlige Gleichſtellung der Juden. Da dieſe als ihre Ueber⸗ 
zeugung ausſprechen, daß fie ein exrceptionelles Volk feien, Fremdlinge, die ihe Oſter⸗ 
lamm mit Reiſeſchuhen efien, und nicht mit und efjen und beten, d. 5. Freud und 
Leid teilen wollen, und der Staat nicht vorausfegen darf, daß fie ſolche Schelme 
find, daß fie für ihre Ueberzeugung ausgeben, was dies nicht if, fo muß er fle be» 
bandeln, wie fle nad ihrer Ueberzeugung find, als Fremdlinge und als Ausnahmen. 
(Würde Jemand als feine Religion befennen, was jedes Staatdleben unmdgli macht, 
fo würde ein Solder vom Staate eben fo wenig gebuldet werden, wie Einer ber 
durh Wort und That feine Abficht verräth, ein Haus in Brand zu fleden, In diefem.) 
Wird Das Wort MR. in dem zweiten oben angeführten Sinne genommen, fo daß dar» 
unter ungeftörte Religionsübung verflanden wird, fo ift Died einer ber Punkte, mo dad 
Verbältniß der Religionen fih in dem zwiſchen verfchledenen Gonfelflonen nahezu 
wiederholt, und die Korderung, in feinen Andachtsübungen nicht geflört zu werben, 
von dem in einem chriftlichen Staate einmal gebuldeten Juden daffelbe Gewicht hat, 
wie das eines Proteftanten in einem Fatholifchen Staate oder umgefehrt. Gewöhnlich 
aber pflegen in diefem Balle die Fordernden zu vergefien, daß auch die, an die fie die 
Bitte ſtellen, ein Recht haben zu fordern, daß ihre Andacht nicht geftört werde. Duldet 
nan Juden in einem Staate, fo muß man auch dulden, daß jle den Sabbath feiern; 
man bat aber ein Recht zu verlangen, daß fle nicht durch Gefchäftsbetrieb am Sonn» 
tag die Andacht der Chriften flören. Gewiß tft es eine Verlegung der R., wenn prote 
ftantifche Soldaten genöthigt werden, an dem Frohnleichnamsfeſt Theil zu nehmen und 
die Kniee zu beugen; wenn aber Proteflanten, die nicht dahin gehdren, bei dem Feſt⸗ 
zuge flehen oder bebedt bleiben, fo find fle ed, melde die R. verlegen. In biefer 
Hinficht find die Engländer fat eben fo ſehr Feinde der R., als fie laut nach der⸗ 
felben fchreien. Gleiches zeigt fich bei denjenigen Juden und Judengenofien, welde in 
einem Athem Gmancipation der Juden und Bertreibung der Iefuiten fordern. Dieſer 
R., die wirklich eine wäre, die der Steuerfreiheit gleicht, fcheinen fi in Folge fran« 
zoͤſiſcher Preſſion auch die Schweizer anzunäbern. Wie überall die Uebergangszeiten 
traurige find, fo auch die, wo ein Land aus dem unfchuldigen Zuftande, wo nur eine 
Confeſſton alle Einwohner bindet (mie in Tyrol und Schweden) eben erft berauätritt, 
und noch nicht veif ift für eine vernünftige R. Wie diefe zu denken, darüber f. d. 
Art. Toleranz. 

Neligionöfriede if der Name der Friedensfchlüffe, die zwifchen den beutfchen 
proteftantifchen Ständen und dem Kaifer abgeichlofien find. Der erfle iſt der Nürn- 
berger R., unterzeichnet von den proteflantifchen Ständen am 23. Juli, von dem 
Kaifer in Negendburg am 2. Aug. 1532. Ueber den Augsburger R. ſiehe dieſen 
Artikel, ferner die Artikel Paſſauer Vertrag und Diorik von Sachſen. Den Abſchluß 
diefer Sriedensichlüffe bildet der Weſtfäliſche Friede (f. d. Art.) 

Religionsphiloſophie ift der Teil der Philoſophie, welcher, wie die Mechts⸗ 
philofophie das Recht, die Kunftpbilofophie die Kunft, fo die Meligion zu ihrem Ges 
genftande bat, zu der fie ſich alfo verhält wie die Biologie zum Leben. Daß der 
Name vor den legten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts nicht gebraͤuchlich, if 
ganz erflärlih, Bis dahin war es nur der Inhalt der Religion, Bott, der für bie 
Philoſophen Intereffe Hatte, und ihre Betrachtungen darüber nannten fie eben de&halb 
rationelle oder auch natürliche Theologie. Erſt durch die fubjective Richtung, welche 
die Speculation im achtzehnten Jahrhundert nahm, wurde das Wiffen von Gott eine 
wichtige, Vielen fogar die Hauptfacdhe, fo daß nur es, und nicht nur fein Gegenfland, 
Object der Philoſophie und fle alfo, anftatt der biöherigen Theologie, zur Pifteologie, 
wie Krug die R. nannte, ward. Dabei brachte die, namentlich feit Kant, überall 
eingebürgerte Unterſcheidung zwifchen dem Gewußten und dem An»fih bald zu ber 
Anfiht, Daß die AR. nur enthalte, wie wir Gott fallen, durchaus aber nicht lehre, 
wie Gott wirklih oder an fich fei. Dan kann jene fublertive Wendung der Philo⸗ 
fophie gelten laffen, ohne zu diefem Hyperſubjectiviomus fortzugeben. Man kann zus 
geben, daß die A. nur die R., alfo unfer Wiffen von Gott, beiradyte, ohne es doch 
als eine Vermeſſenheit anzufehen, wenn biefelbe früßer rationale Theologie fein wollte; 


Religionsphiloſophie. 69 


Betrachtet nämlich Die R., wie Gott gewußt, und nicht, wie er nur angefehen wird, 
und tft fle weiter die Philoſophie dieſes Gewußtwerdens, d. h. weift fie. darin Ver⸗ 
nunft und Nothwendigkeit nah, fo if fie zugleich eine Lehre davon, mie Gott iſt, 
denn wie etrca® gewußt wird und nothwendiger Weiſe gedacht werden muß, fo iſt e®. 
Die Aufgabe der R. kann alfo fo firirt werden: Sie bat Vernunft in der Religion 
nachzuweiſen, oder fle bat die Meligion zu rechtfertigen. In dem Artikel Religion 
(f. d.) iſt gezeigt worden, mie es denkbar if, daß die Religion als eine Vielheit von 
Religionen erſcheint. Zur Vollftändigkeit der Unterfuchung darüber, ob und mie Ver⸗ 
aunft in der Meligion ſich zeigt, gehört daher auch die Beantwortung ber Brage, ob 
und wieweit die verfchiedenen Meligionen Vernunft enthalten. Es if daher erflärlich, 
daß Schleiermacher der M. die Aufgabe ftellt, eine comparative Meligionslehre zu fein, 
and wenn alfe wahren Meligionspbilofophen von den Gnoflifern an bis auf Hegel 
zugleich eine rationale Theologie und eine comparat:ve Meligiondlehre gegeben, d. 5. 
über die Stellung der verfchiedenen Religionen zu einander, geurtbeilt haben. Knüpft 
man an das im Artifel Religion gebrauchte Bild an und nennt die verfchiedenen 
Religionen verzertte Spiegelbilder des Gottedantliged, fo wird der M. eine Aufgabe 
zufallen, die wir vergleichen können damit, daß durch unregelmäßige Spiegel entflan- 
dene Zerrbilder durch entfprechend gefchliffene zweite Spiegel auf das Urbild zurüd« 
geführt werden. Ohne Bild: die R. wird zu zeigen haben, in wieweit ſich in 
den einzelnen Religionen die Idee der Religion verwirklicht bat. Sie kann dabei 
kaum zu einem andern Refultate kommen, als daß die verfchledenen Meligionen eine 
Gtafenfolge bilden, in welcher die am niebrigfien fleht, die nur eine Seite, die am 
höchſten, die Alles realifirt bat, was im Begriff der Religion liegt. Um dies nach⸗ 
zumweifen, wird fle zuerft die Mechtfertigung der Meligton überhaupt burch die Auf⸗ 
ſtellung des Begriffs der Religlon geben müffen, dann zeigen, wie diefer Begriff mehr 
sder minder realifirt in den verfchiedenen Meligionen und entgegentritt, endlich aber 
bie Frage beantworten, ob, und wenn, in mwelder Religion diefer Begriff vollfländig 
realifirt iſt. Nur von einer folchen Nellgion wird die R. dies behaupten bürfen, 
welche ihre vornehme Stellung über allen anderen dadurch bemeifl, daß, mad die an« 
deren Beligionen lehren, von ihr auch, aber nicht allein und eben dedwegen ganz 
auderd gelehrt wird. (Man Tönnte dies auch fo ausdrüden: weldhe In Stand fept, 
gegen andere Meligionen Toleranz (f. d. Art.) zu üben; wenn unter Toleranz 
etwad Butes verfianden wird, fo Fann fle nicht in der Duldung der Lüge, fondern 
nur in der Anerkennung partieller Berechtigung befteben.) Will daher die R., wozu 
eine richtige gewiß kommen wird, in der chrifilichen Meligion die wahre und ideale 
Religion anerkennen, fo muß fle nicht vor der Aufgabe zurüdfchreden, darzuthun, daß 
8 dem Ehriften möglich ift, felbft in dem Thun des Fetiſchdieners Spuren deffen zu 
erkennen, was Ihm jelbft das Hoöoͤchſte iſt, und In der perfifchen Lehre vom Ahriman 
eine Ahnung davon, daß Gott böfe ift, fiber das Boͤſe nämlih. Mit einem Worte, 
niht nur von der jüdiſchen, fondern von jeder Religion muß diejenige die Erfüllung 
fein, welcher die hoͤchſte Stelle foll angeniefen werden. Uus dem bisher Gefagten 
folgt, daB die R. die Reihe der verfchiedenen Meltgionen mit der niebrigft flehenden 
beginnen muß. Dies Hat Bedenken erregt, weil doch der paradieflfche Zuftand der 
erſte ſei. Die diefes Bedenken laut merben lafſen, vergeffen, daß e8 für die R. eine 
ganz fremde Frage ift, welche der Religionen im Berlauf der Zeit die erfle geweſen 
und wie fie auf einander gefolgt fein. Sie will keine Zeit, fondern nur eine Rang⸗ 
Ordnung firiren. Dann aber, daß es fehr fraglich iſt, ob von Meligion bei einem 
andern als bei dem gefallenen Menſchen die Mede fein kann. In der Ehrfurcht vor 
Gott Liegt mehr als Die Furcht vor Ihm, aber nur weil darin die Furcht auch liegt; 


vor Gott fi zu fürdgten aber hat der Menfch erft gelernt, als er gefallen war, und 


wenn die wahre Religion Liebe ift, diefe aber die Furcht austreibt, fo muß ermidert 
werden: außtreißen fann man nur was da iſt, alfo ift auch bier die Furcht, d. h. der 
Fall, die Vorbedingung. Es iſt ganz richtig, wenn man das Verhältniß bes nicht 
gefallenen Menfchen zu Bott (mie Schelling z. B. als ein DBerzüdtfein in Gott) mit 
andern Worten bezeichnet als unfer gegenwärtiged Gebundenfein an ihn. Wenn in 
ber Religion zwei Momente zu unterfcheiden waren, der Inhalt bed religlöfen Der 


PR 


10 Reliquien. Nellſtab (Heinrich Friedrich Ludwig). 


wußtſeins und das Wiſſen von ihm, ſo wird die R. nachzuweiſen haben, wie in der 
Stufenfolge der Religionen beide Momente ſich immer höher entwickeln, und zeigen müſſen, daß 
Vernunft darin liegt, daß auf dem Standpunft des Hellenismus die Religion zu ihrem Inhalte 
bie den irdifchen Menfchen beberrichennen flttliyen Mächte, zu ihrer Form bie dich⸗ 
tende Phantafle Hat, während in der chriftlichen nicht zufällig mit dem Begriff des 
Gottes, der die Berföhnung ift, das Leberzeugtfein davon als Form des religiöfen 
Bemwußtfeind verbunden ifl. Damit vermag auch die R. zu erklären, warum bei biefer 
böchften Form der Neligton der Begriff des Bekenntniſſes und der des Irrglaubens 
eine Wichtigkeit befommt, die er in Eeiner Meligton bat, und Daß die boshafte Bemer⸗ 
fung Voltaire's, daß es nur bei den Ehriften Inquifitionen gegeben Habe, einen Punkt 
berührt, der mit dem hoͤchſten Vorzuge der hriftlichen Religion zufammenhängt. Iſt 
doch überall die heilfamfle Arznei die, welche als Gift wirken Fann. Endlich aber 
wird die R. in diefem ihrem legten Theile, wo Diele, die unter Chriftentbum nur Die 
chriſtliche Meligion mit Ausfchluß aller anderen Erfcheinungen des chriſtlichen Geiſtes 
verfiehen, fte PHilofophie des Chriſtenthums nennen, zeigen, wie es denkbar ift, daß 
auf dem Boden der gleihen Religion Unterfchiede der Gonfefflon entſtehen fönnen, 
die, auch wo fie fi befämpfen, der Gemeinfchaft bemußt bleiben und mit einander 
darin übereinftimmen, daß e8 eine Impertinenz iſt, wenn die yon ihrer anderen „Gon« , 
fefiton* fprechen wollen, deren moderner Apoftel, Moſes Mendelsſohn, gerade dies als 
den Borzug feiner Religion preift, daß jle keinen Slauben an ewige Wahrheiten pre- 
dige, "fondern bloß Halten des Geſetzes. Mit Recht hatte er gelächelt über den Aus⸗ 
druck jüdische Confeſſton, aber fehmerzlich, weil es ihm gezeigt hatte, wie infleirt feine 
Religiondgenofien von den Anflchten unferer Glaubensgenoſſen find. 

Helignien, von relinquere, hinterlaffen, nannte man bie Reſte der Körper ver- 
ftorbener Heiligen, oder Gegenflände, melde durch ihre ‚Berührung geweiht waren, 
namentlich Knochen, Haare, Blutstropfen, Kleivungsftüde, Marterwerfzeuge u. f. w. 
Seit dem 11. Jahrhundert, als die Wallfahrten nach Jeruſalem anfingen häufiger zu 
werden, vermehrten ſich auch die Meliquien; denn jeder zurückkehrende Pilger brachte 
irgend etwas mit, wovon er behauptete, daß es ehemals entweder Chriſto felbft oder 
einem feiner Jünger angehört babe, namentlich eine ſehr große Anzahl angeblicher 
Stüde des Kreuzes, an dem Chriſtus geflorben. Der Bells diefer R. wurde als rin 
Schußmittel gegen Gefahren jeder Art angefehen. Beſonders aber erfchtenen Kirchen 
und Klöfter nicht als wohl ausgeſtattet, wenn fle nicht einige R. wo möglih von 
ihren Schußheiligen, aufzumeifen vermochten. Die chriftlichen Briefter im Orient be» 
nusten diefen Glauben, um den abendländifchen Pilgern angebliche Reliquien um bobe 
Preife zu verkaufen. Auch abendländifche, zumal ktalienifche Kaufleute betrieben einen 
ſchwungreichen Handel mit R. Dan bediente ſich ihrer unter Anderem dazu, um 
Eidesleiftungen feterlicher zu machen. Die gewöhnlich reich verzierten Kaͤſtchen, in 
denen man ſte aufbemahrte, nannte man Heliquiarien. 

Aellftab (Heinrich Friedrich Ludwig), Schriftfleller, geboren am 13. April 
1799 zu Berlin, lieferte ſchon 1811 für feinen Vater, einen Muſikalienhaͤndler, der 
die muflfalifchen Ereigniffe und Erfcheinungen Berlins in der Voſſiſchen Zeitung bes 
urtbeilte, für dieſe Zeitung eine Mecenflon über einen Tafchenfpieler. Seit 1826 
gehörte M. diefer Zeitung ununterbrochen bis zu feinem in der Nacht vom 27. auf 
den 28. November 1860 erfolgten Tode an. Durch diefe Thätigkeit (die vielberufe- 
nen Weihnachtöwanderungen) ift er befonders befannt geworben. R. batte vor dem 
17. Lebensjahre die Schule verlaffen, war bei der Artillerie eingetreten und 1818 
zum Offizier befördert worden, aber ſchon 1821 fchied er aud dem Militärdienfte 
aus, um, wie er in feiner Autobiographie fagt, ſich zum Lehrer der Aeſthetik an ber 
Berliner Univerfitit vorzubereiten. Bon nun an entfaltete er, nachdem er ſchon wäh. 
rend feiner militärifhen Laufbahn Lieder für Ludwig Berger gebichtet hatte, eine 
wahrhafte Schnellfchreiberel. Seine Angriffe gegen Spontini und feine fatyrifche 
Erzählung „Henriette, die fchöne Sängerin” (1827), gegen die berühmte Sängerin 
Sontag und das damalige Treiben Berlins gerichtet, zogen ihm zwei Mal Befängniß- 
firafe zu. Die übrigen Schriften R.'s, denen es größtentheild an tieferem Gehalt 
fehlt, find: „Griechenlands Morgenröthe, in neun Gedichten“ (Heidelberg 1822); 


Rembrandt von Hy (Bau). 1 


„Karl der Kühne, Trauerfpiel in 5 Aufzügen“ (Berlin 1824); die für die Bühne 
gedichteten Trauerfpiele: „die Benetianer" und „Eugen Aram” blieben ungebrudt; 
„Sagen und romantifche Erzählungen” (3 Bochn., Berlin 1825 ff.); die Ueberfegung 
des Walter Scott’schen Werkes „Lieber das Leben und die Werke der berühmtieften 
englifchen Romandichter” (3 Bde, Berlin 1826); die Romane „Algier und Paris“ 
(3 Bde, Berlin 1830, 2. Aufl., 2 Bde., Leipzig 1846); „1812* (4 Bde., Leipzig 
‚1834, 5. QAnfl. 1860) und „drei Sabre von Dreißigen” (5 Bde., 2. Aufl. 1858); 
„Zwei Gefprädhe mit Sr. Majeſtät dem Könige Friedrich Wilhelm dem Vierten (am 
23. November 1847 und am 19. März 1848) in gefhichtlihen Rahmen gefaßt“ 
(Berlin 1849); „Fruchtſtücke“ (2 Bde, Berlin 1860); „Aus meinem Leben” (2 Bde., 
Berlia 1861), welche Autobiographie bie zum Jahre 1825 reicht. Auch zahlreiche 
Dperhterte, wie z. B. zu Bernhard Klein’ Oper „Dido“ und zu Meyerbeer’s „Beld- 
lager in Schleſien“ wurden von R. verfaßt. Die meiften diefer Schriften nebft zahl» 
reichen andern aus den Bächern der Novelliſtik, Reiſebeſchreibung ıc. fiellte R. in 
feinen „ Sefamwelten Schriften” (12 Bde, Leipzig 1843—1844) zufammen, denen ſich 
eine „Neue Folge“ (8 Bde., Leipzig 1846—1848) und „Garten und Wald, Nor 
vellen und vermijchte Schriften" (4 Bde, Leipzig 1854) anfchloffen. Eine neue 
wohlfeile Ausgabe feiner „ Gefammelten Schriften” (Leipzig 1860—1861) umfapt 24 
Bände. — Die von ihm gefchriebene muflkalifche Zeitung „Iris“ (12 Jahrgänge in 
12 Bänden) fand wegen der darin Tundgegebenen PBartellicykeit, von ber man M. 
auch fouft nicht freifprechen kann, Bein großes PBublicum. 

Nembrandt von Ryan (Paul), unter den Meiftern der hollänbifchen Malerfchule 
einer Der größten und einflußreichfien und auch als Kupferflecher ausgezeichnet, wurde 
am 15. Juni 1606 auf der väterlichen, jeßt nach ihm genannten , Rembrandta⸗Mühle“ 
in der Nähe von Leyden geboren. Sein Vater beabfichtigte, ihm eine gelehrte Erzie⸗ 
bung zu geben, und brachte ihn auf die lateinifche Schule in Leyden; allein der junge 
R. bekam das Stubenfigen und Studiren bald überbrüffig, verfiel dem Herumtreiben 
nicht immer in guter Gefellfchaft und wäre vielleicht an Leib und Seele untergegan- 
gen, wenn ihn die Liebhaberei zus Malerei nicht in beffere Wege geleitet hätte, Eine 
eigentlihe Schule der Malerei bat R. nicht durchgemacht, obgleih er bei Jakob 
v. Schwanenburg, Pinas und Georg van Schooten Unterricht genommen haben fol, 
und namentlich blieb ihm die Theorie der Farbenlehre ganz fremd. Um deſto wun⸗ 
derbarer erfcheint fein immenfed Talent, welches fich fo bald und fo eigenthümlich ent- 
widelte, beſonders in dem Techniſchen der Malerei und im Golorit, in welch letzterem 
er bis jeht noch von keinem andern Maler erreicht worden ifl. „Nicht Schritt vor Schritt 
näherte ih NR. dem Tempel des Ruhms“, fagt ein ausgezeichneter Kunfthiftoriker über 
isn fo treffend, „sondern er flahl den Schlüfel und trat in's Heiligtum." Schon 
feine erften Bilder befunden die Wahrheit Diefes Ausſpruchs; das Wahrhaft-Schöne 
feines Styls, die treue Auffaffung der Natur und fein magifches Helldunkel, finden’ 
fh bier Schon in ſchönſter Vollendung, wie in feinen fpätern Bilder, aber ebenfo feine 
Fehler, die er niemals ablegte, ein Mangel an Formenfchönheit und eine Incorrectheit 
in der Zeichnung, bie daB Fehlen jever Kunfibildung beweiſt. Er bat nicht eine 
edle Geſtalt geſchaffen, ihn bat nicht das Beifpeil der großen Meifter der römifchen 
und venetianifchen Schule auf das Studium und das Beiſpiel der Antike bingebrängt, 
welches in der claſſiſchen Reinheit und Schönheit der Form culminirte; aber Alles, 
was er zeichnete, war Leben und Bewegung, zwar ohne Adel und Würde, doc von 
einer Naturtreue, Die unmillfürlich für fih einnahm und alle feine Fehler vergefien 
ließ. R. Hat auch beinahe ausfchlieglih nach der Natur gemalt, fein Atelier war 
die väterliche Mühle, feine Studien die Bauern, wenn fie fi Abends um dad hadı- 
lodernde Herdfeuer verfammelten, und anf feinen Streifersien fammelte er aus %eld 
und Wald und aus allen Bauernfchänfen die Skizzen, weldye er zu feinen Bildern 
verwendete. Nachdem R. fidh 1628 mit einer Bäuerin aus Randsdorp verbeirathet, 
lieg er fih 1630 in Amfterdam nieber, wo er au im Winter 1664 flard. Schon 
nad; feinen erfien Bildern, welche durch die originelle Art der Darftellung und des 
Sujets Aufjehen machten, war fein Muf begründet, und er wurde mit Beftellungen 
Überhänft, Dies veranlaßte ihn, eine Schule zu sröffnen, und in Ihr bildeten ſich eine 


12 Hemigind von Rheims. 


Anzahl tüchtiger Meifter, von denen Ferdinand Bol, Dow, Droft van Terlee und Ko⸗ 
nink die bedeutenden find. R. bielt fireng darauf, daß biefe feine Schüler in knech⸗ 
tifher Nachahmung felbft feiner Fehler in feine Bußtapfen traten; aber das 
geſchah nicht etwa aus Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit feines Styls und 
feiner Schule, fondern weil der Habfücdtige Meifter dadurch in den Gtand 
gefegt wurde, die Arbeiten feiner Schüler für feine eigenen außzugeben und 
befir zu verwertben. Daher erklärt fih auch die zabllofe Mafle -von Ge⸗ 
mälden und Zeichnungen aller Art, welde als Werke feiner Hand gelten, von 
denen ed aber die Wenigften find. Auch nod in anderer Weiſe zeigte ſich der 
fhmugige Geiz und der gemeine Charakter R.'s, beſonders aber dadurch, daß er im 
Sabre 1656 feheinbar bankerottirte, um von feinen Gläubigern einen Nachlaß ihrer 
Forderungen zu erzwingen und feine Gönner zu veranlaffen, ihm in der nothwendig 
gewordenen Öffentlichen Berfleigerung feiner Bilder durch Herauftreiben der Breife eine 
Unterflägung zu gewähren. Es ift daher felbfiverftändlih, dag R. nicht gerade hoch 
in Ehren in feinem Baterlande fland und daß fein Auf durch den Umgang mit ger 
meiner Gefellichaft, deren Ausfchweifungen er oft genug tbeilte, nicht beſſer fein konnte. 
Indeß iſt es falſch, wenn erzählt wird, R. fel wegen Vergehen gegen die gute Sitte 
oder, um drängenden Släubigern zu entfliehen, im Jahre 1669 nad Schweden ge- 
gangen, wo er unerkannt geftorben fel. Sein Tod erfolgte ſchon fünf Jahre früher 
zu Amſterdam, und fein reicher Nachlaß ftraft jene andere Behauptung von feinem 
Bermögensverfalle, der fich Überdies bei feinem Gelze und feinen bedeutenden Ein- 
nahmen ſchwer erflären Tieße, ausprädlich Lügen. Bon feinen eigenen @emälden find 
bie berühmteften: der Naub des Ganymed (in der Bemälde-Balerie in Dresden), der 
Aufbruch der Amſterdamer Bürgermiliz (im Mufeum zu UAmfterdam), des Profefior 
Tulpius anatomifche VBorlefung (im Föniglihen Mufeum des Haag), Mofes, die Geſetz⸗ 
tafeln haltend (im Berliner Muſeum), die Familie des Tobias und der Engel (In der 
Galerie des Louvre), das Opfer des Abraham (in der Balerie der Eremitage in Pe⸗ 
teröburg), Herzog Adolf von Geldern, felnen Water mit dem Tode bedrohend (in ber 
Berliner Galerie), der fegnende Jacob (in der Kaſſeler Gemälde-Sammlung) u. f. w. 
Unter feinen zabllofen Bortraits nimmt fein eigenes Bild niß durch feine munder- 
bare Farbenpracht die erſte Stelle ein. Es foll in 24 Originalen vorhanden fein; 
doch hat man guten Grund, den größten Theil für Copieen von feiner Schüler Hand 
zu balten. Unter feinen Rabirungen, deren Abbrüde fehr geſucht find, nehmen bie 
erfte Stelle ein: die Kreuz - Abnahme, ein Ecce Homo, die Landjchaft mit den Drei 
Bäumen und die Portraitd des Bürgermeifter Sir, des Advocaten Tolling, des Dr. 
Ephraim Bonus und des Goldſchmidtse Uitenbogaerd. Auf gleiher Höhe, wie ale 
Maler durch die hohe Ausbildung der Technit, Schärfe und Ausdruck der Zeichnung 
und Originalität der Gompofttion, fand R. ale Kupferfiecher, als welcher er fein 
zauberhaftes Helldunkel durch eine nur ihm allein eigenthümliche Benugung des Platten- 
grades auch hier anzumwenden fuhte Die Anzahl feiner Kupferfliche Toll ebenfalls 
ſehr bedeutend fein und an 500 Blätter betragen; Sammlungen davon befinden ſich 
im Amſterdamer Mufeum, in der Faiferlihen Bibliothek zu Paris, im britifchen Mu⸗ 
feum, in der Münchener Kupferftich- Sammlung, in der Galerie des Erzherzogs Karl 
in Wien und in verfchiedenen Privatfammlungen. — Der originelle Styl R.'s ver 
flachte fih unter feinen Nachfolgern und Schülern bald zur Manier, die geflifjentlidh 
eine abfolute Gleichgültigkeit gegen alle alademifche Kunftbildung und die antike Glaffl- 
eität zur Schau trug; aber eben dadurch und weil ihr die geniale Behandlungsweife 
ihres Meifterö bald verloren ging, fo wie feine Technif und fein Golorit unerreichbar 
blieb, bald fpurlos verfchwand. Ä 
Nemigins von Rheims, geb. um 437, feit 459 Erzbifhof von Rheims, ge- 
florben 533, der Sohn ded Aemilius, eined vornehmen und edlen Romanen, ein an⸗ 
gefehener Kirchenfürft Balliens, Hand ſchon, ehe er Chlodwig 496 taufte, mit biefem 
in enger Berbindung, mar befonderd für die Belehrung der Kranken thätig und 
wirkte neben Chlodwig für die Katholiftrung der arianiſchen Burgunder und Balliens 
überhaupt. Die Sage von der heiligen Ampulla, dem Öelfläfchchen, deſſen fih R. 
bei des Taufe Chlodwig's bedient haben fol, tritt erſt im 9. Jahrhundert bei Hink⸗ 


Remſcheid. (Stadt.) Nemuſat (Sean Pierre Abeh. 13 


mar von Rheims auf und iſt wahrjcheinlich von diefem erfunden, um durch die Sal⸗ 
bung Karl's des Kahlen bei der Krönung in Me (869) der Herrfchaft deffelben über 
Lothringen einen legitimen  Gharafter zu geben. Später tritt die Ampulla erſt wieder 
bei der Krönung Philipp's 1. (1179) auf. Das Gonventsmitglied Mühl zerbrach 
das Flaͤſchchen im Jahre 1793. Hinkmar von Rheims fehrieb eine Vita Remigii. 

Remonftranten ſ. Arminlaner. 

Nemſcheid, Stadt und ein Hauptfig berühmter Stahl- und Eifenhänmer, mit 
beren Fabrikaten für jede Art Gewerbe ein aubgebreiteter Handel nach allen Welt: 
gegenden getrieben wird, ih ber Nähe von Lennep im preußifchen Megierungsbezirf 
Düffeldorf auf einer Anhöhe des bergifchen Landes liegend, kommt 1132 als Memi« 
gedfede und 1217 als Memißgeid, d. h. collis sancti Remigii, vor, und war 1189 
eine Eleine Niederlaffung,, die jedoch fchon Damals eine Kirche hatte, welche beide 
Graf Engelbert I. vom Berg (f 1189) dem von ihm geftifteten Johanniterordens⸗ 
hanfe zur Burg fchenfte, was fein Sohn Adolf 1217 beftätigte.e Der Ort hatte 
ſchon vor 1580 Cifenhätten, worin das Moheifen mit der Hand zu Stäben verar- 
beitet wurde und der Bedarf für Solingen geliefert wurbe. Die Babrifation fleigerte 
fh durch das Einwandern von Nieberländern in Folge der Berfolgungen Alba’s 
und von Arbeitern aus der Picardie, in Folge der Aufhebung des Ediets von Nantes. 
Die Zahl der Einwohner belief fih 1816 auf 7147, 1822 auf 7986 und 1862 auf 
16,725 Seelen, d. h. mit Einfluß der in den einzelnen Häufern und den 80 Wellern 
in ber nächften Nähe. 

Nenmſat (Charles Francois Warte, Graf v.), franz. Schrififteller und Staatd- 
mann, geb. den 14. Mär; 1797 zu Paris. Sein Bater, Graf v. R., war Kammer- 
dere Napoleon's I. und bekleidete mehrere Präfecturen, feine Mutter, eine geborene 
Jeanne Gravier de Vergennes, war Palafldame und vertraute Freundin Joſephinen's 
und ſchrieb einen Essai sur l’öducation des femmes, welchen nad ihrem 1821 er- 
folgten Tode ihr Sohn 1824 Herausgab. Diefer felbft fudirte Die Rechte, betrat die 
Advocatenlaufbahn und arbeitete zu gleicher Zeit feit 1820 bis 1830 am mehreren 
Journalen, zulegt am „Globe”. und „Eourrier Frangais“. 1830 war er einer von 
denen, die die Proteflation der Iournaliften gegen die Juli⸗Ordonnanzen unterzeich- 
neten. Als alter Liberaler und Bermandter Lafayette's und Perier's im October 
zum Deputirten ernannt, blieb er zmar feinem politifchen Bekenntniß im Allgemeinen 
treu, ſtimmte aber für alle Mabregeln, die dazu dienen konnten, bie Anwendung des 
, Überalen Prineips einzufchränten. 1836 marb er Unterflaatöfecretär im Minifterium 
des Innern, Schloß ſich aber 1838 der Gonlition gegen das WMinifterium Mol& an 
und ward Mitglied des linken Centrums. In der von Thiers am 1. Mär; 1840 
gebildeten Verwaltung Minifter des Innern, fiel er am 29. Detbr. mit dem politi⸗ 
hen Syflem Thierd’, trat darauf wieder in die Reihen der dynaſtiſchen Oppofition 
und benußte die Muße, die ihm die lange Minifterialvermaltung Guizot's gab, zu 
literariſchen Arbeiten. Nah dem 24. Februar 1848 Mitglied der conflituirenden und 
der Tegißlativen Berfammlung, gehörte er in jener zu den Vertheidigern der Ordnung, 
in diefer zu den Belämpfern der Mevolution, welche die Politik des Elyſoͤe mit dem 
Vorbehalt unterligten, den Prinz» Präfldenten 6i8 zu dem Punkte zu halten, wo er 
eigne Zwecke verfolgen würde. Indefien wurde er nach dem 2. Dechr. 1851 ins 
Ausland verwiefen, erhielt im Septbr. 1852 zwar wieder die Erlaubniß, nach Frank. 
reich zurückzulehren, mußte fich aber feitvem ins Privatleben zurüdziehen. Die wichtig⸗ 
Ren feiner Schriften find: Essais de philosophie (1842. 2 vol.); Abelard (1845. 2 vol.), 
welche Arbeit ihm die Pforten der franzöflichen Akademie öffnete; de la philosophie 
allemande (1845); Saint Anselme de Canterbury (1852); l’Angleterre au XVIII. 
siedle (1856); Bacon, sa vie, son temps, sa philosophie et son influence jusqu'à 
nos jours (1857). ' 

Nemuſat (Jean Pierre Abel), franz. Sinologe, geb. den 5. Septbr. 1788 zu 
Paris, widmete ſich urfprünglic dem Studium der Mediein, lernte aber daneben, fafl 
ehne fremde Hülfe, dad Chineſiſche, Tibetanifche und Mandfhu, ward 1814 auf den 
nengegründeten Lehrſtuhl des Chineflfhen am College de Brance berufen, 1816 Mit⸗ 
glied der Alademie der Infchriften, 1818 einer ber Mebarteure des „Journal des 


14 — Memaiffance. 


Savanis“, trug 1822 das Seinige zur Gründung der aflatifchen Geſellſchaft zu Paris 
bei und wurde Gonfervator der orientaliſchen Manuferipte der. königlichen Biblio« 
thek. Als eifriger Legitimifl und auch journaliftiicher Vertheidiger feiner ‚politifchen 
Ueberzeugung war er nach den Julitagen 1830 in.@efahr, legtere Stelle zu verlieren, 
do ließ man ihm diejelbe auß Achtung vor feiner Gelehrſamkeit. Er flarb den 3. 
Juni 1832. Bon feinen Werfen find hervorzuheben: die Ueberfegung des chineſi⸗ 
then Livre des recompenses et des peines (1816); Elements de la grammaire 
chinoise (1822); Memoire sur Lao-Tseu (1823); Melanges asiatiques (1825—26) ; 
Contes chinoises (1827. 3 vol.); histoire du Bouddhisme (1836); Melanges posthu- 
mes (1843). Bergl. Silveftre de Sach, Notice sur la vie et les ouvrages de R. 
(1834). 

Renaiffance nennt man in der Kunfigefihichte die Wiedergeburt ber antiken 
claſſiſchen Kunftperioven von Griechenland und Mom in ber zweiten Hälfte bed 
15. Jahrhunderts, die, obwohl weſentlich von Italien ausgehend, dennoch hauptfädzlich 
in Frankreich für längere Zeit zur Herrſchaft kam, hier fich aber vorzugsweiſe ver- 
flachte und nur eine manierirte Nachahmung der äußeren Formen der Antike wurbe, 
die man mit Heiteren ornamentiftifchen Zuthaten dem Geſchmack der Zeit anpaßte. 
Da die gothifche Architektur, ebenfo wie bie gefammte mittelalterliche Lebens auſchauung, 
welcher te ihr Dafein verdanfte, ſich völlig audgelebt Hatte, fo erfchien nichts natür« 
licher, ald daß die große allgemeine Eulturftrömung, zu ſchwach zum Selbfifchaffen, 
in die durch fünftlerifchen Sinn und große Kunftthaten viel berufene und bochverehrte 
alte Zeit zurüdgeiff und in dieſer allgemeinen Verehrung des Alterthums, melden 
auch die Wiflenichaften bereits wieder zu huldigen begannen, die antike Kunſt wieder 
ind Leben rief. Es mar eine Heaction, wie fie der jih im Schaffen überſtürzt habende 
Geiſt der Zeiten gebiert und ſtets wieder von Neuem gebären wird. Segt endlich 
erfchien die Antike wieder ald das Emwig-Neutrale, ald das. Weltgültige, nicht bloß 
in der Urchiteftur, fondern auch in den beiden anderen bildenden Künften, in ber 
Seulptur und in der Malerei... In der Architektur aber trat die R. am großartigflen 
auf und die Großartigkeit und Originalität, mit der fie die antiken Formen fldy 
dienfibar machte, ift um fo bewunderungämerther, je mehr diefe zu den architeftonifchen 
Mafien und Räumlichkeiten, welche der Geift und die Bebürfniffe fener Zeiten ge» 
Schaffen, oft nur in einem decorativen Berhältniffe fanden. Trotz diefer. der Archi⸗ 
tektur fo ungünftigen Vorbedingung erlebte diefe doch eine Zeit der MR. von beinahe 
einem Jahrhundert, und zwar eine Blüthezeit, die an Größe, Fülle und Schönheit 
des Geſchaffenen mit Feiner anderen Epoche den Bergleih zu ſcheuen braucht. Ita⸗ 
liener, Branzofen, Niederländer und Deutfche entwideln eine rege und erfolgreiche 
Thätigfeit, am ernfihafteften die erfleren, unter denen namentlid Brunellesdi und Bra« 
mante im Bauſtyl die großartigen Formen der Antike möglihf rein zur Anwendung 
brachten. In Frankreich und Deutichland jedoch bildete man die antifen Formen in 
der willfürlichften Weife um und gebrauchte fie, während die Kompofltion, der Bau« 
ſtyl gothiſch blieb, miehr im Detail und in der Ornamentil, Gemwundene Säulen 
mit Facetten und mit ierratben meiit in Blumenform verfehen, am Berifiyl, in den 
Giebeln, an den Thür- und Fenſterbogen mit reichen oft originellen Schnörfeleien in 
der gejchmeidigfien Ausprägung der Kormen charakteriſtren den franzöfifchen und deut⸗ 
fen Bauſtyl der R., der ed trog dieſer oft in gewaltfames Uebermaß ausartenden 
Spielerei mit bildnerifchen und ornamentiftifchen Beiwerken, doch Im Einzelnen zu ben 
fhönften und reizendſten Schöpfungen gebracht bat. Zu den Bauwerken diefer Art 
gehören namentlich die Weftfacade des Hofes im Louvre, der mittlere Bau der Zuile- 
rieen, die Kirchen St. Euſtache und St. Etienne in Paris, der alte Schloßbau in. 
Fontainebleau und der in Chambord, die Kirche Saint-Michel in Dijon und viele 
andere in Sranfreich, wo die R., die man hier vom Anfang der Regierung Ludwig's XII. 
bis in die Regierung Ludwig's XIII. Hineindatirt, unter dem kunſtſinnigen Franz 1. 
igren hoͤchſten Glanzpunkt erreichte; in Deutichland nimmt unter den R⸗Bauten ber 
Otto⸗Heinrichsbau des Heidelberger Schlofies die erfte Stelle ein, ihm folgen die 
Martinsburg in Mainz, der Vorbau des Rathhauſes in Köln, einige ältere Theile des 
Dresdener Schloſſes und eine Anzahl Kirchen, unter denen die Kloſterkirche in Chem⸗ 


Nenan (3 oſeph Ernefl). 15 


nig, ſowohl in ihrem naturalifliiy ausgebildeten Portale und in ber decorativen Aus- 
flattung des Aeußeren die ganze Ueberladung der R. zur Schau trägt. Auch Holland 
iR reich an bedeutenden Bauwerken jeher Zeit der R., die jedoh im Style ebenfalls 
durchaus gothiſch gehalten find, z. B. das Schloß Meillant bei St. Amand, das 
Nathhaus in -Brüflel, der Juftizpalafi in Brügge u. f. w. Dan ficht, daß fidy neben 
dem Kirchenbau auch. der Profanbau in ähnlicher Weife entwidelte, namentlid an den 
Baläften der italienischen Großen und an den Patrizierhaͤuſern Der deutichen Reicho ſtaͤdte 
find Die reich decorirten Façaden, die Eunftvollen verfchnörkfelten Biebelbauten und flatte 
lien Thoranlagen im R.⸗Style noch wohl erhalten. Während die Zeit der zweiten Hälfte 
des 15. Jahrh. den Begiun der M. bezeichnet, in welcher alle Kräfte aufgeboten werden, 
um der neuen Glemente der Darftellung, die man aus der Antike holte, Here zu werben, 
babei aber doch in der Faſſung des Ganzen der mittelalterlid) = romantiſche Geiſt der 
Zeit noch präyalirt, zeigt die erfle Hälfte des fechzehnten Jahrhunderts die großartis 
gen und vollendeten Refultate jened Strebens, die fl zugleich mit dem erhabenften 
geifligen Schwunge vereinigen. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird 
zwar die DBerbreitung der R. noch allgemeiner, aber doch nur die ihrer Außerlichen 
Elemente, während die innere Kraft ebenfo fchnell nahläßt, mie fle ſich entwidelt, und 
fo einer Berflahung der Kunft jelbfi die Wege bahnt, melde fe zu beben glaubte. 
Je mehr man von der berben Strenge der Antike abging, dagegen die gefchmeidigere 
Ausprägung der Bormen immer mehr in den Vordergrund flellte, deſto eher mußte 
RG das Spflem felbft verflüchtigen und durch die Willfürlichleiten, welche die fpecu«- 
lirende Kunft und das Hafchen nach Neuem, Modernem auf daflelbe Iud, untergehen. 
Died geſchah nach einer Zeit beifpiellofer Productivität im erſten Viertel des ſieb⸗ 
zehnten Jahrhunderts, um einem neuen Claſſicismus Pla zu machen, der an innerem 
Gehalte Hinter der Blüthezeit der R. weit zurückſteht. Der antiken Wiedergeburt der 
Kunft, wie fie der Ausdruck R. bezeichnet, folgten Anfangs die anderen beiden bilden- 
den Künfte, die Malerei und die Sculptur, nur langfam und zögernd, namentlich in 
Deutfcyland und Holland, wo man jo treu gewohnt ifl, am guten Alten zu hängen. 
In Heiden Künften ging Italien voran (ſ. den Artikel Italienische Kunft) und Hier 
gilt Mafaccio (1402-1428) als der eigentliche Begründer der wiedergeborenen claſſi⸗ 
fhen Malerei, die fi in der Schule von Florenz mit Leonardo da Vinci und Gorreggio 
und in der römifchen Schule mit Rafael und Michel Angelo zur fchönften Blüthe 
entfaltet und endlich in der venetianifchen Schule mit Tizian ihren Abſchluß findet. 
An diefe Schulen lehnte ſich die deutſche, franzöftfche und nieberländifche Malerei des 
16. Jahrhunderts an und man gebraucht deshalb die Bezeichnung MR. für dieſe nicht, 
obgleich fie im Grunde eben auch nichts weiter war und fchließlih Diefelben Phafen 
durchmachte. Die Sculptur feierte namentlih in dem Berfalle der Architektur und 
Ornamentik der R. eine Zeit reicher Ernte, die aber ihr eben fo wenig zu Statten kam, 
wie der Kunſt im Allgemeinen. Sie folgte, nachden fie Würde und einfache Größe 
verloren, der wechſelvollften Laune in Invention und Geflaltung, bis fie an völliger 
Entfriftung flarb und erſt nach langem Schlummer zu neuem, fchönerem Leben gewedi 
murde (f. dad Nähere im Artikel Seulpine.) In allerneuefter Zeit gebraucht man 
das Wort R. auch häufig für die Wiedereinführung des heiteren und graziöfen 
Schmuckwerks in der Architektur und Sculptur, wie dieſes in jener älteren Zelt der 
R., noch che es zur Ueberladung führte, angewendet wurde, und namentlih bat man 
diefe Bezeichnung auf in diefem grazidfen Style angefertigte Geraͤthſchaften bezogen 
und die ganze Ark der bäuslihen Ausflattung, wie fle ſich durch edle Einfachheit zu 
der nach Effect Hafchenden manierirten Ausartung des Roccoco (ſ. diefen Artikel) 
in einen Gegenfag ſtellt. ine vorzügliche Darſtellung der Kunf der R. giebt das 
„Handbuch der Kunſtgeſchichte von Franz Kugler”, bearbeitet von Wil⸗ 
helm Lübke, im 2. Bande, Stuttgart 1861. 

Nenan (Joſeph Erneft), franzöftfcher, durch die Bekanntschaft mit einzelnen 
Leiſtungen der deutschen PhHilofophie und Kritik angeregter PHilologe, geboren den 
27. Bebruar 1823 zu Treguier (Departement Cötes-du-Nord). Zum geiſtlichen Stande 
beſtimmt, kam er frühzeitig nach Paris und wurde nad Bollendung feiner claſſiſchen 
Studien von feinen Obern in das Seminar St, Sulpice aufgenommen. Indem er 


76 Renan Goſeph Erneſt). 


daſelbſt den theologifchen Curſus durchmachte fand er zugleich Geſchmack an ber 
Philoſophie und an den Sprachen und begann “fi mit dem Hebräiſchen, Arabiſchen 
und GSprifchen zu befchäftigen. Da ſich aber feine Liebe zur Denkfreiheit mit der 
Beſtimmung zum Priefter nicht vertrug, verließ er das Seminar und gab Private 
Unterricht, um ſich felbfifändig feinen Studien zu widmen. Seine erfle Publication 
war die Histoire generale et syst&mes compares des langues s&mitiques (1845), die 
1858 in zweiter vermehrter Auflage erfchien. 1849 erhielt er für feine Hiftorifche 
Abhandlung: Etude de la langue grecque au moyen Age vom Inflitut den Preis 
und zugleich von der Afademie der Infchriften den Auftrag, zu Titerarifchen Zwecken 
Italien zu bereifen. Die Motizen und Documente, die er auf diefer Meife gefammelt 
hatte, verarbeitete er zu feiner Schrift Averro&s et T’Averroisme (1854). 1850 
wurde er der Manufcripten-Abtheilung der, damals fo genannten, nationalen Biblio- 
thek beigegeben, 1856 von der Akademie der Inschriften an Auguftin Thierry's Stelle 
zum Mitglied ernannt. Seine verfchiedenen Aufſäthe, die er in der Zeitſchrift: 
La libertö de penser (1848—50), in der Revue de deux Mondes und im Journal 
des Debats veröffentlicht hatte, gab er 1857 gefammelt unter dem Titel: Etudes 
d’histoire religieuse heraus. Der am meiften gelefene Aufiag dieſer Sammlung ift 
betitelt: Les historiers de la vie de Jesus; daran reihen ſich an unter andern bie 
Auffäpe: „Geſchichte des Volkes Iſrael“, „Mohammed und die Quellen des Islam“, 
ferner: „Die Neligionen des Altertbums*, eine Zufammenftellung der mythologifchen 
Forſchung feit Creuzer bis Preller. In einer Vorrede handelt er über die Aufgabe 
und die Formen der modernen Kritik. Wie in diefen Etudes deutſche Anregungen 
und Anflänge zu einer im Ganzen nur belletriftifchen Rhapſodie zufammenfchießen, 
fo Hat Renan in feiner Sährift: De Forigine du langage (1858) auch einer Erweite⸗ 
rung eines fchon 1848 erfchienenen Journalaufſatzes, auf der Grundlage von 
W. v. Humboldt's epochemacdhenden Iinterfuchungen, die Mefultate der fpätern For⸗ 
hung mit Gefchil verarbeitet. In den Jahren 1859 endlich veröffentlichte er eine 
franzöftfche Bearbeitung des Buches Hiob mit Excurſen über Alter und Gharafter 
defielben, ferner Essais de .morale et de critique und eine mit kritiſchen Beilagen 
verfebene Ueberfegung des „Hohenliedes.“ Befonders feit dem Erfcheinen feiner ges 
fammelten Etudes war R. daB Ziel Iebhafter Angriffe von Seiten der geiftlichen 
Journale, namentlich des „Univers“; da zugleich die Entfchiebenheit, mit welcher MR. 
fortfuhr, feine gewagten Untithefen gegen die Religion zu richten, eine Beilegung . 
dieſes Kampfes nicht ermarten ließ, fo wünfchte ihn die kaiſerliche Megierung auf 
einige Zeit aus Paris zu entfernen und fahidte ihn Im November 1860 mit dem 
Auftrage, in Phönicien Ausgrabungen zu veranftalten, nah Paläfiin. Das für 
ihn Wichtigfte, wad er von diefer Reiſe mit nach Haufe brachte, war die Anfchauung 
paläftinenfliher Begenden, die er zu feinen Landfchaftsbildern in feinem Werl von 
1863 verarbeitet bat. Bon feiner Reiſe zurückgekehrt, eröffnete er am 22. Februar 
1862 feine Borlefungen über die hebräiſche Sprache am Gollöge de France, an 
welchem er auf Bräfentation durch die Mitglieder dieſer Anflalt und durch die dazu 
competente Section des Inflitutes eine Profeffur erhalten hatte. Schon in Folge 
dieſes erften Auftretens wurden feine Vorlefungen durch Erlaß des Unterrichtsminiſters 
vorläufig fuspendirt. Die Decoration des Ereigniffes, 3000 Studenten, die ſich auf 
dem Sclachtplag eingefunden hatten, Lärm der Tumultuanten und Beifalldgefchrei 
der Anhänger, R.'s rhetorifche Effecte, wie er z. B. unter Anderm die weltliche Macht 
des Papſtthums und den Säbel des Islamismus mit einander parallelifixte, oder den 
Sag aufftellte: „Jeſus war ein göttlicher Menſch“, ferner die franzöftfche Entzünd- 
lichkeit, die in dieſen Phrafen eine „Mevolution” mit Jubel begrüßte, oder mit 
Pfeifen und Schreien zurüdwied — endlich die Demonftration, die nad dem Schluß 
der Vorleſung flattfand, indem die Zuhörermenge vor das Haus R.'s z0g, um diefem 
ein Hoch, zu bringen — Alles das erinnert an die glängendften Leiſtungen, die In 
diefer Beziehung die Zeit der Iulimonarchie aufzumelfen Hatte. Die im Jahr 1863 
erfähienene Arbeit R.'s „Vie de Jesus“ und die Beſchwerden des franzöflichen Epis⸗ 
fopats machten enblih feinen Beziehungen zum Gollege de France ein Ende Im 
Juni 1864 ward er definitiv feine® Amts entfept, worauf er ins Privatleben zuräd- 


Rendeburg. a 


kehrte, nachbem er auch bie ihm von der Regierung angebotene Stellung eined Con⸗ 
jeruator Unter» Direetor-Adfunct in der Abtheilung der Manuferipte der Laiferlichen 
Bibliothek nicht angenommen hatte. Was die Brundlagen jenes Buchs betrifft, meldye® 
bald nach feinem Erfcheinen eine Menge Auflagen erlebte und befonders in Deutfch“ 
land durch zahlreiche Weberfegungen verbreitet wurde, fo beruht es zunächſt auf der 
Eyangelienkritit, wie viefelbe von Strauß und fobann durch bie Tübinger Schule 
ausgebildet if. Schon im Jahre 1858 z0g er fi die Angriffe eines großen Theile 
feiner Landsleute zu, wenn er fagte: „es fcheint, daß die gallifche Mace, um Alles, 
was fie in ſich Hat, an den Tag zu bringen, von Zeit zu Zeit durch die germanifche 
befruchtet werden muß." Das „Univers“ (vom 9. April 1858) nannte ihn geradezu 
einen Berächter Frankreichs, weil er den Sag aufgeftellt Hatte: „Vielleicht iſt der 
franzöflfche Geiſt nicht Dazu berufen, gewiffe Schranfen zu Überfleigen, und find bie 
lateiniſchen Nationen mit ihren glänzenden und gang Außerlichen Eigenfchaften, ihrer 
Eitelfeit, ihrem oberflächlichen Geiſt und Ihrem Mangel an moralifchem Sinn und an 
religiöfer Initiative, nur dazu beflimmt, die Welt durch eine fonore Rhetorik gefangen 
ju nehmen und zuweilen durch brutale Erfcheinungen in Erflaunen zu ſtgen.“ Wenn 
jedoch R. für ſich felbf über diefe Schranke des galliichen Geiſtes hinaus zu fein 
meint, fo beweiſt die Oberflaͤchlichkeit, mit der er aus ber Quelle des germanifchen 
Geiſtes gefhöpft und feinen Gewinn verarbeitet bat, daß er noch tief unter jener 
Schranfe ſteht und in der Turbulenz, mit der er mit diefen germanifhen Elementen 
wirthfchaftet, fi fogar um bie felbfigenügfame Klarheit und Präciflon des Franzoſen⸗ 
thums gebracht bat. Er bat fih nur in Einem Theil und zwar im vermorrenften 
und noch unreifen Theile der deutfchen Kritif umgefehen und auch von diefem ſich 
nur Stichworte und einzelne Naximen angeeignet; er will Hifterifcher Kritiker 
fein und ohne die Kritif zu Ende zu führen, nimmt er nach willfürlidem Bes 
lieben einzelne „Orundzüge”" aus den Evangelien heraus, die er als biflorifch vor⸗ 
audfegt und aud denen er fein Bild Jeſu zufammenfegt; nicht einmal der romanbafte 
GHarakter feines Geſchichtobildes iſt neu, da derfelbe in dem deutichen Buche „der 
natürliche Brophet von Nazareth" fchon im Banzen vorgezeichnet iſt; ja, aus dem⸗ 
felben Buch Hätte R. fchon die Hypothefen über die romantifche Bedeutung der Frauen 
in der Umgebung Jeſu fchöpfen können, ohne deshalb dem gallifchen Charakter und 
dem St. Stimonigmus dad Motiv zur VBerberrlihung der Brau zu entlchnen. Auf 
dem Boden der Wiffenfchaft ift feine Schrift völlig unbedeutend und fle bat auch 
nicht einmal, fo viel Gegenſchriften gegen fie erfchienen find, zu einer auch nur irgend« 
wie bedeutenden Erwiderung Anlaß geben fünnen. Am unglüdlichften find diejenigen 
angekommen, die, während fi das Publicum auf die R.'ſche Brauenlecthre warf, ſich 
durch fle haben verleiten laſſen, auch mit eiwas Kritifchem aufzutreten, wie Strauß, 
ber troß des fchlagenden Beweiſes, den das R.'ſche Buch von der Unfruchtbarkeit 
feiner eigenen Anregung und Bafls führte, mit einer Bearbeitung feiner Urfchrift für 
das dentfche Volk bervortrat und nur die dde Langweiligkeit derfelben von Neuem 
an den Tag brachte, — oder wie Schenkel, der aud Jeſus „ein Charakterbild“ 
machte und nichts davon ahnte, daß mit dem Chriſtenthum (ſtehe unfern Artikel 
Proteſtantismus) vielmehr eine neue Form des Gemüthsés oder Die Kraft deſſelben 
überhaupt erfi in Die Welt kam. Wie die Zeitungen melden, fteht in Kurzem das 
Erſcheinen eines neuen Bude R,'s: „Das Leben bes Apoſtels Paulus” bevor, ja, 
fol derfelbe fih auch ſchon mit einem „Leben Warid” befchäftigen. Wahrfcheinlich 
werden biefe Bücher ber Welt über die wiflenfchaftliche Bedeutungsloflgfeit feines 
„Lebens Jeſu“ Die Augen Öffnen. — (Indem wir diefen Artikel fchließen, erfcheint zu 
Baris in der faiferlichen Druderei R.'s Befchreibung feiner phoͤniciſchen Expedition 
unter dem Titel: Mission de Phenice. Der Werfafier berichtet darin tiber die es 
fultate feiner Ausgrabungen auf den Gebieten der alten Städte Aradus, Byblus, 
Sidon und Tyrus.) 

Renböburg. An den flachen Ufern der Eider und zum Theil auf einer Infel 
dieſes Stromes gelegen, ſtellt fih NR. dem Auge von Feiner Seite angenehm dar. 
Brüder ale der Hauptmwaffenplag der Schleömig-Holfteiner und als ſtarke Feſtung zer- 
fiel dieſelbe in drei Theile, in die Altiſtadt, veriheidigt Durch 7 Baſtionen, 4 Ravelins 


18 Rendsburg. 


und 2 unregelmäßige Außenwerke, das Neuwerk, mit 6 Baſtionen und Ravelins, und 
in das Kronmerf, mit 3 Baflionen, 2 Navelins und 1 Redoute. In den Jahren 
1852 und 1853 wurde das — gegen einen Angriff von Norden gerichtete — Kron- 
werk vollftändig gefchleift und bald nachher trug man auch den größeren Theil der 
Wälle der Altftadt ab und deichte damit dad Bett der Eider ein. Das Neuwerk hat 
jegt 4, die Altſtadt 5 Quartiere und die ganze Stadt zählt mit Einfchluß der vor 
den Thoren gelegenen Gebäude und des Kronwerkes, das jedoch keine Straße, ſon⸗ 
dern nur den Bahnhof mit feinen Nebengebäuden beflgt, 719 Käufer und hatte nach 
der Zählung vom 1. Februar 1860 10,702 Einwohner. DM. liegt auf zwei Infeln 
der Eider. Die Altftapt befindet fich auf der größern ſüdlichen Infel, auf der kleinern 
nördlichen, die von fener durch den ſchmalen Canal der Mühlenau getrennt if, ftand 
einft das Schloß Gerhard's des Großen, die Reinoldoburg. Die Neuſtadt oder das 
Neuwerk befindet fih auf dem Südufer des füblichen Eiderarmes und dehnt fi von 
bier bis zur Wehrau aus, welche bet der Stadt in die Eider fließt. Unmittelbar vor 
der Schleufenbrüide, die über ben nörblichen Arm der Eider führt, beginnen die foges 
nannten Rendsburger Vorwerkslaͤndereien, welche 1854 widerrechtlich zu Schleöwig 
geſchlagen wurden, während fie bis dahin zu Holflein gehörten. R. beflgt mehrere 
Fabriken umd treibt nicht unanfehnlihe Scifffahrt und feinen geringen Handel, na» 
mentlid Speditionshandel, den bie Lage der Stadt unweit der Vereinigung der Eider 
mit dem fchledwig » Holfteinifchen Canal veranlaft. R. wird zuerfi in dem Kriege 
erwähnt, den Kanut VI. von Dänemark gegen Holftein führte, wo damals: das Ges 
ſchlecht der Schauenburger herrſchte. „König Kanut führte fein Heer an bie Eider, 
an den Ort, welcher Meinolbesburg genannt wird“, fagt Amold in feiner Ghronif 
von Lübeck. Im Diefem Kriege baute Graf Adolf von Schauenburg die alte Reinolds⸗ 
burg wieder auf, mußte fle indeffen im Frieden an Dänemark abtreten. Dies gefchah 
im Jahre 1200, dod 25 Jahre fpäter erlangte Graf Adolf IV. R. zurüd, bad aber 
1226 wieder in die Gewalt der Dänen kam. Als die Kriege, von denen König 
Erich's Megierungszeit (1241—50) erfüllt war, ihr Ende erreichten, wurde um R. 
allein noch fortgefämpft, bis König Abel zwölf „guten Männern“ die Entfcheidung 
übertrug, ob R. zu Schleswig gehöre oder nicht. Die zwölf Schiedsrichter fpruchen 
zu Net, „daß R. zu Holflein gehöre und daß keine Müdficht darauf zu nehmen fei, 
daß es feit Kanut's und Waldemar's Zeit Zubehör des daͤniſchen Reiches geweſen, 
daß ed mit dem Schwert gewonnen fei und daß das Meich große Koſten darauf ges 
wendet babe." Zwei Jahrhunderte lang, von 1252 — 1460 blieb R. unter dem 
Schauenburger Fürftenhaufe. Mit Adolf VII. ſtarb dieſer Stamm aus, die Herzog. 
tbümer ließen fich verleiten, Ghriftian I. von Dänemark zu wählen, und R. kam nun 
ebenfalls unter daͤniſche Oberhoheit. Das Schloß und defien Zubehör wurden 
Margaretde, der Wittwe Adolf's VIII, als Morgengabe und Leibzucht überlaffen, 
wogegen Braf Gerhard von Oldenburg, der Statthalter des Landes Holflein, pro⸗ 
teftirte und fich in den Beflg des Schloffes zu feßen ſuchte, um von biefem fehten 
Plage aus feinen Bruder Ehriftian von’ Dänemark zu befriegen. Die Wittwe führte 
über Die Beunrubigungen, welche fie erlitten hatte, Klage bei dem Kaifer Friedrich 1. 
und Diefer gebot dem Grafen Gerhard, das Schloß zu R. mit feinem Zubehör der 
Frau zurüdzugeben. Diefe Entfcheidung des Kaiſers wäre unmöglich gewefen, wenn 
über die Reichsangehörigkeit R.'s der leiſeſte Zweifel Hätte obwalten koͤnnen, bie 
Competenz wurde aber gar nicht beflritten, weber vom Grafen Gerhard, noch vom 
König Chriſtian I. Der Oberhof für M., von wo man ſich theild Belehrungen vor 
gefälltem Urtheil, theild Beſcheinigung gefprochener Urtbeile einholte, war bid zum 
Ende des 16. Jahrhunderts Kübel. Dur das MBrivilegium von 1496 und von 
1498 errichteten die Landesherren jeboch, da der Appellationszug nach Lübed den 
Untertanen vielfache Schwierigkeiten und Koften verurfachte, ein Vierflädtegericht ala 
eigene Appellationsinftanz in der Heimath für ihre Städte Lübfchen Rechts. Das 
Bericht beftand aus Deputirten der Stabträthe zu R., Kiel, Itzehoe und Oldesloe, 
damit „über die gefcholtenen Urtheile nad Klage und Antwort in Gemäßhelt des 
Lübſchen Rechts entfchieden werden Tönne" Dies Verfahren erhielt ſich bis in bie 
Mitte des 17. Jahrhunderts faft unverändert, von 1647-69 traten vielfache Streitig⸗ 


Rendsburg. 79 


keiten ein zwifchen den Bierfläbten wegen des GBerichtölocald und der Aufbewahrung 
der Acten, die 1670 fo gefchlichtet wurden, daß M. und Kiel fünftig als Sige bes 
Bierflädtegerichtd alternicen follten. Bon dieſer Zeit an Fam das Bericht in Abnahme, 
bis Chriſtian VI. daffelbe 1737 förmlich aufbob. In den fchleswig - bolfleinifchen 
Ständen und zwar unter den bolfleinifchen hatte R. die Luandflandfchaft, viele der wich⸗ 
tigften Landtage wurden in feinen Mauern gehalten, in den Jahren 1648-75 allein 
zwölf. Hier nahmen auch die Randtage ihr Ende, die Articuli separali des Receſſes, 
Dusch welchen die Fürſten über Aufhebung der Verfaffung ſich vereinbarten, der aber 
nicht puhlieirt wurde, „fondern“, wie es in der Urkunde heißt, „auch Fünftig deſſen 
Inhalt, in fo weit folcher zu menagiren erforderlih, auf's Aeußerſte feerstirt werben 
fol," find ausgeftellt in R. den 21. März 1709. An kriegerifchen Ereigniffen war 
R. im breißigjährigen Kriege fehr reih. Am 12. September 1627 zog Wallenftein 
mit einer flarken Heeresmacht vor bie Feſtung, deren Befagung aus 1600 Mann 
befand, mit Einihluß von 1200 Engländern, zu denen am 14. September 
noch 800 Mann Franzoſen flifen. Am 6. October ergab ſich die Beflung, ba 
von Kopenhagen der Befehl Dazu eingetroffen war. Noch dreimal war es indeſſen 
R. befchieden, in den näcften Jahrzehnten die Wechjelfälle des Kriegeß zu erfahren. 
Gegen Ende des Jahres 1643 bemächtigten fi die Schweden unter Torflenfon ber 
damals von umneibigungeirupben gänzlich entblößten Stadt. Erſt am 3. Auguſt 
1644 zogen diefelben ab, ald die kaiferliche Armee unter General Gallas im Anrüden 
war. Die fofort nach Abzug der Schweden beginnenden Befefligungsarbeiten follten 
ſchon im folgenden Jahre die Brobe beftehen. Der ſchwediſche General Helm Wrangel 
fehrte im Frühfahr wieder, und nun hatte die Stadt vom 25. März bis zum 21. Auguft 
1645 eine Belagerung zu beftehen, in welcher der Heldenmuth der Mendöburger Bürger 
fh glänzend bewährte, bis endlich der Friedenoſchluß die Belagerung aufhob. Selbft 
Srauen und Jungfrauen nahmen zulegt an der Vertheidigung thätlichen Antbeil, ale 
die aus 800 Mann beſtehende Befakung auf 150 Kampffähige zufammengefchmolzen 
war und über die Hälfte der Bürger an Krankheiten darniederlag. Als am Ende 
diefer Belagerung die Noth aufs Höchfte gefliegen war und felbft dem Gommandanten 
auf die Drobung der Schweden, die Stabt ffürmen und dann feinen Menfchen Quartier 
geben zu wollen, der Muth entfiel, waren es die Bürger, die ihm auf feine Frage, 
ob er accordiren ſolle oder nicht, eine Antwort gaben, welche der Erinnerung würdig 
il. „Ste hätten,“ fo jpraden fie, „btäher dem Feinde männiglich in Die Augen 
geichen, fie wollten auch ferner But und Blut daran feßen und, wo fle commanbirt 
würden, als ehrliche Leute Bas Ihrige thun, ihm aber wäre dad Commando von 
Ihro Föniglichen Majeflät anbefohlen, er möchte e& alfo machen, wie er ed gegen 
Gott und Ihro Eöniglihen Mafeflät verantworten könne.” 1658, ald Kurbrandenburg, 
mit Dänemark gegen Schweden verbündet, zum Einrüden in Holſtein ſich anſchickte, 
wurde in den Verhandlungen mit dem gottorpifchen Herzog anerkannt, daß Der große 
Kurfürft das Recht babe, in Holftein, ale einem deutfchen Meichölande, den Dänen 
beizufteben, daß er aber in das Herzogthum Schleswig nicht einrücken dürfe. Dem⸗ 
nach hielten fidh die Furbrandenburgifchen Truppen von dem letztern fern, befegten 
aber mit den Dänen gemeinſchaftlich R. das mithin als eine Holfteinifche Stadt aus⸗ 
dradli anerkannt wurde. Diefe Zugehörigkeit R.'s zu Holftein ift übrigens fpäter 
wiederholt von der dänifchen Negierung anerfannt worden. Bon 1668 — 72 ließ 
König Friedrich I. R. flärker befefligen und unter Anderm auch das Holftenthor 
verlegen. Unter daſſelbe warb ein Stein gelegt mit der Infchrift: Eidora imperii 
Romani terminus, welcher inbeflen 1806 meggenommen wurde. Chriſtian V. ließ 
1684 und 1685 das Neumerf und 1694 und 1695 das Kronwerf anlegen, zu weldem 
Ende der Flecken Vindeszier mit der Gampener Kirche abgebrochen wurde. Nachdem 
von dem oben erwähnten Schlofie, ‚bei feiner Baufälltgkeit, 1718 der große Thurm 
beruntergefallen war, ward das ganze Schloß, das fchon feit 1683 unbewohnt ges 
wefen, abgebrochen. Später find an den Befeftigungen noch mehrmals Verbefferungen 
vorgenommen worden, am umfafjendften in den Jahren 1848—50, in deren friegeri- 
ichen und politifchen Ereignifien R. eine hervorragende Rolle ſpielte. Schon am 
24. Mär; 1848 wurde die von den Dänen beſetzte Beflung von den Schleswig⸗ 


80 Kent (Guido). MRennel (Same). 


Holfleinern unter dem Prinzen von Auguftenburg überrumpelt und genommen, worauf 
bier Die proviforifche Negierung von Schleswig. Holflein ihren Sig nahm und am 
3. April 1848 ein fchleswig-holfleinifcher Landtag gehalten wurde; am 5. April 1848 
wurde M. von den Preußen befegt. Am 8. Februar 1851 fand der Einzug der Öfler« 
reichifhen Truppen in R. flatt und Tags darauf befegten die Dänen das Kronwerf, 
als den nicht Zu Holftein, alfo auch nicht zu Deutfchland gehörenden Theile R.'s. 
Am 20. Februar 1852 zogen die deutschen Bunbestruppen ab und am 15. September 
deffelben Jahres begannen die Dänen die Schleifung der Feſtungswerke mit dem 
Kronenwerke. In dem Kriege von 1864 fpielte MR. dagegen eine fehr untergeordnete 
Rolle; es wurde von den Bundestruppen beim Beginn deſſelben befeßt, doch vers 
ließen erſt fpäter Die Dänen das ehemalige Kronwerf. 

René von Anjou f. Italien, Band 10, S. 253. 

Neni (Guido), italienifcher Maler, geb. 1575 zu Bologna, erhielt feinen erften 
Unterricht in der Malerei von dem damals in Bologna in hohem Anfehen flehenden 
nieberländifchen Maler Dionyfius Calvart, unter deffen Anleitung er beſonders nadh 
Albrecht Dürer’d Werken Studien gemacht haben fol. In feinem zmwanzigften Jahre 
ging er zur Schule der Garacci’8 über und begab fih dann, um die Kunitfchäge 
Roms zu fehen, mit zweien feiner Mitfchäler, Domenichino und Albani, nad) diefer 
Stadt, wo er fi der affectvollen Naturnahahmung Caravaggio's ergab. Diefer 
erften Manier und Beriobe, die ſich durch düftere und fraftuolle Darftellung auszeichnet, 
gehört feine Kreuzigung des heil. Betrus an, die er, durch den Gardinal Borgbeie 
dazu bewogen, für die Kirche delle tre Fentane malte. In feiner zweiten Periode, 
welche durch Die von demſelben Cardinal veranlaßte Aurora bezeichnet wird, bat er 
jene erſte kraͤftige Naturmanier zu ausdrucksvoller LKieblichfeit gemildert. In feiner 
dritten Periode, in welcher auch feine Faͤrbung bla und unlebendig ward, firebte er 
nach einer manierirten und füßlichen Anmutb; der Mepräfentant diefer Periode ift fein 
jegt in München befindliches Gemälde, die Himmelfahrt der Maria barftellend. Er 
gründete ſchon in Mom eine eigene Schule und erweiterte diefelbe in Bologna, mo 
er fein Leben befchloß, nachdem er indefien noch einmal Rom und auf kurze Zeit 
auch Neapel beſucht hatte. Er foll gegen 200 Schüler um fi verfammelt haben, 
mit denen er die zahlreichen Beftellungen, die ihm, auch aus Spanien und Frankreich, 
juftrömten, effectuirte. Der Hang zum Spiel, der ihm große Summen koſtete und 
oft Geldverlegenheiten bereitete, verleitete ihn in feiner legten Perlode zu flüchtiger 
Arbeit, um das Berlorene zu erfeßen, und verfürzte auch zuleßt, durch die Noth und 
Aufregung, die er ihm zuzog, fein Leben. Er farb den 18. Januar 1642 zu Bo» 
logna. Man bat von ihm auch eigenhändige, fehr gefchätte Nadirungen. 

Rennel (James), der „Vater der Geographie von Indien”, der „D'Anville ber 
Engländer”, zu Chudleigh in Devonfhire 1742 geboren und als Ingenieur-Major zu 
London am 28. März 1830 geflorben, zeichnete ſich fchon als Sercadet bei der Be⸗ 
lagerung von Pondidery aus und entwarf fpäter als Ingenieur zur Landarmee in 
Dflindien verſetzt, eine trefflichde Karte von den Meereöfirömungen und Yelfenbänfen 
am Gap Agulhas, fo mie er ald Landmefler 1781 den „Atlas von Bengalen® mit 
einer hydrographiſchen Beichreibung ded Ganges und Brahmaputra herausgab. Nach 
feiner Nüdfehr nach London 1783 Iteß er feine „Memoirs of a Map of Hindostan 
or the Mogul Empire“ nebf einer fhönen Karte in zwei Blättern druden, die 1788 
in zmeiter, bebeutend verbeflerter Auflage erfhien. Das Memoir war durch die vielen 
Zufäge, neuen Unterfuhhungen und von Andern ihm mitgeteilten Bemerfungen bi8 
auf 295 enggebrudte Quartfeiten angemachfen, während die erfle Ausgabe, von der 
verfchiedene deutiche Audzüge eriftiren, nur 99 Seiten betrug. Eben fo viel Neues 
enthielt die bis auf vier große Blätter erweiterte Karte, welche einen Grad des Nequa- 
torö in 11, Zoll verkleinert und eine Strede Landes von der Größe des halben 
Europa’s darſtellt. Die wichtigften Vermehrungen fanden ſich in den weftlidden und 
norbwefllichen Gegenden Hindoſtans, bei Budferat, den Ländern der Radſchputen, 
Kandahar, in den füdlichen Gegenden von Dekhan und in den Fleineren damaligen 
Reichen, welche jenfeit des Golerun und Ponanyfluffes belegen waren und Durch Ful⸗ 
larton 1783 auf feinem Zuge nah Tippu Sahib's Staaten zuerft genauer befannt 


Hepnin, (Gefchlecht.) 8 


wurden. Auch ein nicht unbeträchtlicher Theil von Turkeſtan und dem nörblichen 
Perſten ift in dieſer Karte aus Forſter's Meife entlehnt, der 1783 von Bengalen über 
Kaſchmir, Piſchawar, Kabul, Kandahar ıc. bis nach dem Kaspifchen Meere zog. Ein noch 
größeres Auffehen machte fein Werk „The geographical System of Herodotus“ (London 
1800), in welchem R. dur die Beobachtungen der neuen Meifenden die Wahrheit 
der vorber für Zabel gehaltenen naturhiftorifchen und geographifchen Angaben Hero⸗ 
dot’8 ald wahre nachweifl. Seine legten Werke waren: „Observalions on the geo- 
graphy of the plain of Troy* (2ondon 1814) und feine „Illustration of the history 
of Ihe expeditions of Gyros from Sardis to Babylonia etc.“ (London 1816.) Au 
bereicherte er die Geographie durch die vielen fcharffinnigen Bemerkungen, womit er 
die Reiſewerke Hornemann's, Houghton's, Mungo Park's ꝛc. beleuchtete. . 

Rente und Rentenkauf ſ. Reallaſten. 

Repealafſociation ſ. O'Connell. 

Repuin, eins der berühmteſten und älteſten Fürſtenhäuſer Rußlands, erloſchen 
in feinem Mannesſtamm im Jahre 1801, welches die Deſcendenz Rurik's in indireeter 
Linie darftellt und zunaͤchſt auf den unter die Heiligen Rußlands aufgenommenen 
Fürſten Michael von Tſchernigow ſich zurüdführen läßt, von dem es in männlicher, 
directer und Tegitimer Linie abflammt. Die Benennung der rufflfchen Knjäfe R., 
welche früßzeitig eine Hervorragende Rolle in den Annalen ber Befchichte ihres Reiches 
vertraten, Rammt ber von dem Beinauen eines ihrer Altvordern Repnia, der dem⸗ 
felben von einem eigenthümlichen Bande am Hute, den die Aufjen Repei hießen, ver- 
liehen ward. Bom 15. Jahrhundert an brachte dieſes Haus viele eminente Perſoͤn⸗ 
lichkeiten hervor, die fih als Minifter, Feldherren und Broßmürdenträger am groß» 
fürſtlichen und zarifchen Hofe außzeichneten. Der erfte weltgefhichtlich berühmte Mann 
jenes Namend war indeß erft Fürſt Anikita R., einer der tapferſten Waffengefährten 
Peter's 1. und einer feiner vertrauteflen und ergebenflen Breunde Er nahm fpäter 
die Stellung eines Neichöfeldmarfchalls ein und trug wefentlich zu den Siegen feines 
Monarchen und zur BVergrößerung und Machtentfaltung des ruſſiſchen Reiches bei. 
Bergl. den Artikel Rußland (Geſchichte). Sein Sohn, der Fürft Waffilij Ani— 
kititſch R., General en chef ber Artillerie, zeichnete fich gleichfalls als gediegener 
Militär aus. Er befebligte im Jahre 1748 die ruffifchen Hülfotruppen, welche von ber 
Kaiferin Elifabeth von Rußland der Kaiferin Maria Therefla von Oeſterreich geſchickt 
wurden. Nod ausgezeichneter war defien Sohn, der General⸗Feldmarſchall Fürſt Niko⸗ 
lat Waffilfewitfh R., der als einer der gefchickteften Feldherren, Diplomaten und 
Staatömänner aud der Zeit der Kalferin Katharina II. zu betrachten ifl. Geboren am 
311. März; 1734, Hatte er, nachdem er eine In fprachlicher und wifienfchaftlicher Ber 
jiehung tüchtig zu nennende Schulbildung genoflen, frühzeitig die diplomatifche Carriere 
ergriffen, und zeigte fi fehr bald als ein Mann, der auf der Höhe der Zeit fand. 
Er verfah mit Umfiht und Geſchick den ſchwierigen Poften eines ruffifchen bevoll« 
mäcdhtigten Geſandten am Hofe Friedrich's II. von Preußen und fpäter in Warfchau, 
und ward von dort erft abberufen, als der türkifche Krieg feine Betheiligung am 
Kampfe erheifchte. Die beiden entfcheidenden Siege der Ruſſen, die nach den Flüffen 
Zarga und Kagul benannt find, und die Erflürmung der ſtarken türfifchen Feſtungen 
Ismail und Kilia, im Jahre 1770, find feine Hauptwaffenthaten in diefem blutigen 
Kriege, der auf beiden Seiten fo viele Menfchenopfer koſtete. Auch der wichtige 
Friedensfhluß von Kutſchuk⸗Kainardshi am 10. Jult 1774 ift als fein Werk zu er⸗ 
achten und wurde von Ihm unterfchrieben. Durch diefen diplomatifchen Act erwarb 
er dem rufflfchen Neiche den Beil eines großen Theils von Süd⸗ oder Neurußland 
und bahnte den Weg zur baldigen Erwerbung der Krim an, welche ſchon damals der 
boden Pforte entriffen und einflweilen unter eigene Khane, die natürlich in Abhängig» 
feit von Rußland waren, geftellt wurde. Diefe glänzende und für Rußland frucht- 
bare Bolitit veranlaßte Die Kaiferin Katharina II., welche flets mit feinem Takt zu 
ihren Staatsämtern ſich die richtigen Männer erſah, MR. 1775 nah Konftantinopel 
ald Ambaffadeur zu birigiren, wo er ihren Erwartungen entfprach und Rußland das 
Uebergewicht vor den Weflcabinetten verfchaffte. 1779 wurde er auf den Kongreß nad) 
Tefchen gefandt, wo er die ihm geftellte Aufgabe loͤſte, das Wiener Gabinet zum 

Wagener, Staaté⸗ u. Geſellſch⸗Lex. XVO. 6 


82 Kepnin. (Geſchlecht.) 


Srieden mit dem Berliner Hofe zu bewegen. Der neu audbrechende Krieg mit Der 
hoben Pforte erheifchte abermald feine Anweſenheit auf dem Schlachtfelde, und er 
fchlug als Oberbefehlähaber des ruffifchen Heeres am 7. September 1789 am Fluſſe 
Saltfha den Serasfier, trogdem derfelbe ihm das Gros der türfifchen Armee ents 
gegenftellte, vollfländig auf das Haupt, während er zwei Jahre fpäter zur Beendigung 
des türkifcheruffifchen Krieges durch die Niederlage wefentlich beitrug, die er dem Groß⸗ 
vezier der Türken 1791 jenfeit der Donau beibrachte. In Folge deſſen unterzeichnete er zu 
Ende des Jahres 1791 zu Galacz die Präfiminarien zu dem neuen, für die Ruſſen fo vor» 
theilhaften Definitiv-Frieden von Jaſſh, der ſchon im Januar des nächften Jahres zwifchen 
Rußland 'und der Pforte zu Stande Fam, und laut deffen die Moldau unter die Ober⸗ 
herrlicgkett der Pforte und den Schup Rußlands geftellt ward. Merbrängt durch. 
Potemkin, begab er ſich nach Moskau, galt eine Zeit lang durch die Bildung eines 
ariftofratifchen Elub8, den man die Martiniften nannte, als Revolutionär, und ward 
von der Kaiferin in einer Aufmallung des Zornes, indem fle jene Verbindung aufhob, 
nach Livland und bald darauf, bei der letzten Thellung Polend, nad Littauen ale 
Generalgouverneur gefandt, von welchem Poſten ihn der Aufftand der Polen abrief, 
wo er ſich die letzten Xorbeern erfocht, bi3 Sumarom ihn im Oberbefehl ablöfte. Ihm 
fiel darauf die Aufgabe zu, dem Könige Stanislaus Poniatowski die Thronentfegung 
anzufündigen. In feinen legten Lebensjahren unter Kaifer Paul I. ward Fürft Nikolai 
MWaffilfewitfh 1796 zum Generals Feldmarfchall erhoben und fungirte, nachdem feine 
legte diplomatifche Miſſton im Jahre 1798 an den Berliner Hof, den er zum Beitritt 
zu der beabfichtigten zweiten Coalition gegen Branfreich bewegen follte, wider Erwar⸗ 
ten des Kaiſers Paul J., deffen Ungnade er eine Zeit lang dur Verbannung nady 
Moskau zu empfinden hatte, unglüdlich abgelaufen war, al& General⸗Kriegsgouverneur 
von Riga, wo er am 12. Mai 1801 im 68. Jahre feines verbienftvolfen Lebens flarb 
und auf Befehl feines neuen Monarchen, des Kalferd Alerander I., mit Eaiferlichen 
Ehren beflattet ward. R. war einer der denfwürbigften Männer feiner Zeit, befonders 
aber eine Zierde des Regime's der großen Katharina, unter dem er alle Talente eines 
gebiegenen Politikers und Feldherrn zu entwideln Gelegenheit fand. Da fein Ges 
fehlecht mit feinem Tode erlofch, fo übertrug der Kaifer Alerander, der dad Gedaͤcht⸗ 
niß deffelden auch nominell erhalten wiffen mollte, am 12. Juli 1801 den Namen des 
Fürften auf feinen Großfohn in weiblicher Linie, den Fürften Nikolai Grigorjewitich 
MWolkonskij, der fih nun Repnin-Wolkonskif nannte. Geboren im Jahre 1780 
zu Moskau und erzogen unter den Augen feines mütterlicden Großvater und Adop⸗ 
tiovaterd, des Fürften Nikolai Waſſtljewitſch, widmete fich derfelbe früh dem Kriegs⸗ 
leben, folgte feinem Großvater bereits als Gufarenoffizier nach Berlin und focht, nach 
dem Tode beffelben als Erbe in alle feine Güter eingefeßt, im ſchwediſchen Kriege in 
Finnland mit einer Tapferkeit, der er die erften Inftgnien feiner Laufbahn und die 
Erhöhung zum Öberflen zu danken Hatte, und nahm fpäter am ruſſiſchen Kriege 
im Sabre 1805 gegen Frankreich Theil, wobei ihn das Mißgeſchick traf, vom General 
Rapp perfönlich gefangen genommen zu werden. Er erbielt erft im Jahre 1807 in 
Folge des Tilfiter Friedens feine Freiheit wieder. 1809 war er mit dem Titel eines 
rufftfchen Generalmajors Gefandter am weftfälifchen Hofe und war 1810 ala Geſandter 
Rußlands nach Spanien dirigirt, ald Napoleon I. in Paris feiner Weiterreife an den 
Beflimmungsort Schwierigkeiten in den Weg ftellte und ihn zur Rückkehr nah Ruß⸗ 
land zwang, wo er 1811 anlangte, um bierauf an dem großen Befreiungsfampf feines 
Vaterlandes theilzunehmen. Er führte 1812 und 1813 als ruſſiſcher General⸗Lieute⸗ 
nant die Gavallerie unter Wittgenftein an der Düna, betheiligte fi an den wich⸗ 
tigften Schlachten jenes Krieges mit großem perſönlichen Muth und einer oft an Ver⸗ 
wegenheit grenzenden Kaltblütigkelt, wurde aber bald darauf dem Kriegsboden entzogen 
und zu diplomatifchen Zmeden verwandt, indem er in den Jabren 1813 und 1814 
zur Stelle eines General« Gouverneurs von Sachen erfehen warb, bis ihn im legt» 
gedachten Jahre daB preußifche General⸗Gouvernement erfegte und er nah Rußland 
zurüdging. Nachdem er bierauf auch den Berbandlungen des Wiener Eongreffed mit 
beigemohnt und die Interefien Europa’ vom ruffifchen Standpunft aus gefchidt zu 
wahren gewußt hatte, ſchloß er fi dem neu ausbrechenden Kriege abermals an, focht 


Repraͤſentationsrecht. Requiſitionsſyſtem. 83 


in Frankreich in den Hauptfchlachten mit, rückte 1895 mit in Paris ein und wurde 
von feinem dankbaren Monarchen, dem Kaifer Alexander J., nad Herſtellung des 
Weltfriedens für feine Tapferkeit und feine diplomatiſchen Leiftungen durch die Ders 
leihung der Stelle als Gouverneur von Poltama belohnt, in Die er 1816 eintrat und 
in der er viele Jahre lang fi als tüchtige organifatsrifche Kraft bewährte. Er war 
bei feinem im Februar des Jahres 1845 erfolgten Ableben Mitglied des Reichsraths, 
Generals Adfutant und General der Gavallerie. Die einzige Vertreterin des fuͤrſtlich 
R'fchen Namens iſt heutigen Tages die Schwiegertochter des vorerwähnten Fürſten 
Nikolai Grigorjewitſch R., die Fürſtin Warwara Alerjeferena R., welche das in Bol- 
tama befindliche Faiferlihe Bräulein-Inftitut als Vorſteherin Leitet. 

Repräſentationsrecht. Repräfentationsrecht heißt im privatrechtlichen Sinne des 
Wort die im Syſtem des römifchen Rechts begründete Befugniß der Defcendenten, 
in das Erbrecht ihrer vorverflorbenen Uscendenten einzutreten. Doch'gilt diefes N. im 
römischen Recht nicht durchweg, fondern in voller Bonfequenz nur in der erfien Erb⸗ 
IhaftöFlaffe der Defcendenten, in meldyer, ohne Vorzug der Gradeönähe, in slirpes 
fuccebirt wird. In der zweiten Klaffe dagegen erfiredt fih das R. nur auf den erflen 
Brad, fo daß nur die Söhne und Töchter verflorbener vollbürtiger Geſchwiſter mit 
diefen in Bertretung ihres verflorbenen parens erben, Enkel und weitere Defcendenten 
aber andgejchloffen find. Das deutſche Erbrecht kennt das M. fo gut wie gar nicht 
oder nur ganz ausnahmsweiſe. Das preußifche Landrecht Th. IL Ti. 2 $ 148 ff. . 
bat das römifche A. in der Defcendentenklaffe vollkändig wiederbergeftellt und in ber 
Erbllaffe der Gollateralen fogar noch erweitert, indem die Befchränfung der Repraͤ⸗ 
fentation auf einen Grad wegfällt. Das Landrecht fpricht nämlich in 6 492—494 I. c. 
von vollbürtigen Befchwiftern und deren Abfümmlingen und eben fo von Halbge⸗ 
Ihwiftern und deren Abkoͤmmlingen im Allgemeinen. — Im öffentlichen Recht verfleht 
man unter R. das moderne Verbältnig der gewählten Vertreter einer Stadt, einer 
Kirchengemeinde oder des ganzen Landes zu dieſen ihren Wählern, fo wie zu dem, 
was fie” angeblich vertreten follen. Stadtverordnete nämlich und Landtagsdeputirte 
(von kirchlichen Repräfentunten wollen wir bier ſchweigen) werben zwar von den Wäh- 
lern eines beflimmten Bezirks gewählt, find aber nicht an deren Inftruetionen gebun⸗ 
den, follen aud nicht jene allein, fondern vielmehr die ganze Stadt, refp. das ganze 
Staatögebiet vertreten. 

Repräjentativfuftem ſ. Staat. 

Kepublif f. Staat. 

Requiem Heißt in der römifch-Fatholifchen Kirche die Missa pro defunctis, die 
Todten« oder Seelenmeſſe, weil die erfien Worte des Meßgeſangs Requiem “aeternam 
dona eis domine lauten. Dem Zwed entfprechend iſt In ihr Mehreres an dem Meß» 
formular geändert: ſtatt des Gloria in excelsis tritt Die Sequenz Dies irae, dies 
illa ein, e8 folgen darauf das Domine, ferner das Sanctus, endlich das Agnus Dei. 
Die vollendetften Compoſitionen des R. haben Mozart und Gherubini geliefert; im 
der auch gerühmten Jomelli's find nur einige Theile vorzüglihd. Bon den älteren 
Compoſitionen ift die Baläftrina’s, von den fpätern die Michael Haydn's hervorzuheben. 

Requifttionsiyftem nennt man die der neueren Kriegführung charakteriftifche 
Methode, wonach die Hauptfächlih für die Ernährung, aber auch für Bekleidung, 
Transport und Ausrüflung der Armee nöthigen Gegenflände durch Ausfchreibungen 
in dem von derfelben befegten Landftriche berbeigefchafft, die Verpflegung durch bie 
Ouartierwirthe geliefert oder endlich — in Feindesland — die Leute angewiefen 
werben, für ihre Bebürfniffe dadurch zu forgen, daß fie nehmen, wo fle etwaß finden. 
In feiner ganzen Schärfe durchgeführt, iſt das M. einfach der principiell zur Anwen⸗ 
dung gebrachte furdhtbare Orundfag, „daß Der Krieg den Krieg ernähren müfje”, eine 
Marime, die bis Ins 17. Jahrhundert hinein mehr oder weniger allgemeine Geltung 
hatte und ihre fchredlichfle Ausprägung im 30jährigen Kriege fand, deſſen Folgen 
Deutſchland nad einem Jahrhundert noch lange nicht vollfiändig überwunden Hatte. 
Gerade diefe furchtbaren Nachwehen des Krieges in feiner fchredlichfien Geſtalt, die 
fih mehr oder weniger in ganz Europa fühlbar machten, ließen es als Nothwendig- 
keit erſcheinen, -eine für die Länder felbft weniger zerflörende Art der Kriegführung 

6* 


34 Requiſitionsſyftem. 


eintreten zu laſſen; es kam dazu, daß die, mit den von jener Zeit an aufkommenden 
ſtehenden Heeren geführten Kriege nicht den Charakter der Volks⸗, ſondern der Ca⸗ 
binetskriege trugen und — im Einklange mit der zuerſt in Frankreich ausgeprägten 
modernsabfoluten Staats-Idee — gewiſſermaßen als Privat» Angelegenheiten der Fuüͤrſten 
angefehen wurden, die mit den, aus ihrem Schatze geworbenen Truppen geführt, die 
Völker wenig oder gar nicht berührten. Die Kriege, nicht mehr um Sein oder Nicht⸗ 
fein, ſondern um politiſche Fragen, um ÜErbflreitigfelten und damit im Zuſammen⸗ 
hange allerdingd um den Beflg von Provinzen geführt, verloren mehr und mehr den 
Bernichtungscyarakter, den fie bis dahin gehabt, eine georbnete Magazinal » Verpfle« 
gung fand in allen europäifchen Heeren flatt, und wenn auch ftellenweid die leichten 
Truppen der öfterreichifchen und ruffifchen und die Freibatailfone der preußifchen Armee 
es mit gelegentlichen Eingriffen in das Eigenthum nicht gar zu genau nahmen, herrſchte 
doch im Allgemeinen die firengfte Disciplin und das Marodiren wurde unnachſichtlich 
mit dem Tode beſtraft. So war es möglih, daß man im 18. Jahrhundert vielfach 
die Truppen auf und neben Fruchtfeldern lagern und doch hungern ſah, wenn die 
Brotwagen noch nicht eingeiroffen waren, und daß die Landleute in den Lagern 
Märkte errichteten, auf welchen fle, wie im tiefften Brieden, ihre Producte verwertheten. 
Dies Derhältnig änderte ſich jedoch vollftaͤndig mit dem Ausbruche des frangöflichen 
Nevolutiondfrieged und das moderne R., die unentgeltliche und gewaltfame Herbei⸗ 
Schaffung aller für die Armee nötbigen Bebürfniffe, wurde durch den Mangel an bag» 
vem Gelde auf Seiten der franzöflfchen Militärverwaltung hervorgerufen, als in Folge 
der für Frankreich unglüdliden Bampagne von 1792 nad) dem Siege der Jacobiner 
die von ®arnot (f. dief. Art.) vorgefchlagene lev&e en masse ind Reben trat. 300,000 
Männer, denen zu einer geregelten Kriegführung nichts weniger ald Alles fehlte, wurden 
an die Grenzen beordert, durch die Decrete vom 23. Auguft und 7. September 1793 
das EigentHum der ganzen Nation zur Dispofttion der Megierung geflellt und alle 
zur Ausrüſtung und Erhaltung der Armee nothwendigen Dinge „In Mequifltion ges 
feßt*. Wurde diefes Syſtem mit fchonungslofer Energie und blutiger Strenge im 
eigenen Lande in's Werk gefeht, fo war es natürlich, daß nach Ueberfchreiten der 
Grenze, alfo in Feindes Land, ed In noch viel rückſichtsloſerer Weile ausgebeutet 
wurde. Selbftverfländlih mußte dieſe Art der Kriegführung, welche Die Armeen auf 
das Land, auf dem fle flanden, verwied und fle dadurch von Magazinen unabhängig 
machte, eine Beweglichkeit derfelben nicht nur begünfltigen, fondern — da in den aus⸗ 
gefogenen Landftrichen nicht Tange zu verweilen mar — fogar notwendig machen 
und den franzöflfchen Hreren einen ungebeuren Bortheil über die an ihre Magazine 
gebundenen und dadurch an rapiber Bewegung gebemmten alliirten Armeen geben. 
Bleichzeitig aber verlangte dag R., um vom Lande Überhaupt leben zu fünnen, eine 
größere Vertheilung der Armee in die Breite und Tiefe; um fih aber, unbeſchadet 
der Sicherheit des Ganzen fo weit außbreiten zu fönnen, war die Bildung felbfl- 
ffändiger Eolonnen aller Waffen nöthig, deren jede zu zeitweiſem Widerſtand 
befähigt war, bis die Vereinigung der Armee ftattfinden konnte; fo entflanden die 
ſelbſtſtaͤndigen Diviſtonen und Armeecorp8 als Glieder einer Armee, ebenfo erfolgte im 
Sinne der Tiefe die Gliederung in Avantgarde, Gros und Reſerve Ebenfo 
wie durch die ebenfalld aus dem Bebürfnig des Augenblicks bervorgegangene und 
dur die Natur des in feinen vieflgften Dimenflonen wieder entflandenen Volkskrie⸗ 
ge8 bedingte Eolonnen-Formation in Verbindung mit dem zerflreuten Gefecht 
der Krieg in taftifcher Beziehung einen veränderten Charakter annahm, war dies 
berall da, wo das R. In Anwendung gebracht wurde, auch mit den firategifchen 
Berhältniffen der Fall, Indem die Empfindlichkeit für die Verbindungen natur« 
gemäß mwefentlich vermindert wurde. Im Berein des R. mit dem dritten charakteri- 
ftifchen Merkmal der neueren Kriegführung, dem Conſcriptionéſyſtem (ſ. d. Art.), 
wodurd das ganze waffenfähige Volk zur Dispofition geftellt ward, fchritt der Krieg 
In feiner ganzen verheerenden Geftalt ohne Rückſicht auf Menfchenleben und Eigentum 
durch die Länder und gewann ganz feine natürliche Beftalt, die de Vernichtung» 
Tampfed, wieder. Es iſt eine eben fo allgemein verbreitete wie falfche Anſicht, daß 
die veränderte Kriegführung und namentlich ihre charakteriſtiſchen Merkmale das Pro- 


Reſchid Paſcha (A. Muſtapha, Mehemed). | 85 


duet eines einzelnen Geiſtes geweſen, und z. B. Briedrich der Große und Napoleon 
eine foldde gefhaffen Hätten. Diefelbe ift vielmehr fett das Wert der Noth- 
wendigfeit gewefen, das fih allmählig aus den Umftänden entwidelt bat. Die 
Veränderungen mit einem Schlage auß ihrer fubjectiven Anſicht heraus find nicht 
die Sache großer Männer, diefelben bringen vielmehr nur das bereits in der Ent⸗ 
widlung Begriffene zum Bewußtſein. Eben fo wenig wie Briebrih der 
Große die ältere Kriegführung mit der Lineartaftif und der Magazinals Verpflegung 
gefhaffen, fondern nur das Ueberlieferte zur höchſten Entfaltung gebracht, bat auch 
Napoleon die neuere Kriegführung nicht gefchaffen, fondern alle Elemente derfelben, 
namentlich das M., bereitö vorgefunden. Er verftand aber die große Kunft, jedem 
biefer @lemente diejenige Stelle einzuräumen, in der es feine ganze Kraft entwideln 
fonnte. Allerdings Fonnte e8 wohl feinen Feldherrn geben, dem bei feiner abfoluten 
Berahtung alles Rechtes das R. mehr zugefagt hätte, als ihm, und der es da- 
ber auch fo wie er auszubeuten verſtand. So Hatte daſſelbe namentlich bei den fran⸗ 
zöflfhen Heeren in Deutfchland einen foldyen Grad der Ausbildung erreicht, daß es 
zu einem vollfländigen Raub-, Plünderungd: und Erpreſſungs⸗Syſtem außgeartet war, 
in welchem Napoleon's Marfchälle und Generale, mit wenigen ehrenvollen Nusnahmen, 
fi Durch eine befondere Birtuofltät im Aneignen fremden Eigentums außzeichneten, 
die oft genng In einfaches Stehlen ausartete. So ift z. 3. faft die ganze ehemalige 
berühmte Bemäldegalerie des franzöftfhen Marfhalls Soult einfach aus fpanifchen 
Klöftern zufanımen „requirirt”, obwohl man die Murillo’fchen und andere Meifterwerte 
doch füglih kaum unter irgend eine Kategorie von „Heeresbedürfniſſen“ rubriciren 
fann. Es gab bei den Branzofen verfchledene Arten der Nequifltion, indem die Be⸗ 
därfniffe auf Anordnung der Befehlähaber durch befondere Nequifitions-Gom- 
mandos fortgenommen und an bie Truppen regelmäßig vertheilt wurden, oder e8 
den Truppentheilen überlaffen blieb, felbfiftändig für ihre Verpflegung zu forgen,i wo⸗ 
bei die ärgften Zügellofigkeiten natürlich nicht ausbleiben Fonnten. Man nannte dies 
„vivre à la fortune du pöt“. Die Nothwendigkeit, dem franzöfffchen Kaifer mit gleichen 
Waffen entgegenzutreten und namentlich Ihren Heeren eine dem feindlichen gleiche Des 
weglichkeit zu geben, zwang auch die Übrigen Staaten zu einer theilmeifen, aber ge= 
regelten Einführung des AR. Die Landeslieferung und Verpflegung der Leute durch 
die Quartierwirtbe ift daher bei der jetzigen Kriegführung allgemein geworden; um 
indeß der Bendlferung die Opfer des Krieges nicht noch fchmerer zu machen, als fle 
e8 ohnehin ſchon find, iſt es allgemein eingeführt, felbft in Feindesland für alle requis 
risten Bedürfniſſe ſowohl wie für die Anzahl der von den Quartiermirtben verpflegten 
Mannichaften und Pferde Duittungen (fogenannte Bons) audzujtellen, vie von den 
Offizieren beglaubigt find, um dadurch den Betreffenden Gelegenheit zu geben, bei 
fpäterer Regulirung und Vertheilung der Kriegdlaften auf das ganze Land, resp. die ° 
Staatöfaffe Beweis ihrer Leiſtungen beizubringen und Entfchädigungsanfprüce zu bes 
gründen. Eine fehr gründliche Belehrung für das Studium der Verpflegung der 
Truppen im Kriege, ſowohl in fachlicher wie in biftorifcher Beziehung bietet das im 
Jahre 1840 erſchienene Buch des ehemaligen General-Intendanten der ſchleſiſchen Armee, 
Freiherrn 9. Michthofen „der Haushalt der Kriegäheere", welches den 5. Band des. 
befannten Sammelwerks „Handbibliothek für Offiziere“ bildet. 

| Rehid Paſcha (Muflapha, Mehemed), wurde im December 1799 zu Konflan- 
tinopel geboren, wo fein Bater Berwalter der Güter einer Mofchee war. Nachdem er 
felnen Schwager Jöpartali Ali Paſcha einige Zeit als Secretär gedient hatte, arbei- 
tefe er im Miniflerium der auswärtigen Angelegenheiten und fpäter im Bureau bes 
Großveziers; 18283 murde cr Chef der Kriegskanzlei des Kapudan Paſcha Iffet Mo- 
Bamed, der das türfifche Heer im Kriege mit den Rufſſen befehligte, und 1830 Vor⸗ 
fieher der Kanzlei des Divans. Nach der Schlacht von Konieh (Decbr. 1832) ſchloß 
er zu Kiutahia den Bertrag ab, in welchem Ibrahim Paſcha einen Theil der von 
ihm eroberten Provinzen zurüdgab. Hierauf wurde er zum Geſandten in Paris und 
Zondon und 1837 zum Minifter der ausmärtigen Angelegenheiten befördert. Er lei⸗ 
tete zugleich die Meformen, welche Sultan Mahmud damals In der Verwaltung fel- 
nes Reiches einführte, und ſchloß einen Handels vertrag mit England ab. Im Herbſt 


86 Reſerve. 


1838 mußte er aber der alttürkiſchen Partei weichen und ging als außexordentlicher Ge⸗ 
ſandter nach London, Berlin und Paris. Er behielt aber das Amt eines Miniſters 
der auswaͤrtigen Angelegenheiten bei und wurde zugleich zum Paſcha erhoben. Als 
er in Paris den Tod ded Sultan Mahmud (Ang. 1839) erfuhr, Fehrte ex nach Kon⸗ 
ftantinopel zurüd, wo auf feinen Betrieb nun der befannte Hattifcherif von Gulhane 
erlaffen wurde, der freilich nie zur Ausführung Fam. Ehe er jedoch den Streit mit 
Aegypten, der ihn vorzugsmeife befchiftigte, beizulegen vermochte, wurde er am 29. 
März 1841 wieder abgefeßt und ging abermals als Gefandter nach Paris. 1843 
kehrte er in der Hoffnung, ſich der Gewalt wieder bemächtigen zu können, nach Kon 
ftantinopel zurüd, mußte aber bald einfeben, daß er feinen Gegnern nidyt gewachlen 
fei, und ging daher wieder nad Parts, das Amt eined Generalgouverneurd von 
Adrianopel, dad man ihm fpdttifcy anbot, aus Gefundheitsrudfichten ablehnend. Nach 
dem Sturze Riza Paſcha's 1845, wurde er noch einmal zum Minifler der aus waͤrti⸗ 
gen Angelegenheiten und am 28. Sept. 1846 zum Großvezier ernannt. Die alttürkifche 
Partei gab indeflen ihren Widerſtand nicht auf. Obgleich R. no im Januar 1848 
eine Iebendlänglihe Benflon von 600,000 Piaftern (außer feinem Gehalt) zugefichert 
wurde, mußte er doch ſchon am 27. April defielben Jahres feine amtliche Stellung 
wieder aufgeben; wurde aber bald darauf wieder zum Minifter ohne Vortefeuille und 
am 11. Aug. fogar abermals zum Großvezier ernannt. Er vermochte jedoch nicht zu einer 
diefer Würde entfprechenden Wirkfamfeit zu gelangen, feine IThätigfeit wurde vorzugs⸗ 
weife durch den Kampf mit der Gegenpartei in Anfpruch genommen. Louis Napolevn, 
der ihn der Parteilichkeit für England befchuldigte, trug viel dazu bei, R.'s Stellung 
unfiher zu machen. Im Sommer 1852 wurde er entlaffen, und drei Tage fpäter 
zum Präfldenten des Staatsraths und nach 41 Tagen abermald zum Großvezier er⸗ 
nannt, am 7. Octbr. 1852 aber fah er ſich noch einmal zur Niederlegung feines Am⸗ 
tes gezwungen. Außer feinen einflußreichen Gegnern war auch die Menge der alt- 
gläubigen Türken damals heftig gegen ihn erbittert, und er mußte ſich längere Zeit 
verborgen halten, um nicht ein Opfer der Volkswuth zu werden. Als aber im Frühe 
jahr 1853 die Forderungen Rußlands den Sultan in Verlegenheit fegten, ernannte 
er R. (am 13. Mai) noch einmal zum Minifter der auswärtigen Angelegenheiten... Er 
ſchloß fih nun an den britifchen Gefandten Stratfort de Redcliffe an und befeſtigte 
dadurch feine Stellung. Im Herbſt defjelben Jahres wurde er wieder Großvezier. 
Außerdem murde fein zweiter Sohn Ali⸗Ghalib Pafcha 1854 mit einer Tochter bes 
Sultans vermählt.e Dadurch wurde die Erbitterung feiner Feinde aber nur gefteigert, 
und es gelang ihnen noch in demſelben Jahre, R. noch einmal zu flürgen. Diefer 
zog ih nun in da& Privatleben zurüd. Nach dem Zrieden von Paris 1856 gelang 
es ihm aber fi zum fünften Male an die Spige der Verwaltung zu flellen. Die 
Neorganifation der DonausFürftentbümer befchäftigte ihn jet vorzugämelfe, aber ebe 
er fie noch vollendet Hatte, mußte er im Mai 1857 feiner Stellung ſchon wieder ente 
fagen, da der Kaifer Napoleon ihm Immer feindfeliger entgegentrat. Indeſſen blieb 
R. Minifter und übte als Präfldent des Tanſimatrathes noch Immer einen bedeuten» 
den Einfluß aus. Es gelang zwar bald darauf dem franzöſtſchen Gefandten, ihn auch 
auß diefer Stellung zu verbrängen, aber fein Sieg währte nur einige Tage. Am 
22. Octbr. 1857 war R. ſchon wieder Großvezier. Sir Stratfort, welcher diefe Er⸗ 
Hebung bewirkt Hatte, verließ bald darauf Konftantinopel und der frühere Kampf be= 
gann von Neuem mit verboppelter Energie. Ehe er jeboch zu einem Ergebniß ge- 
langte, erfrankte R. im December und ftarb 7. Januar 1858. 

Reservatio mentalis f. Jeſuiten. 

Reſerve nennt man diejenigen Truppen, welche dazu beflimmt find, die im 
Gefecht ſtehenden Abtheilungen nach Bedürfnig zu unterflügen, den enticheidenden Stoß 
gegen die erfpähte Schwäche des Feindes auszuführen, Blanfe und Rüden der Käm⸗ 
pfenden, endlich für den Ball des Nüdzugs dieſen zu decken. In einzelnen Bällen 
fommen Referven ſchon in den Kriegen der griechifchen Alten vor, und bei der Legions⸗ 
ſtellung der Römer find Die Triarier ganz entfchieden ala ſolche anzufehben. Daß 
Charakteriflifche der R. if, daß fie nicht von Anfang an mit in den Kampf verwidelt, 
jondern gedeckt aufgeſtellt wird, daß fle vor vorzeitigem Verluſt bewahrt und fo, wo mög« 


Reſerve. 87 


lich au dem Auge des Feindes entzogen, jeden Moment bereit iſt, in die Schlacht 
einzugreifen. Vor Erfindung der Feuerwaffen nahm die R. etwa die Stellung ein, 
weldye jetzt unfer zweites Treffen bat, und auch da war fie noch vollfändig außerhalb 
der feindlichen Waffenwirkfung. Später trat fie aber als ſolches zweites Treffen von 
vorn herein mit in die Schlachtlinie, und zur Zeit der Lincar«Taftif, wo die Aus⸗ 
dehnung der erfleren mehr in die Breite, als in die Tiefe ging und alle vorhandenen 
Kräfte von vorn herein einander gegenübergeftellt wurden, war der Begriff der R. 
faft abhanden gefommen. In den Schlachten des 18. Jahrhunderts finden wir faft 
nirgends eine R. mit dem audgefprochenen Zwed, eine Dispofitiondtruppe in 
der Hand des Feldherrn zu fein, hoͤchſtens fungirte, falls es nöthig wurde, daß dritte 
Treffen, wenn ed vorhanden war, als ſolche. Selbſt Friedrich der Große Hatte fafl 
nie eine Reſerve, denn die wenigen Schwabronen, die er zumeilen al& drittes Treffen 
vorläufig zurüdhielt, kann man faum ald folche bezeichnen. ine Infanterie», nad) 
weniger aber eine Artillerie» Meferve Eannte man nicht, und diefe find erfl mit dem 
Auftreten der „neueren Kriegskunſt ein unentbehrlihes Glied in dem Mechanismus der 
Kriegführung geworden. Das Charakteriſtiſche der neueren Kriegführung iſt, daß die 
Auffielung nicht, wie bei der Linear» Taktik, in die Breite, fondern in die Tiefe 
geht; es ift dies einerfeitd die nothwendige Kolge der Golonnen- Formation, 
andererjeitö ded Requiſitions⸗Syſtems (f. dief. Urt), und dadurch die Blieden 
sung in Avantgarde, Gros und Meferve gegeben. Gharafteriftifch für die neuere 
Schlacht iſt ed, daß während früher die Entfcheidung durch den erfien Stoß, alfo 
im Ganzen fhnell erfolgte, jegt ein allmähliches Verzehren der Streitkräfte ein⸗ 
tritt; Friedrich der Große, der Mepräfentant der Taktik feiner Zeit, griff meift mit 
der fchrägen Schlachtorbnung den Beind da an, wo er deſſen Schwaͤche erſpaͤht hatte, 
wodurd er gleichzeitig durch den refuflsten Flügel den Mangel der R. erfegte. Durch 
die Beweglichkeit der heutigen Armeen, die Kunfl, fih dem Terrain anzufchmiegen, 
würde heut zu Tage der Dertbeidiger in der Lage fein, dem ihn mit 
der ſchiefen Sclachtordnung AUngreifenden in einer Weife entgegenzutreten, 
welche „den Lepteren in die größte Gefahr bringen müßte Es if da= 
ber der neuere Angriff gezwungen, meift mit paralleler Front vorzugehen, 
den Feind auf allen Bunften zu berühren, theild um zu recognosciren, theild um den 
ſchwachen Punkt der feindlichen Stellung zu erfpähben, oder durch das Gefecht ſelbſt 
erfi einen foldhen zu erzeugen, gegen welchen man dann durch den Stoß mit frie- 
ſchen Kräften — oder der R. — die Enticheidung giebt. Danach iſt es Elar, daß 
dem der Sieg zufällt, der die befle Dekonomie der Truppen anzuwenden, am läng«- 
ften friſche Streitkräfte zu bewahren verfleht. Hierin war Napoleon Meifter und 
diefen Talente verdankte er zum größten Theil feine Siege. Den Charakter, den die 
heutige Schlacht im Großen hat, trägt naturgemäß jedes Gefecht im Kleinen. Es 
muß alſo für jeden felbfifländig auftretenden Zührer, und fei er nur ein Gompagnie- 
Gommandeur, Ariom fein, nicht von vorn herein mit allen disponiblen Kräften 
in das Gefecht zu geben, jondern fich eine Reſerve zurüdzubalten, über die er nachher 
den durch das Gefecht Herbeigeführten Umfländen gemäß disponirt. Nanıentlich bei 
Local⸗Gefechten ift e8 durchaus nöthig, daß nicht nur dem Öberbefehlähaber eine 
allgemeine Referve zur Dispofition fleht, fondern auch jeder mit der Vertheidi⸗ 
gung eines Abſchnitts beauftragte Offizier fi eine jpectelle Neferve bildet. Wie 
bereitö bemerkt, muß der Aufftellungspunft für die R. fo weit zurück gewählt wers 
den, daß fie vom feindlichen Feuer nicht leide, aber nah genug, um rechtzeitig 
in das Gefecht einzugreifen; endlih muß fte der Einficht des Feindes entzogen 
fein, damit Diefer weder fein Feuer dorthin richten, noch ihre Stärke erfunden kann. 
Srifche Truppen in gebedter Aufftellung, um überrajchend auftreten zu Eönnen, find 
die Haupterforderniffe, um eine günflige Wirkung der R. zu erzielen. Iſt die der 
Ball, fo kann ſelbſt eine verhältnißmäßig geringe Zahl bedeutende Erfolge erzielen, 
und die neuere Kriegögefchichte Liefert zahlreiche Beifpiele, wo menige frifche Bataillone 
die einem Durch die Anflrengungen eine heißen Schlachttages erfchöpften Feinde, der 


bis dahin tapfer Stand gehalten Hatte, entgegentraten, die Enticheidbung des Tages 


herbeiführten, oder die ſchon faft verlorene Schlacht zum glänzenden Siege wendeten, 


— — — _-- 


88 Reſſel (Joſeph). 


Die abſolute Nothwendigkeit einer ſtets vorhandenen R., deren Stärke im Allgemei⸗ 
nen auf 1, bis 1/; des Ganzen bemeſſen wird, iſt fo allgemein anerkannt, daß ſchon 
bei der Aufftellung der allgemeinen Ordre de bataille eine Truppenanzahl aller Waffen- 
gattungen beflimmt wird. Diefe R. beſteht bei einem Armee⸗Corpé tm Allgemeinen 
aus einer Brigade Infanterie, fämmtliher Cavallerie, mit Ausnahme der der Avant 
garde und den Divifionen zugetheilten Megimenter, ber fogenannten Referver 
Cavallerie, und einer Anzahl Batterieen, bei welcher ſich die Runitions-Eolonnen 
befinden — der Meferve - Artillerie Sämmtliche Meferven flehen direct unter dem 
Befehl des commandirenden Generald, der allein über fie zu verfügen hat und 
nach Maßgabe der Verbältniffe aus vderfelben der Avantgarde, den Diviflonen oder 
den Detachementd einzelner Negimenter und Batterleen zu befonderen Zwecken zu- 
theilt. Während diefer Zutheilung ftehen diefelben dann unter dem Befehle desjent« 
gen, dem fie zugewiefen find, treten aber, nachdem der beflimnte Auftrag erfüllt iſt, 
wieder zur R. zurüd. Bei Zufammenfegung größerer Armeen aus mehreren Corps 
wird gewöhnlich eine derſelben von vorn herein zur firategifchen Reſerve be 
flimmt, und die Dispofttion Über daffelbe fteht allein dem Oberbefehlehaber zu. Dies 
fchließt jedoch natürlich nicht aus, daß biefer fich einerſeits aus Theilen der übrigen 
Corps für den Tag einer Schlacht eine befondere R. zufammenfegt und über diefe 
fich die alleinige Verfügung vorbehält, andererſeits iſt es durchaus nöthig, daß die⸗ 
jenigen Unterführer, Brigade», Diviflond- und Corps⸗Generale, welche felbfifländige 
Aufträge bekommen, ſich aus ihren Truppen Reſerven bilden, über die fie ſelbſt ver- 
fügen. Es ift dies ſchon darum nöthig, da ihnen nur im Allgemeinen der zu erfüls 
ende Auftrag — alfo 3. B. Wegnahme oder Behauptung einer Pofltion — anges 
geben werben kann, die Art der Ausführung, alfo die Anwendung der taftifhen 
Mittel, aber natürlich ihrem Ermeffen überlaffen bleiben muß. Das Vorhandenſein 
der R. ermöglicht erſt die taftifche Selbftfländigfeit eines Truppentheils; dieſe Selbfl« 
fländigfeit der einzelnen Glieder der Armee iſt aber eines der wefentlichfien Merkmale, wo⸗ 
durch fich die Kriegführung der neueren Zeit von ber des vorigen Jahrhunderts unterfäheidet. 

Reſſel (Iofeph), geboren 1793 zu Chrudim in Böhmen, if der Erfinder der 
Idee, Schiffe mitteld der Schraube fortzubemegen, durch welche eine volffländige 
Umwälzung im Schifffahrtswefen, namentlich In der Kriegsmarine herbeigeführt iſt. 
N. that ſich früh durch mathematifche Anlage und Geſchicklichkeit im Zeichnen hervor, 
widmete fi den Forſtfache und foll ſchon im Jahre 1817, als er in Krain Im Dienft 
fland, ein kleines Modell eines Schraubenfchiffes verfertigt Haben. 1821 Tam er als 
Waldmeiſter nach Trieft, mo ihm die Verwirklichung feines Lieblings-PBrojectes näher 
rüdte Er machte aus feinen Ideen Fein Geheimniß und war, nach manchen vergeb- 
Iihen Bemühungen zur Gewinnung thätiger Beihälfe in ber Ausführung, 1826 fo 
glücklich, daß die Kaufleute Jultan und Toſitti ſich bereit finden Tiefen, die Koften 
zur Anfertigung einer Schraube zum Betrage von 60 Gulden zu übernehmen. Ban 
betrachtete die Sache als Spielerei mit Ausnahme des Erfinders felbft, der feiner Sache 
fo gewiß war, daß er ein Patent auf feine Erfindung nahm. Als er aber Tithogra- 
phirte Einladungen zur Theilnahme an einem größeren Unternehmen mit feiner Er⸗ 
findung verfendete, ohne dieſe der Genfur unterbreitet zu haben, wurden die Gircus 
lare von der Polizei confldcirt und R. in einen Preßproceß verwidelt. Unter dieſem 
polizeilichen Druck verfertigte er heimlich ein Fleines Schraubenboot für Mehemed Aly, 
den Vicekdnig von Aegypten, und fpäter erlaubte der Hoflanzler Graf Saurau den 
Dau eines Schrauben » Dampfbootes in Trief. Der Bau ging wegen Geldmangels 
nur langfam vor fidh, und mährend deſſelben entlodten drei Branzofen — Pifard, Ma⸗ 
rad und Rizier — R. die Details feiner Erfindung, veranlaßten ihn, ſelber nad Pa⸗ 
is zu fommen, und brachten dort daß erfle Schrauben-Dampfichiff zu Stande, deſſen 
Erfindung fle für fich felber in Anfpruch nahmen, R. von der Ehre, wie von dem 
Gewinn ausfchließennd. Die Briorität RE vor allen übrigen gleihartigen Verſuchen 
ift in Defterreich amtlich geprüft und, in Folge des ihm günftigen Ergebniffes, aut 
18. Sanuar 1863 demfelben in Wien ein Monument in Bronzeguß vor dem Poly- 
technicum errichtet worden, auf welchem als Datum der erften Anwendung des Prin- 
cipe der Schraube als Propeller dad Jahr 1827 genannt If. 


Reftauration. (Anknüpfung an die Gonflitution des Kaiſerreichs.) 8 


| Reftauration hieß bereits die Wiederaufrichtung des Koͤnigthums in England 
durh die Zurädführung Karl’ Il. aus dem Haufe Stuart (1660) nad der Crom⸗ 
well'ſchen Beriode; vorzugsweife aber führt diefen Namen die Wiebereinfegung des 
Haufe Bourbon in Frankreich nah dem Sturze Napoleon's 1814 und nad der 
Schlacht bei Waterloo, und im Ganzen und Großen heißt die Periode der franzoͤ⸗ 
ſifchen Befchichte von 1814 an bis zur Julirevolution von 1830 die Zeit der R. Das 
Intereſſe dieſer Beriode iſt das parlamentarifche; auf der Bafld der von Ludwig XVIII. 
verliehenen conflitutionellen Eharte will das Koͤnigthum feine Initiative und Praͤro⸗ 
gative behaupten, will der mit dem bourbonifchen Königthum wieder aufgerichtete 
alte Adel fomohl in der Pairöfammer wie in der der Deputirten feine politifche 
Geltung zurüderobern und will dad von der Mevolution emancipirte und unter Na- 
poleon reich gewordene Bürgerthum in der Deputirtenfammer feine Anſprüche auf 
Theilnahme an der Staatöverwaltung durchſetzen. Nachdem in den Artikeln Fraukreich, 
Zudwig XVII. und Karl X. die allgemeinen Hiftorifchen Daten bereits angegeben find, 
werden wir in gegenmwärtigem Artikel das Wefentliche diefer Periode, die parlamen⸗ 
tarifche Entwidlung in Kurzem darflellen. Die Charte, um deren Auslegung und 
Anwendung ſich die Streitigkeiten und Sermürfniffe der Meflaurationdzeit bewegten, 
war urſpruͤnglich von demfelben Eaiferl. Senat, der am 2. April 1814 die Abfegung 
Napoleon's beſchloſſen hatte, am 6. April entworfen worden und enthielt in biefer 
ihrer erftien Form den Sag, wonach die Bourbond „auf den Thron zurüdberufen“ 
wurden. Auf feiner Rückkehr aus England nad Brankreih, den Tag vor jeinem 
Einzuge in Paris, erließ Ludwig XVII. von St. Ouen aus, am 2. Mai, feine Er- 
Märung, wonach er das Wefentliche jener Eonftitution vom 6. April in zwölf Punkten 
annahm, Bas Banze aber einer Gommillton des Senats und des gefeßgebenden Körs 
pers zur nochmaligen Mevifton untermarf. Alsbald nach dem Abſchluß des Friedens 
vom 30. Mai 1814 ließ er in feiner Gegenwart die durch feine Minifter d'Ambray, 
Montesgquiou und Ferrand von Neuem entworfene und durch neun Senatoren und 
neun Deputirte geprüfte „conflitutionelle Charte“ durch feinen Kanzler d'Ambray 
am 4. Juni dem Senat und dem gefepgebenden Körper vorlegen. Obwohl biefelbe 
einmütbig anerfannt und einregiftrirt wurde, fo bemerfte man es Doch ald bedeutungds 
voll, daß, als der Kanzler die Charte eine Reformations⸗Ordonnanz nannte, feine 
Stimme vom Murren der Verfammlung bededt wurde und diefe in eine außerordent- 
liche Bewegung gerieth. Während die Anhänger Napoleon's im Geheimen confpirirten 
und das Bürgerthum mit Unruhe auf die Bemühungen des Königs, die alten monardhifchen 
Formen wieder herzuftellen, hinblidte, war Fouché (f. d. Art.) unter der Hand thätig, 
dem Bürgerthum, deſſen fchließlicher Sieg Ihm gewiß fehlen, den Weg zur Gewalt 
za bahnen. Sein Erfolg war fo groß, daß WMontesquiou ſchon mit mehreren ein« 
lugreichen Männern der royaliftifchen Partei darüber berieth, ob es nicht angemeflen 
fel, die Macht einem liberalen Miniſterium anzuvertrauen; das Minifterium, welches 
er in Borfchlag brachte, war eben dasjenige, welche Fouché vorbereitet hatte. Der 
Streit über die Einheit der Gewalt befand ſich in diefem Zuflande des Schwankens, 
als ihn die Rückkehr Napoleon’8 von Elba und deſſen Einzug in Paris (am 20. März 
1815) unterbrach. Die hunderttägige Herrſchaft des Kaiferd Hatte aber für das 
Dürgertbum in fofern eine große Bolge, ald es in der Additionalacte (f. d. Art.) 
eine neue Anerkennung feiner politiichen Rechte erhielt; der Ball Napoleon’8 war 
ſodann für daffelbe in fofern von Bedeutung, als dadurch der Beweis geführt wurbe, 
dag eine Regierung, die ſich nicht auf feine Theilnahme flügte, (dieſelbe hatte ce 
nämlih dem Kalfer verfagt) nicht haltbar ſei; dann diente dad Börfen- und Mafler- 
seihäft, welches für die Aufbringung der Hunderte von Millionen zur Unterhaltung 
der fremden in Brankreich flationirten Truppen und für die Kriegsentfchädigung der 
Alllirten in Gang gefept wurde, zur Vergrößerung und Befeftigung des bürgerlichen 
Reichthums. Als Ludwig XVII. am 8. Juni 1815 in Paris wieder eingog, hatte er den 
Binifter v. Blacas, der dem Bürgerthum befonders anſtößig war, bereit entlaffen 
unb ernannte ex fogleih am 9. Juli fein neues Minifterium, an deflen Spike er 
Zalleygrand fiellte; die Ernennung Fouché's zum Polizeiminifter war eine Barantie, 
die er dem Bürgertfum noch befonderd geben mußte. Es Fam nun darauf an, eine 


90 Reſtauration. (Die chambre introuvable.) 


nzue Wahlfammer zu berufen. Die R. von 1814 hatte den gefeßgebenvnen Körper 
des Kaiferreich8 ald Zweite Kammer beibehalten. Während der hundert Tage war 
eine neue Deputirtenlammer durch die alten Wahlkörper, aber ohne Einmifchung der 
Negierung gebildet und am 13. Juli aufgelöft worden. Die zweite R. ließ bie 
Arrondiffements- und DepartementaleCollegien aud den Zeiten Napoleon’ beftehen, 
da ed ihr an einem detaillirten Wahlgefege fehlte und die Charte nur im Allgemeinen 
anordnete, ein Wähler müſſe mindeftend 30, ein Deputirter 40 Jahre alt fein und 
der erſtere mindeſtens 300, der legtere 1000 Francs directe Steuern zahlen. Die 
Wahlordnung für die fegt einzuberufende Kammer beflimmte nun, daß die Ürrondiſſe⸗ 
ments-Collegien Gandivdatenliften zu entwerfen hätten, aus benen dann die, aus den 
Höchftbeiteuerten beftehbenden Departemental-Eollegien die Eine Hälfte der Deputirten 
ernennen follten, während fie, ohne an die Vorſchlaͤge der Arrondiffements gebunden 
zu fein, Die andere Hälfte wählen fonnten. Außerdem erklärte die Wahlordnung ein 
Alter von 25 Jahren für genügend zum Deputirten und fegte die Zahl der Depu: 
tirten auf 402 fe. Gleichzeitig wurde das Schidfal der Pairdfammer geordnet. 
Nach der erfien A. hatte Ludwig fänmtliche von Napoleon ernannte Senatoren — 
(mit Ausfchließung von 57 Mitgliedern, die durch andere erfegt wurden) — als Pairs 
einberufen. Jetzt wurden diejenigen, welche die Pairie der Hundert Tage acceptirt 
batten, Ihrer Würde beraubt, Dagegen 90 neue Baird ernannt und der Körperfchaft 
auf Den dringenden Wunfch Talleyrand's, aber von Ludwig nur nach längerem Wider» 
fireben, die ihr in der Moditionalacte gewährte Erblichkeit zugefichert. Die Wahlen 
zur Deputirtenfammer gefchahen in jener Zeit des Schredens, in welcher, befonders 
im Süden des Landes, Tumulte und zahlreiche Mordthaten die Erhebung der Royaliſten 
gegen die Diener der Hepublif und des Kaiferreich8 bezeichneten. Ende Auguft waren 
die Wahlen vollzogen; neben der bevorflehenden Berfammlung war die Stellung 
Fouché's unmöglich geworden; er nahm am 19. September feine Entlaffung; eine 
Woche darauf folgte ihm Talleyrand. Derfelde ſah voraus, daß das Miniſterium 
ſich allein vor der Oppoſition der Kammer nicht behaupten fönne, und fragte ben 
König, ob daB Gabinet in dem bevorfiehenden Kampfe auf den Beiftand der Krone 
zählen dürfe; Ludwig fah in dieſer Beforgniß eine beleidigende Anmaßung, entließ 
das Minifterium und flellte den Herzog von Nichelieu an die Spige des neuen Ca- 
binetd. "Die Seele defjelben war jedoch Decazes (f. d. Art.), der Polizeiminifter 
deffelden; in ihm bemüchtigte fich dad Bürgertum der Gewalt, nachdem Talleyrand's 
Miniftertum bei der bloßen Annäherung der Wahlkammer zufammengefallen war. 
Die Kammer, die bald darauf den Namen der chambre intrduvable erhielt, nannte 
fih eine ſchlechthin royaliftiiche; Treue gegen den König, Enthuflasmus für das Kö- 
nigthum war ihre Parole, und ihre ganze Thätigkeit ift eine Reihe von Angriffen 
gegen die Initiative der Krone! Der erfle Gefegentwurf, den ihr der Großſtegel⸗ 
bewahrer vorlegte (er betraf Die Beflrafung aufrührerifcher Ausrufe), ward von ihr 
mit lautem Murren aufgenommen und fpäter nur mit wefentlichen Modiftcutionen ges 
nehmigt. Die Gefegeövorlagen über die Sudpenflon der perfünlichen Freiheit, fo wie 
über die Prevotaljuftiz werden von ihr erfl angenommen, nachdem fle diefelben corri« 
girt und ihnen ihren Stempel aufgedrüdt bat. Nur mit Mühe hatte dag Minifterium 
die Bermerfung einiges von den Verfchärfungen, welche die Commiſſion an dem Prep- 
geießentwurf angebracht hatte, durchſetzen koͤnnen. Die königliche Ordonnanz vom 
24. Juli 1815 Haste 19 Generale und Offiziere, die im März zu Napoleon übergegan- 
gen waren, dem SKriegögericht übermiefen, 38 andere zur Berbannung verurtheilt. 
Als Die Kammer diefe Ordonnanz legalifiren follte, ufurpirte fie ſelbſt die perfönlidyfte 
Prärogative der Krone. Die Ordonnanz vom 24. Juli follte nur die Ausnahmen 
von dem Amneftiegefeg fpecificiren, mit meldhem Ludwig nad der Schladht von Wa- 
terloo den franzoͤſiſchen Boden betreten hatte; Die von der Kammer niedergefegte Conı- 
miffton flellte dagegen unter der Leitung Labourdonnay's zur Ordonnanz Amende⸗ 
ments, weldye die ganze Amneftie illuforify machten und auch die Büterconfidcation 
wieder einführten. Vergebens benugte Nichelieu den Eindrud, den Ney's Erfchiefung, 
am 7. December, hervorgebracht Hatte, um an demfelben Tage feinerfeitö ein Amneſtie⸗ 
gefeg einzubringen und dadurch der Berathung der Vorfchläge Labourdonnay's zuvor⸗ 


Reſtauration. (Das Miniſterium Hichelieu's.) 91 


zukommen. Die Kammer verwies vielmehr auch dieſe Regierungsvorlage an ihre Com⸗ 
miſſton und trug auf die Genehmiguug der Ausnahme-Kategorieen an, welche jener 
Deputirte aufgeftellt Hatte. Als der Commifftondbericht in der Kammer verlefen war, 
verließ Nichelteu die Sigung, und nad) zwei Stunden wieder eingetreten, erklärte er, 
daß ber König ſich poſitiv weigere, ſowohl die Kategorieen als den Borfchlag, den 
wegen ihres Benehmens in den hundert Tagen DVerurtheilten Gelbbußen aufzulegen 
und dieſe zur Bezahlung ber Kriegskoſten zu verwenden, anzunehmen. Dennoch wur⸗ 
den dieſe beiden Vorſchläge nur mit einer Mehrheit von 9 Stimmen verworfen, alle 
übrigen Verfchärfungen des Amnefliegejeged mit großer Maforität angenommen. Da- 
mals entfland der Ausruf: „Es Iebe der König, quand meme!* Ein Kammermitglied, 
v. Bethufy, brachte ihn zuerft auf und wurde dafür vom Beifall der Kammer belohnt. 
Bald darauf variirte dieſen Ausruf Chateaubriand mit feiner Formel: „Retten wir 
den König, quand m&me!“ d. h. felbft wenn er nicht gerettet fein will. Ebenfo verwarf die 
Kammer zwei Borfchläge, durch welche Die Regierung das lückenhafte Wahlgefeg fortbilden 
und fi von der „fünfjährigen Tyrannis“ diefer Kammer befreien wollte. Durch ben 
erfien Borfchlag wollte die Regierung die Beflimmung der Verfaffung, wonach ein 
Bünftel der Deputirten nad jeder Sefflon ausſcheiden mäffe, feflhalten und fo fich 
wenigſtens eine theilmeife Erneuerung ber Kammer fihern; durch den zweiten Vor—⸗ 
Ihlag, wonach in jedem Canton ein Wahlcollegium errichtet werden und dem König 
die Befugniß zuflehen follte, jedem dieſer Wahlcsllegien die Friedensrichter, General» 
vicare, Pfarrer u. f. m. beizugeben, wollte e8 dem Königthbum Einfluß auf die Wah⸗ 
len verfchaffen. Die Kammer verwarf indeflen nicht nur beide Vorfchläge, fondern 
ſtellte auch ein anderes Project auf, welches die Wahlen ausſchließlich in die Hände 
der großen Grundbeflger gegeben haben würde. Selbft die Pairdfanımer wurde über 
die Macht einer Kammer unruhig, welche alle anderen Staatögewalten zu abforbiren 
drohte, und verwarf am 3. April 1816 dad Project der Deputirten. Am 29. April 
warb bie Seiflon gefchlofien; durd die Ordonnanz vom 5. September befreite ſich Lud⸗ 
wig von einer Kammer, welche die parlamentarifche Allmacht proclamirt hatte, und 
appellirte an neue Wahlen. Die Ordonnanz ftellte zugleich, Indem fie die bisherigen 
Wahlcollegien beſtehen ließ, die früheren Beſtimmungen der Charte über dad Alter 
ber Deputirten ber und beichränfte ihre Zahl mieder auf 258. Nur 100 von den 
alten Majoritätd» Deputirten kamen in Die neue Kammer, die am 4. November er- 
öffnet murde, fo daB das Babinet eine Maforität von etwa 60 Stimmen für fi 
hatte. Das Bürgerthum, welches durch Decazes den König beberrfchte, bewilligte in 
diefer Kammer die erceptionellen Gefege, welche der Minifter einbrachte, z. B. aud 
das Geſetz, wonach die periodische Preſſe bis zum 1. Januar 1818 unter Benfur 
Reben follte, während dieſe Genfur bisher nur auf einer Ordonnanz berußte. Die 
altroyaliſtiſche Partei warf ſich Dagegen zu BVertheidigern der Volfsfreiheit gegen bad 
Rinifterium auf; fo beklagte ſich Villele über den inconflitutionellen Einfluß des 
Königs auf die Wahlen im Departement des Pas de Calais; Waftelbafac und 
Labourdonnay vertheidigten auf der Tribüne die Freiheit der Preſſe und der Berfonen, 
wie 3. B. die Verhaftung eined ropaliftifhen Glüddritters Namens Nobert, der aus 
der Beihimpfung der königlichen Majeftät ein Metier gemacht hatte, und die linter- 
drüdung feines Journals zu den leidenfchaftlichfien Angriffen gegen den Polizetminifter 
Anlaß gab. Der Hauptfampf fand aber um dad von der Megierung vorgelegte Wahls 
geſetz flatt. Daffelbe bob das Liebergemicht der Royaliſten auf, indem es die indirecte 
Wahl nad) Arrondifjementd- und Departemental- Gollegien abfchaffte, ferner befeitigte 
es die Zerfplitterung der Wahlförper und die localen Einflüffe der großen Grund⸗ 
beſttzer, indem ed in jeder Wahlverfammlung möglichft viel Wähler vereinigte; jeder 
ZOjaͤhrige Franzoſe, der 300 Fres. Directe Steuern zahlt, ift nach dieſem Geſetz Waͤh⸗ 
ler; die Wähler jedes Departements bilden Einen Wahlkoörper und ernennen direct 
die auf dad Departement fallende Anzahl von Deputirten; find der Wähler in einem 
Departement mehr ald 600, fo werben fie zwar in Sectionen getheilt, deren feine 
unter 300 Mitgliedern haben darf, die Stimmen aller Sectionen werden aber zu⸗ 
fommengezählt. Die Zahl der Wähler ward durch dieſes Geſetz auf 91,000 ers 
höht, die des Wählbaren, d. h. der Bürger von 40 Jahren, die 1000 Fres. Steuern 


92 Neftauration, (Der Sturz Richelieu's.) 


zahlen, auf 16,000. Das Winiftertum hatte diesmal einen. harten Stand. „Beugt 
nit, warnte Labourdonnay, dad gefammte Volk unter das Joch der drücdendften, 
der übermüthigften, der gehäfftgften Ariftofratieen! Zwingt ed nicht, das goldene 
Kalb anzubeten!” Dagegen ermiderten die Negierungdcommiffarien: „Alle Intereſſen 
werben in bdiefer Kammer vertreten fein, wenn man die Mittelklaffe, die Eleinen Eigen⸗ 
thümer hineinzieht.“ „Dies Gefeg iſt Die ganze Eharte”, rief der royaliftifch « conftie 
tutionelle Theoretiker Royer⸗Collard aus. Das Minifterium Hatte diesmal nur eine 
Majorität von 32 Stimmen in der Deputirtenfammer, nur von 183 Stimmen in der 
Pairskammer. Am 5. Februar 1817 ward das neue Gefeg veröffentlicht. Die Folgen 
deſſelben zeigten fich bereits im Herbſt des Jahres 1817 bei der Erneuerung des erflen 
Fünftels der Deputirtenfammer ; die Bandidaten ded Bürgertbums (unter ihnen Gaflmir 
Perier und Dupont de l'Eure) waren die flegreichften. Dieje wachfende Fraction der 
Independants, die fich zwei Jahre fpäter Liberale nannten, begnügte ſich nidyt mehr 
damit, der Regierung nur ald Mittel zur Befeitigung der ariftofratifchen Oppofttion 
zu dienen; außerdem begann bereit8 in der Mafle des Volkes die Verjchmelzung ber 
bürgerlich » conflitutionellen Oppofltion mit der militärifch » Bonapartiftifchen. ALS bie 
Neumahlen für das zweite Fünftel der Deputirten im October 1818 vorgenommen 
wurden, batten die Indepenbants bereit ein förmliches Wahlcomite in der Hauptflabt 
organifirt, dem ſich ©elehrte, Iournaliften, reiche Eigentümer und Banquiers an« 
ſchloſſen, während die Bevoölkerung täglich mehr geneigt wurde, gegen die Kandidaten 
eines Miniftertums zu flimmen, welches in dem Beamtentbum diefenigen auf ihren 
Poften befhügte, die in den Schredendauftrittien, Tumulten und Gräuelfcenen der 
Jahre 1815 — 1817 die Terroriften geleitet hatten oder zu muthlos gemwefen waren, 
ihnen Widerftand zu leiften. Der Gewinn, den diesmal die Independants aus ben 
Wahlen davontrugen, befand aus 20 Deputirtenfigen. Michelteu, der damals auf 
dem Aachener Congreß mit den drei Monarchen der heiligen Allianz; und mit den 
Vertretern Englands über die Raͤumung Frankreichs durch die Truppen der Alllirten 
unterhandelte und die Gewährung derfelben auch erhielt, wurde dur das Ergebniß 
der Wahlen in lebhafte Beſorgniß geſetzt: „Ich mag die royaliſtiſche Eraltation doch 
noch eber leiden als den Jakobinismus, ſchrieb er feinen Collegen nah Parid, und 
kann nicht ohne Angft die Männer der Hundert Tage wieder auftauchen ſehen.“ Auch 
die fremden Monarchen wurden den Irrthum gemwahr, in dem fie fich befunden batten, 
als fle dur die Empfehlung und Begünftigung des Gonftitutionaligmus den Krieden 
in Sranfreich zu begründen glaubten, und dußerten gegen Richelieu ihre Befürchtungen. 
Noch glaubten fle, das eine Aenderung des Wahlgefeßed helfen könne, der Minifter 
übernahm auch-die Verpflichtung, eine folche zu veranlaffen, und traf Ende November in 
Paris mit der Abficht ein, dieſem Berfprechen nadyzufommen. Decazes, der mit dem Wahl⸗ 
gefeg vom 5. Sebruar fallen mußte, leitete jedoch die nun folgende Miniſterialkriſis fo 
geſchickt, daß er, während Richelieu feinen Poſten aufgab, mit der Bildung eines neuen 
Minifteriung beauftragt wurde. Zunächſt überließ er in demfelben den Vorfig mit dem 
Portefeuille de8 Auswärtigen dem General Defjolled; er felbfi übernahm das Innere 
und ließ das Polizeiminifterium, welches fi vor dem Ruf des Bürgerthums nad 
Befeitigung aller politifchen präventiven SicherheitSmaßregeln nicht mehr behaupten 
fonnte oder zur bloßen Sinecure werden mußte, eingeben. Das Bürgerthum zeigte 
fih in der Deputirtenfammer entfchlofien, die von der chambre introuvable zuerft ge⸗ 
fchmiedete Waffe der parlamentarifchen Debatte für Die Ermeiterung feiner Macht zu 
benugen und ſich die Verwaltung zu unterwerfen. Die Rairöfammer machte zwar den 
Verſuch, dur Aufhebung des Wahlgefeged dad Webergewicht der Deputirtenfammer 
zu brechen, und nahm den Antrag des ehemaligen Directors der Republik Barthelemy: 
„Se. Majeflät zu erfuchen, diejenigen DBeränderungen des Wahlgefeßed vorzufchlagen, 
die nach den bisherigen Erfahrungen nöthig erfcheinen koͤnnten,“ trotz des Wider- 
ſpruchs der Minifter mit großer Maforität an. Den Tag darauf, den 5. März 1819, 
brach dieſe Oppofltion der Pairskammer eine Ordonnanz, welche 61 neue Pairs 
ernannte, beinahe lauter militärtfche und adminiſtrative Notabilitäten der Katferzeit. 
Die Xiberalen begrüßten diefe Maßregel, in weldyer ihre Gegner einen Staatsſtreich 
fahen, mit endlofem Jubel als die ficherfle Bürgſchaft für die Aufrechterbaltung bes 


TEE, 5 dd 5 uns “ 


Neftanration. (Das Minifterium Decazes'.) 93 


Wahlgefeges und unterflügten das Minifterium aus allen Kräften, namentlich bei der 
Debatte über dad Preßgeſetz. Die bisherige Geſetzgebung war nicht mehr zu halten; 
die Liberalen wollten fle überhaupt nit, die Royallſten wollten fle nıcht in den 
Händen biefed Bouvernements, dad in einen fo fchroffen Gegenſatz zu ihnen getreten 
war, und nahmen fogar an den Abftimmungen felten Theil. So kamen im Mai bie 
Geſetze zu Stande, welche die Cenſur ganz aufhoben und alle Preßprocefie (mit Aus- 
nahme der durch Beleidigung von Privatperfonen veranlaßten) vor die Jury flatt 
vor die Zuchtpoligeigerichte verwielen und die periodiſche Preffe nur der Verpflichtung 
unterwarfen, eine Gaution zu leiften, deren höchſter Anfa& 10,000 Fred. betrug. Das 
Bürgertbum beherrichte demnach die Preffe wie die Kammer und ließ das Minifterium 
fühlen, daB es deſſelben nicht mehr bedürfe. Es firebte nach der Verwaltung und 
ließ unter Anderm die Gefellichaft der Vreßfreunde, deren Petitionen in Sachen des 
Wahle und Preßgefeßes die Megierung bis dahin gern geiehen hatte, die Kammer 
mit einer Fluth von Bittfchriften für Nüdberufung der Verbannten überfchwenmen. 
Die Regierung ließ zwar diefe Verbindung im December 1819 durch Richterſpruch 
auflöfen und ſetzte den Petitionen zu Gunſten der Königömörber ein flrenged „Nies 
mals“ entgegen. Indeſſen gingen im September die Neumahlen für das dritte Fünftel 
der Deputirten vor fi; die Liberalen gewannen den Mopaliften und Minifteriellen 
diedmal wiederum fo viel Stimmen ab, daß ihre Zahl in der Kammer dadurch bei« 
nabe auf hundert gebracht ward. „Lieber jafobinifche Wahlen als minifterielle”, war 
das Loſungswort geweſen, welches vie Blätter «bes entfchiedenften Royalismus, wie 
z. B. das „Drapeau blanc*, den Wählern gaben; fie wurden bei diefem Peſſi⸗ 
mismud von der Berechnung geleitet, daß der König fich wieder der Mechten zu⸗ 
menden würde, wenn bie minifleriellen Gentren nicht mehr flark genug fein würden, 
um ber doppelten Oppofltion der Linfen und Rechten allein die Spige zu bieten. 
Diefed Ziel war feht fo ziemlich erreicht. Decazes ließ fich aber nicht fo leicht in 
Schreden fehen. Wenn ihm auch weder die Linke, noch die Nechte einen dauernden 
Stügpunft boten, fo konnte er doch menigftens ihre Verbindung verhindern, Indem 
ex jeder einen Köder hinwarf, und dann zwifchen ihnen bin und, ber laviren. ‚So 
erwirkte er den Liberalen zu Gefallen eine Ordonnanz, welche fämmtlihen Verbann⸗ 
ten, mit Ausnahme einiger rüdfälliger Königsmörder, die Heimkehr geftattete; der 
Rechten Dagegen verfprach er ein neues Wahlgeſetz. Auf letzteren Plan ging der 
König um fo bereitwilliger ein, als ſich unter den zulegt Gewählten ein Königemör- 
der, der ehemalige Abboͤ, jepige Graf Gregoire (f. dieſ. Art.) befand, melden die 
Kammer nad einer feidenfchaftlichen Debatte zurhdgewiefen hatte Da fi jedoch 
drei Minifter, unter diefen Deffolles, gegen jede Aenderung des Wahlgefeped erklär- 
ten, modificirte Decazes das Babinet (am 19. November 1819) und übernahm den 
Borfig in dDemfelben. Während er aber ſich noch damit abmühte, ein Wahlgefeg ans 
zufertigen, welches die Nechte einigermaßen befriedigte, ohne die Linke zu fehr vor ben 
Kopf zu floßen, fiel der Herzog von Berry (f. d. Art.) am 13. Februar 1820 durch 
den Dolch Louvel's. Die Royaliſten Liegen dies Ereigniß nicht unbenugt vorüber» 
gehen. Schon den Tag darauf flellte einer der Ihrigen in der Deputirtenfammer 
den Antrag, den Premierminifter ald moralifhen Mitfchuldigen in Anklageftand zu 
verfegen; das „Iournal des Debatd” nannte ihn den „mißrathenen Sohn Franf- 
reichs, den Bonaparte unter den Höflingen.” Decazed ließ ſich zwar nicht einſchüch⸗ 
teen; zwei Tage nach der Mordthat legte er die Entwürfe zu einem neuen Wahlgeſet 
und zur Suspenflon der perfönlichen, fo wie der Preßfreiheit vor und wartete, ger 
fügt auf des Königs Gunſt, der Dinge, die da kommen follten, indem er feinen 
Bertrauten den feften Entſchluß zu erkennen gab, fich rüdfichtslos den LXiberalen in 
die Arme zu werfen, wenn man ihn aufs Aeußerſte trieb. Doc mußte Ludwig end» 
li den Bitten und Beſchwoͤrungen feiner Verwandten nachgeben; Decazed nahm feine 
Entloffung und fchlug dem König den Herzog von WRichelieu zu feinem Nachfolger 
vor. Diefer übernahm am 21. Februar dad Präſtdium des Conſeils. „Das neue 
Minifterium, erklärte damals die Gongregation, welche die Eirchliche und politifche 
Wiederherftellung des Ancien Regime leitete, Fann und große Dienfte leiften und man 
muß ſich daher vor jeder Beindfeligfeit gegen daſſelbe wohl hüten. Es Handelt ſich 


94 Neftauration. (Niederlage des Liberalismus.) 


jegt nur um einen Petitiondflurm, der energifch die Nothwenbigkeit darthut, das juͤngſte 
Attentat durch Vernichtung der liberalen Doctrin zu rächen.“ Noch im Lauf des 
März kamen, nad ‚heftigen Debatten in der Kammer, die beiden Gefege zu Stande, 
von denen das eine auf Ein Jahr die Cenſur für die periopifche Preffe wiederher⸗ 
ſtellte, das andere (ebenfalld auf ein Fahr) die Verhaftung der eines Complotts gegen 
den König, deſſen Familie oder den Staat verbächtigen Perfonen geftattete, ohne daß 
es nöthig war, fie vor Gericht zu flellen; nur mußte der Befehl dazu von drei Mi⸗ 
niftern unterzeichnet fein. Der Hauptfampf entbrannte aber um das neue Wahlgefep. 
Die Debatte dauerte vom 15. Mai bis zum 9. Juni; das Refultat war ein Geſetz, wonach 
die Kammer aus 430 Deputirten beftehen follte; von dieſen follten die biäherigen 
258 durch eine gleihe Anzahl von Arrondiffements und 172 durch Departemental- 
collegien ernannt werden; die erfteren beftehen auß’allen Wählern des Arrondiffements, 
die legteren aus dem Göchflbefteuerten Viertel aller im Departement anfäfligen Wähler. 
Der Liberaligmus verlor ſchon dadurch, daß die früheren Wahlförper für dig biöherie 
gen Deputirten in 258 zerfplittert wurden; feine Niederlage wurde aber dadurch 
vollendet, daß 172 neue Deputirtenftellen gefchaffen wurden, auf deren Befegung er 
vor der Hand noch nicht den mindeften Einfluß üben Fonnte. In der That fiel bei 
den Wahlen im November 1820 von den 172 Departementalwahlen auch nit Eine 
auf einen Liberalen, wogegen von ber Majorität ber chambre introuvable vom Jahre 
1815 wieder 76 Deputirte in Die Kammer kamen; bei den Arrondiffements-Erfag- 
wahlen für das ausfcheidende vierte Fünftel der alten Deputirten verloren die Kibe- 
ralen ebenfalls, fo daß fle in der neuen Kammer nur gegen 80 Stimmen flarf waren. 
Indeffen war der Ruf: „es lebe Die Charte!“ fchon auf die Straße herabgeftiegen. 
Bei der legten Berathung des Wahlgefees Hatten jich bereit die Schulen in Bewer 
gung gefegt und Schüler und Studenten hatten in Verein mit zahlreichen Volkshau⸗ 
fen jenen Ruf vor dem Palaid-Bourbon Hören laffen; audy die Barnifon von Paris 
hatte ſchon aufgeboten werden müſſen und es mar zu blutigen Conflicten gefommen. 
Die Leiter biefer Bewegung waren vier Beamte der Accifevermaltung: Bazard, Flo⸗ 
tard, Buches und Joubert; diefelben Hatten unter den Hüllen der Breimaurerei einen 
Geheimelub unter dem Namen der „Loge der Breunde der Wahrheit" gefliftet, ihre 
erften Genoffen in den Schulen des Rechts, der Medicin und der Pharmacie ge⸗ 
fucht, fodann eine große Anzahl von Handelslehrlingen gewonnen und durch die 
Straßenplänfeleten während der legten Kammerberathungen auch die Arbeiterviertel in 
Bewegung gebradht. Die Erweiterung dieſer Loge zu dem Bunde der Karbonari'6 
ift bereitö in dem Artikel Karbonaria gefchilvert worden; eben dafelbft haben auch 
die Militärverfhwörungen, die In den Jahren 1821 und 1822 die Armee unterhößlten 
und zu einzelnen verfehlten Aufftandsverfuchen führten, ihre Ermähnung gefunden. 
Der Tod Napoleon’s am 5. Mai 1821 Hatte beſonders dazu beigetragen, die unrubigen 
und unzufriedenen Elemente der Armee mit den Liberalen in Verbindung zu bringen. 
Es Hatte die Zeit der Prätendenten begonnen und es bildeten ſich Parteien für den 
Herzog von Reichſtadt, für Eugen, für Joſehh Bonaparte. Die Intriguen der Ehr⸗ 
gelzigen, die für ihre Prätendenten um Anhänger und Verſchwoͤrer in den Reihen 
der Liberalen warden, brachten im Rande die Idee in Umlauf, daß die Krone Frank. 
reiche feil ſftehe. Trotzdem ſetzte die royaliſtiſche Kammer, die aus den November- 
wahlen von 1820 hervorgegangen war, biefelbe Oppofltion gegen das Mini- 
firium fort, mit weldyer die chambre introuvable vorangegangen war und 
welche die bürgerliche Kammer gegen den bürgerlichen Minifter Decazes gelibt Hatte. 
Schon in der Antwort auf die Thronrede Außerte fih dad Gefühl der Souveränetät, 
mit welchem die Kammer der Regierung entgegentrat. Nachdem nämlich jene Antwort 
von den Verbeſſerungen geſprochen, die in der gefellfhaftlidden Ordnung einzuführen 
feien, beißt e& darauf: „Wir werben diefe wichtigen Verbefferungen mit der Mäßigung 
verfolgen, welche die Begleiterin der Stärke if.” Mit einem noch größeren Eklat 
begann die Sefflon von 1821. Die Thronrebe wurde von den Moyaliften der Kammer 
mit einer Adreſſe erwidert, in welcher jich die für den Monarchen beleidigende Phrafe 
befand: „Sire, wir wünſchen uns Glück zu Ihren fortmährenden freundlichen Bes 
'ehungen zu den auswärtigen Mächten, hegen jedoch das gerechte Vertrauen, daß ein 


“ER ua 


Neitanration. (Neues Aufſtelgen des Liberalismus.) 95 


fo koſtbarer Friede nicht durch Opfer erkauft wird, welche mit der Ehre der Nation 
und. der Würde der Krone unvereinbar fein würden.” „Wie!* rief Bagegen einer 
der Minifter aus, „Ihr Präſident foll dem König in's Angeſicht fagen, die Kammer 
babe das gerechte Bertrauen, daß er fich Feiner Niederträchtigkeit fchuldig gemacht 
Habe? Das if ein graufamer Schimpf!" Gleichwohl fagte der Praͤſtdent der Kam⸗ 
nıer eben das, was der Minifter einen graufanıen Schimpf nannte, dem erbitterten, 
aber machtlofen Könige in's Angeficht. Als die Kammer nach diefer Selbflüberbebung 
alle fpäteren Anträge der Minifter verwarf, reichte Nichelieu feine Entlaffung ein und 
ihm folgte am 15. December 1821 ein neues Minifterium, deſſen Seele und felt dem 
4. September 1822 Präfident Villoͤle war. Da wir über diefen Mann einen befon« 
deren Artikel bringen, fo werden wir bie fernere Gefchichte der AR. nur in den Grunde 
zügen geben und bemerken ferner nur, daß jener Mann, obwohl er bis zu feinem 
Eintritte in die Gewalt ald das Haupt der Noyaliften galt, dennoch auf dem roya⸗ 
tiftifchen Boden die Rolle fortfpielte, welche Decazes auf dem bürgerlich-conflituttos 
nellen Boden durchgeführt Hatte Er wollte die Rechte zügeln und fich frei zwifchen 
beiden ertremen Barteien bewegen. Der Genfur, welche die Mechte in der festen Zeit 
des Miniſteriums Richelieu beftig befämpft hatte, machte er wirklich ein Ende, mußte 
fih aber wider Willen die befchränfenden Beftimmungen gefallen laſſen, weldhe jene, 
da fie ſich nun im Beige der Gewalt ſah, durchaus verlangte. Er war urfprüng» 
fi, wie au Ludwig XVII, gegen den. fpanifchen Krieg des Jahres 1823 (f. D. 
Art. Spanien) und mußte ihn auf Verlangen der parlamentarifchen Maforität zu- 
lafien. Die Krone Hatte Diefer gegenüber das Mecht des Krieges und des Friedens 
bereit verloren und für die Regierung, wenigftend für ihren Reiter, war die fpanifche 
Erpedition eine Niederlage, die um fo gefährlicher war, als die Unternehmung für die 
Armee glücklich ansflel. Als er in der am 23. März 1824 eröffneten Kammerfefllon 
die flebenjährige Dauer der Wahlkammer befchließen Tieb, folgte er fremden Inſpira⸗ 
tionen, da es ihm nicht unbekannt fein Fonnte, daß er gerade dadurch die Partei, die 
er zügeln und mäßigen wollte und Die ihrerfeitd auf bie Unterwerfung des Königthums 
ausging, allmädhtig machte. In der, nach dem Tode Ludwig's XVIII. (16. Sept. 1824) und 
nach der Thronbefteigung Karl's X, (f. d. Art.) am 2. Decbr. eröffneten Kammerſeſſton 
brachte er das Geſetz durch, wonach die Emigranten für ihre zum Vortheil des Staate 
verfauften Güter die Summe von 1000 Millionen Brancs in Renten erhielten, ferner 
das zum Schuß des FTatholifchen Eultus beflimmte Sacrilegien-Gefeh. Das Erſtge⸗ 
burts⸗Geſetz, weldjes in der am 31. Januar 1826 eröffneten Deputirtenfammer durch⸗ 
ging, wurde jedoch In der Pairdfammer verworfen, und ſeit diefer Zeit befonders 
begann dad aus der Wahlkammer fo gut wie vollftindig ausgefchloffene Bürgerthum 
feinen Kampf in der Breffe, die in einem unaufhoͤrlichen Wechfel der Gefehgebung 
und der Ordonnanzen bald frei gegeben, bald gefeffelt wurde. Die Auflöfung der 
Nationalgarde am 30. April 1827, nachdem bei der Mufterung berfelben am Tage 
vorher der König mit dem Auf: „Nieder mit den Miniftern!* empfangen morben war, 
feigerte die Aufregung dermaßen, daß Billele fich Eeinen andern Rath wußte, ale 
gleichfam tabula rasa zu machen und fein Gebäude von unten auf noch einmal an- 
jufangen. Er hatte vom König die Auflöfung der Wahlfammer und die Ernennung 
von 76 neuen Pairs erlangt, und als die von der Preffe und der Aufregung des 
Bürgertdums geleiteten Wahlen für die Regierung ungünftig ausfielen, Dachte er daran, 
wie Decazes und Richelieu im Augenblide ihres Falles auch beabfichtigt hatten, fein 
Syſtem zu ändern und die bürgerliche Bartei durch Eoncefflonen zu geminnen. Diefer 
Verfuch blieb indeflen dem Minifterium Martignac's (f. d. Art.), welches nach dem 
Rücktritt Villèle's (4. Ianuar 1828) folgte, vorBehalten. Während ein franzöftfches 
Heer Norea von den türkifchen Truppen befreite, obne daß dadurch die Volksmafſſen 
für die Regierung gewonnen würden, erfchöpfte fih Martignac in Goncefflonen und 
verfuchte er Bermittelungen auf Bermittelungen zwiſchen der Föniglichen und parla⸗ 
mentarifhen Gewalt, ohne den Kampf derfelben beilegen zu Fünnen. Sein Todes⸗ 
urtheil waren bie beiden Geſetzentwürfe über die Kommunale, fo wie über die Departe- 
mental Organifation, die Kammer wollte einerſeits das Princip der Wählbarkeit ſchon 
bei Des Ernennung der Maires anerkannt wiffen, andererſeits behauptete fie, eine un⸗ 


96 Reitauration. (Nefultate der R.) 


befchränkte Initiative zu haben, als die Minifter ihre Befugniß dazu beftritten, durch 
ein Amendement die durch ein Geſetz eingeführten Bezirfsräthe zu untsrbrüden. Mar⸗ 
tignac mußte fih am 8. Auguft 1829 zurüdziehen, und es folgte das Winifterium 
Polignac'd. Im der Thronrede, mit welcher Karl am 2. März 1830 die Kammer 
eröffnete, fagte er: „Pairs von Frankreich, Deputirte der Departements! Ich zweifle 
nicht an Eurer Bereltwilligkeit, da8 Bute mit mir zu thun, wad id thun will; Ihr 
werdet Die boshaften Einflüfterungen, weldye das Uebelwollen zu verbreiten fucht, mit 
Verachtung zurückweiſen. Wenn ftrafbare - Umtriebe meiner Megierung Hinderniſſe er- 
wedten, die ich nicht voraudfehen darf und will, jo würde ich in meinem Entfchluffe, 
die Öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten, in dem gerechten Vertrauen der Franzoſen 
und in der Liebe, die fle immer für ihren König gezeigt haben, bie Kraft finden, 
diefelben zu überwinden.” In der Adreſſe der 221 erwiderte jedoch die Kam⸗ 
mer: „Die Charte Hat die ununterbrochene Zuſammenwirkung der politifchen 
Pläne Ihrer Regierung mit den Wünfchen Ihres Volks zur unumgänglicdhen Bedin⸗ 
gung des regelmäßigen Ganges ber öffentlihen Angelegenheiten gemadt. Site, unfere 
Nechtlichkeit und unfere Ergebenhelt zwingen uns, Ihnen zu fagen, daß dies Zufam- 
menwirken nicht vorhanden if." Die Kammer wurde, nachdem file am 18. März diefe 
Antwortsadreffe genehmigt Hatte, den Tag darauf vertagt und am 16. Mai aufgelöft. 
Die aud den Neumahlen zu erwartende Kanımer warb zum 3. Aug. berufen; als aber 
die Wahlen im Sinne der Oppofltion audfielen und die 221 Deputirten, welche die 
Adreffe genehmigt Hatten, fänımtlich wieder gemählt wurden, unterzeichnete Karl am 
25. Juli die Orbonnanzen, die am 26. veröffentlicht wurden und über welche der Art. 
Bolignac nachzuſehen if. Den Tag darauf begannen die Unruhen in Paris, bie 
zur Julirevolution (f. d. Art.) führten. — Sehen wir nun noch einmal auf biefe 
ganze Bewegung der Neflaurationgzeit zurüd, jo war fle im Ganzen höchſt unfruchtbar. 
Keiner ihrer Schöpfungen bat diefe Zeit eine mehr als ephemere Dauer verleihen können. 
Das Wahlgefeh zur Bildung der Deputirtenfammer unterlag einer beftändigen Veraͤn⸗ 
derung, ohne zu einer befrledigenden Geflaltung zu führen; Genfur, Preßfreiheit und 
Einfchränkungen der Iegteren mechfelten in einer wahrhaft wilden Folge; über die 
Städtes, Bezirks und Departementalordnung Eonnte man zu Teiner Einigung fommen. 
Die Pairskammer follie neben der Garantie, welche die Deputirtenlammer der Freiheit 
zu bieten beflimmt war, die der Mäßigung und Standhaftigkeit gegen den flürmifchen 
Andrang der populären Forderungen und Neuerungen bieten, und es fehlte Frankreich 
troß der Rückkehr der Emigranten an binreihenden Elementen, um eine ſolche Kammer 
zu bilden, Die fländifchen Rechte waren durch die Mevolution aufgehoben worden, 
die Reſte des Adels waren meiftens ohne anfehnlichen Grundbeflg; die Negierung end⸗ 
lich flrafte die Oberfammer, wenn fle gegen Ueberbebungen der Deputirten reagiren 
wollte, durch Pairsjchubd und die Pairskammer felbft verwarf, um ſich eine doch nur 
vorübergehende Popularität zu verfchaffen, den GBefegentwurf über das Erſtgeburts⸗ 
recht, von dem ſich Die Regierung Karl's X. eine Stärkung der fländifchen Elemente 
verfprochen hatte Was die Mivalität der Wahlkammer mit dem Koͤnigthum betrifft, 
fo gab darin die royaliſtiſche Partei der Iiberalen nichts nach. Ueberhaupt war dieſe 
Mivalität in den Brundprincipien der conftitutionellen Charte begründet, wonach das 
Königthum zwar perfönlich, aber doch auch nur wieder Träger der ausübenden Gewalt 
und al8 foldyer in jeder Thathandlung von der Zuflimmung der Minifler und deren 
Einklang mit der Wahlfammer abhängig fein foll. Karl X, wollte in den Juliordon- 
nanzen als perfönliche Macht in den Kampf der Parteien eingreifen, er Fam aber 
weder zur Ausführung, noch zur betaillirten Auseinanderfegung feines Plans, was die 
Bortdauer der Berfaffung betrifft; das Bürgerthum flegte vielmehr in der offenen Er- 
klaͤrung für Lehtere, und Louis Philipp's (ſ. d. Art.) Erhebung war Nichts ale 
der Ausdrud für dad Verlangen, daß die Charte eine Wahrbeit fein, d. 5. daß bie 
Verwaltung don der Wahlfammer durch die von ihr genehmigten Minifter geleitet 
werden folle. Das ganze. Intereffe der Zeit der Sulimonarchie dreht fi nur um bie 
Bemühungen Ludwig Philipp's, gegen diefe zur Wahrheit gewordene Gharte Die per- 
fönlihe Regierung zur Geltung zu bringen. Gefchidter und glüdlicher in dieſem Un⸗ 
ternehmen als feine Vorgänger brachte er wirfli feinen perfönlichen unbeweglichen 


Reſtitutionsediet. NRettungshaͤnſer. | 97 


Gedanken obenauf, aber eben diefe Unbeweglichkeit und die Damit verbundene Unfrucht- 
barkeit feiner Regierung entfremdete Ihn der Nation und führte feinen Sturz herbei, 
worauf die Erperimentalpolitit der Republik und des Kaiſeithums mit ihren erft wil⸗ 
den und dann ſchlau berechneten und überrafchenden Eruptionen folgte. 

Keftitutiondebiet Heißt das vom Kaifer Ferdinand IE. den 6. März 1629 er- 
lIaffene Ediet, wodurch den Proteflanten die Herausgabe aller feit dem Paffauer 
Bertrag (f. d. Art.) eingezogenen mittelbaren Stifter und Kirchengüter an die Ka⸗ 
tholifen anbefohlen und die Neformirten vom MMeligiondfrieden audgefchloffen wurden. 
(Bergl. d. Art. Dreigigjähriger Krieg.) 

Retiffe de fa Bretonne (Niclas Edme), fruchtbarer und Tauniger Romanſchrift⸗ 
fteller, geboren 1734 zu Vacy bei Aurerre, erlernte die Buchbruderfunfl in Auxerre, 
fam fpäter nah Paris, wo er nad einem abenteuerlichen und wüſten Leben 1806 
ftarb. Er bat die meiflen feiner Werke (über 150 Bände) felbft gedrudt. Mit Wahr- 
beit fchildert er darin die niederen und mittleren Stände und Ihr Verderben; freilich 
id der Styl oft nachlaͤſſig und der Inhalt ſchmutzig. Am befannteflen find: „Le 
pied de Franchetle“ (1768, 3 Bde, 5. Ausg. 1800); „La femme dens ses trois 
stats de Alle, d’epnuse et de mere* (1773, 3 Bde.); „Les contemporaines* (1780, 
12 Bde., deutfh von W. Ch. S. Mylius, „die Zeitgenoffinnen*, (Berlin 1781 ff., 
11 Bde.); „Les veillees et les nuits de Paris“ (1787, 4 Bde.); „Les Provinciales“ 
(1789 — 1794, 12 Bbe.); „Le coeur humain devoile* (1794 — 1797, 13 Bbe.). 
Sein Verſuch, eine neue Ortbographie einzuführen, mißglädte. 

Retorſion und Repreſſalien. Metorfion ift Wiedervergeltungsrecht, es befteht 
in der Befugniß, das für Auswärtige nachtheilige Recht eined Staates gegen die 
Unterthanen diefed letzteren in ähnlichen Fällen in Anwendung zu bringen. Zur An⸗ 
wendung ſolcher Metorfion berechtigt freilich nicht nur Mechtöverfchiedenheit, fondern 
die Hauptfache ift, die Ungleichheit in der Behandlung ausmärtiger und einbeimifcher 
Untertanen, 3 3. bei der Befteuerung und bei der Nechtöhülfe In der Erecutions- 
inflanz, in welchen Faͤllen es am häuffgften zur Anwendung fommt. Repreſſalien 
And dagegen Mechtöverlegungen, welche eine Regierung gegen eine andere verfügt, um 
diefelbe zur Aufhebung der von ihr verfchuldeten Rechtsverletzungen zu nöthigen. 
Hier iſt alfo von einer Wiedervergeltung nicht die Rede. Im Mittelalter waren die Mes 
preflalten an der Tagesordnung, ja die Handhabung des Fehderechts, wad man oft 
Bauftrecht nennt, war weſentlich, modern ausgedrückt, nichts als die Handhabe von 
Repreffalien. Auch noch jetzt können Repreffalien vortommen unter Friegführenden 
Staaten. Ban denfe nur an bie berühmte Erpebition der kleinen furfürftlich bran⸗ 
denhurgifchen Flottille gegen die ſpaniſch⸗weſtindiſche Silberflotte. Die neuere Reichs⸗ 
gefeggebung, nämlich der Reichsabſchied von 1570 5 84, hatte die Mepreffallen aber 
unter ben Reihöfländen verboten. Daffelbe haben wiederholt die Bundesacte Art. 11 
und die Wiener Schlußacte Art. 19. Dagegen find Metorfionen zwifcken Bundes⸗ 
gliedern nicht bloß zuläffig, fondern find auch wiederholt angewendet worden und 
jwar am meiften, man fann wohl fagen faft von allen Seiten, gegen die kurfurſtlich 
heſſtſche Regierun 

Nettungsh hänfer nennt man jet ausſchließlich alle diejenigen durch Privat⸗ 
Wohlthaͤtigkeit fundirten und erhaltenen gemeinnügigen Anſtalten, welche ſich die Erziehung 
und Beſſerung ſittlich verwahrlofter Kinder, hin und wieder auch die von Erwachſenen, 
zur Aufgabe geftellt haben. Sie unterfcheiden fi auch von den vom Staate ein» 
gerichteten Befferungsanftalten noch durch das Princip, auf die durch Lafter und 
Elend verberbten Corrigenden nicht durch polizeiliche Ueberwachung und ceriminelle 
Strafen, ſondern durch gutes Beifpiel, chriflliche Lehre und Hinweifung und An⸗ 
weifung zu einem geordneten, arbeitiamen und moralifchen Rebendwandel beffernd hin⸗ 
zuwirken. Gemeinhin wohnt ihnen allen das Princip der Familie inne und ihre Zeitung 
legt daher mit Bewilligung der Staats⸗Regierungen, melche fich jeder einwirkenden 
Gewalt auf diefelbe (in Preußen ſchon feit 1825) begeben haben, in der Hand des 
Vorſtehers oder Hausvaters, der in Bezug auf die zu erziehenden Kinder mit allen 
Rechten und Pflichten eines Familienvaters und natürlichen Curators ausgerüftet ifl. 
Solche Beilerungsanftalten finden fi ſchon in früherer Zeit, und namentli Italien 

Bageıner, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. AVIL . 7 


98 Reh (Jean François Paul de Bondy, Gardinal von). 


und das Fatholifhe Südeuropa war reich daran (mir nennen hier nur das 1684 von 
der Bamilie Odescalhi in Rom geftiftete „Kinder- Hofpiz zum heiligen Michael", 
welches damals ald Mufter galt), in neuefler Zeit aber Haben fle fich vorzugsweiſe 
im profeftantiichen Deutfchland ausgebreitet und Hier, hervorgegangen meiſt aus den 
Beftrebungen der Gefellichaften für innere Miffton, in fegensreichker Weife entwidelt 
und nach anderen Ländern verpflanzt. Da die Mufteranflalt des Rauhen Haufe 
zu Horn bei Hamburg dad WMutterhaud der meiften R. if und die übrigen beinahe 
ohne Ausnahme ihre Organifation nach jener des Rauhen Haufed monifleirt Haben, 
fo fünnen wir, da wir in jenem Artikel und im Speciellen über die innere und äußere 
Einrichtung .deffelben ausgelaffen haben, hier nur auf dieſen vermweifen. Die Anzahl 
der R. in Deutfchland, deren Zahl jegt wohl an zweihundert fein wird, ift im fleten 
Wachsthum begriffen; die bedeutendſten Dderfelben find außer jener Mufteranftalt des 
Rauhen Haufed das zu Erfurt, um das ſich Meinthaler befonders verdient gemacht 
bat, die zu Duisburg am linterrhein, zu Züllichow in Pommern, Neinftedt in der 
Provinz Sachſen, das Johannisftift in Berlin, die Mägdeherdberge oder St. Magda⸗ 
leneum ebenda, diejenige zu Breslau, Die R. zu Gehlsdorf in Medienburg - Schwerin, 
die zu Erlangen in Bayern, die zu Kornthal und Wilhelmsdorf in Württeniberg ıc. 
Auch in Mupland Haben die R. ſchon Wurzel gefchlagen (die Auflalt auf dem Antons⸗ 
berge bei Neval) und in Amerika find fle durch Samuel Well’ philanthropifche Be⸗ 
firebungen in fchönfter Blüthe, wie dies die großartigen N. zu Pittsburg im Staate 
Ohio, in Hobofen bei New⸗-Vork, in Philadelphia, Boſton und zahlreiche andere 
zeigen. Auch die englifchen und franzöflfchen Erziehungshäufer für ſittlich vermahrlofte 
Kinder baden fi im neuefter Zeit dem Syſtem des Rauhen Haufe angeſchloſſen, 
wenn fie auch, wie die Anftalt für jugendliche Verbrecher in Parkhurft bei Ports» 
mouth und die „Golonie agricole de jeunes detenus* zu WMettray bei Tours, no 
weitere Zwede verfolgen. — Ueber die Einrichtung und Ausbreitung der R. f. noch 
die Wichern’ichen Jahresberichte über dad Rauhe Haus bei Hamburg und den Ars 
tifel Wichern. 

Neck (Iean Francois Paul de Gondy, Kardinal von), einer der Führer in 
den Unruhen der Fronde, ſtammt aus einer italienifchen Familie. Albert von 
Gondy, geb. 1522 zu Florenz, war nämlich der Katharina von Medic nah Frank⸗ 
reich gefolgt, machte unter der Protection dieſer Fürſtin fein Glück, erhielt, ohne ein 
großer Krieger zu fein, 1573 den Marſchallsſtab und Hatte durch feine Verheirathung 
mit Katharina von Cletmont 1565 die Baronie Retz an fih gebradt. Er flarb 
1602. Sein Bruder Pierre von Gondy, geb. 1533, gefl. 1616, ward durch Die 
Protection der Katharina von Medici 1570 Erzbifhof von Paris und 1587 Gar- 
dinal. Sein Nadfolger auf dem Sig von Paris war fein Neffe, Senry von Gondy. 
Der bereitö oben genannte Jean Frangçois Paul, geb. 1614 zu Montmirail, 
Sohn Philipp Emanuel's von Gondy, Generald der Baleeren unter Ludwig XIII., 
war von feiner Kindheit an zum geifllihden Stande beflimmt und fuchte vergebend, 
dur ein ausfchweifended Leben feine Familie zur Berzichtleiftung auf einen Plan zu 
bewegen, der mit feinen Neigungen nicht in Einklang fland. Indeſſen fludirte er 
wenigftend die Theologie, machte in den Wiflenfchaften Kortfchritte, wenn er au 
daneben in Zweilämpfen und Liebeshändeln feine Zeit vergeubete, und ward 1643 
zum Coadfutor ded Erzbifhofs von Paris, feines Oheims Henry, ernannt. In den 
Unruhen der Fronde (f. d. Art.) trat er gleichfalld ald Gegner Mazarin’d auf und 
benußte feinen Einfluß auf die Bevölkerung von Paris, um fi dem Miniſter furdytbar 
zu machen. Er war der Einzige, der in diefe Troubled einen Anflug von demokra⸗ 
tifcher Tendenz brachte; indefien war auch diefer Anflug hoͤchſt oberflählidh oder ein 
bloßer Schein. Im Grunde unterfchted ſich der Coadjutor nicht im Mindeflen von 
den leichtfinnigen und frivolen Großen, die mit ihren Intriguen und ihrem Revolu⸗ 
tionsfpiel den herrſchenden Minifter nur flürgen wollten, um die Megierungdgewalt 
fammt deren Emolumenten unter ſich zu theilen und für ihre Capricen und Samilien« 
intereffen audzubeuten. Zwar gelang e8 M. und feinen Genofien, die Entfernung 
Mazarin's durchzuſetzen; allein alsbald nach diefem Erfolg ruinirte er ſich gleich ben 
andern Aufftändifchen, da er, ohne weitreichende politifche Abfichten und Gedanken und 


Netzius (Andreas). 99 


gleich feinen Genoſſen den ganzen Trouble nur ald eine Hofintrigue behandelnd, mit 
der Regentin, Anna von Oeſterreich, feinen Frieden ſchloß und dafür den Garbinals- 
Hut erhielt. Doch Half ihm dieſer Vergleich nicht auf die Dauer; nach der Wieder- 
herfellung der Orbnung ließ ihn Mazarin 1652 verbaften und in Vincennes, dann 
zu Ranted einfchliegen, von wo er indeffen entwidy, worauf er abwechfelnd in Spa⸗ 
nien, Rom und Brüfiel lebte. Er durfte erſt zurhdlehren, nachdem er auf fein Erz» 
bischum Berzicht geleiflet hatte. Man gab ihm dafür die Abtei St. Denis (1664). 
Er lebte darauf, fern von der Bolitik, den Wiffenfhaften und arbeitete feine Memoires 
aus, die zum erftien Mal 1717 in drei Bon. zu Nanch erfchienen und 1844 nach dem 
Original⸗Manuſcript von Geruzez zu Paris in 2 Bon. wieder beraudgegeben find. 
Er farb zu St. Denis den 24. Auguft 1679. Als flebzehnjähriger junger Menſch 
Hatte er eine Histoire de la conjuration de Fiesque gefchrieben (Paris 1635 und 
öfter). — (Unter den früheren Serren von Meß bat fih Gilles de Laval, aus 
einem Zweige des Hauſes Laval-Montmorency, einen Namen gemadt. Geboren 1396, 
hatte er fih in den Kriegen unter Karl VII. gegen die Engländer und befonders bei 
Drleand audgezrihnet und fpäter den Marſchalloſtab erhalten. Daneben verdankt er 
feinen Berbrechen noch eine andere Gelebrität. Wegen lintreue gegen Johann VI., 
Herzog von Bretagne, vor Gericht gezogen, erbielt man im Lauf des Proceſſes die 
Bewißheit, daß er auf feinem Schloß bei Nantes feit 14 Jahren mehrere hundert 
Knaben und junge Mädchen, während er durch Wohlthätigfeit gegen die Armen und 
durch Beranftaltung zahlreicher Procefflonen fi) den Ruf der Froͤmmigkeit erwarb, zu 
fih gelodt und feiner Wolluft, fo wie zugleich einer Art von Teufelscultuß geopfert 
hatte. Gr murde 1440 'nad dem Lirtheildfprude des Berichts zu Nantes ver- 
brannt, nachdem man ihn vorber erwürgt hatte Im Volksmunde hieß er feitbem 
‚Blaubart“.) > 
Kekind (Andreas), ausgezeichneter ſchwediſcher Naturforfcher, wurde gegen das 
Ende des 18. Jahrhunderts in Stockholm geboren, flubirte zu Upfala Naturwiffen- 
fehaften und befonders Phyflologie und Anatomie, docirte fpäter daſelbſt mit Erfolg, 
ift aber noch mehr denn als Lehrkraft, als Schriftflelfer auf dem Gebiete der Natur- 
wiffenfchaften von Wichtigkeit. M. Hat eine Reihe treffliher Auffäge phyſtologiſchen 
und anatomifchen Inhalts veräffentliht; am bedeutendflen aber find feine Arbeiten in 
der Anthropologie gewefen, feit Blumenbad überhaupt die umfaflendflen und wich⸗ 
tigfien.. Er brachte in Stodholm eine ausgezeichnete Schädelfammlung aus allen 
Theilen der Welt zu Stande, und von ihm flammt die ſich mehr und mehr verbreis 
tende @intheilung der Schädelformen des Menfchengefchlehts, die von der größeren 
oder geringeren Entwidlung der bintern Lappen des großen Gehirns ausgeht. Da- 
nach theilt R. die Völker in Langichädel und Kurzſchadel (Dolichocephalen und Brachy⸗ 
eephalen), wofür der Durchmefler dee Schädeld von vorn nad hinten den Maßſtab 
abgiebt. Nach dieſer KHaupifonderung fommen nun freilich die celtifchen und germani« 
hen Stämme mit den Negern, Auftraliern, Dceantern, Garaiben, ®rdnländern u. f. w. 
zufammen, denn beide Gruppen find Dolichocephalen oder Langichädel; allein zu einer 
weiteren Sonderung nimmt R. bie fenfrechte oder die vorftehende Stellung der Kiefer- 
gegend zu Hülfe und theilt alle Völker wieder in Orthognathen und Prognatben, fo 
daß nun die celtifchen und germanifchen Stämme, die alten Helfenen und bie eigent- 
lichen Roͤmer zugleich Dolichocephalen und Orthognathen, die Neger u. f. w. zwar auch 
Doligoeephalen, aber Brognatben find. Die Slawen, Binnen, Türken, Berfer u. f. w. 
find Brachycephalen und Orthognathen; die Tataren, Mongolen, WMalayen, Inka, 
Papuas u.f.w. Brachycephalen und Prognatben. Es iſt nicht zu läugnen, daß für 
die Bergleihung von Schädelformen fonft verwandter Racen (ſ. d. Art.) die R.'ſche 
Anſchauungsweiſe fruchtbar if, und daß fle für die Hiftorifche Anthropologie wichtige 
Singerzeige giebt. Es finden ſich z.B. unter den alten und neuen Germanen Wells 
Europas (Langſchaͤdeln) auch infelartige Völferrefte von Kurzichädeln (3. B. die Bas⸗ 
fen, bie alten Etrurier, die Rhätier u. ſ. w.); und die zahlreichen Schädel, welche man 
jegt in Wefleuropa in uralten Gräbern wiedergefunden bat, deuten auf eine vor: 
wiegenbe ältere brachycephaliſche Bevolkerung, welche der jegigen dolichocephaliſchen 
voranging. So fruchtbar indeß die R.'ſche Eintheilung auch if, fo giebt fie doch 
7% 


100 Aekow (Briebrich v.). 


nur einen, wenn auch vorzüglich wichtigen Ausdruck wieder, nämlich den des Schaͤ⸗ 
deilprofild, und es kommen auch fo wieder fehr entgegengefehte Schädel«- und Racen⸗ 
formen in eine unpaflende Vergleihung. So 3.2. haben die Tungufen breite, viere 
eckige, Achte Mongolenichädel, während Die Neger fchmale Feilfürmige Schädel haben; 
beides aber find bei R. prognatbe Dolichocephalen. Die allein richtige Methode ber 
Schädeleintheilung ift die, durch fcharfe Meffungen alle wichtigen Verhältnifſe aufzu⸗ 
finden, eine Methode, zu deren Feſtſtellung der berühmte Zootom und Phyſiologe 
v. Baer durch feine neueften Arbeiten, die er in Königsberg begonnen und in St. 
Peteröburg mit noch größerem Eifer fortgeführt hat, wieder Anregung und Beiträge 
gab. Auch flanden dem Lepteren noch zahlreichere Schäbelfunde zu Gebote, indem 
er die vielen durch das ganze europäifche wie fibirifhe und kaukaſtſche Rußland zer- 
freuten Kurgane (f. d.) und fonfligen Tumuli zu diefem Zwed benugen konnte. — 
R. flarb den 18. April 1860 zu Stodholm im Alter von 65 Jahren. — Auch der 
Vater des obengedachten berühmten Zoologen, Andreas Johann R. ift erwähnens- 
wertb. . Er ward 1742 geboren und flarb 1821 als Profeſſor der Naturgefchichte in 
Zund. Seine Hauptichriften find: Florae Scandinaviae prodromus (Stodholm 1779, 
2. Auflage Leipzig 1795, Supplemente Lund 1805— 1809); Observaliones bolanicae 
(Leipzig 1779—1791, 6 Fasc.); Nomenchntor botanicus (zu Linnéè's größeren phy⸗ 
tographifchen Werfen, Leipzig 1772); Flora Virgiliana (Lund 1809) und Försök till 
en Flora occon. (Ebendaf. 1806, 2 Theile.) 

Retzow (Friedrich v.), Eöniglih preußiſcher Generallteutenant, aus einem ber 
älteften maͤrkiſchen @efchlechter entfproffen, genoß feine Erziehung auf dem Rittercolle⸗ 
glum zu Brandenburg und trat, kaum 16 Sahre alt, in die preußifche Armee ein. 
Unter der Regierung Friedrich Wilhelm's I. Hatte er Feine Gelegenheit zu kriegeriſcher 
Thätigkeit, aber bereitö im erflen ſchleſiſchen Kriege zeichnete er fich mehrfach aus, 
namentlih durch die gelungene Bertheidigung des Magazind zu PBarbubig 1742, 
Nah Beendigung des zweiten fohleflfchen Krieged ernannte ihn der König zum Com⸗ 
mandeur des Grenadier-Barbe-Bataillond. Bald darauf erbob er Ihn feiner umfaf- 
fenden Kenntniffe und feines großen Tätigkeit, fo wie feiner firengen Rechtlichkeit 
halber zum Intendanten der Armee, vertraute ihm die Aufficht Über die drei Bots 
damer neu angelegten Eolonieen, das Waiſen⸗, das Invaliden- und das Lagerhaus 
an. Alle diefe vielfach außerhalb feiner militärifchen Sphäre liegenden Beichäftigun- 
gen, wozu noch die Direction der Gold⸗ und Stibermanufactur, fo wie endlich Der 
Münze trat, führte er zur vollfommenften Zufriedenheit feines Töniglichen Herrn durch, 
der ihn oft „mon petit Colbert* zu nennen pflegte Bei Ausbruch des Tiährigen 
Krieges begleitete er den König Ind Feld und verfah neben den Geſchaͤften des In⸗ 
tendanten auch die bes Generalquartiermeifterö, wobei namentlih die Auswahl der 
Zäger, ein wichtiger Theil der damaligen Kriegskanſt, ihm zufiel. In allen Schlachten 
des Jahres 1757 mit Auszeichnung genannt, führte er tm folgenden Jahre auf dem 
berühmten Rückzuge nach Aufgabe der Ollmützer Belagerung eine der Eolonnen durch 
Böhmen nah Schleflen und traf feine Anorbnungen fo gefchidt, daß troß der fort⸗ 
währenden feindlichen Angriffe von den großen Wagenzügen fo gut wie nidhtd ver⸗ 
Ioren ging. Anfang October 1758 erhielt er vom König den Befehl, dem bei Hochs 
firh bis an die Zähne verfchanzten Daun unmittelbar gegenüber das Lager abzu= 
ſtecken; R., das Gefährliche diefes Unternehmens eben fo wie alle anderen Generale 
erfennend, machte die dringendflen Vorſtellungen, zog fich aber den heftigen Unwillen 
des Königs und fogar Arreſt zu und mußte endlich geffordhen. Das, mad M. vorber- 
gefehen, traf ein; durch den von Daun ausgeführten Ueberfall von Hochkirch (f. d. 
Art.) erlitt der König große Verlufle und nur die fefte Haltung des R.'ſchen Corps, 
welched den Rüdzug deckte, rettete die Armee. R. ſelbſt warb gleich darauf von einem 
beftigen Ruhranfall ergriffen, konnte nicht nach Dresden gebracht werben, da bie öfter« 
reichiſche Armee die Wege dorthin befegt hatte, und mußte deshalb, ohne Die nöthige 
Pflege zu haben, der Colonne bes Prinzen Heinrich folgen, bie nach Schleflen zurück⸗ 
ging. Mit dem Tode ringend traf er in Schweibnig ein und flarb bereitd am 5. No⸗ 
vember, am Tage nad feiner Ankunft. Der-Prinz Heinrich, der M. ſehr ſchaͤtzte, 
fügte auf dem in Mheinsberg dem Helden des Tjährigen Krieges errichteten Monu⸗ 


rn 7 tert Er ur” Tu pen” 2 — Tr ER — 


Reuchlin (Johann). 101 


mente, dem Namen R.'s die Worte bei: A la malheureuse journee de Hochkirch 
il oecupa une colline derriere l’armee du roi et la retraite fut couverle par sa 
sagesse et par sa vaillance. Il mourut un mois apres avoir präte ce service sig- 
nal&ö & sa patrie. — Sein Sohn, F. A. v. R., preußifcher Hauptmann und Adju⸗ 
tant bei feinem Vater, gab 1804 eine Charakteriſtik der wichtigften Ereigniffe des 
Tjädrigen Krieges heraus, ein Werk, dad, wie ſchon der Titel zeigt, Teine vollſtaͤndige 
Geſchichte diefer Zeit, aber febr viele intereffante Nachrichten enthält; nichts weniger 
als ein Panegyritus auf den großen König, vielmehr oft mit einer gewiſſen Bitterfeit 
gegen denfelben gefchrieben, ift es ald Bericht sined Augenzeugen für das gründliche 
Studium des Krieges ein wichtige Quellenwerk. 

Neuchlin (Johann), Capnio, wie er ſich ſelbſt griechifch nannte, einer ber 
bumaniflifchen Borläufer der Reformation, geb. den 28. Dechr. 1455 zu Pforzheim, 
erhielt feine erfte gelehrte Bildung auf der lateinifchen Schule zu Schlettfladt, bezog 
1470 die Univerfltät Freiburg und warb nach feiner Rückkehr von dort, wegen feiner 
Schönen Stimme, In die Kapelle des Baden⸗Durlach'ſchen Hofes aufgenommen. 1473 
von dem Markgrafen Karl zum Begleiter feined dritten Sohnes, Friedrich, auf Die 
Univerfität von Paris ernannt, benußte er diefe Gelegenheit, um daſelbſt die griechifche 
Sprache zu erlernen. Nach Berlauf eines Jahres begleitete er den Prinzen in bie 
Heimath zurüd und begab ſich darauf nach Bafel, wo er fih unter Anleitung des 
griechiſchen Flüchtlings Andronitus Kontoblakos im Briechifchen vervollfommnete und 
ein lateiniſches Wörterbudy audarbeitete, welches 23 Auflagen erlebte. Nachdem er 
daſelbſt auch philologiſche Vorlefungen gehalten hatte, wegen feiner Vorträge über 
die griechiſche Sprache jedoch mit den dortigen Lehrern, die darin eine unfromme 
Meuerung fahen, in Colliſton gefommen war, ging er 1478 nad Paris und von dort 
nach Orleand und Voitierd, wo er die Rechte ſtudirte. 1481 als Kicentiat der Rechte 
in feine Heimath zurüdgelehrt, ließ er ſich als Advocat in Tübingen nieder, hielt 
jedoch an diefer Univerfltät auch Borträge über die griechifhe Sprache. Der Graf 
von Württemberg, Eberhard im Bart, ernannte ihn zu feinem Gebeimfchreiber und 
Rath und nahm ihn 1482 auf feiner Reiſe nah Rom mit. Diefe Reife war für R. 
von großer Bedeutung, da er, beſonders im Gelehrtenkreife von Florenz, für den 
Platonismus und für die Geheimlehre der Kabbala gewonnen wurde. Nach der Rück⸗ 
febr aus Jtalien war er für den Grafen Eberhard und deſſen politifche Intereſſen 
Öfterd auf Reiſen und begleitete ihn auch 1492 nach Linz, wo ihn Katjer Friedrich III. 
in den Adelſtand erhob und mit Verleihung des Titeld und der echte eines Pfalz⸗ 
grafen ebrte. 1494 erfchien feine Schrift de verbo mirifico, die Frucht feiner kabba⸗ 
liſtiſchen Studien. Nah dem Tode Eberhard's (1496) begab er fich nach Heidelberg 


“and wurde von dem Kurfürften Philipp von der Pfalz zu feinem Math und zum Er- 


zieher feiner Söhne ernannt. In diefer Zeit verfaßte er feine lateiniſchen dramatifchen 
Arbeiten, progymnasmata scenica, die 29 Auflagen erlebten und von denen das be= 
deutendfle Stud Sorgius, eine Berfpottung feines Feindes, des Auguflinerd Holzinger, 
iſt. 1498 reiſte er von Neuem nach Rom und vermittelte daſelbſt die Aufhebung des 
Bannes, mit welchen der Kurfürft von ber Pfalz, weil er den Mönchen von Weißen 
burg im Elſaß einen Tell ihrer Einfünfte ftreitig gemalt hatte, belegt worden war. 
1499 ließ er fi wieder in Stuttgart nieder und flüchtete einige Jahre darauf wegen 
der Peſt nach dem einige Stunden entfernten Klofter Denkendorf, wo er den Mönchen 
die,.1504 im Drud erfchienenen Vorträge de arte praedicandi hielt, um fle, wie er 
in der Borrede diefer Schrift fagt, zu evangelifch gefinnten Männern zu machen. 1502 
warb er zum Richter des fchmäbifhen Bundes ernannt, welches Amt er eilf 
Jahre verwaltete. 1505 erfchien feine deutfhe Schrift „Warum die Juden fo 
lange im Elend find”, das Jahr darauf feine hebräiſche Grammatif, 1516 
fine Schrift de arte cabbalistica. Indeſſen vermidelte ihn fein Intereſſe 
fir die bebräifche Literatur und feine Liebhaberei für die jüdiſche Geheimlehre in 
Händel, die ihm, zumal bei feiner Außerfi aͤngſtlichen Gemüthſsart, den Abend feines 
Lchens trübten. 1509 ſuchte ihn nämlich der getaufte Jude Pfefferforn, Berwalter 
des Stifts St. Urfula in Köln und Verfaſſer des ,Judenſpiegels“, in Stuttgart auf, 
wm ihn für einen Bernichtungstrieg gegen die Bücher der Juden zu gewinnen. M. 





102 Menumont (Alfred v.) 


wies die Sache zurück, wurde aber auf Pfefferkorn's Betrieb durch den Kurfürſt Uriel 
von Mainz aufgefordert, ein Gutachten abzufaſſen, ob nicht den Juden ihre ſaͤmmt⸗ 
lihen Bücher außer dem alten Teflament abgenommen oder verbrannt werden follten. 
In feinem Gutachten nahm fih R. des Talmuds, der Kabbala, der gelehrten Com⸗ 
mentarien zum alten Teftament, der Predigt- und Geremonienbücher, zumal der Gultus 
den Juben Durch Faiferlide und päpftliche Briefe freigegeben fei, an und gab in 
andern Fächern nur diefenigen Bücher preis, die verbotene Künfte lehrten, oder wie 
das Tholdoth Jeſchu, Schmähungen auf das Chriftentyum enthielten. Leber dieſes 
Gutachten entfland nun auf Betrieb Pfefferkorn's und des Dominifaner-Priors Jakob 
v. Hoogfiraaten in Köln ein Proceß, an dem die Univerfitäten von Köln, Paris, 
Löwen, Erfurt und Mainz gegen R. Theil nahmen und der erft im Jahr 1520 zum 
Abſchluß Fam. R. Hatte gegen die Denuncation, die Pfefferforn im Beginn des 
Streit unter dem Titel „Handfpiegel* herausgegeben hatte, feine Vertheidigung 
„Augenfpiegel" abgefaßt (1511), weldye Schrift von ber Univerfltät zu Köin als Teger 
riſch bezeichnet wurde. Das Gericht zu Speier fprach zwar 1514 R. frei, biefer 
firchte aber auch in Rom feine Freifprehung zu bewirken; der Papft Half fi jedoch 
zunähft mit einer vorläufigen Niederfchlagung des Procefjed, wogegen die Dominikaner 
ihrerfeitö wiederum appellirten, bis Sickingen's Intervention diefelben 1520 bewog, 
R. in Ruhe zu lafien und vom Papft, was auch geſchah, die definitive Niederſchla⸗ 
gung des Procefjed zu erwirken. Sidingen und Hutten hatten in dieſem Streit R. 
ermutbhigend zur Seite geflanden und die epistolae obscurorum virorum 
(f. d. Art.) Hatten ſich bauptfächlich mit Diefer Streitfrage befchäftige. Während der 
Zwifligfeiten zwiſchen dem Herzog Ulrich von Württemberg und dem fhwäbifchen 
Bunde hielt ſich R. in Stuttgart nicht mehr für ficher und begab fich auf den Rath 
des Herzogs Wilhelm von Bayern 1519 nad Ingolftadt, wo er Borlefungen über 
griechiſche und bebräifche Sprache hielt. Indeflen mit Ef, dem er entgegentrat, als 
derfelbe Luther's Schriften verbrennen wollte, verfeindet, Eehrte er 1521 nah) Schwa- 
ben zurüd und wurde 1522 als PBrofeflor der griechifhen Sprache nach Tübingen 
berufen; jedoch Eonnte er fein neues Lehramt nicht antreten und flarb den 30. Junt 
deffelben Jahres in Stuttgart. (Bergl. Mayerhof, Joh. Neuchlin und feine Zeit. 
Berlin 1830.) " 
Neumont (Alfred v.), Föniglich preußifcher Kammerherr und Geheimer Lega⸗ 
tionsrath z. D., in weiteren Kreifen rühmlichſt befannt als vielfeitiger, fleißiger und 
geiftvoller Schriftfleller im hiftorifchen und ſpeciell im Eunftsiftorifchen Fache, flammt 
aus einer im Anfange des vorigen Jahrhunderts nad Aachen übergeflebelten bärger« 
lihen Familie aus Stablo, einem Flecken des ehemaligen Bisthumsé Lüttich, jept zum 
Königreich Belgien gehoͤrend. R. ifi am 15. Auguft 1808 in Aachen geboren, mo 
fein Bater, ein audgezeichneter Arzt, als Medicinalratd an der dortigen Megierung und 
zugleih als Badearzt fungirte, befuchte das Gymnaſium feiner Vaterſtadt, ſtudirte 
auf den Univerfitäten Bonn und Heidelberg Rechts⸗ und Staatswiffenfchaften, fo wie 
neuere Sprachen und trat fhon zu Ende des Jahres 1829 in die biplomatijche 
Garriere über. Zuerſt Attache des preußifchen Gefandten am großberzoglichen Hofe 
von Toscana, Breiheren v. Mertens, ging er mit diefem 1832 nad KRonftantinopel, 
verblieb daſelbſt als Diplomatifcher Agent feiner Megierung während ber aͤgyptiſchen 
Invafton in die Fleinaflatifchen Provinzen ded Sultans und nahm an den Vermitte⸗ 
Iungen der chriſtlichen Mächte Theil, welche das Ende des türkifchrägyptifchen Krieges 
berbeiführten. Nach einer längeren Reife durch Griedyenland, die jonifchen Infeln un» 
einen Theil der Levante im Sommer 1835 als Geheimfeeretär in das Minifterium 
der ausmärtigen Angelegenheiten berufen, wurde R. jedoch ſchon im folgenden Jahre 
wiederum der Befandtichaft in Florenz als Attaché übermwiefen, 1838 in berfelben 
Eigenſchaft nach Rom verfept, wo er bis 1843 verweilte und dann in das Gabinet 
Friedrich Wilhelm's IV. berufen wurde, der ihn durch mehrere Eunfthiftorifche Arbeiten 
fhägen gelernt hatte. Zum Legationsrath befördert, ging R. im folgenden Jahre zur 
Geſandtſchaft nach London, lebte dann bis 1848 in Dispoſttionsſtellung theils in 
Berlin und in der nähften Umgebung feines koͤniglichen Goͤnners, theils In Stettin, 
his er nach der Flucht des Papſtes Pius IX, nach Gaöta ale Vertreter der preußiſchen 


Reuniondkammern. 103 


Regierung mit dem Titel und Range eines „Geſchaͤftaträgers“ dorthin geſchickt wurde, 
mit dem flüchtigen Bapfte nach Meapel ging und mit ihm nach Rom zurückkehrte. 
Sein ungemein fluge® und gewandtes Benehmen, der ungewöhnliche Tact und die 
diplomatifche Umſicht, welche R. in diefen befonderd fchwierigen und verantwortlichen 
Lagen bewies, fo wie Die Energie, mit der er nicht bloß die Untertbanen des preu- 
Bifhen Staates, fondern auch die der deutfchen Bundesländer in feinen gefandtfchaft« 
lichen Schutz nahm, trugen Ihm nicht nur Orden und Ehrenzeichen feined Monarchen 
and anderer Fürfflichkeiten ein, fondern auch einige Jahre fpäter die Berufung zum 
Gefandten und bevollmächtigten Minifter am Florentiner Hofe, welchen Plag er 6i8 zur 
Flucht der großherzoglichen Kamille und zur Einfegung einer proviforifhen Megierung, 
welche feine Abberufung zur Folge hatte, mit derfelben Berufätreue und Umſicht ver⸗ 
fab, 1859. Schon im Sommer des vorangegangenen Jahres war er von Demfelben 
auf längere Zeit entfernt worden, um dem ehrenvollen Rufe zu folgen, feinen ſchwer 
erkrankten fönigliden Herrn während deflen Aufenthalt in Tegernfee, Meran und 
Stalien als Sefellfchafter zu begleiten und durch jeine Eunftkritifchen Urtheile den an künſt⸗ 
leriſchen Befirebungen fo bobe Theilnahme nehmenden Fürſten zu unterhalten und zu 
zerfiteuen. Seither hielt die perjönliche Liebenswürdigkeit R.'s und der Geiſt feiner 
Unterhaltung von dem Krankenbette des langſam hinſtechenden Königs fo manche 
fehmerzliche Stunde fern und linderte fo manches Leiden befjelben, und als der hohe 
chriſtliche Dulder feine Augen für immer fhloß, war e8 wieder die treue Freundes⸗ 
band R.'s, die das königliche Haupt beim Abfchied vom Leben fügte WM. lebt feit 
dem Tode Friedrih Wilhelm’s IV. theild in der Umgebung der Allerböchflen Wittme, 
welche ihm ebenfalls eine gleiche Breundfchaft und Huld beweiſt, theild zurückgezogen 
in ländlicher Einfamkeit wiſſenſchaftlichen Studien und Arbeiten. v. R, feit 1846 in 
den Adelsſtand erhoben, erhielt bei feiner Ernennung zum Gefandten in Nom ven 
Zitel eined Geheimen Legationsratbs und ift Mitglied der Akademie der Crusca und 
steler gelehrter Geſellſchaften. Seine wiſſenſchaftlichen Werke zeichnen fi ohne Aus⸗ 
nahme durch Schärfe der Beobachtung und dur Gründlichkeit der Forſchung ebenſo aus, 
wie durch ihren eleganten und glänzenden Styl, und namentlich haben feine eultur⸗ und 
kunſthiſtoriſchen Werke über Stalien (meiſt in italieniſcher Sprache geſchrieben) viele 
eingewurzelte alte Irrthümer zerflört und neuen Forſchungen die Wege gebahnt. Bon 
legteren Werten find namentlich hervorzuheben: „Römifche Briefe von einem Floren⸗ 
tiner”, 1841 — 1844, Bloreny, 4 Bde., „Sanganelli, feine Briefe und feine Zeit*, 
1847, „Die Carafa von Maddaloni“, 2 Bde., 1851, feine „Beiträge zur italienifchen 
Geſchichte“ und die Eunftgefchichtlichen Arbeiten über Michel Angelo, Andrea del Sarto, 
Benvenuto Gellini und die römijche Campagna. Von Hiftoriichen Arbeiten iſt bere 
vorzaheben feine „Tavole chronologiche e sinerone della storia fiorentina*, von ben 
literaturbiftorifchen feine „Della relazioni tra la litteralura italiana e quella di Ger- 
mania*, feine reizenden „Deifebilder aus füdlichen Begenden* und feine „Rheinlands⸗ 
fagen® (1847). 1860 erfchien „Die Gräfin von Albauy*, eine Biographie der Ge⸗ 
mahlin des legten Stuart (Berlin, 2 Bde), melde durch die Eleganz in der Dar 
Rellung zu den beflen Erſcheinungen unferer neueften Belletriftit zählt und ein durchaus 
verbienteß Aufſehen gemacht hat. 

Aenniondfammern .(chambres de r&unions) hießen die Gommiffionen, die 
Ludwig XIV. von Zranfreih nad dem Frieden von Nimmegen im Barlament von 
Peg und in dem von Befangon, fo wie im fouveränen Rath des Elfaß zu Breifady 
niederfeßte, um durch biejelben die Natur und Ausdehnung der Gefflonen unterfuchen 
zu laflen, die ihm durch den weftfältichen, fo wie Durch den Vorenäen- und den Nim⸗ 
weger Frieden gemacht waren. Geit 1680, in weldyem Jahre der König dieſes Mittel 
der Eroberung in Bewegung gelegt Hatte, urtheilten ibm diefe Kammern eine Menge 
son Städten und Hrrrichaften zu, fei es als Lehen, fei e8 als Dependenzen der Bis⸗ 
thümer von Meg, Toul und Verdun. Daffelde gefhah im Elſaß, in der Franche⸗ 
Gomte und In den Niederlanden, wo die Spanier in den vorhergehenden Friedens⸗ 
ſchlüſſen an Frankreich mehrere Bläge abgetreten hatten. So eignete ſich Ludwig 
mitten im Srieden die Herzogthümer Veldentz und Zweibrücken an, die Fürſtenthümer 
Saurhräden und Saarwerden und mehrere andere Herrſchaften. Im Elſaß zwang er 


104 Heuf. (Fuͤrſtenthuͤmer.) 


alle Stände, die nach 6 87 des Zriedendvertrages von Münfter ihre Neichsunmittel- 
barkeit bewahrt Hatten, fich der Souveränetät Frankreichs zu unterwerfen; Straßburg 
wurde von Louvois an der Spige einer Armee von 20,000 Mann zur Uebergabe auf- 
gefordert und capitulirte am 30. Septbr. 1681. In den Niederlanden febten ſich Pie 
Franzoſen während 1683 und 1684 in den Beſitz von Courtrah, Dirmude und Lurem« 
burg. Endlich vereinigten ſich der Kaijer, ein Theil des Reiches, Schweden, Spanien 
und die Beneralfinaten zum Widerflande, und nach langen Berbandlungen fam es 
zwifchen Brankfreih und dem Reich den 15. Auguft 1684 zu dem Waffenſtillſtande, 
der auf zwanzig Jahre zu Regensburg abgefchloflen wurde, wonah Ludwig XIV. alle 
Pläge und Herrfchaften, die er nach dem 1. Auguft 1681 reunirt Hatte, nit Ausnahme 
Straßburgs an das Reich wieder außzuliefern hatte. Nach dem Waffenftillftande, der 
den 29. Juni 1694 im Haag zwifchen Frankreih und Spanien abgefchloffen wurde, 
ſollte Erſteres Gourtray und Dixmude und alle feit dem 20. Auguft 16893 gemachten 
Meuntonen außliefern, Dagegen während des Waffenſtillftandes Luremburg, Beaumont, 
Bouvines und Chimay mit mehreren Dependenzen befegt halten dürfen. Der Regens⸗ 
burger Waffenſtillſtand Hatte jedoch Faum vier Jahre gedauert, als Ludwig XIV. durch 
den Einfall in's Reich 1688 den Krieg von Neuem begann, indem er ſich auf den 
Bund berief, den der Kaifer, der König von Spanien als Beflger des burgunbifchen 
Kreiſes, Schweden für feine deutfchen Befigungen und mehrere andere Reichsſtaͤnde 
den 9. Juli 1686 zu Augsburg für Aufrechterhaltung des weftfäliichen und Nimmeger 
Friedens eingegangen waren. Es folgte darauf der Krieg, der durch bie große Coa⸗ 
lition gegen Frankreich bezeichnet und 1697 durch den Rysmider Frieden (f. den» 
felben) beendigt wurde. | 

Neuß. Die beiden Fürftentbümer R. machen einen Theil des von den Vor⸗ 


fahren der heutigen Fürften und Grafen R. benannten und denfelben ganz zugehörig - 


gewefenen Voigtlandes aus, welches eine AbtHeilung des Ofterlandes geweſen tft. 
Die Vorfahren der Fürften waren nämlid Voigte des deutſchen Reiches und beklei⸗ 
beten fomit hoͤchſt wahrfcheinlich ein befonderes Reichſerbamt, das ihnen von den 
wirklichen Reichserzvoigten, den Pfalzgrafen bei Rhein, frühzeitig übertragen fein muß, 
indem man die erfle Spur davon 1027 in den Statuten der Stadt Weida findet, 
während diefe Voigtswürde um die Mitte ded 14. Jahrhunderts wieder aufhört. Das 
Land, über welches die Boigte des Neich im Ofterlande gefeßt waren, oder daß fie 
als ein Meichdafterleben befaßen, war vordem viel umfangreicher, denn es enthielt 
Weida, Werda, Plauen, Boigtöberg, Ziegenräd, Triptis, Auma, alles Landfiriche, die 
das Kurhaus Sachen um die Mitte des 15. Jahrhunderts theild dur Kauf, theile 
durch andere Mittel an ſich geriffen hatte, fodann die Herrſchaft Hof, die an bie 
Burggrafen von Nürnberg oder die Markgrafen von Brandenburg- Kulmbach im Jahre 
1373 dur Berfauf gelangte, und die Herrfchaft Ronneburg, welche im 14. Jahr 
Bundert durch den fogenannten voigtländifchen Krieg an die Landgrafen von Thüringen 
gefommen war. Als Stammvater des reußifchen Haufes gilt Heinrich I., Graf von 
Gleiſberg, welcher um das Jahr 1084 gelebt und mit jeiner Gemahlin, einer 
Gräfin Schwarzenberg, außer Schwarzenberg im Erzgebirge, auch den Boigtöberg im 
Ofterlande erhalten hatte. Sein Sohn, Heinrich II., erbaute die Stadt Weida an 
ihrer fegigen Stelle und führte nach ihr den Titel eines „edlen Voigt von Weida“. 
Diefes Heinrih’8 Sohn, Heinrich HI. oder der Meiche, welchen man in vielen 
Urkunden von 1143 bis 1193 findet, war durch kaiſerliche Beleibung entweder Kaifer 
Friedrich's I. oder, was mahrfcheinlicher ift, deflen Sohnes Heinrich VI, Voigt des 
ganzen Boigtlandes, wie e8 feinem Umfange nad in Obigem befhrieben worden if. 
Er theilte daB Boigtland unter feine vier Söhne, davon der Altefle Voigt und Herr 
zu Weida, der zweite zu Blauen, ver dritte zu Greiz und der vierte zu Gera 
wurde. Die dritte Linie erlofch ſchon 1236 mit des Stifters Sohn, die erfle 1533 
und die vierte 1550. Es blieb alfo nur die zweite oder plauenfche Linie übrig und 
diefe theilte fich in ihres Stifters Enkeln wieder in die ältere und füngere. Jene 
erhielt 1426 dad Burggrafentfum Meißen und mit demfelben die reichéfürſtliche 
Würde, farb aber 1572 aus; diefe oder Die eigentlich reuß-plauenfche noch blü⸗ 
bende Linie ſtammt von Heinrih dem Jüngeren, welder nah ber Abſtam⸗ 


- 


Neuß⸗Greiz. 105 


mung, der Großmutter, einer ruſſiſchen Kürflin, der Reuße (Hufe, Ruzzo, 
Ruthene) und fein jüngerer Bruder, nach der Abflammung der Mutter, der Böhme 
genannt wurde. Don thm wird der jet allgemein übliche Name Neuß, der mithin 
nach heutiger Sprachweife der ARufle bedeutet, am wahrfcheinlichften hergeleitet. Die 
fex erſte Reuße ftarb 1294. Einer feiner Nachkommen kaufte 1453 die obere Herr. 
ſchaft Kranichfeld, Die aber wieder veräußert worden if, Doch machte das gräflidse 
Haus fpäter, infonderheit im 18. Jahrhundert, auch Anſpruch auf Die niedere. Herr» 
ſchaft gleichen Namens. Der Titel lautete in dem eben genannten Jahrhundert für 
das ganze gräflihe Haus: „Heinrich R., Graf und Herr zu Plauen, Herr zu Greiz, 
Kranichfeld, Sera, Schleiz und Lobenflein.” Der Altefie regierende Herr des ganzen 
Haufed wurde „ded ganzen Stammes Aelteſter“, nach alter Schreibart „Eltefler”" ge 
nannt, und der Altefle regierende Herr von der anderen Sauptlinie mar fein „Adjunc⸗ 
tus". Bon Heinrich III. oder dem Reichen foll das angeblich zu Ehren des Kaiſeré 
Heinrich VI. errichtete Familiengeſez berrühren, demzufolge alle männlihen Glieder 
des reußifhen Haufes ben Namen Heinrich führen. Anfänglich unterfhied man Die 
Derfonen daburh, Dad man fie nach deren Lebensalter den Alteren, mittleren und 
jüngeren nannte, fpäterhin gebrauchte man noch andere Zunamen, z. B. der Reiche, 
der Rothe, der Dide, der Lange u. ſ. w., bis man endlich 1664 übereinfam, Zahlen 
zur Unterfcheidung einzuführen, und bei einem Gefchlechtövereln von 1668 die Ver⸗ 
abredung traf, daß die Altere und jüngere Linie jede für ſich zählen folle, daher es 
bisweilen vorfommt; daß Herren von beiden Kinten einerlei Zahlen führen. Von den 
zu diefen Hauptlinien gehörigen Nebenlinien zählen nicht eine jede Ihre Söhne für 
fi, fondern ed wird dabei auf alle Söhne in der Hauptlinie gefehen, und fie werben 
fa gezaͤhlt, ald wenn fle in der ganzen Hauptlinie nach einander geboren wären. 1700 
wurde fefigeftellt, daß man bis auf 100 zählen und nach Erfüllung diefer Ziffer mit 
einer neuen Reihe beginnen wolle, wenn nicht die Nachkommen für nöthig finden 
follten, in vdiefer Beſtimmung reine Aenderung eintreten zu laffen. Die Herrſchaften 
des gräflichen, jet fürſtlichen Haufes R. find ehemals freie, eigenthümliche Reichs⸗ 
güter geweſen, wurden aber im 14. Jahrhundert theild der Krone Böhmen (1327), 
tHeil® den damaligen Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen (1400) 
zu Lehn aufgeiragen und felt der Zeit als MeichSafterleben befeflen, welche bloß von 
der Krone Böhmen zu Lehn empfangen wurden. Die Megalien aber, unter denen 
auch das Münz- und Bergwerköregal zu verfiehen war, hingen, mit der Landeöhoheit, 
ausfchließlich von Kaifer und Reich ab. Wie erwähnt, gründeten Heinri der 
Böhme (} 1302) und Heinrich der Reuße (F 1294) zwei neue Aeſte In der 
plauenfchen Linie: den älteren und den jüngeren, von denen der erfiere 1572 erlofch, 
der legtere wieder in drei Linien zerflel: die ältere Linie AM. von Plauen auf Unter- 
greiz, die mittlere Linie. R. von Plauen auf Obergreiz und die jüngere Linie M. 
von Plauen zu Gera. Die mittlere Linie erlofh 1616 und hinterließ ihre Länder 
der älteren Linie, welche fich von da an 

Heub- Greiz nannte. Diefe Linie theilte ſich 1625 wieder in Ober» und 
Untergreiz, vereinigte ſich aber 1768 in der Linie Obergreiz und: blüht ale 
ältere Linie des Haufes R. noch fort. Am 15. Mai 1778 wurde biefelbe in ben 
Heichöfürftenftand erhoben, während ſchon 1671 fämmtliche Herten Meußen von 
Blauen den Brafentitel angenommen hatten. Durch den Beitritt zum Rheinbunde 
(1807) wurde der Lehnönerud zu Böhmen gelöfl, welchem 1815 die Aufnahme in 
den deutſchen Bund folgte. Der jetzige Fürſt M. zu Greiz it Heinrich XXI. (geb. 


den 28. März 1846), welcher feinem Vater, dem Fürſten Heinrich XX. (geb. den. 


29. Zuni 1794) den 8. Nov. 1859 unter Bormundfchaft feiner Mutter, der Fuͤr⸗ 
fiin Karoline Amalie Elifabeth, des verflorbenen Landgrafen Guſtav von Heffen- Homburg 
Tochter, in der Regierung folgte. Die Länder der Fürflen von R., zufammen 
21, Q.⸗M. umfafiend, breiten fih im Boigtlande in zwei großen Stüden aus und 
find von Preußlſch⸗Sachfen, von Sacfen- Altenburg, Sachfens Weimar, Sachſen⸗ 
Meiningen, Königreih Sachſen, Bayern, Sachſen⸗Koburg und Schwarzburg-Rudolftabt 
umgeben und unter die Ältere und füngere Linie vertheil. Das Fürſtenthum R. 
älterer Linie oder R.⸗Greiz beſteht aus drei durch Schleiz getrennten hellen und 


196 | Reuß⸗Greiz. 


iſt von R. füngerer Linie, vom Konigreich Sachſen, dem weimariſchen Kreiſe Neu⸗ 
ſtadt und dem preußiſchen Kreiſe Ziegenrück begrenzt. Der Flächeninhalt dieſes 
kleinen Fürſtenthums beträgt 6,3 Q.⸗M., die Bevölkerung (3. December 1861) 
42,130 Seelen. Das Laͤndchen iſt gebirgig und ſtark bewaldet, gelegen in der 
voigtländifhen Terraffe und im Frankenwalde; es wird von der Weißen 
Elfter mit der Goͤltzſch und von der Saale mit der Wiefenthal bemwäflert. Die 
Bevdlferung, deren Zunahme von 1834 bis 1852 10,,, und von 1858 bis 1861 
6,94 pPCt. betrug und von der auf die Quadratmeile im Durchfchnitt 6196 Individuen 
1861 entfielen, bewohnt 2 Städte, 2 Marktflecken und 82 Dörfer und Weller mit 
4500 Häufern. Die Städte find Greiz, die Haupte und Reſidenzſtadt, mit 10,036 | 
und Zeulenroda mit 6000 Einwohnern im Jahre 1861. Die Bewohner find 
Deutfche, oberſächſiſchen (thüringiihen) Stammes, und bekennen fi, mit Aus⸗ 
nahme von etwa 100 Juden, zur lutheriſchen Religion. Der Boden des Für 
ſtenthums iſt in den Thälern fruchtbar, doch wird bei der bergigen Beichaffenheit des 
Landes und den vielen Waldungen, die dad wichtigfte Kandeöproduct Itefern, nicht fo 
viel Getreide gebaut, ald man bedarf. Dagegen if die Viehzucht allgemein, 
befonders ıft die Hornvieh- und Schafzudt anfehnlih. Bergbau findet anf Eifen 
ftatt; ein Sehr wichtiges Eiſenhammerwerk ift der Burghbammer bei Burg. Der 
vormals blühende Bau bei Kleinreinsdorf auf Silber, Kupfer und Dlei war 
lange Zeit eingeftelt und if erft neuerdings wieder in Angriff genommen ‚worden. 
Die gewerbliche Induftrie ifl in mwollenen und baummollenen Stoffen lebhaft, 
befonder8 zu Greiz und Zeulenroda, die man Fabrikſtaͤdte nennen fann; auf dem Lande 
MWollen- und Barnfpinnerei und Kolzarbeiten. Zur Ausfuhr dienen wollene Zeuge, 
baumwollene Artikel, Eifen und Eifenwaaren, Holz und Vieh. Greiz und Zeulenroda 
treiben einen bedeutenden Manufacturhandel und verfehen die meiften deutſchen Meflen 
mit ihren Waaren, im Lande aber vertreiben fie die Landesproduete und verforgen es 
mit Golonialwaaren und den auswärtigen Bebürfniffen. Die geiftige Eultur ſteht 
auf ſehr Hoher Stufe; zu Greiz find 1 Gpmnaftum, 1 Schullehrer⸗ Seminar und 
1 Handwerks⸗Lehranſtalt. Volkoſchulen find in genügender Zahl vorhanden und Jena 
wird als Landesuniverfität betradhte. Das Fuürſtenthum bat eine landſtandiſche 
Verfaſſung und nimmt in der Bundes-Beriammlung an der 16. Kuriatflimme Theil. 
Der Füurft if das fouveräne Oberhaupt des Staates, bekennt fi zur lutheriſchen Kirche 
und wird mit dem 21. Jahre mündig. Die feit Alters her beftehenden Stände werden durch 
die Ritterſchaft (wozu die Beflger der Eanzleifchriftmäßigen Rittergüter, ohne Untere 
ſchied des adellgen oder bürgerlichen Standes, gerechnet werden) und durch die Städte 
gebildet. Auf dem Landtage, der zu Greiz abgehalten wird, erichienen früherhin bie 
fämmtlichen Glieder der Mitterfchaft und Deputirte der fchriftfäffigen Stabträthe (die® 
nannte man vollfländigen Landtag); in neuerer Zeit find dafür Landes- 
ausfchußtage (Deputationdtage oder enge Landtage) eingeführt, auf weldyen bie 
Nitterfchaft nur durch einige, aus ihrer Mitte gewählte Abgeordnete erfcheint. Die 
Mittere und Landfchaft hat ihren befländigen Ausſchuß, aus dem Aelteflen der Ritter» 
fhaft und einigen gewäßlten Deputirten beflehend, ingleihen ihren Gonfulenten, wel« 
chem die Abfaffung der von den Ständen ausgehenden Schriften obliegt. Die Stände 
haben bei der allgemeinen Gefeggebung und Landesverwaltung eine berathende 
Stimme, welde in foweit Wirffamfeit bat, als die Landeöherrichaft das Gutachten 
in den meiften wichtigen Zandetangelegenheiten, vorzüglich in Bezug auf die Juſtiz⸗ 
pflege und Steuern, einfordert und daß in den Iandeöherrlichen Beſchlußnahmen auf 
die ſtaͤndiſchen Erklärungen wefentliche Rüdfiht genommen wird. Der Fürft bat bie 
ganze vollziehende Gewalt und die oberfle Megierungsbehörbe ift Die Regie⸗ 
rung in Greiz, mit welder als befondere Abtheilungen bie fürftliche Kammer und 
das Conſiſtorium verbunden find. Da Juſtiz und Verwaltung nicht getrennt find, fo 
bildet die Regierung zugleich die zweite Inftanz in allen Rechtsſachen; die oberfle 
dritte Inſtanz wird durch dad Öber-Apprellationdgericht zu Jena gebildet, an welchem 
die beiden Farſtenthümer fett 1820 Theil nehmen. Die untere Inflanz befleht auß 
einem feit 1855 aus den früher getrennten Aemtern Ober» und Untergreiz und Dölau 
bildeten Juſtizamte zu Greiz (neben diefem ein Pollzelamt für bie polizeiliche Ver⸗ 


Nenß⸗Gera⸗Schleiz⸗Lobenſtein⸗Ebers dorf. 107 


waltung), dem Juſtizamte Burgk und dem Stadtvoigtei⸗-Gerichte zu Zeulenroda ale 
Civiljuſtiz- und Verwaltungs -. Behörden, und einem Griminalgericht zu Greiz für Die 
Verwaltung der GStrafjufliz. Außerdem Haben bie beiden Städte Greiz und Beulen» 
roda befondere Stapträthe. Die fährlihen Einkünfte des Fürſtenthums belaufen 
fh auf 200,000 Thlr. und das Bundescontingent befielben beträgt 334 Mann. 
Dad Wappen ded Staates iſt quadrirt: im erfien und vierten Quartiere ein gol« 
dener, vothbewehrter und gekroͤnter Löme in Schwarz, wegen R.; im zweiten und 
dritten ein gehender, goldener Kranich in fllbernem Grunde, wegen Kranichfeld. Es 
wird von drei Helmen bededt und von zwei auswärts flehenden goldenen Löwen ges 
balten. Das Ganze umfliegt ein purpurfarbener, mit Hermelin gefütterter und mit 
goldenen Franzen bejegter Wappenmantel, den oben ein Fürſtenhut deckt. — Was 
nun die Zürften R. jüngerer Linie oder von 
Nenß⸗Gera⸗Schleiz⸗Lobenſtein⸗Ehersdorf anbetrifft, fo wurde diefer füngere Aft, 
wie bereitö erwähnt, im Jahre 1564 gegründet und exbielt bei der flattgefundenen 
Zhellung Gera, zerfiel aber 1647 in vier Linien: Gera, Schleiz, Saalburg 
und Lobenftein. Don diefen erlofh Schleiz bereit 1666 und Saalburg überkam 
deren Beflgungen, nebft dem Namen R.-Schleiz, während die faalburgifchen Ränder 
unter die vorhandenen Aeſte getbeilt wurden. 1681 wurde befchloffen, feine weitere 
Iheilung weder in der älteren, noch in der füngeren Linie des Hauſes MR. zuzulaſſen, 
und fo kam es denn, daß, als die Linie der Srafen von Gera 1802 ausfarb, die 
übrigen Zweige ber jüngeren Linie nicht tbeilten, fondern gemeinfam in diefem Lande 
die Megierung führten. Dur den Beitritt zum Rheinbünde (1807) erhielt Schleiz 
die Fürſtenwürde. Lobenflein zerflel 1678 in die Special-Linien: Lobenſtein, 
Hirſchberg und Eberedorf, von denen bie zweite 1711 erloſch und ihre DBe« 
fituhgen an die beiden anderen überließ. Lobenflein befam am 4. October 1790, 
Ebersdorf am 9. April 1806 die Fürſtenwürde. Mit dem Erlöfchen des Special- 
Haufed Lobenflein (1824) fielen deſſen Beflgungen an Ebersdorf. Fürſt Hein⸗ 
rich LXXI. von Ebersdorf-Lobenftein entfagte am 1. October 1848 der Regierung 
und EberöborfsLobenflein wurde mit dem Fürſtenthum Gera und der Pflege Saal« 
burg, weldye Die beiden Zweige der jüngeren Linie bisher gemeinſchaftlich befefien 
hatten, mit Schleiz zu einem Fürſtenthum M. jüngerer Linie vereinigt, deſſen jekiger 
Fürſt Heinrich LXVII. (geb. den 20. October 1789), feinem Bruder, dem Fürften 
Heinrich LXII. bei defien Ableben am 19. Junt 1854 in der Regierung fuccedirte. 
Eine, doch nicht founeräne, aber paragirte Nebenlinie ifl die von Heinrich XXIV. 
(. u.) gefiftete von Reuß⸗Schleiz-Köſtritz, deren Chef jegt Kür!) Hein⸗ 
rich LXIX. (geb. den 19. Mai 1792) if. Das Fürſtenthum RM. füngerer Rinie 
befieht aus drei größeren und einigen Fleineren Theilen und grenzt an R. dlterer 
Linie, Königreih Sachen, Sachfen-Altenburg, Preußify-Sachfen, ben weimarſchen 
Kreis Neuſtadt, Sachfen-Meiningen, Schwarzburg⸗Rudolſtadt und Bayern. Der 
Flacheninhalt beträgt 21 Q.⸗M., von denen 6 auf Schleiz, 7,7, auf Lobenftein 
und Ebersdorf und 7,,; auf Gera mit Saalburg entfallen. Das Land if theils 
gebirgig, theild gewellt mit weiten Thälern und kleinen Ebenen, die zwar meiſtens 
fandigen oder leichten, aber fehr ergiebigen Boden Haben. Auf der Grenze mit 
Bayern erſtreckt fi der Frankenwald, mit dem 2400° Hohen Kulmberg, dem 
2300° hohen Siegligberg und dem -Lerchenhügel, 2150° body, fonft gehört der Staat 
dem ſächſiſchen Berglande an (bis 1200° Ho). Die Sauptflüffe find die 
Saale im ſüdweſtlichen Theile des ſüdlichen Stüdes und die Weiße Elfter im 
Norden. Erſtere empfängt die Wiefenthal, Die Lemnig, die Sieglig und die Sormig, 
legtere die Weide. Beim füdlichfien Grenzdorfe Titfchendorf entfpringt die Rodach, 
welche in den Main gebt. Die Bevölkerung if in biefem Fürſtenthum eine 
relativ geringere wie in M. Alterer Linie, auh if ihre Zunahme eine bedeutend 
Hleinere; fie betrug 1858: 81,806 und 1861: 83,360 Seelen, fo daß auf einer 


7) Nach einem mit den Agnaten des fürfllichen Hauſes R. jüngerer Linie getroffenen Abs 
fommen führt außer bem regierenden Fürften immer nur der jeweilige Chef der Köfriger Para⸗ 
giate⸗inie und Inhaber des Köftriger Paragiums das Bräbifat „Fürf”, bie übrigen Agnaten gleich» 


mäßig das Brhditet „Prinz“, 


108 Renß⸗Gera⸗Schleiz⸗Lobenſtein⸗Eberddorf. 


Quadratmeile in letzterem Jahre 5557 Menſchen lebten und der Zuwachs 1,,, pCt. 
betrug. Die Wohnpläge find 6 Städte, 3 Marktflecken und 169 Dörfer 
und Weiler mit 8650 Wohnhäuſern. Die größeren Orte find Gera, die 
Hauptfladt, mit 14,208 Einwohnern (1861), Schleiz mit 5500, Lobenſtein mit 
4200, Hobenleuben, Marktflecken in der Herrichaft Schleiz, mit 2400, und 
Hirſchberg, Stadt in der Herrfchaft Ebersdorf, mit 1800 Einwohnern; fürft- 
lihe Reſidenzen find Schleiz, Gera und das Schloß Oſterſtein bei dieſer Stabt, 
fürftlide Schlöffer zu Ebersdorf und Lobenflein und fürftliche Luftfchläffer zu Louiſen⸗ 
thal, Heinrichsruh und Bellevue. Die Bewohner find Deutfche und zwar Öber- 
ſachſen (Thüringer) und Branfen. Juden ungefähr 300. Die lutheriſche Kirche 
it die berrichende, in Ebersdorf find 500 Herrnhuter. Die Landwirthſchaft 
wird fehr gepflegt, die Viehzucht ift anfehnlich, namentlich macht die Rindviehzucht 
den Reichthum des Landes auf, und die Korfleultur if in den vielen Waldungen 
fehr bedeutend. Der Bergbau gebt auf Eifen und Salz. Erſteres wird vorzugs⸗ 
meife im Lobenfleinfchen geichürft und etwa in 10,000 Etr. ausgebracht; letteres lies 
fert die Saline Heinrihöhall bei Gera. Die gewerblihe Thaͤtigkeit ifk fehr 
lebhaft, namentlich die Inpuftrie in Wolle und Baummolle, in: weldyer fi bie oben⸗ 
genannten größeren Orte und Langenmegendorf hervorthun. Gerberei wird fehr ſtark 
in Gera, ebenfalls dort Färberet und Leinweberei betrieben, auch find Bierbrauersien 
in großer Menge vertreten, namentlich in Köfrig. Die Ausfuhr beſteht hauptſach⸗ 
lich in Fabrikaten, dann in Holz, welches theils nach Kronach, um ald Holländerholz 
den Main herab zu geben, verfauft, tbeild auf der Sormig nah Thüringen geflößt 
wird, und in Schlachtvieh. Die Manufacturftädte Gera, Schleiz und Lobenſtein, audy 
Hirſchberg, treiben einen lebhaften Handel, und ihre Fabrikate füllen alle deutfchen 
Mefin. Der Hauptbandelsplag iſt jedenfalls Sera; ſchon 1850 betrug allein’ der 
Werth der in den Handel gekommenen Induftrieerzeugniffe diefer Stadt 3,, Millionen 
Thaler. Das Fürftentbum iſt dur hohe geiftige Eultur ausgezeichnet. Lehr⸗ 
anftalten find 2 Opmnaflen zu Gera und Schleiz, 1 Mealfchule und 1 Handels 
fhule, beide zu Gera, 2, Schullehrerfeminare zu Gera und Schleiz und über 
100 Volksſchulen. Die Herrnhuter haben zu Ebersdorf eine Erziehungsanſtalt, und 
als Landesuniverfltät gilt Jena. In Hinfiht der Staatsverfaffung ermähnen 
wir, dad das Fürſtenthum eine befchränft- monardhlfche Staatöform Hat. Es nimmt 
am Bundedtage mit MR. älterer Linie, Liechtenitein, beiden Lippe, Waldeck und Heſſen⸗ 
Homburg die 16. Stelle ein und hat im Plenum eine befondere Stimme Grund⸗ 
geſetz iſt das Staatögrundgefeg vom 14. April 1852, mopdificirt durch Geſez vom 
20. Sunt 1856. Darnach vereinigt der Landesherr in fich alle Rechte der Staats⸗ 
gewalt; die von ihm in Bezug auf die Verwaltung und Regierung des Staated aus⸗ 
gehenden Anordnungen bedürfen der Contraſignatur eines Minifters. Der Volkevertretung 
fteht das Recht der Mitwirkung bei der Befteuerung, die Mitwirkung bei der Ordnung 
des Staatshaushaltes und bei der Befehgebung das Recht des Gefegesvorfchlages, der 
Beſchwerde, der Adrefle und der Minifterankflage zu. Der Landtag beſteht aus dem fürftlichen 
Beſitzer des R.-Köfriger Paragiumd oder defien Vertreter, 3 Abgeorbneten der übrigen 
31 Rittergutsbeftger, 6 durch allgemeine Wahlen der übrigen Gemeinden des Landes hervor⸗ 
gegangenen Abgeordneten. Die Nittergutsbefiger wählen ihre Abgeordneten unmittelbar, 
die andern Abgeordneten werden durch Wahlmänner, fo daß auffe 500 Seelen ein Wahl 
mann gerechnet wird, gewählt. Die Wahl erfolgt auf drei Jahre, nach deren Ablauf totale 
Erneuerung des Landtages eintritt. Neben dem Plenum des Landtages beſteht noch 
ein Landtagsausſchuß, welcher in der Zeit zmwifchen zwei ordentlichen Landtagen aus 
dem legten Präfldenten des Landtags und zwei durch einfache Stimmenmehrheit zu 
wählenden Abgeorbneten gebildet wird und die Obliegenheit bat, die echte der Volks⸗ 
vertretung aufrecht zu erhalten, die Ausführung der gefaßten Beichlüffe zu überwachen, 
Schulbverſchreibungen mit zu unterzeichnen und bei der Abnahme der Mechnungen 
über die Kaflen, welche der Betheiligung der Volksvertretung unterliegen, mitzuwir⸗ 
fen. Die oberfle Landesvermaltungd-Behörde iſt das in mehrere Abthei- 
lungen zerfallene Minifterium, das feinen Sig in Gera bat. Für die geiſtlichen 
Sachen befteht ein Conſiſtorium, für die Verwaltung des landesherrlichen Domanial⸗ 


J 
—— — — — — — | 


Neuß⸗Gera⸗SEchleiz⸗Lobenſtein⸗Ebersdorf. 109 


Vermoͤgens eine fürſtliche Kammer daſelbſt, wozu noch das fürſtliche Geheime Kabine 
fommt. Für die untere Verwaltung, in foweit fle nicht den Bemeinden zufteht, 
if das Fürſtenthum in drei Landrathsämter (Gera, Schleiz und Ebersdorf) getheilt. 
Jedem Landrathe flebt ala Meeursbehörbe in Bewerb» und Perſonalſtererſachen, fo 
wie in Gommunalabgaben » Angelegenheiten ein Bezirksausſchuß zuf Seite, welcher 
aus zwei, beziehentlich einem Abgeorbneten ber Hittergutöbeflger und aus drei Bürs 
germeifteen gebildet wird. Im Hinficht der kärchlichen Verfaſſung iſt zu ermähe 
nen, daß die unmittelbare und mittelbare Ausübung der Kirchengemwalt über die evan« 
gelifch » Iutherifche Landeskirche dem Landesheren zuſteht. In Ilturgifhen Sachen er- 
gehen die Verfügungen durd dad Conſiſtorium und können überhaupt Feine we⸗ 
fentliden Neuerungen gepflogen werben, ohne daß eine befonderd zu veranftaltende 
Synodalverfammlung darüber befragt wird. Das Fürftentyum zerfällt in vier 
Didcefen, mit 43 Bfarreien, an denen gegen 70 @eiftlihe wirken. Seit dem 1. Juli 
1863 if} eine neue Juſtiz Organifation eingeführt. Nach derfelben beſtehen 
im Fürſtenthum 5 Juflizämter (mit @inzelrichtern, in Gera, Schleiz, Hohenleuben, 
Lobenflein und Hirſchberg), 2 Kreisgerichte (collegialifh, Gera, Schleiz), fo wie 
Schwurgerichte für alle Straffachen, welche die Competenz der Kreidgerichte überſchrei⸗ 
sen. In den Höheren Inflanzen findet Anfchluß an das Großherzogthum Weimar 
und die Fürſtenthümer Schwarzburg flatt, indem mit diefen Fürftenthümern dad Ap⸗ 
pellationsgericht zu Eifenach als Gericht zweiter Inflanz gewählt worden if. Das 
Oberappellationsgericht zu Iena bildet die dritte Inflanz. Nach dem Voranfchlag für 
die Finanzpertode 1863—65 beträgt Die fährlihe Einnahme 281,850 Thlr., die 
jährlihe Ausgabe 273,850 Thlr., fo daß ein jährlicher Ueberſchuß von 8000 Thlr. 
verbleibt. Die verzindlihe Staatoſchuld belief fih Ende 1862 auf 389,057 Thlr. 
(davon 191,757 kündbare Schuld). Mechnet man noch dad vorhandene Papiergeld 
im Betrage von 320,000 Thlr. Hinzu, fo flieg Die gefammte Staatéſchuld auf 
709,057 Zhlr. Das Bunbescontingent für das Fürſtenthum beträgt 783 
Mann; für beide Fürſtenthümer daher 1117 Wann. 

Das fürftlihe Haus R. Hat ſich in der Geſchichte eine wahrhaft denkwuͤrdige, 
in hohem Grade ehrenvolle Rolle erworben. Wir finden unter feinen @liedern vor» 
treffliche, für alle Zeiten durch ihre Froͤmmigkeit, durch ihre edlen und einfachen Sit⸗ 
ten und durch ihre perfönliche Liebenswürdigkeit hervorragende Megenten, die Durch 
ihr Streben nad Bildung, durch die Fürforge für das Beſte der ihnen anvertrauten 
Länder ein dankbares und gefegnetes Andenken binterlaffen haben. Bor Allen leuchtet 
unter ihnen Graf Heinrich XXIV. (geb. 1681, + 1748), der Sohn Heinrich's 1. 
und Stifter der Linie R.⸗Schlelz⸗Koſtritz hervor, deſſen Leben und Wirken Büſching 
in feinen „Beiträgen zu ber Lebendgeichichte denkwuͤrdiger Perfonen” befchreibt. Cr 
war nicht nur liebevoller Vater feiner Familie, fondern auch allen feinen Untergebe« 
nen und Untertbanen, ein weiſer und gütiger Berather für Alle, die von nah und 
fern fih an ihn wandten, um fi Mathe von ihm zu holen; er war ein frommer 
Herr, der, wie unfer Gewaͤhrsmann fagt: „zwar oft nach Halle reife und mit den 
daflgen frommen Theologen umging, welche man Pietiften nannte, audy diefelben in 
einigen gottfeligen Uebungen und Gewohnheiten nachahmte, deffen natürlich ungezwun⸗ 
gened, freied, munteres und lebhaftes Weſen und deffen richtige Einficht in das, was 
zur hriftlich-gottfeligen Geſinnung gehört und nicht gehört, ihn aber vor der Sonder- 
lichkeit im Chriſtenthum bewahrten, der dennoch die chriſtlichen Sonberlinge mit gro⸗ 
Ber Geduld und Herablaffung ertrug, und deffen Mechtfchaffenheit Jedermann einleudy- 
tete, der mit ihm umging. Wan Eonnte von ihm fagen, daß er vor Gott wandle, 
denn ihm wohlzugefallen war fein Zweck bei dem, was er that und unterlief. Er 
war ein herzlichen Verehrer und freimüthiger Belenner des Heilandes und Herrn ber 
Menſchen, fern von aller Scheinheiligkeit, erkannte und empfand den unfchägbaren 
Werth des Evangeliums, durch welches er gebefiert, beruhigt und erquickt und in dem 
Vertrauen zu Gott erhalten und befeftigt wurde." Seine Bildung war eine eben jo 
umfaflende ald gründliche, und feine Gabe und Geſchicklichkeit, junge Leute zu bilden 
und zu erziehen, mar fo berühmt, daß er wiederholt gebeten wurde, Kinder an feinen 
Hof zu Köftrig zu nehmen. Zu diefen gehörte Graf Nochns Briebrih zu Lynar, 


110 Reuß⸗Gera⸗Schleiz⸗Lobenſtein⸗Eberddorf. 


ſein nachmaliger Schwiegerſohn, der von 1724 oder von ſeinem 16. Jahre an, bis 
er auf die Univerſttaͤt ging, von ihm erzogen wurde. Graf Heinrich R. XII., nachmali- 
ger regierender Herr zu Schleiz, war mehrere Monate, eine Gräfin R. aus dem Haufe Gera, 
nahmalige vermählte Sräfin von Stolberg, ungefähr 10 Jahre an feinem Hofe. „Ich 
will Davon nicht fagen,“ meint Büfching, „daß er feinen Enkel, den Heren Grafen 
Sriedrih Ulrich zu Lynar, der in feiner früheflen Kindbeit aus Stodholm, wojelbft 
er geboren war, zu ihm gebracht worden, ungefähr zwölf Jahr lang bei fich gehabt 
bat und daß Herr Graf Heinrich Caſimir Gottlob zu Lynar auf feinem Schloffe ger 
boren ift, fondern ich will von fremden gräflihen Kindern, die er erzogen bat, nur 
noch Die Herren Grafen und Brüder Carl Ernſt Caſtmir und Friedrich Wilhelm Bra» 
fen zu Lippe⸗Biſterfeld nennen. Unterfchiebene adlige Familien baten ihn, Ihre Söhne 
ald Edelknaben zu fi zu nehmen und ihnen eine gute Erziehung zu geben, bavon 
er auch unterfchiedliche gebildet bat, als einen v. Poſer, einen v. Wegerer, einen 
vd. Gelhorn, einen v. Bonin, einen v. Bogatzki ꝛc.“ Das Vertrauen zu feinem Ver⸗ 
flande, Herzen und Dienfleifer war fo groß, Daß man ihn von weit und breit um 
Rath und Beiftand anging. Er hielt ein Pegifter von den zu Befchäften aller Art 
tauglichen Perfonen, welche er entweder perfönlidy kennen gelernt hatte, oder die ihm von 
Undern empfohlen waren, ober die ſich feine Fürſprache fchriftlicy erbaten. „Man kann eine 
Aemter und Eeine Bedienungen, * fährt Büfcying weiter fort, „nennen, zu welchen er nicht 
tüchtige, dad iſt gottesfürchtige und gefrhickte Leute in feinem zahlreichen Verzeichniß Hatte. 
Diefe fuchte er nun bei vorfommenden @elegenheiten anzubringen, und wer entweder 
einen Math, oder Beamten, oder Prediger, oder Hauslehrer und Hofmelfter, oder Be⸗ 
dienten, Furz, wer einen Menfdyen, von weldyer Art er auch fein mochte, verlangte und 
mit dem Seren Grafen in Belanntfhaft und Berbindung fund, ober biefelbe ohne 
Bedenken fuchen durfte, der wendete fi an ihn und bat, ihm einen ſolchen vorzu- 
ſchlagen. Gemeiniglich Eonnte er nicht nur mehrere von verſchiedenen Eigenſchaften 
nennen, fondern er war auch meiftend in feiner Empfehlung glüdlich und trug dadurch 
zur Verbeſſerung der Stände bei.” Als Vormund des Grafen Heinrich II. von Ober⸗ 
greiz, ded Grafen Heinrich XXIX. von Eberäborf, des Grafen Heinrich XI. von Ober⸗ 
greiz, ded Sohnes der Zuerfigenannten, hat er ſich um die Lande feiner Mündel große 
Verbdienfte erworben. Die dritte und legte Vormundfchaft, welche der vollfommen mit 
ihm übereinflimmende und auf's Freundfchaftlichfle mit ihm verbundene, vortreffliche 
Graf Hendel 9. Donnersmark zu Bölzig mit ihm führte, war die Tängfte; fte währte 
über 20 Jahre, bis 1743, in welchem Jahre Graf Heinrich XI. die Regierung felbft 
antrat und bald darauf fich mit feines ehemaligen Vormundes jüngfler Tochter ver» 
mäblte. Er war von dem Grafen Heinrich XXIV. als deſſelben eigned Kind erzogen 
und dadurch zu feiner nachmaligen fo guten Regierung vorbereitet worden. Die Bore 
münder, injonderbeit Graf Heinrih XXIV., waren auf's Weifefle darauf bedacht ge⸗ 
weien, die Herrfchaft Obergreiz auf alle Weile zu dem blühenpften Laͤndchen zu machen. 
Die Rechtöverwaltung wurde verbefiert, an Kirhen und Schulen wurden vorzügliche 
Lehrer berufen, in der Stadt Greiz wurbe eine Charttefchule angelegt und für Woh⸗ 
nung und andere Bebürfniffe der Landgeiftlichen und Dorfichullehrer nad Möglichkeit 
geforgt, welches. Folgen der Kirchen» und Schulceviflon waren, die der Graf 1741 
perfönlich im ganzen Lande vorgenommen hatte. In der Stadt Zeulenroda warb 
ein Zuchthaus errichtet, anderer guter Maßnahmen nicht zu gedenken, mie 5. B. der 
Verwaltung der Gapitalien feines Mündels, die derfelbe bei Antritt feiner Regierung 
erheblich vermehrt außgehändigt erhielt. Ein faft unbegrenztes Vertrauen in feine 
Umfidt und Energie feßten alle Glieder des gräflihen Haufe R.; er war «8, der 
von der gelammten Familie zu König Karl XI. von Schweden, als berielbe bie 
furfürftlich » fächfifchen Lande in Belle genommen hatte, in das Hauptquartier zu 
Altranflädt gefandt murbe, um für die reußifchen Herrſchaften, Schug und Sicherheit 
zu erlangen. Dieſe Mifflon lief auf das Blüdlichfte ab und das ganze reichögräflide 
Haus erkannte fih Ihm dafür in höchftem Grade verpflichtet. In dem folgenden 
Jahre, 1707, zog König Karl XI. mit feinem Heere nach Polen, Tieß aber in 
Schleften einen Bevollmächtigten zurück, der bei der angeordneten kaiſerlichen Gom- 
miffton die Rechte auswirken mußte, die in dem befannten AUltvanflädter Vergleich vom 


Nentlingen. | 111 


21. Auguft zum Nutzen der evangelifchen Einwohner Schleſiens flipulirt worden waren. 
Graf Heinrih XXIV. eilte auf die fchleflichen Büter feiner Gemahlin, der Erbtochter 
des Freiherrrn Hand Chriſtoph v. Promnig, und wußte als Vertreter der proteflan- 
ſtiſchen Stände Schleſiens deren Bitten und Wünſche mit einem ſolchen Nachdruck 
geltend zu machen, daß man ihm nur allein die Verleihung der Gnadenkirche zu ver» 
danfen hatte. „Der Herr Graf”, fließt Büſching feine Schilderung, „if auch zu 
unterfchiedenen Malen von dem Kaifer und den böchften Reichsgerichten in fürftlicyer 
und gräflicher Häufer Angelegenheiten beladen worden. So thätig und nüglich brachte 
der Herr Graf feine Lebensjahre bis in das hohe Alter zu und war dabei der ewig 
dauernden Glückſeligkeit beflindig fo eingedenf, daß er feine Lebendzeit auf Erben 
als eine Zubereitung zu derfelben anſah. Man darf dab, mad diefer Graf gemweien, 
gelagt und gethan hat, nur bloß erzählen, um ihm die Hochachtung aller Leſer zu 
verfhaffen. Möchte ed nur unter den PBerfonen feines Standes viele geben, die ihm 
aͤhnlich wären oder doch zu werden fuchten! * 

Reutlingen, - wohlgebaute Hauptſtadt des Schwarzwaldkreiſes im Königreiche 
Württemberg, an der Echatz und am Fuße der Alp, war bis auf die neuere Zeit mit 
Graben, AD Fuß Hohen Mauern und Thürmen umgeben und hat 13,450 Einwohner 
(nah ver Zählung Ende 1861), welche blühenden Wein» und Aderbau treiben und 
außerdem anſehnliche Fabriken in Leder, Metallmaasen, mollenen und baummollenen 
Zeugen 3c., fo wie mehrere großartige Buchdrudereien, die fich ſonſt beſonders mit 
Nachdruck befchäftigten, unterhalten. Auch iſt ganz in der Nähe eine Heilquelle, bie 
fleißig benugt wird. Die merfwürbigften Gebäude find die Marienkirche, in gothiſchem 
Styl erbaut, mit einer fehr fchönen Orgel und einem 225‘ hohen Thurme, bie 
Nicolaikirche, dad Rathhaus und die Kanzlei, worin die Megierung ded Schwarzwald» 
kreiſes ihren Sig bat. Ueber der Stadt erhebt fih der Achalm, ein hoher freis 
lebender Bergfegel, mit den Ruinen der Burg Achalm und einer Eöniglicyen Meierei, 
welche vorzüglih zur Zucht der edelſten Merinos und einer Kafchmir- und Angora- 
jiegenheerbe eingerichtet if. R. war feit 1240 eine freie Reichsſtadt, in deren kleinem 
Gebiete Die Pfarrdörfer Bezingen, Wanweil, Ommendaufen und Bronnmeiler lagen. 
Die Bürgerſchaft war evangelifchelutherifh ; fo war es denn auch der Magiflrat, der 
gemeiniglih uud 28 Mitgliedern befland, von denen der Stadtichultheiß und zwölf 
andere, von der Gemeinde gewählt, dad Zunftmeifter-Collegium ausmachten. R. war ' 
mit Nürnberg die erſte Stadt, welche die Augsburgifche Confeſſton 1530 unterſchrieb; 
ed bat auch mie Ffönnen dahin gebtadyt werden, daß es das Interim angenommen 
haͤtte. Aus Dank wegen der Verleihung der Meichöfreiheit ſeitens des Kaiſers Friedrich 
bielt R. treu an den fchwäbifchen Kaifern und mar deshalb mehrfachen Angriffen von 
deren Gegnern, injonderheit dem Landgrafen von Thüringen, Heinrich VIL, ausgeſetzt, 
die es aber alle tapfer zurüdichlug. Gleiche Tapferkeit behaupteten fpäter die Reut⸗ 
linger in den feit 1376 fat ohne Unterbrechung geführten Fehden mit Eberhard von 
Württemberg, in denen ihnen die übrigen fchmäbifchen Reichsſtädte Beiftand leifteten, 
und die u. 9. 1377 zu einem blutigen Scharmügel, in welchem eine große Zahl 
württembergifgher Edelleute blieb, und 1388 zu der Schlacht von Weil oder Weiler- 
ſtadt führten, in der ſelbſt Graf Ulrih, Eberhard’ Sohn, fiel. Erſt durch Kaifer 
Wenzel wurden die Streitigkeiten definitiv beigelegt. Seit 1305 mar die Stadt ein 
Aſyl für unvorfägliche Mörder und erhielt 1505 dad Mecht, Feine Juden aufzunehmen. 
In den ſchwaͤbiſchen Bund trat fie gleich bei deffen Gründung und begab fih 1505 
unter winttembergifhen Schug. Im Sabre 1519 überfiel Herzog Ulrich von Württem⸗ 
berg R., das feine Abgefandten fchnöde behandelt hatte, verwidelte ſich aber dadurch 
in einen Krieg mit dem ſchwaͤbiſchen Bunde, der ihn feines Thrones beraubte. Was 
die Grafen v. Achalm, deren altes Schloß, wie erwaͤhnt, jeht in Ruinen, auf der 
Achalm lag, ehedem für Rechte beſeſſen, als da find Schultheißenamt, Zoll, Umgeld ꝛc., 
hatte Herzog Ulrich freiwillig 1500 an Kaiſer Maximilian abgetreten, der dieſelben 
den Reutlingern gegen Erlegung einer Summe Geldes überließ. Andere behaupten, 
daß Herzog Ulrich dieſe Rechte direct an die Stadt verkauft habe. Jedoch nirgends 
ſindet ſich eine Angabe, daß R. jemals eine Municipalſtadt der Grafen v. Achalm 


112 Kent (Alexander Mignus Fromhold v.). Roéoͤbai Mikloͤs (Nikolaus Mevah. 


geweſen ſei. Durch den Reichsdeputationshauptſchluß von 1803 büßte die Stadt ihre 
Reichs freiheit ein und fiel an Württemberg. 

Reutz (Ulerunder Magnus Fromhold von), der Begründer der ruſſiſchen Rechts⸗ 
geichichte, einer der tüchtigften Kachgelehrten Nußlands, geboren zu Roͤſthof im Dörpt- 
Shen Kreife des ruſſiſchen Gouvernements Lievland, am 28. Juli 1799, verbradte 
den größten Theil feiner Jugend auf dem Gute Hummelshof, bezog darauf die Linie 
verfität Dorpat, mo er ſich erfi dem Studium der Theologie, dann dem der Rechts⸗ 
wiffenfchaften widmete, und wurde im Jahre 1824 von der Univerfltät Tübingen für 
feine Abhandlung über das ruffliche Vormundſchaftsrecht zum Doctor creirt, morauf 
er 1825 die außerordentliche und 1830 die ordentliche Profeflur des ruffifchen Rechte 
an der Univerfität Dorpat erhielt. Bis in die vierziger Jahre entwidelte er an biefer 
deutfchen Hochſchule Rußlands eine erfprießlihe und nur durch einzelne kurze Reiſe⸗ 
unterbrechungen gehemmte Lehrthätigkeit, bis er feiner angegriffenen Gefundheit wegen 
fih auf längere Zeit gänzlich von feinem Amte zurüdzog. Indem er als Infpector 
an der kaiſerlichen Rechtöfchule zu St. Petersburg, hierauf wieder in den Staatsdienſt 
trat, verblieb er drei Jahre in dieſer Stellung und lebte feitvem ald Schriftfieller 
und Landwirtd im Kreiſe der Seinigen, indem er ſowohl an den praftifchen, das 
Öffentlihe Wohl des Staats betreffenden Fragen, wie an den Fortſchritten der Wiſſen⸗ 
fchaft bis zu feinem zu Ghitny im Gdow'ſchen Kreife des Gouvernements St. Peters⸗ 
burg am 2. Juli 1862 erfolgten Tode den lebhafteſten Antheil nahm. R.'s litera⸗ 
rifhe Thaͤtigkeit, welche felbfi die feiner Vorgänger Emwerd und Neumann weit über- 
trifft, ift geradezu epochemachend für die Gefchichte des ruſſiſchen Rechts. Wir heben 
unter feinen Werken als die gebiegenfien und bis Heut beim afademifchen Unterricht 
in Rußland als Grundlage dienenden hervor feinen: „Verſuch einer hiſtoriſch«dogma⸗ 
tifchen Darftelung des ruffifchen Vormundſchaftsrechts“ (erſchienen zuerfi im Jahre 
1821 und darauf unter dem Titel: ‚Verſuch einer gefchichtlichen Entmwidelung der 
Brundfäge des ruſſiſchen Bormundfchaftärehts” 1825 in einer erweiterten Geſtalt 
herausgegeben); fein umfaſſendes Werf: ‚Verſuch über die gefchichtliche Auffaflung 
der rufflfchen Staatd- ufd Rechtsverfaſſung“ (Mitau 1829), welches von Moroſchkin 
im Jahre 1836 in's Auffifche überfegt ward, und bie bahnbrechende Schrift: „Ver⸗ 


faſſung und Rechtszuſtand der dalmatinifchen Küftenftädte und Infeln im Mittelalter”, 


die er aus ihren Munieipalſtatuten fchöpfte und zu melcher er ſich das Material auf 
Reifen nach Benedig, Zara, Ragufa, Spoleto u. f. w. ſelbſt geſammelt hatte. Sie 
erſchien zu St. Petersburg im Jahre 1841 im Drucke, nachdem ſie ein Jahr zuvor 
den Demidow'ſchen Preis erhalten, und kann ald dad Hauptwerk R.'s Sezeläpnet 
werden. linter den Eleineren Schriften dieſes tüchtigen Juriften führen wir noch nach⸗ 
folgende als die wichtigeren an: „Gewohnheitsrecht und Codiflcation in Rußland * 
(abgedrudt in den Dorpater Iahrbüchern für Literatur, Statiſtik und Kunft) und 
„Ueber die Frohndienſte“ (in der rufflichen landwirtbfchaftlicden Zeitung), obgleich 
auch viele andere kleinere Arbeiten R.'s, die er in inländifchen und ausländifchen 
Zeitfcgriften abdrucken ließ, feinem Namen Ehre machen. Namentlich ſchmückt fidy die 
„Baltifhe Monatsichrift” mit vielen gebiegenen Beiträgen jenes Schriftflellers. 

Rebal MIET (Nikolaus Hevat), einer der größten Forfcher und kenntnißreich- 
fien Gelehrten Ungarns, der Vater der jegt allgemein zur Anerkennung gelangten 
ungarifchen Spracdhforfchung, zugleich ein talentvolfer Dichter und Herausgeber ma- 
gyarifcher Dichtwerke, wurde 1749 im Torontaler Komitat geboren, fudirte In Nagy 
Kärolyg und Neutra PHilofophie und Theologie und wandte fih dann (1777) nad 
Wien, wo er fi im Deutfchen vervollfommnete und ſich mit der Zeichnen- und Bau 
tunft ſowohl theoretifch wie praftifch befchäftigte. Nachdem er um das Jahr 1780 
in den Piarifienorden eingetreten war, lebte er von 1781—1784 abmwechfelnd in Wien 
und Gräp als Erzieher und fchuf hier den Plan zu einer magyariſchen Belehrtenge- 
fellfiehaft, für den er 1784 den Kaifer Joſeph IL indeß bei deffen anerfanntem Stre- 
ben, Ungarn im deutfchen Sinne zu reformiren, nicht zu begeiftern vermochte. Im 
Jahre 1789 wurde er am Gymnaſium zu Raab als Profeffor der Zeichnenkunft und 
Architektur afgeftellt und 1802 trat er bei der Peſther Hochfchule in Function als 
Profeffor der ungarifchen Sprache und Kiteratur, nachdem er ſchon im Jahre 1794 


Reval. (Haupiftadt.) 113 


durch den Papft feiner Verpflichtungen gegen ben Orden, dem er bis dahin zugehört 
batte, entbunden worden war. An der Univerfität begannen R.'s philofophifche Fehden 
mit den berfömmlichen Sprachparteien feines Landes, die leider bald einen Durch bie 
Zähigkeil feiner Gegner bedingten feindfeligen Charakter annahmen, und bier war e6 
auch, wo er in lateiniſcher Sprache eine große Anzahl feiner literarbiflorifchen Werke 
ſchrieb, während feine in fließendem magparifchen Stil angelegten dichteriſchen Dri- 
ginalien meift einer früheren Periode feiner fhriftfiellerifgen Wirkſamkeit entflammen. 
Unter diefen poetifchen Arbeiten heben wir hervor feine: „Ungarifhen Elegieen“ (Nagy 
Kaͤroly 1778), feine „Elegiſchen Gedichte" (Preßburg 1789) und feine „Ditbyranıbe* 
(1790). Als Medacteur hatte er um die Zeitfährift „Hirmondo“ (Preßburg 1784 ff.) 
große Verdienſte und als Herausgeber fremder Werke iſt er vor Allem der ungari- 
hen Literatur eine nennenewertbe Größe geworben durch die Sammlung der „Ber 
dichte von Faludy, Orczy und Barcſai“, welche er in 5 Bänden zu Raab und Preß⸗ 
burg von 1786 bis 1789 veranflaftete. Auch als Dichter In Tateinifchen Verfen ver- 
dient er Beachtung; befonderd herauszuheben find hier feine Tateinifche Elegie: „Latina“ 
(Raab 1792) und feine „Carmina quaedam* (Dedenburg 1801). Bor Allem aber 
bat er fi durch ſeine „Antiquitates literaturae hungaricae“ etc. (Peſth 1803) und 
jeine „Elaboratior grammatica hungarica® (2 Bände, Beth 1803 — 1806) um die 
vaterländifche Sprache und Literatur ausgezeichnet. Eine große Zahl feiner Werke, 
worunter beſonders ſprachliche und Iiterarhiftorifche fi vorfinden, Tiegt leider noch 
als Manufeript im ungarifchen Nationalmufeum; aus biefen bat Helmeczy vor Kur⸗ 
zem eine fehr gelungene Verſion des erfien Buches der Homerifchen Iliade veröffent- 
it. R. farb im Jahre 1807 im 59. Lebensjahre zu Peſth an der Auszehrung. 
Neval, befeſtigte Hauptſtadt des ruffifchen Bouvernements Eſtland, an einer 
Bucht des Finniſchen Meerbufens, mit einem großen Hafen, liegt In einem Thale, 
dad ampbitheatralifh von einem hohen Kelfenufer eingefchlofien if. In der Mitte 
dieſes Thales erhebt fich einfam und fchroff ein felfiger Berg, der die Stadt überragt 
und auf dem der von einem Schloß und Häufern umgebene Dom erbaut if. Mit 
dDiefem Berg verknüpft fi eine mythiſche Sage von dem eflnifhen Hercules Kallewr⸗ 
porg, dem ffandinavifchen Starfather, der feln Land gegen fremde Bedrückung fchägte. 
Aus der Umgegend von Dorpat zog er weiter gegen Norden und baute eine Stadt, 
in der er auch flarb. Aus den Thränen der ihn bemweinenden Butter bildete fi 
binter R. auf dem hohen Belfenufer ein See, deſſen Wafler braufend binabflürzen in 
den Hafen und die Schiffer reichlich mit füßem Waffer verfehen. Nach der Sage ehrie 
die Mutter das Andenken des entfchlafenen Helden durch einen ungeheuren Erbauf- 
wurf über dem Grabe, und aus diefem Erdaufwurfe murde fpäter der Berg, auf dem 
jegt der Dom fleht. Ueber die Gründung der Stadt und ihren Namen herrſchen 
viele Anflchten. Nah der einen foll der dänifche König Waldemar II. die Stadt 
Rebfall, vom Sturz eines Rehs über die Felſen, genannt haben, nad) einer andern 
ſoll das Wort von Regenfall oder Raffvoll, voll von Niffen, fommen; aber 
es giebt Feine Rehe in dieſem Theile Eftlands, und die andern Ableitungen find ohne⸗ 
hin zu gezwungen. Der Name, den die Eflen der hier geſtandenen alten Stadt geben, 
war ohne Zweifel derfelbe, den man in allen ruffifchen Chroniken findet und ber von 
dem fpätern „Reval“ ganz verfchieden if. Die Stadt hieß ſchon im Jahre 1222 
Kolyman, was fi aus dem alten Efinifchen wohl mit „Stelle der Todten“ erklären 
läßt und auf die mythiſche Sage deuten wülde, vielleicht auch von dem eſtniſchen Koli, 
Schule, und vanne, alt, was auf das Gifkercienferflofter deuten könnte. !) Die Eften 
nannten bie Feſtung von M. Lindaniß, d. h. Stadt der Dänen, und noch jeßt nennen 
fie die Stabt felbft Tallin oder Tana-lin, Stadt der Dänen, ein Name, der 
zuerſt bei Heinrich Leite unter dem Jahre 1218 vorkommt. Paufer fchließt daraus 
ganz richtig, daß die alte Feſte von den Dänen lange vor Waldemar, vielleicht ſchon 
unter König Knut (1076) erbaut worden fei. R. erfcheint zuerft nicht als Name 
der Stadt, fondern des Diftrietd. Die Alteflen Urkunden, in denen der Name vor» 


1) So erllärt man aud den Namen Merfül aus Ukas Kola, eine Schule an einem Klofter 
beim Scloffe Uexkül. 
Wagener, Staates u. Gefellfc.-Ler. ZVIL 8 


114 Neval. (Haupiſtadt.) 


kommt, find kirchliche, die erſte aus dem Jahre 1096 vom daäͤniſchen Könige 
Eyegod oder Egoth, der bier in dem genannten Jahre ein Frauenkloſter gründete, und 
zwar unterhalb des Schlofies im Thale. In diefer, wie in einer andern Urkunde aus 
dem Jahre 1205, iſt nicht von einer Stadt R. bie Mede, fondern gefagt, daß das 
Klofter (zum Heiligen Michael), daB jegt mitten in der Stadt liegt, im Thale des 
Domberged gelegen und von meiten Gärten, Wiefen und fel6ft von Wäldchen um⸗ 
geben gewefen fel, was auch durch den Umſtand befräftigt wird, daß fich die Ciſter⸗ 
etenfer nicht in Städten, fondern gewöhnlich in möglichft einfamen Orten anfledelten, 
namentlih in Thälern, wie Clairvaux (Clara vallis) in Sranfreih, Nieval in England. 
Legterer Name bedeutet gleichfalld mwahrfcheinlich „Fönigliches Thal” (Regulis vallis); 
denn König Heinrih 1., der das letztere Kloſter gründete und Mönche aus Glairvaur 
berbeirief, war ein großer Beſchützer der Geifllihfeit und führte deshalb jelbft den 
Namen Glericus. So mag ed der Analogie nach vielleicht auch mit R. ergangen und 
das Die dänifche Vefle umgebende Thal „Regalis vallis“, genannt worden fein. Das 
fpätere Hinzuftrömen von Dänen und Deutfhen mag den Namen verkehrt und M. 
daraus gemadht haben, wie denn auch ficherlich die Stadt durch Dänen und Deutfche 
um das Giflercienfer » Klofter her angelegt wurde. Infonderbeit ließen ſich Hier, wie 
in den jeßt ruſſiſchen Oftfeeländern überhaupt, viele Deutfche nieder und bald erhielt 
N. mit Riga ftäptifche Freiheit und Rechte und fpielte eine hervorragende Rolle in 
der Hanfa. Nach diefen beiden Orten bildeten ſich in der Bolge die übrigen Stübte 
des Landes; fie felbft entfalteten fi nach dem Muſter der beiden damaligen Haupt 
flädte des nördlichen Deutfchlande, R. nach Lübeck, Riga nah Hamburg. Nah R.'s 
Vorgange wurden jedoch nur zwei Städte, Wefenberg und Narwa, mit lübifchem 
Nechte eingerichtet; fpäter auch fehon unter ſchwediſcher Herrſchaft Hapfal, das an- 
fang8 rigifche® Recht gehabt hatte; denn Riga bildete allmählich ein eigenes Recht aus, auch 
diente es für die Mehrzahl der Städte der Oftfeeländer, befonders der Tivländifchen, 
ale Vorbild. Aus einer chronologifhen Aufzählung, wann die Städte luͤbiſch⸗revali⸗ 
fche8 ober hamburgiſch⸗rigiſches Recht annahmen, ergiebt ſich, daß diefe Städte-Ein- 
richtungen die Alteften in den Oſtſeelaͤndern waren und mit der Herrſchaft des Ordens 
und der Bifchöfe, die mit dem 16. Jahrhundert (1562) zu Ende ging, zufammen« 
fielen. Wenn aud der auf die Macht der Hanfa und des Ordens eiferfüchtige König 
von Dänemark feine Aufmerkſamkeit gleichfalld auf dieſe Länder gerichtet ‚hatte, fo 
hatte er doch im Wefentlicyen auf biefelbe Nationalität, auf die deutfche, und Dies 
felben Formen der gefellihaftlihen Organifation, die beutfche Feudalverfaſſung, ger 
baut; der Mittelpunft feiner Beflgung war das 1218 befefligte und 1220 zum Biſchofsſitz 
erhobene R. Mit dem Aufhdren der alten Drganifation der Öftfeeländer dauerte 
übrigens die Erbauung neuer Städte nur da fort, wo noch einige Reſte politischer 
Selbſtſtändigkeit fi erhalten Hatten, und alle biefe Städte bekamen ihre befonderen, 
mehr oder minder nach deutſchem Städterecht gebildeten Einrichtungen. Die alten 
Städte, infonderheit R., beftehen noch jet als merkwürdige Ueberreſte rein germani⸗ 
ſcher Givilifation und befleben in faft aller Originalität ihrer Einrichtungen. 1721 
durch den Frieden von Nyſtadt Rußland zugetbeilt, verlor R. feit diefer Zeit feine 
Handel&bebeutung mehr und mehr und hebt ſich erſt wieder feit neuerer Zeit, inſonder⸗ 
heit dadurch, daß es als Badeort jetzt fehr ſtark befucht wird, nachdem vor zwei Jahren 
mebrere Stieder der Faiferlichen Familie ſich während des Sommers bier aufgehalten 
hatten. R., deren Einwohnerzahl fi auf 30,000 Seelen beläuft, theilt ſich in eine 
obere und untere Hälfte; der untere Theil, welcher fi am fandigen Ufer des Hafen 
erſtreckt, if} der größere und beſitzt auch die breiteflen Straßen mit Kaufmannshäufern, 
Maarenmaggzinen und flädtifchen oder Hegierungsgebäuben, Der obere Theil mit 
dem Dom oder der Mitterfirche, dad Denkmal des Admirald Greigh enthaltend, erhebt 
fih am Grat der Felsküſte und bietet ein herrliches Panorama dar, befonderd von dem 
Schloſſe. Der Hafen liegt an einer meiten Bucht des Finnifchen Bufens und iſt ſüdlich 
und öftlich vom feſten Lande eingefaßt. Am öftlichen Ufer Iagert fiy die Infel Wulf vor, 
weRtlich die Infel Karl (Groß⸗ und Klein» Karl), noch meiter nordweſtlich die Injel 
Nargen mit dem Leuchtthurme. Weſtlich und ſechs Meilen von R. ließ Peter der 
Große den Hafen Baltifh-Port anlegen, um daraus einen großen Kriegthafen 


Neveilſere⸗Lepraur (2. Marie La). Sleventlow. (Grafen v.) 115 


zu machen, der aber nie vollendet wurde, Inden ſich der Monarch überzeugte, daß bie 
Budt, obgleich durch zwei Infeln vom Meere abgefchloffen, den Schiffen nicht hin⸗ 
länglihden Schuß gewähre. Line Viertelflunde von der Stadt liegt daB Kathari- 
nentbal, der eigentlihe Promenabeort der Badegäfte und Mevalenfer, mit einem 
Häuschen, in welchem der große Peter ſich oft aufhielt und woſelbſt noch Die ganzen 
Einrichtungen an jene handfeflen Zeiten erinnern, weiter ab die Trümmer des zwifchen 
1400 und 1429 erbauten, reihen St. Brigittenfloflere Marienthal, das nad 
der Reformation fäcularifirt wurde, und das im gothifchen Styl gebaute großartige 
nnd ſehenswerthe Schloß des Grafen v. Benkendorf, Fall, deffen Einrichtungen mit 
einer „Ihönen Epifode aus mille et une nuil* zu vergleichen fein follen. 

Reveillèere⸗Lepeaut (2. Marie La), einer der Directoren der franz. Republik und 
Stifter der Secte der Theophilanthropen, geb. 1753, fludirte zu Angers die Rechte und 
war eine Zeit lang Advocat zu Paris, fehrte aber nach Angers zurüd, wo er fich mit dem 
Studium der Botanik hefchäftigte und diefe Wiffenfchaft in einem von ihm angelegten 
botanischen Barten lehrte. Er war fpäter Mitglied der conſtituirenden Berfammlung 
und des Gonvents und bielt e8 in diefem mit den Girondiſten. Nach deren Sturz 
blieb er bis zum Ende der Schredendzeit verborgen und wurbe 1795 wieder in den 
Gonvent berufen. Am 31. October defielben Jahres ward er zum Mitglied des Di» 
rectoriums ernannt und erfi im Suni 1799 aus demfelben entfernt. Ohne großen 
Einfluß auf die politischen Geſchaͤfte, Höchftens für den Sturz des Papſtthums ſchwaͤr⸗ 
mend, bejchäftigte er fi hauptſaͤchlich mit der Leitung des tbeophllanthropifchen Ver⸗ 
eins, der Die Verehrung Gottes und die Liebe zur Menfchheit auf der Bafls einer 
natürlichen Moral bezwedte. (Vergl. den Artikel Theophilenthropen.) Er ſtarb 
im Jahre 1824. 

Reventlow, Grafen von, eine urſprünglich in Dithmarſchen anfäfiige Familie, 
welche fich ſpaͤter über Schleswig, Holftein und Dänemark außbreitete. Hartwich 
v. R. tödtete 1315 zu Segeberg den Grafen Adolf IV. von KHolftein und beherrfchte 
fodann dad Land im Namen de8 Grafen Gerhard. Einer feiner Nachkommen, 
Detlev v. R., geb. 1600, war dänifdher Kunzler und flarb 1664. Bon feinen 
beiden Söhnen flammen die jest gräflichen Hauptlinien des Geſchlechts ab: Hen⸗ 
ning v. R., geb. 1640, gef. 1705, war dänifcher Geheimrath und gründete die 
ältere Linie, Konrad v. R., geb. 1644, geft. 1708, daͤniſcher Premierminifter und 
Broßkanzler, die jüngere. Die ältere Linie wurde 1767 in den Grafenfland erhoben. 
Henning’8 Urenfel Graf Gay Friedrich, geb. am 17. November 1753, war 
bänifcher Staatsminifter und flarb am 6, Auguft 1834. Sein Sohn Graf Eugen, 
geb. am 27. November 1798, Erbherr auf Altendorf, Olafau, Aſchau und Hoffmanns» 
thal, bis 1845 dänifcher Gefandter in Berlin, ift jetzt das Haupt biefer Linie. Seine 
Brüder find bie Grafen Gottfried, geb. am 30. März 1800, Hofgerichtöpräftdent bes 
Herzogthums Lauenburg, und Graf Theodor, geb. am 19. Juli 1801, Erbherr auf 
Jersbraj und Stegen. — Derfelben Linle gehörten Graf Heinrich, geb. den 30. Sep⸗ 
tember 1763, gefl. am 31. Ianyar 1848 als dänifcher Generalmajor, und fein Sohn 
Graf Friedrich an, geb. den 16. Juli 1797, feit 1834 Mitglied des fchleswig- 
bolfeinifchen Ober-Appellationdgerichte und Propſt des Klofterd Preeg. Als Mit- 
glied der Holfteiniichen Stände gewann er bald ein bebeutendes Anfehen und trat als 
Bührer der ſchleswig⸗holſteiniſchen Mitterfchaft auf, ald Ehriftian VIIL von Dänemarf 
die beiden Herzogthümer zu trennen verfuchte. Im Jahre 1848 trat er nebft dem Herzog 
Friedrich von Auguftenburg und Befeler an die Spike der proviforifchen Megierung 
der Herzogthümer und wurde am 20. Maͤrz 1849 Praͤſident der Statthalterfchaft Schles⸗ 
wig-Holftein. Als er im Januar 1851 diefe Stellung aufgeben mußte, zog er ſich nach 
Deutichland zurüd, bid die Eroberung Schleswigd durch die Preußen ihm geftattete, 
in fein Baterland zurüczufehren. Er iſt Erbherr auf Raubart und Starzeddel, Ehren» 
doctor der Jurisprudenz und Mitglied des preußifchen Herrenhaufes. Sein Bruder 
Graf Ernfl Chriſtian, geb. am 26. Juli 1799, iſt Erbherr auf Barve in Hol⸗ 
fein und Mitglied des bolfteinifchen Reichſrathes. — Die jüngere von Konrad v. R. 
abflammenbe Linie wurde 1673 in der Perfon ihres Gründers in ben Grafenfland 
erhoben. Deſſen Sohn, Graf Ehrifiian Detlev, befehligte ein bänifches Trups 

ge» 


116 Neviews. (Verdffentlichung ber Essays and Reviews.) 


pencorps in Italien, wurde hierauf Öfterreichlfcher Feldmarſchall ⸗Lieutenant, machte als 
ſolcher mehrere Beldzüge in Deutfchland und Italien mit, wurde nad feiner Rückkehr 
nach Dänemarf zum General en chef, Oberkammerherrn und Oberpräfidenten zu Al⸗ 
tona befördert und flarb am 1. Octbr. 1738. Seine Halbſchweſter Bräfin Anna 
Sophia, geb. 1693, lebte feit 1712 in morganatifcher Ehe mit Friedrich IV. von 
Dänemark und murbe 1721 als Königin gekrönt. Sie flarb 1743. Chriſtian Det⸗ 
lev’3 Sohn, Graf Ehriftian Detlev, geb. 1710, war dänifcher Bonferenzrath und 
farb 1775. Sein Sohn Chriſtian Detlev Friedrich, geb. am 11. Mürz 1748, 
wurde 1790 Präfldent der dünifchen Mentlammer und 1797 Geb. Staatsminifter. Er 
erwarb fid namentlich dur Berbefferung des Zuftandes der ländlichen Bevölkerung 
ein bedeutendes Verdienſt und flarb 1827. Sein Enkel Graf Ferdinand, geb. am 
20. April 1803, Fideicommiß⸗Inhaber der Grafichaften Meventlom und Ghriftiandfäpe, 
und der Baronie Brabe» Trolleburg, Erbherr zu Ballegard, dänifcher Kammerherr und 
Hoffägermeifter ift dad gegenwärtige Haupt diefer Linie Sein Bruder Eduard, 
geb. 1810, iſt auch HSofjägermeifter. Einer feiner Obeime, Graf Friedrich Detlev, 
geb. am 25. Noobr. 1792, war Kammerherr, Geh. Eonferenz- Rath und dänifcher 
Gefandter in London und ftarb am 6.-Dctbr. 1851. — Graf Friedrih v. R. auf 
Emfendorf, ein Bruder des vorgenannten Grafen Gay Friedrich, aboptirte im Jahre 
1815 feinen Schwiegerfohn, den Grafen Le Merchier Eriminil, welder nun den Na⸗ 
men Reventlow⸗Criminil annahm und zugleich in den dänifchen Grafenfland erhoben 
wurde. Sein ältefter Sohn Graf Joſeph v. R.-E. war Kanzleipräftdent zu Altona. 
Er farb am 16. Juni 1850. Sein Sohn Graf Karl Adalbert Felir, geb. am 
9. Mai 1821, Erbherr auf Emiendorf, ift das gegenwärtige Haupt der Famille. Ein 
jüngerer Bruder des Grafen Iofeph, Graf Heinrih Anna, geb. am.6. Mai 1798, 
war deutſcher Geſandter In Wien und hierauf Minifter der auswärtigen Angelegenhei« 
ten. Nach Ausbruch des erften ſchleswig⸗ Holfteinifchen Krieges zog er fih aus dem 
Staatödienft zurüd. Seit 1852 war er einige Zeit Minifter für Holftein. 

Reviews. Essays and Reviews iſt der Titel einer vielbeſprochenen Sammlung 
von fleben Kleinen in freier Form verfaßten theologifchen Auffäpen, deren Verfaſſer 
daher die Effayiften genannt werben. Sie find erfi 1862 erfchienen, weshalb ſie flatt 
unter dem Buchſtaben E an diefer Stelle befprochen werden. Ihre Titel find: 1) Die 
Erziehung der Welt von Frederick Temple, Dr. theol., Caplan der Königin und Vor⸗ 
fieber der Schule zu Rugby. 2) Bunfen’s bibliſche Unterfuchungen von Rowland 
Williams, Dr. Iheol., Viceprincipal und Profeffor des Hebraͤiſchen am St. Davids- 
Gollegium zu Lampeter. 3) Ueber das Studium der Zeugniffe für den chriftlichen 
Blauben von Baden Powell, Profeflor der Geometrie zu Orford. 4) Seances 
historiques de Geneve, die Nationalfirche von Henry Briſton Wilfon, B. D. Vicar 
von Brent Staughton. 5) Die mofaifche Schöpfungsgefchichte von C. A. Goodwin, 
M. A. 6) Richtungen der religidfen Denkart von 1688—1750 von Mark Pattifon, 
B. D. Rector vom Lincolns@ollege zu Oxford. 7) Ueber die Auslegung der Schrift 
von Benjamin Jowett, koͤniglicher Profeſſor des Griechiſchen zu Orford. Mit Aus- 
nahme der fechften Abhandlung, welche ein Stück Sittengefchichte in ganz objectiver 
Darftellung vorführt, verfahren die übrigen mit ihrem Thema entfchieden rationaliftifch. 
Ale haben das Bemeinfame fraftvoll und kurz darflellenden Meiſterthums. Abgefehen 
von der letzteren Eigenfchaft, bat an fi nur die eben genannte Wichtigkeit wegen 
ihres unfere Gefchichtöfenntnig Englands ergänzenden außerordentlich intereflanten 
Inhalts; die übrigen kommen Hier nur wegen ihrer Wirkungen in Betradyt. Seit 
anderthalb Jahrhunderten if die anglikanifche Kirche nicht fo betroffen worden, wie 
Durch diefe nur wenige Seiten umfaflende Schriften. . Bon den vielen DBerlegenheiten, 
bie für ſie feit 30 Jahren immer von Neuem auftauchen, war das Erjcheinen der 
Efſays die größte Deshalb geworden, weil fie mit einer entſchiedenen Niederlage 
ber Bifchdfe geendigt Hat; eine Niederlage, veranlaft durh das Einfchrei- 
ten der geiſtlichen Obrigkeit gegen zwei der Autoren, Williams und Wilfon. 
Die Tendenz ded zweiten Efjay If in wenigen Sägen der Einleitung ausgeſprochen. 
„Als die Beologen zu fragen begannen, ob die Veränderungen im Bau der Erde durch 
no immer wirkende Urfachen erklärt werben möchten, lieferten fle feinen Gegenbeweis 


‘ 


Neviews. (Inhalt derfelben.) 117 


großer Ummälzungen, aber fle verringerten die Nothwendigkeit, ſolche anzunehmen. 
Sp, wenn ein Theologe feine Augen auf die göttliche Energie als fortdbauernd und 
allgegenmärtig richtet, erfcheint Ihm ber Begenfag der Offenbarungdepodhen weniger 
Iharf, ohne daß er anzunehmen braucht, daß der Strom in feinem Fließen ſich nie 
mals verändert babe. Froͤmmigkeit verfegt Die Gegenwart in die Heiligkeit des Ver⸗ 
gangenen, während die Kritil des Bremdartigen die Vergangenheit in Einklang bringt 
mit dem Gegenmwärtigen. Es giebt keine größere Frage, als: ob die Gefchichte zeigt, 
daß der allmaͤchtige Gott die Menfhen erzogen hat durch einen Blauben, der Vernunft 
und Bewußifein zu DBerwandten bat, oder Bund einen ®lauben, vor deſſen wunder- 
baren Zeugnifien ihr Stolz fi beugen muß; d. h. ob Sein helliger Geiſt Durch die 
Ganäle gewirkt hat, welche Seine Vorfehung verorbnete, oder ob er von diefen ſchließlich 
fo abgewichen if, daß entfprechendes Mißtrauen in fle nachher eine Pfligt wird. Die 
erfle Alternative, obgleich mißgünflig Phllofophie genannt, iſt die, zu welcher freie 
Nationen und evangelifche Denker neigen; die zweite hat einen größeren Anſtrich von 
Religion, aber gefellt ſich naturgemäß zu Prieftertfum oder Formalismus und nicht 
felten zu Berberbtheit der Amtöyermaltung oder des Lebens.” Darauf werden Bunfen’s 
Berdienfte um jene erflere Richtung verberrlicht. In Deutfchland fei der Pfad ſchon mit 
hellſtrahlendem Licht erleuchtet worden von Eichhorn bis Ewald, deren Forſchungen 
unterflügt worden ſeien durch die poetifche Vertiefung Herder's und die philologifchen 
Unterfuchungen von Geſenius, durch welche daß moralifche Element der Prophezeiung forte 
fchreitend in feinem Wert) seltenen, und das vorberfagende, ob weltlich oder meſſta⸗ 
nifch, eben ſo geſunken fei. elbft der Conſervatismus Jahn's unter den Katholifen 
und Hengſtenberg's unter den Proteflanten fei frei und rationell verglichen mit anglis 
fanifchen Anſichten. Bunfen ſei nun Iener Erbe und feine biblifchen Forſchungen 
werben der in orthodoxer Unkenntniß befangenen anglifanifchen Welt vorgehalten. 
„Er Habe an EHriftus geglaubt, weil er zuerfi an Bott und die Menfchheit geglaubt“. 
Am Ende befingt ihn der Berfaffer in zwei feurigen Stangen: „Bunfen, dem die Erde 
ihren purpurfarbenen Morgen erfyloffen und die Zeit ihre Iang verlorenen Jahrhun⸗ 
derte entrollt, dem ferne Reiche das Geheimniß ihrer Sprache enthüllten, und der alle 
ihre Buirlanden am Kreuze aufbing." Das vierte Eſſay von Wilfon wendet ſich vor⸗ 
zugsweiſe gegen das unbedingte auf Dogmen baftrte Kirchentbum. Es gebt aus von 
dem gebilligten Sage ded Genfer Bungener, den diefer in dem Vortrage le christianisme 
au 4ieme siecle "gegen den den Individualismus als die richtige Kirchenbaſis auf- 
faffenden Grafen Gasparin aufftellt: „daß das multitubiniflifche Princip weder der 
Sapung widerfpreche, noch weſentlich heidniſch geweſen ſei; daß es dem Chriſtenthum 
zu feinen größten Siegen verholfen; daß es ſich ſchon am Pfingſttage unter apoſto⸗ 
liſcher Sanction ansgefprochen, meil ed abfurd fein würbe, anzunehmen, daß alle die⸗ 
jenigen, welche Petri Predigt hörten, ſchon im evangelifchen Sinne des Wortes hätten 
Belehrte genannt werden Fönnen.” Die anglikanifche Kirche fei tief verwachſen mit 
der Geſchichte der freiften und entwideltfien Nation der Welt und ihr feſtes Wurzeln 
in der Vergangenheit fei die beſte Vorausſage für die Zukunft. Sie würde beftehen, 
mögen wir und auch im Moment großer politifcyer und kirchlicher Veränderungen 
befinden. Wir Bingen mit den Bellen der alten Zeit zufammen, bie aber_unter ganz 
verfchiedenen Formen bürgerlicher Verfaffung und mit verfchiednem Glauben und äußerer 
Gottes verehrung eriflirt Hätten. Es fei nit an und, ihre altmodifchen Ausübungen 
nachzuahmen, noch denen nach und bloße Meberlicferungen zu binterlaffen. Diejenigen, 
die des Sonntags die heilige Schrift eben fo erörtert hören, wie einft unfere Vor⸗ 
eltern, Iefen den naͤchſten Tag Nachrichten von Welten mit Menfchen wie wir bes 
völfert, von denen jene wenig träumten. Wie verhält jih das Evangelium zu biefen 
Myriaden Heiden? Zog es ihre Eriftenz je in Betradyt? Werben fle deshalb ſchlim⸗ 
mer daran fein? Sie konnten die zur Seligfeit ald nothwendig behauptete Kenntniß 
Chriſti niemals haben. Es wird einft auch mit ihnen billig verfahren werden, wie 
es der Gerechtigkeit Gottes entſpricht. Wenn gelehrt wird, daß fle dem Fluche, der 
auf Adam laftet, verfallen follen, obne daß fie das Heil je Eennen lernten, fo müſſen 
wir annehmen, daß unfere Tradition und die Schrift nicht richtig erklärt, oder, wenn 
es der Fall if, daß Die Verfaſſer der heiligen Schrift nur ihre ungenügenden Begriffe 


2 md 


118 Neviews. (Inhalt derſaben.) 


und nicht den Gehalt des Geiſtes Gottes dargeſtellt haben. Wir müſſen mit dem 
Apoftel fchließen, „daß Gott wahr jei und jeder Wann ein Lügner”. — Die chriftliche 
Dffenbarung ſei der weftlichen Welt gekommen, weil fle befler vorbereitet war. Philo⸗ 
ſophen batten für ihre felbfiverläugnende Sittenlehre den Weg gebahnt. Die Stellen 
Eoloff. 1, 23 und Roͤm. 10, 18 find nur nady den damaligen geographifchen Kennt⸗ 
niffen aufzufaffen. Die Lehre vom Heil ift nur für diejenigen, zu denen Chriſti 
Predigt Tommen würde. Leber dad Roos der Heiden belehrt und mehr unfer mora- 
liſcher Inftinet als die Schrift. Geftüßt auf Paulus (Möner 1, 14. 15) könnten 
wir von calvinifchen und lutheriſchen Theorieen abjehen, und die zukünftige Lage 
andrer nad) ihrem moralifchen Charakter beſtimmen. Das Wirken der Kirche müfle 
äußerlich fichtbar fein, wenn auch nicht Alles geſehen werden fünne. Die unflchtbare 
Kirche ſei eine bloße Abftraction. Wenn behauptet wird, daß dur Zuwachs die 
Kirche immer mehr verdborben worden fel, fo müfle biergegen eingewendet werben, daß 
e8 ſehr zweifelhaft fei, ob der chriſtliche Charakter im Durchfchnitt fe beffer geweſen 
fel, als er jegt if. Die erften chriftlichen Gemeinden näberten ſich keinesweges einem 
Ideal, und ihre Doctrin war viel unbeflimmter, als diefenigen meinen, die fle mit 
den Augen des Kirchenglaubend anfehen. Die verfchiedenften theologifchen Secten 
erfennen an, daß fie in den ülteften Zeiten der Kirche ihr Dogma nicht wieder finden 
fönnen, weder die Rechtfertigung, noch das nicäifche, noch das athanaflanifche Glaubens⸗ 
befenntniß. Je näher wir der Duelle kommen, um fo mehr finden wir, daß die 
Duelle der Religion im Herzen if. Moral kommt vor der Betrachtung, Sitten- 
lehre vor der Theorie. Unter den erſten Ehriften Hatten einige Feine Idee Förperlicher 
Auferflebung. Und doch tadelt der Herr die Heuchelei der Pharifäer flärfer, als den 
abweichenden Glauben der Sadducker. Wir haben Eeinen Grund, anzunehmen, daß 
Baulus die 1. Cor. 15, 12 gefchilderten Ungläubigen, wenn fie gut lebten, denen 
in 1. Cor. 15, 19 u. 32, die glaubten bei jchlechtem Lebenswandel, nachgeflellt; 
noch, daß üble Leben den linglauben, oder Unglaube üble Leben erzeugt haben. Der 
Ungläubige behielt den Namen eines Ehriften (1. Eor.5, 11). So wurde die in ihrem 
Urfprunge multitudiniftifcheapoftolifche Kirche Volkskirche. Unglücklicher Weife führte 
Gonftantin ihre lehrgemäße Befchränfung ein. Die Freiheit des apoftolifhen Zeit 
alter ging durch das laubensbefenntnig von Nicaen verloren. Seitdem wurde 
Excluſton die Regel der Kirchen. Doc ift davon nur die calviniftifche unheilbar. Bei 
anderen find die doctrinalen Befchränfungen im Grunde nicht wefentlih. Die ftärffte 
Kirche wird die fein, in welcher Gongregationaligmus und Hierarchie fi die Waage 
halten. Eine foldye Bereinigung ift da möglich, wo dogmatifche Verbindlichkeit und 
aͤhnliche geifige Knechtſchaft abgeworfen wird. Die Kirche foll heute nicht nur den 
Geiſt des Individuums Eräftigen und für zufünftige Hoffnung flärken, fondern in das 
Mark des nationalen Lebens eindringen, während das Heidentfum nur feine Ober- 
fläche ſchmückt. Eine Nationalkirche iſt nothwendig zur Vollendung nationalen Lebens. 
Die Priefter find Producte jeder Geſellſchaft. Nicht nur bei den Juden, wie vor« 
zugöweije behauptet wird, fondern auch bei den Betifchanbetern griffen Kirche und 
bürgerliche® Leben in einander. Das Chriſtenthum legte erft Breſche durch individuelle 
Belehrung, jo auch zuerſt in England, um fogleih dann wie bei der zweiten fädh- 
flihen Belehrung dieſes Landes en masse zu befehren. Bonifactus, wie Auflin und 
Baulinus waren Wultitudiniflen; in Deutfchland, mie im Lande der Briten, folgte die 
Entwidelung des Chriſtenthums nothwendig den Formen des nationalen Lebens. Cine 
Nationalkirche braucht nicht an irgend eine gangbare Form gebunden zu fein. Das 
Mefentlihe if das Unternehmen, das geiftige Wohl der Nation und ber Individuen, 
aus denen fie befteht, in ihren verfchiedenen Zuftänden und Stufen zu fördern. Selbſt 
eine chriftliche Kirche bedarf nicht ausfchließlid auf gleicher Stufe ſtehender Mitglieder. 
Sie muß ſie erheben. Das fann fie nur, wenn fie national if. If die bürgerliche 
Seite der Nation flüſſig und die kirchliche feft, fo Fommt die Kirche in das Gedraͤnge 
zwifchen Yanatifern, die auf Kormularen fußen, und Freidenkern, die kopflos ſich über⸗ 
fürzen; würde dann dem heutigen wiffenfchaftliden Standpunft entfprecyende Kritik 
“erbindert, fo fei fle ganz waffenlos. Dad Rühmen der anglikaniſchen Kirche, wie an« 

7, daß fie auf dem „Worte Gottes“ beruhe, fei weder durch Gebrauch dieſes Aus- 


NRebiews. | (Berfahren gegen die Berfafler.) 119 


druds bei bibliſchen Schriftſtellern felbft, noch durch den Hauptartikel, wo es eben⸗ 
falle nicht vorkomme, gerechtfertigt. Nachdem W. auf die verſchiedenen Chriſto⸗ 
logieen der erſten Kirche Hingewiefen, kommt er zu dem Schluß, daß das Wort 
Gottes in der Bibel enthalten fei, aber nicht folgegemäß mit ihr von gleicher Aus⸗ 
Dehnung. Würde die anerkannt, würde das Menſchlich⸗Mangelhafte in ihr zugegeben, 
fo würde das Böttlihe auch um fo mehr Anerkennung finden. Die Breibeit des enge 
liſchen Bürger müfle auch dem englifchen Prieſter zufiehen. Auf Seite 163—68 


werben die Befchränkungen, die der 5. und 36. Artikel den Letzteren auferlegen, geprüft. 


mit dem Mefultat, daß ſie „liberal, biegfam und wenig bindend” fein. Dennoch 
feien fie für einen Uebergangezufland entworfen worben, und es ſei gut, wenn ber 
Zwang, fle zu unterfchreiben, aufhöre. Sie würden bann noch beftehen bleiben 
als „Artikel des Friedens, denen die Söhne der Kirche nicht widerfprechen follen”; 
aber die Trennung zwiſchen Priefter- und Laienthum würde aufhören. Eine Bereinie 
gung mit den Diffenters würde dann möglich fein. Auf den legten 15 Seiten wirb 
die Stellung des PrieftertHums zur Nation betrachtet. Ein feftes Gehalt des Pfarrer 
würde ihn zum Volkserzieher machen in einer Zeit, wo die Hälfte des Volkes nicht 
mehr an der Kirche fich betheilige. Es ſei nicht Sache des Staates, als Theil feiner 
ſelbſt eine Mafchinerte oder ein Syſtem zu entwideln, das fi auf fpeculative Wahr- 
beit gründe. Moralifhe Erziehung ihrer Mitglieder fei Aufgabe einer nationalen 
Kirche. Bel den Alten mar Kirche und Staat zufammengefchmolzen nicht durch ma⸗ 
terielle Allianz, noch burdy einen groben Bertrag, der über Bezahlung und Pfründen 
zwifchen Briefterfchaft und der Geſellſchaft gefchloffen wurde. Bet ihnen war dad ganze 
Zeben religids durchweht, aber dad Gewifſen des Einzelnen nicht entwidelt. Aber der Ruhm 
bed Evangeliums würde fehr einfeitig fein, wenn es, mÄhrend es das individuelle Ge⸗ 
wiflen und feine Hoffnung auf Unſterblichkeit flärke, nicht auch das nationale Leben ſtaͤrke. 
Ein iſolirtes Sich⸗in⸗der⸗Gnade⸗befinden mit feiner ungeftörten Ruhe Tönne wohl un- 
nachgiebige Märtyrer und polemifche Profeſſoren, aber Feine guten Bürger bervorbringen. 
Doch habe die Eriftenz einer established church fi als gut ermiefen, da fie bie 
Stöße von der Staatögewalt abgelenkt babe. — Chriſtus habe feine Neligion nicht 
offenbart als eine Theologie für die Intelligenz; das wahre chriftliche Leben fel das 
Bewußtſein der Theilnahme an einer großen moralifhen Ordnung, deren höchſte Reitung 
auf Erden der Kirche anvertraut If. Breilih wie gering find ihre Wirkungen; wie 
wenige find auderwählt! Der Calvinismus fah Dies. Wir weichen aber vor ihm 
zurhd, weil er den Meft unter der „Mafle der Verdammniß“ begreift. Es muß 
Durchgangéſtufen geben. Und Alle, Kleine und Große, werden dann Zufludt am 
Bufen des gemeinfamen Vaters finden, zu ruhen oder zu höherem Leben gefördert zu 
werden, in den Zeiten, die kommen werben, feinem Willen gemäß. — lieber die un. 
ermeßliche Aufregung, welche diefe in England unerbhörten Anfichten bervorriefen, geben 
die Tagtöblätter der neueften Zeit binreihend Auskunft. Williams und Wilſon 
wurden darauf in Unklagezuftand verjegt, weil fie den Artikeln der anglifanifchen 
Kirche betreffd der Injpiration, VBerföhnung und Rechtfertigung widerfprochen hätten. 
Nach energifcher Bertheidigung und Behauptung des Rechts freier Kritik, erleichtert durch 
die Elaflicität der Artikel, erflärten fle fich in der Schlußverhandlung vom 15. Decem- 
ber 1862 bereit, diejenigen Säge, die für einen Widerfpruch gegen die 39 Artikel 
gegolten hätten, zurüdzunehmen. Der Richter des erzbifchöflichen Gerichtöhofes Ichnte 
Died ab, weil es zu fpät fei, und verurtheilte fle zu einfähriger Suspendirung vom 
Amte und Einfommen. Sie appellitten an den Gerichtöaudfchuß des Geheimen 
Nathes. Diefer entfchied, Daß es nicht unverzeihlich ſei, auf eine mögliche Begrenzung 
der Hölfenfirafen zu Hoffen, und: daß die Behauptung, nicht jeder Theil der Fanonifchen 
Bücher des Alten und Neuen Teftamentd fei unter Eingebung des heiligen Geiſtes 
gefchrieben, nicht im Widerfpruch mit der Kirche fiehe, und reftituirte beide. Doc 
befchränfte ſich das Urtheil nur auf die vom Erzbifchofe vorgelegten Stellen und Tieß 
die Möglichkeit einer Verdammung des Buches oder beider Effays oder eines der⸗ 
felben, wenn fie die Grundlagen des Chriſtenthums ſchwächen follten, unausgefchlofien. 
Der natürlichen Erbitterung der anglifanifchen Geiſtlichkeit über das in ſchnell folgenden 
aeuen Auflagen erfcheinende Buch bat die Convocation der Kirchenprovinz von Can⸗ 


‘ 


120 ' Heviewd, (Gegenmwärtiger Stand des Streits.) 


terbury Ausdruck gegeben. Sechszig in derfelben verfammelte Mitglieder verbamımten 
die gefammten Eſſays und Reviews ſynodiſch, als Lehren befennend, melche ber 
Doetrin der anglifanifchen und gefammten Fatholifchen Kirche wiberfpräden; ein Urs 
theil, welches jeit 1714 kein Präcedend bat, und ſich von dem damaligen dadurch 
unterfcheidet, daß Ober- und Unterhaus ſich über einen Widerruf des Dr. Clarke 
nicht einigen Eonuten, weshalb der Spruch invalive blieb, während er in ber 
Eifayfache befleht und fein Widerruf angeboten wurde. Sehr energifch traten bie 
Pufepiten ein. Eine am 25. Pebruar 1864 in der „Times? veröffentlichte, 
von 204 Geiftlihen unterzeichnete und jedem Geiftlihen Englands zugefandte 
Erklärung lautet: „Wir, die unterzeichneten Priefter und Dialonen der Kirche von 
England, Halten es für unfere gebührende Pflicht gegen die Kirche und die Seelen der 
Menfchen, zu erklären unfere fefle Ucberzeugung, daß die Kirche von England gemein« 
fam mit der ganzen katholiſchen Kirche behauptet, ohne Nüdhalt oder ohne befondere 
Deutung die Infpiration und göttliche Autorität der ganzen Fanonifhen Schriften, 
als nicht Hloß enthaltend, fondern feiend das Wort Gotted, und daß fle ferner lehrt 
in den Worten unfered gefegneten Herrn, daß die Beflrafung ded Verdammten, ebenfo 
wie das Leben der Gerechten, ewig dauernd iſt.“ Sie trägt an der Spike die Unter- 
fhriften von Fremantle, Denifon, Puſey, Keble, William Palmer. Wie wenig biefe 
Hülfe allen anglifanifhen Geiftlichen willfommen if, geht aus Stellen in dem Bor- 
worte des Biſchofs von London zu feinen fünf Abhandlungen über den Grund des 
Glaubens und das Wort Gottes hervor: „Welfe Leute fuchen ſtets ſolche Zeiten der 
Aufregung abzuwenden. Leute von zweifelhafter Mechtgläubigkeit dagegen lieben, in 
den Vordergrund zu treten, damit als Belohnung ihres Eifers für die derzeitige Pro⸗ 
teflation ihre eigenen, wirklich bedeutenden Fehler möchten nachgefehen werden.” — 
Und diefe Verlegenheiten der entſchieden Hochkirchlichen find durch die neueflen Vor⸗ 
gänge Im Oberhauſe nicht geringer gemorben. Als Lord Houghton am 16. Juli das 
Perbammungdurtheil der Gonvocation zur Sprache bradyte und die Furcht ausfprach, 
daß ein neuer Index purgatorius damit eröffnet fei; daß der Gebrauch foldyer Waffen 
nur vor 300 Jahren der Stellung der Convocation entfprodhen habe, als fle die Kö» 
nigin Elifabeth erfuchen Eonnte, Maria Stuart fobald als möglich hinzurichten, „weil 
dies gegenüber einer Gögendienerin gerechtfertigt ſei,“ erwiderte der Lord⸗Kanzler, daß 
die Krone der Ausflug alles Nechts fet, ſowohl des Firchlichen und geifllichen, mie des 
zeitlihen, und daß Niemand direct oder Imdirect ohne fpecielle Vollmacht der Krone 
folde ausüben könne. Bon den drei Fällen, weldhe das Verfahren der Regierung 
gegenüber der Gonvocation umfaßte, entweder 1) wenn ſie harmlos thätig fei, Feine 
Notiz von ihr zu nehmen, oder 2) wenn fie vermuthlich Störungen hervorzurufen im 
Begriff fei, fle zu vertagen, oder 3) wenn fie entfchieden ihre Vollmacht überfchritten 
babe, fie zu beftrafen, fei eigentlich der dritte eingetreten. Er warnte daher die hohen 
Würdenträger vor der entfprechenden Strafe. Sie würden in folchen Falle, wenn Ernft 
gemacht würde, bier im Haufe zu erfcheinen haben in Sad und Aſche und mit der 
Strafe des Praemunire belegt werden. Auf zwei Jahre würden dann die fämmtlichen 
Einkünfte der verdammenden Beiftlichen fequeftrirt werden. Sie möchten fih das Glück 
des Schagfanzlerd denken, wenn er fein Netz audwerfe und mit einem Zuge 
30,000 Pfd. vom hoͤchſten Würdenträger erfafle, nicht gerechnet die Bifchdfe und Die 
Uebrigen bis zum Bicar binunter. In der That fei aber Died ganz allgemein und 
glatt gehaltene Urtheil gar Feines, ed treffe Eeinen beflimmten Verfaſſer. Ueberhaupt 
fei es ganz unmöglih, daß die Convocation eine Jurisdiction ausübe. Aber felbft 
ala bloßer „Debattirclub“" Taufe die Convocation Gefahr, weil ein Bifchof eine hier 
verfochtene verbanmende Meinung doch zur Geltung bringen müfle, fall$ der Verur⸗ 
theilte ſich ihm zur Einführung in eine Pfründe präfentire. Weigere er fi demge⸗ 
mäß, fo fei ebenfalld die Strafe des Praemunire verwirft. Im Uebrigen würbe bie 
Regierung feine weitere Notiz von der Sache nehmen. Gegen diefe Anfichten des 
Lordkanzlers leifteten der Erzbifhof von Canterbury und die Bifchöfe von London 
und Orford Eraftvollen Widerfland. Der Erzbifchof ſchloß mit der Hoffnung, daß 
drei oder vier Geiſtliche niemals wieder zu einem ähnlichen Verfahren fid, vereinigen 
würden; daß aber, wenn je wieder eine Erneuerung der Bewegung flatifände, wie 


NRevival. (Entſtehung des Ol. von 1858.) 121 


fie feit dieſer Verdffentligung in der Kirche eriflire, die Eonvocation wieder handeln 
würde; doch hoffe er, daß lange Zeit vergeben würde, ehe wieder eine Krifle über die 
englifye Kirche käme. Der Bifhof von London ſprach fi für Berathbung mit den 
Kronanmälten aus. Jetzt, wo die Tendenz in der Kirche auf Stärfung der Con⸗ 
voration ziele, müſſe diefe ſich aus der erniedrigenden Bofltion, in melde fie gebracht 
werden folle, Angeſichts vieler Krifls zu erheben ſuchen. Am leidenfchaftlichften ließ 
ſich der Biſchof von Oxford vernehmen. Auf jene Scherze des Lordkanzlers erwiderte 
er: Wenn ein Mann feine Achtung vor fih ſelbſt hat, fo ‚müßte er auf alle Bälle 
das Tribunal achten, vor dem er fpricht, und wenn ber hödhfte Nepräfentant des enge 
liſchen Geſetzes in dem Hofe Eurer Rordfchaften bei einer Sache, welche die Freiheiten 
des Untertbanen und die Meligion des Reiches und alle die großen Wahrheiten, über 
welche wir discutiren, betrifft, es für paſſend Halten Lönne, zum Hohn berabzufteigen, 
in dem er fich ficher ergeben zu können bewußt if, weil diejenigen, welche er fo an- 
redet, zu viel Achtung vor fich haben, um ihm In gleicher Welle zu erwibern, fo fage 
ih, daß diefed Haus mit Recht ſich beklagen Tann, daß fein Hoher Charakter Ange- 
ſichts des Volkes verlegt if. Die Gonvocation habe die Frage beantwortet: „Sol 
die Kirche von England ſehen, daß falfche Lehren von denen ausgeſprochen werben, 
die ein Amt in ihr bekleiden, oder follen wir ihre böchften Beamten, wenn wir durch 
Berufung der Königin die Möglichkeit Haben, diefe Irrthümer zu verläugnen, follen 
wir furchtſam unfern Mund balten, weil wir, wenn wir fprechen, frivolem Spott 
ausgeſetzt find; oder follen wir im Namen der Kirche von England von ihren 
Dienern den Vorwurf binwegnehmen, daß fie Freiheit haben, feierlich zu beurfunden 
ein Ding als die Bedingung der Amtsantretung, und ein anderes ald die Gewohn⸗ 
heit des Amtes?" Dies iſt der Stand dieſes noch bin und Herwogenden Streites. 
Die Frage, 06 jenes Berbammungsurtheil im Gegenfag zum Urtheil des Privy couneil 
ergangen if, und ob alfo die Gomvocation ſich richterliche Yunetionen wirflih ange- 
maßt bat, murde definitiv von feiner Seite bejaht oder verneint. Auf der einen 
Seite fand die letzte Rede lebhaften Beifall der Peerd; auf der andern wurde In der 
Preſſe die Anficht des Lordkanzlers gefeiert. Die Lage der Hochlirche iſt bebrängt. 
Ste leidet jegt eben fo fehr durch ihr Verhältnig zur Staatögewalt, wie fie von 1688 
bis 1830 dadurch ficher im Benuß ungehrurer Prärogative geruht hatte. 

Hevival, d. h. Erwedung, religiöfe Wiedergeburt, heißt der Bußkampf, von 
dem der englifch-reformirte Kern der Bevoͤlkerung der nordamerifanifchen Union plög- 
lich von Zeit zu Zeit ergriffen wird. Der größte R., deffen man ſich erinnern fann, 
it der vom Jahre 1740, Doch wurde derfelbe von dem, der im März 1858 die ganze 
Union in fieberhafte Bewegung ſetzte, bei Weltem übertroffen. Wir merben baber, um 
die Natur eines ſolchen R. zu veranfchaulichen, ein Bild des legteren entwerfen. Gr 
brach aus, ald die Bevölkerung der Union nod mit den Folgen der finanziellen Kriſis, 
die feit dem Detober 1857 ihre riefenhafte Thätigkeit unterbrochen hatte, fämpfte. 
Schon damals, ald die ganze Nation feierte und, von einem unerwarteten Schlage 
getroffen, fich niebergefiredt ſah, betrachtete man ein Unglück, das zunächſt rein mer⸗ 
cantiler Natur ſchien, ald eine moralifche Kriſis, welche die ganze Nation durch ihre 
Selbſtüberhebung auf ſich Herabgezogen Habe. Der Kaufmann und Speculant führten 
auf einmal eine veligiöfe Sprache, fchlugen ſich zerfnirfcht auf Die Bruſt und befanne 
ten fih in der Prüfung, die auf fle gefommen war, ſchuldig. Wir haben ſchwer, un⸗ 
verantwortlich gefündigt, rief Alles, wir find allzumal Sünder; da iſt auch nicht Einer, 
der behaupten dürfte, daß er den Schlag, der die Nation gebeugt hat, nicht mitver- 
ſchuldet habe. „Die Folgen unferer biöherigen Sünden”, fagte z. B. die „New⸗Morker 
Staatözeitung“, " „treten jet zu Tage, wir find zu maßlos geweſen, Haben zu unbes 
fonnen der Zeit vorauseilen und nicht den naturgemäßen Weg der Entwidelung ab» 
warten wollen.” Died zum Theil noch bildlich gemeinte Bekenntniß: „Wir find alle 
zumal Sünder*, wurde plöglich im Ausgang ded Februar und im Anfang des März 
1858 der Ausdruck ernfllicher Ueberzeugung und die Gefchäftsleute, Hülfsarbeiter und 
Dienflleute New⸗NMorks zogen auf einmal von Kirche zu Kirche, von Gebets⸗Meeting 
zu Gebets⸗Meeting und erfuchten, wenn ber Durchbruch zu lange auf ſich warten lieg, 
die Gemeinde um Fürbitte, daß bie Härte ihres Herzens gebrochen werden möchte, 


122 Nevival. (Ausbreitung des N. von 1858.) 


Dem Sturm auf die Banken, denen man das Gold abverlangte, folgte ein wahrer 
Sturm auf die Kirdyen, in denen gebrochene, wanfende und noch flehende Firmen⸗ 
träger mit den Comtoirfchreibern, Babrifarbeitern und Kaftträgern die Ruhe und Be, 
friedigung fuchten, die im Sturm der vorhergehenden Monate verfchmunden waren. 
Die Taufende, die fih in New:Dorf an die Spige der neuen Bewegung ftellten und 
fie fogleih organiflrten, mußten, um dem Strom der Ruhe⸗ und Troftfuchenden genug 
zu thun, mehrere Kirchen dreimal des Tages für die Aufnahme und Erbauung der 
zerfnirfchten Herzen öffnen laſſen. Unwiderſtehlich wie die’ finanzielle Panik breitete 
fih auch die religiöfe Erregung von einem Staat der Union nad dem andern aus. 
Nachdem der Telegraph und die öffentlichen Blätter die erfte Nachricht von dem neuen 
Ereigniß NemMorks in die Ferne gebracht hatten, folgte überall auf das erfle Er- 
ftaunen über die unerwartete Botichaft die gleiche Angſt um das Seelenheil, viefelbe 
Zerknirſchung, endlich diefelbe Erweckung. In Kurzem war der aͤnßerſte Süden und 
Wehen von der Bewegung erreiht. Auch Californien und Oregon waren balb 

ergriffen. Die Kirchen von San Francisco wurden der Schauplaß unerhörter Bekeh⸗ 
zungen und daß Interefie von Sacramento wurde faft ausſchließlich von den Gebets⸗ 
Meetings, die man dafelbft noch nicht Fannte, in Anfpruch genommen. Die Amerikaner 
wußten in ihrem Erflaunen über die unerwartete Erfcheinung bie Ausbreitung derfelben 
ſich nicht befjer zu veranfchaulichen, ald unter dem Bilde eined Präriebrandes, der ſich 
mit reißender Schnelligkeit über die Ebene verbreitet und in Nieberlaflungen, die nichts 
mweniger als diefen Weberfall erwarteten, die Anjtedler an die Nichtigkeit ihres irbifchen 
Strebens erinnert. Kaum drei Wochen vor dem Ausbruche der religlöfen Krifls in 
San Francisco hörte man von dort, daß fi in Kreifen, die fich fonft durch ihre 
Unternebmungsluft und Spannfraft außzeichneten, yplößlich ein Lebensüberdruß ver- 
breitet habe, der mehrere angefehene Männer zum Selbfimorbe getrieben hatte. in 
woblhabender geachteter Mann meldete fih im Stadtgefängnifle und bat, ihn in Ver⸗ 
wahrung zu nehmen und gegen den unmwiberftehlichen Drang, den er empfinde, ſich 
das Leben zu nehmen, zu fchügen. Ebenſo bekannte ein hochſtehender Geſchaͤftamann 
in einem der Gebetö- Meetings zu Nen-Dork: „Was follte aus mir werden? Ent- 
weder mußte ich unfehlbar zuſammenbrechen oder ein Schuft werben. In dieſer Ver⸗ 
fuhung wäre ich unterlegen, wenn nicht daß Gebet mein Segen geworden märe." 
Laien und Geiftlichkeit flimmten in der Annahme überein, daß die „harten Beiten“ 
die plögliche Erwedung hervorgerufen hatten. Die Paufe in der Befchäftäthätigkeit 
zwang den Amerifaner, in fein Inneres einen Blick zu werfen; doch auch bier molfte 
er mit feiner gewohnten Schnelligkeit und Fertigkeit Aushülfe und Stoff augenblicklich 
fertig haben, und er fand Beides in der plöglichen Erweckung. An bie Stelle ber 
Gefhäftsthätigkeit trat die religiöfe Vielgeſchäftigkeit. Um ein Bild ber letzteren zu 
geben, ftellen wir einige Züge aus den damaligen New» Morker Zeitungen zufammen. 
Einladungen zu den Gebet-Meetingd und andern religiöfen Uebungen waren dffentlidy 
an den Straßeneden angefhlagen und machten den Gefchäftsanzeigen den Plag flreitig. 
In den Banquierd- und SKaufmannsläden hingen ähnliche Aufforderungen aus, die 
die Aufmerkfamfeit der Befiyäftsleute auf die Andachtsübungen binlenften. Heligidfe 
Abhandlungen wurden dem Publicum In den Miethöwagen, Omnibus, in den Fähren 
eingehändigt und auf dem Straßenpflafter Tagen eben ſolche Zractätchen audgeflreut, 
damit die Leute auf dem Wege zu ihrem Gejchäft fle aufheben und In der Schnellig- 
keit eine religiöfe Anregung erbalten möchten. Das Faufmännifhe Bublicum fchien 
von der neuen Bewegung beſonders lebhaft ergriffen zu fein. Die bebeutenpften Ban« 
quierd und Handelsleute Hatten ihren Commis und Arbeitsleuten in ihren Gefchäfts- 
bäufern Locale zu Privatmeetings eingeräumt, in denen fie die Zwiſchenſtunden zwi⸗ 
fhen der Arbeitözeit zu erbaulichen Betrachtungen verwenden Fonnten. Der Teles 
graph zu New⸗York Hatte fortwährend zu tun, um die Privatbepefchen, in denen 
Familtenglieder einander ihre Bekehrung meldeten, zu befördern. „Theure Mutter, 
die Ermedung bat ihren Fortgang und auch ich bin bekehrt worden“; „Theure Eltern, 
audy ich Habe Krieden mit Gott gefunden” — fo Tauteten die Depefchen, die die 
Commis der Gefhäftshäufer in ihre Heimath fchidten; gewöhnlich fchloffen dieſe Nach⸗ 
sichten mit der Bemerkung, daß Briefe mit der genauen Befchreibung der Erweckung 


+, 


Nepbwal. (Verlauf des R. in New⸗Mork.) 123 


alsbald auf dem Poſtwege folgen würden. In einem Gebetmeeting zu Voſton machte 
ein Prediger den Vorſchlag, Feine Paͤckchen mit „Saatlorn“, d. 5. Padete mit 45 
ſchmalen Papterftreifen, die mit Bibelſprüchen bebrudt find, zu dem Preife von fünf 
Gents in Umlauf zu fegen. Sold einen Streifen könnten die Gefchäfts- und Pri⸗ 
vatleute in jedem ihrer Briefe beilegen, ohne das PBoflgeld zu vergrößern. Die Er- 
weckungsmeetings in New-Dork wurden mit fihriftlichden Geſuchen beffürmt, in denen 
die frommen Bittfteller um öffentliche Fürbitte für die Belehrung ihrer Verwandten 
anbielten und die demnach von den Leitern ber Erbauungdftunden verlefen wurden. 
So bittet ein Neffe um Fürbitte für feinen „bochbetagten Onkel, der ein unheiliges 
Leben führt." Eine Schwefter erfucht darum, daß man fich ihrer Brüder, für die fie 
fon Jahre lang umfonft gebetet habe, im Gebet erbarmen möge. Andere bitten um 
Fürfprache für Kinder, Freunde, Schwiegereltern u. ſ. w., die ſich noch ‚fern von Bott 
halten oder gar über die fetzige Bewegung fpotten. In mehreren Kirchen zu News 
Dorf wurden befondere Meetings zur Fürbitte für den Präfldenten der Union und bie 
Behörden überhaupt gehalten, und wenn Herr Buchanan In Wafhington nicht gerührt 
worden iſt, fo bat e8 nicht an dem Eifer gelegen, mit dem bie Bläubigen der großen 
Handelöftadt öffentlich für ihm gebetet hatten. Da die Kirchen, obmohl viele von 
ihnen täglich und zwar dreimal des Tages geöffnet waren, den Strom der Ermedten 
oder Erwelungfuchenden nicht faflen Fonnten, fo waren fogar die Raͤume und Straßen 
vor den Thüren überfüllt. Man laufchte Draußen auf die Klänge der Hymnologle. . 
Kaufleute, Befchäftsleute aller Art, die zufällig des Weges kamen, blieben in Haufen 
ſtehen, föhnten, feufzten, weinten, wenn fle von den Klängen der Dorxologie drinnen 
getroffen wurden. In's Große arbeitete ein Vifltationsverein, ber es ſich zur Auf 
gabe gemacht hatte, jedes Haus zu befuchen, um ſich fiber die religiöfe Lage und 
Stimmung jeder Familte zu unterriten. Man begann mit den Armenbezirken, batte 
aber auch ſchon Die vornehmen Biertel in die Unterfuchung bineingezogen und auch 
in den Höheren Klafien, obwohl das Zurkirchegehen zur Mefpectabilität gehört, viele 
Taufende gefunden, die der Kirche fern geftanden Hatten, und nun den Anftoß erhiel« 
ten, fich über die neue Bewegung zu entfcheiden. Mehr ald zwei Taufend Bifltatoren 
batte der Verein in's Feld geſtellt. Die Methodiſten Hatten eine „fliegende Artillerie 
des Himmels“ errichtet, fo genannt, weil fle, Außerfi beweglich, befläindig dad Feld 
wechſelte, Bald in jenem, bald in diefem Viertel auftrat, Arm und Reich mit ihrem 
Sefchüg überrafchte und durch die Kühnheit ihres Angriffe manche auffallende Er- 
weckung bewirkte. Die Artillerieforce in den zum Verein gebdrigen Kirchen befland 
gewöhnlich aus dreißig bis vierzig Laien, meiftend im fräftigften Lebensalter, die 
während des Gotteddienftes innerhalb der Altarfchranten ihren Play einnabmen. 
Die Geiſtlichkeit mußte überhaupt, fo thätig fle fi in der Benugung des Augenblide 
bewies, doc zugleich einräumen, daß die Raien, von den Gefchäftäherren, Aerzten 
und Mechtöonmalten an bis zu deren Commis und Schreibern, durch ihr Geſchick zur 
fiynellen und großartigen Organifation das Meifte zur Beförderung der jegigen Be⸗ 
wegung getban hatten. Daher mußte fie auch die Leitung mit der Laienmelt theilen; 
viele Gebet: Meetings flanden jogar unter der ausſchließlichen Direction von Laien. 
Alle Seeten waren In gleicher Weife ergriffen. Selbft die bifchöfliche Kirche, die den 
RK.'s Kisher nicht Hold war und von plötzlichen Erweckungen nichts wiffen mollte, 
batte diesmal dem Anftoß nachgeben müflen und ihre Zeitungen fpraden aud von 
einem Wachsthum des religiöfen Interefjes und erzählten von mehreren „Gonfltma= 
tionen" d. 5. Belenntnißablegungen, die in der episfopalen Kirche flattgefunden hatten. 
Die Hochkirche Tonnte aber diesmal dem Strom eher als bei früheren Agttationen 
folgen, da den Erwedlungen der wilde und krampfhafte Charakter, der fonft die Ber 
fehrungen der Meetings im Freien außzelchnete, völlig fehlte. Es war eine fanfte, 
gemäßigte Aufdringlichkeit, mit ber diesmal die Bewegung an die Bendlkerung heran⸗ 
trat. Die ganze Entzlindang Hatte bei aller ihrer Allgemeinheit einen fehr milden 
und einen rein deiftifchen Charakter. Sehen wir z. ®., wie ganz New⸗Mork von 
einem Matrofen fprach, der in einem Meeting feine Geſchichte erzählte, mie er in 
einem Sturm fi an Bott wandte und fpäter einmal, als er wieder eine Kirche ben 
trat, daran dachte, daß Bott das Schiff, auf dem er war, im Ungewitter, währends 


124 Rebival. (Verfall des R. von 1858.) 


viele andere untergingen, erhalten habe, fo merden wir wohl eingeftehen müflen, daß 
in Diefen Erweckungen eben Feine große innere Erfahrungen zu Tage gefördert werden. 
Neben Gardner, einem Abrichter von Boxern, genannt „Schreckens⸗Gardner“ (Awful- 
Gardner), der fein Gewerbe zufolge feiner Erweckung plöglich aufgegeben batte, und 
neben dem Ring, den die rau des Oberſt Fremont in Mr. Beecher's Kirche zu 
Brooklyn In eine Collecte geworfen hatte und der darauf zur Auction fam, bildeten 
die Bebetöverfanmlungen in Burton’3 Theater das Tagesgefpräh und den Blanz- 
punkt des damaligen. New⸗PYork. Einige Jahre vor diefer Erweckung hatte man näm- 
lih in einem Bezirk der Stadt eine Kirche zu Theatervorflelungen gemiethet; im 
Begenfag zu diefer Profanation bielt ed daher „der Chriſtenbund der jungen Leute” 
(Young men) für nothwendig, daß ein Theater in eine Kirche umgewandelt würde; fle 
trugen einigen Handelsleuten die Sache vor, die lebhaft auf ihre Idee eingingen, und 
am 19. Mär; war Burton's Theater für die Gebetsverſammlungen unter der Leitung 
des Meverend Gupler geöffnet. Den Tag vorher hingen In frieblicher Nachbarfchaft 
am Portal des Gebäudes die Anfchlagzettel, von denen der eine meldete: „heute Abend 
wird die letzte Theater» Aufführung flattfinden“, der andere, daß die &ebet- Meetings 
eröffnet werden follen. Als die Unterhändler Gern Burton zuerft ihr Geſuch vor⸗ 
ftellten, war er fogleich bereit, das Gebäude für religiöfe Zwede ihnen abzulaflen, 
nur fragte er, ob file au für ihn beten wollten. Da file fich gleich bereitwillig wie 
er erwielen, verlangte er, daß man dieſe Pflege jeines Seelenheils ihm auch im Mieths⸗ 
Eontracte ausdrücklich zufichere. Man unterließ es zwar, dieſe Klaufel in den Con⸗ 
traet aufzunehmen, jicherte ihm aber die pünktliche Erfüllung zu, und in der zweiten 
Sigung am 20. März erhob fi ein Mitglied der Verſammlung und betete für Herrn 
Burton. Here Burton fand indeffen in feiner Nähe und erbaute die Anwefenden 
durch die Erregung, die in feiner ganzen Haltung zu erkennen war. Beſonders er- 
griff und befchäftigte fie der Kontraft, daß fie denfelben Mann in gebeugter Haltung 
und Zerknirſchung vor fich ſtehen ſahen, den fie noch kurz vorher menfchliche Leiden« 
fchaften und Thorheiten hatten darftellen fehen. Leberbaupt wurde der Contraſt zwi⸗ 
fchen der bisherigen und jebigen Beflimmung des Gebäudes mannichfach audgebeutet 
und er bildete einen Hauptreiz für die Maffen, die täglich bier zufammenftrömten. 
Bor Allem gefchidt in diefer Ausbeutung war der Meverend Henry Ward Beecher, 
des Mann der Berfafferin von „Once Tom's Hütte”, dem es ſehr bald gelang, ſich 


der Öberleitung dieſer Theater - Meetingd zu bemächtigen. In demfelben Augenblide, 


da die Blicke der Verfammlung noch auf den zerfnirfchten früheren Theater⸗Unterneh⸗ 
mer gerichtet waren, hörte man Geſang in einem benachbarten Raume. Da erhob 
ih Herr Beecher und rief: „Brüder, Hört ihr? Haltet einen Augenblid ftille und 
hört dem zu, das iſt Sefang in dem früheren Schankraum dieſes Theaterd. Laßt 
und ein paar Augenblide flillem Gebet und Dank widmen." Die Taufende der 
Berfammlung beugten ihr Haupt, und für zwei Minuten börte man nichts al8 die 
fernen Töne des Geſangs im Schanfraunm und dad Braufen der Gaslichter, die früs 
ber die Bühne erleuchteren. Die Waffen, die in dieſen Theater» Meetingd zufammen- 
firömten, machten eine neue Geſchaͤftsordnung nötbig. Herr Becher, der ſchon am 
20. März als Herr des Ganzen auftrat, beftimmte, daß diejenigen, die ihre Bekeh⸗ 
sung melden oder fonft ein Intereffantes Bactum aus ihrer perfönlichen Welt vortra- 
gen oder fidh oder einen der Ihrigen dem Bebet der Anderen empfehlen wollten, nur 
drei Minuten eingeräumt befommen fönnten. Die äußerlihe Befchäftigkeit, welche die 
Bewegung von Anfang an dharafterifirte, trat von jetzt an befonder& grell hervor, 
und ed war nicht felten, daß die Leute mit der Uhr in der Hand fich binflellten und 
ihre religidfen Bedürfniſſe, Wünfche und Erfahrungen in gefhäftsmäßiger Kürze vor⸗ 
trugen. Der „Ghriftenbund der jungen Leute” Hatte das Theater, mit richtiger Taris 
rung der Dauer der ganzen Bewegung, nur auf vierzehn Tage gepadtet; als das 
Theater, welches der Gerichthof des Diſtriets inzwifhen in Pacht genommen hatte, 
den Bläubigen verfcyloffen war, Hatte Die ganze Angelegenheit ihren theatraliſchen 
Meiz verloren, hatte aber auch bereits das allgemeine Interefie an ihr nachgelaſſen. 
Das Ganze war eine einförmige Gefchäftigkeit ohne Sammlung und Der- 
tiefung — fein Wunder baber, daß es fih, ohne eine nachhaltige Wir 


Nevolution. 125 


fung zu binterlaffen, im Sande verlor. Ende des März und Anfang‘ des 
April fingen die Gebetd-Meetingd fchon zu veröden an. Die Episfopal- Kirchen zogen 
ſich zuerft zurüd. Auch der Chriftenbund der „Young men“ fah feine Nem-Morler 
Wirffamkeit als abgefchloffen an und begnügte fi damit, durch Circulare an die 
Geiſtlichkeit aller Seeten in den Bereinigten Staaten fi ale einen Berein zu em⸗ 
pfeblen, an welchen junge Leute, die nad New⸗York fommen, um eine Stelle in 
den Gefchäftshäufern zu fuchen, ſich menden und anfchließen Eönnten. Im Anfang 
des Mai war die Angelegenheit aus den Zeitungen ganz und gar verfchwunben. 
Die Deutfhen waren der Bewegung fern geblieben und man findet Eeinen deutfchen 
Namen, weder unter den Leitern noch Teilnehmern. Cie eignen fich zwar ziemlich 
feicht das Freimilligkeitsprincip des amerikaniſchen Kirchenweſens an, fühlen fich aber 
von dem Handwerfömäßigen der methodiftifchen Froͤmmigkeit abgeftoßen, noch mehr 
von der Angft und Haft, mit welcher diefelbe in Meetings oder Revivals eine rafdye 
nnd auffallende Befriedigung ſucht. So war es wohl auch kein Zufall, daß gerade 
in den Glanzwochen der religiöfen Aufregung eine Deutiche, Erneſtine Mofe, in „Lyrik 
Hall", Broadway, fritifhe Vorträge über die Bibel hielt, die von den deutſchen 
Blättern Newm-Dork’s im Gegenfab zu den Erbauungdmertings der englifchen Bevöl⸗ 
kerung ſehr gelobt wurden. Schmwerlich läßt auch die Thatfache, daß während der 
Revivald-Zeit Dicht vor Nem-Dork dad Quarantaine⸗Lazareth auf Staten⸗Island, weil 
ed die benachbarten Grundſtücke entwerthete, mit den darin befindlichen Kranken nieder» 
gebrannt wurbe, ohne daß der Stuat die Verbrecher ernfllich zu verfolgen wagte, auf 
eine tiefere Einwirkung der religidfen Ermedung fließen. Bemerkenswerth ift noch 
das Berhältniß der Bewegung zu den Negern. So lange die Schwarzen ſich abfeits 
hielten und Abends in ihren Kirchen, wie z. B. in Nem- Bedford, auch Gebetmeetingd 
hielten, erfreute man fi daran, daß fie auch durch Singen, Beten und Wittheilung 
ihrer Erfahrungen an der Bewegung theilnahmen, erfreute man fich namentlid an 
dem Gtammeln und an den gebrochenen Sägen, in denen fle nah den Zeitungd- 
berichten ihre Rührung und GErgriffenheit Fund gaben. Sobald aber ein Neger näher 
trat und mit den Weißen an den Meetings tbeilnehmen wollte, ward die Sache eine 
andere und der Neger höflich, mit ſüßlichem Lächeln und mit dem fühlichen Bedauern: 

„Es ift einmal fo", hei Seite gebracht. So circulirte Ende März in den New 
Horker Zeitungen der Brief eined „Farbigen“, in welchem derfelbe erzählt, wie er und 
eine Negerin aus einem G&ebet> Meetings - Saal, in dem fle fich eingefunden hatten, 
von einem ſüßlich lächelnden Gentleman drei Treppen hoch in ein leer ſtehendes Zim⸗ 
mer geführt wurden, um bier ihr eigenes Meeting zu halten. „Es ifl einmal fo“, 
hatte der Bentleman gefagt. „Es ift einmal fo”, fagten Neger und Negerin zu eins 
ander, als fie allein waren, und verließen die Kirche mit dem Gelübde, „nie wieder 
ein Gebet⸗Meeting der Weißen zu befuchen.” — mei Jahre nach diefem R. kamen 
aus Irland und dem weftlihen England Nachrichten, nady denen es beinahe fchien, 
ald ob von dort aus eine große Nevival-Erfcheinung fih auch Über Europa audbreie 
ten wollte, doch erlahmte die Bewegung fehr bald in England und nur in einzelnen 
Megungen, wie in Elberfeld, erreichte fie den Continent. 

Nevolntion. Im Verlauf der folgenden nahträglidhen Grörterungen werben 
wir den Unterfihied der fcheinbar verwandten Erfcheinungen in England und Nord- 
amerifa von den Erfchütterungen des ganzen politifchen und gefellishaftlichen Gebaͤudes 
der franzdflichen Monarchie, die bis jept ale die Außerfle Manifeflation des revolu⸗ 
tionären Geifted galten, und den Zufammenhang der R. mit dem franzöftfchen Natlonals 
Charakter darſtellen. Nachträglich nennen wir diefe Erdrterungen, meil die Geneſis 
und der Berlauf der franzöflichen N. in den Artikeln dieſes Lerifons in der That 
ſchon ihre voliffändige Darſtellung erhalten baben. Wir vermeifen in dieſer Be—⸗ 
ziehung befonders auf die Artifel: Adel, Bodenbefit, Bourgeoifie und Eigen⸗ 
ihum. Im Artikel Frankreich (politifche Geichichte) ift fodann die M. als das 
Ziel und Ergebniß der ganzen franzöſiſchen Gefchichte ausführlich dargeftellt und 
namentlih in dem, mad wir die Eöniglihe R. von 1787 und 1788 genannt haben, 
dad Programm der ganzen folgenden R. nachgemwiefen morden. Endlich gehören 
bierher die ausfüllenden Artikel: Ancien Regime, Vlirabean, Danton, Jako: 


126 Nevolntion. (Der franzöfffge Nationalcharakter.) 


biner, Girondiſten, und die letzte Ausfüllung des Ganzen wird noch der Artikel 
Robespierre geben. 

1) Der franzdfifhe Nationaldarakfter. Als Ausgangspunkt für die 
folgenden nachträglichen Erörterungen, deren einziger Zweck es nur fein kann, auf 
das in obigen Artikeln fchon gegebene Gemälde vielleicht noch ein paar Lichtpunfte 
aufzufegen, benugen wir eine Bemerkung, die wir in der Schrift: „Bamilienreife nad 
Frankreich und Abſtecher in’d Gampanerthal von D, F. Wehrhan, Paflor zu Kunig 
bei Liegnig" (Liegnig 1834) gefunden haben. Die Bemerkung iſt geiftvoll und 
gründet fi auf Die Erfahrungen, die der Verfaſſer, ein waderer, geiftig fehr begabter 
und vor Allem wahrhaft gemüthöreicher Mann, auf feiner Meife durch Frankreich im 
Jahre 1833 und nad feiner Gefangennahme ald Soldat des preußifchen Reſerve⸗ 
corp8 am 1. März 1814 bei Mebais als Gefangener unter den Franzoſen gemacht 
bat. Derjelbe fügt Seite 265 feiner, zwar vom größeren Publicum wenig beach⸗ 
teten, aber durch Reichthum des Inhalts wie Schönheit des Styls über viele fonft 
gerühmte Reiſewerke Hervorragenden Schrift, indem er feine Erfahrungen über den 
Charakter der Franzoſen zufammenfaßt: „Ich halte fie im Ganzen für ein gutes 
Volk, denn als ſolches babe ich fie fowohl im Kriege als auch wieder von Neuem 
auf diefer Reiſe kennen lernen, und ob ich zwar auch einige Beifptele von Mohheit, 
Härte,. Stolz und Schlechtigkeit anführen könnte, fo überleuchten doch die vielen Bes 
weife von Edelmuth, Milde, Uneigennügigfeit und Herzensgüte, die ich unter ihnen 
erfahren, jene Schattenpunfte fo weit, daß «8 nicht bloß fehr undankbar, fondern au 
ſehr falfch fein würde, wenn ih mich bei meinem Geſammturtheil durch jene beflimmen 
ließe." Um die Motive feines Urtheils verfländlich zu machen, koͤnnen wir nicht ume 
bin, Einiged von feinen Erfahrungen aus der Zeit, da er als Gefangener transportirt 
wurde, mit jeinen eigenen Worten anzuführen. Nachdem er auf dad menfchenfreund« 
liche Benehmen, mit welchem ihn die Grenadiere der alten Kailergarde am Morgen 
nach feiner Befangennahme zu Jouarre gepflegt und mit Speife und Wein verforgt 
hatten, zurüdgefommen, fährt er fort: „Und als wir tiefer in'ßs Land Famen, wurden 
wir überall mit Wohltbaten überfchüttet und beinahe Jeder beftrebte fi, unfere 
Rage zu verfüßen. Schon in Paris wurden und von den Einwohnern, weldye, wäß- 
rend wir Durchgebracht wurden, in zwei langen Reihen auf den Straßen flanden, Les 
bendmittel und Geld gereicht; in Blois vertheilte ein Kerr unter die Gefangenen 
eilf noch recht gute Ueberröcke, und als ih, um in das dortige Lazareth gebracht zu 
werben, nebft einem andern, typhuskranken Preußen, nach dem Abmarſch der Uebrigen 
auf einige Stunden allein in meinem Stalle bleiben mußte und, von Durft gepeinigt, 
einigen zerlumpten Gaffenbuben, die fich neugierig um mich gefammelt hatten, meine 
leere Bouteille gab, um mir frifches Wafler zu holen, brachten mir Die guten Jungen 
fie voll Wein, den ſie von ihrem eigenen Gelde gekauft, zurüd. Noch menfchenfreund» 
licher war das Volk länge der Koire, und ich habe diefen Strich hernach oft fcherzweife 
das Land der guten Leute genannt. Denn alle Abend, wenn wir zum Uebernachten 
landen wollten, war das Ufer mit Menſchen, befonders mit Weibern und Mädchen 
bededt, die ichon von fern und Aepfel, Birnen, Brodflüäde u. dergl. zumwarfen, und 
welch‘ ein Gereiße um und, ıwenn wir auögefliegen waren und nun eine jede und zu 
ihrem mitgebrachten Suppens oder Bleifchnapfe haben wollte! In Saumur, Pont 
de Ga, Angers u. ſ. w. famen des Abends Bürger und vornehme Damen in das 
Local, wo wir untergebradht waren, und nahmen viele Gefangene, und immer auch 
mich, der ich wegen meiner noch unbärtigen Jugend ihr Mitleid vorzüglich rege machen 
mochte und von Ihnen oft mit dem liebfofenden Worte petit mignon betitelt wurbe, 
zu fih in's Quartier. Dort wurden wir nun zuvoͤrderſt auf's Befte tractirt, hernach 
noch manchmal zu Weine geführt und den andern Morgen mit Geld, Meſſern, Wäfche 
u. dergl. beſchenkt entlaffen. — Und nie, nie, wenn mir en passant in Städten 
oder Dörfern etwas fauften, etwa ein Stud Gebaͤck oder Dbfl, nahm man Bezahlung 
an. In Angerd, mo wir längere Zeit blieben und, wie immer binter Paris, frei 
berumgeben durften, wollte ich einft bei einer Kleinhändlerin einen Hering kaufen und 
fragte, wie viel das Stüd koſte? Un sous la piece, war die Antwort, mais pour 

— iss prisonniers deux pour un suus. Ebendaſelbſt engagirte ih mich, um mir bie 


Revolution. (Der franzöflfche Nationalcharakter.) 127 


Zeit zu vertreiben, in einer Leihbibliothek; als ich bei meinem Wegyange die Gebüh⸗ 
ven berichtigen wollte, nahm man wiederum durchaus nichts. Und was foll ich erſt 
zu der beinahe elterlichen Zärtlichkeit fagen, womit ich in La Ghaillerie, dem Land⸗ 
ſchloſſe des Herrn Joubert Bonnaire, gepflegt und behandelt wurde? Dieſer edle Breit 
batte mich von der Ehauffee, wo ich auf dem Ruückwege aus der Gefangenſchaft krank 
liegen geblieben war, mit in fein Schloß genommen, gab mir fogleich ein weißes 
seines Bett, dad cr mir in den Kuhſtall fegen ließ (man hält dies nämlich in Frank⸗ 
reich für gefund) und entließ mid; nicht eher, als bis ich völlig wieder hergeſtellt 
war; ja, feine Tochter ließ fid) fogar herab, mich, als ich wieder aufſtehen konnte, aber 
noch fehr ſchwach war, am Arme in ihrem fchönen Garten, mo ed Baffins mit Goldkarpfen, 
Fünftliche Kaskaden, Schwäne ıc. gab, herumzuführen, und als ich wieder Abfchied nahm, 
bänbdigte er mir einen Paß ein, kraft deſſen ich auf meinem ganzen Wege wie ein 
franzöflfher Soldat nicht bloß Quartier, fondern auch für die Lieue drei Sous Etap⸗ 
pengeld befam, die Tochter aber verjah mich mit Wäfche, Strümpfen und Keiſegeld 
und begleitete mich mit der alten, guten Kaushälterin bis an's Ende der Allee, welche 
auf die Landftraße führe, und Beide ſahen mir noch lange nah. O, ich könnte noch 
viele edle Züge, bie ich in jenem Kriege von den Feinden erfahren, erzählen, allein 
ich will, um nicht zu lang zu werben, zu meiner fchigen Reiſe übergeben. Ich fand 
die Srangofen eben wieder fo. Vom Anfange ihres Landes an bis an dad andere 
Ende hatte ich vielfältige Gelegenheit, ihre natürlie Herzendgüte zu bemerken.“ 
Der Verfaſſer erzäplt darauf eine Reihe rührender Fälle, die ihm allerdings ein Hecht 
dazu geben, am Schluß zu fagen: „So begleiteten mich auch auf dieſem Wege Liebe 
und Gefaͤlligkeit und beflätigten und befefligten von Neuem die gute Meinung, bie 
ih ſchon im Kriege von den Franzoſen gefaßt hatte.” Geben wir nun Die Ruß 
anwenbung diefer unferem Thema fcheinbar fremden, mit demfelben aber in der That 
in innigem Zuſammenhang flehenden Beobachtungen. Edelmuth, Gütrigkelt, Theil» 
nahme für das: Wohl des Näcdften find aud dem Engländer und dem Deutjchen 
eigen, aber fle liegen bei dieſen Völkern nicht zu Tage wie bei dem Franzoſen; damit 
fie fi Außern können, muß der Engländer erft die Schroffheit, mit der er ſich gegen 
die Welt ifolirt, aufgeben, und muß der Deutfche aus der Unſchlüſſigkeit und Träg- 
beit, denen er ſich nur zu leicht bingiebt, fich aufraffen. Bei dem Branzofen find jene 
Aeußerungen der inneren Güte unmittelbare Erfcheinungen feiner reichbegabten Natur; 
bei dem Engländer und Deutfchen brechen dieſe Blüthen der menſchlichen Natur erſt 
hervor, nachdem die harte Gemüthsrinde des Erfteren gelöft und die Zerfloffenheit des 
Andern zum Entſchluß zuiummengeballt iſt. Der Branzofe fühle fih von dem Ders 
wandten, das ihm begegenet, fchnell ergriffen und begt und pflegt es aldöbald mit Hin- 
gebender Geſchäftigkeit, Der Engländer prüft erſt und der Deutfche befchäftigt ſich zu- 
vor mit feinen Bedenken, ehe den Regungen der Theilnahme freier Lauf gelaflen wird. 
Der Branzofe folgt unbedenklich den Eingebungen des Herzens und freut ſich dieſer 
Wegweiſer, die ihm die Gelegenheit zu einer guten That verfchaffen; ber blöde, un⸗ 
Geholfene Engländer mißtraut dagegen der Natur und der Stimme des natürlichen 
Herzend und zieht, ehe er ſich für einen Eutichluß entfcheidet, alle möglichen mora⸗ 
liiyen und conventionellen Rückſichten zu Rathe, wie der Deutfche, ehe er feiner Be- 
denklichkeit ein Ende macht, fehr oft Iteber die Aufmerkſamkeiten unterläßt, mit denen 
der Franzoſe des Nächten Herz erfreut. Eben fo leicht, wie der Franzoſe ſich zu 
einer guten Handlung entfcheidet, entbrennt er auch gegen Alles, was feinem Kerzen 
ald Unrecht erſcheint, und enthuflasmirt er fich für den Kampf gegen die Leiden und 
Unterdrüdungen, die nad feiner Anfiht dem Menfchen das Leben in dieſer Welt 
ſchwer machen; der Engländer beipricht fi dagegen Tange mit feinem Gewiſſen, ehe 
es eine flörende Zugabe zu feinem Leben für ein Unrecht erklärt, bält e8 dann aber 
au für ein Bebot feiner periönliden Ehre, dies Unreht auf Tod und Leben zu 
befämpfen, mährend der Deutfche mit feinen Deliberationen über die Brage, ob daß 
Rörende und läflige Ding, das man als ein Unrecht verfchont, nicht auch feine guten 
Seiten Habe, oftmals, ja gewöhnlich gar nicht zu Ende kommt. Alle drei Völker, 
zu beren Baralleliftrung und die obigen Erfahrungen des deutſchen Meifenden Anlaß 
gaben, gehören zu den geifligen Völkern, welche durch den chriſtlichen Gegenſatz von 


128 Revolution. (Urfprung der R. uns dem franzöflfchen Nationalcharakter.) 


Geiſt und Fleifh oder Gnade und Welt hindurchgegangen find und nach der Loͤſung 
des Näthield, wie dem Geift in der Welt wieder eine heimifche Stätte bereitet werben 
kann, fireben. Aber "innerhalb diefer Gruppe von geiftigen Bölfern repräfentirt der 
Sranzofe noch den Standpunft des Naturvolfd Im Inſtinct und in den Ein 
gebungen feined natürlichen Herzens glaubt er die Normen zu beflgen, nach benen 
das Glück der Welt gefchaffen werden kann, während der Engländer in der Arbeit- 
famleit, mit ber er bie ganze Welt burchfurcht und zu ihrer Veredlung beadert, die 
Erfahrungen der Geſchichte benußt und der Deutfche jich noch im Hangen und Ban⸗ 
gen der Frage und der Beforgniß befindet, ob jein überirdifches Gemüth in der Ver⸗ 
mäblung mit der Welt der Berunreinigung entgehen Fünne. 

2) Urfprung der R. aud dem franzdfifgen Nationalcharakter. 
Hier ift e8 nun, wo wir in den Zufammenhang unferer Ausführung über den Bang 
der franzöflihen Geſchichte (1. d. Art. Frankreich) eintreten. Die Auflehnung der celto- 
romanifchen Race Frankreichs gegen ihre germano⸗fränkiſchen Herren, die ſchon ſeit der 
merovingiſchen Zeit datirt und in der Revolution ſeit 1789 die Geſtalt Frankreichs 
und zum Theil auch der ganzen Übrigen Welt verwandelte, iſt weiter nichts als der 
Berfuch jener Race, in die vermeintlihe Unfhuld, Freiheit und Reinheit ihres 
vorchriftlichen und vorgermanifchen Naturzuftanded zurüdzufehren. Diefer Naturzuftand 
war e8, der ihr in ihren mittelalterlichen Auffländen gegen die Feudalherrſchaft ale 
dad Ideal ihrer Wünſche und Beſtrebungen vorfchwebte, und als fie im achtzehnten 
Jahrhundert den Kehren ihrer Theoretifer von den natürlichen Rechten des Volkes 
mit Begeifterung laufchte, war es das Bild jenes ihres eigenen Naturzuflandes, was 
ihr das Philofophen » Ideal eines allein von den Megeln des Nuturrechtd geordneten 
Volksweſens, Indem fie demfelben jenes Bild fubftituirte, Tieb und werth machte. Ihre 
Könige verehrte und bewunderte die franzöflicde Nation, fo lange und fo weit fie (in 
der von und in dem zulegt angeführten Artikel geſchilderten Weile) die fränkifchen 
oder vom fränkischen Eroberergeifte befeelten Feudalherren der Souveränetät und ber 
centralifiten Staatsmacht unterwarfen. Wenn die Könige dagegen in biefem Kriege 
gegen das Frankenthum feierten, ward die Nation in ihrer Hingebung und Zuneigung‘ 
lau; der Bruch zwifchen beiden Seiten war aber entfchieden, fobald es fich zeigte, daß 
dem Königthum ſowohl die Macht wie die Luft dazu fehlte, den legten Streich gegen 
die Sranfen oder gegen die Erben des Erobererrechtes zu führen und mit der Sou⸗ 
veränetät Ernfl zu machen. Die Luft dazu fehlte aber den Königen, weil fe, jobald 
es der wirklichen Unterwerfung der Beudalberren unter die Souveränetät galt, von 
Dedauern und Mitleid ergriffen wurden und in dem Abel, auch nachdem fie ihn zur 
politiiyen Nullität beruntergebracht hatten, da® verwandte Erobererblut und das ihrem 
Rechte gleiche Erobererrecht anzugreifen Bedenken trugen. Aber auch die Macht feblte 
ihnen; denn um das Feudalweſen mit der Souveränetät audgleichen zu Eönnen, hätten 
fle dieſe befigen müflen. Aber diefelbe beſaßen fie nicht, wie fih am deutlichſten 
in dem föniglichen Meformverfuche von 1787 und 1788 zeigte, der nothwendig ſchei⸗ 
texte, weil er eine petitio principii war, nämlich vom Princip der Souveränetät aus⸗ 
ging, weldyes die Könige von Frankreich trog einer mehr als taufenpjährigen An« 
firengung noch nicht flabilirt hatten. Karl der Zehnte fagte in einer fpäteren Zeit 
öfters: „Man Eönnte alle Fürften des Haufes Bourbon in einem WMörfer zerflampfen, 
und man würde nicht ein Körnchen Despotidmus finden." Gr hatte feine Vorgänger 
verfienden, wenn er auch durch dieſes Verſtändniß ſich nicht warnen und auf den 
eigentlihden Sig des Uebeld aufmerfiam maden ließ. Alle dieſe feine Borgänger 
hatten nach der Souveränetät nur geftrebt, um ſich ber durchfchneidenden und oft ge- 
waltfamen Operationen, durch die fie gemonnen wird, überhoben zu ſehen, oder 
fih mit den Attributen der Souveränetät geſchmückt und die Genüffe derfelben erfchöpft, 
ohne die Neformen, die zu ihrer Sicherung nothmendig waren, gründlich in’6 
Werk zu ſetzen. Diefe Halbheit, mit welcher die franzöftfhen Könige dad Werk ber 
Souveränetät und der Gentralifation betrieben hatten, war nun hauptfädylich daran ſchuld, 
daß der mangelhafte Staatsorganismus von einer Menge flörender und bedeutungs⸗ 
los gewordener Reſte der alten Zeit durchzogen wurde, die, ihrer politifchen @eltung 
beraubt, gleichwohl Borrechte in Anſpruch nahmen und, flatt ber Krone und dem 


.- 


evolution. (Vorbereitung der R. im Ancien Mögime. 129 


Lande Dienfle zu leißen, vielmehr nur dazu beitrugen, den Naturinflinct der gallifchen 
Bevölkerung zu reizen und, fo zu fagen, zu enflammiren und die „guten Leute" — 
wie ſie der Pfarrer von Kuniz nennt — in ihren Ideen von Gleichheit, Freiheit und 


. Brüderlichleit zu beflärfen. Ueber diefe Widerſprüche, die ben frangöftichen Staats⸗ 


organismus des achtzehnten Jahrhunderts durchzogen, haben wir ſchon im Artikel 
Ancien Regime gehandelt. Wir führen, indem wir auf bie Quelle, aus der wir 
fyon in dem genannten Artikel fchöpften, wieder zurädgeben (wir meinen Tocque⸗ 
ville's Schrift) nur noch Folgendes an. 

3) Vorbereitung der Revolution im Ancien Regime, Im Lauf 
der Iegten Jahrhunderte war in den wirtbfchaftlicden Verhältnifien des franzäflfchen 
Adeld und Bürgertbums eine unaufbalifame Bewegung eingetreten, welche beide Stände 
dfonomilh, alfo au in ihrem geſellſchaftlichen Einfluß und als Arbeitögeber 
nicht nur zu einander in gleiches Niveau brachte, fondern auch das Bürgertbum im 
ſocialer Beziehung über den Adel erhob. „XTrog feiner Privilegien wird der Adel 
täglich ärmer und bedeutungdlofer und der dritte Stand bemädhtigt ſich aller Reich⸗ 
thümer*, fo Flagt ein Edelmann im Jahr 1755. „In diefem Steuerbezirk, fagt bes 
zeitd im Anfange des 18. Jahrhunderts ein Intendant, giebt es mehrere Taufende 
von adligen Bamilien, aber: darunter find kaum funfzehn, die Zwanzigtaufend Liores 
Renten hätten.” In einer Art von Bromemorja, welches ber Intendant von Franche⸗ 
Gomte 1750 feinem Nachfolger ‚übergab, heißt es unter Anderm: „Der Adel diefer 
Provinz iſt von ziemlih gutem Schrot, aber fehr arm und eben fo anmaßend als 


arm. Er iſt fehr berabgelommen im Verhältniß zu dem, was er ehemals war. Es 


iR keine üble Politik, ihn in dieſer Armuth zu laſſen, damit er gendthigt werde, zu 
und feine Zuflucht zu nehmen. Er bildet eine DBerbindung, in die nur folche Leute 
aufgenommen werden, die vier Ahnen aufweifen Eönnen. Die Verbindung, die nicht 
patentirt ift und nur geduldet wird, verfammelt ihre Mitglieder jährlih nur ein Mal 
und zwar in Gegenwart des Intendanten. Nach dem Efien und nachbem fie die Meſſe 
Alle zufammen gehört haben, kehren dieſe haben Herren nach Haufe zurüd, der Eine 
auf feiner Roflnante, der Andre zu Fuß. Das Komiſche diefer Berfammlung wird 
euch ergößen."“ Der Bürger, den fein Geſetz vor Armuth fügte und dem keines 
Reichthümer erwerben half, wurbe dem Edelmann auch darin gleich, daß er nicht nur 
umfangreiche Ländereien befaß, fondern auch herrſchaftliche Güter kaufte. Grziehung 
und Lebendweife hatten fodann beide Klafien noch ähnlicher gemacht. Der gebilbete 
Bürger beſaß dieſelben Kenntniffo wie der gebildete Adlige und beide Hatten biefe 
Kenntniffe aus derfelben Quelle, der frangöflfchen und englifhen Literatur und aus 
derfelben politifchen und religidfen Aufllärung geſchöpft. Auch darin waren beide 
Stände einander gleidy geworden, daß fie in der Stadt lebten und Paris als ihre 
wahre Heimath ober als das Paradies ihres Wünfche und ihres Ehrgeizes bes 
trachteten. Schon im Anfang des 17. Jahrhunderts beflagte ſich Heinrich IV., daß 
die Abligen das platte Land verließen; feine Nachfolger in demſelben Jahrhundert, 
die im Adel noch einen Gegenftand der Beforgniß für ihre Eönigliche Gewalt fahen, . 
fuchten zwar noch mehr, ald es ſchon die legten Valois gethan hatten, die Adligen 
vom Volk zu trennen und nach dem Hof unb in Aemter zu loden, wie 3. B. die 
Intendanten im Anfou, der nachberigen Bender, es als ein bedenkliche und verdädh- 
tiged Zeichen einer zu felbfifländigen Befinnung betrachteten, daß Pie Edelleute daſelbſt 
gern mit ihren Bauern verkehrten, flatt ihre Pflichten am Hofe des Königs zu erfüllen. 
Allein man darf dem unmittelbaren Einfluß der Könige und ihrer Minifier nicht aus⸗ 
ſchließlich zufchreiben, was die Folge der Gentralifation, der Aufhebung der commu- 
nalen Breiheiten und der Vernichtung der politifchen Rechte des Adels war. Als 
der Adel auf feinen Gütern die Serichtäharkeit verloren batte, ohne innerhalb der 
neuen Gentralifation umfaſſendere politiſche Rechte und eine neue politifhe Ver- 
wendung zu erhalten, war ibm das Landleben unerträglich geworden. In ber Mitte 
des 18. Jahrhunderts war feine Auswanderung nach der Stadt eine allgemeine That- 
fache geworden, fo daß die Kopffleuer, die am Orte bes wirklichen Aufenthalis erhoben 
wurde, für ben ſaͤmmtlichen hohen Abel und für einen Theil des mittleren in Paris 
regiſtrirt ward. Des Edelmann, beflen Sahreseinnahme unbebentend war, lebte zwar 
Wagener, Staats» u. Geſellſch⸗Lex. XVI. 9 


130 Rebolution. (Vorbereitung der R. im Ancien Regime.) 


noch auf dem Lande, aber er war den Bauern, feinen Nachbaren ein Fremder. Da 
er nicht mehr ihr Oberherr war, fo Hatte er auch Bein Intereffe mehr, wie ehemals fie 
mit Schonung zu behandeln, fle zu leiten und ihnen zu belfen, und ba er andererfeit® 
nicht gleichen Laſten unterworfen, vielmehr von den Staatsabgaben, die fle Teiften 
mußten, erimirt war, fo fonnte er an Ihrem Elend nicht Theil nehmen. Die Bauern 
waren nicht mehr feine Untertbanen, er war aber auch noch nicht ihr Mitbürger; er 
wohnte neben ihnen, fein Herz war aber dem Lande entfremdet und auch er Dachte. 
nur, während er auf feinem Lanbfig die Ihm gebührenden Gefälle einzog, an den Wins 
ter, den er in der nächflen Provinzialftadt verlieben würde. In England waren bie 
alten adligen Familien, bie gleichzeitig und gemeinfchaftli mit dem Bürgerthum ihr 
Vermoͤgen außerordentlich vermehrten, in Bezug auf Reichthum, Macht und Anſehen 
die Erſten geblieben, aber fte hatten auch den neuen Bamilien, die neben ihnen aufs 
fllegen und im Wettelfer mit ihnen mächtig wurden, die Schranfen der politifchen 
Wirkſamkeit offen gehalten. In Frankreich dagegen befand der Adel trog ber Verarmung, 
der er mitten in feiner Zreibeit von den bürgerliden Staatslaſten anheimflel, 
fireng von den andern Ständen abgefondert. Neben ihm, ohne ihn und gegen ihn 
bereichert. ſich und bildet fich der Bürgerfland, aber er denkt nicht daran, dieſen ald 
Mitbürger anzuerkennen und zu einem Verbündeten zu machen. Die Töniglihe Nacht 
hat ihn von der Sorge befreit, feine Lehnslente zu leiten, zu fchügen und zu unter 
flügen; aber er glaubt Nichts verloren zu haben, da ihm feine Ehren» und Geldpri⸗ 
vilegien gelaflen find. Seine herrſchaftliche Gerichtsbarkeit, die ihm feit langer Zeit 
allein noch einigen Einfluß auf die öffentliche Verwaltung erhalten hatte, war durch 
die Edniglihe Macht nad) und nach dermaßen befchränkt, verfürzt und verringert wor⸗ 
den, daß fie kaum noch als eine politische Macht angefehen werden konnte; aber er 
dachte nicht an diefen Verluft, da ihm der Meft feiner Gerichtöbarfeit noch als Quelle 
finanzieller Einkünfte geblieben war. Der Adelige, von der Verwaltung audgefchloffen 
mid ſich um Antheil an derfelben nicht Fümmernd, war nur eine Brivatperfon, 
wenn auch, falle er noch anfehnlichen Beſitz und reiche Befälle hatte, durch feine 
Rang "von Bürger und Bauer gefchieden; um fo empfindlicher waren bem Bauer, 
der ſelbſt laͤngſft Grundbefiper geworden war, die feubalififchen Gefälle, die er dem» 
jenigen, der nur der vornehmſte Einwohner feines Orts geworden war, noch zahlen 
mußte. Die Vorrechte des Adels, die nur noch finanziellen Werth und keine poli« 
tifhe Grundlage hatten, waren dem Bauer, den fie gleichwohl beim Erwerb oder 
Berlauf feines Bodens und bei der Verwerthung feiner Ernte drückten, unbegreiflidh 
geworden. Dffteiell und in notariellen Acten nannten bie Adeligen die Leute, bie fie 
noch zu lenken und zu leiten meinten und von denen fie nur Gefälle einzogen, ibre 
Unterthanen; in Wahrheit aber fragte Niemand mehr nad ihnen, fle fanden unter 
den Miteinwohnern ihres Orts fremb und allein da; die pecuntäre Beziehung war 
die einzige, die fle mit ihren früheren Leuten noch verband, und deſto drüdenver und 
läfliger war fle diefen geworden. Die Rückſicht auf eben diefen Adel nun, der, wie 
die ganze Monarchie, von dreißig urfprünglich bürgerlichen Intendanten regiert wurde 
und das Anerbieten einer Intendantfchaft als eine Beleidigung zurüdgewiefen hätte, 
war ed, was die Megierung abbielt, die Gentralifation gründlich durchzuführen und 
die Souveränetät vollfländig aufjurichten. Ste fürdhtete, daß der Adel, wenn fie eine 
Meform des Steuerweſens zur Sprache brachte, die Einberufung der Stände, zu ber 
fte fich nicht verſtehen wollte, verlangen würde. Aus dieſer Furcht entfprang jener 
raſtlos thätige Erfindungsgeiflt, der während der drei letzten Jahrhunderte vor ber 
Nevolution die Berwaltung des franzdflfchen Finanzweſens charakteriſirte und eine 
zugleih ſchwaächliche und rüdfihtslofe Souveränetät in Mißceredit brachte. 
Krongüter wurden verkauft und dann als unveräußerlih dem Käufer wieder abgenom⸗ 
men, Berträge nicht gehalten, gefeplih erworbene Mechte umgeftoßen, Staatögläubiger 
bei jeder Krife von den Staatskafſſen abgewiefen. Bald wurden Adelöbriefe wie eine 
Maare verfauft, bald wieder, wie Ludwig XIV. in einem Edict fagte, ald durch Lifl 
erfählichen, aufgehoben, damit die Reglerung für die Erneuerung derfelben neue Summen 
erhielte. Es kam nicht felten vor, daß Städte, Gemeinden, Hofpitäler gendthigt wurden, 
eingegangene Verpflichtungen unerfüllt zu laſſen, damit fie ber Regierung eine Anleihe 


Nevolution. (Vorbereitung der M. im Ancien Roͤgime.) 131 


machen Eönnten. Bügerlihe, die ablige Büter befaßen, waren von Alters ber mit 
einer befondern Steuer, die man droit de franc-fief nannte, belegt worden. Im 
14. Jahrhundert war dieſe Steuer gering und wurde nur innerhalb langer Zeiträume 
erboben; aber im 18. Jahrhundert, als dad Lehnömefen längft verfallen war, forderte 
man fie alle zwanzig Jahre ein, und fle war dem Einkommen eines vollen Jahres 
gleich. Der Sohn mußte fle außerdem entrichten, wenn er in das väterlihe Erbe 
eintrat. Diefe Steuer, die der Verbeflerung des Aderbaues bedeutende Hinderniffe in 
den Weg legte, diente zugleih dazu, die Sgeidemand zwiſchen dem adligen Grund⸗ 
beſiher und feinem bürgerlichen Nachbarn Immer Höher aufzuführen, während in Eng⸗ 
land die im 17. Jahrh. erfolgte Tilgung aller Kennzeichen, die daß adlige Freigut von den 
bürgerlichen Gütern unterfchieden, bie wechfelfeitige Annäherung beider Stände außer- 
ordentlich gefördert hat. Zulegt winfchte in Frankreich der Adel felbfi die Aufhebung 
jener Steuern, weil fle die Bürgerlihen Hinderten, feine Güter zu kaufen; aber die 
Bebürfniffe des Fiscus bewirften, daß man fie nicht nur beibehielt, fondern auch noch 
erhöhte. Diefelben finanziellen Bebürfniffe der Megierung erzeugten im 16. Jahrhun⸗ 
dert den Einfall, die mittelalterlichen Zünfte, Deifterrechte und die Geſchwornen der 
Zünfte, die Jurandes, zu einem Handelögegenflande zu machen, den die Megierung 
verfaufen konnte. Diefe Schdpfungen der bürgerlichen Moralität und Selbfiregierung 
wurden dadurch erfl zu drückenden Monopolen, welde Handel und Gewerbe einengten 
und die Empörung derjenigen, die fih von den Zünften audgefchloffen fahen oder 
von Ihren Monopolen abhängig wurden, bervorriefen. Mit jedem Jahre hörten neue 
Gewerbe auf, frei zu fein und murden alte Privilegien größer, und das zu einer Zeit, 
als die Kortfchritte der Geſellſchaft dieſe Monopole um fo unerträglicher machten. 
Der Oekonomiſt Letronne fagte 1775: „Der Staat hat induftrielle Gemeinden gegründet, 
nur Damit ihm daraus neue Hülfsquellen entfprängen, indem er bald Patente "ver- . 
Taufte, bald neue Aemter errichtete, welche jene Zünfte wiederum ſich erfaufen mußten. 
Das Edict von 1673 zog die letzten Folgerungen aus den Brundfägen Heinrich's III., 
(der das Uebel verbreitete, menn nicht erfchuf), als es alle Corporationen, Beftäti- 
gung&ßriefe gegen baare Zahlung zu kaufen, und alle Handwerksleute, die noch nicht 
Mitglieder einer Zunft waren, ſich einer folchen anzufchliegen zwang. Dieſes elende 
Geſchaft brachte dreihunderttaufend Kivres ein.” Diefem ewigen Mangel an Geld und 
dem Eniſchluß, daſſelbe nicht von den Ständen zu verlangen, verdankt endlich auch 
die Käuflichkeit der Aemter ihren Urfprung. Durch dieſe fidcalifhe Erfindung ward 
bie Eitelkeit des dritten Standes drei Jahrhunderte hindurch in Bewegung geſetzt und 
raſtlos nach Öffentlichen Aemtern gehetzt, bis endlich die allgemeine Jagd nach Stellen 
ala Leivenfchaft in'ß Herz der Nation eindrang und eine gemeinfame Quelle der Revo⸗ 
lution und der Knecdhifchaft wurde. In dem Maße, wie die finanzielle Berlegenbeit zu» 
nahm, ſah man auch neue Beamte entfliehen, die alle durch Befreiung von Steuern 
oder durch Privilegien befoldet wurden, und da bei biefem Handel nur die Ber 
bürfniffe der Staatskaffe, nicht diefenigen der Adminiſtration in Anſchlag kamen, 
hatte man bald eine unglaubliche Menge von unndthigen, fa fhädlichen Aem⸗ 
ten errihtet. Schon 1664, als Colbert die Suche unterfuhen Tieß, ergab 
es ſich, daß dieſes Eigentbum ein Capital von beinahe fünfhundert Millionen 
kivres ausmachte. Richelieu hob gegen Hunderttaufend Stellen auf. Sie kamen 
aber unter anderen Namen immer wieder zum Vorſchein. Gegen etwas Geld ent⸗ 
äußerte man fich des Rechts, feine eigene Agenten controliren zu dürfen. So ent- 
fand nah und nad eine abminifirative Mafchine, die fo zufammengefegt, fchwerfällig, 
unfruchtbar und weitſchweifig war, daß man fie gleihfam im Leeren und nur zum 
Scheine arbeiten und außerhalb derfelben einen Megierungsapparat bauen mußte, 
der einfacher und handlicher war, und mitteld deffen man thatſächlich Alles verrichtete, 
was jene Beamten zu thun fohlenen. — Diefe Doppeltheit des Beamtenthums, 
eines in moderner Weife vereinfachten und wirkſamen und eines meltläufigen und mit 
Brivilegien audgeflatteten, aber nur zum Schein arbeitenden oder hoͤchſtens den Gang 
der Staats maſchine erfchwerenden, ift dad treffende Symbol des Frankreich vor 1789: 
— oben ein Organ der Souveränetät und der Staatseinheit, unten dagegen ein ver- 
wirrter Knäuel von autonomen Eriflenzen, welche von der Regierungsmacht gefchaffen, 
9% 


132 Revolution. (Vorbereitung der A. im Ancien Roͤgime.) 


begünftigt ober tolerirt wurden und zur Körberung des Staatszwecks nichts beitrugen 
oder die Ausübung der Souveränetät geradezu binderten und flörten. Was dies 
autonome und unfrucdhtbare Beamtenthum im Verbältnig zur Souveränetät und Staats⸗ 
einbeit war, dad waren für diefelbe die bedeutungslos gewordenen und gleichwohl 
auf Autonomie Anſpruch machenden Provinzen, der aller politifchen Bedeutung ent» 
fleidete Adel und die privilegirten Zünfte, die durch den Großhandel und durch die 
Großinduftrie Tängft überholt waren. Kurz, oben eine Regierungsmafchine, bie, von 
einem &eneralcontroleur der Finanzen und von menigen Intendanten dirigirt, bie 
Geldkraͤfte ber fleuerbaren Untertbanen anfpannt und gleichwohl die Einheit der Sou⸗ 
veränetät nicht zu Stande bringen kann, da fle ganze Stände, wie die Geiftlichfeit 
und ben Abel, einerfeit von aller Theilnahme an den allgemeinen Intereflen aus» 


fließt, andererfeitd die Exemtion derfelben von der allgemeinen Steuerpflichtigkeit 


anerkennen muß und daneben noch Gorporationen in's Leben ruft, die fle wiederum 
mit Privilegien außftattet und zu einer Gigenliebe aufflachelt, die, einzig nur mit 
ihren eigenen Angelegendeiten und Intereffen beſchäftigt, das municipale Leben in den 
Städten vernichtet. Unterhalb der Region, wo die Regierung an der Herftellung ber 
Staatdeinheit arbeitete, gab e8 in Frankreich nur Individuen, — zwar collective 
Individuen, Eorporationen, die ſich wieder in Eleinere, gegen einander ſich ſchroff 
abjperrende Cirkel zerfplitterten. Bald aber werden alle diefe Kreife in einander fließen 
und nur noch eine homogene Maffe bilden. Die Schranken nämlich, die 
fie von einander trennen, die Mechte, die fle gegen einander vertbeibigen, 


die Privilegien, auf Die fie Alle eiferfüchtig halten, find ohne Unterfchieb 


bedeutungslos, da fie Fein politifhesd Anfehen geben und Niemand 
zur Iheilnabme an den allgemeinen Angelegenheiten berechtigen. ben dieſer 
unpolitifche Charakter der Klafien, fogenannten Stände, des gefellfaftlichen 
Ranges und der perfönlichen Eremtionen hatte zur Folge, daß alle die Scheibewände, 
welche eine gleich gebildete und in gleichem Maße politifh unberechtigte Geſellſchaft 
durchzogen, jedem Diefer von einander abgepferchten Kreife widerwärtig und verhaßt 
wurden, und daß Alle bereit waren, ihr eigened Vorrecht aufzugeben, wenn Keiner 
etwas Befonderes befäße und Niemand Über das allgemeine Niveau bervorragte. Der 
Kampf gegen die Vorrechte, die Herflellung der gefelffchaftlichen Einheit und die Um⸗ 
wanblung des collectiven Individualismus in den rein perfänlicdyen iſt e8 nun, was 
den Inhalt der franzöftfchen Geſchichte während des 18. Jahrhunderts bildet. Die 
Phaſen dieſes Kampfes und die Männer, die ihn führen, von DBoltaire bis auf 
Rouffeau und Ludwig XVI., find in einzelnen Artikeln dargeftelli. Hier bemerfen wir 
nur, daß der Kampf durch zwei Perioden hindurch geht, weldye durch das Jahr 
1750 von einander gefchieden werben. In der erfleren richtet er fich gegen die Kirche, 
beren Dogmen und fländifchen Charakter, in der zweiten gegen die Grundfäße der 
Staatöverwaltung. Im Artikel Iefniten haben wir bereit ausführlich erflärt, wie 
die Berurtheilung und Unterbrüdung des Janſenismus durch die vereinten Anftren- 
gungen des Papſtthums und des franzöflfhen Königthums die weltliche Aufklärung 
in Frankreich bervorrief. Außerdem machte fich, da die Befprehung und Beurtbeilung 
der politifhen Verwaltung noch fireng verboten war, die in der ganzen Geſellſchaft 
erwachte Neigung zur Kritit auf dem Gebiete der kirchlichen Inflitutionen und Dogmen 
Luft. Endliy war ed nicht nur der fländifche Charakter der Kirche, fondern vor 
Allem ihre Verbindung mit dem Adelsſtand, wonach fie endlich nur zu einer Domäne 
für die Berforgung von deſſen jüngeren Söhnen wurde, was bie Laien zur Prüfung 
reizte und ihre Entfrembung von der Kirche vorbereitete. Was man gemöhnlich bie 
Immoralität der höheren katholiſchen Geiftlichkeit im 18. Jahrhundert nennt, war im 
Grunde nichts als der Leichtfinn und die profane Sicherheit, mit welchen die jüngeren 
Söhne des Adels die Bisthümer, Abteien und reichen Pfründen ale ihr Tegitimes 
Eigenthum betrachteten und als eine bloße @innahmequelle behandelten. Die Bere 
weltligung der Kirche war im völligen Widerfpruch mit den Srundfägen, bie ihre 
Berwaltung von dem weltlichen und politifchen Prieſterthum der alten heidniſchen 
Welt unterfchieben, fo weit gegangen, daß Bisthümer und Abteien als das Erbgut 
gewifier adliger Familien galten. In ber zweiten Hälfte des 18. Jahrhunberis wirkten 


ft 


Hevolution. (Vorbereitung der R. im Ancten Roͤgime.) 13 


ſchon Regierung und ſchriftſtelleriſche Kritik zuſammen; jene vollzog in ihren Maß⸗ 
regeln zur Einengung der katholiſchen Geiſtlichkeit und in dem Schlag, den ſie gegen 
die Jeſuiten (f. d. Art.) ausführte, gleichſam die Dietate Voltaire's, des Meprä- 
fentanten der antikirchlichen Skepſis der erſten Hälfte des Jahrhunderts, während 
Rouſſeau (ſ. d. Art.) auf dem Gebiete der politiſchen Kritik an die Spige trat, 
Helvetius den reinen Individualismus tHeoretifch begründete und Buffon und Lavoiſter 
auf dem Felde der Naturmijlenihaften die Führung übernahmen. Die Theilnahme, 
welche felbft die Naturforfhung in allen Kreifen der Befellfhaft fand, bewies 
fhon eine allgemein foclale Revolution und den Ball der Schranfen, welche bi8- 
Her die Klaffen und Stände getrennt hatten. Die Borlefungen der Chemiker, 
Geologen, Mineralogen und Phyflologen wurden auch von den Mitgliedern ber oberen 
Schichten der Gefellfchaft beiucht. Die Hallen und Amphitheater, in denen bie neugefunde- 
nen Geſetze der Natur erklärt wurden, Eonnten ihre Zubörer nicht faffen und mußten erwel- 
tert werden. Selbſt vornehme Frauen eilten zu den Erörterungen Über die Zufammenfegung 
eines Minerals, über die Entdedung eines neuen Salzes, über die Structur der Pflanzen, 
über die Organifation der Thiere, über die Eigenfchaften des elektriichen Fluidums. 
In der Halle der Wiffenfchaft verſchwanden zu den Fuüßen des Lehrers und Entdeders 
die Unterfhiede des Manges und des vornehmen Lebens. In feinem Eloge über 
Descartes rief Thomas aus: „O Vorurtheile! o Lächerlicher Stolz der Rangſtufen!“ 
Ebenſo fagt Graf Segur in feinen Memoiren von ſich und feinen abligen Kameraden 
von 1789: „Wir zogen ein lobendes Wort von v’Alembert, von Divderot der aus⸗ 
gezeichneten Gunſt eined Prinzen vor.” Um dieſelbe Zeit ging auch in der Klel« 
dung eine wichtige Aenderung vor fih, und zeigte ſich eine entſchiedene Verachtung 
des äußerlichen Scheind, der bis dahin für eine höchſt wichtige Angelegenheit gegolten 
hatte. Im 17. Jahrhundert konnte man den Hang einer Perfon unmittelbar an ihrer 
Erjcheinung erkennen, da Niemand e8 wagte, einen Anzug zu ufurpiren, wie er von 
der Klaffe über ihm getragen wurde. Jetzt dagegen, als die verfchiedenen Klaſſen ſich 
in der Verehrung der Wiffenfchaft und der Geiftesgaben begegneten und zufammen« 
fanden, wurde eine verächtlihe Vernachlaͤſſigung nicht nur jener Unterfchiede der Klei- 
dung, fondern auch des Glanzes, der Genauigkeit und Zierlichkeit allgemein. In 
@efellfyaften war dad habil habille faft verbannt und kamen die Männer im ges 
wöhnlihen Brad und die Frauen in ihren gewöhnlichen Morgenkleidern. Nur am 
Hofe erhielt ſich noch die alte Kormalität. „Männer vom höoͤchſten Hang und ſelbſt 
von reifem Alter,” fagt ber Prin, von WMontbarey in feinen Memoiren, „Männer, die 
ihr Leben lang dahin gearbeitet hatten, um die Orden des Königs ald Zeichen der 
hoͤchſten Gunſt zu erhalten, verbargen biefelben unter dem einfaflen Brad, der Ihnen 
erlaubte, zu Fuß dur die Straßen zu laufen und ſich in der. Menge zu verlieren.” 
Derfelbe Montbarey weiſt darauf bin, daß um die Mitte der Megierung Ludwig's XV. 
die Zahl der Mesalliancen häufig zu werden anfingen. Erwaͤhnenswerth ift auch, 
was Baroneß von Oberlirh in ihren Memoiren bei Gelegenheit ihres Beſuchs von 
Paris im Jahr 1784 bemerkt, daß „um dieſe Zeit die Männer anfingen, ohne Waffen 
auszugehen und nur im vollen Staat Degen trugen, und daß der franzöfifche Adel 
fo einen Gebrauch abfchaffte, den das Beifpiel ihrer Vorfahren Jahrhunderte hindurch 
gebeiligt Hatte." Auf diefe Einbrüche in das biäherige ariftokratifhe Vorrecht folgte 
dann endlid auch die Einführung eines Inftituts, welches für die neue gemifchte Ge⸗ 
ſellſchaft paßte, nämlich die Errichtung von Elubd, in denen alle gebildeten Männer, 
ohne Rüdjicht auf die Unterfchiede, durch die ſte in früherer Zeit auseinander gehal⸗ 
ten wurden, zufammenfamen. Die erſten Parifer Clubs wurden 1782 geftiftet. 
Außerdem daß diejelben die Sitten der oberen Klaffen vereinfachten und das 
Geremoniel, wie es zu den früheren Sitten paßte, fchwädten, Hatten ſte 
auch eine Trennung der Geſchlechter zur Folge und bereiteten fle jene männliche 
Rauhigkeit der Männer hervor, die in der bald darauf ausbrechenden R. zur Bes 
ſchleunigung des Ganges derfelben bedeutend beitrug. Schon im Jahre 1784 Hatten 
diefe Clubs, in denen ſich angefehene Mitglieder des Adels und des hohen Bürger- 
tbums mit namhaften Künfllern und Literatoren zufammenfanden, einen politifchen, 
ſpeciell demokratifchen Eharafter angenommen. Dan fprach fi in ihnen ohne Rück⸗ 


134 Revolution. (Vorbereitung der R. im Ancien Regime.) 


halt über die Wenfchenrechte, über die Vorzüge der Freiheit und über die Mißbräuche 
der Standesungleichheiten au. Der Hauptelub, club de salon, wurde zwar 1787 
durch die Regierung geſchloſſen; doch äußerte fi das Mißvergnügen über diefe Rap- 
regel fo lebhaft, Daß der Befehl von der Regierung wieder zurüdgenommen wurbe. 
Aehnlich wie der Ariftofratie war es im Laufe diefer Ausgleichung der gefellfchaft« 
lichen Unterfchiede dem Königthum gegangen. Wie nämlich jene den meiftend nur 
dilettantifchen Schrififtellern, die ihre aus der Natur und Vernunft gefchöpften Grund⸗ 
fäge an die Stelle der politifchen Vorrechte fegten, beiflelen, fo nahm man am Hofe 
an dem tändelnden Naturcultus Theil, welchen eine idylliſche Poeſie und Lebensanſicht 
in der ganzen Nation verbreitet hatte (flehe darüber die Artikel Ludwig XV. und 
Ludwig XVL). Die unfchuldigen Triebe der Natur murden von der fchönen Literatur 
befungen und am Hofe gefeiert; bie Theoretifer holten aus der Natur die Gefege der 
Geſellſchaft, die Marimen der privaten Rebendmeidheit und Die ewigen Normen der 
Menfchheit überhaupt; die Phyſtokraten gründeten auf die Natur das Gebäude der 
gefammten Volkswirtschaft. Die ganze gebildete Geſellſchaft (unter diefem Titel war 
naͤmlich Alles vom Hofe bis auf die Elubs und bis auf die einzelnen Denker und 
Belletriften in eine gleiche und ununterfchiedene Maſſe zufammengefloflen) formte in 
diefer Weife die Grundfäge, die dem Naturherzen des Volks in feiner Empörung ge⸗ 
gen Ungleicgheiten, deren Sinn und Hecht es nicht begreifen fonnte, da fie in der 
That Feine politifche Bedeutung mehr hatten, zu Hülfe famen und im Laufe der R. 
als unmwiderfprechliche Dogmen galten. Das fprechendfte Zeugniß für den Umfang, 
Diefer Auflöfung und Empdrung find die fogenannten Cahiers der drei Stände, 
d. h. die fpecificitten Vollmachten, melde die Wahlförper 1789 den von ihnen zu 
den Generalftänden gewählten Deputirten übergaben. MUeberblidt man nämlich, wie 
in diefen Vollmachten bier die Abfchaffung eined Geſetzes, dort eines herkömmlichen 
Rechts verlangt wird, und faßt man endlich alle diefe vereinzelten Wünfche zufammen, 
fo bemerkt man endlich zum Schluß, dap die Summe der Wähler eigentlich die gleich. 
zeitige und foflematiiche Aufhebung aller im Lande beſtehenden Gebraͤuche verlangt. 
Der unpolitifche Charakter des Adels und jene Verweltlichung der Kirche, die nicht 
fowohl durch ihren fländifchen Charakter, ald durch die bürgerlich und finanziell ge⸗ 
winnbringenden Folgen deffelben, in denen er ſich allein noch barftellte, herbeige⸗ 
führt murde — Beides beförderte die Kataftrophe, in welcher wirklich diefe Summe 
gezogen wurde. Keiner der beiden erſten Stände Eonnte diefe gefährliche und 
endlich zerfiörende Entwidelung aufhalten, — Feiner von beiden befaß das Ders 
trauen der Nation, noch die eigene Kraft dazu, um ſich zu einem Mittelpunft 
für corporative und erhaltende Elemente zu machen. Cine Anzahl wohlmeinender und 
gebildeter Mitglieder des Adels hegte zwar in der Nutionalverfammlung, als diefe im 
Yuni 1789 aus den Oeneralftänden hervorgegangen war, den Plan, der demofratifchen 
Bertretung des dritten Standes ein ariftofratifches Oberhaus entgegenzufegen. Aber 
zu diefer Rändifchen Gliederung der Nationalvertretung fehlte eben in den Landgemein- 
den, Städten und Provinzen die entfprechende fändiiche Brundlage und ihrem Bor- 
baben fand der unüberwindliche Argwohn der Bürger und Bauern entgegen, daß ein 
ariftofratifches Oberhaud es fich zur Aufgabe machen würde, eben jene oben befchrie- 
benen Schranken, über die fi Jedermann Argerte und empörte, nur von Neuem zu 
befeſtigen. Eine Heform oder, wie man ed auch nennt, eine Evolution des Des 
ftehenden war unmöglich. In der Erſchütterung, welche England erfuhr, als es zur Zeit 
Grommell’8 der Eroberung und Behauptung der Glaubend- und Bekenntnißfreiheit 
gegen die Stuarts galt, blieb die Gemeindeverfaffung der Städte unverfehrt und aus 
ihr erhob fih die Macht des Oberhauſes fehr bald wieder zu einer Höhe, die fle bis 
dahin noch nicht erreicht Hatte. Ebenfo Hatten die Unabhängigkeitserklärung der nord⸗ 
amerikaniſchen Colonieen und der mit ihr verbundene Krieg nur den Zweck, dem aus 
England flammenden Recht der Selbfiverwaltung der Gemeinden die Gonfequenz oder 
Evolution der Selbfibefteuerung zu erobern. In Frankreich Dagegen waren die Ge⸗ 
meinden feit zu langer Zeit fhon und zu gründlih aus ihrem Zufammenhang 
mit der Politik und mit dem Geſammtſtaat abgelöft worven, als daß fie zu 
einer Meorganifation des Staats hätten benugt werden können. Ste waren Schladen 


Revolution. (Berlauf der franzoſiſchen R.) 135 


geworden und fonnten nur zufammengeworfen und zerrieben werden. Ueber ihnen 
war nur eine centralifizte, einfame und Alles regelnde Gewalt möglih. Das Ideal 
diefer allmächtigen Gewalt hatte ſchon den politifcyen Aufklärern, die der Revolution 
vorangingen, vorgeſchwebt. Roufſeau's PhHantafleen endigen mit dem Bilde eines 
Despotismus, der die Gewiflensfreiheit verbietet. Das „Syflem der Natur”, dieſer 
Eoder des Materialiomus, macht den Menfchen zum Sclaven des Abgottes, den «6 
aus der Natur bildet. Die Ponflofraten, welche für die Geſellſchaft im Gebiet des 
‚Erwerbs, Verkehrs und Handeld die unbefchränkte Freiheit fordern, find Gegner aller 
"politifchen Bwifchengemalten, "verachten die früheren ſtaͤndiſchen Gegengewichte und for- 
dern eine ganz neue, große und flarfe Regierung, die ihre Infpirationen unmittelbar 
aus der Natur und weſentlichen Ordnung der Dinge fhöpft und jeden Einzelwillen 
unter bie Geſetze der Vernunft beugt. Letronne, der Anhänger Queſnay's (ſ. d. 
Art.), Sagt in diefer Beziehung: „Frankreich befindet fi in einer bei Weitem vor 
theilhafteren Stellung, ald England; denn bei und fann men mit einem Schlage 
Meformen ausführen, die den Zufland des ganzen Landes ändern, während dergleichen 
Reformen bei den Engländern durch die verfchiedenen Varteien immer gehindert wer» 
den können.“ „Die Staatögewali”, fagt Mercier de la Niviere, „muß nad) den Re⸗ 
geln ber wefentlichen Drdnung regieren; thut fie ed, fo muß fie unüberwindlich und 
allmächtig bleiben.” „Der Staat”, fagte der derfelben Schule angehörige Bodeau, 
„macht aus den Menſchen, was er will.“ 

4) Berlauf der franz. R. Ludwig XVI fcheiterte, mie wir in dem Art. 
Frankreich ausführlich gefchildert haben, mit feinem Verſuch, die Idee der Phyſto⸗ 
fraten audzuführen, die Reſte der Zmifchengewalten durch konigliche Inflitute vollends 
zu befeitigen und den aufgeflärten Despotismug aufzurichten. Seiner Eönigliden R. 
der Jahre 1787 und 1788 fland einerfeitö Die populäre Aufregung entgegen, die in 
den Ständen und Parlamenten zu guter Legt noch einmal die Wahrzeichen einer alten 
Freiheit erblidte und fle nicht ohne Weiteres der Gentralifation der Regierung geopfert 
wiflen wollte, andererfeit das Miftrauen, daß der Eentralifationsverfuh doch nicht 
ernflhaft gemeint fein mochte und der neue föniglie Abfolutismus mit den bloßen 
Schattenbüldern der alten Freiheit auf Koſten der bürgerlichen Befellfchaft einen Private 
frieden fohließen würde. Diejes Mißtrauen war e8 hauptfächlih, was in den Bera- 
thungen ber Nationalverfammlung, die aus den am 5. Mai 1789 zu Berfailles zu- 
jammengetretenen Generalftänden bervorging und am 30. Septbr. 1791 zu Paris ihr 
Werk vollendete, die Mißgeburt der neuen Gonftitution erzeugte. Die Trennung der 
esecutiven und gefeggebenden Gewalt, welche diefe Gonftitution zum Schuß gegen 
Uebergriffe der koͤniglichen Regierung anorbnete, widerſprach vurchaus demjenigen, was 
die Nation und ihre Theoretiker in den vorhergehenden Jahrzehnten gewollt hatten 
und jebt, durch die Schranfe, weldye ihrem Verlangen die Verfaſſung entgegengefteltt 
hatte, gereist, nur noch heftiger begehrten. Einheit der Gewalt, Einheit der Regie⸗ 
sung, eine allmäcdytige und allweife Megierung, — dad war das Ideal ber Nation 
(und auch des Königs) geweien. Und jegt faben ſich die Neuerer, weil fle Die Weis⸗ 
beit ſich allein vorbehalten und zunächſt gegen die Einmifchung der Regierung ficher 
geftellt Hatten, der Macht und des Einfluffes auf die Megierung beraubt, während ber 
König feine Executive ald ein bloßes Schattenbild erfannie, weil er nicht mehr felbft 
entſcheiden und beichließen konnte. Gefeſſelt Durch ihre eigenen Beichlüfle mußte es 
daher die Nationalverfammlung dulden, daß ihr eigner Mifgriff von zwei Parteien 
außerhalb ihres Umkreiſes bekämpft und corrigirt wurbe — von den auögewanderten 
Adligen und Beiftlichen, die ſich an der Grenze des Landes fammelten und das alte 
Frankreich darflellten, und von den Affociationen der Jakobiner (f. d. Art.), bie 
über dad ganze Inland Ihr Neg verbreiteten und das neue Frankreich fhaffen wollten. 
Beide wollten daſſelbe — Einheit der Regierung und Ausfüllung der Kluft, melde 
durch die GKonftitution zmifchen der gefeßgebenden und erecutiven Gewalt befefligt war. 
Der Kampf beider Parteien Fam in der legislativen Verfammlung, die am 1. Dctbr., 
1791 die confituirende ablöfte, um am 21. Septbr. 1792 dem Gonvent Plag zu 
machen, zur Entfcheidung. Noch war dem König. das fuspenflive Veto (f. d. Art.) 
geblieben; als er aber von demſelben Bebraud machen wollte und den Beſchlüfſen der 


wen. - 


136 Nevolntion. (Berlauf der feanzöfligen 9.) 


Legislative vom 9. und 29. Novbr. 1791 gegen die außgewanderten Adligen und 
gegen die Priefter, die den Eid auf die Verfaſſung verweigerten, feine Santtion ver» 


fagte, fo war der Bruch da, der zum Sturz des Königthums am 10. Auguft 1792 


führte. Auf die Kämpfe des Gonvents und feiner beiden Parteien, der Giron⸗ 
biften (f. d. Urt.) und des Bergs, werden wie im Art. Mobespierre 
zurücdtommen. Hier bemerken wir nur, daß ihr Zweck gleichfalld die Con⸗ 
centration „ber Souveränetät und die Sicherfiellung der Einheit der Regierung 
war. Darum rang der Convent, während er die National Unabhängigkeit 
gegen die fremden Armeen an den Grenzen und im Innern des Landes die Gleichheit 
gegen die legten Regungen der früheren Stände vertheidigte, mit fi felbfl. Sein 
Sieg beftand in feiner Nullification (mie er denn auch die von ihm verfertigte demo» 
kratiſche Gonflitution vor ihrer Einführung fuspendirte) und in der Goncentration 
der Megierungsgewalt und der legidlativen Initiative in feinen Ausfchäflen, beſonders 
in dem der öffentlihen Wohlfahrt. Das Mittel zur Erzwingung dieſes Siege war 
der Schreden (f: d. Art. Terrorismus), d. h. die Androhung des Todes gegen Jeden, 
der an das Recht und an die Zukunft des Gemeinweſens nicht glauben, der Weisheit 
und Macht der in den Ausfchüffen concentrirten Negierung nicht vertrauen und bie Gleich⸗ 
beit Aller durch Pläne und Abſichten, die auf die Wiederberftellung des Ancien 
Roͤgime hinausgingen, unterbrechen wollte. In der Natur dieſer Schreckensregierung 
lag e8, daß fie in Ihrem Triumph ihr Ende finden mußte. Der Gehorfam, mit 
welchem Ihre Opfer zum Tode gingen und ihr Haupt der Quillotine darboten, mar 
zwar ein Zeichen ded Erfolge der Regierung, aber auch eine perennirende Gefahr für 
fie ſelbſt. Je gleichgültiger die Leute gegen den Tod wurden, deflo fählger waren 
fle dann auch dazu, ihr Leben für Verfhmdrungen und Unternehmungen gegen bie 
Negierung preidzugeben. Diefe mußte daher, um das Mittel ihrer Herrſchaft ſich nicht 
abnugen zu laſſen, die Schreden ded Todes fortwährend fleigern und die Zahl der 
Opfer von Tag zu Tag vermehren. Eben diefe Steigerung des Schredens fleigerte 
aber au die Sleichgültigfeit der Leute dagegen und die Negierung befand fich auf 
der hoͤchſten Stufe ihrer Macht eben fo bedroht wie Anfangs, wenn nicht eben der 
hoͤchſte Brad des Schredens diefen, gegenüber der allgemeinen Verachtung des Lebens 
und dem auf's Höcfte getriebenen Verlangen aller Bedrohten nad Rache, endlich 
völlig werthlos und machtlos machte. Diefe Krifls des Schreddensfyftems fiel mit dem 
Sewinn der Schlacht bei Fleurus (am 26. Juni 1794) und der darauf erfolgenden 
Räumung der Niederlande durch die Deflerreicher zufammen. Diefer ausmwärtige Erfolg 
machte der gewaltfamen Spannung Frankreichs gegen das Ausland ein Ende und 
gab denjenigen, die Hobespierre mit einer neuen Steigerung des Schredens zum Behuf 
der definitiven Reinigung des Conventd und mit der offenen Proclamirung feiner 
Dietatur bedrohte, den Muth, ihre Todedverahtung im Aufftand gegen ihn zu be= 
währen. Einen Monat nad dem Tage von Fleurus fam der 9. Thermidor, der 
NRobeöpierre flürzte. Die Xeidenfchaft, mit welcher das franzöflfche Volk den Schreden 
in den erflen blutigen Auftritten nad dem 14. Juli 1789 und in den September- 
tagen von 1792 ſelbſt ausgeübt, und die Hingebung und Geduld, mit der ed ihn nach» 
ber in der Hand der Gonventöregierung als ein nothwendiges revolutionäres Mittel 
ertragen hatte, zeigen und die richtige Ergänzung und Gonfequenz der Naturgüte, 
weldhe die Nation in ihrem erflen Enthuflasmus für die Gleichheit und in dem Aufe 
fand gegen die berrfchenden und nicht mehr Dienenden Stände an den Tag gelegt 
hatte. Die Nation bewies ſich In diefen Auftritten ſeit der Abfchlachtung de Lau- 
nay's, des Vertheidigers der Baftille (flebe dieſen Artikel) und Foulon’s 
(flehe dieſen Artikel) bis zu den Schreddensfeenen von 1793 und 1794 wirklich als 
ein Naturvolf. Die Leidenfchaft, mit der fih das natürliche Gerz für die Ideale 
der Bleichheit und Brüderlichkeit entflammt, iſt auch die Geburtöflätte für die Mafereten 
der Wuth und Rache gegen Alles, was der augenblidlichen Verwirklichung jener Ideale 
im Wege ſteht. Wegen der Graufamkeit, welche die revolutionirten Franzoſen gegen 
ihre Heimifchen Begner übten, Fönnen mir fle auch Kinder nennen. Das Kind, der 
Knabe find graufam, aufbraufend und rückſichtslos; das Gemüth, weldes fi über 
Die Bitterkeit der Schultendenz erhebt und fi mit dem Widerfacher gütig verfländigt 


u nn: 0 m u. 


Revolution. (Verlauf der franzoͤſiſchen R.) . 1897 


und dem Laufe der Welt auch feine Freiheit vergönnt, iſt In Ihnen noch nicht erwacht. 
Daß Kinderweien der Sranzofen der R. drückte fi aud in ihren Fofettirenden Auf- 
zügen, im Bomp ihrer Adreffen und Proclamationen und in ihren afademifchen Mede- 
übungen aus; dieſer Kindernatur huldigte 3. B. auch Bonaparte mit der Schwulfl 
feiner Schlachtbülletins und bringt auch der jegige Napoleonide ab und zu mit Publi⸗ 
eationen, die anderwärts nur den Werth von Schulauffägen haben würden, fein Opfer. 
Mit der Sucht der modernen Franzoſen, die weiter nichts als die Fünftlich und gemalt- 
fam wieberhergeftellten alten Naturgallier find, nach der reinen Natürlichkeit hängt es 
zufanmen, daß fie aus dem Erperimentiren nicht berausfommen, mit ihrer Kinder- 
und Knabennatur, daß fle aus ihren Experimenten Feine Erfahrungen ziehen 
und, wenn fle foeben erſt eine neue DBerfaffung aufgeftellt Haben, das Ding fogleidh 
fatt haben und, mie e8 wilde Naturnälfer mit Kunfterzeugniffen machen, zerbrechen 
möchten. So if es ihnen mit allen ihren DVerfaflungen von der Directorialverfaffung 
an, welche der Convent nad) dem Sturz der Schredensregierung entwarf, bis zu der 
Gharte Ludwig's XVIL und der zur Wahrheit gewordenen Charte Ludwig Philipp’s 
gegangen. Gewalt, Schlaudeit und Lift waren von Seiten der Megierungen immer 
nöthig geweſen, um diefe Berfaflungen gegen die Mehrheit der Nation, melde die- 
felben immer nur gegen bie» Erecutivgemwalt benugen und dann mit der Regierung 
zugleih zertrümmern wollte, notbhdürftig für einen Augenblid aufrecht zu erhalten. 
Sp Fonnte fene Directorialverfaflung, welche die vollziehende Gewalt einem Directo» 
rium von fünf Männern und die gefeggebende einem Math der 500 und einer Art 
von Senat übertrug, nur durch einen Staatöftreich, welcher den Convent bevollmäch« 
tigte, Die neuen gefeßgebenden Räthe zu zwei Dritteln aus feiner eigenen Mitte zu 
Hilden, und nur ein Drittel der Volkswahl überließ, eingeführt und durch die Kanonen, 
mit denen Bonaparte den Aufftand der ropaliflifchen Sectionen von Paris am 13. 
Vendemiaire (4. October 1795) nieberfchmetterte, zur Geltung gebracht werden. Der 
Staatöflreih vom 18. Bructidor (A. September 1797), durch welchen Directorium, 
Rath der Alten und gefeßgebender Körper gereinigt, die mißliebigen Journale unter» 
drüdt und die des Royalismus Verdächtigen zur Deportation nach Cayenne verurtheilt 
wurden, war das Mufter aller folgenden Staatsſtreiche, vom 18. Brumaire an bis 
zum 2. December. Conftitutionelle Trennung der Gewalten und terroriftifche Auf⸗ 
richtung und Behauptung ber Souveränetät find die beiden Extreme, zwifchen denen 
fi die Nation, ohne zur Ruhe zu kommen, feit 1789 bis jegt bewegt bat. (Vergl. 
den Art. Stantöftreihe.) Nur Eurz, da die Friegerifchen und propaganbiftifchen Be⸗ 
ziehungen des revolutionären Frankreichs zum Ausland in einer großen Reihe von 
Specialartifeln dargeftellt find, erwähnen wir noch diefe Beziehungen, fo weit fle uns 
Belegenheit geben, in ihnen die Neußerung jener Naturgüte des franzöflfchen Herzens 
und die vollfommen naturgemäße Ausartung derfelben in Herzenshaärtigkeit nachzu⸗ 
weifen. Die Nothwehr macht den revolutionären Zranzofen in feiner Politik univerfell. 
Die Rückſicht auf feine Sicherheit zwingt ihn, den Gegenjag, den die corporativ 
und fländifch gegliederten Staaten gegen feinen Gleichheitsſtaat bilden, aufzugleichen. 
Auf die Dauer feines Staat? kann er erſt rechnen, wenn die anderen Staaten nad 
feinem Vorbild umgeformt find. Neben dem Calcül der Politik treibt ihn zu feiner 
Propaganda aber auch etwas Generdjed, die Sympathie für die Welt, fein Wunſch, 
die Welt glüdlih zu machen. Und womit bat es die Welt verdient, daß er ſich für 
ihre Freiheit todtfchlagen laſſen und aufopfern will? Durch ihr Unglück! Sie iſt 
leidend, Trank, und damit fie nicht unter der Laſt der Linfreiheit und Ungerechtigkeit 
erliegt, eilt er zu ihrem Beiftand herbei. Er ift der Mann des ‚Devouementd, des 
Princips, des Pflichtgefühls. Freilich ging e8 dem Branzofen mit dem Krieg wie mit dem 
Schrecken. Um den allgemeinen Weltfrieden zu fliften, mußte er (vergl. den Art. 
über Napoleon I, den Gopiften und MUebertreiber der auswärtigen Politit des 
Direetoriumd) die Schreden des Kriegs ohne Unterlaß fleigern und denfelben perma⸗ 
nent machen, durch weldye Herzenshärtigfeit und verwilderte Politit ex jene Gleichgül⸗ 
tigkeit gegen dad Leben und jenes Einverflännnig in allen von ihm Bedrohten er- 
zeugte, die ihm die Waffen des Kriegd entwanden. — Schon öfter haben wir in frü- 
beren Artikeln darauf hingewieſen, daß gegenwärtig nicht mehr ber Branzofe, fonbern 


138 Rewbel (Sean Baptifte). Rex. 


der Engländer der Mevolutionär der Welt if, Der Franzoſe mit feiner Sucht nad 
der Gentralifation hat ſich nicht einmal zur Entfeffelung der Welt flarf genug erwie- 
fen; er bat die Einheit immer fogleih auf die Individuen und deren mafjenhaften 
Haufen aufgefegt, ohne ihnen die Breibeit zu vergönnen, fi in Localkreifen um 
ihre eignen Intereffen zu gruppiren; feine Staatdeinheit, die unmittelbar auf den In« 
dividuen, aber auf erbrüdten Individuen ruhte, war daher immer auf Sand gebaut. 
Der Engländer Hat dagegen feit der Crommell’fchen Periode, fodann nad dem defini⸗ 
tiven Sturz der Stuartd und dann befonderd unter dem Briedensregiment Walpole's 
die weltlichen Kreife der Haus⸗ und Gemeinbewirtbfchaft, der Gewerbe und des Hans 
del& ihrer eignen Organifation überlaffen und, indem er diefe weltliche Revolution bis 
zur neueren Wabhlreform und Einführung der Handeldfreiheit fortfegte, den Staat 
(fiehe darüber den Artikel Reaction) von einer Menge weltliher Sorgen befreit 
und mit Hülfe dieſes einfachen Kunſtgriffs die mächtigfte, auf das Ideale gerichtete 
Regierung gefchaffen, die es bis feßt gegeben bat. Wellington bat auf feinem lang⸗ 
jährigen und gründlich wirkenden Siegedzuge von Indien aus, über Spanien hinweg, 
nach Waterloo den unfähigen Branzofen die Revolution entriffen und fie ald Sieges⸗ 
beute nach Haufe gebracht. Was man feitdem die revolutionäre Propaganda Englands 
nennt und auf dem Feſtland als ſolche zu beflagen pflegt, ift weiter Nichts als bie 
Gonfequenz der Stellung, zu der ſich diefes Land als erfle Weltmacht (eben mit Hülfe 
jene8 einfachen Kunftgriffs) aufgefhmwungen Bat. In allen Welttheilen im Beſitz ber 
wichtigſten Poſitlonen und Hreiheit der Arbeit und des Handeld und Selbfiregierung 
verbreitend, muß es, um feine Stellung zu vertheidigen, Die dazmifchen liegenden, im 
Bergleih mit ihm (etma Rußland ausgenommen) nur intermediären Mächte ſich fo 
viel wie möglich affimiliren. ° Peu & peu, feiner confervativen Grundnatur gemäß, bat 
e8 den legten großen europäifchen Bertrag (don 1815) fih allmählich Iodern laflen, 
ohne ihn vollftändig und principaliter aufzugeben. Als fein legtes Auftreten für den» 
felben wird man aber wohl die Note betrachten müflen, mit welcher Muffell der Kriegs⸗ 
erflärung der Napoleonifägen ‚Thronrede vom 6. Novbr. 1863 gegen den Bertrag 
von 1815 und der franzöflfchen Einladung zu einem Parifer Reviſionscongreß entges 
gentrat. Die Gleichgültigkeit, ja offenbare Kälte, mit welcher die eigentlich intereffir 
ten Maͤchte diefe confervative Intervention aufnahmen und die auf ihrer Seite eine 
außerordentliche Neuerungsluft beweift, wird England nicht dazu animiren, feine In⸗ 
tervention für die Feflfegung von 1815 zu wiederholen. Es ift vielmehr zu erwarten, 
daß es auch in diefem letzten, entfcheidenden Punkte feinen Borfprung vor Frankreich 
behaupten und ſich in Zukunft an die Spitze des Reviſtonsgeſchafts flellen wird. Schon 
ift e8 der eigentliche Herr auf den drei ſüdlichen Halbinjeln Europa's (fonft würde 
e8 die Joniſchen Infeln als unndthige Laſt nicht verfchenkt Haben), feine Stellung 
ift alfo auch auf dem europäifchen Eontinent nicht unbedeutend und die Gefahr für 
die Mächte Centraleuropa's nidyt gering. Die Rettung für diefe liegt nur darin, daß 
fie dem mächtigen Propagandiften zuvorfommen und auf dem Selbfigefühl, fo wie auf 
der freien Organifation der Rocalkreife eine gefräftigte Staatsmacht und Staatseinheit 
aufrichten, über welchen Punkt wir im Artikel Selfgovernment weiter han⸗ 
deln werben. 

Rewbel (Ican Baptifte), Mitglied des Directoriums der franzöflfchen Republik, 
geb. 1746 zu Kolmar. Er war beim Ausbruch der Revolution Vorſteher der Advo⸗ 
caten« Corporation feiner Baterfladt und ward für die Generalſtaͤnde gewählt, fpäter 
Mitglied des Convents. Er war in demfelben Anhänger der Bergpartei, ald welcher 
er dfterd ale Commifſſaͤr zu den Armeen gefchidt wurde. Bet der Errichtung des 
Directoriumd "zum Mitglied deffelben ernannt, zeichnete er ſich in den Fächern des 
Auswärtigen, der Juſtiz und der Finanzen durch Geſchaͤftsgewandtheit, Arbeitſamkeit 
und Kenntniffe aus. Er war vorzüglich der Leiter der propagandiftiichen Politik, durch 
welche dad Directorium die Beftalt Eentral» Europa’s veränderte. Im Jahre 1799 
ſchied er durch das Loos aud dem Directorium, zog ſich in's Privatleben zurüd und 
ftarb 1810 in feiner Heimath. 

Rex. Rex iſt der Name des älteften oberfien Magiftratus in Rom, und wird 
das Wort von uns gewöhnlih mit König überfegt. Doc thaͤte man fehr Unrecht, 


— — pi gun 


Reybaud (Marie Roch Louis). Neynaud (Scan Ernefi). 139 


wollte man den Begriff, welchen wir mit einem Könige verbinden, auf die alten ro⸗ 
mifchen reges übertragen. Denn jene reges waren zunächſt nicht Inhaber der Sou- 
veränetät; dieſe befaß vielmehr die Gemeinde der Vollbürger, die Batricier (ſ. d. 
Art). Sie erflärten Krieg und fchloffen Brieden, fie verfügten die Einführung neuer 
Sefege und die Ernennung der Magiftrate, incluflve des rex. Sie Ponnten Begna- 
digung außfprechen, an fle fonnte man provoeiren von dem Urtheil der Berichte. Der 
rex war nur Oberbefehlshaber im Kriege, durfte die dffentlichen Einkünfte vermalten 
und die eroberten Ländereien veribellen, aber Beides fireng nach dem Herkommen. 
Bei Ausübung priefterlicher Zunctionen war er don der Priefterfchaft und deren Hand» 
babung der Aufpicten völlig abbängig. Erſt der legte rex, Tarquinius Superbuß, 
wollte fi zu dem machen, was die Griechen einen Tyrannen nannten, womit er be- 
kanntlich ſcheiterte Von da an mar ebenfo befanntlich der koͤnigliche Name verhaßt 
und geächtet. Gleichwohl gab. e8 in Ausnahmefällen einen interrex (f. d. XArt.), 
wenn die böchften Magiſtrate plöglich verflorben und ihre Nachfolger noch nicht ges 
wählt waren. Und ebenfo gab es noch befländig einen rex sacrificeulus. Dabei ſtleß 
man ſich aber nicht an den Namen. Beide aber beweifen au, daß mit dem Worte 
rex nicht ein fo hoher Begriff verbunden mar, als wir annehmen möchten. 

Neyband (Marie Noch Louiß), franzöflicher Schriftfleller, geb. den 15. Auguft 
1799 zu Marfeille, wo fein Bater Kaufmann war; er felb widmete fi dem Handel, 
machte zahlreiche Meifen in der Levante und in Amerika und mandte ſich erft 1829, 
in welchem Jahr er ſich zu Paris niederlieh, zur Schriftftellerei. Ein Liberaler, ſchrieb 
er nach den Sulitagen an den oppoſttionellen Zeitungen und arbeitete auch an den 
erften Nummern der „Nemeſts“ Barthelemy's (f. d. Art.) Seit 1830 nahm er 
auch als Mebacteur und Mitarbeiter an mehreren großen illufirirten hiſtoriſchen und 
geographifhen Sammelmerken Theil. Ginen Namen machte er fi aber erſt durch 
feine 1840—43 erfchienenen und bald darauf in zahlreichen Auflagen verbreiteten (die 
6. Auflage erfhien 1849) Etudes sur les reformateurs ou socialistes modernes 
(2 vols.), die feit 1837 bis 1840 abfchnittsmweife in der Revue des Deux- Mondes 
erſchienen waren. 1841 erhielt er dafür von der franzöfifchen Akademie den Monthyon⸗ 
Preis zuerkannt; ein wirkliches Verdienſt erwarb er fi aber durch dieſe Arbeit, ba 
fie zuerfi eine zufammenhängende Hiftorifche Ueberficht des neueren Socialidmus gab 
und die allgemeine Aufmerffamfeit auf denfelben Ienkte. Sein zweites bedeutendes 
Wert ift fein Jeröme Paturot à la recherche d’une pobition sociale (1843, 3 vols., 
auch in zahlreichen Auflagen verbreitet), eine geiftreihe Kritik der Sitten der franzd«- 
ſiſchen Befellfhaft unter der Julimonarchie. Eine fhon fchwächere Nahahmung feiner 
felb if fein Jeröme Paturot A la recherche de la meilleure des Re&publiques 
(1848, 4 vols.). Außerdem hat er eine Menge Romane gefchrieben, in denen er den 
Baturots-Typus wiederholt. 1846 wurde er Deputirter und faß auf den Baͤnken ber 
Linken. Als Candidat der republitanifhen Bartei 1848 für die conflituirende, als 
Gandidat der gonlervatioen Partei für die legislative Verſammlung gewählt, ſtimmte 
er meift für die Negierung und ward auch nach dem Staatöflreih Mitglied der bera- 
thenden Sommifflon. Seitdem hat er ſich der Abfafjung feiner Homane und der Ars 
beit an dem Journal des economistes und an der Revue des Deux-Mondes gewidmet. 

Reynand (Jean Erneft), franzöflfcyer Literator und Philoſoph, geb. 1806 zu 
Lyon, erhielt feine Ausbildung auf der polytechniſchen Schule, diente darauf längere 
Zeit als Ingenieur im Bergwerksfach, bis er 1848 aus allen dienſtlichen Verhält⸗ 
niffen trat. Set 1830 machte er ald Journaliſt und Mifftonar die ganze St. Si» 
moniftifche Bewegung mit, Dirigirte dann mit Pierre Lerour die Revue encyclopedique 
(1835) und unternahm mit ihm daB Jahr darauf die Redaction der Encyclopedie 
nouvelle. Nah dem 24, Februar arbeitete er unter Barnot, bis zu deſſen Nüdtritt, 
in deffen Rinifterium des Öffentlichen Unterrichts, ſtimmte dann in der conflituirenden 
Berfammlung, deren Mitglied er war, mit der Mechten, felt dem 10. December mit 
der Linken und trat im April 1849 ind Privatleben zurüd. Sein Hauptwerf: Terre 
et ciel (1854), welches ihm in der Befchichte des neueren Branfreih einen Platz 
anweift, ift ein Gemiſch von Myſticismus und Philoſophie, deſſen Grundidee die un. 
unterbrochene Entwickelung des menſchlichen Lebens und Der Durchgang deſſelben durch 


140 Reynier (Sean Louis Antoine. — Johann Ludwig Ebenezer). 


eine Reihe von Prüfungen ifl, wonach Natur und Menfch in befländigem Fortfchreiten 
auf Bott zu begriffen find. mährend dieſer immer unendlich entfernt bleibt. Bon 
jeinen Artikeln in der Encyclopedie if befonderd der über ben Druidismus bervors 
zubeben. Derfelbe ift auch 1847 unter dem Titel: Consideralions sur l'esprit de la 
Gaule abgedrudt und für die Kenntniß der neueren druidifchen Schule in Frank⸗ 
reich wichtig. | 

Reynier (Sean Louis Antoine), franzöflfcher Hiftoriker, befonders im Fache ber 
Nationaldfonomie und in Betreff der öfonomifchen Zuflände der Nationen, geb. 1762 
zu Lauſanne, fludirte die Naturwiffenichaften und war von Anfang jeined Auftretens 
an bemüht, die Bedeutung dieſer Wiffenfchaften für die Gultur der Völker nachzu⸗ 
weifen. Nachdem er in diefer Welfe die Memoires pour servir à Ühistoire physique 
et naturelle de la Suisse herausgegeben, erweiterte ex feine Anfchauungen auf Reiſen 
und unter Jufften, Lamarck und Fourcroy in Paris die Grundlagen feiner wiflen- 
ſchaftlichen Bildung. Während der Nevolution Eaufte er fi im Departement Nièvre 
an und erwarb ſich Durch die mufterhafte Wirthſchaft auf feinem Landgut Gardıp, fo 
wie durch feine umfaflenden nationalöfonomifchen Kenntniffe einen folhen Namen, daß 
ihm Bonaparte in Aegypten die Oberaufſicht über die Finanzen dieſes Landes über⸗ 
trug. Neben feiner Amtsthätigfeit in Aegypten forgte R. noch für die Bereicherung 
feiner Herbarten und fchrieb er auch für le courrier de l'’Egypte und für die Decade. 
Später ward er Joſeph Bonaparte in Neapel als Commiſſarius beigegeben und wirkte 
er unter Murat als Staatsrath wohlıhätig für die Verwaltung dieſes Königreichs. 
Nach der Meflauration Königs Ferdinand fehrte R. nach Laufanne zurüd, fliftete 
die maadtländifche naturbiftorifche Gejellihaft und war auch auf einigen diploma⸗ 
tifhen Mifflonen für feine Mitbürger thätig.. Er ſtarb den 17. December 1824. 
Als Nefultat feiner ägyptiſchen Studien gab er heraus: L’Egypte sous la domina- 
tion des Romains (Pari8 1807) und De l’öconomie publique et morale des Egyp- 
tiens et des Carthaginois (Paris 1823). Berner find von feinen Werfen hervorzu⸗ 
beben: De l’&conomie politique et murale des Celtes, Germains etc. (Genf 1817) 
und De l’economie politique et morale des Arabes et des Juils (Paris 1830); an 
der Vollendung eines ähnlichen Werkes über die Defonomie der Römer und Griechen 
binderte ihn der Tod. Ueber feinen auch duch Memoiren über Aegypten nambaft 
gewordenen Bruder I. 2. Ebenezer ſiehe den folgenden Artikel. 

Neynier (Johann Ludwig Ebenezer), Diviſtons⸗General des franzoͤſiſchen Kaiſer⸗ 
reichd, ward zu Lauſanne, wo fein Vater als Arzt lebte, am 14. Januar 1771 ges 
boren. In der Abficht, Civil» Ingenieur zu werden, fludirte er die mathematifchen 
Wiffenfchaften und begab ſich zu diefem Behuf im Jahre 1792 nah Paris. Dort 
von dem allgemeinen Taumel, der bei Ausbruch des erſten Coalitionskrieges berrfchte, 
ergriffen, trat er als Volontair bei der Artillerie ein, machte den Feldzug In der 
Champagne mit, ward fchnell Offizier und dem Generalftabe Dumouriez's zugetheilt. 
1793 zum General-Adjutanten ernannt, kämpfte er 1794 und 1795 mit Auszeidy- 
nung unter Bihegru (f. dief. Art.), flieg bis zum Brigade» General und wurde 
nah dem Bafeler Brieden zur Regulirung der Demarcationslinie mit Preußen be⸗ 
flimmt. 1796 kam er ald Chef des Beneralflabes zur Rheinarmee, und bald ver- 
band ihn mit dem General Noreau die Innigfle Freundſchaft, die fein ganzes Leben 
hindurch vorbielt, aber wohl den Hauptgrund der Gereiztheit und der auffallenden 
Bernacdhläffigung bildete, welche Napoleon ihm fletö bewies. Trotz feiner vortrefflichen 
Leiftungen ward er in Folge von gegen ihn geiponnenen Intriguen zur Dispofltion 
geflellt und erft 1798 bei Gelegenheit der Erpedition nad Aegypten wieder zu milis 
tärifcher Thätigfeit berufen. Nachdem er bei der Einnahme von Malta leicht bleffirt 
worden, entſchied er mit der rechten Flügeldiviſion die Schlacht bei den Pyramiden 
und erhielt dad Bouvernement der Provinz Charkieh. Im Feldzuge gegen Syrien 
Führer der Avantgarde, erflürmte er die Stadt EI Ariſch und deckte den Rückzug der 
Armee von St. Jean d'Acre. Nach der Abreife Bonaparte'8 von Kleber, der ihn 
fehr fchäßte, in feine Umgebung berufen, trug er dadurch, daß er dad Dorf Matarieh 
mit dem Bafonett nahm, mefentlih zum Siege von Heliopolis bei. Nach der Er⸗ 
morbung Kleber's am 14. Junt 1800 wünfchte die Armee den allgemein geliebten R. 


Neynier (Iohann Ludwig Ebenezer). 141 


zum Oberbefehlshaber, das Kommando fiel aber der Anciennität nach dem General 
Menou zu, der, zwar nit ohne Talent, dieſem fchwierigen Poſten aber keinesweges 
gewadhien war. R. gerieth bald mit ihm in Zwiſtigkeit, die endlich in offene Feind⸗ 
fhaft ausartete. Die Armee nahm entfchieden für R. Partei und namentlih nad 
ber Schlacht von Alexandrien, weldye trog der Tapferkeit R.'s durch Menou's un« 
zwedimäßige Maßregeln verloren ging, wurde die Stimmung gegen diefen eine fo er⸗ 
biiterte, daß er, aus Beſorgniß, R. künne das Commando an ſich reißen wollen, dieſen 
in der Nacht vom 13./14. Mai arretiren und auf ein Schiff bringen ließ, dad nad 
Sranfreich ſegelte. Am 28. Juni flieg R. in Nizza an's Rand, warb aber von Bor 
naparte falt empfangen und, obwohl berfelbe ihn nicht hinderte, eine Rechtfertigungäfchrift, 
die bittere Anklagen gegen Menou enthielt, zu veröffentlichen, auffein @ut im NieyresDepare 
tement verwielen, während fein Gegner bei feiner Rückkehr, trotz feiner außerſt mangelhaften 
Zeitungen in Aegypten, vom erfien Gonful mit Auszeichnungen Überhäuft wurbe. Mehrere 
Jahre lebte R., nur mit den Wiffenichaften befchäftigt, in tiefſter Zuruͤckgezogenheit, 
bis er 1806, als Joſeph Napoleon auf den Thron von Neapel gefeßt wurde, in der 
diefem mitgegebenen Armee angeftellt ward. Er focht mit abwechfelndem Glück in 
Galabrien, ward kurz vor der Verſetzung Joſeph's auf den fpanifchen Thron zum 
neapolitanifchen Kriegäminifter ernannt, Im Jahre 1809 berief ihn Napoleon nad 
Deutſchland, wo er, erfi nach dem Waffenflilliande von Znaym eingetroffen, da® 
ſaäͤchſiſche Gontingent an Stelle Bernadotte's erhielt. Hierauf nach Spanien beordert, 
erhielt er 1810 unter Maffena daB 2. Corps der Armee von Portugal. In den 
Schlachten von Buſaco am 27. September 1810 und von Fuentes d'Onoro am 
5. Rai 1811 focht er mit der größten Tapferkeit, aber — wie feit feinem Wieder; 
eintritt in den Dienft faft immer — unglüdlid. Nah Maflena’s Abberufung verließ 
auh MR. ohne Genehmigung des Kaifers die Halbinfel, warb aber demungeachtet bei 
dem gegen Rußland ausbrechenden Kriege an die Spige des aus dem fächflfchen Con⸗ 
tingent und der Diviflon Durutte zufammengefeßten 7. Corps geftellt, welches den 
äußerfien rechten Flügel der großen Armee bildete und zur Dedung des Herzogthums 
Warſchau beflimmt war. Am 3. Auguft erlitt eine feiner Brigaden bei Kobryn eine 
Niederlage, bevor R. ihr Hülfe bringen konnte; kurz darauf erhielt er Befehl, in 
Gemeinſchaft mit dem Fuͤrſten Schwarzenberg — aber, da berfelbe älterer General 
war, unter deflen Befehl — den General Tormaffow aus Volhynien zu vertreiben. 
Dieſes fehr jchwierige Verhaͤltniß, welches leicht zu ven größten Conflicten hätte 
führen fönnen, geftaltete fi durch die große Schonung und Rückſicht, mit der der 
Fürſt R. entgegen fam und die diefer dankbar und freudig anerkannte, auf das Beſte, 
und zwifchen beiden Führern berrfchte ſtets das befte Einvernehmen. Obwohl durchaus 
Eein bedeutender, ja fogar eigentlich ein unglüdlicher General, gewann R.'s große 
Herzensgüte und feine firenge Gerechtigkeitöliebe bald die Herzen feiner Untergebenen 
und auch die fähflihen Truppen bingen mit warmer Berehrung an ihm. Obwohl 
der General Tormaflom bei Podobna am 12. Auguft gefchlagen worden war, ergriff 
der Admiral Tſchitſchafow, welcher mit der 60,000 Mann ftarfen Moldau-Armee ein« 
traf, die Dffenfive, ging über den Styr und nötbhigte M. und Schwarzenberg, bis 
zum Bug zurüdzugeben. Ende October zog Tſchitſchajow mit den Hauptfräften gegen 
die Berezina; der. von Ihm zurüdgelafiene Saden überflel R. am 14. bei Walfomize, 
wurde jedoch von ihm am folgenden Tage in die Sümpfe von Rudnia zurüdgemworfen. 
Der Müdzug der franzöſiſchen Haupt-Armee zog auch den Schwarzenberg'3 und des 
7. Corps nad fi, die in den erflen Ianuartagen bei Warfchau eintrafen. Bon 
dort gingen die Deflerreicher nach Galizien, R. weiter nad Schleflen zurüd, warb 
aber, nicht ohne feine Schuld, am 13. Februar 1812 bet Kalifh von den Rufſſen 
ereilt und erlitt eine Niederlage. Mit den Trümmern feined Corps z0g er über 
Slogan und Baugen nady Dresden, von wo er nach Davouſt's Ankunft nah Paris 
ging, um nicht unter diefem feinem früheren Untergebenen dienen zu müſſen. Rad 
des Wiedervereintgung der Sachſen mit den Branzofen übernahm er den Befehl über 
das wieder eben fo formirte 7. Corpés und focht mit Auszeichnung bei Baupen. Bei 
Ausbruch des Herbfifelbzuges der Armee Oudinot's zugetheilt, erlitt er eine vollftän- 
dige Niederlage bei Broßbeeren (f. d. Art.) und kaum vierzehn Tage darauf hatte 





142 Reynolds (Joſhua). RNhaͤtia. 


fein Corps in der Schlacht Hei Dennewitz (ſ. d. Art.) am 6. September wiederum 
die ſchwerſten Verluſte. Obgleich die Sachen bie Einzigen gerwefen, die, nach der 
Auflöfung der Diviflon Durutte, ihre volle Eontenance behalten und mit dem 12. Corps 
den Rückzug gededt hatten, maß Ney fälfchlich gerade ihnen den, allein dur feine 
Vernachläfftgung aller Vorſichtsmaßregeln erlittenen Verluſt der Schlacht bei; eine 
Beihuldigung, weldher R., obwohl Napoleon felbft fle in feinem Büllerin wiederholte, 
auf das Energifchfte entgegentrat und deren Unmwahrbeit fo fehlagend bewieß, daß Ney 
zu der Erklärung gendtbigt wurde, fein Bericht fei falfh abgedrudt worden. In der 
Schlacht von Leipzig fam M. erft am 18, October bei Paunsdorf in's Gefecht; nad 
dem Uebergange der Sachſen blieben ihm nur die Reſte der Diviſion Durutte. Mit 
diefen und der polnifhen Divifton Dombrowsky vertheidigte er am 19. Detober daß 
Gerberthor der Halleſchen Vorſtadt und ward gefangen genommen. Nach kurz darauf 
erfolgter Auswechſelung kehrte R. tief Frank, nach Paris zurüd und flarb dort am 
17. Februar 1814. | 

Reynolds (Joſhua), einer der vortrefflichften Portraitmaler feiner Zeit, geboren 
1723 zu Plymton bei Plymouth, bildete fi unter Hudfon, dann in Rom (1750— 
1752), wo er alle damals dort lebenden Engländer in einer Garricatur barflelfte; 
bier brachte er auch den Streit in Gang, mer bedeutender fei, Rafael oder Michel 
Angelo, und entfchied fich für den letzteren. Nach feiner Nüdkehr aus Mom lebte er 
in London, wo er 1769 Director der Kunftafademie wurde. Er erblindete 1789 
und flarb 1792 zu Leicefterfielde. M. war ein Eflektiter, fein Golorit warn und 
durchfichtig, Doch nicht immer wahr; und fein Streben, zu idealifiren, entfernt ihn oft 
von der Natur. Seine in ſehr hohem Preiſe ftebenden Gemälde — für fein Fleines 
Bild: „Das Erdbeer⸗Madchen“ find Zweitaufend einhundert Pfund Sterling gezahlt 
worden — find meift in England. Ein Verzeihniß der von ihm verfertigten Ge⸗ 
mälde, nebfl Bemerkung des Derfaufspreifed und der Käufer, findet ſich in dem 
„Allgemeinen Literarifchen Anzeiger? (Leipzig) für das Jahr 1797, Nr. (XIX, 
S. 1227—1231. Als feine vorzüglichften gelten, außer den ſchon erwähnten: der 
Tod des Cardinals Beaufort, der Hirtenfnabe, eine Venus und Ugolino im Gefäng- 
niß. Die Grundlage feiner Theorie der Malerei Hat R. In mehreren Reden entwidelt, 
die er als Präftdent der Akademie gehalten. Bei dem @rfcheinen der erften Reden 
Außerte der große Mengs mit einigem Unmillen, diefer Engländer verbreite nichts ale 
Irrthümer unter feinen Landöleuten, ein Urtbeil, das von andern großen Kennern 
beflätigt worden if. R.'s „Ialerary Works“ nebft Leben find herausgegeben worden 
von Malone (London 1797, 2 vols.) und von W. Breechey (London, 1835, 2 vols., 
und 1852), 

Rhatia (Raetia), das weſtlichſte der Suͤddonaulaͤnder, grenzte im Morden an 
Vindelicien, im Welten an das Helvetierland und Gallien, im Süden an das cisal⸗ 
piniſche Gallien und im Oſten an Venetien und Noricum, begriff alſo das jetzige 
Graubünden, Tirol mit Vorarlberg, das bayriſche Hochland und den nordlichen Theil 
der Lombardei. Das ganze Land mar gebirgig durch die Alpen, deren durch das 
ehemalige R. ziebenver Theil Alpes Rhaelicae, jegt Rhatiſche Alpen (f. d. Akt. 
Alyen), hieß; zu ihnen gehörte der Adula (Orteled), auf weldyem der Haurtfluß des 
Landes, die Atheſis (Etſch) entfprang, der fi der Ticinus, die Addua (Adda), ber 
Dllius (Oglio), der Mincius sc. anreihten; nach Norden war der Denud (Inn) der 
Srenzflug. Als Gebirgsland eignete ſich R. befonders zur Viehzucht, doch wurde in 
den Thälern auch Aderbau getrieben. Bon den Volkerſchaften bemohnten das Land 
die Lepontier an den Quellen des Rheins mit der Stadt Bilitio (Bellinzona am 
Lago maggiore), die Sarumeter mit Curia (Chur) und Magia (Mayenfeld), die Tri« 
dentiner mit Tridentum (Trient), die Gerauner mit Zerioli (das Bergſchloß Tirol), 
die Breuner mit Belvidena (Klofler Wilden, etwas fürlih von Insbrud) und Bons 
Druft (Insbrud), die Seltriner mit Bauzanum (Bozen) x. Die Rhaͤtier follen Etrus- 
fer gemwefen fein, die von dem Nordweſten fommenden Gallter, weldye Fellartig ein⸗ 
drangen, der Hauptmaſſe nach binabgedrängt wurden und In einer verfprengten Schaar 
aber Hinauf in die Berge, bie damals zum großen Theil vielleicht ſchon längft von 
den Kelten bewohnt waren. Da die meiften alten Ortsnamen in 9. keltiſches Ge⸗ 


Aheims. 143 


präge tragen, fo laͤßt ſich vermuthen, daß vorkeltifche Stämme von einer Feltifchen 
Mehrzahl allmaͤhlich Feltifirt und vielleicht noch vor Vollendung diefes Proceſſes roma⸗ 
niflrt wurden. Wenigſtens beſitzt der rbätoromanifche Sprachaſt, der fi durch 
Graubünden, Engadin, Tirol und vieleicht noch weiter erfiredt, Befontırheit genug, 
um einen nicht rein Eeltifgen Vorgänger möglich erfcheinen zu laflen. Leider ifl uns 
feine Vorzeit verfchlofien, weshalb wir nicht ſicher wiffen, ob nicht doch vielleicht jene 
Beſonderheit das Ergebnig fpäter Iſolirung if. Wir wollen glauben, daß es Livius, 
der in feinem 5. Buche Gay. 33 fagt: „Alpinis quoque ea genlibus haud dubie 
origo est (ab Etruscis), maxime Raetis, quos loca ipsa efferarunt, ne quid ex 
antiquo, praeter sonum linguae, nec eum incorruptum, retinerent*, nicht erging, 
wie beutigen Etymologen, die in Graubünden noch etrusfifch fprechen hören. In ges 
fchichtlicher Zeit finden wir in R. nur oder faſt nur keltiſche Wahrzeichen; fo ftebt 
3. B. in dem Pferdefopfe als Haudverzierung bei den heutigen Rhätoromanen S hreis- 
ber (Taſchenbuch für Gefchichte, 1840) ein Wahrzeichen altkeltifhen Erbes. Die 
Rhaͤtler waren ein liſtiges, wildes Volk, welches die Römer in ihren nördlichen Be⸗ 
fiyungen fortwährend durch Maubzlige beläftigte, bis fie endlich 15 v. Chr. von den 
Römern unterworfen wurden. Kaiſer Auguftus ſchickte nämlich zwei Heere gegen fie, 
eins unter Tiberius durch das Rheinthal und das andere unter Drufus durch daß 
fübliche Tirol, weldye die einzelnen Stämme nad hartem Kampfe bezwangen; an dem 
Kampfe gegen die Nömer nahmen auch die Weiber den muthigften Antheil, und ale 
ihre Pfeile verfhoffen waren, fchleuderten fie den MNömern ihre Kinder Ins Geſicht. 
Das Land wurde nun zur Provinz gemacht und fpäter Binbelicien dazu gefchlagen, 
wo dann R. Rhaetia prima und Vindelicien Rhaetia secunda hieß; durd 
erflered führten die Mömer zwei Saupiftraßen zur Verbindung Italiens mit Vindeli⸗ 
eien. Im 5. Jahrhundert befegten die Oſtgothen unter Theodorich R., weldher dem- 
felben einen eigenen Herzog ald Statthalter gab; nad dem Tode Theodorich's zogen 
in den nördlichen Theil des Landes Bojoaren von Oſten und Alemanen von Welten 
der, in den füdlichen aber die Longobarden. Nachmals kam MR. unter die Herrfchaft 
der Franken und der fünliche Theil hieß Hoöhenrhatien. Die drei Rhätiſchen 
Bünde, welche fih 1471 zu Vazerol vereinigten, waren der Graue oder Obere, der 
Sotteshaus⸗ und Zehntgerichtenbund. Die Gefchichte R's. feit dem Mittelalter f. unter 
den Art. Graubünden und Schweiz. 

Rheims oder Reims, Stadt in dem franzöſiſchen Departement der Marne und 
Sig eines Erzbifchofs, deſſen Didcefe die Bisthumer Soiffons, Chaͤlons, Beauvais 
und Amiens umfaßt, an der Vesle, mit 55,808 Einwohnern nach der Zahlung am 
1. Januar 1862, ift jegt wichtig Durch ihre Induftrie, welche vorzüglich in der Kabri« 
kation befleht, und kann mit Mecht ſtolz fein auf ihre Vergangenheit. Vorzüglich 
merkwürdig find die fchon 406 erbaute, im 12. Sahrhundert abgebrannte und dann 
wieberbergeflellte Kathedrale, welche durch ihre coloffalen Dimenflonen, dur 
den Reichthum ihrer Zierrathen, ihre prächtigen Gladmalereien und durch 
das Ganze ihrer Bauart eine der merkwürdigſten gothifchen Gebäude Euro» 
pa's iſt und In der der Erzbifhof von R. ald Primas von Frankreich feit 
1179 die Krönung verrichtete, fonft mit vielen Koftbarkeiten, z. B. einem mit 
Golnbled überzogenen, mit Edelſteinen verzierten Evangelienbuche, auf welches die 
Könige den Eid ablegten, und der St. ampoule, mit deren Inhalt die Könige gefalbt 
wurden; das Stadthaus mit einer ſchönen, erft in neuerer Zeit vollendeten Façade 
und einem Porticuß, auf dem die Meiterflatue Ludwig's XI. ſteht; die in Kreides 
felfen angebrachten Keller von drei Stodwerken, worin man faft alle für das Ausland 
beſtimmten vorzüglichen weißen Weine aufbewahrt, und bie Statue Ludwig's XV. zu Fuß 
auf dem Krönungsplag, umgeben mit den Attributen des Handels. Bon Alterthümern 
nennen wir das Marsthor, einen Triumphbogen, den man dem Julianus zufchreibt, 
und- der zum Theil vom erfien Napoleon wiederbergeftellt wurde, die Heberbleibfel 
eined Girend und Das Grabmal des Jovinus, welches in die Kathedrale verfegt wor⸗ 
den, von weißem Marmor iſt und eine Lömwenjagdb vorftellt. An wiffenfchaftlicden 
Anfalten beflgt R. ein Eaiferliches Collegium, früher Univerfität (gefliftet 1547, auf⸗ 
gehoben 1793), eine Sereundär-Schule der Arzneifunft, einen botanijchen Garten unt 





144 Neims. 


eine Akademie der Wiſſenſchaften, welche, 1841 geſtiftet, ſchon eine große Reihe von 
Memoiren herausgegeben und ihr Auftreten dadurch bezeichnet bat, daß fie Die „Ge 
Ihichte der Feſtung, Stadt und Univerfität Rheimg“ von dem Benedictinee Dom 
Marlot für eine Summe von 19,000 Fres. druden lief. Man Fannte bereitd Died 
gelebrte Werf unter dem Zitel: „Metropolensis Remensis historia®, in zwei Folio⸗ 
bänden, aber der franzoͤſiſche Tert, den die genannte Akademie in vier Duartbänden 
herausgegeben, ift ohne allen Vergleich wichtiger. Kerner bat fle eine Ueberfegung 
Flodoard's bearbeiten laſſen und die Ausgabe aller Schriften über daB Leben Gerbert's 
veranflultet, worunter ſich biöher unbelannte Urkunden finden, welde von Thomas 
Gouſſet, dem jegigen Erzbifchof von R., bei feiner Beförderung zum Carbinalat 
von Nom mitgebracht wurden. Gerbert, ein franzöflfcher Moͤnch und einer der größten 
Geiſter des Mittelalters , wurde bekanntlich, nachdem er Lehrer des Königs Mobert 
gewefen war, Erzbifhof von R., und. flarb im Jahre 1003 als Papft unter dem 
Namen Sylveſter II; ihm fchreibt man eine der fhönften Erfindungen der menſch⸗ 
lichen Induftrie, die der Uhren mit gezahnten Rädern, zu. Das Mittelalter erflaunte 
über feinen Geiſt, hielt ihn für einen Zauberer, und gewiß muß Alles, was ſich auf 
einen Mann von dieſer Bedeutung bezieht, lebhaftes Intereffe erweden. Abgefehen 
von den älteren Werfen, bat die Stadt R., der Geburtsort von I. B. Eolbert, 
auch zu unferer Zeit und unter ihren eigenen Kindern arbeisfame Annaliften gehabt, 
wie L. Parié, Herausgeber der „Chronique de Rains“, und P. Varin, der in 
feiner Sammlung „nichtheraußgegebener Urkunden * über die kirchliche, flädtifche, 
Rechts- und Gewerbögefchichte die Archive benußte und unermüdlich arbeis 
tete, bis der Tod den jungen Mann dem Lehramte der Geſchichte entriß. 
R. hieß. im Alterthum Durocortorum, fpäter aber Memi und war Die 
Hauptſtadt der Remi und des belgifchen Galliens. Chlodwig wurbe hier vom Erz 
biſchof St. Remigius getauft und befchenkte das daſige Gapitel mit großen Gütern. 
Später fiel R. bei den verfchledenen Theilungen ſtets an Auftraflen und war eine 
der beiden Hauptfläbte dieſes Landes, bis fie bei der Teilung unter Ludwig bes 
Srommen Kinder. an Karl den Kahlen und fo zu Neuftrien kam, bei welchem fie nun 
blieb. Die Grafen von Vermandois eigneten fi gegen Ende des 9. Jahrhunderts 
ihren Beſitz mehrmals zu, aber der König machte fie ihnen wieder ſtreitig. Endlich 
gab Ludwig IV. die Stadt und Graffhaft R. dem Erzbifchofe Artaldus. Deffen 
ungeachtet behaupteten die Grafen von DBermandois den Bellg bis zu des Könige 
Robert's Zeit, wo nad dem Tode des Grafen Robert von DBermandoid die Erz. 
bifhöfe, ohne je weiter in ihrem Rechte gefldrt zu werben, fi der alten Stadt, deren 
Umfang faft derfelbe, wie unter der römifchen Herrfchaft geblieben war, bemäcdhtigten. 
Erft von nun an baute ſich eine viel größere Stadt an, melde im 14. Jahrhundert 
von König Johann mit Mauern umgeben wurde. Ludwig VII. der jüngere und befien 
Sohn Philipp Auguft beliehen den Erzbifhof mit dem herzoglichen Titel und beftä- 
tigten das biöher oft beflrittene Vorrecht deflelben, die Könige von Frankreich zu 
falden und zu Erdnen, was denn feitdem bei allen Monarchen Frankreichs, mit Aus⸗ 
nahme Heinrich's II., welcher fih in Chartres Erönen ließ, Napoleon's |., bei welchem 
died in Paris, Ludwig's XVII, Ludwig Philippe und Napoleon’s III., bei denen 
feine Krönung flattfand, zu R. geſchah. Eine große Zahl von Goncilien wurde in 
N. gehalten, fo 813 von Karl dem Großen unter dem Erzbifchof Wolfar, 1049 vom 
Papft Leo XIV. und 1147. R. wurde im Februar 1814 von den Ruſſen beſegt, 
am 5. März jedoch die ſchwache ruſſiſche Beſatzung von den Franzoſen und den Bür- 
gern übermannt und ber ruffliche General Fürſt Bagarin gefangen genommen. Nach» 
dem am 7. März auf die Stadt von dem rufilichen General v. Zetienborn und dem 
preußtfchen General 9. Jagow mit Landwehr und Erfagtruppen ein vergeblicher An» 
griff gemacht worden war, wurde fie ans 12. deſſelben Monats von den Preußen 
unter den Generalen St. Prieft und v. Jagow erſtürmt. Doch ſchon am folgen- 
den Tage wurden die beiden Generale von Napoleon felbft angegriffen und bie 
Stadt genommen, um aber am 19. Wär; von den Ruſſen unter Winzingerode zurüd- 
erobert zu werben. 


Ahein. (Allgemeiner Charakter.) 145 


Rhein.) Der Deutſche mag wohl auf feinen Rheinſtrom ſtolz fein! Nicht 
auf feine Groͤße; viele andere Ströme, felbit europälfche, übertreffen ihn melt an 
Länge, Breite, Waflerfülle, an Folofialer Auspehnung ihres Gebietes, nicht einem aber 
it ein fo edled Ebenmaß,/ befchieden, fo richtige Verhältnijfe, fo vollſtaͤndige Entwicke⸗ 
Jung, nicht einer fleht an feinen Ufern auf gleiche Weife Kunft und Natur, gefchicht- 
liche Erinnerungen und lebende Gegenwart vereint. In dem erbabenften und herr⸗ 
lihflen centralen Gebiete des mächtigen Alpengürtel® bangen an himmelhohen Fels⸗ 
gipfeln mehr als vierhundert Gletſcher, welche dem R. ihre vollen tobenden Gewaäſſer 
zufenden. Wo fie aus dem Gebirge hervortreten, da beruhigen und läutern ſich dieſe 
ungeftämen Alpenföhne in etwa fünfzehn der größten und fchönflen Seen, unergrünt« 
lihen, imaragdenen Beden, bier von unerklimmbaren Felſen eingeengt, dort von 
Nebenhügeln und grünen Matten umfränzt; einer, faft mie dad Meer, unabfehbar. 
Kryſtallhelle Fluthen entflrömen diefen Seen in raſchem, doch ſchon ruhlgerem Kaufe. 
Bald in einem Bett vermifcht, wogen jle mächtig .und friedlich dahin, durch lachende 
Bluren, an flattliden Schlöffern, Hohen Domen, kunſtreichen belebten Städten vorbei, 
denen fie reiche Laſten zuführen. Hohe Waldgebirge winken lang aus blauer Berne, 
fpiegeln fi) dann in dem herrlichen Strome, bis er die meite fchranfenlofe Ebene 
betritt und nun dem Schoofe des Meered zueilt, Ihm mächtige Wafferfpenden zu 
bringen und fich dafür in feinem Gebiet ein neues Land zu erbauen. An den Miegen 
bes R.'s erklingen die Sefänge armer, aber frober Hirten, an jeinen Mündungen 
zimmert .ein reiches, Eunflfinniges, gewerbfleißiges, unternehmendes Volk feine ſchwim⸗ 
menden Häufer, welche die fernften Länder und Meere befchiffen und einſt beherrſcht 
haben. Wo iſt der Strom, der eine Schweiz an felnen Quellen, ein Holland an 
feinen Mündungen Hätte? den feine Bahn fo durch lauter fruchtbare, gebildete Land» 
haften führte? Haben andere weit größere Waflerfülle und Breite, fo bat der R. 
Hare,. immer volle, ſich faft gleichbleibende Fluthen, fo ift feine Breite gerade bie 
techte, hinreichend für Floß und Schiff, für allen Verkehr der Völker, und doch nicht 
fo groß, daß fle die beiden Ufer von einander ſchiede, daß nicht der erfennende Blid, 
ber laute Ruf ungehindert hinüber reichte. Mächtig und ehrfurdtgebietend erſcheint 
er, al& ein bemegter Wafferfpiegel in den Heiterftien Rahmen eingefaßt, nicht ald eine 
wäfferige Dede mit nebligen Ufern. Der Rheinſtrom ift recht eigentlich der Strom 
bes mittleren Europa. An feinen alpinifchen Quellen begegnen fih Burgund, 
Italien, das füdliche Deutfchland. Seine ocecaniſche Niederung fchiebt ſich zwiſchen 
den Norden Frankreichs und die Ebenen des alten Sachſenlandes ein und führt zu 
den britifchen Infeln hinüber. Aus der ſchönen Stromebene des mittleren R.'s, 
einem burgummauerten Gentralgebiete, führen natürliche Waſſerſtraßen durch lange, 
enge Felfenthore zu reichen, herrlichen Landſchaften, tief in das Innerfle Deutfchland 
und Pranfreich hinein. Die Mofel auf der linken, der Main auf der rechten Seite 
verbinden Franken und Lothringen. Der Rheinſtrom felber aber und feine Ufer find 
die große Handeld- und Meifeftraße zwiſchen Süden und Norden, zwifchen Holland 


— — — —— — — —— 


7) R., Rhin, Rhyn oder Mein nennen die Bergbewohner bes bündneriſchen Hochlandes, 
ſowohl bie deutſch als die romaniſch redenden dieſſeit der Alpen, jedes fließende (rinnende) Berg: 
waſſer. Etymologen haben deshalb ſchon nieht oder minder kühne Etreifzüge in des Gebiet der 
griehifchen, teltifchen und germaniſchen Wurgelwörter unternommen. Röder und Ticharner (raus 

ündten, I. Theil Seite 132) nennen die Bezeihnung „Rhein“ einen „Naturlaut and den gchei« 
men Werfftätten des Geiſſes“, während Buttmann in feiner gehaltvollen Schrift „Die beutfchen 
Ortsnamen” auf Seite 116 fagt: „Das wendifhe und überhaupt ſlawiſche Wort für Fluß iſt reka. 
So wird allgemein von den laufiger Wenten ihr Hauptfluß, naͤmlich die Epree, genannt, daher 
andy der Flaßname Mega in Pommern, woran Treptow liegt. Diefes Wort ſtammt offenbar aus 
ber umfafjenden Indogermanifhen Wurzel pe = fließen, welche ehedem auch der deutſchen Eprache 
angehört haben muß; wenigftens, beuten darauf gar viele Flußnamen in Deutfcland, wie Megen, 
Regnig, Regat, und es möchte daher nicht ſprachwidrig erfcheinen, auch die Namen Rhein, Rhin, 
Rhone von berfelben Wurzel abzuleiten.“ Gin rechter, der Marl Brandenburg angehörender 
Mebenfluß der Havel heißt befanntlih aud Rhin (Min, Wien). Rhin iR aber weiter nichts ale 
das plattdentſch aysgefprohene Wort R., und biefer Name unſerm brandenburgifchen Fluſſe höchſt 
wahrſcheinlich von den Anfiedlern gegeben, welche Albrecht der Bär, nadı Bezwingung ber Wenden⸗ 
völfes, von den Ufern bes R.'s zur Bevölferung der exoberten und veröbeten Länder herbeirief. 


Bagıneır, Staats⸗ u. Gefellfh.Ler. XV. 10 


146 Rhein, (Lauf.) 


und der Schweiz, England und Italien, die eine immer größere Bebeutung erhält, 
je inniger und lebendiger die Berührungen aller Art zwiichen den verfchießenen Glie- 
dern des europäischen Staatenfpfiems werden. Wenn der MR. auch hinſichtlich der 
Länge feines Laufes der flebente, binfichtlich feines Stromgebietes der fechäte ber 
europäifchen Ströme ift, fo ift dennoch, mie gefagt, Fein Stromſyſtem Eutopa's fo 
entwidelt und ebenmäßig audgebildet, als das feinige, und fein: Strom- 
gebiet bietet einen ſolchen Wechfel von reigenden Landfchaften und eine fo Dichte Be⸗ 
völferung dar, als das Gebiet des R.'s. Man wird in Deutfchland feinen und in 
Europa wenige Flüſſe finden, auf welchen der Verkehr fo Iebhaft wäre, als auf dem 
R. Der R. theilt ih Häufig in viele Arme, umschließt viele Werder und feine 
Schifffahrt IR von der böcften Wichtigkeit. Seine Länge beläuft fih auf 150 
Meilen, fein Stromgebiet auf 4000 D.-M.!) und ber directe Abſtand zwifchen 
den Quellen und der Mündung auf 90 M. Seine Breite beträgt bei Chur gegen 
100, Hei Rheineck 200, bei Bafel 750, bei Mainz am oberen Stadttheile 1800, am 
unteren 2500 und bei Emmerih 1800 Buß; feine Tiefe ift zwifchen Bafel und 
Straßburg 3—12, zwiſchen Mannheim und Mainz 5—24, bei Bonn 10—12, die 
größte Tiefe bei Düffelvorf 50, feine mittlere normale Flußtiefe 10—12, 
und feine Tiefe beim höchſten Wafferftand 22—26 Bub. Das Gefälle 
von feinen Duellen bis Baſel beträgt fummarifh 6477, durchſchnittlich 51 Fuß auf 
die Stunde, auf feinem Laufe zwiſchen Bafel und Hüningen 11,,, von Hüningen bid 
Kehl 344,,, von Kehl bis Mannheim 155 und von Mannheim bis Mainz 44, im 
Ganzen durdhfchnirtlich auf 2800 Fuß Länge 1 Fuß. Wie wir noch erwähnen wer- 
den, wird der Strom erfl von Bafel abwärts mit größeren Fahrzeugen befah- 
zen; zwifchen Bafel und Straßburg laden die Schiffe 500600, zwiſchen Straß⸗ 
burg und Mainz 2000—2500, zwifhen Mainz; und Köln bid 4000 Etr. und 
von Köln an kann der Rhein mit Seefhiffen (bis 10,000 Gentner Ladung) 
befahren werden. Ueberfhaut man nun, etwa vom Münfler in Straßburg aus, 
die weite Ebene, in deren Mitte jein mwunderfamer Bau als ihr fchönftes Kleinod 
emporfteigt, fo befchränfen an beiden Ufern des R.'s, dem Strome gleichlaufend, 
blaue Gebirgsketten den Blick, wie die Ebene. Beide verlieren fich bier gegen Mittag, 
dort gegen Mitternacht, in unabfehbare, neblige Fernen. Beide zeigen fih im Süden 
höher und ander geflaltet ale nach Norden bin; dort hohe, abgerundete Kegel, Hinter» 
einander auffleigend, Hier einförmigere, ebenere Höhenlinin. Der Schwarzwald 
auf der deutfchen, die Bogefen auf der franzöflfchen Seite, bilden in der Nähe des 
Alpenlandes gleihfam coloffale Ruppelgewölbe, mit hoben, waldbededten Gipfeln ber 
ſetzt. Kryſtalliniſche Gebirgsarten herrfchen und beflimmen die Beftaltung; in der 
Höhe von Straßburg werden fie von einem Sandfleingebirge abgelöft, welches mit 
niedrigen, ebenen Nüden den Zug der Vogefen weiter nörblich unter dem Namen be 
Hardtgebirges bi8 an den Donnersberg fortfegt. Die höheren Gipfelreihen 
des Schwarzwaldes reichen etwaß weiter nad) Norden; um fo tiefer finft aber alddann 
das Sandfleingebirge hinab, welches dem der Vogefen entfpricht, ja ed verichmindet 
jeder Gebirgacharakter, und die niedrige Thalmand, welche noch die Mbeinebene be⸗ 
grenzt, bezeichnet nur ben Niveau » Unterfchieb zwifchen biefer und der höher gelegenen 
bügeligen Sandfteinebene des Schwabenlandes, biß, nad; einer bedeutenden Gebirgé⸗ 
lüde, noch diefjeit ded Nedars, der Odenwald mit etwas höheren, Fühner geformten, 
meift kryſtalliniſchen Bipfeln den Thalrand zu Erönen beginnt. Auch er finft endlich 
in den weiten Bufen ab, welcher fih, als eine Ermeiterung der Mbeinebene, nad 
Dften hin ausdehnt, dem aus Bergengen bervortretenden Wainfluffe entgegen. Diefer 
Bufen und mit ihm die ganze Mheinebene wird im Norden begrenzt durch ein fleil 
auffleigende8 Gebirge, welches nach Südweften über den R. hinüberfeßt und das linke 
Ufer der Nahe begleitet, wo es fi durch vermittelnde Bebirgägruppen dem Donners⸗ 
berg und ben Vogeſen anſchließt. Es ift der Südrand des mehr plateauförmigen 
Schiefergebirges, welches den Lauf des R.'s zwifchen Bingen und Bonn durchſchneidet. 
Bel Iekterer Stadt hört die Bebirgöbildung auf, die den R. bis dahin in einer Ab- 


I) Mit dem MR. verbinden fi unmittelbar und nrittelbar 12,283 Mebenflüfle, bei welder 
Bahl anf die ganz unbebeutenden Gewäſſer feine Rüdfiht genommen if. 


RKhein. (Lauf.) 147 


dachung unmittelbar von den Alpen aus begleitete, wo feine Quellflüſſe denen vom 
Rhone und Inn (Donau) benachbart find, mit weldhen er auch wieder Im fpäteren 
ſchiffbaren Lauf durch Bandle verbunden iſt. Auch der Teffin (Bo) iſt der Quellnachbar des 
R.’8, unter defien JO Quellen, wovon mehrere den Namen R. führen, der Rin de Toma, der 
am Gotthardsgebirge in einer Höhe von 7248° hoch entfpringt, ald Hauptquelle gilt, 
zunaͤchſt des Vorderrheins, des einen der beiden Hanptquellarme, deren anderer 
der Hinterrbein ifl; der fog. Mittelrhein aber if Fein dritter Hauptquellarm, 
fondern ein Zufluß des Vorderrheins, dergleichen auch der Hinterrhein, namentli im 
der Albula, bat. Nach der Bereinigung der Quellfiröme bei Chur, der Haupt⸗ 
ſtadt von Hohenrhätien, bricht der MR. in einem mädtigen Querfpalt norbwärts aus 
dem Alpengebirge hervor, um in die bayerifche Tafelebene einzutreten. Hier aber 
nimmt ihn das fchmwäblfche Seebecken des Bodenfeed auf. Als ein fchon mächtiges 
Gewäfler entfließt ihm der MR. gegen Weften bei dem alten Konftanz und behält diefe 
Nichtung bis nad der Stadt Bafel an dem großen Stromfnie auf der Grenzmark 
von Burgund und Schwaben. Die Strede bildet zugleich den merkwürdigen Durch⸗ 
bruch des R.'s durch die Gebirgsfetten deö Jura in vier Katarakten oder Stroms 
jehnellen, woranter der berühmtefte, der bei Schaffhaufen, weniger durch feine 
Söde als vielmehr durch die Breite und Waflerfülle des Stromes ausgezeichnet if. 
Hier empfängt der R. auch feinen erften großen Zuſtrom in dem alpiniſchen Gemwäffer 
der Aar, welche ihm die gefammte Wafferfülle der inneren Schweiz zuführt. In 
dieſem fchweizerifchen Beden des R.'s Ereuzen ſich vier große europälfche Straßen, 
die dem Handel des Rhone und der Donau, des R.'s und des Üdriatifchen Meeres 
dienen. Vom MR" His zu dem Iegtgenannten Meere bat man nicht mehr als 40 Meilen 
zurädzulegen, eine Entfernung, welche die Vervollkommnung des Eifenbahnneges noch 
mebr vertingern wird; von der Donau und vom Lech führen fjegt zwei Eifenbahnen 
nad dem Bodenfee, eine, die bayerifche, fat genau auf der Linie der uralten Roͤmer⸗ 
ſtraße aus Mhätten nach Vindelicien. Rhone und R. werben durch Gandle verbunden, 
die zufammen eine beträchtliche Länge haben. Mit der Norbmendung des R.'s bei 
Bafel verändert das Stromthal feinen Charakter, es beginnt da eine ganz andere 
Natur. In drei Stufen durchfchneidet der R. in diefem Theile feines Laufes die 
Banen des heutigen Deutfchlands in gerader Michtung von Süden nach Norden. Sie 
reihen von DBafel bis Mainz, von Mainz bis Köln und von Kdin bis Kleve. Mit 
zeißender Schnelligkeit fchießt der R. bei Baſel vorüber, und innerhalb der großen 
Gebirgszone ded mittleren Deutfchlands zieht fih die tiefe Thalſenkung des 
Stromes bi8 nah Mainz an 40 Meilen weiter fort. Das Thal, welches vorher nur 
eine enge Spalte war, erweitert ſich zu -einer fhönen fruchtbaren Ebene, die im 
Oſten und Wellen von Gebirgäfetten umfdumt wird, melde den Strom in feinem 
nördlichen Laufe begleiten und die, mit zahlreichen Burgruinen und mächtigen God» 
waldungen bedeckt, auch dieſem Theile des Rheinthales eine romantifche Schönheit 
verleihen. Hier iſt es der Schwarzwald mit dem Odenwald, zwifchen welchem der 
Nedar fh zum M. ergießt, dort ift e8 die Gruppe der Vogeſen mit dem Harbt« 
gebirge. Durch feinen milden Himmel und feine reihe Vegetation zeichnet fi diefer 
Theil des Rheinthales fehr vortheilhaft aus vor den Im Rücken jener Gebirgsketten 
ſich ausbreitenden Hochflächen, welche im Oſten das Tafelland von Ober⸗Schwa⸗ 
ben an der oberen Donau, im Weſten aber die lothringiſchen Bergflähen an 
Der oberen Mofel bilden. Denn ſchon in der Ebene von Baſel hat der Spiegel des 
RK.'s nur eine Höfe von ungefähr 800’ über dem Meere — ähnlich wie die Donau 
bei Baflan — und bei Mainz im. Rheingau liegt derfelbe nur noch an drittehalb 
Hundert Fuß über dem Meere. Bon Bafel bis nach Mainz durchſtroͤmte der R. im 
Mittelalter die Landfchaften von Schwaben und Franken, die Länder der Hohen» 
flanfen oder die im engeren Sinne fogenanntn Reihöländer. Straßburg, 
Die Hauptſtadt des rheinifhen Schwabens, mar einer der vornehmſten Sige deutfchen 
Lebens am R. Uber von der Einmündung der Murg bei Maftadt begann daß 
fränfifge Land, und zwar zunächft dad fogenannte Rheinfranken, bad fih am 
Strome bis zur Aufnahme der Mofel Hinabzog und aus welchem nachmals bie 
Rheinpfalz Hervorgegangen if. Speyer und WormB, die Wiegen bes Deutichen 
10* 


148 | Rhein. (Lauf.) 


Bürgeribums, liegen fihon auf fränfifchem Boden, der fi oflwärts bis zu dem 
Duellbezirl des Main hinauferſtreckt. Denn mit feinen beiden mächtigen Armen, 
Mofel und Main, greift der M. weit in die ihm weſtwärts und oflmärts ange. 
lagerten Gebiete ein und verbindet noch jet dad innere Deutfchland und Frankreich. 
Der Main, der von den Höhen des Fichtelgebirge Tommt und dem Hauptfirom 
ein DritttHeil feiner Waflerfülle zuführt, durchfließt in weftlicher Richtung, aber in 
zwei großen fübmärts gefrümmten Bogen, bei Bamberg und Würzburg vorüber 
gehend, die Landfchaften von Oſt⸗Franken oder Franconien, und bei Frankfurt 
vorübereilend das Gebiet des rheinifchen Frankens, welche beide durch die Gebirgo⸗ 
. gruppe des Speffart gefchleden werden. Das uralte Mainz, feiner Einmündung 
geyenüber in dem Winkel des R.'s gelegen, bezeichnet die eigentliche Mitte des Elaf- 
fliyen Bodens von Deutichland im Mittelalter. Von je an eine wichtige militärifche 
Poſition und der Lage nad mit Regensburg an der Donau zu vergleichen, bildete ed 
Immer den Schlüffel zu Deutichland und Die mittlere große Furth am Mheinflrom. 
‚ In dem ganzen oberrheiniihen Becken wühlt ſich der reißende Strom in dem lodern 

Erdreich der Thalebene feine Bahn und bilder bis nach Mainz bin eine überaus große 
Anzahl von Infeln und Auen. Ja, er if Anfangs fo reißend, daß er zwiſchen 
Bafel und Straßburg fat nur Thalfahrt geftattet, die überdies durch das beränder- 
lihe und unregelmäßige Flußbett gehört wird. Die eigentliche bedeutende Rhein⸗ 
ſchifffahrt beginnt daher erft bei Straßburg. Auf der Strafiburg- Mainzer Strede, 
wo Ill und Kinzig einfirömen, zieht ſich der Lauf des Fluſſes mehr In einen ein« 
zigen Baden zufammen, und die Sandbänke werden feltener. Der lebhafteſte Theil 
dieſer Strede ift der zwifchen Mannheim und Rain, Mannheim felbfi unter ben 
Rheinhaͤfen einer der wichtigften. Unter den Städten des oberrheiniſchen Gebiets auf 
der rechten Seite beanſprucht Frankfurt eine Alles überragende Wichtigfeit. Der 
Main if unterhalb Frankfurt ebenfo fchiffbar, als der R., mit dem er eine ununter- 
brodyene Waflerfiraße bildet, und fo wird Frankfurt zum Stapelort für den Kandel, 
weldyer fih auf Dem Mittelrhein und Oberrhein, am Main, von der Donau über 
Nürnberg, an der Kinzig, auf den Elbftrußen von Sachfen und Preußen ber, an 
der Weſer und Zulda entlang bewegt. Mainz iſt der Ort, wo die großen Holz⸗ 
flöße zuiammengefegt, die kleineren Schifföladungen zu größeren combinirt, die in ver⸗ 
mijchter Ladung angekommenen fortirt und nach ihren Beflimmungdorten verichidt wer⸗ 
ben. Auf dem linken Mheinufer behauptet Straßburg dieſelbe Stellung, wie 
Sranffurt auf dem rechten: es if der Stationsplag der großen europäifchen Heer⸗ 
firaße, mweldye von der Donau zur Seine, von Wien nah Paris führt. Die Natur 
felbft zeigte Bier einen großen Ucbergangspunft an; 10 Meilen aufwärts und abmärtd 
findet fi Kein Bunft, der fo wie Straßburg einen einzigen und fchmalen Flußlauf 
zwifchen feften Ufern darböte, außerdem nähern ſich bier vom linken Ufer Ylüffe dem 
R., rechts die Kinzig, links die IU. In naher Verbindung mit dem oberrheiniſchen 
Beden fichen die Gebiete des Nedars und des Mains, die zugleich zwiſchen den Fluß 
thälern von Donau und M. eine vermittelnde Molle fpielen. Das Gebiet des Nedars 
zieht fich tief in den Winkel binein, welchen die Linien der beiden deutfchen Haupt⸗ 
Rröme in ihren oberen Gegenden mit einander bilden. Jagſt und Kocher, die beiden 
groͤßten Zuflüffe des Nedars, Fönnten zur Berbindung des Fluſſes mit der Donau 
dienen, zu welchem Zwede man fie fhon mehrfach in's Auge gefaßt bat. Und was 
den Main betrifft, fo bat er, namentlich der rotbe Main, von Anfang an eine ru- 
bige, gleichmäßige Strömung, ein fandiged und ebenes Bett, nirgends Waflerfälle, 
Stromſchnellen und Belfenriffe. Im Norden und DOften öffnen ſich Verbindungen mit 
Weſer und Elbe, gegen Welten treten Speflart und Odenmald mit hohen Gebirgs⸗ 
jügen dem Verkehr entgegen, doch flellen bier die Gemwäfler eine Innige Verbindung 
ber, mit dem Süden findet eine breite und maflenbafte Verſchwiſterung flat. Das 
Megnipgebiet dringt vom Main tief in das Donaugebiet ein, die Altmühl macht die 
Annäherung noch größer, und fo haben diefe beiden Flüffe zur Herftellung der ber 
kanntlich ſchon von Karl dem Großen beſchlofſſenen Ganalverbindung zwiſchen R. und 
Donau dienen müſſen. Unterhalb Mainz hat das Rheinthal einen andern Charakter 
ale oberhalb genannter Stadt, indem die breite fruchtbare Ebene gegen Morben 


Rhein. (2auf.) 149 


plöglih durch einen großen Belariegel geichloffen wird. Dies I das rheiniſche 
Schiefergebirge, weldes von Süpmweft nach Rordoft quer durch das NMheinthal 
bindurchfegt und bier der Hundé rück, dort der Taunus genannt wird. Bel dem 
Drte Bingen, mo fih das romantifche-Ihal der Nahe vom Hundsrüd zum M. 
dffnet, tritt der Strom in den erflen engen Spalt des vorliegenden ®ebirges ein, und 
bier mußte erſt nochmals die Kunft dur Belsiprengungen einen Weg für die Schiffe 
fahrt bahnen, fo daß nun die großen Schiffe mitten dur ein furchtbared Felsthor 
hindurch aus dem Rheingau bis in die Niederlande hinabgehen kännen. In gewaltigen 
Strudeln raufcht der mächtige R. über eine dreifache Felswand vom Bingerloch bis nad 
St. Goar hinab, che er aus dieſem Gebirgeriegel in die Ebene von Koblenz eintritt, mo 
fi von Oſten her das fchöne Thal ver Lahn zum. hin öffnet und von Südweſt her Die 
wafjerreihe Mofel ihre Fluthen mit demjelben verbintet. Aber noch hat der Strom 
dad Niederland nicht erreicht. Dieſes if erſt bei Köln der Fall nah Durchbrechung 
eined dritten @ebirgäriegeld. Denn mad fih auf dem linken Stromufer in den 
Bullanfegeln der Eifel an der Mofel einzeln zeigt, das findet fi auf dem rechten 
Ufer des M.’8 in der Mafle des Siebengebirged unterhalb Neumied in einem 
großartigen Naßſtabe vereinigt. Denn die bomartigen Kuppeln der Vulkankegel jeneb 
Gebieted, aus deren hartem Geftein Die anliegenden Städte und vornänlich der bes 
rühmte Dom zu Köln erbaut worden find, beurfunden bie ehemalige Thätigfeit unter 
irdifcher Yenergemalten an dem mächtigen Durchbruche der mittelbeutfchen Gebirgs⸗ 
region, und zwar auf der Orenzmarf des Berglandes gegen das Flachland. Bel 
Bonn hört die Gebirgöbildung auf, und das alte Köln liegt fhon in der nord⸗ 
beutfchen Niederung, wo der Spiegel des Mheinftromes nur noch eine Höhe von etwas 
über 100 Buß über dem Deere bat. Hier befindet fih die untere große Furth 
über den Rheinſtrom. Der fi fortan in einer weiten Ebene auöbreitende Strem 
nimmt an Breite und Tiefe feiner Bewäfler immer mehr zu, er esfcheint bier ſchon 
wie ein See und bedroht nicht felten durch feine Einbrüche die benachbarten Land⸗ 
fchaften mit Verheerung, doch bilder der fogenannte, zwifchen den Endpunften Bingen 
und Bonn in einer Länge von 13 Meilen firömende Mittelrhein, das von Han» 
bei und Schifffahrt am meiften belebte Flußſtück des ganzen R.'s, mit geringen Aus⸗ 
Rahmen eine einzige Ader mit einem engen, fcharf begrenzten Bett. Von Bingen bis 
Koblenz fommen nocd häufige Windungen vor, von Andernach bis Bonn iſt der Lauf 
ein außerordentlich gerader. Durch feine Zuflüffe, die, außer den drei genannten, die 
Lahn, Wied und Sieg find und ein Waflergebiet von 650 O.M. einnehmen, 
wird der Mittelrhein in Berbindung gefegt mit der Maad und Saone, mit der Weſer 
und dem Innern von Deutfchland. Die Lahn, deren Schiffbarkeit bei Weilburg 
beginnt, die mit ihren Krümmungen einen Lauf von 30 Meilen darftellt, liegt ganz 
zwifhen Zuflüffen der Weſer und des R.'s. Das Bebiet der Nahe, eines Fluſſes 
von 16 Meilen Entwidelung, Hat ungefähr 65 deutiche Quadratmeilen Ausdehnung. 
Der mächtigſte dentſche Seitenflügel des R. ift die Mofel, mit der nur, mad Gebiet, 
Flußlaͤnge und Handelswichtigkeit betrifft, der Main metteifern fann. Don den Mofel- 
gebieten, wo fidy einft die Hauptfige des auftraflfchen Reichs der Franken befanden, 
ift nur der kleinere Theil deutich, aber felbft diefer kann mit den von ihm abhängigen 
Blußgebieten eine große Wichtigkeit beanfpruden. Wan bat richtig hervorgehoben, 
daß die Mofel ein großes Flußviereck bilder, gleichfam eine von Flüſſen umgebene 
große Infel, deren eine Seite im Nordoſten der Mittelrhein, die zmeite im Süpoften 
der Oberrhein, die dritte in Sudweſten die obere Maas, die vierte im Nordweften 
die untere Maas bilder und durch deren Mitte die Mofel gerade bindurafließt, fenke 
seht auf Obermaas und Mittelrhein und in Parallelismus mit, fo wie in gleich weiter 
Entfernung von Untermaad und Oberrhein. Dad der Mofel, tributpflichtige Saar 
gebiet durchziehen märhtige Straßenzüge, Die Naheſtraße von Bingen über Saarlouis 
nach Meß, die große franzöfliche Kaiferfiraße von Mainz über Saarbräd nah Naris, 
die großen mit diejer leßteren combinirten Eifenbahnen aus der Pfalz und von der 
Neckarmündung ber Über Saarbrüf und weiter nach Frankreich hinein, die großen 
Straßburger oder elfälflihen Bahnzüge über die Vogefenpäfle bei Zabern nach Nancy, 
Toul und weiter nach Paris. In der Nähe von Bonn beginnt der Untere oder 


150 Sihein. (Lauf.) 


Niederrhein, von den Schiffen in den beutichen ober preußifchen und in ben 
bolländifchen Niederrhein abgetheilt. Nah dem natürlichen Flußgebiete ergeben fich 
zwei andere linterabtheilungen, in einen oberen und untern Lauf, welch leßterer dem 
Gebiet des Flußdelta'e angehört. Bon feinem Audtritte aus dem mittelcheinifchen 
Gebirge ſtrömt der R. fortwährend in nordnordweſtlicher Richtung. Diefe Nichtung 
bleibt mit mehreren Abweichungen und Krümmungen 20 Meilen meit biefelbe, bei 
Wefel unterhalb der Lippemündung tritt eine Wendung nad Nordweſten und dann 
nah Welten ein. Bon Nijmmwegen und Arnheim an fchlägt die Hauptmafle 
der Gemäfler einen großen Bogen und e8 entſteht dadurch ein faft im rechten Winkel 
ſtehendes gewaltige Flußknie, das bis zur Mündung reiht. Diejer Abfchnitt hängt 
mit der Bliederung des ganzen Landes zufammen, denn nur bis zu jenem Blußfnie 
empfängt der R. bedeutende Zufläffe, von feiner weftlihen Wendung an fommen ibm 
gar Eeine großen Flüſſe mehr zu, vielmehr fängt er felbft an, dur Audfendung von 
Armen und Nebenzweigen feine Maſſe zu vermindern und fit in vielen Spaltungen 
zu verlieren. Die Gewäfler des Niederrheins find fur immer in einem einigen Canal 
verfammelt, die Ufer überall fe und bis an den Flußrand angebaut. Bis eine 
Gtrecke unterhalb von Köln find die Ufer zugleih Hoch, von Düffeldorf und no 
mehr von Zanten an wird Deihbau nöthig, und bier beginnt auch wieder eine 
Gegend, wo der R. noch in Hiflorifchen Zeiten mehrfach fein Bett bedeutend vers 
ändert bat. Bon Düffeldvorf bi Emmerich abwärts erſtreckt fich ein fchmaler, fehr 
fruchtbarer Marſchdiſtriet, der ganz auf die hollaͤndiſche Randfchaft vorbereitet. Köln, 
wo auch Caeſar feine Brüde über den Rhein baute, womit er in zehn Tagen fertig 
wurde, und wo jegt, wie in Koblenz, eine feſte Brüde über den R. führt, hat lets an 

ber Spitze des niederrheintfchen Handels geftanden. Sein Handel ging früher, wie heut» 
zutage, in vier Hauptrichtungen, den R. aufwärts nad Mainz, Straßburg, Frankfurt und 
Nürnberg, wohin Tücher, getrocknete Fifche und andere niederländifche oder nordiſche Bros 
ducte, Später Zuder, Kaffee, überhaupt Golonialwaaren geichafft und gegen Weine, feidene 
Stoffe und andere oberdeutiche, italienifche und Ievantifche Erzeugniffe audgetaufchtwurben. 
Diefe Waaren brachte dann Köln rheinabwärts bis nah England und Skandinavien 
und bolte ſich dort die PBroducte, welche feinen oberdeutfchen Taufchhandel erhielten. 
Die dritte Nichtung des Kölner Handels führte und führt zur Maas nah Maſtricht 
und Lüttich, wo fich diefer Waarenzug fpaltet und theild längs der Maas und Sambre 
nach Frankreich, theild im Scheldegebiet über Lowen nach Gent und Brügge fortiegt. 
Die vierte Richtung iſt die öſtliche nach Weilfalen und Sadfen, mohin Köln die 
Rheinweine fchafft und ſich dagegen mit Leinwand, Getreide 2c. verſieht. Don den 
Gebieten der Flüſſe, die der deutſche Niederrhein empfängt, iſt das der Sieg ein 
Territorium von ungefähr 10 Meilen Länge, 5 M. Breite und 50 Geviertmeilen Aus⸗ 
Dehnung, das feine Hauptlänge von Often nad Welten bat. Auch die Wupper if 
nicht febr groß, von ihrer Duelle bis zur Mündung find acht Meilen directer Ent⸗ 
fernung, aber ihre induftriellen Anmohner und die Städte an ihren Ufern oder an 
ihren Zufläffen, Wipperfurt, Elberfeld und Barmen, Schwelm, Remſcheid, Lennep, So⸗ 
lingen, Rade vorm Walde, Ronsdorf ac., machen fie in neuefler Zeit zu einem ber 
merkwürdigſten Fluͤſſe des rheiniich-weftfälifchen Gebirgsſtriches. Ruhr und Lippe 
fließen parallel miteinander von Oſten nach Welten, und ihre Hauptadern bleiben flet# 
in ziemlich gleicher Entfernung von einander. Das Ruhrgebiet, etwa 80 Q.⸗M. groß, 
Hat feine größte Länge von 18 M. von Dften nah Welten, feine größte Breite von 
EM. in der Mitte und zieht fi am ſchmalſten in feiner unteren Abtheilung zufammen. 
Im Süden grenzt es mit den Gebieten der Wupper und Sieg, im Often mit denen 
der Eider und Diemel, im Norden mit der Lippe, im Welten mit dem R. Auch das 
Ruhrgebiet iſt durch Induſtrie außgezeichnet, feine wichtigften Orte find Arnöberg, 
Iſerlohn, Hagen, Duisburg und Ruhrort, letzteres eine Schöpfung der neueflen geit. 
Die Lippe, größer und bedeutender ald die anderen Zuflüffe, bat bis Neuhaus abwärts 
20 Fuß Fall auf Die Meile und erreicht bei Lippfladt den erfien Grad ihrer Schiffe 
barkeit. Ihr Bebiet hat bei einer Länge von 22 M. eine durchſchnittliche Breite von 
4, mithin erreicht das von der Lippe burchfirömte Land einen Umfang von nicht ganz 
100 DM, Paderborn, Hamm, Dortmund und Weſel find bie wichtigen Orte dieſes 


Nhein. (Giſtoriſche Bedeutung.) 151 


Gebietes. Auf der ganzen linken Seite des Niederrheins münden gar keine beden⸗ 
tende Nebenfläffe mit alleiniger Ausnahme der Erft, deren Gebiet auch nur 22 O.⸗M. 
groß iſt. Wo der R. Deutfchland verläßt, an den Brenzen ded Herzogtbumd Kleve, 
beginnt feine Stromfpaltung, da breitet fih von Oſten nad Weſten daß hol⸗ 
ländiſche Deltaland aus, meldes fa in einem gleichen Niveau mit dem Meere 
gelegen, zum Theil noch unter daflelbe hinabſinkt. Diefes Deltaland, welches von dem 
Strome in zwei Hanptarmen, dem nörblihden Rhein und ber füdlichen Waal, 
durchfchnitten wird, bat als ein erfi dem Meere abgemonneneß Land im Laufe der 
Zeit die verfchiedenften Umgeftaltungen erlebt und ift durch alle Jahrhunderte berühmt 
Durch die Tüchtigkeit feiner Bewohner und durch deren Kenntniß im Seeweſen. Noch 
einen großen Nebenſtrom, die Maas (f. d.), nimmt der MR. in feinem Deltalande in 
fih auf. Sie kommt glei der Mojel von den lothringifchen Tafelflächen her und 
durchſtroͤmt, nach Durchbrechung des waldigen Bergrüdens der Ardennen von Ber- 
dun bi6 Namur, die wetrbeiniihe Niederung, um fi mit der Waal zu vereinigen 
und fo das Infelland der Maadmündung zu bilden, mit welchem ſich au die Schelde 
vereinigt. Es zeigen fich hier die beiden großen weſtrheiniſchen Marken Deutſch⸗ 
Sands gegen das weflfränfiiche Land oder Frankreich, es find die obere und untere 
weftrheinifche Mark, beide gefchieden durch die Ardennen. Im Süden if ed das Moſel⸗ 
Iaud, im Norden dad Maadland, beide von mefentlih verfchiedener Natur. Im 
Mittelalter bildeten fie die Tochringifchen Gebiete oder Ober⸗ und Nieder-Rothrin« 
gen, meldye heutzutage unter dem Namen des franzöflihen Lothringen (Lor⸗ 
raine) und Belgien dem deutichen Stammlande leider fchon entzogen find, 
fo daß nah dem Verluſte jener Marken die Thallinie des Rheinſtromes 
felbt zur Grenzmark Deutfchlands nun hat werden müflen. Der Rhein iſt der 
eigentih germanifhe Strom zu nennen, weil er von feinen Quellen bis 
zu feine Mündung fa dur alle Zeiten hindurch nur die deutſchen Landichaften 
durchfirömte, und gerade dadurch, daß fein Mündungdland ein Hauptſitz deutſchen 
Bolfdlebene geworden iſt, unterfcheidet er fi wefentlich von der Donau, die nur 
in ihrem oberen Laufe dem deutſchen Boden angehört und in ihrem unteren Kaufe 
immer das Heimathland barbarifher Völker geweſen if. Seit der Zeit der Bröße 
und Herrlichkeit des deutſchen Volkes, feit den Zeiten des römijch « deutſchen Kaifer« 
thums bildete er die Hauptpulsader des klaſſiſchen Bodend von Deutfchland. Er if 
aber auch ein wahrhaft europdifcher und ein weltgeſchichtlicher Strom, wie 
ed wenige giebt. Er firömte von jeher an der Grenze von Volfsftämmen und Staa» 
ten, ohne jedod eine fcheidende Naturgrenze zu bilden, und war deshalb auch von 
jeher ein Zankapfel und Kriegsichauplag. Im Altertbum bildete er fa in feiner gan« 
zen Ausdehnung die Grenze des Romerreiches; fpäter, wo fich ein buntes Staaten» 
leben an feinen Ufern entwidelte, trennte er auf Eleinere oder größere Entfernung 
Deutfche und franzöfliche Lande. Jett ift er an drei Streden (refp. vier, wegen des 
Unterbrechung der deutihen Grenze bei Schaffhaufen) Grenzfluß, während er fonft im 
oberfien Laufe der Schweiz, im unterfien Holland, im größeren Theile Deutfchland 
angehört, und ber Nationalität nad iſt er, wie fchon hervorgehoben, im Grunde faft 
ganz dentſch. Nur einmal fiel vorübergehend der Schwerpunft eines großen Reiches, 
des fränfifchen, in feine Nähe, das ſich zu beiden Seiten weithin ausdehnte, aber noch 
in einer barbarifchen Zeit. Daher bat diefer Strom zwar eine große Menge bedeu⸗ 
tender Städte aus allen Beitaltern gefchaffen, aber, vermöge feiner grenzbildenden 
Eigenſchaft, keine ſehr große Hauptſtadt. Kann der R. in keinem Wien mit ber 
Donau in die Schranken treten, fo überbietet er fie Dagegen in der Anzahl berühmter 
größerer und kleinerer Städte, wie Chur (Bregenz), (Lindau), Conſtanz, Schaffhaufen, 
Bafel (Mühlsaufen), (Kreiburg), (Bolmar), (Straßbusg), (Raſtadt), (Baden), (Karls⸗ 
ruhe), (Heidelberg), Speier, Mannheim, Worms (Darmitadt), Oppenheim, Mainz, 
(Srankfurt), Ingelheim, Bingen, Koblenz, Neuwied, Andernach, Bacharach, Bonn, 
Köln, Düffeldorf, Neuß, (Krefeld), Duisburg, Ruhrort, Weſel, Emmerich, Arnhem, 
Niimwegen, Dordrecht, Utrecht, (Amflerdam), Lijden, Rotterdam, (Haag), (Antwer- 
pen), (Brügge). Denn die Iegteren alle, von Amfterdam an, darf man ale die Rhein⸗ 
münbungsfläbte betrachten, deren vielfadhe Concurrenz die Stelle einer einzigen dom⸗ 


152 | Rhein. (Schifffahrt.) 


nirenden Mündungsſtadt vertritt, obwohl ein Amflerbam, ein Antwerpen, ein Brügge 
für fi eine folche vorftellen koͤnnen und für verfchiedene Zeiten es wirklich waren. 
Die eingeflammerten Namen gehören mittelbaren Rheinſtädten; die größte unmittel« 
bare Rheinſtadt iſt in der Gegenwart Köln, mit Zuziehung der mittelbaren aber 
Amflerdam. Mehrere derfelben führen Namen vom Alterthum ber, unter denen 
auch verſchwundene find, wie ein Augusta Rauracorum; mandye find aus dem karo⸗ 
lingifchen Zettalter (Andernach, Bacharach), die Mehrzahl glänzt im rheiniſchen Städte> 
Bunde des fpäteren Mittelalters und viele dieſer Reichsſtädte haben glänzendere Zeiten 
hinter fih. Im ihnen fand die großartigfte Entwidelung ded deutfchen Lebens flatt, 
unter ihnen befinden fich jene, welche, wie Mainz und Köln, in geifliger und welt« 
licher Beziehung die früheren Metropolen des deutichen Landes und Volkes zu 
nennen find. Der R. bildet eine der Handeldftraßen, auf welder ungeheure 
Maffen von Producten, befonders Colonialwaaren, jährlich fi) bewegen, wozu noch 
fommt, daß fein Mittellauf zu den erſten Heifegegenden Europa's gehört; eine wahre 
europäliche Bromenade mit mehreren Dugenden von Dampfern. Die ununterbrochene Schiffe 
barkeit beginnt bei Bafel, die Dampfichifffahrt — feitdem ihn auf beiden Seiten, mit Aus» 
nahme geringer Streden Eifenbahnen, die fich ſelbſt bis Chur ausdehnen, begleiten — erſt 
bei Mannheim und ift nur noch zwiichen Mainz und Köln bedeutend. Für die Schifffahrt 
ift der R. vor vielen andern Flüſſen dadurch begünftigt, daß er ſtets eine beträchtliche 
Maflermenge bat. In der heißen Jahreszeit, in der auf Elbe und Wefer der Ver⸗ 
kehr häufig ganz aufhört, iſt das Bett des R.'s gefüllt und zwar In der Megel noch 
färker als im Winter, da der fchmelzende Schnee der Gebirge, wo fein Quellengebiet ift, 
ihm in dem Grade, als die Hige zunimmt, größere Waflermengen zuführt. An der 
Rheinſchifffahrt find jetzt Preußen am flärkfien betheiligt, dann auch Heffen, Baden, Naflau, 
Bayern, Holland, am wenigften die Schweiz und Branfreih. Im Jahre 1824 wur- 
den auf den Niederrhein die erften nachhaltigen Verſuche gemacht, fi zum Transport 
der Güter und Reiſenden des Dampfes zu bedienen. Das Dampfboot „Seeländer“ 
fuhr am 26. October 1824 von Motterdam zu Berg und fam nach mandherlei Aufent⸗ 
balt am 29. October in Köln an. Bon Bier warb ein mit 200 Ger. zur Abfahrt 
nach Mainz bereit liegended hölzernes Fahrzeug in's Schlepptau genommen und eine 
furze Strecke weit hinauf geichleppt. Das Dampfihiff felbft, deſſen Mafchine nicht 
mehr als 45 Pferdefraft befaß, fegte feine Fahrt in den darauf folgenden Tagen biß 
Gaub fort und Fehrte dann nad den Niederlanden zurüd. Der Beweiß, daß bie 
Dampffraft auf dem R. anwendbar fei, mar geliefert. In richtiger Erkenntniß ber 
Zukunft boten ſich die beiden bedeutendflen Städte des R.'s die Hand, um für ben 
nahe bevorfiehenden Verluſt ihres Umſchlagsrechtes bei Zeiten Erfap in Eröffnung 
neuer Erwerböquellen zu fchaffen. Die Megierungen der Rheinuferſtaaten erleichterten 
und beförderten diefe Beftrebungen. Im Jahre 1824 betrug die Menge der aus Ant⸗ 
werpen zu Wafler in Köln angefomnenen Güter 38,600 Cir. Im folgenden Jahre 
fand in Kolge des Einfluffed der Dampffraft auf jener Rheinſtrecke ſchon eine Zus 
nahme diefes Verkehrs von 19,188 Ctr. flat. Die aus dem genannten bolländifchen 
Hafen nah Köln gebrachten Güter, an deren Transport zunächft zwei Dampfichiffe 
Theil genommen hatten, waren auf 57,738 Etr. gefliegen. Das Gewicht aller aus 
fänmtliyen hollandiſchen Häfen in Köln 1825 angelangten Waaren betrug 560,534 Ctr. 
Die Dampfichifffahrt verhielt fi alfo gegen die Segelfchifffahrt wie 1:32, ein Ver⸗ 
haͤltniß, das Heute beinahe umgekehrt If. Wie alle Binnenfchifffahrt hat auch der 
Verkehr auf dem R. bis in die neuefte Zeit hinein unter übermäßigen Zöllen ge 
ſeufzt. Im Jahre 1815 begannen auf Grund des fünften Artikels des Pariſer Fries 
dens die wichtigen Berathungen, melde erft 16 Jahre fpäter zum Schluß fommen 
follten. Jusqu’a Mayence, — jusqu’a Cologne und jusqu’a la mer — das war bie 
Frage, um deren Loͤſung in Wien und in Mainz gekämpft wurde, bis die Conven⸗ 
tion vom Jahre 1831 diefem Kampfe ein Ende machte. Er ifl, wenn auch von hiſto⸗ 
rifchem Interefle, doch von menig erquidlichen Erfcheinungen begleitet. Deſto wichti⸗ 
ger find die Thatfachen, welche fich auf dem R. ſelbſt zutrugen, und wir erwähnen 
nur noch, daß die Zölle um fo mehr den Verkehr befchränkten, als der Schifffahrt ' 
die flarfe Transporteoncurrenz der Eifenbahnen entgegentrat, daß Zolfermäßigungen 


— —— — — — — 


— oe 


Nhein. (Verkehr.) 153 


für Rheinſchifffahrt mit dem 1. Oetober 1851 und 1. März; 1861 flattfanden, und 
daß inzwifchen legtere namentlich durch die Eröffnung der Rheinbahn am 15. Decem- 
ber 1859 eine verftärkte Concurrenz erhielt. Mit Rückſicht auf diefe Daten geben wir 
die folgende Statiſtik des Rheinverkehrs bei den lebhafteſten Zollflätten, nämlich 
bei Emmeridh bei Koblenz 

i. Jahre zu Berg zu Thal zufanımen u Berg zu Thal zufammen 
1847 6,150,912 5,131,262 11,282,174 8,611,386 2,238,950 11,850,336 
1850 3,473,630 7,989,775 11,463,405 6,647,943 5,258,133 11,906,076 
1851 4,681,551 6,842,839 11,524,390 6,979,705 4,229,506 11,209,211 
1852 6,375,239 7,916,323 14,291,562 8,890,789 4,346,951 13.237,740 
1854 5,867,550 9,650,183 15,517,733 10,494,240 6,551,911 17,046,151 
1856 6,034,500 11,790,500 17,825,000 8,951,600 11,239,200 20,190,800 
1860 6,011,760 14,853,400 20,865,160 12,293,920 8,980,992 21,274,912 

Die Zunahme des Mheinverkehrs tritt jeit der erſten Zollermäßigung im Jahre 
1851 fhon an diefen beiden Zolllätten hervor. Es betrug ferner der Verkehr bei 
den Zollſtaͤtten | 


su Berg zu Thal 
1858 1860 1856 18060 
Mein... .. 7,583,800 9,946,7066 7,148,800 ’5,891.828 
Gab ..... 8.832,800 12,018,800 7,902, 000 6,703,915 
Lobith ..... 6,027,400, 6,006,293 11,350,500 14,748,919 


zufammen.. . 22,444,000 27,971,799 26,401,300 27,344,662 
Im Jahre 1857 fuhren auf R. und Nebenflüffen 96 Dampffciffe (46 mit 
Berfonentraneport) = 13,769 Pfervefraft und 114,418 Etr. Ladungsfähigfeit mit 
154 Anhängen = 954,526 Etr. Ladungdfähigkeit.e. Segelſchiffe fuhren (ein- 
fließlich Niederlande 888 auf dem R. und 1694 auf Nebenflüflen): Ende 1861 
hatte die preußifhe Rheinprovinz allein 1790 Segelfchiffe — 108,726 Laften 
(4 4000 Pfund — 40 Etr.) und 101 Dampfichiffe und Schlepper = 12,155 Pferde» 
kraft. Zur Rheinichifffahrt nach den conventionellen Gefegen berechtigt und concefflo» 
nirt waren 1857. 
Schiffer Schiffe Tragfähigkeit Schiffer Schiffe Tragrähigfeit 
am Mhein. 820 943 1,831.819 Er. an Mol. 120 229 277,870 
„» Bein „. 159 338 369,674 „ n Ruder . 207 338 1,268,377 
„ Nedar. 226 410 377,633 „ „ Rippe . 21 38 77,086 
an Lahn . 187 321 272,473 „ jufammen. 1740 2617 4,474,937 
Im Jahre 1856 betrug die ganze Bergfahrt 38,197,203 und die Thalfahrt 
überhaupt 54,251,818 Etr.; davon waren nach Procenten betheiligt: 


zu Berg zu Thal zu Berg zu Thal 
die preußifche Flagge 52,77 42,33 die naffauifhe Flagge 2,5 dus 
„ niederländ. „ 14,58 26,0 „ franffurtr 5 6,40 2,01 
großh.hefſſ. „ 10,37 11,75 „ Württemberg. „ 0,5; O,08 
„ bayerifhe „ 8,4 ds „ franzdfifihe „ 0,06 0,56 
u badenſche u⸗ 83,01 9,08 u ſchweizeriſche .r — — 


Die Schweiz war bei der Thalfahrt nur mit 200 Ctrn. betheiligt. Im Jahre 
1860 paffirten 
| zu Berg zu Ihal 
die Zollämter Schiffe — ladungsfaͤhig Cr. Schiffe — ladungefaͤhig Etr. 
Alt⸗Breifach.... — — 30 — 


Straßburg....... — — 49 — 

Neuburg.......e 19 73,701 143 136,037 
MRannbeim .... . . 7193 1,229,716 4,125 10,224,207 
Mainz... .. 2... 7,067 16,095,188 11,335 18,474,258 
Gaub ... 2.2.0. 6,464  17,452,646 6,713 17,434,889 
Koblenz ... 0... 13,525 23,246,642 13,169 22,536,313 
Emmeih ...... 6,510  18,779,814 7,085 19,262,025 


Lobitb ..: 2.2... 6,593 18,688,007 6,951 19,373,789 


154 Rhein. (Verkehr.) 


Ders Durchſchnitt der Tragfähigkeit eines Rheinſchiffes beträgt danach 
I11,;5 Tonnen oder 2228,3 Etr. Die Thalfahrt erfolgte 1860 bis Mannheim ohne 
Dampflraft; die Bergfahrt benugte diejelbe eine Station weiter. Dampfſchiffe be⸗ 
förderten im Jahre 1860: 


zu Berg Ä zu Thal 

Zollſtation Ctr. = p6t. Er. = pt. 
Neuburg ....... 43,008 91, — — 
Mannheim ...... 488,643 49,, 535,010 15,, 
Mainz... 222.20. 6,419,720 65,, 1,341,567 22, 
Caub .. 2.2 22.. 11,958,181 99,, 1,700,224 25,, 
Koblen .. 2.2... 11,934,543 97, 1,756,353 19,, 
Emmeih ...... 5,542,843 92, 2,317,128 15, 
Lobith ..... ... 5,704,185 94, 2,350,950 16, 


Drei der rheinpreußiſchen Dampfichifffahrts » Gefellfchaften beförderten im Jahre 
1860 mit 31 Fahrzeugen allein 1,198,151 Berfonen und 1,165,702 ©tr. Güter. 
Der Verkehr in den Rheinhäfen war 


im Jahre 1856 im Sabre 1860 
tr. tr. 

Häfen. _ überhaupt davon Abfuhr überhaupt bavon Abfuhr 
Straßburg... ... 115,316 54,540 26.724 4,443 
Kl... .2202.. 157,498 146,185 18,053 17,555 
Freiftatt ... 2... 5,951 1,151 4,997 — 
Knielingen...... 22,902 21,958 80,439 62,800 
Leopoldöhafen.... 397,168 275.620 297,542 97,426 
Sy... 222.2. 28,510 28 510 58,817 30,558 
Mannheim ...... 5.051,692 1,719.539 4,837,749 1,036,742 
Zudwigöhafen ...... 1,539,978 334,637 3,371,043 1,839,287 
MWormd ....... 55,442 26,584 55 319 31,354 
Mainz... 2.2.0. 3,180,419 1,152,759 3,104,316 1,062,855 
Biebrih -... 2... 500,736 57,665 987,947 228,602 
Bingen .. 2. 2.. 601,582 207,752 716,478 283,398 
Koblen ....... 1,912,754 513,362 2,192,776 579,287 
Köln. ...22.2.. 7,599,453 2,228,102 4,962,861 1,359,205 
Düſſeldorf ...... 3,623,960 940.903 3,367,063 810,465 
Rudrort ....... 4,407,670 495,922 3,309,495 127,239 
Weil ........ 2,727,611 858,121 1,150,597 550,673 


- Der ganze Mheinhafenverfehr belief jih 1860 auf 28,543,116 Etr., d. h. 
2,074,762 Gtr. mehr als 1859. Die Abfuhr betrug 8,717,789 ECtr., nämlid 
3,441,678 Etr. zu Berg und 5,240,314 zu Thal, die Zufuhr 19,825,327 Etr., 
nämlich 8,850,285 Gtr. zu Thal und 10,928,796 zu Berg. Die Bedeutung der 
Rheinfhifffahrt für den deutichen, für den europäifchen, für den Welthandel 
tritt ſchon durch die vorflehende Bezifferung des Hafenverfehrs ins Licht. Noch mehr 
aber dadurch, dag im Sabre 1860, — für den R. noch Fein gutes Mitteljahr, — 
zu Berg 40,971 Fahrzeuge — 4,778,286 Tonnen, zu Thal 50,200 = 5,372,076 
Tonnen Tragfähigkeit palfirten, während der ganze Schiffsverkehr Hamburgs fi kaum 
auf Y, Diefer Ziffer erhebt. Oft iſt es verfucht worden, den Geldwerth der jähr- 
lich auf dem MR. verführten Güter annähernd zu ermitteln. In feinem Adreß⸗Hand⸗ 
buche vom Jahre 1830 giebt H. Herrmann eine Ueberficht des Verkehrs, in welchem 
er den Werth der Thalgüter auf 12 Millionen Bulden, nämlich 6 Mill. für Holz⸗ 
und Steintohlen und 6 Mill. für alle übrigen Artikel, den Werth der aus Holland 
eingehenden Waaren auf 40 Mill. Guld. angiebt, und den ganzen internationalen 
Verkehr, bei ungehemmter Schifffahrt, durchſchnittlich zu 50 Mill. Guld. ſchaͤtzt, ohne 
den innern durch die Rheinſchifffahrt vermittelten Conſum mit zu redynen. In einer 
ftatiftifchen Beichreibung Mannheims, welche das badenfche Gentralblatt 1855 enthält, 
wird der Werth ber im Hafen von Mannheim zu Schiff angefommenen Waaren auf 
24,170,774 und der Werth der von Mannheim zu Wafler abgegangenen Waaren auf 


Siheinen. 155 


34,112,382 Thlr., alfo ber Gefammtwaaren » Verkehr des Mannheimer Hafens auf 
58,283,156 Thlr. oder auf nahezu 100 Millionen Guld. angegeben. Dergleichen 
Abſchaͤgungen find allerdings hoͤchſt mißliy. Genaue Angaben über den Werth der 
eingeführten, tranfltirenden und audgeführten Waaren laſſen fih gar nicht geben. 
Niemand bat alle zu einer folhen Rechnung ndthigen Factoren in Händen. Der 
Werth der einzelnen Artikel fleigt ober fällt oft in ganz kurzer Zeit ſehr bedeutend 
und zwijchen dem Bezugs⸗ und dem Verkaufswerth liegt ein großer Unterichieb, den 
nur der Berkäufer Eennt, und auch diefer nicht, wenn er aus zweiter Hand Fauft. 
Dennoch giebt es zur annähernd richtigen Beſtimmung des mittlern Werthes der 
Haupthandels artikel Anhaltspunkte, die ihre praktifche Anwendung z. B. bei Ber- 
fiherungen finden. In dem vom Departement der niederländifchen Binanzen vers 
anfalteten Handels⸗ und Schifffahrts ſtatiſtik des Königreichs der Niederlande für 1855 
wird der offlcielle Werth der zollvereindländifchen Einfuhr in die Niederlande auf 
66,194,697 Guld., der officielle Werth der Ausfuhr aus Den Niederlanden nach dem 
Zollverein auf 118,793,349 Guld. und der Werth der Durchfuhr auf 62,698,201 
Bulden, der Geſammtverkehr zwifhen dem Bollyerein und Holland demnach auf 
237,540,475 Guld. angegeben. Der wirkliche Werth war aber viel bedeutender und 
fland um 40 bie 50 pGt. Höher. Will man nach Mafgabe von Maffenverficherungen, 
wie ‘diefelben im Eifenbahn- und Schiffätransport, fo wie bei Niederlagen abgefchlofien 
werben, den Geniner der zur vollen und zur Viertel» Gcbührenklaffe zählenden Güter 
durchſchnittlich auch nur zu 15 Bulden annehmen, fo würde fh der Werth der zu 
-Berg und zu Thal gehenden Güter dieſer beiden Klaffen zu Lobith auf etwa 100 
Mill. Suld. und bei Mainz auf mehr als 80 Mill. Guld. ſtellen. Beranfdlagt man 
die zollfreien Güter und die zu 1/a, Gebühr ganz gering, fo wird man wahrſcheinlich 
noch bedeutend unter dem mirklihen Werthe bleiben, wenn man den Gefammt- 
waaren-Derfehr des R.'s bei dem Rheinzollamte Mainz durchſchnittlich auf 150 
Mill. und bei Lobith auf 200 Mill. Gulden jährlid annimmt. Leber einen großen 
Theil des inneren Verkehrs findet gar Feine Gontrole flatt, man muß fich daher bei 
einer folchen oberflächlichen Werthſchätzung auf die controlpflichtigen Transporte ber 
fihränfen. Die vereinigten Affecuranz =» Gefellfchaften zu Köln und Mainz verficyerten 
1839 für 31,936,956 und 1850 für 32,872,246 Gulden. Die Zahl der Verſiche⸗ 
zungd= Gefellichaften bat feitdem fehr bedeutend zugenommen. Ihre Abſchlüſſe find 
leider nicht bekannt. 

Rheinau. Bis gegen bad Ende des 16. Jahrhunderts Tag im Elfaß, unmittelbar 
am linfen Aheinufer, und zwar auf dem Wege von Straßburg nah Colmar, die 
Stadt R. Es giebt zwar jet noch in dieſer Gegend ein Städtchen deffelben Namens, 
doch liegt dies eine halbe Stunde von Mheine entfernt: Diefer Strom, der bei 
feinem Eintritt aus der Schweiz in das von Süden nah Norden fidh erſtreckende 
Thal, dad den badifhen Schwarzwald von der elſaſſiſchen Ebene trennt, ein fehr 
ſtarkes Gefälle Hat, überſchwemmt oft das Linke. Mheinufer in verheerender Weife, 
während er im Gegentheil von dem rechten Ufer zurüdweicht und gemifjermaßen, 
wenn auch in bomdopathifcher Weife, wieder gut zu machen fucht, was hier Frank⸗ 
reih gegen Deutfchland gefündigt bat. Dad Großherzogthum Baden gewinnt am 
Rhein allfährlih einige Ruthen am Terrain, und fo If e8 denn im Berlaufe von 
Jahrhunderten gefommen, daß die Ruinen einer alten Stadt, die unbeflritten im Elſaß 
Ing, ſich jegt im badifchen Oberlande befinden. Die Chroniken des Elſaſſes berichten 
über furchtbare Berbeerungen, die in früheren Jahrhunderten der Rhein in diefen 
Zandebtheilen angerichtet. Ganze Städte und Dörfer wurden von ihm überſchwemmt 
und vernichtet. Namentlich hatten die beiden, im Mittelalter ſehr bedeutenden elſaſſi⸗ 
Shen RhHeinfläbte Honau und Rheinau dieſes Schidfal. Der Strom Bat fi 
Da, wo diefe Ortfchaften flanden, ein ganz neues Bett gefchaffen, fo daß von den 
früheren Wohnflätten der Menſchen kaum nod eine Spur zurüdgeblieben if. Der 
eljafflfch » franzöftiche Gefchichtichreiber, Laguille erzählt, Daß das alte R. eine freie 
Stadt und der reiche Sig eined Benedictinerordens⸗Capitels gewefen fei, welches im 
13. Jahrhundert dur die Verbeerungen des Rheins aud der Stadt Honau ver- 
trieben worden. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts war jedoch der Orden aus der 


156 Neinbund. 


ſelben Gründen gendtbigt, auch die Stadı R. zu verlaſſen. Das Capitel wurde im 
Jahre 1398 nad Straßburg in die Gebäude der St. Peters⸗Altenkirche verlegt, bie 
der Biſchof von Straßburg dem Drden ſchenkte. Ein anderer Hiftorifer, Schoͤpflin, 
berichtet ebenfalld nad) alten Chroniken, daß zu jener Zeit, als dad Drdendcapitel 
von Honau nah R. überfiedelte, der Rhein an der Seite diefer Stadt, unmittelbar 
an ihren Häufern, vorübergefloffen fei. Im 14. Jahrhundert fing er jedod an, als 
ein reißender Strom die Stadt und ihre Mauern, fo wie die Häufer felbfl, zu ver- 
heeren. Die Palaͤſte der Prälaten und Stiftäberren, fo wie der Geiſtlichen der St. 
Michaelskirche, kamen bald ebenfalld an die Reihe. Und im 15. Jahrhundert hatte 
der Strom fein Bett bereitö fo meit überfchritten, daß von Zeit zu Beit die ganze 
Stadt überſchwemmt war. Angeſichts diefer Noth beflimmte der Biſchof von Straß⸗ 
burg, daß die dem Bisthum aus gemwiffen Zehnten erwachjenden Einnahmen darauf 
verwandt werden follten, die Kiryen und die Stadtmauern von R., fo wie die Woh⸗ 
nungen der Stiftöherren wieder berzuftellen. Die Gefahr wuchs mit jedem Jahre. 
Je mehr man aufbaute, um fo mehr riß der Rhein wieder nieder, fo dag die @in- 
wohner endlich fich entichloffen, ihre alte Stadt zu verlaflen und fi} auf einer An» 
höhe, etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt, neu anzubauen. Gegen Ende des 
18. Jahrhunderts war diefer Befchluß ausgeführt, und es dauerte auch nicht lange, 
fo war das alte R. völlig vom Strome verfchlungen. Nur wenn der Rhein außer⸗ 
ordentlich gefallen und waſſerarm war, erblidte man noch etwas von der verluffenen 
MWohnftätte. Namentlich fteht ed fef, daß man Ende 1749 die Ruinen mitten im 
Strombett erblidte, wo der Giebel eines kirchlichen Gebäudes hervorragte, in deſſen 
Tiefe man durch dad Waſſer hindurch eine große Pforte und darüber ein Fenſter 
erkannte. Diejelbe Erſcheinung wurde fpäter bei einem niedrigen Waflerflande wahr- 
genommen, doc fchon 1766 erblidte man die Ruinen nicht mehr in der Mitte des 
Stromes, fondern, unter Kicd und Sandmallen vergraben und die Grundlage einer 
Meinen Infel, wie fie dort im heine fehr zahlreich find, bildend, in der Nähe des 
badijchen Ufers. Seit diefer Zeit hat der Rhein fein Bett mehr und mehr nad links 
gefrhoben, und man ift jegt damit befchäftigt, in den nicht mehr auf franzöflfchem, 
fondern deutſchem Boden liegenden Auinen des alten R. Ausgrabungen zu veranfalten. 
Rheinbund, der Name jener unter dem Protectorat des Kaiferd Napoleon 1. 
geftifteten Conföderation deutfcher Staaten, die aus Reichsſtaͤnden in fouverine Mächte 
verwandelt waren und fo in Folge der franzöflichen Waffenflege zum Genuß der lepr 
ten Gonfequenzen des meftfäliihen Friedens (f. d. Art.) gelangten. Der nach 
der Schlacht bei Aufterlig am 26. December 1805 abgeichlofiene Preßburger Frie⸗ 
densvertrag ficherte den drei Sauptverbündeten Napoleon's, Bayern, Württemberg und 
Baden, die volle Souyeränetät und die darand fließenden Mechte zu, fo daß fie der⸗ 
felben ganz fo wie der Kaifer von Deutichland und Oeſterreich und der König von 
Preußen in ihren deutjchen Staaten genöſſen; allen, Dreien brachte derſelbe Brieden einen 
beträchtlichen Laͤnderzuwachs zu und an Bayern und Württemberg die Königäfrone. 
Doch hatte Napoleon fhon vor dem Abfchluß der Sriedendunterhandlungen, um Oeſter⸗ 
reich feine Uebermacht fühlen zu laffen und um den von ihm Begünfligten zu Gemüthe 
zu führen, daß er allein diefe neue Ordnung der Dinge ins Leben rufe, in Separat« 
verbandlungen mit Bayern und Württemburg die Beftimmungen über ihre Macht⸗ 
erhöhung feftgefegt und eben fo vor jenem Abſchluß aus feinen Hauptquartier zu 
Schönbrunn eine Bekanntmachung erlaffen, durch melde den Befehlshabern der in 
Bayern, Württeniberg und Baden fichenden franzöflichen Truppen aufgegeben wurde, 
diefe Bürften in der Ausübung unumfchränfter Souveränetät über alle Klaffen der 
Einwohner ihrer alten und neuen Gebiete zu begünftigen und nöthigenfalld mit bewaff- 
neter Hand zu beſchützen. Endlich wurde an der Stelle des Preßburger Friedens, 
wo die Erhebung der neuen Königreiche feftgefegt wurde, flatt des noch fonft im 
Tractate vorkommenden Ausdruds Empire Germanique der Name Confederalion 
Germanique gebraucht. Diefer Ausdruck und die folgenden Vorzeichen meiterer Ver⸗ 
änderungen der alten Neichöverfaflung gaben, zumal nachdem Preußen durch den Schöns 
brunner Vertrag vom 15. December 1805 und durch deflen definitive Beflegelung im 
Parifer Tractat vom 15. Februar 1806 Deflerreih und das deutſche Reich preis- 


Aheindunb. 157 


gegeben hatte, vielfach zu denken. In Brofchliren wurde feit dem Anfang bes Jahres 
1806 von einer neuen Verfaflung ala von einer fih von ſelbſt verfiehenden Sache 
gefprocdgen. Auf dem Meichötag zu Megendburg machte man ſich darauf gefaßt, daß 
Napoleon auch für Deutfchland die Kaifermärde übernehmen, Andere glanbten, daß 
diefe Würde vielleicht ganz verfhwinden würde. Geit dem 17. März 1806, an 
welchem Tage Napoleon in Münden den Bevollmächtigten von Bayern, Württemberg 
umd Baden den Entwurf eined Staatövertragd, der die Ablöfung des füdlichen Deutich- 
lands vom Reich und die linterordnung deffelben unter feinen Einfluß bezwedte, hatte 
vorlegen laflen, verfolgte er feinen Blan in der Stille des Geheimniſſes. Die Ein- 
wendungen, welche einzelnen Beflimmungen dieſes Entwurfs, befonders von Württem- 
berg entgegengefegt wurden, bewogen ihn, die Unterhandlungen abzubrehen. Seitdem 
war Tallegrand allein mit der Ausarbeitung ded neuen Berfafjungspland betraut, 
unter demfelben arbeitete der Minifterialbeamte Labesnardiere und dieſer confultirte 
den Kenner der deutſchen Reiche verfaſſung Ehriftian Ferdinand Bfeffel(f.d. Art). Nur 
Dalberg (ſ. d. Art), Kurfürft von Mainz und Erzkanzler, griff mit feinen Auffor⸗ 
derungen an Mepoleon, er möge „der Megenerator der deutſchen Verfafſſung“ werden 
(1. B. in feinem Schreiben vom 19. April) und auch in fofern thätig in diefed Re⸗ 
generationswerk ein, als er ſich dazu bergab, den Oheim Napoleon’s, den Cardinal 
Feſch (f. d. Art.) mit Zuftimmung des Domeapiteld zu feinem Coadjutor zu ernennen. 
Unterhandlungen über den Brunddarafter des Bundes, wie diefer von Napoleon und 
Zalleyrand allmählich definirt wurde, und über die Geſammtheit der Details wurden 
- mit feinem der deutichen Bevollmächtigten geführt. Nur Bayern, und wohl aud 
Württemberg und Baden, wurde die ganze Acte, als fie fertig geworden, vorgelegt, 
obne daß man fi jedoch in eine eigentliche Grörterung darüber einließ. Endlich 
wurde am 12. Yult 1806 den in der Wohnung Talleyrand’s verfammelten Ab⸗ 
geordneten der deutichen Bundesfürften die Rheinbundacte vorgeleien, jedoeh nur 
zum Behuf der Unterzeichnung, der ſich denn auch Keiner entziehen konnte. Die 
feierliche Unterzeichnung und Bekanntmachung fand am 17. Juli flat. Am 25. Juli 
1806 erfolgte zu Münden bei Marfchall Bertbier die Ausirechslung der Ratificationen 
der MHeinbundäglieder, die am 1. Auguft ihre auf diefe Angelegenheit bezuͤglichen Er⸗ 
Märungen an den Megensburger Meichstag erließen. Der Zitel der in franzöflicher 
Sprade abgefaften Acte Tautet: L’Acte de la confederntion du Rhin, vu traité entre 
Sa Majest& l’Empercur des Frangais, roi d’Italie, et les meınbres de l’Empire Ger- 
manique denomme&s dans ce treit&, conclu & Paris le 12 Juillet 1806. Als Mit⸗ 
glieder des R. werden in dieſer Acte aufgeführt und ratifleirten am 25. Juli bie 
Bundebacte: 1) der König von Bayern, 2) det König von Württemberg, 3) der 
Kurerzkanzler von Mainz (mit dem Titel als Fürſt⸗Primas, feit dem Mär; 1310 
Großherzog von Frankfurt), 4) der Kurfürft von Baden (nun Großherzog), 5) der 
Großherzog von Berg‘ (Murat), 6) der Großherzog (bisher Landgraf) von Heſſen⸗ 
Darmfadt, 7) die Fürften von Naffau-tlfingen, 8) Naffaus Weilburg, 9) Hohenzollern» 
Hechingen, 10) Hohenzollern» Sigmaringen, 11) Salm-Salm, 12) Salm-Kyrburg, 
13) Iſenburg⸗ Birftein, 14) Herzog von Aremberg, 15) Fürſt von Liechtenftein, 
16) Fürſt von der Leyen. Zugleich wurden durch die Acte zu Unterthanen der ein» 
zelnen Rheinbundfürſten gemacht: bie reichdritterfchaftlichen Gebiete, die indeſſen in 
Bayern, Württemberg und Baden in Folge des Prefburger Friedens ſchon unter- 
moıfen waren, die Reichsſtaͤdte Nürnberg und Brunffurt, fo mie die Gebiete von 
72 reihsfländiihen Fürften und Grafen. Am 1. Auguft, von welchem Tage aud 
bie dem Reichſtag Übergebene Rodfagungsurfunde der neuen Nheinbundsfürften vom 
deu’fchen Reichſsverbande datirt mar, übergab endlich der franzüfliche Gefchäftöträger zu 
Regendburg Bacher dem deutichen Meichötage Die Anzeige von der Stiftung des R. 
und die Erklärung, daß Napoleon das Deutfche Meich, welches fo ſchon in Folge ber 
Feſtſezungen des Vreßburger Friedens nicht mehr beſtehen könne, als eriflirend nicht 
mehr anerfenne. So legte denn auch Franz Il., der vierundfunfzigfte römtjch-deutiche 
Kaifer feit Karl dem Gr. und der zmanzigfte aus dem Haböburgifchen Stamme, durch 
feine Erklärung vom 6. Auguft 1806 die deutiche Kaiferkrone nieder, bewogen, mie 
Das Öfterreichifehe Kriegsmanifeſt vom Jahre 1809 fagt, „durch die unbedingte 9 


158 Rheinbund. 


reitwilligkeit und Unterwerfung, die den Erfolg einer ſo gewaltſamen Revolution von 
allen Seiten zu begünſtigen ſchien, durch das Stillſchweigen aller übrigen Mächte, 
vorzüglich aber durch den auffallenden Kaltfinn, mit welchem ein beträchtlicher Theil 
Deutichlands dem Untergange der alten Ordnung zuſah.“ — Wenige Tage nach der 
Stiftung des R. lieb Napoleon dem Könige von Preußen durch die Note vom 
22. Juli 1806, in welcher er denfelben zur Anerkennung des Mheinbundes anfforberte, 
zugleich die Erklärung zufommen, „es fei nun an Preußen, eine fo günfltige Belegen« 
heit zu benugen, um fein Syflem zu vergrößern und zu befefligen. Daffelbe werbe 
den Kaiſer Napoleon geneigt finden, die preußifchen Pläne und Abfichten zu unters 
fügen. Breußen Fönne unter einem neuen Bundedgefeße die Staaten ver» 
einigen, die noch zum deutſchen Reiche gehören, und die Kaiferfrone an 
das Haus Brandenburg bringen. Es Fönne auch, wenn es Died vorziebe, einen 
Bund. der norddeutſchen Staaten bilden, welche mehr in feinem Wirkungsfretfe liegen." 
Das preußiihe Gabinet ſuchte in der That den Plan, der ihm fchon im Friedens⸗ 
ſchluß von Bafel und bei der Stiftung ber norddeutihen Neutralität vorfchwebte, 
jeßt zur Ausführung zu bringen; allein derfelbe war ſchon, che zwei Monate ver- 
gingen, an der Wipdermwilligkeit der norbdeutfchen Mitftände und an den geheimen und 
offenen Gegenoperationen der franzöflichen Diplomatie gefcheitert, und die Schlacht 
bei Jena, fo wie der Brieden von Tilfit machten auch dem letzten Reſt des deutfchen 
Reichs ein Ende. Vom December 1806 bis in den October 1808 wurden zu Den 
urfprüngliden Techzehn Mitgliedern noch dreiundzwanzig andere deutfche Könige und 
Bürften einfeitig, demnach in Widerfprud mit Art. 39 der Mheinbundacte, von dem 
Protector in den Bund aufgenommen, nämlich 1) der König (bisher Kurfürf) von 
Sachſen, 2) der König des neu errichteten Königreihe Weftfalen, 3) der Großherzog 
(bisher Kurfürf) von Würzburg, dieſer bereitö durch den Pariſer Tractat vom 25. 
September 1806, 4. 5. 6. 7. 8) die fächflichen Herzoge, 9. 10. 11) die anhaltiſchen 
Herzöge, 12. 13) die Fürften von Schwarzburg, 14) Walde, 15. 16. 17. 18) die 
reußifchen Fürſten, 19. 20) die Fürften von Lippe, 21. 22) die Herzoge von Medlen- 
burg, 23) Oldenburg. — Was nun die Berfaffung dieſes Bundes betrifft, von ber 
ſehr wichtige Beflimmungen, die auß der Souveränetät der einzelnen Bundesflaaten 
folgen, in die fpätere Verfaſſung des deutfchen Bundes übergegangen find, fo find - 
folgende Beflimmungen bervorzubeben: Der Bund follte fein Bundesflaat, ſondern 
nur ein völferrechtlicher Staatenbund fein. Im die inneren Angelegenheiten der ein» 
zelnen Staaten hatte er fidy nicht zu milchen. Seine Spige bildete der Protector; 
über die Erblichkeit diefer Würde, welche Napoleon, Kalfer der Branzofen, als fein 
natürliche® und fi von ſelbſt verſtehendes Eigenthum betrachtete, ift in der Bundes⸗ 
acte nichts gejagt. Die dem Protector verfaffungemäßig zuftehenden Rechte waren: 
1) dad Recht, den Bundestag zufammenzuberufen; 2) dae Recht der Inttiative beim 
Bunbdestage, d. h. da8 Recht, die Gegenflände der Berathung durch den Fürft Primas 
porlegen zu laflen,; 3) das Mecht, den Fürft Primas, das Organ der Mitthellungen 
zwifchen dem Bund und dem Protector, zu ernennen; 4) das Recht, Krieg und 
Brieden zu befchließen. Der Protector, der nicht im Bunde, fondern über demfelben 
Hand, war der Kriegsherr deflelben. Für jeden Krieg des Protector batte der Bund 
63,000 Mann zu fiellen. Souverän gegenüber jeder dem Bunde fremden Macht, 
waren die Bundedflaaten im Verhältniß zum Protector ein nützliches Material, über 
welches der Legtere nach feiner böhern Einſicht und nach feinen umfaflenden Zweden 
verfügen durfte. Zwiſchen den Bundeöflaaten ſowohl in ihrer Gefammtheit, als mit 
jebem einzelnen, und dem franzöflichen Kaiferreih, in dem meiten Sinne und Um- 
fange, den daflelbe damals hatte, beſtand ein Bündniß, vermöge deflen jeder Krieg 
auf dem feſten Lande, den einer der verbündeten Theile führe, ein gemeinfchaftlicher 
jein follte. Als Kriegsherr des Bundes Hatte natürlich der Protector allein darüber 
zu beflimmen, ob ein Krieg gerecht und nötbig frei. Die Befammtheit der Bundes- 
mitglieder bildete den Bundestag (Diete) zu Frankfurt am Main, der aus einer Ver⸗ 
einigung der Geſandten fämmtlicher Bundedfürften beſtehen ſollte. Derfelbe zerftel in 
zwei Gollegien: 1) das der Könige, in welchem auch die Großherzoge figen follten; 
2) das der Zürften, in welchem, bei getrennter Berathung, der Herzog von Naffau 


Rheingan. 159 


den Borfig haben follte. Ein Bundamentalflatut war verheißen, welches die Stellung 
und Thätigfeit der Bundeöverfammlung näher beflimmen ſollte; doch ift ein fole 
ches nicht exrfchienen, Gberhaupt feine Bundesverfammlung abgehalten worden. 
Aus der Abhängigkeit der Bundesflaaten vom franzdflihen Kaiferreih und vom 
Schöpfer des Bundes folgte, daß die einzelnen Staaten durd die Annahme 
bed Gode Napoleon ſich auch innerlih dem Mei und Herrn der Initia⸗ 
tive gleihförmig zu machen hatten. Aus derfelben Abhängigkeit, fo wie 
aus der neuen Gouveränetät, welde die Mheinbundfürften ihren Unterthanen 
gegenüber erhalten hatten, folgte Die Befeitigung des beutfchen Ständemefend. Go 
bob der König von Württemberg fchon den 30. December 1805 in „Folge der er» 
langten Souveränetät” die fländifche Verfaffung des Landes, der Kurfürft von Baden im 
Rai 1806 die Stände im Breidgau auf, in Heffen-Darmfladt erfolgte diefe Aufs ' 
bebung durch Reſcript vom 1. Detober 1806, in Bayern im Mai 1808. — Einfeitig, 
wie die Stiftung und Erweiterung des R.'s von Napoleon audgegangen war, geſchah 
auch die weitere Veraͤnderung, Durch welche die deutſche Nordſeeküfte aus dem Bunde 
außgefchieden wurde. Durch ein Decret an den franzöflichen Senat vom 10. December 
1810 vereinigte Napoleon die Mündungen des Mheind, der Ems, Weler und Elbe 
mit Frankreich und durch daB organifche Senatdconfult vom 13. December deſſelben 
Jahre wurden Holland, die Hanfeflädte, dad Rauenburgifche und alle Länder zwifchen 
der Oſtſee und einer fübmärtd gezogenen Linie mit Frankreich verbunden, wodurch 
die Heiden Fürſten von Salm und die Herzoge von Aremberg und Oldenburg 
ihre Souveränetät verloren und einzelne Theile des Großherzogthums Berg, fo 
wie ein bedeutender Theil des Königreich Weflfalen vom M. getrennt wurden. 
Bor diefer Abtrennung zählte der Bund auf 5916 O.⸗M. 14,608,877 Ein» 
wohner und dad Bundesheer war über die Anfangs feſtgeſetzten 63,000 Mann auf 
119,180 Mann geftiegen, jene Abtrennungen aber nahmen dem Bunde auf 532 
DM. 1,133,057 Einwohner. — Die großen Erelgniffe des Jahres 1813 machten 
dem Bund ein Ende; die preußifch-rufflfche Broclamation von Kaliſch vom 25. März 
1813 ſprach feine Auflöfung aus und der Vertrag Bayerns mit Defterreich zu Ried 
vom 8. October 1813 gab das Signal zu feiner Sprengung. Die Schlacht bei 
Leipzig vom 16.—19. October hatte die völlige Auflöfung zu ihrer natürlichen Folge 
und die Mheinbundfürften traten unter ausdrücklicher oder ftillfchweigender Losfagung 
vom N. durch förmliche Verträge den gegen Frankreich verbündeten Mächten bei. Da- 
gegen kamen die einzelnen Theile des Königreihs Weftfalen wieder an ihre alten 
Herren, dad Großherzogthum Berg an. Preußen; Oldenburg, Lübeck, Hamburg und 
Bremen wurden wieder ſouveraͤne Staaten, Kurbeflen, Braunfhweig und Hannover 
wiederhergeftellt; die Kürftenthümer Ifenburg und Leyen verloren ihre Souveränetät 
und die Aufhebung ber Souveränetät ber ehemaligen Mheinbundfürften Aremberg, 
Salm-Salm und Skim-Kyrburg wurde feflgehalten. Das Großberzogthum Frankfurt 
wurde Dalberg entrifien und nach der Verteilung der einzelnen Beſtandtheile deſſelben 
an verichiebene Herren, die Stadt Frankfurt zum Freiſtaat erhoben. Indeſſen haben 
die alliirten Mächte die Aufhebung des M. weder durch eine förmliche Acte, noch 
fonft ausdrädlich bewirkt. Stillſchweigend wurde auch in der Wiener Bundesacte jene 
Aufhebung als vollendete THatfache hingenommen, dagegen gingen wichtige Rechts ver⸗ 
hältmifle, Die der R. begründet hatte und die auß der GSouveränetät der Rheinbund⸗ 
fürften hervorgegangen waren, in die Bunbesacte über, worüber der Artikel Wiener 
Congreß ausführlich Handeln wird. 

Üheingan. Das Taunusgebirge, das von Homburg bid Müdesheim in wefl- 
licher Richtung flreicht, fegt dem Rhein bei Biberih einen Damm entgegen, ber ihn 
nöthigt, feinen biäherigen nörblihen Lauf zu verlaffen und mit dem weſtlichen des 
Gebirges zu vertaufchen, bis es ihm bei Müdesheim gelingt, daffelbe zu durchbrechen 
und, den Qundörüden vom Taunus Iodreißend, feine alte Michtung zu verfolgen. 
Bon Bafel bis Biberih war das rechte Rheinufer nad Weſten gewandt, von Biber 
rich bis Müdesheim giebt ihm jetzt die Wendung des. Stromes eine übliche Lage, Die 
den Ruhm feiner Neben bedingt. Der glühenden Mittagsſonne gleichſam darf 
boten, vor ſchaͤdlichen Winden durch eine hohe Gebirgswand gebedt, die zwif 


Pan 


160 Rheinsberg. 


Schierſtein und Ruͤdesheim einen Halbkreis zu ihrem Schutze bildet, von der Wärme, 
die von dem fchieferigen Boden wie von dem Spiegel des Rheins zurüdftraßlt, dop- 
pelt und dreifah angeglüht, leben fle im R. das freudigfte Leben und bringen bie 
füßefte, köſtlichfſte Frucht. Noch ein anderer Umftand trägt dazu bei, das R. zum 
Paradies der Rebe zu machen. Cinft, fo meldet die Sage, und die Wiffenfchaft findet 
fle zum Theil beitätigt, ehe der Mhein. dad Gebirge bei Rüdesheim durchbrochen und 
den Weg zum Deean gefunden hatte, bildeten das Rheinthal zwiſchen Bafel und 
Bingen und das Mainthal zwifchen Mainz und der Wetterau einen großen See, bem 
erft ein gewaltfames Natur» Ereignif einen Abflug nach Norden verſchaffte. Als ji 
darauf das Wafler in feine Heutigen Schranken zurädzog, ließ ed auf dem Boden 
des alten See's einen falfigen Niederfchlag zurück, der theild von den Waflern des 
Jura, theils von den Gehäufen Eleiner Schneden herrühren mag. „Da Diele 
Schneden“, fagt Goethe, „nach der neueften Ueberzeugung Ausgeburten des füßen 
MWaffers find, fo wird die ehemalige Meftagnation des Fluſſes zu einem großen See 
immer anfchauliher.” Da indeflen, nach den allerneueften Ucberzeugungen, in den 
Kalkbrüchen des R's und feiner Nahbarichaft auch Meerfcyneden vorkommen, fo 
müflen wir mit Steininger vermuthen: „daß das fehöne Thal, fo weit es durch ebenes 
Land, von Bingen aufıcärts, gebildet wird, der Boden eined alten See's war, welcher, 
Anfangs mit falzigenr Waffer gefüllt, Meerfchneden nährte, bis es ſpaͤt nad dem 
Nüdzuge des Meeres von dem gegenwärtigen Feſtlande, ald das falzige Wafler durch 
ſüßes erießt war, der Aufenthalt von Zlußfchneden wurde.“ Glücklicherweiſe iſt es 
jegt und fchon feit lange der Aufenthalt froher Menfchen, ein fagenreiches und poeti» 
ſches Land, reih an Naturfchönheiten. Ob man die Landfchaft von Hochheim und 
Erbenheim, untermärtd, oder auf Dem weit in die Berne firahlenden Johannis—⸗ 
berg, dem Juwel des Fürften Metternich, nahe bei Bingen, mit feinem alten, oft 
befungenen Mäufetburm, Afmannshaufen mit dem die fchönften Bernfichten 
bietenden Niedermald und den bi in die Mömerzeit blidenden Rüdesheim, 
aufwärtd betrachtet, überal$ Iachen Einem die glänzendſten Naturbilder entgegen und 
Rößt man auf die fo berühmten Weinberge. Die Reben find des Rheingauers Stolz; 
und mit Mecht, denn er verdankt fie nidyt dem Klima und dem Boden allein, als eine 
feeimillige, fondern eben fo fehr feinem Fleiße und feiner Kunft, als eine mühfam 
errungene, noch täglich mühfam zu erringende Babe. War das N. fchon urfprüngs 
lich das Paradied der deutſchen Mebe, fo ift es durch Kinflcht und die Thätigkeit 
feiner Bewohner die Hochſchule des deutſchen Weinbauee geworden. Das 
R. war feit den älteften Zeiten in ein oberes und nlederes getheilt. Das leg- 
tere erfiredte fich vom Niederthal zwiſchen Caub und Lorchhauſen bi8 an den Main, 
das erflere vom Main bis gegen Weinheim an der Bergfiraße, wo das Lobdengau 
begann. Unter dem Beſitzthum der König&hundert, der Domäne der alten deut⸗ 
fhen Kaiſer, welche ſich zmifchen der Waldaff, dem Main und Ber Krifftel erſtreckte, 
deffen Hauptſtadt fpäter Wiesbaden ifl, wurde das niedere R. begriffen. Nach 
Ablöfung einzelner feiner Theile erhielt e6 feine Brenzen vom Rhein bis an den 
Waldaffbach. Landeinmärtd umfaßte e8 noch Die Bebirgäpartieen jenfeit der Höhe. 
Ueber die Rabenkdopfe hinaus Tiegen die einft auch zu diefem gehörigen Orte 
Schlangenbad un Schwalbach, die lieblihen naffauifchen, jegt viel befuchten 
Bäder. Später loͤſte fih auch diefer über Die Höhe gelegene Theil des Hinteren 
R.'s von ihm ab, fo daß dem vorderen Theile am Rhein nur der Name verblieb. 
Bis in die neuefle Zeit mar das M. eine Beilgung ded Mainzer Hochſtiftes, unter 
deffen Beflgungen e8 mit die werthuollfte war. Die Ueberhöhe gelangte in den Beflg 
der Grafichaft Kapenellenbogen, mit diefer fpäter an Heffen. Nach Auflöfung des 
Erzſtiftes Mainz kam diefes ſchöne Land an Naffau, deffen Fürften von den älteften 
Mheingrafen ftammen, die vor Zeiten bier berrfchten. 

Rheinhefien ſ. Heſſen. 

Rheinprovinz ſ. Preußen. 

Rheindberg, koͤniglich preußiſche Hausſideicommiß⸗Herrſchaft und Stadt in ber 
Uckermark, 1335 als Rynesperg, 1368 als Rynesberg und 1375 als Rynsberg In 
den Urkunden vorkommend, war während des 14. Jahrhunderts im Beflg einer adeli⸗ 


Aheinäberg. 161 


gen Familie, welche ſich nach dem Orte nannte, den fle von den Grafen von Ruppin 
zu Lehen mug. 1368 befand fih R. in unmittelbarem Beflg der Grafen von Lin- 
Dow, 1418 aber wieder im Lehnbeflg einer andern Familie, nämlid der Familie 
v. Blaten, von der die Begüterung durch Heirath in die ebengenannte Familie 1416 
an Bernd v. Bredow überging. Nah dem Erlöfchen des gräflichen Haufe Lindow 
im Jahre 1524 wurde dem damaligen Beflger Achim v. Bredow vom Kurfürften die 
Belehnung erneuert. Einige Jahre nachher gab der Kurfürft feine Abficht zu erkennen, 
denjelben Achim v. Bredow aud dem Beflte R.'s audzufaufen, in Bolge defien er 
1533 bie Begüterung durch Sachverfländige abſchaͤtzen ließ, weldhe 8000 bis 10,000 
Bulden für ein angemefjened Kaufgeld erachteten. Allein der Kauf zerſchlug ſich aus 
unbefannten Umfländen und die Familie dv. Bredom blieb im Beſttz bis 1618, in 
welchem Jahre fie MR. unter Eurfürftlicher Genehmigung an Euno v. Lochow veräußerte. 
Nah dem Erlöfchen der v. Lochow'ſchen Yamilie ohne Lehnderben, 1685, nahm der 
Kurfürſt vom Gute R. Bellg, ſchenkte e8 aber dem General du Hamel, welcher e8 
jedoch mit Erlaubniß des Kurfürflen an den Hofratb Benjamin Chevenir de Beville 
verkaufte, der damit 1695 belieben wurde. Bon dem Sohne des Letzteren Faufte 
König Friedrich Wilhelm 1. das Gut R. für den Kronprinzen' Friedrich, um daſelbſt 
. mit feiner jungen Gemahlin zu refidiren. Die Verhandlungen murden 1733 einges 
leitet und am 16. März 1734 der Kaufcontract vollzogen, wobei der König der kron⸗ 
prinzlihen Kaffe 50,000 Thlr. zur Entrichtung des Kaufgeldes ſchenkte und ihr zu⸗ 
glei die Einkünfte auß dem Amte Ruppin überwies, um damit den Haushalt zu 
beſtreiten. Durch Friedrich's Aufenthalt in R. Hat diefer Drt eine große Bebeutung 
erlangt. Erf im Auguſt 1736 konnte der Kronprinz dad Schloß R. beziehen und 
am 4. September wurde e8 in Begenwart feiner Töniglichen Eltern feierlich einge. 
weiht. Das Schloß, an einem von den Eichen- und Buchenmwäldern des Buberow 
befränzten See gelegen, war gothifch gebaut. Friedrich hatte zu dem einen Thurm, 
den er vorfand, noch einen zweiten erbauen und beide durch einen Säulengang ver» 
binden laffen, über den eine fchön gefhmüdte Gallerie lief. Am Portal des Schloffes 
fand die Inſchrift: Friderico tranquillitatem colenli. Den weiteren Ausbau über- 
nahm Friedrich's Freund, Der Intendant Freiherr v. Knobelsdorf, der eben von einer 
Meife nach Italien zurückgekehrt war. Erſt 1739 warb der Schloßbau ganz vollendet. 
In R. hat Friedrich in dem heitern, gemählten Kreife, den er um ſich verfammelte, 
als Menſch ohne Zweifel die glüdlichflen Tage feines Lebens zugebracht, wie er ſelbſt 
dem englifchen Geſandten Mitchel einft fagte; in ber Gefellichaft geiftreicher Männer, 
wie Jordan, Braun, Kayferling, Suhm, Manteuffel, Knobelsdorf und fo vieler anderer 
Hochbegabten mußte der geiftuolle Haudberr ſich wohl fühlen und Entſchädigung finden 
für die Entbehrungen feiner früheren Jugendjahre. Ja, er trat fogar als Schriftfteller 
jegt auf, indem 1738 feine erſte Drudfchrift: „Betrachtungen über den gegenwärtigen 
Zufland der Politik in Europa” und 1839 fein. „Antimacchiavelli* erfchlenen, und 
fegte fih audy mit den vorzüglichften auswärtigen Gelehrten, Philoſophen, Schöngeiftern 
und Weltmännern in Verbindung; er fchrieb an die Mathematiker Maupertuid und 
Sravefand, an den Philoſophen Yontenelle, an die Hiftorifer Rollin und Henault, an 
den Dichter Greflet, an den berühmten Italiener Algarotti, der 1739 perfönlich auf 
kurze Zeit nach R. kam, in demſelben Jahre, in welchem auch Lord Baltimore, Enkel 
und Grbe des Gründers von Maryland, der berühmte englifche Sonderling, den König 
befuchte. Bot Allen aber trat er feit 1736 mit Boltaire in Verbindung. Aber audy 
ale Gutsherr Hat Friedrich eine vortrefflihe Schule in A. durchgemacht, indem er ſich 
der Wirtbfchaft mit ganzer Seele hingab, dem Anbau feiner Ländereien, der Verwaltung 
und Nußung feiner ſehr einträglichen Forſten und befonderd dem von ihm vorzüglid) 
geliebten und betriebenen Gartenbau und der Damit verbundenen Obſtbaumzucht. Wie 
rührend Ifl e6, wenn ein Mann von Friedrich univerfellem Geifte, der von der Vor⸗ 
ſehung beflimmt war, fih an die Spige feines Zeitalter zu ftellen, ſich mit ſchein⸗ 
bar Heinen: Dingen befchäftigt, wenn er bald nach Uebernahme des Guts unterm 7. 
December 1734 an feinen Bater fchreibt: „Anigo mache ich Anftalt guhte Obft boͤhme 
Dis Früjar in Heinsberg zu feßen und dar alles in Orbnung zu fegen, auf daß, wenn 
ich einmal die Gnade habe, meinen aller Gnädigften Bahter bar zu ſhen. ich Ihm 


Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch.⸗ Lex. XVIL 


X 


12 Nhetoren und Ahetorif, 


die Wirtſchaft und alle8 in Ordnung tzeigen wolte.“ Friedrich bebielt ben Beltg 
von NR. bis in das vierte Jahr feiner Megierung bei. Den 29. Juni 1744 ver» 
fchenkte er die Bellgung an feinen füngeren Bruder, den Prinzen Heinrich, der bis zu 
feinem 1802 erfolgten Heimgange fat beitändig in R. Ichte. Darauf gehörte R. ald 
Kronfideicommiß Friedrichs jüngflem Bruder, dem Prinzen Auguſt Ferdinand (F 1813), 
und demnächſt deflen Sohne, dem Prinzen Auguft von Preußen, nad) befien 1843 
erfolgtem Ableben die Herrſchaft R. an die Krone zurüdgefallen il. Der Flaächenin⸗ 
halt der Herrichaft NR. beträgt O,g;, mit der Feldmark der Stadt N. zufammen aber 
beinahe 1%, QM. Die landwirthſchaftliche Benugung des Bodens, melde Friedrich 
der Große durch Wirthfchaftsvermalter felber betrieb, ift zur Zeit, da fein Bruder, 
Prinz Heinrich, im Beflg der Herrichaft war, von bemfelben in Erbpacht gegeben 
worden, die erften Erbpächter waren meift -Branzofen, die den prinzliden Hof zu R. 
faft ausfchließlich bildeten und die der Fürft durch diefen Grundbeflg theild belohnen, 
theil8 an feine Perfon für immer feifeln wollte. Nocd Heute find zwei Vorwerke im 
Befig der Nachkommen von diefen urfprünglichen Erbpädtern. Durch den Uebergang 
R.'s in den unmittelbaren Beſttz des SKronprinzen im Jahre 1734 hatte auch die 
Stadt ungemein gewonnen, die bis 1808 eine dem Föniglihen Gutsherrn unter« 
worfene Medlatftadt geblieben if. Gleich nach der Ermerbung erließ König Friedrich 
Wilhelm I. unterm 30. Juni 1734 einen Befehl an das Generaldirectorium, worin 
er demfelben dringend zur Pflicht machte, dem ſchlechten Zuftande der Stadt R. abe 
zubelfen, und worin der König felbft eine Menge von neuen Einrichtungen verfügte, 
durch deren Ausführung das flädtifche Welen ded Orts mehr’ gehoben wurde. Die 
Stadt bildet den Mittelpunkt des Verkehrs für die Herrfchaft, daher bier, außer dem 
Ackerbau, Handel und Wandel, der in den rohen Naturprobucten, fo mie in zwei 
Steinguts⸗-Fabriken, einer Ziegelei, Brauerei und Eifigfabrif, und den Manufacten 
eined zahlreich vertretenen Handwerkerſtandes die Gegenftände für feine Betriebſamkeit 
findet, die Sauptnahrungdquellen ausmachen. Die Stadt hatte 1740, als Friedrich 
jein Rheinsberger Leben aufgeben mußte, um auf dem Throne die große Beſtimmung 
feined Lebens zu erfüllen, erft 626 Einwohner; 1800 betrug die Einwohnerzagl 
1804 Seelen, ſank dann 1809 auf 1389 herab, war indefien 1850 auf 2349 und 
Ende 1861 auf 2389 geftiegen. 

Ahetoren und Rhetorik. Der Name Rhetoren wurde bei den Griechen in einem 
anderen Sinne ald bei den Mömern gebraucht; denn bei jenen waren e8 die Redner 
und die Lehrer der Beredſamkeit, bei den Römern nur die legten, wenigſtens bis zur 
Kaiſerzeit, wo ſich die Verhältniffe zum Theil unnatürliy umgeftalteten. Die Haupts 
ftätte und Pflege der Beredſamkeit bei den Briechen war Athen; je größer der Ein- 
fluß derfelben im Staatöleben war, deſto mehr mußte man auf Mittel finnen, ſich 
defielben zu verfihern. So war denn den aus GSicilien herübergefommenen Rhetoren 
und den Sophiften von felbft die Bahn bereitet, um eine vollffändige Theorie der 
Beredfamkeit ind Leben zu rufen. Später zeichneten ſich auch aflatifche Städte und 
Infeln, befonderd Rhodus, durch Mhetorfchulen aus.!) Die Haupterzeugnifle der grie- 


N) Die befonders berühmt gewordene Rednerſchule auf Rhodus war von dem berühmten 
Redner Aeſchines gefiftet, der nad) dem Tode Alerander’s des Großen ſich von Kleinafien hierher 
begab und in der von ihm vertretenen Theorie zwiſchen der firengen attifchen und der weichlichen aſia⸗ 
tifhen die Mitte hielt. Er war zu Athen zwifchen 393 und 389 v. Chr. geboren, von niedrigem 
Stande, auf mühfamen und vielleicht unerlaubten Wegen zum Bürgertfum gelangt, aber als 
Schaufpieler, indem er Rollen dritten Ranges für Sold gab. burcchgefallen. Ale Schreiber des 
angefehenen Redners und Staatsmannes Artftophon, fpäter des Demokraten Eubulus, lernte er 
Rechts: und Staatswefen gründlich kennen und machte ſich jo, bei vorzüglichen Gaben, wohl ge: 
ſchickt, als öffentlicher Redner aufzutreten, nachdem er zuvor bei Mantinen 363 v. Chr. und bei 
Tamynäa gegen die Mafebonier 348 tapfer gekämpft hatte. Seine politische Laufbahn eröffnete er, 
nachdem er 3 Jahre vor dem Demofthenes als Mebner anfgetreten war, 347 in Gemeinfchaft mit 
ihm bei den Friedensverhandlungen mit dem makedoniſchen Philipp, der ihn aber durch feine 
Schlauheit in's Netz 308: Als dies bei Gelegenheit einer zweiten Geſandtſchaft nach Mafebonten 
beutlich hervortrat, verklagten ihn Demofthenes und Timarhus wegen Hochverraths; er flegte jedoch 
durch eine Gegenflage gegen den Timarhus in Bezug auf deſſen Lebenswandel, wobei bie tiefen 
fittlichen Schäden der damaligen Zeit an ben Tag famen, und legte fo den Grund zu ber erbitter: 
ten und für ganz Griechenland unheilvollen Feindſchaft zwifchen ihm und Demofthenes. Dieſer 


Ahetoren und Rhetorif. | 163 


chiſchen Beredſamkeit, die epibeiktifchen ober Prunkreden hatten zu verfchiedenen Zeiten 
eine etwas andere Bedeutung; indem man nämlih drei Gattungen der Beredfamfeit 
unterfchied, Die politifche oder fombuleutifche (deliberativum), die richterliche (judiciale) 
und die epideiktiſche (demonstrativum), wurde die legte derſelben recht eigentlich das 
Gebiet, auf welchem die Eünftlerifchen Beflrebungen der Rhetoren ſich bewegten. Die 
derartigen Reben waren nicht anf wirkliche Fälle im Staats» und Rechtsweſen berech⸗ 
net, fondern dienten ald Proben, um die Gewandtheit und dad Talent der Mebenden 
nah Form und Inhalt in das rechte Richt zu flellen und Bewunderung für fle zu 
erweden. Gerade in diefer letzten Gattung galten nad Cicero's Urtbeil Theopomp 
und Iſokrates ald die hervorragendſten Mufter. Der Ausdruck Epideirid wurde freilich 
auch auf den Außeren Vortrag oder die Berlefung, recitatio, übertragen, nachdem dieſe 
Sitte zum Zwede weiterer Bekanntmachung von Reden, Gedichten und Geſchichts⸗ 
werten ſchon früher bei den Griechen an ihren Fefltagen und Verfammlungdörtern 
aufgefommen war. Alle diefe Berhältniffe änderten fich jedoch in ber alerandrinifchen 
Periode. Der wahrhafte Charakter des Mednerd wurde nun genauer aufgeftellt und 
danach aus der großen Menge der vorhandenen griechiichen Reden eine Auswahl von 
zehn attifchen getroffen und in den Kanon muftergliltiger Schriftfieller aufgenommen. 
Zugleich wurde von nun an die Theorie der Beredſamkeit auf wiffenfchaftlidher Grund⸗ 
lage weiter ausgebildet. Borangegangen war in diefer Beziehung bereits Ariftoteles, 
der mit veiher Erfahrung und gefchichtlicher Anſchauung das Syſtem der Rhetorik 
begründete. Bald aber übte Das Anfehen der großen Kritifer und Orammatiter zu 
Alerandrien, eines Ariſtarch und Ariſtophanes, auch bier einen entfcheidenden Einfluß 
aus, und die rhetorifchen Arbeiten de8 Dionys von Halikarnaß, Demetriusß 
Phalereus und Hermogenes, Aphthonius, Sopater und Ariſtides behaupten 
noch durch ihre Kritil und gefchichtlichen Mittheilungen ein nicht unerhebliches In⸗ 
terefſe. Durch griechifche Lehrer wurde die wiffenfchaftliche Beredſamkeit, aber erſt nad 
155 v. Chr., in Folge der bekannten athenienflichen Geſandtſchaft, auch nah Mom 
verpflanzt, wo ihre Vertreter freilih Anfangs einen ſchweren Stand hatten, weil 
man eben fo fehr gegen die Sache, wie gegen das griechifche Welen eingenommen 
mar. Aber obgleih Cato eine Verbannung derfelben aus der Stadt durchzufetzen 
wußte, konnte doch für Die Dauer dem eindringenden Geiſte derfelben nicht mehr Ein» 
halt gethan werden. Bornehme Römer machten ſelbſt die methodifche Erlernung dies 
fer Kunft zu ihrem Studium und begaben fich zu dem Ende nad Griechenland, vor» 
nämlidy Athen, und Allen, hauptſächlich Rhodos. Aber auch in Rom felbft traten 
Lehrer (deelamatores) auf, die ihre Schüler fleißig im Halten von Meden (declama- 
tiones) übten. Wit demfelben Namen wurden auch die Mufterarbeiten der Lehrer be= 
zeichnet, die alfo der epiveiktifchen Gattung der Griechen entfprachen und deren und 
nod einige unter dem Namen des Seneca und des QDuinctilian erhalten find. Die 
Begenflände derjelben waren eben fo wenig aus dem politifhen und gerichtlichen 
Kreife der Wirklichkeit wie bei den Griechen, fondern causae fictae. Auch bier wurde 
die Beredſamkeit wiſſenſchaftlich bearbeitet, vorzüglich von Cicero, ſowohl in feiner 
Schrift de invenlione und in den jegt vielfach dem Cornificius zugefchriebenen rhe- 
torica ad Herennium, al8 auch in feinen meifterbafteften Werfen de oratore, orator 


nahm bie Anklage gegen ihn wieber auf, als er im Amphiftyonenbunde, wo er als Gefandter 
(Bylagore) die ntegeffen Athens vertreten follte, abermals zur Verherrlihung Philipp's beitrug. 
Dffen vertrat er von nun an die mafebonifhe Politik und veranlaßte fogar den zweiten heiligen 
Krieg, in welchem der mafebonifche König mit 30,000 Mann verheerend in Attifa einflel. Als aber 
endlich die Niederlage bei Chäronea den Griehen bie Augen geöffnet hatte, konnte er gegen bie 
Anerkennung ber großen Verdienſte des Demofthenes nichts mehr ausrichten und unterlag mit jeiner 


Rede wider den Ktefiphon, worin er feinem Gegner den von Ktefiphon für ihn beantragten gol⸗ 


denen Kranz ji" rauben ſuchte, gegen bes Demofihenes Meifterrebe vom Kranze jo völlig, daß 
er fid) nad) Kleinaften entfernen mußte, wo er jpäter auf Samos 314 geftorben if. — Die brei 
von ihm uns erhaltenen Meden („die drei Grazien“) flammen wahrfheinlid, aus einer schriftlichen 
Ueberarbeitung von ihm felbft; aufgenommen in die Sammlung der attifhen Mebner von Reisfe 
(3. und 4 Bd.), 3. Belter (3. Bb.), Baiter und Sauppe (Züri 1842); Separatausgaben von 
3. H. Bremi, Aurih 1823 ff, 2 Bbe., von W. Dindorf, Lpz. 1824 und F. Franke, baf. 1851, n. 
Ausg. 1860. Veutſche Ueberſezung von Bremi, Stuttg. 1828. Die 9 Briefe von ihm („bie neun 
rufen“) find verioren gegangen, die unter feinem Namen vorhandenen erweislich unächt. 
11* 


— — 


— — — — — — — — — 


164 Rheyd oder Rheydt. (Stadt.) 


und Brutus, welches eine Gefchichte der Beredſamkeit enthält, fo wie in feinen Tleine- 
ren Schriften partiliones oratoriae, topica ad Trebalium, de optimo genere orato- 
rum; und von QDuinctilian in den 12 Büchern feiner institulio oraloria, deren zehn⸗ 
te8 ebenfalld eine Gefchichte der Redekunſt liefert. In diefem Werfe ift der Geſichts⸗ 
freiß nicht auf Die Redner beſchränkt, fondern es wird die Theorie auf den hiſtori⸗ 
fhen, abhandelnden und belehrenden, dialogifchen und Briefſtyl audgedehnt. Sie 
muß folgerichtig auch das grammatifche Gebiet mit umfaflen, handelt von der Sprachrichtig- 
feit, vom Beriodenbau, ven Medefiguren und Tropen u. dgl. m. Die Rhetorik im 
engeren Sinne umfaßte drei Theile, nämlich die Erfindung der Gedanken (inventio), 
ihre Anordnung (dispositio) und ſprachliche Darflelung in Ausbrud und Styl (elo- 
cutio), wozu nod für den mündlichen Vortrag dad Gedaͤchtniß (memoria) und die 
Geftteulation (actio) Hinzufamen. — Die Zahl der griehifchen Rhetoren if be- 
deutend größer ald die der römifchen; die erfte Ausgabe derfelben von Aldus Manu⸗ 
tius, Benedig 1508 f., in 2 Bon. %ol., ift jetzt fehr felten geworden; die beften und 
vollftändigftien Ausgaben find die von Ehr. Walz, Stuttg. 1832 — 36, 9 Bbe. 8., 
und von 2. Spengel, Leipz. 1853—56, 3 Bde. 8. Die römifchen fammelten und 
bearbeiteten zuerfi B. Pithöus, Paris 1599 A. und Bapperonnerius, Straßb. 1756. 4. 
Nicht ohne Werth ift auch das Theatrum veterum rhetorum, oratorum, declamato- 
rum von @rejolliuß, Parid 1620. Eine literarbiftorifche Weberficht der früheften Per 
riode giebt 2. Spengel, Arlium scriptores ab initiis usque ad editos Aristotelis de 
rhetorica libros, Stuttg. 1828, vgl. defien Abhandlung über das Studium der Rhe⸗ 
torif bei den Alten, München 1842, und die Schriften de® Franzofen Gros, Etude 
sur l’etat de la rhötorique chez les Grecs und Me&moire sur la rhetorique chez les 
Grecs, Paris 1835 und 39. — Im neuerer Zeit hat man auf die Grundfäße der 
Alten ſelbſtſtändigen Wertb gelegt und fle vielfach ſowohl für den Unterricht ald auch 
für die kirchliche Praxis in nußbare Anwendung gebracht. Zunaächſt entflanden bie 
veht löhlihen Sammlungen von F. A. Wiedeburg, Praecepta rhetorica e libris 
Arislotelis, Braunſchw. 1786, und ©. E. Gierig, Praecepta nonnulla et exempla 
bene dicendi e probatissimis latinis auctoribus, Leipz. 1792. Eben fo flanden bie 
Werke, von ©. 3. Voß, De rhetorices natura ac constitutione, Kopenh. 1658. 4. 
und Comnientariorum rhetoricorum s. oratoriarum institutionum libri VI, 4. Aufl., 
Leiden 1643. 4. und von dem Engländer Hugh Blair, Lectures on rhetoric and 
belles lettres, London 1783, 2 Bde. 4. N. U Baſel 1801, 3 Bbe., in deutſcher 
Ueberfehung von Schreiter, Liegnitz 1785 — 89, 4 Bde. Für den Schulgebraud 
waren epochemachend I. A. Ernefti, Initia doctrinae solidioris, die in vielen Aus⸗ 
gaben verbreitet wurden und die, oft auch beſonders abgedrudten, initia rhetorica mit 
enthielten. Später erfchtenen Maaß, Grundriß der reinen Rhetorik, 4. Audg. von 
%. ©. Gruber, Halle 1827, und Falkmann, praftiiche Mhetorif, 3. Aufl., Hannover 
1835, die jedoch bei weitem übertroffen wurden von H. Richter, Lehrbuch der Rhe⸗ 
torit, Leipz. 1832, und K. A. I. Hoffmann, Rhetorik für Gymnaſten, Clausthal 
1860. Andere Arbeiten find von Schmeißer, Heinze und Biehoff, vgl. auch Hoffmann, 
Pbilofophie der Rede, Stuttg. 1841, und K. Jahn, über Beredfamkeit und Mhetorif, 
Bern 1817. In theologifcher Beziehung ift fie umfünglih von H. U. Schott, Leipz. 
1815—28, 4 Bde., von Stier, Palmer u. A., zulegt von ©. I. Nitzſch im 2. Bande 
jeiner praftifchen Theologie meilterhaft behandelt worden. 

Rheyd oder Aheydt, Stadt im preußiichen Negierungsbezirke Düffelvorf, an der 
Niers und in der Nähe von Gladbach, hat ſich erft feit 1808 durch eine fehr bedeu⸗ 
tende Induſtrie gehoben, indem bis, 1820 ſehr raſch Seiden, Sammt-, Leinmand«, 
Spigen: sc. Wanufacturen bier entflanden und ſich dadurch ihre Einwohnerzahl von 
2625 Seelen im Jahre 1798, auf 4739 im Jahre 1826 und auf 10,875 nad) der 
Zählung Ende 1861 gehoben bat. R., 1226 Reyde, 1152 Reede genannt, war ein 
uralter Dpnaftenfig, ein Lehen von Jülich, im 13. Jahrhundert einem Zweige der Dy- 
naften v. Alpen gehörig, fpäter durch Heirath auf Arenthal, Neffelrode, Stadl und 
zulegt auf Byland vererbt. Die biefige fehr alte Pfarrkirche, den heiligen Alerander 
gewidmet, gehörte früher zur Didcefe Lüttich, wurde aber 1560 den Meformirten ein« 
geräumt. 1352 machte Johann Herr zu R. feine bitfige Burg zum Offenhaus von 


Rhodus. (Erfle Anfänge der Cultur.) | 165 


Jülich, von der aus 1464 arge Straßenräuberei verübt wurde. Die Rütticher ſtürm⸗ 
ten diejerhalb die Burg und brachen fie nieder. Sie wurde fpäter neu gebaut und 
1621 vom &rafen Heinrich v. Berg eingenommen und befeßt. 

Rhode Island f. Rereinigte Staaten Nord-Amerika’s. 

Rhodus. Die nordöftlihe Spige der von Moren nah Kleinaften halbmond⸗ 
förmig ſich ausbreitenden und die Südgrenze des Archipels bildenden Infelreihe nimmt 
die Infel R. ein, die der Schlüffel zu dem wichtigen Paſſe ift, den fle beberrfcht, und 
die ihren dauernden Wohlftand theil® ihrer günftigen Lage auf der Grenzfchelbe zwi⸗ 
fhen dem Orient und Dceident, wodurd fie von Natur ſchon zu einem bedeutenden 
See⸗ und Handelsſtaate beftimmt fchien, theild ihrem Reichthum an verfchledenen 
Naturproducten und Kunfterzeugniffen, theild dem regen Eifer, der Thätigfeit und 
Bildung ihrer Bewohner verdankte. Somohl durch den lebhaften Handelsverkehr, als 
durch ihre günflige Lage Fam die Infel, drei Meilen von der Earifchen Küfte Klein- 
aftend entfernt und 2I D.-M. Fläche nraum einnehmend, frühzeitig in mannichfache 
Berbindung mit Menfchen und Voölkern des Morgen» und Abendlandes. Ihr Nord» 
geſtade ift niedrig," aber von da erhebt fid dad Terrain zu einem hohen Tafelberge, 
deſſen Südabhänge in eine fandige, aber doch ziemlich fruchtbare Ebene auslaufen. 
Die Zahl der Einwohner giebt man auf 30,000 Seelen an, bauptfächlich Griechen, 
mit einigen Türken und Juden gemifcht, Ießtere von dem Zmeige der fpanifchen Iſrae⸗ 
liten abſtammend. Als die älteflen Bewohner der Infel werden die mythifchen, aus 
Kreta über Cypern eingewanderten Telchinen genannt, welche zuerft in Eifen und 
Erz arbeiteten, 'ndeflen follen diefelben der Sage nach frühzeitig Durch eine Ueber⸗ 
ſchwemmung theil8 vertrieben, theild vertilgt fein, worauf Helios ein neues Geſchlecht, 
die Heliaden, entftehen ließ, welche in fieben Stämmen die Infel auf’8 Neue be 
völferten. Wahrfcheinlich waren e8 die Phönicier, melde R. zuerfi anbauten und es 
der Sonne als ein befonderes Heiligthum widmeten. Wenn wir den dunklen Zeiten, 
in denen die damaligen Menfchen ſich finnlihe Bilder machten, um dad Undenfen der 
Begebenheiten der erften aflatifchen Volköpflanzung diefer Infel zu erhalten, nachforfchen 
wollten, fo würden wir flatt Befchichte nur Fabeln und doch in Denfelben, wie unter 
einem allegorifchen Schleier, manche Wahrheiten antreffen, die auf Hiftorifche Facta 
zurüdgeführt werden fönnten. Sicher if e8, daß lange nachher und um die Zeit 
der Heraflidifchen Eroberungen Dorter von der Infel Beil nahmen, die während 
ihrer Alleinberrfchaft unter Fürſten oder Königen eine unerhebliche Rolle fpielten. 
Rach Verfiherung mehrerer alter Autoren ift NR. ehemals vom Meere bedeckt gemeien 
und durch vulcaniſche Kräfte über das Wafler emporgehoben; daß es im Alterthum 
ein ähnliches Schickſal, wie Therafla und Thera gehabt haben wird, welche, wie Pli- 
niuß fagt, im A. Jahre der 135. Olyınpiade aus dem Meere geftiegen wären, iſt ſehr 
wahrfcheinlih, ebenfo wie die Vermuthung, daß es feinen Namen aus der Ber 
mifchung der Babel des Helios und der Seenymphe Rhode erhalten bat. Nah Atha- 
naͤus, Erxias, dem Verfaffer .einer Gefchichte von R., in welcher die Thaten der 
Phönicier beichrieben find, und befonderd nach Diodor haben die Phönicier die Rhodier 
im Seewefen unterrichtet, -die vor Erbauung der alten Stadt R. noch feine Schiff⸗ 
fahrt getrieben haben follen, während Strabo ausdrüdlich fagt, daß fie lange vor Der 
Einführung der olympiſchen Spiele ihre Flotten weit und breit und fait nach allen 
Gegenden des Mittelländifchen Meeres geführt hätten. Sie fchifften, wie er verfichert, 
fogar nah Spanien, an defien Küfte jle die Stadt Rhode gründeten, deren ſich 
nachher die Maffliter bemächtigten. Wahrfcheinlich hatten die Rhodier nach Beendi⸗ 
gung des trofanifchen Krieges fehon eine anfehnlihe Kauffahrtei-Flotte, wenn 
fie auch noch nicht mit Kriegsichiffen auf der hohen See erfcheinen Eonnten. Wenig⸗ 
ſtens laͤßt ſich das Glück ihres damaligen Seehandels aus den Worten ded Homer 
erklären, wenn er von den Mhodiern fpricht: „Mit göttlichdem Reichthum überfchüttet 
fle der Sohn des Saturn von oben.” In Ver Folge, wie dad Wachsthum ihrer 
außgebreitsten Kauffahrt den Neid ihrer Nachbarn erweckte, ſahen fie fich gendthigt, 
ihre Kauffahrer durch bewaffnete Kriegäfchiffe zu fügen. Die Maßnahme verfchaffte 
Ihnen nicht allein die Herrfchaft auf dem Meere, fondern fie wurden von allen griedhie 
fchen Stämmen des Altertfums für die gewandteflen und gefchidteflen Seeleute ge- 





156 Rheinbund. 


ſelben Gründen gendtbigt, auch die Stadı R. zu verlaffen. Das Capitel wurde im 
Jahre 1398 nad Straßburg in die Gebäude der St. Peters⸗Altenkirche verlegt, die 
der Biſchof von Straßburg dem Orden ſchenkte. Ein anderer Hiftorifer, Schöpflin, 
berichtet ebenfalls nad, alten Ehronifen, daß zu jener Zeit, als das Ordenscapitel 
von Honau nad R. überfledelte, der Rhein an der Seite diefer Stadt, unmittelbar 
an ihren Häufern, vorübergefloffen fei._ Im 14. Jahrhundert fing er jedody an, als 
ein reißender Strom die Stadt und ihre Mauern, fo mie die Häufer felbfl, zu ver⸗ 
beeren. Die Palaͤſte der Prälaten und GStiftäberren, fo wie der Geiſtlichen der St. 
Michaelskirche, kamen bald ebenfalld an die Reihe. Und im 15. Jahrhundert Hatte 
der Strom fein Bett bereitd fo weit überfhritten, daß von Zeit zu Zeit die ganze 
Stadt überſchwemmt war. Angeſichts dieſer Noth beflimmte der Biſchof von Straß⸗ 
burg, daß die dem Bistum aus gewiſſen Zehnten erwachſenden Einnahmen darauf 
verwandt werden follten, die Kirchen und die Stadtmauern von R., fo wie die Woh⸗ 
nungen der Stiftöherren wieder berzuftellen. Die Gefahr wuchs mit jedem Jahre, 
Je mehr man aufbaute, um fo mehr riß der Mhein wieder nieder, fo daß die Ein: 
wohner endlich fich entfchloffen, ihre alte Stadt zu verlaffen und ſich auf einer An⸗ 
hoͤhe, etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt, neu anzubauen. Gegen Ende des 
“16. Jahrhunderts war diefer Beſchluß ausgeführt, und ed dauerte auch nicht lange, 
fo war das alte R. völlig vom Strome verfchlungen. Nur wenn der Mhein außer- 
ordentlich gefallen und waſſerarm war, erblidte man noch etwas von der verluffenen 
Wohnſtätte. Namentlich ſteht es fe, daß man Ende 1749 die Ruinen mitten im 
Strombett erblidte, wo der Giebel eines kirchlichen Gebäudes hervorragte, in beflen 
Tiefe man durch dad Wafler hindurch eine große Pforte und Darüber ein Fenſter 
erfannte. Diefelbe Erſcheinung wurde fpäter bei einem niedrigen Wafferflande wahr- 
genommen, doch ſchon 1766 erblidte man die Ruinen nicht mehr in der Mitte des 
Stromes, fondern, unter Kied und Sandmaflen vergraben und die Grundlage einer 
Meinen Infel, wie fle dort im Rheine fehr zublreich find, bildend, in der Nähe des 
badiichen Ufers. Seit diefer Zeit Hat der Rhein fein Bett mehr und mehr nad links 
geſchoben, und man ift jetzt Damit befchäftigt, in den nicht mehr auf franzöflfcyem, 
fondern Deutfhem Boden liegenden Auinen des alten A. Ausgrabungen zu veranflalten. 
Aheinbund, der Name jener unter dem Protectorat des Kaiferd Napoleon 1. 
geftifteten Gonföderation deuticher Staaten, Die aus Reichsſtänden In fouverine Mäcyte 
verwandelt waren und fo in Folge der franzöfljhen Waffenflege zum Genuß der let⸗ 
ten Gonjequenzen des weſtfäliſchen Friedeno (f. d. Urt.) gelangten. Der nad 
der Schlacht bei Aufterlig am 26. December 1805 abgeſchloſſene Preßburger Frie⸗ 
Denövertrag ficherte den drei Hauptverbündeten Napoleon's, Bayern, Württemberg und 
Baden, die volle Gouveränetät und die daraus fließenden Mechte zu, fo daß fle der- 
felben ganz fo mie der Kaifer von Deutfchland und Defterreih und der König von 
Preußen in ihren deutichen Staaten gendfien; allen, Dreien brachte derfelbe Frieden einen 
beträchtlichen Ränderzumach8 zu und an Bayern und Württemberg Die Königdfrone. 
Dod Hatte Napoleon fchon vor dem Abfchluß der Briedensunterhandlungen, um Deflere 
reich feine Uebermacht fühlen zu laffen und um den von ihm Beglinfligten zu Gemüthe 
zu führen, daß er allein diefe neue Ordnung der Dinge ind Leben rufe, in Separat- 
verbandiungen mit Bayern und Württemburg die Beflimmungen über ihre Macht⸗ 
erböhung feftgefegt und eben fo vor fenem Abſchluß aus feinen Hauptquartier zu 
Schönbrunn eine Bekanntmachung erlaffen, durch welche den Befehlshabern der in 
Bayern, Württemberg und Baden fichenden franzöflihen Truppen aufgegeben wurde, 
diefe Fürften in der Ausübung unumfchränfter Souveränetät über alle Klaflen der 
Einwohner ihrer alten und neuen Gebiete zu begünftigen und nöthigenfalld mit bewaff« 
neter Hand zu beſchühen. Endlich wurde an der Stelle des Preßburger Friedens, 
wo die Erhebung der neuen Königreiche feſtgeſezt wurde, flatt des noch fonft im 
Tractate vorfonımenden Ausdrucks Empire Germanique der Name Conlederation 
Germanique gebraucht. Diefer Ausdrud und die folgenden Vorzeichen weiterer Ver⸗ 
änderungen der alten Neichöverfaffung gaben, zumal nachdem Preußen durch den Schöns 
brunner Vertrag vom 15. December 1805 und durch deſſen definitive Beflegelung im 
Pariſer Tractat vom 15. Bebruar 1806 Defterreih und das deutſche Reich preis- 


Nheinbund. 137 


gegeben Hatte, vielfach zu denken. In Brofchüren wurde felt Dem Anfang bes Jahres 
1806 von einer neuen Verfaffung ale von einer fih von ſelbſt verfiehenden Sache 
gefprocden. Auf dem Reichſtag zu Megensburg machte man fi darauf gefaßt, daß 
Napoleon auch für Deutſchland die Kaiſerwürde übernehmen, Andere glaubten, daß 
diefe Würde vielleicht ganz verfchwinden würde. Seit dem 17. März 1806, an 
welhem Tage Napoleon in Münden den Bevollmächtigten von Bayern, Württemberg 
und Baden den Entwurf eined Staatövertragd, der Die Ablöfung des füdlichen Deutſch⸗ 
lands vom Reich und die Unterordnung deffelben unter feinen Einfluß bezwedte, hatte 
vorlegen lafien, verfolgte er feinen Blan in der Stille des Geheimniſſes. Die Ein⸗ 
wendungen, welche einzelnen Beflimmungen diefed Entwurfs, befonders von Württem- 
berg entgegengefegt wurden, bewogen ihn, die Unterhandlungen abzubrechen. Seitdem 
war Talleyrand allein mit der Ausarbeitung des neuen VBerfafiungspland betraut, 
unter demfelben arbeitete der Minifterialbeante Labesnardiere und dieſer .confultirte 
den Kenner der deutichen Reiche verfaſſung Ehriftian Ferdinand Bfeffel(f.d. Art). Nur 
Dalberg (ſ. d. Art.), Kurfürft von Mainz und Erzkanzler, griff mit feinen Auffore 
derungen an Nepoleon, er möge „der Megenerator der deutſchen Verfafſſung“ werben 
(4. B. in feinem Schreiben vom 19. April) und auch in fofern thatig im dieſes Re⸗ 
generationswerk ein, als er fi dazu bergab, den Oheim Napoleon’s, den Garbinal 
Feſch (ſ. d. Art.) mit Zufimmung des Domeapiteld zu feinem Boadjutor zu ernennen. 
Unterhandlungen Über den Grundcharafter des Bundes, wie Diefer von Napoleon und 
Zallegrand allmählich drfinirt wurde, und über die Geſammtheit der Detalld wurden 
mit feinem der deutfchen Bevollmächtigten geführt. Nur Bayern, und wohl aud 
Württemberg und Baden, wurde die ganze Acte, als fle fertig geworden, vorgelegt, 
ohne daß man fih jedoch in eine eigentliche Grörterung darüber einließ. Endlich 
wurde am 12. Juli 1806 den in der Wohnung Talleyrand's verfammelten Ab⸗ 
georbneten der deutſchen Bunbesfürften die Mheinbundacte vorgelefen, jebeh nur 
zum Behuf der Unterzeichnung, der fi denn auch Keiner entsiehen fonnte, Die 
feierliche Unterzeichnung und Bekanntmachung fand am 17. Juli flatt. Am 25. Juli 
1806 erfolgte zu Münden bei Marſchall Berthier die Auswechslung der Matificationen 
der Mheinbunddglieder, die am 1. Auguſt ihre auf diefe Angelegenheit bezüglichen Er⸗ 
Märungen an den Megensburger Meichötag erliehen. Der Zitel der in franzöflicher 
Sprache abgefaßten Acte Jautet: L'Acte de la confederation du Rhin, vu traité entre 
Sa Majeste l’Empercur des Frangais, roi d’Italie, et les meınbres de l’Empire Ger- 
manique denomme&s dans ce traité, conclu à Paris le 12 Juillet 1806. Als Mit» 
glieder des MR. werden in diefer Acte aufgeführt und ratifleirten am 25. Juli bie 
Bundedacte: 1) der König von Bayern, 2) det König von Württemberg, 3) der 
Kurerzkanzler von Mainz (mit dem Titel als Fürſt⸗Primas, feit dem März 1810 
Großherzog von Frankfurt), 4) der Kurfürfi von Baden (nun Broßherzog), 5) der 
Großherzog von Berg’ (Murat), 6) der Großherzog (biöber Kandgraf) von Heſſen⸗ 
Darmfladt, 7) die Färften von Naffau-llfingen, 8) Naffau- Weilburg, 9) Hohenzollern⸗ 
Hechingen, 10) Hohenzollern» Sigmaringen, 11) Salm-Salm, 12) Salm-Kyrburg, 
13) Iſenburg⸗ Birflein, 14) Herzog von Aremberg, 15) Fürft von Liechtenftein, 
16) Fürft von der Leyen. Zugleich wurden durch die Acte zu Unterthanen der ein» 
zelnen Mheinbundfürften gemacht: die reichBritterfchaftlichen Gebiete, die indefien in 
Bayern, Württemberg und Baden in Folge des Prefiburger Friedens ſchon unter- 
worfen waren, die Meichöflänte Nürnberg und Brunffurt, fo wie die Gebiete von 
72 reihefländifchen Fürften und Grafen. Am 1. Augufl, von welchem Tage auch 
die dem Meichdtag Übergebene Rosfagungsurfunde der neuen Rheinbundsfürften vom 
deu'fchen Reichſsverbande datirt war, übergab endlich der franzöftfche Geſchaͤftstraͤger zu 
Regensburg Bacher dem deutfchen Meichötage die Anzeige von der Stiftung des R. 
und die Erflärung, daß Napoleon das deutſche Meich, welches fo ſchon in Folge ber 
Feſtſetzungen des Preßburger Friedens nicht mehr beſtehen könne, als exiſtirend nicht 
mehr anerfenne So legte denn au Franz Il., der vierundfunfzigfte römlich-deutfche 
Kaifer feit Karl dem Er. und der zwanzigfte aus dem Haböburgifchen Stanıme, durch 
feine Erklärung vom 6. Augufi 1806 die deutfche Kaiferkrone nieder, bewogen, wie 
das äfterreichifche Kriegemanifefl vom Jahre 1809 fagt, „durch die unbebingte Be⸗ 


168 Rhodus. (Unter den Iohannitern.) 


Entbindung feiner Würde nachgeben (1353). Aeußerlich glänzend und doch innerlich 
- bebrängt, war auch die Megierung- Raimond Berengars. Er vollbrachte durch 
die Erftürmung von QAlerandrien die größte Waffenthat des Jahrhunderte. 
‚ So berühmt fein Name dadurch geworden war, leifteten ihm die Fürſten der Chriſten⸗ 

beit bei den ferneren Kämpfen doch Feine Hülfe und die Brüberfchaft ſelbſt gerieth 
in einen gewifien Verfall. Die Befugniß, Reformen auszuführen, erhielt Berengar 
enblich, aber er mar bereitö zu alt und ſchwach, um noch Hand an's Werk legen zu 
fönnen. Sein Tod erfolgte 1374. Zwei Jahre fpäter wurde Johann Ferdinand 
v. Heredia Grofmeifter. Die Brüder wählten ihn, obgleich er dem Orden durch 
feine Habfucht vielen Schaden zugefügt hatte, weil er ihnen als Feind zu mächtig 
war. Auch feine glänzenden Eigenfchaften mögen ihn empfohlen haben, denn er ver⸗ 
band die Eigenfchaften eined ausgezeichneten Staatdmanns und Diplomaten mit denen 
eined unerfchrodenen Kriegers, eined bewährten Seemannes und war durch und durch 
ritterlih. Auf feiner Fahrt nah R. fand er die DVenetianer im Kampf mit dem 
Sultan, ſchloß ſich ihnen an und erflieg ald der Erfie Die Mauern von Patras, wurde 
dann aber gefangen genommen und mußte drei Jahre lang die härteften Sclavendienſte 
verrichten. Daß der Orben ihn loskaufe, litt er nicht und frohndete fo lange, bis 
feine Familie die erforberlihe Summe aufgebracht hatte. Mit diefem Zuge von Größe 
fteht dann wieder im Widerfprudh, daß er nad feiner Errettung der Brüderſchaft auß 
ihrer Geldnoth, die bis zu feinem Tode dauerte, nicht beraushalf und feine beträchte 
lichen Einfünfte flatt für den Orden zu Bamilienftiftungen verwendete. Als Herebia 
geftorben war, brachte fein Nachfolger Philibert v. Naillac (1396—1421) den 
Orden zu haher Macht. Die Gejgichtichreiber des Letzteren erwähnen ber Eigenfchaften 
des Mannes nicht, weil fle geglaubt Haben mögen, daß feine Thaten genug für ihn fprächen. 
Er baute Budrun als Brüdenfopf auf dem aflatifhen Feſtlande und machte den 
Orden im öſtlichen Theile des Mittelmeereß berrfchend. Die Herftellung der Einigkeit 
unter den Nittern aller Nationalitäten war fein legter Erfolg, Als Muhamed Kon« 
ftantinopel eroberte, faß Johann v. Laſtic aufdem Stuhle der Broßmeifter. Seine 
Berwaltung (1437—54) war ein langer Kampf gegen die wachfende Macht der Tür- 
fen und gegen die im Orden berrfchenden Mißbraͤuche. Mit Eräftiger Hand fleuerte 
er dem drohenden Verderben und traf die beilfamften Einrichtungen zur Verbeſſerung 
der Finanzen... Er felbft verwandte alle feine Einkünfte zum öffentlichen, Beften und 
fgeute fein Opfer für das Wohl feiner Brüder. Dem Großmeiflr Raimund 
Zacoſta, der von 1461 an regierte, flel die Aufgabe zu, bie Vertheidigungswerke 
der Infel fo umzubauen, daß fle den verbeflerten Belagerungsgefhügen Widerfland zu 
leiften vermöchten.. Die Comthure des Abendlandes murrten über die Steuern, bie 
ſie unabläfftg nah R. fchiden mußten, und Elagten Zacofta an, daß er dem Sultan 
Tribut bewilligt habe. Um die Einigkeit Herzuftellen, berief Bapft Paul II. ein Ges 
neralcapitel nah Rom, auf dem der Großmeifter erfchien und feine Zinanzmaßregeln 
vechtfertigte.. Bald darauf flarb er und wurde in St. Peter beftattet. Bon feinen 
Nachfolgern wurde Orſini von dem Heranziehenden Türkengewitter zwar noch nicht 
getroffen, feine Negierung, die bis 1476 dauerte, lich aber das Kommende fon 
ahnen. Die Landungen von Feinden auf R. wurden fo häufig, daß die Landbewoh⸗ 
ner nur mit Gewalt von einer mafjenhaften Auswanderung abgehalten merben konn⸗ 
ten. Die nächfle Negierung, die Beter’s v. Au buffon, Hatte eine ausnahmsweiſe 
lange Dauer, von 1476-1503. Sie war die Intereffantefte in Der Gefchichte des 
Ordens. Die Rüſtungen der Oſsmanen waren nach langen Borbereitungen vollendet 
und es erfolgte nun 1480 jene Belagerung, bie da8 Wunder ihrer Zeit war und 
Aubuffon’3 Namen auf den Flügeln des Ruhms durch die Welt trug. Noch heute 
wird fle zu den merfmwürbigften Kriegsereigniffen gerechnet. Die beidenmüthige Tapfer« 
Feit der Ritter würde nuglos gemefen fein, wenn ihr Großmeifter nicht die hoͤchſten 
Feldherrn⸗Eigenſchaften entfaltet hätte. Aubuffon war vielleicht der Einzige, ber 
ſeines Sieges nicht Iange froh wurde. Gin feiner Diplomat, war er auch ein ebler 
Mann, und fo fehlten ihm die Waffen, mit denen ſich die Willkürlichkelten und Ueber⸗ 
griffe des berüchtigten Papſtes Alexander's VI. gegen den Orden hätten befämpfen 
laſſen. Emeri v. Amboife hatte zwar in den erflen Jahren feiner Regierung 


Rhodus. (In der Tuͤrkenzeit.) | 169 


noch von Aleranber’8 Habfucht zu leiden, doch nach dem Tode beffelben wurde feine 
Ihätigkeit eine ebenfo freie wie heilbringende. Streng gegen Unordnungen und Lafter, 
lieb Amboife dem beitern ritterlichen Geiſte den freieften Spielraum und Die Meifter- 
burg fah die glänzendften Feſte nach Serunternehmungen, in denen der Orden nie 
glädlicher wie fegt gemefen war. Auf den hellen Tag folgte indeflen die finftere 
Nacht. Philipp Billiers v. Isle Adam war der legte auf M. reſtdirende 
Hochmeiſter. Daß gerade unter ihm die Infel verloren ging, wirft feinen Schatten 
auf ihn. Bin Mann von ungewöhnlidhen Gaben, von großer Umſicht und unüber« 
windlicher Standhaftigfeit, voll von, dem Gefühl für Pfliht und Ehre, dabel von 
ungemeflener Hingebung für dad Wohl feines Ordens, leiſtete er bei der Vertheidi⸗ 
gung gegen Soliman’8 II. Angriff im Jahre 1522 faft Unglaubliches. Gegen eine 
fo ungeheure Uebermacht, wie der Sultan fie beranführte, ließ fich freilich nichts aus⸗ 
richten. Dos richtige Urtheil über Isle Adam's Leiftungen fällte fein Gönner Karl V., 
als er bei der Nachricht des Falles der Infel ausrief: „Nie ift etwas fo ehrenvoll 
verloren worden, wie Rhodos." Mit dem Ende der Johanniter⸗Herrſchaft endet auch 
die Gefchichte von R. Ein vernadhläffigte® Eigenthum ber Türken, iſt die Inſel, 
der Sig des Pafchad vom Ejalet Diizair (Archipel), mit dem ganzen Reiche dem⸗ 
felben Schickſal der thatenlofen Ruhe und des flufenweifen Berfinfens verfallen. Sie 
it feßt in jeder Beziehung eine Auine. Die Ereigniffe des Herbſtes 1856 und vom 
22. April 1863 haben mefentlich dazu beigetragen. Noch fliehen ab und zu einige 
fhöne Bauwerke, doch feheint die Infel ein Heerd für Erdbeben zu fein und bie 
übrig gebliebenen Bauten find voller Riffe. Die beillofe Verwaltung der türfifchen 
Behörden trägt dazu bei, die Infel phyſiſch noch fahneller zu Grunde zu richten. Die 
griechifche Landbevälferung wird durch übermäßige Steuern dazu gebraht, nur das 
Allernotbwendigfte anzubauen; die Gebirge, fonft mit den berrlichften Cypreſſenwaͤldern 
bededt, werden planmäßig abgeholzt, fo Daß die Infel fhon in den legten Jahren 
Waflermangel gelitten bat. Auch der Handel, der in R. früber einigen Wohlftand 
erhielt, liegt feit dem Anlegen der Dampfichiffe gänzlich darnieder. Hunderte von 
Säujern ſtehen leer und verfallen, und bie Infel entvölkert ſich in erfchredender Weiſe. 
Bis zum Herbfi 1856 war die Hauptfladt der Infel im Banzen noch fo erhalten, 
wie die Rhodiſer Nitter fie verlaffen hatten. Eine traditionelle Scheu, entflanden 
durch den firengen Befehl Soliman’d, jedes Andenken an die tapfern Chriſtenritter 
zu achten, hatte die fonft fo rohen Türken abgehalten, Die alten Bauten der Haupt⸗ 
ſtadt anzutaflen. Diefe amphitheatraliih an den Felſen gelehnte Stadt empfing 
- bald, nachden die Bewohner der Infel, gegen Ende des peloponneftfchen Krieges, 
die Macht. und den Reichthum ihrer drei bereitß obengenannten Städte zum Aufbau 
dieſer gemeinfamen Metropole vereinten, mit Recht den Beinamen der Eoloflalen und 
berrlichen, weil mit den weltberühmten Kolofien der Sonne und dem nicht viel klei⸗ 
neren ded Zeus noch taufend andere Kolofje fammt dreitaufend Statuen ihre freien 
Pläße, Straßen und Tempel fhmüdten. Und wer eines der fehönften Meifterwerfe 
der mittelalterligen Befefligungdfunft, wer eine ganze Stadt aus der Ffraftvollen 
ritterlichen Zeit fehen wollte, der durfte vor noch nicht zehn Jahren nur R. betrachten. 
Welten mächtigen Eindrud auf's Auge machten noch damals diefe alten Mauern mit 
ihren innen und Thürmen, vor Allem der fette St. Nikolasthurm, welcher rechts bei der 
Einfahrt in den Hafen land, und der auf der andern Landzunge ihm gegenüber lie 
gende Engelötburm, fo wie in der Ferne die. alte Burgvefle St. Elmo mit ihren tiefen 
Gräben, Zugbrüden und Bollmerfen. Am Eingang des inneren oder Galeerenhafens, 
nicht an jenem des Außeren, fand, fo fagt man, auf den Belfenklippen das eine ber 
fieben Wunder der alten Welt, der Sonnenfolof, das Meifterwerk des Chares 
und Laches von Lindos, welcher 70 bis 80 Ellen hoch ragte. Im Jahre 282 v. Chr. 
war biefer Koloß zum Andenken an bie glüdliche Abwehr des Städtebezwingers De⸗ 
metrius von den hart bebrängten Mauren errichtet worden; ſchon im Jahre 226, 
nachdem er nur 56 Jahre geflanden, flürzte er, durch ein Erdbeben getroffen, nieder, 
auch in feinen Trümmern noch Bewunderung erregend, bis die erflen moßlemitifchen 
Eroberer der Infel, die Araber, welche Moavia hierher geführt hatte, 656 n. Chr., 
im 938. Jahre nach der Aufrichtung, ſelbſt diefe Mefte, deren Erzmafle 9000 Gentner 


= 


170 | Ahone. 


laftete, Hinmwegführten. Wie gefagt, bis zum Jahre 1856 waren die alten Bauten der 
Rhodiſer Ritter, die Meifterburg, die Iohannid- und Katharinenkirche, die Ritterſtraße 
und Feſtungswerke nody erhalten. Da erfolgte in der Naht vom 11. bis zum 12. 
Detober ein heftiger Erdſtoß. Die Erfchütterung war 10 heftig, daß die erfchredten 
Bewohner meinten, die ganze Stadt müfle über ihren Köpfen zuſammenbrechen, und 
in den nächften zehn Tagen traten neue Schwankungen ein, — die Zerfiörung war 
indeffen nicht fo groß als die, welche am 6. November folgte. An Diefem Tage er. 
goß fi nach langer Dürre der erfle Megen. Den leichten Wolfen drängten ſich 
fehwerere nach, ein Gewitter beganı ſich zu entladen. In der Johanntsfirche, die den 
böchften Punkt der Stadt einnahm, lagen 3000 Etr. Bulver. In Diefe Maſſe ſchlug 
ein Blig ein. Im naͤchſten Moment war R. wie in Feuer eingehüllt und ein entfeßlicher 
Knall erfchütterte die Luft und die Erde. An der Stelle, die der mächtige Quader⸗ 
bau des Kirchthurms eingenommen batte, blieb nichts als eine trichterförmige Ver⸗ 
tiefung. Der ganze Stadttheil von der Johanniskirche bis zum oberen Theil der 
Ritterſtraße murde zu einem unfürmigen Haufen von Steinen, Balken, Sparren, Haus» 
geräth und Keichen. Die großen Quadern des Thurmes flogen, die Häufer vom Dach 
biß zum Keller durchfchlagend, in die fernften Vorſtaͤdte. 250 Häufer waren zerfidrt, 
über 800 Menſchen erpchlagen worden. Dieje beiden Kataftrophen haben faft Alles 
vernichtet, wa6 ed auf R. an alten Baudenfinalen gab. Das Erdbeben hatte feine 
Verwüſtungen nicht auf die Stadt befchränft, auch die fchönen Ritterburgen an der 
Küſte und im Innern find heimgeſucht worden. Und was verfchont geblieben, ift durch 
das Erdbeben vom 22. April 1863 vernichtet worden; ein einziger Stoß, deſſen Dauer 
20 Secunden nidyt überfchritt, reichte hin, einen Trümmerhaufen aud dem größten 
Theil der Infel zu machen, an die fo viele Erinnerungen fich Enüpfen und Die zu 
fliehen fid) darauf eine große Zahl der Bewohner anfchidte.. So wird das Eiland 
vieleicht ganz verlaflen und öde dermaleinft daliegen, das im Altertfum und dann 
am Ende des Mittelalterd eine fo große Rolle gefpielt, jenes Eiland, das vormals 
eine Schule der Kunft und der Weisheit geweſen: in den Zeiten ded Chares und 
Laches aus Lindos, der Bildner des großen Sonnenfoloffes, fo wie des Bryaxes, des 
Meiſters der andern koloſſalen Statuen, eine Schule der Skulptur; zu Protogenes' 
Zeiten der Malerei; in den Tagen der römiichen Republik eine Schule der Redekunſt 
und Staatsweisheit, deren Lehren Cato, Gicero, Caeſar und Pompejus hier vernah- 
men, nachmals eine Schule der ritterlich » chriftlichen Tapferkeit und Kunft der Waffen, 
das aber, dad ritterlidye, vor 1856 noch fo erfcheinend, wie ein auf der Todten⸗ 
bahre liegender Held, der in der Blüthe feiner Jahre, ohne vorangegangene Krankheit, - 
plöglich den Tod des Schlachtfeldes flarb, und deſſen Leichnam noch ungnıftellt den 
Ausdrud der männlichen Stärke und Schönheit fich erhielt, jegt nun, der Natur den 
Tribut zahlend, zu Staub geworden ift. ” 
Rhone. Der R. (Rhodanus), Rodan, au Modden vom Schweizer ge 
nannt, der große franzöfliche Alpenflrom, von dem Strabo meinte, daß er „über 
alle Ströme erhaben jet, nicht nur, weil er eine unzählige Menge Beinerer Ströme in 
feinem Bett aufnimmt, fondern weil er die fchönften Begenden Balliend bewäſſert und 
ih in das Mittelländifche Meer ergießt, das ebenfo erhaben über die andern Meere, 
felbft den Ocean iſt“, ein Quellnachbar des Rheins und feiner Zuflüffe Aar und 
Neuß, fo wie des Teſſin, mit einen Gebiete von 1760 Q.⸗M., entfpringt nicht, 
wie in geographiſchen Handbüchern irrthümlich angegeben wird, aus dem Rhone⸗ 
gletfcher, iondern bat eine im Winter und Sommer gleich ſtark laufende Quelle 
beim Wirthähaufe zu Gletſch, 5400° am Fuße der Mayenwand, in welche das Schmelz 
wafler des Mhonegletfchers abfließt. Auf feinem meiten jübweftlichen Laufe durch 
Wallis bildet er von Naters und Brieg aus große Sümpfe mit ſchaͤdlicher Aus⸗ 
dünſtung, richtet zur Zeit der Schneefchmelze oft große Berheerungen an, beugt von 
Martigny nach Nordweſten um, bildet von oberhalb St. Maurice die Grenze 
zwifchen den Gantonen Wallis und Waat und ergießt fi, nachdem cr von 139 
Bletfchern die Gemälfer, darunter den Bisp oder Vièege, die Naviſanche, bie 
Borgne, die Bagne, den Trient und die Bieze auf der linken und die Longa 
aber Lötſchen, die Dala, die Liena und den Ayengon auf der rechten Seite 


e 


nr Ben | 


Rhone. (Aauf.) ’ 111 


aufgenommen bat, in drei Ründungen in den Genfer See Während bie linke 
Ihalfeite des R. die lebendige, friſch grünende, reich Durdhfeuchtete und darum vegeta- 
tiondfräftige if, zeigt die rechte, vom Gentrallamm der Berner Alpen fteil abfallende 
ein ernſtes Ausſehen; fie ift troden, dünt, felfig und ihre Seitenthäler find mit weni⸗ 
gen Ausnahmen kurze, enggeichluchtete Tobel, in denen die Schneegewäfler braufend 
berniederfchteßen.. So meit die Berner Alpen aus Erpflallinifchem Geſtein beſtehen, 
alſo vom Rhonegletſcher bis hinab zur Deffnung des Lötfchenthaled unterm Altels 
find alle dieſe Kleinen Seitenthäler unbewohnt und nur im Sommer während 
der Alpzeit fleigt der Senn mit feinen Heerden in ihnen für wenig Wochen 
hinauf. Bei Senf fließt der R. wieder aus dem See, und zwar viel mächtiger, 
breiter, wafjerreicher und fchneller, als er bei Villeneuve in feinen Sammelbeden 
mündete; man bat feinen Abflug auf beinahe 4’ pro Secunde berechnet und feine 
Breite beim Pont des Bergued beträgt 600°, die indeflen bald durch eine 660° lange 
Inſel beeinträchtigt wird. Frühere Geographen berichten: der M. fließe nit einer 
folhen Behemenz dur den See, daß er denfelben eigentlich durchſchneide und faft 
unvermifcht mit dem umgebenden Seewafler wieder ausſtroͤme. Diefed Därchen wird 
fhon dur die Barbe des Waflers widerlegt. Bei Billeneuve ſchleicht der R. ſehr 
oft bedeutend trübe und fchmugig in den hellen durchfichtigen See und verfchwindet 
bald in demfelben, Dagegen ift der Seeabfluß ald N. bei Genf fo prachtvoll fapphir- 
blau und Ear, daß feine galloppirenden Wellen mit zu den fchöniten Naturſchauſpie⸗ 
len diefer Gegend gehören. Es ift alfo nicht wie beim Mhein, deffen Waſſerkörper 
man Stunden lang noch im Bodenſeer unterfcheiden kann. Eine Viertelſtunde unter» 
halb Genf ergießt fi die aus Savohen kommende Arve in den R. und trübt mit 
ihren ungeflümen, grauen, Schlamm und Gerölle führenden Fluthen das blinfend 
Hare Rhonewaſſer. Noch ſechs Stunden lang fließt der A. durch den Canton Genf, 
zwifhen dem Mont Vounche und dem Jura durch, mo er fi auf 50° verengert, 
verliert fih bei Geniffiat in einen trichterförmigen Schlund, um erft mehrere Tau⸗ 
fend Fuß davon wieder an das Tageslicht zu kommen, tritt darauf nach Frankreich 
über, bildet Die Grenze gegen Savopen, deſſen Gewäffer er an fich zieht, und nimmt 
einen weftlichen Lauf an bis zu feinem großen Knie, daß den ganzen Lauf bes 
Fluffes, 140 Meilen groß, in zwei nicht fehr ungleiche Haupttheile theilt und noch ſchaͤr⸗ 
fer if ald das beim Rhein, daher der Abftand der Quelle von der Mündung nur 
50 Meilen beträgt. Dies Knie I auch dadurch die Hauptſtelle im Rhonelauf, daß 
bier zugleich die um den Hang ded Haupiſtromes flreitende, doch jedenfalld die Rich⸗ 
tung beflimmende Saöne (Arar, fpäter Sauconna) mündet, und dem entipricht, daß hier 
Frankreichs größte Stadt außer Paris liegt, Lyon. Würde man übrigens der Richtung 
wegen die Saöne als eigentlichen Hauptflup betrachten, fo wäre e8 wieder nicht die 
om Langred» Platesu in Nachbarfchaft der Aube und Marne, der Maas und Mojel 
entfpringende Saöne felbft, auf deren Quellen zurädzugehen wäre, vielmehr der 
Doubs (Dubis), welcher aus dem Innern des Jura als Quellnachbar der Orbe 
kommt und einen mächtigen Bogen nordmwärtd bis zu der rheinischen Waſſerſcheide be⸗ 
fchreibt, über deren niederen Müden weg der elfäffifche oder Rhein⸗,Rhone—⸗ 
eanal zunähft den Doubs mit Ill und Mein verbindet, 40 Meilen lang in drei 
Theilen, wovon der erfle der eigentliche Verbindungscanal ifl, der zweite den Doubs 
folgt, der dritte bei Dole vom Doubs zur Saöne gebt, um bier an den burguns 
diſchen fih anzufchließen, und wozu noch ber Seitencanal von Mühlhauſen nach 
Bafel kommt. Bor der Bereinigung mit dem Doubs empfingt die Saone vom 
Südende der Bogefen den Dignon, den nädften Quellnachbar der Mofel von der 
Linken, von der Rechten die Tille, Quellnachbarin der Seine, und die Ouche, 
Duellnahbarin des Armancon und des Arrour; der Doubs bat nur Eleine Zuflüffe, 
wie die Loue; in den vereinigten Strom aber münden, außer dem Gentralcanal, 
rechts Grane und Breponne, links Scille und Reyffouffe Bor der die 
Richtung des Ganzen bezeichnenden Waflersinne Saöne-R. aus iſt das Stromfyflem 
höochſt einfeitig gegliedert, indem alle große Glieder, Doubs, (obere) R., Ifere (Ifara) 
und Durance (Druentia) auf der Linken und der Alpenfeite fi befinden. Bon 
dieſen theilt Frankreich den Hauptfirom ſelbſt, fo wie bie Ijere mit der Schweiz. Don 





172 Ahone. (Lauf.) 


den vier Abtheilungen, in welche der Lauf des Oberrhone zerfällt, fallen Die zwei 
erften, mie wir gejeben haben, außerhalb Frankreich, nämlih der Gebirgslauf im 
Wallis dis zum Engpaß von St. Maurice, und das obere Thalbeden mit dem Genfer 
See und der Arne, fo wie der erften großen Rhonefludt Genf. Die dritte ift ein 
zweiter Gebirgslauf, wo der Strom zuerſt an der Grenze zwiſchen Sranfreich und 
dein nunmehr ebenfalld zu Pranfreich gehörigen ſavoyiſchen Gebiete nordſüdlich fließt 
und den Guier enpfängt, alddann ganz auf altfranzöftjichem Boden den Jura quer 
durchbricht, in fcharfer Ede nordweſtlich ſich wendend, mit der Flußſchwinde „‚Perte- 
du-Rhone“. Der AR. würde fhon von Genf aus ſchiffbar fein, wenn er nit 
beim Eintritt nach Frankreich beim Fort de l’Ecluse fo zwiſchen hohe fleile Felſen⸗ 
wände gezwängt würde, daß bier fchon jede Benugung ded Stromes zum Transport 
ziemlich gefährlih wird. Unmöglih jedoh macht alle Schifffahrt die berühmte 
Slußftelle der Berte. Die vierte Abtheilung des oberen Mhonelaufs ift das mitte 
lere Thalbeden, das Lyoner⸗Becken, wo der R. noch den Iuraflug Altn 
erhält und mit der Saöne fich vereinigt. In der zweiten Hauptabtheilung des 
Ganzen oder des Unterrhone haben wir einen dritten Gebirgeluuf, mo der Strom 
an der Grenze des Lyoner Bedend mit den nördlichen Cevennen zufammengeräth, ihr 
Urgebirg theilmeife durchfegend, während auf der anderen Seite die Ausläufer der 
Alpen bald näher berantreten, bald entfernter fi halten, namentlich in dem Beden 
von Bienne und noch mehr in dem von Balence, wo die Tiere (mit dem 
Drac) mündet. Diefes bildet überhaupt eine Epoche in diefem Gebirgdlauf, indem 
unterhalb deſſelben die größere Erhebung auf der Alpenjeite des Stromthales ſich 
befindet; bier erhält der R. den Dräme aus den Alpen, ‘den Erieur aus den 
Eevennen. Das unterhalb Montelimart fich erweiternde Stromthal geht fofort um 
die Mündungen der Zuflüffe Ardeche und Ceze von rechts, Lez und Aigues von 
links In die Mündungdebene Über, und in dieſem gmeiten Theile des Unterrbone macht 
die Theilung in Arme noch eine Unterabtheilung, nämlidy in den ungetheilten Kauf, 
wo, außer dem Durance (mit Bnech, Balaron, Bleone, Berdon), die 
2ouveze mit der Resque und der Gard mündet und noch ein Alpen: Ausläufer 
(Alpimes) vereinzelt beranziebt, und in da8 Delta. Bel Arles theilt fi nämlich 
der Strom in zwei Hauptarme, zwifchen weldyen die große Infel Camargue fi 
befindet und von welchen jeder weiterhin nochmals fidy theilt; der Hauptarm ift der 
Öftliche, der in die Hauptmündung (M. fchlecdytweg) und den alten R. (R.-vieux) 
ſich theilt, wie Der weſtliche in Petit-R. und R.-mort. Das am Strome — abges 
ſehen von jenen unbebeutenden Höhen Alpine — meit über Avignon, fa Orange 
hinauf ſich erfiredende Mündungstirfland dehnt fih an der Küfle fogar von Marſeille 
bi8 zum Buße der Pyrenäen aus, und der Küftenfaum enthält eine Meihe zum Theil 
großer Etangs (Strandfeen), die ſchon bei Perpignan beginnen und, dichter ge= 
drängt zwifchen der Mündung des Hcrault und der Delta-Infel, wo einer der größten 
— Etang-derBalcares — ſich befindet, mit den ebenfalld jehr großen Strandfee von 
Berre im Weſten von Marfeille enden. Es münden hier vom Buße der Borenien an 
die Küftenflüffe Tet, Agly, Aude, Orb und, als Begleitflüffe des R. betrachtbar, 
Herault (Nrauris), Vidourle und links von dem R. Arc. Das Rhonedelta 
rüdt immer weiter in’d Meer binein, mie überhaupt in dem ganzen Golfe von Lyon 
die See an vielen Punkten zurüdgewicdhen ifl. Mehrere alte Borthürme und Anzeichen 
des Fahrwaſſers ꝛc. kommen infonderheit zwifchen den beiden Hauptmündungen des 
N. in verfchiedenen Entfernungen von dem jegigen Meerbufen vor und zeigen bie 
fuceeffiven Eroberungen an, welche das Land in verbältnigmäßig neuen Perioden dem 
Meere abgerungen bat. Solche neue Anjchlämmungen, noch von Gewäflern durch⸗ 
drungen, machen dad feltfame Auffinden lebender Fiſche beim Hineingraben in die 
Erde möglich, defien fchon die Alten unter den Merfmürdigkeiten diefed Landes erwähnen. 
Das Nhonedelta bat viel Aehnlichfeit mit dem des Nil, „nur exiſtirt“, fagte Hip⸗ 
polyt Peut vor einigen Jahren in einer Denkſchrift, in welcher er auf die großen 
und wenig ausgebeuteten Hülftquellen aufmerffam machte, die das Delta und die 
Gamargue dem NAderbau bieten, „nur eriftirt der Unterſchied, daß in dem Nilbelta 
durch eine barbariſche Megierung gigantifche Arbeiten ausgeführt werben, um feine 


Nhone, (Hiftorifche Bedeutung.) 173 


natürliche Ergiebigkeit zu erhöhen, und daß in dem Rhonedelta unter einer civilifieten 
Verwaltung ein Zuftand, wie er nur der Barbarei eigentbümlich ift, fortdauert.” In 
der That if das Mhonedelta eben fo gut, wie das Delta des Nil, in hohem Grade 
für die Reiscultur geeignet; dies iſt nicht etwa eine bloß theoretifhe Vorausſetzung, 
fondern das Ergebniß praftifcher Erfahrungen, Die in der Provence mit dem Bau der 
Reispflanze angeftellt worden find und Die zu fehr ergiebigen Ernten geführt haben. 
Ein Haupthindernig für Die Agriculture im Rhonedelta liegt darin, daß dad Erbreih 
in dem legtern außerordentlich mit Meerfalz gefchwängert ifl. Der Reid jedoch ge⸗ 
deiht gerade auf einem ſolchen Boden, der von Meerfalz durchdrungen ift, und bie 
Verſuche, die man auf der Samargue mit dem Anbau diefer Pflanze angeflellt bat, 
find auf das Beſte auögeichlagen, — auf diefer großen Infel, die, ald Caͤſar Gallien 
eroberte, nur ein dichter unheimlicher Wald war, aber bald in eine der fruchtbarften 
Landfireden umgewandelt wurde. Sie war im Mittelalter mit Klöftern, Abteien, 
Kirhen, Kapellen, Burgen und Dörfern bebedt, von denen fegt nur noch wenige 
Spuren vorhanden fird. Die Mündungsfladt des R. iſt nicht am Strome ſelbſt zu 
fuchen, fie liegt vielmehr weit ab im Oſten, Marfeille, Frankreichs dritte Stadt, 
und im Welten kann ebenfo Montpellier zu den Mhoneftädten beigezogen merben, 
die in dem dampfbefahrenen Theil von Saöne-M. die anfehnliche Reihe barbieten: 
Chalons, Macon, Lyon, Bienne, VBalence, (Orange), Avignon, Tarascon » Beaucaite, 
Arles., zu welchen, wenn wir dem MR. felbft folgen, In der Schweiz Genf, Laufanne 
und Sion fommen. Durch die Strandfeenkette fegt fih der Südcanal von Agde 
aus did Beaucaire ald Canal von Beaucaire fort und der Canal von Arles 
begleitet den oͤſtlichen Hauptarm des R. bis zur Mündung des Etang von Berre. 
Wir nannten den R. oben den großen franzöfifchen Alpenflrom, genauer iſt er 
aber ald das große burgundiſche Stromfuften zu bezeichnen, in fofern das urs 
Iprünglihe Burgundien, aus welchem alle fpäteren burgundifchen Reiche und Herr⸗ 
fhaften bervorgegangen find, mit feinem Flußgebiete im Allgemeinen zufammene 
fällt. Da der R. gleih den Rhein in der Mitte des Alpen» Landes und 
zwar unweit der Mheinquellen feinen Urfprung nimmt, fo zeigt fich auch eine gewiſſe 
Berwandtfchaft zwifchen den Stromſyſtemen des M. und des Rheins, obfchon fle beide 
wiederum durch ihre Natur und Weltftellung wefentlih von einander verfchieden 


find. Der R. entfpringt zwar in dem Herzen des Alpenlandes, bricht aber auf dem 


nächflen Wege aus demfelben heraus, verläßt daffelbe gänzlich und bahnt fi durch 
die mitteleuropäifchen Gebirgsmaſſen einen Weg, um ſich fern von dem Alpenlande in 
da8 Meer zu ergießen. Der R. bricht zmar auch auf dem geradeften Wege mweftwärtd 
aus dem Alpenlande hervor, aber fobald er in die ihm angelagerte Ebene eingetreten 

if, wendet er ſich um und läuft nun an dem Weftfaume des Alpengebirges in geraber 
Richtung ſüdwärts bis zum Meere entlang. Er nimmt zugleich in feinem mittleren 
und untern Laufe alle die mwaflerreichen Flüſſe in fidy auf, mweldye den weftlichen Alpen 
nach der franzöflfchen Seite Hin entflrömen. Der R. ift deshalb ein Begleiter 
des Alpenlandes zu nennen, wie der Bo im Süden der Alpen und die Donau 
im Norden der Alpen, und ift nadı allen feinen Berbältniffen auf das Alpengebirge 
bingewiefen. Darum ift die Weltftellung des Rhoneſyſtems eine ganz andere, 
ala Die des Rheinſyſtems. Dad Land des Rhoneſtromes bildet die ſüdöſtliche 
Mark des Landes Franfreichd gegen Italien hin, und feine alpinifchen Zuflüſſe bis 
zu feiner Mündung abwärts bilden die Baffagen, um von Italien aus nach Frank⸗ 
“reich zu gelangen und umgefehrt. Auf gleiche Weife bildete das alte Burgundien da 
große Bermittlungsland zwifchen dem eigentlichen Frankreich (in Neuftrien und Aquis 
tanien) und Italien und zugleich nad Dentfchland hin, mo das Stromfyflem des MR. 
mit feinen Quellſtrömen in der Sadne, Doubd und dem eigentlichen R. ſich vielfach 
mit dem obern Stromgebiet des Rheins verfchlingt. Auch beflätigt die Gefchichte des 
burgundifchen Landes und Volkes durch alle Jahrhunderte Diefe Beziehungen beider 
zu den drei großen Nachbarländern und Völkern im Oſten, Welten und Norden. 
Schon die Richtung der beiden Stromthäler des R. und des Rheins ifl durchaus 
verfchieden, und dies Eonnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die Elimatifchen und vege⸗ 
tativen DVerhältniffe ihrer Gebiete und auf die Entwidlung ihrer Bewohner. Der 





174 Rhöngebirge. 


Rhein wendet fi) gerade nach Norden zum rauhen Norbocean, in deſſen Mitte die 
britifchen Infeln feinem Mündungsland vorgelagert find. Das Mhonethal dagegen 
zieht fih am Weſtſaume des Alpenlandes gerade nach Süden entlang; der R. führt 
zu dem Golfe von Lyon und zu dem Mittelmeer und auf folche Weife zur Verbindung 
mit der alten @ulturwelt im europäifchen Süden, von wo, gleih wie im Altertbum, 
fo au im Mittelalter die geiſtige Cultur im Verein mit den Handelbintereſſen ſich 
immer einen Weg durch dad Mhoneland nad dem Innern des europälfchen Abend» 
lande8 und Nordens gebahnt hat. Ebenſo ziehen fich die milden Sübdlüfte burd bie 
tiefe Thalfenkung des Rhonelandes in das Innere ded Landes hinein und verberiten 
ihren Einfluß in der Erzeugung der Eöftlichen Südfrüchte von dem Mündungslande bed 
R. bis weit nach Norden. Demnach zeigt fich eine doppelte Beziehung in der Welt 
ſtellung des Stromſyſtems des R. ſowohl zu dem Alyenlande als zu dem Mittelländi- 
fen Meere. Die Bereinigung diejer beiden Verhältniffe in der größtmöglichften An- 
näherung der alpiniichen Natur mit der Natur des Südens und ihre Ausgleichung 
durch die Nachbarfchaft des Meeres finder ſich vornehmlich in dem fchönen Lande 
Vrovence, dad im Mittelalter der vornehmfte Sig der füdfranzäflfchen Bildung 
geweſen iſt und defien Natur mit dem burgundifchen in vielfachem Wechfelverkehr ger 
ftanden bat. 

Rhöngebirge. Das R. oder die Rhoöͤn fchließt mit dem Vogeldgebirge 
die Nordſeite des großen bayerifhen Beckens ab und bildet geologifh betrachtet 
Fein befondered Gebirge, fondern nur eine Gruppe bafaltifcher, phonolitbifcher und felbft 
trachytiſcher Kegel auf der flachen Waſſerſcheide zwifchen dem Wefer- und Waingebiet. 
Es iſt das ein aͤhnlicher Bau wie der des böhmifchen Mittelgebirges, doch find die 
bafaltifchen und phonolithifhhen Kegel der Rhön meift nicht fo feharf zugefpigt, ald 
igre Brüder bei Teplig. Einige fogar find oben ganz abgeplattet und von Moor⸗ 
reden bebdedt. Ihr Fuß ruht nicht wie in Böhmen auf Quaderſandſtein und Braun- 
kohlengebilden, fondern auf Mufchelfalt und buntem Sandftein, doc fehlen Braun- 
Tohlenablagerungen in diefer Gegend nicht ganz. Diefe Floͤtzgebirgsbaſis iſt von 
gewundenen Thälern durchichnitten, auf deren plateauartigen Scheiden die Bafalte 
und Phonolithkegel viel einzelner zerftreut umberfiehen als in den Umgebungen 
des Mileſchauers, wodurch gerade bier eine gemöhnliche Thalbildung zmwifchen ben 
Bergen möglich geworben ift, Die dort beinahe fehlt. Aber mie in Böhmen, fo wer. 
den au in Franken die Kegel rings um die Hauptgruppe immer einzelner und ein« 
zelner, während in fehr großem Umkreis immer nody einzelne ſich über die geſchichtete 
(Bldg-) Platte erheben. Sonderbar ift es dabei, daß ziemlich häufig der Mufchelfalt 
gerade nur am Buß vieſer vulkaniſchen Kegel ringförmig erhalten ift, gleihfam ale 
hätten dieſe feften Geſteinskuppen, wie in die Erdfrufte eingefchlagene Rieſennägel, ein⸗ 
zeine Fetzen dieſer früher allgemeinen Flötzdecke auf dem bunten Sandftein feftgehalten, 
der im Großen und Ganzen die Oberfläche des Landes bildet. Aufier den abgerun- 
deten Kuppen flieht man bier und da den Bafalt und Bhonolith auch gangförmig aus 
dem Sandftein oder Floötzkalk hervorragen, und kaum Tann es noch einem Zweifel 
unterliegen, daß alle die Feldfuppen auf weit fortfegenden Gangſpalten oder ftielartig 
ausgefüllten Schlünden ruhen, aus denen ſie ein in heißflüffigem Zuftande Tavaartig 
bervordrangen. Dadurch mird dann Die formelle Aehnlichfeit mit eingefchlagenen Nä⸗ 
geln um jo größer. Zwiſchen den einzelnen Bergkuppen finden ſich, wie erwähnt, hier 
und da kleine Braunfohlengebiete, mit plaftiihem Thon und Sand, und auf den breiten 
Blateaur der größeren, reie 3. B. des 2870° Hohen Dammersfeldes, mächtige 
Torfbildungen. Bei Kleinfaffen und am Ziegenfopf bi Schackau enthalten 
trachitiiche Gefteine Spuren von Manganerzgängen. Das Gebiet der Rhön if ver 
haͤltnißmaͤßig rauh, weil hoch. Die Thalfohlen Iegen im Durchſchnitt 1300 —1500' 
über dem Meere, die Blateaur zwiſchen ihnen gegen 2000, die Bergfpigen aber er« 
beben fich wenig ütec 2800. In den ThHälern liegen die Ortfchaften zerfireut, ihre 
Felder und Triften find über die Gehänge und Plateaur audgebreitet, die Kegel find 
bewaldet oder kahl, im letzteren Falle nur als fpärliche Weide nupbar. Auffallend ift 
es, daß man auf den plateauförmigen Höhen mancher der breiten Kuppen deutliche 
Spuren früher weit‘ audgebreitetern Belbbanes vorfindet, was eine Berfchlechterung bed 


Nibeaupierre (Alerander Graf von). 125 


Klima's anzubeuten ſcheint. Da der Feldbau dieſer Gegend wenig ergiebig if, To if 
die größtentheild ländliche Bevölkerung vorzugsweife auf Viehzucht angemwieien. Die 
fefte Erdkruſte bietet in der Rhön nur wenig nugbared Material, darunter Braunfohlen 
und Töpfertbon. Greßartige Fabrikinduſtrie iſt noch gänzlich untergeordnet, doch find 
Webflühle in allen Dörfern thätig. Eine technifch nupbare Pflanze, die in biefer 
Gegend wie an vielen Bergen Heſſens eingefanmelt wird, ſcheint ein eigenthümliches 
Gewächs des Bafaltd zu fein; es ift eine hellgraue Flechte, die in dicken Kruften die 
Bajalıfelfen überzieht und aus welcher ein ſchönes Moth bergeftellt wird. in inter- 
effanter Punkt des R. if die Milzeburg, ein fchroffer, 2390° Hoher Phonolithfels, 
und der hoͤchſte Berg der Heilige Kreuzberg, 2856° hoch, auf deffen Spige ein 
Obfervatorium und Wirthshaus, nebft einem großen Kreuz ſtehen und wo, etwaß tiefer, 
ein Sranzidfanerflofter liegt, zu dem ſtark gewallfahrtet wird und welches im Winter 
oft ganz mit Schnee bededt if. Vom Kreuzberge fann man bie ganze Rhoͤn und 
weithin dad Land überbliden, welches von Verkehréſtraßen nur äußerfi fparfam durch⸗ 
fynitten wird. Am Fuße und zwar an der kurheſſiſchen Grenze Bayerns liegt an der 
Sinn dad Badedrihen Brüdenau, deſſen mineralifhe Quellen durdy König Ludwig 
von Bayern mit gefhmadvollen Gebäuden umgeben worden find. Ein fo Fleine® zer⸗ 
fireuted Bergland auf einem übrigens gleichförmigen, breiten Hochplateau Tonnte nie⸗ 
mals eine befondere politifche Bedeutung gewinnen. Doch grenzen hier Bayern, Heſſen 
und einige der thüringiſchen Staaten aneinander. 

Ribeanpierre (Alexander Graf von) (in Rußland Alerander Iwanowitſch), 
Wirklicher Gcheimer Rath, Ober⸗Kammerherr, Mitglied des Reichſsraths und Senator, 
einer der gediegenften neueren Diplomaten Rußlands, entflammt einem altabeligen, 
früher im Elfaß angefledelten Geſchlechte, weldyes nach Aufhebung des Edictes von 
Nantes fih im Waadtlande niederließ und fpäter nach Rußland fich begab, als bie 
Kaiferin Katharina II. begabten Ausländern fo günftige Ehancen des Emporkommens 
eröffnete. Alerander felbft, geboren im Jahre 1783, if der Sohn Jean Etienne R.'s, 
welcher Brigadegeneral in rufflichen Dienften war, 1789 bei der Belagerung von 
Ismail fiel und bei der Kaiferin in fo gutem Andenken fland, daß fie das früh ver- 
waifle Kind fogleih als Offizier in die Liften der Faiferlicden Garden eintragen ließ 
und feine Erziehung aus kaiſerlichen Mitteln beftritt. Kaum wirklich eingetreten in 
die militärifche Laufbahn, wurde er von Kaifer Paul 1. zu feinem Adjutanten und 
zum Wirklihen Kammerherrn erhoben. Als nach der kurzen Regierung feined erften 
Befördererd Kaifer Alerander 1. den Thron beflieg, boten fich ihm alsbald neue 
Gelegenheiten des Auffteigend dar, indem er zunächſt die Minifterial- Karriere einichlug, 
wobei er gleichzeitig in den verfchiedenften Reſſorts wer Winifterials Departementd ger 
naue Einfiht und Kenntniffe gewann, bis er 1822 Generalzahlmeifter der ruſſiſchen 
Acmee ward und 1824 den Befandtfchaftspoften für Konftantinopel empfing. Seine 
eigentliche biplomatifche Laufbahn begann indeß erft unter Kaifer Nikolaus, dem er 
durch den für Rußland fo vortheilhaften Friedensſchluß, welchen er im DBerein mit 
dem Grafen Woronzom am 26. October 1826 bei Akkerman zu Wege brachte, fich 
zuerfi als geichicter Politiker empfahl, nachdem er fchon zu Anfange des gedachten 
Jahres mit der Notification der Thronbeſteigung des neuen Monarchen von Rußland 
an den Wiener Hof entfandt worden war. Noch mehr leuchtete fein biplomatifche® 
Talent bei den auf di: Pacification Griechenlands bezüglichen Unterbandlungen zwiſchen 
Rußland und den verbündeten Mächten einerfeits und zwiſchen Rußland und der 
hohen Pforte andererfeitd hervor. In Folge der, der Seefchlacht von Navarin, welche 
am 20. October 1827 die türfifchsägpptifche Flotte aufrieb, nachfolgenden Greigniffe, 
welche eine Spannung zwiichen den wefleuropäifchen und dem ruffifchen Babinet ber- 
vorriefen, auch die türfifhe Brage Rußland gegenüber in ein neues feindliche® Ver⸗ 
bältniß brachte, verlieh M. Konftantinopel und kehrte erfi, mit meuen gewichtigen 
Miffionen verfehen, nad Abſchluß des Briedend von Adrianopel, der befanntlih den 
rufflfchstürfifchen Krieg unter den günftigften Auſpicien für Rußland endete, im Jahre 
1329 auf feinen ®efanbtichaftspoften zurüd, wo e8 ihm gelang, in Berbindung mit 
den Gmifjären von England und Branfreih, auf der Baſis der bereitd in London 
gepflogeuen Gonferenz das endliche Schiäfal Griechenlands zu Stande zu bringen und 


176 Nieardo (David). 


dem monarchiſchen Princip daſelbſt Geltung zu verfchaffen. Das Hauptverdienſt ges 
bührt Dem tactvollen Auftreten R.'s, daß biefe Angelegenheit zur Zufriebenheit ber 
europäifchen Gabinette und des neubegründeten Königreichd gelöfl, und daß die 
Gährung, die fih bereits von Neuem im Divan den Großmäcdten gegen» 
über erhob, noch rechtzeitig unterdrüdt murde. Ja, man kann behaupten, 
dag R. der Schöpfer einer neuen era in Bezug auf Sitte und Umgang in Konftan- 
-tinopel wurde, da Die meiften conventionellen Formen, die jet in ber Hauptſtadt des 
türfifchen Reiches fich zur Geltung gebracht haben, feinem perfönlich liebenswürdigen 
Auftreten ihren Urfprung verdanken. Bon Konftantinopel aus wurde R. zunaͤchſt 
nad Neapel dirigirt, fehr bald darauf aber empfing er den ungleich wichtigeren Poften 
eines außerordentlichen Gefandten und bevollmädhtigten Miniſters am Berliner Hofe, 
mit welchem Rußland in Beziehung auf die Pritifche Lage Europa's Polen, Belgien 
und Portugal gegenüber in Uebereinkunft handelte. Auch Hierbei zeigte fih R. von 
Neuem ald gewandter Diplomat und wirfte unter fleter Anerkennung des monarchiſchen 
Princips wmefentlih zur Umgeftaltung der Karte Europa’3 mit. Die endliche An⸗ 
erfennung Belgiend auch von Seiten des Petersburger Cabinets iſt eines feiner Haupt- 
verdienfte. Im Jahre 1839, nachdem er länger als acht Jahre in Berlin vermweilt; 
wurde R. auf feinen Wunſch von dort abberufen, worauf er, in den Kreis feiner 
Verwandten nah St. Peterdburg zurückkehrend, Mitglied des Plenums des Reichs⸗ 
rathed, Senator, Ober⸗Kammerherr und Wirklicher Geheimer Rath ward und ben nur 
in Rußland gebräudlihen Titel. einer Hohen Excellenz empfing. Seit langer Zeit 
fungirt er feitdem beim Beremoniale Departement, de8 Minifterlums der auswärtigen 
Angelegenheiten an ber Seite des Ober. Geremonienmeifters Grafen Iwan Ilariono⸗ 
witih Woronzom » Dafchfom mit demfelben Geift und Tact, den er früher bei fei« 
nen diplomatifchen Beziehungen offenbart bat, und in feiner Stellung ale Mitglied 
des Reichsraths nahm er befonders für die Angelegenheiten des Königreich Polen 
zu Lebzeiten des Fürften von Warſchau, Grafen Paskewitfch-Eriwanskif eine hervor⸗ 
tragende Molle ein. Bis in die Jeßtzeit hinein bat er mit ungefchwächter Kraft und 
Energie des Geiſtes trog mancher phyſtſchen Leiden an allen wichtigen biploma- 
tiihen Vorgängen thätigen Antheil genommen und gilt dem gegenwärtigen Selbſt⸗ 
berrfcher Alexander II. als ein ebenjo patriotiſcher Berather, wie deflen drei Borgän- 
gern, den Kaifern Paul I., Alexander I. und Nikolaus I. Da er fhon unter Katha⸗ 
rina II. feine Functionen begann, hat er demnach umter fünf Megenten Rußlandsé ges 
dient. Seine Gemahlin, die Gräfin Katharina v. R., fungirt als Staatsdame der 
tegierenden Kaiferin; fein Sohn, der Graf Iean (Iwan Alerandromitfch), gehört be⸗ 
reitd zu den zweiten Hofchargen. des Reiches; er ift Taiferlicher Hofmeifter mit dem 
Range eines Geheimen Raths, Hat den Excellenz⸗Titel und lebt, wie fein Vater, zu 
St. Petersburg; feine Tochter, die Gräfin Zatiane (Tatjana Alerandromna), {ft Hof- 
fräulein der Kaiferin. 

Nicardo (David) gilt bei den Engländern für einen der erſten, wo nicht für 
den allererfien Nationalöfonomen ihres Landes und fomit (wie ſich bei ihnen von 
felbft verfteht) der Welt. Geboren (im Sabre 1772) als Sprößling einer portugieft- 
fhen Iudenfamilie, .ift er gegen den Willen feines Baterd zum Chriſtenthum über- 
getreten. Im Jahre 1810 erfchien zu London fein (fo viel wir wiſſen) erfled litera» 
rifches Product, nämlich eine Abhandlung über die Entwerthung der Banknoten (The 
high price of bullion, a proof the depreciation of bank-notes etc.), womit feine 
im Jahre 1816 erfchienene fernere Schrift über Papiergeld (Proposals for an econv- 
mical and secure currency with Observations on the profits af the bank of Eng- 
land) in Berbindung ſteht. Diefe iſt von R. Peel, in feiner Bill, betreffend bie 
Wiederherſtellung der Baarzahlungen der englifchen Bank, benugt worden. Im Jahre 
1815 gab er feine Abhandlung über Getreidegefeggebung (Influence of the law price 
of corn on the prefits of stock) heraus. Er vertheidigte darin Die Preiheit ber 
Korneinfuhr. Sein berühmteftes, fein ganzes Syſtem darlegendes Werk, über die 
Orundfäge der politifhen Defonomie und Befteuerung (Principles of 
political economy and taxation) foll zuerſt ſchon im Jahre 1812 erfchienen fein: 
eine bekannte Ausgabe iſt vom Jahre 1819. Es iſt in's Deutfche überfegt von 


Nicarde (David), | 177 


Baumſtark (Leipzig 1837). Im Jahre 1820 gab er noch eine Schrift über das 
Fundirungsfyſtem (On the funding system) heraus, worin er die directe Belaſtung 
der Steuerpflichtigen empfahl. Im Jahre 1819 ward er in's Unterhaus gewählt. 
Er gehörte dort zu den Bertheidigern ber Sparfamkeit und ber freien Goncurrenz. Nach 
feinem im Jahre 1823 erfolgten Tode ehrten die Engländer fein Andenken dadurch, 
daß fie den an der Londoner Univerfität errichteten Lehrſtuhl der politiſchen Defonomiie 
nach ihm benannten. Dad oben genannte Hauptwerk R.'s iſt nicht leicht verfländlich 
und erfordert ein angeflrengte® Studium. Dan fann ihn in dieſer Beziehung, wie 
vieleicht auch in anderen, den Hegel der Nationaldfonomie nennen (wie ſchon von 
dem bekannten Schrififielleer über „den englifhen Barlamentarigmus“, 
Bucher, gefcheben if). Allerdings bilden Adam Smith's Grundlehren den Stand- 
punkt, von weldem R. ausgeht, aber mit feiner eigenthümlichen fireng logiſchen 
Methode Hat er wichtige Lehrfäpe Smith's weiter und namentlich in ihren Folgerun- 
gen entwidelt. Wenn dabei die Verdienſte Adam Smith’! um- die Wiffenichaft in 
volleres Licht treten, fo ift Died aud mit den Mängeln feines Syſtems der Fall. 
A. Smith berückſichtigte mehr die praktifchen Lebendverbältniffe, welche die Anwen 
dung aufgeftellter theoretifcher Brincipien modificiren, wogegen bei R. Alles auf ſtrenge 
Theorie hinauslaäͤuft. Wenn der Smithianismus (wie Kautz treffend ſagt) zu einem 
Fatalismus und Determinismus führt, für welchen die Zweckbeſtimmung und die ethis 
ide Kraft und Freiheit des Menfchenwillens obnmächtig unter der Wucht der Na⸗ 
turgeſehe zuſammenbricht, fo zeigt ſich dieſes Ergebniß bei R. in vollem Maße. 
Die Gefege der äußeren Natur, unter welden die Materie flebt, in Derbindung 
mit den niederen Trieben der menfchlichen Natur, weldye auf den individuellen Be⸗ 
fip der Materie gerichtet find, werben als unmiberflehlich in ihren Wirfungen betradh- 
tet, und was die Höhere vernünftige Natur des Menfchen vermag, diefe Wir- 
kungen zum Beften der Menſchheit zu beberrfchen und zu beichränfen, wird faſt nicht 
einmal berührt. Die individuelle Gewinnſucht erfcheint als einzige Triebfeder bes 
sfonomifchen Lebend; von Gemeinfinn und liebevollem Zufammenmirfen zu böhren 
Zwecken if nicht die Rede. Damit bängt zufammen, daß R. die Geldwerths- 
berrfchnft, zu welcher A. Smith's Theorie führt, bis zu Ihren äußerften Conſequen⸗ 
zen durchführt, fo daß fein Syſtem nicht ald eine Wiflenfhaft vom Wohlfiande und 
richtig verflandenen Reichthume der Völker, fondern lediglich als eine Wiffenfchaft 
vom Geldwerthe und deffen Belegen erfcheint. Bucher fagt: „alle Dinge, auch die 
Menfchen, find ihm Schatten des Geldes: mit feinen Abftractionen algebraifch rech« 
nend, verläßt er fih darauf, daß die Schatten, die benannten Zahlen, von ſelbſt folgen 
müflen.“ Bretlich bat R. felbft (Principles etc. Ch. 20) die Wahrheit ausgeſprochen, 
daß der Reichthum eines Volkes nach der Menge der Gebrauchömerthe oder Sachgü« 
ter zu fohägen ift, welche es beflgt, und daß dagegen der Taufch= oder Geldwerth 
(value) diefer Güter fich nach der Leichtigkeit oder Schwierigkeit, womit fle producirt 
werden, richtet, d. 5. daß der Geldwerth des Vermögens eines Volkes deſto größer 
iſt, je ſchwieriger e8 war, daffelbe zu produciren. Somit hat er, da fein ganzes 
Syſtem eigentlih nur eine Theorie des Geldwerths if, felbft eingeräumt, 
dag es, menigftend unmittelbar, nicht den wahren DVolfswohlfiand zum 
Gegenfiande bat, ed wäre denn, Daß es zeigte, auf welche Weiſe die 
möglichſte Wohlfeilheit aller Dinge zu erzielen fei. Dafür bietet fih nun 
freilich R.'s Grundfag dar, daß der Taufchwertb der Güter im Großen und Ganzen 
von der Menge von Arbeit abhängt, vermittelt welcher fie produeirt find. Daraus 
folgt, daß die Erfparung von Arbeit bei der Production dad Hauptmittel der Herub- 
minderung der Preife iſt, und Ricardo bat mit mathematifcher Evidenz Die bahin 
gehende Wirkung der Mafhinen gezeigt. Zugleich aber if er der Meinung, daß 
Herabminderung oder Erfparung des Arbeitslohns im Allgemeinen nicht zur 
Berminderung der Breife führt, fondern entfprechende Vergrößerung des zweiten Preis» 
elements, nämlich ded Gapitalgewinnes, zur Folge bat. Sein hoͤchſt wichtiger Sag, 
daß der Capitalgewinn von der Höhe des Arbeitslohns in umgekehrtem Berbältnifie 
abhängt, daß alfo, wenn der Arbeitslohn fleigt, der Capitalgewinn fällt, erklärt den 
Gegenfah der Intereffen zwifchen Unternehmer und Arbeiter vollfommen. Das ſchließ⸗ 


Wagener, Staats, u. Geſellſch.⸗Zex. XVI. 12 


178 Ricardo (Davib). 


liche Ergebniß feiner Theorie zeigt ſich aber erft in der Verbindung feiner Lehre von 
der Grundrente mit der fo eben bemerkten Anſicht: es geht dahin, daß nicht Wohl⸗ 
feilheit, fondern immer meitergebende Vertheurung das allgemeine endliche Ziel des 
Bortfchritteß der volfämirtbfchaftlichen Bewegung fein wird. Er erfennt nämlid an, 
daß die Arbeit der Production einer für die Volksmenge zureichenden Menge von 
Lebendmitteln fi bei der Zunahme der Bevdlferung nicht vermindert, fondern ver⸗ 
mebrt, weil die Bodencultur, je weiter fie wegen des fleigenden Begehrs von Lebens⸗ 
mitteln ſich über die Bodenflächen von geringerer natürlicher Fruchtbarkeit ausdehnt 
und überhaupt mehr Fünftliche Mittel zur Erhöhung des Ertragd angewandt werben, 
defto mehr Arbeit erfordert, welcher Gang der Dinge durch Mufchinenwefen und Bere 
vollfommnung der Landmwirthfchaftslehre nur von Zeit zu Zeit temporäre Hemmungen 
erleiden Fann. Der Arbeitslohn, wenigſtens als Geldlohn, haͤngt nun aber von den 
Preifen der Lebendmittel ab und muß alfo mit der fortfchrittlicden Bewegung immer 
mehr fleigen. Damit vermehrt fich freilich der Sachlohn nicht; fondern wahrfchein- 
licher iſt deſſen Verminderung, weil die Vermehrung der Lebensmittel mebr oder 
weniger hinter dem entfprechenden Anwachſe der Bevölkerung zurüdbleiben wird, 
Das Steigen des Geldlohns wird aber das dauernde Sinken ded Bapitalgewinns 
oder der Bapitalrente zur Folge Haben. Dagegen wird.die aud den Uinterfchieden der 
natürlichen Bodenfruchtbarkeit (nach Ricardo) eniftehende Grundrente durch Die ſtei⸗ 
gende Nachfrage nach Lebensmitteln fortwährend gefleigert werden, und wird endlich faft 
der ganze Ertrag der Production des Landes, nach Abzug des Arbeitslohns, den 
Zandeigenthümern und Abgabenbeziehern zufallen. Daß fi die Lage der Arbeiter in 
diefem Gange der Dinge nicht verbeffern, fondern verfchlimmern merde, weil ſich Das 
zum Unterbalte der Bevölkerung nöthige Bapital nicht fo vafch, wie dieſe, vermehren 
werde, bat R. nachdrücklich ausgeſprochen. Er bemerft dabei ausdrücklich, daß die 
Induftrie Dagegen Feine Abhülfe gewähren Fönne und daß vielmehr das Uebel mit den 
Anftrengungen, melche die Induftrie mache, wachfen werde. Er fchließt fich bier an 
Malthus an und erklärt ed für eine unbeftreitbare Wahrheit, daß dad Wohlfein der 
Unvermögenden nicht auf die Dauer geflchert werden fünne, wenn nicht entweder durch 
fle jeloft oder durch die Geſetzgebung darauf hingearbeitet werde, ihre Anzapl zu regeln 
dur Berminderung früher und leichtfinniger (iimprovident) Heirathen. Soviel wir 
und erinnern, ift diefe Stelle die einzige des Werfa, in welcher eine Hinweifung auf 
eine regelnde Einmifchung der Gefeggebung in volkswirthſchaftliche Verhaͤltniſſe vor« 
fommt. R.'s Spflem berubt ganz auf der Vorausſetzung der atomiftifchen freien 
Concurrenz. Auch der Gedanke an eine corporative Organifation zur Verhütung des 
bellum omnium contra omnes, namentlich ded von ihm in fo grelled Licht geftellten 
Kampfes zwifchen den Ürbeitern, den Unternehmern und den Grundeigentbümern, 
fheint ihm gar nicht gefommen zu fein. Uebrigens jcheint und feine Anficht vom 
endlichen Siege der Grundeigenthümer in diefem Kımpfe einer Modiflcation zu ber 
dürfen. Als Engländer an fiveicommiffarifche Einrichtungen (entails) gewöhnt, Dachte 
er ſich mwahrfcheinlich nicht, daß die freie Concurrenz auch den Berker mit Grund 
und Boden beberrfchen, und die jchrankenlofe Verkäuflichfeit deſſelben mit fich führen, 
fann, fo daß die Geldcapitalinhaber auch den Boden durch die unwiderſtehliche Macht 
des Geldes an fich reißen und als eine Waare behandeln, und fomit Brundrente und 
Capitalrente in denfelben Inhabern zufammenfallen (m. ſ. Art. Geld und Capital). 
Daß aber das Iepte Stadium der durch die freie Goncurrenz beberrichten volfewirth- 
fchaftliden Entwidelung bei diefer Vorausſetzung in nicht minder düſterem Lichte er» 
fiheint, als in R.'s Darftelung, glauben wir früher audeinander gelegt zu Haben. 
Treffend fagt ein franzöjlfcher Schriftfieller (Yontenay): Ricardo et Malthus ont 
expose le progres declinant Wer an eine göttlihe Vorſehung und daran 
glaubt, dag fle den Menfchen nicht ohne Zweck mit Bernunft begabt bat, wird durch 
nichts mehr als durch R.'s Darftellung in der Ueberzeugung beflärft werben, daß Die 
in der äußeren materiellen Natur und in der niederen menſchlichen Natur liegenden 
Triebfräfte nicht fataliſtiſch das Leben beherrſchen, fondern höheren Geſetzen, welche 
die höhere, vernünftige Natur des Menſchen erfennt, untergeordnet und durch fie bes 
fchränft werden follen. Weber das von Manchen behauptete Verdienft R.'s um die 


Ricaſoli (Baron Bettine bi). 179 


Peel'ſche Bankbill find die Meinungen verfchieden (m. f. Art. Vank S. 253 ff.). 
Daß M.'s Anſicht von dem angeblichen hohen Preije der Soldbarren Die richtige war, 
fann Niemand der Theorie nach beftreiten. Aber damit war die Frage, ob es zweck⸗ 
mäßig fei, die Einlöfung der Banknoten zum Nennwertbe, d. 5. zu dem vollen Gold» 
wertbe, in welchem fie urjprünglich nominell und thatfächlich, (aber ohne Zweifel nad 
der Reſtriction längſt nicht mehr tbatfächlich) außgegeben waren, zu verordnen, feined- 
wege ausgemacht. Auch ward diefer Grundſatz im Gefege nicht fireng durchgeführt, 
aber obgleich fomit die großen Verluſte, welche namentlidy die Bank (jedoch fle ohne 
Zweifel nicht allein) bei der Wiederherftelung der Baarzahlung erlitt, einigermaßen 
gemildert wurden, iſt Doch aus mehr ald einem Grunde der Grundfag der Einlöfung 
zum Nennwerthe getadelt worden. Es ward namentlih durch die dadurch fo fehr 
gefleigerte Nachfrage nach Gold der Kaufmerth diefes in England nicht einheimifchen 
Metalle weit über R.'s Erwartung erhöhet. Man bat fogar behauptet, daß bie 
englifhe Staatsſchuld durch die feit dem Sabre 1819 geleiſteten Zins- und Ab⸗ 
zahlungen zum großen Theile abgetragen wäre, wenn die Banknoten ihren Cours⸗ 
werth behalten Hätten (dieſe Behauptung findet ſich in Bucher's Schrift: „Der 
Barlamentarismus wie er if", Leipzig 1856). Wir dinfen aber in biefen 
Gegenſtand nicht näher eingeben, ohne zu weitläufig zu werben. 

Bicafoli (Baron Bettino di), geweſener Minifterpräfident im neuen Königreich 
Italien, ſtammt aus einer altabeligen Yamilie des Großherzogthums Toscana, Die 
diefen Lande eine Reihe tüchliger Staatsmänner und hoher Beamten gegeben bat, und 
iR auf dem väterlihen Stammichloffe Broglia im Jahre 1809 geboren, fubirte auf 
den Hochſchulen von Padua und Turin, machte dann längere Reiſen durch Frankreich, 
England und Deutfchland, hielt fi in Genf durch mehrere Jahre auf und übernahm 
dann die Bewirtbichaftung der väterlichen Güter, welche er durch vortreiflidde und 
sationelle Behandlung zu einem damals in Italien unerhörten Flor brachte. In dieſer 
langen Zeit bis an's Ende der vierziger Jahre fchrieb M. mehrere Eleine und größere 
Werke über Landwirtbfchaft, die feinen Namen bekannter machten, ald die Streitig- 
feiten, in die er mit der Geiſtlichkeit Toscana's gerietb über die feinen Bauern alls 
tonntäglih im Schloßhofe von Broglia gehaltene Vorlefung und allzu freie Auslegung 
der Bibel. Bon den yolitiihden Geheimbünden, die vom Anfang der dreißiger Jahre 
3talien unterwühlsen, hatte fih R. fern gebalten, denn er mar Im Grunde genommen 
fletd eine conjervatiye Natur, aber auch er hielt namentlich eine Reform auf Eirchlich“ 
religiöfem Gebiet für nothwendig und bat dies In feiner offenherzigen Weile laut befannt. 
War er ſchon in früherer Zeit in Genf mit dem Proteſtantismus in feiner flarreften 
Form befannt geworden, fo war doch der Verdacht, dag MR. ein geheimer Proteſtant 
jei, «in ungerecdhtfertigter; indeß mußte ein fo eiferner Charakter, wie der feine war, 
durch die Feine Grenzen Eennende Reaction des toscaneſtſchen Klerus zu eben folder 
Thätigfeit nach entgegengefegter Richtung angefpornt werden. R. fuchte daher mit 
Hülfe Pafjaglia’d, Liverani's und Reali's den niederen Klerus für die Sache einer 
religidfen Reform nach dem Vorgange Scipio Ricci's zu gewinnen, wobel ed wohl 
nicht zu vermeiden war, daß fich die Firchliche Agitation auch auf dad politiiche Gebiet . 
binüberfpieltee War doc gerade in Toscana die politifche Revolution des Jahres 
1848 eine Folge der Heactiondbeflrebungen auf kirchlichem Gebiete. Für die foger 
nannte nationale Sache, für die politifche Einheit der Halbinfel, für Italien und die 
Führung durch dad Haus Piemont-Savoyen wurde R. erft fpäter durch die politischen 
Erfolge Buvour’d gewonnen, mit dem er in den freundfchaftlichften Beziehungen ftand. 
N. war es noch im Jahre 1849, weldher der revolutionären Negierung Toscana's 
mit Entfchiedenheit entgegentrat und bei der nach Carlo Alberto’8 Niederlagen in 
Dber-Italien erfolgten Reflauration des Großherzogs eine Hauptrolle fpielte, aber er 
zog ſich bald darauf auf feine Güter zurüd, als jener, geftügt auf öfterreichiiche 
Bafonette, feine Politit von Wien aus Ienfen ließ. An den agitatoriichen Beſtre⸗ 
bungen der darauf folgenden Jahre Hat R. Feinen Antheil gehabt; erfi als in Anfange 
des Jahres 1859 von Neuem der Sturm der Mevolution über die unglüdlidye Halb» 
infel dahinzubraufen begann, Fam R. noch einmal an den Hof nach Florenz und rieth 
dem Großherzog in eindringlichfter Weiſe, fich der franzöfifch« piemontejlfchen Allianz 

12* 





180 Nienioli (Baron Bettino di) 


anzufchliegen, wenn er feinen Thron und die Autonomie Toscana's erhalten wolle. 
Erft als auch diefer Rath verworfen murbe, ftellte fich Der „eiferne Baron? ſelbſt an 
die Spike der proviforifchen Regierung und beberrfchte in den nächflfolgenden Jahren 
dad Großherzogthum mit einer Machtvollfommenheit, gegen die weder die franzöftfchen 
Plane eined neuen Königreich8 Etrurien, noch die der Mazziniften Boden gewinnen 
fonnten, und mit einer an Willfür flreifenden Entfchiedenheit, die ihm neben feinem 
Beinamen „der elferne Baron“ noch den des „Bettino⸗Bey“ eintrugen. Ihm gelangen 
fogar Schritte, die zu unternehmen die großherzogliche Megierung, felbft in der reactions⸗ 
feligften Beit der zwanziger Jahre, nicht gewagt hatte: der flarre Albertinifche Codex 
wurde ohne Widerſpruch an Stelle der milderen Leopoldiniſchen Gefeßgebung einge» 
führt, die Preſſe in ihrer Zügellofigkeit befchränft, die politifchen Vereine überwacht 
und theilweiſe gefchlofien. Nach der Bereinigung Toſcana's mit dem neuen Staate 
Italien galt daher R. der confervativen Majorität der Turiner Kammer nicht mit 
Unrecht ald der Mann, der in gleicher Weile geeignet erfcheine, ſowohl der immer 
mehr drängenden evolution einen flarfen Damm entgegen zu fegen, als den impe⸗ 
rialiftifchen Einflüffen Frankreichs Halt zu gebieten: Als daher Graf Gavour am 
6. Junt 1861 mit Tode abging, verlangte fie die Berufung des toßcanifchen Barons 
in das Miniftertum, Es geſchah; R. übernahm die Neubildung deſſelben und in ihm 
das Präfldium des Conſeils. Mit unveränderter Treue fland während der neunmonat⸗ 
lihen Dauer feiner Verwaltung die Maforität der Kammer zu ihm; fle gewährte ihm 
. dur Bewilligung einer neuen Anleihe von 500 Millionen Lire die Mittel, die DBer- 
mebhrung des Heered und die Volföbemaffnung zu betreiben, und fle gab ihm ihr 
Botum zu all den Einrichtungen, welche die nody in einzelnen Provinzen des neuen 
Staates berrichenden Autonomieen in Wegfall bringen, dagegen das Selfgovernment 
der Gemeinden flügen follten. Indeß fo günflig die DVerhältniffe für R. fich im 
Innern geftalteten, um fo mißlicyer geftalteten fich diefenigen der äußeren Politik für 
ihn. Er fomohl wie die Maforität der Kammer hatten fich bitter getäufcht, wenn fie 
die Zeit jegt fchon für gekommen hielten, wo Stalten, ohne nochmals der Nevolutipn 
in die Hände zu fallen, dem Bängelbande Frankreichd entwachſen ſei. Zwar mollte 
Louis Napoleon es nicht fofort zum Bruche kommen laffen, der feiner politifchen 
Vormundfchaft ein plößliched Ende gemacht baben würde, und ed erfolgte denn au 
von Parid aus die Anerkennung der neuen Annerionen ber Marfen und Umbriens, 
fo wie die Rückkehr des franzoͤſiſchen Befandten nach Turin; indeß war der Kalfer 
doch nicht gemillt, dem neuen Minifterpräftdenten den Verſuch, das engliſche Bündniß 
an Stelle der franzöftfchen Abhängigkeit zu fegen, fo ruhig hingehen zu laffen. Indem 
die franzoͤſiſche Regierung ſich anfcheinend paffto zu allen Italien augenbiidlich durch⸗ 
wühlenden ragen der großen Politik zu verhalten jchien, war fie doch mehr wie je 
bemüht, den Beftrebungen R.'s auf die Ermerbung Noms und die Abdication des 
Papſtes als meltliher Souverän Schwierigkeiten zu bereiten, über die Jener troß der 
zähen Willendkraft, mit der er an fein Problem ging, doc nicht gelangen Fonnte. 
Umfonft waren Paflaglia’8 Predigten im „Mediatore* über das neue R.'ſche Dogma 
der Trennung der geiftlihen Macht von der weltlichen, umfonfl feine Aufrufe an die 
niedere Geiftlihfelt und deren ehrfurchtsvolle Petition an den Papft, ſich der Krone 
de8 Kirchenflaates zu Gunften der italienifchen Einheit zu, entäußern, Pius und An« 
tonelli waren der Zuftimmung des Tuilerieenhofed zu gewiß, als daß fle nicht jene 
Bewegungen hätten unberädfichtigt laſſen follen. Sa fie wurden fogar durch die fran« 
zöflfche Politik intendirt, das Königreich Italien felbft mit weltlichen Waffen in Neapel, 
den Marken und Umbrien zu befämpfen, wodurch dieſes gendthigt wurde, ein Dritt- 
theil feiner Armee in einem ruhm- und refultatlofen Kampfe zu verwenden, ter des 
ganzen Staated innere Fortentwidelung lähmte Trotz dieſer Renlitenz Branfreichd 
gegen die Pläne R.'s, Die diefem nicht lange verborgen bleiben Fonnte, war er doch 
fo fehr von der Vortrefflichkeit feiner Politit und von dem Gelingen berfelben über- 
zeugt, daß er Cavour's fonflige Hülfsmittel, dad Stützen auf die revolutionäre Partei, 
die Emigration und Garibaldi, gänzlich vernadpläffigte. War dies dem flarren und 
ehrlichen Charakter R.'s auch entfprechend, fo war es doch unpolitifch und feinen 
Plänen um fo nachtheiliger, als ihm fpäter, nachdem Frankreich fich offen weigerte, 


* w 


Nicei (Scipio). 181 


zwiſchen dem italienifchen Minifterium und dem PBapfte zu vermitteln, nichts Anderes 
übrig blieb, als fich zur Zöfung, der römifchen Frage der Revolution in die Arme zu 
werfen. R. ſah zu fpät diefen Mißgriff ein; zwar wurde Mazzini’8 Amneſtie ſchleu⸗ 
nigft an Mordini und die revolutionäre Linke zugefagt, Baribaldi von Caprera nad 
Turin eingeladen, um fich mit dem Präafldenten des Miniſteriums zu verfländigen, und 
die Agitationen und Straßendemonftrationen gegen bie mweltlide Macht des Papfl- 
thums wieder in Scene gefegt, wie zu den fchönften Zeiten Cavour's; indeß gefchah 
dies doch allzu fehr in der fichtbaren Abſicht, Napoleon mit der Mevolution zu 
fhreden und ihn in Angſt zu fegen, ald daß MR. fih damit hätte der Hingebung ber 
Revolutionäre, noch der Rückkehr der Unterflügung Frankreichs verfichern fönnen. 
Mit dieſer legten Brontveränderung war R.'s Stellung unhaltbar geworden; die Ma⸗ 
jorität in der Kammer ſah mit Recht darin ein Aufgeben von Grundfäßen, die der 
Minifter fo oft ald ein Princip, von dem er nie abgehen werde, aufgeftellt Hatte, und 
in diefem Aufgeben jeined Princips eine Charafterloflgkeit, der fie nicht folgen wollte; 
fie trennte fih zum größten Theile von ihn, und ald Ratazzi's (ſ. d. Artifel) 
Sendung nah Paris ebenfalls mißglüdte, ftand R. am Ende feiner politifchen Lauf⸗ 
bahn, ohne zu einem Entichluffe kommen zu Finnen. Endlid nahm der König Victor 
Emanuel, dem die unliebendmwürdige Berfönlichkeit und die fleifen, wenig bofmännifchen 
Manieren R.'s niemald bebagt hatten und der wohl den glatten gefchmeidigen und 
böfifch gemandten Advocaten von Aleffandria, Ratazzi, in feinen Kammer- und Parifer 
Ihtriguen gegen jenen unterftüßt haben mag, die Sache in bie Hand und veranlaßte, 
nicht gerade in anerfennenden Auddrüden, feinen PBremier-Minifter, feine Entlafjung 
einzureichen, die ihm fofort bewilligt wurde, Mär; 1862. Seitdem lebt R., zurüd« 
gezogen von aller Politik, auf feinem Stammfchloffe Broglia wiederum der Verwal⸗ 
tung feiner Güter und der Pilege der Landwirthſchaft. Mangel an Menfchenfenntniß 
und Das Aufgeben politifcher Grundfäge, movor ihn fein überaus redlicher und ehr⸗ 
licher Charakter leicht hätte bewahren follen, fießen R. auf der politifchen Bühne einen 
Biadco machen, den er bei den beften Abfichten in dieſer Erafien Weife gewiß nicht 
verdient bat. 

Ricci, Scipio, unter dem das Neuerungdfuften feines Brubers, des Kaifers 
Joſeph II., nachahmenden Großherzog Leopold I. von Toscana Der Reformator der 
Fatholifchen Kirche im Großherzogthume, war am 9. Januar 1741 in Florenz geboren, 
erhielt feine theologifche Erziehung im römifhen Seminarium und neigte Anfangs 
fo fehr zu der Orthodoxie der Fatholifchen Kirche bin, daß fein Eintreten in die Pro- 
paganda fidei und in den Jefuitenorden von feinen Eltern nur mit Mühe verhindert 
werden konnte. Da R. ſich durch theologiſche Gelehrſamkeit auszeichnete, ward er 
1770 zum Auditor des paäpfſtlichen Nuntius am Hofe von Toscana ernannt, dann 
1774 Generals Dicar des Erzbifhofd Incontri von Florenz und 1780 erhielt er daß 
Bisthum Prato⸗Piſtoja. Schon vor feiner Ernennung zum Bifchof in engen Be- 
ziehungen zu dem Großherzog Leopold, firebte er in feiner neuen Stellung eifrig darnadh, 
das dem fofephinifchen Reformſyſtem nachgebildete Verfahren feines Landesherrn auch in 
Bezug auf die Kirche fruchtbar und die Firchliche Macht der weltlichen untertban zu 
machen. Die bierzu nothwendigen Reformen in der Disciplin der Kirche förderte M. 
mit flrengem Eifer, geftand dem Staate eine Ueberwachung des Fatholifhen Schul- 
unterriht8 zu, veranlaßte ihn zum infchreiten gegen die frommen Bruder» und 
Schwefterfchaften, zur Verminderung der katholiſchen Feſt-⸗, Feier- und Faſttage, der 
Wallfahrten und Proceiflonen und errichtete 1781 in Piſtoja auf eigene Koften eine 
Druderei, welche befondere Pamphlets in feinem reformatorifchen Sinne verbreitete. 
Bald aber, wie vorauszufehen war, griff R. auch das Dogma der Fatholifchen Kirche 
an und nur dem milden Sinne des ſechsten Pius ift e8 zuzufchreiben, Daß der Streit 
über die Lehre von den Indulgenzen u. |. w. nicht zu einer Firchlichen Trennung führte. Auf 
der von R. ohne Genehmigung des Bapftes berufenen Synode von Piftoja, 1786, 
welche die vier gallicanifchen Artikel annahm, fam ein Neformationdplan für die fa= 
tHolifche Kirche Toscana’d noch nicht zu Stande, doch follte derfelbe im nächſtfolgen— 
den Jahre auf einer durch den Großherzog Leopold berufenen Synodal-Berfammlung 
der Bifchdfe berathen und befchloffen werben; indeß änderte der Tod Kalfer Joſeph's ll, 


182 Riccoboni (Ludovico). 


bie ganze Lage der Sache in Der einer Kirchenreform unguüͤnſtigſten Weiſe, indem der 
Nachfolger Leopold's, welcher die deutfche Kaiferfrone erhalten hatte, der Erzherzog 
Ferdinand, ein Feind der Neuerungen war und von ber Durchführung ber R.'ſchen 
Pläne nichts wiſſen wollte. Auch die große Mafle des Volks, wie der Mittelftände, 
war ben Reformen R.'s nicht zugethan gemefen und Volksunruhen in Brato, bei 
denen fogar der Palaft R.'s geplündert und die Bibliothef verbrannt worden war, in 
Piftoja, Florenz und andern Orten waren durch fie hervorgerufen .morben, 1786 und 
1787. Sept, 1790, wiederholten fich dieſelben; auch die Didcefancapitel und bie 
niedrige Geiftlichfeit begünftigten fie und nahmen an ihnen Theil. R. wurde zuerft 
zur Entfagung feines Bißthumd, Dann zur Flucht gezwungen, lebte lange in ber 
Zurüdgezogenhett, wurde jedoch 1799 nad der Entfernung der franzöflfchen Truppen 
unter der Anklage, die Revolution begünftigt zu haben, ind Gefängniß gefegt und 
fpäter in dem Dominifanerflofter zu San Marco internirt. Erft der zweite Einmarfch 
der Sranzofen gab ihm die Freiheit wieder, dennoch fehien er nene Verfolgungen zu 
fürchten und gab daher 1805 dem Drängen feiner Freunde nach, einen fürmlichen 
Widerruf feiner gegen Dogma und Dieciplin der alten Kirche gerichteten Beſtrebun⸗ 
gen zu erlafjen, welcher fi als Adhäſtonsformel an die Bulle „Auctorum fidei* ans 
flog. Indeſſen konnte R. auch Hierdurdy nicht feine Wiederherftellung in Amt und 
Würden erlangen, lebte von einer geringen, ihm durch Papft Bius VI. bemilligten 
Penſion in der Nähe von Prato und farb dafeldft, nachdem ihm auch die Behörden 
ded neuen etrurifchen Königreiches jene Rebabilitirung nicht hatten vermitteln können, 
am 27. Januar 1810. R. war in vielen Beziehungen ein Borläufer der heutigen 
italienifchen Kirchenreformatoren, welche das Papalſyſtem durch Entziehung der welt- 
lien Souveränetät zu ſtäaärken vorgeben, damit aber bloß unloniſtiſchen Zwecken die⸗ 
nen, unterfcheidet flch aber von diefen durch Die Ueberzeugung von der Wahrhaftig- 
Feit feiner Beftrebungen und der tiefen Neligiofltät feiner Abſichten, Denen dad Streben 
nach dem Primat, welches man ihm unterfhob, ganz fern lag. Einen deutlichen Be- 
weis davon geben die „Acten der Synode von Piftofa*, weldye Leopold 1788 
auf feine Koften in 7 Bänden druden Tief. Eine vorzügliche Charafterifiif R.'s und 
feiner reformatorifchen Beftrebungen enthält auch Potter's (f. d. Art) „Vie 
et pontificat episcopal de Scipio Ricci“, Brüffel 1825, 3 Bände; deutfch Stutt⸗ 
gart 1827. 

Hiccoboni (Ludovico), Schaufpieldirector und Schriftfteller, geb. 1677 zu Mo- 
dena, verfuchte, nachdem er ſich ſchon in feinem 22. Jahre an die Spige einer 
Scaufpielergefellfchaft geftellt Hatte, das ktalienifche Theater nach dem dramatifchen 
Syſtem der franzöflihen Komödie zu reformiren, verlor aber, nachdem er in der 
Lombardei und im Benetianifchen Beifall erhalten, die Gunſt des Publicums, als er 
mit feinen Reformen der fomifchen Nationalmasfen des italieniſchen Theaters fo weit 
ging, den Arlecchino ganz zu verbannen. Er folgte demnach 1715 der Einladung 
des Herzog von Drleand, eine Schaufptelergefellfchaft In Paris zu errichten, und 
genoß in diefer Stadt mit feiner Familie (flehe unten) und Truppe großen Beifall. 
Man bat von ihm außer andern Arbeiten die gefchäßte Histoire du theätre italien 
depuis la decadence de la comédie latine. (Paris 1728 — 1731. 2 Bde.) Er 
farb zu Paris den 5. December 1753. — Sein Sohn Antoine Frangois U, 
geb. 1707, gef. 1772, mar ein beliebter Schaufpieler, bat auch mehrere Komödien 
felbft verfertigt und in Gemeinfchaft mit feinem Vater die Schrift ‚L’art du theätre 
(Baris 1750; deutih, Hamburg, 1828) abgefaßt. — Die Frau des Letzteren, gebo⸗ 
rene Marie Jeanne Laborad de Meziered, geb. zu Paris 1713, geft. ebendaf. 
1792, trat gleichfalls als Schaufpielerin auf, mandte ſich jedoch, da fte nicht genug 
Beifall fand, der Schriftflellerei zu und gab eine Meihe von Romanen im englifchen 
Geſchmack heraus, die öfters gefammelt erjchienen find, fo zu Paris 1786 In 8 Bbn., 
1818 in 6 und 1826 in 9 Bon. — Die Frau Ludovico's, die unter dem Nanıen 
Ylaminia zu ihrer Zeit berühmte Helena Virginia Baletti (geb. 1686, geft. 1771), 
war auch Schaufpielerin und Schriftfiellerin und wegen ihrer ttalienifchen Poeſteen 
in die Afademieen von Rom, Berrara, Bologna und Benedig aufgenommen worden. 


Richard I. f. Großbritannien, 


Richardſon (James. — Samuel). 183 


Mr | f. Großbritannien. 

Nihardion (Iames). Ziemlih zwanzig Jahre waren feit René Gaillie’s Reiſe 
verfirichen, ohne daß ein Europäer es wieder gewagt hätte, in den Sudan vorzu⸗ 
dringen. Erſt in den Jahren 1845 und 1846 unternahm R., geboren am 3. No⸗ 
vember 1809 zu Boſton in der engliihen Graffchaft Lincoln, der als Gorrefpondent 
einer Londoner Zeitfchrift feit 1840 Marokko und Algier durchzogen Hatte, eine Melfe 
über Tripolis nach Murzuk und Rhat, der Hauptfladt im Rande der nördlichen Asgar⸗ 
Tuariks. Er batte bei derfelben meniger die wiffenfchaftliche Erforfhung im Auge, 
ſondern fih die Aufgabe geflellt, alle jene Berhältniffe genauer zu beobachten, welche 
ſich auf den Sclavenhandel in diefen Gegenden beziehen. Er war von Tripolis aus 
troß de Abrathens feiner Freunde und ſelbſt des Paſchas, nur mit Unterflüßung 
einiger Kaufleute von Ghadames, die er in Tripolis Eennen lernte, weiter gereift. Es 
glüdte ihm, in freundfchaftliche Beziehungen zu den Einwohnern in Murzuk und Rhat 
zu treten, und er begte die Hoffnung, daß es gelingen koͤnnte, einen entfcheidenden 
Schritt im Kampfe gegen den Handel mit Schwarzen vorwärts zu thun, wenn man 
mit den bier und befonderd auch mit den im Herzen Afrika's wohnenden Fürften von 
Seiten der engliſchen Regierung Berträge zu Stande brächte. Während feines Auf⸗ 
enthalts in Feſſan ging Feine Karamane nach dem Sudan, und er ſah ſich gendthigt, 
nach neunmonatlichem vergeblichen Warten nad Europa zurüdzuichren. Er ſprach 
fig in feinem Baterlande Ichaft für feinen Plan aus und fand auch Theilnahme da- 
für, obfhon durchaus richt in dem Brade, wie fie die Erpedition, die durch die Bes 
theillgung dDeutfcher Gelehrter, nümlich Barth's, Overweg's und Vogel’, eine fo be- 
rühmte wurde, während ihres fpäteren Verlaufs erregte. Ende März 1850 verließen 
die Reiſenden, R. Barth und Overweg, Tripolis und' fchlugen nicht den gewöhnlichen 
Karamanenmeg ein, dem die frühere Expedition unter Oudney und @lapperton gefolgt 
war, fondern einen weftlicher gelegenen Pfad. Am 25. Juli brach die Karawane von 
Rhat auf und erreichte glücklich Tintelluft, die Mefldenz des Sultans von Ennur, wo 
die Reiſenden zu einem längeren Aufenthalt gezwungen waren, um die Salzlaramane 
von Bilma zu erwarten, mit der fie von bier nah Süden ziehen wollten. Am 12. 
December wanderte man weiter zur ſüdlichen Hammada und fam dur Nafamat und 
Taghelet, wo fich die drei Europäer von einander trennten, um auf verfchiedenen 
Wegen dad weite, fo wenig befannte Gebiet zu durchforſchen und fich endlich in Kuka, 
der Hauptfladt von Bornu, wieder zu treffen. R. jollte an dies Ziel nicht gelangen. 
In fehr binfälligem Zuftande erreichte er Anfang Mär; 1851 Ngurutua, das nur 
noch ſechs Tagereiſen von Kufa entfernt ift, und verfchieb Hier in der Nacht vom 3. 
zum 4. März. Somit endete der Leiter diefer berühmten Erpebition, von dem ein 
competenter Richter fagte.: „In wiflenichaftlicher Hinficht ift fein Hinfcheiden fein Ver⸗ 
Iuft, indem er, wie fein früheres Reiſewerk (Travels in the Great Desert of Sahara, 
Zondon 1848, 2 Bde.) darthut, weder genug mit Kenntniffen außgerüftet war, noch 
Ginlänglichen Beobadıtungdgeift befaß, um den Zwecken der Reife völlig gewadhien zu 
fein. Auch teilte er nicht immer den Unternehmungsgeift feiner deutſchen Gefährten. 
Dennoch iſt der edle, rein menſchliche Zweck nicht zu verfennen, welcher ihn für das 
ganze Unternehmen begeiftert hatte und feine Seele bis zum legten Athemzuge er» 
füllte, das leibliche und geiftige Wohl der tief gefunfenen afrifanifchen Welt zu heben, 
namentlich zur Tilgung des Sclavenhandels beizutragen, died war das hohe Ziel, das 
ihm fletd vorleuchtete. Diefe innige und lebhafte Theilnahme an dem Wohl feiner 
Mitbrüder ſpricht fi in feiner ganzen Ihätigfeit und fo auch in dem Tagebuche auß, 
welche8 zwar mit minderer Gelchrfamfelt, aber mit fleter Berüdficktigung des rein 
Menſchlichen abgefaßt iſt. Sein Tagebuch, das bis zum 21. Februar 1851 reicht, 
rettete Barth und ſchickte es nach London, wo es Bayle St. John unter dem Titel: 
„Narralive of a mission to Central - Africa 1850 — 1851° (Xondon 1853, 2 Bde.) _ 
heraus gab. 

Richardſon (Samuel), einer der gefeiertſten engliſchen Dichter und Schriftfteller 
und der erfle-Begründer des englifchen FamilienRomans, war 1689 in einem Dorfe 
von Derbyſhire geboren, wo fein Bater Schreiner war. Er ſtammte aus einer ſtreng 


1894 | Richardſon (Samueh. 


fittlichen, armen und ſchlichten Familie, die ſich zum Puritanerthum hielt, und feine 
Erziehung wurde ganz in diefem, Geifte geleitet, der ſich auch in feinen Werken oft 
genug außfpriht. Schon in der Schule hieß der junge R. unter feinen Mitſchülern 
„der Ernfle und Finflere*, ward aber troßdem von ihnen fehr gefucht und geliebt, 
weil er ihnen immer fo prächtige Gefchichten erzählte, Die, mie er fpAter mit großer 
Selbftgefälligfeit bekannte, zumeift von eigener Erfindung waren. Der Wiſſensdrang 
und die Liebe zu ernflen Studien wuchs mit den Jahren in ihm, aber da ihm bie 
Mittel fehlten, ſich dem geiftlicden Berufe zu widmen, trat er 1706 bei einem Bud» 
druder in die Lehre und verwendete bier alle feine Erbolungsflunden durch jleißiges 
Lefen aller Bücher, die in der Offizin gebrudt wurden oder ihm fonft zugänglich 
waren, auf feine geiflige Ausbildung. Um 1716 ließ ſich MR. als Meifter nieder, er- 
richtete eine eigene Druderei und erwarb durch umfichtige Thätigfeit ein bedeutendes 
Bermögen. Bereitö war er 50 Jahre alt geworden, ald er zum erſten Male ale 
Schriftfteller auftrat. Sein erfled Werk mar der Roman: „Pamela, oder bie be» 
lohnte Tugend”, und die Veranlafjung dazu war eine rein zufüllige. Zwei feiner 
Zreunde, Mr. Rivington und Mr. Osborne, forderten ihn auf, ein Fleines Bud in‘ 
Familienbriefen zu fchreiben, welche nüßliche Betrachtungen über Gegenflände bes 
täglichen Xebend enthalten follten. Bei der Abfaflung damit fam MR. nun auf den 
Gedanken, diefe Briefe durch eine Erzählung, leicht und natürlich vorgetragen, zu vers 
binden und durch darin verwebte moralifche Kehren den Sinn für Tugend und Fröm⸗ 
migfeit zu erweden. So entfland die „Bamela”,' die er in drei Monaten ſchrieb und 
am 10. Januar 1740 beendete. „Diefed Buch machte durch die Natürlichkeit der 
Darftellung, durch die feine und überzeugende Zeichnung ber Gharaftere, durch feine 
rührende und, wie es fchien, über allen Zweifel erhabene moralifche Lehre fogleich 
das unglaublichfte Aufiehen. Noch im erften Jahre murben vier neue Auflagen ger 
drudt. Ein ſchwacher Nachahmer machte daher den Verſuch, die Geſchichte Pamela's 
fortzuſetzen unter dem Titel: „Pamela in der großen Welt". Dadurch ließ ſich R. 
verleiten, ebenfalls eine ſolche Fortſetzung zu ſchreiben; indeß hat dieſelbe niemals 
die Geltung der erſten Bände erlangt. Ueber den Inhalt des Romans, fo wie ſei⸗ 
ner folgenden Werfe, giebt H. Hettner in feiner „Geſchichte der englifchen Literatur 
von 1660-1770", Braunſchweig 1856, Th. 1., eine Eurze aber erfchöpfende Dar⸗ 
ſtellung und eine ausführliche und geiftreiche Kritit. Im Jahre 1748 erſchien R.'s 
Hauptwerk „Glariffa” unter dem bezeichnenden Titel: „Glariffa, oder die Geſchichte 
eine jungen Mädchens, die wichtigflen Beziehungen des Bamilienlebend umfafjend 
und beſonders die Mipfälle enthüllend, die daraus entftehen, wenn Eltern und Kinder 
in SHeirathöangelegenheiten nicht vorfichtig find.” Diefer Roman enthielt 8 Bände, 
und er verdient noch heut eine größere Beachtung, als ihm gewöhnlich zu Theil wird. 
Aber enorm war dad Auffehen, welches das Erfcheinen dieſes Werkes in England 
verurſachte. R. ſelbſt erzählt in feinen Briefen, melde Lätitia Barbauld 1804 zu 
London In feh3 Bänden erfcheinen ließ, dag man lange Jahre nad Hampflead wall- 
fahrtete, no Clariſſa's Gefchichte fpielte, und fo unmwiderftehlich Hatten ſich feine Ro⸗ 
manfiguren mit der Täufchung des wirklichen Lebens aller Herzen bemächtigt, daß 
man von verfihiedenen Seiten — felbfi Eibber und Damen von hohem Stande, wie 
Lady Bradshaige, waren darunter — fich bei dem Dichter für Lovelace und Clarifſa 
verwandte und verlangte, die Gefchichte folle mit des Erſteren Belehrung und feiner 
Verheirathung mit Glarifia fließen. In der That mar feit Shaffpeare eine ſolch 
erfchütternde Lebendigkeit der Darftellung und eine fo pſychologiſche Wahrheit in ber 
Charakterſchilderung, wie fie R. in dieſem feinem Hauptwerfe giebt, nicht wieder vor⸗ 
banden gewefen. Bereits Diderot und Beaumarchais nannten die Glarifia „ein 
wahres Drama”, und diefe Bezeichnung verdient dieſes Werk, fo wie alle übrigen 
Romane R.'s, vollkommen durch die wirffamen, .tief ſittlichen Begenfäge und ihre 
naturgemäße Steigerung nnd Löfung Wie N. im Lovelace, dem männlichen Helden 
in der „Clariffa*, einen Wüftling fehildert, fo iſt der Held ſeines dritten und legten 
Romans „Sir Charles Grandifon”, welcher 1753 in ſechs Bänden erſchien, „ein 
Ausbund von Schönheit und Trefflichkeit, ein in allen Stüden vollflommener und 
mufterbafter Tugendfpiegel”; aber da dieſe Tugend nicht aus der Belegung ber Lei⸗ 





Nichardſon (Samuel). | 185 


denfchaften und des Lafterd entftebht, fa ſelbſt ohne Prüfungen bleibt, fo erfcheint ber 
Charakter diefed Helden ohne frifches pulſtrendes Leben, Ealt und abgeblaßt, troden und 
förmlich, Tangweilig und philifterhaft. Fehlt es nun auch diefem Roman nicht an ſpan⸗ 
nenden Berwidelungen und einer bunten Mannichfaltigfeit der Charaktere, von denen be⸗ 
fonders derjenige der Elementine einer der Ichönften if, den die Dichtung je gefchildert hat, 
fo madt der Brundmangel im Charakter des „Brandifon” doch dieſen Noman zu R.'s 
ſchwaͤchſtem Werke. Die allzu große Abfichtlichkeit im Moraliftren und die trodene 
Rebrhaftigkeit im falbungsreichen Tone eines puritanifchen Prediger fpringen allzu 
fehr in die Augen. Uebrigend war diefer Ausprud des Puritanerthums, wie dieſes 
damald noch immer ben Grundftod des engliichen Bürgerflandes bildete, und der 
methodiftifche und dfter ſelbſt philiſterhaft beſchraͤnkte und geipreizte moraliflrende Ton 
der R'ſchen Romane der Grund, daß fich Die vornehme Welt und Alle, in denen 
noch ein frifcher Hauch des fröhlichen Alt- Englands Iebte, fpottend von ihnen ab⸗ 
wendete, ihn parodirte und mit den Waffen der Lächerlichkeit zu vernichten firebte. 
Fielding iſt der erfle, der gegen diefe Einfeitigkeit R.'s zu Felde zog, und feine Nach⸗ 
folger in diefem Kampfe find zahlreich. Trog alledem aber wird es doch ſtets R.'s 
großes und unbeflreitbares Verdienſt bleiben, daß er den Homan aus der Welt phan« 
taſtiſcher Abenteuer auf das Gebiet der unmittelbaren Wirklichkeit führte und die 
Kämpfe, Leiden und Freuden des häuslichen Lebens mit bewunderungsmwürdigfter vor⸗ 
ber ungeabnter Kunft lebendig, rührend, oft fogar erfchütternd ſchilderte. Aus diefer 
feiner Stellung als Begründer des engliichen Familienromans erflärt ſich denn auch, 
daB dieſe Romane, welche wir heute wie die vornehme Welt Englands damals hoͤchſt 
troden, matt und langweilig finden, unfern Bätern und Grofvätern berzinnige Thraͤ⸗ 
nen der NRührung und Entzüdung entlodten und daß fein Einflug auf die Literatur 
ein fo bedeutender war, nicht bloß auf die englifche, fondern mehr noch auf die fremde. 
Selbſt R.'s moralifhe Rührung und Schönfeligkeit war für die Zeitgenoflen mehr 
eine Empfehlung als ein Aergernig und feine Vorzüge gegenüber der hohlen Gleiß—⸗ 
nerei der berrichenden Litteraturrichtung waren fo unverkennbar, daß feine Einwirkung 
auf die Litteratur felbft in Deutfchland und Frankreich nicht Wunder nehmen darf. 
Auch bier Hatte man wie in England bisher nur Romane im altfranzöflfchen Style 
gefchrieben, die über unendliche Liebeögefchichten von Prinzen und Prinzefiinnen han 
delnd in einer Falten und doch ſchwülſtigen Schreibart die unfinnigften Anfichten vor» 
trugen. „In diefen töbtlih Tangweiligen Werken mar weder die geringfle Spur eineb 
wahren Gefühle, noch der mindefte Verfuh, daB Leben und die Menfchen nach der 
Natur zu ſchildern. Alles erfchien überladen, fleif und gefchraubt. R. wird, wäre 
auch nicht8 Anderes an ihm zu fchägen, Doch immer das unvergeßliche Verdienſt ha⸗ 
ben, dag er diefen Geſtalten die bemalten Larven, weldye in plumper und unnatür« 
licher Taͤuſchung menſchliche Formen nachzuahmen fuchten, abriß und uns unverhülfte 
Züge mit den feineren Schattirungen der Aehnlichkeit und unter dem Einflufle na- 
türlicher Empfindungen und Gefühle darflellte.* (Siehe hierüber noch Walter Scott’s 
„Leben Richardſon's“.) Wie fehr R. auch außerhalb Englands von den erſten Gei- 
fern gefhägt wurde, gebt auch daraus hervor, daß Diderot, der eine Lobrede auf 
ihn fchrieb, ihn mit Mofes, Sophokles und Euripides vergleicht, dag Rouſſeau ihn 
an die Seite Homer's ftellt und ihn in der neuen Heloife fih zum Borbilde nahm 
und daß Voltaire R.'s Pamele in feiner „Nanine” dramatifirte. Klopflod wiederum 
tritt mie MR. in perfönliche Verbindung, Gellert überfegt und empfiehlt feine Werke, 
Wieland macht aus feiner Glementine im Grandifon ein Drama und Lelfing copirt 
ifn in der Miß Sara Sampfon und in der Emilia Galotti, fpricht ſich auch über 
die „bezaubernden Reize” der R.'ſchen Dichtung verfchiedentlich in feinen Werfen aus. 
— Mit dem „Grandiſon“ ſchloß N. feine fchriftfielferifche Thätigkeit, er mochte fühlen, 
daß er ſchon mit dieſem Werke auf dem Rückwege von der Höhe des Ruhmes war, 
auf die ihn feine „Glariffa” geführt hatte. Er flarb am 2. Juli 1761 auf feinen 
LandHaufe zu Parjondgreen, gefeiert und betrauert von Allen. Außer den oben er» 
wähnten Ausgaben feiner Werke erfchien eine Gefammtausgabe derfelben in 20 Banden 
1783 in London; fie find überbies in faft alle lebenden Sprachen Europa's überfept 
worden. Seine nach dem Plane von Jules Janin im Audzuge bearbeitete „Elarifig 


186 Richardſon (Sir John). . NRichelien (Armand du Pieffts, Herzog v.). 


Harlowe“ erfchien in einer fehr guten Ausgabe, von H. Bode beforgt, 1847 in Keipzig 
‚in 3 Bänden. — Im Uebrigen vergl. über ihn Die oben angeführten Werke Walter 
Scott’8 und H. Hettner's, auch die fchon erwähnte „Gorrespondance of Samuel 
Richardson“, herausgegeben von der Lady Anna Lartitia Barbauld, London 1804, 
6 Bände. 
Rihardion (Sir John), geboren 1797 zu Dumfried in Schottland, begleitete 
1819 — 22 und 1825 — 27 die arftifchen Expeditionen Franklin's ala Wundarzt, 
wurde 1840 Infpector des Marinehojvitals, erhielt 1846 die Ritterwürde und unter- 
nahm 1848 — 1849 mit dem Dr. Mae eine dritte Neife nach dem arktiſchen Nord⸗ 
amerika zur Aufiuchung Franklin's. Auf dieſer Expedition ging er mit feinem Be 
gleiter in vier Booten von Montreal aus nad Eumberlanphoufe und durch die Methy 
Portage den Madenzie hinunter und am I. Auguft in See. Die Küfte bis zum Gap 
Krufenftern entlang fahrend, mußte er der heftigen Kälte wegen umkehren; er machte 
die Randreife biß zum Großen. Büren» See, Überminterte bier und fehrte im Frühjahr 
nach England zurüd, während Dr. Mac den Sommer 1849 benußte, nach dem ge« 
nannten Bay zurüdzufehren, um Wollafton-Land zu durchſuchen und nad) Banks⸗ 
Land Überzufegen. Diefer Verſuch mißlang jedoch der vielen Eismaflen wegen, die 
ſich bier aufgehäuft Hatten. Durch dieſe Erpedition wurde zwar feine Spur von 
Franklin gefunden, aber die Naturverhältniffe von Nordamerika, fomeit die beiden 
Meifenden vorgedrungen waren, ‚gründlich erforicht. R. gab den Bericht feiner Reiſe 
heraus unter dem Titel: „Boat voyage through Rupert’s Land* (2ondon 1851, 2 ®pe.). 
Schon. 1823 war er ald Schriftfieller aufgetreten, indem er den zoologlihen Anhang 
zu Franklin's „Narrative etc.* gejchrieben hatte. 

Richelien (Armand du Pleſſis, Herzog v.), Bräfldent bes Minifter-Confelld und 
Minifter der auswärtigen Angelegenheiten nah dep Sturze Napoleon’s 1., Pair von 
Frankreich, geboren zu Paris am 25. September 1766, ift der Enkel des Marſchalls 
v. R. (j. u.) und der Sohn des Herzogs v. Fronſac. 1784 verbeirathet mit der Erbin 
des alten Haufes Rochechouart, emigrirte er beim Ausbruch der Mevolution, in Folge 
deren er feine reichen Vefltungen verlor, nady Rußland (1790), trat in Kriegädienfte, 
zeichnete fih unter Suwarow 1790 im Türfenfriege, namentlich bei der Belagerung 
von Iamail aus und flieg bis zum Generallieutenant. Im Jahre 1792 agitirte er an 
den preußifchen und öflerreidhifchen Hofe im Auftrage des damald fi in Livland 
aufbaltenden Ludwig’ XVIII. und des Herzogs von Artoiß für den Krieg der Conti⸗ 
nentalmächte gegen die Nepublif, trat 1793 in das Emigrantencorps und nahm Theil 
an ber Belagerung von Baleneienned. In Folge der ausgebrochenen Streitigkeiten 
zwifchen den Verbündeten und den Gmigrös verließ er jehoch DaB Heer, kehrte nach 
Rußland zurück, erhielt aber unter Raifer Paul Feine Anftellung. Nach geichloffenem Frie⸗ 
den reifte R. 1801 nach Paris, erlangte einen Theil feiner eingezogenen Güter wie⸗ 
der, Ichnte jedoch alle Anträge Napoleon Bonaparte'8 ab, in feinem Vaterlande zu 
verbleiben und der neuen Ordnung der Dinge feine Dienfte zu widmen. Nach feiner 
Rückkehr nad Petersburg von Kaifer Alexander I. zum Generalgouverneur von Odeſſa 
ernannt, 1803, erwarb fih R. in diefer Stellung, die er bis 1814 bekleidete, um Die 
Neuanlegung und das Aufblühen diefer Stadt und um die @ultur der ſüdruſſiſchen 
Provinzen große Verdienfte. Nach der erften Meflauration in's Vaterland zurückgekehrt, 
ernannte ihn Ludwig XVII. zum Bair und erſten Kammerberrn, und während der 
hundert Tage theilte er das kurze Eril ſeines königlichen Herrn in Gent. Als Talley- 
rand im September 1815 von der Reitung der Staatögefchäfte entbunden warb und 
der ruſſiſche Einfluß an die Stelle des engliichen trat, empfahl Kaifer Alerander dem 
Könige den Herzog von R. als den geeigneten Mann, um an die Spike der Regie⸗ 
rung zu treten. In Bolge defjen bildete R. ein neues Winifterium, dad ſedoch in 
Folge diplomatifcher Einflüffe aus entgegengefrgten Elementen zufammengefegt wurde 
und fo jede Einheit und Yolgerichtigfeit der Regierung ausihloß. Während die Mi⸗ 
nifter des Krieges, der Marine und des Innern, Clarke, Dubouchage und Vaublane, 
die Partei der Ultras hielten, waren eben diefen Männern der legitimen Monarchie 
ihre Gollegen Decazed, Corvetto und Barbe« Marbois, melde die Bortefeuilles Der 
Polizei, der Finanzen und der Jufliz erhielten, als Bonapartiften verhaßt, und dieſes 


> Richelien (Armand du Pleffts, Herzog v.) 187 


„Syftem flauer Mifhungen” erzeugte eine Zwieſpaltigkeit der Richtung und Wirkſam⸗ 
feit, die nur allzubald zu Tage trat und die R. troß des beften Willens nicht zu 
heben vermochte. „Vielleicht gab es Feinen Mann in Frankreich“, fo ſchildert einer 
unferer liberalften @efchichtfchreiber, Bervinus, den Herzog v. R., „der Durch Rechtſchaf⸗ 
fenheit, die falfhen Ehrgeiz faum begriff, mehr Achtung beraudgefordert Hätte, als 
der Präfident des Minifterraths, der Herzog v. R.; aber Charafterflärke, That» und 
Willenskraft, Bebarrlicykeit des Entſchluſſes, Weite des Geſichtskreiſes, alle Die erflen 
@rforderniffe, eine fo ſchwer lenkſame Nation in jo ſchwieriger Lage zu regieren, gin- 
gen ihm beinahe gänzlich ab. Er war befcheiden bis zum Selbflmißtrauen... wech⸗ 
felte Gefühle und Anflchten je nad der Neuheit und dem Gewichte der Einflüffe und 
war weder im Stande, einer Bitte noch einer Meinung zu widerfehen. Nur zieifchen 
den Menſchen und Ideen des alten und des neuen Frankreich ſich zu enticheiden, mwäre 
ihm unmöglich geweſen. Er mar ihnen fremd, aber feinem feindiich, auch feinem ver- 
trauend. ... Er war allen Entichiedenen zu unentichleden und den Gemäßigten ſelbſt 
zu gemäßigt." Nichts war daher bei der Xage der Dinge in Frankreich, die wir des 
Audführliden in dem Art. Reſtanration (vgl. denielben) erörtert haben, natürlicher, 
als daß „ein folder Mann die Beute der Stärkſten“ ward, wenn auch nach einem 
langen und bartnädigen Kampfe gegen eine gutgefinnte, aber in Bormalıdten auf- 
gebenne Kammer, eine in ihrem Haffe gegen die Regiciden allzu eifrige Reac⸗ 
tion und Die offenen und geheimen Umtriebe bonapartiftifher, vrleaniftifcher und 
revolutionärer Parteien. Zu ſpaͤt wendete fih nach der Rückkehr vom Aachener 
Congreß der Herzog einer entfchiedeneren Bolitit zu, fuchte Die Abänderung des 
Wahlgeſetzes, die Beichränkung der zügellojen Prefle und die Abfchaffung des Mefru- 
tirungdgefeges in der Kammer vergeblich dDurcdszufegen und nahm daher mit den übri« 
gen Rinifteen am 21. December 1818 feine Entlaffung. Nur feinem vertrauenerwecken⸗ 
den Charakter iſt es zuzuſchreiben und feinen perfönlichen Beziehungen zum Kailer 
Alerander, dag feinem Vaterlande nody Tängere Jahre der Occupation durch die allüirten 
Mächte erfpart wurden und die Kriegsentichädigungsfunmen bedeutend berabgefegt, fo wie 
ihre Zahlung prolongirt wurde. Adhtungsmwertb durch dieſe und andere tnbeflreitbare 
Berdienite im Amte, drang Ludwig XVIII. in ihn, im Amte zu bleiben und ein neueé 
Minifterium zu bilden; aber der befcheidene Mann erklärte brieflih, „daß Ihm feine 
Laufbahn mit der Abwidelung der änfßeren Dinge beendet fcheine und er für die 
parlamentarifchen nicht gefchidt noch gefchaffen ſei.“ Trogdem beharrte der König bei 
feinem Willen; indeß fah fit R durch die rüdfichtslofe und undankbare Adreſſe der 
Wahlkammer auf die Ihronrede veranlaßt, dennoch auf die Bildung ded Miniſteriums 
zu verzichten und biefelbe feinem Bollegen, dem Doctrinär Decazes (vgl. dieſ. Art.) 
zu überlaflen, 27. December 1818. Ohne alles Einfommen und durch die Unbefchols 
tenbeit, mit der MR. wie wenige feiner Vorgänger und Nachfolger fein Amt geführt, 
von allen Parteien hochgeachtet, votirte ihm bie PBairdfammer auf den Antrag des 
Grafen Rally» Tolendal als Nationalbelohnung eine Jahresrente von 50,000 Frants; 
als er aber die Erfahrung machen mußte, daß die zweite Kammer ihre Genehmigung 
dazu nur unter Feinlichen Einfhränfungen und Mäfeleien ertheilte, fühlte er fich da- 
durch verlegt und verzichtete auf Die ganze Dotation zu Gunften der Hofpitien von 
Borbeaur. Ludwig XVII. ernannte den Herzog jedoch zum Öbers Jägermeifter und 
danfte ihm durch eine aufrichtige Freundſchaft. — Kaum fünfzehn Monate fpäter, als 
Decazed mit feinem Syſtem der „allgemeinen Köderei“ ſich bei allen Barteien verbaßt 
gemacht hatte, Februar 1820, wurde R. von Neuem zur Bildung eines Minifteriums 
berufen und nahm auf das Drängen des Königs und Artois' Berfprechen, ihm feitene 
feiner Anhänger feine Schwierigkeiten zu bereiten, den Auftrag an. In einem Conſeil, 
aus entfhiedenen, aber gemäßigten Moyaliften gebildet, leitete MR. als Präfldent des⸗ 
felben, aber felbft ohhe Portefenille, die Angelegenheiten Zranfreih& wiederum durch 
beinahe zwei Jahre. Er fegte In der Kammer jegt die Umgeſtaltung des Wahlgefeges 
Durch zu einer Zeit, wo im NRachbarlande Spanien durch Audrufung der alten libera- 
leren Gharte der Bürgerkrieg am wildeſten tobte und die Gefahr der Verpflanzung 
nach Frankteich nahe lag, und unter der glüdlichen Benutzung diefer für monardifche 
Deformen fo günfligen Lage der Verhaͤltniſſe gelang es R. auch, die Preßfreiheit, Dig 


188 Nichelien (Sean Armand du Pleſſis, Cardinal⸗Herzog v.) 


laͤngft ſchon zur Preßfrechheit geworden, zu befchränfen und durch Annahme eines 
Ausnahmegefeges Ueberfchreitungen der individuellen Freiheit zu Inhibiren und zu 
Arafen. Trog alledem ging R. der „Partei des Pavillon Warfan”, wie man die 
rogaliftifchen Ultras nach der Nefldenz Artois’, ihres Führers und leitenden Kopfes, 
nannte, nicht weit genug, wie fie wünſchten, und wozu ein Theil der Minifter, mit 
Billele an der Spige, auch bereit waren. Von einem großen Theile der Rechten 
ſonach eben fo heftig angefeindet, mie von der Fraction der Liberalen aller Schatti⸗ 
rungen, ſah fih R. bald nach Eröffnung der Kammern im December 1821, da dem 
Minifterium die Maforität verloren gegangen war, veranlaßt, die Verwaltung des 
Staates niederzulegen; an feine Stelle trat Billele (vgl. diefen Artikel). Kaum 
fünf Monate fpäter farb AR. am 17. Mai 1822 zu Paris ohne directe Nachkommen; 
feine Titel und ein von feinem dankbaren Könige ihm verliehenes Majorat gingen 
auf den Sohn feiner Schwefter, den Grafen Odet de Jumilhac, über. — Ueber R.'s 
ſtaatsmänniſches Wirken vgl. man Baublanc, „Souvenirs“, Bd. I. u. II, Parts 1838, 
Zarochefoucaufd’8 „Memoires* und Polignac's „Etudes‘, fo wie Baudoin's „Anecdotes 
historiques du temps de la restauration“, Paris 1853. 

Richelien (Ican Armand Du Pleſſts, Cardinal-Herzog von), wohl der gewal⸗ 
tige Staatömann des Fföntglichen Frankreichs, murde am 5. September 1585 auf 
ber £leinen Beftgung feiner Bamilie, Richelieu im Boitou, geboren. Während Einige 
die Genealogie der Du Pleſſis bis auf die Zeiten der Kreuzzüge und des heiligen 
Ludwig zurücführen, find Andere der Anficht, dad Gefchledht ftamme aus einer bürger⸗ 
liyen Patrizierfamilie von PBoitierd und fein Adel datire erft aus den Seiten der 
franzöfifcheenglifchen Kriege. Sei dem wie ihm wolle, fo gaben der Familie doch ihre 
Berbindungen mit einigen vornehmen parlamentarifchen Gefchlechtern einen gewiſſen 
Rang, der fi) auch darin außfpricht, Daß das im 14. Jahrhunderte aus einer Abtei zum 
Bisthum erhobene Lugon im Bas-PBoitou feit langer Zeit als eine Familienpfrände 
der Du Pleſſis nur an Mitglieder derfelben verliehen wurde. R.'s Vater, der Grand» 
prevoft Franz Du Pleſſis de Richelien, war ein tüchtiger Kapitän und ein treuer An- 
bänger Heinrich's III., den er nach Blois begleitete, und einer der Wenigen, die bei 
der Ermordung der Buifen in's Geheimniß gezogen waren. Während die That ges 
ſchah, verhaftete er auf Befehl des Königs verfchiedene Mitglieder des dritten Standes, 
welche ſich der Verſchwoͤrung angefchloffen hatten, und verhinderte gemaltfam die Ent- 
fernung der Mebrigen. Nach der Ermordung Heinrich's IT. ſchloß fi Franz Du 
Pleſſis an den Bourbon an, machte mit ihm verfchiedene Kriegdzüge mit und fiel an 
feiner Seite bei der Belagerung von Paris. Der junge Armand de R., der feinen 
Vornamen vom älteren Biron empfangen, der ihn aus der Taufe bob, war ebenfalls 
zur militärifchen Laufbahn beſtimmt und bereitete ſich darauf vor, aber fein reizbares 
Naturell und fein fchmächlicher Körper, fo wie die Anwartſchaft auf die Bilchofs> 
würde von Luçon veranlaßten ihn, fih dem geifllichen Stande zu widmen. Geine 
Studien, denen er fi mit Eifer bingab, waren mit Erfolg gefrönt, feine &elehrfams . 
keit glänzte oft genug in der Sorbonne bei der Diöputatton controverfer religiöfer 
Stagen, und dieſe, fo wie feine tadellofe Führung veranlaften den Papſt Paul V., 
ihm dad foeben erledigte Bistum Lucon noch vor erreichtem Eanonifchem Alter zu 
übertragen. In diefer Stellung machte er ſich durch feine „Untermetfung für Ehriften“, 
eine zur DBorlefung in den Kirchen jeined Sprengels beflimmte Auslegung des apoſto⸗ 
lifchen Symbol8, einen geachteten Namen und durch feine gute Verwaltung viele Freunde. 
Dies Unfeyen veranlaßte den Klerus von Poitou, ihn als ihren Abgeorbneten zur 
Ständeverfammlung von 1614 zu beputiren. Hier flimmte er für die Verurtheilung 
der Richer'ſchen Theorieen, war der Sprecher des Klerus für die Wiederberftellung 
feiner alten Rechte und empfahl eifrig die Publicatton des tridentinifhen Concils, in 
politifcher Beziehung bielt er zur Partei der Königin Mutter Maria di Mebicis, 
welche ihn zum Danke dafür zu ihrem Almofenier ernannte. Dies hatte auch zur 
Bolge, daß, als nach der Befeitigung Villeroy's und Du Bair’8 der Marfchall d'Anere 
die böchfte Verwaltung in die Hand nahm, R. als Staatöferretär in den Rath der 
Krone berufen wurde 1615. Schon jegt war er der bedeutendfle Mann des Mini⸗ 
ſteriums und der eigentliche Leiter der Geſchaͤfte und ſchon bier fuchte.er den leitenden 


Richelien (Jean Armand du Pleſſis, Cardinal⸗Herzog v.) 189 


Grundſatz feiner fpäteren Regierung, die Rechte der hoͤchſten Gewalt gegen die nach 
Theilnahme an der Leitung des Staates ſtrebenden Hochariſtoktaten um jeden Preis 
zum Siege zu führen, burchzufegen. Der Mord d'Ancre's, 14. April 1617, nahm 
auch R. die Gewalt aus den Händen; er wurde nach Avignon verwiefen. Aber als 
die Flucht der Königin Mutter von Blois, 1619, um welche ſich die unzufriedene 
Arifiofratie und die Kührer der Hugenotten zu neuem Widerflande fammelten, zu wei⸗ 
teren Bürgerfriegen zu führen drohte, fuchte man bei Hofe nad einem Wanne, ber 
von Einfluß auf Maria di Medicid die Ausführung zwifchen ihr und dem Könige 
durchzuführen im Stande ſei. Die Wahl Luynes, des koͤniglichen Günſtlingt, fiel 
auf R., und ſcheinbar aus eigenem Antriebe, aber in der That im Auftrage des Hofes 
ging er nach Angouleme und ſchloß hier unter dem Titel eines Intendanten Ihrer 
Rofeflät den Briedenövertrag ab. Seitdem blieb er der vertraute Mathgeber der Koͤ⸗ 
nigin und ſtieg mit ihr allmählich immer höher; aber fo lange Luynes am Huber 
war, wurde ihm fein Antheil an den Gefchäften eingeräumt, obwohl er mit dieſem 
durch die Verheirathung feiner Nichte mit dem Marquis von Gombalet, Luynes' Neffen, 
in ein verwandtſchaftliches Verhältniß getreten war. Auch die Erhebung zur Garbi« 
naldöwürde, die man R. für feine Bermittelung zugelagt, wurbe unter nichtigen Bor- 
wänden verzögert, erfl unter des Kanzlerd Nicolas Brulat de Sillery’3 kurzer Ver⸗ 
waltung erhielt R. den Cardinalshut, 1622, obgleich er der Gegner deſſelhen war 
und zu feinem Sturze nicht wenig beitrug. Jetzt, unter La Bieuville endlich, wurde 
ihm ein Plag im Gonfeil zu Theil, zwar unter gewiſſen Befchränfungen, aber bald 
wurde e8 klar, daß er durch Capacität, Gediegenheit des Geiſtes und politifches Ta- 
Ient die erfle Stellung einzunehmen würdig fei. Auch der König überwand endlich 
feinen durch falſche Mittheilungen über R. gegen diefen gebegten Widerwillen, und 
nach Vieuville’8 Sturz übertrug er im Auguft 1624 die Summe der Staatögefchäfte dem 
Cardinal. Achtzehn Jahre hindurch, bis zu feinem Tode, hat R. Branfreich mit einer 
Machtvollkommenheit regiert, wie fein König und Minifter vor und nur Ludwig XIV. 
nad; ihm; alle feine Feinde ſanken vor ihm zu Boden, und ein großer Theil der 
Welt folgte dem Winke feines Willens. Zwar trug jeder feiner Schritte vom An⸗ 
fange feines Regiments an den Stempel: der rückſichtsiofeſten Gewaltfamfeit, aber troß 
diefer würde Doch der Erfolg ihm nicht immer günftig gemwefen fein, wenn nicht feinem 
immenfen flaatSmännifchen Talente ein eben fo großes Glück zur Seite geflanden 
hätte, das ihm fo günſtig war Zeit feined Lebens, wie kaum je einem andern GSterb- 
lichen auf ſolcher Höhe irdiicher Stellung. R. mar vom Anfang an entfchloffen, aller 
und jeder nicht unmittelbar vom Könige ausgehenden Gewalt im Lande und jedem 
Rechte feudaler und religiöjer Selbfifländigfeit, wie fle die Hugenotten noch befaßen 
und zum Nachtheile des Thrones ausübten, ein Ende zu machen, denn es fehlen Ihm 
nicht eber möglich, Frankreichs Stellung zu den außwärtigen Mächten zu erhöhen, 
ehe nicht im Innern alles politifche Fractionsweſen gebrochen fei, indeflen mußte er 
doch die erfien Jahre feiner Herrfchaft von allen gewaltſamen Mafregeln Abſtand neh» 
men, um fein Regiment erft zu befefligen. Auch nahmen die audmärtigen Angelegens 
heiten fofort feine Thatkraft in Anfpruch, und mit aller Kraft und Anftrengung feines 
Geifted warf er ſich hinein. Um das politifche Uebergewicht Spaniens, daB alle Hän- 
del Bürgerlichen Krieges in Frankreich von jeher gefchürt und gegen die Krone unter» 
ftüßt hatte, moͤglichſt einzufchränfen, nahm er den Kampf gegen Spanien da wieder 
auf, wo ihn Heinrich IV. gelaffen Hatte. Das Bündnig mit Holland wurde erneut, 
die Vermaͤhlung einer franzöflihen Prinzeß mit dem Prinzen von Wales und eine 
Allianz mit England in die Wege geleitet und die fpanifchen Truppen aud dem 
Beltlin mit Gewalt vertrieben. Man hätte meinen follen, daß dieſe Unterflügung ber 
Protefanten in Holland und der Schweiz ihre franzöftfichen Glaubendgenofjen veran- 
laflen fonnte, fi der Politik R.'s anzufchließen, indeß gefchah gerade das Gegen- 
theil. Nicht mit Unrecht fürchteten ihre Führer, Rohan und fein Bruder Soubife, ' 

daß, wenn fie nicht eine bedeutende politiſche Stellung einnehmen koͤnnten, e8 mit 
ihrer Eriftenz nach den auswärtigen Erfolgen R.'s zu Ende gehen müßte. Diefe ver» 
Iorene Stellung wieberzuerobern, war jet gerade bie Zeit, wo die alte Allianz 
Frankreichs mit Spanien in eine offene Fehde umzufchlagen drohte. Ihnen zur Seite 


190 Nichelien (Jean Armand du Pleſſis, Cardinal⸗Herzog v.). 


fand eine Fraction der hohen Ariftokratie, die im Bunde mit den religiöfen Intereffen 
noch einmal den Kampf gegen die höchſte Gewalt, der ihnen beinahe zur Gewohnheit 
geworden war, erneuern wollten. Spanien that fein Möglichfted, fle zum Losſchlagen 
zu bewegen, und ihre Verbindung mit jenem Hofe ift außer Zweifel. Schon im Ja⸗ 
nuar 1625 bradyen Die Hugenotten los, Soubiſe bemädhtigte fi von Rochelle aus 
der Eöniglihden Schiffe im Hafen von Blavel und der Infeln Dieron und Abe, Mon» 
tauban ſchloß eh an Rohan, und dieſer erfte fchnelle Erfolg erweckte die Anfangs 
zurüdgebaltene Kriegeluft aller Hugenotten. Bei dem tiefen Verfalle, in dem fi 
die franzöftfche Marine befand, fchien ed unmöglih, die Hugenotten in Mochelle mit 
Macht zu befämpfen, indes R. befchloß, die Kräfte feiner neuen DBerbündeten von 
England und Holland gegen fie aufzurufen und fle fo durch ihre eigenen Glaubens⸗ 
genofjen zu überwinden. Mit der englifchen und holländifchen Seemacht verband 
ſich der Reſt der Töniglichen Schiffe, die Rocheller wurden zur See geichlagen, mupten 
Abe aufgeben und, durch die Belagerung ihrer unvorbereiteten Stadt fehr bebrängt, 
mit den andern Qugenotten um Frieden bitten. Sie erhielten ihn durch englifche Ver⸗ 
mittelung unter milderen Bebingungen, ald man geglaubt hatte, denn R. wollte fle 
burch Härte nicht ganz in Spaniens Hände treiben; er meinte, auch im Frieden lafle 
fih Ihnen beifommen, und wenn man mit Spanien fertig fel, fäme die Reihe an fie. 
Diefer Friede mit Spanien wurde allerdings fehnell gefchloflen, aber gegen den Willen 
R.'s, der Hier noch einmal der Latholifchen Bartei, an deren Spige ber Pater 
Bereille und Michel Marillac im Einverflänpnig mit der Königin-Mutter agltirten, den 
Sieg überlaffen mußte. Zwar batte er den Vertrag von Barcelona zwifchen beiden 
Mächten, wie er zuerſt gefchlofien war, nicht ratifieirt, aber doch geſchah es fpäter, 
am 10. Mai 1626, da er Alles enthielt, was Frankreich nur fordern konnte; aber 
was R. am meiften zur Nachgiebigkeit bewog, war die allgemeine Gährung im Reiche, 
zu deren Beruhigung er den Frieden mit dem Auslande vor Allem nöthig hatte. In 
ber That war Hier Alles gegen ihn: die Ariftofrsten, welche von jedem perjönlichen 
Antheil an der MMegierung feit dem Emporkommen des Cardinals ausgeſchloſſen 
waren, die Proteftanten, die von ihm nichts Gutes erwarteten, und ein großer Theil 
der Katholiken, die feine Verbindung mit den proteftantifchen Mächten und den Abs 
ſchluß“ des Friedens mit den Hugenotten mit Mißtrauen betrachteten. Ale Führer 
der Mifvergnügten gerirte fih der Marſchall Ornano, an den fih Alles an« 
ſchloß, der Gouverneur des Bruders Ludwig’ XII, Gaſton von Orleans, der 
bei der Kinderlofigkeit des Königs als präfumtiver Thronfolger von Bedeutung 
war. Man ging ziemlich offen zu Warke, ſprach von der gewaltfamen Entfernung 
bed Gardinald, der Hüdberufung Condéè's und der Theilnahme des Herzogs von Or⸗ 
leand an der Negierung. Wenn man Ornano Schuld gegeben, er babe den König 
flürzgen und den Herzog von Orleans auf den Thron bringen wollen, fo if das Durch 
Nichts erwiefen, eben fo wenig wie, daß der Marquis von Chalais den König habe 
ermorden wollen. Noch ehe die Pläne der Mifvergnügten reif waren, griff der Car⸗ 
dinal aber mit der ihm gewohnten Entfchiedenheit ein, Ornano und Ghalaid wurden 
verhaftet, und als die beiden natürlichen Brüder des Koͤnigs, der Herzog und ber 
Großprior von Bendome in den Herzog von Orleans drangen, fich jener anzunehmen, 
wurden auch fie von dem Gapitän der Garden in Haft genommen und einer gericht⸗ 
liyen Unterſuchung unterworfen. Chalais büßte die Entwürfe feines Ehrgeizes auf 
dem Schaffot und der Minifter war entjchloflen, den Marſchall denjelben Weg gehen 
zu laflen, woran er. nur durch deflen Tod, der mährenn feiner Haft erfolgte, verbin- 
dest wurde. Die Vendome's machten nad balbjähriger Haft ihren Zrieden mit dem 
Bardinal und auch Gonde folgte ihrem Beifpiele. Ueberhaupt konnten alle diefe 
Verſuche nur zu R.'s Befefligung führen, denn fie bewieſen, daß die Strenge, mit 
der er die Fönigliche Gewalt aufrecht erhielt, durchaus nothwendig war, und der König, 
obwohl ſchwankenden Gharafters und dem Cardinal perſoͤnlich niemald Hold, Fonnte 
ſich doch der Ueberzeugung nicht verfchliegen, das er die Dienfte R.'s fchon um des⸗ 
halb nicht entbehren konnte, weil er Niemand an feine Stelle zu fehen wußte, ber 
mit gleichem Eifer die Fahne des Königthbumd zu Ehren zu bringen verfland. 8 
ift unwahr, daß der Carbinal durch Intriguen fpäter ben Herzog von Orleans ver⸗ 


Nihelien (Jean Armand du Pleſſis, Cardinal⸗Herzog v.) 91 


anlaßt Habe, ſich mit den Waffen in der Hand zu empören und die Königin-Dutter, 
die jenen heimlich begünftigte, durch die von feinen Spionen ihr beigebrachte Drohung, 
er wolle fie dur Gift aus den Wege räumen, zur Flucht zwang. Beide vielmehr 
juchten nach entnedtem Plane, der Erfte in Lothringen, die Andere in Brüſſel, mit 
ihren vornehmften Anhängern Schug und Hülfe gegen die Mafregeln des Cardinals, 
deſſen Sturz fie beabfichtigt hatten. Schomberg's Sieg bei Baftelnaudari am 1. Sep⸗ 
tember 1632 jchlug auch dieſe Meuterei nieder. Orleans bat um Berzeihung, ſchwor 
„anfrichtige Liebe” dem Cardinal und opferte feine Anhänger. Wontmorency'd Haupt 
fiel auf dem Scaffot, wie das der Brüder Marillac zwei Jahre früher bei gleichem 
Anlaß, und Cinqmars wie fein Freund de Thou büßten 1642 ebenfalld unter Hen⸗ 
kershand ihre leichtgläubige Hingabe an Drleans, hochverrätherifche Pläne und feine 
gewifjenlofe Freundſchaft. Seiffons fiel mit den Waffen in der Hand, mit den Fein⸗ 
den Frankreichs gegen dieſes fampfend, im Juli 1641 bei Sedan, Buife entflod, verlor 
Bermögen und Ehre und Bonillon unterwarf ſich. So in zahlloſen Eleinen und 
geoßen Verſuchen der Ariftofratie, ihre politifhe Bedeutung ſich zu reftituiren, vers 
blutete ſich ihre beſte Kraft, und aus dem mit ihrem Herzblute gebüngten Boden 
wuchs der Bau der unumfchränften Monarchie hervor, der unter dem Sohne von M.'s 
föniglidem Herrn die Bewunderung der Welt erregte. Day ihn R. Durch feine innere 
Politif gefhaffen, daß er Frankreich vor einem Zerfalle in Kleinere fouveräne oder 
balbfouveräne Fürſtenthümer rettete und vor den Gefahren, die ein folches Zerfplittern 
des nationalen Kräfte nothwendig zur Folge haben mußte, wer wollte died heut noch 
beftreiten! Aber außer dem Widerfignde der Großen, der feiner inneren Bolitif zu 
Bute fam, waren es auch noch andere Umflände, die fie unterflügten. Zuerſt der 
royaliſtiſche Charakter der Zeit, der auch in der altariftofratiichen Bretagne über- 
wiegend war und fi in dem liebergewicht der monarchifch » populären Tendenzen ber 
Notabeln- Berfammlungen ausſprach. Sie forderten Berringerung der Penflonen, die 
nur den Mächtigfien zu Gute kamen, die Schleifung aller feften Plaͤtze, die in den 
Händen. der Grandſeigneurs fich noch befänden und nicht zur unmittelbaren Bertheidi- 
gung des Meiches dienten; Die bewaffnete Macht folle allein in den Händen des Kö- 
nigd und unter feinem directen Befehle ſtehen und fle genehmigten die Aufftelung 
eined fiehenden Heeres von 20,000 Mann zur Sicherung der öffentlichen Ruhe und 
zur Befefligung der föniglichen Autorität. Auf diefe Beſchlüſſe fußend, ſchaffte R. 
die Würde eines Connetable's nach Lesdiguiere’8 Tode und die, eines Großadmirald 
ab, ließ ſich felbft zum Dberauficher über das Seeweien, 1629 auch zum General- 
Lieutenant ded Königs ernennen, fchuf ein Heer, vermehrte die Flotte und vereinigte 
jo, nachdem er am 21. November 1629 Titel und Befugniffe eined Principalminifterd 
erhalten, alle gejeßgebende und erecutive Gewalt in feiner Berfon. Aber mit nichten 
gewann ber dritte Stand etwas durch die thätige und eifrige Uinterflügung der Pläne 
des Cardinals; als deſſen politifche Anfprüche wuchſen, hielt er fle wie die der Par⸗ 
lamente durch Beraubung ihrer Mechte nieder, die Generalſtaaten wurden fürder nicht 
mebr einberufen und in den Berfammlungen ver Brovinzialftände wagte ſich eine 
Dppofltion nirgends heraus. — Don gleichen Erfolgen war R.'s auswärtige Politik. 
Er behauptete den Zugang Frankreichs nach Italien durdy die Ermerbung Mantna's 
für einen franzöftfchen Bajallen, den Herzog don Nevers, diejenige von Pignerol für 
Frankreich jelbfi und die Befegung der Braubündener Bäffe durch franzöfliche Truppen. 
Gegen Die weitere Ausbreitung der Macht des Haböburg’fchen Hauſes in Deutſch⸗ 
land und Italien unterftügte er dort die Broteftanten und die Schweden durch veichliche 
Subſidien und Tguppen, bier die Herzoge von Piemont und wer immer Partei gegen 
Habsburg nahm. R.'s Abfichten gingen aber weiter, und wenn er auch fo. lange als 


möglih nicht unmittelbar am Kampfe theilnabm, -fo bediente er fich doch jeder güne 


ſtigen Gelegenheit, von dem Siege feiner Alliirten zu profitiren. Wie in Italien, 
auf Piemont und die Alpenpäfle, fo war nach deutfcher Seite fein Augenmerf auf 
Lotbringen, den Elfaß, überhaupt auf die Mheinlande und die Uebergänge über dieſen 
Strom gerichtet, und fchon bei Lebzeiten Guſtav Adolf's gelang ihm bier eine große 
Erwerbung, inden er die geiftlichen Fürften ded Rheinlandes gegen feine eigenen Ver⸗ 
bündeten in Schug nahm. Philipp Chriſtoph yon Söttern, Ehurfürf von Trier und 


192 Nichelien (Sean Armand du Pfeffls, Cardinal⸗Herzog v.). 


Fürſtbiſchof von Speier, Tieferte fihon Im Mai 1632 feine feften Pläße Ehrenbreitflein 
und Philippsburg den Zrangofen in die Hände, der Herzog von Lothringen räumte 
ihnen vier feſte Bläße ein, 1635 fiel auch Nancy zwar durdy Vertrag, aber Durch eine 
Scharfe Belagerung, die R. ſelbſt Teitete, zuvor geängftigt. Die Oberlehnöherrlichkeit 
des Kaiſers erklärte R. für eine Ufurpation, ein Recht der Berfährung durch Bellg 
in Bezug auf große Länder erfaunte er nicht an, und unverbohlen fprach er es auß, 
daß der Rhein die Grenze Frankreichs im Oſten naturgemäß bilde und darum politifch 
bilden müſſe. Es mar ein Glück, daß den norbdeutfchen Proteflanten damals ber 
Frieden zu Prag freie Hand gegen die Tänderfüchtigen Schweden gab, und den Defter- 
reichern, Bayern and Spantern gegen Frankreich, fonft wäre e8 R. gewiß leicht ges 
lungen, im Bunde mit den Heilbronner Alliisten und den Schweden feine Abſichten 
auf Vergrößerung im Often ſchon damals auszuführen. So brachte denn nun der 
1634 ausgebrochene Krieg zwiichen Frankreich einerjeit8 und Spanien und Oeſterreich 
andererfeitö, ber mit wechfelndem Glüd noch bei R.'s Tode fortgeführt wurbe, nur 
wenig Gewinn (vergl. die Artikel Dreibigjähriger Krieg und Frankreich) für Frank⸗ 
nn und feinen Eroberungdplänen eine Vertagung auf beffere Zeiten. Dennoch aber 
muß au Hier anerkannt werden, daß Frankreichs Stellung nach außen bin unter bes 
Cardinals Leitung fi gewaltig gehoben hatte: die fpanifhe Monardie, im Anfange 
des Jahrhunderts überall wachfend und Frankreich einfchließend, mar jegt überall ges 
worfen, durch den catalonifchen Aufſtand 1640 in den eigenen Grenzen bedroht, in 
den Niederlanden vernichtet, in Italien eingeengt von allen Seiten; der Kaifer, bereitö 
zur Nachgiebigkeit gegen die Proteftanten gezwungen, ſah mitten in Germanien fran- 
zöflfche Heere kämpfen und die alten Reichöländer am Mhein und den größten Theil 
dieſes Stromgebiets in Gewalt der Neichsfeinde oder von ihnen abhängig; bie Zu⸗ 
gänge Italiens und ein großes italienifches Land fland unter der Herrfchaft des Lilien- 
banners, und Frankreichs Flotten waren flegreich im Liguriſchen Meere und bebrohten 
Spaniens Häfen und feinen indifchen Handel, Mehr als der Gewalt der Waffen ift 
e8 Der Ueberlegenheit von R.'s großem politifchen Talente zugufchreiben, wenn er 
Sranfreih zu einer Macht im Innern und nach außen hin brachte, wie es ſie nie zu» 
vor befefien Hatte. Aber noch dachte der Cardinal nit, am Ziele zu fein, weder 
perfönlich, noch in Bezug auf die Angelegenheiten Frankreichs und die der Welt, und 
großer Pläne war fein Geift voll, als ihn am 4. December 1642 der Tod ereilte, 
zwar nad) langjährigem Siechthum, aber dennoch unerwartet. Sterbend bat er erklärt, 
er babe nie einen Feind gehabt, der nicht zugleich ein Feind des Staated und ber 
königlichen Autorität gemwejen fei, und das war dad eigenthümlich Große in feiner Stel- 
lung, daß fih alle inneren und Außeren Yeindfeligkeiten immer gegen ihn perfönlih 
richteten ; Diefe Identifleirung feiner perfönlichen Intereffen mit denen des Staates war 
feine Stärke im Leben, feine Größe nach feinem Tode, eine Größe, an ber Viele ge- 
mäfelt haben, obne fie wegläugnen zu können. MR. war von hohem Ehrgeiz be- 


feelt, aber das höchſte Ziel deſſelben war ohne Selbftfucht, darin beftehend, die koöͤnig⸗ 


lihe Macht in jeder Beziehung zum Siege zu führen. Er forderte blinde Ergebenheit 
von feinen Freunden und Dienern, aber er belohnte dieſe Hingebung auch in glänzendfler 
Weife durch die Sorge, die er Ihnen widmete. Mit feinen Sreunden, feinen Verwand⸗ 
ten und Anhängern regierte er den Staat und alle Gnaden fehüttete er über fie aus. 
Im Rathe der Krone Duldete er keinen Widerfpruch neben ſich; wer nicht ein unbes 
dingtes Werkzeug feiner Hand fein wollte, mußte den Play räumen; fo Pontcourlay, 
Chavigny und Servien. Er war wie ein zweiter König im Lande; gluͤcklich pries fi 
Jeder, der fich eines gnädigen Blides von ihm rühmen Eonnte; die höchſten Würden, 
deren ein Untertban fähig iſt, waren in feinem Bells, neben dem Purpur der Car⸗ 
dDinalpriefter fchmüdte ihn die Herzogskrone (fett 1631), der erſte Prinz von Geblüt, 
Condé, räumte ihm ben Vortritt ein, eine flattliche Leibwache war auf feinen Namen 
verpflichtet und von ihm koͤniglich befolder; eine Anzahl junger Edelleute aus den 
erfien Familien Frankreichs verfah bei ihm den perfönlichen Dienft; prächtige Paläfte 
dienten ihm zur Wohnung, in Paris das Palais Lurembourg, dad von ihm erbaute 
Palais Cardinal .(fpäter Palais Royal) und das Hotel Nichelien, Landfige in Ruel 
und an anderen durch ländliche Schönheit ſich auszeichnenden Orten. R. Tiebte die 


_ 


Nichelien (Louis Frangois Armand du Pleſſis, Herzog ven). 195 


Ihönen Wiffenfchaften und Künfte und war ihr Beichüger und Forderer ; 1635 ſtiftete 
er die Academie frangaise, und die erſte franzöfliche Zeltung ging von ihm aus. 
Unentbehrlid war ihm das Geſpraͤch mis geifltvollen Breunden, und Frankreichs erſte 
Geiſter bildeten feine Umgebung; ja, für das auffonımende franzöfliche Schauſpiel 
hegte er eine Art von Leidenſchaft, und der Durchſicht der Stücke widmete er eine 
eifrige Aufmerkfamkeit, wobei ſeine Abſicht namentlich auf die Reinigung der Sprache 
gerichtet war. Im geſelligen Verkehr zeigte R. einen feingebildeten Geiſt und eine 
Liebenswürdigkeit, die für unwiderſtehlich galt. Dabei wohnte dieſer glaͤnzende Geiſt, 
dieſer eiſerne Wille, dieſer gewaltige Charakter in einem von der ſchmerzhafteſten, 
gefährlichſten Krankheit beinahe gelähmten Körper. In ben letzten Jahren feines 
Zebend konnte er feine Hand nicht mehr zur Unterfchrift anftrengen, feinen Wagen 
mehr befleigen; in einer Bettfänfte trugen ihn feine Garden, die ſich dieſes Ehrenrecht 
nicht nehmen laſſen wollten, mit entblößtem Haupte von Ort zu Ort; Mauern wurden 
eingerifien, ®räben mit Brüden überdeckt, um ihm einen bequemeren Weg zu bereiten. 
R. felb trug ſich ſtets böchft einfach; aber ein mehr als Föniglicher Glanz umgab 
ihn, der feine 50 Millionen Liores jährliher Einkünfte beinahe aufzehrte. Bei feinem 
Tode beitrug feine Hinterlaflenfchaft mit Einfluß feiner Befigungen etwa 150 Mil. 
Livres, welche ſich auf feine Geſchwiſterkinder, die Pontcourlayd, Brezes, Bronface, 
vererbien; der Herzogdtitel ging auf Armand Sean de DVignerot, einen Sohn Pont⸗ 
courlay'd, Gemahls der Alteften Schwefter des Cardinals, über. — „Was denn aud 
nun Mit- und Nachwelt über’ R. geurtheilt Haben,” fagt Ranke fo wahr am Schluſſe 
feiner Charakteriſtik des Cardinals, „zwifchen Bewunderung und Haß getheilt, Schred 
und Berehrung, «8 war ein Mann, der das Bepräge feines Geiſtes dem Jahrhunderte 
auf die Stirn drüdte. Der bourbonifchen Monarchie hat er ihre Weltjtellung ‚gegeben; 
die Epoche von Spanien war vorüber, die Epoche von Frankreich war heraufgeführt." — 
Außer jener obengenannten religiöfen Schrift „Unterweiſung für Chriſten“ gilt RM. 
für den Berfaffer von „Histoire de la mere et du Als“, aud hinterließ er felbft- 
geichriebene „Memvires“, die bis 1635 reichen, und ein „Testament politique“, fo 
wie ein „Journel®, welches 1664 in 2 Bänden in Amſterdam zuerſt veröffent- 
licht wurde. Leclere fchrieb eine „Vie du Cardinal de Richelieu“, und Gapefigue 
ebenfalls; die befle deutſche Charakteriſtik Diele großen Staatömanned giebt wohl 
Date in feiner „Branzöflfchen Gejchichte vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert”, 
and. 

Nichelien, (Louis Francois Armand du Pleſſis, Herzog von), Marſchall von 
Sranfreih, Sohn des Neffen des „Großen Cardinals“, des Martuis de DVignerot, 
geboren den 13. März 1696, erhielt eine ausgezeichnete Erziehung und zeigte ſchon 
früh glänzende Geifteögaben, aber fein frühes Auftreten am Hofe des „grand Roi“, 
wo man ihn, kaum funfzehn Jahre alt, wider feinen Willen mit Bräulein v. Noailles 
vermäßlte, brachte ihn in Kreife, welche durch ihren Keichtfinn und die Verderbniß 
ihrer Sitten auf ihn den nacdhtheiligfien Einfluß übten. Bald that er ed Allen zuvor, 
Güßte aber feine Zügellofigkeit auf Antrag feinee Verwandten dur eine firenge Haft 
von mehr ald einem Jahre in der Baflille und dann durch Verweiſung vom Hofe 
zur Armee, bei ver er im Feldzuge des Jahres 1712 als Adfutant des Marfchalls 
Billard ſich Durch eine glänzende Linerfchrodenheit auszeichnete. Nach dem Tode Lud⸗ 
wig's XIV, an den Hof zurüdgerufen, that fih R. Hier bald wieder in dem Kreiſe 
jener „Roues“ bervor, weldye die Orgien des Regenten theilten; fein ſchoͤnes Aeußere, 
die Hevalereäte Eleganz feines Benehmend und der gefhmadvolle Luxus feines Auf» 
tretend gewannen ihm die Herzen der Brauen, feine ritterlicyen Manieren, fein fein⸗ 
gebildeter Geiſt, feine glänzenden Unterhbaltungsgaben und feine oft bewährte Auf- 
opferungsfähigfeit für feine Freunde die der Männer. So war M. zu jener Zeit das 
Prototyp eines Cavaliers und gilt noch heut als ihr glaͤnzendſter Mepräfentant. Wegen 
‚einer Liebedaventüre mit der Herzogin von Bourgogne, einer natürlichen Tochter Lud⸗ 
wig's XIV., tödtete er 1716 den Grafen Gare im Duell, was ihn wiederum auf meh» 
rere Monate in die Baſtille brachte. Nach seiner Entlaffung nahm er Theil an ber 
Verſchwoͤrung Gellamare’3, wurde bei deren Entdedung verhaftet, vom Cardinal Du 
bois, den er fi durch mehrere Bonmots und Galembourgs zum Feinde gemacht hatte 


Bagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 13 


194 Nichelien (Louis Francois Armand du Pleſſis, Herzog von). 


mit einem Hochverrathsproceſſe bedroht, aber vom Megenten auf Bitten feiner Töchter, 
der Herzoginnen von Charolais und Valois, welche R. nach einander gelichbt und 
verlaffen, 1720 begnabigt. In demfelben Jahre, wie er ſelbſt befennt, nur „par son 
-Grand-pere“, zum Mitgliede der Aludemie erwählt, bemühte er ſich jetzt, feine glän« 
zenden Talente auch für edle Zmede auszubilden, und fludirte unter Fontenelle's und 
Destouches' Leitung Geſchichte und Staatöwiffenfchaften. Nach dem Tode des Megen- 
ten gewann R. durch feine bezaubernden Umgangsformen und fein immenſes Unter« 
baltungdtalent bald die Gunſt des jungen Ludwig's XV., der ihn mit Ehren und 
Sinecuren überbäufte und 1725 als Sefandten nach Wien ſchicie. Hier unterzeichnete 
er zwar 1727 die Präliminarien zum Frieden, rieth ſedoch nach ſeiner Rückkehr zur 
Fortfegung des Krieged und commanbirte in demfelben unter dem Marſchall Herzog 
von Berwick mit Auszeichnung ein Regiment im Feldzuge am Rhein. 1734 heirathete 
N. eine Prinzeifin von Geblüt, Die Herzogin von Guife, wurde 1737 Maroͤchal de 
camp und 1740 G@enerallieutenant und Gouverneur des Languedoc, machte fich als 
folder verdient um die Duldung der franzöflfchen Proteftanten und die Beförderung 
ded Landbaued. 1744 zum erflen Kammerherrn des Königs ernannt, ging er im 
folgenden Jahre zur Armee, die im. Bunde mit Friedrich I. und Bayern Maria The» 
refla und deren Erbfolge befriegte, und trug durch feine EntfchloffenHeit viel zum Ge⸗ 
winn der Schlacht bei Fontenay bei. - Dur den Einfluß der Kaiferin- Königin auf 
die Marquife von Pompadour von ber Armee abberufen, ging R. Ende 1746 als 
Brautwerber des Dauphins nach Dresden und erhielt nach feiner Rückkehr und 
Boufflers’ Tode den Auftrag, das verbiindete Genua gegen die daſſelbe zur See und 
zu Sande belagesnden Engländer zu vertheidigen. Mit Energie und Glüd führte er 
den Auftrag durch; der König ernannte ihn dafür zum Marfchall von Frankreich, bie 
Genueſen ehrten ihn durch die Errichtung einer Statue. Vom Hofe ferngebalten, 
weil er der Pompadour mißliebig war, fich auch gemeigert hatte, feine @inwilligung 
zur Vermählung feines Sohnes, des Herzogs von Fronſac, mit einer Tochter ber 
Maitreffe zu geben, verwaltete R. das Bouvernement von Guyenne und Badcogne, 
commandirte 1756 vor Port-Mahon, erhielt 1757 den Oberbefehl über die Armee in 
Deutfhland und nöthigte am 8. September deffelben Jahres den Herzog von Cum⸗ 
berland zur Convention von Klofter- Seven. Wegen der ungeheuren Erpreſſungen, 
Aäubereien und Zuch tloſigkeiten feiner Truppen in Hannover und am Rhein, bei 
denen er ſelbſt mit einem feinen Namen entehrenden Beifpiele voranging, mußte R. 
jedoch 1758 fein Commando niederlegen und hat ſeltdem niemald mehr ein ſolches 
erhalten. Er lebte feitvem in dem berüchtigten, von feinen geraubten Schägen pracht⸗ 
voll erbauten „Pavillon von Hannover“ ganz den Intriguen bei Hofe und feinen 
alten Leidenſchaften zügellofer finnlicher Ausfchmeifungen aller Art. In Beziehung 
auf erflere fland er jegt zur Bompabour, mit der er zur Zeit des Damiens’fchen Atten« 
tatd, das man zu ihrer Entfernung benugen wollte, feinen Frieden gemadyt Hatte; 
fpater Hielt er zur Dubarry und war die Seele aller Pläne, Die von ihr angefponnen 
wurden. In politiicher Hinſicht wirkte R. mit Klugheit und Geſchick für die Monarchie 
und gegen die zerfegenden Ideen der Encyklopädiften, namentlich gegen die aufflrebenbe 
Macht der Parlamente. In der Kriegskunſt beſaß MR. durchaus Feine Kenntniffe, erſetzte 
biefelben jedoch durch feine kühne Tapferkeit, der das Glück ja felten fehlt. Nach 
dem Megierungdantritt des Königs Ludwig AVI Iebte er fern vom Hofe, umgeben 
von einem Kreife von Schöngeiftern, die mit dem glänzenden euer des Wiyes und 
der Satyre das Beflreben des jungen Monarchen beleuchteten, die widerfirebenden 
Bactoren des In der Aufldfung begriffenen Staated zu verfühnen und zu verbinden. 
MWittwer feit 1740 von der Herzogin von Guiſe, Heirathete R. 1780 zum dritten 
Male die Wittwe eines irländifchen Edelmannes, die ihn überlebte. Er ſelbſt farb 
am 8. Auguft 1788, nur einen Sohn aus feiner zweiten Ehe Hinterlafiend, den Here 
zog von Sronfac, der feine Titel erbte; feine einzige Tochter, vermäßlt mit dem Brafen 
von Egmont, flarb vor dem Vater. — Die „Mömoires du Maröchal de R.“, beraub» 
gegeben von Soulavie, Paris 1793, 9 Bände, find ebenfo zum guten Theil unädt, 
wie die Angaben und Eröffnungen der „Vie privee du Marechal Duc de R.*, welche 
1792 zu Paris in 3 Bänden erjchien. 


Richter, Richteramt. 195 


Richter, Richteramt. Die Geflaltung des Gerichtsweſens als eines Theils ber 
Gtaatöverfaffung iſt bedingt durch die eigentgämliche Staatsform und durch die Res 
gierungäform. Denn da das Hecht der Staatögewalt zum Schuß gegen den Einzeln- 
willen bedürftig ift und die Anwendung diefer Gewalt die Erkennung des Rechts vor- 
ausſezt (Kechtsſpruch), fo ergiebt fih, daß die Bildung und Geflalt des Werk— 
jeugs für das Erkennen des Rechts (Bericht) von der Staatögewalt abhängig iſt 
und von dem Träger der Machtvollkommenheit beftimmt wird. Wo der Gemalthaber, 
auch nur in der Idee, keine Benoflen bat, perfoniflcirt fi in ihm bie Staatsgewalt, 
er bat Niemand neben fi), welcher ibm aus eigenem Mecht Helfen könnte; er thut 
Alles in Perfon oder durch Beauftragte, er felbft erkennt das Mecht, welches er zu 
fügen angerufen worden ift, er felbft iſt mithin der Michter, das Bericht. Wo hin⸗ 
gegen bie höchſte Machtvollkommenheit in einem Staate Mebreren zufteht, Tann über 
die Anwendung oder Aeußerung der Staatögewalt in einzelnen Faͤllen nidyt von dem 
Bollſtrecker allein Heflidimt werden. Darin liegt das Princip der gänzlichen Trennung 
des Richteramtes von dem Vollzieher des Ausſpruchs. In jenen Staaten, wo fi alle 
Staatsgewalt in dem Einzelnen vereinigt, fehlt ein ſolches, aus der Einrichtung von 
ſelbſt hervorgehendes Princip; es iſt ein zufälliger thatfächlicher Zuftand, wenn der 
Herrſcher nicht in Perſon zu Gericht ſitzt, ſondern Beauftragte beſtellt, welche in ſei⸗ 
nem Namen und an ſeiner Statt das Recht finden: es ſteht bei ihm, dieſen Zuſtand 
nah Willfür zu ändern. Weil jedoch nach modernen Anſichten über Staatseinrich⸗ 
tungen dad Bericht von der Staatögemwalt getrennt und unabhängig fein foll, aber 
doch fein Unterthan als jolcher Richter fein Tann, fo iſt man auf den Ausweg” ger 
fommen, die fonfligen Stellvertreter des Herrfchers, einmal beftellt, für unabſetzbar zu 
erflären, dadurch den ihnen ertheilten Auftrag zu einem ihnen gehörigen Amte zu 
machen und in ihrer Berfon eine Art von jelbfiflänpigen Magiftraten zu fchaffen, 
welche zwar nur Beamte find, aber doch das Ihnen verlichene Amt vermöge 
eines ihnen zuflehenden unmwiberrufliden Mechts ausüben. Hieran laͤßt ſich der 
Werth einer willlürliden Disciplinirung ber Richter ermeflen. Diefe neutralifirt 
das Princip der Unabhängigkeit vollſtaͤndig. Ein anderes Grundverbältnig führt 
auf Die Wahl der Merfonen, welche mit diefer eigenthümlichen Wagiftratur zu 
beleiden find. Weil das Bericht die Wahrheit des zu ſchützenden Rechts er⸗ 
fennen joll, fo müſſen die Urtheiler das - Mecht verftehen. If dad Hecht 
eines Volks zur Wiflenfchaft geworben, fo fünnen nur Mechtögelehrte zur Rechts⸗ 
belehrung gerufen werden. Der Nichter, d. 6. der Magiftratus, welcher den Rechts⸗ 
ausſpruch thut, muß zwar nicht nothwendig die Wiffenfchaft haben, aber er kann nicht 
Mecht ſprechen, ohne ſich vorher das Recht weifen zu laſſen. Ganz zufällig iſt die 
Geſtaltung der Berichte, welchen Antheil der eigentliche Richter an der Rechtsfindung 
zu nehmen bat, ob nämlich der Michter, ſelbſt ein Mechtöverftindiger, zugleich felbft 
das Recht erfennt oder ok er ſich ſolches durch Beigeordnete (Schöffen, Aflefforen), 
oHne eigenes Stimmrecht, meifen laffen muß. Diefe Grundverbältnife fir die Bil- 
Dungdgefchichte des Gerichtsweſenẽ laſſen fich bei jedem Volke nachweifen. So zeigt 
uns bie Altefte römifche und germanifche Gerichtöverfaffung den König als Michter 
und in feinem Namen wird heute faft überall dad Mecht gefprochen und der Recht— 
fprud in Ausführung gebracht. Richter iſt hiernach der vom Staate zur Entſchei⸗ 
dung der ihm vorgelegten Nechtöftreitigkeiten in Gemäßheit der Gefege und zur Boll: 
ziehung der rechtskraͤftigen Entſcheidung beftellte Beamte. Zu dieſer Amtöverrichtung 
wird Bähigfeit und Unverbächtigfeit des Michterd verlangt. Die weſentlichen @igen- 
fhaften, von melden die Fähigkeit des Richters bedingt ift, find außer einem be= 
flimmien Alter und dem Beflg der erforderlichen Einficht und Rechtskenntniß auch un« 
verlegte bürgerliche Ehre und Bekenntnis der chriftlicden Religion, d. 5. zu einer in 
Deutihland anerfannten Confeſſton. Was das erſtere Mequiſit betrifft, jo find nad 
rmiſchem Recht unfähig infames, weil bie Infamie überhaupt das jus honorum 
entzieht und zwar in fofern das Michteramt in der Kaiferzeit mit einem böbern 
Staatdamte, einer dignitas, verbunden mar, nicht bloß famosi et notali, fondern auch 
Diejenigen, welche einen ſchlechten verächtlichen Lebenswandel führen. Nach dem deut 
ſchen Rechte wurden belchnte Richter durch Ehrlofigkeit unfähig, weil dieſelbe den 

| 13* 


196 Nihter (Aemilius Ludwig). 


Verluſt des Lehens bewirkte, und Mechtlofigkeit machte zum Richter und Schöffen- ' 
amte unfähig. Wenn nun gleich diefe Beflimmungen des römifchen und deutfchen 
Rechts in der Gegenwart nicht zur Anwendung fommen können, weil die Zuftände, 
welche wir mit Ehrlofigkeit und Anrüchigkeit bezeichnen, von der infamia und deut⸗ 
schen Ehrlofigkeit und Nechtlofigfeit weit verfähieden find, fo verlangt doch Die Würde 
dee Richteramts unverlegte bürgerliche Ehre feined Trägers heute nicht minder, als 
zu den Zeiten des römifchen und des deutfchen Reichs. Nur fragt fich, weldyer 
Weg zur Befeltigung ded unmürbigen Richters der geeignetfte erfcheint. - Daß Fein 
Staatöbeamter, alſo auch Fein Nichter, nah Einfall und Laune entlafien werben barf, 
darüber iſt fo wenig Streit, als über die Infufficienz der Strafgerichtöbarfeit, wenn 
ed ſich nicht um Die geläufigen Kategorieen der ceriminalrechtlich flrafbaren Handlungen, 
fondern um ſittlich ärgerliche und flaatlich gefährliche Zuftände Handelt. Auf der 
anderen Seite muß einleudhten, daß das Schickſal Feines Richters, wenn die richter⸗ 
Ihe Unabhängigkeit nicht bloß ein leerer Name fein fol, irgendwie in .die Sand ber 
Staatsdienftbehörde gelegt werden darf. Bon diefer muß jeder Richter thatfächlich 
unabhängig fein. Deshalb giebt es keinen anderen Ausweg ald dad Benoffen- 
gericht. Die Ehrenhaftigfeit der Nichter wird einen Collegen, der durch fein Ber» 
halten das Anſehen des ganzen Standes in Gefahr bringt, nicht dulden. Das 
andere bon und genannte Requiſit fehlieht die Juden vom Michteramte aus. Die 
hierauf dezüglichen Stellen der deutfchen Neichögefege !) beziehen fich allerdings nur 
auf. das Reichskammergericht, fle find aber allgemein genommen worden, was, ba 
die Juden den Chriſten nach gemeinem Rechte in Deutfchland nie gleichgeflanden haben, 
ſich von felbft rechtfertigt. Juden find ſchon deshalb unfählg, weil der in den ge⸗ 
dachten Geſetzen vorgefchriebene Richtereid das Bekenntniß zum Chriſtenthum voraus» 
ſetzt. Wenn dagegen bemerkt worden ifl, ?) daß die Juden überhaupt zur Eidesleiſtung 
fähig feien, fo ift dabei überfehen, daß die Rabbinen gemeinrechtlich feine wirkliche 
Gerichtsbarkeit Haben, fondern nur unter jüpifchen Parteien auf deren Gompromiß ale 
Schiedsrichter entfcheiden fünnen. Wo fle wirkliche Gerichtsbarkeit ausüben, berubt 
Died auf befonderer Landeöverfaffung und Privilegien. 3) Der Deutfche vermag feine 
Rechtsanſchauungen nicht von feiner Gottedidee zu trennen und erwartet, daß der 
Nichter in der Gemeinſchaft dieſer Gottesidee mit ihm ſtehe. Da dies beim Juden 
nicht zutrifft, fo Fann er Fein deutfcher Nichter fein. — Verdähtig heißt ber 
Nichter, wenn jein Wille, im einzelnen Falle bei Erörterung oder Entſcheidung der 
Sache pflichtmäßig zu Handeln, bezweifelt werben darf. Bei den Mömern bing zur 
Zeit des Yormularproceffed die Thätigkeit des Richters lediglich von ber Uebereinkunft 
der Parteien ab; derfelbe konnte daher ohne alle Angabe eine® Grundes abgelehnt 
werden. Im fpäterer Zeit wurde zwar die freie Wahl der Nichter durch die Parteien 
beichränft; von einer Angabe von Gründen für die Ablehnung if aber auch in den 
neueren Geſetzen nicht die Rede. Dagegen verlangt das Fanonifche Recht nicht nur 
bie, fondern auch den Beweis des Ablebnungdgrundes, wodurch ein befonderd Durch 
Erfenntniß zu enticheidendes, durch einen Necufationdantrag einzuleitendes DBerfahren 
eingeführt worden iſt. Die Stelle des äußeren Beweiſes für die Ablebnungsgründe 
Fann der Berborredcenzeid vertreten, melden das preußifche Hecht aber nur ale 
Ergänzungseid zuläßt. Ueber die Reform des Michterfiandes in Preußen baben wir 
uns in dem Art. Anwalt ausgefprocdhen. 

Richter (Aemilius Ludwig), Geheimer Ober⸗Regierungs⸗ und Conſiſtorialrath, 
ordentlicher Profeſſor des Kirchenrechts an der Univerfität in Berlin, ein berühmter 
Lehrer des Tanonifchen Rechts und der Begründer der fogenannten „Berliner Kano- 
riften-Schule”, wurde am 15. Februar 1808 zu Stolpen im Königreih Sachfen ge» 
boren, wo fein Vater als Finanzprocurator und gefuchter Anwalt lebte. R. befuchte 
zuerfi da8 Gymnaſium in Baugen, bezog dann 1826 die Univerfltät in Leipzig, wo 
er ih eifrig dem Studium der Mechtswiflenfchaften widmete; aber nebenbei noch 


— ⸗73 — 


eicheabſch von 1555 8 106. LP. O. art. vo. 8 1, J.Reichsabſch. 8 23. 

2) v. Brafenhöfft in den Eroͤrterungen ©. 2 

3) giähern, Einl. in das beutfche Beioafreiit 682, Mittermaier, Grundf. des deutſchen 
Privatrechts 5 118. 


Richter (Fohann Paul Friedrich). 197 


philologifche und Hiftorifche Studien tried. Im Jahre 1829 ließ ſich R. als Advocat 
in Leipzig nieder und habilitirte fich gleicher Zeit als Privatdocent für dad Kirchen» 
recht an der dortigen Univerfität. Bald gaben umfangreiche und gefchägte Werte 
Zeugniß von der Belchrfamkeit, dem Scharffinn und der Arbeitöfraft des jungen . 
Gelehrten: 1834 erichien der erfle Theil feiner Ausgabe des Corpus juris canonici, 
ein verdienfiiches mühevolles Werk, welches die feit fat einem Jahrhunderte unter- 
brochene Textkritik der kanoniſchen Rechtsquellen wieder aufnahm; im folgenden Jahre 
folgte die Heraudgabe der „Beiträge zur Kenntniß der Quellen des Eanonifchen Rechts. * 
Im Jahre 1835 ehrte Die Univerfltär Göttingen dad ernſte wiffenfchaftliche und erfolg- 
reihe Streben R.'s, der troß feiner Jugend fchon zu den Erften in feiner Species 
zählte, durch das Ehrendiplom eined Doctor beider Mechte. In demfelben Jahre 
- zum außerordentlichen Profeffor ernannt, folgte Ir 1838. einem Hufe für den Lehr- 
ſtuhl des Kirchenrechtd und des Civilproceſſes an die Univerfliät nach Marburg, und 
hier im kleinen Kreife feines alademifchen Berufs verlebte MR. bis zum Jahre 1846, 
in welchem er nach Berlin berufen wurde, feine fchönfte für die Wiſſenſchaft frucht- 
Bringendfte Zeit. 1841 erfchien fein „Lehrbuch des Kirchenrechts“, ein Werk, das 
bisher in fünf Auflagen herausgegeben, die Grundlage unferer heutigen Kirchenrechtd« 
wiffenfchaft geworden iſt und ſich von den verfchiedenften Seiten die höchſte Anerken⸗ 
nung erworben bat. Denn der Geift verfühnlicher Milde, der überhaupt den Grundzug 
in R.’8 Charakter bildete, und der objectiver Gerechtigkeit Durchdrangen das Ganze, 
und die Klarheit der Darftellung und die Schärfe der Auffaffung bildeten mit der 
Tiefe der biftorifchen Gelehrſamkeit ein würdiges Enjemble. 1846 begann MR. feine 
„Sammlung der: evangelifchen Kirchenordnungen“ und erſchloß damit dem Studium 
eine Quelle, welche Jahrhunderte lang unbeachtet geblieben war, Seitdem dürfte 
ſchwetlich auf dem Gebiete des proteftantifhen Kirchenrechts ein Werk erfchienen fein, 
welches nicht In R.'s „Kirchen- Ordnungen” feine Bafls gehabt hätte. Auch in fei« 
nem neuen Berufe in Berlin verfolgte R. mit gewohnten Eifer die Bahnen der 
Wiffenfhaft durch Wort und Werf; um feinen Xehrftubl fammelte fidy eine Schaar 
wißbegieriger Schüler, aus denen die meiften der neueren Kirchenrechtölehrer hervor⸗ 
gegangen find und die bie obengenannte „Berliner Fanonifche Schule” bildeten, und 
feine „Geſchichte der evangelifchen Kirchenverfaffung in Deutfchland," fo mie die 
„Ganones et Decreta Goncilii Tridentini*, melde ihm die theologifhe Doctorwürbe | 
von der Uiniverfität Greifswald eintrugen, legen Zeugniß davon ab, daß er mit treuer 
Singebung auch dem neuen DBaterlande alle feine fo reichen Geiſteskraͤfte widmete. 
Denn auch im praftifhen Staats: und Kirchendienft war R. andauernd thätig, zuerft 
als Ober⸗Conſtſtorialrath und Mitglied des evangelifchen Oberkirchenraths, dann als 
Geheimer Ober-Regierungdrath und vortragender Rath im Miniflerium der geiftlichen 
Angelegenbeiten, dem er fchon feit feiner Berufung nad Berlin als Hülfsarbeiter 
angehört hatte. Kein Geſetz ift auf dem Gebiete der Kirche feit 1846 in Preußen erfchiee 
nen, an dem nicht R. einen maßgebenden Antheil gehabt Hätte, und felbft von auswärts 
ber wurde in Eirchenrechtlichen Fragen feine bewährte Autorität gefucht und fein Rath 
befolgt. Der Sache der Union war er Innig ergeben und die Sorge um die Geſtal⸗ 
tung der evangelifchen Kirchenverfaflung Hat ihn bis auf fein Todeslager begleitet. 
Trotz der fchweren Laſt der verfchtedenften Gefchäfte, welche fchon lange feine Lebens⸗ 
Traft untergraben und ihn zulegt leider felbft feiner akademiſchen Lehrthätigkeit ent- 
zogen Hatte, blieb R. doch den Pflichten feined Amtes unmwandelbar treu und widmete 
noch den legten Tag feines Lebens dem Dienfte des Staated. Er flarb den 8. Mai 
1864. — Außer feinen oben genannten Schriften erfchienen eine Reihe größerer und 
Eleinerer Auffäge von R. in der von Dove und Friedberg heraußgegebenen „Zeit« 
ſchrift für Kirchenrecht." Die fechfle Auflage von R.'s „Lehrbuch des Kirchenrechts“ 
ift von dem DBerfaffer zwar noch furz vor feinem Tode neu bearbeitet, aber nicht bes 
endigt worden. 

Richter (Johann Paul Friedrich), gewöhnlih Jean Paul genannt, fo baf 
fräherhin Biele feiner Verehrer und Berehrerinnen feinen Bamiliennamen in der That 
nicht fannten (richtiger Jean Paul, da er felbft wiederholt fagt, er Habe feine beiden 
erften Bornamen In das Sranzdfliche überfegt), war im legten Jahrzehend bes vorigen 


198 Nichter (Johann Paul Friedrich. Lebenslauf und Ausbildung). 


und in den beiden erften Jahrzehenden des gegenwärtigen Jahrhunderts in ben mitt⸗ 
leren Schichten der deutfchen Bildungswelt der gefeiertfle deutſche Scheififieller, gegen 
welchen bei Bielen, zumal bei der Srauenwelt, Schiller und vollends Goethe meit zu⸗ 
rüctraten. Er war geboren zu Wunflebel, im damaligen Fürſtenthum Baireuth, am 
21. März 1763, ale der Altefle Sohn des damaligen dritten Lehrers (Tertius) an 
der Bürgerfchule und Organiften dafelbfi, verlebte jedoch feine Kinderjahre in Iodig 
(an der Saale, nördlih von Hof), wohin fein Vater 1765 als Pfarrer befördert 
worden war, und von 1775 bis zu dem Tode feines Vaters, 1779, in Schwarzen» 
badı (füdlih von Hof an der Saale), wohin verfelbe von Jodit verfeßt worden war. 
Auf den reinen und tiefen Eindrüden dieſer feiner unbefangenen Jugendzeit ber erflen 
fechzehn Lebensjahre, die er in größter Abgefchiedenheit, in engen und ärmlichen Ver⸗ 
bältniffen verlebte, beruht die eine und befjere Hälfte feiner Darftelungen. Bon 
Dftern 1779 His dahin 1781 beſuchte er das Gymnaſtum in Hof, von Oftern 1781 
bis zum November 1784 die Univerfität Leipzig, mit. der Aufgabe, Theologie zu 
fludiren; in Hof wie in Leipzig in der aͤrmlichſten, drüdendften Lage. Auch die Ein« 
drüce diefer Bedrängnig und Noth hielt er durch fein ganzes Leben fe, und es 
bilden diefelben einen zweiten wefentlihen Beſtandtheil feiner. Darſtellungen. Hierzu 
aber fommt noch ein dritte und fehr erhebliches Element feines Lebens. Mit einer 
ungewöhnlichen Gabe der Auffaffung fremder geifliger Stoffe ging fein unermübdliches 
Streben, diefe Stoffe im weiteften Umfang in feinen Befig zu bringen, eine un« 
erfättliche Lefeluft und Lernluft, parallel, nicht aber hielt Hiermit gleichen Schritt das 
Streben, dieſe Stoffe gründlich Durchzuarbeiten und fich diefelben zum geiftigen Eigen 
thum zu madhen. Schon ald Schüler in Hof lad er nit nur Alles, was ihm 
irgend erreichbar mar, fondern er fertigte mit einem ausdauernden Kleiße, den man 
bewundern Fann, die umfländlichflen und mweitfchichtigften Excerpte aus dem Gelefegen; 
dieſe Beſchaͤftigung fehte er in Leipzig und noch fpäter fechzehn Jahre fang mit gleich 
unaußsldjchlichem Eifer fort: er las theologifhe und philoſophiſche, juriflifche und 
ftaatsmwiffenfchaftliche, mebicinifche, naturwiflenfchaftliche, hiſtoriſche Werke mit gleichem 
Intereffe und brachte aus denfelben eine ganze Bibliotdef von Ercerpten zu Stande; 
auch bat ihn dieſe Neigung, Alles zu lefen um des Ercerpirend willen, niemals vere 
lafien. Daß bei diefer Art von geifliger Beichäftigung dad Stublum der Theologie 
nicht gedeihen konnte, begreift fi von ſelbſt; R. Hatte die Theologie bereitd aufge- 
geben, als er Leipzig verließ. Aber er bat auch Fein einziges fonfliges Gebiet de 
Wiſſens jemals vollftändig durchmeflen, geichweige denn erfchöpfend bearbeiten und 
in Folge davon einer eigentlichen Arbeit des Lebens fi niemals bingeben mollen. 
Seine Ercerpte, die er Übrigens größtentheild nicht aus den Quellen, fondern aus 
Bearbeitungen zweiter und dritter Hand fchöpfte, wie feine Schriften das ausweiſen, 
dienten ihm bloß dazu, fie gelegentlih und gleichfam zufällig bei feinen geifligen 
Productionen zu benugen. Dagegen fing er noch in Leipzig an, zu probuciren: er 
fchrieb 1781— 1782, in feinem neungehnten Lebensjahre die „ Srönländifchen Procefle”, 
welche auch noch während feines Aufenthaltes in Leipzig (1783) erſchienen, und bie 
„Ausmahl aus des Teufeld Papieren”, welche jedoch, 1783 gefchrieben, erft 1787 
berauslamen. — Nach feinem Abgange von Leipzig hielt fih R. bei feiner Mutter, 
welche in Hof in großer Dürftigfeit Iebte und außer Ihm noch für vier Söhne zu 
forgen Hatte, ohne beſtimmte Befchäftigung zwei Jahre lang auf; zu Neujahr 1787 
trat er als Haudlehrer in das Haus des Butsbeflgerd v. Dertel in Töpen unweit 
Hof und blieb bier zwei und ein halbes Jahr. Nach einem abermaligen Aufenthalte 
bei feiner Mutter ging er im März 1790 als Privatlehrer nad) Schwarzenbach, wo 
er vier Fahre verweilte. Während diefer Zeit ſchrieb er die „Unfichtbare Loge“, zu 
deren Publication ihm K. Ph. Moritz Mm Berlin behülfliy war, und durch welche 
Schrift (1793 erfchienen) R. feinen Auf begründete, während die beiden früheren 
Werke faft ganz unbeachtet geblieben waren. Jetzt flaunte die Welt dieſen ploͤtzlich 
auftauchenden Genius an und flellte ihn mit Morik nicht nur Goethe gleich, fondern 
hob ihn (zumal megen des ber unflchtbaren Loge beigegebenen Lebens des vergnügten 
Wuz) noch über Goethe hinaus. Vom Frühjahr 1794 bis zum Tode feiner Mutter, 
Herbſt 1797, Hielt ſich R. wieder bei leterer in Hof auf und befchäftigte ſich mit 


Richter (Johann Paul Friedrich. Seine Berfönlicpkeit). 199 


der Ertbeilung von Unterricht. In diefer Zeit, 1794, erfchien der noch in Schwarzen- 
bach begonnene und fa vollendete Hesperus, welcher allgemeine Begeiflerung erregte 
und ihm vor Allem Die Herzen der Frauen in einem Grade gewann, welcher uns heut 
zu Tage faſt unbegreiflich dünken will. Es faͤllt aber in dieſe Zeit auch fein Beſuch 
in Weimar (Juni 1796) und ſeine Bekanntſchaft mit den dortigen Größen, doch 
blieb dieſelbe, Herder ausgenommen, nur eine aͤußerliche und ziemlich fühle. 
Dagegen entipann fih von nun an Jean Paul’d Verkehr mit den literarifh an⸗ 
geregten und zum Theil ercentrifchen Frauen, wie mit ber Brau v. Kalb, welde 
damals bereits Schiller hatte aufgeben müflen, mit Frau v. Krüdener, und vor 
Allem mit der gefchiedenen Gattin des Hofrichters und nachherigen meftfälifchen Prä- 
fecten v. Berlepfh, Emilie, geborenen v. Oppel, welde auf MR. einen faft 
zauberhaften Einfluß geäußert Haben muß — vermochte fle es Doch, ihn von dem 
Sterbebeite feiner Mutter hinweg zu loden. Ein Jahr (Ende October 1797 bie dahin 
1798) lebte R. in Leipzig, um die Studien feined Bruders Samuel zu leiten 
(welcher jedoch fehr bald auf und davon ging und gänzlich verfcholl), in Verkehr mit 
Frau v. Berlepfh und dem nachher als Biolinfpieler berühmt gewordenen feltfamen 
Thleriot; darauf nahm er anderthalb Juhre lang feinen Wohnfig in Weimar, im 
Mai 1300 aber ging er nach Berlin, wo er fih mit Caroline Maier, der Toch⸗ 
ter eined Geh. Ober⸗Tribunalratho, am 27. Mai 1801 verbeirathete (fie hat ihn vier- 
unddreißig Jahre überlebt und ifk am 30. Januar 1860, 80 Jahr alt, in Münden 
bei ihrem Schwiegerjohn, Prof. Förfter, verfiorben). Im Juni 1801 verlegte er feinen 
Wohnſitz nah Meiningen, wo er in nahen Beziehungen zu dem Hofe fland (ſchon 
1799 Hatte er von dem Herzog von Sadfen-Hildburghaufen den Titel Legatlonsrath 
erhalten), im Mat 1803 nad Koburg und enblid im November 1804 nah Bai⸗ 
veuth, wo er bis an daß Ende feineß Lebens geblieben iſt. * Er flarb, erblindet, an 
der Waflerfuht am 14. November 1825. Der Fürſt Primas und nachherige Groß- 
herzog von Frankfurt, v. Dalkerg, verlieh ihm 1808 eine jährliche Benflon von 
1000 Gulden, welche nach der Auflöfung des Großherzogihums Frankfurt von dem 
König von Bayern übernommen wurde; im LUebrigen lebte er von dem Ertrage feiner 
Schriftfiellexifchen Thaͤtigkeit. Jean Paul's Perfönlicpkeit entfprach, wenigſtens in ben 
Ispten zehn Jahren feines Lebens, nicht der Vorſtellung, welche man fich nach den 
zarten, blüthenweichen, aͤtheriſchen Stellen feiner Schriften von derfelben zn machen 
pflegte: fle hatte etwas Plumpes, mitunter fogar mit einem gewiffen Striche von Platt- 
Heit, was felbft feine enthuflafiiichen Verebrerinnen, melde ihn Hei feinen Triumph. 
reifen, 3: B. der nad) Heidelberg 1817 und fpäter nad) Branffurt, zu ſehen bekamen, 
nicht in Abrede zu flellen vermochten; flärfere Belege dafür find die oft wiebererzäßl- 
ten Anekdoten von feiner Derbheit gegen Müllner, Mahlmann und Andere. Für Viele 
Hatte auch Die Unzertrennlicyleit von feinem Pudel Alert, und mehr noch der Gögen- 
dienft, den er wit dem Hunde zu treiben geftattete, indem man demſelben Loden ab- 
fynitt und in Medaillons faßte, in Stuttgart ihm fogar ein befondered Tempelchen 
errichtete, etwas fo Laͤcherliches, daß fie fih von feiner Perſon ab- und zu feinen 
Schriften allein zurückwendeten. Manches Hiervon fommt auch auf Rechnung feiner 
„Saeitamente”, die er nicht enibehren fonnte, d. h. des häufigen Biergenuffes, den 
man nicht, wie geichehen, in dem neulich herausgegebenen Briefwechfel fo unverhüllt 
hätte bloßlegen follen. Er lebte übrigens faſt nur für feinen Schreibtifch, im wirk⸗ 
lichen Leben war er unbeholfen und oft den gemöhnlichfien Dingen fremd; manche 
Sorge für dad äußere Lehen, felbft in Fleinen Sachen, übernahmen für ihn feine 
Sreunde, denen er mit der zärtlichften Anhaͤnglichkeit zugethan blieb: der Kaufmann 
Shrifian Otto, fein treuer Schulgenofie von Hof her, welcher kurz nah ihm 
farb, und der Jude Emanuel in Baireuth, welchen er 1794 Eennen lernte und ber 
fogar Pathe zu einem feiner Kinder wurde. Das kleine Wirthshaus der Frau Roll⸗ 
wenzel vor Baizeuth, welches er in den legten funfzehn Jahren faft täglich beſuchte 
und in welchem er zu arbeiten pflegte, war noch lange nad feinem Tode eine Art 
Wallfahrtsort für feine Verehrer und gilt noch jegt für eine der erheblichfien Merk⸗ 
mürbigfeiten von Baireuth. Sean Paul befaß eine ungewöhnliche Feinheit und Tiefe, 
jo wie eine audgezeichnete Meinheit, Wärme und Innigfeit derjenigen Gemüthsanlage, 


200 Richter (Johann Paul Friedrich. Als Humoriſt.) 


welche wir Gefühl nennen, d. h. des individuellen Afficirtmerbens durch die Außen⸗ 
welt, und zugleich eine ungemeine Leichtigkeit dieſes Afficirtwerdens, db. 5. eine große 
Weiche des Gefühls, mie wir dies alles in geringerem Grade an begabten Kinder« 
feelen, befonderd an Mädchenfeelen, oft wahrnehmen; bei ibm aber erfüllten diefe 
Gefühlseigenfchaften das ganze Leben. Begleitet wurde diefe hervorragendſte Eigen⸗ 
fhaft von einer großen Lebhaftigfeit und Eindringlichleit des Denkvermögens, was 
bei der Beurtbeilung feiner Werke nicht, wie oft gefcheben, außer Anfchlag bleiben 
darf. Gegenüber jenem Gefühl und diefer Denkfähigkeit aber lag bie ſchon erwähnte 
Luft des Auffpeihernd einer ungemein großen aber ungeorbneten Maſſe gelehrter 
Kenntniffe, fo wie die gleichfalld bereits erwähnte Linluft, irgend ein Gebiet 
der Wiffenfhaft oder des Lebens gründlih zu behandeln, burdyzuarbeiten und 
zu erichöpfen; gegenlber jener großen Weite des Gefühle: und Denkkreifes, 
aber auch gegenüber der frühzeitigen und faft ungeheuren Anfammlung von gelehrten 
Stoffen, lag ferner die Beigränktheit und Enge der Berbältniffe, in denen er aufge- 
wachſen war und die ihn auch in fpäteren Jahren begleitete; ja er hielt dieſe Enge der 
Anſchauung abfichtlich durch fein ganzes Leben feft. Wie alles dies im Allgemeinen 
die Elemente de8 Humord find, fo machten diefe Elemente, bei Jean Baul in emi- 
nentem Grade vorhanden, ihn zu den bervorragendfien Sumoriften unferer Riteratur. 
Er vermodte ed, die ganze Welt in das Morgenroth der Eindlihen Anſchauung zu 
ftellen und die Eindliche, in den engflen DVerhältniffen verharrende Unbefangenheit von 
den fcharfen Kichtern der Neflerion und der berben Wirklichkeit beleuchten zu laſſen, 
die Weichheit, die mehmüthige Sehnſucht, die Rührung und die Thränen der Kinds 
beit und frühen Jugend aufgeben zu Haffen in das belle Gelächter der Nichtachtung 
alles Ernften und Schweren im wirklichen Leben, dad Große und Größte Flein, das 
Kleine und Enge groß und unermeßlich darzuftellen. Es tft fomit nicht das wahre 
Leben, welches er uns fchildert, fondern ein eingebildetes Leben, ein Leben, wie e6 
der eigentbümlichen Anfhauung, wie es der Stimmung, oft wie es der Laune des 
Betrachtenden erfcheint.” Daber find bei Ihm nicht nur in Eindlicher Weile Thränen 
und Lachen, fondern auch Ruhrung und Muthwille, Trauer und Hohn, unvermittelte 
Wahrheit und barode Einfälle auf das Engfle verbunden, fa gerabezu durch einander 
gemiſcht; Dicht neben den Aeußerungen kindlichſter ergreifender Naivetät flehen bie 
fremdartigften Fragmente einer abflrufen und meit bergeholten Gelehrſamkeit. ine 
künſtleriſche Befriedigung, ja nur einen Fünftlerifchen, wahrhaft poetiſchen Genuß fann 
eine ſolche Humoriftif nicht gewähren, ſie will aber auch eine foldye Befriedigung 
nicht gewähren, fondern einzig und allein auf die Stimmung wirken, wie fie ſelbſt 
nur aus der Stimmung hervorgegangen ifl. Aber es entſprach die Darftellung Sean 
Paul's allerdings der pſychiſchen Befchaffenheit eines fehr großen Theils feiner Zeit- 
genoſſen, welcher nicht in dad wirkliche Leben der Kunft oder der That eingeführt 
werden, fondern in der Unbeflimmtheit einer Traum» und Gefühlswelt, einer foges 
nannten Idealwelt, verharren, welcher nicht befriedigt, fondern nur angeregt und ſtets 
von Neuem gefpannt, vor Allem aber weich bewegt und gerührt fein wollte. Mit 
Jean Paul wollten nur allzu Viele ihre frühe Jugend für das ganze Leben fefthal- 
ten, ihre Jugend, deren dichterifche Anregungen aus der Sentimentalität berflammten, 
von welcher Periode Jean Baul ein gutes Thell an fi trug und die fie in ihm ver- 
geiftigt und verflärt wiederfanden. Diele gab es, welche fi in der Unflarheit, nicht 
nur ber politifchen und religiößsfirdglichen, fondern auch in der portifchen Unklarheit, 
fo wie in der Entfernung von allem wirklichen Leben, in einer thatenlofen Veſchau⸗ 
fichkeit, im müßigen Spielen mit Gefühlen und Begriffen, wohl fühlten. Aus bie 
fem Grunde iſt uns Sean Paul heut zu Tage im Ganzen ungeniefbar und nur Ein 
zelnes in feinen Schriften noch jeßt von Wirkung. Indeß bat er auch zu feiner Zeit 
mehr durch Einzelheiten ald duch das Ganze feiner Darfielung, welche ſchon damals 
Vielen unverfländlich war, gewirkt, wie denn die aus Jean Paul ausgezogenen , ſchö⸗ 
nen Stellen" bis in die dreißiger Jahre dieſes Jahrhunderts im poetifchen Private 
verkehr der Frauenwelt eine große Rolle gefpielt Haben und fogar in umfangreichen 
Drudwerken gefammelt worden find. Einen Kunftgenuß lafien feine Werke ein für 
allemal wegen ihrer gänzlichen Formloſigkeit nit zu — ein Urtheil, in welchem alle 


Richter (Joh. Paul dr. Als Politiker u. In feiner Stellung zum Chriſtenthum.) 201 


competenten Beurtbeiler unferer Zeit wohl völlig einftimmig find. Seine Charaftere 
find fänımtlich entweder verblafen oder carrifirt oder menigflend durch feltfame Ein« 
pfropfungen verunftaltet; dies gilt nicht nur von den Zeichnungen im Heſperus, fon« 
dern auch yon denen im Titan, ja von dem Gharafter Fibel's, der noch faf am 
meiften unter allen feinen Eharafteren gehalten iſt; feine Komik iſt durchgängig for- 
eist, fo treffend auch einzelne Züge gerathen find, oft aber auch geradezu platt; feiner 
Satyre fehlen, mit ganz geringen Ausnahmen, mie 3. B. des Anfangs feiner ſonſt 
Aber alles Maß matten Allegorie „Mars und Phdbus Thronwechſel“ (1814), greif- 
bare, fefte Begenflände, und zum Theil find fle, Mabener's Satyren in fo weit ganz 
ähnlich, Directe Ironie, alfo ermüdend und langweilig (maß er übrigens an den Brön- 
ländifchen Proceſſen in fpäteren Jahren felbft ſehr wohl erfannte). Seine Kompofl- 
tion endlich iſt rein willkürlich , deſultoriſch, launenhaft und durch zabliofe Wunder⸗ 
lichkeiten im höchften Grade abfpannend. Seltian genug urtheilte er am Ende feines Lebens (in 
der Vorrede zur zweiten Ausgabe der unfichtbaren Loge, 1821) ganzrichtig und aͤußerſt treffend 
über, Werner, Müllner "und E. %. U. Hoffmann mit ihren Formloſigkeiten und un⸗ 
wahren Gharakterzeihnungen, und merkte nicht, daß gerade er den Anfang zur Dar⸗ 
Rellung folcher unwahren, verblafenen Eharaftere gemacht ‚babe, Jene aber, die er als 
gewiffermaßen Wahnwitzige behandelt, nur feine Nachahmer feien. Nicht felten if R. 
auch wegen feiner patriotiichen Schriften hoch gerühmt morden, und die phrafenhafte 
Denfrede Börne's auf Ihn (1826) bezeichnet Ihn als den „Ieremias feineß gefange⸗ 
nen Volkes“, was ihm von Unverfländigen in allerlet Formen noch beute nachge- 
fprochen wird. Manches Gute iſt allerdings in feinen beiden älteflen Schriften diefer 
Art, in der „Brievenspredigt an Deutfchland" (1808) und in den „Dämmerungen für 
Deutſchland“ (1809) enthalten, aber es darf nicht vergeflen werden, daß eben in dies 
fen Schriften manche thörichte und wahrlich nicht patriotifche Hoffnungen auf Napoleon 
außgefprochen find, und daß er fchon bier auf die Bücherwelt ein Gewicht hinſichtlich 
der durch diefelbe zu bewirkfenden Weltumgeftaltung legt, welches wenigſtens Eleinlich 
it, aber freilich negativen Literatoren, wie Börne, zufagen mußte. Die fpäteren Schrifs 
ten, fhon die „politifchen Faſtenpredigten“ (4810, 1811) find leer, verſchwimmend 
in unbeflimmten Erwartungen, und in der Form mitunter gerabezu unerträglich; let⸗ 
tere gilt von der „Belagerung von Ziebingen”“ und von der „Doppelheerſchau“ In 
den Faftenpredigten, dad erflere von den „Nenjahröbetrachtungen* (1819) und dem 
„Bolittichen und poetifchen Allerlei" (1820). Weit richtiger ald Boͤrne's Wortge- 
flapper ift das allerdings Außerft Harte Urtheil & M. Arndt's (1810 in feinen 
„ Briefen an Breunde*) über R., welcher dieſen „einen verderblichen Berführer und 
Bergifter" nennt, „durch welchen alles Geftaltvolle und Männliche untergehen müſſe 
in dem, der fich ihm ergiebt.” Um allerwenigfien war er, wie Börne meinte und 
Manche ihm nachſprechen, „eln Dichter für das Bolt, für die Armen und Beladenen”; 
er war fo weit von dem Volke entfernt, wie nur irgend Einer, und ein Dichter nur 
für die, welche Armuth und Laſt fich ſelbſt machen; ein Dichter im firengen Sinne 
war er auch nicht, da ihm Die Bähigkelt, in gebundener Rede zu fprechen, gänzlich 
abging. Dem Chriſtenthum fehlte e8 bei Jean Paul nicht an Anerkennung, ſoweit 
daſſelbe fich in freimaureriſcher Weife (diefem Orden gebörte er an) in Stimmungen 
und allgemeine Anſchauungen auflöfen ließ; es muß bier vor Allem an feine in der 
That unvergleihlidhe Schilderung feines erften Abendmahlsgenuſſes erinnert werben, 
aber au die Dammerungen enthalten einige wahrhaft bedeutende Stellen („Ueber den 
Gott in der GBefchichte und im Leben”, „Sonnenwende der Rellgion* in ihrer erften 
Hälfte, die Stelle über Bethlehem) und noch ſonſt findet ſich einiges Wenige und 
minder Bedeutende. Wo aber der chriſtliche Glaube ſich nicht mehr durch Stimmun⸗ 
gen vertreten ließ, fondern In feiner wahren Beftalt auftrat, wurde derfelbe (feit 1814) 
geſchmaäht (Neufahröbetracdhtungen 1819 und ſonſt), wie MR. denn auch alle Mühe an« 
wendete, um feinen in Heidelberg Theologie fludirenden Sohn, in welchem ſich kraͤf⸗ 
tige Elemente des chriftlicden Blaubend zum großen Aerger des Vaters regten, zum 
dürreſten Rationalismus (eined Paulus!) binüberzuziehen, und ald derfelbe im Herbſt 
1821 am Nervenfieber geflorben war, fprach er es laut genug aus, daß den frifchen 
Jüngling die trübe und .dumpfe Weltanficht des „Myſticismus“ getödtet Habe, 


202 Richter (Johann Paul Friedrich. Seine Stellung zu den Frauen). 


Seine fohönften Darftellungen, in welchen er unerreichbar ift, find jedenfalls die Schil⸗ 
derungen der auffeimenden, unbefangenen und reinen Jugendliebe, deren Stoff er aus 
feinen eigenen Erledniffen entnahm und die in faſt allen feinen Schriften in biefer 
oder jener Geftalt ericheinen. Hiernächſt find die Naturfchilderungen zu erwähnen, 
von denen gleichfalld jeine fämmtlidyen Schriften durchflochten find — Beides zuſam⸗ 
men giebt den Eindrud eines ewig heiteren Brühlings mit frifchem Grün und Bogel- 
fang, eines fommtrlangen heilen Tages ohne Ende, eines roflgen Morgenroth6, wel- 
ches ohne Nacht an das flillfreundliche Abendroth grenzt und niemals zu verlöfchen 
ſcheint. Sodann find einzelne Darftellungen des bejchränkten Stilllebeng — zumal 
des kindlichen und dorflichen Stilllebend, weldye aus jeinen Jugenderinnerungen von 
Joditz (nicht von Schwarzenbach) ber entiprungen find — recht gut und würden vor⸗ 
trefflich fein, wenn nicht dad bunte Feuerwerk willkürlicher fremdartiger Einfälle ſtets 
in die Stille, diefelbe unheilbar flürend, hineinpraſſelte. Auch darf nicht überfehen 
erden, daß ſich in feinen Schriften, meift vereinzelt, aber doch mitunter auch in 
längerer Folge und in verhältnigmäßig geregeltem Zufammenhange, große Gedanfen 
im flrengen Sinne und tiefe Blide, zumal pſychologiſch tiefe Blide finden; wir er⸗ 
inneren ohne befondere Auswahl an den Aufſatz in den „Nahdämmerungen”: „Weber 
Furcht vor Wiffenfchaftd-Barbarei,”" an die Auffäge über den Magnetismus und gegen 
den Materialiömus (im „Rufeum*), und vor Allem an den vorher genannten Aufſatz 
„über den Gott in der Geſchichte und im Leben.” Endlich darf nicht unerwähnt blei⸗ 
ben, daß ſich Richter in feinen fpäteren Jahren auch ald Sprachforfcher verfuchte. Er 
ließ im Morgenblatte 1818 zwölf Briefe „über die Deutichen Doppelwörter“ erfcheinen, 
durch weldye er den bei Zufammenfegungen von Subftantiven gebrauchten Buchflaben 
S. gänzlih, namentlich aber aud der Compoſition femininifcher Subflantiva, zu ver- 
bannen unternahm. Diefe Briefe find fehr geeignet, Iran Baul in feinem Wefen und 
feiner Darfielungswelje zu charakteriſiren. Willkürliches, Unrichtiges, grell Sprach⸗ 
widriges wußte er, ohne die geringfie Kenntniß von der Bedeutung und Entftehung 
dieſer Gompofltions-S. zu befigen, mit ſolcher Geſchicklichkeit In ein günfliged Licht zu 
fielen, daB minder Kundige noch heute durch diefe Darflelung in Verwirrung ge⸗ 
bracht werden, wiewohl die richtigen Megeln damals fofort von Docen und Grimm 
(von diefem im „Hermes“ 1819) angedeutet und fpäter im zweiten Theil von Grimm's 
Grammatik definitiv feftgeftellt worden find. Jean Paul antwortete damals feinen Be- 
fireitern in zwölf Poftferipten (zufammen mit den Briefen herausgegeben 1820), melde 
faft no mehr al& die Briefe darthun, wie gefchidt er fein Nichtverſtehen der Sache 
wie der Einwendungen zu verbüllen verfand und wie er nur mit Einzelheiten, ja mit 
abgerifienen Notizen, aber allezeit fchimmernd und blendend zu operiren vermochte. — Es 
ift im Vorhergehenden wiederholt darauf hingedeutet worden, weldyen Einfluß Sean 
Baul auf die weiblichen Gemüther äußerte, und 'in der That Hat es feinen 
deutſchen Schriftftelfer gegeben, welchem die allgemeine Neigung der Frauen 
in fo hohem Grade entgegen gekommen wäre, wie Jean Paul. Nicht allein, daß er 
von einem allgemeinen Beifallsfturme der Frauen wäre begrüßt worden — wir über- 
treiben nicht, fondern fprechen aus unferer eigenen Erfahrung: Mädchen und Frauen 
waren noch in fpäteren Jahren (1812 und ſogar noch fpäter) ſchaarenweiſe ganz 
eigentlich verliebt in ihn. Cine von ihnen, bis’ zur Raſerei in ihn verliebt, ein 
junges Mädchen, gab fich felbft, io jehr R. fie auch zu befchwichtigen verjuchte, in 
ſchauriger Weiſe felbft den Top (Foͤrſter erzählt die Sache umſtaͤndlich in feiner Biographie 
feines Schwiegervaterd). R. Hatte in der That etwad durchaus Weibliches in feinem 
Charakter und war dadurch befähigt, tief in das Weſen der weiblichen Seelen hinein⸗ 
zufhauen; folglich war er auch dem weiblichen Geſchlecht als foldyem nicht nur er⸗ 
geben, fondern bingegeben — wir haben jegt für dieſe eigenthümliche aber gefährliche 
Richtung begabter Männerfeelen Eeinen bezeichnenden Ausdrud, wie ihn unfere Vorzeit 
in dem treffenden Worte wipsaelic hatte — und war von jeder erregren weiblichen 
Perfönlichkeit fofort ganz und gar hingeriſſen; zu den oben bereitd gegebenen Beiſpie⸗ 
Ien der Kalb und Berlepfch müflen wir noch ein fehr bezeichnendes nadhtragen: eine 
Sranzöftn, Frau Joſephine v. Sydow, mit welcher R. feit 1798 in einem lebhaften, 
theilweiſe Teidenfchaftlichen, doch mehr brieflichen als perfönlichen Verkehr ſtand. Es 


Ricord (Beter Iwanowitſch). 203 


fand In dieſem Punkte bei ihm eine gewiſſe Anlehnung an die Minnefänger ſtatt, fo 
wenig er auch ſonſt mit denſelben In Unalogie gejegt werden Fann. — Jean Paul’d 
Werfe — in Ihren DOriginalansgaben, wenn fänımtliche Schriften gemeint find, 
jegt nur noch ſehr ſchwer aufzutreiben — find in drei Befammtausgaben erfcyienen: 
1826--1828 in fechzig Bänden Octav, mit einem 1836 ff. erfhienenen Nachtrag von 
fünf Bänden; dann 1840-1842 in dreiundbreißig Bänden, endlih 1860—1862 in 
vierunddreißig Bänden fogenannten Klaffifer-Formated. Außerdem iſt fein Briefiwechfel 
mit Jacobi, mit Heinrih Voß, mit Renata Dtto und endlich mit feinem 
vieljährigen Sreunde Chriftian Otto (diefer legtere Briefwechfel, 1929 ff. herausr 
gegeben, befaßt vier Bände) herausgegeben worden. Seine Biographie enthält das 
ans acht Heften beftebende von Dtto und Förſter 1826 — 1833 verfaßte Wert: 
Wahrheit aus Jean Baul’d Leben; jodann das fünfbändige Werk von feinem Neffen 
R. DO. Spazier: Jean Paul Friedrich Richter. Gin biographifcher Gommentar zu 
feinen Werten, 1833; endlich E. Körfter: Denkwürdigkeiten aus dem Leben von 
Sean Paul Friedrich Michter. Zur Beier feines hundertjährigen Geburtstags. 1863, 
4 Bände. Eine der fürzeften aber treffenpften Eharafterificungen Jean Paul's von Stand- 
punkte Seiner hochſten Verehrer aus finder fi in den Aenßerungen einer Brau v. Bad 
(fänımil. W. 1862, 27, 179—180), und in Beziehung auf fein Berbältnig zum Ehriften- 
thum verweifen wir auf den eingehenden, zwar ſcharfen und nicht alle® dahin Gehoͤrige 
umfaflenden, aber nicht unbilligen Artikel in der Ev. Kirchenzeitung 1863, Nr. 63 ff. 

Richter Ifrael's ſiehe Judenthum Band X., ©. 606, 607. 

Nieord (Beter Iwanowitſch), ausgezeichneter ruſſtiſcher Apmiral und Witglieb 
des Admiralitätörathed, murde zu St. Petersburg im Jahre 1776 geboren und trat 
bereitö im Jahre 1787 in das See⸗Cadettenecorps (damald Schljachetnyj genannt), 
wo er am 1. Mat (a. St.) 1794 zum Midſhiprian befdrdert ward, von welcher Zeit 
an bi zu feinem Tode er beffändig im Dienfte verblieb. Im Jahre 1803 (den 
18. Februar) trat R., zugleih mit Laſarew, Awinow und anderen jungen Sees 
Dffizieren, auf den Wunfch des Kaiſers Alexander, als Freiwilliger in den Dienſt der 
engliſchen Flotte, wo er bis zum 28. September 1805 verblieb. Den 7. Juni 1807 
ging M., damals Lieutenant, auf eine Meife um die Welt und langte den 8. October 
1809 in Kamtichatla an. Vom 22. Mai bis 1. October 1810 ſchiffte er nad 
Sitha, 1811 bis zum 16. October 1813 nad den Kurilifcden Infeln und Japan. 
Bon 1817 bis 12. Mai 1822 war R. Chef des Bebietd von Kamtſchatka, in welcher 
Stellung er zur Belebung des rufflihen Handels in jenen Gewäſſern wefent- 
lich beitrug und verſchiedentlich commercielle Verbindungen zwifchen dem rufftichen 
Reiche einerfeits und den Chineſen und Japaneſen andererfeitd anknüpfte.e Am 
23. Maͤrz 1825 wurde R. zum Capitaͤn des Kronflädter Hafens ernannt, in welcher 
Eigenſchaft ihn Nikolaus I. bei feiner Thronbefleigung beflätigte. Im Jahre 1828 
empfing es eine Miſſion nach den griechifchen Gewäflern und Tief im April dieſes 
Jahres aus Kronftant aus, indem er bis zum Septeuber 1833 eine rujjlihe Escadre 
im Mittelländifchen Meere befehligte, wobei es oft feined ganzen diplomatiichen Ge⸗ 
ſchicks bedurfte, um Nivalitäten mit den Übrigen europäifdhen Seemächten zu vermeiden. 
1833 Tehrte er Dur das Schwarze Meer nad Rußland zurüd. Im Jahre 1835 
(25. Iuni bis 8. October) commandirte R. die Escadre mit den Barbe-Descente- 
Truppen in Danzig, und hatte feine Flagge anfänglih auf dem Schiffe „Imperator ” 
und fpäter auf dem Schiffe „La Berechampenoife*. Ein Jahr fpäter (am 11. April 
1836) wurde er zum Mitglieve des Peteröburger Admiralitaͤtsrathes ernannt, in welcher 
Stellung er Gelegenheit Hatte, eine viel größere Wirkfamfeit ald bisher zu entfalten, 
da es fih damals um die Neuorganifation der Flotte und um zwedmäßigere Geſetze 
in der Verwaltung der Marine handelte, die in den legten Jahren während der Re⸗ 
nierungszeit Kaiſers Alexander I. über Gebühr vernachläfflgt worden war. Im Jahre 
1843 wurde R. zum Admiral befördert, und 1850 zum Borfigenden des gelehrten 
Comités der Marine ernannt. Im legten Jahre feines verdienfivollen und thätigen 
Lebens commandirte er die beiden Diviflonen der Baltiſchen Flotte in Kronfladt. R. 
ſtatb In St. Betersburg den 16. (28.) Februar 1855, zwei Tage vor dem Regierungs⸗ 
anteitt des Kaiſers Alexander II. 


204 Nied. (Stadt.) Niego y Nez (Don Rafark del). 


Nied, Stadt von 3800 Einwohnern in Defterreich ob der Enns, an ber Oberach 
und Breitach, mit einem Schloffe, Wegleithen genannt, einem Redempioriſtenkloſter 
feit 1852,. einem Mineralbade, Lein« und Tuchweberei, war bi 1849 Hauptort des 
Innviertels oder Innkreifes, der feinen Namen von dem ihn von Bayern 
trennenden Inn hatte, früher zu Bayern gehörte und erſt im Tefchener Frieden 1779 
an Deflerreich abgetreten wurde, baber nebfl Salzburg au wohl Neu-Defterreidh 
genannt wurde. Am 8. October 1813 wurbe Hier zwifchen dem öÖfterreichifchen Feld⸗ 
zeugmeifter Geinrih XV. Prinzen von Neuß- Plauen und dem bayerifchen General 
Grafen Wrede ein Vertrag gefchloffen, dem zufolge u. a. Bayern fi vom bein» 
bunde losfagte und feine Armee mit der der Alliitten vereinigte, auch wurden ihm 
feine Beflgungen garantirt. Später erhoben ſich zwiſchen Defterreih und Bayern in 
Hinficht einiger Artikel diefed Vertrages Streitigkeiten. 

Niego y Nudez (Don Hafael del), fpanifcher General und Anführer derjenigen 
Unzufriedenen, welche die Wiederherftellung der Conſtitution tes Jahres 1812 vom 
Könige Ferdinand VII. erzmangen, flammte aus einem alten und berühmten Adele« 
geſchlechte Afturtens und war zu Tuna im Jahre 1786 geboren, Mit feinem älteren 
Bruder, Dom Miguel, welcher den geiſtlichen Stand erwählte und fih im Halbinſel⸗ 
friege durch feine Anhänglichkeit an das Föniglihe Hand außzeichnete, erhielt R. eine 
jorgfältige Erziehung, trat jung in die föniglihe Hausgarde ein und avaneirte in 
diefer bi8 zum Gapitän. Beim Aufftande der Garden zum Sturze Godoy's, des 
Herzogs von Alcudia (f. d. Art.), ein Führer derielben, rettete M. doch in biefer 
Naht, 19. März 1808, in Bemeinfhaft mit dem Prinzen von Afturien dem geflürzten 
Sünftlinge dad Leben vor der Wuth der Menge Nah dem Verzichte Karl’s IV. 
auf die fpanifche Krone zu Gunften Napoleon’s nahm R. Partei für Ferdinand VII., 
führte Anfangs eine von feinem Bruder Miguel gefammelte Schaar Yuerillas, diente 
dann in einem afturifcyen Megimente, wurde aber ſchon im Anfange des Jahres 1810 
in einem Ueberfalle gefangen genommen, nad Frankreich geführt und erfi nad dem 
Frieden von Paris der Freiheit wiedergegeben. Nach längeren Meifen durch Deutſch⸗ 
land und England fehrte R. 1816 in fein Vaterland zurüd, nabın wiederum Dienfle 
und avancirte bis zum Oberſten. Den verfchiedenen Verſuchen Mina's, Balleſteros 
und denen des Empecinado zur Wiederherſtellung der Conſtitution ber Cortes vom 
Jahre 1812 war R. nicht fremd, redete fogar entfchteden ber Ueberwältigung der Re⸗ 
glerung durch Waffengewalt dad Wort, blieb aber doch frei, als D’Donnel (ſ. d. 
Art.) am 8. Juli 1819 die Häupter der Gonftitutionellen plöglich verhaften ließ, und 
trat feitdem an die Spige der Unzufrievdenen. Am 1. Ianuar 1820 pflanzte er an 
der Spige feines Regiments in dem Dorfe lad Cabezas de San-Juan die Fahne ber 
Empdrung auf, ließ feine Soldaten in der Kirche des Ortes die Gonftitution des 
Jahres 1812 befchmören und zog an ihrer Spige nach Cadix, wo das Heer, welches 
unter D’Donnel, Grafen von Abisbal, nach Südamerika gehen follte, verfanimelt war. 
Inzwifchen war jedoch der Oberbifehl dem altersſchwachen General Callefa übergeben 
worden, welcher, ohne alle Energie, die Empörer nicht zu Überwältigen wußte und von 
ihnen gefangen genommen wurde. Nur wenige Truppen, in Summa etwad über 
3000 Bann, ſchloſſen fh R. an, der den Oberbefehl an Duiroga überließ, der fi 
indeß bald von den treuen königlihen Truppen auf ber Infel Leon vor Cadix ein» 
geichloffen befand. Die evolution weiter zu tragen, unternahm R. von bier aus 
mit kaum 500 Mann feinen fühnen Zug über Algeſtras nad Malaga, proclamirte 
überall die Conſtitution und fam glüdli nach Leon zurüd. Als Ferdinand VII, feig 
wie immer, dem Drängen des Ballefteros und des Madrider Böbeld am 8. Mär; 
1820 nachgab und die Bonftitution verfündigte, erhielt R. den Oberbefehl des Heered 
auf Xeon, z0g im September triumphirend in Madrid ein, mußte aber, da Ihm bie 
übrigen Generale den Vorrang nicht laffen wollten, nach einigen Straßentimpfen, in 
denen feine Anhänger den Kürzeren zogen, unter dem DBerdacht des Republifanisnus 
feinen Gegnern weichen und wurde nach Orviedo in Aſturien verbannt, Nach der 
Dalaftrevofution vom 1. März 1821 wurde R. zum Generalcapitän von Aragonien 
ernannt, machte fich jedoch durch fein rohes Auftreten fo verbaßt, daß er biefer Stel- 
lung nad wenigen Monden wieder entfegt wurde. Nach kurzem Aufenthalte in Lerida 


Mich! (Wilhelm Heinrich). | 205 


von der Provinz Afturien zum Mitgliede der Cortes ermählt, bemied er als Praͤſt⸗ 
dent derfelden eine große Mäßigung, Fämpfte beim Aufftande der Garden am 7. Juli 
1822 an der Gpige der Gonflitutionellen und fegte es durch, daß San Miguel, fein 
vertrauter Stabschef, zum Minifter der auöfsärtigen Angelegenheiten ernannt wurde, 
Seinem rachgierigen Hafle dürfte Eliot's Garottirung und die graufame Verfolgung 
der Anilleros und der Königlichen wohl am meiften zuzufchreiben fein. Gegen die 
Einmifyung des Auslandes und Frankreichs erklärte fi R. in den Bortes aufs Ent⸗ 
fchiebenfte und flimmte für Galiano's Manifeft und die Abführung des erkrankten Kd- 
nigs nad Seville. Unter Balleſteros zweiter Befehlshaber der fpanifchen Armee 
gegen die Franzoſen, trat er der Eapitulation jene Generals nah dem unglüdlichen 
Sefechte bei Compillo de Arenas nicht bei, fondern begab fih zur See nad Malaga, 
um Die wenigen Truppen dort zu übernehmen, die Zayas nach dem Falle des Tro⸗ 
eadero bier gefammelt Hatte. Hier hoffte R. auch die Reſte der Truppen des Bal- 
kefleros von der Capitulation abwendig zu machen, ließ diefen General, ber feine 
Soldaten auf den Befhworenen Vertrag berief, verhaften, mußte aber, als Jener von 
den Truppen: befreit wurde, von Priega fliehen, von franzdflicher Reiterei unter Ges 
neral Bonnemalfon verfolgt. Im Gefechte bei Jodar wurden feine wenigen Sol⸗ 
daten audeinandergefprengt, R. ſelbſt warf flch in die rauhen Berge der Sierra Mo- 
rena, um zu Mina nady Gatalonien zu gelangen, ward aber von den Bauern, bei 
denen er fi durch feine Plünderungen verhaßt gemacht hatte, gefangen genommen 
und den Branzofen übergeben, die ibn auf den Befehl des Herzogs von Angouleme 
am 21. September an die fpaniichen Behörben auslieferten. Es ließ ſich ermarten, 
daß der. Mann, welcher mit fhonungslofer Härte gegen feine Gegner gewüthet, auf 
Gnade Leinen Anfpru machen durfte; der früher allzuhoch gefeierte A. ward demnach 
Des Hochverraths angeklagt, fchuldig befunden und am 7. November 1823 unter dem 
Wuthgeheul der ihn auf alle Art verhöhnenden Menge, vor deren Mißhandlungen ihn 
eine ſtarke Bedeckung nicht einmal fchügen Eonnte, am Galgen hingerichtet. Nachdem 
die Erbitterung der Parteien ſich gelegt, ließ die KRönigin-Megentin Chriſtine R.'s 
Broceh wieder aufnehmen, 1835, und da gar nichts Ehrenrühriged oder Berräthes 
rifches bewiefen werden fonnte, fein Andenken in ehrenvoller Weiſe wiederherftellen. 
Sein Bruder, Dom Miguel R. 9 Nufiez, gab 1824 in Xondon „Memoirs of the 
tife of Rafael R. and his family* heraus, welche fpäter durch die Mittheilung des 
revibirten Proceſſes vermehrt wurden. 

Riehl (Wilhelm Heinrich), Profeffor der Eultur- und Kunſtgeſchichte an ber 
Untverfität in München, einer der bedeutendfien Publitiſten auf dieſem Gebiete, wurde 
zu Biebrihd am Rhein im Herzogthum Naffau am 6. Mai 1823 geboren. Gein 
Vater, berzoglicher Schloßverwalter, ein eifriger Muflker und funftliebender Mann, 
wedte frühe ded Knaben Fünftleriiche Neigungen, die er neben eifrigen Studien der 
Kirchengefchichte und proteftantifchen Theologie auf Den Uiniverfitäten Marburg, Tübingen, 
Bonn und Gießen tüchtig ausbildete und wozu fich durch Häufige kleine Reiſen eine 
Wanderluft gefellte, welche in ihm den feinen Beobachtungsgeift erzeugte, der und im 
feinen Schriften fo febr anzieht.- Die Theologie gab R. fpäter auf, ging nochmals 
nah Gießen, widmete fih bier ausfchließlich culture und Eunftgefhichtlihen Studien 
und babilitirte fi 1843 daſelbſt als Privatdocent. Mangel an den notrhwendigen 
Mitteln Hinderten ihn jedoch, ſich ausſchließlich dem afademifchen Lehrfache hinzugeben, 
und fo wurde R. von 1845 bi8 1847 Mitredacteur der Frankfurter Oberpoflamtd- 
Zeitung, trat dann in die Redaction der Karlöruher Zeitung über und gab zu gleicher 
Zeit in Berbindung mit dem SHofgerichtödirector Chrift den „Badiſchen Landtags⸗ 
boten” Heraus. 1848 in fein Vaterland zurüdberufen, um die Beitung der neu ges 
gründeten Naffautfchen Zeitung zu übernehmen, blieb er in diefer Stellung bis Neu⸗ 
jahre 1851, wo er zur Augsburger Allgemeinen Zeitung übertrat und bier bis 1854 
an dem wiſſenſchaftlichen und fünftlerifchen Theile derfelben einen hervorragenden An⸗ 
theit nahm. Im Spätherbft 1854 erfolgte durch König Warimilian von Bayern, 
weichen R.'s „Bürgerliche Geſellſchaft“, erfchienen im Herbſt 1851, ganz für den 
Berfafler eingenommen hatte, deffen Berufung als Profeffor der Cultur⸗ und Kunſt⸗ 
geſchichte an die Münchener Hochſchule, an welcher N. bis heutigen Tages in der 


206 Ä Riemer (Friedrich Wilhelm). 


früher ſchon erſtrebten akademiſchen Lehrthätigkeit fleißig und eifrig wirkt, und ſtaats⸗ 
wiſſenſchaftliche und eulturgeſchichtliche Colleglen mit andauerndem Erfolge lieſt. 
Während feiner langjährigen publiciſtiſch⸗ politiſchen Thaͤtigkeit hat ſich R., ohne je⸗ 
mals einer Partei entſchieden verbunden geweſen zu ſein, ſtets als ein feſter Charakter 
von durchaus conſervativer Grundanſchauung bewieſen, der namentlich vor dem poli⸗ 
tiſchen Dilettantismus zurückſchreckte und abmahnte, welcher mit einigen allgemeinen 
Ideen die Welt reformiren zu können vermeint und im Namen der Freiheit einen 
aͤrgeren Meinungszwang ausübt, wie der ausgeprägteſte Despotipmus. „Das beſte 
Gegengift gegen dieſe abſtracte Freiheit der Schule glaubte R. in der individuellen 
Freiheit des vielgeſtaltigen Volkslebens zu finden und dieſer leitende Gedanke führte 
ihn zu einer Menge von Einzelſtudien der beſtehenden Volkdzuſtände“, woraus all 
mählich feine „Naturgefchichte des Volks“, feine „Bürgerliche Geſellſchaft“ (1851), 
„Land und Leute” (1853) und die „Kamille“ (1855) bervorgewadfen find. Sie 
erlebten biäher fünf ſtarke Auflagen und wurden in verfchiedene fremde Sprachen übers 
feßt. Berner erfchienen in Sommer 1856 die „Eulturgefchichtlichen Novellen” und 
1859 die „Eulturfudien aus drei Jahrhunderten* (Stuttgart, 2 Bde.), das erftere 
in zwei, das letztere ſchon in drei Auflagen, dieſes enthaltend eine Sammlung ver⸗ 
fhiedenartiger Zunft» und culturgefchichtlicher Effays, die, in rinem Zeitraum von 
zehn Jahren entflanden, zugleich ein Bild der formellen Literarifchen Yortbildung des 
Berfaflers geben. „Die Pfälzer“, ein rheinifches Volksbild, Stuttgart 1857, (drei 
Auflagen), urfprünglihd nur für den König von Bayern als Manuſeript verfaßt 
und auf defien Verlangen unverändert abgedrudt, enthalt ethnographiſche Special⸗ 
fludien von wiſſenſchaftlicher Tiefe und in Eöftlich friſcher Darflelung. Seit 1859 
ſteht R. an der Spitze eine von ihm angeregten Unternehmens, unter dem Titel 
„Bavaria“ eine Landes» und Volkskunde Bayerns herauszugeben, von weldyer bereitö 
zmei Bände erfchienen. Neben diefen akademiſchen Fachfludien gingen immer Kunſt⸗ 
fludien nebenher, und In Zußmwanderungen und in der Muflf fuchte R. ſtets neue 
Friſche und Aufmunterung zur Arbeit. Sein mufllalifcher Eifer raftete nie und er 
bat wohl die Hälfte feiner Arbeitszeit immerfort der Muſik in Praxis und Theorie 
geroldinet. Für die Meorganifation des Wiesbadener Hoftheaters war R. in ben 
Jahren 1848—51 als Mitglied der vom Herzog hierzu ernannten Commiſſion thätig 
und wandte auch fpäter der Dper noch fein dramatifches Wirken zu. Geine „Haus 
mufif*, erſchienen Weihnachten 1855, eine Sammlung für das eigene Haus compo⸗ 
nirter Lieder, verdanktte ebenfalls jenen Jahren in Wiesbaden ihr Entfleben, als er 
fih mit einer für die Bühne ausgebildeten Sängerin, Zräulein von Knoll aus Stutt« 
gart, verbeirathet Hatte. Das Jahr 1852 brachte den erfien Band der ‚Muſikaliſchen 
Gharafterköpfe* (der zweite Band erfchien 1860), ein kunſtgeſchichtliches Skizzenbuch, 
welches durch die Tendenz zujammengehalten ift, die Befchichte der Muſik in ihrer 
Verbindung mit der allgemeinen Gulturgefchichte zu zeigen. Dieſes vortrefflihe Wert 
giebt im erflen Bande In jcharfen Skizzen die Gharafterifiil der bebeutendflen aber 
jegt längfl vergeflenen Tondichter in der zweiten Haͤlfte des achtzehnten und im An⸗ 
fang des 19. Jahrhunderts, im zweiten aber eine zufammenhängende Gedichte der 
neuen somantifchen Oper und ihrer Meifter Noifini, Bellini, Boieldieu, Auber u. f. w. 
Inhalt und Form zeigen R. hier auf der Höhe der Leiſtung, und in Ihrer ſchön⸗ 
geordneten Einheit, daß der Berfafler auch in feinen kunſtgeſchichtlichen Probucten 
das Skiszenhafte und Unausgeführte, ſo mie das Sententiöfe und Banierirte glüdlich 
überwunden bat, die feinen früheren Geiſtesproducten oft mehr, ald dem Eindrude 
gut, zu eigen waren. Auch in feinen kunſtgeſchichtlichen Arbeiten übt R. eine 
icharfe aber doch fireng objective Kritik, die ſich ebenfalls fernhält von jedem Partei⸗ 
Standpunkte. 

Niemer (Friedrich Wilhelm), ein um die alte und neue Literatur verdienter 
Gelehrter, geboren den 19. April 1774 zu Glatz, flubirte Theologie und Philologie, 
wurde 1801 Hauslehrer bei Wilhelm von Humboldt, den er nach Italien begleitete, 
trat zu Ende des Jahres 1802 als Erzieher von Goethe's Sohne in des Dichters 
Haus und wurde diefem bei vielen Arbeiten und Studien ein anhänglicher Gehülfe und 
haufig fein Serretär. Im Jahre 1812 erhielt er eine Anftellung am Bymnaflum und 


Rienzi (Cola di). 207 


bie Stelle als zweiter Bibliothekar zu Weimar, nahm aber 1820 feine Entlaffung. 
Im Jahre 1828 zum Oberbibliothekar ernannt, bekleidete er diefe Stelle faſt bis an 
feinen Tod, 19. December 1845. Außer feinem „Griechiſch⸗deutſchen Wörterbuche* 
(Iena 1802—4, 2 Bde., 4. Ausg. 1824) fchrieb er: „Blumen und Blätter" unter 
dem Namen Sylvio Romano (Leipz. 1816—19), „Gebichte* (Iena 1826, 2 Bde.), 
„das Leben ein Traum” nach Galderon und @infledel, den dritten Theil zu Heinrich 
Meyers Geſchichte der bildenden Künfte bei den Griechen und Roͤmern“, „Mitthei⸗ 
fungen über Goethe", aus mündlihen und fehriftlihden Quellen (Berlin 1841, 
2 Bde.), redigirte mit Edesmann Goethes Werke (1 Bd., 1836) und gab den 
„Briefmechfel zwiſchen Goethe und Zelter” (6 Bde., Berlin 1833 ff.) heraus. Zur 
legt bereitete ex noch zum Drude. vor: „Briefe von und an Goethe” (Leipz. 1846). 
Nienzi (Cola di), mit feinem Familiennamen eigentlih Nicolas Gabrini ges 
heißen, ein Roͤmer aus plebefifhen Stande, in der Gefchichte bekannt durch feine 
Berfuche, die altrepublitaniiche Verfaſſung wiederum in feiner Vaterſtadt einzuführen, 
geboren um das Jahr 1315, verlebte feine Jugend zu einer Zeit, in welcher während 
der Abweſenheit der Papfte In Avignon die Gewaltherrfhaft des Hohen Adels im 
Rom ihren Höhepunkt erreicht Hatte, und Der Kampf der ariftofratifchen DOligarchen, 
namentlidh der Urfini, Savelli und Golonna, gegeneinander die Stadt mit Mord, 
Raub und Blünderung füllte, dad Leben der Bürger aber und ihr Eigentum in 
fortwährende Gefahr brachte. Mit einem lebhaften Geifte begabt und durch daB 
Studium des Alterthums und der Geſchichte feiner Vaterſtadt angeregt, entfland nun 
in R. die Idee, feiner Baterfladt ein neuer Gracchus zu werben und durch Erwedung 
eines patriotiſchen Gemeingeiſtes unter dem niederen Volke fi der drüdenden Herr⸗ 
ſchaft jener Oligarchen zu entziehen und fie ſelbſt aus der Stadt zu vertreiben. Zuerft 
als feuriger Redner, dann ald öffentlicher Notar, ſuchte R. durch die uneigennügigfte 
Rechtſchaffenheit fi einen Anhang zu verfchaffen, aber obwohl ihm dies bald über 
Erwarten gelang, mußte er doch einfehen, daß es Ihm ohne auswärtige Hälfe nicht 
gelingen würde, den mächtigen Adel zu demüthigen. R. veranlaßte e6 demnächſt, daß 
eine Sefandtfchaft des Volkes un den Papſt nach Avignon gefhidt würde, bie ihn 
auffordern folle, feine Reſidenz wieder in Mom zu nehmen, um durch feine Gegenwart 
den Adel im Zaume zu halten. Klemens Vi. verſprach der Gefandtichaft, deren 
Spreder A. war, feine baldige Rückkehr, fo wie auch, daß er durch feinen Einfluß, 
oder durch Die Macht der Gewalt, Krieg und Interbict, dem Zuflande in Mom ein 
Ende machen wolle; da aber ber Bapit Leine feiner Verfprechungen erfüllte, ſah fidy 
R. veranlaft, zur Selbflhälfe zu greifen. Nach den forgfamften Vorbereitungen bes 
nußte R. zur Autführung feines Unternehmens einen Zeitpunkt, der durch die gegen- 
feitige Erſchöpfung der Adeld-Parteiungen ihm günftig erfchien, verfammelte das Volf 
am 20. Mai 1347 auf dem Forum Romanum, erfüllte e8 durch eine begeifterte Ans 
ſprache mit Kampfesmüth und vertrieb die Gefolgfchaften der adligen Dligarchen, 
deren fefle Wohnhäufer der Zerflörung Preis gegeben wurden, aus der Stadt, Durch 
Ucclamation zum Capo di Popolo unter dem altrömifchen Titel eines „Tribunus“ ers 
wählt, ordnete R. mit Maͤßigung und Welsheit die dffentlihen Berhältniffe; der 
Papſt fprach feine Genehmigung des Gefchehenen aus, und Spanien wie Florenz und 
die Mepublif Senua fiherten dem Tribunen ihre Unterflüßung zu. Allein dad Ge⸗ 
lingen machte R. bald übermüthig, und bald erkannte dad Volk, dag ed nur feinen 
Tyrannen gewechſelt Habe. Dies veranlaßte im Anfange des Zahres 1348 eine Ge⸗ 
gearenolution des Adeld, welcher R., vom Volke verlaffen, weichen mußte: er floh 
nach Deutfchland, ſuchte Schu und Unterflügung bei Kaifer Karl IV., den er ſich 
Mühe gab, zu einem Nömerzuge zu veranlafien, wurde jedoch von diefem an Vapſt 
Glemens VL ausgeliefert, der ihn wie einen Staatöverbrecdher behandelte. Sein Nach⸗ 
folger Innocenz VI. gab ihm die Freiheit wieder, behielt ihn aber bei fih und ſen⸗ 
dete ihn 1354 mit Geld und Truppen nah Rom, um den Adel, der mächtiger und 
übermüthiger wie fe dort verfuhr, von Neuem zu demüthigen. Nach einer mehrtägi- 
gen Straßenfchlacht, in welcher daB Bolf für 9. Partei nahm, gelang auch diesmal 
das Unternehmen. MR. leitete von Neuem unter der Autorität des Papfles und unter 
dem Mamen eines „romiſchen Senators“ vie öffentlichen Angelegenheiten. Da er 


* 


208 Niepenhanfen (Ernſt Ludwig). Niefengebirge. 


aber auch jetzt wieder durch Stolz und Uebermuth ſich bald die Gemüther entfremdete 
und durch feine „fenatorifche Cohorte“ ein neues Gewaltregiment einzuführen fuchte, 
entfland auf Anregung und Unterflügung des Adels eine neue Gontre-Mevolution, 
in welcher R. nach tapferer Gegenwehr zur Flucht gezwungen wurde. In Bettler- 
tracht fuchte er nach Trandtevere zu entkommen, wurde aber erkannt, von einem Dienſt⸗ 
mann des Hauſes Colonna nicdergehauen und fein Leichnam von dem wüthenden 
Bolfe durch die Straßen der Stadt gefchleft und endlih an den Balgen gebängt, 
Gebruar 1355, — Bergl. darüber Gregorovius' „Geſchichte Noms im Mittelalter”, 
und Papencordt „Cola di Rienzi und feine Zeit“, Hamburg und Gotha 1841. 

Niepenhaufen (Ernft Ludwig) lieferte die Stiche nach Hogarth's GSittenfchil- 
derungen für Lichtenberg’8 Erklärungen; er flarb den 28. Januar 1840 zu Göttingen, 
Seine beiden Söhne, Franz und Johannes R., zwei begabte Maler und Kupfer- 
ſtecher, Die ungertrennlih mit einander lebten und arbeiteten, bildeten fich zu Kaflel 
und Dresden, traten zur Fatholifchen Kirche über und gingen 1807 in Begleitung 
Tied’8 nad Italien, wo Branz, der 1786 geboten war, den 3. Januar 1831 und 
Johannes, der 1788 zu Güttingen geboren war, Ende September 1859 farb. Ge⸗ 
meinfchaftlich arbeiteten fle das Delgemälde „Heinrich der Löwe, der Barbarofja vor 
dem römifchen Volke ſchützt“, „Leben und Tod der heiligen Genoveya” (in 14 radirten 
Blättern, Frankfurt 1806), die „Peintures de Pulygnote dans la Lesche de Delphe etc.* 
(in 16 Blättern, Rom 1826) und „Gefchichte der Malerei in Italien” (1820); von 
Johannes haben wir außerdem „Vita di Rafaelle da Urbino — 12 Umrifje zum Leben 
Rafael's von Urb.“ (1835 und 1838); außerben lieferte er mehrere große Gemälde: 
„Rafael's Top“ (1836), „Madonna mit dem Kinde und dem Kleinen Johannes” ıc. 

Ried (Ferdinand) f. Muft. 

Rieſe (auch Ries oder Rieß, Adam) war ein zu feiner Zeit berühmter und 
noch heute fprüchmwörtli genannter Mechenlehrer zu Annaberg in Sachfen, wo er 
1492 geboren ward und 1559 ſtarb. Sein Geburtsjahr wird gewöhnlih 1489 an- 
gegeben; doc iſt Died unrichtig, da in einer Original» Ausgube feines Hauptwerkes, 
welches den Titel führt: „Rechenung nad Der Lenge auf den Linifen und 
Feder“, fein in Holz gefchnittenes Portrait mit der Umfchrift verfehen ifl: „Anno 
1550 Adaın Ries seins alters im LVIII.“ Die „Rechnung nach der Länge auf den 
Linien“, welche Anfänger erſt erlernen mußten, che fie zum Mechnen mit der Feder, 
d. 5. mit gefchriebenen Ziffern übergeben durften, befand in dem Abzählen und Zu⸗ 
zählen von Münzen, Knöpfen oder Perlen auf einem durch parallele Linien in Bäder 
getheilten Rechenbrette; ein Berfahren, welches man noch jebt in Rußland, gang 
Aſien und namentlih in China allgemein im Gebrauche findet. Außer dieſem eigent- 
lichen Rechenbuche giebt es noch von ihm, jo wie von feinen Söhnen (Abraham, 
Ifſaac und Jacob) audgeredhnete Tabellen, in denen man die Mefultate auffchlagen 
fann, für beliebige, im Handel und Wandel vorkommende Falle. 3. B. Wenn ber 
Gentner n Bulden Eoftet, wie viel foften dann m Pfunde? oder ähnliche Fragen für 
Längenmaße, Hohlmaße u. ſ. w. Ein ſolches Buch iſt: „Ein gerechent Büdlein 
auff den Schöffel, Eimer vndt Pfundtgewicht“ von Adam R., 1536, 
und das ſehr verbreitet geweſene: „Gin newes nugbar gerechnetes Rechen⸗ 
buch auff allerley Handtirung“, 1580, von Iſaac M., welcher in Leipzig als 
„Viſterer“, d. i. Aichbeamter, angeſtellt war. Bon dieſen Tabellen rührt wahrſcheinlich 
das Sprüchwort: „Richtig nah Adam Rieſe!“ her, indem man ſich auf deren An⸗ 
gaben wie auf eine Autorität verließ, wenn einer oder ber andere der Handelnden 
nicht felber rechnen konnte. Das eigentliche Rechenbuch von R. gebt eben fo weit wie 
die modernen Rechenbücher, nur ift das DBerfahren im Einzelnen fchmwerfälliger. 

Rieſengebirge. Das R, der höchſte Theil der ganzen Sudetenkette (f. d.), 
die natürliche Wafferfcheide für Zuflüffe der Elbe und der Oder, deren Thäler zum 
Theil tief eingefchnitten find, trennt Nieberichleften von Böhmen. Der Theil, weldyer 
indbefondere „Riejengebirge” genannt wird, beginnt bei der Tafelfichte unb endet 
beim Landshuter Gebirge. Sein Kamm firedt fi in der Richtung aus NW. 
nah SO. beinahe in der Berlängerung ber Harzlinie, feine Baſis Liegt noͤrdlich etwa 
1500° Hoch und es erhebt fich in feinen höchſten Gipfeln 4—5000' über den Meeres⸗ 


Niefengebirge. 209 


fpiegel, z. B. ale Schneefoppe 4931, ale Hohes Rad 4639, als Sturm⸗ 
haube 4488 und ale Heifträger 4171’. Diefe Gipfel find folglich die höchſten 
zwiſchen der obern Donau und ben Gebirgen Scandinaviens, fo wie zwijchen den 
Karpaten.und der Nordfe. Die Form der Dberfläce iſt weit bergiger, als die 
des Erzgebirges, auch tritt Bier Bein entfchiedener Stellabbang In Gegenſatz zu einem 
flacheren, was mit dem ziemlich fymmetrifchen Innern Bau völlig in Einklang fleht. 
Diefer ift ein vorherrſchend concentriſcher. Das Centrum bildet eine mächtige Gra⸗ 
nitmaffe von beinahe achtförmiger Geſtalt, d. 5. es find zwei faft ellipfenförmige 
Granitgebiete der Art mit einander verwachfen, daß die beide verbindende Are ungefähr 
aus WEB. nah OND. gerichtet If. Das iſt merkwürdig genug, da biefe Midhtung 


. bie vorherrſchende des Gebirges unter einem Winfel von etwa 45 Gr. durchſchneidet. 


Die achtförmige centrale Granitmaffe des R.'s erſtreckt fidy der Länge nach von Rei⸗ 
ehenberg und Kragau bid Kupferberg und Schmiebeberg, und ihre flärkfte Einſchnuͤ⸗ 
rung zeigt fih in der Gegend dftli neben dem Iſerthale. Zunaͤchſt um ben Granit» 
Tern finden ſich Gneis und Glimmerfchiefer, welch letzterer dann welter nach außen in 
Thonfchiefer übergeht, der zum Theil Schon der Graumwadenformation angehört. An 
den fihmalen Enden des Granitgebietes fehlt fogar die Zwiſchenlage von Gneis und 
Glimmerfchiefer ganz, der Granit grenzt bier unmittelbar an den Thonfchiefer. Diefer 
Bau zeigt offenbar eine gewiſſe Analogie mit dem des Harzes, in fofern man etwa 
annehmen fann, daß Hier von der urfprünglichen Oberfläche mehr zerftört ift als dort. 
Wäre am Harz die fefte Erdfrufte einige 1000 Fuß tiefer aufgefchloflen, d. h. fo viel 
mehr don der jegigen Oberfläche zerftört, fo würden fehr mwahrfcheinlih auch dort die 
beiden Granitgebiete des Broden und des Ramberges ſich mit einander verwachſen zei⸗ 
gen, und flatt der Grauwacke und des Hornfelfes würden wir eine breite Zone fry- 
ſtalliniſcher Schiefer ringd um den Granit herum erbliden. Sicher giebt e8 Gebirgs⸗ 
Fetten, welche ſich weſentlich auch dadurch von einander unterfcheiden, daß fie unter 
ungleichen Umfländen gebildet worden find, dag Erruptivgefteine in ihnen bis zur 
Oberfläche empordrangen oder nicht, oder daß fie mit befonderen Formen oder mit 
befonderes Energie bervordrangen, aber eine große Zahl anderer Gebirgsketten zeigt 
fi nur deshalb fo weſentlich verfchieden in ihrer Außern geognoflifchen Zufammen- 
feßung, daß ihre urfprüngliche Oberfläche in fehr ungleihem Grade zerflört if, alſo 
fehr ungleiche Tiefen ihres urſprünglichen Baues der Beobachtung dargelegt find; fo 
ift es wahrfcheinlich beim Harz und dem M., die noch dazu in einer und derfelben 
Erhebungslinie, der fudetifch-herchnifchen, liegen. Bon der Graumadenbildung auf« 
wärtd und geographifch genommen nad außen, zeigen fi nun aber die Anlage- 
rungen an den Abhängen und am Fuß des Gebirges ungleich an feinen verfchiedenen 
Seiten. Es Laßt fih daraus fchliefen, daß daſſelbe während der Ablagerungen 
Diefer neueren Gebilde fhon in gewiffem Grade eine Meeresfcheide bildete, alfo 
ſchon ald Gebirge vorhanden mar, wenn es auch fpäter noch gehoben wurde. Strah⸗ 
Ienförmig laufen auf der Südfelte des Gebirge von zwei großen Knoten — ver= 
bunden Durch einen ununterbrocdhenen, in der Mitte zwifchen beiden etwas eingefenften 
breiten Kamm — öfllih von dem breiten Stod, auf dem fi die Schneefoppe und 
der Brunnenberg mit der Hochfläche der Weißen Wiefe erheben, weſtlich von dem 
ganz ähnlichen Stod, dem Hohen Rabe und der Kefielloppe mit der Elbwieſe zwifchen 
ihnen, die hoͤchſten Gebirgsrüden aus — eine Negelmäßigkeit in der Bildung auf 
diefer Seite, welcher eine eben fo große auf der nördlichen entfpricht, wenn gleich 
bier in ganz anderen Formen: die Norbfeite fällt ohne erhebliche Ausläufer und ohne 
Parallellette in einem Hauptwalle nach dem breiten Schmiedeberg- Hirfchberger Thale 
ab. Da, mo die beiden eben genannten Gebirgsfnoten ſich befinden, find auf der 
Nordfeite die feilften Abfälle und an jedem derfelben eigenthümliche Aushöhlungen 
des Bebirges mit Wafferanfammlungen: am öftlihen Knoten die (fogenannten) 
Teiche, am weftliden die Schneegruben; beides gleichartige Erfeheinungen von 
gleicher Entflehungsart. Bon der ſchleſiſchen Seite gewährt das M. eine höchſt 
malerifche Totalanficht, deren Formen nur im @inzelnen wild und grotesk erfcheinen; 
von der böhmiſchen Seite ift die Totalanficht weniger malerifch, doch giebt es ein⸗ 
zelne somantifchere, ja, idylliſche Partien. Keine gewaltigen Ströme flürzen bier 


Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch.⸗Lex. XVO, 14 


210 Niefengebirge. 


von den Gipfeln herab, Feine Seen, die Augen der Landfchaft, verfehönern die Ge⸗ 
gend, wie dies in der Schweiz und in Tirol der Fall ift, nur die beiden Teiche 
find zu erwähnen, koͤnnen jedoch auf die Benennung von Seen feinen Anfprudy machen. 
Aber Zaufende von Bergwäſſern, filberne Quellen. brechen aus Höhen und 
Schludten, aus Felſen und Waldeögründen hervor und durchrauſchen die Thäler und 
Hochebenen. Bon den Flüſſen, die bier in bafcheidener Kindheit auftreten, ergießen 
fih die Elbe, Ifer, Aupe nah Süden, der Zaden und der Bober rıh Nor 
den. Das Granitgebiet bildet keinesweges überall den höchften Kamm des Gebirges, 
es verbreitet ſich vielmehr fchräg über denfelben hinweg, bei Reichenberg wie bei 
Hirfchberg ganz zum Buße berabfinkend. Die höchſten Kuppen des Kammed gehören . 
nit dem Granit an, beftehen vielmehr aus Blimmerfchiefer, der wallartig durch den 
Sranit erhoben zu fein fcheint, obwohl übrigens die Gebirgserhebung nicht füglich 
dem Auffteigen des ®ranitd zugefchrieben werden kann, da weder Richtung noch Form 
bereinflimmen, Der Granit ift, wo er zum Gebirge auffleigt, größtentheild mit 
Wald oder Gebirgäweiden bedeckt; über dem Niveau von 4000’ herrſcht auf 
ihm wie auf den Fryflallinifchen Schiefern gänzlich die Region des Knieholzes (der 
Krummpolzkiefer) und der Gebirgsweide, wo nicht mächtige Moorſtrecken dieſe 
unterbrechen. Eine alpenartige Viehwirthſchaft Hat fi auf diefen Höhen aus⸗ 
gebildet, den Sennhütten entjprechen die fogenannten „Bauden“, die ebenfalld nur 
im Sommer bewohnt werden. Seine Nieberungen find felten frei von einer Diluvial⸗ 
dede, die den Feldbau begünſtigt. An Erzen ift der Granit arm, Eifenfleingänge 
find Hier beinahe die einzigen ermähnendwertben. Außer dem Wald und der Felde 
eultur in den Nieberungen find darum die Bewohner des Granitgebietes vorzugs⸗ 
weiſe auf jene Hausinduftrie Hingemiefen, Die fich feit Jahrhunderten in den Gebirgs- 
thälern feſtgeſezt bat, bier vielfach unmädhtig anfämpfend gegen großartige Fabrik⸗ 
Anlagen, in denen man die Menfchenhand mehr und mehr durch Fünftfiche Mafchinen 
Herſetzt. Diefen Ieptern bieten die zahlreichen Gebirgsébaͤche mit ihrem ſtarken Gefaͤll und die 
Nahbarihaft der Braunfohlenlager willlommene Stüßen, und die zu zahlreiche 
Bevölkerung wird durch das Zufanımentreffen aller diefer Umftände bei fletem Wachen 
der Induflrie dennoch auf ein Minimum des Verdienſtes herabgedrüdt. Die wenigen 
mineralifhen Heilquellen, welde den kryſtalliniſchen Befleinen des R., 
z. B. bei Warmbrunn und Flindberg, entfpringen, find nur von geringem Ein⸗ 
flug auf die Mafle der Bewohner. Die Bevdlkerung ift Im Allgemeinen eine arme 
zu nennen. Die fruflallinifchen Schiefer und die Braumadenbildungen enthalten ziem- 
lich Häufig Einlagerungen von Kalkſtein, welde vielfach benugt werden. Bei 
Kupferberg gehen diefelben in Hornblendefchiefer und Ehloritfchtefer über und werden 
von Tupfererzführenden Gängen burdhfegt, welche zu nicht unbeträdhtlichem 
Bergbau Beranlaffung negeben haben. Außer diefen Erzgängen find im Gebiet des 
N. nur einige Eifenerzlagerftätten nennenswerth. Das Rieſengebirge iſt von 
keiner Hauptverkehrsſtraße durchfchnitten, bei feiner geringen Laͤngenausdehnung 
war fein Bebürfnig dazu vorhanden, der große Verkehr Eonnte es leicht umgeben; 
es kam mehr darauf an, feine einzelnen Theile untereinander und mit den naächſten 
Verkehrsorten zu verbinden, welche alle fchon außerhalb des Bebirgegebieteß Tiegen. 
Der wichtigfte unter ihnen if offenbar Breslau. Nördlich von dem vorberrfchend be⸗ 
waldeten Kamm berricht wie im ſchleſiſchen Beden die Uebergangsſtufe aus der Fel⸗ 
berwirtäfchaft in die Bruchtfelderwirtäfchaft vor, füdlih, wie in ganz Bahnen, die 
Felderwirthſchaft. Die Bevolkerungs zahl ift auf der nördlichen preußifchen Seite 
für eine Quadratmeile 3600, auf der ſüdlichen böhmiſchen fogar 5900. Beides offen- 
bar zu viel für die natürliche Broductionsfähigkeit der Gegend, wenn auch noch lange 
nicht fo viel al im Erzgebirge. Der eigentliche hohe Gebirgskamm if natürlich viel 
weniger bevolkert. Orte fehlen bier auf bedeutenden Streden ganz, wie fle denn 
im R. überhaupt faſt nur in den Thälern, nicht mie im Erzgebirge au auf den 
Platealır gefunden werben, es ift das eine ganz natürliche Folge des mehr gebirgigen 
Charakters; Städte finden fih in dem eigentlichen hohen Bebirgögebiete gar nicht, 
fie liegen zwiſchen den niedrigen Borbergen zerftreut, ohne einen entſchiedenen Städte- 
franz zu bilden wie am Harz und Thüringer Wald, wozu bier jede geologiiche Ver⸗ 


Nieher (Gabriel). Nietberg. 21l 


anlafiung fehlt. Das R. (Montes gigantei, Montes Rhipaei, fonft Asciburgius Mens, 
Vandalici Montes, czechifch Krkonoffy) war wie das Lauſttzer Bergland in alter Zeit 
rings von Slawen umwohnt, die aber nie weit in baflelbe eindrangen. Mit den 
Sudeten vereint, bilbet e8 frühzeitig die Grenze zwifchen Böhmen und Schleften. 
Diefe ift es geblieben unabhängig von dem Wechfel der Herrfchaft zu feinen bei⸗ 
den Seiten, 

Rießer (Babriel), einer der eifrigften jüdiſchen Vorkaͤmpfer für die Emancipation 
ihres Volks. Er ift den 3. April 1806 zu Hamburg geboren, fludirte in Heidelberg 
und Kiel die Mechte und widmete fich, da ihm ald Juden die Ausübung der Abvocaten« 
praris in Hamburg unterfagt war, Anfangs der fhriftfiellerifchen Vertheidigung feiner 
Stammgenoffen. Ueber feine erfle Schrift und die Ermiderung, die er einer Gegen- 
fchrift des Profeffior Paulus (f. d. Art.) entgegenfegte, fo wie über das leiden« 
ſchaftliche Kreifchen, mit welchem er in diefen Schriften auftritt und als deſſen füdiſcher 
Virtuos er überhaupt gelten Kann, ift bereitö in dem Artikel Judenthum in der 
Fremde (Band X, ©. 662) ausführlich gehandelt worden. Er iſt weder über bie 
Art des Vortrags, welche dieſe beiden erften Schriften dyarekterifirt, noch über bie 
Anfhauungen berfelben fpäter binausgefommen. 1832 erſchien zu Altenburg feine 
Schrift: „Börne und die Juden.” Um diefelbe Zeit begann er die Zeitfchrift: „Der 
Jude, periodiſche Blätter für Religtond- und Gewiffendfreiheit," und veröffentlichte 
aus berielben den Separatabdrud: „Kritifche Beleuchtung der in den Jahren 1831 
und 1832 in Deutſchland vorgeflommenen fländifchen Verhandlungen über die Eman⸗ 
eipation Her Juden" (Altona 1833). Als die Leipziger Zeitung im Jahr 1833 einen 
Aufſatz üben den Entwurf zu einer Juden» Ordnung brachte, über den dem Gerüchte 
nach die preußifche Megierung zu jener Zeit berathen follte, trat MR: gleichfall® gegen 
diefen Entwurf auf und verwidelte ſich bei diefer Belegenheit mit dem Geheimenrath 
Stredfuß in eine literariſche Fehde. Noch im Jahr 1842 gab er zu Hamburg bie 
Schrift heraus: „Beforgniffe und Hoffnungen für die künftige Stellung der Juden In 
Preußen.” 1836 verließ er Hamburg, begab ſich nach Bockenheim bei Frankfurt a. M. 
und machte Berfuche, ſich in Kurheſſen beimifch zu machen; da ihn das nicht gelang, 
fehrte er nach Humburg zurüd, defien Senat ihn als dffentlihen Notar zulieh. 1848 
von Lauenburg als Abgeordneter zum PBranffurter Parlament gewählt, war er im, 
Srühjahr 1849 Mitglied der Deputation, welche die Kaiferkrone nach Berlin brachte. 
In feinen legten Xebensjahren hatte er die Genugthuung, als der erfle Jude in Ham- 
burg zum Öbergerichtörath gewählt zu werden. Er flarb den 22. April 1863. Der 
bald darauf auch verflorbene Morig Belt winmete ihm in den preußifchen Jahrbüchern 
von 1863 einen Nachruf. 

Rietberg, auch Rittberg und Netberg genannt, eine fräher reichsunmit⸗ 
telbare, vom Hochflifte Paderborn, der Grafichaft Kippe, dem Osnabrädifchen Amte 
Medenberg und der Ravensberger Graffchaft umgrenzte Grafſchaft Im niederrheinifch« 
weſtfäliſchen Kreife, deren @inkünfte auf 28,000 Thlr. gefhäßt wurden, und die das 
Städthen MR. (an der Ems, mit Franciskanermönchsklofſter, einiger Gewerbthaͤtig⸗ 
feit und 1966 Einwohnern im Jahre 1861) mit dem nahebelegenen Schloſſe Even, 
die Dörfer Neuenfirhen, Berle, Neu» KRaunig und Maflholte, nebſt dem gräflidhen 
Wittwenfige Holte und dem adligen Gute Garſtwinkel, enthielt, wurde 1456 vom 
Brafen Conrad v. R. gegen eine Summe Geldes an den Landgrafen Ludwig von 
Heflen überlaflen, von Lebterem aber wiederum zu einem Erbmannlehen empfangen. 
1562 flarb Johann v. M. ohne männliche Erben, worauf Landgraf Philipp von 
Heſſen die Grafſchaft als ein erledigtes Lehn einzog und dem Kalfer und Meich als 
ein Mannlehn auftrug. Johann v. R. hinterließ zwei Töchter, von denen die eine, 
Irmgard, mit dem Grafen Erih v. Hoya und nach deflen Ableben mit dem Grafen 
Simon zur Lippe, die andere, Walpurgis, mit dem Grafen Enno von Oftfriesland 
vermählt waren, und weldhe beide 1565 bei dem Landgrafen von Heſſen bie After- 
belefnung auf männliche Leibederben und in Grmangelung berfelben auch auf die 
Toöchter erhielten. Irmgard flarb 1583 ohne Erben, und fomit Fam die Graffchaft 
N. völlig an die Bräfln von Oſtfriesland, die drei Jahre fpäter dad Zeitliche fegnete 
und zwei Töchter hinterließ, nämlich Sabina Katharina, die Gemahlin ihres Ontele 

14* 


7) Pen Rietberg. 


väterlicherfeits, des Grafen Johann von Oftfriesland, und Agnes, die Gemahlin des 
Grafen Gundaccar von Liechtenflein. Beide geriethen mit dem Lehnäheren, dem Land⸗ 
grafen Morig von Heffen, In Streit, und zwar die ältere deswegen, weil man vor« 
gab, fle wäre megen ihrer inceftudfen Ehe des Lehns verluftig gegangen, waͤhrend man 
der füngeren jedes Anrecht auf Grund des Inhalts des heſſiſchen Lehnbriefes über 
die Graffchaft R. abſprach. Mit diefer wurde die Sache in Güte beigelegt, und 
zwar der Art, daß ihren Nachkommen die gefammte Hand zugeflanden fein follte; 
jedoch mit der älteren Schwefter dauerten die Streitigkeiten bis 1645, In weldhem 
Jahre ihre Söhne Ferdinand, Franz und Johann gegen Erlegung einer Summe Gel« 
des auf's Neue mit der Graffchaft R. belehnt wurden, und zwar für ſich und ihre 
beiderfeitß ehelichen Xeibeserben, auch in Ermangelung der Söhne für ihre Töchter und 
ferner für alle ihre Descendenten männlichen und weiblichen Geſchlechts, jedoch der⸗ 
geftalt, daß bei Lehnöfällen die Söhne den Töchtern vorgeben follten. Der ältere 
Bruder flarb 1660 ohne KXeibederben, der füngere aber, der in dem darauf folgenden 
Jahre mit Tode abging, binterlieg drei Söhne und zwei Töchter. Keiner von ben 
Söhnen hatte männliche Erben, nur der füngfte, Ferdinand Maximilian, eine Tochter. 
Als nun 1690 der legte Graf Branz Adolph Wilhelm, Ganonicus zu Paderborn, 
Osnabrück und Köln, auch Decan zu Straßburg, farb, fo meldeten ſich zu der Braf- 
Schaft MR. als Erben, reſp. Erbinnen, Marie Ernefline Franziska, die Tochter des eben 
genannten Grafen Zerbinand Marimiltan, welche die Eatholifche Meligion annahm und 
den Grafen WMarimilian Ulrih von Kaunig ehelichte, ferner die beiden Schweflern des 
Grafen Ferdinand Maximilian, Marie Leopoldine, Gemahlin des Grafen Oswald 
von Bergen, und Bernhardine Sophie, Aebtiffin zu Heſſen, geftorben 1726, und die Fürſten 
von Reiningen, Gundaccarfcher Linie, die von der oben genannten Gräfin Agnes ab⸗ 
flammten. Der Graf von Kaunig brachte ed dahin, daß er von dem Landgrafen von 
Heflen belehnt wurde, worüber zwar die Gegenpartei bei dem Reichshofrathe Klage 
erhob, aber, nachdem dem Grafen von Kaunig die Grafichaft R. erſt in possessorio, 
fodann auf in pelitorio und zulegt in revisorio zugefprocdhen worden war, ſich mit 
dem Haufe Kaunig verglich, wiewohl auch diefer Vergleich 1731 von dem Fürften von 
DOftfrlesland von Neuem angefochten wurde. 1807 wurde die Graffchaft mediatiſirt 
zu Ounften des Königreihd Weftfalen und 1815 Fam fie an Preußen, doch blieb die 
Standesherrfhaft R., im Kreife Wiedenbrück des Megierungsbezirtd Minden, 
3,95 Q.⸗M. groß und mit 13,000 Einwohnern im Bellg der fürſtlich Kaunig: Rietberg» 
ſchen Familie. — Die in der Provinz Preußen und in Schleflen angefeffene Familie 
der Grafen v. NRittberg flammt von den obigen, 1562 erlofchenen Grafen v. R. 
(Rittberg) ab, und zwar von demjenigen Zweige des zulegt regierenden Grafen v. R., 
welcher den gräflichen Titel (nad) den mit der zweiten Gemahlin dieſes Grafen ges 
troffenen Ehepacten) nicht führte. Diefer Zweig Fam fpäter nach Preußen. Gobel 
v. Nittberg (geb. 1615, + 1693) erſcheint bier zuerft als Herr auf Saffenborf. Sein 
Sohn, aus der Ehe mit Marie, geb. v. Cubach, Johann Rempertus (geb. den 
26. October 1654, F den 1. Auguft 1734), Herr auf Suffendorf und koͤniglich dä- 
nifcher Hauptmann, vermählt 1697 mit Helene Elifabeth, geb. v. Münnich, ältefler 
Schwefter des Laiferlich-rufftfchen Generalfeldmarſchalls Grafen v. Münnich, Hatte drei 
Söhne: Anton Günther Albrecht, Johann Dietrih Arnold und Jo—⸗ 
bann Wilhelm Florens (geb. den 5. Februar 1719, + den 28. Januar 1791 
ohne Erben), welche am 30. December 1751 von Friedrich dem Großen in den Grafen» 
fand erhoben wurden. Der ältefte diefer Brüder (geb. den 14. October 1698, 7 den 
16. October 1763), Herr auf Lietfähen, Branden, Gilve, Oſchen, Soleinen, Schabau 
und Ober-Zehren in Breußen, königlich polnifcher Generalmajor und Oberſt von ber 
Krongarde, erlangte 1740 von den Ständen das Indigenat und hinterließ nur einen 
Sohn, Johann Burhard Theodor (geb. den 6. Auguft 1735, T den 26. Ja⸗ 
nuar 1771), Seren auf Lietfchen, polnifhen Kammerheren und Öberften, mit deſſen 
Tode diefer Zweig erlofh. Der zweite Bruder Johann Dietrih Arnold (geb. 
den 28. April 1707, F den 10. September 1785), Herr auf Bikow'und Wutzow in 
Pommern, koniglich preußifcher Oberſt des v. Lottum’fchen Dragoner-Negimentd, bin« 
terließ ſechs Kinder, von denen Johann Ludwig Wilhelm (geb. den Ib. April 


Rietſchel (Ernſt Friedrich Augufl). 213 


1752, F den 5. Auguft 1831), Herr auf Sydow und Schoͤnfeld in ber Mittelmart 
und auf Adamddorf in der Neumark, die märfifche, Georg Albrecht (geb. den 
7. März 1758, + den 30. Mat 1312), Herr auf Vitzow und Wutzow, Landichafts- 
rath der Marienwerder Landfchaft, der 1771 in dad Dragoner-Megiment v. Perneiske 
eintrat, den bayerifchen Erbfolgefrieg mitmachte und 1787 ald Hauptmann feinen Ab⸗ 
fchted nahm, die preuß iſche und Johann Wilhelm (geb. den 18. December 
1764, + 1840), Herr auf Warbelom, koͤniglich fchwedifcher Hauptmann, die mecklen⸗ 
burg-pommerfche, jegt Schlefifche Linie gründete. Der jetzige Chef der mär⸗ 
kiſchen Linie ift Graf Heinrih Auguft Karl Ludwig (geb. den 12. Aug. 1790), 
königlich preußiicher Major a. D., der’ der preußifchen Linie Graf Heinrich Georg 
Eduard Karl (geb. den 16. Mai 1789), Erbherr der Nittergüter Stangenberg und 
Baalau im Kreife Stubm, Landrath und Generallandſchaftsrath a. D., und der der 
dritten Linie Graf Ludwig Georg Auguft (geb. den 20. November 1797), Erfter 
Präfldent des Appellationdgerichts zu Glogau, Kronfyndifus und Mitglied des Herren. 
baufed. Das Wappen der Grafen v. Rittberg ifl quadrirt; 1 und 4 in Silber ein 
halber preußifcher! Adler, an den innern Rand ded Feldes gelehnt, 2 und 3 in Blau 
drei goldene Sterne (2, 1). Das Mittelfhild enthält in Roth einen goldenen Adler. 

Nietichel (Ernſt Friedrich Auguſt), einer der ausgezeichnetſten Bildhauer ber 
neueften Kunftperiode, Profeſſor an der königlichen Akademie der Künfte in’ Drespen, 
geboren am 15. December 1804 in PBulsnig, einem Kleinen Städtchen In der fächfl- 
ihen Oberlaufig, 5 Stunden von Dresden, ſtammt aus einer armen bürgerlichen Fa⸗ 
milte. Sein Bater, Handſchuhmacher und Küſter an der evangelifchen Stadtkirche des 
Städtchend, Eonnte dem Sohne faum die nothwendigſte Elementarbildung zu Theil 
werden laflen, und da ihm alle Mittel fehlten, die Talente defjelben zum Zeichnen und 
Formen auszubilden, mußte der junge RM. nach erfolgter Confirmation zu einem Krä- 
mer ſeines Geburtsortes in die Lehre. Aber ſchon nah 8 Wochen erkranfte der 
Knabe Schwer, und nad erfolgter Genefung gab der Bater feinen Bitten nady, ihn 
bis auf Weiteres im Haufe zu behalten, wo er fih mit Wälchezeichnen, Ertbeilung 
von Schreibunterricht und Anfertigung von Reinſchriften befchäftigte. Durch Ver⸗ 
wendung ded Hofbau-Eonducteurd Guido, der in den Zeichnungen und Malereien bed 
jungen M. ein bedeutendes Talent erfannte, erhielt diefer endlich Michaelis 1820 Aufs - 
nahme auf der Dresdener Kunftafademie, wo er fchnelle Fortfchritte machte und fich 
durch einen leidenfchaftlichen Eifer auszeichnete. Durch Unterflügung des fächflfchen 
Miniſters Grafen von Einfledel wurde R. im Anfang des Jahres 1826 in die Lage 
gebracht, in dem Atelier Rauch's, welcher damals ſchon von dem vollſten Blanze ſtrah⸗ 
lenden Künſtlerruhms umgeben war, in Berlin fich weiter auszubilden. Bald erwarb 
fh R. die Gunſt des Meifterö, wurde in deflen Haus gezogen, in welchem bie bes 
deutenpften Geiſter der Zeit in zwanglofefter Weije verkehrten, und fo gelang e8 ihm, 
im Verkehr mit diefen feine allgemeine Bildung auf eine Weife und mit einem Er⸗ 
folge zu vervollfändigen, die den Mangel eined regelmäßigen Unterrichts reichlich zu 
erfeßen im Stande mar. Alexander von Humboldt, Mendelſohn, Chamiſſo, Hitzig 
wurden ihm Förderer, Gönner und Breunde. 1829 erhielt R. bei der- Koncurrenz 
um ein dreijähriged Nelje-Stipendium von der Berliner Afademie der Künfte für das 
Relief: „Benelope, von ihrem Vater Ikarios Abfchieb nehmend,“ den erſten Breis 
und — meil er ald Ausländer dad Stipendium nicht erhalten Eonnte — Dur Ver⸗ 
wendung des afademifchen Senats bei der fädflfchen Megierung eine Reiſe⸗-Unter⸗ 
fügung im gleichen Betrage von 1200 Thalern. Aus jener Zeit ſtammt auch eine 
Statue David's und die Marmorbüfte des Profefford d'Alton, fo wie einige vor⸗ 
trefflige Zeichnungen, die ſich — vor Allen ‚das Wiederfehen Jacob's und Joſeph's“ — 
durch feine Durpbildung und Kenntniß der Form, große Gewandtheit in Darftellung 
der verfchtedenartigftien Empfindungen und natürliche Klarheit hervortfun. Im Sommer 
des Jahres 1829 begleitete R. feinen Meifter Rauch nach München, um ihm an der Koloffals 
Statue des Königs Mar zu helfen, und verweilte auch nach Rauch’ Abreiſe nach Italien 
nody länger in der Reſidenz des kunſtſinnigen Bayernfönige Ludwig's J., wo eben 
die glänzendſte Zeit des fich entwidelnden Kunftlebend begann. Auf der Heife dahin 
lernte er Goethe kennen und im Umgange mit Cornelius, Ihorwaldfen, Schnorr v. 


‚ 


214 Nietichel (Einf Friedrich Auguſt). 


Carolsfeld, Moritz dv. Schwind, Kaulbach, Franz Schubert und anderen Koryphäen 
ſeiner Kunſt oͤffneten ſich ihm die reichſten und bildendſten Beziehungen und durch 
gemeinſchaftliche Thaͤtigkeit wuchs mit der Anregung zum Schaffen ſein Geiſt und ſein 
Talent. Beweis dafür iſt fein lebensgroßes Modell des „Vaſenmalers“ für das 
Giebelfeld der Münchener Glyptothek, fo wie feine Zeichnungen der „DBerfündigung 
Maria's“ und „die Steinigung des heiligen Stephanus*. In diefer Zeit, Auguft 
1830, erhielt R. auch den erften großen Auftrag, die Anfertigung der Koloffalftatue 
Königs Friedrich Auguft von Sachfen, und trat feine Reiſe nach Italien an, die jedoch 
durch die politifchen Unruhen fchon im Februar 1831 ihr Ende erreichte Nach feiner 
Rückkehr ließ ſich N. in Berlin nieder und gründete hier ein Hausweſen, wurde jedoch 
ſchon 1832 ald Profefjor der Sculptur an die Föniglichde Akademie der Künfte be» 
rufen, wo er bis zu feinem Tode in bervorragendfler Weile gewirft und dieſelbe zu 
einer Kunflflätte der Sculptur gefchaffen bat, weldye durch reges Schaffen talentpoller 
Künftler von tüchtigfter Bildung fi einen hoben und mohlverdienten Auf erworben. 
Daß das Hauptverdienfi hiervon dem unermübdlichen und energievollen Streben R.'s 
und feinem eminenten Lehrtalente zu verdanken if, muß rühmend anerfannt werden 
und es ift um fo ebrender für ihn, Daß er, um an diefem feinem Hauptwerke fort« 
arbeiten zu können, fowohl die Berufung nad Münden (1834), als Die zum Director 
der Kunftafademie nach Berlin (1859), troß der Ausficht auf größeren pecuniären 
Gewinn und anregenderen Umgang ablehnte. In diefem feinem emflgen Streben ließ 
fih auch R. durch das lange körperliche Leiden nicht abhalten, welches ihn feit dem 
Sabre 1835 ſchwer und häufig heimfuchte und für dad er durch längeren Aufenthalt 
in der milden Luft des Südens, in Palermo und Meran, und in verfchiedenen Baͤ⸗ 
dern vergeblich Heilung gefucht Hatte. R. ftarb am 21. Februar 1861, an demfel- 
ben Tage, an welchem das große Gypsmodell zu feiner „Luiher- Statue" aus⸗ 
geftellt werben follte, fein letztes und fchönflese Werk, an defien Ausführung 
feine ganze Seele hing. Don den vielen Audzeichnungen, die dem maderen 
Meifter zu Theil wurden, fet bier nur genannt: feine beinahe einftiimmige Ermählung 
zum Mitgliede der Friedendklaffe des Ordens pour le merite, 1858, an Stelle ſeines 
verflorbenen Lehrers Rauch, feine Ernennung zum Mitglied des Institut de France 
und der Akademie San Luca, in demjelben Jahre, zum Ehrenmitglied der Akademie 
von Wien und Berlin 1836, Münden 1850, Paris 1851, Stodholm 1856, Brüffel 
und Kopenhagen 1858 und Antwerpen 1860; er erhielt das Ehrenbürgerredht von 
Braunfchweig und Weimar, 1857 das Doctorbiplom der philofophifchen Facultät In 
Jena, die großen Ehrenmebaillen der Parifer und Londoner Weltausftelungen und 
außer mehreren anderen Orden den koͤnigl. fächflichen EivileVerdienftorden, den preußi⸗ 
fhen Rothen Adler 3. Klafie und das Mitterfreuz der Ehrenlegion. Aus feinem 
Atelier und feiner Schule find tüchtige Bildhauer hervorgegangen: Wittig in Düffel« 
dorf, Meg, Knaur in Leipzig, Schilling, Kleg und Donndorf in Dresden u. f. m. 
Der Einfluß aber, den R. dur feinen Vorgang auf die Sceulptur ausübte, ging 
und gebt weit hinaus Über jene engeren Kreife, er ift ein univerfeller geworden. Er 
war ed, der die in ber Kunft der Neuzeit vorhandenen Gegenfähe, das flarre Feſt⸗ 
halten an den reinen Formen der Antike und das Streben nad Naturwahrheit und 
Portrait Aehnlichkeit in der Sculptur (vergl. das Nähere hierüber in biej. Artifel) 
zu einer Nusgleichung brachte, welche Diefer Kunft ein neues originelle Leben ſchuf und 
den Grundfaß zur vollen Klarheit werben ließ, daß auch in der Kunfl nur das ureigne, 
im Volksthume begründete Element volle und dauernde Berechtigung des Dafeins 
babe. Dem Streben nad) Durchführung dieſes Grundſatzes in der Plaſtik war R.'s 
fpätere® Künftlerleben durchaus geweiht, und er brachte ihn Durch feine Werke zu einer 
Bollendung, wie feiner der großen Bildhauer vor ihm. Bon feinen vielen Werken 
wollen wir bier nur feine Qauptarbeiten nennen: die Statuen und Reliefs für das 
Giebelfeld de8 Auguſteums in Leipzig (theild in Sandflein, theild in Stucco), 1835, 
die Statue Friedrich Auguſt's von Sachen, die Kolofjalbüfte des Königs Anton, 1836, 
die Statue einer Nymphe, 1837, das Monument des Markgrafen Diegmann, 1841, 
die Statuen Gluck's und Mozart's, 1843, die herrliche Pieta, 1847, das Standbild 
Eeſſing's für Braunfchweig, mit denen beiden bie vollendete Meiſterſchaft R.'s beginnt, 


if uiga. 215 


Hierauf folgen das Goethe⸗ und Schiller- Denkmal in Weimar, die Arbeiten am 
Drespner Mufeum, die beiden „Amor auf dem Panther”. die Gruppe der Pietä in 
Marmor für den König von Preußen, 1854, die Marmorbüften Rauch's, die Me- 
daillons Liszt's, des Königs Friedrich Auguſt, Emil Devrient's, daB Skizzenmodell 
zur Quadriga in Braunſchweig, die Statue Weber's, die der Brunonia, die vier 
Pferde der Quadriga, die Statue Luther's und Wiclef's für das Luthermonument in 
Wormd, defien Vollendung der Meifter nicht erlebte. Bei R.'s feinem Blicke für die 
Natur, feiner Kenntniß des inneren Menſchen und feiner Liebe zur Erfcheinungsmelt 
it es erflärlich, daß er auch im Bilpniffe fo Ausgezeichnetes Teiflete, mie Keiner vor 
ihm; am höchſten darin ficht die Büfle Rauch's, die des Geheimrath Carus und bie 
der Madame Schröder » Devrient. Seine Portrait= Medaillons find wahre plaftifche 
Epigramme, weldye weit über da8 Portrait:Intereffe hinausgehen, und feine Reliefs 
zeichnen ſich durch die größte Kreiheit der Erfindung, floffliche Beherrſchung und hoͤchſte 
Bollendung der Darftellung aus. ine ausführliche Biographie R.'s hat fein Neffe, 
Andread Oppermann, 1863 in Leipzig bei Brodhaus herausgegeben, und eine vor- 
züglihe und gedrängte Kritik feiner Werke und Beftrebungen geben Schnaafe und 
Wilhelm Lübke in feiner Ausgabe der Kugler’fhen „Kunftgefchichte”. 

RNif. Das ganze von der verhältnigmäßig eingefenkten Spalte des Sebuthales 
nördlich bis zum Mitteländifchen Meere ſich ausdehnende wilde und fchluchtenreiche, 
daher auch ſchwer zugängliche Gebiet des Sultanats Marokko iſt befannt unter dem 
Namen R., deſſen Bewohner, die Rifiner oder Rifpiraten, berüchtigt ald Ser 
räuber, neuerdingd oft genannt find, einmal wegen ber Affaire vom 7. Auguft 1856, 
in der fich die preußiſche Marine zuerſt verfudt bat, und dann, daß dieſe faſt ganz 
unabhängigen Bergbewohner durch wiederholte Angriffe auf die fpanifchen Preſidios, 
infonderheit Durch den am 9. September 1859 auf Ceuta, weſentlich zu dem Ausbruch 
des ſpaniſch-marokkaniſchen Krieged beigetragen baben, der für. Maroffo fo unglüdlich 
ablief und durch den Präliminarien- Vertrag vom 25. März 1860 mit vollfländigfer 
Demüthigung Maroffo’8 endete. Das Wort R. ift gleichbedeutend mit dem arabifchen 
Worte Sah’el und bezeichnet im Allgemeinen eine Gegend, die, mit Graſswuchs ge⸗ 
fhmädt, angebaut und mit Saatfeldern verfehen, oder doch des Graswuchſes und 
der Bebauung fühig, den der unwirthbaren Sandwüſte gerade entgegengefegten Cha⸗ 
rafter an ſich trägt und daher die Säume des untragbaren Landes bildet, wenn auch 
bier und da noch Steinlager, Sandhügel und Felfen den guten Boden unterbrechen. 
Faſt immer zeigt fi der fruchtbare Boden in der Nähe der Meere, Seen, Flüffe und 
Quellen; die Wüfte wird zu dem, was fie if, Dur den Mangel an Wafler. Aus 
diefem runde verfieht man unter R. auch ein Uferland, Meergeflade, Flußufer, ripa, 
im Schwedifchen ribe, und hieraus laͤßt fi nun bei der befannten Befchaffenheit der 
nördlichen Geſtade Afrika's fchließen, daß R. Fein nomen proprium iſt, fondern ein. 
Wort, das der ganzen am Meere gelegenen Gegend jened Welttbeild, von Aegypten 
bis Marokko, eigentli zufommt und dad Land der Rifiner mithin, wenn man ein 
folches annehmen will, ein ungeheuer großes ifl. Die ganze Landfchaft von Maroffo 
nun, die hier dad M. bildet, iſt ausfchließlih von Berbern bevdlfert, die nur dem 
Namen nach dem Beherrfcher dieſes Sultanatd unterworfen find und von jeher von 
Seeraub und Beute gelebt Haben, weldye ihnen das gelegenitlihe Stranden von See⸗ 
fahrzeugen zuführt. Das in der Nähe der kleinen, von Spanien befegt gehaltenen 
Feſtung Melilla gelegene Cap der „drei Gabeln“ (Tres Forcas), wo die preußifche 
Mannſchaft der Corvette „Danzig” unter des Prinzadmirald Anführung im Jahre 
1856 dad Zujammentreffen mit den Strandräubern hatte, ward inimer ſchon als ein 
Borpoften des freibeuterifchen Heerlagers angefeben (f. d. Art. Berberei und Maroffo). 

Niga (lettiſch Rihga, eſtniſch Ria Linn, Righo), Hauptſtadt des ruſſiſchen Bou- 
vernements Livland und Sig eines griechiſch⸗ruſſiſchen Erzbiſchofs, an der Düna, nicht 
weit von ihrer Mündung in die Öftfee, welche daſelbſt einen großen Hafen, aber von 
weniger Tiefe und in neuerer Beit ziemlich verfandet, bildet, bat drei Borflädte, von 
Denen zwei auf dem rechten Ufer des Flufſſes und die dritte theils auf dem linfen 
Ufer deſſelben, theilß auf der Düna-Infel Groß⸗Klüversholm Itegt. Die merfwürbig- 
len Bebäude ſind das Rathhaus, Die Börfe, das Haus der Schwarzenhäupter (einer 


216 Ä Riga. 


Geſellſchaft Unverheiratheter, ſeit 1390 beftehend), das aite Schloß, 1494 — 1545 
erbaut, jetzt als Kaſerne und als Wohnung des Gouverneurs dienend, die Kathedral⸗ 
kirche, 1211 gegründet und 1547 umgebaut, die St. Peterskirche mit einem ſehr 
hoben Thurm, das Ritterſchaftshaus, das Katharineum, das St. Georgs⸗Hospital, 
das Zollhaus, das Theater und das Zeughaus. Noch müſſen erwähnt werden das 
Brandſtiftermonument, die Siegesſäule, mit bronzener Victoria und vergoldeter Krone, 
von der Rigaer Kaufmannſchaft zum Gedaͤchtniß Alexander's I. 1812 — 14 errichtet, 
die bydraulifchen Mafchinen, der Canal, in welchem die Schiffe überwintern, und die 
ſchoͤne Schiffsbrücke über die Düna, die ihrer merkwürdigen Ränge und Lage wegen 
einen prächtigen Spaziergang gewährt. Die vornehmften wiſſenſchaftlichen Anftalten 
N.’8 find die 1847 gegründese geiftlihe Schule zur Bildung von Geiftlihden für bie 
lettifchen und eflländifchen Kicchipiele, das Lyceum oder SKatharineum, die beiden 
Schifffahrtsſchulen, die lettifche Geſellſchaft, die dEonomifche Geſellſchaft, die livlän« 
diſche Geſellſchaft des oͤffentlichen Nutzens und der Defonomie, die Befellfchaft für 
Geſchichte und Altertfumsfunde der Oſtſeeprovinzen, die. Stadtbibliothek mit dem 
Mufeum und die Sternwarte auf den Schloſſe. R. ift die fünfgrößefte Stadt des 
ruffiihen Reiches, mit 72,136 Einwohnern im Jahre 1858, eine der lebhafteſten 
Fabrikſtaͤdte und nady Peteröburg die größte Handelsfladt deſſelben. Mehr als 1200 
Schiffe laufen hier oder in feinem Hafen Dünamünde ein und aus und beſonders 
wichtig ift die Ausfuhr an Flachs und Hanf. Im Sommer unterhalten Dampfichiffe 
regelmäßige und fehr lebhafte Verbindungen mit mehreren Oftfeehäfen, fo mit Stettin, 
Smwinemünde und Kübel. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, das in 
Deutfchland durch rafche, Tebhafte Entwickelung ftädtifchen Lebens und flädtifcher Thaͤ⸗ 
tigkeit audgezeichnet ifl, ald an den Ufern der Oſtſee die Hanfa fich bereits feſtgeſetzt 
hatte, als mitten in diefem Deere die Infel Gothland aus einem Seeräuberneft zum 
Mittelpunkt friedlichen Handelsverkehrs murde und die blühende Stadt Wisby fidh 
verfchönerte, trieb der Sturm ein Bremer Kauffahrteifhiff in die Mündung der Düna. 
Der Schlüffel zum jetzigen Oftfeelande, der ſich ſchon damals unter rufflfcher Herr⸗ 
Schaft befand und zu dem großen Fürftenthum Polozk gehörte, wurde damit freilich 
nicht zum erflen Mal entdedt, aber zum erflen Mal von den Deutfchen zum Behuf 
des Handels erforfcht und benußt. Bald fpannen fi Verbindungen nicht bloß mit 
Bremen, fondern auch mit andern beutfchen Städten an. Dreißig Jahre fpäter führte 
ein lübtfches Schiff nicht bloß Waaren, fondern auch den Mönd Meinhard Hierher, 
der das ganze wilde Land durch Verkündigung ded Evangeliums der Aufllärung und 
Bildung fihern wollte. Mit Erlaubniß des Fürſten von Polozk erbaute er in dem 
neu entflandenen Dorfe Uexkull, unter dem Schu einer Burg, eine Kirche, 
die fpäter (1138) durch den Erzbifchof von Bremen mit päpfllicder Beflätigung 
zum Bifchofäflge von Livland erhoben wurde. Schon der zweite Nachfolger Mein⸗ 
hard's verlegte jedoch Den Biſchofsſitz von Nexkull in das von ihm angelegte NR. und 
lich 1202 Schwertrittier dahin fommen; er war ‚Herr der Stadt und die Schwert⸗ 
ritter, welche fich nachher mit deutfchen Nittern verbanden, leifteten ihm Gehorſam. 
Nach Erhebung des Bisſsthums R. unter Albert II. Suurbeer (1253—1272) zum 
Erzbisthum von Livland, ERland und Preußen bildete ſich bekanntlich ein allgemeiner 
hierarchiſcher Verband zwifchen den Beflgungen des deutfchen Ordens und ber geift- 
lichen Oberbirten und es erhob ſich In verhältnigmäßig £urzer Zeit in den jegigen 
ruſſtſchen Oflfeeprovinzen ein neues Deutfchland, ein lebendiges Abbild des eigentlichen 
Deutſchlands, zu dem es auch als cin Beftandtheil des heiligen römifchen Meiches 
gezählt wurde. Diefelben Elemente, diefelbe Ordnung der Dinge mußte auch biefelben 
Bolgen nad ſich ziehen. Die Stadt R. war inzwifchen mächtig geworden, diente 
andern Städten in den baltifhen Ländern als Vorbild (ſ. d. Art. Reval), verfagte 
dann dem Erzbifhof in andern als geiſtlichen Dingen den Gehorfam, trat der Hanfa 
bei und entriß dem beutfhen Orden Dünamünde, welches ihren Kandel hinderte. 
1420 mußte fih R. zwar dem Erzbifchof wieder unterwerfen, es hörten aber die 
Streitigkeiten nicht auf und fleigerten ſich im höchften Grade, ald unter dem Erzbischof 
Thomas Schöning (1527—1539) die Reformation in N, eingeführt wurde und bie 
Ordensritter diefelbe annahmen. Erſt 1547 kam es zu einem Frleden, wobei bie 


Rigas (Konflantinos). gigi. 217 


Stadt dem Erzbiſchof, ſeit 1339 Wilhelm Markgraf von Brandenburg, und dem 
Ordensmeiſter huldigte, doch noch in demſelben Jahre unterwarf ſie ſich dem Könige 
Sigismund von Polen, der fofort freie Uebung der Religion geſtattete. Als 1561 
Livland völlig vom dentſchen Orden an Bolen abgetreten wurde, blieb M. Breiftabt 
und 1566 unter dem Erzbifchofe Sigismund Auguft Herzog von Medlenburg wurde 
das Erzbisthum aufgehoben. Stephan Bathori wollte 1587 die katholiſche Religion 
wieder einführen und räumte den Sefuiten eine Kirche ein, aber die Angriffe Karl's IX., 
Könige von Schweden, 1605 und 1607, vereitelten das Vorhaben. 1621 öffnete die 
Stadt dem Schwedenkönige Guſtav Adolf ihre Ihore, 1658 belagerten fle Die Auffen 
vergeblih, ebenfo 1700 König Auguft II. von Polen, bis am 18. Juli 1701 die 
Entfegung durch die Schweden erfolgte, und am 4. Juli 1710 wurde fie nach der 
- Hartnädigfien Bertheidigung von den Auffen erobert. 1812 in Belagerungdzufland 
erklärt und durch die Franzoſen und Preußen unter Macdonald eingefchloffen, verlor 
MR. feine ſchoͤnen Vorfiädte und Dünamünde, wurde am 1. Auguſt eingenonmen, 
während 42 Jahre fpäter, 1854, eine andere Blofade, die der Engländer, ganz frucht⸗ 
108 ablief. R. ift ſtark befefligt geweien, infonderbeit wurden feine Werke 1854 und 
1855 ermeitert und verftärkt, find aber in der neueften Zeit abgetragen worden. 

Rigad (Konftantinos), neugriechifcher Patriot und Dichter, geboren um 1753 in 
Beleftini, dem alten thefjalifchen Pherä. Er Hatte feine Verwandten durch die Barbaret 
der Türken verloren und faßte, als er, durch feine Bildung und Kenntniffe, namentlich 
in der Mathematik, Hiftorie und Philologie, empfohlen, in die Dienfte des Hodpodars 
der Walachei, Michael Soutzos, aufgenommen war, den Plan, Griechenland vom Joch 
der Türken zu befreien. Er Hatte für feinen Plan mehrere angefebene Griechen, Kaufe 
leute, Geiſtliche und Gelehrte gewonnen, und Emifjäre Bonaparte's verfpradhen Ihm 
deſſen Unterflüßung. 1796 begab er ſich nah Wien, wo er feine Vieberfegung des 
vierten Bandes von Barthelemy's Voyage du jeune Anacharsis und eine Karte Grie⸗ 
chenlands mit den alten und neuen Ortsnamen (in 12 BL.) herausgab. 1797 begab 
er fih, um mit Bonaparte in Venedig zu unterhandeln, nad Trieſt, wurde jedoch 
bier von der öÖfterreichifchen Polizei verhaftet und darauf von Wien aus 1798 an die 
Grenze gebracht und an den türkifchen Befehlshaber zu Belgrad audgelieferi. Er 
ward, der Vorbote der griechifchen Erhebung, hingerichtet. Seine patriotifchen Ge⸗ 
fänge, beſonders feine Meberfegung der Marfeillaife (Asöte, ratdes twv 'EAANvwv) 
haben fpäter im griechifchen — das Volk zum Kampfe gegen die Türken be⸗ 
geiſtert. (Vergl. d. Art. Nengriehiihe Sprache und Literatur und Schott: „Ueber 
R.'s Leben und Schriften", Heidelberg 1825.) . 

Righini (Vincenzo), italieniſcher, von deutſchen Einflüffen beftimmter Gomponift 
(vergl. d. Art. Muſik, Band XIV. ©. 71). Er ift 1760 zu Bologna geboren 'und 
erwarb ſich durch feine Geſangsmethode und als Lehrmeifter im Geſang einen bedeu⸗ 
tenden Namen... 1788 ward er Kapellmeifter des Kurfürften von Mainz, 1793 des 
Königd von Preußen, und flarb auf einem Befuch feiner Vaterſtadt daſelbſt am 
19. Auguft 1812. Sein Hauptwerk iſt Die Oper „Tigrane“ ; die bei der Kaijerfrönung 
in Sranffurt 1790 aufgeführte Meſſe ift feine Arbeit; endlich hatten feine Lieder⸗ 
Gompofitionen wegen ihrer ausdruckovollen Melodie vielen Beifall gefunden. 

Rigi. In keiner Gruppe der Molaffeberge der Schweiz zeugt das Melief fo 
angenfcheinlid von der gemeinfchaftlidhen bedeutenden Wirfung der Eroflon und der 
Hebung aus der Tiefe oder dem tbeilmeifen Zurüdfinfen der gehobenen Schichten, 
ald in der don Seetiefen umgebenen Gebirgsinfel der Rigigruppe. Der füdlichfte 
Theil derfelben, der Vitznauer Stod (4457') und die Hohfluh (5239), fait fenf- 
recht auf die Bruchkante geftellte Lager von Flyſch, Spatangen- und Rudiſtenkalk, 
gehören geognoftifch noch der nördlichen Nebenzone der Alpen an; alle übrigen Berge 
beſtehen aus Nagelfluh, rothen Mergellagern und Molaffe. Der R., deffen Name 
Bald von rigidus mons (flarrer, fleiler Berg), bald von Mons Regina abgeleitet wird, 
iſt eine freiliegende, fchöne Bergpyramide, die ihrer außerordentlih umfafjenden und 
malerifch „reichen Ausficht halber an mehrfien von allen Höhenpunften der Schweiz, 
von nahe an 12,000 Perſonen durchſchnittlich Jährlich Hefucht wird. Der ganze 
Nüden. ift mit Gafthofs: Etabliffements und Alpenhütten überdeckt, welche fih auf 


218 Rigny (Henri Graf). Rimini. 


folgende Punkte vertheilen: der höchſte von allen iſt der Kulm (5541), der Haupt⸗ 
ſammelplatz der Reiſenden aller Nationen, mit drei Gaſthöfen. Im’ feiner Nähe if 
das Keſſisbodenloch, ein trichterförmiger Canal durch die Nagelflub, der weiter 
unten an der nördlichen Felſenwand feinen Ausgang bat. Tiefer, in der Einfattelung 
zmwifchen dem Kulm und dem Rothſtock (5119°), erhebt fih der Staffel (4888), 
gleichfalls mit einem Wirthshauſe verfehen. Am ſüdweſtlichen Abhange des Roth⸗ 
fiodes liegt das feit dem Brande 1849 neu erbaute Kurhaus de8 Kalten Bades 
(4436°) und öftlid vom Doffen (5175) auf dem Schaeeälpli die Rigiſcheideck 
(5073°), nodmald mit einem Kurhaufe verfehen. Gegen Oſten fenten fi die Höhen 
zu einer tiefen Alpenmulde ein, in welcher dad 1689 erbaute Kloſter Marta zum 
Schnee (4002°), wieder von mehreren Gaflhäufern umgeben, als ein Wallfahrtsort 
der Urfchweiz, Tiegt. Naͤhert man fih dem R. bei Weggis vom Bierwalbdflätterfee 
ber, fo fällt eine hohe, nach Süden geneigte Banf von rothem Mergel über gedach⸗ 
tem Dorfe in die Augen. Es iſt dies jene Ablagerung dieſer ganzen Gegend, welche, 
verwitternd und vom eindringenden Schneewafler aufgelöft, ſchon furchtbare Zerflörun« 
gen anrichtete. Im Sommer 1795 wälzte fi ein mächtiger Schlammftrom nach dem 
Dorfe Weggis hernieder und überbedte einen großen Theil des Dorfes, und im Sep- 
tember 1806 führte eine folche Ermeihung und Auswaſchung der mergeligen Ein 
lagerungen den fchredlichen Bergflurz des dem M. gegenüberliegenden, 4878’ hohen 
Roß- oder Muffiberges Herbei, der Die Dörfer Goldau, Bufingen, Roͤthen und 
Lowerz gänzlidy verfchüttete. 

Rigny (Henri, Graf), franzöflfcher Vice» Admiral, geboren zu Toul 1782, trat 
frühzeitig in die Marine, wurde mit den Garde-Mariniers 1806 in die große Armee 
eingeftellt, Fämpfte in Deutfchland und Spanien und wurde 1816 Sciffscapitän. 
1824 ward er Eontre-Apmiral, und 1827 conimandirte er das franzöfliche Geſchwader 
im Mittelmeer und batte wichtigen Antheil am Siege bei Navarin, morauf er zum 
Dice» Admiral ernannt wurde. Seit 1831 haite er nady einander die Portefeuilles 
des Marine-Minifteriumd und der ausmärtigen Angelegenheiten in Händen. Kurz vor 
feinem Tode, der am 7. November 1835 zu Paris erfolgte, Hatte er eine erfolglos 
bleibende außerordentliche Miffton nach Neapel übernommen. 

Rimini, in der vormals päpftlichen, jegt italienifchen Provinz Forli, am Aus⸗ 
fluß der Marechia und Aufa in dad Adriatifche Meer, ift eine ziemlich große Stadt, 
mit 33,272 Einwohnern nah der Zählung am 1. Januar 1862 und einem durch 
Anfchwemmungen bed Meeres verfandeten, nur noch für Fifcherfchiffe und Eleine Barfen 
zugänglichen Hafen. Ihre fehönen Strafen, Ihre mit Springbrunnen gezierten Pläge, 
viele guigebaute Häuſer, mehrere fchöne- Kirchen, eine ziemlich reihe Bibliothek, von 
Alerander Gambalunga 1617 geftiftet, viele mafeftätifche Meile von Gebäuden be 
Altertbums, die dieſe Stadt zieren, umfangreiche Seidenwebereien und andere Fabriken 
erhoben R. zu einer der bedeutendflen Städte des Kirchenflaats. Wir nennen von 
den Bauwerken nur die Kirche des Heiligen Franziskus, angefangen in gothifchem 
Style und beendigt um das Jahr 1447 von dem berühmten Leon « Battifla Albert, 
dem Wiederherfteller der Baukunſt, mit vielen Denkmälern der Kamille Malatefta, din 
fhönen Zriumphbogen des Auguflus am Gingange der Stadt, einen der befterhaltenen, 
und Die herrliche Brüde bei dem Thore San» Btuliano, von weißem Marmor unter 
den Kalfern Auguſtus und Tiberius an der Bereinigung der beiden GKonfularflraßen, 
der Slaminianifhen und Aemillanifchen, erbaut. Auf der einen Seite von R. fleht 
der Leuchtthurm, auf der andern il Paradiſo, m der Nähe das Caſtell San Leo, in 
welchem Caglioſtro als Gefangener farb. In geringer Entfernung legt au Borto 
dt Rimini, ein großes Dorf, mit dem ſchon erwähnten von der Marechia gebilde- 
ten Hafen und einer großen Fabrik, in welcher der Schwefel zubereitet wird, den 
man aus einer nahen Schwefelgrube des Monte Verticafa gewinnt. MR. ift das alte 
Artminium, das von den Umbrern gegründet, fpäter von den Senonen beſetzt und 
von den Nömern 269 v. Chr. coloniftrt wurde; Gäfar fandte eine zweite Golonie 
Beteranen hierher. Später kam ed an das byzantiniſche Mei und dann an bie 
Longobarden. Der Hafen galt für einen der beſten am Adriatiſchen Meere. 359 fand 
bier ein Goneil (Ariminenfliches) in den Arianifchen Streitigkeiten flatt, auf dem eine 


Kimnil. Ningseis (Johann Nepomuk v.) 219 


von den Arianern vorgelegte, der ſirmienſiſchen aͤhnliche Formel, worin der Sohn 
dem Vater ähnlidy genannt und das Wort Weſen verworfen, von ben abendländifchen 
Prälaten unterfchrieben wurde. Später befaßen die Malateſtas R., welche Kaiſer 
Otto III. 1200 zu Reichsvicaren eingeſetzt hatte. Malateſta, Herzog von Varruchio, 
machte 1295 die Gewalt erblich und nach ihm behauptete ſich ſein Sohn Malateſtino 
im Beſitz R.'s; ale er 1317 ſtarb, folgte ihm, mit Uebergehung feines Sohnes 
Ferrantino, zunächſt unter dem Einfluß der Gurlfen, fein Bruder Pandolfo I., und 
erfi nach deſſen Ableben 1326 Ferrantino, der aber vor den Bäpftlichen fliehen mußte, 
die Regierung 1335 Pandolfo's I. Söhnen, Pandolfo TI. und Galeotto, überlaffend. 
Sener flarb 1364 und diefer 1385, und beide hatten die Signorieen Ancona, Gefena, 
Gervia und Feſi erlangt. Baleotto’8 Söhne, Carlo und Pandolfo II., theilten; ber 
Eine erhielt R. und einen Theil der Romagna, der Andere Brebcia und Bergamo. 
Als Pandolfo Il. 1429 das Zeitliche fegnete, erbte R. fein natürlicher Sohn Baleotto 
Robert, 1432 deſſen Bruder Sigismund Bandolfo, defien täatenreiched Leben Aeneas 
Sylvius beichrieben bat. Sigismund fuceedirte 1468 fein natürlicher Sohn Robert 
der Prächtige, und als diefer 1482 flarb, fein Sohn Pandolfo IV., welcher 1536 
NR. an Die Benetianer verkaufte, die es in der Schlacht bei Gera d'Adda an den 
Papft verloren. Mehrere Berfuche der Malateflad im Laufe des 16. Jahrhunderts, Die 
Herrfchaft wieder zu gewinnen, fcheiterten und R. blieb nun beim Kirchenflaat bis 
zum Gintritt der neueſten Ummälzungen in den Lerritorialverhältniffen Italiens in 
Bolge der vevolutionären Bewegung. Schon vorher hatte fi übrigene R. in legterer 
Hinſicht bemerkbar gemacht, fo durch den Aufftand vom 23. bis 26. September 1845 
und durch den vom 1. Februar 1853, zu deſſen Unterbrüdung öſterreichiſche Truppen 
in die Stadt einrüden mußten. 

Aimnif, auh Ribnik, ein Flecken in der Walachei, an einem Nebenfluß des 
Sereth gleichen Namens, bekannt durch den Sieg der verbündeten Deflerreiher und 
Ruffen unter Sumorow über die Türken am 15. September 1789. Sumorom 
(f. d. Art.) erbiekt für dieſen Steg den Beinamen Rimnikski. 

Rindviehzucht ſ. Thierreich. 

Ringseis (Johann Nepomuk v.), einer der ausgezeichnetſten und gelehrteſten 
Aerzte Bayerns, wurde 1788 zu Cham in der Oberpfalz geboren. Er ſtudirte nach 
genoffener gründlicher Schulbildung zu Landshut und Würzburg und bildete fi in 
Wien und Paris zu einem gelehrten Arzte. Als ſolcher. wirkt er noch gegenwärtig 
in der Hauptftadt feines Vaterlandes, in der er als Brofeffor der Mebicin und Ge⸗ 
heimer Ober-Medieinal-Rath, felt 1826 in oberfler Leitung des Sanitätöwefend von 
ganz Bayern, fo wie als erfler Arzt: des allgemeinen Krantenhaufes und anberer 
Öffentlicher Anftalten Münchens thätig if. Auch gewann ex früh Die befondere Gnade 
und Bunft feines Königs Ludmig von Bayern, ebenfo nahm ihn der kürzlich ver- 
ftorbene König Max zu feinem Leibarzt. Schon früh zeichnete R. ſich als Schrift 
fteller aus; doch "betrat er mit feiner Erftlingsfchrift, welche unter dem Titel: „Die 
Dläne Napoleon's und feiner Gegner” im Jahre 1809 erfchien, den Boden der 
Poltti. Don feinen bedeutenden Kenntniffen gab er demnächſt in feiner Schrift: 
„De doctrina hippocratica et browniana inter se consentiente ac mufuo se explente 
tentamen“, Nürnberg 1813, in zweiter Auflage 1820, eine fehr gewicdhtige Probe; 
auch zeigte er feine Meifterfchaft überall in den medicinifchen Hülfswifienfchaften, fo 
namentlich in der Mineralogie. Sehr bald indeß gab der In ihm lebende religiäfe, 
übrigens wahrhaft fromme Sinn feinen ärztlichen Anſichten eine befondere Richtung, 
und erregte die von ihm fpäter veröffentlichte Meberzeugung, daß ohne feften Glauben 
an die göttliche Offenbarung das Wiſſen nicht beſtehen Fönne, und daß namentlich in 
der Arzneitunft vorzugaweiſe der Glaube wirken müffe, ihm mannichfachen Streit; eben 
ſo 309 ex ſich dadurch vielfache Angriffo zu, gegen welche er fich zwar mannhaft zu vertheidi⸗ 
gen wußte, doch ohne den Vorwurf der Unwiſſenſchaftlichkeit jeiner Anfichten zu entkräfien. 
Mit Mesmer, Wolfart, Windifhmann, dem Fürſten Hohenlohe und Anderen, 
denen ſich insbeſondere der namentlich ald Irren» und Augenarzt fehr ausgezeichnete 
Profeflor F. W. G. Kranichfeld in Berlin zugefellte, bildete R. gewifjermaßen 
Das Syſtem einer biblifhen Medicin, das man auch als himmliſche 


220 | Aingwaldt (Bartholomäus). 


Medicin bezeichnet bat. Es iſt Died eine Tegte Richtung, in welcher man verſucht 
bat, der Arzneikunde neue Kräfte zuzuführen; doch hat diefelbe in der Medicin keines⸗ 
wegs eine folche eingreifende Bedeutung erlangt, ald daß wir. in unferem Artikel über 
medicinifhe Syfleme darauf hätten Bezug nehmen fönnen, vielmehr dürfte Deren 
Erwähnung nur an diefem Orte ihre vorzüglichfte Stelle finden. Gemaltiger als 
Andere im Glauben und Wiffen, wurde R. mit feinem Handbuche der allgemeinen und 
ipeciellen Pathologie und Therapie, Regensburg 1841,. der Nepräfentant der gläubigen 
ärztlichen Richtung; denn dad nicht unbedeutende Werk, das zugleich den Titel „ Syſtem 
der Medicin“ führt, follte ein Verſuch fein zur Reformatien ınd Meftauration der medi⸗ 
cinifchen Theorie und Praris. In demfelben geht-R. von der Veberzeugung aus, daß 
die Medicin, wie alle Wiffenfchaften, ihre Brincipien in der traditionellen Offen⸗ 
barungslehre Habe, ed müfle deshalb das Beftreben des Arztes fein, die Forberungen 
der Wiffenfchaft mit den firchlichen Xehren in -Uebereinfiimmung zu bringen. MR. bes 
bauptet demnach, es werde außer ber Arche Noah's Niemand gerettet; dad vom 
Leibe getrennte Glied Eönne nicht leben, oder e8 lebe nur das allgemeinfte, niederfte 
Leben. Außer der Kirche beſtehen weder Kunft noch Wiflenfchaft, nur Schein und 
Zerrbilder beider. Die Emancipation der Vernunft von der Offenbarung führte zur 
Emancipation des Staats von der Kirche, des Menfchen von Gott, des Weibes von 
Manne, eined Jeden von Jedem, des Yleifches vom Geifle, des Atoms vom Atome; 
fie führte folgerecht auch zur Emancipation der Medicin von Kirche, Eultus, Sacra⸗ 
ment und Sacramentalien, und dieſe Emancipation gleiche völlig der Emancipation 
der Muskeln von den Nerven. Schöpfung, Sündenfall und Erlöfung ſeien neutrale 
und univerfelle Vorgänge, file müflen darum nothwendig fi in Allem abfpiegeln, 
Die zmeite göttliche Perſon fei Mitallfchöpfer, Mitallerbalter, Mitallwiederberfteller, 
jomit wirffam nicht bloß In jeder fittlichegeiftigen, fondern auch Teiblichen Erhaltung 
und Heilung. „Wer davon nichts einfieht, der rühme fi nimmer, etwad von Phi- 
loſophie zu verfiehen. Wohl iſt die Natur ein Gottesbild, felbft in ihrer äußerſten 
Sphäre, aber fie ift wie der Menfh ein dur Sünde getrübtes und entſtelltes.“ 
„Erdbeben, Stürme, Ueberfchmemmungen, Hitze und Kälte und dergleichen find Leine 
urfpränglichen normalen gejeglihen Verhältniſſe, fondern fpätere krankhafte, gefeg- 
widrige. Im Paradies waren fchon alle Thiere; und ohne Verbrechen des Menfchen 
wären ſie wohl kaum geflorben.” „Da nun die Krankheit urfprünglih Folge der 
Sünde ifl, und der Sündige den erhaltenden und miederherftellenden Kräften in den 
Kreifen des bewußten und unbemußten Xebend viel weniger, Dagegen den bewußt und 
unbewußt zerflörenden Einflüffen viel leichter zugänglich erfcheint," fo folgert R., daß 
zur glüdlihen Kranfenbehbandlung es ohne Vergleich fidherer, wenn auch laut Erfah- 
sung nicht immer unerläßlih ſei, daß ſich der Kranke und ber Arzt vor dem Hell« 
verfuche entfündigen laffe. Der chriftliche Arzt betrachte unter befländigem Gebet um 
Erleudhtung den Kranken als Stellvertreter Chriſti und fich als feinen Diener. Ges 
wiffenlofe, unftttliche, außerhalb höherer Einflüffe ftehende Aerzte entbehren nicht bloß 
diefer Einflüffe, fondern wirken durch unlautere (3. B. politifche, parteiliche Zwecke 
mißleitet) noch poſitiv gefährli. Auch der entfündigte, berufene Arzt heile zwar nicht 
jeden entfündigten Kranken, indeß fei ex ficherer, ihm nicht zu ſchaden. Im Uebrigen 
ift Die Therapie felber, welche R. in feiner glüdlichen ärztlichen Thaͤtigkeit befolgt, 
feine andere als die eines verfländigen Arztes. 

Ningwaldt (Bartholomäus), einer der bedeutendften Liederbichter der lutheri⸗ 
fen Kirche, deſſen Name in den Frankfurter Driginaldruden feiner Werke auch 
Ringwalt und Ringmald heißt, um 1530 zu Branffurt a.d. DO. geboren, trat‘ 
um 1556 in's geiftliche Amt und war 1566 Pfarrer in Lengfeld (Langenfelde) In 
der Neumarf, wo er wahricheinlih 1598 geſtorben if. R. Hat viele geiftliche Lieder 
gebichtet, welche ſich großentheild durch eine einfache, kraͤftige Sprache vortheilhaft 
auszeichnen, und bie durch ihr Kortleben in unferen fegigen Geſangbüchern die Beuer- 
peobe ihres inneren Werthes beftanden haben. Was ihm in feinen Werfen, unter 
denen das berühmtefle und bedeutendfle „Die lauter Warheit. Darinnen angezeiget, 
wie fih ein Weltlihder und Geiſtlicher Kriegkmann in feinem Beruff verhalten 
fol u. ſ. w.“ (1597) if, am meiften am Herzen liegt, iſt der in Liebe thätige Glaube 


Rinteln. Mio de Janeiro. 221 


an den Herrn; ein feliger Tod ift ed, um was ber fromme Sänger allegeit forgt 
und bittet. Zu feinen Hauptwerken gehören ferner: „Ebriftlicde Warnung des treuen 
Edart*, „LTroftlieder in Sterbesläuften zu gebrauchen“ (1577), „Handbüchlin. Geift- 
lie Lieder und Gebetlin“ (Frankfurt a.d. DO. 1586). Bon feinen Liedern erwähnen 
wir: „Herr Jeſus Chriſt, du höchſtes Bur“, „Es ift gewißlich an der Zeit, daß 
Botted Sohn wird kommen“, „Ad liebe EChriften trauret nicht“, „O frommer und 
getreuer Bott", „Zobt Bott den Herrn aus Herzen Grund”. Eine Lebendbeichreibung 
R.'s haben wir von Wippel (Berlin 1751). Wendebourg Hat R.'s „Geiftliche 
Lieder in einer Auswahl nah den Originalterten* (Halle 1858) in der von Schircké 
veranftalieten Sammlung „Geiftliye Sänger der chrifllichen Kirche: deutfcher Nation” 
(11. Heft) Heraudgegeben. Bol. auch Hoffmann, „Bartholomäus Ningwaldt und 
Benjamin Schmold* (Breslau 1833) und Mügell, Geiſtliche Lieder der evangeliichen 
Kirche aus dem 16. Jahrhundert”, ©. 629 ff. 

Rinteln, Hauptfladt des kurheſſiſchen Regierungs⸗Commiſſions-Bezirkes gleichen 
Namens und der Grafihaft Shaumburg, am Einfluß der Erter in die Weſer, 
über welche bier eine fleinerne Brüde führt, bat alte Wälle und Mauern, ein altes 
Schloß, Schifffahrt, Handel, Berberei, Weberei und 3800 Einwohner. M. war von 
1685 bis 1807 Feſtung und wurde 1623 von des Herzogs Ghriftian von Braun⸗ 
fchweig Kriegsvdlfern, zehn Jahre fpäter aber von dem ſchwediſchen Feldmarſchall 
von Kniphaufen eingenommen. Graf Ernft von Schaumburg legte in Stadthagen 
1610 ein Gymnasium illustre an, welches bald einen großen Auf ſich erwarb und 
1619 zu einer Uiniverfität erweitert und erhoben wurde, bie er 1621 nach R. verlegte. 
Rah dem Vergleich von 1647 war diefe Hochſchule den Heffen-Faffelfhen und ſchaum⸗ 
burg» lippefhen Haufe gemeinſam und unzertbeilt verblieben, eine &emeinfchaft, bie 
1665 aufgehoben wurde, fo Daß die Hochfchule von da an ausſchließlich dem Haufe 
Heffen» Kafjel gehörte. Im der theologifhen Bacultät mußten die Profefjoren ber 
Iutherifchen Lehre zugethan fein, in den übrigen Bacultäten konnten jeboch bie Lehrer- 
ſtellen auch mit Meformirten beiegt werden. Die Einkünfte der im Amte Schaum- 
burg belegenen zwei Klöfter, Möllenbel und Egesdorf, welche Graf Otto von Hol⸗ 
flein-Schaumburg 1555 und 1560 eingezogen hatte, waren der Hochfchule in R. zu 
ihrem Unterhalte, auch zu Stipendien, überwielen. Die Univerfität wurde 1809 von 
dem Könige von Wefalen aufgehoben. 

Rio de Janeiro, oder eigentlih San Sebaſtiao, gewöhnlich nur Rio genannt, 
ift, wie nur wenige andere Städte, zugleich dad Handeldemporium nnd die politifche 
Hauptfladt des Landes. Während Brafllien ein. größeres Gebiet umfaßt ald irgend 
ein anderes Land in der neuen Welt und binfichtlich feiner natürlichen Vortheile nur 
wenigen Ländern der Erde nachftebt, ift die Rage, Umgebung und wachſende Größe 
N.'s der Hanptfladt eines folchen Reiches. vollfommen würdig. MR. 'ift die größte 
Stadt Südamerifa’s und Alter ald alle Städte der nordamerifanifchen Union. Gerade 
noch innerhalb der Grenzen der füdlichen Zone gelegen, öffnet ſich ihr Hafen in einer 
ſchmalen Durchfahrt zwifhen zwei Granitbergen nach dem Arlantifchen Meere bin. 
Diefe Einfahrt iſt fo ficher, daß nıan Feines Piloten bedarf, die Lage der verfchtedenen 
feften PBläße an der Mündung aber, fo wie auf den SInfeln und Höhen fo flarf, daß, 
wenn fie ordentlich gebaut und bemannt, der ftärffien Flatte der Welt die Einfahrt 
wehren koͤnnen. Ruhig innerhalb des Bergkranzes liegt die prächtige Bai von 
Nitheroby, d. h. des verborgenen Waflere. Hier kann der müde Seefahrer ficher 
feine Barke anlegen, ohne die Brandung des Meeres fürchten zu müffen, deren Ge- 
brüll er noch bören fann. Um ihn ber fchwimmen die Kriegsichiffe faſt aller feefahren- 
den Nationen, etwas weiter bin dem Lande näher die Kauffahrteiflotte, die eine noch 
weit größere Mannichfaltigkeit der Blaggen zeigt. Der Anblid von N. bietet eine 
Abwechfelung von Berg und Thal dar, denn mehrere Hügelfetten zweigen ſich in ſpo⸗ 
renartigen Abfägen von den benachbarten Gebirgen ab und laſſen flache Zwifchen- 
räume von größerer oder geringerer Breite zwifchen ſich; in biefen, fo wie auch an 
den Hügeln aufwärts flehen Reihen von Gebäuden, deren weiße Mauern und rothe 
Ziegeldächer angenehm mit dem fie allenthalben einfchließenden bunfelgrünen Blätter« 
wert contraſtiren. Die Stadt nimmt den norböflichften Theil einer unregelmäßig 


222 io de Janeiro. 


vieredligen, an dem weſtlichen Ufer der Bai gelegenen Erbzunge ein, welche ſich nad 
Norden erfiredt und gegen Süden mit dem Gontinente zufammenhängt. Bei ber Re⸗ 
gelmäßigkeit der Straßen thut e8 dem Auge wohl, auf mehrere freie Plätze, wie 
den vor dem kaiſerlichen Schloffe, vor den Theater, an dem Öffentlihen Spaziergange 
(Passeio publico), oder den des Campo Santa Anna zu floßen. Die Reſidenz 
der ehemaligen Vicefönige, welche, nach Ankunft des Hofes von Liffabon durch das 
Garmeliterklofter vergrößert und für die königliche Familie eingerichtet wurde, ſteht in 
der Ebene, dem Molo gegenüber. Unter den Kirchen — R. ift in 10 Kirchfpiele 
getheilt, die 65 Kirchen und Kapellen beflgen, außerdem eriftirt feit 1820 eine angli« 
caniihe und feit 1837 eine deutſche proteflantifche Kirche — weldye fämmtlich weder 
Ihöne Gemälde, noch bildhauerifche Werke, fondern nur reiche Vergoldungen darbie⸗ 
ten, zeichnen fich befonders die da Gandelaria, de San Francisco de Paula durch 
gute Bauart und die da nofja Senhorta da Gloria durch ihre erhabene Lage aus. 
Das ſchönſte und zweckmäßigſte Denkmal der Vaukunſt aber, weldes R. bie 
jetzt aufweift, ift der im Jahre 1740 vollendete Aquäbuct, ein Nachbild des in feiner 
Art einzigen Werkes Johann's V. in Liffabon, durch defien hochgewölbte Bogen das 
von dem Gorcovado herabgeleitete Trinkwaſſer zu den Bontänen der Stadt geführt 
wird. Die größte: diefer Kontänen, auf dem Reſidenzplatze unmittelbar am Hafen 
gelegen, verforgt die Schiffe und ift fletS mit Haufen von Matrofen aus allen Na- 
tionen umlagert. Noch ift man immer befchäftigt, neue Sontänen in der Stadt an« 
zulegen. Die Bai von M., einer der fchönften, geräumigflen Häfen der Welt und 
der Schlüffel zu dem ſüdlicheren Theile Braflliens, ift von den Portugiefen mit Sorge. 
falt befefligt worden. Die plöglicde Einnahme der Stadt durch die Branzofen unter 
Duguay-Trouin (1710) mag zuerft auf die Nothwendigkeit folher Anftalten auf- 
merkſam gemacht haben. Der Eingang wird vorzüglih durch die Zeflung der 
©. Cruz, welche auf einer oͤſtlichen Landzunge an dem fleilen Berge Pico gebaut tft, 
und durch die Derjelben gegenüber nörblich von dem fogenannten Zuderhut liegenden 
Batterieen von ©. Joao und ©. Theodoflo vertheidigt. Die durch beide Punkte ger 
bildete Enge, nur 5000 Fuß breit, wird überdies durch die Kanonen eines Forts auf 
der niedrigen, faft mitten im Eingange gelegenen Felfeninfel, Ilha da Lagera, beftrichen. 
Bei einem Handelsverkehr von foldher Ausdehnung, wie der biefige, iſt es na⸗ 
türlih, daß fich überall rege Thätigkeit und Gefyäftsgewühl bemerkbar macht, aber 
den Eingebornen verdanken die Brafllianer das nicht, fondern nur dem regen Frem⸗ 
denverfehr, der fih nach dieſem bebeutenden Handelsplag mehr und mehr hinge⸗ 
zogen. Allerdingé find die Brafllianer zumeiſt die Producirenden, denn die Haupt» 
aus fuhr bleibt doch immer Kaffee und Zuder und Alles, mad die deutfchen Kolo- 
niften ziehen — jene unglückſeligen Opfer der Barceriaverträge ausgenommen — find 
lauter im Inlande bleibende PBroducte, wie Weizen, Maid und Bohnen. Faſt den 
ganzen Import, oder wenigftend den unverhältnißmäßig größten Theil deſſelben, 
haben aber die Fremden in Händen, und da, außer eßbaren Begenflänvden, Alles 
importirt werden muß, was nun einmal zum Xeben gehört, fo läßt fich denken, daß 
das Gefchäft Fein unbedeutendes fein kann. Deutfhe und Engländer haben, 
wie überall im Auslande, befonders bedeutende Importhäufer, während ſich die Fran⸗ 
z0fen mehr auf den Detailbandel werfen. Die Hauptfiraße von M., Die wenig- 
ſtens, welche die brillanteften Laden aufzuweifen bat und in der es zum guten Ton 
gehört, Abends fpazieren zu geben, die Rua d'Ovidor, ift faſt ausfchlieplih von Fran⸗ 
zofen in Befchlag gelegt. In diefer Straße find audy die großen Läden R.'s, in 
denen jene reizgenden Federblumen Braftliens und meifl von jungen Franzöſinnen ano 
gefertigt und verkauft werden. Uber auch reges deutſches Leben hHerrfcht in R., 
“eine große deutfche Gefellfchaft hat ſich dort gebildet, die Germania, die mit nicht 
unbebeutendem Aufwande ein recht wackeres, fogenannte8 Mufeum gegründet hat. Die 
Kunft bat außerdem faſt an allen Orten durch Deutfche ihre Vertreter, und 
Photographie, wie vorzüglich Lithographie merden von einigen unternehmenden 
Deutſchen bier betrieben, die auch ein braſtlianiſches Witzblatt in portugiefl« 
fher Sprache gegründet baben und fi eines bedeutenden Erfolges erfreuen, 
Die Unterrihtö- und gelehrten Anfalten haben in neuerer Zeit eine Ver⸗ 


Nis de Janeiro. 223 


vollfommmung erlangt. igentliche Univerfitäten bat Brafllien nicht, doch giebt «#8 
juriftifche und mebiciniiche Facultaͤten, von welchen legteren ſich eine in R. befindet. 
Als pbilofophifche Facultaͤt kann die Eentralfcyule in R. betrachtet werden, da ſie 
Dortoren der Mathensatif und Naturwiffenfchaften ereirt. Ein Gymnaflım, nad 
beutichen Begriffen, beflgt R., überhaupt Braftlien, nur in dem Gollegio de Pedro IT, 
und der berühmte botanifche Garten mit feiner weltbefannten Palmen⸗Allee ift jegt, 
nadybem er bis vor Kurzem von einem braftlianifgen Gaͤrtner anf eine wirklih un. 
verantwortliche Weife verwahrloft worden, dur einen tädhtigen deutſchen Gaͤrtner 
wiederhergeſtellt. Gelehrte Geſellſchaften R.'s find das hiſtoriſch⸗geographiſche 
Inſtitut von Braſtlien, deſſen Protector der Kaiſer iſt, der auch regelmäßig den Sitzun⸗ 
gen deſſelben, die im Palais der Stadt flattfinden, beiwohnt, die kaiſerliche mediei⸗ 
niſche Akademie, die Geſellſchaft zur Hebung der National⸗Induſtrie und das kaiſer⸗ 
liche Ackerbau⸗Inſtitut. Unter den Wohnlthätigkeitö-Anftalten nennen wir 
das Blinden- und Taubflummen-Inftitut und befonders eine Anftalt, für deren Unter⸗ 
Haltung auf eine eigenthümliche Weiſe geforgt wird. Die Regierung verkauft nämlich 
Orden für Geld, und es bat fich da zwar, wenn auch fein gefeßlicher, doch durch den 
Gebrauch angenommener Preis feftgeftellt, nach dem ein gewöhnlicher Orden ein bis 
zwei Contos — der Dffizierd-Orden mehr und höhere biß vier, ſechs und acht Kontos 
fleigen. Und wozu wurde dad Geld verwandt? Wozu erfüllt es noch heute feinen 
Zweck? Zu der großen, wundervollen Arren-Anftalt, die Dom Pedro Il. an der Bai 
von R. bauen ließ, und die noch bis auf den heutigen Tag ihre Zufchüfle aus dem 
für Orden eingegangenen Geld erhält. Die Bevdlkerung R.'s, deren Zahl fi 
1849 auf 266,466 und 1855 auf 296,136 Seelen belief, beſteht hauptſaͤchlich aus 
Bortugiefen und ihren weißen und farbigen Nadyfommen; die im Lande geborenen 
beißen Brafllianer, und frit der Gründung der Unabhängigkeit im Jahre 1820 Herrfcht 
zwilchen ihnen und den geborenen Portugiefen eine böfe Stimmung, die fih jedoch 
mehr in den unteren als in den höheren Klaffen zeigt und vielleicht in den inneren 
Provinzen des Landes tel heftiger IE ald in R. und den anderen Küſtenſtädten. 
Wo ein Tumult oder Aufftand im Innern flattfindet — und ſolche Vorfälle find nur 
allzu haͤufig — fallen die armen Portugtefen als die erflen Opfer und werden mit« 
leidslos niedergemegelt und geplündert. Trotz diefer Mißhandlungen kommen jährlich 
Qunderte an, um ihr Glück in dem Lande zu machen, das einſt der reichfle Evelftein 
In der Krone Portugals war. Diele, die fih in Brafllien Weiße nennen, verdienen 
faum diefen Namen, da wenige Familien, die lange im Lande waren, ihr Blut un- 
ver miſcht erbielten. Die Bewohner von R. find im Allgemeinen Hein und fchmächtig 
und unterfcheiden fich auffallend von den fchönen, hochgewachſenen Leuten aud den 
Provinzen San Paulo und Minad Geraes, fa felbft von denen mancher nördlichen 
Provinzen. Bon den Zluminenfern, wie fidy die Bewohner R.'s nennen, fo wie von 
den meiften Brafllianern ift in fittlicher Hinſicht nicht viel Gutes zu berichten. Eine 
GSharakterfigur in MR. bilder ter Neger; er ift überall. Dies iſt nicht wunderbar, 
denn beinahe die Hälfte der Einwohner der Hauptfladt beſteht aus Schwarzen, die 
alle Dienfleiftungen zu verrichten haben. Ein allgemeiner Aufftand der ſchwarzen 
Bevölkerung wird in R. ſtets geftirchtet und, bei dem flarken Berhälmiß der jchwarzen 
Bevölkerung zu der weißen, nicht ohne Grund. Wäre diefe unter ſich einig, fo wäre 
ein Aufftand vielleicht laängſt eingetreten, aber die feindlichen Vorurtheile unter den 
verfchiedenen Hacen haben es zum Glück biäher verhindert und werben es auch in 
Zukunft verhindern. RE Umgebung ift in der That von bezaubernder Schönheit. 
Unter den merfwürdigflen in der Nähe der Hauptſtadt gelegenen Orten bemerfen wir 
bloß Voa⸗Viſſta, Landhaus des Kaiferd, auf einer Meinen Anhöhe erbaut, Bota⸗ 
Fogo, herrliche Bai, wo ſich ein Eaiferliches Luſtſchloß befindet; Santa Eruz, mit 
einem Faiferlihen Balafte, und Petropolis, ein Städtcyen mit deutſchen Eoloniften.!) 


I) Bor eilihen Jahren ließ ber Kaiſer Dom Bebro II. das Land, worauf das GStäbichen 
erbaut iR, für etwa 38,000 Gulden anfaufen und im Jahre 1845 an Coloniften vertheilen, beren 
Uaberfahrt nach Brafilien von der Provinz R. begahlt wurde. Die Wahl der Goloniften und bie 
Leitung des ganzen Unternehmens war einem Major Köhler übertragen; biefer veranlaßte gegen 
1500 Deutjche, Hauptfählid aus Kucheflen, Raflau und ben Rheinprovinzen, außer einigen Schwei⸗ 


224 Rio be Janeiro. 


Die Gegend um Betropolis, das dur eine Eifenbahn mit R. verbunden iſt, if 
reizend, aber nur nicht für eine Golonie geeignet, denn in den Eleinen, engen Thälern 
laͤßt ſich kein einziges orbentliches Feld anlegen. Petropolis iſt auch in der That 
Nichts, als ein Kleiner, betriebfamer Ort mit Mil: und Gartenwirthſchaft und der 
fafhionable Sommeraufentbalt der haute volee von R. Trogdem bat Betropolis Bid 
vor Kurzem bie einzige deutſche Zeitung im ganzen Meiche, die „Brafllia”, deren 
Medacteur, indem er die Intereffen der Deutfchen in Brafllien eifrig verficht, dem Blatt 
doch mit der Zeit Geltung verfchafft hat. Die Geſchichte R.'s iſt natürlich nicht 
weit zurüdgreifend und bietet vorzugäweife nur im 16. Jahrhundert allgemeines Inter⸗ 
efie. Die erfie Niederlaffung an der Bai von R., in die Diaz de Solis 
1515 juerfi und darauf (1519) Magalhasös einlief, wurde 1555 von den Fran⸗ 
zofen gemacht unter Nicholas Durand de Billegagnon, einem Wanne von 
großer Gewandtheit und Verdienſt in der franzöflfchen Marine. Er war ein Freund 
Coligny's und fuchte Hier ein Aſyl für bie verfolgten Hugenotten' zu gründen. Der 
Einflug des Admirals ficherte ihm eine nicht unbedeutende Anzahl von Coloniften, 
und ber franzoͤſiſche Hof ſah felbft nicht ohne Vergnügen den Plan, nad dem Bei- 
fpiel der Spanier und Bortugiefen bier eine Colonie zu gründen. Heinrich IL, der 
tegierende König, lieferte drei Kleine Fahrzeuge, mit denen Billegagnon aus Havre 
abfegelte. Aber ein Windftoß bielt fie an der Küfte auf, nöthigte fie, in Dieppe zu 
landen, und viele Handwerker, Soldaten und Edelleute, welche feekrank geworben waren, 
verließen bier die Expedition. Diefem Umſtande ift das fyätere Mißlingen derfelben 
mit zuzufchreiben. Nach einer mühfeligen Ueberfahrt Tief Villegagnon In die Bat von 
Nitheroby ein und fing damit an, eine Feine Infel in der Nähe der Einfahrt zu be⸗ 
feRigen, aber feine aus Holz beſtehende Befefligung konnte der Wirkung des Waſſers 
bei der Fluth nicht widerſtehen, und er mußte weiter aufiwärtd nach einer Infel ziehen, 
die noch fjept Villegagnon Heißt, und mo er ein Fort baute, daß er zuerft nach feinem 
Beichüger Colignh nannte. Die Expedition war gut entworfen und der Platz zu einer 
Niederlaffung vortreffli ausgewählt. Die einheimiſchen Stämme waren den Portu⸗ 
giejen feindlih gefinnt und hatten Tange einen freundfchaftliden Verkehr mit den 
Franzoſen getrieben. Einige Hundert derfelben verfammelten fich bei der Ankunft ber 
franzdflihen Schiffe am Ufer, zündeten Breudenfeuer an und boten diefen Verbündeten, 
welche fle gegen die Portugiefen vertheidigen follten, allen möglichen Beifland an. 
Diefer Empfang wedte bei den Franzoſen die Hoffnung, daß der Continent wohl in 
ihre Hände kommen könnte, und fie nannten das Land „La France Antarctique*. 
Dei der Rückkehr der Schiffe nah Euroga, um neue Goloniften zu Holen, erwachte 
ein großer Eifer, in jenen fernen Gegenden eine Zufluht für die reformirte Kirche 
zu gewinnen. Die Genfer Kirche nahm Antheil an der Sache und fandte zwei Geift- 
lihe und vierzehn Studirende, die entfchloffen waren, für die Sache ihrer Religion 
allen Strapazen eines unbefannten Klima’d und einer ganz neuen Lebensweiſe zu 
trogen. Uber Unglück heftete fich an jeden Schritt diefer Unternehmung. Zu Harfleur 
erhob ſich der katholiſche Poͤbel gegen die Eoloniften, welche ſich nach dem Verluſte 
eined ihrer beften Offiziere auf die Schiffe flüchten mußten; fie hatten eine fehr be⸗ 
ſchwerliche Ueberfahrt und an der brafllianifchen Küſte ein Teichtes Gefecht mit den 
Portugiefen. Indeß wurden fle mit anfcheinender Herzlichkeit von Villegagnon em⸗ 
pfangen und eifrig wurde mit den Arbeiten zu ihrer Unterlunft begonnen. Bald aber 
traten Umflände ein, welche den wahren Charakter ihres Anführers enthüllten. Ville⸗ 
gagnon trat zur römifchen Kirche zurüd und begann nun eine Reihe von Berfolgungen 


zern aus Bafel und einigen 2othringern faft alle der ärmſten Klaſſe von Landleuten angehörend, 
nad Brafllien auszuwandern. Seit Gründung ber Golonie durch diefe Auswanderer haben ſich 
viele Brafilianer, auch manche Bortugiefen und etliche freie Neger bort niedergelafien, fo daß Be: 
tropolis jegt über 3000 Ginwohner zählt. Dieje raſche Zunahme ber Bevölkerung könnte zu der 
Meinung verleiten, daß die Kolonie in einem blühenden Zuflande fih befinde; allein dies if im 
Allgemeinen Teineswege ber Fall, und die Klagen der fremden Anſiedler find nicht unbegründet. 
Mebrigens if die Luft, die man hier einathmet, fo fühl und Fräftigend im Vergleich mit ber ſchwü⸗ 
Ien Atmofphäre ber Hauptſtadt und deren nächſter Umgebung, daß man fat nicht glauben fann, 
man befinde ſich nur wenige Meilen davon entfernt und eben fo gut, wie dort, unter ben Feuer⸗ 
ſtrahlen der tropiſchen Sonne. 


‘ 


Rio be Jane. 225 


gegen feine früheren Blaubensbrüber. Dies vollendete den frühzeitigen Ruin der Co⸗ 
lonie. Die Anflenler, welche gehofft Hatten, Hier Die in Branfreich gefährdete Ge⸗ 
wiffendfreibeit zu finden, verlangten nach Brankreich zurückzukehren, und Villegagnon 
lieferte ihnen dazu ein Schiff, welches aber fo ſchlecht verforgt war, daß Mehrere die 
Einfchiffung' verweigerten und die, welche fich einfchifften, die größte Hungersnoth er⸗ 
duldeten. Billegagnon hatte ihnen verflegelte Briefe an die Hafenbefehlshaber in 
Frankreich mitgegeben, worin er die Leute, die ex nach Brafilien geführt hatte, ale 
ſchaͤndliche, des Feuertodes würbige Ketzer fchilderte. Der Magiftrat von Hennebonne, 
wo fie landeten, begünfligte aber die Reformation, und fo wurde die Boshelt Ville 
gagnon’3 vereitelt und fein Verrath offenkundig. Bon denen, welche fi dem elend 
verproviantirten Fahrzeuge nicht hatten anvertrauen wollen, ließ Billegagnon mehrere 
binrichten, andere flohen zu den Portugiefen, wo fle ihren Glauben abfhmwören muß⸗ 
ten. Die, welche wirklich abgefegelt waren, kamen noch gerade zur rechten Zeit an, 
um eine Abtheilung flämifcher Auswanderer abzuhalten, ſich nach Brafllien einzu« 
fegiffen, und ebenfo 10,000 Franzoſen, melde gleihfalld auögemandert wären, wenn 
der Zweck, den Goligny bei Bründung feiner Eolonie verfolgte, nicht fo ſchaͤndlich 
oereitelt worden wäre. Obwohl die Bortugiefen auf den brafllianifchen Handel fo 
mißgünflig waren, daß fle alle Nebenbuhler als Seeräuber verfolgten, fo ließen fie 
doch aus Nachläfftgkeit Diefe franzöflfche Golonie vier Jahre lang unbeläfligt, und ohne 
Billegagnon’s Verrath wäre N. jetzt wahricheinlich die Haupiſtadt eines franzöflichen 
Colonialreiches. Die Iefuiten erkannten diefe Gefahr wohl und mußten ed beim Hofe 
zu Liffjabon dahin zu bringen, daß Mem de Sa Barreto, dem Gouverneur der 
portugieflfchen Niederlaffung, der Befehl gegeben wurde, die Frapzoſen aus ihrer Co⸗ 
lonie mit Gewalt der Waffen zu vertreibfn. Dies geſchah am 20. Januar 1567; 
die Befte der Sranzofen wurde, erflürmt und Alles niebergemadt. So kam diefer Hafen 
in die Hände der PVortugiefen, deren Gouverneur auch fogleich den Plan zu einer 
neuen Stadt entwarf, welche zu Ehren des Siegedtages den Namen San Sebaftiao 
führen follte. Hundertundvierzig Jahre lang nach feiner Gründung genoß San Se⸗ 
baftiao einer ungeflörten Ruhe, fehr im Widerfprud mit dem unrubigen Geiſte der 
Zeit und namentlich mit der Lage der andern bedeutenden Städte Braflliend, welche 
während diefer Zeit durch Angriffe von Engländern, Holländern und Brunzofen man- 
nichfad zu leiden hatten. Wührend dieſes Zeitraums flieg der Handel und die Be⸗ 
völferung des Ortes beträchtlich. Im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts wurden 
die bedeutendſten Goldminen des Innern Durch die Pauliſtas entbedt, und dieſe 
gaben einer großen Binnenprovinz, welche jegt noch, wie Damals, dem Hafen von R. 
tributpflichtig if, den Namen Minas Gerard. Dad Goldſuchen hatte aber bier fo 
ziemlich dieſelben Bolgen, wie in den fpanifchen Ländern; der Aderbau ward vers 
nachläffigt, der Preis der Sclaven flieg ungeheuer und die allgemeine Wohlfahrt des 
Landes ging zurüd, während Alles nach den Minen eilte, in der Hoffnung, fi ſchnell 
zu bereichern. Der Ruf diefer Entdelung verbreitete fich weit und breit und weckte 
die Habfucht der Sranzofen, welche unter du Elerc ein Gefchwader außfandten, um 
R. zu nehmen. Diefe Expedition Tief Fläglih ab; Du Clerc wurde bei feinem An- 
griff auf die Stadt zurückgeſchlagen. Doch 1711 erihien Dugnay Trouin, um 
diefe Schmach und Mißhandlung zu rächen, drang in R. ein, Meß fich jedoch bewegen, 
gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe Geldes den Hafen wieder zu verlafien. 
Seit Duguay Trouin die Anker lichtete, hat feine feindliche Klotte mehr die Bai von 
R. befucht; die Verhältniffe der Stadt, welche 1763 an Stelle von Bahia Reſidenz 
der Bicekönige wurde, erfuhren aber fehr wmefentliche Veränderungen und Verbeſſe⸗ 
sungen, obwohl dad Regierungsſyſtem in Brafllien während Diefer Zeiten ganz abfolut 
und keineswegs geeignet war, vie großen Hülfsquellen des Landes zu entwideln. Nichtd 
deſto weniger erkannten die einficht8vollen Staatgmänner Portugals, daß dieſe Eolonie 
in Zutunft den Ruhm des WRutterlandes verbunfeln werde. Niemand aber Fonnte vor- 
ausſehen, wie nahe eine ſolche Entwidelung der Dinge fei und wie bald die königliche 
Familie ſelbſt ein Afyl in der neuen Welt fuchen und ihren Hof zu R. aufichlagen würbe. 
Das Jahr 1808 bezeichnet eine großartige Epoche in der Gefchichte R.'s, wie überhaupt 
des ganzen Landes, worüber der Art. Brafilien, Band 4 pag. 419 zu vergleichen iſt. 
MWagener, Gtaatt u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 15 


226 | mipen. 


Ripen. Die ſogenannten dänifchen Enclaven, die zur Arrondirung Schleswigs 
in Folge des Wiener Friedens⸗Präliminarien-Vertrages vom 1. Auguſt 1864 mit 
dieſem Herzogthum vereinigt werden ſollen, haben im Ganzen ein Areal von reichlich 
5 DM. Es gehören Hierzu die Stadt R. mit ihrem Weichbilde, die Grafſchaft 
Shadenburg, die Infeln Fand und Amrum, fo wie Meine Theile der Jnſeln 
Föhr und Sylt. Die Stadt R., oder, wie die Dänen fchreiben, Ribe, den nörb- 
lihften Theil diefer Enclaven ausmachend, liegt jept anderthalb Stunden Weges vom 
Meere, urfprünglih aber am Strande, wie ſchon der Name anzudeuten fcheint, der 
vom lateiniſchen Worte „ripa“, das Ufer, abgeleitet zu werden pflegt und entflanden 
fein fol, ald das Chriſtenthum anfing, in der fütifchen Halbinfel Wurzel zu Tchlagen, 
wozu Kaiſer Heinrih durch Stiftung einer deutfchen Markgrafſchaft jenfeit der Eider 
in Süder-Jütland, dem nacdmaligen fchleswigfchen Herzogthume, und fein Sohn, 
Kaifer Dtto J, den Grund legten; Letzterer dadurch, daß er In demfelben Jahre, wo 
er in Havelberg ein Bistum für das flawifche Volk der Polaben, ein zweites für 
die Belehrung der Dänen in Ripae Cimbricae ftiftere, nämlich im Jahre 846, und 
den dänifhen König Harald Vlaatand (Blauzahn) zur Wiederannahme der Heilslehre 
mit Gewalt der Waffen zwang, von der er abgefallen war, nachdem zwanzig Jahre 
vorher König Harald Klaf (der KledE) die Taufe empfangen hatte. Seit der Zeit. 
wurde M. eine der berühmteften Städte im Norden, deren Mauern, außer der Ka⸗ 
thebrale, vier Pfarrkirchen und fünf andere Kirchen und Kapellen, fo wie vier Klöfter 
nebft den dazugehörigen Botteshäufern, umfchloffen und die Durch ihren außgebreiteten 
Seehandel blühte, der von ihrem durch ein fefles Schloß gedeckten Hafen mit großen 
Schiffen nah Norwegen, Holland, England und Frankreich betrieben murde. : Diele 
Herrlichkeit Hat längft aufgehört: R.'s Sechafen ift gang allmählich durch langſames 
Walten der Naturfräfte, vornehmlich aber, wie es fcheint, feit dem 16. Sahrhundert zu einem 
Flußhafen zufammengefchrumpft, von Der Ribs⸗ oder Nibe-Aa gebildet, einem der kleinen 
Flüſſe der jütifchen Halbinfel, welcher die Stadt umgürtet und fi als fchmales, 
ſeichtes Fahrwaſſer durch die angefchwemmte Küften-Ebene auf einem Wege von mine 
deftend 5 Viertelmeilen nach dem jegigen Strande zu Meere fchlängelt. R. ift aber 
auch ein altdaͤniſcher Konigsſitz. Doc ift nichts mehr übrig vom präcdtigen Ribe⸗ 
huus, — in welchem namentlich die Waldemare gern weilten, wo inſonderheit Wal⸗ 
demar der Sieger oft mit feiner frommen Gemahlin, ver böhmifchen Prinzeffin Dag⸗ 
mar, tefldirte und mo Ghriftian I. die Hulbigungen der fchleswig-holfteinifchen Stände, 
nah Einigen die Wahl zum Landesherrn, entgegennahm, als man ihn 1460 zum 
Herzog von Schleswig und Grafen von Holflein ermählte, — als Wälle und Gräben. 
Die Mitterzeit ift verfchwunden, und fo auch das Schloß zu R.; die Gräben find 
mit Schilf bededte Moräfte und die Wälle und der Burgplad Schafmeide Aller 
Glanz ift vernichtet in R. theild durch Keuersbrünfte, befonders durch die von 1580, 
theild durch Krieg, theild durch Sturmflutben und Ueberſchwemmungen, von denen 
man das redendfle Zeugniß in der Domfirche erblickt, eine grünfchimmlige Borte, bie 
fih in gewöhnlicher Menfchenhöhe ringe an den Winden und Pfeilern umzieht, — 
fie it Die Marke, welche dad Salzwafler aus der Wefterfee binterlaffen Hat. R. wird 
durch die Ripsaa in die Vorſtadt und Stadt felbft abgetheilt und legtere, mie gefagt, 
von dem Fluß, der zuweilen aus feinen niedrigen lifern tritt, umgeben. Die Stabt 
bat zwei Pfarrkirchen. Darunter ift die prächtige, im Rundbogenſtyl aufgeführte 
Dom⸗ oder Marienkirche, deren Erbauung dem Anfange bed 12. Jahrhunderts ange- 
bört, mit ihrem hoben Thurm eines der merfmürbigften und faſt das großartigfe 
Sotteshaus in Dänemark. - Durch GHriftian VIII. wurde fie in ihrer urfprünglichen. 
Schönheit wieder erneuert, nachdem namentlih ihr Inneres bedeutend in Verfall ger 
rathen war, und in ihr find Erich II. und Chriſtoph 1. begraben. Unter legterem 
Könige war es, daß zuerft der Streit zwifchen Staatögewalt und Kirchenmadyt aus⸗ 
brach und zwar vornehmlih gegen den Erzbifhof von Lund, Jacob Erlandfon; im 
erften Jahre dieſes Streites, 1529, flarb Chriſtoph I. in M., wie man fagt, durch 
Gift im Sacrament, das ihm der Dompropft Arnfaſt, den fein Gegner zum Bilchof 
von Aarhuus machen wollte, gereicht haben foll. An der Seite des Domchors iſt daß 
Gapiteldhaus, in welchem das Konflflorium gehalten wird und Die Pröpfle des Stiftes 


Nipen. 227 


N. am Johannistage zuſammenkommen. Das zweite Gotteshaus iſt die große Katha⸗ 
rinenkirche, im 13. Jahrhundert angebliy von den Dominifanern erbaut, die ihr 
Klofter daneben gehabt. Jetzt dient das Kloftergebäube zu dem reich außgeflatteten 
Hofpital. Die hieſige Kathedralſchule iſt nicht bedeutend, aber die aͤlteſte Gelehrten⸗ 
ſchule in Dänemark, denn ſie foll 1298 errichtet worden fein. Das Rathhaus ifl die 
ehemalige Kaufmannsbörfe, deren Bedeutung erlofh, als der Nipener Hafen aufge⸗ 
hört bat, ein Hafen’ für große Seefchiffe zu fein, und eigentli nur noch Fifcherboote 
von der Ribsaa durch die Rinnen der Watten fahren. In neuerer Zeit ifl aber ein 
Canal angelegt und die Stadt, deren Einwohnerzahl fih auf etwa 4000 Seelen 
beläuft, beginnt fi zu heben, befonders da immerhin ihr Handel mit Landes. 
producten anfehnlih genannt werden muß. Auf kleinen Schiffen werden dieſe 
Producte nah Fand, der Infel der Weller, welhe R. gegenüber liegt, ge» 
bracht, und die Fandker fchiffen damit in die weite Welt, vornehmlih nach London, 
dem großen Zehrplag für die Tändlihen Erzeugniffe der Weſtküſte des europäifchen 
Feſtlandes. Band, das ebenfalld mit Schleswig vereinigt werben foll, 1 Q.⸗M. 
groß und aus Sandbünen und Haiden beftebend, enthält die beiden Kirchfpiele Nordby 
and Sönderbo. Seine 3000 Einwohner find ald tüchtige Seeleute befannt und bie 
Feine Infel hat eine größere Handelsflotte als irgend eine der jltländifchen Handels⸗ 
ſtädte. Die Frauen Eleiden fi in eine eigenthümliche, der holländischen Abnlihe Tracht 
und tragen, um fich gegen die ſcharfe Seeluft zu fchügen, vielfach ſchwarze Halbmasken. 
Band gehört zum Amte R., ebenfo Mand, mit einem Kirchfpiele, ferner der ſüdliche 
Theil von Röm (Romd Sönderland auf Dänifch, Rem auf Brieftfch, terra Riim in 
einer Urkunde von 1348), mit einer Kirche und einem befondern Randvoigt, Der noͤrd⸗ 
lichſte THeil von Sylt, das LKifl-, Lyſtland, mit nur zwei Bauernhöfen und fünf 
Kathen, die zur Kirche und der Landvoigtei Roͤm gehören, und die weftliche Hälfte 
von Föhr mit der ganzen Infel Amrum. Leptere bat von allen Weſtſee⸗Eilanden 
die hoͤchſten Dünen, und da ihr weftlicher Strand fehr gefährlich ift, finden Hier jähr- 
lid) viele Strandungen flat. Während der Ebbe laͤuft das Waſſer zwiichen Amrum 
und Foͤhr täglic, zweimal ab, und meil der Meeresgrund ohne bebeutende Vertiefun⸗ 
gen iſt, benugt man diefe Trodenheit, um zu Buß oder zu Wagen mit Föhr zu ver- 
fehren. Der Aufternfang wird von Amrum aus mir zwölf Booten betricben, deren 
jedes mit drei Fiſchern bemannt if. Diefe Boote fegeln vom Amrumer Hafen aus 
nach den mehr oder weniger entfernt liegenden Aufternbäfffen. Der Sage nad bat 
Knut der Große die erfien Aufternbänfe in diefen Gegenden angelegt. Die Sage iſt 
aber unädt; denn die bieflgen Aufternbänke ruhen auf verfunfenen Ortfchaften, Acker⸗ 
und Wiefenländereien des alten Nordfrieslandes. Seit dem 17. Jahrhundert fcheinen 
bie frieflihen Auftern ein Tandesherrliches Regale gemeien zu fein. Was nun endlich 
die Grafſchaft Schackenburg anbetrifft, fo ift diefelbe Die einzige Graffchaft im 
ganzen Herzogthun Schleswig, aus einigen Gütern entflanden, unter denen Mögel- 
tondern das vornehmfle war. Diefed But Mögeltondern gehörte bis zur Re» 
formationdzeit den Bifchöfen von R., wurde 1536 von der Krone elkgezogen und 
1661 vom Könige Friedrich II. dem Feldmarfhall Hans v. Schad zu Zehn gegeben. 
1671 erhob Ghriftian III. den Feldmarſchall mit allen feinen männlichen Nachkommen 
in den Grafenfland und erklärte unterm 23. Juni 1676 Mögeltondern für eine 
Lehnsgraffchaft unter dem Namen Scadenburg "für den Grafen Otto Dietrich 
v. Schal, den älteſten Sohn des unterdeß verflorbenen Feldmarſchalls. Gegen» 
wärtig iſt die Grafichaft in Beflg des Grafen Dito Dietrich v. Schal, eined Nach⸗ 
Tommen des Feldmarſchalls in der achten Generation. Die Grafſchaft Schaden- 
burg begreift die Mögeltondern Harde, beſtehend aus den Kirchſpielen Mögeltondern, 
Dahler und Emmerlev (letzteres nur zum dritten Theil der Grafſchaft gehörig), das 
Birk» und Kirchfpiel Ballum (Balughbum, Balghum, Balgham) In der 2b Harde und 
in dem Dorfe Luflrup des Riberhus Birks die Birkvoigtei über zerſtreut wohnende 
Untertdanen. Das große Dorf Mögeltondern Heißt in Urfunden von 1231 und 1288 
Mykeltunder, d. i. Broß-Tondern, und bat daher feinen Namen, well e8 vor Zeiten 
größer gewefen, als die nahe Stadt Tondern, melde damals Lytken⸗ oder Klein- 
Tondern genannt wurde. Mögeltondern wird in der angeführten Urkunde von 1288 
15? 


228 Mipperba (Johann Wilhelm, Baron). Niguet de Garaman. 


als Burg (Castrum) bezeichnet. Wahrſcheinlich flebt das Heutige gräfliche Schloß, 
das mit feinen baumreichen Alleen und fchattigen Parks gleichfam wie eine Oaſe in 
der kahlen limgegend liegt, auf der nämlichen Stelle. Auch erinnert die fleddenartige 
Beichaffenheit de8 Dorfes an feine größere Ausdehnung in früheren Tagen. Hier 
und in der ganzen Umgegend legen fich noch viele. Einwohner als Nebenbeichäftigung 
auf die Berfertigung feiner Spigen, welche den Brabanter Kanten an Schönheit nicht 
viel nachgeben. In vorigen Zeiten wurde Died Gewerbe fehr im Großen getrieben, 
und die Stadt Tondern war der Marftplag, von wo aus ein ausgedehnter Handel 
mit feinen Erzeugniffen noch weit und breit betrieben wurde. Das bat zwar aufge- 
hört, nichts deſto weniger befchäftigt die DVerfertigung der Spiten (Kniplinger im 
Dänifchen) noch viele Hinde. 

Nipperda (Iohann Wilhelm, Baron), politifcher Abenteurer, geboren 1680 in 
der holländischen Provinz Gröningen von adligen Eltern und von den Jefuiten zu 
Köln erzogen, trat nach feiner Verheirathung mit einer Proteflantin zum Proteftan- 
tiömus über. 1715 von den Generalftaaten zur Abfchließung eines Handelsvertrages 
nach Spanien gefchidt, wußte er fich Hier beim König Philipp V. in Gunſt zu feßen, 
beirathete nach dem Tode feiner erften Frau eine reiche Spanierin von hoher Geburt, 
ward Katholik und erhielt 1725 eine Miffton an den Hof zu Wien. Nachdem er mit 


⸗ 


den Bevollmächtigten des Kaiſers den Vertrag von Laxenburg unterzeichnet, wurde er 


zum Herzog von R., Granden dritter Klaffe, und zum Staatsſecretaͤr der audwaͤrtigen 
Angelegenheiten, bald Darauf auch zum Leiter des Kriegs⸗, Finanz- und Marine⸗ 
wefend ernannt. Schon im Mai 1726 wurde er jedoch feiner Würden entfegt und 
als Sefangener nach Segovia geichidt. 1728 gelang ihm aber die Flucht nah Eng- 
land, wo er zwei Jahre blieb. 1731 ging er, nachdem er fih nach Holland begeben, 
zum Proteflantigmud zurüdgetreten war und ſich mit dem maroffanifchen Gefandten 
in Einvernehmen gefebt hatte, nach Maroffo, trat hier unter dem Namen Ddman zum 
Islam über und wußte ſich beim dortigen Herrfcher fo in Gunft zu feßen, daß er 
denfelben zum Krieg gegen Spanien bewog und den Oberbefehl über die Kriegsarınee 
erbielt. Jedoch verlor er die Gunft des maroffanifchen Hofe, ald er, von den Spa«- 
niern gefchlagen, die Belagerung von Beuta aufgeben mußte Er lebte bierauf zu 
Marokko und befchäftigte fih mit dem Project einer Union ded Judenthums und 
Islams. Später mußte er fih nach Tetuan zurüdziehen, wo er 1737 ſtarb. Einen 
Theil feiner Reichthümer Hatte er zur Unterflügung Neuhof's (f. d. Art.) in deſſen 
corflcaniichem Abenteuer verwandt. 

Niquet de Caraman, franzöftfche Adelsfamilie, deren Stifter Pierre Paul 
Niquet, geb. 1604 zu Beziered, geft. 1680 zu Touloufe, durch Erbauung ded 
Canal du Midi (f. d. Art. Kanal) fih um Frankreich verdient gemacht hat. Gr 
flammte aus der florentinifchen Familie Arrhigetti (Niquetti), die während der Bürger» 


friege aus Florenz vertrieben war. Sein großes Unternehmen begann er 1666 auf 


eigne Koften und es murbe ſechs Monate nad feinem Tode vollendet. Der Ingenieur 
Andreofiy leitete die Arbeiten. MR. erhielt von Ludwig XIV. den Adel und den Ganal 
in Leben, doch begann derfelbe erft feit 1724 für die Familie einträgfich zu werben. 
Sein zweiter Sohn Pierre Baul de R., der fih ald General im fpanifchen Erb- 
folgefrieg auszeichnete, erwarb Durch Kauf die Graffchaft Caraman und farb 1730 
unverbeiratbet. Sein Neffe Victor Pierre Frangçgois R., Marquis de Eara- 
man, der 1760 als Generallieutenant flarb, mar fein Erbe. Defien Sohn Bictor 
Maurice R., Graf v. Garaman, geft. 1807, heirathete eine Prinzeffin von Chimay 
(ſ. d. Art) Victor Louis Charles R., Marquis, feit 1828 Herzog von 
Garaman, der Sohn des Vorhergehenden, geb. 1762, Schloß fich während der Revo⸗ 
Intion der Emigration an und warb 1815 Pair und Geſandter In Berlin, feit 1816 
bis 1827 in Wien und flarb 1846. Das gegenwärtige Haupt der Bamilie iſt Vic» 
tor Untoine Charles R., Herzog von Garaman, geb. 1810, Sohn eines bei 
Gonfltantine 1837 gefallenen Brigadegenerals, 1838 vermäplt mit Louife, Tochter des 
Herzogs von Crillon. Cr ift 1846 als Schriftfteller mit dem Zeichen der Ehren» 
legion decorirt und hat heraußgegeben: De la Philosophie au 18. siecle et de son 
charactere actuel (1840); Etudes de critique, d’histoire et de philosophie (1840); 


Risbed (Kasvar). Riſtori (Mdelatbe). 229 


Histoire des r&volutions de la philosophie en France pendant le moyen äge, jusqu’au 
16. siecle (1845—48. 3 vol.) und Etudes critiques de science et d’histoire (1951). 
Auch der eine felner Oheime, Georges Joſeph Victor R., Graf von Garaman, geb. 
1788, unter der Neftauration Gefandter in Württemberg und Sachſen, Hat in der 
Revue contemporaine einige literarifche Arbeiten veröffentlicht; fein anderer Oheim 
Moolph, geb. 1800 zu Berlin, diente im Generalſtab und gab nath der Julirevolution 
feine Demiffton als Bapitän ein. 

Risbeck (Kaspar), deutſcher Schriftfteller und Aufklärer, geb. zu Hoͤchſt 1750, 
gef. 1786, Sohn eineß reichen Handeldmannesd, gab die Laufbahn des Juriften, für 
die man ihn beflimmt Hatte, für die des Literaten auf und hat ſich befonder& durch 
feine „Briefe eines reifenden Branzofen Aber Deutfchland an feinen Bruder zu Paris. 
Veberfegt von K. R.“ (1783. 2 Bde.) feiner Zeit einen Namen gemadt. Bon ihm - 
rühren auch der 2. und 3. Band der „Briefe über dad Moͤnchsweſen“ ber, deren 
erfter Band von La Roche, dem Mann der Sophie La Rode (f. d. Art.), der des⸗ 
halb feine Stelle im Dienft des Kurfürften von Trier verlor, abgefaßt if. 

Rift (Sodann), fehr fruchtbarer Kiederbichter der evangelifchen Kirche, geb. am 
8. März 1607 zu Öttenfen bei Altona, fludirte zu Rinteln, Roftod, Utrecht und Leis 
den neben der Theologie audy die Mathematik und Medicin, wurde 1635 Prediger zu 
Wedel an der Elbe im Holfteinifchen, erbielt 1644 den Titel eines medlenburgifchen 
Kirchenraths und vom Kaiſer mit dem Dichterfrang die Pfalggrafenwürbde. Im Jahre 
1647 wurde er Mitglied der fruchtdringenden Gefellihaft, unter dem Namen des 
‚Müftigen”, und im Jahre 1656 fliftete er den Elbfhwanorden, eine Sejellfchaft, 
die fihon mit feinem am 31. Auguft 1667 erfolgten Tode aufhört. MR. genoß zu 
feiner Zeit eined außgebreiteten Ruhmes; man nannte ihn den zweiten Dpig, 
Doch gefiel ihm der Name Elbſchwan, den ihm einige feiner Derehrer gaben, nod 
beſſer. Bon feinen geiftlichen Liedern, die er in verfchiedenen Sammlungen, 3. B. 
„Himmlifhe Lieder“ (Lüneburg 1644 u. 1652), „Paſſtons⸗Andachten“ (Hamburg 
1648, 1654 u. 1668), „Neuer bimmlifchen Lieder fonderbahres Buch” (Lüneburg 
1651), „Muſikaliſche Feſt-Andachten“ (Lüneburg 1655), „Muſikaliſche Catechismus⸗ 
Andachten“ (Lüneburg 1656), „Muſikaliſches Seelen-Paradies“ (2 Thle., Lüneburg 
1660 u. 1662) u. ſ. w. herausgab, find jetzt nur noch wenige bekannt, z. B. „Jeſu 
meines Lebens Leben", „Hilf Herr Jeſu laß gelingen“, „Werbe munter mein Gemü⸗ 
the“, „Auf, auf ihr Reichsgenoſſen, der König kommt heran“, „O Anfang ſondern 
Ende“, „O Ewigkeit du Donnerwort“. Außerdem gab er „verfificirte Anecdoten und 
Schwänke mit ausgezogener Moral“ in dem „Poetiſchen Luſtgarten“ (Hamburg 1638) 
heraus; feine Schauſpiele „Das friedewünſchende Deutfhland”, in Hamburg 1647 
aufs Theater gebracht und in demfelben Jahre auch zuerft gebrudt, und das „friede⸗ 
jauchzende Deutfchland“ (1653) Haben nur noch ein Hiftorifches Intereffe. 

Riſtori (Adelaide), nach dem Tode der Rachel (f. d. Art.), deren Rivalin fie 
in der Testen Zeit des Lebens jener war, entjchieden Die erfle und talentvollfie Tras 
gödin Frankreichs, ift die Tochter eines italienifchen Schaufpielerpaars, des Antonio 
R. und der Maddalena PBomatelli, und geboren zu Eividale, einer kleinen Stadt im 
Bezirk von Udine, wahrſcheinlich im Herbſt 1825. Die erfte bedeutende Nolle, in 
der ihr Talent zu Tage trat, war die Sranzesca di Rimini und der Muf, den ihr Der 
bedeutende Erfolg diefer Darftellung eintrug, verfchaffte thr ein Engagement am fünig« 
lichen Theater in Turin. Mit ſtets fleigendem Beifall fpielte fie 6i8 zum Jahre 1846 
in Rom, Mailand und Venedig, zog Sich jedoh dann vom Theater zurüd, da ihr 
Schwiegervater, der Marchefe Capranica del Grillo, feine Einwilligung zu ihrer Ver⸗ 
Bindung mit feinem Sohne von diefer Bedingung abhängig machte. ALS fle jedoch 
bei einer Wohlthätigfeitsvorftellung im Jahre 1847, deren Hauptrolle in ihren Hin- 
den war, die enthuflaftifchhten Bogeifterung erregte, beichloß fle, flch wieder ganz der 
Kunft zu widmen, und audy der alte Marchefe, fo wie ihr Gemahl, die neben der An⸗ 
erfennung ded großen Talentes auch die zu erwerbenden Talente Goldes in Ermägung 
zogen, zögerten nicht länger mit ihrer Einwilligung zu jenem Entſchluſſe der R. 
Nachdem ihr Triumphzug über die Bühnen Italiens beendet war, engagirte ſie gleich 
der Rachel eine eigene Geſellſchaft und nun durchzog fle mit dieſer bie größeren Städte 


230 Ritſchl (Friedrich Wilhelm). 


ded Continents von Europa, und ſelbſt in Amerika ſammelte ſie Gold und Lorbeeren. 
In der Mitte der fünfziger Jahre trat ſte in Paris zum erſten Male als Maria Stuart 
in der Maffei'ſchen Ueberſetzung des gleichnamigen Schillerſchen Drama's auf, und in 
dieſer Glanzrolle der Rachel erregte ſie durch die glühende Leidenſchaftlichkeit ihres 
Spiels, zu der ſich die claſſiſche Ruhe fener nicht aufſchwingen konnte, die allgemeinſte 
Anerkennung und Bewunderung. Seitdem galt fle für der Rachel größte Rivalin, nad 
deren Tode murde fie ihre Nachfolgerin und fländiges Mitglied des Theätre frangais. 
Ste Hat ſich durch unabläffiges Studium die franzöflfche Sprache fo zu eigen gemadht, 
dag fie diefelbe ohne Accent wie ihre Mutterſprache fpricht. Ihr Repertoir ift ein 
nur geringes und umfaßt mit Ausfhluß der in unübertroffener Meifterfchaft von der 
Rachel dargeftellten Rollen der clafflichen franzoͤſiſchen Tragödie nur das neuere fran⸗ 
zöflfche Drama und deutſche und italienifche Uebertragungen; als ihre Hauptrollen find 
zu erwähnen: die Francisca von Rimini, Marta Stuart, Myrrha, Electra, die Des 
borah nah Moſenthals deutſchem Drama und die Desdemona im Othello. Bon 
Perſon durchaus nicht Schön und von einer Magerkeit, die noch größer ift als die ihrer 
verflorbenen Rivalin, läßt doch die höchſte Vollendung der Plaftit des Spieles jene 
Mängel ganz in Bergeffenheit treten; der veriengende Glanz ihres Auges, der durch⸗ 
dringende Vollklang ihrer Stimme, welche alle Seelenftimmungen bis in die feinften 
Nüancirungen veflectirt, und die Leidenfchaftlichfeit ihrer Darftellung feffeln den Zur 
Schauer fo durchaus, daß ſich alles Intereffe an dem Schaufpiele ganz und gar in ihrer 
Perſon epneentrirt; was bei der Rachel Studium war, ift bei der R. inneres Leben 
und daraus erklärt ſich namentlich die Bewunderung, die ihr Spiel noch mehr als das 
jener großen' Tragödin jelbft bei dem deutſchen Publicum gefunden bat. 

Ritſchl (Sriedrich Wilhelm), berühmter Philologe, geboren am 6. April 1806 
zu Groß⸗Vargela, einem thüringiſchen Dorfe, wo ſein Vater Prediger war, ſtudirte 
in Leipzig und Halle. In Halle im Jahre 1829 promovirt, habilitirte er ſich daſelbſt. 
Bon Hier aus wurde er 1833 nach Breslau als außerordentlicher Profeſſor berufen, 
wobei ihn zugleich Die Mitdirectorfchaft des philologifchen Seminars übertragen warb. 
Im Jahre 1839 erhielt er die Profeffur der claffifchen Philologie und Berebfamkeit 
in Bonn und fpäter ward er au zum Öberbibliothefar der Univerfitätsbibliothef, fo 
wie des damit verbundenen akademiſchen Kunflmufeumd und ded rheinischen Muſeums 
varerländifcher Alterthümer und zum Geheimen Megierungsrath ernannt. Im Jahre 
1864 erhielt er vom König von Hannover das Ritterkreuz des Guelphenordens und 
von Großherzog von Weimar das Ritterkreuz erfter Klaffe des Ordens vom Weißen 
Balken. Auch ift er in demfelben Jahre an Jacob Grimm's Stelle zum Ehrenmit« 
gliede in der phtlologifh-Hiftorifchen Klaffe der E. k. Akademie der Wiffenfchaften zu 
Wien gewählt worden. MR. übt durch feine Vorlefungen und im philologiſchen Se- 
minar einen ungemein anregenden Einfluß auf die Studirenden aus. Seine fchrift- 
ſtelleriſche Laufbahn eröffnete er mit der Bearbeitung der Literatur und Geſchichte der 
griechifchen Grammatifer. Der Ausgabe des Thomas Magifter (Halle 1832) folgten die 
Säriften „De Oro et Orione* (Vratislaviae 1834) und die „Alerandrinifchen Biblig- 
thefen und die Sammlung der Homerifchen Gedichte" (Breslau 1838), an weldhe ſich 
fpäter mebrere Eleine Schriften anſchloſſen. Sodann concentrirte ſich ſeine Thaͤtigkeit 
auf den Luſtſpieldichter Plautus, ſo wie auf das Erforſchen der Entwickelungogeſchichte 
der älteren Latinität. Außer einigen kleineren Schriften müſſen beſonders bie „Pa- 
rerga Plautina atque Terentiana* (Lipsiae 1845, vol. I) angeführt werden, auf welche 
alddann die große Ausgabe des Plautus feldft folgte („T. Macci Plauti comoediae*, 
Elberfeldae, 3 tom., 1848—1853). Bei diefer Bearbeitung des römifchen Dichters 
ift nicht nur Die Metrif der Dramatiker Noms und dabei namentlich aud das Wefen 
des faturnifchen Versmaßes durch R. erläutert worden, fondern es wurbe auch bie 
damit in Wechfelwirfung flehende Grammatik der Sprache der älteren Mömer in’s 
Auge gefaßt. R. iſt der Gründer der rationellen Behandlung der Iateinifchen Gram⸗ 
matit vom ſprachhiſtoriſchen Standpunkt and geworden. Bon der richtigen Anſicht 
ausgehend, daß ohne den feſten Grund der Schriften. und Infchriftenfunde die Sprach» 
forfhung Luftſchloſſer baut, hat er zugleich durch feine Auffafjung der Epigraphik ge- 
iffermaßen eine neue Disciplin für die Philologie gefchaffen Dem mit Tiberaler 


Aikter (Card). 231 


Unterflägung des Minifteriumd und unter pecuniärer Beihilfe der Akademie unternom⸗ 
menen Imfchriftenwerk, welches den Titel „Priscae lalinitatis monumenta epigraphica“ 
führen wird und bis auf den Drud eines Theild Der umfangreichen Einleitung nune 
mehr vollendet if, gingen zahlreiche Schriften vorand. Wir führen hiervon nur an: 
„Monumenta epigraphica tria ad Archeiyporum fidem exemplis lithographicis ex- 
pressa commentariisque grammaticis inlustrata“ (Berol. 1852), „De declinatione 
quadam latina recondiliore quaestio epigraphica“ (Berol. 1861), „De inscriptione 
columnae rostratae Duellianse commentatio II.“ (Berol. 1861), „Priscae latinilatis 
epigraphicae supplementum IV.* (Bonn 1864). Außerdem bat fi R. um Aefchy- 
lus, Sophocles (vgl. ;. 3. „De cantico Sophoclis Oedipi Colonei“, Bonn 1862), 
Zerentiuß, Catullus, um die römifche Archäologie des Dionyflus von Halicarnaf, um 
Zenophon und andere Schriftfieller in einer langen Meibe von Prodmien und Pro- 
grammen, zu deren Abfaffung die von ihm befleivete Profefjur der Beredſamkeit An⸗ 
laß gab, und im „Rheinifchen Muſeum“, von welder Zeitfchrift er in Verbindung 
mit Welder eine „Neue Folge“ (Brankfurt a. M. 1841 ff.) Hat erfcheinen laſſen, ver- 
dient gemacht. 

Ritter (Earl), einer der hervorragendſten Geographen der Neuzeit, wurde zu 
Dueblinburg den 7. Auguft 1779 geboren. Seine Geburt fällt alfo in jene Zeit, 
in welcher ein hoher geifliger Auffchwung in Deutſchland flattfand und ein lebendiges, 
unendlich reges Streben nach den höchſten Gütern der Menfchheit durch alle Völker 
ging Sie fiel früh genug, um ihn an der befruchtenden Kraft diefer Bewegung 
theilnehmen zu laffen, fpät genug, um ihn vor den Verirrungen, in welche ſie viel- 
fach gerieth, Durch Die Erfahrung der traurigen Folgen derfeiben zu bewahren. Sein 
Vater war fürfllicher Leibarzt der Aebtiffin des dortigen Stifts, ein Mann von edlem 
Charakter und feinem, frommem Gemäthe, von feinen Mitbürgern wegen feiner Ge⸗ 
ſchicklichkeit gefchägt. Er flarh früh, ald Karl, das vorlegte von fünf Kindern, fünf 
Jahre alt war und Hinterließ eine völlig mittellofe Wittwe. Der Erzieher der Kinder 
war Gutsmuths, damals Kandidat der Theologie, welcher die ihn anvertrauten 
Zöglinge auch nad dem Tode des Vaters nicht verlieh, obſchon Ihm Die Mutter er» 
Härte, daß fle außer Stande fei, ihm ferner fein Gehalt zu zahlen. Wunderbar genug 
fügte fit das Schickſal des Eleinen Karl. Salzmann hatte damald, nachdem er 
fih von Bafedow getrennt, Schnepfenthal gekauft und fland im Begriff, feine Erzie⸗ 
Hungsanflalt daſelbſt zu eröffnen. Er Hatte fi vorgenommen, als erften Zoͤgling 
ein Kind unentgeltlich aufzunehmen, doch follte es erft im fechften Jahre flehen und 
nicht unbegabt fein. Die Wahl fiel auf den Heinen Karl. Ein älterer Bruder und 
Gutsmuths begleiteten die Mutter, welche ihren Sohn perfönlich nach Schnepfenthal 
brachte. in mehrtägiger Aufenthalt im Haufe Salzmann's entfchied darüber, daß 
der ältere Binder ebenfalls in Schnepfenthal blieb und Gutsmuths dort als Lehrer 
eintrat. Karl R. vermeilte in Schnepfenthal elf Jahre hindurch und dieſer Liebliche 
Ort wurde feine wahre Heimath, der er fletd die dankbarſte Erinnerung bewahrte. 
Und kaum möchte ed einen anderen Ort gegeben haben, an welchem ſich gerade bie 
eigenthümlichen Anlagen feiner innigen und finnigen Natur hätten glüdlicher ent« 
wideln und zu dem Berufe, den er fpäter in fo ausgezeichneter Weife erfüllte, vorbes 
zeitend ausbilden können. Rings umgeben von einer mit den mannichfaltigften Reizen 
außgeflatteten Landichaft, an dem Rande des Thüringer Waldes, hinausſchauend nach 
der einen Seite auf Die weit fich audbreitende fruchtbare, mit Städten und Dörfern 
reich befepte Ebene, nach der andern auf die bewaldeten, mit köſtlichen Wiefengründen 
durchzogenen Berge mit ihren mannichfaltigen Geftaltungen und dem reichen in ihnen 
waltenden Leben, empfing er von frühefter Jugend an die lebendigſten Einprüde von 
der Herrlichkeit der Schöpfung Gottes, von der Mannichfaltigkeit der Geflaltungen der 
Erboberfläcdre und der ihnen eigenthüimlichen Beziehungen zu dem auf ihr fich entfal- 
tenden Leben. Dazu Fam, daß er in ben einfachften und natürlichften, durch keinen 
bindernden Zwang beengten Berbältnifien unter der Leitung trefflicher, für die Erzie⸗ 
bung der Jugend begeifterter Männer, die alle mit ihren BZöglingen gleichfam eine 
Samilie bildeten, aufwuchs. Unter den Xehrern, die am meiften auf ihn wirkten, find 
vor Allen Salzmann ſelbſt, Bechſtein und Gutsmuthé zu nennen, ber auch 


232 | Ritter (Cach. 


hier fortfuhr, ihm die befondere Sorgfalt zu widmen, und ohne Zweifel weſentlich 
Dazu beigetragen Hat, ihm eine Richtung auf die Geographie zu geben. Die 
MWeife des Unterrichts und der Erziehung war die von Bafebow angeregte 
und zuerfi im Deflauifchen Bbilantropin verfuchte, aber befreit von dem markt⸗ 
fohreierifchen und eitlen Weſen, dad ihr dort anklebte. Die Beichäftigung mit 
den Sprachen und, Werfen der clafflihen Literatur wurde weniger berückſich⸗ 
tigt, dagegen murben mannichfache Kenntniffe und Bertigfeiten, die in unmittel« 
barer Beziehung zum Leben fliehen, gelehrt, und die neueren Sprachen traten mehr 
als andermärts in den Vordergrund, was auch dadurch befördert wurde, daß bald 
Böglinge aus fehr verfchiedenen Ländern in Schnepfenthal zufammenlamen. Staͤh⸗ 
lung des Xeibes, Kräftigung des Charakters und des Geiftes überhaupt in feiner 
Sefammtentmidelung wurde mit regſtem Eifer angeflrebt. Der dur daß ganze 
dortige Leben hindurchgehende Geift mar befanntlich der des praftiichen Rationalis⸗ 
mus, unter deſſen eifrigfte Vertreter Salzmann zählte. Aber wenn fo die tiefften 
Duellen wahrer Befeligung wenigftend verdunfelt waren, fo berrfchte in bemfelben 
doch eine durchaus aufrichtige Frömmigkeit, herzliche Liebe, hohe Neinheit der flttlichen 
Gefinnung. Das waren die Einflüffe, unter denen R. zum Jüngling beranreifte und 
unter denen alle jene Eigenfchaften des Herzens und Geiſtes, die ihn fpäter in fo 
hohem Grade auszeichneten, in der Stille und unter der unfcheinbaren Hülle jugende 
liyer Einfalt erftarkten. Seine Zukunft lag dunkel vor ibm, R. hatte fich für Leinen 
Stand entfchieden; zwar hegte er den Wunſch zu fludiren, wozu jeboch durch feine 
Mittellofigkeit wenig Ausfiht vorhanden war. Ein Beſuch, den der Kaufmann 
Hollweg, Affocie des Bethmann'ſchen Haufes In Frankfurt a. M., der Erziehungs« 
anftalt in Schnepfenthal abftattete, führte den Wunſch R.'s zur Verwirklichung. Holle 
weg fand Gefallen an dem ernfifirebenden Süngling; er erflärte jich bereit, ihn fludiren 
zu laffen, unter der Bedingung, daß er fpäter als Erzieher in fein Haus eintrete. Im 
achtzehnten Lebensjahre bezog demnach R. die Üniverfltät Halle und wurde am 2. 
November 1796 als Studiofus der Bameralmwiffenfcyaften immatriculirt. Halle war 
damals der Mittelpunft eined außerordentlich regen wiffenfchaftlichen Lebens, nament⸗ 
ih F. A. Wolf auf der Höhe feiner anregenden Wirkſamkeit. Auch blieb ber 
Aufenthalt dafelbft gewiß nicht ohne mannichfaltige Einwirkung auf R., doch fcheint 
fle weniger bedeutend gewefen zu fein. Seine ganze Borbildung war weniger auf die 
Berfolgung beflimmterer Fachſtudien angelegt, die er denn auch nicht betrieb: was er 
fpäter wohl zumeilen bebauernd erwähnte. Indeffen gedachte er Öfler des anregenben 
und bildenden Einfluffes, den U. H. Niemehyer auf ihn ausgeübt habe, in deſſen 
Haufe (der jogenannten Niemeyerei) er wohnte und der ihm nach feiner gaſtfreien 
Weiſe den Zutritt zu den um ihn ſich oft verfammelnden Kreilen geftattete. Bei der 
bedeutenden Stellung, die Niemeyer in der päbagogifchen Welt damals einnahm — 
dasjenige Werk, woran fich fein Name am bleibendften Enüpft, feine „Srundfäge ber 
Erziehung und des Unterrichts“, erfchlen zuerfl gerade 1796 — mußte er allerdings 
für R., der fi ja zu dem Berufe eines Erziehers vorbereitete, von beſonderer Wichtig- 
keit fein. 1798 verlich R. Halle und trat in das Hollmeg’fhe Haus ein, um bie 
Erziehung der vier Kinder Hollweg's, namentlidy der beiden Knaben, zu übernehmen, 
von denen der eine der fpätere preußifche Minifter v. Betbmann-Hollweg (f. d.). 
war. Der Sranffurter Aufenthalt führte ihn mit mehreren geiflig hervorragenden 
Männern zufammen, unter denen befonders ©. Th. Sdömmering zu nennen fl, 
deſſen Genialität und tiefe Wiflenfhaftlichkeit den größten Einfluß auf ihn ausühten. 
Er ſelbſt ſpricht Dies in der Einleitung des Erblunde aus, wo er fagt: 
„Wenn in dem Verſtaͤndniß ber Geſehe des geographifchen Berbältniffes ver 
ganzen belebten Natur etwa bie und da in gegenwärtiger Anorbnung eine 
intereffante Anſicht Hervortreten follte, fo verdankt der Verfaſſer dieſe ganze 
Richtung feiner Aufmerkfamkeit dem vielfährigen, belchrenden und, mit Stolz fei es 
gefagt, vertrauten Umgange mit einem edlen Manne, ©. Tb. Shmmering, ber als 
ein Schmud feines Jahrhunderts und feiner Nation genannt wird, Denn fein Geiſt 
erfüllte auch Andere mit den Ahnungen ber Tiefen der Natur, die fein eigener Ger 
nius His In ihre verborgenen Geheimniſſe durchſchaut hat.“ Auch mit 3. G. Ebel, 


Aitter (Car). 233 


dem Berfafler des claffifhen Werks über die Schweiz, wurde er in Branffurt eng 
befreundet, was ihm nicht allein für feine vwieberholentlih nad der Schweiz unter« 
nommenen Heifen in Bezug rauf die Kenntniß dieſes Landes von großer Wichtigkeit 
war, fondern überhaupt tief anregend auf ihn wirkte, „die gegenwärtige Arbeit“, jagt 
er in der angeführten Einleitung, „verdankt dem mehrjährigen Umgange mit diefem 
Eveln bei ihrem erflen Entfiehen dad, was fie an Leben und Wärme befipen mag.” 
Auch begegnete er im Hollweg'ſchen Haufe zu wiederholten Malen A. v. Humboldt 
und 2. 9. Buch. Die Zeit feines Frankfurter Aufenthalts widmete er den mannich⸗ 
fachſten Studien, namentlid den claffiichen Sprachen und Literaturen, die, wie erwähnt, 
in feiner früheren Jugend weniger gepflegt worden waren. Doch trat die Richtung 
auf Geographie und Geſchichte mit überwiegender Entjchiedenheit hervor, welche Rich⸗ 
tung fih auch in feinen erften Bublicationen kundgab, fo bereit In den Beiträgen für 
den „Neuen Kinderfreund", melden Engelmann von 1803—6 in Verbindung mit 
feinen padagogiſchen Breunden berausgab, mehr freilich noch durch die im Jahre 1806 
erfolgte Herausgabe feiner „Sechs Karten von Europa mit erflärendem Text“ 
(Schnepfenthal) und durch da8 darauf erfchienene „Europa, ein geograpbifch-hiflorifch“ 
Ratifiifche® Gemälde für Freunde und Lehrer der Geographie? (Brankfurt 1804, 1807, 
2 Bre.). Ein Biograph von R., der Director Kramer in Halle, nennt dieſe Ar- 
beiten „die erften taftenden Verſuche, die Incunabeln defien, was in feiner Seele lag.” 
Um dies zur Reife und zur vollen Erſcheinung zu bringen, beburfte e8 noch anderer 
Borbereitungen, wozu zunächft die Reiſen dienten, die er vom Jahre 1807 an zu wie« 
derholten Malen mit feinen Zöglingen, Auguft v. Bethmann⸗Hollweg und Wilhelm 
Soͤmmering, dem Sohne ded oben genannten berühmten Anatomen, nach der Schweiz 
und Stalien unternahm und deren legte, welche 1811 begann, mehrere Jahre dauerte. 
Der Beſuch der Schweiz brachte ihn zu Peſtalozzi In nähere Beziehung. Der 
wichtigfle fehmweizerifche Punkt wurde für ihn Genf, wo er fig von 1811 an länger 
als ein Iahr aufhielt und mit Männern, wie M. U. Pictet, de Candolle ıc., 
namentlich mit Exflerem, in nähere Beziehung trat. In St. Gervais, am Zuße des 
Montblanc, fludirte er auf das Eingebendfle die Natur des Hochgebirges und machte 
von dort aus eine Nundreife um den Montblanc. In Italien, welches er unter geo- 
graphifchen Studien und Beobachtungen bis in feine Südſpitze durchzog, erfchloß ſich 
ihm die ganze Bülle der dortigen Kunftwelt, für welche er einen empfänglichen und 
forgfältig ausgebildeten Stan mitbrachte. Rom übte auf ihn noch dadurch eine be⸗ 
fondere Anziehung, als er dort jenen Kreis firebenber Maͤnner fand, welche bie 
Wiedergeburt und ernenerte Blüthe der Kunft herbeiführen follten: Thorwald⸗ 
fen, Dverbed, Gorneliuß ac, deren Umgang ihm neue und tiefere Blicke 
in das Wefen der Kunft eröffnete. Nach allen Seiten vielfach bereichert, Tehrte er in 
Die Heimath zurück und begann Hand anzulegen an dad Werk, welches die Aufgabe 
feines Lebens wurde. Hierfür wurde fchließli noch der Aufenthalt in Göttingen 
von großer Wichtigkeit, wohin er fih Oſtern 1814 mit feinen beiden Zöglingen, 
welche damals die alademifchen Studien begannen, begab. Er unterhielt regen Ver⸗ 
kehr mit den dort lebenden Meiftern der Wiſſenſchaft, ganz befonderd mit Haus⸗ 
mann, beutete die Schäbe ber dortigen Bibliothek aus und verfchmähte e8 im ge= 
reiften Mannesalter nicht, bie Hörfäle der Profefioren ald Schüler zu befuchen, er, 
dem felbft ſchon ehrenvolle Kebrftellen angeboten worben und ber fich eben mit der 
Ausführung eine Werkes wie die „Erdkunde“ beſchaͤftigte. Nach zmeijährigem 
Aufenthalte ging ex nad Berlin, wo er die lebte Hand an die Ausarbeitung feines 
Werkes Iegte und wo nun der Druck deflelben begann. Im Jahre 1817 erſchien der 
erſte Theil der „Erdkunde im Verhältnig. zur Natur und zur Geſchichte des Menfchen, 
oder allgemeine vergleichende Geographie, als fihere Grundlage des Studlumd und 
Unterrichts in phyſikaliſchen und hiſtoriſchen Wiffenfchaften”, ein Werk, mweldes auf 
die Geographie ale Wiſſenſchaft einen bebeutenden Einfluß ausüßhte Der erſte Theil 
enthielt Afrika und einen Theil Aftens, der zweite Theil, welcher ein Jahr fpäter er⸗ 
fchten, brachte Aſien zum Abfchluß. Der Bollendung der erfien Bände folgte unmite 
telbar Die aus feinen aſtatiſchen Studien bervorgegangene „Vorhalle europäifcher 
Bölkergefchihten von Herodotus, um den Kaufafus und an den pontiſchen Geſtaden, 


234 Rifter (Erd). 


eine Abhandlung zur Alterthumskunde“ (Berlin 1820). 1819 übernahm er an bie 
Stelle ded nach Heidelberg abgegangenen Hofraths Schloffer das Lehrfach Der Ge⸗ 
ſchichte und der Hiflorifchen Disciplinen bei dem Gymnaſium in Frankfurt a. M.; aber 
fein Ddortiged Wirken follte von nicht Ianger Dauer fein, denn er warb ald außer⸗ 
ordentlicher Profeſſor der Erd⸗, LKänder-, Bölfer- und Staatenfunde an der Univerfltät 
und der Statiflif an der allgemeinen Kriegäfchule (jeht Kriegsakademie) nach Berlin 
berufen, wohin er im Herbſt 1820 abging. Hier fand er durch die zahlreichen, viel⸗ 
fach fich freugenden geifligen Intereflen, durch den lebendigen Verkehr mit den aud« 
gezeichnetften Fachgenoſſen, die Mannichfaltigften Anregungen und Förderungen feiner 
Studien. Neben feiner Kehrtbätigkeit, welche an beiden Anflalten durch die frifchefte 
Empfänglichkeit begünftigt * wurde, befchäftigte er fi mit der zweiten Auflage der 
bereitö vergriffenen „Erdkunde“, von weldyer der in jeder Beziehung reichere erſte 
Band 1822 erſchien. Jetzt trat eine lange Unterbrechung feiner Arbeiten ein, da ſich 
feine amtliche Ihätigkeit in mancher Beziehung erweiterte. Auch übernahm er den 
geographifchen und, Gefchichtäunterricht des Prinzen Albrecht von Preußen, folgte 
während der Wintermonate Einladungen des Kronprinzen zu DVorlefungen über die 
Geſchichte der Geographie ꝛc. Dennoch förderte er, einem unabweisbaren inneren 
Bedürfniß folgend, feine wiffenfchaftlichen Arbeiten mit außerordentlichem Fleiße, 
wenn auch nichts weiter davon an die Deffentlichkeit trat, als die in der Akademie 
der Wiffenfchaften, deren Mitglied er feit 1822 war, gehaltenen Vorträge und ein⸗ 
zelne Bleinere Arbeiten. Die am 18. April 1828 von H. Berghaus angeregte und 
von diefem und Engelhardt, Oetzel, Stein, Wohler8 und Zeune gefliftete 
geographifche Gefellfchaft zu Berlin, deren Director er eine Reihe von Jahren geweſen, 
bot ihm dann auch Gelegenheit, die Nefultate feiner Studien in freierer Weiſe mit- 
zutbeilen. Von großer Wichtigkeit waren für ihn in feder Beziehung die faft regel- 
mäßig in den langen Herbfiferien unternommenen Reiſen. Neben der damit verbuns 
denen Ausbeutung wichtiger geograpbifcher Eentren, wie Wien, Paris, London und 
andere Orte, erſtreckten fich dieſe Meifen, bie in den breißiger und vierziger Jahren 
eine größere Ausdehnung nahmen, in den verfchiedenften Michtungen über die Länder 
des mittleren Europa. Die ausgedehnteflen und michtigften waren die Reiſen nad 
Griechenland, Konftantinopel, durch die Bulgarei, Walachei, Siebenbürgen und Un⸗ 
garn; wiederbolentlih nach Paris, durch das ſüdliche Kranfreih, und ein anderes 
Mal durch das weſtliche Frankreich und bie Pyrenden; durch Belgien und Holland; 
durh Dänemark, Schweden und Norwegen; nad London und durch einen Theil von 
England. Das mittlere und fübliche Deutfchland, das Alpenſyſtem in feinen verſchie⸗ 
denen Theilen, die Schweiz und das nördliche Italien befuchte und durchzog er oft« 
mals, flet8 andere Richtungen und Zwecke verfolgend. Nach einer Reihe von Jahren 
fühlte er jedoch, daß er, um die Erdfunde zu fördern, ſich concentriren müfle Vom 
Jahre 1831 an zog er fih von allen Arbeiten und GBefchäften, die feinen geograpbi- 
ſchen Studien fern lagen, zurüd. Danach erfhien von 1832 an in rafcher Folge 
jene Reihe bon Bänden über „Alflen” (Berlin), deren vorlegten, den neungehnten, er 
wenige Wochen vor jeinem am 28. September 1859 erfolgenden Abfcheiden fchloß. 
R. ging von dem Gedanken aus, daß wie jeder einzelne Menfch mit einem befonderen 
Charakter und mit befonderen Fähigkeiten eine befondere Aufgabe yon der Vorſehung 
zugemiefen erhalten bat, ähnlich auch die verfchiedenen Völker und Länder. Eben fo 
wenig wie der einzelne Menfch, eben fo menig geben fich die Völker ihren Charakter 
und ihre Eigentbümlichkeit. Die Wiſſenſchaft der Geographie Hat ſich diefer Eigen- 
thümlichleit bewußt zu werben, fie deutlich und Far zu erkennen. Die Gigenthüm« 
lichkeit des Volkes aber kann nur aus feinem Wefen erkannt werben, aus feinem 
Berhäftnig zu fich felbft, zu feinen Gliedern, zu feinen Umgebungen, aus feinem Ber- 
bältni zu beiden, und aus dem Verhaͤltniß von beiden zu Nachbarländern und Nach⸗ 
barflanten. Damit if auf den Einfluß bingewiefen, den die Matur mit fliller, aber 
unwiderſtehlicher Gewalt auf dad Volt ausübt; Natur und Geſchichte ſtehen in leben⸗ 
Diger Wechfelmirkung, nicht Die Gefchichte außerhalb oder neben der Natur. Die Erbe 
ift das Erziehungshaus der Menſchheit und die Geſchichte der Bericht von dem Ver⸗ 
lauf und Ergebniß der Erziehung Wie die Geſchichte nicht etwas Willlkürliches, 


Ritter (Heinrich). 23; 


fondern ein Ganzes, wie ihre Begebenheiten ſich nicht gleichgültig zu einander ver⸗ 
halten, fondern nothwendig zufammenhängen, fo ift auch die Exboberfläche in ihrer 
Formation nicht etwas Willkürliches, fondern die verſchiedenen Länder ſtehen im einer 
nothwendigen Beziehung zu einander und bilden, mie die Ereigniffe der Geſchichte, 
in ihren Wechfelbeziehungen ein organifches Ganzes, einen Kosmos, an defien Spike — 
das ift der Schluß- und Zundamentalfag, welchen fi R. von Natur und Menfchenmelt 
gebildet Hatte und für den er beredtes Zeugniß ablegte — der lebendige Gott die 
natürliche und fittliche Welt erhält und regiert. Die religidfe Ipealität diefer An⸗ 
fhauungsweife, mit der fede materialiftifhye Auffaffung unverträglich iſt, zieht ſich als 
der eigentlich rothe Faden darch alle Forſchungen R.'s. Er felbft Tiebte e8, gerade 
diefen legten Punkt überall mit ernflem Nachdruck zu accentuiren. 

Hitter (Heinrich), einer Der verdienſtvollſten Geſchichtſchreiber der Philoſophie, 
wurde 1791 in Zerbſt geboren, ſtudirte, nachdem er den Gymnaſſalunterricht in feiner 
Baterftadt genofjen Hatte, in den Jahren 1811—15 in Halle, Goͤttingen und Berlin 
Theologie, zugleich aber befchäftigte er ſich viel mit Philoſophie. Schleiermacher's 
Einfluß machte ſich befonderd bei dem jungen Manne geltend, der ſchon als Student 
den von der Berliner Akademie ausgefepten Preid für eine Arbeit über das Verhaͤltniß 
des Carteſtanismus und Spinozismuß erhielt. Diefer Umftand wirkte entfcheidend bei 
dem Entſchluſſe, fi ganz der Philoſophie zu widmen, und zwar einer Philofophie, 
die auf der Gefchichte derjelben ruhte und aus ihr mit Bemußtfein ihre Nahrung zog. 
Eine Abhandlung: Meber die Bildung des Philoſophen durch die Geſchichte der Philo⸗ 
ſophie, die er zugleich mit feiner Pretsfchrift im 3. 1817 in Leipzig herausgab, ent« 
widelte vor dem Publicum diefe Anficht, der R. fletS treu geblieben if: In dem⸗ 
felben Jahre ward er in Halle auf eine Differtation de inscitia humana promovirt 
und babilitirte fih in Berlin. Gefhichte der Philoſophie und Logik wurden bier 
feine hauptſächlichſten Borlefungen, die übrigens, da Hegel damals feine Haupt⸗ 
triumphe felerte, wenig befucht wurden. Anerkennender war das Iefende Publicum, 
den R. während feiner Berliner Wirkfamkelt vorlegte: Weber die philofophifche Lehre 
des Empedofles (in Wolf's liter. Annal.) 1320, die Gefchichte der tonifchen Philo⸗ 
fophie, Berlin 1821, die BVorlefungen zur Einleitung in die Logik, Berlin 1823, den 
Abriß zur philofophifchen Logik, Berlin 1824, die Gefchichte der pythagoreiſchen Philo⸗ 
fophie 1826, die Halb⸗Kantianer und der Pantheismus 1827; endlich die erfien Bände 
feine Hauptwerks, ber Gefchichte der Philofophie, Hamburg 1829 ff., melde im 
12. Bande ihren Abfchluß erhalten bat, da R. nie die Abficht gehabt Hat, fie über 
Kant Hinauszuführen. Obgleich feit 1824 außerorbentlicher Profeffor, feit 1832 Mit⸗ 
glied der Akademie, was bekanntlich Hegel nie geworden ifl, nahm R. doch im Jahre 
1833 den Auf nad Kiel an, wo er in hoher Achtung fland, welche Durch die Art, 
wie er fih benahm, als er nach Göttingen gerufen wurde, nur fleigen fonnte. 8.8 
ſchriftſtelleriſche Thätigkeit in Kiel und Göttingen, wo er noch jetzt als Profeffor der 
Philoſophie wirkt, iſt eine fehr große gemefen. Der Schrift: Ueber das Verhältniß 
der Philofophie zum Leben überhaupt (Berl. 1835) folgte: Ueber die Erkenntniß 
Gottes in der Welt (Hamb. 1836); Ferner: Ueber das Böfe (Kiel 1839), veranlaßt 
durch Sul. Müller’8 Schrift über die Sünde; die Heinen philofopbifchen Schriften 
(2 Bde., Kiel 1839, 40) behandeln die Principien der praktiſchen Philoſophie und 
Aeſthetik. An der verdienſtlichen Chreftomathte, die R. mit Breller zuſammen heraus. 
gab: Historia philosophiae graeco-romanae, Hamb. 1838, bat wohl Preller mehr 
Theil als R. In Göttingen erfchienen: Ueber unfere Kenntniß der arabifchen Philo⸗ 
fophie 1844; Ueber Emanationdlehre, 1847, zwei Abhandlungen, die viele Angriffe 
erfahren haben; ferner: Die riftliche Philofophie nach ihrem Begriff, ihren Außeren 
Verbältniffen und im ihrer Gefchichte bis auf die neueften Zeiten, 2 Boe., 1858—59, ein 
Werk, das feinem größern Theil nach ein Auszug aus dem großen Geſchichtswerk ift, daffelbe 
aber auch ergänzt, indem e8 auch Die nachkantiſche Philoſophie behandelt. Endlich Hat R. 
neuerlichft eine ausführliche Metaphyſik (1862) und Naturphilofophie (1864) veröffentlicht, 
{9 daß alle Theile der Bhilofophie von Ihm ausführlich oder in lImriffen (fo die praktiſche 
und die Kunſt⸗Philoſophie) in gedrudten Werken abgehandelt worden find. Bon den 
beiden Elementen, au denen R. zufammengefegt if, dem Philofophen und dem Hi⸗ 


236 Rittergut. 


ſtoriker, iſt entfchieden der Letztere der Ueberwiegende. Dies ˖gereicht nun den ſyſte⸗ 
matiſchen Sachen zum Nachtheil und hat zur Folge gehabt, daß der Philoſoph noch 
mehr, als er es verdient, für einen Eklektiker gehalten und von Wenigeren, als er 
ſollte, geleſen wird. Aber auch dem Hiſtoriker hat jenes Uebergewicht keinen Nusen 
gebracht. R. polemiſirt oft dagegen, Daß die Geſchichte der Philoſophie „conftruirt”, 
wie er ed nennt, d. 5. daß in ihrem Gange Bernunft und Nothwendigfeit erfannt 
und nachgewiefen werde. Er meint, died müfje der treuen Reproduction der Syſteme 
Abbruch thun, fle auf das Profruftssbette eines fertigen Schematißmus bringen. Und 
doch wird gerade die Erfenntniß: jedes philoſophiſche Syſtem mar in diefer beflimm- 
ten Zeit eine Notbwendigkeit, den, der fie hat,/ dahin bringen, es felbft, alfo unver⸗ 
ändert, darzuftellen, während die Anftcht, welcher R. zuneigt, daß in jedem Syſtem 
Brauchbares auch für die Gegenwart zu finden fei, nur zu leicht dahin bringt, dieſes 
Brauchbare, welches dem Darfteller als die Hauptſache erfcheint, bei der Darftellung 
fo bervortreten zu laſſen, als wäre e8 dem Urheber des Syſtems die Hauptfacdhe ge⸗ 
meien. Dad, mad man wohl Mangel an plaftifcher Darfielung bei R. genannt hat, 
wodurch man bei dem Lefen der R.'ſchen Darftellungen immer wieder veranlaßt wird, 
zu fragen: hat jener Philofoph died für wahr gehalten, oder hält e8 R. für wahr? 
dies hat feinen Grund darin, daß R. nicht wagt, zu conflruiren, und doch auch zu 
viel philofophifches Intereffe Hat, um bloß zu referiren. 

Rittergut. Unter dieſem Ausdruck verſtand man ſchon in der zweiten Hälfte 
des Mittelalters ein Grundftäd, deſſen Befiger zum berittenen Kriegsdienft verpflichtet 
war, im Uebrigen aber an dem Grundſtück das echte volle Eigenthum hatte ohne 
weitere Beichränfungen und Dienftbarkeiten. Lebensqualität war nicht erforderlich, 
vielmehr bat ed zu allen Zeiten auch allobiale M. gegeben; doch gehörten die Mitter 
in diefem Sinne damals noch nicht zum Abel, fondern bildeten mit den Mintfterialen 
einen befonderen Stand nach dem Adel. Doc fchon im 14. Jahrhundert fing man 
an, beide, die nunmehr verfhmolzen waren, zum niederen Adel zu rechnen. Bortan 
begannen die mit R. Angeſeſſenen ſich corporativ zu fammeln und ein wichtiger Theil 
der damals ſich bildenden Iandfländifchen Verfammlungen zu werden. Sie traten nun 
in Berbandlungen, theils mit den Territorialherren, theild mit den Städten, mit 
welchen Ießteren fie aber in der Regel fchlechter ftanden, als mit erfteren. Meiſtens 
erlangten fle von den Landesherren, daß ihnen außer der Verpflichtung zum bemaffne- 
ten Kriegädienft Leine weitere Steuern und Laſten auferlegt werden dürften, als welche 
fie felber etwa freiwillig übernehmen würden. Sie haben dann in der Folgezeit in den 
einzelnen Territorien in verfchiebener Art, Häufig nicht ohne Gegenleiftungen und 
Uebernahme landesherrlicher Schulden, verichiebene Privilegien erworben. Darunter 
zuerfi dad Patronat, welches aber meiftens dur Stiftung von Kirchen und Schulen, 
alfo titulo oneroso, erworben war; fodann die Gerichtäherrlichkeit, fo wie Hut⸗ und 
Forfigerechtigkeit und Jagd⸗ und Zifchereirecht in den bäuerlichen Beflgungen, welche 
bei der Berleihung derfelben vorbehalten waren. Endlich vor Allem die Standfchaft, 
von der ja ihre ganze politifche Stellung ausgegangen war, und zwar fowohl Stande 
fhaft auf den größeren Berfammlungen, den Landtagen, als audy auf den Fleineren, 
den Kreidtagen, wo folche beftanden. Als mit der veränderten Heereöverfaflung der 
perfönliche Kriegädienft der R. in Wegfall Fam, trat gewöhnlich an deffen Stelle eine 
Beldzahlung unter verjchiedenen Namen und zu verfchiedenem Betrage. In Preußen 
ift die Abgabe in einigen Gegenden Lehnpferdegeld, und zwar in ber Marl und, 
Pommern. In Oftpreußen wurde den R. eben fo mie den Kölmern und den Bauern, 
nur zu verfchiedenem Betrage, ein General- Hufenfhoß auferlegt. Entfprechende Abe 
gaben In den weftfälifchen und rheinifchen Provinzen führten andere Namen und ähn« 
lich war es in den neu erworbenen Zandestheilen von Schleflen, Weftpreußen, Poſen, 
Sachſen und Lauflg. Eine weientlich veränderte Beziehung zur Krone hatten bie MR. 
fon eingenommen durch dad Edict des Königs Friedrich Wilhelm 1. vom Jahre 1717, 
durch welches der König auf das dominium directum aller der R. im damaligen 
Umfange der Monarchie verzichtete, weldye biöher von der Krone zu Leben gegangen 
waren; dafür wurde aber eine neue Eleine Steuer erhoben. Großes Unglück kam fo» 
dann über die ritterfchaftlichen Beſihungen während des fiebenjährigen Krieges, wäh 


Nitterpoehe. 237 


end welched namenilih Pommern und die Markt von den feindlichen Brandichaguns 
gen arg zu leiden Hatten. Faſt noch ſchlimmer ging es ihnen während der Branzofen- 
herrſchaft; am allerfchlimmften aber durch die dieſer entfproffene moberne Geſetzgebung, 
deren beſtaͤndiges Beſtreben ed war und iſt, nur dem flüffigen Gelbcapital förberlich 
zu fein, den ritterfchaftlichen Beſitz aber entweder zu mobilifiren oder zu vernichten. 
Bis zur Franzoſenherrſchaft hatten die Beflger von MR. einen aus ihrer Mitte gewähl- 
ten Vermittler zwifchen ſich und den Eöniglichen Behörden; das war der Landrath im 
damaligen Sinne des Wortes. Die Landgemeinden fanden unter Eöniglichen Inten- 
danten und Die Städte unter Steuerräthen. Außerdem batte der große König 
den A. in den einzelnen Gegenden feines Reiches, um fle vor gänzlichem oͤko⸗ 
nomifchen Ruin zu bewahren, nach dem flebenfährigen Kriege das fo fegendreiche 
landfchaftlihe Credit⸗Inſtitut verliehen, welches fich feiner Organifation nach bureau- 
fratifcher Willlür entzog und daher auch von der fogenannten Reform⸗Geſetzgebung 
unangetaflet blieb. Der Landrath aber mußte zeitwetlig dem berüchtigten Gendarmerie⸗ 
Edict weichen, welches für alle Eingefeflenen eines Kreifes einen bureaufratifchen 
Kreisbirector mit einem halb bureaufratifchen, halb quafifländifchen Ausfhuß eingefegt 
wiffen wollte. Diefe franzöflfche Einrichtung wollte aber in Preußen Feine Wurzel 
ſchlagen, und man Fam wohl oder übel auf den Landrath zurück, welcher nun zwar 
auch aus der Mitte der Nittergutöbefiger gewählt, aber für alle Eingefeflenen des 
Kreifed beflallt wurde. Die Gefeggebung von 1807 bis 1812 hatte die Mittergüter 
in ihrem Territorial-Umfange geſchadigt und ihren Beflgern die Schugherrlichkeit über 
die Eingefefienen ded Gut genommen. Das Jahr 1848 nahm ihnen das Jagdrecht 
ohne Entihädigung, der 2. Sanuar 1849 die Batrimonial« Gerichtöbarfeit, und der 
2. März 1850 Iläfte ihre Meallafl Berechtigung ab. Hatte ſchon der 31. Januar des- 
felben Jahres alle Lehn- und Fideicommiß- Verbindung befeitigen woHen, fo wollte der 
11. März das Gendarmerie-Edict reprodueiren und fomohl den gewählten, reſp. prä- 
fentirten Landrath, als auch die PVirilvertretung der Nittergutsbeflger auf ben Kreis⸗ 
tagen bejeitigen. Beides aber fcheiterte an der Macht der gefunden und realen That⸗ 
fahen. Der betreffende Artikel der Verfaſſungs » Urkunde wegen der Leben u. f. w. 
wurde umgeändert und bie neue Kreis⸗Ordnung kam nicht zur Ausführung; ja das 
Geſetz über die Polizei-Obrigfeit gab den Rittergutsbeſihern In ben öſtlichen Provinzen 
eine Urt von Jurisbiction wieder, und die Allerhöchfte Gabinets-Ordre vom 20. Dc« 
tober 1854 berief die Vertreter des alten und befefligten Nittergutöbeflges in das 
Herrenhaus. Kurz, troß allem Tiberalen Gefchrei und »bureaufratifcher Machination 
erfreuten ſich Die Nittergüter in Preußen noch immer eined gebührenden politifchen 
und ſocialen Cinfluffes und werden denfelben aud hoffentlich fo lange behalten, als 
‚die auf ihnen erbgefefienen edlen Gefchlechter fich als die tüchtigflen und zuverläffigften 
Stügen für Krone und Land in Krieg und Brieden bewähren werben. (Vergl. bie 
Artikel: Kreid und Staat.) 

Nitterpoefle. Mit diefem Worte bezeichnet man die romantifchen Epo- 
pden, welde fi in der Blüthezeit des Mittelalters entwidelten und ein treues 
Spiegelbild deſſelben mit feinem phantaflifch erregten, bald großartig tiefen, bald 
kindiſch tändelnden ‚Treiben und überliefern, wie denn die beflen Dichter jener Zeit 
hieran ihre befle Kraft geſetzt haben. Der leitende Grundton diefer Dichtungen iſt 
mwefentlich die Idee des Ritterthums, alfo Gottespienft (Kampf für den Blauben), 
Herrendienf (Treue gegen den Lehnsherrn), Frauendienſt (Huldigung der er- 
wählten Dame, der „Herrin"), mit größerem oder geringerem Hervortreten irgend 
eines dieſer Elemente. Es vereinigten ſich in dieſer Richtung der Poeſie die Germa⸗ 
nen, fo wie die romanifchen Nationen, welche diejelben Stoffe bearbeiteten, fo daß 
daher das nationale Intereffe verfchwindet. So ſehr man auch geneigt wäre zu glau⸗ 
ben, Daß die chriſtlich myſtiſchen Hitterepopden von Geiftlichen herrühren müßten, 
die ohnehin in den drei erflen DVierteln des 12. Jahrhunderts die einzigen Träger ber 
Epik waren, jo findet doch in Wirklichkeit faft Das Gegentheil flat. In Deutichland 
find es namentlich zwei Sagenfreife, welche den Stoff zu ſolchen Epopden lieferten: 
der bretsnifche vom König Artus und feiner Tafelrunde, woran fich die Sagen vom 
Heiligen Gral fchließen, und der franzöflfche von Karl dem Großen und feinen Pairs. 


238 Ritterweſen. 


Beide haben reichen Stoff zu einer Unzahl von verfchiebenen Dichtungen gegeben, 
welche freilich alle nach fremden, meift franzöflfchen Vorbildern gearbeitet find. (Bol. 
Uhland, „Ueber das altfranzöflihe Epos“ in der Zeitfchrift „die Muſen“, beraudges 
gebin von La Motte Fouque und Neumann, 3. Quartal, 59—109.) Als die bes 
deutendften Leiflungen auf diefem Gebiet gelten unbeflritten: „PBarzival” von Wolfram 
von Eſchenbach und „Triftan und Iſolde“ von Gottfried von Straßburg. Das 
nördliche Frankreich ift die ältefle Heimath Der Mitterepen; die „Chansons de Geste“, 
db. 5. die Tarolingifchen Epopden der Franzoſen bilden bie eigentliche nationale Sage 
Frankreichs im Mittelalter. Die Entſtehung und Ausbildung der Farolingifchen Lie 
der fällt ficher vor 1165, wo Karl der Große kanoniſirt wurde, zum Theil fchon ind 
11. Jahrhundert, denn diefem gehörte die wahricheinlich ältefte Dichtung dieſes Sagen- 
kreiſes, die Noncevalichlacht, an. Sehr populär war das Gericht „La Mort de Garin 
le Loherain“, aus dem 12. Jahrhundert, zuerft herausgegeben von Edelestand du 
Möril (Paris et Leipzig 1862). Spanien hat viele Hiftorifche Romanzen geliefert, 
unter welchen die vom Eid die intereflanteflen und wichtigiten find. Vgl. die Ro⸗ 
mangzenfammlung von Wolf und Hofuiann, „Primavera y flor de romances“ (2 Bde., 
Berlin 1856). Portugal lieferte die „Lufladen* von Camoens. In Italien 
wurde das Ritterepos erft feir dem Ende des 15. Jahrhunderts bearbeitet; den Rei⸗ 
gen biefer Dichtungen, deren Srundlage die Rolandſage ift, eröffnete der Florentiner 
Zuigi Pulci mit feinem „ Großen Morgant”". Während biefer die feindliche 
Richtung gegen die Kirche und die geringe Schäßung der menfchlichen und befonderd 
der weiblichen Würde treu abfpiegelt, vertritt Bojardo mit feinem „Derliebten Ro⸗ 
fand“ die pofltive gläubige Behandlung des NMitterepod. Den Baden des Bofarbo 
bat Arioſt's „Nafender Noland* weiter gefponnen. Torquato Taſſo if in 
Bezug auf fein „Befreited Ierufalem* als der legte Romantiker der italieniſchen Dich⸗ 
ter bezeichnet worden. Durch Arioſt, und wahrfcheinlich auch Durch Taflo angeregt, 
dichtete in England Spenfer die. „Beenkönigin* In neuerer Zeit kam man, 
freilich In anderen Formen und mit anderem Geifte, auf diefe Gattung zurück. So 
gehört z. DB. bierher: „Gandalin oder Liebe um Liebe”, „Geron der Übelihe* und 
„Dberon” von Wieland, „Gäcilie* und „Die bezauberte Roſe“ von Ernſt Schulze, 
„Gorona” von La Motte FKouque und in füngfler Vergangenheit „Otto der Schäg“ 
von Kinkel und „Carlo Zeno“ von Gottſchall. 

Ritterweſen. Die Ausbildung eines Standes grundbeſitzender Krieger, welche 
man in. Deutfchland Ritter (Meiter) und in Frankreich chevaliers (Krieger zu Pferde) 
nannte, ift bereits in dem Artikel Adel gefchilvert; die politifchen und, focialen Ver⸗ 
bältniffe der ritterbürtigen Familien in den meiſten europälfchen Ländern find in den 
Artiteln Abel, hoher Adel, Lehnsweſen u. U. erörtert. Hier find nur noch die Ver⸗ 
bältniffe des häuslichen und gefelligen Lebens zu befchreiben, welche ſich im Laufe ded 
Mittelalters in ariftofratifchen Kreifen ausbildeten. — Die Erziehung der jungen Edel⸗ 
leute für ihren Beruf begann, fobald fie der Wärterin entwachjen waren, gewöhnlich 
fhon im flebenten Jahre. Die Söhne reichbegüterter Herren wurden dann einem 
Zuchtmeifter übergeben, welcher gewöhnli zugleich Die Erziehung einiger anderen 
Knaben leitete, denn es war Sitte, Daß die aͤrmeren DBafallen ihre Söhne in dieſem 
Alter an den Hof des Lehnsherrn brachten, damit fie mit deſſen Söhnen auferzogen 
würden. Ritterliche Uebungen galten ſchon jet ald das wefentlichfle Unterrichtsmittel. 
Die Uebung im Reiten mit dem Schilde und dem Speere, im Scirmen, Ringen, 
Zaufen, Springen und Lanzenwerfen werben als bie Hauptbeflandtheile des Unterrichts 
genannt. Hiermit verband fi Anleitung in ver Fertigkeit des Jagens. In fpäterer 
Zeit wurden auch fremde Sprachen, beſonders Franzöſiſch, und Muſik getrieben. Der 
Unterricht im Lefen und Schreiben wurde ald viel weniger nothwendig angefehen, Doc 
konnten manche Ritter auch leſen. Zugleich Hatten bie Knaben Pagendienfte, nament⸗ 
lich der Battin des Herrn zu leiſten. Mit bem vierzehnten Jahre trat der Knabe in 

Die Neibe der Evelfnechte, Knappen, Junker. Als folcher Hatte er den Ritter auf 
feinen Reifen In Krieg und Frieden zu begleiten, trug dann gewöhnlich einen Theil 
feiner Waffen, namentlich die Lanze und wurde daher auch Waffenträger (Ecuyer) 
genannt. Auch das Streitvoß des Mitters führte ex, wenn biefer es nicht ſelbſt ritt. 


Nitterweſen. 239 


Im Schloſſe theilten die Knappen ſich in die Geſchaͤfte; einer Hatte den Herrn per⸗ 
fönlich zu bedienen, half ihn an⸗ und auskleiden und hatte dafür zu forgen, daß bie 
Rüſtung und Kleidung des Herrn immer in gutem Stande und zum Gebraud bereit 
fel; ein anderer führte Die Aufficht über Die Rüſtkammer, ein britter über den Stall, 
ein vierter über Küche und Keller. Bei Tafel aufzumarten, mußten alle bereit fein, 
daher wurde die Kunſt des Vorſchneidens ebenfalls ſchon von den Knaben geübt. 
Diefe Bielfeitigkeit des Unterrichts bildete fig freilih nur allmählig aus, nachdem 
lange Zeit die Uebung in den Waffen ale die einzige eines Fünftigen Mitter8 würbige 
‚gegolten hatte. Der Uebergang aus dem Stande ded Pagen in den des Knappen 
oder die Wehrhaftmachung wurde hier und da ſchon mit einiger Kelerlichkeit begangen, 
-ald ganz beſonders wichtig aber galt der Eintritt des Knappen in die Reihen ber 
erwachfenen Krieger oder Ritter, der fogenannte Nitterfchlag, welcher gewoͤhnlich im 
21. Jahre flattfand. Jeder Ritter Hatte das Recht, ihn zu ertheilen; man nahm. 
ihn aber gern von einem Fürften oder einem berühmten Feldherrn. Am Tage vor 
einer Schlacht wurden namentlich in Frankreich zuweilen von den Feldherren viele 
Knappen zu Rittern gefchlagen, damit fie am andern Tage mit deſto mehr Be⸗ 
geifterung fämpften. Auch nach einem Siege wurde Rnappen, bie fi befon- 
ders audgezeichnet hatten, oft die Mitterwürde ertheilt. Daffelbe geichab gewöhn⸗ 
lich Hei großen Hof⸗Feſtlichkeite. Bei dem Feſte, welches Kaifer Friedrich 1. 
1184 zu Mainz gab, wurden nicht nur bie beiden alteſten Söhne bes Kaiſers, 
fondern auch eine große Anzahl anderer Fürften und Edelleute zu Rittern geſchlagen. 
Nachdem Prinz Philipp, der Sohn Philipp des Schönen, bei einem ähnlichen Hofe 
feſte feinen drei Söhnen Ludwig, Philipp und Karl die Mitterwürbe ertheilt Hatte, ſchlu⸗ 
gen die Prinzen zugleich vierhundert andere Knappen zu Rittern. ben fo that 
Triſtan an dreißig Knappen, nachdem er felbft den Mitterfchlag erhalten hat. — In 
fpäterer Zeit wurde die Ertheilung der Mitterwürde zumellen beſonders feierlich ver» 
anftaltet. Es ging eine Prüfung voraus, ob der Knappe der ihm zu ertheilenden 
Ehre würdig ſei. Sodann mußte er ein Bab nehmen, als Zeichen der Neinigung ber 
Seele. Dan bekleidete ihn hierauf mit einem weißen Mantel, einem rothen Node 
und einem ſchwarzen Unterkleide; die weiße Farbe follte auf ein Teufches Leben, bie 
rothe auf die Pflicht des Nitters, fein Blut für den Blauben zu vergießen, deuten, 
die fchwarze Farbe ihm den Gedanken an den Tod vergegenwärtigen. Der Aufzunch- 
mende faftete blerauf 6i8 zum Abend und brachte die Nacht im Gebet in einer Kirche 
oder Schloßlapelle zu. Am Morgen beichtete er fodann, hörte die Meſſe und com⸗ 
municirte. Hierauf Eniete er vor dem nieder, der ihm den Mitterfchlag ertheilen follte 
und den man feinen Pathen nannte; diefer erinnerte ihn nun an die wefentliääfien 
Pflichten des Ritterthums: „Jeder Ritter“, fagte er etwa, „foll Mecht und Treue 
wahren, er fell die Armen gegen bie Reichen, die Schwachen gegen die Starken be» 
fhügen. Er foll an feinem Drte verweilen, wo Verrath und Ungerechtigkeit geübt 
wird. Er foll alle Freitage faften und alle Tage die Meffe hören. Allen Menichen 
und vorzugöweife feinen Waffenbrüdern halten, was er ihnen verfprochen, fie ehren, 
lieben und ihnen nach Kräften beiſtehn.“ Der Aufzunehmende leiſtete hierauf Den 
Eid, dieſe Pflichten ſtets zu erfüllen, und wurde nun mit den ritterlichen Waffen be⸗ 
leidet, erhielt fodann von dem Pathen einen Badenflreich und drei Schläge auf bey 
Nacken, mit der Weifung, das feien die letzten Schläge, welche er bulden dürfe. 
Hierbei fagte der Bathe: „Im Namen Botted, des Heiligen Michael und unferer 
lieben Frau (oder auch des heiligen Georg) made Ich dich zum Mitter.“ Hierauf 
führte man ihm fein Schlachtroß zu; er beflieg es und fuchte zu zeigen, daß er bie 
erforberliche Zertigkeit in der Kührung des Pferdes und der Waffen erlangt Habe. 
Zumellen wurde zu diefem Behufe auch ein Turnier veranftaltet. — Im 14. und 15. 
Sabrhundert fing der Abel an, die Mitterwürde feltner zu empfangen. Das Leben 
der Bornehmen war Inrurlöier gemorben, und andererfeits hatte die Zahl der befig- 
Iofen Epelleute ſich vermehrt, welche oft nicht einmal im Stande waren, auch nur bei 
den bon Bornehmern veranflalteten Beten in einem Aufzuge zu erſcheinen, wie man 
ihn jetzt don einem Ritter verlangte. Diele zogen ed daher vor, Anfprädhe, die fle 
nicht zu erfüllen vermochten, von vorn herein dadurch abzuweiſen, daß le Knappen 


240 | Ritterwefen. 


blieben; dadurch kam die Regel, daß Knappen keine ritterlichen Waffen tragen durf⸗ 
ten, allmaͤhlich in Vergeſſenheit. Vornehme Edelleute fuhren aber fort, die Mitter⸗ 
würde nicht nur ſelbſt anzunehmen, fondern auch Andern zu ertheilen. Befonders 
erfahrene Krieger wurden jet zur Belohnung für ausgezeichnete Dienfle zur Ritter⸗ 
würde befördert, wobei der Dienftderr nicht nur die Koſten der Feierlichkeit über« 
nahm, fondern auch in der Megel bedeutende Geſchenke hinzufügte. — Da bie 
Nitterwürde jeht als eine Auszeichnung galt, fo bielten junge Männer, welche 
fie zu erhalten wünfchten, fi zuweilen für verpfligtet, möglich überzen⸗ 
gend darzutbun, daß fie diefee Würde nit unwürdig feien; fie Tiefen 
fih daber von dem Zürften, Ver fie zum Mitter fchlagen wollte, einen Waffen⸗ 
brief außftellen, in dem bie Proben, welche der junge Ritter ablegen wollte, verzeich⸗ 
net waren, lıberreichten denfelben einem benachbarten Fürflen und baten ibn um Er⸗ 
laubniß, vor ihm Die übernommenen Uebungen auszuführen. Sierauf wurde einer ber 
Nitter des Hofes beauftragt, mit Ihnen zu Fämpfen. Beide Krieger fegten Preiſe auß, 
welche dem Sieger In diefem Kampfe zufielen. Gelang es dem Fremden, einige biefer 
Preife zu gewinnen, fo brachte er fle triumphirend nah Haufe, und empfing nun erfl 
den Ritterſchlag. Solche Candidaten der Mitterwürde nannte man Poursuivants 
d’armes. Die Waffen der Ritter waren in allen Ländern Europa's biefelben und 
beftanden in Harnifch, Helm, Schild, Lanze und Schwert. Der Harnifch oder Banzer, 
auch Brünne oder Halsberge genannt, befland urfprünglih aus Mafchen oder Ringen 
von Eifendrabt, zumeilen auch aus metallnen Schuppen. Da aber diefe Nüflungen 
allein nur fehr geringen Schuß gegen Lanzenflöße gewährten, fo mußten unter den⸗ 
felden fehr di wattirte Wämfer getragen werben. Diefe Tracht war im Gommer, 
zumal in heißen Laͤndern, hoͤchſt läftig und überlieferte viele Mitter dem Tode durch 
Erſticken. Man erfegte fie daher In der zweiten Hälfte des Mittelalters durch große 
ftählerne Platten, welche den Leib mie eine fefte Schale umgaben und nur in ben 
Gelenken beweglich waren. Diefe nannte man auch Krebfe oder Platten. Ueber dem 
Harnifch trug der Mitter einen Waffenrock von Seide, Wolle oder Pelzwerk, ber oft 
mit goldenen ober filbernen Stidereien bedeckt war, und durch einen Gürtel oder eine 
Schhärpe über den Hüften feflgehalten wurde. Die Barbe diefer Schärpe wurde häufig 
ald Erfennungszeihen benugt. In den franzöflfchen Kriegen jener Zeit trugen bie 
Sranzofen ſtets weiße, die Engländer rothe Schärpen. Außerbem trugen Bafallen in 
ihren Schärpen die Farbe ihres Lehndherrn. Auch mit Perlen und Edelfleinen pflegte 
man den Gürtel zu verzieren. Der Helm war von Stahl und wurde im Naden an 
der Rüſtung befeftigt. Es gab offene Helme und geichlofiene; die legtern wurden 
bauptfählih in den Schlachten, die erflern zumellen in Turnieren getragen. Könige 
trugen gewöhnlich vergolbete, hohe Reichsvaſallen verfilberte Helme. Auch fchmüdte 
man fle gern mit Roßſchweifen, Federbüſchen, Apdlerflägeln, Puppen, Rügen und an- 
deren Zierratben aus. (Die Helmkleinodien in den Wappen bezeichneten fpäter bie 
einzelnen Linien einer Bamilie.) Auch die Geſchenke, welche die Bitter von ihren 
Damen erhielten, fanden hier ihren Plag und ba fie oft in Bändern beftanden, fo 
verwandelten fte ſich oft in bleibende DBerzierungen, melde man Helmbeden oder Helm- 
binden nannte. Knappen durften nur offene Pidelhauben tragen. — Die Schilde der 
Ritter waren meift von Holz, mit Leder überzogen und durch einen eifernen Helfen 
verflärft. Sie waren meift vieredig, doch zumellen auch rund ober herzförmig. Auf 
ihnen fanden ſich häufig Infignien, melde Anfangs willkürlich gewählt, ſich allmaͤhlich 
zu bleibenden Familienwappen außbildeten. Auch fie wurden bäuflg mit Edelſteinen 
befeßt. Als die Plattenpanzer mehr in Gebrauch kamen, gab man die Schilde als 
entbehrlih auf. Die Lanzen waren gewöhnlich von Eſchenholz, mit einer fählernen 
Spige verfehen. Bei Turnieren bediente man fich zuweilen flumpfer Lanzen, welche vorn 
einen Eronenähnlichen Knauf hatten und daher auch gefrönte genannt wurden. Der obere 
Theil der Ranze war gewöhnlich mit einer Fahne verziert, welche den Rang deſſen, der fle 
trug, bezeichnete. Herren, welche im Stande waren, eine beflimmte Anzahl von ritterbürtigen 
Bafallen, in Deutfchland zehn, in Frankreich fünf und zwanzig, in den Krieg zu füh- 
zen, durften ein vierediges Fahnlein führen; Mitter von geringerem Stande dagegen 
führten an dieſem Viereck noch eine oder zwei dreiedige Spigen, welche feierlich abge» 


. Nitterweſen. | 241 


fynitten wurden, wenn ber Ritter fich zu einem „Bannerheren” erhob. Die Schwer» 
tes waren zum Theil von ungebeurer Größe und wurden dann mit beiden Händen 
geführt, doch bediente man fich gewöhnlich Eleinerer Schwerter, trug auch wohl mehr 
als eines, ein größeres und ein Fleinered. Die Stelle des Eleinern vertrat häufiger 
ein Dolch, der an der rechten Seite des Wehrgehänges Bing. Die Franzoſen nannten 
ihn la misericorde, weil die Mitter fich ihrer oft bedienten, um Beinden, die fie ver- 
wundei oder von ihren Pferden geworfen hatten, den Todesſtoß zu verſetzen, welcher 
bonn Durch den Auf um Gnade (missricorde) abgewendet werben konnte. — Statt 
des Schwerteß, ober neben ihm, bedienten viele Ritter fi auch einer Art Keulen, bie 
man Kolben nannte. Diefe waren von Holz und am Handgriff, fo wie an dem ent⸗ 
gegengeiehten Ende mit metallenen Befchlägen verfehen, einige auch mit Nägeln, deren 
Spigen nah außen Randen; biefe nannte man Morgenflerne. Auch befefligte man 
wohl eine eiferne, mit flählernen Spigen befegte Kugel vermittelſt Ketten an einen 
hölzernen Handgriff und bediente fich ihrer ald Waffe. Auch Werte führte man im 
Kriege; unter ihnen war die Doppelart (franzöflich bisaigue) befonderd gefürchtet. 
In den älteflen Zeiten gehörten auch Bogen und Pfeile zu den Ritterwaffen, fpäter 
bediente man fich derfelben nur auf der Jagd, bei der auch leichte Wurffpiehe zur 
Unmendung kamen. Als ein Zeichen ber Ritterwürde galten auch die goldnen oder 
vergoldeten Sporen; Knappen durften nur fllberne tragen. Wer fi für einen Ritter 
ausgab, ohne dazu berechtigt zu fein, wurde in Frankreich auf einen Düngerhaufen 
geſeßt und ihm dann die Sporen abgerifien. Beflegte Ritter überlieferten dem Gie- 
ger ihren rechten Handſchuh als Unterpfand für Erfüllung der ihnen auferlegten Bes 
dingungen. Erbeutete Sporen wurden zumeilen in Kirchen aufbewahrt. Die Sporen 
Berfkorbener legte man häufig in ihre Särge. — Die Roſſe, auf denen die Ritter 
fämpften, mußten natürlih ungewöhnlich flarf und doch leicht zu lenken fein; gute 
Streiteoffe waren daher fehr gefucht und oft einem Lanbgute gleich gefchägt. Auf 
Relfen bedienten die Mitter fich gewöhnlich eines leichten Pferdes, das Valafried ge- 
nannt wurde, und ließen fi das Streitroß (dextrarius oder destrier genannt) nach⸗ 
führen. Diefe Streitroffe waren häufig ebenfalls geharnifht. Das Meitzeug mußte 
ſehr forgfältig gearbeitet fein und war oft rei verziert. Manche Ritter führten 
daran Schellen, zumeilen mehrere hunderte. Wenn Sünglinge, welche ben Ritterfchlag 
erhalten: hatten, in ihrer Heimath keine Gelegenheit fanden, ſich Kriegderfahrung zu 
erwerben, fo zogen fle gern in fremde Länder und bethelligten ſich an den Eriegerifchen 
Unternehmungen fremder Fürften. Zur Zeit der Kreuzzüge ‚zogen fie am liebſten 
nah PBaläfina, fpäter nach. Breußen, um daſelbſt gegen Nichtchriften zu Fämpfen. 
Sole Züge führten manche auf eigene Koftlen aus, die Mehrzahl jedoch diente um 
Gold oder für einen Antheil an der Kriegöbente, der zumeilen auch in Ländereien 
beffand. Namentlid, jüngere Söhne benugten gern dieſe Gelegenheit, ſich Grundbeſitz 
zu erwerben. Auch bie Befangenen wurden gewiffermaßen als Eigenthum beffen, dem 
fie ſich ergeben hatten, betrachtet, und dieſem fielen die Löfegelder zu, Die fie zu be 
zahlen hatten. Gewoͤhnlich muften Gefangene einen Jahredertrag ihrer Beflgun- 
gen als Löfegeld zahlen. Ausgezeichnete Krieger, befonderd berühmte Feldherren, 
wurden oft viel höher -abgefhägt. Zuweilen vertaufhte man Gefangene gegen 
Landgüter, ſelbſt gegen Graffchaften. Die Kriegöbeute murbe in ber Regel fo ver- 
tbeilt, DaB Bannerherren doppelt fo viel als gewöhnliche Ritter und dieſe Doppelt 
fo viel ald Knappen erhielten. Als unentbehrliche Begleiter eines ritterlichen Heeres 
galten Die Gerolde, denn die feindlichen Heerführer Hatten fi unaufhörlic Mitthei⸗ 
lungen zu: machen. Den Feind unvorbereitet zu überfallen, galt lange Zeit hindurch 
für unehrenhaft, namentlich zogen es bie Führer großer Heere häufig vor, ſich mit 
ihren Feinden über Zeit und Ort einer bevorftehenden Schlacht zu verfländigen. Man 
wählte dann fafl Immer eine von Bäumen entblößte Ebene, in welcher die jchwere 
Reiterei fi ungehindert zu bewegen vermochte. Die fchwer gerüfteten Ritter flellten 
fih gewöhnlich in einer Linie auf, hinter ihnen bie Knappen, beren Pflicht es war, 
die zerbrochenen oder abgenugten Waffen ihrer Gebieter durch neue zu erfegen, ger 
fangene Feinde zu bewachen oder auch verwundete zu töbten. Außerdem mußten fle, 
wenn ihr Kerr felbR verwundet ober vom Pferde geflochen wurde, verjuchen, ihn vor 


Wagener, Gtastt- u. Gefelf.-der. XV 16 


242 Nitterweien. 

dem Tode oder ber Gefangenſchaft zu ſchützen, ſein Pferd ihm wieder zuführen, ihn im 
Nothfalle von dem Kampfplage hinwegtragen. Gelang es bei dem erflen Zuſammen⸗ 
floße der Heere nicht einem von Ihnen, das andere zu zerfprengen, fo Löfte ſich das Treffen 
in der Regel in Einzellämpfe auf, wobei man noch eifriger danach tradhtete, Feinde 
gefangen zu nehmen, als zu tödten. In mancher entfcheidenden Schlacht fielen nur 
ein Dugend Menſchen. Wurden einige Heerführer gefangen oder getodtet, fo ver⸗ 
wandelte ‚der Ungeſtüm, mit weldyem die Schlacht in der Hegel begann, ſich häufig 
plöglih in Kleinmuth. Dan gab eine Schlacht, die ungänftig begann, ſchon deshalb 
gern auf, weil ein Rückzug nur felten fchlimme Folgen hatte. Siegreiche Heere waren 
vorzugsweiſe darauf bedacht, den Kamplag zu behaupten; denn ein Sieg galt nur 
dann als vollkommen conflatirt, wenn der Sieger drei Tage nach dem Abzuge des 
Beindes in feiner Stellung verblieben war. Die Beflegten gewannen daher immm 
leicht Zeit, fi von ihrer Beflürzung zu erholen und zu neuen Kämpfen zu fammeln: 
Sp ungern die Nitter ihre Pferde verließen, fo faben fie ſich doch häufig gezwungen, 
zu Buße zu Tämpfen. Nachdem die franzöflfchen Nitter bei Crech von engliſchen 
Bußtruppen gefchlagen worden waren, fahen fie die Nothwendigkeit ein, ihre Pferbe 
zu verlaflen, fo oft fle wohlgeordnete und eingeübte Fußtruppen zu befämpfen hatten. . 
Sie thaten dies aber fo ungern, daß Ihnen wiederholt bei Todesſtrafe befohlen werben 
mußte, in ſolchen Fällen nicht zu Pferde zu Fämpfen. Die Franzoſen ließen Schlachten, 
in denen beide Keere zu Fuße fämpften, gern durch einen Angriff zu Pferde eräffuen, 
durch welchen die feindliche Schlachtordnung in Berwirrung gebracht werben - follte. 
Wurde aber dieſes Reitercorps zurückgeſchlagen, fo brachte es leicht Unordnung in 
das eigene Heer und veranlaßte dann empfindliche Niederlagen, wie bei Poitiers. 
Eine ſehr bedeutende Rolle in dem Leben der Ritter fpielten die Zweikaͤmpfe, obgleich 
e8 noch Feine Duelle im modernen Sinne des Wortes gab. Die Theorie, daß Je⸗ 
mand als entehrt anzufehen fei, wenn er gewifje Beleidigungen ungerädht ließ, beſtand 
noch nicht. Nicht felten beleidigten Ritter ſich im unzartefter Weife; fie fehlugen und 
rauften fih, und es bing dann dennod von ihnen ab, ob fle diele Beleidigungen 
blutig rächen, oder fi mit dem Gegner wieder verföhnen wollten. Dagegen galt 
ed als eine Herausforderung, wenn ein seifender Mitter feinen Harniſch anlegte. 
Wer in Frieden reifen wollte, ließ fih Harniſch, Helm und Lanze von 
einem Knappen oder Knechte nachführen. Wer aber auf Eriegerifche Abenteuer aus» 
30g, legte feine Rüflung an, und durfte dann von jedem Ritter, der ihm begegnete, 
„angerannt” werden. Einen ungerüfleten Ritter anzugreifen galt dagegen als eine 
entehrende, verrätberifche Handlung. Wer in folchen Fällen erfannte, daß ber Geg⸗ 
ner ihm überlegen fei, und deshalb ohne zu kaͤmpfen entflob, wurde zwar verfpottet, 
eine ernfle Müge aber fcheint ein ſolches Verhalten nicht nady fi gezogen zu haben. 
Man begnügte ſich bei ſolchen Begegnungen gewöhnlih damit, den Gegner vom 
Pferde zu fliehen. Wenn der Sieger es verlangte, mußte der Beilegte aber dann 
Pferd und Waffen jenem überlaffen. Außerdem wurden Streitigfeiten der verfchice 
denften Art durch feterliche Zmeilämpfe, Ordalien (f. d.) entfchieden. Auch im 
Kriege wurden zuweilen Zmeifämpfe verabrebet. Dann wurde ein Waffenſtillſtand 
gefchloffen, deſſen Bedingungen durch gegenfeitig geftellte Geifeln verbürgt wurden; 
hierauf ein Kampfplag abgefledt, gewöhnlih in der Mitte zwiſchen den feindlichen 
Heeren, und nun ber Kampf in derſelben Weife, wie die gerichtlichen Zmeilämpfe 
geordnet. Selbſt mächtige Fürften erboten ſich zuweilen im Kriege, durch einen Zwei⸗ 
fampf mit ihrem Gegner eine Entfcheidung berbeizuführen. ine foldhe Herausforde⸗ 
rung wurde aber felten angenommen, well man fle als ein Zeichen betrachtete, daß 
der Heraudfordernde felbft das feindliche Heer als dem jeinigen überlegen anſah. Diefe 
Kämpfe wurden nicht immer von zwei einzelnen Kriegern audgeführt, man verabrebete 
ſich zuweilen, mit einer beflimmten Anzahl von Gefährten auf dem Kampfplak ſich einzu- 
finden. Befonders zuverfihtlihe Mitter erboten ſich auch wohl mit einer geringern 
Anzahl eine größere Menge von Feinden zu beſtehn. ine Herausforderung dieſer 
Art wurde aber ſtets als eine Beleidigung zurückgewieſen. Auch bei den Turnie⸗ 
ven (f. d.) wechfelten Einzellämpfe und Gruppengefehte. Did gegen das Ende bes 
elften Jahrhunderts galt kriegerifche Tapferkeit als die höchfte Tugend, und Waffen⸗ 


Ritterweſen. 243 


ruhm als Das ſchönſte Ziel ritterlichen Strebens. Seit diefer Zeit aber vereinigte 
ſich religioſe Begeiftetung mit der Friegerifchen. Der Mitter führte nun nicht mehr 
ausſchließlich Krieg um des Ruhmes oder um zeitlicher Vortheile willen, und empfand 
nur dann volle Befriedigung, wenn feine Thaten zugleich einen religidfen Zweck hat⸗ 
ten. Dieſe Geſtnnung führte zu den erfien Kreuzzügen (f. d.) und zur Bildung 
der geiſtlichen Ritterorden (ſ. Orden). — Seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts 
begann ſich eine poetifche Literatur auszubilden, in welcher die Beflnnungen ber rit- 
terlichen Befellfchaft jener Zeit ſich abfpiegeln, und melche. zugleich fehr bedeutend auf 
die Ausbildung der Sitte und Lebendgewohnheiten einmwirfte. Der gefellige Verkehr 
verfeinerte fih und nahm eigenthümlich phantaflifche Formen an, die aber im Ber» 
gleih mit der frühern urfpränglichen Wiloheit ale ein bedeutender Gulturfortfchritt 
anerfannt werden müſſen. Die poetifchen Beftrebungen fomohl, als die feinere Sitte, 
Eourtoifle genannt, wurden vorzugsmweife an fürftlichen Höfen und in den Schlöfſern 
der Barone gepflegt, und zwar zunächft im füblichen Frankreich. Die Grafen von 
Poitiers, Provence und Touloufe förderten dieſe Bifpung mit befonderer Vorliebe; 
ihnen folgte eine Reihe andrer mächtiger Großen: die Dauphins der Auvergne, die 
Bringen von Orange, die Grafen von Foir, die Eaftellane de BTacas und Andere. Und da 
die Brovence längere Zeit von fpanifchen Fürften beberrfcht mar, verbreitete fih don dort aus 
die heitere Kunft und die feinere Sitte der Troubadours auch nad; Aragonien und 
Eatalonien. Nach England verbreitete diefe Bildung ſich hauptſächlich durd Die Nor⸗ 
mannen und durch Die Fürſten aus dem Haufe Anjou, welche feit 1150 Könige von 
England waren. Auch in Italien drang bie Poeſte der Troubadours und die mit ihr 
verbundene Mitterfitte ein und verbreitete fich namentlich in der Lombardei. In Deutfch- 
land förderten dieſe literariſch⸗ äſthetiſche Cultur zuerft Heinrich der Löwe und Graf 
Philipp von Flandern. Etwas fpäter fanden die Sänger und die ritterliche Sitte an 
Ben Höfen von Cleve und Ciſenach Aufmunterung. Mit dem Landgrafen von Thür 
ringen wettelferten die letzten Babenberger, und die äfterreichifche und fleyrifche Ritter⸗ 
ſchaft folgte ihrem Beiſpiele fat mit noch mehr Eifer ald die nördlicher wohnenden 
Randsleute. Auch der mandernde Hof der deutfchen Kalfer aus dem Haufe der Ho⸗ 
Henflaufen und ber der böhmifchen Könige erfähienen von Zeit zu Zeit als Mittel- 
punkte ritterlicher Epltur. Bon Böhmen und den nordöftlichen Grenzmarken verbreitete 
deutſche Bildung fi) nach den flawifchen Rändern. in nicht unbedeutender Antheil 
an der Ausbildung dieſer Culturzufläinde muß den Brauen zugefchrieben wer» 
den. Schon in den älteften Zeiten erwarben einige germaniſche rauen hohes 
Anfeben‘ als Priefterinnen und Prophetinnen. Im fechften Jahrhundert nad 
Chriſto wurde das fränfifche Reich längere Zeit hindurch faft ausfchließfih von 
Brauen regiert. In Deutfchland befanden ſich namentlih In ber zweiten Hälfte 
des zehnten Jahrhunderts Frauen an der Spige der Meichöregierung und bie 
deutfche wie die nordiſche Sage fchildern uns entfprechenne Verhaͤltniſſe. In 
den Gudrunliedern erfcheinen mehrere Helden faft nur als Werkzeuge in der 
Hand der Brauen; in den Nibelungenlieve wirb zwar der Einfluß der Brauen 
überwiegend als verderblich dargeftellt; fie erfcheinen aber auch hier als die eigent- 
lichen Urheber der weſentlichſten Begebenheiten und in Beziehung auf Die Tugenden, 
die man Damals vorzugsmelfe ſchatzte, ald den Männern ebenbürtig. Eine ähnliche 
Stellung und Bedeutung weifen ihnen die fpanifchen Romanzen an. In Frankreich, 
in defien alten Sagen die Frauen eine minder bedeutende Rolle fpielen, gelangten ſie 
dagegen zu defto höherem Anfeben, ald der gefellige Verkehr die hier ſchon befprochene 
böftfchere Korn annahm. Man gemöhnte fi allmählich anzunehmen, ein vollkomme⸗ 
ner Mitter mühe nicht nur im Allgemeinen den Frauen mit Ehrerbietung begegnen, 
fondern auch eine einzelne Frau gleichfam zur Königin ſeines Herzens erheben und fich Durch 
die Liebe zu ihr und die Hoffnung, ihre Gunft zu erlangen, zu deſto eifrigerer Er⸗ 
füllung aller ritterlichen Pflichten anfpornen lafſen. Das Bamilienleben hielt aber 
nicht gleichen Schritt mit dieſer Ummandlung der gefelligen Verhältnifſe. Die Ehen 
wurden nach mie vor unter audfchließlicher Berudfichtigung von Mang und Ver⸗ 
mögensverhältniffen abgefhloffen, und dem Gatten gegenüber blieben die Frauen in 
vom altherloͤmmlichen Verhältniffe, welches fie nicht nur zu fa unbebingtem Behorfam 
16 * 


244 Niparol (Antoine, Graf). 


verpflichtete, ſondern auch gelegentlich ſehr unglimpflicher Behandlung preisgab. Jenes 
poetifche gefellige Berhältnig wurde daher auch von vielen und zwar den gebildetſten Zeit⸗ 
genoſſen als das höhere und wichtigere behandelt. Viele Frauen hielten ſich für berechtigt, 
ihren ritterlichen Verehrern Gunflbegeugungen zu gewähren, weldye das Hecht des Batten 
wefentlich beeinträchtigten. Sie glaubten den Geſetzen der Ehrbarkeit genügt zu haben, wenn 
fle den Günftling längere Zeit, oft Jahre lang, auf jene Bunftbegeugungen warten lichen. 
Diefe Verbindungen wurden, gleich der Ehe, als für das ganze Leben abgefchloflen 
angefehen. Wer ein ſolches Berbältnig aufgab, ohne einen der Gründe, die man als 
gültig anerkannte, für fi zu haben, zog ſich dadurch üblen Leumund zu, und man 
fand es natürlich, wenn der beleidigte Theil fih in der empfindlichfien Weiſe rächte. 
Streitigkeiten unter Liebenden wurden nicht nur von ihnen ſelbſt, fondern auch von 
ihren Sreunden und Nachbarn fehr ernfthaft behandelt. Gelang «8 freundichaftlicher 
PBermittlung nicht, den Streit zu ‚fchlichten, jo Fam man in der Megel überein, bie 
Entfcheidung über die flrcitige Frage einem oder mehreren angefehenen Männern oder 
Frauen zu überlaffen, denen man ein befonderd reifes Urteil in Liebedangelegenheiten 
zutraute. Im 13. Jahrhundert trat neben dieſe rückſichtslos begehrende Liebe eine be» 
fcheidenere, faft uneigennügige. Zuweilen verzichtete jeht der Mitter, der eine under- 
heirathete Dame liebte und von ihr wieder geliebt wurde, dennoch freimillig auf ihre 
Hand und vermittelte fetöft ihre Vermählung mit einem Manne von böherem Mange. 
Ihre Dankbarkeit für dieſen Breundichaftsdienft gab die Dame dann durch eine feier 
liche Erklärung ihrer Liebe zu erkennen. Sie überreichte dem Ritter in Gegenwart 
einiger Zeugen und unter Anrufung des Heilandes Jeſu EHrifi einen Ring und er- 
Härte, daß derfelbe ein Zeichen fein folle, daß ſie den Mitter mehr liebe als ihren 
Bater und ihren Gatten und ihn zu ihrem Senefhall und Ritter ernenne. Dieſe 
Erklärung Hatte nun aber Feine andere Folge mehr, ald daß der Mitter ſich der Danke 
barkeit der Dame verfichert hielt und erwartete, daß fie ihren Einfluß für ihn auf- 
bieten werde, wenn er ihres Schuges bedürfen follte. Im 13. Jahrhundert hörten 
viele reicher begüterte Edelleute auf, den Kriegsdienft ald den dem Mitterbürtigen 
allein geziemenden Beruf angufeben, und begnügten fidh entweder mit ber Verwaltung 
ihrer Güter und dem Genuß ihrer @infünfte, oder fuchten Beförberung in dem Hofr 
und Staatsdienfle mächtigerer Fürſten. Der niebere Adel dagegen widmete ſich dem 
Kriegsdienſte jetzt viel ausſchließlicher als bisher. Die Lehnspflicht Hatte Die Vaſallen 
nur für einige Wochen des Jahres in das Feld geführt und ihnen alſo geftattet, 
neun Zehntheile ihrer Zeit der Bebauung ihrer Grundſtücke zu widmen. Seit dem 
13. Jahrhundert aber traten die minder begüterten oder ganz beſitzloſen Edelleute, 
welche immer zahlreicher wurden, freiwillig und gegen Sold in den Dienſt irgend 
eines benachbarten Fürſten und lagen in Folge deſſen oft Jahre lang unaus geſetzt im 
Felde. Dieſe Veränderung wirkte auf die Bildung und Geſinnung des Adels in den 
folgenden Jahrhunderten weſentlich, aber nicht günſtig ein. Die reicheren Edelleute 
gewöhnten ſich immer mehr an Luxus und Ueppigkeit, machten aber wenigſtens in 
Beziehung auf Gewandtheit und Sittenverfeinerung Foriſchritte. Die große Mehrzahl 
der aͤrmeren Edelleute dagegen verwilderte in den immerwährenden Kriegen jener Zeit in 
heillofer Weife. Da die Erwerbung von Sold und Beute der Hauptzwed ihre Leben 
. war, fo machten fie bedeutende Fortfchritte in der Kunſt zu plündern und verſchonten 
dabei häufig auch die Länder ihres Kriegäheren nit. Wurden fie entlaſſen, fo ge. 
riethen diejenigen, welche nicht fogleidy einen andern Dienflherrn fanden, entweder in 
die aͤußerſte Bedraͤngniß oder wurden als Mäuber zur furchtbarften Landplage. Diele 
Umflände trugen viel dazu bei, daß die ariflofratiih gegliederten Staaten Europa’s 
im Laufe der nächflfolgenden Jahrhunderte ſich allmaͤhlich in abfolute Monarchieen 
umgeflalteten. Indem die mächtigern Bajallen fi in gefchmeidige Höflinge verwan⸗ 
beiten und der niedere Adel zum willenlofen Werkzeuge der fürſtlichen Gewalt wurde, 
gelang es diefer, alle Schranken zu befeitigen, mit denen die Thatkraft und dad Selbfl» 
gefühl ihrer ritterliden Vaſallen ſie früher umgeben hatten. 

Nivarol (Antoine, Graf), franzoͤſiſcher Schrififteller, geb. den 7. April 1753 zu 
Bagnoles (in Languedoc), mo fein Bater, ein piemontefifcher Abenteurer, Gaſtwirth 
war. Woher fein @rafentitel ſtammen foll, ift unbefannt. Durch Seinen Geiſt und 


Mine (Sean Joſeph, Abbe). Rizzio (David). 245 


Wis erwarb er fih in den Parifer Salons einen Namen und durch feine Beantwor- 
tung der PBreidfrage der Berliner Afademie über die „universalite de la langue fran- 
caise® (1785) neben dem Gewinn des Preifes das Lob Friedrich's d. Gr. und die 
Aufnahme in jene Akademie. Nach dem Ausbruch der franzdflichen Mevolution trat 
er als Mitarbeiter an den „Actes des Apötres* als Gegner derfelben auf, emigrirte 
1792 nach Brüffel, fodann nach England, mo er die vie politigue de Lafayelte (1792) 
erſcheinen ließ. Später mandte er fih nad Berlin, wo er von Friebrich Wilhelm II. 
und dem Prinzen Heinrich mit befonderer Gunſt aufgenommen wurde und den 11. 
Aprit 1801 flarb. Seine Oeuvres erſchienen zu Paris 1808 in 5 Bon.; die unter 
feinem Namen in die Collection des Memoires de la revolution aufgenommenen 
Memoiren find ein Abdrud feines 1798 erfchienenen Tableau des travaux de l’As- 
sembl&e constituante. Seine Wittwe, eine Engländerin, geborene Mather- Flint, geft. 
41821, die mehrere Ueberſetzungen ans dem Englifchen, namentlich eine Encyclopedie 
morale beraudgegeben bat, veröffentlichte 1802 zu Paris in 2 Bon. eine Notice sur la 
vie et la mort de Mr. de R. Sein jüngerer Bruder Claude Frangois, Bicomte 
d. R., geb. 1760, war Infanterie» Eapitän beim Ausbruch der Nevolution und Hatte 
unter Anderen 1782 eine Arbeit de la nature et de Phomme herausgegeben. Seine 
veuvres litt£raires erfchieneh zu Paris 1799 in 4 Bbn. 

Kine (Jean Joſeph, Abbe), franzdfifher Bibliograph aus Apt in der Provence, 
geb. 1730, geft. 1792, lehrte die Bhilofophie in Avignon, ward Pfarrer bei Arles, 
darauf Bibliothekar des Herzogs de la Balltere, fodann der Stadt Ar und zeigte 
ſich als einen wüthenden Mevolutionär, wie er früher in der Kiteratur ein heftiger 
Bolemiker gewefen war. Bon feinen Werken find noch jegt Titerarifch und Hiftorifch 
wichtig: I;a Chasse aux bibliographes et antiquaires maladvises (London, eigentlich 
Air, 1788, 1789. 2 Bde.) und die Eclaircissements sur les cartes à jouer (Paris 
1780). Er mar einer der geledrteften Bibliographen feiner Zeit und nannte fidh felbft 
Bibliognoste. Ä 

Rivet de la Grange (Dom Antoine), franzdflfcher Benebictiner, geb. 1683, zu 
Conſolens, geft. 1749, betheiligte fih an den theologifchen Streitigkeiten feiner geit, 
opponirte der Bulle Unigenitus, vollendete den Necruloge de Port-Royal-des-Champs 
und ward von feinen Oberen in das Klofter Saint Bincent von Mans verwiefen, mo 
er die dreißig legten Jahre feines Lebens zubrachte. Die Dankbarkeit der Nachwelt 
Hat er fih durch feine Histoire litteraire de la France erworben, — ein bewunderns⸗ 
würdiges Werk, deſſen Idee ihm angehört, und deſſen neun erfle Bände (in 4., 1733 
— 1749, er abgefaßt bat. (Vergl. d. Art. Mauriner.) 

Nvoli Heißen zwei Orte in Italien, von denen ber eine Stadt if und in der 
Provinz Turin, an der Eifenbahn von Turin nach Sufa, ber andere, ein Dorf, in 
der venetianifchen Provinz Berona, unmeit des öſtlichen Ufers des Garda⸗See's und 
der Etſch, an der ifenbahn von Movereto nad Verona liegt. Die Stadt mit koͤnig⸗ 
lichem Luſtſchloß, mehreren Fabriken in verfchienenen Webereien, vielen Billen und 
gandhäufern, fo wie 5600 Einwohnern ift berühmt als Sterbe - Ort des gefangenen 
Könige Victor Amadeus I. (1732),. dad Dorf durch mehrere Gefechte und eine 
Schlacht. Am 6. Auguft 1796 fand Hier nämlich ein Gefecht flatt, in welchem Maf- 
fena die öfterreichifche Stelfung flürmte, ferner eins am 17. Auguft, in welchem ber 
Öfterreichifche General Davidovich die franzoͤſiſchen Verfchanzungen nahm, aber am 20. 
zum Rückzuge gendthigt wurde, und am 14. und 15. Ianuar 1797 die Schlacht, in 
der Bonaparte die Defterreicher unter Wurmfer ſchlug und durch die der Verſuch 
des Öfterreichifchen Generald Quasdanovich, Mantua zu entfegen, vereitelt wurde und 
Italien in die Hände der Branzofen fam. Wegen der in dieſer Schlacht erworbenen 
Berdienſte wurde Maffena fpäter zum Herzog von Rivoli ernannt. Auch in den 
friegerifhen Ereigniffen der Neuzeit fptelt diefed Dorf eine Rolle. Nachdem es am 
tr. Juli 1848 von den Piemontefen erobert morden mar, fand hier fünf Tage fpäter 
für die Defterreicher die unglüdliche Affaire flatt. 

‚Nizzio (David), der langjährige vertraute Gänflling der Königin Marla Stuart 
von Schottland, um das Jahr 1516 in Turin geboren, war der Sohn eined armen 
Zautenfchlägerd und brachte es ſchon in früher Jugend zu einer hoben Kunflfertig- 


246 Robert (Leopold). 


keit auf dieſem Inſtrumente. Dies brachte ihn an den Hof ber ſavoyiſchen Herzogs, 
wo er ſich nicht allein al8 Sänger vervollfommnete, fondern auch feine außgezeichne« 
ten geiftigen Anlagen ausbildete und fpäter ald Secretär in die Dienfle des Grafen 
Moreta trat, den er auf feiner Gefandtichaftöreife nach Schottland in diefer Eigenfchaft 
begleitete. Seine Unterhaltungdtalente verfchafften ihm Hier Die Gunſt der Königin, 
er trat im Jahre 1548 als Sänger der Föniglihen Kapelle in ihren Dienft, .murde 
jedoch bald in ihre Umgebung gezogen und zum ©eheimjecretär befördert. In biefer 
Stellung gewann er durch treuen Dienfleifer nah und nach das ganze Vertrauen der 
Königin und wußte dieſes Verhaͤltniß fo zu benupen, daß er diefelbe gänzlich von ſich 
abhängig machte. Wie bei allen Parvenüs, wuchs auch bei ihm mit feinem fleigenden 
Blüde fein Stolz, und in übermüthiger Weife verlegte A. oft genug die Großen des 
Königreichd, andererfeitö machte er ſich durch feine Boldgier verächtlih und verhaßt 
und endlich galt er den religiöfen fchottiichen Neformern, Knor und Genoſſen, wohl 
nicht mit Unrecht für einen Agenten der päpftlicden Gurie, welcher der Königin alles 
Nachgeben In den religiöfen Angelegenheiten ihres Landes auszureben verfland. Hierzu 
fam, daß der Gemahl der Königin, Graf Darnley, In R. den Nebenbuhler in Ma» 
rien’8 Neigung zu erbliden glaubte und daß ihm der Graf Douglas die Verficherung 
gab, R. lebe mit der Königin im Ehebruche. Zwar ward dieſe Behauptung ſchon 
damals fo wenig erwieſen, wie fpäter beim Proceß gegen die unglüdliche Köntgin, 
und die ſchon alternde und durchaus nicht einnehmende Perſönlichkeit R.'s läßt fle 
noch unglaublicher erfcheinen, indeß beſchloß Darnley in Folge diefer Verbächtigungen 
R.'s, ſich des verhaßten Günftlingd und vermeintlihen Nebenbuhlerd zu entledigen. 
Im Bunde mit den Lord& Douglas, Ruthven und Lindſay, den Miniftern Letbington 
und Morton, arbeitete Darnley auf feine Entfernung Hin; als jedoch die Königin alle 
dieſe Beftrebungen zu hindern mußte, griffen die Gefchmorenen zur Gewalt. Als am 
9. Maͤrz 1566 R. In der Gefelliyaft der Königin und einiger Kofleute im Fünige 
lichen Palafte zu Holyrodhoufe dag Nachtmahl einnahm, draug Darnley mit Ruthven 
und Douglas mit Gewalt und bewaffnet in's Gemach und während ber Erſtere feine 
esfihrodene Gemahlin zu beichwicdhtigen fuchte, fließ Douglas den Günflling nieber, 
welchen die nachdrängenden Verſchworenen nad dem DBorzimmer fehleppten und ihn 
bier durch unzählige Dolchſtiche tödteten. — Neuere englifche Literatur Hiftorifer haben 
N. große DVerdienfte um die Sammlung der altichottifchen Nationale Befänge zuger 
fchrieben, doch ift dies aus gleichzeitigen Schriftfiellern nirgends erfichtlidh. 

Nobert (Leopold), franzöflfher Genremaler, geboren den 19. Mai 1794 zu 
Lahaursde=- Honda im fchmweizerifchen Kanton Neufchatel. Sein Vater war ein Uhr⸗ 
gehbäugmaher. Don zweien feiner Brüder fchnitt fich Alfred, der ein Jahr jünger 
al® er war, zehn Jahre vorher, ehe er fich felbft umbrachte, in Folge von Herzleiden 
mit dem Raſirmeſſer den Hals ab; Aurele, der jüngfte der Brüder, bat fidh durch 
feine Zeichnungen und Bilder auf den Pariſer Ausftellungen einen Namen gemacht. 
Schon frühzeitig entwidelte fih in Leopold A. die Neigung zur Kunfl. Bon feinen 
Landöleuten, den Gebrüdern Girardet, die als Kupferflecher in Paris ihr Glück ge- 
nacht hatten, war der Eine 1810 zu einem Befuch nad der Heimath gelommen und 
machte ihm bei der Nüdkehr nad, Paris den Vorſchlag, ihn mitzunehmen und in 
feiner Kunft auszubilden. DM. folgte der Einladung, lernte bei Charles Girardet Die 
erfien Anfangsgründe der Kupferftecherfunft und befuchte fodann bie Akademie ber 
fhönen Künfte und das Atelier David's. Als Diefer Meifter nad der Reſtauration 
Paris verlaffen mußte, begab fih R. 1816 in feine Heimath zuräd und nährte ſich 
daſelbſt 18 Monate hindurch durch BVerfertigung von Delbildern, bis ihm ein Gön« 
ner, Herr dv. Mezerac, die Mittel zu einem dreijährigen Aufenthalt in Italien gab. 
Im Jahre 1818 trat er feine Reiſe an und vertiefte fich mit feinen Studien in die 


. Natur, das Volks⸗ und Familienleben Italiens. Nach und nach bildete er als fein 


eigentbümliched Kunftgebiet das Genre aus, aber daB Genre, welches als Darftellung 
des italienifchen Volkscharakters zugleich den Uebergang zursbiftorifchen Malerei bilder, 
Ale er fih auf der Höhe feiner Entwidelung befand, faßte er den Plan, die vier 
Jahreszeiten in vier Bildern darzuftellen. „Die Rückkehr vom Zeile der Madonna 
bel Arco“, welches Feſt im Fruhjahr zu Meapel ſtattfindet, ſollte bie Reihe eröffnen; 


— — — — — — 


Nobert (Ludwig). 241 


ed erfchien im Sabre 1827. „Die Schnitter in den pontinifhen Sämpfen”, die im 
Barijer Salon von 1831 ausgefiellt waren, repräfentisten den Sommer. Der Herbfl 
follte durch Dad Winzerfeft in Toscana dargeftellt werden und der Winter durch den 
Garneval von Venedig. Indeflen wurde diefer Blan nicht vollfländig ausgeführt. 
M. verzichtete auf dad Sujet des Garnevald und „die Ausfahrt der Fiſcher des 
Aoriatifchen Meeres", die er dafür gab, war fein leztes Werl. Der Tod binderte 
ihn, die Weinlefe zu malen. Seine Melancholie Hatte in den „Bifchern” ihren vollendet- 
fien Ausprud erhalten und trieb ihn emblich in einer tragifchen Golliflon zum Selbf- 
mord. Die Beranlaffung zu Diefem traurigen Ende war folgende. Unter ben erlauch- 
ten Bamilien, die R. bisweilen befuchte, befand ſich audy eine, welche die Revolution 
exilirt hatte. Sie befand aus einem Mann und einer Frau, welche beide viel jünger als 
R. waren, nebfl einer Verwandten. Ea mar dies bie Brinzeffin Charlotte Napoleon, 
Tochter Joſeph's, Grafen v. Survilliers, mit ibrem Better Napoleon, dem älteren 
Sohne Louis’, des Grafen von Saint⸗Leu und der Königin Hortenfla, vermählt und 
ihre Verwandte, Mad. Jullette de Billeneuve, fpätere Battin ihres Vetters Joachim 
Glary. Diefe Perfonen liebten nicht nur die Künfe, fondern übten fie ſelbſt aus, fo 
daß, ald fie R. Baum hatten kennen lernen, ſich zwifchen ihm und ihnen eine Art von 
Freundſchaft entipann, in der auf ber einen Seite der Eultus des Talents und das 
Wohlwollen, auf der andern die beflegte Schüchternheit, befriedigte Eigenliebe und 
fpäter der Mei; eined unbewußten Gefühle die focialen Schranken niederzureißen 
ſchien. Es bedarf einer gründlichen Weltkenntniß und einer Klaren Einſicht bei Schrift« 
flelern und Künftllern, um fich nit von den Verführungen jener täufchenden Gleich» 
bei hinreißen zu laffen, melche die Umflände zwifchen Talent und Macht auf Sand auf- 
bauen. Die bedeutendſten Leute laflen ſich davon bethören, und von Taflo und Vol«- 
taire 6id auf R. war das Erwachen von dem Traume ein furchtbares. R. wußte es, 
und vergebli fagte man ihm, das dad Talent in Frankreich eine Würbe fei und 
alle Ränge gleichfielle; der Sohn des armen Bürgers von Lachaux⸗de⸗fonds bemahrte 
feine reſpretvolle Zurückhaltung ; die höhere Welt, die Aber Ihm Isuchtete, blendete ihn 
nit. Er beſaß auch gegen die focialen linterfhiede nicht jenen inneren Zorn einer 
Seele, die ihre Kraft fühlt, oder eines vermundeten und eiferfüchtigen Stolzes; er 
hatte ſich ohne Murren auf den Plaz geftellt, den Bott ihm angewiefen, und wollte 
dort bleiben. Jedoch durch Aufmerkfamkelten und Zuvorfommenheiten aller Art, durch 
den täglichen Reiz einer Gonverfation, in der er das Echo feiner Anfichten und Ge⸗ 
fühle fand, beberrfcht, überließ er fi nen Strömungen eined Blüdes, das um fo 
lebhafter, je unfchuldiger das Gefühl, das ihn dazu hinführte. Er war foeben mit 
eines Reihe von malerifhen Gompofltionen befchäftigt, die er mit dem Prinzen Napo⸗ 
leon und der Prinzeffin Charlotte gemeinſchaftlich ausführte; dieſe Arbeit machte 
unter den abendlichen Geſprachen und Lectüren raſche Kortichritte, als plößlih die 
erſte Iufurreetion der Romagna im Jahre 1831 ausbrach, der Pring Napoleon, von 
feinem Bruder (dem jegigen Kalfer) mit fortgeriffen, fich als Freimilliger unter die 
Espöres warf und in dem Aufſtande umfam. Diefed traurige Ereigniß machte den 
Umgang des Künfllerd noch nothwendiger für die junge Prinzeffin Charlotte, für die 
es ein Portrait ihre Gemahls nach Eleinen Riniaturbildern, den einzigen Erinnerungen 
von ihm, malte, und erſt Durch dieſe Verdoppelung der Beziehungen, der zarten Aufs 
merkſamkeiten, der innigen Bertraulichkeiten, Der vergoffenen Ihränen, erkannte der Un⸗ 
glüdfiche, dem feine ehrbaren Grundfäge, wie Die Niebrigleit der Geburt bis dahin nicht 
geftattet hatten, feine Gefühle fich zu gefteben, wie weit ed mit ihm gebiehen, welche Um⸗ 
wälzung in feinem Herzen vorgegangen. In der Biographie, die F. Feuillet A. gewidmet 
bat (deutfch unter dem Titel: „Leopold R. ‚Sein Leben, feine Werfe und fein Briefe 
wechſel nach Feuillet de Bonches von Edmund Zoller.“ Hannover 1863) if die Corre⸗ 
ſpondenz R.'s mitgetheilt, in der fi felt 1831 der Kampf, den dieſe Leidenfchaft in 
ihm berverrief, verfolgen läßt; am 20. März 1835 beenbigte er den Kampf zu 
Benedig durch ven Selbſtmord. Die Prinzeffin Charlotte farb 1839 zu Surzano 
an den Bolgen eines Blutſturzes. 

Mobert (Rudwig), deamatifher und Iyrifcher Dichter, ifk in Berlin geboren am 
16, December 1778, der Sohn berfelben wohlhabenden jüdiſchen Familie Levin, welcher 


248 Roberthin (Nobert). Robertſon (William). 


die Literatur auch feine par excellence geiſtreiche Schwefter Nabel, fpätere Gattin 
Varnhagen's v. Enfe, verdankt. Seine Berhältniffe verflatteten ihm eine volllommen 
unabhängige Entwidelung und Stellung In der Welt, und er iſt bemerkenswerth als 
Beifpiel, welche Nachteile neben manchen Bortheilen eine ſolche Lage auf die Dich 
terifche Natur ausübt. Nach einer forgfältigen häuslichen Erziehung in Berlin auf 
dem franzöftfhen Gymnaflum gebildet, befuchte er die Univerfität Halle, war fpäter 
eifriger Schüler Fichte's und lebte dann ganz feinen Studien und Dichtungen. Er 
trat in jenen „grünen“ Dicyterfreis ein, welcher fi um den Chamiſſo'ſchen Muſen⸗ 
almanach fammelte, und „fleuerte aus feinem Schatze reichli bei". in Zufifpiel, 
„die Ueberbildeten“, wurde damald von ihm in Berlin aufgeführt. Darauf trat er 
Heifen durch Deutſchland, Holland und. Franfreih an, war 1814 kurze Zeit ber 
ruſſiſchen Geſandtſchaft in Stuttgart attachirt und privatifirte Iängere Zeit In Karls. 
ruße. 1817 erfchienen von ihm: „die Kämpfe der Zeit", zwölf die damaligen Zeit. 
ereignifle miederfpiegelnde Gedichte. Er zeigt ſich darin als der „gelinde, loͤbliche, 
liberale Dichter ohne große Zeugungsfraft“, als welchen ihn Chamiſſo in einem ſpä⸗ 
teren Briefe bezeichnet. „Aus dem Meiche* brachte er ſich eine fchöne, gebildete, junge 
Frau mit. 1819 erfchien bei Kotta fein ſchon früher aufgeführtes bürgerliches Trauer⸗ 
fpiel: „Die Macht der Verhältnifſe“ nebſt 2 Briefen über das antike und moderne und 
über das fogenannte bürgerliche Trauerfpiel. 1820 folgte die Tragödie „die Tochter 
Jephtha's“, 1825 „Kafftus und PhHantafus, oder der Baradießvogel, eine erzroman⸗ 
tifche Komödie mit Muſik, Tanz, Schilfal und Verwandlungen ꝛc.“, Stüde, die, wie 
eben Ehamiffo in jenem Briefe fagt, „befonderd gewinnen, wenn der Dichter fie ſelbſt 
vorträgt, gedruckt aber oder aufgeführt verblaſſen“. Dad Leben trug den Dichter 
eben zu leicht, um jene ſcharfen nachhaltigen Eindrüde auf ihn zu machen, welche fi 
in originellen bramatifchen Figuren voll Kraft und Selbſtheit wiederſpiegeln follen. 
Daher ift feine „Macht der Verbältniffe”, gewöhnlich als feine bedeutendſte Leiſtung 
anerkannt, im Grunde bei aller „tragifchen Gräßlichfeit" doch nur eine bramatifirte 
proſaiſche Novelle und es fehlt ihr noch mehr ala das bloße „muſtkaliſche Element*, 
wie der Dichter Im Nachwort meint, und fein Kafflus und Phantafus find offenbar 
nur eine Nachahmung der Tieck'ſchen Ironie Dramen, wie „ber geftiefelte Kater“ 1c. 
Ein gebildeter Stil ift in allen nicht zu verfennen. Furcht vor der Cholera trieb Ihn 
1831 von Berlin nad Baden« Baden, wo er aber ſchon im folgenden Jahre eine 
Mervenfleber erlag. Seine Battin folgte Ihm nad wenigen Wochen. 

Moberthin (Robert), geboren 1600 zu Konigsberg und ebendaſelbſt als kur⸗ 
brandendurgifcher. Rath und Oberfecretär bei der preußifchen Regierung' 1648 geſtor⸗ 
ben, war ein warmer Freund der Poeſte und der Muflt und förderte, wo er Tonnte, 
ihre Aufnahme in feiner Vaterſtadt. Bon feinen geifllihen und weltlichen: Liedern 
haben ſich nur wenige in der muflfalifchen Hauptfammlung 9. Albert's „Arten ober 
Melodieen etlicher theils geiftlicher, theils weltlicher zu guten Sitten und Luft dienenber 
Lieder" (Königsberg 1638— 1650) erhalten. 

Robertſon (William), geb.. 1721 zu Borthwid bei Edinburgh, iſt mit Hume 
und Gibbon einer der 3 Väter der neueren englifchen Gefchichtöfchreibung. Er trat 
fpäter als der erfle und früher als der zweite auf. Nachdem Hume 1754 den erften 
Band feiner englifhen Geſchichte veröffentlicht hatte, folgte R. 1759 mit der Ge⸗ 
fhichte Schottlands während der Regierung Maria Stuart’8 und Jacob’ Vi. Der 
Eindrud, welchen dies unparteitfche, Politik und Volksſsthum gleihmäßig berück⸗ 
fichtigende Werk auf die Zeitgenofien machte, ift in einem Briefe Cheſterfield's aus⸗ 
gefprochen.. Er fchreibt am. 16. April 1759 an feinen Sobn: „Da ift eine Ge 
ſchichte neulich Herausgefommen, gefchrieben von einem Mobertfon, einem Schotten, 
welche wegen ihrer Klarheit und Reinheit und Würde des Styls ih nicht anftehe 
mit den beften bekannten Geſchichtsſchreibern zu vergleihen, Davila, Guicciardini und 
vielleicht Livius nidyt ausgenommen." R., der Geiftlicher der fchottifchen Kirche war, 
wurde hierauf 1762 Principal der Univerflität zu Edinburgh und Hiſtoriograph von 
Schottland und veröffentlichte dann 1769 die Geſchichte der Regierung Karl’s V. in 
3 Quartbänden und 1777 eine Geſchichte Amerika’d, ein Werk, das urfpränglich nur 
als Anhang zu dem vorigen, die Entdeckungen und Eroberungen der Spanier in Dies 


Mobespierre (Frangois Marimilien Sofeph Iſtvor). 249 


fem Welttheil ſchildern, dann aber fich Über das Ganze der neuen Welt erfireden 
follte, ein Blan, den die Losreißung der Eolonieen nicht zur Ausführung kommen 
lief. NR. farb am 11. Juni 1793, nachdem fein Leben faft ohne alle bemerkens⸗ 
werthen Vorgänge dabingefloffen. Nur als 1778 Pläne zur Erleichterung der katho⸗ 
liſchen Bevoͤlkerung im Parlamente fchwebten, denen auch MR. hold war, richteten fich 
die Ausbrüche thörichten presbyterianiſchen Geſchreis gegen dieſe Maßregeln aud 
gegen ihn, verballten aber bald, als die Toleranzbeflrebungen ohne Erfolg geblie- 
ben waren. 

Robedpierre (Frangois Marimilien Joſeph Ifldor), der Dogmatifer und das 
Haupt der revolutionären Negierung und Schredien&herrfchaft zur Zeit der franzoͤſiſchen 
Revolution. Er iſt 1759 zu Arras geboren. Sein Bater, Advocat und in jeinge 
Berbältniffen beruntergelommen, gab feine Profeſſton auf, floh nah Köln, wo er 
Unterricht in der frangdfifcken Sprache gab, und ging, als es ihm damit nicht glüdte, 
na England, von da nach Amerifa, von wo man nichts mehr von ihm hörte. 
Sein Oheim, auch Advocat, war einer von denen, welchen der Prätendent Charles 
Eduard. Stuart die Regierung eines Freimaurercapiteld übertrug, welches derfelbe 1747 
zu Arras fliftete. Seine Mutter, Marie Iofephine Earreau, Tochter eined Brauers, 
farb, als er neun Jahr alt war. Der Biſchof von Arras, ein Herr de Eonzie, 
nahm ſich bes verwaiften, Talente verrathenden Knaben an, verfchaffte ihm eine Frei⸗ 
ſtelle am College Louis le Grand zu Paris und forgte für feinen Unterhalt. MR. 
machte bemerfbare Fortfchritte, und fein Name, der fih in den Megiftern der Uniter- 
fltät, fo wie fpäter unter dem Vroteſt des Ballfpielfaald de R. gefchrieben fin« 
det, wurde bei den Preisbewerbungen der Univerfität von 1772, 1774 und 1775 
aufgeführt. Auf dem Gollöge zeigte ex ſich derjenigen Geſchichts auffaſſung, welcher 
bie Alten als Mufter republitanifher Sitten galten, fehr zugänglid, und mwurbe er 
bon einem feiner Lehrer megen feiner Liebe zur Unabhängigkeit und Freiheit fchlechte 
weg „der Mömer" genannt. Nachdem er zu Paris auch die Rechtsſchule durchgemacht 
Hatte, Tieß er fi in feiner Vaterſtadt nieder und machte fich. durch einige auffallende 
Proceſſe einen Namen. So gewann er 3. B. einen Proceß gegen die Schöppen von 
Gaint-Dmer,, die fih der Aufrichtung eines Bligableiterd widerfegt hatten, und gab 
feine Bertheidigung dieſer neuen Erfindung unter dem Titel Plaidoyer pour le sieur Vis- 
sery (1783) heraus. Zwei Jahre darauf erfchien zu Paris, mit vorgegebener Angabe 
des Berlagsorte Amflerdam, fein Discours couronne par la socrele royale de 
Metz (über die Infamirenden Strafen); in demfelben Jahre veröffentlichte er ein Eloge 
de Gresset (London, eigentlih Paris, 1785) eine Abhandlung, mit welcher er um 
den von’ ber Akademie zu Amiens ausgeſehten Preis concurrirte; endlich im Anfange 
des Jahres 1789 erſchien das Eloge de M. Dupaty, Praͤſidenten à mortier am Par» 
lament von Vordeaux. Seine fchöngeiflige und Iiterarifche Richtung Hatte Ihm ben 
Praͤſidentenſtuhl der Akademie von Arras verfchafft; feine lebhafte Theilnahme an den 
Bewegungen, die der Berufung ber Generalflände vorangingen, erwarb ihm 1789 
die Ernennung zum Deputisten des dritten Standes. 

I. Innerhalb der Nationalverfammlung hat er weder Anfehen noch 
Einfluß gewonnen, aber wohl durch feine Heben bie Bewunderung und Anhänglich- 
beit des Boll. Er ging aus der Berfammlung mit dem Beinamen des Unbeſtech⸗ 
lien, incorruptible, hervor. Die Pointe feiner Reden war faft immer das Bolt, 
das Slül, die Freiheit, Reinheit und Unfchuld des Volks und die Forderung, die - 
Verſchwörer, die allein an den Leiden deffelben fchuld feien, zu vernichten — eine 
einförmige Litanei, die allerdings für die Gefehgebung nicht ausreichte, aber das 
Bolt bezauberte. Zum erften Male trat er am 20. Jult 1789 auf. Lally⸗Tollendal 
Hatte in Bezug auf mehrere in den Provinzen vorgefallene Mevolten den Antrag ge- 
ſtellt, Die Berfammlung folle in einer Erklärung alle Franzoſen zum Frieden, zur 
Bewahrung der Ordnung und zur Achtung gegen die Geſetze auffordern und mit der 
Strenge der gefeglichen Ahndung jeden der Tumulterregung Verbäctigen oder wegen 
einer Toldyen Angeklagten bedrohen. Dagegen fagte #.: „Man müfle den Frieden, 
aber auch die Freiheit Tieben; der Antrag Lally's fei ein Anfchlag gegen diejenigen, 
weiche die Freiheit vertheinigt haben. Nichts aber fei Irgitimer, ald die Erhebung 


250 i Hobeöpierre. (Innerhalb der Nationalverfainmlung.) 


gegen eine fchredliche Berfchwörung, die das Verderben der Nation bezwede; man 
‚dürfe Nichts übereilen, denn wer bürge wohl dafür, daß die Feinde des Staats Die 
Intrigue fatt hätten?“ — alfo permanenter Kriegdzufland des Volks! 
Berner: dad Volk ‚von Paris hatte in der Nacht vom 22, zum 23. Jult dem Ge⸗ 
fandten in Genf, Herrn v. Caſtelnau, mehrere Briefe abgenommen und biefelben er« 
Öffnet dem Präfldenten der Verſammlung überſchickt; NR. verlangte, am 27. Juli, 
ohne jedoch durdzudringen, daß diefelben zur Entbüllung der unheilvollſten Ver⸗ 
Ihwörung Öffentlich verlejen würden, da Schonung gegen die Verſchwörer ein Ders 
tath gegen das Volk ſei. Am 31. Juli, als die Commune von Paris, in Folge 
einer Aufforderung Necker's, dem Baron Befenval die Freiheit gegeben hatte, will ex, 
um da& Bolf zu beruhigen,“ biefem die Gewißheit geben, daß feine Zeinde 
nicht der Mache der Gefege entgehen. Am 7. April 1790 verlangte er die fofortige 
Errihtung von Geſchwornengerichten für Eivilfahen, da man nicht das Net Dazu 
babe, dur eine Vertagung diefer Inftitution „Das Glück des Volks“ aufs 
Spiel zu fegen. Wührend der Debatte über das Martial-Gefep befämpfte er daſſelbe: 
„Die Verbrechen gegen die Nation," fagte er am 21. October 1769, „fönnen nur 
durch die Nation, oder durch ihre Mepräfentanten, oder durch Mitglieder unferer 
Berfammlung gerichtet werden. Man muß einen wahrhaft nationalen Gerichtshof 
ernennen." In der Debatte vom 28. Bebruar 1791 über einen Gefegeövorfchlag 
Chapelier's, wonach jeder Aufruf zum Aufftand gegen dad Beleg und gegen die 
Öffentlichen Beamten für ein Verbrechen gegen die Eonflitution erklärt wurde, zog er 
aud dem Dogma von der Souveränetät der Nation die Gonfequenz, daB demnach 
jede Section, jedes Individuum ein lied des Souverins fel und jened Geſetz daher 
die Sreiheit mit dem Llintergang bedrohe. „Mögen die Golonieen untergehen," sief 
er in der Debatte über die Bmancipation der Farbigen am 13. Mai 1791, „wenn 
die @oloniften durch ihre Drohungen und zwingen mollen, das, wad am meiften ihren 
Intereffen convenirt, zu befchließen, — ich erkläre, daß wir den Deputirten der Golo- 
nieen, die ihre Gommittenten, die Barbigen, nicht vertbeidigt haben, weber Die Nation, 
noch die Bolonieen, noch Die ganze Menfchheit opfern werden!” In allen großen, Die neue 
Organifation des Staats betreffenden Fragen, z. B. in Bezug auf die Unterwerfung 
der Kirchenverwaltung unter das populäre Wahlprincip, in Bezug auf die Einrichtung 
der Nationalgarde oder Einführung der Jury's flimmte er mit den Zührern der con⸗ 
ftitutionellen Partei überein, die meiſten von diefen vertheidigten auch das Princip der 
Bolld-Souveränetät oder gebrauchten bie Blodfeln defjelben ; Eeiner derfelben aber ging 
mit einer Meberzeugung, die ſich mit feiner dogmatifchen Sicherheit vergleichen ließe, 
auf die Grundſätze Rouſſeau's zurüd, einer hatte dieſelben in gleichem Maße fick 
afflmilirt. Diefe Grundfäge immer und überall anwenden, jede Frage an ihnen meflen 
und nad ihrer Norm enticheiden, fidy ohne Eraltation oder Aufregung auf file berufen, 
— dad war nur ihm eigen, das firirte die Aufmerkjamfeit des Volkes auf ihn, und 
die ruhige Rüdfichtslofigkeit, mit der er im Namen diejer Grundfäge auch die äußerften 
Eonfequenzen ausſprach, gab ihm in den Augen: des Volkes das Ausſehen eined zus 
Herrſchaft berufenen Propheten. Als z. B. die Nutionalverfammlung den König und 
die Königin nach ihrer Zurkdführung aus Varennes durch Gommiffare aus ihrer 
Mitte über die Flucht aus Paris zu befragen befchloß, forderte er in ber Sitzung 
vom 26. Juni 1791 aus Nüdficht auf das Princip, daß fle vielmehr vor bie gemöhn- 
lien Gerichte geftellt würden: „Kein Bürger, Eeine Bürgerin,” fagte er, „Niemand, 
zu welcher Würde er auch erhoben fein mag, Fann durch das Gefeg degrabirt werben; bie 
Königin ift eine Bürgerin; der, Königift in dieſem Augenblid ein Bürger, welcher der Nation 
Rechenſchaft abzulegen bat, und in feiner Eigenſchaft als erfler öffentlicher Beamter 
muß er dem Geſttz unterworfen fein.” Als man in derfelben Angelegenheit über die 
Unverleglichfeit des Königd verbandelte, rief er tn der Sigung vom 14. Juli aus: 
„Die Könige find unverlegli, aber die Völker find es aud.” Als die Con⸗ 
flituante ihre Arbeiten beendigt Hatte, wurde er beim Keraudtreien aus der legten 
Sigung vom Bolf mit einem Eichenfranz gefrönt und im Triumph nad) Haufe be- 
gleitet. Schon menige Tage vor der Flucht des Königs war er durch die Ernennung 
zum Öffentlihen Unkläger am Griminalgeriht des Seinebepartements an Paris ge» 


Robespierre. (Leber die Krieg- und Friedendfrage.) 251 


feffelt worden; feine Hauptthätigkeit war aber den Debatten des Jacobinerclubs ger 
widmet und feine Betheiligung an den Verhandlungen deſſelben 

2) über die Krieg- und Briedendfrage wird und ihn von einer neuen 
Seite zeigen. Es handelte fih darum, ob Branfreich wegen ber Duldung, welche der 
Kaifer den Anfammlungen der Emigrirten im Kurfürftentbum Trier gewährte, dem 
deutichen Meich den Krieg erklären follte. Alles in Frankreich wollte den Krieg. 
Der König erwartete von dem Einrüden der deutſchen Heere die Erfüllung der Er⸗ 
Elärungen, über welche die Monarchen von Defterreih und Preußen zu Pillnig (f. 
d. Art.) übereingefommen waren und wonach fie fich verpflichtet Hatten, Maßregeln 
zur Wieberherftellung der unbeichränften Koͤnigsgewalt zu treffen. Die Girondiſten, 
Die Meifter der gefeßgebenden Verſammlung, nahmen zwar bie Pillniger Erklärungen 
keineswegs leicht, glaubten vielmehr an den Eraft der deutfchen Monarchen, hofften 
aber, troß aller Bejorgnig, mit der fle in die Zukunft ſahen, die Dinge fo leiten zu 
fönnen, daß am Ende flatt eines Sturzes der Gonftitution eine völferrechtliche Aner⸗ 
fennung derfelben heraus fäme "Ein Krieg erjchien ihnen dazu als nothwendig, da 
er ihnen Gelegenheit dazu bieten würde, Preußen von Oeſterreich zu trennen, letzteres 
in feiner Ifolirung zu fchwächen, erflered durch die Ausficht auf einen Antheil an der 
Beute, die fie durch die Säculariſtrung der geifllihen KurfürftenthHümer am Rhein zu 
Schaffen gedachten, zu gewinnen und das deutfche Reich durch diefen Sturz feiner alten 
Verfaſſung in den Wirbel der Revolution Hineinzuziehen. Auch das höhere liberale 
Bürgertfum war dem Krirg nicht entgegen; bie Leiden, Anfltengungen und Opfer 
defielben, rechnete es, würden die aufgeregten Volksmaſſen mürbe und dazu geneigt 
machen, eine Revijion der Verfafſung ſich als Preiß des Friedens gefallen zu laſſen. 
Einer ähnlichen Speculation huldigte in der Regierung Narbonne, den die Frau v. 
Stadl(f. d. Art.) zum Kriegsminiſter gemacht hatte und der im Salon diefer Frau 
des Geſandten Guſtav's von Schweden die Chancen der Zufunft mit chevalereöfer 
Zuverfichtlichkeit überfchlug, die Infpectionen der Beftungen und Armeecorps im Fluge 
abmachte, Alles im rofenfarbenen Richte und fich felbft am Schluß des bevorfichennen 
Dramas ald den Schiedörichter - über die definitive Gonflituirung Frankreichs ſah. 
Auch Lafahette, der mit Narbonne im Einvernehmen fland, betrachtete den Krieg als 
das ſicherſte Mittel zur Modification der Verfaffung und Breteuil, einer der Agenten 
des Hofes, Hatte Die auswärtigen Mächte in ber Idee beflärkt, daß der Krieg nur unbe» 
deutend oder ein bloßes Scheinmwerf fein und dazu dienen würde, im Einverfländniß 
mit den Gemäßigten in Branfreich das Zweikammerſyſtem einzuführen. Neben dieſen 
Sperulationen auf den Krieg hatte ſich indeſſen in den Volksmaſſen bereit der Geiſt 
der Bropaganda geregt, Anacharſis Clootz hatte die legiälative Berfammlung am 12. 
December 1791 durch ein aus der „Hauptfladt des Univerſum“ datirtes Schreiben, 
den Tag darauf durch eine Rede an der Barre unterhalten und ald das Ende eines 
nur monatlangen Kriegd die Befreiung von zwanzig Völkern gemweilfagt und die Gi⸗ 
sonde ſah ſich bereitö gezwungen, dem propagandiftifchen Geiſt der Maffen zu ſchmeicheln 
und in ihren Reden wie in den Botichaften an den König mit der Veränderung ber 
Geftalt der Erde und mit der Erjchütterung der irdenen Tyrannentbrone zu drohen. 
R. allein fegte fich diefem allgemeinen Ruf nad Krieg entgegen und führte feine 
Oppoſition. vom 11. December 1791 bis zum 11. Januar 1792 im Jakobinerclub 
in einer Reihe von Meden durch, denen man den Charakter des Glängenden 
nicht abſprechen kann. Er durchſchaute den Plan der Kriegöfreunde, wenn er 
ibn auch nicht genau detaillicen, noch Die Nuancen defjelben in den einzelnen Gruppen 
vom Hofe Zudmig’d an bis zu den Fractionen des Bürgertbumsd und bis zu Den 
Agenten bes Königs bei den auswärtigen Mächten beflimmen konnte. Er bezmeifelte 
ed, daß der Hof die Abfiht haben könne, den Thron des Kaiſers und der verbünde« 
im Könige zu erſchüttern, nannte e8 aber auch eine extravagante und unpolitifche 
Idee zu glauben, daß es für ein Volk Hinreiche, mit bewaffneter Sand ein fremdes 
Volk zu überfallen, um dieſes zur Annahme feiner Gefege und feiner Verfaffung zu 
bewegen. „Eure Givilorganifetion des Klerus und dad Ganze eurer Gonflitution — 
bietet fle nur den Brabantern gewaltthätig an! — und fie würden hinreichen, ben 
Thron Leopold's zu befeſtigen! Führt bei euch, vief er aus, zuerſt die Orbnung ein, 


252 Hobespierre, (Ueber die Krieg» und Briedensfrage.) 


ehe ihr die Sreiheit zu Andern tragt”. Auf’ das Innere Frankreichs follte zunächſt 
der Blick gerichtet fein, die innern Feinde follten befämpft werden, — daß wahre 
Coblenz fei in Paris. Kurz, er wollte einen Defenſiv⸗, einen Aggreffivkrirg, — 
Frankreich follte erft mit den , Verſchwörern und dem Despotismus“ in feinem Innern | 
fertig werben, ehe e8 daran denken dürfte, fi mit dem Ausland zu meflen. Sein 
Hauptgegner war Briffot, der Diplomatiker der Sironde „Wie Herr Briffot und 
feine Freunde das Bertranen zur Erecutivgewalt predigen, die Volksgunſt auf die 
Generale berabrufen, das heißt der Revolution ihre Iegten Waffen, die Wachfamfeit 
und die Energie der Nation entreißen”. Im dem mochenlangen Kampf zwifchen bei⸗ 
den Gegnern, welcher die Bironde um die Frucht ihrer Speculationen zu bringen 
drohte, trat zulegt Louvet als Beiftand Briffor’d auf und beſchwor M., nicht mehr 
länger allein die Öffentliche Meinung in der Schmwebe zu halten und anf dieſes Ueber- 
maß des Ruhms Verzicht zu leiften. Eine Außerliche Ausſoͤhnung zwifchen beiden 
Gegnern fand zwar darauf im Club ſtatt, R. ließ ſich fogar dazu herab, den 
Krieg der Breiheitäfämpfer nady „eigenen Plänen * ald Ausweg der DBerzweife 
lung zu forben; aber unmittelbar nah diefem Zugeflännnig brach er wieder 
zufammen, indem er feinen Blick auf den einzig möglihen Krieg unter der 
Führung der Executivgewalt richtete, — er desauvouirte feine augenblidliche 
Conceſſion und erklärte, daß er fortfahren werde, Briffot zu befämpfen. Die Feind» 
Ihaft zwifchen ihm und den Girondiften war von jeßt an entfchieden und follte in 
einem DBernichtungdfampf endigen; ebenfo aber wird auch der Orundfag, den er für 
Brankreih aufftellte: abwarten, ftille figen und den Streit mit dem Ausland bis auf 
den Augenbli binaußfchieben, wo die jogenannten Böfen und Schledhten in der Hei⸗ 
math vernichtet find, ihn ſelbſt In den Abgrund flürgen. Seit dem 1. Junt 1792 
gab er feine Zeitichrift le Defenseur de la coustitution "heraus, von der bis zum 
10. Auguft deflelben Jahres 12 Hefte erfchlenen. In dem erften Heft fagte er unter 
Anderm: „Die Conflitution iſt es, die ich vertheidigen will, die Conflitution fo mie 
fie iſt. Man hat mich gefragt, warum ich mi zum Vertheidiger eines Werkes auf 
werfe, deffen Mängel ich oft entwidelt Habe; ich antworte, daß ich mich als Mitglieb 
der conftituirenden Verfammlung aus allen meinen Kräften den Befchlüffen, welche 
die Meinung Heute ächtet, widerfegt habe, aber feitdem die conflitutionelle Acte been 
digt und durch die Öffentlihe Meinung zu Befland gefommen ift, mich immer darauf 
beichränft Habe, ihre treue Ausführung zu verlangen." Er bekannte ſich alfo damals 
als conftitutionellen Royaliften. Noch entichiedner ald in der Probenummer jenes 
Journals Hatte er im Juli 1791, einige Tage nad dem Ereigniffe des Märzfeldes, 
d. h. nachdem einige Petitionäre fchon die Abfehung des Königs geforbert hatten, in 
einer „Adrefle an die Franzoſen“ erklärt: „Was den Monarchen betrifft, fo Habe ich 
den Schauder, den der Köntgstitel faft allen freien Völkern eingeflößt bat, keineswegs 
getheilt. Vorausgeſetzt, daß die Nation an ihren Platz gefommen iſt und daß man 
dem Patriotismus, welchen die Natur unferer Revolution geboren bat, freien Lauf 
laͤßt, fürchtete ih das Koͤnigthum nicht, auch nicht Die Erblichkeit der Eöntglichen 
Bunctionen in einer Familie." Indeſſen Eoftete es ihn bei feiner Verehrung der Volks⸗ 
fouveränetät und bei feiner Borausfegung, daß der Hof ſich mit den auswärtigen 
Monarchen gegen die Eonflitution verfchworen babe, feinen innerlichen Kampf, das 
Königthum fahren zu Taflen. Die zwölfte Nummer fene® Jonrnald, welche einen Bes 
ript über die Ereigniffe des 10. Auguft 1792 brachte, meldete den Subferibenten: 
„Die gegenwärtigen Umflände und die Annäherung des Nationalconvents ſcheinen uns 
zu fagen, daß der Titel Vertheidiger der Gonftitution für dieſes Werk nicht mehr 
paßt. Wir hatten von Anfang erklärt, daß wir nicht die Fehler der Eonftitution von 
1791, fondern ihre Principien vertheidigen wollten. Unfer Zwed war e8 niemals, 
fle gegen den Wunſch des Volkes, welches fle vervollkommnen mollte und durfte, zu 
vertbeidigen, fondern gegen den Hof und gegen die Feinde der Breieit, bie fle zer⸗ 
flören und verfchlechtern mollten. Wir werden dies Werk unter einem den: gegenwär« 
tigen Gonfuncturen angemefleneren Titel fortfeßen." Es erfrhien feltbem bis zum 
15. März 1793 unter dem Titel: Lettres de Maximilien Robespierre, Membre de 
Ja Convention nationale de France à ses Commettans., In den Septembertagen, 


Mobeöpierre. (Stellung zu den Girondiſten und zu Danton.) 253 


deren Graͤueln er fern ſtand, von den Parifer Wählern in den Convent gewählt, be» 
gann für R. ſogleich in den erften Sigungen beffelben fein Kampf mit den ©iron- 
biften, der ihm befonders durch die völlige Taͤuſchung, in der er ſich in Betreff Dan« 
ton's (f. d. Art.) befand, erfchwert wurde. Diefe Periode feined Kampfes endigte 
ef, nachdem. er Den geheimen Verbündeten der Girondiften, Danton, der ihn in einer 
Art von moralifcher Gefangenſchaft gehalten hatte, durchſchaut und auf daB Schaffot 
geſchickt Hatte, 

3) Stellung zu den Girondiſten und zu Danton. Die Gkonde 
fland, als der Convent zufammentrat, im Alleinbeſitz der erecutiven Gewalt. Briffot 
batte das Miniflerium gemacht, er ernannte faft alle Diplomatifchen Agenten, die Partei 
brachte die Ihrigen in den Bureaur der Minifterien unter, fle verfügte über bie Re⸗ 
gierungsgelder und Roland überfluthete das Land mit den Journalen und Flugblättern 
feiner Leute, während er die Schriften und Sendfchreiben der Demokraten nicht felten 
auf dor Poft auffangen und zurüdbalten lief. Dennoch befand ſich dieſe Partei, 
mitten. im Genuß des ihr zugefallenen Sieges, in einer fehr gereizten und aufgeregten 
Stimmung. Der Gemeinderatb von Baris hatte ſich fogleich nach dem 10: Auguft 
zur Bedeutung einer allgemeinen Reichsregierung erhoben und Robespierre leitete ihn 
vom Jakobinerclub aus. . Bereitd am zweiten Tage Darauf, nachdem der Eonvent die 
Republik proclamirt hatte, in der Sigung vom 23. Septbr., fiel die Partei über R. 
ber, ohne daß fie im Tumult des Streits und in der Verworrenheit ihrer Vorwürfe 
einen befimmten Anflagepunft hätte befiniven können. Am 29. October verſuchte «8 
Louvet, die Anklage zu begründen, giebt aber mit feinen bigigen und ins Allgemeine 
gehenden Borwürfen R. nur die Belegenheit, in feiner Antwortörede vom 5. Novbr. 
feinen Glauben an die „hohe Beflimmung“ des Pariſer Gemeinderaths, den man ihm 
als ein Vergehen angerechnet hatte, und an die Aufgabe des Convents, deſſen Er- 
niebrigung unter feine Dictatur fein Zweck fein follte, mit rubiger Sicherheit zu bes 
kennen und ale Sieger aus der Debatte bervorzugehen. Im Vroceß des Könige 
batte die Bironde eine ſchwierige Stellung, da fle bei ihrer Abhängigkeit von ber 
revolutionären Volkdanſicht Ludwig einerſcits ald fehuldig preidgeben, andererfeitd, um 
ihn ald brauchbare Figur für ihr Ideal einer confitutionellen Monarchie fih zu 
erhalten, ihre Kräfte und ihren Grebit bei den Volksmaſſen durch ihre Anftrengungen 
für die Auswege des Appells an die Nation und der Auffchiebung des Urtheils voll« 
fländig nuglos aufreiben und verſchwenden mußte. R. Dagegen befrfligte, Indem er 
erklärte, daß es fich nicht um ein Urtheil, fondern um eine politiiche Maßregel handle, 
feinen Ruf als Dialektiter zugleih und als Politiker. „Es liegt hier, fagte er unter 
Anderem, fein Proceh vor, Ludwig ifl fein Angeflagter, ihr feid nicht Richter, feid 
vielmehr allein und fönnt nur fein Staatsmänner und Bertreter der Nation. Ihr 
Habt Fein Mrtheil für oder gegen einen Menſchen zu fällen, fonbern eine Maßregel 
des Öffentlichen Wohls zu ergreifen und einen Act der nationalen Borfehung zu voll- 
ziehen. Die Bölker richten nicht wie die Berichtähöfe; fle verurtheilen Ihre Gegner 
und flürzen fie in’s Nichte.” Diefe Worte waren nicht nur für das Schickſal 
des Könige entfcheidend, fondern auch eine Kriegderklärung an die Girondiſten. 
Diefe verflanden die Sache fo, daß fle glaubten, wie fih einer der Ihri⸗ 
gen,  Meillan, Später in feinen Memoiren audfprach, „feine andere Wahl 
zu haben, ald ber Baction (Mobeöpierre’8) zu weichen oder fie zu unterbrüden, das 
beißt, fle umgubringen.” Der Lärm, der am 10. März 1793 über eine gegen die 
Girondiften angezettelte Berfchredrung eptfland, war von biefen felbfl erregt, um Paris 
in den Provinzen ald eine Raͤuberhöhle darftellen zu Fönnen, und namentlih war 
Danton thätig, die Volksmaſſen in Unruhe zu fegen und zu einem Aufftand zu trei- 
ben, um Dumouriez einen Borwand zum March gegen Paris, zur Niedermerfung des 
Gonvents und zur Befreiung ded Königs zu geben. Die Gironde wollte den An⸗ 
griffen, die auf diefen General und fie felbft zu erwarten waren, zuvorfommen und 
zugleich die Nothwendigkeit des aufßerordentlichen Griminalgerichtd bemeifen, deſſen 
Niederfegung ihre Leute, auch Danton, am 9. März beantragt hatten und am 11. März 
burchfegten.. (Es iſt dies der Gerichtähof, aus dem im October darauf das Revo⸗ 
Intionstribung!l hervorging.) Auch nach der Niederlage Dumouriez' und nachdem ihn 


254 Nobeäpierre. (Stellung zu den Girondiſten und zu Banten). 


die Sreimilligen von der Armee vertrieben Hatten, bielt die Gironde an Ihrem Plan, 
die Aufldfung des Gonventd herbeizuführen, fefl. Sie hatte zwar’ in der Verſaͤmm⸗ 
lung die Raforität und Oberhand, fürchtete aber, Daß R. die gerichtliche Unterfuchung 
ihres Verhaltens, die er unausgeſetzt verlangte, durchſetzen koͤnne. ine bedeutende 
Erweiterung ihrer Macht Hatte fie in dem am 6. April decretirten, am 10. April in’s 
Leben getretenen Wohlfahrtdausfchuß gewonnen. Danton, Mitglied des Ausſchuſſes, 
leitete diefen Träger der Regierungsmacht in ihrem Intereffe. Die Umzingelung d28 
Convents in feinem Sigungslocal durch bewaffnete Sertionen am 31. Mai follte endlich 
zur Reinigung deffelben und zur Vernichtung R.'s ımd feiner Partei führen; die Vor» 
ftädter jedoch fehten fi, als fle hörten, daß die Kanonen und Bajonette des röyn- 
liſtiſchen Bürgerthums gegen den Gonvent gerichtet feien und daß man bie Ueberwäl⸗ 
tigung der demofratifchen Glieder deſſelben benbfichtige, 8000 bis 10,000 Mann flarf 
in Bewegung, erfhienen um 5 Uhr vor dem Palais Royal, pflanzten ihre Gefhüge 
auf und vereitelten die Abſicht der bürgerlichen Sectionen. Die Letzteren wiederholten 
am 2. Juni mit vermehrter Macht ihre Aufftellung, mußten aber ruhig zufehen, wie 
die Vorflädter und die Kanoniere aller Sectionen, 3000 Mann mit 163 Geſchüten, 
berbeiellten, die Sache umdrebten und flatt der Auslieferung R.'s und der Seinigen 
vielmehr die Verhaftung der Häupter der Bironde, zunächft 22 an der Zahl, erzwangen. 
Auch nachdem die Mitglieder der Gironde theild verhaftet, theils in den Departements 
mit ihren Berfuchen, fie zum Aufftand gegen Paris zu bewegen, gefcheitert waren, 
berrfchte fie noch in der Hauptflabt. Bis zum 1. Juli war Die Megierung in ben 
Händen Danton’s, ihres geheimen Forderers. Ihm gehörten vier Minifter an, der 
Republik nur zwei, Gohier und Bouchotte. Im Sicherheitsausſchuß leiteten Chabot 
und Bazire die hohe Polizei in feinem Stun. Im Wohlfahrtsausfchuß hatte er in 
dem Zeitraum, wo die Republik auf dem Punkte fland, den vereinigten Anftrengungen ber 
Eoalition, der VBendse und der bürgerlichen Plutokratie in ben Provinzen zu erliegen, 
mit Lacroir, dem Genofien “einer beigifchen Gaunereien, die entfcheidende Stimme. 
Nach der neuen Beſetzung dieſes Ausfchuffes (am 10. Juli) blieben in demfelben nur 
noch zwei feiner Vertreter, Herault und Thurlot. Er felbf war zurückgetreten, zum 
Theil meil er den Angriffen Marat’s, der tiber den alten Ausſchuß bittere Beſchwerde 
führte und für ihn, Danton, zu gelegener Zeit unter dem Dolch des Bräuleind von 
Armont fiel, aud dem Wege geben wollte Seit dem 27. Juli war R. endlich fel« 
ber Mitglied des Wohlfahrtsausfchufles und erklärte anı 11. Aug. bei den Jakobi⸗ 
nern, feitbem er In demfelben fige, babe er Dinge gefeben, die er ſich nie Hätte träu⸗ 
men lafien. Was er aber von feinen Entdedungen offenbarte, befchränfte ſich auf 
den Umftand, daß Euftine in Mainz zu viel Geſchütz aufgehüuft Habe, (während bie 
Branzofen vielmehr 100 Stüde zu wenig gehabt hatten) und auf einen angeblichen 
Verratd des Generals Kilmaine. Sein Blick verwirrte und verlor ſich in dem ſchau⸗ 
derhaften Durcheinander, in welchem Danton nicht erft, wie er ſich acht Monate ſpaͤ⸗ 
ter ausdrückte, beim Befteigen des Schaffots, fordern ſchon bei feinem Austritt aus 
dem Wohlfahrtsausfchuß alles binterlaffen hatte. Um 6. September war Billaud 
in den Ausfhuß eingetreten und dachte feitvem daran, Danton auf die Anklagebanf 
zu fegen. R. wollte aber nichts Davon wiffen. „ALS ich zum erften Wal, fagte Bils 
laud am 9. Thermidor, als Anfläger Danton’s im Ausſchuß auftrat, erbob ſich R. 
wie ein Mafender gegen mich und warf mir vor, ich mollte bie beften Batrioten zu 
Grunde richten.” R. ſelbſt flellte am 5. Auguft den Sat auf: „Niemand bat das Recht, 
den leifeften Verdacht gegen Danton zu erheben. Man wird Danton nicht in der öffentli⸗ 
chen Meinung herabſetzen, e8 fet denn, daß man beweife, daß man mehr Kraft, Talente 
und PVaterlandsliebe beſitze.“ Zulegt fand es Danton, zumal der Vroceß der inhafs 
tirten @irondiften und des Herzogs von Orleans bevorfland, in Paris für ih fo 
wenig gebeuer, daß er Urlaub nahm und fih im Detober und in ber erften Hälfte 
des November in der Nähe der Oſtgrenze aufhielt. Nach feiner Ruckkehr wurden aber 
die Anklagen und Indicien gegen ihn fo dringend, daß er am 2. Decbr. im Jakobi⸗ 
nerelub feine murrenden Gegner aufforberte, ihre Anfchuldbigungen gegen ihn vorzu- 
bringen oder vielmehr fte einem eigens zu ernennenden Ausichuß zur Prüfung vorzu- 
legen. R. nahm Das Wort und zählte dieſe heimlichen Anſchuldigungen auf: „Es 


Nobedpierre. (Stellung zu den Birondiften und zu Danton.) 255 


wird gefagt, Du waͤreſt in bie Schweiz aus gewandert; Deine Krankheit wäre erbichtet 
gewefen, um Deine Flucht zu verheimlihen. Du flrebieft danach, Regent unter Lud⸗ 
wig XVII. zu fein. In einer gewifien Beit fei Alles in Bereitfchaft gewefen, um ihn 
ale König audzurufen. Du feift dad Haupt der Verſchwörung. Nicht Bit, nicht 
Koburg, nicht England, nicht Oeſterreich, nicht Preußen feien unfere wahren Feinde, 
fondern Da allein. Der Berg beſtehe aus Deinen Mitſchuldigen. Es ſei Thorbeit, 
ſich um die. Sendlinge der auswärtigen Mächte zu befümmern. Die Berfchwörungen 
feien verächtliche Fabeln. Di müffe man umbringen.” Alles das erklärte aber R. 
für unverantwortlidhe Verleumdungen. Jenes Bemifch von Anklagen, in dem fi 
Wahres und Falſches mit hohlen Uebertreibungen (wie 3. ®. der Sap vom „Berg”, 
dem ganzen Berge) zufammenfand, war eine Erfindung Chabot's und ihm von biefem 
zugefledt werben. Er hatte diefe Erfindung als baare Münze hingenommen und ſich 
Dadurch vom rechten Wege ablenken lafien. Er ging fogar fo weit in die Falle, ale 
die Berleumder die Verfaſſer gewifler Blätter, worunter ee Hebert (ſ. d. Art.) 
meinte, und einen Marquis zu bezeichnen, morunter er den Marquis von Montaut, 
Mitglied des alten Sicherheits ausſchuſſes, verkand, der wahrfcheinlih Dinge gefehen 
hatte, Die ihn, R., ein Geheimniß geblieben waren. Diele beiden Männer magten 
es nicht, mir ihren wirklichen Anklagen gegen Danton aufzutreten, und fo murbe Kiefer 
vom Elub für einen fledenlofen Batrioten erklärt. In fo gefliffentlicher Weile wurde 
Danton in Schug genommen, meil er fib gerade um diefe Zeit bei MR. fehr beliebt 
gemacht hatte, Diefer Hatte nämlich damals feine Polemik gegen den Krieg, den 
man dem ganzen Kirchenthum (fogar bis auf die Kirchthürme, als Beleidiger der 
elfgemeinen Gleichheit) in Bang gebracht hatte, und gegen bie Verdrängung bes Kir⸗ 
chendienſtes durch den Vernunft⸗ und Naturcultus am 21. Novbr. bei den Jakobinern 
begonnen, worauf er am 6. Deebr. den Convent dazu beftimmte, ſich durch einen Be⸗ 
ſchluß für die Slaubensfreiheit, alfo auch für die Freiheit des katholiſchen Cultus zu er» 
Hagen. Gr hatte richtig erfannt, daß jener Krieg gegen das Kirchenthum von ben 
Bintolraten und politiſchen Schwindlern zu contrerevolutionären Zwecken benugt 
wurde. Danton war faum von feiner Urlauböreife zurüdgefommen, ale er, obwohl 
grade Jeine Leute den Sturm auf die Kirchen allgemein zu machen fuchten und zur 
Bermebhrung der herrſchenden Verwirrung benugten, in feiner bramarbaftrenden und 
völtig hohlen Weite die Stichworte jener erfien R.’fchen Rede in diefer Angelegenheit 
nachſprach, Des hochſſen Weſens gedachte und auch dazu beitrug, daß der Stabdtrath 
am 28. Rovbr. die Kirchen wieder dffnete. Das hatte ihm R.'n gewonnen; indem 
ee ber Gmpfindlichfeit des Legteren gegen den Atheismus und Meterialiemus fchmei- 
chelte, hielt er denſelben aber auch gleichſam an feiner mächtigften Biber fefl, 
konnte er ihn gegen einen großen Theil der Demofraten, die eine antikirchliche 
Agitation für notbwendig hielten, in einer gereizgten Stimmung erhalten, die e8 ihm 
dann fernethin möglich machte, ihn zu Gemaltichriiten gegen die Extremen zu beſtim⸗ 
men und fo endlich völlig zu ifoliren. Er fing, nachdem der Sturm feiner Betreuen 
gegen den Kriegsminiſter Bouchotte am 13. December mißlungen war, damit an, am 
17., durch die Kniffe Fabre's die Verhaftung Bincent'd, eines Bureauarbeiterd jenes 
Minifters, und Ronſin's, des Generals des Revolutionsheeres, d. 5. der republifa- 
nifhen Gendarmerie und der militärifchen Stüße der revolutionären Regierung, zu 
erwirfen. Nur midermillig und nad langem Sträuben gab R. dem Drängen heller 
fehender Leute dahin nach, am 2. Februar 1794 die Freilaffung jener beiden Männer 
zu gewäßren. Er traf mit Danton in der Sehnfucht nach einer Herrfchaft der Gnade 
und Billigkeit zufammen, nur dachte ſich Jeder von Beiden unter dieſer — (um ein 
modernes Wort zu gebrauchen) — Krönung des Gebäudes etmad Anderes. Danton 
verftand unter der Onade die Sicherheit für fich und die Seinen, in der er mit dies 
fen den Lohn für feine geheimen Streihe empfangen und offen genießen koͤnne, und 
zugleich eine Art von Vergeſſenheit für die revolutionären Nodomontaden oder auch 
Graͤuel und Schandthaten, zu denen er fich hatte verſtehen und bie er hatte zulaffen, 
autorifiren oder, er ber wüle agent provocaleur der Revolution, felbft provociren 
mäflen, um hinter diefem Schein der revolutionären Uebertreibung für ein Königthum 
bes Börſe, der Agiotage und der bürgerlichen Speculation zu arbeiten. Auch M. 


256 Nobeöpierre. (Stellung zu den Girondiſten und zu Danton.) 


ſah die Schredlen der revolutionären Regierung, welche leitere er an der Stelle der 
fuspendirten Berfaffung durchgefegt und deren Brincipien er in einer Reihe von 
Staats⸗ oder „Thron“ Meden gedeutet hatte, als etwas Proviforifches an. Auch er 
ſchmachtete nach der Zeit, wo Jeder in feiner Hütte in Ruhe und Sicherheit feines 
Tagewerks und der Früchte deffelben fich freuen Fönne; ex wollte nit, wie er im 
März; 1793 in Bezug auf die Girondiften im Jakobiner⸗Club ſich ausgedrückt hatte, 
den Tod des Sünderd, fondern daß er fich bekehre; — aber er wollte zuvor durch 
den Schreden und durch den über allen „Selbflfüchtigen", wie er die Widerfacher ber 
Singebung und Tugend nannte, fehwebenden Tod jened allgemeine Gleichgewicht ber. 
Gefinnung und. der Wuͤnſche erzeugen, welches Jedem, ohne von den Lehertreibungen 
des revolutionären Fanatismus und der bürgerlichen Reaction geflört zu werben, ein 
friedliched Leben innerhalb feiner vier Pfähle und geiammelte Theilnahbme für daß. 
Gemeinweſen erlaube und möglih made. Diefes Zufammentreffen beider Männer im 
Gedanken der Gnade machte es Danton möglich, feinen Genofien Camille Desmoulind 
als Verkündiger einer nahen Gnadenzeit vorauszufchiden und durch ihn das Terrain 
zu prüfen. Er konnte darauf rechnen, daß R. das Unternehmen nicht von vorn herein 


zurüdweifen werde, und dann zufehen, wie weit ex ihn irre führen und in die Schlinge, 


weldye die Speculanten bereit hielten, leiten könne. Am 5. December 1793 trat 
Desmoulind mit dem erflen Heft der Wochenfchrift „Le vieux Cordelier‘ her⸗ 
vor. Diefes Heft, fo wie das folgende, Hatte R. ſelbſt durchgeſehen, corrigist, 
alfo auch approbirt; beide Hefte erklärten Die Uebertreibung der Revolution 
für die einzige Gefahr der Republik. Für die folgenden Hefte überließ R. den Ver⸗ 
faffer feinem eigenen Riſico; die tröftende Erklärung, daß die Revolntiondregierung 
mit ihrer Härte nur ein Proviforium fei, führten diefelben zu einer Verdaͤchtigung, 
ja Anklage Hebert's, eines aufrichtigen Batrloten, und zu einer Meclamation ber Ver⸗ 
fhonung der irrenden oder itregeleiteten Brüder, wie die Faͤlſcher Chabot und Bazire, 


. fort. Na feiner fünften Nummer wartete Desmoulins den Erfolg feiner Fürſprache 


für die verirrten Brüder ab. Da meldete am 13. Sanuar 1794 Vadier im Mamen 
des Sicherheitdausfchufles, daß auch Fabre ald Haupturheber der Gaunerei jener beir 
den „Berirrten” (nämlich der Fälſchung eines Finanzdecrets), verhaftet fei, und Danton 
bemühte ſich im Convent vergeblich, für feinen Diener und Genoſſen fchonende Rück⸗ 
fihtönahme zu erlangen. Jetzt trat Desmoulins in feiner 6. Nummer als offener 
Anfläger der revolutionären Megterung und ihre „Tugend”s Principe auf: „Die 
Freiheit, fagte er, beſteht im Glück — die Selbftliebe ift die einzige Triebfeber der 
menſchlichen Handlungen, dad fpartiatifhe Weſen ift abſcheulich.“ In der fiebenten 
Nummer endlich, die, am 3. Februar angefangen, nicht vollendet worden iſt, thut er 
fo, als 06 er auß Furcht vor den Blutmenſchen Hebert, Momoro, Bincent u. f. w., 
die aus den Gebeinen von drei Millionen abgefchlachteten Franzoſen den Tempel ber 
Freiheit bauen wollten, den Mund nit aufthbun dürfe (während vielmehr die Helfers⸗ 
belfer Danton’s, um die Republik zu verderben, in Nantes die Klappfchiffe erfanden, 
in. Lyon Taufende auf einmal mit Mitrailaden binfchlackteten, in Toulon, Barfeille 
und Bordeaur die Bevölkerung lichteten und Ihren Abfchen vor dem „Ipartiatifchen” 
Weſen der Mepublil in der Anhäufung von Reichthümern, in den Ausfchweifungen 
ihrer Seraild und in der Einführung eines proconfularifchen Hofceremoniels an den 
Tag legten). Almäplih war jegt R. auf den Gedanken gelommen, daß die Ber- 
fhwörung, von der ihm der inhaftirte Chabot erzählt Hatte, doch wohl etwas anders 
außfehen möge, als ihm dieſer vorgefabelt hatte. Aber er wollte noch nicht fehen, 
dab Danton der Mittelpunkt der eigentlichen, wirklichen Verſchwörung ſei. Er hielt 
Ihn nur für einen Berführten, deffen Trägheit und Stolz Fabre gemißbraucht habe, 
um ihn in einer fchimpflichen Unthätigkeit zu feffeln oder in die Irrgänge einer klein⸗ 
müthigen Volitik zu verloden, — Camille Desmoulins für einen unrubigen Patrioten, 
den derfelbe Verführer zu unbefonnenen Schritten verleitet Habe. In diefer Unklar⸗ 
heit half er fi damit, was auch fonft fein Mettungsmittel war und es bis zu feinem 
legten Augenblid blieb. Er verfaßte eine Mede, in der er den Zmed der Revolution 
(Herrichaft der Gerechtigkeit und Tugend), ihre Mittel (Beſchützung der Buten und 
Schreden gegen die Boͤſen) und ihre Beinde (die tollen Uebertreiber und die ſchwachen 


Nobespierre. (Sein Sturz.) 287 


Brgünfliger der Schlechten) ſchilderte. Er trug fie am 5. Bebruar 1794 im Namen 
des Wohlfahts ausſchuſſes Im Convent vor, ließ fle von dieſem approbiren, zum Drud 
beordern und in die Departements vertheilen. Wie immer bisher und wie bis zum 
9. Thermidor hatte er ſich aber damit begnügt, nur bie allgemeinen ®rundfäge der 
revolutionaren Regierung auseinanderzufegen, ohne bie einzelnen Verſuche der Ueber⸗ 
treiber oder Amneflie- und Bnadenprediger zu f&hildern, ohne Namen zu nennen und 
den Eonvent zu Maßregeln gegen feine vermeintlichen verworfenen Mitglieder aufzu- 
forvern. Er hatte nicht einmal das Publicum oder Leute, die, wie Hebert, im Dun« 


Sein tappten und nicht wußten, was feine Ausfälle gegen contrerevolutionäre Ueber⸗ 


treiber des Schreckens zu bebeuten hatten über bie wahren Anläſſe und Ziele Biefer 
Ausfälle aufgeklärt. Er verfchuldete alfo felbft die Verwirrung, welche Danton, durch 
bie drohenden Pingerzeige dieſer Rede auf die Amneſtie- und Schonungß - Prediger 
beunruhigt, dazu benupte, um in patriotifchen und republifanifchen Kreifen Declama- 
tionen and Aufregung gegen den Berfall R.'s in ſchwachmüthige Neaction und den 
Ruf nach einem Auffland und nach Erhebung eines geflnnungstüchtigen Republikaners, 
z. B. des Maire Pache, zum @rofrichter und Lenker der Revolutionsmafchine in Bang 
zu bringen. Die Aufregung legte ſich zwar wieder, auch wurde Nichts aus dem 
Aufſtand, aber fo viel erreichte Danton doch, daß Hebert, Vincent, Ronfin und Mo- 
moro am 14. März verhaftet, ald Verſchwoͤrer vor Gericht geftellt und am 24.-März 
bingerichtet wurden. R. ſah zwar, ald man auch Pache und Henriot vor Gericht 
ziehen wollte, daß bie ganze Anklage nur erfunden mar, um auch gegen diefe beiden 
eegteren einen Schlag zu führen. Aber er ließ den Juſtizmord gegen Hebert zu, weil 
es den vermeintlichen Atheiomus deſſelben treffen wollte. Ia, er ließ fih von Danton 
in dem ®rade umgarnen und von den Grundlagen feiner Macht ablöfen und in die 
Luft ſtellen, Daß er es zugab, daß der Wohlfahrts-Ausfchuß einen von Jenes Haupt« 
wöünfchen erfüllte und am 27. März die Auflöfung des Revolutionsdeeres beantragte. 
Seht, da Danton völlig die Oberhand zu haben fehlen, ging biefer jedoch auf die 
Ausführung feine® Planes, den Dauphin aus dem Tempel zu holen und ale Köhig 
auszurufen, fo fühn los, daß ſelbſt dem Wohlfahrts - Ausfhuß und R. fein Zweifel 
mehr übrig blieb, wozu er den Tod Hebert's und die Aufldfung des Mevolutions- 
Heeres andyubeuten gedachte. In ber Nacht zum 31. März warb er mit Dedmoulinß, 
Lacrvix und Anderen verhaftet und am 5. April hingerichtet. R. fland jet allein, 
ſcheinbar ald Herr; die Zeit feines Triumphs war aber nur eine kurze Friſt, angefüllt 
mit tmalvollen und vergeblichen Anftrengungen, ſich in feiner herrſchaftlichen Stellung, 
bie in der That nur eine Iſolirung war, zu befefligen; bald aber folgte 

4) jein Sturz. Ifolirt war er in Branfreih, weil fein dogmatiſch⸗ theokra⸗ 
tiſches Syſtem dem franzöflichen Volksgeiſte nicht genügen Eonnte und feine kritifche 
Leidenschaft oder Spannung gegen die Barteien ſich zu fehr in Abflracten bewegte, 
die richtigen Angriffspunfte, überhaupt das thatfächliche Detatl nicht zu finden, wußte 
und von theoretiſchen Kriegderflärungen den Sieg erwartete. Auch Frankreich mollte 
er als ein theofratifche® Tugendreich ifoliren. Der Propaganda war er noch im 
Frühjahr 1794 fo feind, wie im December 1791. Anacharſts Elook hatte er ge⸗ 
ärzte und anf dad Schaffot gefhicdt, weil er mit feiner Eroberungswuth und mit 
frinem praßlerifhen Titel des Weltbürgers bemiefen habe, daß ihm der Titel eines 
feangöflichen Bürgers viel zu veräcdhtlih fe. Er wollte nur den Defenfivfrieg, für 
den er als Mitglied des Wohlfahrtsausfchuffes die Kräfte des Landes auf das 
Aeußerſte anfpannte, aber er mollte nicht anderen Bölkern neue Gefege aufprängen. 
Die pomphaften Berichte Barrere’3 über Die Siege der Armeen waren ihm zuwider; 
er fürdhtete die Herrſchaft der Generale. Im Anfang des Jahres wußte man von 
feiner Politik nur fo viel, daß er die Republik mit einem Kreis neutraler und bes 
freundeter Mittelftanten gegen die großen Militärmächte umgeben wollte; für den Fall, 
dag von biefen Friedensanträge gemacht würden, hatte er noch Feine betaillirte Ant⸗ 
wort bereit; aber er arbeitete darauf bin, Daß diefer Fall einträte. Dazu follte feine 
Nivektirung der Parteien dienen und jeine Aufrichtung Des Tugendreichs in Frankreich 
ſeibſt. Als den bedentendflen Schritt zu biefem Ziel betrachtete er das von ihn dem 
Convent abgezwungene Feſt des hoͤchſten Weſens (vom 8. Juni), in welchem er die 

Wagener, Staats u. Geſellſch⸗Lex. XVI. 17 


258 Rebespierre, (Sein Sturz.) 


beiden Dogmen des 18. Jahrhunderte „Bott und Unfterblichfeit” zus allgemeinen 
Anerkennung gebracht hatte. Diefes Zeft und der vorbereitende Vortrag R.'s vom 
7. Rai machten in Europa allgemeine Senfation. Schon letzteren Bortrag betrachtete 
man ald die Grundlage einer neuen gefellichaftlihen Ordnung in Frankreich und 
als die Bürgfchaft der bevorfiehenden Beruhigung Europa's. In Wien und Lon⸗ 
don glaubte man, daß R. der Mann fei, mit dem man unterhandeln koͤnne, 
Thugut fah in ihm den Mann, mit dem man unterbandeln müfle, und Herde 
berg (ſtehe dieſen Artikel) bezeichnete ihn in dem Schreiben, welches er nad 
der Schlacht bei Fleurus an Friedrich Wilhelm in das Lager von Warſchau 
ſchickte, als den Machthaber, der fich von allen verbündeten Mächten nicht beflegen 
laffen und die Anerkennung ber Republik erzwingen werde. Lebterer Staatsmann ſah 
die politifchen Konjuncturen ſchon für jo weit entmwidelt an, daß er ſich erbot, in ein 
paar Tagen, wenn man ihn dazu bevollmäcdhtigen molle, den Frieden zwifchen Zonden, 
Wien und Paris berbeizuführen. So meit waren indeffen die Dinge noch keineswegs. 
Durch feine religidfe Geſetzgebung hatte R. weder die Skeptiker entwaffnet, noch bie 
Katbolifch » gläubigen befriedigt. Die Holle des Hohenprieſters, die er am Beft bed 
Hoͤchſten etwas zu theatralifch fpielte, Hatte ihn fogar bloßgeftellt; feine Gegner, denen 
feine theokratiſche Manie bisher immer ſchon läfig war, glaubten nun vollends das 
Recht dazu zu haben, ihn lächerlich zu finden, und er verlor das Sıhredhafte, was 
fein Auftreten, feine Sprache und das Dietatorifche jeiner Dialektik bisher für fle 
gebabt hatte. Auch der Mordanfall, den am 23. Mat Eecile Renaud, Tochter eines 
Pariſer Papierhaͤndlers, bei ihrem Verſuch, ihn zu fprechen, beabfichtigt haben follte, 
diente nicht zur Befeftigung feiner Stellung, da er ihn gleichfalls viel zu fehr für 
feine priefterliche Autorität audgebeutet hatte. Bor Allem aber glaubte er, ehe er 
mit einem definitiven Plan zur Gonftitulrung der Republik auftrat, vorber feine Gegner 
im Gonvent vernichten zu müflen. Zu biefen Zmed mußte fein Freund Couthon zwei 
Tage nad) dem Feſt des höchſten Weſens dem Gonvent einen Befeßentwurf über eine 
neue Einrichtung des Mevolutionstribunals vorlegen, weldyer zugleich die Beſtimmung 
enthielt, wonach nur der Gonvent, der Wohlfahrte- und Sicherheits ausſchuß, die 
Conventscommiſſare und der öffentliche Anklaͤger Feinde des Volks vor jenes Bericht 
fchieen’ fönnen. Angenommen am 10. Juni, wurde den Tag darauf das Gefeg auf 
den Antrag der Bebrobten dahin amendirt, daß durch jene Vollmacht der Ausichüfle 
das echt der Nationalrepräfentation, ihre Mitglieder in Anklageftand zu ſetzen, nicht 
alterirt fein folle; R. bewirkte zwar am 12., daß dieſes Amendement als unwmöthig 
wieder zurüdgenommen wurde; allein wenn auch dad Gefeg feine urfprüngliche Ges 
Ralt wieder erhielt, fo mar doch die Dictatur der Ausſchüſſe über den Convent be- 
firitten, ja als ein Unding bezeichnet worden und hatte das Geſetz für R. feinen Werth verloren. 
Indeffen war aber ein Unglüd reif geworden, das er ſich felbft zugezogen Hatte. 
‚Sein alter College in der Gonflituante, der überfpannte Kartbäufer Dom Gerle, wer 
das Mittelglied zwiſchen ibm und den apokalyptiſchen Männer» und Frauenkreiſe ges 
weien, ber fih um eine 69gaͤhrige Seherin, Katharina Theot, gefammelt hatte und 
an deren Eröffnungen über das bevorſtehende Friedensreidh und über den nahen Er» 
neuerer der wahren Religion fidy erbaute. In’ den apokalyptiſchen Bildern jener 
Frau erfchien die Mevolntion als die Herabfunft des Geiſtes Gottes auf daB Haupt 
des Volks, wurde dad Ende der Priefter und Könige verfündigt und trat endlih R. 
ald der religidfe und politifche Mefflas auf die Scene. Zu den Bläubigen, die ber 
revolutionären Seherin zufirömten, gehörte auch eine Abenteurerin, Frau von Sainte⸗ 
Amarantbe, in deren Salons ſich die früheren Redner von Mirabeau bis Vergniaud 
mit den Reſten der fchönen GBefellichaft zufammengefunden hatten, und die auf bie 
Nachricht von dem bevorſtehenden Friedendregiment R.'s aus ihrem Zufluchtsort mit 
ihrer Tochter und Herrn von Sartined, früheren Polizeilteutenant von Varis, wieder 
bervorgelommen war. Nachdem fie fi bei der Theot hatte einweihen laflen, 
rubte fle nicht, bis R. fih dazu verflanden hatte, ſich bei ihr in einer von ihm felbft 
auögewählten Geſellſchaft einzufiaden. Er hatte bei diefer Gelegenheit die Schwäche, 
fi als Dictator anfnehmen zu laſſen und beutlih zu verſtehen zu geben, daß bie 
Hinrichtungen, die wider feinen Willen gefchäben, bald aufhören würden. Der 


Nebespierre. (Sein Sturz.) 253 


Sicherheitsausſchuß, der ben Kreis der Theot Hatte beobachten laſſen, orbnete bie 
Berbaftung derſelben und der Sainte-Amaranihe fammt ihrem Anhange an und ließ 
em 20. Juni einen Bericht vortragen, der zwar R. nicht bei Namen nannte, ihn 
aber dem Lachen, welches fi fegt zum erfien Mal wieder im Convent erhob, preis» 
gab. Noch peinlicher wurbe er bei biefer Gelegenheit bloßgeftellt, indem er, der 
Sriedensflifter und Gnadenſpender, es nicht wagen burfte, für die Sainte» Amaranthe 
einzutreten und file dem Schaffot zu entreißen. Verſtimmt zog er fih vom Wohl⸗ 
fahrts ausſchuß vollig zuräd, erſchien nur noch felten im Gonvent und befchränfte ſich 
auf feine Vorträge im Jakobinerclub, in denen er durch die Anklagen, bie er gegen 
die Broconfuln Garrier, Tallien, Kouche und deren Freunde richtete, den legten Schlag 
gegen dieſelben vorzubereiten ſuchte. Am 8. Thermidor (26. Juli), nachdem drei Tage 
vorher St. Juſt mit feinem Antrage, R. zum Dietater zu ernennen, im WBohlfahrts- 
ausſchuß durchgefallen war, trat M. endlich mit bem Vortrage, der die Löfung der 
ganzen Frage enthalten follte, im Convent auf. Aber er nannte Keinen von denen, 
deren Häupier zu Opfern für die Ruhe der Mepublit beſtimmt maren, formulicte 
Beine einzige Anklage, wieberbolte feine alten dogmatifchen Gegenfäge und brachte nur 
infofern etwas Neues vor, als er fich offen über fein Unglück beklagte, daß fein Zu⸗ 
ſammenhang mir den Ausfchüffen und mit dem Bonvent ihn ald Mitfchuldigen an deren 
zablveichen Bluturtheilen der Iehten Monate erfcheinen laſſe. Die Zurädnahnme des 
anfänglicheh Beſchluſſes der Berfammlung, wonach jein Bortrag gebrudt verfchidt 
werden follte, zeigte ihm, daß man zum Krieg bereit fei. In der Nacht bemühten 
ſich beide Seiten, die Medyte, die „Ebene, den „Sumpf“ zu gewinnen. Rab lan⸗ 
gem Schwanken entfchieden ſich dieſe unpartelifchen Beobachter eined jahrelangen 
Dogmen-Kampfes für die Auffändifchen, weil ihnen R. trog feiner Abſicht, ein Frie⸗ 
dendregiment zu fliften, durch feln Dogma vom Volke, d. 5. bei feiner Abhängigkeit 
von den Bollsftimmungen, feine Garantie bot. Auch In der Rede, die St. Juſt für 
den folgenden Tag, den 9. Thermidor (27. Juli) audgearbeitet, nannte derſelbe zwar 
Ramen, Billaud und Gollot, ohne jedoch außer vagem Gerede über die Verſchloſſen⸗ 
beit und vermeintlich gereizte Stimmung berfelben einen Anklagegrund anzubringen. 
Doc Tam er nicht dazu, die Mede zu halten; kaum hatte er die erſten drei nichté⸗ 
fagenden Saͤtze vorgetragen, als ihm Tallien Stillſchweigen gebot. R. fam im Lärm 
der Anffländifchen nicht mehr zu Worte; er, fein jüngerer Bruder (Auguflin Bon 
Joſeph, der ihm befonders als Gommiffar in den Provinzen und bei ben Armeen 
"gedient hatte), St. Juſt, Lebad und Gouthon werden in verfchiedene Befängnifie ab⸗ 
geführt, unterwegs aber von ihren Freunden befreit uud in das Stadthaus geleitet. 
Der Eonvent erklärt fle darauf in die Acht, überträgt Barras den Befehl über bie 
Nationalgarde und die bewaflnete Macht des Convents. Im Stabthaufe, während - 
die Naſſen theilnahmlos Bleiben, überfallen, wird R. von dem Gendarmen Meda 
durch einen Pifofenichuß im Unterkiefer. verwundet, den Tag darauf (den 28. Juli 
1794) wird er mit feinen Freunden hingerichtet. — Derfelbe Fehlgriff, der Danton 
geſtürzt Hatte, brachte au R. zu Falle. Jener mollte die Beflgveränderungen, welche 
die Mevolution bewirkt Hatte, zu früh unter dem Schug der Löniglicden Autorität in 
Sicherheit bringen (und nebenbei die Früchte feiner Schwindeleien genießen). R. 
wollte zu früh die republifänifche Megierung auf den Schultern der nivellirten Par⸗ 
teilen, die, durch feine Zucht gebildet, in Nichts zu viel und zu wenig thun, nicht zu 
weit geben und nicht läſſtg zurückbleiben, gleich einer mächtigen Kugel balanciren 
laflen. Aber das Volk wollte eine Kugel haben, die audy drangen, wie im Innern 
Frankreichs, die fländifchen Beflgverhältnifie niederrolite. Das flürzte ihn. Er anti⸗ 
eipirte Die Bofltion Louis Philipp's und des fjegigen Napoleoniden, die felbfi noch 
nach dem Austoben von Reyolutionen prefär war und iſt. In dem gefpannten Wefen 
feine® nerbigten und ausdrucksvollen Geſichts ſprach fich die Innere Anfpannung auß, 
mit der er das Ausfchreiten der Parieien beobachtete, und die pädagogiiche Leiden» 
ſchaft, Alles auf das rechte Maß zurüdzuführen. In feiner gewählten Kleidung, bie 
zur Nachläffigfeit der revolutionären Tracht in fchroffem Gegenſatz fland, flellte er Die 
Deren; dar, zu der er dab republikanifche Leben erziehen wollte. Endlich 
das beſcheidene, ebrenfefle und friedliche Bamilienleben, welches er ſeit bem 
17* 


260 Robinet (Sean Vaptiſte Reno). Mebinfon (Edward). 


Sommer 1791 His zu feinem letzten Ausgange vom 9. Thermibor (27. Yalt) 
im Haufe des Tiſchlers Duplay und deſſen Frau, die ihn als Sohn behandelten, 
führte, war ihm ein Borgefchmad des idylliſchen Friedens, der nach der Befefligung 
der Republik in jeder Hütte walten würde. Eine ruhige Liebe verband ihn mit Eleonore, 
der älteften Tochter jened Tiſchlers, und in Gefpräcen mit ihr wie an der Familien⸗ 
tafel malte er oft das Glück aus, welches ihn erwarte, wenn er nach der Feſtſetzung 
der Geſchicke Brantreichd feine Belichte und Berlobte zur Frau nehmen und mit ihr 
anf einer Farm an dem allgemeinen Gluͤcke der Patrloten Theil nehmen würde. Cine 
jüngere Tochter Duplay’8 hatte Lebas, ber Freund R.'s, ſchon mitten in den Revo⸗ 
lutiondſtürmen geheirathet. Eine Schweſter R.'s, Charlotte, die feiner revolutionären 
Entwidelung nicht gefolgt war, erhielt von Napoleon und den Bourbons eine Beniton 
und flarb den 1. Auguft 1834 zu Baris. Ihr wird ein Auffatz über ihre Brüder in 
den „Memoires de taus* \zugefchrieben. — Gin reiches hiſtoriſches Material zur Be⸗ 
urtheilung R.'s enthält der in feindlichem Sinne abgefaßte „Rapport de l'examen des 
papiers trouves chez Robespierre et ses complices,* den Gourtoid im QAuftrage des 
Gonventd aufgefegt und in der Sitzung vom 5. Januar 1795 verliefen bat. Derfelbe 
ift auch in einem GeparatsAbdrud aus dem Monitenr (in 2 Bänden) erfchienen. 

Hobinet (Ican Baptifte Aens), franzdfticher Schrififleller, defien Name der Ge⸗ 
ſchichte des Materialiomus angehört. Er if den 23. Junt 1735 zu Rennes geboren, - 
trat nach abfolvirten Studien bei den Sefuiten ein, verließ fie aber bald darauf wieder, 
widmete ſich allein den Wiffenfchaften und begab fi nach Holland, um bafelbft feine 
Särift De la Nature, bie feit 1761 His 1768 zu Amflerdam in vier Bänden erſchien, 
zum Drud zu bringen. Diefelbe wurde Anfangs Diderot oder Helvetins zugeſchrieben, 
R. zögerte aber nicht, fi in einem dem Journal des Savants zugeſandten Schreiben 
vom 18. Mai 1762 zu ihr zu bekennen. Die Lieblingdivee R.'s in diefer Schrift 
ift die, Daß das Univerſum befeelt iſt und alle Weſen, felbft die Geſtirne, die Faͤhig⸗ 
keit befigen, ſich wie die Thiere zu veprobuciren. 1768 erfchien zugleich bie Schrift, 
die man fälfchliher Weife oft als den fünften Theil des obigen Hauptwerkes bezeichnet, 
nämlid die CGonsiderations philosophiques sur ia gradation naturelle des formes 
de l’ötre oder Essais de la Nature qui apprend à former Phomme. Diefe Schrift 
iſt nur eine Sammlung von Auszügen aus naturhiforifhen Werfen und Seife 
befcehreibungen, das eigentliche Werk, welches der Titel verfpricht, die wirkliche Dar⸗ 
ftellung des „natürlichen Gradation der Dafeindformen“, hat M. nicht gegeben und 
hberlich die Ausführung, zu der er in jenen Auszügen nur Materialien liefern wollte, 
der Zukunft. Seine Idee iſt der Vorläufer der Darwin'ſchen Theorie. In den Kreis 
biefer Idee gehört au R.'s Schrift vom Jahre 1769: Parallele de la condition et 
des facultös de I'homme avec la condition et les facultes des autres animaux 
(erfchienen zu Bouillon). Vom Anfang feined Auftretens an bat R., um gu fub- 
fikiren, für Buchhändler ‚eine Menge Sachen, au Romane, aus dem Englifchen, 
Manche auch aus dem Italieniſchen überfeht. Die Noth bewog ihn wahrſcheinlich 
auch, zu dem großen Verdruß Voltalre's deſſen lettres secretes 1765 zu Amſterdam 
(mit vorgegebenem Berlagsort Genf) herauszugeben. Außerdem bat er wahre Biblio- 
thefen, z. B. ein Dictionnaire universel des sciences morale, econvmique, polilique 
et diplomatique, 1778—1783 zu Baris, mit Angabe: London, in 30 Bänden in 4. 
geliefert. Um das Jahr 1778 Lam er nach Paris zurkd und warb bald darauf 
königlicher Genfos, welchen Poſten er bis zur Revolution befleidete; er war auch 
Privatſecretaͤr Amelot's, der Damals den Titel eines Miniſters von Paris führte und 
als folcher einen Theil ber Functionen des Miniſters des Innern und des Minißers 
vom Haufe des Königs vereinigte. Während der Stürme der Revolutian lebte er 
verborgen mit feiner Familie zu Mennes. In feiner legten Krankheit gab er feinem 
Pfarrer die Erklärung, daß er im Schooße der katholifcherömifchen Kirche leben und 
ſterben wolle. Er ſtarb zu Rennes den 24. März 1820. 

Nobinſon (Edward), der berühmte Paläflina-Meifende !), wurde am 130. April 

1) Richt zu verwechleln mit Dr. Georges R., geftorben zu Breiburg in Baden am 18. Mai 


1862, der ebenfalls durch feine wieljährigen Reiſen in Baläftina, Syrien, Aegypten, Griehenland 
rũhmlich belannt iR. Gr fchrieb: „Trarvels in Palestine and Syria“ (London 1837). 


Robinien (Thereſe Abolphine Louiſe). 201 


1794 zu Southington in Connetticut geboren, widmete fich Anfangs dem Kaufmanns⸗ 
flande, fludirte dann zu Hudſon im Staate Nem-Dorf die Rechte und wurde 1816 
Lehrer am HamiltonsGollege. Doch bald wandte er fi der Theologie zu, melde er 
auf dem Seminar zu Andover im Staate Mafſachuſetts fludirte, wurde 1821 Lehrer 
an dieſer Anfalt, ging in dem nämlichen Jahre nach Europa, beſchaͤftigte ſich in Part, 
Halle und Berlin mit orientalifch-biblifhen Sprachſtudien und verbeiratbete ſich im 
Halle 1828 mit der Tochter des Staatéraths v. Jacob (f. u.), kehrte nach mehreren 
Reifen durch Deutfchland, Frankreich, Italien und die Schweiz 1830 nach feinem 
Baterlande zurüd und wurde Profeflor der Theologie und Bibliothefar in New⸗Nork. 
1833 legte ex fein Amt nieder, flevelte 1833 nach Boſton über, nahm jedoch 1857 
Die Profeffur der Biblifchen Literatur am tbeologifchen Seminar in New⸗NPork, die er 
bis zu feinem Tode bekleidete, an. Ehe er dies Amt antrat, machte er mit dem 
Miſſtonaär C. Smith!) feine erfie Neife nach Paläflina, deren Frucht die „Biblical 
Researches in Palestine etc. 1838“ (London et Boston 1841, 3 vol. with maps 
canstructed by Dr. H. Kiepert) war, hielt ſich längere Beit in Deutihland auf und 
lehrte dann über England nad New⸗PYork zurüd. Eine zweite Reiſe nach PBaläflina 
unternabm er 1852 und das Refultat derfelben war eine verbeflerte Ausgabe der 
„Biblical Researches* und die in London 1856 publicirten „Later Biblical Re- 
saarches in Palestine etc. with maps and .plans.* Außerdem gab er heraus: „Grie⸗ 
hiicheenglifches Wörterbuch zum Neuen Teftament” (New-Morf 1850), ſchrieb einen 
Abriß feiner zweiten Reiſe in Paläſtina im 10. Bande der Zeitſchrift der deuntſch⸗ 
morgenländijchen Geſellſchaft (Seite 37 u. folg. u. im 24. Bande des Journal of the 
Royal Geographical Society), überfegte Wahl’ „Clavis Novi Testamenti*, Winers 
„Grammatik des neuteſtamentlichen Sprachidioms“, Buttmann's „Griechifche Gram⸗ 
matik“, Geſenius' „Hebräifches Handlexicon“ und gründete die theologiſche Zeitſchrift 
„Ihe Biblical Repository“, In den legten Jahren arbeitete er auch an einer Gen 
graphie des Heiligen Landes, die leider in Folge feines Todes am 27. Januar 1863 
unvollendet geblieben if. 

Robinson (Thereſe Adolphine Louife), als GSchriftftellerin unter dem Namen 
Talvij 8. i. T. A. L. v 3, Therefe Adolphine Louiſe von Jacab), geboren 1797 
zu Halle, begleitete ihren Bater, den Staatsrath v. Jacob, nach Eharkon, fpäter nach 
Peteröburg, kehrte mit ihm 1816 nach Halle zurüd, verheiratbete fi 1828 mit dem 
gelehrten Theologen Edw. Nobinfon (f. v.) folgte ihm 1830 nach Amerika und auf feinen 
Reifen. Unter dem Namen Ernft Berthold überfegte fie W. Seott's „Presbyteria⸗ 
ner” und „den Zwerg", gab ein Taſchenbuch für das Jahr 1825 „Pſyche“ Heraus, 
dad auch unter dem Titel „drei Erzählungen" (Halle) erſchien, überfetzte in Verſen 

„zwei ferbifhe Volkoſagen“ (in dem Taschenbuch zum gefelligen Vergnügen von 
4829), fihrieb „Ueber die indianifchen. Sprachen" (Leipzig 1834), „Historical view 
of ihe slavic languages“ (1834, deutfh von KR. v. Olberg, Berlin 1837), , Verſuch 
einer gefchichtlichen Charakteriſtik der Volkslieder germanilcher Nationen" (Leipzig 
1840), „nie Golonifation von NeusEngland” (Leipzig 1847), eine neue Bearbeitung 
des „Historical view of the slavic languages* (Neu-Mork 1850, deutich von Brühl, 
Leipzig 1852), die Erzählungen „Heloise* (Neu Hort 1850, deutſch, Leipzig 1852) 
und „The exiles* (Neu-Dork 1853; vorher deutfch unter dem Titel „die Auswande⸗ 
ver", Leipzig 1852). Am berühmteflen if fie Durch ihre metriſche Meberfegung ber 
„DBolkölteder der Serben” (2 Bde, Halle 1825, 2. Ausg. 1835, neue umgearbeitete 
und vermehrte Auflage, 2 Ihle., Leipzig 1853) geworden, eine Arbeit, durch welche 
die ferbifche Poeſie in Die beutfche Literatur eingeführt wurde und die einerſeits mit 
einem fo feinen und richtigen Tact für den volfschümlichen und nationalen Gharafter 
der DOriginaldichtungen, andererfeitd mit fo entſchiedener Begabung für eine geiflig 
treue und zugleich der deutſchen Sprache und VBersbildung zufagende Nachdichtung 
ausgeführt ift, daß fle mit Recht die vollſte Anerkennung Goethe's, I. Brimm’s und 
anderer Größen fand und in allen gebildeten Kreifen der deutſchen Nation beimifch 
wurde, Vortrefflich if auch ihre kleine Schrift „Die Unächtheit der Lieder Dfflan’s 


) Dr. Eli Smith farb Anfang des Jahres 1887 in Beirut ale Superintenbent ber ameris 
kaniſchen DMüfonsanfais bafelbf, 





262 Ä Hobinfon Grufoe. 


und des Macpherfon’fchen Offtans insbeſondere“ (Leipzig 1840), worin fie die Oſſtan⸗ 
fhe Streitfrage kurz und gedrängt, aber mit voller Sachkenntniß und einem bei 
Frauen fehr feltenen philologiſch⸗kritiſchen Sinne erörtert bat. 

Robinfon Cruſoe Heißt der Held eines von Daniel Defoe (f. d. Art. Defoe, 
Band 6, S. 70 ff.) im Jahre 1719 unter dem Titel „The life and surprising ad- 
ventures of Robinson Crusoe* veröffentlichten Buches, welches foglei bei feinem 
erfien Erfcheinen von Alt und Jung, von Hoch und Niedrig wahrhaft verfchlungen 
wurde. Es war, fagt ein Schriftfteller jener Zeit, Feine Wittwe fo arm, daß fie fi 
nicht täglich wenlgftens einen Pfennig abgefpart Hätte, um fich nach einiger Friſt den 
herrlichen Robinfon verfchaffen zu können. Das Buch murde faſt in alle Sprachen 
der Welt überfeßt; in den Wäften von Botanys Bay wurde ed mit demfelben Ent- 
züden gelefen, wie in dem Gemühl von London, Paris und St. Peteröburg; unter 
den Namen der Perle des Oceans murde es eine Lieblingd-Lectüre der Araber. 
Das biftorifche Urbild von Defoe's „Robinſon“ war ein fchottifcyer Matrofe, Alexander 
Selderaig,. geboren 1680 zu Largo, der feine Helmath verließ und Matrofendienfte 
nahm. Nach mancherlei abenteuerlichen Erlebniffen kehrte er wieder nah Schottland 
zurüd und verwandelte, um fi unfenntlih zu machen, feinen Namen in Selfirk. 
Kurz darauf ging er mit dem berühmten Seefahrer Dampier in das Südmeer. Der 
Gapitän Stralding fah fi) genöthigt, ihm mehrfach wegen offener Widerfpenftigkeiten 
zlichtigen zu laffen. Ale das Schiff an der Infel Juan Fernandez anlegte, verbarg fich der 
ftarrföpfige Matrofe in die Wälder, ließ das Schiff abfegeln und lebte auf der menfchen- 
leeren Infel unter den furdtbarften Leiden und Entbehrungen vier Jahre und vier 
Monate. Im Jahre 1709 fand ihn dort der Eapitän Rogers, nahm ihn an Borb 
und brachte ihn nach England zurüd. Seine Reife gli einem Triumpbzuge, man 
brängte fih um ihn, man mollte feine Erlebnifie aus feinem eigenen Munde hören. 
Alle Zeitungen redeten von ihm, und ed erfchlenen mehrere Bücher mit feinen Aben- 
teuern angefüllt, von denen Defoe's „R.“ eine europäifche Berühmtheit wurde. Den 
biftorifchen A. bat Sainting in feinem unfangreihen Buche „Seul“ (Parts 1857) wieder 
zu Ehren bringen wollen, nachdem neuerdings die für das Berdienft des Autors müßige 
Frage ventilirt worden ift, 06 die Tagebücher jenes Seemanns das hauptſächliche Material 
oder nur die Anregung zu dem R. geliefert haben. Vgl. Ehasles, „Le 18me siecle en 
Angleterre* (Paris 1845) und deſſen franzöflfche Ueberſezung des Defoe'ſchen Romans. 
Nicht nur im Inlande erlebte dr Roman Defoe's zahllofe Auflagen, fondern er vers 
breitete ſich auch fchnell ind Ausland; namentlich fand er in Deutſchland eine außer- 
ordentlich günflige Aufnahme Die erfle Ueberfegung erichten 1721 zu Leipzig; fle 
war die Ueberfigung einer franzdfifchen Ueberſezung, die 1720 in Paris erfchienen 
war, und wurde in demfelben Jahre noch dreimal aufgelegt. Leberfegungen folgten 
fodann auf Ueberfegungen, Bearbeitungen auf Bearbeitungen; unter den legteren {fl 
allgemein bekannt die von Campe, die im Jahre 1779 zum erfien Mal erſchien und 
1855 die neunundvierzigfie Auflage erlebte. Bald tauchten zabllofe Nachahmungen 
auf, die fogenannten Robinfonaden, welche dadurch vorzüglich auf die Phantafle 
und Empfindung der Denge wirkten, daß fle die Abenteuer des eigentlichen 
Robinſon's übertrieben, widerfprechende Gefahren zufammendrängten und Thiere 
und Infeln anfftellten, welche Fein Naturforfcher und Weltfegler entdeden Tonnte. 
Es folgte von. 1722 an eine lange Reihe deuticher Geſchichten von NRobinfonen und 
MRobinfoninnen; Koch Führt in feinem Compendium der deutfchen Literaturgefchidhte 
(Bd. 2, S. 267— 272) aus den Jahren 1720—1760 vierzig deutfche Robinſonaden 
auf, Gräffe im „Tresor de livres rares et pr&cieux® (1859), hl. I., Art. Defge, 
funfzig. Es gab einen brandenburgifchen, Berliner, boͤhmiſchen, franzöflfchen, engli⸗ 
ſchen, italieniſchen, bolländifchen, irlaͤndiſchen, griechiſchen, ſüdiſchen R.; eine der beften 
dieſer abenteuerlichen Erfindungen ſoll der „ſchleſiſche Robinſon“ (Breslau, 1723, 
2 Thle.) fein. Auüch die verſchiedenen Stände und Gewerbe hatten ihren R.; es gab 
einen buchhändleriſchen, einen mediciniſchen R. u. ſ. m. Eine tiefere Fortbildung bes 
englifgen Robinfon in gewiffen Sinn mar die Geſchichte von der Infel Felfen- 
burg, von Ludwig Schnabel (4 Thle., 1731—43) verfaßt, eines der merkfwärbigften 
Bücher feiner Zeit, von Androͤ („Belfenburg“, 3 Bde., Gotha 178890) moderni⸗ 


Nochambean (Jean Bäptifte Donatien de Vimeur, Graf, Rochdale. 263 


firt, auch von Dehlenfchläger unter dem Titel „die Infeln im Sübmeer*, (1826, 
4 Bde.) neu bearbeitet und von Ludwig Tie (6 Bde, Breslau 1827) eingeleitet, die 
Erneuerung des Romans felbf iſt nicht von Tied. Die jüngſten Robinfonaden in 
Deutfhland find der obersöfterreichifche Nobinfon (1822) und Ger neue Robinſon von 
dem Mündyener Schubert (1. Aufl. 1848, 3. Aufl. 1853). In England find in diefer 
Art die. , Reiſen und Abenteuer William Bingfield's“, „das Leben und die Abenteuer 
Sohn Daniel's“ und „die Seereife Peter Wilkin's“ am befannteflen geworden. Bon 
Bearbeitungen in franzöfifcher Sprache erwähnen wir nur die von T. Louis, „Le 
Nouveau Robinson ou les Aventures de Robinson etc.“ (Leipzig o. 3.), die „Le 
roman debarrasse de tout son fratras“, wie ihn fhon Rouſſeau für feinen Emil 
zu haben wünfchte, enthält. Cine „Bibliothek der Hobinfone. In zweckmaͤßigen Aus⸗ 
zügen“ (mit einer Kritif aller erfchienenen Robinfone) gab I. Ch. &. Haken heraus 
(Berlin 1805—1808, 5 Thle) Vgl. außerdem Hettner „Robinfon und die Ro⸗ 
binfonaden” (Berlin 1854) und denfelben Gelehrten in der „Befchichte der englifchen 
Literatur u. f. w.“ (Braunfchweig 1856), ©. 292 ff., und in der „Beichichte der 
deutfchen Literatur" (Braunfyweig 1862), S. 318—331; „der erfte und ältefte 
Robinfon Erufoe, ded Neltern, Reifen, wunderbare Abenteuer und Erlebniffe Neu‘ 
bearbeitet von Ludwig Hüttner.“ ingeführt durch eine Gefchichte der Robinſonaden 
u. f. w. von Lauckhard (Leipzig 1862). " 

Nochambean (Jean Baptifte Donatien de Bimeur, Graf), Marſchall von 
Frankreich, geb. den 1. Juli 1725 zu Vendome, trat 1742 in den Dienfl, wohnte 
von Feldzügen des dfterreichifchen Erbfolgelriegd und der Expedition Richelieu's gegen 
Minorca (1756) bei, und wurde 1780 als Generallieutenant mit einem Gorps bon 
6000 Mann den Nordamerikanern zur Hülfe geſchickt. Er trug 1781 zur Gapitus 
Iation der Engländer in Vorktown bei, wurde nad) feiner Rückkehr "von Ludwig XVI. 
mit Ehren und Aemtern überbhäuft und als der Krieg mit dem Kailer bevorftand, im 
December 1791 zum Warihall ernannt. Doc konnte er fih an der Spige der Nord⸗ 
armee gegenhber den revolutionären Elementen derfelben nicht behaupten, legte im 
Juni 1792 fein Commando nieder und zog ſich auf fein Landgut bei Vendome zurüd. 
Später vor das Revolutionstribunal geftellt und verurtheilt, befand er fih ſchon auf 
dem Wagen, der Ihn mit den andern Opfern des Tages zur Guillotine führen follte, 
als ihn Der Henker, weil der Wagen fon überladen fel, zurückwies. Der 9. Ther⸗ 
mibor rettete ihm indeflen dad Leben. Bon Bonaparte In der Würde des Marſchalls 
beftätigt, Rlarb er den 10. Mai 1807. Seine Mömoires erfhienen 1809 in 2 Bon. 
— Sein Sohn Donatien Maria Iofepb de Bimeur, Vicomte de R. geb. 1750, 
folgte als Oberſt feinem Vater nad Nordamerika, erhielt als Generallieutenant 1792 
das Commando in den meftindifchen Gewäflern, untermarf die Neger auf San Dos 
mingo, vertrieb die Engländer 1793 von Martinique, mußte jedoch 1794 fi in Forte 
Royal den Engländern übergeben und erhielt freien Abzug. 1802 begleitete er Le⸗ 
lege auf der Erpebition nach Domingo, übernahm nach deffen Tode den Oberbefehl, 
mußte fi aber noch In demfelben Jahr dem britifhen Admiral als Sefangener über 
geben. 1811 ausgewechſelt, nahm er an dem Feldzug von 1813 Theil und fiel am 
18. October in der Schlacht bei Leipzig. 

Rochdale, Stadt in der englifchen Grafſchaft Lancafhire, am Noch, mit 30,000 
Einwohnern und vielen Babrifen in Wollen und Baummollenwaaren, bietet ein ber- 
vorragendes Beifpiel von den Erfolgen friedlicher Selbſthülfe der arbeitenden Klaffen 
dur Bildung von Affoeiationen zur Errichtung fogenannter cooperative stores und 
gemeinfchaftlicher Werkflätten und Fabriken. Die Genoflenfchaft der Pioniers von 
R. fing ihre Store 1844 mit 20 Mitgliedern und einem unendlich mühſam befchafften 
Eapital von 28 Pfd. St. an und machte 1860 bereits mit 3000 Mitgliedern und 
einem Gapital von 35,000 Pfd. St. ein jährliches Geſchäft von 160,000 Pfd. St. 
mir einem Reingewign von 10 Procent. Ihren Bedarf an Kleidungsfüden aller 
Art liefern ihre eigenen Werkflätten. Außerdem wurden hauptfählih von den Mit- 
gliedern dieſer Genoffenfchaft zwei gewiflermaßen Zweiggeſchäfte, zuvörderſt zur Pros 
duetion des Bedarfs des Hauptgefchäfts, begründet. Erftlih eine GBetreidemühle, 
welche 1852 mit 250 Mitglievern, einem Capital von 2800 Pfd. St., einem Ge⸗ 


264 Nochdale. (Stabt.) 


Thäftsbetrieb von 7000 Pfr. St. und einem Gewinn von 336 Pfb. St. anfing und 
1860 ſchon 500. Mitglieder, 21,000 Pfd. St. Capital, einen Betrieb von 102,000 
Pd. St., einen. Gewinn von 10,000 Bf. St. und eine Dividende von 20 Procent 
aufwied. Moch beachtensmwerther in mancher Hinficht iſt zweitens eine Spinnerei und 
Weberei, die, 1858 mit einem Capital von 5500 Pfd. St. gegründet, feit October 
1860 in einem großen, ganz neu aufgeführten und mit den beflen Dampf- und an» 
deren Maſchinen und Einrichtungen aller Art (mit einem Aufwande von 50,000 
Pfd. St.) arbeitete und 1600 Mitglieder zählte. Dazu kommt endlich ganz neuer 
dings die Gründung einer „Baugefellichaft" zur Erwerbung eigenen Brundbeflges und 
eigener Käufer für die Mitglieder mit einem Uctiencapital von 80,000 Pfd. St. 
Bon einer förmlichen cooperativen und genoflenfhaftlichen Anſiedlung ſcheint zunächfi 
noch nicht die Rede zu fein, doch ift kaum zu zweifeln, daß die weitere Entwicdelung 
dahin führen wird, da das urfprünglie Programm, unter dem Einfluß Owen'ſcher 
Ideen, Died Ziel ausdrücklich vorhält. „Wenn auch nicht in ganz fo großartigem 
Maßſtabe“, jagt B. U. Huber in der „Concordia“ oder den „Beiträgen zur Loͤſung 
der focialen Frage“ (erſtes Heft 1861), „fo doch annähernd ließe fich Aehnliches 
von dem Gedeihen gar mancher andern Genofienfchaft berichten, worunter auch einige 
von mehr oder weniger bandwerfsmäßiger Production, 3. B. Schneider, Hutmacher ıc. 
Hand in Hand mit dem Gedeihen ded gemeinfamen Gefchäfts gebt dann begreiflich 
die Hebung der ganzen Lebenshaltung der Mitglieder, von denen die Meiften vor dem 
Eintritt in ihre Genoſſenſchaft es kaum je zur Erſparniß von ein Paar Schilling 
brachten, während fie jegt 30—100 Pfd. St. zu 5 Procent in dem cooperativen 
Capital zu fliehen haben und in ihrer häuslichen Einrichtung, Kleidung und ganzen 
Lebensart eine Beſſerung zeigen, die wir nad eigener vergleihender Anfchauung 
(1854 und 1860) ſchon jegt auf mindeftend 50—60 Procent anfchlagen dürfen — 
fo weit denn ſolche Zahlen Hier überhaupt eine Anfchauung geben können. Wer nun 
aber etwa dieſes ganze Gebeihen ale ein bloß materielles geringfchägen oder über- 
fhägen möchte, dem wollen wir erfllich bemerklich machen, daß jene Zahlen fon an 
und für fih nicht bloß materielle, fondern auch ganz entiprecdhende (wenn der Aus» 
druck erlaubt) moralifhe und intellectuelle Werthe beveuten. Wer irgend 
aus eigener Erfahrung unter den arbeitenden Klafien im Stande if, fi dieſe Dinge 
anſchaulich zu machen, der bedarf freilich einer folchen Erinnerung nicht, fondern Tann 
fich leicht denken, daß fo große Mefultate aus fo Eleinen Anfängen nicht ohne bebeu- | 
tende moralifche und intellectuelle Anftrengungen des Einzelnen, zumal der Führer zu 
erlangen.” Es Hat jchlimme Zeiten gegeben, wo 3. B. die Pionierd, arme Weber, 
nur durch einen wahren Heroismus von Entjagung, Entſchloſſenheit und Beharrlich⸗ 
keit und durch einen Brad von Einfiht und Befonnenheit — ja, geradezu von 
Meisheit den Kopf über Waller zu erhalten vermocdhten, der, wie Huber fagt, 
„gar mandem Großen der Welt in den großen Weltgefchäften und allen denen zu 
wünſchen wäre, die unmittelbar im Meiche Gottes arbeiten.” Um aber wenigftens 
einen Punkt hervorzuheben, fo ift e8 eine fogar von Mißgänftigen bezeugte Thatſache, 
daß alle jahrelangen Bemühungen der Maäßigkeits- und Enthaltfamleitövereine in 
R. nicht fo viel gegen die Branntweinpeſt audgerichtet Haben, als die Kooperation in 
wenig Jahren und ganz von felbfl. Denn die Pionier haben nicht etwa ein flas 
tutenmäßiges Berbot gegen den Branntwein,: fondern es wird in ihren Store ganz 
einfach Feiner verkauft, und was noch mehr 'ift: er verträgt fich eben nicht mit ber 
ganzen Sache! Wer den Branntmwein nicht lafien Fann, der tritt nicht ein, ober 
fällt febr bald wieder aus. Da aber die Pionier mehr und mehr auch in weiteren 
Kreifen den Ton angeben, fo gebt diefer Einfluß auch ſchon weit über den Kreis ber 
3— 4000 Familien, die in der Genofjenfchaft vertreten find. Zur Charafterifirung 
der ganzen Haltung dieſer Zeute dient aber ohne Zweifel die Thatfache, daß ſte allge» 
mein ald die beften Arbeiter gelten, und die großen Babrikherren, die fi im Anfang 
ſehr feindfelig zeigten, die erften find, Dies thatfächlih und ausprüdli anzuerkennen. 
Zur Charakteriſtik der ganzen Sache wollen wir noch bemerken, daß bie Pionier fla- 
tutenmäßig jährlich 21/, pG&t. ihres Gewinnes auf Bildungsmittel aller Art wenden 
und ſchon 1860 eine Bibliothek von etwa 4000 Bänden, Leſezimmer, phyſtkaliſche 





Rochlitz (Friedrich). Noechsw. (Geſchlecht.) 3865 


und optiſche Inſtrumente sc., auch eine Schule für junge Burſchen hatten. Nach einer 
andern Seite mag es die Befinnung charafterificen, daß die Pioniers einen öffentlichen 
Trinkbrunnen geftiftet haben, der meilenweit in dem Gebiet der Dampfinduftrie faft 
bad einzige in die Augen fallende Kunſtwerk ifl, und daß fie regelmäßig bedeutende 
Gaben Anftalten oͤffentlicher Wohlthätigfeit zuwenden. Das beſte Zeugniß für Geift 
und @efinnung diefer Genofjenfchaft liegt aber wohl darin, daß fie felbfi, oder body 
die Beſſern und Tüchtigften unter ihnen, fidy ſehr wohl bemußt jind, dab fle ihren 
eigenen Anforberungen noch lange nicht nach der idealern Seite fittliher und intellec- 
tuelleer Hebung und brüderlicher Beflnnung und Ermeifung genügen. Solden und 
ähnlichen in zunehmender Anzahl auftretenden Erſcheinungen gegenüber kann es denn 
nicht Hefremden, daß mehr und mehr fomohl die große Preſſe als die bedeutendften 
Rotabilitäten des öffentlichen Lebens in England die Cooperation als eine neue und 
für eine günflige Löfung der wichtigften foctalen Fragen entfcheidende Macht begrüßen, 
GHer vielleicht ift e8 zu verwundern, daß man die Sache im Allgemeinen jo lange 
ignoriren konnte. | 

Kochlik (Friedrich), gemüthlicher Erzähler und trefflicher Kritiker in der Muſik, 
geboren den 12. Februar 1770 zu Reipzig, auf der Thomasfchule vorgebilvet, ſtudirte 
Theologie, widmete ſich aber fpäter ganz der Dichtfunft und der Mufll. Im Jahre. 
1809 exhielt ex den Titel eined weimarifchen Hofraths. Er flarb den 16. December 
1842 in Leipzig. Im feinen Romanen ſchildert er, ohne eigentlich ibealifchen Zug, 
meiften® heitere Charaktere, die unter Außerem Drud ihren froben Sinn nicht verlie- 
sen; feine mufkaliihen Arbeiten find gründlich und geſchmackvoll; außerbem bichtete 
er einige anfprechende Luſtſpiele, unter denen „die neue Zauberflöte” der komiſchen 
Laune nicht enibehrt. Wir führen hier nur folgende Schriften an: „Xuftfpiele für 
Privattheater“ (Leipzig 1795), „Luftipiele” (Züllichau 1803); „Amaliend Freuden 
und Leiden ald Jungfrau, Sattin und Mutter" (2 Bde., Leipzig 1798), „Erinneruns 
gen zur Beförberung einer rechtmäßigen Lebensklugheit in Erzählungen und praftifchen 
Qufjägen® (Züllichau 1798—1800, 4 Bre), „Charaktere intereffanter Menſchen in 


moralifgen Erzählungen” (4 Bde., Züllichau 1799-1803), „Journal für Frauen,“ 


herausgegeben von Wieland, Schiller (nur nominell), Rochliz und Seume (1805 —8, 
4 Jahrgänge), „Selene, Bortfegung des Journals für Frauen“ (Leipzig, Jahrgang 
1807 und 1808), „Kleine Romane und Erzählungen” (3 Bde, Züllihau 1807), 
„Mufllalifhe Zeitung“ (1798—1818), „Zaͤhrliche Mittgeilungen, in Verbindung mit 
Bötticher d. j., Bührlen, Youqus, Heinroth, Houmald, Miltig und Raupach“ (Leip⸗ 
jig, Jahrgang 1821—23). Eine „Auswahl des Beſten aus feinen fämmtlichen 
Schriften" Hat R. veranftaltet und herausgegeben (Züllichau 1821—22, 6 Bde.), 
„Für Freunde der Tonkunft” (Leipzig 1824—30). 

Kohow. Wie die Urgefchichte der alten Geſchlechter von einem undurchdring⸗ 
ligen Schleier verhüllt Ift, fo auch die des R'ſchen. Eine wilde, fabelhafte Sage 
läßt es ſchon um's Jahr 875 in Reckahn anjälfig fein und eine andere, bie fi in 
den Traditionen der Familie erhalten bat, läßt fie mit Kaifer Heinrih 926 nach 
Brandenburg kommen. Glaubwürdigere Bermuthungen halten die R. für ein alt« 
märfifches Geſchlecht, weldyes wahrſcheinlich aus dem ſüdlich von Ofterburg im Sten⸗ 
dalſchen Kreife belegenen Dorfe Roch au (Rocgawe, Roggau) ſtammt und mit Albrecht 
dem Bären in den Krieg gegen die Slawen gezogen war. In der That befagt. eine 
Bamilienüberlieferung, daB „Herr Henning von Rochow, Markgraf Alberti Urfl zu 
Brandenburg geheimbder Rath und Kriegs-Öbrifter wegen feiner treu geleifteten Dienfte 
wider die Obotriten und Wenden den alten Nitterfig Goldſee oder Goldfen, zwei 
Meilen von Brandenburg, nebfl andern Gütern befommen Bat, ift auch Landeshaupt⸗ 
mann über Zauche geworden” — was zwifchen 1141 und 1170 flattgefunden haben 
muß. Diefe Tradition bat die Glaubwürdigkeit für fi, wenn man den bedeutenden 
Güterumfang erwägt, in deſſen Beſitz wir das R.'ſche Geſchlecht in den folgenden 
Jahrhunderten erbliden. So weit wir bie Urkunden aufwärts zu verfolgen im Stande 
find, wird der erfte R. 1217 und ein zweiter, Heinrich mit Vornamen, im Jahre 
1253 «als bHifchöflicher Vogt zu Lebus, und wiederum ein Heinrich 1259 in einer 
Dahnsdorfer Urkunde genannt, in ber er ald Zeuge auftritt. In gleicher Cigenſchaft 


266 Nochow. (Geſchlecht) 


kommt in einer ähnlichen Urkunde Wedego v. Richow 1273 vor. Der Vorname 
Wedego, Wedegon, verändert in Wittich, Witticho, Wetego, Webelin wird bald durch 
„Walpdkind*, bald durch „Wittefind, weißer Junge“ erklärt. Gin anderer R. jener 
Zeit hieß Olzan mit Vornamen, wad auch in den Formen Olze und Delze ein 
Deminutiv if von Odalrich, Ulrich, d. h. Güterreih. Das Geſchlecht der R. war 
in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ebenſowohl In der Mark Brandenburg, 
als auch im Erzflifte Magdeburg zu Ludenwalde begütert und befleidete gleichzeitig 
anfehnlicye Aemter. Es gehörte auch zu denjenigen Geſchlechtern der märkifchen Ritter⸗ 
Schaft, die, weil fle mit feften, von Mauern, Wällen und Gräben bewebrten Burgen 
belehnt waren, feit dem 13. und beſonders feit dem 14. Jahrhundert die „befchloß- 
ten” oder „befchlofienen” genannt wurden, zum Unterfchiede der „unbefchloße 
ten” oder „unbefchloffenen” Familien oder der „Zaunfjunfer”, welche ihre Wohn 
fie auf dem platten Lande nur auf die allergemöhnlichtte Weife mit einem 
bölzernen Zaun umgeben Hatten. Die Familie R. fand in "der Reihe der Burggeſeſſe⸗ 
nen der Mittelmark an der Spike und empfing mit allen ihren Standeögenoflen, 
eben fo gut wie die Ganſe zu Putlig in der Priegnig, das Pripilat „Eple”. Ein- 
zelne Glieder diefer alten Familie find in den Freiherrnſtand erhoben worden, fo 
Moritz Auguft und Samuel Friedrich, auf die wir gleidh zurückkommen were 
den. Wiederholt find Theilungen In den Bütern der Familie vorgefonmen und haben 
ſich Dadurch Linien gebildet, und zwar beſtehen jezt nur no die Golzower und 
die Pleffower, die zufammen an Liegenichaften ein Areal von 2,5, DM, 
zum größeren Theil im Zauch-Belziger, zum Eleineren im Jüterbog⸗Luckenwalder Kreife 
des Megierungd » Bezirtd Potsdam gelegen, befigen. Die.R. führen im Wappen 
drei doppelte fchwarze Pferbeföpfe im fllbernen Felde, und über dem Helme einen von 
der Nechten zur Linken fpringenden Biegenbod, in früheren Zeiten findet man jedoch 
auch ein goldenes Feld und in der früheften Zeit ftatt der doppelten Pferdeföpfe die⸗ 
jenigen Hlienförmigen Lanzeneiſen, welche in franzöflihen Wappen und vielen andern 
vorkommen. Unter der großen Zahl hervorragender Minner aus diefer Sippe nennen 
wir aud der älteren Zelt nur zwei, nämlih Wich ard VIN,. und feinen Enkel, Sans VII. 
Der Erftere hatte Golzow und Potddam mit den feften Schlöffern, von zwanzig Dör- 
fern umgeben, ererbt, um die Zeit, mo Friedrich VI. von Zolleen, Burggraf von 
Nürnberg, vom Kaifer Sigismund die Mark Brandenburg erhielt. Da dies gegen 
den Bubner Vertrag war, in welchem den Ständen vom Haufe Zuremburg zugefichert 
worden war, Daß die Mark von der Krone Böhmen nie getrennt werben follte, fo 
widerfeßte fich dem neuen Markgrafen ein Theil des Adels. Un der Spige deffelben 
landen der Landeshauptmann Kadper Gans, Edler zu Putlig, Wichard VII. v. R., 
der deffen Tochter Anna zur Gemahlin Hatte, und Hand und Dietrih v. Quitzow. 
Als Friedrich von Zollern 1412 ein Heer unter dem Grafen Johann von Hohenlohe 
in’d Feld rüden ließ, gingen diefem Wichard v. R. und Dietrich v. Quitzow mit 
ihrer Mannfchaft und einigen pommerfchen Hülfsvölfern entgegen, fchlugen daſſelbe 
auf dem Damme bei der Stadt Kremmen in die Flucht und ließen die Wablftatt 
durch ein Kreuz bezeichnen. Der Graf’ v. Hohenlohe und die marfgräflichen Befehls⸗ 
baber Kraft v. Lautersheim und Philipp v. Littenhofen blieben auf dem Platze. 
1413 fielen Wichard und die DQuigomer den Erzbiichof Günther von Magdeburg, 
welcher fi mit dem Markgrafen verbunden Hatte, in’8 Land und trieben bei Jüterbog 
und Dahme Alles vor ſich Her. Als des Erzbifhofs Hauptmann Gebhardt v. Plotho ihnen 
Stand halten wollte, wurde er (den 30. Novbr.) in einem Treffen an dem Fluſſe Stremme 
geichlagen und mit Peter v. Kopen, feinem Unterbefehlähaber, gefangen. Endlich aber, als 
Die vier Ritter der durch Bündniffe heranwachſenden Uebermacht nicht mehr im freien 
Felde Widerſtand leiften Eonnten, mußten fie fich in ihre feſten Säylöffer werfen. Alle 
gingen nah und nach über bis auf Golzow, In weldyem ji Wicharb v. R. gegen 
den Kurfürflen Rudolf von Sadıfen, der ihn am Tage St. Agnes 1414 eingefchloffen 
hatte, vertheidigte. Doch auch Bolzom fiel endlih, das nunmehr als erobertes Gut 
betrachtet und dem Hand v. Schierftebt, einem magdeburgfchen oder fächllfchen Ba⸗ 
falten, als Pfand für 1700 rheinifche Gulden, die er dargelichen hatte, vom 1. Mai 
1414 an in Amtmannsweiſe übergeben wurde. Indeß ſchon zwei Jahre fpäter erhielt 


Nochow. (Geſchlecht.) 267 


Wichard v. R. „auf fleißige Fürbitte von Herrn Mannen und Gtäbten der Mark“ 
fen Schloß Golzow, „wie es feine Eltern und Vorfahren von den Markgrafen ge⸗ 
habt Hatten”, zurüd, unter der Bedingung, Daß es dem Markgrafen immer ein offen 
Schloß fein und -mit fammt der Mannfchaft, feinen Zubehdrungen und Gütern, wie 
feäher von Ihm zu Lehen gehen folle, mußte aber dagegen Potsdam abtreten und 
außerdem 600 böhmifche Grofchen zahlen. 1417 ging er bereitd mit feinem neuen 
Landesherrn nach Konſtanz und als diefer daſelbſt den 18. April vom Kaifer feier 
U mit der Mark belieben wurde, ritt Wichard neben dem Kurfürften, das Banner 
von Brandenburg tragend. Sein Enfel Sans VIII. bekleidete, nachdem die Ritter. 
würbe während mehrerer Generationen nicht in der Kamille gemefen mar, diefelbe wies 
det und wirb daher in den Stammbäumen der Gutsarchive, zur Unterfcheidung von 
den vielen anderen, welche denſelben Bornamen geführt haben, gemöhnlid Hans der 
Mitter genannt. 1487 fandte ihn der Kurfürft Johann Cicero mit dem Grafen 
Johann v. Lindow und Peter Burgédorf nach Hamburg, um dafelbfl megen feines 
Schwagerd, des Herzogs Johann von Sachſen, zu unterbandeln. In dem darauf 
folgenden Jahre begleitete er den Kurfürften nad der Altmark, wo mehrere Städte 
ſich wegen der Einführung einer neuen Steuer empört batten, und war gegenwärtig, 
als Seehaufen und Gardelegen nad ihrer Unterwerfung begnadigt wurden. Aber 
dies waren nicht die einzigen Ueberreſte mittelalterlicher Zuflände in dortiger Gegend. 
Die Strafen waren immer noch fehr unflcher und mwurben deshalb von den Kaufleu- 
ten, welche fonft von Lüneburg und Hamburg über Salzwedel gezogen waren, ge- 
mieden. Um diefen Verkehr zu erneuern, brachte der Kurfürfl das Schloß Salzmebel 
wieder an fih und fegte 1490 „feinen lieben und getreuen Math”, den Ritter Han, 
als Amtmann darauf zum Schug und zur Bertheidigung der Gegend, Als im Jahre 
1494 ein blutiger Kampf zmifchen den Herzogen von Braunfchmweig und idrer 
Stapt Braunfchwelg ausgebrochen war, übernahmen der Kurfürft von Branden- 
burg und der Erzbifhof von Magdeburg die Bermittelung. Brandenburgifcher 
Seits wurden dazu der Bifchof und ein Beiftlicher von Lebus, Hans v. R. und der 
Dr. Stauffmehl abgefandt, welche gemeinfchaftli mit den magdeburgifchen Raͤthen 
den Frieden zu Stande brauchten. Hans dv. R. und feine Gemahlin, Anna v. Hols 
leben , find die Stammeltern der vier Hauptlinien des Geſchlechts und haben fünf 
Söhne gehabt, von denen Dietri Il. (geb. 1513, FT 1551) die Reckahnſche, 
Jacob I. (geb. 1520, + 1564) die Golzomfche, Joachim I. (geb. 1522, + 1573) 
die Golwinfhe und Hans VIN. (geb. 1529, F 1569) die Pleſſow'ſche Linie 
fliftete. Unter den Bliebern der Redahn'fchen Linie hat fih beſonders Fried⸗ 
rich Eberhard (geb. zu Berlin den 11. October 1734, + zu Redahn den 16. Mat 
1805) audgezeichnet. Er beſuchte die Mitterafademie in Brandenburg, trat früh ſchon 
in Kriegödienfte, Fümpfte im flebenjährigen Kriege und, durch Wunden zum Kriegs⸗ 
dienfte untauglich geworden, begab er fih nad Redahn und lebte fortan den Wiflen- 
ſchaften und der Verbeſſerung des Schulunterricht namentlich des Landvolfs, welches 
in der tiefften Unwiffenheit und im Aberglauben erzogen und erhalten worden war. 
In dem flillen Dorfe Reckahn blühten bald WMufterfchulen, deren Ruf weithin ſich 
verbreitete; zu ihnen fandte das In⸗ und Ausland feine hoffnungsvollen Jünglinge, 
am den in einer Menfchenliebe thätigen und aufgeklärten Menfchenfreund zum Segen 
ded armen Landvolkes wirken zu fehen und von ihm zu lernen. Reckahn und die 
umliegenden Güter waren feit 1773 Muſter⸗ und Pflanzſchulen einer reihen, Segen 
bringenden neuen Unterrichtsmethode, die, wo fie befannt wurde, fchnelle Aufnahme 
fand. Bei feinen vielen Arbeiten batte R. an feinem trefflihden Secretär Burns 
einen treuen, taftlofen Gehülfen, und denen, welche der eigenen Anſchauung entbehren 
mußten, war Reimann's „Beichreibung der Reckahn'ſhen Schulen“ (1798) ein 
willfommener und treuer Rathgeber. Zum Erlernen des Leſens und zugleich als 
Belehrung über allerlet nügliche Dinge fchrieb er felnen „Kinderfreund * (Berlin 
1776-80, neu bearbeitet von Schlez, Leipzig*1936) in zwei Thellen und ſchlug vor, 
Daß derfelbe unter obrigfeitlicher Autorität erfcheinen und allgemein in den Landfchulen 
eingeführt werden möge; died Buch fand aber bei den Behörden eine verfchiebenartige 
Beurtheilung und man verlangte daran mehrfache Beränderungen; dazu wollte er ih 


268 Rochow. (Geſchlecht.) 


nicht verſtehen und gab es ſelbſt heraus, wodurch es eine ſehr große Verbreitung 
erhielt. Es iſt in vier Ausgaben in mehr als 100,000 Exemplaren erſchienen, acht⸗ 
bis zehnmal nachgedruckt und in's Franzöͤſiſche, Däniſche und Polniſche überſetzt wor⸗ 
den. Als ſonſtige Hülfsmittel hatte er ſchon 1772 „Verſuch eines Schulbuchs für 
Kinder der Landleute“ (Berlin, 4. Aufl. 1814) erſcheinen laſſen und gab dann noch 
folgende Schriften heraus: „Handbuch der katechetiſchen Form für Lehrer, die aufflären 
wollen und Dürfen” (Halle 1783, 5. Aufl. 1818), gegen die Meinung gerichtet, daß Aufklä⸗ 
rung für die niederen Stände nicht tauglich fei, „ Catechiämuß der gefunden Vernunft, oder 
Verſuch in faßlichen Erklärungen wichtiger Wörter nach ihren gemeinnützigen Bebeutungen ” 
(Berlin 1786, 3. Ausg. 1806), worin der Berfafler von dem Grundſatze ausgeht, 
dag alle unflaren Begriffe und Vorſtellungen berichtigt werden müßten, um dadurch 
die Menfchen weiſer, tugendHafter und praftifcher zu machen, „Stoff zum Denken über 
wichtige Angelegenheiten des Menſchen“ (1775), eine firenge Kritit der damaligen 
Zuſtaͤnde und Sitten mit Ermahnungen, daß Fürſten und höhere Stände zur Der- 
befferung derſelben wirffam fein follten, befonderd durch vervollfommmnete Erziehung, 
ein Büchlein, welches nicht ohne Verfland und geifligen Schwung gelchrieben if, und 
„Berichtigungen, erſter Verſuch 1792, zweiter Verſuch 1793" vornehmlid, auf dem 
teligiöfen Gebiete fidy bewegend, unverkennbar von der damaligen rationaliflifchen Rich⸗ 
tung beherrſcht und von der Luft der franzöflfchen Revolution angeweht, wobei ſich 
jedoch der Edelmann und Eprift noch merkwürdig genug über Wafler hält. Außerbem 
hat er noch herausgegeben: „Verſuch über Armenanftalten und Abfchaffung der Bet« 
telei”, „Leber das Creditweſen“, „Berfuh über die Regierungskunſt“, „Ueber ben 
Nationalharafter der Volksſchulen“, „Verſuch eines Entwurfs zu einem beuifchen 
Geſetzbuch nah chrifllihen Grundfägen zum Behuf einer befieren Nechtöpflege‘ und 
„Geſchichte meiner Schulen”. Diefe Schriften mußten ihm nothwendig viele Gegner 
erweden, und auch den guten Erfolg der Schulen, die von Neugierigen fo Häufig 
befucht wurden, daß dies oft flörend auf den Unterricht wirkte, wollte man nicht all« 
gemein zugeflehen. In der genannten Beichreibung der Reckahn'ſchen Schulen von 
Reimann wird gefagk: der Prediger Rudolf, welcher bei der Einrichtung derſelben 
mitgewirkt hatte, babe ſich nach deren fünfundzwanzigjährigem Beflchen darüber in 
folgender Art geäußert: „Die Leute feien bedeutfamer geworden, man fönne fi wit 
ihnen beffer unterhalten, und ſie feien weniger ſchüchtern als ſonſt. In flttlicher Hin⸗ 
fiht fpüre man mehr, als auf andern Dörfern ber Ball fein möge, äußere Zucht und 
Enthaltfamfeit von wilden, zügellofen Ausſchweifungen, hervorſtechende Sittlichkeit fei 
aber noch nicht allgemein herrſchend. Einzelne verzüglih gute Handlungen, z. B. 
Dienfitreue und Accurateſſe in Abwartung der Berufepflichten, kaͤmen wohl vor, zumal 
von Soldaten.” Mit wenigen Worten, mehr äußere als innere Bildung. Die neuen 
Schuleinrichtungen hatten alfo nicht die erwarteten Brüchte getragen und wirkten, wie 
angebeutet wird, weniger als die damalige fonft eben nicht belobte militärifche Dreflur. 
Unzweifelhaft aber iſt es, daß den größten Erfolg die Rochow'ſchen Reformen eben 
Dadurch gehabt haben, daß fle In den preußifchen Landen den erſten Anfloß gaben, 
die Schulen, welde in dem traurigften Zuftande waren, zu verbeſſern. Auch nad 
anderer Hinſicht war Friedrich Eberhard v. R. thätig und fpendete überall feine Wohl⸗ 
tbaten. Er war Domherr zu Halberfladt und Nitterfchaftsdirector der Mittelmark, deren 
Greditwefen er errichten half. Er flarb ohne Kinder und mit ihm erloſch die Altefte 
Linie der Familie. Seine Lehngüter Reckahn, Krahne, Böttin, Mesdunk und Rotſcher⸗ 
linde fielen an feine nächften Lehnsvettern. Aus der Golzowſchen Bamilie nennen 
wir bier zuerſt Wolf Dietrich I. (geb. den 13. Mai 1577, + zu Berlin den 28. 
März 1653). Nachdem er in Wittenberg fludirt hatte, mit dem Prinzen von Bran⸗ 
denburg, aus Kurfürft Johann Georg dritter Ehe, nad Frankfurt und Straßburg 
gereift war und feine Bildung in Genf und am franzöflihen Hofe vollendet hatte, 
war er auf dem Landtage zu Berlin Gommifjarius des Kurfürften Joachim Friedrich, 
wurde Kammerjunfer, Rath und unter Johann Sigismund 1614 Präfldent des Kirchen» 
raths. In mehreren befonderen Aufträgen: auf dem Fürftentage zu Bredlau wegen 
des Herzogthums Jügerndorf, auf einem Collegiattage zu Regensburg, und ald Ge- 
fandter bei den @eneralftaaten verfocht ex ſeines Landeöheren Rechte, zog ſich aber 


Nochow. (Beihlnht) 869 


unlee Georg Wilhelm wegen der Miniſterialdespotie des Grafen Schwarzenberg von 
den Öffentlichen Gefchäften zurück, bis Ihn ber große Kurfürft mit allen Zeichen ber 
Bunf wieder auf feinen Poſten rief, fo daß er vier Hegenten hinter einander gedient 
bat. Sein Better Morig Auguft (geb. den 28. Juni 1609, 7 zu Schloß Könige» 
berg ober Kindburg den 25. Auguft 1653) war erſt in kurbrandenburgifhen uud 
darauf in. öfterreichifhen Dienften, 2) und fein vierter Sohn, Hand Zaharias 
(geb. zu Grüneiche den 23. October. 1603, F zu Heidelberg den 7. November 1654) 
ſtudirte in Sranffurt a. d. O., ging zuerfl in nieberländifche, dann in ſchwediſche 
Dienfle, wo er dem Feldzuge in Polen rühmlich beimohnte, verließ biefelben aber, 
als Guſtav Mpolf gegen die Mark zog, wurde Geheimer Rath des Herzogs Albrecht 
von RMecklenburg⸗ Strelig und zuletzt Kanzker und Premierminifter des Kurfürften 
Ludwig von der Pfalz. Er hinterließ fieben Söhne, von denen Samuel Friedrich 
(geb. zu Hamburg den 15. Februar 1641, + zu Erbesbiedesheim den 22. Februar 
1728) in Heidelberg fludiete, dann im bänifchen Heere fland, fpäter Eurpfälzifcher 
Hof» und Gerichtbrath wurde, ſich bei dem franzdflfchen Einfall in die Pfalz hervor⸗ 
that, darauf heſſen⸗kaſſelſcher Ober⸗Conſtſtorialrath, fpäter Regierungspräfldent und 
endlich Staatöminifter wurde. Im 63. Lebensjahre z0g er ſich aus dem Staatödienfte 
auf das von ihm erworbene Gut Erbesbiedesheim zurüd. Wegen deſſelben gehörte er 
zur unmittelbaren rveichöfreien Ritterſchaft und nahm den Titel Freiherr, den feine 
Nachkommen, die freiberrliche Linie in Sachfen, noch bi jet fortführen, an. ‚Ferner 
find aus der Golzowſchen Linie bier noch fünf Glieder anzuführen, von denen Fried⸗ 
sih Wilhelm IV. (geb. den 11. Auguft 1689, F zu Golzow den 22. December 1757) 
zuerſt in fayonenfchen, fett 1725 aber in preußiſchen Dienften war und fich bier in den beiden 
ſchleſiſchen Kriegen, fo wie im fiebenjährigen Kriege auszeichnete. Als Friedrich der 
Große zu Anfang des zweiten fchleftfchen Krieges feine Kräfte auf einen Punkt ver⸗ 
einigte und Oberſchleſien debhalb verlaflen wurde, mußten bie großen Magazine von 
Troppau und Iägernborf nady Neiße trandportirt werden, und-ber General v. MR. 
erbielt den Auftrag, dieſen Convoi mit 1200 Pferden und einem Bataillon Grenadiere 
zu beiden. 4000 Ungarn, zur Hälfte Qufaren, zur Hälfte Banduren, griffen ihn an, 
wurden aber zurücdgeichlagen. Friedrich II. fagt hierüber in feiner Histoire de mon 
temps: „Die Gavallerie machte bier die erfle Erfahrung ihrer neuen Beweglichkeit und 
erprobte deren Nützlichkeit. Aemilius Friedrich (geb. zu Kaffel, den 9. Des. 
cember 1692, + zu Wien den 1. September 1759) und Friedrich Ludwig IL 
(geb. zu Kaflel den 31. März 1701, F zu Pirna den 13. Auguft 1760), Söhne bes 
oben genannten Freiherrn Samuel Friedrich, thaten fih als Soldaten‘ hervor, und 
zwar in fächfiichen Dienflen. Lepterer begleitete im fpanifchen Erbfolgelriege den 
Brinzen Maximilian von Heflen als deſſen Brigade-Adfutant nach Sicilien, wo er bei 
der Belagerung von Gaflina ſchwer verwundet wurde. Zwei andere Brüder aus biefer 
Linie, Guſtav Adolf Rochus (geb. zu Nennhaufen den 1. October 1792, } den 
11. September 1847) und Theodor Heinrih Rochus (geb. zu Nennhaufen ben 
21. April 1794, + zw Peteröburg den 19. April 1854), zeichneten fich im Civil⸗ 
dienſte aus, nachdem fle an dem Befreiungäfriege Deutſchlands vom Napoleonifchen 
Joche den rühmlichſten Antheil genommen hatten. Beide erhielten ihre erfle Erziehung 
im Hamfe ihres Großvaters, unter den Augen ihrer geiftreichen Mutter und deren 
zweiten Gemahls, des Dichters Friedrich v. FKouqus, welche Nennhaufen zum Schaus 
plat eines lebendigen literarifchen Verkehrs machten. Die weitere miflenfchaftliche 
Bildung fand Guſtav Adolph Rochus auf dem Gymnaflum zum grauen Klofler zu 
Berlin, auf der Univeriität von Heidelberg und fpäter auf der von Göttingen, wo er 
ſich unter Zachariä, Hugo und anderen berühmten Lehrern der hiſtoriſchen Rechtsſchule 
zuwandte. Diefe Studien wurden Durch den Befreiungdfrieg gegen Branfreich unter 





22 Adolf Friedrich Auguſt v. R. fagt in den „Nachrichten zur Geſchichte Des Geſchlechts 
berer von Rochow und ihrer VBeflgungen“ (Merlin 1661) in ber Biographie dieſes Gliedes jeiner 
Foamilie ſehr richtig: „Daß Auguft Morig ſich zum Freiherrn machen ließ, bezeichnet die aufkom⸗ 
mende Titelſucht der damaligen Zeil. Die Evelleute fingen an, den Unterjhieb zwiſchen Ur- Abel 
and ie Adel zu verkennen und fchenten fi nicht, ihre alte Abflammung durch neue Diplome 
herabz en.” ‘ R 


210 Nochow. Geſchlecht.) 


brochen. Als Freiwilliger in die Jaͤger⸗Escadron des brandenburgiſchen Küraſſter⸗ 
segimentd eingetreten, wohnte er mehreren Schlachten bet, wurde zum Offizier befoͤrdert, 
erhielt bei Leipjig das eiferne Kreuz, ‚machte den Feldzug in Sranfreih mit und verlieh 
nach dem Brieden den Militaͤrdienſt, um Die Verwaltung der ererbten Güter zu üuͤberneh⸗ 
men, der er aber bald zu Qunften einer umfafjenderen Thätigkeit entzogen wurde. Diefe be« 
gann damit, daß man ihn mit andern bedeutenden Männern zur Berathung über die Wieder⸗ 
berfielung und Erweiterung der Provinzialverfaflungen berief. Als der Kronprinz 
fih vermählte, wurde er bei defien Gemahlin dienftthuender Kammerherr, zugleich aber 
Geh. Negierungsrath und Mitglied der Staatöfchuldentiigungs-Gommifflon. In einer 
andern Commiſſion, welche unter dem Borfige ded Kronprinzen bazu beflimmt war, 
die Butachten und Anträge der unterbeflen zufammengetretenen Provinziallandtage zu 
prüfen, erhielt ex den Bortrag. Darauf (1826) wurde er vortragender Math für Die 
fländifchen Angelegenheiten im Minifterium des Innern, 1831 Ghefpräfldent der Re⸗ 
sierung zu Merfeburg und 1834 Staatsminifler des Innern und der Polizei, an 
Stelle des in den Ruheſtand verſetzten Miniftere v. Brenn. Während der Megierung 
Friedrich Wilhelm's III. verwaltete R. fein Amt zur völligen Zufriedenheit und im 
vollfommenften Einverfländnig mit den Grundfägen feines Herrn. Died änderte fidh 
bald nad dem Megierungsantritt feines königlichen Nachfolgers und kam zuerfl zu 
Tage bei Erörterung ber großen PBrincipienfrage, welcher Antbeil fortan den Regierten 
an der Regierung zugeflanden werden ſollte. Friedrich Wilhelm IN. hatte nicht bie 
Abſicht, den Wünfdyen durch Verleibung einer fogenannten Gonftitution nachzugeben, 
und war mit feinem Rinifer des Innern der Meinung, dab ed genüge, Inflitutionen 
zu Schaffen, durch welche die Bedürfniſſe des Landes aus allen Provinzen unmittelbar 
und ohne dad Mittel der Beamten zur Kenntniß ber Krone fämen, um fle denn, fo- 
weit es zum Beften deſſelben vienlicy fei, wohlwollend zu erfüllen. Bon feiner Sou⸗ 
veränetät wollte er aber nichts aufgeben, von parlamentarifchen Formen wollte er 
nichts wiffen. Daraus entfland die Wiederbelebung der Brovinzialftände, denen neben 
dem Betitionsredhte nur eine berathende Stimme beigelegt wurde. Auch Friedrich 
Wilhelm IV. wollte ſich feiner Souveränetät nicht entäußern und glaubte diefelbe durch 
finnreih combinirte Einrichtungen, welche die Stände aller Landestheile in zwei allge 
meine Verſammlungen mit verfchieden ausgedehnten Rechten unter der Benennung des 
vereinigten Landtags und deflen Ausfchuffes verichmelzen follte, zu bewahren. Zu 
einer ſolchen Schöpfung war R. Fein geeignetes Werkzeug. Er fagte mit Beſtimmt⸗ 
heit voraus, daß fle den gemachten Anforderungen nidyt entfprechen und zur Folge 
haben würde, was durch die Märztage des Jahres 1848 eingetroffen if. Don ba 
ab murde das Aufgeben feiner Stellung nothwendig.e Der König flellte ihm die 
Wahl, ob er den Gefandifchaftspoften beim deutfchen Bundestage oder die zweite 
Prüfldentenflelle des Staatsraths annehmen wolle Er wählte das letztere und flarb 
im Bade Aachen, wo er Hülfe gegen Förperliche Leiden gefucht Hatte. In Guſtav 
Adolf Rochus v. R. fand ſich eine feltene Bereinigung fchäßbarer @igenfchaften: im 
Belde war er ein tapferer Soldat, am Hofe ein liebenswürdiger Gefellichafter, im Staatd- 
dienfte ein talentvoller tbütiger Beamter, auf dem Lande ein brandenburgifcher Junker im 
beften Sinne des Wortes, feiner Familie und feinen Freunden treu und unverändert an» 
bänglich. Seine Bruders Erziehung murbe in der Acadsmie militaire zu Berlin vollendet, 
worauf er ald Offizier in das Regiment der. Gardes du Gorpd trat und ale Adju- 
tant deſſelben an de Befreiungsfriegen Theil nahm. 1835 zum Überfllieutenant 
befördert, wurde er zum Geſandten in der Schweiz und in Württemberg ernannt, in 
weldyer Stellung er verblieb bis zum Mai 1845, wo er als Befandter nad Peters» 
burg ging. Ohne von diefem Hofe abberufen zu werben, vertrat er Preußen vom 
Mai bis zum Juni 1851 am Bundedtage und kehrte bierauf wieder auf feinen Ge⸗ 
fandtfchaftöpoften nach Petersburg zurüd. Seine militärifche Beförderung ging neben 
feiner diplomatifchen ber; er flieg 1843 zum Generalmajor und 1849 zum General» 
Iteutenant. Seine dur das ungünftipe Klima Petersſsburgs gefchwädte und durch 
vielfache geiflige Anſtrengung untergrabene Geſundheit hielt nicht länger vor; er flarb 
furz vor erreihtem 60. Jahre. Seine diplomatiſche Sendung in Peteröburg fiel in 
die Zeit, wo der Kaifer Nifolaus aͤußerſt gereizt war durch bie beabfihtigten Ver⸗ 


Nodall. 211 


änderungen in den flänbifchen Verbältniffen Preußens, weil er darin große Gefahren 
für fein eigenes Reich und die Auflöfung der heiligen Allianz, welche biöher den 
äußeren und inneren Frieden der Staaten erhalten hatte, erblidte. Er hatte den Ge⸗ 
fandifchaftspoflen in Petersburg nicht gewünfht. Bei dem Antritt deſſelben fchrieb 
er an feinen Bruder: „Ich glaube mich in feiner Beziehung für den Poſten geeignet, 
fühle in mir nicht die Faͤhigkeiten dazu. Ich war allenfalld gut für die deutfchen 
Derhältniffe, weiß aber nichts von der europäifchen Politit — ich bin einmal Fein 
großer Seit, noch große Seele." — Aber er beurtbeilte fi ſelbſt zu befcheiden. 
Niemand Tonnte geeigneter fein als er für Die überaus fchmwierigen Verhältnifie, welche 
bort zu bewältigen waren, und fchwerlih hätte ein Anderer bafelbft eine beflere und 
feinem Baterlande günfligere Stellung erlangen können als er. Die firenge Recht⸗ 
lichkeit, welche den Grundton feines Charakters bildete, verbunden mit feinem Tact 
und liebenswäürbigen Formen, gewann ihm keicht die Herzen und öffnete ihm biefelben 
zum großen Bortheil feines diplomatischen Verkehrs. Die dritte Häuptlinie, die 
Golwitzſche, erloſch 1714 mit Melchior Heinrich (geb. den 11. November 
1658) und von der vierten, der Pleſſowſchen, machen wir bier nur brei Glieder 
nambaft, naͤmlich Hans XI. (geb. zu Caput 1550, F zu Klofler Zinna den 1. No⸗ 
vember 1622), Hand Friedrich II. (geb. zu Pleffom den 11. October »1698, 
F zu Brandenburg den 29. November 1787) und Adolf Friedrich Auguft (geb. 
zu Berlin 1788). Der Erflere brachte feine ritterlichen Lebrjahre als Page der Pfalz- 
grafen Ludwig und Philipp, des Kurfürften Friedrich in Heidelberg und endlich des 
Pfalzgrafen Kaflmir zu. Bit Diefem zog er nah Prag und 1567 zur Belagerung 
von Gotha. Nachdem er Eurze Zeit zu Haufe gewefen war und vernahm, daß Pfalz⸗ 
graf Philipp, unter Wolfgang von Zweibrüden, ben Broteflanten zu Hülfe nad 
Branfreich zöge, ging er und fein älterer Bruder mit in dieſen Krieg. Am 3. Octo⸗ 
ber 1569 fochten fle hier in der Schlacht von Montcontsur unter dem Admiral Co⸗ 
ligny, und als in derfelben der Pfalzgraf blieb, fehten fie den Kampf unter dem Ober- 
fen Dito v. Plotho bis zum Meligionsfrieden von St. Germain en Laye fort. Dann 
lebte Hand am Hofe des Kurfürften Johann Georg von Brandenburg, als aber nad 
der Barifes Bluthochzeit die franzöflfchen Proteftanten 1573 wieder zu den Waffen 
griffen, 309 er noch einmal für fie ind Feld, zuerfi unter dem Öberflen Ernſt v. Man⸗ 
velsloh, fpäter unter Heinrig v. Staupig. Der zweite, Hand Friedrich I. v. R., 
trat 1714 in preußifche Kriegsdienſte, war beim Ausbruch des flebenjährigen Krieges 
Oenerallieutenant und Gouverneur von Berlin, brachte die koͤnigliche Familie nad 
Spandau in Sicherheit, mußte den Oefterreichern Berlin übergeben und wurde bei 
dem zweiten Angriff auf Berlin 1760 von den Muffen gefangen genommen. Der 
dritte der obengenannten Glieder der Bleffomfchen Linie, Adolf Friedrich Auguſt, nahm 
an dem Befrelungskriege den rähmlichften Antheil, widmete ſich darauf der Verwal⸗ 
tumg feiner umfangreichen Beflgungen, die in Folge des Ablebens eines Betterd und 
des Erbvergleihd mit feinem Bruder durch die Stülpeſchen Güter vermehrt wur. 
den, ward Hofmarfhall beim Prinzen Wilhelm von Preußen, Landtagsmarfchall von 
Brandenburg und lebt feit dem Tode des Prinzen Wilhelm auf Stülpe. Er ift ber 
Berfafier des bereits erwähnten vorzüglihen Familienbuchs der Mochowfchen Yamilie. 

Rockall. Weit weſtlich von Schottlant, noch etwa 42 geographifche Meilen 
von St. Kilda, ber weftlichften der Hebriden, entfernt, in 579 36° Nördl. Br. und 
130 41’ Weſtl. 2. von ®r., erhebt fi fleil ein Eegelförmiger Felſen aus dem Atlantifchen 
Dcean, der Rokol oder R., wie er in neuerer Zeit genannt wird. Mit feiner, von 
maffenhaft angehäuften Vogelmiſt vollfommen weiß gefärbten Spige gleicht er von 
Weiten faft einem Schiffe, mit dem er auch in der Höhe rivalifirt. Die Brandung 
bricht fi an ben Untiefen und Felfenleiften in feiner Umgebung und marnt die See⸗ 
fahrer vor alliu großer Annäherung. Diefer einfame Felſen bildet nach Captain 
Vidal's Unterfuchungen ben Gipfel eines unterfeeifchen Berges, der von dem großen, 
ſchroff gegen Welten abfallenden Großbritannien mit feinen umgebenden Meerestheilen 
und die ganze Nordiee tragenden Blateau durch einen tiefen Spalt getrennt wird, in 
welhem Vidal bei 5760° noch feinen Boden fand. Giebt er fomit für das Relief 
des Meerebbodens einen böchft merkwürdigen Punkt ab, fo knupft fich in nenefler 


212 | Rockingham (Charles Watfon-Wentworth, Marquis v.) 


Zeit an ihn auch ein praktlſches Intereffe; flatt ihn aͤngſtlich zu vermeiden, haben ihn 
fhon viele Schiffe begierig aufjufuchen begonnen. Es verfammeln ſich nämlich eine 
ungeheure Menge von Fiſchen um diefen Felſen, indem fle durch die Beſchaffenheit des 
anliegenden Seebodend, der einen Ueberfluß von Seethleren bietet, angezogen werben. 
Die Fiſche, welche die Weſtküſte von Irland frequentiren, ald der Stodfiih, Klippfiſch zc., 
find dort in unglaublier Zahl, wie auch verfchledene Arten von Eetaceen. J. g. 
Sturz fagt in feiner gehaltvollen Broſchüte: „Der Fifchfang auf hoher See” (Berlin 
1862): „Die paflennfte Art und Welfe der Fifcherei auf R. if nach den kurzen, an 
Drt und Stelle gemachten Erfahrungen diefelbe, wie fie herköommlich von den Fiſchern 
in der Nordfee während de8 Sommers gehandhabt wird, auf Yahrzengen von 40 Bis 
50 Tonnen Tragkraft, mit 5 Mann und 4 Schiffsjungen an Bord; jedoch find au 
große Schiffe dort vortheilhaft zu” verwenden. Man bedient ſich nur der Sandleinen 
mit Senfblet und zweier Widerhaken an jeder Leine. Sind die Fiſche gefangen, fo 
werden file ausgenommen, zertheilt, die Köpfe abgefchnitten, das Rückgrat berausgenom- 
men; dann werden fie gefalzen und einer über den andern geſchichtet. Die meiften Fahrzeuge 
brauchen von Weflray aus bis M. nur 12 Tage, d. 5. für Die Hin- und Zurückreiſe 
mit 5 Tagen für die Fiſchzeit, und doch brachte jedes 14 Tonnen Stodfiiche zu 
10 Pfd. &t. die Tonne, fo daß fi der Bang von 5 Tagen alfo auf 140 Po. Et. 
oder 933 Thlr. im Werth belief. Daß geeignetfte Mittel, die Meichthümer von R. 
auszubeuten, fagen die fachverftändigen Berichter der Times, wäre Die Gründung von 
Actiengefellihaften mit 40—50,000 Pfd. St. Gapital in Aetien zu 1—2 Pfr. St.; 
diefelde müßte neben Stodfiih zugleich Die Del» und Düngergewinnung berückſichtigen. 
Sold eine Geſellſchaft könnte 3 große Schiffe mit 20— 30 Mann inc. Jungen 
jedes Schiff, ausrüflen und während der ganzen Zeit fiſchen laffen ; fodann ein Schiff 
als Tender oder Proviantfchiff, um die flationären Schiffe mit frifchem Wafler, Nah⸗ 
sung und Salz zu verſorgen und den gefangenen Fiſch friſch oder geſalzen nach den 
Märkten zu ſchaffen, ein fünftes Schiff Hätte die Abfälle und unbrauchbaren 
Fiſche aufzunehmen. Die flationären Schiffe müßten mit Wallfifchbooten, Harpunen, 
Leinen und Kettengefchoflen für die Haififche, deren Lebern viel Del enthalten, verſehen 
fein. Dann wären an Bord noch einige Berfonen erforderlich, die mit Berlegen, 
Ausnehmen und infalzen der Fiſche vertraut find. Das zum Wegſchaffen der Ichen- 
den Fiſche beflimmte Schiff würde meift in zwei Tagen beladen werden können umd 
müßte dann die frifhen Fiſche nah einem geeigneten Eifenbahnhbafen 
bringen, von wo die Fifche in wenigen Stunden na den verſchiedenſten Rich⸗ 
tungen Ind Innere des Landes zu verfenden wären” 3. 3. Sturz 
fordert mit Recht uns Deutfche auf, "uns an diefem Pifchfange zu beiheiligen, ale 
an einem der Hauptnahrungszmeige und als einer Grundbebingung einer deutfchen Flotte. 

Rodingham (Charles Watfon-Wentworth, Marquis v.) von 1765 — 1766 und 
in ber erſten Hälfte von 1782 Premierminifter von England, war 1730 geboren und 
flammte in weiblicher Linie von dem berühmten Strafford ab. Er hatte als Jüng« 
ling ausfchließlich den nobeln Pafflonen gelebt und galt auch in Betreff feiner Faͤhig⸗ 
keiten fo wenig, daß Georg II. erklärte, er Eönne unter feinem ganzen Hofſtaat faum zwei 
weniger begabte Perfonen herausfinden. Seine Kenntniffe waren nur groß in Allem, 
wad Wettrennen betraf; anferdem war er ſchwächlich und deshalb, fo wie aus Miß⸗ 
trauen in ſich ſelbſt, des Öffentligen Sprechens unfählg. Wenn er dennoch den höchſten 
Platz erreichte, fo verbanfte er dies dem Umſtande, daß bei dem Zerfall der Whigs 
(1. d. Art.) felbft Pitt nicht im Stande war, das Muder zu ergreifen. Da die flolze 
Bartei ohne perfönliche Anhänglichkeit nur Magnaten an ihrer Spitze duldete, fo fiel 
fie auf ihn ale Erben eines hiſtoriſchen Namens und unermeßlichen Reichthums. Zu⸗ 
gleich achtete fle feine Ehrenhaftigkeit. Seine wichtigfte Mafregel war ber fofortige 
Widerruf der amerifaniihen Stempelacte, den er am 22. Februar 1766 im Unter 
baufe Durchfegte. Nach vergeblichen Berfuchen, Pitt zum Eintritt in fein Miniſterium 
zu bewegen, hatte er bie Demüthigung, zu fehen, daß feine bebeutenderen Gollegen 
einer nad dem andern ihn aus Mißtrauen gegen feine Kraft verließen, der König 
denn am 7. Juli 1766 ohne weitere Abrede mit ihm Pitt berief und ihm dies erſt 
nachträglich anzeigte, womit er zugleich entlaflen war. Während ves ameritantfchen 





Nococo⸗Siyl. 213 


Krieges wirkte er als Bractiondhaupt mit Pitt (jetzt Lord Chatham) oft zufammen 
gebend im verföhnlichen Sinne. Getrennt waren fle in ihren Anflchten betreffs des 
Ausganges. R. wollte gänzliche Trennung, jener nur Nachgiebigkeit in den Prin⸗ 
tipien. Gerade uber deshalb mußte nun der König 1782 nad Lord North’ Sturze, 
den einft fo fehr Beleidigten, mit Außerflem Widerfireben von Neuem berufen. R. 
machte zu Bedingungen der Annahme: ſchnellen Frieden mit Frankreich und Amerifa 
und die Aufftellung von Burke's Bill zur Meform des Eöniglichen Haushalts als 
Gabinstömapregel. MR. erlebte noch das Durchgehen jener berühmten Bill und ftarb 
Yann am 1. Juli 1782. Sein größted Berdienft um England war die Einführung 
bes arnıen und unbelannten Burke in das Öffentliche Leben. Er machte ihn 1766 
zu feinem Brivatfecretär und brachte ihn in's Unterhaus. Auch nahm er ihn 1782 
in fein Minifterium, freilih den feinen Patron und die Partei lange Jahre bindurd 
verherrlihenden Mann mit dem untergeordneten Poften als Kriegszahlmeifter abfin- 
dend. Burke aber blieb dankbar. Bei den großen Regentſchaftsdebatten gedachte er 
feiner als eines Mannes, deſſen Kraft eben fo groß wie fein Herz geweſen ſei, und 
fügte auf jenes Berbältnig zum König anfpielend hinzu, daß als er zum zweiten Mal 
zur Gewalt gelangt fei, er fe mit Milde: gebraucht babe. (Mede 7. Bebruar 1789). 

Rococo⸗Styl nennt man in der Kunftgefchichte das gänzlihe Aufgehen des 
tlaſſtſchen Styles der Renaiſſance (flehe dief. Art.) in einen durch Schnörkeleien 
aller Art nach Außerem Effect hafchenden neuen, mie er fi im Anfange des 18. Jahr- 
hunderts zuerfi in Italien zeigte, aber am luxuriöſen Hofe Ludwig's XV. feine Höße 
erreichte. Der R. enifprach fonach ganz dem Gharakter der Zeit, die unter der gleiß- 
nerifhen Pracht des Aeußern ihre innere Hohlheit verbarg und diefelbe mir formellem 
Blendwerk vergeffen zu machen beftrekt war. Diefe Berflahung des Styls erfiredte 
fi 'zwar auf alle bildenden Künfte, bauptfächli aber auf die Arditeftur und die 
Ornamentik, und äußerte fich bier in den gefchweiften Curven⸗Façaden ber Gebäude, 
in den krummen und gebrochenen Giebeln und in den mannichfachen Berzierungen 
der Befimfe, Fenſter- und Thüreinfaffungen, in der Ueberladung mit Zierrathen aller 
Art, in der finnlofeften, wenn auch phantafliihfien Verbindung. Auch auf das Mo⸗ 
biliar übertrug ſich diefer verdorbene Geſchmack, und die gefchwungenen Bormen der 
Nuhebänke, Tifche, Stühle und Schränke aller Art erhielten ſich noch weit länger in 
Mode. Hierzu Fam In jenen Zeiten noch die Einführung der chineſiſchen und japa- 
neſiſchen Porzellan-, Elfenbein- und Zillgran- Arbeiten, die durch ihre groteöf-phanta- 
ſtiſche Form dem herrſchenden Geſchmacke entfprachen und ihm zu einer längeren Dauer 
verbalfen. In der Ornamentik famen namentlich die wunderbarften Formen auf, von 
den üppigfl- manierirten Blumenguirlanden bis zu den fabelhafteften phantaflifchften 
Ungebeuern, Sphinren und indiſchen Böttern und den urweltlichen Thieren jener 
fabelhaften unferer Kentniß damald noch fo wenig erfchloffenen Länder Hinter Aflend 
und des neuen Amerikas. So fchuf die Phantafle Beflaltungen, welche die Kunft 
in barbarifcher Niedlichkeit nachbilbete und denen felbft mitunter eine malerifhe und 
dem Auge angenehme Wirkung nicht fehlte. Der Name „ Rococo“ ſtammt wahrſcheinlich 
von dem franzöflfchen Worte „Rocaille“ her, womit man die damals übliche Muſchel⸗ 
und Tuffflein- Verzierung bezeichnete, weldye ein beliebter italienifcher Baumeifter, Mocca 
aus Florenz, in Frankreich in Mode gebracht hatte; man hat aber diefe Bezeichnung 
nach und nad fo weit auögebehnt, daß man jegt im Allgemeinen jedes Aufgehen 
eined eblen Styles in ein Haſchen nad dußerem Effect und die unverfländige An⸗ 
wendung feiner erhabenen und fchönen Formen mit dem Namen des „Rococo“ in 
ſchlagender Kürze zu charakterifiren gewohnt if. Die Unnatur des R., die in der 
Mitte des 18. Jahrhunderts auf den Bipfel gelangt war, machte im legten Viertel 
defielben Säculumß, zur Zeit der franzöflfcheri Revolution, und wohl in Bolge ihrer 
Einwirfung, einem neuen fogenannten „griechifchen" Claſſteismus Platz, weldyer in 
das gerade Segentheil, in eine an bie krafſeſte Nudität flreifende Natürlichfeit, um⸗ 
ſchlug, aber dennoch einer edleren Renaiſſance die Wege bahnte. In den dreißiger 
Jahren dieſes Jahrhunderts kamen die vergefienen Formen bes N. wiederum in Mode, 
aber der gebildetere Geſchmack der Zeit einerfeits, andererſeits die ſchnell eintretende 
Neberfättigung, warf fle bald wieber von dem uſurpirten Plage in die verdiente Ver⸗ 


Wagener, Giants u. Geſellſch⸗vex. XVIL 18 


274 Rode (Ehriftian Bernhard). Nöderer (Pierre Louis, Graf). 


gefiendeit zurüd. — Vgl. Schnaaſe's „Kunftgefchichte*, fo wie W. Luͤbke's Ausgabe 
der Kugler'ſchen Kunftgeichichte. 

Node (Ehrifian Bernhard), Maler und Kupferfiecher, geb. den 18. Juli 1725 
zu Berlin, bildete fich Dafelbft bei Anton Besne und fpäter in Paris bei Banloo und 
Reſtout aus; auch hielt er ſich zwei Jahre in Italien, am längflen in Venedig, auf. 
Nach feiner Vaterfladt zurüdgelehrt, wurde er nach Le Sueur’d Tode 1783 zum Dis 
rector der Akademie der bildenden Künfte und mechanifihen Wiffenfchaften ernannt. 
Er farb den 24. Juni 1797 zu Berlin. R. bat al Fresco und in Oel gearbeitet, 
für Schlöffer und Kirchen. Die Zahl feiner Gemälde ift außerordentlich groß; wir 
erwähnen nur: vier allegorifche Gemälde von vier im flebenjährigen Kriege gefallenen 
Helden, Graf Schwerin, von Winterfeld, von Keith und von Kleift, welche Bilder fi 
in der Garniſonkirche zu Berlin befinden; dad Altarblatt für die St. Georgenkirche, 
den weinenden Petrus vorftellend, die Gruppen, Grau in Grau (Grifaille), in der 
Kuppel der Eöniglihen Thierarzneifchule zu Berlin und ein Dedengemälde al Fresco 
zu Sansfouci, welche man als feine beften Arbeiten anſteht. Aus feined Freundes 
Geßner's Idyllen hat er einige fchöne Stüde gemalt und zu alfen Fabeln Gellert's 
Blätter radirt. Als ein wahrer Patriot malte er die merfwürdigfien Epochen aus 
der brandenburgifchen Geſchichte; am Tichften aber waren Ihm biblifche Gegenftände. 
Die meiften feiner Gemälde Hat er in Kupfer radirt, und von dieſen radirten Blättern 
hat er felbf ein Verzeichniß befannt gemacht (Berlin 1783). gl. über ihn „Ab- 
bildungen berühmter Gelehrten und Künfller Deutfchlands u. |. w.” (Berlin 1780), 
S. 33-54, 8 W. Ramler's „Gedäcdhtnißrede auf Herrn Bernhard Rode“ (Berlin 
1797), wo auch die im Jahre 1760 an R. gedichtete Ode Ramler's abgedrudt if. 
Fiorillo, „Geſchichte der zeichnenden Künfte in Deutfchland u. f. w.“, 3 Bde. (Han 
nover 1818), ©. 401 ff. und Johann Gottfried Schadow, „Kunftwerfe und Kunfl- 
- Anfichten” (Berlin 1849), mo e8 in der Vorrede (p. IV.) von R.'s Thäaͤtigkeit ald 
Lehrer an der Alademie heißt: „Er war jeden Abend im Aetſaal, überließ ſich Hier, 
im Crayon noch mehr als mit Binfel und Balette, feiner Flüchtigkeit; er entwarf zu⸗ 
weilen ganze Figuren in den fleben Biertelftunden“, und ebendaſelbſt p. V. „feine 
Bilder erfcheinen unfertig“. In den „Büſten berlinfcher Gelehrten und Künfler“ 
(Leipziger Oſtermeſſe 1787) wird R. (S. 264) wegen ber patriotiiden Anwendung 
feiner Talent:, zur Verewigung der vaterländiichen Helden, gelobt, aber audy ihm der 
Borwurf genacht, daß „die Aehnlicykeit neuerer Berfonen des brandenburgifchen Hauſes 
nicht ganz genau beobachtet ſei.“ 

Röderer (Pierre Louis, Graf), franzöſtſcher Vublicifi und Staatsmann, geb. 
zu Metz am 15. Februar 1754, der Sohn eined Varlamentd: Procuratord. Er wurde 
1779 Parlamentsrath, 1789 Deputirter zu den Generalftänden, fodann General: An« 
walt des Departementd der Seine, und er war ed, der Ludwig XVI. am 10. Augufl 
1792 den Math gab, ſich in das Local der geſetzgebenden Verſammlung zu flüchten. 
Als Redacteur des „Sournal de Paris“ fprach er für den gefangenen König und 
machte fich dadurch ber jakobinifchen Bartei verdächtig, weshalb er ſich während ber 
Schredendherrichaft verbergen mußte. 1796 ward er Mitglied des Inflituts und Pro» 
fefjor der politiſchen Oekonomie an einer Centralſchule. Ein Bemunderer Bonaparte's, 
wurde er nach dem 18. Brumaire Mitglied des Staatsraths und beauftragt, dad Prä« 
feeturmefen einzurichten, fodann erhielt er dic Direction des Unterrichtöwelend. Darauf 
in den Senat verfegt, war er für die Ernennung Bonaparte'8 zum lebendlänglichen 
Conſul befonders thätig. 1806 zum Graf ernannt, wurde er in Neapel des Könige 
Joſeph Finanzminifter, 1810 Minifter und Staatöfecretär beim Großherzog von Berg. 
Während der hundert Tage erhielt er einen Sig in der Baird - Kanımer. Nach der 
zweiten Neflanration trat er vom öffentlichen Schauplag ab. Durch Louis Philipp 
erhielt er 1832 die Paird » Würde zurüd und ftarb am 17. December 1835. Bon 
feinen publiciftifchen Schriften find hervorzuheben: La premiere et la seconde annee 
du consulat de Bonaparte (1802); Esprit de la revolution de 1789 et sur les eve- 
nements du 20. Juin et du 10. Aout (1831); Memoires pour servir a l’'hisloire de 
la sociele polie en France (1834). — Sein Sohn Antoine Marta Baron v. R., 
geb. am 14. Mai 1782 zu Metz, ward 1805 Auditenr im Ealjerlihen Staatörath und 


Hodigaft (Samuel). Rodrigues (Benlamin Olinde). 275 


fpäter Praͤfect des Kalferreihe. 1845 wurbe er Pair von Frankreich und zog ſtch 
1848 in's Privatleben zuräd. Außer den Comödies, proverbes, parades (1824 — 
1826, 2 vol.) und der Verarbeitung der Intrigues politiques et galantes de la cour 
de France depuis Charles IX. zu Komöbdien (1832), ferner mehreren Schriften über 
Sreihandel und für das Protectionsſyſtem hat er 1853 herausgegeben: La famille 
Roederer depuis 1676 à 1790. In demfelben Jahre begann er bie Herausgabe der 
Osuvres complötes in 10 Binden ſeines Vaters, doch wurde die ganze Auflage von 
250 Eremplaren nur an die Familie AR. und an die alten Freunde des Grafen R. 
vertheilt. 

Hodigaft (Samuel), geb. den 19. October 1649 zu Groͤben, einem Dorfe bei 
Jena, wurde an legterem Orte, wo er nach abfolvirten Studien den Magiſtergrad 
erlangte, Adjunct, darauf 1680 Gonrector am Gymnaſtium zum grauen Klofter in 
Berlin und 1698 Mector daſelbſt. Einen Auf zur Profeſſur für Logik und Meta- 
phyſik in Jena Hatte ex abgelehnt; er fland mit Spener in Berlin in ben engſten 
Berbälinifien und flarb den 19. März; 1708. Noch ale Adfunct der phllofophifchen 
Facultät zu Jena, vor feiner Berufung nad Berlin, im Jahr 1675 Hat er ein Lied‘ 
gedichtet, zwar Daß einzige, welches ihm überhaupt zu verdanken ift, aber ein Lieb, 
welches vurch den Segen und Trofl, der von ihm verbreitet worden if, ihm in ber 
Geſchichte des Kirchenliedes eine rühmliche Stelle ſichert. Es iſt das Lied: „Was 
Gott thut, das iſt wohlgethan“. 

Nobney (George Brydges), britiſcher Seeheld, geb. 1718 zu London, ward 
ihon 1751 zum Commodore, 1759 zum Admiral ernannt. Im legteren Jahre boms 
bardirte er im Angeflht der franzöflichen Flotte Havre de Grace, 1762 eroberte er 
Martinique und ward’ nad, den Frieden 1763 Gouverneur bes Hofpitald von Green» 
wid. Die BVerlegenheiten, in die ibn fein Hang zum Spiel ſtürzte, zwangen ihn in« 
deſſen zur Flucht nad) Frankreich; er erhielt jedody, dem Könige von Neuem empfohlen, 
1779 Ben Oberbefehl über die weſtindiſche Flotte, mit der er fih bis 1782 dur 
eine Meihe glänzender Stege außzeichnete. Im Ianuar 1780 ſchlug er die ſpaniſche 
Blotte unter Langara, wodurch er @ibraltar wieder Lebensmittel und Kriegsbedürf⸗ 
niffe verſchaffte; die drei Befechte, die er im Mai deflelben Jahres der franzäftfchen 
Flotte unter Guiche auf der Höhe von Martinique lieferte, waren zwar nicht entjchei« 
dend, doc eroberte er 1781 die Infeln St. Euſtache, Bariin und Saba und ver- 
nichtete am 12. April 1782 auf der Höhe von San Domingo die franzöftfche Flotte, 
unter den Grafen Grafle. Der König ernannte ihn darauf zum Pair und das Par- 
lament bewilligte ihm eine Penſion von 2000 Pfd. St. Er flarb den 24. Mai 1792. 
Bergl. Life and correspondence of admiral R. (London 1830). 

Hodrigued (Benjamin Dlinde), Saint-Simonift, von einer portugieflichen Juden. 
familie herſtammend, geb. zu Bordeaux den 16. Dctober 1794, geſt. zu Paris den 
16. December 1851. Er wurde, nachdem er den Grad eined Doctor der mathema⸗ 
tifchen Wiſſenſchaften erlangı hatte, Mepetitor an der polytechnifchen Schule, darauf 
Director der Hypothekenkaſſe. Er war, ald Saint- Simon ſtarb, einer der eifrigfien 
Unbänger defielben und wurde neben Auguſt Comte (j. d. Urt.) einer der erften 
Ausbreiter feiner Lehre. Er trug befonderd zur Gründung des Producteur bei und 
nahm an der Nedaction deflelben in den Jahren 1825 und 1826 Theil. Ihm ver« 
dankten Bazard und Enfantin die Einweibung in die faintfimoniftifchen Ideen und 
ald dieſelben Ende des Jahres 1831 in einer Sitzung der „Familie“ fid trennten, 
folgte er dem Letzteren, der Ihn „den moralifchfien Mann feiner Zeit" nannte Er 
wurde zum „Bater der Induſtrie und Chef des faint- fimoniftifchen Cultus“ erhoben 
und befchäftigte fih befonderd mit den Finangen der Geſellſchaft, die unter der Firma 
3. D. Nodrigues und Compagnie geſetzlich conflituirt war. Bald darauf trennte er 
fh auch von Enfantin, weil er defien Sag, dag allein die Frau über bie Vaterfchaft 
eines Kindes ſich zu erklären habe, nicht beiflimmen wollte Er proclamirte ſich 
darauf ald einzigen Schüler und directen Erben Saint⸗Simon's und erließ einen 
Aufruf an bie anderen @etreuen, fand bamit aber faft gar fein Echo. Um dieſe 
Zeit (1832) veröffentlichte er die Oeuvres de Saint-Simon (2 Bde.). Er befchäftigte 
Äh darauf mit Bank» und Börfengejchäften und mar einer der thätigflen Befoͤrderer 

18 * 


216 Roebud (Sohn Arthur). 


der franzöflicden Eifenbahnbau » Unternehmungen. In den legten zehn Jahren feines 
Lebens wirkte er beionders für Gründung von Alterverforgungsfaflen und für Affo- 
ciationen zur gegenfeitigen Unterflügung. 1842 übergab er der DBermaltung der 
Sparfuffe von Paris ein Project zur Meform verfelber und zwei Jahre darauf bildete 
er mit Macquet, der ein anderes Project vorgefchlagen hatte, ein Gomite, welches 
diefe Frage in den Generalrätben des Landbaues, der Manufacturen und Des Han⸗ 
dels in den Jahren 1845 und 1846 zur Tagedordnung erhob. In einem Bericht an 
die Tegislative Verſammlung über einen Borfchlag betreffs der Affosiationen zur 
gegenfeitigen Unterflügung und der Gründung einer allgemeinen Altervırforgungdfafle 
(im October 1849) fagte Benoit⸗d'Azy: „mir Eönnen nicht umhin, bei biefer Ge⸗ 
legenheit den Namen eined der Männer, die fi) am meiften mit diefer Frage beichäf- 
tigt Haben, nämlich des Olinde M., zu citiren, der 1844, 1846 und letztes Jahr im 
Arbeits ausſchuß der Gonftituante und noch diefed Jahr in unferer Commiſſion durch 
feine lichtuolfen Arbeiten zur Realiſtrung dieſes großen Gedankens beigetragen hat.” 
(Schon 1820 war zu Paris feine Brofchüre Theorie de la caisse hypolhöcsire er» 
ſchienen. Im März 1848 ließ er mit feiner Namensdunterfchrift an den Mauern von 
Paris die beiden Mlafate anfchlagen: Organisation du travail et des banques und 
Association du travail et du capital; Moyen de realisalion. Die Schrift: De 
organisation des societ&s de prövoyance ou de secours mutuels, par M. G. Hubbard 
(Paris 1852) iſt unter feiner Direction abgefaßt.) 

Roebuck (John Arthur), radicales englifches Parlamentsmitglied, 1801 zu Ma- 
dras in Oflindien geboren, wurde in Canada erzogen und verweilte daſelbſt bis zu 
feinem 23. Jahre, worauf er in England zunaͤchſt als Advocat befchäftigt war. Wäh- 
rend der Meformbemegung gehörte ex zu der Fleineren Gruppe von Boltsführern, Die 
wie Hume, Duncombe u. A. viel mehr verlangten, als die Whigs geben wollten und 
fonnten, dennoch aber, um erft eine Baſts zu gewinnen, mit denfelben alle ihre 
Kräfte für Durchbringung der Ruſſell'ſchen Bill einfegten. Nachdem died 1832. ger 
ſchehen, wählte ihn die Stadt Bath zum Abgeordneten. Gr ergänzte feine zunächſt, 
den Umfländen gemäß, nicht bedeutende parlamentarifche Thätigkeit (fiehe d. Artikel 
Whig und Lord John Ruſſell) durch die mit Molesworth unternommene Gründung 
des „Weflminfter Review“', einer Vierteljabrsfchrift, die für die Radicalen das werden 
follte, wa8 das „Edinburgh Review“ für die Whigs, und das „Quarterig Review" für 
die Torys geworben waren. Berühmt indeß wurde er erſt durch feine energifche Ber« 
tretung der franzöflfchen Banadier in den Wirren in der zweiten Hälfte der dreißiger 
Jahre, weldye unter Canada eingehend erörtert murden. 1836 zum Agenten ber 
Nieder⸗Canadier ernannt, vertrat er fle im Unterhaufe und in der Prefle ebenfo rüd- 
ſichtslos als geſcheidt. Obgleich er nicht felten befchulbigt wurde, daß er eigentlich 
für Geld thätig fei, fo Eonnte ihm Doch der Beruf durchaus nicht abgefprochen wer- 
den, da Canada fein eigentliches Vaterland gewefen war. Außerdem war ed gewiß 
nicht unrähmlich, fich als ein DVereinzelter zugleich gegen Whigs und Torys zu ſtem⸗ 
men und radicalen Reformen und Beftrebungen auf Diefem Gebiete erſt den Weg zu 
bahnen, ohne irgend wie der popularis aura fihmeichlerifch entgegen zu Tommen, wie 
fhon aus dem zweimaligen Berlufte feines PBarlamentsfiges 1837 und 1847 hervor⸗ 
geht, bis er, 1849 für Sheffield wieder gewählt, ſich bis heute im Unterhaufe bes 
hauptet. Es verſteht fih von ſelbſt, daß er für Aufhebung der Korngeſetze 
und alle übrigen von den Whigs durchgeſetzten Hauptmaßregeln geflimmt bat. 
Ein Breund derſelben ift er aber keineswegs geworden. Gr ift nur fiets 
mit dem minus qufrieben, wo ein majus ſich als nicht erreichbar erweifl. Er Hilft 
Daher au die Whigs als das geringere Uebel conferviren. So hat er 1850 in 
ber Pacifico- Affaire (f. Palmerſton) viel zur Stügung des Muffell’fchen Miniſteriums 
beigetragen, obgleich er mit den übrigen Madicalen der Interventionspolitit grund» 
fäglich feind if; wie er auch in neuefler Zeit in der dänifchen Frage mit den Minis 
ftern ging, zugleich aber das Unglück beflagte, das Lord John Rufſell zum Diplo- 
maten gemacht babe, da er doch „zum Schulmeifter gefchaffen* ſei. Eine Nuance bat 
er in die Whigpolitik dadurch hineinzubringen verfucht, daß er Begänfligung Oeſter⸗ 
reichs befürmortete. Sein Buch: History of the Whig ministry uf 1830, 2 vols. 


Noer (Hans Heinrich Eduard). Roeskilde. 277 


Lond. 1852, wurde von dem „Weftminfter Review“ deſſelben Jahres nicht gelobt. 
Der Berfaffer flände den eigentlichen Hebeln zu fern; das, was über Motive und 
Menfchen darin niedergelegt fei, verdanke er ausſchließlich einer Quelle, die nicht ganz 
unanfechtbar fei (Brougbam). Dagegen wird es von dem torpiftifchen Hiſtoriker Sir 
Archibald Alifon fortlaufend als Quelle citirt: R.'s parlamentarifhe Thätigfeit iſt 
ſtets von Schwaͤche und Kraͤnklichkeit begleitet geweſen, wie fein mageres, gefurchtes 
Antlitz und fein gebeugter Körper andeuten. Sr erſcheint daher nur bei größern Ver⸗ 
bandlungen im Haufe und wird dann ficher gehört. 

Aoer (Hans Heinrih Eduard), deutſcher DOrientalift, geb. den 26. December 
1805 zu Braunfchweig, wurde ebendaſelbſt von Griepenkerl frühzeitig für die Her- 
bart’fche Philoſophie gemonnen, fludirte Diefelbe unter dem Meiſter felbft in Königd«- 
berg und lehrte fie feit 1833 ald Privatdocent an der Univerfitäit zu Berlin. Dies 
felbe vertheidigte er in feinen Schriften: „über Herbart's Lehre der Beziehungen“ 
(Braunſchweig 1834) und „Über das fpeculative Denken in feiner Fortbewegung zur 
Idee? (Berlin 1837). Sein Interefie für die religiöfe und phllofophifhe Entwicke⸗ 
lung der Hindus brachte Ihn 1838 zum Entſchluß, nah Indien ale Mifflonär zu 
geben; bald nad feiner Ankunft daſelbſt gab er jedoch diefen Plan auf und widmete 
fih, feit 1841 Bibliotbefar und ſeit 1846 Secretär der aflatifchen Gefellfchaft in 
Bengalen, dem Studium der orientalifhen Sprachen und der indiſchen Philofophie. 
1846 begründete er die Monatsfchrift der Bibliotheca Indica, in welcher er die Haupt⸗ 
werke der indifchen, arabifchen und perfifchen Literatur im Urtert und meift mit Scholien 
und englifcher Ueberfegung veröffentlicht. Don ihm ſelbſt Hat dieſe Zeitfchrift bedeu- 
tende Beiträge aufzumeifen. 

Roeskilde, eine uralte und berühmte Stadt auf der bänifchen Injel Seeland, in 
einiger Entfernung vom füdlichen Ende des jenigen Zweiges des Safefiords, der nad 
ihr benannt wird, foll ihren Namen von einem dänifchen Könige Roe und dem Worte 
Kilde, d. 5. Born, erhalten haben, weil e8 daſelbſt verfchtedene Quellen vortrefflichen 
Waffers giebt. Als die Könige Leire verließen, wählten fie R. woſelbſt 1012 ein 
Bisthum gefliftet worden war, zu ihrer Reſidenz, und fle waren ed, welde den Ort 
1151 mit Wällen und Gräben umgaben und ihm 1268 oder zehn Sahre fpäter 
Stadtrecht verliehen. Nachdem die Biſchöfe von GSerland mit diefer Stadt belehnt 
worden waren, nahm fie dergeftalt zu, daß fie 27 prächtige Kirchen und Klöfter aufs : 
zuweiſen hatte. Ihre Größe erhellt daraus, daß einige von den nahegelegenen Dorfs 
firchen innerhalb ihrer Umfafjungdmauern geflanden haben, und daß die Straßen der | 
Stadt bis an’d Meeredufer gegangen find. Die Könige wurden bier gewählt und 
gefrönt und bebielten bier ihren Sig bis zum 15. Jahrhundert. Der nachmalige 
große Berfull der Stadt rührt ber theils von einigen Feuersbrünſten, theild von dem 
unleidlichen Benehmen der Bifchöfe, die Hier ibren Sig hatten, theils von der rafchen 
Aufnahme Kopenhagens, theild endlich von der Meformation, weil nad) derfelben bie 
Mönche und Beiftlichen, welche bier ihre einträglichen Praͤbenden verzehrten, das Land 
räumten. Gie beſteht jeht nur aus einigen hundert, größtentheild geringen Käufern, 
und ihre Einwohner‘, deren Zahl, 4800 Seelen, fie nach Kopenhagen zur dritten 
Stadt auf Seeland macht, ernähren fich meiſtens vom Landbau, infonderheit dem 
Tabaksbau, von einigen Baunmollenmanufacturen und vom Handel mit den gemon« 
nenen Erträgniffen. @inige politifche Bedeutung und auch etwas mehr Nahrung Hat 
R., wo 1556 und 1658 Briedensfchlüffe zwifchen Dänemark und Schweben flattfan- 
den, in neuefter Zeit dadurd erlangt, daß die 1834 errichteten Provinzialflände der 
Infelflifte Hier ihre Verſammlungen abgehalten haben. Die Doöomkirche giebt noch 
Zeugniß von der vormaligen Herrlichkeit der. Stadt. Aus einer Grabichrift des KRö> 
nigs Harald Blauzahn, die fih im Chore befindet, ſchließt man, daß fie von demſel⸗ 
ben um's Jahr 980 von Holz erbaut worden ſei. Späterbin aber ward zu einem 
großen mafflven Bebäude der Grund gelegt, dad um's Jahr 1084 vollendet und die 
Kirche des Heiligen Lucius, nachmald aber die Kirche der heiligen Dreifaltigkeit ges 
nannt wurde. Diefe ift drei Mal, nämlich 1282, 1443 und 1525 durch Feuersbrunſt 
zerflört und nachher nicht wieder fo prächtig Hergeftellt worden, als fle vorher geweſen. 
Ihren größten Schmud Hat fie von den zahlreichen Eöniglichen Begräbnifien und 


218 Rogers (Samuel). 


Denfmälern, unter denen wir nur das der berühmten Königin Wargaretfe nennen. 
Diefe ſchenkte der Kirche einen mit ihrem Bilde verzierten Altar, auf dem die zwölf 
Apoftel von Bold in der Größe eines dreijährigen Kindes fanden, die König Erich, 
der Pommer, mit fih nahm, als er Dänemark verließ. Außerdem find in der Kirche 
viele Epitaphien adliger, geiftliher und gelehrter Leute, wie denn 3. B. von legteren 
Saro Grammaticus und Nie Hemming bier begraben liegen. Mit der Kirche 
haͤngt durch einen verbedten Bang der Palaft zufammen, welcher im Jahre 1733 
erbaut und von mittelmäßiger Größe if. Auf der andern Geite der Kirche If 
das Gebäude, dad fonft für das 1636 geftiftete, 16883 aber wieder eingegangene 
Gymnaflum befiimmt war, darin fi aber jegt die zum Stift Seeland gehötigen 
Pröpfte unter dem Borfig des Bijchofs und des Stiftsamtmanns jährlich zwei 
Mal verfammeln. Zu ermäbnen iſt noch, daß in der Mitte des 12. Jahrhun⸗ 
derts in R. eine halb geiftlihe, Halb militärifche Brüderſchaft errichtet wurde, die 
Milites oder Fralres Roschildenses hieß und in der Folge ſich über ganz Seeland 
audbreitete. Ihr Zweck war Schug und Vertheidigung der Seeküſte gegen vie An⸗ 
griffe der Slamen, welche damals im nördlichen Deutſchland noch anfäfftg. waren. 
Rogerd (Samuel), englifcher Dichter, Banquier und berühmter Schöngeift, geb. 
1763, geft. 1855, wird in England genannt bleiben, ſowohl weil er einfl populär 
war, als auch weil er der ariflofratiichen Gefellichaft als eine eigenthümliche Perſoͤn⸗ 
licpfeit angehört bat. Eine folche ſich fort und fort jelbft verherrlichende Geſellſchaft 
regiftrirt ihre Größen forgfältig und fommt immer wieder auf fie zurüd. Bon feinem 
bedeutendften @edicht: The pleasures of memory (die Bergnügungen der Erinnerung), 
dad 1792 erfchien und der bei uns verpönten didaktiſchen Gattung angehört, muß 
gefagt werden, daß die Sprade rein und die Gedanken edel find, und Daß es fchöne 
Stellen enthält, wie fle einem Verfaſſer möglich werben, der taufend Quellen ver⸗ 
arbeitet bat. Urfprängliche Begabung weift dies Gedicht fo wenig auf, wie die Idylle 
„Sacqueline* und dad Gedicht „Italien“. Doch wurde er dur das erfigenannte bes 
rühmt, meil England damald arm an Dichtern, und Burns!’ Auf noch nicht aus 
Schottland hinüber gedrungen war. Was den Gedichten fehlte erfegte Die Schoͤnheit 
der Ausgabe, welche R. mit einem Aufwand von 15,000 Bfd. veranflaltete. Landſeer, 
Eaftlafe und Turner arbeiteten daran mit. Die Ariftofratie dedite dann dur Sub⸗ 
feription den Aufwand. IE N. nun für und ale Dichter auch vielleicht nicht fo 
beachtenswerth, wie mancher unferer alten einft gekannten Lehrdichter, die wir weniger 
pietätsvoll als die Engländer längft vergaßen, fo verdient feine Berfon und Stellung 
größeres Intereffe. Er war ein guter Gefchäftgmann und eifriger Dichter; von höchſter 
Ehrlichkeit und gutem Herzen, und doch gefürchtet wegen jeiner boßhaften Antworten 
(man iagte von ihm, daß er fih den Weg in die Gefellfchaft, wie Hannibal den über 
die Alpen, mit Weineffig gebahnt Habe); ein Freund der Armut und dennoch fludir- 
tee Sybarit. Eine ihm gewidmete Studie im Edinburgh Review von 1856 beginnt 
mit den Worten: „Länger als ein halbes Jahrhundert war ein Meines Haus in einem 
ruhigen Winfel Londons die anerkannte Behauſung des Geſchmackes und der beneidete 
"Berjammlungsort des Wiges, der Schönheit, der Gelehrten und der Begabung. Dort, 
umringt von den audgewählteften Schägen der Kunſt und bei einem Licht, das von 
Guido's und Titian's veflectirt murde, faßen und plauderten gemüthlich zufammen die 
ausgezeichneten Dichter, Maler, Schaufpteler, Künftler, Kritiker, Meifende, Befchichte- 
fohreiber, Krieger und Redner von zwei Gefchlechtern. — Es war in diefem Raume, 
wo Ersfine die Geichichte feiner erften Proceßvollmacht, Grattan die feines letzten 
Duells erzählte, wo der „eiferne Herzog" Waterloo als eine Schlacht der Miefen. 
ſchilderte; wo der berühmte Bildbauer Chantrey, feine Hand auf ein Piedeſtal von 
Mahagony legend, fagte: „Mr. Rogers, erinnern Sie fich eines Gefellen mit 5 Shillingen 
täglich, der an diefer Thhr Ihren Auftrag hierzu empfing? Ich war diefer Geſelle.“ 
Hier begann Byron's Freundſchaft mit Moore über einer Schäffel von Kartoffeln und 
Weinefflg; bier wurde Madame Stadl, nachdem fle Madintofh geſchlagen, von Sheridan 
ad absurdum geführt; bier erklärte Sidney Smith beim Mittageffen mit Walter Scott, 
Gampbell, Moore, Wordsworth und Walhington Irving, daß er und Irving, wenn 
auch die einzigen Profafchreiber, doch nicht die einzigen Proſaiſchen am Tiſche ſeien.“ 


Rogier (Charles). Nogniat (Joſeph, Vicomte de). 279 


In diefer Geſellſchaft theilte A. mit Sidney Smith den Ruhm, als größter talker, 
geiftreicher Plauderer der Zeit, und behauptete ihn faft bis zum 90. Jahre, ohne zu- 
gleich an geſchäftlichem Rufe einzubüßen. Als er in höherem Alter fand, wurde er 
um eine große Summe beftohlen. Sogleich placirten zwei Epelleute, der eine 10,00, 
der Andere 30,000 und ein reicher Kaufmann 100,000 Pfo. in feine Hand; eine 
Anertennung und Hälfe, von einem Wanne nicht unverdient, weldyer zu den fehr 
Wenigen gehörte, die dem verlaflen flerbenden Sheridan (f. d. Art.) noch eine 
legte Hülfe geſpendet hatten. Soldye Züge und Beziehungen zur Welt der Byron⸗ 
hen Zeit entſchädigen in jenem Aufſatz für die Mittheilung vieles Gemachten und 
eines für uns unmejentlichen eleganten Gebahrens. Die Erinnerungen von R. find 
verzeichnet in: Recollections of the Table Talk uf Samuel Rogers to which is added 
Porsoniana. London 1856. 

Nogier (Charles), einer jener belgiſchen Minifter, deren öffentliches Leben, wie 
das der fpanifchen und portugiefljchen, aus einem befländigen Wohnungswechfel, Be» 
ziehen und Verlaflen der Minifterhoteld und aus dem Wechfel zwifchen Amtsführung 
und Oppoſition beſteht. Er ift zu St. Quentin den 12. Auguft 1800 geboren, be⸗ 
309 das. Lyceum zu Lüttich, mo fein Vater PBrofeflor war, fludirte das Recht, wandte 
ſich aber der Journaliſtik zu und gründete mit feinen @eflunungsgenoffen Lebeau und 
Devaur den „Matthieu Laensberg”, der, buld darauf in den „Politique“ umgemwan- 
deli, gegen die bolländifche Megierung einen erbitterten Krieg führte. Beim Ausbruch 
der September-Hevolution von 1830 zog er mit einer Schaar von 300 bewaffneten 
Lättichern nach Brüffel, betbeiligte fi am Kampf); war bei der Errichtung des ad» 
miniftratinen Ausfchuffes thätig und murde Mitglied der proviforlichen Regierung, fo 
wie des Nattonaleongrefjes, in welchem er fih für eine erbliche conflitutionelle 
RVonarchie ausſprach. Er flimmte zuerfi für den Herzog von Nemourd, fodann für 
den Bringen Leopold. 1831 ward er Bonverneur von Untwerpen, das Jahr darauf 
Miniſter des Innern, und fein Widerfland gegen die rabicale Partei, welche den Krieg 
wollte, führte ihn zu einem Duell mit Sendebien, in welchem er verwundet wurde. 
-1835 wußte er dem weniger liberalen Minijtertum de Theur meicdhen. 1840 erbielt 
er wieder das Miniſterium der öffentlichen Arbeiten; das Jahr darauf von Neuem 
verdrängt, ward er bis 1847 eines der Häupter der liberalen Oppofition. Seit den 
12. Auguf 1847 wiederum in's Minifterium berufen, blieb er in demfelben bis zum 
Detsber 1852 und wechſelte ſeitdem zwiſchen Minifterialpoften und Oppoſttion, je 
nachdem die Flerifale Bartei, deren Gegner er ift, in den Beflg der Gewalt fam oder 
weichen mußte. — Sein Bruder Firmin R., geb. 1791 zu Cambrai, 1811— 1814 
Profeſſor zu Lüttich, betrat 1830 die diplomatifche Garriere und wurde 1848 belgi- 
ſcher Bevollmäcdhtigter zu Paris. 

Rogniat (Joſeph, Vicomte de), franzöftfcher General und Militärfchriftfteller, 
geb. 1767 zu Vienne, trat, nachdem er die Schule des Geniecorps zu Metz durch⸗ 
gemacht hatte, beim Ausbruch der Mevolution in die Armee, zeichnete ſich 1800 unter 
Moreau aus und that fih, 1808 ald Oberfi nah Spanien gefchidt, bei der Belage 
rung von Saragofia hervor. 1809 zum Brigadier befördert, warb er als Genie- 
GCommandanı nach Deutfchland zum Corps des Marſchall Lannes berufen, diente dann 
bis 1812 wieder in Spanien, wo er Diviflondgeneral wurde, und 1813 ald Com⸗ 
mandant des Geniecorps in Deutfchland, wo er befonders bei der Befefligung von 
Dredden tätig war. Nach der Schladht bei Leipzig wegen der Sprengung einer 
Brüde mit Napoleon in Zerwürfnijfe verwidelt, blieb er 1814 in Meg, übernahm 
aber 1815 während der hundert Tage wieder dad Commando Über dad Geniecorps. 
Nach der zweiten Neflauration mard er Inipector des Genieweſens, 1817 Vicomte, 
1829 Ritglied des Inflituts, 1832 Pair und flarb im Mai 1840. Neben feiner Relation 
des siöges de Saragosse el de Tortuose (Paris 1814) find befonders feine Considerations 
sur l’art de la guorre (Paris 1816) wichtig. Sie-enthalten eine fcharfe Kritil der Opera⸗ 
tionen Napoleon's, gegen welche ſich dieſer in feinen Memoiren zu rechtfertigen und die auch 
Oberfi Rarbot in feinen „Remarques tritiques ete.“ (Barid 1820) zu widerlegen fuchte. 
Sein vom Hauptmann PVilleneuf redigirte® Memoire sur l’emploi des peltites armes 
dans: la döfense des places iſt auch (Berlin 1832) in deutfcher eberfegung erſchienen. 


280 Nohan. (Geſchlecht.) 


Nohan, Herzoge von, eines der angeſehenſten franzoͤſiſchen Adelsgeſchlechter, 
ſtammen von einer der fürſtlichen Familien ab, welche ſich im zehnten und elften Jahr⸗ 
hundert die Herrfchaft über die Bretagne flreitig machten. Guethenoc, ein jüngerer 
Sohn dieſes Haufes, war in der erflen Hälfte des elften Jahrhunderts Graf v. Por⸗ 
rho&t und Vicomte von Rennes. Sein Enkel Eudo I. folgte 1066 Wilhelm dem 
Eroberer nach England. Eudo's Enkel, Eudo Il., war einige Zeit Herzog der Bre- 
tage vermöge feiner Hetrath mit Bertha, Tochter des Herzogs Conan II. und farb 
1148. Durch feinen Bruder Alain wurde ein Zweig der Familie nad; England ver» 
pflanzt. — Alain VI. fiel 1352 bei Moron. Im 14. und 15. Jahrhundert verban- 
den die R. ficy wiederholt durch Heirath mit dem franzöflfchen Königehaufe und er» 
hielten deshalb die MWorrechte fremder Fürſten und den Titel cousin du roi, und 
führten die Devife: „Roi je ne puis, Prince ne daigne, Rohan je suis.“ Geit 1527 
theilten fe fich in mehrere Linien, unter denen die von Guoͤmoͤné, Montbazon, Gi 
und Soubife die bedeutendflen find. Louis v. R. Guéméné wurde 1588 von 
König Heinriy UI. zum Pair und Herzog von Montbazon erhoben. Sein Sohn 
Hercule war einer der angefebenften Parteigänger Heinrich des IV. in deſſen Kries 
gen mit der Eatholifchen Ligue und flarb am 16. Octbr. 1654. Deffen Enkel Louis, 
geb. 1635, führte ein abenteuernded Leben und verfhwor ſich fogar mit andern 
Abenteurern, um Buillebeuf an die Holländer zu verrathen. Er wurde daher 1674 
enthauptet. DBictor Louis Meriadec, Brinz von Nohan» Quemend, Herzog 
von Montbazon und Bouillon, geb. am 25. Juli 1766, erhielt 1808 das Indigenat 
in Oefterreih mit dem Titel „Durdlaudt". Mit ibm flarb am 10. Dechr. 1846 
die Hauptlinie der Buemene aus. Ihre Beflgungen gingen auf die Nebenlinie R.⸗ 
Rochefort über, Die 1611 gegründet worden war. Diefe R. nannten ſich Grafen von 
Montauban, bis fie 1718 zu Bringen von Nochefort erhoben wurden. Gamillus, 
Philipp, Joſeph, Idesbald, Herzog von Montbazon und von Bouillon, Fürft von 
Buemönd, Rochefort und Montauban, geb. am 19. Dechr. 1801, erbliches Mitglied 
des öfterreichifchen Herrenbaufes, ift feit 1846 Haupt der Familie. — Eine Nebenlinie 
der R.-Buemine fliftete Blerre de R., gewöhnlich der Marſchall von Gioͤ genannt. 
Er war um 1450 geboren und wurde 1475 Marſchall von Frankreich. Er befebligte 
1479 in Flandern und begleitete Karl VIII. auf feinem Beldzuge nach Italien. Lud⸗ 
wig XI. erhob ihn zum ®eneral- Lieutenant der Bretagne und zum Erzieher bes 
Prinzen Franz von Angouleme. 1505 murde er aber dur einen Parlamentsbefchluß 
feiner Würden enthoben und flarb 1513. Seine Nachkommen nannten fi R.⸗Gis. 
Sein Sohn Pierre fiel 1525 in der Schladt bei Bavia. Des Marſchalls Enkel, 
Nöne J., war mit Ifabella von Albret, einer Großtante Heinrich's IV., vermählt und 
fill am 28. Octbr. 1552 bei Meg. Sein Sohn, Rene II., vermählte fih mit der 
Erbin des Hauſes Soubife, Catharine von Parthenay. Seine beiden Söhne Henri 
und Benjamin zeichneten fid als Feldherren aus. Henri war am 21. Aug. 1571 
geboren und wurde 1603 von Heinrich IV. zum Herzog erhoben und 1605 mit 
Margarethe, der Tochter Sully's, vermählt. Nach Heinrich's Tode trat er nebſt fei- 
nem Bruder an die Spige der Proteflanten und erzwang 1622 die Beftätigung des 
Edictes von Nantes. Während Michelieu Rochelle belagerte, befämpfte R. die Fönige 
lichen Heere unter Montmorency und Condé, welche ihn verhinderten, Rochelle zu 
entfegen. Nach dem Falle diefer Stadt vertheidigte er ſich gegen dreifach überlegene 
Heere, bis 1629 den Broteflanten freie Neligionsübung zugeflanden wurde. Er bes 
gab fi nun nach Venedig, wo er „Memoires sur les choses advenues en France 
depuis la mort de Henri IV. jusqu'à la paix au mois de juin 1629° ſchrieb (8. 
Auflage, 2 Bde. 1756). In Padua fchrieb er hierauf eine Anleitung zur Kriegsfunft 
unter dem Titel: „Le Parfait capitaine* (Paris, 1636) und einen „Traite de la cor- 
ruption de la milice ancienne et des moyens de la remeltre dans son splendeur*. 
1631 wurde er zum Befehlshaber eines Heeres ernannt, welches öſterreichiſche und 
fpanifche Truppen in der Schweiz bekämpfen follte; 1635 vertrieb er die Feinde aus 
Graubünden und rüdte fogar bis in das Gebiet von Mailand vor. Bald darauf aber 
entzweite er fich wieder mit dem Hofe, z0g ſich nach Genf zurück und begab fi Hier- 
auf zu dem Heere des Herzogs Bernhard von Sachen» Weimar. Am 25. Sehr. 1628 


Rohmer (Friedrich). 281 


wurbe er bei Rheinfelden ſchwer verwundet und flarb am 13. April. Er ſchrieb auch: 
„Les interöts des princes* Köln 1666, „Trait& du gouvernement des treize can- 
tons“ Par. 1644, „Discours politiques“ Par. 1693, „Mömoires et lettres sur la 
guerre de la Valteline*, 3 Bande, Genf 1787. Seine Tochter Marguerite vermählte 
fih mit Henry v. Ghabot. Den Beflg der Büter ihres Vaters beflritt ihr aber ihre 
Mutter, melde behauptete, daß ein Sohn ihres Gemahls eriftive, deſſen Geburt ver- 
Beimlicht worben ſei, damit er den Nachftelungen Richelien's entgebe. Da aber die⸗ 
fer angeblige Erbe am 1. Febr. 1649 Hei Vincennes fiel, fo blieben Henri und Mar⸗ 
guerite im Beflg der befrittnen Güter. Ihre Nachkommen nannten ſich R.Chabot. 
Ihr gegenwärtige® Haupt ift Anne Louis Fernand de R.-Ghabot, geb. am 14. Okt. 
1789, cousin du roi, Herzog von Rohan, Prinz von ion, ehemaliger Bair von 
Sranfreih und marechal de camp, bis zum Jahre 1830. Der zweite Sohn des 
Mens II. Benjamin, geb. 1589, wurde als Erbe feiner Mutter Prinz von Soubife 
genannt. Er diente zuerft unter Morig von Oranien in den Niederlanden, fpäter 
unter Gonde. Seit 1611 leitete er mit feinem Bruder die Angelegenheiten der pro⸗ 
tefkantifchen Partei, und betheiligte fly mit großer Energie an den Weligiondfriegen 
feiner Zeit. Nach dem Falle Rochelle's ging er nah England und flarb 1642 zu 
London kinderlos. Güter und Titel des Hauſes Soubife gingen nad feinem Tode 
auf Frangois v. R. über (f. Sonbiſe). 1714 verwandelte Ludwig XIV. die Güter 
dieſer Linie in ein Herzogtfum Rohan⸗Rohan; fie flarb 1787 auf. — Louis Roͤnsé⸗ 
Edouard Prinz von R., geb. am 23. Sept. 1734, wurde früh zum Großalmofenier 
von Frankreich und Erzbiſchof von Straßburg ernannt. Als franzöflicher Geſandter 
In ®ien zog er ſich durch unfittlichen Lebenswandel und fatyriiche Einfälle das Miß⸗ 
fallen der Kaiſerin Maria Therefla zu, welches auch auf den franzdflichen Hof zurück⸗ 
wirkte. Als Ludwig XVI. den Thron beftiegen hatte, wurde R. zurüdberufen und 
ließ fich Hier in die Bekannte Halsbandgeſchichte (ſ. d.) verwideln. Er 'verlor 
feine Würde als Almofenier und wurde in fein Bistum vermiefen. 1789 wurde er 
in die Generalſtaaten gewählt, erfüllte aber die Erwartungen feiner Wähler nicht. 
Er widerſetzte ſich vielmehr der Einführung der neuen kirchlichen Orbnung, welche 
damals bdecretirt wurde, in feinem Sprengel. Er mußte fi deshalb nad Deutfchland 
zurüdziehen und legte 1801 feine Würde als Erzbifchof nieder. Er flarb zu Etten- 
beim am 16. Febr. 1802. Vol. Griffet, Histoire de Tancred de R., Lüttich, 1767, 
und Fauvelet du Toc, Histoire du duc Henri de R. Par. 1667. 

Nohmer (Briedrich), deutfcher Vublicift, geboren den 21. Februar 1814 in der 
fraͤnkiſchen Stadt Welßenburg, wo fein philofophifch gebildeter Vater Pfarrer war. 
Nachdem er das Gymnaſtum zu Ansbach befucht Hatte, widmete er ſich auf der Mün⸗ 
chener Univerfität feit 1832 dem Studium der Philoſophie. Anfangs von Schelling 
angeregt, fuchte er ſich fodann feinen eigenen Weg, glaubte auch eine neue Grundlage 
der Philoſophie gefunden zu haben und veröffentlichte feine Weltanfchauung in der 
Särift: „Anfang und Ende der Speculation" (München 1835). Als fein Haupt« 
wert M das Buch: „Deutfchlands Beruf in der Gegenwart und Zukunft” (Zürich 
und Winterthur 1841) zu betrachten, deſſen finfiftifhe Medaction feinem jüngeren 
Bruder Theodor angehört. Es iſt dies eine Rhapſodie Über die Zukunft Deutſch⸗ 
lands, über welche wir uns bereits im Artikel I. Fröbel ausgefprochen haben. Mit 
Legterem fland er, als er ſich 1841 nad Zürich begeben hatte, in enger Verbindung, 
welche ſich jedoch noch in demfelben Jahre in einen leidenſchaftlichen Federkrieg auf- 
löfle. Nur kurze Zeit betheiligte er fih an der Medaction de gegen den Radicalis— 
mus gerichteten „Beobachterd aud der öſtlichen Schweiz" und legte damals den Grund 
za feiner pſychologiſchen Conſtruction der politifchen Bartelen und zur Parallelifirung 
derfelben mit den LebenBaltern des Menfchen. Diele Eonfiruction, melde, wiederum 
son feinem Bruder Theodor fiyliftifch zubereitet, unter dem Titel: „Lehre von den 
pofitifchen Varteien,“ 1844 in Zürich erfchien, war befonderd gegen den Radicalis⸗ 
mus gerichtet. Nachdem er fich indefien felt dem Ende des Jahres 1842 In Münden 
niedergelaflen und in den nächften Jahren darauf mit Öflerreichifchen, bayrifchen und 
preußifchen Miniftern in Berührung gekommen war, glaubte er den Hauptfeind der 
gedeihlichen Entwidelung des Staatélebens vielmehr in dem Abſolutismus der Regie⸗ 


282 Röhr (Johann Friedrich). 


rungen und in dem Ultramontanismus zu entdecken. In dieſem Sinne ſprach er ſich 
1846 in feiner „Meinungsäußerung gegen den Ultramontanismus“ und in der „Denf- 
ſchrift über den Einfluß der ultramontanen Partei in Bayern" aus. Das Jahr 1848 
gab ihm Anlaß zu einer Schwenfung nad dem focialen Gebiete bin, und es erfchten 
im März jened Jahres die von feinem Bruder redigirte Schrift: „Der vierte Stand 
und die Monardyie,” in weldyer er auszuführen fuchte, daß Die Krone und der vierte 
Stand anf einander angewielen find und bie Initiative für den vierten Stand die 
Srundlage der Monardie if. Noch in demſelben Jahre erfchien feine Schrift: 
„Deutſchlands alte und neue Bureaufratie mit einem offenen Worte über dad gegen« 
wärtige bayriſche Miniſterium,“ in melcher er die bureaufratiiche Megierungdmethode als 
den Mechanismus fehilderte, in weldem der Organismus untergebt. Im April 18949 
empfahl er in einem Sendfcreiben an das bayriſche Minifterium die Annahne ber 
deutfchen Reichsverfaſſung, ohne die Mängel der Iegteren zu verfchweigen. Als bie 
Regierung auf diefe Idee nicht einging und die Neaction gegen die Bewegung von 
1848 begann, trat er derfelben im Anfang des Jahres in der Schrift entgegen: 
„Bayern und die Reaction. Für deutfche Freiheit und bayriſche Ehre.” Im den letz⸗ 
ten Jahren feines Lebens fuchte er feine theologifchefpeculativen Arbeiten zu Ende zu 
bringen. Kurz vor feinem Tode (er flarb zu Münden den 91. Juni 1856) hatte er 
die Genugthuung, die von feinem Bruder Theodor verfaßte „Kritif des Gotteöbegriffs 
in den gegenwärtigen Weltanfihten” (Nördlingen 1856) zu lefen. Sein Bruder flarb 
bald Darauf, den 12. December 1856. Sein GBottesbegriff murde in den Schriften: " 
„Bott und feine Schöpfung” (Nördlingen 1857) und „der natürlide Weg zu Bott“ 
(ebendafelbft 1858) von einem Freunde veröffentlicht. ine Skizze feines Lebens Hat 
Bluntſchli, der, wie Bröbel, mit ihm in enger Verbindung geflanden hatte und, wie 
dieſer, Nachwirfungen feiner Anregungen verrätb, in dem „deutſchen Staatswoͤrter⸗ 
buche“ (Band VII, pag. 643 und flg.) gegeben. Das ungeoronete Leben R.'s und 
fein ſeltſames Benehmen brachte ihn zu einer Iſolirung, die jedoch, dba ihm die gründ«» 
liche wiſſenſchaftliche Vertiefung nicht gegeben war, ziemlich unfrudytbar blieb; fein un⸗ 
geheures Selbſtbewußtſein aber gab ihm eine jchädliche pfeudo » mefllanifhe Haltung, 
erregte in feinen &reunden Erwartungen, die er nicht befriedigen Fonnte, und reiste 
feine Gegner zur Abfaſſung eben nicht fehr geiſtvoller Basquille. 

Röhr (Johann Friedrich), der Firchliche Vertreter des deutſchen Rationalismus, 
geb. den 30. Juli 1777 zu Roßbach bei Naumburg, erhielt ſeit 1790 auf Schul⸗ 
pforta feine Schulausbildung und ſtudirte feit 1796 die Theologie anf der Univerfität 
Reipzig, wo er fih auch mit Kantifcher Philoſophie beichäftigte. 1802 ward er Col 
laborator in Pforta, 1804 Pfarrer von Oſtrau bei Zeig, 1820 erhielt er den Ruf 
als Ober - Pfarrer nah Weimar, und das Staatsminifterium fügte dazu die Würde 
eines Ober- Hofpredigerd, Ober-Eonfiftoriale und Kirchenraths und General-Super- 
intendenten. 1837 ward er DVicesPräfldent des neu organifirten Landes⸗Conſiſtoriums 
und flarb zu Weimar am 15. Juni 1848. Sein theologifches Hauptwerk find die 
„Briefe über den Rationalismus“ (Zeig 1813), von welchen 1814 zwei neue Aufe 
lagen erichienen. Die Charakteriſtik diefes Werkes läßt fid in dem Sag erichöpfen: 
daß es das Chriftentbum aus einem Glaubensſyſtem zu einer reinen oder abftracten 
Religton macht, in welcher der Menjch mit feiner natürlichen Vernunft fi vom Dafein 
Gottes überzeugt und für ſich felbft nach reiner Sittlidykeit ſtrebt. Für dieſe ratio« 
naliftifche Anſicht dat das Chriſtenthum nur noch einen hiftorifchen Werth, jofern es 
in der Hülle jeiner Glaubensſätze jene reine Religion durch die Zeiten getragen, aber 
feinen geichichtlichen Dienft vollendet Hat und zur bloßen Vergangenheit geworben ift, 
nachdem die Vernunft die reine Lehre vom Dajein Gotted und feinen Eigenfchaften 
aus jener Hülle bervorgezogen bat. Ebenfo zieht der Mationalifl aus den evangelis 
fhen Nachrichten von Chriſto, indem er die Anfichten, welche die Evangeliften mit den 
von ihnen berichteten Thatſachen vermilcht haben, von dieſen abfondert, das Bild des 
Menfchen Jeſus hervor, der nach diefem Scheidungsproceß nur noch ald Beifpiel für 
das fittlihe Streben der Aufgeklärten dienen Fann. Diefe nüchterne Anficht bat R. auch 
in feinen „Grund- und Glaubensjägen der evangelifch - proteflantifchen Kirche" (Neu⸗ 
ſtadt a. d. O., 1833 bis 1344, drei Auflsgen), fo wie in feinen „Chriſtologiſchen 


Noland de la Platiere (Iran Marie Vaptifte). 283 


Bredigten oder geiftliche Reden über dad Leben, den Wandel, die Lehre und bie Ber» 
dienſte Jeſu Ehrifti” (Weimar 1831 erfie Sammlung, 1837 zweite Sammlung) vor- 
getragen. Vorwiegend moraliſcher Tendenz find feine übrigen Bredigten, die in zahl⸗ 
reihen Sammlungen vorliegen, z. B.: „Chriſtliche Feſt⸗ und Gelegenheits-Predigten, 
vor einer Landgemeinde gehalten” (3 Bochn. Zeig, 1811, 1814, 1820); „Predigten 
üßer die Sonn- und Feſttags⸗Evangelien“ (3 Bde. Neuftadt a.d. O., 1822—1826); 
„Predigten über freie Ierte* (2 Bde. Weimar und Magdeburg, 1832 und 1840); 
ferner in dem von Ihm, Schuderoff und Schleiermacder herausgegebenen „WRagazin 
für Feſt⸗, Belegenbeits- und andere Predigten” (6 Bde. Magdeburg, 1823-1828) 
und in dem von ihm nach Tzſchirner's Tode redigirten „Magazin für chriftliche Pre⸗ 
Diger” (Band 1—19, Hannover, 1828—1846). Der Vertbeidigung feines Rationa⸗ 
liamus und dem Kampf gegen das, was er Myſtik, Pietismus, Buchfläblerei u. f. w. 
nannte, d. h. gegen Bie kirchliche Confeſſton, mar jein Journal gewidmet, welches unter 
den Titeln: „Brediger-Literatur" (3 Bde. Zeig, 1810-1814), „Neue Prediger- 
Literatur" (2 .Dde. Zeig, 1816—1817) und „Neuefte Prediger⸗Literatur“ (2 Bde. 
Zeig 1818 — 1819) erſchien, endlich als „Kritifche Prediger-Bibliothel* (Neuftadt 
a. d. O., 18201848) fortgeiegt wurde. Legtere Bibliothek bezeichnet zwar den 
Högepunft feined Kampfes, den er fchon begann, als er der Neformationd » Predigt 
Reinhard's (j. d. Art.) fein „Sendjchreiben eines Landgeiſtlichen“ (Leipzig, 1801) 
entgegenfepte; aber in derfelben Zeitfchrift Hat er auch in den verfchiedenen Wendune 
gen feines Streits die Zengniffe feiner Niederlagen rubriciren müflen. Dem Kampfe 
gegen Harms, Hengftenberg, Rudelbach u. ſ. w., ferner gegen Daub und Marheineke, 
endlich gegen Die jüngere Hegel’iche Schule waren jeine Kräfte nicht gewachſen. Seine 
entfchiedenfte Niederlage erlitt er, als er mit dem von fpeculativen, orthodoren und 
belletriſtiſchen Auflügen verichönerten Rationalismus des Jenenſer Profeflors Karl 
Auguſt Hafe (geb. den 25. Aug. 1800) anhand und in feiner „Prediger-Bibliothef“, 
deſſen „kHutterus redivivus“ und „Lehrbuch der Kirchengeichichte" angriff. Haſe ant« 
wortete ihm darauf in wirkjamer Weife in feinen „Theologiſchen Streitfchriften” 
(zwei: Hefte, Leipzig, 1834, 1936). Bon den andermweitigen populären Schriften R.’3 
IR noch zu erwähnen: „Palaͤſtina oder biftorisch-geographiiche Beichreibung des fübifchen 
Landes zur Zeit Jeſu“ (Zeig, von 1816 bis 1845 acht Auflagen). 

Nelaud de la Platiere (Jean Marie Baptifte), girondiſtiſcher Miniſter zur Zeit 
des franzöflihen Revolution, geb. 1732 zu Billefranche bei Lyon aus einer herab⸗ 
gefommenen Magiftraturfamilie. Der legte von fünf Brüdern, verließ er als junger 
Meunſch von neunzehn Jahren daB elterlihe Haus, um fi auf eigne Hand in der 
Welt zu verfuchen. In Rouen nahm ihn einer feiner Verwandten, Inſpector der 
Ranufacharen, in diefen Bermaltungdzmweig auf, in dem er es ſelbſt zu einer Inſpector⸗ 
Belle brachte. Studien und Gerchäftsreifen füllten mechfelämeije feine Zeit aus. Sein 
Intereffe für Dokonomie und Handel machte ihn auch zum Schriftfieller. Seit 1779 
Hs 1784 erfchien von ihm eine Reihe von Denkichriften über Schafzuht, Wollen- 
Gultur, Wolleufloffe und Sammifabrikation, über Torfgräberei; für die Encyclopedie 
methodique fchrieb er in drei Bänden fein Diclionnaire des manufactures et des 
arte. Gr war General-Infpector zu Amiens und Hatte die Schweiz und Italien bereift, 
ala er ſich 1779 mit Jeanne Phlipon verbeirathete. Nachdem er mit derſelben eine 
Reife nach England gemacht batte, ſchickte er fie als Unterhändlerin nach Paris, um 
einen Adelsbrief auszuwirken, erhielt aber nur feine Berfegung nad Lyon. Er mar 
Inſpector des Handeld und der Manufacturen des Bezirks von Lyon, als die Revo⸗ 
Iutton ausbrach, die er und feine Frau mit Enthuſtasmus begrüßten. Er ſprach fich 
lebhaft für die patriotifche Partei aus, ward Mitglied der Munieipalität von Lyon 
und gab einen Recueil d’idees patriotiques heraus (Paris 1789). Auch denuncirte 
er die Mifbräudge, die fich in der Finanzverwaltung von Lyon aufgebäuft hatten, 
nnd ward im Februar 1791 als anßerordentlicher Deputirter nach Parts geichict, 
um der conflituisenden Verſammlung über die Lage jener Stadt, wo die Fabriken 
feierten und 20,000 Arbeiter brotlos geworden waren, Bericht zu erftatten. Brifjot, 
mit dem er fehon vorher in Correſpondenz geflanden hatte, machte ihn mit Pethion, 
Buzot, Robebpierre und anderen Häuptern der Patriotenpartei bekannt, Nach einem 


284 Roland de In Platidre (Jean Marie Baytifte). 


ftebenmenatlidhen Aufenthalt in Paris kehrte er nach Lyon zurüd und filftete daſelbſt 
einen Jakobiner⸗Club, begab fidh aber bereits im December wieder nad Paris, um 
nach der Aufhebung der Manufactur-Infpectionen, welche die conftltuirende Berfamm- 
lung furz vor ihrer Auflöfung angeordnet hatte, um eine Penflon anzufalten. Seine 
Frau begleitete ihn und mit ihr knüpfte er durch Vermittelung Briffot’8 ein enges 
Verhältnig mit den Führern der legislativen Berfammlung an. Briffot verfhaffte ihm 
auch in dem girondiftifchen Minifterium, welches er im März 1792 zu Stande brachte, 
die Stelle des Miniſters des Innern. Der firenge PButriot, der bei feinem erften 
Auftreten in ben Tuilerieen durch feine Schuhe ohne Schnallen und durch feinen 
runden Hut Senfation gemacht hatte, ließ fich lange Zeit durch die Kunft, mit welcher 
Zudwig XVI, mit jedem Minifter über feine Lieblingsintereffen, und durch die wohl⸗ 
meinende und verfländige Bonhommie, mit ber er über die Angelegenheiten im Allge⸗ 
meinen zu plaudern und zu diöcurriren wußte, völlig bezaubern. Als es aber zur 
Kriſis kam, die wir bereitd im Art. Girondiften (Band 8 S. 373) gefchildert 

baben, und der König die Befchläffe der legislativen Berfammlung nicht fanctionie ' 
ten mollte, kam R. außer fih und fchidte er jenen von 10. Juni datir⸗ 
ten und von feiner Frau verfaßten Brief an den König ab, in weldem 
er zum Schluß in den, pathetifchen Ausruf ausbriht: „Gerechter Himmel, 
Haft du alfo die Mächte der Erde mit Blindheit geichlagen und werden fie niemals 
einen andern Rath haben als folchen, der fle in ihren Ruin führt!" Ludwig ant« 
wortete mit der augenblidlichen Entlaffung des girondiftiichen Minifterlums. Der 10. 
Auguft gab R. mieder das Portefeuille des Innern, flürzte ihn aber auch in den 
Kampf gegen die Barifer Gemeinde, Nobespierre (j. d. Art.) und die Bergpartet, 
für den feine Kräfte nicht außreichten. Er war beftändig gereizt und verfiimmt wie 
feine Parteigenofien und betheiligte ſich auch an den fhmächlichen und zagbaften Ver⸗ 
fuchen vderfelben, den König zu vetten. Am 20. November überbrachte er um fünf 
Uhr Nachmittag dem Convent ein Bündel Papiere, die er am Morgen dieſes Tages 
in einem geheimen Wandfchranf in den Tuilerieen vorgefunden hatte; der Schloffer, 
fagte er, den Ludwig bei der Anfertigung des Schrankes verwendet hatte, habe ihm 
das Geheimniß verrathen. „Die Papiere, bemerkte er ferner, fchienen ihm ſowohl 
durch ihre Natur ald durch den Ort, wo fie gefunden worden, von jehr großer Wich- 
tigfelt. Er glaubt, daß fle Im Stande fein werden, auf die Revolution des 10. Aug., 
auf die ganze Mevolution und die Perfonen, die in ihr die hervorragendſte Molle 
gefpielt haben, ein fehr bedeutendes Licht zu werfen. Einige Glieder der conftituiren« 
den und der geſetzgebenden Verſammlung fcheinen durch fie compromittirt zu ſein.“ 
Er Hatte alfo von den Papieren, ebe er fle dem Gonvent überbradyte, volländige 
Einfiht genommen; feine Pflicht wäre es gewefen, fie in Gegenwart der Convents⸗ 
Gonmiffare, die mit der Kontrolle über die Papiere der Tuilerieen beauftragt waren, 
aus dem Schrank nehmen, über fle ein Protokoll aufiegen und fie dann verfiegeln zu 
lafien. Er batte fie privatim aus dem Schranf genommen, yrivattm durchgelefen, 
alfo auch geſichtet. Bloßgeftellt durch vdielelben waren nur Männer wie Mirabeau, 
Barnave, Lameth u. f. w.; mas von der Correſpondenz der Girondiften dem Convent 
vorgelegt wurde, konnte ald Zeugnig des Patriotismus, mit dem fle dem Hof zum 
Guten zu rathen gefucht hatten, gedeutet merden. Die ganze Ungelegenheit Tann nur 
fo erklärt werden, daß der König durch die Vertrauten, die zwifchen ihm und der 
Bironde als Unterhändler dienten, dem Minifter das Geheimnig des Wanbfchrantes 
entdeckte; die Abfiht war, durch die Verhandlungen über die Papiere den Proceß 
des Königs fo lange binzuziehen, bis die militärifchen Angelegenheiten an der Grenze 
eine Wendung nähmen, welche Dumouriez den Marſch gegen Barid zur Befreiung 
des Gefangenen im Temple möglich machten. Die firenge und felbft herbe Biederkeit, 
die N. ſelbſt an fi rühmte und feine Freunde an ihn priefen, machte ihm alje die 
Theilnahme an einer Intrigue, Die noch dazu durch das Ungefchid feiner jo eben au⸗ 
geführten Ausfage vor dem Gonvent vereitelt murde, nicht unmöglih. Der 2. Juni 
ftärzte ihn mit feinen Genoſſen; er entflob aus Paris, während feine Frau blieb und 
der Todesgefahr trogte. Er blieb fünf Monate lang in einem Verſtecke zu Rouen; 
als er die Nachricht von der Hinrichtung feiner Frau erhielt, verließ er am Abend 


Rolandsfage (bie). 285 


bes 15. November 1793 Rouen, fchlug den Weg nad Paris ein, durchbohrte ſich 
aber fchon vier Lieued von Mouen am Rande eines Brabend gegen einen Baum 
gelehnt die Brufl. Ein Billet in feiner Tafche fagte, wer er wäre; er nannte fid 
in diefen Zeilen einen „tugendbaften und bonetten* Bann. — Seine Frau 
Manon Jeanne, geb. 1754 zu Paris, die Tochter eines Kupferſtechers Phlipon, 
erhielt eine forgfältige Erziehung. Zeichnen, Mufll, Gefchichte befchäfttgten fie ſchon 
als Kind; im neunten Jahre las fie den Plutarch und fchmärmte für deffen Helden; 
dann bat fie ihre Mutter, fe auf einige Zeit in ein Klofter in der Vorſtadt Saint- 
Marcel zu fhhiden, wo fie fih für den Katholiciömus begeifterte; in's Haus ihres 
Baters zurückgekehrt, trieb fie Phyſik und Mathematik, warb Zweiflerin, Garteflanerin, 
Janſeniſtin, Stoikerin, endlih Deiflin; die Lecture von Roufſeau's „neuer Heloiſe“ 
gab ihrem Geiſte eine neue Richtung, und in Roland, den ihre Vater Anfangs nicht 
zum Schwiegerfohn haben wollte, fand fie endlich den Vernunft- und Tugendmenfchen, 
der dem einen der beiden Helden von Roufſeau'd Roman entfprach. In den wechfelnden 
Wirkungdfreifen defielben war fle fein Mitarbeiter, Copiſt, Schreiber, Berather und 
Ideenerzeuger. Sie bat jenen Brief vom 10. Juni 1792 verfaßt und durch das 
ungeberdige Pathos deſſelben den erflen Sturz der Gironde verfchuldet, wie dieſe 
Partei durch Die weibifche Gereiztheit ihrer Mitglieder und durch ihre Schwäche, in 
der Welt immer nur auf ärgerliche Beriönlichkeiten zu floßen, ihren definitiven Sturz 
herbeiführte. Dan fagt, daß fie in dem Kreis der jungen Girondiften, die ſich in 
ihrem Hauſe verfammelten, auch den zweiten Helden des Mo..ffeau’fchen Romand ger 
funden Habe, aber man kann nicht einmal beflimmt angeben, ob es Barbarour oder 
ein Anderer war, und Fann daher die ganze Sache unentſchieden laſſen. Nach der 
Flucht ihres Mannes verhaftet, wurde fie am 8. November 1793 hingerichtet. „DO Brei« 
heit, fol fie auf dem Gange zum Schaffott, beim Vorübergehen vor der Bildfäule 
der Freiheit, ausgerufen haben, melde Verbrechen begeht man in deinem Namen,” 
wie ihr Mann in dem Schluß fened Todeszetteld fagt, daß er „nicht länger auf einer 
von DBerbrechen befubelten Erde habe weilen wollen”. 1795 erfihienen ihre Memoiren 
unter dem Titel Appel à liınparliale posterite, doc find Ddiefelben, die auch in die 
Sammlung der Memoires de la revolution francaise aufgenommen find, unddt. Im 
Sommer 1864 haben zu Paris zwei Buchhändler gleichzeitig die vermeintlich Achten 
Memoiren herandgegeben. Außer mehreren Eleineren Auffägen bat fle vor dem Bes 
treien der politifchen Laufbahn ihre Voyages en Angleterre et en Suisse veröffent« 
Kt. Die von ihrem Mann 1782 zu Amfterdam in 6 Bänden herausgegebenen 
Leitres ecrites de Suisse, d’Italie, de Sicile et de Malle find an file gerichtet. 
Rolandöfage (die), deren Mittelpunkt Karl der Große if, war eigentlih nur 
bei den Branzofen und wohl niemals dieſſeit des Rheines heimifch, über den fie erfi 
in remanifhen Werken und nit vor dem zwölften Jahrhundert zu uns herüberge⸗ 
kommen zu fein fcheint, Außer der Artusfage bat fein anderer Sagenftoff der Wille 
Tür einzelner Dichter und Erzähler fo dienen müſſen, ald gerade dieſer; denn eine 
Menge Gefchichten von Karl den Großen gehören gar nicht mehr der eigentlichen 
Sage an, fondern find reine Willfür fpäterer Erzähler, welche ihre geradezu erfun⸗ 
Denen oder anderöwo gelefenen und gehörten Abenteuer auf Perfonen aus Karls 
Kreife übertrugen. Der Held der Sage, Roland, fommt in den mwidhtigften be- 
glaubigten Quellen der wirklichen Gefchichte Karl’d gar nicht vor. Nur im Chron. 
Zaurifh. bei Freher „scriptores rerum Germanicarum“ (I., 59) ift er genannt, und 
in Einhard's „Vita Garoli M. (9) Heißt er Hruodlandus, britannici limilis praefectus, 
der mit verfchiebeuen anderen Grafen bei der Nachhut eines fränkiſchen Heeres in den 
Pyrenäen von. den Basken überfallen und getöbter wurde. Die Sagen oder Lieber 
von Roland haben Sammlung und Aufzeichnung gefunden in einer unter dem Namen 
Turpin’s um das Jahr 1095 abgefaßten Lateinifchen fogenannten Chronik, dieſe 
Chronik Hat Friedrich Schlegel in deutſche Romanzen aufgelöft „Roland ein Helden 
gedicht in Romanzen nach Turpins Chronik“, in den Gedichten Br. Schlegel’8, Ber- 
In 1809, S. 159-236: Durd den Chanson de Roland oder de Roncevaux fam 
die Sage auch nach Deutfchland. Hier brachte ein Weltgeiftlicher, Namens Konrad, 
einen ber mannichfachen wechſelnden Texte der franzöflfchen Dichtung zuerfi in's La⸗ 


236 Rolandöfäuien. 


teinifche, daraus dann in deutfche Verſe, das fogenannte „Ruolandes list“, gedichtet 
zwifchen 1173 und 1177. (Seraudgegeben von W. Grimm, Göttingen 1838). Im 
dreizehnten Jahrhundert machte ein namhafter Dichter, der Strider, dieſes Lied den 
Liebhabern gerecht durch glättende Erneuerung und frifche Zuſatze. (Herausgegeben 
von Bartich unter dem Titel „Karl der Broße*.) 

Molandsfänlen oder Rulandsbilder find riefige Bildſäulen, die in vielen Städten, 
Marfifleden und Dörfern des noͤrdlichen Deutſchlands von Thüringen bid gegen 
Schleswig, fo wie durch Sachſen, die Marken bis nach Bommern und felbfi 618 
Wefpreußen feit Jahrhunderten flanden und zum Theil noch jept fichen, „früheren 
Geſchlechtern ein Palladium, dem gegenwärtigen ein Räthſel!“ 
Sagenhafte lieberlieferungen knüpfen fi) an die meiften dieſer Bilder, und ſchon feit 
langer Zeit Hat die Wiffenfchaft fidy bemüht, den dunfeln Sinn zu erbhellen, den bie 
Vorfahren in diefelben gelegt. Die Rolandsbilder flellen insgeſammt einen 
aufreht ſtehenden bewaffneten meiftens jugendligen Mann in ge⸗ 
bietender Haltung dar; das Haupt in der Megel unbedeckt, doch aud bebelmt 
oder mit Krone oder Fürſtenhut; die Kleidung iſt der ritterliche Harniſch, bis auf 
wenige einzelne Ausnahmen (Halle, Nordhaufen); ein nie fehlende® Attribut iſt das 
große, gerade, entblößte Schwert, welches meiſtens aufrecht gehalten wird. Alles 
Uebrige ſcheint willkürlich oder nach Iocalen, nicht mehr befannten Motiven bald fo 
bald anders gebildet zu fein. Die Größe ift rieflg, oft 18 bis 20 Fuß Hoch; Pie 
Stelle ded Roland ift in der Regel auf dem Markte, vor dem Rathhauſe und unter 
freiem Himmel, gewöhnlich ganz freiftehend, felten bedacht und an der Mauer befefligt. 
Ueberall verbindet das Volk mit diefen Bildfäulen die Vorftellung, daß dur fie alte 
Rechte, Freiheiten oder Privilegien des Ortes repräfentirt felen; bei einigen (Wedel, 
Bramſtedt) follen bei früherer Erneuerung des Bildes in den zertrüämmerten älteren 
Moland wichtige Pergamente gefunden fein, welche aber und mit ihnen die dadurch 
verbrieft gewefenen Nechte ſeitdem verloren gegangen; fonfliger Sagen und Wunder, 
die daran gefnüpft werden, nicht zu gedenken. Die Brage nach der urfprünglichen 
Bedeutung und Abficht Diefer Bilder bat zu vielen gelehrten linterfuchungen Anlaß 
gegeben, die zwar noch nicht zum völligen Abſchluß gediehen find, aber doch Folgen» 
des als ausgemacht annehmen laſſen. Das Rolandsbild kommt allgenıciu ale Wahr⸗ 
zeichen von drei Gerechtſamen vor, welche ſeit den erſten Zeiten der Städtegrün⸗ 
dung in Deutſchland Das jurifliihe Weien einer Stadt ausmachten und von denen 
feine fehlen durfte, nämlich das Recht, ein Gericht in der Stadt zu Haben, das 
Marktrecht und die Freiung (immunitas) von der Gerichtöbarkelt des auswärtd 
tagenden Land⸗, Zente und Behmgerichted. Das Bild war alfo Gerichts⸗, Markt⸗ 
und MRundatfäule Keine diefer Gerechtfame jept nothwendig die Reichſsfreiheit 
voraus, und die Anficht iſt unbegründet, daß in dem Moland immer ein Wahrzeichen 
biefer letzteren Eigenſchaft zu finden fei; biefe wird auch durch dic Thatfache wider⸗ 
legt, daß es an vielen, niemals reihöfrei gewelenen Orten dergleichen Standbilder 
giebt. Die in denfelben dargeftellte Berfon iſt nicht, wie der Name angudeuten ſcheint, 
der ruhmreiche Paladin Karla des Großen, fondern der König oder der Kaifer 
felbR in feiner Function ald Richter. Welcher Kaiſer? darüber gehen die Meinungen 
eben fo ſehr auseinander wie über bie Zeit der erfien Errichtung von NRolandsjäulen, von 
denen wohl Faum einige, jedenfall nur fehr wenige noch die urfprünglich aufgerichteten 
find. Die älteften werben als in die Zeit der Ottonen aus dem ſächſiſchen Haufe fallend 
angefeben und als Urbild wird Otto Il., der Rothe (955—983), angenommen. 
Einzelne Rolandsfäulen flellen übrigens ausgefprochenermaßen Karl den Großen vor 
(Wedel). Bon jenem Beinamen Otto's, von der rothen Farbe aller Symbole des Blut. 
gerichteß, von der Benennung rothe Erde für die Stätte, auf welcher bei den weR- 
fälifchen Behmgerichten dad Blutgericht gehalten wurde, und bie auf die Form Roth 
Land hinweiſt, leitet Zoenfl (Alterchümer des deutſchen Reichs und echte, Bd. IH.) 
die Entflebung des Namend Roland oder Ruland als Bezeichnung diefer Bilder «ab, 
welche im 15. Jahrhundert, in allgebräudjlicher barbarifch- Tateinifcher Ueberfehung 
„Columnae Rolandi* genannt und durch Rißverſtand für Standbilder des Tarolingifcyen 
Palatins Moland ausgegeben wurben. Aus forgiamer Beachtung ber verſchiedenen, 


Nolle (Johann Heinrich). Nollenhagen (Beorg). 287 


zu dieſen Bildfäulen oder einzelnen berfelben in Beziehung ſtehenden Volksſagen, Ge⸗ 
bräuchen und urfundlichen Nachrichten ergiebt fich, daß auf die Rolandébilder manchet 
aus dem Heidenthum übertragen worden iſt, was theild an den Schwertgott Tyr, 
theils an den Frö, den Freyr und Chrödo, ja felbfl an Wuotan erinnert, und man 
fann hierin eine Befätigung der Annahme finden, daß diefe Bilder kurze Zeit nad 
der Zerfiörung des Heidenthums entflanden fein müſſen. Genaueres über einzelne 
Nolandöbilder mitzutheilen, müflen wir uns des Raumes wegen verfagen. Zocpfl Hat 
a. a. O. eine fehr reiche Sammlung von Sperialnachrichten, zum Theil mit Abbildungen, 
gegeben, in welcher folgende Drte, als im fegigen oder früheren Beflge folcher Denk⸗ 
male aufgeführt find; nur an den hier geſperrt gedrudten Orten ſtehen die Bilder 
noch jeht. 1) Niederjfaͤchſiſche Gegend, Holftein und Ditmarfchen. Bremen, Ham⸗ 
burg, Wedel, Bramftedt, Nücel, (Melvorf), (Sude). 2) Ehemaliges Fürften- 
thum Magdeburg, Altmark, Provinz Sachſen, Fürſtenthum Anhalt, Markgrafichaft 
Meißen, Königreich Sachſen, Thüringen, Harz Magdeburg, Halle a. d. ©, 
Galbe a. d. S., Queſtenberg, Halberfladt, Quedlinburg, Nordhauſen, 
Erfurt, Breiberg, Belgern, Zerbſt, Burg, Zieſar, Buch, Stendal, 
Salzwedel, Sardelegen, Neuhaldensleben, Böhmenzien, Braunſchweig, (Brafel). 
3) Mark Brandenburg, Priegnig, Udermarf. Brandenburg, Berlin, Jüterbog, 
Finfterwalde, Reichenwalde, Neuſtadt im Stift Cöln, Nigow, Perleberg, Anger 
mände, Boglow, Prenklau. 4) Gegend jenfeit der Oder; Neumark, Pommern, 
Provinz Preußen. Zehden, Königäberg i. d. Neumark, Polzin, Elbing. Außer dieſen 
nennt Zoepfl noch eine Anzahl zmeifelhafter Molandöbilder und ungemwiffe angeb⸗ 
liche Rolandsorte. In Betreff des Molands zu Magdeburg fl zu bemerken, daß bie 
daſelbſt befindliche Neiterflatue Kaiſers Otto 1. zuweilen irrtümlich für einen „reitens 
den Roland” ausgegeben wird. Dad wahre Molandsbild diefer Stadt fland unweit 
dieſer Statue bis zur Zerflörung Magdeburgs 1631 und ift beim Wiederaufbau nicht 
erneuert. Sein ehemaliger Standort foll durch eine längliche, in das Steinpflafter 
eingelegte Steinplatte bemerklich gemacht fein. 

He (Iobann Heinrich), namhafter Kirchencomponiſt, geboren am 23. Decem⸗ 
ber 1718 zu Quedlinburg, wurde von feinem Bater, der 1721 einen Auf als Wuftf- 
Director nadı Magdeburg erhalten hatte, in den Anfangsgründen der Muſtk unter- 
richtet und machte in dieſer Kunft fo ſchnelle Hortichritte, daß er ſchon in feinem 13. 
Jahre ein vollſtimmiges Kirchenftüd componirte, welches fein Vater öffentlich auf⸗ 
füßzte, und im 14. Jahre Organiſt an der Peterdfirche zu Magdeburg wurde. Dabei 
fegte er feine Schulftubien fort und bezog 1736 die Aniverfität zu Leipzig, wo cr die 
Rechte fludirte. Im Iahre 1740 begab er ſich nad Berlin und trat als Rammer- 
mufifus in königliche Dienfle. Im Jahre 1752 erhielt er die Stelle feines Vaters in 
Magdeburg; Hier flarb er am 29. December 1785. Seinen Ruf begründeten haupt- 
fächlicy feine Oratorien „Abeld Tod", „Saul, „Abraham auf Moria”; auch come 
ponirte er viele vierfimmige Motetten, von denen mehrere noch jetzt zu den trefflich- 
flen gehören. 

Aollenhagen (Georg), deuticher Dichter und verbienter Schulmann, geboren am 
22. April 1542 zu Bernau, befuchte Die Schule zu Prenzlau und das Magveburger 
Gymnafium, fudirte in Wittenberg drei Iahre, worauf er 1563 zum Reetor der Jo⸗ 
hannisſchule in Halberfiadt ernannt wurde. Diefes Amt bekleidete er nur zwei Jahre, 
denn 1565 bezog er als Hofmeiſter eined jungen Mannes wiederum die Univerfltät 
Wittenberg, und diefer zweite Aufenthalt fcheint am einflußreichften für fein nachheriges 
Wirken geweſen zu fein, befonderd wurde er Durch feinen Lehrer Veit Ortel, der ale 
Profeſſor der griechifchen Spracde die Batrachomyomachie lad, angeregt.‘ Nach einem 
zweijährigen Aufenthalte daſelbſt lebte er (1567) als PBrivatgelehrter theild in Braune 
fhweig, theils in Goslar und wurde noch in bdemfelben Jahre ald PBrorector nad 
Magdeburg berufen, 1575 erhielt er Dad Rectorat. Seine Tüchtigkeit als Pädagog 
war fo anerkannt, daß er vielfältige ehrenvolle Berufungen als Brofeffor nach anderen 
Schulen und Univerſttaͤten erhielt; aber er blieb feiner Wirkſamkeit als Hector und 
Brediger in Magdeburg treu. Er farb dafelbfi den 21. Mai 1609. R.'s Hauptver⸗ 
dienſt in der Literatur, dad, was feinen Namen eigentlih auf die Nachwelt gebracht 


288 Rolliad. 


bat, iſt das des Dichters. Wir befigen von ihm ein epifches Bebicht, der Froſſch⸗ 
meufeler“, dad zum Theil wirklih dem „Reineke Fuchs“, wiewohl zunächft der Ho⸗ 
merifhen Batrachomyomachie nachgebildet if. Bon beiden Muſtern fommt es ber, daß 
die Bröfhe und Mäufe, und was noch für Thiere in Krieg und Berathung und fonft 
auftreten, Eigennamen nach Art der menfchlihen tragen und nach Menfchenart leben. 
Die Hauptrichtung des Gedichtes iſt eine didaktiſche; R. will aus dem Haushalte der 
Tiere, im Frieden wie im Kriege, eine Lebensweisheit entwideln, die der Menf ohne 
weitered auf feine Berbältniffe übertragen fann, um alddann zufrieden und glücklich zu 
leben. Es beſteht aus drei Büchern, das erfte flellt unter Handlungen und Begeben- 
heiten der Mäufe, Kapen und Füchſe die Sitten des Hausflandes vor; das zweite Buch 
ſchildert das geiftliche und weltlihe Megiment unter der Allegorie von den Berath⸗ 
ſchlagungen der Bröfche; daB dritte Buch giebt die Abbildung des Kriegsweſens in 
einer epifchen Erzählung von dem Kriege der Fröſche und Mäufe In dem ganzen 
Werke berrfcht ein ungemeiner Reichthum fowohl an Weltkenntniß, moralifhen Charak⸗ 
teren und Sprüchen, ald au an Bildern und Gemälden. Was die Sprache betrifft, 
10 ift befonderd Die große Gewandtheit des Dichters in Wortbildungen hervorzuheben, 
die fi namentli In der Ueberfegung der griechifchen und der Bildung von neuen 
Zhiernamen bethätigt. Ein eigentliche® Metrum herrſcht in dem Gedichte nicht, ſon⸗ 
dern jeder Bere if, wie bei Hand Sachs, vollfommen, wenn er eine beſtimmte An« 
zahl Sylben und ein Reimwort enthält. Die Reime find bald klingend, bald flumpf, 
und jede flumpfe Reimreihe beſteht aus acht, jede Elingende aus neun Syiben, bie 
zwar im Allgemeinen einen jambifchen Fall haben, aber durchaus nicht eigentlich ſean⸗ 
dirt werden können, fondern vier Hebungen enthalten, welche jedoch auch auf kurze 
Syiben fallen fönnen. Die erſte Ausgabe des fchon im I. 1566 gedichteten „Brofch- 
meuſelers“ erfchien zu Magdeburg 1595, 8. mit 17 Holzfchnitten; darauf folgten zehn 
Ausgaben bis zum Jahre 1685. Die neucflen Ausgaben find vom Jahre 1730 
(Frankfurt und Leipzig) mit 14 Holzfchnitten, und vom Jahre 1841 (Weſel), veran« 
ftaltet von Noderich Benedir, der aber über ein Viertbeil des Buches weggelaflen 
hat. Bon einer neueren Bearbeitung durch Ch. 2. Stengel (Kin 1796) if nur 
dad erfte Buch erfchienen. ine andere von Guſtav Schwab beforgte Bearbeitung, 
unter dem Titel: „der Froſchmäuſeler oder Befchichte des Froͤſch- und Mäujefrieges 
von Marx Hupfinsholz v. Mäufeloch, der jungen Bröfche Vorfinger (Georg Rollen- 
Hagen). Ein Volksbuch aus dem 16. Jahrhunderte. Mit den nöthigen Abkürzungen, 
fonft unverändert, Heraudgegeben Tübingen 1819* — enthält einen vollfländigen Aus⸗ 
zug, mit Auslaffung alled deſſen, was nicht unmittelbar zur Erzählung des Krieges 
zwifchen den Mäufen und Bröfchen gehört. Bol. Lütcke, „Leben bed Georg R.“ 
(in vr Programmen des Berlinifchen Gymnaſiums zum grauen Klofter, Berlin 1846 
und 1847). 

Rolliad oder mit ganzem Titel Ihe criticisms on the Rolliad ift der Titel eines 
geiftreihen fatgrifchen Gedichts, das 1784 und 1785 erfohien und vom Wbigfland- 
punfte aus die Anhänger Pitt's verhöhnt, ihn felbft aber verfchonen mußte, weil er 
noch feine angreifbare Seite darbot. Mit den „Political eclogues* und den Proba- 
tionary odes bildet e6 einen Fleinen Band, der unzählige Male aufgelegt wurbe. Die 
Hauptverfaffer waren George Ellis, Tickell, Dr. Laurence, General Zigpatrid und 
Lerd John Tomndhend, lauter Mitglieder von Broofs’s Whigelub. Ihr Gedicht 
giebt angebliche Auszüge eines fingirten Heldengedichts und erhielt den Namen R., 
weil e8 an die Perſon von John Rolle, nachmals Lord Holle loſe anfnüpfte Die 
Schönheit der Sprache macht das Gedicht noch heute lesbar. Das Treffende der 
kurzen Gharafterifliten, die oft mit wenigen Bellen die wefentlihen Mängel der Ange⸗ 
griffenen erfhöpfen, Taflen die englifhen Darfteller jener Parteikaͤmpfe behnfs bes 
Schmucks ihrer Schilderungen immer wieder darauf zurück kommen. Gerät wurden 
die Tories durch die jeit 1797 zweimal wöchentlich erfheinende Ephemeride der „Antis 
jacobiner* mit Eanning als Gauptmitarbeiter, und die berühmten Garlcaturen Gillray's. 
Die R. ſowohl als die obengenannte Schrift waren für ariftofratifche Kreife geichrie- 
ben, während die gleichzeitig mit jener auftauchenden und lange fortgelegten, vorzugä- 
weife Pitt herabziehenden Erzeugnifie von Peter Bindar (f. Art. Woltot) ſich durch 


Rollin (Charles). Nom (Stadt). 289 


Grobheit ded Kornes audzeichneten. Ueber die Rolliad ſ. Graf Stanhope life of Pitt 
4. 282--285 und Notes und Queries 1850, vol. II. pag. 114, 242, 373; viele 
Stellen aus ihr in Wraxalt's posthumous memuirs 1836; über den Untijacobiner 
ebendaf. II, ©. 84-89 und den Art. Satyre. 

Nollin (Charles), franzdfifher Hiſtoriker, geboren den 30. Januar 1661 zu 
Paris, erlernte dad Handwerk: feines Vaters, eines Meflerfchmiebes, und war bereits 
unter die Meifter des Meflerfchmiedebandwerfs aufgenommen, als ein dem väterlichen 
Kaufe befreundeter Benedictiner, dem er ald Knabe dfterß bei ber Meſſe diente, Faͤ⸗ 
bigfeiten zum Stubiren bei ihm entdedte. Diefer Ordensbruder verfchaffte dem jun- 
gen R. eine Freiſtelle in dem College des Dix-huit, von wo er zum Studium der 
Theologie in ber Sorbonne überging. Ohne die höheren Weihen zu empfangen, 
übernahm er 1683 eine Profeffur am College Plessis, wurde 1688 Föniglicyer Pros 
fehos am Collöge de France, 1694 und die beiden darauf folgenden Jahre zum 
Mector der Univerfität ernannt, 1699 wurde er Coabfutor des College de Beaurais 
und 1701 in die Akademie der Infchriften aufgenommen. Im Jahre 1712 verlor er 
feine Stelle als Coadjutor, weil er wegen feiner Anhänglichkeit an die Lehre ber 
Janſeniſten den Jefuiten verdächtig geworden war. MR. flarb den 14. September 1741. 
O. gehört zu den Claſſikern der franzöflfihen Literatur; unter der Zahl feiner Be⸗ 
wunderer befand fi auch. Friedrich der Große, welcher öfters an ihn fchrieb. Don 
feinen Werken, die alle für die Jugend berechnet und im einem vortrefflichen Style 
geichrieben find, führen wir an: „Trait& de la maniere d’enseigner et d'éludier les 
belles letires* (4 Bde., Paris 1726-28 und öfters), „Histoire ancienne des Egyp- 
tiens, des Corthaginois etc.“ (13 Bde. Paris 1730--1738; 6 Bde., 1740, 4.), 
„Histoire Romaine depuis la fundation de Rome, jusqu’a la bataille d’Aclium“ 
(16 Bbe., Paris 1739 fl.; 8 Bde, 1740, 4), welche fein Schüler Grevier unter 
dem Titel: „Histoire des empereurs Romains etc.“ (12 Bde., Paris 1750) fort- 
geſetzt hat. Rt.'s gefammelte Werke erfchienen in 60 Bänden (Paris 1807—10) und 
wurden von Buizot (30 Bde, Paris 1820, mit Atlas) und von Letronne (30 Bde., 
Paris 1821), herausgegeben. Aus der „Histoire ancienne“ iſt die „Histoire d’Alexan- 
die le Grand* neu (Münfter 1855) herausgegeben worden. 

Kom (Stadt) Zweimal Haupt der cetvilifirten Welt, weldhe MR. 
einmal durch die Gewalt des abfoluten Staates, das andere Mal duͤrch die Macht der 
Kirche beberrfchte, darf es allein den ſtolzen Titel der „ewigen Stadt” führen, 
während alle andern Städte der Erde nad Löfung ihrer einmaligen Aufgabe für 
Immer geſchichtlich abflarben. Nur Jeruſalem beanfprucht eine allgemeinere Be⸗ 
deutung für die Menfchheit; obwohl nur Haupiſtadt des Kleinen Volkes der Juden, 
war fie der Mittelpunkt des Glaubens an einen Gott, aus welchem dad Chriſten⸗ 
tum bervorging, und diefe Stadt, ein doppeltes Monument der vollfommenften Re⸗ 
ligien Aſiens und Europa's, verdankt ihrem Prineip ein nochmaliges weltgeichicht- 
liches Leben im Mittelalter, neben und in Beziehung auf R. Die Größe ded römi- 
ſchen Reiches Hatte ihre Abbild in der Stadt R. Während ber Mepublif war R. 
durch wenige und einfachemajeflätifche Monumente der Religion, wie des Staates und 
durch die großen Tugenden der Bürger geziert; als aber die Freiheit unterging, ber 
gann mit dem innern Berfall von R. fein Außerer Glanz. Auguftus, im Berein 
nit Agrippa, fchmüdte den Sig der Weltherrfchaft durch folche Bauten, daß er 
fagen fonnte, er babe eine Stadt aus Lehm vorgefunden und aus Marmor laſſe er 
fie zurüd. R. wuchs während der erflen dreihundert Jahre Faiferlicher Herrfchaft in’s 
Rieſige und erfüllte fi mit Tempeln, Portiken, Bädern, Paläften, Luflanlagen jeder 
Art und mit einer fo großen Menge von Standbildern, daß es ein zweiteö marmor- 
nes Volk in fi gu enthalten ſchie. R. war ein Auszug der Weltmonarcdhie und 
Welteultur geworden. Ausgeſchmückt mit den Spolien der geplünderten Provinzen, 
war ed das Pantheon ber Sprachen und Meligionen, die Akademie der Künfte und 
Wiffenfchaften, der Markt aller Erzeugnifie, Genüſſe und Lafler des Menichengeichlechtß. 
Wenn ed von Athen an idealer Schönheit weit übertroffen wurde, fo gab es doch 
nichts, wa® der hohen und ernflen Majefät einer Stadt zu vergleichen märe, welche 
Product wie Monument der Weltgefchichte war. Im Zeitalter der Antonine fland 


Wagener, Staats⸗ u. Gefellih.-Ler. ZIVIL , 19 


290 Rom, (Im Altertfum.) 


die Stadt R. da, die goldene und ewige Roma, als ein prachtvolles Wunber ber 
Erde, audgebreitet über Hügel, welche ihre Marmortempel, Burgen, Paläfle, Oarten 
und Billen dem entzüdten Blide varbuten und von denen fünf, durch eine breite 
Wurzel zufammenhängend, gegen die Mitte der Stadt vorragen und Thäler bilden. 
Noch fieben Jahre vor dem erflen Einbruch der nordiſchen Barbaren in Rom fland 
Claudianus, R.'s legter Dichter, auf dem Balatin, wohin er den Kaifer Hono⸗ 
rius begleitet hatte, warf einen Blid auf dad noch unbeflegte R., und von dem, maß 
er ſah, hingeriſſen, pries er die unfägliche Pracht der greifen Kaiferfladt. Dann aber 
wurde dieſe Niefenblume der Gultur welt, und endlich begann fie zu zerfallen. Die 
langfame Auflöfung R.'s aber ift ein eben fo merfwürbiges Phänomen, mie es feine 
Entwidelung war, und die Seit hatte nicht minderer Anſtrengung nöthig, dieſen Koloß 
zu Rürzen, als fie einft angewandt hatte, ihn aufzurichten. Die Entſtehung von U. 
aud einem in die Mythe verhüllten Keime, fein almähliches Wachſen, endlich die Herr 
fchaft Diefer einen Stadt über die Welt iſt die erflaunlichfte Begebenheit der Geſchichte 
neben der Entflehung und Berbreitung des Ghriftentbums. Dieſes felb zog in bie 
Hauptſtadt der Welt, wie in feinen ibm von der Gefchichte zubereiteten Siß ein, um 
dann aus den Ruinen R.'s die Mirfengeflalt der Kirche hervorzutreiben, welche bie 
moraliſche SHerrfchaft der Welt während bes Mittelalters überfam. Das Ghriften- 
tum, welche den Staat und die Stadt der alten Mömer zerfprengte, bob 
wie aus den Katafomben, feinem unterirbifchen Afyl, ein neues M. hervor. Wie 
Zwillingsbrüder die Gründer des antiken R. gewefen waren, fo mwurben zwei heilige 
Apoflel, Betrus und Paulus, gleihfam die Schöpfer des mittelalterligden M. 
Und auch Diefes wuchs langfam, unter vielen, ja ſchrecklichen Metamorphofen, bi6 es 
zum neuen Saupte des Abenplandes wurde. Jedoch die Schickſale R.'s und der 
Welt wiederholten ſich zwei Mal, und es waren wieber die Germanen, welche im 
16. Jahrhundert Die Herrfchaft des zweiten R.'s zwar nicht flürzten, aber durch einen 
raſch und weit ſich verbreitenden Abfall, namentlih eines großen Theil der germa- 
niſchen Bevölkerung, beichränkten. Aber dennoch, trog feines Verfalles, ift auch das 
jegige R. noch die berrlichfie, die fehenswäürdigfle der Städte. Schon die Natur 
batte die Stelle, mo ſich eine ſolche Stadt erheben follte, als einen Schauplag großer 
Thaten bezeichnet: Feuer und Wafler machten dort in der Urzeit ſich den Boden ſtrei⸗ 
tig und weihten fo den Kampfplag, wo der Krieg um menfchliche Intereflen felten 
aufhören follte. Allerwärts in R.'s Umgegend, wie an vielen Punkten Latium's, bie 
nah Gampanien bin, bedecken Schichten von Tuff, zwiſchen denen andere Schichten 
von vulcanifchen Broden und Gerölle ſich eingelagert hatten, den Boden. Ihre weite 
Auddehnung, ihre Eindringen in die Schluchten der Kalfgebirge und die Trennung 
ihrer Maflen durch eingefchobene Rollſteinſchichten weiſen auf mächtige Waflerfiröme 
und Ueberfchwenmungen bin, wie fle die jegt noch vorhandenen Klüffe und Ströme 
auch bei ihrem bedeutendften Anfchwellen nie bewirken Eonnten. Nur dad Meer mit 
feinen Fluthen Eonnte diefe Erfcheinungen bervorbringen. Aus feinem Schoofe, als es 
noch die Gontinente bededte, müflen ſich Die Vulcane erhoben haben, weldye die Stoffe 
dieſer Tuffſchichte auswarfen. Deutlichere Anzeichen früherer Bulcane find aber 
außerdem noch nachweißbare Ravaflröme, 3. B. am Grabmale der Cäcilia Metella, 
deren Zufammenhang mit dem Albanerberge, ald dem muthmaßlichen Hauptheerbe 
jener Ausbrüche, durch viele und forgfältige Beobadytungen römijcher Bineralogen 
bewielen ifl. Ueberall, wo man genauer nachforfchen fonnte, traf man vulcanifdhe Bil⸗ 
dungen auf Schichten aufliegend, die den Meeresgrund beutlich verrietben. Auf dies 
fem vulcanifhen Boden war das alte R. auf mehreren Hügeln erbaut, die aber wegen 
des vielen Schuttes, der nad) und nach die Thäler außfüllte, jetzt kaum mehr bemerk⸗ 
bar find. So iſt auch die dichterifche Bezeichnung der Siebenhügelflabt (urbs 
septemcollis) — eine Benennung, weldye man wegen aͤhnlicher Hügellage auch By⸗ 
zanz, dem R. des Orients, beilegte — nicht ganz buchfläblih zu verfiehen, um fo 
weniger, ald die Ringmauern der Stadt zu verfähledenen Zeiten erſt weniger, dann 
mehr als fieben Hügel in fi einſchloſſen. Der Haupttheil R.'s lag und liegt 
noch gegenwärtig auf ber Öftfeite des bier gegen 400 Fuß breiten Tiberfluffes; nur 
befindet fi) der gegenwärtig bewohnte Theil faſt ganz im Norden der alten Gtabt, 


“ 


Mom. (Im Alterthum.) 291 


denn das Gapitel macht jegt fo ziemlich die Südgrenze, und Bärten, Weinberge und 
Aderfelder nehmen, außer den Auinen, den füdäftlichen, von den alten Römern bemohn- 
ten Theil ein. Auf der Weflfeite dehnen ſich von Nosden nach Südoſten die Hügel Vati⸗ 
canus und Janiculus. Jenſeit find Drei Hügel zu unterfcheiden, Die noch immer den alten 
Namen tragen; zu oberft an der Nordfeite der Monte Pincio, und am Strome hin 
der capitolinifhe und der aventinifche Berg. ine zweite Bergreihe öſtlich 
von der genannten bilden von Norden gegen Süden die Berge Duirinalis, Ba» 
Iatinud, Cölius; eine dritte endlich ber voiminalifhe und es quiliniſche 
Berg. Romulus, der eine Golonie von Alba Longa an den Tiber geführt haben 
ſoll, Hat vermuthlih die hier uorgefundenen Eleinen Hügelniederlafſungen griechifcher, 
fabinifcher und Hetrurifcher Pflanzer nur erweitert und zum Theil ummallt. Der 
Tiber hieß angeblich in Altefter Zeit Aumon, und daher mag wohl der Name der 
Stadt und des Romulus ſelbſt rühren;'!) die Ableitung von dem griechlichen Worte 
pogpn (Stärke, Macht) ift nur eine Spielerei der fpäteren Zeit. Die aͤlteſte 
Mauer, welde man dem Romulus zufchreibt, Tief vom palatinifchen Berge, ber 
Sage nah dem älteften Theil der Stadt, am Fuße des Aventinus hin bis an den 
Flug, füllte Hierauf den Abſtand zwiſchen dieſem und dem capitolinifchen Berge aus, 
ſchnitt auf der andern Seite den Palatinus von dem Coelius, Edquilinus, Biminalis 
und Quirinalis ab und endigte fih wieder am Bapitol. Umfaffender war die zweite, 
von Servius Tullius angelegte Ummwallung; dieſe fchloß alle die genannten Berge 
von der Oſt⸗ und Südfeite ein, wandte fi unter dem aventinifchen Berge herum 
nach dem Tiber, fegte fi dann auf der Weſtſeite des Fluſſes fort und umfaßte bier, 
bis auf die ſüdliche Spige des Santeulus fortgeführt, in einer geraden nad ber 
Tiberinſel gehenden Richtung alle jenfeit des Tiberd gelegenen Gebäude. So blieben 
der vaticanifche Berg, dad Marsfeld und der pincinifche Hügel von dieſer Ringmauer 
ausgeſchlofſen. Die dritte Mauer endlich, die aurelianifche, erfiredie ſich, vom nord» 
öftlihen Ende des Quirinalis ausgehend, noch weiter nordwärts, begriff fo aud das 
Marsfeld in fi, zog fih bis an den Tiber und fenfeit defielben in meitem Bogen 
um den Batican, wo fie fiy dann an die alte Ummwallung anſchloß. Auf diefem 
Terrain erwuchs nun die mächtige Stadt, von deren Geſchichte im Altertfum wir nur 
zerfireute Fragmente haben, die während der Zeit der Republik nur bier und ba einen 
Einbli in ihre Entwidelung geflatteten, erft nad Auguſtus anfangen häufiger zu 
werden, alfo feit der Zeit, da M. im wahren Sinne der Mittelpunkt der Welt ge» 
werden. Auch unter den Kaiſern find fte noch lange nicht häufig genug, um bie 
reißend fchnellen Veränderungen, welche die Phyſtognomie R.'s fat in jenem Menſchen⸗ 
alter umwandelten, aud nur mit einiger Vollſtändigkeit verfolgen zu laſſen. Doc 
fann eine Zufammenflellung der in verfchiedenen Perioden unter dem unmittelbaren 
Eindrud der wundervollen Rieſenſtadt niebergefchriebenen Schilderungen bie Haupt⸗ 
phafen der Entwidelung des fpäteren R. nach verfchiedenen Seiten bin anfchaulich 
machen. Die ältefle diefer Schilperungen ift von Strabo. Er ſah R. ſchon in 
der neuen prachtvollen Geſtalt, die Auguftus ihm gegeben Hatte, und befchrieb 
es unter Tiber etwa im Sabre 20 n. Chr. Der Kunfl» Schönheit gewohnt, 
in der die Griechenfläbte prangten, bewunderte er vor Allem die koloſſalen 
Nützlichkeits bauten, Die noch heute, dauernd ober In Ruinen, Staunen erregen, 
die Straßen, die Waflerleitungen und dad Syſtem der unterirbifchen Abzugsgräben. 
„Bär die Schönheit R.'s, fährt Strabo fort, „war in der ältern Zeit wenig gefcheben, 
da damals andere dringendere Bebürfniffe zu befriedigen waren; fpäter und vor 
Allem gegenwärtig wird für dieſe nicht minder geforgt als damals, überdies aber bie 
Stadt auf's Reichſte mit Werken angefüllt, die Ihr zum Schmud dienen. Pompeius, 
Garfar, Auguftus, defien Gemahlin, Kamilie und Zreunde haben auf die Pracdhtbauten 


Der bekannte Sprachforfher Bictor Jacobi fagt in einem feiner Werke übrigens: 
„MR. anlangend, fo deuten ale Namen ver Stabt übereinftimmend darauf Kin, daß bie Terrain⸗ 
beſchaffenheit biefelben hervorgerufen. Der tarpejifche Fels hat in fo vielen Namensvermanbten 
die Belege feiner Herkunft, 3.8. Tarpig für Jarpig, in Darebnig, daß, wenn man alle biejenigen 


Kerücfihtigen wollte, in denen H nicht in T. verwandelt und fein Vocal zwifchen Hr, vefpertive Dr 
oder Tr getreten, bie Zahl Leglon wäre.” 
19 * 


23% Rom. (Im Alterthum.) 


einen ungeheuren Eifer und Aufwand verwendet; dad Meifle davon aber ifl dem 
Marxrsfeld zu Theil geworden, dad zu den Baben der Natur noch den Schmud 
der Kunſt erhalten bat. Denn ſowohl die Größe dieſes Platzes iſt bewunderungd- 
würdig, der für die Fahrten der Wagen und für die Neiter Raum bietet, ohne daß 
dadurch die unzählbare Menge derer, die ſich in gymnaſtiſchen Uebungen tummeln, 
im Mindeften behindert wird, als auch die ihn umgebenden Bauwerke, der durdy das 
ganze Jahr mit Gras bededte Boden, die Kuppen der Hügel, die jenfeit des Flufſſes 
ragen und deren Abhänge bis an fein Bett Binuntergeben — Alles vereinigt ſich 
zu einem Panorama, von dem man fich ſchwer trennen kann. Neben diefer Ebene 
breitet fih jodann ein anderer Plag und ringsum zahlreihe Colonnaden, Parke, 
drei Theater, rin Amphitheater und prächtige aneinander floßende Tempel 
aus, fo daß alles Died die übrige Stadt überflüffig zu machen fcheint. Deshalb find 
bier, al® an der ebrwärdigfien Stelle, au die Monumente der bedeutendfien 
Männer und Frauen errichtet. Bon diefen ift das merkwürdigſte das Maufo« 
leum (des Auguft), ein hoher Bau am Tiberufer auf einer Bafld von weißem 
Marmor, bis zur Spige mit Immergrünen Bäumen bepflanzt.e Ganz oben flebt eine 
Bronzeftatue Auguſt's, im Innern befinden ſich die Grabkammern für ihn, feine Ver⸗ 
wandten und Angehörigen; dahinter folgt ein großer Park mit Herrliden Spazfer» 
gängen, mitten auf dem Plage ift die Umfaffungsmauer der zum Verbrennen 
der Leihen beflimmten Stätte, ebenfalld von meißen Marmor, rings mit 
einem eifernen @itter umgeben, inmendig mit Pappeln bepflanzt. Kommt man 
aber von bier wieder auf das alte Forum, und flieht, wie ein neues Forum 
nah dem andern fih an dieſes anfchließt, und die Baflliten, Colonnaden 
und Tempel, dann das Capitol mit feiner Pracht und die Paläftle auf dem Pa⸗ 
Iatinus und die Golonnade der Livia, — dann vergißt man leicht wieder, wa® 
man außerhalb gefehen bat. Eine folde Stadt if R.“ Aus dem Neroniſchen 
Brande, der etwa zwei Drittheile der Stadt in Aſche legte, ging R. als eine ganz 
neue, bei Weiten fchönere Stadt hervor. Died neue R. bat der ältere Plinius 
gefchilvert; aber außer allgemeinen hochtönenden Phraſen über feine Herrlichkeit macht 
er nur einige Angaben Über die Ausdehnung der Stadt und hebt ihre größten Sehens⸗ 
würdigkeiten hervor. Ihr Umfang betrug, nach einer Meflung im Jahre 73, über 
13 Miglien (mehr als dritthalb deutſche Meilen). Sodann Hatte man die Ränge 
aller Straßen vom goldenen Meilenzeiger, den Auguflus am Forum unter 
dem Gapitol aufgeftellt Hatte, gemeflen, und die Summe ihrer fämmtlihen Ausdeh⸗ 
nungen betrug etwas über 70 Meilen (14 deutfche Meilen). Aus der Menge der 
eoloffalen Prachtbauten nennt Plinius den von Jul. Caͤſar ausgebauten Circus 
Marimus von 3 Stadien (1800 Fuß) Länge und 300 Fuß Preite, der mit Einſchluß 
feiner Gebäude fih über 4 Morgen (preußiich) erfiredte und 25,000 Sigpläge faßte; 
die Baftlica des Baulus (unter Auguflus und mit feiner Unterfläßung) am alten 
Korum erbaut, mit prachtvollen Säulen aus phrygiſchen Marmor; dag Forum 
Auguſt's (von defien Umfaffungdmauer aus ungeheuren PBeperin « Blöden nody ein 
Stück mit einem Eingangsbogen fleht) mit dem Tempel des rächenden Mars (noch 
find drei herrliche Forinthifche Säulen davon übrig) und überreich mit Statuen und 
Kunſtwerken ausgeftattet; der von Bespaflan nach dem jüdiſchen Kriege erbaute Tem⸗ 
pel des Friedens, weldher mit den fchönften Werfen der Malerei und Sculptur 
geſchmückt und mit allen Sehenswürdigkeiten gefüllt war, um derentwillen man fonfl 
die ganze Welt durchreift Hatte; auch die Schäße des Tempeld zu Serufalem, eine 
Bibliothek und Vieles, was in Nero's goldenem Haufe geweſen war, befand fldy dort; 
endlich ein Gebäude auf dem Marsfelde, das Agrippa zur Ermittelung der Stimmen- 
zahl bei den Wahlen hatte erbauen laſſen, indem ein ungebeurer Raum mit einem 
einzigen Gewölbe überfpannt war, welches, unter Titus durch Brand vernichtet, nicht 
wieder bergeftellt werben konnte. Daß unter biefen Wundern R.'s das Bantheon 
nicht erwähnt iſt, kann wohl faum anders, ald aus einer Berderbniß der Handſchriften 
des Plintus erklärt werden. „Sollen wir,” meint er weiter, „die Byramiden an 
flaunen, wenn Gäfar während feiner Dictatur den Boden allein, auf dem er fein Fo⸗ 
sum erbauen wollte, mit 100 Millionen Sefterzen (über 7 Millionen Thaler) bezahlt 


Rom. (Im Nltertbum.) 293 


bat?” Doch größer, als alles dies, find Die unterirdiſchen Abzugsgräben, 
bei deren Ausführung Berge durchgraben und die Stadt zu einer fchmebenden und 
unter dem Boden zu Schiffe paffirbaren gemacht worden ifl. Sieben zufammengelei- 
tete Ströme fließen unter dem Straßenpflafter, und durch ihr flarfes Gefälle glei 
Sturzbähen Alles mit ſich reißend und fortführend, noch dazu durch Regengüſſe an⸗ 
geſchwellt, erfchüttern fie mit ihrem Drude Grund und Seiten ihrer Betten. Manchmal 
wird der Tiber in den Mündungen der Sandle zurüdgeflaut, und dann kämpfen in» 
wendig die entgegenfitebenden Waflermaflen, — und doch leiflet die Feſtigkeit des 
Baues unerſchüttert Widerſtand! Bon oben drüden auf dad Gewölbe die ungeheuer-' 
en Laflen, die bei Bauten hin⸗ und bergeführt werden, ohne es einzudrücken; dazu 
fommen CErfchütterungen von Gebäuden, die von ſelbſt oder durch Brände zuſammen⸗ 
flürzen, enblidy Erdbeben — und doch dauern diefe Gandle feit ihrer Erbauung durch 
Tarquiniug Priscus ſchon 700 Jahre fat unzerſtörbar.“ Seitdem Plinius das fchrieb, 
baben ſie in abermald 1800 Jahren ihre Unzerflörbarfeit bewährt, und noch Heute 
beobadhtet man an der Cloaca Maxima bei Anfchwellungen des Tibers den Kampf 
der ein» und ausſtroͤmenden Gewaͤſſer. Hierauf zaͤhlt Plinius eine Anzahl von Pracht⸗ 
bauten auf, Die zu feiner Zeit nicht mehr exriflirten: der Palaſt Caligula's, das 
goldene Haus Nero's, dad Theater des Scauruß mit 87,000 Sigpläßen, 
die Theater des Eurio, die mit allen Zufchauern in ihren Angeln gedreht und 
zu einem Amphitheater verbunden werden Fonnten, und zulegt giebt er eine Eurze 
Notiz von den Wafferlettungen, deren R. damals bereits neun hatte. Eine ber 
fhönften war von D. Marcius Mer auf Befehl des Senats während feiner Prätur 
46 v. Chr. außgeführt; fie war 36 Miglien lang und größtentheild unter der Erde, 
zum Theil durch Berge geführt (Aqua Marcia). Eine andere prachtvolle Waiferleitung 
verdankte R. der großartigen Munificen; Agrippa's. Das Wafler, Aqua Virgo 
genannt, war etma 8 Miglien von M. gefaßt und lief auf bedeutendem Ummege, fo 
daß die ganze Länge 14 Miglien betrug, größtentheild unter der Erde; die Leitung 
ſpeiſt, jetzt freilich ſehr verkleinert, die herrlich Fontana Trevi, die das befte 
Trinkwaſſer in R. giebt. „Zu diefem Werke fügte Agrippa in feiner Nebilität 500 
Baffins Hinzu, 500 Röhrendbrunnen, 130 Waffercaftelle, von denen meh» 
rere prachtvoll ornamentirt; auf diefe Werke flellte er 300 Statuen von Bronze 
und Marmor, 400 Marmorfäulen — Alles im Laufe eines’ Jahres. Er felbft 
fegt in dem Bericht Uber feine Aedilität Hinzu, dad er an 59 Tagen Schaufpiele ge- 
geben und 170 Badfluben unentgeltlich eröffnet habe, die man jegt zu N. bis zu 
einer ungebeuren Zahl vermehrt bat." Doc alle früheren Aquäducte wurden über- 
troffen durch die von Caligula 35 n. Chr. begonnene, von Claudius 49 beendete Aqua 
Claudia. Wit ihr wurde fpäter eine neunte (Anio novus) auf demfelben Bogen 
in die Stadt geführt, in einer Höhe, dag alle Spigen der Hügel von ihr bewäflert 
wurden. Die Koften giebt Pliniud auf mehr ald 25 Millionen (Thaler) an. Trog 
der Aufzählung großer Werke fehlt immer noch viel daran, daß Plinius auch nur 
die bedeutendfien Gebäude genannt hätte, die dem damaligen A. zur Zierde gereichten. 
Bon feinen drei Theatern fagt er nichts, eben fo wenig von dem Amphitheater 
der Flavier (dem jegigen Coloſſeum), deſſen Rieſenbau zwar erſt unter Domitian 
vollendet wurde, doch damals bereitö zu einer bedeutenden Höhe vorgefchritten war. 
Auch die Thermen bat er nicht erwähnt, vielleicht die merkwürdigſten öffentlichen 
Anftalten R's, mo viele Taufende gleichzeitig Räume und Einrichtungen für Bäder, 
gymnaſtiſche Uebungen, Converfation und Erfrifgungen fanden und den Aermſten eine 
Pracht zu Gebote fland, deren fich jetzt kaum Monarchen rühmen fönnen. R. befaß damals 
bereitö drei, von Agrippa, Nero und Titus erbaut. Vielleicht nicht minder Intereffe als 
die Stadt felbft Hatte für den Beirachter das Leben und Treiben In ihren Straßen. 
Die Scyattenfeiten ded Leben? in der Weltftabt maren am wenigften für die Großen 
und für die Proletarier fühlbar. Die Erftern fanden nirgend in fo hohem Grade als 
bier Raum und Mittel zu einer fürſtlichen Eriftenz, die Letztern wurden auf Öffentliche 
Koften (durch die regelmäßigen Kornaustheilungen) gefpeiit und. überbied dur die 
unentgeltlihen Schaufpiele unterhalten. Der Mittelland empfand dagegen alle Unan⸗ 
nehmlichteiten bes römifchen Lebens, ohne Durch feine Pracht und feine Genüſſe ent- 


294 | Kom. (Im Alterthum.) 


ſprechend entjchäbigt zu werben. — Auf die Berlode höchſter Madhtentfaltung, impo⸗ 
nirenden Glanzes und allgemeiner Blütbe, die R. im zweiten Jahrhundert ge 
habt Hatte, folgte im dritten eine Zeit der äußern und inneren Verwirrung und 
Zerrüttung, in der auch dad geiftige Xeben verfümmerte. Die Bildung wurde durch 
immer zunehmende Barbarei auf der einen, durch orientaliiche Einflüfle auf der andern 
Seite zerflört, die Literatur hörte allmählich auf. Aus diefer trüben und flürmifchen 
Zeit ift uns Peine gleichzeitige Befchreibung R.'s aufbewahrt; einigen Erfag bieten 
die gerade aus diefer Zeit zahlreich erhaltenen Ruinen. Wenn fie auch (wie der 
Triumphbogen des Severuß und ber Bogen der Goldſchmiede) bereits 
die Sculptur im tiefften Verfall zeigen, fo imponiren und fefleln fie noch Immer 
dur die Großartigfeit der Anlage und Ausführung in architeftonifcher Hinſicht. 
Zwar den Palaft, den Septimins Severus auf dem palatinifchen Hügel baute (das 
Septigonium), fennen wir nur noch aus Abbildungen, da er im 16. Jahrhundert 
fhon ganz abgetragen worden if. Doch die Thermen des Baracalla, deren 
fühne Wölbungen fon am Ende des 3. Jahrhunderts ald unnachahmliche Wunder» 
werke angeflaunt wurden, erregen’noch jegt Bewunderung, und die gigantifgen Ther- 
men Diocletian’8, obwohl bier der Berfall der Drnamentif fi fchon fehr fähl- 
bar macht, find noch in ihren zerfireuten und meit aus einander liegenden Ruinen 
von überwältigender Wirkung. Doc am meiften cdharafteriftiich für die Zeit war bie 
Mauer, die Aurelian (27075) um RM. zu ziehen begann und bie fein Nach⸗ 
folger Probus vollendete. In den erftlen acht Jahrhunderten ihres Beſtehens war die 
Stadt eigentlich mauerlos gemefen, über die alte fervifche Mauer war fie Tängfl nad 
allen Seiten in die Bampagna hinausgewachſen. Aber unter Ballienus’ Regierung 
hatte fie fchon ein Mal vor dem Einfall deutfcher Stämme gezittert, Die Illyrien Übers 
ſchwemmt und einen Theil Italiens plündernd überzogen hatten; biergegen wollte ihr 
Aurelian durch feine Mauer Schug verleihen. VBermutbli mar die Schnelligkeit, mit 
der der Bau betrieben murde, Schuld an feinem ſchnellen Verfall, denn ſchon 125 
Jahre fpäter war Honorius gendthigt, die aurelianifche Mauer durchweg zu reflau- 
riren, und in Diefer Meflauration, obwohl nachmals vielfach erneuert, ergänzt und 
ausgebeſſert, zieht fle fih In einer Ausdehnung von etwa 11 Miglien um das jetzige 
R. Im vierten Jahrhundert fliegen die Quellen der Stadtbefchreibung wieder 
reichliher. Noch Haben wir zwei Bearbeitungen einer offlciellen Stabtbefchreibung, 
Die gegen Ende von Eonftantin’$ Megterung abgefaßt worden if. Es iſt eine Angabe 
der bedeutendften Gebäude, welche Die Grenzen der 14 Regionen oder Quartiere 
bezeichnen, in die bereits Auguftus R. getbeilt hatte. Unter diefen if noch Feine 
einzige hriftliche Kirche, deren die Stadt damald ohne Zweifel nur menige hatte, 
dagegen zeigt die Erwähnung einiger von Conſtantin errichteter Gebäude, daß das 
Document nicht älter fein Tann, als feine Negierung. Am Ende jeder Region find 
einige ftatiflifhe Angaben Hinzugefügt und am Schluß des Banzen eine Eurze 
Uebersicht der merfwürdigften Bauten, Monumente, Pläge, Brüden, Straßen, 
Wafferleitungen, flädtifhen Einrichtungen c. Aus diefen Notizen entnehmen wir 
die weſentlichſten und intereffanteften. -Die fänmtlihden BPrivatgebäude find 
bier fo angegeben, daß die Paläfte (domus) und die Miethshäuſer (insulae) 
beſonders gezählt find, Die Summe der erftern in allen vierzehn Regionen ift 1790, 
die der letztern 46,602. Hieraus läßt ſich mit einiger Sicherheit auf die Höhe der 
Bevölkerung R.'s im 4. Jahrhundert ſchließen. Man wird nicht fehr irren, wenn 
man die Zahl auf ungefähr zwei Millionen veranſchlagt. Nähft den Summen ber 
Wohngebäude find die der Speicher und Magazine angegeben; ihre Summe be- 
trägt in allen vierzehn Regionen 335. Dem allgemeinen Bebürfniß des täglichen 
Bades entfprachen ungefähr 950 Badſtuben. Wafferrefervoirs hatte R. 1270; 
man muß fie fih zum großen Theil prächtig eingefaßt, mit Architektur und Sculptur 
verziert denken; bei vielen befanden fi überdies Springbrunnen; ein Abglanz 
diefer Herrlichkeit hat fi noch im fjegigen R. erhalten, mit deffen Quellengebäuden und 
Fontainen Feine andere Stadt wetteifern kann. Endlich werden etwa 250 Bädereien 
aufgeführt. Won merkwürdigen Localitäten und Bauten nennen die VBerzeichniffe 
7 Hügel, 8 Bräden, 8 freie Bläge (campi) gu Spaziergängen, ghmnaſtiſchen 


Kom. (Im Altertum.) 295 


Uebungen x., mit Gartenanlagen und Säulenballen außgeflattet, 11 Foren, 10 3a 
filiten (für Gerichtöverbandlungen), 19 Wafferleitungen, 11 Thermen, 
28 dffentlihe Bibliotheken und 6 Dbelisken (die zwar auch im jepigen 
R., aber ſaͤmmtlich an anderen Stellen als im alten aufgeflellt find). Noch ordnungs⸗ 
loſer ift eine andere Aufzählung, mit der die ganze Stadibefchreibung fchließt. Sie 
enthält folgende für Schaufptele beflinmte Bauten: 2 Girfen (wobei mehrere 
kleinere, theild nicht zum Öffentlichen Gebrauch beflimmte, theils wie der noch erhal⸗ 
tene des Maxentius vor der Stadt gelegene, nicht mitgerechnet find), 3 Theater (bie 
fleineınen, denn Hölzerne wurden zu allen Zeiten nad Beduürfniß aufgelchlagen), 
2 Amphitheater (dad Coloffeum und ein kleineres, von defien Umfafiungsmauern 
vermutblih noch jegt ein Stück hinter dem Kloſter Santa Eroce flieht), 4 Gla⸗ 
biatorenfhulen (von Domitian vermuthlid im Halbkreife um das Goloffeum 
gebaut) und 2 große Baffins zur Darftellung von Seeſchlachten (Naumadyien), 
beide in Traftevere. 2 große Speifemärkte mit einem Schlachthauſe in der Mitte, 
rings von Säulengängen und Buden umgeben, waren die Gentralpunfte des Bictua- 
lienhandels: der eine von Livia in der Nähe der jegigen Kirche Santa Maria 
Maggiore, der andere auf dem Gölius mahrfcheinlich yon Nero angelegt. Der Del- 
verfauf (Del zum Bade, zu gymnaſtiſchen Uebungen und biätetifchen Einreibungen 
wurde fehr viel gebraucht) beichäftigte 2300 Debitfiellen. Bon den zur Zierde der 
Stadt beſtimmten Monumenten nennt das Verzeichniß 36 marmorne Bogen, theils 
Triumphbogen, theils ſonſt zum Gedaͤchtniß gefeierter Männer errichtet. Wie wir aus 
den übrig gebliebenen (namentlich Conſtantin's Severus⸗ und Titusbogen) oder im 
Bragmenten erhaltenen (Marc Aurel's Trajandbogen) und aus den Abbildungen 
auf Münzen ſehen, pflegten ſie reich verziert zu fein; oben ſtanden häufig Vier⸗ 
geſpanne. Berner die beiden Säulen des Trajan und Antonin, die gegenwärtig bie 
Statuen der Apoftel Paulus und Petrus tragen. Bon zwei Kolofien, die das 
Berzeichniß nennt, Eennen wir nur den einen, urfprünglich eine Bildfäule Nero's, auß 
der Hadrian einen Sonnengott machte; noch jetzt iſt feine Bafld am Eoloffeum übrig. 
Bon öffentlid audgeftellten Kunfimerken, deren Zahl damals ſchon fehr zufammen- 
geſchmolzen war, merden außer 22 colofjalen Meiterflatuen nur die aus koſtbarem 
Material gearbeiteten angeführt, nämlich BO vergolbete und 74 elfenbeinerne Eine 
um etwa 200 Jahre fpäter abgefaßte Stadtbefchreibung fügt noch 3875 bronzene 
hinzu; die marmornen wurden nidyt bloß als zu gering, fondern auch als unzählbar 
betrachtet. Statuen zierten befonderd maflenhaft Die Foren (vor Allen das Trajans⸗ 
forum), die Bläge (mie den Gapitoldplag), Tempel, Hallen, Bibliotheken, Theater, 
Säulengänge und Promenaden. Auch die Eleinen Kapellen, deren jeder der 428 
Stadtbezirke eine hatte, um die Feier ber Laren im Frühjahr und Herbſt zu be⸗ 
geben, waren gewiß zum Theil mit Sculptur gefhmüdt. Die Quartiere der in der 
Stadt garnifonirenden Truppen und Wachtmannfdyaften, die Stationen einiger zum 
Stadtdienſt gehöriger Körperfchaften, als Steinklopfer, Opferknechte, Boten — endlich 
154 Öffentliche Latrinen und 45 oder 46 Bordelle mahen den Schluß. Ungefähr 
aus derfelben Zeit, aus der diefe flatiftiichen Angaben und erhalten find, haben mir 
eine beredte, wenn auch etwas ſchwülſtige Schilderung des Eindruds, den die Befucher 
des damaligen R. beim erften Anblid empfingen. Ammianus Marcellinus hat 
den Einzug, den Kaifer Gonftantius im Jahre 257 in R. hielt, ausführlich beſchrie⸗ 
ben und daran eine Sittenfchilderung der Einwohner R.'s geknüpft, die man zwar 
für übertrieben und einfeitig halten, aber bei der Wahrbeitsliebe und Meblichkeit dieſes 
Hiſtorikers nicht zweifeln darf, daß fie in der Wirklichkeit begründer war. In ihr 
find Züge, die eine totale Veränderung der Sitten in R. zeigen, wenn man fle mit 
den Sitienfhhilderungen aus dem erſten und zweiten Jahrhundert vergleiht. Diefe 
Beränderung war durch die immer zunehmenden Einflüffe aus dem Drient bervorge- 
bracht. Durch einen ungeheuren Abftand waren nur die vornehmeren Klafjen von den 
geringern getrennt und auch die legten Reſte bürgerlicher Sleihflellung verſchwunden; 
eine fo ſclaviſche Bezeugung der Ehrfurcht gegen Köbergeflellte, wie der Handkuß, 
war für Freie nichts Ungemöhnliches mehr. Der Gebrauch der Caroſſen im Innern 
ber Stadt, in ben erfien Jahrhunderten ebenfalls unerhört, war gleichfalls orienta- 


296 Kom, (Im Altertham.) 


liſch; in Diefen verfägloffenen Kutfchen war der vornehme Mann dem Unblid und dem 
Treiben der Menge entrüdt. Auch die übermäßige Weichlichleit und Ueppigkeit, ver 
Luxus mit bunten, geftidten, faltenreichen Kleidern, die feidenen Sonnenfchirme ſtamm⸗ 
ten aus Aſien. Das jchlimmfle Symptom der vorgefchrittenen Drientaliftrung aber 
war bie Allgemeinheit der Eunuchen. Wenn Ammianus Marcellinus ausſchließlich bie 
heidniſche Gefellfchaft de8 damaligen M. ſchildert, fo baben wir eine ebenfo auß« 
ſchließliche Schilderung der hriftlidhen in den Briefen des heiligen Hieronymus. 
Er Hatte bei einem dreifährigen Aufenthalt (382— 385) ald Secretär des Bifchofs 
Damaſus reiche Gelegenheit gehabt, fie zu beobachten, und auch in feiner fpätern Zus 
rüdgezogenheit in einem Klofter bei Bethlehem blieb er mit R. in fortwährender Ver⸗ 
bindung. Seit dad Chriſtenthum durch Konftantin den Großen aud dem Kampf der 
tingenden Gemalten flegreich hervorgegangen war, hatten die chrifllichen Gemeinden, die 
nun in taufendfache Berührung mit der Welt gebracht wurden, ihre während ber Ver⸗ 
folgung mafellos bewahrte Reinheit ſich nicht mehr zu erhalten vermodt. Die Sitten- 
firenge und Einfalt, die Bruderliebe, die DOpferfreudigfeit, der Heroismus jenes Ur⸗ 
chriſtenthums, das feine Zufluchtäflätten in den Katalomben fuchen mußte, hatte ſelbſt 
den Verfolgern Bewunderung abgendthigt. Im 4. Jahrhundert begann bereitd Aeußer⸗ 
lichkeit, Wolluſt, Selbſtſucht und Gorruption im Schoof der Gemeinden felbft Nerger- 
nid und Zwietracht bervorzurufen. Auch der Klerus blieb von dieſer Verderbniß nicht 
unberührt. Ohne Zweifel befaß der Stand nach wie vor eine fehr große Anzahl von 
Männern, die durch Neinheit des Charakterd nicht minder als durch feurigen Glaubens⸗ 
eifer ihren Gemeinden als Mufter vorleuchteten, aber eben fo gewiß ift, Daß es au 
bereit an ſolchen nicht fehlte, Die der Herrſchgier, Habfucht, Heuchelei und Leppigfeit 
mit vollem Mecht geziehen wurden. MNührten ſolche Anklagen von Gegnern des Chriſten⸗ 
thbums ber, fo würden fie wenig Slauben verdienen; da fie von Kirchenfchriftfielleen 
erhoben werden, find fie nicht abzumweifen. In einen Stand, der nur feinen Mitglie⸗ 
dern Einfluß, Anfehen und Reichthum verhieß, drängten ſich natärlih aud viele Un⸗ 
berufene, und namentli die Bewerbungen um die bifchöflihden Würden wurden durch 
die Anwendung eben fo unlauterer Mittel und durch eben fo furchtbare Exceſſe befleckt, 
als einft die Wahlfämpfe der römiichen Republik. Bei dem Streit ded oben genann« 
ten Damafus mit Urfinus um das Bisthum zu MR. zählte man in der Sicinifchen 
Bafllica 137 Erfhlagene.e Die Bifhdfe umgaben fih mit fürfllidem Pomp: ſte 
erfchienen dffentlih Faum anders als in prachtvollen Barofien, mit einem großen Ge⸗ 
folge, und ihre Gaftmähler genofien einer ähnlichen Berühmtheit, wie in der beide 
niſchen Zeit die Schmaufereien der Auguren und anderer Prieflercollegien. Wie häufig 
unter der Geiftlichfeit die Erbfchleicherei war, flebt man aus einem noch vorhandenen 
Eatjerlichen Erlad an den römifchen Biſchof Damafus (370), in welchem Geiftlichen 
und Mönchen förmlich unterfagt wird, die Häufer von Wittwen und Grbinnen zu 
betreten und Legate anzunehmen. Jedes Vermächtniß und jede Schenkung einer Frau 
an einen Geiftlichen, Tei es direct oder durch Vermittelung einer untergefchobenen 
Perſon, foll null und nichtig fein und an den Fiscus fallen. „Ich ſchaͤme mich, es 
zu jagen”, fchreibt Hieronymus im Jahre 394, „BGögenpriefter, Schaufpieler, Wagen⸗ 
Ienker und Dirnen find erbfähig, nur Geiftlihen und Mönchen iſt dies Recht durch 
ein Gefeg genommen, und dies ift nicht von Verfolgern, fondern von chriſtlichen Fürſten 
erlafien. Nicht über das Geſetz Elage ich, fondern daß mir e8 verdient haben.” So 
wohl aus den Schilderungen der heidnifchen mie der chriftlicden Schriftfteller empfängt 
man den Eindrud, daß dies ganze Zeitalter mit feiner Entartung der Maffen, feinem 
äußerlichen und frivolen Treiben — wenn auch einzelne Ausnahmen noch fo glänzend 
find, — den Stempel einer dem Untergange geweibten Generation trägt. Es bedurfte 
gewaltiger Stürme, die von Verweſung erfüllte Atmofphäre zu reinigen, bie über ber 
Welt drütete, furchtbarer Schläge, damit die Völker die Leerheit und Nichtigkeit ihres 
Dajeins inne wurden, und Eolofjaler Ummälzungen, bid aus dem Chaosd der allge» 
meinen Zerflörung neue Keime des Lebens entſprießen Eonnten. 

R.'s Herrlichkeit und Pracht wurde von feinem legten Dichter Claudianus 
in lebendigen Zügen wenige Jahre vor der Eroberung dur Alarich gefchilbert. 
Ergreifend iſt es, wie tief, ungeachtet des längft eingetretenen Verfalls, die Einnahme 


‘ 


Rom. (Im Alterthum.) 297 


der alten Metropole in der ganzen römifhen Welt bis an die Außerfien Enden bin, 
nicht allein von den zahlreich vorhandenen Anhängern des Alten, fondern felbfi von 
den Ghriften empfunden wurde, und welde Bedeutung R. nicht als Sig der 
Regierung, wad es feit lange nicht mehr war, fondern als Stabt, als leben- 
dige Tradition, als DVerkörperung des römifchen Weſens, ald Sammelplag 
aller höheren Bildung, aller Kunft und Wiffenichaft, ſelbſt noch in jener Zeit gehabt 
baben muß. Der heilige Hieronymus, der damals, mie erwähnt, in Paläfina ſich 
aufbielt, wird von dieſer Kataflropbe, mie von dem hberannahenden Weltende erfchredt, 
und die Möndye in der Thebaide, fonft für alles Irdiſche abgeflorben, gerathen hei 
diefer Nachricht in Aufregung. Einen fonderbaren Eontraft hierzu bildet das endliche 
Berichwinden des rdmiichen Meiches durch Odoaker, das faſt unbemerkt vorüber⸗ 
gebt. . Nach der Abdankung des legten Kailerd, Romulus Auguftulus, begiebt 
fih eine Deputation des römijchen Senats nach Konftantinopel, überbringt dem Kaijer 
Zens die Infignien ded alten Imperatortbumd, erklärt, daB MN. Feines befonderen 
Kaiferd mehr bedürfe und ſich unter Odoaker's Schug geftellt babe, und Alles ifl 
abgemadt. Daß eine lange beflandene großartige Ordnung der Dinge fo ohne Er- 
fhütterung, ohne Widerfpruch zufammenbrechen fonnte, dazu gehörte, daß fle im Innern 
zulegt durchaus hohl geworden war und fi in allen ihren Thellen überlebt Hatte, 
Die Epoche zwifchen der Auflöfung des abendländifchen Reiches, dem Beginn der 
weltligen Herrſchaft des Papfitbums und dem Bunde der fränfifchen Könige mit 
demfelden, aus dem das Kaiſerthum des Mittelalters hervorging, wird vornehmlich 
durch die gothifche Herrichaft über R. und Italien, ihre Kämpfe mit den byzantie 
nifchen Kaifern und die Niederlaffiung der Longobarden in Italien audgefüllt, 
Eine Zeit lang ſcheint R. faft ganz unbemohnt geweien zu fein, weil Totilas, 
über die gegen die Bothen bewiefene Treulofigfeit empört, die Römer aus ihrer Stadt 
in Maſſe auf das Land trieb. Namentlich erlofchen damals die legten alten fena« 
toriſchen Befchlechter, von denen noch manche ihren Urfprung bis auf die frübeften 
Beiten R.’8 zurückführen fonnten. Im Jahre 548 wurden die legten Spiele in dem alters⸗ 
grauen, ungeheueren Circusmaximus gegeben, und einige 20 Jahre fpäter verſchwindet 
derrdmifche Senatfelbf dem Namen nach, nachdem er über 1300 Jahre beftanden hatte. 
Während das alte R., als Stadt, ald ein politifches und militärifches Gemeinweſen 
Immer tiefer berunterfam und wie „die ausgebrannte Schlade der Weltgefchichte" dalag, 
Rieg langfam, zuweilen zum Stillſtand auf der eingefchlagenen Bahn gendthigt, aber 
nie rüdwärts fchreitend, die römifche Kirche und das an ihre Spitze geftellte Papſtthum zur 
Unabhängigkeit von der weltlichen Macht und dann zur Leitung derfelben empor. Gewiß iſt 
e8, daß der Charakter R.'s zur Zeit Karl’8 des Großen noch immer überwiegend antik war. 
Die chriſtlichen Kirchen und Klöfter verloren fich, fo zahlreich fle auch waren, in der Mitte . 
der großentheild noch aufrecht flehenden Denfmale des Altertbums oder in ihren un«- 
gebeuren Ruinen. Der Freund des Alterthums, feiner Denkmale und Erinnerungen 
fönnte wünfchen, daß dies anderd geweſen, daß R. nicht fo tief in die Erfchütterungen 
des Mittelalters vermidelt worden wäre, weil e8 dann ohne Zweifel mehr von feiner 
früheren Größe bewahrt Hätte und der neueren Zeit ein vollfländigered Bild feiner 
Bergangenbeit darbieten würde. Uber ed wäre dann nicht die Weltſtadt geweſen, zu 
der es vom Schickſal auserforen worden, in der alle großen Epochen der Gefchichte 
Spuren ihres Dafeins zurüdgelafien haben, und die, wenn auch nicht den einzigen, 
aber immer einen der Höhepunkte der Menfchheit ausgemadt bat. Ein R., das im 
Mittelalter, wie Ronftantinopel, ohne durchgreifenden Einfluß auf die Geſchicke Europa's, 
nur dad Centrum eines einzelnen Staatd gewefen wäre, würde zu einer todten Mumie 
geworben fein, hätte es auch auf dieſem Wege mehr von feinem antiten Gharafter 
bewahrt, von dem übrigend genug übrig geblieben if, um zu einem geifligen Ver⸗ 
ſtaͤndniß des Alterthums, auf das es zulegt vornehmlich ankommt, beitragen zu koͤn⸗ 
nen. Es war aber nicht zu einem allmählihen Abflerben, zum Berfinten in ſich 
ſelbſt, fondern zu einer wechfelvollen Erneuerung, zu einer immerwährenden Thaͤtig⸗ 
keit in diefer oder jener großen Richtung beflimmt. Die eigentyümliche Doppelgeftalt 
N.'n, die bei Feiner andern Stadt in der Weife zum Borfchein Tommt und noch heute 


298 Kom. (Das neue ©.) 


in ihrer ganzen Stärke beftebt, Daß es nämlich zugleich die antile und moderne 
Welt enthält, DaB es in feinen Denkmalen die Herrichaft des Heidenthums und bes 
Chriſtenthums, und zwar jedes in feiner höchften Boten; — das Caͤſarenthum und 
da8 Papftthum — zur Anfchauung bringt, fo daß ſich Beides gar nicht von einander 
trennen läßt, kann man nicht genug hervorheben und feiner ganzen Bedeutung nad 
würdigen. Denn das moderne R. iſt nicht bloß inmitten des alten entflanden, es {fl 
auch mit Ihm geiftig wie leiblich verwachſen geblieben. Die Idee, daß der Sieben- 
Hügelftadt die Herrſchaft über den Erdkreis gehöre, iſt nicht mit dem Gäjarenthum 
untergegangen, fondern bat fi unter anderen Bormen im Papſtthum erneuert und 
ift von ihm mit anderen Mitteln ebenfalld zur Geltung gebracht worden. Seitdem 
das moderne RM. im fechözehnten, wie das alte im fünften Jahrhundert, beide Male 
durch die Oppofttion des Germanenthums, Die Herrfchaft über die Welt verloren 
hatte, ift e8 der Sig der Kunfl, der Sammelplag der größten Leiſtungen der Sculptur 
und Malerei mit allen den tiefgehenden Einflüffen auf die idealen Seiten des menfch- 
lichen Strebend gemorden, die mit dem Cultus des Schönen zufammenhängen. Es 
ift deshalb Feine leere Phrafe, menn diefe Stadt die „ewige“ genannt wird, ba fle 
biäher immer eined der ewigen Intereſſen der civilifirten Menſchheit, die Politik, bie 
Meligion, die Kunft in bervorragenpfler Weife dargeftellt hat. „R.“ laͤßt W. Müller 
in feinem Werfe „Rom, Römer und NRömerinnen”, einen Philoſophen fagen, „ift bie 
Kosmopolis, die Allerweltöftant. In ihr liegen die Elemente aller Zeiten und aller 
Bölker zu einem runden Ganzen verbunden. Denken Sie fi ein Polygon von un 
zähligen Seiten; denken Sie fich jede Seite ald ein Volk, eine Nationalität, ober 
als eine eigentbümliche Richtung irgend eined Zeitalter, es fei eine polttifhe, fünft- 
liche oder wifſenſchaftliche; denken Sie ſich alle dieſe Seiten freisartig geordnet um 
einen gemeinſchaftlichen Mittelpunft, in welchem fie ihre abmeichenden und entgegen- 
gefenten Neigungen und Kräfte Garmonifch begegnen, und Ste haben ein Bild ber 
Stadt R. Der Deutfhe fühle fih von den deutfchen Poligonfeiten angezogen, Der 
Sranzofe von den franzöflfchen, der Profane von den antiken, der Heilige von den 
romantifchen. Der Philoſoph aber figt im Tosmopolitifchen Wittelpunfte und das 
Polygon erfcheint ihm von dort ald ein Kreiß, der fi um ihn bewegen muß. Die 
Leute anf den Polygonfeiten merken nichtd von dem Allen und fühlen fich heimiſch in 
M., fo wenig fle auch davon überſchauen können.“ Vielleicht Feine Stadt in der Welt 
bat einen fo prächtigen @ingang, als R. vom Norden ber durd die Porta del 
popolo. Das Thor, vordem das Flaminiſche, If von Michel, Angelo und Bignola 
neu erbaut. Es führt zunähft auf die Piazza del popolo, wo die berühmten 
Zwillingskirchen, di Miracolt und di Monte Santo, fi in der Fronte zeigen. In⸗ 
mitten des Platzes erhebt fih ein 82 Buß hoher Agyptifcher Obelisk, welchen, wie 
die Infchrift befagt, Auguftus nach Unterwerfung Aegyptens der Sonne weihte Er 
beftand urfprünglich aus einem einzigen Granitblod und ift reich mit Hieroglyphen 
bevedt. Zwiſchen und zu beiden Seiten der genannten Kirchen ziehen ſich in diver⸗ 
girender Michtung drei der fhönften und längften Straßen der Stadt bin; bie zur 
Rechten führt an das Tiber-Ufer (Hipetta), Die zur Linken endigt an der großen 
Treppe auf dem fpanifchen Plage zur Trinita del Monte. Die mittlere, der berühmte 
Corſo, einft die mit Triumphbogen gefchmädte Ylaminifche Straße, iſt über eine 
Viertelſtunde Tang, durchfchneidet das Marsfeld und Jäuft an den Gebäuden des capi- 
tolinifhen Hügeld aus. Die fchönften und breiteflen Straßen beißen vorzugsmelfe 
Strade, während man die geringeren, befonder& wenn fie, was bei den meiften der Fall 
ift, einen geroundenen, durch vorfpringende Kirchen und Kapellen unterbrochenen Lauf 
nehmen, nach altrömifcher Weife Vici oder Vicoli nennt. Das Pflafter beſteht aus 
unregelmäßigen Lavaſtücken, morunter ſich Häufig Bruchflüde koſtbaren Marmors, 
Granits, Porphyrd und Serpentins vorfinden, die den Trümmern prachtvoller Ge⸗ 
bäude entnommen wurden. Doc find der Gorfo und einige andere Hauptſtraßen 
mit QDuaderfleinen regelmäßig gepflaftert. Unter den großen „Piazze” ift, außer 
dem PBetersplage, dem ſpaniſchen und dem Plage der Trajansfäule, die 
Piazza Navona, die fih allmählich auf den Trümmern des Circus Agonalis 


Nom. (Das neue 9.) | 299 


erhob, eine der anfehnlichflen. Sie iſt mit der fchönen Kirche St. Agnes geziert 
und erhält eine erfeifchende Kühle durch die drei mit Statuen gefhmüdten Fontainen. 
Die Fontaine auf der Mitte des Plages, ein Werl Bernini's, wird vorzüglich be⸗ 
wundert. Bier Geftalten, vier Flüſſe vorftellend, ruhen zurüdgebeugt an einem Belfen, 
auf defien Kuppe ein ägpptifcher Obelisk emporfteigt, und aus den Höhlungen des 
Felſens raufcht ein beftändiger Strom. Diefe drei Brunnen find fo eingerichtet, daß 
man in den heißen Sommermonaten am Sonnabend nnd Sonntag den ganzen Plag 
unter Waſſer fepen kann. Auf der äußerfi anmutbigen Biazgade Monte Gitorio, 
die mit der Piazza Colonna in Berbindung flieht, erhebt fi die Curia In⸗ 
nocenziana, der vom PBapft Innocenz XII. erbaute, geräumige Juſtizpalaſt, welcher 
dur fein koſtbares Material, wie durch feine edlen architeftonifchen Verhältnifſe 
Hleihe Bewunderung erregt: Der Tiber fcheibet, wie ſchon ermähnt, die eigentliche 
Stadt von der jenfeitigen „Rione di Traftevere*, weldhe die Peterskirche und 
den vatikaniſchen Palaft enthält. An der Engelöburg ift der Fluß 315 Fuß breit 
und für größere Fahrzeuge fchiffbar. Drei Brüden führen gegenwärtig über den 
Tiber: die Brüde di San Angelo, ehedem Pond Aelius, welde zur Engelöburg 
(moles Hadriana) und zum Batican führt (der obere Theil derfelben wurde von Ber⸗ 
nini vollendet, aber die darauf befindlicgden Statuen fehen plump und unangenehm 
aus); die Brüde di San Bartolomeo (Pons Geflins) führt von Traflevere auf 
Die Tiberinfel San Bartolomea, und die Brüde Bi quattro Capi (Bons 
Fabricius) von Diefer nady der Stadt, und der Ponte Siſto, weiland Pond Jani⸗ 
enlenfiö, vom Papſt Sixtus im Sabre 1473 neu erbaui. Dad alte R. batte ſechd 
Brüden; die unterfte und ältefle war der Bond Sublicius, berühmt durch des Ho⸗ 
ratius Cocles muthige Vertheidigung, urfprünglih von Holz, fpäter von Lepidus 
aus Steinen erbaut, melde vom Aventinus In das Thal unterhalb des Janiculus 
führte; ſie tft nur noch in ſchwachen Meften ertennbar. Eine fünfte Brüde führte 
vom Markte nach dem Janiculus und bie Bond Senatorius, weil der feierliche Aufzug 
ves Senats darüber ging, menn die ſibylliniſchen Bücher vom Janiculus abgeholt 
wurben. Sie war von dem oft reißenden Fluſſe mehrmals zerflört worden. Michel 
Angelo war vom Papfte Paul mit dem Wiederaufbau beauftragt, farb aber, ehe er 
noch Yöllig den Grund "dazu gelegt Hatte. Seitdem Hiegt fie unter dem Namen 
„Ponte rotto" in Trümmern. Don der fechflen Brüde, Pons triumphalis oder vati- 
canus, welche vom Marsfelde nah dem Batican führte, fleht man noch Ruinen der 
Heiligengeift-Ritche gegenüber. Der Ponte Rolle, in alter Zeit Bons Aemilianus 
— von M. Aemilius Scaurus nach der Zeit ded Sulla erbaut — dann Bons Mil» 
vius genannt, legt außerhalb der Stadt, eine Viertelflunde von der Porta del popolo 
am flaminifchen Wege. Dort if der Tiber, wie an einigen Stellen innerhalb der 
Mauern, volle 400 Fuß und darüber breit. Die alte Brüde, an welcher die in ihren 
Bolgen fo merkwürdige Schlacht zwifchen Eonflantin und Marentius vorfiel, befindet 
fi noch 200 Fuß weiter hinauf. Ehe wir zur näheren Betrachtung der Pracht und 
Herrlichkeit diefer mafeftätifchen Stadt weiter geben, wollen wir ermiühnen, daß ſich zu 
dieſen Eigenfchaften auch einige bemerkenswerthe Gegenfäge finden, nicht nur in ein- 
zelnen Häufern, fondern auch in ganzen Bezirken, in feinem von dieſen aber auffal« 
lender, ald in dem Judenquartier, dem fogenannten Ghetto degli Ebrei. Auf 
dieſe Gegend R.'s, auf der Weftfeite der Rione di San Angelo gelegen, ift die zahl- 
seiche Klaffe der in R wohnhaften Ifraeliten angemwiefen. Der Ghetto bleibt eined 
der merkmärdigfien Stüde Erde der ewigen Roma; über fünftehalb Taufend leben 
bier auf einer Oberfläche, arm, verachtet, unterdrüdt; in feder anderen Stadt mohnt 
Taum ein Sechstel diefer Bevölkerung auf einem fo Fleinen Raume zufammengebrängt. 
Tritt man in die Ghetto⸗Straße, zumal in die Biumara, die der Tiber alljährlich bie 
zam erfien Stockwerk der Häufer unter Wafler fett, fo findet man Jfrael in und vor 
feinen dunfeln unfaubern Hfitten. Eine Hauptbefchäftigung ifl, zwifchen Lappen und 
Lampen zu wühlen, ein paflendes Stüd zu irgend einer Flickerei zu entdeden, denn 
ganz N. läßt im Ghetto fliden, mas ein chriftlicger Schneider als zu gering von der 
Hand weil. Die Töchter Zion's arbeiten mit ago d’oro (der goldenen Nadel), fte 
And unerreichbatr im Nähen, Stopfen, Bliden, find wahre Arachnen, aber der Lohn 


300 Kom. (Das neue 9.) 


alles dieſes Fleißes ift das tieffte Verſunkenſein in das gefellfchaftliche Elend. Diefe 
unglüdjeligen Menfchen gelten ald Abfömmlinge der vielen füdijchen Gefangenen, bie 
Titus nach der Eroberung Jeruſalem's nach R. führte. 1) 

Unter den Sehendwürdigfeiten der Stadt nimmt die in der Rione di Borgo, 
zwifhen der Santa Maria in Traftevere und dem Batican gelegene, weltberühmte 
Peterskirche unftreitig den erften Pla ein. Papft Nicolaus I. begann gegen daß 
Jahr 1450 da8 Werk, das unter achtzehn Päpften fortgefegt und erfi nad 135 Jah⸗ 
ren vollendet wurde. DBramante, Sangallo und Peruzzi leiteten nach einander den 
Bau, aber den größten Theil der Zeichnungen lieferte Michel Angela, der die riefen- 
mäßige Kuppel darauf fegte, die bis zur Spite 68 Toifen body if. Noch mehrere 
Baumeifter arbeiteten fpäter daran, bis Maderni endlich die Borderfeite und Die bei- 
den Thürme vollendete. Den Borplaß umgiebt ein prachtooller Säulengang, daß 
Wert Bernini’s, mit einem hohen ägyptifchen Obelißfen in der Mitte und zmei ſchoͤ⸗ 
nen Springbrunnen zu beiden Seiten. ine offene Arkade bildet Die Vorhalle der 
Kirche, auf welcher ein Balcon ruht, von dem aus der Papſt einige Male im Jahre 
dem verfammelten Volke den Segen ertheilt. Rechts und links von diefer Arkabe 
erblidt man die coloffalen Reiterſtatuen Konftantin’8 von Bernini und Karl's des 
Großen von Carnachini. Das Innere dieſes erhabenen Tempeld, von dem wir bier 
nur durch Heraushebung einzelner Gegenflände eine ſchwache Andeutung zu geben 
vermögen, befleht ganz aus verfchiedenen Marmorgatiungen, und die Harmonie, die 
in feinen Berhältniffen berrfcht, ift von der Art, Daß man dad Miefenmäßige der 
Räume und das Großartige der Verzierungen nicht gleich auf den erften Blick richtig 
zu fchäßen vermag. ?) Unter der Menge der Statuen der Päpfte in Sanct Peter, 
biefen Gruppen von Engeln und ſymboliſchen Figuren über den Gräbern der Kirchen 
fürften, diefen colofjalen Upoftelftatuen an den Mfeilern, bleiben einem nur wenige 
unvergeßlih, und unter denen, die gleichſam für die Ruhe in den Grüften diefer 


N) Die Stellung der Juden geigte fih u. A. bei der feierlichen Befigergreifung bes Laterans 
An eines neuen Papſtes; in den „ einnerungen eines ehemaligen Sefuitenzöglings“ finden wir 
olgende Mittheilung über dieſe Feflichkeit bei Pius IX. „Mitten“, fo berichtet der Verfaſſer, 
„auf dem Forum am Triumppbogen bes Titus, wurde Halt gemadt. Hier an diefem Grinnerungs: 
zeichen der Zerflörung Ierufalems, an diefem Bogen, deſſen Nähe der Jude fonft meibet, ſtand der 
Vorfchrift gemäß der Rabbiner mit den Nelteften der Synagoge. Spott und Hohn, mit weldem 
der Italiener auch das Unglüd nidyt verfchent, wurde biefer armen Deputation feitens des Volks 
hinlänglidy zu Theil. Bor dem Magen des Papſtes niederfnieend, reichte der Rabbiner die Thor: 
jchlüffel des Ghetto hin und bat den Heiligen Vater, ihm und feine Judengenofien aud unter fei- 
ner Regierung die Bewohnung deflelben zu geftatten. Als Zeichen der Bewilligung ſchob der Papft 
mit abwehrender Hand die Schlüffel zurüd und unter einigen Verklauſelirungen wurde ihnen ihre 
Bitte gewährt. Zu dieſen Klaufeln gehört auch, daß fie fi) beim päpftlihen Senate abzufinden 
haben. Die Juden fhlihen von dannen. Die Demüthigung, welde ihrer am folgenden Tage 
auf dem Capitol harrt, ift noch größer. Bor dem auf erhabenen Sitze thronenden Senator, wel: 
her von anderen Würdenträgern und feinen Bebienten umgeben ift, erfcheint die Deputation der 
Juden; am Eingange des Empfangſaales fnieen fie nieder. Der Nabbiner, immer doch fchon ein 
Greis, tritt vor zum Senator und bittet ihn ebenfalls auf feinen Knieen, den Juden den Aufents 
halt im Ghetto zu geflatten. Die Grlaubnig wird alsdann unter Ermahnungen und unter Auf⸗ 
legung einer Jahresfteuer ertHeilt. Der Rabbiner bietet dem Senator ein Gefchenf an, deſſen 
Annahme verweigert wird; die Abgabe erfolgt aber dennoh im Vorzimmer an den Berienten. Zum 
Beidyen der Entlafjung giebt der Senator den Rabbiner einen leifen Yußtritt und die Deputation 
überbringt ber im Ghetto harrenden Judenſchaft die Nachricht, daß fie in R. bleiben fönne. 
Pius IX. hat diefen Tritt und andere demüthigende Ceremonien abgeſchafft.“ Bel dem Pferde: 
rennen hatten die Juden am Garneval die Prerfe zu entrichten; eine beflimmte Anzahl mußte 
jeden Sonnabend in der beim Ausgange des Ghetto an dem Tiber liegenden Kirche exfcheinen, 
um der Predigt oder der Katehefe eines Kapuzinerpaters beizuwohnen. Be 
Gelegenheit einer Silberanleihe bewirkte das Haus Rothſchild, daß diefer Gebrauch authörte. Daß. 
der Jude aber beim niedern Volke F aller Reformen verachtet bleibt, Hat feinen Grund in dem 
Ihamlofen Wucher, den er treibt. Ginen ergiebigen Boden dafür findet er in R. nur zu Ken 
daher wird auch der römische Jude nie daran denfen, den Ghetto zu verlafien und fi ein Aſyl 
außerhalb R.'s oder Italien zu fuchen. 

2) Um den Vergleich mit ähnlihen Gchäuben zu erleihtern und bie überlegene Größe der 
Betersfiche zu zeigen, ift der Umfang von St. Paul in Kondon, fo wie ber Sophienkirche in 
Konftantinopel auf dem Eſtrich angedeutet; Tas Verhältniß zur Londoner Kathedrale ift folgendes: 
Höhe von St. Peter bis zur Spipe des Kreuzes 4877, von St. Paul 340°; Länge bes erfteren 
329, des leßteren 500°; größte Breite von St. Peter 264°, von St. Baul 180°. 





Nom. (Das neue R.) 301 


Kirche geboren wurden, haben auch Fremde, die ihr Geſchick oder ihre Schuld aus der 
Heimath verbannte, ihre legte irdiſche Zufluchtöftätte gefunden und Feine jener paͤpſt⸗ 
lichen Grüfte erregen fo innig die Theilnahme, wie die des letzten Stuart und 
der Tochter Guſtav Adolf's. Bon den 264 Büpften, weldge nad dem durch 
Novaes und Artaud vervolffländigten Katalog Guillaume de Bury's gezählt werden, 
giebt es in M. kaum mehr als ſechszig Brabmäler, in andern Städten Italiens kaum 
zwanzig. Die Aoignon’fchen Päpfte Haben ‘ihre Monumente in Frankreich, und In 
Deutfchland beflgt Die einzige Stadt Bamberg die gefchichtliche Merkwürdigkeit eines 
Papfigrabes. In R. ſelbſt, wo die meiften Paͤpſte ihre Gruft fanden und mo in 
Sanct Peter allein mehr als 150 Paͤpſte follen beftattet liegen, ging eine große 
Anzahl von Grabmälern dur den Umbau der Kirchen, namentlich von St. Peter 
und von St. Johann In Lateran zu Grunde, fo daß von den dlteflen Monumenten 
nichts, außer einigen in Büchern verzeichneten Infchriften, auf uns gefommen ifl. 
Erft mit dem 14. Jahrhundert beginnen die Denkmäler in faſt ununterbrochener Folge 

bis auf unfere Tage ſich darzuftellen. R. umfaßt 328 Kirchen, und zwar 186 Klofter-, 
7 Haupt» und 75 Pfarrkirchen, unter welchen faft feine ift, Die nicht an Geſtalt oder 
Berhältniffen, an Architektur oder Material, an Innerer oder Außerer Berzierung etwas 
der Beachtung, der Bewunderung Würdiged befäße. Die Kirche di S. Giovanni 
in Laterano, in der Rione di Monti, ift ſowohl wegen ihres Alterthums, als we⸗ 
gen ihrer Architektur berühmt. Sie iſt den beiden Johannes, dem Täufer und dem 
Eyangeliften, geweiht, ihr Beiname aber foll daher rühren, daß einft an diefer Stelle 
der Palaſt des Plautus Lateranus fland, der die VBerfchmdrung gegen Nero leitete. 
Dieier Tempel gilt nah St. Beter ald der prädtigfte in R., und der Bapft nimmt 
ſogleich nach feiner Krönung von ihm, als feiner Pfarrkirche, fürmlichen Beſitz. Dad 
Innere iſt befonderd großartig und edel, und nicht, was Im mittelitaltenifchen Kirchen» 
bau zu oft vorkommt, Mit Berzierungen überladen. Zu beiden Seiten des Schiffes 
fiehen 15 Buß hohe Marmorbilder der zwölf Apoſtel und über jeden ein fchöneß 
Marmorrelief mit Darftellungen aus feinem Leben. Die Statue des heiligen Bartho⸗ 
lomäus ift als anatomifches Meifterflü berühmt: der Heilige hält feine abgefchundene 
Haut in der Hand — ein Gegenſtand, in dem, wie in anderen ähnlichen, fich die 
chriſtliche Kunft nur zu oft gefallen hat. Der Plafond ift in Gafetten getheilt, deren 
jede religiöfe Bildniffe und Embleme enthält. Unter den fhönen Grabmonumenten 
mehrerer Bäpfte ift befonderd das des Papftes Martin ausgezeichnet. Die fo ver- 
dienterweife bewunderte gegenmwärtige Fagade rührt von Clemens V. her. Auf dem 
Vorplage ragt der größte und fchönfte Dbelisf, den die Plünderungsluft der alten Er- 
oberer aus Uegypten nach ihrer Hauptfladt verfehte. Er iſt von rothem Granit, mit 
Hieroglyphen überdeckt; feine Höhe beträgt, ohne den Sodel, 115'/, Buß, die untere 
Dide 9 Fuß. Dem Eingange St. Johann’ zur Linken liegt die Gapelle Gor- 
fint, von den zierlichfien Verhältniſſen und der kunſtreichſten Verteilung ihres Mar- 
mors im Innern, mettelfernd mit der mit Skulpturen Tenerani’8 gefhmüdten Ca⸗ 
pelle Torlonia. Unter der Statue Clemens' XI. fleht man den fhönen Gar» 
kophag von Porphyr, den man im Pantheon fand und darum vermuthet, daß er die 
Aſche Agrippina’s enthalten babe. In dem anftoßenden Klofter mit einem Föft- 
lihen Hofe zeigt man das Grab Helena’, der Mutter Konſtantin's, von Bor- 
phyr mit balberhabener Arbeit, fo wie zwei Sige von Marmo roffo, die man in ben 
Bädern brauchte. Noh find in der Nähe das Baptiflertum Konſtantin's, 
ein Dctogon mit Foftbaren Porphyrſäulen, in welchem der Sage, wenn auch nicht der 
Geſchichte nach Konftantin die Taufe empfangen, und in welchem fie noch jet er⸗ 
wachſene nicht Hriftliche Perſonen in der Ofterzeit erhalten, fo wie das Triclt- 
nium 2eo’8 III., eine runde Nifhe von 30 Fuß Höhe, ſehr ſehenswerth. 
Hinter dieſem, der Peteröfirche gegenüber, findet man die aus 28 Marmorftufen be- 
flebende Scala Santa oder heillge Treppe, welche die fromme Tradition von 
dem Pallaſte des Pilatus zu Serufalem dur Engel Hierher verfehen ließ. 
Als die ältefle Kirche in R. gilt allgemein die In der Nähe der Laterandfirche ge- 
legene zu St. Elemente. Gie Hat einige Granitfäulen in der Sronte, hinter einem 
Heinen, aber anmutbigen Borplage, den ein Bogengang, gleichfalls mit Granitfäulen, 


302 Nom. (Das neue 9.) 


doch von fchlechten jonifchen Kapitälern, umgiebt. Der Hochaltar wird von Porphyrr 
fäulen geſtützt; der Fußboden ift ganz mit Muflvarbeit in mauriſchem Geſchmack audge- 
legt. Das Grabmal des Cardinals Moverella if ein antiker Sarkophag von weißem 
Marmor. Ein Bemälde in der Seiten » Capelle bat Raphael zum Studium gedient; 
es wurde verborben, als. die Franzoſen es im Jahre 1799 mit fo vielen andern Kunß⸗ 
ſchäyen fortzufchaffen fuchten. Die Basilica di S. Paulo fuori le mura auf dem 
Wege nach Oftia, merfmürbig wegen Ihres, wo nicht bis zu Konflantin, mindeflens 
bis zu Theodofus hinaufreichenden Alters, die eine Menge koſtbarer Säulen, seinen 
MarmorsZußboden von Mofaifen und Infchriften, die Bildniffe aller Papſte von Bes 
trus did auf Pius IV. und drei uralte brongene Thüren aus Byzanz befaß, brannte 
am 15. Juli 1823 ab, iſt aber feitdem wieder bergeftellt. Die St. Lorenzlirde, 
ebenfall8 außerhalb der Mauern, wird als ein Mufter altchriftlicher Bauart betrachtet, 
und St. Bartolomeo, auf der Tiber⸗Inſel, flebt auf den Trümmern eines dem 
Aesculap gewidmeten Tempel oder wenigftend auf der Stelle, wo feine nun in den 
farneſtſchen Bärten aufgeftellte Statue gefunden wurde. S. Erifogono in Trafle- 
vere beilgt 22 Granitfäulen von verfchiedener Größe, die aus der Naumachie bei 
Auguftus und aus den Bädern ded Severus genommen find; außerdem zwei mäch- 
tige Borphhprfäulen und vier von orientalifhem Alabafler. Das trefflihe Plafond⸗ 
gemälde des Heiligen ifl von Buercino. ©. Gregorio Magno auf dem Monte 
Gelio if wegen der Ausficht bemerkenswerth, die man hier über faſt alle Muinen des 
alten R.'s genießt. Die Kirche ruht auf dem Fundamente eined Patrizierhaufes, defien 
Geſtalt fle beibehalten Hat. Santa Maria Egiziana — einfl, wie man vermu⸗ 
ihet, der Tempel der Fortuna Virilis — iſt eined der wenigen Ueberbleibfel aus Ver 
Beit der römischen Republik, während bei Weiten die meiften Altertbümer auß ber 
Kaiferzeit herrühren. Man datirt ihre Erbauung bis zu Servius Tullius zuräd. Das 
ganze Gebäude gehört zur jonifchen Ordnung, und feine Geftalt und fein Ebenmaß 
werden böchlich bewundert. Erfi im neunten Jahrhundert wurde der Tempel in eine 
Kirche verwandelt, indem man eine Mauer zwiichen dem Veſtibulum und dem inneren 
Raume durhbrah, um diefem Licht zu geben, und zwifchen den Säulen des Por⸗ 
ticus und den Salbfäulen der einen Seite Fenſter anbrachte. Hier werben für Die 
nah NR. kommenden oder dort wohnenden morgenlänvifchen Chriſten in koptiſcher 
Sprache Meſſen gelefen. Santa Maria Maggiore liegt auf der äußerflen Spitze 
des edquilinifchen Hügel® inmitten zweier großer Piazze, mit der Ausficht in zwei über 
eine Viertellunde lange Straßen. Ihre Lage iſt in der That die großartigfie, die fldy 
denken läßt. Am fchönften ift der Anblick der Kirche auf der Rückſeite vom Anfange 
der langen Via delle Fontane; mit ihrer ſchönen Façade und den zwei hochgewölbten 
Seitenkuppeln liegt fle tempelartig erhaben frei auf der Höhe, von welcher die Straße 
abwärts führt; vor dem Bortale erhebt ſich ein fchmwärzlicher aͤgyptiſcher Obellst, und 
dad ganze fchöne Gebäude erinnert fo aus der Ferne und von diefer Seite gefehen, 
an den Tempel in Raphael's Spofalicio. Zeigt dad Aeußere ber Kirche den Cha⸗ 
rakter der Größe, fo ift dad Innere nicht minder pracdhtvoll und erhaben. Es theilt 
N in eine dreifache Halle, zu deren Rechten und Linfen ſich prächtig verzierte Altäre 
und Kapellen, befonders die Sietus’ V. und die diefer gegenüberliegende der Familie 
Borghefe, hinziehen und an deren Ende unter der Kuppelmölbung der Hauptaltar ſich 
erhebt; er befteht aus einem antifen Sarkophage, den man durch eine Marmerplatte, 
Porphprfäulen und einen darüber rubenden goldenen Baldachin für feine jegige Bes 
fimmung geſchickt gemacht bat. Auch die herrlichen Marmorfäulenreiben, welche die 
Dede tragen, flammen aus dem Alterthum, und diefe Werke antiker Kunft, diefe 
Fragmente aus Tempeln und WMaufoleen, welche fo häufig die hrifllichen Kirchen R.“« 
Ihmüden, erfcheinen uns nidyt als eine Profanation derjelben, auch nicht als ein un⸗ 
rechtmäßiger, der Vergangenheit geraubter Beſitz, fonbern als ein rührendes Wer⸗ 
mächtniß der alten an die neue Zeit, welde fi gegenfeitig durch die Babe 
und Deren Benugung zu beiligftien Zweden ehren. Auch Santa Croee in 
Gerusalemme If eine Kirche aus altchriflicher Zeit, von Konflantin auf ben 
Auinen eined Venustempels erbaut, den er niederreißgen ließ. Sie iſt wegen ihrer 
alterthümlichen Form und ber acht koſtbaren Gäulen, die das Schiff Iragen, bemer⸗ 


E —— — —— — — 


Hom. (Dan) 303 


kendwerth. In der fchönen Kirche San Pietro in Bincoli auf dem Esquilin, 
deren Innered eine dreifache von antiken Marmorfäulen getragene Halle bildet, mit 
jehlreichen Grabmälern und Altarbildern, flieht man das Monument Julius IL, deſſen 
Hauptgeſtalt Michel Angelo's Mofes If, der dafleht wie der Donnergott, aber nicht 
fo, wie ihn die ſchoͤnheitsſinnigen poetiſchen Griechen, fondern zürmend, gewaltig, 
fizeng, wie ihn die Scandinavier und die alten Deutfchen ſich gedacht haben würden. 
In der Saeriftei dieſer Kicche flieht man außer einem fchönen Bilde — die Hoffnung 
son Guido Reni — auch das Heiligfle Beſitzthum derfelben, das ihr den Namen ge» 
geben hat: die Ketten, an melde Petrus In den Kerkern von Jeruſalem und R. ger 
feffelt war. Ganz in der Nähe liegt San Martins, eine der älteften Kirchen R.'s, 
im 5. Jahrhundert erbaut, doch fpäter vielfach erneuert.und verändert; fle erhebt fidh 
über einem Theile der Titugbäder, aus denen wahrfcheinlich die fchlanfen antiken 
Säulen ſtammen, welche das Innere in eine dreifache Halle theilen; aber nicht bloß 
das Alterthum bat dieſe geſchmückt, auch Heitere Bilder leuchten an den Wänden, 
Randichaftögemälde von Pouffin’3 Hand, die in büflern Kirchenräumen eine ungewohnte 
oberrafchende Erfcheinung find, befonderd da Die vom älteren Pouffin darein gemalten 
Geſtalten aus der heiligen Geſchichte im Ganzen faſt verfchwinden. Cine Treppe ne» 
ben dem Hauptaltar führt in zwei unterirdiſche Kirchen, deren tiefer gelegene ältefte 
aus den erfien chriſtlichen Sahrhunderten ſtammt und antike Fußbodenmoſaike und alt« 
byzantiniſche Malereien enthält, die in dem grabesbäftern Raum nur mit Mühe zu erken⸗ 
den find. Santa Marta in Ballicella erwähnen wir wegen ihrer reichverzierten 
Kapelle, welche das Grabmal ded, wie ihn Göthe nennt, „wunderlihen” Heiligen 
Selippo Neri enthält, und deren ſchöne Kuppel von Bietro de Eortona bemalt if. 
An der Piazza de Spagna, wo gewöhnlid die meiften Fremden wohnen, liegt bie 
wohlbefannte Dreifaltigkeitstirche (Trinita del Monte) mit einer trefflichen 
Ausſicht Aber Die Stadt und der Schönen breiten Treppe, die von der Piazza aus zu ihr 
hinaufführt. Die nahen Bärten der Billa Medici erhöhen die Anmuth ihrer Lage. Der 
44 Fuß hohe aͤgyptiſche Obelisk vor der Front diefer Kirche, welcher einft in den prächtigen 
Gärten des Salluft auf dem Monte Bincio geflanden, wurde erſt von Pius VI i. J. 1789 
bier aufgerichtet. St. Agnefe auf der Binzza Novana iſt eine der geſchmückteſten Kirchen 
in R., befonders reich an Gebilden moderner Sculptur, worunter Algardi’& berühmtes Bas⸗ 
relief der Helligen, die, ihrer @emänder beraubt, bloß von der Fülle ihrer Haare bekleidet 
iR, und die Kirche St. Conſtanza wird für einen Bacchuß- Tempel gehalten, meil 
der dort befindliche Sarfophag, der größte in R., mit einem Meltef geziert if, welches 
mit Weintrauben fpielende Kinder darficlt. Santa Maria in Eosmedin, auf 
und aus den Trümmern eined alten Tempeld gebaut und im Innern mit verjchiebenen 
Heften beflelben — Siüulen, Sculpturen, auch. einer antiten Badewanne gefchmüdt, 
welche im Laufe der Zeit eine eigene Berwandlung in auffleigender Linie erfahren Hat 
und zum chriftlichen Altar geworben ift, enthält ein uraltes ſchwaͤrzliches, auf Gold- 
grund gemaltes Marienbild, das von der Hand des Evangeliften Lucas herrühren 
und das aͤchte Bildnig der Madonna fein foll, die man fich aber lieber nah Raphael's 
göttlicher Anfchauung denken mag, und eine im Porticus der Kirche eingemauerte 
antife colofjale Maske. Diefer, die wahricheinlich der Meft eines alten Brunnens ift, 
Hat der Volköglaube eine befondere Bedeutung gegeben, denn es legt berfelbe dem 
geöffneten Munde, aus dem vermutblid das Wafler firdınte, die Kraft bei, die Hand 
jedes Lügners oder Meineidigen feflzubalten, weshalb er noch jest la bocca della 
verita beißt und der Sage nach vordem Häufig zur Prüfung der Wahrheit gebraucht 
worden if. Unter den zahlreichen Kirchen ift fafl feine, bie nicht irgend eine Merk 
mwürbigfeit der Kunſt ober des Alterthums entbielte; wir begnügen und nur noch eine 
anzuführen, die in ihrer chriftlicden Verwandlung zu den fchönften und befterhaltenen 
ber alten Tempel gehört. Das Pantheon, jeht nach feiner Geftalt Rotonda oder 
nach feiner neueren Widmung Chiesa di Santa Maria ad Martyres genannt, liegt auf 
ber Weſtſeite der Rione de Pigna. Sein Porticus, wie das ganze Gebäude von 
korinthiſcher Ordnung, ift ein Mufter der Vollendung. Er wird in einer Doppelreibe 
son 16 Säulen aus orientaliſchem Granit geflüßt, deren 42 Buß hohe Schäfte je 
and einem Stein beſtehen. Es iſt zweifelhaft, ob Agrippa das Ganze, ober nur den 


304 Nom. (Das neue 9.) 


Portieud baute. So wie ed damals zuerft emporgefliegen, ernſt und fehl, ſteht das 
Pantheon noch fegt, unberührt vom Einfluß der Jahrhunderte, und das, was ihm bie 
Freunde oder Feinde R.'s geraubt ober ihm an unpaflenden Schmud gegeben, flört 
nicht den erften überrafchenden feierlichen E@indrud. Die Zeit hat ihm nichts genom- 
men, ihm nur gegeben, von Jahrhundert zu Jahrhundert feine Beſtimmung veredelt, 
doc iſt er noch immer eine Art von Pantheon — erſt allen Göttern, dann ben be« 
rühmten Männern, nun allen Märtyrern geweiht. Diefe weite, hochgewoͤlbte Marmor⸗ 
Motunde, welche Michel Angelo die Idee und das Modell zur St. Peteröfuppel gab, 
macht zuerſt einen öden, melancholiſchen Eindrud; denn der ganze Raum fcheint leer, 
und die Altäre, die in den Nifchen längs der Wände angebracht find, Tann man An- 
fangs bei dem matten, durch die Kuppel=- Deffnung dringenden Lichte Taum bemerken. 
Eine Stelle zieht Jeden vor allen an, die, welche eine einfache Marmorplatte als 
Naphbael’E Grab bezeichnet. Wine Meine Viertelſtunde außerhalb der Mauern 
N.'s, an der alten appifchen Straße, liegt die Kirhe San Sebaſtiano mit 
der berühmten Statue dieſes Heiligen von Giorgetti. In einer der Kapellen 
diefer Kirche führt ein Eingang in die Katakomben (f. d.), unterirdifche Höhlun- 
gen, die fi menden und winden und unter einander durchkreuzen wie bie Straßen 
einer Stadt. Früher hatten die Katakomben, die fi unter einem großen Theil der 
Stadt Hin verzmeigen, mehrere Ausgänge, die aber zum größten Theil verfchüttet find. 
In der Nähe des noch offenen Einganges an der appifchen Straße flieht das mächtige 
tempelrunde Gebäude, dad dem Andenfen der Cäcilia Metella von ihrem Gatten 
Crafſus geweiht wurde, der fih im Stolze des Triumpir wohl felbft ehren wollte 
durch das gewaltige wie für eine Ewigkeit erbaute Monument, dad, cher dad Brab- 
mal eines Eroberers, eines Schlachtengewinners fein fönnte, auch im Mittelalter zu 
Eriegeriichen Zweden benutt und in eine Art Feſtung umgewandelt wurde, deren 
Spuren man noch leicht erfennt. — Während man im nördlichen Europa gewöhnlich 
nur die Wohnungen der Fürften, große Staatögebäude u. dgl. Palaͤſte nennt, wird 
in den italienifchen Städten der Name Palazzo jedem einigermaßen anfehnlichen 
Haufe beigelegt, das einen Thorweg hat und nidyt gerade von Handwerkern oder Ge⸗ 
werböleuten bewohnt wird. Doc iſt der Paläfte im eigentlichen Sinne in R. eine 
große Anzahl, und viele, ja die meiften davon, find wirklich prachtvoll zu nennen. 
Indeflen liegt dieſe Pracht mehr in der Architektur und der ganzen äußern Erfcheinung 
der Gebäude, als in deren innerer Einrichtung für die Bedärfniffe und Bequemlich- 
keit der vornehmen Welt. Aus der Menge der berühmten dffentlichen und Privates 
paläfte heben wir bier nur einige aus und beginnen mit dem Batican. Diefes in 
der Nachbarſchaft der Peteröfirche gelegene ungeheure Gebäude iſt nicht ſowohl ein 
einzelner Palaft, als eine Aneinanderreihung mehrerer, an Styl und Dimenflonen ver- 
fhicdener Palaͤſte. Er umfaßt in drei Stodwerken eine Anzahl großer Hallen und 
Säle, Brunfzimmer, Kapellen, Galerieen, Corridors x. Dabei zählt man 20 Höfe 
und fiber 200 Treppen, mworunter die undergleichlidhe Scala Regia. Sie führt, von 
der Meiterflatue Konftantin’8 am Portikus von St. Peter auffleigend, auf einer vier- 
fachen Folge von Marmorſtufen zmifchen ioniſchen WMarmorfäulen zum SHaupteingange 
des DVaticand und bildet, von oben wie von unten gefeben, eine Berfpective von 
wundervoller Schönbeit. Mit dem Batican flehen die beiden Kapellen, die Pau⸗ 
liniſche und Sirtinifcdhe, in Verbindung. In fener bewundert man den Hoch⸗ 
altar mit dem Irpftalfenen Zabernafel, die größtentheild von Michel Angelo herrüh⸗ 
renden Wandgemälde und den Plafond von Federigo Zuccheri. Die Sirtinifhe Ka- 
pelle enthält Michel Angelo’8 unvergleichliches Gemälde des Iehten Berichte. Der 
Bau des Vaticans felbft wurde ſchon gegen Ende des 5. oder zu Anfang bes 
6. Jahrhunderts begonnen, dann von verfhiedenen Päpften bis herunter zu 
Pius VI. vergrößert, reparirt und verändert; alle große Architekten R.'s wurben 
an einem oder dem anderen Theile dieſes gewaltigen Baues vermenbet, ber 
eine fo hohe Berühmtheit durch feine unvergleichlihben Kunft«e und wiffen» 
ſchaftlichen Schäße, die er enthält, für die ganze gebildete Welt Hat. 
Alles trägt den Stempel vergangener Größe und eines großartigen Enthuſtasmus für 
die Heimath und die Künfle, und als zulegt Pius VI. und VII. nichts mehr im 


x 


Rem. (Das neue 8.) 305 


Vatican zu thun übrig laffen, fo verwandelt Gregor XVI. den Palaft vom Lateran in 
ein nened Mufeum und vuft die Bafllifa St. Paul's (fuori le mura) aud der Afche 
hervor. Schönhelt, Geiſt, Tugend, Hoheit leuchten Einem aus zabllofen erhabenen 
Gebilden, die in den Sälen de8 Muſeo Slementino aufgeflellt find, entgegen. 
Wir fehen unter Anderm den Apoll von Belvedere, den Meleager, dann die majefti« 
tischen Jupiter⸗ und Neptungeflalten, endlich die Zaofoongruppe. Außerordentlich, 
wie das Muſenm ber Sculptur, iſt die Semäldegalerie des Vaticans. Nur etwa 
ſechszig Gemaͤlde enthält fie, wovon 30 Meifterfiüde. Leber alle ragt hervor bie 
Bertlärung GChriftt, das Wunderwerk Raphael's, defien Sungfrau von Fo— 
ligno und Domenichino's berühmte Gommunion des heiligen Hieronymus 
fhmäden denfelben Saal. Den Schöpfungen Raphael's gebührt ein befonderes 
Studium, und dieſes Studium if nur in R. oder Florenz möglih. Seine Fresken 
im Batican wären allein fchon der Neife nach R. wertb; man möge ellen, fle noch 
zu betrachten, bevor die Zeit deren legte Spuren verwifcht hat, die Verwüſtung ifl 
nur zu fihtbar. Schon droht der erhabenften derfelben, der Schule von Athen, 
der nahe Untergang. Um ſich von der Höhe, die Raphael im Golorit erreicht, zu 
überzeugen, genügt eB, In denfelben Sälen die Befrelung Sanct Peter's, den 
Streit der Kirchenväter über das heilige Sacrament (la disputa), eo den 
Großen vor Attila zu betrachten, die drei am beflen erhaltenen Fresken. Die 
Malereien Raphael's in der äußern Galerie, eine Tieblihe Epifode feiner reizenden 
Dichtung im Felde der Architektur, vollenden bie erhabene Idee Tünftlerifchen Genie's 
in feinem höchften Ausdrud. Dann aber möge man auf der Sirtintfchen Kapelle nach 
San Bietro in Binceulis eilen, um bier den Moſes Michel Angelo’3 zu frauen, daß, 
wie ſchon erwähnt, großartigfle Bildwerk der modernen Sculptur. Außer feinen 
großen, der Kunft geweihten Mufeen, worunter dad ägyptifche und etruskiſche 
eine Menge merkwürdiger Altertbümer aus der altägpptifchen und altitalifchen Zeit 
enthalten, beſitzt der Batican in feiner Bibliothek eine der reichften, durch die beträcht- 
liche Anzahl der Handfchriften und die Auswahl der Bücher, durch die Pracht der 
2oealitäten aber die fchönfte der Welt. Trog Allem, mas man über diefelbe verbreitet 
bat, wird dennoch ihre Benutzung den Fremden leicht geftattet, und die Zuvorkommen⸗ 
heit der Conſervatoren iſt nicht geringer als deren Gelehrſamkeit. Ganz nahe an ber 
Kirche zu St. Johann im LZateran liegt ein zweiter päpfllihder Palaſt, der latera- 
niſche. Urſprünglich im Beſitz der altrömifchen Yamilie der Laterani, ging er, nach⸗ 
dem dieſe gegen Nero ſich verfchworen hatten, in die Hände der Kaifer über und wurde 
von Konftantin, bei defien Ueberfleblung nach Konflantinopel, dem römifchen Bifchofe 
geſchenkt. Sirtus V. ließ ihn durch den berühmten Fontana ganz neu aufbauen. Der 
Bauſtyl iſt einfach, aber drei gewaltige Zronten geben dem Palaſt bei feiner hohen 
Zage ein großartiges Anſehen; nur ift der große Vorplatz in einem Zuftande fchlimmer 
Bernagläffigung. Die gewöhnliche Mefidenz des Papfled If der quirinalifcdhe 
Balaft oder der, wegen zwei colofjaler antiker Pferdebilder fogenannte Palaſt von 
Monte Eavallo, mit weitläufigen und fchönen Bärten, in der Rione de Trevi, auf 
dem linken Tiberufer, faft mitten in der Stabt. In die aus dem Grabmal Hadrian’s 
entfiandene Engelöburg (f. d.), die Citadelle R.'s, zog ſich fonft der Papfl bei 
Bolksauffländen zurüd; der Batican dient zur Abhaltung des Gonclave, wegen der 
ungefunden Luft jedoch nur felten als Mefldenz der Päpfte, die feit Konftantin bis zur 
Berlegung des paͤpſtlichen Stuhles nach Avignon im Lateran, nach der Rückkehr des 
Papfles nah R. 1377 im Vatican und feit dem Anfange des 17. Jahrhunderts im 
Dairinal wohnten. Nur der gegenwärtige Bapft Pins IX. reſidirt im Vatican. Der 
Lateran enthält in feinem erft neuerlich begründeten Mufeum werthvolle Kunſtwerke, 
inſonderheit antike Sculpturen. Den heidniſchen folgen chriſtliche Altertbüner — 
Altaͤre, Moſailen x. und endlich eine kleine Sammlung von Werfen altitalieniſcher 
Baler, unter denen ſich ein herrlicher Carton von Giulio Romano, die Marter des 
St. Stefano, befindet. Zu den offentlichen Gebäuden gehört bad Capitol, 
die meiſten und größten Merkwürdigkeiten nach dem Batican enthaltend, vor dem e8 
dabei Died voraus bat, daß die glänzendflen Erinnerungen an bie Herrlichkeit 
der alten Weltflabt gerade mit feiner Stätte und mit feinem Namen verfnüpft find. 


Wagener, Staats⸗ m. Geſellſch.⸗Lex. XVIL 20 


⸗⸗ 


306 Kom. (Das neue M.) 


Mafeftätifch erhebt ſich Der Balaft auf dem capitolinifhen Hügel, der einft mit 
Tempeln fo befäet war, daß er die Wohnung aller Götter ſchien. Der befte Aufgang _ 
zum Gapitol oder, wie der Neurömer jagt, Gampidoglio, ik von der Via di Ara 
Eöli, an deren Ende fi, nahe an einander, zwei hohe Treppen, jede von ungefähr 
1200 Stufen, darftellen. Die ſich links mwendende Treppe führt zur Kirche Ara Göli, 
Die, wie man vermuthet, an der Stelle des Tempels des oapitolinifchen Jupiterd fleht 
und hinter dem Flägel des jegigen Palaſtes gelegen if. Auf der Höhe angelangt, 
flebt man auf einem geebneten Raume von beträchtlicher Ausdehnung eine Reihe zwei- 
flöcttger Gebäude, den neuen Palaſt vor fich liegen. Der linke Flügel bilder das 
capitolinifhe Muſeum; der rechte, der Balazzo dei Konfervatori, ents 
hält eine Gemäldegalerie, der mittlere Haupttheil iſt zu Staatsbureaur eingerichtet. 
In der Mitte der Arena, nach ber offenen Vorderſeite gewendet, flieht die mächtige 
antike Neiterflatue Marc Aurel’8, Hinter Ihr rauſcht ein Springbrunnen in ein antif 
verzierteß Becken nieder und zur Seite erheben fi die colofjalen Statuen der Diod« 
turen, während zu Füßen der Treppe zwei fleinerne Lowen, altägyptifche Kunftwerfe, 
ruben. Den Hof eine der Paläfte fchmüden Sculpturenfragmente, fo wie die beiden 
großen Statuen des Gäfar und Auguſtus, und der Palaſt, der die Antikenſammlung ent⸗ 
hält, birgt eine fo große Menge von Helden- und Ödttergeftalten, von Büſten der Kaifer 
und berühmten Männer, von Reliefs an Vaſen und GSarfophagen, daß ed unmöglich 
if, aus diefer Fülle ded Schönen und Intereffanten Einzelnes zu nennen, und nad 
unmöglicher, dies Einzelne, den ſterbenden echter vielleicht oder den Satyr 
des Prariteles oder den berühmten Faun, diele größten Schäße der Sammlung, 
zu bejchreiben, oder die Schönheit der befannten capitolinifhen Venus, der Leba und 
der reizenden Gruppe von Amor und Piyche zu fchildern. In dem Palaſt der Con⸗ 
fervatoren ſieht man viele große, öde, Raubige Säle mit verblichenen Wandmalereien 
von Garracei, Sadoma, Daniel da Bolterra u. a., unter den Sälen iſt auch der, in, 
dem die Dichter gekrönt wurden, von eben fo unfeftlichem Ausſehen, verräuchert, 
ſchwarz wie die übrigen. Freundlicher ald in diefen oberen dunklen Sälen ift es in den 
untern Räumen, wo man eine Art Pantheon gegründet und bie Büſten aller berühm- 
ten Staliener aufgeftellt bat. Dichter, Maler, Muſiker, Bildhauer, Weltentdeder find 
bier verfammelt. Auch drei Deutsche haben Hier einen Ehrenplatz gefunden: Angelica 
Kauffnann, Windelmann und Raphael Mengs. Don den übrigen äffentlidgen Gebäͤu⸗ 
den nennen wir nur noch einige, darunter zuerfi den Gerichtspalaſt (Palazzo bi 
Montecitorio, Curia Innocenziana), in welchem alle Juftizbehörben verfammelt find; 
er ift von Fontana und Bernini erbaut und gehört unter die fchönften Gebäude der 
Stadt; ferner die Bancellaria, von Bramante oder San Gallo erbaut; die Steine 
dazu wurden vom Goloffeum und einem alten Bogen des Gordian genommen; hier 
wohnt der Kardinal Bicefanzler; die Dogana di terrg, an der Piazza di Pietro, 
das Zollhaus, deffen Borderfeite elf Säulen vom Tempel des Marc Aurel find; den 
Palazzo della confulta, von Fuga erbaut, die Wohnung des Cardinal⸗GSeecre⸗ 
tär der Breven, den Balafl der Inquifition, unweit der Petersfirche, die neuen 
Gefängniffe (Carcere nuove) in der Strata Giulia, unter Papft Innorenz X, 
gebaut und eingerichtet, und den Monte di PBieta, ein dffentliches Leihhaus, zu 
defien Stiftung 1539 Paul TI. den Anlaß gab und das Klemens VII. in fein jegiges 
fhöne® Gebäude verlegte. Der beveutendfle unter den vielen Brivatpaläften if 
der Barberinifche mit feinen großen und anmuthigen Gaͤrten. Er wurde yon 
Bernini in einem guten Styl erbaut, und Papft Urban VII und feine Nepoten ver- 
wandten große Summen auf deſſen Verichönerung. Er liegt zuhöchſt auf dem Quiri⸗ 
nalifchen Hügel. und enthält eine reihe Sammlung Eoftdarer Gemälde und Bildhauer- 
werke. In der Bibliothek befinnet ſich ein reicher Schag von Handfchriften. Der 
Palaſt Borgheſe, in der Nähe der Mipetta und der Porta Pinciana gelegen, weit⸗ 
Iäufig und von fhöner Architektur, wurde auf Koften des Garhinald Scipiene Borg⸗ 
befe erbaut und ift in Hinficht feiner Gemälde der wichtigſte unter den Privatpaläften. 
Den düſtern Palaft Corſini, deſſen Gärten ſich bis zum. Janiculus binaufziehen und 
deffen hohe, mit verblichener Pracht gezierte Hallen und Gemächer einft Ehrifline von 
Schweden bewohnte, vereinigt reiche Kunflfchäge., Ganz in des. Nähe liegt zwifchen 


Kom. (Das neue R.) 307 


malerifh verfallenen Käufern der dunkle Balaft der Farneſe, die durch Raphael's 
Schöpfungen berühmte Farnefina, die dem König von Neapel gehört. Nicht minder 
werthvolle Schäge bergen die übrigen PBaläfte, wie der der Doria Bamfili, Co— 
lonna, Spada ꝛe., in denen, wie in allen, fi die eigentlichen Bewohner in die 
verborgenften Winkel zurüdgezogen zu haben fcheinen, um der Kunft alle übrigen 
Näume zu überlaffen. Die Villeggiatura in ®. iſt nicht aus Willfür oder Mode 
hervorgegangen, die Natur, das Klima Hat fie geboten und der Staat erfennt fie an 
dur Die allgemeinen Ferien. Sie if die für Alle beſtimmte und gewährte Zeit 
der jährlichen Ruhe und Erholung: die ganze Familie theilt fie und die flätifche 
Wohnung wird einem alten Hüter überlaffen. Die Zahl der berühmten Villen ifl 
groß; mir begnügen uns jedoch mit der Aufzählung von dreien, nämlich der Billa 
Borghefe, der Lieblingspromenade, den champs elysees R.'s., eined jener colofja- 
len Beflgthümer, wie der römifhe Adel zu den Zeiten feiner Macht deren erwarb, der 
Billa Doria Pamfili, auf einer freien Gartenhöhe ſich erhebend und mit offenen 
Arkaden und antiken Skulpturen gefhmädt, und der Billa Albant. Leptere kann 
man nicht mit Stillfehweigen übergeben; dies Aſyl eined Gelehrten und großen Herrn 
in der alten Bedeutung des Wortes; hier war ed, wo bie moderne Archäologie ges 
boren wurde, Hier machte Windelmann feine trefflihen Borfchungen und Ra⸗ 
phael Mengs fehmüdte dieſe Stätte mit feinen Malereien. Der Einfluß des gelehr- 
ten Archäologen auf den gelehrten Cardinal und die Beziehung ded Mufeumd Al- 
bant zur Bründung der Mufeen des Vatican bilden eine merkwürdige Epoche für 
die monumentale Gefchichte des Alterthums. Niemals wurde ein Sammler fo von 
den Umfländen begünftigt, ald der Cardinal Aleffandro; aud enthält feine Samm- 
lung, die zum Theil in die Hände der Megierung Übergegangen ift, eine Menge koſt⸗ 
barer Schäge. Die Gegend der Stadt, welche die meiften Trümmer alter Den» 
male enthält, ift dad Forum Romanum, jener edle Raum, auf dem einft die 
Republifaner rathfchlagten und redhteten. Ueber den aus dem Staube zerfallener 
Trümmer gebildeten Boden fleigen Säulengruppen, die Nefte der Tempelder Eon- 
corbia, de8 Saturn und der Minerva empor; tiefer, nabe der Kirche San 
Martino, ragt eine dunkle Wölbung des Septimus-Severus⸗Bogens über dem 
ungleichen, zerwühlten Boden auf; mehr in der Mitte erhebt fi die graue hohe 
Phokasſäule, die ſchon den chriſtlichen Jahrhunderten angehört, aber aus Ueber» 
reften früderer Tunftfinnigerer Zelt zufammengefeßt ifl; rüdmärts zeigen ſich über 
Schutt⸗ und Aſchenhaufen die Eahlen Mauern des Capitols und man fleht hier 
“und zwifchen den Trümmern des Forums die Spuren der Via Sacra, auf ber nur 
Auderwählte der hohen Veſte nahten; rechts ruht der Mond Palatinug, mit Gr 
fräpp und Geflräud, Ruinen und Schutt bedeckt; auf der linken Seite des Trümmer» 
felde8 ſtehen mehrere Kirchen, ernſt und feierlich, wie Zeugen vom Siege des 
Chriſtenthums über dad zerfallene Heidenthum; an biefe fchließt ſich ein hochgewölbter, 
bräunlich gefärbter Ueberreft von Konftantin’s Bafilica, die auf der Stelle des 
alten Friedenstempels erbaut wurde, und dahinter fleigt ein mittelalterlicher Gloden- 
thurm empor. Alles ift öde zwifchen diefen Ruinen, die Natur fcheint nicht zu wagen, 
fich jenen letzten Meflen der alten Mömerzeit zu nähern. Die gerade Straße, die den 
Abhang hinunterfährt, ift vom Triumphbogen des Titus übermölbt und zieht 
ſich weiter rechts durch den Ahnlihen Bogen Konftantin’8 hin; in ber Mitte des 
Bildes erhebt ſich, über Alles erbaben, dad Coloffeum, das in röthlihbrauner Fär- 
bung ernft aus dem blauen Himmel hervortritt und deffen hohe Galeriemölbungen weit« 
bin ſichtbar find; ganzim Hintergrunde ziehen fich in [schöner Linie die blauen Albanerberge Hin. 
Das römiſche Jahr zerfällt auf das Deutlichfte in zwei gefonderte Hälften. Es mag 
mehr wigig als wichtig ſcheinen, iſt aber richtig und allzu auffallend, um nicht be= 
merft zu werden, daß dieſelbe Zwiefältigkeit und Zwiefpältigfeit, welche dem Jahred- 
lauf das Anfehen eines Ianudbildes giebt, am römifhen Wefen auf allen Sei⸗ 
ten, in jeder Richtung, an der Schale wie am Kerne, ſich hervorthut. Betrachte man 
das Regiment, es iſt geiftlich und weltlich zugleich. Betrachte man die Stadt, den 
Leib der gefammten Eriftenz, man findet ein Doppelbing in jedem Sinne, doppelt in 
zeitlicher, doppelt in räumlicher, doppelt in äfthetifcher, doppelt In gewerblicher Bezie⸗ 

20* 


308 Rom. (Das neue R.) 


bung; eine Stadt, modern fo fehr bier und antif dort, daß man zwiſchen beiden die 
Sperrkette ziehen Fönnte, bier mohlgehalten, dort in Trümmern, bier bewohnt, bort 
verödet, hier Stadt, dort Land, bier Paläftle, enge Straßen, Gewerbe und Gewirr, 
dort Aeder, Gärten, Weinberge, Einjamfeiten, alles diefes innerhalb derfelben Mauern. 
Ja, betrachtet man auch Nichts als Licht und Luft, wer wüßte nicht, wie grell Hier 
die Gontrafte find von Schatten zu Sonne, von Dunkel zu Hell, von Kalt zu Warm, 
Kein Wunder, wenn in einer ſolchen Stadt auch die Bevölkerung zwei Beflchter 
bat, das eine heiter, rubig, ausdrucksvoll, dad andere unflät, launifch, metterwene 
diih, Dad eine verwunderungdvoll, das andere neugierig, einheimiſch das eine, das 
andere fremd. Und eben fo fein Wunder, wenn ſie beide nie zugleich, fondern ſtets 
dad eine um das andere zeigt; daß eine das Sommer-Antlig, das andere iſt 
die Winter-Madfe MR iſt auch in diefer Hinficht zweierlei NR, R. der Römer 
und R. der überfeeifchen und überalpinifhen Zugvögel, die bald auf län« 
gere, bald auf Fürzere Zeit in ihm raften; jene Landes⸗Fremden, die ſich dauernd 
niederlaffen, muß man im Ganzen zu den Römern zählen, denn die Romheit R.'s 
verzehrt unglaublich fchnell das ihr Widrige und artet ſich dem leicht eroberten Fremd⸗ 
ling unwiderftchlih an. Der Fremdenzug, die Feſt⸗Charaktere der heiligen Fage, die 
Vertheilung mancher Geſchäfte und der Wechfel der Temperatur, diefe find es, unter 
deren mannicdhfaltigen Einflüffen die Wandlungen des römifchen Jahres gefchehen. 
Im Winter, wenn die Fremden die Stadt anfüllen, ziehen die Roͤmer fi fo viel 
als möglich in die Heimlichkeit der Wohnungen zurüd, Die Gefchäfte jeder Art find 
dann in wenig ununterbrochenem Gange; die Galerieen, die Bibliotheken jInd den 
Kiebhabern, den Gelehrten geöffnet; die Schulen find in voller Thätigkeit; die Straßen 
find den handthierenden Bürgern, den Hungrigen Lohndienern, Biceronen, Miethé⸗ 
futfchern und den nahrhaften Gäſten, an denen diefe und jene nach Kräften zehren, 
preiögegeben. Die Kirchenfefte find in diefer Zeit vorzüglich ernfl, erhaben, feier- 
ih. Es find die hoben Feſte vor der Geburt des Herrn bis zum heiligen Frohn⸗ 
leihnam bin. In diefer Zeit läßt fort und fort die päpftlihe Kapelle ihre allge» 
feierten, feierlich würdigen Gefänge vernehmen. Mancherlei Volksluſt fohlingt die 
farbigen Fäden durch das ernfle und bedeutfame Gewebe der Eeremonieen; die Piffe- 
rari fingen und fpielen vor den Madonnabildern; die Pizzicaroli pugen Ihre Läden 
mit Fett und Lichtern und Klittergold auf; die Brittellari fchüren ihre Kohlen und 
rühren in den Pfannen, daß ed bädt und brußelt nach Herzensluſt; St. Peter's Dom 
fegt fein blendendes, zauberifches, flimmerflammendes Perldiadem auf; dad Engels» 
Kaftell entladet jih In Feuer» Kascaden. Und daß bei dieſem Allen nicht doch noch 
der Ernſt gar überhand nehme, ſpukt recht inmitten biefer Jahreshalbe ver 
Carneval dazwiſchen. Feſte, Feſte, Feſte! Heilige Feſte, profane Feſte, Kirchenfefte, 
Volksfeſte, Stadtfeſte, Landfeſte, Winterfeſte, Sommerfeſte, gemeine, hohe und Jubel» 
feſte! — Noch heute ſchreit, wie vor Tauſenden von Jahren, panem et circenses dae 
Voll. Die Sommerhälfte des Jahres rechnet man am bequemſten von Corpus 
Domini, etwa Ende Mai bis zum Ende des Octoberd. In ihr find zwei Monate den 
Freuden geweiht, der Auguft, feit uralten Zeiten fefllih, und der October, die eigent- 
liche Luſt- und Ferienzeit. Die kirchlichen Befte des Winters unterfcheiden ſich ſchon 
durch Inhalt und Bedeutung von denen des Sommers. Den großen Mpfterien bes 
Gotteslammes geweiht, bilden fie, Ring in Ring, eine wohlgefügte Kette, Verkündi⸗ 
gung, Geburt, Tod, Auferſtehung, Himmelfahrt, Geift-Ergiefung, dreieinige Gottheit 
und der Sühne Berewigung im hochheiligen Sacrament. Die Feſte des Sommerd 
fallen dagegen vereinzelter auseinander, indem fle die vielen Heiligen, Apoftel, Mär- 
tyrer, Engel und Jungfrauen, vor Allen die Jungfrau der Jungfrauen, die Gott- 
gebärerin felber feiern, zulegt um das Ende des Detoberd oder mit Novembers Anfang 
aus der Zerfireuung vielfültigen Gedächtniſſes und Dienftes in den Tagen Aller Heir 
ligen und Aller Todten fih zur Einheit fammelnd. Die Anbetung der Madonna 
fehlt in R. zwar feine Zeit des Jahres, denn da der Mai chemald der einzige Monat 
war, In melchem fie feinen Tag der Ehre hatte, ift endlich diefer ganz ihr geheiligt 
und fo zum eigentlichen Marien-Monat geworden, aber vorzugsweiſe den Sommer ver- 
herrlichen die meiſten und außgezeichnetften Marienfefte, unter Diefen die Geburt, bie 


Kom. (Das neue R) 309 


Heimfuchung, die unbefledte Empfängnig, die Aſſumption. Nicht genug, daß ihren 
Triumph fo viele Feſte und der ganze Mai erhöhen, find auch noch ihrem heiligen 
Herzen befondere Altäre aufgerichtet, befondere Vereine geftiftet, befondere Culte bereitet 
und wiederum ein ganzer Monat, der Auguft, geweiht. Marta Santiffina, wegen 
vielfältiger Wunder und Rettung aus Peſt, Feuersbrunſt und anderer Gefahr, gilt 
der Stadt für ihre wahre Schükerin und Advocatin; daher ihr Tag und Nacht viel 
Devotion dargebradht wird. Fromme Brüder nehmen von ihrer Anrufung den Namen 
her; ihren Bildern faft allein, mit Blumen geziert, mit ewigen Lampen und gelegent« 
lich mit reicherem Aufwand an Schmud und LXichtern, begegnet man in allen Straßen; 
ihrer Kirchen find 66 in der Stadt; unter vielen Titeln wird fle angerufen, als die 
Madonna des Helles und der Hülfe, des Troſtes, des guten Rathes, der Schmerzen 
und der Gnade, als die Tröfterin der Betrübten und die Königin der Engel, auch 
unter fremden Titeln, ald vom Karmel, von der Eidye, von Loretto; ihre wunder- 
thätigen Bilder, z. B. welches 1796 mit lebendigen Augen die Umſtehenden ange: 
bliddt oder das berühmte Bild von St. Sifto e Dominico oder von S. Maria Mag- 
giore, find ftets von Betern umdrängt und locken an befonderen Feſten größere Schaa- 
ren von Oläubigen an. Wie gefagt, mitten In die Kirchenfefle des Winters fällt der 
Garneval. Sämmtlihe Theater, worunter dad Teatro Apollo, im Beil 
des Bürften Torlonia, dad Teatro di Argentina und d'Aliberti, letzteres auch 
für Nedouten beflimmt, die größten find, füllen fi mehr als fonft, aber die Mas⸗ 
Penfpiele, in Gozzi's Geſchmack, mit Lazzi und Improvifationen durchwirkt, die 
zmar manchen Anſtoß gegen die Gefege und Züchtigfeit, aber dermalen durchaus Feine 
Anzliglichkeiten gegen Staat und Kirche enthalten dürfen, find das eigentliche Feld der 
Jtaliener, ‚und hierin befommt man in den römifchen Volkstheatern nicht felten Acht 
Ergdgliches zu hören und zu fehen, während das höhere Drama, befonderd die Tra- 
gödie, im alten wie im neuen Italien nicht recht gedeihen will. Dad Beliebtefte aber 
ift nattırli Die Oper, und es giebt in Stalten feine Stadt, wo den Sängern mit 
ſolchem Enthuflagmus applaudirt wird, wie in R. Befannt aus Göthe’s meifterhafter 
Schilderung find namentlich Die lebendigen Scenen auf dem Eorfo in der legten Car⸗ 
nevalswoche, deren Bergnügungen aber in den letzten bedenklichen Jahren fehr verfürzt 
wurden und überhaupt Hinter Denen einer früheren Zeit zurüdfteben. Die alten 
Römer beſaßen die hohe Richtung des Geiftes, die Würde und Erhabenheit der Ge⸗ 
finnung, mie fle einem „Volke von Königen”, berufen, den Erdkreis zu beherrfchen, 
zufam. Aber von den heroiſchen Eigenfhhaften der alten Roͤmer, was bat fih davon 
auf die neuen vererbt? Sind fle bochfinnig und unbeugfam wie ihre Altvordern ? 
oder find fie nicht vielmehr ein zahmed, kleinmüthiges Gefchlecht? nicht die Abfümm- 
linge von den Herren der Welt, fondern die Baſtardnachkommenſchaft jeder feindlich 
einbrechenden Horde? Um diefe Fragen zu beantworten, muß man bedenken, daß R. 
Die Zügel der Welt Tängft verloren hat. Und doch find einige Züge des Alterthums 
noch in deutlichen Linien im Charakter der Neurömer bemerkbar, fo wie unter den 
Paläften der gegenwärtigen noch manche Spuren der ehemaligen Stadt fichtbar find. 
Diefe Aehnlichkeit wird ſehr natürlicher Weife durch mehrere Umftände erhalten. Die 
Sprache ihrer Vorfahren macht einen mefentlichen Theil ihrer Erziehung aus, und fo 
werden fie frübzeitig mit dem alten Ruhme ihres Vaterlandes befannt und fchöpfen 
aus deſſen Geſchichte ein flolzes Bewußtſein, das nicht ohne Edelfinn if. Die 
felbe Wirkung bringt nothwendig auf fie die tägliche Betrachtung der großen 
Monumente hervor, welche als ſtumme Zeugen an die alte Herrlichkeit mahnen. Die 
Eingeborenen einer ſolchen Stadt, Immer von würdigen Gegenfländen und großen 
Erinnerungen umgeben, Fönnen fein ganz gemeindenkendes, am Boden Friechendes 
Geſchlecht fein, fle find flolz auf ihre Heimath, und ein Abglanz von der Würde und 
Hoheit ihrer Vorfahren fällt noch auf diefe, in fo mancher andern Rüdficht beflagend« 
werthen Spätgebornen. Beeilen wir und hinzuzufügen: dieſer Abglanz verhält fich 
zu dem alten Glange, wie etwa die jegige Einwohnerzahl R.'s zu der im Alter- 
thum. Damald gegen 2 Millionen Eeelen in R., jetzt 182,580. Bragt man nad 
den geiſtigen Beftrebungen der Neurömer, fo iſt die Hinnelgung zur Kunft, 
namentlich zur Bildenden unverkennbar. Für Die Malerkunft beſtehen eigene Akade⸗ 


310 Kom. (Das neue 9.) 


mieen, fo die Accademia di Francia (franzöflfche Malerafademie), welche ſich 
in der Billa Medici befindet, die von WBenedict XIV. geftiftete DMalerafademie im 
Capitol und die von San Lucas, zugleich für Bildhauerei und Baufunft, 1588 
von Sirtus V. gefliftet, und es läßt ſich nicht läugnen, dab das römifche Künftler- 
leben und Wirken, bei einem förbernden Wetteifer der dortigen Kunſtjünger aus allen 
gebilbeten Volkern Europa’d und der neuen Welt, von einem glüdlichen Aufſchwunge 
Teit längerer Zeit ergriffen if. Weniger günflig ift e8 um die Wiffenfhaften 


beftellt, obgleih an gelehrten Anftalten in R. Fein Mangel if. Das Collegium ber 


Universität, genannt della Sapienza (nah der Inſchrift am Hauptthore: Inilium 
sapientiae limor domini), gegründet und erweitert von den Päpflen Innocenz IV. im 
Jahre 1245, Bonifaz VII. im Jahre 1303, Clemens im Jahre 1311, if ein groß» 
artige8 Inflitut mit 32 Profefforen und 900 Studirenden. Außerdem find die Ac- 
cademia ecclesiastica, 1706 gegründet, dad Seminario romano, worin 
100 Söhne der vornehmften römifhen Bamilien, welche überdied dad Collegio 
romano befuchen, erzogen werden, dad Collegio clementino, melden der 
Orden der Somaſchi vorficeht, dad Collegio germanico, wo einige Hundert 
junge Deutſche und Ungarn gebildet werden, und das Gollegio dipropaganda. 
Zegteres von Urban VIII. gegründet, ift eine Anſtalt, der jeder gottesfürdtige und 
denfende Menſch, gleichviel welcher Confeſſion er angehört, die hoͤchſte Achtung 
zollen wird. Der erbabenen Bellimmung der Verbreitung des Evangeliums 
über die Erbe zu gefchweigen, fo unterliegt es feinem Zmeifel, daß, nur von der phie 
lologifcyen Seite betrachtet, ſich Feine Anflalt für Laien in Europa mit der genannten 
zu meflen vermag. Und endlich find neben den Bibliotgefen, deren berühmtefte 
wir bereitö erwähnt Haben, die Alademieen und gelehrten Geſellſchaften zu 
nennen, wie die Arcadia, die Archeologica Pontificia, welche die erfle unter 
den italienifchen gelehrten Gefellfchaften war, bie den Namen und die Geftalt einer 
wahren Akademie annahm, die Akademie der Lincei (Luchſe), älter ald die von 
London, Paris und alle Dieffeit der Alpen, die Geſellſchaft des San Luca, die 
Alademie der katholiſchen Religion, die Tiberina Romana, bie zu dem 
Zweck zufamnentrat, „um daß Feld der Literatur und der Wiffenfchaften, fo mie ber 
Studien anzubauen, die die Stadt R. und den Aderbau zum Gegenfland haben“, und 
die Gefellfhaft der Virtunsi al Pantheon, deren Plan von Raphael aufgefaßt 
und die von feinen Schülern 1543 errichtet wurde. Die Wiffenfchaft, welche, durch 
die Umgebung angeregt, in R. am meiften Pflege findet, if die Altertbumskunde. 
N. Hat zu allen Zeiten Männer vom Genie adoptirt und gebildet, aber nur 
wenige geboren. Mit Ausnahme des Lucrez, Käjar und Tihull, war Fein Claſſiker, 
deſſen Schriften und erhalten find, ein geborner Roͤmer; die Künftler, welche die Stadt 
verjchönerten, waren Griechen. Daffelbe blieb im Ganzen auch in fpäteren Zeiten das 
Schickſal diefer Stadt, man müßte denn etwa Wetaftaflo als einen Poeten gelten laſſen: 
fle war die Nährerin großer Talente, die aus der rende famen. Sie firömten ihr 
zu, ald der Königin der Kunſt und des Alterthums; fle erzog fie und eignete fle ſich 
an. Der Handel und die Ranufacturen von R. find unbedeutend. Biß vor 
wenigen Jahren beftand das Handeldeinfommen der päpftlichen Regierung bauptfächlich 
aus den Abgaben von Salz, Wein und Getreide, aber deſſen Vermehrung legte der 
Mangel an Conſumtion und Aufmunterung für den Landwirth unüberfleiglidde Hin⸗ 
derniffe in den Weg. Der Oetreidehandel war ein Monopol der apoftolifchen Kammer, 
und erſt wenn deren Speicher geleert waren, durften Privatbeflger verkaufen. So 
blieben die Felder größtentheild ungebaut liegen, und felbfl der wenige Anbau, der 
flattfand, gefchah zumeift durch Landleute aus der Mark Ancona, die nad Latium kom⸗ 
men und dem Roͤmer, „ber für Ceres den Kranz felber zu flechten verfchmäht”, auch 
feine Ernten beflellten. Erſt vor wenigen Jahren bat man Einiges getban, um den 
Aderbau zu heben und die Rage des Landwirthé zu erleichtern. Diele andere Ver⸗ 
brauchartikel, felbft das Wach, deflen in den vielen Kirchen jährlih ein unglaubliches 
Gewicht aufgeht, werden von außen eingeführt. Dagegen führt R. in der That nichts 
aus, als feinen Schwefel, PVitriol, einiges Del, etwas Seide und geringe Wollen- 
»euge. Der einft fo einträgliche Handel mit Meliquien, der aus allen Theilen ber 


— — —— — — — — 


— — —— 


Noin. (Das neue M.) | 311 


Welt beträchtliche Summen nad Italien und beſonders nach R. fließen ließ, bat un⸗ 
gemein nachgelafien. Das Sabinerland verforgt die Stadt mit Wein, Früchten und 
Brennholz, und alled dieſes wird auf dem Tiber berabgefgifft. Unter den Manufac- 
turen bemerkt man einige Hutfabrifen, Die zwar die beften Hüte im ſüdlichen Italien, 
aber Feine fo guten ale Florenz liefern. Doch find die künſtlichen Blumen und die 
Barfümerieen, die bier verfertigt werben, vortrefflich, dagegen die Gold» und Silber- 
arbeiten in einer Stadt, wo die bildenden Künfte in fo hohem Flore ſtehen, ge- 
ſchmacklos. — In einiger Entfernung von R. befinden ſich zahlreiche Eleine Städte 
mit berühmten Namen neben malerifch und reizend gelegenen Derthen, Frascati, 
Albano und namentlich Tivoli, das alte Tibur, mit den Tempeln der Veſta und 
Sibylle. Einen der fehönften Punkte bildet die Billa Efte, die prächtige Schöpfung 
des Cardinals Hippolyt, Arioflo’s Böhner, ein Föniglicher Wohnfts, der aber feit 
langer Zeit völlig feinem Schickſal überlaffen ift; der Palaft feldft if in großem Styl 
Bramante’8 erbaut. Wenn die Villa Albani an die fociale Stellung der Kirchen- 
fürften im 18. Jahrhundert erinnert, fo giebt die Villa Efte einen Mapflab für feine 
Macht im 16. Leider fallen beide Villen, die Billa Efte und die Farnefina immer 
mebr in Ruinen, weil die päpftliche Schutzmacht aufgehört Hat, Aber deren Erhaltung 
zu wahen. Man muß geflehen, die väterliche Sorgfalt, die heilige Pflicht, die jeder 
Papſt ſich als erblich von feinem Vorgänger überfommen auflegt, für die Nachkommen 
viel mehr als für fi ſelbſt, urbi et orbi die Schäge der Kunft inmitten einer un« 
wiederbringlih zu Grunde gegangenen Welt zu erhalten, die unausſprechliche Schön- 
heit des Himmels, die zahlreichen claſſiſchen Erinnerungen, welche dem Boden ent- 
fprießen, endlich der großartige Anhauch ded Friedens und der Duldung, der den 
Fremden umweht — altes dies macht R. zum Eigenthum der gefammten denkenden 
Melt und zu einer Heimath für die, welche Eeine Heimath mehr haben. MR. ift ein 
trautes Aſhl, das ohne Unterlaß “gefallener Groͤße und enttäuffhter Verſtandes macht 
offen ſteht, dem weltkundigſten Schmerze wie dem geheimſten Leid; man vergißt hier 
das tiefe Web nicht, aber man trägt deffen Laſt mit höherem Muthe; die Trauer ver⸗ 
hüllt ſich ſchamhaft auf diefem mit Blut und Thränen befeuchteten Boden. Hier, 
wo fo viele Menfchen gelitten, wo fo viele Gefchlechter untergegangen, über« 
laͤßt man fih nur mit zurüdhaltender Schüchternheit rein perfönlicher Empfindung. 
Der denkende und fühlende Menfh, den Studien und Gefinnungen für dies große 
Schauſpiel befähigen, wird ſchnell mit ganzer Seele in demſelben aufgehen. Rom 
befucht zu haben, iſt die ebelfte Erinnerung; es ohne Wehmuth zu verlaffen, iſt un⸗ 
möglih. — Literatur. Bon den zahlreichen M. betreffenden Werken erwähnen 
wir, mit Außlaffung der bereit® nambaft gemachten: Biondo, Roma instaurata (Ba- 
fel 1513); Andr. Fulvius, de Urbis antiq. (Rom 1527, Brescla 1545); Barthol. 
Marcianus, Urbis Romae topographia (Rom, 1534 und 1544); 8. Fauno, della 
architettura della cita di Roma (Venedig 1548); 3. 3. Boiſard, Topographia Ro- 
manae urbis (Sranffurt 1597); Ulerander Donatus, de Urbe Roma (Rom 1638); 
Rardint, Roma antiqua (ebendaf. 1640, 4. Aufl. von Nibby, ebendaf. 1818, 4 Bve.); 
Olaus Borrichius, Antiqua urbis Romae facies (Kopenhagen 1687); Ridolfino Vanuti, 
Deserizione topograf. delle antichita di Roma (Rom 1763, 2 Bbe.); G. €. Abler, 
Befchrelbung der Stadt R. (Altona 1781); Andr. Lumsden, Remarks on the antiquities 
of Rome and its environs (2ondon 1797); Giuſ. Ant. Guatlani, Roma descritta et 
ilustr. (Rom 1806, 2 Bde.); E. Sea, Descrizione di Roma antica e moderna (her⸗ 
audgegeben von A. Bonelli ebenbaf. 1820, 3 Bde., 8. Aufl. von Burton); Description 
of the antiquilies ete. of Rome (Örford 1821 und London 1828, 2 Bde., deutfch von 
Sickler, Weimar 1823); Sachſe, Geſchichte und Befchreibung der Stadt R. (Hannover 
1824, 2 Be); Vaſt, Itineraire instructif de Rome (Rom 1824, 2 Bde.); Platner, 
Bunfen, Gerhard, RöRell und Urlichs, Beſchreibung der Stadt R. (Stuttgart 1830—43, 
3 Bde.); Braun, die Aninen und Muſeen R.'s (Braunſchweig 1854); Mhigetti, Deser. 
dei Campidoglio (Rom 1833—36, 2 Bde.); Nibby, Roma nell’ anno 1838 descritta 
(2 Bde); Will. Geils, Topography of Rome and 'its vicinity ; Urlich8, Beſchreibung von 
Kom (Stuttgart 1845); Nibby, Annalisi della carta de dintorni di Roma (Rom 1848 
% fl, 3 Be); Ferd. Gregoroviud, Geſchichte der Stadt R. (Stuttgart 1862). 


ihn 


312 Kom. (Geſchichte und Derfaflung.) 


Kom (Geſchichte und Berfaffung) Die Anfänge der römifchen Ge- 
fehichte ruhen für und In dem mpthifch-hiftorifchen Helldunkel, in welchem Sage und 
gefchichtlicye Meberlieferung in einander fließen und ſich die Intereffen und politifchen 
Anſchauungen einer fpäteren Zeit wieder erkennen laflen. Die römifchen Geſchichta⸗ 
fohreiber erzählen, Daß Aeneas, aus dem zerflörten Troja flüchtend, nad Latium ge» 
fommen fei und fein Sohn Askanius die Stadt Alba longa gegründet habe, in 
welcher feine Nachlommen viele Jahre Yegierten. Unter biefen fei König Numitor 
von feinem Bruder Amulius vom Throne geftoßen und Numitor's Tochter Rhea Silvia 
gezwungen worden, Beflalin zu werden, als welche fle nicht heiraten durfte. Dennod 
habe fte die Zwillingsbrüder Romulus und Nemus geboren, welche, au dem Tiber aus⸗ 
gefegt, von einer Wölfin ernährt, von einem Hirten gefunden und ergogen, fpäter 
ihren Großvater Numitor in feine Herrichaft wieder eingefegt und von ihm bie Er⸗ 
laubniß zur Erbauung einer Stadt erhalten Hätten, welche Rom genannt wurde. Die 
Erbauung wird in das Jahr 754 v. Ehr. verlegt, Romulus als der erfle König in 
ihr bezeichnet, der bis 716 regierte und ſechs Nachfolger Bid zum Jahre 510 v. Er. 
hatte. War Romulus Schöpfer des Staated und der römifchen Berfaflung, fo if 
fein Nachfolger, der Sabiner Numa Pompilius (716—673), Stifter der Heligion. 
Zullus Hoſtilius (673—640) beflegt und zerflört Alba longa, Ancus Martius (640 
bt8 617) gründet den Plebejerfiand, und Tarquinius Priscus (617—578) ifl der 
Mepräjentant des etruskiſchen Einflufles auf R. Servius Tullius (578- 534) grün, 
det die Genturiatverfaflfung und fein Nachfolger Tarquinius Superbus (6534—510) 
führt. durch despotiſches Regiment den Sturz des Königthumd herbei. Daß wir uns 
bei der Geſchichte des Romulus, die mie ein epifches Gedicht verläuft, auf dem Ger 
biete der Sage befinden, bedarf Feines Bemeifes. Nicht. viel fiherer und feiler aber 
ift der Boden ber gefammten Königsgefchichte R.'s, welche, wie Niebuhr, der Schöpfer 
einer Eritifchen Gedichte R.'s nachgewieſen bat, aus Nationalliedern erwachſen ift, die 
in profaifche Erzählung aufgelöft worben find. Niebuhr wies zuerft darauf hin, daß 
e8 feine Annalen aus der Zeit der römijchen Könige gegeben babe und bie dlteften 
pontificifchen nur in die früheften Zeiten der Republik Hinaufreichten; wohl aber habe 
e8 in R. Lieder gegeben, enthaltend das Lob großer Männer, weldye bei Baftmahlen 
mit Begleitung der Zlöte gefungen worben wären (Cic. ad Brut. c. 19, 18; Quaest. 
Tuse. 1. c. 2), und in ihnen fei die Duelle der römifchen Koͤnigsgeſchichten zu fuchen. 
Niebuhr erkannte befondere Lieder in der Erzählung von Romulus und in der Ge 
Ichichte der Tarquinier, welches legtere mit der Thronbefleigung des Tarquinius 
Prisſscus begonnen und mit der Schlacht am Negillus geendigt haben fol. Der Grund“ 
ſtoff diefer altrömifchen Lieder ift ficherlich fehr alt gewefen, die Form derfelben aber 
und ein nicht geringer Theil des Inhaltes verrathen das Zeitalter der Republik, in 
weldyed daher ihre Medaction zu verlegen if. Nicht minder große Zweifel an ber 
Glaubwürdigkeit der römifchen Königsgeichichte erheben die Ehronologen. Es ift durch⸗ 
aus unmwahrfcheinlidy, daß in einem Zeitraume von 244 Jahren nur 7 Könige regiert 
haben follen, von denen jeder im Mannesalter durch die Wahl auf den Thron gelangte, 
mehrere eined gewaltfamen Todes ftarben und einer vertrieben wurde. Wie fehr Died -der 
Erfahrung widerfpricht, erläutert Peter (Röm. Geſch. 1. S. 58) treffend durch einen Ber- 
gleich mit der Durchſchnittszeit, welche venetianifche Dogen regierten. Bon diefen fommen 
auf die Jahre 811—1311, alfo auf 5 Jahrhunderte, 40, wonach alfo jeder einzelne 121/, 
Jahr regiert bat, und dazu wählte man in jenen Jahrhunderten nicht vorzugsweiſe 
bejahrte Männer zu Dogen, Sondern Staatsmänner in der Blüthe ihrer Kraft. An 
der Durchfchnittäzeit von 35 Jahren, welche jedem der ſieben römifchen Könige zuge 
fhrieben werden müßten, nahm fhon Newton Anftoß, indem er fle mit der mittleren 
Regierungszeit verglich, welche fih nach den Annalen anderer Dynaftieen bei unge⸗ 
förter Erbfolge ergiebt. Unglaublich ferner ſcheint es, daß man in MR. wiederholt 
Sremde zu Königen erhoben babe, da fidy das Altertum und befonders M. felbft fo 
ausfchließend gegen Die Aufnahme von Fremden zu verhalten pflegte. Wir übergeben 
die Schwierigkeiten, welche eine in’® Einzelne gehende Prüfung ergiebt, wie 3. B. daß 
nach der 3Sjährigen Negierung des in R. eingemanderten Tarquintus Priscus und 
der Adjährigen des Servius Tullius ber Sohn des Erſteren, Tarquinius Su⸗ 


Kom. (Geſchichte und Berfaflung.) 313 


yerbus, den Thron befleigt, 25 Jahre regiert und dann noch 15 Jahre in ber Ver⸗ 
bannung lebt. Es mögen mehrere der ſieben Königenamen, wie namentlich der des 
Servins Tullius und. Tarquinius Superbus, aͤcht hiſtoriſch und hie Ereigniffe, wie 
Kriege, GStädtegerflörungen, Berfaffungsänderungen, Bauten u. f. w. an die Namen 
anzufhließen fein, denen die römifche Ueberlieferung fie beilegte;. Im Ganzen kann 
die roͤmiſche Königögefchichte nicht mehr als beglaubigte Grundlage der Geſchichte R 

angeſehen werden, ſondern nur ald ein Material, welches nach den Grundfägen der 
hiſtoriſchen Kritik zu benngen oder zu verwerfen iſt. Auf den Hügeln, melde drei 
Meilen von der Tibermündung zu beiden Seiten des Fluffes fich erheben, faßen vor 
mindeftens drittäulbtaufend Jahren die Namner (Ramnes), ein latinifcher Bolkeftamm, 
in deffen Namen Mommfen (Röm. Geſch. I. ©. 43) die Bedeutung Walde oder 
Bufchleute zu finden glaubt. Mit ihnen waren durch Synöfismus die Titier und 
Zucerer, ehemals unabhängige Gaue, zu einem einheitlichen Gemeindeweſen verfchmolzen. 
Die Zitier werden aus der Sabina abgeleitet und waren ſomit fibellifchen Stammes, 
wofür auch die Bewahrung ihres volksthümlichen Sonderrituale fpriht. Die Aucerer 
werden von inigen für Gtrusfer gehalten, find aber wahrfcheinlidger dem latiniſchen 
Stamme zuzuzäblen. Aus den Anflevlungen diefer drei Gaue entfland nah und nach 
das ſpaͤtere R. von deflen Gründung dush einen Romulus alfo nicht die Rede fein 
kann. Ihr fchnelles Aufblühen verdankte die Stadt ihrer Lage an dem Tiber, der 
Handelöftraße Latium, und ihrer firategifch wichtigen Lage. Im Vebrigen war das 
Stadtgebiet Hefchränft, denn In nächfter Nähe Tagen die müchtigen Gemeinden von 
Gabii, Zusculum und Alba; der Boden war fandig oder fumpfig und die Luft unge⸗ 
fund. Nicht weniger als feiner Handelöftellung verdankte MR. fein Emporfonmen dem 
Geifte feines Bewohner, welcher fi in der Ehrenhaftigkeit des Familienlebens und 
in der Beionnenheit der Gemeindeverwaltung ausſprach. Die Familie mar eine ge= 
fchloffene Einheit, in mweldyer der Bater die weitgreifende hausberrliche Gewalt übte. 
Jene Einheit löfte fi auch nach dem Tode des Hausherren nicht, fondern die Descen⸗ 
deuten bielten ale Geſchlecht (gens) zufammen und führten den gemeinfamen Gentil« 
namen. Aus ber Bereinigung der Befchlechtögenofien ging die Volksgemeinde hervor, 
und wer einem ber vereinigten Gefchlechter angehörte, mar ein rvömifcher Bürger. 
Neben der Semeinde der Altbürger (Batricier) gab es In MR. Hörige (elientes von 
eluere), d. h. Individnen, welche als fandflüchtige Leute oder Wreigelaffene fich im 
Buftande geichügter Freiheit befanden und unter die Obhut eines Bürgers (patronus) 
gefelft waren. Die Eintheilung der römifchen Bürgerfchaft beruhte auf einem theore⸗ 
tifhen Schema, nämlich daß 10 Häufer ein Geſchlecht (gens), 10 Beichlechter oder 
100 Häufer eine Pflegſchaft (curia), 10 Pflegſchaften oder 100 Geſchlechter oder 1000 
Häufer die Gemeinde bildeten. Indeß ift die Zahl der Häufer einer Gemeinde dem Zu⸗ 
fall umd Wechfel unterworfen, und auch obiges Normalfchema fann für R. keine andere 
Bedeutung gehabt haben, als eine ideale. An die Spige des Gemeindeweſens war der 
König (rex, Leiter) geftellt, welcher in der Gemeinde Die ganze Macht ausübte, welche 
dem Haudberen in Der Familie zufland. Er murde gewählt und Hatte den Befehl 
(imperium) im Frieden und im Kriege und als Zeichen feiner Würde voranfchreitende 
Beim (liclores von licere, laden) mit Bellen und Ruthen. Seine amtlihen Bune- 
tionen waren facrale, richterliche und militärifche, aber feine Gewalt Feine abfolute; 
ihn Hefchränfte fartifch der Math der Alten, der Senat, den der König zwar berief, 
fo oft es ihm beliebte, deſſen Nichtbefragung aber in wichtiger Angelegenheiten als 
Mißbrauch der Ebniglichen Gewalt angefehen wurde. Auch die römifche Bürgerfchaft 
ſelbſt nahm Theil an dem Öffentlichen Regimente. Die Semeindemitglieder (quirites, 
Speermänner) traten auf der Dingflätte zufammen, fobald der König fie berief, was 
sehnungsmäßig gewöhnlich 2 Mal im Jahre, den 24. März und 24. Mai geſchah, 
abes auch jonft noch geicheben konnte. Die Gemeinde Fam zujamnıen, um zu bören, 
nicht um zu reden, aber doc mußte dem Könige daran liegen, die Zuflimmung be 
Volkes zu feinen Unternehmungen zu erhalten. War der König geflorben, fo fiel 
das Imperium an die Volksgemeinde zurüd, welche fomit als Ichte Trägerin ber 
Souveränetät erfcheint. Sie beftätigte daher auch den durch Zmifchenfönige (inter- 
reges) erwählten neuen Herrſcher und bekleidete ihn mit der Bollmacht, die koͤniglicher 


314 Kom. (GGeſchichte und Verfaffung.) 


Befugnifje zu übernehmen. Ihre Entfcheipung gab fie in Bollsverfammlungen ab, in 
denen nach @urien_ geflimmt wurde, Daher jene Berfammlungen comitia curiata ge⸗ 
nannt wurden. n ihnen blidt das Princip der älteften romiſchen Berfaffung ale 
einer Geſchlechter⸗Verfafſung Elar hervor und nicht minder in den religidfen und mili- 
tärifchen Inftitutionen diefer Zeit. Gewiſſe Opfer und fonftige facrale Verrichtun⸗ 
gen waren an gewiſſe Sefdzlechter und Gurien gebunden, und letztere erfcheinen nicht 
nur als politifche Gensfienfchaften, fondern auch als religtöfe Gemeinſchaften. Auch 
die militärifche Organifation beruhte auf der Gliederung der Gemeinde nady Geſchlech⸗ 
tern, Gurien und Stämmen. Die Gemeinde flellte zufammen 3 Regionen, jede zu 
3000 Wann und 3 Meitercenturten, jede zu 300 Wann. Jede Legion aber befland 
aus 1000 Mann von jedem Stamme, und: fo wird auch feder Stamm je 100 Bann 
zu den einzelnen Reitercenturien geftellt Haben. Diefe urfprüngliche VBerfaffung R.'s, 
nach welcher nur gemifle Gefchlechter die Hechte und Pflichten des Staatsburgers aus⸗ 
übten, hätte R. nimmer zu der fpätern Blüthe gefördert, wenn fie in ausſchließlicher 
Geltung geblieben wäre. Daß MR. aber die Kraft zu einer Entfaltung gewann, buch 
welche es fchnell alle übrigen Italifchen Gemeindeweſen überholte, verdankte es einer 
Berfaffungsveränderung, welche von der Ueberlieferung einflimmig an den Namen des 
Servius Tullius gefnüpft wird, fonft aber ihrem gefhichtlihen Urfprunge nach Im 
Dunkel liegt. Diefe Berfaffungsreform ift die Aufnahme des Plebejerſtandes in Den 
Staatdorganidmus, der Durchbruch des beichränfenden Befchlechterverbandes. Der 
Uriprung jenes Plebejerftandes (plebs, Menge, von pleo, plenus) iſt fhon oben an» 
gedeutet worden in der Erwähnung der Glienten und ihrer Stellung neben ven 
Bürgern, jo daß fle in R. nur als Gejchügte und Gebuldete erfcheinen. Die Eigen. 
thümlichfeit, R.'s als einer Handelsſtadt ferner lockte Fremde in Menge herbei, denen 
man dad Erwerbörecht nicht verfagte, wenn man ihnen auch nur ausnahmsweiſe daB 
Bürgerrecht gewährte; und endlich weiß Die römifche Meberlieferung von Kriegen römi⸗ 
ſcher Könige mit benachbarten Städten und Verpflanzung ihrer Einwohner nach R. 
zu erzüblen.. Der Nebenbürgerfiand wuchs alfo an Zahl und ficherlich auch an Bes 
deutung, während die Zunft der Vollbürger, denen die Kriegführung oblag, allmählich 
zuſammenſchmolz. Um den hierdurch entfiehenden Mißverhältniſſen abzubelfen, wurde die 
Berfaflung dahin abgeändert, daß fortan zum Kriegédienſte und zur Leiftung von Gelb⸗ 
abgaben im Notbfall (Imbutum) alle Befigenden (assidui, locupletes) verpflichtet 
fein follten. Im Einzelnen war die neue Ordnung folgende: Die Plebefer wurden zur 
nädhft in 30 Tribus, 4 flädtifche und 26 ländliche, getheilt und traten zur Beraihung 
von Standesangelegenheiten zufanmen in DBerfammlungen, weldye den Namen comitia 
tributa führten. Sodann wurden alle patriciſchen und plebejlfchen Körper einer alle 
5 Jahre zu wiederholenden Schäßung (census) unterworfen und in 5 Vermoͤgens⸗ 
klaſſen eingetheilt, von denen die erfle einen Beflg von 100,000 AB, die folgenden je 
von 75,000, 50,000, 25,000 und 12,500 Aß erforderten. Diejenigen Hömet, 
deren Vermögen die Summe von 12,500 Aß nicht erreichten, bießen Broletarier und 
nach Köpfen Befchäkte (capite censi). Aus der erfien Klaffe nun wurben 80,Abtheis 
lungen gebildet, Genturien genannt, aus der 2., 3., 4. je 20, aus der b. 30, wah⸗ 
rend die Proletarier nur eine Centurie ausmachten. Zu diefen 171 Eenturien kamen 
18 jogenannte Nittercenturien mit hohem Genfus und für den Kriegsdienſt 2 Gentu- 
rien Zimmerleute und WMuflfanten (Horn- und Trompetenbläfer), fo daß Patritier und 
Plebejer zufammen in 193 Genturien untergebracht waren. Diefe Eintbeilung hatte 
eine politifche und militärifche Bedeutung. In den Genturien-Verfammlungen (comitia 
centuriata) flimmten beide Stände zufammen, gaben aber centurienweife ihre Stimme 
ab, wobei alfo die erſte Klaſſe von 80 Genturien, mit welcher auch die 18 Ritter⸗ 
Genturien ſtimmten, an und für fih ſchon die Majorität hatte. Zugleich dienten bie 
Eenturien ald Grundlage zur Glieverung des Heeres. Je nach der Höhe der Klaffe 
war auch die Bewaffnung ded Bürgerd und feine Verwendung im Kriege eine ver⸗ 
fhiedene. Der Soldat der erfien Klafle mußte mit Selm, rundem Schild, Bein⸗ 
fihtenen, Panzer, Schwert und Lanze bewaffnet erfcheinen, der der zweiten war ebenfo 
bewaffnet, aber ohne Panzer und mit langem Schilde; in der dritten Klafie fehlten 
no die Beinfienen; die werte Klaffe war nur mit Lanze und Wurfgeſchoß, bie 


Rom. (Geſchichte und Verfaſſung.) 215 


fünfte nur mit Schleudern verfehen. Das Princip diefer neuen Berfaflung war fo- 
mit, daß die Mechte und Laſten der einzelnen Bürger in einem genau entfprechenden 
Berbältnifie ſtehen follten. Bon den beiden Bedeutungen dieſer Verfaflung aber, der 
yolitifchen und wmilitärifchen, war die legtere die urfprüngliche, die andere eine Neues 
zung einer fpäteren Zeit; denn die Befimmung, daß wer das 60. Lebensjahr über- 
ſchritten hätte, alfo nad römifchem Bejeg nicht mehr zum Kriegädienft verpflichtet war, 
aus den Genturien ausgefchloffen fein follte, wäre fonft finnlos geweſen. Die poli- 
tifche Bedeutung der Centuriat-Gomitien ergab fih nah und nad von felbfl, worauf. 
dad Unjeben der Curiat⸗Comitien, deffen Schmälerung durchaus nicht beabflchtigt 
wurde, in gleihem Maße jinfen mußte. Leber die Zeit, in weldyer die neue Verfaſ⸗ 
fung gegeben wurde, wird man mohl für immer im Dunkeln bleiben. Da im 6. 
Jahrh. v. Chr. die griechiſchen Staaten Unteritaliend von der Gefchlechterverfaflung 
zu einer modiflcirten fortfchritten, fo wird dieſer Umfland vielleiyt der Anfloß geweſen 
fein, Der Die fervianifche Verfaſſung in's Leben rief. Die Bewaffnung ferner der er⸗ 
fien Klaſſe verräth den Einfluß des in jener Zeit ausgebildeten griedifchen Hopliten« 
ſyſtems. Uebrigens iſt die fervianifche Inftitution nicht aus Parteilämpfen bervor- 
gegangen, fondern verrüth die ordnende Hand eines reformirenden Herrſchers, und fo» 
mit wird der Ueberlieferung zu trauen fein, weldye dem Servius Tullius die Verfaſ⸗ 
fungsänderung beilegt. Daß R. während diefed Zeitraums in mancherlei Fehden mit 
den latinifchen Nachbaren verwidelt geweſen fei, Fünnten wir aus den allgemeinen Ber» 
baltniffen des Tatinifchen Stammes damaliger Zeit jchließen, wenn es audy nicht von 
der römifchen Ueberlieferung berichtet würde. Don jenen Kämpfen war feiner folgen- 
reicher für R. als ein Krieg mit Alba, der Metropole Latiums, der unter Ancus 
Marciuß geführt worden fein und mit der Zerflörung jener Stadt geendigt haben 
fol. Alba Hatte die Vorflandfchaft über dreißig gleichherechtigte Gemeinden gehabt, 
und nach dem Falle jener Stadt ging die von ihr ausgeübte Hegemonie auf R. über. 
Die Form diefer römifchen Hegemonie über die Iatinifchen Gemeinden war bie eineß 
Bündnifjes zwifchen gleichberechtigten Gemeinweſen behufs gemeinfamen Angriffs und 
gemeinfamer Vertheidigung. Dazu wurde ein Bundesheer gebildet aus gleih Rarken 
sömifchen und latinifchen Gontingenten. Auch mit den benachbarten Etrusfern und 
namentlich mit den Volskern führte R. der Ueberlieferung nad häufige Kriege, deren 
Erfolge nit unbedeutend gewefen fein Fönnen, da das Königdgefchledht der Tarqui⸗ 
niee doch von dem Glanze jener Erfolge umftrahlt blieb, ald das republifanifche R. 
feine Königögefchichten fammelte und im republifanifchen Geifte umgeftaltete. Mit der 
aͤußerlichen Ausdehnung der römifchen Herrichaft veränderte fi auch Die innere Ge⸗ 
ftalt der Stadt. Man erbaute in diefen Tagen die ſervianiſche Mauer und das 6a 
pitol, die Akropole R.'s, begann die Trodenlegung der fumpfigen Stadttheile durch 
nod In den fpäteften Zeiten bewunderte Abzugdgräben und ſchmückte R. Durch Tempel 
und anfehnliche Hffentlihe Gebäude und Pläge. Bauten, Kriege und Verfafſungs⸗ 
zeform aber ſtehen als Greigniffe im innigften Zuſammenhange. Sie geben ein be- 
redted Zeugniß von der Fülle materieller und geifliger Kräfte, welde R. damals 
durhflrömten, und legten binwiederum den Grund zu einer neuen und mächtigeren 
Erhebung der Stadt in den nächflfolgenden Zeiten. Diefer neue Aufichwung des 
sömijchen Gemeindeweſens murde eingeleitet durch die Abjchaffung des Königthums, 
defien Inhaber, die Tarquinier, fi durch Gemaltmaßregeln, Todedvollfiredungen, 
Gonfldcation von Gütern, Ueberbürdbung der Bürger Durch Kriegädienfle und Abgaben 
verhaßt gemacht und eine Empörung veranlaßt haben follen. Auch diefe Verfafſſungs⸗ 
änderung R.'s flebt nicht vereinzelt da, fondern biefelbe vollzog fi in analoger 
Weiſe in faft allen italifch » griechifchen ®emeindewefen um diefelbe Zeit. Ueberall 
wurde die lebenslaͤngliche Oberberrfchaft befeitigt und jährliche oder mehrjährliche 
Beamten an die Spige des Staated und an bie Stelle der Könige geſetzt. Das ges 
ſammte Geflecht der Tarquinier wurde aus R. verbannt und fledelte nach Caere 
über. An ihre Stelle aber traten zwei alle Jahre neu zu erwählende Gonfuln 
(f. d. Art). Die Umwälzung, welche das römifche Staatsweſen durch die Vertrei⸗ 
bung der Könige erlitt, kann unmöglich ohne große Innere Kämpfe vor fi gegangen 
fein; die Intervention eines fremden Volkes aber zu Bunften eined vertriebenen Ro⸗ 


316 Nom, (Geſchichte und Berfaffung.) 


mers iſt undenkbar, und der Krieg R.’3 mit Porfenna, wie die Heldenthaten eines 
Cocles und Scävola gehören In das Mebiet der Zabel. Als die Zeit, In welcher 
die Vertreibung der Tarquinier aus R. flattfand, geben die „zurecht gemachten"!) An⸗ 
nalen da8 Jahr 510 v. Ehr. oder das Jahr 244 der Stadt an, was wenigſtens uns 
gefähr das Nichtige fein mag. Im Ganzen blieben die zwei Conſuln mit der Macht 
befleidet, welche der König bis dahin ausgeübt hatte. Sie waren Nichter, Feldherren 
und hatten die oberfte Verwaltung des Staated-und der ausmärtigen Angelegenheiten. 
Eine Befchränfung der früheren Königdgemalt Tag nur in der Gollegialität der Con— 
fun (nach Florus 1, 9, ne potestas solitudine corrumperetur) und in der einjährigen 
Dauer des Conjulatd (ne potestas mora corrumperetur). Im Uebrigen Hatte fidh 
das römische Volk die Möglichkeit vorbehalten, die frühere Eöntglide Gewalt im. 
Nothfall dur Ernennung eined Dictators (f. d. Art.), d. b. eines Gebieters mit 
unumfchränfter Gewalt wiederberzuftellen. Wie die Macht des Königtbums, murbe 
jegt auch die der patricifchen Curiat-Comitien befchränft und die bedeutendften Be⸗ 
fugniffe derfelben auf die Centuriat » Gomitien übertragen. Leßtere vollzogen fortan 
alle eigentlich politifchen Acte, wie Die Ernennung der Magiftrate, die Annahme oder 
Verwerfung der Gefege u. vergl. Die Stellung des aus 300 Mitgliedern beftehenden 
Senats wurde durch die Revolution weſentlich nicht verändert. Auch jet noch blieb 
derjelbe als berathende Behörde den Confuln zur Seite fliehen. Am bebeutendfien 
aber ermeiterten fi die Rechte des Plebejerſtandes, indem erfl nach der Revolution 
die Plebejer jene Stellung praftifch einnehmen konnten, welche ihnen die fervianifche 
Berfaflung theoretiich eingeräumt hatte. Indeß fehlte viel, daß man ihnen von Seiten 
der Patricier, welche mit den Könige die Herrichaft geführt hatten und fie jegt mit 
der Bonfuln weiter führten, die praftifchen Conſequenzen alle zu ziehen erlaubt hätte, 
welche fich aus den ihnen gewährten Vorrechten hätten ziehen laſſen. Vielmehr vers 
fuchte die durch Anſehen und Reichthum einflußreiche PBatricterpartei alfe von ihr 
factiſch ausgeübten Vorrechte fi auéſchließlich zu wahren und die Plebejer von der 
Theilnahme an der Herrfchaft auszufchließen. Die patricifche Partei war im Beſttze 
der Aemter und dadurch eben am Megimente; bald gelangte fie auch in den Beſit 
großer Gapitalien und Landgüter, und damit begann ein unheilvoller Umſchwung in 
den foeialen Verhältniffen R.'s. Die Wohlhabenheit der Mittelflaffen fanf, die Pie 
bejer gerietben durch Kriegslaften in Schulden und murden durch bie Anwendung 
eined harten Schuldgefeges ſchwer bedrückt. Somit fanden fih in R. zwei Parteien 
fhroff entgegen, die patriciſche und plebejifche, von denen die erftere entfchloffen ihre 
bevorrechtete Stellung vertheidigte, die zweite confequent und im Laufe der Zeit immer 
bewußter und ficherer nach Gleichberechtigung mit den Gegnern ſtrebte, bis fie in’ der 
That nah fat 200jährigem Ringen diefes Ziel erreichte. Der Kampf zwiſchen der 
römifchen Demokratie und Ariftofratie iſt e8 daher befonders, welcher der Geſchichte 
R.'s zwifchen den Jahren 500 und 300 v. Chr. ein Hohes SIntereffe verleiht. Den 
erftien Ausbruch fenes Kampfes veranlaßte der Meberlieferung nad um das Jahr 495 
die ſtrenge Uebung des Schuldrechts, welche eine folche Erbitterung bervorrief, daß 
bei einem Kriege die dienftpflichtige Mannfchaft den Gehorfam vermeigerte und ber 
Eonful Servilius die Schuldgefege fuspendiren mußte. Nach dem Siege ließ der 
zweite Gonful Appius Claudius die Schuldgeſetze firenger als fe außüben, und zu 
einem Feldzuge im Jahre 494 Fonnte nur ein Dictator und zwar nur durch Ver⸗ 
beißung einer Meform der Schuldgefeße ein Heer zufammenbringen. Als aber nad 
dem Siege der ariflofratifhe Senat die Neformoorfchläge gänzlich ablehnte, ver- 
ließ das gefammte Heer feinen Feldherrn und zog nad) dem fogenannten heiligen 
Berge, in der Abſicht, bier eine neue von R. unabhängige Plebejerſtadt zu gründen. 
Jetzt ſah fih der Senat zum Nachgeben gendtbigt, und gefland dem auch durch Me 
nenius Agrippa’8 berühmte Zabel milder geftimmten Volke die Befreiung von der 
Schuldknechtſchaft zu und die Einfegung eines befonderen plebejifchen Schugmagiftrats, 
der Tribunen (tribuni plebis), deſſen Perſon unverleglich fein und deſſen Interceſſton 
Magiftrats- und Senatöbefchlüffe, fobald fte gegen die Intereflen ber Plebejer wären, 


un. — nn u 


y Mommfen, R. ©. J. p. 283. 


- — — nn ——— —— 


— —— — — — ——— — — — — — — 


Nom. (Geſchichte und Verfafſſung.) 317 


inhibiren follte. (Veto) Mit den Tribunen wurden zugleich zwei plebejifche 
Aedilen ernannt, welche als Aufſeher über die Polizei und Gemeindekaſſe der Ple⸗ 
bejer, fpäter ald Archivare der Mepublif den Tribunen zur Seite ſtanden. Nach der 
Einſetzung der Tribunen wurde der Kampf gegen die Patricier ein geregelter und 
planmäßiger. Der erſte, welcher die furchtbare Gewalt des Tribunats erfuhr, war 
der Patricier Caj. Marc. Coriolanus, der feinen Standesgenofien das Unglüd 
der Plebejer während einer Hungersnot zur Abfchaffung des Tribunatd zu benugen 
rieth. Die Tribunen beriefen die Tribut-Gomitien, und in biefen wurde er zu ewiger 
Berbannung verurtbeilt. 491. Bon Neuem war hierdurch der Zwiſt zwifchen Ple⸗ 
bejern und Batriciern entbrannt und erflere im Gefühle ihrer unflchern Lage traten 
mit Forderungen hervor, welche faft in den nächſten 50 Jahren ſchon mit Glück von 
ihnen durchgefämpft wurden. Dieſe Forderungen gingen 1) auf Vertheilung 
von Aderland, 2) auf freie von den PBatriciern nit beeinflußte 
Wahl ihrer Vertreter, und 3) auf Aufzeihnung der roͤmiſchen Ge⸗ 
fee. Die erfle diefer Forderungen regte indeß nicht ein Plebejer, fondern ein Pas 
trieier felbfl an, der Conſul Sp. Caſſtus Viscellinus, welcher 486 den Vorſchlag 
machte, Staatslaͤndereien (ager publicus), in deren Beſitz ſich bisher die Patricier ge⸗ 
fest hatten, an arme Plebejer zu vertheilen (lex Cassia agraria). Viscellinus büßte 
diefen Borfhlag mit dem Tode, aber das Adergeich blieb fortan das Ziel, auf 
welches bin jede populäre Bewegung fleucerte. Nur zeitweife, bei Gelegenheit äußerer 
Kriege, fchwiegen die Forderungen, der Plebefer nah Staats.ändereien: fo zur Zeit 
des Krieges gegen das etruskiſche Veit von 485—474, in welchem fih 477 das 
Geſchlecht der Fabier bis auf einen Sprößling für das Baterland opferte. Im Jahr 
472 trat der Tribun Puplilius Bolero mit dem Vorfchlage auf, daß ferner die 
Zribunen und Aedilen flatt in den Genturiat-Bomitien in den Tribut-Gomitien gewählt 
werben follten (lex Publilio), und diefer Vorfchlag wurde 471 zum Beleg erhoben. 
Die einander befämpfenden Stände hatten jegt ihre befonderen Magiſtrate, die Kluft 
jwifchen beiden war gewachſen, die Öffentlichen Zuflände mußten unhaltbarer als je 
erſcheinen. Jetzt follte die Forderung nach einem allgemeinen Landrecht in fchriftlicher 
Faflung Hülfe bringen, das Recht der parteilichen Auslegung und Anwendung den 
Batriciern entriffen werden. Terentillus — wohl richtiger Terentilius — 
Arfa beantragte 462 die Ernennung einer Gommiffton zur Aufzeichnung der Gefege 
behufs Befchränfung der mwilffürlichen confularifchen Gewalt (lex Terentilla. Durch 
Gewaltmaßregeln und bald durch Gewährung anderweitiger Bortbeile für die Ple» 
bejer (Wahl von 10 Tribunen, Einräumung ded Aventin ald Gemeinveland) fuchten 
die Patricier den neuen Schlag abzumehren, allein im Jahre 454 ging das Geſetz 
des Arfa durch. 451 wurde zehn Männern (decemviri) die ganze Regierung des 
Staatd und die Nedaction eines Landrechtd, ded Zwölftafelgeſetzes, Übertragen. 
Letzteres Fam glüdli zu Stande und wurde die Grundlage des gefammten römifchen 
Rechtes; aber Die Decemvirn mißbrauchten fchließlih ihre Gewalt, und die Brevelthat 
des Appius Claudius (f. d. Art.) an der Virginia veranlaßte 449 die zweite 
Seceſſion ded Volkes und den Sturz des Decempirated. Die frühere Verfaſſung 
wurde wieder hbergeftellt, und die beiden Conſuln Balerius und Horatius 
bewilligten den Plebejern neue Rechte, unter denen das wichtigſte war, daß 
forthin die Beſchlüſſe der Tribus (plebiscita) für die gefammte römifhe Bür- 
gerichaft verbindliche Kraft Haben follten (448). Biel fehlte aber auh jetzt 
noch, daß die Eintracht und Ruhe im Innern R.'s bergeftellt wäre. Noch trennte 
Patricier und Plebejer eine hohe Scheidewand der Vorurtheile und Vorrechte, melde 
weggeräumt werden mußte. Im Jahre 445 trat Daher der Tribun Ganulejusd mit 
dem Borfchlage auf, daß die Ehe zwifchen Plebejern und Patriciern, weldye nod in 
dem Zmwölftafelgefeg unterfagt war, geftattet fein follte (lex Canuleja), und er drang 
mit demfelben durch. Weniger glücklich waren die übrigen Tribunen, weldye zugleich 
mit dem Vorfchlage bHervortraten, daß die Eonjulargemalt unter Patricier und Ple- 
bejer getheilt werden follte. Die Patricier geftanden nur zu, daß ftatt der Gonfuln 
Kriegstribunen mit confularifher Gewalt (tribuni militares consulari 
potestale) gewählt werden und die Plebejer an biefem Amte Theil haben follten. 


318 Mom, (Geſchichte und PVerfaffung) , 


Das Amt der Kriegstribunen hatte vom Jahre 444 bis 367 Beftand, jedoch wurden 
auch inzwifchen für manche Jahre wieder Confuln gewählt. Erſt im Jahre 400 gelang 
e8 den Plebejern thatfächlih, ihren Standesgenoſſen Eintritt in das Kriegstribunen- 
amt zu verichaffen. Nachdem die Patricier eingefehen hatten, daß fle auf Die Dauer 
das Gonfulat nicht würden behaupten können, fuchten fle von demfelben wenigſtens 
zu reiten, waß gerettet werden Eonnte, und fchufen das patricifhe Genforenamt 
(f. d. Art. Genfor) mit hoben, umfaffenden Functionen (443). Im Jahre 422 erran« 
gen die Plebejer auch den Zutritt zum Quäftorenamte (f. d. Art. Onäftor). Die 
Plebejer waren nun unter der Führung ihrer Tribunen dem angefitebten Ziele der 
Gleichberechtigung mit den Patriciern nahe gekommen; aber die Möglichkeit des Zu⸗ 
tritteö zu den höheren Staatdämtern blieb, wie die Gefchtchte dieſes Zeitraumes zeigt, 
meiftend eine theoretifche, und ein unvorbergefehener Krieg, der R.'s Dafein felbft 
bedrohte, fehlen alle weiteren Hoffnungen der Plebs in Frage zu flellen. Nach zehn- 
jährigem Kampfe' um Befi (405— 395) hatte R. unter der Führung des M. Furius 
Camillus die glüdlichften Erfolge erreicht, die gefürchtete Stadt vernichtet und in 
den nachſten Jahren auch andere benachbarte Feinde glücklich unterworfen, als plötlich 
390 fenonifhe Gallier in Italien erſchienen, die Nömer am Fluſſe Allia fchlugen 
und vernichteten, R. felber einnabmen und verbrannten. Nur das Capitol wurde 
durh Manlius gerettet. Zur Befreiung R.'s erfchien Camillus, der furz vorber 
in das Eril hatte wandern müffen, mit einem Heere und erzwang den Rückzug der 
Beinde. MR. wurde jegt von Neuem erbaut, aber die plebefifche Gemeinde war zum 
größten Theile verarmt und erlag faft dem Drucke der Patricier, ihrer Schulbherren. 
Einen Berfuh, die Noth des Volkes zu Iindern, büßte Manlius, der Üetter des 
Gapitols, mit dem Tode 384. Da erfchienen dem ſchon In "politifche Gleichgültigkeit 
verfintenden Volke zwei Netter, Caj. Licinius Stolo und Luciuß Sextius 
Lateranus, welde als Volkstribunen im Jahre 376 mit durchgreifenden @efeges- 
anträgen (leges Liciniae) auftraten und diefelben nach zehnjährigem Kampfe, 360, 
durchfegten. Ihre Gefege Tauteten dabin, daß forthin wieder Gonfuln, und zwar 
jedesmal ein plebelifcher, gewählt werden follten. Herner follten die bie dahin be⸗ 
zahlten Zinfen der Schuldner vom Schuldcapital abgerechnet und für legteres Rück⸗ 
zablungsfriften gewährt werden; endlich das Benugungsreht der Staatöländereien 
beiden Ständen gemeinſam fein, Kein Bürger über 500 Jugera (— 494 preußifche 
Morgen) Gemeindeland befigen. Vergebens boten die Patricier alle erlaubten und 
unerlaubten Mittel auf, diefe Gefegesvorfchläge zu bintertreiben, die oben genannten 
Tribunen wurden 10 Jahre hintereinander gewählt und brachten durch ihr Veto die 
gefammte Staatsmafchine in's Stoden. Die Rogationen wurden endlich Gelege, und 
Sertius der erfte plebejifchhe Conful 366. Die Patricier retteten nur durch Die 
Einfegung ber patricifchen Prätur das bis dahin mit dem Gonfulate verbundene 
Nichteramt (fiehe der Art. Brätor). Zugleich mit der Prätur wurde auch die curu⸗ 
liſche Aedilität geſchaffen. Camillus, der während der Iegten flürmifchen Jahre 
Dictator gewefen war, erbaute 366 zwar einen der Concordia gemelhten Tempel, aber 
die @intracdht der beiden Stände war fo lange noch nicht fiher begründet, als noch 
Vorrechte der Patricier beftanden. Diefe fielen inveflen bald. 364 wurde ein curu« 
liſcher Aedil aus dem Plebejerftande gewählt, 355 ein Dictator, 350 ein Genfor, 336 
ein Prätor und 300 gelangten durch das ogulntiche Geſetz Plebejer auch in daß 
Priefter- Collegium. Damit mar die Scheidemand gefallen, welche Patricier und Pke⸗ 
befer getrennt und fo viele Kämpfe bewirkt hatte. Schnell bahnte ſich nun auch die 
factifche Berfchmelzung der beiden Stände an. Das ältere Patriciat verlor an Ds 
deutung vor dem aus Plebejern wie PBatriciern ſich bildenden neuen Abel, der No⸗ 
bilität, zu dem fi die Familien derer erhoben, welche curulifche Aemter bekleidet 
hatten. Zugleich verlor auch der Senat feine rein patriciſche Faͤrbung, da Piebejer, 
die durch die eurulifchen Aemter hindurch gegangen waren, in ihm ihren Sig nahmen. 
No beſtanden zmar die patrieiſchen Guriat-Comitien, aber ihre Wirkfamkeit wurde 
illuſoriſch, als im Jahre 339 der Dietator Publilius Philo das Geſetz buch 
brachte, daß die Patricher die Befchlüffe der Eenturiat-Eomitien im Voraus beflä- 
tigen follten. Dun: Phild wurde auch das Vuleriſch⸗Horatiſche Geſey über die Alle 


Kom. (Geſchichte und Berfaffung.) 319 


gemeingültigkeit ber Plebiscita erneuert und abermals 286 durch den Dictator Hor⸗ 
tenfins, als das Volk eine abermalige Secefllon unternommen hatte. Damit endete 
diefer Hifkorifch denkwurdige Verfaſſungskampf des römifchen Volkes, die allgemeine 
Gleichberechtigung der Bürger war erftritten und während des langen Kampfes eine 
Fülle innerer Kräfte im Volke entfaltet und entwidelt worden, die nın nach außen 
gewendet und gelenkt die Oberherrſchaft R.'s über bie italifchen Volkerſchaften und 
Staaten begründen mußte. Nach flegreihen Kämpfen gegen Etrusker, Herniter, Gal⸗ 
lies und Tiburtinee begann 343 der langwierige Krieg R.'s gegen die Samniter, 
weldye an der oͤſtlichen Seite Italiens wohnten. Die mit diefen um Sidicinum kaͤm⸗ 
pfenden Bampaner erbaten und erbiehten Hülfe von R. Die Römer errangen bie 
Siege am Berge Gaurus und bei Sueffula, fchloffen aber mit den Samnitern Frie⸗ 
den 341, da die L2atiner, R.'s Bundeögenofien, eine drohende Stellung gegen R. ein» 
genommen hatten. Im Jahre 339 entbrannte daher der Krieg mit den Latinern, welche 
durch Die Conſuln MRanlius Torquatus und Decius Muß, der fi felbft dem 
Tode weihte, beſiegt und R. wieder unterworfen wurden, 338. Sofort nahm R. 
wiederum feine berausfordernde Stellung gegen bie Samniter ein, und Der zweite fans 
nitifche Krieg, in dem R. oft Daran war, dem Gegner zu unterliegen, begann 326. 
Der Dietator Papirius Curfor und der Reiteroberſt Fabius Marimus Rul—⸗ 
lianus eröffneten den Kampf mit großem Glücke, allein der Samniter Cajus Pon- 
tius, dee Sohn des weiſen Herennius, Todte ihr Heer in die Gaubinifchen Engpäfle, 
nahm es gefangen und entließ e8 mit Schimpf, 321. DM. haͤrte feine Ehre, aber nicht 
feine Macht verloren, und der neu entbrannte Kampf zeigte Immer deutlicher feine 
Superiorität. Nah dem Jahre 314 erhoben ſich auch andere Völkerfchaften gegen 
R., fo die Etrusker, welche DO. Fabius 310 bei Sutrium und 309 am vadimoniſchen 
Ser, die Umbrer, welche ex 308 bei Merania ſchlug. Den Kern ded famnitifchen 
Heeres vernichtete ber Dietater Bapirius Eurfor bei Longula, und das erfchöpfte 
Samnium mußte um Frieden bitten, 304. Es erkannte R.'s Oberherrfchaft an und 
verlor die bisher Über Lucanien ausgeübte Oberhoheit. Ein dritter Krieg mit den 
Samnitern entbrannte aber ſchon 298, als es diefen gelungen war, ein Bündniß mit 
den Etrudfern, Umbrern und Gallien gegen R. zu Stande zu bringen. Auch in 
diefem Kriege blieben die Romer durch den SHeldenmuth ihrer Soldaten und 
die Tüchtigkeit ihrer Feldherren Sieger. DB. Decius Mus und DO. Fabius 
Masimus erfochten einen glänzenden Sieg bei Sentinum 295, mo ber famnitifche 
Anführer Gellius Egnatius jelber, die Seele des gegen R. gerichteten Bündniffes, den 
Tod fand. GSiegreich blieben Die Mömer auch bei Aquilonia 293, während der Sam- 
niter Pontius 292 fie beſtegte. Den Kampf beendete 290 O. Fabius Maximus, der 
den Pontius gefangen nahm und nach R. fandte, wo er enthauptet wurde. Der fleg- 
reiche, Ausgang des faſt 5Ojährigen Kampfes hatte bie römifche Kriegskunſt entwidelt 
und R.'s Eroberungdpolitit eingeleitet. Diefe war in den nächften Jahren nach Notre 
den gerichtet, gegen bie fenonifchen Gallier (283), deren Land Publius Cornelius 
Dolabella unterwarf, während im folgenden Sabre die bofifchen Gallier und Etrusker 
durh Duintus Aemilius Papus beflegt wurden. Mit diefen Bölfern murde 280 
klüglich ein Friede gefchloflen, da fich die Samniter und Bruttier regten, weldye an 
dem. reihen und mächtigen Tarent in Sübitalien einen Bundesgenoffen gefunden hatten. 
Tarent war freventlih durch Friedensbruch Rom's Feindin geworden und um dem 
nahenden Sturm zu begegnen, Pyhrrhus von Epirus von ihm zur Hülfe gerufen 
worden. Leber den Berlauf und Ausgang des 280 begonnenen und 272 beendigten 
taxentinifchen Krieges ſiehe den Art. Pyrrhus. Tarent ſelbſt wurde 272 von den 
Römem erobert und da ſchon 275 nach dem Abzuge des Pyrrhus die Samniter, 
Bzuttier und Lucaner an dem glüdlichen Aubgange des Kampfed gegen Nom ver⸗ 
zweifelnd bie Waffen niedergelegt hatten, auch 266 die farfenatifhen Umbrer unter 
worfen wurden, fo mar um biefe Zeit Die Unterwerfung Staltend unter R.'s Ober⸗ 
herrſchaft eine vollendete Thatfadhe. Das Loos der den Roͤmern unterworfenen Stäbte 
und Gebiete war ein Herfchiedenes, je nach dem Grade der Willigkeit, mit welcher fie 
fich R. unterworfen hatten. . Es gab demnach Freiftäbte (municipia), deren Bür- 
ger einen größeren oder geringeren. Autheil am zömifchen Bürgerrechte hatten (cives 


r 


320 Nom. (Geſchichte und DVerfaffung.) 


optimo jure und civitas sine suffragio), Bundesgenoffen latinifhen Meihtes 
(socii juris Latini) mit eigner Berfafiung und Wahl der Obrigkeit, aber den Roͤmern 
tributpflihtig; Bundesdgenoffen italifhen Rechtes (socii juris Italici), welche 
im Ganzen den latinifhen Bundesgenoſſen nachflanden. Außerdem entfandte R. 
Pflanzſtädte (coloniae), theild mit römifhem, theils mit Iatinifchem Rechte, und 
in gewiſſe Municipien Bräfeeten bebufs der Mechtöpflege (freie Bräfecturen). 
Unter R.'s Oberberrjchaft bereitete fih nun bie Latinifirung Italiens, die Verſchmel⸗ 
zung aller Bölferfchaften zu einer Nationalität vor. Indeß Diefe von N. angeſtrebte 
neue politifche Entwidelung des gefammten Italiens zu einem von dem Gentralpuntte 
R. aus beberrichten Staate fchien in ihren Anfängen fchon geftdrt zu werden durch 
die Kämpfe, in welche R. mit Karthago gerietb. Beide Staaten hatten bis dahin In 
nicht unfreundlichem Verhaältniß geftanden, im tarentinifchen Kriege fogar (278) ein 
Bündniß gegen Pyrrhus gefchloflen; aber Beide fließen feindlich auf einander, als e8 
fih darum handelte, ob Sicilien eine Iatinifche oder punifche Infel werben follte, da 
das griechifche Element der fleilifchen Infelbevölferung ſich als unfähig erwies, Sici⸗ 
lien eine neutrale, unabhängige Stellung zwiſchen Karthago und MR. zu geben. Der 
erftie punifhe Krieg nahm 264 feinen Anfang und wurde veranlaft Durch 
ein Hülfdgefuch der Mamertiner in R. gegen die Karthager. Bis zum Jahre 262 
eroberten die Mömer faſt die ganze Infel Sicilien, erbauten darauf ihre erfte Kriegs⸗ 
flotte, mit welcher 260 Duilius bei Mylä den erſten Seefleg erfocht. 256 flegten 
Regulus (f. d. Art.) und Bulfo abermals bei Eknomus und ſetzten nach Afrifa 
über, wo Regulus freilich gefchlagen wurde, 255. Entfcheidend für R.'s Glück wurde 
der bei Panormus von Bäcilius Metelus über Haſdrubal (f. d. Art.) erfochtene 
Sieg. Nach mehrfahem Schwanfen des Kriegsglüdes beendete der Sieg des Luta- 
tius Gatulus bei den argatifchen Infeln 242 den erften punifchen Krieg zu Gunſten 
MR.'s. Im Brieden von 241 riumte Karthago Sicilien, welches demnach die erfie 
römiſche Provinz murde. Während Karthago in Folge des Krieges durch 
innere Zwiſtigkeiten fafl ganz zerrüttet wurde, entrig Ihm R. widerrechtlich die Infeln 
Corſica und Sardinien 238. Um diefelbe Zeit begann R. die Unterwerfung Ligu- 
riens (f. d. A.). Im Jahre 235 trat eine mehrmonatliche Kriegspaufe ein, und 
der Zempel des Janus, der feit Numa's Zeit beftändig offen geftanden Hatte, Eonnte 
auf kurze Zeit geichloffen werden. Ein neuer Kampf entbrannte 228 gegen die Illy⸗ 
rier, ein Voll, welches in dem heutigen Dalmatien und Kroatien mohnte und auf 
dem Adriatiſchen Meere Seeräuberei trieb. In kurzer Zeit war Illhrien erobert und 
die Königin Teuta zu einem Frieden gezwungen, in dem fle Süd⸗Illyrien und Gor- 
cHra abtreten und die Regierung ihrem Sohne Pinneas unter der Bormundfchaft des 
treulofen Demetrius von Pharus übergeben mußte. Ungleich fihmwieriger wurde der 
Kampf, den RM. in den Jahren 225 — 222 gegen die Bofer und Infubrer zu beſtehen 
batte, zwei Völferfchaften in den Po-Begenden. Beide murden in den Schladhten an 
der Adua und bei Glaftiplum von Flaminiuß und Glaudius Marcellus (f. d.) 
gefchlagen, Mailand, die Hauptfladt der Infubrer, erobert und zur Sicherung bed 
Beſitzes der eingenommenen Gebiete die Golonieen Placentia und Gremona angelegt, 
219. In demfelben Jahre entbrannte ein neuer Krieg gegen die Illyrier, der mit 
der Unterwerfung des ganzen Landes endete. Das nördliche Italien war in R.'és 
Gewalt, aber die Bevölkerung gehörte einer fremden Nationalität an und martete nur 
bes Außeren Anſtoßes zur Empörung gegen R.; diefen Anſtoß gab der zweite pu⸗ 
niihe Krieg von 218 — 201, der ſchwerſte, den R. jemals zu beflehen gehabt. 
(Bgl. die Art. Hannibal und Haddrubal.) Die Beranlaffung zu diefem Kriege gab 
die Eroberung Sagunts in Spanien dur die Karthager, in Folge deren die Mömer 
Karthago den Krieg erflärten. Hannibal verfegte durch die Ueberfchreitung ber Alpen 
den Krieg nach Italien, wo die untermorfenen gallifhen Vöolkerſchaften fofort für Ihn 
aufflanden. Die Siege Hannibal’ am Ticinus, an der Trebia, am Traſimeniſchen 
See (217) und endlih bei Gannä (216) fehienen R.'s Untergang unabwendbar 
herbeizuführen; aber die unerfchütterliche Vaterlandsliebe, befonnene Politik und zähe 
Seftigfeit der Römer, endli der Unverfland der Karthager, die ihren Feldherrn ohne 
Unterflägung ließen, rettete R. Nach der Schlacht bei Gannd fah fi Hannibal 


Kom. (Geſchichte und Berfaffung.) 321 


immer mehr auf die bloße Defenflve in Stallen befchränkt, in ber fein Feldherrntalent 
freilich nicht minder als In dem angreifenden Vorgehen der erfien Jahre des Krieges 
leuchtete. Zugleich gingen den Karthagern Sicilien und Spanien verloren, wo Mar» 
cellus (f. d.) und Bublius Gornelius Scipio (f. d. Art.) die erfolgreichſten 
Siege gewannen. Endlich ließ der römifche: Senat Karthago durch Geipio In Afrika 
felber angreifen, und Hanntbal wurde von Italien zur Rettung feiner bedrängten Va⸗ 
terfladt abgerufen. 202 beflegte ihn Scipio in der Schladyt bei Zaͤma, «welcher ein 
Friedensſchluß folgte, der Karthago's Macht auf immer brach, Nom aber mit weithin 
leuchtendem Blanze umgab und auf den Weg zur Weltherrfchaft führte. In enger 
Berbindung mit dem zweiten punlichen Kriege fland noch der demnähft von R. gegen 
Philipp III. von Macevonien unternommene Kampf. Philipp hatte Hannibal zu un« 
terflügen gewagt und dadurch R.'s Zorn gereist. Im Jahre 200 wurde ihm der 
Krieg erklärt, Da er es wagte, gegen den von R. befchügten König Attalus von 
Bergamus(f.d.), gegen Rhodus und Athen Feindfeligfeiten auszuüben. Es gelang den 
Nömern, die Aetoler, Achier und Böotier gegen Bhllipp aufzubegen, und 197 beflegte 
ihn Titus Quintius Flaminius (f. d.) bei Kynosfephalä, melde Schlacht Ma⸗ 
eedoniens und Griechenlands Schidfal für die Folgezeit entfchied. Die griechifchen 
Staaten erhielten zu ihrem eigenen Nachtheil die Autonomie zurüd und feierten für 
dieſes Danaergefchen? die Roͤmer als die Befreler Griechenlands. Schon dehnte ſich die 
Macht R.'s über die Apenninen«, Pyrenäen⸗ und Hämus⸗Halbinſel aus, und römi- 
[her Einfluß beberrfchte das puniſche Gebiet in Nordafrika: jeht endlich wagte MR. 
auch feinen Buß auf Aſtens Boden zu fegen. Antlohuß Ill. von Syrien, der 
feine Macht bis Kleinafien und Thracien auszudehnen gewagt hatte, erweckte .'6 
Eiferfucht, und murde zum Kriege gegen bie Roͤmer angereist durch die Aetoler und 
den aus Karthago zu ihm geflüchteten Hannibal. 192 erfchien Antiohus in Grie⸗ 
henland; allein Acilius Blabrio und Porcius Cato (f. d.) beflegten ihn bei 
den Thermopylen und trieben ihn nah Aſten zurüd 191. Im nädften Jahre fehte 
Lucius Cornelius Seipio nad Kleinaflen über und beendete ben Krieg durch 
die Schlacht bei Magnefla am Berge Sipylus. Antiochus erfaufte den Frieden durch 
Abtretung des Fleinaflatifchen Gebietes 5i8 zum Taurus, welches die Mömer ihren 
Bundesgenoffen, dem Könige Eumenes Il. von Pergamus und den Ahodiern, ſchenk⸗ 
ten. 189 wurde auch Aetolien durch Marcus Fulvius unterworfen. Seit dem 
Tage von Kynosfephalä Hatte Philipp II. Macedonien zum abermaligen Kampfe ge- 
gen R. zu erheben gefucht. Unter großen Rüſtungen war er geftorben und fein Sohn 
Perſeus eröffnete 171 den Krieg gegen R. und führte Ihn drei Jahre Tang mit 
Gluͤck. 168 jedoch beflegte ihn Aemillus Paulus bei Pydna, morauf er ald Ge⸗ 
fangener nach R. gebracht wurde. Das gleiche Schidfal traf den ebenfalls beflegten 
König Gentius von Illyrien. Den achälfhen Bund befchuldigte M. der geheimen 
Theilnahme an den Plänen des Perfeus, und 1000 angefehene Achäer wurden als 
Gefangene zur Berantwortung nah R. geführt, wo man fie bis zum Jahre 151 feſt⸗ 
hielt. In die fyrifch-ägpptifchen Angelegenheiten mifchte ſich R. zu Gunften Aegyptens, 
welches von Antiochus Eyiphanes von Syrien bebrängt murbe. Die Folge hiervon 
war, daß beide Staaten unter die politifhe VBormundfchaft R.'s gerietben und bald 
auch vollfländig abhängig von MR. wurden. Dem gleichen Schiefale verfiel nach dem 
Jahre 150 das In ſich uneinige und gefchwächte Griechenland. Nachdem Gäcilius 
Metellus das unter Andriscus 148 aufgeflandene Macedonien beflegt und in eine rd» 


miſche Provinz verwandelt hatte, ſchlug er die Achäer bei Scarphea 147,’ und im 


nächften Jahre erlagen diefe vollfländig in der durch Mummius gewonnenen Schlacht 
bei Leukopetra. Korinth fiel nun in die Hände des Siegerd und murde geplündert 
und bis auf den Grund zerftört, ganz Griechenland aber mit Ausnahme ber für frei 
erflärten Städte Athen und Sparta eine rönifche Brovinz unter dem Namen Achaja. 
Zugleich mit Korinth fiel auch 146 Karthago, welches 150 den dritten punifchen 
Krieg unternommen hatte Publius Gornelius Scipio der Jüngere belagerte, er- 
oberie und zerflörte die Stadt ſelbſt; das Parthagifche Gebiet aber wurde eine römifche 
Provinz unter dem Namen Afrika. In Spanien hatten feit dem zweiten punifchen 
Kriege die Waffen fafk nie gerubt, denn obgleich die Mömer den fünlichen und öflli- 
Bagener, Gtinats- u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 21 


322 Kom. (Gefchichte und Berfafiung.) 


hen Theil der Halbinfel inne Hatten, . fo vertheidigten doch im Weften die Zufita- 
nier und im Norden die Keltiberer mit bewundernswertbem Muthe ihre Breiheit. 
Als im Jahre 150 Sulpieius Balba mehrere Taufende von Lufltaniern menchelmörde⸗ 
riſch hinrichten ließ, erhob fich Dies Volk unter Anführung des Biriathus zu einem 
blutigen Vertheidigungsfampfe von 148 — 140, den die Mömer nur durch die heim⸗ 
tädifche Ermordung jened Volkshelden beendigten. Nicht minder treulos verfuhren fie 
gegen die Yumantiner, die Bundesgenoffen der Lufltanier. Nachdem die Numantiner 
ihnen viele Niederlagen bereitet Hatten, wurde ihre Hauptfladt Numantia von Scipio, 
dem Ueberwinder Karthago's, gänzlich zerflört, 133. Das endlich beflegte Spanien 
wurde von dieſer Zeit an eine römifche Provinz. Im Jahre 133 vermachte dır Koͤ⸗ 
nig Attalus 11. von Pergamus fein Land teflamentarifh den Roͤmern, deren Gebiet 
nun auch in Allen um eine Provinz vermehrt wurde. Während R. aber jeine Herr⸗ 
ſchaft über drei Erdtheile ausdehnte und an äußerer Macht gewann, gin⸗ 
gen im Innern des Staates Deränderungen vor, aus welchen fi die Keime 
des Verfalles bald entwidelten. Die Menge der erbeuteten Schäge und 
Koftbarkeiten, welche in Folge der Kriege in R. aufgebäuft wurden, erwedte und be» 


günfligte den Gang zur Schwelgerei. Die alte Einfachheit ber römifchen Sitten ber 


gann ſchon nad) dem zweiten punifchen Kriege zu ſchwinden, während Urbeitöfchen 
und Genußſucht ſich bis in die unteren Bolksfchichten verbreiteten. Namentlich ver» 
derblich wirkte auf R. die Belanntfchaft mit dem üppigen Leben der Aflaten und dad 
Zufammenftrömen von Fremden aller Nationen in der Hauptfladt, in deren Gefolge 
Lafer und Leidenfchaften kamen. Gehr bald zeigte daher die römische Politik die im 
römifchen Geifte eingetretene Verſchlechterung an. Schon erfüllte fie Feine fittlich- 
nationale Aufgabe mehr, indem fle die römischen Waffen den atlantiihen Dcean und 
dem Eupbrat immer näher führen Tieß, Sondern fle untermwarf bie fremden Nationen 
aus Eroberungsfucht und Ländergier. Nicht minder unheilvoll wurbe in diefer Zeit 
die Entwidelung der foclal-politifchen Verhältniffe R.'3. Der Gegeniag bed Geburts⸗ 
adels und des Plebejerthums war, wie wir oben gefehen haben, glüdlih ausgeglichen 
und die Mechtögleichheit aller römifchen Bürger erfämpft worden; aber fehr bald Hatte 


ſich in der NRobilität ein Amtsadel aus patricifchen und plebeiifhen Emporkömmlingen- 


gebildet, der nicht minder als die früheren Patricier die Bekleidung der höheren Staats» 
ämter als ein Standesvorrecht betrachtete und die übrigen Bürger, wenn fie nad) den 
höheren Aemtern fisebten, als Emporfömmlinge (homines novi, ignobiles, obscuri) 
mit feheelen Augen anfah. Neben der Nobilität erhob fih über das übrige Vollk der 
Nitterfland, d. 5. der Stand der reichen Privatleute, welche als Finanzpaͤchter und 
Börfenleute fi in den Beſitz großer Meichthümer zu fegen gewußt hatten, was nicht 
felten durch Anwendung der ſchlechteſten Mittel, durch Erprefiungen und Beflehungen 
geicheben war. Während nun die Nobiles und die Ritter in den Beflg der Würden 
und Schäge gelangten, namentli aber große Ländereien (Latifundien) in Italien 
erwarben, zu deren Bearbeitung ſie Schaaren von Sclaven verwenden fonnten, vers 
armte der Bürger und Bauernfland, beſonders der Ießtere, der im Betriebe der Land⸗ 
wirthſchaft mit den großen Gutäbeflgern nicht mehr concurriren fonnte. Bon Neuem 
alfo Hatten ſich Die Begenfäge zwifchen Reichen und Armen, zwiſchen Nobiles und 
Ignobiles gefchärft, und wie einige Jahrhunderte früher, flanden ſich wieder zwei 
Parteien einander gegenüber, die eine bereit ihre Vorrechte zu vertheidigen, die andere 
um biefelben zu baden. Man hätte den früheren Kampf des Batricier- und Plebe⸗ 
jerſtandes nah Ausgleichung der Mißverbältniffe noch einmal durchlämpfen müflen und 
in der That hat es nicht an Berfuchen hierzu gefehlt; aber darin offenbarte ſich eben 
ber verhängnißvolle Gegenfag zwifchen dem alten und dem neueren Mom, daß früher 
jener Kampf zu einem glädlichen Refultate geführt hatte und derſelbe jegt alled Ver⸗ 
berben bed Demagogenthumes und alle Schredniffe der Revolution über R. beranf- 
befchwor. Beide Parteien waren um dieſe Zeit von politifcher Fäulniß ergriffen. 
Die Ariſtokraten bublten durch den Ambitus und Stimmenfauf um die Gunſt ber 
Menge behufs der Erlangung von Aemtern und Icheuten die Erniedrigung zu einer 
Schmeichler- und Bettlerrolle nicht, um zum Megimente zu gelangen. Die Gegen» 
partei andererfeitd war durchaus nicht mehr das loyale römifche Volk der alten Zeit, 


Kom, (Geſchichte und Berfaffung.) 323 


fondern eine Menge durch eigene ober fremde Schuld herabgekommener Bürger ohne 
Geflnnungstüchtigleit und von der berrichenden Partei durch Schmeichelei und Be- 
ſtechung faft ſyſtematiſch verdorben. Seit dem Kriege mit Perſeus zahlte die römifche 
Gemeinde keine Abgaben mehr und zugleich wurde fle immer feltener zum Kriegsdienſte 
herangezogen. So mußte in ihr der verderbliche Gedanke Platz greifen, daß fle nicht 
mehr zu dienen, fondern zu herrſchen habe. Der Boden für die Demagogenherrfchaft 
war alfo zubereitet und den Volksführern fland bald eine organifirte faclio forensis 
zu Gebote, mit der fi) etwas durchſetzen ließ, da feit dem Jahre 139 die geheime Ab⸗ 
fimmung mittel® Tafelchen an Stelle der mündlich » öffentlichen durch das gabinifche 
und caffliche Geſetz getreten war. Wenn aber die Menge auch feil zu werden bes 
gann und die Interefien debjenigen vertreten zu wollen ſchien, der am meiften 
bieten konnte, es lebte dennoch in ihr die Erinnerung an ben Geiſt ber 
alten römifhen Plebb, und diefe Erinnerung wurde gewaltig angefaht, ale 
im 3. 133 der Tribun Tiberius Semproniuß Grachud (f. d. Art.), um 
Die Schäden feiner Zeit zu heilen, das in DBergeffenheit gekommene liciniſche Gefep 
(f. oben) mit mildernden Befllmmungen erneuerte. Kein Bürger follte mehr ala 500 
Jugera Aderland ?) befigen — fo Tautete feine Forderung — und wer einen größeren 
Grundbeſitz hätte, den Ueberſchuß an Aderland abtreten, damit biefed unter das arme 
Bolt vertheilt werden könne. Vermoͤge des Einfluffes, den das Eigenthum auf jeden 
Menſchen ausübt, wünfchte der Meformator dem Staate and dem Kefiplofen Böhel 
Bürger und Bauern zu erziehen. Grachus Hatte daB rechte Mittel gefunden, die Ge⸗ 
brechen R.'s zu beilen, und felbft das Recht auf feiner Seite, da das licinifcye Ader- 
gefeg niemald aufgehoben worden war; aber den factifhen Zufländen fündigte er 
Dennoch gleihfam den Krieg an, und fo erhob die ariftofratliche Bartei im Senate 
den beftigfien Widerſtand gegen die Meform. Es wurde unmöglich, diefelbe auf ver⸗ 
faffungsmäßigem Wege durchzuſetzen, und fo griff Gracchus, um feinen Zwei zu er 
zeichen, zu einem verfafjungsroidrigen Mittel, indem er durch eine Volksverſammlung wille 
Fürlich einen Tribunen, der ein Gegner der Reform war, ablegen lich. Es war ein tevolutio⸗ 
närer Act, der das font fefte Gefüge der römifchen Berfaffung durchbrach, ein unmittelbarer 
Eingrtiff des Volkswillens in Die Bermaltungsmafchine. Dies führte zu blutigen Maßnahmen 
ber Gegenpartei: der Kampf zwifchen Ariftofraten und Demokraten entbrannte in den 
Straßen R.’s, und Gracchus, von Scipio Naflen erfchlagen, murde eines ber erſten 
Dpfer defielben. Des Ermordeten Pläne nahm fein jüngerer leidenſchaftlicher Bru⸗ 
der Cajus Srachus wieder auf, als er 123 Tribun geworden war. Diefer 
fuchte zugleich das Anfehen und die Macht des Senats zu ſchwaͤchen und entzog ibm 
122 die Gerichtsbarkeit über Staatöverbrechen, welche dem Mitterflande übertragen 
wurde. Den Pöbel verleitete er durch dad Geſez über Einführung von Getreide⸗ 
fpenden an das Volk zum Müßiggange, büßte aber feine Autorität ein, als er den 
Borfchlag machte, den italifchen Bundesgenoffen das römifche Bürgerrecht zu erthei⸗ 
fen. Bald konnte e8 daher die Ariftofratie wagen, ihn zu flärgen. Im Jahre 121 
beantragte der Eonjul Opimius die Abfchaffung der gracchifchen Gefege und veran- 
laßte dadurch den Ausbruch eines Straßencramalles, In welchem die gut organifirte 
ariftofratifche Partei den Sieg errang und Bracchus den Tod fand. Der Sieg in den 
Straßen war zugleich ein politifcher Sieg, den die Arifkofratie über die Demokratie 
erlangte und den fle zu einer Reftauration der alten Verfaſſung außbeutete. Ein Des 
cennium hindurch waren die Gefege der Gracchen factifch beſeitigt; indeß neue An⸗ 
griffe gegen die Macht der Arifkofraten begannen in Folge des Jugurthiniſchen Krie⸗ 
ges (f. d. Art. Jugurtha), der die Beftechlichkeit und fahrläffige Megierung der 
herrſchenden Bartei in erfchredender Welfe offenbart. Der Tribun Gafus Mamilius 
bewirkte die Einfegung eines Gerichtes gegen bie Beſtechlichkeit der gegen Jugurtha 
fämpfenden ariftofratifchen Feldherren. Dies erfchütterte das Anſehen der Ariftofra« 
ten, aber noch mehr die fchnelle Beflegung des Jugurtha durch den Volksmann 
Gajus Marius (f. d. Art.) im Jahre 106. Während dieſes Kampfes fchon wurde 
R. mit Schreden erfüllt durch den Andrang zweier nordifher Völker, vr Eimbern 
1) Mäheres |. in dem Artikel Gracchus. 
21* 


324 Kom. (Geſchichte und DVerfaffung.) 


und Teutonen (f. d. Art.), welche ſchon 113’ an den Alpen erfchlenen: waren und 
bier wie Später in Gallien, defien Eroberung durch R. im Jahre 125 begonnen wurbe, 
. die Römer beflegt hatten. Den gefürdteten Feinden flellte man den Marius entgegen, 
der vier Jahre hindurch, 104—101, das Confulat behauptete. Derfelbe vernichtete die 
‚nah Italien ziehenden Teutonen im Jahre 102 bei Aquaͤ Sertiä und im Berein 
mit dem Conful Lutatius Catulus die Cimbern, welche, von den Teutonen fi tren⸗ 
‚nend, über die Alpen in die Lombardei vordrangen, auf den raudiichen Beldern bei 
Verona oder Bercelli im Sabre 101. Die Lorbeeren, weldye Marius durch biefe 
Siege errungen Hatte, verwelkten ſchnell, ald er in ungemeflenem Hafle gegen bie 
Ariftokraten und um durch Volksgunſt wiederum dad Gonfulat zu erlangen, mit dem 
zügellofen Tribun Apuleius Saturninus und dem Prütor Serviliuß Blau» 
eia in Verbindung trat. Als das freche Treiben biefer Männer aber Mord und Auf⸗ 
ruhr hervorrief, mußte Marius gegen feine eigene Partei die Waffen ergreifen, wo⸗ 
durch er in eine politifch zweideutige, von den entgegengefegten Barteien angefochtene 
Stellung gerietb. Mißmuthig verließ er Nom und ging nach Allen, angeblid um ein 
Gelübde zu Idien. Nach Beendigung eines im Jahre 103 ausgebrochenen Sclaven- 
aufftandes in Sicilien genoß R. einige Jahre des Friedens und erhielt 96 das chre- 
nifhe Reich ald ein Vermaͤchtniß des chHhrenifchen Königs Ptolemäus Arion. Bald 
jedoch begannen neue innere Unruhen und zugleich äußere Kriege, welche zeriegender 
als alle früheren auf dad Wohl und Gebeihen R.'s einwirkten. Die italifchen Bun⸗ 
besgenofien, welche für N,’ Größe und Macht fo viele Anftrengungen erbuldet Hatten, 
wie die Römer felbft, forderten fett Ianger Zeit ſchon das römifche Bürgerrecht, fanden 
aber entfchiedenen Widerfland an der auf ihre Hoheitärechte ſtolzen römifchen Bevol⸗ 
ferung. Im Jahre 95 unterfagte fogar ein Gefeg der Conſuln Licinius Erafius und 
Muctus Scävola (lex Licinia Mucia) allen Nichtbürgern, welde in der Hauptſtadt 
anjäfflg waren, die Ausübung bürgerlicher Befugniffe und befchränkte ihren Aufenthalt 
in Mom. Da flellte Livius Druſus im Jahre 91 den Antrag, den Italifchen 
Bundesgenofien dad Bürgerrecht zu ertheilen, büßte benfelben aber mit dem Tode. 
Die Bundesgenojien dachten jebt an Selbfthälfe, und in Kurzem erhoben fi die 
meiften italifchen Wölkerfchaften, um einen Gefammtftaat Italien berzuftellen, deflen 
Mittelpunft das pelignifche Eorfinium unter dem Namen Ilalica werden follte. Hier 
follte ein Senat von 500 Abgeordneten tagen, unter dem zwei Gonfuln und 12 Prä- 
toren flanden. Getreu blieben den Römern nur die Lateiner und Eirudfer, weldye 
dafür mwirkli unter die DBürgerfchaft aufgenommen wurden. Der Krieg brach zu 
Adculum in Picenum aus und wurde von Seiten der Römer eröffnet durch einen Zug 
gegen die Marfer, weshalb diefer Krieg auch der Marfifche genannt wird. Anfangs 
fampften die Bundesgenoſſen mit Glück, erlagen aber dennoch, als im Jahre 89 ihr 
Feldherr Bompadius Silo von Pompejus Strabo gefchlagen, die Samniter und Sirs 
piner von Sulla beflegt und einige Bölkerfchaften zur Ergebung gelodt wurden durch 
die Verheißung des Bürgerrechtes. Am bartnädigften war der Widerfland der Sam⸗ 
niter, der erſt gebrochen wurde durch die Niederlage, welche die marianifche Partei 
durch Sulla erlitt. Im Ganzen war der Ausgang bed Krieges für die Bundeöge- 
noffen nicht ungünftig, da die meiften von ihnen, ſohald fle mit R. Frieden ſchloſſen, 
dad Bürgerrecht erhielten. Indeß vertheilte man fie nicht unter die beftehenden 35 
Tribus, jondern errichtete für fle acht befondere, zulegt ſtimmende Tribus, 
wodurch fie fehr geringen Einfluß bei den Abflimmungen erlangten. Während des 
erwähnten Kampfes hatten auch die Zwiftigkeiten der inneren feindlichen Barteien R.'s 
nicht gefchwiegen,, vielmehr an Schärfe gewonnen, da die ariftofratifche Partei in 
Sulla, die demokratifche in Marius tüchtige Führer befaß, die einander perſoͤnlich und 
politifch gleich Feind waren. Zwiſchen beiden kam es zum Kampfe, als im Jahre 88 
Mithridates, König von Pontus (fiche biefen Art.) den Krieg gegen R. eröffnete, 
Sulla als Conful das römiiche Heer gegen ihn führen wollte und plöplich Sulpicius 
in R. dad Geſetz durchbrachte, daß Sulla den Oberbefebl für den mithridatifchen 
Krieg dem Marius abtreten fellte. Kaum war die Kunde biervon in das Lager des 
Sulla gebrungen, al& Truppen und Feldherr, gleich erbittert, gegen R. ſelbſt zu ziehen . 
beſchlofſen. Die Stabt fiel in Sulla’8 Gewalt, die Bollöpartei murde beflegt und 


Nom. (Gefchichte und Derfaffung.) = 325 


Marius rettete nur durch fchnelfe Flucht nah Süd⸗Italien und dann nach Afrika fein 
Leben. Nachdem Sulla die römifchen Verbältniffe in feinem Intereffe geordnet hatte, 
zog er im Jahre 87 mit feinem Heere dem nach Griechenland vorgedrungenen Mithri⸗ 
dates entgegen, eroberte das mit dem Könige verbündete Athen (86), beflegte das 
mithridatifche Heer im Jahre 85 Hei Ehäronea und Orchomenus und ſchloß im 3. 84 
den erften Brieden mit Mithridates. Während aber Sulla für Rom flegte, war Ma⸗ 
rius nach R. im Jahre 87 zurüdgelehrt und batte mit wilder Mache die Partei jenes 
Feldherrn niedergeworfen und durch fchredliche Proferiptionen die römifchen Ariftofraten 
deeimirt. Im Jahre 86 farb Marius und feiner Partei fehlte daher ein Oberhaupt, 
ale Sulla im Jahre 83 mit feinem Heere nach Italien zurückkehrte, um an feinen 
Beinden Rache zu nehmen, da feine Vorfchläge zu gütlicher Ausgleihung abgemwiefen 
worden waren. Die marlanifchen Soldaten wurden von den kriegsgeübten fulla- 
niſchen überall beſtegt, wo fle nicht zu dieſen übergingen, und das feind- 
liche Hauptheer, weldyed — mit Lucanern und Semnitern unter Pontius Tele- 
finus verbündet — fi auf Nom merfen wollte, vor den Thoren diefer Stadt 
aufgerieden. Wiederum ſah R. blutige Mordfcenen innerhalb feiner Mauern, aber 
Sulla dachte auch fofort daran, den Staat von Neuem zu ordnen. Nachdem er fi 
zum Dietator hatte ernennen Taffen, änderte er die römifche Verfafſung dahin, daß 
dem demofratifchen Unmefen gefleuert und eine Oligarchie feiner Freunde und Anhän- 
ger gegründet würde. Die Intercefflon der Tribunen wurbe demgemäß auf wenige 
Fälle befchränft, die grachhifchen Inftitutionen wurben befeitigt und etwa 300 neue 
Senatoren in den Senat berufen. Gerichtd« und Verwaltungdwefen erfuhren nicht 
unmefentliche Veränderungen, und die von den Rittern ausgeübte richterliche Gewalt 
fiel wieder an den Senat zurüd. Heilfame Gefege endlich regelten die Befugnifle 
der Provinzialftatthalter und fuchten den in jener Zeit überand häufigen Verbrechen 
zu fleuern. Durdy Gründung von WMilitärcolonieen aber fuchte Sulla eben fo wohl 
den Soldaten, die für ihn gefochten hatten, fi dankbar zu ermeifen, als auch das 
Zand vor der Herrfchaft der Soldatedca zu bewahren, die nicht nur durch bie Ver⸗ 
hältniffe ded Bürgerfrieges, ſondern auch durch des Feldherrn Nachficht den Zügeln 
der Zucht entwachfen war. Die Zurüdführung ded ganzen Ausnahmezuftandes, den 
die Dictatur hervorgerufen hatte, in die alten Bahnen war ſtets das letzte Ziel ge- 
wefen, welches Sulla vor Augen geſchwebt Hatte Nah und nach ließ er die ordent⸗ 
liche Berfafjung wieder in Kraft treten, wenngleih er noch immer Dictator blieb. 
Sobald aber die Berhältniffe Ruhe und Beſtand verfprachen, legte er freiwillig die 
Regentfchaft nieder (im 3. 79), zog fi auf ein Landgut bet Gum zurüd und flarb 
ald Privatmann ſchon Im folgenden Jahre. Sulla's Verdienſte, über welche der Re⸗ 
fkaurationsterrorismus einen blutigen Schatten warf, hat die WMit- und Nachwelt we⸗ 
niger anerkannt, als fie e3 verdienen. Er bat den italifcherömifchen Bürgerkrieg end« 
gültig befchlofien und die Gleichberechtigung aller Italiker vor dem Geſete begründet. 
R., dad nad den verunglädten grachifchen Verſuchen, die Verfaſſung zu beflern, 
jährlich tiefer in die Anarchie gerieth,, ift wenigftend für einige Zeit durch jene In⸗ 
tervention erhalten worden; aber was er felber fhuf, um die alte Berfaflung her⸗ 
zuftellen, ift ohne Halt und Dauer geweien, wie ſich bald zeigte. Er verbefierte bie 
Schäden feiner Zeit nicht, fondern übertünchte fl. Schon fofort nad Sulla’8 Tode 
wurde der Verſuch gemacht, die fullanifche Verfaſſung abzufhaffen, was nur Pom⸗ 
pejus verhinderte, ein Anhänger Sulla’8, der e8 auch verfuchte,: die von Sertorius 
in Spanien gefammelten und organlfirten UWeberrefte der marlanifchen Partei vom 
Jahre 77—712 zu bekämpfen. Nach tapferem Widerflande fiel Sertorius im Jahre 
72 durch Meuchelmord, worauf Spanien beruhigt wurde. In Stalten mar inzmwifchen 
ein Sclavenauffland unter der Leitung des Spartacus ausgebrochen, Spartacus 
aber wurde durch Craſſus im Jahre 71 beflegt und der Reſt der Sclaven von dem 
aus Spanien heimkehrenden Bompefus aufgerieben. Legterer trachtete in R. nach der 
Gunſt der bald wieder mächtig gewordenen Volkspartei, und um dieſe zu gewinnen, 
flellte er im Sahre 70 als Conſul die von Sulla befchränfte tribunicifhe Gewalt 


‚wieder her, während durch feine Bermittelung daB Aurelifche Geſetz durchgebracht 


wurde, welches die Gerichtöbarkeit den Senatoren, Rittern und Schagtribunen (tribuni 


326 Kom. (Geſchichte und Verfaffung.) 


aerarii) zuertheilte. Damit war die fullanifche Geſetzgebung im Weſentlichen beſeitigt, 
Ponpefus aber der Mann des Tages geworden, auf den das Volk feine Bunfibezei- 
gungen bäufte Gegen die alte Sitte und beftebende Verordnungen beförderte man 
thn vor dem gefeglichen Alter zu den höchften Ehrenftellen, was die Eiferfucht des 
nicht minder populären, ſehr reichen Graffus werte. Im Jahre 67 wurde Pompejus 
die Führung eined Kriege gegen die Seeräuber übertragen, die damals das Mittels 
meer beunrublgten und, nachdem er diefe Aufgabe in 40 Tagen gelöft hatte, im Jahre 
66 der Krieg gegen Mithrivates, welchen vom Jahre 83E— 81 Murena ohne fonderliches 
Süd, aber fett dem Jahre 74 Licinius Lucullus mit großem Erfolge bekämpft 
hatte. Pompefus vernichtete in Eurzer Zeit den fchon ermatteten Gegner und erntete 
den Ruhm, den mithridatifchen Krieg beendet zu haben, da der pontifche König bald 
nach den von Pompejus erlittenen Niederlagen flard. Im Sabre 64 unterwarf Pom⸗ 
pejus auch Syrien, Phönizien und Palaͤſtina der römifhen Herrſchaft. Während er 
aber den Glanz und Schreden des römifchen Namens über Aſten verbreitete, verfuchte 
Eatilina (f. d.) durch eine Verſchwoͤrung die römifche Verfaffung zu flürzen, und 
nur der als Redner unübertroffene M. Tulltus Cicero (f. d.) rettete Durch feine Wach⸗ 
famkeit R. vor den Folgen jener Verſchwörung im Jahre 63. Im folgenden Jahre kehrte 
PBompefus aus Aflen zurüd und forderte vom Senate Die unbedingte Annahme feiner in Allen 
getroffenen Einrichtungen und eine Adervertheilung für feine Soldaten. Seine Forderungen 
wurden indeß abgelehnt, und der fonft ariftofratifch gefonnene Pompejus trat als 
Gegner des Senated zur Bolköpartei über und ſchloß mit dem aus Lufltanien heim⸗ 
Eehrenden Broprätor Julius Cäfar (f. d. Art.) und dem reichen Graflus daß 
erfie Triumvirat. Der Zwei dieſes Bündniffes war, den Einfluß des Senates 
auf die dffentlihen Angelegenheiten zu befchränfen (ne quid ageretur in republica, 
quod displicuisset ulli e tribus, Suet. Caes. c. 19). In der That gelang ed den 
Triumvirn, ihren Willen mit Hülfe der Volkspartei troß des Widerfirebens des 
Senates durchzuſetzen. Gäfar, im I. 59 zum Gonful ermwählt, brachte ein von 
Pompefus gewünfchtes AUcergefeg unmittelbar dur den Willen des Volkes und gegen 
den Widerfpruch feines Eollegen Gornelius Bibulus und des Eato (f. d. Art.) durch 
und regierte fo eigenmädtig in R., daß das Volk das Jahr 59 witig bezeichnete: 
„als Julius und CAfar Eonfuln waren.*. Leicht wurde jetzt die Beflätigung der von 
Pompejus in Aſien getroffenen Einrihtungen erlangt und die Stüßen des Senates, 
Eicero und Cato, durch Anträge des von den Triumpirn gewonnenen Tribunen 
Clodius (f. d. Art.) aus R. entfernt. Nachdem die Herrfchaft der Triumvirn auf 
diefe Weiſe geflchert war, ging Cäfar in die Provinzen Gallien und Illyrieum, 
welche er ſich auf 5 Jahre Hatte anmeifen laffen. Durch Unterwerfung der gallifchen 
Völkerfchaften von narbonenfligen Gallien aus, in den Jahren 58 bis 51, durch 
feine Siege über die Deutfchen, welche er fogar bis jenfeit bed Rheines verfolgte, 
und endlid durch feinen Uebergang nad) Britannien erwarb er fid und dem römifcyen 
Volke firahlenden Ruhm und unermeßlide Schäße; vor Allem aber fich ein Heer, 
welches durch Tapferkeit und kriegeriſche Uebung audgezeichnet war und ihm fpäter 
jene Siege erfechten Half, die feine Alleinherrſchaft im römifchen Weltreiche vorberel» 
teten. In Folge einer Zufammenfunft der Triumvirn in Lucca im 3. 56 erhielten 
durch den Beifland ded von ihnen gewonnenen Tribunen Trebonius Pompejus Spa- 
nien und Crafſus Syrien ald Provinzen auf 5 Jahre, während dem Gäjar die 
Statthalterfchaft in Gallien auf 5 Jahre verlängert wurde. Diefe Maßregeln wurben 
gewaltfam durchgeſetzt, Pompeſus indeffen blieb in R. und ließ Spanien burch feine 
Zegaten verwalten. Nach dem Tode des Craſſus im I. 53 näherte fh Pompejus 
wieder der Senatspartei, erhielt 52 das Bonfulat und machte dem wüſten Treiben 
der Demagogen (f. d. Art. Cfodind) auf einige Zeit ein Ende. Sein Berhältniß 
zu Gäfar wurde mit jedem Jahre gefpannter, die Frage, wer von den beiden mit 
fo ungemöhnliher Macht befleideten Männern Alleinherrſcher werben follte, immer 
dringender. Der Bruch erfolgte im 3. 50, als die Freunde des Pompefus den An- 
trag fiellten, Gäfar folle die Statthalterfchaft über Gallien nieberlegen und fein 
Heer entlaffen. Gäfar, der die Abficht des Antrages durchfchaute, verſprach dem 
Senate, in den Privatfiand zurückkehren zu wollen, wenn Pompejus daſſelbe thäte, 


Mom, (Geſchichte und Verfaſſung.) 977 


Die Ablehnung dieſes Dorfchlages Hatte den Ausbruch des Bürgerkiteged zur Folge 
zwifchen Caͤſar und Pompejud und der diefen unterflügenden Senatöpartel im I. 49. 
Caͤſar vertrieb feine Gegner fehnell aus Italien, eilte dann nach Spanien, wo er daß 
Heer des Pompejus unterwarf, und in M. zum Dietator ernannt, ging er nad 
Griechenland, mo er den Pompejus bei Pharfalus beflegte im 3. 48. PBompejus 
floh nach Aeghypten und endete dafeldft durch Meuchelmord. Gäfar ihm nach Aegyp⸗ 
ten folgend, ſtegte bafelbft in dem aus Thronflreitigkeiten ausgebrocdhenen Alexan⸗ 
drinifgen Kriege (48— 47), flug dann den Pharnaces von Pontus, den 
Sohn des Mithridates, und kehrte im J. 47 nah R. zurüd, wo er von Neuem die 
Dictatur und zugleich die tribuniciſche Gewalt erhielt. Don R. eilte er nach Afrika, 
wo er im Afrikaniſchen Kriege, den die Schlacht von Thapius im I. 46 been» 
dete, die Meberrefle der Senatspartei und die Hoffnungen der Republikaner 
(f. d. Urt. Cato) vernichtet. Nah R. heimgekehrt, erhielt Gäfar die Dietatur auf 
zehn Jahre, und die Uebertragung der wichtigſten Staatsämter ficherte ihm jeßt 
fhon die Stellung eines Alleinberrfchers zu. Noch einmal aber mußte er zur 
Sicherung derfelben das Schwert ziehen. Die Söhne de Pompeſus näm«- 
lich, Cajus und Sertus, hatten in Spanien eine bedeutende Macht gefammelt, weldye 
Gäfar im Jahre 45 in der Schlacht bei Munda, der fchredlichfien und gefahrvollſten, 
die er überhaupt geliefert bat, nur mit Mühe vernichtet. Nah Beflegung aber auch 
des lebten Yeindes kehrte Caͤſar gleichſam als Herrſcher und Monarch in dem weiten 
römifchen Gebiete nach der Hauptfladt zuräd. Er erhielt hier den Titel Imperator 
für ſich und feine Familie erblich, das Hecht, die Magiftrate zu ernennen und Mun⸗ 
zen mit feinem Bildniß fchlagen zu laffen; ferner überwies man ihm den Staatsfchag 
zu freier Verfügung und einen goldenen Ehrenjig im Senate, und nichts fehlte ihm 
zum römifchen Könige mehr als der Name des Königs. Factiſch war alfo aus der 
Mepublif dad Koͤnigthum neu hervorgegangen, wenn ed audy noch bed Namens ent« 
behrte oder Caͤſar es vorzog, feine monarchifche Stellung durch den Titel Imperator 
eben ſowohl zu verbdeden, ald zu zieren. Daß er mit Bewußtſein an dad frühere 
roͤmiſche Königthum anfnäpfte, bemweift Hinreichend, wie Mommfen (II. Bd. ©. 463) 
dargethan Hat, die Aufftellung feiner Bildſänle als der achten neben den auf dem 
Capitol aufbewahrten des alten fieben Könige und die Beſchraͤnkung der Senats⸗ und 
Volkorechte auf jenes Maß, daß einſt unter dem alten Königthum zugeftanden worden 
war. Diefe Umbildung der römifchen Berhältniffe, von einer Partei der Republikaner 
fo fchmerzlich betrauert, war zu einer Nothwendigkelt geworden, wenn der anarchiſche 
Zuftand R.'s nicht in eine nimmermehr zu heilende politifche Faulniß umfchlagen und 
den gänzlihen Ruin des Staates herbeiführen follte. Die in den Schriften des Plato 
und Ariſtoteles bezeichneten Staatöformen der Monarchie, Ariftofratie und Demokratie 
hatten im römiichen Staate ihre Entwidelung gehabt und fchließlih im Verfall zur 
Ochlokratie geführt, welcher naturgemäß, wie jene Philofophen fchon lehrten, die Tyrannis 
oder der Caſarianiomus, wie fie Heute Heißt, folgen. R. mochte daher unter Bäfar 
den Verluſt der alten Verfaſſung und Breiheit beflagen, aber Caͤſar allein ‚Hatte jene 
weder untergraben, noch dieſe geraubt. Beides war In R. längft abhanden gefommen 
und Eäfar räumte nur die Trümmer fort, um ein neues Syſtem, freilich ein monarchi⸗ 
ſches, auf dem gewonnenen Boden aufzubauen. Dadurch wurde von zwei Uebeln, 
Verfall des Staates oder abfolutes Megiment, das fehlimmere vermieden, und zugleich 
war Caſar der Mann, fein monarchiſches Syſtem zu einem die Wohlfahrt des Landes 
neubegrändehden zu erheben. Was er in der Furzen Zeit feiner Regierung für R. 
und die römifche Herrichaft gethan Hat, iſt aufierordentlih groß, und MR. Fonnte fein 
fchwererer Schlag treffen, als Die Ermordung Caͤſar's am 15. Mär; 44 durch Marcus 
Drutus und Cajus Bafftus. Die Freiheit, für welche die Mörder ihre Dolche erhoben, 
war ein weſenloſes Scyattenbild und fle brachte der Tod des Imperator nicht zurüd. 
Ja nicht einmal die cAfartiche Herrfchaft vermochten die Verſchworenen zu flürgen, denn 
fr fie war fchon die Bevölferung R.'s gewonnen und traten fegt Caſar's Freunde 
ein, befonderd Marcus Antonius und Marcus Lepidus, welche fiy der höchften Ge⸗ 
walt bemächtigten, während die Mörder Gäfar'd, vor der Wuth des Volkes kaum zu 
fügen, die Stadt verlaffen mußten. Bald nad diefen Vorgängen erſchien in R. 


328 Kom. (Geſchichte und Berfaffung.) 


der 19jährige Octavian (I. dieſ. Art.), ein Adoptivſohn Caſar's und dem Teſta⸗ 
mente nad fein Erbe, der inzwifchen in Griechenland den Studien obgelegen hatte. 
Diefer forderte die Hinterlaffenfhaft Caͤſar's und befchloß, die beiden um die Ober⸗ 
berefchaft Fänpfenden Parteien de8 Antonius und ded Brutus und Gaffius gleicher- 
weife zu befeitigen, um ſelbſt in die Stellung Caͤſar's eintreten zu Eönnen. Diefe für 
einen Iüngling fchwierige politifche Aufgabe hat Octavian mit meifterhafter Geſchick⸗ 
lichkeit gelöf. Indem er ſich zuerfi an den Senat anfhloß, gewann er Überhaupt eine 
Stellung und an Eicero einen eifrigen Bertbeidiger feiner Interefien. Dann verband 
er ſich mit Antonius, um die Republikaner zu vernichten, und endlich bejeitigte er ben 
Antonius ſelbſt. ALS diefer im Jahre 43 dem Decimus Brutus das cidalpinifche 
Gallien entreißen wollte, veranlaßte er den mutinifchen Krieg, in dem er zum 
Beinde des Daterlandes erflärt und die Gonfuln Hirtius und Panſa gegen ihn ge- 
fhidt wurden. Octavian folgte den Gonfuln als Proprätor, wohnte ber Schlacht hei 
Mutina bei, in der Antonius gefchlagen und die beiden Conſuln getödtet 
wurden, und jagte feinen Gegner nah Gallien. Jetzt eilte Octavian nah M., 
erzwang fich, obwohl er erſt 20 Jahre alt war, daB Gonfulat, trat dann als Mächer 
bes Caͤſar an deflen Mördern auf und mit dem Antonius und deſſen Freunden 
in Berbindung, in Folge deren er mit Antonius und Lepivus im Sabre 43 das 
zweite Triumvirat ſchloß. Die Triumvien theilten unter fi den Staat und 
beichloffen, die republikaniſche Bartei, meldye fih im Ofen um Brutus und Gafflus 
geichaart Hatte, zu vernichten. Das in Schreden geſetzte Volk beftätigte die Beſchlüſſe 
der Triumvirn und furdhtbare Proferiptionen, in denen auch Cicero ald Opfer fiel, 
verfchafften den Gemaltherrichern bie zum Kriege notbwendigen Mittel. Im Jahre 
42 wurden Brutus und Gafflus von Octavian und Antonius in der Doppelichladt 
bei Philippi in Macedonien beilegt, und beide republifanifche Führer gaben ſich felber 
den Tod. Gleih nach der Schlacht theilten die Triumvirn von Neuem das Neich: 
Octavian erhielt den Wellen mit R. Antonius den Often, während der unbebeutende 
Lepidus mit Afrika abgefunden wurde. Miphelligkeiten, welche zwifchen den beiden 
erfieren außgebrochen waren und den PBerufinifhen Krieg Im Jahre 41 ver⸗ 
anlaßten, wurden durch den brundifinifhen Bergleich im Jahre 39 ausgeglichen, 
auch der zwifchen Octavian und Sextus Pompejus ausgebrochene ſiciliſche Krieg 
durch den Sieg des Agrippa bei Mylaͤ zu Gunſten des erfleren beigelegt. Die 
zwiſchen Octavian und Antonius fortdauernde Eiferfucht aber führte endlich zum 
offenen Bruce und Kriege, in welchem Antonius am 2. September 31 in der See⸗ 
Schlacht bei Actium von Agrippa beflegt wurde, worauf er, nach Aegypten flüchtend, 
fih mit der Kleopatra, von deren Buhlerkünſten er gänzlich umflridt gewefen war, 
den Tod gab. Oetavian orbnete darauf die Verhältniffe des Drients und kehrte als 
Alleinberrfcher des Staates — Lepidus war fchon früher befeitigt worden — nad 
N. im Jahre 29 zuräd, dur die Schließung des Janustempeld verfündend, / daß jeht 
die Welt Frieden Habe. Mit dem genannten Jahre beginnt in der That eine neue 
Periode der römifhen Geſchichte. R. wurde jegt ein KRaiferreich, in welchem zu⸗ 
naͤchſt zwar bie republifanifhe Staaisform noch fortbeftand, endlich aber befeitigt- 
wurde und der firengflen monarchiſchen Staatsform, die Diocletian und Conſtantin 
ber Große begründeten, Play mahen mußte. Dectavian wurde durch Ernennung zum 
beftändigen Imperator und Uebertragung bed Oberbefehls über die gefammte Krieger 
macht, fo wie durch Verleihung des echtes, über Krieg und Frieden zu beflinmen, 
mit monarchiſcher Gewalt bekleidet. Zugleih erhielt er die Höchften vepublifanifchen 
Magiftratöwürden, wie die confularifche, cenforifche, tribunicifche, welche feine Perfon 
unverleglich machte, und die des Pontifer Maximus. Im Jahre 27 verlieh man ihm 
auch den Ehrentitel Auguftus, d. 5. Ehrwürdige, mit welchem er fortan in der 
Geichichte genannt wurde. Den Namen des Dictatord oder Königs fedod, vermieb 
er vorfihtig; ed genügte ihm in R. der Princeps zu fein und zu beißen; und 
eben fo gefliffentlih ſtrebte er nad Aufrechterhaltung ber republifanifchen Staats⸗ 
formen. Indefien wurden dieſe unter Auguftus Regierung nicht unwesentlich verändert. 
Der Senat, neu organifirt, befland fortan aus 600 Mitgliedern, welche der Brinceps nicht 
nur aus Mömern, fondern auch aus Italifern und Provinzialen ernannte. Ein befonberer 


Kom. (Geſchichte und Berfaffung.) 329 


Ausſchuß der Senatoren erhielt fpäterbin die Bedeutung eines fürflliden Geheime⸗ 
rathes (consilium secretum principis). Die Theilnahme des Volkes an der Geſetz⸗ 
gebung wurde befchränft, und eine Hülle von Senatöconfulten und Edicten der Im⸗ 
peratoren die hauptfaͤchlichſte Duelle des Rechtes. Die Wahl der alten Magiftrate 
geſchah fortan In den Gomitien nach dem Borfchlage des Kaiſers; die Bedeutung der 
alten Magiſtrate aber wurde gefhwädht durch die Ernennung faiferliher Bräfecten 
(f. d. Art.) Für die Ruhe und Wohlfahrt der Stadt und des Meiches forgte 
Auguftus mit großer Einfiht. MR. wurde in 14 Quartiere, Italien in 11 Pe 
gionen behufs beſſerer Verwaltung getheilt, die Provinzen, biöher von den Statt. 
baltern willfürlih außgejogen, erhielten beffere Beamte und Gerichtöbarkeit und 
fühlten ſich bald unter der Kaiſerherrſchaft glüdlicher, ald unter dem Regimente 
der Demokraten. In Betreff der Binanz- Verwaltung wurden von der Gtaatbe 
fafle (aerarium) die Kriegsfafle (aerarium militare) und die Privatkaſſe des Kaifere 
(fiseus) geſchieden und jeder Kafle ihre befonberen Einnahmen zugewieſen. Endlich 


forgte Auguſtus für die Verbeſſerung der fittlichen Zuflände des Volkes durch befon- 


dere Gefepe und wurde der wärmfle Freund und DBeförderer der römifchen Literatur, 
der unter ihm das goldene Zeitalter blühte. (Vgl. den Art. Röm. Literatur.) Seine 
Regierung war fomit eine fegendvolle für das in. wilden Bürgerkriegen erfchöpfte 
Mömerreih. Die Kriegswetter, welche auch in der Zeit des Augufus nicht ſchwiegen, 
enilunen fid an den fernften Grenzen des Reiches. Im nörblichen Spanien unter- 


warf Agripya in den I. 25—19 v. Ehr. die Gantabrer und Afturier. Gleichzeitig 


wurde das meftliche Gallien bezwungen und bie Oſtgrenze gegen die Angriffe der 
Parther vertheidigt. Die Alpenvdlfer in Nhätien, Bindelicten: und Noricum unter» 
Jagen den von Auguflus Schwiegerfühnen Drufus und Tiberius geführten Legionen, 
und bie Germanen wurden vom bein ber von Drufus’ und deſſen Nachfolgern bes 
friegt, wenngleih Sermann im 3. 9 n. Chr. zeitweilig die römifche Herrſchaft 
über Deutichland brach. Auguflus flarb im I, 14 n. Chr., und Tiberius wurde 
fein Nachfolger bis zum 3. 37. In den erften acht Jahren regierte er mit Mäßigung, 
änderte jedoch fein Benehmen, fobald fein vom Volke hochgeſchähter Neffe Serma- 
nicus (f. d. Art.) dur Gift aud dem Wege geräumt und fomit nicht mehr zu 
fürchten war. Bon dieſer Zeit an wurde Tiberius Regiment eine Gewaltberrfchaft. 
Die Bolkänerfammlungen börten auf, ſchreckliche Majeflätögerichte, welche auf die An⸗ 
zeige bezahlter Spione (delatores) Hin auf Hochverrath erkannten, untergruben die 
öffentliche Sicherheit und die Sittlichkeit des Volkes. Die Regierungsgefchäfte blie⸗ 
ben den Bünfllingen überlaflen, zuerfl dem Praefectus Praetorio Sefanus und nad 
deffen Sturze dem Macro. Tiberius felbft überließ ſich den fcheußlichfien Laflern, His 
Macro ihn heimlich ermorden ließ. Sein Nachfolger war vom Jahre 37 —41 der 
wahnwigige und graufame Caligula, der Sohn ded Germanicus, welcher eben⸗ 
falls eined gewaltfamen Todes flarb. Sein Nachfolger, Bermanicus Bruder Claus 


dius, der von 41—54 regierte, war ein ſchwacher Kopf und wurde von feinen Be- 


mahlinnen Meffalina und Agrippina, ganz verworfenen Greaturen, geleitet. 
Während aber RM. unter Claudius von Blut triefte, waren die römifchen Waffen fleg- 
zeih in Britannien, Germanien und Mauretanien. Er endete durch Gift und fein 
Stkeffohn Nero wurde Kaifer von 54— 68. Hundlungen der empoͤrendſten Grau» 
ſamkeit Eennzeichnen die Megierung Nero's, förmlicdhe Acte der Tollheit die Tegten 
Jahre feines Lebende. Er endete dur Selbſtmord und mit ihm erlofh dad Haus 
des Augufus. Den Namen Gäfar führten die fpäteren Megenten nur als Titel. Jetzt 
folgten ſchnell auf einander die von Regionen oder Prätorianern erhobenen Kaijer 
Galba, Otho, Bitellius im 3. 69. Den Iepten derſelben flürzte Flavius 
Befpaftanud, der von den Regionen in Judda erhoben worden war. Befipaflanus 
zeigte fich eben fo tüchtig als Kalfer, wie er als Feldherr geweien war. Er ordnete 


Die Berwaltung, ſtellte Zucht und Sitte im Volke und im Heere, fo weit e8 möglich. 


mar, wieder ber und bob von Neuem dad Anfehen des Senates, den er von unmwär- 
Digen Mitgliedern reinigte. Unter feiner Megierung wurde Ierufalem von feinem 
Sohne Titus im 3. 70 zerfiört und ein Aufftand der Bataver unter Civilis glücklich 
untesbrädt, Titus, fein Sohn, regierte nur von 79—81, aber mit fo viel Weise 


— —— — —— 


330 Mom. (Geſchichte und Berfaflung.) 


heit, daß das dankbare Volk ihn „den Liebling und Die Wonne der Menfchheit” 
nannte. Domitianus, fein Bruder, welcher von 81 — 96 die Herrſchaft führte, 
war ein graufamer Megent. Mit Argwohn ſah er die Fortfchritte feines Feldherrn 
Agricola in Britannien und rief ihn von feiner Siegeslaufbahn nah R. zurüd. Ale 
ex im 3. 96 ermordet wurde, flarb das Haus der Klavier mit ihm aus. Senat 
und Prätorianer beſtimmten zu feinem Nachfolger den Nerva (96—98), mit weldyem 
eine Reihe vortrefflicher römischer Kaifer beginnt. Ihm folgte der von ihm aboptirte Tra> 
janus, von 98—117, ein durch Muth und Tapferkeit wie große Megententugenden aus⸗ 
gezeichneter Für. Hadrianus, von 117-138, war friedliebend und Eunfifinnig. 
Er richtete fein Augenmerk mehr auf die Erhaltung ald auf die Erweiterung des 
Reiches, verbeflerte die Verwaltung und Rechtspflege, führte einen furchtbaren Ver⸗ 
tilgungöftieg gegen die auffländigen Juden, 1335—135, und flarb nad} einem thaten- 
vollen Leben. Nach ihm regierte Antoninug Pius, 138—161, das Rei, wie. 
ein Bater und Marcus Aurelius daflelbe, 161-180, mit der Weisheit eines 
Philoſophen. Mit Lepterem regierte bis zum Sabre 172 gemeinfam Lucius Derus 
als Mit-Auguftus. In Diefer Zeit begannen ſehr energifche Angriffe deutfcher Stämme, 
namentlich der Marcomannen und Quaden auf die nördlichen Grenzen des roͤmiſchen 
Reiches. Marcus Aurelius verbrachte feine lehten Jahre in den Donaugebieten, um 
Die Deutichen abzuwehren, und flarb bier zu Bindobona (Wien). Wit ihm ſchließt 
die Reihe guter Fürften, während fein allen Lüften ergebener Sohn Commodus, 
180—192, eine Reihe von Kaifern eröffnet, ‚welche meiftend graufam und verdorben 
waren, die Herrſchaft mit Gewalt fi anmaßten und gewaltfam auch wieder verloren. 
Die Periode vom 3. 180—270 ift daher eine der trühften In der gefammten römischen 
Geſchichte. Den Thron umwucherten Lafter, Gemeinheit und Frevel aller Art, unb 
die PBrätorianer verfauften ihn gewöhnlich ben Meiftbietenden. Thron » Revolutionen 
und Ufurpationen mwechfelten mit einander im Meiche, und während man mit blutigem 
Frevel oft um die glanzlofe Krone Tämpfte, fanken mehr und mehr der Wohlfland, die 
Sittlichfelt des Volkes und die römifche Literatur und meldeten fiy immer drobender - 
an den Grenzen die Borzeichen der Völkerwanderung. Der chrifllihe Glaube und 
die dhriftliche Liebe wurden mit dem Schwerte verfolgt und brachten nur wenigen 
tieferen Gemütbern Trof und Frieden. Die Megenten diefer Periode waren nad 
Commodus: Bertinar (192 u. 193), Divius Jalianus, nad kurzer Zeit ermordet, 
Septimius Severus (193— 211), Garacalla (211 —217), Mafrinus (218), Helivga⸗ 
bal (218— 222), Alerander Severus (222— 235), Mariminus (235— 238), Gordian 
(238— 244), Bhilippus (244— 249), Decius (249—251), Gallus (251 — 253), 
Aemilian (253), Balerian (253— 257), ®allien (257—268), Claudius (268—270). 
Aurelian, ein firenger Kriegäheld, welcher die Gothen aus Möflen und die Marcos 
mannen und Alamannen aus Norditalien verjagte, dem palmprenifhen Reiche ein 
Ende machte und den Beinamen „der Wiederherfieller des Reiches“ erhielt, Tacitus, 
welcher ſchon 276 ftarb, und Probus, der von 276—282 regierte, waren achtungs⸗ 
werthe Kaiſer. Carus, der Nacyfolger des Probuß, fiel in einem ſchweren Kriege 
gegen die Verjer, 284. Jetzt beflieg im Diocletianus ein Kalfer den 
Shron, deſſen Regierung epochemahenn für die Geſchichte des rbmifchen 
Kaiferreichee werden ſollte. Diocletian verbannte auh ſelbſt Yen Schein 
des vepublifanifchen Weſens aus dem Meike und bildete die Berfaflung 
zur abfoluten Monarchie im orientalifhen Geiſte um. Der Reſt ber republikanifchen 
Formen und Einrichtungen, der fih in R. noch vorfand, wurde befeitigt und alle po⸗ 
litifche Macht in der Perſon des Kaiſers vereinigt. Auch hörte der frühere Unter⸗ 
ſchied zwiſchen Staatd- und Fürftenkaffe auf, und die Staatseinnahmen flanden fortan 
dem Kaifer zu freier Verfügung. Diefe legte Staatöverfaffung R.'s war den im 
Oriente geltenden nachgebildet, und in gleicher Weile wurde auch die Faiferliche Hof⸗ 
haltung umgeändert. Orientaliſcher Prunk und orientalifches Ceremoniell umgaben 
von nun an Thron und PBerfon des Kaiſers und entzogen ihn den Augen ber Menge, 
welche ihn als ein Weſen höherer Art betrachten und verehren lernen follte. Wer 
zu der Ehre gelangte, vor dem Kaifer erfcheinen zu dürfen, mußte ehrfurchtsvoll 
vos ibm wie vor einer Gottheit die Kniee beugen. Die Einführung diefer Formen 


Hom. (Geſchichte und Berfaflung.) 331 


! 
wurde wefentlich dadurch erleichtert, Daß Dioeletian feine Reſidenz von R. nach Nico⸗ 
medien verlegte. Um fih die Verwaltung und Vertheidigung des ausgedehnten 
Staates zu erleichtern, ernannte er 286 feinen rohen, aber tapfern Waffengefährten 
Maximianus zum Mit⸗Auguſtus, und beide gefellten fih noch 292 Gehälfen 
zu unter dem Titel Gäfaren, jener den Galerius, dieſer den Gonftantius Glorus. 
Jeder dieſer Regenten empfing einen befonderen Theil bes römifchen Reiches als 
Verwaltungsbereich, und jeder ſchuf fi bald eine befondere Mefldenz, wodurch M. 
immer mehr an Bereutung verlor. Kür den Augenblid Hatte dieſe Theilung der 
Meichögewalt, welche den Grund zu vielen fpäteren Zwiſtigkeiten und Kriegen legte, 
vortrefflihen Nugen. Die Germanen und Briten wurden beflegt, und die Grenze des 
Reiches gegen Berflen Eonnte bis über den Tigris Hinausgefchoben werden. Im 
Sabre 305 legten Discletian und Marimianus ihre Würden nieder, und die beiden 
Gäfaren wurden Augufii. Als Letztere aber die Illyrier Severus und Mariminus zu 
Gäforen ernannten, erhoben dagegen Einſpruch Gonflantinus, des Conſtantius Glorus 
Sohn, und Maxentius, der Sohn des Maximianus, melde ein näheres Anrecht auf 
die Gäfaren- Würde zu haben glaubten. Um das Maß der Berwirrung voll zu machen, 
nahm auch der Erfaifer Marimiannd noch einmal den Purpur, und R. ſah plöglic, 
nachdem Gonflantiud Glorus 306 geftorben war, ſechs Regenten auf einmal, bereit, 
für die Behauptung ihrer Würden das Schwert zu ziehen. Es folgte eine Zeit blu⸗ 
tiger Bärgerfriege, in denen die Augufli, Gäfaren und Ufurpatoren ſich gegenfeitig 
Yernichteten. Gonftantinus, der Sohn des Gonftantius Glorus, war der Glückliche, 
dem die meiften Siege befchieden wurden und das Leben erhalten blieb, und fo fiel 
(hm die Alleinherrichaft über das gefammte rdmifche Reich zu (im I. 324). Vergl. 
d. Art. Gonftautin der Große. Seinen Regierungsantritt bezeichnen weſentliche Ver⸗ 
änderungen. Das bis dahin ſchwer verfolgte Ghriflenthum, zu deflen Bunften er ſchon 
im 3. 313 das Toleranzedict von Mailand erlaflen hatte, wurde zur Staatsreligion 
erhoben und erlangte fchnell eine hohe Bedeutung im Gtaate und bei Hofe Wie 
von dem Heidenthum, wandte Gonftantin ſich au von R. ab, dem Sige heidniſcher 
und republilanifcher Anfchauungen und Erinnerungen, und verlegte feine Mefldenz nad 
Byzanz am Bosporus, welches, auf der Grenze Europa’d und Aflens gelegen, ganz 
befonderd geeignet war, Sig und Mittelpunkt der Weltberrichaft zu werden. Sie 
empfing von jept an den Namen Gonftantinopel. Berner bildete Gonftantin auch 
die Verfaflung des Staates aus, aber ganz im Geiſte des Dioeletion. Der Kaifer 
wurde noch mehr Inhaber und Mepräfentant aller Souperänetät und jeder Staats⸗ 
beamte zugleih des Kaiferd Diener. Diefe Entwidelung des von Diocletian aufge⸗ 
Rellten monarchiſchen Princips ward nicht wenig begünftigt durch das Chriſtenthum, 
weiches eben damals die Sammlung der neutefl. Schriften abſchloß und die mit 
theokratifchen Ideen erfüllten Bücher des alt. Teft. zu berückſichtigen anfing. Behufs 
der Regierung und Verwaltung fhuf Eonftantin 7 hoͤchſte Hofämter, deren Inhaber 
vereint mit den eigentlichen Staatsräthen (comites consistoriani) den Staatsrath des 
Kaiſers (consistorium) bildeten. Don diefen bis zu den legten Civil- und Milltärbeamten 
hinab erſtreckte fich ein Beamtenſyſtem mit fireng gegliederter Rang⸗ und Titelord« 
nung, deflen Unterhaltung große Geldſummen verfchlang. Behufs der Bermaltung 
wurde das ganze Meich im vier Präfecturen, in 13 Didcefen und 117 Brovinzen ober 
Kreife getheilt, denen Bräfeeten, Vicarien und Rectoren vorflanden. Diefen Beamten 
lag die Civilverwaltung ob, aber nicht die Beauffihtigung der Truppen, welche viels 
mehr unter eigenen Befehlshabern Randen. Die flraffe bureaufratiicdhe Staatöverwals- 
tung aber umfchnürte die freie Regſamkeit der Gommunen und führte bald deren Ver⸗ 
armung herbei, während die Kirche ſchnell große Reichthümer an fi riß und ver- 
weltlichte. Gonfantin theilte das Reich unter feine drei einfihislofen Söhne Con⸗ 
ſtantin II., Gonftantius und Conſtans, von denen der erfle 340, der legte 350 das 
Reben verlor, worauf Gonftantius das Meich wieder vereinigte. Gr übertrug bie 
Vertheidigung der ſehr bedrohten Mheingrenze felnem Better Julianus (f. d.), der 
gegen Die deutſchen Völferfchaften am Rheine mit großem Glücke kämpfte. Hierdurch 
eifesfüchtig gemacht, rief Gonftantius ihn ab, aber das Heer erhob feinen tapferen An- 
führer zum Kaiſer und es wäre zum Bürgerkriege gekommen, wenn Gonflantius nicht 


a 


332 Hom. (Geſchichte und Berfaffung.)' 


361 geflorben wäre. Iulianus, genannt Apoftata, mar gegen das Chriſtenthum 
feindfelig geflimmt. Ehe er e8 aber aus der Stellung als Staatöreligion verdrängen 
fonnte, flarb er 363 auf einem Zuge gegen die Perfer. Sein Nachfolger Jovinia« 
nu8 regierte nur bid zum Februar 364 und ihm folgte VBalentinianus, deflen 
Bruder Valens Mitfalfer des Driente wurde. DBalentinian ‚Fämpfte während feiner 
Hegierung von 364 — 375 faft ununterbrochen mit den Alamannen, Burgundern, 
Franken am Rheine und mit den Duaden und Sarmaten an der Donau. Nach feinem 
Tode folgten ihm im Occident feine Söhne Gratianus und Balentintanusll., 
während Valens die Herrichaft im Oſten weiter führte. Diefer fah ſich gemdtbigt, im 
Jahre 376 weſtgothiſche Schaaren, welche vor den Hunnen (f. d.) flücdhteten, in das 
Kalferreih aufzunehmen. Als ſie aber hart und binterlifiig behandelt wurden, em⸗ 
pörten fie fih und Balend, der gegen fle zu Felde zog, wurde von ihnen 378 bei 
Adrianopel gefchlagen und getödtet. Da ernannte Sratianus den Feldherrn Theo«- 
dofius zum Kaifer des Oſtene 379 und biefem gelang die Bezwingung ber 
Wefſtgothen, denen er in Möflen, Thracien und Kleinaften Wohnftge anwies. Nach 
dem Tode des Bratianus und Balentinianud vereinigte Theodoſius, der Große ge- 
nannt, im Jahre 394 noch einmal die Länder des römlfchen Reiches unter einem 
Scepter. Er flarb im Jahre 395, nachdem er dad Kalferreich in ein abenpländi« 
ſches mit der Hauptfladt Rom und in ein morgenländifches mit der Haupt⸗ 
ſtadt Konftantinopel vertheilt, jenes feinem Sohne Honorius und dieſes felnem 
Sohne Arcadius übergeben hatte Die Gefchichte beider Reiche, welche fchon längſt 
durch Sprache und Sitten von einander getrennt waren, durchläuft fortan verfchledene 
Bahnen. Das morgenländifche Kaiſerthum endete erſt im 15. Jahrhundert durch den 
Einfall der Türken in Europa, das abenbländifche aber ging ſchon nach kaum hundert 
Jahren zu Grunde. Dem ſchwachen Honorius, melcher von 395 — 423 regierte, ers 
hielt das Meich aufredyt der Feldhert Stiliho, ein Bandale, welcher den kühnen Welt- 
gothen Alarich im Jahre 397 in Griechenland und 403 in Stalien bei PBollentia 
ſtegreich befämpfte, auch die germanifchen Schaaren, welche 406 unter Radagais in 
Italien einbracdyen, bei Florenz vernichtete. 408 aber wurde Stiliho ermordet und 
fofort Hrah das Unheil der Verwüſtung Durch germaniſche Völfer, dem Stilicho To 
lange gewebrt hatte, über Italien herein. Alarich eroberte und plünderte R. im Jahre 
410, während Die beften Provinzen des abenpländifchen Reiches an die Germanen 
verloren gingen. In Spanien fegten fi die DBandalen, Alanen und Sueven, In 
Ballien die Franken, Burgunder feft und zu beiden Seiten der Pyrenäen gründe 
ten die Weftgotben unter Athaulf eine fefte Herrfchaft.e Zugleich ging Britannien, 
das nicht mehr genügend von den Romern vertbeidigt werden fonnte, an die Picten 
und Scoten oder an deren Begner, die Angelfachfen, verloren. Auf Honorius folgte 
Johannes, welder fi der Herrſchaft gemaltfam bemädytigte, aber diefelbe 425 an 
Balentinian Ill. (von A25—455) verlor. Unter dieſem Kaifer eroberten die Van⸗ 
dalen von Spanien aus Nordafrika unter der Anführung des barbarifchen Geiſerich 
(f.d.) In Gallien behaupteten die Nömer nur noch ein Fleined Gebiet an der Seine, 
jedoch gelang es ihnen, im Verein mit den Weflgotden und Franken die Hunnen unter 
Attila auf den catalaunifchen Feldern A451 zu beflegen. Im I. 455 wurde Valen⸗ 
tinian II. von Petronius Marimus ermordet; allein des Ermordeten Wittwe 
Euboria rief noch in demfelben Jahre die Vandalen nad Stallen, welche R. yplünber- 
ten und verbrannten. Der Ufurpator Maximus hatte in jenen Schredenstugen ben 
Tod gefunden und Avitus in Gallien ſich zun Kaifer aufgeworfen. Diefen aber 
flürzte der weſtgothiſche Feldherr Micimar 456, welcher von jet an römijche Kaifer 
eine und abfegte. WMaforianus (457—461), Severus (461—465) und An« 
themius (467—472) waren Gefchöpfe Ricimer's, welcher fogar zwei Jahre hindurch 
(465467) den Thron unbefegt ließ. Im I. 472 flarben Micimer und der lebte 
von ihm ernannte Schattenfaifer OlIybrius. Diefem folgte Ricimer's Meffe Blyce 
sind, welcher mit Hülfe des byzantiniſchen Hofes Julius Nepos 474 ftlrzte. 
Diefer wurde 475 von feinem Feldherrn Oreſtes vertrieben, der feinen Sohn Nomu« 
Ius Auguftulus zum Kalfer machte. Er war der legte römifhe Regent des 
abendländifchen Kalfertbumes, den der Rugier Odoaker 476 des Thrones entfepte, 


Römische Literatur, 333 


Odoaker gründete jeht eine eigene Herrſchaft in Italien und nahm den Titel eines 
Königs von Italien an. — Unter den Älteren Werken über römtjche Geſchichte find 
auch heute noch beachtenswerth Monteöquien: Considerations sur les causes de la 
grandeur et de la decadenee des Romains (Paris 1734); Ferguſon: Gefchichte des 
Yortgangs und Untergangd der römlichen Republik (deutſch von Bed, 3 Bde., Leiyz. 
1784 und 1785); Gibbon: History of the decline and fall of the roman empire 
(6 Bde., London 1782). Die Grundlage zu einer kritiſchen Bearbeitung der Gefchichte 
R.'s legte B. ©. Niebuhr, deſſen „Römifche Geſchichte“ zuerſt 1811 und 1812 in 
2 Bon. erſchien. In völlig umgearbeiteter Ausgabe wurde fie 1827 und 1830 ver- 
Öffentliht und Ihr nach Niebuhr's Tode aus deffen Nachlaffe 1832 ein dritter Theil 
binzugefügt. Auf vorzüglichen Quellenſtudien berubt Drumann: Geſchichte R.'s in 
feinem Uebergange von der republifanifchen zur monarchiſchen Verfaſſung (6 Bde., 
Königsberg 1834— 1842). In Niebupr’s Geiſte fchrieben Schwegler: Römiiche Ge» 
ſchichte (3 Bde... Tübingen 1853— 1858), und Th. Mommfen: Römifche Geſchichte 
(Berlin, legte Ausgabe 1861 und 1862, 3 Bde.), die elegantefte Darfichlung der Ge⸗ 
ſchichte R.'s, aber nicht ungetrübt durch die Beurtheilung nach Begriffen, welche dem 
modernen Staatöleben und Parteigetriebe entnommen find. Schägenswertbe Arbeiten 
Änd ferner: Hoeck: Romiſche Geſchichte vom Verfall der Republik bis zur Vollendung 
der Monarchie unter Gonftantin (Braunfchw. 1841), Roth: Röm. Gefchichte (4 Bde., 
Nürnd. 1845—1847). Unter den Eompendien der roͤm. Gefchichte ind hervorzuheben 
die von Fiedler, Kortum, Welter und Peter und als Hülfsmittel zu empfehlen Peter's 
Zeittafeln der röm. Geſchichte (größ. Ausg. Halle 1840 und EI. Ausg. Halle 1854) 
und Fiſcher's und Soetbeer's griech. und röm. Zeittafel (Altona 1839 ff.). 
Römiſche Literatur. An poctifcher Begabung Hat das italifhe Volk dem hel« 
Ienifchen weit nachgeflanden, und feine Dichter und Proſaiker find meiftentbeild bei 
dieſem in die Schule gegangen. Die römifche Literatur, denn von einer allgemeinen 
italifchen Literatur kann bei der Mangeldaftigfeit der Ueberlieferung gar nicht bie 
Rede fein, ift daher in ihren Kunflformen und Kunftgattungen fa durdygängig von 
der griechifchen abhängig geblichen, wenngleich, Dichter und Proſaiker von ber Nach⸗ 
bildung griechiſcher Mufter fh zur Nachahmung derfelben erhoben, wie ber 
Bergleich der Odyfſee des Livius Andronicus mit Virgil’8 Aeneis augenscheinlich lehrt. 
Als eine Epoche frei Selbſtſtaͤndigkeit der romiſchen Literatur, in fofern in ibr die 
Subjectivität des Schriftflellers frei und eigenthümlich fchafft, könnte man die Zeit 
des Juvenal und Tacitus bezeichnen, aber fie war von zu kurzer Dauer und zu farger 
Productivitaͤt, denn in geringeren fchrififtelleriichen Berfänlichkeiten ging ſchnell das 
Subjeetive in's Maßloſe oder Triviale über, den baldigen Verfall der Roͤmiſchen 
Literatur verfündend, ja ſchon documentirend. Megungen und Triebe zur Bildung 
eigenthämlicher italiſch⸗roͤmiſcher Kunfgattungen und Bormen in der Poeſie und Brofa 
find bemerkbar, aber nur Weniged gelangt zur Entwidelung und Meife, wie bie 
Satire; die Blüthe der römifchen Literatur wird Doch nur durch die Einwirkung des 
helleniſchen Genius gezeitigt und entfaltet, und die römifchen Dichter und Proſaiker 
zeigen da bie höchſte eigenthümliche Vollendung, wo fle den griehifchen am ſelbſt⸗ 
bewußteflen nachahmten, in der Zeit des Auguftus. Als die ältefken Erzeugnifie 
der italifch » römifchen Poeſie kennen wir einige Bruchflücde von Befängen reli« 
gidfen Inhaltes, gefungen von den falifchen Prieftern (salii) und ber arvali- 
fhen Brüderſchaft (fratres arvales), cf. Klauffen: de carmine fratrum arval. 
(Bonn 1836). Einer Schon etwas fpäteren Zeit gehören die Lob⸗ und 
Schimpflieder an. Zu erfleren gehörten die Trauerlieder oder Xenien, welche 
von einer Frau bei der Beflattung eines Bürgers gefungen wurden, und bie Ahnen⸗ 
lieder, Durch welche man bei Gaflmählern die Thaten der Borfahren verberrlichte. 
Sehtere mußten außer den Iyrifchen Momenten auch Schilderungen und Graählungen 
enthalten und gaben alfo zur Entwidelung von Epen Beranlaffung, auf benen zum 
Theil Die ältefte vömifhe Geſchichte beruht (f. d. Art.). Andere poetiſche Keime 
entwidelten fi aus ben italiſchen Volks⸗ und Gemeindefeften, bei benen e8 an Gefang 
und Tanz nicht fehlen durfte und oft mehrere Tänzer mit ſcherzhaften Wechſelgeſaͤngen 
(säturae oder Miſchſtuͤcke, d. 5. allerlei bunte Nedereien) die Menge erheiterten. 


334 Aömtiche Literatur. 


Hieraus gingen nicht bloß die fescenninifchen Wechfelgefänge hervor, fondern auch die 
Anfänge der Komödie und des Drama's. Zu diefen Anfängen find die mit dem 
Namen fabulae atellanae (von der campanifchen Stadt Utella) bezeichneten drama 
tiſchen Poffenfpiele zu rechnen, weldye wohl nicht niedergefchrieben, ſondern jedes⸗ 
mal improviflrt wurden. Wahrfcheinlidy in diefe Zeit binaur reicht auch der Gebrauch 
bes faturnifhen Berömaßes (>: .-ur5|2%-u-5), weldes den Griechen fremd 
war und wohl zugleid mit der italifchen Bolf&poefle entftand. Der Name versus 
saturnius hängt zufammen mit dem Worte satura und bezeichnet im Allgemeinen 
das „Liedermaß“. Als die Alteften proſaiſchen Ergeugniffe der römifhen 2. 
müfjen hiſtoriſche oder annaliflifche Notizen angeſehen werden, deren Vorhandenſein 
in den erften Jahrhunderten det Stadt Rom Livius (VI. 1) bezeugt. Sie gingen Bei 
dem Brande Roms im Jahre 389 v. Chr. zu Grunde, und die annales sive com- 
mentarii pontificum, annales maximi find nicht die urfprünglichen Annalen, fondern 
nur Wiederherftelungsverfuche derfelben von Seiten ber pontifices meximi. Außer- 
dem gab «8 libri sive fasti magistratuum, DBerzeichniffe von Beamten (Liv. IV, 7; 
IX. 18) und libri lintei (Liv. IV, 7; X. 38) enthaltend Bundeöverträge, Friedens⸗ 
fchläffe u. dergl. Als ein hiſtoriſches Document dieſer Periode befigen wir bie In⸗ 
ſchrift, weldye auf der zu Ehren des Gonfuld C. Duilius aufgeftellten colunna ro- 
strala aufbewahrt If. Vergl. C. Lachmann: de fontibus Livii (2 Gommient. Gott. 
1822 und 1828) und €. Beterfen: de originibus historine Rom. (Sam. 1835). 
Die römische Rechtswiſſenſchaft empfing ihre Grundlage durch die Aufzeichnung des 
römifchen Landrechts, des Zwölftafelgeſetzes, in den Jahren 451 und 450 v. CEhr. 
Um Ddiefelbe Zeit wurden aud fon Volks⸗ und Genatäbefchläffe aufgeſchrieben und 
aufbewahrt, da über die Aufbewahrung folcher Protokolle früh ſchon die politifchen 
Parteien Noms mit einander ſtritten. Sobuld die Grundlage bed römifchen Mechte 


gegeben war, mußte fich auch ein Stand vom Rechtsgelehrten bilden, der im Befige 


der Kenntniß der Mechtsformalitäten war und mit diefer die Parteien unterfläßte. Cine 
Sammlung von Rechtsformeln (legis actiones) nebft einem Kalender, meldyer die 
Gerichtstage angab, veröffentlichte zu allgemeinem Gebrauche ſchon im Jahre 450 
v. Chr. Gnaͤus Flavius, ein Schreiber des Appius Glaudius Gäcus. Diefer Ver⸗ 
fuch ſteht vereinzelt da, bezeichnet aber doch das ſchon damals rege Iniereffe des rö- 
mifchen Volkes für die Rechts⸗Praxis, welche von nicht geringer Bedeutung für bie 
Ausbildung der römifchen Profa werden follte. Mit dem Ende diefer erfien Perlode 
der römifchen Literatur, in weldyer die literarifche Production befchränft und karg, 
aber durchweg italiſch⸗volksthümlich war, hatte ſich Die Iateinifhe Sprache im Weſent⸗ 
lihen außgebildet, wie die Fragmente des Zmölftafelgefeßed beweilen. Nur bie Ber 
bindungen erfcheinen noch ungelentig und hart und manche Wörter im Vergleich mit 
dem fpäteren Sprachichaße veraltet und dunfel, Eine neue Epoche der römischen Literatur 
beginnt mit dem Eindringen der griechiichen Givilifatton in Mittel- und Norbitalien. 
Schon in der Zeit des zweiten punifchen Kriege war die griechifche Sprache in den 
böheren Kreifen, unter Staat6männern und Kaufleuten befannt, und ber Jugend⸗Un⸗ 
terricht ſehr häufig griechiſchen Sclaven und SHalbgriechen anvertraut, da die alle 
gemeine Bildung Ddiefer offenbar die günſtigften Mefultate von ihrer yädagogiichen 
Thätigfeit erwarten ließ. Die Befanntichaft mit einer feineren humanen Bildung und 
mit der reichen muftergültigen Literatur der ‚Hellenen mußte anregend wirken ſowohl 
auf die Entmwidelung der lateinischen Mundart als auch auf den Geiſt und Inhalt 
ber römijchen Literatur, und biefen Einfluß offenbart fogleich der erſte Schrififteller 
diefer zweiten Literatur» Periode, Livius Andronicus (272— 207 v. Ghr.), «in 
Sclave ded Gonfuls+Livius Saltnator. Diefer überſehte Die Odyſſee in das Lateinifche 
und ſchuf damit ein römiiche® Schulbuch, welches Jahrhunderte hindurch einen ehren» 
vollen Blap im Jugend«linterricht behauptete. Die Uecberfegung felb war ohne poe⸗ 
tischen Werth, aber fie eröffnete die Weberjegungeliteratur und führte die griechiichen 
Versmaße in Italien ein, Liv. Andronicus ſchrieb auch Dramen in Lateinifcher Sprache 
nad griechiſchen Muſtern, und es find die Namen und einzelne Fragmente von zwanzig 
feiner Dramen überliefert worden, aber auch biefe Poeſteen hatten kaum einen anderen 
Werth, als begabteren Talenten den Weg zum grischifchen Parnaſſus gewieſen zu 





Nömiihe Literatur. 335 


haben. Des Androniens Nachfolger wurden Nävius aus Gampanien, Sol⸗ 
dat im erflen punifchen Kriege, gef. 204, weldyer in feinen Komödien ſich an bie 
Dichter der neueren .attifchen Komödie, namentlih an Menander anfhloß, WM. Pa» 
tuoius (ſ. d.) aus Brundiſtum (220 — 130), von deffen Stüden nur die Namen 
und einige Fragmente erhalten find, 2. Attius (Accius), dem man Kraft bed Aus⸗ 
drudes und Erhabenheit der Gedanken nachrühmte, und ber fih ſchon an nationalen 
Stoffen (fabulae praetextatae) verfudhte, und Titus Maccius!) Plautus (f.b.) 
aus Safftna in Umbrien (254—184), welcher feine helleniſchen Borbilder (Menander, 
Bhilemon, Diphitus, Epicharmus) fo fehr im Acht römifchen Sinne umbilbete, daß er 
die Komödie in Nom nationalifirte. Seine Stüde find mit außerorbentlicher Geſchick⸗ 
lichkeit oder, wenn man will, mit großer Bühnenkenntniß entworfen, fein Wig ift 
fräftig umd derbe bis zum Unanſtaͤndigen, fein Dialog leicht und frifh und reih an 
Späßen und Schimpfwörtern, fo daß man flieht, er verfland fein Publitum und fein 
Bublieum ihn. Außerdem war er Außerfi probuctio, denn ibm wurden 130 Komödien 
zugefchrieben, von denen 20 erhalten find. Ebenbürtig als Luftfpielvichter ſteht neben 
Plauius fein Zeitgenoffe PB. Terentius Afer (f. d.) aus Karthago, geflorben 
160, der zwar nicht mit derfelben Lomifhen Kraft, wie jener, aber mit größerer 
fünfllerifher Bildung, und nicht ſowohl für das Boll, als für die Bebildeten 
unter demfelben fchrieb. ine eblere Weihe und Bertiefung empfing die römifche 
Poeſte dur D. Ennius (f. d.) aus Nudik in Gampanien (239 — 169), einen 
Helbgriechen von meflapifcher Abkunft, aber Iatinifcher Bildung und befannt mit Gato, 
P. Scipio und Ylamininus. in vielfeitiger Geiſt, verfuchte er ſich theils in ber 
Nachahmung helleniſcher Mufter, theils ſelbſtſtaͤndig in den bedeutendflen Battungen 
dee Poeſte. Er ſchrieb Komödien, ITragddien und didaktiſche Poeſieen, verfaßte 
Satiren ‚und ein Epos, in dem er bie Gefchichte Roms verherrlichte, und machte 
namentli die griechliche Tragddie auf dem italifchen Boden einheimifch, wie Plautus 
die griehifche Komödie. Die Satire (nicht zufammenhängend mit dem sgriechifchen 
drama satyricum, yon der Duintilian (X. 1. 93) vielmehr jagen Eonnte: satira tota 
nostra est), empfing ihre charakteriftiiche Ausbildung als Spottgebicht gegen menſch⸗ 
liche Thorheiten und Lafter im Allgemeinen und die Lächerlichkeit einzelner Indivi⸗ 
buen durch den römifchen Ritter C. Lucilius aus Sueffa (148— 102), welcher 
30 Bücher Satiren verfaßte. Die profeifche Literatur diefer Periode entwickelte ſich 
anfänglidy volksthumlich, indem gewefene Gonfuln und Genforen, wie die Scipionen, 
Gracchen und Fabier ald profaifche Schriftfieller auftraten, bald aber ſchmiegten auch 
fie fih Hellenifchen Muſtern an. Die römifche Gefchichtöfchreibung, durch welche im 
Alterthume die Profa am meiften gefördert worden if, begann nach dem zweiten pur 
nifhen Kriege. Chroniken in Berfen gab es ſchon von Nävius und Ennius und 
um das Jahr 200 verfaßte DO. Fabius Pictor ein römifches Geſchichtswerk in 
griechiſcher Sprache (ſ. Dionyf. 1. 6, und,Cic. de div. 1. 21, 43); der erfle wahre 
Hiſtoriker der Roͤmer aber, der in Iateinifcher Proſa fehriceh, war M. Borcius Cato 
(f. d.), von 235 — 150, welcher in feinen Originum libr. VH. die Geſchichte Roms 
von ihren Anfängen bis zu feiner Zeit erzählte, außerdem auch viele Briefe, Reden 
und Abhandlungen in profaifher Sprache verfaßte. Neben ihm werben ala Hiſtoriker 
genannt 2. Cineius Alimentus, C. Acilius Blabrio, &. Coelius Anti« 
pater, C. Semproniud. Afellio u. U. Durch diefe Hiſtoriker wurde die Urs 
geſchichte Noms mit Sagen und Fabeln erfüllt und mit barmlofer Unkritik, nament⸗ 
lich in Betreff der Chronologie dargeftellt (vergl. den Artikel Römiſche Geſchichte). 
Mhetorit und Philoſophie blieben den Romern in Diefer Periode nicht unbelannt, ger 
langten aber weder zu Anſehen noch zu eigenthümlicher Entwidlung unter ihnen. Sie 
galten den Altrömern, wie Gato, als Eindringlinge, welche mit Proteſt in ihre gries 
chiſche Heimath zurüdgewiefen werden müßten. Gato fpottete über Die Weile der 
Rhetoren, ewig reden zu lernen und ntemald reden zu koͤnnen, und betrachtete das 
Treiben der im Jahre 155 In Mom erfchienenen drei griechifchen Philoſophen Kar« 
neades, Diogenes und Kritolaus mit dem größten Mißtrauen. Dabei aber gab es 


) Nicht: M. Attius Plautus. 


\ 


336 Roͤmiſche Literatur. 


vortreffliche Redner in Rom, die freilich wenig Eunftgerecht gefehult waren, deren Be⸗ 
redſamkeit aber von der Tüchtigkeit der Geſinnung befeelt wurde und aus wirklicher 
Sachkenntniß floß (nach dem römifchen Grundfak: rem tene, verba sequentur). Auch 
fehlte ed nicht an einer gewiffen rhetorifchen Theorie, wie denn Gato jelbft de ora- 
lore gefchrieben bat. Wenn ferner die Philoſophie mit ihren metapbufifchen, phyſi⸗ 
chen und polltifchen Speculationen den Roͤmern ald unpraftifche und müßige Be- 
Ihäftigung erfchien, fo gab es doch einen Zweig der Philoſophie, für welchen fie früh 
Ihon Intereffe zeigten, Die Moral. Im Ganzen aber richteten fie ſich nach der Vor⸗ 
ſchrift des Ennius, daß man von der Philoſophie wohl nippen, aber fich nicht In fie 
verfenten dürfe. Die Beichäftigung endlich mit der Rechtskunde war im Wachfen, 
die mit der Sprache und Grammatik in diefer Periode in ihren Anfängen. Im Jahre 
204 machte S. Aelius Paetus Catus neue Rechtéformeln bekannt (jus aelianum, 
Cic. de orat. 1. 56), und nach ihm verfaßte DO. Mucius Scävola feine XVII. 
libr. de jure civili. Für die Erweckung grammatifcher Studien in Rom wirkte bes 
fonderd der Grammatiker Krates Mallotes (aus Mallus in Kleinaflen), Geſand⸗ 
ter des Königs Attalus II. von Pergamus, welcher um dad Jahr 168 in Rom ver⸗ 
weilte. Die Stürme der Bürgerkriege und Mevolutionen, weldye feit den Anfange des 
erften Jahrhunderts vor Chriſto Italien durchtobten und die römifche Verfafſung erfchütter« 
ten und untergruben, fchienen auch die Entwidlung der röm. Lit. zu bedrohen, indem fie 
ganze Kreife reichbegabter und fchriftfiellernder Nebner, Suriften und Staatömänner 
wegrafften, dennoch bat gerade ſie vielleicht nicht wenig zur Zeitigung des golde⸗ 
nen Beitalter8 der römiſchen Literatur beigetragen, welches man vom 
Tode des Sulla bis zum Tode des Augufus zu zählen pflegt. In Bolge der Bürs 
gerfriege und der damit zufammenhängenden Verfaffungsveränderungen erlofchen nad; und 
nach der republifanifche Geiſt und die republifanifche Unruhe des romiſchen Volkes, und 
diefeß begrüßte mit Freuden die durch Auguſtus berbeigeführte allgemeine Ruhe der 
Dinge. Mit ihr kehrte der Wohlftand In das Neich zurüd und neue Ordnungen 

regelten die Öffentlichen Verbältniffe, meiflens ohne die Theilnahme des Volles, und 
fo Tonnten die &emüther fi der Muße ergeben, wie weder jemals vor noch nad) der 
Zeit des Auguſtus. Es kann nicht Wunder nehmen, daß gerade in diefer Periode 
die römifche Literatur nach allen Seiten bin einen neuen Aufſchwung nahm, zumal 
da der veredelnde Hellenismus eben damals in Nom in Schule und Geſellſchaft, in 
Wiſſenſchaft und Kunft den mädhtigftien Einfluß erlangt hatte und Auguflus felbft 
und nicht minder fein Freund und Miniſter Mäcenas die erften Förderer der Literatur 
und die freundlichfien Gönner der Schrififteller waren. Poeſte, Geſchichte und Bes 
redſamkeit und die Wiſſenſchaften der Philoſophie, der Iurisprubenz und Grammatik 
gelangten daher zu einer Blüthe, deren Glanz die früheren fiterarifchen Producte weit 
überfiraßlte, und zugleich erreichte die Tateinifche Sprache in Poefle und Profa in den 
Tagen des Auguſtus ihre höchſte Vollkommenheit. In der Moefle erwarb den höch⸗ 
fen Ruhm P. Virgilius (oder wie die neueren Philologen wollen, Bergiltius) 
Maro (f. d. Art.), geboren am 15. October 70 v. Chr. zu Andes bei Mantua und 
geftorben am 23. September 19 zu Tarent oder Brundiflum, der größte Epifer ber 
Nömer. Sein Hauptwerk, die Aeneis, ein Epos mit ädyt vaterländifcher Tendenz, 
welches das römifche Volk nicht minder als die Augufleifche Familie verberrlichte, 
zeichnete fh durch Heinheit der Sprache und Wohlklang des Berfes, durch Glätte 
und Abrundung aus und wurde in der Folgezeit Mufter der Porfle und des Ge⸗ 
fhmade® unter den Nömern, wie Homer unter den Griechen. Die Bergleihung 
zwiſchen Birgil und Homer kam aber zu allen Zeiten zu dem Urtheil, daß jener durch 
die hochſte Kunſt doch nicht erreicht habe, was in diefem bie Natur leiflete. Einen 
viel größeren dichterifchen Werth Haben Virgil's Bucolica und Georgica, Gedichte, 
weldye dad Hirten- und Landleben feiern. Sein Ruhm als Epifer Hat jedoch Die 
Namen aller derjenigen Dichter verbunfelt, melche wie er im Anſchluß an den Homer 
oder die Eyelifer fit im Epifchen verfuchten, wie den Matius, Labeo, WMacer, Bal« 
gius Rufus und Andere. Glücklicher ale im Epos waren die Römer in der poeti⸗ 
hen Erzählung, welche Belehrfamkeit verträgt und weniger einen eminenten Dichter 
geift erfordert al jenes. Der bedeutendfte Dichter diefer Gattung war P. Ovidius 


— — — — 


Nomiſche Literatur. 337 


Rafo(f. d.), welcher von 43 v. Chr. bis 16 n. Chr. lebte. Seine Schriften (He- 
roides, Amorum lib. HI, Ars amatoria, Metamorphoses, Fasti, Tristia, Epistolae ex 
Ponto) zeugen von des Dichters hohem poetifchen Talent, von üppiger Phantafte und 
einer an das Moderne ftreifenden Sentimentalität, verrathen aber auch Mangel an 
Kraft und fittlidem Ernſte, wofür der Dichter felbft fo ſchwer gebüßt Hat. Zu den 
poetifchen Erzählungen gehören auh manche Gedichte des DO. Balerius Gatul.- 
Ins, geb. um das Jahr 87 v. Chr., ded anmutbigflen der römifchen Lyriker, und 
feines Freundes C. Helvius Cinna bis zur Dunkelheit gelehrted Gedicht Snuyrna 
oder Zmyrna, welches die Mythen der Myrrha behandelte, uber verloren gegangen 
if. Catullus als Lyriker fchuf in feinen leichten anmuthigen, Liebe, Tugend und 
Dichterluſt athmenden Liedern, die er feld „ Scherze und Thorheiten” nennt, in feinen 
klagenreichen Elegieen und Feſtgedichten das Befte, was die Iateinifche Lyrik überhaupt 
Hervorgebracht bat. Wie Goethe in feinen Iprifchen Gedichten, ergriff auch Catullus 
die naͤchſte Äußere DVeranlaffung zum Dichten und geflaltete Greigniß und Ein» 
druck zum Liebe mit finnigem Gehalt und kuünſtleriſcher Form. Durdy die 
Menge der Productionen und die Glaffleität der Form wie der Sprade ihm 
überlegen, aber an Sinnigkeit und Wärme unter ihm fit DQ. Horatius 
Flaccus (f. d.) von 65—8 v. Chr., der Freund des Mäcenad und Auguflus, der 
gefetertfte der römifchen Lyriker, obmohl gerade feine Iprifchen Gebichte, feine Lieder 
und den, weniger bed Dichters bedeutende @igenthümlichkeiten zeigen, als feine Sa⸗ 
tiren und Epiſteln. Als Lyriker Schloß ſich Horaz eng an griechiſche Vorbilder, an 
Alcäus, Sappho, Archilochus u. U. und verberrlichte in feinen Liedern Freundſchaft, 
Liebe, Wein und Belang, durch die er des Lebens Leid und Furze Dauer zu verfüßen 
und zu vergeflen lehrte und ermahnte. Neben Horaz erwarben ſich als Lyriker einen 
ebrenvollen Namen Albius Tibullus (f. d.) und S. Aureliud Propertiuß 
(1. d.), gebosen um das Jahr 54 und 52 v. Chr., die bei den erflen Dichtern ihrer 
Zeit in Achtung flanden und und durch ihre Gedichte felbft befannt find. Tibullus, 
Berfaffer von vier Büchern Elegieen, von denen die beiden legten Bücher jedoch ans 
gezweifelt werben, befang mit fchwärmerlicher Weichheit, mit natürlicher, einfacher 
Sprache — und ohne Gelehrſamkeit — Liebe und Natur, während Propertius, der 
ebenfall8 vier Bücher Elegieen fchrieb, durch Gelehrſamkeit zu glänzen ſuchte und vor⸗ 
züglich in der Schilderung heroiſcher Segenflände war. Andere Lyriker, wie &. Pedo 
Albinovanus, Ovid's Freund, find und nur dem Nomen nad bekannt, und über 
ihre Gedichte Haben wir nur Urtheile ihrer Zeitgenofien, namentlid des Horaz und 
des fpäteren Duintilian. Ihre hoͤchſte Kunftbläthe erreichte in dieſer Periode bie 
Satire, eine dem römifchen Charakter außerordentlich zufagende Gattung, Durch 
Horaz, der. die Satire nicht wie Lucilius zur fchonungslofen Verfolgung von Pers 
fönlichfeiten anmwandte, ihr au nicht, wie M. Terentius Barro (Reatinus), 
von 116 bis 27 v. Chr., eine nur allgemeine Richtung auf Sitten, Literatur und 
Kunf gab, fondern fie zur geiftvolfen, beiteren, ironifchen Berfpottung mehr der 
Sachen, als der Berfonen gebrauchte, ihre Form und ihr Map läuterte, und in ihr den reichen 
Schap feiner Lebenderfahrungen und feiner Kunſtweis heit niederlegte. Mit dem feinften Urtheil 
bat Horaz in den Satiren und Epifteln, die beide mohl unter dem Namen sermones 
begriffen werden, das Leben und Treiben feiner Zeit in den böchflen und niederfien 
Ständen, in der Stadt und auf den Landgütern, im Palaſte und auf den Gaflen, 
endlich Kunft und Künſtler und die Philoſophie und Philofophen feiner Tage ger 
ſchildert, fo daß fein Schriftfieller ein treuerer Spiegel des Augufleifchen Zeitaltere 
geworben ift, als eben Horaz. Etwas vereinfamt, wie faft zu allen Zeiten, wandelt 
auch durch das goldene Zeitalter der römifchen Poefle dad Lehrgedicht, als defien 
erſter DBertreter der Ritter I. Lucretius Carus, von 99 — 55 oder 51 v. Chr., 
genannt werben muß, obwohl fein Ende fchon fehr früh fällt. Sein Gedicht de 
rerum natura iſt eine Darftelung der epikureifchen Philoſophie, welche das Weltall 
mehanifch aus Atomenwirbeln zufammenfeßte. Selten bat ein Dichter an einen un« 
dankbareren Stoff feine reiche poetifche Begabung verfchwendet, ala Lucrez. Dennoch 
dat er Bedeutendes geleiftet durch die Reinheit feiner Lebensanſchauung, denn er Fündigt 
den Böttern feiner Zeit und mehr noch den Prieflern und Haruspices und dem Aber» 


Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. IVI. | .22 


338 Romiſche Literatur. 


glauben den Krieg an, um die Menfchen von der Bein der Todesfurcht und der Hölfen« 
firafen zu erlöfen. Seine praftifch = edlen Lehren empfehlen ein reines, ebenmäßiges 
Berbalten im Leben und Wirken mit hohem Ernfte und mit allem Zauber der Muſe. 
Zucrez blieb mit feinem Dichten und Denken ohne Nachfolger. Zu den Lehrgebichten 
find auch Virgil's Georgica, von der Landwirthfchaft handelnd, und Ovid's Ars 
amandi und Remedia amoris zu rechnen, Gedichte von großem poetifchen Werthe, 
während In anderen Lehrgedichten, wie in den Ovid zugeichriebenen Medicamina 
faciei und Halieulica, in Manilius Astronomicon, Gratius Cynegelicon, und Macer's 
Ornithogonia und Theriaca, die Dichtung faum in. mehr ald der glatten Form zu 
Tage tritt. Bon den Meberfegungen der Dawöusva des Aratus, die Cicero und 
fpäter Gäfar Germanicus, der Enkel des Auguftus, unternahmen, find nur Bruchftüde erhals 
ten worden. — Zeuchtete Die Sonne einmal den Mufen in den Tagen ded Auguflus, fo mußte 
auch die ernftere Klio neben den heiteren Schweſtern in neuem Glanze hervortreten und walten. 
“Die römische Gefchichtöfchreibung, dem Inhalte nach bedingt durch die große Geſammt⸗ 
geichichte des römifchen Volkes und die immer bebeutfamen Ereigniffe der Gegenwart, 
fand unter Staatömiännern und Gelehrten die würbigfien Vertreter. Dem Weſen nach 
nahm fie faft durchgängig eine politifch « praftifche Michtung und wohl daher bie ihr 
meiſtentheils eigenthümliche rhetorifche Färbung an. Bon biefer frei bielt 3. Caͤſar 
(f. d. Urt.) feine Memoiren (Commenlarii) über die von ibm in Gallien, Deutfch- 
land, Britannien und mit Pompejus geführten Kriege, ein Geſchichtswerk mit knapper 
und jchlichter Darftellung, volllommen reiner Sprache und heller Anmuth, welche 
über das Ganze, befonder8 über die Bücher vom gallifchen Kriege audgegoflen if. 
C. Salluflius Crispus (f. d.), den Diele für einen beſſeren Schriftftefler ale 
Menichen hielten, fchrieb feine Hiftorifchen Schriften über den catilinarifchen und den ju⸗ 
gurtbinifchen Krieg mit großer biftorifcher Kunft, dem Thucydides nachahmend, ohne 
jebodh fein Vorbild zu erreichen. Cornelius Nepos (f. d.), von deſſen Lebens» 
verhältniffen fehr wenig befannt ift, verfaßte eine Weberficht der Lniverfalgefchichte, 
von welcher nur Bragmente übrig find, und Lebendbeichreibungen berühmter Männer 
aller Gattungen, von Denen wir nur die Vitae excellenlium imperatorum vollſtandig 
beſitzen. Das Ichtere Werk jedoch, mit unkritiſcher Benugung der Quellen und nicht 
durchweg clafflfcher Sprache gefchrieben, will nicht Geſchichte im eigentlichen Sinne 
fein, fondern zur Nacdheiferung ded Guten und Edlen anregen und verräth ſich dadurch 
ale ein Werk oder wenigfiend ald eine Ueberarbeitung einer Schrift des Nepos aus 
einem fpäteren Jahrhundert. Mit weifer Nachahmung bellenifcher Vorbilder, nament- 
lih des Theopompuß, fchrieb Trogus BPompejud unter Auguflus die Gefchichte 
der älteflen Zeiten und des macedonifchen Reiches, wobei er die geographifchen unb 
hiſtoriſchen Berhältaiffe derjenigen Völker eingehend berüdfichtigte, mit denen die Mar 
cedonier in Berührung gelommen waren. Died Werk iſt verloren gegangen und unß 
nur befannt durch einen von Juſtinus (j. d.) im 2. Jahrhundert n. Chr. verfer- 
tigten, Geographiſches und Ehronologiiches vernachläffigenden Auszug, weldyer wahr- 
ſcheinlich das Hauptwerk verbrängte. In ihrer Vollendung erfcheint die römifche Be 
Ihichtöfchreibung in der ausführlichen römiſchen Geſchichte, welche T. Livius (f. db.) 
aus Pataytum (von 59 v. Chr. bis 16 n. Chr.) in 142 Büchern verfaßte. Livind 
fchrieb, Durchdrungen von Bewunderung für die Größe feines Baterlandes, von Be- 
geifterung für die Thaten der Vorfahren und die von diefen errungene Freiheit, zu- 
gleich aber mit Schmerz über die entartete Zeit, welcher die damalige „DBerberbnih fo 
unerträglich war, wie die Heilmittel." Ihn empfehlen Scharffinn und ſicherer Tact 
in der Auswahl und Anordnung ded Stoffes, wenn aud nicht gerade Kritil, ein 
kraft- und fchwungvoller Vortrag ohne rhetoriſche Ueberfüllung, vor allem aber ein 
warmes patriotifched Herz, welches, wo e8 fein muß, von Begeifterung glüht, oder 
von Zorn. Daher bat in Ihm Seume eben jo fehr den Menſchen verehrt, wie 
Niebuhr in ihm den Hifloriker. Die Schriften vieler Hifkoriker dieſer Zeit find gänz« 
li verloren gegangen oder nur in Fragmenten erhalten. Wir bedauern am meiflen 
den Verluſt der Schrift: Rerum humanarum et divinarum antiquitates von M. Te⸗ 
rentius Barro, der Geſchichte R.'s von den Bürgerfriegen des Cäfar und Pompefus 
bis auf Auguftus von G. Afinius Pollio und des Auguſtus Selbftbiographie (nach 





Nimiſche Literatur. 339 


Suet. Dctav. 85). — Neben der Geſchichts ſchreibung ſtend die Beredſamkeit auf 
gleicher Höhe. Große Redner hatte das oͤffentliche Staats⸗ und Gerichtsweſen ſchon 
Jahrhunderte lang gebildet, aber in diefer Periode erſt die Beredfamfelt unter dem 
Einfluffe bellenifcher Studien eine künſtleriſche Durchbiſlpung und Vollendung erhalten. 
Diefe wurde mwefentlich gefördert Dura D. Hortenfius DOrtalus (von 115—5j 
v. Chr.) und abgefchloffen durch M. Tullius Cicero (von 106—43 v. Ehr.), 
einen Staatömann, Juriſten und Mebner, welcher wie Fein anderer Nömer über die 
Schätze der Inteinifchen Sprache gebot und auf allen Gebieten der Literatur als 
Schriftfteller eine bedeutſame Thpätigfeit entfaltete. Vergl. darüber den Art. Cicero. 
Auf die Ausbildung der Sprache feines Volkes bat er einen unberechenbaren Einfluß 
ausgeübt und noch Heute find für das Studium des Lateiniichen feine Schriften die Vaſis, 
fein Styl die muftergültige Norm und das Ziel aller Lateinlernenden. Wenn bald nady Eicero 
bie Beredſamkeit von ihrer Höhe zu einer unerfreulichen Mittelmäßigkeit herabzuſinken 
begann, fo lag der rund diefer Erfcyeinung in dem Verluſt ber öffentlichen Freiheit 
und in der Gefahr, Die fortan dem freien Worte drohte. — Wenden wir noch einen 
Blick auf die Berhältnifie der einzelnen Wiffenfchaften, fo begegnen und aud bier be» 
deutfame Erihelnungen. M. Vitruvius Pollio (f. d.), Baumeifler unter Cäfar 
und Auguftus, fchrieb über die Baufunf fein Werk: de architectura lib. X, U. Eor- 
nelius Gelfus feine umfaffende Enchclopädie: de artibus lib. XX, melde Me 
dicin und Ghirurgie, Kriegsweſen, Nhetorit und mehrere andere Wiffenfchaften um⸗ 
faßte, auch der Darflellung nach bedeutend war, da Quintilian den Berfaffer medico- 
rum Cicero nennt. Die Rechtswiſſenſchaft fand würbige Vertreter in S. Sulpi⸗ 
ttu8 Rufus, 2. Alfenus Barus, C. Aelius Ballud u. A., die Grammatik 
an dem fchon oben genannten M. Terentius Barro (Meatinus), dem Verfaſſer 
der Schrift de lingua latina in 24 Büchern, von denen jedoch nur 5 erhalten find. 
Als Afronom und Mathematiker trat der pythagoreifisende P. Nigidius Figulus 
auf, defien Schriften indeß mehr aftrologifche Grillen enthielten als reale aſtronomiſch⸗ 
mathematifche Kenntniffe. — Bald nach dem Hintritt des Auguflus begann die Blüthe 
zu welfen, welche feine Regierung und fein den Künſten des Friedens geneigter Sinn 
gepflegt Hatten. Ban kann nicht fagen, daß nad ihm die Literarifche Beichäftigung 
an ſich eine geringere geworden‘ wäre, ja fle gewann vielleicht fogar an Audbehnung, 
aber Geift und Form der literarifchen Produete erlitten eine augenfcheinliche Veraͤnde⸗ 
rung zum Schlechteren. Die Negierung beöpotifcher Kaifer wie bes Tiberiuß, des Cajuß, 
des Nero und endlich des Domitianud erbrüdten in der Literatur wie im Staate jede 
freie Aeußerung und verfcheuchten aus den Gemüthern wie aus den öffentlichen Kreiſen 
das frifhe Wohlbehagen am Leben und das Gefühl der Sicherheit, ohne welche ein- 
mal die Poeſte nicht zu gedeihen vermag. Daher fanken die Schriftfteller entweber zu 
Schmeichlern der Regentenlaunen herab, oder ihre Werke wurden affleirt von dem 
bittern Schmerze über die trübe, jänmerliche Gegenwart oder von der Hiefen Wehmuth 
über den Verluſt der früheren Freiheit. In fehr feltenen Faͤllen begegnen und nod) 
Kunſtſchöpfungen, Die hervorgegangen find aus einem in fich befriedigten, idealvollen 
Geiſte. Selb der Geſchmack und das aͤſthetiſche Gefühl nahmen eine veränderte Rich⸗ 
tung, und die Schrififteller firebten mehr nach Effeet der Rebe und pikantem Inhalte, 
als nach der nachhaltigen Wirkung edler Form und feiner, reiner Sprache. Dieb gilt 
ſchon, tbeilmeife von dem talentnollen Epiker M. Annäus Lucanus (f.d.) von 38 
bis 65 n. Chr., dem Verfaſſer des Hiftorifhen Epos Pharfalia in 10 Büchern, 
welches mit jugendlichefeurigem Geiſte, aber auch mit rhetorifhem Pompe gefchrieben 
if, übrigens dem Berfaffer den Neid und Haß des Nero zuzog. Ebenfalls nad) 
sbetorifchem Glanze firebten C. Silius Italicus (f. d.) von 25—100 n. Chr., 
Berfafler der Punica in 17 Büchern und PB. Papinius Statiuß (f. d.) von 61 
bis 95 n. Ghr., welcher außer einer Sammlung von Meinen Bebichten (Silvae) zwei 
Epen fchrieb, eine Thebaid in 12 Büchern und eine Achilleis in 2 Büchern. Die 
Silvae des Statius find faft bie einzigen Inrifchen Gedichte, welche aus diefem Zeit» 
raum flammen, was für ben Charakter deſſelben bezeichnend if. Don geringem 
dichteriſchen Werihe waren auch die dramatiſchen Productionen, welche ohne den 
Hauch der Igrifchen Begeifkerung an Kälte und ſchulmaͤßiger Gorrertbeit litten. Dies 
22* 


340 Römische Literatur. 


gilt namentlich von den 10 Tragoͤdien, welche dem Seneca zugeſchrieben werden und 
den Mangel dramatiſcher Kunſt durch rhetoriſchen Schwulſt zu erſetzen ſtreben. Wahr⸗ 
ſcheinlich ſind nicht alle jene Tragoͤdien von dem Philoſophen L. Annäus Seneca, der 
indeß wirklich auch tragifcher Dichter war, ſondern entweder einem anderen Seneca oder 
doch anderen Dichtern überhaupt zuzufchreiben, da in ihnen Vieles enthalten ift, was des be» 
rühmten Philoſophen unwürdig wäre. Keine poetifche Gattung fand in dem Jahrhundert der 
Öffentlichen Sittenverderbniß einen gedeihlicheren Boden ald die Satire, welche freilich auch 
ihrerfeite an Werth fant, als fle an Stelle der ironifch-humoriftifchen Verſpottung menſch⸗ 
licher Schwächen und Thorheiten bittern Ingrimm und unerquidliche Strafteden treten ließ. 
Eine düflere Stimmung beberrfcht daher die 6 Satiren des U. Perſius Flaccus 
(ſ. d.), von 34 bis 62 n. Ehr., und die 16 Satiren des D. Junius Juvenalis 
(j. d.), von 40 bis um das Jahr 120 n. Ehr., in denen die Sittenververbniß der 
Zeitgenoffen mit. trüben Farben gefchildert wird. In dieſe Periode wird auch die 
Sanımlung äfopifcher Fabeln verlegt, welde man dem EG. Phädrus (f. d.) 
zufchreibt, obmohl die gleichzeitigen Autoren über ihn ſchweigen. Der moraliſirende 
Ion, zu dem die Entartung der Verhältniffe drängte, wirrde für dieſe Zeit ſprechen, 
in der auch das beifiende Epigramm mit nudgeprägtem Gharafter in der Literatur 
erfcheint. M. Valerius Martialis (f. d.), von 40 bis um das Jahr 100 n. Ehr., 
fhrieb gegen 1200 Epigramme voll von feinem Wige und freundlich geißelndem Spotte. 
Am fchärfften fpiegelt die Geſchichte Wefen und Geift des 1. Jahrhunderts n. Ehr. 
wieder. Während ©. Belleius Baterceulus (f. d.), von 19 v. Ehr. bis 31 
n. Chr., in feinen Historiae Romanae lib. II die Geſchichte Roms mit dem Beftreben 
fohrieb, dem Ziberius und feiner Megierungdweife ein unverdientes Lob zu fpenden, 
trat in dem ale Menſch wie Hiftoriker ausgezeichneten C. Cornelius Tacitus 
(f. d. Art), geb. um das Jahr 52 und gefl. nad dem Jahre 100 n. Chr., noch ein» 
mal der für Necht und Tugend glühende und jede Schlechtigfeit haſſende Roͤmerſinn 
hervor, die Zeit mit edlem Ernfte firafend und den Untergang der römifchen Welt 
wie mit Prophetenblid verfündend. Tacitug' Hiftorifche Schriften find Daher mit einer 
gewiffen Wehmuth gleichſam überhaucht, und feine Sprache ift oft bis zur Dunkelheit 
gedrängt, In manchen Fällen felbft geheimnißvoll, fo dag man es fühlt, er babe die 
Wahrheit wenigſtens verhülfen wollen, da fie offen zu bekennen gefahrooll und fie 
gu verichmeigen ibm fjchimpflih ſchien. Seine ſprachlichen Eigenthümlichkeiten in 
Wortformen und Wendungen find die der filbernen Ratinität überhaupt. Neben Tas 
citus ſteht als Hiſtoriker ehrenvoll C. Suetonius Tranquillus (f. d.), der 
unter Beöpaflan geboren wurde und unter Hadrian ſtarb. Seine Vitae XI impe- 
ratorum (von Caͤſar bis Domitian) find eine leichte, unparteiliche Schilderung beſon⸗ 
ders des Privatlebend der Kaifer, melde mehr Sammlerfleiß verrät als wirkliches 
biftoriiches Verſtaͤndniß. Den nahenden Berfall der römifchen Geſchichtsſchreibung 
offenbaren endlih Werke, wie des Q. Eurtius Mufus (f. vd.) 10 Büch. de rebus 
gestis Alexandri M,, de8 Balerius Marimus (f. d.) 9 Büdy. factorum dictorum- 
que memorabilium, eine Anefvoten-Sammlung, und des &. Annäus Florus (j. d.) 
Epitome de geslis Romanorum, in welchen die Gefchichte nicht nur ohne Kritif und 
Urtheil, fondern auch mit phantaftifcher Auffafjung, mit Vernachlaͤſſigung des Chrono⸗ 
grapbifchen und Beographifchen, endlich mit einer rhetorifch überladenen Sprache dar⸗ 
geftellt if. Nicht wenig zur rhetorifirenden Behandlung der Geſchichte mochte dad von 
den Blaviern begünfligte Studium der Beredſamkeit in Nednerfchulen beitragen. 
Da die Beredſamkeit, wie oben erörtert wurde, nach dem Derluft der dffentllicden 
Breiheit fo bald in Berfall gerieth, ihre Ausübung aber nichts deſto weniger durch 
die Rage des Staates erfordert wurde, fo errichtete Vespaflan öffentliche Unterrichts» 
anflalten mit befoldeten Lehrern der Beredſamkeit. Die neue Schul-Eloquenz zeichnete 
ſich vor der älteren Beredſamkeit durch feine formelle Darftellung aus, aber fle ent« 
bebrte auch aller Kraft und Wärme und fuchte diefen Mangel vergeblih durch das 
Flittergold der Antithefen, Allegorieen und poetifchen Dietion zu erfegen. Als Ver⸗ 
treter dieſer Falfchen Richtung galt beſonders &. Annaus Seneca, der Rhetor und 
Philoſoph (f. unten), und ihn befämpfte daher M. Fabius Qulntilianus (f. d. 
Art.), ein vorzäglicher Lehrer der Beredſamkeit und von Bespaflan angeftellter dffent- 


4 


RNomiſche Literatur. 34 


licher proſessor eloquentise, von 42 bis 118 n. Chr., welcher durch gründliche Studien 
in das Weſen der Beredſamkeit eingedrungen war und die gewonnenen Grundſätze 
theils mündlich und durch praftifche Anleitungen während einer 20jährigen Amts⸗ 
thätigfeit verbreitete, theils in feinen Institutiones oratoriae lib. XII der Nadı- 
welt überlieferte. Die. falfche Beredſamkeit indeß griff weiter und weiter um 
ſich und die Zeit ded Duintilian ſelbſt fah die literariſche Battung der 
Lobreden (panegyricus) auf Kalfer und Feldherren in Aufnahme kommen, in denen 
Geſchichte und Beredſamkeit im Bunde jenen oft unverbienten, zumellen fogar be- 
zahlten Weihrauch fpendeten. Grmähnensmerth unter jenen Lobreden iſt der Pane- 
gyricus ad Trajanum von 6. Plinius Secundus Gäcilius minor (f. d.), 
einem dur Quintilian gebildeten Redner und Staatsmanne bon regem wiffenfchaft« 
lichem Intereffe, deſſen Briefe für die Kenntniß der Zeit von Bedeutung find. — 
Innerhalb der einzelnen wiflenfchaftlicden Fächer herrſchte in Diefer Periode noch ein 
veger Forfchungstrieb, ja, einige derfelben, wie die Naturgefhichte und Geo- 
graphie und Die Kandwirtäfchaft gemannen durch Beobachtungen und Samm⸗ 
lung von Material an Inhalt und Umfang. Die naturgefchichtlichen Kenntniffe ver 
Mömer faßte C. Plinius Secundus major (f. d. Art.) zufammen in feiner Na- 
turalis historia, oder jeinen Historiae mundi libri XXXVII, einem mit vieler @elehr- 
ſamkeit zufammengeftellten encyklopädifhen Werke; die geographiſchen Pomponius 
Mela (f. dv.) in feinem Werke: de situ orbis libri Ill, welche beiden Schriften das 
gefammte Mittelalter hindurch in großer Achtung flanden und viel benutzt wurden. 
Ueber: die Landwirtbichaft fehrieb 2. Junius Moderatus Columella (j. dv.) in 
Brofa und in Berfen mehrere Schriften, unter denen feine 12 Bücher de re rustica 
viele Leer fanden. Große Unproductivität zeigte dad Jahrhundert nah Auguflus 
auf dem Gebiete der Philofopbie, auf welchem nur der gedankenreiche und fittenftrenge 
Stoiker L. Annäus Seneca (f. d. Art.) Einfluß und Bedeutung erlangte. Mit 
vielem Fleiße aber arbeliete man auf dem Felde ber Jurisprudenz und Grammatik, 
wo die Fachmaͤnner die Meberfommniffe der früheren Zeit zu fihten, zu fammeln und 
zu commentiren hatten und manche fchäpendmwerthe Abhandlung von dem Ernfle Zeug- 
niß giebt, mit dem man furiflifchen und philologifchen Studien oblag. So menig 
aber in den Sahrb. vor Chr. der fogenannte Alerandrinismus der griechifchen Lite 
ratur ein neues Leben einzuhauchen vermochte, eben fo wenig vermochte die römifche 
Schulgelebrfamkeit des 1. u. 2. Jahrh. n. Ehr. den Verfall der römifhen Literatur zu 
henimen. Diefer tritt vielmehr in der zweiten Hälfte Des zweiten Jahrh. v. Chr. mit 
unabwendbarer Entfchiedenheit ein und begleitet als ein trauriger Wieberfchein des 
finfenden Staatslebens den Untergang des römifchen Imperiums, welches dem jugend 
frifchen Sefchlechte der Germanen erliegen ſollte. Die poetiſchen Verſuche der legten 
Beriode der römifchen Literatur, unter denen namentlih paneghriſche Epen und 
didaktiſche Gedichte Häufig find, enthalten flatt des Gefühls unerquidliche Ge⸗ 
lehrſamkeit, viel Mytbologifches und Allegorifches und befriedigen eben ſo wenig durch 
ihre Form als durch ihren Inhalt. Nur Claudius Claudianus (f. d.), ein 
Zeitgenoffe und Freund des Stiliho und ein Dichter voll Phantafle und Kraft, machte 
mit feinen Gebichten eine Ausnahme und war eined befleren Zeitalter werth. Die 
Geſchichtsſchreibung vollends macht einen traurigen Eindrud. Der Bli der 
Hiſtoriker Haftet nur noch an den Außerlichften Dingen und an den Wogenfpigen der 
Ereigniffe ; von Erfaflung des inneren Zufammenhanges der Dinge und Begebenheiten, 
von klarer Darftellung und gar von freier Rede ifl Faum bier und da noch eine 
Spur anzutreffen. Das traurigfte Beifpiel bietet Die Sammlung geiftlofer Biogra- 
phieen der Kaifer von Hadrian bi Diocletian, welche unter dem Namen der Scrip- 
tores higtoriae augustae befannt geworben if. ©, Aurelius Victor 
(f, d.), der unter Julian und Theoboflus d. Gr. lebte, und aus älteren Hiſtorikern 
Auszüge und Zufammenflellungen madte, war felbft nicht einmal der Aufgabe des 
Compilirens gewachſen. Etwas beſſer find die Breviarien roͤmiſcher Gefchichte von 
Flavius Eutropius und Feſtus Rufus, von denen das erflere wegen 
feines einfachen klaren Styles als Schulbuch einige Bedeutung erhalten Hat. Bei 
Weitem der bebeutendfle Hiftoriker Dirfer Zeit war Ammianus Marcellinus, 


342 Aömishe Kunſt. 


ein Grieche, welcher unter Conftantins und deſſen Nachfolgern lebte und In ſei⸗ 
nem Rerum gestarum lib. XXXI eine Kaifergefehichte von Nerva bis auf Balene 
lieferte. Als der legte römifche Hiftoriker ift Paulus Droftus (f. d.) zu nennen, 
welcher Historiarum lib. VII adversus paganos im 5. Jahrh. fchrieb, eine Geſchichte 
von Erfchaffung der Welt bis zum Jahre 417 n. Chr. Geb., welche an ſich ohne 
Werth if. Für die Beredſamkeit waren das dritte und vierte Jahrhundert n. Chr. 
Geb. eine nicht ungünſtige Zeit, da in ihr der Verdienſt der Panegyriker blühte. 
Neben der Zwittergattung der Lobredner enwickelte fih auch die des Romanes, 
wahrfcheinlich unter griechifchem @influß. Weber die Abfaflungezeit des Tüfternen 
und widrige Gefinnung athmenden Romanes Saliricon (sc. libri) von Petroniuß 
Arbiter (ſ. d.) wird noch geflritten. Von Bedeutung für Zeit⸗ und Gulturgefchichte 
ift der Noman des %. Apulefus Metamorphoseon s. de asino (aureo) lib. XI, 
welcher ein trübes Bild des in Aberglauben und Stttenverderbniß verjunfenen geite 
alters entrollt. "Derfelbe Apulefus verfaßte auch philofophifhe Abhandlungen, in 
denen er die Lehrfäße der Neuplatonifer mit mwunderbarem Myftieiemus erponirte. 
Philofophirende Schriftfieller, wie Arnobius, Lactantius, Auguftinus u. A., welche 
fih dem Chriſtenthume zugemwendet hatten, gehören ihrem Geifte nad Taum mehr zu 
den Vertretern der römifchen Literatur, obwohl fie fich der Tateinifhen Sprache, und 
zwar mit forgfältiger Nachahmung der claffifchen Mufter bebienten. Als der legte 
Vertreter der alten Philoſophie ſteht Anicius Manl. Torquatus Severus 
Boethius (f. d.) da, der den Ariftoteles fludirt Hatte und zum Troſte über den 


Untergang feines Baterlanded, wie über den Berluft feiner eigenen Freiheit um das 


Jahr 524 im Kerker feine bedeutende Schrift: de consolatione philosophiae lib. V 
verfaßte. Encyklopaͤdiſten, mie der noch dem 2. Iabrhundert n. Ehr. angehörende 
A. Gellius (f. d.) Nonius Marcellus, Macrobius (f. d.) Marcianuß 
Mineus Felix Capella, Caſſiodorus (f. d.) Iſidorus Hisäpalenfis 
und endlich die lateiniſchen Grammatiker, wie Aelius Donatus (ſ. d.), Chari⸗ 
ſius und Priscianus (f.d.) bildeten den Uebergang aus ber Zeit des Alterthumes 
in das Mittelalter, dem gerade fie befonders die Kenntniß der römiſchen Literatur und 
Wiſſenſchaft überlieferten. | 

Römiſche Kunft. Die Anfänge der bildenden Künfte in dem alten Rom fallen 
in die Zeit der tarquinifchen Köntge, denen die römifche Tradition es nachrühmt, daß 
fie Rom zur Herrsfcherin über Latium erhoben und die Stadt Durch bedeutende bau⸗ 
lihe Anlagen verfchönert haben. Der Charakter dieſer Kunflanfänge war der der 
Kunft des mittleren Staliens überhaupt, welchen wir am eigenthümlichſten in Etrurien 
ausgeprägt finden, aber auch frühzeitig ſchon griechtfcher Einfluß umzugeftalten begann. 
Die ülteften architeftonifchen Meberrefte, zugleich diejenigen baulichen Anlagen, 
an denen ſich zuerft die Fünfllerifhe Beftaltung zu verfuchen pflegt, find Grabmäler 
und Mauerbauten. Die Structur derfelben ift im Weſentlichen dieſelbe in Mittels 
italien und Griechenland. Die Grabmäler find Hügel mit tburmartigen Kegeln und 
Grabkammern, wie die Cucumella bei Vulci, oder ausgemetßelte Beldfacaden, wie bie 
dei Eaftellacto und Norchia in der Nähe von Viterbo. Die Ummauerung der alten 
Städte Italiens gleicht der der Akropolen in Griechenland; denn bier wie dort zeigt 
fih die chklopiſche Bauweiſe aus polygonem Geflein, nur daß das Steinmaterial fe 
nach den Landfchaften verfchieden if. Aus der Bauart mit coloffalen Steinmaffen 
entwidelte fich die für die Geflaltung der gefammten Architeftur fo bebeutungsvoll 
gewordene Gonftruction des Keilſteingewölbes, und gerade Mom bietet daB bes 
deutendfte Beiſpiel derfelben in der cloaca maxima, einem im 6. Jahrh. v. Chr. ger 
bauten unterirdifchen und übermölbten Abzugscanal, an dem fchon eine durchgebildete 
Technik bewundert wird. Die Tempel des alten Rom waren, wie ausbrädlich über⸗ 
liefert it, nach Art der etrußfifchen Tempel gebaut; dieſe aber (nach Vittuv IV. 7) 
hatten ein Biere zur Grundfläche und zerfielen zur Hälfte in das eigentliche Tempel⸗ 
haus, zur Hälfte in eine von Säulen getragene Borballe. Unter den römifchen 
Zempelbauten ragte der Jupitertempel des Capitols hervor, der ebenfalls im 6. Jahrh. 
dv. Ehr. gebaut worden war und 207 Fuß Länge und 193 Fuß Breite Hatte. Das 
altitaliſche Wohnhaus Hatte eine eigenthämliche, von der grischifägen Bauweiſe ver 


8 





Ammiihe Keunſi. 343 


ſchiedene Conſtruction. Es zerfiel in drei Haupttheile: das Atrium, den vorbern theil- 
weife bebedten Raum, das Tablinum, den mittlern ganz bededten Theil, und daß 
Perifiglium, den mit Säulen umgebenen offenen Hof. Dad Atrium, entweder von 
ater abzuleiten und gleich „fchwarze Dede”, weil in ibm der Herd fland und durch 
bie halbgeöffnete Dede der Hauch abzog, oder von dem griechiichen atdptov, weil es 
ein Raum war, der unter offenem Himmel (on aldpfp) lag, — das Atrium mar 
urfprünglih das Wohnhaus felbft und bildete den Audgangspunft für die Entwide- 
lung der Häufer-Gonftruction. — Die Anfänge der bildenden und decorirenden Künfle 
kamen von Etrurien nad Rom. Dort wurden bildnerifche Zlerben der Tempel, Gräber 
und Käufer namentlih in Thon geformt und gebrannt, jedoch mar daſelbſt auch ber 
Erzguß bekannt. Ein zu Veji gearbeitetes Biergefpann aus -Thon zierte den Giebel 
des römifchen Jupitertempels, und von demfelben Material war das Bild des Gottes 
feloft in der Tempelcella, deſſen Antlig an hoben Feſttagen roth angeflrichen wurde. 
Der Bildner dieſes Werkes war Turianus aus Bregellä. Auf frühe Anwendung 
auch der Malerei behufs der Decoration in Nom laflen wenige Umftände fchließen, 
da die Wandmalereien, welche die Wände der etruskiſchen Bräber ſchmücken, einer 
füngern Zeit der etruskiſchen Kunft angehören. Daß übrigens auch die Griechen früh 
einen wefentlichen Einfluß auf die Kunfl-Entwidelung Italiens gewannen, bemeift nicht nur 
die im Wefentlichen gleiche Geſtaltung ber italifchen und griechiſchen Architektur, fondernnoch 
mehr der Umftand, daß die Stalifer von den Griechen erft die beſſeren Werkzeuge 
und Deren Namen kennen lernten, fo die Mörtelbereitung (calx, calecare von xdlık), 
die Maſchine (machina von yunyavn), das Richtmaß (groma von Yydpa, Yvapmv); 
endli den Verſchluß (elathri von xAndpov). Bon einer felbfifländigen Kunftbildung 
Rom's Tann fomit durchaus nicht die Rede fein, fondern höchſtens nur von einer 
eigenartigen Geftaltung der Kunft auf römiſchem Boden nach den befondern hiftorifchen 
und focialen Bedingungen des römijchen Staatslebens. Diefe eigenthümliche Kunftgeftal- 
mung R.'s beginnt mit: der werdenden Weltherrfchaft dieſes Staates, und fle erreicht 
ihre Blüthe in der Kalferzeit. Der Form nach war fie nur eine Nachahmung der 
helleniſchen Kunft, aber die römifchen Künftler erreichten im Allgemeinen nicht ben 
Elaren Organismus und die poeflevolle Verklärung, welche die Productionen des 
griechifchen Geiſtes auszeichnen und zu claffifhen Muftern erheben. Nom war und 
blieb auch in der Kunſt den praftifchen Intereffen getreu, und fomit mußte dort vor 
Allem die Architektur erblüben. In diefer aber bekundete ſich das Fünftlerifche Werfen 
namentlih in der Größe und Bedeutfankelt der Anlage und der Ausführung der 
Bauten, von tedänifcher Seite gefprochen, im Maffenbau, der zwar immer den realen 
Zwei verräth, um deswillen er ausgeführt wurde, aber doch von fehr entſchiedenem 
fünftlerifchem Bemußtfein und großer Schärfe der Meberlegung zeugt. Daher erflan- 
den auf römiſchem Boden die großartigften Paläfte, Tempel, Thermen, Gerichtd- und 
Börfenballen, die koloſſalen Denkmäler der Thaten großer Männer, und bei der be— 
fonderd Häuflgen Anwendung des Bogenbaued die mit Schwung und Rieſenkühnheit 
ausgeführten Brüdenbauten, Wafferleitungen und Thore, die in ihrer feflen Fügung 
vielfach heute noch dauern. WMächtige Energie charakteriſirt auch die Broductionen der 
römifchen Plaflik und Malerei, in denen fonft der hellenifche Einfluß überwiegender 
war, als in der Architektur. Das erwachende Kunftinterefie der Römer laäßt fih bi8 
in daB zweite Jahrh. v. Ehr. verfolgen. Der Kleinaflate Marcus Plautius Lyco 
erhielt Für feine fchönen Malereien im Junotempel von Arbea dad Bürgerrecht von 
diefer Gemeinde und Lucius Paulus beurtheilte die Jupiterflatue des Phidias fchon 
mit Kennerblil. Dahin gehört ferner, daß die römifchen Feldherren, wie ſchon Mar⸗ 
cellus, nach der Einnahme von Syracus, anfingen, die KRunftfchäge der eroberten 
griechifchen Städte nah Nom zu führen, defien öffentliche Gebäude namentlich Titus 
Flamininus, Marcus Fulvius und Lucius Paulus (194—167 v. Chr.) mit den Meifter- 
werken der griechifchen Plaftil füllten. Im zweiten Jahrh. vor Chr. unternahmen die 
Römer ſelbſt ſchon Bauten aufzuführen, bei denen ınan dad übliche etrusfifche Schema 
verließ und Tech die griechifche Kunftform zum Mufler nahm. Als folche werden er⸗ 
mwähnt die praͤchtigen Marmortempel ded Jupiter Stator und der Juno, welche beide 
innerhalb eines genteinfamen Saͤulenhofes dur Metellus Macedonicus aufgeführt und 





344 | Römiihe Kunfl. 


mit griechifchen Kunftwerfen gefchmüdt wurden. Dagegen folgte man nachmals ber 
früheren etrustifchen Weife bei dem Neubau des im Jahre 83 v. Chr. abgebrannten 
Jupitertempeld, Wenige Jahrzehnte fpäter jedoch, während der römiichen Partei⸗ 
fämpfe, nahm die römifche Architektur einen hoben Aufihwung und es entflanden in 
Nom und auch fchon außerhalb Rom's Gebäude von nie gefehener Pracht und aud- 
geführt mit Überrafchend Fühner Technik und colofjalem Lurus. Gewaltige Theater 
und Amphitheater wurden oft nur für wenige Tage aufgefchlagen, aber auch glän«- 
zende Tempel und Baſtliken für lange Dauer aufgeführte. Bekannt ifl, wie 
Durch Theater» und Tempelbauten gerade PBompefus und Gäfar ihre Populari» 
tät fowohl zu documentiren ald auch feier zu begründen ſuchten. Nur wenige 
Ueberrefte erinnern heute noch an jene Anfänge der römischen Arditeltur nach 
bellenifhen Muftern: fo der Tempel der Fortuna Virilis, ald Kirhe S. Maria 
Egiziaca verbaut und der fogenannte Veſtatempel zu Tivoli. Zu, außerorbent- 
licher Blüthe entwidelte ſich die römifche Architektur unter der Regierungszeit des Kai⸗ 
ſers Auguſtus (f. d. Art. Oetabian), der nicht mit Unrecht rühmen fonnte, er habe 
Nom aus einer Ziegelfladt zu einer Marmorftadt erhoben (marmoream se relinquere 
urbem, quam lateritiam accepisset, Suet. Octav. 28). Tempel in überaus großer. 
Anzahl, Theater, Prachtthore und Maufolen wurden erbaut in Rom, wie in den 
Provinzen des römifchen Weltreicheg. Die merkwürdigſten Baurefle aus des Auguflus 
Zagen find in Rom das Bantheon, ein Foloffaler, Tuppelgewölbter Rundbau, Fragmente 
der Tempel der Concordia und des Mard Ultor, beide mit faſt beilenifcher Grazie und 
Feinheit entworfen, zu Bola in Iftrien der Tempel des Auguftus und der Roma, Zu 
Aoſta, Sufa, Rimini und in Nom felbft entftanden Prachtthore. Weſen und Form der 
Maufoleen und Grabmonumente verkünden noch heute anfehnlihe Fragmente. Auf 
der gleichen Kunfthöhe fand um die Zeit des Auguflus und der nächften feiner Nach⸗ 
folger die Sculptur, welde ausgezeichnete von der Mit» und Nachwelt bemunderte 
Arbeiten hervorbrachte. Dan rühmt an ihnen befonders die charaftervolle Auffaffung 
und Durchbildung der Geftalt, namentlich des Kopfes, und der Gewandung Mit 
Statuen wurben gern die Triumphbogen gefhmüdt, und man ſtellte wohl beflegte 
Völker in ihrer nationalen Tracht und ihrem nationalen Gharafter treu und finnig 
dar. Einen fehr bedeutenden Fortfchritt in der Einfllerifhen Behandlung befunden 
feit den Zeiten des Caͤſar und Auguflus auch die römifhen Münzen und die ge- 
fhnittenen Steine. - Al Steinfchneider war unter Auguſtus Dioskorides berühmt, 
deffen Namen fih noch auf mehreren Gemmen findet. Ueberrefte von Malereien 
liefern uns erft die in Hereulanum und Pompeji erhaltenen Gemälde und Moſaik⸗ 
gemälde, welche oft nur den Eharafter flücdhtiger Decorationdmalerei an ſich tragen 
und den Gegenftand der Darftellung vorzugsmeife der griechiſchen Mythologie entlehnt 
haben. Doch fehlen auch nicht die Darftellungen von Landfchaften und dem ſoge⸗ 
nannten „Stillleben“ (Thiere, Früchte, Gerätbichaften). Ganz eigenthümlich find bie 
Darftelungen pbantaflifcher Architekturen zur Einrafmung von Wandflähen. Ver⸗ 
einzelt erfcheint daB große Mofaikbild der Aleranderfchlacht, welches den Fußboden 
eines Hauſes zu Bompeli fchmüdte. In Rom felbft haben ſich nur vereinzelte Ueber⸗ 
refte von Wandmalereien erhalten, wie daB Gemälde der fogenannten aldobrandinifchen 
Hochzeit (im vaticanifchen Mufeum). Mit der Zeit der Flavier (feit 69 v. Chr.) bes 
ginnt eine zweite Periode der römifchen Kunft, die der vollendeten charakteriflifchen 
Ausprägung ded römischen Kunftfiyles. Die Roͤmer, bis dahin die Schüler der 
Griechen, find jet felbfländig geworden, ohne doch ihre Meifter verläugnen zu können. 
In der Architektur iſt Diefe Beriode bezeichnet durch ein bauliches Monument Tolofjaler 
Größe und bewundernswerther Kunft, durch das flavifche Amphitheater oder Coloſſeum, 
welches Beipaftan zu bauen anfing und Titus im 3. 80 n. Chr. vollendete. Ihm 
reiht fi würdig an die Seite der Triumphbogen des Titus, ein Denkmal der Zer« 
flörung Jeruſalems, im I. 81 geweiht. Den Glanz aller bis dahin in Rom auf« 
geführten Prachtbauten überſtrahlte das unter Kaifer Trafan entflandene Forum Tra⸗ 
janum zwifchen dem Capitol und Quirinal, eine Bauanlage von umfaflenden Dimen- 
fionen mit der Bafllica Ulpia und der Trafansfäule, ausgeführt von dem Baumeifter 
Apollodorus von Damadınd. Nur wenige Ueberreſte diefed Baues und bie Trajans⸗ 


Römithe Kunſt. 345 


fänle find erhalten, doch Haben fle noch lange nach Trajan als Meifter- und Mufterwerte 
gegolten, denen man in Rom wie in den Provinzen fpätere Bauten nachbildete. Wie 
Trajan ſchmückte auch Habrian die Kaiferfladt mit prächtigen architektoniſchen @ebilden, 
mit den Tempeln der Venus und Roma und dem Eoloffalen Mauſoleum und Tivoli 
mit einer herrlichen Billa, aber ſchon durchbricht ein dilettantifche® Belieben den flolzen 
Adel der Form, den Die trajanifche Architektur an ſich trägt. Unter Habrian blühte 
die Architektur auch in den Provinzen, denen feine Sorge nicht minder als Rom zu- 
gewandt war, und manche Bauten der SHadrianfchen Zeit find in Sranfreich, Griechen ' 
land und Aegypten befier erhalten, ald in Rom felbfl. Die Baumerke der Antonine 
und des Marc Aurel find fchon vielfah Nachbildungen der trajanifchen, und bie ardhi« 
tektonifche Kunſt zeigt ſich fchon unficher und fchwanfend und firebend nad becora- 
tives Wirkung. — Die römifche Sculptur Hatte unter Trojan ebenfalld eine hohe 
Blüthe, verläugnete aber auch jet nicht den realiſtiſch⸗praktiſchen Zug des tömifchen 
Grundcharakters, denn fie entfaltete ſich nicht in fo freien Kunflfchöpfungen wie die 
griechifche, jondern als Monumental-Sculptur, d. 5. als eine gewiflermaßen hiſtoriſche 
Kunft, weldye vollendete Eünftlerifche Technik und lebendigen Sinn für den Gehalt 
eined Ereigniſſes oder die Eigenthümlichfeit einer Perſon offenbart. Beides zeigen 
die Sculpturen, mit denen der Triumpbbogen des Conftantin geſchmückt ift und welche 
Scenen aus Trajan's daciſchen und parthifchen Kriegen enthalten; ferner als Relief⸗ 
band, welches ſich um ben Schaft der Trajandfäule empormwindet und 2500 menſch⸗ 
liche, etwa 2 Fuß hohe Geſtalten enthält, Sehr ergiebig für die Sculptur war die 
Zeit Hadrian’d, der wir eine zahlreiche Menge von Marmorwerken verdanken, na⸗ 
mentlich eine ganz eigenthümliche Gattung derfelben, die in den Mufeen häufigen Köpfe 
des Antinous, eines jungen Lieblings des Habrian, ‚der ſich für den Kaifer geheim» 
nißvoll ſelbſt geopfert hatte und dem dafür göttliche Verehrung zu Theil geworden 
was, — Die Malerei diefer Periode lebte faſt nur von Nachbildungen hellenifcher 
Mufter, doch ſchuf Action feinen Alexander und die Roxane umgeben von Amorinen, 
ein Bild, welches häufig rühmlichſt ermähnt wird. — Die legte Periode der römifchen 
Kunft fällt in die Zeit des ſtaatlichen Verfalles Rom’s, in das 3. Jahrhundert nach 
Chr. bis zur Regierung Conſtantin's des Großen, nach weldyer Die fogenannte chriſt⸗ 
lie Kunft ihre erfien ſchwachen Knospen treibt. Diefe Periode zeigt ein langſames 
Abſterben der Fünftlerifhen Kraft und Phantafle und daher Entartung der Form in 
dad Schwülfiige oder zur feelenlofen Erflarrung. Am menigften zunächft macht fi 
diefer Verfall noch bemerkbar in der Architeftur. Gararalla führte im 3. Jahrhundert 
nach Chr. feinen Thermenbau auf, ein prachtvolles, Eolofjales, noch in feinen Trüm⸗ 
mern bewundernöwerthes Wert. Don Bedeutung in diefer Periode find ferner die 
Bauwerke in den Provinzen des römifchen Meiched, von denen Ueberrefte auf unfere 
Tage gefommen find, z. B. das Amphitheater zu Nimes in Branfreih, die Stadt« 
tbore zu Autun, Befangon, Rheims, Carpentras und endlich die anfehnlicden Ruinen 
von Palmyra und Heliopolis. Andere bauliche Monumente verrathen das Eindringen 
eine orientalifchen Geſchmackes in die römifche Architektur, wie der Palafl des Dio« 
cletian zu Solona, während nie Thermen deſſelben Kaiferd zu Nom zwar noch mädy 
tige. Combinationen, aber wenig Gefühl für eine edle Behandlung des Einzelnen zei 
gen. — Die Monumentalfeulptur erfreute fi auch in dieſer Zeit noch reichlicher 
Pflege, wie die vielen Kaiferbüften in den heutigen Mufeen beweifen. Eigenthümlich 
find dieſer Periode die Meliefbilder an den Seitenwänden der Sarfophage, in de= 
nen die Sculptur mit Vorliebe mythologifche und ſymboliſche Ideen darftellte, wie 
den Mythus vom Prometheus, von Amor und Pſyche u. a. m. Die Compofition 
jedoch zeigt nur die Wiederholung überfommener Formen und Figuren und die Aus 
führung nur fchulmäßige Behandlung und fchließlich felbft mangelhafte technifche Be⸗ 
herrichung des Geſteines. Den gleichen Verfall verräth die Malerei, die fich kaum mehr 
über dad Portraiticen erhebt und bei der Richtung auf das rein Außerlihe Darftellen 
mit Vorliebe und auch mit Erfolg in Moſaikarbeiten verfucht. Vergl. Desgodetz: 
Les edifices antiques de Rome, und Ganina: Gli edifizj di Roma anliqua, Haupt⸗ 
werke monumentaler Darftellungen. Pr. Kugler: Handbuch der Runftgefchichte (3. Aufl. 
Stuttgart 1856) Br. 1. Guhl und Koner:; Das Leben der Griechen und Mldmer 


346 NRmiſche Religion. 


(Berlin 1862). €. Braun: Muinen und Muſeen Roms (Braunſchw. 1854). Blatner, 
Bunfen, Gerhard und Niebuhr: Befchreibung der Stadt Nom. Mit Plänen und 
Kupferſtichen (Stuttg. 1829-42), das gründlichfie Werk für die Kenntniß der römi- 
fihen Antiquitäten und der römifchen Kunſt. Ein Auszug aus diefem Werke if: 
Platner und Urlichs: Befchreibung Roms (Stuttg. und Tübing. 1845). 

Römiſche Religion. Es iſt bezeichnend für den Charakter der Meligion der 
Nömer, daß der Begriff und der Name des Neligion (religio) als einer innen 
Gebundenheit und Scheu vor dem Göttlihen zuerft auf dem itafifchen Boden aufs 
fommen, nachdem das Weſen der Religion ſelbſt ſchon längſt tiefer und reiner unter 
den Semiten und tveeller unter den Griechen fi ausgebildet Hatte. Bit jenem Be⸗ 
griffe der religio aber wurde ſcharf und treffend die Neligiofltät des Altrömers bes 
zeichnet, in fofern Diefe in der Scheu vor der Uebermacht der göttlichen Weſen beruhte 
und ihn zu einer mehr äußerlich » furidifhen Auffaffung des Verhaältniſſes zwiſchen 
Bott und Menfh ald zu innerer Frömmigkeit und liebevoller Verehrung des Gött- 
lichen führte. Demnach blieb das Gerz des Roͤmersé der Gottheit fremd und gelangte 
nie zu der’ Wärme und Gluth, mit welcher der Jude feinen Jehovah verehtte, ober 
der Helfene in feinen geheimnißvollen Myfterienculten den Göttern Hymnen und Dithy⸗ 
ramben fang. Selten ift eine Religion fo nüdtern und von praktiſcher Tendenz, 
und eine Theologie fo arm an Bhantafle und Idealismus gemefen, wie die der Roͤmer. 
Die eigentbümlichfte Göttergeftalt Innerhalb der religiöfen Borftellungen der Römer 
war der boppelföpfige Janus, der Gott der Eröffnung, den man bei Beginn eines 
jeglichen Thuns und Unternehmend anzurufen pflegte. Sodann begegnen uns römifche 
Gottheiten, welche nur als Abftractionen und perfonificirte Vorſtellungen erfcheinen 
und niemals in der Anfchauung plaſtiſche Geſtaltung gewonnen haben, wie die Ein» 
tracht (concordie), die Treue (fides), die Jugend (juventus), die Saat (saeturnus), 
die Seldarbeit (ops), Die Grenze (terminus), der Krieg (bellona), der Gott der E- 
friedigung (herculus oder hercules von hercere), der Bott des Worthaltens (deus 
fidius), der Handeldgott (mercurius), die Zufalle« und GSlüdsgättin (fors, fortuna), 
der tödtende Gott (maurs, mavors, mars, mors), der günftige Gott (faunus) nnd dergl., 
in welchen wir die älteften römifchen Gottheiten haben. Wan fteht, daß bei den Mb 
mern wie bei den Griechen das Wefen der Götterlehre in der Perfoniflcation der 
Naturerfcheinungen oder ihres Begriffes berubt; aber während bei den Hellenen dieſe 
Berfoniflcationen fich zu fchönen Bildern und Gruppen verflärten und allefammt” endlich 
ſich zu der reichen geftaltenvollen Götterwelt erhoben, blieben fe bei den Roͤmern in 
der Falten Starrheit der Abflraction fieben, ohne dad Gemüth zu erwärmen oder die 
Phantaſte des Dichters und Künftlers zu beleben. Am innigften war bei den Römern 
noch der Cultus der Familien- und Hausgditer, der Laren und Penaten, am tieffin- 
nigften der Öffentliche Veftacultus, aber auch bier fehlt der anfprechende Mythen⸗ und 
Ideenkreis, der mit fo reichem Blüthenſchmuck die griechifche Götterwelt umfchlang. 
Inniger ala in Griechenland war in Nom die Religion mit dem öffentlichen Staats⸗ 
leben verbunden. Alle bebeutfamen Wcte, wie Kriegderflärungen und Briedensfchlüfle, 
Berathungen und Wahlen, empfingen und forderten die Weihe der Religion. Der 
@ultus war reich an religidfen Geremonien, an Gebeten, Gelübden, Lufttatlonen, 
Opfern, Speifungen, Feſten und Spielen zu Ehren der Götter; die Eultusftätten 
mehrten fi befonderd in der fpätern Zeit der Republik und der Kaifer Durch Er⸗ 
bauung prächtiger Tempel. Das Prieflertfum umfaßte die Flamines, die Briefter 
einzelner Gottheiten (flamen, Zünder, fo genannt wegen der Darbringung der Brand» 
opfer), die Fettalen (f. d.), die Salter, die Veflalinnen, Auguren und PBontifices. 
Bon den letzteren, die man bei religidfen Dingen ald Sadverfländige betrachtete 
und berief, hatten die Auguren die Kenntnig des Vogelfluge® und die Kunft bes 
Weiffagene inne, die Pontiſices aber‘ oder „Brüdenbauer”, denen urfprünglich ale 
Inhabern ded Gebeimniffed der Zahlen und Maße der Tiber-Brüdenbau und «Abbruch 
oblag, die Dberauffiht über ben gefammten Cultus. Sie hatten darauf zu fehen, 
daß Die Gottesdienſte zur rechten Zeit und am rechten Orte gehalten würden, daß 
bei Eben, Zeflamenten und öffentligen Unternehmungen nicht Berftöße gegen die 
Gacralvorſchriften vorfämen. Gerade in ber peinlichften Aengſtlichkeit, dergleichen Ber 


Römisches Nedit. 347 


löße zu vermeiben, zeigte fih am melften die Religiofltät der Nömer. Bel dem juridi⸗ 
ſchen Charakter der römifchen Neliglon war die Furcht ſtets rege, durch Bernachläfft- 
gung oder verkehrte Verehrung fi das Lebelmollen eines Gottes zuzuziehen, und fo 
ſuchte man mit der Punktlichkeit eines Befhäftgmannes den Borfchriften eines welt. 
fhweiflgen Rituale zu genügen. Leicht erklärt fich hiernach die Eigenthümlichkeit der 
Mömer, gegen fremde Gottheiten und Gulte nicht nur duldſam zu fein, fondern die⸗ 
felßen wohl gar in Mom felber aufzunehmen. Man übertrug dabei eben nur bie ein« 
heimische Auffaffung des DBerhältniffes zwifchen Menfchen und Göttern auf die fremde 
Gottedverehrung. Hierdurch aber geſchah es, daß ſich nad und nach die verfchieden- 
artigften Gulte und Gottheiten In den Mauern Noms fammeltn. Bon Etrurien 
Ber drangen fchon früh religidfe Elentente in Rom ein, wie namentlih die Haru- 
fpiete (f. d. Art), von Griechenland ber Die zwölf olhmpiſchen Götter, die dann 
nur die Namen mechfelten, wie Jupiter (Zeus), Iuno (Hera), Minerva (Athene) u. A., 
auch wohl in der Borftellung etwas modificirt wurden. Endlich übertrug fidh auch 
die griehifge Mytbologte auf den römifchen Boden, ohne bier eine eigenthümlich 
römifche Umgeflaltung zu erleiden, wie Ovid's Metamorphofen lehren. Bald jedoch 
fanden fi auch die orientaliſchen Eulte voll Aberglauben und die Bacchanalien mit 
ihrem wilden orgiaftifhen TZaumel in Nom ein. Vergebene fchritt die Staatögewalt 
gegen die leßteren ein, welche durch ihre Unfittlichkeit die höheren mie bie niederen 
Schichten des Volkes verdarben. Mehr und mehr fank gegen die Zeit der Geburt 
Chriſti Die Meligion der Nömer. Das Bolt im Ganzen fiel dem Aberglauben an« 
beim, während die Philoſophie bei den Aufgellärteren die Dogmen der poſitiven Re⸗ 
ligion zerfegte und endlich dem GBefpdtte Preis gab. Schon Cicero wunderte ſich, 
daß zwei römifche Priefter, die einander begegneten, ſich nicht In das Geſicht Tachten, 
va fle doch beide von der Nichtigkeit ihres Treiben Überzeugt fein müßten. In volle 
Kändiger Auflöfung fand den religlöfen Zuftand der romiſchen Welt das Ghriftenthum, 
als es in der zweiten Hälfte des 1. Jahrh. n. Chr. bis Mom vordrang. Bon Ihm 
eshiele in den naͤchſten Jahrhunderten die Meligion der Romer den Todesſtoß. Sie 
erhielt fi noch einige Zeit in abgelegenen Gegenden als PBaganismus, nachdem daß 
Chriſtenthum durch Konftantin den Großen zur Stantsreligion erhoben worden mar. 
Bergl. Hartung: Die Religion der Römer, nad den Quellen dargeſtellt (Erlangen 
1836, 2 Bde); Beppert: Die Götter und Heroen der alten Welt (Leipzig 1842); 
Schwenk: Mythologie der Nömer (Frankf. 1845); Breller: Römiſche Mythologie 
(Berlin 1858). 

Nömisches Recht. ) Die Gründe, welche den Univerfalismus des römifchen 
MRechts erktären follen, werden meift ganz verkehrt in äußern Umfländen geſucht. Das 
römifche Recht iſt univerfell geworben, weil ed von Natur univerfell war, meil der 
römifhe Geiſt ſich wie keiner für die Nechtöproduction eignete, weil daher überall, 
wo bie rechtliche Ordnung bei einem Volke fo weit gedieben war, um flır eine wiſſen⸗ 
f&paftlichde Behandlung empfänglich zu fein, Syſtem und Geiſt diefer Behandlung, oft 
mehr inſtinctmaͤßig als dur bemußte Wahl, aus dem römifchen Recht entnommen 
wurden. Das Necht, als die confervativfte aller Ideen der Menfchheit, Tonnte ſich 
freilich Keinen beſſern Werkmeifter wählen, als den confervativften aller nationalen 
Typen. Es iſt oft Gemerkt worden, daß die Römer für die Ewigkeit bauten; dies 
gilt ganz vorzüglich von ihrem Recht. Sein vorberrichender Charakter ift die Starrheit. 
Daß die Borflellungen von Recht und Unrecht im Staate ſich ändern, die Gefchichte 
auch an dieſen Begriffen rütteln, künftige Geſchlechter Die Rechtbordnung der Väter 
als veraltet vermerfen Eönnten, find Betrachtungen, die den römifchen Juriſten nicht 
zugänglih waren. Das Grundprineip des römifchen Lebens und daher auch des 
römifchen Rechts If die Verwirklichung des von jeder anderen menfchlichen Geiſtes⸗ 
richtung abflrahirten, abfoluten oder eifernen Willens. Die äußeren Umſtaͤnde, unter 
denen die Römer ihren Gtaatöverband Tnüpften, waren von ber Art, Daß fle ſich nur 
vurch die außerſte Anſtrengung, die ununterbrochene Entwidelung und beftmögliche 


1) Ueber das Side unb Literariſche ſiehe die Artikel: Antejnftinianifches Necht 
and Corpus juris eivili 


348 | Hönifhes Ned. 


Goncenteirung der hoͤchſten Kraft und Einſicht aller Genofien, einen, alles überwiegenden, 
richtig geleiteten Gefammtwilfen, gegen die von innen und außen fletS drohenden Gefahren 
behaupten und die emige Stadt gründen und erhalten fonnten. Dienatürliche Kolge war, daß 
alle übrigen Beifteörichtungen, indbefondere der Sinn für Kunft und Wiffenfchaft, faft ganz 
erfticht, die männliche Willens» und Verſtandeskraft dagegen, die Fähigkeit, aus den Kräften 
aller Einzelnen auf die angemeflenfte Weife einen unmiberftehlichen Gefammtmillen 
zufammenzuziehen, und Das Gefühl eines nothwendigen unbebingten Gehorſams gegen 
diefen Gefammtmillen in der höchſten, allen anderen Völkern unerreichbaren Potenz 
entwidelt wurde. So konnte die Vorftellung entfliehen, daß der abfolute Wille in 
feiner vollkommenſten Reinheit und Stärke ihrem Gemeinweſen eingefenft und durch 
dafjelbe nach allen Seiten bin zu verwirklichen fei, jedem römifchen Bürger aber, als 
integrivendem Theile dieſes Gemeinweſens, eine davon abgeleitete abfolute Willens 
fraft ebenfalls zufomme. Die Roͤmer betrachteten daher ihren Geſammtwillen als eine 
Verkörperung des göttlichen Willens und jede Aeußerung des erfteren als den cor- 
recten Ausdruck des Iegteren; in ſtrengſter Gonfequenz erfchien ihnen jede fremde 
Millensrihtung und fonflige Geiftesthätigkeit, welche der Verwirklichung ihres Ge⸗ 
ſammtwillens bemmend oder flörend entgegentrat, ald Empörung gegen den göttlichen 
Willen. Jedes Blatt der römischen Befchichte beftätigt diefe Auffaflung. Noms Ent- 
fiehung wird im der römifchen Sage auf Mars zurüdgeführt, auf den Mepräfentanten 
der abfoluten göttlihen Willensfraft. Die Kinder dieſer Gottheit, Nemus und Romulus, 
verleugnen den Bater nicht; in früheſter Jugend erzwingen fle ihr Recht mit Gewalt; 
und in dem Streite Beider über die Herrſchaft fliegt, charaftesiftifch, Die durch Gottee⸗ 
ausſpruch verkündete größere Kraft ded Romulus über bed Bruders nacktes, menſch⸗ 
liches Recht; fa, diefer vermwirkte fogar, gleich Yen Söhnen des Brutus und dem jungen 
Manlius, fein Leben, weil er feinen Unwillen gegen Noms geheiligte Stätte ausließ, da 
jede mienfchliche Regung -ein Verbrechen war, wenn e8 fih um die Beflrafung. einer 
Berlegung des abfoluten Geſammtwillens handelte. Wenn nun Romulus jeden Ber- 
bannten und Landflücdhtigen, mochte er auch ein Miffethäter oder Selave fein, in des. 
neuen ‚Stadt Aſyl und Bürgerrecht eröffnete — was heißt Died anders, als daß die 
abjolute Willenskraft, um im Leben verwirklicht zu werden, nur kräftiger Menſchen, 
nicht beſtimmter Volks⸗ oder Religiondgenofien bedurft habe und mächtig genug: feh, 
um die beterogenften Maſſen in eine gebiegene Einheit zu verfchmelzen? Die allmähs 
liche Ausbildung der römifchen Berfaffung bis zur Republik wird denn auch nicht, 
wie bei andern Bölfern, durch Götter oder Halbgötter, fondern durch die menſchlichen 
Mepräfentanten der in Nom verkörperten göttlichen Willenskraft bewerkſtelligt. Denn 
diefe war mit dem Augenblid ihrer Verförperung die einzige Duelle der erforderlichen 
Einfiht und Autorität, und gab jedenfalls ihren Mepräfentanten das Recht und bie 
Macht, von den Göttern die Offenbarung deſſen zu fordern, wad etwa zur zweck⸗ 
mäßigen Ausbildung der römifchen Verfaffung in diefem oder jenem Lebenskreiſe nor 
nötbig war. Ganz angemefien erzählt daher die Sage, daß Numa Pompilius felbft 
den höchften Jupiter gezwungen baber feinen Willen über die zmwedmäßige Einrichtung 
‚des Gottesdienftes Fund zu geben. Auch in der Stellung der Mömer gegen die 
übrige Welt tritt der angegebene Grundcharakter ihres Rechts mit großer Deutlichkeit 
hervor. Weil in Ron die abfolute göttliche Willenskraft verkörpert worden, fo wat 
außerhalb Roms dad Dafein einer gleichbedeutenden felbffländigen Willenskraft für Die 
Mömer ganz undenkbar. Ihnen gegenüber war daher fedes Volk fo lange willen⸗ 
und rechtlos, bis es durch ein flattgefundenes Anerfenntnig (foedus) ein abgeleitetes 
Hecht des Beſtehens gewonnen hatte. Alle Mitglieder und Sachen eines nicht aner⸗ 
kannten Volks betrachteten die Mömer als res nullius; ed war nur die Erecution 
ihres, die ganze Welt umfaflenden, daher blos fuspendirten Aneignungéerechts, wenn 
fie, nach erfolgter Kriegserklärung, mittel& der occupatio bellica dieſe Mitglieder und 
Sachen ihrer Herrſchaft unterwarfen. Umgekehrt aber ließen fle dieſe Grundfätze keines⸗ 
wegs auch wider fich gelten, denn da ihre Feinde ihnen - gegenüber weder Willen 
noch Recht hatten, fo Eonnten diefelben an den erbeuteten Berfonen und Sachen im⸗ 
mer nur einen factiſchen Beſitz, niemals wirkliches Eigenthum erwerben, und daher Die 
Perfönlichkeit eines gefangenen Roͤmers zwar zurüddrängen, niemals aber und. am 


* 


Römiihes Recht. 349 


wenigften für fich ſelbſt vernichten (servus sine domino). Betrachten wir endlich bie 
ganze Geflaltung des römifchen Lebens und Rechts. Jeden ſchwankenden Bittelzuftand 
verwerfend, kennt das alte roͤmiſche Recht nur die Gegenfäge einer vollflommenen 
Willensfähigkeit und Unfähigkeit, einer unbebingten Gebundenheit und Ungebunden⸗ 
heit; zur Bültigkeit der meiften Rechtögeſchäfte wird überdies Die Beobachtung einer 
Rarren Form erfordert, welche von der Geſammtheit fcharf beflimmt war und deren 
Miwirkung gleichfam vergegenwärtigt. Unvermittelt fleben die Begenfäge von civis 
und peregrinus, dominus und servus, paterfamilias und Aliusfamilias; die Herrſchaft 
der flarren Form aber tritt hervor in den actus legilimi vor der ganzen Volksgemeinde: 
der Teſtamentserrichtung, der cretio hereditatis, ber auctoritas tutoris se. Am tiefften durch⸗ 
dringt das Prineip des abfoluten Willens die Staatöverfaffung, mit der es wohl vereinbar 
iR, an aus gezeichnete Fremde dad Bürgerrecht zu ertbeilen. Dem populus romanus, der 
immer die Quelle des abfoluten Gefammtwillend mar, wurde eben deshalb mnjestas 
zugefchrieben.. Un ihn war daber ſchon unter den Königen die provocatio zuläffig, 
er war die Wurzel aller Macht. Den abflraeten eifernen Willen, welcher über ſich 
keinen Michter ertennt, fich ſelbſt aber, weil er in feiner Reinheit jede nadte Willkür⸗ 
lichkeit werichmäbt, der ſtrengſte Nichter if, betrachteten alfo die Roͤmer ald die von 
der Gottheit felbft überfommene Mitgift Noms, und ihr Streben ging dahin, denfelben 
dur ihre Geſammtkraft und die Davon abgeleitete Kraft jebes einzelnen Bolfegliedes 
nad innen und außen zu verwirklichen. Nah Innen, indem fie alle nicht durchaus 
gleichgültigen Verhaͤltniſſe auf eine, der bezweckten Verwirklichung jenes Willens ent- 
fprechende, die nadte Willkür und bloße Naturnothwendigkeit gleichmäßig außichließende 
Weiſe feftzuftellen fuchten, auch von jeden römifhen Bürger verlangten, daß er die 
constans ac perpetua voluntas habe, den beſtehenden Sagungen und den Borberungen 
bed Geſammtwillens nachzuleben. Nah außen, Indem fle ſich bemühten, Ihre Herr- 
ſchaft über alle Völker zu verbreiten und dieſe nebft ihren Einrichtungen in den Kreis 
ihres Lebens hineinzuziehen, dabei aber nie verfäumten, ihre Gewaltthätigfeit in bie 
Form des Mechts zu Keinen (jus fetinle). Diefer allgemeine Charakter des römifchen 
Lebens modulirt ih nun freilich unter dem Einfluß der Gefchichte, wonach die Ver⸗ 
wirklichung des eiſernen Willens nach und nach durch .verfchiedene einander verbrän- 
gende Media und demgemäß in verichtedenen Welfen erfolgte. Wir Tönnen bierbei fehr 
beftimmt 4 Berioden unterfcheiden. Die erſte zeigt uns den Proceß der Kryſtalliſtrung 
bes römischen Lebend zu einer für die damaligen engen DBerhältniffe angemeflenen 
Geſtaltung, im Gewande der göttlichen Nothwendigkeit (jus sacrum, anliquus mos). 
In der zweiten Periode wird diefer Geftaltung die mpthifche Hülle allmählich abge⸗ 
fireift; Die mittels öffentlicher Abſtimmung aller berufenen Volksglieder gefundene 
Einſicht der Geſammtheit (der populus romanus) wird das Organ, durch welches die 
Forderungen des eifernen Willens zur Erfcheinung gelangen. Diefer macht ſich nun« 
mehr als abfoluter Befammtmille geltend und demgemäß gewinnt jedes Ver⸗ 
haͤltniß und jede Beflimmung einen Öffentlichen Eharafter mit der Korm einer durchaus 
politiſchen Sagung (jus publicum). Die dritte Beriode trägt das Zeichen des Kampfes 
des abflracten individuellen Willens mit dem Willen der Individualität und des end⸗ 
lichen Sieges, den jener über diefen davon trägt. Nun wird die Einflcht einzelner 
Individuen das Organ, Durch welches theils die Gefammtheit bie zweckdienliche Rich⸗ 
tung erhält, theild die Erkenntniß und Feſtſtellung desjenigen gefchleht, was die Rück⸗ 
fiht auf Die Forderungen des abflracten invividuellen Willens unter den obwaltenden 
Berhältniffen als nothwendig erfcheinen läßt. Der abfolute Wille wird als abfo- 
Inter Einzelwille geltend gemacht und demgemäß der Öffentliche Charakter aller 
ererbten Inflitute -und neu entfiehenden Berhältniffe zu einem privaten, die politifche 
Form aller Sagungen zu einer privatrechtlichen berabgeflimmt (jus privalum). Nach⸗ 
dem ſich das römische Grundprincip in dieſen drei Berioden — des Königthums ober 
jus sacrum, der Republik oder des jus publicum, der Kaiferherrfchaft oder ded jus 
privatum — auf verſchiedene Weife entfaltet hatte, verlor daſſelbe ſchließlich durch den 
Einfluß fremdartiger äußerer Umflände und den Egoismus der Einzelnen feine zu« 
fammenhaltende und zu einer gleichförmigen Thätigkeit anfpornende Kraft. Die Ty⸗ 
rannei der Willfür verdrängt die Herrſchaft des elfernen Willend, das römifche 


350 Röniihes Reit. 


Leben loͤſt fih in die Außerfle Verwirrung auf und kann nur noch durch einen 
fireng geregelten Despotismus nothdürftig zufammengebalten werben. Unter einer 
todten Form verbirgt fich fchlecht der gänzliche Verfall. Nur die zweite Periode 
iſt indeflen die des wahrhaften römifchen Lebens, indem in ihr allein der abfolute 
Wille in feiner vollkommenen Heinheit, d. b. von den Banden der Naturnothwendig« 
keit befreit und von dem Einfluffe ded individuellen Egoismus noch nicht getrübt, 
bervortseten und geltend gemacht werden Fonnte. Dagegen bereitete die erſte Periode 
dies Leben blos vor, während die britte fchon den liebergang zum gänzlichen Verfalle 
bilder. Auf die Zeit der Republik blickten daher auch die fpäteren Römer wie auf 
dad verlorene Paradies zurück und fuchten die aus ihr ererbten Sabungen gu retien 
und feſtzuhalten. Diefe Zeit muß demnad auch den Ausgangspunkt für bie Beiradh- 
tung des römifchen Rechts bilden. In derfelben wurde nun von den Roͤmern zu⸗ 
vörderfi das Zwölftafelgefeg gefchaffen und durch daſſelbe die bisher zum großen Theil 
dußerlih nicht befeftigte Mechtögeftaltung der vorgeſchichtlichen Zeit theils in ein be⸗ 
feſtigtes und für Jedermann ſichtbar gemachtes jus publicum verwandelt, theils mit 
den von der Geſammtheit für wahr erkannten Forderungen des abſoluten Geſammt⸗ 
willens dergeſtalt ausgeglichen, daß es als der vollendete Ausſpruch des letzteren für 
die damaligen Verhaͤltniſſe gelten kann. Daffelbe war daher 1) in einem durchaus 
gebietenden Tone abgefußt; es fehte für alle Nechtögeichäfte, welche in eine ſtarre 
Form zu bringen waren, eine folche die Mitwirkung des Befammtwillend vergegen- 
wärtigende Form feſt und ließ die Forderungen des herrſchenden Grundprincips aud) 
in jeder andern Beziehung unbedingt bervortreten. Daffelbe wurde daher aber auch 
2) als ausſchließliche und unveränderliche Norm für die Bewegung aller Volks glieder 
hingeſtellt, indem der abſolute Geſammtwille mit ſich ſelbſt im Widerſpruch geweſen 
ſein würde, wenn er das unbedingt für wahr Erkannte in dieſer oder jener Beziehung 
im Voraus für veränderlich erklärt hätte (privilegia ne irroganlo; majores .... in 
privos homines leges ferri noluerunt). Die Willensäußerungen der einzelnen Bolls- 
glieder waren alfo, in liebereinflimmung mit dem Charakter diefer Periode, nur dann 
vollfommen rechtöfräftig, wenn fie den im Zwölftafelgeſetz audgefprochenen Formen 
und Bedingungen volllommen entfpradhen. Diefe Kormen und Bebingungen waren 
indeflen für einen jo engen Raum und Kreid von Berhältniffen berechnet, daß fie mit 
der wadhfenden Macht, dem erweiterten Verkehr und der fleigenden Givilifation der 
Mömer immer ungenügender werden mußten; das als unveränderliche Norm bingeftellte 
Geſetz mußte daher dennoch mit der Zeit auf angemeflene Weiſe ergänzt, verbeflert, 
auch wohl durch fchärfere Beſtimmungen gegen die Eingriffe des individuellen Egbis⸗ 
mus geſichert werden. Die Art, wie die Mömer die Loͤſung der ſchwierigen Aufgabe, 
ohne Berrüdung ihres Grundprincips dieſen Anforderungen der mädtig fortſchrei⸗ 
tenden Geſchichte Rechnung zu tragen verſucht haben, verdient nun zwar als ein Denk⸗ 
mal deſſen, was der ſeines Ziels bewußte ſtarke Wille vermag, die Bewunderung aller 
Zeiten; aber dieſe Bewunderung darf und nicht verleiten, für die tiefe Unflitlichleit des 
ſchließlichen Mefultats dieſes Verſuches die Augen zu fließen. Wir ſehen Par 
trieier und Plebejer (fpäter nobiles und ignobiles) — jene im zähen Zeflhalten 
des ihnen günftigen Beſtehenden, dieſe im .confequenten Ringen nah neuen Ge⸗ 
flaltungen — unglaublihe Anfitengungen machen; es kommt zwifchen ihnen zu 
einem heißen, mit jüdlicher Erbitterung geführten Kampfe, weldyer fi durch mehrere 
Generationen bindurchzieht. Aber dieſer Kampf führt trog aller verderblichen Spal⸗ 
tungen niemald zur gänzliden Gntzweiung, fondern immer wieder zu einer verföhnen- 
den Ausgleihung und in Folge defien zur Fortentwidelung des Beſtehenden. Denn 
beide Theile wollten eben vor allen Dingen die Fortdauer ihrer Gemeinſchaft nad 
demfelben Grundprincip. Sie mußten fi daher fort und fort babin vergleichen, 
daß der eine THell (die Patricier) den neu entflandenen Verhaͤltniſſen und Anforde⸗ 
rungen wenigftend eine untergeordnete Anerkennung und Feſtſtellung zugefland, der 
andere (die Blebejer) fi damit begnügte. Diefe Ausgleichung berubigte und befrie 
digte aber auch beide Theile, indem fcheinbar die Patricier die Hoffnung behielten, 
dad unvollfändig Sanctionirte immer wieder zurüdnehmen zu koͤnnen, die Plebejer 
Dagegen das Geforberte materiell burchfehten und von einer auddrücklichen Abaͤnde⸗ 





Römisches Rock. 351 


zung ded vormals ald jus publicum feierlich Feſtgeſtellten durch angeborne Ehrfurcht 
gleihfall® zurüdgeichredt wurben. Das Zwölftafelgefeg blieb demnach als beilige 
Grundlage des Rechte mit dem Willen beider Theile tbeoretifh oder formell im 
Banzen unangetaftet; für die Braris, oder materiell, wurde aber mitteld ausdrüdlicher 
oder ſtillſchweigender Uebereinkunft eine Anwendung dieſes Geſetzes geflattet, welche 
bie neuen Verhältniſſe und Anforderungen fort und fort als Ausnahmen von der 
Regel oder untergeichobened praktiſches Recht berüdfichtigte. Dem zufolge wurde bie 
theoretifche Fortdauer des Zwölftafelgefeged und feiner Srundfüge mehr und mehr 
eine drüdende und verwireende Lüge. Denn da die Hömer von vielen Inflituten zu⸗ 
legt nur noch die todte Hülle feftbielten, dieſe aber nicht abzuflreifen wagten, fo 
liegen fie fih dur ſolche Inflitute fortwährend theild in nicht mehr angemeflene be> 
engende Feſſeln fchlagen, theild zur Aufftelung von allgemeinen @rundfägen verleiten, 
welche. ihre Wahrheit laͤngſt verloren hatten, und denen daß Detail geradezu wider⸗ 
fprah. Zu gleicher Zeit wuchs aber die von Befchlecht zu Geſchlecht angehäufte Mafle 
Dedjenigen Nechtömateriald, welches durch feinen gefeßlichen Ausſpruch zufammengefaßt 
und fanctionirt, vielmehr bloß durch Die Praris gültig war, allmählich zu einem foldyen 
Chaos an, daß eine ganz befondere Pilotenbegabung dazu gehörte, ſich Darin zurecht 
zu finden und zulegt Alle in Gefahr waren, davon beberrfcht und erbrüdt zu werden. 
Das Recht, welches ein offenfundiges und überfichtlichded Gemeingut aller Volksglieder 
fein follte, wurde alfo mit der Zeit ein myflerlöfes und verworrenes Privatgut weni- 
ger Eingeweihter und drohte auch dieſen völlig unbegreiflih zu werben. Die durch 
diefen Nothſtand hervorgerufenen Bemühungen der fpäteren Kaiferzeit, das angehäufte 
Rechtömaterial in ein Syſtem zufammenzufaflen, konnten unmöglich zu einem genügen« 
den Reiultat führen. Denn theils wurden fie von der in's Ungeheure angeſchwollenen 
Mafie des zu verarbeitenden Stoffs überwältigt, theils und vornehmlich fehlte Ihnen 
die leitende Kraft eines beflimmten gemeinfamen Princips, indem ihr früheres bereitd 
untergraben, ein anderes aber nicht an defien Stelle getreten war, fte ſelbſt vielmehr 
nur noch ein principlofe® und mühfam zufammengehaltenes Aggregat von vereinzelten 
Individualitäten bildeten. Sie thaten baber nicht viel mehr, als daß fie die vorge» 
fundene Maſſe mit allen ihren wirklichen und fcheinbaren Widerfprüchen und allen 
ihren verwirrenden Einzelnheiten zufammenrafften und dadurch das vorhandene Chaos 
fisirten. Dies ergeben die Codices constitulionum und die Suflinianifhe Com⸗ 
pilation mit den fih daran fchließenden Novellen, welche das eben Feſtgeſtellte wie» 
der über den Haufen warfen und die fchon vorhandene Berwirrung zum großen 
Theil noch vermehrten. Nur für eine neue Welt, — nicht für die römifche, der ſolche 
Gompilationen nichts Helfen Eonnten und die überhaupt nicht mehr zu retten war — 
erfolgten daher diefe Zufammenfaffungen des angehäuften Mechtömaterialde. Menden 
wir und von biefer Betrachtung der äußeren Form, in welcher ſich das römifche Recht 
nach dem Zwölftafelgefeg entwidelte, zu dem Inhalt und den Organen dieſer Rechts⸗ 
entwidelung, fo erfolgte die Feſtſtellung des ſich darbietenden Mechtäftoffes Anfangs 
Dur Männer, welche vom Geſammtwillen dazu berufen waren und lediglich im Geiſte 
deffelben verfuhren. Nur was die mitteld Öffentlicher Abſtimmung gefundene Einficht 
der. Sefammtheit für Recht erkannt haben würde, war Gegenfland ihrer Feſtſtellung. 
Als aber, in ber zweiten Periode, die abftracte Individualität der Geſammtheit gegen« 
über immer mehr Raum gewann, mußten die Anfangs in demfelben Bette fließenden 
Ströme des Civilrechts und des Gewohnheitsrechts fich nothwendig theilen. Denn 
galten gleich in Gemäßheit des römiſchen Grundprincips die einzelnen Volksglieder 
bauptfächli nur als integrirende Theile des abfoluten Geſammtwillens, fo hatten fie 
doch fihon eine untergeordnete individuelle Selbftändigkeit, welche denen nicht verfagt 
werben fonnte, welche mit einem, wenngleich nur abgeleiteten, abjoluten Willen eben- 
falls audgeräflet waren und ſonach die Kraft und Gewähr einer den Forderungen 
des Geſammtwillens entiprechenden Bewegung in ſich trugen. Insbeſondere waren fle 
innerbalb der einmal feflgeftellten Schranken ihres freien Selbfibeflimmung überlaflen 
und wurden überdies in allen Fällen, für melde das jus publicum auß befonderen 
Gründen keine Normen aufgeflellt Hatte, theoretiſch als völlig ungebunden betrachtet. 
Dies Nebensinanderbefteben der Herrſchaft des abfoluten Geſammtwillens und ber ins 


352 Roͤmiſches Recht. 


dividuellen Selbſtſtaͤndigkeit, fo ungefaͤhrlich es in ber Blüthezeit des römiſchen Le⸗ 
bens war, weil die einfachen Verhältniſſe keinen Anlaß zu Conflicten boten, und die 
Macht der römiſchen Sitte alle Ueberhebung des individuellen Lebens niederhielt, 
mußte aber, als dieſer letztere Damm gebrochen war, die individuelle Selbſtaͤndigkeit 
‚mit der Zahl der in Einzelhände gegebenen Staatörettungen immer mehr an Raum 
gewann, notbwendig in die Unterwerfung des Geſammtwillens auslaufen. Diefer 
wird in ber dritten Beriode das ausſchließliche Organ des roͤmiſchen Grundprincipé, 
welches don nun an durch die Kraft und Einficht einzelner Individuen haupt⸗ 
fahlih im individuellen Intereffe feine Verwirklichung erhält. Dabei wird 
jedoch in allen Verhältniffen und bei allen Feftftellungen der Geſichtspunkt feftgebalten, 
daß der abjolute Geſammtwille die eigentliche Duelle des vömifchen Lebens und jeder 
römische Bürger von Mechtöwegen mit einer abgeleiteten, von regellofer Willkkr weit 
entfernten, eifernen Willenskraft ausgerüſtet, mithin nur dasjenige zur Anerkennung 
zu bringen fei, wa8 dieſer Borausfegung entſprach. Demgemäß ging denn auch Die 
Befugniß, das Recht feflzuftellen und fortzuentwideln, Hauptfählih an ſolche einzelne 
Individuen über, welche die Erfaubniß dazu von einem Kaifer, der gegenmärtigen Quelfe 
aller Machtvollkommenheit, erhalten hatten. Diefe Individuen concentrirten aljo nunmehr 
die Kraft und Einflcht des abfoluten Geſammtwillens in Bezug auf die Nedhts- Anwendung, 
und ihre zufammenflimmende Meinung hatte dem zufolge logis vicem. Allein das römifche 
Grundprineip, mit melchem der Umfturz oder die directe Antaflung des Beſtehenden in 
den fchreiendften Widerſpruch getreten wäre, bewährte auch noch jeht feine Kraft, aber 
freilich zum Verderben des Rechts. Die Iuriften, obgleich als Werkzeuge der Kaifer 
eifrig beflrebt, dasjenige möglichft zum Mecht zu erheben, was nad ihrer Einficht im 
den vorgelegten Faͤllen und unter den obmaltenden limftänden den Forberungen des 
abfoluten individuellen Willens entſprach, gingen dennoch in materieller Beziehung bei 
allen ihren Rechtöbeflimmungen fortwährend von den ererbten republifanifchen Formen 
und Grundfägen, d. h. von einer Baſis aus, welche zum großen Thetle einem Tängft 
abgeftorbenen Zuſtande angehörte und deren lebendige Fortdauer von ihnen Bloß fin- 
girt wurde. Die Folge war, daß fie die für wahr erkannten Forderungen ihrer Zeit 
nicht ohne Weiteres bervortreten laſſen, fondern dieſelben durch beſonders gerechtfer- 
tigte Schlußfolgerungen, Pictionen, Exceptionen, Eünfllih in jene Bafld einfügen 
mußten. Sie verfubren hierbei zwar mit einer ded alten Mömergeifled würdigen 
Energie, indem fie jedes zweckdienliche Wort des alten Mechtd, jede gelegentlich ab» 
gegebene Willendäußerung der Kaifer, jede für einen fpeciellen Fall einmal durchge⸗ 
gangene Nechtöfeftftellung aufzufaffen, mit der Außerften Verſtandesſchaärfe zu ihrem 
Zmede zu benugen und in die feinften Fäden auszufpinnen wußten. Allein befien- 
ungeadhter vermochten fie die unendlichen Schwierigkeiten, welche ihnen das ſtarte jus 
publicum entgegenfeßte, nicht immer vollſtaͤndig zu überwinden, ſahen -fich vielmehr oft 
genöthigt, die Borderungen ihrer Zeit entweber ganz unbeachtet zu laffen, ober doch, 
felbft in der Form des Gewohnheitsrechtes, nur zum Theil zu verwirklichen. Dennod 
brachten fie, aller Anftrengungen ungeachtet, das durch Ihr Berfahren äußerlich her⸗ 
vorgearbeitete Mecht auch in materieller Beziehung mit dem wahrhaft nothwendigen 
und vernünftigen Recht ihrer Zeit in einen fletd wachfenden Widerſpruch. Aber auch 
bie einzelnen Lehren und Beflimmungen dieſes künſtlichen Rechts konnten demfelben 
Schickſal nicht entgehen, denn da die Zuriften nicht ſowohl die Aufftellung eines ſelbſt⸗ 
fländigen Rechtsſyſtems, als vielmehr nur die angemeflene Umarbeitung der ererbten 
Inflitute und Grundfäge bezwedten, fo faßten fie diefe ſtets vereinzelt auf und 
unterwarfen file vereinzelt ihrer umgeflaltenden Thätigfeit. Hiervon aber war bie 
nothwendige Folge, dag einestheild die einmal vorhandenen Unterfchtede ihrer etwa 
eingetretenen Unangemeflenheit ungeachtet permanent blieben, anderntheils einige In» 
flitute und innerhalb derfelben wieder einige Lehren, welche entweder geringere Schwie⸗ 
rigfeiten entgegenfegten oder Durch das Bebürfnif befonderd empfohlen murden, eine 
vorzügliche, andere dagegen eine mehr oder minder mangelhafte Ausbildung erhielten. 
Das Necht wurde alfo mit der Zeit ein bloßes Aggregat indivipualifirter und bon 
einander iſolirter Inftitute und Lehren, welche zwar von derfelben Bafls losgeloſt und 
nach demſelben Princip bearbeitet waren, dennoch aber eine zu verfchiebenen Stufen 


Romagnof- (Biandomenico). 3883 


gediehene, abgeſonderte Entwickelung erhalten hatten, und daher ihrem Inhalt nach 
den verſchiedenſten Zeiten angehoͤrten. So iſt es wohl erklaͤrlich, Daß das römiſche 
Recht auch den Juriſten dergeſtalt unerklaͤrlich wurde, daß ihnen die ſelbſtſtaͤndige 
Rechts anwendung entzogen werden mußte, welche auf einige laͤngſt verſtorbene, in ihren 
Werken zu einem Spruchcollegium erhobene Juriſten überging (dad fogenannte Eitir- 
Geſet Valentinian's). Als Refultat diefer Erdrterungen ergiebt fich, daß der römifche 
Staat wie Eeiner zum Mepräfentanten des Dualismus von Mecht und Unrecht gefchaffen 
war. Die Welt des Unrechts iſt Nom in feiner ganzen Nidytung nach außen, indem 
ed als das eingebildete außfchließliche Organ des abfoluten göttlichen Willens auf Erden 
Die rechtliche Erifteng der ganzen übrigen Welt verneint und in Folge deffen mit der⸗ 
felben, fo wie mit der höheren göttlichen Leitung in einen offenen und fcharf aus⸗ 
geiprochenen Bernichtungsfampf tritt. Die Welt des Rechts iſt Mom dagegen in 
feiner Richtung nach innen, wo es durch diefelbe Idee getrieben wird, allen inneren 
Bergälmiffen eine durchaus rechtliche Eriſtenz zu geben. Anfangs iſt diefe Exiſtenz 
eine bloß flaatörechtliche, dann aber, nachdem der abfolute Wille als individueller zur 
Seltung gekommen, eine durchaus a ar. Wenn nun ber Boden und Gegen- 
fland des Rechts der Individuelle Wille if, fo kann man bad roͤmiſche Recht der 
fpäteren Kaiſerzeit als ein mit großer Berflandesfchärfe ausgebildete jus gentium,- 
als die abfiracte Grundlage aller Vollsrechte bezeichnen. Hierzu eignete ed ſich vor⸗ 
-trefflih, nicht nur, weil es bei feiner abflracten Haltung jeder eigenthümlichen Fär⸗ 
bung entbehrte, fondern namentlich durch die Reinheit des in ihm feflgehaltenen juris 
flifgen Styls, der es vor der Einmengung von Elementen bewahrte, weldye nicht der 
zechtligen, fondern der narärliden oder der fittlihen Ordnung angehören. Hierin 
liegt dann aber auch eine Warnung, die ſich dem Beobachter des römiſchen Rechts 
immer wieder aufdrängt und von benen, die berufen find oder ſich berufen wähnen, 
Die Rechtsordnung der Völker zu geflalten, nur zu oft überhört wirb: nur Die Juris⸗ 
prudenz aller Völker und Zeiten mag bei den Hömern in die Schule geben, nicht aber 


. bie Gefebgebung! Diejenigen, die immer noch für die Entwidelung des Rechts in 


der Form des Gewohnheitsrechtes ihre Stimme erheben, 1) mögen fi doch das Fläg- 
liche Refultat, in welches diefe Strömung der römifchen Juriftengefeggebung außlief, 
vor die Augen halten, um vor der Möglichkeit einer fo entſetzlichen Rechtsverwirrung 
zurädzufchreden. Wer will es läugnen, daß eine Audgleihung des Alten und Neuen, 
Bei welcher in formeller und materieller Beziehung die von den Vorfahren firirte 
Rechtögeftaltung ala theoretifche Orundlage feftgehalten, in biefe aber jede neue Mech ts⸗ 
beflimmung als erſt in der Praris zum Vorſchein kommendes untprgeorbneted Bes 
wohnheltörecht eingefchoben wird, bis zu einem gewiſſen Schlußpunfte von den mohl- 
thaͤtigſten Folgen it! Nicht bloß wird dadurch Die ruhige Kortentwidelung des Rechts 
gelldyert, fondern es erfolgt auch die Erziehung der Volks glieder für das Neue, deſſen 
plögliches Auftreten wenige ertragen würden, in naturgemäßem Stufengange. Allein 
eben nur zu biefem Zwede darf bad allmählich abfterbende Alte erhalten, muß 
dagegen, ſobald dieſer Zweck erreicht oder die Intelligenz der Bollöglieder für eine 
Rurchgreifende Reform reif ift, durchaus befeltigt und ed muß flatt feiner bad ent⸗ 
widelte Neue zur theoretiſchen Regel erhoben werben, um wiederum einer fer- 
neren Bortentwidelung zur Staffel zu dienen. 

Romagnoſi (Biandomenico), gelehrter und geiftvoller Nechtögelehrter und Phi⸗ 
Isfoph, am 13. December 1761 in Salfo-Maggiore, einem Dorfe bei Piacenza gebo- 
ten, fam 1775 auf das Gollegium Alberoni zu Piacenza, wo er befonders den Na« 
turwiffenfchaften oblag; 1781 verlieh er das Collegium und begann in Parma daB 
Studium der Mechte, wo er 1786 Baccalaureus im Eanonifchen und Givilrecht murbe. 
Im Jahre 1791 wurde R. ald Prätor nach Trient berufen; als er dieſes Amt, mel- 
ches die bürgerliche und gerichtliche Verwaltung in fi ſchloß, 1793 nad dem Sta- 
tute niederlegen mußte, ernannte ihn Pietro Birgilio, Fürftbifhof von Trient, zum 
Hofrath. Zehn Jahre Ichte er ald Privatnann in Trient, die Händel feiner Mitbür- 
ger, deren Zuneigung er fi im hoben Grade erwarb, ſchlichtend und neben dem 


1) Siehe die Verhandlungen bes 5. beutfchen Juriftentages über biefe Frage. 
Wagener, Staats⸗ u. Sefellfch.-Ler. XVIL 23 


354 Homan. (Im Altertfum und Mittelalter.) 


Studium der bürgerlichen Geſetzgebung aud mit Naturwifienfchaften befchäftigt. WULF 
die Truppen der Cisalpiniſchen Republik gegen Trient anmarſchirten, rieth R., die 
Brüde über die Etſch abzubrechen und zwei Stüde ſchweren Geſchützes zur Verthei⸗ 
Digung des Ufers aufzupflanzgen. Man befolgte feinen Rath, und die Feinde, welche 
glaubten, die Stadt koͤnne ſich vertheidigen, ließen fiy auf Unterhandlungen ein. So 
wurde Trient gerettet. Im Jahre 1802 wurde er Profeſſor des Staatsrechts an der 
Univerfität Parma und 1806 nah Mailand berufen, um den Goder des Criminal⸗ 
Verfahrens zu organifiren. Nah Vollendung diefer Arbeit las er ein Jahr lang zu 
Pavia über Eivilrcht, und darauf in den SpecialSchulen von Malland über Ge⸗ 
feßgebung. Als die Special- Schulen im Jahre 1817 aufgehoben wurden, lebte ex ohne 
Anftellung, indem ex alle feine Geiſteskraäfte auf die Staatswiffenſchaft in allen ihren 
Zweigen verwendete. Er flarb am 8. Juni 1835 zu Mailand. Bon feinen Schrife 
ten erwähnen wir: „Genesi del diritto penale* (Mailand 1791, 4. Aufl, mit Zu- 
fäpen vom Berfaffer, herausgegeben von Piatti, Florenz 1832, deutſch von Heinrich 
Luden, 2 Bde, Iena 1833 — 34), „Introduzione allo studio del diritto publico* 
(2 Bde., Parma 1805), „Dell’ insegnamento primitivo delle matemaliche* (2 Bde., 
Mailand 1822), „Della condotta delle acque“ (Mailand 1822), „Sulla crescente 
popolazione* (Nailand 1830), „L’antica morale ſilosoſia“ (Mailand 1831). Seine 
„Opere postume* erfchienen in fünf Bänden (Mailand 1835 ff.). 

Homann. Schon die alten Griechen und Nömer hatten Romane, welche freilich. 
von den neueren Romanen beträchtlih abweichen. Lucius Batrenfit, Iamblichus, 
Heltodorus, Achilles, Tatius, Kenophon aus Ephefus, Longus, Chariton waren Ro⸗ 
mandichter der Griechen; aus der römifchen Literatur gehören hierher Petronius 
Arbiter und Apulefus. Vgl. Banfo, „Ueber den griehifhen Roman" in den , Ver⸗ 
mifhten Schriften” (2. Theil, Leipzig 1801), S. 199— 320, und K. 2. Struve, 
„Ueber die Romane der Griechen" in den „Abhandlungen und Reden“ (Königsberg 
1822, ©. 257 — 288), dem wir auch zwei intereffante Abhandlungen „Ueber bie 
Romanen⸗ und Novellen » Literatur der Mittelgriehen? (in den „SHiftorifchen und 
Titerarifhen Abhandlungen der koͤniglichen deutſchen Geſellſchaft zu Königsberg“, 
herausgegeben von F. W. Schubert, 3. Sammlung, Königsberg 1834, ©. 47 
bi8 110) verdanken. Gin beflimmter Name für dieſe Gattung der Porfle fehlte 
den Griechen und Mömern. Auch die oceitanifche Sprache, welche ohne Zweifel reich 
war an R. befaß dennoch Feine beflimmte Benennung dafür. Romäns bebeutete jeded 
größere nicht in ‚Strophen getheilte poetifche Werk, mit Ausichluß, wie es fcheint, 
des Driefed und, der Novelle. So bie allerdings auch der R., allein Folquet von 
Zunel giebt einem Gedichte von etwa 500 Berfen, dad gegen die Mißbraͤuche der 
Welt gerichtet if, Raimon Zerant feiner Legende vom heiligen Honorat, fo wie 
Daude von Prades feiner Anmeifung, Voͤgel abzurichten, denjelben Namen. Als 
eigentliche Heimath des Romans muß Norbfranfreich, beſonders feine meftlichen 
Provinzen, betrachtet werden, allein auch Südfrankreich beſaß im Mittelalter einen 
großen Reichthum von diefen Dichtungen, die theild aus den Nachbarflaaten einge» 
führt, theild eigene Landesproducte waren. Vergl. über die in Alerandrinern und 
fünffüßigen Jamben abgefaßten Nationalsomane Nordfrankreichs Uhland'sé vortreffe 
liche Abhandlung „Ueber das altfranzöfifche Epo8* in der von de la Motte Fouqu 
und Wilhelm Neumann: herausgegebenen Zeitfchrift „die Mufen® (3. Quartal, S. 59 
bis 109; Berlin 1812). Ueber die R. der provenzalifchen Boefle giebt Diez in feinem 
Werke: „die Boecfle der Troubadours“ (Zwickau 1826), S. 198 — 214, Auskunft. 
In Deutſchland fing der Name „Roman“ erfi an Beltung zu gewinnen, al& dort 
um 1570 der „Amadis von Ballien“ eingeführt wurde. Vgl. Herrmann Twiſte, 
„Ueber Amadis von Gallien und die bedeutendfien NRitterromane der Spanier” in 
Herrig’8 „Archiv für das Studium der neueren Sprachen”, 28. Bd., S. 22 fff. Der- 
felbe ſollte urfprünglich nichts Anderes ausbrüden, als eine Erzählung romanijchen 
(„wälfen”) Urfprungd; fpäter verwechfelte man die Herkunft mit dem Inhalte und 
bezeichnete damit Bücher von ähnlichem Charakter wie jener Amadis, auch wenn fie 
gar nicht mehr aus Wälfhland flammten. Der R. iſt ein Surrogat bes Epos; wie 
in dieſem mehrere Sagen zufammenfliefen und fi um ein bedeutendes Creigniß 


- — — — — —— — — — — nn 





Noman. (Weſen des R.) 355 


als Mittelpunkt gruppiren, ſo werden in dem R. gleichſam mehrere einzelne, ſcheinbar 
zerſtreut liegende Erzählungen von dem Dichter organiſch verbunden und um eine 
Intereffante Berfönlicpkeit, den „Helden“, als Mittelpunkt gruppirt. Daß Die 
Epopöden die Vorbilder der Momane find, läßt ſich auch Hiftorifh nachmeifen. 
(Bergleihe Rumpelt, „die Gattungen der Eyit*, Breslau 1854, ©. 18 ff.) 
Die Aufgabe, welche Heut zu Tage an einen Roman — dieſes Epos der moder- 
nen Welt — geftellt wird, ft, in allgemeinfter Weife ausgedrückt, Feine andere, 
als welche das alte Volkdepos feinerfeits wirklich erfüllt Hat, nämlich bie, ein Bild 
des Lebens zu fein, fo weit dies vom Standpunft der Kunftpoefle aus möglich if. 
„Der Romandichter”, fagt Philaroͤte Chasled in der Revue des deux mondes, 
„nimmt eine große Stelle in der modernen Literatur ein und diefe Stelle ift Tegitim. 
Er ift der Erzähler, der Erklaͤrer, der epifche Profadichter der Zeiten, welche, der Ein» 
facyheit, der Größe und der Neuheit beraubt, geheimnißvolle Tiefen und furditbare 
Abgründe verbergen” u. f. wm. Und Scloffer fagte einmal, daß man in der Ge⸗ 
fehichte feiner Nomane bie Geſchichte feines Volkes fchreiben koͤnne. „Der N. bat 
nicht", wie Viſcher in feiner „Aeſthetik“ (3. Th., 2. Abſchn. 6 880) fagt, „eine 
große NationalsUinternehmung zum Inhalt, welche ein Weltbild im hoben gefchicht- 
lichen Sinne gäbe; umfaflend foll er nur fein in Beziehung auf das Zuftändliche, 
rein Menfchliche, indem ex von feinem Punkt aus Sitten, Geſellſchaft, Eulturformen 
einer ganzen Zeit und darin das Allgemeine des menfchlichen Lebens darſtellt.“ Das 
Intereffe, welches die meiflen Romane bieten, ift daher vorzugsweiſe ein culturbiftori« 
ſches. Den erfien deutfhen Roman ſchrieb Philipp von Zefen 1645 unter dem 
Zitel „Die adriatifhe Roſemund Mitterbolds von Blauen‘. Die beveutendfle Er⸗ 
ſcheinung in der deutfhen NRoman Literatur des 17. Jahrhunderts ift one allen 
Zweifel der „abenteuerlidde Simpliciffimus* von Chriſtoph v. Grimmelshauſen. In- 
deffen paffen auf die damaligen Momane die in heutiger Zeit von einem R. geltenden 
Begriffe nur fehr unvollftändig. Und da es in der deutfchen Literatur lange an einem 
Romane fehlte, der den Kunfllehrern für etwas mehr, als für ein bloßes zeitkürzendes 
Unterbaltungsmittel, ohne feden eigentlichen dichterifchen Werth, hätte gelten koͤnnen, 
hatte Die Dichtungdlehre nicht einmal den Charakter des R.'s näher zu beflimmen 
verfuht. Als Hauptzwed des R.'s giebt Gottſched („Beiträge zur Fritifchen Hi⸗ 
Rorie u. f. w:*, St. 6, S. 276) an: „Ein Roman muß ſowohl, als alle anderen 
Schriften, nad gewiffen Regeln abgemeffen und eingerichtet werden. Sein erſter 
Hauptzweck foll diefer fein, daB er dem Leſer allezeit die Tugend belohnt und das 
Lafter beſtraft vorſtelle. Alle diejenigen, welche hierwider anfloßen, entfernen fi von 
einem Ziele, welches dergleichen Schriften allein leivlih madt." Das Bedeutendſte, 
was über den R. in theoretifcher Beziehung gefagt worden if, dürfte folgende Stelle 
in Goethes „Wilhelm Meifters Lehrichren“ fein (5. Buch, 7. Kapitel, im 3. Bande 
der erſten Ausgabe, Berlin 1795, S. 74 ff): „Im Roman follen vorzüäglih Ge⸗ 
finnungen und Begebenheiten vorgeftellt werden; Im Drama Charaktere 
und Thaten. Der Roman muß langfam gehen und die Geflnnungen der Haupt⸗ 
figus müſſen, es fei auf welche Weiſe es wolle, das Bordringen ded Ganzen zur 
Entwidelung aufhalten. Der Romanenheld muß leidend, mwenigftens nicht in hohem 
Grabe wirkend fein. Grandifon, Clariffe, Bamela, der Landprieftler von Wales 
field, Tom Jones felbfi find, wo nit leidende, doch retardirende Perfonen, 
und alle Begebenheiten werben gewiffermaßen nach ihren @efinnungen gemodelt. So 
vereinigte man ſich auch darüber, dag man dem Zufall im Roman gar wohl fein 
Spiel erlauben fünne; daß er aber immer durch die Geſinnungen der Perſon gelenkt 
und geleitet werben müffe u. f. w.” — Gutzkow hat in der Vorrede zu feinen „Rit⸗ 
tern vom Geiſt“ einen neuen Romanflil, den Roman bed Nebeneinander, dem 
Nacheinander der bisherigen Momangeflaltung gegenüber, eonftruiren wollen, aber ber 
Roman felbſt -firafte das gefuchte Vorwort Lügen. Auch der Roman fann Feine 
andere Entwidelung feines Stoffes ald eine ſucceſſtve haben. Wir laſſen nun eine 
kurze Ueberſicht des R.'s nach feinen Battungen und Zweigen folgen, wobei mir im 
Allgemeinen der Eintheilung, die Rumpelt in ber oben erwähnten Schrift (S. 22 ff.) 
gemacht bat, folgen. Dan fann die Romane entweder nach dem Stoffe ober nad 
23* 


356 Roman. (Der Hiftorifche 9.) 


der Behandlung gruppiren. In Bezug auf den Stoff unterfcheiden wir 1) den 
gefhichtlichen, dem ſich Die drei Unterarten, ‚der Titerarifche, der culturhiſt o⸗ 
rifhe und der ethnographiſche anfchließen; 2) den bürgerlidhen, 3) den 
abenteuerlihen R. Im geſchichtlichen NR. werden Begebenheiten aus der 
Meltgefchichte dargeſtellt. Die deutſche Literatur ift Überreih an Romanen mit hiſto⸗ 
rifhem Hintergrunde, die zunächft des Mitterzeit und dem Mittelalter, dann allen 
Perioden der Gefchichte bis in unfere Tage herein entnommen find. Die meit üder- 
wiegende Zahl derfelben nimmt indefien eine ganze Zeitphafe irgend eines Landes in 
Anſpruch, und nur wenige haben einen oͤrtlichen Anftrih und zeigen ſich als auf 
gründlichen Quellenſtudium beruhende Zeit- und Sittenbilder einer Stadt ober eines Gaues. 
Einer der Erften, welcher ſich in Deutfchland felbfterfindend an dem geſchichtlichen M. 
derfuchte, war Dietrich von dem Werder; ex jchrieb 1644 eine „Diana“, in welcher 
er epifodifch die Gefchichte des breißigfährigen Krieges einfügte. Herzog Anton Ulrich 
von Braunfchweig- Wolfenbüttel erflärte die Gefchichtöromane geradezu für meit nütz⸗ 
liher als die Geſchichte felbfl; er dichtete zwei gefchichiliche Romane: „Aramena” und 
„Detavia” ; in der „Oectavia“ wird Die römifche Gefchichte vom Kaifer Claudius an, 
bis auf Befpaflan, nebft 48 verfchiedenen Epifoden erzählt, welche wichtige und ger 
heime Begebenheiten, die ſich zu Herzog Anton Ulrich's Lebzeiten an den beutfchen 
Höfen zugetragen haben, unter verbedten Namen enthalten, v. Eichendorff Hat in 
feiner Literaturgefchichte diefe Nomane, „Raͤthſelromane“, „riefenhafte Geſchichts⸗ 
charaden“ genannt, In Lohenfſtein's „Arminius" erreichte der deutſche Kunſtroman 
des 17. Jahrhundert in Deutfchland feinen Gipfel. Im 18. Jahrhundert gab den 
erften bedeutenden Anſtoß zum geſchichtlichen R. Wieland dur feinen „Ariflipp“. 
Außer ihm baben- Meißner, Reichard („Bibliothek der Romane”), Feßler, Benedicte 
Naubert und viele andere Momanfchreiber den gefchichtlichen R. ceultivirt; vor Allem 
aber bat Goethe das Ziel des Hiftorifchen R.'s in „Wilhelm Meifters Lehrjahren“ 
am glücklichſten erreiht. Im 19. Jahrhundert gilt als Meifter in diefer Gattung 
Walter Scott, defien Romane in ganz Europa ein Echo fanden und deren beflere 
von feinem R. übertroffen worden find. Bulwer's „Rienzi“, „ Harold” und „der legte 
der Barone”, Kingdley’8 „Hypatia“, James Grant's „die gelbe Pregatte, oder Die 
drei Schweflern” gehören au in dieſe Gruppe. Der fpanifhe Walter Seott ifl 
Bernan Gaballero (vgl. Ferdinand Wolf, „Ueber den realiflifchen Roman und das 
Sittengemälde bei den Spaniern in der neueften Zeit, mit befonderer Beziehung auf 
die Werke von Bernan Gaballero”, in Ebert , Jahrbuch für romaniſche und 
englifye Literatur”, Herausgegeben von Ebert, 1. Band, Seite 247 — 297). 
In Schweden wurde der erfte Anfang zu einem biftorifchen Noman a la Walter 
Scott von Bumilius in „Bauer Thord“ (Thord Bonde) gemacht; feinem Beifpiele 
folgte Graf Beter Sparre, welcher die hiſtoriſchen Romane „der legte Breilegler” 
und „Adolf Findling“ berausgab. Don den beliebteften polnifchen Romanfchriftftellern 
gehört bierher. der am 18. November 1863 verflorbene Michael Grabowski, der von 
1838—1862 mehrere hiſtoriſche Nomane herausgegeben bat. Lieber den erften biflo- 
rifhen R. im ſpaniſchen Süd-Amerifa, „Amalia* von Jofe Marmol (1852, 2. Aus⸗ 
gabe 1855, Buenos Aires), vgl. Ferdinand Wolf in dem eben erwähnten Jahr⸗ 
buche von Ebert, 2. Band (Berlin 1860) Seite 164—182. Bon den franzö» 
fifden Romanen, die hierher zu zählen find, nennen wir nur die „Missrables* 
von Victor Hugo, von weldhem merkwürdigen Buche innerhalb drei Monaten 
eine Million Bände verbreitet worden find. In Deutfhland Haben fih in 
diefem Jahrhundert im gefchichtlichden R. verſucht: Tromlig, van der Velde, Garoline 
Pichler, Spindler, der ſich, nicht unverbient, den Namen des deutfchen Walter Scott 
erwarb, Häring (der pfeudongme Wilibald Aleris), Hauff, v. Rehfues, Zſchokke, 
Steffend, Mügge, Rellſtab, Story, U. Schopye, Wilhelmine v. Sydow, Heinrich 
König, Paul Stein, A. v. Sternberg, Levin Schäding, den man den Walter Scott 
Weſtphalens, feines Heimathslandes, genannt Hat, Hefekiel, 2. v. Alpensleben, W. 
Raabe (Jakob Corvinus), Franz Carion, Graf Abelbert v. Baudiſſin (, Chriſtian VI. 
und fein Hof"), Karl Frenzel („Papſt Ganganelli“), Laube (,Deutſcher Krieg”), 
Karl v. Kefiel („Schleswig « Holftein meerumfchlungen”), Iulius v. Wickede („der 





Homan. (Der literariſche und ceulturhiftoriſche M.) 357 


lange Iſaack“). Diefe Schriftfleller haben mehr oder weniger den richtigen Weg bes 
biftorifchen R's. eingefchlagen, während viele andere fogenannte geſchichtliche R. durch⸗ 
aus ungefchichtlih find und mit der Gefchicdhte ein Heichtfertiged und ſchmachvolles 
Spiel treiben, wobei der Styl immer fchletteriger geworben if. Solde Roman⸗ 
fudler und Momanfudlerinnen verbrämen die Weltgefchichte mit einem Befag von 
eigener Erfindung, machen aus jeder Anekdote ein Kapitel, und die Firmen, die diefe 
erbärmlichen Machwerke zu Markte bringen, kommen, bei unferer noch fehr tiefen Durch⸗ 
ſchnittsbildung, am bequemften auf ihre Koften. „Hierdurch wird aber”, wie Joſeph 
v. Eichendorff treffend in feiner „Gedichte der poetifchen Literatur Deutfchlands” 
(2. Thl., ©. 220) fagt, „die Gefchichtöverderberet, die ſchon bei Hiftorifern von Metier 
nicht6 weniger als felten ifl, als ein förmliches Syſtem traditionell gemorbener Lügen 
auch‘ in weiteren unwiſſenſchaftlichen Kreifen populär und ftabil gemadht." — Im 
Zufammenhange mit den gefchichtlichen R. flehen zwei Gattungen des R.'s, die neuer- 
dings in Dentfchland fehr beliebt geworden find: der Titerarifche ober, wie man 
ihn auch wohl genannt hat, der Kiteraturroman (der biographifche) und der 
fogenannte eulturbiftorifhe R. Im literarifhen R. ftellen bedeutende Perſoͤn⸗ 
lichkeiten aus der Literatur oder Kunflgefchichte die Helden vor. MU. v. Sternberg 
bat zuerft Diefes Genre mit feinem „Leſſing“ und „Moliere* eröffnet; ihnen folgten 
„Höliy“ von Voigts, „Schiller's FJugendfahre” von H. Kurz, „Bürger? und „Ghar« 
fotte Ackermann“ von Otto Müller, „Herder“ und „Gleim“ u a. von Klende, 
„Schubart's Wanderjahre* von Adolf Weiffer, „Friedemann Bah“* und „Schubart 
und feine Zeitgenoffen® von Brachvogel, „Mozart”, „Alerander von Humboldt”, 
„Jean Paul“, „Beetboven”, „Shafefpeare" von H. Rau, „Frau v. Stadl" von 
Amely Bölte. Uber fo glänzende Seiten auch diefe Werke darbieten mögen, fo müffen 
fe doch als verfehlt bezeichnet werden; der Titerarifche R. ift eine Zmwittergeburt, in 
der die Kunft ans ihren Grenzen beraustritt und dadurch ſich felbft zerflört. Im 
culturhiſtoriſchen R. werden Conflicte aus den Kreifen des bürgerlichen oder 
auch aus den Meyionen des höheren politifchen und geiftigen Zebeng verarbeitet. Eine 
Elaffifteirung derſelben iſt nicht möglih, zumal da in ihnen oft nur ein fehr Lofer 
Zufammenhang zmwifchen den Ideen, die dargelegt werden follen, und den romanhaften 
Zuthaten und Verzierungen flattfinde. Bon deutfchen R. gehören bierber die R. 
von Hadländer, Freitag, Guzkow und vielen Anderen. DBerwandt biermit ift bie 
Gattung des ethnographiſchen R., ald deffen Hauptrepräfentant Charled Seald- 
field angeſehen werden muß; an ihn ſchließen ſich Gerſtaäͤcker, Strubberg u. A. Den Anfang 
zu dieſer Gattung Hatte ſchon Anfelm von Ziegler und Klipphauſen tm 17. Jahrh. 
mit feiner berühmten „Ailatifchen Banife oder blutiges, Doch mutbiges Begu sc." gemacht. 
Der bürgerliche R. führt und in die gebildeten bürgerlichen Stände der Gefellfchaft; 
die Familie bildet darin den mahren Mittelpunkt des Weltbildee (Familien-Ro— 
man). Der Urheber diefer Gattung iſt der Engländer Rihardfon; außer ihm 
find aufzuführen: Fielding, Smollet, Sterne, Le Sage, Marivaur und von deutfchen 
Dichtern: Gellert, Dufch, Hermes, Engel, Lafontaine, Schilling, Lungbein, Immer« 
mann, Henriette Paalzow, Otto Müller. Aus der fchmebifchen Kiteratur können wir 
hierher Cruſenſtolpe's Roman „Der Mohr" und die Romane der Friederike Bremer, 
der Ftelin Knorring, der Frau Emilie Flygare und Carlen rechnen. Hiſtoriſcher 
Familien-Roman Heißt der neuefte R. von Heinrich König, „Bon Saulfelp bis 
Aspern“ (1864), welcher eine Richtung einfchlägt, die überhaupt der neueren Roman⸗ 
Dichtung vorzufchmeben fcheint. Da nämlich dad Familienleben nur in fehr feltenen 
Fallen fo abgetrennt von dem meltgefchichtlichen Leben ift, daß es nicht Durch die 
Wechfelfälle deſſelben in feiner Entfaltung mit berührt würde, wird auch der Yamis 
fiens Roman, zumal der in bewegten eiten fpielende, die weltbewegenden Ereigniffe 
in Staat und Kirche, Kunft und Wiffenfchaft, Handel und Wandel mit in feinen 
Bereich ziehen müſſen, und fobald er dies thut, wird er mit Necht ein „Hifkorifcher 
Familien-Roman” genannt werden. — Der abenteuerlihe R. ſchließt ſich in fet- 
nen Situationen durchaus dem wirklichen Leben an, nur entrüdt er viefelben dem 
Kreife des Gewoͤhnlichen und betritt dafür das Gebiet des Großartigen und Wunder⸗ 
baren, des Schauerlihen und Bürchterlichen. Mehrere Arten deſſelben haben eine 


s 


358 Roman. (Der politifge, der Schelmen- und ber Verbrecher⸗MR.) 


allerdings wenig erfreuliche Geltung erlangt; fo zunähft der Ritterroman, ber 
ſehr früh bei den Franzoſen, Niederländern, Spaniern und in Deutichland gepflegt 
wurde. Mit dem Sinfen des Ritterthums verfchwanden auch Die vorzugsmeije von 
dieſer Schichte der Bevölkerung getragenen WRitterromane, bis fie wieder in Deutfch- 
land im 18. Jahrhundert, an Goethe „Goötz“! fich anlehnend, eine Lieblingslertüre 
wurden. DBergeffen find jegt die rohen und geichmadlofen Erzeugnifie Cramer's, 
Schlenkert's u. A.; der einzig nennenswerthe Schrififtellee auf dieſem Felde bleibt 
Fouquéè. — Un die Stelle des Hitter- und des fchlüpfrigen Schäferromans hatte 
Sean Barclay im 17. Jahrhundert in feiner „Argenis“ in Branfeeih den politi» 
ſchen R. eingeführt; Foͤnélon's „Aventures de Telömaque* wurden bid auf bie 
neueften Zeiten in zahllofen Ausgaben und Ueberſetzungen verbreitet; in Deutichland 
tleivete im 18. Jahrhundert Albrecht v. Haller politiſche Grundfäge und Unter⸗ 
fuchungen in die NRomanform ein. In demfelben Jahrhundert erfchienen ebendaſelbſt, 
als Seitenſtück des Ritterromans, ebenfall3 auf ein Blaffifches Vorbild, Schiller’e 
„Raͤuber“, fußend, unzählige Räuberromane, die gleichfalld eine krankhafte Bel» 
Resricytung bervorriefen. (Bol. W. Appel, „Die Nitter-, Räuber: und Schauer⸗ 
romantif, Zur Gefchichte der deutfchen Unterhaltungs » Literatur.” Leipzig 1859.) 
Seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfchienen in Deutfchland die Ro⸗ 
binfonaden, angeregt durch den englilchen R., Robinſon Crufoe“, welchen Daniel 
Defoe verfaßte. Vgl. den Artikel: Robinſon Crufoe. Offenbar in Verbindung mit 
dem myſtiſchen Zuge ber Zeit fand der Geiſterroman (Schiller’8 „Beifterfeher“, 
Lavater, Jung - Stilling). Zu den eben genannten Arten Tann aud die Battung des 
Schelmen-Romans (Novela picaresa) herübergezogen werben, die aus Gpanien 
flammt, wo fie Diego Hurtado de Mendoza in feinem „Lazarillo de Tormes“ eins 
führte. Sie wurde zuerfi in ihrem Heimathslande von Mateo Aleman („Guzman de 
Alfarache*), Quevedo („Gran Tacäno“), &spinel („Marcos Obregon*) u. U., dann 
in Sranfreih (Scarron’d „Roman Comiyue*, Le Sage's unflerblidyer „Gil Blas“, der 
es bis zu 100 Auflagen gebracht bat) mit gutem Grfolge nachgeahmt, und brang 
fpäter auch in Deutichland ein, vermochte jedoch bier nicht ein dauerndes Intereſſe zu 
weden. Im bürgerlichen R. fchlummert fchon als mehr oder weniger beflimmter Keim 
der ſociale R.; er behandelt die brennende Frage über die Einrichtung der Geſell⸗ 
Schaft, Unterfhied und Kampf der Stände, Verhaͤltniß zwifchen Arbeit und Erwerb 
u. f. w., und treibt näher oder ferner an die Grenze des Tendenziöfen. An be» 
Spige diefer Socialromane ſtehen Goethe's, Wahlverwandifchaften* und Immermann’s 
„Epigonen“, und die gentale George Sand ragt hoch hervor Über bie unzähligen 
Bluthen, welche der tendenzids fociale R. in der neueflen Zeit aufgeworfen Bat, 
Hierher ziehen wir endlih noch die „Berbredher-Nomane*“, worin die Nacht⸗ 
feiten des Lebens, die fchmupigften Hefen der Gefellichaft uns in einer Reihe von 
baarfträubenden Scenen vorgeführt werden, wie es mit der Kunft kaum mehr ver- 
träglih if. Die „Mysteres de Paris“ des Eugen Sue flehen in biefer Richtung als 
Hauptwerk da; in England fchließen ſich Thaderay und Ainsworth derfelben an; In 
Italten und Deutfchland brachte man e8 in diefer Mord⸗ und Todtſchlags⸗Belletriſtik 
bloß zu matten Nahahmungen Sue's. Die neueften franzöftfchen Nomane haben jene 
Blumen⸗Marien und Grifetten von Paris zu den Idealen der ſchoͤnen Weiblichkeit 
und zu den wahren Rufen der Poefle erhoben (Feydeau, Alerandre Dumas, der Jün⸗ 
gere). — In Bezug auf die Behandlung lapt fi eine Eintheilung der Ro⸗ 
mane in erfchöpfender Weife nicht geben; wir wollen nur drei befonders charakteriſti⸗ 
fhe und auch literarifch wichtige Gruppen unterfcheiden: den philoſophiſchen, 
den komiſchen und den fentimentalen Roman. Im phllofophifhen R. 
find die Perfonen Träger von zufammenhängenden Anſichten über Begenflände von 
wiffenfchaftlihem, moralphiloſophiſchem, vorzüglich künſtleriſchem Intereſſe. Es if 
ſelbſtverſtandlich, daß in einem ſolchen die Geſpraͤchſsform mehr als in einem anderen 
Romane vorwalten und die Erzählung dagegen in den Hintergrund treten wird. Hier⸗ 
ber gehören die meiften Romane Voltaire's, und von ben beutfchen: Fr. H. Jacobi's 
„Allwill's Brieffammlung" und „Woldemar*, die fogenannten Künſtler⸗Romane; 
Doethe's „Wilhelm Meiſters Lehrjahre" (bramatifhe Kunſt); Hrinfe's „Arbinghelle" ; 


Roman. (Der philofophifche, humoriſtiſche und fentimentale R.) 359 


zul „Sternbald’d Wanderungen“, und Wagner’ „Die veifenden Maler” (alle brei 
über Malerei); Heinje’6 „Hildegard von Hohenthal“ (Muſik) u. A. Der komiſche R. 
bewegt fich durch alle Stufen des Komifchen bid zum Humor, der ſich naturgemäß mit 
der fentimentalen Richtung verbindet. Da der Romanheld feinen Erfahrungsweg 
durch dad Leben immer mit Illuſionen antritt, fo hat es einen tiefen Innern Zufammenhang, 
Daß die wahre Entfiehung des Romans und die Schöpfung des Fomifchen Romans 
im Grunde zufammenfallen. Der tolle Humor des Rabelais und Fiſchart's konnte erſt 
eine formlos wilde Garicatur der romantifchen Nitterwelt, Leine neue Form hervor» 
bringen; erſt Gervantes bat mit feinem „Don Quirote* den komiſchen R., ſchließlich 
den wirklidden Roman überhaupt gefpaffen. In England bildete fich der bürgerliche 
komiſche R. in Oppofltion gegen die Prüderie, die abfiracten Tugend“ und Bodheits⸗ 
Mufter, die pedantifhe Selbflzergliederung in Richardſon's Romanen (Fiedling's „Tom 
Jones", Smollet's „Humphrey Klinker"). Goldſmith („der Landprediger von Wake⸗ 
feld") und Sterne („Zriftram Shandy“) Haben den bumoriftifchen M. gefchaffen. 
Aus der engliihen Literatur dieſes Jahrhunderts gehören hierher Dickens, die humo⸗ 
riſtiſchen Seegeſchichten von Marryat, die fatirifhen Romane des jüngeren D’Israeli. 
Berner Tann man auch die Amerikaner Wafhingten Irving, Cooper, Edgar Poe und 
den in dieſem Jahre verflorbenen Natbaniel Hawthorne hierhier rechnen. In Frank⸗ 
reich wurde Grebillon der Jüngere der Gründer einer neuen Art komiſcher Romane. 
In Deutſchland gewann dieſe Gattung zunaächſt durch Ueberfegungen der englifchen 
Werke aus dem 18. Jahrhundert Geltung, deren eigentliher Kern und Mittelpunkt, 
da das Hffentliche Leben fehlte, das Theoretijlren und Raiſonniren über Wiffenfchaft, 
Sitte und Meligion war. Wir machen nambaft: Hermes („Sophien’® Reiſe von 
Bemel nah Sachen‘), Hippel („Lebensläufe in auffteigender Linie", „Kreuz und 
Querzüge des Ritters A—8), Muſaͤus („deutfcher Grandiſon“, „phyſtognomiſche 
Reifen"), Müller („Siegfried von Lindenberg”), Nicolai („Leben und Meinun⸗ 
gen des Magiſter Sebaldus Nothanker“), Wezel (, Geſchichte des Tobias Anaut*), 
Thümmel (, Reiſen in die mittägigen Provinzen Frankreichs“), v. Klinger („Plim⸗ 
ylampladlo ", „Prinz Formoſo's Fiedelbogen“), Iean Paul Friedrich 
Richter („die wunfichtbare Loge”, „GHebperus *, „Blumen“, Frucht⸗ und 
Dornmfläde u. |. w.“ „Titan?, „FSlegeljahre“), dem fh Wagner (Mel- 
fen aus der Fremde in die Heimath“) und Hoffmann anfcließen; dieſer 
aber bereits ine Momantifh-Phantaflifche fallend, welcher Richtung auch die Romane 
von Achim von Arnim angehören, und endlich Immermann, deflen „Mündhhaufen” 
der einzige Roman von wirklichem Kunftwertbe if, den unfere Zeit aufmeifen Fann. 
Aus der fpanifchen Literatur gehört in diefe Gattung außer dem fchon erwähnten 
„Don Quicote“ des Cervantes, der fatirifhe MNoman „Bray Campazas“ des Jeſuiten 
Isla; aus der franzöflihen der fhon ermäbnte „Bil Blad” und noch entjchiedener 
fatirifcy gehalten „Le Diable Boiteux* von Xe Sage. Der fentimentale MR. ent 
widelte ſich im vorigen Jahrhundert unter flarkem ergliihen Einfluß (Richardſon's 
„Glariffa”, „Brandiion*, Sterne’! „Dorits empfindfame Reife*) in Deutfchland, fleht 
jedoch in Berbindung mit der empfindfamen Stimmung und dem überfchwänglichen 
Gefühlbleben, welches fich in Goethe's „Leiden des jungen Werther” die geiftvollfte 
Form ſchafft. Unter den zahlreichen deutſchen und fremdlänbifchen Nachahmungen, 
fo Martin Miller's „Siegmwart“, find weitaus am bebeutendflen die „Ultime lettere 
di Jacopo Ortis* (1802) von dem italientfchen Dichter Ugo Foscolo. Am Schluß 
dieſer Vieberficht koͤnnen wir nicht umbin, die Worte anzuführen, welche A. IB. Schle⸗ 
gel vor flebenzig Jahren (in den „Charakteriſtiken und Kritiken”, 2. Bd., S. 216 
bei der Mecenfion der „Romane und Erzählungen” von Friedrich Schulz) ausgeſpro⸗ 
hen hat, die aber noch heute von dem R. gelten: „Unter den zahlreichen Romanen, 
welche mit jeder Mefle unjere Bücherverzeichniſſe anfchwellen, vollenden die meiflen, ja 
fat alle den Kreislauf ihres unbedeutenden Dafeins fo fchnell, um ſich dann in die 
Bergefienheit und den. Schmug alter Bücher in den Leſebibliotheken zurückzuziehen ıc." Nicht 
minder wahr iR, wa® Ludwig Tied fagt. (Vgl. Rudolf Köpfe, „Ludwig Tied, Erinnerun 
gen aus dem Leben des Dichter", 2. Thl., ©. 208): „ Die modernen vielbändigen Romane, 
Die jeht zu Nodebuchern geworben find, find eine unerquickliche Leetüre. Der Mafle na 


360 Romanen, 


fommen wir auf den Standpunft der alten Momane, wie „Glarifia” zuräd. Wider⸗ 
wärtig iſt die pofltive Beſſerwiſſerei diefer modernen Schriftſteller. Ihr Syſtem flebt 
ihnen feſt, Alles Eennen fie befler, Fürſten und Böllern geben fle Rathichläge, vor 
Allem will man charakteriſtiſch fchreiben, und Died führt zu fonderbaren Verirrungen. * 
Ueber dad Weſen und die Gefchichte des N.’8 haben außerdem folgende Schriftfteller ge» 
handelt: Huet, „Traite de Il’Origine des Romans“ (Parts 1670 und oͤfters), welches 
Büchelchen Ind Engliſche, Holländiihe und Lateinifche überfegt worden; v. Blanfen- 
burg, „Verſuch über den Roman” (Leipzig 1771), Szerdahely, „De poesi Roma- 
nensi“ in dem zweiten Buche der „Poesis narrativa“ (Budae 1784), S. 30 -82, 
Sriedrih AR in den „Ideen zur Kritif des Achilles Tatios“ am Schluß feiner Ueber» 
fegung der „Leukippe“ (2eipzig 1802), Jean Paul in der „Vorſchule der Aeſthetik“ 
(2. Bd., ©. 1 ff.), Karl Roſenkranz in den „Aeltdetifchen und poetifchen Mitthei⸗ 
lungen" (Magdeburg 1827), Bifcher, „Aeſthetik“ (3. Thl., 2. Abſchnitt, S. 1303— 
1317). Eine „Allgemeine Geſchichte des Romans, von defien Urſprung bis zur 
neueften Zeit" bat D. 2. B. Wolff (Iena 1841, 2. Aufl 1850) gefchrieben, bie 
indefien ohne großen Werth if. Unübertroffen ift bis jegt, trog mancher Mängel, 

des Schotten John Dunlop, „The History of Fiction etc.* (Edinburgh 1814, 3. Ausg., 
1843, ins Deutſche überfegt von Felix Liebreht, „Geſchichte der Profadichtungen 
oder Geſchicht⸗ der Romane u. ſ. w.“, Berlin 1851). Ueber den R. in der deutſchen 
Literatur If von Frau von Staöl (, Deutſchland“. Aus'dem Franzöſiſchen überfegt, 
Reutlingen 1815, 2. Band, 1. Abthl. S. 233—256, „Ben den Homann") und 
am gründlichfien von Koberftein In der „Geſchichte der deutfchen National » Lites 
ratur” (4. Ausgabe, an verfchiedenen Stellen, fo befonders im 1. Bd., S. 435— 
442, im 2. Bd., ©. 1606-1631, ©. 1695 ff., im 3. Bde. S. 26662770) und 
von Goedeke im, Grundriß zur Befchichte der deutſchen Dichtung“ (2. Bd. S. 1117 — 
1141, und 3. Bd., S. 130—150) gehandelt worden. Auch fteht im 9. Bande 
(S. 210—263) deB von Brockhaus herausgegebenen enchklopaͤdiſchen Werkes „Die 
Gegenwart" eine Abhandlung: „Der neue beutfche Roman“. 

Romanen, vomanifche Völker, heißen jene Träger, Fortpflanger und Forte 
bildner der altrömifchen Givilifation, die zwar in ihrem Blut, in ihrer Sprache und 
in ihren Rechts⸗ und Staatsinftitutionen germanifche Einflüffe in fi aufgenommen, 
biefelben aber immer nur zur Stärkung ihres antigermanifchen Weſens und zur Be- 
lebung ihrer altrömifchen Erbſchaft benugt Haben. Frankreich, Italien, Spanien 
Portugal find, abgefehen von den Oftromanen (f. d. Art. Aumänen), diejenigen 
Zünder, in welchen diefe Berquidung altrömifcher Gultur, Sprache und Meditö«- 
anfhauung und des Eeltifchen Blutes, welches in Frankreich und auf der pprenälfchen 
Halbinfel dem Hauptbeftandtheil der Bevölkerung eigen ift, mit germanifchen Einflüf- 
fen und Elementen das Hauptinterefie ihrer Geſchichte feit den Zeiten der Bölker- 
wanderung bildet. Ihnen gegenüber fliehen die germanifhen Völker, obwohl fie 
ihrerſeits auch wieder römifche Einwirkungen erfuhren und biefelben zur Entwidlung 
ihre8 eignen Weſens benugten, als diejenige Völkergruppe, welche ein neues, anti- 
römifches Princip in die Weltgefchichte gebracht und daſſelbe, im Kampf gegen bie 
romanifche Völfergruppe, in ihrer Haus⸗ und Staatdorbnung, im kirchlichen Bekennt⸗ 
niß und in Kunft und Wiffenfchaft außgearbeitet haben. Neben beiden Bölkergruppen, 
der romanifchen wie der gesmanifchen, fiehen die Slawen, aus denen ſich feit andert⸗ 
Halb Jahrhunderten die Ruffen als Führer erhoben haben. Wie die leßteren bie 
Geltendmahung des flawiſchen Princips erft feit verhältnigmäßig kurzer Zeit unter- 
nommen haben, fo erwartet daß letztere auch erfi noch feine Definition, bie aus dem 
Streit für und gegen daffelbe hervorgehen wird. Das Intereffe der ganzen neueren 
Geſchichte befteht In der Mivalisät und im Kampf diefer drei Volkergruppen um das 
Prineipat. Jede nimmt, fo zu fagen, den Charakter der Univerfalität für ſich in An« 
ſpruch; jede will der Welt einfeitig und ausfchließlich ihr eigenes Siegel aufprüden. 
Eine über ihnen ſtehende Untverfalität wird ald das Ende Ihres Kampfes geahnt, — 
aber nur geahnt; zu definiren ift fle natürlich noch nicht. Für den Staatämann 
der Gegenwart iſt die Kenntniß der Cigenheit und des Strebens, der Vorzüge und 
Debrechen, der Stärke und der Schwaͤche, der Berechtigung und der unberechtigten 


Nomanin (Samuel). 361 


Selbſtüberhebungen dieſer drei Volkergruppen unbedingt notwendig. Da die Charakte⸗ 
riſtik der einen dieſer Gruppen ohne die Würdigung der beiden andern nicht möglich 
iR, fo werben wir dieſe combinirende und comparative Darftellung aller drei in einem 
befondern Artikel geben und zwar, nach der biöherigen Methode dieſes Lexikons, in 
einem Sammel» oder Gefammtartifel. Wir nennen biefen: Wölferracen, Völfer- 
Zamilien und Bölfergruppen, und verweifen hiermit auf dieſen. In demfelben wer⸗ 
den wir zugleich das DBerhältnig der Romanen, Germanen und Slawen auf die ver⸗ 
fprengten kleineren Bdlkerindividuen in Europa und auf bie außereuropälfchen Welt⸗ 
theile darſtellen. 

Romäanen ſ. Rumänien. 

NRomanin (Samuel), ver neueſte und vorzüglichſte Annaliſt Venedige. Er ge⸗ 
börte, wie Amelot de la Houſſaye, wie Laugier, Lebret, Daru und Hazlitt und Andere, 
die über Denebig (für und gegen) gefchrieben Haben, der Stabt und ihrem alten Do- 
minium nicht an. Er ift 1808 zu Trieft von armen füdifchen Eltern geboren. Früh 
verwaiſt, kam er breizehnjährig nach Benedig und nahm dafeldft feinen bleibenden 
Wohnſtz. Was er mit zübem Fleiße früh fchon erlernte, mußte ex zugleich für den 
Lebensunterhalt und zur Erziehung feiner jüngeren Geſchwiſter anwenden. Erſt gub 
er deutfchen und franzöfifchen Unterricht in jüdiſchen Häufern, 1328 trat er als Ueber» 
ſetzer deutſcher Werke auf, zunädhft von Hammer’s Gefchichte des osmanifchen Meiches 
und jener der Aflaffinen; auch die Tuniflad des damaligen venetianifchen Patriarchen 
Lavislaus Pyrker übertrug er in italieniſche Profa. 1843 — 44 erſchien feine Ge⸗ 
fchichte Der europälfchen Völker feit dem Sturze des römifchen Meiched in populärem 
Bortrage und ohne Anfpruc darauf, als gelehrte Forſchung zu gelten. Dieſe widmete 
er ausſchließlich der venetlanifchen Geſchichte. 1847 faßte er endlich den Entſchluß, 
die Gefhichte der Republik zu fchreiben und feine Borarbeiten zu derſelben In bie 
hiſtoriſche Form zu bringen. Die Megierung der neuen Republik, die bald darauf in's 
Leben trat, beauftragte ihn mit Dffentlichen Vorträgen über diefe neue Befchichte und 
gewährte ihm zugleich eine freieve Benugung des großen Archivs, ala ihm kiäher ge⸗ 
Rattet war. 1853 erſchien die erfle Lieferung feiner Storia documentata di Venezia. 
Als er am 9. September 1861 farb, war der neunte Band, der bis 1796 geht, 
fertig gedruckt und fand fih der Schluß, der 6i8 zum Januar 1799 gebt, mit den 
Urkunden und dem Megifler In feinem Radlaffe vor. Diefes Werk iſt nun die erſte 
voltfländige, aus Einem Gufle gearbeitete, durchgehende auf urkundliche Forſchung ge⸗ 
gründete, ausführliche Geſchichte Venedig's und feines Staates. Es iſt gefchrieben 
mit lebendigem Gefühl für die Vorzüge und Tugenden eines Gemeinweſens, welches 
fo Großes erreicht hat, und ohne Beftreben, alle Fehler zu befckönigen. Das poli- 
tiſche Element wiegt in der Darflellung vor; doc iſt auch‘ das Titerarifche und wiſſen⸗ 
ſchaftliche gehörig berücfichtigt. Die Urkunden, gebrudte und ungedrudte, find In 
Bezug auf auswärtige Verhältniffe, auf Handel und Verkehr, auf überfeeifche Bes. 
gungen und Anftalten, wie auf die innere Verwaltung, auf das Sorgfältigfte be⸗ 
nutzt. Klare, einfache und ruhige Darftellung und leidenfchaftslofe Erörterung der 
Thatfachen find die Hauptvorzüge der R.'ſchen Arbeit; Glanz und Feuer des Styls, 
plaſtiſche Oruppirung und anfhanliche Charakteriſtik darf man in ihr nicht fuchen. 
Außer dem individuellen Naturell des Berfaflers, dem der Fleiß und die Treue des 
Forſchers gegeben, aber die Kunft des Hiſtorikers verfagt war, iſt e8 noch ein anderer 
Umſtand, aus welchem die Mängel diefer Arbeit — wie ein Kenner in der Augsb. 
Allgem. Zeitung (1861, Nr. 331) bemerkt bat — zu erklären find. Die Gefchichte 
eines Staates nämlich, in dem das religiöfe Element ein gewaltiger Hebel war, der 
im Mittelalter das Kreuzesbanner vor fich hertrug und beinahe bie zum legten Athem- 
zuge al& eine Bormauer der chriſtlichen Welt und Cultur gegen den Islam daftand, 
dieſe Gefchichte kann in ganz vollendeter Weife von einem Nicht - Ehriften nicht ge⸗ 
fgrieben werden. Ein folder mag alle Billigkeit, Ruhe und Bereitwilligfeit zu feiner 
Arbeit mitbringen; das rechte Mitgefühl wird ihm doch fehlen, und deshalb auch Im 
manchen Fällen das Verſtaͤndniß und die Fähigkeit der Darſtellung. Auch in der 
Darſtellung der Reformbewegungen des fechszehnten Jahrhunderts und des Kampfes 
gegen die Curie wird ex, bei aller Gewiſſenhaftigkeit und Objectipität, nur ein Annalift 


362 | Romanow. (Geſchlecht.) 


bleiben, der außerhalb deſſen ſteht, was er zu ſchildern unternimmt. Neben dieſen 
Mängeln find aber die Vorzüge der R.'ſchen Arbeit fo groß, daß fie, zumal als erſte 
quellenmäßige, gerechte und vollfländige Darftellung der Befchichte dieſer glorreichſten 
ver Republifen der modernen Welt, ihren Ehrenplag behaupten wird. 

Romaniſche Sprade ſ. Sprade. 

Romanow, ein altes berühmtes ruffliche® Bojarengefchlecht, welches feit 1613 
in der männlichen und feit 1730 in der weiblichen Defcendenz zur monarchifchen Ge⸗ 
walt in Rußland gelangt iſt, hieß urfpränglih HNomanow- Juriew, reicht autbentifch 
bis in’® 14. Jahrhundert zurück und bat mit den Bojarenhäufern Kolytſchew, Neplu⸗ 
jene, Babaryfin, Ladyſhin und Konownizyn derfelben Urfprung, da ihr gemeinſchaft⸗ 
liyer Ahnherr, der Bojar Andrei Kobyla oder Kambyla if. Dies Geflecht war 
daher, ſchon ehe ed zur höchſten Würde gelangte, eined der nattonalfien und hiſtorifch⸗ 
berühmteften in Mußland, und es verdankt wohl eben jenem Umftande feine Erhebung. 
Denn e8 hätte der jugendliche, im Jahre 1613 zum Zaren von Rußland audgerufene 
Michail R. fchwerlich den Sieg über feine vier Gegencandidaten feit 1640, nämlich 
über den Prinzen Wladislaw, Sohn des Königs Sigismund von Polen, den Fürften 
Mſtislawokit, den Fürſten Waſſilij Golizyn und feinen eigenen Vater Philaret R. da⸗ 
vongetragen, wenn nicht, abgeſehen von dem Einfluß, den feine edle verſönliche Er⸗ 
fiheinung bervorrief, das Anfehen feines Haufed mit einem durch das ganze Meich 
anerkannten Nimbus bekleidet geweien wäre. Durch das Haus NR. kam in Rußland 
das germanifche Element zur Herrfchaft, denn jener Stammberr ded Haufe, Kobyla, 
wanderte um das Jahr 1340 aus Preußen nad Rußland aus und nahm Dienfle 
beim Großfürften Simeon. Bevor, Kobyla’d Sohn, mit dem Beinamen Koſchka, 
war unter Dimitrif Donskoi und Waſſtlij Dimitrijewitſch Il. bereits eine angefebene 
Berfönlichkeit, fchlug die Tataren auf dem Kulifower Belde, half auch dem apanagirten 
Fürften Jurij Dimitrijewitich bei der Eroberung Kafand und anderer tatarifcher Stäbte, 
und zeichnete ſich wie als Feldherr fo auch als zarifcher Miniſter und Rathgeber aus. 
Unter feinen fünf Söhnen hatte ber ältere, Iwan, wiederum zwei Söhne, Sacharij 
und Jurtj, von welchem Letzteren der 1543 verflorbene Bojar Roman, nach welchem 
das Geflecht feinen Specialnamen erbielt, abflammt. Roman's Sohn, Nikita, ver⸗ 
mählte ſich mit einer Prinzeſſin Iewbolifa (Eudofia) Alerandromna, der Tochter eines 
ruſſiſchen Theilfürften von Susdal, weldye ihre Abſtammung bis auf den erfien Ben 
berrfcher Rußlands, Rurik, zurädführen Eonnte; die jüngere Tochter Roman's aber, 
Anaſtaſſija (Anaflafla), Romanowna, wurde die Gemahlin des Zaren Iwan Waſſilje⸗ 
witfh IV. oder des Schredlihen, dem fie im Jahre 1547 feierlich angetraut warb. 
Als Letzterer 1584 farb, wurde Nikita Romanow der Vormund feined Faiferlichen Neffen 
Feodor Iwanowitſch wegen deſſen Geiſtesſchwäͤche, doc ſtarb er ſchon 1586, verbrängt 
yon feinem Poſten und wahrſcheinlich vergiftet durch Boris Godunow, des Haren 
Schwager, der auf's Grauſamſte gegen die R.'ſche Familie wüthete und von den ſieben 
Soͤhnen Nikita's vier, Alexander, Lew, Waſſilij und Michail umbringen ließ. Mur 
drei entlamen, wovon einer, Pawel, nah Polen entflohb, nachdem er ein vergebliches 
Nache⸗Attentat auf Boris Godunow ausgeführt, ein zweiter, Iwan, als Bojar fi auf 
einige Zeit vor den Augen feines Verfolger unfihtbar machte, und der dritte, Altefle, 
Feodor Nikitifh R., einer der tapferfien Krieger Rußlands, der nachmalige Stamm⸗ 
vater des ruſſiſchen Herricherhaufes ward. Wegen feiner militärifchen Eigenfchaften 
beim Heere beliebt und deshalb von Boris Bodunow, der befanntermaßen fpäter die 
Zarenwürde an ſich riß, beneidet, wurde er nicht nur vom Hofe entfernt, fondern 1599 
gezwungen, in den Mönchfland zu treten, bewohnte als einfacher Geiſtlicher bis 1605 
das Archangelgorodſche Klofter des Heiligen Antoni und wurbe erfl mährend der Re⸗ 
gierung des falſchen Dimitrif nad Moskau zurüdberufen und zum MMetropoliten er» 
hoben. Nah Vertreibung der Ufurpatoren und nad Abdankung Waſſilij Joannowitſch 
Schuiskoi's wurde er 1610 an den König von Polen wegen der Thronfolgefrage 
gefandt, in Warfchau aber hinterliftig gefangen gefegt und erft nach dem Argierungsantritt 
feines Sohnes, des zum Zaren audgerufenen Michail Feodorowitſch R. nad Yiähriger 
Saft (1619) auf freien Fuß gefegt. Darauf zum Patriarchen von Moskau und ganz 
Rußland gemacht, wurde er bald and Ritregent feines kaiſerlichen Sohnes, auf deſſen 


— eg — — — —ñ —ñ — — — ç —,, ——— — — — — — — — — er — — — — - 


Romantik. 363 


Entſchließungen er einen wohlthätigen und andauernden Einfluß übte. Gr flarb zu 
Moskau am 1. Det. 1633, nachdem feine Gattin, eine Tochter Iwan Waſſtiljewitſch IV., 
des Schredlichen, und Schwefter des Zaren Feodor Iwanowitſch, ibm im Tode vor- 
audgegangen. Der neue Megent Rußlands, aus R.'ſchem Gefchlecht, war folglich ein 
Abkoͤmmling der Zaren von weiblicher Linie. Die Nachfolger Michail Feodorowitſch'e 
waren fein Sohn Alerei Michailowitſch (1645—1676), fein Enkel Feodor Alexeje⸗ 
witſch (1676—1682),. bem fein Bruder Iwan Alezefemitih und fein Halbbruder Beter 
Alerejewitfh in der Regierung folgten. Leßterer, der bekannte Beter I. oder Peter 
der Große, eignete fih im Sabre 1721 die Kaiſerwürde an, die von ſaͤmmtlichen Me» 
genten Europa's anerkannt ward, ftarb 1725 und hatte zur Nachfolgerin feine Gemah⸗ 
kin Katharina 1., die bis 1727 regierte, wo ihr Peter II., der Sohn bes hingerich⸗ 
teten Alexei Petrowitfch, bis 1730, Anna Iwanowna, die Gemahlin des verflorbenen 
Herzogs von Kurland, eine Tochter Iwan's Alexejewitſch, bis 1740, und Iwan IL, 
ein Großenkel Iwan's Alexejewitſch in weiblicher Linie, bis 1741 folgten, bis Elifa- 
beth, Peter's des Großen und Katharina I. Tochter, im Iahre 1741 die Zügel der 
Regierung ergriff und zu ihrem Nachfolger den Sohn Ihrer Schwefler Anna Petrowna, 
die mit dem Herzog Karl. Briedrih von Holſtein⸗Gottorp vermählt, aber fhon 1728 
georben war, nämlich Peter von Holſtein⸗Gottorp, der ald Peter Il. den Thron be⸗ 
flieg, ernannte. Mit ibm Fam 1762 das Haus Holflein-Bottorp oder Oldenburg⸗ 
Romanow zur Regierung in Rußland, und demfelben entflammen die Herrſcher Baull. 
Petrowitſch, feit 1796, Alexander I. Pawlowitſch, feit 1801, Nikolat I. Pawlowitſch, feit 
1825 und Alexander U. Nikolaſewitſch, feit 1855, als jegiger Kalfer und Selbſtherr⸗ 
ſcher alles Meußen, deſſen ältefler Sohn, der Thronfolger Caſarewitſch und Großfürſt 
Nikolai Alerandrowitich, im Jahre 1843 geboren, gegenwärtig (1864) ſchon 21 Jahre 
zählt, während dem Letzteren noch die Großfürften Alexander, geb. 1845, Wladimir, 
geb. 1847, Alerif, geb. 1850, GSfergij, geb. 1857 und Pawel Alexandrowitſch, geb. 
1860 und die Großfürſtin Maria Alerandrowna, geb. 1853, als zur Thronfolge mit⸗ 
berechtigte Gefchwifler zur Seite ſtehen. Dad Ausflerben des R.'ſchen Geſchlechtes, 
das auch in anderen Branchen noch viele Agnaten zählt, iſt daher nicht zu beforgen. 
Es bat im verwichenen Jahre (1863) bereitd das 250. Jahr feines beſtehenden Herr⸗ 
ſcherthums gefeiert. Vgl. Campenhauſen, „Genealogiſch⸗chronologiſche Befchichte des 
Hauſes R.“ (Leipzig 1805); Dolgorufi, „Notice sur les principales familles de la 
Russie* (Bruxelles 1843, 2. Aufl. Berlin 1858), und Brieveburg, „Rossiiskij Zar- 
stwennyj Dom Romanowych* d. i. das rufflfche Kaiſerhaus Romanow (St. Peterd« 
burg 1853). 

Romantik if die, namentlich durch Den Kreis, deſſen Mittelpunkt die Gebrüder 
Schlegel und 2. Tief bildeten, eingebärgerte Bezeichnung für eine Anſchauungsweiſe, welche 
der claffifchen (j. d. Art.) des Altertbums diametral entgegengefegt iſt. Das ganz 
richtige Gefühl, daß das griechiſche und römifche Altertum und den Menfchen zeigt, 
wie ex, ganz Kind der Welt, in ihr, ſowohl der finnlien (Natur) als der fittlichen 
(Staat), feine abfolute Befriedigung findet, während dur das Chriſtenthum dem 
Menſchen noch ein Höheres gezeigt wird, als die Welt, brachte dahin, dem realiſti⸗ 
ſchen Weltfinne des Altertbumd die in Idealen lebende R. ded- Ehriftentbums ente 
gegenzuftellen. Zweierlei war dabei ein Fehlgriff. Zuerſt etwas Aeußerliches, was 
mehr eine Seltſamkeit genannt werben kann: Man wählte zur Bezeichnung ein Wort, 
Dad nad der uriprünglichen Bedeutung der Worte Romanum, Romancium u. a., 
gerade auf die nicht kirchliche, darum aud nicht in der Kirchen“, fondern In ber 
(romaniſchen) Bulgar-Sprache fich bewegende, weltliche Literatur hinwies. Schlimmer 
mar ein zweiter Mißgriff, daß man namlid die A. nur als diametralen Gegenfag zu Dem 
heidniſchen Weltfiun faßte und fich dennoch für fie erklärte. Damit befchränkte man 
ſich anf das Anpreifen derjenigen Erxfcheinungen, die dem Altertbum fo gegenüber- 
Reben, wie die vechte Seite der linken, vergaß darüber, daß auch dad Ganze eine 
Regation des linken (freilich auch der rechten) Seite ift, und meinte nun, weil der Welt« 
fun in dem Wirklichen, fo müfle die R. im Nicht (anftatt im Ueber-) Wirklichen 
ihre Befriedigung fuchen. Darum jene Neigung zum Phautaftifchen und jenes Co⸗ 
quettisen theil mit dem Orient, theils mit dem Mittelalter, das endlich fo weit ging, 


364 NRomantik 


daß Mancher meinte, ein großer Romantiker zu fein, wenn er nur die Wirklichkeit 
auf den Kopf flellte. ann diefer Anficht find die Räuber und Ungeheuer» 
Nomane in Deutfchland und In Frankreich, Die eigentlich nur das eine Thema varliren: 
das Verbrechen iſt Tugend, oder le laid c'est le beau.) Durd die im Art. Claſ⸗ 
fiſch angeführte Unterfcheivung des Momantifchen von dem, im Gegenfag zu einander 
ſtehenden, @laffifchen und Symboliſchen, wird der Spentiftcation der M. und Phanta« 
flerei ein Ende gemacht, da fte eben fo fehr den Werfen entgegengeftellt wird, 
in denen fi die Idee ganz in die finnliche Erjcheinung verliert, als aud denen, 
welche nur das vergebliche Ringen zeigen, die Idee In die Neußerlichkelt zu bringen, 
und ihr Weſen darein gefegt wird, daß der Stoff von der Idee durdhbrungen und 
beberrfcht wird. Demgemäß könnte R. als Weben im Ueberwirklichen oder ald Genuß 
des Idealen deftnirt werden. Sept man an bie Stelle des Leberwirklichen das Une 
wirffiche, an die Stelle des Idealen das Phantaftifhe, fo bat man die falfhe R. 
Bon der Achtung, in welcher einer Zeit das. Eriflirenpe flieht und das Ideale, wird 
e8 abhängen, ob R. ein Modeartifel oder ein Scheltwort if. Daß unfere Zeit 
mehr Neigung zum Leßteren zeigt, iſt nicht zu läugnen. Es war der Zug zu 
einem derben Realismus, welcher im Anfange der vierziger Iahre durch die Hallie 
fchen Jahrbücher aller Romantik den Krieg erklären ließ. In ihrer Definition 
derfelben knüpften fie an die Praxis der falfhen Romantik an, indem ſie 
darunter das Feſthalten an verſchwundenen Ideen und veralteten Inftitutionen ver» 
flanden und demgemäß R., Dante Eultuß, Feudalismus und wer weiß was zuſam⸗ 
menwarfen, um dem ſich aufgeklärt dünkenden Philifter bange zu machen. Bald aber 
zeigte fi, daß der Krieg gegen R. einer mar, der überhaupt gegen alles Ideale ging. 
Und da fih am Ende feiner der Wahrheit entziehen Tann, daß die Herrfchaft des 
Ivealen dur das Chriſtenthum begründet werde, fo mar e8 nur confequent, daß die 
Hallifchen Jahrbücher endlich dazu. kamen, zu verfündigen, die R. fei eigentlich Jeſui⸗ 
tiemus, weil Feſthalten am Chriftentfum. Bis zu diefen Confequenzen gebt nun In 
der Megel der Philiſter nicht. Aller Ideen bar, hat er zwar Eeinen Gefhmad daran, 
dad das EhriftenthHum ihm zumutbet, fi über das Wirkliche zu erheben, aber brechen 
mit ihm mag er do auch nit. So begnügt er ſich denn mit Gefchrei gegen Myſtik, 
Prieftertbum, Feudalismus, kurz: Mittelalter. Er preift den modernen Geiſt, der aller 
N. ein Ende gemacht babe, und verfällt immer mehr einer Profa, die ded Biers und 
Tabacks nicht entbebren Tann, welche beide (charafteriftifch genug) dem Romantiker Tied ein 
folcher Bräuel waren. — Wie der Name R. im äftherifchen Gebiete zuerfi aufkam, 
fo bat auch der Streit über die Sache felbft in diefem Gebiete die wichtigfte' Rolle 
geipielt und hat dem den Uirfprung gegeben, was man Romanticismus oder roman« 
tifhe Schule genannt bat. In Deutfchland, mo e8 in dem Sinne wie in Branfreich, 
nie einen als folchen anerkannten Claſſieismus gegeben bat, haben die Romantifer 
oder die Repräfentanten der romantifhen Schule den Krieg beſonders der Profa des 
18. Jahrhunderts, der verfländigen Aufflärung, dem, was in jener Zeit Berlinigmuß 
und Nicolaismus genannt murde, erklärt. Anders in Franfreich, wohin der Roman⸗ 
tiecismus durch die Frau von Stael, die Freundin Schlegel’8, verpflanzt murde, und 
wo befonders Chateaubriand ihn repräfentirt. Da war er ein Krieg gegen Die Rich⸗ 
tung in der Poeſte, welche mit dem Renaiffance-Sty! in den bildenden Künften ver⸗ 
glichen reerden kann, mit dem rhetorifchen Pathos, wie er befonder® durch Racine 
vertreten wirb, zugleich aber auch ein Krieg gegen alle conventionelle Form im Namen 
des natürlichen Gefühle und der Innerlichkeit.e Ganz wie in Deutfchland die roman⸗ 
tifhe Schule die Grenze zwiſchen wahrer und falſcher R., zwiſchen Idealismus und 
Phantaſterei nicht inne hielt, ganz fo ift auch in Frankreich diefelbe nicht bei der M., 
wie fle in der Delphine, im René, in der Atala u, f. w. und begegnet, ſtehen geblie- 
ben, fondern bat phantaftifhe Erzeugnifſe geltefert, wogegen die gefpenftifchen Erzaͤh⸗ 
lungen von Arnim und Hoffmann nüchtern genannt werden müflen. Victor Hugo 
muß als der genannt werden, der biefen Viebergang macht. Sein Notre- Dame iſt 
gewiß das Beſte, was er gefchaffen hat, und doch geht fehon bier das Beftreben fehr 
weit, nur das, was in der Wirflichfeit verachtet und midermärtig. iſt, als das Inter“ 
Mante und den Dichter Anſprechende darzuſtellen. Spätere find noch weiter gegangen, 


x 





Homberg (Andreas). Römer (Friedrich v.). 365 


und bei uns laͤngſt vergefiene Raͤubergeſchichten erfcheinen jetzt in Frankreich, um 
dann, ind Deutfche überfegt, wieder gelefen au werden. 

Romberg (Andreas), ausgezeichneter Componiſt und Biolinfpieler, geboren den 
27. April 1767 zu Vechte im Münfterfchen, warb mit feinem Better Bernhard R. 
erzogen und machte auch mit ihm, dem berühmten Violoncelliſten, die erſte Kunſtreiſe 
nah Italien (1795—97). Im Sahre 1800 waren fie in Paris, wo fie gemeinſchaft⸗ 
ld Die Oper „Don Mendoze* für Feydeau fehten; während Bernhard R. bier blieb, 
indem er als Profeſſor des Violoncellos am Gonfervatorium angeftellt wurde, nahm 
Andreas MR. feinen Aufenthalt in Hamburg, bis er 1825 an Spohr's Stelle alt 
Muſikdirector nah Gotha ging, mo er den 10. November 1821 farb. In feinen 
Infrumentallüden, befonders in den Symphonieen, Quartetten und Quintetten, 
näherte er ſich am meiften dem großen Haydn. Noch größeren Beifall fanden feine 
Gompofltionen Schiller'ſcher Gedichte, 3. B. der „Blode*, der „Macht des Geſangs“ 
u. f. w., mit Begleitung des Orcheſters, die noch jegt gern gehört werben. 

Aömer (Friedrich v.), württembergifcher Winifer in den Jahren 1848 und 49 
und namhaft durch feine Mafregel gegen den letzten Reſt des Brankfurter Barlament® 
im Jahre 1849. Er ift am 4A. Juni 1795 zu Erfenbrechtömeiler auf der würitem» 
bergifchen Alb geboren; fein Bater war Geifllicher und er ſelbſt trat, nachdem er die 
in Württemberg landesüblide Schul» und Seminarbildung erhalten hatte, in daß 
theologifhe Stift zu Tühingen. Jedoch verließ er daflelbe 1814, um die militärifche 
Zaufbahn einzufchlagen, verließ‘ indefien diefelbe nach dem Frieden, fludirte die Rechte, 
ward 1819 Auditeur in Stuttgart und 1830 Kriegsrath. Nachdem er, durch bie 
Begebenheiten des Jahres 1830 angeregt, ſich für den Liberalismus erflärt hatte und, 
in die Kammer gewählt, al& einer der Führer der Oppofltion mit der Regierung in 
Zwieſpalt gerathen war, vertaufchte er den Staatsdienſt mit ber Advocatur und wid⸗ 
mete ſich dieſer ausſchließlich, als die liberale Partei in den Wahlen feit 1838 unter« 
lag. Der neue Aufichwung des Liberalismus feit 1844 brachte ihn jeboch auch wieder 
in die Kammer und das Jahr 1848 verfchaffte ihm außer der Wahl für das Frank⸗ 
furter Parlament in der, neuen württembergifchen Verwaltung vom 9. Mai 1848 daB 
Portefeuille der Juſtiz. Seine Thätigkeit war feitbem zwiſchen Frankfurt und Gtutt- 
gart getbeilt und er galt als das Haupt der heimifchen Regierung. Was feine Ab⸗ 
Rimmungen in Branffurt betrifft, fo waren dieſe bei Beflfegung der Grundrechte ent» 
fhieden demokratiſch. Mehrmals befand, er fich mit Mobert Blum, Wigard, Schüler, 
Simon in der Minorität, 3. B. als dieſe die abfolute Abfchaffung der Todesftrafe 
verlangte, während die Grundrechte diefelbe für gewiffe Bälle ded Kriegd- und See⸗ 
rechts noch beibeblelten. Bei der Feſtſetzung der Meichöverfaflung neigte er fich, Indem 
er fe der Schwierigkeiten wohl bewußt war, die fih der Durchführung der Souve⸗ 
ränetät der Nationalverfammlung entgegenflellten, mehr ber confervativen Seite zu. 
In der Sigung vom 13. October 1848 ſprach er ſich für eine eventuelle Mediatiſtrung 
der Eleinen Staaten aus, doch eben fo fehr auch am 17. März 1849 gegen die Hege⸗ 
monie Preußens und gegen die Nediatiſirung der Mittelftaaten. Auch lehnte er bei 
der Abflimmung über die Kaijerfrage am 28. März die Wahl einfach von ſich ab. Als 
aber dennoch die Nationalverfammlung den König von Preußen zum Oberhaupt ger 
wählt hatte, lich er es fich angelegen fein, die Anerkennung deſſelben bei feinem Lan⸗ 


desherrn durchzufeßen. In der Nacht vom 15. zum 16. April verließ er plöglid und 


für Immer Frankfurt, als ex hörte, daß feine Anweſenheit in Stuttgart nöthig fei, 
weil daſelbſt der König die Anerkennung der Meichöverfoflung vermeigere und bie Aufe 
segung im Lande deshalb zu einem bedenklichen Brave gefliegen fei. Wenige Tage 
nach feiner Ankunft in Stuttgart reichte er, weil der Widerftand des Königs gegen 
die Reichs verfaſſung unüberwindlich fchien, feine Entlaffung ein, was er auch nachher 
bis zum Herbfi noch mehrere Male that, doch wurde er vom König immer mieber 
zum Bleiben bewogen und leiftete in dieſer ſchwankenden Stellung in der That die 
nützlichſten Dienſte, indem er zwifchen augenblidlihen Goncefflonen an die aufgeregte 
Stimmung und zwiſchen Widerfland gegen dieſelbe Iavirte und fo das ermattete Land 
für eine fehle Regierung wieder traitable machte. Bei allem Tadel, mit weldhem man 
bie fogenannten März» Minifter überhaupt belaftet hat, follte man nicht vergeſſen 


— —— — 4 


366 Aomien (Auguf). Nomily (Sir Samuel). 


daß fle, indem fle fi ſelbſt abnugten, auch zugleich die unklaren Landesflimmungen 
ermübeten und für eine Verfländigung zugänglich machten. Sein erſtes Entlaffungs- 
geſuch nahm er zuräd, als der König am 25. April fich zu einer bebingten und dann 
zu unbedingter: Anerkennung der Meichöverfaflung bewegen ließ. Den Beichlüffen der 
Neutlinger Bolleverfammlung vom 27. Mai, welche ein Bündniß mit allen verfaſſungs⸗ 
treuen Neichöländern, alfo au mit Baden und der Pfalz verlangte, trat er mit Ent- 
idyledenheit entgegen, und ihm iſt es großenthells zu verdanken, daß Württemberg nicht 
in badifche Zuflände verfil. Schon früher hatte ein General auf die Frage des Kb» 
nigs, ob er ſich auf das Militär verlafien könne, erwibert: „Sa, wenn Minifter Römer 
mit mir zu Pferd fleigt.* Indeffen verlegte der Reſt der Natlonalverfammlung feinen 
Sig nad Stuttgart; am 6. Juni hielten etwa 100 Mitglieder derfelben daſelbſt ihre 
erfte Sigung. Bleich nach der Ankunft in Stuttgart hatte Loͤwe, als Präfident der 
Berfammlung, R. gefragt, ob nicht anflatt des nicht mehr anzuerfennenden Erzherzog 
Johann der König von Württemberg oder, falls dieſer ausfchlüge, R. ſelbſt die 
Meichöverweferfchaft übernehmen wolle. Die Frage warb verneint, doch entſchloß ſich 
M., den Sigungen der Berfammlung Anfangs noch als Mitglied beizumohnen, flimmte 
jedoch gegen die Einfegung der FBünfer » Regentfchafl. Schon zwei Tage nad dem 
betreffenden Beſchluß der Verfammlung erfchien eine Erklärung des Minifteriums, daß 
es diefer Megentfchaft, welche ſich den Befehl über alle deutſchen Heere zuerfenne, bie 
Schickſale Württembergs nicht preisgeben dürfe, und am 18. Juni ließ R., da gätliche 
Aufforderungen erfolglos blieben, die Verfammlung dur Militär auseinanderfprengen. 
Erf am 28. October erhielt R. nad längerem Schwanken der Berbältniffe die un» 
gefuchte Demiffton, jedoch in fehr verbindlicher Form. Er nahm weder die angebotene 
Penflon, nody eine hohe Amtsflellung an und widmete fich feitdem feinen Privat- 
Arbeiten und der Thellnahme an den Verhandlungen des Landtages, deſſen Präfldent 
er feit 1851 war. 1861 zeigten flch die Spuren eines Leidens (der Gehirnerweichung), 
dem er am 11. März; 1864 erlag. Erft im Herbſt 1863 hatte er dem Ianpfländifchen 
Ausſchuß angezeigt, daß er ſich gendthigt fehe, das Präflvium nieberzulegen. (Die 
Augsb. Allg. Zeitung bat ihm in ficben Nummern vom 8. Juni 1864 an eine ein- 
gebende Biographie gewidmet.) 

Nomien (Auguft), franzöflfper Verwaltungsbeamter und namhaft durch feine 
Verkündigung bed neueren Imperialismus. Er ift der Sohn eines Generals des 
Kaiſerreichs, den 17. October 1800 zu Paris geboren, ging durch die polptechnifche 
Schule und führte neben feinen Studien unter der Reſtauration ein Bergnüglings- 
leben, deſſen Iufige Erinnerungen die Heine PBarifer Breffe lange mit Stoff verforgt 
haben. Die Juliregierung machte aus ihm einen Staatemann, ernannte ihn nach 
und nad in mebreren Departementd zum Unterpräfecten, fodann zum Praͤfecten im 
Departement der Dorbogne, in welhem feine Bermwaltung eine bauernde dankbare 
Erinnerung hinterließ, endlich zu Tours, welches Departement er beim Ausbruch ber 
Bebruarrenolution verwaltete. Nachdem er die abminiftrative Laufbahn yplöglich auf⸗ 
gegeben, trat er 1852 im diefelbe wieder ein und zwar ald Beneraldirector der ſchoͤnen 
Künfte, welchen Poflen er zwei Jahre darauf, mit dem eined Generaldirector der 
Bibliotheken der Krone vertauſchte. Im Anfang des orientalifchen Krieges verlor er 
feinen Sohn und er felbft Karb den 20. November 1855. — Die Schriften feiner. 
erſten Jugend find Vaudevilles, die er mit Langle, Mazeres und Anderen verfertigte 
(1822— 1834), ferner der mit Raiſſon audgearbeitete Code de honndtes gens (1825) 
und der Code des gourmands; 1844 (in zweiter Auflage 1854) erjchterten feine 
Fragments scientifiques und 1849 die Schrift de l’Adiministration sous le rögime 
republicain,; am meiften Erfolg Hatten jedoch feine Schriften vom Jahr 1851 le 
spectre rauge de 1852 und l’Ere des Cesars, in denen er auf die liberale Bildung 
und Bolitit ald Mächer und Wiederberfteller der Autorität den Imperialismus herab⸗ 
beſchwor. 

Nomilliy (Sir Samuel), engliſcher Rechtsgelehrter, ſtammt aus einer franzoͤſtſchen 
proteſtantiſchen Familie, die nach der Widerrufung des Edicts von Nantes nach Genf 
ausgewandert war und ſich daſelbſt durch den Mechaniker Jean R. (geb. 1714, geſt. 
6. Februar 1796) und den Pfarrer Jean Edme R., der auch eine Zeitlang Pfarrer 








Romme (Charles). Rommel (Dietrich Chriſtoph v.). 367 


der franzöflfchen Kirche in London war und an ber Diderot'ſchen Enchyklopaͤdie ſtch 
dusch die Artikel Tolerance und Vertu bethelligte (geb. 1739, geft. 1779), einen 
ehrenvollen Namen gemacht hat. Samuel’ Vater hatte fi in England ale Juwelier 
niebergelaffien. Samuel ſelbſt if den 1. März 1757 zu London geboren, erwarb ſich 
ale Sachwalter ein großes Vermögen und bie Protection Shelburne's. Auf einer 
Reiſe dur Frankreich (1789) trat er zu Mirabeau in Beziehung und fehte auf defien 
Berlangen eine Darflellung des Befchäftäganges des britifchen Parlaments auf, weldhe 
Jener drucken lief. Sein Gönner und Freund, Lorb Shelburne, indefien Marquis 
von Landsdowne geworden, verfchaffte ihm 1806 vom Minifterium For-Grenville das 
Amt des Solicitor general und einen Sig Im Unterhaufe. In legterem brachte er eine 
Reform der Bankerutigefeggebung zum Beften ber Släubiger durch, fo mie ex ſich 
fpäter 1808 im Parlament für Reform des Criminalrechts bemühte. In der Fort» 
fegung des Melville'ſchen Proceſſes (f. d. Art. Bitt) vor dem Oberhaufe war er zum 
Mitglied der Anklage⸗Commiſſion ernannt und bielt am 29. April 1806 feine Rede, 
in der ex Lord Melville ald der Veruntreuung von öffentlien Geldern fchulbig nach⸗ 
zuweiſen fuchte, Doch wurde derfelbe vom Oberhauſe freigefprochen. Nach der Aufe 
löfung bes Grenville'ſchen Miniſteriums trat er zur Oppofltion über. Gr war Ber 
treter von Werminfter, als ihn Melancholie über den Tod feiner Frau ben 2. No» 
vember 1818 zum Selbfimord trieb. Seine Schrift: Observations on the criminal 
law of England (London 1810) ift auf die fpätere Reform bes englifhen Criminal⸗ 
rechts nicht ohne Einfluß geweien. Benjamin Conſtant gab zu Paris 1819 fein Eloge 
heraus, welches er den 26. December 1818 im Parifer Athenäum vorgetragen hatte. 
Romme (Charles), franzöflicher Geometer und als ſolcher hoͤchſt verdient um bie 
Entwidelung der Schifffahrtöfunft, fo mie er auch zu den Fortſchritten der franzöflichen 
Marine im 18. Jahrhundert am meißen beigetragen bat. Er ift um 1744 zu Riom 
geboren, fludirte zu Paris, trieb fodann unter Lalande Aftronomie und erhielt durch 
defien Bermittelung die Stelle eines Profeſſors der Navigation an der Schule zu 
Rochefort. Er beſchaͤftigte ſich beſonders mit der Vervollkommnung der Methode, die 
Längen auf dem Meere zu meſſen. 1777 erſchien zu 2a Mochelle fein Memoire 
où on propose une nouvelle methode pour determiner les longitudes en 
mer. Berner gab er ebendaſelbſt 1785 L’Art de la marine heraus. 1792 
erſchien das Dictionnaire de la marine frangaise, 1804 das Dictionnaire de 
la marine anglaise. Sein Tableau des vents (1806, 2 vol.) übertraf alle bis 
auf feine Zeit erfchienenen Sammlungen an Vollſtandigkeit. Er farb zu Rochefort 
im Juni 1805. — Sein Bruder Gilbert R., geboren 1750, war Mitglied der 
legiölativen Berfammlung und des Gonvents und in lepterem, während Charles MR. 
sopalifiifch gefinnt war und in der Schredenszeit ruhig feinen Unterricht fortfehte, Mite 
glied der Bergpartei. @ilbert mar von feinem Bruder in der Mathematik unterrichtet. 
Ein Landömann, der in Peteröburg Hauslehrer war, verichaffte Ihm eine ähnliche 
Stelle im Haufe des Grafen Strogenofj, worauf er nach Rußland ging und fpäter 
mit dem jungen Strogonoff, feinem Eleven, Frankreich befuchte. Er führte denfelben 
in Berfailles und fpäter in Paris in die Sigungen der conflitulrenden VBerfammlung, 
fo wie in die patriotiichen Clubs, bis Katharina II, dem jungen Grafen die Rückkehr 
anbefahl und deſſen Mentor verbot, wieder nach Rußland zu kommen. M.'s revolu⸗ 
tionäre Laufbahn nahm ihre Ende, als er mit den Volkshaufen, die am 1. Prairial 
(20. Mai 1795) mit dem Gefchrei: „Brot! Brot!“ in den Situngsfaal des Con⸗ 
vents drangen, fraternifirte. Mit ſechs Gollegen vom Gerichte deshalb zum Tode 
verurtheilt, erſtach ex fich gleichzeitig mit Diefen am 16. Juni auf der Gerichtöbanf. 
Hommel (Dietrich Chriſtoph v.), der heſſiſche Hiſtoriograph, war geboren zu 
Kaſſel am 17. April 1781, ein Sohn des am 6. Sept. 1837 verflorbenen General⸗ 
Guperintendenten R., und wibnete fih im Anfange feiner Stubien der Theologie, 
feit 1801 in Goͤttingen ausfchlieglich der Pbilologie, namentlich der dltern Ethno⸗ 
grapbie und Geographie, worin er für die damaligen Zeiten durch Abhandlungen über 
Abulfeda, über Strabo's Befchreibung der kaukaſiſchen Gegenden und Anderes, nicht 
Marühmliches leiſtete. Bereits im Anfange des Jahres 1804 murbe er außerorbent- 
licher und Taum acht Monate fpäter (Januar 1805) ordentlicher Profeflor der Bered⸗ 


368 Romobanowätll. (Geſchlecht.) 


ſamkeit und ber griechtichen Sprache in Marburg. Im Jahre 1810 ging er als 
Brofeffor der alten Literatur und rufflfcher Hofrath nach Charkow an die damals neu. 
gegründete ruſſiſche Univerfltät, Eehrte aber von dort bereits 1814 zurück und wurde 
1815 Profeffor der Geſchichte in Marburg. Indeß dauerte feine zweite Wirkſamkeit 
auf dem Katheder diefer Univerfltät noch nicht fo lange, al& die erfle; in Folge feines 
Unternehmens, eine Sefchichte von Heflen fchreiben zu wollen, wurbe er im Jahre 
1820 zum Director des Haus⸗ und Staatsarchivs zu Kaffel und zum heſſtſchen 
Hiftoriographen, fpäter (1829) auch zum Director der Landesbibliothek zu Kaflel 
beftellt. In diefen Stellungen ift er bis zu feinem Tode, am 21. Januar 1859, ge- 
blieben, nachdem er inmittelft In den Abelftand erhoben und zulegt noch (1853) zum 
Staatsrath ernannt worden war. Das Werk, welches feine Lebensaufgabe volle vierzig 
Jahre lang bildete, und welches er gleichwohl nicht vollendet Hat, ift feine Geſchichte 
von Heffen, neun Bände, 1820—1854 erſchienen; vom zehnten Band erfihien 
1858 nur das erfte Heft, welches bis in die Megierungszeit des Landgrafen Karl von 
Hefſen⸗Kafſel (1677— 1730) reiht. Bor R.'s Unternehmen gub ed nur eine einzige 
Geſchichte von Heffen, weldhe dieſes Namens würdig war: Helfrih Bernhard Wend's 
beiftiche Landesgefhichte (1783-1803. 4. drei Bände); es reicht aber dieſes gründ- 
liye, nad dem damaligen Stande der Gefchichtöwifienihaft und Geſchichtſchreibung 
fehr bedeutende und noch jeßt völlig unentbehrlihe Werk nur bis in das 13. Jahr⸗ 
hundert (Heffen unter Brafen und Dpnaften); die übrigen Werke waren trog mander 
Berbienfte (wie Hartmann's Historia hassiaca) entweder höchſt unkritifh (mie Teut- 
horn's Geſchichte von Heſſen) oder befanden In bloßen Lieberfihten, wie die Werke 
von Rallet, v. Türkheim (beide franzdflfch gefchrieben), Gurtius u. A. Zudem 
war das Material vom 15. Jahrhundert an entweder fehr zerfireut ober unbenußt in ben 
Archiven verborgen. Die Aufgabe, welche ſich R. flellte, war mithin eine fehr erheb- 
liche, und er bat in der That ſich das Verdienſt erworben, eine große Menge bisher 
gänzlih unbefannten Materials zu Hefchaffen. Aber es fehlte ihm an allem Drbnunge» 
finn, fo daß das von ihm gefammelte Material zum großen Theil eben nur zufammen- 
getragen iſt und dem Nachſchlagen die größten Schwierigkeiten bereitet; in gleichem 
Grade fehlte es ihm un biflorifchem Weberblid und Tact, fo daß Wichtige und Un« 
wichtiges bei ihm in gleihem Range aufgeführt wird, und feine Darftellung if größ⸗ 
tentheils fleif, fein Styl fchleppend und mitunter (wie im erflen Bande) bis zum 
Laͤcherlichen pretidßs. Im Ganzen muß mithin R.'s Unternehmen für verfehlt gelten, 
und kann nur als Materialienfammlung benugt werden. Einen Theil feines Werkes 
gab er 1830 unter dem befondern Titel heraus: Philipp der Großmuüthige, doch iſt 
biefem Abdrud ein Urkundenband beigefügt, weldyer dem Hauptwerke fehlt. Dankens⸗ 
werth iſt die Herausgabe Alterer Gorrefpondenzen — der heſſiſchen Landgrafen mit 
Heinrich IV. von Frankreich, des Landgrafen Ernft von Heſſen⸗Rheinfels mit Leibnig — 
welche er beforgte, wenngleich biefelben des in der That Wichtigen nicht allzuviel 
enthalten. Der Standpunkt, weldhen MR. in der Gefchichtödarftelung einnimmt, iſt der 
moderneliberale, und er kann nicht ganz, menigftens nicht in manchen Partieen feines 
Werkes, von dem Vorwurfe freigefprochen werben, die Geſchichte nach den Geflchte- 
punkten des gemöhnlihften Liberalismus zugefchnitten zu haben. 
Romodanowskij, ein rufftfches Kürftengefchlecht, welches wie die Fürſten Gagarin 
und Chilkow von einem zu Starodub im heutigen Gouvernement Wladimir ehedem 
bie ſouveräne Gewalt ausübenden Zweige des Rurikſchen Fürſtenſtammes feinen Ur⸗ 
ſprung herleitet. Es bat außer mehreren einflußreichen Bojaren in alter Zeit mehrere 
bemerkenswerthe Männer im 17. Jahrhundert hervorgebracht. Während der Herrſchaft 
Peters des Großen war der Fürſt Feodor M. einer der gewichtigfſften Großwürden⸗ 
träger Rußlands. Er führte den Vorſitz in dem während der erflen Reife des Zaren 
insg Ausland eingefegten Megentfchaftsratb und verhalf vermoge des Einfluſſes, den 
er zeitweife auf Beter I. übte, auch feinen Söhnen zu einträglicdhen Berwaltungs- 
poften. Als zu Ende des 18. Jahrhunderts das fürftliche Haus R. in feinem Mannes⸗ 
flamme erlofchen war, übertrug Kaifer Paul I. den Namen und Titel auf das Ge⸗ 
Ihlecht der Ladyſhenskij, welches die weibliche Descendenz des R.'ſchen Fürſtenhauſes 
sepräfentirte. Die Transmifflon ſelbſt erfolgte am 8. April 1799 zunächft zu Gun⸗ 


— — — — — —— — 








Romulus Auguftulus. Zonge (Johannes). 369 


ſten des Senators Ladyſhenskij, der auch ſeinerſeits einem alten ruſſiſchen Adelsge⸗ 
ſchlechte entſtammte. 

Romulus, erſter König Noms, ſ. Rom. 

Romulus Auguftulus, letzter Kaiſer des weſtroͤmiſchen Reichs. Sein Vater, 
der aus Pannonien ſtammende römifche Feldherr und Patricius Oreſtes, zwang ben 
Kaifer Julius Nepos zur Flucht nach Dalmatien, machte 475 feinen Sohn in Ra⸗ 
venna zum Kaifer oder Auguflus, der wegen feiner Jugend Auguflulus genannt wurde. 
Schon 476 erlagen aber Drefted bei Pavia und fein Bruder Poulus am 31. Auguft 
bei Ravenna dem Odoacer, worauf R. A., bei Ravenna gefangen, der Megierung ente 
ſagt⸗ und, vom Sieger begnadigt, die Erlaubniß erhielt, mit einer geringen Penſion 
in Gampanien als Privatmann zu leben. 

Houceöballed (franz. Roncevaux), ein Pyrenaͤenthal oberhalb Bampelunas, in 
weichem nach des Sage die Nachhut Karl's des Broßen von den Arabern 778 ge⸗ 
fhlagen und Roland (f. d. Art.) gefallen fein fol. 1794 wurden in diefem Thal 
die Spanier durch die Franzoſen unter Moncey geichlagen und ben 28. Juli 1813 
wurde bier Soult durch Wellington aus feiner feſten Stellung gedrängt. 

Ronge (Iohannes), neben Czerski Hauptflifter der deutſchkatholiſchen Gemein- 
den. Da wir über bie religiöfen Bewegungen, weldye zur Gonflituirung diefer Ge⸗ 
meinden führten, fo wie über ihre biftorifche Bedeutung oder Bebeutungsloftgkeit bereits 
in den Art. Czeroki, Deutfhlatbolifen, Gemeinden (freie), Lidytfreunde 
ausreichend gehandelt haben, bleibt uns im gegenwärtigen Artifel nur noch übrig, 
die biographifchen Notizen über M. mitzutbeilen. Derfelbe ift den 16. Octbr. 1813 
zu Bifhoföwalde im Neiſſe'ſchen Kreife Schleflend geboren. Auf dem Bauerngut, 
welches feine Eltern befaßen, ging er denſelben bei den Wirtbfchaftsarbeiten bis zu 
feinem zwölften Jahre zur Hand und wurde dann von feinem Vater, ber dazu durch 
das Zureden eines Lehrers der Bifhofswalder Dorfichule beflimmt wurde, auf das 
Gymnaſium zu Neifie geſchickt. Nachdem er die Klaffen deſſelben von 1827 bis 1836 
durchgemacht Hatte, bezog er die Univerfität Breslau, um Theologie zu fludiren. 
1839 trat er in das Alumnat und will damals fchon, wie er in den autobiographis- 
chen Notizen feiner Schrift: „Mechtfertigung” (Altenburg 1845) angiebt, die Elerikale 
Disciplin deffelben als drüdend empfunden haben. Im März 1841 wurde er als 
Kaplan nah Grottkau berufen. Im folgenden Jahr, als ſich das Gerücht verbreitete, 
daß vom Breölauer Domcapitel gegen den neu gewählten Bifchof Knauer in Rom 
intriguirt würde, trat er dagegen in Nr. 135 der „Baterlandöhlätter” vom Jahr 1842 
in einem Artikel (betitelt: „Nom und das Breslauer Domcapitel” und unterzeichnet: 
„Ein Kaplan") auf und zwar mit einer Sprache, die mit der feiner fpätern Send⸗ 
ſchreiben völlig übereinfiimmt. Etwa ſechs Wochen nad dem Erjcheinen diejed Ar⸗ 
tikels erhielt er vom Bisſsthumsverweſer Dr. Ritter ein Schreiben (vom 20. Decbr. 
1842), in welchem dieſer ihn, den „die Öffentlihde Stimme als den Verfafler deſſelben 
bezeichne“, auffordert, „auf fein prieflerliches Ehrenwort beflimmt zu erklären, ob er 
der Verfaſſer dieſes Artikel, oder der Einfender deflelben fei, oder ob er überhaupt 
An Abfaffung und Einfendung befielben einigen Antheil gehabt habe." R. erwiberte 
darauf, „daß fein Gewiflen ihm ein Eingehen auf ſolche Fragen verbiete”, mollte ſich 
auch micht dazu bewegen laſſen, ſich gegen Mittelöperfonen, die Dr. Ritter In Be- 
wegung feßte, über feine Autorichaft audzufprehen. Nachdem nun der Bisthums- 
verweier den Pfarrabminiftrator von Grottkau aufgefordert hatte, über R. zu berich⸗ 
ten, erfolgte unterm 30. Sanuar 1843 deſſen Suspenflon und murde ihm zugleich 
aufgegeben, fih in das Breklauer Alumnat zu verfügen und daſelbſt Exerecitia spi- 
ritualia zu perſolviren. Er verlieh darauf Grottfau, begab ſich zu feinem Freunde, 
dem Grafen von Reichenbach auf Valtorf bei Neiſſe, machte im April 1843 in Bres⸗ 
Ian beim Biſchof Knauer, deſſen Beftätigung jegt erfolgt war, noch einen vergeblichen 
Berfuch, die Aufhebung feiner Suspenflon zu erwirken, und reifte dann nad; Laura- 
hütte, wo er die Kinder der dortigen Beamten unterrichtete. Bon bier war es, daß er 
unter dem Datum des 1. Oct. 1844 fein, mit feiner Namensunterfchrift verfehenes „Urtheil 
eines Eatholifchen Priefters über den heiligen Mod zu Trier” den „ Sächfifchen Vaterlands⸗ 
blättern" zuſchickie, Die ihn in Nr. 164 am 13. Det. veröffentlichten. Bald darauf verließ er 

Bagener, Staats⸗ u. Geſellich.⸗ex. XVH. 24 


% 


320 Nönne (Ludwig Peter Morig von). 


Zaurahütte, wo indeſſen eine Öffentliche Schule erbaut und mit zwei Lehrern beſtallt 
war, und begab fih nah Breslau. Hier erbielt er unterm 4. Dechr. 1844, nachdem 
er den von der bifchäflichen Behörde geforderten Widerruf der in jenem Sendfchreiben 
aufgeftellten Säge abgelehnt Hatte, die Meldung, daß die Ercommunication über ihn 
auögefprocyen fei. Seitdem begannen nun die von uns im Artikel Dentichlatholiten 
charakteriſtrten Exclamationen jenes Sendfchreibens im deutfchen Publicum ihre Wir- 
fung auszuüben. R. felbft unterhielt die ungeheuern Erwartungen, welche nicht nur 
einzelne katholiſche Kreife, fondern auch die Proteftanten von ihm Hegten, durch eine 
Reihe von Flugblättern. Noch aus Laurahütte im October 1844 ift datirt: „an die 
Tatholijchen Lehrer“, aus Breslau im Ehrifimonat 1844: „an meine Blaubendgenofjen 
und Mitbürger”, — gleichzeitig und etwas fpäter:» „an die niedere katholiſche Geiſt⸗ 
lichkeit”, „Zuruf” u. f. w. Seit dem Anfang des Jahres 1845 war es für die 
beutfchen Städte eine Ehrenfache, an den Neformator eine Adreffe abzufchiden; Berlin 
fchrieb ihm in der vom 31. Januar datirten Adreffe: „Sie haben ald ein Werkzeug 
der Vorſehung ein nie geahntes Wunder bewirkt.” Seine Meife zum Concil nah 
Leipzig (ſtehe über dafjelbe den Artikel Deutichlatholifen) gab im März dem Bürger- 
thum Gelegenheit, feinem Helden und Meifter perfönli zu huldigen. In den fehle 
ſiſchen Städten und in der Lauflg bewilltommneten ihn die Bürgermeifter und Stadt⸗ 
verordneten unter dem Jubel der Bürgerfchaften; auf dem Dresdner Feſtmahl tranten 
der Praͤſident der zweiten fächflfchen Kammer und der Mector der Univerfität Leipzig 
unter dem flürmifchen Zuruf der Gaſte auf den Kortfchritt der bürgerlichen und kirch⸗ 
lihen Freiheit; in Leipzig vereinigten fich die Bürger und Studenten im Taumel der 
Huldigungsfreude; der Toafl, mit dem er auf dem Berliner Gaſtmahl am 21. März 
begrüßt wurde, fhloß mit den Worten: 
„Hell Dir, Du Haft der Wahrheit Macht verkündet, 
Heil Ronge, der der Freiheit Bau gegründet.“ 

Unmittelbar nach dieſer Efftafe fiel jedoch das deutſche Bürgerthum wieder zufammen. 
Es kam aud dem Dinge nichts heraus. Man glaubte einen Sieg zu feiern, und 
die Feſt- und Siegesfreude war die einzige That, die man feierte und nicht ind Une 
endlihe fortfeiern Eonnte Man fland im Leeren, wenn ein Beflact vorüber war, 
und konnte fih nicht dem peinlichen Bewußtfein entziehen, daß der Jubel zu dem 
Anlaß — (Pd. H. zu den einförmigen Zurufen und Grelamationen R.’8) — aufer allem 
Verhaͤltniß ſtehe. Dazu kamen die refultatlofen Nörgeleien zwiſchen R. und Ezersfi 
(f. d. Art); endlich Hatte man fchon im Frühjahr 1845 auf einige Fühne dogmatifche 
und Hiftorifch-kritifche Thaten R.'s aufmerkiam gemacht, die auf feine wiffenfchaftliche 
Bildung kein günftigee Licht warfen. So hatte er z. B. feine Ueberlegenheit über 
alle hergebrachte Dogmatik in der conflituirenden Berfammlung zu Breslau (im Febr. 
1845) bewiefen, indem er das Sarrament ald eine Handlung definirte, die nur einmal 
vorgenommen werde, und feine Erhabenheit über den Buchflaben, indem er in feiner 
erfien Predigt vor der neuen Gemeinde zu Bredlau erzählte, daß Iefus (in deflen 
Zeben er die Schicfale Johannes des Täuferd übertrug) von den Pharifäern (bie er 
die Sielle des Vierfürſten Herodes einnehmen ließ) in dad Gefängniß geworfen fei. 
Schon zu Ende des Jahres 1845 war die Theilnahme an der deutfchkatholifchen An- 
gelegenheit erlofyen, und 1848, in welchem Jahre R. als Theilnehmer am Frank⸗ 
furter Borparlament fich wieder Öffentlich zeigte, verſchwand er fehr bald in der 
Bewegung, welche daB Intereffe an feiner Eleinen Stiftung ganz und gar ableufte. 
1849 folgte er der Emigration nach England, wo er feinen Namen unter dad bemo- 
kratiſche Manifeft vom März 1851 ſetzte. Die von König Wilhelm 1. erlaffene Amneftie 
veranlaßte ihn 1861 zur Rückkehr nach Deutfchland; Hier verfuchte er es in verſchie⸗ 
denen Städten, auch auf dem religiöfen Reformverein, der im October 1863 zu 
Branffurt a. M. feine Sitzungen Hielt, wieder mit jeinen Aufrufen und Zurufen das 
Bublicum in Bewegung zu ſetzen, fchließt indeffen gewöhnlich, ziemlich befcheiben, mit 
der Anempfehlung des Turnens und der Kindergärten. 

KRönne (Ludwig Peter Morig von), Bice-Präfldent des koͤniglich preußiſchen 
Appellationsgerichts in Groß⸗Glogau, als juriftifcher und publlciſtiſcher Schriftfleller 
auch in weiteren Kreifen bekannt, flammt aus einer altadeligen Bamilie Oftfrieslande, 


Nönne (Zudwig Peter Morig von). 321 


die fich durch Auswanderung einzelner Zweige zur Zeit der Kriege bes Deutfchherren« 
Ordens gegen Polen auch nad Kurland und Liefland verbreitete, wo fle noch jegt 
blüht. Der Bater R.'s, aus der alten oflfrieflfchen Linie, war Gonferenzrath in 
fönigl. dänifchen Dienflen und Mitglied des Gludsftädter Obergerichts für die Her⸗ 
zogthümer Holflein und Lauenburg. R. wurde zu Glückſtadt am 18. October 1804 
geboren, befuchte das Gymnaſium feiner Baterftadt, fludirte dann auf den Univerfitäten 
in Bonn und Berlin die Nechtswiffenfchaften, trat Oſtern 1825 nad beflandenem 
erſten Cramen als Auseultator in den preußifchen Staatödienfl, wurde 1827 als Re⸗ 
ferendar an das Oberlandesgericht nach Breslau verfegt und nach abgelegter Staats« 
prüfung im Februar 1828 als Affeffor am Kammergericht in Berlin angeftellt. Das 
Wohlwsllen feines früheren Chefs in Breslau, des Oberlandesgerichts⸗Praͤſtdenten, 
fpäteren Juſtizminiſters Mühler, förderte R.'d juriftifche Garriere dergeſtalt, daß er 
nach kurzem Aufenthalte als Land⸗ und Stabtrichter in Münfterberg in Schleflen ſchon 
im April 1832 sum Director des Land» und Stadtgerichts in Hirſchberg befdrdert. 
wurde, in welcher Stellung er zugleich als Kreisjuftizrath und als Kreiscommifjarius 
der Generalcommilfton zur Regulirung der gutöherrlich-bäuerlicden Verhältnifſe fun- 
girte. Schon 1836 wurde M. Oberlandesgerichtörath In Breslau und Unterſuchungs⸗ 
richter bei dem dortigen Hauptfleueramte, 1841 ale Hülfsrichter an das Kammerge- 
richt berufen und 1843 Rath bei diefem Gerichtähofe, fo mie 1845 Rath beim Pu⸗ 
pillencollegium der Kurmark. In diefer Stellung verblieb R. 6i8 zum Jahre 1859, 
in weldem er unterm 11. Juni zum Dice» Bräfidenten des Appellattondgerichte in 
Glogau ernannt wurde, meldhe Stelle er noch befleidet. Seine Berbienfte um die 
Reorganiſation des preußifchen Juſtizweſens wurden 1848 durch Berleifung des Rothen 
Adler⸗Ordens 4. Klaffe, 1860 durch Die 3. Klaffe diefes Ordens, feine Berbienfte um 
die Wiſſenſchaft des öffentlichen Rechts aber durch die Verleihung ber philofophifchen 
Doctorwürde der Univerfität Greifswald, 1856, anerkannt. In diefer Tegtgenannten 
Thatigkeit R.'s als juriflifcher Schrififieller Hegt denn auch fein Hauptverbienft und 
bier iſt denn aud der Ort vor Allem anzuerkennen, daß er mit eifernem Fleiße und 
flaunenswertbem Erfolge bemüht geweſen ift, durch wifjenfchaftlihe Sammlung und 
ſyſtematiſche Bearbeitung der Quellen des gefammten in Preußen geltenden Rechte 
ein Hülfsmittel für die Praxis und zur Grleichterung des wiſſenſchaftlichen Studiums 
ju fchaffen. In dieſem Sinne eröffnet das „Syſtem des preußifchen Landrechts“ 
Guerſt erfehienen Halle 1833 und felther öfter in vermehrten und verbeflerten Aufs 
lagen verlegt) eine Reihe nicht allein compilatorifcher Werke über Geſetze und Ber- 
ordnungen, fondern dieſelben beleuchten auch den Geiſt der Geſetzgebung, bie über bie 
verfchledenen Rechtsnormen aus einander gehenden Anſichten in Theorie und Braris 
und die Verhältniffe und den Standpunkt der Wiffenfchaft in Rückſicht auf die Zeit 
der Gültigkeit der Geſetze mit Geift und Klarheit. Das Hauptwerk R.’3 in dieſer 
Richtung find die „Ergänzungen und Erläuterungen der preußifchen Nechtöbücher”, 
feit 1847 in Breslau bei Ph. Aderholz in vier Auflagen erfchienen und noch fortge- 
führt, an denen außer ihm ſelbſt, der die Idee zu diefem umfafiendflen Unternehmen 
gegeben, fich die bedeutendſten Juriſten Schlefiens, der verflorbene Präfivent Dr. Wengel _ 
in Ratibor, Juſtizrath Graͤff und Stadtgerichtsrath Simon in Breslau, fo wie der 
Sürftentbumsgerichtörath Dr. Koch in Neiffe als Mitarbeiter betheiligten. Es enthält 
in wiffenfchaftlicher Bearbeitung nach den vorhin angegebenen Grundjägen die voll- 
ſtaͤndige Sammlung fämmtlicher, die preußifchen Befegbücher ergänzender, aufhebender 
und abändernder Gefege, Erlaffe und Verordnungen einfchließlih Der diefelben ein- 
führenden minifteriellen Erläuterungen nebft einer Darflellung des preußifchen Contro⸗ 
verſenrechts durch Aufführung der nach Nechtömaterien geordneten verfchiedenen Er⸗ 
Ienntniffe preußifcher Gerichtähäfe und der dieſe Gontroverfen behandelnden juriftifchen 
Literatur. Durch die Benugung der Archive des Suftizminifteriums und der Arbeiten 
der Geſetzreviſions⸗Commiſſton iſt die Vollſtaͤndigkeit dieſes umfaſſenden Sammelwerfes 
weſentlich gefördert worden. Beinahe zu derſelben Zeit, als dieſe „Ergänzungen ıc.* 
erſchienen, wandte fi R. auch der Bearbeitung des öffentlichen preußifchen Rechtes 
zu. Im Berbindung mit dem vorgenannten Stabtgerichtäratb Simon gab R. eine 
ſyſtematiſche Quellendarſtellung ber @efeggebung über das dffentliche Recht des preu⸗ 
24* ’ 


312 Aönue (Ludwig Peter Morig von), 


ßiſchen Staates heraus, welche unter dem Titel „ Die Berfaffung und Ber- 
waltung des preußifhen Staates, eine fpflematifch georbnete Sammlung 
aller auf diefelben Bezug babenden gejeglichen Beilimmungen, Erlaffe und Verord⸗ 
nungen“ ebenfall8 in Breslau bei Aderholz feit 1843 (in zweiter Auflage) erfcheint, 
bis jest zu 18 Bänden gediehen ift und noch fortgefeßt wird. Das Werk, foweit e8 
eben bis jegt erfchienen, umfaßt die Gemeindeverfaſſung, dad Polizeiweſen, die eigents 
liche Gewerbe- Polizei, die kirchlichen und Unterrichts-VBerhältnifie, dad Domänen», Forſt⸗ 
und Jagdweſen und die Finanz» und Steuer-Gefehgebung, giebt zuerſt eine vollſtän⸗ 
dige Quellenſammlung, dann eine wiffenfchaftliche. Darftellung über die Hiftorifche Aus⸗ 
bildung der betreffenden Lehren mit befonderer Berückſichtigung des preußljchen Staa⸗ 
te8 und über ihren Zufammenhang mit der allgemeinen Befeggebung, geht Dann über 
zu einer vollfländigen wortgetreuen Mittheilung aller Gefege zc., nicht nach ihrer An⸗ 
ciennetät, fondern nah ihrem flofflihen Zuſammenhange georbnet, wobei die 
antiquirten Beflimmungen zwar audgefondert, aber in fpeciellen Noten erörtert 
werben, und fchliegt endlih mit einem Eritifchen und praftiihen Gommentar, 
der - den organifchen Zuſammenhang der Geſetze x. erörtert und die Motive, 
Zweifel und Gontroverien, tbeoretifche Doectrinen und praftifhe Gntfcheidungen 
ausführlich beleuchtet. Das Hauptverdienft des Werkes befleht darin, daß ed dem 
Beamten das Studium feiner Berufswiffenichaften erleichtert und überjichtlicher macht 
und Daß es der Beichäftigung mit der Literatur des Öffentlichen Rechts zuerſt in 
Preußen die Bahn gebrochen hat. In mie weit bei der Herausgabe des Werkes den 
Verfaffern (zu denen fi bei Abfaffung der Gewerbepolizei-Bejeßgebung nod U. Lette 
geiellte) Die Benugung der Minifterials Archive geftattet geweſen if, darüber laͤßt fi 
nicht8 entſcheiden; daß aber davon nicht derjenige umfaflende Gebrauch gemacht wor» 
den ifl, den die Verfafler ald die Hauptempfehlung ded Werkes gelten laffen wollen, 
liegt in der Thatfache, Daß die Minifter v. Raumer und v. Weſtphalen in dem „Mir 
nifterlalblatt für die innere Verwaltung” (Heft 5 pro 1852 vom 21. Mai) eine 
jolhe Benugung der Archive in Abrede flellten und ber Director des Minifteriums 
für die landwirtbfchaftlicden Angelegenheiten, Bode, unterm 16. September deſſelben 
Jahres (Heft 8 pro 1852) allen Behörden feines Reſſorts jede Mittheilung aus den 
Archiven an R. direct unterfagte. — Neben diefem größeren Werke erfchienen aus 
R.'s Feder noch verfchiedene Abhandlungen über preußifches Mecht in der „Suriftifchen 
Wochenſchrift“, in Koch's „Schleflihen Archiv" und im „Neuen Archiv für preußi⸗ 
ſches Recht”, fo wie über öffentliches und Verfaſſungsrecht 1850 eine „Bearbeitung 
der preußifchen Verfaſſungs⸗Urkunde ac. unter Berüdfichtigung der Motive“, in dritter 
Auflage (Berlin bei Heymann), „nebf einem Nachtrage, enthaltend die Darflellung 
der In der Kammer-Sigungs-Periode von 1851—52 bewirkten Reviſton diefer Vers 
faſſungs Urkunde”, ferner 1851 in Brandenburg „die Gemeinde⸗Ordnung nebft der 
Kreid-, Bezirkd- und Provinzial. Ordnung”, 1852 in Breslau der „Eommentar über 
das Preßgeſetz“, dem 1850 fhon der „Konmentar über das Mühlen-Ablöfungsgefeh 
vom 11. März 1850" ‚voraudgegangen war. In einem ausführlicheren Werke: „Das 
Staatöreht der preußifchen Monarchie” (Leipzig, bei Brodhaud, 1. Theil 1856, 
2. Theil 1858, 2. Auflage 1864) bat der Verfaſſer verfucht, das geſammte öffent- 
liche Recht des preußifchen Staats, wie es nicht bloß auf der Verfaſſungs⸗Urkunde 
vom 31. Januar 1850, fondern auch auf Herfommen, flatutarifchem Recht, Geſetzen, 
Erlafien u. f. wm. beruht, in foflematifch» wiffenfchaftlicher Darftelung vorzutragen. 
Wenn wir bei demfelben den Sammlerfleiß des DBerfaflers und bie logifche Anorb- 
uung in der Berarbeitung des reichen Stoffes auch anerkennen müflen, fo halten wir 
doch den Verſuch, mit abfoluter Gewißheit auf dem noch allzu neuen Yundamente 
unferer Verfaſſung einen Geſetzesbau zu gründen, ber nach allen Seiten bin und mit 
Aufhebung aller Durch langen guten Erfolg ehrwürbiger Normen für alle Zeiten bin» 
dend fein fol, weil verfrübt, für mißlungen. In dem Streite der Parteien, welcher 
die ganze Zeit feit dem Eintreten Vreußens in die Reihe der conflitutionellen Staaten 
audgefüllt Hat, haben fi die Srundvorflellungen über die Bedeutung der drei gefeh- 
gebenden Bactoren, des Königthums und ber Landeövertretung, und ihr harmoniſches 
Malten zum Wohle des Ganzen noch zu wenig entwidelt und aufgeklärt, um für 





Nönne (Friedrich v.) Ronfarb (Pierre de). 373 


diefelben unabanderliche Grundfäge aufzuftellen, biefe wie ihre Bonfequenzen in Sy⸗ 
fleme zu formen und letztere als Olaubendfäpe zu verbreiten. Frellich gehört der 
Herr Berfaffer zu den Fanatikern jenes Liberalismus, für die ein hiſtoriſches Hecht, 
das fih auß der großen Vergangenheit unferes Staates entwidelt, gar Feine Berech⸗ 
tigung Hat, die Berüdfichtigung alterworbener Rechte fländifcher Körperfchaften u. f. w. 
ein „überwundener Standpunft” ift, und denen überhaupt der Dogmatismus ihrer 
modernen fogenannten conftitutionellen Doctrinen fo unantaftbar iſt, daß fie ihren 
wiffenfchaftlichen Gegnern kurz und gut „jedes Verſtändniß für das verfaffungsmäßige 
Recht ded Landes“ abfprechen. Auch das wiſſenſchaftliche Verſtaͤndniß der eigenthüm⸗ 
lichen fRaatsrechtlichen Verhältniffe Preußens dürfte durch die compendienartige Weife 
ded Werkes und die Anhäufung von Allegaten, wobei jedoch Meinungsverfchieden- 
heiten ſowohl der Schule als der Praris durchaus ohne Berüdfichtigung bleiben, 
nicht gefördert werden. Diefelben Grundfäge, welche R. in diefem feinem vorgenann- 
ten Werke als „Zundbamental-Grundfäge unferes öffentlichen Rechts nach allen Seiten 
Hin“ aufftellte, verfocht er auch von der Tribüne der Erflen Kammer herab, ald deren 
Mitglied er vom Jahre 1849 bie 1852 für den Wahlkreis Hirfchberg- Schönau fun- 
girte, bei der Berathung über die Reviſion der Verfaſſung und die Einführung neuer 
organifcher Gefetze. R. bewies fi Übrigens mährend feiner Kammerthätigkeit als 
ſtets ſchlagfertiger tüchtiger Redner feiner Bartei, der conflitutiontelfen, ober, wie man 
fie damals nannte, der Fraction des linken Gentrums, und galt als einer ihrer fähig. 
fin Führer. Eine Wiederwahl für die Kammer Ichnte R. ſowohl im Jahre 1853, 
wie bet Eintritt der „neuen Aera?“ unter der Entſchuldigung überhäufter Dienftgefchäfte 
ab, Hat fi auch felther von jeder öffentlichen Theilnahme an dem politifchen Partei- 
treiben zuräcgezogen. — Friedrich v. R., ein Älterer Bruder des Borgenannten, 
geboren 1797 in Glückſtadt, flubirte In Bonn und Kiel die Staatöniffenfchaften, trat 
bei der Erhebung des Jahres 1813 in die englifch-beutfche Region und wurde bei 
Belle- Alliance decorirt. Nach dem Brieden ging auch er in preußifche Dienfte über, 
ward Finanzrath und Präfldent des Handelsamtes in Berlin, 1845 preußifcher Ge- 
fandter bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerifa und im Jahre 
1848 auch von der deutichen Centralgewalt bei derfelben bevollmäditigt, 1850 aber 
zurückgerufen und zur Dispofltion geftellt. 

Konfard (Pierre de), der an der Spike des fogenannten franzdfifhen Sie 
bengeflirns (flehe den Art. Franzöflihe Sprache und Literatur, 7. Br. S. 609) 
ſteht, wurde auf dem Scloffe Poiffonniere in Vendomois 1525 geboren. In feiner 
Jugend trat er als Page in die Dienfle des Herzogs von Orleans, eined Sohnes 
Franz' I, und fpäter in die des Könige Jakob V. von Schottland. Nachdem er fid) 
mehrere Jahre in Schottland und England aufgehalten hatte, machte er im Gefolge 
des franzöflihen Gefandten Lazare de Baif eine Meife nach Deutfchland, auf der er 
Gelegenheit fand, ſich Kenntniffe in den alten Sprachen, befonders in ver griechifchen 
zu erwerben. Das Unglüd, vor feinem 25. Jahre fein Gehör zu verlieren, veranlapte 
ihn, dem Militärftande und Hofleben, wozu er Neigung begte, zu entfagen und ſich 
ganz feiner Neigung zur Boefle zu überlaffen. Von fünf auf einander folgenden Kö- 
nigen, von Franz I. bis auf Heinrich IN., ſehr gefehägt und durch bedeutende Pen⸗ 
Atonen und Priorate ausgezeichnet, ftarb er am 27. December 1585 auf feinem Prio« 
rate von St. Eöme in der Nähe von Tours. R. erfchien feinen Zeitgenoffen und 
fich ſelbſt als einer der größten Dichter, den die Welt jemals gefehen Habe, namhafte 
Philologen eommentirten feine Werke wie die der Alten. Indeſſen fehon Bald nach 
feinem Tode pflegte Malberbe, wenn er feine Gedichte feinen Freunden vorla® und 
harte Ausdrücke und matte Stellen bemerkte, zu fagen: „Bier babe ich einmal ron- 
fardirt"; und La Bruyere fällt in feinen „Caracteres* ein hartes Urtheil über Ihn. 
Dagegen fagt Leopold Ranke in feiner „Branzdftfchen Geſchichte“ (1. Bd. ©. 382): 
„Man müßte ſich verblenden, wenn man ihm ein glänzendes Talent der Aneignung 
und des Ausédrucké abfprechen wollte, oder jenen Schwung des Geiſtes, der für. das 
Einſchlagen einer neuen Bahn ohnehin unerlaͤßlich if." R. Hat fi in allen Dich⸗ 
tungsarten, die dramatifche no home verfuhht; die Dicptungsart aber, auf die er 
fich vorzüglich legte, war die Ode. Er nahm darin den Pindar zum Mufler und 


374 Ronddorf. Moon (Albrecht Theodor Emil von). 


glaubte ſich, als Nachahmer deſſelben, oft in die Wolken erheben zu müflen, was er 
pindarifiren nannte, ein Ausbrud, welcher der franzöflichen Sprache geblieben if 
und gegenwärtig ſchwülſtig ſchreiben bedeutet. Seine Gedichte find nach dem 
Jahre 1567, wo er felbft eine Sammlung derfelben in vier Duartbänden herausgab, 
nicht oft wieder gebrudt worden. Die Ausgaben, Paris 1609, 2 Bände in Kolio, 
und 1629, 5 Bände in 12., find die vollfiändigfien. ine Auswahl feiner Gedichte 
bat St. Beuve (Paris 1828) und Paul 2. Jacob, „Oeuvres choisies* (Parts 1840), 
herausgegeben. 

Ronsdorf. Bis zum Jahre 1729 landen an Stelle der jegigen, im Regierungs⸗ 
bezirk Düffelvorf und am Morsbache gelegenen Stadt R. vier Bauernhöfe, mit neun 
Häufern: der Monstorps=, Blombachs⸗, Königs- und Zanderähof, der Srafichaft Erba⸗ 
löh angehörig. Auf einem diefer Höfe wurde Elias Eller geboren, der, während 
fein Bruder den Hof nach damaligem Erbrechte erhielt, Floretbandwirker wurde, 1724 
Werkmeifter der Fabrik der reichen Wittwe Blockhaus in Elberfeld war, dieſe 1725 
heirathete und, unzufrieden mit den für ihn unerbaulidhen Formen im evangelifchen 
Gottesdienfle, Stifter einer neuen Secte, der Ellerianer oder Zioniten wurde, deren 
Geheimniſſe die „Kirchentaſche“ barg und über die ſich iInterefiante Details in Junge 
Stilfinge „Theobald oder die Schwärmer‘, wo der Stifter Koller genannt wird, 
finden. Geheimnißvolle Worte, welche ein junges Mädchen, Anna v. Büchel, in 
einem verzüdten Zuſtande bervorfließ, vergrößerten den Ruf diefer Secte, zu der 1730 
Prediger Schleiermadyer übertrat. Einige Jahre fpäter heirathete Eller, nad dem 
Tode feiner erflen Frau, Die Anna v. Büchel und legte 1737, gefolgt von 50 Fami⸗ 
Iten, eine Fabrik bei dem Hofe Rondtorp an. Es firömten Anfiebler aus Düſſeldorf, 
Homberg und Ratingen bierber, ein Bufch auf dem Bauer wurde gerottet (daher bie 
Benennung eines Stadttheils Neuland) und fo wuchs der regelmäßige Ort in kurzer 
Zeit. 1745 erhielt er Stadtrechte und zählte 1861 7722 Einwohner, die großartige 
Babrifen in Seide, Bloretband, Baummolle, Leinwand und Eiſen beflgen. 

Noon (Albrecht Theodor Emil von), königlich preußifcher Kriegs und Marine» 
Minifter und Generallieutenant, wurde am 30. April 1803 auf dem Bamiliengute 
Pleuſshagen bei Kolberg geboren und, dem Blauben feiner Eltern gemäß, ald evan⸗ 
geliicher Chrift getauft. Sein Bater, welcher in der Jugend ale Dffizier beim 
Regiment Herzog Friedrich von Braunfchweig- Dels fand, war dreimal vermählt, bie 
legte Gemahlin war eine geborene v. Borde, und aus dieſer Ehe ging Albrecht 
v. Moon als das füngfle und einzige Überlebende Kind hervor, da feine fümmte 
lihen Gefchwifter in früher Jugend bereits verflorben waren. — DBleushagen liegt 
unmittelbor am Strande der Offer; dad Wohnhaus ift Faum 1000 Schritte vom 
Meeredufer entfernt, und das Braufen der See mar daher das Wiegenlied des Kna⸗ 
ben. Da der Bater der Meinung war, daß man dumme Kinder erziehe, wenn dieſe 
zu früh mit Lernen geplagt würden, fo durfte er fich ziemlich unbehindert und frei 
vom Zwange der Schule an den einfamen und weiten Geftaden der Oftfee bewegen, 
und die Eindrüde diefer ernflen und großartigen Natur find wohl nicht ohne Einfluß 
auf die fpätere Entwidelung des Mannes geblieben. v. Moon war bereits 9 Jahre 
alt, als ihm die Beheimniffe des ABE erfchloffen wurden, und feinem @ifer gelang 
ed jetzt ſehr bald, das DBerfänmte nachzubolen. Kurz vorher hatte ber achtjährige 
Knabe bereitd feinen Vater verloren, und einige Zeit darauf zog feine Mutter mit 
ihm nad Alt» Damm zu ihrer Mutter, einer verwittweten Majgrin v. Borde. Des 
Gefundheitszuftand feiner Mutter und überdies die Noth und die Sorgen der da⸗ 
maligen fchmeren Kriegszeiten warfen in die jeßt folgenden Lebensjahre manchen trüben 
Schatten. Es ift nicht der Zweck dieſer Darftellung, auf Einzelnheiten aus der Ge⸗ 
ſchichte dieſer Lebensperiode bier näher einzugeben, auf welche namentlih der Einfluß 
einer Elugen, patrietifchen und enesgifchen Frau beflimmend eingemirkt bat. Es war 
dies die bereitö erwähnte Broßmutter, eine jener durch Gigenfchaften des Geiſtes und 
bes Charakters hervorragenden Frauen, welche, wie eine geiflreihe Schrififtellerin ſich 
außdrüdt, dazu beflimmt find, bedeutende Maͤnner zu erziehen. Aus den Mittheilungen, 
welde wir einem Jugendfreunde des Herrn v. Moon über diefe Periode feines Lebens 

rbanten, wollen wir unfesn Leſern ein Paar, die Perſoͤnlichkeit biefer feltenen Frau 


Noon (Albrecht Theodor Emil von). 375 


Eennzeichnende Züge nicht vorenthalten, welche dem Charakter bes fpäter fo berühmt 
gewordenen preußiſchen Kriegsminifters die bedeutendſten Impulje gegeben hat. Es 
war während der Belagerung der durch die Zranzofen vertheidigten Feſtung Stettin, 
zu der das befefligte Städtchen Alt Damm zu rechnen, als Frau v. Borcke, welche 
in legterem ein Haus befaß, inmitten der nicht eben fehr glimpflich fchaltenden Feinde, am 
Beburtötage des Königs zu einer Zeit, wo die Straße mit Branzofen angefüllt war, 
dad Benfter öffnete und mit lauter heller Stimme die Sefundheit des Lanbesherrn 
außbrachte und zwar mit dem Wein, den fle dazu von ben Branzofen, welche Alles 
geraubt und geplündert hatten, mit dem legten ihr übrig geblieben Groſchen, gekauft 
hatte. Auch blieb die 72 Jahre alte rau zu jener Zeit, als der Hunger ihre 
fämmtlihen Hausgenoſſen genöthigt hatte, die belagerte Stadt zu verlaflen, mit einer 
Magd allein in dem von Einquartierung beläftigten Hauje zurüd, um nad) dem Rechten 
zu ſehen. Zu ſchwach, um diefer Aufgabe zu genügen, erlag fle ihrem Eifer. Als ihre 
Angehörigen nach der Bapitulation bed Plages in das verwüſtete Haus zurüdfehrten, 
fanden fle Die Großmutter im Grabe. Das energifche und muthige Wefen diefer un- 
erfchrodenen Frau fonnte nicht verfehlen, auf den Enkel einen mächtigen Eindrud zu 
machen; Beifpiel und geiflige Berührung wedten in ihm frübzeitig die Keime einer 
nahe verwandten Natur. So hatte, um einen fprechenden Zug hierfür mitzutbeilen, 
die Großmutter den kaum zehn Jahre alten Knaben aufgefordert, den bei dem Wohn» 
baufe befinnlicheri Garten zu vertheidigen, welcher damals häufig von Branzofen. ber 

raubt wurde. Zu dieſem Zwecke Hatte derfelbe ein altes Bafonett auf einen Beſen⸗ 
fiel geſteckt und mußte, entſchloſſen davon Gebrauch zu machen, es durch feine Wach⸗ 
ſamkeit dahin zu dringen, daß die Gartendiebe zu den verſchiedenſten Malen vertrieben 
wurden. Für dad preußifche Herz des Knaben legt ein recht lebendiges Zeugniß 
auch der Kinderglaube ab, von dem er bei der Belagerung von Alt-Damm fich leiten 
ließ,. Daß nämlich die Preußen auf ihn, den preußiichen Knaben, doch gewiß nicht 
fchießen würden. Gr war daher jederzeit überall da, „wo es knallte“, und bei einer 
Gelegenheit wäre ihm dies beinahe tbeuer zu flehen gefommen. Es plagte nämlich 
eine Bombe auf dem Pflafter der Straße unmittelbar zu feinen Füßen, durch Gottes 
Fügung Fam er jedoch mit einer leichten Verlegung durch einen Eleinen Splitter ber 
Sranate glädlih davon. Wir befchränfen und uuf diefe wenigen charakteriftifchen 
Züge aus dem Jugendleben des Kriegäminifters v. R. Erf im November 1816 er- 
bliden wir den dreizehnjährigen Knaben wieder in einer gelben altmodifchen Kutfche, 
wie fle Damals üblich waren, dem Schuge des Scirrmeifters anvertraut und einen 
Voflfreipaß in der Tafıhe, auf dem Wege nah Culm, wo er in das Cadettenhaus 
aufgenommen werden folltee Dort blieb er bis zum Juni 1818 und trat dann 
(bis zum Jahre 1820) in das Cadettenhaus von Berlin. Der Aufenthalt in 
diefer Anfalt fiel in eine Zeit, wo eine mächtige Bewegung und Erregung alle 
Geiſter ergriffen Hatte, und auch die Lehrer und Schüler ded Berliner Gadettenhaufes 
waren davon nicht unberührt geblieben. Cine fih auch bier geltend machende dema- 
gogifche Richtung hatte erhebliche Zerklüftungen herbeigeführt und zwei politifhe Par« 
teien Randen ſich feindlich einander gegenüber. Herr v. M. zählte damals bereitd zu 
den Gonfervativen und feiner ganzen PBerfönlichkeit nad trat er bei dieſen Partei⸗ 
fämpfen vorzugsweiſe in den Vordergrund. Diefe Erfcheinung, ein jugendliches Vor⸗ 
fpiel des ernſten Wirkens, zu dem fpäter Der gereifte Mann unter den fchwierigften 
Berhältniffen in den höchften Math des Königs berufen wurde, bezeugt die Tiefe ber 
Geiftesrichtung und Lebendauffaffung, welche ihm in den Kämpfen der Gegenwart 
männlich zu befunden beidieden war. Am 9. Januar 1821 erreichten die erften 
Lehrjahre R.'s durch feine Ernennung zum Offizier ihr Ende. Er wurde zuerft in 
dad 14. Regiment, das damalige 3. pommerfche, verfegt und hatte feine Garnifon in 
Stargard. Bald nach diefer Zeit trag ihn der Verluſt feiner Mutter, welche in den 
legten Jahren in eine fchwere Gemüthskrankheit verfallen war. Zu Diefem Kummer 
gefellten fi bebrängte äußere Verhältniffe, da bei dem In den damaligen jchlechten 
Zeiten flattgehabten unvortheilhaften aber nothwendigen Berfauf von Pleushagen 
das elterliche Vermögen fafl ganz verloren gegangen war und er In Folge befien 
mehrere Jahre hindurch ſich ohne alle Zulage befand. Freilich verſtand man es aber zu 


36 Noon (Albrecht Theodor Emil von). 


jener Zeit noch mit Wenigem froh zu fein und eradhtete keineswegs bie feinflen Le⸗ 
bendgenüffe als unentbehrlichde Erforderniſſe des Vergnügens. Die unter folchen 
Berhältniffen früh gewonnenen Lebenserfahrungen, dad Bemußifein glüdlicher Bega⸗ 
bung und die geiflig, von dem Einerlei des Garniſonlebens nicht ausgefüllte Unbe⸗ 
friedigtheit drängten den jungen Offizier den einzig offenen Weg zu betreten, um in 
befiere Berhältnifie zu gelangen. Er meldete fih daher zur Kriegsfchule und wurde 
im Herbſt des Jahres 1824 zu jener Anftalt einberufen. Das Leben auf der Kriegs» 
fhule war in damaliger Zeit ziemlich ungebunden. Herr v. R. beichäftigte fich hier 
eifrig mit Allem, was ihn intereffirte, fo entfchieden er fich auch gegen eine gewiſſe 
in den Lehrplan des Inſtituts aufgenommene Univerfalität wehrte. Alle Militär- 
wiffenfchaften, namentlich aber die Kriegdgefchichte, trieb er mit großer Vorliebe, außer« 
dem aber wandte er noch einer Anzahl anderer wiffenfchaftlicder Disciplinen, inſon⸗ 
derheit der Geographie, Geſchichte und den Naturwiflenfchaften ein eingebended Stu⸗ 
dium zu und befuchte zu diefem Behufe nicht bloß die Borlefungen an der Kriegd- 
afademie, fondern auch die Vorlefungen von Ritter, Haumer, Erman und anderen an der 
Berliner Univerfität angeftellten Brofefforen. Er lebte daſelbſt in einem Kreife gleichfalls zur 
Kriegd » Akademie commandirter Offiziere, welche demnähft in der Mehrzahl eine ge⸗ 
wiſſe Bedeutung in der Armee erlangt haben, wie z. B. die jegigen Generallieutenants 
v. Prondzynski und v. Glisczinski, der verftorbene General v. Schlegell, der gleich- 
falls zu früh Heimgegangene Oberſt v. Neuß u. 2. m. Im Jahre 1826 erfolgte 
v. R.'s Berfeßung zu dem 15. InfanterterMegiment nach Minden, wohin er fi nad 
Beendigung des dreijährigen Gurfus an der Kriegd- Akademie begab. Wohl nicht 
ohne Schmerz verließ er dad liebe Bommerland, an welches ihn fo viele nahe Ver⸗ 
wandtfhafts- und Yreundfchafts- Beziehungen Enüpften. Namentlich war es die ver⸗ 
wandte Familie v. Blankenburg, in deren Kreife er viel verkehrte und in der Megel 
feine Urlaubszeit zugubringen pflegte. Noch in demfelben Jahre führte ihn ein Com⸗ 
mando als Erzieher an der Cadetten⸗Anſtalt nach Berlin zurüd, und in diefer Stel« 
lung war e8, wo er die erflen Grundlagen zu feinem fpäteren berühmten Namen 
legte. Er Hatte bereits im Jahre 1829, auf Beranlaflung feines damals als Studien» 
Director des Badettencorps fungirenden theuren Lehrers Ritter, auch Unterrichtöflunden 
bei der Anflalt übernommen. Sein große® Intereffe an geograpbifchen Studien führte 
ihn auf den Gedanken, das wiffenfchaftlide Syſtem von Karl Mitter in einer Weife 
zu popularifiren, um die großen Mejultate deffelben, welche die bisherige geograpbifche 
Wiffenfchaft von Grund aus umgeftaltet hatten, weiteren Kreifen zugänglich zu machen. . 
Er verfußte daher, zunächft im Auftrage und im Intereffe der Anſtalt, ein dieſe Auf- 
gabe verfolgendes Lehrbuch, welches fpäter in mehrfachen Umarbeitungen und Auf 
Tagen In den weiteſten Kreifen Beifall gefunden bat, fo daß davon in einer Reihe von 
Jahren mehr als 50,000 Exemplare abgeſetzt wurden. Es brachte in den Kreifen 
der Schule eine völlige Umgeftaltung der Unterrichts - Methode hervor, wenngleich es 
ftoffli über dad eigentliche Gymnaflal- Bebürfnig wohl etwas zu weit hinaus griff. 
Deshalb entflanden Nachbildungen feine& Leitfadend in großer Zahl. Keine derſelben 
dürfte fih jedoch eines annähernd ähnlichen Erfolges rühmen koͤnnen. Bei Ab- 
faffung dieſes Buches bewährte Herr v. R. bereits die große Arbeitskraft, welche ja 
in neuerer Zeit fo vielfach Begenfland größter Berrunderung geweſen if. Das er« 
wähnte Buch, welches bei feinem Erſcheinen im Jahre 1832 den Titel erhielt: „Grund⸗ 
zuge der Erd» und Bölferfunde*, wurde von ihm in 7 bis 8 Monaten abgefaßt und 
er mar zu biefem Zwecke genöthigt, einfchließlich feiner Unterrichtöftunden täglich min- 
deſtens 13 Stunden zu arbeiten. Seine Eollegen prlegten von ihm in Bezug auf 
biefe Infonderheit bei einem jungen und Übrigens ganz lebensluftigen Dffizier bewun⸗ 
dernömerthe Thätigfeit fcherzend zu fagen, er „fpönne*. Diefem erften Werke folgten, 
auf Grund vielfacher amtliher Anregungen, mit Nüdfiht auf das Bebürfniß der 
Gymnaſien und Nealichulen, die „Anfangsgründe der Erdkunde (Berlin 1834)", ledig⸗ 
Ich beſtimmt als Leitfaden in der Hand der Schüler zu dienen, während eine zweite 
vermehrte Auflage der „Brundzüge” ꝛc. in drei flarken Bänden für die Hand des Leh⸗ 
rers dazu beflimmt war, dieſem die Mittel zur Belebung bes in den „Anfangsgrün- 
na" vorgetragenen Lehrſtoffes darzubieten. Es iſt bier nicht der Ort, auf dieſes be⸗ 


— — —— — — — — — 


Noon (Albrecht Theodor Emil von). 37 


deutende Werk, deffen Werth von den Fachmaͤnnern im vollen Maße gewürbigt wor- 
den iſt, näher einzugeben; mir erinnern aber daran, daß der größte Geograph der 
neueren Zeit, namentlich im Hinbli auf diefes Werk zu fagen pflegte, daß Roon fein 
bervorragendfler Schüler geworden ſei. Bei dieſer Belegenheit wollen wir noch zwei 
größere wiffenfchaftliche Arbeiten erwähnen, welche Herr v. Moon einige Jahre fpäter 
verdffentlihte. Die erflere erfchlen unter dem Titel „Milttärifche Länderbefchreibung 
von Europa” im Jahre 1837; die andere, welche die geographifch-politifchen Ver⸗ 


| haͤltniſſe der iberiſchen Halbinſel behandelt, wurde 1839 veröffentlicht. Auch dieſe 


beiden Werke fanden die rühmlichfte Anerkennung. Ein preußiſcher Beneral-Stabs- 
Offizier fand neuerlich auf feiner Reiſe durch Italien den commandirenden General des 
Belagerungd-Gorps vor Gaeta in feinem Zelte damit befchäftigt, die erflere diefer Ar- 
beiten aus dem Deutfchen in's Stalienifche zu überfegen. Herr v. Moon bei feiner 
Ankunft in Berlin von feinen neuen Gollegen auf das Herzlichfte empfangen, bat die 
Zeit feines 3%, Jahre dauernden Commandos bei dem Cadetten⸗Corps ſtets als eine 
überaus glückliche und befriedigende bezeichnet, die ihm, neben dem beruflichen hHeiteren 
Verkehr mit der Iugend und befriedigender wiſſenſchaftlicher Thätigkeit in einem Kreife 
geiflig angeregter und freundfchaftlich verbundener Männer, auch die Freuden hbeiterer 
Geſelligkeit gewährte, die, getragen von fittlichem Ernſt und belebt von dem fröhlichen 
und unternebmenden Sinne frifcher männlicher Jugendkraft, die faſt Elöfterliche Eriftenz 
eines pflichttreuen Jugendlehrers und Erziehers zu würzen wohl geeignet war. Erſt 
Im Sommer 1832 Eehrte Moon zu feinem Megimente zurüd. Sein Aufenthalt daſelbſt 
war indeß nicht von langer Dauer. Bekanntlich wurde damals In Folge der belgi» 
ſchen evolution und namentlih auf DVeranlaffung der Belagerung von Antwerpen 
durch die Franzoſen ein preußifches Obfervationscorps am Mhein zufammengezogen, 
welches von dem General v. Müffling commandirt wurde. Diefer berief Herrn v. M. 
bald nach deſſen Ruͤckkehr zu feinem Regimente in das Hauptquartier nach Erefeld. Müffling, 
einer der hervorragendflen Generale und Staatsmänner Preußens (bekanntlich fpäter zum 
Bräfldenten des Staatératho ernannt), erkannte fehr bald die bedeutenden Eigenfchuften 
R.'s und Intereffirte fi ſeitdem für ihn auf das Entſchiedenſte. Leider war bie 
erwähnte preußifche Machtentfaltung nur eine Demonftration und der Verſuch, wie 
weit man mit einer folchen reichte. Mit derfelben war indeß ein für unfere Armee- 
gefhichte nicht unmwefentliches Moment verfnüpft. Die Aufftelung des Obfervationd- 
Corps Hatte auf manche Mängel aufmerkſam gemacht, die unfer Militär-Organismus 
enthielt, und hauptſaͤchlich Hatte ſich dabei herausgeſtellt, daß die Regimenter für die 


. Kriegsftärfe keineswegs eine ausreichende Zahl von mwohlausgebildeten Meferven be⸗ 


faßen, indem die zur Bervollfländigung der Kriegäreferven feit einigen Jahren audge- 
bildeten Kriegöreferve-Rekruten, welche zum Theil nur eine Dienflzeit von ſechs Wochen 
hatten, ſich bei der Einziehung als unbrauchbar ermiefen. Aus diefer Erfahrung und 
zugleich aus Nüdfiht für die damals noch unentmwidelten Finanzkräfte des Landes 
kam man zu dem Auskunftsmittel der verkürzten Dienftzeit für die Infanterie, dieſem 
Stedenpferde unferer heutigen Liberalen, welche bekanntlich verſuchsweiſe von 1833 
bis 1854 beftanden hat. Als Antwerpen demnächft gefallen war, fam für das preu- 
Bifche Obſervations⸗Corps der Befehl zum Rückmarſch; v. R. begab fich jedoch zu— 
nächft nach Antwerpen, um die Nefultate der Belagerung in Augenfchein zu nehmen. 
Bereits im Frühjahr 1833 fehen wir v. R. wieder in Berlin, um ein ihm über- 
tragenes Commando bei dem topographifchen Bureau anzutreten. Die ihm pro 1833 
und 1834 übertragenen Bermeflungsarbeiten, fo wie die ihm in den Wintermonaten 
bet dem großen Generalftabe zugemwiefenen Gefchäfte beflätigten die günſtigen Erwar⸗ 
tungen, die man von feinen Fähigkeiten hegte und die er weiter auszubilden nicht 
müde wurde. So geichab ed, daß er bereitd im März 1835, d. i. ein Jahr vor 
Beendigung der gewöhnlichen Prüfungszeit, zum Generalftabe commandirt wurde. In 
demfelben Jahre, bei Gelegenheit einer Recognoscirungsreiſe nach Schleflen, wo große 
Revue vor Sr. Mafeflät dem Könige abgehalten wurde, Iernte Herr v. R. eine ihm 
bis dahin unbekannte Berwandte in dem Haufe des Predigers Rogge zu Groß-Tinz und 
zugleich feine feßige Gemahlin, die Tochter des Haufes, Tennen, mit welcher er fi 
im Herbſte deſſelben Jahres verlobte und ein Jahr fpäter vermäblte Seine dienſt⸗ 


318 Hoon (Albrecht Theodor Emil von). 


liche Ihätigleit in Berlin follte inzwifchen eine immer größere Ausdehnung ge- 
winnen. Abgeſehen von feiner Thätigleit bei dem großen Generalftabe, wurbe Kerr 
v. R. im Herbſt 1835 als Examinator bei der Ober-Rilitär-Eraminationd-Gom- 
mijflon und ald Lehrer bei der Allgemeinen Kriegöfchule, jepigen Kriegs⸗Akademie, 
berufen. Im März 1836 wurde er als Hauptmann in ben großen General» 
flab verjegt und im Herbſt deflelben Jahres erfolgte feine Vermaͤhlung. Es war mohl 
eine &reude für den firebfamen Mann, das Ziel berechtigter Wünfche, eine ausfichts- 
reihe Dienfiftellung und die Gründung eined eigenen Herde errungen zu haben. 
Uber auch Leiden blieben nicht aus. Als Folge vielfacher Anftrengungen wurde er 
1839 von einer heftigen und hartnädigen Augenentzündung befallen, die ihn mit 
Sorge für feine Zukunft erfüllte. Diefer Umftand veranlaßte ihn, auf ein damals ihm 
gemachtes Anerbieten, die Direction der Nitterafademie in Liegnig zu übernehmen, ein- 
zugeben. Die Sache zerfchlug fich jedoch glüdlichermeife noch in der legten Stunde, 
weil die von Herrn v. R. geftellten Bedingungen an Allerhöchſter Stelle beanſtandet 
wurden, und feine Gefundheit fchien fi nach dem Gebrauche eines Seebades wieder 
zu fräftigen. Auf einer im Sommer 1840 unternommenen Fußreiſe durch die Schweiz 
und Italien, die ihm für feine geograpbifchen Interefien reiche Ausbeute gemährte, 
ſchien er feine alte Rüftigkeit wieder gewonnen zu haben. Nach einer im Herbſt 
1841 dienfllid unternommenen Recognoscirungsreife durch Böhmen, Mähren und lin» 
garn und einer fih daran fchließenden Generalftabdreife nach Schleflen erkrankte er 
jedoch im Haufe feines Schwiegervaterd von Neuem und zwar an einem bösartigen 
Nervenfieber, welches ihn dem Tode nahe brachte und ihn bis zum Januar bes fol- 
genden Jahres an der Führung feiner Gefchäfte behinderte. Bald nad feiner völligen 
Geneſung erfolgte feine Ernennung zum Major und die Berfegung zum Generalflabe 
des 7. Armeecorps, weldyes damals von dem General v. Pfuel commandirt wurde. 
Doc bereit8 im folgenden Jahre wurde er, feiner Borlefungen an der Kriegsakade⸗ 
mie halber, wieder zu dem großen Generalftabe nach Berlin verfegt. Ein Jahr fpäter 
fiel ihm auch die ehrenvolle Aufgabe zu, Se. RK. 9. den Prinzen Friedrich Carl in 
der Geographie und Taktik zu unterrichten. Während dieſer Zeit war Herr v. Moon 
auch literarifch nicht unthätig geblieben; aufer einer Reihe von Arbeiten für bie das 
mals in Berlin erſcheinenden Jahrbücher für wiſſenſchaftliche Kritik veröffentlichte er 
die ſchon oben erwähnte, leider unvollendet gebliebene Monographie der iberifchen 
Halbinfel, des Schauplage8 der damaligen Karliftenfänpfe; auch nahm er Theil an 
der Herausgabe der Gefchichte des fiebenjährigen Krieges, welche von dem koöniglichen 
Generalftabe veranftaltet wurde. Im Jahre 1846 begleitete er den Prinzen Friedrich 
Carl auf die Univerfität nah Bonn und wohnte daſelbſt zwei Jahre Hindurd allen 
Dorlefungen bei, welche der Prinz öffentlich oder privatijfime frequentirt. Während 
der verfchiedenen Univerfltätöferien begleitete er den Prinzen auf feinen Heifen durch 
die Rheinprovinz, die Schweiz, Italien, Sranfreih und Belgien, unter firengfler Be⸗ 
obachtung des Incognitoß, wobei er von dem richtigen Grundfage audging, daß ein 
Prinz nur auf folde Welle zu richtigen Erfahrungen und Anfchauungen gelan« 
gen koͤnne. Auch befudte Herr v. Moon damald mit dem Prinzen verfchie- 
dentlih die Höfe von Weimar, Darmfladbt, Hannover und Karlsruhe. Nah Beendi⸗ 
gung der Univerfitäts-Studien des Prinzen Friedrich Carl wurde der Major, unter 
Bezeugung der Allerböchften Zufriedenheit und Verleihung des St. Johanniter⸗Or⸗ 
dens, im Mai 1348 als Chef des Beneralflabes zum 8. Armeecorps nad Koblenz 
verfegt. Die damals überaud unrubigen und verwidelten Zufände der Provinz und 
die damit verknüpften militärifchen Mapregeln machten dieje Dienfiflelung — anfäng« 
li) unter General v. Dunker, dann unter General v. Schredenftein und ſchließlich 
unter General v. Hirfchfeld — zu einer fehr bewegten und laftvollen. Das Bewußt⸗ 
fein, in dieſer aufreibenden Thätigfeit nügliche Dienfte zu leiften, veranlaßte ihn da» 
mals, eine anderweitige Stellung abzulehnen, melde ihn uneracdhtet des damit ver» 
knüpften großen DBertrauend und der noch größeren Berantwortlichkeit feinem mir 
litärifchen Berufe wenigſtens in gewiffem Grade entfremdet haben würde. Die all« 
gemeinen öffentlihen Berbältniffe gingen inzwifchen ihren befannten Gang; auf das 
September-Blutbad in Frankfurt folgte Die babifche evolution, und es trat an das 





KHoon (Albrecht Theodor Emil von). \ 379 


wieder erflarkende Preußen die Nothwendigkeit heran, die Iegitime Ordnung ber Dinge 
wieder berzuftellen.. Damit wurde zunaͤchſt der General v. Hirfchfeld beauftragt, dem 
Herr v. Moon als Chef des Beneralftiabes nah Baden folgte. Als folder wohnte 
er den Gefechten bei Upftadt, Durlach, Wiſchweyher, Müdenflurm, am Federbach bei 
Raflatt und an der Murg bei und erhielt in Anerkennung der dabei bewährten Bra- 
vour den Mothen Adler-Orben 3. Klaffe mit Schwertern. Nach Beendigung des 
Beldzuges lag e8 Herrn v. Moon zunädhft ob, die Arbeiten für bie Mobilmachung, 
welche 1850 erfolgte, zu leiten; befanntlih führte auch dieſe Mobilmahung nur zu 
einer Demobilmahung. Als dieſe in nahe Ausficht trat, gelang es ‚dem inzwifchen 
zum ÖOberfl-Lieutenant aufgefliegenen Chef des Beneralftabes, feinem Wunfche gemäß, 
in den Brontdienft zurüdzutreten. Weihnachten 1850 erfolgte feine Ernennung zum 
Oberfien und zum Kommandeur des damals in Thorn garnifonirenden, bald darauf 
aber nad Königäberg in Preußen und im November 1851 nah Köln verlegten 
33. Infanterie⸗Regiments. Nachdem er auf- diefe Weife Gelegenheit erhalten, auch 
feine Befähigung zum praftifchen Dienft darzuthun, wurde er im Sommer 1856 zum 
Commandeur der in Pofen flehenden 20. Infanteries- Brigade, wenige Monate darauf 
au zum General» Major ernannt, und bereitd im November 1858 erfolgte 
feine Ernennung zum Gommandeur der 14. Diviflon, deren Stab befannt- 
lich tin Düffelvorf lebt. In dieſer Eigenfchaft leitete er auch im folgenden 
Jahre die Mobilmahung der. ihm untergebenen Truppen und ebenfo die bald 
darauf dem Frieden von Billafranca folgende Demobilifirung derfelben. Die große 
Mannichfaltigkeit dienſtlicher Befchäftigungen und eigener wiffenfchaftlicher Beſtrebungen 
und Interefien, die dem vielbewanderten Ranne in einem langen fehr bewegten Dienft- 
Icben obgelegen, hatten nur dazu gedient, feinen inzwifchen gereiften Blick zu fchärfen 
für Die eigentlihen und höchſten Aufgaben feined mit voller Liebe erfaßten Berufes. 
Die Mobilmachung von 1850, bei der er durch feine Stellung leitend mitzuwirken 
berufen war, hatte die aus naher Beobachtung gefchöpfte Sorge um die unverfenn- 
baren Mängel unferer Kriegöverfaffung auf's Unzweideutigſte beftätigt und thatſaͤchlich 
begründet. Seltvem war es fein unabläffiges Sinnen, wie den bemerkten Mängeln 
abzubelfen fei, die des Baterlandes militärifches Vermögen und damit feine Macht 
und politifche Bedeutung, ja feine Unabhängigkeit auf's Ernſtlichſte zu bedrohen ſchie⸗ 
nen. Allen denkenden und weiter blidenden Offizieren war diefe Aufgabe nahe getreten 
und in dem weiten Kreife von Bleichgefinnten, denen v. MR. nahe ſtand, war ihre 
Löfung das flehende Thema vertraulicher Beiprehungen. So geſchah es, daß Herr 
v. R. im Sommer 1858 veranlaßt wurde, Seiner königlichen Hoheit dem Regenten 
Anfangs mündlich, dann in Form einer Denkfchrift feine Anſicht über eine Reorgani- 
fation der Armee und zwar zunächft über Diejenige der Infanterie vorzutragen. ine 
weitere Folge konnte dieſe Denkſchrift zunaͤchſt ſchon um desmillen nicht haben, als 
die Mobilmachung des Jahres 1859 alle organifatorifchen Veränderungen in ber Arınee 
ausſchloß, fo fehr fle die Notbwendigkeit derielben auch von Neuem auf's Augen- 
fälligfte darthat. Die neuen Wahrnehmungen hatten die ähnlichen früheren fo uns 
zweideutig befldtigt, daß des Megenten Lönigl. Hoheit es für feine allernächfte Pflicht 
hielt, der dringenden, weil um des DVaterlandes willen nöthigen Abhülfe unverzüglich 
näher zu treten. Im Anfang September 1859 wurde Herr v. R. daher nad Berlin 
berufen, um den inzwifchen auf VBeranlaflung feiner Denkſchrift im Kriegsminifterium 
bearbeiteten Neorgantfationsplan der Armee kennen zu lernen und zu begutachten. Er 
flattete darüber fohriftlich einen eingehenden im Wefentlihen zuflimmenden Bericht 
ob. Behufs mündlicher Erläuterung deflelben von Seiner koͤniglichen Hoheit nadh 
Baden berufen, wurde dad Project feiner Bollendung nahe geführt. Auf 
Allerhoͤchſten Befehl nahm er demnähf auch an den im October und No⸗ 
vember über diefen wichtigen Gegenfland zu Berlin flattfindenden commiſſariſchen 
Berbandlungen Theil und bald, darauf, am 5. December 1859, erfolgte feine 
Ernennung zum Kriegeminifter, nachdem er einige Monate vorher zum Generallieutes 
nant befördert worden war. Zwei Jahre fpäter wurde er vom Könige auch zum 
Marineminifter ernannt. Wohl niemald war ein preußifcher Kriegäminifter berufen, 
fein Amt unter fo fchwierigen Verbältniffen zu führen, wie fie Herr v. R. vorfand, 


- 


‘ 


380 Roon (Albrecht Theodor Emil von). 


Es war ihm von feinem Könige die Aufgabe zugemwiefen worden, eind ber größten 
Reformwerke in's Leben zu rufen, welches jemals der preußiſche Staat gefeben bat, 
und er hatte dabei nicht bloß mit den großen in der Sache felbft Legenden Schwie- 
tigfeiten, mit den Borurtheilen, dem Unverflande und dem Uebelwollen der großen 
Menge, mit der philifterhaften Scheu der meiften fogenannten Gebildeten vor allen 
großen und Fühnen Mafregen, fondern überdies noch mit vielfahem Widerſtreben 
feiner @olfegen zu tämpfen, von denen er durch tiefgehende politiſche Diffonanzen 
getrennt war. Diefe großen Schwierigfeiten fonnten felbfiverffändlich einen Mann von 
der Tharkraft und dem Muthe R.'s nicht erfchlittern, fondern nur feinen Eifer zur 
Verfolgung des patriotifchen Ziele, welches er fich geftedt hatte, beleben, aber eben 
fo wenig Eonnten die politifchen Diffonanzen mit den meiften feiner Gollegen ihn ver⸗ 
anlafien, die von feinem Könige ihm zugedachte Aufgabe abzulehnen. Der ift ein 
fhlechter Soldat, welcher feiner Fahne in den Tagen der Gefahr untreu wird, und 
am menigften Eonnte e8 ein preußifcher Offizier mit einem warmen preußiſchen Herzen 
über fi gewinnen, feinem königlichen Kriegäheren in folcher Zeit feine Dienfte zu 
verfagen. Dies waren die Motive, welche ihn veranlaften, in das Minifterium Auerd- 
wald zu treten; e8 liegt ihnen doch gleichzeitig noch ein allgemeinerer Zug zu runde. 
Sie weifen zurüd auf jene altpreußifchen Traditionen der Selbflverläugnung und der 
Königätreue, auf welche daB alte Staatsrecht Preußens aufgebaut war, und welche 
audy neben der Berfaffungsurfunde gar wohl beſtehen Fünnen, die aber freilich in der 
von liberalen Doctrinären ertundenen Chablone des modernen Conſtitutionalismus 
feine Stelle finden. Das preußifche Vaterland aber ift Herrn v. M. zu ewigem 
Dante verpflichtet, daß er fidh der von feinem Löniglichen Gern ihm zugedachten Aufe 
gabe nit entzog, welche dieſen nicht minder mie ihn feit vielen Jahren auf daß 
Ernflefte Hefchäftigt Hatte, und die gelöſt werben mußte, wenn Preußens Macht und 
Anfehen nicht zu Grabe getragen werden ſollte. Der Raum geftattet e8 uns nicht, 
auf die Einzelnheiten diefes großen Reformwerkes bier näher einzugeben, mit welchem 
der Name des Herrn v. R. unauflöslih verbunden if. Wir befchränfen uns daher 
auf einige allgemeinere Bemerkungen. Als nad Beendigung des glorreichen Krieges 
von 1813 bis 1815 ein neuer, von fämmtlicyen europälfchen Mächten garantirter 
Zuftand eintrat, welcher eine längere Dauer des allgemeinen Friedens verhieß, erfchien 
au für Preußen und feine damald noch wenig entwidelten finanziellen Kräfte ein 
wenig zahlreiches ſtehendes Heer ausreichend, dem fich Für den Kriegöfall die Land- 
wehr zur Bertheidigung des Vaterlandes anfchließen follte. Uber ſchon nach einigen 
Jahren, befonderd nach den politifchen Erfchütterungen des Jahres 1850, erfannte 
man, daß das fichende Heer durch feine geringe Stärke dem politifhen Gewichte des 
Staates nicht entſprach. Inzwiſchen Hatten Die europäiichen DVerbältniffe mehr und 
mehr eine andere Geftalt gemonnen. An die Stelle früherer Stetigfelt trat ein Zu⸗ 
fand des Schwankensé und der Unficherheit, in Folge deſſen fich je länger, deſto haͤu⸗ 
figer, um Preußen fein Gewicht in den europäifchen Entſcheidungen zu ſichern, mili⸗ 
tärifche Machtentfaltungen als nothwendig erwiefen. Seit dem Jahre 1850 haben 
eine allgemeine und mehrere partielle Mobilmadjungen flattgefunden, und man hatte 
fih gendthigt gefehen, dabei ſtets Die entfprechenden Theile der Landwehr einzuberufen 
und mehr und mehr auf ihre innere Verfhmelzung mit der Linie hinzuwirken. Im 
Zaufe diefer Zeit Hatten unfere großen Nachbarftaaten ihre militäriſchen Kräfte in den 
größten Dimenflonen vermehrt. Zmwifchen ihnen Tiegt das preußifche Staatögeblet un⸗ 
zufammenhängend mit verhältnißmäßig Tanggedehnten, von der Natur wenig geſchützten 
Grenzen. Die früher nicht geahnte Entfaltung der Eifenbahnen macht e8 den Nadh- 
barftnaten möglih, fofort überlegene Heeresabtheilungen an Preußen® Grenzen zu 
werfen. Allen diefen Berbältniffen und den Aufgaben Preußens als europälfcher und 
deutſcher Großmacht war daß flehende Heer nicht mehr gewachfen, die bei jeder Gele- 
genheit erforderliche Heranziehung der Landwehr erwies ſich aber eben fo unzureichend 
für eine raſche militärifche Machtentfaltung, wie böchft bedenklich für den National⸗ 
mohlftand. Wenn felt dem Jahre 1848 die preußifche Politik Häufig den Vorwurf 
der Schwäche und der Unentfchloffenhelt erfahren mußte, fo darf nicht Überfehen 
werden, daß die Megierung bei der früheren Heereseinrichtung ſelbſt in wichti⸗ 


Neon (Albrecht Theodor Emil von). 381 


gen und entſcheidenden Momenten oft Unftand nehmen Tonnte, eine Entfaltung 
ihrer Heeresmacht eintreten zu laſſen, welche durch die Mitberufung der Landwehr, 
deren Angehörige zum großen -Theil Familienväter waren, tief in alle Lebens verhält⸗ 
niffe eingriff. Der Zweck der Urmee- Reorganifation iſt daher zuvärberfi eine ſolche 
Erhöhung der Friedensflärfe des fichenden Heeres, daB bafielbe ausreicht, um auch 
ohne jedesmalige Einberufung der Landwehr dem preußifchen Einfluß in Europa 
jeder Zeit Nachorud zu geben. Das Mittel dazu iſt einedtheils die zahlreichere Rekru⸗ 
tirung und damit die wirkliche Ausführung des In dem Geſetz vom 3. Septbr. 1814 
außgefprochenen großen Grundſatzes der allgemeinen Wehrpflicht, andererſeits die 
engere Berbindung der jüngften Jahrgänge der Landwehr mit dem ſtehenden Heere 
Dusch eine Berlängerung der Mefervepfliht, dagegen die Erleichterung der älteren, 
meiſt verbeiratheten Jahrgänge der Landwehr und die Verkürzung der Landmehrzeit 
überhaupt. Die Meorganifation beruht alfo auf der wirklichen Heranzichung aller 
Dienffähigen zum Militärdienft, mithin auf der wirklichen Wehrhaftmachung der Nation, 
welche bis dahin nur im. Geſetz, nicht in der Wirklichkeit beſtand. Seit 1820 iſt die 
Bevöllerung Preußens von 11 auf 181/, Millionen geftegen, die jährliche Rekruti⸗ 
rung aber war ungefähr diefelbe geblieben. Nur etwa 26 Procent der Dienfipflich- 
tigen gelangten in Folge des aus vielen Gründen anflößigen und überdies mit dem 
Befeh vom 3. September 1814 in directem Widerfpruche flebenden Syſtems der Frei- 
Ioofungen zur Ableiftung ihrer Dienftpflicht, während erfabrungsmäßig mindeftend 40 
Procent der Pflichtigen dienfifähig find. Sollte das erwähnte Geſetz daher zur Wahr- 
heit werden, fo mußten flatt der früher jährlich eingezogenen 40,000 Mann jährlich 
63,000 Dann zu den Bahnen berufen merden. Mit der Vermehrung der Dienfl- 
und Mefervepflicgtigen des ſtehenden Heeres mußte felbfiverfländlich eine Vermehrung 
ber Friedens⸗Cadres zur Ausbildung der Truppen und zur fofortigen feflen Geflaltung 
bei einer Mobilmachung verbunden fein. Es war erforderlich, daß das flebende Heer 
in feinen einzelnen Theilen flets fo ſtark und wohl organifirt daſtand, Daß es bei 
eintretender Mobilmachung den aus den bürgerlichen Lebensverhältniſſen Hinzutretenden 
gleich einen feſten Halt militärischer Sicherheit und fefter disciplinarifcher Bande ge- 
waͤhrte. Es werden alfo durch die Heered-Meorganifatien folgende wichtige Refultate 
erzielt. Die Exiftenz und die Macht Breußens, welche von den biöherigen Armer- Ein- 
richtungen in Folge der großen Beränderungen auf politiſchem und focialem Gebiete, 
die namentlich während ber legten Jahrzehnte Herbeigeführt find, und in Folge der 
damit fortgefchrittenen militäriichen Machtentfaltung der übrigen Großmaͤchte nicht 
mehr binreichend vertheibigt wurde, iſt dadurch gefichert worden, überdies aber die 
Militärlaft durch diefe Einrichtung gleichmäßig vertheilt und deshalb weniger brüdend 
geworden. Durch den Umſtand, daß die beiden jüngften Alteröllaflen der Landwehr 
zus Kriegbreferve gezogen find, wird e8 bei einer Mobilmachung nur in feltenen Fällen 
des Aufgebotd der zum größten Theil aus verbeiratheten Perfonen beftehenden Land» 
wehr bedürfen. Die Berlängerung der zweijährigen Reſervezeit in eine vierjährige iſt 
Die einzige Neuerung, welche, die Armee-Reorganifation mit fich führt, in allen übrigen 
Punkten iſt diefelbe lediglich eine gewiffenhafte Ausführung des Geſetzes vom 3. Sep⸗ 
tember 1814. Es war daher die Schuld des Abgeorpnetenhaufes, welches feine Zu⸗ 
ſtimmung zu diefer Neuerung biäher Hartnädig verfagte, wenn bei der füngften Mobil⸗ 
machung, welche durch den bänifchen Krieg nothwendig wurde, noch ein, wenn fchon 
fehr geringer Theil von Landwehrleuten eingezogen werden mußte. Im Uebrigen bat 
die Armee» Heorganifation während dieſes Krieges Ihre Beuerprobe ruhmreich beftan- 
ben, und an den glorreichen Erfolgen unſeres tapferen Heeres bat daher der Orga⸗ 
nifator, weldyer dad fo glänzend bewährte Werl nach großen Anflrengungen und 
Kämpfen durchgeführt hat, einen der weſentlichſten Anteile. Herr v. MR. war kaum 
zwei Monate lang zum Kriegeminifter ernannt, als bereits die Vorlagen in Betreff 
der Meorganifation im Abgeorbnetenhaufe eingebracht wurden und er fi in heiße 
parlamentarifhe Kämpfe mit Gegnern verwidelt ſah, deren Erbitterung fletd im 
Steigen begriffen war und fchlieplih die Grenzen des perfdnlichen Anſtandes nicht 
felten weit hinter fi ließ. Es war am 10. Februar 1860, als diefe Einbringung 
erfolgte, und Herr v. R. bemerkte bei biefer Gelegenheit unter Anderem: „Die Mes 


382 Noon (Albrecht Theodor Emil von). 


gierung bat erft nach fehr zeifliher und ernfler Prüfung daran gedacht, die gegen- 
wärtig beabfichtigte Reform in die Wege zu leiten; fie ift dabei nicht von einfeltigen 
Ziebhabereien oder vorgefaßten Meinungen ausgegangen, fondern bat recht eigentlich 
dad Weſen der Sache zu erfafien geſucht. Es Hat deshalb an Feiner Maßnahme ges 
fehlt, welche zur Zeitigung und Reife des Projetts irgend wie bätte beitragen können, 
Die behauptete Nothwendigkeit von der Neorganifation unfere® Heerweſens, von der, 
wie ih glaube, das ganze Volk durchdrungen iſt, beruht auf der feit Gründung 
unferer Kriegöverfaflung eingetretenen focialen Umgeflaltung im Innern unferes Lan⸗ 
des, wie auch auf der politifhen Limgeftaltung im Innern unferes Welttheils; 
fie berußt ferner auf der Nothwendigkeit, daB Allen gleiche Laſten erwachſen 
aus der gleihen Verpflichtung zum Kriegsdienſte. Das allgemeine Beduͤrfniß nad 
einer Reform ift ein gleichmäßig von der Regierung wie von der Nation anerkanntes. 
Diefes Bedürfniß, melches der Würde und der Steigerung des Anſehens ber Regie⸗ 
zung Rechnung trägt, tft mit dem Bedurfniſſe identiſch, welches der polltifchen Bedeu⸗ 
tung des Landes ein größeres, daB gebührende Gewicht zu geben firebt. Dad An- 
feben der Nation und das Anfeden der Megierung find in Preußen nicht von ein» 
ander zu ſcheiden. Es ift daher kein fpecififch gouvernementales Interefle, welches 
dies Neformprofeet in's Leben gerufen bat, fondern nur das gouvernementale In⸗ 
tereſſe, welches der getreue Mefler der nationalen Intereffen ifl. Um dieſes nationale 
Intereffe mit Ehre und Erfolg wahrnehmen zu koͤnnen, iſt die beabfichtigte Reform 
unerläßlih." Diefen beberzigendwertben Worten R.'s folgten fehr bald entfcheibende 
Thaten. Durch Gabinetsordre vom 5. Mai 1860 wurde die Bildung ber neuen 
Megimenter der zuvdrderſt fogenannten „combinirten Infanterie» Megimenter" aus den 
vorhandenen Randwehr-Stammbataillonen befohlen und an demfelben Tage legte bie 
Staatöregierung, weil die Erledigung der urfprünglichen Borlage nicht rechtzeitig zu 
erwarten war, dem Landtage einen Gefegentwurf vor, durch melden ber Kriegsminiſter 
zur Aufredthaltung und Bervollfländigung derjenigen Maßregeln ermächtigt wurde, 
welche für die fernere Kriegsbereitfchaft und erhöhte Streitbarkeit 
des Heeres erforderlih und auf den biäherigen gefegliden Grund⸗ 
lagen thHunlid fein würden. Zu diefem Zwede wurde die Bewilligung von 
9 Millionen für die Zeit vom 1. Mai 1860 bis zum 30. Juni 1861 verlangt. 
Diefe Summe wurde bewilligt; die thatfächlig bereits eingeführte Heeres⸗Reorgani⸗ 
fation erhielt dadurch die Sanction des Landtages, weil der Kriegsminifter, in dieſem 
Punfte von dem Finanzminiſter unterflüßt, vor der Bewilligung der Gelder dar⸗ 
auf hingewieſen hatte, daß die getroffenen Maßregeln der Natur der Sache nad) von Dauer 
fein müßten und deshalb nicht rüdgängig gemacht werben koͤnnten. Ingzwifchen hatte Sr. 
v. R. die Durchführung der Reorganifation mit größter Energie betrieben, und als im Jahre 
1861 der Landtag den WMilitäretat berieth, war biefelbe im Wefentlichen bereitö vollendet. 
Dies conftatirte auch die koͤnigliche Ordre vom 4. Juli 1860, durch welche den Trup⸗ 
pentheilen aller Waffen ihre definitiven Namen ertbeilt wurden, ausdrücklich und dem⸗ 
gemäß fand im Januar 1861, während des Zuſammenſeins des Landtages die Fahnen⸗ 
weihe der neu errichteten Megimenter flat. Mit diefem feierlichen Acte erhielt das 
große Reformwerk wenigſtens für die Infanterie feinen äußerlichen Abſchluß. Die 
parlamentarifchen Kämpfe für die Anfrechterhaltung deffelben waren aber noch nicht 
zu Ende, fondern gewannen vielmehr einen immer lebhafteren Charakter, da die demo⸗ 
kratiſche Partei darin mit Mecht das gefährlihfte Hinderniß für ihre Beſtrebungen 
erblidte, deſſen Beſeitigung fle deshalb mit allen Mitteln herbeizuführen beſtrebt war. 
In diefen Kämpfen bat Herr v. Moon, darüber find alle unparteilfhen Stimmen in 
Europa einig, mit Meifterfchaft feine Pofltion vertheidigt. An feiner unerſchütterlichen 
Ruhe Haben ſich die flürmifchen Wogen des Angriffs gebrochen, und er bat mit gei- 
fliger Meberlegenheit dad von ihm in's Leben gerufene Werl gegen alle Vorwürfe 
unermüdlich vertheidigt, melde feine Gegner gegen daſſelbe gefchleudert haben. Die 
Anfongd von der Demokratie geleitete Öffentliche Meinung Hat dadurch in dieſem 
Augenblide bereits einen mächtigen Umfchwung erhalten, und während wir. dieſe Zeilen 
niederfchreiben,, flieht fih daher z. B. die Volkszeitung, ein demokratiſches Organ, 

elches an der Spige der gehäfftgen Angriffe gegen die Reorganifation fand, zu der 


Noon (Albrecht Theodor Emil von). | 383 


Erklaͤrung gemdthigt, daß es Niemandem einfallen Tönne, bie erheblichen Vorzüge der⸗ 
felben zu verfennen und ihre Auflöfung zu verlangen, wenn ſich die Regierung nur 
zu einigen Goncefflonen verflehen wolle. — Der Haum geftattet es nur, bie Geſchichte 
der parlamentarifchen Kämpfe feit dem Jahre 1861 in alfer Kürze Hier wiederzugeben. 
Das Hefultat der Verhandlungen des Abgeorbnetenhaufes über den Militär-Etat war 
im Jahre 1861 im Wefentlichen folgendes: Bon der Commiſſton, wie von den Red⸗ 
nern der Mebrbeit des Haufes, wurbe zwar allfeitig anerkannt, baß bie Regierung 
fi bis dahin in der Ausführung der Neorganifation innerhalb der Schranken 
des Gefetzes gehalten Habe. Dagegen war die Mehrheit der Anſicht, daß 
zur dauernden Durchführung derſelben eine Abänderung des Geſetzes vom 
3. September 1814 nothwendig fe. Das Haus bewilligte daher die Mittel 
zur weiteren Aufrechterhaltung der thatſächlich durchgeführten Reorganiſation 
au biedmal nur im Griraorbinarium, weil zur Herbeiführung bes Definitioums bie 
Wiedervorlage eines Militärgefehes zu erwarten fe. Gin ſolches war, wie wir er. 
wähnten, im Jahre vorber bereits eingebracht worden, aber nicht zu Stande gefommen, 
und der Kriegäminifter ſprach die Bereitwilligkeit der Regierung aus, eine derartige 
Borlage dem Landtage von Neuem zu machen. BBährend der Seffton im Jahre 1862 
fpielte Die Hortfchrittspartei im Abgeorbnetenhaufe ihre letzten Trümpfe, gegen bie 
Armee » Resrganifation aus, und führte vorzugsweife dadurch den noch in biefem 
Augenblid nicht ausgeglichenen Conflict zwifchen der koniglichen Staatöregierung und 
der Majorität des Abgeorbnetenhaufes herbei. Das Minifterium Auerswald Hatte im 
Bär; 1862 bekanntlich das Abgeorbnetenhbaus wegen Annahme des Hagen’ichen An- 
trages aufgelöft und war dann ſelbſt zurüdgetreten. Am 19. Mai wurde darauf nad 
Beendigung ber Neuwahlen der Landtag von dem Minifterium wieder einberufen, mit 
defien Leitung nach dem Rücktritte des Fürſten Hohenlohe ber Miniſter v. d. Heydt 
interimiflifch beauftragt’ worden war. Ungeachtet der bis an die äußerſte Grenze ber 
Möglichkeit entgegenfommenden Haltung des Kriegsminifters, welcher die Vorlage des 
neuen Milttärgefeßes bi8 zum Ianuar 1863 beſtimmt zufagte und fi damit einver⸗ 
Randen erklärte, daß die Koflen der Meorgantfation flatt im Orbinartum wiederum 
nur im Griraordinarium bewilligt würden, und zugleich anerkannte, daß die felt Beginn 
des Jahres 1862 geleifleten Ausgaben der nachträglichen Genehmigung des Landtages 
bebürften — eröffnete das neue Abgeordnetenhaus feine Thätigkeit mit einer offenen 
Kriegserflärung gegen die Regierung. Es lehnte die fämmtlichen Ausgaben ber 
Reorganifation auch für 1862 ab, während das Herrenhaus den von der Regierung 
eingebrachten Etat unverändert annahm. Der Regierung, an deren Spige inzwifchen 
Herr v. Bismard getreten war, blieb daher nichts übrig, da in der Verfaſſung ein 
anberer Ausweg nicht vorgefehen ift, al& die zur Erhaltung des Staates nothwendigen 
und nüglichen Ausgaben feltbem auch ohne Zuflimmung des Abgeorbnnetenhaufes zu 
leiten. Dieſes letztere beharrte in derfelben principiell feindfellgen Haltung gegen die 
königliche Staatöregierung auch mährend der Sigungen von 1863 und 1864, Indem 
ed die vom Kriegdminifter eingebrachten Vorlagen für eine Militär-Novelle, fo wie 
die im Militär-Etat zum Anfag gebrachten Ausgaben für bie Meorganifation einfady 
verwarf und fogar Feinen Anfland nahm, den Ausgaben feine Zuflimmung zu ver- 
fagen, welche Herr v. R. in feiner Eigenfchaft als Marineminifter verlangte, um bie 
Flotte durch Anfchaffung einiger Banzerboote, fo wie zur Fortfegung begonnener 
Schiffobauten für den Schuß unferer Offeehäfen während des jehigen Krieges gegen 
Dänemark tüchtig zu machen. Durch diefe Befchlüffe fo wenig, wie durch die ſpitzen 
Worte und leidenſchaftlichen Angriffe der Fortfchrittspartei im Parlamente und in ber 
Drefie Hat ſich indeß Herr v. R. befkimmen laflen, die böchften Güter des Bater- 
Iande8 Preis zu geben. Er Hat die Meorganifation muthig aufrecht erhalten und 
Die Flotte in aller Stille Dergeftalt verflärft, daß fle bereitö in dieſem Kriege den 
Dänen zu imponiren begann. Das Land fängt, wie wir erwähnten, bereitö an, biefe 
großen Erfolge nach allen Seiten bin zu würbigen,. und auch das Abgeorbnetenhaus 
wird ver der fi Bahn brechenden Wahrheit auf die Dauer nicht die Augen ver- 
ſchließen können, wenn fchon bie Bortfchrittäpartei daſelbſt noch eine Zeit lang das 
Feld behaupten follte. Aber der endliche Sieg, davon find wir zuverſichtlich über⸗ 


384 Noon (Albrecht Theodor Emil van). 


zeugt, wird Herrn v. Moon gehören, denn bem muthigen Danne, welcher für patrio⸗ 
tifche Ziele mit Energie und Klugheit feine Perfon einfegte, bat bisher in der Welt 
immer noch ber Unverfland und die Lüge fchlieplich weichen müfjen. — Es iſt noch nicht 
der Zeitpunkt gefommen, um die Wirkfamfeit Roon's für die Erreichung feiner großen 
Aufgaben für die Armee und die Flotte Preußens in ihren Einzelnheiten zu würbigen, 
noch mweniger aber liegt es und ob, jetzt bereitö auf die weitreichende und fegensreiche 
politiſche Thaͤtigkeit näher einzugeben, welche er feit feiner Ernennung zum Miniſter 
St. Mafeflät ded Königs nach allen Michtungen bin entwidelt bat. Die überaus 
hervorragende Stellung des Herrn v. Moon In dem WMiniflerium Auerswald ſowohl, 
wie in dem jegigen Minifterium ift aber von feinen Anhängern ſowohl, wie von fel- 
nen Gegnern auf das Vollftändigfle anerkannt worden, und mit Recht laͤßt ſich auf 
ihn das Wort Cicero's über einen jener berühmten Feldherren des alten Athen's an» 
wenden, Daß er nicht minder durch Die Künfte des Krieges, wie durch die Künfte de& 
Friedens außgezeichnet fei. Ueberhaupt iſt e8 in Preußen von Alters ber bergebracht, 
daß ein großer Theil der bervorragendften und wohlthätigfien Staatemänner dieſes 
Landes Soldaten warm. Unfere großen preußifchen Staatsmänner Haben niemals 
lediglich ein Hofkleid oder einen PBriefterrod getragen, und ſelbſt Männer im Givil- 
Heide find unter ihnen” verhältnißmäßig nicht haufig. Es hängt dies wohl, abgeſehen 
davon, daß große Eigenfchaften nicht felten durch bureaukratifche Traditionen unter« 
drückt fein mögen, mit der eigenthämlichen Natur diefed Staates zufammen, welcher 
durch Geſchichte und geographifche Lage darauf bingemwiefen ift, ein Milttärftaat im 
eminenten Sinne ded Wortes zu fein. Daraus erklärt ſich auch die Thatfache, daß 
diejenigen unferer Fürſten am wohlthätigfien regiert haben, welche in erfler Linie 
Soldaten waren, wennihon fi keineswegs behaupten läßt, daß fle ihren weniger 
militärifch gefinnten Vorgängern oder Nachfolgern in allen Fällen an ſtaatsmaͤnniſcher 
Begabung oder an Eifer für das Beſte ihres Landes vorangeflanden hätten. Wir 


erinnern nur an den großen Kurfürften, an Friedrich Wilhelm J. an Yriebrich den 


Großen und Friedrich Wilhelm II., der ganz Soldat war, und defien Regierung wohl 
die mohlthätigfte gewefen ift, welche durch Gottes gnädige Fügung dem preußifchen 
Staate befchieden mar. — Ban erzählt, daß der König einſt einem ſchlichten Bauer» 
mann, welcher ihn „Excellenz“ angerebet, erwidert babe, fo Heiße er nicht, er fei vom 
Generalmajor fofort zum Könige avancirt. — Sollte diefe Anekdote nicht wahr fein, 
fo ift fle jedenfalls vortrefflih erfunden, denn der König fühlte ſich in der That Durch 
und durch als Soldat. Und es hat wohl in der ganzen neueren Zeit feinen Für⸗ 
fien gegeben, welcher feinem Staate vergeflalt den Stempel feiner Perfönlichkeit 
aufzudräden vermochte hätte, wie dies Friedrich Wilhelm TI. getban Bat. Es war der 
Geiſt der Frömmigkeit, der Rechtſchaffenheit und der Solidarität in allen Verbältnifien, 
welchen der König feinem Rande einpflanzte, und neben einem Heere treuer und kampf⸗ 
bewährter Soldaten bat er es verftanden ein Heer treuer, intelligenter und rechtſchaffener 
Beamten zu fchaffen. Die preußifche Verwaltung, Nechtöpflege und Finanzwirthſchaft 
wurden in ganz Guropa bemundert. Die Männer, welche der König mit bewunderungd« 
würdigem Scharfblid ausmwählte, um in der Megierung feines Landes ihn zu unterflügen, 
waren nach dem Tode des Fürſten Hardenberg, dem es bei vielen bedeutenden Eigen⸗ 
[haften doch wohl an einem preußifchen Herzen fehlte, faſt fämmtlich ihrem Monardyen 
verwandte Naturen, und faum bat die Regierung irgend eines anderen preußifchen Königs 
jo viele bedeutende Staatömänner aufzuweifen, mie diejenige Friedrich Wilhelm's IN. 
An die Staatdmänner dieſes Königs, welcher, unbefümmert um die „großen Ideen 
von 1789”, der erflaunten Welt bis an fein Ende dad Beifpiel eines väterlidden und 
glücklichen Negiments über ein großes und bochgebildetes Volk gegeben bat, an Männer 
wie Stein in feiner fpätern Lebensfeit, wie Scharnhorſt, Binde, Rüffling u. |. w. 
erinnert auf das Lebhaftefle Herr v. R. Es Tann daher nicht verwundern, daß ber 
Fönigliche Sohn Friedrich Wilhelm’ III., welcher feiner ganzen Perfönlichkeit na 
dem Bater fo nahe verwandt iſt, gerade Herrn v. MR. mit Ausführung des großen 
Werts betraut hat, welches diefer edle, fein Bolt auf dem Herzen tragende König mit 
Recht ale die Aufgabe ſeines Lebens betrachtet. Und in der That, zur Ueberwindung 
der diefem Werke entgegenfiehenden Schwierigkeiten reichten nicht bloße Thatkraft und 


Roos. (Bamilie) Reoothaan (Johann Philipp van). 385 


auch nicht bloße Begabung aus, in fo hohem Grade Herr v. R. auch beides beflgt, es 
bedurfte dabei des unerfchütterlicdgen Gottvertrauens, jenes tiefgläubigen chriftlichen 
Sinnes, welcher einen Grundzug feines Wefend bilder. Diefer Slaube hat es ſicher⸗ 
lid Seren v. R. weſentlich erleichtert, die ihm von feinem Könige zugewiefene große 
Aufgabe unter den gefchilderten fchwierigen Verhältniffen zu übernehmen und die gro- 
Ben Erfolge zu erzielen, mit welchen Gott feine Anftrengungen gekrönt bat. — Der 
Preußiſche Volkskalender brachte unlängft eine Furze Biographie bes Kern v. Moon, 
in welcdyer es unferer Auffaffung volllommen entſprechend hieß: „Ermähnen wollen 
wir ſchließlich von ihm noch einige jener Züge, welche man zu allen Zeiten als we- 
fentlihe Eigenjchaften großer Staatsmänner betrachtet bat: die ruhige Größe und 
Ueberlegenheit feines Blicks in allen, namentlid) auch in allen politiſchen Verhältniffen, 
fein hervorragendes, auch von feinen Gegnern vielfach bewundertes Bermaltungstalent, 
feine Kuhnheit im Entfchluß und feine Energie in der Durchführung, feine große Ar⸗ 
beitöfraft und Berufstreue, feine hervorragende parlamentarifhe Befähigung endlich, 
deren Wirkungen noch überboten werden durch den Eindrud feiner nach allen Seiten 
bin edlen und wohlwollenden Natur. Das find einige weientliche Züge aus dem Charakter⸗ 
bilde des Manneg, der dem Herzen des Königs nahe fleht, Den feine Anhänger enthuflaftifch 
verehren und ſelbſt die Beſſeren unter feinen Gegnern hochſchaͤtzen und bewundern, 
dem aber gewiß einſt die Befchichte unter den bedeutendſten und wohlthätigften Staats⸗ 
männern unſeres preußifchen Vaterlandes eine hervorragende Stellung anmweifen wird. * 
Bon Epaminondas wird erzählt, daß er geäußert habe, er Hinterlaffe zwei Kinder, 
welche ihn unfterbli machen würden: die Schlachten von Leuftra und Mantinea. Die 
Geſchichtſchreiber des Herrn v. R. werben einfl zu berichten Haben, daß er die Nacht⸗ 
Rellung Preußens, dieſes Schwertes Deutfchlands, dieſes Hortes beutfcher Bildung 
und deutfcher Wiffenfhaft für lange Zeit feftbegründet hat. — Die Armee, welde 
ee den veränderten politifhen Verhaͤltniſſen Europa’s entfprechend umgeftaltet bat, die 
Flotte, welde unter ihm einer großen Zukunft entgegenreift, während ſie früher 
dahinſiechte und nicht zu einer gefunden Entwidlung zu gelangen vermochte, find zwei 
große und unvergängliche Denkmäler feines Namens, welche die Megierungdperiode 
König Wilhelm’s, in deſſen Geiſt und nach deſſen Willen Ser v. R. handelte, zu 
einem der bedeutendſten Abſchnitte der preußifchen Gefchichte machen. 

N008, Name einer berühmten Maler» Familie, deren Stammvater 1) Johann 
Heinrich R. if, geb..1631 zu Diterberg in der Pfalz, geft. in dem großen Brande zu 
Branffurt a. M. 1685. Er gehört zu den gefchieteften Ihiermalern; auch bat man 
einige Portraits von ihm, fo wie er auch in Kupfer geftochen hat. Sein Bruder 
2) Theodor M., geboren 1638 zu Wefel, war, wie Heinrich R., Schüler von Adrian 
be Bie; an den Hof des Landgrafen von Heflen » Kaflel berufen, erhielt‘ er faſt von 


allen Höfen Deutfchlands Aufträge. Seine 1667 in Kupfer geägte Folge von ſechs 


Kleinen Viehſtücken iſt befonders ihrer außerordentlicden Seltenheit wegen berühmt. Er 
Rarb 1698. 3) Philipp Peter R., ein Sohn von Johann Heinrich R., geboren 
1655 zu Branffurt a. M., erhielt, weil er in Tivoli Iebte, in der Folge unter ben 
Stalienern den Namen „NRofa von Tivoli. Bei feinem böchſt ausfchweifenden Leben 
ging es ihm, ungeachtet er eine große Menge Bilder gemalt Hatte, fehr elend; er flarb 


in Rom 1705. Seine Werke find meiſtens Landfchaften mit Thierheerden. Sein 


jüngerer Bruder 4) Johann Melchior R., geboren 1659, war noch berühmter als 
Thiermaler. Man fagt, daß man mit feinen gemalten Hunden die Hafen getäufcht 
babe. 5) Joſeph R., ein Enkel von Philipp R., 1728 in Wien geboren, wurde 
Director der Eaiferlihen Gallerie, von, weldyer er auch ein Verzeichniß herausgab 
(Wien 1796). Vergl. Fiorillo, „Geſchichte der zeichnenden Künfte u. ſ. w.“, britter 
Band, ©. 186 ff. " 

Roothaan (Johann Philipp van), Sefuitengeneral, geb. am 25. November 1785 
zu Amſterdam. Sein Großvater war aus der veformirten Kirche zur Fatholifchen über- 
getreten; fein Vater war Chirurg. Nachdem er feine Schulbildung In Amſterdam 
erhalten Hatte, ging er in felnem 19. Sabre nach Rußland, trat daſelbſt 1804 in den 
Jeſuiten⸗Orden, erhielt 1812 die Priefterweihe und verwaltete das Pfarramt zu Orßan, 
als er 1820 mit den Jeſuiten Rußland verlafien mußte. Er nahm darauf zu Brieg 

Wagener, Staats- u. Geſellſch.Lex. ZVIL 25 


386 Roſa (Salvator). 


in Wallis (in der Schweiz) feinen Aufenthalt und unterrichtete daſelbſt die Ordens⸗ 
zöglinge in der Rhetorik. 1823 wurde er an dem Gollegium des Franz v. Paula 
in Turin angeftellt und am 9. Juli 1829 von der GeneralsCongregation zum General 
des Ordens erhoben. Er ſtarb am 8. Mai 1853. Lieber die Gefchichte feiner Re⸗ 
gierung flehe den Artikel Jeſuiten. 

Hola (Salvator), berühmter Maler und Dichter, auch Muſtker, wurde gegen das 
Ende des Jahres 1615 in dem Dorfe Nenella bei Neapel geboren. Sein Vater 
Antonio Rofa, ein Beldmeffer, gab ihm den Namen Salvatore, der Erxldfer, zur 
Bezeichnung feiner geiftlichen Beſtimmung, und ſchickte ihn fehr früh in ein geiſtliches 
Collegium nad Neapel, genannt La Congregazione Tomafea. Da aber der lebhafte 
Knabe wenig Anlage zum einfledlerifchen Moͤnchsleben zeigte, fo wurde aus dem Sal⸗ 
vatore bald ein Salvatoriello, ber ſich auf das Hartnäckigſte weigerte, den erflen 
Eurfuß des Lehrplans in dem Heiligen Collegium durchzumachen. Zu feinen Eltern 
zurüdgelehrt, widmete er fidy der Mufif und bald darauf bei feinem Schwager Fran» 
canzani der Malerei. Seine Iugendarbeiten haben zwar Feuer und Leben, find aber 
- doch meift roh und gefühllos und tragen, das Gepräge des romantifch wilden Charak⸗ 
ters Ihres Schöpfers. Um feine Glücksumſtaͤnde zu verbeffern und um fich weiter zu 
vervollfommnen, ging R. nah Nom; bier machte er fi während des Garnevald von 
1639 als Harlefin unter dem Namen Formica zu einem Lieblinge des Volke. 
(Dal. C. T. A. Hoffmann's Novelle: Signor Formica in den „Serapionsbrüdern”.) 
Den Sommer darauf verwandelte er diefe Marktfchreierfarcen in regelmäßigere Schau 
fpiele, die er auf einem Landhaufe vor dem Thore del Popolo aus dem Stegereif 
aufführte. Nun wurden auch feine Gemälde immer mehr geſchätzt und fo gefudht, daß 
er unmöglich allen Beftellungen genügen konnte. Im I. 1646 Eehrte er nach Neapel 
zurüd, allein die Empdrung Maſaniello's nödthigte ihn bald, dieſe Stadt wieder zu 
verlafien. Er begab ſich wieder nah Nom, zog fich aber durch feine Satiren und 
dur ein Gemälde, das Blüd mit dem Fuͤllhorn darftellend, von welchem man bie 
Babel verbreitete, e8 fei eine Satire auf den heiligen Bater und den römifchen Kleruß, 
fo viele Zeinde zu, daß er mit Freuden einem Auf an den toßcanifchen Hof folgte. 
Neun Jahre lebte er theils in der Hauptfladt Florenz, theild auf dem Sommerpalafte 
der Grafen Maffei, feiner vertrauten Freunde, in Volterra. Im 3. 1652 kam er nad 
Nom zurüd, wo er am 12. März 1673 farb. Er malte Gemälde aller Art, Hiſto⸗ 
sin, Seeſtücke, Schlachten; aber feine Landfchaften haben ihm den dauerndſten An- 
ſpruch auf Ruhm gegeben; berühmt find außerdem noch feine große Schlaht im 
Louvre und die Verſchwörung des Gatilina im Palaft Pitti zu Florenz; einige Bil- 
ber find in der Galerie des Fürften Doria Pamfili in Nom, eine große Anzahl in 
England, 3. 2. fein „Demofrit”, „Tod des Regulus“, „Hiob”, „Sofrated, wie er 
den Biftbecher trinkt”, nebft mehreren feiner Landfchaften mit Banditen; allein leider 
alle in Privathäufern. Die Nationalgalerie in London befigt nur einen Salvator 
Roſa. S. R. war auch ein geſchickter Kupferflecher; die von ihm in Kupfer geäßten 
86 Blätter gehören zu den vorzäglichften Arbeiten der italienifchen Maler. Seine in 
Terzinenform gefchriebenen ſechs Satiren find reich an witzigen und komiſchen Ein⸗ 
fällen und Erfindungen, voll gefunden Urtheild und wahrer Rebensweisheit. Die 
Begenflände derfelben find: Muſik, Poeſte, Malerei, Krieg, Wolluf und Neid. Die 
erfte Ausgabe derfelben erfchten unter dem angeblichen Drudort Amfterdam 1717, ihr 
folgten mehrere mit Commentaren und biographifchen Notizen verfehene Ausgaben. 
Außer den Satiren bat man von S. R. noch Briefe und Eleinere vermifchte Dichtun⸗ 
gen, unter legteren eine Gantate, die Gries in's Deutfche übertragen bat. Was end» 
lich den Muſiker R. anbetrifft, fo find zwar feine Werke in feinem Vaterlande ver⸗ 
geflen, aber wir wiffen, daß ihm die Befreiung der Muſik von mittelalterlichen Wefleln 
nicht weniger am Herzen lag, als die der Poefle von den weichlihen Reimfpielereien 
der Marini und der Seicentiftenihule. Dr. Burney, ein englifcher Tourift und mufl- 
kaliſcher Schriftkellee des vorigen Jahrhunderts, Laufte in Rom daB befläubte Ma⸗ 
nufeript der muſikaliſchen Arbeiten S. R.'s und brachte e8 nach England. Sein Reben 
befährieb fein Zeitgenofie Balbinucci, (neue Ausg, Ben. 1830). Zum Gegenflande 
eines biographifchen Romans bat ihn Lady Morgan gemacht („The life and times 





Nofad (Iuan Manuel de) 387 


of S. R.*, London 1824, 2 Bde., neue Ausg. 1855, in's Deutfche überſetzt von Georg 
Log, „S. M. und feine Zeit“, 2 Bde, Braunfchmweig 1824), dem mehrere Hödft in⸗ 
terefiante Briefe und ein DVerzeichniß ber Gemälde G. R.'s, welche jih in England 
befinden, angehängt find. Deinhardftein bat ihn zum Sufet eined feiner Kuͤnſtler⸗ 
dramen (,„Salvator NRofa*, Luftfpiel in 2 Act., unter dem Titel „das Bild der Danae“ 
auf vielen Bühnen gern gefeben) gemacht. Bgl. Ideler's „Handbuch ber Italienifchen 
Sprache und Literatur” (poetifcher Theil, Abth. 2, 8.1 ff.). 
Road (Juan Manuel de), Dietator der argentinifhen Nepubit(i.d. Art.) 
Nach der ausführlichen Darflellung, die von der hiſtoriſchen Stellung dieſes Mannes 
in dem Artifel, auf den wir fo eben verwiefen haben, gegeben ift, Haben wir nur 
noch einige Notizen über M. nachzutragen. Gr if 1793 zu Buenos⸗Ayres geboren 
und folf von einer afturifchen Adelsfamilte, dus welcher ein früherer Generalcapitän 
von Ehili, Don Leon Ortiz de Mofas, Graf von Poblaciones, Hervorgegangen fl, 
abflammen. Gein Großvater war auf einer Erpebition gegen die Indianer gefallen; 
er ſelbſt erfchien, nachdem er feine Jugend unter den Gauchos verlebt hatte, 1820 
an der Spike der Colorados zum erflenmale auf der polttifchen Bühne, hielt bie 
Autorität des Gouverneurs der argentinifhen Republik, Nodriguez, Im Intereffe des 
Unitarismus gegen die Föderaliften aufrecht und kehrte dann in die Pampas zu feinen 
Gauchos zurüd. Ribadavia, der von 1820 bis 1827 die Mepublif theild als Mi⸗ 
nifter, theils feit feiner Ernennung durch den allgemeinen Gongreß von 1826 als 
Bräfldent regierte, wurde zum Theil durch R. geflürzt. Diefer war einer ber Urheber 
und Generale des Aufflandes, welcher die Erhaltung der Privilegien der Provinzen 
und zugleich der Geiftlichkeit zum Zwecke Hatte und Rivadavia am 7. Juli 1827 zur 
Abdankung zwang. Die fdderaliſtiſchen Sieger gaben nun der Republik eine Verfaſ⸗ 
fung, welche die vollfommene Freiheit, Unabhängigkeit und Gleichheit zwiſchen den 
Provinzen fichern follte, und ſtellten zugleich alle Privilegien wieder ber, welche bie 
liberale Partei befeitigt hatte. Die Unitawier ihrerfeits erhoben gegen den neuen 
Gouverneur Dorrego die Waffen, bemächtigten fich feiner in einem Gefecht und 
erfchofien ihn, worauf R. mit den Gauchos herbeieilte, dem General Lavalle eine 
Schlacht Tieferte, die Aufftändifchen in Die Flucht trieb und feine Partei zur Herrſchaft 
brachte. Die Föderaliſten begrüßten ihn als ihren Retter und ernannten ihn am 
8. Decbr. 1829 zum Gouverneur und Generalcapitän von Buenos⸗Ayres. Don da 
an begann nun feine Regierung, während deren er im Namen des Foͤderalismus und 
ſelbſt im Kampfe gegen die Unttariften vielmehr den Unitarismus durchſetzte. Waͤh⸗ 
rend er gegen die letztere Partei eine wahre Menſchenjagd organiſirte, ſchloß er mit 
den Provinzen Corrientes, Entre⸗Rios, Santa⸗Féoͤ, Cordova und San⸗Juan Unions⸗ 
verträge, denen die anderen Provinzen thatſaͤchlich zuſtimmten. Es ward beſtimmt, 
daß jeder Staat in feinen innern Angelegenheiten ſelbſtſtaͤndig fein und Die Leitung 
der ausmärtigen Beziehungen, fo wie der Kriege, welche die ganze Republik angingen, 
dem Gouverneur von Buenos⸗Ayres zuftehen folle. Das R. übertragene Mandat 
erlofch im Anfang des Jahres 1832. Er war feiner Wiederwahl gewiß, vermehrte 
aber den Zauber feines Namens durch eine gut geführte Unternehmung gegen die 
MWüftenindianer. Die Menge ſah In ihm einen Heros und wollte ihn zum Kern; 
Die Kammer der Abgeordneten übertrug Ihm endlih am 7. März 1835 „die Summe 
der oͤffentlichen Gewalt”. Diefe Dietatur Hat er feitbem ftebzehn Jahre hin⸗ 
dur ohne Unterbrechung behauptet. Alle fünf Jahre, nah dem Erlöfchen, 
erneuerte ihm die Kammer mit Stimmeneinhelligkeit fein Mandat. In der Arbeit 
war er unermüblih; er überwachte Alles mit eigenen Nugen; die Berwal« 
tung, Polizei, Diplomatie, Armee, Brefie, Die Finanzen, Alles war in feiner 
Sand conceentrirt. Regierung und Nation perfoniftcirte ex in ſich ſelbſt, und Europa 
fah im Verlauf von zwanzig Jahren nur in ihm die argentinifche Republik. Neben 
dem blutigen Schreckensſyſtem und den Schlächtereien, die er über bie Unitariften nad 
ihren mehrmaligen Aufftandsverfuchen (von 1836 bis 1841) verhing, war ed befon« 
ders feine Haltung gegenüber England und Branfreih, was fein Anfeben befefligte. 
Die fogerrannte Platas-Ungelegenheit, in welcher er mehrere Jahre hindurch jene beiden 
europälfchen Großmaͤchte in Schach hielt, machte Ihn in den Augen Amerika's zu einem 
25 * 


388 Noſcher (Albrecht). 


großen Mann. Mit der liberalen Partei hatte er naͤmlich auch einige an den Ufern 
des Plata etablirte Franzoſen ſeine Rache fühlen laſſen. Auf die Reclamationen der 
Regierung Ludwig Philipp's antwortete er mit Spipfindigkeiten, worauf eine franzö⸗ 
fifche Blotte feit dem März 1838 Buenos⸗Ayres in Blokadezuſtand verfegte. . Der 
Dietator erfchien bei diefer Gelegenheit als der Vertheidiger der amerikanifchen Uns 
abHängigkeit gegen die Fremden; er ermüdete durch feine Feftigkeit das Tullerieen- 
cabinet, welches fich in eine ferne Unternehmung zu verwickeln fürdhtete, und erzmang 
die Uebereinkunft vom 29. Dethr. 1840, durch welche Frankreich das Berfprechen einer 
Schabloshaltung für feine Angehörigen und die Behandlung der am meiſten begin» 
Rigten Nation auf dem argentinifchen Boden erhielt. In der That aber überlieh es 
feine Alliirten, die Mefte der unitariſchen Partei und die Regierung von Montevideo, 
der Rache des Dictators. Diefer führte, nachdem er den General Lavalle, der no 
einen Auffland. verfuchte, 1841 beflegt Hatte, feinen lebten Schlag gegen bie Mnitarier 
und hielt mit dem General Oribe Montevideo eng eingefchlofien. Diefe Stadt war 
nach einem beroifchen Widerftande nahe daran, zu erliegen, als Franfreih im Bunde 
mit England ald Vermittler einfchritt und eine Unterhandlung mit Buenos - Apres 
einleitete. R. wies alle Borfchläge zurück, worauf die Alliirten Buenos-Apres (1845) 
blofirten und die Infel Martin-Barcia befegten. Das Jahr darauf erneuerte ein enge 
Tischen Agent, Samuel Hood, die Unterbandlungen; 1847 endlich, nach eines dritten 
Million Walewski's und des Lord Howden, hob England die Blokade auf und zog 
fi im Einverfländnig mit Frankreich zurüd, um in eigenem Namen mit R. zu untere 
handeln. So fchloß ed auf den Hood’schen Bafen am 24. Novbr. 1849 einen dem 
Dictator Sehr günftigen Vertrag, welchem der franzöflfche vom Admiral Le Prebour 
abgefchlofiene folgte. Die Nationalverfammlung In Buenos» Apres verfagte legterem 
Bertrage die Hatification, Montevideo hatte Feine Hülfe von außen mehr zu erwarten 
und Hätte fallen müflen, wenn nicht von Brafllien aus Suceurd gekommen wäre. 
R. hatte mit feinen Gemwaltmaßregeln zwar eine lange Zeit hindurch die äußere Orb« 
nung in der argentinifchen Republik erhalten, aber Feine !Bartel für ſich gewinnen 
können. Im Namen des Föderalldmus mit der Dictatur bekleidet, hatte er die Rechte 
der Provinzen oft verlept; offleieller Gegner des Unitarianismus, hatte er alle Theile 
der Nepublif gleihmäßig feinem Despotiömus unterworfen. Er Hatte zulegt Leine 
Baſis mehr und daher Fam es, daß er plöglich fiel, als die argentinifchen Föderaliften 
unter Urquisa, durch die brafllianifchen und paraguay’fchen Truppen unterflügt, ſich 
gegen ihn erhoben. (Vergl. über diefe Eoalition den Art. Argentiniihe Republik.) 
Das Heer des Dictators Tief fogleich nad dem Zufammentreffen mit der Armee 
Urquiza’8 und den brafllianifchen Truppen und deren fchleswigeholftein’fcher deutſcher 
Hülfsmacht (bei Monte Caſeros am 3. Febr. 1852) auseinander. Schon vor der 
Entſcheidung dieſer Schlaht war R. nach Buenos - Apres geflohen, von wo er mit 
feiner Tochter Manuelita nach einem englifhen Dampffchiff eilte, mit welchem er am 
26. April 1852 zu Gorf in Irland landete. 

Roseelinus (Iohann) ſ. Scholaſticismus. 

Roſcher (Albrecht), geboren den 27. Auguſt 1836 zu Ottenſen bei Altona, ſtudirte 
erfi in Hamburg unter Redslob dat Arabifche, dann von 1856—58 in Leipzig Medicin 
und trat, von König Mar II. von Bayern unterflügt, im Juni 1858 von Hamburg 
aus eine wiſſenſchaftliche Reiſe nach Afrika an, wo aber diefer begabte und begeifterte 
Diener der Wiffenfchaften, wie ſchon fo viele Europäer vor ihm, den Tod finden follte. 
Er war in wiſſenſchaftlicher und Eörperlicher Sinficht für fein großes Unternehmen, das 
äquatoriale Afrika von OR nah We zu durchwandern, fo vorzüglich vorbereitet, wie 
kaum je ein anderer afrikanischer Meifender dieſes gewefen iſt; feine Studien auf der 
Univerfltät Leipzig hatten ſich hauptfächlich diefem Ziele zugewandt, er Hatte genau 
bie vielfeltigen Anſprüche zu würdigen gewußt, bie heut zu Tage an einen wiflen- 
ſchaftlichen Reiſenden gemacht werden, und ſich mit unermüdlichem Eifer dazu audge- 
bildet, fie auf glänzende Weife befriedigen zu koͤnnen; daneben war er bebarht gewe⸗ 
fen, Ai die für große Meifen in uncultivirten Ländern erforderlichen Fähigkeiten und 
Geſchicklichkeiten anzueignen und feinem Körper eine ungewöhnliche Kraft und Aus⸗ 
bauer zu geben. Als es ihm nach diefen Vorbereitungen und nach vielen Schwierig- 


Noſcher (Alsrecht). 389 


keiten gelungen war, bie Reiſe anzutreten und auf der Infel Zanzibar, feinem Aus- 
gangspunft für Die Erforfhung Inner-Afrika’s, feſten Fuß zu faffen, da glaubte er 
fih ſchon der Berwirklichung feiner weit greifenden, fühnen Pläne nahe gerüdt und 
man boffte allgemein mit ihm auf einen günftigen Erfolg feiner Anftrengungen. Zwar 
ſtellten ſich ihm auch dert bald wieder Schwierigkeiten, Krankheit und unerwartete Hinder⸗ 
niffe entgegen, er mußte feinen urfprünglichen Plan, über Kitui nach dem Kenia und 
den Quellen des Nil vorzudringen, aufgeben, aber es gelang Ihm dafür, einen Theil 
des Küfenlandes, namentlich das untere Thal des Lufidſchi zu erforfchen und endlich 
teog feiner Hark angegriffenen Gefundheit den Nyafla oder Nyandſcha von Quiloa 
aus zu erreichen. Dies war fchon ein erfreulidyes Ereigniß für die Geographie von 
Afrika, denn über diefen See herrfchten die widerſprechendſten Anſichten und er war 
noch von keinem Quropäer befugt worden. Bon bier aus wäre es M. leicht gewor- 
den, zum Gazembe und wohl auch weiter in's Innere vorzugehen; bier in dem hoͤher 
gelegenen Binnenland erbolte er ſich raf von den Folgen des Küftenfiebers und 
fhon war auch eine Sendung von Nahrungsmitteln und Waaren für ihn von Quiloa 
aus unterweg®, ja das Vorhaben Karl v. d. Decken's, der zu Ende April 1860 ab⸗ 
gereit war, um fich mit feinen bedeutenden Mitteln und guten Inflrunenten 8. an» 
zufchließen, erweckte die freubigften Hoffnungen auf eine ruhmmürdige großartige Explo⸗ 
sation eined audgebehnten Gebiets von Gentralafrifa. Da erliegt R. während feines 
Aufenthalts In Nuſſewa im Schlafe dem Pfeile eines gemeinen Mörbers, und alle 
Hoffnungen, zu denen feine Zalente, feine bedeutenden Kenntniffe in den verfchieben« 
fien, für folche Reiſen nüplichen Wiffenfchaften, feine Energie und fein Muth, feine Ju⸗ 
gend und Körperconftitution, wie nicht minder fein glüdliches Beflegen aller Schwie⸗ 
rigkeiten des erfien Anfangs berechtigten, werben mit einem Schlage vernichtet. Im 
Sabre 1857 Hatte R. unter dem Titel: „PBtolemäus und die Handeleftraßen in Eentral- 
Afrifa“ (Gotha), zwei Karten mit einem erflärenden Text, veröffentlicht, welche bie 
dankbare Aufgabe Idfen, die ptolemäifche Beographie von Afrika mit unferm modernen 
Wiffen in Einklang zu fegen. Dankbar war die Aufgabe, in fofern ſich bei alten Quellen 
febr Bäufig gefunden hat, daß fehr vieles Bezweifelte, Sonderbare oder Unwahrfcheinliche 
zulegt als treue Beobachtung ſich bewährte. Befonders intereflant find jet nach den 
Entdelungen von Burton und Speke R.'s Anſichten über die Rage der Nilquellen. 
„Btolemäus fagt: Die Seen des Nil nehmen das Schneewaffer der Mondberge auf, 
and von diefen Bergen bezeichnet er nur die Endpunkte (1& neparao). Nun entfieht 
allerdings die Brage, ob das Waſſer ſich bis zum Gebirge, oder das Gebirge fi 
bis zum Wafler erſtreckt; die Ießtere Annahme iſt jedoch an und für ſich natürlicher, 
und außerdem dem wirklichen Sachverhalt gemäß. Als aber Agathodämon im 5. 
Jahrhundert feine Einbildungskraft durch den Entwurf einer Weltkarte (mie er e6 
nennt: nach den Angaben des Ptolemäus) zu üben für gut fand, zeichnete er eine 
bedentende Anzahl von Flüfſen, melde das Schneewafler der Mondberge den Seen 
des N zuführen, und will uns glauben machen, daß Ptolemäus diefe Kanäle (von 
mehr ale 60 Meilen Länge) unerwähnt gelaflen hätte, wenn biefelben auf den alten 
Karten angegeben wären. Da die Öberflächlichkeit fpäterer Kritiker Aberfah, Daß 
Agathodaͤmon feine Weltkarte nicht einmal in der erforberlichen Profection verzeichnet 
batte, fo fchrieb man diefer Karte eine ganz befondere Autorität zu und flellte die 
felbe zum Theil Höher ald das Werk des Ptolemdus. So fanden ſich denn die Nils 
quellen unter dem 12. Grade S. Br. flatt unter dem 2. Grade, wohin ein richtiges 
Verſtaͤndniß ded Ptolemäus diefelben verlegt und wo man demnach die „Niquellen“ 
ſuchen muß. Denn wenn es fib um die Löfung des alten Problems handelt, fo find 
e8 die von Btolemäns genannten Quellen, welche zu finden find. Der Weg zu denfelben 
führt von Zanzibar aus zu dem Berge Doengo Engat und von dort acht Tagereifen nach 
Nordweſten. Dies ift mahricheinlich die Straße, welche früher oder fpäter der glüdliche 
Entdecker der Nilquelle einfchlagen wird; jevenfall Hat, wer, mit Muth und Ausdauer 
gerüftet, Hier vorzudringen fucht, mehr Ausficht auf Erfolg, als großartige Erpebitionen, 
welche von den Mubammedanern, alfo von Feindesland aus bei den Ungläubigen eindringen. 


Das erfirebte Ziel zu erreichen, wird ihnen niemals gutwillig geflattet werden; mit& 


walt zu denfelhen vorzudringen, bürfte man aber doch wohl nicht ſtark genug ſeit 





390 | Noicher (Wilhelm). 


Koiher (Wilhelm), geb. 21. October 1817 zu Hannover, ordentlicher Profeſſor 
der Staatswiſſenſchaften an der Univerfität Leipzig. Nach empfangener Schulbildung 
auf dem unter ©. F. Grotefend's Leitung ſtehenden Lyceum feiner Vaterſtadt "widmete 
er ſich während der Jahre 1835 bis 1839 zu Göttingen und Berlin Hiflorifhen wie 
Raatsmiffenfchaftliden Studien, Fündigte auch bereitd in feiner Doctor-Differtation: 
„De historicae doetrinae apud sophistas majores vestigüs, Gottingae 1838 Die [pä«- 
ter von ihm eingefchlagene Nichtung an. Im I. 1840 Habilitirte er ſich als Privat« 
docent zu Göttingen, warb 1843 zum außerorbentlichen, 1844 zum ordentlichen Pro» 
fefior ernannt, folgte aber 1848 einem Hufe an die Univerfität Leipzig, wo er auch 
bereits zwei Jahre hinter einander, 1859 bis 1861 das Mectorat verwaltet: bat. R. 
hat von Anfang feines wiflenfchaftliden Auftretens an als ein ganz felbitftändiger 
Denker feinen eigenen Weg verfolgt, und wenn er auch nicht als ein Entveder neuer, 
epochemachender Theorieen angefehen werben Eann, fo if er doch als der Gründer 
der immer mehr Anhänger findenden biftorifch-phyfiologifhen Methode 
der Volksewirthſchafts lehre zu bezeichnen. Seine Methode will für die Staatswiſſenſchaften 
etwas Achnlicyes erreichen, maß die Savigny-Eichhorn’fche Methode für Die Jurisprudenz 
‚ erreicht hat. (Grundriß zu Borlefungen über die Staatöwirthfchaft. Vorrede S. V.) R. 
betrachtet den Stact und die Bolfäwirthfchaft als die eine Seite des Volkslebens, deren 
gründliche Verſtaͤndniß natürlich nur durch die Kenntniß des ganzen Volks erreicht 
wird. Wie jedes Leben, fo ift auch dad Volksleben ein Ganzes, defien verſchieden⸗ 
artige Yeußerungen im Innerften zufammenhängen. Wer daher eine Seite deſſelben 
wiffenfchaftlich verfichen will, der muß alle Seiten Eennen. Und zwar find es vor« 
nehmlich folgende fleben Seiten, die Hier in Betracht fommen: Sprache, Meligion, 
Kunft, Wiſſenſchaft, Recht, Staat und Wirthſchaft. MR. verſteht daher unter Natio⸗ 
naldötonomif, Volkswirthſchaftslehre, die Lehre von den Entwidelungsgefegen der 
Volkswirthſchaft, des wirthſchaftlichen Volkslebens. Beide Wiflenfchaften knüpfen ſich 
einerſelts an die Betrachtung des einzelnen Menſchen an; ſie erweitern ſich auf ber 
andern Seite zur Erforfhung der ganzen Menichheit (Syftem der Volkswirthſchaft. 
1. Band. $ 16). Mit Durchführung diefer Anficht hat R. nad feiner neuen Me⸗ 
thode nicht allein das fog. Mercantilfpfiem und das phyflofratifche Syſtem vollends 
flegreih aus dem Felde geichlagen, dad fcharfjinnige Induſtrie⸗Syſtem von U. Smith 
aber mit neuen Fundamenten verfeben, verbeffert und weiter geführte. Wenn nämlich 
Letterer die Behauptung aufgeftellt Hat, daß der nationale Reichthum dann am ficher- 
fien erlangt werde, wenn, wenigftens in den meiften Fällen, jedes einzelne Individuum, 
angetrieben durch den allen Menfchen eigenen Trieb des Eigennuged, für ſich felbft 
feinen Privatvortheil verfolge, fo bat R. fehr richtig und ſchön dieſer wirtbfchaftlichen 
Zriebfeder noch die Richtung auf eine überirdifche Welt beigefellt, mögen wir fie nun 
mit bloß philoſophiſcher Zeihnung der Umriffe, Ideen der Billigfeit, des Mechts, des 
Wohlwollens, der Bolllommenheit und inneren Breiheit nennen, ober mit lebendiger 
Ausfüllung derfelben Liebe Gottes. — „Wie fehr immer bei den meiften Men⸗ 
chen", bemerkt R. (a.a.D. $ 11, S. 17 der 3. Ausg.), „das göttliche Ebenbild ge= 
trübt worden, fo ift doch bei feinem die Sehnfucht nach demfelben-ganz ſpurlos ver- 
ſchwunden. Durch diefe Richtung nun wird der Eigennug im Zaume gehalten; ja, 
er wirb zum irdiſch verfländigen Mittel für einen ewig idealen Zweck verklärt.” Wie 
im Weltgebäude die Scheinbar entgegengefeßten Beflrebungen der Gentrifugallraft und 
Gentripetalfraft die Harmonie der Sphären bewirken, fo im gefellfchaftlichen Leben des 
Menſchen der Eigennuß und die Bottesliebe den Gemeinfinn. Auf diefem Ge 
meinfinne beruht flufenmweife das Familien-⸗,, Gemeindes, Volks⸗ und Menfchheitäleben 
(welches letztere mit dem Leben der Kirche zufammentreffen follte). Nur dur ihn 
wird das Gottesreich auf Erden verwirklicht, Die Religion thätig, ſittlich; nur durch 
ihn der Eigennuß wahrhaft ficher und nachhaltig zweckmäßig. Durch den Ges 
meinfinn wird dann auch der ewige, Alles zerfiörende Krieg, das bellum 
omnium contra omnes, welches der Egoismus zwifchen ben einzelnen Privatwirth- 
ſchaften berbeirufen würde, zu einem höheren, wohlgeglieberten Organismus verföhnt: 
des Volkäwirthſchaft. An diefem Organismus — mit welchem Worte eben nur 
7 Füszefte gemeinſame Ausdruck vieles Brobleme gegeben werben ſoll, welche bis Unter» 


— — — - — — — 


Noscoe ( William). 391 


ſuchung zu löfen bat — legt nun R. das anatomiſche Reſſer, um feine verſchiedenen 
Entwidelungsftufen, gefunde und kranke Erſcheinungen an der Hand der Geichichte 
zu beleucdhten und nad den ewig waltenden Naturgefegen zu behandeln, „über welche 
nur derjenige Macht gewinnen kann, der ihnen zu gehorchen verfleht." Durch biefe 
Behandlungdmeife iſt R. zu dem ÜMefultate gelangt, weder eine allgemeine normale 
Volkswirthſchaft, noch eine in aller Hinficht abfolut gültige Theorie anzuerkennen, ſo 
dag er verfchledenen wirtbfchaftlichen Zuſtaͤnden ıfnd verſchiedenen ſich gegenübertreten« 
den und nad einander auftauchenden Theorieen ihre verhältnigmäßige Berechtigung 
neben einander zugeſteht. — Wegen R.'s Thätigkeit ale Schrififteller find nicht nur 
bie Fachgenoſſen, fondern alle Gelehrten, ja alle Gebildeten zu großem Dank verpflich“ 


. tet; feine vielen Schriften find für einen Jeden belehrend, allgemein faßlich und ver- 


ftaͤndlich, gleichzeitig ungemein -anziehend und feflelnd. Nachdem er das fhähbare 
Buch: „Leben, Werke und Zeitalter des Thucydides,“ Böttingen 1842, geichrieben, 
welchen alten Befchichtfchreiber er Taut eigener Aeußerung vorzugsmeife ald feinen 
Lehrmeifter verehrt (Vorrede zur erfien Auflage des Syflems des Volkes, ©. VI.) — 
bat ex fein Syſtem theild in dem. „Srundriffe zu Borlefungen über die Staatöwirth- 
fhaft. Nach gefchichtlicher Methode," Böttingen 1843 — theild in einer Reihe gründ« 
licher und vielfeitiger Unterfuhungen über einzelne Gegenflände weiter ausgeführt, 
welche er theils in wiſſenſchaftlichen Zeitfchriften (Archiv der politifchen Defonomte, 
Zeitſchrift für Gefchichtswiffenfchaft, deutſche Vierteljahrsjchrift) veröffentlichte oder zu 
größeren felbfifländigen Werken verarbeitete. Bon diefen Iegteren find namentlich ber- 
vorzubeben Die mit ungetheiltem Beifall aufgenommene Schrift: „Lieber Kornhandel 
und Theuerungd-Politit,* von welcher während kurzer Zeit zwei Auflagen vollfländig 
vergriffen waren und eine. britte, flarl vermehrte Auflage — Stuttgart 1852 — uötbig 
wurde; — „Geſchichte der englifchen Volkswirthſchaftslehre, 1852,” und anf das 
Wefentlihfte beseichert und umgearbeitet: „Anfichten der Volkswirthſchaft aus dem 
geſchichtlichen Standpunkte, 1861.” Großes Auffehen machte das 1856 erfchienene 
Buch über „Eolonieen, Golonial- Bolitif und Auswanderung.” Vollſtaͤndig und im 
wiffenfchaftlichen Zufammenhange bat er feine Anflchten in dem auf 4 Bande berech⸗ 
neten „Spflem der Volkswirthſchaft. Ein Hand⸗ und Lefebuh für Geſchaͤftsmaͤnner 
und Stubisende. Stuttgart und Augsburg," dargelegt. Der erfle Band unter dem 
befonderen Titel: „Die Grundlagen der National⸗Oekonomie“ erſchien bereitd in fünfter 
vermehrter Auflage; ber zweite Band: „Nationale Defonemil des Aderbaues. und ber 
verwandten Urproductionen,“ in britter Auflage; die noch fehlenden Bände werben Die 
National » Dekonomit des Gewerbfleißed und Handels, fo wie Die Lehre vom Staats⸗ 
und Gemeindehaushalt umfaffen. Neben der Ausarbeitung dieſes größeren Werkes 
Bat R. noch Muße gefunden, werthvolle Auffäge, z. B. „ein national » dfongmifches 
Hauptprinetp der Forſtwirthſchaft“ 1854 — „die deutfche National-Delonomif an der 
Grenzfcheide des fech&zehnten und flebzehnten Jahrhunderts * 1862, in den Abhand⸗ 
Iungen der philologiſch⸗- Hiftorifchen Klaſſe der Föniglich fächflichen Gefellfchaft ver 
Wiffenfchaften zu veröffentlichen. R. ift ein bedeutender und vielfeitig ausgezeichneter 
Gelehrter von einem unermüblichen, raſtlos forjchenden und emſig fammelnden Fleiße, 
welcher aus ungeahnten Quellen oft bie preiäwürbigften Kunde fchöyft. Bon Ges 
sechtigleit und PBietät if er gegen die Verdienſte anderer Gelehrten erfüllt. Staunen- 
erregend, faſt alle Völker und Zeiten, fo wie alle Gebiete des Willens, umfaſſend if 
feine Gelehrſamkeit und namentlid hoch entwidelt fein hiſtoriſcher Sinn, welder alle 
Berbältniffe im gefchichtlichen Zufammenhange zu würdigen weiß. 

Roscius (Duintus) f. Schaufpielfunft. 

Noscoe (William), englifcher Bejchichtöfchreiber, geb. 1753 zu Liverpool, at« 
beitete ebendafelbft ald Schreiber bei einem Rechtsanwalt und erwarb fi in und 
neben diefem Dienfle fo viel Rechts⸗ Sprach und anderweitige allgemeine Kenntnifle, 
daß ihm fein Principal die Führung feiner Geſchäfte übertrug. Schon in feinem 16. 
Sahre trat er mit dem befchreibenden Gedicht Mount pleasant auf und nahm 1788 
an der damaligen Agitation gegen den Sclavenhandel durch fein Gedicht The wrougs 
in Africa Theil. 1795 erfchien zu Rivespool (2 Bde.) fein erſtes hiſtoriſches Haupt⸗ 
wert The life of Lorenzo de’ .Medici. Bald darauf etablirte ex ſich als Banquier in 


392 Noſe (die goldene). - Role (Valentin, Heinrich n. Guſtav R.). 


Liverpool und veröffentlichte ebend. 1805 (in 4 Bon.) fein zweites großes Hiftorifches 
Werf The life and pontificate of Leo X. (deutfh von Glaſer, mit Anmerkungen 


von Henke, Leipz. 1806, 3 Bde.; italienifch von Boffl, Mailand 1818, in 12 Bon.). 


Er ging, während er einige Zeit lang als Mitglied der Whigpartei Liverpool im Par- 
lament vertrat, mit dem Plan einer großen Kunft- und LKitergturgefchichte um, ale 
ihn der Sturz feines Bankhauſes (1816) und die darauf folgende Berfteigerung ſei⸗ 
ner Bibliothek feiner Bücher beraubte. Doch blieb fein Eifer für die Wiſſenſchaften 
lebendig, wie er z. B. zur Errichtung der Royal institution of Liverpool das Sei« 
nige beitrug. Er flarb den 30. Juni 1831. Cine Sammlung feiner Historical 
works erſchien 1828 in 8 Bon. zu Heidelberg, und fein Sohn fehrieb das Life of 
William R. (2ondon 1833. 2 Bde) 

oje, die goldene (rosa auren), heißt die aus Gold verfertigte und vom 
Bapft geweihte Hofe, welche vom römifchen Stuhl als Geſchenk fürftligen Perfonen 
zugeftellt wird, die fich um feine Intereffen verdient gemacht haben ober von denen 
er eine Förderung derfelben erwartet. Auch an Städte und Kirchen iſt fie‘ geſchenkt 
worden, 3. B. von Gregor XVi. 1834 an Kapitel und Kathebralfirche von Gt. 
Marco. Der Papft iſt bei der Weihe ganz weiß gekleidet und vollzieht die Ceremo⸗ 
nie vor einem mit Rofſen und Kränzen gefhmädten Alter. Nah dem Weibgebet 
taucht er fie in Balſam, beſtreut fie mit Mofchusfaub, befprengt fie mit Weihwaſſer 
und legt fie, nachdem er fie emporgehoben und dem Volke gezeigt bat, auf den Alter, 
worauf die Mefle folgt. Sie wird vom Papft der zu befchenktenden Perſon entweder 
unmittelbar übergeben, oder dur einen Gefandten zugeſchickt. Berühmt ift die gol- 
dene Roſe, welche im Neformationdzeitalter Bapft Leo X. Friedrich dem Weifen, Kur⸗ 
fürften von Sachſen zuſchickte. Der Gebrauch foll im 14. Jahrhundert entflanden 
fein. Notorifh iſt ed, daß fle Alerander II. an Ludwig VII. von Frankreich und 
an den Dogen von Benebig gab. 
‘ Mole iſt der Name einer märfifchen Familie, welche ſich bereits durch drei Ge⸗ 
nerationen hindurch durch Ihre Verdienfte um das Studium der Ehemie und burdh Die 
bedeutenden praktifchen Erfolge deſſelben einen hochgeehrten Namen gemacht Hat. 
1) Balentin R., der Neltere, geboren 1735 In Neu⸗Ruppin, der Erfinder des nad 
ihm benannten „Roſe⸗Metalls“, Apotheker und Affeffor des Mebicinal-Collegiums in 
Berlin, machte fich in Tegterer Stellung namentlih um bie Neuelnrichtung diefer Be⸗ 
Hörde verdient, wurde jedoch feiner wiffenfchaftlihen und praktiſchen Thätigkeit durch 
einen frübzeitigen plöglichen Top, 1771, entriffen. 2) Sein Sohn, Balentin R., 
der Jüngere, geboren 1762 in Berlin, übernahm nad tüchtigen dhemifchen Studien 
unter Klaprotb und Hagen in Berlin und Königäberg 1792 die väterliche Apotheke 
und wurde 1795 ebenfalls Affeffor beim Medicinal⸗Colleglum der Provinz Brandens 
Burg. Hier zeichnete fih R. durch feinen Antbeil bei der Abfafjung der preußifchen 


Phafmakopöe aus, fo wie durch fein Beftreben, der Bildung der Bharmaceuten durch 


die Zulaffung zu den dyemifchen Borlefungen an den Univerfitäten und Errichtung 
chemifcher Laboratorien ein fireng wiffenfchaftliche® Fundament zu geben. Berfchiedene 
fachmwiffenfchaftliche Arbeiten: geringeren Umfangs Haben feinen Namen auch Titerarifch 
zu Ehren gebracht, an der Herausgabe eines durch langjährige Studien und Erfah 
rungen vorbereiteten Handbuchs der Erperimental- Chemie wurde er aber durch den 
Zod verhindert, der ihn im Träftigften Mannedalter, 1807, dahinraffte. Zu höheren 
Ehren brachten den Namen des um ihre forgfame wiffenfchaftliche Erziehung fo ſorg⸗ 
fam bemühten Vaters feine Heiden älteren Söhne Heinrih und Guſtav M., beide 
Koryphäen in ihrer betreffenden Wiffenfchaft, jener ald Chemiker und praftifcher Una» 
Iptifer, diefer als Mineraloge. — 3) Heinrich M., wohl der firebfanfte und einer 
der hervorragendſten Chemiker der Neuzeit, ordentlicher Brofeffor der Chemie an ber 
Univerfltät in Berlin, wurde in dieſer Stadt 1795 geboren. Nach mehrjährigen 
Gymnaſtalſtudien in feiner Baterftadt kam er zur Erfernung der Pharmacie in eine 
Officin na Danzig, erlebte bier die furchtbare Belagerung unter Rapp, trat 1814 
als Kreimilliger in die Reihe der Breibeitäfämpfer, in denen ſchon drei feiner Brüder 
dienten, nahm Theil an den Schlachten von Laon, Paris, Rigny und La belle Alltance 
and fehte nach gefchloffenem Frieden feine Studien wieber fort. Zuerſt in Berlin 





—— — 


Roſellini (Ippolito). 393 


bei Hermſtaͤdt, dann begab er ſich 1819 nah Stockholm zu Berzelius, der Ihm mehr 
Freund als Lehrer und Meiſter war, promovirte 1820 an der Kieler Hochſchule, ha⸗ 


bilitirte fih 1822 an der Berliner Univerfität, wo er 1823 außerordentliher Pro- 


feffoe wurde, und feit 1835 bis zu feinem am 27. Januar 1864 erfolgten Tode als 
ordentlicher Profeflor der Chemie und Naturmiffenfchaften wirkte Wie R. mit un« 
wandelbarer Liebe und Verehrung an feinem großen Lehrer Berzelius Bing, fo bat 
auch deſſen Lehre und Beifpiel fein ganzes miflenfchaftliche® Leben entſchieden; er con« 
centrirte alle die reichen Kräfte feines Geifted und feine außerordentliche Arbeitöfraft 
auf die unorganifche und vorzugsweiſe auf Die analptifche Chemie, und unerreicht fleht er auf 
dieſem Gebiete da. In feinem „ Handbuche der analptifchen Chemie”, wovon 1861 als fechfte 
Auflage die franzöflfche Original-Ausgabe in Paris erſchien, legte er die Mefultate feiner 
hemifch-analytifchen Forſchungen nieder, Deren jede durch eine Meibe oft der complis 
eirteften Studien zu praftifchen @rperimenten und dann durch diefe felbR im Labora⸗ 
torium erhärtet wurde. Noch in feinem legten Lebensjahre vollendete R. ein in ge⸗ 
drängterer Born zufammengefaßted „Lehrbuch der analptiichen Chemie”, welches ſich 
neben jener Formenkurze Durch eine Menge neu von ihm erfundener Methoden zur 
Zerlegung der Körper auszeichnet. Außerdem enthalten Boggendorf’8 Annalen beie 
nabe in jedem ihrer mehr ald hundert Bände eine verbienftvolle Abhandlung R.'s 
und man gewinnt auß biefer feiner felbft noch in den höheren Rebendfahren junehe 
menden Productiondfraft die Meberzeugung, daß fein ganzes Leben eine raftlo® fchafe 
fende geiftige Thätigkelt war. Ein befonderes Verdienſt R.'s iſt es, daß er zuerft 
in ganz Deutſchland und zwar zumeiſt aus eigenen Mitteln ein chemifches Prakticum 
einrichtete, aus welchem fpäter das heutige chemifche Laboratorium entfland. Niemals 
nad äußeren Ehren firebend, trog feines hoben wiflenfchaftlichen Aufet von beſchei⸗ 
denem, demuthsvollem Sinne, fielen R. doch alle Ehren zu, von denen außer ben 
zahlreichen Exrnennungen zum WMitgliede und Ghrenmitgliede gelehrter Befellfchaften 
bier nur noch die Verleihung der Friedensklaſſe des Ordens pour le merite erwähnt 
fein fol. Es giebt unter den neueren deutfchen Gelehrten wenige, bei welchen wie 
bei R. die in Gemüth und Geift gelegten reichen Keime des Wiflens und Schaffens 
Durch treue und bemütbige, aber rafllofe und glüdliche Arbeit zu einer fo vollen und 
barmonifchen Entfaltung geführt worden wären! — 4) Guſtav R., des vorigen 
jüngerer Bruder, berühmter Mineraloge und Profeilor der Mineralogie an der Univer⸗ 
fltät in Berlin, geboren 1798, wandte fih nach abfolvirten Gymnaſtalſtudien der 
praktiſchen bergmännifchen Laufbahn zu, 1816, mußte diefelbe jedoch aus Geſundheits⸗ 
Rückſichten ſchon im folgenden Jahre wieder aufgeben, fludirte nunmehr auf der Ber⸗ 
liner Uiniverfität Chemie und Mineralogie und ging 1821 nad erfolgter Promotion 
nah Stockholm zu Berzelius, wo er bald zu defien bervorragendften Schülern gehörte 
und den von feinem vorgenannten Bruder eben aufgegebenen Pla im freundichafte 
lichen Umgangskreiſe feined Lehrers einnahm. Auf des Kepteren dringende Empfeh⸗ 
Iung erbielt R. ſchon im Anfange des Jahres 1822 die Stellung ala Cuſtos der 
Mineralien» Sammlung an der Berliner Hochſchule, habilitirte ſich an derfelben als 
Brivatdocent und mwurbe 1827 außerorbentlicher, 1839 aber ordentlicher Profeffor der 
Naturwiffenfchaften, fpeciell der Mineralogie. Im Jahre 1829 folgte MR. mit Ehren- 
berg dem Erſuchen Alexander v. Humboldt's als deſſen Begleiter auf einer wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Reiſe ins weſtliche Vorder⸗Aſien, deren mineralogiſch⸗geognoſtiſche Reſul⸗ 
tate er in feiner 1837 bis 1842 erſchienenen „Reiſe nach dem Ural, dem Altai und 
dem Paspifchen Meere” publicirte. Außer feinen vielen meift in Poggenvorf'8 „Ane 
nalen” erfchienenen Fleineren Auffägen und Schriften verdienen bier noch genannt zu 
werben fein verdienſtvolles Werk über die „Elemente der Kriſtallographie“, Berlin 
1834, 2. Aufl. 1838 und eine in Berlin 1846 erfihtenene Abhandlung „Ueber das 
Kriftallifationsfyftem des Quarzes.“ 

Roſellini (Ippolito), berühmter Alterthumsforſcher, geboren den 13. Auguſt 
1800 zu Piſa, wo er die theologiſchen Studien vollendete und 1821 Doctor der 
Theologie wurde. Nachdem er fich in Bologna unter der Leitung des gelehrten Cars 
dinals Meszofanti eine gründliche Kenntniß der morgenlänbifchen Sprachen verfchafft 
hatte, wurde er 1824 zum Profeſſor der orientalifchen Literatur an der Univerfität 


394 Roſen. (Geſchlecht.) 


ſeiner Vaterſtadt ernannt. Mit Bewilligung der toscaniſchen Regierung war er der 
Gefaͤhrte des franzoͤſiſchen Gelehrten Champollion, als derſelbe im Frühling und Sommer 
des Jahres 1826 die aͤgyptiſchen Denfmüler Noms und Neapels, fpäter Turins be⸗ 
reiſte. Im November deſſelben Jahres warb ihm ein längerer Aufenthalt in Paris 
zur Fortſetzung feiner Agyptifchen Studien geftattet. Im Jahre 1828 begleitete er 
die wiſſenſchaftliche Expedition, welche die franzüfliche und toscantiche Megierung zu 
näherer Erforfchung der bierogipphifchen Denkmäler nach Aegypten endeten. Im 
Januar 1830 nah Pifa zurüdgefehrt, eröffnete er Borlefungen über Hieroglyphik, 
deren Inhalt im Jahre 1837 in den „Elementa linguae Aegyptiacae* des Mater 
Ungarelli zu Rom erſchien, nachdem er fchon im Jahre 1831 in einem verdffentlichten 
Briefe an Peyron feine Grundfäge hierüber dargelegt hatte. Beſonders aber lag ihm 
die Bekanntmachung und Erklärung des erworbenen Aägpptifchen Denfmälerfhages am 
Herzen. Er Hatte ſich mit Champollion in die Herhudgabe deſſelben getheilt; als aber 
Ehampollion fhon am 5. März; 1832 flarb, beforgte er allein die Herausgabe unter 
dem Titel: „I monumenti dell’ Egilto* (6 Bde. Fol. Pifa 1832+-41), deſſen Voll⸗ 
endung dur feinen am 4. Juni 1843 erfolgten Tod- unterbrochen wurde. Kür 
Deutfchland if R. in näherem Bezuge wichtig geworden als der Lehrer von Richard . 
Lepſius, der im Jahre 1836 bei ihm verweilte. Dal. Giufeppe Barbelli, „Biografia 
del prof. Ipp. Rosellini (Firenze 1843) und den Nekcolog im „Kunftblatt” zum 
„ Morgenblatt“, 1844, Nr. 70, &. 295, und Nr. 71, ©. 299 ff. 

Nofen, ein altes, urfprünglic aus Böhmen flammendes, gegenwärtig im freie 
herrlichen Stande in Rußland, Schweden, Dänemark, Schleswig-Holflein und Preußen 
blühendes Adelögefchlecht, welches feinen gemeinichaftliden Stammbaum auf. Slawnik, 
Grafen v. Lubicz, welcher um’8 Jahr 900 geboren ward, und im Jahre 981 flarb, 
zurüdführen Tann, von deffen drei Söhnen, St. Adalbert, St. Gaudentius und Pas 
ragius oder Porag, die ihn feine Gemahlin Straezislama, eine Tochter bed Herzogs 
Dtto des Crlauchten von Sachſen und Schwefter des deutſchen Kaiferd Heinrich 1., 
gebar, der Legtermähnte (Porag) ald der sigentliche Ahnherr des R.'ſchen Geſchlech⸗ 
te8 gilt. Durch die Beidnifchen Bewohner Böhmens zur Flucht nach Bolen veranlaft, 
wirkte der zum Chriſtenthum übergetretene Borag feit 1000 daſelbſt viel zur Geſittung 
der dortigen Bevölkerung, unter der er nach dem Vorgange feiner Brüder den Samen 
der neuen Lehre auszuſtreuen bemüht war, und warb zugleich der Ahnherr eines zahle 
reichen Adelsgeſchlechts, welches bald in mehr denn funfzig verfchiedenen Aeſten und 
Zweigen fi über Polen, Lievland, Schweden, Rußland, Deutfchland, Frankreich und 
England verbreitete und auch nach der urfprünglichen Heimath Böhmen, als biefes 
Land für den chriftlichen Kult gemonnen war, zurüdverpflanzte. Seit dem Anfange 
des 12. Jahrhunderts führte das Geflecht nach den in fein Wappen aufgenommenen 
drei weißen Rofen den Namen R. Unter den vielen berühmten PBerfönlichkeiten, welche 
Diefem Mdelsgefchlecht in älterer Zeit entfproffen, zeichneten fig vornehmlich auß: 
Reinhold v. R., der als fchwebifcher Oberſt zu ben tapferften Heerführern Guſtav 
Adolph's im 30faͤhrigen Kriege gehörte, dann in franzoͤſiſche Kriegsdienſte trat und 
als frangöfifcher Generallieutenant im Jahre 1667 flarb; Graf Konrad v. R., des 
Vorigen Neffe, welcher Marſchall von Frankreich und Irland war und 1715 flarb, 
und Graf Guſtav Friedrich v. R., der, geboren im Jahre 1688 und geftorben 
im Jahre 1769, fchwedifcher Reichsrath war und, als General en chef und General⸗ 
Gouverneur von Finnland fungirend, Der vertrautefle Freund des Könige Karl XII. 
war, weldhem er zweimal das Leben rettete. Bon den gegenwärtig beſtehenden frei» 
herrlichen Linien find bemerfenswerth: 1) die preußiſche Linie oder die Linie Hoſch⸗ 
zofen, melde in der preußifchen Rheinprovinz angeſeſſen ift, in den Jahren 1721 
und 1852 die Anerfennungen ihres Freiherrnſtandes preußifcherfeits erlangte und zum 
jeßigen Ehef den Freiherrn Buftav v. R. Hat, der im Jahre 1792 geboren 
iR; 2) die ſchleswig-holſteiniſche oder pommerſche Linie, welche in zwei 
Zweigen blüht, deren erflere zum gegenwärtigen Ghef den Freiherrn Guſtav 
v. M. beflgt, ber, geb. 1809, preußifcher Major a. D. if und als Landes⸗ 
ältefter des Kreiſes Boldberg- Haynau in Scleften fungirt, und deren zweite, 
die auf den freiherrlichen Titel Verzicht geleiftet hat, zum jegigen Ghef Frie⸗ 


Noſen. (Geſchlecht.) 395 


drich v. R. hat, der, geb. 1816, daͤniſcher Rittmeiſter iſt, und 3) die ruſſiſche, 
welche 1697 und 1802 in den Freiherrtnſtand erhoben, zugleich die ausgebreitetſte, 
begütertfie und wichtigfte unter allen gegenwärtigen Linien ift und namentlidy in 
den Gouvernementde Witebsf und Beffarabien fehr umfangreihe Gütercomplexe 
beſtzt. Aus ihr entflammte Baron Georg Andreas v. R. (in Rußland Grigorij 
Wladimirowitfh oder N. 1), ein geborner Lievländer, deſſen Vorältern in Schweden 
anfälflg waren, geb. 1776 und fchon 1789 in ruſſiſche Dienfte tretend, der bereits 


- 1803 zum Capitän und 1806 zum Oberſten avancirt war. In den Kriegen Rußlands 


mit Yranfreih 1806 dis 1807 befehligte er daß erfte Jägerregiment und war, als 
der Krieg gegen Schweden im Jahre 1808 begann, bereitd Generalmajor, in welcher 
Eigenfchaft er glückliche Kämpfe in Zinnland befland. Wichtigere Xorbeern erfämpfte 
er noch im ruſſtſchen Breiheitökriege, wo er, 1811 zum Brigadechef und 1812 zum 
Commandeur der erfien Garbebrigade aufgerüdt, fih mit der legteren befonderd bei 
Moſhaiok und bei der Verfolgung ber Branzofen audzeichnete, während er zu Anfang 
des Jahres 1813 die erfle Gardediviſion commandirte, mit dem Oftermannfchen Corps 
bei Kulm und bei Leipzig focht und, zum Generallieutenant befördert, 1814 die 
Schlachten auf franzöflichem Terrain mitfämpfte und fich vornehmlich bei Arcis jur 
Aube und bei Paris außzeichnete. Nach dem zweiten Pariſer Frieden befehligte er 
das erfle Infanteriecorpd. Bon Kaifer Nikolaus I. kurz nach feinem Regierungsan⸗ 
tritt (1826) zum General der Infanterie erhoben, nahm er erfolgreih an dem pol- 
nifchen Kriege des Jahres 1831 Theil, indem er das 6. Infanteriecorp8 den Inſur⸗ 
genten entgegenführte und Anfangs den rechten Flügel des rufjlichen Centrums bildete. 
Die Hauptfchlachten, an denen er fich betheiligte, maren die bei Wawre, bei Grochow, 
bei Dembe Wielfe und bei Iganie, in weldyen beiden letzteren er durch den Inſur⸗ 
gentengeneral Skrzynecki empfindliche Niederlagen erlitt, wogegen er fpäter, nachdem 
er fein Corps reorganifist, Praga erfolgreich mit einfchließen half und Hamorino über 
die galiziſche Grenze drängte. Später erhielt Baron R. den Oberbefehl über das 
2. abgefonderte Taufafliche Corps und gemann mehrere Vortheile über den Tſcher⸗ 
keſſenhaͤuptling Kafl-Mullah, während es ihm mit den ihm zu Gebote lebenden Mit- 
teln nicht glüden wollte, die durch Schamil fanatifirten Berguölfer zu beflegen. Un⸗ 
orbnungen, die zugleich in der Verwaltung, wiewohl nicht durch die unmittelbare Ver⸗ 
ſchuldung R.'s flattgefunden, gaben dem Kaifer Nikolaus J., dem die Kriegöführung 
R.'s mißfiel, Gelegenheit, ihm eine Zeitlang feine Gnade in fühlbarſter Weile zu 
entziehen, wogegen er ihn fpäter feiner vollen Huld wieder theilhaft werben ließ, in» 
dem er ihn zum Senator und Mitglied des Kriegsraths in St. Peteröburg machte 
und in feiner legten Krankheit (er ſtarb am 24. Auguft 1841) fich täglich nach feinem Befinden 
erkundigen ließ. R. war zugleich ein wiffenfchaftlich gebildeter und in Die hiſtoriſch-geographi⸗ 
ſchen Disciplinen tief eingeweihter Mann, was feine beiden trefflichen Karten des Kaukaſus und 
der angıenzenden Länder (St. Petersburg 1834, die größere In 20 Blättern und mit 
wichtigen flatiftifchen Notizen über die Volkszahl der einzelnen Gebirgsvoͤlkerſtaͤmme) 
bezeugen, denen fogar die Ehre zu Theil geworben ift, auf Carl Ritter's Antrieb in’s 
Dentfche überfegt zu werben. Ein naher Verwandter des Borigen, Baron Roman 
v. R. geb. 1780, war Oberſt und fpäter Generalmajor im rufflichen Freiheitskriege, 
befehligte 1830 als Beneral- Lieutenant eine Divifion im Kaufafus, wurde darauf 
Mitglied des General- Aupitoriatd in St. Beteröburg und flarb ald General der 
Infanterie zu St. Peteröburg am 23. October 1848. Baron Aleris v. R. wurde 
Dirertor der Artilleriefchule in St. Vetersburg, 1853 Mitglied des oberfien Raths 
der Militärlehranftalten und if jegt General-Lieutenant und General⸗Adjutant. Baron 
Andread v. R., geb. 1803, ift ruſſiſcher Geheimer Rath, Stallmeifter und Hofe 
marſchall der Großfuͤrſtin Helene Pawlowna. Baron Friedrich (Fedor Iwanowitſch) 
brachte e8 in der Garbe-Nrtillerie, ein anderer Baron Friedrih (Fedor Andreſewitſch) 
im Poſtweſen zu einer hohen Stellung. Das Geflecht zählt augenblicklich mehr als 
zwanzig Würdenträger in Rußland, welche meiftens einflußreiche Aemter bekleiden. 
Bel. die „Obschtschaja Rosspiss wssjech tschinownych ossob w Gossudarstwje 
1864* (2 Bde, St. Peteröburg 1864). Aus dieſem berühmten Adelögejchlechte, und 
zwar aus dem zulegt gedachten in Rußland feßhaften Zweige, entſtammt auch der alf 


396 Mofen (riedrich Auguf.) Räöſenberg. (Geſchlecht.) 


Dichter, Nachahmer und Freund Vuſchkin's bekannte Baron Georg v. R., welcher 
jenen Koryphäen der ruſſiſchen Literatur noch um 23 Jahre überlebte, indem er erſt 
am 6. März 1860 zu St. Petersburg ſtarb. Er bat ſowohl als Lyriker (drei Ge⸗ 
dichte, St. PBeteröburg 1827; das Geheimniß, daf. 1828; die Engelfungfrau, daſ. 
1828), wie als Epifer (die Geburt Iwan's des Schredlichen, St. Petersburg 1830) 
und als Dramatiker (Iwan der Schredliche, ebendaſ. 1833; Rußland und Bathory, 
daf. 1834; Basmanow, dal. 1836, und die Tochter Iwan's, daſ. 1839) fi um die 
sufftfche Literatur und ihren Ausbau, befonders nach der fpradylichen Seite bin, verbient 
gemadht. Daß er auch auf die gehaltlihe Seite Werth legte, erwies er durch bie 
Ueberfegung der letztgedachten Tragödie in's Dentfche, welche er felber veranftaltete, 
und wo er burch fließende Verſe darthat, daß er auch die Wutterfprache nicht verab⸗ 
fäumt hatte. Die gedachte Ueberfegung erfchten zu St. Petersburg 1841 und wurde 
ihrer Zeit auch lebhaft von der Preſſe des Auslandes befproden. Sein Hauptwerk 
iſt die noch Heute in Rußland hochgefeierte Oper: Shisn sa Zarja (dad Leben für 
den Zaren!), deren Tert 1837 zu St. Petersburg erfchien und verbiente® Aufſehen 
erregte, während auch ihre Compoſttion erfreut: Im Jahre 1842 erfchienen im Ssyn 
Otetschestwa (Sohn des Baterlandes) feine in Eunftgefhichtlicher Hinſicht wichtigen 
Meifebriefe aus Rom. Seine Heraußgabe der vielgelefenen Almanache und Kunſt⸗ 
journale Zarskoje Sselo und der Alcyona gehört einer früheren Epoche feines Lebens 
an, wo der Kreid feiner Anfchauungen noch begrenzter war. 

Roſen (Briedrih Auguft), namhafter Orientalift, geboren den 2. Septbr. 1805 
in Hannover, wo fein am 15. October 1855 zu Detmold geftorbener Vater, Friedrich 
Ballhorn⸗Roſen, bekannt als juriftifcher Schrififteller, damals feinen Wohnftg Hatte, 
ftudirte zu Leipzig Orientalta und zu Berlin unter Bopp Sanscrit und gab daſelbſt 
feine „Radices Sanscritae* (1827) heraus. In Barts fegte er unter Sacy feine 
orientaliſchen Studien fort und erblelt darauf einen Auf al& Profeflor der orientalifchen 
Literatur an der Univerfität zu Xondon, wo er, nachdem er 1831 feine Profeffur nieders 
gelegt Hatte, als Secretär der aflatifchen Gefellfhaft am 12. September 1837 farb.’ 
Don den Schriften diefes fleißigen und gründlichen Belehrten führen wir an: „The 
algebra of Muhamed ben Musa* (arabiſch und englifh, Xondon 1831), die Reviſton 
des „Dictionary Bengali and Sanscrit* von Haughton (2ondon 1835), „Rigveda- 
Sanhita, liber primus, Sanscrite et Latine* (Xondon 1838), der für das britifche 
Mufeum angefertigte Katalog der fyrifchen Manuferipte (London 1839). Auch bat 
er die „Miscellaneous essays* von Eolebroofe herausgegeben. (2 Bde., London 1837). 

Roſenberg, ein altabeliges böhmiſches Geſchlecht germaniichen Urfprunge. Na 
dem erften, näher befannten Stammvater deſſelben, Witek, nannte man daſſelbe die 
MWitkowice oder Withigonen. Es gehört einem jener Stämme an, melde gegen Ende 
des 6. Jahrhunderts aus dem Nordgau nad der Donau und abwärts derfelben draͤng⸗ 
ten und in Bayern und feiner Oſtmark fefle Sige gewannen. In Böhmen erfcheint 
daflelbe gegen Mitte des 12. Jahrhunderts, verbreitet fich in verfchiebenen Zweigen, 
denen 9. Roſenberg, v. Neuhaus, v. LZandflein, v. Auflin und Straz und den fon 
frühzeitig erlofchenen v. Wittingau, Graßen, Lomnig und Krummau, deren weibliche 
Linie noch in den Grafen zu Dohna fortblübt. Die „Herren von ber Rofe“ 
bildeten fchon früh das mächtigfte Haus in Böhmen, befleideten die hochſten Würden 
des Meiches und hoben fich durch illuſtre Heirathen. Befonderd berühmt wurde daß 
Geflecht dur Wilhelm 9. R., geboren 1535. Am Hofe des Kaifers in Wien 
erzogen, bildete er den beftändigen Umgang des Kaiferfohnes Marimilian (II.), wurde 
mit 16 Jahren mündig und „regierender Herr des Haufes MR." und erreichte in feinem 
25. Jahre bereitß eine der hoͤchſten drei Würden feines Baterlandes, die eines Oberſt⸗ 
Zandfämmererd. 1557 mit ber Tochter des Herzogs Erich I. von Braunſchweig⸗Calen⸗ 
berg, Catharina von Braunſchweig, vermählt, wurde er ſchon 1559 Wittwer. Er 
richtete jegt feine Augen auf den Furbrandenburgifchen Hof und warb um die Hand 
der Markgräfln Sophie von Brandenburg, Tochter Kurfürft Joachim's II, ge⸗ 
boren am 14. December 1541. Diefe wurde ihm zugefagt und die „NRofen-Hodzeit? 
am 14. December 1561 mit großem Bomp vollzogen. Obwohl A. nur „regierender 
Herr“ war, fo konnte diefe Verbindung dennoch nicht gerade unebenbärtig genannt 


Nolenbiät (Hans). Roſenkranz (Joh. Karl Fr.). 397 


werden, benn dad Haus ber MR. war immer als fürflenmäßig betrachtet worden; ein 
Ahnherr Hatte den Vortritt vor dem Herzog Bolco von Oppeln gehabt und der jetzt 
Bermählte war fogar als Throncandidat von Polen aufgetreten, wo er nur der Ueber» 
macht des Stephen Bathory gewichen war. Die glüdlichde Ehe der Neupermählten 
wurde jedoch bald wieder durch den Tod getrennt. Die Fürſtin erkrankte plögli und 
farb am 27. Juni 1564. Eine befondere Bedeutung bat Sophie v. R. dadurch erlangt, 
dag man fie in Folge ſonderbarer Umſtaͤnde, welche ihren Tod begleitet Haben follen, 
und wegen des romantifchen Schinmers, ber ihr Leben, als troß Jugend und Schön» 
beit angeblich Berftoßene, umgab, in Berbindung mit der berühmten „weißen rau” 


des brandenburgiichen Haufes brachte, welche im Berliner Schloffe fich jedesmal zeigen 


fol, wenn dem preußiichen Königähaufe ein Todesfall oder fonft eine unheilvolle 
DBeränderung bevorfteht. Der poetifhe Hauch, mit welchem die Dichter bie Erfcheis 
nung Sophia’8 umgeben, iſt jedoch theilweiſe entfchwunden, feit die hiftorifche Forſchung 
fih ihrer Gemächtigt und fie zu einer biftorifchen Perſon gemadyt bat. — Dr. Th. 
Maerker gab in ‚Erinnerung an den 300. Todestag nach böhmifhen Quellen ihr 
Leben unter dem Titel: „Sophia v. Roſenberg, geborene Markgräfin von Branden- 
burg” (Berlin 1864) heraus. 

NRoſenblüt (Hans), deutfcher Dichter, der von der Geläufigkeit und Leichtfertig⸗ 
feit feiner Rede den Belnamen der Schnepperer, d. b. loſer Schwäger, erhielt, 
bichtete von 1431 bis 1460 zu Nürnberg und zwar in mehreren Gattungen. Im 
Dienfte der Vaterſtadt ein Wappendichter, verberrlichte ex den von den Nürnbergern 
bei Hempach (1450) über die fie befriegenden Fürſten erfochtenen Sieg, ferner bichtete 


ge Erzaͤhlungen und Schwaͤnke, Weingrüße und Weinfegen, Priameln und Faſtnachts⸗ 


fpiele. Ueber Die letzteren vergl. „Blätter für literarifche Unterhaltung”, Jahrgang 
1846, Nr. 65. 

Roſenkranz, lateinifch Rosarium, Heißt die Perlenfchnur, deren man fich in der 
zömifch » Fatholifchen Kirche bedient, um eine beflimmte Reihe von DBaterunfern und 
Ave⸗Maria's zu beten; ein gewöhnlicher Name dieſes Gebetöregulators iſt auch: 
Baternofir. Wenn fih auch ſchon im 5. Jahrhundert in den Berichten über die 
Mönche der aͤgyptiſchen Wüfte Nachrichten finden, wonach diefelben das DBaterunfer in 
beftimmier Anzahl hinter einander beteten und als Zählmittel ſich dabei eben fo vie- 
ler Steinen, die fle nach einander wegwarfen, bebienten, fo tft der eigentliche MR. 
Doch erft fehr ſpaͤt entflanden und notoriſch tritt er im 13. Jahrhundert unter ben 
Dominikanern auf. Die Einwirkung ähnlicher Gebetöregulatoren bei den Braminen 
und Muhamedanern, eine Einwirkung, welche durch die Kreuzzüge vermittelt wurde, 
ift demnach mit großer Sicherheit anzunehmen. Es giebt ehr verfchiedene Arten von R. 
Der vollfläindige oder Dominifaner-R. befteht aus 15 Dekaden Eleiner Marienperlen, 
welche dem Ave⸗Maria gewidmet und durch 15 größere Paternofter-Perlen getrennt find; 


das Ave⸗Maria wird alfo zwifchen den 15 Baternoftern 150 Mal gebetet. Der gewöhn⸗ 


Ihe R. umfaßt nur 5 Dekaden Marienperlen und 5 Baternofter-Berlen. Der Name 
Rosarium iſt wahrfcgeinlich aus der Unfhauung entflanden, wonach dad ganze Gebetsé⸗ 
mittel als ein Rofengarten erfcheint, in welchem die einzelnen Gebete fi ald Roſenblüthen 
entfalten. Die Rofenkranz- Brüderfchaften, deren Mitglieder fich zum fleifigen Abbeten 


des N. verpflichten, find im 15. Jahrhundert entflanden; die erfle ifl vom Dominikaner 


Jacob Sprenger, (f. d. Art), dem Verfaſſer des „Hexenhammers“ 1475 zu Köln 
gefliftet- worden. Zum Andenken an den Seefleg bei Repanto (den 7. Octbr. 1571) 
fliftete Papſt Gregor XI. das Festum Rousarii B. M. V. und firirte daſſelbe auf 
den erflen Sonntag im Detober, an weldyem jener Sieg gewonnen war; doch be- 
ſchränkte er die Feier des Feſtes auf die Kirchen, die eine Kapelle ober einen Altar 
Des R. Hatten. Erſt nachdem das Eaiferliche Heer am 5. Auguft 1715 den Sieg bei 
Temeswar über die Türken gewonnen hatte und die türfifche Belagerung von Corfu 
zehn Tage fpüter aufgehoben war, befahl Papft Clemens XI. die Feier des R.⸗Feſtes 
in der ganzen katholiſchen Ghriftenbeit. 

Roſenkranz (Joh. Karl Fr.), der geiſtreichſte und glaͤnzendſte Lehrer und Schrift⸗ 
ſteller in der Hegelſchen Schule, iſt am 23. April 1808 in Magdeburg geboren, hat 
daſelbſt den Gymnaſial⸗Unterricht empfangen und ſeit 1824 in Berlin, Halle und Heidel⸗ 


398 | Roſenkranz (Joh. Karl Fr.). 


berg Theologie und Philoſophie ſtudirt. Schleiermacher und Hegel zogen ihn gleichzeitig 
an, immer mehr aber bekam der Letztere das Uebergewicht. Als R. im Jahre 1828 ſich 
in Halle durch Vertheidigung der Difſertation de Spinozae philosophia habilitirte, 
ward er, nicht mit Unrecht, als entſchiedener Hegelianer angeſehen. Seine ſchriftſtelle⸗ 
riſche Thaͤtigkeit betraf zuerſt die Literaturgeſchichte und Aeſthetik. Den kleinen Schriften 
über Titurel und Dante's Komödie, über das Heldenbuch und die Nibelungen (beide 
1829) folgte die Gefchichte der deutſchen Poefle im Mittelalter (1830), an welche 
letztere ſich zwei Jahre ſpaͤter das Handbuch einer allgemeinen Gefchichte der Poeſie 
(3 Bde., Halle 1832— 33) angefhloffen bat. Daß aber daneben ganz andere Fragen 
ihn befchäftigten, bewiefen nicht nur feine Vorleſungen, fondern die Schriften: der 
Zweifel am Glauben (1830), die Naturreligion (1831), die vortreffliche Recenſton von 
Schleiermacher's Glaubenslehre in den Jahrbüchern für wiffenf&baftliche Kritik, durch 
welche zuerſt Die Aufmerkfamkeit in weiteren Kreifen auf Ihn gelenft wurde, endlich 
feine Encyclopaͤdie der theologifchen Wiffenfchaften (1831, 2. Aufl. 1845). Im Jahre 
1833 ward er Profeffor der Philoſophie in Königsberg, welche Stelle er noch jebt be⸗ 
kleidet. In derjelben bat er eine außerordentliche Thätigkeit nicht nur auf dem Katheder 
und mit der Feder, jondern auch durch das Halten auferalademifcher Dorträge und Meben 
eniwidelt, von denen ein Theil gevrudt worden ifl. (Zur Gefchichte ber beutfchen 
Literatur, Königdberg 1836, und: Studien, 6 Bücher, 1839 ff.). Als nach Hegel’d 
Tode die Angriffe gegen ihn begannen, trat er in einem Sendfchreiben an Bachmann 
(Iena 1834) diefem entgegen; im Sabre 1837 veröffentlichte er feine Pfychologie 
(3. Aufl. 1863), in der er fich feiner Treue gegen Hegel rühmt. In den bald darauf 
ausbrechenden Streitigkeiten innerhalb Der Hegel’fhen Schule ſprach er ſich ernftbafk 
und fcherzhaft über die ihm angewieſene Stellung „im Gentrum”" aus. Jenes geſchah 
in den Erläuterungen des Hegel’fchen Syflemd (1840), diefed in der Komödie: Das 
Gentrum der Speculation (1840). In diefe ſelbe Zeit fällt die mit Schubert ver⸗ 
anftaltete Herausgabe von Kant’8 Werfen (Leipzig, Bob, 12 Bde. 1838—40), die 
Schubert mit einer Biographie Kant's, R. mit einer Gefchichte der Kantifchen Philos 
fopbie begleitete. Daß bei der hervorragenden Stellung, die N. in der Hegel'ſchen 
Schule einnabm, die ganz veränderte Rage, in welcher feit dem Jahre 1840 diefe 
Schule fi den leitenden Perfönlichkeiten gegenüber befand, ihm befonderd empfindlich 
fein mußte, ift natürlih. Dazu Fam, dag man oben ihn, mehr als richtig mar, von 
den damaligen Königäberger „Bier Fragen“⸗Ideen infieirt glaubte, und daß man dies 
fehr Deutlich zu verfiehen gab. Den Uebergang aber von einer persona gratissima 
zum Gegentheil ertragen nur ſehr Wenige mit Gleichmuth, und fo ift e@ begreiflih, _ 
dag eine allen Ertremen abholde Natur, wie R., für eine Zeit lang Vielen ald Haupt 
der Oppofltionspartei galt, und auch wirklich mit folcher Bitterfeit erfüllt war, wie fle ſich 
in feinen Borlefungen über Schelling (1842) und feinem Sendfchreiben an Leroux (1843) 
audfpricht. Viel mehr feiner eigenen Art entipricht und viel mehr al8 jene beiden Schrife 
ten bat zur Verberrlichung feines Meifters beigetragen feine Biographie Hegel's (1844), 
zu welcher als ein fpäterer Nachtrag feine Apologie Hegel’8 gegen die bämifchen Ber- 
Däcdhtigungen Haym's gekommen iſt. Die freie Wiffenfchaft (1844), die Kritif der 
Straußifchen Slaubenslehre (1844), die Modificationen der Logik (1846), alle in bie 
Studien aufgenommen, gehören dieſer Zeit an. An fte ſchließt fich die Pädagogik 
(1848), deren Herausgabe durch perfönliche Berhältniffe veranlaßt wurde. Es war 
eine, überall ſich wiederholende Rüdwirktung der Stellung, in welche R. allmählich 
gerathen war, daß er im Jahre 1848 in das Minifterium berufen wurde. Zwar 
nicht, wie mandye feiner Freunde gehofft Hatten, als Chef des Unterrichtöminifterti, 
fondern als vortragender Rath im auswärtigen Miniflerium. Er felbft wußte früher 
als alle Uebrigen, daß Died nur eine vorlibergehende Beichäftigung fein werde, die 
er für feine alademifche Wirffamfeit, zu der zurüdzufehren er feft entfchloffen war, 
auszubenten ſuchte. Das Hineinbliden in dad geheime Raderwerk der Negierung Bat, 
fo rühmt er fich, feinen GBeftchtökreis erweitert. Dabei bat er Gelegenheit gehabt, zu 
einer Zeit, wo fo Viele aufhörten, es zu fein, felbf zu erfahren und ihm näher Tre» 
tenden zu bemelfen, wie fehr er Preußt if. Die Rückkehr nad Koͤnigsberg Hat ihn 
nicht mit Trauer erfüllt. Au in feiner wiffenfehaftlichen Stellung ſcheint der Aufente 


- 





Nofenkrenzer. 399 


halt in Berlin, vielleicht auch ein kurzer in Paris, R. einen veränderten Geſichtskreis 
gegeben zu haben. Zwei größere Werke, die er nachher geichrieben hat, das Syſtem 
der Wiffenfchaft (Königsberg 1850) und die Wiflenfchaft der Iogifchen Idee (2 Bde. 
1858 und 1859, welche die Metaphyſtk und Logik behandeln), zeigen fo bedeutende 
Abweichungen von Hegel, daß fie es begreiflidh machen, wie M. die Eriftenz der Hegel⸗ 
ſchen Schule läugnen und feine Aenderungen ald Verbefferungen des Syſtems bezeichnen 
konnte. Es Hat ihn dieſes in eine etwaß Ifolirte Stellung gebracht, die gerade bei 
feinem Naturell, das ihn mehr als viele Andere auf freundichaftliche Verbindungen 
hinweiſt, etwas Schmerzliched haben muß. Vielleicht wird aber der Umſtand, daß 
nit mehr, wie fonft, der Chorus einer großen Schule durch fein Lob jeden auch den 
gegründeten Tadel überfchreit, den ein Einzelner ausſprach, ihn zur Vorſicht mahnen, 
an welcher der „mit der Feder in der Hand geborene” es oft hat fehlen lafien. Es 
giebt Faum einen Schrififieller erfien Ranges, wie MR. unter den Gegenwärtigen dies 
gewiß ift, bei dem fich in jedem feiner Werke Flüchtigkeiten nachweifen ließen, bie, 
wenn man fie nicht felbft gelefen Hat, ein Jeder für unmdglig erklären wird. Wer 
den Verfafſer Eennt, verzeibt jle ihm wegen eines dritten Superlativs, den man zu 
den zweien binzufügen muß, mit welchen diefer Artikel beginnt: Der geiftreichfle und 
glängendfte iſt zugleich der liebenswürdigſte der Schule, ald deren Nepräfentant zu 
gelten R. ſich nun sinmal muß gefallen laffen. 

Roſenkrenzer. Der Urfprung dieſes bekannten und faft zwei Jahrhunderte lang 
vielberufenen Namens liegt in einer im Jahre 1614 in Kaflel gedrudten Fleinen 


Schrift: „Fama Fraternitalis des löblihen Ordens vom Rofenereug.* Als Berfaffer 


derfelben gilt mit gutem Literarifchen Grunde der befannte württembergifche Theolog 
Sodann Valentin Andreä (f. Br. 2, 255 — 257), mie dies ſeit der Ausfüh⸗ 
sung, welche Arnold in feiner Kirchen- und Kegerhiftorie (1699, Thl. 2, Buch 17, 
Gap. 18) gegeben bat, die allgemeine Annahme geworden und zulegt noch von Guh⸗ 
rauer in Niedner’d Zeitſchrift für die biftorifche Theologie, 1852, ©. 298—315 
genauer erörtert worden ifl. Der Beweis für die Autorfchaft Andreaͤ's liegt eined«- 
theild in gang gut beglaubigten Zeugniffen Gleichzeitiger (mie eines Pfarrers Hirſch 
in Eisleben) und wenig Späterer (wie Bredling’s, v. Helmont's des Jüngern), 
anderntheile in einer Aeußerung Anprei’3 in einem Briefe an Comenius vom Jahre 
1629 und in den Schlußmworten ber gedachten Schrift, welche die Anfangsbucftaben 
des Namens Andrei’ enthalten, wie er diefe Andeutung feines Namens in genauer 


Nachahmung Fiſchart's, an den er ſich auch fonft anfchließt, noch das eine und an⸗ 


dere Wal in feinen Schriften anbringe. Herausgegeben aber bat Andrei dieſe Schrift 
wohl gewiß nicht, und vollends hat er ſich niemals dffentlich zu derſelben bekannt. 
Es ift vielmehr wahrfcheinlih, daß er dieſelbe ſchon vor dem Jahre 1610, aljo in 


feinen erflen Iünglingsfahren, gefchrieben und nur im Manufeript babe circuliren- 


laſſen; die Herausgabe Hat nach allem Vermuthen der Landgraf Morig von Heſſen⸗ 
Kaffel, welcher fih viel mit Geheimlehren (einer secretior philosophia) abgab, veran⸗ 
laßt. In dem Verzeichniß, welches Andrei in feinem Todesjahre (1654) von feinen 
Schriften gegeben bat (Seleniana Augustalia I., 350—353), fehlt fie; freilich fehlen 
in diefem Verzeichniſſe audy einige Schriften, welche Andrei unzweifelhaft zugehören 
und doc nicht zu den Kleinigkeiten gerechnet werden fönnen, die er augenfcheinlich 
mit Abficht übergangen bat. Wohl aber iſt zu beachten, daß Andreaͤ's, ficherlih von 
ihm felbft gewähltes Wappen, wie e8 feine Nachkommen noch jet führen, ein von 
vier Nofen in den Kreugwinkeln begleitetes Andreadfreuz war. Sehr zweifelhaft da⸗ 
gegen erfcheint e8 bei forgfältiger Titerarifcher Erwägung, ob Andreä auch Berfaffer 


der zweiten roſenkreuzeriſchen Schrift jei: „Confeſſion oder Bekandtnuß der Societat 


vnd Bruderfchafft R. C.*, welche 1615 erfihien, und vollends bevenflih ift ed, nad 
angeflellter gründlicher Vergleihung der übrigen gleichzeitigen Schriften Andrea’s, 
namentlich deö Christianismus genuinus und des Turbo, aber audy der Fama felbft, ihm die 
Berfafierfchaft der faft beruhmteften roſenkreuzeriſchen Schrift „ Chymiſche Hochzeit Chriſtiani 
Mofenfreuges (1616) zuzuſchreiben, wiewohl diefe beiden Schriften ihm bisher ganz allge- 
mein, ſelbſt von Guhrauer, zugefchrieben werden. Der Inhalt jener Fama Fraterni- 
talis iſt die Erzählung von einem erbichteten Chriſtian R., welcher im 14. Jahrhun⸗ 


— — — eK — — ——— — 


400 Nofenfrenzer. 


dert gelebt und große Reifen gemacht haben, in Arabien in bie Geheimniſſe der Phyſik 
und Mathematik, in %ez in die Magie und Kabbala eingeweihet worden und endlich 
in Deutfchland ein Ordenshaus erbauet und eine Brüberfchaft gefliftet Haben folle, 
deren Zweck „die Neformatlon der Welt? gewefen fei. Die Regeln des Ordens Häts 
ten unter andern den Inhalt gehabt, dag die Mitglieder ſich der unentgeltlichen Hei⸗ 
lung der Kranken widmen und jährlich einmal in der Wohnung des NReiſters zuſam⸗ 
men Fommen follen, daß Jeder fich bei Lebzeiten einen Nachfolger zu erwählen, die 
Buchſtaben R. C. als Siegel und Erfennungszeichen zu führen habe u. f. w. Diefe 
Geſellſchaft fei im Beſitz der höchſten Weisheit, auch fei in Folge deſſelben jedes 
wahre Mitglied won Krankheit und Schmerz frers mwenngleih dem natürlichen Tode 
unterworfen. Außerdem wird eine weitläufige Beichreibung von dem angeblich wieder 
aufgefundenen Grabe des Stifters in dem damaligen abgeichmadt phantafliichen Style 
gegeben. Diefe Erzählung ſchließt nun, mie auch der Titel der Schrift angiebt, mit 
einer Aufforderung an die Gelehrten Europa’s, fie möchten dieſe in fünf Sprachen 
audgefendete Kama prüfen, ihre Gedanken über diefelbe durch den Drud veröffentlichen 
und fich eventuell an die Brüderfchaft anfchliegen. Diefe Schrift — deren Erzählung 
man die Erdichtung, und zwar die fich felbft widerjprechende, ſedenfalls ungefchidte 
Erdichtung, jetzt auf den erften Blick anfleht, die aber damals faft unbedingten Glau⸗ 
ben fand — machte fofort das allergrößte Auffehen; fie wurde fehr oft aufgelegt 
und gab zu einem wahren Heer von Schriften, bald zuflimmenden, bald widerſprechen⸗ 
ben Inhalts, Veranlaſſung. Unter ihren eifrigflen Bertheidigern ragt der bekannte 
Theoſoph Rohert Fludd hervor, von welchem auch Die Ausdeutung bes Symbole 


des Mofenfreuzes herrührt: „das innerlihe und mpflifche Kreuz Chrifti, welches mit 


dem rofenfarbenen Blut Chrifti beiprengt ſei, ſei die Bedingung der Nachfolge Chriſti 
und bewirfe da8 Prophetenthum und die Gotteßfreundfchaft.” Uebrigens fommt das 
Symbol des Roſenkreuzes — eine Mofe, in deren Mitte ein Herz-und in deffen Mitte 
ein Kreuz flieht — fchon in älterer Zeit vor und war bekanntlich auch das Siegelzeichen Lu⸗ 
ther's. Unter den Begnern der Fama ift befonder8 der Arzt Andreas Libau zu bemerken, 
welcher als Galeniſt vornehmlich die angepriefenen Kranfenheilungen ald paracelſiſch 
angriff. Der Eintritt in die Brüberfchaft des Roſenkreuzes wurde von fehr Dielen, 
bald in Drudichriften Öffentlich, bald privatim bei Solchen, die man für Ordensmit⸗ 
glieder hielt, eifrigft gefucht, aber — die Brüberfchaft ließ fi nicht finden; e8 gab 
gar feinen Orden des Roſenkreuzes. Die Schrift Andreä's, Fama Fraterni- 


.talis, war ein Scherz — er felbft bezeichnet in jenem Briefe an Comenius die Sache 


als Iudibrium — melcdyer-der auf geheime Ueberweisheit gerichteten Neugierigkeit jener 
Zeit galt und ſich über diefelbe luſtig machen follte, aber freilich einen ganz andern 
Erfolg Hatte. Dies ift ſchon das Urtheil unbefangener Zeitgenoffen, wie des Friedrich 
Seiler, des Michael Breler und Anderer; auf das Nachdrücklichſte audgefprochen 
und reichlich begründet hat daſſelbe Gottfried Arnold in dem oben bereitd an⸗ 
geführten Abjchnitt feiner Kirchen» und Keger-Hiflorie. Nur, wenn man auch die bei- 
den oben genannten weitern Schriften: „Confeſſton“ und „Ghymifche Hochzeit” gleich⸗ 
falls Andre& zufchreiben wollte, würde die Sache für ein ludibrium doch zu ernfihaft 
fein; er felbft bezieht indeß das ludibrium bloß auf die Fama, die er eine nidhtige 
(vana) nennt. Daß die Mitglieder der Roſenkreuzbrüderſchaft fih nirgends ausfindig 
machen ließen, daß fie fich nicht „Hetvor thäten“, daß ihre Häupter nicht „ale Pro- 
fessores auf den Univerfltäten aufträten“, ift eine Klage, melde man in den der 
Fama geneigten Schriften Außerfi Häufig antrifft, und die nody am Ende des Jahr⸗ 
bundertS der Theoſoph Seidenbecher im volleften Ernfte erhebt. Jedenfalls war 
die Myflification nur allzumohl gelungen, und in jener platten, kleinlichen, nichtigen, 
eben darum aber geheimfhuerifchen Zeit von einem Erfolge begleitet, welchen Andreä 
fiherli nicht von fern geahnet hatte. Deshalb fprach er fih denn auch fchon in 
feinem Turbo (1616) und im Menippus (1617), in der Alethea exul und fonft, 
flärfer in der, ihren Inhalt durch den Titel hinreichend Gezeichnenden Schrift: Turris 
Babel sive judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis chaos (1619) unummunden 


. über die Thorheiten dieſer angeblichen Geheimweisheit aus, und ließ an bie Stelle ber 


Fama Fraternitatis bereito 1617 eine Invitatio ad fraternitatem Christi treten. Dies 


mE en U — — — — — — —— — — -- -- 


Nofenmäller: (Joh. Georg). 401 


hinberte jedoch nicht, daß die große Mehrzahl der Zeitgenofien nicht allein, fonbern 
fehr viele Perfonen im 18., ja noch im 19. Jahrhundert, und Einige fogar noch bis 
auf diefen Tag, von dem Vorhandenſein eines Roſenkreuzordens ald einer Befellfchaft 
Wiffender, mit ungewöhnlichen Kenntniffen und Kräften Audgefatteter feft überzeugt 
blieben und den Zugang zu biefer Brüberfchaft, oft höchſt eifrig, fuchten. Diefe fo 
allgemein verbreitete Anficht Hatte dann die fehr begreifliche Folge, theild daß Einzelne 
fich für Mofenkreugbrüder betrüglich audgaben, theils daß wiederholt, noch bis in bie 
achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, Verbindungen fich bildeten, welche, durch⸗ 
gaͤngig von ſehr geringer Mitgliederzahl, den geheimnißvollen und angeſehenen Namen 
der Roſenkreuzbrüderſchaft uſurpirten. Eine continuirliche Geſellſchaft R. hat es jedoch 
nicht gegeben. Meiſtens waren dergleichen Perſonen und Verbindungen Alchymiſten, 
mitunter hoͤchſt gewoͤhnliche Goldmacher, wiewohl in jener Fama Fraternitatis vom 


Goldmachen nichts vorkam und nur geſagt war, das Goldmachen, die Permutation 


der Metalle, ſei nur ein geringes Stück, ein Parergon, ihrer weit größeren Kunſt. 
Nicht unwahrſcheinlich iſt es jedoch, dag die Durch die erflen rofenkreuzerifchen Schrife 
ten angeregten Gedanken einer zur Weltreformation zufammengetretenen, eine orienta- 
liſche Urweiſsheit befigenden ober wenigitend fuchenden, der Brübderlichkeit und des 
Wohlthuns fich befleißigenpen geheimen Gemeinfchaft von chriſtlichen Naturwelfen den 
erften Anſtoß zur Gründung der Breimaurerei gegeben haben, wie daB vorlängfi Ni⸗ 
colat und v. Murr ſehr Tategorifch meinten behaupten zu Fönnen. Indeß beflan- 
den im vorigen Jahrhundert Roſenkreuzer⸗Geſellſchaften — gering an Umfang, von 
mechfelnden Formen, durchgängig fehr phantaflifcher Natur und meift von hervorra⸗ 
gender Abgeſchmacktheit — neben den Breimaurern. Manches über dieſe völlig un⸗ 
erheblichen, oft höchſt armfeligen Phantaflereien enthält die freilich unkritifche und . 
weitfchweifige Schrift von Semler: „Unparteiiſche Sammlungen zur Geſchichte der 
Mofenkreuzer.* (Bier Städe) 1786—1788. Sonſt fann man außer den oben ge⸗ 
nannten Schriften noch vergleihen: Miffio an die bocherleuchtete Brüderfchaft des 
goldenen und Mofen- Kreuzes nebft einem vollftändigen hiſtoriſch⸗kritiſchen Verzeichniß 
von zweihundert Mofenkreuzerfchriften vom Jahr 1614 bis 1783. Leipzig 1788. 
C. v. Murr: Ueber den wahren Urfprung der Roſenkreuzer. Sulzbach 1803. (Beide 
Schriften find literaritch nicht unerheblich.) Buhle über den Urfprung und die vornehm- 
ſten Schidfale der Freimaurer und Roſenkreuzer. Göttingen 1804. Fr. Nicolai: 
Einige Bemerfungen über den Urfprung und die Gefchichte der Freimaurer. Berlin 1806. 

Rofenmüller (Joh. Georg), proteftantifcher Theologe und auf dem Lehrflußl 
wie im kirchlichen Amte Bertreter des Nationalismus, der fich bei ihm mit frommer 
Geſinnung verband. Er ift den 18. Decbr. 1736 zu Ummerftädt im Hildburghauſi⸗ 
chen, wo fein Vater Tuchmacher, dann Schulmeifter war, geboren, beſuchte feit 1751 
die Rorenzfchule in Nürnberg und fludirte von 1757 an zu Altvorf. 1767 warb er 
Pfarrer zu Hildburghaufen, 1768 zu Hehberg, 1772 zu Königöberg in Franken. 
1775 warb er als Profeſſor der Theologie nach Erlangen berufen, 1783 als erſter 


‚Brofefjor der Theologie und Paͤdagogarch nach Gießen, 1785 als Prof. der Theol., 


Paſtor an der Thomaskirche und Superintendent nach Leipzig, wo er nach einer 
breißigjährigen Wirffamkeit den 14. März 1815 flarb. Als gelehrter Theologe machte 
er fi durch feine Scholia in Novum Testamentum (6 Bde., 6. Auflage, von feinem 
Sohne I. F. K. Nofenmüller, Leipzig 1815—31) und feine hisloria interprelationis 
liprorum sacrorum in ecclesia christiana (Leipzig 1795 —1814, 5 Bde.) einen Namen. 
Außer feinen „Predigten über auderlefene Stellen der Heiligen Schrift” (Leipz. 1811 
bis 1813, 3 Bde.), der „Paftoralanweifung” (Leipz. 1788), der „Anleitung für an« 


‚ gehende Geiſtliche“ (Leipz. 1792) u. f. w. bat er auch eine Reihe ascetifcher Schrife 


ten herausgegeben, 3. B. „Morgen- und Abendandachten“ (7. Aufl, Leipzig 1820), 
„Auserlefened Beicht- und Communionbuh” (12. Aufl., Nürnberg 1827). Nach fei« 
nem Tode erfchlen das „Handbuch eines allgemein faßlichen Unterrichts in der 
Hrifllichen Blaubens- und Sittenlehre." (Leipz. 1818—1819, 2 Bde.) Er hatte fi 
um dad Schulmefen serdient gemacht und in Betreff ded Tirchlichen Cultus für Ab⸗ 
fhaffung des Eroreismus, für Einführung der allgemeinen Beichte und der dffent- 
lichen Gonfirmation und für Modernifirung des Geſangbuchs gewirkt. Die Reaction, 
Wagener, Staats m. Geſellſch.⸗Lex. AVIL 26 


402 Roſette. (Stabt.) 


bie von der koͤnigl. fächitfhen Regierung, beſonders feit 1840, gegen den Rationa⸗ 
lismus verſucht wurde, mar auch gegen die Pefultate der R.'ſchen Wirkſamkeit ges 
richtet. (Bergl. Dolz, 3. G. R.’3 Leben und Wirken. Leipz. 1816.) — Sein 
ältefter Sohn Ernſt Friedrih Karl Hat ſich als Orientaliſt um die Förderung 
der auf Sprachen, Alterthümer und Literatur der Semiten bezüglichen Studien vers 
dient gemacht. Er ift zu Heßberg den 10. Dechr. 1768 geboren, fludirte zu Leipzig, 
babilitirte fich daſelbſt 1792, warb 1813 ordentlicher Profeſſor der morgenländtfchen 
Riteratur und ftarb den 17. Septbr. 1835. Bon feinen vielen Schriften find hervor⸗ 
zubeben: Institutiones ad fundamenta linguae Arabicae (1818), Analecta Arabica 
(1824—27. 3 tom.), „dad alte und neue Morgenland, oder Erläuterungen der heil. 
Schrift aus der natürlichen Beichaffenhelt, den Sagen, Sitten und @ebräudhen des 
Morgenlandes” (1816—1820, 6 Bde.), „Handbuch der biblifchen Alterthumskunde“ 
(1823—31, 4 Bde.) und Scholia in Vetus Testamentum (1788—1817, 6 Bde.) — 
Johann Chriſtian R., der jüngere Bruder des Borigen, geb. 1771 zu Heßberg, 
feit 1794 Profector am anatomtifchen Theater zu Leipzig, wo er auch ſtudirt hatte, 
ftarb den 29. Februar 1820 ebendaſelbſt als Profeffor der Anatomie und Chirurgie, 
begründete feinen Auf durch die mit Ifenflamm beraudgegebenen „Beiträge zur Zer- 
glieverungdfunft“ (Leipz. 1800, 2 Bde.) und befeftigte denfelben durch fein „SHand« 
buch der Anatomie? (Leipz. 1808, 5. Aufl. von ©. H. Weber, Leipz. 1834). Bon 
feinen andern Schriften find Hervorzuheben: „Beitrag zur phnftlaltichen Geſchichte 
der Erde” (Reipz. 1799—1805, 2 Bde); „Beichreibung merfwürbiger Höhlen“ (mit 
Tileftug beraudgegeben, Leipz. 1803—1806, 2 Bde.); „Merkwürdigkeiten der Gegend 
um Muggendorf“ (Berlin 1804); „Abbildung und Beſchreibung der foffllen Knochen 
des Höhlen» Bären” (Weimar 1804). Schon ale Student hatte er die Höhlen bei 
Muggendorf unterfucht und eine derfelben ift auch nach ibm benannt worden. 

Roſette, Hei den Arabern Raſchid, wurde 860 n. Ghr. unter der Regierung 
des bagdadiſchen Khalifen el Motunfal ala Allah, des Enkels Harun Erraſchid's, ge⸗ 
gründet, nahe bei den Auinen der alten ägyptifihen Stadt Bolbitin; es liegt auf dem 
Iinten Ufer des Nil, der Hier eine Bucht bildet. Das Ufer if bei R. nur 3—4A Fuß 
über dem niedrigften Waflerfland; da das Wafler zur Zeit der Ueberfchwenmung nur 
fehr wenig fleigt, fo tft der Uferrand durch Feine künſtlichen Arbeiten gefchügt, die in 
andern, weiter fübwärtd gelegenen Städten Aegyptens unerläßlih find. Um die Bucht 
her find viele Staats⸗ und Privatfabrifen errichtet, in denen Reis gereinigt und zu⸗ 
gerichtet wird, Denn diefer bildet den Hauptjächlichiien und jebt fogar den ein- 
zigen Ausfuhrartikel Mofette'd. Die Zahl der Einwohner beträgt gegen 15,000, 
worunter fih mehrere @uropäder, einige hundert Griechen und Maltefer, eben fo viel 
Kopten und fyrifche Ghriften nebft jüdifchen Kaufleuten befinden; alle übrigen find 
Moslemd. R. ergab fi in den erflen Tagen des Juli 1798 den Franzoſen ohne 
Widerſtand, wurde den 19. April 1801 von dem General Hutchinfon genommen, und 
in feiner Nähe. lieferten im März; 1807 die Engländer den Aegyptern zwei Gefechte. 
Eine Meile von der Stabt und eben fo viel von dem Meere entfernt, findet ſich eine 
alte Befefligung Kaid Bey, bekannter unter dem Namen Fort Julian, weldden Nas 
men ihm die Sranzofen gaben, bie bier 1801 bie Belagerung der Engländer tapfer 
aushielten. Die Befefligung von Kaid Bey wurde größtentheild aus den Trümmern 
alter Agyptifcher Denkmäler und Gebäude aufgeführt; dieß bemeifen die &liefen mit 
Hierogiypheninfchriften, die Bruchſtücke von Saͤulen aus rofenfarbenem und grauem 
Granit, die man an vielen Stellen der Mauern fiebt. Zur Zeit der franzdflfchen Ex⸗ 
pebition fand der Ingenieur-Gapitän Bouchard, dem die Herſtellung der Befefigung 
aufgetragen war, bei der Führung der Erdarbeiten den berühmten „Stein von Ro 
fette", für die ägyptifche Archäologie die werthvollſte aller Entdedungen, denn fie 
lieferte zuerſt eine ſichere Grundlage für die Erklärung der Hieroglyphen, über deren 
Bedeutung man bisher nur fehr dunkle und fabelhafte Begriffe gehabt Hatte. Es wird 
nicht überflüfflg fein, Hier einige Worte über diefen Stein zu fagen. Auf bemfelben 
befinden fich drei fehr lange Inſchriften: eine hieroglyphiſche, deren erſte Zeilen etwas 
beſchaͤdigt find, eine demotifche oder enchoriale und eine griechiſche. Aus der letzteren 
erfiebt man, daß der Inhalt biefer drei Infchriften derfelbe if und daß fie ausgehauen 


NRoſini (Giovanni). NMosmini⸗Sorbato (Antenio). 403 


wurden, nach einem Decret der Priefter, weldye bei ber Krönung von Ptolemäus 
Epiphanes als Zeugniß für die von diefem Fürſten empfangenen Wohlthaten und 
Bnaden in Memphis ſich verfammelt hatten. Sein Name wiederholt ſich mehrmals in 
des griechifchen Infchrift und im bieroginphifchen Text ift er immer mit einem ſchma⸗ 
Ien elliptifchen Rahmen umgeben. Die Gelehrten vermutheten alsbald nach der Ent- 
deckung dieſes Steins, dag die in den Rahmen eingefchlofienen Gruppen von Zeichen 
den im griechtfchen Text befindlichen Namen Ptolemäys phonetiſch, d. h. mit Lau⸗ 
ten, Buchſtaben und nicht fymbolifch ausdrücken follten, es vergingen aber beinahe 
20 Jahre, ehe dieſe Bermuthung zur unzweifelhaften Wahrheit wurde. Belzoni fand 
in der Folge auf der Infel Philä, am erften Nilkatarakt, eine Säule mit einer grie⸗ 
chiſchen Infchrift und einen kleinen dazu gehörigen Dbelisf mit einer Hieroglyphen⸗ 
Infchrift, beide zu Ehren von Ptolemäus und Kleopatra, Ihre Namen waren gleich⸗ 
falls mit Rahmen umgeben. Inden man die im erften diefer Rahmen enthaltenen Zeichen 
mit denen auf dem Mofetteflein und dann die beiden Namen, Ptolemäus und Kleopatra, 
gemeinfamen Buchflaben (p, t, I) verglich, fand man fie vollfommen glei, und man ver⸗ 
gewiflerte ſich endlich, daß die alten Aegypter Die Eigennamen der Könige sc. mit Hleros 
glyphen fchrieben, die eine phonetifche Bedeutung hatten. Der erfle und wichtigfle 
Schritt war fomit Yeiban, und die Wiffenichaft verdankt ihn Hauptfächli dem juͤn⸗ 
geren Champollion. Indem er fpäter andere Nahmen unterfuchte, die fich fo häufig 
auf ben Mauern der ägpptifchen Denkmäler finden, und. zugleich die koptiſche Sprache 
und die Papyrusrollen fludirte, gelangte Champollion dahin, daß er 1822 ein 
Hieroglyphen⸗Alphabet herausgeben konnte, das ſedoch noch nicht vollitändig war; 
1826 fügte er die zuvor noch fehlenden Zeichen bei, fo daß jeht das Lefen der in 
Hieroglyphen geichriebenen Eigennamen ver Pharaonen, Ptolemäer, der römifchen Kai⸗ 
fer x. keine Schwierigkeiten mehr bietet und in biftorifcher Beziehung wichtige Daten 
geliefert Hat. Der Stein von R. wurde von Bouchard nach Frankreich geſchickt, das 
Schiff fiel aber in die Hände der engliſchen Kreuzer und dies unfchäßbare Denkmal 
wird jegt im britifchen Mufeum aufbewahrt, 

Rofini (Giovanni), italienifcher Schriftleller, geb. den 24. Juni 1776 zu Lu⸗ 
eignano in Toscana, flubirte die Mechte zu Pifa und ward ebendafelbfi 1803 Pro⸗ 
feſſor der italienifchen Literatur. Er feierte die Wermählung Napoleon’8 mit Maria 
Zuife im erſten Gefange feiner „Nozze di Jiove et di Latona“ und gewann mit den 
drei darauf folgenden Gefängen einen Theil bes von Napoleon ausgeſetzten itallenie 
fen Preifes. 1819 gab er (PBifa in 10 Bon.) eine neue Ausgabe von Guicciare 
dini's Storia d'Italia heraus; 1821 — 1832 folgte in 33 Bon. feine Ausgabe des 
Taſſo, der ihn auch in feinem Saggio sugli amori di Tasso et sulle cause della 
sua prigione (PBifa 1832) befchäftigte. Nach dem Erfcheinen von Manzoni's (ſ. 
d. Art.) Promessi sposi veröffentlichte er die Nomane: Monaca di Monza (Pifa 1829. 
3 Bde., deutih von Leßmann, Berlin 1832), Luisa Strozzi (Pifa 1833. 4 Bde; 
deutſch von Reumont, Leipzig 1835) und il conte Ugolino della Gherardesca ed 
i Ghibellini (Mailand 1843, 3 Bde). Don feinen dramatifchen Arbeiten rühmen bie 
Italiener den Torquato Tasso. Seit 1838 erfchien in 4 Bon. (zweite Aufl. 1850 ff.) 
zu Pifa feine Storia della pittura italiana. @r flarb den 16. Mai 1855 zu Pifa. 

Rosmini (Carlo), italieniſcher Blograph, geb. 1758 zu Roveredo, ſtammt aus 
einer adeligen Yamilie, trat fchon in feinem 15. Jahre mit fchriftfiellerifchen Arbeiten 
auf; machte fich aber beſonders durch eine Reihe von Biographieen alter und neuer 
Schriftfieller einen Namen, naͤmlich des Ovid (Ferrara 1792. 2 Bde.), des Ghriftoforo 
Baretti (1792), des Seneca (Moveredo 1795), des Vittorino di Feltre (Baffano 1801), 
des Giov. Batt. Guarino Veroneſe (Brescia 1801. 3 Bde.), des Franc. Filelfo (Mais 
land 1808. 3 Bde.) und des Jakopo Trivußio (Mailand 1815. 2 Bde.). 1803 Hatte 
er fich zu Mailand niedergelaffen und gab dafelbft 1820 in 4 Bon. feine Istoria di 
Milano heraus. Er flarb ebendaſelbſt den 9. Juni 1827. 

Rosmini-Sorbato (Antonio), felt Gioberti's Tode der namhaftefle Philoſoph 
Italiens, anı 25. März 1797 zu Roveredo geboren, wurde Geiſtlicher und fland als 
folcher auf dem Standpunft des heiligen Thomas von Aquino. Im Jahre 1848 
wurde er vom Papf zum Minifter des Öffentlichen Unterrichts und Cardinal in pollo 

26* 


404 Rofe (Lawrence William Barfons Earl of). Roſſi (Pellegrino, Graf). 
4 


deſignirt. Man macht ihm den Borwurf, daß er auf jefuitifche Weife eine reiche 
Dame bewogen, ihr fhöned Schloß zu Strefa am Lago Maggiore nebit ihrem Ver⸗ 
mögen zu einem Ordenshauſe, welches dem Unterricht, der Krankenpflege und dem 
Predigtamt gewidmet war, berzugeben; er fand demſelben zwanzig Jahre lang vor 
und flarb am 30. Juni 1855 zu Strefa. R. war bei der Akademie der italienifchen 
PHilofophie in großem Anfehen. Bon feinen zahlreichen Schriften, die zum Theil auch 
in's Deutfche, Franzöftfche und Englifche überfegt worden find, erwähnen wir: „Storia dell’ 
amore, cavata dalle div. scritture* (1834), „Nuovo saggiv sull’ origine delle idee“ 
(3 voll., 1835— 1837), „Ideologia e logica* (4 voll.), „Rinnovamente della ſilo- 
sofin in ..Italia* (1836), „Discorsi parochiali* (2 voll., 1837), „Anthropologia in ser- 
vigio della scienza morale“ (1838), „La societä ed il sue fine“ (Milano, 1839), 
„Della coscienza morale“ (1839); „Filosofia della politica® (1843), „Filosoßa dell 
diritto* (1844) und viele andere. Eine Sammlung feiner Werke bat er unter dem 
Zitel „Opere varie“ (16 voll.) herausgegeben. Seinem wirklich allgemein für ebel 
anerfannten Style macht man in Italien den Vorwurf, daß er etwas zu geziert if. 
Der gelehrte Niccolo Zommafeo in Turin bat feinem Lehrer und Freunde R. 
ein biographifches Denkmal gefegt, „Antonio Rosmini de Sorbato“ (Torinv 1855). 

Roſſe (Lawrence William Parfons Earl of), ein dur feine aftronomifchen 
Forfchungen und befonders durch feine Bemühung um Verbeflerung der Teleflope ver⸗ 
dienter Belehrter der Neuzeit, wurde im Jahre 1800 zu Parſons⸗Town in der Kings- 
County der irifchen Provinz Leinfter geboren und führte früher den Namen Lord 
Oxmantown, erbte aber nah dem Tode feines Vaterd 1841 den Grafentilel. Nach⸗ 
dem er feine Studien auf britiſchen und auswaͤrtigen Univerſitaͤten abſolvirt, wo ihn 
befonder8 die Naturmiffenfchaften gefellelt hatten, in denen er ſich ein bedeutendes 
Wiffen aneignete, trat er in's Unterhaus und wurde darauf Lord » Lieutenaht von 
Kings - Bounty, In feiner Muße befchäftigte er fich vorzüglich mit der Aftronomie, 
für die er feit 1826 durch Herftellung von MRiefen « Teleffopen, wie fle Fein anderes 
Land in dieſer Größe beſitzt, auch praktifch wirkfam war. Seine großen parabolifchen 
Spiegel halten bis zu 6 Buß im Durchmefler, und er fertigte auch große Objectiv⸗ 
gläfer an, wobel er eine ganz neue Metall-Gompofttion anmwandte, ebenfo wie er auf 
Derminderung des Lichtverluftes durch eine forgfältige Politur Bedadyt nahm. Bon 
biefen Rieſen⸗Teleſkopen find zwei weltberühmt geworben, der „Leviathan“, ein älteres 
26füßiges von 3 Fuß im Durchmeffer, und fein 1844 gebautes 50füßiges von 6 Fuß 
im Durchmeffer, ſchlechtweg das Roſſe'ſche genannt, mit welchem er, Robinſon und 
South im Jahre 1845 in Parſons Caſtle jene bekannten Obfervationen anftellten und 
dabei mehrere Nebelflede auflöften. Dies letztgedachte Reflexions⸗Teleſkop, dad größte 
bis jegt bekannte, zwifchen zwei Mauerwänden von Badkfteinen aufgeftellt, iſt durch 
feinen geſchickten Mechanismus und die Leichtigkeit, mit der ed nicht nur in der Rich⸗ 
tung des Meridians auf und ab, jondern noch zu beiden Seiten befielben bis auf 
710 bewegt werden Tann, merfwärbig und zu aflronomifchen Unterfuchungen trefflich 
anwendbar. R. Hat ſich außerdem als Statiſtiker und Politiker durch feine „Letters 
on the State of Ireland* (Kondon 1847) einen ehrenvollen Namen erworben. 

Roſſi (Pellegrino, Graf), Staatsmann und Nationalökonom, geb. den 13. Juli 
1787 zu Earrara im Modeneflfchen, fludirte zu Bologna die Rechte, warb ebendaſelbſt 
Anfangs Advocat, zulept Profeffor des Griminalrechtd an der Univerfität. Er Hatte 
einen außgebreiteten Ruf gewonnen und befand fih am Anfang einer glänzenden Laufe 
bahn, als die franzdflfche Herrfchaft, der er wegen ihrer Verdienſte um die Verwal⸗ 
tung des Landes zugetban war, ein Ende nahm. Anfangs verfuchte er «8, fih an 
der Seite Murat's zu Halten; als dieſer definitiv fiel, floh er nach der Schweiz und 
lieg fih 1816 in Genf nieder. Einige Jahre fchloß er fich Hier in einem Kleinen 
Landhaus ein, aus deſſen Zurüdgezogenheit er nur zu Befuchen bei der Staël in 
Goppet und bei Etienne Dumont, Eismondi, Prevoft, Candolle und Anderen in 
Genf Hervorging, und widmete fich feiner Ausbildung im Deutſchen, Engliſchen und 
Stanzöflihden und dem Studium des Staatörechtd, der Nationaldöfonomie und Ge⸗ 
ſchichte. 1817 trat er mit einer italienifchen Nachahmung des Byron’ihen Gedichte 
unter dem Titel: il Giaurro auf, ziel Jahre darauf aber mit einem öffentlichen Curſus 


— — — — — — 





— — — — — — — — — — — — — — 


NMoſſini (Gioachimo). 465 


der Jurisprudenz, der ſo großen Erfolg hatte, daß ihm die Regierung von Genf den 
Lehrſtuhl des römifchen Rechts übertrug, — das erſte Mal ſeit Calvin's Zeit, daß 
ein Katholik an der proteſtantiſchen Univerſttaͤt Genfs zugelaſſen wurde. Um dieſelbe 
Zeit ward er Bürger von Genf und verheirathete ſich mit einer jungen Genferin, 
die ihm ein kleines Bermögen zubrachte. Bald darauf ward er in den großen Rath 
von Genf gewählt und erwarb fich, indem fein Mandat noch dreimal dur die Wahl 
erneuert wurde, indem er an den Neformen, bie damals in der Verwaltung ber Republik 
eingeführt wurden, fo wie an den wichtigſten Gommifflonsarbeiten großen Antheil 
hatte, den Namen eined bedeutenden Staatsmannes und Geſetzgebers. 1829 erfchien 
zu Paris fein erſtes Hauptwerk, der Traite du droit penal (in drei Bänden). 1832 
warb er von Genf zu feinem Bertreter in der Tagfakung ernannt und daſelbſt (zu 
Luzern) Mitglien der Commiſſton, die zur Neviflon der Bundesverfaſſung niedergefeht 
wurde, und Berichterflatter der Commiſſion. Der Entwurf ber neuen Bundedverfaflung, 
der durch die Stärkung der Gentralgewalt den Eonflicten zwifchen den einzelnen Gans 
tons, fo mie den Zwiften innerhalb vderfelben vorbeugen wollte und an dem R. nicht 
geringen Antheil Hatte, wurde von Ihm auch in der Tagfagung fo gefchidt vertheibigt, 
daß ihn dieſe einflimmig annahm. Jedoch gelang es der zu Sarnen vereinigten Eoalis 
tion einiger, den Sefuiten gehorchender, Gantone und den unzufriedenen Mabicalen, 
die Einführung dieſes Entwurfs zu verhindern, obwohl diefelbe die fpätere Formation 
des Sonderbundes, der in feiner Niederlage ſich doch der Bentralifation unterwerfen 
mußte, verhütet Hätte. 1833 folgte er einem durch Guizot vermittelten Auf nad) Frank⸗ 
reich, und lehrte er feit 1833 bis 1840 am Gollege de France Rationaldlonomie und con« 
flituttonelles Recht, und zwar mit Beifall, nachdem die Zuhörer zur Einflcht in das Unrecht 
gekommen waren, zu welchem fle ſich Durch die liberale Prefle Hatten aufreizen lafjen, als fie 
den „Fremden“ 1834 für einige Zeit von dem Lehrftuhl vertrieben hatten. 1838 erhielt 
er die große Naturalifation, 1839 ward er zum Pair ernannt und 1840 trat er in 
den Staatsrath. Louis Philipp, der fo viel auf ihn hielt, daß felbft Guizot etwas 
eiferfüchtig wurde, und fein Talent zur Diplomatie auf zwei vertrauten Mifflonen in 
der Schweiz und in Italien verwandt Hatte, ernannte ihn im Ginverfländnig mit 
Guizot 1845 zum aufßerorbentlihen Bevollmächtigten in Mom. Befonderd mar es 
feine Aufgabe, von Gregor XVI. die Unterdrüdung der Geſellſchaft Iefu in Frankreich 
außzumirfen, was ihm auch fofern gelang, daß der Iefuitengeneral Roothaan feine 
Genoffen aus Frankreich zurückrief, worauf die franzdftiche Regierung die Hauptdepots 
des Ordens in Franfreih auflöfen Tonnte. Nah dem Tode Gregor’d war R. zur 
Ernennung Pius IX. beſonders thätig, auch nicht ohne Einfluß auf deflen Reform⸗ 
Seftrebungen und zugleich bemüht, dieſelben, als die NReformleidenfchaft in ganz Italien 
erwachte, zu mäßigen. Der 24. Zebruar nahm ihm feine Sefandtenftelle und feinen 
Lehrſtuhl. Er ſah fih als einen Ekrilirten an, begrüßte den Aufſchwung Italiens zur 
Eroberung feiner Unabhängigkeit mit Enthufladmus, zog fich Indeflen, als die Zwie⸗ 
tracht der Parteien den König von Neapel zur Gontrerevolution und den Papſt zu 
palfiver Unſchlüſſigkeit trieb, nach Yrascati zurüd. Indeffen gab er dem Appell des 
Papfles an feine Einſichten und an fein Geſchick wieder nach und bildete das Miniflerium 
vom 18. September 1848, in dem er das Innere, die Polizei und die Finanzen über- 
nabm. Als fein Hauptwerk betrachtete er aber die Gonföderation zur territorialen 
Unabhängigkeit Italiend, über die er zu Turin, Neapel und Blorenz unterhandelte. 
Am 15. November wollte er der römifchen. Deputirtenfammer feine Entwürfe audein- 
anderfegen, auf den Stufen zum Eingang ded Palaſtes der Gancellaria, in welchem 
die Rammer faß, ward er jedoch vom Dolch eines gewifien Iergo tödtlich getroffen. 
Die Berfchwdrung, deren Opfer er war, triumphirte nach feinem Tode und zwang den 
Papſt am 24. November 1848 zur Kludi. — Dad zweite Hauptwerf R.'s: Cours 
d’Economie politique (Paris 1840 und 1841, 2 Bde.) erhielt einen Nachtrag in einem 
dritten Bande, der 1851 zu Paris von feinen Söhnen herausgegeben wurde. R. hat 
in dieſem Werke die Theorieen Malthus' und Ricardo's mit einem klaren und eleganten 
Styl fortgebildet und zugleich die Breiheit bed Handels und der Arbeit vertheidigt. 
Roffini (Gioachimo), einer Der bedeutendſten Gomponiften und der Schöpfer der 
neuen romantifchen Oper, von feinen Landsleuten in bewundernder Anerkennung „ber 


— 


406 -Hoffini (Gloachimo). 


Schwan von Pefaro” genannt, ift in legtgenannter Stadt in der Romagna am 27. 
Auguft 1789 geboren. Der Sohn eines fahrenden Muſtkers und einer ebenfall® va⸗ 
eivenden Sängerin aus einer Eleinen Landſtadt, fang er als Knabe ſchon in den 
Theatern; er wuchd auf den Brettern auf ohne eine andere Schule als die der Rou⸗ 
tine, auf der Bühne und im Orchefter war er zu Haufe, und da in folcher Welfe 
die Praris der italienifchen Bühne und der Erfolg Heim Publicum feine Hauptſchule 
und fein Hauptfireben war, fo war e8 erflärlih, daß feine Muſikwerke nur auf Iegteren 
berecgnet waren. Erfi in dem flebzehnjährigen Jünglinge erwachte die Liebe zum 
Schaffen und nun warf er fi mit ſolchem Eifer auf das theoretifche Studium ber 
Muſik, daß er innerhalb dreier Jahre bereits die Meifterfchaft erreicht Hatte. 1808 
fohrieb er in Bologna feine erſte Symphonie und 1809 die Cantate „il pianto d’ar- 
monia*, wendete ſich jetzt aber fofort zur Oper und machte ſchon mit der erflen „De- 
metrio e Politio* (1812) ein Auffehen, das ſich mit jedem neuen Werke fleigerte, und. 
mit fünfundzwanzig Jahren (1815) fland R. auf dem Gipfel feines Ruhms und be- 
berrfchte alle Bühnen. In feiner erften Oper, im „Demetriuß*, zeigte ber junge Com⸗ 
ponift noch ganz die infeltigfeit, in der ſich Die italieniſche Oper zu fener Zeit be- 
fand; fle Hatte die edle, reinere und tiefere Geftaltung der Harmonie, die Eeufche Faͤr⸗ 
bung des Gefanges verloren, ebenfo wie die Unterordnung eines bloß finnlich er- 
gögenden Tonfpield unter das Vernunftgeſetz des dramatifchen Ausdrucks. Alle dieſe 
Behler hatten R.'s erſte Opern, vor allen der „Tancredi“, melcher 1813 erfchien, 
aber immer mehr zeigte fih dann bei Ihm auch ein reger Kortfchritt zu frifcherem 
dramatifchem Leben, in der „SItalienerin in Algier”, „Aurelian in Balmpra“, 1815, 
bis er im „Barbier von Sevilla" und im „Dibello* (beide 1816), die beiden Muſter⸗ 
werke für die neue komiſche und romantifche Oper gefchaffen Hatte, die feinen Ruhm 
fe begründeten. Jetzt verbrängte feine Muſik raſch die älteren Meifter, GEimarofa, 
Paöftello, Paër u. f. w., und berrfchte auf allen Bühnen ohne Rivalen. Seit 1815 
unter Barbajo's Direction in Neapel ald Sänger, Muſik⸗Dirigent und Gompoflteur 
engagirt, gab R. 1822 dieſes Verbältnig auf und ging mit deflen audgezeichneter 
Gefellfchaft, in der die Colbran als Coloraturfängerin brillixte, erfi nach Wien, dann 
buch Deutſchland nah Brankreih und England, überall Triumphe, Bold und Kor 
beeren in reicher Fülle erntend. Er gab ausfchließlich eigene Compoſitionen, von 
denen bis 1823 ungefähr dreißig erfchienen waren, nach „Othello“ die „Generentola*, 


„La gazza ladra* und „Armida® 1817, „Mofes" 1818, „iccardo* 1819, „Mao- 


medo secondo“ 1820, „Matilda di Chabran“ 1821, „Eorradino* und „Selmire* 
1822 und die „Semiramide” 1823. Sie alle beraufchten anfangs das Publicum; 
fein Sprenenfang und die Achte Tanzmuſik feiner Melodieen entfprachen ganz der Stine 
mung der Zeit, welche müde der Schlachtenberichte und des aufregenden Treibens ber 
jüngften Vergangenheit, ſüßes Selbfivergeffen in angenehmen Unterhaltungswelfen trin⸗ 
ten wollte und niebergedrädt von den Gräueln langwieriger Kriege nun Erbeiterung 
fuchte und fand in den gröblich aufregenden Kunftgeriüffen. Aber nach folder Sin- 
nedüberreizung mußte natürlidyerweife die Reaction um fo fchneller wieder eintreten, 
und in der That, fo raſch und glänzend M.’8 Sieg, fo kurz war feine Dauer; ſchon 
um das Jahr 1825 war M. als eine gefunfene Größe zu betrachten und jedes Ohr 
verſchloß fich feinen Melodien. Wer Eennt heut nur noch die Titel feiner dreißig 
Opern aus jener Zeit! Nur Deutſchland und Frankreich bat feine Hauptwerke auf ber 
Bühne erhalten, in Italien find fie beinahe völlig vergeffen. An feiner Gtatt begei- 
fterten jegt Bellint und Donizetti die Menge, um nach kurzer Zeit Boieldien und 
Auber Plag zu machen. Aber R. war nicht der Mann, fo ohne Weiteres feine Stelle 
zu räumen; da er von fe ber dem Geſchmacke des Publicumß gefolgt war, war es ihm 
ein Leichtes, jegt auch fremde Wege zu den feinigen zu machen. Seit 1824 an ber 
großen Oper in Paris angeflellt, folgte au er bald der Strömung des Ges 
ſchmacks und der Richtung der Zeit. So entfland „die Belagerung von 
Korinth" aus dem umgearbeiteten „Mahomeb", 1825, der „Sraf Ory*, 1828 
und fein Hauptwer® „Wilhelm Tell" 1829; dieſes fa zu gleicher Zeit mit Auber’s 
„Stummen von Portici“ den nach Mevolutionen Tüfternen Charakter der Zeit treffend 
zeiguend. Im „Tel” Bat R. der nenfranzöftfchen Romantik feine Huldigung ger 


— — — 


Noft (Valentin Chriftian Friedrich). 407 


bracht; er verlieh Die italienifch- nationale Bahn und ſuchte den fchroffen Charakter 
jener Romantik mit feinen weichen Italienifchen Melodieen zu verfchmelgen; „die Erregt- 
heit eines neuen dffentlichen Lebens ſprach aus diefem Werke und doch aud die füße 


- Zräumerei vergangener Tage, beutfcher Ernſt, franzoͤſiſcher Effect und italienifche An⸗ 


muth." Seit dem „Wilhelm Tell“, feiner charaktervollften in. den frifcheflen drama⸗ 
tifchen Zocalfarben gehaltenen Oper, bat R. nichts mehr für die Bühne gefchrieben; 
ein neued Oratorium: „Les Titans“, componirt 1861, fol an mufllalifchem Werthe 
weit hinter dem „Stabat mater“ zurüdftehen. Im Jahre 1829 verließ er feine Stellung 
an der Parifer Oper, lebte feitdem abwechfelnd in Paris oder auf feinem Landgute 
in der Nähe diefer Stabt und in Italien, längere Beit in Bologna und Peſaro. 
Leptere Stabt ehrte ihren Landsmann durch die Errichtung einer Statue defjelben, 
deren Enthüllung unter großen Feierlichkeiten am 27. Auguft 1864 flattfand. An 
demfelben Tage verlich der neuitalieniſche König dem Meifter das Großkreuz des 
Mauritius » Ordens, Napoleon II. dad Commandeurkreuz der Ehrenlegion. — Was 
R.'s Erfolge vor Allem ficherte, war Die Gewandtbeit, mit der er den außlbenden 
Künflern auf der Bühne und im Orcheſter zu fchmeicheln wußte, er brachte ben 
Birtuofengefang, deſſen DBaterland Italien von je ber war, wieder zur Geltung und 
bewieß, indem er fo ein „Knecht des Handwerks" wurde, daß ed ihm niemals Ernſt 
war. um die reine Kunftl. Die Partitur der Inſtrumente erweiterte er durch feine 
„rauſchende“ Kriegämuflf der Trompeten, Pauken und Beden, und erft Spohr und 


Mendelöfohn gelang es fpäter wieder, an Stelle diefes raufchenden Italienifchen Laͤr⸗ 
‚mens die edlere deutfche Art des Orcheflerfages im Streichchor nach dem Vorbilde 


unfeser Glaffiker wieder, zu Ehren zu bringen. Allein trog fo arger Manier war M. 
doch auch in der Inftrumentation ein großes Talent und mußte damit eine bramatifche 
Wirkung zu erzielen, die für immer mufterhaft bleiben wird und eine Quelle des 
Studiums für die. große Compoſition. Laſſen ſich R.'s Mängel fo leiht in Worte 
faffen, fo giebt es doch keins, meldyes die Anmuth, Kedheit und Unmittelbarkeit feiner 
beſten eigenſten Weiſen auszuprüden im Stande if; felbft feine fchärffien Tadler 
fonnten fih und £önnen ſich auch heute noch nicht dem Sprenenzauber feiner Melo- 
dieen entziehen und müflen trog aller feiner Fehler ihm eine wunderbare melodifche 
Erfindungsfraft zugefleben, die einzig dafteht in der Geſchichte der Muſik. Die Ueber- 
ladung feiner Melodieen mit Schnörkeln und Paflagen, wie feiner Inflirumentation 
mit rauſchenden Effecten war eine Goncefflon an die Sitten und Moden der Zeit, 
von der N. fpäter jedoch immer mehr zu einem reineren und fchöneren Style über- 
ging,. wie er im „Barbier“ und im „Tell“ felbft Die Bewunderung ber kunſtgebildeten 
Zeitgenofien gewann. — R. war durchaus ein Diener des Publicums, ein Mann ber 
Routine, der, dem Gefchmad der Zeit folgend, ſtets neue Bahnen einfchlug, ohne fle 
ausdauernd zu verfolgen, ein muflfalifhes Phänomen von blendendem, aber fchnell 
vorübergebendem Glanze, dad immer neue Farben annahm. Den neuen Styl, den WM. 
Durch feine Kreuzung der Italienifchen mit der franzöflfchen Oper für bie dramatifche 
Muſik gefunden, hatte ex nur angeregt und begonnen, nicht vollendet. Dies überließ 
er feinen zahlreichen Schülern, die mit Ausnahme von Bellini und Donizetti fo fireng 
nach der Schablone ihres Meifters, aber ohne deffen Genie arbeiteten (Mercadante, 
Nicolini, Generali, Gomez, Ricci u. A.), daß der weltbeherrichende Einfluß R.'s 
durch die hohle Manierirtheit feiner Schule immer mehr abnahm, bis er am Ende ber 
dreißiger Jahre der neufranzdflfchen großen Oper Auber's und Meyerbeer’8 und dem 
neuen Claſſicismus der Deutfchen Spohr und Beethoven gänzlich weichen mußte. — 
Ueber R.'s Leben und Kunft- Einfluß vergl. man Wendt's „MRoffini’s Leben und 
Treiben“, Reipzig 1834, fo wie Riehl's „Wuflkalifche Eharafterköpfe*, zweite Folge, 
Stuttgart und Augsburg 1860. 

Aoft (Valentin Chriſtian Friedrich), gelehrter Philolog, geboren am 16. Octo⸗ 
ber 1790 zu Sriebrihroda im Gothalfchen, fludirte in Iena und wurbe 1814 als 
Gollaborator an dem Gothaer Gymnaſium angefellt, auf dem er für die Univerſitaͤt 
yorgebildet worben war. Im Jahre 1842. erhielt er das Directorat jener Anftalt 


wit dem Titel Oberſchulrath; im Jahre 1859 fchied er, Durch Kränklichfeit veranlapt, 


aus dieſem Amte, Er farb am 6. Juli 1862. R. bat ſich beſonders Dusch feine 


408 Noſtock. (Stadt.) 


grammatifchen und lexikaliſchen Arbeiten der griechifchen Sprache einen Namen er⸗ 
worben. Am befannteften ift feine ‚Grammatik der griechiſchen Sprache” (Göttingen 
1816, 7 Aufl., 1856) geworden, mit welcher in Berbindung flehen die „Anleitung jun 
Ueberfeßen aus dem Deutichen in's Griechiſche“ (Thl. 1, 9. Aufl., Göttingen 1861, Thl. 2 
4. Aufl., 1861), die er in Gemeinichaft mit Büflemann bearbeitet hatte, und bie „Beifpiel- 
fanmlung zu R.'s und Buttmann's griechifchen Grammatifen* (2. Aufl., 2 Bde, 
Bdttingen 1856). Mit Krig und Berger hat er eine „Parallelgrammatif der grie- 
chiſchen und "Iateinifhen Sprache” (1. Theil, 2. Aufl., Goͤttingen 1859) Herausge- 
geben. Sein zmeites Hauptwerk ift dad „Griechiſch-deutſche Wörterbuch” (4. gänzlich 
umgearbeitete Auflage, unter Mitwirkung von Ameid und Mählmann, 2 Bde., Braun- 
fhweig 1859), dem ſich ein „Deutfch-griechifches Wörterbuch" (8. Aufl, 2 Bde, 
1860) anfchließt. Werner Hat R. mehrere Kleinere Abhandlungen erſcheinen laffen und 
mit Jacob8 1825 die „Bibliotheca graeca“, eine Sammlung zum Theil ganz vor- 
züglicher Ausgaben der griechiſchen Glaffifer, begründet, deren, Herausgabe nach Ice 
c068’ Tode R. allein leitete. Endliy bat auh MR. die gothalfche Lebensverficherung 
für Deutfhland mit in's Leben gerufen und an der Leitung dieſer Anſtalt thätigen 
Antheil genommen. 

Noftod, die bebeutendfle Stadt im Großherzogthum Mecklenburg⸗ Schwerin, an 
der Warnow, zwei Meilen vor deren Ausmündung in die Oſtſee belegen, nad ber 
Zählung von 1861 mit beinahe 27,000 Einwohnern in 1900 Häufern, iſt ein uralter 
flawifher Ort, der jedoch 1161 von dem Könige der Dänen Waldemar J., bem 
Großen, von Grund aus zerflört, vom Öbotritenfürften Bribislaw II. wieder aufge- 
baut und von deutfchen Goloniften bevölkert wurde. Im Jahre 1218 durch Hein« 
rih I. Burewin mit Stadtgerechtigkeit verfehen, erhielt es deutſches Recht und beutfche 
Municipal » Einrichtungen, aber wenige Jahre fpäter auch eigene Dynaften, die unter 
dänifchem Oberlehnsſchutz in R. refldirten und fi von diefer Stadt benannten, Sie 
umgaben die Stadt mit Mauern, Wällen und Gräben und vertbeibigten fidh Hinter 
ihnen mader zu verfchiedenen Malen gegen Dänemark und Die Medlenburger, melche 
bie Stadt gar zu gern in ihre Botmäßigkeit gebracht hätten. 1301 nah dem Aus⸗ 
fterben feines Dynaſtengeſchlechts bemaͤchtigte fi die Krone Dänemark denn aud 
wirflih der Stadt, trat fie jedoch fchon 1324 an Medienburg ab, bei welchem Lande 
ſte feither verblieb, bei der Trennung der beiden Linien 1695 der von Schwerin zu⸗ 
fallend. Bald nah der Gründung der Hanfa (vergl. dief. Art.) trat R. Dem mäch⸗ 
tigen Städtebunde bei und nahm in vdemfelben unter den Offeeftädten den Mang . 
glei nach Lübeck ein. Roſtocker Schiffe führten bis in die Levante hinein einen bes 
beutenden Handel und „Hofloder Geld" war fprichwörtlich geworden im beutfchen 
Norden. „Bürften gleih waren R.'s Kaufberren und Gemwaltige feine Bürger und 
dienfibar ihnen ringsumber das Land" bis zur Mündung der Warne, wo fie den Flecken 
Warnemünde erworben hatten, den Seehafen R.'s. Als nad) dem Ausfterben feines eigenen - 
Dynaſtengeſchlechts fi Dänemark und Medienburg um R.'s Beflg firitten, da ver⸗ 
Randen e8 feine Bürger gar vorzüglich, dabei der Stadt Bortheile zu wahren und 
zu erringen. Was dba noch da war an Meichögut, an Kerrenrechten, das verfchleu- 
derten jene in beillofer Weife und für ein Billiges fiel's den Städtern zu, oft für ein 
bloßes DVerfprechen, dem Geber eine Treue zu wahren, an die fie nicht dachten. Se 
erlangte R. Grundbeſitz in Menge, aber mehr noch Berreiungen von Zmangs- und 
Bannrechten, Privilegien und Beneficien aller Art. So bildete fi in R. eine ſtaͤdti⸗ 
ſche Berfaffung aus, die nahe an eine republikanifche anftreifte und den Städten eine 
eigene Geſetzgebungögewalt und Polizei⸗Jurisdiction geftattete, obere und niedere Ge⸗ 
richtsbarkeit und das jus non appellandi in @riminalfadhen, Mänzregal und eigene 
Blagge, Stapelrechte und Zollgefälfcechte u. |. wm. Wohl verfuchten auch Mecklen⸗ 
burge Fürften nach dem Falle der Hanſa die volle Territorialhoheit im Hoftoder Ge⸗ 
biete fich wieder zu erwerben und Jahrhunderte vergingen in unaufhörlicden Streitig. 
keiten zwifchen den Städtern und ihren Landesherren, wobei gar oft bie Waffen im 
blutigen Kampfe entfcheiden mußten, indeß verflanden es bie Roſtocker trok der Un⸗ 
gunft der Zeiten, fi des größten Theile ihrer Rechte und Privilegien in dem mit 
Dem Großherzoge Friedrich Kranz im Jahre 1788 gefchloffenen Erbreceß und Homa⸗ 





Noſtopſchin (Feodor Braf von). 499 


gialvertrage für ewige Zeiten zu fihern. So iſt der Stadt namentlih das Recht ge- 
wahrt, Rädtifche Steuern ohne Genehmigung der Staatsregierung audzufchreiben, die 
Einkünfte der Aeccife felbft zu erheben und zu verwalten und nur die Hälfte ber Ueber⸗ 


ſchüfſe derſelben an die Megierung abzuliefern. Hierzu kamen bei Einführung ver 


medlenburgifchen Stände noch neue Borrechte, wie das Recht der Landfandfchaft und 
der Mitgliedfhaft im Directorium und engeren Ausſchuſſe. Sept if M. der Sie 
des mecklenburgiſchen Obergerichts und eines Untergerichts, des Randesconfiftoriums 
und der Ausihüfle der Mitter- und Landſchaft. Noch Heut ift der Handel ber 
‚Stadt bedeutend, namentlich der Importhandel aus Rußland und den Oſtſeeprovinzen, 
Schweden und Dänemark, fo wie der Erport bortbin und nah Amerika; R.'e Fabri⸗ 
Pate in Leber- und Seidenwaaren haben guten Ruf und feine Meffe if die befuchtefte 
im deutfchen Norden. R.'s Univerfltät, geftiftet 1419 von den Herzogen Johann III. 
und Albrecht V. von Meclenburg, 1437 wegen des Streited der Stadt mit ihren Her- 
jdgen bis 1445 nach Greifswald und 1760 nad Bütom verlegt, wurde 1789 reor⸗ 
ganifirt und der fläptifchen Verwaltung das Recht zugeftanden, neun ordentliche Pro- 
fefioren zu ernennen, wogegen dieſelbe auch deren Befoldung übernahm; 1827 erhielt 
die Stadt auch das Compatronat der Univerfität. Die Zahl der Profefforen betrug 
1863 inel. der außerordentlichen und Docenten 34, die Anzahl der Studirenden 147. 
Die Uniderfltät beſitzt eine fehr fchöne Bibliothek von ca. 80,000 Bänden, reiche 
anatomifche, zoologifhe und botaniſche Sammlungen, ein philologifches und ein theo« 
Iogifch-pädagogifches Seminar. Unter den Bürgerhäufern der Stadt zeichnen jich viele 
durch ihren mittelalterlihen Styl aus, von den öffentlichen find in dieſer Beziehung 
zu nennen dad alte Rathhaus und das Kaufhaus, unter den Kirchen die Marienkirche 
mit dem Grabe des. Hugo Grotius. R. ift auch der Geburtsort des Feldmarſchalls 
Fürften Blücher von Wahlſtadt (f. d. Art.), welchem berühmten Feldherrn von 
feiner Baterfadt und den mecklenburgiſchen Ständen noch bei feinen Lebzeiten auf dem 
„Blücherplatze“ der Stadt eine Koloffalftatue von Erz, gefertigt von Gottfried Scha- 


vdow in Berlin, errichtet und am 26. Auguf 1819 enthüllt wurde. — Die alten 


Beftungswerke R.'s machen in neuefter Zeit immer mehr öffentlichen PBromenaden 
Platz, welche der Stadt ein freundliche® und gefällige® Anfehen geben. R. erfreut 
ſich unter allen Städten Medlenburgs des größten Wachöthums an Ginwohnern, auch 
erweitert fih fein Umfang durch den Neubau von Borflädten, in denen befondvers ' 
Fabriken angelegt werden. 

Hoftopfrhin (Beodor Braf von), General⸗Gouverneur von Moskau im Jahre 1812, 
bat durch den Brand ber alten Barenflabt, der mit feinem Namen ſich verknüpft, 
eine biftorifche Bedeutung erlangt. 1760 aus einem alten Bojarengeſchlecht entiprofien, 
trat er früh in die kaiſerliche Garde zu Petersburg ein, gewann dort die Gunſt des 
Raifers Paul, noch als dieſer Großfürſt war, und ward, als derfelbe den Kaifertiron 
beftieg, Sinnen Eurzer Zeit zum General und zum Hofmarſchall ernannt und in den 
Grafenftand erhoben. Der Sohn und Nachfolger Paul's, Alexander, übertrug auch 
auf ibn feine Bunft und ernannte ihn, als ihm durch Erbfchaft bedentende Güter in 
Altrußland zuflelen, deren Bewirthſchaftung er tbernahm, zum General-Bouverneur und 
Hei Ausbruch des Krieges 1812 zum Benerallriegd-Bouverneur von Moslau. Boll 
glühender Begeiflerung für fein Vaterland, dabei der altruſſiſchen Partel angebhörend, 
Rand er an der Spike derer, bie zum bartnädigften Widerfland gegen die vordringen- 
den Branzofen aufforderten, und er bauptfächlich veranlaßte Kutuſow (f. d. Art.) 
nah der Schladht von Borodino, Moskau aufzugeben, da dies zwar die „alte hei⸗ 
lige Stadt”, aber nicht Rußland fe. Ob er beim Anmarfch der Branzofen die 
Reſidenz mit der überlegten Abficht, fie gänzlich zu zerfiöten, bat anzünden lafien, 
flieht nicht feſt; es wird fogar in einer von ihn 1824 erfchienenen Schrift: „La ve- 
rite sur lineendie de Moscou“ geläugnet; doch hatte dieſe Brofchüre, die er in Paris 
erfcheinen ließ, wo er, nachdem feine Tochter einen franzöflihen Grafen Segur 
geheirathet hatte, ſich wahrſcheinlich in einer politifchen Miſſion befand, um eine An⸗ 
näherung des rufflfchen und franzoͤſtſchen Cabinets zu Stande zu bringen, entjchieden 
eine politifhe Tendenz und fie ifl daher keineswegs unbedingt als hiſtoriſche Quelle 
zu benutzen. Gewiß if, daß Roſtopſchin vor dem Einmarſch der Franzoſen die Ein» 


410 Moſtswzow (Jakow Iwanowitſch). 


wohner zum höchſten Fanatismus entflammte und eine allgemeine Auswanderung ver⸗ 
anlaßte, ſo wie, daß er die zahlreichen mit Heu, Stroh und Kriegsbedürfniſſen gefüll⸗ 
ten, in der Stadt befindlichen Magazine in Brand ſtecken und die Feuerlöſchgeraͤth⸗ 
ſchaften fortbringen ließ. Sein Eigenthum übergab er zuerfi den Flammen unb vor 
feinem brennenden Schloſſe im Walde von Sofolnidi war eine Tafel mit ber In⸗ 
Schrift aufgerichtet: „Died Haus, wo bisher redliche Leute wohnten, foll nicht Raͤu⸗ 
bern zum Obdache dienen.” Jedenfalls iſt er ald Prototyp der eifernen ruſſiſchen 
Zähigkeit und Entfchlofienheit anzufehen, welche die Heimath lieber verwüftet, als in 
Feindes Händen ſehen wollte, und die in dem die blutige Morgenröthe der Befreiung 
Europa's von franzdfifcher Knechtichaft verfündenden Brande der alten Zarenflabt 
ihren eben fo grandiofen wie erfchütternden Ausdrud fand. Im Jahre 1814 beglei⸗ 
tete ex den Kaifer Alerander zum Gongreß nad Wien, ward jpäter mehrfach mit por 
litifchen Wiffionen betraut und flarb, kurz nad dem Tode des Kaiſers, im Frühiahr 
1826 zu Moskau. — Wenn MR. auch in fpäterer Zeit, namentlich durch das jüdifche 
Kiteratenthum, das .nicht begreifen Tann und will, daß große Zwede auch große 
Opfer fordern, der Barbarei angeklagt und mit Heroftratuß und Omar auf eine Linie 
geftellt worden if, fo bat dies feinem Andenken bei allen denen, welche noch Sinn 
für die Ehre und Größe ihres Vaterlandes Haben und daher feine Handlungsmeife 
verfteben, nicht nur nicht gefchadet, fondern vielmehr feinen Ruhm vergrößert, und in 
Rußland felbft wird R. mit Recht In Bild und Volkslied als nationaler Held gefeiert. 

Roftowzow (Jakow Iwanowitſch), kaiſerlich ruſſiſcher Generaladfutant, Beneral 
der Infanterie und Chef des Generalſtabes des Kaiſers von Rußland für die Militär 
Lehranftalten, war einer der tüchtigſten Staatsmänner Rußlands, der gleich ausge⸗ 
zeichnet war.al& Militär, wie als Pädagog und Politifer von Fach. Aus einer alt- 
adeligen Bamilie des St. Petersburger Gouvernements entflammend und in der Haupt» 
ſtadt des ruſſiſchen Meiches im Jahre 1802 geboren, erhielt er feine Erziehung im 
kaiſerlichen Pagencorpo, wurde 1817 Page am Hofe zu St. Petersburg und 1822 
Faͤhnrich im Leibgarde- Jägerregiment. Als Krieger nahm ex an ber türfifchen Cam⸗ 
pagne von 1828 einen ihm zur Ehre gereichenden Antheil, zeichnete fich aber no 
mehr im polnifhen Kriege von 1831 aus, wo er bis zum Gapitän avancırte und 
mit mehreren Orden in Anerfennung feiner Tapferkeit gefhmüdt ward. In dem lept- 
erwähnten Jahre begann R.'s paͤdagogiſche Laufbahn, indem er ald Dujour- Stabb« 
offizier bei der DBermaltung des Oberchefs der Militärlehranflalten eintrat und in 
welcher Carriere er fehnell Die unteren Grade durchlief. Schon im Jahre 1832 fehen 
wir ihn als Oberfien und 1835 als Chef des Stabes bed Großfürſten Michael für 
die Militärlehranflalten fungiren und 1836 erhielt er die amtliche Befätigung feiner 
Wirkſamkeit. Seine Thätigkeit auf dem yädagogifchen Bebiete fand bei feinem Mon- 
archen eine andauernde Würdigung, und 1849 erhob ihn Kaiſer Nifolaus I. zu feinem 
Generaladiutanten, fo wie 1855 der gegenwärtig regierende Kaiſer Alexander IL. zum 
Chef feines Stabes für die Militärlehranflalten. Doc beſchränkte fih R.'s Wirk 
famfeit nicht auf die Wilitärlehranflalten allein: er war außerdem Mitglied von vier- 
zehn verſchiedenen Conſeils und Comitéès, wie er denn als Mitglied des Reichsraths 
und Aſſiſtent im Miniftercomite, als Borfiger der drei vereinigten Conferenzen unb 
beflindiged Mitglied des Conſeils der Faiferlihen WMilitärafademie, als Mitglied der 
Oberſchulverwaltung und des Hauptconfelld der weiblichen Lehranflalten u. ſ. w. thätig 
mit fungirte. Es möge außerdem nur noch angemerkt werden, daß R. im Jahre 1849 
an einer vom Kaifer angeordneten Commiſſion aufs Erfolgreichfte Theil nahm, deren 
Aufgabe die Neviflon der im Minifterium der Bolfdaufflärung beflehenden Ginrich- 
tungen war. R. Erönte feine rühmliche Laufbahn mit unermübdlichen, dem großen 
Werke der Berbefferung der bäuerlichen Zuftände in Rußland gewidmeten Anftrengun- 
gen. Zu Anfange des Jahres 1857 ward er zum Mitgliede des vom Kaifer Aleran« 
der Il. für dieſen Zweck niedergeſetzten Gomites ernannt, welches in ber Folge den 
Namen Hauptcomite erhielt. Befeelt von dem Wunfche, den kaiſerlichen Intentionen 
nah allen Seiten bin in erfpriehlichfter Weife zu genügen, ging R. nad feinem Ein⸗ 
teitt in dieſe Bunction an ein forgfältiges Studium der beſtehenden Verorbaungen 
uber die Bauern, las und durchdachte die Schriften des Auslandes über die Leib⸗ 


Roswitha, 41 


eigenfchaft, die Frohnen und beren Abldfung, und folgte eben fo eifrig dem Bange 
der inländifchen Literatur über diefes Thema, ließ Feinen der von Privatperfonen ihm 
zugefanbten Entwürfe unbeachtet, ging alle beim Comité einlaufenden Reglements⸗ 
Entwürfe der Gouvernements⸗Comitoͤs gründlich Durch, nahm zu gleicher Zeit an den 
amtlichen Arbeiten des Haupteomitoͤs thätigen Antheil und war überhaupt als die 
Seele diefer letztgedachten für die Aufhebung der ruſſtſchen Leibeigenſchaft fo weſentlich 
wichtigen Behorde zu erachten. Durch feine eigenen Ideen, kann man fagen, ſchuf er 
Die erfien Bahnen zur Röfung der ihm vorliegenden großen Aufgabe. Im Februar 
1859 wurde ihm die wichtige Stelle des Borfigenden der Redactions⸗Commiſſionen 
übertragen, welche Bauernreglementd entwerfen follte, und es wurde ihm überlaffen, 
diefe Gommifflonen nad feinem Ermeflen zu organiflren. Er theilte diefelben, wie 
befannt, in drei Sectionen, deren jede für ſich berieth und arbeitete, während die 
definitive Gutheißung der Arbeiten in den Gefammtfigungen aller Sectionen unter 
feinem Vorſitze erfolgte. Schon im October 1859 zeigten ſich in Folge der über- 
großen Anftrengung, mit ber R, arbeitete, die erfien Symptome einer Krankheit, die 
bald einen gefährlichen Charakter annahm und den immer noch übermäßig thätigen 
Mann in Eurzer Zeit aufreiben mußte. Es trat fchon im Anfange des Jahres 1860 
gänzliche Erfhöpfung der phyſiſchen Kräfte R.'s ein, aber in dem feiner Auflöfung 
entgegen gehenden Körper lebte noch immer derfelbe Bedankte mit feiner vollen Klar⸗ 
beit und Energie: „Wenn ich jept flerbe", fagte er, „fo fterbe ich mit rubigem Ge⸗ 
wiſſen; wir haben redlich unfere Pflicht gegen den Monarchen erfüllt. Unſer Ver⸗ 
fahren war offen und frei von aller Intrigue, wir haben die Frage aufgeklärt und 
vielleicht war es und vergönnt, die Heilige Sache weiter zu bringen. Bon der 
Feftigkeit des Monarchen bin ich überzeugt und Gott wird Rußland und die gerechte 
Bade nicht verlafien.” In der Ahnung, daß ſeine Tage gezählt feien, hatte er ſchon 
im Beginn feiner Krankheit einen allgemeinen Rechenfchaftsbericht entworfen über alle 
Goncluflonen, zu welchen die Gommifflonen In der Bauernfrage gelangt waren, und 
diefer Bericht, deſſen Durchſicht und Berbefferung bis zum Abfchluffe feines Lebens 
feine letzte Sorge blieb, ſollte nach feiner Aeußerung im Vorworte zu demjelben fein 
„politifcdyes Glaubensbekenntniß“ und fein „letztes Wort in der Bauernfrage” fein. 
Am 26. Januar that er den legten Federſtrich an dieſem Bericht, vom 27. Januar 
bis zum 5. Februar 1860 ließ er ihn fich täglich vorlefen, wobei er noch Kleine un⸗ 
weſentliche Aenderungen in bemfelben vornehmen Iteß, und am 6. Februar 1860 in 
der fiebenten Morgenflunde war er bereits verichieden. 

Noswitha ift die moderniſirte Namensform der erflen bramatifchen Dichterin 
auf deutfchem Boden, welche felbft ihren Namen Hrotsvit fchreißt, wenn fte in 
Proſa ſchreibt; in der gebundenen Rede fügt fie am Ende das Latinifirende hinzu; 
auch überfepte fle fich ſelbſt, Clamorvalidus“. Sie wurde wahrfcheinlich in den legten 
Jahren der Regierung Heinrich's I. geboren und lebte als Nonne zu Ganders heim 
His in die Zeit Otto's II. oder wenig darüber hinaus. Ihre exfte fchriftflellerifche 
Thätigkeit waren acht epifche Dichtungen chrifllichen Inhalts in lateiniſchen, ſogenannten 
Lesninifchen, Hexametern: das Leben der Maria, die Himmelfahrt des Herrn, bie: 
Baiflonen des heiligen Bongolf und des Heiligen Pelagius, der Fall und die Bekeh⸗ 
rung des Theophilus, die Belehrung des Proterind und die Vafllonen bes Heiligen 
Dionyfins und der heiligen Agnes. Die beiden erften Gedichte feiern die Mutter bes 
Seren und den Herrn felbfl; in den übrigen Gedichten find nur Stoffe zwiefachen 
Inhaltes behandelt, Martyrium und Belehrung, die beiden in einer gewiſſen Regel⸗ 
mäßigkeit; zuerſt zwei Martyrien und eine Belehrung, dann, ausdrücklich als eine 
fpätere Sammlung bezeichnet, eine Belehrung, der fi zwei Martyrien anſchließen. 
Diefer Inhalt, das Martyrium und die Belehrung, diefe der Beginn, jenes die fchönfte 
Bollendung des chriftlicden Lebens auf Erben, findet fi auch in ihren ſechs brama- 
tifchen Dichtungen, in Jateinifcher Profa, zu denen fle den Stoff aus Legenden und 
anderen kirchlichen Weberlieferungen geſchöpft hat. Diefe Schaufpiele heißen: Galli- 
canus, Dultitius, Kallimachus, Abraham, Paphnutius, Sapientta. Ein äußerer 
theatralifcher Zwed lag der Nonne gewiß fern; daher auch In der Form Feine eigent⸗ 
Uche Nachahmung des Terenz, von dem die Dichterin doch, ihrer eigenen Ausſag⸗ 


42 Roß (Sir John). 


nach, angeregt und getrieben war. Was fle beflimmte, war augenfcheinlich der innere 
Zwed, fo die Vorgänge in dem Geiftesleben des Sünders, der durch die Gnade 
ergriffen und bekehrt wird, wie des hochbegnadigten Marthrers deutlicher bloß zu 
legen, als die Erzählung es vermochte. Außerdem bat R. eine Geſchichte Otto's 1. 
und ein Gedicht in Herametern, welches die Gründung von Gandersheim und bie 
Thaten Kaifer Otto's I. behandelt (am beften herausgegeben von Berg in den „Monu- 
menta Germaniae historica“, Bd. 6, überfegt von Pfund in den „Gefchichtfchreibern 
deutfcher Vorzeit”, Berlin 1862), geichrieben. Ihre Werfe gab zuerfi Konrad Geltes 
(Norimb. 1501 ff.) heraus; einen zweiten Abdruck dieſer Ausgabe bat Schurzfleifch 
(Vitemb. 1707, 4.) und eine neue Ausgabe Barad („die Were der Hrotsvitha”, 
Nürnberg 1858) beforgt. Die Dramen allein find in berichtigtem Texte mit fran« 
zöflfcher Veberfegung und Einleitung von Ch. Magnin (Paris 1845) herausgegeben 
worden, und eine deutſche Meberjegung der drei Dramen „Gallicanus, Duleitius und 
Kallimachus“ Hat Bendiren geliefert (Altona 1850). Vgl. Wuftemann : „Gefchichte der 
Roswitha" (Dresden 1759), KHamberger: „Zuverläffige Nachrichten" (Bd, 3, 703), 
Schmidt von Lübeck: „Hiftorifche Schriften“ (S. 1 ff), Menzel: „Deutfche Dichtung 
(1. Bd. S. 278—280), Ludwig Gieſebrecht in der trefflichen Abhandlung: „Die 
Anfänge der dramatifchen Poeſte in Deutfchland”, welche In der von ihm heraus» 
gegebenen Zeitichrift „Damaris“ (Stettin 1860, S. 173—205, und insbeſondere 
über R., S. 182—193) enthalten if. 

Ko (Sir John), einer der ausgezeichnetften britifchen Seefahrer der Neuzeit, 
ber durch feine Norbpols Erpeditionen eine Weltberühmtheit erlangt bat, wurde im 
Jahre 1777 in Schottland geboren, trat jung (1786) als Volontair in den See 
dienft und nahm an vielen Schlachten der britifchen Marine Theil, wobei er fi oft 
heldenmüthig hervorthat. Im Jahre 1818 begleitete er als Kommandeur des Schiffes 
„Iſabelle“ Sir Edward Barry (f. d.) auf deilen erſter Bolar-Erpeditton, welche zur 
Yinterfuhung der Bafingsbai und einer Nordweit- Durchfahrt unternommen ward-und 
die, wie die weiteren von Barry, Franklin und Ihm ſelbſt ausgeführten, eine Revo⸗ 
Iution in der geographifchen Anſchauung des Nordtheiles unſers Planeten hervorge⸗ 
rufen bat. Die Beſchreibung jener erſten Erpedition erſchien unter dem Titel: 
„Voyage of Discovery for the purpose of exploring Bafinsbay* (2ondon 1819). 
Eine zweite, felbfiftändige Unternehmung der Art war die von Sir John R. im Mat 
1829 angetretene Reiſe in die Bolarländer, woſelbſt er bis zum October 1833 eine 
Reihe der wichtigſten Entvedungen ausführte und viele auf Aftronomie, Meteorologie, 
Phyſtik und Nautik bezügliche Unterſuchungen anftellte, welche der wifjenfchaftlichen 
und comparativen Exrbbefchreibung weſentlich zu Statten Tamen. ine ausführliche 
Befchreibung diefer zweiten Nordpol» Erpebition erfihien unter dem Titel: „Narrative 
of a second voyage in search of a norihwest passage* (London 1834, deutſch von 
Beer u. Sporſchill, Leipzig 1835). M., der dieſe Meife auf dem Dampfer , Victoria“ 
zum Theil aus eigenen Mitteln, großentheil aber auf Koften feines großberzigen 
Freundes Felir Booth ausgeführt Hatte, entdeckte auf derſelben unter Anderm die zu 
Ehren diefes Freundes benannte Halbinfel „Boothia”, fo wie die „König Williams⸗ 
Inſel“, und flellte zuerfi den magnetiſchen Nordpol fehl, wie es feinem Neffen (f. den 
. nachfolgenden Artikel) befchieden war, den ſüdlichen Pol zu firiren. 1832 Hatte man, 
felt Jahr und Tag ohne Nachricht von ihm, fchon feinen. Untergang befürdhtet, und 
die koͤnigliche geographiſche Geſellſchaft in London hatte bereit den Gapitän Bad 
ausgefandt, um ihn aufzufinden, als er 1833 plöglich in feinem Vaterlande wieder eintraf. 
Seine dritte Norbpolreife trat R. im Mai 1850 an, zunächſt mit der Intention, den 
verfchollenen Franklin aufzufuchen, doch Fehrte er unverrichteter Sache im September 
1851 zurück. Während diefer Fahrt war er zum Gontre- Admiral aufgerädt. Als 
ſolcher verfaßte er die intereffante Biographie feines gelehrten Breundes und Geflnnungs- . 
genoffen, des Contre⸗Admirals Franklin, welche unter dem Titel: „Rear-Admiral Sir 
John Franklin, a narrative“ (Rondon 1855) erihien. Sir John R. Hat außer den 
erwähnten Werken noch verfchiedene auf die nautifchen und Naturmiffenfchaften bezüg⸗ 
lihe Monographieen verfaßt und herausgegeben, wir heben ans denfelben, als die 
wichtigfte, feine Schrift „A trealise on navigation by steam* (London 1837) hervor, 


Noß (Sir James Clark). Noß (Ludwig). 413 


R. ift mehrere Jahre Conſul in Stodholm gewefen und vertrat die Intereffen des 
britiſchen Handels daſelbſt in derſelben Eräftigen und taetfeften Weiſe, die allen feinen 
Handlungen und Unternefmungen eigen war. Sir John R. flarb am 30. Augufl 
1856 im 70. Lebensjahre. 

08 (Sir James Clark), engliſcher Contre⸗Admiral, Neffe des durch feine ark⸗ 
tifchen Reifen berühmten Sir John Roß, geboren im Jahre 1800 zu Balforroch In 
der Grafſchaft Galway der iriſchen Provinz Gonnaught, trat 1812 in die britifche 
Marine und begleitete den bekannten Nordpolfahrer William Edward Parry auf meh⸗ 
seren feines arktifchen Expeditionen (1821—24 und 1837), wurde 1827 Comman⸗ 
beur und entdeckte 1829 auf der zweiten von feinem. Onkel Sir John zur Auffindung 
einer norbwefllichen Durchfahrt unternommenen Reiſe den nörblichen magnetifchen Pol 
unter, 709 7° nörbl. Br. und 159° öfll. &. Bon 1836 bis 1838 verwandte die 
englifhe Admiralität den inzwifchen zum Gapitän aufgefllegenen Sir James R. zur 
Beflimmung, der magnetifchen Inclination und Declination für Großbritannien und 
Irland. Dies führte zu einer neuen Bereicherung der meteorologifhen Wiſſenſchaft 
durch Sabine, der auf Brundlage der von R. firirten Bunfte feine wichtigen Karten 
der iſodynamiſchen Linien entwarf (d. I. derjenigen Linien, welche eine Gleich“ 
beit der Intenfltät ded Erdmagnetismus anzeigen). Im Jahre 1839 erhielt R. das 
Commando einer von der Moyal Society in London proponirten Expedition, weldhe 
die Küflen der Südpolländer unterfuchen ſollte. R. drang, wiewohl er dad antark⸗ 
tifche Eiomeer nicht zu durchbrechen vermochte, bis zu 78° 10° füpl. Br. vor — 
einer Grenze, die 616 heut nicht Überfchritten worden iſt. - Er entbedte bier 1841 daß 
Victoria⸗Land und auf demfelben einen über 10,000 Fuß hoben Vulkan, von welchem 
weſtwaͤrts der magnetiſche Suͤdpol liegen foll. Die Zeit von 1843 (dem Jahr feiner 
NRüdkehr nad; London) bis 1846 benupte er zur Beſchreibung jener wichtigen Ente 
deckungsreiſe, die unter dem Zitel: „Voyage uf discovery and research in the Sou- 
thern and Antarctic Sens“ zu London (1846 in 2 Bänden) und in einer deutfchen 
Meberfegung von Seybh zu Leipzig (1847) erfhien. 1848-49 befehligte er eine 
zur Auffindung Franklin's ausgerüftete Expedition, wobei er durch die Barrowſtraße 
nach der Küfte von Nord-Somerfet und bis in den Wellington-Banal vorbrang, ohne 
indeß eine Spur von Franklin zu entdecken. Gleichwohl war ſowohl diefe, wie bie 
vorige Meife, durch viele Beobachtungen über Erdmagnetismus und Meteorologie reich 
an Refultaten für Die Nuturmwiflenfchaft und die Nautif. So galt unter Anderen die 
von R. auf feiner antarktifchen Erpedition berechnete Meerestiefe von 25,896 Bar. 
Fuß lange Zeit als vie größte bekannte Einſenkung des Seebodens, bis Capitän 
Denham im Jahre 1852 erſt bei 43,380 Fuß Grund fand. M. ſtarb zu Aylesbury 
(Marktfleden in der englifhen Grafihaft Budingham) am 3. April 1862. 

Rob (Ludwig), namhafter Gelehrter, geboren den 22. Juli 1806 auf dem Gute 
Horſt in- Holflein, auf den Univerfltäten zu Kiel und Leipzig gebildet, befuchte 1832 
Griechenland, wo er 1833 Eonfervator der Antiquitäten im Peloponnes, 1837 Pro 
feffor der Archäologie an der Univerfität in Athen wurde. Nachdem er in Folge der 
September-Unsuhen 1843 feine Stelle aufgegeben hatte, lehrte ex feit 1844 als Pro- 
feffjor an der Univerfität zu Salle, wo er am 6. Augufi 1859 freiwillig aus dem 
Leben ſchied. R. bat das Infchriftenwefen zum Mittelpunkt feiner Unterfuchungen 
über Griechenland gemacht, und wir verbanten ihm manche fihöne und wichtige Ent« 
deckung. Bon feinen Schriften erwähnen wir: „Inscriptiones yraecae ineditae“ (3 
Hefte, Athen und Berlin 1834—45), „Urkunden zur Geſchichte Griechenland's im 
Mittelalter” (mit Schmeller, In den Schriften der Münchener Akademie 1837), die 
„Akropolis in Athen” (mit Schnaubert und Hanſen, 1839 fj.), „Reifen auf den 
griechifchen Infeln des ägätfchen Meeres" (3 Bde., Stuttgart und Tübingen 1840), 
„Handbuch der Archäologie" (griehifh, Athen 1841), „die Demen von Attila und 
ihre Bertheilung unter die Phylen“ (Halle 1846), „Heifen des Königs Otto und 
der Königin Amalia in Griechenland” (Halle 1848), „Klein- Aflen und Deutfchland. 
Meifebriefe und Auffäpe mit Bezugnahme auf die Möglichkeit deutfcher Niederlaflungen 
in Klein» Aflen® (Halle 1850), „das Thefeion und ber Tempel des Ares in Athen” 
(Halle 1882), „Archävlogifche Auffäge* (Leipzig 1855), „Italiter und Graͤken. La— 


414 | Noßbach (Schlacht Hei). 


teinifch iſt Griechiſch.“ (2. veränderte und erweiterte Aubgabe, Halle 1859). Aus 
dem Nachlafie von R. Hat Keil „Graf Paſch von Krienen. Abdruck feiner italieni⸗ 
ſchen Beichreibung des griechifchen Archipelagus mit Anmerkungen und einer Ab⸗ 
handlung über den Berfaffer und feine Auffindung des Grabes Homer's auf 308" 
(Halle 1860) und D. Jahn „Erinnerungen und Mittheilungen aus Griechenland“ 
(Berlin 1863) Heraußgegeben. R. war ein GChorführer der fogenannten Orientaliften 
in der Archäologie, jener Schule von Gelehrten nämlich, Die den Gegenfag zu ben 
Helfeniften bilden und gegen die von Windelmann, fo wie fpäter von Ottfried Müller 
und Fr. Welder vertretene Behauptung, daß die griechifche Kunft einheimifcgen Urs 
fprung® ſei, Oppofltion machen. 

Roßbach, Dorf in der preußifchen Provinz Sachen, halbwegs zwiſchen Merſe⸗ 
burg und Freiburg, auf dem durch die Thalränder der Saale und der Unftrut be- 
grenzten Plateau gelegen, bat eine weltbiftorifche Bedeutung erlangt durch den glän« 
zenden Sieg, den Friedrich der Große am 5. November 1757 in kaum zwei Stunden 
über die dreimal fo flarfe feindlihe, aus Branzofen und Reichétruppen beſtehende 
Armee erfocht. Seit Anfang September batte der große König diefe, unter bem 
gemeinfchaftliden Befehl des Prinzen von Sachſen⸗Hildburghauſen und des Bringen 
Soubife ſtehende Armee troß ihrer Meberlegenheit an der Saale fefgehalten. Auf 
die Nachricht von dem Marſch des Generald Haddick aus der Laufig gegen Berlin 
war er jedoch zur Rettung der Hauptflabt am 11. October von Edartöherga aus nach 
der Mark abmarfchirt. Bereits in Herzberg erhielt er indeß am 20. von den in Eile 
maͤrſchen vorausgefandten Prinzen Morig von Deßau die Nachricht, daß Haddick nad 
nur 24flündigem Aufenthalt. Berlin wieder verlafien babe. Er ging daher wieder auf 
Leipzig zurüd, mo er den Marſchall Keith gelaffen Hatte, und zog den Herzog von 
Braunfchweig, der bisher den Bortruppen der großen franzöftihen Armee Richelieu's 
gegenüber geftanden hatte, an ſich, Nach deflen Eintreffen am 28. October brach er 
mit feiner in 31 Bataillons und 45 Escadrons, etwa 24,000 Bann zählenden Armee 
wieder gegen die Saale auf. Die feindligen Anführer hatten während der Abweſen⸗ 
beit des Königs dieſen Fluß überfchritten, gingen aber bei der Nachricht von befien 
erneutem Anmarfch wieder auf das rechte Ufer zurüd, um unter Beflhaltung der Defl- 
een bei Halle, Merfeburg und Weißenfeld zwifchen diefen Orten Winter - Quartiere 
zu beziehen. Der König, feſt entichloffen, den Feind trog feiner Ueberlegenheit anzu» 
greifen, ließ, ald ex fih überzeugt, daß die drei Brüden bei oben genannten Städten 
befegt feien, bei Herrenmühle unterhalb Weißenfels, fait Angeſichts des Feindes, aber 
doch von ihm unentdedt — auf derfelben Stelle, auf welcher die Alliirten vor der 
Schlacht bei Groß⸗Goͤrſchen übergegangen, eine Brüde fchlagen. Der überrafchte 
Gegner, befürdhtend, einzeln gefchlagen zu werden, concentrirte fi, nachdem die Saale⸗ 
Defileen geräumt, am 3. November bei Mücheln Hinter dem Eichſtaäͤdter Bad. An 
demfelben Tage ging der König unter Zurüdlaffung von 2 Bataillons in Leipzig 
und je einem in Merfeburg und Weißenfels in 3 Kolonnen (unter Herzog von Braun» 
ſchweig's, Keith's und feiner eignen Führung) über die Saale, und beflimnte als Ren- 
dezvous die Höhen von Braunsborf, eine Weile dflih von Mücheln, wo die Armee 
am Abend eintraf. Ein Signalſchuß, den der über Halle beranrüdende Herzog von 
Braunfchweig, der ſich veriert hatte, that, warb von Soubife für ein Angriffs-Signal 
gehalten, und da feine Stellung ihm in Bezug auf den König fehlerhaft erjchien, 
veränderte er diefelbe noch in der Nacht, fo daß fein linker Flügel bis an den Eich⸗ 
ſtaͤdter Bach, der rechte bis über Branderode hinaus ſich erfiredte, er alſo Front 
gegen den König machte, der bisher in feiner rechten Flanke geflanden 
hatte. Der Monarch, der die Nachricht erhalten, daß eine von ſichelieu 
gefandte Verftärfung von 20 Bataillon und 18 Escadrons unter General Broglio 
bei Soubife eingetroffen fei, wodurd deſſen Armee auf 64,000 Mann anwudhe, 308, 
als er die für ben Angriff ungünflige Beränderung der feindlichen Aufftellung be» 
merkte, am 4. früh feine 21,000 Wann ſtarke Armee durch das Defilee von Schortau 
zuräd und bezog hinter dem Leikabach zwiſchen Bedra und Roßbach ein Lager, ledig⸗ 
li begleitet durch einige Kanonenſchüſſe und die ganze Muflf des feindlichen Lagers. 
Der RMonarch, fo lange von feinen Beinden hingehalten, ohne daß biefe etwas gegen 


-..— — 





Roßbach (Sqhlacht bei). 415 


ihn unternommen, glaubte nun nichts mehr von Ihnen erwarten zu Dürfen und wollte, 


bevor er nah Schlefien abmarfchirte, nur fehen, wad aus Ihnen wäre. Im französ 


ſiſchen Lager war man dagegen voller Siegeshoffnungen, man dachte an nichts Ge⸗ 
singeres, ale den König ‚mit ber „Berliner Wachtparade” gefangen zu nehmen, und 
war nur noch uneinig, wie Died am beflen anzufangen, zugleich aber in Beforgniß, 
daß der König durch eine eilige Flucht über die Saale entlommen koönnte. Am 5. 
forderte der Prinz von Hildburghauſen auf, ben Köntg anzugreifen, da dieſer Miene 
air auf Freiburg zu geben und dadurch die Verbindung der Armee bebrobe. 

Er ſchlug vor, den linken Flügel des Königs anzugreifen, da man dann einer. 
feitö die fchwierigen Deflleen der Front vermeide, andererſeits ben König von ber 
Saale abdränge.. Soubife, ein inbolenter Menfch, hatte nichtd dagegen; die feindliche 
Armee, die in brei Treffen im Lager fland (auf dem aͤußerſten rechten Flügel die 
Gavallerie, dann die Infanterie ber Meichdarmee, auf dem linfen Soubife in derfelben 
Formation), brach um 101), Uhr, teeffenweife rechts abmarfchirend, auf, ohne jebe 
Borfichts maßregel; die Treffen ganz dicht aufgefchlofien. Graf St. Germain mit 
einer Infanterie» und einer Gavallerie » Brigade ward zur Dedung bed Blanfenmar- 
ſches auf die Schortauer Höhen vorgefchoben. Der König befahl, daß fih 10 Ba⸗ 
taillons bereit halten follten, dieſe vermeintliche Arrieregarde des nad Breiburg ab⸗ 
jiehenden Feindes anzugreifen, und fegte fih um 2 Uhr ruhig zur Tafel, als der auf 
dem bochgelegenen Roßbacher Schloſſe aufgeftellte Hauptmann v. Gaudy meldete, daß 
die feindlichen Golonnen in der Gegend von Zeuchfeld die Nichtung auf Freiburg 
verließen und ſudweſtlich auf Weißenfels und Pettſtadt marſchirend, eine kleine Ab⸗ 
theilung zur Deckung des Flankenmarſches auf die Almedorfer Höhe vorichößen. Als 
der König jelbft auf den Boden flieg, um zu recognosciren, waren bie Töten ber 
feindlichen Golonnen bereits bei dem Gaſthauſe Luftfchiff angefommen und gingen 
auf Reichertöwerben. Bei den feindlichen Generalen, welche von Zeuchfeld aus das 
preußifche Lager recognodcirten, waren verfchiebene Meinungen laut geworben, und 
namentlich die franzöflfchen Generale gegen den Brinzen Hildburghauſen dafür, erſt 
am folgenden Morgen anzugreifen. Auch Soubife, gewarnt durch einen Prinzen von 
Darmfadt, der den König perfönlih kannte und zu großer Vorſicht rieth, neigte dazu ; da aber 
Riemand daran gedacht ben Truppen Befehl zum Halten zu ertheilen und dieſe wäh- 
send ber ganzen langen Discuffion, in der Soubife Jedem fehr hoͤflich für feine Mei⸗ 
nung banfte, ſelbſt ſich aber keine fefte bilden Tonnte, ruhig fortmarfchirt waren und 
zum Theil bereits Pettſtaͤdt hinter fich Hatten, blieb nichts Anderes übrig, als nun 
Alles gehen zu laften und fofort zum Angriff zu fehreiten. Inzwiſchen hatte der König 
um 2%, Uhr Befehl ertheilt, die Zelte abzubrechen, und binnen 20 Minuten war die 
Armee, treffenweis links abgefchwentt, gegen Meichestöwerben in Bewegung. Bon Dis- 
pofition konnte natürlich nicht die Rede fein, fondern der König wollte nach Umſtaͤn⸗ 
den handeln. Die Gavallerie, heut unter dem jüngften General Seydlitz, 38 Esca⸗ 
drons, follte fich zuerft dem Feinde in den Weg legen. Sie trabte, durch einen fanf- 
ten Hoͤhenzug, den Janushügel, vollfländig gegen die Einficht des Feindes gedeckt, 
in 2 Treffen, 15 Escadrons im erfien, 18 im zweiten, vorwärts, während 5 Esca⸗ 
drons Hufaren den Marſch rechts cotopirten, um die feindlichen Bortruppen abzuhal⸗ 
ten, ben Sanushügel zu hbefleigen und den Marfch vorzeitig zu enibeden. Der König, 
8 Bataillon dem General St. Germain gegenüber Laffend, folgte mit der übrigen 
Infanterie, binter dem erften Bataillon 18 fchwere Geſchütze, 12- und 24Pfder und 
2 10Pfdige-Haubigen, bie dann rechts heraus auf dem SJanushügel auffuhren, um 
den Angriff der Heiterei vorzubereiten und zu unterflügen. Die Eavallerie des Prin- 
zen Hildburghauſen war ohne alle Vorſichtsmaßregeln marfchirend, ſtark ausgefchritten 
und ihrer Infanterie über eine viertel Meile voraus. Auf 1000 Schritt an den 
Janushügel herangekommen, erhielt fie plöglich Durch die ſchwere preußifche Artillerie 
Feuer; fie gerietb in Verwirrung, verfuchte durch eine fchnell etabliste Batterie von 


8 Geſchutzen zu antworten, die aber, tief fiehend, ohne alle Wirkung blieb. Um 3, 


Uhr verfuchte die Gavallerie aufzumarfchiren, in biefem Moment aber hieb Seydlig, 
der, ſie überflügelnd, eingefchwenkt war, bereits mit dem erſten Treffen ein, währenn 
die Hufaren ihr in die Flanke flelem. Im grenzenlofer Verwirrung wurbe bir Toͤten⸗ 


— ame... 


416 Möoßbach (Schlacht bei). 


colonne geworfen. Broglio, der mit der franzöflfchen Cavallerie der Reſerve herbei⸗ 
geeilt war, verſuchte in der Richtung auf Reichertswerben aufzumarſchiren; es glückte 
ihm, das ſehr auseinandergekommene erſte preußiſche Treffen zu werfen. Died wurde 
jedoch ſchnell durch das zweite aufgenommen, das nun die Franzoſen ſofort warf und 
ſte mit in die Flucht der Cavallerie des rechten Flügels verwickelte. Ein Theil ſtürzte in 
die Hohlwege, wo viele Gefangene gemacht wurden, die große Maſſe aber floh unauf⸗ 
haltſam, Waffen und Stiefeln fortwerfend, bis Hinter die Unftrut, verfchwand alfo 
gänzlich vom Schlachtfelde. Jetzt ließ Seydlitz Appell blafen und nachdem er ges 
fammelt, ging er auf Tagwerben, wo er fo einfchwenkte, daß er den feindlichen Ins 
fanteriecolonnen in der rechten Flanke fland, um das Weitere abzuwarten. Inzwiſchen 
hatte der König hinter dem Janushügel die Infanterie einfchwenken und ſich beim Vor⸗ 
marfch fo links ziehen laſſen, Daß Lunftädt und der fumpfige Leikabach ben rechten Flügel 
deckten, da alle Eavallerie ſich auf dem linken Flügel befand. Im 1. Treffen fanden 19, im2. 
hinter dem linken Flügel, der zuerfl in's Gefecht Tommen mußte, ſechs Bataillons, 
ein Grenadier-Bataillon wie gewöhnlich in ber linken Flanke. Während des Gavallerie- 
Gefechts Hatte die feindliche Infanterie in drei Treffen den Marſch auf Reichertswerben 
fortgefeßt; der König befahl daher, bei Lunftädt angekommen, eine große Rechts⸗ 
ſchwenkung um das Dorf als Anlehnung und Pivot, um fenkrecht auf die rechte 
Slanfe der Golonnen zu floßen und fie gleichzeitig zu überflügeln. Diefe Schwenkung 
in Bataillons⸗Echellons mit allmählichem Ginrüden in die «Linie LunftädteTagwerben 
glüdte volltändig. Die Neichötruppen, Die vermöge ihrer Marfchorbnung hätten links 
einfchwenten müflen, fuchten durch Linfd-Aufmarfch eine parallele Front entgegen 
zu flellen, aber die enfilirende Batterie auf dem Janushügel brachte von vorn 
herein Alles in Stoden und Bermirrung. Die Verlufle waren in den dicht gebrängten 
Reihen außerordentlih; von der eigenen Bavallerie verlaffen, von der feindlichen aber 
in Blanfe und Rücken bebroht und von der Infanterie rechts überflägelt, befanden 
fih die alliirten Bataillone in der übelften Lage. Einige Bataillone Broglio's Hatten 
gegen Seyplig Front gemacht, der Reſt war in planlofem Borrüden geblieben, fo 
daß e8 um 4 Uhr zxriſchen ihre und den preußiichen Bataillons des linken Flügels 
zum Gewehrfeuer Fam. Die Berlufte dur die Kartätfchen der Bataillons⸗Geſchütze 
in den dichtgedrängten Reihen waren fo enorm, daß, nachdem das Gewehrfeuer kaum 
eine Biertelflunde gedauert, die Tete, welche angeblich den Aufmarfch verfucht hatte, 
die Flucht ergriff und auch die übrige Infanterie mit ſich fortrig. Auf diefen Mo⸗ 
ment batte Seydlig ruhig gewartet, jet brach er wie der Sturmmwind in die franzd« 
fifche Infanterie ein, die faft gar feinen Widerftgnd leiftete und maflenweife gefangen 
genommen wurde; Die wenigen Brigaden, die fich zu ſetzen fuchten, wurden durch bie 
preußifchen Gardes du Corps und Oendarmen gefprengt und gefangen. Soubife 
ſchickte noch zwei Gavallerie» Megimenter des linken Flügels vor, um den Rüdzug 
feiner intacten Infanterie dieſes Flügels zu deden; doch das Feuer ber avancirenden 
Preußen zwang auch fie zum Rüdzug und bald eilte fie der Infanterie, bie fle ſchützen 
follte, voraus. So wälzte die dreifach überlegene feindliche Armee, welche in kaum 
zwei Stunden eine fo totale Niederlage erlitten Hatte, wie die Kriegögefchichte des 18. 
Jahrhunderts Feine zweite aufzumeifen hat, fich in wilder Flucht gegen Breiburg zu, 
um die Unſtrut zwifchen fidy und den Feind zu fegen. Das Corps St. Germain’s, 
ebenfo wie das bei Almsdorf geftandene Detachement, die müſſige Zufchauer geblieben 
waren, zogen ebenfalld dahin ab und retteten durch ihre Haltung die vollkommen 
aufgelöfte Armee vor gänzlicher Vernichtung. Die Flucht ging mit fo rafender 
Schnelligkeit, daß bereit? um 6 Uhr Abends die Eavallerle des rechten Flügels in 
dem zwei flarfe Meilen entfernten Breiburg anlangte, und charafteriftiich iſt die Ant⸗ 
wort eined franzdflichen Gefangenen am 6. früh auf die Frage, wo ſich wohl feine Lands 
leute befänden: Ah Monsieur, je pense que la plüpart sera déjà arrive en France! — 
Der feindliche Berluft betrug 700 Todte, 3000 Bleffirte, 5 Generale, 300 Offiziere, 
5000 Gefangene, 67 Befchüpe, 7 Fahnen, 15 Standarten und fehr viele Bagage. Nur 
die früh eintretende Dunkelheit hemmte die Verfolgung durch die Sieger, deren Berluft 
unverhältnigmäßtg gering war; er befand in 3 Offizieren, 162 Bann Tobten, 20 
Dffisieren, 356 Mann Bleſſirten, darunter die Generale Prinz Heinrich, Reineke und 


Noßbach (Schlacht bei). 417 


Seydlitz. Letzterer, dem der Ruhm des Tages gebührt, erhielt, ein vor⸗ und nach⸗ 
ber nie dagewefener Fall, als jüngfter General-Mafor noch am Abend den Schwarzen 
Adler » Orden und ward wenige Tage darauf @eneral- Lieutenant. Die preußifche 
Infanterie, von der nur 7 Bataillone im Gefecht geweſen, bivouaquirte bei Obfchüg, 
am 6. ging der König nach Freiburg und erfuhr dort, daß ſich die Alllirten getrennt 
und die Reichſtruppen auf Erfurt, die Franzoſen auf Weißenfee zurüdgegangen ſeien. 
Er ertheilte dem Herzog von Braunfchweig den Befehl über alle zur Verfolgung ber 
fimmten Truppen und ging mit dem Reſt der Armee nad Schleſten zurück, wo er 
nur einen Monat fpäter den nicht minder glänzenden und folgenreiyen Sieg bei 
Leuthen (f. d. Art.) erfocht. — Die Urfache der Niederlage der fo fehr überlegenen 
allürten Armee lag einmal in der Zufammenfegung zweier fo biöparater Ele⸗ 
mente, wie der Sranzofen und der überbem noch aus fo vielen Gontingenten bunt 
zufammengewürfelten Reichsaärmee, bei welchen Verachtung auf der einen, Haß auf der 
andern Seite ed natürlich zu feiner Einigkeit fommen ließen, während außerbein bie 
beiden Generalen en chef nicht ſub⸗, fondern coordinirt waren, fo dag von vorn 
herein jede Bedingung einer tüchtigen Kriegführung fehlte. Was die Leitung 
der Schlacht felbft anbetrifft, jo tadelt es Napoleon, daß eine ſolche Armee unter 
ſolchen Feldherren einen Flankenmarſch unter den Augen eines Gegners, wie Friedrich 
ed war, gemacht hatte, und Jomini tabelt mit den meiften übrigen Schriftftellern ben 
Blan des Prinzen Hildburghaufen, den König überhaupt anzugreifen, als einen 
ſtrategiſch falihen. Darauf ift zu erwidern, daß es erflend viel verlangt ifl, ein 
General folle von feiner eigenen und feiner Truppen Unfähigfeit fo feſt überzeugt 
fein, daß er eine ihm fonft zweckmäßig erfcheinende Mafregel nur darum unterläßt. 
Waren andrerfeits die Alliirten den Breußen wirflig in Feiner Weiſe gewachſen, jo 
hätten fie nicht Krieg anfangen, fondern zu Hauſe bleiben müſſen; da ſie ſich aber 
eden fo gut jchlagen fonnten mie jene, fo ift die Idee des Prinzen Hildburg⸗ 
baufen, den König anzugreifen, nicht zu tabeln, fondern zu loben; denn wenn 
64,000 Wann 21,000 nit überall angreifen follen, fo Hört am Ende alles 
Kriegführen auf. War aber die Wahl der Angriffe: Richtung ganz ziwede 
mäßig, fo war die Ausführung im höchſten Grabe jammervoll, da ld 
die offenfive Arme am hellen Tage unentwidelt überfallen Tiep. 
Die Maßregeln des Königs dagegen waren eben fo zweckmäßig wie einfad; 
gerade das Einfache ift aber das Grofartige, und der geborne Feldherr ift fletö ein⸗ 
fa, weil er das Natürliche thut und Dadurch Großes erreicht. Der Beind fam 
dem Könige zu der Anwendung der fehiefen Schlachtordnung noch entgegen, und es 
bedurfte nur der Fleinen, dur den Ianuss Hügel gebildeten Terrainfalte, um feine 
Armee dem Auge des Feindes zu entziehen und die Ueberraſchung mit dem Stoße 


auf ded Gegners Schwäche zu verbinden. Nie wieder findet fh in irgend 


einer Schlaht des flebenjährigen Krieges ein ſolches zwedmäßiges Ineinander- 
greifen aller drei Waffen, fo daß jede zu wechter Zeit in ihrer eigenthüms- 
lien Wirkſamkeit berausireten Tonnte, wie wir Dies auf preußiicher Seite bei R. 
fehen. Eine flarte Batterie fährt, bis zum letzten Moment gededt, auf, um ben 
Angriff der Bavallerie durch überrafchendes Feuer vorzubereiten; die Gavallerie 
ftellt Durch einfaches Einfchwenfen die Front ber, benugt die durch das Feuer in ber 
feindlichen Reiterei hervorgebrachte Verwirrung und wirft fle, bevor fle fich ent- 
wideln kann. Die Infanterie folgt, um die Erfolge ihrer Reiterei zu ſichern; 
ihre Bewegung, ein einfaches Einſchwenken, welches fie auf Die Schwäche der feind- 
lichen Infanterie führt, wird durch die Klanfenftellung Der eigenen Meiterei geflchert, 
die ihrerjeitd den Erfolg der mit der Infanterie von Stellung zu Stellung vorgehen⸗ 
den Artillerie auf dad feindliche Bußvolt abwartet, dann in die erfchütterten Reihen 
einbricht und, jede Wiederberflellung der Schlacptlinie unmöglich machend, die totale 
Niederlage des Feindes herbeiführt. Der Sieg von R., der vollftändiger, ald er er⸗ 
fochten wurde, Taum gedacht werben ann, erregte in ganz Deutfchland Iauten Jubel, 
da der durch die Raubkriege Ludwig’ XIV. hervorgerufene allgemeine Haß durch die 
Wandlung der dflerreichifchen Gabinetöpolitif keinesweges abgeſchwaͤcht, geichweige 
denn ertöbtet worden war, und überall, felbft in den fündeutfchen Staaten und Reichs⸗ 
Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 27 


418 Roßhirt (Konrad Franz). Roßleben. 


ftädten, deren Contingente ebenfalls bei R. gefochten, feierte man den Sieg der Preußen 
ald einen nationalen Triumph und ſang Spottlieder auf die Franzoſen. Die zum 
Undenfen an den Sieg errichtete Säule lieh Napoleon nad der Schlacht von Jena 
nach Paris bringen; das Monument, welches heut die Spige des Zanushügels Trönt, 
wurde nad der Schladht von Leipzig Durch Die preußifchen Truppen errichtet. " 
Roßhirt (Konrad Kranz), ordentlicher Brofeffor der Rechtswiſſenſchaften an der 
Univerfität zu Heidelberg, einer der außgezeichnetflen beutfchen Juriften, geboren in 
Damberg 1793, beſuchte nach Abfolvirung der Tateinifchen Schule feiner Vaterſtadt 
die Univerfitäten zu Landshut, Erlangen und Göttingen, promovirte 1810 auf letzt⸗ 
genannter Hochſchule, trat 1812 als Affeffor in den Staatsdienſt, wurde 1817 auf 
den Lehrſtuhl des Eriminalrehts in Erlangen und im folgenden Jahre an die Heidel⸗ 
berger Univerfität berufen, wo er feither neben Mittermaier gewirkt und zu der Bes 
sühmtheit jener Hochſchule nicht wenig beigetragen bat. In faft allen juriftifchen 
Disciplinen hat R. mit erflaunlicher Fertigkeit und großem wiſſenſchaftlichen Erfolge 
gearbeitet, namentlich aber verbanft die Rechtswiſſenſchaft ihm eine rationellere Be⸗ 
bandlung des Criminalrechts, das in feiner philofophifchen Tendenz ſich der praftis 
fen Bedeutung immer mehr entzog. In feiner „Geſchichte und Syſtem des deut. 
ſchen Strafrechts“, Stuttgart 1838, 3 Theile, „Lehrbuch des Criminalrechts“, Heidel« 
berg 1822, und in der „Entwidelung der Grundfäge des Strafrecht“, Heidelberg 
1828, bereitete R. einer pofltiven und biflorifchen Behandlung diefer für das prak⸗ 
tifche Leben fo wichtigen Mechtsfpecied neue Bahnen, welche ſich ber Gefepgebung 
bald genug nußbar erwiefen. Aber auch dem Civilrecht widmete R. feine wifjenfchaft« 
lie und Lehrthätigleit: dem über dem römischen fo fehr vernadhläffigten Tanonifchen 
Rechte fuchte er Durch Beförderung eifrigen Quellenſtudiums eine fefte Grundlage zu 
geben und zeigte in feinen Lehrbüchern: „Grundriß zum Kirchenrechte der Katholiken 
und Proteflanten“ (2. Auflage, Heidelberg 1850) und „Geſchichte des Rechts im 
Mittelalter" (Mainz 1846—50, 3 Bde.) die Wege zur Hebung auch dieſer Wiſſen⸗ 
Ihaft durch die Einführung der biftorifchen Methode, die feither, wie auf dem @ebiete 
des Griminalrehts, auch bier immer mehr Einfluß gewann; die Literatur über roͤmi⸗ 
ſches Recht, deffen „Inftitutionen und Bandecten“ er erfolgreich bocirte, bereicherte R. 
durd, mehrere Monographieen, und für das geltende Givilrecht find feine „Dogmen- 
geihichte des Civilrechts“, erfchienen Heidelberg 1853, und feine Werke über gemeine 
deutſches, franzöflfches und badiſches civiles Mecht von Bedeutung. Seine Darflel« 
lungsweiſe ift kurz und präcife, Flar und trog des maſſenhaften Ideenſtoffes, der ſich 
ihm von allen Seiten zubrängt, fireng logifch georbnet, bei aller Lebhaftigkeit ſtets 
ernft und von einnehmender Würde. Mit unermüblichem Fleiße it R. troß feines 
hoben Alters noch immer bemüht, den Rechtswiſſenſchaften durch raftlofes Forſchen, 
Prüfen, Sammeln und DBerarbeiten frifche Förderung zu verfchaffen. — Eugen R., 
des Borigen jüngerer Bruder, Profeffor der Medicin und Director der geburtähülfe 
lichen Klinik in Erlangen, geboren 1995 in Bamberg, ward in legtgenannter Stadt 
nad mehrjährigem Prakticiren, das ihn beſonders ald Accoucheur in hohen Auf brachte, 
Lehrer an der medicinifchen Anflalt und Mitglied des Medicinal-Gollegiums 1829, 
folgte jedoch ſchon 1833 einer Berufung an die Univerfität in Erlangen, an ber er 
feither ununterbrochen gewirkt Hat. Seine Iiterarifchen Arbeiten über @eburtöhülfe 
find befonders geſchätzt. Don ihnen Ind die bedeutendflen das „Lehrbuch der Geburts⸗ 
bülfe”, 2. Auflage, Erlangen 1856, und „Die geburtshäfflihen Operationen", Er⸗ 
langen 1842. | 
Roßleben, Dorf, mit der berühmten Klofterfchule im preußifchen_Meglerungsbezirt 
Merfeburg, an der Unſtrut, ifl einer der aͤlteſten Orte Thüringens und foll urſprüng⸗ 
lich Ruſteleve geheißen haben. Alle alten Urkunden, welde genau feine Gründung 
‚angeben follten, find bet ber Zerflörung des Kloflerd im Bauernkriege mit vernichtet 
worden, aber fchon im 12. Jahrhundert wird das Nonnenflofter Aufteleve unter den 
befonderen Schuß bed Kaiſers Friedrich geftellt und von Merfeburg aus hat er demſel⸗ 
ben auch einen Schugbrief ausgefertigt. Im eben erwähnten Bauernkriege warb es 
1525 von den Bauern erflürmt, beraubt und die Nonnen 618 auf zwölf vertrieben. 
Trotz der Mißhandlungen blieben dieſe mit ihrer Aebtiffin noch in demſelben bis zum 


Roßlyn (Mlerander Wedderburn, Graf von). 419 


Tode Herzogs Georg's, der fich der Meformation nicht anfchliegen mollte. Als fein 
Bruder, Herzog Heinrich, 1539 an bie Regierung Fam, ging fein Streben dahin, bie 
Iutherifche Religion in feinem Lande einzuführen und er bob daher die Klöfter auf. 
Da die Einkünfte Ruſteleve's bebeutend waren, ſo ſchlug der Schirmvogt deſſelben, 
Freiherr v. Witzleben, Beflger der Herrſchaft Wendelftein, vor, das Klofter in eine 
Gelehrtenfchule zu verwandeln, und erbot ſich zu perfönlichen Opfern. Der Herzog 
ging nicht bloß auf diefen Vorfchlag des edlen Wigleben ein, fondern that auch alles 
Mögliche, um das Werk zu fördern, fo daß 1554 die Schule mit 18 Schülern eröff- 
net werden Fonnte, deren Zahl aber fpäter bis zu 60 anwuchs. -Ein nicht zu er- 
feßender Berluft für die Schule war der im Jahre 1561 erfolgte Tod des Herrn 
9. Wigleben, in deffen Familie jedoch die Erbapminiftration geblieben iſt. Auch fuch- 
ten fle manche Unglüdsfälle heim, infonderheit 1686 eine Feuersbrunſt. Diefe zer 
ſtoͤrte nicht allein daB Klofter mit feinen Nebengebäuben, fondern auch die in byzanti⸗ 
nifhem Style erbaute herrliche Kirche mit allen Denkwürdigkeiten und Xlterthlumern 
und die Schule war für den Augenblick aufgelöfl. Sie würde fich vielleicht auch nie 
wieder haben erheben können, wenn ſich der Herzog von Sachjen» Weißenfels nicht 
ihrer angenommen und der Wigleben’fchen Familie beigeftanden hätte. Auch jetzt noch 
if die Familie der Schule, die 30 Freiftellen und eben fo viel Koftitellen bat, und 
manchen berühmten Mann zum Lehrer und Schüler gehabt hat, treu geblieben und 
verwaltet ihre Intereffen nad wie vor, obfchon das geiflige Wohl derfelben, mie das 
eines jeden preußifchen Gymnaflums, in den Händen des Provinzial» Schul» Colles 
giums Tiegt. 

Roßlyn (Alerander Wedderburn, Graf von), vorher Lord Loughborough ge- 
nannt, am befannteften unter diefem und feinem urfprünglichen Nanıen Wedderburn, 
it einer der letzten principienlofen politifchen Abenteurer des 18. Jahrhunderts, denen 
ed gelang, bedeutenden Einfluß auf die Geſchicke Englands auszuüben. Ihm haupt» 
fachlich iſt die fo verhängnißvolle, fort und fort gefühlte DVereitlung der 1801 von 
Pitt beabſichtigten Katholifens@mancipation zuzuſchreiben. Er war 1733 in Schott- 
land geboren, Sohn eines Heinen Grundbefiger® und Advocaten und für gleichen 
Beruf erzogen worden. Sein unrubiger Geiſt trieb ihn nad London. Hier als 
wenig geſuchter Advocat von Lord Bute, dem Premier, bemerkt, kam er für Richmond 
ind Unterhaus und gehörte zu des Miniſters fogenannter fchottifcher Leibgarde, Die 
damals der Oppofttton über Alles verbaßt mar. Der Satyriker Churchill verhöhnte 
ihn daher als „den dreiften vorwigigen Schwäßer der norbifchen Mace, der Schuld 
im Herzen und Hunger im Antlig trage, flumm im Gerichtöfaal, Taut dagegen im 
Senate ei", in der Charakterbezeichnung allerdings das Michtige treffend. Denn 
fobald Bute's Stern unterging, wendete er fi) ſogleich zur Oppoſition und befämpfte 
alle richtigen Regierungsmaßregeln, die fa alle von Georg 11. infpirirt waren. Als 
er hierdurch feinen Sitz verloren Hatte, ald politifcher Märtyrer gefeiert und von Lord 
Glide wieder ind Parlament gebracht worden war, nahm er dennoch, fobalb Lord 
North’ Minifterium ſich als dauerhaft zeigte, im diefem die Stelle als solicitor gene- 
ral (einer der beiden Kronanmälte) an; nad Lord Bampbell (lives of Chancellors 
vol. Vi, ©. 87) „einer der flagranteften Fälle von Ueberlänferel, den die englifchen Partei» 
annalen aufweifen”, denn die eben verlaffene Partei vertrat die Brivilegien des Unter- 
hauſes und die neugewählte bie möglichft weit audzubehnende Prärpgative des Königs 
(fiebe North und Geſchichte von Großbritannien). Junius fagte daher in 
einem feiner Briefe von ihm, „daß etwas an ihm fei, worauf die DVerrätherei felbft 
fi nicht verlaffen könne!” Für die Hofpartei erwies er ſich hinfort fehr tätig und 
näglig. Er war ein raftlofer parlamentarifcher Vorfämpfer und konnte bet ebelftem 
Bortrage jede Sache von jeder Seite gründlich beſprechen. 1773 führte er mit Erfolg 
die Vertheidigung Clive's. Während der erften Zeit der amerifanifhen Wirren, 
1767—69, Hatten Hutchinfon und Dliver, Gonverneur und flellvertretender Gouver⸗ 
neur von Maffachufets, mit dem Privatfecretär des ehemaligen durch die Stempelacte 
befannten Miniſters Grenville, Whately, correfponbirt und fi für entfihledene Auf- 
rechthaltung der engliſchen Suprenatie ausgeſptochen, beſonders aber die milttärlfche 
Beſehung Boſtons befürwortet. Nah Whately's 1772 erfolgtem Tode Tamen bir 

27 9 


420 Roßlyn (Mlerander Wedderburn, Graf von). 


PBapiere in Franklin's Hände, ohne daß bis heute befannt geworben, wo er fie ber 
hatte. Eine Andeutung des fehr Eritifchen und gerechten Maſſey (history of England 
during the reign of George IIl., &ap. 18, H., ©. 183) laͤßt die Möglichkeit, daß 
Franklin fie felbft genommen, offen. (Vergl. auch Mahon: history of England, 
cap. 50, Tauchuitz edit., Theil 5, ©. 337). Er fendete fie nach Maſſachuſets unter 
der Bedingung, daß fie nicht veröffentlicht würden. Dennoch vor die Affembly ger 
bracht, wurden fie Veranlaffung, daß diefe Franklin mit Ueberreihung einer Petition 
beauftragten, die Hutchinfon’8 und Oliver's Abjegung verlangte. Sp fam er in Die 
Lage, feine Stellung zu den Borgängen befennen zu müflen, und erfdyien, als er am 
29. Januar 1774 die Petition im Geheimen Rathe präfentirte, zugleich in der Lage 
eined Beichuldigten. Franklin's Handlungsmelfe und Wedderburn's Rede werden von 
allen englifchen Schriftftellern gleich gemißbilligt. (Vergl. auch Baneroft: Geſchichte 
von Amerika, Gay. 50.) Als 1774 Franklin’s berühmter Fall mit den Briefen 
vor dem Geheimen Rathe zur Sprache kam, vertrat Wedderburn die Krone. Er 
ftellte den Angeſchuldigten in unerbörter Weile bloß, und zwar in Gegenwart einer 
großen aus Männern aller Parteien zufammengefegter Zuhoͤrerſchaft. Er hieß den 
Vertreter Amerika’d einen grauföpfigen Verräther, benannte ihn mit dem römifchen 
Beiwort „Mann der drei Buchflaben* (fur ein Dieb) und verfidyerte ihm, daß, wo er 
auch ericheinen würde, „Die Leute ihre Papiere vor Ihm verbergen und ihre Bulte zu⸗ 
ichließen würden!” Welche Bemerkungen die Geheimen Räthe durch ihr Gelächter 
für Franklin noch bitterer machten. Zwar hörte er fie mit unverindertem Antlig an; 
aber es ift Fein Zweifel, wie Lore Mahon fagt, daß „das Eifen in feine Seele eine 
drang”. Bon diefem Augenblid an batte er für immer mit England gebrochen. Nach 
Mahon a.a.D. ©. 342 Unmerfung legte er bei Unterzeichnung des Bündniſſes zwiſchen 
Amerika und Frankreich feierlich denfelben Nord an, din er an jenem Tage getragen hatte. 
Hier indeß wurde diefe Scene und die ihr folgenden Dinge: Berwerfung der Petition 
und die Entlaffung Franklin's von feinem Amte als flellvertretender @eneralpoftmeifter, 
mit Freude begrüßt. Später, als 1803 Bitt im Unterhauſe voll trefflicher Wendun⸗ 
gen gegen Bonaparte donnerte, erinnerte ihn Kor, Betreffs folder Philippifen, die 
Demoſthenes felbft mit Vergnügen hören würde, an jene Wedderburn's. Wie Männer 
ihre Hüte feft auf die Stirn gebrüdt und ihre Hände zufammengefchlagen Hätten, als 
hätten fle einen Sieg errungen. Uber wie nachher für diefen Triumph ein fehr theurer 
Preis gezahlt worden fei. 1780 wurde Wedderburn unter dem Titel Lord Kough⸗ 
borough Pair und Lord»Öberrichter von England. ALS folder gehörte er zu den 
in England ſehr feltenen Juriſten, Bie zugleich im Gerichtöhofe und im Parlamente 
glänzten. Jegt blich ihm nur noch die Lorbfanzlerichaft. zu erreichen. Diefe mar 
feit 1778 im feftlen Belle von Lord Thurlom (f. d. Art.), der einft als altorney 
general fein Gollege gewefen und ihm an politifchem Charakter ziemlich ähnlich war. 
Außerdem war um fo weniger Ausſicht, ihn befeitigen zu können, je mehr Pitt's Regi⸗ 
ment fich befeſtigte. Webderburn ergriff daher fogleich bei der Negentichaftäfrage (ſtehe 
Pitt) das Panier des Prinzen von Wales und rieth ihm, fich durch einen Staats⸗ 
fireih in den Bellg der Gewalt zu ſetzen. Obgleih er nun bierdurh mit Pitt's 
Partei zerfallen war, erreichte er dennoch fein Ziel, als Thurlow feiner unerträglidhen 
Anmaßung wegen 1792 entlaffen werden mußte und fein dnderer gleich Befähigter 
zu finden war. Er handelte jegt zunächft im Einverfländniffe mit Pitt, benugte aber 
die erfle Gelegenheit, um ſich Georg II. noch privatim auf alle Möglichkeiten hin 
theuer zu machen. Heimlich übermachte er daher 1795 dem Könige ein Gutachten, 
daß die Aufhebung der Teſtacte (f. d. Art.) wider den Krönungseid fei, und be⸗ 
flärkte Hierdurch die jeder Emancipationsmaßregel an und für fi abholde Beflnnung 
defielben. Als Pitt 1800 zu biefer Maßregel ſich rüftete, lud er, wohl befannt mit 
des Königs Sefinnung, aber ohne Wiffen von Loughborough's Schritt, diefen zu einer 
geheimen Gabinetd-Sigung ein, die eben deshalb, beſonders auch dem Könige, geheim 
bleiben follte, damit man ſich vorbereite, jeinen Scrupeln entgegen zu treten. Im 
Beflg nun der Pläne Pitt's, befand ſich Loughborough in ber verfuchungsreichen Lage, 
„den Premier zu betrügen, und wenn die Zeit gefommen, ihn zu Balle zu bringen. 
Wie verfuchend, ſich insgeheim des koͤniglichen Ohrs zu bemächtigem und der Regu⸗ 


— —— — — — — — GE gg —rh — — — 


Nöth (Eduard Maximilian). 421 


Iator feiner öffentlichen Schritte zu werden!” (Stanhope fife of Pitt, III, 287.) Er 
zeigte den Brief dem Könige und erregte fo feinen beftigflen Argmohn. Noch nicht 
ganz aben bei ihm gefihert, erlangte er durch feinen unerwarteten Widerfpruch gegen 
die Mafregel in der Kabinetöflgung vom 30. September 1800 einen Auffchub von drei 
Monaten und gewann fo Zeit, dem Könige ein ausführliches Memorial gegen die Raßregel 
überweifen zu können, das alle populären Einwände dagegen geſchickt verarbeitet Hatte. 
Graf Stanhope führt a. a. DO. ©. 272 aus, wie Pitt bis jegt noch immer den jo 
Dartnädigen Monarchen felbft in den delieateſten Fällen zu feiner Meinung hatte hin⸗ 
überziehen können, während ed diedmal durch das liſtige Hineinbringen ded Krönungs- 
Eides nicht mödglih war. (Der Eid gebietet dem Könige, ohne weitere Speclalitäten 
die Hochlirche zu hüten. Vermuthlich durch Loughborough's Bemühungen, die auch 
von dem Primas von England und dem von Irland unterflügt wurden, maren die 
urfpränglichen Zweifel des Koönigs gegen die Emancipation, als dem Eide zumider- 
laufend, fo verftärft worden, daß er einfl audrief: Wenn ich ihn fo verlege, Bin 
ih nicht länger gefeßlicher Souverän dieſes Landes, und es fällt an das Haus 
Savoyen! Und ein anderes Mal: Ich will lieber durch Europa gehen und mein Brot 
von Thür zu Thür betteln, als irgend folcher Maßregel zuflimmen!) Die große Maß- 
regel, die damals glei ausgeführt, England unendliche Sorgen fpäter und vielleicht 
jegt erfpart hätte, war auf 28 Jahre hintertrieben. Als nach Pitt's dann erfolgender 
Abdankung die Sache an das Licht fam, ſuchte ſich Loughborough in einer Schrift 
zu rechtfertigen, von der Lord Campbell in feinen Biographieen des Lordkanzlers 
fagt: „Selten find fo ſchmachvolle Blätter von einem Staatsmanne veröffentlicht 
worden". Erfreulih iſt, daß Mißerfolg den ganzen Streich belohnte. Der eben ge- 
nannte Autor äußert: „Niemals gab es ein ſchlagenderes Beiſpiel eines Ingenieurs, 
der von feiner eigenen Petarde getroffen wird." Hatte er gehofft, Premier zu wer- 
den, fo ſah er fi durch Addington's Ernennung getäufht. Aber der König, ber 
feinen Gharafter während der Transaction durchfchaut hatte, wollte ihn nicht einmal 
als Lordfanzler behalten; er follte dad unwichtige Amt eines Gehelmenrathe - Bräjl- 
denten übernehmen. Dringend bat er nun den König, Pitt als Minifter zu behalten, 
was ihn nicht abhielt, ala bei ded Königs neuem Wahnfinndanfall For Ausſicht Hatte, 
dad Ruder ergreifen zu können, ſich dieſem anzubieten. Endlich beſchloß man ihn ' 
ganz aus dem Babinet zu entfernen. Er wurde nit auf die neue Minifterlifte ge- 
ſetzt und al& er uneingeladen erfchlen, um Ueberlieferung des Schlüffels erfucht. Da- 
für ernannte man ihn zum Grafen v. R. Er flarb im Januar 1805. Cine auf 
unantaftbarer Autorität berubende Meberlieferung vom Grafen Stanhope a. a. ©. IV. 
©. 251 und Campbell a. a. DO. VI. S. 334 gleich beftätigte Mittheilung erzaählt, 
daß der König bei der Todednachricht mehrfach nach der Gewißheit geforfcht Habe und 
dann audgerufen: „Er hat feinen größeren Schurken in meinen Reichen hinterlaſſen!“ 
Sp endete ein Wann, der von Natur feiner Befählgung nach ein großer Mann hätte 
fein können, wenn folches ohne alle politiiche Tugend möglich wäre. Die beſte Seite 
feines dffentliden Charafterd war bereite Geneigtheit, begabten Männern aufzubelfen. 
Er und fein College Thurlow find jedenfalld zwei denkwürdige Geftalten einer Zelt, 
die, längft abgeſchloſſen, genialer, aber auch in vieler Beziehung niedriger als die 
vr ericheint. 

Roßſchweif ſ. Türkei. 

Röth (Eduard Maximilian), deutſcher Forſcher auf dem Gebiet der Geſchichte, 
Der Philoſophie und der alten Religionen. Er iſt den 12. Oct. 1807 zu Hanau ge—⸗ 
boren, wo fein Bater Volksſchullehrer war. Derfelbe farb, als R. kaum das vierte 
Lebendjahr zurücdgelegt hatte, zu Rödelheim, wohin er von Hanau übergefledelt war. 
R. bezog, nachdem er den ihm in Rödelheim gebotenen Unterricht genoſſen hatte, in 
feinem zwölften Jahre dad Gymnaflum zu Weplar und ſtudirte dann zu Gießen Theo- 
logie und Philologie. Schon auf der Untverfität ſchwebte ihm die Erforfchung der 
biftorifchen Entwidelung der religiöjen und phllofophifchen Ueberzeugungen und De 
Ziels diefer Entwidelung ald Lebendaufgabe vor Augen. In Branffurt a.M., wohin 
er ſich nad abfolvirtem Univerfitätöcurfus zurüdgog, feste er fein Studium ber femi« 
tischen Sprache fort und durchforfchte unter der Leitung eines alten jüdiſchen Gelehrten 


422 Roth (Johannes Rudolf). 


namentlich Die rabbiniſche Literatur, um den Zuſtand der jüdiſchen Glaubensanſichten 
zur Zeit des erflen Auftretens des Chriftentbumd kennen zu lernen. Eine Frucht . 
diefer mehrjährigen Arbeiten war die 1835 in Srankfurt erſchienene Unterfuhung über 
den Verfaſſer des Hebräerbriefs, in welcher, lateiniſch geſchriebenen, Abhandlung er 
neue Aufſchluſſe über die Dogmen der erſten chriſtlichen Gemeinde zu geben glaubte. 
Somohl dieſe Unterfuchungen wie aͤhnliche auf dem Gebiet der griechifchen Philofophie 
beſtärkten R. In feiner Meberzeugung, daß die Ideenkreife der Briechen und des Semi⸗ 
tismus feine urfprünglichen, fondern nur abgeleitete feien und nach dem Orient, fo 
wie nach Aegypten weifen. Um diefen Spuren bi auf den Grund nachzugehen, be» 
gab er fih 1836 nah Paris, wo ihn Sylveſter de Sach Im Arabiſchen und PBer« 
fifchen, Burnouf im Sanscrit und Stanislas Julien im Chineſiſchen unterrichteten. 
Bleichzeitig begann er, unterflügt durch feine genaue Kenntniß der Eoptifchen und 
äthiopifchen Sprache und geflügt auf die Forſchungen Champollion's, die Entzifferung 
der aͤgyptiſchen Hieroglyphen. Hier in Paris war e8 auch, wo er durch eingehendes 
Studium der Naturwifjenfchaften — (er hörte unter Anderem die Vorträge von Biot, 
Arago, Bouffingault u.f. w.) — feine Weltanfhauung und den darauf gegründeten 
Ideenkreis zur Reife brachte. Die in den Quellen ihm gewordenen Aufſchlüfſe be- 
ftärften ihn in der Ueberzeugung, daß die Wurzeln unferer Geutigen Erfenntnig nicht 
bis nach Indien und China reichten, vielmehr in der Agyptifchen und zoroaftrifchen 
Blaubenslehre und Speculation liegen. Im Frühjahr 1840 verließ er Paris, habili⸗ 
tirte fi noch in demſelben Jahr ald Privatdocent in Heidelberg, wo er über die 
philoſophiſchen Disciplinen Vorleſungen bielt, und trat 1846 mit dem erften Theil 
feines großen (zu Manheim erfchienenen) Werkes auf: „Entwidelungsgefchichte unferer 
fpeculativen Ideen von ihren erften Anfängen bis auf die Gegenwart. Erſter Band. 
Die älteften Quellen unferer fpeculativen Ideen." Im demfelben Jahre ward er zum 
außerordentlidhen Profefior der Philoſophie und der orientalifhen Spraden, 1850 
zum ordentlichen Profefjor ernannt. 1848, während an der Uiniverfität die Studien 
darnieder lagen, widmete er fih der Entzifferung des aͤgyptiſchen Todtenbuches. Der 
Arbeit diefer Zeit hat man es zu verdanken, daß die 34 erfien Eapitel jener Schrift 
in Ueberfegung und mit einem Glofjar verfehen, vorliegen. Che er feinen Anftren- 
gungen erlag (er farb den 7. Juli 1858), Hatte er noch die Freude, den zweiten 
Theil feines großen Geſchichtswerks der rfe nuchteit übergeben zu ſehen. (Bergl. 
über dieſes Werk den Art. Pythagoras. 

Roth (Johannes Rudolf), —ãA—— — Palaͤſtina⸗Reiſender, Sohn des Präfl- 
denten Karl Johannes Friedrich R, geboren den 4. September 1815 zu Nürnberg, 
fludirte von 1834 in München Medicin und Naturwiflenichaften, trat im September 
1836 mit Schubert eine Reiſe nach Aegypten und PBaläflina an und fehrte im Sep- 
tember 1837 über Griechenland und Italien nah München zurüd, wo er feine Stu- 
dien fortfegte. 1839 ging er mit dem englifchen Major Jervis nach Oftindien und 
bereifte Died Land und die nördliche Weſtküſte von Afrika in naturwiffenfchaftlichem, 
namentlich geologifchem, botanifchem, zoologifchem und hydrologiſchem Interefie. Nach 
feiner Rückkehr nach Münden wurde er bier 1843 Profeffor der Zoologie, unternahm 
jevoh 1852 wiederum eine Reife nach Paläftina, Griechenland und Italien und im 
November 1856 eine abermaltge nach Paläftina, vorzugsweiſe um die Einſenkung des 
Todten Meeres zu beflimmen und die Urfachen vderfelben zu ergründen. Mehrere 
Moden war er im Sommer 1858 an den Ufern der Seen von Tiberlad und von 
Huleh, welcher legtere wegen feiner fumpfigen Ufer im höchſten Grade ungefund if, 
umbergereift, um Melungen und Beobachtungen anzuftellen. Erſt als: feine fämmtli- 
hen Begleiter, die er, da er praktifcher Arzt war, felbft behandelte, erfranft waren, 
begab er fieh nad Hadbeia am weftlihen Buße des Hermon. Hier erkrankte er am 
Morgen nach feiner Ankunft felbft und flarb wenige Tage darauf, am 26. Juni. Seine 
legten anderthalbjährigen Arbeiten in Baldflina, die in den „Beographifchen Mittheilun« 
gen” von A. Petermann zum Theil veröffentlicht wurden, gehören zu den werthvollſten 
und gebiegenften, die in dem gelobten Zande von den zahlreichen Reiſenden und For⸗ 
ſchern angeftellt worden find, und dad Gefammtrefultat feiner beabfichtigten Unterfus 
Hungen, wenn ihm deren Beendigung vergönnt gemwefen wäre, würde ihn In einem 


Rothe (Ricyard). Rothes Meer. 423 


noch höheren Grabe auf die hoͤchſte Stufe verdienflvoller neuerer Beifenden geftellt' 
haben. Es ſteht zu hoffen, daß die Htefultate feiner Reifen in einer würdigen Welfe 
zur Publication gelangen, als daB geeignetfle und dauerndfle Denkmal, weldyed dem 
Berforbenen für feine verbienftvollen Beflrebungen, denen er fein Leben zum Opfer 
brachte, errichtet werden Tönnte. 

Rothe (Richard), evangelifcher Theologe, geb. den 28. Januar 1799 zu Pofen, 
erhielt feine Symnaflalbildung zu Stettin und Breslau, fludirte von 1817 bis 1820 
die Theologie auf den Univerfitäten zu Heidelberg und Berlin, ward darauf bis 1822 
Mitglied des Prediger-Seminars zu Wittenberg und 1823 zum preußifchen Geſandtſchafts⸗ 
Brediger in Rom ernannt, welches Amt er fünf Jahre lang bekleidete. 1828 Fam er 
ald Brofeffor der Theologie an das Wittenberger Seminar, deffen zweiter Director er 
1832 wurde. 1837 ward er ald ordentlicher Profeflor der Theologie, Lniverfttäid« 
Prediger und Director des neu zu errichtenden Prediger » Seminars nad) Heidelberg 
berufen, 1849 folgte er einem Rufe nach Bonn, 1854 kehrte er nach Heidelberg 
zurüd., Schon die Abhandlung, mit der er zuerft auftrat: „Neuer Verſuch einer 
Auslegung der paulinifchen Stelle Röm. 5, 12 — 21" (Wittenberg 1836) befundete, 
daß man von ihm eine eigenthämliche Auffaflung und Behandlung der theologijchen 
Fragen zu erwarten habe. Seine darauf folgende Schrift: „Die Anfänge der chriſt⸗ 
lichen Kirche und ihrer Verfaſſung“ (Theil I, Wittenberg 1837) iſt zwar, was ihren 
eigentlichen Inhalt betrifft, von fpätern Forſchungen überholt worden, gehört aber 
durch das Thema feiner Binleitung, in weldyer das zulünftige Aufgehen der Kirche in 
ben - Staat auseinander gefegt wird, der Gefchichte der Theologie an. 1838 erfchien 
zu Heidelberg feine kleinere Schrift „über das Bebürfnig von Prediger» Seminaren®, 
1841 ebendafelbfi De disciplinae arcani, quae dicitur in ecclesia Christiana, origine; 
1851 zu Bonn De primordiis cultus sacri Christianorum. Sein Hauptwerk, die 
„Theologiſche Ethik“ (Wittenberg 1845—1848, 3 Bde.) ift im Großen, auf dem 
ganzen Gebiet der Dogmatif und Moral, wad nur andeutend feine Einleitung zu den 
„Anfängen der chriftlichden Kirche“ mar, und Hat fi, was namentlich feine Auffaſſung 
der Kirche betrifft, noch in der Kortentwidelung der Wiffenfchaft zu bewähren, refpective 
zu läutern. 

Rothes Dieer, in der Bibel Jam-Suph, d. i. Schilfmeer, bei den Roͤmern 
Sinus Arabicus oder Mare rubrum, auch Mare erythraeum genannt (obgleich der 
Vegtere Name fich eigentlih auf das R. M. und den Perſtſchen Meerbufen zugleich er⸗ 
ſtreckte), heißt bei Den Arabern im Allgemeinen Bahr, d. i. Meer, oder Bahr el Arab 
(Arabifches Meer) und wird je nach den Geftaden, die e8 bejpült, wieder ald Bahr 
el Hedſchas, Bahr el Iemen, Bahr el Mekka, Bahr el Diidda u. ſ. w. unterfchieden. 
Schon die Griechen und Mömer unterfchlevden einzelne Meerbufen, wie den heroopoli⸗ 
tanifchen oder chandrifchen (im Weſten; das Bahr Affuez, El Ahmar, oder EI Kolfum 
der Araber, das eigentlihe Schilfmeer der Ifraeliten, welches fle bei ihrer Rückkehr 
aus Aegypten nach dem gelobten Lande überfchritien, und welches in der That zum 
Zeit der Ebbe fehr feichte Stellen enthält) und Den elanitifchen Meerbufen (im Often; 
das Bahr Slafaba der Araber, welches oſtwärts vom Sinai liegt). * Die durch Ehren- 
berg entdedten zahlreichen blutrotben Algen, welche Beranlaffung waren, daß ſchon 
in alter Zeit diefed Meer mare algosum genannt ward, erklären zugleich die Benennun- 
gen Rothes Meer, mare rubrym und erythraeum (£pvdpatos und Zpußpds im Griechi⸗ 
fhen bedeutet purpurroth). Das R. M., von den Phöniciern zuerft befahren und 
mit Golonieen an feinen Geftaden verfehen, erlangte durch den in der heiligen Schrift 
beichriebenen Durchzug der Ifraeliten unter Moſes eine welthiftorifche Bedeutung (vgl. 
Näheres in den Artikeln Juden und Moſes). Den Griechen war es nah allen 
Richtungen hin wohl bekannt, wie die Schriften von Agatharchides Ilepl t7s Epudpäs 
daldoons und die Emroun Twv repl ns Epußpac daldsons (vgl. die Edition des 
Photios von Mob. Brett, Oxf. 1597 und ben I. Band von Hudſon's Geographi 
graeci minores, wie auch K. Müller’ Geographi graeci minores, Paris 1855) ber 
weifen. Im heutigen gengrapbifchen Sinn iſt das R. M. der nordmeftliche Theil des 
Indifchen Oceans, beginnend im ©. mit dem Todesthor oder der Straße Bab⸗el⸗ 
Mandeb (f. d. Art. Vab⸗el⸗Mandeb) und 17. Breitengrade, vom 13. bis 30. Gr. 


424 Nothes Mieer. 


N, Br., von S. O. nah N. W. zwifchen Aften (Arabien) und Afrika (Habeſch, 
»Mubien und Aegypten) ſich fortziehend bis zur Sinaitifchen Halbinfel, melde von den 
langen, ſchmalen, oben fchon genannten Golfen, dem von Sue; und Akaba, einges 
faßt if. Bei einer Länge von 260 g. Meilen ift es durchſchnittlich nur 30 breit, 
reich an Infeln, Klippen und VBorgebirgen, und dem Zugange der Winde (befonders - 
der fogenannten conträren Munſun's) Monate lang im Jahre preißgegeben, mas bie 
Schifffahrt fehr erfchwert. Dazu kommt der Mebelftand, daß die Küften wüſt und 
durchgehende waflerarın (das R. M. empfängt Feinen einzigen ſchiffbaren Fluß) und 
daß Die meiften dafjelbe ummohnenden Völker, befonderd in Habefch und Arabien, 
durchaus uncultivirt und räuberijch find, daher denn Frevel, mie die in Dſchidda ver- 
übten (vgl. den Art. Dſchidda) ſich Teicht erneuern können. Dagegen fommt dem 
Handel auf dem R. M. der Reichthum der Küftlen an Gummi, Myrrhen und Weih- 
rauch, des Meeresbodend ſelbſt an Perlen und Schilpfröten und der Nachbarländer 
an Kaffee, Baummolle, Reis u. f. w. aufs Trefflichfle zu Statten und mad bei 
Meitem noch wichtiger ift, daſſelbe bildet für den indiſchen Tranfirhandel den natür- 
lihen Canal. Daher ift es feit langer Zeit der Zankapfel der Engländer und Fran⸗ 
zofen, die ſich um die Herrfchaft auf demfelben mit wechfelndem Glüde ftreiten (vgl. 
die Artikel Aden, Bab⸗el⸗Mandeb, Dſchidda ꝛc.). Diefe Frage, die einen wefentlicyen 
Theil der orientalifchen Frage bildet, iſt noch nicht zum Austrag gekommen. Einftweilen 
haben, in richtiger Würdigung der commercielfen wie politifhen Bedeutung des R. M. 
beide Nationen an verfchiedenen Theilen deffelben, eine zur Hüterin der anderen fich feſt⸗ 
geſetzt; die Engländer, welche jchon ſeit 1839 die an der S.⸗W.«Küſte Arabiens nahe 
dem Babel» Manvdeb belegene Halbinfel Aden, das Gibraltar des Oſtens, ſich 
zugeeignet (mad außer den Handelsvortheilen, welche es den Engländern brachte, 
auch der orientalifchen Korichung gute Früchte trug, indem man dafelbft wichtige him⸗ 
jaritifche Infchriften vorfand), Haben am 14. Febr. 1857 ſich auh auf Berim (bei 
den Arabern Meyun), einer im Babeel-Mandeb Tiegenden, den Eingang in das Ara⸗ 
bifche Meer beberrichenden Zelfeninfel feftgefeht, 1858 auch Muſcha erobert und 
ebenfo die Infel Camaran (15° 20 N. Br. belegen) befefligt, während die Fran⸗ 
zofen in der Bucht von Ed (14! N. Br. an der afrikaniſchen Küfte) und feit Novbr. 
1859 au auf der Infel Deffi (am Eingange der Bai von Apulis, im S.-D. von 
Mafjaua), fich feftgefegt Haben. Wenn erft das längft bin und ber bejprochene Canal⸗ 
project durch Die Landenge von Suez (vgl. den Art. Sue) zu Stande gebracht fein 
wird, wird der Handel vom Mittelmeer nach Indien neue Chancen gewinnen. Die 
bereitö audgeführten Schienenlegungen von Alexandria nady Kairo und von dort nad) 
Suez fördern in Verbindung mit der Errichtung einer regelmäßigen Dampfichifffahrt 
auf dem R. M., welche die Stationen Sue, Kofler, Dſchambo, Dſchidda, Sauakim, 
Maffaua, Hodeida und Moffa berührt, und dem Mittelmeer» Indifchen Telegrapben- 
fabel den Handel zwifchen Europa und dem Orient bereit zufehbende. Die Canali⸗ 
firungsprofecte haben für die Wiflenfchaft bis fjegt fchon den Segen gehabt, daß durch 
wiederholte und gründliche Bermeffungen die Niveauverhältniffe groifchen den betreffen« 
den Meeren Elar berausgeftellt worden find. Beide Meere haben hiernach fait das 
gleiche Niveau: die Ebbe bei Tineh am Mittelmeer ift nur um 3 Gentimeter höher, 
al8 die bei Suez am R. M., wogegen die Zluth bei Suez die bei Tineh durchſchnitt⸗ 
lich um 80 Gentimeter überfleigt. Zur Zeit der Aequinoctialflürme übderfleigt die 
Tineh⸗Fluth die von Suez um 2,35 Meter, während die Aequinoctialebbe von Suez 
fih um O,,, Meter unter dem Ebbeniveau des Mittelmeeres Hält. Die beiden geognofti= 
fhen Gegenfüge — Korallenbildung und plutonifches Geſtein — maden ſich längs 
dem Küftenfaum des R. M. faft gleichmäßig geltend, auch herrſcht der Stellabfall faſt 
durchweg vor. Im Mebrigen ift die Gliederung der Küſte durch Vorgebirge und 
Bufen verhälmißmäßig fehr gering; die hauptiählichfien Vorgebirge find: Nas Mo- 
hammed oder Pharan (das Promontorium Posidium der Alten), Lemlan, Barid, 
Hatibah und Menheli (von N. nah S. auf arabifcher Seite) und Nas Abu Samr, 
Benaffl, Elba, Raual und Sefan (von N. nah S. auf afrilanifcher Seite); Mas 
Menheli und Nas Sejan bilden die natürlichen Alpenbollmerfe des Todesthores. 
Außer den Bufen von Sue; und Akaba find bie von Rauai und Adulis die größeren; 


> er — — næ — 





Nothſchild. Familie und Banquiergeſchaͤft.) 425 


im Volksmunde trägt jede Bucht ihren mehrfachen Namen, je nach der Anwohnerſchaft 
der verfchledenen Nationen. Die wichtigiten Häfen find: Sue, Safadjeh, Koffeir, 
Om⸗El⸗Ketef (der alte Golf von Berenice), Mirfa Derur, Sauafim, Akik, Maffaua, 
Deſſt und Ed auf afrikanifcher Seite und auf arabifcher Dſchidda, Kamaran, Hodeida, 
Mokka und Perim. Bon den Infeln find außer den ſchon genannten noch zu merken: 
Djubal und Sheduan (am Eingange zum Golf von Sue), die Dahlak⸗Inſeln (die 
Hauptbepots für den Perlenhandel), die Harnifh-Infeln, Die Farfan-®ruppe und die 
Injel Tiran (am Gingange des Golfs von Akaba). Alle dieſe gedachten Ellande 
und Häfen, von den Engländern und Brangofen vermeflen und fondirt, liegen im po⸗ 
litiſchen Bereich ihrer Blicke und Gelüfte und Barren der gewünſchten Beranlaffung 
zur Einmifchung in die Händel der Bewohner, reſp. zu deren Acauifition. 

Rothrußland ſ. Rußland. 

Nothſchild. Das größte und reichſte aller Banquiergeſchaͤfte befindet ſich in den 
Händen der Familie R., welcher fünf Hundlungshäufer, nämlich dad Stammhaus in 
Sranffurt a. M. und die Zmweig-Etabliffements in London, Paris, Wien und Neapel 
angehören, die unter einander in der engften Verbindung flehen und alle irgend be= 
deutenden Geſchaͤfte für gemeinfchaftlihe Nechnung unternehmen. Der Gründer des 
Geſchaͤfto, Mayer Anfelm R., wurde 1743 .in Branffurt geboren, fein Vater war 
ein unbemittelter jüdifcher Handeldmann, und beide Eltern farben, che er noch das 
12. Jahr erreicht hatte. Zum Rabbiner beſtimmt, wurde er auf die Schule in Fürth 
geſchickt, konnte aber dem Triebe zum Handel und Handelögewinn nicht miberfteben, - 
trat erſt In Frankfurt, dann in Hannover ald Eommis in ein Befchäft ein, und: fehrte 
nach Berläuf einiger Jahre nach Frankfurt zurücd, um jelbfiftändig Gefchäfte zu machen. 
Diefe beftanden hauptſächlich in Geldwechſel, und es iſt befannt, dag M. noch als 
vielfacher Millionär fi oft und gern an die Zeit erinnerte, in welcher er, mit feinem 
Beutel in der Hand, von einem der großen Gomtoire zum andern gegangen war, um 
mit Fleinen „Geſchaͤftchen“ ein\paar Gulden zu verdienen. Dies glüdte ihm in Folge 
feiner flrengen Rechtlichfeit, Pünktlichkeit und Didcretion fo gut, daß er ſich allmählich 
zu einigem Wohlftande heraufarbeitete, auch zum Bermittler größerer Gefchäfte zwiſchen 
Srankfurt, Darmſtadt und Mainz gebraucht ward, ein eigened Haus In der Judengafle 
erwerben Fonnte und in dem lepten Decennium des vorigen Jahrhundert? zu den Ge⸗ 
fhäftsleuten dritten Ranges in Frankfurt gezählt wurde. In dieſer Seit war er dem 
Zandgrafen Wilhelm IX. (jpäter ald Kurfürft Wilhelm 1.) von Heflen durch den han⸗ 
noverfchen Generallteutenant Baron v. Eftorff empfohlen und von Erfteren zum „Hof⸗ 
juden" oder Agenten ernannt worden. Die Geldgeichäfte dieſes Fürſten, welcher für 
englifches Gold die berüchtigten Truppenfendungen nach Amerifa machte, waren fehr 
bedeutend; er hatte von feinem Vater und Vorgänger in dieſem Gefchäfte, dem Land⸗ 
grafen Friedrich I., 56 Millionen ererbt und dies Vermögen in gleicher Welfe noch 
vermehrt. Diefe Fonds Sagen größtentheild in der Banf von England, und M. hatte 
die Erhebung der Zinfen zu beforgen, wozu er fih Anfangs der Bermittelung eines 
Londoner Haufes bediente, ſeit 1798 aber feinen dritten Sohn Nathan daſelbſt 
etablirte und es vom Fürften erlangte, daß ihm die Vollmatyt nicht nur zur Erhebung 
fälliger Zinfen, fondern au zur Benugung von Fonds ertheilt wurde. In 
diefer Erweiterung der apitalfräfte, verbunden mit der ftrengften Zuverläffigkeit in 
Detreff der Erfüllung feiner Verpflichtungen und einem außerordentlihen Scharfblid 
hinficytlich der Art der Benugung des Gapitals, Tiegt die Löfung des Raͤthſels, wie 
es möglich geworben, dag M. fhon nadı 10 bis 15 Jahren die Herrichaft Aber den 
großen europäifchen Geldverkehr allein in Händen haben konnte. Weber die Art der 
erften Operationen iſt nichts Zuverläfftges und überhaupt nur wenig bekannt. Die 
Lieferung des für die in Spanien fiehende englifche Armee bendthigten Geldes "von 
England nach Spanien wurde von RM. übernommen; ein gefahrvolles Unternehmen, 
welches einen jährlichen Gewinn von vier Millionen während acht Jahren abgemworfen 
haben foll. Im Jahre 1804 konnte MR. fchon eine Anleihe zum Betrage von mehreren 
Millionen mit Dänemark abichliegen. Als 1806 der Kurfürft Wilhelm von SHeflen 
vor den feln Land in Beſitz nehmenden Branzofen In größter Eile flüchten mußte, und 
die Mitführung der anf zwei Millionen wohl zu niedrig angegebenen baaren Gelder 


426 Nothſchild. (Bamilie und Banquiergefcgäft.) 


unmöglih war, übernahm M. U. R. deren Bergung und Berwaltung, unb wußte 
den Schag fo glüdlih den nachſpürenden Franzoſen zu entziehen und fo geſchickt in 
Geſchäften zu benugen, daß 1812 bei der Nüdkehr des Kurfürften nicht nur das ganze 
"Capital, fondern noch ein bedeutender mit demfelben erworbener Gewinn diefem zur 
Dispofition geftellt werden konnte. Mayer Anfelm R. erlebte dieſes nicht, er flarb 
kurz vorher im September 1812, aber feine Söhne erfüllten gewifienbaft Die ihnen 
vom DBater auf dem Sterbebette ertheilte Vorſchrift. Der Kurfürft ließ indeß das 
Capital noch längere Zeit in ihrem Geſchaͤft und verzichtete auf Zinfenerflattung für 
die verflofienen Sabre, auch ward derfelbe der warme Bürfprecher für das Haus R. 
bei anderen Fürſten, von denen nach dem Kriege die meiflen zu außerordentlichen 
Finanz⸗Operationen fohreiten mußten. Der Wiener Congreß bildet daher eine Epoche 
in der Entwickelung der Rothſchildſchen Geldmacht. Wir können den Gang derfelben 
bier nicht im Einzelnen verfolgen und führen ald Beifpiel nur die Beträge einiger 
mit Defterreih, zum Theil in Verbindung mit anderen Banquiers abgefchloffenen Au⸗ 
leihen an, naͤmlich 1820 20,800,000; 1821 371, Millionen; 1823 25 Millionen ; 
1829 25 Millionen; 1834 30 Rillionen; 1842 40 WRillionen u. f. w. In ähnlicher 
Weiſe geftalteten die Befchäfte ſich nad allen Richtungen bin und in der glanzvollſten 
Periove, 1830 — 1848, war dad Haus M. Im Beflge des unbegrenzten Vertrauens 
aller europäifchen Gabinette, von denen die meiften bemfelben durch Anleihen ver« 
pflidytet waren. Seit 1848 bat, mit der veränderten politifhen Weltlage,, die Ge 
fyaftsrichtung jlch etwas verändert. Die Staaten haben an dem Beifpiele des Eaifer- 
lichen Frankreichs gelernt, daß man zum Zwede großer Staatdanleihen nicht nothe 
wendig den großen Banquiers in die Hände fallen muß, fondern auch direct vom 
Volke Credit beanſpruchen kann; und dazu fommt noch, daß für R. Dur das Haus 
Pereire und den Credit mobilier Rivalen entflanden find, welche zwar nicht von glei- 
chem Reichthum, doch mächtig genug find, R. Concurrenz zu machen. Die Folge davon 
ift, Daß die R's. mehr als früher Gapitalien in induftriellen Unternehmungen anlegten 
und 3. B. Eigentümer mehrerer großer Eifenbahnen in Frankreich, Defterreich und Italien 
find. Ihren Nebenbublern ift e8 gelungen, fle von ber Uebernahme der rufftichen Eifen- 
bahnen völlig auszufchliegen. Als während der Revolution von 1848 man in Bari 
dazu ſchritt, eine Vermögens⸗Statiſtik aufzuftellen, Die aber nicht zum Abfchluffe ge⸗ 
fommen if, find in dem Sournal: „lorganisation du travail* folgende Zahlen ver⸗ 
Öffentlicht worden. Abgelehen von dem Könige Louis Philippe und deflen Kamille 
und von Rothſchild, befaßen die 14 reichften Leute in Paris zufammen 362 Rillionen, 
Rothſchild allein aber wurde zu 600 Millionen gefchägt; Louis Philippe und deſſen 
Familie zu 960 Millionen Franken. Man flieht Hieraus, mie colofjal die Macht ift, 
weldhe durch den Namen R. repräfentist wird, und wie groß der Einfluß derfelben 
fein mußte. Um fih die Frage zu beantworten, von welcher Art diefer Einfluß if, 
mögen einige £urze Bemerkungen, die freilich den Gegenſtand nicht erfchöpfen koͤnnen, 
gefattet fein. Wie fhon erwähnt, beſtehen fünf Etabliffements des Haufe R.: in 
London, Paris, Frankfurt, Wien und Neapel, alle eng mit einander verbunden und 
für gemeinfhaftlide Rechnung arbeitend. Dies ift ein unverbrüchliches Fami⸗ 
liengefeß, weldyes der Vater den Nachkommen ald Bedingung feines Segens auferlegt 
bat und das auf’ Strengfle gehalten wird. Die natürliche Folge davon ifl, daß die⸗ 
fe8 Haus Eein beftimmtes Nationalintereffe vertritt; es ift Eosmopolitifch oder 
doc mindeſtens europäifch. Keind feiner Etablifjements , keins der Familienmit⸗ 
glieder ſteht in einer tiefinnerlih verwandten Beziehung zu dem Lande, in welchem es 
feinen Wohnftg bat. Wenn diefed Berbältniß Hei einem Manne flattfindet, der in ber 
Zurüdgezogenheit Iebt, fo mag man daflelbe immerhin für ungefährlich halten; aber 
wenn im Begentheil mit folder principiellen Berleugnung jeder innigen Staatöver« 
wandtfchaft ein übermäcdhtiger Einfluß auf den Gang ber großen Bolitit verbunden 
it, fo fann man feinen Augenblid Anftend nehmen, die großen damit verfnüpften 
Gefahren für die ſtaatlichen Berbältniffe anzuerkennen. Die R's. gehören Feiner 
politifhen Partei an; file find bloß ganz im Allgemeinen Freunde des König- 
thums, der polizeilichen Ordnung und des Friedens, die übrigend wohl wiflen, daß 
auch bei vorübergehenden Störungen Gefchäfte zu machen find und in Kriegdzeiten 





. Rothwalſch. (Entſtehung des neueren Gaunerthums.) 427 


zumal für .den, der die Börfe beherrſcht, große-Bewinne in Ausficht fliehen. Der 
Einfluß eines ungeheuren Gapitald, deſſen Bewegung und Richtung durch die im 
Vorſtehenden ſkizzirte Geſinnung beftimmt wird, kann fein anderer fein, als ein des 
moralifirender, durch den alles Hohe und Edle, ſowohl aus der Politik, als aus ber 
Adminiftration folder Staaten, die diefem Einfluffe Eingang geftatten, verdrängt wird, 
wofür der fchnödefe Mammonsdienft in die Stelle tritt. Weitere Ausführung biefes 
Thema's müflen wir und hier verfagen, verweifen aber auf Die Artifel Anleihe, Actie, 
Vörſe u. f. w., in denen ein umfangreiches Material bearbeitet vorliegt. Am freieften 
von allen größeren Staaten Europa’8 bat fi Preußen von derartigen Einwirkungen 
gehalten. Der Einfluß des Haufes R. auf die große Politik hatte feinen Gipfelpunkt 
während der Megierungdzeit Louis Philippe’ in Pranfreih erreicht. Seit 1848 ift 
derfelbe im Abnehmen, und Lonié Napoleon bat das unpeftreitbare Verdienſt, die 
Emancipation feiner Politik von der Börfe zum Bollzug gebracht zu haben, indem 
er die colofjalen Bedürfniffe feiner fchwindelhaften Finanzwirthſchaft direct von ber 
Bevölkerung leiht und fich der DVermittelung der großen Banquiers nur in foweit bes 
dient, als es ihm zur Erleichterung der Operation eben convenirt. — Zuverläffig 
autbentifche Nachrichten über die Familie und das Gefchäft R. giebt es eigentlich nicht. 
Was darüber veröffentlicht ift, hat größtenthejls den Gharafter von Elogen, Belegen» 
beitöfchriften oder, wenn es gegen R. gerichtet ifl, von Parteifchriften. Das Familien⸗ 
Archiv iſt völlig unzugängli, und es giebt außer einer einzigen in Paris erfchienenen 
Brofcyüre zur Abwehr eines in der That böswilligen Angriffs Feine direct von M. 
ansgegangenen derartigen Drudichriften. Die folgenden Daten koͤnnen als ziemlich 
zuverläffig angenommen werden. Mayer Anfelm R. geb. 1743, gefl. im September 
1812 zu Sranffurt a. M. Defien Söhne waren: 1) Anfelm, geb. 12. Juni 1773, 
gef. 3. December 1855 , Chef des Frankfurter Stammbaufes; 2) Salomon, geb. 
9. September 1774, geft. 27. Juli 1855, Chef des Etabliffements in Wien; 3) Nas 
tban Maper, geb. 16. September 1777, geft. 28. Juli 1836, Chef des Haufes in 
London und nad ded Vater Tode der einflußreichfte unter den Chefd; 4) Karl 
Mayer, geb. 24. April 1788, geft. 10. Maͤrz 1855, Chef des Etabliffements .in 
Neapel; 5) Jacob, geb. 15. Mai 1792, Chef des Etablifjements in Paris und 
noch lebend. Die Gefchäfte find gegenwärtig in den Händen der dritten Generation. 
Daß alle Mitglieder der Familie geadelt und Barone find, die älteren auch durch zahl- 
reiche hohe Ordens verleihungen audgezeichnet wurden, ift befannt. Die ausführlichften 
Nachrichten über fle findet man in: „Das Haus Motbfchild. Seine Befchichte und 
feine Beichäfte." 2 Theile. Prag und Reipzig, 1857. | 
Rothwälſch, Rottwälfch oder auh Rottweilſch, wird die den Gaunern 
und Dieben eigenthümliche Sprache genannt und flammt diefe Bezeichnung wohl vor 
Rott, welches Wort in jenem Idiom felbft Dieb und Bettler Heißt, und von wälfch, 
das im Jargon der Diebe die Bedeutung von aus ländiſch, fremd bat. Diele 
auch wollen die Bezeichnung R. von der alten fchmäbifchen freien Reichſsſtadt Roſtt⸗ 
weil (vergl. dief. Art.) ableiten, weil hier am Sige des Faiferlichen Hofgerichts zur 
Zeit des dreißigfährigen Krieges bei dem peinlichen Berfabien gegen eine Gauner⸗ 
bande aus dem Odenwalde zuerfi das Dafein einer Diebesfprache zu Tage gekommen 
wäre. Das Jargon felbft if erweislich am früheften in Deutfcyland geiprocdhen und 
ausgebildet worden und genaue Nachforſchungen führen bis in die Tage Kaifer Karl 
des Fünften in die legte Hälfte des fechzehnten Jahrhunderts zurüd, als nah den 
gewaltigen Kämpfen dieſes Monarchen gegen Branfreih und Italien die entlaffenen 
Schaaren der Landsknechte und Speerreiter erfi in Schaaren und Banden, dann ein« 
zeln vagabondirend umberzogen und die deutfchen Gauen, namentlich die Grenzlande 
am Rhein, Elſaß und Lotharingen, mit Gewaltthaten, Raub und Mord erfüllten. 
Daſſelbe gefchab zu derfelben Zeit und unter gleichen DVerhältniffen, wenn auch nicht 
in gleich hohem Maße, in Frankreich. Gemeinſame Neigung zum arbeitölofen Leben 
und gemeinfames Elend verbanden bald die alten Feinde und es dauerte wohl an die 
dreißig Jahre, ehe man diefer Landplage Herr werben konnte. Sie nannten ſich 
Gordenbrüder, d. 5. abgelohnte Landsknechte und gebrauchten zur Bezeichnung 
ſolcher Begriffe, welche fi auf ihre Diebes⸗ und Raubunternehmungen bezogen, ein. 


428 Nothwälih. (Entſtehung der Gaunerſprache. . 


Gemiſch von Medensarten aus der breiten fchmäbiichen und oberbeutfchen Mundart, 
vielleicht au aus dem Idiom der Zigeuner, in denen fle oft genug Genofien, mehr 
aber noch Hehler des von ihnen geraubten Guted fanden. Nach und nach mifchten 
fh in die Sprache jener Banden auch hebräifhe Worte in mehr oder minder ent« 
ſtellter Form und eine Menge felbfigefchaffener oder durch Verdrehung ganz entflellter 
Wörter, wie file in den elſaßiſchen Landestheilen noch heute gebräuchlich find. Das 
fam daher, weil Hier in den deutfchen Provinzen am linken Rheinufer in den ſchwe⸗ 
ren Zeiten ded dreißigfährigen Krieges in den vielen Fleinen Fürſtenthümern und geifl- 
lichen Territorien der Stapelplag all des Gutes war, welches von den Soldaten und 
mehr noch von den ihnen folgenden Marodeurd den unglüdlicden Bewohnern der vom 
Kriege heimgeſuchten Gegenden geraubt worden mar. Elfäßifche Juden maren nament⸗ 
lich die Käufer und ſte brachten daſſelbe dann auf die Märkte der Niederlande und 
hatten felbft In England fhon Verbindungen zum Abfage diefer Waare, meift unter 
ihren Blaubensgenoffen. Sie bedienten fi dann auch zu ihrer fehriftlichen Eorrefpon- 
denz fened Bemifches von Worten und Medensarten, daß fie von Jahr zu Jahr durch 
neue bereicherten und niht R., fondern Kofumlofhen, d. h. die Sprade ber 
klugen Leute nannten. Es ift durch die genaueften eriminalgerichtlichen Unterfuchun« 
gen nachgewiejen worden und wir werden unten auf einige derfelben vermeifen, daß 
diefe Verbinpungen jüdiſcher Gauner bis in die neneften Zeiten fortbeftanden und 
im Elfaß ihren Mittelpunkt gehabt Haben. Erſt im Jahre 1837 gelang es dem 
energifchen Verfahren der franzoͤſiſchen Polizei, viefelben zu fprengen und ihr Weſen 
und Treiben offen zu legen. Diefen Unterfudyungen, die fi wegen der Verbindun⸗ 
gen der Gauner auch bis London, Berlin, Hamburg, ja felbft bis Peteröburg erſtreck⸗ 
ten, verdanken wir auch die meiften und beften Auffchlüffe über die Eigenthümlichkeiten 
jener großen Gauners®enojjenfchaften und über ihre Sprache. Was nun lehtere im 
Speciellen anbetrifft, fo Hat fich ergeben, daß es eine Gauner⸗, fenifche oder Kochu⸗ 
mer = Sprache als gemeinfame Sprache für die Diebeswelt aller Länder zwar nicht 
giebt, aber daß es richtig und grammatifch und etgmologifch nachgewiefen worden ift, 
daß die jüdifhe Sprache, wie ſolche von den oberdeutſchen und elfaßer Juden im 
Anfange des 17. Jahrhunderts gefprochen worden, allerdings das Yundament des 
gefammmten Diebesjargons if. Schon Dr. Martin Luther erwähnt in dem Vorworte zu 
feinem „Experlus in truphis oder Bericht von der falfchen Bettlerbüberei”, daß „ſolche 
Rottweil'ſche Sprache von den Juden kommen, denn viel bebräifcher Worte drinnen 
find, wie denn wohl merken werden, die fi auf bebräifch verftehen“, woraus bervor- 
zugeben fcheint, daß fchon jene Gordenbrüder In des Heiligen römifchen Reiches Kam: 
merfnechten Hehler und Mitftebler gefunden haben. Indeß bat fich dieſes Fundament 
bed R. mit den Iocalen Eigenheiten und provinziellen Idiomen des Volksdialekts jeßt 
fo verbunden, daß ed zumeilen fchwer wird, die hebräifche Wurzel eines Gaunerwor- 
te8 wieder herauszufinden. Auch Hat jeßt jedes Land, wie Branfreich, England, Ame⸗ 
rifa und Deutfchland feinen befonderen Diebsjargon, der fi nachweisbar mit dem 
Sprahidiome audbildet und vermehrt. In Deutfchland wollen Etymologen und Cri⸗ 
minalgerichtöperfonen, welche bei den in Folge des Löwenthal'ſchen Proceffed einge- 
leiteten Unterfuchungen amtlich betbeiligt waren, fogar drei verſchiedene Idiome der 
Baunerfprache unterfcheiden: die fündeutiche, Die norbdeutfche oder berlinifche und die 
jüdifche Gaunerfpradye ; Indeflen erfennen fie an, daß auch hier die leßtere, dad füdi- 
fche R. dad Mutteriviom der beiden erſten Idiome fei, und daß es jene beiden nur 
mit einer großen Mafle Hebräiicher Worte bereichert habe, wie fle von den polnifchen 
Juden im gewöhnlichen Leben corrumpirt gefprochen werben. Daß auch in Deutſch⸗ 
land überall Juden an der Spige diefer weitverzweigten Gaunergenoflenfchaften flan« 
den, nicht bloß als Hehler, fondern ald Führer der Banden felbft und namentlich als 
Gelegenheitsmacher und Spione („Baldomer”"), das haben der oben genannte Loͤwen⸗ 
thal'ſche Proceß und die damit In Verbindung flehenden Unterfuchungen in Berlin 
vom Jahre 1837 bis 1840, die Proceffe in Mühldaufen im Eljaß 1837 bis 1839, 
in Sranffurt a. M., Hanau, Offenbach, Rottweil, Stuttgart, Kaffel, Hamburg und im 
ſächſiſchen Voigtlande zu derjelben und in früheren Jahren dieſes Säculums auf's 
Evidenteſte erwiefen. In Rückſicht auf Berlin und die Marten führten diefe criminellen 


Nöticher (Heinrich Theodor). Rotte. 429 


Recherchen auf die Eriftenz ſolcher Banden bis in die legten Negierungsjahre Friedrich 
des Großen zurück; namentlich aber wurde die preußifche Hauptſtadt und deren Um⸗ 
gegend durch diefelben zur Zeit der franzöfifchen Invaflon im hoͤchſten Grabe unſicher 
gemacht. In allerneuefler Zeit iſt von der Exiftenz ſolcher Diebesverbände in Deutſch⸗ 
land nichtd mehr vernommen worden und der Zufland der Öffentlichen Sicherheit wird 
durch die vorzüglichen Polizei-Anftalten von Jahr zu Jahr ein befferer, fo daß damit 
wohl auch die Diebes- und Baunerfprache bei uns bald zu den todten Sprachen ger 
hören wird. — Die Literatur über das R. und im Allgemeinen über den Dieböjargen 
if ſehr gering und dabei fehr lückenhaft, meiftentheild rhapſodiſche Artikel, in den 
eriminaliftifchden und polizeilichen Zeitfchriften vertheilt, zum Theil auch Monographieen 
über einzelne große Verbrecher und Gaunerbanden. Die reichften Aufichlüffe giebt 
immer noch die deutſche Literatur; man vergl.: „Lerifon der in Deutichland üblichen 
Spighubenfpracdhe*, 2 Bde., Gießen 1822 und 1843; Bilhoff, „die Sauner im 
Voigtlande und der Umgegend, ihre Organifation, Taktik, ihre Aufenthaltsorte und 
ihre Sprache”, Neuſtadt 1822; Rochlitz, „das Wefen und Treiben der Gauner, Diebe. 
und Betrüger Deutichlands, nebft einem Wörterbuche der Diebesfprache”, Leipzig 
1846; Thiele, „die jüdiſchen Gauner in Deutfchland, ihre Eigenthümlichkeit und Ihre 
Sprache", 2 Bde, Berlin 1840 und 184%; Tarnowsky, „die füdiſchen Gauner In 
Deutfhland”, Letpzig 1850, und Zimmermann, „die Diebe in Berlin oder Darftel- 
lung ihres Entflchens, ihrer Organifation, ihrer Verbindungen, ihrer Taktik, ihrer 
Gemohnheiten und ihrer Sprade*, Berlin 1847, 2 Bde. Außerdem vrrgl. man 
Reybaud, „Le nouveau Gartouche et ses Camerads“, Straßburg 1837, und Vidocq, 
„Mémoires etc.“, Paris 1849, 6 Bde. Ueber englifhe Zuflände vergl. die verſchie⸗ 
denen Abhandlungen in dieſem Genre in der „Salurday Review“ pro 1853, 57 und 
61, und Sherman’ „Nights and days in London“, London 1859, 2 Bde. 

Rötſcher (Heinrich Theodor), dramaturgifcher Schriftfteller, geb. den 20. Sept. 
1804 zu Mittenmwalde, fludirte in Berlin und Leipzig Philologie, habilitirte ſich nach 
feinen Studienfahren an der Univerfltät zu Berlin, wurde fpäter Profefjor am Gym⸗ 
naflum zu Bromberg, von wo er nach Berlin berufen wurde, um Ghef eines Inſti⸗ 
tuts für die Ausbildung dramatifcher Künftler zu werden, dad die Megierung zu grün 
den beabfichtigte, welcher Blan indefien 1848 fcheiterte. R. lebt gegenwärtig noch 
in Berlin, wo er immer noch für die „Spenerfche Zeitung” Eritifhe Berichte über 
das Berliner Schaufptel fchreibt. Bon feinen Schriften find zu erwähnen „Ariſto⸗ 
phanes und fein Zeitalter” (Berlin 1827), „Abhandlungen zur Philoſophie der 
Kunft“ (4 Thle., Berlin 1837—42), „Kunſt der dramatifchen Darftellung” (3 Thle., 
Berlin 1841—46, 2. Aufl., Leipzig 1864), meift auf Goethe fußend, für den An-« 
fänger zu philofophifch gehalten, dagegen für den Eingeweihten ein hoͤchſt ſchaͤtzbares 
Werf; „Das Schaufpielmelen * (Berlin 1843), „Seydelmann’s Leben und Wirken“ 
(Berlin 1845), „Shafefpeare in feinen höchſten Charaktergebilden enthüllt" (Dres- 
den 1864). 

Motte nennt man die in dem die taftifche Einheit bildenden Truppenkorper 
hinter eimander flehenden Soldaten, während die neben einander fiehenden ein 
Glied bilden. Die Anzahl der eine Motte bildenden Leute ift alfo der der Glieder 
gleich, fo daß, wenn 3. B. ein Bataillon in drei Gliedern, oder techniich ausgedrückt, 
odrei Glieder Hoch oder tief ſteht“, Die Motte aus drei Mann beſteht. In früheren 
Zeiten, als der Gebrauch des Feuergewehrs noch gar nicht oder nur vereinzelt, da⸗ 
gegen die Pike die allgemeine Waffe der Infanterie war, es aljo bauptfählicdy darauf 
anfam, einen fehlen, gegen die Angriffe ber Meiterei wiberftandsfähigen Körper zu 
bilden, wurden die Gompagnieen refp. Fahnlein 12—20 Glieder tief geftellt, To daß 
alfo die Motte eben fo viele Leute zählte. Der ältefle Mann der Motte, der die Aus⸗ 
führung der gegebenen Befehle controlirte, hieß der Rottmeifter — der heutige 
Unteroffizier. Jetzt, wo es darauf anfonmt, möglichit viel Gewehre ind Feuergefecht 
zu bringen, hat die tiefe Aufſtellung natürlich aufgehört, da höchſtens 3 hinter ein⸗ 
ander ſtehende Glieder feuern Fönnen, und in allen europäifchen Armeen iſt Die zwei⸗ 
oder die dreiglieberige Stellung — alfo vie Motte zu 2 bis 3 Mann — für bie 
Infanterie rveglementarifch geworben. Die frühere tiefe Aufftellung zum Widerftande 


430° u Motte (Karl von).. 


gegen Bavallerie wird jett bei der großen taktiſchen Beweglichkeit dur die Co⸗ 
lonnen- oder Duarre- Formation im Bedürfnißfalle hergeſtellt. Die Heiterei, 
bie früher ebenfalls S—10 Glieder und zur Zeit des Tjährigen Krieged bei den ver⸗ 
fiedenen Armeen noch 3—4 Glieder tief fland, iſt jetzt allgemein auf 2 Glieder 
gefeßt worden. Der Verſuch des Generals Willifen im Jahre 1850, die holfteinifche 
Neiterei auf ein Glied zu fegen, lief, wie sorberzufehen war, fehr unglüdlich ab. 
Pier bis ſechs Motten bilden eine Section (bei der Cavallerie einen Abmarfch), vier 
Sectionen reſp. Abmärſche einen Zug, deren die Compagnie in ben verfchiebenen 
Armeen 2 bis 4, die Escadron 4 hat. Die Angabe der Stärke von Eompagnieen 
oder Schwadronen erfolgt meift nach der Mottenzahl der Züge. Steht im zweiten 
Bliede ein Mann weniger als im erften, fo nennt man died eine blinde Motte; 
haben alle Glieder eine gleiche Zahl, fo nennt man dies rottenvoll ober rotten- 
gleich. Durch die Eintheilung der Motten in Nr. 1 und Mr. 2 entfliehen die ge» 
raden und ungeraden Motten. Dei der Infanterie gefchieht dieſe Eintheilung 
behufs des Rottenfeuers, d. 5. des abmechfelnden Feuers der geraden und ungeraden 
Motten. Bei der Gavallerie ift die Eintheilung nöthig, da auf das Commando „zum 
Auf» oder Abfigen fertig“ die geraden refp. ungeraden Motten vorrüden und fo für 
den Moment 4 Glieder gebildet werden, um den zum Aufs und Abſteigen nöthigen 
Raum zu gewinnen. 

Rottedck (Karl von), großherzoglich badenſcher Hofrath und Profeſſor des Ver⸗ 
nunftrechts und der Staatswiſſenſchaften an der Univerſttät in Freiburg, ein Wann, 
der jih als politifcher Meformer und Führer der Liberalen in den politifchen Bes 
wegungen der dreißiger Jahre einen Nanıen gemacht hat, wurde geboren zu Breiburg 
im Breidgau am 18. Juli 1775. Im Haufe feines gelehrten und humanen Vaters, 
welcher an der Univerſttaͤt die Stellung eines Directord der mebdicinifchen Yacultät 
und eines Protomedicus der vorberöfterreichifehen Lande bekleidete, erhielt R. eine 
vorzügliche Erziehung, befuchte fpäter das Gymnaſtum feiner Vaterftabt, flubirte dann 
Philoſophie und Rechtswiſſenſchaften auf der Liniverfität daſelbſt und erhielt nad 
Abfolvirung derfelben 1796 ein flüptifches Amt in Freiburg. Bereit aber 1798 gab 
er daſſelbe wieder auf, da er in Folge feiner erfolgten Promotion zum Doctor 
utriusque juris und ihr folgender Nehabilitation ald Docent der Rechte an der ges 
nannten Hochſchule außerordentlicher Profeſſor geworden war. Im folgenden Jahre 
erhielt R. ala ordentliher Profeſſor an derfelben Untverfltät den Lehrſtuhl für Be» 
fhichte, den er bis 1818 behielt, in dieſem Jahre aber mit dem für Vernunftrecht 
und Staatöwiffenjchaften vertaufchte. Mehr ala vorher durch feinen wiſſenſchaftlichen 
Ruf wurde R.'s Name fjegt in Deutfchland bekannt zuerfi durch feine liberalen und 
reformatorifchen Beſtrebungen auf Firchlichem Gebiete und im engſten DBereine mit 
Weffenberg (f. d. Art.), in Folge deren der Erzbifchof von Freiburg ganz unter 
den Oberkirchenrath geftellt und die Eatholifche Randeduntverfität diefer Stadt zwar 
nicht aufgehoben, aber doch dem Einfluffe des Katholicismus entzogen und durch ihre 
Beſetzung mit freigeifteriichen Katholiken und Proteftanten einer feichten Philoſophie, 
dem Unglauben und Indifferentismus fyftematifch überliefert wurde. Dann machte fid 
MR. In der neuen Kammer ded Großherzogthums durch fein Fräftiges, wenn aud 
Anfangs noch principienlofes Auftreten befannt; er flimmte für das Anerfenntniß des 
von den Liberalen als unverfaffungsmäßig verworfenen Adels⸗Edicts, wagte aber doch“ 
nicht, die Kirche gegen diefelbe Willkür der Staatögewalt zu fchügen, und erklärte fi 
feloR für eine Teilnahme der Laien am Kirchenregiment, gerade wie Die der Stände an 
der Gefengebung; auch er wollte, wie Duttlinger, lieber ein Schiöma, als ein Con⸗ 
cordat und gab mit jenem feine Stimme ab für die Aufhebung des Edlibatd und für 
andere Neformen in der Kirche, die gegen alle Begriffe derielben Tiefen. Es war 
damals in Baden das Syſtem der Liberalen, fi für alle Demüthigungen, die fle in 
politifhen Kragen von der Staatdregierung Ddavontrugen, durch ruhmloſe Siege in 
kirchlichen Fragen und in Untermühlung des Volksglaubens zu erholen und dabei 
mit dem Minifterium zu metteifern, das ed fonft Teidenfchaftlich bekämpfte. Als nad 
dem Tode des Großherzogs Ludwig, März 1830, fein Stiefbruder Leopold, Graf von 
Hochberg, die Megierung antrat, und unter dem liberalen Minifterium Winter das 


Rotteck (Karl von). 431 


Großherzogthum ein Heerd politifcher durch die Julirevolution' genährter Agitationen 
wurde, ahmte R. als politifcher Mebner am confequenteften bie Phrafeologieen des 
franzöflichen Liberalismus und deren conftitutionelle doetrinaͤre Theorieen und mit 
gleihem &lüde nad, wurde in der Kammer von 1831 zum PBräfldenten derfelben ge⸗ 
wählt und empfing in deren Namen alle die oft überſchwengſtlichſten und in biefer 
Ueberſchwaͤnglichkeit ungereimten und laͤcherlichen Hulbigungen, die jener und ihm 
ſelbſt aus vielen Teilen Deutfchlands zugingen. (Dal. den Art. Baden.) In dieſe 
Zeit fällt auch der Beginn feiner Freundſchaft mit Welder (f. d. Artikel) und ver 
Anfang ihrer gemeinfamen Thätigfeit in der von ihnen gegründeten Zeitfchrift „Der 
Freiſinnige“, der jedoch wegen der demagogiſchen und unchriftlichen Tendenzen, welche 
er im den pompbafteften Phrafen auspefaunte, balvigft unterbrüdt wurde. Weniger 
wegen dieſer Furzen publiciftifehen Wirkſamkeit, von der ſich der große gebildete und 
anfländige Theil des Publicums überdies mit verachtender Gleichgültigkeit abmandte, 
als wegen feiner gleichartigen agitatorifchen Thätigkeit als Lehrer der fiudirenden 
Jugend wurde R. zufammen mit Welder im October 1832 feiner Profefſur enthoben 
und ihm auch die Redaction der „Allgemeinen politifchen Annalen“, die er feit 1830 
führte, entzogen. Mit Entfchiedenbeit trat die Megierung, die ſich endlich ihrer libe⸗ 
salen Halbheit entriffen hatte, jetzt auch der Nivellirungsfucht der badifchen Doctrinärd 
aus R.'s Schule und ihrer ſich felbft überfchägenden Schulweisheit entgegen und viels 
face Betittonen und Demonftrationen wegen R.'s Wiederanftellung blieben nicht allein 
unberüdfiytigt, fondern murden auch geftraft. Die Meorganifation der Univerfitdt 
Freiburg warb durchgeführt und die dur R.'s und feiner Schüler und Nachtreter 
politiſche Sturmpredigten entweihten Säle der Wiflenfchaft ihrem eigentlichen Zwecke 
wiedergegeben; R.'s Wahl zum Bürgermeifter in Freiburg wurde von der Megierung 
nicht beftätigt, 1837, und bei feiner wiederholten Erwählung zu diefer Stellung blieb 
die Megierung dennoch bei ihrem Veto fiehen. MR. lebte feit feiner Enthebung vom 
Lehramt und fpäter von der redactionellen Thätigkeit des „Publiciſten“ ausfchließlich 
literarifchen Arbeiten und ftarb in Freiburg am 26. November 1840. Der lepte 
Schlag für feinen Ehrgeiz, daß die Wiedereinfegung feines Breundes und Geſinnungs⸗ 
genoffen Welder im Auguft 1840 in feine Lehrthätigkeit nicht auch feine eigene Reac⸗ 
tivirung im Gefolge hatte, befchleunigte R.'s Ende. Seine politifchen Freunde errich⸗ 
teten ihm einige Jahre nach feinem Tode in feiner Vaterſtadt ein Monument, welches die 
großherzogliche Megierung jedoch 1852 wegen der politifchen Manifeftattonen, zu denen 
ed benugt wurde, wieber entfernen ließ. R. gehörte als politifcher Charakter zu jenen 
liberalen Doectrinärs, welche entfernt von allen Ertremen und ohne Beruf zu einem 
politiſchen Martyrium die Herrichaft der Phrafe gründen halfen und ſich durch mehr 
oder weniger verflandene, ihnen oft felbft nicht ganz Mare ſophiſtiſche Schönrednereien 
eine große Popularität erwarben. So deutlich wie fein politiſches Leben. zeigen biefen 
Charakter auch feine Literarifchen Arbeiten, vor Allem feine „Allgemeine Weltgefchichte”, 
9 Bände, Freiburg 1813—27, fortgefegt von Steger, Hermes und R.'s Sohne Herr» 
mann dv. Rotteck, der „Hiftorifche Bilderſaal für alle Stände”, 3 Bde., Stuttgart 
1825 und feine „Sammlung fleiner Schriften", Stuttgart 1829-—31, 3 Bde.; von 
größerem wifienjchaftlichen Werthe find feine juriftifchen Werke und Fachſchriften, wie 
daB „Lehrbuch des Dernunftrechts und der Staatöwiffenfchaften”, Stuttgart 1829, 
2 Bde., daB „Lehrbuch der bkonomiſchen Politif*, Siuttgart 1835. Gemeinfchaftlich 
mit feinem Eollegen und politifhen Breunde Welder (f. d. Art.) unternahm M. 
1834. die Herausgabe des „Staatölertcons”, das bei feinem Tode bis zum 10. Bande 
gelangt war, Altona 1834—44. — 2) R., Karl v., der aͤlteſte Sohn des Vorigen, 
geboren 1813 in Freiburg, fludirte die Rechte in Heidelberg und Goͤttingen, wurde 
1837 Advokat⸗Anwalt in feiner Vaterſtadt und nad feines Vaters Tode der Führer 
der dortigen liberalen Partei. Später fchloß er ſich jedoch den entfchiedenen Republika⸗ 
nern an und prebigte mit der „ererbten Emphaſe des Vaters" in ber Verfammlung 
zu Heidelberg und in der zu Offenburg den „republilanifchen Rheinbund“. Als Abe 
geordneten des demokratiſchen Landesausfchuffes überbrachte NR. dem Minifterium am 
13. Mai 1849 die Forderungen der Revolutionäre und wurde nach ber Berufung 
Brentano's zum Stadtdirector in Freiburg ernannt. "In der am 6. März 1850 zu 


432 Motte (Herrmann von). Notten. 


fammengetretienen Kammer als Abgeordneter feiner Vaterflabt gehörte R. zur radicalen 
Oppoſttion und hielt es beim Einrüden der preußifhen Truppen für räthlich zu 
lieben. Kurze Zeit beim Hecker'ſchen Corps, bei dem er jedody nicht die Waffen ger 
tragen haben will, trat er ſchon vor der Zerfprengung deffelben auf ſchweizeriſchen 
Boden über, lebte feitdem in Zürich, Genf, einige Zeit in Paris und England und 
wurde bei der Thronbefleigung des jegigen Großherzogs Friedrich, im September 
1856, in die gegebene Amneflie eingeſchloſſen, ohne jedoch in feine Profeſſur reſti⸗ 
tuirt zu werden. — 3) R., Herrmann v., ein füngerer Bruder des Vorigen, geboren 
den 25. Auguft 1815, flarb im Suli 1845 zu Freiburg als außerordentlicher Profeſſor 
in der philofophiichen Facultät. Außer der Fortfegung der „Allgemeinen Weltge⸗ 
Ichichte" feines Vaters (2 Bde., Pforzheim 1841—43) und einer „Bildergalerie* zu 
berfelben Hat er fih auch durch „PVoetifche Verſuche“ und einige flantsrechtliche Eſſays 
befannt gemacht. 

Motten. Mit diefem Namen bezeichnet man diejenigen fectirerifchen Verbindungen, 
weldhe am Anfange und in der Mitte des 18. Jahrhunderts, eraltirt durch ſchwaͤrme⸗ 
riſch⸗ chriftliche Ipeen, den Boden der Landesfirchen verließen und mit fanatiſchem 
Weſen fih als chriſtliche Gemeinden zu conflitwiren fuchten. Ihr Auftreten und 
ihre Unternehmungen bezeichnen äußerlich die krankhaften Zudungen, von welden die 
Kirche jened Jahrhunderts im Innern ergriffen war. Dem orthodoren, formellen 
Chriſtenthum gegenüber, welches nach der Meformation fick entwidelt und mit ein« 
feitiger Betonung des confelflonellen Lehrbegriffes in ſich erflarrt und in den Herzen 
Falt geworden war, erhoben fih um den Anfang des 18. Jahrhunderts in der luthes 
riſchen wie reformirten Kirche chriftliche Richtungen mit vorwiegend fubjectiver pietiflifcher 
Natur. Man drang auf Verinnerlihung des Glaubens und z0g daß chriftliche Brincip 
in dad Gebiet des Gemüthes und der Innern Anſchauung. Dem modernen Scholafli- 
cismus gegenüber brach von Neuem, wie einft ins Mittelalter, die Myſtik fih Bahn. 
In den fräftigen Trieben diefer aber lagen abermald Gefahren, welche nicht überall, 
wie im Spener'ſchen Pietiömus, überwunden oder vermieden werden konnten. Männer 
wie Gichtel (ſ. d.) und Swedenborg (f. d.) traten mit Lehren hervor, in denen 
das Princip der ſpiritualiſtiſchen Willfür auf die Spige getrieben wurde und bie 
jogenannte Sprache Gottes im Innern des Menfchen mehr Berückſichtigung fand al 
die Offenbarung Gottes In der Bibel. In dem Geiſte jener Männer und ihnen ver- 
wandter umbüllte fich der Kern der kirchlichen Dogmen mit dem Helldunfel myſtiſcher 
Anjhauungen und gnoſtiſcher Speculationen, und daraus gingen Lehren hervor, von 
einem krankhaften Subjectivismud mehr oder minder gefärbt. So lange diefe Rich⸗ 
tung die gebildeteren Kreife beberrichte, erzeugte fie eine flille Religions: Schwürmetei, 
fobald fie aber in Die unteren Volksſchichten drang, erwedte fie exaltirte fubjective 
Zendenzen. Dan begann für verfchärfte Kirchenzucht und Meinheit des Wortes Gottes 
zu eifern, die Landesfirchen als vermeltlicht oder als nicht durchweg chriftliche Inſti⸗ 
tntionen zu verwerfen und fi von ihnen zu fepariren. Erweckungen und efflatifche 
Zuftände zeigten fi im Gefolge dieſer Tendenzen und führten zur Bildung von Ges 
noſſenſchaften. So gefchah es namentlich in der Schweiz und in den angrenzenden 
deutfchen Gebieten, daß ſich die Sectirer zu Rotten vereinigten und bier und da alle 
die Greuel wiederholten, welche einft in der Meformationdzeit von ſchwärmeriſchen 
Secten verhibt morden waren. Bekannt find die fanatifchen Excefie der Brüggler Motte 
im Canton Bern gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts, die aus einer fhwärmerifchen 
Genoſſenſchaft hervorgebend, mit unzüchtigen apofalyptifchen Ideen fich erfüllte, ihr 
Haupt Hieronymus Kohler 1753 auf den Scheiterhaufen führte und dann boffte, daß 
der Setödtete am dritten Tage wieder erfcheinen werde. Bergl. Trechfel: Beiträge 
zur Geſchichte der fchweizeriichereformirten Kirche, Heft 1, Bern 1841. Gegen folde 
Sectirer ſah fi daher die Obrigkeit genöthigt, energiich einzufchreiten, vermochte 
jedod nicht den Ausgangspunft folder irreligiöfen Bewegungen zu verfiopfen. Wenn 
such in ihrem Außern Verhalten gemäßigt, erhielten fi die R. doch ale innerlich 
verbundene Genoſſenſchaften das 18. Jahrhundert hindurch. Vielleicht ſteht ſogar die 
Wildenſpucher Kreuzigungsgeſchichte der Margaretha Peter im Canton Züri im Jahre 
1823 nicht außer Zufammenhang mit ihnen. Vergl. den Aufſatz: Die Grenelfcenen 


Notterbam. 433 


zu Wlldenfpuch in Jarcke's vermifchten Schriften (Münden 1839). Wenigſtens aus 
dem Boden des Gichtelianismus ift fie hervorgegangen. Bon den Obrigkeiten ver- 
folgt oder beobachtet ober endlich verzweifelnd an der Hoffnung, die factiſchen Zu⸗ 
fände der Landesfirchen in ihrem Sinne umzugeflalten, verließen viele Genoffen der 
R. Ihr europälfches Vaterland, um in Amerika einen günfligeren Boden für ore 
religibſen Hoffnungen und Beſtrebungen zu ſuchen. 

Rotten⸗Vorough ſ. Reformbill. 

Notterdam, nach Amſterdam die bedeutendſte Handelsſtadt des jetzigen König- 
reichs der Niederlande und früher ganz Hollands, liegt an der Mündung der Rotte 
in Die Merve (Maas), 21 Meilen von der Mervemündung In die See. Die Motte 
bildet vermöge ihrer Breite und Tiefe einen guten Flußhafen, der ſich weit in bie 
Stadt hinein erfiredt und felbft großen Schiffen dad Anlegen geflattet. Mittels Ca⸗ 
nüle, über weldye Brüden führen, flebt der Flußhafen mit Nebenbäfen in Verbin- 
dung, von denen der Wein-, Schiffbauer-, Leuwen⸗ und Nieuwe⸗Hafen und dad Ka» 
tingpliet zu nennen find. Die Einwohnerzahl von R. beträgt 106,000 (1796: 
53,000 @., 1815: 58,552 €., 1859: 105,984 €), darunter 61,900 Meformirte, 
30,500 Katholien, 4600 Lutheraner, für deren religidfe Bedürfniffe 15 Kirchen bes 
ſtehen, und 3800 Juden mit einer Synagoge. R. ift ferner der Sig mehrerer 
Friedens gerichte, einer Admiralitaͤt, eines Handelsgerichts und anderer Behorden. Die 
Stadt if in Form eines Dreiecks gebaut, deſſen Baſis ſich an die Mans lehnt (ſud⸗ 
öftlih); fle Hat Schöne hohe Häufer und mit Trottoird belegte, nach bolländifcher Art 
fehr veinlich gehaltene Straßen, auf denen .ein ungemein lebhafter Verkehr herrſcht. 
Der fi längs der oben befchriebenen Baſis an der Maas hinziehende Quai iſt mit 
fhönen Bäumen alleeartig beſetzt und heißt deshalb der „Boompies“. Er ifl der 
vornehmfte Theil der Stadt, etwa analog dem weltbekannten Jungfernfliege der Stabt 
Hamburg, mit fchöner Ausficht auf das Waſſer, auf welchem die Oftindienfahrer und 
die zahlreichen nad) London, Hull, Antwerpen, Havre, Mainz 30. fahrenden Dampffchiffe 


Viegen; die boden, alterthümlichen Häufer find jedoch ded lockeren Moorbodens wegen 


in ſchiefe Lage geratben und hängen theilweife nach vorn über. Nach der Landfeite 
zu Hat R. 6 Thore und iſt durch die „hohe Straße* in die äußere (Builden-) und 
innere (Binnen) Stadt gefchieden. Die innere Stadt hat viele enge Gaſſen und 
iR mit Bürgerhäufern befeßt; auf der Außeren Stadt befinden fich Die prachtvollen 
Kaufmeannshäufer, denen ſich die Seefchiffe unmittelbar nahen und bequem ein- und 
ausladen können. Die Bodenbefchaffenbeit if für Bauten fehr ungänflig; der 
Grund befteht größtentgeild aus Moor und Bflanzenüiberreften und bat viel Aehnlich⸗ 
feit mit dem von Amſterdam (f. d. Art.). Unter den Gebäuden if das Admi⸗ 
ralitäts gebaͤude und die große und fchöne Boͤrſe, das Rathhaus mit Forinthifcher Säulen- 
Halle, der Palaſt der oftindifchen Compagnie, das Theater, fo wie die anfehnliche Schiffs⸗ 
werft, in welcher bie größten Schiffe gebaut werden, zu nennen ; von ben Kirchen befonderd 
die große St. Laurenzkirche (erbaut 1472, mit einem 288 Fuß hohen Ihurm), in 
welcher die Gräber der niederländifchen, größtentheild in den Kriegen gegen England 
und Frankreich zwifchen 1660 und 1674 gebliebenen Seehelden: de Witte, Kortenar, 
San van Brakel, Johann de Lief, van Nes, Cornelis Matelief u. A. befindlich find. 
An gelehrten Anftalten befist MR. einen Zweig der holländifchen Akademie der 
Künfte und Wiflenfchaften, eine gelehrte Gefellfhaft unter dem Namen: „Berfchieden- 
heit und Uebereinfiimmung” und eine „Befellfchaft zur Beförderung wifjenfchaftlicher 


SForſchungen x.” Außerdem befteben in MR. vier Buchhandlungen, welche in directer 


Berbindung mit dem deutſchen Buchhandel fiehen. In dem „Muſeum Bohman's“ 
befaß R. eine treffliche Gemäldeſammlung, die leider im Februar 1864 durch Feuer zer» 
flört wurde. R. ift der Geburtsort des Defiderius Erasmud, dem bier auf dem 
großen Markte anfangs ein hölzernes, in der Folge ein fleinernes und enblid das 
noch 10h vorhandene sehn Fuß hohe metallene Standbild errichtet ward.!) MR. if hinſicht⸗ 


ne 00 Ueber dieſes Standbild if eine charakteriſtiſche Sage im Umlauf. Sie ſteht bereits in 
einer Chronik aus dem 17. Jahrhundert und wurde in gleicher Art Julius Mobenberg bei feiner 
Anwesenheit in R. vor einigen Jahren erzählt: Erasmus trägt ein, etwa in ber Mitte aufges 
ſchlagenes Buch in feiner linken Hand und ſcheint mit der rechten darin fortlaufend zu blättern; 


Wagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Zex. XVIL 28 


434. Rottweil. 


U feines Handels ein Hauptmarkt für Krapp und Benever, für franzöflfche Weine, 
amerikaniſche Tabacke, Getreide, Flachs, Heringe ıc. und abgefehen von dem bedeuten- 
den überfeetfchen Handel vermöge feiner Lage an den vereinigten Gewäffern des Led, 
der Waal, Maas und der (bolländifchen) Yſſel, das Hauptemporium für den nieder« 
und mittelegeinifchen Handel. Die überfeeifhe Waaren-Ein- und Ausfuhr 
ftellte fih im Jahre 1858: Einfuhr 2254 Schiffe: 532,401 Tonnen; Ausfuhr 1837 
Schiffe: 461,340 Tonnen; mit Ballafl: eingehend 118 Schiffe, audgehend 502 
Schiffe. Außerdem if in Betracht zu ziehen das Ergebniß der Flußſchiffahrt, 
welches, da fpeciell für R. keine offlciellen Nachweifungen über den Umfang des Han⸗ 
dels exiſtiren, nur gleich dem Obigen aus der Handelsſtatiſtik des geſammten König- 
reichs abgeleitet werben Tann. Im ganzen Königreich betrug daflelbe: Eingehend 
18,014 Schiffe mit 1,334,073 Tonnen, ausgehend 11,655 Schiffe mit 919,500 Ton⸗ 
nen, wovon etwa 3%, auf M. fallen mögen. Der Werth der Befammt-Ein- und 
‚Ausfuhr betrug nach John WMacgregor (Holland and the Dutch Colonies. Lund. 1848) 
im Jahre 1840: der Einfuhr 97,777,500 Fl., der Ausfuhr 74,767,500 SL, zufam« 
men alfo 172,545,000 Fl. — R. bat eine lebhafte In duſt rie: umfangreiche Cattun⸗ 
drudereien, Zuderflebereien, Branntweinbrennereien uud Defiillationen, Bleiweißfabri- 
ten, Mühlenwerke sc, und endlich in dem gegenüber am andern lifer ded Stromes 
‚ belegenen Fyenoord eine bedeutende Fabrik der niederländiſchen Dampfſchifffahrts⸗ 
gefellichaft, Die auch Mafchinentheile für Spinnereien und Webereien Tiefert.: In ge» 
fellfhaftliher Beziehung if der Ton in R. freier und ungezwungener, als 
man ihn fonft in hollaͤndiſchen Städten trifft; der Motterbamer Tiebt Künfte und Wiffen- 
fhaften, er iſt gefellig und weniger fteif ald feine Landdleute, auch fpricht er das 
Holländifhe am reinften und correcteften. — Geſchichte: Obwohl behauptet wird, 
daß MR. feinen Namen von einem Frankenkdnig Rotter (808), der daſelbſt begraben 
fei, Herleite, fo ift dies doch nicht feftgeftellt und viel mwahrfcheinlicher, Daß er durch 
ben kleinen, ſchon oben gedachten Fluß Rotte entflanden if. Erbaut im 11. und 12. 
Jahrhundert, erhielt e8 Stadtrechte 1272 unter der Regierung Floris V. Die Stadt 
ward im vierzehnten Jahrhundert dreimal und im fechözehnten Jahrhundert ebenfalls 
dreimal vergrößert. Im Jahre 1480 warb fle durch den Häuptling der Infel Hoekſche 
Waard, Franz von Brederode, eingenommen und eine Zeitlang gegen den Erzherzog 
Maximilian vertheidigt. Der große Brand von 1563 verzehrte den größten Theil der 
Stadt; kaum wiebererbaut, fiel fie 1572 durch Verrath ben Spaniern in die Hände, 
nahm aber nad wieder erlangter Breihelt die Reformation an. 1580 erhielt fie durch 
Wilhelm I. als die erfle unter den Städten „Eleiner Achtung” Sig und Stimme in 
den Staaten von Holland. Bon 1795 bis 1813 litt fle vermöge ihrer Lage weni⸗ 
ger, als andere Städte der vereinigten Provinzen, obwohl nad der Bereinigung 
Hollands mit Frankreih und der Hemmung aller Schifffahrt auf der Maas durch die 
franzöftfhen Zolleinrichtungen ihr Wohlſtand fehr gefhwächt ward. Erſt nach ver 
Umwälzung vom November 1813, welche fie indbefondere durch Unterflügung des nahen 
Dordrecht förderte, erhielten Handel und Gewerbe neues Leben. Seitdem bat der 
Wohlſtand R.'s fleigend zugenommen. | 

Hottweil, eine der Alteften Städte des nationalen Herzogthums Alemannien 
oder Schwaben, jeht zum Schwarzwaldfreife des Königreihs Würtemberg gehörig, 
mit 6000 Einwohnern, am Nedar gelegen und mit anfehnlihem Handel nach der 
Schweiz, mar zu den Zeiten ded deutſchen Reichs der Sig eines Faiferlichen Hof⸗ 
gerichts, deſſen Iurisbiction fly vom Bodenſee den Rhein hinauf bis Mannheim und 
tief hinein in's mittlere Deutfchland erfizedte, und von dem alle Mechtöfacdhen mit 
Ausnahme der geiftlihen und derjenigen der Heichefürften verhandelt werden Fonnten. 
Die höheren Appellationdinftanzen waren das Meichdfammergericht und der Reichs⸗ 
hofrath. Diefes Hofgericht if gegehndet von Kaiſer Konrad II. 1147, welcher Fürſt 
fi Hier eine Pfalz erbaut hatte; derſelbe ertheilte den Bürgern von R. das Privi« 
legium, drei der fleben Aſſeſſoren des Gerichts aus der Zahl ihrer Patrizier und 
fobald er bie Iepte Seite, fo lautet die Sage, umgeſchlagen haben wird, geht die Welt unter. 


Der erinnert fidy hierbei nicht ähnlicher Sagen aus dem Norden Deutfchlande, 3. B. über ben 
Stein auf Uſedom mit ber eingefchlofienen Kröte. j 


Honen. 435 


Munieipalbeamten zu ernennen; das Erbhofrichteramt war ein einträgliches Erbmann⸗ 
lehn der Grafen v. Sulz, welches nad dem Erlöfchen dieſes Geſchlechts 1687 an 
die gefürfteten Grafen v. Schmarzenberg fiel, bei denen es bis zur Auflöfung bes 
Reichs, 1803, blieb. Seit Kaifer Marimilian I. murde am Rottweiler Hofgericht 
nach der repidirten und namentlich in den Formalien und Friften abgekürzten Proceß⸗ 
ordnung verhandelt. Schon im 11. Jahrhundert flarf befefligt, hielt R. während 
der Kämpfe zwifchen Ghibellinen und Welfen, in denen es treu zu feinen alten 
Stammbherren von Schwaben fland, mehrere Belagerungen tapfer aus, trat gegen 
Ende de8 13. Jahrhunderts in den Bund der ſchwäbiſchen Städte und mit biefen, 
zufammen 1385 in ein Schuge und Trugbändnig mit den Eidgenofien der Schweizer 
Vierſtaͤdte Bern, Züri, Solothurn und Zug. 1519 wurde R. auf der Tagſatzung 
von Zürich ausdrüdlic ale zugemwandter Ort in die Eidgenoffenfchaft aufgenommen, 
ergab fich jedoch im breißigjährigen Kriege, ohne die Hülfe der Bündner in Anſpruch 
zu nehmen, an den Grafen Tilly, 1629, und 1632 nahm es den Schuß des Her⸗ 
3098 Friedrich Julius v. Würtemberg an, welcher dagegen ber Stadt ihre Privilegien 
als freie Reichsſtadt und der Jurisbietion beſtaͤtigte. — Wegen der Ableitung bes 
Wortes „Rottweilſch“ von R. vergleiche man den Artikel Rothwälſch. 

Houen, Hauptſtadt des Departements der Nieder» Seine und eine der größten 
Provinztalfiädte Frankreichs, an beiden Ufern der Seine gelegen, mit 112,000 Ein- 
wohnern in 10,600 Käufern, beſteht aus der alten, früber durch flarke Feſtungswerke 
wohlgefchügten Stadt und ſechs Vorflädten, von denen bie von St. Severe am lin- 
fen Ufer durch eine Bogenbrüde mit der Hauptmaſſe der Stadt am rechten Ufer ver- 
bunden if. R. iſt der Sig eines kaiſerlichen Obergerichts, eines Commerzcollegiumß, 
eines Erzbiſchofs und der Departementalbehdrben; die altberähmte Univerfität ber 
Stadt ſtammt noch aus den Zeiten, mo MR. die Mefldenz der mächtigen Herzoge der 
Normandie war, und mit dem Untergange der Selbfiftändigkeit dieſes Herzogthums 
fant auch ihr Glanz dahin; erft feit 1817 firebt ſte nach erfolgter Meorganifation 
befferen Tagen entgegen; mit ihr verbunden iſt jeßt ein theologifche® Seminar, eine 
mebicinifche und botanifche Schule und ein Collegium für Navigationdfchüler. Bon 
wiffenfchaftlichen Anftalten findet fih in MR. jetzt noch ein Lyreum für Chemie und 
Technologie, eine Akademie der Wiffenfchaften und Künfte, eine Handelsſchule, eine 
gelehrte Schule; von öffentlichen Inftituten eine Öffentliche reichhaltige Bibliothek, eine 
Gemäldegallerie und ein botanifcher und zoologiſcher Garten. R. Hat zahlreiche Ma- 
nufucturen und Fabriken, befonders in den fogenannten „Rouenneries“, d. h. Baum- 
mwollenfubrifaten in Piques und Nanquins, in chemifchen Waaren, in Obſtweinen, 
Papier, Taperen und Barbewaaren. Der Handel der Stadt fleigt von Jahr zu Jahr 
an Bedeutung, wozu feine Lage, 5 Lieued von der Mündung der Seine in die Nord» 
Tee, und der Umftand, daß auch die größeren Schiffe zur Fluthzeit Hi8 zu den Quais der 
Stadt gelangen Fünnen, das Meifte beitragen. Durch die Nordbahn iſt die Stadt mit 
Paris verbunden und dur Dampfichiffe mit Dover, Hamburg und Gothenburg. 
Die thurmreiche Stadt, in einer fhönen und fruchtbaren Niederung des Seinegebietes 
gelegen, imponirt von außen gewaltig, doch ſtimmt damit Die enge winkfelige Bauart 
ihrer Heinen und frummen Straßen mit ihren hoben, vielfach mit architektoniſchem 
Schmud überladenen Häufern nicht überein. Bon hervorragenden Baulichkeiten find 
zu nennen: die prädtige, im fchönften gothifchen Style audgeführte Kathedralkirche, 
aus dem legten Biertel des 13. Jahrhunderts flammend, wohl das fchönfte Bauwerk 
Frankreichs aus jener Zeit, die Benebictiner- Abtei Saint-DQuen im gothifch-norman- 
nifchen Style, das Palais de Juftice, dad altehrmärbige Rathhaus, dad überreich do⸗ 
tirte Hotel-Dien und die Tuch⸗ und Leinwandhalle. — R.'s Name kommt ſchon im 
9. Jahrhundert ald Eolonie der die Norbküften Frankreich plündernden Normannen 
vor, und Herzog Wilhelm, der Eroberer, machte e8 1059 zu feiner Reſidenz, bie es 
bis zum Untergange des Herzogthums blieb. In den englifch-franzöftichen Kriegen 
Hatte die Stadt unter wechſelndem Beflge fchwer zu leiden und mehrere Belagerungen 
auszubalten. 1463 brannte der alte Vallaft der Normannenfürften bis auf den Grund 
nieder. In den Zeiten feines Glanzes foll R. weit über bunderttaufend Einwohner 
gehabt Haben, und die Dichter jener Tage rühmen bie Pracht und den Reichthum des 

28 * 


"436 Nonget de Lisle (Joſeyh).  Ronffean (Jean Baptifte). 


Rädtiichen Lebens. Hier flarb die Jungfrau von Orleans den Helbentod, und ihre 
Bildfäule fhmüdt den nach ihr benannten „Place de la Pucelle.“ — R. hat zwar 
einen mit prächtigen Quais verfebenen Hafen, doch befindet ſich der eigentliche See⸗ 
hafen der Stadt 3 Lieued unterhalb der Stadt an der Mündung der Seine bei dem 
Flecken Quilleboeuf. 

Nouget de Piöle (Iofeph), geb. 1760 zu Lonsele- Saulnier. Zu dem, was 
über diefen Bann im Artikel Marjeillaife gefagt ift, fügen wir nur noch hinzu, daß 
die Streitfrage, ob er wirklich Lirheber des Tertes und der Melodie dieſes Kriegs⸗ 
gefange® der Revolution und Beides 1792 entflanden iſt, in neuerer Beit ihre, wohl 
definitive, Erledigung gefunden Hat. Sein Verwandter, der Ingenieur R. d. 2., bat 
nämlich in der Barifer „Gazette muflcale" vom 16. Auguft 1863 eine Notiz mitges 
theilt, worin er ſich darauf beruft, daß der Verleger Heiß in Straßburg die urfpräng- 
liche gebructe Ausgabe dieſes Gefanged unter dem Titel beflgt: „Kriegdgefang für 
die Rheinarmee, dem Marfchall Luckner gewidmet.” Das Datum fehlt zwar, dies wird 
aber durch eine Stelle in der Zlugfchrift „La trompette du Pere Duchesne (23. Juli 
1792)" erhärtet. Darin findet man nämlich denfelben Befang unter demfelben Titel 
und in einer angehängten Note Heißt es: „Da ich unmöglich die Muſik mittheilen Tann, 
fo fege ich wenigſtens die Worte hierher.“ 

KRonffeau (Jean Baptifte),, «feanzöftfcher Lyriker, zu Paris den 6. April 1670 
geboren, war vom Jahre 1688 an Buge bei dem franzöflfchen Geſandten in Däne- 
marf, Bonrepeaus, und nachher ging er mit dem Marfchall Taillard als Secretair 
nah England, mo er mit dem geiftreichen Saint» Evuremont in genauer Berbindung 
Rand. Nach feiner Rückkehr aus England arbeitete er unter NRouille im Yinanzfache 
und 309 bald Durch einige vorzügliche lyriſche Gedichte die allgemeine Aufmerkfamkeit 
auf ſich, mehr aber noch durch feine ſatyriſche Laune, die fein ganzes Lebensglüd 
zerflörte. Wegen einiger unzüchtiger Eouplets im Jahre 1712 dur einen Beſchluß 
de8 Parlaments auf immer des Landes verwiefen, begab er ſich zunaͤchſt nah Solo⸗ 
turn, wo er von dem franzöflfchen Geſandten bei der Eidgenofjenichaft, dem Grafen 
von Luc, freundlich aufgenommen purde. In Wien, wohin er ſeinen Ooͤnner, der 
dort zum Geſandten ernannt worden war, begleitete, machte er die Bekanntſchaft mit 
dem berühmten Helden Eugen. Er blieb indeſſen nicht lange in der Gunſt dieſes 
Fürſten. Einige anzügliche Gedichte, die er auf die Maitreſſe deſſelben gemacht Hatte, 
nöthigten ihn, Wien zu verlaſſen. Er begab ſich nun nach Brüſſel, wo er ſeine Be⸗ 
kanntſchaft mit dem jungen Voltaire, den er ſchon zu Paris geſehen hatte, erneuerte. 
Beide Dichter lebten anfäͤnglich auf dem freundſchaftlichſten Fuße; allein dies Ver⸗ 
bältniß war von kurzer Dauer und artete bald in den bitterſten Haß aus. Don der 
Erlaubnig, die ihm der Herzog von Drleand ertheilte, wieder nad feinem 
Baterlande zurüdzufcehren, machte er feinen Gchrauch, da er fie als eine bloße Gnade 
anfehen follte. Ex, begab ſich 1721 nach England, wo er 1723 die zweite Ausgabe 
jeiner Werke (die erfte hatte er 1712 veranftaltet) in 2 Bänden erfcheinen ließ, die - 
ihm ungefähr 10,000 Thlr. einbrachte. Da die Dftindifche Gefellichaft, der er dies 
Capital anvertraut hatte, Bankerott machte, jo fah er fi in die größte Dürftigkeit 
verfeßt. Der Herzog von Aremberg bemilligte ihm eine jährliche Penflon von 1500 

Livres; Doch auch diefes Fürftien Gunſt verjcherzte er. So aller Mittel zur ferneren 
Subfiftenz in Brüffel beraubt, folgte er 1738 dem PVorfchlage des Grafen von Luc 
und begab fich heimlich nach Paris, in der Hoffnung, perjönlich feine Begnadigung 
auswirken zu können. Allein er fah ſich nad einem dreimonatlichen Aufenthalt ger 
noͤthigt, nach Brüffel zurüdzufehren, wo er den 17. März 1741 flarb. R.'s Oben 
find früher außerordentlih hoch geihägt worden, weshalb er auch den Beinamen des 
feanzöftfchen Horaz erhielt. Seine Gantaten find das Befle, was die franzöfliche 
Literatur in dieſer Art aufzumeifen bat. Auch unter feinen Sinngedichten find viele 
gelungene. Am gelungenften find feine „Paraphrases des Psaumes“, deren ſich viele 
proteflantifche Gemeinden bei ihrem Gottesdienſte bedienen. Weniger glücklich iſt er 
in feinen Epifteln, Allegorieen und Xuflfpielen, deren er einige in Verſen und andere 
in Proſa abgefaßt bat. In neuerer Zeit ift MR. von DBarante richtiger beurtheilt 
worden, obſchon auch Laharpe und Voltaire auf feine Fehler Hingewiefen haben: 


Honflean (3. 3. Ueberficht feines Lebens und feiner Schriften.) 437 


„Rousseau a apporte dans presque toutes ses odes une grande verve et une sorte 
d’harmonie pompeuse, que seul il a su donner à notre langue. Mais il est quel- 
que fois guinde, et son enthousiasıne ne part pas toujours du fond du coeur: 
defaut quil est peut-ätre impossible d’eviter completement dans la poesie Iyrique 
frangaise.* ine vollftändige Ausgabe von R.'s Werken erfchien zu Brüflel 1743 
(3 vol. 12) und von AmareDurivier zu Barid 1820 (5 vol. 8). 

Ronſſean (Ican Jacques), dieſer hypochondriſche, empfindliche und zumellen ſich 
zum Schein wahrer Empfindfamkeit erhebende Utopiſt, der neben Voltaire, dem lachen⸗ 
den Skeptiker, einem großen Theil der Beſtrebungen des 18. Jahrhunderts fein Siegel 
aufgedrüdt hat, fagt im Eingange feiner Belenntniffe: „Ich will meinen Mitge- 
fhöpfen einen Menfhen in der ganzen Wahrheit feiner BeichaffenHeit zeigen; und 
diefer Mensch foll Niemand anders fein ale ih. Ih und kein anderer. Id 
fühle mein Herz und Eenne die Menfchen. Ich gleiche keinem von allen, die mir vor⸗ 
gekommen find, und bilde mir ein, keinem auf der ganzen weiten Welt zu gleichen. 
Wenn ich nicht befler. bin, fo bin ih Doch anders." In diefem flarfen Selbfl- 
gefühl, in diefem Bewußtſein feiner Eigenthümlichkeit und Einzigkeit if der Quell 
gegeben, aud welchem feine Stärke und feine Schwäche hervorging; aus diefer Leber» 
jeugung von feiner Einzigfeit entfprang fein Begenfaß zur Gefellichaft, flieg das Luft» 
gebäude feiner Idealwelt hervor, iſt aber auch feine Unverträglichkelt, fein ſchwarzer 
Argwohn gegen alle Welt und fein Verfolgungswahnſinn, daneben auch feine Eitel- 
feit, Seelenhärte und Undankbarkeit gegen diejenigen, die ihm aufrichtige Teilnahme 
gewidmet Hatten, zu erklären. Che wir feinen Einfluß auf fein Zeitalter ſchildern, 
wird und zuvor die 

1) Ueberfiht feined Lebens und feiner Schriften befchäftigen. Er 
ift den 28. Juni 1712 zu Genf geboren; fein Bater, ein Uhrmacher, leitete feinen 
Urfprung von einem Parifer Buchhändler ab, der 1529 beim Beginn der Meligions- 
unruben nach Genf geflüchtet war. Seine erfien Knabenjahre brachte MR. damit zu, Romane 
zu verfchlingen, welche Lectüre ihm, wie er felbft gefleht, „über das Leben bizarre 
Borftellungen beibracdhte, von denen ihn Erfahrung und Meflerion niemald haben or- 
dentlih heilen können“; auf die Romane folgte Plutarch, den er Tag und Nacht Tas. 
ALS fein Vater ſich gezwungen fah, Genf zu verlaffen, ward der junge R. von feinem 
Oheim bei einem Beifllichen in der Nähe von Genf untergebradit, dann als Schrei- 
ber bei einem Anwalt, der ihn aber als untauglich entließ. Zulegt kam er zu einem 
Kupferftecher,, über deflen Rohheiten und Brutalitäten er ſich in feinen Gonfefllonen 
zwar beklagt, Doch erzählt er auch felbft, wie er durch, feinen Hang zum Nichtöthun, 
durch Lügen und Diebereien fein Verhältniß zu jenem Mann verfchlechtert hatte. End⸗ 
lich entflieht er, irrt im Freien in's Blinde umber und hält dann bei einem katholi⸗ 
ſchen Geiftlihen, eine Meile von Genf, an, der ihn nach Annecy zur Frau v. Warens 
ſchickt. Er mar fechözehn Jahre alt, als er bei diefer Frau anfam. Sie felbfl, eine 

nvertitin und Mittelöperfon zwilchen der favoyifch-piemontefifchen Geiſtlichkeit und der 
proteflantifchen franzöflfhen Schweiz, Tiebreizend, Teichtfinnig in ihrer Seelengüte und 
in einer Art von Naturunſchuld fi über den Rigoriomus der Grundfähe hinweg⸗ 
jegend, war 28 Jahre alt. Sie fchidte ihn nah Turin mit Empfehlungsbriefen, 
welche ihm das Katechumenenhofpiz Öffneten, in welchem er, nachdem ihm der Aufenthalt 
daſelbſt zuwider geworden war, ſich zum Wechſel des Belenntniffes verfiand, um nur wieder 
frei zu werden. Nachdem er darauf einige Tage In den Straßen Turins umbergeirrt war, 
ſchaͤtzte er fich glücklich, im Haufe der Gräfin Vercellis als Laquais anzukommen. In diefem 
Haufe geſchah jener Vorfall, der fein Gewiſſen, wie er In den Eonfefflonen fagt, noch nad) 
vierzig Jahren mit einer unerträglichen Luft befchwerte. Nach feiner Erzählung beftand 
derfelbe darin, daß er fih ein altes Bund anelgnete und, als im Haufe der Graͤfin 
über das Verſchwinden deffelben eine Unterfuchung angeftellt wurde, eine junge Dies 
nerin dieſes Diebſtahls anflagte. Spätere an Ort und Stelle vorgenommene Unter⸗ 
fuchungen haben e8 dagegen wahrfcheinlich gemacht, daß jenes alte Band eine fllber- 
durchwirkte Tiſchdecke war; nad) Anderen war ed ein Diamant. Das unfchuldige 
Mädchen wurde fogleich entlaflen; er ſelbſt konnte fi im Haufe nicht lange Halten. 
Er trat darauf beim Grafen von Bouvon, erftiem Stallmeifter der Königin von Sar⸗ 


438 Nonffenu (3. 3: Ueberſicht feines Lebens und feiner Schriften.) 


Dinten, in Dienſt. - Sein 2008 verbefferte ſich in dieſem Haufe; er brauchte nicht mehr 
als Laquais Hinter die Kutiche zu ſteigen; man überhäufte ihn in der Familie mit Be— 
weifen der Güte, man wollte ihn durch Ausbildung feiner Fähigkeiten und dur 
Erziehung zu einem Theilnehmer an dem Bortarbeiten und Auffteigen der Familie 
machen; der Sohn des Grafen, ein gründlich gebildeter Abbé, unterrichtete ihn ſelbſt 
im Lateiniſchen; Alles im Hauſe ſuchte ihn dahin zu bringen, daß er das Vertrauen 
der Familie erwidern und verdienen möge. Aber „ſein thörichter Ehrgeiz ſuchte das 
Glück, laut feinen Confeſſionen, nur auf dem Wege der Abenteuer und da zumal Fein 
Frauenzimmer (auf der ihm eröffneten Laufbahn) mitwirken follte, jo fchien ihm dieſer 
Weg, fein Gluͤck zu machen, langfam, beſchwerlich und unangenehm." Er benimmt 
fieh, um e8 zum Brucd kommen zu laſſen, frech und infolent, wird entlafien und 
läuft (1730) mit einem Landftreicher umher, bis ihn die Noth zwingt, bei der Warend 
feine Zuflucht zu fuchen. Dieſe nahm ihn mütterlih auf, feufzt über feine Schwächen 
und Beweife von Herzendhärtigkeit, weiht ihn in die franzöfifche Literatur ein und 
fchiet ihn, für feine Zukunft mehr ald er bedacht, in ein Priefterfeminar, aus welchem 
er als untauglich und unanftellig wieder fortgefcyidt wird. Frau v. Warens verfland 
fih dazu, ihn wieder aufzunehmen, und giebt ihn, der fih einen Beruf zur Muſik 
zutraut, beim Kapellmeifter ver Kathedrale in die Lehre. Als diefer nach Frankreich 
überfiedeln will, befchließt fie, daß ihn R. bis Lyon begleite. Hier angekommen, fällt 
der Meifter, von einem epileptifchen Anfall ergriffen, auf offener Straße nieder, und 
während die Menge ſich um den Leidenden fammelt, benutzt R. den Moment, um den 
einzigen $reund, auf den er rechnen durfte, in Stich zu laffen und zu fliehen. Er 
eilte wieder nach Annech, fand aber die Waren nicht, die indeſſen ihren Wohnort 
gewechfelt hatte, ohne Anzeichen ihrer Reiſeroute zu binterlaffen. Er begab ſich dar- 
auf nach Raufanne, nannte fih einen Muſiklehrer aus Paris, wurde von einem Ruflfe 
freunde zu feinem Concert eingeladen und um eine Brobe feiner Kunft gebeten — und 
er wagt ed, eine Bantate mit großem Orchefler zum Beften zu geben, deren fchred- 
baftes Charivari die Reute fo beluftigte, daß er die Stadt verlafien mußte. Er mählte 
nun (1731) Neufchatel zum Schauplag feiner improviſirten muſikaliſchen BVirtuofltät 
und lernte hier in einem Wirthshaus einen baͤrtigen Menſchen kennen, der ſich 
ihm als einen Archimandriten aus Jeruſalem vorſtellte und ihm den Vorſchlag 
machte, ihn .ald Dolmetfcher zu begleiten. Beide begaben fi demnach auf bie 
Reife, bald darauf wurde aber der vermeintliche Archimandeit, ein unter dem 
Borwand, für Serufalem zu collectiven, vagabondirender griechifcherr Mönch, im 
Solothurn verhaftet; R. entdedte fih dem franzöſiſchen Gefandten und erhielt 
Smpfehlungsbriefe nach Paris, wo er 1732 ankam, aber fich weder gefiel, noch ˖hal⸗ 
ten Eonnte, worauf er audgeht, die Warend zu fuchen, und fle in Chambery fand. 
Jetzt Iebte ex bei derjelben, nachdem ſie ihn bei einer Kataftermefiung ald Gehülfen, 
angebracht hatte, ohne ihn bei Diefer Befchäftigung zur Standhaftigfeit bringen zu kön⸗ 
nen, al& Liebhaber und in einem Wirbel von wechfelnden und verwirrten wiflenfchaftlicyen 
Beichäftigungen bis zum Jahre 1737. In dieſem Jahre reifte er nämlich, da fi in ihm 
indeſſen feine Manie, daß er tödtlich Trank fei, ausgebildet hatte, nach Montpellier, 
von beffen mediciniſcher Kacultät er allein noch die Erhaltung feines Lebens erwartete. 
- Unterwegs vergißt er jedoch in einem Liebesabenteuer mit einer Meifegefährtin, einer 
Frau v. Lernage, der er fich für einen flüchtigen englifchen Anhänger der Stuarts, 
Namens Dudding, ausgiebt, den Polypen, der ihm am Herzen nagen follte, wird im 
Montpellier felbft wegen deflelben Polypen von den Aerzten ausgelacht und findet 
dann auch, daß beſſer als dieje ihn Frau v. Lernage heilen könne. Auf dem Wege 
zu diefer bemächtigte fich aber feiner das Andenken an feine „Mama” und Gelichte 
zu Chambery, er eilte zu ihr bin und fand feinen Platz durdy ein anderes Factotum 
befegt. Anfangs darüber in Verzweiflung, feßte ex fih mit dem neuen Hausdiener, 
feinem Rivalen, auf einen freundichaftligen Fuß, fand aber dieſe Rolle auf die Dauer 
doch etwas peinlih und befpließt, mit der Zuflimmung der Warend, dad Weite zu 
ſuchen. Diefe verichaffte ihm durch ihre Gonnerionen eine Haußlehrerftelle beim Herrn 
v. Mably, Grand-Prevöt von Lyon, dem Bruder der berühmten Ubbe’8 Mably und 
Condillac (f. die Artikel), Kaum in dieſes Haus aingeneten, verliebte fih der 








Roufeau (3. 3. Ueberſicht feines Lebens und feiner Schriften.) 439 


Lehrer in die Mutter feiner Zöglinge und erflärte ihr durch Augenfpiel und Seufzer 
feine Zärtlichkeit. Um die Martern einer unglücklichen Liebe zu befänftigen, holte er 
fi ohne Wilfen der Herrſchaft Wein aus dem Keller, trank ihn mit Behagen und 
lad dazu Romane. Die Einfälle des Genfer Lehrers in fremdes Eigenthum wurden 
entdedt, und Herr v. Mably wollte fi damit zufrieden geben, wenn berfelbe bem 
Keller fremd bliebe, allein R. überzeugte ſich felbR, dag er zum Lehrer nicht gefchaffen 
fei, und begab fih wieder zu Frau v. Warens, um fie um Obdach und Unterhalt an« 
zugeben. Er wußte, daß fie ſchon feit längerer Zeit in ihren Verbältniffen berunter- 
gekommen war und fi ſelbſt in DVerlegenheit befand, rechnete aber darauf, daß fie 
ihm nichts abzufchlagen vermochte. Von ihr begab er fich, mit neuem Reiſegeld aus⸗ 
geftattet, im Herbſt 1741 nah Paris und malte ſich unterwegs dad Glück aus, wel- 
ches ibm durch die Veröffentlichung feiner Erfindung einer neuen Notenſchrift (mittels 
Bahlen) in diefer Hauptflabt des Gefhmads ficher fe. Nachdem jedoch dies Luft- 
ſchloß vor der Kritik des Componiſten und Theoretikers Rameau zerfloben war, mußte 
fih R. daran genügen laflen, daß er wenigſtens Gelegenheit erhielt, mit einigen Be⸗ 
sühmtheiten jener Zeit, wie z. B. Mably, Bontenelle, Diverot, Bekanntfchaft zu machen. 
Auch das Haus der Madame Dupin wurde ihm geöffnet und er fah in bemjelben 
Voltaire und Buffon. Die Dupin war fhön und geiftreih, und ihr neuer Tifch- 
genofje, der in ihrem Girfel nit den Mund zu Öffnen wagte, glaubte befier 
zu veufficen, indem er ihr einen fchwülfligen Liebesbrief zuſandte. Ste las 
denſelben, bündigte ihn dem DBerfaffer wieder ein und fügte ibm noch dem 
Sort zu, ihm ihre Haus offen zu halten. Indeſſen zermarterte .er fih, zu dem von 
ihm verfertigten Operntert, den Muses galantes, auch die Muſik zu componiren; feine 
Goͤnner jammerte feine Rage und fie placirten ihn 1743 bei dem Grafen von Montaigu, 
Geſandten in Benedig. Er felbf fagt in feinen Gonfeffionen, daß er ald Secretär 
angeftellt geweſen fei, und bezieht fich felbft auf mehrere Gelegenheiten, bei denen er 
dffentlih und vor dem Senat von Venedig mit einer, offlciellen Autorifation aufr 
getreten fei._ Gr behauptet ſelbſt, daß wahrſcheinlich feinen Nathfchlägen das Haus 
Bourbon die Erhaltung des Königreich® Neapel zu verdanken babe. Er war aber 
nicht Sefandtichaftd-Secretär, fondern Secretär des Botfchafterd und deſſen Domeflife 
und wurde von demfelben, weil er fich durch feine hohe Einbildung von der Wich- 
tigfeit feiner Perfon dazu verleiten Tieß, die Schranken feiner beſcheidenen Poſttion zu 
überfdjreiten, wie er fih z. B. einmal mit dem Herzog von Modena durchaus an 
Diefelde Tafel fegen wollte, während die Edelleute der Gefandtichaft auf diefe Ehre Feine 
Anfprüce zu machen wagten, — entlaffen. Jetzt entfchloß er fi, ein unabhängiges 
Leben zu führen, und begab fi (1745) nach Paris zurück, wo er allein die Mittel 
zur Ausführung feines Borfages zu finden glaubte. In dem Hotel garni, in welchem 
er fich daſelbſt niederließ, befand fich eine Dienerin, ein Wefen, dem ed an Allem ge 
Brad, was die Augen auf fid ziehen und das Herz eines Mannes fefleln Eonnte. 
Und gleihmwohl war dieſes Weſen, Marie Therele Levaffeur (geboren den 21. Sep» 
tember 1721 zu Orleand), dazu beflimmt, drei und dreißig Jahre hindurch die uns 
bebingtefte Herrfchaft auf ihn zu üben. Alle Welt (z. B. Hume in einem Brief über 
dad fpätere englifche Abenteuer) nannte fie ein „medhantes, nörgelnded und ger 
ſchwaͤtziges“ Wefen, dennoch ließ er fih von ihr wie ein Kind von der Amme leiten, 
fiel ex mit ihr feinen Bönnern zur Lafl, verkroch er fich hinter ihr, wenn er Freunde 
und Protectoren durch die Ausbrüche feines beleidigenden und Eindifhen Mißtrauens 
gemißhandelt hatte, und fuchte er, der nie Liebe gefühlt und immer nur in bohler 
Adoration die Illuſion der liebevollen Theilnahme und Hingebung ſich vorgegaufelt 
hatte, bei ihr einen forcitten Erfaß für die vermeintlich fchnöde und ſchlechte Welt. 
Eigentlich war dieſe Therefe, die durch ihre Zwifchenträgereien und Klatfchereien feiner 
gereizten Stimmung gegen die Geſellſchaft Nahrung zutrug und ihn vollends mit feinen 
theilnehmenden Gönnern entzweite, ein Schild, zu welchem ihn fein richtiger Inſtinct 
geführt hatte und welchen er dann abfichtlih hegte und mit affectirter Sochhaltung der 
Welt entgegenhielt, um fi dahinter — hinter dieſer gewöhnlichen, ſelbſt niedern 
Seele in feiner Spannung gegen die Befellfchaft zu befefligen. Sie war ihm nidt 
die traute Freundin, bei der er fich für vermeintliche Leiden in der Welt tröftete 
& 


440 Monfiean (3. I. Ueberſicht feines Lebens und ſeiner Schriften.) 


und erholte, ſondern ein abſichtlich und mit Lünftlicher Gefliſſentlichkeit gepflegtes 
Mittel des Trotzes gegen die Geſellſchaft oder eine Kriegserklärung gegen die ſo⸗ 
genannte erbärmlidhe Wirklichkeit. Dabei war dieſes Weſen fo beſchraͤnkt, daß es, 
trog feiner Srziehungdverfuhe, niemals orbentlih Iefen lernte und nicht zur 
Vorſtellung einer Zahl gelangen Fonnte, fo dag ihr die Zahlen an der Uhr Hiero⸗ 
olyphen und die zwölf Monate des Jahres ein Geheimniß blieben. Das Unglück, 
welches R. mit feiner jegt vollendeten Oper der Muses galantes bei einer Vorftellung 
im Haufe des Herrn von Popliniere und in Gegenwart des erpreß dazu eingeladenen 
Rameau hatte, bewog ihn, das Theater zu laffen und eine Commisſtelle beim General 
pächter Dupin, dem Mann jener Frau, die ihm feinen Liebeöbrief großmüthig ver» 
ziehen Hatte, anzunehmen. In dieſer Zeit Fam Therefe mit einem Kinde nieder, welches 
ex fofort nach dem Findelhaus fchaffen ließ, welche Verläugnung ber Baterpflichten 
er, der über die Pflicht der Mütter, ihre Kinder felbft zu fäugen, fo viel declamirt 
bat, das folgende Jahr und dann noch dreimal wiederholte. 1748 begann feine 
enge Berbindung mit der Frau von Epinay und deren Schwägerin, der Gräfin 
v’Houdetot; zu gleicher Zeit beliebte der Umgang mit Diderot, d’Alembert und Con⸗ 
dillac von Neuem feine Liebe zur Literatur. Mit dem Erfigenannten wollte er ein 
Journal, den „Berfiffleur", herausgeben; die erfte Nummer blieb die einzige. Seine 
Freunde gaben ihm in der „Enchelopädie* zu thun und trugen ihm die Artikel über 
Muſik auf; er machte Diefelben ſchnell und, wie er ſelbſt fagt, Fehr ſchlecht. Endlich 
führte ihn Die Ankündigung einer Preisaufgabe, welche die Afademie von Dijon ges 
ftelt Hatte und die ihm zufällig in dem „Mercure de Brance* vor Augen fam, 1749 
auf den ihm angemeflenen Weg. Die Akademie hatte, mit Bezug auf die Renaifjance 
und den Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts, gefragt: „ob die Wieder. 
berfellung der Wiſſenſchaften und Künfle zur Reinigung der Sitten beigetragen 
hat;" dieſe Gymnaſtalfrage, dies Thema für Schülerauffäge, erweiterte R. zu dem 
allgemeinen Thema: „ob der Kortfchritt der Wiffenfchaften und Künfte zur 
Gorruption oder zur WReinigung der Sitten beigetragen bat,” und verarbeitete 
daſſelbe zu einer an ſich, d. 5. von der Leidenfchaft der Ausführung abgefehen, ſchüler⸗ 
haften und mittelmäßigen Declamation gegen die Sittenverderbniß, welche die Pflege 
der Kunft und Wiſſenſchaft an die Stelle des tugenphaften Patriotismus fege, Der 
die erften Berioden im Leben der Staaten charakterifiree Die Akademie von Dijon, 
frappirt durch die Diction und fcheinbar kühne Paradorie des Auffabes, erkennt ihm 
‚den Preis zu; er felbft glaubt nun feine Beflimmung gefunden zu baben und be⸗ 
ſchließt, „den Maximen feines Jahrhunderts offen den Krieg zu erklären.“ Er gab 
die Kafftrerftelle, vie ihm der Generalfinanzeinnehmer Herr von Francueil, der Sohn 
des Generalpächtere Dupin, übertragen batte, auf und annoncirte fi als Noten 
abſchreiber. Die Beftellungen firömten ihm reichlich zu, und man bot ihm das Drei⸗ 
fache, Bierfache von dem, was feine Arbeit wertb war, er nahm aber nur ben ihm 
fireng gebührenden Lohn an; doch bat man (und mohl nicht mit Unrecht) die Be- 
bauptung aufgeftellt, daß die Befchenke, welche theilnehmende Kunden ber Thereſe zu⸗ 
ſteckten, von diefer nicht ohne fein Willen angenommen murden. Neben diefer Co⸗ 
pißßenarbeit brachte er fein Singfpiel le Devin de village zu Stande; Duclos bewirkte 
durch feine Gonnerionen die Aufführung beffelden auf der Hofbühne zu Fontainebleau 
(1752), R. feloft, die Anfangs beabfichtigte Anonymität aufgebend, wohnte derfelben bei, 
der König drüdte, als das Stüd einen vollfländigen Erfolg davontrug, das Verlangen aus, 
den Verfaſſer fich vorgeftellt zu fehen; R. entzog ſich aber, in Rückſicht auf feine nahläffige 
Zoilette, diefer Ehre durch eine fchleunige Flucht. Ganz für diefe neue Laufbahn ein= 
genommen, verdffentlichte er feine „lettre sur la musique francaise*; biefelbe machte 
durch die Hiße, mit der er den unmufllallihen Charakter ber franzöflichen Sprache 
nachzuweiſen fuchte, viel Aufiehen, doch iſt es nur für die Selbflüberhebung des 
Autors bezeichnend, wenn er fpäter verfichert, ohne die Diverfion, welche biefe Bro» 
fhüre ausführte, wäre in dem durch die Parlaments⸗Unruhen und durch die Geiftlich⸗ 
Feit erfchütterten Staat eine Revolution ausgebrochen. Durch dieſen Fleinen literari» 
Shen Erfolg beraufcht, täufchte ſich R. über die Plattheit und Fadheit feiner Komoͤdie 
„Nareisse* dermaßen, dag er fle zur Aufführung bergab und fi eine völlige Nieder⸗ 


[ 


Honffenu (3. 3. Ueberſicht feines Lebens und feiner Schriften.) 44 


lage zugog. Er ließ das Stück druden und verſah e8 mit einer Vorrede, die dadurch 
merkwürdig iſt, daß fle in ein paar Sägen den präcifeften Ausdruck feiner ganzen 
Oppoſition gegen die Geſellſchaft enthält. 1753 ftellte die Akademie von Dijon die 
neue Preisfrage: „Welches der Urfprung der Ungleichheit unter den Menfchen, 
umd ob dieſelbe Durch das Naturgefeh autorifirt if." Die Akademie war alfo in den 
Gedankengang R.'s vollfländig eingegangen, und wenn fie auch feine Beantwortung 
ihrer Frage (in dem Discours sur lorigine et les fondemens de l’inegalilE parmi 
les hommes) nicht kroͤnte, um ſich an dieſer Kriegserklaäͤrung gegen die hiſtoriſche 
Geſellſchaft nicht ganz und gar mitſchuldtg zu machen, fo konnte fie ſich doch inner⸗ 
lich darüber freuen, daß fie diefe Entwidelung der R.'ſchen Rhapfodieen zum Extrem 
hervorgerufen hatte. R. hatte diesmal den Kriegsruf der Natur gegen die Unterſchiede 
der biftorifhen Gefellfchaft erſchallen laſſen — einer Natur, bie in dieſem Gegenfag 
zur Geſchichte nur ein chimärifches Welen und künſtliches Gedankending fein konnte; 
ed war die Erhebung des künſtlich erfonnenen und unterbaltenen Spield, welches 
z. 8. in Geßner's Idyllen getrieben wurde, zur Höhe der politifchen Theorie oder 
die Ummandlung der Naturtändelei, mit der fich der Hof amuflrte (f. d. Art. Ludwig XV.), 
in revolutionären Ernſt. Ein Freund, der ihn auf eine Meife nach Genf mitnahı, 
verfchaffte ihm jetzt eine Zerfireuung. Er befuchte bei diefer Gelegenheit Chambery, 
um feine „Leine Rama“ wieder zu ſehen, erkannte aber Frau v. Warens, welche das 
Elend verzehrte, Faum wieder und brachte ſich nur mit Mühe dazu, dieſer Frau, die 
ihn in feiner Jugend mit allzu großem Edelmuth aufgenommen und unterhalten Batte, 
eine Peine Unterſtützung anzubieten. In Genf trat er, ſtolz auf die Ehre, ſich von 
nun an ciloyen de Gen&ve nennen zu koͤnnen, wieder zum reformirten Bekenntniß 
über. Schon wollte er, indem er feine Phantafle mit dem Bilde des Glücks, in 
biefer Heinen Republik feine Tage zu beichließen, erbigte, Therefen nachkommen laſſen, 
als- ihm einflel, daß Voltaire vor den Thoren Genfs wohne und früher oder fpäter 
den Ton und die Sitten von Paris dafeldft einführen werde. Der Gedanke an 
biefen Graͤuel trieb ihn alsbald an den Urſitz deſſelben, nach Paris, ohne das er 
nicht leben konnte, zurück. Hier war ed wiederum Frau von Epinay, feine aufrich⸗ 
tigſte Breundin in fener Periope, die ihm ihre Sorge angedeiben und erpreß 
für ihn ein Landhaus im Thal von Montmoreney erbauen Tieß, welches 
unter dem Namen Ermitage befannt geworden if. Er bezog daflelde am 
9. April 1756 mit feinen beiden Gouvernantinnen und Begentinnen, The⸗ 
refen und deren Wutter, bewohnte das Haus aber nur zwanzig Monate, 
Er entwarf in diefer Einflebelei feine Institutions politiques, aus benen fein Contract 
social entfland; nebenbei fügte er die Liebesbilver, die jeinen Kopf erfüllten, zu ben 
Geſtalten und Gruppen jeiner 1759 veröffentlichten Nouvelle Helofse zufammen. Er 
ſelbſt ſagt, daß fein Kopf von einem Serail von Huris bevoͤlkert war, und in biefer 
erotifchen Meberreizung machte er einen Anjchlag auf die Schwägerin der Frau 
v. Epinay, die Gräfin d'Houdetot. Diefelbe glaubte ſich unglüdlich verheirathet und 
fand mit dem Marquis Saint-Rambert, dem Dichter der Saifons, der auch R. ge⸗ 
wogen war, in einem vertrauten Herzendverhältnig. MR. forderte fle im Namen ber 
Tugend auf, ihrem Geliebten, der fich bei der Armee in Hannover befand, den Ab⸗ 
ſchied zu geben, und ſchmachtete nach der warmen Stelle des Sünderd. Saint-Lambert 
wurde jedoch durch einen anonymen Brief von dem beabfichtigten Romane R.'s bes 
nachrichtigt; der lehtere glaubte, Daß Diefer Brief von ber Frau v. Epinay berrühre, 
dazu kamen Klatfchereien Therefen’s, die in der Gräfin d'Houdetot einen bösmilligen 
Emdringling fah, und durch feine eigene Schuld, die feinen Argwohn entflanımte, 
zerflörte M. ein Verhaͤltniß zu Brauen, bie von der aufrichtigften Theilnahme für ihn 
befeelt waren. Nebenbei brach er mit Grimm, Diderot und der ganzen „Holbach'ſchen 
Goterie”, wie er den aufgeflärten Berein nannte, dem er einen großen Antheil an 
der diesmal gegen ihn gerichteten Verfchwörung zufchrieb. Bis zum Jahr 1762 fland 
er feitbem unter der Brotection des Marſchalls von Zurembourg, der ihm in dem 
einen Schloß von Montmorency eine Wohnung einräumte und defien Gemahlin ſich 
vergeblich bemühte, feine Kinder im Findelbaufe wieder ausfindig zu machen. Auf 
diefem Schloß flattete ihm ber Prinz von Conti einen Befud ab; obwohl von diefer 


442 Rouſſean (3. 3. Ueberficht feines Lebens und feiner Schriften.) 


Ehre fehr gefchmeichelt, war er trog ber Lehre, die er für.feine Leinenfchaft foeben 
erhalten hatte, gegen Seine Hoheit fo wenig erfenntlih, daß er dem Prinzen bie 
Gräfin von Boufflers, welcher derfelbe Hulvigte, abfpenfiig machen wollte. Nur mit 
Mühe ward er, indem man ihn vor der Gefahr warnte, davon abgehalten, fi in 
diefen neuen Abgrund zu Rürzen. Er blieb aber, wie er fih in feinem Bericht über 
den Erfolg Außert, den feine Heloise Hatte, ernfllid davon überzeugt, daß ed „wenig 
Frauen, felbft in den hohen Geſellſchaftsklaſſen gab, deren Eroberung er, wenn er nur 
wollte, nicht gemacht hätte.” Jener Roman, deflen Gorrecturbogen, fo wie bes Emile, 
ein neuer Breund, Maledherbed, damals Infpector ded Buchhandels, ihm unter feinem 
Eouvert aus Holland beforgte, angeregt durch Richardſon's lariffe, feiert jenen, 
an ſich hochſt gemüthlofen Siedepunkt der Liebe, den er „Adoration” nennt, und 
bringt diefe Liebe, durch deren. Gluth der Haußlehrer Saint-Preur das feiner Obhut 
anvertraute Mädchen in ihrem elterlicien Haufe verführt, in der Vernunftehe, welche 
die fchuldige Tochter und Schülerin mit einem ruhigen Berftandesmenfchen eingeht, 
unter Dach und Fach. Der ehrbare Mann nimmt den früheren Lehrer feiner Yrau, 
obwohl er Beider Herzensverhältniß kennt, ald Hausfreund zu fih und läßt fie 
unter der Qual ihrer Anfechtungen ald Freunde der fogenannten Tugend neben- 
einander leben, bis die Frau und Geliebte zufällig ertrinkt. Aus der Falten 
Scheingluth dieſer Herzen find dann Die revolutionären Phrafen hervorgegangen, 
mit welchen ſich die Gefühlsmenſchen des Romans gegen die befiehende Geſellſchaft, 
gegen Gonvention, Schuleinrichtungen und Eirchlihe Dogmatik erheben. R. ſelbſt 
fagt, nur „Lügner und Heuchler“ EZönnten behaupten, daß „dad Gemälde einer jun⸗ 
gen ebrbaren Perfon, die ſich in der Liebe beflegen läßt und als Frau wieder tugend⸗ 
haft wird, fcandalds und ohne Nugen fei”, — ferner, daß „Ieder, der nach der 
Zecture der Nouvelle Höloise fie als ein Buch von fchlechten Sitten betrachten kann, 
nicht dazu gemacht fei, die guten zu lieben,” — man fann die Sache aber fehr ver⸗ 
einfahen, dem DBerfafler feinen Tugend» und Sittenſtolz und die Schwelgerei der 
„Adoration“ ‚laffen, den Roman als hiſtoriſches Zeugniß von der verwirrten Aufe 
regung eines Beitalterd benugen, die Gompofltion aber langweilig und die Erfin- 
dung inftpide nennen. Im Jahre 1762 fam fein Emile ou de l’eduycation auß der 
hofländifhen Druderei in Paris an. Er hatte in demfelben die Erziehungsfunft auf 
den Maßſtab feiner himärifchen Natur reducirt und lehren mollen, wie der durch die 
Kunft entfiellte Menſch nach den vermeintlichen Maturgefegen umzufchaffen fei. Außer⸗ 
„dem batte er in biefer Pädagogik unter dem Titel Profession de Foi du vicajre 
Savoyard die Dogmen feines Jahrhunderts: Gott und Unfterblichkeit, verfündigt und 
in feinem aufgeflärten Vicar eine Jugenderinnerung, dad Bild des Abbe Gaime, ber 
ihn während feines Dienfles in den Häufern der Gräfin Vercellis und des Grafen 
Gouvon in einen milden und fanften Deidmusd eingeweiht hatte, reproducirt. Gr 
biele fich für fiher; Malesherbes hatte die Correctur Der Aushängebogen ſelbſt ge- 
macht; aber plöglich läßt ihm der Prinz von Conti melden, daß das Parlament feine 
Verhaftung beichloflen hat. Er floh in Eile nad der Schweiz, hörte aber ſogleich 
nad) feiner Ankunft in Yverdun, dag der Rath von Genf feinen Emile durch Henkers⸗ 
band hatte verbrennen und außerdem gegen den Verfafler einen Verbaftsbefehl ergehen 
lafien. Auch der Berner Rath bedrohte ibn, worauf er zu Motiers im Fürſtenthum 
Neufchatel unter der Protection des preußifchen Gouverneurs George Keith 
(f. d. Art.) ein Aſyl findet. Hier fah man ihn anfangs in armenifchem Kaftan und 
mit einer orientalifhen Pelzmüge (eine Tracht, in der man ihn fpäter au zu Paris 
auftreten ſah) vor der Thür feiner Wohnung figen und Spigen Eldppeln, bald aber 
griff er wieder zur Feder und verfaßte gegen den Genfer Rath die Letires ecrites de 
la montagne (ald Begenflüd zu der officiöfen Genfer Schrift: Letires ecrites de la 
campagne) und gegen das Mandement des Erzbiſchofs von Paris Chriſtoph de 
Beaumont die Leitre a M. de Beaumont. Zu Wotierd lebte ex bis zum Jahre 
1765; als er fih bier auch von den Bürgern und vom OÖrtöpfarrer (wie fpätere 
Unterſuchungen zeigten, ohne Grund) verfolgt und fogar am Leben bedroht glaubte, 
zog er ſich auf die Veterdinfel im Bielerfee zurüd; jedoch ſchon nad einem Monat 
ward er durch die Berner Megierung vertrieben. Gegen Ende des Jahres 1765 begab 


Ronffean (3. I. Ueberſicht feines Lebens und feines Schriften.) 443 


er fih nah Paris, wo Ihm der Prinz von Gonti im Temple eine Breiflätte 
verfchaffte, und im Anfang des Jahres 1766 folgte er endlich der Ginladung 
Hume's nah England, wo ihn diefer Philoſoph und Hiſtoriker bei einem reichen 
Breunde in der Grafſchaft Derby etablirte und die größte Delicateffe anwandte, ihm 
eine ruhige Eriftenz zu fihern, ohne feine Eigenliebe und Empfindlichkeit zu reizen. 
Hier fchrieb R. die erften ſechs Bücher feiner Confessions nieder; die folgenden ſechs 
Bücher, die bis zu feiner Abreife nach England gehen, verfaßte er nach feine Rück⸗ 
kehr nad Frankreich. Am 1. Mai 1767 verlieh er ploͤßlich fein engliſches Aſyl; auf 
die Dauer war es überhaupt nicht haltbar; mit feiner Iherefe, was er damals zum 
erfien Male verlangte, in der refpectabeln Gefellihaft Englands auftreten wollen und 
alle gefellfchaftlichen Rückſichten für feine Eoncubine in Anfpruch nehmen, diefe über⸗ 
fpanute Forderung kann man beinahe abenteuerlih nennen. Mußte ihn dieſe übel- 
angebrachte Forderung mit der englifhen Gonvention in einen ängftlihen Zwieſpalt 
verfegen und Ihm ſomit der Duell von Seelenmartern und der Anlaß zu einer beflin- 
digen Gereiztheit werden, fo brachte ein apokrypher und unter dem Namen Friedrich's 
des Br. in Umlauf gefehter, von Horace Walpole fabricirter Brief, in welchem R.'s 
Berfolgungswahnftnn fcherzhaft behandelt wird, dieſen Wahnſinn zum hellen Aus» 
bruch, in welhem er Hume als jeinen Todfeind vermünfchte und wie ein unartigeö 
Kinn feine nachfichtigen und theilnehmenden engliſchen Freunde und Gönner von fidh 
Ried. In Frankreich eröffnete Ihm der Prinz von Conti in feiner Beflgung Trie⸗le⸗ 
Chateau ein Aſyl, welches er unter befländigen Biflonen von Bauernauffländen gegen 
ihn bis 1768 bewohnte, worauf er unter dem Namen Renou, unter welchem er fi 
auch in Trie verftedt Hatte, im ſüdlichen Sranfreih von Ort zu Ort wanderte, bis er 
fih 1770 wieder zu Paris niederlied. Auf jener Wanderung, während feines Auf» 
enthalts zu Bourgoin, war ed, daß er ſich mit Iherefen verheirathete (im Auguſt 
1768). Er Hatte nämlich zu dieſem med feiner Genoffin und ein paar Freunden 
einen Spaziergang vorgefchlagen, eröffnete ihnen dann in einem Gehoͤlz den Zwed 
dieſes Ausflugs, fchwor Therefen im Angeficht des Himmels, daß er ihr Mann fein 
wolle, und rief feine Sreunde zu Zeugen an. Er trante fi Therefen ald Madame 
Renou an; denn, fihrieb er an einen Freund, der ſich darüber wunderte, den 26. 
September 1768: „die Namen heirathen ſich nicht, fondern bie Perſonen.“ Waͤh⸗ 
rend feines legten Aufenthalts zu Paris fchrieb er (im April 1772) feine Conside- 
ralions sur le gouvernement de Pologne et sur la reformation projetee. Der Graf 
Wielhorski Hatte ihn und den Abbe Mably aufgefordert, Vorfchläge zu einer neuen 
Geſetzgebung für Polen zu machen. Mably (f. d. Art.), der an Ort und Stelle 
zeifte, entwarf einen methodifchen Plan zur Erneuerung Polens; R. ließ fich in ſei⸗ 
nem Project von dem Ideal der moralifchen Schönheit und des Patriotismus leiten 
und gefiel fi in idealen Eonftructionen, die nidjt einmal zur Frage, ob die Republik 
fi mit deren Ginführung vor dem nahen Untergang hätte vetten Fönnen, Anlaß 
geben. Dem Auf, welden ihm der 1762 erfchlenene Contract social verfihaffte, 
hatte er dieſe Aufmerkſamkeit zu verdanfen, welche ihm die polnifchen Patrio⸗ 
ten erwiefen. Wenn er: au gegenüber den PBegründern der Bertragätheorie 
und der Lehre von der DBolföfouveränetät, den fpanifhen und portugieſiſchen 
Jefuiten, ferner gegenüber den wiffenfchaftlichen Fortbildnern der Bertragstheo- 


ie, einem Hugo Grotius, Hobbes und Puffendorf mit jener Schrift nur als 


Gefühls⸗ oder Stimmungsdilettant und daneben zugleich als raffinirender und mit der 
wirklichen Welt unbekannter Nechenmeifter gelten kann, fo Hatte er doch eben burdy 
diefe Schwächen feiner Arbeit die Gemüther und den Berfland der Zeitgenofien er- 
griffen und gefeſſelt. Gerade mit der Gefühlsfliimmung und mit dem Ideal des Mor 
salffchsfchönen und des Natürlichen Hatte man fi zum Beflehenden in einen unver- 
ſoͤhnlichen Gegenſatz geftellt und mit dem bloßen Berfland und deſſen geometrifchen 
Gonftructionen glaubte man einen neuen Staat und eine neue Welt aufrichten 
zu können. Wiffenfchaftlih, im Vergleich mit den Arbeiten der originalen Vor⸗ 
gänger und dann auh in Müdfiht auf die moderne Forſchung, unbedeutend, 
haben jene Schriften R's nur noch ald Dorumente für bie revolutionäre Stimmung 
feiner Beit hiſtoriſchen Werth. Schon 1764 hatte ihm der Gorfe Butta⸗Foco im 


444 Roufſean (I. I. Sein Charakter.) 


Namen feiner patriotifchen Mitbürger den Vorſchlag gemacht, er möchte der Geſetz⸗ 
geber Gorflca'8 werden, — ein Borfchlag, der nur zu einem Briefmechfel führte, den 
Lettres de J. J. R. a M. Butta-Foco sur la legislation de la Corse. Wie Mar N. 
in politifchen Dingen ſah, "beweift die Franfhaftüberfpannte Idee, die er in einem 
Brief aus dem Jahre 1770 äußert, daß der Herzog von Choifeul nur deshalb Corſtca 
unterjocht habe, um ihm (der es fehon im contract social als da8 einzige ber Geſetz⸗ 
gebung noch offenftehende Land Europa's bezeichnet hatte) wehe zu thun. Unter feinen 
Freunden erhielt ſich Diefe politifche Fabel in der Verſton, daß Voltaire, der aus Neid 
gegen R. nicht wollte, daß diefer der Gefeßgeber Corſica's würde, daran Schuld ſei, 
daß Frankreich diefe Infel eroberte. Wie fehr Selbftliebe und Eitelfeit feine Phantafle 
zerrüttet und feine Stimmung während feiner Iegten Parifer Periode in Unordnung 
gebracht Hatte, beweift auch fein Benehmen gegen Glud, deſſen Opern er bewunberte 
und defien Beſuch er einige Monate hindurch als eine ausgezeichnete Ehre aufnahm, 
den er aber dann plöglich zurüdfließ und nicht mehr fehen wollte, meil er „nur bed» 
balb fo gute Muſik zu franzoͤſtſchem Text geliefert Habe, um ihn erpreß zu widerlegen. * 
Zulegt bot ihm, al& feine geifige Zerrüttung auch feine Grfundheit untergraben batte, 
Herr v. Birardin (f. d. Art.) auf feinem Landſitz zu Ermenonville eine Zufluchts⸗ 
flätte an. Er felbft wählte fich dazu einen der Pavillons, die vom Schloß durch 
Waffergräben gefondert find. Am 20. Mai zog er ein, führte mit Therefen daſelbſt 
ein forglofes Leben, am 3. Jult 1778 aber, als er fih foeben, um auf dem Schloß 
einen Beſuch zu machen, anziehen wollte, fühlte er plöglih Froſt und klagte über 
Kopffchmerz; Therefe ließ Ihn beruhigende Mittel zu fich nehmen, worauf er mit einem 
Mal ſprachlos und todt zur Erde fiel. Ueber feinen Tod tft eine ordentliche Riteratur 
zufammengefcdhrieben, da Einige von Vergiftung, Andere von Selbſtmord durch einen 
Piſtolenſchuß fprechen. Nach dem Zeugniß feined Arztes, Lehegue de Presle, Der bie 
Deffnung und Infpeciion feine Leibes in Gegenwart von zehn Perfonen leitete, ift 
er eined natürlichen und nicht provocirten Todes geftorben. 

2) Sein ECharafter. Er war ein unglüdlicher Mann gewefen. Sein aufer- 
ordentliches Selbfigefühl und die Tebhafte Meberzeugung von feiner Einzigfeit Hatte 
ihn zum bdeclamatorifchen Borkänpfer für die Nechte der Individualität und feine 
Innere gereizte Stimmung, fo wie feine beftändige Empörtheit gegen die gefellfchaft« 
lihen Gonventionen zum Interpreten der revolutionären Neuerungsluft feines Jahre 
bundert3 gemadt. In feinem Mangel an Gemüth, welcher Mangel an Anerkennung 
fremder Eigenheit und Eigenthümlichkeit fi auch in feinen mathematifchen Conftruc- 
tionen einer idealen Gefellfchaft und in der gefliffentlichen Bürforge für die Einrichtung 
jedes Winkelchens in der Iegteren decpuprirte, Sprach fich ſchon der Terroriämus der 
fpäteren Revolution und ihr Abſolutismus aus. Der Kriegsfuß, auf den er fih zu 
aller Welt und zu jeder anders gearteten Natur fellte, bildet den Kriegszuſtand vor, 
in welchen ſich eben jene fpätere Mevolution der Humantität, Philantbropie und Natur» 
liebe gegen alle Volksweſen verfegte Nur wird man bei allen diefen und aͤhnlichen 
Bergleihen den fpäteren Gejeggebern des Terrorismus und vor Allem den Armeen, 
die auf die Serflellung einer einigen WMenfchengemeinde audgingen und ſich diefem 
Ideal opferten, zugeftehen müfjen, daß fle wirklich von Enthuflasmud für ihr Nature 
Ideal entflamnmt waren. R.'s Leidenſchaft für dad, was er das moraliih Schöne 
und natürliche Güte nannte, war fehr Falt und größtentheils nur Spintifirerei und 
Derlamation. In feiner Berührung mit den Menfchen bat er niemald die gemeinfte 
Menfchenliebe bewieſen, während er in der Berne und in feinen Schriften von Hin— 
gebung überfloß. Nicht nur gegen den Zwang der bürgerlichen Geſellſchaft bat er 
fih aufgelehnt, fondern au „die Verpflichtungen der natürlichen Berhältniffe" (pie 
ſich A. W. Rehberg in feinen fämmtlichen Schriften, Hannover 1828, Bd. J. S. 391 
ausdrückt) bat er in feiner Eigenheit verläugnet. Das Unrecht, welches er faft Allen, 
mit denen ihn fein Lebensweg zufammenführte, zufügte, diente nur dazu, ihn, der es 
durchaus nicht eingeſtehen wollte, in feinem verkehrten Sinn zu verhärten. Er fuchte 
fogar das Unrecht gefliffentlih auf und machte feine Naturfeele hart, um die Theils 
nahme Anderer, die ihm nad dem erften Genuß läflig ward, zurüdzuftoßen. In 
allen Perioden feines Lebena von Liebe und Gütigkeit gepflegt, Hat er, der ſich ſelbſt 


Konfiean (3. 3. Sein Charakter). 445 


als allliedende Seele galt, die Zreundlichkelt und Zürforge Anderer nie mit wahrer 
Liebe vergolten. Er bat Niemanden gehoben und erwedt, in Niemandem zum Dant 
für die empfangene Güte wieder Gutes gewirkt. Die edlen Eigenfchaften Anderer 
und deren Erweile gegen ihn haben nie einen wohlthätigen Eindrud auf ihn aud- 
geübt; er benutzte fie nur zu feiner Berzärtelung und DBerziehung oder empoͤrte fich 
gegen fie am Ende mit beleidigtem Fleinlihen Stolz. Selbfl die Perfonen, zumal die 
Srauen, bie ihm der Meihe nach als die am innigften geliebten Wefen galten, haben 
über ihn nichts vermocht und in ihm Feine dauernde Wirkung binterlafien. Niemand 
bat für ihn und in ihm Gutes wirken fünnen; er felbft bat aber auch Niemandem 
Gutes getban. Er that fehr Unrecht, über die Gehäffigfeit der Enchklopadiſten und 
des Holbach’ichen Kreifed Herzuziehen; bei allen Schwächen, welche diefen Leuten wie 
den anderen Menjchenfindern eigen waren, befaßen fle eine Dienfifertigkeit und aufe 
richtige Zuthulichkeit, der gegenüber feine finftere Eigenfucht ſich verfleden muß. In 
den Röveries, diefem contemplativen Ueberbau über feinen Confeſſtonen, der in feiner 
legten Pariſer Periode entflanden ift, fagt er einmal (Promenade 4me.): 
„Der Himmel iſt mein Zeuge, dab wenn ih den Augenblild darauf Die 
Züge, weldye mich entfchuldigt, zurüdnehmen und die Wahrheit, die gegen mid 
zeugt, jagen könnte, ohne mir durch diefen Widerruf eine neue Demüthi« 
gung zuzuziehen, ich ſolches Herzlih gern thun würde; allein die Scham, 
mich felbft Lügen zu firafen, hält mich zuräd und ich bereue meinen Zebler fehr auf« 
sihtig, ohne jedoch den Muth zu haben, ihn wieder gut zu machen.” Man kann 
danach abmeflen, mad von feinem Gonfefllonsroman zu halten iſt. Er verfichert zwar 
auch in der fveben angeführten „Bromenade*, daß er feinen natürlichen Abfcheu gegen 
Unwahrheit nie flärfer als bei der Auffegung feiner Belenntniffe empfunden babe. 
Allein ohne zu fragen, ob e8 (nach feinem Lieblings⸗Ausdruck) „moralifch ſchön“ ift, 
wenn Jemand, der von feiner Einzigfeit tief überzeugt ift, nach Cröffnungen wie der 
obigen ſich nicht enthalten Fann, zur Bergleichung feiner Eigenheit mit dem moralifchen 
Fonds Anderer aufzufordern uud ed darauf ankommen zu laffen, ob Jemand Luſt zur 
Behauptung Habe, beſſer ald er zu fein, — ohne zu fragen, ob ein fo hartgefottener 
Soppift fähig fein Fann, über menfchliche Berhältniffe und Zuflände und feine eigene 
Stellung zu denfelben und inmitten derſelben ſich ein verfländiges Urtheil zu bilden, 
fönnen wir und begnügen, auf fpredyende Documente binzumelfen. In den Briefen 
Hume's und der andern englifchen Freunde liegt die Controlle vor, nach welcher feine 
undanfbare ſchwarze Phantafle, die ihm ein fchredliches Bild von dem in England 
erfahrenen Unrecht und Gräuel vormalte, mit Sicherheit beurtheilt werden fann. . Für 
alle feine anderen jchauerlichen Erfahrungen, namentlich für die tollen Berwandlungen, 
durch welde Die meiften der von ihm „aborirten” Zrauenengel in Teufel umgekehrt 
wurden, liegen nicht fo ausführliche Gorrective vor, aber doch genug, um feine Klagen 
über Enttäufungen und tragifche Mißgeſchicke beurtheilen zu fönnen. Die meiften 
feiner Miferen feit feiner Verbindung mit Therefen rührten von Klatfchereien ber, 
welche diefe feine Benoffin anzettelte, alfo von Unläffen, deren Unterfuhung — (Dant 
feiner Eitelkeit und Kurzfichtigfeit und Dank Thereſen's Befchäftigkeit) — müßigen 
Gelehrten oder Literaten einen unerfchöpflichen Stoff darbieten müßte. Es wäre dem⸗ 
nach eine würdige literarifche Beier des Propheten der Mevolution, genau zu unter 
fuchen und Herausgubelommen, welche Rolle die Frau v. Epinay und Therefe dabei 
fpielten, al8 die gute Graͤfin d'Houdetot aus einem Engel ein Teufel ward — genau 
zu’ unterfucden und berauszubelommen, ob Thereſe (die, beiläufig bemerkt, ein Jahr 
nach ihres Mannes Tode wegen ihres BVerhältniffed zu einem Gärtnerburfchen von 
Birardin aud Ermenonville, entfernt wurde und zu PleffissBelleville den 15. Juli 1801 
farb) durch wirkliche Untreue feine legten Lebensjahre verbittert habe, ob ſie als Tängft 
verblühtes Frauenzimmer den Nachſtellungen des alten Gecken Gauffecourt audgefept 
war, oder ob fle nur durch diefe Erfindung ihren Renou eiferfüchtig machen und feine 
einfchlafende Zärtlichkeit wieder aufweden wollte. Vielleicht finder fidh noch Jemand, 
der ſich einmal die Mühe giebt, allen diefen Miferen auf den Grund zu geben; auch 
ohne Das koͤnnen wir aber den Sag aufftellen, daß fich ‘in dein befländigen Ah! und 
Web! des Dulders, der fich felbft feine Qualen bereitet hat, die gereizte Stimmang 


446 Ronffenn (3. 3. Sein Einfluß auf feine Zeit.) 


der ſpätern Nevolutionäre ausfpricht, die Über dad immenfe Unglüf der Welt aus 
der Haut fahren wollten. In feinem Rousseau juge de Jenn Jacques nahm er, alß 
das Brüten über fein Unglück und die Schlechtigkeit der Welt feinen Berftand dem 
Irreſein nahe gebracht hatte, den Proceß gegen feine Widerfacher noch einmal auf; — 
au diefe bochgerichtlihe Stimmung, die er noch im Greifenalter cultivirte und faſt 
bis zum Wahnſinn fleigerte, ift dad Vorbild der terroriftifchen Gereiztheit, mit welcher 
‚Die Revolution: gegen die Feinde des Guten und Moralifch-fchönen losfuhr. 

3) Sein Einfluß auf ferne Zeit erftredte ſich von der Kinderwiege bie 
zu den geleßgebenden Mäthen der Völker. Der gegen bie Welt verbitterte Träumer, 
der unter den Bäumen von Montmorench oder auf der Petersinfel feiner düftern Mes 
lancholie fi Hingab, ward von den Agenten Polens und Corſica's als politifhes 
Drafel um Rath gefragt; der Mann, der ſich durch dad Findelhaus von der Erfül⸗ 
lung feiner DVaterpflichten befreien ließ, warb als Pädagoge von den Yamilien auf» 
gefucht. Kein Augenbli des Kindes, ausgenommen etwa die Entbindung deſſelben 
aus dem Schooß der Butter, bleibt ohne feine Vorfchriften. Er lehrt, DaB man das 
Neugeborene „etwas weich und in einer etwas fohrägen Richtung” legen und oft der 
frifchen Luft außfeßen malt: Eine Mutter fragt ihn, ob die Wiege ein Weidenkorb 
fein müffe; darauf fommt wenig an, antwortet er mit dem Ernft eines Orakels, 
wenn fie nur nicht hart if. Was die Ammen betrifft, fo will er, fall man zu 
ihnen feine Zuflucht nehmen muß, zuvor ihre Milb prüfen; die beſte Amme fei 
aber die Mutter. Er Hat das Mutterifum in Mode gebracht. Ihre Kinder ließen 
die Mütter, um Staat zu machen, in den Wiegenbettchen hinter fich. hertragen, 
felöft wenn fie zur Oper gingen, und betrachteten das Geſchrei derfelben inmitten 
des Scaufpiel® mir Stolz ald, Zeugnig ihrer Mütterlichkeit. Er Hatte Preiſe 
für die Mütter, die ſich der Ammen entfchlügen, in Vorſchlag gebracht und verfprady 
den Müttern, die fich deffen würdig machten, Schnürbänder als Prämie Fragten 
ihn Fürſten über die Wahl einer Gouvernante um Rath, fo antwortete er, die befle 
ift diejenige, die gar feinen Unterricht gehabt bat; denn hat fie Kenntniffe, fo verfteht 
fie, fich zu verfiellen, ift fle unmiffend, wirb man fle beſſer kennen lernen. Deſto 
beffer, wenn fle nicht leſen kann; fle wird es mit ihrem Zögling lernen. Gr läßt 
fih aud in die Didcufflon über die Vorzüge einer Wittwe vor einem Mädchen ein 
und bejchreibt dann, wie man ed unfangen muß, fie an das Kind zu feleln: ber 
Bater wird fie nämlich eines Tages in einer lachenden Landſchaft fpazieren führen; 
— fie wird daſelbſt ein niedliches, reizendes Haus fehen, einen Hühnerhof, einen 
Sarten, Ländereien zur Unterhaltung der Wirthſchaft; — fle wird entzüdt fein; — 
if ihr Enthuſtasmus auf feinem Gipfel, jo wird fle der Vater bei Seite nehmen 
und ihr fagen: „Erzieht meine Tochter nach meiner Idee und mas Ihr da feht, iſt 
euer.“ Und wenn das Kind eines Tages ihren Bemühungen ſchlecht entfpricht, wird 
fie in wehmüthigem Ton zu ihm fagen: „Es ift alfo aus; Ihr nehmt mir das Brot 
meines Alterd.“ „So etmad aber”, fügt der pedantiſche Padagog in allem Ernſt 
hinzu, „Darf nicht zweimal gefagt werden.“ 

Diefe Degradation ded Lebens zum Puppenfpiel zeigt, mit welcher Art von 
Welt es R. allein zu thun hat. Es find die verzärtelten, fchöngeifligen und ſenti⸗ 
mentalen Großen, an die er fich richtet, und er macht fie noch vollends kindifh. Daß 
es ein Volk giebt, deſſen Brauen ihre Kinder felber fäugen (nebenbei bemerkt, daß 
auch hochgeftellte Frauen, unter Andern eine deutfche Katferin, Maria Therefla, an 
der Erfüllung ihrer Mutterpflihten Freude fanden), Davon mußte er nichts. Ueber⸗ 
haupt mußte der Prediger der Volfsfouveränetät nichts vom Boll. Die Großen, 
Schöngeifter, die Gebildeten und die feinen Frauen — die waren feine Welt. Die 
Hauptfladt war die Bühne, auf der er ſich allein Heimifch fühlte, und die Aufmerk- 
famfeiten und Schmeicyeleien-, die fte ihm bot, waren ihm Bedürfniß. Der Bewun- 
derer der alten republilanifchen Einfachheit nennt es das Groͤßeſte, das ihm je bes 
gegnete, daß ein Prinz von koͤniglichem Geblür Ihn beſuchte; er iſt endhantirt, daß 
thm eine folche Ehre vom Prinzen von Conti erzeigt ward, — von einem fo großen 
Manne, wie ihn der Citohen de Geneve nennt. Wenn feine Beſchutzer den Miſan⸗ 
tbropen bei feinem Wiederauftreten in Paris 1770, als der Parlamentsbeſchluß vom 


Honflean (3. J. Sein Einfluß auf feine Zeit.) 441 


Jahre 1762 noch über ihm ſchwebte, den Augen bed Publicumd entziehen wollten, 
ward er unwillig; bie Genlis glaubte 3. B., als fle ihn zu jener Zeit einmal in’s 
Iheater führte, feinen Wünfchen zuvorzukommen, wenn fie eine vergitterte Loge wählte: 
er aber ließ in gereizten Humor das @itter Herunter und bemerkte es mit Behagen, 
daß man ihn erkannte und ſich im Parterre feinen Namen zuzifchelte. Eben damals 
hatte von ihm der Seneralprocurator verlangt, er folle fein armeniſches Coſtüm ab⸗ 
legen, welches auf einen Bann, deſſen Anweſenheit in der Hauptfladt die Behörden 
nicht bemerken dürften, Allee Blicke lenken würde; flatt der Polizei Ihre Nachficht zu 
erleichtern, begab fich aber der Beächtete in feinem orientalifchen Kaftan tägliy in das 
Cafoͤ de In Roͤgence, um feine Schachpartie zu fplelen und mit den Schöngeiftern zu 
verkehren: 

Sein Emile hat durch den Kriegäruf gegen die Gefellfchaft und durch die Aufe 
flellung des Naturideald eine Mevolution in der Erziehungskunſt hervorgerufen, aber 
diefe Revolution befchränfte fi auf Die Verehrung der Natur — neben diefem uns 
beftimmten Cultus ftellte fie in dem idealen Kinde eine Buppe auf, die jenen Por⸗ 
zellanfigürchen glich, welche die Fabrik von Soͤvres für die Kaminconfolen lieferte. 
Emil darf nicht geflraft werben, denn „das Kind kann nichts moralifch Schlechtes 
thun; alfo darf man auch nicht leiden, daß ed nm Vergebung bitte." mil darf 
nichts aus Gehorſam thun,. Alles vielmehr nur aus Nothwendigkeit. Auch darf er 


"zu den Domeflifen fein s’il vous plait fagen, „denn das iſt nur eine arrogante Bitte. 


Er muß fagen: Faites cela“ Wenn diefe berrifche ierpuppe lefen lernen foll, fo 
bekommt fie ein Billet, welches fie für den kommenden Tag zu einer Sahnipeife ein- 
ladet, und Emil, der das Billet Iefen will, wird ber Luft ded Gaumenkitzels zu ver- 
danken haben, daß er lefen lernt. So wird dieſes unnatärliche Kunftmefen bis zu 
dem Augenblick fortgeleitet, wo Emil und feine Sophie vom Bouverneur am Hoch⸗ 
zeitötage über ihre ehelichen Pflichten aufgeklärt und zur Maͤßigkeit in der Erfüllung 
derfelben esmahnt werden. — Auch der große Kinfluß, welchen R.'s Politif auf die 
franzdflfche und europäifche Gefellihaft überhaupt übte, war nur eine unbeflinimte 
Anregung, die man bei alledem, daß fie die Leute gründlich dem Beſtehenden entfrem- 
dete, nur oberflächlich nennen kann. Bei feiner am Bolt gemachten Entdedung, daß 
baflelbe der Souverän ſei, der fih nicht täufchen Tann und neben bem fein anderer 
Souverän eriflirt, der Ihn zu corrigiren vermochte, — der fich feine Rechte nicht neh⸗ 
men, noch vermindern Tann, der ſich überträgt und delegirt und doc ganz und voll 
Rändig bleibt — der den Befehl aus den Händen giebt und ihn doch behält und 
Geſetze macht, Die den Geſetzgeber nicht verpflichten — diefe Verſtandesmyſtik, Die ſich 
in lauter gleichförmigen und einfürmigen Gegenfägen barftellte, Eonnte weber für bie 
Wiſſenſchaft fi fruchtbar ermeifen, noch die Seele derjenigen, die auf fle ſchworen, 
befonderd ausfüllen. Aber wohl Fonnte der Vergleich der beflehenden Staaten und 
ihrer Verfaflungen mit der Macht eines Souveränd, der fich aus aller Welt zufam« 
menfegt und zugleih in jedem Individuum perfonifleirt und mit der Uinfterblichkeit 
und Unveränderlichkeit Die Untrüglichkeit verbindet, die Leute in eine gereizte Stim⸗ 
mung gegen dad Beſtehende verfegen und R. felbft bat mit feinen Phrafen Alles 
dazu getban, dieſe Stimmung zur Leidenfchaftlichkeit zu treiben. Das Königthum kri⸗ 
tifist er 3. B. mit den Worten: „Ein Mann von wahren Verdienſt ift in einem Mi⸗ 
nifterium faft eben fo felten wie ein Dummfopf an der Spige einer vepublifanifchen Regierung“, 
oder: „Alles trägt dazu bei, einen Mann, der zum Commandiren über Andere erhoben ift, 
um Gerechtigkeitsſinn und um Bernunft zu bringen.” Die Regierungen im Allge- 
meinen, welches auch ihre’ Form fei, werden mit den Worten abgefertigt: „Sie find 


- mehr ober weniger Schlinghälfe," und die Gefellfchaft mit dem Ah! und Weh!: 


„Der freigeborene Menſch ſteckt überall in den Feſſeln.“ Als fein Dogma von der 
Bolfsfouveränetät fett 1789 in ber-conflituirenden und dann in der legiölativen Ver⸗ 
fammlung mit dem Königthum feine Kräfte maß und dann im Convent 1793 und 
1794 den Sieg davon trug und feine Bonfequenz, den Schreden des Abfolutismus, 
aus ſich gebar, ward R. ein wahrer Eultus gewidme. Am 21. December 1790 
decretirte ihm die Conflituante eine Bildfäule und feiner Wittme eine jährliche Penſion 
von 1200 Frs. Dichter Hatten fchon im Voraus Verſe für den Sodel feiner Bild» 


448 . Ronfleau (3. 3. Nachwirkung in ber Gegenwart.) 


fäule verfertigt, ein Bildhauer ſchickt der Nationalverfammlung das Meltef- Portrait bes 
Gefeierten zu, welches er auf einem Stein der Baftille ausgehauen bat, und die Ver⸗ 
fammlung befchließt, dieſes Relief in ihrem Sitzungsſaal zu placiven; Bouilly ſchreibt, 
um die Sage vom Selbfimord R.'s zu widerlegen, ein fentimentale® Theaterſtück: 
J. J. Rousseau & ses derniers moments, welches am 31. December 1790 aufgeführt 
wird; endlich decretirt Die Conſtituante am 27. Auguft 1791 dem Berfafler des „Emile“ 
und ded „Contract social“ die Ehren des Pantheon. Diefe Apotheofe wurde jeboch, 
nachdem fle der Eonvent am 14: April 1794 noch einmal befchloffen Hatte, erſt am 
11. October des genannten Jahres ausgeführt. (Beiläufig bemerken wir zur Ver⸗ 
vollſtaͤndigung des Artikels Pantheon, dab nach eintr Mittheilung des Bibliophilen 
Safob, die in dem Barifer Journal „Intermedlaite* zu Ende des Februar 1864 er- 
I&hien, die Gebeine R.'s und Boltaire’8 im Pantheon nicht mehr ruhen, vielmehr im 
Beginn der erfien Reflauration in einer Mainacht des Jahres 1814 aus Ihren Särgen 
genommen, in einen Sad geichüttet, In einem von ſechs Perfonen begleiteten Biacre 
nach der Barriere de la Gare gefahren und dort auf einem Plage, wo ein Entrepot 
für den Seine-Handelöverkehr eingerichtet werben follte, in eine dazu bereit gehaltene 
tiefe, mit ungelöfchtem Kalf gefüllte Grube gefchüttet worden find.) Die Statue, 
welche die Gonftituante R. decretirt Hatte, fam nicht zur Ausführung, eben fo wenig 
da8 Monument, welches das Directorium zu Ehren R.'s im Tuilerieengarten hatte 
errichten laffen wollen. Dagegen begann fchon unter dem Direetorium, nachdem bie 
Erecution des politifchen Tefaments des Bürgers von Genf die übertriebenen 
Erwartungen feiner Schüler und Verehrer nicht befriedigt hatte, Die Nachwirkung feiner fo « 
cialen Phrafen. Sein im Namen des reinen Menſchen und der Natur erhobener Kriegäruf 
gegen die beſtehenden Regierungsformen hatte zu einem bis dahin. unerhörten Abfolutismus 
geführt ; jetzt wollte man es klüger und gründlicher anfangen und im Namen der Abſtracta des 
Menfchen und der Natur die ganze Befellfchaft umflärzen und nad ihrer Befeitigung 
eine neue aufrichten. Die Verfhwörung Babeuf's (f. d. Art., fo wie den Art. 
Socialismus) im Jahre -1797 war der erfle Verfuch, R.'s fociales Teflament zu 
vollfireden. Unter Louis Philipp's Negierung und unter der Republik des Jahres 
1848 murde diefer Berfuh, nachdem des Altern Bonaparte’8 Kalferreih und die 
politifchen Debatten der Reflauration das Andenken R.'s verpönt ober zurüdgebrängt 
hatten, wieder aufgenommen und endlich praftifeh In Scene gefeßt. So begann R.'s 

4) Nachwirkung In der Gegenwart. Die Darftellung derfelben gehört 
dem Artikel Socialismus an; Hier werden wir nur einige feiner Definitionen anfüh- 
ven, welche die ganze theoretifche Pauvrets der Berfreter und Sprecher dieſes fpäteren 
Socialismus beweifen und zeigen werden, daß diefelben mit Unrecht ſich einbilpen, 
auh nur einen neuen Sag (maß freilich fehr groß wäre und dad Vorrecht der 
Entdeder bleibt) aufgeflellt zu Haben. Sein Schrei gegen die fociale Ungleichheit 
(im Discours sur l’origine et les fondements de l'incgalite parmis les hommes) 
„fle befteht in den Privilegien, deren Einige zum Schaden Anderer genießen, wie 
z. B. reicher, geehrter, mächtiger zu fein und dadurch den Gehorfam der Andern zu 
erzwingen“, dieſer Schrei erlaubt un, die ganze Bibliothek der fpäteren und neueren 
ſocialiſtiſchen Declamationen gegen die Vorrechte und Privilegien bei Seite zu werfen. 
Wenn er in der Vorrede zu feinem Narciſſe fagt: „In einem wohlconftituirten Staat 
find Die Menſchen fo durchgaͤngig gleich, daß Keiner den Andern als der Gelchrtere, 
nicht einmal als der Geſchicktere, ſondern hochſtens als der Beſſere vorgezogen werben 
kann; doch iſt freilich dieſe letztere Unterſcheidung oft gefährlich, da ſie Schufte und 
Heuchler erzeugt“ — wenn er ferner in demſelben Aufſatz dem Princip des Wett⸗ 
eifers einen erbitterten Krieg ankündigt, von den Ausfchweifungen der Concurrenz ein 
büfteres Gemälde entwirft und nur dad devouement ald Motiv zum Handeln aner- 
kennen will, — — fo wird uns dadurch der ganze Louis Blanc entbehrlih und 
überflüffig. Die Stelle feined contract social, in welcher er das erfle Auftreten des 
Eigenthums fchildert: „der Erle, der ein Stück Land umzäunte und fich zu jagen 
vermaß: dies Land gehört mir, und Leute fand, welche einfältig genug waren, dies 
zu glauben, war der wahre Gründer der menfchlihen Geſellſchaft“, ift befannt. Das 
Cigenthum verflucht er jedoch nur fo weit, ald er die Befellfehaft verdammt; wenn 


j 


Ronſſin (Albin Heine, Baron). 449 


er diefe, wie es im verbälmigmäßig gemäßigten coniract social gefchieht, gelten laßt, 
jo erkennt er auch als ihre Grundlage das Eigenthum an und verlangt nur, baß das 
Geſetz daflelbe regele und feine Mißbräuche verhüte, — alfo ganz die Weisheit 
Louis Blane's, der feiner flarfen Megierung die Aufgabe ftellt, Das Eigenthum zu 
ordnen. In dem an ſich unbedeutennen Discours sur PEconomie politique, den er 
für die Enchklopädie gefchrieben hatte, macht er das Geſetz, d. 5. den allgemeinen 
Willen, zum abfoluten Herrn, der die Konvention, auf der das Eigenthum berube, 
befländig verfchieben und die Ordnung deſſelben modificiren kann, — alſo wiederum 
diefelbe neue Weisheit! „Ein Mentier, fagt er ferner, den man für fein Nichtéthun 
bezahlt, ift für und von dem Räuber, der auf Koften der Vorübergehenden lebt, 
nicht verfchieden” — da haben wir Proudhon's: „Eigenthbum ift Diebſtahl“. Sein 
Sag endliy: „ein Großer Hat zwei Schenkel wie ein Ochfentreiber und nur einen 
Bauch wie dieſer“, if das Thema der materialiftifchen Communiſten von Babeuf an 
bis zu den Fanatikern der Parifer Junitage des Jahres 1848 und laäßt und bie 
Herrlichkeiten des wilden Naturlebens ahnen, in welches er die Leute aus ber ver- 
derbten Befellichaft zurüdführen wollte. Wir baben dfter, z. B. in den Artikeln 
Proteſtantismus und Nevolntion, darauf hingewieſen, daß der Engländer fi mit 
dem Gedanken trägt, er möchte wohl dazu: berufen fein, die von den Franzoſen ver⸗ 
pfufchte Revolution auf den confervativen Grundlagen des eigenen Hausweſens und 
des Bemeindelebens zur Meife ver Männlichkeit zu erheben. So viel ifl gewiß, daß 
die Mevolution, fanımt ihren focialiftifchen und communiftifchen Ausläufen, unter Der 
Direction der Branzofen ein weibiſches Werk war und nur eine gereizte, hyſteri⸗ 
Ihe Stimmung und Berflimmung gegen die Wirklichkeit zu ihrer Grundlage hatte. 
Ueber die bloße Stimmung und Verſtimmung iſt aud R. nicht hinausgekommen und 
in diefer Beziehung der vollendete Typus der Weibernatur des Branzofen. Er 
war der Borläufer der modernen bvermeibifchten Männer, (Zur Literatur bemerken 
wir noch, daß, was die Muflk betrifft, feine Consolations des Miscres de ma vie, 
eine Sammlung von gegen hundert Momanzen und Heinen Arten, in denen er ver» 
ſchiedene Stinimungen feines Lebens wiedergegeben bat, am meiften den Beifall der 
Liebhaber erhalten hatten. Bon feinem Dictionnaire de Musique fagt ein Mann von 
Sach, Gaflil-Blaze, e8 babe nur den beredten Declamationen, die e8 enthält, feine 
Erhaltung zu verdanken; der didaktiſche Theil fei faft in allen Punkten fehlerhaft und 
der Berfaffer beweiſe überall, daß er felbft nicht verfland, was er dem Lefer erklären 
will. Seine 1805 zum erflen Mal gedrudte und mit 65 colorirten Rupfertafeln aus» 
geRaitete Bolanique Hat nur als Andenken an feine Befchäftigung mit der Pflanzen» 
welt, in deren Anblid und Studium kr Troft und Erheiterung in feiner Mifanthropie 
fuchte, Intereffe. Auf feine oben noch nicht erwähnte Fleinere Schrift: Lellre à Mr. 
d’Alembert sur les Spectacles, die er abfaßte, als Voltaire für die Errichtung eined 
Theaters in Genf fich bemühte, werden wir im Artikel Voltaire näher eingeben, wie 
wir in dieſem Artikel überhaupt auf ihn wieder zurüdfommen werden. Don ben Ge- 
fammtaudgaben feiner Werke find diefenigen die beften, an deren Redaction ſich feit 
1818 de Muffet-Pathay betheiligt bat; demſelben verdanft man auch eine Hislöire 
de la vie et des ouvrages de J. J. R. (Paris 1821, 2 Bde.). De Girardin ver- 
öffentlichte 1824 eine Abhandlung sur la mort de J. J. R.), 

Rouſſin (Albin Meine, Baron), franzöftfcher Admiral, geb. d. 21. April 1781 
zu Dijon, der Sohn eines Advocaten am Parlament von Burgund. Er trat früß- 
zeitig in den Geebienft, befand ſich auf der „Semillante”, die von 1803 bis 1808 
fi in Einzelfämpfen in den Indifchen Meeren einen Namen machte, und nahm 1810 
an dem Gefecht von Brandport (Ile de France) Theil, in deffen Kolge er Fregat⸗ 
ten-Gapitän wurde und ald Kommandant ber Sregatte „Bloire* von 1812 His 1814 
dem Feinde mannichfachen Schaden that. 1817 bis 1821 führte er im Auftrag der 
Regierung die hydrographiſche Unterfuchung der Welfüfte von Afrika und ber Küften 
von Brafllien aus; dad Ergebnif der Iegteren Expedition theilte er in den Werke le 
pilote du Bresil mit, außerdem gab die Negierung feine Seekarten heraus. 1828, 
nachdem er zum Contreadmiral ernannt war, ging er an der Spitze eined Geſchwa⸗ 
ders nach Brafilien und erzwang von dieſem Reich Entfchäpigung für die den Bran- 


Wagener, Staate⸗ u. Geſellſch⸗Lex XVI. 29 


50 Rovigno. 


zoſen bei der Blokade von Buenos Ayres zugefügten Nachtheile. 1831 wurde er nach 
Portugal geſchickt um für die am franzöflfchen Reſidenten ausgeübten Inſulten Genug» 
thuung zu fordern; er erzwang, da Dom Miguel diefe verweigerte, den Eingang des 
Tajo (am 11. Juli 1831) und erhielt in 24 Stunden die Erfüllung feiner Forde⸗ 
rungen. Hierauf zum Biceadmiral, Pair und Baron ernannt, bekleidete er von 1832 
His 1840 den Poſten eines Botfchafters in Konflantinopel, bemühte ſich aber vergeb- 
Lich, gegen Rußland und England eine eigene Politik Frankreichs in den orientalischen 
Angelegenheiten durchzuführen, und ſah ſich gezwungen, die Gollectionote vom 28. 
Juli 1839 zu unterzeichnen, durch welche Frankreich feinen Beitritt zur Politik jener 
beiden Mächte erklärte. Aus Konftantinopel zurüdberufen, übernahm er zwar im 
Miniflerium Thiers' vom 1. März 1840 das Vortefeuille der Marine, trat aber mit 
feinen Collegen aus, als Louis Philipp das Opfer einer eigenen orientalifhen Poli⸗ 
tik beflätigte. Nur kurze Zeit verwaltete er 1843 noch einmal das Marineminifterlum. 
Nach dem Staatöftreih vom 2. Dechr. 1851 ward. er megen feiner amtlichen Stel- 
lung zum Senator ernannt. Er flarb im Februar 1854. ’ 
Rovbigno. An der vom Lemecanal befpälten Erdzunge in Sübiftrien erhebt fidh 
N. auf einem Felſen im Meere zwifchen zwei Buchten. -Die eine bildet den bejuchteflen 
Hafen, Die andere von weiterem Umfange dient den größten Schiffen ald Zufluchts⸗ 
flätte. Die älteſten Urkunden von Iftrien ſchweigen gänzlih von R. Der alte Name 
Arupenum oder Nubinum hat auf die Bodenbeſchaffenheit feinen Bezug und iſt troß. 
feines Ausgangs nicht Tateinifchen, fondern Eeltifchen Urfprungs, wie fo viele andere 
Namen von Orten an der iftrifchen und mittelländifchen Küſte; fo Elingt auch ber 
zweite Selbfllaut im Namen R. mehr wie e als i, und wird auch jegt vom Volke 
Movegno audgefproden. Bon den Aquilefaer Patriarchen den Biſchofen von Parenzo 
als Geſchenk überlaflen, erfcheint R. im Mittelalter unter den anfehnlichfien Feſtungen 
der Provinz, und vor noch nicht vielen Jahren umgaben feſte Mauern den Felſen als 
Mittelpunkt der Wohnungen, welche durch einen natürlichen oder künſtlichen Seecanal 
von den Vorſtädten auf dem feften Lande geichieden waren. Heutzutage beftebt diefe 
Sonderung nicht mehr und die vielen Dicht an einander flehenden Wohnungen bilden 
nah Trieft die bevälkertfie Stadt der Halbinſel mit mehr als 11,000 Einwbhnern. 
Ueber den älteſten Stadttheil ragt Die der Schußheiligen Eufemia von Ghulcebonien 
geweibte Kirche nebſt Thurm von edelflem Styl. R. war und iſt ein in vielen Be- 
ziehungen wichtigere Ort. Seit langer Zeit beſtehen hier eine Propflei und ein Stifts- 
capitel. Im Jahre 1330 entzog ſich R. den Patriarchen von Aquilefa und trat zur 
venetianifhen Republik über, deren Kerrfchaft von Gapodiftria, Parenzo, Cittanuova, 
Omago, S. Lorenzo, Montona und Pirano fehon früher anerkannt worden war. R. 
ergab fich gleichzeitig mit Pietra Pelofa, welchem Beifpiel im näcdhften Jahre auch 
Pola, Dignano und Valle folgten. Bis zu Ende der Republik ward es als Ge 
meinde unter einem von der venetianifchen Republik ihr zuerfannten Podeſta regiert, 
und unter venetianifcher Flagge maren die Rovigneſen madere Küftenfahrer und be» 
rühmte Piloten. Während der italienifchen Regierung war ed der Sig einer Vice⸗ 
präfectur, jegt find bier mehrere: Behörden des Kreifed gleihen Namens, und nad 
vielen Jahrhunderten bewährt R. feinen alten Auf in der Schifffahrt und iſt noch 
immer der Sig der kundigſten Lootſen. Die Umgegend von R. wird von Lanbleuten 
bebaut, die zwar italienifhher Abkunft find, aber fi) von den andern Infaflen Durch 
eine Mundart unterfcheiden, deren Herleitung zu vielen Forſchungen veranlaffen Fönnte; 
denn es ift wirklich auffallend, daß auf derfelben Halbinfel, fa fogar auf einer beeng⸗ 
ten Küftenftrede eine fo große Sprachverfchiedenheit wie einft, fo auch größtentheils 
noch fegt vormalte. Man bält den Dialekt in Trieft und Muggia für einen venetia= 
nifhen mit friaultfchen Biegungstormen; die alten Urkunden beweifen jedoch dad Ge⸗ 
gentheil. Capodiſtria bat noch immer die venetianifche Mundart mit örtlichen Eigen- 
thümlichkeiten; an der ganzen Gentralfüfte bis Pola fpriht man rein venetianiſch; 
ver Dialekt von R. hingegen weicht vom venetianifchen völlig ab, und laßt ſich nicht 
leicht mit Beftimmtheit einem andern der italienifchen Halbinſel beigefellen. Er ift 
aber ficher nicht durch die Verſchmelzung zweier von einander an Gharafter abwei⸗ 
hender lebender Sprachen entflanden, fondern vielmehr von den verfchiedenen Völker⸗ 


Rowe (Nicholas). Noyalismuo. 451 


ſchaften herzuleiten, welche bei der Annahme der neuen Sprache die Biegungen und 
Laute ihres urſprünglichen Idioms beibehalten haben. Zweifelsohne hat R., als ein⸗ 
ſtige keltiſche Gemeinde, ohne ſich mit den römifchen Colonen zu vermengen, im eigen» 
thümlichen Dialekt den Beweis feiner Abkunft bewahrt. Der Rovigneſer Bauer wohnt 
nicht auf dem flachen Lande, auch nicht vereinzelt mit feiner Familie, fondern gefällt 
fh Im Zuſammenleben und in flädtifchen Sitten. Er kehrt Abends in die Stadt 
zurüdh, Die er Morgens verlieh; auch fein Landhaus, der Mittelpunkt feiner Wirth- 
ſchaft, ift in der Stadt. Er bat dieſe Lebensweife mit allen Bauern italientfcher Ab⸗ 
Tunft gemein, während der Slawe fehr häufig einfam zerfireute Käufer bewohnt. 

Howe (Nicholas), englifcher Dramatiker, geb. 1673 zu Berkford in Bedford⸗ 
fhire, ward in feinem 16. Jahre Rechtsſtudent in London und fihrieb 1700 fein 
erſtes Drama The ambitious stepmother, das ziemliche® Glück machte, worauf er fi 
ganz der Poeſie ergab. 1702 fchrieb er feinen Tamerlane, in welchem er feinen eigenen 
König William verherrlichte, während alles Gebäfflge der Tyrannei deſſen Gegner 
Bafazet, d. 5. Ludwig AIV. aufgebürdet wird. Tamerlan tritt in dem Stud ald ein 
ſtoiſch⸗ chriſtlich⸗ moraliftrender Furſt, Bafazet dagegen als ein mwuthichnaubender und 
nichtöverfchonender Tyrann auf. Es folgte darauf 1703 The fair penitent, eine Nach⸗ 
ahmung des Maffinger'fchen Trauerfpield: The fatal dowry. 1705 fchrieb er daß 
Lufifplel The biter, den einzigen Verſuch diefer Art, 1706 den Ulysses, 1708 The 
royal convert (aud der englifchen Vorgefchichte), 1713 erfihien feine Tragödie Jane 
Shore und 1716 fein letztes Stüd: Lady Jane Gray, daffelbe ift fein beſtes Stüd 
und bat fi bis auf unfere Zeit in der Bunft des Publicums erhalten. Morig 
Rapp in feinen vortrefflihen „Studien über das englifche Theater” (Tübingen 1862) 
macht über dieſes lezte Stu R.'s die Bemerkung: „Das Freundespaar Builford und 
Pembroke Hat eine frappante Familienähnlichkeit mit Schiller's Carlos und Poſa, 
dieſelbe Leidenfchaftlichkeit und  diefelbe Edelmuths⸗- und Aufopferungdfeligfeit, und 
dem Hauptcharakter, der freilich zu paffio ift, ald daß er eine gute Titelrolle abgeben 
fönnte, If} von Haus einige Nehnlichkeit mit der untergebenden Maria Stuart ange- 
boren. Vielleicht ift aber diefer Zufammenhang nicht fo ganz zufällig, wie es etwa 
feinen möchte. Es iſt befannt, dag Wieland fih in jüngeren Jahren mit einer 
deutfchen Ueberſetzung des Rowe'ſchen Stüdes befchäftigte; es iſt gebrudt und der 
junge Schiller bat es höchſt wahrfcheinlich auch zu Geſicht befommen; er kann einige 
Eindrüde davon in fi} hinüber genommen haben." R. lebte als wohlhabender Mann’ 
und ſchrieb darum mit Behaglichkeit und ohne Geldinterefie. 1709 gab er eine neue 
Ausgabe des Shaffpeare, vie er nicht unglüdlich emenbirte, mit der Biographie bed 
Dichters Heraus. Auch feine engliſche Ueberſetzung von Lucan's Bharfalia wird ge- 
ſchätzt. Er farb 1718 und ward in der Weftninfter» Abtei begraben. 

Royalismus, abgeleitet von dem frangöftfchen Worte „roi“, König, bezeichnet 
die aus Vaterlandéliebe und Mflichttreue hervorgegangene Anbänglichkeit an Daß 
Königtdum im Begenfage zu Demokratismus und Mepublifanismus. Es iſt durchaus 
nicht richtig, Daß man unter M. ſich den Gegenfaß zu Conſtitutionalismus oder Libe- 
ralismus denft und die Gefchichte des M. beweift dies sur Genüge; indeß iſt es gang 
und gäbe geworben, diefe Bedeutung dem Begriffe zu fupponiren, obwohl er die 
Definition einer Anhänglichkeit an dad durch eine. Verfaffung im modernen Sinne 
beſchraͤnkte Königthbum nicht ausfchlieft. Gerade ſchon die Entflehung des Namens 
R. ſchließt dieſe enge Definition aus, denn man bezeichnete mit dem Namen Roya⸗ 
liſten zuerft in England die Anhänger König Karl's I. aus der Kamille der Stuart's, 
weldye fih der vom Parlamente beliebten Befchränfung der föniglichen durch Die Ver⸗ 
faffung felbft Heflimmten Gewalt widerfegten und in Treue zu feinem Haufe flanden, 
Diefe. Royaliſten waren e8 demnach gerade, welche auf ihrem guten biftorifchen Mechte 
fußend, die Aufrechtbaltung der englifchen Verfaſſung anftrebten, und es ift ihnen 
aus ihrem Vorgehen in jener Zeit auch niemals der Vorwurf gemacht worden, bie 
verfaffungdmäßigen echte der Stände zu Gunſten des Königthums haben verfümmern 
zu wollen. Anders ftellte ſich allerdings das Berhältnig der ronaliftifchen Partei 
Englands nah dem Tode Karls I. zu der nunmehr bHerrfchenden Gewalt. Die 
Zurüdführung der Stuart’8 mußte nothwendig eine Reaction zur Folge haben, da es 

29 * 


452 . Royer⸗Collard (Pierre Baul). 


fih darum handelte, die beſchränkte Fönigliche Gewalt wieder in den Stand zuräd- 
zuverfegen, den fie zur Zeit Jacob's I. eingenommen hatte. Daß diefes Unternehmen 
mit der Vertreibung Jacob's II. 1688 fcheiterte, ift bekannt, doch gaben die Roya⸗ 
liften damit ihre Beftrebungen nody nicht auf. So Tange der Stamm der Stuart’s 
legitime männliche Nachkommen zählte, hielten die engliſchen Royaliſten treu zu ihm 
und mannichfady waren ihre Verſuche, denfelben auf den Thron der drei Königreiche 
zu reflauriren. Erſt wit dem legten Prätendenten flarb diefe Hoffnung und feitvem 
fommt audy der Name R. ald Bezeichnung einer politifchen Partei in England nicht 
mebr vor. — In der politifhen Geſchichte Schweden! bezeichnete man als An⸗ 
bänger des M. diejenigen, .welche den monardhifchen Tendenzen Guflav’3 II. und 
Guſtav's IV. ihre Unterflügung lieben, und auch in Spanien gab man der Ans 
hänglichkeit an die durch Napoleon I. entthronten Bourbonen diefe Bezeichnung, 
wie man fie auch in Frankreich zu den Zeiten der Republik und des erften Kaifer- 
reichd für die Beförberer der Reftauration der Bourbond mühlte Nach erfolgter 
Neflauration erhält der Name R. wieder eine engere Definiton, indem er nur noch 
das Streben jener politiihen Partei bezeichnete, welche die völlige Wiederherſtellung 
ded monarchiſchen Königtdumd durch Aufhebung der Charte auf ihre Fahne geſchrie⸗ 
ben trug, und wieder erweitert wird derfelbe Begriff in feiner Anwendung auf die⸗ 
felben Anhänger der Bourbond nach der Thronerledigung 1830, die jept eine neue 
Meftauration anftrchten, aber unter Aufrechthaltung: und felbft unter weiterer Aus⸗ 
dehnung der Eharte. Nach der Bebruar-Mevolution des Jahres 1848 benannte man 
die Anhänger der vertriebenen Orleans ebenfalld mit dem Namen Royaliften, ſeitdem 
aber ift ed Sitte geworben, diefelben je nad) ihrem Beftreben, die alte legitime Königs. 
familie der Bourbond oder die der Orleand auf den franzöflihen Thron zurüdzufüh- 
ren, entweder Legitimiften oder Orleaniften zu nennen. (VBergleihe auch den Artikel 
Fuſion.) Auh im Königreich Neapel und Gicilien gebraudte man im 
Unfange diefeö Jahrhunderts die Bezeichnung R., im Gegenfage zu Eonflitutionalis» 
mus für Die Beftrebungen der Bartei der Königin Karoline und des Cardinals Ruffo 
gegen Einführung der Verfaffung (vergl. den Artikel Sicilien, politiſche Befchichte), 
und nach erfolgter Annerion der beiden Königreiche an Das Haus Piemont-Savopen, 
1859, gab man den Nımen Rohyaliſten auch hier wieder allen Anhängern des Haufe 
Bourbon ohne Rückſicht darauf, ob das zu reflaurirende Königthum ein befchränftes 
oder unbefchränftes fein follte. 

Royer⸗Collard (Pierre Paul), Begründer der Doctrinären Partei in Frankreich, 
geb. den 21. Iuni 1763 zu Sompuis in der Champagne. Bon feinem Elternhaus, 
befonder8 von feiner Mutter und dann von feiner Gemeinde ber Elebte ihm etwas 
Janfeniflifches an; in den Provinzialfchulen, die er befuchte, intereffirte er fich befan« 
ders für Mathematik und Fam zu ihm auch etwas von der Skepſis, die ſich von der 
Hauptſtadt aus verbreitete; in Varis fludirte er feit 1782 Die echte und fungirte 
von 1787 bis 1789 ebendafelbft als Advocat. Er verkehrte hauptſaͤchlich mit dem 
vermögenden und gebildeten Bürgertbum, welches ſich für die neuen Ideen erklärt 
batte, aber fern davon war, ſich jeder neuen Strömung und Volksſtimmung hinzugeben, 
und von den neuen Gedanken fi die Ruhe nicht flören Taffen wollte. R. war in 
feinem DBiertel ein Mann von Einfluß geworden. Nach der Einnahme der Baflilfe 
wurbe er, bis Tallien ihn ablöfte, zum Gecretär des Stadtraths von Paris ernannt; 
nah dem 10. Auguft befämpfte er in feinem Biertel bie Jakobiner und zwar eine 
Zeit Tang mit Erfolg, bis ihn die Schrediendherrfchaft bemog, ſich in feine Heimath 
zurüdzuzieben. 1797 wurde er in den Rath der Fünfhundert deputirt und fuchte in 
biefem Wirkungskreiſe jede weitere Revolution zu verhindern, aber aud) Alles, was 
er für Meform bielt, zu fihern. Diefe Behutſamkeit brachte ihn beim Directorium in 
den Ruf eines Royaliſten und er wurde am 18. Fructidor aus dem Rathe der Fünfs 
hundert audgefloßen. Der Staatsftreih dieſes Tages erfhütterte ihn tief; er warb 
überzeugt, daß die anarchifhen Elemente eined entfchledenen Zügels bedürften, und 
wirfte 6i3 zur Krönung Napoleon’8 ald Mitglied des von Ludwig XVII. in Frank⸗ 
reich bervorgerufenen geheimen Eonfeild für die Neflauration. 1810 warb er durch 
Bermittelung Fontanes' Profeffor der Gefchichte der neueren Philofophie an ber 


Royle (John Korbes). Aubend (Peter Bau. 453 


Facultät des lettres und fludirte um dieſe Zeit befonders bie fchottifche Philo— 
fopbie (f. d. Art.). Endlich kam die Neftauration, aber nicht in feinem Sinne, 
der von der Mevolution die conftitutionellen Garantieen bewahren und von der 
Reaction nur den König empfangen wollte 1815 kam er in die Deputirtentammer, 
ward darauf Staatsrath und (1816) Präffdent der Commiffton für den öffentlichen 
Unterricht, in weldher Stellung er ſich befonderd dur die Gründung der Lebrftühle 
für die Befchichte verdient machte. 1820 gab er jedoch diefe Stelle wieder auf, als 
die Partet der Reaction die Oberhand erhielt. Er wollte die Freiheit, aber als daß 
wefentlichfle Mittel zur Behauptung derſelben betrachtete er die Gleichheit, in welcher 
er das größte Product der Revolution ſah. Das conflitutionelle Syſtem follte Die 
Mafien nicht niederhalten, fondern ordnen und leiten. Nur die Conceſſton machte er, 
daß er eine Stütze für nothwendig hielt, und diefe fand er, abgefehen von der 
Unverleglichkrit deB Könige und der Thronfolge, in einer erblichen Pairie; er 
ging dabet von dem Grundſatze aus, daß es in Pranfreih nur zwei Stände 
geben fönne: Volk und Pairs, welche Meberzeugung er auch nach der Juli-Revolu⸗ 
tion fefthielt, ald ihm feine Freunde entgegenhielten, daß die Pairie in Frankreich 


‚nicht mehr die nöthigen Wurzeln in den Inflitutlonen und die erforderliche Anerfen- 


nung in der Befellfhaft beſitze. Nachdem er 1820 mit den Megierungdfteifen ge⸗ 
brochen Hatte, war er ald Iournalift, 3. B. (mit Guizot) am „Eourrier* thätig und 
bildete in der Deputirtenfammer mit feinen Freunden und Schülern eine Fraction, 
welche den Namen der Doctrinärd erhielt. Ohne ſich der Linken förmlich anzu- 
jchließen, erwarb er ſich doch durch feine Oppoſition gegen einzelne Megierungd-Bor« 
ſchlaͤge das Anſehen eines Vorkaͤmpfers der Hberalen Partei, ward 1827 in fleben 
Wahleollegien zugleich gewählt und 1828 als Präfldent der Kammer von der Megie- 
rung beftätigt. Als folcher überreichte er Karl X. am 2. März 1830 die Adreffe der 


. 221. Nach der Julirevolution betheiligte er fich nicht mehr an den parlamentarifchen 


Kämpfen, erhob fih z. B. nur noch gegen Guizot, als diefer 1835 die September» 
gefege durchfegte, und tadelte die Theilnahme der Doctrinärd an der Goalition von 
1839 gegen das Minifterium Mole. Seitdem zog er fih vom politifhen Schauplage 
ganz zurüd und flarb den 4. Septeniber 1845 auf feiner Bellgung Chateauvieurx bet 
St.-Aignan. Als Philoſoph hat er auf Jouffroy und Couſin eingewirft und Erfterer 
bat feine FEleinen philoſophiſchen Arbeiten in der Ueberfegung von Reid's Werken 
(Baris 1836) gefanmelt herausgegeben. 

Rohyle (John Forbes), geboren gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, geftorben 
zu Acton am 2. Januar 1858, war früher Director des botanifchen Gartens zu Saha⸗ 
tunpore, zulegt Profeſſor der Materia medica am Kings-College und Gurator des 
Mufeumd der oflindifhen Compagnie zu London. Er war der gründlichfle Kenner der 
Naturproducte Indiens und iſt audgezeichnet durch eine Reihe darauf bezüglicher Werke, 
von denen wir hier nur „Ilustrations of the botany etc. of Himalayan mount and 
of the flora of Gashmere*“ (London 1833 ff) nennen. 

Rubens (Peter Baul), der glänzendfie Mepräfentant des modernen Styls in 
der niederlaͤndiſch belgifchen Malerfchule, geboren zu Köln a. R. am 28. Juni 1577, 
entflammt einer Familie des fläbtifchen adligen Patrictatd in Antwerpen, die dem 
Mathe diefer alten Handelsfladt eine Reihe von Schöppen und felbft Bürgermeifter 
gegeben hatte. R.'s Vater verließ ein Jahr vor der Geburt des Sohnes, welcher 
den Namen der Bamilie zu fo hoͤhem Ruhme zu bringen beflimmt war, wegen ber 
friegerifchen Unruhen der niederländifchen Befreiungsfämpfe feine Heimath, blieb bis 
zum Jahre 1580 in Kö, kehrte dann aber nadı Antwerpen zurüd und ſtarb dafelbft 


1590. Die Erziehung des fungen R. war bis dahin auf ein nachträgliche® gelehrtes 


Stadium berechnet gemeien, entfprach aber Teineswegs dem lebensluſtigen Naturell des 
Knaben; man brachte ibn deshalb nach des Vaters Tode flatt auf die lateiniſche Schule 
in das Haus der reichen und fihönen Gräfin von Ralaing in Antwerpen, mo er drei 
Jahre ald Page blich und im täglichen Verkehr mit der gebildeten und fchönen Welt 
fh jene angenehmen Umgangöformen zu eigen machte, denen er fpäter feinen Auf als 
vollendeter Cavalier verdanfte. Hier auch in dem reichen Haufe der Oräfin, wo die 
Schöngeifter und die Künftler Flanderns und Brabants eine gaftfreie Stätte fanden 


454 Aubend (Deter Paul). 


und das Adam van Dort, ein Schüler Quentin Mefiys’, mit feinen genialen Genre⸗ 
- Bildern ſchmückte, bereicherte R. feinen Geiſt mit einer Fülle menſchlichen Wiſſens aus 
allen Bädern, und in ihm entfland die Liebe zur Malerei, die ſich bald durch fein 
bewundernswürdiges Talent für dieſe Kunft feiner fo bemächtigte, daß er, den Dienfl 
feiner ſchoͤnen Herrin aufgebend, Federhut und Degen mit Palette und Pinfel ver- 
taufchte und als Schüler In van Oort's Atelier trat. Bei diefen und unter van 
Veen's Leitung machte er in Kurzem fo große Bortfchritte in der Kunft, daß die Meifter 
die Unzulänglichfeit ihres Wiſſens für einen foldden Schüler, aufrichtig befannten und 
ihm rietben, nach Italien zu gehen und dort, wo die Malerei in der römifchen und 
venetianifchyen Schule eben ihre größten Triumphe feierte, feine Studien fortzufegen. 
N. folgte dem Rathe, ging mit Empfehlungen feines hoben Gönners, des Bouyer- 
neurd von Brabant, Erzherzogs Ludwig Albrecht von Defterreih nah Mantua, wo 
ihn der Herzog Vicentio von Gonzago zu feinem Hofcavalier ernannte, beſuchte von 
bier aus Mom, Blorenz, Venedig, Genua, fludirte vorzugsweife Die Werfe des Tizian 
und des Paul Beronefe (vergl. dieſe Artikel), mit denen er fich verwandt fühlte, 
und gewann jeßt ſchon duch die Werke feines Pinſels Ruhm und, Bewunderung. 
König Philipp IV. lud ihn 1604 an feinen Hof, ließ fi von ihm malen und über» 
häufte ihn mit Ehren und Geſchenken; 1606 nach Wantua zurüdgefehrt, verließ er 
diefe Stadt im folgenden Jahre, um feine in Antwerpen erkrankte Mutter zu befuchen, 
verfiel, als er bei der Ankunft in der Heimath diefelbe jedoch Ichon als verflorben 
betrauern mußte, in Tieffinn und lebte viele Monate in der flillen Zurückgezogenheit 
des Klofters St. Michel. Künftlerifche und wiſſenſchaftliche Thätigkeit jedoch, der 
Zufprudy der Sreunde und die Aufträge, mit denen man ihn Überbäufte, gaben ihn 
dann dem öÖffentligen Leben wieder, und jegt trat fein Alles umfaſſender Genius, 
feine rieſige Schöpfungskraft und Erfindungdgabe, fein bewunderungsmürbiges Com⸗ 
pofltionstalent, die XeidenfchaftlichFeit feiner Darftellungsmeile, mit der fi eine Aufl 
am Schaffen verband, wie bei keinem Maler vor ihm, auf's Glaͤnzendſte zu Tage. 
Hiermit in engfler Verbindung fland eine hohe technifhe Bravour, eine kühne groß⸗ 
artige Zeichnung und ein prächtiges wie Barbeneruptionen glühendes Colorit, Dem 
zwar die edle Einfachheit der elaſſiſchen Schulen und die ruhige Schönheit der Antike 
abging und das vielleicht allzu fehr aus einem Streben nach Effect und Pomp bervor- 
gegangen jein mochte, das aber durch Kraft und Beweglichkeit jene Fehler vergeflen ließ. 
R.'s quantitative Fruchtbarkeit ift erſtaunlich; zwar erreicht die Zahl der ihm zugefchrie- 
denen Gemälde nicht zum vierten Theile die Summe von fünftaufend, die ihm feine Haupts 
bewunderer nachrechnen, aber es ift Thatfache, daß er einige feiner größten und beften Ge⸗ 
mälde in einer Zeit von etwa zwei bis drei Wochen ohne jegliche Beihülfe vollendete. Dabei 
arbeitete er in allen Genren feiner Kunſt; in der Bielfeitigfeit feines Schaffens war er gleich 
groß als Tragifer, Humorift und Lyriker, als Hiftoriler, Landfchafte« und Thier« 
maler: mit feinen herrlichen Altarbildern ſchmückte er die Kirchen, mit feinen biflori- 
fhen Gompofitionen die Salerieen der Großen und der reihen Municipien und mit 
feinen föftlichen im derbſten Humor feine Heimathlandes gehaltenen Senrebildern die 
Prunfzimmer der großen Handelsfürften und fläbtifchen Batrizier. Seine berühmteften 
Bilder in Ddiefen verfchledenen Nichtungen feiner Kunft find: die „Kreuzabnahme — 
mit den beiden Slügelbildern in der Kathebralficche zu Antwerpen und die „Kreuzigung 
des heiligen Petrus" in der Peterskirche in Köln, wo MR. getauft wurbe; in ber 
biftorifcgen: die „Amazonenſchlacht“ und die allegorifch ausgeführten einundgwanzig 
Bilder aus der Gefchichte der Königin von Frankreich, Maria von Medicis, In ber 
Galerie des Lurembourg; in der Iprifchen: „das Urtheil des Paris" und „die Züch- 
tigung Amord”; im Genrebild: feine verfchiedenen „Bauern- Hochzeiten” und „Bauern 
Tänze”, im Portrait: das Bild des Königs von Spanien, Philipp's IV., des Königs 
von England, Karl’s I., der Königin von Frankreich und vor Allem das mehrfach 
vorhandene feiner fehönen zweiten Battin, Helena Forman. Auch um die Zeichen» und 
Kupferftehfunft, fo wie um die Berbefferung der Holzfchneidefunft hat M. viele Ver⸗ 
dienfte; feine Zeichnungen nad Michel Angelo, Rafael, Tizian, Beronefe, Romano 
und Underen find mie feine Kupferägungen mit großem Fleiße ausgeführt und von 
wirklichem Kunſtwerthe. R. Tann mit gutem Mechte als der Schöpfer eines neuen 


Ainbend (Peter Paul). . 455 


Kunfl «Epoche gelten, indem er zu einer Zeit, wo der durch die Meformation regene⸗ 


sirtte Katholicismus ſich nur in oppofttioneller Leidenfchaftlichfeit und glühendem 
Sanatidmud der Malerei bediente und der Proteftantismud in einer neuen Zeit des 


Bilderſturms dieſe Kunft der Darfiellung ganz aus den heiligen Hallen verbannte, 


hie Elemente eines gemäßigten Naturalismus der Kunft zuführte, bie in einem incar- 
nirten Realismus und Waterialiamus beinahe entartet war. Wir haben ſchon oben 
gefagt, daß R. in der Darftellung die antife Ruhe der claſſiſchen Schulen der Re⸗ 
naiffance vermifien läßt, dafür aber erfeht.er dieſe durch eine Bülle von Leben und 
und marfiger Srifche, Durch ein dramatifches Element, welches, nach dem Borgange 
der großen Meifter der DBenetianer- Schule, durdy Fühne Zeichnung und glänzende 
Barbenpracht und bezaubernd umflridt. Allerdings finden wir bejonders in feinen 
fpäteren Bildern öfters ein allzu großes Hafchen nad gewaltfamen Effecten und 
manierirter Form; aber dabei muß man bebenfen, daß gerade in den legten zwanzig 
Lebensjahren des Meiſters dieſer feine fammtlichen Bilder bloß anlegte und durch 
feine Schüler vollenden ließ, wobei ſolche Ausſchreitungen in der Technik eben fo oft 
vorkommen fonnten, wie Died bei den italienifchen Großmeiftern der Kunft, Michel. 
Angelo, Rafael, Tizian u U. (vergl. dieſe Artikel), unter onen Verhaͤlt⸗ 
niffen ebenfall® geſchah. Nur fehr geübten Kennern ift es möglih, R.'s Originale 
von den gemeinfchaftlihen Werfen von feiner und feiner Schüler Hand zu unter- 
ſcheiden. Bon diefen legten war ber bebeutendfle Anton van Dyd (ſiehe d. Art.), 
außer dieſem machten fih einen Namen in der niederlännifch » belgifchen Schule 
D. Tenierd, Gorn. de Vos, Th. van Thulvden, I. van Hoek, Diepenberd, C. Schut, 
Jordaens u. ſ. w., als Kupferſtecher Vorſtermann, Pontius, Wildoeck und Marinus 
und als Holzſchneider vor Allen Chriſtian Jegher. Sammlungen von R.'s Zeichnun⸗ 
gen und Kupfexſtichen befinden ſich in den Muſeen des Haag, des Palais Royal, in 
Brüfſel, Antwerpen und Rotterdam, in den Gemälde⸗Galerieen zu Amſterdam, Paris, 
des Escurial und in Madrid, fo wie in denen zu Dredden, München, Kaflel, Wien, 
Hampton⸗Court und Renfingten die Herrlihiten Bilder von feiner Hand. Namentlich 
nah England find viele Gemälde und Zeichnungen aus der erften Zeit feiner Künft- 
lerſchaft gegangen, da er im Jahre 1619 vdiefelben zugleich mit einer von 
ihm angelegten Sammlung von Büfen, Medaillen und anderen Kunftfadhen 
für den ungeheuren Preis von zwölftaufend Pfund Sterling an den Herzog von 
Buckingham, Premierminifter König Karl’s |. von England, verkaufte. Im Sturme 
der Mevolution find dort viele verloren gegangen, und erſt in neuefter Zeit iſt es 
gelungen, einige derfelben, wie fein eigenes Portrait, ein Jagdſtück und eine „heilige 
Samilie, von Engeln mit Blumen beftreut” wieder aufzufinden. Aber nicht allein auf 
dem Gebiete der Kunftgefchichte kann R. als eine der größten Erſcheinungen gelten, 
auch auf dem politiihen Schauplage feiner bewegten Zeit fpielte er eine bebeutende 
Rolle. Sein langer Aufenthalt am’ Hofe der hochgebildeten Gonzaga in Mantua, am 
fpanifchen Hofe, von wo Damald noch die große Politik die Leitung erbielt, und fein 
perſoͤnlicher Umgang mit den Königen von England und Spanien , der Königin von 
Branfreich, dem Erzberzog- Statthalter der fpanifchen Niederlande, hatten Ihm, der in 
allen Fächern des Wilfend durch eigenes Studium ſich vervolffommnet hatte, auch 
den Scharfblid für die politifchen Angelegenheiten erhöht, zu dem ihn natürliche An⸗ 
lage ſchon befähigt. Da Hierzu eine binreißende und überzeugende Beredſamkeit kam 
und eine Gewandtheit im Verkehr mit den böchften Perfonen, die durch feine liebens⸗ 
würbigen geielligen Talente und feine jchöne ächt chevaleredfe Verfönlichfeit noch erhöht 
wurde, jo founte e8 nicht fehlen, daß Rubens auch Hier ſich außzeichnete. Dem 
Könige Philipp IV. ſchon durch die Diplomatifchen Bunctionen empfohlen, welche den 
Hauptgrund feiner Sendung aus Mantua abgegeben hatten, übertrug diefer dem 1607 
nach Antwerpen zurüdgelehrten R. die wichtige Stellung eines Raths im Regent⸗ 
ſchaftsconſeil der Nicherlande; der Statthalter Erzherzog Albrecht empfahl ihn flere 
bend feiner Gemahlin, der Infantin Ifabella, als Beirath in wichtigen Faͤllen; bei 
Berathung der Priedenspräliminarien zwifhen Spanien und England zu Delft im 
Herbſt 1627 vertrat R. die Krone Spanien, ging In diplomatifchen Sendungen in 
den beiden folgenden Jahren zu verfchtenenen Malen nach England, wo ihn Karl ], 


a 77170 Aubihon (Maurice). 


zum Ritter fchlug, und nach Parts zum Cardinal Richelieu, und brachte 1630 wirklich 
den Brieden zu Stande, der Spanien freie Hand gegen Frankreich gab. Seitdem zog 
fh N. wegen zunehmender Gicht- Anfälle von der diplomatifchen und politifchen Thaͤ—⸗ 
tigkeit zurüd und lebte im Glanze erlangten Weltruhms und im weiſen Genuffe eineb 
fürftlihen Bermögend in feiner Vaterſtadt Antwerpen, mo er am 30. Mai 1640 
ſtarb; feine Leiche ruht in der Krypta der Kirche St. Iacos dafelbf. R. war zwei⸗ 
mal verbeirathet, 1609 ehelichte er Iſabella Brant, die finderlos am 29. September 
1626 farb; feine zweite Gemahlin Helena Yorman, eine Frau von großer Schönheit, 
die er in vielen Portraitd gemalt hat und zum gewöhnlichen Modell feiner Madonnen 
nahm, überlebte ihn bis 1651; eine Tochter auß dieſer zweiten Ehe jollte, wie man 
fagt, mit des großen Meiftere größtem Schüler, Anton van Dyd, vermählt werden, 
ftarb jedoch vorher. MR. führte bei feinem großen Vermögen einen einfachen beinahe 
bürgerlichen Hausſtand, von der Voͤllerei jener Zeit wendete er fich mit Unmillen ab 
und die laren Sitten an den Höfen wie in den unteren Ständen erfüllten ihn mit 
Verachtung, derer oft genug Ausdrud gab. Wie Rafael war auch R. fehr empfäng« 
lich für weiblihde Schönheit, und dieſe Hinneigung charafterifirte ſich namentlich in 
der gewandten genialen Leichtigkeit, mit der er Brauen-Portrait$ auf die Leinewand 
zauberte; felbft ein fehöner Mann und von bezaubernden Manieren, erzählte man fi 
viel von feinem Glücke bei den Damen. Noch Heut zeigt man in Antwerpen „Rubens 
Haus“, welches er fi nad) eigenem Plane 1609 erbaute und das damals als ein 
Wunder von Schönheit galt, weniger wegen feiner prächtigen Marmor-Rotunde, in 
der der Beflger die Werfe feiner Hand und reiche Kunftfanmlungen aufgeftellt Hatte, 
als wegen der reichen Frescogemälde, mit der e8 R. von außen noch mehr als im 
Innern geziert Hatte — Ueber R.'s Leben und Wirken vergleihe man Waagen's 
Abhandlung über M. in Raumer's „Hiftorifchem Taſchenbuch“ pro 1853, Michel’s 
„Histoire de la vie de R.“, Brüjjel 1771, Smit’s „Levensbeschryving van Rubens“, 
Amfterdam 1774, und die funfthiftorifcehen Abhandlungen über ihn in Kugler’s und 
Schnaaſe's Werken. 

Rübezahl Heißt der berufene Berggeiſt des Miefengebirges in Schleften, von 
dem fich eine Menge Sagen gebildet haben. In denfelben liegt eine gewiffe poetifche 
Gerechtigkeit, der Geift nedt und flraft bier und lohnt dort immer nach Verdienſt. 
In ded Joh. Prätorii „Dacmaonologia Rubinzalii Silesii“, d. i. „Bericht von Rübe⸗ 
zahl" (Leipzig 1662), find bie meiften diefer Sagen gefammelt. Diefe Sammlung iſt 
vermehrt worden von Schwend und mehreren Ungenannten in der „Hiftorie don Rübe⸗ 
zahl" (Hirfchberg 1738). Später Hat Mufäus die Sagen von R. in feinen beutfchen 
Volksmärchen behandelt, und Lyſer, freilich nicht mit befonderem Geſchick, gefammelt 
und neu erzählt („dad Buch von Rübezahl. Eine vollftändige Sammlung aller Volks⸗ 
märdyen aus dem Wiefengebirge*, Leipzig 1834). Die Geſchichte, welcher R. feinen 
Namen verdankt, haben Fouqué („pramatifche Spiele von Pellegrin.” Herausgegeben 
von A. W. Schlegel, Berlin 1801. Nr. 6) und Wolfgang Menzel („Rübezahl, ein 
dramatifches Märchen", Stuttgart 1829) dramatiſch behandelt. 

Nubichon (Maurice), franzöſiſcher Meactionär, geb. zu Grenoble am 14. Dechr. 
1766, geft. zu Banned am 25. Octbr. 1849. Sein Vater war Kaufmann, und er 
ſelbſt Hatte fidh dem Handel gewidmet, als die Revolution von 1789 ausbrach. 
Gegner der Brineipien derfelben, emigrirte er nah England, wo er feinen unglüd« 
lihen Landsleuten fo große Dienfte Teiftete, Daß die Herzogin von Angouldäme von 
ihm fagte: „Er war die Vorſehung der Emigrieten‘. Nachdem fih R. einige Zeit 
in England aufgehalten, bereifte er Europa und ging darauf nad Amerifa, wo er 
den ſpaniſchen Golonieen ein eindringendes Studium widmete. Nah England zurück⸗ 
gekehrt, gab er zu London 1811 den erfien Theil feines Werkes De l’Angleterre ber- 
aus, welches 1817 zu Paris Durch einen zweiten Theil vermehrt erfchien und großes 
Aufichen machte. Er vergleiht in jenem urfprünglichen erften Bande England und 
Brankreich, giebt letzterem in moralifcher, erfterem in materieller und öfonomifcher 
Hinfiht den Vorzug. Den Reichthum EnglandE leitet er von der Groͤße feiner Land⸗ 
güter und dem Erbrecht, fo wie von der Verpachtung derfelben auf große Zeiträume 
ab; außerdem behauptete er, daß England die Mefle feiner Freiheit feinen alten In⸗ 


Aubieon. | 452 


flitutionen, die ihm mit allen Eatholifchen Ländern gemeinfan find, verdankt, feine 
Leiden dagegen aus den Inflitutionen entfpringen, welche die Philofophie in feine 
Sonftitution gebracht habe. Das Werk wurde in Das Englifche überfept und er felbſt 
vor Bericht gezogen und ind @efängniß geworfen; er appellirte an's Oberhauß und 
ward von demfelben zwar freigefprochen, aber der Proceß koſtete ihm mehr ale 
150,000 res. und ruinirte ihn. 1814 kehrte er nach Frankreich zurüd, folgte aber 
dem Herzog von Bourbon mährend der hundert Tage nach Spanien. Obmohl er 
bei Ludwig XVII. und bei Karl X. in hohem Anfehn fland (Erſterem z. B. im Bes 
ginn der Neftauration ein Memoire zuftellte, in welchem er den beabfichtigten Verkauf 
der geiftlicyen Güter, die Napoleon noch nicht verfilbert Hatte, als eine ſchaͤdliche Maß⸗ 
regel darflellte, von Letzterem auch noch im Eril mit vertrauten und wichtigen Auf» 
trägen beehrt wurde}, fo wollte er doch fein. Amt haben und widmete feine Muße ber 
Umarbeitung und Dervollfländigung feines Werkes über England. 1837 ward er 
vom öfterreihifchen Miniſterium, befonderd vom Erzherzog Ludwig, von Metternich 
und Kollomrat beauftragt, eine Arbeit über die Uinterfuchungsprotofolle des engliichen 
Parlaments auszuführen. Er unterzog fidy diefer Arbeit zu Nom, und zwar in Ge⸗ 
meinfchaft mit feinem Verwandten Mounier, und in den Sahren 1840-1843 erichie- 
nen in 6 Bänden: Extraits des enquätes et des pieces officielles publiees en Angle- 
terre par le parlement depuis 1833 jusqw’a ce jour, accompagnes de quelques 
remarques par M. M. Rubichon et L. Mounier. Die beiden erften Bände find ohne 
die Namen der Verfaffer erfchienen, und zwar auf Koften der dfterreichifchen Regie⸗ 
rung veröffentlicht und auch Ind Deutfche Üüberfegt. Ihre Unterfuhungen feßten bie 
beiden Forſcher gemeinfam in der Schrift fort: De Nagrieulture en France d’apres 
les documents officiels (Paris 1846). Wounier nimmt in diefer Schrift die flatifti» 
ſchen Documente vor, vefumirt fie methodifch und mit großer Klarheit, gruppirt fie, 
vergleicht fle unter einander, analpfirt fie mit feltenem Scharffinn und zieht dann aus 
ihnen die Schlußfäge, die für das große Grundeigenthum fprechen und gegen bie 
Bodenzerficelung, die, wie er annimmt, Frankreich dem Hunger audfegt und aud der 
Reihe der Völker zu flreichen droht. Wenn nun die flatiflifchen Unterfuchungen über 
ein Eapitel zu Ende geführt find, tritt A. ein, um über die Lehnsverfaflung, das 
Erfigeborenrecht, über die Subflitutionen und die großen Klöfler zu handeln und gegen 
die Jury, Parlamente, Neflauration, gegen Herrn v. Villoͤle, die Univerfität und das 
Bürgertbum zu fpredyen und es zu bedauern, daß dem franzdflfchen Bauer, dieſem 
verberbien, ruinirten und talentlofen Wilden, die Subflfienz eines Meiches wie Frank⸗ 
reich anvertraut if. Gleichfalls gemeinfam und in demfelben Sinne haben R. und 
Mounier die Schrift ausgearbeitet: De l’action de la noblesse et des classes supé- 
rieures dans les socieles modernes, d’apres les ducuments officiels (Banned 1848). 
Allein Hat MR. noch herausgegeben: De l’action du clerge dans les societes modernes 
(Lyon und Paris 1829) und Du mecanisme de la societ& en France et en Angleterre 
(Baris 1834). Auch diejenigen, die A. nicht vollfländig auf feinem Rückwege aus dem 
19. Zahrhundert Ind Mittelalter folgen wollten, baben den Freimuth und die Unab- 
bängigfeit der Meinung anerkannt, mit denen er immer zu den Bürften ſprach, denen 
er treu ergeben war, ferner da8 Fraftuolle Talent bewundert, mit dem er feine Theorie 
vertheidigte, und find außerdem in der Hochfchäkung der Klarheit und des Scharf» 
finnd, mit denen er über die ſtatiſtiſchen Documente raifonnirte, einflimmig. Noch in 
feinen legten Jahren war e8 ein Bergnügen, ihn mit ungefchwädhter Kraft und Feu⸗ 
sigfeit über feine Grundfäge fprechen zu Hören. 

Aubicon, Heute Luſa genannt, ift der Name eines kaum 12 Wellen Tangen und 
langfam durch die venetlanifche Ebene ſchleichenden Küftenflufles, der ſich unfern von 
Rimini in das adriatifche Meer ergießt. Der Kleine Fluß bat eine welthiftorifche Be⸗ 
dentang erlangt durch den Umfland, daß er in den letzten Beiten der roͤmiſchen Mes 
publif die Grenze bildete zwiſchen biefer und Gallia cisalpina, und daß Julius Cäfar, 
indem er als Proconful in Gallien diefe Grenzfcheide im Januar des Jahres 43 v. 
Chr. mit der dreizehnten Legion und gallifchen wie germanifchen Bundes genoſſen über. 
ſchritt, den Bürgerkrieg unter den Triumvirn entzündete, welcher ihn zur Alleinherr⸗ 
haft erhob. — Spauer erhob ſich ein langer Streit, welcher der vielen kleinen Kůſten⸗ 


58 Hucellai. (Geſchlecht) NRüͤchel (Ernſt Wilhelm Friedrich v.) 


flüſſe der Gegend zur Roͤmerzeit den Namen des R. geführt habe und die Mehrzahl 
der Geographen und Forſcher entſchied für den jetzigen Piſatello, ber, bei Ceſena ent- 
fpringend, nur eine Miglie vom Luſa entfernt ind Meer füllt, indeß ſprach fich ver 
Bapft Elemens XIII. 1756 durch ein Breve für den legteren aus. 

Aucellat, florentiniſches Geſchlecht, aus dem Volk bervorgegangen, obgleich 
genealogifche Fabeln die Abſtammung von einem Ritter im Gefolge des Kaifers Fried⸗ 
rich Barbaroffa behaupten. Alamanno R. entvedte in der zweiten Hälfte bes 
13. Jahrhunderts das Geheimniß der violetten Yärbung mittel des durch Säuren 
behandelten, auf den Inſeln des Archipeld und den Canarien wildbwachfenden Faͤrber⸗ 
moofes, der Orſeille, Lichen Roccella des Linné. Er wandte daflelbe auf das Wol«- 
lentuch an und erlangte dadurch Reichthümer und den Beinamen Dricellario, von dem 
italienifchen Namen der Pflanze, moraus das gebräuchlichere R ward. Vom Anfang 
des 14. Jahrhunderts an begegnen mir feinen Nachkommen in den höchſten Aemtern 
und Würden des demofratifchen Freiſtaats und mehrere Menfchenalter fpäter beginnt 
ihre Bedeutung in der Literatur» und Kunftgeichichte, die weit über Die Grenzen des 
Municipiums von Florenz binausreiht. Giovanni R., geboren 1403, ein eifriger 
Anhänger der Medici in den Zeiten Coſimo's des Alten und feines Sohnes, wie in 
den erften Jahren Lorenzo’8 des Erlauchten, reidy Durch Handel und Bankgefchäfte, 
ließ durch Leon Batiſta Alberti den ſchönen Familienpalaſt aufrichten und erbaute noch 
unter Anderm die Kapelle an S. Bancrazio mit der marmornen Nachbildung des 
beiligen Grabes, wie man ed zu feiner Zeit in Jeruſalem fah. — Sein im Jahre 
1448 geborener, den 7. October 1514 geflorbener Sohn Bernardo R., Lorenzo's 
de Medici Schwager, ſpielte in den florentinifchen und römiſchen Angelegenheiten eine 
wichtige Rolle, war Genofle Savonarola’8 bei der Staatöreform und ausgezeichnet 
als SHiftoriker, Antiquar und Latiniſt, endlich Vollender jener Gärten feiner Familie, 
die unter dem Namen der Orli Oricellarii der Gefchichte Italiens angehören und in 
denen er und feine Freunde Maciavelli, Luigi Alamanni u. X. fi über Wiſſenſchaft 
und Politik unterhielten. Sein Werk de urbe Roma ift erfl im 18. Jahrhundert im 
11. Bande der Rerum italicarum  scriptores Florentini zum Druck gefommen, feine 
Schrift de bello italico 1724 in London erfihienen. Bon feinen Söhnen machten fich 
Palla und Giovanni einen Namen, Iener inmitten der Stürme der untergehenden 
Republik, die er vergeblich zu halten fuchte, nachden er ſelbſt einer der thätigften 
Beförderer ihres Sturzed geweien war, — dieler, geb. 1475, geft. 1525, befannt 
durch feine Wirkſamkeit am Hofe feiner Vettern, der Päpſte Xeo X. und Clemens VII., 
fo wie dur feine Tragödie Nodmunda und fein Lehrgedicht von der Bienenzucht. 
Mit den Söhnen Bernarbo'8 ging die glänzende Zeit der R. zu Ende. Aber mandıe 
von ihnen find noch der Erwähnung würdig. So im 17. Jahrhundert Luigi, Als 
mofenier der Maria von Medici, deren Dienft er den bedeutendſten Theil feines Ver⸗ 
mögend opferte, um dann felber feinem Gegner Richelieu geopfert zu werden, und 
hundert Jahre nah ihm Giulio, die rechte Hand des Großherzogé Leopold bei jei- 
nen Maßregeln gegen dad in Toscana berrichende Syflem ber römijchen Curie. (Bergl. 
über diefed noch beſtehende Geſchlecht die Schrift Luigi Paſſerini's Genealogia e Storia 
della Famiglia Rucellai (&lorenz 1861), gemidmet dem Engländer John Temple Lea⸗ 
der, vormaligem radicalen Parlamentsmitgliede, an den ein Theil des R.'ſchen Archivs 
durd Kauf von einer verfhwägerten Familie gekommen ifl.) 

Rüchel (Ernſt Wilhelm Friedrich von), koͤniglich preußiicher General der Iu- 
fanterie, ward zu Zizenow in Hinterpommern am 21. Juli 1754 geboren. Anfangs in 
Stettin, fpäter im Cadetten⸗Corps erzogen, trat er, deflen drei ältere Brüder im ſteben⸗ 
jährigen Kriege auf dem Bette der Ehre geblieben waren, 1771 in das damalige In- 
fanterie- Regiment Stojentin ein. Seine militärifgen Talente und feine durch fortger 
feßte Studien erlangte, für damalige Zeit ungewöhnliche wiſſenſchaftliche Bildung er- 
regte bald die Aufmerkfamkeit feiner Borgefegten ; er warb Regiments⸗ und bald dar⸗ 
auf General⸗Adjutant bei dem nachherigen Feldmarſchall Knobelsdorff, an deſſen Seite 
er mit Auszeichnung den baperifchen Erbfolgekrieg mitmachte. 1781 warb er von 
Friedrich Dem Großen, weldyem er empfohlen, nad; Potsdam berufen, nach furzem Ge⸗ 
ſpraͤche zum Hauptmann im neugebildeten Generalflabe ernannt und blieb bie lehten 


— — — — — — —— 


9 


Aühel (Ernſt Wilhelm Friedrich von). | 459 


Lebensjahre des Föniglichen Greiſes, von deſſen befonderer Gunft beebrt, ſtets in feiner 
Nähe. Faſt fein fleter Begleiter auf den Infpections-Reifen, warb ihm mancher ebren« 
volle Auftrag zu Theil, und R. war der Lehte, dem ed vergönnt war, nicht nur in 
vielfacgen Geſpraͤchen Friedrich's militärifche Principien von ihm felbf erläutert, fone 
den auch einen ganzen Winter förmlichen Unterricht in der Kriegsfunft von dem 
greifen Monarchen zu erhalten. Nicht minderes Wohlmollen bezeigte ibm König 
Friedrich Wilhelm I., der ihn 1788 zum Major und Infpecteur der Militär-Bildungs- 
Anfalten ernannte und ihm deren Reorganijation nach einem von ibm ausgearbeiteten 
Plane übertrug. Als 1790 die Ausfichten auf Eriegerifche Verwickelungen mit Defter- 
reich ſich mehrten, ward ihm die Armirung der ſchleſiſchen Feſtungen übertragen. Yür 
die Schnelle und zwedmäßige Ausführung dieſes wichtigen Auftrages erhielt er den 
Orden pour le merite und ward ein Jahr darauf zum Flügel - Adfutanten ernannt. 
Sein dem Monarchen vorgelegter Plan zur Grmdung einer Militär-WPittwenfafle wurde 
zur Ausführung gebracht, und hierdurch, fo wie durdy die Formirung der ebenfalls 
auf feinen Vorſchlag eingerichteten Invalidens@ompagnieen bat ſich MR. ein bleibendes 
und ebrenvolles Andenken in der Armee geſichert; denn beide fegensreiche Einrichtungen 
befteben noch heute nach den von ibm damals aufgeftellten Principien fort. Im Jahre 
1792 bei Ausbruch des Krieges zu dem kurheſſiſchen Corps gejendet, zeichnete er 
fi bei dem Entſatz von Ehrenbreitenflein und bei der Einnahme von Frankfurt aus 
und erhielt den befflichen Lömen-Orden. Im Jahre 1793 zum Oberſt und Commandeur 
des Regiments Prinz Ferdinand ernannt, erhielt er für das Gefecht bei Oggersheim den 
rotben Adler « Orden, entfchied durch einen kühnen Angriff das Gefecht bei Franken⸗ 
tal und wandte, indem er fi an die Spige des Dragoner⸗Regiments Bayern flellte, 
dad Gefecht bei Trippfladt zum Siege. Zum General ernannt, befehligte R. in der Schlacht 
von Kaiferslautern am 30. Novbr. 1793 daß Centrum, eroberte 12 Kanonen, 4 Bahnen 
und machte 2000 Gefangene. Im Jahre 1797 in befonderer Mifflon zum Kaifer 
Paul nach Petersburg geſchickt, erwarb er fi den Auf eines gefchidten Diplomaten, 
und ſchon damald war er ed, der einem Bünbnifje mit Rußland gegen Frankreich das 
Wort redete. Bei feiner Ruckkehr warb er zum Chef des Regiments Garde und zum 
Eommandanten von Potsdam, zum Infpecteur fämmtlicyer Cadetten⸗Anſtalten und 
1799 zum Generalekieutenant ernannt. So von der Gunſt des Schidfald und auch 
durch fein Verdienſt getragen, bei Weiten der jüngfte General der Armee, der in ber 
Nhein⸗Campagne reiche Korbeeren geerntet, der legte Schüler des großen Königs, 
geehrt von feinem Eöniglichen Herrn, dabei nicht ohne ein großes Selbfigefühl, Fonnte 
ed nicht fehlen, daß M. bald ald die erſte militärifche Autorität, und. die von Ihm 
nad dem Beifpiel des früher von dem großen Friedrich abgehaltenen, in ber Umgebung 
Potsdams ausgeführten Manöver ald vollfonmen muftergültig und das Non plus 
ultra des Belebrenden in der Armee galten. Aber nicht nur praftifch fuchte er die 
Taktik Friedrich'e des Großen in der Armee feflzubalten, fondern er war auch eifrig 
bemüht, die Pflege des wiſſenſchaftlichen Studiums bei den Offizieren zu begänftigen. 
Regelmäßig verfammelte er einen Kreis junger talentvoller Dffiziere um ſich, denen er 
Bortrüge Über die Kriegäfunft hielt, und zu welchen zugezogen zu werden, für eine 
befondere Auszeichnung galt. — Wenn R. aber auf der einen Seite viel Gutes ſtif⸗ 
tete, fo beging er andererfeitd den großen Fehler, daß er vergaß, wie bie Kriegskunſt 
keinesweges etwas Stabiled, fondern vielmehr etwad von fehr veränderlichen und 
wechielnden Bedingungen Abhängiges und darum felbft fehr Veraͤnderliches if. Die 
Megeln, nach welchen die Schlachten bed flebenjährigen Krieges erfochten und die ihm 
von dem großen Töniglichen Feldherrn felbft eingeprägt waren, bielt er, fo zu fagen, 
für Untverfal- Mittel des Sieges überhaupt und bei ihrer Anwendung Die preußifche 
Armee für unüberwindlid. Mit vornehmer Geringſchäͤtzung fah er, der die Franzoſen 
in det Rhein» Gampagne mehr als einmal beflegt, auf die beifpiellofen Erfolge, die 
Bonaparte erfocht, herab, und flatt den Urfachen nachzuforfchen, weshalb die vor 10 
Jahren fo oft geichlagenen Branzofen ihre flegreichen Adler durch halb Europa trugen, 
wiegte er fich in ber feften Ueberzeugung, der Armee Friedrich's des Großen gegenüber 
würden fie diefe Erfolge nicht erfochten Haben, fondern wie Glas am Felſen zeriprengt 
fein. Aber nicht nur er ſelbſt gab fich dieſem gefährlichen Wahne hin, fonbern bir 


460 Rüchel (Ernſt Wilhelm Friedrich von). 


Autoritaͤt ſeines Namens ließ ihn in den Offizier⸗Kreiſen herrſchend werden; R. war 
der Prototyp des damals in der Armee hertſchenden Geiſtes der Franzoſenverachtung 
und welden A. Höpfner durch die Worte bezeichnet; ‘Der berechtigte Meipect vor dem 
großen Könige war zum Unglüd geworben, denn man erfannte nicht, daß das Syſtem 
der preußiſchen Wehrverfaffung ſich überlebt habe. Man glaubte, daß, wenn die 
Armee ſich nur zeigte, die Franzoſen von felbft fortgeben würden, und charakteriftifch 
if R.'s gelegentliches Urtheil Aber Napoleon: „Solche Generale, wie Herr v. Bona⸗ 
parte, bat die Armee Sr. Majeflät mehrere aufzumeifen.* -R., der bereits 1802 den 
Schwarzen Adler-Drden erhalten, fand bei dem Könige in großer Gunſt, obmohl er 
ſich entſchieden gegen bie Neutralitätspolitif ausfprah und bei den Verwickelungen 
des Jahres 1805 mit der Königin und den Prinzen Wilhelm und Louis an der Spige 
der fogenannten ruffifchen oder Kriegspartei fand, Die auf den Anfchluß Preußens . 
an die Öfterreichifcherufftfche Allianz hinarbeitete. Befanntlih drang Damals zum 
Unglüf nicht dieſe, fondern die Gegenpartei durch, deren Seele der Miniſter Haug- 
wig war. Diefem, welden R. mit Recht eben fo wie Luckhefini ald den böfen Ger 
niud Preußens Haßte, gab er nad dem PVertrage von Schönbrunn dadurch feine Ver⸗ 
achtung zu erkennen, daß er in Öffentlicher Geſellſchaft deffen dargebotene Hand nicht 
annahm, fondern ihn vollig ignorirte und an der Tafel des Könige es vermeigerte, 
ſich neben ihn zu fegen. Obwohl der König hierüber gereizt war, ignorirte er diefen 
Verſtoß der Etikette; als ihm jedoch ein von den beiden oben genannten Prinzen und 
R. unterzeichnete Memoire durch Dermittlung der Königin übergeben wurde, in wel⸗ 
hen die Politik Haugmig’, Die den Staat an den Rand des Verderbens bringe, 
hart getadelt wurde, gerieth er in heftigen Zorn. R. Fam ald Infpecteur der oflpreu« 
Bifchen Infanterie und Gouverneur nach Königsberg und erhielt flatt des Garde⸗Regi⸗ 
ments das Brünned'fche, jegige 1. oftpreußifche Infanterie-Megiment. Als bald dar⸗ 
auf aber der Krieg gegen Napoleon ausbrach, erhielt er den Befehl über das in Han« 
nover fich fammelnde Corps, das im October zur großen Armee nach Thüringen zog. 
Roch jegt glaubte R., trogdem mancher Andere im bangen Zweifel fiber den Ausgang 
ded Krieged war, feſt an den Sieg der preußifchen Waffen. Am 13. October fland 
er mit 18 Bataillons, 18 Escadrons bei Umpferftäpt unfern Weimar, um die Ver⸗ 
bindung zwifchen der Armee des Herzogs von Braunfchmweig und der ded Fürften Ho⸗ 
benlohe bei Jena zu erhalten. Um 101%, Uhr Morgens am 14. erhielt er die Aufs 
förderung des Fürften, ihm zu Hülfe zu kommen. Er eilte fofort auf das Schlacht⸗ 
feld, al8 er aber gegen 2 Uhr eintraf, war bie Armee bereits ungangen und im 
vollen Nüdzuge. Wenn in dem Lühefchen Lerifon ihm vorgeworfen wird, daß er 
berettd um 8 Uhr vom Fürften zur Unterflügung aufgefordert, aber .erft um 1 Uhr 
aufgebrochen, alfo zu fpät gefommen fei, fo tft dies eine nunmehr durch das befannte 
claſſiſche Werk von Höpfner „Der Krieg von 1806 und 7" als falfch ermwiefene Verun⸗ 
glimpfung. Er ließ vielmehr fofort auf deffen Aufforderung dem Fürften fagen, daß 
er ihm zu Hülfe eile, und dieſer fchidte ibm durch den rüdfehrenden Ordonnanz« 
Offizier einen Zettel mit den Worten: „E8 freut mich, daß Sie kommen wollen, Sie 
find ein draver Mann und ein rechtichaffener Breund.” Allerdings mar aber die Art, 
wie R. in daB Gefecht eingriff, durchaus fehlerhaft, und auch bier liegt wieder der 
®rund in feinem Blauben an die linfehlbarkeit der Taktik des Tjährigen Krieges. 
Statt hinter dem Defile von Kupellendorf die bereits weichende Armee aufzunehmen 
und dem Feinde Halt zu gebieten, wozu fein ſchwaches Corps vielleicht bingereicht 
hätte, ließ er nur die Hälfte dort fliehen und ging mit der anderen Hälfte — kaum 
8000 Mann — im Bertrauen auf die Unbeflegbarfeit der ſchiefen Schlachtorbnung, 
uber daB Defile binaus dem Feinde entgegen. Natbrlich wurde er fofort auf bei⸗ 
den Flügeln umgangen und concentrifch beſchoſſen, nach kurzem Gefecht und furcht⸗ 
baren Berluften in die allgemeine Flucht verwidelt, die nun auch Hinter dem Defiloͤ 
keinen Halt mehr fand. Berfönlih zeigte R. auch bier wieder die ausgezeichnetſte 
Tapferkeit, und obwohl er gleich Anfangs eine gefährlide Schußwunde dicht unter 
dem Herzen erbielt, Teitete er den Rückzug mit gewohnter Ruhe und Entfchloffenheit, 
bis er dem ihm im Commando folgenden General den Oberbefehl übergeben hatte. 
Es gelang ihm, troß feiner ſchweren Wunde, den verfolgenden Franzoſen zu entgehen 


Nüdert (Friedrich). 461 


und nach Koͤnigsberg zu kommen. Kaum genejen, ernannte ihn der König zum Ge⸗ 
neral⸗ Gouverneur von Preußen und beauftragte ihn mit der Reorganifation der Trüm«- 
mer der Armee, welche fich über die Weichſel gerettet Hatten. Mit gewohnten Eifer 
und Hingebung unterzog er fich dieſem Auftsäge und war raſtlos im Dienfle des 
Königs Hefchäftigt, fo lange Diefer "feiner Thätigkeit bedurfte. Nach dem Ürieden von 
Tilſit aber bat er, der durch das Unglüd des Staats und der Armee doppelt Tief- 
gebeugte, da er einen ſolchen Zuſammenſturz der Erbfchaft ſeines vergätterten Herr⸗ 
ſchers Friedrich I. nicht für möglich gehalten hatte, um feinen Abſchied, der ihm ala 
General der Infanterie ertheilt ward. Die legten 15 Jahre feines Leben® verliebte er 
in fliller Zurüdgegogenheit auf feinen Gütern und Hatte noch die Genugthuung, die 
große Erhebung des Baterlandes im Jahre 1813 zu erleben, wenn ihm auch nidt 
mehr vergönnt war, thätigen Antheil an dem Befreiungswerk zu nehmen. Er ftarb, 
bochverehrt von allen, die ihn Fannten, beweint von feinen Hinterfaflen, denen er 
Bater und Freund geweien, am 14. Januar 1823. Es fonnte natürlich nidt fehlen, 
daß der Liberalismus, der ſich förmlich darin wohl fühlte, die Armee von 1806 mit 
Koth zu bewerfen, auch R. nicht verfchonte, und flatt die Fehler, die er unläugbar, 
wenn auch aus befter Ueberzeugung, begangen, einfach darzulegen, ſich mit Unverfland 
und Bosheit bemühte, feinen Charakter und felbfk feinen perfönliden Muth zu vers 
dächtigen. Hieruber nur ein Wort zu verlieren, würde unter der Würde des Hiflo- 
rierö fein, und ed genügt die Hindeutung, daß MR. in Fouqué einen Biographen ge- 
funden, der ihm mit Unparteilichkeit gerecht geworden, und dag Warmig, den felbft 
feine beftigften politifchen Gegner als Mitter ohne Furcht und Tadel anerkennen - 
müflen, in feinem „Nachlaß“ mit großer Hochachtung von feinem Charakter fpricht, 
ohne feine Schattenfeiten zu verbeden. MR. war burch und durch ein Ehrenmann 
und ein tapferer Soldat, aber Eein Feldherr, wie er ſich einbildete, da er eben 
die Natur der Kriegsékunſt feiner Zeit nicht begriffen hatte. Als er feinen Irrthum 
mit tiefem Schmerz erkannt, trat er von dem Schauplage zurüd, auf dem er, wie er 
jelbft fühlte, feine Stelle nicht mehr ausfüllte, und als er aus ber Armee fchied, 
konnte er fih mit vollem Rechte fogen: Alles ift verloren, nur die Ehre nicht! — 
R. war der Lepte feined Stammes, der mit ihm erloſch; feine Güter gingen auf fet- 
nen Neffen, den damaligen Mafor, fpäteren General. vo. Kleift über, der mit koͤnig⸗ 
licher Genehmigung den Namen v. Rüchel⸗Kleiſt annahm. 

Rückert (Friedrich), berühmter Orientaliſt und der Neflor aus dem Chor ber 
Kreiheitäfänger von 1813 unter Deutfchlands noch Lebenden claſſiſchen Dichtern, iſt 
zu Schweinfurt am 16. Mai, nicht wie in allen Handbächern und Literaturgefchichten 
ftebt, im Jahre 1789, fondern im Jahre 1788, feiner eigenen Ausſage zufolge, ge⸗ 
boren. Auf dem Gymnaſtum feiner Vaterſtadt für die Univerfität vorbereitet, ſtudirte 
er in Iena Iurisprudenz als Berufsrwiffenfchaft, aus Neigung aber Sprachen und 
Literatur. Im Jahre 1809 verlieh er das elterliche Haus, um in der dflerreichifchen 
Armee zu dienen; als er nach Dresden kam, wurbe der Frieden verkündet. Im Jahre 
1811 Habilitirte er ſich als Privatdocent in Iena, folgte indeß bald darauf einem 
Rufe nach Hanau ald Lehrer an dem dortigen Gymnaſium. Aber auch Hanau verließ 
er bald wieder und ging nach Würzburg, wo er im engen Verkehr mit 3. I. Wagner 
und bem Freiherrn Truchſes auf Bettenburg lebte. Beim Wicderausbruch des Krieges 
Dielten ihn die Vorſtellungen dei Eltern und Die Ueberzeugung, daß feine Durchs 
Studiren angegriffene Gefundheit die Befchmerben des Krieges nicht ertragen Fönnte, 
zurüd, am Kampfe felbft Theil zu nehmen. Bon 1815— 17 lebte ex in Stuttgart 
und führte 1816 die Nedaction des Morgenblattes. Um Vorftudten zu machen zu einem 
großen Epos, In weldhem er die Gefchichte der Hohenftaufen behandeln wollte, reifte 
er durch die Schweiz nach Italien und lebte den größten Theil des Jahres 1818 in 
Aricia und Nom, wo er mit dem Kupferflecher Karl Barth ein inniged Freundfchafte- 
buͤndniß fchloß, das bis zu deffen Tode (1853) ſich fortfeßte; auch mit Niebuhr 
wurde er befreundet. Gegen dad Ende des Jahres 1818 kehrte er aus TDeutfchland 
nach Italien zurüd. In Wien, mo er eine furze Zeit weilte, lenkte der Orientalift 
J. 9. Hammer den Blid des jungen Dichters auf die poetifche Literatur des Morgen» 
landes, von Der R. ſich nicht wieder abgewandt hat, Nach feiner Rückkehr von Wien 





462 Nüdert (Friedrich). 


Ichte R. theils bei feinen Gltern, theild in Koburg, wohin ihn bie Bibliothek zog, 
in deſſen Nähe, in Nürnberg und an anderen Orten, nur mit feinen Studien beichäf- 
tigt und feinem dichterifchen Schaffen ganz bingegeben. Im Jahre 1826 nahm er 
den ehrenvolfen Auf als Brofeffor der orientalifhen Sprachen an der Univerfität zu 
Erlangen an. Im Jahre 1841 rief ihn der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., 
mit dem Titel eined Geheimen Megierungsratbes als Profefor an die Univerfität zu 
Berlin. Obwohl er nur während des Winters Vorleſungen zu balten brauchte, 
nahm R. doch ſchon 1848 feine Entlaffung und fiedelte nach feinem anmutbi- 
gen Landfige Neuſeß bei Koburg über, wo der greife, aber ſehr räflige und 
geiftesfrifche Dichter noch Iebt. — R.'s Stellung in der deutſchen Literatur ift 
eine einzige und durchaus felbfifländige. Er verfchmolz gleihfam die Lyrik aller 
Völker mit feinem eigenen Wefen und ſchuf aus dieſer Fülle feine Dichtungen. 
Er trat zuerfi als Dichter unter dem Namen Freimund mit den „Gebarnifchten So» 
netten” (1814) auf, in die er feinen Zorn über die Schmach Deutfchlands und fei- 
nen uf zu den Waffen legte; wie zündende Klammen wirkten diefe in den ‚Herzen 
von Taufenden und WAbertaufenden. Es ſchloß ſich dieſer Sammlung als zweiter 
Theil „der Kranz der Zeit“ (Stuttgart 1817) an. Darauf gab er Heraus: „Napo⸗ 
leon, politifche Komddie, erftes und zweites Städ“ (Stuttgart 1816 — 18), „Oeſt⸗ 
lihe Roſen“ (Leipzig 1822), „Amaryllis, ein Sommer auf dem Lande” (Frankfurt 
1825), „Die Verwandlungen des Abu Seid von Serug oder bie Makamen bed Ha⸗ 
rei" (Stuttgart 1826, 4. Aufl. Stuttgart und Tübingen 1864), „Nal und Dama- 
anti” (Frankfurt 1828, 1838, 1845), ein Epos, welches des Weibes Treue verherr⸗ 
licht, „Schi⸗King, chineflfches Liederbuch, gefammelt von Confucius, dem Deutfchen 
angeeignet” (Altona 1833), „Sefammelte Gedichte" (Erlangen, Br. 1—5, 1834—38, 
Br. 6, Frankfurt 1843), aus diefen machte er felbft eine Auswahl unter dem Titel 
„Gedichte“ (Branffurt a. M. 1841, 1843, 12. Aufl. 1860), „Muſen⸗Almanach, mit 
Beiträgen von Lenau, Bechflein u, A.” (Leipzig 1840), „Erbauliches und Beſchau⸗ 
liches aus dem Morgenlande" (1. Bd. Berlin 1836, 2. Bd. 1838), „Die Weißhelt 
des Brahmanen. Ein Lehrgedicht.“ (6 Bde., Leipzig 1836—39, neue Ausgabe in 
Einem Bande, Leipzig 1843, 5. Aufl. ebend. 1863), die Krone feiner didaktiſchen 
Poefleen, „Steben Bücher morgenländifcher Sagen und Geſchichten“ (Stuttgart 1837), 
„Roſtem und Suhrab. Eine Heldengefchichte In zwölf Büchern.“ (Grlangen 1838, 
2. Aufl. Stuttgart 1846), „Brahmanifche Erzählungen“ (Leipzig 1839), „Leben 
Jeſu, Evangelienharmonie in gebundener Rede“ (Stuttgart 1839), in Alerandrinern 
gedichte, „Amrilfais, der Dichter und König. Sein Leben dargeftellt in feinen Lie- 
dern. Aus dem Arabifchen übertragen" (Stuttgart 1843), „Saul und David. Ein 
Drama der heiligen Gefchichte* (Brankfurt a. M. 1843), „Herodes der Große“, in 
zwei Stücken (Stuttgart 1844), „Kaiſer Heinrich IV.* (1. Thl. des Kaifers Krönung, 
2. Thl. des Kaifers Begräbniß, Branffurt a. M. 1844), ebenfalls eine dramatifche 
Didtung, „hriftofero Colombo oder die Entdeckung der neuen Welt, Geſchichts⸗ 
drama in drei Theilen“ (Branffurt 1845), „Liebesfrühling“ (Frankfurt a. M. 1844, 
Abdruck nach dem erflen Bande der gefammelten Gedichte, 3. Aufl. ebend. 1860), 
„Das Leben der Hadumod, erfter Aebtiffin des Kloſters Gandersheim, Tochter des 
Herzogd Ludolf von Sachen, befchrieben von ihrem Bruder Agius. In zwei Theile 
In, Profa und Berfen, aus dem Lateinifchen übertragen? (Stuttgart 1845), „Ha 
mäfa oder die älteften arabifchen Volkelieder“, gefammelt von Abu Temmäm, über» 
fegt und erläutert (2Thle., Stuttgart 1846), „@in Dugend Kampflieber für Schles- 
wig-Holftein von FAr“ (2. Aufl. Leipzig 1864). Mit Ausnahme diefer letzten und 
ber erften Zeitgedichte ift das Feld der Dichtung R.'s Die ruhig beitere Gemüths⸗ 
welt, die Natur und die Berbältniffe des individuellen Lebens, deren Mittelpunkt die 
Innigkeit der Liebe bildet. Als Verskünſtler fleht er groß da; nicht nur im Sonett 
und in der Terzine bat er fich audgezeichnet, auch die Eleineren unbedeutenden Formen, 
die Dreizeilen, Ritornelfen, Sicilianen u. f. w. baben bei ihm neues Leben gewonnen 
und bemunderungsmwürdig und unvergleichlich bleibt die Virtuoſität der ſprachlichen 
Technik, mit welcher R. fat alle Literaturen des Orients, im vollfien Sinne des 
Wortes, übertragen bat. Vgl. G. Pflzer, „Ubland und Ruüͤckert. in kritiſcher Ver⸗ 


Aubbed (Olov). | 463 


fu“ (Stuttgart 1837) und 3. ©. Braun, „Sriebrih Rückert als Lyriker“ (Siegen 
und Wiedbaden 1844). Da mehrere von R.'s Gedichten nur Neimkünfteleten find, fo 
bat ihn Adolf Mällner in drei Sonetten verfpsttet (vgl. Anthologie der geiftreichften 
und wigigflen Gedanken Müllner's, herausgegeben von Schütz, 2 Bochn., Meißen 
1830, S. 124— 126) und (flehe ebend. S. 127) ihm nicht mit Unrecht den allzu 
häufigen Gebrauch der Diminutiva vorgeworfen. Diele feiner Gedichte erichienen, ehe 
file gefammelt wurden, tin Muſen⸗Almanachen, Zeitfchriften u. |. w., fo 3. 3. im 
„Srüählings- Almanach” von Lenau, 1835 (S. 267—336), „Herbfi 1833 in Neufeh“ 
und 1836 ©. 1 — 118 im Morgenblatt; im Taſchenbuch „Urania“ auf das Jahr 
1823 (S. 43 — 113) die fhönen Terzinen „Edelflein und Perle* und ebendafelbft 
(S. 297—329) „Lieder*. 

Rückzug, f. den Art. Strategie und Taktik. 

Nudbeck (Diov), einer der größten Gelehrten, die Schweden hervorgebracht hat, 
Entdeder in der Anatomie, Sprachforfcher und Ethnologe. Er ift 1630 zu. Weſteras 
in der Provinz Wellmanland geboren. Sein Vater war dafelbft Biſchof und wurde 
von Buflav Adolph fehr geihägt. Der König, der ſich nach der Geburt des Olov 
in Weſteras befand, hielt das Kind, um dem Prälaten fein Wohlmollen zu beweifen, 
über die Taufe. Olov widmete fi dem Stubiun der Medien, befonders der Ana- 
tomie. In der Zeit von 1649 zu 1650 entdeckte er die lymphatiſchen Gefäße; dieſe 
Entdedung, die er nicht fogleich veröffentlichte, warb ihm zwar von Thomas Bartholin 
beflritten, aber fle gehört‘ R. an, da er fie im April 1652 in Gegenwart der Königin 
an Präparaten demonftriste, alfo zmei Jahre vorher, ehe Bartholin fie fich zufchreiben 
fonnte. R.'s Unterfuchungen führten ihn auch zur Entdedung des Reſervoirs des 
Chylus; aber in dieſem Punkte war Ihm Pecquet, dem auch der Ruhm blieb, jenem 
Mefervoir feinen Namen gegeben zu haben, vorangegangen. Die Königin Ghriftine 
gab dem jungen Gelehrten eine beträchtliche Summe zum Meifen, worauf er die Uni⸗ 
veriitäten Deutfchlande und Hollands befuchte und mährend eines längeren Aufent- 
baltö zu Leyden feine naturbiflorifchen Kenntniffe vermehrte. Nach Schweden zurüd- 
gelehrt, ließ er fly in Upſala nieder und legte daſelbſt auf feine Koften einen bota⸗ 
nifhen ®arten an, den nachher fein Sohn und in der Folge Linnéè vergrößerten. 
Sein Eifer für die Naturgeichicdhte erwarb ihm das Wohlwollen des Grafen de la 


Barbie, der ihn zwang, zur Entfchädigung für feine Ausgaben eine Summe anzu- 


nehmen, und ihm an ber Univerfität von Upfala die Lehrftühle für Botanik und Ana- 
tomie verfchaffte. (ALS Anatom war er nicht nur Theoretiker, fondern übte die Chi⸗ 
rurgie gelegentlich auch praktifch, wie er 3. B. an feiner Brau (Wendela Lohrmann) 
den Kalferfchnitt fo glücklich ausführte, daß er Mutter und Kind rettete.) Bald nad 
feiner Anftellung ward er Rector der Untverfität und das Jahr darauf befländiger Curator. 
Neben der eifrigen Erfüllung feiner Amtspflichten wußte der unermübliche Mann für das 


" Studium der Gefchichte Schwedens und der Univerfalgefchichte überhaupt noch fo viel 


Zeit zu gewinnen, daß er ein großes Werk über die Alterthümer jenes Landes und 
über die Bulturentwidelung der Menſchheit überhaupt abfaßte. Für den Drud dieſes 
Werkes Hatte er in feinem Haufe eine eigene Buchdruckerei errichtet und der vierte 
Band deffelben war unter der Brefie, als der große Brand, welcher im April 1702 
Upfala zerflörte, mit feiner Druderei und feinem Verlags » Magazin feine Ma: 
nuferipte und die zahlreichen Kupferplatten zerftörte, die er für ein großes botanifche® 
Werk, an dem er mit feinem Sohne arbeitete, hatte flechen laſſen. Der Schmerz über 
biefen unerfeglihen Berluft trug mwahrfcheinlich zu feinem Tode bei, der noch In dem⸗ 
felben Jahre am 7. September erfolgte. Jenes große biftorifche und antiquarifche 
Werk iſt die „Atlanlica sive Manheim vera Japheti posterorum sedes ac patria.* Er 
wollte darin beweifen, daß Schweden das am früheften bewohnte Rand fei und alle 
Nationen aus ihm abflammen; es fei, behauptet er, die Atlantis Plato's, und die 
Briechen und Mömer verdanken ihm ihre Mythologie. Abgeſehen von dieſer Hypo⸗ 
tHefe, enthält das Werk einen fo ungeheuren Schatz von Belchrfamfeit, fo viele geift- 
volle Ausführungen über den Zufammenhang der Sprachen, ferner Über die antike 
und germaniſch⸗nordiſche Mythologie und über das Altertfum der Völker, dag ihm 
noch jept ein großer Werth beizulegen if. Der erſte Theil erfchien zu Upfala 1675, 


- 464. Nudelbach (Andr. Gottlob). 


‚der zweite 1689, ber dritte 1698 (Alles in Kleinfolio), der vierte befand ſich beim 
Brande von 1702 unter der Preffe und mas von ihm vollendet: war und gerettet 
wurde, war fo wenig, daß man Überhaupt nur von brei oder vier Eremplaren weiß 
und daß er in Frankreich nur in einer Abfchrift exiſtirt. Das Buch ift ſchwediſch 
und lateinifch gejchrieben und verdient einen neuen Abdruck. 1676 erfchien in Deutſch⸗ 
Iand der erſte Thell der Iateinifchen Ueberſegung; 1726 Fündigte Hofhont, Buchhänd- 
ler in Rotterdam, einen vollftändigen Aborud der lateinifchen Ausgabe an, aber führte 
die Idee nicht aud. Won den anderen Werken R.'s find Hervorzuheben: exercilalio 
anatomica exhibens ducius novos hepaticos (1653) und de sero ejusque vasis dis- 
serlatio (1661) — das erflere öfters in fpäteren mediciniſchen Sammelwerken, das 
zweite wie das erflere in Haller’8 Disputaliones selectae wieder abgedruckt. — Sein 
Sohn Olov R., geb. zwifhen 1660 und 1670, vereinigte wie fein Vater die Kennt- 
niß der Botanif mit derjenigen der Alterihümer, fludirte zu Upſala die Mebicin und 
ward 1695 von Karl Xl., König von Schweden, beauftragt, Lappland zu bereifen. 
Er befuchte darauf Deutfchland, Holland und England, um die dortigen wiſſenſchaft⸗ 
lien Beftrebungen und Anſtalten Eennen zu lernen. Mitarbeiter feines Vaters im 
Fach der Botanif und der Alterthümer, hatte er den Schmerz, ‚beim Brande von 1702 
ſowohl die Fortfeßung feines Werkes: Nova Samoland, sive Laponia illustrata et 
iter per Uplandiam, cum fasciculo vocum lapo-hebraicorum, (deflen erfter Theil 
1701 zu Lipfala erfchienen war), ald auch den größten Theil der Platten und die 
Vorarbeiten zu feinem botanifchen Werk zu verlieren; von demfelben war 1702 campi 
Elysii liber primus, 1701 liber secundus erfrhienen; ed war auf 12 Bände In Fol. 
berechnet und follte die Abbildungen von 12 bis 13 Taufend Pflanzen enthalten. 
Sein Vater überließ ibm, ehe er farb, feinen Lehrſtuhl; 1720 legte er mit Eric 
Derzelius den Grund zur. Afademie der Wiflenfchaften zu Upfala und flarb 1740. 
Die Berlufte, die er durch den Brand von 1702 erlitt, hinderten ihn, feinen „Boly- 
glotten- Schatz“, den er um die Analogie und den Familienzufammenbang aller Sprachen 
nachzumeifen, unternommen batie, zu Ende zu führen. Nur einzelne fprachwiflen- 
fchaftlicye Abhandlungen veröffentlichte er, von denen hervorzuheben find: Specimen usus 
linguae golhicae in eruendis atque illustrendis obscurissimis quibusvis S. Scerip- 
turae locis: addila analogia linguue golhicae cum sinica. (Upfala 1717) und 
Thesauri linguarum Asiae et Europae harmonici Prodromus. (Upſala, ohne Jahres⸗ 
zahl). Diefes eben fo feltene wie interefiante Werfen bat Wolf in feiner wichtigen 
und verbienftvollen Bibliotheca hebraica wieder abdruden laffen. 

- Nudelbadh (Andr. Gottlob), Tutherifcher Theologe, geb. 1792 zu Kopenhagen, 
wo er auch Theologie fludirte. Er hat fih durch feine Bemühung um die Wieder- 
belebung des Glaubens und um die wiflenfchaftliche Bertbeidigung . deffelben einen 
geachteten Namen gemacht. Nachdem er Deutihland, die Schweiz, Frankreich und 
Belgien zum Zwed feiner dogmen-hiftorifchen Studien bereift hatte, gründete er mit 
Orundtwig tie „Theologiſt Maanedsikrift" (13 Bde. 1825 — 1828), war audy jeit 
der Gründung der „evangelifchen Kirchenzeitung“ deren Mitarbeiter. 1829 folgte er 
einem Rufe als Gonftftorialrath und Superintendent nad Glauchau in Sachen unb 
ſchloß fidh Hier feit 1833 den Gegnern der Union an. In diefem Sinne bat er ber. 
audgegeben: „Die Sacramentömworte, hiftorifch » Eritifch dargeſtellt“ (Leipzig, 1837); 
„Reformation, Lutherthum und Union“ (Leipzig, 1839); „Hiftorifch=kritifche Einleitung 
in die Augsburgiiche Confeſſion“ (Dresden, 1841); „Ueber die Bedeutung des 
Apoflol. Symbolum” (Leipzig, 1844) und gründete mit Gueride 1840 (Leipzig) bie 
„Zeitſchrift für Die gefammte luth. Theologie und Kirche". Der Erneuerung und 
Kräftigung des Lutherthume find ferner jeine PBrebigtfammlungen gewidmet: „Der 
Kampf mit der Welt und Friede in Chriſto“ (Leipzig, 1830); „der Herr kommt“ 
(Leipzig, 1833 — 1834, 2 Bde), „Biblifcher Wegmweifer" (Leipzig, 1840 — 1844, 
2 Bde.); „Kircbenfpiegel" (Erlangen, 1845, 2 Bde); „Kirhenpoftille über die Evan: 
gelien“ (Kopenhagen, 1852 — 1854, 2 Bde.) Unter feinen hiſtoriſchen Werfen find 
noch hervorzuheben: „Savonarola und feine Zeit” (Hamburg, 1835) und „Chrifl- 
liche Biographie” (Leipzig, 1850). 1845 legte er fein Amt nieder, begab fi nach 
Kopenhagen zurüd, hielt daſelbſt an ber Univerfität theol. Borlefungen und folgte 


Ruderddorf. Nudhart (Ignaz von). 465 


1848 dem Rufe auf ein Pfarramt in Slagelſe auf Seeland. Seit ſeiner Rückkehr 
nach Dänemark betheiligte er ſich vielfach an den Beftrebungen für Befreiung des 
Belenntniffes und der Kirchenverfaffung von der Intervention der weltlichen Bureau⸗ 
Fratie; dahin gehören feine Schriften: „Theologifches Votum Über die den Baptiften 
zu gewährende Religionsfreiheit" (1846); „Staatskirchenthum und Meligionöfreiheit” 
(in der „Zeitfehr. für luth. Theologie", 1850—52); „Ueber bie Eivilche” (1851); 
„Ueber das Purochial» Syflem und die Ordination” (1852); „Ueber den Begriff der 
Volkskirche“ (1853) u. f. w. Er flarb den 3. März 1862 in Stagelfe. 
Aüdersdorf. Das Kleine Gebtet von Mufchelfall, welches in der Gegend von 
N. unweit Berlin aus den diluvialen Bildungen bervorragt, übt zwar feinen unmit- 
telbaren mefentlihen Einfluß auf die Fruchtbarkeitszuflände des Bodens aus; um fo 
wichtiger iſt es dagegen in technifcher Beziehung, auch als Düngematerial. Es ift 
fein Wunder, daß bier ſich fo großartige Steinbrüche entwidelt haben, wie man fie 
in anderen Gegenden Deutſchlands nur felten findet, da file in einem Umfreife von 
mehr ald 20 Meilen die einzigen find, und zudem ein mehrfach nugbares Material 
liefern, naͤmlich Kalkflein. Zweifelhaft ift es, 05 Berlin jemals zu feiner jeßigen 
Größe und Ausdehnung gelangt wäre ohne die Nüderädorfer Kalkbrüche; der Kalk 
für faſt alle in Berlin feit Sahrhunderten aydgeführten Bauten kommt aus R., die 
Sundamente der meiflen Häufer Berlins find auf diefen vortreffliden Kalkbruchſteinen 
gebaut. Die Kalfbrüche, fo wie das Dorf R. ſelbſt, gehörten ehemals zum Klofler 
Zinna, follen aber früher, als das Dorf, vielleicht vor 1480, an. den Landeshertn 
gefommen fein. In dem Landbuche Kuifer Karl’s IV., ald damaligen Beſitzers der 
Mark Brandenburg, wird unter Anderem gefagt, daß die Mönche den Ertrag des 
Kalfberges nicht Hätten angeben wollen (Mons calcis, quid solvit, dieere noluerunt). 
Hieraus würde zu entnehmen fein, daß die Kalkfleinbrüde ſchon vor dem Jahre 1375 
im Betriebe gemwefen fein müflen. Die Megenten der Marl haben von je ber dieſe 
Kalkfteinbrüche ihrer befonderen Beachtung werth gehalten und ſchon in den früheften 
Zeiten zur Anflebelung der zu deren Betrieb erforderlichen Arbeiter mebrere Colonieen 
gegründet. Auch haben die Negenten fowohl durch den fortmährenden Betrieb, ale 
auch dadurch von ihrem Hoheitsrechte Gebrauch gemacht, daß fie einzelne Perfonen 
und Gorporationen unter gewiſſen Befchränfungen mit Theilen der Brüche belichen. 
So erhielten die Magiftrate von Berlin und Coͤlln an. der Spree Privilegien, erflerer 
fhon 1591 und 1618, und daraus entfpann fich fpäter ein Mechtöflreit zwifchen 
Fiscus und dem Magiftrate von Berlin, der 1855 erſt durch einen am 28. Juni voll⸗ 
zogenen Societätövertrag eine gütliche DVeilegung erhielt. Der Abbau und die Aus- 
beutung des gefammten Kalkflein- und Gipélagers, welches ſich unter der Oberfläche 
der Feldmark R. befindet, wird nach diefem Vertrage auf gemeinfchaftliche Mechnung 
des Fiscus und der Commune Berlin vom 1. Januar 1855 betrieben; bon dem 
Reinertrag aus diefem Sorietätögefchüfte erhält Fiscus 5/, und die Commune Berlin Y,. 
Dom Jahre 1855 — 60 beltefen fich für letztere die Meinerträge auf 131,207 Thlr. 
oder jährlich durchfchnittlich auf 21,868 Thle. Außer dem Dorfe R. mit 642 Ein- 
wohnern find noch nach und nach entflanden: Müdersdorfer Grund (Colonie, 
vormals Golonie R.) mit 386 E. die Nüdersdorfer Käufer, Golonie im Ans 
Schluß des Dorfes Tasdorf, mit 107 E., die Kolonie Hortwinkel, 1783 angelegt, 
mit 222 @., das Gut R. mit 20 E., die Ziegelei am Kalkſee, das Dorf 
Nüdersporfer Kalkberge, mit 1046 E., der Gig des föniglichen Bergamtes, 
1764 angelegt, mit der 1778 gegründeten Eolonie Alte Grund, die Golonie Hin» 
terberge, 1764 angelegt, mit 311 E., und die Oberförfterei R. mit 55 €. 
Andhart (Ignaz von), bayerifcher Staatsmann, geboren den 11. März 1790 
zu Weißenau, wo fein Vater fürſtlich Bambergifcher Polizei» Commiffar war, fludirte 
in Landshut Die Mechte und erhielt 1811, nachdem er fi am Gericht zu Bamberg 
fo eben der Praxis zugewandt hatte, einen Auf als Profeffor der Nechte an bie groß- 
Herzogliche Univerfitäit Würzburg. Nachdem Würzburg an Bayern übergegangen war, 
und RM. fih durch feine „Gefchichte der Landflände in Bayern“ (Heidelberg 1816. 
Zweite Auflage, Münden 1819) einen Namen gemacht hatte, warb er in den Staats⸗ 
dienſt gezogen, in melchem er 1819 Miniſterialrath Im Yinanz- Miniftertum, 1823 
Wagener, Zraatsmu. Geſellſch⸗Ler. LVI. 30 


466 Nüdiger (Friedrich, Graf von). 


Regierungd- Director in Bayreuth, 1826 in Regensburg wurde. Seit 1825 war er 
auch Abgeordneter in der Zweiten Kammer der Ständeverfammlung, in welcher er 
mit feiner DBeredfamkeit oft der Oppofttion diente, feit 1831 aber fl} von den Ex⸗ 
tremen fern bielt. 1831 ward er als Negierungspräftdent nach Paſſau verfegt; 1836 
übernahm er, dem Rufe feines Königd folgend, das Präflvium des Minifteriums in 
Athen, trat aber bereitö Ende ded Jahres 1837 von diefem Poſten zurüd, auf dem 
er ſich inmitten der Rivalität der drei Schugmäcdhte nicht behaupten konnte. Er hatte 
durch feine Hinneigung zu Rußland ſich die Beindfchaft der beiden Weſtmaͤchte zuge⸗ 
zogen und durch jeinen Zwift mit dem engliihen Gefandten England die Gelegenheit 
gegeben, auf feine Abberufung zu dringen. Vor feiner Rückkehr in die Heimath 
machte er eine Reife nach dein Orient, erfrankte aber auf der Rückkehr in Trieft und 
ftarb dafelbft den 11. Mai 1838. 1826—27 mar zu Erlangen in 3 Bänden feine 
ftatiflifche Schrift: „Ueber den Zufland ves Koͤnigreichs Bayern nach amtlichen Quel⸗ 
len“ erfchienen. - 

Nüdiger, Briedrih (Fedor Waſſiljewitſch), Graf von, rufflfcher General der 
Gavallerie und General» Adfutant, einer der tapferfien Heerführer Rußlands, welcher 
feinem Baterlande im Laufe eines 5Ojährigen Dienfled wefentlih genüßt bat, wurde 
1784 in Ritau, der Hauptfladt Kurlands, geboren, nahm früh ruffifche Dienſte bei 
der Faiferliden Garde» Bavallerie und focht fchon in den Kampagnen von 1807 und 
1808 tapfer mit. Nachdem er schnell zum Oberſten und Commandeur der Grobno- 
ſchen Hufaren avaneirt war, focht er in der blutigen zweitägigen Schlacht von Polozk 
am 30. und 31. Juli 1812 unter den Fahnen Wittgenſtein's gegen die unter Dubdts 
not's Befehlen fämpfenden Branzofen fo heldenmüthig mit, daß er bald darauf zum 
Generalmajor befördert wurde. Zu Anfange des Jahres 1813 befehligte er ald fol- 
cher eine leichte avallerte » Brigade bei der Avantgarde des Wittgenftein’fchen Corps 
und nahm an allen Kämpfen und Siegen des legteren Theil. Während der Schlacht 
von Lügen unterflüßte er den in» und vor Leipzig flehenden preußifchen General v. 
Kleift und focht unter defien Commando bei Baugen, wobei er am 20. Mai Nieder» 
gurfau erfolgreich vertheidigte. Bei Dresden und Leipzig focht er mit feiner mit ber 
Avantgarde Wittgenftein’d verbundenen. Eavallerie unter dem Oberbefehle Pahlen's. 
Vorzügliche Lorbeeren erfämpfte ed fih im Jahre 1814, als der Kampf auf franzd« 
ſiſches Terrain binübergeipielt war, indem er bei Nogent, bei Bar jur Aube, wo er 
die Artillerie des Generals Gerard nahm, und in vielen anderen Gefechten Wittgen- 
ſtein's mit an Verwegenheit grenzender Tapferkeit fi hervorthat. 1826 glei 
nach dem Regierung» Antritte des Kaifers Nikolaus I. zum Generallieutenant beför- 
bert, führte er im Kriege gegen die hohe Pforte vom Jahre 1828 die Avantgarde 
des 3. Corpé, eroberte Koftendfche, ſchloß Schumla mit ein und erbielt nad Auf⸗ 
bebung ber Belagerung des leßteren Orted das 7. Infanteriecorpys, mit welchem er 
die Angriffe des Großveziers abfchlug, demfelben am 17. Mai 1829 Hei Eski-Arnautlar 
einen empfindlichen Verluſt beibrachte und zum Siege bei Kulewtſcha am 11. Juni 
wefentlich beitrug, Indem er den ben Hauptangriff gegen den Großrezier ausführenden 
Obercommandirenden der rufflihen Truppen, General Diebitfh, mit feinem Reſerve⸗ 
corps wacker unterflügte. Hierauf feßte er mit dem Befehlshaber des 6. Armeecorps, 
General v. Roth, die Belagerung Schumla’8 fort, überfchritt dann mit Diebitfch den 
Balkan, erfocht den Steg bei Aidos und rüdte im Sturmmarfch in Adrianopel ein, 
wo die Politik der Weftcabinette bekanntlich den weiteren Progrefien Rußlands ein 
Ziel fegte. Nah dem Friedensſchluſſe wurde R. von feinem dankbaren Monarchen 
in den Grafenfland des ruſſiſchen Meich8 erhoben und zum Gommandeur des 4. Re⸗ 
fervecavalleriecorp8 ernannt. Bei dem Ausbruche des polnifchen Infurrectiondfrieges 
im Jahre 1831 vertheidigte R. an der Spige jenes Corps die ruffifchen Weſtpro⸗ 
vinzen und befonders Volhynien gegen die Angriffe der von Polen einbrechenden Aufs 
flindifchen und hielt die Infurrection in jener Provinz felbft erfolgreich nieder. Nach⸗ 
dem er hierauf den polnifchen Injurgentencdhef Dwernicki, dem er bei Boromel em» 
pfindliche Verlufte beigebracht, über die galizifche Grenze geworfen und zur Stredung 
der Waffen gezwungen hatte, rüdte R. nun in Eilmärfhen gegen daB Königreich 
Polen ſelbſt vor und kaͤmpfte beſonders in der Wojewodſchaft Lublin mit wechfelndem 


Audlof (Wilhelm Auguf). Rudolph I. (deutfcher Kaifer). 467 


Glück, welches doch meiftend auf feiner Seite war, gegen die Nebellengenerale Jan⸗ 
kowsti, Chrzanowoki und Ramorino, erfocht den Uebergang über die Weichſel, unter« 
fügte hierauf, im Rüden Warſchau's flehend, die Evolutionen der ruffifhen Haupt⸗ 
armee unter Paskewitich’8 Oberbefehlen und drängte nach der Gapitulation War⸗ 
ſchau's den Inſurgentenchef Rocicki auf öſterreichiſches Gebiet. Nach der Dämpfung 
des Aufftandes, wobei R. ſich auch, noch eine Zeit lang in Polen zurüdbleibenp, 
große Verdienſte um die Parifkcation des Landes erwarb, wurde er zum General der 
Eavallerie, zum Generaladjutanten und zum Chef des 3. Infanterie⸗Corps befördert, 
welched er 1835 in dem großen Lager zu Kalidz commandirte. 1846 ſchlug er die 
Banden der Krafufen und befegte Krafau, und 1849 beim Aufflande der Ungarn 
führte er, ald Commandirender eines ruſſiſchen Hülfsheers, die Avantgarde des Gros 
der Invaflondarmee am 3. Juni aus Weſt⸗Galizien über die Karpathen nad Ungarn, 
wo der ungarifche Beneral Börgey am 13. Auguft 1849 Hei Bilagos fich ihm bes 
fanntlih mit dem ganzen Infurgentenberre gefangen gab. (Vgl. den Artikel Ge- 
Ihihte von Ungarn.) Der Kaifer von Mußland belohnte ihn durd die Schenkung 
eined großen Gütercomplexes in Polen, wohin er nad dem Abfchluß des Friedens 
ging und wo er feinen Lebendabend in erquidlicher Muße zu verleben gedachte, nach⸗ 
dem er 1850 jein Commando niedergelegt hatte und dafür als Mitglied in den Reichs⸗ 
rath getreten mar. Doch rief ihn der Krimfrieg noch einmal in die Oeffentlichkeit 
zurüd, er erfegte den im April 1854 zur sufflfchen Südarmee abgehenden Fürften- 
Statthalter Paskewitſch als Gouverneur von Warfchau, mard hierauf im März 1855 
Chef der Eaiferlicden Barden und des Grenadiercorps, wie auch des Hufarenregiments 
von Kljaſtizy und Armeeoberbefeblähaber in Kriegdzeiten, fo wie Bräfldent der Remonte 
der Steppenflutereien für die reitende Artillerie und flarb am 23. Juni 1856 zu 
Karlsbad in Böhmen, wohin er fich zur Wieberberftellung feiner im Dienfle für den 
Kaifer und das Vaterland aufgeopferten Lebenskräfte begeben Hatte. 

Audloff (Wilhelm Auguft), geb. 11. Februar 1747 zu Roſtock, geft. 21. Juni 
1823 zu Hannover als Geheimer Eabinets-Math a. D. Nah vollendeten Studien 
zu Bügom feit 1762 und Göttingen 1764, wurde er nach Vertheidigung einer Differ- 
tation, „de litteris convocatoriis ad comitia*, 1767 Doctor und Brivatdocent an der 
legteren Univerfltät, 1768 ordentlicher Lehrer der Mechte zu Bützow, 1773 Hofrath 
und advocatus patriae zu Sannover, 1775 zweiter Archivar, 1776 erſter Archivar 
und zweiter Geheimer Secretär, 1784 Geheimer Juſtizrath und 1802 Geheimer 
Eabinets-Rath. Sein letztes Wirken fiel in die unglüdliche verwirrte Zeit der feind- 
lihen Occupation des Königreih8 Hannover und ift ihm namentlih als dem im 
Zande anerkannt einflußreichfien Mitgliede der damaligen Regierung die Hauptfchuld 
an der Möglichkeit einer Beſitznahme Hannovers durch die Branzofen im Jahre 1803 
aufgebürdet. Nach offlciellen Actenflüden und glaubhaften Mittheilungen von Ber 
amten, welche einen nicht unerheblichen Antheil an jerten Ereigniffen hatten, ift neuer- 
dings in der Schrift: „Die Ueberwältigung Hannovers durch bie Franzoſen. Eine 
biflorifch-politiihe Studie von 2. v. Ompteda.” Hannover 1862, eine Rechtfertigung 
jeined Verfahrens unternommen worden. Seine fchriftftellerifche Thaͤtigkeit Hat 
Pütter's ) Lob erfahren: er galt ald einer der gelehrteften und tüchtigften Publi— 
eiften feiner Zeit. Sein Bruder, Friedrich Auguſt R., hat fi durch „Pragmatifches 
Handbuch der Mecklenburgiſchen Geſchichte“ und „Codex diplomaticus historiae 
Megapolit.* bis jegt- einen ebhrenvollen Namen bewahrt, 

Aubolph 1., deutfcher Kaifer, geboren am 1. Mai 1218, war der ältefte Sohn 
Albrecht's IV., Grafen von, Habsburg und Landgrafen vom Elſaß. Friedrich Il. hatte 
ihn aus der Taufe gehoben, um die Treue feined Vaters zu ehren. Seit 1236 fämpfte 
er ſelbſt im Dienfle Friedrich's II. in Italien. Nach dem Tode feines Baters, 1240, 
übernahm er die Berwaltung feiner Beflgungen und erweiterte fle bald beträchtlich. 
Seine Oheime, die Grafen von Haboburg⸗Lauternburg und von Kyburg, zwang er, ihm 
beträchtliche Güter abzutreten, und vermählte fich mit einer reichen Erbin, Gertrude, 
der Tochter Burkhard's, Grafen von Homburg. Allmählich vereinigte er die Graf⸗ 


) Ein vielen Säriften hat Pütter anfgezählt: Litteratur des deutſchen Stantsrehts. 
2. Shell, ©. &0 fi. 
. 30* 


468 Audolph I. (deutfcher Kaiſer). 


fchaften Kyburg, Baden und Lenzburg mit den von ihm ererbten Beflgungen. 1255 
ſchloß er fi dem Kreuzzuge Ottokar's von Böhmen nach Preußen an und wurde von 
ihm zum Mitte gefchlagen. 1257 ermäßlten die Gantone Uri, Schwyz und linter- 
walden ihn zum Schirmberen; 1258 wurde er Feldhauptmann der Stadt Straßburg, 
1264 von Züri. Als folcher befämpfte er flegreich den Bifhof von Straßburg und 
feine Berbündeten. Eine Fehde mit dem Abt von St. Gallen wurde durch Bergleich 
beigelegt, und beide Theile verbündeten fich fogar gegen den Biſchof von Bafel, mit 
deſſen Hülfe die Sreunde Rudolph's aus Bafel vertrieben worden waren. Da es in« 
deffien auf den Krieg gegen dieje mächtige Stabt nicht Hinlänglich vorbereitet war, 
fhloß er einen dreijährigen Waffenftilldand mit ihr ab, vervoliffändigte feine Ruͤſtungen 
und belagerte nach Ablauf des Waffenſteillftandes Bafel, als feine Ermählung zum 
deutfchen Kaifer (am 30. September 1273) erfolgte; dieſe war durch den gemeine 
ſchaftlichen Vortheil des Papſtes und der Wahlfürſten herbeigeführt, welche ſaͤmmtlich 
einen. möglichſt ohnmächtigen Kaiſer zu haben wänfchten. Erzbiſchof Werner von Mainz 
betrieb die Unterbandlungen zwifchen ibm und dem Papſte; Friedrich von Hohenzollern, 
Burggraf von Nürnberg, bie mit den Fürſten. Rudolph verfprady, wenn er zum Kai⸗ 
fer gewählt würde, dem Papfte ſich unterwürfig zu bezeigen, Italien aufzugeben und- 
fihy mit dem Haufe Anjou zu verbinden. Außerdem verfprady er, eine feiner Töchter, 
Mechtild, mit dem Pfalzgrafen Ludwig; die zmeite, Hedwig, mit Otto von Branden> 
burg; die dritte, Agnes, mit Albrecht von Sachen zu vermählen. Endlich verpfliche 
tete er ſich, bei jeder wichtigen Handlung die Sanction der Pürften einzuholen, und 
verbürgte Ihnen die Beſttzungen, die fie vom Reiche widerrechtlich an fich geriflen Hatten. 
Er wurde am 28. October zu Aachen gekrönt und verband damit die Bermählung 
feiner Töchter. Katharina, die vierte Tochter, wurde mit Dtto, dem Sohne Hein» 
rich's von Bayern, vermählt. Die Städte gewann R. durch eifrige Bekämpfung bed 
Landadeld. Der Papft Fam, um jeden Gedanfen an eine Nömerfahrt zu befeitigen, 
nach Lauſanne und ertheilte ihm feinen Segen. Rudolph wiederholte bier jein Ver⸗ 
fprehen unbedingten Gehorſams. Zur Bekämpfung Ottokar's von Böhmen, welcher 
fich mehrerer ‚deutfchen Ränder bemächtigt, hatte R. fi ebenfalls ſchon vor jeiner 
Wahl verpflichtet. Defterreicher und Steiermärfer riefen ihn überdies unabläffig um 
Hülfe gegen Dttofar an, der fie willkürlich und graufam behandelte. 1275 verſam⸗ 
melte R. ein bedeutendes Heer, nachdem er mit dem Könige Stephan von lingarn 
ein Bündniß abgefchloffen Hatte. Ottokar verfland ſich nun zur Abtretung von Defler- 
reich, Steiermark, Kürntden und Krain, und befannte fih für Böhmen und Mähren 
ald Lehnsmann des Kaifers; 1277 aber brach er mit einem bedeutenden Heere gegen 
Wien auf, murbe 1278 auf dem Mardhfelde von R., mit dem aud, ein ungarifches 
Heer ſich vereinigt hatte, gefchlagen und blieb felbft auf dem Schlachtfelde. R. er⸗ 
nannte nun feinen Sohn Rudolph zum Herzoge von Schwaben und zwang Ottokar's 
Tochter Agnes, fi mit ihm zu vermählen. Des Kaifers zweiter Sohn Albrecht er- 
hielt das Herzogthum Defterreih und die Hand der Elifabeth, Tochter des Grafen 
Meinhard von Tirol, der zum Herzoge von Kärnthen erhoben wurde. Um den Papſt 
mit diefer Erhebung feined Hauſes auszuföhnen, verheirathete R. feine fünfte Tochter 
Elementia mit Karl Martel, dem Sohne ded Königs Karl von Neapel. R.'s ſechste 
Tochter Gutta wurde mit dem jungen Könige Wenzel von Böhmen, Ottokar's Sohn, 
vermählt. Seitdem beichäftigte R. ſich vorzugsweiſe damit, den Landfrieden im Reiche 
berzuftellen, was ihm jedoch nur fehr unvollfommen gelang. Er z0g im Lande um⸗ 
ber, um Landfriedensfchlüffe durchzuſetzen und diejenigen, welche ſolchen Beſchlüſſen 
zumwiderhanbelten, zu beftrafen; da ihm jeboch Feine ausreichende Macht zu Gebote 
ftand, mirkte er immer nur auf die Orte ein, wo er felbft fi befand. Er erwarb 
fih aber dadurch einen hohen Auf als firenger und gerechter Richter, man nannte 
ihn das lebendige Geſetz (lex animata) und erzählte eine Menge Löblicher Ausſprüche 
von ihm. — 1285 trat ein Mann Namens Thile Koluf oder Friedrich Holzſchuh als 
Friedrich II. auf und behauptete fi einige Zeit in mehreren rheinifchen Städten, 
wurde aber bald entlarvt und hingerichtet. In Schwaben, mo Graf Eberharb von 
Württemberg unaufhoͤrlich mit den Städten Krieg führte, ergriff R. noch einmal Partei 
für die letzteren, verbrannte die Burg Stuttgart und zwang den Grafen und feine 


Andolph I. (deutſcher Katfer), 469 


Verbündeten, fi zu demüthigen (1286). Hierauf zog er nach Burgund, um feine 
Erbgüter zu vermehren, und vermäblte ſich mit der vierzehnjährigen Agnes von Bur- 
gund, um fich den Beflg eines Theiles diefed Landes zu ſichern. Dabei entzweite er 
ih mit der Stadt Bern, welche ebenfalld Stücke von Burgund an fih riß, unter« 
nahm einen Feldzug gegen fie, vermochte aber nicht, fle zu erobern. 1290 z0g R. 
gegen die thäringifchen Raubritter zu Felde, zerftörte 66 Burgen und ließ 29 Ritter 
hängen. Dagegen unterließ er es, in die größeren Fehden einzugreifen, welche ringe 
um thn ber dad Land verwäfleten. Er flarb zu Germersheim am 30. Septbr. 1291 
und wurde zu Speier begraben. Seine Bemühungen, feinem Sohne Albrecht Die 
Kaiferkrone zuzuwenden, blieben ohne Erfolg; Adolph von Naflau folgte ihm. Er 
ift von der Mehrzahl der neuern Befchichtöfchreiber mit partelifcher Vorliebe behan« 
delt worden, weil man in ihm einen Borkämpfer des fogenannten Volkes gegen den 
Adel zu erkennen glaubte. Dies war er keineswegs, wohl aber ein Fluger fräftiger 
Mann, der feinen Bortheil wohl zu wahren wußte. So wie er vor feiner Erwäh⸗ 
lung zum Kaifer faſt unaufbörlich Eroberungen machte, ohne viel nach einer Berech⸗ 
tigung dazu zu fragen, fo verwendete er auch nach feiner Erhebung feine Kraft vor« 
zugsweiſe darauf, Oeflerreich zu gewinnen und zu behaupten, und verzichtete deshalb 
fat ganz darauf, Deutfcyland in dem Sinne feiner großen Vorgänger zu regieren. 
Bergl. Lichnowsky, Geſchichte Kaifer R.'s 1. und feiner Ahnen, Wien 1836. Schön- 
huth, Geſchichte Rudolph's von Habsburg, 2 Bde. Leipzig 1843, 4. 

Nudolph IL, Kaifer von Deutfchland, war ein Sohn des Kaifer Marimilian II 
und 1552 geboren, wurde 1572 König von Ungarn und 1575 böhmifcher und deut⸗ 
ſcher König. Am 12. Detober 1576 folgte er feinem Vater auf dem Kaiferthrone. 
Eine feiner erften Regierungshandlungen mar der erfolglofe Verfuch, die fpanifche Krone 
zu milderer Behandlung ihrer proteftantifhen Unterthanen in den Niederlanden zu be⸗ 


‚wegen. Gleichzeitig wurden aber die Proteftanten in R.'s eigenen Zändern, melde 


Maximilian fehr mild behandelt Hatte, jegt vielfach bedrüdt. Der Kaiſer felbft wirkte 
hierbei nicht entfcheidend mit, er ließ nur feine Umgebungen, unter denen ſich viele 
jehr glaubenBeifrige Jefulten befanden, ungebindert fchalten. Auch in die Streitigkeiten 
zwifchen Katholifen und Broteflanten in Köln, YUachen und Donaumwerth griff er zwar 
nicht entfcheldend ein, erregte aber eben dadurch unter den Proteflanten lebhafte Un« 
zufriedenheit, da diefe In allen -jenen Städten von den Katholifen beflegt wurden und 
der Kaiſer ihnen Eeine Hülfe gewährte. Die gewaltjame Gegenreformation, welche 
gleichzeitig in Würzburg und Salzburg flattfand, erbitterte die Proteftanten noch mehr, 
und. der König Heinrich IV. von Pranfreich, der dad Haus Habsburg zu demüthigen 
wünfchte, munterte fie überdies auf, in Gemeinfchaft mit ihm ſich gegen den Kaifer zu 
erflären. Am 4. Mai 1608 fchloffen die evangelifihen Stände zu Schwaͤbiſch⸗Hall 
eine Union ab, an deren Spite der Kurfürft Friedrich von der Pfalz geftellt wurde. 
Kurfachfen, welches ſich hierdurch verlegt fühlte, verweigerte feinen Beitritt. Die katho⸗ 
Hichen Meichöftände fchlojfen dagegen am 10. Juni 1609 zu Würzburg ein Gegen- 
bündniß, die fogenannte Liga ab. Der Tod Heinrih8 IV. bewirkte indeffen, daß der 
Ausbruch des Krieges fich bis nach dem Tode Rudolphs verzögerte. Er konnte in 
dieſe Angelegenheiten um fo weniger eingreifen, da er gleichzeitig in Ungarn ſchwere 
Unfälle erlitt. Zunaͤchſt erfämpften die Sultane Murad II. und Muhamed III. bier 
mehrere Siege gegen öfterreichifche Truppen und verbeerten das Land in furchtbarer - 
Weiſe, und als die Türken durch einen Krieg mit Perſien anderweitig befchäftigt waren, 
erhob fi in Ungarn ein Aufftand gegen den Kaifer, unter der Anführung des Stephan 
Bocskay, welcher ſich 1605 zum Fürften von Ungarn ausrufen Tieß und 1606 ala 
Erbfürft von Siebenbürgen und mehreren ungarifshen Comttaten anerfannt wurde. 
Diefer Friede, fo wie der gleichzeitige mit dem Sultan Achmed I. wurde aber nicht 
von R., fondern von feinem Bruder Matthiad abgefchloffen, welcher in demfelben Jahre 
von den Erzberzogen ald das Haupt ihres Haufes anerkannt morden war und 1608 
N. nöthigte, ihm die Megierung von Defterreih, Mähren und Ungarn abzutreten. 
1611 mußte R. auch die Regierung von Böhmen feinem Bruder überlaffen und fich 
mit einer Apanage von 300,000 Gulden begnügen, er flarb am 20. Jan. 1612. — 
Er beſchaͤftigte ſich bei meitem mehr mit Chemie und Afttonomie, als mit der Regie⸗ 


470 Rudolf von Ems. Nubolphi (Karl Asmund). 


rung feiner Länder; mit beſonderem Eifer ırieb er auch Alchymie und Aſtrologie. 
Kepler lebte längere Zeit an feinem Hofe. So bigott, wie man ihn gewoͤhnlich 
fchildert, war er nicht, er mipbilligte vielmehr dad Verfahren Ferdinand's von Steier- 
mark und Maximilian's von Bayern, audy waren die Belehrten, die er um ſich Hatte, 
meift Proteftanten. Indeſſen fah er allerdings die neue Confeſſton, welche damals in 
Oeſterreich mächtig war, als einen Stüßpunft der Oppofltion gegen die Faiferliche Ge⸗ 
walt an und hielt ed deshalb für feine Pflicht, fle zu befämpfen. Einen großen Theil 
feines @infommens verwandte er auf Kunftirerfe und fchöne Pferde. Vgl. Kurz, Ge⸗ 
fchichte Defterreih8 unter Kaifer Rudolph, Xeipzig 1821. 

Nudolph von Ems, ein Schweizer, der als Dienfimann der Grafen von Montfort 
oft faͤlſchlich Rudolph von Montfort genannt wird, war einer der felbfiffändigften 
and gelebrteften Dichter des Mittelalterd. Selbft Gervinus, der fonf ein ungeredht 
abſprechendes Urtheil über ihn gefällt bat, rühmt die zierliche Diction, die dem Gott⸗ 
fried (von Straßburg) nachgeahmt, und deflen Ton oft ſelbſt in Nachbildung feiner 
fühn verfchlungenen Perioden wohl getroffen iſt. Er dichtete, nach 1229, den „guten 
Gerhard, eine Erzählung“ (herausgegeben von Moriz Haupt, Leipzig 1840, in's 
Neudeutfche überjegt von Simrod, 1847), wie Moriz Haupt meint, das gelungenfte 
feiner Werke, die Regende „Barlaam und Joſaphat“ (herausgegeben von Köpfe, 
Königsberg 1818, und von Franz Pfeiffer, Leipzig 1843), den Roman „Wilhelm 
von Orlens“, morin fi nah von der Hagen's Anſicht („Minnefinger*, IV., 
&. 551) R.'s inniger Sinn und umfichtig ermorbened Befchi vornehmlich entfaltet 
(dad Gedicht bat bis fegt noch Feinen Herausgeber gefunden, obgleih ſchon Docen 
S. 200 des 1. Bandes in dem von ihm mit von der Hagen und Büſching heraus⸗ 
gegebenen „Mufeum für altveutjche Literatur und Kunfl“ eine Ausgabe verfprocdhen 
batte; es find nur Bruchflüde davon heraußdgegeben, unter Anderm vor der Ausgabe 
des „Wilhelm von Dranfe* von Casparſon, welcher zuerfi die Kenntniß des „Wilhelm. 
von Orlens“ verbreitet bat, und von Knebel aud einer Handfchrift der Bonner Uni⸗ 
verfitäts- Bibliothek, im Jahreöbericht über den Zuftand des fönigl. Friedrich⸗Wilhelms⸗ 
Gymnaſtums zu Köln, 1852; vgl. außerdem Genthe, „Deutfche Dicytungen des Mittel« 
alter8*, Bd. J. Mone's „Anzeiger", 1835, Sp. 27 ff., Pfeiffer's „Germania“, Bd. II.) ; 
„Alerander* (bisher war nur die einzige Münchener Papierbandfchrift befannt; Maß⸗ 
mann bat aber in dem „Neuen Jahrbuch der VBerlinifchen Gefellfchaft für deutſche 
Sprahe und Alterthumskunde“, 10. Bd., Leipzig 1853, S. 104 ff., ein ziemlich 
umfaffendes Bruchſtück einer Pergamenthandfchrift des 14. Jahrhunderts mitgetheilt; 
eben derfelbe Gelehrte Hat in demfelben Bande des erwähnten Jahrbuches, S. 109 
bis 116, zwei Bruchflüde von R.'s v. E..„ Wilhelm von Orlens“ abdruden laffen). 
Sein legte Werk, die „Weltchronif”, ließ er unvollender, al& er in „wälfchen Reichen“ 
(Italien), wohin er wahrfcheinlih Konrad IV. gefolgt war, zwiſchen 1250 und 1254 
farb. Vgl. noch über ihn: Haupt's Vorrede zum „guten Gerhard“, fo wie F. Pfeifer’s 
Recenflon in den „Münchener gelehrten Anzeigen”, 1842, Nr. 70 ff., und deſſen 
Vorwort zum „Barlaam“; Graff's „Diutisfa* (1, 47—72) und A. F. C. Vilmar, 
„die zwei Mecenflonen und die Handfchriftenfamilien der Weltchronik Rudolf's von 
Ems” (1839). 

Andolphi (Karl Asmund), am 14. Juli 1771 zu Stodholm von deutfchen 
Eltern geboren, erhielt feine erſte Bildung auf der deutfchen Schule in Stodholm, 
wo fein Vater, au dem Magdeburgifchen gebürtig, Conrector war. Nach dem 1778, 
fur; vor feiner Berufung als Prediger nah ſchwediſch Pommern erfolgten Tode 
defielben beſuchte R. das Gymnaſtum zu Stralfund, der Baterftadt feiner Mutter, ber 
Tochter eined Kaufmannes 9. Thien daſelbſt, welde nach den Tode ihres Mannes 
dort feit 1779 ihren Wittwenfig aufgefcylagen hatte und fich und ihre Söhne durch 
den Unterricht Kleiner Kinder ernährte, bis fie Kränflichkeit wegen den Schulunterriht 
aufgab, zu ihrem Sohne Karl Asmund z0g und bei diefem im 53. Jahre ihres 
frommen Lebens flarb. Michaelis 1790 bezog R. die Univerfität Greifswald, wo et 
bis zum Herbfte des Jahres 1794 blieb und fi namentlih mit befonderem Fleiße 
unter Weigel’8 Leitung der Botanif bingab, mit melcher er, wie mit ber Entomalogie, 
ih übrigens ſchon als Gymnaſtaſt auf das Bleißigfte befchäftigt hatte. Doch ver 


— ——— — — — — — — — — — — — — — — — — — — 


Andolphi (Karl Asmund). 471 


nachlaͤſſigte er darüber die Chemie und Phyſik wie die Mathematik und fpeculative 
Philoſophie, welche den lebendigen Jüngling nicht zu feſſeln vermochten. 1793 erlangte 
R. die philoſophiſche Doctorwürde in Greifswald. Michaelis 1794 ging er, durch 
ein Geſchenk des Kammerraths v. Bommerefche in Stralfund dazu In den Stand ge- 
ſetzt, nach Iena, die Vorlefungen von Hufeland und Batfch zu hören. Im Frühling 
des folgenden Jahres kehrte er auf botanifcher Fußreiſe über Dresden, Karlsbad, Er- 
langen, Fulda, Böttingen, den Harz nad Greifswald zurüd, vertheidigte dort, zur 
Gewinnung der medicinifchen Doctormürde, den zweiten Theil feiner Inaugural-Differ- 
tation „observationes circa vermes intestinales®, und wurde 1796 auf die Berthei« 
digung feiner Differtation „de ventriculis cerebri* Privatdocent in der mebdicinifchen 
Facultät, nachdem er feit 1793 Privatdocent bei der philofophifchen Facultät war. 
Im Winter 1796 ging er nach Berlin, um fih im Seciren zu üben. So ſah ihn 
das folgende Jahr als Profector und Adjuncten der medicinifchen Bacultät zu Greifs— 
wald. Dort hielt er nun theild mebicinifche, theild naturgefchichtliche Vorlefungen und 
befchäftigte fi vorzüglich mit ver vergleichenden Anatomie und mit mifcoffopifchen 
Unterfuchungen. Bon der praftifhen Mebicin entfernte R. fih mehr ald Andere, 
welche diefe ebenfalld aufgaben, um ſich den gelehrten Fache zu widmen. Uebrigens 
fchreibt fein Kreund Link, der berühmte Botaniker, daß R.'s klarer Berfland, fein 
Streben nach ber barftellbaren Thatfahe und fein wenig Fünfllerifches Talent ſich 
nicht mit der praßtifchen Medicin vertrugen. Im Herbſt des Jahres 1801 reiſte R. 
abermals nach Berlin, um fih in der Thierheilkunde auszubilden, für welche in 
Greifswald ein Lehrflußl und praftifches Inflitut errichtet werben follte und R. zum 
Lehrer und Director ernannt worden war. So wirkte R. in Greifswald bis 1810, 


wo man ihm, 1808, die durch Kletten's Abgang nad Wittenberg erledigte ordent⸗ 


liche Profeſſur der Medicin übertragen hatte, und es fallen in diefe Zeit einige feiner 
wichtigften Schriften. Dahin "gehören verfchiedene Abhandlungen über Botanik und 
Eingeweidemürmer, fo wie über menſchliche und allgemeine Anatomie, über ſenſible 
Nervenatmofphäre, ebenfo über naturgefhichtliche Begenflände und mehrere an neuen 
anatsmiichen Beobachtungen reiche Inaugural» Differtationen, welche R. nad alter 
Sitte, die damals noch nicht verboten war, für Doctoranden ſchrieb. Auch erſchien 
von ihm Im Anfange diefer Periode ein Feiner Band Gedichte, doch mit dem Vorſatz, 
keine mehr zu machen. Durch mehrere ſeiner anatomiſch⸗phyſiologiſchen Abhandlungen, 
in welchen er, 3802, eine Reihe neuer wichtiger Entdeckungen und Vorkommenhei⸗ 
ten befchreißt, gewann er eine bedeutende Stellung unter den Anatomen; indbes 
fondere war dies mit feiner Arbeit über die Darmzotten und Peyer'ſchen Drü- 
in der Fall. Waren nun feine Beobachtungen auch nicht vollfommen richtig, 
fo zeigten fie doch die Irrtümer der älteren UAnatomen und ſetzten dadurch 
den phyflologifhen Hypotheſen eine Grenze; überdied murden fie in Bezug 
auf die Cholera und den Unterleibs⸗Typhus (Nervenfieber) zum Bebürfnip. 
Seine zwei Jahre fpäter, 1804, erfhienenen Bemerkungen aus dem Gebiete der Nas 
targefhichte, Mebicin und Thierarzneikunde waren der Ausfluß einer in Jahre 1802 
durch einen Theil von Deutfhland, Holland und Branfreih gemachten Reiſe. In 
dieſer Schrift entwidelte R. eine Fülle von botanifchen, zoologifchen, ypathologifch- 
anatomifchen und tbierheillundigen Kenntniſſen; auch ift diefelbe Durch die mandherlei 
Bemerkungen, melde durch das Zufammentreffen eines fo Eenntnißreichen Mannes mit 
den erfien Gelehrten in diefen Ländern veranlaßt wurden, ungemein fhäßbar. Dabei 
find die Bemerkungen, wie die Beiträge zur Anthropologie und allgemeinen Nature 
geichichte, welche 1812 erfchienen, und fein dieſe Beiträge weiter außführender noch 
zu erwähnender Grundriß der Phnflologte am meiften geeignet, R.'s Charakter auf- 
zuſchließen. Seine Urteile find überall wohlwollend, richtig und intereffant. An⸗ 
ziehend find namentlich feine Schilderungen von Brugman, Cuvier, Tenon, 
Richard, Ball, Beireis, Göthe. Der Auf nah Berlin im Jahre 1810 ent- 
fernte ihn von den botanifthen und einigen anderen Studien; dagegen wirkte er hier 
22 Jahre in ruhmvollſter Thärigfeit für die Anatomie und Phyſtologie. Er ſchuf 
das zootomiſche Mufenm und wurde ald Lehrer eine der erften Zierden der Univer- 
tät, ja er hatte dad große Verdienſt, daß nicht feine Lehren allein, fondern auch 


412 Rudolphi (Karl Asmund). 


fein Eifer auf feine Schüler übergingen, von denen Jeder leicht Eingang zu ihm 
fand und zu Allem, wad er hatte. Was Andere in feiner Jugend für ihn gethan, 
_ das erwiderte er reichlich an allen fleißigen jungen Männern, die ji an ihn wandten. 
Studirende und Aerzte wurden in feiner großen, einzig daſtehenden Bibliothef ein⸗ 
beimifch, und da er die Jüngeren mit allen wiffenfchaftlichden Hülfsmitteln unterflügte, 
fo fehlte e8 nicht an eifrigen Schülern, die fich unter feiner befonderen Leitung für 
die Anatomie außbildeten. Sein Enthuſiasmus {ir die Wiffenfchaft, feine Wahrheits⸗ 
liebe, fein edler uneigennügiger Charakter, feine Träftige Oppofltion gegen faljche Rich- 
tungen zogen unmiderfteblih an. Mit allen feinen Collegen fland R. in freundfchaft- 
lihem Verhältniß; gegen Alle benahm er ſich Hochadhtungsvoll. In der Yarultät, 
im Senat hat er dur feinen Antheil an den Geichäften, durch fein richtige und 
mit Entſchiedenheit Eräftig ausgefprochenes UrtHeil ſich unvergeßlich gemacht und feine 
trefflichen Arbeiten ficherten ihm in der wiflenfchaftlichen Deputation für das. Medi⸗ 
cinalwefen, welche er bald nad feiner Ankunft in Berlin antrat, eine gewichtige und 
einflußreihe Stellung. Auch in Italien, wohin er 1817 auf 8 Monate eine Reife 
unternahm, hinterließ er große Eindrücke. In demfelben Jahre erfolgte feine Ernen⸗ 
nung zum Geheimen Mebicinalrath. Unter den vielen Arbeiten, welche R. fortdauernd 
lieferte, verfolgte er mit unaußgefeßtem Eifer feine Forfchungen über die Eingeweider 
wärmer, und er bradıte dadurch eine fo wunderbare Ordnung und ein fo bebeutendeö 
Map in diefe neue Fauna, von der Linne nur 11 Arten aufführte, daß er gerade- 
bin ein neued Bereich der Naturgefchichte in allen Beziehungen erforfcht und gemeflen 
bat. Sein großes Wert: Entozoorum hisisria naturalis, welches nad; einer Heide 
von Abhandlungen über diefen Gegenfland von 1808 bis 1810 erſchien, enthält die 
Belchreibung von 603 größtentheild genau beflinmten Arten. Diefe Zahl vermehrte 
N. durdy anhaltende Forſchungen und die Benußung anderer Mittheilungen fo bedeu⸗ 
tend, daß er in feinem 1819 erfchienenen Werke Entozoorum 'synopsis 552 genau 
beftimmte und A441 zweifelhafte, im Ganzen 993 Arten befchrieb. Was MR. in diefer 
Beziehung zum Vortheil der generalio aequivoca fagt, iſt fafl noch das Cinzige, 
wohin fi die Vertheidigung diefer unhaltbaren Lehre zurüdgiehen Tann. Auch die 
von MR. aufgeftellte Claſſtification dieſer Thiere Hat fih im Ganzen noch immer als 
die bewaͤhrteſte erhalten, obſchon die Anatomie derſelben feit R's Tode ſehr große 
Forsfchritte gemacht Hat. In feinen naturhiftorifchen Arbeiten verband N. die Metho- 
den von Linné und Pallas, und charaftertflifche Naturbefchreibung erfcheint auch 
in feiner PHnftologie wieder, namentli darf daB, was er bier von den Macen ber 
Menſchen fagt, als Mufter naturhiflorifcher Behandlung des Begenflandes gelten. 
(Vergl. unferen Art. Racen.) Die Schriften der Afademie der Wiflenfchaften, deren Mit⸗ 
glied A. war, enthalten von ihm eine Reihe fhägbarer Abhandlungen, theils über verglei« 
chende, theils über pathologifhe Anatomie. Mehrere derfelben zeichnen fi durch große 
Gelehrſamkeit und Scharffinn aus. Mebrigend war R. für alle Zweige der Anatomie in 
gleicher Weife eifrig, und er verlangte, daß die Anatomen menfchliche, vergleichende und pa⸗ 
tbologifche Anatomie zugleich umfaffen follen. Bon der zu feiner Zeit herrſchenden Nature 
phtlofophie war er ein Gegner; ihm war jedes mit mißverflandener Philoſophie verbundene 
Naturftudium zuwider. Auch feine Tendenz in der Phyſtologie war eine flete Kritik 
der Beobachtungen und man verdankt feiner Stimme fehr viel, daß die Aerzte von 
dem Felde des mebicinifchen Wunderglaubens zurüdfehrten. Einen Inbegriff feiner 
phyſtologiſchen Lehren gab R. in feinem Grundriß der Phyſtologie (1821-28); in⸗ 
deß blieb das Werk unvollendet, wohl weil die Arbeit für R. an Reiz verloren und 
gerade der fehlende Theil feiner Phyſtologie anderweitig viele Kortfchritte gemacht 
hatte, er felber aber am liebſten davon handelte, wobei er eigene Unterfuchungen be⸗ 
nugen konnte. Kritik der Beobachtungen, große Gelehrſamkeit und die Benugung 
eines reichen Schaged von koſtbaren anatomifchen Erfahrungen zeichnen das Werk 
aus und verbeden die wirklichen Unvolffommenheiten defielben. Vermoͤge feiner über- 
wiegend anatomifchen und ffeptifchen Richtung in der Phyſtologie fah R. die phyſto⸗ 
Iogifhen Erfahrungen in feinem Berhältnig mit der Gewißheit der Anatomie. So 
durfte e8 daher auch Fein Wunder nehmen, wenn der trefflihe Mann, der feine ge- 
rechte Scheu vor DBivifectionen bei jeder Selegenheit ausſprach, gegen alle Hypotheſen 


mn m — m 7 — [nn — 


w — —— 


4 


Aue (Charles de 1a). | 413 


und ſchlecht begründete phyſtologiſche Erfahrungen eine feindliche Stellung einnahm. 
Doch blieb er nicht gleichgültig bei der Entwidelung der Nervenphyſik, und es murs 
den deshalb auf feine Beranlafjung im Jahre 1823 in der Berliner Thierarzneifchule 
viele dahin einfchlagende Experimente gemacht. ine philofophifche Zergliederung der 
allgemeinen Berhältnifle der Lebensthaͤtigkeit aber vermieb er; fle erichien ihm meniger 
fiher, als die Kritik der Thatfachen. Eben fo betrat er das Gebiet des Geiſtigen 
mit Reflgnation und meiſt nur fo, daß er bald in eine naturhiftorifche Auffaffung 
der Ihatfachen überging. Auch zeichnete er von den allgemeineren phyſiologiſchen 
‚Abhandlungen nur wenige aus, unter diefen jedoch Meil’s Abhandlung über bie 
Lebenskraft, obgleich er die Maͤngel des Buches (vergl. unſern Art. Reil) anerkannte, 
wie er denn immer von Reil mit großer Achtung ſprach. Was R. indeß ſehr be⸗ 
trübte, war ſein Verhältniß zu Meckel. Beide waren voller Anerkennung gegen 
einander und kamen gleichwohl aus den Neckereien nicht heraus; dieſe haben Beiden 
die Tage verbittert (vergl. den Art. Medel). Uebrigens hat ihm die gerade, wenn auch 
niemals ſcharfe Art, mit welcher R. in feinen Schriften feine Meinung äußerte, auch 
fonft noch manche Kränkung zugezogen. Gewiß wäre ihm dieſe nicht unerwartet ge⸗ 
wefen, wenn er die Urt der Menfchen genauer gekannt und nicht immer die Denkungs- 
weife bei Anderen der feinigen gleich ſich gedacht hätte. Bein Freund, der berühmte 
Botaniker und Geheime Medicinalrath Link, fagt von ihm, er war zu unfchuldig, 
um die Menfchen zum Begenflande feiner Beobachtungen zu machen, und fein Schüler 
und Nachfolger im Amte, Johannes Müller, fügt Hinzu, daß ihm feine Erfahrung 
bitterer kam, ald wenn er fich in den Menfchen getäufcht hatte. R. war zweimal 
verheirathet geweſen. Seine erfle Srau, die Tochter feiner Mutterſchweſter, farb nach 
kaum Ajähriger Ehe 1801 und hinterließ ihm zwei Töchter, deren eine fih mit Bur- 
finfe in Breslau vermählte. Seine zweite Frau, welche MR’ 1802 nahm, die Mutter 
dreier früh verftorbener Töchter und des am 24. März 1806 zu Greifswald geborenen, 
am 16. Januar 1841 nach langem Krankenlager an der Bruſtwaſſerſucht verftorbenen 
Doctor medicinae und preußifchen Mepdicinalratbes Karl Eduard RM., machte 
ihn im December 1821 abesmals zum Wittwer, nachdem R. bei ihrem in letzter Zeit 
faſt zerrütteten Gemüthözuftande viel gelitten und Hierdurch vielleicht den Grund zu 
feinem Leberleiden gelegt Hatte. Durch legteres nahm feine fonft feite Gefundheit 
merklich ab; er alterte auffallend in der Periode, in welder er feine Phyſiologie 
ſchrieb. Seine freien, heiteren, Ehrfurcht gebietenden Geſichtszüge wurden ernfter, 
ſchaͤrfer; doch blieb er bis in dad legte Jahr feines Lebens in voHer Thaͤtigkeit. Im 
Auguft 1832 flellte fi Bauchwaſſerſucht ein, welcher er am.29. November erlag. 
N. war ald Menfch nicht Eleiner, denn ala Gelehrter. In feinem ganzen Weſen ſprach 
fih Reinheit und Offenheit aus. Man mußte ihn lieben und bochfchägen. Uber er 
verlangte ebenſo von Allen Rechtlichkeit, Wahrheit und edle Geſinnung. Wo er biefe 
fand, gab ex Alles Hin und ließ fich nicht wieder durch den Schein irre leiten. So äußerte 
fih ſchon fein Weſen in feinen Gedichten, in denen er die Breundfchaft oft befingt. 

Audolftadt |. Schwarzburg. 

Aue (Charles de la), franz. Kanzelvedner zur Zeit Ludwig's XIV. ., geb. 1643 
zu Paris, trat bei den Jefuiten ein und zeichnete fich bei ihnen als Lehrer der Hu⸗ 
maniora und der Rhetorik aus. 1667 zeigte er fein Talent für die Poefle in einem 
lateln. Gedicht Über die Eroberungen Ludwig's, weldhes Gorneille in franz. Verſe 
hbertrug Als diefer Dichter feine Ueberfegung dem Könige barreichte, lobte er das 
Original und den Autor dermaßen, daß feitdem das Wohlwollen des Köntgs für den 
Pater: entfchieden war. La R. zeigte das Verlangen, das Evangelium in den Wifflonen 
Ganada’8 zu predigen, als ihm feine Obern bemerklich machten, daß er feinem Lande 
auf der Kanzel nüglicher fein würde. Er folgte dem Rath und predigte feitdem in 
den Provinzen, in Paris und am Hofe Er ſprach oft. vor dem König, als für 
biefen auf vierzig Jahre des Ruhms und des Glücks die Zeit des Unglücks gefolgt 
war. Da er in feinen Neben ein wenig zu fehr den Schöngeift zeigte, fagte zu ihm 
einmal ein Hofmann mit fcherzender Uebertreibung: „Mein Bater, wir werden Euch 
fo lange mit Bergnügen hören, ale Ihr uns die Vernunft barbietet; aber gebt nicht 
auf Esprit aus; Mancher unter uns wird Davon mehr In einem Gouplet anbringen, 





474 Nuffo (Fabricio). RNufinus (Zoranius). 


als viele Prediger in einer ganzen Faſtenpredigt.“ Außer vier Büchern lateiniſcher 
Gedichte und Ausgaben des Birgil und des Horaz, Hat er auch zwei latein. Tra- 
gödien: „Lyſtmachus“ und „Cyrus” und eine franz. „Sulla® verfertigt, die fi das 
Lob Pierre Gorneille’8 erwarben; mit dem Scaufpielee Baron (f. d. Art.) Rand er 
in enger Verbindung, und man war zu feiner Zeit auch überzeugt, daß die „An- 
drienne" (Nahabmung ded Terenz), die im Novbr. 1703 zur Aufführung kam, von 
ihm hberrührte. Er war der Beidhtvater der Herzogin von Bourgogne, gefiel den 
Großen durch feinen Geift und Charakter und dem Volk durch feine Leutfeligfeit. 
Der Gefchichte der Kanzelberedſamkeit gehört er durch feine Leichenreden an, die er im, 
der legten Zeit Ludwig's XIV. hielt, als deſſen nächfle Thronerben nach einander vom 
Tode dahin gerafft wurden. 1711 Hielt er die Trauerrede auf den Daupbin, das Jahr 
darauf beklagte ex drei Verluſte, die der Hof mit einem Mal erlitt, als der Herzog 
von Bourgogne, feine Gemahlin und ihr Sohn, der Herzog von Bretagne, in dem- 
felben Sarg nah St. Denis binausgefahren wurden. Er bat audy die Trauerreden 
auf die Marſchaͤlle von Lurembourg und von Boufflerd gehalten; Tegtere gilt für fein 
Meifterwert. Er felbft flarb zu Paris den 27. Mai 1725. Seine Panegyriques et 
Oraisons Funebres find in 4 Bon. gefammelt. Seine Sermons, gleihfall® in 4 Bbn., 
enthalten einen Avent und ein Gar&me. — Nicht zu vermechfeln iſt er mit dem be⸗ 
rühmten Mauriner (f. d. Art.) Dom Charles de Ta Aue, geb. 1684 zu 
Gorbie, geft. zu Paris den 5. Detbr. 1739, nachdem er drei Bände feiner vortreff- 
lihen Ausgabe der Werke des Origenes (feit 1733) herausgegeben hatte. Den 
vierten Band veröffentlichte 1759 fein Neffe Dom Bincent de la Rue, glei 
falls Wauriner, geb. 1707 zu Corbie, gef. zu Paris den 29. März 1762, nachdem 
er das Werk feines Oheims über die kirchlichen Alterthümer weiter, jedoch nicht zu 
Ende geführt Hatte. 

Auffo (Fabricio), neapolitanifcher Staatsmann, geb. 1744, Sohn des Herzogs 
von Baranello, wurde des Papſtes Pius VI. Ober-Schagmeifter, 1791 Garbinal und 
darauf vom König von Neapel zum Intendanten des Schloffes Gaferta ernannt. Er 
war eiu Gegner des Krieges gegen die franzöſtſche Republik; als derfelbe aber aud⸗ 
brady und bie frangäflfchen Heere vorrüdten, floh er mit dem Hofe nach Sicilien und 
ließ fi dann dazu verwenden, den Aufftend in Galabrien, 1799, zu organificen. Als 
das ruffifche Hülfscorps landete und die Franzoſen unter Macdonald ſich zurüdzogen, 
befeßte er die Hauptſtadt, ficherte den in den Forts eingefchloffenen einheimifchen Re⸗ 
publifanern einen capitulationsmäßigen Nüdzug und fland, als Nelſon diefe Capitu⸗ 
Iation verwarf, felbft in Gefahr, als Jacobiner verhaftet zu werden. Auch 1805 
widerrieth er den Krieg mit Frankreich und verlor dadurch ſowohl in Neapel als bei 
der sömifchen Gurie feinen Credit. Er flarb zu Neapel den 13. December 1827, 
nachdem ihn Ferdinand I. in den Staatdrath berufen hatte. — Ein anderer R., der⸗ 
felben weit verzweigten neapolitanifchen Kamille angehörig, Ludovico Ruffo⸗ 
Sctilla, aus bem Geſchlecht der Fürſten und Grafen von Scilla und GSinopoli, 
geb. zu San-Onofrio in Galabrien den 15. Auguft 1750, im Jahre 1801 zum Car⸗ 
dinal ernannt, ſchloß ſich, als Joſeph Bonaparte den Thron von Neapel beftieg, 
Anfangs dem franzöfiichen Regime an, zog fich aber, al& der neue König ſich nicht 
als Bafall des römifhen Stuhles bekennen wollte, nah Rom zurüd. Gin gleiches 
Schwanken bewieß er in der Revolution von 1820, in welcher er Anfangs bie fpa- 
nifhe Gonflitution anerfannte, ſich aber- dann wieder mit der revolutionären Partei 
überwarf, indem er in einem an das Parlament gerichteten Schreiben im December 
1820 die den Nichtkatholiken gewährte Freiheit des Privatgotteddienftes für conflitu- 
tionswidrig erklärte. Er farb zu Neapel den 17. November 1832. 

Aufnus, Toranius (Tyrannius), aus Goncorbia bei Aquilefa gebürtig, ein mit 
der morgen« .und abendbländifchen Theologie gleich vertrauter Kirchenlehrer des 4. 
Jahrh. n. Chr. und Jugendfreund des 5. Hieronymus, Hatte den Didymus gehört 
und ſich der theologifchen Richtung des Origenes angefchloffen. Seit 378 lebte er 
ald Ascet auf dem Delberge bei Jeruſalem in vertraulichen DBerhältniffe mit Hierony⸗ 
mus und dem Bifchofe Johannes dv. Serufalem (386 — 417). Das Studium und 
die Verehrung des geiſtvollen Origenes verband die drei Freunde auf's Innigfle, 


— — — — — — —— — — —— — — — 


ee. —— — 


Auge (Arnold). | 495 


Da erichien 394 Epiphanius in Jerufalem, befchränften Kopfes als Belchrter, aber 
nit als Keberrieher. Eine in der Kirche verbreitete antiorigeniftifhe Richtung 
batte in ihm ihren Hauptvertreter und als folcher forderte er auch in Ierufalem bie 
Berdbammung der origeniftifchen Irrthümer. Hieronymus, fletd Angfllih um den Auf 
feiner Orthodoxie beforgt, Schloß fi dem Epiphbanius an, nicht fo R. und Johannes, 
und nun entfland ein tbeologifcher Streit zmifhen R. und Hieronymus, der erft 397 
beigelegt wurde, als R. in das Abendland zurückkehrte und bier in Aquileja Pres- 
byter wurde. Um den Ruhm feines Lehrers im Occidente zu verbreiten, überfegte 
MR. deſſen Schrift: zepl dpyav in'e Lateinifche mit Umbiegung oder gänglicher Unter- 
drückung mancher Stellen, die ihm felbit anftößig fcheinen mochten. Dabei berief fi 
R. auf dad Beifpiel eines anderen Verehrers des Drigenes — er meinte den Hiero⸗ 
nymus, — der auch Schriften des Origenes überſezt hatte. Hieronymus, von feinen 
Freunden angeflachelt, gab nun jenes Werk des Origenes in wörtlicher Ueberfegung 
heraus, worauf.eine Menge von GStreitidhriften von beiden Seiten erfchienen, in denen 
R. und Hieronymus einander mit immer größerer Heftigkeit angriffen. Die orthodore 
Kirche nahm gegen R. Partei und der Biſchof Anaftaflus von Rom citirte ihn endlich 
vor feinen Richterſtuhl. MR. farb 410. Unter feinen fonftigen Arbeiten iſt bemerkens⸗ 
wert feine Tateinifche Ueberfegung der Kirchengefchichte des Euſebius, welches Werf 
er auch in 2 Büchern bis 395 fortſetzte Vgl. E. I. Kümmel: De Rufioo Eusebii 
interprete libr. 2. 1838. Die Werke des R. find edirt von Billarfi, Berona 1754 
und von Mar. de Rubeis: Monumenta eceles. Aquilejensis. Argentor. 1740. 
Ange (Arnold), deutfcher Publici, geb. 1802 zu Bergen auf der Infel Rügen, 
fludirte zu Iena Philologie und Philoſophie und hatte darauf wegen feiner Theil« 
nahme an den burfchenfchaftlihen Beſtrebungen eine einjährige Haft in Köpenid und 
eine fünfjährige auf der Feſtung Kolberg zu beſtehen. Während feiner Sefangenfchaft 
feßte er feine philoſophiſchen Studien fort und entfchied fich für dad Hegel'ſche Syſtem. 
Daneben veröffentlichte er eine Ueberfegung des Sophofleifhen „Dedipus in Kolonos* 
(Sena 1830) und das Trauerjpiel „Schill und die Seinen” (Stralfund 1830). Aus 
feiner Haft entlaffen, habilitierte er ſich zu Halle als Privatdocent und hielt Borlefun- 
gen über Aeſthetik und andere Zweige der Bhilofophie. 18332 erfchten zu Halle feine 
„Platoniſche Phliofophie". -Semeinfam mit feinem Breunde Echtermeyer faßte er 
1837 den Plan zur Gründung der „Hallefchen Jahrbücher", die 1838 zu Leipzig in's 
Reben traten und, als die preußtiche Regterung mit einem Verbot drohte, wenn bie 
Zeitſchrift nicht unter ihre eigene Cenſur geftellt würde, feit 1841 als „Deutiche Jahre 
bücher” erfihienen, während die beiden Medacteure, von denen Echtermeyer bald darauf 
Rarb, nach Dresden Überfiebelten. Im Anfange bed Jahres 1843 wurden die „Jahr- 
bücher” von der fächflfchen Meglerung verboten und R. machte einen vergeblichen Ver⸗ 
fuch, die ſaͤchſtſche Ständeverfammlung zu einer Intervention gegen dies Verbot zu 
veranlafien. Die Zweite Kammer ging über fein Gefuch zur Tagesordnung über. Die 
Bedeutung dieſer Jahrbücher lag befonders in der R.'ſchen Umwandlung des Hegel» 
fen Formalismus in perfünliches Gefühl und perfönlicdhe Leidenſchaft, worin ihre 
Stärke, aber, fofern die Leidenichaft fih oft nur als religiöfe Erregtheit ausſprach, 
ihre Schwäche lag. Verſtimmt durch die Lauheit, mit welcher das Publicum das 
Verbot der „Jahrbücher aufnahm, fledelte R. nach Paris über, um an einer Goali» 
tion des franzdfifchen und deutichen Yreibeitögeifles zu arbeiten, fcheiterte jedoch 
mit diefem Plan und gab mit mehreren deutſchen Freunden bie „Deutfch» franzoͤ⸗ 
flihen Jahrbücher” Heraus, von denen (Paris 1844) eine erfle und zweite Lieferung 
erfhien. Seine Pariſer Erfahrungen ſchilderte er in feiner Schrift „Zwei Jahre in 
Paris" (Leipzig 1845) und begann darauf Die Herausgabe feiner gefammelten Schrife 
ten (Mannheim, feit 1846 in 10 Bon.). 1846 nah Sadıfen zurüdgelehrt, gründete 
er nad den März Mevnolutionen die „Neform*, die anfänglih in Leipzig erichlen und 
von ibm dann nach Berlin überflevelt wurde. In Breslau ward er 1848 zum Mit- 
glied des Frankfurter Parlaments erwählt, gab aber feinen Sig in demfelben im Herbſt 
jenes Jahres aus Berfiimmung über die Erfolglofigkeit feines radicalen Auftretens 
wieder auf und widmete ſich in Berlin der Heraudgabe feiner „Reform.” Als beim 
Beginn der Reaction feine Stellung daſelbſt unhaltbar wurde, begab er ſich im Januar 


416 Nügen. Angendad. (Bamilie). 


1849 nach Sachſen und von bier nach Bremen, 1850 endlich nach England. Bon 
bier aus veröffentlichte er außer mehreren Ueberfehungen, 3. B. der Budle'fhen „Ge⸗ 
fhichte der Givilifation in England“ (Leipzig und Heidelberg, ſeit 1860), mehrere 
kleine pofitifche Brofchüren, in denen er es aber mit feinem Verſuch, das deutiche 
Volk auf den rechten Weg zu bringen, zu leicht nahın und im Vorgefühl der Ver⸗ 
geblichkeit feiner Bemühung das vermeintlich unempfängliche deutfche Volt mit Heftigen 
Schmähmorten beehrte. Seit 1862 erfcheint zu Berlin feine Autoblograpbie unter 
dem Titel: „Aus früherer Zeit.” 

Rügen, die größte deutfche Infel, liegt in der Oftfee, nordöfli von Bonmern, 
von dem es durch "die etwa !/, Meile breite Meerenge Gelln getrennt wird, zwiſchen 
30° 55° und 319 35° Länge und 54° 12° und 549 39° Breite. Sie ift 20,,5 
DM. groß, zählt 46,771 Einwohner und bildet den Bergenfchen Kreis des Megie- 
rungsbezirks Stralfund der preußifchen Provinz Pommern. Das Meer if auf allen 
Seiten tief in das Land eingedrungen und hat mehrere Halbinfeln gebildet, im Norden 
Wittom, im Nordoften Jasmund, im Südoftlen Moͤnchgut. Außerdem tft fie von meh⸗ 
reren Fleinen Infeln umgeben, deren größte Hiddenfee Heißt. Sie ift im Weflen 
eben, im Innern bügelig, im Often und Norden fleigen fchroffe Kreidemände unmittel« 
bar aus dem Meere empor. Der Augarb, der höchſte Hügel im Innern der Infel, 
ift 340° Hoch. Auf ihm finden fi Hefte einer alten Burg, welche ehemals von den 
Hürften des Landes bewohnt wurde. Die 200° hohe Nordfpige Arkona, der nördlichſte 
Punft Deutfchlande, ift mit einem Leuchtthurm verfehen. Zu den merfwürdigfien 
Punkten der Infel gehören die Stubbenfammer auf der Halbinfel Jasmund, ein 500° 
hoher fenfrecht aus Dem Meere auffteigender Felſen, und der Buchenwald Stubbenig, 
melcher den größten Theil diefer Halbinfel bevedt; die Hertbaburg, nahe bei Stubben- 
kammer, ein 50° bober Wall, den man als Sit des Herthadienftes auf der Infel 
betrachtet, und der von mwaldigen Höhen umgebene Herthaſee, der etwa 200 Fuß im 
Durchmefler Hat. Das Klima ift rauh und neblig, der Herbſt iſt hier die angenehmfte 
Jahreszeit. Der Boden ift zum Theil fruchtbar, namentlih auf Wittom, und trägt 
Getreide, Flache, Kartoffeln und Rübſamen. Die Bewohner betreiben außer dem 
Aderbau Hauptfächlich Viehzucht und Fiſcherei. — Bergen, die Hauptfladt der Infel, 
liegt faſt in ihrem Mittelpunkte, zählt 3665 Einwohner und bat ein 1193 geflife 
tetes adläges Bräuleinklofler, fo wie ein Klofter für bürgerliche Jungfrauen. Die 
Stadt Garz bat 2123 Ew.; der Zleden Putbus, der Hauptort der Grafſchaft Put⸗ 
bus (f. d.) zählt 1368 Einwohner. Die Halbinfel Mönchgut wurde fo genamnt, well 
fie einft dem Klofter Eldena gehörte. Ihre Bewohner weichen in Sitte, Sprade und 
Tracht von denen der andern Theile der Infel ab und haben mehr als dieſe fich 
alterthämliche Sitten bewahrt. Ihre Kleidung If} fchwarz mit rothem Futter. Die 
Männer tragen eine weite Jade von felbit gewebten Tuche, zwei Baar Beinklelder 
und darüber leinene bis zum Knie, die Brauen eine Menge ſchwarzer Möde über eine 
ander, rothe Strümpfe und eine ſchwarze fegelförmige Mütze, mit Watte gefüllt, und 
darüber einen Strohhut. Wünfcht ein wohlhabendes Mädchen ſich zu verheirathen, fo 
hängt fie eine blaue Schürze vor ihrer Wohnung aus. Diefes Verfahren wirb Frei⸗ 
jagd genannt. — Die Injel war in den älteften Zeiten von Germanen bemohnt, 
welche fpäter von Slawen faft verdrängt wurden. In der Mitte des zwölften Iahr- 
bunderts eroberte Waldemar von Dänemark R.; die einheimifchen Fürften regierten 
nun das Land als dänifche Vafallen. Als fie 1325 ausſtarben, bemaͤſhtigten pom⸗ 
merſche Fürſten ſich der Inſel, und als auch dieſe 1637 ausſtarben, wurde R. mit 
einem Theile Pommerns ſchwediſche Provinz und endlich 1815 an Preußen abgetreten. 

Augendad, der Name einer berühmten Künſtlerfamilie, deren Stammvater, 
Beorg Philipp Rugendas, geboren den 27. November 1666 zu Augsburg, unter 
die erften Schlachtenmaler gehört. In Bolge einer Krankheit ber rechten Hand 
malte ex längere Zeit mit der linken. Er hielt fi längere Zeit in Wien, Venedig 
und Mom auf, von wo er 1695 nad feiner Vaterflabt zurückkehrte. Hier flarb er ben 
10. Auguft 1742. Seine Gemälde zeichnen ſich durch richtige Zeichnung und dur 
ein faftige® und natlrliches Golerit aus: in Stellungen der Pferde war er unere 
ſchoͤpflich. Auch Hat man von feiner Hand Blätter in ſchwarzer Kunft mit radirten 


Rühl (Philipp Jacob). Nuhla. an 


Umeiffen; fle find meiftens braun abgebrudt. Unter feinen rabirten Blättern, die mit 
großem Bleiße gemacht find, verdient befonders eine Folge von ſechs fehr geichäßten 
Blättern, die Belagerung von Augsburg, der er ſelbſt mit beimohnte, genannt zu 
werden. (Bgl. 3. C. Füßli: „Leben Georg Philipp Rugendas von Johann Kupezky“, 
Zürich 1758.) Seine drei Söhne Georg R., geflorben 1774, Chriſtian R., ger 
fiorben 1781, und Jeremias R., waren ebenfalls gefhägte Kupferfieher. Johann 
Lorenz R., Urenkel Georg Philipp's, geboren 1775 zu Augsburg, geftorben daſelbſt 
den 19. December 1826 als Profeffor der Kunſtſchule und Director der Zeichenſchule; 
von ihm Haben wir viele treffliche Bilder mit Darfielungen aus den Napoleonifchen 
Kriegen. Johann Morig R., der Sohn des eben Genannten, geboren 1802 zu 
Augsburg, bildete fi namentlih in München unter dem Thiermaler Albrecht Adanı 
und dem wackern Quaglio zum trefflichen Landſchafts zeichner und Genremaler aus, ber 
gleitete 1821 v. Langsdorf nach Brafilien, mo er bis 1825 blieb, nachdem er ſich 
gleich nach der Ankunft in Rio de Janeiro von v. Rangädorff getrennt hatte. Im 
Jahre 1826 begab er fih nah Paris, um durch feine perfönliche Anmefenheit und 
Beauffichtigung die Herausgabe feined großen Werkes „Malerifche Meife in Braftlien “ 
(Baris 1827—35) zu befchleunigen und zu berichtigen. Bon 1827—29 hielt er ſich 
in Rom, Neapel, Calabrien und Sicilien auf, Eehrte dann nach München zurüd und 
ſchiffte Ah 1831 in Bordeaur nah Südamerika ein, das er nach allen Richtungen bis 
zum Jahre 1846 durchwanderte, und flarb den 29. Mai 1858 zu Weilheim in Ober- 
Bayern. Gegen 3000 Studien, in Bleiftiftzeichnungen, Aquarelien und Delffizzen bes 
fiehend, waren das Ergebniß dieſer Meife. Die bayrifche Megierung faufte 1848 von 
dem Künftles diefe fchöne Sammlung für eine Jahresrente von 1200 Gulden rheiniſch. 

Rühl (Philipp Jacob), Mitglied des franzöflfchen Nationaleonvents, Sohn eine® 
lutheriſchen Pfarrers bei Straßburg, fludirte in legterer Stadt Theologie, ward Rec» 
tor zu Dürfheim und vom regierenden Grafen von Keiningen-Dahsburg als Archivar 
und fodann zur Abfaflung von Schriftflüden für einen Erbproceß verwandt. R. gab 
drei dieſer Schriftlüde von 1772 bis 1776 zu Karlörube heraus, und in legterem 
Jahr zu Straßburg ach eine Iateinifche Denkichrift: Tractatio juridica de legitimis 
natalibus. Der Graf erhielt durch dieſe Arbeiten eine fo hohe Meinung von MR.'s 
Talenten, daß er ihn an die Spike feiner Kanzlei ſtellte. Bahrdt (ſ. d. Art.) giebt 
in feiner Autobiographie eine höchſt intereffante Schilderung von dieſem Winifter, der 
„Bott und Menfchen haßte, weil fle ungerecht Handelten und ihn, der auf dem Gipfel 
der Ehre und des Glücks flehen follte, auf nem Poſten eines unbedeutenden Hofraths 
eines unbebeutenden Fürften leben ließen.” Lauckhardt, in feinen „Beiträgen und Be⸗ 
richtigungen zu Herren Dr. R. Fr. Bahrdt's Lebendbefchreibung in Briefen eines Pfäl- 
zer6” (1791) behauptet zwar (und wohl nicht ohne Grund), daß das Schredenge- 
mälde Bahrdt's uon dieſem Mann übertrieben ſei. Indeſſen glaubte R. fich zu mehr 
als zu einem Leiningen⸗Dachsburgiſchen Hofrath beflimmt, gab nach dem Ausbruch 
der Revolution feinen Poften auf, begab fih nad Frankreich und ſchwang ſich zum 
Mitglied der Iegislativen Berfammlung und des Convents auf. In erflerer Donnerte 
er gegen die Emigrantentrupps in den Mheinlanden und befchwerte ſich unter Anderm 
am 4. Sebruar 1792 auf der Tribüne darüber, daß der König den Commifliren der 
Berfammlung, die ihm deren Decrete zur Sanetion brachten, nicht beide Klügelthüren 
feines Gemachs Öffnen ließe. Als Gonventmiiglied war er elfriges Mitglied der 
Dergpartei, Ende des Jahres 1793 Präſtdent des Convents und ward im März 1794 
Mitglied des Sicherhelte ausſchuſſes. Auf einer Miſſton nach Rheims zerfchmetterte er 
bie heilige Ampulla, indem er fle gegen den Boden fchleuderte, und ſchickte die Bruch⸗ 
flüde dem Gonvent, Na dem Sturz Mobedpierre'8 war er nahe daran, das Loos 
Gollot- d’Herbois’ und anderer Terroriften zu teilen; doch Fam er noch davon und 
erft, ald er am 20. Mat 1795 die Menge, die fih in den Eonvent drängte, begün⸗ 
Rigte und mit ihr fraterniftrte, ward er verhaftet und erfchoß fi am 29. Mai im 
Gefaͤngniß, um dem Schaffot zu entgehen. 

Nuhla, der lebhafteſte Gewerbsort im Großherzogthum Sachfen-Weimar und 
namentlich. befannt durch feine Fabriken in Eiſen- und Meſſerſchmiedewaaren, von 
Zabafspfeifen in Holz und Meerfchaum, fo wie in Strumpf- und Wollenwaaren, iſt 


—— — — — — 


448 Rühle von Lilienfteen (Joh. Jak. Dtto Aug). Ruhnken (Daviv). 


ein Marktfleden mit mehr als 4000 Einwohnern. R. wird durch das Flüßchen Erb» 
Arom in zwei Theile getrennt, wovon der Eleinere zum Herzogthum Gotha, der größere 
zum Großherzogthum Sachfens Weimar gehört; das in letzterem früher etablirte Forſt⸗ 
Lehrinftitut ift feit 1819 nach Eiſenach verlegt worden; die eifenhaltigen Mineralquellen 
R.'s werden jet wenig mehr befucht. In der Nähe von N. befindet ſich ein groß- 
vs Jagdſchloß mit fhöner Fafanerie. 

Rühle don Liltenftern (30h. Sal. Otto Aug.), preußifcher General und Milis 
tärfchriftfteller, geb. den‘ 16. April 1780 zu Berlin, wurbe 1806 Secondelieutenant 
im Corps des Fürften Hohenlohe und 1807 Major und Kammerherr des Herzogs 
Bernhard von Sachjen- Weimar. Während feines Aufenthalts in Weimar verfaßte er 
die „Berichte eines Augenzeugen von dem Feldzuge des Jahres 1806“ und redigirte die 
für Politik und Militärwiffenfhaft beſtimmte Zeitfchrift „Ballas“ (Tüb. 1808—1809 
und Weimar 1810). 1809 begleitete er den Prinzen Bernhard auf dem Feldzuge, 
weldyen diefer mit dem fächfifhen Gorp& gegen Defterreih mitmadhte, und beſchrieb 
diefen Feldzug in feiner „Reife mit der Armee im Jahre 1809* (3 Bde. Rudolſtadt 
1809 — 1811). 1811 trat er, zum Oberflen ernannt, aus dem Weimarifchen Dienft 
und zog fich auf fein Fleines Gut zu Laubegaft bei Pillnig zurüd. 1813, bei der 
Erhebung Preußens, begab er ſich nach Breslau und wurde als Bureauchef dem 
Hauptquartier der fchleflfchen Armee attadhirt. Nach der Schlacht bei Leipzig durch 
Krankheit in dieſer Stadt zurüdgehalten, wurde er nach feiner Genefung zu den Mi- 
litärconferengen in &ranffurt a. M. binzugezogen und war er als Generalcommiffär 
bei der Organiſation der Kontingente der Rheinbundéſtaaten tbätig. 1816 ward 
er in Berlin als Oberſt dem Generalftabe zugefellt und wurde 1822 deſſen Eher, 
nachdem er 1820 zum Generalmafor ernannt war. 1826 ward er Director der alle 
gemeinen Militär» Studien« Gommifflon und 1837 Director der allgemeinen Kriegs⸗ 
ſchule, nachdem er 1835 zum General- Lieutenant ernannt und aus dem Generalftab 
ausgetreten war. Er ftarb den 1. Juli 1847 zu Salzburg auf feiner Rückreiſe 
aus Gaſtein. Don feinen Schriften find, außer den obengenannten, hervorzuheben: 
„Handbuch für die Offiziere" (Berlin 1817. 2 Bde.); fein verfehlter Philoſophiſcher 
Verſuch: „über Sein, Werden und Nichts" (Berlin 1833); „Hifloriogramm des 
preußiſchen Staatd von 1820—1830* (Berlin 1835); „Hiſtoriographiſche Skizze des 
preußiſchen Staats“ (Berlin 1837); „NRudimente der Hhdrognofte" (Berlin 1839); 
„Baterländifche Gefchichte von der früheften Zeit 6i8 an das Ende des 13. Jahr 
hunderts“ (Band I. Berlin 1840). 

Anhnten (David), oder, wie er ſich fpäter nach dem Beilpiele mehrerer deut⸗ 
icher Gelehrten in Holland nannte, Ruhnkenius, einer der bedeutendflen Philolo⸗ 
gen, wurde am 2. Sanuar 1723 zu Stolpe in Bommern, wo jein Vater Dorfichulze 
war, geboren. In der Schule in Schlame unter dem geſchickten. Rector Kniepbof 
erzeugte ſich feine entfchiedene Vorliebe für die Iateinifhe Sprache. Er vollendete 
feine Scyulftudien auf dem Collegium Pridericianum zu Königsberg, wo fein Mit⸗ 
fyüler Immanuel Kant war, mit dem er gemeinfchaftlich mehrere alte, und befonders 
Inteinifche, Klaſſiker las. Im 18. Jahre kam R. auf der Meile nach Göttingen, wo 
er fih den Höheren Wiſſenſchaften widmen wollte, nah Wittenberg und blieb auf 
dieſer Hochſchule zwei Jahre, weil ihn die liebevolle Aufnahme Joh. Daniel Ritter's 
und Joh. Wilhelm Berger’s feflelte.e Dann ging er nad Leiden, um fi von Tibe- 
rind Hemſterhuys in das innerfte Heiligthum der griechifchen Literatur einweihen zu 
laſſen. Sechs Jahre befuchte er unausgeſetzt die Vorträge feines großen WMeifters. 
Im Sabre 1755 madte ex eine gelehrte Reiſe nach Paris. Nach Verlauf eines Jah- 
res fehrte er von dort zurüd und murde 1757 Lehrer der griechiichen Literatur. 
Nach dem Tode Dudendorp’s erhielt er 1761 an der Univerfität Xeiden die Profeſ⸗ 
fur der Geſchichte und Beredſamkeit, und wurde 1774 zugleih Bibliothekar bei der 
Univerfitäts-Bibliotdef. Er farb am 14. Mai 1798. R. bat fi durch feinen cor⸗ 
recten und fehr gewählten lateiniſchen Stil den erften Plag nah Muretus unter ben 
neueren latcinifchen Stiliſten erworben. Bon feinen gelehrten Schriften erwähnen 
wir: „Epistolae criticae* (2 XThle., Lugd. Bat. 1749—5i1, neue Aufl, Leipz. 1827), 
die Ausgaben von: „Timaei Lexicen vocum Platonicarum“ (Lugd. Bat. 1754, ver« 


! 


Nuhrort. (Stadt.) Auisdael (Jakob). 479 


mebrte Aufl, von Koch, Leipz. 1833), Rutilius Lupus „De figuris sententiarum et 
elocutionis* (Lugd. Bat. 1768), Vellejus Paterculus (2 vol., Lugd. Bat. 1779), bie 
Ausgabe des bomerifchen „Hymnus in Gererem* (Lugd. Bat., 1780) und von „Mu- 
reti opera“ (4 vol. Lugd. Bat. 1789). Muſterhaft ift fein „Elogium Tiberii Heınster- 
husii* (Lugd. Bat. 1768). Seine „Opuscula oratoria, historica, critica* find in 
zwei Ausgaben yon Bergmann (Leiden und London 1807; eine neuere 1823, 2 vols.) 
erſchienen. R.'s „Dictata in Terentii comoedias* bat Schopen (Bonn 1825), die 
„Dictata in Suelonium“* bat ®eel (Lugd. Bat. 1828), die „Orationes, disserlationes 
et epistolae“ bat Th. Briedemann (2 Bde., Braunfchweig 1828), die Vorlefungen 
über römifche Antiquitäten hat Eichſtädt in einer Meibe von Programmen mit An⸗ 
merlungen beraudgegeben. Das Leben R.'s iſt von Wyttenbach (Lugd. Bat. 1799, 
neue Aufl. von Lindemann, Leipzig 1822, und von Frotſcher, Freiberg 1846) und 
von 8. Th. Rink („Tideriud Hemſterhuys und David Ruhnken. Biograpbifcher 
Abriß ihres Lebens”, Königsberg 1801, S. 73—264, „David Ruhnken. Bearbeitet 
nah Daniel Wyttenbach“, nebft einem Anbange, welcher Briefe an Kant und andere 
Gelehrte enthält), Herausgegeben worden. 

Aubrort, Stadt von 6130 Einwohnern im preußiſchen Regierungsbezirk Düſſel⸗ 
dorf, an der Mündung der Muhr in den Rhein, mit lebhaften Handel, Fabriken, 
Schiffbau und Schiffahrt, tommt 1398 ald Rureoyrt in einer Urfunde vor und ge⸗ 
hörte 1371 zu dem ebemal® auf der linken Mbeinfeite gelegenen Homberger Werth, 
wo Kalfer Karl IV. dem Grafen Johann v. Meurs einen Rheinzoll zu erheben ge- 
flattete, wa 1398 König Wenzel zu Frankfurt beftätigte, 1379 aber widerrief. 1380 
bei der Theilung zwifchen Graf Adolf v. Kleve und deſſen Bruder Dietrich von der 
Mark erhielt erflerer Dad Haus zu Muerorde und zwei Theile des Zolles daſelbſt im 
Boraus. Den 23. Mai 1437 gemährte Herzog Adolf v. Kleve den Unterfaflen zu 
Aueroirbe, welche ihren Ort zu befefligen verfprochen hatten, Zollfreiheit für ihre 
Waaren auf dem Rheine. 1587 eroberte General Schenk den Drt, die Spanier ver- 
trieben ihn. R. war durch ein ſtarkes Caſtell, Haus R., von der Landjeite und 
durch Mauern mit neun Thürmen befefligt; Allee wurde 1636 gefchleift. 

Ruisdael, auch Ruysdael, Jakob, der größte Landfchaftsmaler der niederlän- 
diſchen Schule des 17. Jahrhunderts, war geboren zu Harlem im Frühjahr 1635. 
Seine Erziehung war durchaus auf eine gelehrte Bildung berechnet, und dem väter» 
lichen Wunſche nach follte der junge R. fih dem Studium der Mebicin widmen, in- 
deß zeigte derſelbe ſchon von früher Jugend an fo viel Liebe und Talent zur Malerei, 
daß man feiner Ausbildung in derfelben endlih zu Willen war. Bereits im vier- 
zehnten Jahre fchuf der junge R. Bilder, die großes Auffehen erregten und feinen 
Namen bekannt machten; Landfchuften waren es außjchlieglich in jenem heitern Genre, 
das Glaude Lorrain und feine Schüler und Nachahmer zur Aufgabe ihres Pinfels 
gemacht Hatten, und namentlich z0g ihn Berghem in feinen Darftellungen der Hirten» 
Idyllen an. Bei Lepterem lebte denn auch R., nachdem er 1654 feine Vaterſtadt 
und das Ütelier feines Bruders Salomon verlafien, mehrere Jahre, mehr als Freund 
zwar, denn ald Schüler, doch iſt deſſen Einfluß auf R.'s Pinſel in jener Zeit nicht 
zu verfennen. Erſt fpäter wendete ſich R. jener Auffaffung der Natur in ihrer melan- 
choliſchen Einfamkeit zu, dem ſtillen Waldesraufchen über den bemooſten Steinen alter 
Schloͤfſer und zertrünmerter Hütten in einfamen Walbthälern, die ein Sturzbach durch⸗ 
brauft, über modernde Baumflämme, vom Sturme gepeitfcht, der droben die Regen⸗ 
mwolten wild durcheinander treibt und die Büfche zufammenfchlägt, oder der Urnatur 
in ihrer Stille und Lieblichfeit mit ihren grünen Wiefen, leiſe plätfeyernden Bächen 
und fanft vom Winde bewegten See, worauf in blähenden Segeln Schiffe ſich fchau« 
feln. Die Werke von R.'s Pinſel befriedigen alle Anforberungen, die der äußere 
Sinn an Kunftwerke machen kann: Licht, Schatten, Haltung und Wirkung des Ganzen 
läßt nichts zu wünſchen übrig, die Gegenflände mit glüdlichem Griffe aus der Natur 
genommen, glüdlih durch den Gedanken erhöht und nach allen Erforbernifien der 
Kunft angelegt und ausgeführt. Namentlich verfland es R. wie Goethe fo geiftreich 
ausführt (vergleiche: „Mutsdael als Dichter", Goethe's gefammelte Werfe, Band 31, 
S. 203 f.), „in bemunberungdwärbiger Welfe den Punkt aufzufafien, wo bie Bros 


480 Nulhiere (Glaube Earloman de). 


ductionskraft mit dem reinen Berflande zufammentrifft und dem Befchauer ein Kunfl- 
wert überliefert, welches, dem Auge an und für ſich erfreulich, den inneren Sinn 
aufruft, das Nachdenken anregt und zulegt einen Begriff außfpricht, ohne ſich darin 
aufzulöfen oder zu verkühlen.“ Bei der Betrachtung feiner Gemälde erkennen wir den 
reinfühlenden, klardenkenden Künftler, der, ſich als Dichter erweiſend, eine vollfommene 
Symbolit erreicht und durch die Geſundheit feines äußern und Innern Sinnes uns 
zugleich ergögt, belehrt, erquidt, belebt und mit der Einficht durchdringt, wie weit die 
Kunft geben kann und foll. — Seine Bilder find fehr zahlreich, auch in vortrefflichen 
Eopieen feiner Schüler, beſonders Hobbema's, vorhanden; zu den außgezeichnetften ge- 
hören der, Waſſerfall“, die „Hirſchjagd“, der ‚Kirchhof“ und daB „Klofter". DM. farb 
in feiner Baterftadt Harlem im Eräftigften Mannebalter 1681. — Eine Sammlung feiner 
Zeichnungen und geägten Blätter befindet ſich im Bell des Harlemer Muſeums. — 
R.'s älterer Bruder Salomon, geflorben 1677 in Antwerpen, gehörte ebenfalls 
durch feine geiftreiche Behandlung landſchaftlicher Begenflände zu den beſſeren Malern 
jener niederländifchen Schule, namentlich verfland er es meifterhaft, fih im Waſſer 
fpiegelnde Baumgruppen und Gebäude auf der Leinwand wiederzugeben und die pris- 
matifcheh Barbenfpiele des Sonnenlichts in bezaubernder Natürlichkeit darzuftellen. 
Rulhiere (Claude Carloman de), franzöflfcher Dichter und Hiftorifer, geb. 1735 
zu Bondi bei Paris, diente anfangs in dem Corps der Barde- Gendarmes und war 
1758 und 1759 zu Bordeaux Anjutant des Marſchalls Michelleu, Gouverneurs ber 
Guienne. Seine Beziehungen zum Marſchall und zu deffen Tochter, der Gräfln von 
Egmont, wurden von ihm auch fpäter gepflegt und gaben ihm zur Abfaffung der 
meiften feiner erften Schriften Anlaß. Der Iefuit Ratour, Präfeet des college de 
Louis-le-Grand, der ihn ſchon damals, als er diefe Anflalt befuchte, ausgezeichnet _ 
hatte, bezeichnete ihn den hohen Beamten in Parts als einen fähigen, verwendbaren 
Kopf. Dirfe Empfehlung und die glänzenden Erfolge R.'s in den Gefellfchaften 
lenkten die Aufmerkſamkeit des Barons v. Breteuil auf ihn; berfelbe machte ihn zu 
feinem Secretär und nahm ihn, als er 1760 zum bevollmächtigten Minifter beim Hofe 
von Gt. Peteröburg ernannı wurde, mit nach Rußland. So mohnte RM. der Revo⸗ 
Iution von 1762 bei, weldhe den Sturz Peters IN. zur Folge hatte, und der lebhafte 
Eindrud, den er von diefer Kataflrophe empfing, machte ihn zum Hiftorifer. 1765 
nad Paris zurüdgelehrt, erzählte er den Hergang öfters in Gefellichaften, und Die 
Sräfn von Egmont beftimmte Ihn, feine Erinnerungen fehriftlich aufzufegen. Er über» 
reichte ihr mit einem Widmungsfchreiben vom 10. Februar 1768 das Manufeript, 
und er jelöft las feine Arbeiten fo oft in Gefellfchaften vor und ließ es fo oft vorleſen, 
daß der Auf derfelben bis St. Peteröburg drang und der dortige Hof dur Grimm 
Verſuche machte, den Verfaſſer einzufgüchtern; R. verftand fidh aber nur dazu, es erfl 
nah dem Tode der Kaiferin Katharina zu verdffentlihen. Es erſchien 1797 unter 
dem Titel: Anecdotes sur la revolution de Russie en l’annde 1762. Außer dem 
erfien Schreiben an die Gräfin von Egmont enthielt diefer Abdrud noch ein zweites 
Schreiben an diefelbe vom 25. Auguft 1773, in dem R. ſich gegen mehrere Einwen⸗ 
dungen, die man feiner Schilderung entgegengeflellt hatte, vertheidigte. 1768 verließ 
er den Dienft im Gendarmencorps ;, man beflimmte ihn damals zu einer geheimen 
Wiſſton nach Polen, Abnlich derfenigen, die man 1770 Dumourlez gab; allein ber 
Plan fam nicht zur Ausführung und R. ward vielmehr beauftragt, zur Inflruction 
des Dauphin (nachherigen Ludwigs XVI.) die Gefchichte der damaligen polnifchen Un- 
ruben zu fchreiben. 1771 befam er für diefe Arbeit eine Penflon von 6000 Livres, 
die er bis zu feinem Tode behielt. Im demjelben Jahre drang fein literarifcher Auf, 
der bis dahin nur in die großen Befellfchaften von Paris eingefchloffen war, auch 
in's Publicum, indem Voltaire feinen Discours en vers sur les Disputes — eine 
geiftreihe Betrachtung über die religidfen und wiſſenſchaftlichen Streitigkeiten ber 
Welt — in feine Questions sur l!’Encyclopedie aufnahm. 1776 machte er ohne Rif- 
fion eine Reiſe nach Deutfchland, wo er die Höfe von Dresden, Wien und Berlin be- 
ſuchte; man behauptet auch, jedoch ohne Beweis dafür, er habe bei diefer Gelegenheit 
Polen bereift. Noch in demfelben Jahre nach Paris zurückgekehrt, beſchäftigte er ſich 
feitvem bis zum Jahre 1787 Hauptfächli mit feiner Befchichte der polnifchen Un» 


Rumänien. (Beograpble und GStatiftif.) 481 


rußen: In Tegterem Jahre warb er, von dem man bis dahin nur feine zweißunbert 
Berfe über die Disputes und jeine noch ungedrudte Arbeit über bie xufflfche Revolu⸗ 
tion von 1762 Fannte, in die franzöfliche Akademie aufgenommen. 1787 und die fol« 
genden Jahre ward er von feinen polnifchen Arbeiten Durch andere Unternehmungen 
abgelenkt. Die bedeutendſte unter denfelben find die Eclaircissements historiques sur les 
causes de la revocation de l'edit de Nantes (Paris 1788, 2 Bände). Breteuil hatte 
ihn zu diefer Arbeit aufgefordert, doch iſt biefelbe weniger eine Schugfchrift für Die 
Proteſtanten, zu deren bürgerlicher Anerkennung fich die bamalige Regierung gezwungen 
fah, als vielmehr eine Apologie Ludwig's XIV., der Maintenon und des Pater La- 
chaiſe, von denen R. nachzuweiſen fucht, Daß fie keineswegs durch eine fpeciell Firchliche 
Antipathie gegen die Proteflanten zur Widerrufung des Edicts von Nantes bewogen 
worben feien. Die Revolution von 1789 fand an ibm einen entfchiedenen Gegner; 
er wollte friedliche und partielle Meformen. Der Zortfchritt der Mevolution im Jahre 
1790 verfimmte ihn vollends; er konnte den Sturm auf alle feine früheren Lebens» 
gewohnbeiten nicht ertragen und flarb eines plößlichen Todes den 30. Januar 1791. 
— Geine Heinen poetifhen Sachen erfchienen zuerft In einer Sammlung ohne Jahres» 
zabl; diefelbe gehört den Jahren 1801 oder 1802 an; die zwei Komödien, die man 
ihm auch zufchrieb, der Mefiant und der Fächeux, hat man nicht auffinden koͤnnen. 
Seine Histoire de l’anarchie de Pologne et du demembrement de cette r&publique 
erichien zu Paris 1807 in 4 Bänden. Nur die erften eilf Bücher find von ihm 
beendigt und revibirt, von den beiden folgenden, die bis 1770 geben, fanden fich 
nur anſehnliche Partieen vor; das 14. und 15. Buch, welche die Jahre 1772 und 
1773 darftellen follten, waren von R. noch nicht angefangen. Dad Jahr nad dem 
Erſcheinen diefer erflen Ausgabe orbnete die kaiſerliche Megierung eine Unterfuhhung 
über den wahren Autor ded Werks an, da Einige behaupteten, dab der Erfapuziner 
Maubert von Gouveſt (gef. 1767) daſſelbe gefchrieben habe. Ginguene bewieß aber 
in dem Berichte, den er im Namen einer Commiſſion des Inſtituts erflattete, daß 
das Wert nur von R. berrühren könne. In den Jahren 1809 und 1810 gab dns 
damalige kaiſerliche Profeet von Preisertheilungen für die beften Werke und der Bor- 
fhlag einer Jury, in deren Namen Suard Bericht erflattete, den Geſchichtöpreis R.’E 
Werke zuzuerkennen, zu neuen Discnfflonen Anlaß. Ein Faiferliched Decret beauftragte 
nämlich die verfchiedenen Klafien des Inflituts, das Urtheil der Jury zu rebibiren, 
worauf befonders Levesque und Dupont de Nemours, von denen jener ber Kaiferin 
Katharina, dieſer dem König von Polen nahe geflanden Hatte, ſich ſehr bitter gegen 
ein Werk ausſprachen, in welchem dieſe beiden gefrönten Häupter fireng beurtheilt 
waren. Der Preis wurde darauf nicht ertheilt. Eine Gefammtaudgabe von R.'s 
Schriften beforgte 1819 Auguis in 6 Bänden. In derfelben befinden” fid von feinen 
BHeineren Schriften auch bie Anecdotes sur Richelieu, eine Erzählung von einigen 
Liebesabenteuern dieſes Marfchalle. 
Aumänien I Geographie und Statifil. Die offenen Landfchaften an 
der untern Donau find von der Natur zu einem jener PBaflageländer geftempelt, in 
denen die verfchiedenften Völkerfchaften Jahrhunderte bin und ber drängen, ohne zu 
bauernder ſtaatlicher Bildung zu kommen, fie bilden eines jener großen Thore, durch 
welches die VBölkerfchaaren fo lange Hin und Her wogen, bis eine eiferne Hand Halt 
gebietet und es verfucht, das Gemiſch buntefter Elemente zu einer fefteren Maſſe zu 
organifiren. So war ed Trafan’s flegreicher Arm, welcher Dicten zur römifchen Pro⸗ 
vinz machte, römische Elemente in das weite Gebiet zwifchen Tibidcus und Tyras 
(Theiß und Dujeſtr) verpflanzte und und die Erinnerung an feine Macht erhalten hat 
in den Tönen der moldowlachiſchen Sprache, wie in den Pfellern jener Donaubrüde 
unmeit Czernec, welche ex überfchritt, um den Decebalus zu beflegen, und den Ueberbleib⸗ 
feln jener Wälle zwiſchen Pruth und Dinfeftr, die gegen die Horden ber farmatifchen Ebene 
fügen follten. In den Stürmen der Völkerwanderung ſchwankt das Schiff der dako⸗ 
romanifchen Nationalität bin und ber; es fleht den dftlichen Schauplag feiner Herr⸗ 
ſchaft zwifchen Karpaten und Dujeſtr nach einander überfluthet yon Gothen, Hunnen 
und Gepiden, ſieht ſich in feiner Entwidelung gelähmt durch die Herrfchaft der Avaren 
und Bulgaren, auseinandergefprengt durch die Macht der Magyaren und flüchtet vor der Ger 


Wagener, Gtaatd u. Gefellfch.-Ler. XVIL 31 


482 Numänien. (Geographie und Statik.) 


walt der Petfchenegen, der Kumanen und hereinbrechenden Zataren in die fhühenden Thä« 
ler des Gebirges. Dennoch Hält das früh angenommene Ghriftentbum und die Sprache 
das dakoromaniſche Element aufrecht, fo daß am Ende des 13. Jahrhunderts ber 
walachiſche und um die Mitte des 14. Jahrhunderts der moldbauifche Staat ge⸗ 
gründet werden Tonnten, welche wir unter der Benennung der Donaufürfienthü- 
mer zufammenzufaffen pflegen und bie feit 1861 in Folge ihrer Union den offlciellen 
Titel R. führen. Beide gehören zum großen Theil dem zwifchen den fiebenbürgifchen 
Alpen und dem Balkan fi außbreitenden Tieflandbe Der unteren Donau, ge 
wöhnlih Dad walachiſche genannt, an, welches bier einen Tieflandsbufen in Hoch“ 
europa bildet, oſtwärts aber, nach und nad ſich verbreiternd, an das ofleuropäifche 
unmittelbar ſich anfchlicht. In feiner Lage nach Breite und gegen die Gebirge gleicht 
wenigfiend der obere Theil deffelben dem des Po, während Dagegen der untere Theil 
durch feine Offenheit nach Nordoften ſich unterfcheibet. Es giebt in biefer Ebene 
baumlofe Grasflächen, weldye mit Sümpfen und Didichten abwechieln, worin eine 
Aehnlichkeit mit der niederungarifchen Ebene liegt, fo wie in der großen Bernachläfe 
figung des Anbaues, welche fi von biefer zur malachifchen ſogar noch fleigert. 
Mas aber dieſes Tiefland vom niederungarifchen wieder fehr unterfcheidet, das ifl Die 
merkliche Neigung Ddefjelben zu der Donau im Gegenfag zu der faſt wagerechten 
Fläche Niederungarnd, fo wie die ausnehmende Ueppigkeit der Natur, welche in den 
Niederufigen der Donauzufläffe berrfcht. Die Donau bildet die fübliche Grenze der 
Walachei, fo wie zum Theil die des Fürſtenthums Moldau; fie flrömt nach Dem 
Durchbruche durch das Eiferne Thor im .Allgemeinen dem Fuße ded Balkan und 
feinen norbweftligen Seitenketten entlang und ändert, von dem Eintritte in R. an, 
viermal die Hauptrichtung, indem fie zuerft ſüdlich, dann öſtlich (oder vielmehr zuerſt 
ſüdöſtlich bis zum ſüdlichſten Punkte des Bogens bei Schiſtowa, dann nordöſtlich) 
ſofort noͤrdlich, endlich wieder oͤſtlich fließt; ſie iſt ungefaͤhr von da an, wo etwas 
oberhalb von der Mündung des Schiul die öflliye Richtung eintritt, in ihrem breiten 
Thale mit Sümpfen, Sen, Blußabwaflern und Stromarmen bedeckt. Dahin gehört 
zuerſt der große See von Gitſchen zwilchen den Mündungen des Schiul und Aluta 
und der Balta» See zwifhen Schurſcha und Olteniza; in Dem norbwärtd gerich® 
teten Flußſtück vermehren fich die fchon bei Schiſtowa beginnenden Nebenarme, zumal 
zwifchen Doghun und Braila audnehmend, fo daß fle eine jumpfige Fläche von 3 Meilen 
Breite mit zahllofen Infeln einnehmen. In dem legten oftweftlichen Flußſtück begleitet den 
Strom und den noͤrdlichen Hauptarın, wie wir ſchon im Art. Beſſarabien bemerkt haben, 
wieder eine Meibe von Seen: Bratyſch, Kagul, Jalpuſch, Katlabag, bie 
fih nordwärtd, nach dem Dufeſtr Hin, mit den zur Moldau noch gehörenden Strand⸗ 
feen Saſük⸗Kunduk und Schafany fortfegt. Die Zuflüffe der Donau in der Was 
lachei kommen fafl alle von den transſylvaniſchen Alpen, deren Ausläufer ſich beſon⸗ 
ders in der Kleinen Walachei weiter nah Süden erftreden und dieſe mehr ober 
weniger gebirgig machen, darunter als die größten Wede, Dumbowiga » Ard«- 
ſchidſch und Jalomitza, während der Schiul oder Schyl und die Aluta 
(Alt, Old), der wichtigfte Zufluß der Donau innerhalb des Fürftenthbums, den fleben« 
bürgifhen Grenzwall durchbrechen, Indem ſie aus dem Innern Siebenbürgend Tommen. 
Die Aluta, bei ihrem Eintritt in R. den Rothen⸗Thurmpaß bildend, theilt die 
Walachei, dieſelbe in faft gerader Richtung von Norden nach Süden durchſtrömend, 
in eine große und Eleine Hälfte, jene 920,99, diefe 410 Quadratmeilen umfaflend. 
Letztere hieß früher Severiner Banat und wird auch jetzt noch dad Krajower genannt. 
Die Aluta bildete eine natürliche Verbindungsſtraße zwifchen Nieder- und Ober⸗ 
dacien, dem jetzigen Stebenbürgen, weshalb fi ſchon unter den Roͤmern an ihren 
beiden Ufern wichtige Punkte befanden, als da find: Turna, Garacall, SIa- 
tina, Rimnif; dann andere jegt namenloje Punkte, wo nur noch Trümmer und 
Spuren jenes Elafflihen Zeitalter gefunden werden, worunter beſonders eine ge⸗ 
pflafterte Straße bemerfenswertb iſt, welche von Islas neben dem rechten Ylußufer 
hinauf bis Garacall Tief und ſich dort mit einer zweiten, bie ebenfalls von ber Donau 
bei Bechet herkommt, vereinigte und dann über Rimnik hinauf durch den Rothen⸗ 
Thurmpaß nach Siebenbürgen führte. Der Steppenboben ift felbfiredend weniger bes 


Aumänien. (Geographie und Statiftik.) 483 


volkert, als die Landſtriche zunaͤchſt dem Gebirge, obwohl fle einen Fleineren Theil des 
ganzen Fürftentbums einnehmen. Dort finden fih nur IM Städte, bier 14; dort 
4 Märkte, bier 10; dort 1413 Dörfer, bier 1908, und dort eine Bevölke⸗ 
sung von 1,275,700, bier eine von 1,125,220 Seeln. Die Moldau, das nörd⸗ 
liche der Heiden Fürſtenthümer, durch Den von Rußland 1856 abgetretenen Landſtrich 
im Oflen des Pruth und im Norden der Kilia vergrößert (aber ohne dad zu Buls 
garien gefchlagene Donau-Delta), bildet die Borterraffe der transfylvanifchen Alpen 
mit den anfehnlihden Donauzuflüfien Pruth und Sereth nebft des legteren Neben 
fiuß, der Moldama, welcher dem Lande den Namen gab, an den böhmifchen Fluß 
gleihen Namens erinnernd. Der 300 Duadratmeilen großen oberen Moldau weſt⸗ 
Ih des Sereth — der Zara di Suß — und der 435,4; Quadratmeilen enthal« 
tenden unteren Moldau zwifchen Seretb und Pruth — der Zara di Shop — 
iſt durch Acquiſition des beſſarabiſchen Antheild von 222,,, Quadratmeilen eine 
Landesform zugefellt, welche den mannichfachen Charakter des ganzen Landes erhöht 
und feinen Lebensrichtungen eine neue Bahn vorgezeichnet bat. Wine Dreis 
theilung des moldauifhen Bodens in nachflehender Welfe erfcheint angemeflen. 
1) Die wmefllihe Goch » Negion im Weflen des Moldama= und Sereth⸗ 
Bogend. Der Außerfle Norbweflen wird noch von dem kryſtalliniſchen Kern, 
der größte Theil der weſtlichen Grenz =» Meglon aber von der Sandflein =» Zone 
der Karpaten erfüllt. Der Tſchachlo oder Pion, der höchſte Berg Rumäs 
niens, der felbft von Safly aus, 14 Meilen entfernt, noch ein herrliches Bild 
gewaͤhrt, erreicht beinahe die Höhe von 7000 Fuß, die oͤſtlichen Strebepfeiler des 
Gebirges gehen zwifchen den zahlreichen rechten Zuflüffen des Sereth in langgeftredte 
Gebirgsäfte über und ernievrigen ſich allmählich zwifchen immer breiter werdenden 
Thälern zu lang gezogenen Plateaur. Reich an kräftigen Nadel- und Laubholzwal⸗ 
dungen, an faftigen Weiden und raufchenden Waflern, am Fuße bed Gebirges reiche 
Steinfalzlager (3. 8. zu Okna) aufſchließend und jedenfalls noch eine Menge noch 
nicht gefannter Mineralſchätze bergend, beſitzt dieſe Megton alle Elemente einer ein⸗ 
träglichen Bergland = Induftrie nach den vielfeltigen Richtungen Hin umd wartet nur 
der Eräftigen Anfprache, um Segen fpendend zu antworten. 2) Die nordoͤſtliche Berg⸗ 
und Plateauflufe zmifchen Seretb und Moldawa einer» und Pruth andererfeitö bis 
zum Parallel von Waslui. Zwifchen Sereth und Pruth find im Norden noch flache, 
mit tertiaͤrem Sandftein befeßte Höhenfchwellen, welche, je weiter fünlich, immer mehr 
den Plateaucharakter annehmen, nur noch in ben Ylußthälern markirte Raͤnder ents 
falten, noch vielfach mit ſchoͤnen Laubmwäldern bedeckt find, aber auch ſchon die frucht⸗ 
barſte Adererde auf ihrem Rücken tragen, fo daß fi der reichften Landwirthſchaft ein 
weites Feld öffnet. 3) Die fünöflliche Flachlandoſtufe, vom Sereth bis zum Jalpudh, 
der Killa und der Küfle des Schwarzen Meered. Die Natur des Steppenplateauß 
mit Baumarınutb und fhönem Humusboden, welcher eben fo empfänglich für reichen 
Aderbau wie üppigen Graswuchs iſt, tritt immer deutlicher Hervor und fchließt ſich 
dem Charakter Suͤdrußlands unmittelbar an. Aber troß diefer günftigen Verhältniffe 
befinden fich bie zum Aderbau fo geeigneten Gebiete der Moldau fomohl wie der 
Walachei fat im Naturzuftande. Aderbau und Viehzucht bilden zwar bie Haupt⸗ 
befhäftigung der Bewohner, aber weit nicht zur Ausnützung bed reichen Bodens. 
Bon Manufacturen oder von Induftrie irgend einer Art Eonnte unter türkis 
ſcher Betmäßigkeit zwar Feine Rede fein, indem die Einwohner thre Producte nur an 
die Türken verkaufen durften und der Werth febes Artikels von ihnen befllimmt wurde, 
die Induſttie ſteht aber auch jetzt noch ungleich tiefer als In Ungarn, die Handwerker 
find meift Ausländer, namentlich Deutfche, und man bezieht faft Alles vom Audland 
durch den Handel, welcher nur Rohproducte ausführt. Im allen Flüſſen zwifchen 
: dem Oltez und der Jalomiga bat man Goldſand entdeckt, und im Bezirke Mehedintz, 
am Fluſſe Burba, wo alten Ueberlieferungen zufolge in früheren Zeiten Kupferminen 
bearbeitet wurden, bat man auch Kupfererz angetroffen. Rohes Queckſilber iſt eben⸗ 
falld aus dem Erdboden bervorquillend in der Nähe von Pelefti gefunden worden. 
Salz nebft Schwefel iſt jedoch das einzige Bineral, aus welchem in der Walachei 
und Moldau bis jegt vorzugsweife Nutzen gezogen wird. Es bilbet mit Vieh und Wild, 
31* 


484 Aumänien. (Geographie und Statiſtik.) 


Getreide, Obſt, Wein, Tabaf und Holz, Schwefel und etwas Wafchgold (von der Aluta) 
bie Artikel der Ausfuhr, die für Die Walachei verhältnigmäßig geringer iſt als für 
dad andere Fürftentfum. Der auswärtige Handel iſt bedeutend und größten 
theild in den Händen von Nicht-Rumänen; die Mittelpunfte des Seehandels find bie 
Donauhäfen Bralla und alas; der Landhandel, deſſen einheimifche Haupt⸗ 
pläße die beiden Hauptflädte Bufareft und Jaſſy find, wird zunähft durch Kron⸗ 
flabt, weiterhin durch Wien und Keipzig vermittelt, und man unterfcheibet unter den 
Einfuhrartifeln Kronftädter Waaren, d. 5. die ordinären Handwerfserzeugnifle, von den 
Wiener und Leipziger Waaren, welche theils größere Artikel, theils feinere Fabrikate be⸗ 
treffen. Der Gefammtwerth des Handels der Walachei belief fich 1856 auf 64,, Mill, (Ause 
fuhr 33,,, Einfuhr 31,, Mill.) Fres, und der der Moldau 1857 auf 43,, Mill. (Aus⸗ 
fuhr 14,, Mil, Einfuhr 29 Mill.) Freo. 1858 auf 49 Mil. Block und Buil- 
laumin geben in ihrem „Annuaire de l’&conomie etc. 1861* eine Meberficht des 
Handeld und der Schifffahrt R.'s. Darnach betrug die Handelöbewegung von Braila 
für die Walachei im Jahre 1858 im Ganzen 53,, Mill., und zwar die Einfuhr 12, 
MIN. (Türkei 4,,, England 4,, Mill.) und die Ausfuhr 30,, Mil. Fred. (England 
12,2, Türkei 8,,, Frankreich 5,,) und bie von Galag für vie Moldau im Jahre 1859 
im Ganzen 45,; Mill., und zwar die Einfuhr 22,, (England 8,,, Türkei 6,,, Frank⸗ 
veih 4,,) und die Ausfuhr 13,, Fred. (England 4,, Zranfreih 3, Türkei 1,,). 
Zu dem Total der Ausfuhr iſt jedoch zu bemerken, daß ſich die zulegt angegebene 
Summe nur auf den Werth des Exports von Getreide 1. bezieht; der Geſammt⸗ 
wertb der Ausfuhr wird auf 15,, Mil. Fred. beziffert. Für 1861 liegt und eine 
Veberfiht der Schiffäbewegung in der Sulina vor, wonad 2859 Schiffe mit 
473,914 Tonnen Gehalt angelommen und 2883 Schiffe mit 480,944 Tonnen Ge 
halt abgegangen waren. Ktiegsfchiffe und Boftpadetboote find bierunter nicht einber 
griffen. Die Zahl der abgegangenen Schiffe betrug 405 von 83,392 Tonnen weniger als 
1.3.1860. Selbfiredend Eönnen bei der geringen Benugung des Bodens in Bezug auf 
Aderbau und Bergbau, bei dem Mangel an Induſtrie, bei dem wenigen Handel, bet der 
geringen Bevölferung, welde für die Walachei auf 2,400,920 und für bie 
Moldau auf 1,600,000 Seelen angegeben wird — wonach aljo auf dem Raume einer 
deutfchen Geviertmeile refp. 1805 und 1670 Menfchen wohnen — die Staats⸗ 
einnahbmen R.'s nicht bedeutend fein, 1) e8 müſſen aber auch in der Zufammen« 
feßung der Bevoͤlkerung Verbältniffe obwalten, die auch jedem weientlichen Fortſchritte 
entgegen find. Es giebt in R. Leinen eigentlichen Bürgerfland; außer ber 
Geiſtlichkeit find vorzugsweife nur Edelleute und Bauern vorhanden. Die 
Beziehungen der Iegteren beiden Stände zu einander ſind mit bie tiefeingreifendflen 
Verhältniffe für beide Fürftenthümer, wenn anders bie politifchen Formen zu der Ci⸗ 
vilifationsflufe paflen follen. Wenn die englifhe Prefie — und wir meinen damit 
die bedeutungsvollen Arbeiten in den DViertelfahröfchriften Weftminfter und Edinburgh 
Review, die von Staatömännern und Parteiführern berrüßren und veranlaßt werben 
— menn dieſe Prefie Rumänen und Serben auf gleiche Linie flellt und alles Lob, 
welches Die Serben bisher vielleicht Durch ihre politifches Betragen verbient haben, auf 
sumänifchen Namen escomtirt, fo empört ſich dagegen alles Hiftorifhe Willen. Die 
Serben Haben einen welt rühmlicheren Freiheitskampf durchgefochten als bie Neu- 
griechen; das flttlihe Gift einer 400jahrigen Knechtſchaft unter den Türken ſcheint 
dabei ausgefloßen worden. Serbien ift ein Staat freier Bauern, zwifchen denen Feine 
großen Bermögensunterfchiebe befleben. In den Kürftenthümern Dagegen trifft man, befon- 
ders in der Moldau, Ratifundten mit ihren univerfellen Uebeln, während die aderbauende 
Klaſſe in einem Verhaͤltniß zum Grunnbeflger fleht, welches juriftifch ungünſtiger iſt als die 

1) Das dem rumänifchen Landtag im November 1862 vorgelegte Bubget für 1863 jeßt die Ein: 
nahme auf 168, die Ausgabe 164 Millionen Biafter feft, der an die Pforte zu zahlende Tri: 
but wird für bie Moldau auf IK Mill, für die Walachei auf 2% Mill. DB. angegeben. Die Mol: 
dau hatte 1856 9% Mill. die Walachei Ende 1857 mindeſtens 14 Mill. PB. Schulden, ungerech⸗ 
net 6 Mill. für den Losfauf der Leibeigenen in der Moldau. Für beide Fuͤrſtenthümer gemein: 
fam wurbe im Mai 1860 ein Anlehen von 80 Mill. Fres. in Raris aufgenommen und foll mit 
engliſchen und franzöftijhen Gapitaliften im März 1863 eine weitere Anleihe von 2 Mill. Bid. 
Sterl. abgeſchloſſen worden fein. 


Aumänlen. (Geographie und Statiſtik.) 485 


frühere ruſſtiſche Leibeigenfchaft. „Der rumänifche Bauer“, meint das Edinburgh Review, 
„Haft jede Imangsarbeit. Sein Stolz empört fi dagegen." Der rumänifche Bauer flolz ! 
Er widerfeßt fih der Zwangsarbeit! Es ift wahr, der rumänifche Hinterfaffe ift Fein 
Leibeigener, d. h. er iſt nicht und war nie an die Scholle gebunden, er bat ſtets un⸗ 
ter gewiflen Bedingungen verlangen können, daß ihn fein Herr auswandern läßt. 
Solche Ausmwanderungen haben auch zu Zeiten maſſenhaft flattgefunden, theils 
nach Oeſterreich, theils aber auch nach Rußland und nach den türkifchen Provinzen. 


Mit anderen Worten, der Rumaͤne zog die ruſſtſche Leibeigenfchaft der rumänifchen 


4 


Guts hertſchaft vor — darin beftand feine Freiheit, und er wollte lieber türkifcher 
Rajah werden, als für die Kanarioten roboten — darln beſtand fein Stol. Wer 
find die Grundbeflger in den Fürſtenthümern oder die fogenannte höhere Geſellſchaft? 
Sind ed Rumänen? Nein, e8 find Fanarioten, d. h. ehemalige türkifche Rajahs 
griechifcher Eltern. Diefe wurden Eigenthümer des Grund und Bodens, well der 
NRumäne faul und verfchwenderifh, Hab und But verpfändet, wenn er Jemand findet, 
der ihm borgt. Die wenigen Familien, welche dem nationalen Adel vor der Fa⸗ 
nariotenzelt angehörten, find Die fogenannten Mosneni, die fleuer- und milizfreien 
Bauern, deren Zahl außerordentlich ſich verringert bat und die, in Unmifjenheit ge» 
boren und in Unwiſſenheit begraben, Iängft nicht mehr politifch genannt werden, ſon⸗ 
dern nur eine etinographifche Merfwärdigkeit geworden find. Die wenigen Gewerbe, 
die in den großen Städten, deren Zahl nur eine fehr befchränfte iſt, getrieben werden 
und vom Lurus der Bofaren leben, find in den Händen der Deutſchen, vorzügli 
von Deflerreihern, während der Handel von Juden betrieben wird. Deutfche und 
Juden vertreten alfo den rumänifchen Mittelftand. Der Klerus if, trotzdem fi faft 
alte Aumänen zur griehifchen Kirche bekennen — die Anzahl der Roͤmiſch⸗ 
Katholifchen fhäht man neuerdings auf 80,000 und die der Proteflanten 
auf 20,000, wozu noch die Juden, Armenter und eine große Zahl von Zigew- 
nern kommen — arm, fo arm fogar, daß feine tiefe Unmwiffenheit und fein halb⸗ 
heidnifcher Aberglaube vollſtaͤndig entfchuldigt if. Er iſt arm, obgleich ein Drittel 


des Grund und Bodens kirchlichen Stiftungen gehört. Allein die Rente der rumaͤniſchen 


Erde wird nicht dazu verwendet, um gebildete Geiftliche zu erziehen oder der Landes⸗ 
ficche einen impofanten Aufwand zu verftatten, fondern fle geht über See an griedhifche 
Klöfter, an die frommen Brüderfchaften ded Berges Athos, nah dem Sinai, nad 
Alesandrien, kurz nach allen Enden der griechifchen Welt, nur nicht in rumänifche 
Hände. Und fragt man, wie dieſe Entmendung möglich fei, fo giebt die Geſchichte 
als Antwort: die griedhifchen Klöfter Hätten erſt gebettelt und fo lange gebettelt, bis 
aus dem Almofen eine Steuer geworden fei. Auf die Wahl der beiden Erzbiſchoͤfe 
in der Moldau und Walachei hat zwar der Patriarch zu Konflantinopel Feine Einwir- 
fung, aber dennoch wird ihnen der Segen des Patriarchen ertheilt, um welchen ſtets 
nachgeſucht wird. Es Dürfte nicht zmeifelhaft fein, daß ein Metropolit, der von dem 
Patriarchen zu Ronftantinopel in Bann gethan wäre, dadurch alles geiftigen Einfluffes 
bei jedem Nechtgläubigen beraubt wäre. Seit der Entflebung der Kirchenfpaltung 
mögen In der Moldau ſowohl als für die Walachei manche Kirchen es mit dem Par 
trlarchen zu Konflantinopel, manche mit dem Papft gehalten haben, befonderd während 
des GStreited um die bulgariſchen Bifchöfe zwifchen beiden Oberhäuptern; als 


aber auf dem CEqncil zu Florenz der von den Türken hart bebrängte Jo⸗ 


bann VII. Paläologos, im Sabre 1438, fih mit dem Eonflantinopolitanifchen 
Patriarchen Metropbaned dem Papfte Eugen IX. unterwarf, unterfchrieb auch der 
Metropolit der Moldau gegen den Willen des weltlichen Gefandten Alerander des 
Yuten, des Fürften der Moldau, diefe Unterwerfung. Doch diefelbe warb bier ebenfo 
wie in Byzanz von der ganzen Nation verworfen; man zog vor, der morgenländifchen 
Kirche treu zu bleiben, um fo mehr, da man im Abendlande nichts that, um der 
Macht der Osmanen entgegenzumwirfen. Der abtrünnige Metropolit kam nicht nach 
der Moldau zurüd, fein Nachfolger, ein Bulgar, fuchte die Inveftitur bei dem ferbifchen 
Patriarchen zu Ochrida nach; dabei blieb es, bis unter Baſilius Albanus, Yürften 
der Moldau, der Patriarch Parthenius zu Konftantinopel e8 dahin brachte, daß Die 
Einfegnung ded moldauiſchen Metropoliten wieder von dem Patriarchen zu 


486 Sumänien. (Geſchichte.) 


Konftantinopel begehrt ward. Die bald darauf zu Jafiy gehaltene Provinzial-Synode 
bat dies beflätigt, und iſt dies felbft von dem Patriarchen von Ochrida fanctionirt 
worden, Die Gonfecration erfolgt durch drei andere Bifchöfe, und der Metropolit der 
Moldau, fo auch der von der Walachei, iſt auf diefe Weile unabhängig vom 
Patriarchen. Die Kloftergüter werden auf drei Jahre in Gegenwart des Metro⸗ 
politen und des Miniſters des öffentlichen Unterriytd und Cultus verpachtet; aus ben 
Einfünften derjelben muß ein gewiſſer Theil in die Gentralfaffe abgeliefert werden, 
woraus fchlecht dotirte Kirchen unterhalten werben, befonderd aber die Schulen und 
Wohlthätigkeits⸗Anſtalten. Legtere find bedeutender, ald man erwarten follte, 
bon erfleren aber erft wenig vorhanden oder mangelhaft organiftrt, trog aller Anſtren⸗ 
gungen in der Neuzeit, ſowohl die für das Volk als für die höheren Stände. Kür 
diefe muß das Ausland dienen, in den legten Jahren mehr als früher. Daber haben 
au die literarifhen Verhaltniſſe R.'s einen unverkennbaren Aufſchwung ge« 
nommen; fie find wenig befannt, und doch verdienen fie, abgefehen von ihrer eigenen 
Bedeutung, [yon um des Umftandes willen Beachtung, weil ed fich Hier um die Ent. 
faltung eine® von den Nömern gelegten Keimes handelt. Die rumänifche Literatur 
zerfällt in zwei fcharf gefchiedene Perioden. Die erſte umfaßt die Zeit von 1580 bis 
1830; fie hat mehr ein moralifches Gepräge, einen gelehrten Ausdrud, und die Profa 
Hat im Allgemeinen über die Poeſte das Uebergewicdht. 1) Der bezeichnende Charakter 
diefer Zeit iſt, daß Alles zur Vereinigung firebt, aber der Fortfchritt iſt nur in 
Sprüngen und gewaltfam. Gantemir, Peter Malor, Cichendela geben biefer 
Epoche Kefligkeit und Halt, während Paris Mumulöno, J. Bacarefco und 
Affakı dazu beitragen, daß fle die dem Mittelalter eigenthümliche Faͤrbung bewahrt. 
In der zweiten Periode, welche mit 1830 beginnt, erfcheint die literarifche Production 
feiner, gefälliger, fle gebt mehr auf das Pofltive, auf die Wirklichkeit. Dies verhin⸗ 
dert indeſſen nicht, daß die Poefle mehr in den Vordergrund tritt. Was ben Ge 
fammt-Ausprud dieſer Poeſte nun betrifft, fo zeigt fich ein unverfennbares Schwanken; 
man tappt bin und ber, man fucht ein Mufler- und Vorbild, bis man endlich mehr 
zu einer Nachahmung der franzöfifchen Literatur hinneigt. Nur wo ſich der bichterifche 
Geiſt mit einem gewiffen Ungeſtüm erpreßt, bleibt er originell und frei von jeder 
fremden Schule. Wo der rumänifche Dichter ganz auf dem nationellen Boden flebt, 
entfaltet er fi in freier Selbſtſtaͤndigkeit. Heliades und Carlowa verbienen, 
bier zuerfl genannt zu werden; Alerandreflo, Donici, Rofetti und Negruci 
flinmen zwar .fanfte Töne an, aber audy fie erhalten fich ziemlich frei von frembem 
Einfluffe. Alerandro und Boltaco Ichnen fih mit Geſchick an die alten Erinne- 
rungen der Nationalgefchichte. 

I. Geſchichte. 1) Bründung der Türkenherrſchaft. Die verfchier 
denften Eulturvölker der Erbe haben fi im Laufe der Jahrhunderte in dem Ge⸗ 
biete der unteren Donau, an den Gefladelandfchaften des Schwarzen und Aſowſchen 
Meeres angeflebelt und fich zum Theil Iange Zeit Hier behauptet; fle haben unter 
ben benachbarten Barbaren ihre Meligion und einige Geiſtesbildung verbreitet, 
bie beide aber mit dem lintergange der Fremdherrſchaft fchnell der Verweſung ent» 
gegen eilten. Nur in Inſchriften und verfallenen Gebäuden, in Grab» und anderen 
Monumenten find tobte Zeugen einer verfchwundenen Givilifation erhalten worden. 
Die Römer allein erfreuen fi heutigen Tages noch der lebendigen Zeugen 


1) Die kriegeriſchen Deihäftigungen ber Moldowlachen, melde mit den anflürmenden Türken 
in fortwährende Kämpfe verwidelt waren, nahmen ihr ganzes Wefen lange Beit iR fehr in Aus 
pruch, ale daß die Pflege ihrer Sprache und Literatur im Schooße der Nation ſelbſt hätte Wurzel 
aſſen fönnen. Die Briefter und die Mönde waren die einzigen Vertreter ber Wiffenfchaft und 
Kunft, und der befcheidene Sprößling rumänifher Sprache gedieh unter ihren Händen nur küm⸗ 
merlich. So war ber Zufand der Dinge bis zum Jahre 1580, wo der Wojewode von Ardialien, 
Nacok, zuerſt die Bibel wiederum in lateinifhen Lettern abbruden ließ. Hiermit wollen wir 
nicht behaupten, als wären die Mumänen jeder Kiteratur entblößt gewefen; aber biejenigen, welche 
fle befaßen, beftanden aus einer zufammenhangslofen Menge von Kriegsgefängen und naiven Lies 
besliedern, welche auf dem anfpruchslofen Boden ber Bolfspoefle erwachſen waren. Nur wenige 
Spuren biefer ungelünftelten Productionen find auf und gekommen, indem fie bald von ber übers 
wuchernden Tyrannei der Türken und vom Inttiguenweſen bes Fanariotismus erſtickt wurden. 


(Gründung der Türken- Herrfchaft.) 487 


ihrer ebemaligen Herrſchaft. Es Hat auch Fein Volk der Weltgefchichte In dem 
Grabe die Kunfl verfianden, einheimifhe Sitten und Gebräuche der unterworfenen 
Fremden zu brechen und diefe dann mit dem Herrſcher zu einer Maſſe zu vere 
ſchmelzen. Zeuge hiervon find die iberifche Halbiniel und Gallien, das alte Bri⸗ 
tannien und die Volker thraciſchen Stammes, die Geten und Dafer, deren 
Namen in ganz neuer Zeit mit denen der Gothen und der Dänen verwechfelt worben 
find). Die fruchtreihen Bauen des romanifirten Dactens (f. d.), von der Theiß 
und dem oberen Dnefir, von dem Pruth und der Donau umgrenzt, wurden im Laufe 
des 3. Iahshunderts von Deutfchen und Slawen überflutbet; das geſchwächte 
sömifche Reich war nicht mehr im Stande, die Eroberungen Trajan’d zu behaupten; 
fie mußten, wie fpäter die anderen Grenzprovinzen, den unbändigen Barbaren über- 
lafjen werden. Die Nachkommen der römifchen Pflanzen bed Landes, fo wie die 
somanifisten einheimifchen Bewohner fuchten zum Theil, gleichwie die Kelten Britan⸗ 
niend, in den unzugänglichen Bergen und Sümpfen dem Schwert der graufamen 
Feinde zu entrinnen, von welchen fie die Walha oder Wälfchen, die Walltfer, 


Walachen oder Wlachen, d. 5. die anders Redenden oder Barbaren genannt 


wurden. Die Nachkommen der Geten und Daker hielten mit Hecht den Namen für 
einen Schimpf und nannten fich, fie hatten ja von Baracalla dad roͤmiſche Bürgerrecht 
erhalten, wie heutigen Tages noh Mumunje, Römer, woraus wir Rumaͤnen 
gemacht haben. Bei Weiten die größere Maſſe der Provinzialen blieb jedoch in den 
Ebenen zurüd und gehorchte den barbarifchen Sebietern, weldye im Laufe der Zeit von 
der größeren Cultur ihrer Unterthanen beflegt, mit ihnen zu einem Volk zufammenmwuchjen 
und nun ebenfalld ARumunje oder Walachen genannt wurden. Unverfennbare Spuren 
diefer Verſchmelzung zeigen ſich ſchon im 5. Jahrhundert. Es fein Die Scythen, 
die Anwohner der Donau, wird uns berichtet, Mifchlinge, welche auf ihre Sprache, 
Die bunnifche, ſtolz find; nur Diejenigen, meldye mit den Rumunjoͤ häufigen Umgang 
Haben, fpräden lateiniſch. Die verfchiedenen Bölkerichaften redeten wahrfcheinlic,, 
gleihwie in Gallien, neben dem Nömifchen noch lange Zeit ihre Stammfprachen, bie 
endlich das Rateinifche Ins Laufe der Jahrhunderte alle andern Idiome verbrängt und 
ſich in feltener Reinheit als berrfchende Sprache behauptet. Der Name Walache er- 
bielt nun in den Ländern nörblih und fühli der Donau, wo allenthalben eine Ver⸗ 
miſchung der Numunfe mit den Eingewanderten flattgefunden batte, eine außerorbent- 
lie Verbreitung. Dan findet Walachen in Ungarn und Siebenbürgen, in Thracien, 
Maredonien und Theflalien, die fi, durch ihr nomadifirendes Leben abgehärtet, als 
tapfere Räuber und Krieger auszeichnen und furchtbar machen. Man gebrauchte fie 
deshalb gern gegen bie andern Barbaren, gegen Ufen und Rumanen. Der bei Weiten 
größere Theil der Walachen in den unteren Donauländern geriet nad; der Auflöfung 
des großen Neiche® der Bulgaren (f. d.), weldes in feiner höͤchſten Blüthe au 
die heutige Walachei und das oͤſtliche Ungarn umfaßte, unter die Hertfchaft der By⸗ 
zantiner. Das ſlawiſche Element blieb aber immer, wie aus der Slawiſtrung 
der Ugrier und dem Aufblähen der flawifchen Kiteratus erhellt, mitten unter dem 
Bollögedränge der Illyrier, Griechen und Walachen das vorherrfchenbfie, das kraͤf⸗ 
tigfte. Zwiſchen Griechen und dem Frankenreiche, zwiſchen Byzanz und Nom geftellt, 
wurden Bulgaren und Waladyen in die weltlichen und geiftlichen Streitigkeiten dieſer 
Weltſtaaten Hineingeriffen; Byzanz trug aber am Ende fowohl in den kirchlichen wie 
in den politifchen Angelegenheiten den Sieg davon. Die entwürbigten Griechen 
regierten aber in ſolch unfinniger, fittenlojer Weife, daß, fobald fich hierzu eine Ge⸗ 
legenheit ergab, Bulgaren wie Walachen gegen die Peiniger aufflanden und furchtbare 
Rache übten. Nach wiederholten Kämpfen waren endlich die tapfern Brüder walachi« 
cher Abflammung, Afan und Peter, fo glüdlig, mit Hülfe der Kumanen ihr Voll 
aus der Unterdrüdung zu befreien (1186) und ein neues Reich zu gründen, daß 
walachiſch⸗bulgariſche genannt. Diefes Reich behauptet ſich, unter mannich⸗ 
fachen Schickſalen und Wandlungen, über zwei Jahrhunderte; bald zwangen die Fürften 


3. Grimm's geiftreiche, aber getwagte Begründung wirklicher Identität dieſer Völker: 
yoare ift befanut. N. Ritter und Andere glaubten den Namen der Beten in manderlei Urkunden 
und Gejchichten Afiens wieberzufinben. 


488 Aumänien. (Befchichte.) 


die benachbarten Staaten zur Entrihtung eines Zinfes, bald wurben fle felbft zins⸗ 
pflichtig. Dad Land wird endlich (1398) von den Türken unterjoht. Walachen 
wie Bulgaren ſüdlich der Donau werden jet den Mißhandlungen ber Odmanen 
preißgegeben und verbleiben in der ſchmachvollſten Knechtihaft bis auf den heutigen 
Tag. Die Rumunfe nördlich der Donau behaupten Ihre Selbfiftändigfeit noch 
längere Zeit. Sie waren Jahrhunderte lang in den wenig angebauten Ebenen 
der unteren Donau, gleih wie ihre füdlichen Brüder, berumgefchwärmt und 
bald mit Diefen, bald mit jenen der bier mannichfach wechfelnden Völker und 
Herrfchaften verbunden. So auch die Ureinwohner. Transfylvaniens, 
eines Theild der alten römifchen Provinz Darien, welche ohne Zweifel Walachen oder Ru⸗ 
munje find. Nun entreißt (1002) Stephan der Heilige, König von Ungarn, 
den Petſchenegen das Land, feht einen Vaſallen darüber und macht es zur Pro⸗ 
vinz des ungarifchen Reiches. Bald zeigen ſich die Kumanen, herrfchen mit Macht 
in den weiten Ebenen zwifchen dem Don und der Donau und bedrohen, fo wie Ruß⸗ 
land und das byzantinifhe Reich, auch Siebenbürgen und Ungarn. Da feben fidh 
die Fürften der Magyaren nach fremder Hülfe um, fuhen Deutfche in's Land zu 
ziehen und fie durch große Breiheiten aus der Heimath in diefe wilden Gegenden zu 
loden. So namentlih König Geifa I und Andreas Il. Das Unternehmen 
hatte einen glüdlichen Fortgang und die niederländifchen und deutfchen Anflehler Haben 
nicht bloß das veroͤdete Land angebaut, fondern auch gegen den Andrang der öfllichen 
Feinde wiederholt vertheidigt. Die Könige von Ungarn machten überdies auf alle 
Länder bis zum Dnjefler, auf die Moldau, Walachei und Beffarabien Anſpruch. Die 
Walachen biefer Gegenden waren nämlih bei dem Einfall der Mongolen in Maſſe 
nach Siebenbürgen und Ungarn geflüchtet und Hatten hier unter ungarifcher Autorität 
bie Herzogthüumer Fag ar aſch und Maramoſch gegründet, deren Fürſten von den 
Königen von Ungarn ernannt wurden. Als nun fpäter Die Einwohner nach und nach 
in das dieſſeitige verödete Land zurüdfehrten und mehrere Eleine Fürſtenthümer bier 
gründeten, von denen dad Banat Severinum oder Krajoma das bedeutendfie 
war, fam au Rudolf Baffaraba der Schwarze, Herzog von Fagaraſch, im 
bie Heimath feiner Voreltern zurück und fiedelte ih in Kimpolung an. Zum 
Wappen nahm er den römifchen Adler, der das Kreuz trägt, und auf den von ihm 
audgeftellten Urkunden lieft man folgenden Titel: „ Im Namen Jeſu Chriſti unferes 
Herrn, Wir getreuer, ebrenwertber und alleiniger Sieger, Radu⸗Negru, von Gottes 
Gnaden Wofemod, Fürſt des ganzen römifchen Landes, Herzog von Amlaſch und 
Fagaraſch.“ Schon gleich nach dem erften Drittel des 14. Jahrhunderts fangen bie 
MWofewoden der Walachei an, als felbfländige Kürften zu handeln, doch es dauert 
nicht lange, fo werben fie (1418) von den Osmanen mit Krieg überzogen und ge⸗ 
zwungen, die Tyrannei der Pforte zu ertragen. Die Moldau, zuerſt 1352 als felbft- 
fländiger Staat unter dem Wojewoden Drogoſch Bogdan, dem ehemaligen Herzog 
von Maramoſch, erfcheinend, erhielt fi noch Uber ein Jahrhundert in wankender 
Selbffländigkeit und mird deshalb Alk⸗Wlach, weißes ober freies Walachien ges 
nannt. In dem Jahre, in welchem die Türken Wien zum erflen Male belagerten, 
wurde endlich auch die Moldau gezwungen, ein Lehensfürſtenthum des übermächtigen 
Reiches der Osmanen zu werden. 

In einer Neihe von Capitulationen war beiden Fürſtenthümern von den Türken 
eine Art von Autonomie zugeflanden worden. Die Walachen berufen ſich befonbers 
auf die Verträge von 1393, 1460, 1511 und 1634. Als Inhalt der Heiden erfleren 
Verträge wird angegeben: „Die Sultane übernehmen die Verpflichtung, die Walachei 
zu befchügen und gegen jeden Feind zu vertheidigen, ohne dafür mehr zu verlangen, 
als die Oberhoheit über das Fürſtenthum, deſſen Woimoden der hoben Pforte einen 
Tribut von 10,000 Ducaten zu zahlen haben. Die Woimoden werden vom Erzbifchof, 
den Bifhdfen und Bofaren (f. d. Art.) gemählt und find immer Chriſten. Die 
Walachen genießen der freien Ausübung ihrer eigenen Gefehe, die Woimoden behalten 
das Mecht über Tod und Leben ihrer Untertbanen, fo wie dad Recht des Kriegeö und 
Friedens.“ Mit der Moldau wurde 1513 ein beinahe gleichlautender Vertrag abge» 
ſchloſſen. Spätere Staatörechtslchrer des Abendlandes, z. B. Vattel und Marten, 


mm mm 01 oT ner — 


(Die Zeit der Fanariotenherrſchaft.) 489 


haben auf Grund biefer Eapitulationen den Sag aufgeftellt, daß beide Fürftenthümer 
fortwährend van Rechtswegen fouverän geblieben fein. Martens fagt: „die Pforte 
babe durch die Verträge nur das Protectorat ohne die Souveränetät erhalten; die 
Walachei fei nicht incorporirt worden und fle babe nie das mwefentliche Zeichen der 
Souveränetät verloren." Diefelbe Anftcht wurde in neuerer Zeit während ber unten 
darzuflellenden Gonftitutionsarbeiten der Jahre 1857 und 1858 von den rumänifchen 
Agitatoren und deren wefleuropäifchen Fürſprechern lebhaft vertheidigt. Somohl jene 
Staatsrechtslehrer als dieſe neueſten Vertheidiger der Autonomie der Fürftenthümer 


‚ Überfehen aber, daß die letzteren feit 1711 ihre Mechte durch den Bruch der Verträge 


und durch friegerifche Erhebungen gegen die Pforte ſelbſt preißgegeben haben, im 
Aufftand ein neues Nechtöfnflem zu gewinnen fuchten, und was fle fpäter an Rechten 
erhielten, dafür dem ruffifchen Protectorat oder der gefammtseuropälfchen Intervention 
verpflichtet waren. Im 16. Jahrhundert Hatte die Walachei noch einen bedeutenden 
Fürften, Michael I. (1592— 1601). Derfelbe fäuberte die Moldau und Walachei 
von den Türken, ſchlug ein große& Heer der Letzteren an der Donau, unterwarf fl 
Siebenbürgen und die Moldau, wurde im Beflg des Erſteren vom Kaiſer Rudolph II., 
fo wie im Beſitz der beiden Fürftentbümer vom Sultan Rahomed Il. anerkannt und 
date fchon daran, Polen, Ungarn und die. Donanländer zu einem großen Reich zu 
vereinigen, wurde aber von den empörten Siebenbürgern und deren Verbündeten, ben 
Bolen, in unglädlicdhen Schlachten fo weit heruntergebracht, Daß er am Paiferlicdhen Hofe 
eine Zuflucht fuchen mußte. Er endigte als Eaiferliher General in Siebenbürgen 
nad einem glänzenden Stege an der Samofch Durch daB Meffer eines Meuchelmör« 
ders. Eben derfelbe Michael ift für die fpätere Befchichte der Fürftentbüümer in fofern 
wichtig gemefen, als er den fett dem Mittelalter dauernden Kampf zmifchen dem großen 
und kleinen Gigentbum dadurch beendigte, daß er die Leibeigenſchaft und vie 
Berfnüpfung der Perfon des Bauern mit der Scholle geſetzlich organifirte. 
Der Zuſammenhang der Donaufürſtenthümer mit Oeſterreich erbielt ſich noch 
durch das 17. Jahrhundert hindurch. Serban TI. Kantakuzen (1679 — 1688), 
der neben griechiſchen Gelehrten auch deutſche nach Bukarefſt an die von 
ihm gefliftete Studienanſtalt berief, leiſtete Defterreich während bes Tuͤrkenkrieges von 
1683 fo wichtige Dienſte, daß Kaifer Leopold I. ihm den griehifchen Thron zufagte; 
er wurde aber von ben Bofaren, welche dieſen weitreichenden Plänen nicht hold waren, 
dur Gift aus dem Wege geräumt. Der Brutbfeldgug Peter’ d. &. vom Jahre 
1711 gab Halb Darauf den innern Berbältniffen der Fuͤrſtenthumer und ihrer Stellung zur 
europäifchen Politik plöglich eine neue Geſtalt. Peter d. Or. hatte vor dem Beginn feines 
Feldzugs mit der Moldau und Walachei Verbindungen angelnüpft, in jener Kantemir 
(j. d. Art.) die erbliche fürſtliche Würde zugefichert und aus der Walachei das Bere 
fprechen Brankovano's, ihn mit einem Zuzug von 30,000 Mann zu unterflügen, er⸗ 
alten. Obwohl der Feldzug für Beter unglüdlicy auslief, Kantemir mit bem beſtegten Zaren 
floh und Brankovano's Haupt In Konftantinopel fiel, fo erkannte die Pforte gleich» 
mob! in Außland den Hauptgegner, den fte fortan zu fürchten babe. Gegen Defler« 
reich vertraute fie auf die Schwierigkeiten von deſſen Operationslinie, welche ſich durch 
ihre freitbarften Voͤlkerſchaften und durch wilde und unmegfame Gebirgögegenden hin 
durchzog, — vertraute fie ferner auf die Schranke, welche Die griechifche Kirche dem 
Borbringen Defterreichd entgegenfeßte. Dagegen fah fie fih von Rußland nur durch 
Die Ebenen des linken Donauufers und durch geſchwächte, felanifch niebergehaltene Völ⸗ 
kerſchaften getrennt und zugleich durch die Tirchliche Gemeinſchaft Rußlands mit der 
Rafah des Südens und mit den Numänen der Donaufürftentbümer bedroht. Diefe 
Fürftenthümer mußte fle zunächft ficher flellen und vor Allem dem Einverſtaͤndniß ein- 
geborner Fürften mit dem Zarenreich ein Ende machen. Die Fürftenthümer zu Pa⸗ 
ſchaliks zu machen, fehlen ihr noch übereilt; fie fchlug daher den Mittelweg ein, den⸗ 


- felben ihre Privilegien zu nehmen und bie fürfllihe Würde der griechifchen Rajah 


Keonflantinopeld, den Fanarioten (f. d. Art.), zu übertragen. 

2) Die Zeit der Fanariotenherrſchaft. Die Griechen waren in den 
Donaufürftentbümern weber Bremdlinge, noch Neulinge, als fie Durch Die Uebertragung 
bes fürflichen Würde an die Fanarioten und durch die Erhebung der letzteren auf den 


49 — Shumänien, (Beichichte.) 


Hoſpodarenſtuhl mit der Megentfchaft über diefe Provinzen des türfifchen Reichs bes 
lehnt wurden. Sie bildeten ſchon längft, ebe dieſe Wendung eintrat, einen bedeutenden 
Beftandtheil der Bevölkerung der beiden Fürſtenthümer. Sie hatten fi, ale Fürſt 
Michael am Ende des 16. Jahrhunderts in der Walachei Die Zeibeigenfchaft und die 
Derfnüpfung der Perſon ded Bauern mit der Scholle geſetzlich organifirt Hatte und 
während die wiederholten Bauernaufflände im Laufe des 17. Jahrhunderts den Bojaren 
den Genuß ihres Sieges über die ländlichen Beflger verbitterten, zum Kern der rumä«- 
niihen Bürgerfchaft gemacht oder vielmehr den Mangel eines nationalen Bürgertbums 
erſetzt. Ohne dieſe ihre Feſtſetzung in den Fürſtenthümern würde ihre Erhebung zu 
berrfchaftlider Macht bei allem ihrem Einfluß auf die Diplomatie und Politik der 
hohen Pforte immer noch märdhenhaft und abenteuerlich erſcheinen. Griechiſche Ein 
wanderer hatten ſich durch Handel und Induſtrie, ald Haußdbediente der Bojaren und 
als Beamte der Verwaltung bereichert; Anfangs rivalifirten fle mit den Bojaren in 
Blanz und Reichthum; endlich gingen fie geradezu auf den Sturz der bevorrechteten 
Klafle aus. Ihre fchon lange vor dem Staatsſtreich der Pforte erlangte Macht erhellt 
aus der Verwendung eines großen Theild der rumänifchen Kirchengüter und frommen 
Stiftungen zum Beſten der Klöfter ded Berges Athos, Mumeliens, Ierufalemd und 
ded Sinai, — einer Berwendung, welche die Fürften Matthäus und Beſſaraba (feit 
1631) und Konftantin Beffaraba im Jahre 1654 als verfaffungswidrig abfchafften, 
die aber die Griechen trogdem immer wieder durchfepten. Der Kanıpf zwifchen den 
Eingeborenen und Ginbringlingen dauerte lange; er war hartnäckig und verzweifelt; 
feine Schwankungen laſſen fly an den verfchiedenen Phaſen ber Klofterfrage erkennen; 
Peter des Großen Feldzug brachte endlich die Entſcheidung. Die Bofaren erlagen 
und die Fanarioten beſtiegen 1715 in der Moldau und Walachei den fürftlichen 
Thron. So lange die Griechen mit den Bofaren noch kaͤmpften, hatten fie das Volk 
für fi zu gewinnen gefucht, indem fle die Forderung aufflellten, daß es von feinen 
Raften befreit werden müfle Im Befite der Gewalt änderten fle jedoch nur bie 
Methode der Bedrückung. Hatten Die Bojaren den Bauer im Namen bes Eigenthumd 
und des perfönlichen Vorrechts audgefogen, fo nahmen fie während ihrer hundert⸗ 
jährigen Herrſchaft den Reſt des Kleinen Beſihes im Namen ded Staatd und des 
Fidcus in Beſchlag. Wenn ein Fanariote aus Konftantinopel abreifte, um den Thron 
der Hofpodaren zu befleigen, fo bildete die Schaar feiner Freunde und Anhänger, die 
“alle glei ihm ſich nur bereichern wollten, eine Art von Armee, die feine Regierung 
als einen Feldzug gegen die Schäbe der Fürſtenthümer betrachtete. Um das Gleich“ 
gewicht zwifchen den Parteien zu behaupten und bie Inländer und Ausländer Durch ein- 
ander in Schranken zu halten, hatte die Pforte einige Aemter den Bofaren refervirt, alle 
anderen Stellen aber, vor Allem fämmtliche Winifterialpoften, waren das Privilegium der 
Banarloten, bie im Gefolge bed Hofpodaren famen und durch ihren Staatödienft Rang 
und Titel eines Bojaren erhielten... Alle diefe neuen Bojaren, deren Zahl noch dadurch 
vermehrt wurde, daß der Fanariote, der die Tochter eines einbeimifchen Bojaren hei⸗ 
zatbete, daburch den gleichen Hang erhielt, mußten nun mit dem orientalifchen Luxus 
der inländifchen Großen wetteifern, ihn wo möglich übertreffen, alfo and Geldmachen 
denken und um fo fchneller Selb zu machen fuchen, da die Stellung ihres Herrn und 
Befchügerd nur eine ephemere war, weil in demfelben Augenblid, wo ein neuernann- 
tee KHofpodar von Konfltantinopel abreifte, das Intriguenfpiel ber - zusüchleibenden 
Banarioten und der geflürzten Hofpodare gegen ihn begann. So fonnte nur das 
fiskaliſche Syflem ausgebildet werben. Jeder neue Hoſpodar fehaffte die Befege und 
Reglements feines Vorgängers ab, ald wären biefelben allein an deſſen Sturze Schul, 
fegte neue und wirfjamere an deren Stelle und hoffte fich durch den Ertrag, den fle 
für die Armee feiner Unterbeamten abwarfen, einen Eräftigeren Anhang zu verjchaffen. 
Da der Hofpodar das Recht Hatte, den Erzbiſchof und die Vorſteher der Klöfler ab⸗ 
zufegen und die Neugewählten ihm bei ihrem Amtsantritt ein Geſchenk machen muß⸗ 
ten, fo bezeichnete faft jeder neue Machthaber feinen Regierungsantritt mit einem 
förmlicden Kriegszug gegen die Kloftervorfleher und mit ˖der Einfehung eines - neuen 
Metropoliten. Daneben waren die Kofpobare z. B. auch noch, zumal nach dem Der 
luſt der Krim, der Kornkammer Konſtantinopels, bie Kornlieferansen ber Pforte und 


CDas ruſſiſche Protectorat und bie evolution von 1848.) 491 


trieben, wenn fle etwa 100,000 Laſten Getreide zu einem an ſich fchon niedrig ge» 
fegten Preife beforgen mußten, 500,000 Laften zu einem noch niedrigeren Preiſe auf, 
von denen fie, dann 400,000 zu eignem Vortheil verkauften, bei welchem Geſchaͤft die 
Lieferanten und Cintreiber in den Landbezirken auch noch ihren Profit zu machen 
wußten. Gin Hinderniß für die Gonfolidirung der Bürftentbümer war ferner außer 
dem Argwohn der Pforte und den Intriguen des Fanars die von Konflantin Mauro⸗ 
fordato, dem Sohn des erfien Hoſpodars der Walachei, Nicolaus, eingeführte Ben 
flimmung, wonad die Rumänen bei der Einführung eines neuen Hoſpodars einen 
bedeutenden Tribut an.die Pforte zahlen mußten. Um diefen einziehen zu Eönnen, be« 
günfligte der Divan den fchnellen Wechfel der Fürſten und Konflantin, einer der beſ⸗ 
feren und Eräftigeren Hofpodare, hat bie Kolgen feiner Beflimmung an feiner eigenen 
öfteren Abſetzung felbft erfahren müſſen. Eben diefer Konftantin, ber wirklich gute 
Abfichten Hatte, wollte. das frühere Verſprechen der Briechen erfüllen und verorbnete 
in der nach ihm benannten Reform die Reducirung ber Frohnden und fogar die Aufs 
bebung der Leibeigenfchaft. Seine viermalige Abfegung ließ ihn aber feine Pläne 
nicht durchführen; trotz feiner Reform fiel die Anzahl der fleuerbaren Familien ber 
Walachei in ben Jahren 1741 — 1746 von 147,000 auf 60,000 Herab; in einem 
Diſtricte traten .mit einem Male 15,000 die Auswanderung on. 1744 nad feiner 
erfien Abfegung wieder zur Herrfchaft gefommen, zwang er in Gemeinſchaft mit den 
Bauern die Bofaren, in der allgemeinen Verfammlung vom 5. Auguft 1746 die - 
Emancipation der Bauern zu befchließgen, (pie allgemeine Verfammlung der Moldau 
faßte am 6. April 1749 denſelben Befchluß); die dauernde Zolge dieſes Befchlufles 
beitand jedoch nur darin, daß der Butähere fi der perfdnlichen Sorge für den 
Bauer überboben glaubte und biefer den Staatdabgaben, von denen er früher großen 
tHeild erimirt war, unterworfen wurde. Die Auswanderungen begannen daher von 
Neuem, im Jahr gab e8 nur noch 35,000 fleuerbare Familien, und wenn die Bauern 
zufolge neuer Berfprechen der DBofaren, die ihre Felder wüſte fahen, zufolge neuer 
Verheißungen der. Hofpodare, die über die Derminderung der fleuerpflichtigen Maſſe 
erſchraken, zurüdlehrten, war der alte Drud bald wieder da. 

3) Das ruffifhe Protectorat und die Revolution von 1848, 
Inmitten diefer Zerrüttung, welche die Fanarioten zum großen Theil ſelbſt berbeiges 
führt hatten und deren fle nicht Herr werben konnten, firebten jle im Geheimen das . 
nad, die Pafchalitd Serbien, Morea und Cypern (letere durch ihren Dragoman ber 
Marine) ſich eben fo wie die Fürftenthümer zu eigen zu machen, und fie fchwelgten 
ſchon in dem ehrgeljigen Gedanken, daß ihnen der Beſitz biefer Brenzprovinzen bie 
wirkliche Souveränetät über die Pforte fichern werde. Indeſſen legte aber Rußland in 
einem Tractat nach dem andern die Fundamente zu feinem Protectorat über die Fürſten⸗ 
thümer, wie über die griechliche Bevölkerung des türkifchen Reichs überhaupt. Der 
Bertrag von Kutſchuk⸗Kainardſchi (1774) beflimmte, daß der ruſſiſche Geſandte berech⸗ 
tigt fein foll, zu Gunſten der Fürſtenthümer zu fprechen und daß die Pforte feine 
Vorftellungen berüdfichtigen wird. In Folge des Aufftandes des Paſcha von Wibdin, 
Pasman Oglu, und deſſen Einfalls in die Eleine Walachei erwirkte der rufflfche Ge⸗ 
fandte in Konftantinopel den Hattifcheriff von 1802, durch welchen der Hof von Ber 
tersburg das Recht erhielt, die Aufrechterhaltung der den Fürſtenthümern garantirten 
Privilegien zu überwachen. Der Bukareſter Friede endlich (1812) beflimmte, daß Die 
Hoſpodare mindeftend fleben Jahre im Amt fein follten. Als ruſſiſche Macht und 
suffifcher Einfluß in dieſer Weije immer näher rüdten (wozu noch der Berluf von 
Beffarabten an diefes Reich und der der Bukowina fam, worüber in den biefe 
beiden Länder beireffenden Artikeln gehandelt if), bildete fi in den Fürſtenthümern 
auf einmal eine Partei, die unter der Oberlehnäherrlichkeit der Pforte die Autonomie 
Rumäniens behaupten wollte — die türfifche Partei. In demfelben Augenblid, Da 
Dypfilanti (f. d. Art.) 1821 an der Spige jeiner griechiſchen Hetärifien aufſtand, 
erhob ſich Wladimiresco als Führer jener antiruſſiſchen Partei in der Walachei. Der 
griechiſche Hetärif ging auf den Sturz der Osmanen⸗Herrſchaft aus; der rumänifche 
Mevolutionär dagegen betheuerte felne und bes gefammten Landes Grgebenpet gegen 
die Pforte und mochte die von den. Sultanen ſelbſt anerkannten Rechte der Walachei, 


42 Nnmänien. (Geſchichte) 


Zurückgabe der alten Privilegien, Vertreibung der Fanarioten und Erleichterung der 
Laſten der Bauern zu ſeiner Parole. Bei dieſem Gegenſatz der Richtungen waren 
die Verſuche Dpfllanti’s, ſich mit Wladimiredco zu verfländigen, vergeblich; nach einer 
Bufammenfunft, zu der er ihn eingeladen. hatte, ließ er ihn verhaften und nach dem 
Ausspruch eines Kriegsgerichts erfchteßen; beide Parteien murben ſodann von der tür« 
kiſchen Armee, welche die Pforte über die Donau fchldte, einzeln niebergemworfen. 
Der türkifche Oberherr würde ſich einfach mit der Aufrichtung einer Milttärherrichaft 
geholfen und aus der Moldau und Walachei eine Art Paſchalik gemacht Haben, wenn 
nicht die Proteftationen Rußlands gegen die milttärifche Defegung der Fürftenthümer 
und gegen bie Berlegung ihrer Privilegien (Proteftationen, die feit 1821 mit der Kriegs⸗ 
drodung verbunden maren,) ihrer blutigen Reaction ein Ende gemacht Hätten. Unahlaͤſſtg 
bemüht, eine Einigung ber europäifchen Mächte zur Packflcation des Ortents berbels 
zuführen, behielt ſich Rußland die Frage in Betreff der Donaufürftenihümer als eine 
folde vor, die ausfchlieglih nur zwifchen ihm und der Pforte verhandelt werben 
koͤnne, und nach längern Negoeiationen mit dem Divan mußte diefer zu Akjerman 
(d. 7. October 1826) das Zugeftändnig machen, daß bie Hofpodare der Moldau und 
Walachei durch die Generalverfammlungen der einheimtfchen Divans aus den ein« 
geborenen Bojaren gewählt werden follen. Der Friede von Adrianopel (1829) be= 
flimmte endlich, daß die fürftliche Würbe Iebenslänglich fein folfe. Beim Ausbruch 
des Kriege (1828), nachdem die Fürſtenthümer von Rußland unter proviforifhe 
Verwaltung genommen waren, wurden fogleig Ausfchüffe zur Ausarbeitung einer Ver⸗ 
faflung, namentlich zur Regelung der bäuerlihen Berhältniffe niedergefegt; in den 
Jahren 1830 und 1831 kamen darauf dieſe Berfaffungsarbeiten unter der Leitung 
des Generals Kiffeleff zum Abſchluß, und ihr Mefultat, das „organifche Reglement“, 
wurde als Gefeg verfündigt, nachdem es von einer Berfammlung des hohen Adels, 
der Geiſtlichkeit und der DiftrietSpeputirten, die daß Eleine Eigenthum darſtellten, ge⸗ 
billigt war. In feinen agrartfchen Beftimmungen ftellt die Neglement den in der 
Zerrüttung der letzten Jahrhunderte in Nichtachtung gefallenen Grundfag wieder ber, 
wonad zwei Drittel des Guts der bäuerlichen Bevölkerung gehören und der Groß⸗ 
beflger über dieſelben nicht zu feinen Gunſten verfügen kann. Es verbietet daher dem 
Befiger, die Bauern in Waffe vom Gute zu vertreiben; nur als individuelle Strafe 
fann er die Vertreibung verhängen, aber allein in den vom Gefeß vorhergefehenen 
Fällen und nur mit Vorwiſſen der Regierung. Der Bauer iſt ferner durch das Geſetz 
freier Herr feiner Meliorationen; er vererbt fle auf feine Kinder und kann ſie felbft 
veräußern, und wenn er vom Beflger gezwungen wird, das Gut zu verlafien, fo bat 
er das Recht, für fein Haus, das von ihm eingehegte Stück Land, feinen Garten unb 
feine Sruchtbäume eine Entfhädigung zu verlangen. Der außerordentliche Aufſchwung 
des Aderbaues, welcher der Einführung des Neglements folgte, legt für daflelbe ein 
thatſaͤchliches Zeugniß ab; gerade der wachfende Wohlſtand des Landes machte aber 
auch bie Leute für einzelne Beſchraͤnkungen, mit welchen das Meglement die neuen 
Gewährungen noch umgeben hatte, um fo empfinblicher. So iſt 5.8. die vom Geſetz 
geftattete Breizligigkeit der ‘Bauern mit fo viel Koften und Weitläufigkeiten verknüpft, 
daß Ihre Geſtattung fat einem Verbote gleihfommt. Die Tagewerke, welche bie 
Bauern für die Benugung ihres Ackers dem Gutöheren zu leiften haben, find fo über 
füllt, daß ihre fcheinbar geringe Anzahl in der That faft verbreifältigt if. Endlich 
empfand man es als eine brüdende Befchränfung, daß der Bauer nicht mehr als vier 
Ochſen und eine Kuh Halten foll. An diefe Unzufriedenheit der laͤndlichen Bevdlke- 
rung Tnüpfte nun die revolutionäre Bartei des Jahres 1848 an, indem fle das Megles 
ment als ein bloßes Mittel zur Bereicherung der VBofaren dem Untergang weibte. 
Urfprünglich war diefe Partei, die 1848 die foctafiftifchen Theorieen des Abendlandes 
in den Fürftentbümern zur Ausführung dringen wollte, rein national und in jener 
Zeit entftanden, die dem Aufftand des Wladimiresco unmittelbar vorherging. Georg 
2azar, Gründer der Schule von St. Sawa, der zuaft die Wiffenichaften, bie 
Mathematit und Philoſophie In der Nationalfprache Iehrte und feinen Schülern bie 
einheimifche @efchichte wieder in Erinnerung brachte, während zur Fanariotenzeit nur 
vie altgriechiſche Sprache gelehrt wurde und die Geſchichte des Landes in Vergeſſen⸗ 


(Das ruſſiſche Protestorat und die Revolution von 1848.) 493 


heit geratben war, kann als ihr Stifter bezeichnet werben. Als er 1922 flarb, fehte 
fein Schüler Johann Heliades Radulesco, um das Jahr 1801 zu Turgoviſta 
geboren und einer armen Familie entfproffen, ſechs Jahre hindurch fein Werk zu St. 
Sama fort. Die Rückkehr des Bojaren Konflantin Golesen (f. d. Art.), der beim 
Aufftand des Wladimiredco in’ Ausland geflohen, war und nun (feit 1826) der 
nattonalen Bewegung feine zeichen Mittel zur Verfügung flellte, bezeichnet den Zeit 
punft, mo die nationale Sache aus dem engen Kreife einer Privatſchule in die Def 
fentlichkeit übertvat. Heliades (fo hieß Radulesco beim Wolfe und naunte er ſich 
ſelbſt in feinen fpätern Schriften) gründete mit Boledco mehrere Höhere Schulen zur 
Hebung der Nationalfprache, wirkte durch Meberfegungen (3. B. einiger Meditations 
Lamartine's und des Mahomet Boltaire'8), felbf durch ein nationales Theater auf 
dad Volk und gründete beim Eintritt der Auffen in die Walachei den „sumanifchen 
Courier“, die erfie Zeitfchrift, die in den Fürftenthümern erfchien and in welcher er, 
der allgemeinen Stimmung des Volkes und der Bojaren folgend, die Siege ber 
Ruſſen über die Türken feierte. Der Friede von Adrianopel gab ihm außerdem Anlaß 
zu feiner an den Kaiſer Nicolaus gerichteten Ode. Gleichwohl Hatte feine nationalstumänifche 
Tendenz fon während des Krieges eine gewifle Meferve zwiſchen ihm und den rufe 
flihen Gouverneurs herbeigeführt. Zwar Immer noch begünftigt vom General Kiffeleff 
und von den Kofpodaren Alexander Ghika (von 1834 bis 1842) und Georg Vibedco 
(feit 1843), von Lepterem zum Mitglied der Oberbehörde für den öffentlichen Unter 
sicht, zum Generalinſpector der Schulen und Vorſteher der Archive ernannt, befefligte 
es fich in feiner Anſicht, daß der Bruch mit der ruſſiſchen Partei zur glüdlichen 
Durchführung der Nationalfahe nothwendig fei. Zeugen feiner patriotifihen Geſin⸗ 
nung waren. feine Stanzen über die „Nuinen von Zurgovifta“, fein heroiſches Drama 
„Mircea“ (1844) und die beiden erflen Gefänge feines großen Nationalepos „Rilaida” 
(1846). Die Aufregung, die ſich nach der Barifer Februarrevolution 1848 in den 
Fürſtenthümern verbreitete, fehlen ihm der Durchführung feiner Parole: „Autonomie 
des Landes, Aufsechterhaltung der Traetate, Oberlehnäherrlichleit der Pforte” günftig 
zu fein. Am 21. Juni brach unter feiner Führung im Dorfe Iölaz der Aufſtand 
aud. Der ganze revolutionäre Act befland in einem Gottesdienſte unter freiem Simmel, 
nach, defien Abhaltung Heliades den hHerbeigeftzömten Bauern bie mit focialiftifchen 
Floskeln angefüllte Proclamation, welche ein Nevolutionscomits aufgefeht hatte, vorlas. 
In diefer Proclamation befchließt das rumänifche Volk unter Anderm: „die Nicht⸗ 
Intervention der fremden Mächte in Die Angelegenheiten "des Landes, Gleichheit ber 
bürgerlichen und politiſchen Rechte, allgemeine Steuerpflichtigkeit, eine conſtituirende 
National-Berfommlung, Abichaffung der Frohnden gegen Entſchädigung der Grund⸗ 
befiner, Breiheit der Preſſe, Emancipation der Juden, Gleichheit der politifchen Rechte für 
die Bürger aller Religionen, Abfchaffung der Todesſtrafe u.f.w.” Aus dem Revolutions⸗ 
comit& wurbe auf der Stelle eine proviforifche Negierung gebildet und die Berfammlung, 
unterweg8 durch die herbeiftrömenden Bauern zu einer Armee anwachfend, zog im 
Triumph nach Bukareſt, wo ber Aufftand am 23. ausgebrochen war und der Hoſpo⸗ 
dar die Flucht ergriffen hatte. Die previforifche Regierung eilte dem bewaffneten 
Haufen, der fle begleitete, voran und wurde am 28. in Bufarefi mit Enthuflasmus 
empfangen; zwei Tage nach ihrem Cinzuge bildete ſich aber ſchon ein „Klub ber 


Eigenthämer* und Heliades mußte zu feiner Verwunderung an manden Perfonen . 


Spuren von Kälte entdecken. Gleichwohl folgte.er der Cinladung Odobesco's, des 
Hauptes der flehenden Armee, der ihm feine Offiziere vorftellen wollte; Anfangs ent- 
zudt über den fchmeichelhaften und verbindlichen Empfang, mußte er ſich jedoch wieder 
verwundern, als aus den Beglückwünſchungen fi allmählich eine Discuſſion heraus⸗ 
ſpann und die Offiziere fogar einen „impertinenten* Zon annahmen. Endlich hörte 
man den Ruf: „Die Eigentbümer kommen!“ worauf auch Odobesco feine verbind⸗ 
liche Haltung ablegte und ſehr ernft auf Heliades losgehend und ihn beim Arm er» 
greifend, demfelben zurief: „Im Namen der Eigenthümer, ich nehme Ste gefangen, mein 
Her!" Die Häupter der proviforifchen Negierung wurden auf ber Stelle arretirt. 
Ein neuer Aufftand des Volks gab ihnen zwar alsbald die Freiheit wieder; an bie 
Stelle der geflürzten Bofaren und Odobesco's traten aber deren geheime Freunde 


494 Numänien. (Geſchichte.) 


Mofetti und Bratiano, die unter dem Schein einer extremen Hichtung der Meaction 
der Gigenthümer dienten und, da die Megierung, um Eclat zu vermeiden, fie nicht zu 
entferntn wagte, in wenig Tagen alle Berhältniffe in ein fo wildes Chaos Bineintries 
ben, daß die Mevolutionäre der Regierung den Kopf verloren und fi nach Turgo⸗ 
vife zurüdzogen. Bon den Einwohnern diefer Stadt zurüdgewiefen, flohen fle in's 
Gebirge, wo fe, Heliades unter ihnen, gefangen genommen wurden. in neuer Auf⸗ 
fand in Bukareſt gab ihnen wiederum Die Freiheit. Diefer Wechfel des Glückes, den 
Heliades kaum ertragen fonnte, machte ihn trunten vor Wonne; er fubelt auf und dann 
wieder, wenn er Die Menfchen, die ihn fo eben noch bewadhten und ſich aus feiner 
Berbaftung eine Ehre machten, zu feinen Füßen fleht und ihre Ausrufe hört: „Es 
lebe die Conſtitution, die proviforifche Regierung, die Freiheit, Heliades! * weiß er 
fi vor Indignation Über die Heuchelei und Schmeichelet nicht zu faffen. Als Ihm 
die Einwohner von Turgovifta auf feiner Rückreiſe einen glänzenden Empfang berei⸗ 
teten und ihre Anbänglidzkeit an die Gonftitution auf eine excentriiche Weife zu er. 
kennen gaben, ergriff ihn ein fo heftiger Ekel, daß er fich in's Gefängniß zurüd« 
wünfchte, und gleichwohl beſchwor er die Leute, die er verachtete, „fich ihrer Väter 
würdig zu esweifen”, und mollte er den Haß der Klaffen, der mitten im offleiellen 
Jubel zu erkennen war, mit feinen Aufforderungen zur „Einheit, die die Stärke ber 
alten Einwohner von Turgovifta war”, beſchwichtigen. Aehnlich waren die andern 
Mitglieder der proviforifchen Regierung. Als Tell, eines berfelben, nach feiner Rück⸗ 
kehr nach Bukareſt vom Metropoliten, der je nad dem Stand der Angelegenheiten 
die Gonflitution bald befchwor, bald als das Wert von Mebellen verdammte, 
die freundfchaftlihe Aufforderung erhielt, mit ſeinen Gollegen abzudanfen und fi 
in die Provinz zurädzuzicehen, fiel er über Roſetti ber, um ihn zu ermwürgen, 
indem er ihn für ven geheimen Anflifter dieſer Intrigue hielt. Er wollte 
auch wirklich abdanken und erflärte feinen Collegen, „er füble fi innerlich 
zu ſehr bemoraliftrt, um das Werk fortzufegen und demſelben nützlich fein zu 
können,“ — den Augenblid darauf war er aber auch wieder durch dad Zureden der 
Seinigen geflärkt und berfprah er: „um den Schein zu retten und um nicht im Volke 
den Glauben zu erweden, daß zwifchen den Männern der Bewegung Zerwärfniffe herr⸗ 
ſchen, wolle er bleiben, ſchweigen und bis zu Ende leiden.” Um dad Volk, welches 
fh durch die Liebe und Brüderlichkeit predigenden Proclamationen Heltade®' allein 
nicht befriedigt fühlte und unruhig murbe, zu befänftigen, wurde im Augufl eine agra= 
riſche Commiſſion niedergefeht, die das Material fr die Eünftige National« VBerfamm- 
lung vorbereiten follte. Der Zwieſpalt der Bojaren und Bauern, die in dieſer Com⸗ 
miffton faßen, über die Entfchädigung der Gutsherren für Die Emancipation der Dienft- 
baren und über die Ausflattung der letzteren mit Aderboden brachte aber eine foldhe 
Gonfuflon bervor, daß ſich die Regierung nur dur fchleunige Auflöfung der Com⸗ 
miffton retten fonnte. Unhaltbar war auch die ganze politifhe Stellung, die Heliades 
von den Seinigen behauptet wiffen wollte. Schon im Frübfahre, nach den erflen re⸗ 
volutionären Bewegungen in Jaſſy, batten ruſſiſche Truppen die Moldau befekt; am 
rechten Ufer der Donau flanden die türfifhen. So von zwei Seiten her militärifch 
eingefchlofien, wollte Heliades nur Ruhe, Erhaltung der Ordnung, Vermeldung jedes 
Eclats und die firengfle Einhaltung des gefeglichen Weges, um Rußland feinen Anlaß 
zum Ginfchreiten zu geben, wobei er jedoch überſah, daß er damit fich fel6ft und Die 
Revolution überflüfftg machte, wie fein Stichwort: „Aufrechterhaltung der Tractate“ 
Aufland feines tractatenmäßigen Mechtes, auch ein Wort darein zu ſprechen, nicht ver- 
Iuflig machen konnte und die Oberlehnsherrlichkeit der Pforte, unter der er bie Auto⸗ 
nomie des Landes fichern wollte, den Sultan gerade zur Intervention autorifirte. 
Noch in dem Augenblide, als Suleiman Paſcha ale Gommiflär der Pforte in Bus 
kareſt eintraf und Omer Baia am 31. Zult mit 20,000 Bann die Donau über- 
ſchritt, endigten Heliades' Proclamationen mit der Bitte: „Nur Ruhe, Ruhe und 
Befligkeit in der Ruhe! — Suleiman Paſcha's Gommiffariat dauerte nicht lange. 
Er beruhigte ſich dabei, Daß die proviforifche Megierung einer fürklichen Statthalter 
ſchaft Plag machen wollte, auch dabei, daß das Volk in letztere Tell, Heliades und 
einen Goleſco wählte. Er wurde bald darauf burg Fuad Paſcha abgelöft, mit wel« 


- 


(Oefterreig in den Fürflentkämern.) 495 


chem ald Mitcommiffär der ruſſiſche General Duhamel eintraf. Bald nach Ihrer An« 
Funft brachte der Vorfall vom 18. September die Entſcheidung. Gin Volkshaufe, 
angeseizt und angeführt von Bratiano, ben kurz zuvor ‚Heltades zum Juſtizminiſter 
batte machen müflen, forberie von ber Regierung die Auslieferung des organifchen 
Reglements und der Archentologie (des goldenen Buches, in welchem die Namen ber 
Bojaren verzeichnet find), fehte fi mit Gewalt in den Beflg beider Documente, ver⸗ 
brannte fie und zwang den Metropoliten, der feierlichen Befattung derfelben beizu- 
wohnen und in einer Encyklifa über biefenigen, die bad Meglement wieder berzuftellen 
verfuchen follten, den Bann audzufprechen. Als Mofetti in der näcftlen Nummer 
feines Journals dem Ereigniß einen offleiellen Charakter beilegte, fah die Statthalter- 
ſchaft, daß ihre Tage gezählt fein. Am 25. September befehten die Truppen Omer 
Paſcha's Bukareſt, und der blutige Kampf, ber zwifchen ihnen und einem Theil der 
einbeimifchen Armee In einer Kaferne flattfand, gab den Muflen Anlaß, auch heranzu⸗ 
rüden. Als fie am 21. Detober ihr Lager bei Bukareſt bezogen, waren bie Mevohı- 
tionäre auf der Flucht oder im Gefaͤngniß, Heliades bereitd im Auſslande. — Bür 
Nußland Hatte diefe Mevolution den am 1. Mai 1849 mit der Pforte abgefchloffenen 
Bertrag von Balta Liman zur Folge. Nach demfelben follten die Mängel des orga⸗ 
nifchen Reglements von zwei Reviſionskammern zu Bukareſt und Jaſſy unterfucht und 
befeitigt und die Arbeiten biefer Commiſſionen von dem Miniflerium zu Konflantinopel 
im Ginvernehmen mit dem Gabinet von Peteröburg geprüft werben. Berner wurbe 
durch dieſen Vertrag das Recht der Pforte und Rußlands, die Fürſtenthümer militä« 
riſch zu beſetzen, geregelt und beiden Mächten die Befugniß vorbehalten, die Occu⸗ 
pation, wenn „wichtige Ereignifie” ſie verlangten, zu wiederholen. Am 16. Juni 1849 
ward Dimitri Barbo Stirbey zum Hofpodar der Walachei, an demfelben Tage Gregor 
Ghika zum Hoſpodar der Moldau ernannt. In der erflen Hälfte des Jahres 1851 
räumten die Ruſſen die Fürftenthümer; che jedoch die ſieben Jahre, für welche der 
Vertrag von Balta Liman gültig fein follte, verfloffen waren, rüdten fie am 2. Juli 
1853 wieder ein, worauf die Berwaltung beider Fürſtenthümer einem ruffifchen Be⸗ 
vollmächt;gten umier dem Oberbefehl des commandirenden Generals Gortſchakow über- 
tragen und auch bie rumänifche Miliz dem ruſſiſchen Heere einverleibt wurbe. Die 
MWechfelfälle des darauf folgenden orientalifcyen Krieges führten fodann im Auguſt 
1854 den Rückzug der Rufen aus den Fürftenthümern und in Folge eined Tractats 
mit der Pforte den inmarfch der äfterreichifchen Truppen herbei. 

4) Deſterreich in den Fürſtenthümern. Als die Parifer Gonferenz (ſtehe 
unten) im Sommer 1858 fi mit der Zukunft der Fürftentbümer befchäftigte, wurde 
von Paris aus ein leidenfchaftlicher Broſchürenkrieg gegen Defterreich organiflrt. Die 
Flugſchrift: „Kaifer Napoleon 11. und die rumänifchen Fürſtenthümer“ erhob gegen 
diefe Macht den Vorwurf, daß fie, nachdem der letzte Krieg allein deshalb geführt 
fei, um die Türkei einem einfeitigen zufflichen Brotectorat zu entziehen, mit gefchmeis 
Diger Diplomatif das Ihrige an deſſen Stelle gefegt babe. in veichered Detail als 
diefe allgemein gehaltene Anklage gab die Brojchüre: „Defterreih in den Donau- 
fürftentbümern“. Diefelbe ging yon den publieiſtiſchen Seitungsartifeln aus, die 
Dr. Stein zu Wien im Jahre 1856 Fury nach der Unterzeichnung des Parifer Briebens 
veröffentlicht hatte, um zu beweifen, daß der vorwiegende Einfluß Oeſterreichs in den 
Donaufürſtenthümern für diefe Großmacht eine Lebensbedingung fei, ber Verſuch einer 
offenen Groberung ein Fehler fein würde und Defterreih fein Biel ficherer durch 
andere Mittel erreichen koͤnne, nämlich dur; das Monopol der Donauſchifffahrt, durch 
die Pahtung der verichledenen Einkünfte, die Anlegung öfterreichifcher Gapitalien in 
allen productiven Unternehmungen der Fürftenthümer, durch die Gründung von Poſten⸗ 
und Telegrapbenlinien, bie fortfchreitende Golonifation des Landes und endlich Durch Die 
möglichfie Erweiterung der Conſular⸗Gerichtsbarkeit. Alles dies, behauptet, und zwar 
nicht ohne Grund, die genannte Brofchüre, bat Deflerreih im Großen bewerfftelligt. 
Was die Donaufchifffahrt betrifft, jo Hat es fich die Taiferliche Regierung große Opfer 
koſten laſſen, um der öſterreichiſchen Donauſchifffahrts⸗Geſellſchaft ihr Monopol zu 
ſichern, und die Garantie einer Verzinſung der angelegten Capitalien mit 8 Procent 
hat keinen anderen Zweck, als jede Concurrenz unmöglich zu machen. Ihrerfeits iſt 





4% Rumänien, (Geſchichte.) 


bie Geſellſchaft auch nicht unthätig geweien und fie Bat fich in allen Häfen ber Fürſten⸗ 
thümer anfehnliche Liegenſchaften übertragen laſſen. So Hat fie von dem Kaimakam 
Fürſten Vogorides (f. u.) zu Galag einen Quai zum Geſchenk erhalten, deſſen 
Werth man auf mehrere Millionen fchägt. In aͤhnlicher Weife if fle zu Giurgewo, 
Dlteniga und anderwärts angefeflen. Die Poſtbureaux und das Poſtfuhrweſen find 
fat ausfchlieglich in öfterreichifchen Händen. Die bedeutendſte Hülfsmacht für dieſes 
allmaͤhliche Vorbringen ift aber die Konfular-Berichtöbarkeit, der Defterreich feit einigen 
Jahren einen immer größeren Umfang gegeben bat. In den Fürſtenthümern war 
dieſe Gerichtsbarkeit erft gegen dad Ende des vorigen Jahrhunderts eingeführt, aber 
ed hatte immer der Vorbehalt gegolten, daß, fobald die eine Partei ein Inlänber 
war, die Sache vor die Randesgerichte gehörte, — ein Vorbehalt, der auch im orga⸗ 
nifhen Reglement feine Beitätigung gefunden hatte. Ebenſo Hatte die Beſtimmung 
gegolten, daß alle Boneurfe, fobald Inlaͤnder bei ihnen betheiligt waren, vor bie 
Zandeögerichte gehörten und die Gonjulate nur fo welt eingriffen, ale die Ausländer 
durch die Bermittelung derſelben ihre Erklärungen beim Gericht anbradhten. Seit der 
Befegung der Fürſtenthümer in Jahre 1855 Hat dagegen das öſterreichiſche Conſulat 
die Eoncurfe unter fein Reſſort gezogen und ſelbſt den Titel des Concursgerichts ſich beis 
gelegt. Wenn ein Defterreicher bei einem Falliſſement betheiligt iſt, müflen die Einheimi⸗ 
ſchen fh fügen und ihre Angelegenheiten vom öſterreichiſchen Gonfulat reguliren Laffen. 
Biöher war die Entfcheldung über ein Berbrechen, das ein Ausländer gegen einen 
Einheimifchen begangen, den Landeögerichten vorbehalten; nur bie Anwendung der 
außgeiprochenen Strafe war den fremden Behörden zugewiefen. Auch Hierin fol das 
dſterreichiſche Conſulat die Anorbnung getroffen haben, daß alle Sachen, in denen ein 
Defterreicher betheiligt ift, feiner Entfcheidung unterliegen oder in Defterreich felbfl an» 
gebracht werden follen. Im: Jahre 1848 Hatte Defterreich in den Fürftentbümern un» 
gefähr zwölt bis fünfzehn Taufend Schüglinge unter fi, die unter dem Titel der 
Abſtammung von einem Öfterreichifchen Untertbanen, z. B. von einer fiebenbürgifchen 
Familie, Yon der Grund» und Gewerbefteuer frei waren. Die Bortheile, welche die⸗ 
ſes Protectorat den Schäglingen gewährte, und ber Machtzumachs, den es Deflerreich 
gab, Beides foll dieſer eigenthümlichen Inftitutton zu einer Erweiterung verholfen 
haben, daß im Jahre 1858 ungefähr 120,000 Schüßlinge des öfterreihifhen Conſu⸗ 
late Steuerfreiheit genofien. Endlich Hat dieſe Schugherrfchaft ſich auch eine eigene 
Armee geichaffen. Früher hatte die einheimifche Autorität den Conſuln einige Garde⸗ 
Leute zu ihrem Dienſt zugewiefen. Seit der Befegung der FürflenthHümer aber nah⸗ 
men die Öfterreichifchen Eonfulate zu Bulareft und zu Jaſſy oͤſterreichiſche Gorporale 
zu ihrer Wache, die dflerreidyifche Lniform trugen, eine volffländige Polizei ausübten, 
ſich in den Polizeibureaur gleichfam permanent erklärten und unter dem Borgeben, 
über die Interefien ihrer Landsleute zu wachen, in die Angelegenheiten der rumänifchen 
Polizet und Gerichte intervenirten. In Wien thaten die Öffentlichen Blätter über diefe 
Mittheilungen der Pariſer Preffe ſehr ungebalten; fle vergaßen aber in ihrem Un⸗ 
willen, daß fle fo eben no, wie Dr. Stein's Artikel bewiefen, Oeſterreich eine fehr 
bedeutende Miſſton im Often, namentlich an der unteren Donau, zugeichrieben batten. 
Die kaiſerliche Regierung felbft war befangen genug, die Eroberungen, bie ſie bis 
zum Rückmarſch ihrer Truppen nach dem Barifer Frieden gemacht, nicht offen ein⸗ 
zugeftehen, und ihrer Sache nicht fiher genug, um dieſe Eroberungen gegen die Con⸗ 
currenz oder Mißgunft der anderen Mächte weiter zu verfolgen und zu confolibisen. 
Aber immer war es doch eine Frage, 0b Die neue Organifation der Fürſtenthümer, 
mit welcher ſich die Mächte feit dem Parifer Frieden vom 31. März befchäftigten, ben 
Öfterreichifchen Einfluß zurkddrängen würde, wozu noch die ſchwierige Frage kam, ob 
der europäiſche Areopag eine Berfaffung für die Fürftenthümer erfinnen Eönne, welche 
den Jahrhunderte langen agrarifchen Klaffentampf und den Zwiefpalt ber Nationali- 
täten gründlich zu Idfen im Stande fet. 

5) Die Union der Fürſtenthümer. Der Barifer Gongreß vom Jahre 
1856 ließ fi auf die Loͤſung dieſer Frage nicht ein. Er begnügte ſich mit ber 
augenblidlichen thatfächlichen Aufpebung des ruſſiſchen Protectorats, überließ die Deu⸗ 
tung der Garantie, welche die paciscirenden Mächte für die „Privilegien und Immu⸗ 


(Die Union der Fuͤrſtenthuͤmer.) | 437 


nitäten” der Fürſtenthümer gegenüber der Oberlehnäherrlichkeit ner Pforte übernahmen, 
ber Zukunft und ſchob die definitive Regelung der Berfaffungsverhältniffe einem noch 
zu erzielenden Einverſtaͤndniß zwiſchen der durch Divand ad hoc vertretenen Bevöl- 
kerung der Fürſtenthümer, der hohen Pforte, einer fogenannten europälfchen, zu Bu⸗ 
kareſt niederzufegenden Commiſſion der Vertragsmächte und dieſen lehteren zu. Die 
fon vom vrganifchen Reglement als eine Eventualität ind Auge gefaßte Union der 
Fürfientyümer wurde in der Sigung des Congreſſes vom 8. März 1856 vom Grafen 
Walewski im Namen Frankreichs zur Sprache gebracht und von bdemfelben zugleich 
als den Interefien und Bedürfniffen der Fürſtenthümer entfprechend befürwortet. Die 
Bevollmächtigten Englands und Rußlands erklärten ſich für biefelbe Anſicht; auch Graf 
Cavour legte dafür fein Wort ein;.die Vertreter Oeſterreichs und der Türkei beftritten 
Dagegen dieſe Anſicht, und der Friedenoſchluß vom 31. Mär; 1856 übergab Die Ent« 
ſcheidung dieſer Frage gleichfalle jenem bei den rumänifchen Divans ad hoc begin« 
nenden Inflanzenzuge. Bis zur Entfcheidung aller diefer Fragen wurden den Fürften- 
thümern Kaimakams vorgefeßt, der Walachei Fürſt Alerander Ghika (f. d. Art.), der 
Moldau der unionsfelndliche Theodor Valſch und nad deſſen im Bebruar 1857 er 
folgtem, mannichfachen Verdacht ermedendem Tode Nikolaus Konaky Bogorides 
(j. d. Art.) Das europälfche Berede des Jahres 1857 drehte ſich um den vermeint- 
lich leidenſchaftlichen Gegenſatz der Großmaͤchte; man zerbrach ſich den Kopf dar⸗ 
über, wie Rußlaännd die aus der Vereinigung der Fürſtenthümer entſtehende Macht 
gegen die Türkei benugen, zu welchen ferneren revolutionären Operationen Louis Na⸗ 
poleon Die von den conflituirenden Divans ad hoc ausgehende Aufregung und Zer⸗ 
süttung auöbenten, wie England die von einem einigen Mumänien zu erwartende grö⸗ 
Bere Kraft eventualiter zu einer Barre gegen Mußlands künftige Fortſchritte organifiren 
und Deflerreih im Bunde mit der Pforte die Gefahr einer neuen untern Donaumadht 
fih vom Leibe Halten würde. Wan überfah, daß die erfleren Mächte in’d Unbeſtimmte 
einer ihnen felbft noch fehr unklaren Eventualität nachjagten und Oeſterreich mit ber 
Pforte einem Ding, von dem fie auch noch Feine Eare Vorſtellung Hatten, nicht 
zu Leibe geben konnte. Preußen befolgte in der europälfchen Commiſſton zu 
Bukareſt die Politik der freien Hand, Doch glaubte man, daB es den Mächten, 
welche die Union haben wollten, nicht entgegen fel. Die allgemeine Vorausſetzung, 
daß die Mächte fih in einem heftigen biplomatifchen Kampf befänden, erhielt eine 
fcheinbare Beflätigung, ald der aus anticunioniflifchen Wahlen Hervorgegangene Divan 
ad hoc der Moldau trog der Protefle Frankreich und Englands ſich als zu Recht 
beſtehend behauptete und die Vertreter diefer beiden Mächte ihre Verbindung mit ber 
Pforte abbrachen und Konftantinopel verließen. Kür um fo gefährbeter bielt-man 
da8 europälfche Concert, als Louis Napoleon es für nöthig erachtete, der Königin 
von Großbritannien zu Osborne einen Beſuch abzuflatten und die Abneigung bes 
engliſchen Cabinets gegen eine allzu große Aufregung der Fürſtenthümer zu beſchwich⸗ 
tigen. Der Beſuch zu Osborne befeitigte indeffen das erwartete Ungemwitter, die Sache 
der Union flegte, die moldauifchen Wahlen wurden annullirt, die Geſandten Frank⸗ 
reichs und Rußlands zogen in Konftantinopel ihre Wappen wieder auf und der Divan 
der Waladei, fo wie ber neu gewählte moldauiſche erklärten fich in gleich lautenden 
Formeln für Erhaltung der Rechte und der Autonomie der Fürſtenthümer nach Inhalt 
ihrer mit der hohen Pforte 1393, 1460, 1511 und 1634 abgeſchloſſenen Gapitula« 
tionen, Bereinigung der Fürflenthümer zu einem Staat unter dem Namen R., Stel- 
lung dieſes Staats unter einen, aus den regierenden Dynaflieen Europa’s gewählten 
Bürften, defien Nachfolger in der Randesreligion erzogen werben foll, Neutralität des 
Gebietd der Fürſtenthümer, Liebertragung der gefeßgebenden Gewalt an eine General- 
Berfammlung, in weicher alle Intereffen der Nation vertreten fein werben, und gemein⸗ 
fame Garantirung diefer Nechte durch die Mächte, die den Pariſer Vertrag unter« 
zeichnet haben. Die Behandlung der Fragen, die fi auf die innere Politik beziehen, 
wollte der walachiſche Divan erſt nach der Entſcheidung der Uniondfrage vorgenom⸗ 
men wiflen, der moldauifche ftellte dagegen ein Programm auf, welches unter Anderm 
die Uebergabe der Berwaltung der Kirchengüter an weltliche Hände, Abſchaffung ber 
Frohnden und Anerkennung des Anfpruchs der Bauern auf einen Theil des Bodens 


Wagener, Staate⸗ u. Gefellfä.-Lex. XVIL ‚32 


498 Aumänien. (Befchichte.) 


i 
der Grundherren verlangte. Nach Beendigung ihrer Arbeiten wurden die Divans von 
der Pforte aufgelöfll und die europäiiche Commiſſton zu Bukareſt hatte nun ihren 
Bericht, der an die Eonferenz der Mächte zu Paris einzufchidlen war, audzuarbeiten. 
Biel Hat in diefem Bericht nicht geflanden, denn nachdem ihn Graf Walewski der am 
22. Mai 1858 aufammengetretenen Gonferenz vorgelegt_und zur Berlefung hatte brin⸗ 
gen laflen, wußte er für bie von ihm beantragte Union der Fürflenthümer welter 
nichts vorzubringen, als die Motive, die er im Namen feiner Regierung fchon auf 
dem Barifer Congreß geltend gemacht hatte. Aus dem Bericht vermochte er zu feinen 
Gunſten weiter nichts anzuführen, als die in demfelben verzeichneten Wünfche und 
Berbandlungen der Divans von Bukareſt und Jaſſy, — Dinge alfo, die er aus jeder 
Zeitung hatte erfahren können. Berief er fich endlich auf die Stubien, welche bie 
‚feanzöflfchen Extra Agenten an Ort und Stelle gemacht hätten und die alle für die 
Union der Fürftentbümer unter einem fremden Fürſten fprächen, fo verabfchiebete er 
felbt den Gommilflond - Bericht, deſſen Bedeutung und Wichtigkeit die officiellen 
Blätter nicht genug hatten rühmen Tönnen. In der That war in den fol- 
genden Verhandlungen von ihm nicht mehr die Rede. In der erſten Con⸗ 
ferenz « Sigung ſprachen Frankreich und Rußland einerſeits und Defterreih mit 
der Pforte auf der andern Seite einfach ihren Gegenfag, England ſprach dad Wort 
„Bermittlung” aus, Preußen fchloß fi ihm an, Graf Walewski würdigte endlich den 
Bei und die Stimmung der Mächte richtig, indem er die Brocedur der Abſtimmung 
und die Entfcheidung durch Maforitäten für unanwendbar erklärte und bie Hoffnung 
ausſprach, daß die Gonferenz durch gegenfeitige Zugeflänpnifle ein befriedigendes Ein⸗ 
verffändniß herbeiführen werde. Die Gonferenz flimmte ihm bei, worauf fle es in 
der Sigung vom 26. Mai verfuchen wollte, ſich über die „allgemeinen Brundlagen “ 
der Eünftigen Organifation der Fürftenthümer auszufprechen, mit dieſem Verſuch aber 
nicht weit kam und erſt am 5. Juni wieder zufammentrat, in welher Sitzung Graf 
Walewski einen Berfaflungsentwurf vorlegte, über den die Gonferenz nicht weit hin⸗ 
ausgefommen if. Ein wirklicher Kampf fand in den folgenden Sigungen nicht flatt, 
fondern nur ein Aneinanderftemmen der Vorbehalte, welche England vergeblich auf« 
zuftellen fuchte und, bald wieder fallen ließ — Vorbehalte, in beren Durchfegung 
die Pforte und Oeſterreich ſich nicht einmal unterflühten. Weber leitende Grundfäge, 
noch das Detail der Lebensfragen kamen zur Verhandlung, gefchweige denn zur Er⸗ 
ledigung. Keine der Mächte, die den Walewski'ſchen Entwurf zu befireiten fuchten 
oder die Bermittelung im Munde führten, erhob fi zu dem winzigen Heroismus, 
mit einem Gegenprofect aufzutreten. Das Ende war ein kampf⸗ und mutblofes Zu⸗ 
fammenfallen der Gegner und Bermitiler auf der franzöflichen Grundlage. Gerade 
die wahrhaft organifchen Geſetze, wie 3. B. bie Städteordnung, die Regelung der 
agrarifihen Geſetze, die Erziehung des Klerus, die fchwierige Klofterfrage wurden ben 
künftigen Regierungen der Fürſtenthümer zugewiefen. Der Kirchen» und Natienalie 
tätenfampf, der ſich felbft unter dem unioniſtiſchen Terrorismus, welcher die Wahlen 
zu dem Divan der Walachei beherrichte, geregt hatte, war für bie europälfche Com⸗ 
milflon und für die Barifer Eonferenz nicht dageweſen. Die Regierungen hatten nicht 
erfahren, was jeder Zeltungslefer wiffen Eonnte, daß bie niedere Geiſtlichkeit unioniftifch 
geilnnt, der Hohe Klerus dagegen wider die Union war. In einer bes Wahlver- 
fammlungen der Geiſtlichkeit zu Bukareſt hatte es fich z. B. ereignet, daß der größte 
Theil derfelben, der für entfchiebene Unioniften (zum Behuf des Divan ad hoc) feine 
Stimme abgegeben hatte, vom Metropoliten förmlich aus dem Wahllocal getrieben 
wurde. Der niebere Klerus wollte eine nationale Kirche, der obere die Nationalifl- 
‚ rung der Kirche verhindern; Jener iſt aus den @ingeborenen hervorgegangen, Diefer 
bat auch Griechen in feiner Mitte, lebt in ben Traditionen ber alten Fanarioten und 
will, wie in Serbien und in der Bulgarel, feine Untergebenen nicht im Namen ber 
Nationalität, fonbern in dem des morgenlänbifchen Dogma’s beherrfchen. Nur bie 
ſchwierige und brennende Klofterfrage konnte die Gonferenz nicht völlig unberührt 
Iaffen, wenn fle auch ihre Finger nur daran legte, um ihre Meifterfchaft in der con» 
Ritutionellen und biplomatifchen Architektonik zu beweifen. Balls naͤmlich bie beiden 
Nationalregierungen und ber griechifhe Klerus in dieſer Angelegenheit fich für keinen 





(Die Union der Fürftenthämer.) 499 


Compromiß einigen follten, brachte fie ein Schiedsgericht, falls dieſes die Sache nicht 
erledigt, ein Oberfchleddgeriht und für den Fall, dab man fi über die Bildung 
eines folgen nicht einigen Tanfı, die Ernennung deffelben durch ein Einvernehmen 
der Pforte und der garantirenden Mächte in Vorſchlag. Ihre wirkliche Leiftung, ihr 
Gonftitutiondentwurf für die vereinigten Fürftenthümer, die unter befonderen Hoſpodaren 
durch ein künſtliches conflitutionelles Mäderwerk zufammenarbeiten und In einander über» 
greifen follten, ift ein wahres Monftrum der parlnmentarifchen Mechanik, deſſen Auf⸗ 
Rellung den gänzlihen Verfall der modernen Diplomatie beweiſt. Diejenigen Mächte, 
die fih an der Erfindung und Aufrichtung diefer ungeheuerligen Mafchine betheiligt 
haben, dürften es fo leicht nicht mehr wagen, auf Sieyes und andere politifche Künftler, 
die fi in der Erfindung von Gegengewichten gegen den Mißbrauch der Gewalt einen 
Namen gemacht haben, ſtolz berabzufehen. Die am 19. Auguft 1858 von der Pa- 
riſer Conferenz zu Stande gebrachte und unterzeichnete Gonvention zur Organifation 
der unter der Suzeränetät und unter einem Doppelhofpodarat vereinigten Fürſtenthü⸗ 
mer bat einem noch nicht eriflirenden, ans dem Kampf, Gewirr und Intriguenfpiel ſei⸗ 
ner romaniſchen, flamwifchen und griechifchen Veſtandtheile noch nicht heraußgeborenen, aus 
revolutionären Zudungen, fruchtlofen Klaffenfämpfen und and dem Zwifte der Kirche 
und der Nationalitäten noch nicht herausgekommenen Bolfe das kuͤnſtlichſte und zu- 
ſammengeſetzteſte politifche Uhrwerk von der Welt befcheert. In diefem Uhrwerke fpielen 
ein Sultan, deffen Suzeränetät an einem Haare hängt, ein Hofpodar zu Jaffy und einer 
zu Bufarefl, die in eine Menge Mäder eingreifen und von andern Mädern wieder bewegt 
werden follen, fodann varlamentarifche Landesverfammlungen — ferner ein oberſter 
Gerichto⸗ und Gaflationdhof, gleihfam das Ephorat, welches den Gang der conflitu- 
tionellen Vaſchine in beiden Fürſtenthümern überwacht — eine jährlich zu ernennende 
Militär » Infpertion, welche die Vereinigung der Heeresmacht beider Fürſtenthümer zu 
einem Uebungslager oder zu einer Menue beantragen kann — über Allem die Central⸗ 
Eommifften zu Fokſchani, der eigentliche Megulator der Union, — — und dann no 
über dieſem inländifchen rumänifchen Uhrwerk der diplomatifche Areopag zu Konſtan⸗ 
tinopel, — eben jener Areopag, der in der Erfindung und Aufftellung dieſes Uhr⸗ 
werks ſich ein Denkmal geſetzt bat, welches von feiner Welshelt und politiſchen Faͤhig⸗ 
feit ein unvergeßliches Zeugniß ablegt. Wir haben nicht den Raum dazu, um bie 
im Chimaͤriſchen ſich bewegende Tiftelei der Praktiker Europa’s in ihrem ganzen Des 
tail darzuſtellen. Nur Cinigeß führen wir über die Central⸗Commiſſton an, die zu 
Fokſchani ihren Sig haben und aus 16 Mitgliedern, 8 Moldauern und 8 Walachen, 
beftehen follte, von Denen vier durch jeden der beiden Hoſpodare und vier Durch jebe 
ber beiden Landesvesfammlungen aus ihren Bitgliedern gemählt werben. Sie tft eine 
Art conflituirender Berfammlung, weldye die gefammte Gefehgebung beider Fürften- 
thümer mit den neuen Berhältnifien in Einklang bringt, den Geſammiſtaat repräfene 
tirt und das neue Geſetzbuch der beiden Ränder, bie in jedem Verhaͤltniſſe zu iht nur 
noch Provinzen find, ausarbeitet. Ihre Erlafſe follen zwar erſt executorifch werden, 
nachdem fie von den beiden Randesverfammlungen und ben Hofpodaren genehmigt find; 
ba aber die Konvention für die organtfchen Beflimmungen der Commifflon des Falles 
nicht gedacht bat, daß eine ber Landeöverfammlungen oder beide, einer der Hoſpodare 
oder beide einen Widerfpruch erheben, fo if jene Genehmigung und die fürflliche Ver⸗ 
kandigung nur eine Formalitat, deren Eintreten und Leiſtung als fi von felbft ver: 
fiehend dorausgefept wird. Während der Gentral» Gommiffton die Entmerfung aller 
Geſethe von allgemeinem Intereffe vorbehalten bleibt, Tiegt den Hofpodaren die Vor⸗ 
bereltung und den Landesverfammlungen die Beratbung der Gefege von nur Tocalem 
Intereffe 06; jedoch Hat es die Pariſer Eonferenz wiederum unterlaffen, die Grenz⸗ 
linie zwiſchen allgemeinen und nur Iocalen Beftimmungen zu ziehen. Zwar bat fie 
für den möglichen Fall, daß In den einzelnen Landesverſammlungen der Localgeiſt ſich 
gegen die allgemeinen Interefien der vereinigten Fürftentbümer regen follte, im Voraus 
beſtimmt, daß kein Beſchluß einer Landesverfammlung vom Hoſpodaren fanctionirt 
werben dürfe, che die Bentral- Commifflon über die Verträglichkeit befjelben mit 
der neuen Berfaffung entſchieven habe — allein wozu dann noch Hofpodare und 
deren Mitwirkung bei der Wahl und Gonftituirung einer Behörde, die Ihnen 
32* 


500 | Anmänien. (Befchichte. Schluß.) 


Dur eine überlegene Machtvollkommenheit weit über den Kopf fleigt? — 
Wozu neben diefer Unions - Behörde. noch das conſtitutionelle und unioniflifche 
Ephorat des oberfien Gerichtd- und Eajfationshofes und die unioniſtiſche Wirkſamkeit 
der Militärinfpectoren? Wozu neben oder über diefem autonomen confitntionellen 
Mechanismus noch ein Suzerän und deffen Abfindung durch den walachiſchen Tribut 
von brittebalb und den moldauifchen von anderthalb Millionen Biaftern? Indeſſen 
konnte diefe Mafchine, die durch Feine lebendige Faſer mit dem Lande zufammending 
und nur eine ängfllihe Hepräfentation der Union bildete, ohne Rüdfiht auf jene 
Fragen umgedreht, verfchoben, zerquetfcht, allenfalld auch zertrümmert und Ratt deſſen 
die Frage aufgeftellt werden, — wozu bie Gentralcommifflon, wenn ihr im Grunde alle 
Mittel fehlten, um ihre Souveränetät zu behaupten? In der That wurde bald nad 
ihrer Einfegung dieſe letztere Frage geflellt und die ganze Eommifflon befeitigt. Die 
Agitationdpurtei der Fürſtenthümer ſah in dem idealen Kunftwerk der Pariſer Con⸗ 
ferenz nur eine Anweiſung auf die reale Union. Die Führer der Bewegung von 
1848, unter ihnen Bratiano und Mofetti, waren 1857, als die Wahlen zu den 
Divan3 ad hoc bevorfianden, aus ihrem Exil zurückgekehrt und hatten ſich in der 
Preffe, in Broclamationen und Programmen für die vollfländige Union ausgeſprochen. 
Heliades, der nach der Kataflrophe von 1848 nah Siebenbürgen und Paris geflohen 
war und 1850 von der Pfortenregierung ein Aſyl auf Chios erhalten Hatte, war 
1854 zu Omer Paſcha nad Schumla berufen worden und mit diefem in Bukareſt 
triumpbirend eingezogen; an den Agitationen des Jahres 1857 betheiligte er ſich 
zwar nicht in auffallender Weiſe; aber auch feine Anſicht über die Union fland feſt 
und war befannt und trug zur Körberung der Einheitsbeſtrebungen bei. Die erſte 
Hoſpodarenwahl nach den Beflimmungen der Pariſer Convention fand am 17. Januar 
1859 zu Jaſſy für Die Moldau flatt und fiel auf Alerander Johann Gufa (I. d. 
Art.), worauf derfelbe am 5. Februar zu Bukareſt auch für die Walachei gewählt 
wurde. Die Barifer Conferenz erkannte in ihrer Sitzung vom 13. April deffelben 
Jahres dieſe factifhe Union, troß der Einwendungen Deflerreih8 und der Pforte, an; 
1862 genehmigte endlich die Pforte die von Gufa bewerffekligte Bereinigung der 
eonflitutionellen Mepräfentation beider Fürftenthümer, wodurch bie Gentralcommifflon 
von Fokſchani überfläfflg wurde, nur proteflirte die Pforte Dagegen, dab die Vereini⸗ 
gung als definitiv angejehen würde. Am 9. Februar deſſelben Jahres. wurden bie 
erſten vereinten Kammern zu Bukareſt vom Fürſten des einigen Numänien mit einer 
Thronrede eröffnet. 

6) Schluß. Seit feiner Ernennung zum Hospodaren beider Kürftenthümer 
it Cuſa aus den Eonflicten mit der Preſſe und mit den conftitutionellen Behörden 
nicht herausgekommen. Die Zeitungen meldeten vom Jahre 1859 an nur von Preß- 
procefien, Unterdrüdungen von Journalen, Berfhwödrungen, Gemaltfchritten der Re⸗ 
gierung, Zank mit den Kammern und von Minifterwechieln. Immer hieß ed, daß nur 
ein Staatöfreih den Fürſten aus feiner verzweifelten Lage reiten könne. In der 
Rede, mit der er am 15. November 1863 die gefeggebende Berfammlung eröffnete, 
fagte er: „Die Uneinigkeit, welche während der legten Kammerfelllon zwifchen meiner 
Regierung und der Berfammlung geberrfcht, bat nur die Wirkung gehabt, dad Wert 
unferer Meorganifation um ein Jahr zu verzögern." Als er endlih am 14. Mai 
1864 den Staatöflreih vollzog, die Kammer auflöfte, die Prepfreiheit aufhob und an 
das allgemeine Stimmrecht appellirte, machte er der aufgelöflen und, wie er ſich aus⸗ 
drüdte, „auf ein beichränktes Wahlgefeg baſirten“ Kammer in einer Proclamation 
ben Borwurf, daß ſie „feit fünf Iahren Rumänien auf derfelben Stelle gelaflen“ 
babe, ohne jedoch über ihre vermeintlichen Verbrechen etwas Näheres anzugeben. Es 
ift Hier nicht der Ort, die oden, minifteriellen, parlamentarifchen und populären Kra- 
walle, über welche die Beitungen jelt fünf Jahren berichteten, ohne gleichfalld zur 
Deutung derfelben etwas beizubringen, aufzuzäßlen. Gewiß ift, daß das Land nicht 
vorwärts gekommen ift, aber hauptſächlich, weil die beiden Lebensfragen, die es feit 
Jahrhunderten befchäftigen, nicht vom Fleck gekommen find, — wir meinen die Kloſter⸗ 
und die agrarifche Frage. Schon die walachiſche SondersKammer, bie im Februar 
"861 aufgelöft wurde, und deren Tegter Act eine Minifteranklage war, hatte ein Geſet 


Aumänien. (Geſchichte. Schluß.) | 501 


befchloffen, wonach die den auswärtigen griechifchen Klöftern gewibmeten Güter einer 
befonderen Abgabe unterworfen werben follten, wodurd fe allem andern fleuerbaren 
Eigenthum gleichgeftellt würden. In diefem Punkte gingen Kammer und Regierung 
Hand In Hand, und Fürft Eufa, ohne die Nemonflrationen des griechifchen Mönchs⸗ 
thums, welches die Intervention der Schugmächte anrief, zu beachten, empfahl in einer 
Denkſchrift an die Pforte dieſe Beſteuerung als einen angemeſſenen Ausweg aus der 
ſchon ſeit dem 17. Jahrhundert Die Fürſtenthümer plagenden Schwierigkeit. Die Ge⸗ 
ſammtkammer des Landes beſchloß fodann im Anfang des Januar 1863, die Ein- 
fünfte jener Kloflergüter in das Budget für 1863 unter bie Staatseinfünfte aufzu⸗ 
nehmen. Das Miniſterium erklärte zwar, daß es dieſen Beſchluß nicht ausführen 
fönne; es wollte den Boden der Barifer Convention von: 1858 In diefer Angelegen- 
beit nicht fo. fchnell wie die Kammer aufgeben, obwohl der Termin eines Jahres, 
weldhen die Gonferenz für die Abwickelung diefer Frage gefeht Hatte, Iängfl abgelaufen 
war; doch fonnte man mit ziemlicher Gewißheit annehmen, daß die Regierung ins- 


geheim fich nach einer durchgreifenden Loſung fehnte, und mitten In ihren fonfligen . 


Gonflieten mit der eigenmwilligen Kammer fchritt fie zu Mafregeln gegen die Klofter- 
güter und deren Erträge, daß fie fich feit dem October bis zum Schluß des 
Jahres die ernfllichfien Broteflationen Rußlands und ber Pforte gegen jene 
von ihr beabfichtigte Säcularifation zuzog. Auch die Patriarchen von Serufalem, 
Alerandria und Konflantinopel, die Metropoliten von Serbien und die GBeiftlichkeit 
vom Berg Athos legten bei der Pforte und den Vertretern der garantirenden Mächte 
zu: Konftantinopel gegen die Einziehung von Einkünften, die allein in der Wa- 
lachei 1%, Millionen Thaler betrugen und In der Moldau ihnen aus 213 großen 
Beflgungen zufloflen, Broteft ein. Auch die agrarifhe Frage iſt öfters von den 
Kammern behandelt worden. In feiner Thronrede vom 15. Novbr. 1863 fagte der 
Fürft: „Die Bauernfrage iſt in dieſen Räumen ſchon debattirt worden, und ein Geſetz⸗ 
entwurf” wurde durch die Mehrheit der Kammer des Jahre 1862 genehmigt. Ich 
habe dieſes Votum nicht fanctioniren können, denn ed entiprach meinen Wünfchen 
nicht, ja, felbft den Wünfchen derjenigen nicht, - die es unterflügt hatten; es befrie- 
digte weder die Interefien der Bauern, noch die der Grundeigenthümer, noch weniger 
aber das nationale Interefje." Die im November 1863 zufammengetretene Kammer 
nahm dieſe Arbeiten wieder auf und fuchte dad Werk Konftantin Maurofordato's, 
des zweiten fanariotifchen Hofpodaren, des organifchen Reglements und der durch den 
Vertrag von Balta Liman niedergefegten Commiſſtonen zu vollenden. Ste nahm das 
Princtp der Megierungsvorlage, daß die Bauern den Grund und Boden, welchen fie 
als Nießbraucher beflgen, als freies Eigentum erhalten follen, an, war aber über die Art 
und Weiſe der Entihädigung mit ſich noch nicht eind geworden, als der Staatöftreidh 
ihren Arbeiten ein Ende. machte. Die Reglerung (dad Minifterium Gogolnitfcheano) 
ließ durch ihre Anhänger im Amt und in der Preffe dieſen Staatsſtreich durch das 
Borgeben vertheidigen, daß die Kammer die Bauern nicht Habe befreien wollen. 
Nebenbei juchte fie den Haß ber Beodlferung gegen die Bojaren aufzuftacheln, indem 
fie bei der Verhaftung des Großbojaren Konftantin Soutzo in Bufarefi und des 
Banarioten Balſch zu Jaſſy die Behauptung pubficirte, daß diefelben im gehei⸗ 
men Einverfländnig mit der Pforte die beftehende Verfaffung flürzgen und eine 
Doppel «» Katmalamie einführen wollten. Den letzten Anlaß zum Staatsſtreich 
führte Cuſa Herbei, indem er am 14. Mai der Kammer ein neue Wahl« 
geſez auf breiter Grundlage vorlegen Tieß, von dem voraudzufehben war, daß 
es Die Kammer als eine Kriegserklärung gegen ihre Eriftenz betrachten werde. Der 


wahre Grund des Staatöflreihd war aber bie Unmöglichkeit einer geordneten und ver⸗ 


faffungsmäßigen Regierung, da Bojaren und Fanarioten nur im Einvernehmen mit 
der Pforte ihre hiſtoriſchen Vorrechte und Traditionen gefichert fahen, im Lande felbft 
aber feine Baſis mehr hatten, noch auch eine Fräftige Bartei um ſich fammeln konnten. 
Gleichzeitig mit dem Deeret, welches am 14. Mai die Kammer auflöfte, erjchien ein 
neues Wahlgeſetz, das Zufagflatut zur Gonvention vom 19, Auguft 1858, welches 
beftimmt, wie in Zukunft „die gefepgebende Gewalt eollectiv vom Fürften, der Wahl- 
fammer und dem begutachtenden Körper (dem Senat). ausgeübt” werben folle, un“ 


502 Rumford (Benf. Thompfon, Graf v.). 


die Appellation an Urwahlen auf breitefler Grundlage zur Meinungsäußerung über 
jened Zufagflatut und das neue Wahlgefeg. Am 2. Juni wurde dem Bürflen das 
Plebiscit, wonach von 754,148 flimmberechtigten Staatöbürgern 683,928 an der Ab. 
flimmung Theil genommen und 682,621 mit „Ja“, 1307 mit „Nein“ auf feine Ap⸗ 
pellation geantwortet hatten, überreicht. Indeſſen war eine Gorrectur des fürftlichen 
Werks bereitd eingetreten. Die Vertreter der Mächte, welche den Pariſer Bertrag 
unterzeichnet haben, wurden nämlih von dem Minifter der ausmärtigen Augslegen- 
beiten des Sultans zu einer Gonferenz in Betreff der rumänischen Kloftergüter einge» 
laden, worauf diefelben zunähft den 9. Mai zufammentraten und erklärten, daß fie 
mehrere Verfügungen, melde die „moldau-walachifche” Megierung zu ihren eigenen 
Gunſten und eigenmädtig, ohne Ruͤckſicht auf die Befimmungen des Protokolls der 
Pariſer Conferenz vom 30. Jult 1858, getroffen habe, für nicht gefchehen anfeben. 
In dem ferneren Berlauf ihrer Gonferenz einigten fi fodann, wie Fuad Paſcha in 
dem Biziralfchreiben vom 9. Juni dem Fürſten eröffnete, die Vertreter der Pforte und 
der Garantiemächte dahin, daß die Einkünfte der Kloftergüter .in eine abgelonderte, 
unter der Gontrole der Garantiemächte ſtehende Kafle abzuführen feien und daß 
diefe Gontrole eine ernfllihe und veritable fein werde. Gleichzeitig begab ſich 
‚ Euja nah Konftantinopel, wo er am 7. Juni eintraf und mit der Pfor- 
tenregierung fih über ein neues, in Vergleich mit feiner Oetroyirung vom 
14. Mat weniger demofratifches Wahlgefeg einigte. Nach Bufarefi zurückgekehrt, 
decretirte er am 25. Juli das Budget für das Jahr 1864, wonach die ordentlichen 
Ausgaben 165,767,997, die außerordentlihen 38,272,678 Piafter betragen follen; 
der Mühe, die verhafteten und einer Verſchwörung bezichtigten Bojaren Ihres Ver⸗ 
brechens zu überführen, entledigte er fich buch eine Amneſtie; am 27. Auguft ließ er 
endlich das neue agrarifche Geſetz verkünden, welches im April 1865 in Kraft treten 
fol, indefien fo wenig wie die Verorbnungen ber früheren Jahre definitiv und in ber 
vorgefchriebenen Form wirkffam fein wird. Dies Geſez verleiht den Bauern das 
Eigentbum an dem Acer, den file bisher in einer Art von Pacht gehabt Haben, und 
verfügt außerdem, daß diejenigen, die nicht fo viel Ader in Befig haben, als fie nadh 
ber beſtehenden Geſetzgebung zu beanſpruchen berechtigt waren, die ihnen fehlende 
Bodenflähe nachträglich erhalten follen. Ferner wird jede Arı von Frohndienſt, fo 
wie der Brau⸗, Schladhte, Mahl» und Badzwang aufgehoben. Die an die Gutsherren 
von den Bauern zu zahlende Entſchädigung, Die nach den drei durch den Viehſtand 
normirten Klaffen der Bauern von 816 Piaflern auf 1521 fleigt, wird von der Re⸗ 
gierung in zehmprocentigen und in fpäteflens funfzehn Jahren ginzuldfenden Staais- 
obligationen vorgeftredt und von den Bauern in funfzehn Jahreſraten an bie Regie⸗ 
rung abgezablt. Endlich beſchloß der Fürſt feine neueften Verfügungen mit dem Decret, 
daß zu Bukareſt eine Univerfltät errichtet werben wird. Sollen wir zum Schluß noch 
ein Sefammturtheil über die Stellung des Fürſten und über fein Berhältnig zu den 
Großmaͤchten aufftellen, fp koͤnnen wir nur fagen, daß er an keiner der legteren hängt 
und daß ihm Alles, Frankreich und Rußland, die Pforte wie Defterreih, die Fana⸗ 
rioten und die Bojaren, wie die griecdhifche Hierarchie, volllommen gleichgültig if. 
Er glaubt nur an den imperialiftifchen Geift der neueren Zeit, der ſich Dazu berufen 
glaubt, Anſprüche, Prätenflonen und Korberungen, welche zu fchwad find, um ſich 
durchzufegen und den Glauben der Welt zu gewinnen, niederzufchlagen, wobei er ſich 
um den Vorwurf, daß er auf der tabula rasa nichts Poſitives fchaffe, fehr wenig 
fümmert. Höchſtens fucht er diefem Vorwurf durch feine ſocialiſtiſchen Bemühungen 
für die untern Volkoklaſſen entgegen zu arbeiten. In fofern trifft er mit dem neueren 
Napoleonismus Frankreichs zufammen, bereitet demſelben auch im Orient einen Voden 
zu, denkt jedoch nicht daran, Frankreich und deſſen jegigem Faiferlichen Herrn ſich de6- 
halb perfönlich dienſtbar zu machen. | u 

Aumelien ſ. Thrkel, 

Aumford (Beni. Thompfon, Graf v.), Philanthrop und Phyſtiker, ift geb. 1752 
zu Rumford, jetzt Concord genannt, in Nembampfhire, in den Vereinigten Staaten 
Nordamerikas. Seine Eltern flammten aus England. Nachdem fein Vater, der ſich 
'n fchlechter Lage befunden hatte, geflorben war, mußte ex ſich, zumal ihn feine Rut⸗ 


Rumjenzew. (Gefchlecht. 503 


tee nach ihrer Wiederverheirathung ſich ſelber überließ, auf eigne Hand durch's Leben 
helfen und erwarb ſich im Collegium zu Cambridge phyſikaliſche Kenntniſſe. Im 
Unabhaͤngigkeitskrieg erklaͤrte er fih für die Engländer und überbrachte, als dieſelben 
1776 Boſton räumten, die Nachricht nach London, erhielt daſelbſt eine Anftellung im 
Kriegsminiſterium, Tehrte jedoch nach Nordamerika zurüd und machte fi als Reiter⸗ 
Oberfi einen Namen. Nach dem Brieden (1783) kam er durch Empfehlung des 
Herzogs von Zweibrüden, nachmaligen Königs Marimilian von Bayern, nach München, 
wo er fi befonders für Berbefierung des Zuflandes der Armen thätig bewieß und 
unter Anderen die nach ihm benannte R.'ſche Suppe (aus Knochen, Blut und andern 
billigen, nahrhaften Stoffen beftehend) erfand. Der Kurfürfl von Bayern esnannte 
ihn zum Grafen v. R. und verlieh ihm den Brad eines Generallieutenants. 1799 
ging er nah England zurüd, machte Erperimente über die Natur und dlonomifche 
Verwendung der Wärme und feßte auf der Eönigl. Societät der Wifienfchaften, deren 
Bicepräftdent er war, anfehnliche Summen zur Belohnung nüglicher Erfindungen aus. 
1802 ging ex nach Frankreich, heirathete Die Wittwe Lavoiſter's, von der er fich jedoch 
bald wieder trennte, ließ fi zu Auteuil nieder und flarb. dafelbft den 22. Aug. 1814. 
Bon feinen fchriftflellerifchen Arbeiten find neben feinen Memoires sur la chaleur 
(Barid 1804) und den Recherches sur la chaleur (1804—13) feine urfprünglich deutfch 
gefchriebenen Essais politiques, &conomiques et philosophiques (Genf 1799—1806, 
4 Bde., deutſche Außgabe Welmar 1800—1805) hervorzuheben. 

Anmjanzow,' ein altes berühmtes ruſſiſches Adelsgeſchlecht, welches im Jahre 
1744 in den Gräfenfland erhoben wurde und im Jahre 1838 in feinem Mannes⸗ 
ſtamme erlofch, nachdem es dem rufflfchen Meiche mehrere durch hohe Verdienſte aus⸗ 
gezeichnete Staatsmänner gegeben hatte. Unter den R. ragen in&befondere drei auf 
einander folgende Grafen, Alexander Iwanowitſch, fein Sohn Peter Alerandromitfch 
(R.-Sadunaiskif) und fein Enkel Nikolai Petrowitſch ala hiſtoriſch denkwürdige Männer 
hervor. Der Erftere, Graf Alerander Jwanowitſch R., geb. 1684, war General 
en chef zur Zeit der Kaiſerin Elifabeth, kaͤmpfte in mehreren Kriegen erfolgreich mit, 


Schlug‘ insbeſondere die Schweden und zeichnete ſich auch als Diplomat durch ven 


Abſchluß Des für Rußland fo ehrenvollen Friedens zu Abo aus, den er am 27. Juli 
des Jahres 1743 zu Wege brachte, wodurch Rußland einen Theil Finnlands gewann. 
Weit berühmter als er il jein Sohn, Graf Peter Alexandrowitſch, mütterlicherſeits 
ein Enkel des einflußreihen Bofaren Matwejew, einer der glänzendften Feldherren aller 
Zeiten, der Bernichter der türkifhen Macht, der Ruhm und die Zierde der Regierung 
der Kaiſerin Katharina 1. @eboren im Jahre 1725, Hatte er erſt im elterlichen 
Haufe, dann in der St. Petesöburger Militärfchule feine theoretifhe Ausbildung 
im Kriegtdienſte erhalten und hatte darauf ſchon im ftebenjährigen Kriege eine 
glänzende Gelegenheit gefunden, ſich auch als praftifcher Krieger zu bewähren. Als 
Befehlshabet des Centrums der Armee trug er 1759 in der Schlacht bei Kunersdorf, 
von den Auflen Schlacht von Frankfurt genannt, zum Stege über Briebrich den Großen 
wefentlich bei, und eroberte 1761 die Feſtung Kolberg. Seine beflen Lorbeern aber 
pflüdte er in ben Kriegen, welche die große Katharina mit der Pforte führte. Hier 
führte ex feit 1770 den Oberbefehl über die gefammte ruffifche Kriegdarmee, ſchlug mit ihr 
am 17. Juni in der Schlacht, die nach dem Fluſſe Häbafa Nohila den Namen führt, mehr 
ale 20,000 Türken in die Flucht, trug am 7. Juli beim Fluſſe Larga jenen entfcheidenden 
Sieg über das 80,000 Bann flarfe feindliche Gros der tärkifchen Armee davon und fchlug 
am 20. Juli am Kagulfluß mit einem auf 17,000 Wann reducirten Heere die neunmal 


ſtarkere Armee des Großveziers, worauf er die hohe Pforte am 10. Juli 1774 zum 


Abschluß jenes für Rußland gleich ehrenvollen, wie für dad ottomanifche Reich ſchimpf⸗ 
lichen Friedens von Kutfchuf-Rainarbichi zwang, in Folge defien die Türkei ihrer 
Oberhoheit über die Tataren der Krim, Beflarabiens und des Kuban verluftig ging, 
die Feſtungen Kertſch, Ienikale, Afow und Kinburn den‘ Ruffen einräumen, ihnen die 
freie Schifffahrt auf dem Schwarzen Meere geflatten und das Chriſtenthum innerhalb 
des der Pforte gehörigen Länder zu fchüben verbeißen mußte. Aus Dank fchenkte 
ihm bie erfreute Kaiferin eine Beflgung von 5000 Xeibeigenen und verlieh ihm die 
hochſten Orden und Infignien ihres Meiches, fo wie den Beinamen Sadunaiskij, d. i. 





504 Aumjanzew. (Befchlecht.) 


Ueberfchreiter der Donau. Beim Ausbruch des neuen Türkenkrieges im Sabre 1787 
von der Kaiferin abermals in's Feld gerufen, lehnte er, indem er fih mit feinem 
boden Alter entfchuldigte, den Oberbefehl, den er mit dem Fürften Potemfin thellen 
follte, ab, zog ſich feitvem völlig auf feine Güter zurück und flarb in Kleinrußland 
am 8. December 1796, im 72. Lebensjahre. Ihm zu Ehren ift in Barsfofe-Gelo 
ein Obelisf aus blauem Marmor auf einem vieredigen Sockel errichtet worden, welcher 
mit feiner zum Palafl gemandten Seite die Infchrift führt: W pamjat ın. f. w. (Als 
Erinnerung an den Sieg am Fluffe Kagul in der Moldau den 21. Juli 1770. Unter 
Anführung des Generals Grafen Rumfanzow haben die rufflfchen Truppen an der 
Zahl flebenzehntaufend Mann den türkifchen Vezier Halil Bei mit feinem Heere von 
bundertfünfzigtaufend Mann gefchlagen und bis an den Fluß Donau verfolgt). in 
zweiteß noch großartigered Denkmal murde auf Befehl Kalfer Pauls 1., drei Jahre 
nah R.'s Tode, im Jahre 1799 nad der Zeichnung des Hof⸗Architekten Brenna zu 
St. Petersburg auf dem Marsfelde errichtet, im Jahre 1820 aber auf Befehl des 
Kaifers Alexander I. nad dem Rumfanzow'ſchen Plage zwifchen der Akademie der 
Künfte und dem Erflen Cadettencorpo, wo RM. feine erfle Erziehung genoflen hatte, 
hinübergeſchafft. Es beſteht aus einem Obelisk aus grauem Serbobolfhen Marmor, 
der auf einem Biedeftal von rotem Marmor, mit Feſtons und Bacreliefs verziert, 
ruht; an der Spige des Obelisks ift eine vergoldete Kugel befindlih und auf der⸗ 
jelben ſchwebt ein ebenfalls vergoldeter Adler mit ausgebreiteten Flügeln; auf einer 
ſchwarzen marmornen Platte des Piedeftald fliehen die Worte: Rumjanzowa Pobjedam 
(Den Siegen R.'s). Seine Afche ruht in dem berühmteften aller *rufitifchen Klöfter, 
der Petfchersfifchen Lawra oder dem KHöhlenflofter zu Kiew. Vgl. die mit rufflfchem 
gest verfaßten Lebensbefchreibungen des Grafen R.⸗Sadunaiskij von Sfoffonow 
(4 Bde, Moskau 1803) und von Tſchitſchagow (St. Petersburg 1849), Anekdoten 
und Gharafterzüge aus feinem Leben (in's Deutſche überfeht von F. Arkt, Dorpat 
1818), das Xerifon berühmter Männer Rußlands von Bantyſch⸗Kamenskij und die 
zu St. Peferöburg erfchienenen alademifchen Kalender auf 1838 und 1841. — Einer 
der audgezeichnetfien Staatömänner und einer der würbigften Batrioten Rußlands war 
ber Sohn des Vorigen, der Reichskanzler Graf Nikolai Petrowitſch R. geboren 
im Jahre 1754. Er war unter Kalferin Katharina U. von 1779 bis zum Schluß 
ihrer Regierung 1796 außerordentlicher Gefandter und bevollmächtigter Minifter in 
Sranffurt a. M., wurde von Kaifer Paul I., der felbft die tüchtigen Männer Ruß⸗ 
lands von ihren Poſten befeitigte, wenn fie bei feiner Mutter in Gunſt geftanden 
batten, abberufen und nad Moskau gleihfam in's Eril verwiefen, erbtelt aber fofort 
bei Kaifer Alexander's I. Thronbefteigung die Stellung eined Gommerzien-Minifters 
und Oberdirectors der Wafjer- Communication, jo wie der Commiſſion des Wegebaues 
in Rußland und trug in feiner Amtsführung zur Erleichterung der inneren und Außeren . 
Verbindungen mefentlih bei. Er baute unter Anderm mehrere fchiffbare Candle (den 

Berefinfchen, den Marien⸗Canal und andere mehr), gründete zu St. Petersburg die 
berühmte Schiffbau Anftalt, erbaute viele Leuchtthürme zur Erleichterung der Schiffe 
fahrt auf der Dflfee, dem Weißen und Schwarzen Meere, und förverte den Handel 
und Verkehr namentlih mit den Weftländern durch eine Menge widytiger Handels⸗ 
gefege und Sandelöbeflimmungen. Seit 1807 Binifter der auswärtigen Angelegen- 
heiten, begleitete er 1808 den Kalfer Alexander I. nach Erfurt und wurde von feinem 
Monarchen 1809 nad Paris gefandt, um als Friedensvermittler zwiſchen Frankreich 
und Oeſterreich aufzutreten, und zeigte fowohl bier, wie bald Darauf in Frebrifsham, 
wo er durch einen glänzenden Frieden mit Schweden feinem Baterlande weſentliche 
Dienfte Ieiftete, feine tüchtige biplomatifche Begabung. Er wurde in Folge deſſen 
zum Reichskanzler und ein Jahr darauf (1810) zum Präftdenten des Reichsraths 
erhoben. An dem Kampfe mit Napoleon, den er im Stillen verehrte, betbelligte er 
fih nicht, nahın lieber im Jahre 1812 feinen Abfchied und wandte von nun an feine 
Zeit und fein unermeßlihes Vermögen an Unternehmungen, wodurch er Bildung, Ge⸗ 
fittung und Auflldrung in Rußland zu verbreiten vermochte. So gründete er daß 
na ihm benannte R.'ſche Muſeum, fammelte und übergab dem Drude verfchiebene 
Raterialien zur ruſſtſchen Geſchichte (für die befle Ausgabe der Neſtor'ſchen Annalen 


Ränder (Carl Lubiwig). 508 


fegte ex 25,000 Rubel aus; er ließ dur Malinomslif die erfte Sammlung alter 
ruſſiſcher Bolkslieder, fo wie durch denſelben eine Sammlung der ruffifchen Reichs⸗ 
urtunden und der Geſetze des Broßfürften Iman Waffllfewitfh, veranftalten und bes 
wertftelligte die Herausgabe von Ewer's Werfen: Uinterfuchungen in Bezug auf rufflfche 
Geſchichte, und von Adelung's Schriften: Herberſtein's Biographie und Katharina's 11. 
Berdienfte, ließ die nach den Handichriften der PBarifer Bibliothek von Haſe verfaßte 
Geſchichte des Lew, Diakonus von Kalifch, durch Popow in's Auffifche überfegen, 
ermunterte den Biſchof Jewgenij zur Herausgabe feines wichtigen Lexikons der rufflichen 
Schriftfſteller geiftlihen Standes und ließ durch den erwähnten Örientaliften Safe zu 
Paris die byzantiniſchen Hiſtoriker, ſo wie durch St. Martin dafelbft die orientalifchen 
Schriftſteller exeerpixen) und rüftete endlich auf eigene Rechnung das Schiff „Rurik“ 
aus, mit welchem der ruſſiſche Weltumiegler Dtto von Kogebue feine Entbedungs- 
reifen in einer "für die Wiffenfchaften und den Seebandel fo erfprießlichen Weiſe aus⸗ 
führte. Graf Nikolai Petrowitſch R. farb amı 3. Januar 1826 und wurde, feinem 
legten Willen gemäß, in feiner Samiliengruft zu Homel im ruſſiſchen Gouvernement 
Mohilew beflattet. Allen drei vorgenannten, um Rußland fo hochverdienten Männern 
widmete Katfer Alexander 1. ein durch Canova verfertigteß gemeinfchaftliches Denkmal, 
welches, in einer Kolofjalftatue des Friedens beftehend, vornehmlich auf die Friedene- 
ſchlüſſe hinweiſt, welche Durch die Grafen R. bewirkt worden find. Auch murden nad 
dem Kanzler R. eine 1816 entdedte Injelgruppe der Niedrigen Infeln im füpöftlichen 
Polyneſten und eine Gruppe der Radakinfeln im norbweftlicdden Polyneflen der R.- 
Archipel benannt, fo wie ein Gap an ber Norbweftlüfte Amerifa’s im rufflfchen Nord⸗ 
amerifa unter 619 52' N. Br., und ebenfo eine Berzweigung der Rody-Mountains 
dafeluft den Namen R. führt, mie denn auch ferner zu Ehren jenes Mannes eine Pflanze 
auf den Alenten NRumfanzowia und eine Barietät des Granats Rumjanzowit benannt 
worden if. Der ältere Bruder des Kanzlerd, Paul Petrowitſch, Graf R., bekleidete 
mehrere Sefanptfchaftspoflen, unter Anderm den am Berliner Hofe, erhielt 1812 das 
Bortefeuille ala Miniſter des Auswärtigen, welches er nur zwei Jahre führte, Indem 
er fhon 1814 feinen Abſchied nahm, und flarb unvermählt im Jahre 1830. in 
zweiter Bruder des Kanzlers, Graf Sfergei Petrowitſch, war ebenfalls eine Zeitlang 
ruſſiſcher Geſandter in Berlin, ohne ſich indeß auf feinem Poſten befonderd bemerkbar 
zu machen. Er fchenkte 1830 feinen Leibeigenen die Breiheit, galt als eraltirter Patriot 
und flarb, wie alle drei Brüder, unvermäblt im Jahre -1838 ale der Letzte dieſes be» 
rühmten Stammes, welcher mit ihm erloſch. 

Rümker (Carl Ludwig), geb. 28. Mai 1788 zu Neu» Brandenburg, begab fi 
1808 nach England, um fih dem Seedienſte zu widmen. Aus der Handeldmarine 
trat er bald in die FTönigliche Marine über, machte ala Offizier der im Mittelmeere 
Rationirten Flotte und als Lehrer der Navigation an Bord des Admiralſchiffes den 
Schluß des franzöflfihen Krieges mit, fo wie fpäter das Bombarbement von Algier 
unter Lord Ermouth. Bei einem Befuche in Genua machte er die Bekanntfchaft des 
Baron dv. Zach, der, daß feltene aftronomifche Talent R.'s erkennend, ihn zum meiteren 
Studium in dieſer Wiffenfchaft ermunterte. Als im Jahre 1817 die Flotte nach Eng⸗ 
. Tand zurückkehrte, nahm er feinen Abfchied und ging nad Hamburg, wo man ihm 
das Directorat der Navigationsfchule übertrug. Diefe Stelle bekleidete er jedoch nur 
bis 1821, wo er dem zum Gouverneur von Neu⸗Süd⸗Wales ernannten Sir Thomas 
Brisbane nach Auftralien folgte und auf defien Sternwarte zu Paramatta Die erfolg« 
reichften Forſchungen des Sternenhimmels der füblichen Hemifphäre unternahm. Im 
Yabre 1831 kehrte er nach Europa zurüd, um wieder feine Bunctionen an der be⸗ 
deutend vergrößerten Navigationsfchule zu Hamburg anzutreten und die Leitung der 
neu erricyteten Sternwarte zu übernehmen. Mit der aufregendften Thätigkeit lebte er 
bier feiner Stellung. Nach den anftrengendften nächtlichen Beobachtungen betrat er 
Sommer und Winter bereitd um 8 Uhr Morgens die Schule, um dort einen fünfe, 
ja oft flebenflündigen täglichen Unterricht zu ertheilen. Der Firftern- Katalog der Ham⸗ 
burger Sternwarte, wofür ihm Die feltene Auszeichnung der großen goldenen Medaille der 
Königlichen Befellfegaft in London zu Theil ward, enthält das beredte Zeugniß feines 
raſtloſen aftsonomifchen Eifers, während das Handbuch der Schifffahrtskunde, welches 


506 Aumohr (Karl Friedrich Ludwig Belic von). 


in kurzer Zeit drei flarke Auflagen erlebte und in vielen europälfchen Navigations⸗ 
Schulen zu Grunde gelegt wird, feinen Auf als Nautifer allgemein begründete. Wie⸗ 
derbolte ſchwere Krankheiten nöthigten ihn endli im Jahre 1857, in einem milderen 
Klima Heil für feine angegriffene Gefundheit zu ſuchen. Cine Vorliebe für Liſſabon 
bewog ihn, fich dort Hinzubegeben, wo er nach fehöfährigem Aufenthalte bei unge, 
fchwächter geifiger Kraft den 21.. December 1862 feinem Leiden erlag. 

Rumohr (Karl Friedrich Ludwig Felix von), bekannt ale außgezeichneter Kunfl- 
forfcher, nebenbei auch als Novellendichter, als ein Mann des feinften Comforts und 
wiſſenſchaftlicher Gaſtronom, endlich auch als ein Kenner ded Landbaues, wurde am 
6. Januar 1785 zu Meinharbögrimma, einem Gute bei Dresden, geboren. Ohne 
eine gebiegene Vorbildung bezog er die Univerfität Göttingen, wo er fich bald für 
dad Studium der Kunf und ihrer Gefchichte entſchied, und der Unterricht im Zeichnen, 
den er bei D. Fiorillo nahm, entwidelte ſchnell fein glüdliche® Talent. Gleichzeitig 
verfchaffte ihm die reiche Kupferfiichjammlung, welche Riepenhauſen ber Aeltere beſaß, 
Gelegenheit, fih eine genauere Kenntniß dieſes wichtigen Theils der Kunſtgeſchichte zu 
erwerben, und er fing auch alsbald an, eine ähnliche Sammlung anzulegen, was er 
fpäter fo eifrig fortfegte, daß daraus endlich eine Sammlung entflanven ifl, Deren Auf 
fidy weit verbreiter hat. Im Jahre 1805 reiſte er mit Ludwig Tieck, mit dem er in 
Dresden Freundſchaft gefchloffen Hatte, über Tirol, Berona, Mantua und Bologna 
nach Florenz und von bier über Siena nad Rom. Hier fanb er Thorwaldfen, Fried» 
rich Tieck und den Landichaftömaler Joſeph Koch, welchen R. befonders fchägte, und 
in dem Haufe des preußifchen Geſandten Wilhelm von Humboldt lernte er den Bio- 
lIiniften Hausmann kennen, mit dem er nach Neapel reiſte. Die Rückreiſe nach feiner 
Heimath trat er wieder mit Ludwig Tied an. Während der Zeit ven 1806—1815 
war R. größtentheild in Bayern und auf feinen holſteiniſchen Beſtzungen. Im Jahre 
1816 unternahm er die zweite und im Jahre 1828 die dritte Meife nach Italien. 
1829 wieder auf feinen Gütern angelangt, erhielt er die Anzeige, Daß der Kronprinz 
von Preußen, deſſen Eicerone er in Florenz gewefen war, wünſchte, baß er bei ber 
Auswahl und Anordnung der Kunftgegenfläude des Mufeumd thätig mitwirken möchte. 
Gern unteryog fih R. diefem Auftrage, und ganz befonderö war er «8, von welchem 
die neuen Beflimmungen audgingen, wogegen der Hofrath Hirt fo fehr eiferte, daß 
fih Waagen veranlaßt ſah, R. Hffentlich zu vertheidigen, der felbft fich zu einem 
heftigen Ausfall gegen Hirt hinreißen ließ. (Vgl. über diefen Streit „Blätter für lite⸗ 
sarifche Unterhaltung“, 1833, Nr. 42.) Bon 1831—1833 bielt ih R. in Drespen 
auf; im Jahre 1837 unternahm er feine vierte und 1840 feine fünfte und letzte Meife 
nad Italien. Den Winter 1841—1842 verlebte er in der Umgebung des Hofes zu 
Kopenhagen; hier machte er die Belanntichaft des jungen Malers Melbye, auf deſſen 
ganze künftlerifche Entwidelung er einen entfcheidenden Einfluß ausübte. Im Begenfag 
zu dem fireng realiſtiſchen Befeh, das in der Ederäberg’fchen Schule befolgt wurbe, 
predigte ihm der deutſche Theoretiker das Evangelium der Poeſte ald Erldfung ber 
Kunf, und wenn Melbye feinem Protector gegenüber die Kehren der alabemifchen 
Profeſſoren zu citiren magte, antwortete R.: „Was haben Sie aber mit den lebernen 
Leuten zu fchaffen?" Bon Kopenhagen kehrte R. mit dem Entfchluß nach Lübeck 
zurüd, fein Leben daſelbſt zu befchliegen. Er Eaufte fi ein Haus, das er nad 
feinem eigeuthümlichen Geſchmack ausbauen ließ. Im Sommer 1843 wollte er, dba 
die Symptome der Bruftwaflerfucht ſich bei ihm gezeigt Hatten, ein Bad in Boͤhmen 
befuchen, aber er mußte auf der Meife dahin in Dresden liegen bleiben und farb ba- 
ſelbſt den 25. Juli 1843. RM.'s literarifche Thätigkeit beginnt bald nach feines erſten 
Meife nad Italien. Seine erſte Schrift war: „Erläuterungen einiger artiſtiſcher Be⸗ 
merfungen in der Abhandlung des Herrn Hofraths Jacobs über den Reichthum ber 
Griechen an plaftifchen Kunftwerken” (1810); auf dieſe Schrift folgten: „Ueber 
die antife Gruppe Kaflor und Pollus oder von dem Begriffe ber Idealitdt 
in Kunftwerlen” (Samburg, 1812); „Sammlung für Kun und Hiſtorie“ 
(Samburg 1816); außerdem lieferte er für Friedrich Schlegel’d „Deutfches Muſeum“ 
(3. 8d.) zwei Auffäge, „Bragmente einer Geſchichte der Baufunf im Wittelalter” und 
‚Ueber den Urfprung der gotbifchen Vaukunſt.“ Sein bedeutendſtes Werk find bie 


Rumowskij (Stepan Jakowlewitſch). 507 


„Staltenifhe Forſchungen“ (1. und 2. Theil, Berlin 1826-27, 3. Thl. ebhf. 
1831), in welchem er fih um bie Kunfigefchichte, befonder® aber um die des Mittel⸗ 
alters große Verdienſte vorzüglich dadurch erworben hat, daß er die Zebler und Irr⸗ 
tbämer Vaſari's zu berichtigen firebte. Diefem Werke folgte Die rechtsgeſchichtliche 
Abhandlung: „Ueber die Befiglofigkeit der Colonen im neueren Toscana. Aus den 
Urkunden” (Hambur 1830), zu welcher Arbeit ihn Niebuhr angeregt Hatte. In dem 
zweiten Sefte der "Sarmlung für Kunft und Hiflorie” hatte er unter dem beſonderen 
Titel „Italienifche "Novellen von hiſtoriſchem Intereffe, überfegt und erläutert” (Ham⸗ 
burg 1823) erfcheinen lafjen. Durch den Wunſch, das Andern mitzutbeilen, was ihm 
ſelbſt Quelle des Wohlſeins und finnlicher Behaglichkeit geworden, entfland fein „Geift 
der Kowkunſt, von Joſeph König. Ueberarbeitet und herausgegeben von K. 5. v. 
NRumohr“ (Stuttgart 1822, 2. Aufl. 1832). Mit Recht rügt der Mecenfent in den 
Ergänzungsblättern zur balliihen „Allgemeinen Kiteraturzeitung”, daß fi der Ver⸗ 
faffer eines wit wifienfchaftlicher Tendenz verfaßten Buches über die nächften Bebürf- 
niſſe des Menfchen hinter den Namen eines Bedienten verftedt babe. Seine „Drei 
Reifen nach Italien“ (Leipzig 1832) find die Hauptquelle für feine Lebensgeſchichte 
und enthalten viele intereffante Gedanken über die Künftlerbildung unferer Tage. In 
den „Deuifchen Denktwürbigkeiten” (4 Theile, Berlin 1332) fchildert er. die verſchie⸗ 
denartigen fittlihen und politifchen Zuftände Deutfchlands nach dem Subertöburger 
Sriepen. ‚In den Jahren 1833 und 1835 gab er zwei Bände „Novellen” berauß; 
drei andere geiftreiche Novellen wurden in Tafchenbücher aufgenommen, in die „Urania“ 
(Jahrgang 1834), „Der Iehte Savello“; in Alfter Neumont’8 „Italia“ (Jahrgang 
1838 und 1840), „Schönheit ein Traum” und „Lehr⸗ und MWanderjahre des Rafael 
Santi von Urbino*. Mrs Vorliebe für Schilderung ſittlicher Zuftände und feine 
feltene Schärfe der Beobachtung in ihrer Auffafiung leiteten ihn zulegt darauf, ſie 
zum Gegenflande eines beionderen Werkes zu maden. Die „Schule der Höflichkeit. 
Für Alt und Jung“ (Stuttgart 1834) muß wegen der Fülle treffender Bemerkungen 
und der ausgezeichneten Darfkellung zu feinen vorzüglichftien Schriften gerechnet werben. 
Im Jahre 1835 erfchienen von ihm: „Kynalopekomachia; der Hunde « Zuchlen » Streit” 
(Lübeck) in Knittelverien, worin die Natur der Thiere fehr treu und mit gutem Humor 
aufgefaßt iſt, die „Geſchichte der Eöniglichen Kupferſtichſammlung zu Kopenbagen”, 
welche er in Gemeinfchaft mit dem Profeſſor Thiele herausgab (Leipzig); „Beitrag 
zur Gefchichte der Kunft und Ergänzungen der Werke von Bartſch und DBrulliot” 
(Leipzig). Im Jahre 1836 ließ er in Leipzig zwei Schriften über Formſchneidekunſt 
erfcheinen: „Hans Holbein des Jüngere in feinem Verhältniß zum deutfchen Form⸗ 
fohnittwefen”. Auf Beranlaffung und Erwiederung von Einwürfen eines Sachkundigen 
gegen die Schrift: Hans Holbein u. ſ. w.“ und in dem daranf folgenden Jahre: 
„Zur Geſchichte und Theorte der Yormfchneidefunft.” Im Jahre 1838 erichien In 
Lübeck ſein geichägtes Werk: „Meife durch die öſtlichen Bundesſtaaten in die Lombardei 
und zurüd über bie Säure; und den oberen Rhein, in befonderer Beziehung auf 
Bölkerkunde, Landbau und Staatswirthichaft”, zu deſſen Ergänzung er noch in dem⸗ 
felben Jahre „Hiftorifche Belege u. f. w.“ ebendafelbft herausgab. R.'s letzte kunſt⸗ 
gefhichtliche Arbeit war: „Unterfuhung der Gründe für die Annahme, dag Mafo di 
Siniguerra Erfinder des Handgriffs fei, geflochene Metallplatten auf genetztes Papier 
abzubruden” (Leipg. 1841). Sein legtes Literarifched Product ift dad Vorwort zu der 
von ihm veranlaßten Lieberfegung von drei Monographien aus Altmeyer’s „Histoire 
des relations“, die R. unter dem Titel „Rampf demofratifcher und arifiofratifcher 
Principien zu Anfang bed ſechszehnten Jahrhunderts" (Lübeck 1843) herausgab. Bergl. 
über ihn: Heinrih Wilhelm Schulz, „Karl Friedrich v. Rumohr, fein Leben 
und feine Schriften”. Nebſt einem Nachwort von Carus (Leipzig 1844), welche Beine 
Schrift zuerſt in den „Blättern für literarifche Unterhaltung" 1844 Nr. 214 — 228. 
erihien. Im „Kunfblatt“ zum „Morgenblatt” von 1844 befindet ſich In Nr. 90 und 91 
ein Nekrolog v. R.'s, zum Theil nach den Angaben der Augsburger Allgemeinen Zeitung. 

Aumowölif (Stepan Jakowlewitſch), ruſſiſcher Wirklicher Staatsrath, Vice⸗ 
Praͤſident der St. Petersburger Akademie, Mitglied der Oberdirection der Schulen, 
geretor der Kaſan'ſchen Univerfität, Rußlands ausgezeichnetſter Mathematiker und 


308 Auen. 


Aftronom und einer der tüchtigften Geographen, wegen feiner Praͤciſton der ruſſiſche 
Wolf genannt, flammte aus einer ärmlichen Familie und wurde am 29. Det. 1734 
in einem Dorfe des rufftichen Gouvernements - Wladimir geboren. DBefeelt von einem 
Lerneifer, den er nicht unterbrücden fonnte und den er in feinem Geburtdorte zu bes 
friedigen Feine Gelegenheit fand, bettelte er ſich bis nach der Hauptflabt des Reiches, 
fand daſelbſt Gönner, trat ala Zögling in die St. Peteröburger Akademie der Wiflen- 
fhaften und fludirte mit Vorliebe Matbematif und Deren Hülfsmwiffenfchaften. lnter- 
fügt von Seiten der Akademie, deren Intereffe er durch einige Arbeiten zu erregen 
wußte, ging er zu feiner weiteren Ausbildung nad Berlin, hörte daſelbſt den be⸗ 
rühmten @uler, deſſen eifrigfter Schüler er während der Jahre 1754 bis 1756 wer, 
worauf er, nah St. BVeteröburg zurüdgefehrt, fehr bald mit dem Katbeder für 
Mathematit an der dortigen Hochſchule betraut wurde. Im Jahre 1760 erregte er 
durch fein noch Heut als claſſtſch geltendes „Lehrbuch der Mathematik”, welches eine 
Menge Auflagen erlebt Hat, bei den Gelehrten Rußlandd allgemeines Aufſehen; es if, 
wiewohl dad erſte In ruffifcher Sprache verfaßte, bis heut zugleich das beſte Derartige 
Merk verblieben, wad nur aus dem Umſtande erflärbar tft, daß den Auffen im Alls 
gemeinen wenig Sinn für die mathematifhen Disciplinen eigen ifl. R. begründete 
durch obiges Werk: feinen Ruhm und murde fchon in demfelben Jahre Adfunct des 
kaiſerlichen Aftronomen Griſchow. Nach dem Tode des letzteren wurde er 1761 nach 
Sibirien gefehicdt, um den Durdygang der Benus durch die Sonnenfcheibe zu Selen- 
ginsk zu beobachten. 1763 fab er fich zum ordentlichen Profefior der Aftronomie 
befördert und als foldyer ward er 1769 auf's Neue von der Akademie der Wiffen- 
ſchaften nach Kola entjandt, um abermal8 den Venusdurchgang zu beobachten. Mit 
Euler, den die Kaiferin Katharina II. vornehmlich auf R.'s Betrieb nah Rußland 
berief, fliftete der leßtere ein inniged Breundfchaftsbündnig, und beide traten dadurch 
noch in eine engere wifienfchaftliche Beziehung, da ihnen bei der Neorganifation der 
Akademie dad geographifche Departement zugetheilt wurde. Hierbei entwarf R. die 
erften vaterländifchen Karten in einem feltenen Grade von Vollkommenheit. Doch 
gab er diefe Stellung, fo wie die ihm übertragene Direction einer Erziehanſtalt für 
die in St. Petersburg fudirenden Griechen auf, um ſich ganz den mathematifchen 
Wiffenfchaften zu widmen. Mit weldyem Erfolge dies geſchehen, bezeugen die Schrife 
ten der Akademie, feine aftronomifchen Obfervationen, die er bis an feinen Lebens⸗ 
ſchluß fortfeßte, feine 30 Jahr hindurch beforgte Kalender⸗Reviſton, feine Ueberſetzung 
der Euler'ſchen Briefe über verſchiedene philoſophiſche und phyſiſche Naterien In 
3 Bänden, und viele andere ſelbſtſtaͤndige Forſcherſchriften von größerem und geringe⸗ 
rem Umfange, die nad feinem Tode, der 1812 erfolgte, gefammelt erfchienen. Daß er 
auch auf dem Gebiete der claſſiſchen Wiffenfchaften bewandert war, bezeugt feine Ueber⸗ 
fegung der Annalen des C. Cornelius Tacitus, in 4 Bänden, welde er noch im 
Jahre 1808 zu St. Peterburg audführtee In den Reptjahren ſeines Lebens wirkte 
er als Gurator der im Fahre 1804 neubegründeten Univerfität Kaſan und des Kaſaner 
Lehrbezirks mit einem für die Wiſſenſchaften erſprießlichen Eifer. 

Rundſchit⸗Singh ſ. Sikhs. 

Aunen Heißt die Buchſtabenſchrift der alten ffandbinavifchen Völker, als deren 
Erfinder oder wenigftend als Verbreiter derfelben im flandinavifchen Norden Odin 
genannt wird. Die R. find mohl, wie die meiften uns bekannten alten Alpbabete, 
Bilder geweſen, aus denen fidy erft fpäter die Buchflabenfchrift entwidelte. Die ur- 
fprüngliche Geftalt der R. befteht aus fenkrechten oder fehrägen, ſchiefwinklig gegen 
den Perpendikel geneigten Linien. Alle Runenbuchſtaben haben einen bezeichnenden 
Namen, deffen erfter Laut auch der iſt, der Dur den Buchſtaben bezeichnet werben 
foll. Mit dem Namen rüna wird fonft ein Geheimniß bezeichnet; Die Germanen bes 
dienten ſich nämlich ihrer Buchflabenfchrift vorzugsmweife zu geheimnißvoll Heiligen 
Gebraͤuchen. Die nächflfolgende Zeit bat auch in Deutfchland die R. noch weiter 
als bloß Hierzu angewendet, doch immer nur auf Holz; der ffanbinavifche Norden bis 
tief in das Mittelalter binein fogar zu großen Steinfchriften; die Nunenfleine, 
welche von den R. ihren Namen Haben, find In paläographifcher, philologifcher und 
uchaͤologiſch⸗ Hiflorifcher Hinſicht fehr wichtig. Vergl. Lilfengren, „Run- Urkunderg 


Aupert (der Heilige). Aupp (Julius). 509 


(Stodholm 1833). Wir kennen die R. nur aus dieſen Dentmälern des Nordens, 
außerdem aus vereinzelten Aufzeichnungen in Handſchriften Englands und Deutfchlands 
und aus dem fehr weientlichen Antheil, der ihnen an der Bildung des Alphabets der 
Gothen if gegeben worden. Man bat biöher einen Zufammenhang mit der phöni« 
ziſch⸗griechiſchen Schrift erkennen wollen, dagegen bat U. Kirchhof in feiner Abhand⸗ 
lung „Das gotbifche Aunenalphabet* (2. Auflage, Berlin 1854) den Beweis zu 
führen geſucht, daß das Runenalphabet dem Lateinifhen entflamme, und daß es in 
den erſten Jahrhunderten unirrer Zeitrechnung von den Mömern zu den Germanen 
gekommen fei. Vergl. Wilhelm Grimm, „die deutfchen Runen“ (Göttingen 1821) 
und „Zur Literatur der Runen nebſt Mittheilung runifcher Alphabete und gothifcher 
Bragmente aus Sandfchriften“ (in den Jahrbüchern der Literatur, Wien 1828, 43. Bd., 
©. 1—42), 3. ®. Lilfengren, „Runlära“ (Stodholm 1832), Dieteriy, „Runen⸗ 
ſprachſchaz“ (1844), Rafn „Glossaire Runique“ (1856). 

Aunfelrübenzudersfabrifation |. Zuder. 

Aupert, der Heilige, wird gemöhnlich der Apoſtel Bayerns genannt, obwohl 
Euftafius und Emmeran in der GEhriftianiftrung diefe® Landes feine Vorgänger und 
im 7. Jahrhundert fchon zahlreiche Chriften und manche Kirchen und Kidfler im 
Lande waren ; doch fand er bei feinem Auftreten daſelbſt noch fo viel zu thun, daß 
ihm jener Name nicht ganz mit Unrecht beigelegt wird. Er flammte aus der fränti« 
Ihen Königsfamilie und war Bifhof von Worms, ald ihn Herzog Theodo von 
Bayern zu fich berief, damit er die Lehre vom Kreuz in feinem Rande weiter verbreite. 
Er predigte in den Donauländern bis nach Unterpannonien und gründete im Jahre 
700 Stadt und Bistum Salzburg (f.d. Art.). Er foll den 27. März 717 ges 
Rorben fein. Der zu feinen Ehren 1701 vom Erzbifhof von Salzburg, Graf Thun, 
gefiftete Rupertusorden ging 1802 ein. 

Nupp (Julius), Prediger der „freien evangelifchen Gemeinde” zu Königäberg 
in Pr., ift ebendafelbfl den 13. Auguft 1809 geboren und flubirte auf der dortigen 
Univerfität von 1827 bis 1830 Theologie und Philofophie. Nach Beendigung felner 
Studien kam er auf Empfehlung der evangelifchen Facultaͤt in das Predigerfeminar 
zu Wittenberg. 1832 von dort nach Königsberg zurüdgekehrt, unterrichtete er daſelbſt 
am altſtaͤdtiſchen Gymnaſium, vicarlirte dann kürzere Zeit an einer Lehrerftelle in 
Marienwerder, trat 1835 als Lehrer in dem obengenannten Königsberger Gymnaſium 
ein und erhielt - im April 1842 die Berufung zum Diviflonsprediger. Das Jahr 
darauf ernannte ihn die flädtifche Behörde zum Director des Rneiphöflfhen Gymna⸗ 
flums, doch wurde dieſe Wahl von der höheren Behörde nicht beftätigt, da er inzwi⸗ 
ſchen Tendenzen verratben hatte, die ihn in eine Unterfuchung verwidelt hatten. Am 
15. October 1842 hielt er nämlich in der Föniglich deutſchen Geſellſchaft eine Rede 
„über den chriflliden Staat”, die noch in demſelben Jahr zu Königsberg im Drud 
erfchlen. Mehrere Stellen diefer Rede erregten fo großen Anſtoß, daß R., nachdem 
ein längeker Briefwechfel mit feinen geiftlicden Vorgeſetzten vorangegangen war, bie 
Welfung erhielt, fi zu einem Golloquium zu flellen, in welchem er dad DBerlangen 
ftellte, dag man beflimmte Anklagepunfte gegen ihn auffege. Dan willfahrtete feinem 
Wunſch und forderte von Ihm eine Mechtfertigung über zwölf Punkte. Die wichtigften 
Anklagen bezogen ſich auf folgende Stellen feiner Rede: „1) Die Lehre Jeſu hatte 
zur beflimmten Aufgabe, jene Herrichaft, welche das Prieſterthum unter dem ifraeliti- 
fen Volk im Widerfpruch mit dem reinen Moſaismus ermorben, zu zerflören; aber 
fle fcheint ihren Zweck vollftändiger bei den Nachkommen Derer erreicht zu haben, die 
Ion als Irrlehrer verfließen, als bei denen, die fich nach feinem Namen nennen, denn 
das Chriſtenthum Hat die Priefterherrichaft, die es umftoßen follte, befefligt. 6) Die 
Kirche lehrt zwar, es iſt Feine Obrigkeit ohne von Gott, aber damit lehrt fie zugleich, 
daß die Obrigkeit, welche Bott und der Wahrheit nicht dient, aufhört, es zu fein. 
8) Der Staat des 19. Jahrhunderts ift ein chrifllicher Staat; er wird feine Glau⸗ 
bens vorſchriften und keinen Symbolzwang kennen, er wird bei feinen Bürgern nicht 
nach der Taufe fragen, er wird mit ber chriftlichen Kirche in Teiner unmittelbaren Ver⸗ 
bindung ſtehen und doch wird er ein chriftlicher Staat fein. 12) Der chriftliche 
Staat will nicht Herren und Knechte, fondern bürgerliche Gleichheit." Die Antwor- 


510 Rupp (Julius). 


ten, welche R. auf diefe Anklagen gab, legte das Gonftflorium dem Minifterium der 
geiftlichen Angelegenheiten vor, welches den Angeklagten an die Pflichten feines Amtes 
erinnerte und das Vertrauen zu feiner Gewiſſenhaftigkelt ausfprach, er werde daſſelbe 
niederlegen, fobald er einfähe, daß er den Forderungen deffelben zu genügen, außer 
Stande ſei. Indeflen trat er, von der deutſchen Geſellſchaft zur Abhaltung der Feſt⸗ 
sede für den 18. Januar 1844 aufgefordert, mit einer Rede über „Theodor v. Hip⸗ 
vel’ und deffen Lehre vom chriſtlichen Staate* auf. (Die Rede ift In dem literarhiftori- 
fhen Taſchenbuch von Prug, Jahrgang 1845, abgebrudt.) In derfelben nahın er, über- 
fehend, daß das Chriſtenthum Alles daran gefeht hat, die Welt zu durchdringen und fidh den 
ihm entfprechenden Staat und feine eigne Kunſt und Wiſſenſchaft zu jchaffen, fein früheres 
Thema wieder aufund behauptete, daß es vielmehr bioher nur „unter der Form der Religion” 
eriflirt Gabe. Dagegen vermuthete er, daß es, „um das Chriſtenthum rein zu ge 
winnen, vielleicht Fein anderes Mittel gab, ale von diefer Form der Meligion zu ab⸗ 
firabiren,“ glaubte er aber auch zugleich Hippel ald denjenigen bezeichnen zu Tönnen, 
der dieſe Meinigung des Chriſtenthums vollzogen und baffelbe „in die Form des ſitt⸗ 
ligen und bürgerlidhen Lebens" übergeführt habe. Das Eoufiftorinm, durch den com⸗ 
mandirenden General von Dohna aufgefordert, Teitete gegen R. wiederum ein Ver⸗ 
fahren ein, ertheilte ihm am Schluffe deffelben einen Verweis und erklärte zugleich, 
daß ein Beharren bei folgen Anſichten mit dem FTirchlichen Amte unvereinbar fei. 
Wenige Monate nach diefem Berfahren theilte R. dem Gonftflorium in einem Schrei⸗ 
ben vom 26. December 1844 eine ihm hoͤchſt wichtig fcheinende Entdedung mit. Er 
hatte e8 nämlich — wie er in feinem Sendfchreiben an die evangelifche Kirche Deutſch⸗ 
lands: „Die Symbole vder Gottes Wort“ (Leipzig 1846) erzählt — als die Licht. 
freunde im Sommer 1844 mit der Ercommunication bedroht waren, „Für feine Pflicht 
gehalten, zu unterfuchen, ob dieſer Glaubenshaß nicht wenigften® einen Borwand und 
Schein des Rechts in den Blaubensbefenntniffen der evangelifchen Kirche ſelbſt finde,“ 
und entdedte nun, woran Niemand gedacht, was Niemand gewußt und was er felbfl 
bisher nicht gewußt hatte: daß „das Augsburgifche Glaubensbekenntniß die ganze 
Reihe von Verbammungsformeln aufgenommen babe, welche Die griedyifche und rd« 
miſche Kirche in den Seiten der Priefterherrfchaft gefchaffen hatten.” Obwohl mit 
diefem Bunde Alles entichleden und der Zuſammenhang des Augsburgifchen Belennt- 
nifje® mit dem geſammten kirchlichen Altertum feftgeftellt war, fo hielt es der 
Entdeder noch für feine beiondere Pflicht, beim Augsburgifchen Belenntnifje „nicht 
fiehen zu bleiben” und auf die älteflen Bekenntniffe zurückzugehen, und fand, daß „dab 
Derdammen im athanaflanifchen Symbol (einem der älteften!) zum erfien Wale 
einen beflimmten Ausdruck“ erhalten Habe. Ohne die Erwiderung der Behörbe auf 
feine Anzeige abzuwarten, brachte er feinen Bund, den Widerſptuch bed athanaflani- 
ſchen Symbole „gegen dad Wort Gottes," am 29. December 1844 auf der Kanzel 
zur Sprache und verftieg ſich dabei feldft zu einer Verdammung, indem er bie ganze 
Kirche des chriſtlichen Namens für unmärdig erflärte, wenn fle feinem Urtheil über 
das atbanaflanifche Glaubensbekenntniß nicht beiſtimme. Nachdem er darauf im An- 
fange des Januar 1845 diefe Predigt unter dem Titel: „Der chriflliche Glaube ift der 
Glaube der Mündigen,“ im Drud ausgegeben hatte, leitete das Gonflflorium gegen 
ihn Die förmlicye Unterfuchung ein, die zunaͤchſt, am 17. September 1845, mit feiner 
Suspenſion abſchloß. Während dieſe Unterfuhung im Bange war, hatte fich eine 
Fraction der Königäherger Liberalen mit dem Gedanken getragen, ſich von der „alten“ 
proteftantifchen Kirche zu trennen; die Entfheldung des Conſiſtoriums gegen R. ſchien 
ihnen in diefem den Führer in ihrem Unternehmen zu geben, obwohl fie von ihm 
weiter nichts wußten, als daß er ein „Märtyrer der Rede⸗ und Geriflensfreihelt" 
fei; fle juchten ihn Daher In ihr Intereffe zu ziehen, bemerkten aber zu ihrem Erftaunen, 
daß er keineswegs ihren Eifer theile und fogar von einem Bruche mit der alten Kirche 
nicht8 wiffen wolle. Auch da blieb R. noch zurüdhaltend, als fe am 15. December 
1845 auf eigene Hand zu einer „chriftlichen Gemeinfchaft * fich vereinigten. Et ar⸗ 
beitete zwar mit den kirchlichen Gonftituants, gab ihnen Winke und widmete ihren 
fpmbolifchen Verſuchen einige Zufäge — (fo fonnten In dem Auffape: „Was wir 
ollen und nicht wollen,“ der Proteſt gegen eine „Kische, in der bem Prediger be⸗ 


Aupp (Iulius). sil 


fohlen wird, wie er lehren foll,” und die Borberung, daß der Sprecher der Gemeinde 
„frei muß reden können, was ibm Gott befleblt,“ nur von feiner Hand herrühren). — 
Bei alledem büllte ſich R. in fein geheimnißvolles Schweigen ein, von dem Niemand 
derjenigen, die ihn zu ihrem Haupte haben wollten, wußte, was e8 zu bedeuten babe. 
Auch da noch, als Detroit, Prediger der franzöflfchereformirten Kirche zu Königsberg, 
in feiner Neujahrs « Predigt feine Gemeinde zum Bruce mit den Symbolen aufges 
fordert hatte und, angeregt durch diefe Kühnbeit, die Mitglieder jener chriſtlichen Ge⸗ 
meinfchaft R. von Neuem beftürmten, erklaͤrte fich diefer noch am 4. Januar 1846 nur 
unter der Bedingung zum Anſchluß an die neue Gemeinde bereit, daß biefelbe als erſt 
an diefem Tage geftiftet angeſehen werde und er als ihr Stifter gelte. Es war leicht, 
zu fehen, daß ex etwas auf dem Kerzen und befondere Abfichten hatte. Gleichwohl 
wählten ihn die Männer der That zu ihrem Seelforger und fie hatten daher ſehr Un- 
recht, enträflet zu thun und die Welt mit ihren Klagen über eine niederichlagende 
Veberrafchung anzufüllen, ald er am 7. Januar vor die Gemeinde trat, die Wahl 
zwar dankbar annahm, aber „den Gebrauch des chriflliegen Du, die gegenfeitige Ans 
gabe der kundgewordenen Sünden“ u. dgl. als Gegenbedingung ſtellte. Die Freien 
batten ſich compromittirt ; dafjelbe that aber auch er, indem er ſich mit feiner Erkläs 
rung vom 10. Jannar vor dem Bublicum binftellte und darüber Flagte, daß fein Ge⸗ 
danke, aus der Gemeinde „eine Brüdergemeinde des 19. Jahrhunderts" zu machen, 


‚nicht zur Ausführung gekommen, und daß er ſich geirrt habe, als er „dem 19. Jahr⸗ 


hundert Die fittlihe und religidfe Kraft zutraute, die zur Bildung einer Gemeinde von 
Brüdern gehört.” Dennoch oder gerade deshalb, weil fi nun beide Seiten com⸗ 
promittirt hatten, fand zwifchen ihnen am 12. Januar, ald R.'s Erklärung vom 10. 
die Unterhaltung des Publicums bildete, die Einigung flatt, worauf am 25. Januar 
der erfle Gottesdienfi folgte. Der Friede war aber in bie Gemeinde Damit nicht eine 
gelehrt. Es fehlte nicht an Meibungen mit dem Seelforger, der mehr von ben alten 
firchlichen Mitualen beibehalten wollte, als der Gemeinde ndtbig fehlen. R. quälte Die 
Seinigen mit dem Ungeflüm, mit dem er fle zur Umgeftaltung der focialen Verhalt⸗ 
niffe, namentli zur Löfung der Armenfrage antrieb, indeflen die Gemeinde feinen 
flürmifchen Anträgen nur ſtillſchweigend das Gefühl Ihrer Ohnmacht entgegenftellen 
konnte. Gemeinde und Seelforger fanden fich fo verbrießlich wie vorher gegenüber. 
Dazu kam eine peinliche Ungewißheit über die Stellung der Gemeinde zur Landes⸗ 
kuche — eine Ungewißheit, bie durch die zweibeutige Stellung des Seelſorgers zu 
derſelben Kirche verurfacht war. Die Bemeinde felbft hatte in ihrem Schriftenwechſel 
mit den Behörden erklärt, daß fie nicht aus der evangeliſchen Kirche, fondern nur 
aus der evangelifchen Lanbesfirche, ans der „Kirche des preußifchen Conſtſtoriums zu 
Königäberg" audgetreten fei, und ed war ihr nicht unbekannt, daß ihr Seelforger dem 
Gonfiforium gegenüber auf feine vormalige Stellung noch Anfprücdhe machte und ale 
Diviſtonsprediger noch den vollen Gehalt bezog. Sie mußte e8 ferner, daß ihn die 
Burgfirhen-Gemeinde zu Königsberg zu ihrem Prebiger gewählt hatte, und daß er 
darauf beſtehe, dieſe Wahl anzunehmen. Hatte fie fchon, indem fie dieſes Mißver⸗ 
haͤltniß ſtillſchweigend erirug, die gemöhnlichfte Delicateſſe verläugnet, fo trieb ſte end» 
lich dieſe Berläugnung aller conventionellen Nüdfichten fo weit, daß fie ruhig und 
gelaffen zuhdrte, als R. ihre am 27. März fein Verhaͤltniß zur Burgfirchengemeinde, 
fo wie die Bortheile audeinanderfegte, die ihr und der ganzen Welt erwachſen wür⸗ 
den, wenn er fie verlaſſe. R. ſelbſt trieb bie Deltcatefie fo weit, daß er Ende des 
Mai die Gemeinde, ohne ihr nur ein Wort zu fagen, im Stich ließ, als ihn dad 
Gonftflosium zwang, die Gonfequenzen feiner Einmendung des Reeurſes einzuge- 
leben, die Autorität der Ticchlichen Behörde in allen Beziehungen anzuerkennen 
und demnach auch jebe Betheiligung bei der freien Gemeinde aufzugeben. Zwar 
fchrieen die Männer der That über Verrath und verlangten die Xodfagung 
der Gemeinde von ihrem ungetreuen Seelforger, die Mehrzahl erklärte fi aber am 
18. Juni für die fortvauernde Anerkennung befielben und R. belohnte ihre Ausdauer, 
nachdem er das Unnüge feine Mecurfed und feiner juriflifchen Nörgelei über die Zu- 
funft der evangelifchen Kirche felbft eingeſehen und fein Diviflonärprediger- Amt nieber- 
gelegt hatte, indem er ſich ruhig, ale ob nichts gefhehen wäre, am 16. Juli ber 


512 Nüppell (Wilhelm Peter Eduard Simon). 


freien Gemeinde wieder präfentirte und ihr unterm Anderm eröffnete, daß „iegt ber 
zweite Zeitraum des Gottesreichs auf Erden beginne, weil der Bund der Chriſtenheit 
ald der ewige Bund der verfittlichten Menfchheit erkannt werde." Noch in demielben 
Jahre machte die Gemeinde den Berfuh, ihr Recht gegen „das Megiment der preu- 
Bifchen Landeskirche“ auf einem Umwege zur Anerfennung zu bringen. Im Herbſt follte 
eine Hauptverfammlung des Guſtav⸗Adolph⸗Vereins zu Berlin flatifinden. Schon: im 
Frühjahr hatten die Freigefinnten Königsbergs darauf hingewiefen, daß das eine treff- 
lie @elegenheit biete, jenem Berein die Entfcheibung über die Stellung der neuen 
Gemeinde zur „Gonflftoriallirhe* und über ihre Angehörigkeit zur proteftantifchen 
Kirche (lauter Dinge, die weder die Gemeinde, noch ihr Seelforger zur Klarheit Hatten 
bringen Fönnen) auf die Schultern zu werfen. DM. war als einer der Abgeorbneten 
des Hauptvereins der Provinz Preußen ernannt worden; alfo müſſe er, meinte man, 
auf feiner Zulaffung befteben; abmweifen könne man ihn nicht, denn das gliche zu fehr 
einer Ercommunlcation; man müäffe ihn als Abgeorpneten anerkennen und fomit das 
Recht der gefammten proteftantifchen Kirche gegen dad Megiment der preufifchen Landes⸗ 
kirche flabiliren. Am 7. September fand zu Berlin die Abſtimmung flatt; N. warb 
bon der Mehrheit der Berfammlung ausgewiefen und er ſprach feine Meberzeugung 
von feinem Recht, daB er nicht beweifen und von dem er weder fidy noch Andern eine 
Hare Borflellung machen und geben konnte, mit dem Bekenntniß aus, welches ihm 
die Unempfänglichkeit des Confiſtoriums für feine Belehrungen über das athanaflanifche 
Glaubensbekenntniß abgepreßt hatte: „Das konnte ich nicht erwarten! dad konnte ich 
nicht wiffen!” Nach diefer Erfahrung verlebte mit ihm die Gemeinde ein filled Da- 
jein. 1849 war R. Mitglied der am 26. Februar zujanımengetretenen, am 27. April 
aufgelöften, zur Mevifion der octropirten Berfaffung berufenen zmeiten Kammer. Gr 
war in berfelben nur in der Debatte über das minifterielle Placatgefeh aufgetreten und 
hatte bei diefer Gelegenheit wieder feinen Mangel an Urtheildfraft bewiefen. Er befämpfte 
nämlih, in der Sigung vom 13. April, jenes Geſetz als eine Mechtöverlegung und 
berief fich dabei auf die octroyirte Verfaſſung, welche die Partei, in deren Namen er 
fprah und deren ausdrüdlichen Beifall er ſich durch feine Rede erwarb, - gleichfalls 
als eine Nechtöverlegung bezeichnete. (Zu den oben angeführten literariichen Dotu⸗ 
menten iſt noch hinzuzufügen: „Das Verfahren gegen den Diviflonsprediger Dr. Rupp 
in der Reeurſs⸗Inſtanz und Momente zur Vertheidigung des Rupp von feinem Der 
fenfor, dem Tribunalsrath Ulrich" (Leipzig 1846); ferner: „Rupp und Detroit. Bei⸗ 
träge zur Geſchichte der neueften religtöfen Bewegung in Königsberg“ (Leipzig 1846). 
Unter dem fehlerhaften Titel: „Zeitungsflimmen über des Dr. Rupp Audmweijung aus 
der Beneralfynode (!) zu Berlin”, bat Ferd. Backhaus (Leipzig 1847) die Urtheile 
der Zeitungsprefie und die Mittheilungen berfelben über die Protefle des Publicums 
und der Zweige und Localvereine der Guflau- Adolph - Stiftung gegen dad Attentat 
ber Generalverfammlung des Guflav- Adolph» Bereins vom 7. September 1847 zu⸗ 
fammengeftellt.) 

Rüppell (Wilhelm Peter Eduard Simon), einer der widhtigften Meifenden und 
Maturforfcher der neueren Zeit, wurde am 20. November 1794 zu Frankfurt a. M. 
geboren und hatte, nachdem er auf dem Gymnaſtum zu Darmfladt eine nur ober 
flaglihe Ausbildung erlangt, vor, fi dem Handelsſtande zu widmen. Er gab indeß, 
von unüberwindlicher Reiſeluſt getrieben, feine bereitö eingenommene Stellung in einem 
Eomtoir bald auf und reifte zunaͤchſt 1816 nad Stalien, wo er feine geſchwächte 
Geſundheit flärfte, und 1817 nach Aegypten. Hier machte fi ihm indeß der Man- 
gel der Bildung fo fühlbar, daß er befchloß, in Europa dad Verſaͤumte durch ernfle 
Studien einzuholen. Dazu war ihm der tücdhtige Fachgelehrte, Baron v. Zah, den 
er zu Genua kennen lernte, zunächſt behülflih, der ihn in dad Studium der Aſtro⸗ 
nomie, der phyſikaliſchen Erbbefchreibung und der Meteorologie gründlich einführte, 
während die Univerfität zu Pavia diefen Studien den weiteren Nahdrud verlieh und 
Ihn auch mit den Übrigen Naturwiffenichaften befannt machte. R. arbeitete in Pavia 
meift bis tief in die Nacht hinein und entfagte, um ſich für feine weiteren Reiſen die 
nöthigen Kenntniffe anzueignen, allen Genüſſen der Geſellſchaft und des Lebend. Aus 
Borliche für feine Baterflabt Frankfurt a. M. ſchenkte er der 1817 begründeten welt. 


Auppin. 513 


bekannten Senkenbergiſchen Naturforſchergefellſchaft Alles, was er bis dahin in Italien 
und Aegypten angeſammelt hatte, und es überwies derſelben auch mit ſeltener Libe⸗ 
ralität alle ſeine Funde und Einkaͤufe aus den Jahren 1822 bis 1827, wo er feine 
große Reife nach Aegypten, Dongola, Nubien, Korbofan und dem Peträifchen Ara» 
bien ausführte, und morunter fidh viele bis dahin in Frankfurt nie geſehene Antilopen- 
arten, Bazellen, Steinböde und felbfi ein Baar Biraffen und Nilpferde befanden. Eine 
dritte Reife unternahm er in den Jahren 1831 — 1834 nad) Habefch, von der er eine Menge 
Alterthümer, namentlih altägyptifche -Bapyrusrollen, Heilige und kirchliche Schriften 
der Kopten, aͤthlopiſche Codices, Münzen, Sculpturen, Waffen und Geräthichaften 
aller Art, wie fie felten ein Privaimann In folder Fülle angefammelt bat, heimbrachte, 
die er der Brankffurter Stadtbibliothek gegen eine Benflon aus dem Stadtärar über» 
antwortete. Unter feinen Reiſewerken zeichnen fi aus feine: „Reiſe in Nubien, 
Kordofan und dem Peträifchen Arabien“ (Brankfurt 1829) und „Heije in Abyffinien * 
(ebendafelbft 1838—40, 2 Bde.), wohin man auch gewiffermaßen das für die Zob⸗ 
logie wichtige Werk rechnen kann: „Neue Wirbelthiere zur Fauna von Abyſſtnien“ 
(1835—40, 13 Hefte), für weldhe Schriften ihm 1839 feitend der Föniglichen geo⸗ 
graphiſchen Gefellfhaft In London der, Preis zuerfannt ward. Außerdem bat R. viele 
kleinere naturhiſtoriſche und archäologifche Monographien im Drude veröffentlicht 
und auch die Archive mehrerer Afabemieen und naturforfchender Gefellichaften, deren 
eorreipondirendes Mitglied er ward, durch feine Mittheilungen weſentlich bereichert. 
Durch Iinguiftiiche Wortverzeichniffe, namentlich aus dem Gebiete der nubifchen (Gallas⸗) 
Sprachen, hat er ingleihen nicht wenig für die Sprachkunde gethan. Don ihm rüh- 
ven auch die legten Blätter ded großen von der Senkenbergſchen Naturforichergefelle 


Schaft angefangenen Atlas des nördiihen Afrifa (Branffut a. M. 1826—1831, 


20 Hefte) ber, womit das ganze Werk zum Abſchluß Fam. 

Auppin. Die den Grafen v. Lindow gehörig geweiene Herrſchaft R. be 
fland aus drei Theilen, namlid) aus dem Lande R. im engeren Sinne, dem Lande 
Wuferhaufen und dem Lande Granfee Das Land A. war die urfprüngliche Er⸗ 
werbung der Grafen v. Lindow und bildet den Fleinen Randflrich des heutigen 30,,3 Q.⸗M. 
großen, mit einem Theil des Landes Lömwenberg verbundenen Ruppiner Kreifes 
des Megierung&bezirfes Potsdam. Das Land Wufterhbaufen, weldhes im 13. Jahr⸗ 
hundert ein Beflgthum der Edlen v. Plotho war, fiel an die Markgrafen zurüd, von 
denen die letzten aus dem Haufe Ballenftedt es unverliehen inne hatten. Gben fo 
war das Land Branfee eine unmittelbare Beflgung der Landesherren. Markgraf 
Ludwig der Bayer überließ aber beide Landfchaften zur Sicherfiellung und Tilgung 
der Schulden, womit die Marfgrafichaft dem gräflichen Haufe verpflichtet war, dieſem 
anfänglid 1334 als Unterpfand, im Jahre 1349 aber erblih und lehnsweiſe; doch 
war ihm Granjee ſchon von den lebten Adfaniern vor 1319 verpfündet worden. 
Eine Brafichaft, im eigentlihen Sinne dieſes Ausdruds, find die Ruppinſchen Lande 
zwar niemald geweſen, und demgemäß haben fih die Brafen v. Lindom ald Beſttzer 
derſelben auch meift nur Herren zu Ruppin genannt, doch giebt es eine Menge von 
Urkunden, in denen ihnen die Grafenwürde auch von MR. beigelegt wird; ja felbft in 
einem kurfürſtlichen Erlaß vom Jahre 1490 wird der damalige Graf v. Lindom, 
Sans, abwechſelnd Herr und Graf von M. genannt. Die ältefte Urkunde vielleicht, 
in der fih die Grafen v. Lindow auch Grafen von R. nennen, ift die von 1273, 
in weldyer die Markgrafen Johann, Otto und Conrad dem Klofter Marienfee von der 
Infel im PBarfleiner See nach Chorin verfegen und ihm das Slamendorf Mogefene 
übermeifen; in diefer Urkunde flebt Guntherus Comes de Rupin an ber Spige der 
Zeugen. Auf diefe Perſoͤnliche Grafenwürde der Beflger von R. flügt fi) denn aud 
der Umftand, daß, ald nad dem Außfterben der gräflichen Linie v. Lindow 1524 bie 
Herrichaft R. in den unmittelbaren Beſitz des Kurfürften übergegangen war, dem lan- 
desherrlihen Titel das Praͤdicat eines Grafen von N. hinzugefügt worden fl. Ob 
dies fhon vom Kurfürften Joachim J., unter deffen Regierung dieſer Heimfall flattge- 
funden bat, geſchehen ift, fcheint zweifelhaft zu fein® Im dffentlichen Berhandlungen 
und landesherrlichen Verordnungen von 1565, 1572, 1588 ift nur von einem Lande 
zu R. die Rede und erſt unter des Eurfürftlichen Beflgergreifers zweitem Nachfolger, 

33 


Bagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. XVII 


514 NMuppin. 


dem Kurfürſten Joachim Friedrich, tritt in einem Erlaß von 1599 die Benennung 
Grafſchaft R. auf. Dieſer Kurfürſt dürfte daher dem landesherrlichen Titel das 
Prädicat eines Orafen von R. Hinzugefügt haben; mit Sicherheit begegnet man bier 
fem Prädicat aber erfl unter der Megierung des König Friedrich IL, in deſſen Fönige 
lichem und Turfürftlichen Titel der Graf von R. gleih nah dem Grafen von Ho⸗ 
benzollern ſteht. König Friedrich Wilhelm III. erneuerte dieſes Praͤdicat 1817 bei 
Regelung des neuen Föniglichen Titeld und Wappens von Preußen, und diefer hobe 
Herr liebte ed vorzugsweiſe, fich auf feinen Meifen in auswärtigen Staaten Graf von 
N. zu nennen. Was dad oben erwähnte Land Löwenberg betrifft, fo wurde daſ⸗ 
felbe entweder von Albrecht des Bären Sohn Dtto I oder dody im Anfange des 
13. Jahrhunderts der markgräflihen Herrfchaft unterworfen. Die Markgrafen befaßen 
es zuerſt unmittelbar und ließen es wahrfcheinlich von Lowenberg aud verwalten, mo» 
felbf ein Schloß war, in einzelnen Urfunden die Löwenburg genannt, um die ſich 
nach gewohnter Weife Anfledler angebaut hatten, die ihren Wohnplag zu einem Stäbt« 
hen (oppidum) entwidelten, was es ſchon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun⸗ 
dert8 war. Im diefer Periode vertaufchten aber die Markgrafen Johann, Dito und 
Conrad Stadt und Land Löwenberg gegen Stadt und Land Königsberg in der Neu⸗ 
marf an das Bisthum Brandenburg. Diefer Tauſch fcheint um 1265 flattgefunden 
zu haben, obwohl der betreffende Vertrag erft 1270 audgefertigt if. Die Bifchdfe 
von Brandenburg blieben bis zu ihrem Erlöfchen, bald nach der Mitte des 16. Jahr⸗ 
hunderts, im Beſitze des Landes Loͤwenberg. Hierauf fielen bie bifchöflichen Rechte 
dem Landesheren wieder zu; allein dieſe Nechte befanden längft nicht mehr in un 
mittelbaren Beflgungen, fonft faft nur in Lehnäberechtigungen über adelige Beſitzer 
der einzelnen Orte des Landed. Bon da ab bis zum Jahre 1816 bildete das Land 
Löwenberg in Verbindung mit der Landſchaft Glin einen befondern, der Mittelmart 
angehörigen Kreis, der aber bei der neuen politifchen Geſtaltung der Provinz Bran⸗ 
denburg aufgelöft und unter den Muppinfchen Kreis, das Havelland und die Ucker⸗ 
marf verteilt wurde. Der Ruppinſche Kreis enthält fieben Städte, darunter Alt⸗ 
Ruppin und Neu-NRuppin, deren Namen in den Brandenburgifchen Urkunden 
im Verhaͤltniß zu manchen Städten der Priegnig erft fpät genannt werden. Die 
Markgrafen Johann und Otto beflätigen in einem zu Rapin audgefertigten Erlaß eine 
Schenkung an Land, welche die Edlen v. Plotho dem Eifterzienfer Klofter Dünamünde 
machten. Diefer Beftätigungsbrief ift vom Jahre 1238. Ob mit dieſem Rapin Die 
Stadt Alt-R. gemeint fei, ift zwar nicht gewiß, aber doch mahrfcheinlih. Nicht 
lange nachher tritt auch Neu-R. auf, und zwar 1246, in weldem Jahre das dor⸗ 
tige Klofter geftiftet fein fol, und darauf 1256, ald Günther v. Arnflein, Graf in 
Mühlingen, ein Vorfahr der bald darauf ſich Herren von R. nennenden Grafen 
v. Lindow, den Ort mit Stendalfhem Mechte bewidmete. In diefer Urkunde ifl der 
Name nach der einen Lebart Rupyn, nach der andern R. geichrieben, wogegen er in 
einer Urkunde von 1291 in der Form Neu⸗Repin vorfommt. Don dem Entfichen 
beider Orte weiß man zwar nichts, aber höchſt mwahricheinlich if es, daß fie ſlawi⸗ 
fhen Urfprungs find, und Neu⸗R. fhon ein anfehnlicher Ort war, ald ihm daß 
deutfhe Stadtrecht von dem Grafen Günther v. Arnſtein verliehen wurde. Dad wird 
felbR von Gefchichtöforfchern eingeräumt, Die es lieben, alle ftädtifhen Einrichtungen 
in der Mark den flawifchen Bewohnern mehr oder minder abzufprechen und erſt von 
den deutichen Eroberern berzufchreiben. Darum ift ed auch ein gründlicher, auf einem 
Mißverſtaͤndniß des flawifchen Altertbums beruhender Irrthum, wenn behauptet wor⸗ 
den ifl, Graf Gebhard v. Arnftein Habe eine halbe Meile von Rupin entfernt eine 
neue Stadt „erbaut“, die er Neu⸗R. nannte, zum Unterfchiede von jenen Burgfleden, 
der von da an Alt⸗R. hieß. Was man von diefem Gebhard weiß, beidhränft ſich 
Darauf, Daß er entweder 1246 oder doch gegen die Zeit feined im Jahre 1256 er» 
folgten Todes mit feinem Bruder Wichmann, Domberrn zu Magdeburg, dad Klofter 
zu Neu⸗R. fliftete und fich hierdurch ald damaligen Herrn dieſes Ortes befundete. 
Der oben genannte Graf Günther war vermuthlich Gebhard's Sohn. Alt-R., mit 
2099 Einwohnern Ende 1861 und einigen Ueberreſten des alten Schlofles der Gra⸗ 
an von M. liegt an der Norbfeite des Muppiner See's, Neu⸗R., mit einem Stand⸗ 


Aupreht (von der Pfalz). e 5185 


bilde Friedrich Wilhelm's H., der fehenswertben St. Lazaruskirche, der Land» Irrene 
anftalt, mit Tuchfabriken, Effigfabriken, Bildermalerei und 9838 Einwohnern, an ber 
Weſtſeite des genannten See's. Diefe Stadt wurde Briebrich IL, als er noch Kron⸗ 
prinz war, von feinem Vater ald Aufenthaltsort angewieſen. 

Ruprecht, genannt Elem (welcher Beiname, den Einige mit dem lateinifchen 
elemens zufammenbringen, nicht mehr mit Sicherheit enträthfelt werden kann), Kur⸗ 
fürft von der Pfalz und deutfcher Begenkaifer von Wenzel (f. d. Art). Er ifl 
1352 geboren, folgte feinem Vater Ruprecht II. von. der Pfalz 1398 in der Kurs 
würde, führte ſchon während der erſten Gefangenfchaft Wenzel’d das Reidysvicariat 
und wurde, ald Wenzel von dem 1399 zu Marburg geftifteten Kurverein (Mainz, 
Köln, Sachfen, Pfalz) den 20. Auguft 1400 feiner Würde entfegt worden, von ben 
Mitgliedern dieſes Vereins zum Kaifer erwaͤhlt. Die Kurfürflen, die ihn wählten, 
erwarteten von ihm, Daß er ben Frieden In Kirche und Reich wieder berfiellen werde, 
Er feld war von edlem Willen, gerecht, eifrig thätig; dennoch waren bie zehn Jahre 
feiner Regierung eine Reihe erfolglofer Verfuche, Anfäge und Leiden, und felbfl wenn 
fein Charakter flärker gewefen wäre, als e8 der Fall war, fo wäre er dod an ben 
Schwierigkeiten, die fih ihm entgegenftellten, zerfhellt. Das deutfche Koͤnigthum be⸗ 
faß nicht mehr die Kraft, fi zum Mittelpunkt der Nation zu machen, die Einheit ber 
Kirche gegen das Schiema der geiftlityen Ariftofratie und ihre Lehrtraditiom gegen bie 
Regungen der Forfchung im Kreife der niederen Beiftlichkeit zu erhalten und den 
Romanen, Italtenern und Branzofen die Leitung der Kirche zu entreißen. R. war 
nicht einmal im Stande, das Mißtrauen der deutfchen Reichsſtädte zu belegen; Aachen, 
die Krönungdfladt, verweigerte ibm den Einlaß, fo daß er ſich zu KdIn Erdnen lafſen 
mußte. Da es ihm in Deutfchland nicht gelang, Wenzel niederzumerfen, fo verfuchte 
er es in Italien. Wenn e3 ihm glüdte, feinen Gegner Johann Galeazzo von Mai- 
Iand zu bezwingen und vom Romerzug die Kaiferfrone mit nach Deutfchland zu brin- 
gen, fo Eonnte er allenfalld darauf rechnen, die Doppelbeit des Kaiſerthums in 
Deutſchland zu beſeitigen und dann auch vielleicht Das kirchliche Schiöma zu heilen. 
Allein weder die Meichöfteuer noch das Seine, welches er zu diefem Zweck faſt ganz 
baraufgeben Tieß, reichten aus, ihn mit binlänglicher acht für feinen 1401 begonne- 


nen Zug nach Italien auszuftatten. Dazu ließen ihn auch feine flädtifchen Verbun- 


deten in Jtalien im Stih, und 1402 hei Brescia gefchlagen, mußte er ohne Heer, 
ohne Krone und Ehre nach Deutfchland zurückkehren. Nach feiner Rückkehr erlangte 
er zwar die Anerkennung des Papfles als römifcher Kaifer und nahm ſich auch des 
Reiches Fräftig an. So unterwarf er das weflfällfche Vehmgericht der Eaiferlichen 
Autorität, zerflörte die Maubfchlöffer der Wetterau, fuchte die Reichsſtaͤnde zur An⸗ 
erfennung des Öffentlichen Mechts zu vermögen und überzog deshalb den Marfgrafen 
von Baden, die Straßburger und den Ersbifhof Johann von Mainz mit feinen 
Streitmitteln, brachte aber dadurch die Fürſten wider fich auf, Die, wie auch die Städte, 
in einem König, der ihre maßlofe Freiheit zu befchränfen trachtete, den gemeinfamen 
GSegner erblidten. In Süddeutſchland entftand der Murbahher Bund, welcher den 
Zweck hatte, gegen die Neuerungd- und Unternehmungsluft des Königs den Reichs⸗ 
zufland, wie er einmal geworden, aufrecht zu erhalten. In Norddeutſchland 
bildete der Kurfürſt von Sarhfen feine eigene Partei, Die der Neutralität. 
Don allen Seiten gehemmt und gehindert, konnte R. nichtd für das monardifche 
Brincip, welches er proclamirte, leiften; die entgegengefehie Strömung war zu mächtig 
und trieb Deutfchland der Ummandlung in einen Staatenbund entgegen. MR. felbft 
mußte den Ständen dad Eonföderationsrecht, d. 5. daß Privilegium: „ohne fonder- 
liche Laube (Erlaubnif) und Austrag des Reichs Bündniffe und Einigungen um 
Friedens willen unter eimander zu machen“, zugeflehen und damit Den föderativen 
Charakter der Neichöverfaffung gefeglich ausſprechen. Zulegt fah er ſich von allen 
feinen früheren Breunden, au vom Burggrafen von Nürnberg, mit deſſen Tochter 
Elifaberh er ſich in zweiter Ehe vermählt hatte, verlaffen und flarb, unter feinen ver⸗ 
fehlten Anftrengungen zufammengebrodhen, den 19. Mai 1410 zu Oppenheim. (Bergl. 
„R. von der Pfalz* von Höäfler. Breiburg im Breisgau. 1863.) — Ein anderer 
R. von der Bfalz, gewöhnlich genannt -Brinz Ruprecht, dritter Sohn bes zu fein 
33 * 


— 


6 + “ Rurik. 


Unglück zum König von Böhmen ernannten Kurfürſten Friedrich V. von der Pfalz 
und der Tochter Jakob's I. von England, der Vrinzeſſin Elifabeth, geboren 1619 zu 
Prag, trat zuerft im bdreißigjährigen Krieg als Militär gegen die Kaiſerlichen auf und 
wandte fich, nachdem er 1638 — 1642 In der Befangenfchaft hatte verweilen müflen, 
nach England, wo ihm fein Oheim Karl. den Titel eines Herzogs von Gumberland 
verlieh. Er erwarb fid im englifchen Bürgerkrieg den Namen eined tapfern Genes 
sale, ward aber 1644 bei Marftion- Moor gefchlagen. Nach der Niederlage von 
Nafeby, wo er den linken Flügel commantirte, ſchloß er ſich in Briftol ein, übergab 
aber dafjelbe jehr bald an Fairfax, weshalb er von Karl I. feiner Stelle entfegt 
wurde. Nach der Hinrichtung des Königd verfuchte er ed, den Engländern mit dem 
treu gebliebenen Theil der Flotte noch mannichfahhen Schaden zu thun, mußte ſich 
aber fohließlih (1654) nach Frankreich retten. Karl IL überhäufte ihn nady der Ne 
ftauration mit Ehren und machte ihn zum Admiral, ald welcher er 1673 die englifch- 
franzöflfche Flotte gegen die Holländer befehligte. Er ſtarb als Gouverneur von 
MWindfor zu London 1682. Er Hatte ſich eifrig mit Phyſik und Chemie befchäftigt, 
auch mehrere Erfindungen gemacht, 3. B. das fogenannte Prinzenmetall, ferner Die 
Geſchütze verbeflert, die Mezzotintomanier, in der er felber gefchict war, nad England 
verpflanzt, endlich die Hudfondbaicompagnie gegründet. 

Rurik, ein Fürſt der ruſſiſchen Waräger, gleichfam der Normänner Finnlands 
und Ingermanlands, welche hoͤchſt wWahrfcheinlich, wie jene, ffandinanifhen Urſprungs 
waren; der Stammpvater der ruſſtſchen Herrfcher und Begründer des rufftfchen Reichen. 
Wenn man dem Alteften und berühmteften Annaliften Rußlands, Neftor, folgt, wurde 
er von den benachbarten flawifchen und finnifchen Voͤlkerſchaften, die Durch die heuti« 
gen Gouvernements Nomgorod,, Twer und Pskow fi ausbreiteten und in inneren 
Fehden, wie in Kämpfen mit den Nachbarvölfern Iebten, berbeigerufen und ihm bie 
Herrichaft freiwillig angetragen. Er Tam, dem Mufe folgend, mit wenigen Getreuen 
die Newa und den Wolchow herab, fehte fih 862 im heutigen Nomgorod feſt, er- 
wählte diefe Stabt, die ee ausbauen ließ, feit 864 zu feiner bleibenden Reſidenz, re⸗ 
gierte Anfangs mit feinen beiden jüngeren Brüdern Sineus und Truwor, über welde 
die Neſtor'ſche Chronik fo gut wie gar nichtd berichtet, gemeinfam, dann nach deren 
Tode. felbfftändig und Fräftig über die Slawen der Gegend, erweiterte feinen Beflg 
dur glüdlihe Kämpfe mit den benachbarten finnifchen DVölkerfchaften und grüne 
dete den eigentlihen Kern und Stamm der ruſſiſchen, nachmals in fo colofe 
falen Dimenflonen fi ausdehnenden Monardie. Sein Reich dehnte ſich bei feinem 
Tode ſchon von der Newa bid zur Wolga und von der Düna bis zur Oka aus und 
wurde unter feinen Nachfolgern fortwährend ermeitert. Auch fegten fich ſchon unter 
ihm andere nach Selbſtſtändigkeit firebende ritterliche Waräger, wie Askold und Dir, 
abfichend von einem Kreuzzuge nach Konftantinopel, am Dniepr feft und gründeten 
ein zweite, fpäter mit dem Nomwgorodfchen Staate zufammenfallendes Reich zu Kiew, 
welches lange Zeit den Wutterflaat an Machtfülle, Glan; und Tüchtigfeit übertraf. 
R. ſelbſt Herrfchte Hi6 879, wo ihm fein Sohn Igor Rurifowitfch, Anfangs unter 
Bormundfchaft feines Oheims Oleg, in der Negierung folgte, der dann feine Ges 
mahlin, die heilige Olga, zur Nachfolgerin Hatte. Bei R.'s Gefchlechte verblieb, wenn 
man von der Zwifchenherrfchaft der Tataren und Mongolen abſieht, Das fürflliche und 
Später großfürftlichde und zarifche Scepter über das ruffliche Neich während mehr denn 
700 Jahren, indem erſt mit dem ſchwachen Sohne Iwan's IV. Waffliljewitich, Feodor 
Iwanowitſch, im Jahre 1598, der regierende Stamm der Rurik's erlofh, während 
noch heut zu Tage in Rußland 31 Fürftenfamilien befindli find, welche ihr Geſchlecht 
in männlicher, directer und legitimer Linie auf R. zurüdführen können, moneben noch 
drei andere Familien von R. in weiblicher oder in inbdirecter Linie abflammen. Die 
widhtigften haben wir bereitd in dem Artikel Knjäß namhaft gemacht. Bor Peter's 
des Großen Neglerungsantritt waren fchon 65 Würftenhäufer erlofchen, die bis auf 
Rurik Hinaufreichten, und während der Herrfchaft Peter's des Großen erlofchen noch 
weitere 13. Vergl. hierüber: „Le prince P. Dolgorouky, Notice sur les Principales 
Familles de la Russie® (Bruxelles 1843, zweite unveränderte Ausgabe, Berlin 1858), 
nd außerdem: 9. F. Hollmann, Ruſtringen, die urfpränglicde Heimath des erſten 


Ruſſel (William Howard). Nuſſell (Lord Joßn). 517 


ruſſtſchen Broßfürften Rurik (Breslau 1816). R. zu Ehren ward eine von den Ruſſen 
entdeckte Gruppe der „niedrigen Infeln” die Aurit- Kette genannt, und In dem am 
26. Auguft 1862 zu Nomgorod im Kreml, auf dem Plage zwifchen der Sophien- 
Kathedrale und dem Faiferlihen Gouvernements⸗Palaſte unfern des Wolchow, — an 
der Stelle, wo R. einft landete — errichteten großartigen Denkmale für das taufend- 
jährige Beftehen des ruffifchen Reiches, weldhes nad Rikeſchin's Entwurf ausgeführt 
worden iſt, wird durch Die zumeift bervortretende Figur R.'s die Gründung des ruffl- 
fiyen Staates repräfentirt, während die übrigen Haupt⸗Epochen der ruſſtſchen Gefchichte, 
als die Einführung des ChriftenthHums in Rußland 988 durch Wladimir, die erfle 
Befreiung von dem Tataren⸗Joche 1380 dur Dmitri Donskoi, die Gründung 
der Einheit des ruffifchen Zarenreihes 1462 durch Iwan II. Waſſiljewitſch, die 
Herfiellung der Einheit des Meiches dur die Wahl des Haufes Romanow 1613 
durch Mihail Feodorowitſch und die Umbildung Rußlands und Gründung des 
suffifhen Kaifertyums 1721 dur Peter den Brofen verfinnbilblicht find. 

Auffel (William Howard), englifcher Journalift und Kriegscorrefpondent der 
„Times“, geb. 1816 zu Dublin, widmete ſich am Trinity⸗College dem Rechtöftubium 
und begab fih nach London, um ſich für die Barre vorzubereiten. Die Empfehlung 
eines Verwandten brachte ihn aber, als Ihn Mangel an Mitteln von biefer Laufbahn 
abjchredte, als WBerichterftatter bei der ‚Times“ an, deren Beifall er in dem Maße 
gewann, daß er bei ihr eine dauernde Stellung erhielt, in welche er auch wieder ein» 
trat, als er ſich auf einige Zeit dem „Morning - Chronicle* zugemandt Hatte. Beim 
Beginn des orientalifchen Krieges (1854) wurde R. von der „Times* als Eorrefpondent 
nah dem Öften geſchickt und feine Berichte aus dem Lager vor Sebaflopol, nament« 
fi über Die Fehler der Armeeverwaltung, batten fogar den Sturz des Minifteriums 
Aberdeen zur Folge. Nachdem er 1856 feine History of the war herausgegeben, 
reifte er nah Mosfau, um der „Times” über die Krönung Alexander's II. zu berich⸗ 
tn. Cine zweite Auflage feines Krim⸗Buchs erichien ‘zu London 1857 unter dem 
Titel British’ expedition to Ihe Crimea. Im Anfang des Jahres 1858 reifte er im 
Auftrage der „Times“ nah Oſtindien und befchrieb in feiner lebendigen und anzies 
benden Weife die Berältigung des dortigen Aufftandes, worauf die Sammlung und 
Umarbeitung feiner Berichte unter dem Titel My Diary in India (Xondon 1860) er- 
fihien. 1861 begab er fih nach Nordamerifa und das Nefultat feiner dortigen Bes 
ohachtungen veröffentlichte er Ende des Jahres 1862: My Diary, North and South. 

Aufell (Kord Sohn), feit 1861 erſter Graf von Ruffell von Kingfton- 
Ruffell in der Graffchaft Dorfet und erfler Viscount Amberley von Amberley 
in der Grafſchaft Sloucefter, in der Palrfchaft des vereinigten Königreich8; und 
erfter Viscount Ardpfalla von Ardfalla in der Graffhaft Meath, in der Pair« 
fhaft von Irland, der berühmte Einbringer der Meformbill von 1832, zur Zeit 
Staatöferretär für die auswärtigen Angelegenheiten, ift 1792 als der dritte Sohn 
des Sohn R., fünften Herzoge von Bedford geboren. Schon 1814 iſt er Mitglied 
des Unterhaufes geworden; dann 1830 mir den Whigs zur Macht gelangt, mit Balmer- 
flon zufammen täglich vor den Augen Europa's gemwefen. Er bat fämmtlichen Minifterien, 
in denen überhaupt Whigs befindlich waren, angehört und die Partei im Unterhaufe 
geführt. Bon 1830— 1834 fungirte er unter Grey außerhalb des Cabinets ale 
Kriegbzahlmeifter; von 1835—41 unter Melbourne als Minifter ded Innern; von 
1846—1852 ald Premierminifter; von 1852—55 unter Aberdeen als Minifter des 
Auswärtigen, welcher Poſten ihm dann nah dem legten Sturze Derby's bis heute 
geblieben if. So lange Überhaupt von Whigs ala von mehr wie einem bloßen Namen 
die Rede fein konnte, hat er ſich als ein Achter R. bewährt. Diefer alten normän- 
nifhen Familie Emporfommen, die Umftände, welche ‘fie an die Spige bed Whig⸗ 
adeld führten, die Bedeutung, die ſie ald Haupt einer großen Braction diefer Bartet 
das ganze vorige Jahrhundert hindurch behauptete, find in dem Artikel Bedford, 
die Mägliche Lage der Partei zur Zeit der Knabenjahre von Lord John R. in ven 
Artikeln Pitt und Whig gefhilvert worden. Der Artikel Reform ergiedt die Ziele, 
Borbedingungen und die Gefchichte Diefer Mafregel, bis zu der Zeit, wo R. in yas 
Parlament trat. Dort if auch ber Nachweis geführt, daß Parlamentsreform im 


Po - a — — — 





518 ft Aufiell (Lord John). 


vorigen Jahrhundert keineswegs von vorn herein Parteiruf aller Whigs gewefen iſt. 
Wie damals gingen auch fpäter die Anſichten hierüber weit aus einander, und bie 
von verfchiedenen Whigs in kürzeren oder längeren Briften immer wiederkehrenden 
Anträge bezwedten principienlo® nur Ausbeſſerung ganz grober Mängel der Ver⸗ 
faffung, bis endlich die ganze Whigpartei ſich zu dem eingreifenden Schritte von 1832 
einigte, deſſen Vertretung im Unterbaufe R. zur Höhe emporhob, obgleich die Vater⸗ 
ſchaft der Partei vorzügli Grey als älteſtem VBorfämpfer und ihm felbft nur 
die Ehre der Detailarbeit gebührt die ihn fpäter, als die Reformbill fich als Fein 
Werk für Jahrhunderte erwies, zur Hauptautorität und zum Sauptgewaltigen in biefer 
Frage wurde. Seine mefentlichfien Leiflungen find innere, aus der Löjung jener 
Frage refultirende geweſen, fie find viel origineller, als feine auswärtige, durch Lord 
Palmerfton beflimmte Arbeit, weshalb er für und auch vorzugämeife als Meformer 
in Betracht kommt. Seine frühefte Stellung ald folder wird durch kurze Ueber⸗ 
blicke der vierundzwanzig Jahre von Pitt's Tode bis 1830 verfländlich gemacht. 

Als Pitt im Jahre 1804 fein zweites Minifterium zu bilden fich anſchickte, war 
es feine Abficht, dem Wunfche aller ernften Leute gemäß auch die Mefte der Whigs ji 
dadurch zu verjöhnen, daß er die Tüchtigften derfelben, befonders aber Kos, mit in 
das Cabinet berief. Der Widerfland des Königs machte es unmöglid. Nach zwei 
Jahren indeß ließ Pitt's Tod ihm Eeine Wahl. Der 1806 berufene Grenville befland 
auf Fox'ens Ernennung zum Staatöfecretir und erhielt nach deſſen in demjelben Jahre 
erfolgtem Tode das Gleichgewicht zwiſchen Whigs und Toried durch die Berufung 
von Lord Howick (nachmald ald Graf Grey, R.'s erfier Premier und erfter Reform⸗ 
minifter). Nach vierzehn Monaten indeß zwang die fortdauernde Weigerung Georg's UI., 
die Katholiten-Emancipation in Betracht zu ziehen, Grenville zum Rücktritt, und wies 
der fahen fih die feit 1783 zum eriten Mal zu einigem Einfluß gelangten Whigé 
faft auf ein weiteres Biertelfahrhundert von der Verwaltung ausgeſchloſſen. Die 
Minifterien von Perceval 1807—1812 und von Korb Liverpool (1812—1827) in 
feinem erften Abichnitt bis 1822 waren ultraconfervativ, befanden ſich aber bis zum 
Srieden von 1815 mit der populären Strömung im Einklang. Die Wbig-Oppofltion, 
noch immer wegen ihres Widerflanded gegen den Krieg mit Napoleon übel berufen, 
konnte erft wieder Buß faflen, als ihr jene den Boden bereiteten. Und dies geſchah 
im alfergrößten Maße fogleih nal dem Frieden. Die Toried und ihr Winifterium 
fnüpften nicht an die urfprünglicy vor der Revolution von Pitt und der Torypartei 
eingeichlagene organifirende und reformirende Richtung, fondern gedachten die während 
der Mevolution und des Krieged eingetretene Stabilität zu verewigen. Das auß ihrer 
Popularität bervorgegangene Bemußtiein geſicherter Macht Hatte ein Gefühl der Un⸗ 
verantwortlichkeit erzeugt und allmählich ihre Interefien und Sympathieen von denen 
des Volkes getrennt. Außerdem waren ihre Häupter reine Departements vorſteher ohne 
jegliye politifge Begabung. Und diefe Leute follten das Land aus den Nach- 
wehen befreien, erzeugt durch das Hineinwachſen des Fabrikenthums in ein Gemeine 
wefen, deifen Bundanıente einft auf der Grundlage des Aderbaued errichtet waren; 
fie follten die Schwanfungen befeitigen, die dad Aufhören des Sechandeldmonopols 
hervorrief. Ihre PBopularttät begann ſchon 1816 erfchüttert zu werben, als der vor⸗ 
züglich unbedeutende Finanzminifter Vanſittart die drüdende Einfommenfteuer, die ſtets 
als Kriegsſteuer gegolten, im Brieden, wenn auch nur zur Hälfte, forterheben wollte. 
Die Niederlage, die er im Unterhaufe durch die gänzliche Verwerfung erlitt, wurbe 
mit Jubel im Lande begrüßt. Die Jahre 1816 und 1817 bradıten in Folge, der 
ſchlechten Ernte im erfteren furchtbar hohe Kornpreife (der Weizen flieg zeitweilig auf 
103 Sh. das Quarter) und allgemeine Galamität. Dennoch behielt man dad Re⸗ 
firictiondgeieß, das jede Einfuhr bei einem Durchfchnittöpreife von 80 Sp. dad Quar⸗ 
ter verbot, und begegnete der hier und da auftauchenden gemaltfamen Aufregung durch 
Suspendirung der Habeas⸗Corpusacte und dußerfien Drud gegen Preſſe und Ber 
fammlungsreht. Nach einiger Ruhe in 1818 brachte 1819 neue Aufregung in den 
Manufacturbiftricten, hervorgerufen durch das Fallen der Preiſe in Folge der Wieder⸗ 
aufnahme der Baarzahlungen der Bank (ſ. d. Art). Deffentlihe Meetings wurben 

ter freiem Himmel gehalten, in denen Demagogen, befonders Hunt (f. d. Art.) 





Nuſſell (korb John). 519 


Die Beſchwerden des Volkes discutirten und den alten Ruf nach Wahlreform wieder 
anſtimmten, der von jet an leiſer oder lauter das nächſte Jahrzehnt hindurch er» 
fholl. Bei Gelegenheit eines ſolchen Meetings zu Manchefier fand ein Zufammen- 
fioß zwiſchen der Landmiliz und den DBerfammelten flatt, Der mehreren Menfchen 
da8 Leben koſtete und hinfort populär als das „Mancheſter⸗Gemetzel“ bezeich“ 
net wurde. Dad deshalb im November einberufene Parlament nahm fofort die 
fogenannten „Six acts“ (die fech8 Verordnungen) an, die England unter Polis 
zeigewalt ſtellten. Alle frühere Popularität der Minifter war jegt ganz dahin. 
Ueber ihre Unfähigkeit täufchte fich auch die eigene Partei nit. Sie galten für ein‘ 
„Minifterium”, aber Leine Negierung, dennoch aber ſchien man entfchloffen, nach dem 
Ausdruck eined eitgenoffen, fie ſtets „ftolpern, aber niemals fallen zu laſſen.“ Die 
Zoried waren in eigennügiger Kleinlichfeit und comfortabel abgefchloffener, faſtididſer 
Bleichgältigkeit gegen das Volkswohl untergegangen. Der Kern dagegen der einfl 
fo exeluflven Whigs, im Unglück liberal und tolerant geworden, im Beflg erleuchteter 
Anfichten über Finanz, landwirthſchaftliche und Handelsfragen, über coloniale und 
internationale Politik, in der Preffe und Literatur mit ausgezeichneten Talenten ver- 
bündet, ergriff fegt die fich ihm allmänlich zumendende Volksgunſt, flinmte, freilich 
fehr behutſam, in den Auf nady Wahlreform mit ein. Befonderd im Unterhaufe wurde 
N. und fein älteRer Bruder, der Marquis v. Taviſtock, fpäterer Herzog v. Bedford, 
und im Oberhaufe Lord Grey von fjegt an bei jedem bezüglichen Antrag ald Förderer 
der Sache gehört, fo 1819, 1822. Seit 18923 gingen die mehrere Jahre hindurch 
erneuten Motionen dann von R. felbft aus. Diefe Wirkfamkelt bezog ſich allgemein 
nur auf die Vorfragen und Tieß keineswegs den fpäteren gründlichen Meformer 
ahnen‘ In einem 1821 von ihm unter dem Titel: „Ein Berfuch tiber die Gefchichte 
der englifchen Megierung und Berfaffung” beraudgegebenen Buche vertheidigte er die 
herfömmlihe Ernennung der meiften Borough- Mitglieder durch die großen Land⸗ 
befiger und verwarf auögebehntere Volkowahlen, meil die legteren nur Volksredner, 


die erfahrungsgemäß im Haufe nichts leifteten, der erfiere Weg aber wirkliche Talente 


und Staatdmänner in dad Unterhaus führe. „344 erleuchtete Engländer finden fo 
ihren Weg in Ddaffelbe, und der Nugen folcher Mitglieder ift unberechenbar. Die 


‚Mede eined Mitgliedes für einen geichloffenen (Ernennungs-) Borough ift oft eine 


größere Wohlthat für Die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit, als die Voten von 
20 ſchweigenden Mitgliedern.” Aehnlich fprachen die meiften flimmführenden Whigs. 
Am 28. Januar 1820 farb Georg III. und Georg IV. folgte. Gleich nachher wurde 
Die Die Ermordung der Minifter bezweckende Verfhmörung Thiſtlewood's entdedt 
und fo neuer Anlaß zur drüdenden Anwendung jener Gefeße gegeben. Darauf fam 
in demfelben Jahre der feandaldfe Ehefcheidungsproceh des Königs gegen feine Ges 
mahlin, den die Miniſter im Sinne des Erfteren auffaßten, obgleih das Bolt für 
Legtere fo entichieden Partei nahm, daß Fein Fürft in irgend einem Lande ober zu 
irgend einer Zeit allgemeiner oder tiefer gehaßt wurde, als Georg IV. im Sabre 
1820. Das inzwiſchen neu gemählte Unterhaus verwarf indeß ein von Ruſſell's 
Bruder darauf bezüglidhes Tadelsvotum, denn die Wahlen waren unter dem 
Eirdrude dee Vorgänge von 1819 noch torpiftifcher ausgefallen, als biöher. 
1822 folgte der „nebligen” erflen Epoche des Liverpool'ſchen Minifteriumd bie zwelte 
„balberleuchtete". Lord Kaftlereagh, jet Marquis von Londonderry, der minifterielle 
Führer des Unterhauſes, tödtete fih felbft und Ganning trat für ihn ein, während 
jegt auch Peel, Huskiſſon und Nobinfon, fpäter Lord Goderich, zu feinen Collegen 
zählten. Die Sandelspolitit wurde liberaler, Verbeſſerungen in der Volkserziehung, 
der Eriminal- und Wabrifgefeßgebung gefchahen und die Macht der Agitation vermin- 
derte fih. Da ereignete ſich 1825 die große Handelskrifis. Zu ihren Nachmehen In 
1826 ‚gefellte fich furchtbare Düurre, und zu dem Hülfefrhrei der Manufacturdiftricte 
auch die Klagen ber Landbevälferung wegen unzureichenden Tagelohns und uner⸗ 
fchringlicher Pachtzahlungen. Doc vermochten liberale Maßregeln, wie bedingte 
Suspenſion der Korngelege, noch die augenblicliche Unzufriedenheit zu bemeiftern und 


Die Neuwahlen von 1826 fielen wieder confervativ aus. R. felbft verlor feinen Sig __ 


für die Grafſchaft Huntingdon und mußte ſich in Irland wählen laſſen. Nach Lior 





. 520 Ruſſell (Lord John). 


pool’3 endlihem Abgange (1827) wurde Canning Premierminifter und fonnte, von 
den eigentlichen Tories verlaffen, eine Coalition zu Stande bringen, der al& eigent« 
lihe Anhänger Palmerfion, Robinfon, Huskiffon und Lyndhurft, als Whigs die Lords 
Lansdowne und Barlidle fo wie Tierney angehörten, und die von den Hochtories, wie 
von den entichiedenen Whigs, wie Grey und Auffel, befämpft werden follte, ald Can⸗ 
ning fhon am 8. Auguft defielben Jahres ſtarb und nad Goderich's kurzem Inter« 
segnum Wellington erfter Lord des Schaged murde; die Whigs mußten audjcheiden 
und nur die Ganningiten blieben. Auf R.'s Antrag wurde 1828 jegt die Teflacte 
aufgehoben. Als In demfelben Jahre bei Beratbung von Peel's Antrage, das Wahl- 
recht des beftechlichen Fleckens Eaft-Hetforb auf den benachbarten Hundred auszudeh⸗ 
nen, Huskifſon dafür flimmte, e8 auf Birmingham zu übertragen, ſich allo auf einem 
Reformgedanken hatte betreffen laſſen, mußte er abtreten. Mit ihm verließen die Can⸗ 
ningiten, beſonders auch Palmerfton, ihre Poſten und murben durch Tories eriegt. 
Da erzwang O'Connel 1829 die Karholifenemancipation, Wellington fegte fie wider» 
willig im Staatsintereffe mit 320 Stimmen gemäßigter Toried und Whigs gegen 
142 Hochtories durch. Die Whigs flimmten fogar für die diefem Schritt folgende 
Wahlrechtöentziehung aller irifchen Breifaffen von 40 Sh. Rente, ihrer 200,000 an 
der Zahl, und feßten 10-Pfd.-Wähler an die Stelle, damit der katholiſche Einfluß 
fi nicht zu überwiegend geltend made. Ihre Einwilligung zu Diefem, ganz gegen 
ihre auf Ermeiterung des Wahlrechts zielenden Grundfäge gerichteten, Schritt war nör 
thig gewefen, weil jonft fein einziger Tory der Emancipation zugeflimmt hätte. Die 
Hochtories, die natürlich für dieſe letztere Klaufel flimmten, waren jest entichiedene 
Feinde Wellington’s, die Whigs dagegen jegt geneigt, lieber dieſem Miniſterium gegen 
gleiche Theilnahme an der Gewalt alle Unterflügung zu leihen, als eine Wiederver⸗ 
einigung mit den erzürnten Hochtories zu geftatten. Sie verlangten aber Reform⸗ 
Schritte und mußten fie verlangen um ihres Wortes willen und weil fle unvermeid⸗ 
lc geworden. Das ganze Volk erwurtete jetzt von diefer „großen Maßregel“ Hei⸗ 
lung der im Großen und Ganzen anhaltenden Nothzuſtände. Die arbeitende Landbe⸗ 
völferung befonders gab den Yabrifarbeitern nichts an Heftigkett nad; in Schottland 
wegen der Strenge der Bachteinziehung, Die es den Bauern nnmöglich machte, ohne 
eine Quittung über die Zahlung ihre Ernten zu verkaufen, in England, beſonders 
im Süden und Weften, wegen der unendlichen Quälereien bei der Zehntenerhebung, 
die den betreffenden @eiftlichen zur vollftändigen Wirthſchaftsinquiſttion des Zahlen- 
den berechtigten; außerdem wurde die QArmenfteuer, welche alle Landbeſitzer ſchwer be⸗ 
Iaftete, von den Einflußreihen nach Privatintereffe zum Beften ihrer Arbeiter verwen⸗ 
det, und die Menge der Armen nicht halb fo gut erhalten, ald ein Gefangener. In Ir⸗ 
land die allbefannten Zuftände. Alle diefe Zeichen der Zeit erwielen fih auf Wellington 
und befonders auf Beel, der ihn leitete, ohne Einfluß. Daher Eonnten auch die Verhandlun⸗ 
gen miı Balmerflon und den Banningiten nicht gebeiben, da dieſe auf Grey's Eintritt, alfo 
auch auf Reform beflanden. Die Schwäche der Megierung zeigte fih bald. Der An- 
trag von Grey auf umfaflende Vorfehrungen gegen die Wahlmißbräuche wurde nur 
mit 27 Stimmen verworfen. Eine etwas größere, aber immerhin unbedeutende Ma⸗ 
jorität von 48 hatten fle bei der Abftimmung über R.'s Vorſchlag vom 29. Februar 
1830: Mandyefter, Leeds und Birmingham mit Abgeordneten zu verfehen. Gin ans 
derer Antrag deffelben am 28. Mai: Die Baſtsé der Vertretung zu ermeitern, fiel da⸗ 
gegen mit 96 Stimmen Maäjorität. Jetzt traten die politifhen Vereine {political 
unions) auf, zuerſt in Birmingham, und organifirten die Bewegung, die als erfte un⸗ 
widerrufbare Forderung radicale Meform des Parlaments auf ihre Fahne ſchrieb. Am 
26. Juli farb Georg IV., weshalb gleidy nachher dad Parlament aufgelöft wurde; am 
28. vollzog ſich Die Julirevolution und die Neumahlen gefhahen unter dem aufregenden 
Einfluffe diefes Ereigniffee. Kein Gabinetsminifter erhielt einen Sig; außerdem ver⸗ 
loren die Minifter 50 Anhänger, da der Einfluß der großen PBairs der Volkoſtim⸗ 
mung gegenüber nicht Beltung behielt. Die Radiealen Hume und Hunt wurden ges 
wählt. Im October brach in den füdlichen und weſtlichen am meiflen bebrängten 
Sraffhaften das Branpdfliftungsfieber aus, befonders in Kent, Surrey, Suffer, 

znıpfhire, Wiltfhire und Buckinghamſhire. Außer Landhäufern und Vorraͤthen wur⸗ 


Auſſell (Lord Iopn). 521 


den 2 Monate hindurch auch befonders die Dreſchmaſchinen überall vernichtet. Mehr⸗ 
fahe Hinrichtungen konnten erſt Ruhe fliften. Am 2. November verfammelte 
fih dad neue Parlament. Die Thronrede erwähnte bezüglich der Reform gar nichts. 
ALS darauf Grey als Zührer der Oppofltion es für die erfle Pflicht erklärte, in dem 
Augenblid, wo der Geift der Freiheit überall ausbräcdhe, die eigene Verfaſſung durd 
mäßige Aeformen zu fihern, erwiderte Wellington in abwehrender Rede, die mit 
den berühmten und verhängnißvollen Worten ſchloß: „Ich Hin nicht allein nicht 
vorbereitet, eine Maßregel der Art einzubringen, fondern ih will ein für alle Mal 
erflären, daß ich es für meine Verfon, fo ange ich hell an der Negierung des 
Landes nehme, für meine Pflicht halten werde, ſolchen Maßregeln, wenn fie von 
Andern eingebracht werden, Widerfland zu leiften.” Nach diefer Erklärung Welling« 
ton's glaubte Alles an Ausbruch einer Revolution, als die Minifter am 15. No⸗ 
vember in einer nicht wefentlichen Frage in der Minorität blieben und fogleih ab» 
danften. Nach ATjähriger Ausfchließung von der Gewalt wurden jeht die Whigs be- 
sufen. Lord Grey wurde Premierminifter, Brougbam Pair und Lordkanzler, MR. 
Kriegszahlmeifter. Bon den Ganningiten trat befonders Palmerfion ald Minifter des 
Auswärtigen hinzu. Mit Zuflimmung des Königs wurden Reformen zur Gabinetd« 
frage gemadt. Die Stimmung der Nation wird durch einen Blid in die Leber» 
fchriften der !Barlamentsdebatten genügend aufgeflärt. Wir leſen bier Petitionen auf 
Abichaffung aller eingefhägten Steuern, der Zehnten, Reform des Kanzleigerichtö- 
bofes, Trennung Irlands, Erhöhung der Arbeitslöhne, Abfchaffung des Milizgeſetzes, 
bed Concursgerichtshofes, Einführung ded allgemeinen Wahlrechts und des Ballots. 
In den Debatten ſelbſt finden wir die heftigſten Kämpfe bei der Beratung und hören, 
daß Hochtories die radicalen Führer Cobbet und Hunt Indirect der Brandſtiftung an- 
Hagen. Ein Ausfchuß des Gabinets, beftehend aus Lord Durham, Lord Duncannon, 
Str James Graham und R., berieth die Meformbill und einigte fi dahin, fechzig 
Boroughs, die nach dem Genfus von 1821 weniger ald 2000 Einwohner hatten, 
gänzlich des Wahlrechts zu berauben, fo daß 120 Mitglieder audfielen. 47 Boroughs, 
die zwifchen 2000 und 4000 Einwohner hatten, follten ein Mitglied verlieren, fo daß 
bier 47 Mitglieder abtraten. Dafür follten 7 nicht vertretene Städte Wahlrecht für 
2 Mitglieder, 20 andere ein Mitglied und 28 Graffchaften ein neues Mitglied er- 
halten, für Schottland 5, Irland 3 Hinzufommen. In allen Boroughs follte von 
jest an ein Einfonmen von 10 Pfd. St. aus Eigentbum oder Miethszahlung von 
derfelben Höhe zu activem Wahlrecht qualifleiren.. So mürden fi die Wähler um 
500,000 vermehren, Die Abgeordneten von 658 auf 596 vermindern. Alle Ausbürger 
follten auf Lebenszeit ihr Recht behalten, aber Feine neu creirten zugelaffen werben. 
Die Abftimmung (poll) follte nad zwei Tagen endgültig gefchloffen werden. R.'s 
Aufgabe hierbei mar indbefondere die Aufftellung jener Caſſirungsliſte geweſen, und 
wurde er nach Roſzbuck (Geſchichte des Whigminifteriums, I. 30) nicht ganz mit 
Unrecht beſchuldigt, fih gehütet zu Haben, dem Einfluß des Haufed Bedford zu nabe 
zu treten. Am 9. Februar 1831 trat das Parlament wieder zufammen und am 
1. März begann die Eröffnung der Berathungen. R. ald Vertreter des Haufed Bed⸗ 
ford und langfährigem Heformfämpfer war troß ſeines untergeorbneten Poſtens die 
Ehre der Vertretung des Cabinets zu Theil geworden. Nachdem er aus den Zus 
fiyerungen Eduard's I. bewieſen, daß damald das Recht aller freien Männer, ver- 
treten zu fein, gegolten und das Unterhaus für Jahrhunderte hindurch auch wirklich 
vertreten, und feierli erklärt hatte, daß die bevorflehende Ermeiterung des Wahl« 
rechts nur als eine gebührende Wiederherſtellung des Rechts zu erachten fei, 
entfaltete er den Plan und fuhr fort: Es mag eingewendet merken, daß die Wirkung 
diefes Planes die fein wird, die Macht und die Privilegien der Ariftofratie zu zer 
fören und das Talent von der Geſetzgebung audzufchließen. Keine Befürchtung Fann 
grundlofer fein. Große und bevölkerte Wahlflecken werden von felbft Männer von 
großer Begabung und volksthümlicher Gefinnung wählen. Keine Reform fann ver- 
hindern, daß Reichthum, Rechtſchaffenheit, Wiffen und Wig bei den Wahlen gebühs 
renden Einfluß ausüben. Es würde der menichlichen Natur zuwider fein, wenn nicht 
die Arifkokratie, wo fie wohnt, wo fie Einnahmen bezieht, wichtige Pflichten ausar 


522 Ruſſell (Lord John). 


ber Noth des Armen abhilft, nicht großen Einfluß auf die öffentliche Meinung ber 
ſihen und entfprechendes Gewicht bei der Wahl derer behalten follte, die dem Lande 
im Barlamente dienen follen. Solche Perfonen, wenn fle auch nicht die directe Er—⸗ 
nennung der Mitglieder ausüben mögen, werben dennoch haben, was ihnen gebührt. 
Wenn aber unter Ariftofratie diejenigen PVerfonen verftanden werden, die nicht unter 
dem Volke leben wollen, die fich nicht um daffelbe fünmern, die Ehren fuchen ohne 
Verdienſt, Aemter ohne Mühwaltung, Benflonen ohne Dienftleiftung — für ſolche 
Ariftofratie Haben wir Fein Mitgefühl; und wir denfen, je eher eine ſolche weggefchafft 
if, nebft der Gorruption, die fle erzeugt, um fo beffer für das Land, in dem fle jeden 
gelunden und flärkenden Einfluß untergraben hat. Der- Nedner ſchloß den allgemei⸗ 
nen Theil feiner Rede: „Um die Berfaffung auf eine fefte Baſis zu begründen, müflen 
Sie zeigen, daß Sie entfchloffen find, nicht der Vertreter eines befchränften Standes⸗ 
interefles zu fein, fondern einen Körper, bilden mollen, der das Volk vertritt, aus 
dem Volke entfpringt und mit den Volke fühlt, der mit gutem Gemwiffen an das Bolf 
appelliren kann, Daß es ferner die Laſten des Landes fragen und mit den Gefahren 
kaͤmpfen möge, die ibm in Zukunft drohen mögen." Bon der Wirkung diefer Rede 
fagt Alifon: „Nichts Aehnliches iſt vor oder nachher gefehen worden." Die fo ge- 
mäßigte, oben angeführte Erklärung Grey's und R.'s frühere, ebenfalls fehr befchet- 
dene Anträge machen dad bodenlofe Erftaunen der Verſammlung begreiflih. Nie 
mand glaubte, daß die Bill durchgehen würde, und die Minifter felbft fürchteten, daß 
möglicher Weife ein Abfchneiden der Debatte durch einen Antrag auf Nichtgeftattung 
der erfien 2efung den ganzen Plan vernichten könne. Sir Robert Inglis, Tory⸗ 
Mitglied für Orford, antwortete fofort in meifterhafter Rede und begann die Des 
batte, Die fleben Nächte dauerte. Alle vorhin angedeuteten Spaltungen zwifchen den 
Tories waren mit einem Schlage verfchwunden. Sie flanden unter Peel zufammen, 
eben fo wie auf der andern Seite Whigs, Canningiten und Madicale vereinigt waren. 
Im Ganzen hatten die Whigs die größern Mebner. Ihre Lifte weift die berühmteften 
und geläufigen Namen Englands auf: Rufſell, Balmerflon, Sir C. Hobhoufe, 
die Gejchichtsfchreiber Macaulay und Sir 3. Mackintoſh, den Dichter Bulwer; 
mit ihnen verbindet David Hume und Oconnel. Bereinzelt beide Parteien bes 
fämpfend und von beiden bekämpft, ftritt der Demagoge und Bierbrauer Hunt. 
Nach flebentägiger Debatte paſſirte die Bill am 8. März die erfle Lefung. Darauf 
füllten Zuftimmungs » Adreffen mit 20— 30,000 Unterfchriften die Tafel des Haufe, 
das am 17. Juni in der vollfien Verfammlung, welche Die englifche Gefchichte Eennt, 
bei 608 Unmefenden die zweite Lefung mit 302 gegen 301 Stimme bewilligte. Der 
Sprecher und vier Zähler flimmten nicht mit. Als man am 18, zur Committee 
Berathung fchreiten wollte, brachte General Gascoigne einen Verbeſſerungs⸗Antrag ein, 
dahin gehend, daß die Zahl der Abgeordneten diefelbe bleiben ſollte. Nach heftiger 
Debatte ging diefer mit 299 gegen 291 Stimmen durch. Es handelte fich jet für 
die Minifter darum, eine Auflöfung des Haufes in Betracht zu ziehen. Angeſichts 
eined fat sevolutionirten Landes Neuwahlen wagen, war eben fo gefährlich, wie mit 
dem alten Haufe weiter regieren. Der König war einer Auflöfung abhold, weil das 
Parlament feine Givillifte reichlich bedacht hatte. Jene entfchloffen ſich für das Erftere 
und erzwangen e8 durch Kühnheit. Am 22, Juni, während beide Käufer faßen, ließ 
Brougham die zur Geremonie nöthigen Kronbeamten und das Militär fich in Bereit⸗ 
Schaft halten und begab fih mit Grey zum Könige. Als fie diefen mit der Noth⸗ 
wendigfeit fofortiger Auflöfung befannt gemacht hatten und er die Kürze der Zeit vor⸗ 
fügte, wurden ihm die fchon getroffenen Maßregeln angekündigt... Nach Eurzer Aufs 
wallung, in der er den Lordlanzler des Verraths befchuldigte, willigte er ein. Als 
er ſich dem Oberhauſe näherte, berieth dies eben eine Adreſſe, die den König vor dem 
Schritte warnen follte. Das plögliche Erfcheinen des Haufed der Gemeinen, der Ein- 
tritt des Könige und die Ankündigung der Aufldfung erzeugte daher fo große Auf» 
zegung, daß alle weiteren Worte des Monarchen verloren gingen. Die Barteien 
des nun aufgelöftlen Parlaments trennten fich unter der Aufregung gegenfeitigen 
Hafles. Die Wahlbemegung, die fegt begann, hatte nicht ihres Gleichen an Heftigkeit 
habt. Am 21. Juni verfammelte fi dad Parlament, Sogleich paſſirte die Bill 


[4 


Aufell (Lord Sohn). 623 


bie erfte Lefung, um am 4. Juli zur zweiten zu kommen. Diefe ging burdh mit 
136 Stimmen Wajorität in einem Haufe von 598 Mitgliebern. In der Committee» 
Berathung, welche beſonders durch des torpiftiichen Mitgliedes und Hiſtorikers Croke 
mikroskopiſche Kenntnig der Verhältniſſe jedes einzelnen borough auf zwei Monate 
hinausſsgedehnt wurde, gelang ed dem Marquis von Chandos, die berühmte Chandos⸗ 
Glaufel im toryiſtiſchen Intereffe durchzubringen. Sie übertrug die Wahlrechtd » Ber- 
leifung auf dem Lande, die nur Paächtern von 50 Pfd. und einer Pachtzeit von 21 Jah 
sen und barübgr zugebacdht war, auf fämmtliche Zeitpächter, die 50 Pfd. Rente zahlten. 
Am 21. September gelangte die Bill zur endgültigen Annahme mit 345 gegen 236 
Stimmen. &o allgemein und mit Recht angenommen wurde, daß ihr Schidjal im 
Oberhauſe mindeftens fehr zweifelhaft fei, fo wendete ſich jetzt jene heftige Sprache 
der Prefle ‚und der politifchen GBefellfchaften gegen die Pairs und die Bilcyöfe, und 
machte fie auf die „Furchtbaren Folgen“ einer Berwerfung aufmerffam. Am 3. October 
begann bier die Debatte über die zweite Lefung. Sie dauerte fünf Nädte und wurde 
mit unvergleichlicher Würde und ſtaatsmänniſcher Behandlung durchgeführt. Bür die 
Bill fprachen Brougham mit! der gigantifchen ‚Kraft eines Tribuns; der 7Ojährige 
Grey mit der unparteiifchen Klarheit eines alten Staatsmannes und der Wärme eine 
Patrioten. Diefer hoffte, daß im Ball der DVermerfung fein Bürgerkrieg entflehen 
würde; zweifelte aber nicht, dad ed um die Größe Englands gefchehen fe. Man 
möchte die Bill annehmen, damit dad Haus für den fommenden Sturm geordnet fei. 
Bon der andern Seite erwiderten eben jo meifterhaft die Lords Harrowby und Lynd⸗ 
hurſt. Der Erfiere befonders hielt die großartigfle Rede, die in der Sache gehalten 
worden ift, und die Alles zufammenfaßte, was zum Preiſe Altenglands zu fagen war. 
Am 8. Detober verwarf dad Haus die Bill mit 199 gegen 158 Stimmen, darunter 
alle Bifchdfe dagegen. Darauf votirte das Unterhaus den Miniftern ein Bertrauend« 
votum mit einer Majorität von 131 Stimmen, und diefe prorogirten das Parlament 
am 20. October, ausdrüdlich in der Thronrede erflärend, daß die nädyfte Seſſton fo« 
gleich mit Vorlage der Bill beginnen würde, damit das Volk in den Bollbeflg der 
ihm gebührenden Mechte gelange. Am 12. December brachte R. feine fo veränderte 
BIU, daß die Zahl der Mitglieder wie früher 658 blieb, von Neuem ein. Am 23. März 
1832 hatte der Entwurf alle Stadien im Unterhaufe durchlaufen und R. beantragte 
ihre Erhebung zum Geſetz. Dies geihah mit 367 gegen 231 Stimmen. Der Ent- 
ſcheidung des Oberhaufes ſah nun die Gefammtzahl aller es mit ihrem Baterlande 
Wohlmeinender mit wirklicher Angft entgegen. Die Minifter zogen für den Ball neuer 
Berwerfung im Oberhaufe eine ausgedehnte (etwa 60) Pairdernennung in Betracht, 
eine Mafregel, welde der König nicht wollte und der auch Grey wenig hold war. 
Endlich vereinigten fih Ale über möglihft geringe Zahl der Ernennungen, auf 
vielleicht einige zwanzig und faft ausſchließliche Einfhränfung derſelben auf ältefte 
Söhne von Paird, fo daß in Zukunft die Zahl die alte blieb. Inzwiſchen Enüpfte 
auch des Königs Geheimſecretaͤr Sir Herbert Taylor Unterbandlungen an mit einigen 
Lords der Oppofltion und wußte fie für die Bill günftig zu flimmen. Alles Dies 
ermöglichte am 13. April im Oberhaufe das Paſſtren der Bill Durch die zweite Lefung 
mit 9 Stimmen Mehrheit. Jedoch erft nach langen Kämpfen und Unterhandlungen 
fonnte die Bill den 5. Juni 1832 mit 106 gegen 22 Stimmen zum dritten Male 
gelefen werden, worauf Grey dem Haufe zu diefem wahrhaft confervativen Geſetz Glück 
wünſchte. Die königl. Beftätigung geichah am 7. Juni. Nach einigen Tagen paffirten auch 
die Bills für Schottland und Irland, und der neue Ausbau des Unterhaufeß mar vollendet. 
Die Wirkungen diefer Geflaltung auf die politifhe Phyſtognomie Englands find in 
dem Artikel Großbritannien in Umriffen gegeben worden. Sie bedingten fefles Fuß⸗ 
fafien der Whigs, nach außen das rüdhaltlofe Befthalten von Canning's Grundfägen, 
nach innen die allmähliche, aber vollſtaͤndige Auflöfung der alten Parteiverhältnifle und 
die gänzlide Umgeftaltung des Gemeindelebens. Wir verweifen auf die Art. Whig, 
Tory und Selfgovernment, in denen diefe Wandelungen umfaflender befprochen find. 
Ste find noch in Feiner Weife abgefchloffen. Die Neformbill follte nah R.'s Be⸗ 
— eine Endmaßregel (final measure) fein, weshalb ihm von den Gegnern der 

einame Binalitg » John zu Theil wurde. Obgleich bis heute noch in Kraft, bat fir 


524 Auffell (Lord Sohn). 


fi, wie ihm ſelbſt von vorn herein nicht unklar fein Eonnte, nicht als ein Werk für 
Jahrhunderte bewährt. Sie Hatte nur Werth als ein praktiſches Auskunftämittel des 
Augenblidd. An fich betrachtet, war die Meformbill weiter nichts, „als ein gigan- 
tifche8 Flickwerk.“ Sie zerftörte Wahlrechte nach einer Megel und baute nach einer 
‚zweiten auf; denn 1) ſchloß fle Orte aus oder verminderte die Zahl der Vertreter nadh 
der Beichaffenheit oder der Zahl der Wähler, und 2) berechtigte fie Orte nach der Zahl 
der Bevölkerung, ohne auf die Zahl der Wähler Rüdfidt zu nehmen. Nach dem 
Balle der Whigs im Jahre 1835 verfuchte Peel noch einmal nach den alten Tory- 
Srundfägen zu regieren. Die Berbindung der Whigs mit den Irländern, die ja Hin» 
fort als Ausſchlag gebende Partei auftraten, machte Died unmöglich. R. veranlaßte 
diefe Bereinigung und führte fie gegen Perl durch feinen vorfichtigen Antrag vom 
30. März d. J.: die zeitlichen Gefälle der irifchen proteflantifhen Kirche In Betracht 
zu ziehen unter dem Geſichtspunkte, ihre Ueberſchüſſe zum Beſten der Volkserziehung, 
adgefehen vom religidfen Befenntniffe, zu verwenden. Nachdem Peel bei der Borfrage 
mit 53 Stimmen in der Minorität geblieben, trat R. entfchiedener mit dem zweiten her⸗ 
vor: daß Eeine fpätere Mapregel betreffö des Zehnten genügend fei, wenn fle nicht 
das obige Princip in ſich ſchließe. Nach neuer Niederlage refignirte Peel und Mel- 
bourne murde Premier, unter ibm R. Staatöfecretär des Innern. Alebald Fünpdigte 
diefer feine zwei großen Mafregeln der Neform des Städtemefend und der Ablöfung 
ber iriſchen Zebnten an. Die erfte, eine nothwendige Gonfequenz der Reformbill, follte 
jener vorher flüchtig berührten Verkommenheit der Städte ein Ende machen. Wir 
überlaffen die Vorbedingungen der Maßregel und ihre Details dem Artikel Städte 
weien. Die übrigen wichtigen organifchen Beränderungen bis zum Sturze des Mi⸗ 
nifteriums Melbourne im Jahre 1841, an denen allen R. unaudgefegt hervorragenden 
Antheil nahm, bleiben am beften dem Artikel Whig vorbehalten, da fie als Gefammt- 
Arbeit der Partei aufzufaffen find. Peel und die Toried gelangten noch einmal von 
1841 —1846 zur Macht. Das Hinübertreten ihres Führers auf die Seite des Preis 
handels zertrümmerte dieſe Partei und die durch Verwerfung von Peel's irifcher Zwangk⸗ 
bill flegenden Kiberalen murden unter R.'s Premierfchaft geſtellt. Schon 1841 war ihn bie 
Ehre der Vertretung der City, eined vorzugsweiſe liberalen Körpers, zu Theil geworden. 
Er behauptete fh von 1846— 1851. Die Neumahlen von 1847 fanden ohne große Aufe 
regung flat. Die Majorität, aus Liberalen, Radicalen, Ultra Katholiken und Peel feind⸗ 
lichen Protectioniften beſtehend, konnte R. nur eine laue Unterftügung gewähren. Auch 
waren die großen Krifen der Periode einer durchgreifenden, im Innern nach Ideen 
organifirenden eigenen Wirkſamkeit nicht günftig. Er hatte ſich auf die Abwehr von 
Unheil und DVerwidelungen zu waffnen und einzufchränfen, wie die große Geldkriſis 
von 1847, die chartiftifche Agitation von 1848, die pufeyitifchen Streitigkeiten, bie 
Eingriffe des päpftlihen Stuhles in die föniglihe Suprematie durch Ernennung bes 
Cardinals Wifeman. In den Verhältniffen dagegen, Die das Ausland mitberührten, 
und im olontaldepartement gefchahen erfolgreiche Beränderungen. Unter R. if der 
Breidandel eine Wahrheit, unter ihm find die Schifffahrtögefege abgefchafft worden. 
Den amerikaniſchen und auftralifchen Golonieen gegenüber griff jegt vollftändig die 
Marime Plag, fle ganz auf Selbfiregierung zu flellen, fo daß fie an das Vaterland 
nur angefettet wurden durch die Traditionen und die Sympathieen der Einwohner und 
die Erkenntniß derielben, wohin ihre dauernden Intereffen fle mwiefen. Nur wenige 
Megulationen betreffd der Einwanderung, des Landfuufs, der Zölle, zwingen ſie noch, 
in den Prineipien des Mutterlandes zu geben, dad im Uebrigen von ihnen nichts 
empfängt, fondern ihnen umſonſt feinen militärifchen Schuß auf eigene Koften fpendet. 
Die beiden Männer, die diefe Grundfäge unter R.’3 Sanction durdyführten, waren Graf 
Grey, der Sohn des Reformminiſters und Kolonialfecretär, und Sir William Moles⸗ 
worth, fein fpäterer Nachfolger. Auf die revolutionären Zuflände Europa's blickte R. 
als Zuſchauer und proclamirte unbedingte Neutralität. Balmerflon dagegen bezeugte 
mehrfach feine entfchiedene Abneigung gegen die Öfllihen Mächte und fchürte durd) 
feine Haltung die Aufregung. Das Berbältniß beider dharafterifirte ſich bald nicht 
nur durch diefe Meinungsverfchiedenheit in einer beſtimmten Richtung, fondern durch 

Inzlihe Gigenmächtiglett Palmerſton's In feinem eignen Departement. „ALS der edle 


Auffinn. 525 


Lord zuerft Seeretär des Auswärtigen wurde, war er unter Lord Grey, einen bes 
jahrten und erfahrenen Staatsmann, geftellt, auf den mein Freund, damals noch jung 
im Amt, gern hören wollte. Als Lord Melbourne an der Spike fland, gaben Ihm 
feine lange Breund» und feine Bermandtfchaft mit meinem edlen Freunde ebenfalls 
Einflup. Ich felbft, ohne diefe Vortheile, habe gefunden, daß Beziehungen, wie dieſe, 
Schwer zu erlangen feiern. Biöweilen fühlte ich große DVerantwortlichleit*, To lauteten 

R.'s befcheidene Erörterungen, ald am 3. Febr. 1852 Palmerſton's plöglihe Ente 
— im Unterhauſe discutirt wurde. Im Bemwußtfein, wie mächtig der Legtere ge⸗ 
worden war, hatte er dennoch diefe fchwere DVerantwortlichfeit gern getragen und war 
ſelbſt bei ber Pacificoaffalre für ihn eingetreten. Die unumwundene Anerkennung des 
Staataſtreichs in Frankreich machte endlich jene entfcheidende Maßregel nöthig. Cinige 
fie begleitende lmflände giebt der Art. PBalmerfton. Wenige Wochen nach dieſem 
Schritt fiel R., da der Entlaffene fogleich gegen ihn in Oppoſition trat und die Ver⸗ 
werfung feines Milizgeſetzentwurfs durchſetzte. Ueber feine Wirkfamfeit im Aberdeen⸗ 
ſchen Minifterium, fo wie Im jegigen PBalmerflon’fchen f. d. Art. Whig. 

Anffinen (Rusini) oder Ruthenen, auch obgleich irrig Bußniafen oder Roth⸗ 
reuſſen genannt, find Völkerzweige, welche aus dem flamifchen Hauptſtamm auslaufen, 
von den Moskowitern durch Sprache und Sitte fcharf geichleden find und fich in 
beiden Beziehungen den Bewohnern der Ukraine nähern. Sie bilden gleichfam das 
Mittelglied zwifchen den Polen und Kleinruffen und haben in ben letzten beiden Jahr⸗ 
bunderten, befonderd zur Zeit, als fle von den Polen unterjocht wurden, in ihren 
Sprachſchatz viele Polonidmen und zum Theil auch lithauiſche Ausdrüde aufgenom«- 
men, die ihrer Copia verborum früher völlig fern lagen. Die eigentlihen MR. oder 
Ruthenen find ruffliche Unterthanen, Ieben in Podolien und Volhynien, in den Gou⸗ 
vernementd Minsk, Mohilem und Witebsf, und greifen zum Theil auch in Süpoftpolen 
hinein, während die Rußniaken in Galizien und Nordungarn anfällig und fomit Unter» 
tbanen des Kailerd yon Deflerreih find. Beide Gruppen find ſowohl dialeftifch, als 
auch in ihrem Nationaltygp und ihren Bräuchen und Sitten verfchieden. Die Ruß⸗ 
niafen Haben zudem in letzter Zeit viele Germanidmen und Magparismen in ihre 
Sprache aufgenemmen. Schon Schafarit gab die Anzahl aller AR. und Rußniaken 
auf 13. Millionen an, jeßt wird man der Wahrheit nicht fern bleiben, wenn man 


ihrer 1516 Millionen annimmt. Früher, irregeführt durch einzelne Uebereinſtim⸗ 


mungen in der Körperbildung und dem Charakter, warf man die R. mit den Klein- 
polen in eine Klaffe; mit größeren Rechte, wenn man auf fprachlihe Analogieen ſich 
fügt, zählt man die in gang Lithauen und Volhynien verbreiteten Welßrufien, bie 
ſich erſt nach der Vereinigung Polens und Lithauens bildeten und den jüngften fla« 
wifchen Dialekt repräjentiren, in welchem gleichfalld viele Polonismen vormalten, mit 
zur Gruppe der R. und Rußniaken, in die fle fih auch durch die übereinflimmenden 
Bolfglieder, Sprichwörter u. ſ. m. ebenbürtig einreihen. Die R. find faſt insgefammt 
Aderbauer, Eennen außer der Agricultur Feine Induftrie, haben noch feine einzige 
irgendwie erhebliche induftrielle oder commercielle Unternehmung von ſich ausgehen 
lafien, find. ſtupide, trunf- und rauffüchtig und leben in den elendeften, niedrigften, 
unbequemften, alles Lurus ermangelnden Wohnungen und Verhältniſſen. Gleichwohl 
waren fie vor ihrer Unterjochung dur die Polen, bie ihren Lebensnerv töbteten, ein 
freies, ſelbſtſtaͤndiges, ſelbſt im Beſitz einer Schriftfpracdhe und Literatur befindliches, 
geiftig veged Volk: darauf weiſen Hin die 1581 zu Oſtrog gedrudte ruſſiniſche Bibel, 
mehrere in vuffinifcher Sprache erhaltene Geſetze und Statute, die von Wraclaw 
gefammelten Volksliederproben (vgl. deflen „Piesni polskie i ruskie“, Lemberg 1833), 
welche bei vieler Aehnlichkeit mit den ferbifchen und polnifchen Volfäliedern doch audy 
vieles Driginelle haben, ihre meift noch ungefammelten, doch im Munde des Volkes 
noch gangbaren Volksſagen, Fabeln, Sprichwörter u. f.w. und überhaupt ihre lebens⸗ 
kräftige Sprache, die zuerft Lewicki grammatifch unterjucht bat (vgl. deflen „Granıe 
matik der suffinifhen Sprache für Deutfche”, Przemysl 1833) Auch fprechen dafür 
viele alte eigenthümliche Sitten und Gebräuche, befonders bei Hochzeiten, Taufen und 
Begräbnifjen, welche fich dieſes Volk bis zur Heutzeit, befonders in Rußland, wo 
ihre Zahl um dad Vierfache die in Oeſterreich überfieigt, zu bewahren gewußt bat. 


— 


526 Auf (Johann Nepomuk Philtpp). 


Die M. bekennen fich faſt indgefammt zur griedjifch » unirten Kirche, doch find viele 
zwangsweiſe zur griechifch - ruffifchen übergeführt worden, ber nur wenige freiwillig 
beigetreten find. Im Defterreih bekennen fi Einige auch zur römifch = Fatholifchen, 
fo wie zur proteflantifchen Kirche. Neuerlich, angefacht durch die Idee des Panſlawis⸗ 
mus, erwachten auch in den R. Nationalitätögefühle und Beſtrebungen, und bie einiger- 
maßen Gebildeten des Volkes fammelten die Sprachdentmäler, übten einen wohlthuen⸗ 
den Einfluß auf die Verbefferung des Jargons und begründeten gewiffermaßen eine 
neue ruſſtniſche Literatur im Kleinen, die fich freilich bis Heut fa nur um Fibeln 
und Leſebücher und die Ueberfegung einzelner Schulbücher aus der deutſchen, pol- 
nifchen und rufflihen Sprache gedreht hat. Doc find ganz neuerlich auch die alten 
landeöherrlihen Verordnungen, Gefege und Statute in der altruffinifchen Sprache zur 
Sammlung und zum Wiederabdrud gelangt und die nad; der Stadt Kolmy‘am Pruth 
benannten Kolmyken oder zweizeilige Lieder Im altruffinifchen Tert mit Gegenüber« 
baltung des neuen edirt worden. Auch die Pfalmen und das Neue Teftament find 
bereits für den evangelifhen Theil der Bevölkerung in ruffinifcher Sprache aufge 
legt worden. 

Auft (Ichann Nepomuk Philipp), zweiter Sohn des fürftsifchäflichen Regie⸗ 
rungs⸗ und Kammerraths Joſeph Ruſt, auf dem Schloſſe Johannisberg zu Jauernik, 
im oͤſterreichiſchen Antheil von Schleſten, den 5. April 1775 geboren, erhielt feine 
erfte wiffenfchaftlicde Ausbildung in der Haupifchule zu Troppau, demnähfl auf dem 
Gymnaſium zu Weißwaſſer. Hier ſchon entwidelte derfelbe Scharffinn und ungewöhn⸗ 
lies Auffeffungstalent, das ihn fpäterhin ſehr auszeichnete. Diefe Naturgabe und 
feine Lieblingsbeihäftigung mit Mathematit und Zeichnen beflimmten die Eltern bei 
den damaligen Kriegsverhältnifien, den Sohn der militärifchen Laufbahn zu weihen. 
Daher trat R. fehr jung in Eaiferlicye Dienſte. Indeß veranlaßte ihn der Friede 
von Sziftowa, 1791, den Krlegsdienſt gegen den Willen feiner Eltern wieder aufzu⸗ 
geben und feinem inneren Drange zu einer meiteren wiſſenſchaftlichen Ausbildung zu 
folgen. Zu dem Zwed begab fidy der junge MR. nah Wien, obfchon er bier gend« 
thigt war, feinen Unterhalt durch Privatunterricht kümmerlich zu erwerben. Bei alle 
dem ließen feine Fortfchritte in der Geſchichte, Mathematik, Phyſik, Logik und Meta 
phyſtk ihn bald die philofophifchen Studien abfolviren; nur an feiner aufleimenden 
Neigung, ſich der Arzneikunde zu widmen, wurde ihm die bürftige Lage zum mädhtie 
gen Hinderniß. Desbalb wandte er ſich, 19 Jahre alt, der Iurisprudenz zu, deren 
Bang ihm bei den damaligen Verhältniffen in Defterreih mancherlei Erleichterungen 
fiherte. Allein Die mehr unabhängige Rage, in welche ihn fyäter ein Stipendium 
verfegte, wedte feine alte Neigung; MR. befuchte deshalb die Vorlefungen von Jacquin, 
Prochaſska, Jordan, Leber und anderen berühmten Lehrern der Wiener Hoch» 
ſchule, und bezog, durch fie in der Botanik, Zoologie, Mineralogie, Anatomie, Phy⸗ 
ftologte und Operationslehre vorgebildet, zur weiteren Ausbildung die Univerfität 
Prag, wo er zwei Jahre die Borlefungen von Nothenberger, Michelitſch, 
Seebald, Ratuſchka, Arnold, Melitſch, Zarda und Tegel befuchte. 1799 
batte er in feinen mebdicinifch-hirurgifchen Kenntniffen die Reife für die höheren aka⸗ 
demifchen Brade erlangt. Bei feiner Borliebe für die operative Chirurgie ließ er fich, 
1800, in Prag zum Doctor der Chirurgie⸗promoviren; als folder kehrte er nad 
Wien zuräd, die Vorträge von Peter Frank, Ad. Schmidt und dem berühmten 
Augenarzte Georg Iofeph Beer zu hören. Nach diefen Borbereitungen trat A. in 
das praftifche Leben ein. Seine Baterfladt bildete den erften Kreis feiner Wirkſam⸗ 
Teit. Indeß genügte diefe ihm nicht. Deshalb wandte er fih, 1802, nah DIlmäsg, 
um an dem dortigen Lhyceum die erledigten Lehrämter für Anatomie, Chirurgie und 
Geburtshülfe zu übernehmen. Durch feine Fähigkeiten gewann R. das Glück, die 
Anfangs vorlänfige Verwaltung jener Aemter fehr bald in eine firirte verwandelt zu 
fehen, ja der. ungewöhnliche Beifall, mit welchem er lehrte, verfchaffte ihm bereits 
im Februar 1803 bei der Heorganifation der Univerfität Krakau den orbentlichen Lehr⸗ 
ſtuhl der höheren theoretifhen und praktiſchen Chirurgie daſelbſt. Sein audgezeich- 
netes Talent für das Lehrfach entwidelte ſich bier auf eine ebenfo erfreuliche wie er⸗ 
ſprießliche Weiſe; fein Scharffinn und fein klares treffennes Urtheil bei der Kranken⸗ 


Aut (Johann Nepomuk Philipp). 52 


behandlung, ebenfo feine Bewandtheit im abminiftrativen Theile ber Nediein fanden 
bier zugleich die vollfie Anerkennung. In Iegter Beziehung war eine feiner erfien 
Einrichtungen die Organiſtrung einer chirurgifch- Elinifchen Anflalt daſelbſt, welche 
auf dieſer, für einen weiten Kreis beflimmten Hochſchule einen neuen Geiſt in 
dad Studium der Chirurgie erwedte Mit diefen Beränderungen verband MR. 
die Bründung eines chirurgifchen Muſeums, auch drang er auf praftifye Uebun⸗ 
gen in den dhirurgiichen Operationen an Leichen. Hierneben hielt er insbeſon⸗ 
dere Borträge über fpphilitiihe und Augenfranfheiten. Die bedeutenden Erfolge, 
mit welchen M. lehrte, und das Bertrauen, welches man ihm als Praftifer wegen 
der Bründlichkeit und Reife ſeines Urtheild von allen Selten zuwandte, fchafften ihm 
safch einen weiten Auf. Schaaren von armen Kranken firömten ihm, feine Hülfe 
ſuchend, jelb aus den enifernteften Provinzen Polens zn; fogar in dem angrenzenden 
Rußland begehrte man jene; auch übertrug ihm die Stadtbehörde die Beforgung des 
Hofpitald für Benerifche und desjenigen für Wahnſinnige. Weiter machte R. ſich, 
1805, in Krafau um die eifrig betriebene Schugpoden-Impfung verdient, und feine 
Ihätigfeit war bei den in den Jahren 1805 und 1809 in Krafau herrichenden epi- 
demifchen Krankheiten eben jo umfihtig wie raſtlos. Allein alle dieſe Wirkſamkeit 
konnte ihn nicht vor Unannehmlichkeiten fohügen: denn von einigen Seiten wurde ber 
Umfand in Anregung gebracht, daß R. ald Doctor der Chirurgie nicht zur Behand⸗ 
lung innerer Krankheiten berechtigt fei. Zwar flellte biergegen der akademiſche Senat, 
in Anerkennung der Berbienfle, die R. ſich als Arzt erworben, ihm das Diplom 
eined Doctor medicinne aus; indeß wurde diefe Anerkennung nicht den gefeglichen 
Beflimmungen für genügend erachtet, und R. mußte fih deshalb noch im Jahre 1808 
zur ordentlichen Promotion eines Dactor medicinae anfchiden; bei der Brüfung wählte 
er zum Theil dieſelben Collegen, welche feine Kenntniffe angezweifelt Hatten. * Um 
nun ähnlichen engherzigen Anfeindungen in feinem praktiſchen Wirken ficherer zu ent« 
geben, begab er ih außerdem 1809 nad Wien und befand dort die Prüfung als 
Augenarzt. Inzwifchen durfte R. für die erlittene Kränfung fi durch das Vertrauen 
entichädigt halten, mit welchen ihm während feines flebenjährigen Aufenthaltes in 
Krakau drei Mal das Dekanat der medicinifchen Bacultät, zwei Mal dad Üectorat 
der Univerfität und mehrere Jahre Hinter einander das Amt eined Facultätd-Directord 
und eines Santtäts-Meferenten bei der Krakauer Landesftelle übertragen ward. Auch 
verwaltete ex unter den Kriegdereignifien des Jahres 1809 die Direstion der Hoſpi⸗ 
täler, in welchen durch Givilärzte die vermundeten Soldaten behandelt wurden. Nach 
der Abtretung von Welt» Galizien an dad Großherzogthum Warfhau (im Friedens⸗ 
ſchluß zu Wien am 14. October 1809) aber fühlte R. fi nicht länger wohl in 
Krakau. Er wandte fih 1810 auf kurze Zeit nach Lemberg, ging von Hier nad 
Wien, für feine Berlufte Entſchädigung und für feine überall anerkannten Berbienfte 
Belohnung erhoffend. Indeß wurden feine Erwartungen bier nur unvollfländig erfüllt 
und feine Wirkſamkeit auf den engen Kreis eines erflen Wundarztes mit dem Ges 
ſchafte, die gerichtlichen Leichenöffnungen vorzunehmen, befchränft, 1812. Allein die 
&elegenbeit, die Früchte feiner Erfahrungen durch Wort und Schrift Anderen mitzu« 
theilen, Tieß ihn bie ihm übertragene Kranfen-Abtheilung allmählich in ein öffentliches 
Klinikum höherer Art verwandeln, in welchem ausgebildete Aerzte und Wundaͤrzte 
des In⸗ und Auslandes fih mit praftifchen Kenntniffen zu bereichern trachteten. 
Außer den Kranken feiner Abtheilung behandelte R., 1813, zugleich die augenkranken 
Kinder des Bindelhaufes mit glüdlichen Erfolgen. Während diefer Wirffamfeit grün« 
deten einige Abhandlungen, fo wie eine Meihe von Mecenflonen aus R.'s Feder, bes 
-fonder8 aber die 1811 erfchienene Helkologie des thätigen Mannes deſſen Ruf in der 
wifjfenfchaftlihen Welt, fo daß verfchiedene Aufforderungen zu ebrenvollen Stellungen 
im Auslande an ihn ergingen. R. lehnte dieſe ab, in der Hoffnung, in Wien 
eine angemeffene Wirkſamkeit zu erhalten. Allein die Ausfichten blieben fern. Daher 
veranlaßte ihn 1815 das dur den Staatöfanzler Fürften v. Sardenberg ihm 


vermittelte Anerbieten, bei dem eröffneten Feldzuge ald General» Diviflonsarzt in 


preußiſche Dienfle zu treten, nad dem Kriege aber als Lehrer in Preußen angeftellt 
zu werden, anzunehmen. So ging R. mit bem vierten preußlichen Armeecorps nach 


528 NRuſt (Johann Nepomuk Philivp). 


Paris. Seine raſche Auffaffungsgabe und feine Befähigung ließen ihn dad wichtige 
Amt, in welches er ohne Einzelfenntniß eingetreten war, zur vollen Zufriedenheit ver⸗ 
walten. Glaͤnzender entwidelte fich feine Thatfraft und fein Talent nach feiner Rück⸗ 
kehr aus dem Felde. Als Beneral- Diviflonsarzt des branpenburgifchen Armeecorps 
hatte R. feinen bleibenden Wohnflg in Berlin und dadurch die Gelegenheit, bier bei 
den wiffenfchaftlichen Inflituten in Thätigkelt zu ireten. So begann er als aufßer- 
ordentlicher Profeſſor bei der mepicinifch-chieurgiichen Akademie feine Borlefungen über 
Chirurgie, 1816, und errichtete er, den Bebürfnifien zu genügen, noch in bemfelben 
Jahre das chirurgiſch-ophthalmiſche Klinikum im Charite» Krankenhaufe. R. wurde 
jegt zu einem ordentlichen Lehrer der Chirurgie und Augenheillunde bei Der mediciniſch⸗ 
chirurgiſchen Militär» Akademie ernannt, mit der Beflimmung, den General» Ghirurg 
Murfinna bei defien zunehmendem Alter in feinen Obliegenheiten zu unterflüßen 
und zu vertreten. Der Andrang von Studirenden ber Univerfität zu R.'s Vorlefungen 
machte es angemeflen, ihm zugleich eine Stelle unter ben Lehrern der Univerfität an« 
zumweifen, 1818. Auch das folgende Jahr brachte ihm ein Zeugniß feiner ehrenvollen 
Wirkſamkeit, denn man fandte ihn ale Commiſſarius nach Mainz zur Erforfhung und 
Dämpfung der unter den preußifchen Truppen daſelbſt ausgebrocdhenen epidemifchen 
Augenentzändung. Seine energifchen Maßregeln, welche er daſelbſt in Vorſchlag 
brachte, dämpften die Krankheit, deren Weſen er in einer 1820 erfchienenen Mono⸗ 
graphle als contagidfe ägpptifche Augenentzündung feftftelltee Waren nun die Re⸗ 
fultate der von R. in Anregung gebrachten Behandlungsweiſe der Krankheit auch nicht 
gerade günftiger gewefen, als diefenigen von anderen Aerzten, fo fab man doch fein 
Urtheil für maßgebend an und überhäufte ihn mit Ehrenbezeigungen und Ehrenftellen. 
So begann für den tbatkräftigen Mann zugleich eine neue Epoche mit- feiner Ernen⸗ 
nung zum Geheimen DOber-Medicinalratd und vortragenden Rath im Minifterium für 
Die geiſtlichen, Unterricht- und Medicinal« Angelegenheiten, 1821. An dieſen Zeit« 
punkt knüpften fih auch mehrere ind Leben getretene Einrichtungen und Neuerungen 
im Medicinalwefen, bei deren Entwurf R.'s Mitwirkung eine weſentliche oder vorherr- 
chende gemefen fein dürfte. Unter denfelben treten befonder& hervor: 1) die Glaffl- 
fleation des Heilperfonald im preußifchen Staate und die derſelben entiprechende 
Megulirung der Prüfung für die verfchiedenen Kategorieen des ärztlichen Perſonals; 
2) die Einrichtung befonderer Bildungsanftalten für Chirurgen; 3) die MReorganifation: 
des Gharitö-Krankenhaufes in Berlin; 4) die Organifation einer Centralbehörde für 
die Krankenhaus⸗ und Thierarzneifchul« Angelegenheiten, deren Vraͤſidium R. ſelbſt 
übernahm. Waren nun auch die meiften diefer Einrichtungen fo menig frei von 
Mängeln, ja einige ſelbſt fo fehl gegriffen, daß. man fle fpäter wieder fallen Taflen 
mußte, fo zeigte fih doch in allen eine fühne Auffaffungsweife, welche der Stand der 
Wiſſenſchaft wie die focialen Berhältniffe zu fordern ſchienen. R. felbft hat diefelben 
im dritten Bande feiner Auffäge und Abhandlungen Eritifch beleuchtet. Im Jahre 1824 
wurde RM. zu einem ordentlihen Brofeffor bei der Berliner Univerfltät ernannt; auch fein 
Verhaͤltniß als Militärmedicinalbeamter hatte fich im Laufe der Zeit geändert. Als folcher 
hatte er um feinen Abfchied gebeten, um der untergeorbneten Stellung auszuwelcdhen, 
in welche er ald General⸗Diviſtonsarzt zu dem, in Börde'& Stelle gerädten, Generale 
Stabsarzt C. F. v. Graefe geratben fein würde, mit dem er niemals in freunds 
ſchaftlichem Verkehr geftanden, den er vielmehr ſtets als feinen Gegner bezeichnete. 
Der Abfchied wurde ihm verweigert und R. 1822, gleichfalls zum General-Stabsarzt 
der Armee mit dem Range eined Obriſten befördert, auch warb ihm außerdem die 
Zeitung der militärifchen Bildungsanftalten vertraut. Ein neues Feld feiner Wirkfam- 
keit eröffnete fi 1831 Hei der in Preußen auftretenden indifchen Gholera. Indeß 
erwiefen fi die von R. zur Abwehr der Krankheit ergriffenen Mafregeln keineswegs 
als die richtigen: file erregten nur Schreden und verfchlangen große Geldfummen, fo 
daß die Erfolge den gehegten Ermartungen nicht entſprachen. Daher ſchloß R. feine 
Bemühungen zur Erforfchung der Krankheit denen anderer Aerzte an; dennoch fielen 
ihm hauptſaͤchlich die koͤniglichen Belohnungen und Gnadenbeweiſe zu. Im I. 1832 
fllftete RM. den Berein für Heilkunde in Preußen, eine ärztliche Geſellſchaft, welche ihre 
Wirkfamkeit durch die Anfangs von I. F. C. Heder, dann von R., Ed und Groß⸗ 





Nuft (Johann Nepomuk Philipp). 529 


beim, fpäter von Troſchel, gegenwaͤrtig von dem Geh. Nedicinalrath E. Müller 
redigirte medieiniſche Jeitung kund gab. 1834 wurde er Leibarzt des Kronprinzen 
und ſpaͤteren Könige Friedrich Wilhelm IV., dem er in dem genannten Jahre auf 
einer Meife nach St. Petersburg folgte, wo bie großartigen Kranken, und Wohlthätig« 
BeitBanflalten Rußlando feine Aufmerkfamkeit fehr in Anfpruch nahmen. Nah Hufe 
land's Tode, 1836, wurde R. zum vierten Senlor der mebicinifhen Yacultät der 
Berliner Univerfltät ernannt, auf welche Chrenftelle er, 1832, bei Rudolphi’s Tode 
zu Gunſten des Profefford Bartels verzichtet hatte. Andere Auszeichnungen folg- 
ten: unter biefen 1837 die Ernennung zum Wirkl. Geh. Ober⸗Medicinalrath mit dem 
ange eines Rathes erfter Klafiee Die legten Jahre ſeines Lebens widmete er der 
Befefigung und Bervollfommnung der von Ihm in's Leben gerufenen Inflitutionen, 
feinem Lehramte und fchriftftelleriichen Arbeiten, bis ein fich entwidelnder grauer Staar 
ihn ndtbigte, einen Theil feiner Geſchäfte in andere Hände übergehen zu laflen, und 
am 9. October 1840 der Tod endlih aud feiner übrigen Thaͤtigkeit ein Ziel ſetzte. 
Eine Reihe werthvoller Abhandlungen hatte er in feinem, 1816 gegründeten, Magazin 
für die gefammte Heilkunde niedergelegt, dem er 1823 fein Iritifches Mepertorium für 
die Heillunde anfhlop, das er vom 5. bis 22. Bande mit Cabper gemeinfchaftlid 
heraußgab. 1830 unternahm er unter Mitwirkung anderer Aerzte Die bedeutende Ar, 
beit feines Handbuchs der Chirurgie, dad in 17 Bänden erfchien und den Standpunft 
der Ghirurgie des Zeitalterd bezeichnet, in welchem es an das Licht trat. Unter dem 
Dielen, was R. in feinen Schriften Foͤrderliches gebracht bat, iſt Hauptfädhlich die . 
Glaffification und Behandluug der Geſchwüre hervorzuheben, ebenfo die Erkennung 
und Heilung des Brandpsocefied im Zellſtoff und in den aponeurotifchen KHäuten, 
dann die Erkennung verfchledener Krankheiten der Hoden, die Einführung der Einreise 
bungd- und Hungerkur bei eingemurzelten ſyphilitiſchen und anderen dyékratiſchen 
Krankheiten, die Feſtſtellung der Anzeigen zur Berrichtung wichtiger Operationen und 
die Leitung des Heilungsproceſſes nach denfelben; weiter die Diagnoſtik der Gelenk⸗ 
Eranfheiten und deren Behandlung. Außerdem enthalten feine Werke und Abhand⸗ 
lungen einen Reichthum neuer Ideen und Anfchauungdweifen, welde in den betref« 
fenden Dbjerten das Wefentlihe mit Leichtigkeit herausfinden laffen und zu einem 
richtigen und überzeugenden lirtbeile führen. Vermißt man auch meifthin das Kin» 
geben in die feineren phyſiologiſchen Verbältniffe, To entfhädigt Dafür doch die Helle 
und gerade Anfchauungswelfe, in welcher MR. den Organismuß in feiner Geſammtheit 
auffaßte.e Ganz befonderd hervorragend war auch fein Talent ald Elinifcher Lehrer 
und wer, wie der Schreiber dieſes Nefrologes, das Glück hatte, an den Kranfenbetten 
im Charite» Krankenhaufe zu feinen Schülern zu gehören, wird bie unübertreffliche 
Gabe rühmen, mit welcher R. feine reihen Erfahrungen Jedem nugbar beizubringen 
verfland; man kann wohl behaupten, daß in biefer Weife feine gegenwärtig mehrfach 
getheilte Stelle bis heute nicht wieder befeht worden iſt. Sein treffender Blick, ver⸗ 
bunden mit einer, durch gefunde Vernunft geläuterten, reifen Grfahrung, ſetzte ihn 
in den Stand, felbfi die verwideltften Zuftände ſchnell und richtig aufzufaflen, und 
mit logiſchem Scharffinn wußte er in ausgezeichneter Darftellungsgabe dad Erkannte 
lichtvoll, klar und beflimmt, deshalb eindringlid und überzeugend wiederzugeben. 
* Daher waren feine Hörfäle ſtets gefüllt von einheimifchen und fremden Studirenden 
und Aerzten und nahm deren Zahl auch dann noch nicht ab, als er wegen gichtifcher 
Zufälle zu feinen Vorträgen fich die Treppe hinauf und herunter tragen ließ und bed 
Augenlichts größtentheild beraubt, wie ein innerlih um fo Heller Schauender did 
Marimen feiner Kunft entwidelte, welche er während 40 Jahren mit den entſchieden⸗ 
fien "Erfolgen geübt hatte. Dreiundzwanzig Jahre war er der hochgeachtete Lehrer an 
der von ihm in's Leben gerufenen chirurgiſch⸗kliniſchen Anftalt in dem Berliner Cha⸗ 
ritefranfenbaufe. Die Zahl feiner kliniſchen Zuhörer in diefem Zeitraum beläuft fich 
auf 4629, darunter befanden fih 870 promovirte Aerzte und 1372 Ausländer. Als 
Arzt flößte R. durch die Beſtimmtheit und Sicherheit feines Handelns Vertrauen ein; 
er erhöhte daſſelbe durch fein ungezwungenes, natürliches und gerades, ja man kann 
fügen oftmals unzartes, ſelbſt grobes Benehmen, welches fi; bei Hohen und Niedri⸗ 
gen, bei Armen und Reichen gleich blieb, um fo ficherer, als er es durchaus verfchmähte, 
Wagener, Gtaatt u. Geſellſch.Lex. XVI. 34 


530 Rußegger (Joſeph, Mitter v.) Nußland. (Besgraphie und Siatiſtik.) 


einen Nimbus von Gelehrſamkeit um ſich zu verbreiten, und überall Alleb von ſich 
abwies, was au nur entfernt als des Arztes unmwürbig ericheinen kounte. R. farb 
auf feinem Landgute Kleutfh in Schleflen unter dem Beifande des Geheimen Mes 
dicinalraths Profeffior Wendt aud Bredlau, nachdem er kurz zuvor noch in Cudowa 
Geneſung geſucht hatte. Seine Beerdigung erfolgte nah dem Ritus’ der evangelifchen 
Kirche, zu welcher R. fich feit Jahren befannte. 

Rußegger (Iofeph, Ritter v.), tüchtiger oöͤſterreichiſcher Berg- und Forſtmann 
und befannter Neifender, wurde im Jahre 1802 zu Salzburg geboren, wo er auf 
dortigen Schulen die erfle Bildung ſich aneignete, die er fpäter durch Univerfitände 
fludien ergänzte. Don je ber zogen: ihn national-dfonomifche Studien an, und befon- 
ders widmete er fi mit Vorliebe dem Bergfach und der eben damals zur Wiſſen⸗ 
ſchaft emporgeblühten Geognoſie. Nachdem er kurze Zeit Bergverwalter zu Bödflein 
bei Gaſtein gewefen war, wurde er Bergrath in feiner Baterfladt, und bier war es, 
wo ihm die fchöne Belegenheit erwuchs, feinem Wirkungsfreife eine größere Ausdeh⸗ 
nung zw geben und einem lange genährten Wunfche, fremde Erdtheile zu fehen, Rech⸗ 
nung zu tragen. Auf Verlangen des DBice » Königs Mehemed Ali unterfuchte er fett 
1836 dad NilsDelta und Mittel» und Ober⸗Aeghpten in geognoflifcher Hinficht, dehnte 
dieſe Erpebition aber 1838 noch über die Grenzen feines ihm zunächft geftellten Be⸗ 
ruföfreifes bin aus, indem er in das Innere Afrika's auf eigene Koflen vordrang und 
Bid zu den Boldwäfchen von Kiamil gelangte. Im Jahre 1839 trat R. eine Meife 
nah Aſien an, wo er Syrien und Baläftina, Klein «Aften u. f. w., immer im beſon⸗ 
deren Hinblick auf Geognoſte, durchforichte und wichtige Mineralien und Berfleineruns 
gen anfammelte. Im näcffolgenden Jahre durchreifte er auch die europütiche Türkei, 
Griechenland und die meiften Infeln des Archipels, fu wie Malta und Sicilien. Nach⸗ 
dem er kurze Zeit nach feiner Heimath zurückgekehrt, begab er fich fchon im Jahre 1841 
"son Neuem auf eine Reiſe in bie fchottifchen Hochlande und nach Irland, burchforfchte 
auf der Heimkehr einen großen Theil der Niederlande und dad nördlichere und mitt“ 
lere Deutfchland und ging 1842 nah Schweden und Norwegen, wo er die Kiölen x. 
geognoftifch unterfuchte. 1845 wurde R. Gubernial- Math und Salinen - Director zu 
Wieliczka in Galizien, und 1850 flieg er zum Miniſter⸗Rath und Berg- Director von 
Niederungarn und gleichzeitig zum Director der Berg- und Forſt⸗Akademie in Schemnig 
empor, wofelöft er, ſeit 1853 mit der Wirrde des erblichen Ritterſtandes bekleidet, 
noch gegenwärtig wirkt. Seine ausgedehnten Meifen bat er in bem Prachtwerke: „ÜR., 
Reifen in Europa, Aſten und Afrika“ (Stuttgart 1841—50. 7 Bde.) beſchrieben und 
durch daffelbe die Naturwiffenfchaften, infonderheit die wifſſenſchaftliche Gengnofle und 
die comparative Geographie, erheblich gefördert. . 

Außland. I. Geographie und Statiftil. Größe und Ausbehuung. 
Das ruſſiſche Neich, ein der Abflammung feiner Gründer, der normanniichen Waräger, 
nach den germanifchen Meichen verwandter und ihnen der Lage nad benachbarter 
Staat, welcher erfi vor zwei Jahren (1862) das Feſt feines taufendjährigen Beſtehens 
feierte, ift das größte Neih der Erde, übertrifft alle Weltftaaten des Alterthums, 
ded Mittelalterd und der Neuzeit ‘und nimmt etwa ein Sechstheil der gefammten 
Oberfläche unferes Planeten ein, fo welt diefelbe von Menfihen bewohnt if. Die 
ungeheure Ländermaffe dieſes Meiches, durch die neueften Erwerbungen der Ruſſen im 
Kaufafus, am Amurfluffe und am Aralſee und durch die Einverleibungen ber Länder 
der Großen und Kleinen Horde der Kirgifen, im Jahre 1864 angewadıen bis auf 
400,734 geographifche Geviertmeilen oder 19,389,488 Quadratwerſt, bildet im ger 
wiffen Siene eine eigene Welt für fih, zumal Rußland nirgendé durch Enclaven 
zerſtückt iſt oder durch einfpringende Gonflnien mit anderen Laͤndern in unmittelbare 
Berührung kommt. Es dehnt fi, eine einzige compacte Maſſe bildend, zwilchen dem 
38 — 789 nördlicher Breite und dem 35— 250 9 öftliher Länge über den Often 
@uropa’d, den Norden Aſtens und den Norbmeflen Amerika's aus, greift aber auch 
durch feine Länder am Kaufafus, am Caspiſchen Meere und am Aralſee in das Gen- 
trum Aftens ein und Elammert ſich durch das Königreich Bolen an das Herz Europa's 
an. Ja, die Blicke des kühnen Peter's des Großen, des eigentlichen Gründers bes 
ruſſtſchen Gulturftaates, waren fchon einerfelts auf Ghilan und Wafenderan, anderer- 


(Oröße und Ausdehnung. Allmählicher Laͤnderanwachs.) 531 


fette bis zur Elbe gerichtet und bezwedten die Hegemonie auf der Nordfee, während 
Katharina's II. Auge fih auf Konftantinopel Heftete und Nikolaus I, das Mittelmeer 
zu einem ruſſiſchen Binnenfee umzufchaffen die Abſicht Hatte. Keine Macht der Welt, 
vielleicht allein die päpftlihe und der Jefuitismus abgerechnet, bat mit fo flarrer 
Gonfequenz feine gefaßten Pläne verfolgt und zur Mealifation gebracht, wie R.; da- 
ber das Damoklesſchwert der ruſſiſchen Zaren flet8 über der Nordfee, dem Mittelmeer 
und dem Gentrum Aſlens zu ſchweben fcheint. Bereits zieht fih, um ein Bild von 
der räumlichen Ausdehnung des rufflichen Reiches, wie es augenblicklich beſteht, zu 
geben, eine ununterbrochene Heerfiraße von Tauroggen, im Gouvernement Kowno, 
der Srenzflation gegen Preußen, 14,206 ruſſiſche oder mehr denn 2030 deutſche 
Meilen lang, bis zum Hafen von Awatſcha oder Petropawlowsk, dem wichtigſten 
Handeldemporium im Küftengebiete von OÖftfibirien, und von bier aus kann ſich ſee⸗ 
waͤrts die Meile durch ruffliche Länder noch Hunderte von Meilen weiter oftmärtd 
ausdehnen, wenn man längs der Kette der Alduten, der Zuchdinfeln, der Halbinfel 
Alaſchka, der Infeln Kodjak und Sitka bis zum Auferfien Südpunkte des ruffifchen 
Reiches im Nordweſten des amerikanifhen Continents vordringen will. Das ruſſiſche 
Reich grenzt im Norden an die norwegifche Provinz Finnmarken und an daß nörd- 
Tiche Eiömeer; im Often an das britifche Nordamerika; im Süden an Theile des 
Auftraloceans, an China, die freie Tatarei (die Ehanate Khokand, Buchara und Ehima), 
an Berfien und das Kaspifche Meer, die Aftartiche Türkel, Das Schwarze Meer und 
die Europaäiſche Türkei; Im Welten an die Moldau, Galizien und Krafau, den preu⸗ 
Hlihen Staat, die Oſtiee, Schweden und Norwegen. 

Allmähliher Laänderanwachs. Die räumliche Ausdehnung R.'s in den 
erften Jahrhunderten feines Beſtehens ift fehr unbeftinnt, da Neſtor und die Abrigen 
Chroniſten wohl von Völkern und Provinzen des ruſſiſchen Staates fprechen, ohne 
aber Die Grenzen anzugeben. Es ift glaubhaft, daß Rurik's Reich fih ſchon über 
bie jegigen ruſſiſchen Offeeprovingen, Ingermanland und Wiborg, Pskow, Witebst, 
Smolensk, Nomwgorod, Yaroslam, Koftroma, Wladimir, Wologda, Olonez und 
Archangel ausgedehnt babe, und daß zwei Jahrhunderte fpäter, unter Jaroslaw, die 
Großfürſtenthͤmer Kiew und Wladimir und die Fürſtenthümer Nomwgorod und Smo⸗ 
ienst die -Hanpttbeile R.'s bildeten. Nah dem Zerfall R.'s in Theilfürſtenthümer 
bören wir ſehr bald die Namen der Fürftenthümer Murom, Moskau, Tichernigom, 
Aläfan, Twer, Minst, Susdal, Pleskow, Roſtow, Jaroslaw, Wjädma, Volhynien, 
Perejeslaw, Polozk, Derewien, Tmutorakan, Galitſch (Halicz), Terebol, Gorin, Turow, 
Torshest 2c. nennen, deren Begrenzungen noch minder ſcharf ausgeprägt erſcheinen, 
wie die des früheren Hauptſtaates. Als gar die Tataren und Mongolen in R. ſengend 
und mordend eindrangen und R. gewiſſermaßen nur noch ein Vaſallenſtaat der tataris 


fen Chane blieb, der dem Faptichaftfchen Chanate oder der Goldenen Horde zugen. 


zählt ward, und al außerdem Chazaren, Polowzer und Bulgaren die rufflichen Pros 
vinzen nach wie vor verheerten, da verliert Die Korfchung jeden Anhalt zu genaueren 
Beftimmungen in Betreff der Raumverhältniſſe R.'s. Anders ward ed, nachdem bie 
Mongolenberrfchaft zerirümmert und die ruffliche Obergewalt wieder hergeftellt worden 
war. Im. Jahre 1462 unter dem Zaren Iwan MI. Waſſiljewitſch, dem Großen, bes 
fand das vuffifche Meich aus den heutigen Gouvernemente Moskau, Wladimir, 
Nishegorod, Tula, Kaluga, Jaroslaw, Koftroma, Kurdf, Wologda, Olonez und 
Woronesh, mit einem Areal von ca. 18,000 geogr. D.-Meilen. Iman IH. eroberte 
Nowgorod, Psékow, Efihland, Ingermanland, einen Theil von Karelien, Tſchernigow, 
Berm und Wiatla und brachte den Flächengehalt des Reiches 1505 auf 37,200 
DrMeilen. Waſſtlij IV. Iwanowitſch erwarb Smolenst und Archangel, fo daß fein 
berühmter und berüchtigter Sohn, Iwan IV. Waffilfewitfch, 1534, ein Reich von bes 
reits 47,000 DM. Areal überlam. In feiner 50jährigen Megierung (bid 1584) 
erwarb er Kafan, Aftrachan, das doniſche Kofafenland und einen Theil Sibiriend dazu, 
fo daß bei feinem Ableben das ruffliche Meich fehon die refpectable Größe von 
125,000 @eviertmeilen befaß. Feodor Iwanowitſch eroberte in Sibirien noch weitere 


x 


50,000 Q.⸗M., und Zar Midyail, der Stammherr des Hauſes Romanom, melher 


1613—45 regierte, erweiterte den überfommenen Länderbefld von 175,000 Q. M. big 
34* 


532 Nußland. (Geographie und Gtatiftif). 


255,000, indem er zwar Ingermanland und Karellen (an Schweden) und Smolenst, 
Sewerien und Tſchernigow (an Polen) verlor, dafür aber die öfllichen Brenzen des ruſſiſchen 
Reiches bis nad Kamtſchatka vorfhob. Peter der Große, deflen Blide nach allen 
Weltgegenden gleichzeitig bingelenkt waren, fügte Kamtfchatfa und die Kurilen feinem 
Zändercoloffe hinzu und vergrößerte ihn andererfeits durch Erwerbung Eſth⸗, Liev⸗ und 
Ingermanlande, Kareliend und eines Theild von Finnland - (von den Schweden), 
eine THeild von Kiew (von den Polen) und der PBrovinzen Derbent, Balu, Shilan 
und Mufenderan (von den Perſern) auf beinahe 280,000 Q.⸗M. Kür die perflichen 
Provinzen, die in der Folge wieder verloren gingen, entichädigte die Kaiferin Anna 
fih 1731 durch den Erwerb des Landes der Kirgid-Kaifafen und Eliſabeth fügte 
ihrem Scepter 1742 das Land der Offeten, die Oſtſpitze Sibiriens, die Aleuten und 
die Behringd-Infeln und 1743 einen ferneren Theil Finnlands Hinzu, fo daß Katha- 
sina H. im Jahre ihrer Thronbefleigung (1763) auf ein Reich von 324,000 DM. 
Raumes binbliden konnte. Durch die Siege Über die Türken, bie ihr Afow, Oczakow, 
die Kryın, das Küftenland am Bug und Dnieflr, dad Land der Nogaier, die große und 
Tleine Kabarda überantworteten, durch die drei Theilungen Polens, weldye ihr faft zwei 
Dritttbeile jenes Königreiched einbrachten, und durch die Erfolge ihrer nautiſchen Ex⸗ 
peditionen, denen fie einen Theil der Nordweſt⸗Küſte Amerika's verdankte, brachte fie 
das Areal ihres Staated auf 350,000 D.-M. Alexander L eroberte und erwarb 
durch HA Gruſien, Imeretien und Wingrelien, die Provinz Bfalyftol, 
Finnland und die Wands-Infeln, das Land Tarnopol (melches der Wiener Congreß 
wieder zurüdnahm), Beflarabien, Stüde der Moldau, die Donaumündung, Dagheflan 
und Schirwan, und das feige Königreich Polen, fo daß Nikolaus I. 1825 die Herr- 
fchaft über ein Neih von 360,000 O.⸗M. antrat. Die Errungenfhaften feiner Re⸗ 
gierung waren Eriwan und Nachitfchewan, welche Berfien, und das kaukaſiſche Armes 
nien, welches die hohe Pforte abtreten mußte. Der von ihm eröffnete ortentalifche 
oder Krymfrieg koſtete feinem Nachfolger, dem jegigen Kaiſer Alerander Il., durch den 
Pariſer Frieden von 1856 einen Theil Beffarabiend, im Betrage von 222,5, DM. 
Der Legtere aber entfyädigte fich dafür durch Unterwerfung der Kirgifenländer, durch 
Vorſchiebung militärifher Boften in die Anlande des Aralfees, durch Eroberung bed 
Amurlandes und durdy Unterwerfung der Bergvölker des Kaufafus, fo daß für das 
Jahr 1864, wie oben bemerkt, der gefammte Flaͤchenraum des rufflichen Kaiferflaates 
auf 400,734 geogr. Q.⸗M. angegeben werben fonnte. Diefer Angabe dienen die Me» 
fultate des Hauptflatiftifers Rußlands, des Akademiker Peter v. Koeppen, welche der» 
felbe aus der Schweizer'ſchen Planimetermeflung und den neueren Forſchungen Wenju⸗ 
kow's und Chodzko's über das aflatiiche Rußland gewann, als Belege (vgl. Koep⸗ 
pen's „Dewjataja Rewisija®, d. 5. Neunter Genfus, St. Beteröb. 1857); die „Bulle- 
tins de l’Acadeınie des sciences de St. Petersbourg“ vom Jahre 1861 und Der von 
der Akademie herausgegebene „Mjessjazossiow na 1864 god“, St. Beteröburg 1864. 

Bodengeftaltung. Wenn man zunächft das europälfhe R. in's Auge faßt, 
fo bietet dieſes fi Aber mehr denn bunderttaufend Duadratmeilen ausdehnende Land 
den Anbli einer völligen Tiefebene (Sarmatifche Ebene) dar, welde am noͤrd⸗ 
lihen Eismeer beginnend, ſich ohne Unterbrechung bis zum Kaufafus und auf der 
anderen Seite von den Karpathen bis zum Uralgebirge erfiredt. In diefer gewaltigen 
Ausdehnung erhebt fie fi nur wenige hundert Fuß über das Niveau des Meeres, 
ja an ihrem äußerften Südſaume, wo fie fih an das Turanifche Reich anſchließt, 
finkt fie fogar hundert Fuß und darüber unter den Spiegel des Oceans herab, indem 
der Caspi- und Aral- See die tieffle Einſenkung bezeichnen, welche unfere Erbobers 
fläche beſitzt. Nur einige wellenförmige Erdhügel unterbrechen die Eintönigkeit diefer, 
von riefigen Strömen burchflofienen und von Seen (im Norden), Urmäldern (an ber 
Wolga) und Aderflächen durchkreugten Ebene, die als dad reichfle Kornland Europa's 
gilt. Diluvium und Alluvium find die geognoftifchen Merkzeichen bes ſarmatiſchen 
Zieflandes, welches, eingefeilt zwifchen Karpathen, Ural und Kaukaſus, wie ein ges 
‚waltiged Seebecken erſcheint, welches in präadamitifchen Tagen ſchon mag. troden 
gelegt worden fein, während Gadpi und Aral als Reſte jenes Uroceans zurädblieben. 
Eine Unzahl über dad Land verfireuter Petrefacten, verfleinerten Hölzer, caspiſcher 


— — — — 


(Bodengeſtaltung.) 533 


Muſcheln und vorweltlicher Thiere (Mmammuthknochen und Zähne bilden fogar einen 
wichtigen Handelsartifel) erweiſen es zur Evidenz, daß wir überall im farmatifchen 
Lande auf Seeboden fliehen. Es ziehen ſich zwei Landrüden vom Ural aus quer 
durch die Ebene bin; e8 find died der uraliſch-karpathiſche Höhenzug, welder 
mit dem Obſchtſchei Syrt am Südfaume des Ural feinen Anfang nimmt und fein 
Ende in den Karpatben erreicht, denen er fldy durch die Berggruppe von Sandomir 
(Ryfa Gora, St. Batharinenberg gegen 2000‘) anjchließt, und der uraliſch-bal⸗ 
tiſche Landrucen, welcher ſich im Gouvernement Perm vom Ural Töfl und bis in 
die Duellgebiete der Wolga, Düna und des Dujepr flreift, wo die Gruppe der 
Waldaiberge oder des Wolchondfif- Waldes im Popowa Gora ca. 1000 .Sechöhe 
erreicht. Diefe beiden, die farmatifche Tiefebene dammartig durchſetzenden Hügelfetten, 
zu denen fi noch im Außerflen Norden ein vom Nordural außlaufender dritter Hügel- 
zug, Umaly genannt, gefellt, der feine Haupterhebung im Quelllande der Petichora 
und der Kama gewinnt, theilen die Ebene felbft in drei mefentlich verfchiedene Zonen, 
die arktifche (kalte, unfruchtbare), die mittlere (fruchtbare, getreidereiche) und Die meri⸗ 
dionale oder pontifche (befonderd für Steppenvichzucht geeignete). Nord», Mittel 


und Südrußland find daher durch natürliche Grenzen gefchiedene Ränderräume. Was 


man im mefteuropäifchen Wortfinne Gebirge beißt, tritt in Rußland nur an den 
Säumen jener Ebene auf, fo im Kaukafus (vergl. diefen), der in den Sailen. oder 
taurifhen Alpen feine Fortfegung hat (f. d. Art. Krym), im Ural, ben Kar» 
patbhen und den Gebirgen Norwegens, den Kidlen (vergl. die- einzelnen betreffen« 
den Artikel), welche Iegtere, als Manſelkä Gebirge fich fortfegend, In vielfachen Ser⸗ 
pentinen zwifchen den Felsſeen Finnlands ſich hinwinden und erft gegen den finnifchen 
Golf bin, wo fie die feltfame Formation der Skaren bilden, verlaufen. 
Nahdem durch Kalfer Nikolaus I Rußland ſich auch über Theile des 
armenifhen Hohlandes audgedehnt, gehören im Süden des Kaufafus jegt 
auch die Hocgipfel des Ararat (f. d. Art), des böchften Berges der Taurußfette, 
zu den Gebirgen des rujfifchen Reiches. Das aflatifche Rußland, - unter dem allge 
meinen Namen Sibirien, nur durch den Ural von der europäifch-farmatifchen Tiefs 
ebene abgegrenzt, ſetzt im Großen und Ganzen den Charafter der Ießteren fort, was 
die ungeheuren Steppen am Irtyfh, Ob, an der Lena, am Senifei u. f. w. bezeu⸗ 
gen, bie der Wanderer zu pafflren bat, der von Europa aus den Landweg nach China 
einfchlägt. Erſt laͤngs der chineflichen Grenze ſelbſt verändert fi der Typus bes 
Landes meientlih und nimmt zum Theil alpintfche Natur an. Die ganze neuetablirte 


Vrovinz Eabajfal oder Transbaikalien iſt ein vöolliges Alpenland (Dauriſches Alpen⸗ 


land), die neuen Gebiete Sſemipalatinsk und Alatau find theilwets hochgebirgig. Im 
Süden der fegt Rußland völlig einverleibten großen Kirgifenhorde bildet dad Thian- 
Schan⸗Gebirge den Grenziaum gegen das chinefliche Gebiet, weitere Grenzen gegen 
China und Mongolien find der Alatau, der große Altai mit dem folywanifchen Erz⸗ 
gebirge, das fajanifche und daurifche Alpengebirge, Die Jablonoi» und Stanomoikette, 
melche Tegtere fih von China nadı Rußland bin tief Iandeinwärtd wendet und fih an 
die Vulkanberge (Sſopki) der Halbinſel Kamitſchatka anſchließt. Die Gebirge find 
quellenreih: nach Rußland Hin ftrömen die Niefenflüfle, der Ob, Der Irtyfch, der Tom, 
der Jenifei und eine Menge anderer, wie fle Europa von ſolchem Waſſerreichthum und 
folcher Laͤngenerſtreckung nicht aufzumeifen bat, indem fle den fluviatilen Typus Aſtens 
repräfentiren, der fih im Süden jener Gebirgsmauern noch riefiger audprägt, wo Die 
Ströme Jantfefiang, Hoangho, Maifaung, Irawaddi u. f. w. ja überhaupt als bie 
längften Flußcurven der alten Welt gelten. Im ruſſtſchen Amerika erheben fih an 
der Südgrenze gegen das britifche Amerika zu die nörplichfien Ausläufer des Felſen⸗ 
gebirged, wie der Schönmetterberg (mit 13,820’ Seehöhe), der St. Eliasberg 
(mit 16,760° Seehöhe). zu coloffalen Felſenpyramiden, die von emwigem Schnee 
flarren und noch nimmer von dem Fuße eined Sterblichen erfliegen find. Sie 
fcheinen zugleich die legten der noch rauchenden Vulkanpiks zu bilden, welde die 
Nordkette der amerikanifchen Anden bis in die Polarzone hinein vorgefchoben Bat. 
Eharakteriftifch für das ruffliche Reich ericheinen bie ihrer räumlichen Ausdehnung nad 
ſehr verfchiedenen, Ihrem geologiſchen Habitus nach aber wefentlich übereinjtimmenden 





534 Nußland. (Beographie und Statifik.) 


Steppen, welde fowohl im europäifchen, wie im aflatiichen R. zahlreich vorhanden 
find, und welche meift zu beiden Seiten eines großen Stromes ſich ausdehnen, fo daß 
fie auch gewöhnlich von demfelben ihren Namen tragen. . So giebt ed eine Wolga- 
fteppe, eine Donifche Steppe, eine Dinjeprfteppe, ferner eine Petihorifche, Kumanifche, 
Kubanifche, Irtyſch⸗, Iſchimiſche Steppe und andere mehr, ferner eine Kalmyfen-, Kir⸗ 
gifen«, Nogaier⸗, Barabinzifche Steppe, wo Bölferfchaften, eine Tauriſche, Uralifche, 
Aſowſche, ſibiriſche Polarfteppe u. ſ. w, mo Länder, Gebirge, Seen und andre Loca⸗ 
litäten den Namen derfelben geliehen haben. Holzarmuth, Quellwaſſermangel, Reich⸗ 
tum an Saljfeen und Sodafräutern find die übereinflimmenden Charaktertype der 
rufflichen Steppenländer; nicht daß fie durchaus uncultivirbar wären, find ſie es doch 
pi8 heut faft durchgehends, und nur bie Flupfäume find bewohnt und angebaut, wäh 
rend das Innere faft nur von Nomadenvölkern durchſchweift wird, die großentheils 
noch dem Islam oder Lamaismus anhangen, während fie, von der rufflichen Knute in 
Shah gehalten, wenigftens ihr Raͤuberthum abgelegt haben. So gelang den Ruſſen 
ſelbſt noch neuerlich die völlige Unterfjogung der Kirgifen, der Großen und Kleinen 
Horde und der Horde der Schwarzen Kirgifen oder der Burjäten, welche bisher als 
die wildefte und ungezägeltfte NRäuberhorde gegolten hatte. Bis in Dad Herz Innere 
aftend hinein Hat die Eiviltfirung und Chriflianiflrung der nomadiſchen Barbaren 
Raum gewonnen. — Daß für die Gultur der Staaten fo hochwichtige, erſt von ber 
neueren miflenfchaftliden Geographie welentlih beachtete Verhältniß der Küftene 
entwidelung zum Bläcdhengehalte wäre in Rußland, wenigſtens Im europäifchen Theile 
defielben, nicht eben ungünftig zu heißen, obgleich es den Eulturftaaten des übrigen 
Europa gleihmohl nachfteht; es erfcheint jedoch dadurch beeinträchtigt, daß der größte 
Theil der rufflichen Meeresgeſtade in fehr hohen Breitegraden liegt, fo daß die Schiffe 
fahrt auf fehr wenige Jahresmonate ſich beichränfen muß. Don den eigentlich arktiſchen 
Meeren (Nördliches Eismeer, Weißes Meer, Karifched Meer, Behringsſtraße u. f. w.) 
gilt dies entfchieden, aber auch die meiften übrigen mit dem offenen Ocean in Bere 
" bindung flehenden Meere, wie die Öftfee, dad Behrings- und Ochozkiſche Meer, jene 
ein Theil der Atlantis, dieſe Beftandtheile der Auftralfee, bieten nur fpärlih unb 
zeitweife Gelegenheit zur Schifffahrt. So trägt das ruffifche Meich feiner natürlichen 
Rage nah im Allgemeinen einen vorwiegend continentalen Charakter, was auf alle 
Verhaͤltniſſe des Handeld, Verkehrs, Klima’d u. f. w. von mwichtigem Ginfluß if. 
Was die ruſſiſche Dceanologie felbft betrifft, fo gehören im N. das Nördliche Bolars 
meer, im W. die Dfilee, im ©. das Schwarze Mer und im OD. der große Ocean 
dem Reiche an; die Dflfee und das Schwarze Meer find nur Binnenfeen und ihre 
Eingänge von Fremdſtaaten beherricht, welcher Umſtand lähmend auf R.'s Seeverkehr 
influirt. Das noͤrdliche Eismeer ift dagegen faft im Alleinbefige R.'s und der große 
Ocean birgt in fih den Keim zu einer bedeutenden maritimen Entwidelung R.'s, 
wenn auch ein Raum von 2000 Meilen zwifchen ihm und dem Gentralfige der ruffl« 
fhen Macht ſich ausdehnt. Mit Flugem Tact bat dad Cabinet von St. Petersburg 
daher auf die Erwerbung des Amurlandes bingearbeitet, und ‘die Friedensſchlüfſe von 
Sachalin⸗Ulä⸗Chotoön (am 16. Mai) und von Tientfig (1. Juni 1858), in Folge 
deren die Abtretung des Kandftriches am linken Stromufer des Amurs und einer 
Strede am rechten chineflfcherleite erfolgte, und in deren weiterem DBerlaufe die Be⸗ 
gründung des Handeldemporlumd Blagomjeichtfchendt, die Beflgergreifung eines großen 
Theild von Sadalin-Ula, die Etablirung einer Menge commerxciell und militärifch 
wichtiger Poſten längs de& ganzen untern Amur, und fogar dad Project einer Eiſen⸗ 
bahn von Soflist nach Alerandrowmsf an der De⸗Caſtrie⸗Bai ftattfand, iſt ein Creig⸗ 
niß von tiefgreifender Bedeutung und hat R. bereitd zum Herrn des ganzen Amur 
und zum Meifter des Ochotöfiihen und Japanifchen Meeres gemacht. Mehr als 
10,000 D.- Meilen (nur 474,186 Q.⸗Werſte des cisamuriſchen Gebietes find bis 
jegt vermeffen worden, was 9800,, geographifchen Geviertmeilen entſpricht) find da⸗ 
durh mit einem Sclage ald Neuerwerb der ruſſiſchen Krone zugefallen. — 
Einen großen Theil feines merkantilen Wohlftandes verdankt Rußland feinen großen 
Stromadern, bie ein maͤchtiges Waflerneg fiber das ganze Meich audfpannen, woran 
faſt alle einzelnen Theile deffelben in gleichem Maße participiren. Kein Land Yer 


(Bodengeftaltung.) > 335 


Erbe Hat fo viele und fo waflsrreihe Ströme als Rußland unb feines bot eine 
gleiche Ermoͤglichung zu Ganalifirungen dar, wie eben daſſelbe. Daher bat Rußland 
auch Die wichtigen Canalſyſteme der Welt. In die Oflfee münden, was Flüſſe be- 
trifft: der Torned, Kemi, Ulek, Kumo, Kymmene, die Newa, Rarora, Luga, Bernau, 
die lievlaäͤndiſche Aa, die Düna (bei den Ruſſen die ſüdliche Dwina), bie kurlaͤndiſche 
Aa, der Niemen (im preußifhen Mündungslande ſelbſt Memel genannt) und bie 
Weichiel, deren Ründungsdelta ebenfalls Breußen zu Gute kommt. Den pontifchen Mee⸗ 
sen fließen zu der Dujeſter, Bug, Dnjepr, Don, Manytſch, Kuban, Rioni; in den 
Kaspifee fallen Wolga, Kuma, Terek, Kur, Emba, Ural; dem Aralſee ſtroͤmt der 
Syr⸗Darja ein, ein fegt den Ruſſen zins barer Strom; in den Balkaſchſee fällt der 
Si; in den Baikalſee Die Selenga; in das Ciemeer münden die Kola, der Onega, 
die Dwina (nördliche Dwina), der Mefen, Betichora, Ob, Jeniſei, Chatanga, Anabara, 
Dlenel, Xena, Jana, Indigyrfa und Kolyma; endlich in den großen Dcean der Anadyr 
und Amur, fo wie die für die Amur - Golonifation wichtigen Flüffe Ai und Somon. 
Was die Stromlängen und @ebletögrößen der rufflichen Hauptſtroͤme betrifft, fo be⸗ 

trägt Die Stromentwidelung des Ob 475 Meilen (bei einem directen Abſtande zwi 
fhen der Duelle und der Mündung von 270 Meilen) und das Stromgebiet deſſelben 
64,000 Q.⸗M. (mehr als !, ganz Europas!); die Lena bat eine gerade Länge van 
300, eine Eurve von 140, alfo eine Stromentwidelung von 440 Meilen, das Strom- 
gebiet derfelben mißt 37,000 Q.⸗M.; der Amur, diefer für Rußlands fpätere marl- 
time Entwidelung fo hochwichtige Fluß, hat, wenn man die Schilka als den eigent⸗ 
lichen Quellfluß betrachtet, eine directe Stromlinie von 290 Meilen, eine Stroment⸗ 
wickelung von 430 MI. und ein Stromgebiet von 38,000 D.-M. (ein größeres, als 
bie viel längeren Ströme, ber 650 Mli. Tange Iantfefiong und der 570 MI. lange 
Hoangho!) and der Jenifet mißt 315 MI. in gerader und 410 Mi. in gefrümmter 
Rinte, bei einem Stromgebiete von 47,000 Q.⸗M. Hat doch felbft der Aralſteppen⸗ 
from, der Syr-Darja (Sihon, Iararted der Alten), eine gerade Stromlinie von 170, 
40 Mi. Serpentinen, alfo 210 MI. gefammte Stromlänge, und 5000 Q.⸗M. Strom- 
gebiet (faft das Areal des preuß. Staates !). Dies in Betreff der aflatifhen Ströme. 
Was Europa betrifft, fo bat die Wolga 210 Mi. geraden Laufs, 430 MI. Entwide- 
lung, 30,000 Q.⸗M. Gebiet; die Donau, von deren Mündungen Rußland, in Folge 
des letzten Pariſer Friedens, abgebrängt ward, was es bitter empfindet, hat 220 MI. 
Seradlanf, 365 Mi. Entwidelung, 14,400 Q.⸗M. Gebiet; der Dinjepr 140 Mi. Ge- 
tablauf, 240 Mi. Entwidelung, 8500 MI. Gebiet; der Ural 140 Mi. Gerapdlauf, 
190 Mi. Entwidelung, 4700 D.-M. Gebiet, während die refpectiven Zahlen ſich der- 
Balten beim Don wie 105:195: 8000; bei der Dwina (Suchonaquell) wie 70:160:6000; 
bei der PVetfchora wie 90:150:3000; bei der Dina wie 70:140:1400; bei der 
Weichſel wie 70:180:3600; beim Niemen wie 60:115:2000 und beim Dniefte 
wie 90:110:1500. Eine Eigenthämlicykeit der ruſſiſchen Ströme if ihre Waffer- 
fülle bei einem Urfprung auf fehr mäßiger abfoluter Höhe, ihre frühe Schiffbarkeit, 
ihr Reichthum an großen Neben», Zu- und Beiflüffen, und ihre Liman- Erweiterung und 
ſtellweiſe Deltabildung an der Mündung. Die Limanbildung gehört befonders den Flüffen 
der pontljchen Meere an und tritt beim Dnjefir, Bug, Dnjepr, Don, Iefa und Kuban 
befonders ausgeprägt hervor. Deltabildungen zeigen Wolga, Terel, Syr, Donau, 
Dwina, Ob, Leng, Kolyma u. a. m. In den Steppen giebt es auch wahre Dafen- 
flüffe, umwuchert von Strauchwuchs, Salz und Sodafräutern, eine Flora ganz eige⸗ 
ner Art; foldie Zlüffe, die im Brühling bei den Schneefhmelzen ungewöhnlich wafler- 
seich einherfirömen, in der Sommerglut dagegen faft völlig verflegen, find außer zahl⸗ 
Iofen anderen ber Große und Kleine Ufen, die in Salzieen fich verlieren und ſich ſelbſt 
fhon weit ab von der Mündung mit dichten Salzſchichten inkruftiren. Die anal» 
ſyſteme find Schöpfungen der Neuzeit, und die älteflen datiren aus den Tagen Peter’s 
bes Großen; doc legen die Eißbildungen im Winter der Schifffahrt ſtarke Hemmniffe 
auf, und auch die Weite der Waflerwege ift dem Verkehr keineswegẽ förberlih. In 
Bezug aber auf die diſtanziellen Schwierigkeiten der rufflichen Waflerwege fei erwähnt, 
daß nach der. auf autbentifhen Quellen beruhenden „Ehauffee-, Eijenbahn- und Kanal 
linie zwiſchen Petersburg und Moskau" von 3. Altmann (Berlin 1844), bei einem 


536 Aufland. (Geographie und Gtatifik.) 
Directen Abftand zwifchen Beteröburg und Moskau im Betrage von 590 Werften ober 


‚84%, MI., die Länge des ehemaligen Anlıppeldammes zwifchen beiden Meflvenzen 728 


Werft (104 MI.) betrug, eine Diftanz, welche der Ghauffeeweg auf 674 Werft (962, MI.) 
und die neue Eifenbahn fogar auf 607 Werft (865%, MI.) verfürzt bat, während die 
Länge des Strom- und Ganalmeged nicht weniger ald 1200 Wat (1713, MI.), 
alfo nahezu das Doppelte des Schienenweges, beträgt. Die Diftanz zwiſchen jenen 
beiden Haurtverkehrftädten R.'s iſt auf der Eıifenbahnroute in Einem Tage zu durch⸗ 
laufen; die Waflerfiraße erfordert, bei der Mühmaltung und Häuflgen Stockung 
der Bahrt, der Durchſchleuſung u. ſ. w., mindeftens ſechs Woden, wobei 
die Fahrzeuge zeitweife fogar Gefahr laufen, einzufrieren und neue zwanzig 
Wochen lang ' feitzuliegen. Abnormere Schifffahrtöverhältniffe bietet Fein Land 
der Erde dar ald Rußland. Mehr alfo, um ihr Beſtehen zu conflatiren, als um ihre 
eommercielle Wichtigkeit darzulegen, fei erwähnt, daß eine Verbindung zwifchen dem 
Kabpifhen Meere und der Oſtſee fattfindet, erfllih dur das Canalſyſtem von 
Wyſchnij Wolotſchok, welches fo Toloffal. tft, daß daran 76 Seen und 106 größere 
und Kleinere Flüſſe, überbaupi 1450 Quabratmeilen Ganalgebiets participiren, und 
woran von 1711 bis 1818, alfo 107 Jahre, gearbeitet worden iſt; zweitens durch ben 
Marien-Ganal, wozu aud der Ladoga- und Bjieloſerskiſche Kanal gehören, weldye die 
Schifffahrt auf dem Ladogafee und dem Bjelofero umgeben; drittens durch ben 
Tichwinſchen Canal, wozu auch der Nowgorodſche Banal gehört; daß ferner eine 
Verbindung zwifhen dem Weißen und Kaspifchen Meere bergeftellt wird Durch den 
Kubenskiſchen Kanal oder Canal des Herzogs Alexander von Württemberg, fo wie 
durch den Katharinen-Ganal; dag die Oſtſee mit dem Schwarzen Meere in Berbin« 
dung gefegt iſt durch den Berefina« oder Kepelfchen Banal, welcher Dnjepr und Düna, 
durch den Oginskiſchen anal, welcher Dnjepr und Niemen, und durch den Pina⸗ 
oder Konigs⸗Canal, welcher Dinjepr und Weicyfel in Communication bringen, Weitere 
Canalwege wurden bergeftellt Durch den Jafob8-Canal in Kurland, den Auguftowofchen 
Ganal in Polen, den Saima-Ganal in Finnland u. a. m. und in Angriff genommen 
iſt auch ein Waflerweg in der Kuma-Manyifch-Niederung, wodurch das Schwarze 
Meer mit dem Kadpifee in Berbindung gefegt werben foll. Im Ganzen werben durch» 
ſchnittlich im Jahre ſäͤmmtliche Strom- und Canalſyſteme des europälfhen R. von 
ca. 100.000 (1840: 60,277) Yahrzeugen und 30—40,000 (1840: 24,421) Floßen 
in Betreff des Exports und von ca. 80,000 (1840: 46,850) Fahrzeugen und 
20— 30,000 (1840: 17,469) &lößen betreff des Imports befahren. Die Ausfuhr 
der Waaren und Hölzer dreht fih um 500 Mill. (1840: 210,804,078%, R. ©.), 
die Waarenzufuhr um 300 Mill. (1840: 153, 477,637/, R. ©.). 
Klimatifhe-VBerhältniffe Im einem Reiche von fo enormen Dimenflonen 
und bei Breitebifferenzen von 40° ift eine große Verfchiedenheit der Temperaturverhälte 
niffe Rußlands leicht erflärlih. Gleichwohl variirt das Klima innerhalb des euro⸗ 
päifchen Antheil® des rufflihen Staates, trogbem auch bier die Breite zwifchen dem 
37. und 71. Grade wechſelt, bei Weiten nicht in dem Maße, als es nad den Erfah⸗ 
rungen der Weſtländer Europa’8 zu erwarten wäre. Die Erklärung liegt in dem 
Umftande, daß der Typus des Landed derfelbe iſt im Norden wie im Süden, im 
Oſten wie im Wehen des europäifchen Rußlands, nämlich der einer nur bie und da 
von Wellenhügeln durcdhfegten Tiefebene, und daß feine Gebirge und tiefeinfchneidende 
Dceane auf das Klima influtren, welches im Allgemeinen, durch die ausgedehnten 
Landmaſſen bedingt, als ein continentales ſich kundgiebt. In Sibirien giebt es zwar 
alpiniſche Megionen, aber alle Gebirgsmafſen liegen im Süden, und troß der lang⸗ 
außgedehnten Meeredconfinien im Norden und im Süden des Oſtrandes madıt ſich 
doch auch bier kein maritimes Klima geltend, weil auch bier die Meereseinfchnitte und 
die Beweglichkeit des wellenichlagenden Meeres den größten Theil des Jahres fehlt, 
da die langandauernde Eißfrufte nur wenige Monate aufthaut und die weiten Tundern 
und Steppenfümpfe mandye Jahre hindurch zwanzig Buß tief und barüber feflgefroren 
verbleiben. Im Allgemeinen fenfen fih daher die Iſothermeneurven von Wet nach 
Oft in fleter Zunahme dem Süden zu, und die unter gleicher Breite mit Polen lie⸗ 
genden Ränder im Oſten des europälfchen Rußlands, wie Saratow, Penſa, Simbirst 


— — —— 


in Ren — 


(Kltmatifge Berhältniſſe) 537 


und Orenburg baben faum noch das Klima der Oſtſeeprovinzen, die Länder in Si⸗ 
birien aber kaum noch das von Finnland und Lappland, Go ift das Jahresmiittel 
in dem unter 529 13° MR. Br. liegenden Warfchau (nach einer Obfervationsreihe von 
71 Jahren) + 5, 69 Reanmur, während Saratom unter 51% 32° nur 4 4, 5 R., 
Penſa unter 530 11’ nur + 3, 19, Orenburg unter 51° 45° nur + 2, 6%, Barnaul 
unter 53° 20° nur & 0, 09, Irkurst unter 52° 17° nur — 0, 49, Nertſchinsk 
unter 51° 58°. nur — 3, 4% und Aan am Ochotskiſchen Meere unter 56° 28° nur 
— 2, 90 R. als mtitlere Temperatur befigen. Schon die Raiferin Katharina II., angeweht 
von den wiflenfchaftliden Ideen ihrer Zeit, unterfchied ufaslich vier klimatiſche Zonen 
in ihrem Reihe: die arktiſche, kalte, mittlere oder gemäßigte und fübliche oder 
warme. Der arktifche Lanpfirich begreift die Länder noͤrdlich des Bolarkreifes, mo der 
Winter länger als 8 Monate währt, fo daß das Meer vom September bis Juni 
von Eid ſtarrt. Die, Kälte überſteigt Hier den Gefrierpunft des Queckſtlbers 
noch um 10°, und letzteres if Monate lang bämmerbar; der Sommer iſt kurz 
und kann, trog der verhältnißmäßigen Hige, wentg Leben in. der verfrüppelten 
Pflanzenwelt etwecken; Wälder. giebt es nicht, nur Sträucher und Beerenwuch, 
die Flechten» und Moodwelt ifk reich vertreten; die Thierwelt charakterifirt fih durch 
Nennthiere, Pelzwild, Nobben, Strandvögel, Eidergänfe, Fiſche. Mammuthgerippe, 
Knochen, Zähne und zahlloſe vorſündfluthliche Verſteinerungen weiſen auf den Unter⸗ 
gang einer früheren chaotiſchen Schöpfung Hin. Belziäger fanden an der Lena tm 
Jahre 1840 fogar ein vollftändig erhaltenes Mammutbibier, deſſen Fleiſch, das Jahr⸗ 
saufende lang In einer Strandeisfchicht gelegen, den Mitgliedern ber kaiſerlichen Ges 
fellfeyaft der Naturforſcher zu Moskau vorgefet ward und von dieſen leder befunden 
wurde. Utsjokki, Enare, Kola, Dienst und einzelne Winterhütten (Simomwja) auf 
den Infeln des Eismeers find Bunfte diefer traurigen Zone. Der kalte Landflrich 
reiht vom Polarkreife bis 570 N. Br. Hier währt der Winter 6 bis 7 Monate 
und dad Queckſilber ſinkt zeitmeife noch unter den Befrierpunft. Meere und Ströme 
fin» von Detober bis Mai mit Eis infruflirt; Frühling und Herbſt giebt es noch 
nicht, fondern nur Winter und Sommer; ketzterer iſt bei, aber oft durch fühle Tage 
unterbrochen; Oſt⸗ und Weftwinde find vorherrſchend; atmoſphaͤriſche Niederfcpläge 
find verhaͤlmißmaͤßig fehr gering, beſonders im Oſten; die mittlere Jahresmärme be⸗ 
teägt durchfchnittlich + 2159; Waldungen erfcheinen bereits, doch herrfcht dad Nadel⸗ 
holz; vor, unter dem feltenen Laubholz prädominirt Die Birke, unter den Getreidearten 
Gerfte, Hafer und Flachs; neben Raubwild tritt ſchon Edelwild auf, als Hirfche, 
Dammild, Elenthiere, Ure, Wildfchweine; die Hausthierzucht Ift im Süden ergiebig. Der 
mittlere, gemäßigte Randflrih, von 570-509 N. Br. reichend, Liegt in Betreff Eu- 
ropa's zwifchen den beiden Landrüden, bringt bei einem firengen Winter doc felten 
das Duedfilber zum Gefrieren, bat fchon balbausgefprochene Frühlinge und Herbfte, 
trodene und heiße Sommer, meift befländige Witterung, ebenfulld prädomtnirende 
Oſt⸗ und Weftwinde, verbältnigmäßig geringe Niederfchläge und eine mittlere Jahres⸗ 
wärme von circa + 44,9 R. Fauna und Flora find reicher vertreten, als In den 
anderen Zonen, das Laubholz, mit vorherrſchender Linde, befördert die Forſteultur 
und die Bienenzucht; der Getreidebau blüht, beſonders gedeihlich iſt auch dieſe Zone 
der Welzeneultur; die Viehzucht und insbeſondere die Pferdezucht find Hauptelemente 
des Bollsmohlftandes und der Staatsreventen. Der füpliche oder warme Lanpftrich, 
vom 50.IN. Br. bis zum 38.0 Herabreichend, befteht zum großen Theile aus den oben» 
erwähnten Steppen, bat milde Frühlinge, Heiße, trodene Sommer und kurze, oft noch 
firenge, doch zeitweife durch Thaumetter unterbrochene Winter. Die mittlere Temperatur 
iſt + 610 R., die Menge der Niederfchläge in keinem Verhältniß zu Weſteuropa. 
Schneeflürme find Häufige Begleiter deB Winters, Wirbelwinde des Sommers. Der 
Boden, oft von Salz gefchwängert, ift.culturfählg und, wo Anbau erfolgt ift, überaus 
fruchtbar. Alle europülfchen Getreide» und Sruchtarten gedeihen, daher auch Maid, Arbufen, 
Wein, Südfrüchte aller Art und ſelbſt einzelne Balmenarteni auf der Krym und in Transs 
kaukaſten; die Biehzucht iſt die Hauptnahrungsquelle; neben den gemöhnlichen Hausthieren 
tritt: auch das Kameel auf. Gharafteriftifch für die Steppen find Jerboas und Steppen⸗ 
füchfe, und in den Schilfwaͤldern des Syr Darja erſcheinen ſelbſt Tiger und Schafal, 


- 


- — — — * 


538 Nußland. (Geographie und Gtatiſtik.) 


Politifhe und abminiftrative Eintheilung. Obgleich das ruffifche 
Rei ſchon unter Iwan II. Wafflljewitfch, der die Macht der tatarifhen Zwingherr⸗ 
Schaft brach, zu einem gewaltigen Länderfoloß angewarhfen way, Der fih unter Iman IV. 
.Waſſiljewitſch und unter den erfien Romanow's, befonderd aber unter Peter dem Gro⸗ 

Ben, noch beträchtlich vergrößerte, fo faßte doch erſt Katharina 1. im Sabre 1775 
die glüdlihe Idee, zur Vereinfachung ber Apminiftration eine Provinziaf-Eintheilung 
Rußlands eintreten zu laflen. Seitdem if das rufflfche Mich in Bouvernementd. ober 
Statthalterfchaften und Oblaſte oder Gebiete eingeiheilt, welche wieder einer Unter⸗ 
abteilung in Bezirke (Ujesde) und Kreife (Dfruge), Iegtere befonders in Sibirien 
und in den Kofafenländern braͤuchlich, erliegen. Polen ift ein Königreich oder Zar- 
tbum, Binnland ein Großfürſtenthum; erflered wurde anfangs in Wojewodfrhaften, 
letzteres in Laͤne abgetheilt, gegenwärtig zerfallen beide in Gouvernements, deren im 
Polen 5, in Binnland 8 beflehen. (Vgl. die befonderen Artikel Finnland und Polen.) 
Die Zahl der Gouvernements, fo wie fie durch die Kalferin Katharina zunäͤchſt firirt 
worden war, betrug 42, wovon 15 (St. Peteröburg, Archangel, Olonez, Wiburg, 
Riga, Reval, Pokow, Twer, Nomgorod, Wologda, Jaroolaw, Kaſtroma, Wiärke, 
Perm und Tobolsk) im noͤrdlichen Landſtrich lagen, 23 (Mogkau, Smolensk, Polozk, 
Mohilew, Tſchernigow, Nowgorod⸗Sewerskij, Charkow, Kursk, Orel, Kaluga, Tula, 
Rjaͤſan, Wladimir, Nishegorod, Kaſan, Simbirok, Penſa, Tambow, Woronesh, Sa⸗ 
ratow, Ufa, Kolywan und Irkutsk) die Statthalterſchaften des mittleren Landſtrichs 
bildeten und 4 (Kiew, Jekaterinoslaw, Kaukaſten und Taurien) dem ſüdlichen Land⸗ 
rich zugehörten. Im Jahre 1793 wurden ſodann noch weitere 5 Statthalterſchaften, 
z. 35. aus polnischen und littauifchen Erwerbungen, formirt, nämlich die Statthalter» 
fhaften Minsk (im nördlichen), I6jaslam und Brazlam (im mittleren) und die Länder 
der Donifchen und Tfehernomorifchen Kofaken (im ſüdlichen Landſtrich). Die meiften 
diefer Bouvernementö, deren Etats und Verwaltungékreiſe damals feftgeftellt morden, be⸗ 
ſtehen nody heutige Tages, weil die Einrichtung fich als durchaus zweckdienlich erwies, In 
Folge der Vergrößerung des Meiched und auf Grund anderweitiger Berhältniffe, wor 
bei auch die Wiener Congreß⸗Acte mit entfcheidend war, wurden ſchon unter Kaifer 
Alexander einige neue Gouvernements etablirt und Die Grenzen mehrerer älterer ver⸗ 
ändert, auch verfchiedene Namen geändert, fo daß die früheren Statthalterfchaften 
Wiburg, Polozk, Nowgorod⸗Sewerslij, Ufa, Kolywan, Isjaslam und Brazlaw nicht 
mehr nominell vorhanden find. Auch die Kaifer Nikolaus I. und Alerander II. aͤnder⸗ 
ten Einige an der Gouvernements⸗Eintheilung und fehufen neue, fo daß die Anzahl 
aller Gouvernements und Provinzen, welche heut zu Tage beſtehen, auf nicht weniger 
ale 85 angeftiegen ifl, wovon 63 auf Europa, 21 auf Alten, 1 auf Amerika kommen, 
wobei die Stadthauptmannfchaften Odeſſa, Taganrog, Kertſch⸗FJenikale und SKiachte, 
die Militär-Gouvernementd Nikolajew und Sfewaftopol und die verfchiedenen Militärs 
Anftevelungen und Koſakenheere nicht einmal ald befondere Probinzialverbände gerechnet find. 
Mit befonderer Betonung dieſer zulegt gedachten Special⸗Statthalterſchaften ıc. hätte man 
die Geſammtzahl aller Gouvernements und Gebiete auf 113 anzugeben. Jedes Bauver- 
nement fleht unter einem Gouverneur (Kriegd«, reſp. Civilgouverneur, denen ein Vice 
gouverneur, in wichtigen Städten auch ein Gommandant und Vicecommandant, zur Seite 
flehen) ; einige Gouvernementd und Gebiete ſtehen unter der höheren DBerwaltung von 
Generalgouverneurs (oder Kriegögeneralgouverneurs) wie: Livland, Kurland und Eſth⸗ 
land; Wilna, Grodno und Kowno; Kiew, Volhynien und Podolien; Cherſſon, Jekateri⸗ 
noslaw, Taurien und Beflarabien; Drenburg und Sſamara; Weltfibirien; Oftfibirien; 
Transkaukaſten. Wilitärgeneralgouverneure giebt e8 ferner in St. Peteröburg, Moskau 
und Warſchau. Neben diefer officiellen politifch-adminiftrativen Eintheilung des Staates 
hat fich die althiſtoriſche Eintheilung des europäiichen Rußlands in Große, Klein, Süd⸗ 
oder Neu⸗, Weſtrußland, Oftrußland oder die Zarthümer Kafan und Aſtrachan und 
die Offeeprovingen in Brauch erhalten. Nah den Wittheilungen des Alademifers P. 
v. Koeppen umfaßt in Großrußland dad Gouvernement Archangelsk 15,519 geogr. 
Q.M., Zaroslarl 659, Kaluga 573, Koftroma 1451, Kursk 818, Moskau 589, Nis⸗ 
begorod 923, Nowgorod 2163, Dionez 2415, Orel 859, Pokow 802, Niifan 763, 
Smolenst 1019, Tambow 1202, Tula 554, Twer 1225, Wladimir 850, Wologda 


— — 0 


Bolitifhe und abminifiratige Eintheilung.) 839 
6967 und Woronesh 1209 geogr. D.-M., Großrußland mit feinen 19 Gouvernements 


‚demnach im Ganzen 40,152 geogr. DM. In Kleinrußland befigen Charkow 


(früher Siobodifche Ukraine genannt) 987, Kiew 918, Poltawa 897 und Tſchernigow 
1000, alle vier Gouvernements Kleinrußlande demnah 3802 geogr. D.-M. In 
Werrußland umfaßt das Gonvernement Grodno 692, Kowno 758, Minsk 1622, 
Mohilew 885, Podolien 774, Volhynien (ruf. Wolynien) 1296, Wilna 768 und 
Witebek 810, das ganze Weftrußland demnach mit feinen 8 Gouvernements 7605 
geogr. DM. In Südrußland begreift das Gebiet Beffarabien (nad feiner 
Meduction in Folge des Barifer Friedens von 1856) 858, das Bouvernenent Cherſ⸗ 
fon tmit der Stadthauptmannſchaft Odefja und dem BWilitärgouvernement Nifolafem) 
1349, da4 Land der Doniſchen Kofafen 2943, Iekaterinoslam (mit der Stadthaupt⸗ 
mannfchaft Taganrog und dem Afomfchen Kofakenherr) 1206 und Taurien (mit dem 
Militärgouvernement Sſewaſtopol und der Stadthauptmannſchaft Kertfch - Jenikale) 
1136, ganz Südrufland demnadh, mit 4 Gouvernements und 1 Gebiete, 7492 geogr. 
DM, Ofrußland, welches die Zarthümer Kaſan und Aſtrachan in ſich begreift, 
befleht aus den Gouvernements Aftrachan mit 3995, Kafan mit 1116, Orenburg mit 
6917 geogr. D.-M. (monon 4685 auf Europa, 2232 auf Aflen entfallen), Penſa 
zit 690, Perm mit 6050 geogr. Q.⸗M. (movon 3769 auf Europa, 2281 auf Allen 
fommen), Siamara mit 3063, Sfaratom mit 1486, Sfimbirs! mit 883 und Wiatka 
mit 2605 Q.⸗M., monad das gefammte Oftruglond mit feinen neun Gouver⸗ 
nements 25,805 geographifhe DM. in fih faßt, wovon 4513 Q.⸗M. nad Aflen 
gehören. In den Oftfee- Provinzen nimmt das Gouvernement Eſthland den 
Raum von 370, Kurland von 498, Lievland von 832 und St. Peteröburg von 815 
g. DOM. ein; dad Areal der Offee-Brovinzen innerhalb feiner A Gouvernements flellt 
fih hiernach auf 2515 g. DM. Die fünf Gonvernements des Königreihd Polen 
find: Amguflowo mit 342, Lublin mit 563, Plock mit 303, Radom mit 438 und 
Warſchau mit 672 9. Q.⸗M.; ganz Polen umfaßt demnah 2318 g. DM. Die 
acht Gaubernemente des Großfürſtenthums Finnland find: Hbo » Björneborg mit 
488, Kuopio mit 800, Nyland mit 234, St. Richel mit 431, Tamafldus mit 34, 
Nleäborg mit 3012, Wafa mit 757 und Wiborg mit 779 g. Q.M., wonach ganz 
Finnland 6844 9. Q.⸗M. umfaßt. Der Kaukaſus begreift feit 1858 fünf Gou⸗ 
vernements und drei Provinzen, nämlih Tiflis oder Gruſien (Georgien) mit 861, 
Griwan mit 573, Kutaif mit 333, Schemacha-Baku mit 2224 ?) und Stawropol mit 
1355 9. DM. Hierzu iſt neuerlich noch ein ſechſdtes Gouvernement Ringrelien mit 
Swanetien und Sfamurfalan gefügt worden, deffen Areal 195 g. Q.⸗M. beträgt und 
Defien abminiftrative Verhältniffe noch der näheren Beflimmung unterliegen. Bis 1860 
war daſſelbe dem Bouvernement Kutalß einverleibt. Die drei neuen Gebiete find: 
der Kuban, wozu au die unbotmäßigen transkubaniſchen Landſtriche gehören, mit 
1844 g. O.⸗M., woneben das Land der Kubanlichen Koſaken 693 g. Q.⸗M. enthält; 
der Terek mit den Landftrihen des Teref'fchen Kofafenheeres und 948 9. Q.M. und 
der Dagheſtan mit 547 9. DM. Die ganze Statthalterfchaft des Kaufaius umfaßt 


hiernach in ihren zehn Gouvernements, Gebieten und Landſtrichen 9573 9. Q.⸗M. und 


ift feit 1864 im ihres ganzen Totalität als zufflicher Beſitz zu betrachten, nachdem im 
erwähnten Sabre die letzten Aufſtandsverſuche der Bergudlfer, deren Muth bereits durch 
Schamyl's Gefangennahme gelähmt erfchien, völlig unterdrüdt worden find. Was das 
afiatifhe Rußland betrifft, fo unterfcheidet die ruſſiſche Apminiftration nur zwi⸗ 
fhen Wef- und Of- Sibirien. Bu erflerem zählen gegenwärtig die Gouvernes - 


1) Das Souvernement Schemacha hat feit 1858 eine Bergrößerung durch Ginverleibung 
des Difricts Kuba erhalten, welder früher zu dem aufgelöflen Gouvernement Derbent gehörte, 
defien Reft zu dem neuetablirten Gebiet des Dagheflan geſchlagen worden if. Nach Serftörung 
der Eladt Schemacha durch ein Erdbeben ift der Sit des Gonvernements Schemacha nad) ber 
Stadt Baku verlegt worden. Das Gebiet des Kuban if aus dem Lande ber Koſaken bes 
Schwarzen Meeres und einem Theil der neuen Eroberungen im Kaufaſus gebildet worden, fo wie 
aus Ofen, der Kabarda und einem Theil des Gouvernements Tiflis das Gebiet des Teref ges 
bildet worden il. Das Gebiet des Dagheftan faßt die im Jahr 1859 vollſtändig unterjodte 
Domäne Schamyl's, den Dagheflan, das eigentlihe Land der Tſcherkeſſen, und Theile von Tiflis 
und dem befeitigten Gouvernement Derbent ın fi. 


5 -Anhland. (Geographie und Statiſtik.) 


ments Tobolst (mit Einſchluß der früheren Provinz Omsk), melde 26,580, und 
Tomsk, welches 15,260 g. Q.⸗M. umfaßt; das Gebiet Sfemipalatinst mit 8100, 
daB Gebiet der fibirifchen und ſchwarzen Kirgifen oder das Land der großen Horde 
und des See's Ifiyk- Kul, früher Alataufcher Bezirk genannt, mit 14,550, und das 
Land der DOrenburgifchen Kirgifen oder das Land der kleinen Horde mit 17,347 
g. DM. Weſtſibirien umfaßt biernah 81,837 9. DM. Zu OÖffibirien zählt 
man gegenwärtig: die Gouvernements Jeniffeist mit 45,750 und Irkutsk mit 12,420 
8. O.⸗M.; dad Gebiet Jakutsk mit 74,120 g. Q.⸗M. (movon der Bezirk Ochotöf, 
3707 O. ⸗M. groß, feit Kurzem zum Küftengebiet des öſtlichen Sibiriend geichlagen 
worden ift, wonach nur 70,413 Q.⸗M. für das Jakutenland refliren); das Gebiet 
Sabafkal (Transbaifalien) mit der Stadthbauptmannfchaft Kjachta, mit 10,905 g. 
DM. und dad Amurland nebfi den Küftengebieten, feit 1860 gebildet und 43,890 
g. DM. enthaltend. Zu den Küftengebieten (Küftenland von Oſtſibirien) gebört da8 
vorermähnte Ochotst mit 3707 Q.⸗M. feit 1858, Kamtfchatla mit 21,909 DM. 
felt Ende 1856 u. a. m.; das Amurland felbft iſt gebildet worden durch die Erwer⸗ 
bungen von China im Jahre 1858 (9800 DO.» WM.) und die Neuerwerbungen im 
Jahre 1860 (noch ca. 3000 Q.⸗M.). Ganz Oftfibirien begreift danach 183,378 g. 
DM. und dad gefammte Sibirien 265,215 g. D.-M. Die Infeln im @ismeer find 
bierbei außer dem Balch! geblieben, da die Annahme von nur 975 Q.⸗M. ale eine 
vage erſcheinen muß. Das amerifanifhe Rußland envlih umfaßt 24,298 
D.-M., movon etwa 23,400 Q.⸗M. auf das Feſtland und der Meft auf die Inſeln 
fommen. Doch foheinen auch diefe Angaben, denen noch feine BlanimetersMeffungen 
zu Grunde liegen, als ſehr upprorimativ. Auch find in den obigen Berrechnungen 
viele Seen, wie der Baikal, Balfafh, Aral, der Ladoga u. f. w. außer Acht gelaflen 
worden, welche gang oder theilweis zu Rußland gehören; wie auch fämmtlidhe Meere 
und Meerestheile, felbft wenn fle ganz oder doch großentheils auf rufflichem Gebiete 
liegen (mie da8 Alow » Meer, daB Schwarze und Weiße Meer, das Kaspifche Meer, 
der Aralfee, der Binnifche Meerbufen), aus der Berechnung außgefchloffen worden find. 
Das Facit obiger Angaben iſt: das .rufftihe Reich befigt in Europa (einichließlich 
Polens und Yinnlands, fo wie der Kaufafusländer 111,221, in Aflen 265,215 und 
In Amerifa 24,298, d. b. im Ganzen, mie oben erwähnt, 400,734 g. Q.⸗M. 
Stand der Bevölkerung. Alle Bevdlferungsangaben in Rußland find 
noch fehr ungenau, da fle mehr auf approrimativer Schäßung, als auf wirklicher Zaͤh⸗ 
lung beruhen, daher fi denn auch dem Statifliter wenig Anhalt zu Bergleichungen 
darbietet. Es find von Peter dem Großen an biß heut überdies erft zehn fogenannte 
Reviſtonen veranftaltet worden, wobei die adminiflratinen Veraͤnderungen innerhalb 
der einzelnen Gouvernements und Kreife und die Hiftorifche Vergrößerung des Reiches 
an ſich meift als unmefentliche Factoren des Cenſus betrachtet worden find, während 
ſolche doch für die comparative Statiſtik von unberechenbarer Wichtigkeit find. Auch 
begriffen dieſe Meviflonen, da fie lediglich zu finanziellen Sweden, um die Steuerfraft 
des Landes zu erfahren, unternommen wurden, nur die männliche Bevölkerung in fidh, 
und zwar zunächfl auch nur diejenige mit einiger Verlaͤßlichkeit, welche der Zahlung 
von Abgaben und Staatsleiftungen factifch unternorfen if. Alle übrigen Klaffen, wie Adel, 
Prieflerfchaft, Ehrenbürger, Ausländer und andere bevorzugte Stände, fowohl in den 
Städten, wie auf dem Lande, wurden nur flüchtig in die Megifter eingetragen, und 
das weibliche Gefchledht, welches in Rußland mehr als in irgend einem andern Staate 
der Welt das minnlihe an Kopfzahl überwiegt, wurde bei der Zählung urſprünglich 
gänzlich überfehen und nur ſchließlich ſummariſch Hinzugefügt, wobei man die fpärli« 
hen Erfahrungen einzelner Orte der Verrechnung für das gefammte Reich zu Grunde 
legte. Bei den Zählungen der Stadtbewohner trat noch ein anderer Uebelftand ein, 
daß bei einigen nur die Civil⸗, bei anderen auch die garnijonirende Bevdlkerung mit⸗ 
gezählt wurde und daß die fluctuirende Bevölkerung, wie Arbeiter und Handwerker, 
welche in Städten wie St. Peteröburg, Moskau, Tula u. f. w. zeitweiſe eine fehr 
große Molle fpielen, bei verfhiedenen Städten der Population mit beigezählt, bei 
anderen dagegen aus den Liften mweggelaffen wurde, wegen ber fehlenden Orté ange⸗ 
börtgkeit der erwähnten Volkoklaſſen. Es kommen daher wohl auch gelegente 


(Stand und Bevölkerung.) 541 
le Doppelungen in der Verrechnung vor, die aber von den Auslaffungen 
weit übertroffen werben, zumal Biele fih dem Genfuß entzogen, um da» 
dur den Abgaben oder der Militär» Eonfeription zu entgehen. Hierzu kommt 
noch ein großes Bollsquantum, welches durch die fogenannte latitirende Bevölkerung 
gebildet wird, die aud Verbrechern, Ausreißern, Schuldnern oder fonftigen flüchtigen 
Subjesten befteht, wozu Sibirien und der Kaufafus das Hauptrontingent Üefern. Die 
meiften Haubanfälle und Mordthaten werben von diefer Bevölkerung ausgeführt, und 


wenn man von einer Unflcherbeit der Kandfiraßen und Wälder fprit, muß man jene 


Bepulation Rußlands im Sinne haben, welche ſich dem Auge ber Behörden geflifient- 
lich zu entziehen fucht und in Schlupfwinkeln hauſt, die feine Controle ermöglichen. 
Die Milde Kaiferd Alexander I. hatte für die Deportirten die Strafe der Brandmar⸗ 
fung aufgehoben; damit verfchmand die Grlennbarkeit der Verbrecher, wenn fle aus 
Sibirien entwichen. Unter Kaifer Nifolaus I. hatte ſich die Anzahl der Bluchtfulle 
fe gemehrt, daß jene Strafe wieder eingeführt werden mußte, und als von den Bere 
brechern Mittel gefunden wurden, um dad Merkzeichen ihrer Schande an der Stirm 
zu verlilgen, mußte auch zu der durch Kaiſer Baul 1. eingeführten Strafe des Aufs 
ſchlizens der Nafenlächer zurädgelehrt werden. Was nun die von Staatéwegen aus⸗ 
geführten Volksreviſtonen ſelbſt betrifft, fo batirt die erfte vom Jahre 1720 und fand 
auf Anordnung Peter's des Großen ſtatt, welcher dadurch der Schoͤpfer der Statiſtik 
für Rußland geworden iſt. Diefe erſte Schägung ergab 14 Mill. Einwohner. Eine 
zweite ordnete die Kaiferin Katharina IT. kurz nach ihrer Thronbefleigung im Jahre 
1763 an, deren Mefultat in der Feſtſtellung von 19 Mill. Einm. beftand. Zwei 
weitere Berrechnungen fanden während des Lanfes ihrer Regierung flatt, 1783, wo 
27,400,000, und 1795, wo 34 Mil. Einw. regifirirt wurden. Der Rekrutirung 
wegen ließ Kaljer Alexander im Sahre 1803 einen neuen Cenſus veranflalten, welcher 
ein Bolkscapital von 36 Mill. Serlen herausſtellte. Hermann berechnete 1806 nad 
amtlihen Grbebungen bereitd 41,253,000 und Wichmann 1811 nah gleichfalle 
officiellen Daten 42,265,000 Einwohner, während die Meviflonsliften von 1815 
ein Gros der Bevölkerung von Ab Mill. ergaben. Cine im Jahre 1822 nad 
den Kirchenliſten angeſtellte Berehnung ergab 48.900,000 Seelen, und eine 
Wiederholung derfelben im erflen Jahre der Megierung des Kaiſers Nikolaus 1., 
1826, flellte bereits ein Menfchencapital von 49,990,000 Individuen Heraus. 
Eine genauere Volksoreviſion, welche ber verftorbene Karfer im Jahre 1829 anflellen 
ließ, zeigte, daß die vorige Schägung zu hoch gegriffen fein mußte, denn es ergaben 
fih auf Grund derfelben 50,542,000 Seelen, d. 5. nur ein Plus von nicht viel über 
I, Rillion im Verhältnig zur Vorzählung, während inzwifchen das Reich ſich raͤum⸗ 
lich vergrößert Hatte. Die auf Grund der Kirchenbücher wiederholte Berrehnung vom 
Jahre 1832 ergab einen Volksſtand von 52,357,000, woneben die Erhebungen des 
Finanzminiſteriums von 1836 eine Gefammtziffer von 55,659,000 Seelen barboten. 
Als erſte zuverläßliche Berechnung nach dem Ergebniffe der Meviflon von 1838 ergab 
fh ein Volkacapital von 58,950,000 Köpfen, wovon auf die bürgerlihe Bevdl⸗ 
kerung des eigentlichen Rußland 52 Millionen, des KönigreichE Polen 4,300,000, 
des Großfürſtenthums Finnland 1,400,000 und auf die gefammte Mılitärbevdlferung 
1,250,000 Köpfe ſich verrechneten. Tengoborski's Berechnungen, auf Grund authen⸗ 
tifher Quellen, ergaben für 1848 61,570,000 Seelen; das Ergebniß der 9. Volks⸗ 
reviſion vom Jahre 1851 erhöhte diefe Ziffer indeß auf fa 67: Mill., indem für 
Europa 52,317,836, für den Kaukaſus 3,734,584, für Sibirien 4,866,718, für 
Amerika 54,000, fomit für das Kalfertbum 60,973,138, und außerdem für daß 
Königreich Polen 4,852,055, fo wie für das Großfürftentgum 1,636,915 regiftrirt 
wurden, was in Summa 67,462,108 Seelen ergiebt. ine Schägung von 1856, 
beruhend auf Procentzufchlag, ergab 711, Mill., die legte zehnte Meviflon von 1858 
aber wies, den Mittbeilungen des flatiflifchen Gentralcomites des Winifteriums bed 
Innern zufolge, 74,202,033 Seelen nad, nämlidy innerhalb Europa's 59,330,752, 
im Kaufafus 4,257,704, in Sibirien 4,070,938, in Polen (mo die Zählung von 
1859 zu Grunde liegt) 4,764,446, in Finnland (1859) 1,724,193 und in Amerika 
54,000 Seelen. Den allerneueften Bevälkerungsangaben im akademiſchen Gt. Petero⸗ 


342 Aufland. (Geographie und Statiſtik.) 


burger Kalender für 1864 zufolge, weldhe ſich auf das Jahr 1861 beziehen, hatte 
fih die Sefammtpopulation Rußlands damals fon auf 77,639,905 Seelen erhöht, 
und diefelbe dürfte, bei dem für Mußland allgemein gültigen Jahresprocentzuſchlag 
von 11), auf 100, oder mit anderen Worten, bei einer angenommenen durchſchnitt⸗ 
lien Vermehrung des Bolkscapitald um 1 Mill. Seelen im Sabre, ih für das 
laufende Jahr 11864) bereits auf ca. 81 Mill. Seelen erhöht haben. Etwa um das 
Jahr 1880 würde, dem gewöhnlichen Bange der Vital⸗ und Mortalliätsverhältniffe 
zufolge, dafern eben nicht außergewöhnliche Verhältniffe und Veränderungen eintreten, 
das Bros der ruffifihen Bevölkerung bereitd auf 100 Mill. angefliegen fein. Was 
die relative Bevödlferung oder die Bolkspichtigkeit betrifft, fo Hält bier 
felbe feinen Vergleich mit dem übrigen Europa aus. Es giebt nur wenige Gouver⸗ 
nements und diefe gruppiren fi fämmtlih um das Gentrum des europällchen Ruß⸗ 
land, weldhe man einigermaßen dicht bevölkert nennen kann; dagegen giebt es andere 
Bouvernements Im europätfchen und insbefondere im aſtatiſchen Rußland (mie denn 
ganz ruiftfch Amerika Hierher gehört), die fo dünn bevölkert find, wie feine andere 
Megion der Erde. Im ganzen europälichen Antheile Rußlands eben 690 Menſchen 
auf dem Raume einer geographiſchen Geviertmeile, im Kaukaſus 735, In Sibirien 16, 
in Amerifa 2—3, in Bolen 2077, in Binnland 255, im ganzen ruiflfchen Reiche 194. 
Im Hinblick auf die Vertheilung der rufflichen Bevöllerung nah Stadt und Land 
iſt in den ‚legten Decennien die flarfe Zunahme der ſtädtiſchen Bevdlferung hervor⸗ 
zubeben, die nicht etwa ihren Grund im bloß natürlichen Wahsthum der Bopulation. 
findet, fondern die noch im viel höhern Grade auf freiwilligen  Vieberfledelungen 
vom Lande ber berubt, wozu außerdem Niederlaffungen aus dem Auslande kommen. 
So erhöht und hebt ſich das geiflige Element, welches in ben Städten am meiflen 
vertreten ift, auch in R. zuſehends. Ja M. zählt gegenwärtig ſchon mehr große und 
Mittelftädte ald die meiften andern Länder der Erde, während zu Anfange dieſes 
Jahrhunderts viele derſelben noch ganz unbedeutende Orte waren. Der eigentliche 
Schöpfer des rufflihen Staͤdteweſens ifl Peter der Große; feiner Idee folgte Katha⸗ 
tina H., der eine große Menge Kreisftädte den Urfprung verdanken, während jle neben 
denfelben auch Hunderte von Markıfleden oder Sloboden, wie auch viele Koſakenſtaͤdte 
oder Stanizen erbaute. Aber auch die wichtigen Handeldemporien Südrußlands am 
Duieſtr, Dniepr, Don u. f. mw. rief fle ind Leben und Potemkin, der ihr darin hülf⸗ 
veih zur Seite fland, Hatte in der Auffindung geeigneter Häfen und Gandelöpläge, 
wie e8 vor Allem die Begründung Odeſſa's bezeugt, einen fiheren Blick. In Alte 
mann's aus Bo. MI. Heft 6 der Beitiche. für Allgem. Erdkunde befonderd adgebrudter 
Abhandlung u. d. T.: „Neuefter Benölferungsfland in den Städten R.'s, einſchließ⸗ 
lich Polens und Finnland's“ (Berlin 1855), mwortn die mwidhtigflen der damals be⸗ 
kannten xufflichen Quellen benugt find, und mo die Einwohnerfhaft von 1004 Orten 
verzeichnet ift, ift befonderd betont worden, daß das flädtiiche Element in R. vor⸗ 
wiegend in den (damald numerifch ſchon auf 126 Orte angewachlenen) Grofflädten 
zur Geltung kommt, indem diefe eine Einwohnerichaft von 3,439,450 Seslen reprä« 
fentirten, woneben die Mittelfläbte von 5—10,000 Einwohnern, obgleich fie der Zahl 
nach weit überwogen, denn ihre Zahl betrug 197, doch in Hinſicht auf den Volko⸗ 
fland den großen Städten um mehr als das Doppelte nachflanden, indem fie nur eine 
Einwohnerzahl von 1,366.557 Seelen berausflellten. Noch unbeträchtlicher im Ber» 
haͤltniß erwies fidh der Antheil des fädtifchen Elements in den Lleinen und kleinſten 
Städten des ruffiichen Neiches, indem in 681 derartigen Orten bie Sefammtbeudlfe- 
rung fih nur auf 1,575,433 Seelen belief. Die 126 Großſtädte bildeten 53,,, bie 
übrigen 878 Orte nur 46,, 84, der flädtifchen Befammtbevälkerung: ein Erweis, daß 
das flädtiiche Element in den größeren Blägen R.'s verhaͤltnißmaͤßig fehr ſtark, in den 
Beineren Orten dagegen verhältnißmäßig fehr ſchwach vertreten if. Die Geſammtziffer 
für die damalige ſtaͤdtiſche Bevölkerung R.'s betrug 6,381,440 Seelen, d. 5. 
ein Zehntheil der Totalpopulation des Reiches. Etwa 10 Jahr früher hatte fie nur 
Yı, und abermals ein Decennium zurüd nur zwifchen Y/,, und Y/,, betragen. -Zu 
Anfange des Jahrhunderts verhielt fich die Bevdlkerung der Städter zu der der Land⸗ 
bewohner etwa nur wie 1:15, indem Hermann und Storh im Irrthum find, wenn 


[4 


(Stand der Bevölkerung.) 543 


fie fuͤr 1790 vie ſtaͤdtiſche Population R.'s ſchon auf Yı., ja 1/, der Totalpopulation 
anfegen.- . Alle ihre Berechnungen find nur Schägungen approrimativer Art. Im 
Jahre 1861 war: die Zahl der rufſiſchen Großflidte ‚bereits auf 169 angewachſen, 
wovon 158 fich im eigentlihen R., 9 im Königreich Polen und 2 im Großfürſten⸗ 
ithum Finnland befanden. , " 

Was Die Ständeunterfchtede hetrifft, woräber die den Genfus von 1861 
beireffenden officiellen Angaben noch fehlen, weshalb wir in die Ziffern für die Bor» 
lahre zurüdgreifen müflen, fo war vertreten: 

durch Individnen: 
bie Adelöklafie (Etb⸗ und Verſonaladel)... 721,079 !) 
ber geiſtliche Stand der rechtgläubigen Kirche . 611.425 
. v „ der übrigen Eonfefllonen.. . 17,976 
das Milltäe (mit Angehörigen). - . 2475. 154 
die Bürgerfhaft -» 2 2 0 0 4674,682 
J der Bauernſtand (Krons⸗, Kirchen⸗ Gutsbauern) 48,813,007 
Zur Bürgerſchaft, welche die ſtadtiſche Bevölkerung repräfentirt, gehörten 334,203 
ben drei Bilden zugeſchriebene Kaufleute, 15,754 Ehrenbürger, 3,496,788 Bürger 
und Handwerker, 805,767 Künfller und Gelehrte und 22,170 fenflige privilegirte 
Stände, im Genuß der Adgabenfreiheit, der Befreiung von der Militärpfliht u. f. w.; 
Krons⸗ und Appanagenbauern gab es 24,741,439, Kirchen» und gutsherrliche Bauern 
24,071,568. Sämmtliche Angaben beziehen fi nur auf das europäliche Rußland, 
mit Ausſchluß des Königreigs Polen und des Großfürſtenihums Finnland und find 
in dem Koeppenſchen Wert: „Dewjataja Rewisija® (9. Bolfszählung), St. Peters⸗ 


I) Beier der rrße hob die Bojarenwürbe auf und damit hat ber alte Abel R.'s feine eigent⸗ 
liche. Bedeutung und ſelbſtſtaͤndige Stellung verloren. Die Knjäfe (vgl. den Artifel KQujäs) wurden 
baburd; genöthigt, fih dem Hofe anzuſchließen, wenn fle überhaupt eine Rangkellung im Staate 
einnehmen wollten; Diele, die das nicht mochten, entfagten freiwillig dem Fürſtentitel. Peter ber 
Große wurde fomit der Schöpfer eines neuen Adels, des Verdienſtadels, oder des perfönlichen Adels, 
ber ſich im Laufe der Zeit fo rafd) vermehrte, daß es nadı dem Genfus des Jahres 1842 fchon 
287,346 Evelleute mit perfönlichem Adel im ruſſiſchen Reiche gab, 551,970 Evelleuten wit erblichem 
Adel gegenüber. Die erfleren verhtelten ſich zu den leßteren wie 100 : 233. In der im Al: 
gemeinen noch jetzt gültigen Rangorbnung von 1722 wurden, um dem Berbienfte feinen Pla feſt 
anzumweifen, 14 Rangflaften (die Sogenannte Tſchin-Ordnung) eingeführt und feſtgeſetzt, daß die 8 
erſten Klaſſen Erbadelsrechte verleihen follten, die 6 übrigen nur Berfonaladel, der nit auf die 
Defrendenz überging. Diefer Adel wurde gleihmäßig über die Würden in der Armee, ber Flotte 
und dem Tivil verteilt und beftinnmt, daß zur 4. Klaffe beim Militär in der Armee nur ber Ge⸗ 
neralfeldbmarfhall, in der Marine der Generaladmiral und beim Givil der Reichskanzler gehören 
follte ; die 2. Klaſſe follten bilden die Generale der Eavallerie, Infanterie und Artillerie, die Admi⸗ 
rale und Wirtklichen Geheimen Näthe; die 3. Klafle die SGenerallieutenante, Biceabmirale und Bes 
heisıräthe. Der Titel für diefe brei Klaflen, als fürr die eigentlihen Großwürbenträger des Reichs, 
iR der nur in M. gebräudlihe: Hohe Excellenz (Wyſſokoprewoschoditelſftwu). Zur 4. Klafle ge 
hören die Generalmajore, Contreadmirale und Wirklichen Staatsräthe, mit dem Titel Excellenz 
(Brewoshobitelftwn); zur 5. bei der Landmacht die nicht mehr bräuclihen Brigadiers, in der Ma: 
sine die Gommandors, im Givil die Staatsräthe, zur 6. bie Oberſten, bie Gapitäne des erfien 
Manges und die Eollegienräthe; zur 7. bie Oberflieutenants, die Bapitäne bes zweiten Ranges und 
bie Hofräthe; zur 8. die Mujore, Gapitänlieutenants und Collegienaſſeſſoren. Tie 9. Klaffe ums 
faßt die Gapitäne der Armee, die Flottenlieutenants, die Titularräthe; die 10. die Stabscapitäne, 
Midfhipmens und Gollegienferretäre; die 11. die Schiffsfeeretäre (für Armee und Civil fehlen bie 
betreffenden Aenter); die 12. die Lieutenants, Schiffer vom erften Mange und Gouvernementsſecretäͤre; 
bie 13. die Secomdelieutenants, Schiffer vom zweiten Range und Staatsregüftratoren ; bie 14. enbs 
lich die Fähnrichs, Schiffer vom dritten Range und die Gollegienregifiratoren. Die Titel für biefe 
Klaſſen Hand Wyfiofoblagorodiju und Blagorodiju (Hochwohlgeboren und Wohlgeboren). Was zu 
feiner biefer Rangklaſſen gehört, gebt auch nicht zum ruſſiſchen Adel. Der letztere if frei von 
allen verſoͤnlichen Laflen und Abgaben, vom Kriegsbienfte u. f. w., und früher auch von der Leibess 
ſtrafe allein befreit, die erſt mittels Ukaſes vom 17. (29.) April 1863 auch für die übrigen Klaflen 
—8B worden iſt. Der erbliche Adel, vornehmlich der alte, aus Fürflen, Grafen und Baronen 
beitehende, deſſen Geltung fi nur durch Infeription in das fogenannte ch anale Knija (Sammet: 
buch), das ruffifche genealogiſche Staatsarchiv vom Jahre 1682, documentirt, hat nur noch einige 
wenige Prätogative dor dem durch befondere Gnade des Kaifers verlichenen Erb⸗ und vor dem 
Nangadel voraus. Unter dem polnifchen niederen Abel, der jogenannten Schljachta, iſt nad) ber 
Mevolution von 1831 ſchon durch Raifer Nikolaus I. in fehr ftaatsfluger Weife aufgeräumt worben, 
dadurch, daß die vermeintlichen Beſitzer deſſelben ihre Berechtigung dazu durch genealogifche Urkunden 

weifen mußten. Etwa 100,000 Unberechtigte Büßten dadurch den angemaßten Adelstitel ein. 

Polen, in der Rubrif Geographie und Statifik. j 








544 Nufland. (Geographie und Statiſtik.) 


burg 1857, tn ſehr genauer Specialifirung enthalten. Die obige Selammt - Ziffer 
56.313.323 theilt fih in zwei etwas ungleiche Hälften (27,716,489 und 
28.596,834) in Betreff des märmlichen und weiblichen Geſchlechts (vgl. oben). — 
Auch die confeffionellen Betrachtnahmen find in der Jüngfizeit. vielfach ein 
Gegenſtand der Unterfuhung geworden und der Akademiker P. v. Koeppen Hat 
fh auch Hier um die ſtatiſtiſche Feſtſtellung der numerifchen Verhaͤltniſſe große 
Verdienſte erworben. Nach ihm gab ed in fänmelihen Gouvernements des 
eigentlihen R. 53,659,108 Belenner des ruſſiſch⸗griechiſchen Glaubens oder ber 
fogenannten rechtgläubigen Confeffton, wobei die ruſſtſchen Schißmatifer oder Ra⸗ 
kolniks eingezählt find, .. während dad Reich im Uebrigen 2,915,133 Belenner 
der römifch-fatholifchen Religion (einfchließlich der armenifchen Katholiken), 1,911,204 
Bekenner der ebangelifch-Tutherifchen Confeſſion (einfchließlich der 14,827 Reformirten), 
48,898 armenifche Bregorianer, 1,430.643 Juden talmudifcher Secte, neben 5985 
Karaiten !), 1,940.890 Mohamedaner und 468,483 Lamaiten (einfchließlihh 230,606 
dem Schamanismus huldigender Gögendiener) beſaß. In der Stadt Gt. Beteröburg 
lebten allein 31,100 Katholiten und 73,107 Eoangelifche, d. h. ca. ?/, der Gefammt- 
bevölferung waren Anderögläubige. In der Stadt Mosfau betrug die Zahl der 
Katholiten 12,435, die der Evangeliihen 8911. Die Bevölkerung der rechtgläubigen 
Kirche präponderirte faſt überall, auögenommen in den Oflferprovinzen, wo die evan⸗ 
gelifche, in den Gouvernements Kowno und Wilna, wo die Fatholifche, und im Kaus 
kaſus, wo theilmeife die armeniſche und mohamebanifhe Bevölkerung vorwogen. 
Numeriſch am meiften vertreten war der römifch-»Latholifche Gult in den Gorverne⸗ 
ments Kowno (mit 834,863), Wilna (mit 610,428), Grodne (mit 267,560), 
Witebst (mit 231,392), Podolien (mit 210,915), Minsk (mit 186,888) und Wo⸗ 
Iynien (mit 172,264 Befennern); der evangelifche Cult in den Gouvernements Liev⸗ 
fand (mit 672 015), Kurland (mit 445,789), Efihland (mit 297,361), St. Peters⸗ 
burg (mit 152,139 Befennern) u. f. w.; der armenifch « gregorianifche in den Gou⸗ 
vernementd Stawropol (mit 18,154), Sefaterinoslam (mit 16,774 Befennern) u. f. w.; 
der Mofaismus In den Gouvernements Kijew (mit 225.074), Vodolien (mit 191,847), 
* Wolynien (mit 185.833), Mohilew (mit 114,870), Kowno (mit 101,337), 
Grodno (mit 95,437), Minst (mit 84,834), Beffarabien (mit 81,172), Wilna 
(mit 80,123), Gherfion (mit 79.557), Witebsk (mit 66,711 Belennern) u. f. w.; 
der Islam in den Gouvernements Drenburg (mit 853,596), Kaſan (391,570), Sfa- 
mara (135,436), Taurien (98,013), Sfimbirst (82,103), Wiatka (76,665), Perm 
(71,965), Sfuratow (59,897), Benfa (46,171), Tobolst (31,992), Nishni Now⸗ 
gorod (31,950 Belenner) u. f. w.; der Lamaismus in den Bouvernements Trans 
baikalien (mit 122,483), Aſtrachan (78.938), Irfutst (21,877), im Lande der Doni⸗ 
ſchen Koſaken (20,328), Sfamara (3756), Sfaratom (322 Bekennern) u. f. w. und 
der Schamanen»Gult in den Bouvernements Irkutsk (mit 75,350), Orenburg (60,332), 
Zomsf (26,472), SIeniffeist (11,889), Kafan (10,167), Wiutla (10,040), Trans⸗ 
baifalien (9654), Perm (8893), Tobolst (7154) und Archangel (798 Anhängern). 
In Betreff der Evangeliſchen Kirche Ift noch zu erwähnen, daß die Angaben für bie 
Gouvernements Archangel, Kaluga, Koftroma, Orel, Tula, Twer, Wiatla und Wla⸗ 
dimir fehlten, und daß mit Nüdficht darauf die obige Ziffer (1,911,204) um einige 
Taufend erhöht werden muß. Unter der Sefammtbenälkerung des Königreichs Polen 
von 4,764,446 (im Jahre 1859) befanden fi dem religidfen Bekenntniß nad: 
Griechiſch⸗Orthodoxe 4856, Römiſch⸗Katholiſche 3,657,140, Griechiſch⸗Unirte 215,967, 
Proteftanten Augsburgifcher Confeſſion 274,707, Neformirte 4189, Mennoniten 1581, 
Mährifche Brüder 1451, Juden 599,875 u. f. w., und unter der Gefammtbevölferung 
bed Großfürſtenthums Finnland von 1,745,896 (im Jahre 1860) gab ed 1,705,735 
Rutberaner und 40,161 Griechiſch⸗Orthodore, welche Letztere, tropdem daß ſie bie 
Herren des Landes find und die berrichende Kirche bilden, in den Gouvernements 
Tawaſthus, Waſa und Uleäborg gar nicht vertreten waren. Die meiften Belenner der 
Landeskirche hielten fih in den Gouvernements Wiborg (32,021), Kuopio (7370) und 
) Karalten ober jüdiſche Altgläubige befanden fidy nur in der Krym (3293) [in 
Cherfion (946), in Wilna (501), in Kowno (362), in Minsk (362), in Selaterinoslaw (109), in 
Wolynien (253), in Eharlow (94), in Poltawa (40), in DOlonez (14) und in Moskau (8). 








(Stand der Bevölkerung.) 545 


Nyland (666) auf. — Was die numerifchen Berhältniffe der Nattonalitäten betrifft, 
fo legen wir die tm St. Beteröburger Kalender für 1860 veröffentlichten Korfchungen 
des Akademikers Wiedemann, ald Die neueflen und an Benauigfeit felbfi. die „Ethnogra- 
phiſche Tabelle” P. v. Koeppen’® ale Tert zu feiner berühmten „Etbnographifden Karte* 
(St. Petersburg 1852) übertreffenden, zu Grunde Es gehören nah ihm zur: 
A. Defligen Gruppe. Die Julagiren, nur noch ca. 500 Individuen, Korjälen, 
in vier Stämmen (die Angabe des 5. fehlt) 4270, Tſchuktſchen zwifchen 5000 und 
10,000, Kamtichadalen (nach älteren Angaben) 1782, Gilfäfen (ohne Angabe). — 
B. Altaifhe Gruppe. a. Mandſchuriſche Familie: Tungufen 50,000 Individuen, 
Samuten zwifchen 2000 und 3000, Aino oder Kurilen, auf dem Feſtlande (die Zahl 
der Infulaner iR unbekannt) nur 91. b. Mongoliſche Familie. Ligentlihe Mongolen 
etwas über 6000, Yurjäten (meift Buddhiſten) 104,948, Kalmyken (Stämme Dürbet 
und Turgut) über 120,000. c. Tatariſche Familie (Türken). Bafchfiren (im Juhre 
1856) 480,317, Mefchtfcherjäten 110,595, Teptjeren und Bobylen 260,975, Kafaner 
oder ſchlechtweg Tataren, etwas über 1,000,000, Krymiſche Tataren 275,822, No» 
gater 27,159, Karatichai 7380, Urudpiener 500, Malkaren oder Balfaren 4450, 
‚ Kumyfen 38,800, Dagheſtaniſche Tataren (aderbidfchanifchen Dialekts) am Kaspifchen 
Meere 319,230, Truchmenen oder Turkmanen 13,000, Tſchuwaſchen 433,952, Karas 
kalpaken 300, Gibirifche Zataren 45,000, Kirgifen 1,350,985, Iafuten 100,000. 
d. Samojediſche Familie. Juraken (in 5 Stämmen), Tamgy (in 2 Stämmen) und 
Dat» Samsjeden (in 3 Stämmen) mehr ald 9649. 6. Finniſche Familie. 
Baltiſche Finnen. Eigentliche Binnen (Tamafler, Ouänen, Gamwolarer, Karelier, 
Boten, Ingrier) über 1,600,000, Gfihen (1852) 633,496, Liven, jet lettiſirt 
(1858 nur not) 2060, Lappen 3531. Biarmier (permifche Finnen). Syrjänen 
70,965, Bermier 52,204, Wotjafen, ungefähre 190,000, Befiermjanen 4545, 
Ugriſche Finnen. Wogulen, über 5000, Oftfaten 24,957. Bolgariſche Finnen, Wolga- 
Sinnen. Tſcheremiſſen 170,406, Madwinen 433,241. — C. Senifelfhe Gruppe. 
Kotten, nad Eaflren nur noch 5 Individuen, Jeniſei⸗Oſtjaken (Imbatsker und Syms⸗ 
ter) 904. — D. Kaukaſiſche Gruppe: Georgiſche Familie. Georgier oder Gru⸗ 
fler (mit den Imerettern, Jengilo's, Pſchawen, Chewſuren und Thuſchen) 225,342 
Individuen, Mingrelier und Gurier 70,000, Suanen 8000. Lesgifche Familie. . Awa- 
sen und Andere (1858) in 37 3. Th. dialectiſch verfchiedenen Bezirken (ſaͤmmtlich 
Gunniten) 397,761. Kiſtiſche Familie. BMizdfhegen (Tſchetſchenzen) in 21 verfchle ' 
denen Bezirken 117,080. Tfcherkeffliche Familie. Tſcherkeſſen u. Ubych (17 Bezirke) 
315,549, Abchafen (13 Bezirke) 144,552. — E. Semitifhe Gruppe: Juden 
«in Mußland. Hebräer) über 1,000,000 Individuen. — F. Sranifhe Gruppe: 
Derfer (in Afrachan) ca. 100 Individuen, Teflten (in Stamwropol) 588, Bucharen, 
über 4997, Kurden (in Transkaukaſien) 10,737, Armenjer, mehr als 330,000, Offeten 
27,339. — G. Europäifhe Bruppe a. Slawiſche Familie: Hafen (Broß-, 
Klein- und Weißrufien), %, der Gefammtbevdlferung des Meiches, alfo über 60,000,000 
Individnen, Kofafen (1851) 1,681,633, Bulgaren 77,102, Serben 1383, Bolen (im 
Königreich Bolen über 31), Mill), zufammen ca. 4,000,000. b. Lithauifche Familie, 
Schamaiten (S;muden, Samogitier) 900,802, Letten 872,107. c. Germaniſche Fa⸗ 
milie. Schweden, über 136,000, Schotten (als Coloniften im Kaufafus) 300, 
Deutfche 660,000%), Holländer (Goloniften in Grodno und Wolynien) 1100. d. Ro⸗ 
manifche Familie. Moldauer, gegen 500,000. e. Griechiſche Familie. Griechen, 
ea. 35,000. f. Indifche Familie. Bigeuner, überhaurt etwa 50,000. — H. Ames 
rikaniſche Gruppe: a. Eskimo⸗Familie. Weſtliche Eſskimos (Namollo oder an» 


1) Ueber die Vertheilung ber Deutſchen im Königreich Polen, wo 173,595 Deutliche leben, 
hat der Alademiler P. v. Köppen die zahlreihften Details gefammelt. Man Tann gewiſſermaßen 
drei KRlaflen unter den Deutichen überhaupt unterfcheiben, nämlid, erflich die früher herrfchende Be: 
völferung (in den Oſtſeeprovinzen), ſodann bie große Zahl der Boloniften (in Sfaratow 94,000); 
in Sfamara 71,000, in Eherfion 34,000, in Taurien 32,000, in Sefaterinoslaw 19,500, in Beflarabien 
19,000 sc.) und endlich das einzeln durch ganz Mufland, namentlid, in Städten, vertheilie Deutſch⸗ 
thum, beftebend in Lehrern, Künſtlern, Handwerkern ıc., worüber die Angaben bie jegt noch die 
mangelhafteſten find. Indeß bernängelt diefe Lüde keineswegs die Befamnt: Bopulations > Ziffer 
ſehr erheblich, da Hierbei mehr von einer fſluctuirenden, als feßhaften Bevölkerung die Rede iſt. 


Wagener, Staats⸗ m. Geſellſch⸗Lex. XVIL 35 


546 Nubland. (Geographie und Gtatiflit.) 


fäfftge Tſchuktſchen), Oeſtliche Edfimos (Unalafchkaer und Uleuten), zuſammen 7000 
Individuen. b. IndianersFamille. Indianer vom Athapaſska⸗Stamm. Kenai, Kinai 
oder Thnai, Atna, d. i. Menfchen, bei den Ruſſen Mjfednowzy, Koltfchanen oder Gal⸗ 
zanen, d. i. Fremdlinge, Ugalachmut, bei den Rufſen Ugalenzy, Thlinkit, d. i. Men 
Shen, ruſſiſch Koljuſchi, Indianer vom Tſchinukſtamm, Näs, Kaiganen, zuſ: 15,000 
Individuen, Bei diefer Ueberſicht der Bevölkerung des ruſſiſchen Meiches iſt natürlich 
auf ſolche Nationen keine Rückſicht genommen, welche eigentlich anderswo ihr Dater⸗ 
land Haben, im rufſiſchen Reiche aber nirgends eine auf dem Lande anfäſſige Ein⸗ 
wohnerfchaft bilden, fondern — wie Franzoſen, Engländer, Italiener, Spanier, Dänen t. 
— nur ald Säfte in den Städten fih aufhalten, obgleich deren Anzahl. zu Heiten 
der Geſammt⸗Population Rußlands eine nicht unbeträchtliche Ziffer hinzufügt. 

Phyſiſche Eultur Unter allen Exrwerbäquellen R.'s flebt der Acker⸗ 
bau, wiewohl er durch die Haubbeit des Klima's In den wörblichen, durch GSünspfe 
In den mittleren und durch Steppen in den füdlichen Provinzen vielfach beeinträchtigt 
wird, in erſter Linie Cr laßt gleichwohl noch Bieles zu wünfchen übrig, da bie 
Fortfchritte der Agricultue Weſteuropa's noch meift unbekannt oder unbrachtet find. 
Eine trefflihe Duelle zum Studium der Anbau- und Ernteverhaͤltniſſe R.'s bilder der 
„Landwirtbichaftlich-ftatiftifche Atlas des europäifchen Rußland“, Beransgegeben vom 
Departement ded Aderbaus im Miniflerium der Neihsbomänen (3. Aufl. St. Betersb. 
1857), worin die geologifchen und Llimatifchen Verhältniffe, die Erträge der Mittel» 
Ernten, die mittleren Oetreldepreife, Die Bewegung des Getreidehandels, Die Verthei⸗ 
lung des Forfkgrundes, die Nefultate der Flachs⸗ und Hanf⸗Induſtrie, der Tabaks⸗ 
und Runkelrübencultur, der feinwolligen Schafzucht, der Pferdezucht, zugleich in ihrem 
Berhältniß zur Bevölkerung, der Hornviehzucht und des Viehhandels und bie Orte 
der landwirthſchaftlichen Ausftellungen überfichtlich dargeſtellt find, unter Beifhgung 
einer Karte der landwirthſchaftlichen Schulen und Mufterwirthfchaften und einer land» 
wirthfchaftlichen Gefammtlarte. (Vgl. Hiermit v. Heden’s „Gultur-Statitif des zuffl« 
fhen Reiches“ und deſſen „R.'s Kraftelemente und Einflugmittel”, Frkf. a. M. 1854, 
und die Schriften von v. Harthaufen, Steinhaus, Tegobordli u. ſ. w.). Das Haupt⸗ 
mißverhältnig des ruſſiſchen Getreidehandels und alle daraus für den Landbau flie⸗ 
Benden Inconvenienzen waren biäher Folgen der weiten Entfernungen und ber mit dem 
Trandport verbundenen Schwierigkeiten; dieſen Mebelftänden werden künftighin bie bis 
in den Oſten und Süden fortzuführenden Eifenbahnen Eräftig begegrien, wie Die vor⸗ 
bandenen' Schienenwege fon ihren Gegen auf die Agrarverhältniffe des meftlichen 
und centralen R.'s üben. Schon die „Denkichrift" des Miniſters der Meichsbomären 
vom Jahre 1847, welche „die Urfachen, welche dem Kortichritte einer verbefierten 
Landwirtbfchaft hinderlich find“, beleuchtete und Abhülfevorſchlaͤge machte, betonte den 
legterwähnten Umftand bauptfähli und trug zur Gntwidelung des rufflichen Eifen- 
bahnnetzes und der Pyroſkaphie in den Letztjahren der Regierung bed Kaifers Niko» 
laus I. und während‘ des nun faft verfloffenen Erſtdecenniums der Regierung des 
Kaifers Alexander II. daB Ihrige weſentlich bei (f. u.) Es ſteht nach ſtatiſtiſchen Er⸗ 
mittelungen der Neuzeit feſt, daß die geſammte Bodenflaͤche des europaͤiſchen R.'e bis 
zum Ural und Kaukaſus ca. 504,395,000 Deßj. (die Dehl. — 4,275 pr. Morg., alfs 
5022,306 Dep. = 1 geogr. D.M.) in fich begreift, wovon für das eigentliche N. 
492,687,000 und für Polen 11,707,000 Deßj. Landes fidy verrechnen. Es gab aber 


eigentl. Rußland. rotente m Königr dien. 
on Dei — der —*æ* — Wi * 8 ꝓ Procente. 
Ackerland..... | 79,518,000 16,14 235,014 |. 31 
Gartenland .... 6,159,000 1,35 26,598 4 
Weinland. ... . 95,000 0,03 — — 
Miefen ...... 11,479,000 2,33 45,563 6 
Weiden... .... 98,537,000 20, 154,000 „21 
Waldboden ..... | 152,240,000 30,90 | 205,539 28 
Mncultivirtes Land | 144,659,000 29,36 75,000 10 


Die polnifhe Wlok ‚ welde in 30 Mor Morgen) abgetheilt wird, Hält 
are ruf. © Depiatt — Der Sein Arorgen, entfpeiht Oma — see ’ 


Ghyſtſche Cultur.) 547 
Hieraus erflebt ſich, wie gering bis jet noch der der Cultur abgemonnene 


Raum der Bodenflähe RE if, wobei nicht immer bie bloße Ungunſt der Agrarvers 


haͤltniſſe allein in die Waagſchale fällt. In der Befamnitheit Deutfchlande, mit Ein⸗ 
Thluß der Öferreichifchen und preußifchen Länder, macht das uncultivirte Land nur 
13,, pCt. der Gefammtfläche aus (in England 20,,, in Branfreih fogar nur 4,,). 
Im Allgemeinen rechnet man den Ertrag einer guten Mittelernte im europälfchen R. 
zu 265 Mil, Tſchetwert Getreide aller Arten (ber Tſchetwert == 3,9199 preußiſche 
Scheffel) und den Gebrauch für Menſchen und Bich im Lande zu 165 Mill. Tfchet- 
wert; es verbleibt demnach, trog aller oben erwähnten Mißverbältnifie, dennoch all- 
jährlich das nicht unerheblihe Quantum von 100 Mill. Tfchetwert (oder 382 Mil. 
preuß. Scheffel) Getreineforten für die fonflige Verwendung und den Erport übrig. 
Die Kornbranntweindsennereien und GSpirltusfabrifen verbrauchen davon etwa 10 Mill. 
Tfchetwert, die neue. Ausfaat erfordert 60 Mill. Tſchetwert, die ruffliche Ausfuhr in’s 
Ausland erübrigt eife. immerhin noch volle 30 Mill. Tfchetwert oder 114 Mill, preuß. 
Scheffel an Getreide. Die wichtigſten Gouvernements für den Getreidebau ſind im 
innern R. die ſüdlich von Moskau belegenen Goupernements Rjaäͤſan, Kursk, Orel, 
Tambow und Tula, in den äfllihen Provinzen die Wolgagouvernements Kaſan, 
Sſimbirsk, Sfaratow, Woronesh, Wiatka, Penſa, und im Süden des Reiches das 
von vielen Anfledlern bewohnte Gouvernement Taurien. Dieſe 12 Goupvernemente 
erzeugen eine Mittelernte von 811, Mill Tſchetwert (mehr als 30 pCt. der Geſammt⸗ 
ernte); In guten Jahren iſt der Ernte⸗Ertrag indeß fchon auf 1321/, Mit. Tfchetwert 
gefiegen und hätte fomit faft für den Conſum ganz R.'s zugereiht. Die Haupte 
Erzeugniffe der zuffifchen Agricultur find Noggen, Weizen, Gerfle, Hafer und Kar⸗ 
toffeln, Iegtere erft feit der Meugeit; für den Süden (Cherſſon, Taurien, Beffarabien, 
Sefaterinoslaw) fommt noch Mais hinzu, in R. Kulurufa genannt. Flachs und 
Hanf wird in den Oflfeepropingen und im, Innern gebaut; Krapp in Podolien und 
wer; Tabak und Munkelrüben im Gentrum und Süden; Baummolle in Trans» 
Eaufaften, wo auch Safran und Indigo gedeiht. Die Gartencultur hat ihren Sig im 
Süden und Werften, theilmeife auch im Innern. Polen, Kleinrußland, Taurien, 
Trandfaufajlen find Länder für Gemüfe, Obſt, Bierpflangen. In der Krym 


. and in Armenien gebeiben neben allen europäifchen Südfrüchten ſelbſt tropifche Obſt⸗ 


arten, wie Datteln, Piſtazien u. ſ. w. Der Weinbau bat feinen Rayon in Taurien, 
Cherſſon, Beſſarabien, Podolien, Jekaterinoslaw, Stawropol, Aſttachan, im doniſchen 
Koſakenland und am meiſten in Transkaukaſien, wo die gruſiniſchen, imeretiſchen und 
kachetiſchen Weine, zum Theil in Schlaͤuche gefüllt und in Naphta getraͤnkt, 
ein ungemöhnliched euer bejlgen, während die donifchen und krymſchen Weine 
hampagnerartiger Natur find und flarf mouffiren. Die Korflcultur R.'s iſt noch 
immer fehr primitin; die Urwalbungen (in den Wolgaländern giebt es Eichenwälder, weldhe 
unermeßliche Raͤume einnehmen; die Urſttze vieler finnifcher Nationen, welche hier beſonders 
Bienenzucht treiben) find weder vermeſſen, noch forſtwirthſchaftlich überwacht. Die Espe 
und ſibiriſche Ceder ſteigt bis zum 55 9 Nordbreite auf, die Eiche bis zum 60 9, die Eſche 
und Tanne bis zum 61., ja flellenweis bis zum 62°, die Fichte und Lärche bie zum 
65°, die Birke, Erle und Weide bis zum Polarkreife auf, von wo dann bie Tundren 
oder Moosfelder beginnen, wo nur noch geringer Strauchwuchs, herricht, ber fich eben- 
fall® bald. verliert, morauf nur noch Beerenwuchs fich geltend mat, befondere Moos⸗ 
oder Sumpfberren (bei ben Rufen Kliukwa oder Kljukowka, bei Rinne Vaccinium 


oxycoccos). Ahorn gedeiht nur im Süden von Polen und Großrußland, die Buche 


nur in der Krym, Beſſarabien, Podolien, Volhynien und Polen. Die Pyramidal⸗ 
pappel und Kaftente kennt das nördliche und mittlere Rußland nicht, ſelbſt Die ger 
meine Noßfaftanie wird in Moskau noh in Kübeln gezogen und acclimatifirt fich 
ſchwer. Tegoborsfi berechnet, doch ohne eine haltbare Grundlage, den Befammtwerth 
der jährlichen Forfinugungen zu 135 Mill. Rubel Silber. Die Ausfuhr der wich 
tigften u rugnie find Holz und Holzwaaren (ca. 10 Mill. R.S.) und Pottafche 
(1i—2 Mi. R. ©.) Zwei wichtige NRebennugungen der Wälder geben die Theer⸗ 


ſchwelerei und Baflbereitung ab. Zür den Theer bat R. inne an Schweden und — 


Rorwegen, fo. wie an Nordamerika erhebliche Concurrenz; gleichwohl wirft R. noch jähr!’ 
| 35* 


548 Rußland. (Geographie und Statiſtik.) 


durchfchnittlich über 1 MI. Pud Theer in den auswärtigen Handel und die Baftfabrikation, 
welche vortrefflide Matten, beſonders aus Lindenbaft Ilefert, iſt ebenfalls ein nicht 
unwefentlicher Artikel für die Ausfuhr. Die Viehzucht ift ebenfalls eine Lebens 
frage für einen großen Theil der Bewohner R.'s. Man zieht nicht nur die gewöhn- 
lichen Haudthiere, fondern auh Nennthiere (im Norden), Büffel und Kameele 
(im Süden). Thierzählungen haben erſt in neuefter Zeit flattgefunden. Wir: theilen 
die Ergebnifle der legten beiden officiellen Aufnahmen, welche die gefammie Hausthiers 
zucht des europäifchen R. (mit Ausfchlug Polens und Finnlande) in fich begreifen, 
in ihren wichtigen Schlußziffern mit. Es gab biernadh: 


1846 1856 - 
Pferde und Füllen 16,498,449 18,600,000 
Rindvieh 23,158,113 26200.000 


Schafe gewoͤhnliche 34,021,715 42,200,000 
„  feinwollige 7,652,360 10,000,000 


Schweine 10,253,465 9,750,000 
Ziegen 637,559 1,700,000 
Efel und Waulefel 1,721 

Büffel 1,038 2,000 
Kameele 48,095 60,000 
Rennthiere 252,000 432,342 





Ueberbaupt Hausthiere 92,509,515 108,944,342 

Der Stückzahl nach Hatte im legten Decennium ſich alfo der Hausthierſtand R.’E 
um fat 161, Mill. vermehrt, und einen erheblichen Zuwachs wieſen befonders die 
Ziffern für die Schaf und Ziegenzucht nad, während die Schweinezucht ſich allein 
verringert hatte, und zwar mit fehr bemerkbarer Bezifferung. Es kamen im Jahre 
1856 auf 1 Q.⸗M. Landes etma 385, auf 100 Einwohner aber 170 Hausthiere, 
und es ergiebt fih im Vergleich zu den andern Großſtaaten, daß im Verhaͤltniß der 
Stückzahl Vieh zur Einwohnerzahl das rufflfche Reich mit Preußen gleichfland, Frank⸗ 
reich und Deflerreich übertraf und nur binter England zurückblieb. Weitere Ermerbs- 
zweige, weldhe der Boden ſelbſt bietet, find die Bienenzucht, die Seidenzucht, 
der Kifhfang und die Jagd. Die Bienenzucht wird In Polen, im Süden und 
an der unteren und mittleren Wolga fehr flark betrieben; dagegen haben Transkau⸗ 
kaften, die Krym, Beflarabien, Aftradyan, Podolien und Kiew die anfehnlichften Raul- 
beerplantagen und die Seidencultur ſteht daſelbſt In einer Blüthe, die für die Zu» 
kunft vortreffliche Seidenproducte verheißt. Die faufaflihe Seide kommt der perfifchen 
bereits faft gleih an Büte und Feſtigkeit. Um die Hebung dieſes Gulturzweiges hat 
fih u. A. der Baron Alexander v. Meyendorff (vgl. diefen Artikel) große Ber- 
dienfte erworben. Sehr erheblich iſt auch der Fiſchfang, beſonders in den Meeren, wo 
noch Robbenſchlag, Eißbärenfang, Wallroßfagd u. f. w. binzutreten, in ben größeren 
Zandfeen und in den Hauptflrömen des Landes, vor Allem in der Wolga, im Don, 
Dnjeper und der Düna. Abgeſehen davon, daß die Erträge der Fifcherei für die Lance 
desbewohner in Betreff ihrer vielen Faſttage felbft yon großer Wichtigkeit find, und 
daß getrocknete und geräucherte Fiſche bis meit in das Ausland verfanbt werben, bil⸗ 
den die Gaviar-, Hauſenblaſen⸗ und Bifchleimbereitung (im Kaspifchen Meer, an der 
MWolga) und der Handel mit Seehundsthran, Wallroßzahn, Robbenfellen u. f. w. 
(im Norden des Reiches) fehr erhebliche Gegenflände ded Erwerbed. Auch die Erträge» 
ziffern der rufflichen Jagd flellen fi ala anfehnliy Heraus. Die Jagd richtet ſich 
auf Hirfche, Rehe, Wildſchweine (mehr in den Mitteländern und im Welten), Hafen 
(die im Winter ein weißes Fell haben), Elennthiere (in Bolen, Lithauen, Sibirien), 
Auerochfen (in Weftrußland), Gemfen und Steinböde (im Kaufafus und Altai), An⸗ 
telopen und Gazellen (in den fühlichen Steppen), ſelbſt Löwen und Tiger (in den 
Arallanden), fo wie auch wilde Pferde und wilde Schafe. Pelzwild (Bären, Wölfe, 
Füchſe, darunter weiße, blaue und ſchwarze, Luchfe, Dachfe, Zobel, Hermeline, Meer« 
ottern, Biber u. ſ. w.) giebt es zahlreich, befonders im aflatifchen Rußland, mo der 
Bang der Zobel und Hermeline zum Theil eine Beichäftigung der Gefangenen bildet, 
An Geflügel für die hohe und niedere Jagd giebt es Faſanen, Auerhühner, Hafel- 


Cabrikthatigkelt.) 549 


bühner, Schnee und Sanbhühner, Schneegänfe, Enten, Reiher, Kraniche, Wachteln, 
Trappen u. f. w., fellenweife in ungeheuren Schwärmen die Meereögeftade und die 
Stromufer bedeckend. Poſen und Daunenfedern geben fogar wichtige Ausfuhr- Artikel 
ab. — Der Bergbau R.'s iſt uralt und wurde fchon, mie verlaffene Schürfe im 
Ural anzeigen, von den alten Bewohnern Biarmiend betrieben. Der Ural, Altai und 
Transbaikalien, zum Theil auch der Kaufafus, Finnland und Polen, und die Hügel⸗ 
fetten am Don und Donez, find die Fundorte für die meiften Mineralien. Ban findet 
Bold aus‘ Waſch⸗ und Amalgamirwerken, Platina, Silber (befonderd zu NertfchinsE), 
Kupfer, Eifen, Blei, Zink und Galmei, Queckſtilber, Schwefel, Steinkohlen (am Don 
und Donez auf einem Areal von 500, in den Gouvernements KRaluga, Tula und 
Riäfan auf einem Areal von 400 Q.⸗M.), Lignit, Salz (Stein- und Sudſalz), Vi⸗ 
triol, Salpeter, Naphta (in Transkaufaften), Diamanten und alle Arten Edel⸗ und 
Halbedelſteine, Malachit, Amazonenflein, Asbeſt, Marienglas, Bernftein, Borzellanerde, 
Marmor, Granit, Porphyr, Braunfoblen, Torf u. f. w. Die Ausbeute betrug im 
Jahre 1861 nach offlciellen Angaben: | 

Aus Kronöbergnerten, Aus Delbatbetsieben, N Allem 


Bub. Bub. fb. ud. Ph. 

an So. . ... 201 7 1221 10 1422 18 
an Blatina . . . . 3 37 1 2 4 39 
an Sir . . .. 978 23 6 28 985 12 
an Ruyfr . .» . . 59,742 — 220,254 31 279,996 31 
an Bill . . 2... 49,416 7 6455 — 55,871 7 * 
an Gußellen. . . . 952,195 28 15,619,708 12 16,571,904 — 
an Ein. -. . . . 586,452 6 8,974,665 — 9561117 6N 
an Std) . . .. 27,576 1 81,501 — 109,077 3 
an Kochfal; . . . . 14,754,352 — 11,612,420 — 26,366,772 —2) 
an weißem und ſchwar⸗ 

‚zem Napbta ... . — — 247,555 — 247,555 — 
an Salpeter und Vitriol 3800 — 39,120 — 42,920 20 
an Steinkohlen und An⸗ 

tbrait . . 2... 160,922 28 — — 5) 


Früher war die Goldausbeute erheblicher; fie war von 1823 (wo fie nur 105 
Pud betrug) bis 1847 ſchnell bis auf 1741 Pud geftiegen, ſank aber von da ab 
wieder faft alljährlih, indem fie 1848 nur noch 1726, 1849 1587, 1850 1473, 
1852 1367 Bud betrug. In den Iegten Jahren bat fie dagegen wieder um ein We⸗ 
niges zugenommen. 

Fabrikthätigkeit. Was den Inpufrialismus der Ruſſen betrifft, fo 
iſt in alter und neuer Zeit. durch die Sorgfalt der Negierung Vieles, wiewohl mit 


- geringem Erfolge, zur Hebung deſſelben geſchehen. Erſt neuerlih (1857) wurden bie 


Prohibitivzoͤlle bedeutend berabgefegt, und feit Peter dem Großen iſt die Verpflanzung 
ausländischer Induſtriezweige nah R. in der eonfequenteften Weile begünfligt worden. 
Auch IR nicht zu läugnen, daß die von Zeit zu Zeit erfcheinenden Fabriktabellen einen 
erheblichen Zuwachs nachmeifen, doch ſteht derfelbe in keinem Berbältnig mit dem 
MWahsthum der Bevölkerung im Allgemeinen, mit den Bebürfniffen des Landes und 
mit den Fortfchritten des Auslandes. Die Kederfabrifation, befonders was Juchten 
und Safflen betrifft, it heut, wie vor 100 Jahren der Culminationspunkt der ruffl- 


N Die offletelle Tabelle verzeichnet außerdem noch 193,693 Pud 38 Pfund verfchiebene Metall: 
probnche und 33,995 Stüd Geräthichaften, ale Ertrag der Kronswerke, fo wie 1,829,521 Bud 37 
Pfund Metallproducte, ald Ertrag ber Brivatwerke, zufammen alſo 2,023,213 Pud 35 Pfund nebft 
33,985 Stüd. Hierzu kamen ferner 14,378 Pub 23 Pfund Anker und 8949 Senfen aus Krons⸗ 
und 5478 Bub 36 fund Anker nebſt 84,007 Stück Senjen aus Privatwerfen. 

2) Außerdem wurden in Transkaukaſten von Privatperfonen aus den ihnen in Pacht ges 
gehenen Salzquellen der Krone 1,112,723 Bub Salz gewonnen. Bon den Rronsfalinen lieferte 
die Afrabanie 6,623,769 Bud, die Eltonfhe 4 Mill., die Ilezkiſche 1,304,322 und die Debjudin- 
ſche 1,007,116 Pud. Die fibirifhen Salinen boten einen Ertrag don 2,692,590 Pub, Das oben 
erwähnte Zerhin wurde von Kronspächtern gewonnen. 

9 Es iſt hier nur die Ausbeute des Kronsbergwerkes Lugansk verſtanden. Die Erträge 
aller übrigen. Steinlofflenwerfe waren unbelannt. 





558 Aufland. (Geographie und Statiſtik.) 


hen Induſtrie, außerdem hat fly der Auf der Baumwollen-, Segeltuch⸗ Tauwaunren⸗, 
Seife⸗, Lichte, Pottaſch- und Leimfabriken von Alters ber ‘bewährt. Rechnet man 
hierzu noch einige ſich durch Güte außzeichnende Fabrifate der Metalle, Glas⸗, Papier⸗, 
Tuch⸗-, Leinen» und Branntwein Fabrikation, fo ift damit fo ziemlich der Kreis des 
ruſſiſchen Fabriken- und Hüttenweſens befchloffen und der gefammte übrige ruſſiſche In⸗ 
duſtrialismus If} nur eine ſchwache Nachahmung der technifchen Errungenfchaften Deutſch⸗ 
lands, Englands und Frankreichs. Die Hauptfige des rufflihen Fabrikweſens find das 
mittlere Großrußland (Moskau, Tula, Kaluga, Wladimir, Nishnif-Nomwgorod), St. Peters⸗ 
burg und die uralifhyen Gouvernements Orenburg und Perm, Iegtere als Gentrur 
des ruſſiſchen Bergmerkd- und Hüttenbetriebes. Moskau felbft aber iſt der Mittel 
punkt für die gefammte Induftrie und ihre Verwerthung, indem es dem Kandel in’s 
Ins und Ausland feine Richtungen vorfchreibt. Es beſitzt felbft große Fabriken im 
Tuch, Baummolle, Seide, Leder, Tabak, Borzellan, und flieht auch hinſichts der Fa⸗ 
brifation von Eifenmaaren Tula nur Wenige nad. Polen fabricirt befonder& Baum⸗ 
wolle, Wolle und Zuder. Es ift feltfam, daß die Sige des ruſſtſchen Inpuftrialigmus mehr 
auf dem Lande zu fuchen find, während die Thätigkelt der Handwerker fih faſt nur 
in den Städten concentrirt. Auch ſcheint hervorhebenswerth, daß die induftrielle Thä- 
tigkeit des Ruſſen ſich nie auf viele Gegenflände gfeichzeitig erfiredt, ſondern daß fle 
fih meift auf einzelne Handelsartifel geworfen Hat, denen fle dadurch aber auch einen 
feltenen Grad von Aufmerffamkeit zugumenden vermag. So giebt ed große Fabrik⸗ 
fleden und Dörfer (befonderd in den Bouvernements Nishnif-Nomgorod, Wladimir, 
Zula u. f. w.), welche 10—20,000 Einwohner beſttzen, und wo jeder Ortsangehörige 
von Generation zu Generation nichts Anderes als Schlöffer, Meſſer, Hüte, Tufupen 
(Schafspelze) oder Matten und Holzwaaren fabrlcitt. Die Waaren von Pawlowo, 
Lyskowo, Pogoſt, Nikolskoe, Muraſchkino, Bor u. }. w, (fämmtlih im Gouverne⸗ 
ment Nishegorod) haben dadurch Weltruf erlangt. Die Gumme fänımtlicher Fabriken 
bat erſt ſeit Kurzem die geringfügige Ziffer 10,000 überſtiegen; unter Peter dem 
Großen gab e8 erfi ca. 30, im Anfange diefes Jahrhunderts 2270, 1820 3724, 
1828 kaum 6000 FBabrifen, mworunter nur 100 durch Dampflraft betriebene. 1838 
gab es 6450 Kabrifen und Hüttenwerfe mit 377,820 Meiftern und Arbeitern. Bis 
heut bat ſich Die Zahl der leßteren nahezu verdreifacht. Den Werth der gefanımten 
Production der Induſtrie berechnete man, mit Einfchluß der Erzeugniffe der Hand« 
werke, in Jahre 1851 auf 550 Millionen Silber⸗Rubel, und fhäpte ihn. 1861, nach⸗ 
dem der Krymfrieg den Bang diefer Production auf ungewöhnliche Weife unterbrochen, 
nur auf 600 Mil. S.⸗R., obwohl nah den Erfahrungen der Vorfahre, bei'der ſteti⸗ 
gen Progrefflon des Induftrialidmus, eine viel größere Ziffer zu erwarten ſtand. 
Nach Nbrehnung der Handmerfäthätigkeit verblieben 1856 2241, Mil. S.-R. ale 
Refultat der induftriellen Unternehmungen. Sibirien fleuerte dazu nur 11%, Rau« 
kaſten 1; MU. S.R. bei. Was den bier einbegriffenen Schiffbau betrifft, fo wird 
derfelbe nicht nur in den Häfen der Oſtſee und des Schwarzen Meeres aͤußerſt leb⸗ 
baft betrieben, fondern auch längd der ganzen mittleren’ und niederen Wolga und an 
deren Nebenflüffen, wie der Rama, Dfa u. f. w. Die Barken, welche von den Muffen 
mit einer Schnelligkeit und Billigleit gezimmert werden, die ihres Gleichen fucht, wer⸗ 
den, fobald fle ihren Zielpunft (. B. St. Petersburg) erreicht Haben, zerfihlagen und 
ald Brennmaterial benugt. 

Handel und Schifffahrt Ungleich wichtiger als die Indufſtrie iſt ber 
Handel R.'s, für deſſen Entwidelung Beter der Große fchon viel gethan, hen Ka⸗ 
tharina II. erweitert und die Neuzeit zu feinem jegigen Flor geführt Bat. Die Menge 
der Robproducte bieten demfelben eine größere Sandhabe, als die Fabrikate, und feine 
Erleichterung findet er in den großen Waflerftraßen (Meeren, Strömen, Gandlen) und 
neuerlid in den Eifenbahnen. Daher find die Küftenländer, die Orte an Strömen 
und die an den Schienenmwegen liegenden Großſtädte diejenigen Orte, weldye am meiften 
am Kandel und feinen Segnungen participiren. Die mwichtigften Hafenpläge für den 
auswärtigen Handel find: .St. Peteröburg mit Kronftabt, Riga, Reval, Libau, Hel⸗ 
fingfors, Wiborg, Odeſſa, Cherfſon, Beodofla, Taganrog, Archangel. Die Haupte 
bandelöpläge Im Innern ded Landes: Moskau, Nifhegorod, Charkow, Poltawa, Wo⸗ 


(Handel und Eiifffahet) 551 


sonedh, Krementſchug, Jekaterinoolaw, Aſtrachan, Irkutsk, Kiachta und Warfchau im 
Königreih Polen, "Die Stapelpläge für den Raramanenhandel, der Gentralaflen zum 
Ziele Hat, find Orenburg und Tiflis. Der Handel wird lebhaft gefördert durch Meſſen 
und Märkte, die Far in jeder großen Stabt jährlich ein oder mehrere Male flattfinden 
und bie oft fehr Befucht find, ja zeitweife von einer halben Million Menſchen, wie 
Nishegorod, die größte Meffe der Welt, wohin ganz Europa und Aflen ihre Gon- 


tingente aus der Kaufmannicaft liefern. Die wichtigfien diefer Meffen find: Nishe⸗ 


gorpo (von Makarjew hierher verlegt) mit einer Waarenanfuhr von ca. 100 Mill. 
AR. ©. und einem Waarenabfag von ca. 90 Mill. R. S.; Irbit, im Gouv. Perm, 
mit 40, Mil. R. ©. Anfuhr und 30 Mil. R. S. Abſatz; Charkow, mit vier Meflen, 
und einer Anfuhr von 25 Miu. R. S. bei einem Abfag von 20 Mil. R. S.; Pol- 
tawe wit 20 Mil. RM S. Anfuhr und 15 Mill. R. ©. Abfag; die Kloftermefle bei 
Korennaja. Puſtyn (Gouy. Kursk) mit 12 Mil. R. ©. Anfuhr und 10 Mil. R. ©. 
Abfſatz; Urjupinskaja Staniza (Markiflecken im Lande der bonifchen Rofafen), mit 
11 Mill. A. ©. Anfuhr und I Miu. NR. S. Abſatz; Romny im Gouv. Poltawa 
mit zwei. Meflen und 10 Mil, R. ©. Anfuhr bei 5 MU. R. ©. Abfag; Krolewez 
(Gouv. Tichernigow) mit 7 Mill. R. S. Aufuhr und 4 Mi. R. S. Abfag u. a. m. 
Der akademiſche Kalender von 1854 verzeichnet nicht meniger als 103 Meßorte Ruß⸗ 
landse, mit den näheren Angaben bed Verkehrs. Faſt jeder Diefer Orte unterhält überdies 
eigene Marktzeitungen ober Markttabellen. Für das Jahr 1852 wiefen diefelben in Betreff 
jener 108 Meborte Ichon ine Waarenanfuhr im Sefammtbetrage von ca. 105 Mill. R. ©. 
nach, eine Ziffer, Die ſich ſeitdem nahezu verdoppelt hat. Niehnij Nomgorod fungirt 
dabei als derjenige Meßplatz, der den Halben Verkehr des ruffifchen Reiches an fich 
geriflen Hat und wohin ſich Alles zunäcft drängt, was Abſatz zu finden Hofft oder 
Einfänfe: halten will. (Bgl. die treffliche Schrift von Iwanow „lieber den Jahrmarkt 
zu Niahnij Nomgorod“ im 4. Kefte des 3. Bandes der „Dorpater Jahrbücher”, 
Dorpat 1834; die „Beicdreibung Nishnij Nomgorods mit feinem berühmten Jahr⸗ 
markte,* nebfl einer Anficht der Stadt und dem Plane des Jahrmarktes, Dorpat 
1839; ‚nie „Opiffanife Nidohegorodskol Jarmonli* vom Director des Meßcomtoirds 
A: Subom, St. Peteröburg 1839. und öfter, und Die vom Handelsminiſterium ver« 
Affentlichten Meßberichte, deren letzter ſich auf Die Mefultate des Jahres 1863 bezieht.) 
&ür den euzopälfchen Handel find die Hauptgegenflände der Ausfuhr: Häute, Talg, 
Juchten, Wolle, Borſten, Getreide, Mehl, Flachs und Hanf, Flachs⸗ und Hanfſamen, 
Holz und Holzwaaren, Bottafche, Theer, Eifen und Kupfer; die ‚Hauptgegenflände der 
Siniuge: Baummolle, Wolle und Wollenwaaren, Seide, Baumdl, Früchte, Weine, 
Colonialwoaren, Farben, Maſchinen und Infrumente. Für den aflatifchen Handel 


. bilden: die beuptfäcglichften. Erportartilel: Baumwollen⸗, Wollene und Metallmaaren, 


und bie erheblichen ISmportartifel: Thee, Seide, Baummolle und Früchte. Mas den 
Geſammthandel des Jahres 1861 betrifft, des Letztjahres, worüber fpecialifirte Liften 
vorliegen, jo betrug die Ausfuhr über die europälfche Grenze 159,860,000 R. S., 
über die aſiatiſche Grenze 13,458,000 R. ©., aus und nah Finnland 3,861,000 
M. S., die Sefammtausfuhr alfo 177,179,000 8. S. Die Einfuhr flellte ſich dagegen 
im Jahre 1861 auf 142,750,000.R. ©. von der europälfchen, auf 22,139,000 R. ©. 
von ‚der afintifchen und auf 2,222,000 R. S. von der finnifchen Grenze ber, indgefammt 
alſo auf 167,111,000 R. &.!) Die Ausfuhr betrug 4,204,000 R. ©. weniger, bie 
Sirfuhr 7,808,000 R. S. mehr ala im Borjahr. Der Gefammthandel des Jahres 


1861: wertbeilte ſich wie folgt: Ausfuhr. Einfuhr. 
‚Häfen der Öflfe . © - “0. 67,815,957 99,633,888 
‚Häfen des Weißen Meeres . . . 6,809,557 500,685 


Suͤdliche Häfen . » . . . . _63,076,628 15,516,670 
Summa des Seehandels: 137,702,143 115,651,243 


) Die Staaten, welche ſich am ruſſiſchen Handel zumeift betheiligen, find, hinfidhts ber 
Ausfuhr: Gngland (mit mehr als 40 pCt.), Preußen, China, Türkei, Frankreich), Oeſterreich, 
ofland, Italien; Fr der Kinfuhr: England (25 pEt.), Preußen, Ftankreich, China, Ame⸗ 
fa, Deflerreich, Hanfefläbte, Türkei. Vgl. die wufflihen Handels: und Scifffahristabellen vom 
Sahre 1861 (St. Petereburg 1898). 


552 Ausland. (Geographie und Statiſtik.) 


Weſtgrenze des Reihe . - - - 22,158,216 27,099,067 . 
Transkaukaſten.. 20. 2,506,935 6,537,250. 


Aftrahan . . 263,407 198,517 
Orenburgiſche und ſibiriſche Gen 5,882,335 8,371,695 
Chineſtſche Brenz. . - . 4,801,431 (noch nicht ermittelt.) 
Finnlem . . 0. 3,861,564 2,221,491 


Summa ves randhandels: 539473888 44,028,010 

An Gold und Silber (in Barren und gemünzt) wurden 1861 ausgeführt: 
15, 790, 353 (1860 nur 9,875,544), während eingeführt wurden: 7,138,396 (1860 
dagegen 7,147,609). Tegoborsfi ſchaͤtzte ſchon für 1356 das Maß des jährlichen 
Handelöcapitald auf 5374, Mil. R. S.; man fann e8, wenn man biefelben Grund⸗ 
lagen annimmt, wie jener Statifliter, d. 5. die Umfäge ber einzelnen Bilden zu 
100,000, 40,000 und 6000 R. S. im Jahredburchichnitt berechnet, gegenwärtig zu 
700 Mill. R. ©. veranfchlagen. Bon den 3 Gilden, in die fich der rufftfche Handels» 
ftand theilt, Hat die erfle dad unbefchränfte Handelärecht für In- und Ausland, fo 
wie das Privilegium Banquier⸗, Wechfel- und Uffecuranggefchäfte zu treiben; Die 
zweite das unbefchränfte Handelsrecht für das Inland, für daB Ausland dagegen nur 
die Befugniß des Handels zum Betrage von 90,000 R. S.; für die dritte iſt ber 
Handel mit dem Auslande ganz audgefchlofien. Die für die drei @ilden angemeldes 
ten Gapitalien müffen im. Minimum refp. 15,000, 6000 und 2400 R. ©. betragen. 
Im Jahre 1856 waren im ruſſiſchen Meiche eingetragen: Kaufleute I. @ilde 1149, 
II. Gilde 2000, II. Gilde 51,012. Sept giebt ed in Summa 61,120 Kaufleute 
aller drei Gilden. Die meiften Kaufleute der beiden erflen Gilden, d. 5. die eigent⸗ 
lichen, Großhändler, befanden fi in den Gouvernements St. Peteröburg, Moskau, 
Riga, Wladimir, Nishnii Nowgorod und in den Bouvernementd Cherſſon und Tau- 
‚rien. Die in den legten Jahren bedeutend herabgefegten Zölle, weldye noch im Jahre 
1859 faſt 341), Mill. R. S. betragen hatten, beliefen fih nah dem Staatsbudget von 
1863 nur noch auf 32,514,532 R. ©., und brachten, nad Abzug der Erhebungs⸗ 
foften von 4,210,869 M. 6 dem Staate eine Revenue von 28,303,663 R. G. 
en. Was den Schiffsverkehr betrifft, fo drehte ſich derfelbe im Jahre 1861 
um 10,634 Schiffe, welche In die rufftfchen Seehäfen einliefen und um 10,739 Schiffe, 
welche aus den ruffifäyen Häfen in See gingen. In die Häfen der Oſtſee liefen 
Darunter ein: 4807, in die Häfen des Weißen Meeres 811 und in Die Shahäfen 
5016 Schiffe; alle, 10,634 Schiffe Hielten 1,024,103 Tonnen Laſt; 5804 waren 
beladen, 4830 führten Ballafl. Bon den in See gegangenen Schiffen verließen die 
Oſtſee 4811, das Weiße Meer 829, die Süphäfen 5099; fämmtliche 10,739 Schiffe 
führten 1,025,972 Tonnen Laſt, 9364 waren beladen, 1375 beballafet. Bon den 
angekommenen Schiffen waren der Nationalität nad: britiſch 1956, rufilfh 1834, 
türliſch 1468, niederländifh 763, italieniſch 752, norwegiih 558, dänifch 483, han⸗ 
noverifh 440, während der Reſt (2379) den übrigen Flaggen zugehörte. Die rufe 
fiihe HSandelsflotte zählte im Jahre 1860: 1416 Schiffe mit 172,605 Tonnen 
Zragfäbigfeit und 10,000 bis 11,000 Watrofen. Die Zahl der Dampffchiffe 
auf den Binnengewäflern belief fih im gedachten Jahre auf 358, von denen allein 
215 die Wolga und deren Nebenflüffe (Kama, Ofa u. f. mw.) befuhren. Belebend für 
ben Handel des ruſſiſchen Reiches wirkten die vielen in den legten Decennien zum 
Abſchluß gebraten Handelsverträge mit den auswärtigen Mächten, wie 1832 
mit Nordamerika, 1834 und 1838 mit Schweden, 1840 mit Deflerreig, 1841 mit 
Großbritannien und Preußen, 1845 mit Neapel, 1850 mit Belgien, 1851 mit 
Griechenland und Portugal, 1853 mit Nom, 1857 mit Frankreich, 1858 mit Japan 
und 1860 mit China. Noch mehr aber zur Hebung des Handels in M. trug der 
Ukas vom 20. Juni 1860 bei, wonach fämmtlidhe Fremde den Muffen bei Betrieb 
des Handels völlig gleichgeflellt wurden. Früher betraf die etwaige Gleichſtellung 
nur einzelne bevorzugte Nationen oder Perſonen. Ein ferneres ſehr wirkfameß 
Hebungsmittel des Verkehrs bilden die felt dem vorigen Regime gefchaffenen, durch ben 
jegigen Monarchen fehr erweiterten Schienenwege, denn wenn auch der militärifche Zweck, 
dad Centrum des Meiches mit den etwa Im Kriege bedrohten Punkten des weitlichen 


(Handel x.) 553 


und füblichen Mußlands in Verbindung zu ſetzen, vorzugsweiſe die Anlage der ruſſi⸗ 
Then Eiſenbahnen bedingte und bebingen wird, fo zieht doch in zweiter Linie der 
Handel feinen Nugen davon, zumal die Hauptarte der ruſſiſchen Induftrie und die 
productenreichflen Begenden des Reiches von ihnen berührt werden. Es bes 
fieben. zur Zeit — als fertige und dem Betriebe überlafiene Bahnen — die 
Nikolai» Eifenbabn, melde die beiden Mefldenzflädte des Meiches im 
einer Linie von 604 Werften (87 Meilen) mit einander verbindet. Sie führt von 
St. Peteroburg über Kolpino, Pomeranje, Tſchudowo, Klein - Wilhera, Waldai, 
Wyſchnij⸗Wolotſchok, Oſtaſchkow, Twer, Klin und Chimfi nah Mosfau. Die Dauer 
der Fahrt beirägt für die Schnellgüge 15 Stunden, für: die Poſtzüge 20 Stunden und 
für Die Paſſagierzüge 30. Die Billigfeit und Benugbarleit für den gemeinen Mann 
erhellt Daraus, Daß das Bahrgeld der dritten Klafie für Die ganze Tour nach dem 
neueſten Tarif nur 4 Rubel 50 Kop. beträgt (d. h. nicht viel über 41, Thlr. 
preuß. Courant). Noch geringer im Verhaͤltniß zu. den weſteuropaͤiſchen Bahnen find 
Die. Frachtſaͤze für Bagage, Waaren und Vieh. Kür Bagage. wird 75 Kop. per Bub 
für die ganze Fahrt entrichtet, für Waaren 15—40 Kop., für ein Stud Kleinvieh 
3 R., für ein Stud Hornvieh 10 R. S. Eine zweite wichtige Etienbahn iſt die 
—Noskau⸗MRjäſaner Bahn, vorläufig nur erſt bis Kolomna (auf einer Strede von 
109 Werften) -erdffnet; eine dritte ifi die Mookau-Jaroßlawer Eifenbahn, augen» 
blicklich vollendet bis zum Flecken Sfergijewblofe, woſelbſt Sch das berühmte Walls 
fahrts⸗Kloſter zur heiligen Dreieinigfelt (die Troizifche Lawra) befindet. Die Enifer- 
nung beider Orte von einander beträgt 70 Werl, Eine vierte, überaus wichtige 
Bahnlinie if die jetzt in ihrer Totalität eröffnete von Moskau nah Nishnti 
Nomgorod Sie führt von der Melden; über Bogorodsk, Pawlowsk, Petrowsk, 
Wladimir, Wiaanifomo, Borochowezlofe, Gorobatow und Orlowok nah dem berühm« 
ten Handels⸗ und Meßorte und legt die Tour von 410 Werften (58 Meilen) in 
14Y, Stunden zurüd. Der Fahrpreis beträgt 5 N. 12 Kop. ©. als billigfter Sag. 
Nicht minder wichtig iſt die St. Petersburg» Warfchauer Bahn, 1049 Waft 
(über .150 M.) lang, durchfahren in 332/, Stunden, für 13 R. 13 8. ©. nad nie 
drigſter Tare, Ste berührt Zarskoje⸗Sſelo (wohin die Bahnlinie von St. Peteröburg 
aus ſchon im Jahre 1838 eröffnet war, che noch die zwiichen Berlin und Potsdam 
Behand), Gattſchino, Preobrashensk, Luga, Potkow, Oftrow, Rjeshiza, Antonopol, 
Dubno, Dünaburg, Nowo⸗Alexandrowsk, Swjenzianh, Wilna, Grodno, Bias 
loſtok und Lochow. Die St. Petersburg mit Preußen (via Königäberg, Kreuz, 
Frankfurt an ber. Oder, Berlin) verbindende Bahn, 840 Werft, d. i. 120 M. lang, 
Senugt die vorige Bahn bis Wilna und zweigt von diefem von St. Peteröburg 662 
Werft entfernten Knotenpunkt über Kowno, Pilwiſchken, Wilkowiſchken und Wer⸗ 
fhobolow nach Eydtkuhnen ab, weldhes 178 Werft (d. i. 257, Meilen) von Wilna 
entfernt liegt. Die Fahrzeit von Wilna nah Eydtkuhnen beträgt 51/, Stunden, der 
Fahrpreis (minimum) 2 R. 23 Kop. Die ganze Tour von St. Peteröburg nad 
Berlin koſtet jegt nur noch 1 Tag 19Y, Stunden Zeit und ift für Solche, denen es 
auf Gelderſparniß ankommt, für 16 Thlr. preuß. our. zu ermöglichen. Außerdem 
beſigt R. noch die Zweigbahn von Dünaburg nah Niga in einer Länge von 204 
Werſt (30 Meilen). Sie führt über Zargrad, Liwenhof, Kreuzburg, Kokenhufen, Oger 
and Kurtenbof und bedarf einer Zeit von 61% Stunden, bei einem Fahrpreis von 
2 R. 55 Kop. Vor Kurzem ift ferner Die Feine Bahnlinie von St. Peteröburg nach 
Peterhof (26 Werft Iang) eröffnet worden. Die bier verzeichneten Eifenbahnen haben 
in Summa bereitd eine Ränge von 2650 Werften: (380 Meilen), wozu noch die pol⸗ 
nifhen Bahnen a) von Warſchau über Skierniewice, Lowicz, Kutno, Kowal, Wloclawer 
und Alexandrowo nad Thorn und Bromberg und b) von Skierntewice über Rokizini, 
Petrikau, Radomsk, Czenſtochau und Zombfowice, theild nach Kralau und Wien, 
theils nach Kattowig und Breslau, die erftere 213 Werft lang, Die andere ca. 300 
Werft umfaflend, hinzutreten, wodurch dad gefammte Eifenbahnneg R.'s auf ca. 3163 
Werft oder 452 Meilen anwähfl. Die Bahn von Mosfau nah Kolomna wird bis 
Sfaratom fortgefegt werden; ebenſo ift die Südbahn nad Odeſſa geſichert. Andere 
Bahnlinien find entweder bloß profectirte oder doch noch nicht über dad Stadium der 


654 Nufland. (Geographie und Statiftik.) 


8 
bloßen Vermeſſung hinausgekommene, ſeitdem auch in R. die Ernuͤchterung der Ueber⸗ 
ſtürzung Platz zu machen begonnen hat. Eine große Erleichterung hat neuerlich der 
Verkehr in R. durch die mittels der electro-magnetifhen Telegraphen ermöglichte 
Beförderung von Depeſchen erhalten. Der St. Petersburger Kalender für das Jahr 
1864 verzeichnet bereit 173 Telegraphenftationen, weldde Im October 1863 in M., 
im Königreich Polen und im Großfürftentyum Finnland beflanden. Die Ihätigkeit 
Der Telegraphen dieſes bereit biß zur Krym, bie Odeſſa, Moflow am Don, Stawto⸗ 
yol am Kaukaſus, Orenburg und Perm am Ural, ja fenfeit des Ural bis Iſchym, 
Irbit, Tfumen, Omef u. f. w. ausgedehnten und ganz Bolen und Finnland (Helſtng⸗ 
for, Abo, Uleäborg u. f. mw.) umfaflenden Telegraphennetzes iſt auf den Haupt⸗ 
flationen eine ununterbrochene und für den Verkehr der verichiedenen Bewohner »as 
Reiches dadurch fehr erleichterte, weil auf den meiften Stationen die Depefchen beliebig 
in ruſſiſcher, deutfcher oder franzöflfcher Spradye aufgegeben werden können. Für das 
finnlänvdifche Gebiet Eönnen diefelben auch in ſchwediſcher, für das polnife in pol 
nifcher Sprache abgefaßt fein. Eine treffliche weitere Einrichtung iſt die, ' daß das 
Bublicum vom legten Telegraphenpunfte aus, 3. B. Omsk, fofortige Eftafetten verlangen 
kann, 3. B. nah Kamtſchatka, dem Amurlande, China u. f. w., wodurch ſchon jegt-eine 
ununterbrochene Verbindung zwifchen St. Beteröburg und dem fernften After hergefiellt if, 
Die Arctiengefellihaften R.'s, deren Zahl gegenwärtig fat 200 hettägt, ſind 
weniger als ein auf Solidität und Heellität begründeter Ausbau der Handels verhält⸗ 
niffe, denn vielmehr als eine der vielen fich überflürzenden Ideen der Neügeit zu ber 
trachten, welche auf raſchen Ermerb zielt: und damit oft das Gewiſſe opfert. Der 


Nuin vieler Handeldgäufer R.'s und das Eingehen vieler ſolcher Genoſſenſchaften nach 


furgem Beftand find die Zeugen davon, daß feine praftifhe Erfahrung den Untere 
nehmern zur Seite fland und daß viele- dDieier Unternehmungen -bloß ind Leben traten, 
damit etwas Neues gesaften werde. Als Kaifer Nikolaus I, die Augen ſchlsß, zählte 
das ganze ruffiiche Reich in feinem weiten Umfange nur erſt 36 Artiengefellfchaften, 
worunter "34 ihre Entſtehen feiner Megierung verdankten. Es war auch unter ibm in 
der Leptzeit eine merkliche Vermehrung eingetreten, da von den vermerften 34 Geſell⸗ 
fiyaften nur 2 dem erfien Decennium, 11 dem zweiten Decenntum und 21 den legten 
8 Jahren feiner Regierung Ihren Urfprung verdankten, aber alle diefe- no Heut beſte⸗ 
henden @efellichaften hatten eine fihere Baſis und waren auf dad wirkliche Berürftiß 
der Nation Hin begründet. Dahin gehören 3 Feueraffeeurangen, eine Viehvetſicherungs⸗ 
compagnie, die Gefellihaft zur Berfiherung von Capitalien und Mevenüen, die Gas⸗ 
erleuchtungseompagnie zu St. Peteröburg, die ruffifye Baummollenfpinnereicompaante, 
die Zigmanufactur in Zarewo, die Charkowſche Compagnie für Wollhandel, die ruſſtſche 
Compagnie für See⸗ und Flußverficherung, die Compagnie „Nadeehda" für Sees, 
Fluß und Landverfiherungen, die Wolgadampfichiffceompagnie, die Aboſche Dampf» 
bootgefellfhaft, die St. Petersburg⸗ Lübecker Dampffchiffscompagnte,- die finnländifche 
Wallfifdcompagnte, die -Kompagnie für mechanifchen Betrieb der Goldſandlager, bie 
Compagnie für fabrifmäßige Bearbeitung animalifcher Producte, die für ruſſtſchen 
Holshandel, für Kalfbrennerei, für Mafchinentaufubrifation, für Bereitung künſtlicher 
Mineralwaͤſſer, für Zwiebad- und Brotbäderei u. f. w. Unter dem jegigen Regime, 
welches fih den neuen, von Weften einbringenden Ideen hold erwies, ſchoſſen albbald 
die Ideen zur Begründung von neuen Gefellfchaften aller Art wie die Pilze anf und 
jede8 Jahr brachte diefelben dußendweid. So verzeichnet das „Ionrnal für Aetionäre“ 
vom Jahre 1858 bereits 76 in R. beſtehende Actiengefellfchaften, das „Sournal für 
Aetlondre* vom Jahre 1859 ſchon 94, dad „Sournal für Actionäre* vom Jahre 1860 
fon 111 m. f. w. Die wichtigften Neufhöpfungen diefer Art, welche eine Barantie 
für die Dauer Bieten, find: die Hauptcompagnte der rufflfchen Eifenbahnen (1857 
begründet) mit einem Gtammcapital von 275 Mill. R. ©. an Aetien und 35 MU. 
MR. S. an Obligationen und mit einer Dividende von 44,—5 pGt.; die Geſellſchaft 
für die Sfaratomfche Eifenbahn (1859 begründet), mit einem Brundcapital von 45 Mill. 
MR. S. und Dividende von 5 pCt.; die Warfchau Wiener Eifenbahneompagnie (von 
1857) mit einem Grundcapital von 10 Mil. R. ©. und 10 pGt. Dividende; die 
Miga +» Dünadurger Giienbahncompagnie (von 1858) mit 10,200,000 R. S. Grund⸗ 


(Beiflige-Gulenr) . 855 


taptial und 5 pt. Dividende; die Warfchau + Bromberger Eifenbahncoempagnte (von 
1857) init 5,400,000 8. ©. ®rundeapital und 5 yGt. Dividende; die ruſſiſche Geſell⸗ 
ſchaft für Dampfſchifffahrt und® Handel (von 1856) mir 9 Will. Grundeapital und 
7 pGt. Dividende; die Sefellfichaft der Wolga- Don» Eifenbahn und Dampficifffahrt 
(von 1858) mit 8 Mill. Grundeapital und 5 p&t. Dividende; die Gefellichaft des 
Welßen Meeres (von 1858) mit 3 Will. Grundeapital und 6 pCt. Dividende; die 
Moskauer‘ Zeuerverfiherungdgefellichaft (von 18358) mit 2 Mill. Grundcapital um 
6 pet. Dividende; die Gt. Beteröburger Yeuerverficherungsgefellichaft (von 1858) mit 
2,400,000 R. &. Srundcapital und 5 pCt. Dividende u. ſ. w. Doch giebt es auch 
viele Actienveeine, die zum Theil mit ſehr fpärlichen Fonds begründet find, ober 
andererfeitB bis jedt ohne alle Dividende verblieben, und im Hinblick darauf’ ift es 
als ein erfreuliher Fortſchritt der Zeit zu begrüßen, daß man. gegenwärtig vor 
Anlage folder Unternehmungen zunähft die Berärfnißfrage Ind Auge faßt. Die bie⸗ 
berigen geringen Reſultate der 1858 begründeten Amurcompagnie, mehrerer neuerer 
Bergwerkögefellichaften und Bereine für Erbauung von Wohnungen für die ärmeren 
Klaffen, für Wafjerlettungen, für öffentliche Fuhrwerke, für condenfistes und trand- 
portable® Gas u. f. w. haben den Schwindel in feine Schranken gewfefen. Bezüglich 
der Bantinflitute iſt die Aenderung beliebt worden, Daß die Staatsbanken aufgeldſt 
und an ihrer Stelle Privat- und Landrentenbanfen begründet worden find, deren Re⸗ 
fultate noch nicht genugfam vorlegen, um ein begründetes Urtheil über die Segnun⸗ 
gen dieſer Neuerung: fällen zu Fönnen, Der Handel verſprach ſich dadurch einen 
großen Aufſchwung. 
Geiſtige Cultur. Wenn man die heutigen Culturverhaltniſſe R.'s denen zu 
Peter's des Großen Zeit gegenüberſtellt, fo iſt in der That ein auffälliger Fortſchritt 
erſichtlich, obwohl derfelbe ſich mehr unter den höheren als unter den niederen Gtän« 
den geltend - macht. Der Adel, das höhere Militär und die obere Seiſtlichkeit bilden 
nebft den Städtebemohnern (Bürgern, Gelehrten, Künftlern, Kaufleuten, Handwerkern) 
die eigentlich gebildeten Stände R.'s, das niedere Militär, Die gewöhnliche Popenfchaft, 
die dienenden Klaffen, die gefammte Bauernſchaft, nunmehr nach Aufhebung der Leibe 
eigenf&aft urplöglih zur Freiheit gelangt, find bis zur heutigen Stunde faft aller 
Bildung und Aufklärung haar und flrogen von den phantaſtiſch⸗abergläubiſchſten Ideen. 
Auf fe Hat Gauptfächlich Bezug, wenn man den Racentyp des Ruſſen durch Schlau« 
beit, Berfihlagenheit, Sorglofigfeit, Unmäßigkelt, Böllerei, Trügbelt, Neigang zum 
Diebſtahl und Betrug, Beſtechlichkeit, Bühllofigkeit und Graufamkeit im Allgemeinen 
Eennzeichnet, woneben auıh':die Haupttugenden des Ruſſen, Baflfreundfchaft, Dienſt⸗ 
fertigkeit,. Treue, Patriotiemus und Religiofltät fich gerade In den ımteren Schichten 
der Bendlkerung am entfchiedenften ausſprechen. Der ganze Bildungsgang der Ration 
iſt übrigens ein von oben Her oetroyirter und die Organifationen gingen von Peter’s 
des Großen und Katharina's N. Zeiten ab meift zu rafch vor fih, ſo daß den mich» 
tigflen Inſtitutionen Feine Zeit und Gelegenheit zu ruhiger Entwidelung verblieb. Das 
Ausland galt ſtets als Vorbild, ihm ahmte man unbedingt nath, es unbeadhtet lafſend, 
daß die Bildung Belt « Europa’ auf ganz anderer Bafls erfolgt war, als ſie in M. 
vor fi geben konnte. Die drei am meiften und wohlthuendſten auf die geiftige Er⸗ 
hebung der. Nation einwitlenden Inſtitute In älterer Zeit waren die nach dem Plane 
Peter's des Großen von feiner Nachfolgerin, der erften Katharina, 1726 begrändete 
Akademie der Wiflenfchaften, die unter der Kaiferin Eliſabeth 1758 in's Leben gerufene 
Akademie der Künfte und die 1783 durch Katharina II. geftiftete Akademie für rufftfche 
Sprache und Literatur, deren. Einwirkungen auf das gefammte Reich na allen Bes 
ziehungen der Belehrfamteit, Bildung und Geſittung bin fih auch Heute noch gels 
tend machen. Alexander I. faßte mehr die Erudition des großen Volkshaufens in's 
Auge, ohne Doch Durch eine auf militärtfcher Drefiur beruhende Methodik, die er beim 
Elimentarunterricht einführte, Großes auszurichten. Nicht viel baffer waren die Erfolge 
Nikolaus‘ J., befonders zu der Zeit, als er, von Haß und Sorge in Betreff des revo⸗ 
Intionären. Geiſtes in Welt- Europa erfüllt, dem ausländifchen Einflufe einen Damm 
vorſchieben wollte durch das an feine Antertbanen erlaffene Verbot, auf fremden Uni« 
verfitäten zu ſtudiren, durch die Beſchraͤnkung der Auslaͤnder, namentlich ber Drutſchen, 


556 Aufland. (Geographie and Statiſtik.) 


in Betreff der Uebernahme von. Öffentlichen Aemtern und Hauslehrerſtellen und durch 
andere eine nationale Richtung der Bildung feines Volkes anſtrebende Einrichtungen. 
Der Bei der Zeit ließ fich nicht hemmen, und Nikolaus |., zuletzt beruhigt Durch den 
Gedanken, daß feinem Reiche wenigfiend jede revolutionäre Bewegung fern gehalten fel, 
öffnete in den Leptfahren feiner Megierung felbft wieder der Fremdbildung die Thür 
und befreite feine Nation von dem bermetifchen Verfchlufle gegen das Ausland. Ruſ⸗ 
ſiſche Sprache und Literatur, Landedgefchichte, Volkokunde, ruſſtſche Geographie und 
Statiftit, fene Hauptzweige des Iinterrichtd, wie fie durch Nikolaus I. formirt waren, 
batten dabei einen glänzenden Auffhwung genommen und ein wahrhaft wiſſenſchaft⸗ 
licher Sinn war unter den Ruſſen erwacht, der ſich naturgemäß mehr darch proſaiſche 
ald poetiſche Leiftungen charafierifirte (ſiehe Ruſſiſche Sprache und Biteratur). Der 
eigentlihe Bolkdunterricht, mit Ausnahme der Ausbildung der Geiſtlichkeit, des Mili⸗ 
taͤrs u. f. w., iſt dem ſeit dem Jahre 1802 begründeten Minifterium der Volksauf⸗ 
Härung und des Öffentlichen Unterrichts unterflellt, weldyes die Oberaufficht Über ſaͤmmt⸗ 
liche jegt beflehende zehn Lehrbezirke (St. Petersburg, Moskau, Dorpat, Kiew, 
Kafan, Charkow, Wilna, Odefla, Sibirien und Kaufafus) führt und deſſen Verwal⸗ 
tung ſich auch auf das pädagogifche Haupt⸗Inſtitut in St. Petersburg erſtreckt, fowie 
demſelben fchließli die Leitung aller Schulen im Königreiche Polen überantwortet if, 
welche gegenwärtig den, Warfchauer Lehrbezirl bilden. An der. Spike jedes Lehr⸗ 
bezirks ſteht ein Curator, wozu gewöhnlich eine höhere Milltärperfon gewählt wird, 
welche die formelle Seite des Schulweſens überwacht, während die Inſpectoren und 
Lehrer (Profefioren, Doctoren, Magifter u. f. w.) für die geiftige Seite deflelben Sorge 
tragen. Univerfitäten giebt e& zu St. Petersburg, Moskau, Charkow, Kafan, 
Kiew, Dorpat und Helfingfors (letztere früher in 460), von denen nur Dorpet und 
Helfingfors vier Bacultäten baben und ganz nach dem Zuſchnitt ber deutfchen Hoch⸗ 
ſchulen eingerichtet find. Lehrer wie Studirende haben eigene Uniformen und auch die 
Gymnaſtaſten tragen ſolche. Die Geiſtlichen empfangen ihre Vorbildung auf Unter» 
fhulen, Seminaren und Alabemieen. Aerzte werden in den befonderen mebicinifch« 
chirurgiſchen Akademieen zu St. Petersburg und Moskau ausgebildet. Für das Mi⸗ 
litär und die Blotte find tüchtige Lehr - Inflitute vorhanden, welche auf bie nöthige 
Ausbildung Des fich zahlreih dazu meldenden Adels und ber höheren Stände bie 
nöthige Rüdficht nehmen. Dahin gehören vor allen die Nikolai Akademie des Eaifere 
lichen Generalftabes, die Pagen- und Junkercorps, die Cadetten⸗ und Geecabetten- 
Corps, mehrere Ingenieur-, Artillerie⸗, Topographen⸗, Auditor⸗, tedynifche, pyrotech⸗ 
nifche, Feldſcheerer⸗ und Beterinär-Schulen, ferner fogenannte Marine-Lehr-Equipagen, 
Handeld« und Schifffahrtd-, Steuermanns- und andere Marineſchulen, welche daB Be⸗ 
bürfnig vollſtaͤndig zu decken ſcheinen und welche großentheild mit befonderer kaiſer⸗ 
licher Munificenz ausgeflattet find. Um junge Adelige für den Givildienft im Juſtiz⸗ 
fache zu bilden, wurde 1835 Durch den Prinzen von Oldenburg, der die Hauptfonds 
dazu bergab, zu St. Petersburg eine befondere Eaiferliche Rechtsſchule eröffnet. Das 1828 
gefliftete pädagogifche Gentral-Inftitut bildet Lehrer für Gymnaſien und SKreisfchulen 
aus, und befähigtere Individuen werden auf ruffifhen und auslaͤndiſchen Univerfitäten 
weiterhin zu Brofeffozen für die Hochſchulen, Akademieen und Lyceen ausgebildet. 
Auch für die Zwede der Sprachenkunde wird durch ein Iuflitut (dad Laſarew'ſche für 
orientalifhe Sprachen) Sorge getragen, wie auch neuerlich von der Akademie der 
Wiffenfchaften eine eigene aflatifche Schule begründet worden iſt. Ebenfo werden 
gegenwärtig die Interefien ber Landwirthſchaft, des Gartenbaues, der Forſtwiſſenſchaft, 
des Berg und Hüttenweſens und der Technik und Mechanik überhaupt auf dem Schul⸗ 
wege unterflüßt, wie benn gegenwärtig erſt die Frage der Brünbung von poly 
techniſchen Schulen (zu St. Petersburg, Moskau, Kafan, Kiew u. f. w.) zur Fr 
derung der höheren Realbildung eifrig von ber rufflichen Brefie befprochen wird. Im 
gefammten ruſſiſchen Reiche beflanden 34,268 Unterrichtöanftalten, weldye von 1,013,213 
Lernenden befucht wurden. Es kamen auf eine Schule durchſchnittlich 29-30 Schüler, 
und die Zahl fämmtlicher Lernenden verhielt fih zur - Gefammtzahl der Einwohner 
etwa wie 1 zu 77, was ein beſſeres Reſultat als früber ift, aber im Hinblick auf die 
eigentlichen Culturſtaaten Curopa's, wo jenes Verhältnis etwa 1 zu 7 if, Immerhin 


(Geiſtige Cultur.) 557 


noch als ein geringfügiges erfcheint. Die Zahl der Lehrkräfte iſt weniger ungünflig; 
es unterrichteten in flmmtlichen Schulen R.'s 1862: 49,990 Xebrer, fo daß auf einen 
Lehrer durchfehnittlih nur 20—21 Lernende zu bereihuen waren. Der Lebrerftand IR 
daher in Rußland weniger ein aufreibender Stand, als irgendwo, indem die Schulen 
nirgends überfällt find, wozu noch die vielen Feſt⸗ und Ferientage ſich gefellen, bie 
ihm Ruhe gönnen. — Bon den gelehrten Geſellſchaften find die nennens⸗ 
wertheſten: die Akademie der Wiffenfchaften in St. Peteröburg, mit weldher die Aka⸗ 
demie der ruſſtſchen Sprache, die Gentralfternwarte zu Bullowa, das Phyſikaliſche 
Gentralebfervatorium, die Geographiſche, Mineralogiſche, Pharmaceutifhe und Me⸗ 
dieiniſche Geſellſchaft in Verbindung fleben; die Geſellſchaft für ruſſiſche Geſchichte 
und Alterthümer, die Geſellſchaft der Naturforſcher, die Geſellſchaft der Freunde der 
ruſſiſchen Sprache und Literatur, Die Phyſikaliſch⸗mediciniſche Geſellſchaft und die Land⸗ 
wirthſchaftliche Geſellſchaft zu Moskau; die freie dkonomiſche Geſellfchaft, die lettiſche litera⸗ 
riſche Gefellſchaft zu Riga; die kurlaͤndiſche Befellfchaft für Literatur und Kunſt zu Mitau; 
Die Gelehrte Eſthniſche GBefellichaft zu Dorpat; die phyſtographiſche Geſellſchaft zu 
Übo; die Befellfchaft für finniihe Sprache und Literatur zu Helfingford; bie litera⸗ 
riſchen @efellfchaften zu Kalnga und Shitomir; die philotechniſche Geſellſchaft und 
die Gefellſchaft der Wiflenfchaften zu Charkow; die Geſellſchaft der Freunde der ruffl- 
ſchen Sprache zu Jaroſslaw, bie Sefellfchaft der Freunde der Nationalliteratur umb 
die Geſellſchaft der Freunde der Wiffenfchaften zu Kafan; die mediciniſche Geſellſchaft 
zu Wilna u. ſ. w, wovon die meiſten Schriften herausgeben. Hierher gehört auch 
die Stiftung der St. Peteräöburger Hauptbibelgefellfchaft mit ihren vielen dur das 
Meich verbreiteten Zweigvereinen, welche die heilige Schrift (befonder das Neue Te⸗ 
fament und die Pfalmen) in mehr denn fünfzig verfchiedene Sprachen (darunter im 
die Sprachen der Tſchuwaſchen, Oftiaten, Wogulen, Syrjänen u. f. w.) bat überſetzen 
laffen, und welche dadurch für die Geflitung vieler früher heidniſcher Bölkerfchaften 
bes ruffifchen Reiches mwohltbätig wirkt. — Unter den weiteren Beförderungsmitteln 
der wiſſenſchaftlichen Bildung mäfjen noch genannt werben: die Sternwarten zu 
Bullowo, Moskau, Riga, Mitau, Nilolajew, Kafan, Dorpat u. f. w.; die Naturas 
lienfammlungen zu St. Beteröburg, Moskau, Dorpat, Riga, Ritau, Wilna ıc.; 
die Rineralienfammlung des Bergcadettencorps zu Gt. Beteröburg; das ana⸗ 
tomiſche Wufeum zu Moskau; das Mufeum der Alterthümer Sübrußlands zu 
Odeſſa; die botaniſchen Gärten zu Gt. Peteröburg, Moskau, Dorpat, Kafan, 
Charkow, Simpheropol, Feodoſta, Sfaratow, Wilna un. f.w.; der Fruchtgarten zu 
Nikita in der Krym u.f.w., die von Rumjanzow, Swinfin, Pogodin u. U. begrün« 
deten Muſeen und Sammlungen, bie gegenwärtig in Beſitz der Krone übergegangen 
find, und die wertbuolle Münzen, Kamen, Raſten, Waffen, Manufcripte und alte »jels 
tene Drude enthalten. In Hinficht auf rufflfche und orientalifche Münzen find noch 
beſonders erwähnenswerih dad Münzcabinet der Akademie der Wiflenfchaften und 
daß der Eremitage zu St. Petersburg. — Auch reihe Kunſtſammlungen befigt 
NR. Die Gemäldegallerie der Eremitage, die Gallerie der Akademie der fchönen Künfle, 
bie Bilderfammlungen in den Eaiferlichen Luftfchlöffern zu Zardkoje Sfelo, Pawlowsk, 
Gatſchina, Oranienbaum und Beterbof find auch für den Ausländer ſehenswerth. 
Durch Brioatfammlungen baden fih einen Namen gemacht Die Brafen Beöborodko, 
Strogansw, Scheremetiew, Füurft Juſſupow, die Naryſchkin's u. ſ. w. Die Akademie 
der ſchoͤnen Künfte, die Eremitage und der kaiſerliche tauriſche Pallaſt, ink Beſit 
Potemkin's, bewahren außerdem koſtbare Schäge an antiken Statuen und MMeifterwer- 
fen der ruffifchen Skulptur. In der Alabemie befindet ſich auch ein für die Zöglinge 
der dortigen Medailleurſchule wichtigeß, viele Zaufend Nummern enthaltendes Me⸗ 
daillencabinet. — Oeffentliche Bibliotheken gab ed 1855 im ganzen Reiche 
47 (jegt 50). Darunter find die bedeutendſten die große Faiferliche Bibliothek zu St. 
Peteröburg mit mehr ale 1, Million Büchern, Karten, Mufllalifchen Werken; bie 
Univerfitätöbibliothelen ; die Drientalifche und Mebiciniiche Bibliothek zu Moskau, die 
Kronsbibliothek zu Warſchau, die Bibliothelen der Akademien und die mehrerer ge⸗ 
lehrter Bereine. — Was die Thätigkeit der Breffe und den Buchhandel betzit. 
fo Haben diefe erſt In ber Neuzeit angefangen, Ihre Entwidelung zu erlangen (* 


558 | Rußland. | (Geographie. und Statiſtik.) 


Artikel Ruſſtiche Sprache und Literatur). Auch Heut noch beſitzt das unenmeßliche 
Reich im Vergleich zu feiner Ausdehnung überaus wenig die Typographie unter⸗ 
fägende Inſtitute, und wie groß Die Schreibelufßt der Ruſſen gegen früher auch ift, fo ſteht 
die Zayl der erfcheinenden Werke doc noch Eeineswegs auf dem Niveau bed übrigen 
Europa. Dabei iſt die literarifche Thätigkeit noch Durch Genfur gebunden (ed beſte⸗ 
ben zur Ueberwachung der Brefle eine St. Beteröburger General⸗Cenſur⸗Direction und 
fogenannte Genfurausfchüffe zu Sf. Petersburg, Moskau, Dospat, Kafan, Kiew, 
Charkow, Wilna, Odeſſa und Warſchau), obgleich die Thätigkrit des ‘Staats bem ruf. 
fifhen zu Extravaganzen geneigten Gharafter gegenüber hier von großem Segen if. Bute 
oder doch leidliche Druckereien giebt es zu St. Petersburg und Moskau, au: den übri⸗ 


gen Univerfitätsorten, zu. Riga, Mitau, Odeſſa, Tiflis u. f. w. Am letztgedachten Orte 


wird auch mit geuffnifchen nnd armenifchen Typen gebrudt. Die periodiſche Preſſe 
bat in legter Zeit eine ungewöhnliche Thätigkeit entwickelt. Während bei Antritt. der 
Negierung des Kaiferd Alerander II. die Anzahl der jährlich exfcheinenden Beitfipriften 
nicht vtel Aber 100 betrug, erjchtenen 1858 ſchon 205, 1959 291, 1860 310 yerie 
diſche Blätter, deren Zahl gegenwärtig (Mitte 1864) ſchon auf ca. 400 angeſtiegen 
ft. Dabei ift St. Petersburg mit mehr als 150, Moskau mit mehr als 50 vertre⸗ 
ten. Die Thaͤtigkeit der periodifchen Preſſe concentrirt fi demnach zur größeren 
Hälfte in den beiden, Mefldenzftädten. Den Sprachen nach erfcheinen zuffliche, polni⸗ 
ſche, ferbifche, deutſche, franzoͤſtſche, hebraͤiſche, grufinifche, lettiſche, eſthniſche, finnie 
ſche u. ſ. w. Zeitungen, Kalender, Almanache u. ſ. w. Unter den Kalendern behaup⸗ 
tet der von der St. Petersburger Akademie der Wiſſenſchaften alljährlich herausgege⸗ 
bene, wegen feiner vielen geograpbifch » fRatiflifchen, meteorologiichen, aftronomifchen, 
phyſtkaliſchen und literarifch - bBiograpbifchen Notizen den erflen Hang. Für die Rang⸗ 
verhaͤltniſſe wichtig If der Adreßkalender (St. Petersburg 1863 — 64, 2 Bhe., ruſſi⸗ 
fiher Tert) und der Hoffalender (St. Petersburg 1863, in zufflicher und franzäflicger 
Sprache). Eine bloße Nachahmung des Auslandes find die in mehreren Sprachen 
erfcheinenden Tabellarifchen, Wand « und Tafchenfalender. In der Neuzeit hat ſich bie 
Speculation auch des ruffiichen Buchhandels bemächtigt. Gleichwohl wird der größte 
Theil der Werke noch immer aus dem Auslande bezogen, und ber Bücherimport wirft 
bedeutende Summen in den Staatöfchag. 

Stautsverfaffung Das ruſſiſche Meih ift eine völlig unumfchzrinkte 
Monarchie, deren Regent daher den Titel Sſamodershez (d. i. Selbſtherrſcher) mit 
Recht führe. Er Hieß in früheren Zeiten Großfürft, danach Zar, erfi ‘Beier der Große 
nahm den Titel Imperator (Kaiſer) an und ertheilte feiner Gemahlin den Titel Impe- 
ralriza (Kaiſerin). Der ganze Titel des Monarchen lautet: Bon Gottes hüulfreicher 
Gnade, Wir Kaiſer und Selbfiherrfcher von ganz Rußland, Moskau, Kiew, Wladimir, 
Nowgorod, Zar von Kafan, Aſtrachan, Polen, Sibirien, dem Tauriſchen Eherfones, 
Herr zu Pokow und Großfürfl von Smolendk, Litauen, Volhynien, Podolien und 
Finnland, Fürſt von Eſthland, Lievland, Kurland, Semgallen, Samogitien, Bialhſtok, 
Karelien, Twer, Ingtien, Perm, Wiatla, Bulgarien und. anderen Ländern, Herr und 
Großfürſt zu Romgorod, des niedern Landes, Tſchernigow, Riafan, Polozk, Roſtow, 
Jaroslawl, Bjeloje-Dfero, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witebst, Mftislam und der 
ganzen nördlichen Gegend, Bebieter und Herr der Länder Iberien, Kartalinien, Gru⸗ 
fien, der Kabardie und Armeniend, der Tfcherkefftfehen und Gebirgsfürſten und Anderer 
Erb» und Lehnäherr, Erbe von Norwegen, Herzog zu Schleswig. Holflein, Stormarn, 
Dithmarſchen md Oldenburg u. ſ. w. u.f.w. Der fleine Titel lautet: Kaifer und 
Selbſtherrſcher aller Reußen, Zar von Bolen und Großfürft von Finnland, Staats⸗ 
grundgefee giebt es für R. nicht, da ber perfönliche Wille des jedesmaligen Staats⸗ 
oberhaupte® für das Volk bindend IR und jederzeit Geſetzeskraft hat. Eine Gonfe- 
quenz davon iſt, daß jeder Nachfolger die bisher gültigen Gelege und Berorbnungen 
feiner Vorfahren ändern oder umfloßen Tann. Für Finnland gilt. jedoch die Incor⸗ 
porationdacte von 1809 als ein Grundgeſetz, welches Kaifer Aerander II. am 22. 
April 1861 auf's Neue feierlich beftätigt Hat. Auch befteben noch für Lievlaud und 
Eſthland eigene Provinzialftände, wie fle vor der Incorporation jener Länder Gultig⸗ 
keit Hatten, und auch diefe Haben Die Monarchen flet zu ſchenen gefuch, fo weit fie 


(Stuatsverfafflung. Gtanteyerwaltung.) 559 


nicht in Die eigenen Rechte und Machtbefugniffe der Krone eingriffen. Dagegen wurde 
die erbmonarifch-repräfentative Staatöform des Königreichs Polen (f. d.) feitend 
des Kaifers Nikolaus 1. am 14. Fehr. 1832 durch ein Manifeſt für verwirft und aufs 
gehoben: erklärt und das Land nad Berluft der politifchen Selbſtſtaͤndigkeit als Pro⸗ 
vinz dem ruffifchen Reiche einverleibt. An der Spike des Konigreichs Polen ſteht 
nunmehr eln Statthalter, welcher mit dem feit dem 26. März 1861 miederhergeftellten 
Stautarath Die Angelegenheiten des Bandes ‚leitet. Den Mangel eines Gtaatögrund« 
gefege® für R. ſelbſt erfegen gewiffe bie jetzt allgemein beobachtete Reichsgeſetze 
md Familienſtatute. Zu erſteren gehoͤren: die Meihsorbnung Iwan's II. Waſ⸗ 
ſUjewitſch vom Jahre 1477, betreffend: die Untheilbarkeit R.'s; die Urkunde des rufſ. 
NReichstages von 1613 über die Erhebung des Hauſes Romanow auf den ruſſt⸗ 
fen Thron; die Verordnung der Kaiferin Katharina I. von 1727, wonach jeber 
Selbſtherrſcher mit Gemahlin und Defcendenz der ruſſtſch⸗griechtſchen Confeſſion ans 
gehören muß; das Thronfolgegefeg Paul's J., vom 5. April 1797, welches die Erb⸗ 
lichkeit der Thronfolge nach dem Rechte der Erfigeburt in minnlicher und erfi nad 
veren Erlbſchen in weiblicher Linie regelt, wonach die nachſten Verwandtſchaften mit 
dem: legten Kaifer beſtimmend find; und die Zufagacte des Kaiſers Alerander I. zum 
Ihronfelgegeirg, vom 20. März 1820, wonach nur die Kinder aus einer vom Kaifer 
anerkomnten Randesmäßigen Ehe für thronfähig erflärt werden, fo daß eine nicht im 
Purpur geborene Brinzeffin dem Reiche keinen Beherrſcher geben Tann. Zu den Fa⸗ 
milienflatuten gehört das Paul's k, vom 5. April 1797, betreffend das Verhaͤltniß 
der: Brinzen und Prinzeffinnen des kaiſerlichen Hauſes, welche fämmtlich Großfürften 
und Großfürſtinnen beißen und ben Titel KRaiferliche Hoheit führen, zum Selbfiherr- 
ſcher, To wie ihre Beolkfährigkeit (die mit dem 20. Lebensjahre eintritt, mährend die 
Deo Großfirſten Thronfoigers fon mit dem 16. Jahre erfolge) und ihre Ehen. Seit - 
Baul I. führt auch der jedeömalige Thronerbe den Titel Zeſarewitſch und feine Be 
mahlin den Titel Zefaremna; der zweite Sohn heißt Saremitfch. Unmittelbar nad 
dem Ableben des Monarchen befteigt der Durch das Recht der Geburt zur Herrichaft 
betufene Sohn den Thron, wozu es Feiner weiteren Geremonie bevarf; die Krönung 
und Salbung in Moskau durch den Metropoliten und die Krönung der Kaiferin durch 
den Kaifer ſelbſt gilt nicht ale Verpflichtung, fondern nur als ein geheiligtes Her⸗ 
Sommen. Bei etwaiger Minderjährigkeit des Thronerben übernimmt, falls feine an« 
bermweite Verordnung des Borgängers vorhanden fl, die Mutter oder der naͤchſte Agnat 
die Bormundfchaft und Regentſchaft und hat in folchem alle gewöhnlich einen Me« 
gentfchafterath zur Seite. Die Katferin muß, wenn fle nicht in der griechiſchen Con⸗ 
feſſton erzogen iſt, zu derfelben übertreten und erhält alle perfönlichen mit der Kaifer« 
würde verbundenen Vorrechte. Der Hofftaat befteht aus ſechs Stäben, dem des Ober» 
Kammerherrn, Ober⸗Hofmarſchalls, Ober-Schenken, Ober-Stallmeifters, Ober-Ihger- 
meiſters und Denen ber Ober⸗Hofmeiſter (jezt 6 an Zahl) und der Ober-Hofmeiflerin, 
welche, als erfle Hofchargen den Rang Wirklicher Geheimer Mäthe befleiden und den 
Titel Wyfſokoprewoshoditelftwo, d. 5. Hohe Ereellenz, führen. Unter ihnen ftehen, 
als zweite Hofchargen, mit dem Range elned Geheimen Raths, die Hofmeiſter (augen- 
bliclich 24 an Zahl), der Hofmarfchall, Die Hofftallmeifter (9), die KHofjägermeifter 
(2), der Ober⸗Truchſes, Die beiden Ober-Geremonienmeifter, und die Ceremonienmeiſter 
(augenblicklich 20), fo wie die Staatödamen der Kalferin (gegenwärtig 17). Den 
Hofflaat Der Broßfürften und Großfürſtinnen Ieiten gewöhnlich nur Hofmeiſter und 
Dber-Hofmeifterinnen; doch treten zumellen noch Hof⸗Stallmeiſter u. f. w. als mit ber 
Berwaltung des Hofes beauftragte Chargen Hinzu. 

Staatsvermaltung. Die oberfle Leitung der Gefchäfte der Staatsverwal⸗ 
tung befindet fi in den Händen des Kaiſers felbft, deſſen Eabinette der Minifter des 
Taiferlichen Haufes vorfieht und von welchem alle ſchriftlichen Befehle (Ukaſe) aus⸗ 
gehen. Für die unmittelbar unter den Kalfer geftellien Angelegenheiten beſteht über- 
dies eine Geheime Kanzlei, die in vier Abtheilungen zerfällt: 1) für PBrivat- 
Gorrefpondenz (Chef: Wirkt. Seh. Rath, Staats⸗Secretaͤr Tanejew); 2) für die Mes 
daetion der Geſetze, Ulafe u. f. w. (Chef: Wirfl, Geh. Rath, Staatd-Serretär Frhr. 
v. Korff); 3) für Hohe Polizei (Chef: General der Cavallerie, General⸗Adjutant SI" 


560 Nußland. (Geographie und Statiſtik.) 


Dolgorukow); 4) für die unter ber Oberleitung der Kaiferin ſtehenden Wohlthaͤtig⸗ 
keits⸗ und Bildungs-Anftalten (Ghef: Brinz Peter von Oldenburg). Hierher gehört 
auch die Bittfchriften-Gommilflon (Präfldent: Wirkl. Geh. Math, Staatd-Serretär Fürf 
Galizyn) — Oberſte Staatökörperfchaften find: Der Reihsrath, der birigi- 
rende Senat und der Heilige Synod. Der Reichsrath, errichtet durch Kaiſer 
Mierander I. am 1. Januar 1810, fleht unmittelbar unter dem Prafdium des Kaiſers, 
während nur bei Abweſenheit deſſelben der Wirfl. Beh. Rath und Staats⸗ Gerrrtär 
(Graf Dimitrif Bludow) die Leitung führt. Dem Plenum beflelben gehören bis voll⸗ 
jährigen Großfürſten, fämmtliche Minifter und außerdem verfchienene vom Kaifer ber 
sufene Perfonen an. Die fünf Departements fehen fi zufammen: für Geſetz⸗ 
gebung und Godiftcation, für Militär Angelegenheiten, für EiviloAngelegenheiten und 
Bultus, für Staatswirtbichaft und Finanzen und für Angelegenheiten des Königreichs 
Polen. Jedes Departement hat feinen Bräfldenten und einige Mitglieder, die meiften 
das für Civil» und geiftliche Angelegenheiten, deſſen Bräfldent der Brinz von Olden⸗ 
burg if. Alle Geſetze, Verordnungen und Berichte gelangen in Ihrem Entwurfe an 
biefe oberſte Staatskörperfchaft zur Begutachtung, und die Miniſter legen an dieſelbe 
jährliche Mechenfchaftsberichte über ‚ihre Geichäftäführung ab. Hiermit verbunden iſt 
eine die Angelegenheiten des Reichſsraths verſehende Reichbkanzlei, an deren Spite 
ein Director oder Meichiecretär flieht (gegenwärtig Geh.-Math, Gtaatöferretär But 
fow) und für deflen fünf Sectionen (den fünf Departements entfprechend) zum heil 
ale Staatöferretäre fungivende Vorfieher vorhanden find. Neben dem Deichsrathe bes 
fieben außerdem verfchiebene theild permanente, thelld temporäre Gommiffie- 
nen für beiondere Zwecke; dergleichen find: das Gomite für die flbirifchen Angeles 
genheiten, für die Angelegenheiten des Kaufafus, das Bauern » Emancipationd- 
Comite u. ſ. w., für welche Gommifflonen das Berfonal vom Kaifer gewöhnlich aus 
den Mitgliedern de Reichſsraths und den Miniftern feflgeftellt wird. — Der von Peter 
dem Großen errichtete, zunaͤchſt als oberſte Autorität für alle Civil» und Militaͤrſachen 
dienende und deſshalb mit dem Beiwort Brawiteldtwujufchtfihij (regierend, dirigirend) 
audgeflattete Senat vereinigte in fidh ebedem die Direction aller Angelegenheiten des 
Staates, als Gefeggebung, Beneral- Controle, oberfte Juſtiz u. f. w. Dur bie 
Gründung des Reichsraths, der Geheimen Kanzlei u. f. w. murben feine Grenzen 
bedeutend verengert, und feine Befugniffe bilden jegt nur noch die Veröffentlichung 
und Megiftrirung der Geſetze, Ukaſe, der Berleibung von Adelstiteln u. f. w., bie 
tichterliche Entſcheidung in letzter Inflanz über Staatsverbrechen, Givil- und Griminal- 
ſachen, die Meviflon der duch die Provinzial⸗Tribunale gefällten richterlichen Entſchei⸗ 
dungen u. |. w. Er iſt fomit gegenwärtig faſt nichts als eine die inneren Angeles 
genheiten des Staats und namentlich die Beobachtung der Belege und die Führung 
der Rechtspflege überwachende Sicherheitöbehörbe, deren jedesmaliger Beneral-Brecu« 
rator daher auch der feweilige Juftizminifter if. Der Kaifer führt auch bier das 
Praͤſidium, und er allein ernennt Die Senatoren, deren Zahl größer IR, als die der 
Mitglieder des Reichsraths; im Ausgang des vorigen Jahres (1863) betrug ihre An⸗ 
zahl 139, wobei die Staatsminiſter, fo wie die Chefd der Gentralftellen der Verwaltung 
noch nicht eingerechnet waren, weldye gleihfall® durch ihre Stellung Mitglieder find. 
Jedes Jahr bringt Durchfchnkttlich zehn bis fünfzehn neue Ernennungen. Der Se 
nat bat, wie der Meichöratb, Plenar⸗ und Departementö » Gigungen, indem 
acht Departements (deren jedem ein Generalprocurator vorgefeht if) beſtehen. 
Der Heilige Synod, errichtet durch Beter den Großen, hat felnen Sig zu St. 
Petersburg und Moskau, an welchem leptern Orte er urfprünglih befland, während 
jegt ſich nur noch eine Abtheilung daſelbſt befindet. Er bildet das höchſte Bericht 
für Die geiſtlichen Angelegenheiten in der griechiſch⸗ruſſiſchen Kirche und befleht aus 
mebreren hoben Geiftlihen, einem Generalprocurator und Procuratoren, denen ein 
Brafident (gegenwärtig der Metropolit von Nowgorod, St. Peteräburg, Eſthland und 
Binnland, Iſtdor), im Namen des Kaiferd präflpirt. Der Synod präfentirt zu Höhern 
geiftlicden Aemtern, übt die Aufſicht über den Klerus, wacht über die Beobachtung 
der Kirchengefege und die Reinheit der Lehre, übt die Cenſur aller geiſtlichen Schriften 
und entſcheidet in Cheſachen. Mit ihm in Verbindung fleben eine beſondere Kanzlei, 





- u. — — — ö— — — — — 


(Staats verwaltung.) | 561 


eine Direetion der Unterrichtsanſtalten für den orthodoxen Klerus, welche ihre Gewalt 
über alle geiflliden Akademien und Seminare erflredt, und eine eigene Verwaltung 
und Buchführung. Bom Spnod dependiren ferner fänmtlihe 57 Eparchieen (Didces 
fen) Rußlands, wovon gegenwärtig 4 dem erflen, 18 dem zweiten, 35 dem dritten 
Range angehören, eben fo wie ihm aud die Reſſorts der Obergeiftlichen des Hofes 
und der Armee und Flotte unterflellt find. Was die Gentralftellen der Adminiftration 
betrifft, fo nehmen barunter die Minifterien den erfien Rang ein. Die Mitglieder 
derſelben arbeiten von einander unabhängig, haben Sig und Stimme ſowohl im 
Reichſsrath wie im Senat und legen dem erfteren allfährlich Mechenfchaft ab. Neben 
ihnen befleht ein fogenanntes Minifter-Comite, dem ein Stantöfecretär (gegen« 
wärtig der Wirfl. Geh. Rath Graf D. Bludom) praͤſtdirt. Das Minifterium des 
kaiſerlichen Hauſes, mit deffen Portefeuille augenblicklich der General der In- 
fanterie General⸗Adjutant Graf Adlerberg betraut iſt, wird dem Hofſtaate zugezählt. 
Bon ihm dependiren: dad Ordenscapitel des Reichs, das Departement der Apanagen, 
das Gabinet des Kaiſers (Bergwerke und Fabriken, welche das Privateigentbum bes 
Kaifers find), die Expedition ded Ober⸗Ceremonienmeiſters, die Kanzlei des Minifteriums, 
das Hofcomtoir (Berwaltung der Palläfle), die Direction ber Eremitage (Gemäldegallerie 
und Kunflfammlungen), dae Hofmarflallamt, die Hofbaudirection, das Oberfjäger- 
meifter- Amt, Die Direction der Eaiferlichen Theater, die kaiſ. Akademie der fchönen 
Künfte, die Direction der Kaiferlichen Bibliothek und die Dirertion des Rumjanzow⸗ 
fhen Mufeum® (feit 1862 in Mostau) Das Miniftlerium des Aeußern 
(Minifter » Neid» Vice» Kanzler, Wirklihe Geh. Rath Fürſt Alerander Gortſchakow 
feit 17./29. April 1856; Adjuntt: der Geh. Rath und Ober⸗Truchſeß N. Mucha⸗ 
now) begreift in ſich die Kanzlei und dad Conſeil des Minifteriums, dad Departement 
der orvientalifchen Angelegenheiten (Aflatifche® Departement), dad Departement der 
innern Angelegenheiten, dad, Departement der öfonomifchen und Rechnungsangelegen⸗ 
heiten, das Geremonials Departement, das Neichö- Archiv und die Haupt» Archive zu 
St. Petersburg und Moskau, die Commiſſion zur Herausgabe der Neichd - Urkunden 
und Vertraͤge, die Gefandtfchaften und biplomatifchen Mifflonen, Gefchäftäträger, 
Generals» Confuln, Conſuln und Bice» Gonfuln, Agenten und onjular » Agenten. 
Das Miniſterium des Krieges (Minifler: Gen.-Lieut., Gen. »-Adf. D. Miljutin) 
umfaßt die Kanzlei, das General-Aubitoriat, dad Departement des Generalflabs und 
topographifchen Depots, dad Departement der perfönlihen Angelegenheiten, das 
Artillerie»-Departement, das Departement des Commiſſariats (Intendanz), Dad Depar⸗ 
tement für Proviantirung, dad Departement der Mebicinal- Angelegenheiten, das Des 
partement der Militär -Jufliz, die Adminiſtration der irregulaͤren Truppen und die 
General-Direction der Milttärfchulen. Das frühere Genie-Departement iſt laut Ukas 
vom 9. Februar 1863 aufgehoben worden. Das Minifterium der Marine 
(General⸗Admiral der Flotte: Großfürft Konftantin, Minifter: Contre⸗Admiral Krabbe) 
begreift die Kanzlei, das Departement der perfönlichen Angelegenheiten, das hydro⸗ 
graphliche Departement, dad Departement des Commiſſariats, daB Departement für 
Schiffsbau, dad Auditoriat, die Direction des Medicinalmefend und die Direction ber 
Artillerie. Das Minifterium des Innern (Minifler: Staatäferretär, Geh. Rath 
Walujem, Adjunct: Senator Geh. Rath Troinizlij). Bon ihm dependiren: die Kanzlei 
(Allgemeine Angelegenheiten), das Departement der Poltzei, das Departement für 
Berwaltung der Städte, dad Departement für das Mebdicinalmefen, dad Departement 
für Die fremden Gulte, die Abtheilung für die Angelegenheiten der Emancipation und 
das Eentral-Eomite für Statiflil. Behörden unter dem Minifteriun bes Innern bilden 
ferner: die General- Militär « Gouverneure (vom Kaukaſus; Oftfibirien; Weftfibirien; 
St. Petersburg; Moskau; Kiew, Wolpnien und Podolien; Wilna, Grodno, Kowno 
und Minsk [Minsk ift mit den drei anderen erfl durch Ufas vom 22. Auguſt 1862 
vereint]; Orenburg und Sfamara; baltifche Provinzen; Neurußland und Befjarabien) ; 
die Militär-Gouverneure (von Beffarabien; von Imeretien, Mingrelien und Abchaften) ; 
die verfchiedenen Civil⸗Gouverneure und die Milttär- Gouverneure der Stadtgebiete. 
Das Minifterium der Volksaufklärung und des dffentlihen Unter» 
richts (Minifter: Staats⸗Secretaͤr, Geh. Rath A. Golownin) begreift in fich die 


Bagener, Staats u. Gefellfh.-2er. XVIL 36 


562 Rußland. (Beographle und Statiſtik.) 


Kanzlei, das Departement des Unterrichts und bis 1863 au die Direction für Ans 
gelegenheiten der Genfur, die nunmehr in das Minifterium des Innern übergegangen 
if. Das eigentliche Unterrichtd = Departement überwacht die bereitd oben genannten 
10 Lehrbezirke (der von Warfchau ift ſeit 1862 von dem Minifterium abgezweigt), 
an deren Spige Cutatoren fiehen, denen die fpecielle Verwaltung der Univerfitäten, 
Akademieen, Lyceen, Gymnaſten, Kreis, Elementar- Schulen u. f. m. anvertraut ift. 
Auch die Bibliotheken, Mufeen u. f. w. gehören zn Meflort diefer Minifterialver- 
waltung. Das Miniftlertum der Finanzen (Miniſter: Staats» Secretär, Geh. 
Rath v. Reutern; Adfunct: Senator Geb. Math Nebolffin) Hat als Specialvermals 
tungen feine eigene Kanzlei, die Direction der Eredit« Angelegenheiten, das Departe- 
ment der Bergwerke und Salinen, das ZolleDepartement, das Departement für bie 
directen Steuern, dad Departement für die indirecten Steuern, das Departement für 
Induftrie- und Handel, das Departement für Die Hauptbuchführung, für die General⸗ 
Kaffe, die Commiſſion des Fonds zur Amortifation der Staatsfchuld und Lie Fabri⸗ 
fation des Papiergeldes und Stempelpapiers. Don ihm dependirt auch Die Staats⸗ 
bank (Director: Wirfl. Staatöratd Baron A. v. Stieglig; Adjunct: Wirkl. Staats⸗ 
rath Lamandkid). Das Minifterium der Juſtiz (Minifter: Senator Geh. Rath 
Samjatnin; Adjunct: Wirkl. Staatsratb Stojanomwelil). Don ihm dependiren Die 
Kanzlei und da8 Departement der Juſtiz. Lebtered begreift wieder mehrere Branchen 
in fih, als die Neichdarchive alter Sachen, das Güter» Collegium, die Landmeſſer⸗ 
Kanzlei, die Commiſſion zur Anfertigung des Verzeichniſſes aller Verbote und Frei⸗ 
fprehungen von Gütern u. a. m. Das Miniſterium der Domänen (Minifter: 
Ben.»Lieut., Gen.⸗Adj. Selenoi; Adjunct: Geb. Rath v. Gerngroß). Hierzu gehören 
gegenwärtig die Kanzlei, Die Departements der Domänen im Ullgemeinen und ber 
fpeciell weftlihen Domänen, dad Departement des Aderbaus, das Forfl-Departement 
und die Commiffton für die Fremden - Golonieen im fühlihen Rußland. Die Cen⸗ 
tral- Berwaltung der Straßen und Verkehrs-Anſtalten (Generals 
Direction der Weges und Wafler-Gommunicationen und der Öffentlichen Bauten) oder 
das Miniftertum der dffentlihen Arbeiten. (Mit den Miniftern gleich vangiren der 
General Director: Gen.⸗Lieut. vom Ingenieur-Gorps Melnikow; Adfunct: Gen.⸗Lieut., 
Senator dv. Gerfifeld). Diefes für das Reich fo wichtige Minifterium forgt für Ver⸗ 
vielfältigung und Erleichterung. der inneren Verkehrsmittel, führt die Oberaufficht über 
alle Eifenbabnen, Heerſtraßen, Candle, Telegraphen u. f. w. und bildet in eigenen 
Lehranftalten gute Techniker, befonderd Hydraulifer und Ghaufleebaus Beamte, heran. 
Unterftellt find ihm: eine Kanzlei, der Stab des Ingenieur: Corps für Straßen u. ſ. w., 
das Departenıent für Bauten und technifche Angelegenheiten, das Departement für 
Koften und Öfonomifhe Angelegenheiten, da8 Departement für Eifenbahnen, das Des 
partement für Prüfung der Pläne und Profecte, das Departement zur Hauptbuch⸗ 
führung und die Verwaltung der Telegrapben. Die Central-Poſt-Verwal⸗—⸗ 
tung (Chef: Hofmeifter, Geh. Rath Tolſtoi) fleht dem gefammten Poſtweſen des 
Reiches vor, für welches ein eigened Departement der Poſten beftebt. Die Generals 
&ontrole (General-Gontroleur des Reichs: Staatd-Seeretär, Geh.: Rath Tatarinow) 
bat fünf Geſchafts⸗Branchen: die Kanzlei, die Archive, die Gontrole der Civil⸗Ver⸗ 
waltung, die Eontrole der Militär-Berwaltung und die Eontrole der Marine⸗Verwal⸗ 
tung. An der Spige jeder derſelben fleht ein Director, beziehentlih ein General- 
Gontroleur, dem zumellen noch ein Adjunct beigegeben ift. — Was die Polizei Ber- 
waltung, welche in ihrer Gefammtheit in den Händen des Miniſters des Innern 
ruht, anbetrifft, fo ift die innere Provinzials Polizei, wie auch großentheils die Juſtiz⸗ 
verwaltung den obenerwähnten Beneral- Bouverneuren und Gouverneuren anbertraut, 
welche indgefammt, als Generale, zugleich den Oberbefehl über die Truppen in ihren 
Bouvernements ausüben. Unter den General-Gouverneuren ſtehen Givil-Bouverncure 
und Vice⸗Gouverneure, denen ein Gouvernementsrath zur Seite fleht, den ge- 
wöhnlich einige (2—3) von den Bouverneuren felbft wählbare Raͤthe und ein Secre⸗ 
täv bilden. Außerdem beflehen in jedem Bouvernement, welches vollſtaͤndig organifirt 
if, ein Collegium der allgemeinen Fürſorge, dem ber Gouverneur ſelbſt, 
fo wie ein Cameralhof, dem der Bice-Bouverneur präfldirt. Das Collegium ber 


— — — — — — oo {ru 


(Gemeindederband.) | 563 


allgemeinen Yürforge, welches aus Abgeordneten des Adels, bed Bürger- und 
Bauernflandes beſteht, übt die Auffiht über alle Wohlthätigfeits - Anflalten 
bed Gouvernements; der Cameralhof, zufammengefeht gewöhnlid aus 3 Mäthen, 
1 Rentmeifter, 2 Beifigern und 4 Geſchworenen, benuffichtigt die Kreisrentfammern, 
die Krondmonopole und überhaupt die Verwaltung aller Einkünfte und Ausgaben 
der Krone im Gouvernement. In Bezug auf die Jurisdiction fleht den Bouverneu- 
ven die Beflätigung der Urtheile der unteren Gerichtshöfe ihres Verwaltungsbezirks 
zu, wie fie auch die Oberaufficht über die Gerichtähöfe der Eivil- und Griminalfachen, 
fo wie über die Gewiffend- und Billigfeitögerichte führen. Ebenfo Haben die Gou⸗ 
verneure eine controlivende Mitaufficht über die Schulen ihres Verwaltungsbezirks. 
Aehnlich wie die Gouvernements im Großen, find die Kreife im Einzelnen organiſirt; 
Kreisbehörden find: das Kreisgericht (ald Zuftizbehörve), dad adlige Vormund⸗ 
ſchaftsgericht, die Kreisrealbehörde. Die Polizei Angelegenheiten In den Krelfen ver» 
treten die niederen Randgerichte, unter dem Borfig des Kreishbauptmanns. In den 
Heinen Städten beftehen noch die fogenannten Dumen (gewiffermaßen Magiſtrate, 
Stadtverorbnetenverfammlungen), eine uralte ftädtifhe Inflitution, indem freigemäblte 
Bürger als flädtifche Vorftände die innere und finanzielle Verwaltung ausüben und 
zum Theil fogar die Polizeigewalt in Händen haben. Wo Dumen in den größeren 
Städten beftehen, tft die legtere indeß befonderen Polizei- und Ober-Polizei- 
meiftern überantwortet, welche gewöhnlich unmittelbar unter dem Gouverneur ober 
Beneral- Gouverneur ſtehen. Die Rocalpolizei wird übrigens durch eine zahlreich ver- 
tretene Zandgendarmerie unterflügt, und bependirt von der Gentralpolizei und ſchließlich 
vom Minifterium. — Ueber die Verwaltungseinrichtungen in den ruffifchen Oſtſee⸗ 
provingen, im Lande der donifchen Koſaken, im Königreih Polen und im G®roß- 
fürſtenthum Finnland, welche von den oben angeführten, fpectell MR. betreffenden, zum 
ae fehr wefentlich verſchieden find, vgl. man die einzelnen Artikel Bolen, Finn 
and u. f. w. . 

Gemeindeverband. Ban kann im Allgemeinen behaupten, daß in ben 
ftäntifchen Etabfiffementd die Handwerfe und der Handel vorherrichen, in den länd- 
lichen dagegen der Aderbau. Die officiellen Tabellen verzeichnen für R. (ohne Polen 
und Finnland) 678 Städte, 48 Pofladen, 1312 Fleden und 305,439 laͤndliche Woh⸗ 
nungen; für Polen traten no 453 Städte und 22,723 Bleden und Dörfer und für 
Finnland 26 Städte, 1894 Dörfer und 28,735 Hemmans oder Heimaten (Melereien, 
Meiler, Bolonteen) hinzu, wo theilmeife Die Krone, theilmeife der Adel und zum Theil 
auch die Bauerfihafe den erblichen Beſitz führte, in welchem Falle die letztere nur einfn 
Erbzins zu entrichten Hatte. Die Gefammtfumme der flädtifhen Einkünfte belief ſich 
im Sabre 1856 für M. felbft auf beinahe 113, Mil. R. S. Die Hälfte derielben 
abforbirten die drei Großftädte St. Petersburg (faft 3%,), Moskau (faft 1Y/,), Odeſſa 
(nahezu 1 Mill. R. S.). — Eigentbümlih und wahrhaft focialiftifch iſt die Verbin⸗ 
dung, in welcher die Glieder der rufflfchen Gemeinden zu einander fliehen, indem die 
Individualität der Angehörigen völlig audgefchloffen ift und nur die Totalität zum 
echte und zur Geltung fommt. Die Gemeinden find Beflterinnen der Feldmarken, 
aller Nußungen des Bodens, der Waldungen, Wiefen, Weiden, der Jagd und der 
Fifcheret, und die Aecker find fo vertbeilt oder verlooft, daß für den Nachwuchs 
Meferveland übrig gelafien wird. Diefes Syſtem gleichartigen Nießbrauchs und natür⸗ 
lich auch gleichartiger Leiftung macht fi in ſämmtlichen Gemeinden geltend, gleich- 
viel ob diefelben freie Eigenthümerinnen find, wie e3 in den Rändern der Koſaken 
der Zall ift, oder blog Beflgerinnen, mie auf den Kronländereien, oder nur Inhabe⸗ 
rinnen, wie noch bis vor Kurzem in den Kommunen der Leibeigenen. Diefe Ein- 
richtung, die in R. uralt ift, bat ihr großes Gute dadurch, Daß fle der Verarmung 
und dem Proletariate wehrt, fle ift aber auf der andern Seite ein Hemmſchuh für bie 
freie und ſelbſtſtaͤndige Entwidelung der landwirthſchaftlichen Betriebszweige (Uderbau, 
Viehzucht, Bienenzudt, Forſtcultur u. f. w.), Deren verbältnißmäßig geringfüpige 
Bedeutung eben darin ihren Brund hat. Auch wird dadurch, daß von Regierungs⸗ 
wegen die Einrichtung getroffen ift, daß jede Streitigfeit und jede Unbill innerhalb 
ber Gemeinde zunächft vor den Michterftuhl der Gemeinde felbft gebracht werben muß, 

36 * 


564 Rußland. (Geographie und Statiftit.) 


von wo aus erft in gewiſſen Fällen der Weg weiterer Appellation ermöglicht iſt, 
der Rechtögang bejchränft und die Gefittung nicht eben gefördert. — Welt mehr als 
irgend eine andere Regierung R.'s iſt die des Kaiferd Alexander II. auf innere 
durchgreifende Neformen gerichtet, welche die Foͤrderung der Bolkdaufflärung, vie 
Hebung des Handeld und Verkehrs, eine Umwandlung des Militärſtaats und die Aufe 
hebung der Leibeigenfchaft bezweden. Zur Berbefferung der Lage der Bauern waren 
fhon unter den früheren Kaifern (Alexander J., der fehon die Leibeigenfchaft in den 
Öftfeeprovinzen aufgehoben hatte, und Nikolaus J., der fle urfprüngli auch für R. 
aufzubeben bejchlofien Hatte, aber aus weiſen politifhen und ſtaatsökonomiſchen 
Gründen davon abfland) verfchiedene Einrichtungen getroffen worden. Alexander II. 
(j. d. Art.) nahm die Emaneipationsidee mit einer Energie in Die Sand, die zu 
mancher NRüdfichtslofigkeit führen mußte und die bei dem Wiverſpruch, Den biefelbe, 
wie nicht anderd zu erwarten fland, bei vielen Gutsherren felber fand, anfangs das 
Fallenlaſſen dieſes Planes erwarten Tief. Dennod ifl, und nur in einem Reiche wie 
MR. mit ſtark ausgefprochener Autofratie war dies möglich, die Idee zu ihrer Realiſa⸗ 
tion gebiehen, und auch die Aufflände der Bauern in einzelnen Gouvernementd (Drel, 
Minsk, Grodno, Kowno, Nisſshnij Nowgorod, Woronesh, Sfimbirsf, Tambow, Sſa⸗ 
mara, — ſchon bis Mai 1861 hatten ſich 141 Dörfer mit ca. 71,000 Einwohnern 
erhoben, denen ſich im Laufe des Jahres noch Tauſende von Aufſäſſigen in den Gou⸗ 
vernements Kaſan, Penſa, Witebsk, Koſtroma, Below, Smolensk, Wilna u. f. w. 
zugeſellten) hatten den Kaiſer in der Durchführung ſeines einmal gefaßten Planes 
nicht beirrt. Das am 19. Februar (3. März) 1861 veröffentlichte kaiſerliche Manifeſt 
nebft angehängtem Statut erließ die näheren Beſtimmungen in Betreff der Emancipa- 
tion, und ein fpäterer Ukas verordnete Welteres betreffs der Einführung von Friedens» 
gerichten, DBezirld- und Gemeindevermaltungen, auch erklärte fi die Regierung durch 
Darlehne zur Verwilligung von Unterflüßungen bereit, um den Bauern die Ermwerbung 
des Landes zu freiem Eigenthum zu erleihtern. Die mitteld Ukaſes vom 29. Sep- 
tember (11. Detober) 1862 eingeführten Sufligreformen, fo wie die Durch Ukas vom 
17. (29.) April 1863 bewirkten Neformen im Straffuftem (Ubfchaffung der Eörper« 
lichen Strafen und der Branpmarfung, Abfchaffung der Strafe des Spiepruthen- 
laufend für die Militärs), fuchten der Emancipation eine weitere moralifhe Baſis zu 
verfchaffen, deren Segnungen Angefichtd eined Volkes, dem die Reife der geifligen 
Empfänglichkeit für fo weitgehende Inftitutionen nicht überall zu eigen iſt, man er⸗ 
warten muß. (Vgl. die Artikel Leibeigenfchaft und Roſtowzow.) Weber das Gemeinde- 
9 in Polen und Finnland ſehe man die betreffenden Abſchnitte Polen und Finn- 
and nad. 

Rechts- und Berihtd« VBerfaffung Die der Kaifer fowohl in 
teligidfem als militärifhem Sinne als Oberhaupt Rußlands gilt, jo übt er au 
die böchfte Gewalt in’ richterlichen Fällen aus, wobei aber ein gefeßlicher Stufengang 
durch die ordentlihen Gerichte nicht ausgefchloffen, ja zunächſt erforberlich iſt, ehe 
an den Kalfer appelliert werden kann. Die Gerichtöpflege ſchließt ſich an die admini⸗ 
ftrative Gliederung des Meiched an; den Kreifen oder Diftricten entfprechen die Ge⸗ 
richte erfler, den Gouvernements und Gebieten Gerichte zweiter Inftanz, der Senat 
als oberfte vichterliche Behörde bildet bie dritte und höchfle Inftanz, über deren Aus⸗ 
fpruh nur allein noch der Monarch ſteht, deſſen Veto Hinreicht, das Urtbeil aller 
Senatoren zu annullicen. Die in R. fo fireng durchgeführte Scheidung der Stände 
macht für den erften Inflanzenzug ſehr verfchiedene Gerichtähöfe erforderlich, z. B. für 
den Adel den Ujespnyj Sfud (das Bezirkägericht), welches aus einem Richter 
und vier Affefforen befteht, unter Denen felbft das adelige Element vormwaltet, da ber 
Richter und zwei der Aflefforen aus dem Adel ermählt find, während nur die beiden 
anderen Affefforen aus der freien Bürgerfchaft durch Wahl hervorgehen. Streitobjecte 
bis Hundert Silberrubel werden durch den erften Inflanzenzug erledigt, für höhere 
Werthe ift eine Berufung an die höhere Inftanz möglih. Außerdem giebt e& für den. 
Adel noch die Bormundfhaftstammer (Bupillenbehdrde), weldhe fih aus 
dem Adelsdiftrictövorfleher, dem Kreisrichter und einigen durch den Abel wählbaren 
Mitgliedern aufammenfegt. Gerichte erfler Inftanz für die Bürgerfchaft find in ben 


( Rechto⸗ und Gerichtsverfaſſung.) 565 


größeren Städten Magifträte, in den kleineren Rathhäuſer aus zwei Bürger⸗ 
meiftern und zwei Schöffen, von den Gemeindemitgliedern aus der Gemeinde ſelbſt 
erwählt; außerdem giebt ed für die Bürger eine Stadtvormundfhafjtsfammer, 
welche diefelben Rechte für die bürgerlihen Wittwen und Waifen übt, mie die Bor» 
mundfchaftöfammer für die adeligen. Kür Die freien Bauern beleben Gemeinde- 
gerichte (Dorfgerichte), zufammengefegt aus zwei Kammern, deren Bitglieder 
DBürgermeifter, Aelteſte und Gefchmorene bilden. Die erfte Kammer entſcheidet über 
Gtreitobjecte bis zu 5, die zweite bi8 zu 15 MR. S. Die abeligen Gutsherren haben 
die Batrimontalgerihtsbarkeit über ihre Bauern, entſcheiden aber nur in 
Givilfachen, indem die Griminalfälle vor die ordentlichen Berichte gehören, Eigen⸗ 
thümliche Gerichte find die Gewiffendgerichte, die ſich im jeder Gouvernementd- 
Radt befinden und die je nad dem Stande der Parteien aus je einem Richter, zwei 
adeligen, zmei bürgerlihen und drei bäuerlichen Beifigern beſtehen. Diefe Gerichte 
haben Gompetenz für Streitigkeiten zwifchen Bamiliengliedern, Vergehen Minderjähriger, _ 
bei Kirchenvergeben u. f.w. Außerdem giebt es jeht noch Briedendgerichte, 
deren Yunctionen der Kaiſer Alerander II. ſehr ermeitert hat, und die fih in der 
Reibeigenfchaftöfrage überaus mohlthättg bemährt haben. Eine andre Art von Ge⸗ 
richten, die ſchon Durch Nikolaus I. begründet wurden, und um deren @inridhtung 
fih der Handelspräfident Freiherr Alexander v. MtHyendorff (f. d.) große Verbienfte 
erwarb, find die Handelsgerichte, beſtehend aus einem Präfldenten, Bicepräft- 
denten und mehreren von der Kaufmannfchaft wählbaren Mitgliedern, welche in Han 
delöfachen bis zu 10,000 R. S. endgültig entfcheiden. Wo 618 jegt Feine Handels⸗ 


gerichte etablirt find, fungiren die Magifträte flatt Ihrer. Endlich beftehben noch aus» 


nahmsweiſe für die beiden Nefldenzen Hofgerichte mit mehreren Abtheilungen für 
Eivilfachen der ortsangehörigen Bürgerfchaft und der Fremden. Die zweite Inflanz 
bilden die in den Hauptflädten der Gouvernements befinbligen Gouvernements— 
gerichte, weldhe in eine Civil- und Criminalkammer zerfallen und an denen ein vom 
Adel erwählter und durch die Regierung beftätigter Präfldent, zwei Adelsdeputirte, 
zwei Bürgerdeputirte und ein vom Kalfer ernannter Math fungiren. Diefelben ent- 
fcheiden zugleich in erſter Inflanz in Güterftreitigfeiten und bei Preßvergeben. Weber 
den Dirigirenden Senat und feine Zufammenfegung f. ob. Neben dem Senat befteht 
noch als ein zweiter hoͤchſter Gerichtähof der heilige Synod, der in allen geiſt⸗ 
fihen Angelegenheiten und in Eheſachen die legte Inſtanz bildet. Die Gouver⸗ 
nementögerichte haben an ihrer Spike einen Brocurator zur Ueberwachung der 
Gefegmäßigkeit der Verhandlungen und Mechtöfprüche, die beiden höchſten Ge⸗ 
rihtöhdfe, Senat und Synod, haben einen Öberprocurator, und außerdem einen 
Generalprocurator in der Perfon des Juſtizminiſters. Die Juftigperwaltung gefchieht 
feiten® des Staats felbft unentgeltlich, dagegen ift die Proceßführung foftfpielig, wenn 
man ſich der Advocaten bedient. — Für die Oftfeeprovinzen beflehen Ge⸗ 
meindegerichte und Kirchſpielsgerichte in erfler, Kreiſgerichte (in Kur» 
land Oberhauptmanndgerichte, in Efthland Manngerichte) in zweiter und Hofge- 
richte in legter Inftanz für die Bauern; für Städter und den Adel Stadtgeridte 
in erſter Inſtanz und ein Juftizcollegium in St. Peteröburg In weiterer Inflanz.. 
— Für Polen giebt e8 zunächſt Friedensgerichte und als ordentliche Inſtanzen 
Givile und Polizeigerichte, Landgerichte (Trtbunale), Appellations— 
Höfe und das Warfhauer Tribunal. — Für Finnland beftehen Häraddge- 
richte (Diftrietögerichte unterfter Inftanz), Zagfager und Lagmannsgerichte 
(als Mittelinftanz) für Streitigkeiten der Bauern, und Stadtgerichte (beftehend 
aus dem Bürgermeifter und einigen aus der Bürgerichaft wählbaren Rathmännern) 
für Streitobjecte des Adels und der Bürgerichaft, fo wie drei Hofgerichte (zu 
Abo, Wafa und Wiborg), weldhe in Tegter Inſtanz entfcheiden. In großen Städten 
giebt e8 noch Unterfladtgerichte, welche Die erfle Inflanz bilden, von denen aus 
erſt an die eigentlichen Stadtgerichte appellirt werben fann; in kleinen Stäbten be- 
ſtehen flatt der Stadtgerihte nur durch Ordnungémänner gebildete Mechtöfltzlien, 
die entweder mit den Haradogerichten gleich rangiren oder eine Vorinſtanz zu 
ihnen bilden. Vergl. hiermit den bejonderen Artikel: Ruſſiſches Recht. 


566 Nußland. (Geographie und Statiſtik.) 


Binanzwefen Die Ergebniffe des ruflifchen Staatshaushalts waren bis 
zum Jahre 1862 in einen dichten Schleier gehüllt und die auf Privatquellen oder der 
gelebrten Borfchung beruhenden Angaben über die Steuerfraft des Landes variirten 
daher fehr beträhtlih. Das Finanzjahr 1862, das erfte, welches ein Budget zur Ver⸗ 
Öffentlihung brachte, ift daher für Die Finanzgeſchichte R.'s als epochemacdhend zu be⸗ 
trachten. Wie fehr die Kraftelemente des Volkes in ſtetem Wachsthum befinblich 
waren und mie flch, übereinftimmend damit, die Einflupmittel des Meiches gehoben 
haben, erjleht ſich aus einem Vergleich der Älteren, freilich nur approsimativen Schägun- 
gen der Staatdeinnahmen R.'s mit den officiellen Angaben von 1862 und den fol- 

enden Jahren, Deren wir weiter unten erwähnen werden. 1713 unter Peter dem 
—** ſtellten ſich danach die Einnahmen auf 8,600,000 R. S., 1725 unter Katha⸗ 
rina I. auf 181, 1770 unter Katharina II. auf 28, 1782 auf 44%,, 1801 unter 
Kaifer Baul I. auf 881%, 1804 unter Raifer Ulerander I, auf 121 und 1811 auf 
1241), MU. R. S. In Folge der Kriege gingen fle indeß erheblich zurüd und 1821 
betrugen fie nur 651/, (nach einer andern Angabe 711), Mill.), 1826 991/,, 1828 
112 (nad) andern Angaben 126) und 1835 1221, Mill. R. S., und hatten erſt 
1840 wieder die frühere Höhe erreicht, für welches Jahr dieſelben, mit Polen und 
einfchlieglih der Apanagegüter, auf 125,730,000 R. ©. ſich belaufen haben follen. 
Hiergegen weift das Finanzjahr 1862 eine Brutto-Einnahme von 310,619,739 und 
da& 1863 eine foldye von 347,867,860 R. S. nah: (Specialiflrung f. u.). Seit 
150 Jahren Haben fi demnach die Staats-Revenüen R.'s im Verhältniß von 1: 40,,; 
oder um 4045 Procent, d. h. durdhfchnittli um nabezu 27 Procent im Jahre, ver⸗ 
mebrt, während die Zunahme der Bevölkerung feit 1725 bis 1860 nur im Verhaͤlt⸗ 
niß von 1:5,,, oder mit 555 Procent, d. 5. durchichnittlih mit ca. 0,41 Procent 
im Sabre, erfolgt iſt. Gleichwohl ift bei dem ungeheueren Productenreichthum des 
Landes, deſſen Robftoffe (fomoHl was die animalifchen, als vegetabilifchen und mine- 
ralifchen Naturjchäge anlangt) zum Export für die halbe Welt dienen fönnten, die 
Finanzkraft R.'s noch ungleich zu erhöhen, zumal wenn eine zweckmäßige, den Fort⸗ 
Schritten der Technik und Mechanik angemeflene Verwerthung der Naturproduetionen 
eintritt. Die Staats: Einnahmen zerfallen im rujflihen Meiche in zwei Hauptklaſſen: 
Steuern und Megalien, zu welchen legteren auch die Krongüterrevenuen gehören. Zu 
den Steuern gehören: dad Kopfe oder Seelengeld (der Obrof) der Bürger und 
Bauern, zu deflen Aufbringung die fläbtifchen und Die Gemeindeverbaͤnde ded Landes 
verpflichtet find, Die Gildenſteuer der Kaufleute, wofür die Bilden haften, und bie 
Sees und Landzoͤlle, welche an den Grenzen erhoben werden. Zu den Regalien 
und Krongütereinfünften gehören: der Obrok der Krondbauern (theild in Geld⸗ 
zahlungen, theils in Dienflleiftungen, theils in Naturallieferungen als Bodenrente gezahlt), 
die Getränfefteuer (die Branntweinpacht iſt durch Ukas vom 1./13. San. 1863 aufgehoben), 
die Stempelgefälle für Kaufmannsgefcyäfte, für Bittjchriften, für Päfle, bei Verkäufen, 
gerichtlichen Lirtheilen und Documenten, die Batentgebühren für Diplome, Rangerhöhun« 
gen, bei Erlangung von Aemtern u. f. w., dad Poſtregal, das Salzregal, die Erträge 
der Kronfabrifen, Kron-, Berg- und Hüttenwerfe, Kronforften und Fifchereien u. a. m: 

Das am 2. (14.) Mai 1863 vom Kaifer beftätigte Allgemeine Reichs⸗Budget der 
Einnahmen und Ausgaben für das Jahr 1863 ftellt fich, verglichen mit dem Vorjahre, 
in feinen Hauptpoften, wie in den Anmerkungen 1 u.2, Seite 567 u. 568 angegeben If. 

Das für 1864 aufgeftellte Budget bat ebenfalld unlängft die Eaiferliche Sanction 
erhalten. Es fchließt auf beiden Seiten mit 401 Millionen ab. Dabei betragen bie 
ordentlichen Staatseinnahmen 355 Mill.; die aufierordentlihen 46 Mill. (18 Mill. 
Schapfcheine, 28 Mill. anglo-Holländifche Anleihe); die Staatsausgaben ſtellen ſich 
auf 364 im Ordinarium, auf 37 Mil. im Ertra-Orbinarium, Iegtere für militärifche 
Zwecke. — Ueber die ruſſiſche Staatsfhuld fehlt ed noch immer an genauen De- 
tailangaben, was 'nimli die Beträge der einzelnen Anlehen u. |. w. betrifft. Die amt- 
Ti angegebenen Geſammtſummen für die confolidirte in⸗ und außländifhe Schuld 
betrugen am 1. Januar 1861 520,484.275 R. ©. (oder 34,527,852 R. ©. weniger 
ale im Borjahr), und am 1. Januar 1862 556,141,949 N. (d. h. 35,657 R. ©. mehr 
alg im Vorjahr), Die ſchwebende Schuld drehte fih am 1. Januar 1861, nad 


(Finanzwefen.) | 567 


offleieller Angabe, um 418 Mil. R. ©. (93 Mil. Schapfgeine, 325 Mill. Schuld 
an die Bank), wozu noch 644,648,719 R. S. Ereditbillets kommen, ald dad zur 
Dedung der den Reichs⸗Creditinſtituten entnommenen Beträge beflimmte Papiergeld; 
mit Einfchluß deſſelben ftellt fi die ganze fchmwebende Schuld auf 1062,648,719 R. ©. 
Kolb (Handbuch der vergleihenden Statiftil, Gotha 1862) berechnet die Gefammtfchulb 
Rußlands am 1. Januar 1864 wie folgt: 
Conſolidirte Schuld (1. Januar 1861) -. - - .» . 520,484,275 R. ©. 
Schwebende Schuld: 108 Mill. Schafcheine, 679,877,853 * 
R. S. Creditbillets, 452,742,504 R. S. Specials 
ſchulden an die Reichsbank, zuſammen 1240,620,357 
oder, nach Abzug der vorhandenen Deckungsmittel für 
Creditbillets, mit 96, 241,618 R. . . » . . 1144,418,739 R. ©. 


Gefammtjunime: 1664,903,014 R. ©. 


Anmerk. 1 zu ©. 566. A. Reihe: Cinnahmen. 
Brutto⸗Ein⸗ Reineinnahme 
nahme für 100316rhebungskoſteny 1863 
_\ Rubel Kopf Nubel . Kopf Rubel Kop. 
I. Gewöhnlihe Heihs:Emuahmen. 
a. Steuern. 
Direrte Steuern. 
1) Stuern . . . + 1 35,988,121|16% 216,133j41 | 35,771,087|75% 
2) Für bie Berechtigung zum Handel . 1 7,541,400| — — —-1 7,541,400| — 


Indirecte Steuern. 
I. Bon ben Gonfumtionsgegenfänben 
(Abgaben, Aecife) 





3) Getränfe-@innahme . . . . 0. . 1108 ‚092,122: 5 I 8,092,638|96 } 99,999,483| 9 
- 4) Salz: Einnahme -. -. - = 2 2 202 .f} 9550, 000. —1 1,205,035|58% 8,344,964 41% 
5) Tabakls-NAccife . . 1  3,300,000! — 307,275146 | 2,992, 724) 54 
6) Acciſe von der Runtefrübenfabritation 506, 522. — 16,200 699 490 ‚321130% 
7) Soll⸗Ginnahmen “2000.14 32,514, 532| — 4,210,869| — | 28,303,663 — 
I. Gebühren. | 
8) Stempelgebühten . 1 5,898,700° I 154,82444 | 5,743,875'56 
9) Gebühren von Kaufbriefen und Kanzlei | 
gebühten . . 2,967,000| — —_ — 


10) Verſchiedene Gebühren Bälle, Poſt⸗ 
Certificate, Ghaufirgelbe, Bermeflunge: 
gebühren u. ſ. w 6,328,286| 17 118,968]74%) 6,209,317 42% 

3m Ganıen Stumm 212,686,683 38%] 14,321,946 29 1198,364,737 9% 
b. Regierunge: -Regalien. | | | 
206,767.53% 









11) Bergwerföfteuer . . 200.0. 2,323,982,86 2,117,215 3 
12) Münz: Einnahme . - 2 2 9 2 0.1 2269,509i42 474,514 334] 1,794,995, 
13) Poſt-Einnahme . . “020000. 7%590,291) 6%} 9,125,919, 71%—1,535,628 64 
14) Telegraphen: Einnahme 0. . 1 1,502,883| — I 1,502,883| — — | — 









Im Ganzen von den egal ten I 13,686,666 34% 
ec. Vom Staats:-Eigenthum. 
15) Grundzins⸗Abgaben der Reichsbauern auf 


2,376,581|7 


Ländereien der Kıonedomäne . . 27,348,082|90% _ 27,348,082|90 
16) Pachten von abgejonberten Kronsbefigungen 3,047,550|49% 4,6653 3,042,88512 
17) Bon bewohnten Gütern . . 4,378,269136% — 4,378,269|3 
18) Vom Berfauf von Kroneland . . . . 855,657 43 — 855.657;43 
19) Bon den Wälbern . . 3,268,736,57% — 425—1 3,268,936 57: 
20) Bon ben Hüttenwerfen und Goldwaͤſchen 2,307,462164% 1,852,210.22 455,252124 
21) Bon der Nifolai-Eifenbahn (Petersburg: \ 

Moskau) . 8,581,069|94 | 5,208,55217141 3,372,517|22% 
22) Bon Sütern und Eapitalien des Gouca- 

tionsfonde . 913,183,473 — — 913,183]47% 


30%) 43,634,784153 


3 | 41,567,283]6 
32,887,27720%1285,943,367[ 7 


d. Verſchiedene Binfünfte. | 
23—33 Im Ganıen. . . . 41,757,081!70% 189,818 
Gewoͤhnliche Meine: Einnahmen 18,830,664. 27% 

IH. Außerordentliche Reflonrcen. | 
35). ge Ganzen . 15,707,769 51% 
13.329.440) 






Im Ganzen von Stuafdegen um *— 7,065,428 
















Betriebe-Eintänfte. 
2-4) Sm Banzen . 


Reihe-Ginnafmen n 77 









53% 


568 Aukland. (Geographie und Statifif.) 


Im Januar 1862 wurde die Ausgabe von 30 Mill, Schapfcheinen zur Subvention 
der Eifenbahngefellfchaften angeordnet, und im April 1862 die von 18 Mill.; bier- 
auf durch Ukas vom 26. April das 5procentige Anlehen bei Rothſchild von 15 Mid. 
Pfund Sterling (= 95 Mil. R. ©.); zur Dedung der Deflcttd im Staatshauspalt 
von 1862 im Betrage von 14,750,000 R. ©. und im Staatöhaushalt von 1863 im 
Betrage von 950,000.R. S. (Summa 15,700,000 R. ©.), war 1863 die weitere 
Ausgabe von 5 Serien Schagfcheinen im Betrage von 15 Mil. R. S. angeordnet 
worden, während die reflirenden 700,000 R. ©. durch die an das YFinanzminifierium 
gefallenen Erfparniffe anderer Refforts gedeckt werden follten. Die 1863 im Bers 
gleich zu 1862 entftandenen Ausfälle der Einnahmen: (in Summa 8,650.000 R. ©.) 
hatten ihre Urfache in den zahlreichen Reformen des Steuerfuftems, z. B. Einführung der 
Acciſe für Getränke flatt der Brantweinpacht, Abſchaffung der Kopfſteuer der Bürger u. ſ. w. 
Eine Reduction der Ausgabe (1863 2,800,000 weniger als 1862) hatte die Differenz 
ſchon um etwas ausgeglichen; eine weitere Deckung hatte ſtattgefunden durch den 
Ueberſchuß der zum erſten Male im Budget aufgeführten Einnahmen über die Aus⸗ 
gaben derfelben Art (im Betrage von 4,900,000 R. S.). Dadurch mar, wie bereits 
oben bemerkt, ein Deflcit von nur 950,000 R. S. in Wirklichkeit verblieben. 
Militärwefen. Beter der Große ift erſt der Begründer der ruſſiſchen Kriegs⸗ 
macht nach europäifchem Zufchnitt und feine Nachfolger bildeten den Militärftant R.'s 
vollftändig aus, zumal die fortwährend geführten Kriege eine treffliche Bildungsſchule 
für das rufflfche Heerwefen abgaben. Dem ganzen ruſſiſchen Staatsorganismus ifl, 
befonderd durch den leßtverftorbenen Kaifer Nikolaus J., ein militärifcher Stempel 
aufgedrüdt und bie Disciplin wird vielleicht nirgends fo fireng und exact gehandhabt 
wie bier. Daber waren bie Erfolge der ruſſiſchen Waffen auch meift glänzend und 
großartig, und zwar ſowohl im Orient, wenn es fih um ein maffenhaftes Vorgehen, 


Anmer!. 2 zu ©. 566. B. Reichs⸗-Ausgaben. 
Ausgaben 














" TXemporäre und Im Ganzen. 
Beſtaͤndige. Qußerorbentt. 
bel. Roy. Rubel. Kopf Nubel. Kop. 













T. Gew dhndi de usgaben. 
a, Reiheihuld, Ontereffenzahlung und Schuldens 
tilgung 
1) Für die auswärtige Serminfhulb oo... 
2) Für die auswärtige termintofe Schuld 
3) Fuͤr die innere Terminſchuld .. 
4) Für die innere terminlofe Schuld . 


Im Ganzen für die Staatsſchuld 


— [16,263,062 |53%] 16,283,082 [53% 
—| 9,892,312 |52 | 9,802,312 |52 


.— |] 57,487,21760%| 57,487,217 ai 































. Oberfie Regierungs:Inftitutionen 1,057,322 61X| 158,680,74 | 1,216,003,35 
. Reſſort des heiligen Synode . 5,084,156 41% 49,660/19 5,133,816'61 
. Minifterium des kaiſerlichen Hofes . 5,576,412 71 | 2,179,030|99 | 7,755,443|70 
. Minifterium der auswärtigen Angelegenfeiten 2, 054, 670) 47,862]43%1 2,102,532|52 
Kriegeminifterium . . 1100,804,311, 64%] 14,772,855|43 |115,577,167 7% 
. Marine Minikeium . . . 2 2.2. 17,087 '890 — 942,103] — I 18,029 793) — 
. Sinanz- sMinifterium. . . 2 2.2. . „1 47,980,673 53%] 5,991,572 26%] 63,972,245 7 
tinifterium der ReiheDomänen . . . .| 6,065,381 81h 3,083,950| 9,149,331 8 
431,618,77% 431,618 7 


. Comits für die ſüdlichen Golonieen 
Miniftertum des Innern . . . 

. Unterrichts: Minifterium . 

. Haupt-Berwaltung der Wege und öfentfien 
Bauten. . . . . . 

. Haupt-Berwaltung ber Poſten ... 


8,706,979 61% 


139,264/48%| 8,846,244 11 
6,204,406 22% 


685,388 88 | 5,889,795 10 


By mer ba mono. 








0 9,419,754 46% 
p. Juſtiz⸗Miniſterium . . 6,261,680 95 76,629 88%] 6,338,310,83 
q. Reichs⸗Controle. Unterhalt der Verwaltung 216,225 71 16, 663, 34 232,889; 5 
r. Haupt:Berwaltung der Neichögeftüte . . 642,554 96 39,851 41 682,406 3 
s. Givil-Berwaltung von Trandfaufafien . .f 3,260,182 1 — —| 3,260,182 1 
Gewoͤhnliche Reichs⸗Ausgaben, im Ganzen j234,054,097 26%] 96,484,316|62%1330,538,413|70% 
1. Außergewöhnliche Anegaben 
für den Stu Ausfall . — — 4,000000 — I 4,000,000| — 
I. Setriebs· Aus jaben. 6,010,041474 8,319,305| 6X 13,329,446 











Reihe-Ausgaben, in Summe: [239,064,238|74%]108,803,021]59%]847,867,800)33 


| (Militäewefen.) 569 


als In den europäifchen Kriegen, wenn es fi um eine gefchicte Defenſtve handelte. 
Die vielen Meformen im Militärwefen, die Aufhebung der Militär « Eolonieen, die 
Zurädgabe der Solvatenfinder an ihre Eltern, die Meductionen der ſtehenden Armee, 
die Milderung des Strafipflems in Heer und Flotte haben in der Neuzeit Dazu bei- 
getragen, auch den fittlichen Beift in der rufilfchen Armee zu beleben und zu erhöhen, 
und durch eine Menge vortreffliher Militär » Inflituse (kaiſerliche Militär » Alademte, 
geftiftet 1830, jet Nikolai-Akademie des Generalſtabes; Michael-Artillerieichule, feit 
1849, deren Offiziersklaſſen jegt ebenfalls eine Akademie bilden, und viele andere) 
wird auch,die Bildung unter den höheren Militärs auf's Sorglichfle gefördert, wäh- 
send Hunderte von Garniſon⸗ und Gantonnementsfchnien für die unteren Klaffen des 
Soldatenftandes aufflärend wirken. Unmittelbar nach der polnischen Mevolution ward 
die polnifche Armee der rufftfchen total einverleibt und diefer Zuwachs ‚erhöhte das 
Gros der ruffifgen regelmäßigen Streitmacht auf 665,640 Bann -im Brieden, naͤm⸗ 
lih 568,000 Mann Infanterie, 97,640 Mann Bavallerie und Artillerie und einen 
Artilleriepart von 1672 Kanonen. Die kaukaſiſche Armee, die finnländifchen Truppen 
und mebrere Koſaken⸗Corps Maren hierbei nicht einmal einbegriffen, und auch daß 
trreguläre Milttär fehlt in obiger Ziffer. Die regelmäßige ruiflfche Armee zerfällt in 
zwei Hauptgruppen, die fogenannte Operationsarmee, oder die für große aus—⸗ 
wärtige Zwecke dienende, und die für befondere, innere oder Örtliche Zwecke reſervirte 
Armee, wie 3. B. die im Kaukaſus u. f. w. Der wirkliche Stand der bei den 
Fahnen anwefenden Mannfchaft der großen Operationdarmee befland vor dem Krym⸗ 
kriege zur Briedendzeit aus ca. 270,000 M. Fußvolk und 70,000 M. Heiterei und 
die beiden Meferve-Aufgebote enthielten einen Soll» Etat von 213,000 M. Die ®e- 
fammtflärfe des activen und regelmäßigen Heeres follte damals 790,000 M. betragen 
und zwar: 640,000 MR. Fußvolk, 102,000 M. Heiteret und 43,000 M. Artillerie; 
ferner follte der Betrag der nicht activen oder Irregulären Truppen ſich ftellen auf 
412,000 M. Infanterie, 234,000 M. Eavallerie und 43,000 M. Artillerie. Bei der 
Reviſton von 1851 wurde Die Befammtzahl aller in irgend einer Beziehung zum 
Kriegsdienſt flehenden männlichen Seelen auf 1,248,774 ermittelt, und zwar: Fuß⸗ 
vol 1,052,048 M. Sollbeftand, worunter 411,660 M. Neferve, den Depots ge⸗ 
hörige und fonftige nicht active oder irreguläre Truppen; Meiterei 336,172 M. Solls 
beftand, worunter 234,480 M. nicht actiy, Artillerie 84,022 M. Sollbeftand, darun⸗ 
tr 41,120 M. nicht activ. Im Ganzen verblieben demnach 640,388 M. Bußvolf, 
101,692 M. Neiterei und 42,902 M. Artillerie ald active Armee; wozu noch circa 
11,200 M. an Ingenieuren kamen. Die Sefammtftärfe der rufflichen Armee flellte ſich 
laut Bericht des Kriegäminifleriums vom Jahre 1860 für das PVorfahr auf: 334 
Generale, 26,997 Offiziere, 783,352 Soldaten, zufammen 810,683 M. Activ⸗Armee, 
23 Generale, 3054 Offiziere, 66,873 Soldaten, zufammen 69,950 M. Reſerve⸗Armee 
und 30 Generale, 4665 Dffiziere und 92,000 M., zufammen 96,695 M. irreguläre 
Truppen, fo daß die Totalität der rufflfchen Armee, nad) den Meductionen ded Jah 
red 1858, ſich für 1859 flellte auf 387 Generale, 34,716 Offiziere und 942,225 M. 
Gemeine für fämmtliche Armeetheile.. 1858 Hatte die Zahl der Offiziere der Aetiv⸗ 
Armee noch 28,965 und der Soldaten 841,521 M. betragen; und bei der Neferve- 
Armee hatte fih die Anzahl der Gemeinen noch auf 85,570 M. belaufen. Die 
Mebuction Hatte hiernah um 1968 Offiziere und 58,169 M. Seldaten in der 
Activ⸗, und um 18,697 M. Soldaten in der Meferve =» Armee ſich gedreht. 
Zur Eompletirung der Truppen auf den Kriegöfuß und zur Bildung der Res 
ferven waren in den Provinzen 503,335 Beurlaubte vorhanden, von denen 
239,245 zum Wiedereintritt in die active Armee und 183,785 (Kofafen) im Kriegd- 
fall zum Reſervedienſt verpflichtet waren. Mechnet man hierzu 144,814 M. (meifl 
Bafchfiren), die gegen Zahlung einer Kriegöfteuer vom Dienft in Friedenszeit befreit 
waren, bie aber gewärtig fein mußten, bet ausbrechendem Kriege Militärbienfte zu 
nehmen, fo flellte ſich das Total der für einen Kriegäfall verfügbaren Mannſchaft auf 
ca. 1,600,000 Mann, hatte alfo gegen früher nichts eingebüßt, ba die Nebuctionen 
felöftverfländlich nur das flehende Heer trafen. — Formation der activen Armee. 
Die acttive Armee beſteht auß: 1 Garde⸗Corps, 1 Grenadier⸗Corps (zu deren Mefjort 


‘ 


570 Rußland. (Geographie und Statiſtik.) 


je ein Ober⸗Geiſtlicher gehört, der mit ben Bifcköfen gleich rangirt), 6 Linien⸗Armee⸗ 
Korps, 1 Garde⸗Cavallerie⸗Corps; ferner auß 5 Local-Corpé (je einem im Kaufafus, 
in Finnland, in Orenburg und Sibirien und dem Corps der Inneren Wache, welches 
die Sarnifonen der Städte bildet). Die Corps find, was die Infanterie betrifft, in 
Divifionen, Regimenter und Bataillone getheilt, wozu noch Jäger-Bataillone kommen; 
Garde» und Grenadier⸗Corps beftehen je aus 3 Diviflonen, 12 Negimentern, 36 Ba» 
taillonen und 5, reſp. 3 Jäger-Bataillonen. Die 6 Linten-Urmee-Eorps find ebenfo 
geheilt. Das finnländifche, orenburgiiche und ſibiriſche Corps Hilden je 1 Divifion 
zu je 10, 11 und 16 Bataillonen, wozu für das finnländifche Corpo noch 9 Jäger» 
Bataillone kommen. Das Corps der Innern Wade hat 10 Diviflonen und 491, 
Bataillone; das kaukaſiſche Corps 5 Diviftonen, 16 Regimenter, 80 Bataillone und 
4 Jägerbataillone. In Summe begreift die Infanterie 42 Divifionen, 112 Regi⸗ 
menter, 491!/, Bataillone und 39 Jäger-Bataillone, zufanımen 530%, Bataillone. 
Das Garde⸗Cavallerie⸗-Corps hat 2 Diviflonen, 12 Negimenter und 601, Schwa⸗ 
dronen; dad Grenadter- Corp nur 1 Divifton zu 6 Regimentern und 36 Schwabro- 
nen; die 6 Linien-Armee-Eorps begreifen 6 Divifiomn, 36 MNegimenter und 216 
Schwadronen und das Faufaflihe Corps 4 Megimenter und 32 Bataillone, die ge- 
fanımte Cavallerie 9 Diviftonen, 58 Megimenter und 3441), Schwahronen. Endlich 
gehört zum Garde-Corps 1 Divifion (3 Brigaden, 11 Batterien, 88 Gefrhüge und 
1'/, Bataillone Genie), zum Grenadier-Corps 1 Divifton (5 Brigaden, 18 Batte- 
tieen, 144 Geſchütze und 1 Bataillon Genie), zu den 6 Linien⸗-Armee⸗Corps 6 Die 
viflonen (30 Brigaden, 108 Batterieen, 864 Geſchütze, 6 Genie» Bataillone), 
zum faufaflihen Corps 1 Divifion (4 Brigaden, 16 Batterien, 128 Geichüße 
und 2 Genies Bataillone) und zum finnländifhen Corps 1 Genie » Bataillon, 
fo daß die gefammte Artillerie 9 Diviflonen, 42 Brigaden, 153 Batterien, 1224 Ge 
füge und 11", Genie-Bataillone zählte. Die Effectivftärke eines Bataillons Infen- 
terie, Jäger oder Genie, wurde 1862 auf 900 Wann feftgeiegt, mährend früher 920 
Mann dazu gehörten. Die faufafljche Armee, die orenburgifchen und fibirifchen Korps 
behielten für ihre Bataillone die frühere Stärke. — Bormation der Reſerve— 
Armee. Jedes Regiment hat 1 Meferve-Bataillon (dad 4.). Die corpéweiſe vereinig- 
ten Referve= Bataillone bilden die Neferve-Divifton eines jeden Corps. Die Reſerve⸗ 
Artillerie bat 2 Diviflonen und 1, Bataillon Sapeurs. — Formation der irre 
gulären Truppen. Die irregulären Truppen find in Regimenter getheilt, welche 
wieder in Sfotnien (Abtheilungen zu 100) formirt find. 1859 blieben 6415, Regie 
menter und mehrere RefervesKofafen-Abtheilungen außer Dienfl, und nur 851, Regi⸗ 
menter fungirten, ohne dag ein Regiment den Kriegsbefland erreichte. Was bie einzel- 
nen Corps betrifft, fo gab ed: das Corps des Don, das Corpé des Kuban, das 
Borp& des Terek, das Aſow'ſche Corps, das Corps von Neurußland, das Corpé 
von Aftrachan, das Corps von Drenburg, das Corps des Ural, das Corps der 
Bafchfiren, das Borpd der fibiriichen Xinien « Kofafen und das Corps des Amur 
(Zrandbaifalien), zufammen 132 Megimenter (activ und Cadres) mit 200 Gefchügen. 
Außerdem beftanden die 3 (regulären) Regimenter von Tobolsk, Jenifjeisf und Jakutst, 
fo wie ein Regiment und mehrere Commandos Tataren, Tfcherfeflen, Georgier u. |. w. — 
Stand der Flotte Die Flotte befland im Anfange des Jahres 1863 aus 249 
Dampfern (9 Linienfhhiffen, 12 Schraubenfregatten, 8 Mäderfregatten, 22 Corvetten, 
12 Klippern, 2 Banzerbatterieen, 1 Banzerfchaluppe, 79 Kanonierſchaluppen, 2 Machts, 
25 Schoonern, 9 Transporticiffen und 68 Eleineren Naddampfern), welche insgeſammt 
37,150 Pferbefraft und 2400 Kanonen beſaßen. Segelſchiffe gab es im Ganzen 62 
(9 Linienfchiffe, 5 Bregatten, 3 Gorvetten, 3 Briggs, 13 Schooner, 2 Ruderkanonen⸗ 
boote, 2 Tender, 13 Transportfchiffe und 12 Yachts), zufanmen mit 1304 Kanonen, 
Mithin Total der Dampfe und Segelichiffe: 311 mit 3704 Kanonen, wozu noch 
3 ſchwimmende Dods und circa 300 Hafen⸗- und andere Bahrzeuge Famen. 
Der Effectivftand des Slottenperfonald betrug 1861 95 Admirale und Generale, 3245 
Stabs⸗ und Subaltern » Offiziere, 966 Eivilbeamte, 55,216 Soldaten und Matrofen 
und 169 Gardes-marine und Conducteurs. ı Gegen daB Borjahr betrug die Reduc⸗ 
tion 19 Admirale und Generale, 324 Diffisiere und 353 Givilheamte, wodurch bie 


(Militaͤrweſen.) 571 


Zahl der Soldaten und Matrofen ſelbſt um 2162 erhöht werden konnte. 1862 trat 
wiederum eine Reduction von 400 Offizieren (und diesmal auch von 10,000 Sol» 
daten und Matrojen) ein und meitere Meductionen erlebten die füngften Jahre — 
Was die Dienftzeit des ruffljchen Militärs Hetrifft, fo iſt fie im Verhältnig zu au» 
dern Staaten lang. Sie betrug urfprünglich 25 Jahre, ift aber fort und fort herab⸗ 
gejegt worden und beträgt gegenwärtig gefeplih 15 Jahre (für die Marine 14), doc 
tritt gewöhnlich fchon nach 12 Jahren, oft ſchon früher, eine unbeflimmte Beurlau- 
bung ein. _ Stellvertretung iſt zuläffig; apitulanten erhalten eine Auszeichnung 
(j. Orden und Ehrenzeichen). Die Gehälter der höheren Militärs find ziemlich 
hoch gegriffen (der commandirende General erhält im Allgemeinen 5550, der General⸗ 
Lieutenant A440, der Generalmajor 3330, der Oberſt 2250, der Oberfl - Lieutenant 
1740, der Major 1590, der Kapitän 1440, der Stabscapitän 1200, der Licutenant 
1110, der Linterlieutenant 880, der Faͤhnrich 660 Silberrubel und entfprechend find 
die Gehälter der Beamten); der Sold des gemeinen Soldaten iſt dagegen fehr [pär- 
lich und aud für feine Belöftigung und Verpflegung geichteht noch immer verhältniß- 
mäßig nicht vie. Die Rekrutirungen, welche fi früher über das ganze Heid, 
oft auch in Briedendzeiten erftrediten, betreffen jeßt nur noch gewiſſe Zandestheile und 
fallen in Migwachsjahren (oder auch fonft, bei der Humanität des fehigen Regimes) 
Jahre hindurch gänzlih aus. So iſt zwifchen 1856 — 61 die Nefrutirung gänzlich 
fortgefallen. Für das Kranfenwefen wird in R. viel getban. Es beſtehen für 
die Landarmee gegen 50 Militärhofpitäler, mehrere Invalidenhäufer und Militärwaifen« 
häufer, au für die Flotte 12 Warinehofpitäler in den Kriegshäfen und 25 Spital- 
ftationen. An Bildungsanflalten fehlt es ebenfalls nicht (f. oben). Das ruſſtſche 
Reich bat nur wenige Feſtungen im Verbältniß zu feiner Größe, und darunter noch 
weniger von wirklih milltärifhem Belang. Die ungebeuren Dimenflonsverhältnifie 
und die Kraft, weldhe das Band zwifchen Herrfher und Volk dem Lande verleiht, 
find daß befle Bollwerk RE. Kronfladt, Smweaborg und Warfhau, erflere Feſtung 
der Schuß der Reſidenz, die andere der Schug Finnlands, Iegtere ein Damm gegen 
die Polen ſelbſt, find die Hauptfeſtungen des Reiches; andere find die Peterpaulsd- 
feſtung in St. Petersburg felbft, Wiborg, Hangdudd, Schlüffelburg, Narwa, Meval, 
Niga, Dünaburg und Dünamünde, Archangelsk, Wilna, Bobruisk, Brezesc⸗VLitewski, 
Kamintee « Podolski, Ehotin, Bender, Kiew, Kinburn, Otſchakow, Orenburg, Orsk, 
Omsk, Uſt⸗Kamenogorsk u. f. w., fo wie Nowogeorgiewsk (Modlin), Zamosc u. a. 
für Polen. Arfenale befinden fih zu St. Peteröburg, Moskau, Kiew, Nikolajew, 
Warſchau u. f. w. Als Kriegsanftalten find noch zu erwähnen die Kanonengie» 
Bereien In Petersburg, Moskau, Lipezk und Petroſawodek, die Pulverfabriten und ° 
Salpeterfledereien zu Ochta, Aſow, Aſtrachan, Woronesh u. f. wm. Kriegshäfen 
find: Kronfladt, Archangelsk, Aftrachan, Nikolafem, Nifolafemsf am Amur, Smweaborg, 
Reval, Sfewaflopol; Martineflationen: Rotſchenſalmi (für die Scheerenflotte), 
Poti, Sſuchum⸗Kale, Baku, Aftrabad und Petromsf. Anapa und Nomworoffiist (frü« 
ber Sſudſchuk⸗Kale) find durch Ukas von 1860 aufgehoben. Die früheren Feflungs- 
gürtel in Europa, melde zum Schuß gegen längft unterworfene tatarifche, kalmykiſche, 
firgififhe und andere Voͤlkerſchaften dienten, haben keine Bebeutung mehr. Auch die 
Krjepoften gegen die Kirgifen in Aſien find gegenwärtig unnöthig, feit die Kirgifen 
der Großen. und Kleinen Horde fanımt den fogenannten Schwarzen Hirgiſen fi dem 
ruſſiſchen Scepter unterworfen haben. Dagegen find die am Sfyr = Darfa gegen bie 
centralaflatifchen Völker und die am Amur gegen die Mandfchus noch Heut zu Tage 
von großer Wichtigkeit für R. Werfte giebt es zu Kronſtadt, St. Petersburg, 
Archangelok, Aſtrachan, Nikolajem und Nikolafewst am Amur. Lepter Ort verfpricht 
für die Zukunft der ruſſiſchen Marine auf der Südfee ein epochemachendes Emporium 
zu werden, 

Das Wappen bildete früher, nad der Anordnung Peters des Großen, ein 
fchwarzer zweiföpfiger, dreifach gefrönter Adler mit rotem Schnabel, rothen Füßen 
und audgebreiteten Slügeln. In der rechten Klaue hält er das goldene Scepter, in . 
ber linken den goldenen Reichs apfel. Auf der Bruſt des Adlers zeigt ſich im rothen 
Mittelſchilde ein ſilberner St. Georg zu Pferde, im Begriffe, den Lindwurm zu durch⸗ 


572 Aufland. (Geographie und Statiſtik.) 


bohren, ald Moskau’s Wappen. Der Adler ſchwebt in einem goldenen Schilde, daß, 
von einer gefchloffenen königlichen Krone bededt, von ber Kette mit dem Kreuze des 
St. Andreaſs⸗Ordens umgeben und von ſechs goldeingefaßten Schilden, davon drei 
‚zur Mechten, drei zur Linken fich befinden,. umfchloffen ifl. Der erfte oben rechts, mit 
einer Koͤnigskrone, hat im blauen Felde einen fllbernen Engel mit goldenem Schwert 
und Schild (wegen Kiew); der zweite, goldene, mit einer Königsfrone, zeigt zwei 
aufgerichtete ſchwarze Bären, weldye mit der einen Tape einen rothen Stuhl, mit der 
anderen ein goldened Scepter halten (megen Nowgorod); der dritte, blaue, zu unterft 
befindliche, mit einer Spigenfrone gefrönt, hat eine goldene Königskrone über einem 
fllbernen Säbel mit goldenem Griff (wegen Aſtrachan); der erfte,. oben links, iſt roth, 
mit einer Königsfrone, Hat einen linfögefehrten goldenen Xöwen mit einem filbernen 
erhöhten Kreuze in den Pranfen (wegen Wladimir); der zweite, mit einer Spitzen⸗ 
krone gekrönt, bat im fllbernen Felde einen fchwarzen gefrönten Drachen (wegen Kafan), 
und der dritte, blaue, zu unterft, ebenfalld mit einer Spigenfrone gefrönt, Hat zwei 
fllberne aufgerichtete Wölfe, melche in der einen Klaue einen goldenen Bogen, üher 
dem eine Krone fchwebt, und in der andern zwei filberne, niederwärts gefehrte Pfeile 
balten (megen Sibirien). Hiervon weicht das neuefle auf Münzen und Siegeln bräudy» 
Ihe Wappen ein wenig ab, indem die Nebenfchilde gegenwirtig auf den Flügeln des 
Adlers liegen, und zwar auf dem rechten Die von Kafan, Aftrachan und Sibirien (f. o.), 
auf dem linfen erfcheinen dagegen gegenwärtig die Wappen von !Bolen (zu oberft ein 
rother Schild, mit einem gefrönten filbernen Adler), Taurien (ein goldener Schild, 
darin der rufflfche ‚Adler mit einem Schild auf der Bruft, worin eine Krone), und 
Finnland (zu unterſt rother Schild, hat, von Roſen umgeben, einen gekroͤnten gol⸗ 
denen Löwen, ein Schwert haltend und auf einen Säbel tretend). — Die Farben der 
Feldzeichen ſind ſchwarz, orange und weiß; die ſchwarzen Cocarden haben einen 
ſchmalen, orangen und weißen Rand und die Schaͤrpen find weiß, mit ein wenig 
orange und ſchwarz melirt. — Die Flagge ift weiß, durch ein blaueß Kreuz 
diagonal getheilt, die auf dem Bugſpriet der Kriegäfchiffe iſt roth und wird 
durch ein blaues, weiß eingefaßte® Kreuz diagonal, dur ein weißes rechtwinklich 
getheilt; die der Kauffabrteifchiffe -ift weiß, blau und roth, horizontal getheilt. — 
Die Nitterorden R.'s find theild Hofehren und Verdienſtbelohnungen zugleich, 
theaͤls bloß DVerbienftorden; bei feinem ift die Zahl der Mitter abgefchlofien. Der 
KRaifer ſelbſt iſt Oroßmeifter von allen. Zu den Ehren (und Verdienſt⸗) Orden 
gehören: 1) Der St. Andreasſs⸗Orden in 1. Klaffe, geftiftet von Peter dem 
Großen 1698; mit ihm erhält der Empfänger zugleich den Alexander⸗Rewskij⸗ und 
den St. Annen-Orden; 2) der Orden der heil. Katharina, ein Damenorben, ge⸗ 
ftiftet von Peter dem Großen 1714, feit 1797 in Groß⸗ und Kleinkreuze getheilt; 
hiervon iſt die Kaiferin Ordensmeiſterin; 3) der Alerander-Nemsfij-Drden 
in 1. Klaffe von Peter dem Großen 1722 gefliftet und von Katharina I. '1725 zuerft 
vertbeilt; 4) der Drden des Weißen Adlers, urfprünglich ein polnifcher Orden, 
geftiftet 1335 von König Wladislam V. von Polen, erneuert 1705 von König Auguft Il., 
wiederbergeftellt 1807 unter Eönigl. ſaͤchſtſcher Megierung, fept ruſſiſcher Orden in 
1. Kläffe; 5) der St. Annen-Örben, urfprünglih ein holſteiniſcher Orden, ge⸗ 
ftiftet von Herzog Carl Friedrich von Holftein- Gottorp (Bater Peters III.), 1795 
von Kaifer Paul I. für einen rufflfchen Orden erflärt und 1815 von Kalfer Aleran« 
der I. in 4 Klafien getheilt, und 6) der St. Stanislaus⸗Orden, geftiftet 1765 
von König Stanislaud Auguft von Polen, 1815 von Kaifer Alezander l. erneuert, 
verändert und in 3 Klaffen getbeilt; jetzt ein ruffticher Orden. Bloße Verdienft- 
orden find: 7) der St. Georgd-DOrden, geftiftet 1769 von Kaiferin Katha⸗ 
sing II., in 4 Klaffen, zu denen Alerander 1. noch ein fllbernes Kreuz für Unter⸗ 
offiziere und Gemeine fügte; er wird für bejondere militärifche Bravour ertheilt; 8) der 
St. Wladimir-Orden, 1782 von Kaiferin Katharina I. geftiftet und in 4 Klafien 
getheilt. Der Orden ift dotirt für die älteften Ritterftellen der verfchiebenen Klaffen, und 
9) der St. Johanniter-Orden, der in R. in zwei Brioreien (eine für Belenner des 
griechifchen Cult, die andere für Roͤmiſch⸗Katholiſche) befteht und noch bebeutende Einkünfte 
in R. und Polen befigt. Außer Diefen Orden giebt e8 goldene Ehrendbegen, mit und ohne 





- 


(2iteratur.) 513 


Diamanten, mit der Infchrift: „Kür Tapferkeit“, deren Inhaber nach einem Ukas vom 
Jahre 1807 als Mitter betrachtet und in das Verzeichniß der Orbensritter eingetragen 
werben. Berner giebt es kaiſerl. Milttärverbienfi- Ehrenzeichen, gefiftet 1791 
in Polen, 1807 wieder hergefiellt, 1815 den zufflfchen Orden einverleibt, 1832 in 
fünf Klaffen eingetbeilt, mit der Beflimmung, nicht fernerbin vertheilt zu werben. 
Hierzu fommen noch das Kreuz von Ismail, gefliftet 2. December 1790; die 
goldene Medaille am St. Georgenbande für Offiziere, gefiftet von Kaiſer 
Alexander; die goldene Medaille von 1807 für Offiziere, welche die Schlachten 


diefes Krieges mitgefämpft; die filberne Medaille von 1807 für tapfere Unter⸗ 


offlatere und Soldaten jene Feldzuges; dad Kreuz von Baſardéhik, gefliftet 
1810 für die Tapferen, welche jene Feſtung erflürmten; die Medaille von 1812, 
in Stier und Kupfer, zum Andenken an den Feldzug von 1812; die Medaille 


"von 1814, zum Andenken an die Eroberung von Paris; die Medaille von 


1827 in Silber, zum Andenken an die perfifhe Bampagne; die Medaille von 
1829 in Silber, für den Feldzug in der Türkei; die Medaille von 1830 in 
Silber, für die Erflürmung von Warfchau; die St. AnnasMepdaille von Meffing, 
am Bande des Anna» Ordens, für Unteroffiziere und Soldaten, die fih im Dienfte 
rühmlich bewährt haben; die Dienfl-Audzeihnung, gefliftet 1827 für mindeftens 
fünfzehnjährigen Dienft, am Georgenbande für Militärs, am Wiladimirbande für Eivile 
Beamte; die Dienft- Auszeichnung für Frauen (Marien-Auszeichnung), gefiftet 
1829 in zwei Klaffen, beſtehend 1) in einem goldenen Kreuz, 2) in einer goldenen 
Mevaille, erſteres für 25jährige, letztere für 15fährige Dienſte in den von dr Kai⸗ 
ferin Marla Feodorowna begründeten Anftalten. Schließlich giebt e8 noch viele andere 
Außzeichnungen für befondere Stände und perfönliche Verbienfle, ald: eine Medaille 
für. die audgezeichnetfien Zöglinge der Nikolaifchen Ingenieur Akademie, eine für Mir 
litaͤr⸗Capitulanten u. f. w. Hierher gehören auch die von der kaiſerlichen Akademie der 
Wiſſenſchaften für die Löfung von PVreis-Aufgaben u. f. w. vertheilten goldenen großen 
und Zleinen Medaillen und bie bei Induftrie-Ausftellungen zuerfannten Preis-Medaillen 
welche indeß nur als private und nicht als ſtaatliche Auszeichnungen gelten. 
Literatur. Bei der Sorgfalt, welche einheimifche wie ausländifhe Schrifte 
Heller befonders felt den Zeiten der Kaiferin Katharina, alfo feit nunmehr ca. hundert 
Jahren, ber Befchreibung des rufflfchen Meiches zugewandt haben, IR die Zahl der 
Quellſchriften natürlich fberaus groß, fo daß wir nur die wichtigften anführen können, 
obwohl wir auch bier der Raumerſparniß wegen manche Lüde laſſen müſſen. Baffen 
wir zunächfi Die Kartographiſchen Nrbeiten ind Auge, fo dürften die hervor= 
vagendfien Werke der Neuzeit fein: Stavenhagen „Hydrographiſche Karte des europ. 
Nuplands” (Mitau 1842) Baron von Roſen, „Karte des Kaukafus* mit trefflichen 
etbnographifchen Notizen; Baron v. Meyendorff und Sfinowjem, „Fabrikenkarte“ (in 
4 Blatt); „Atlas economique et statistique de la Russie* (3 Ausg., 10 Bl., St. 
Petersburg 1857); Karabljem, „Karte des ruffifchen Reiches“ (St. Petersb. 1856); 
Schubert, „Specialfarte des weftlichen Theile des rufflfchen Reiches“ (59 Blatt — 
das befte rufflihe Kartenwerk überhaupt — 2 Ausg. 1857); „Poſtkarte vom euros 
päifchen Aupland* (9 Bl., 2 Ausg. 1856); Woſchtſchinin, „Generalfarte ded euro⸗ 
päifchen Rußlands“ (15 Bl., St. Petersb. 1855); derfelbe, „Seographifcher Atlas 
des ruffifchen Reiches" (dal. 1858); P. v. Koeppen „Ethnograph. Karte des euro» 
päifchen Rußlands“ (St. Petersb. 1851 — nur in fehr wenigen Exemplaren vor- 
handen, vortrefflihes Werk), abgefehen von vielen andern Fartographifchen Skizzen 
dieſes tüchtigften aller ruſſiſchen Statifiifer; die „ Specialfarten ” des Topos 
grapbifchen Kriegd-Deyotd und der „Topographifche Atlas“ der ruſſtſchen geo⸗ 
grapbifchen Gefellfgaft, welcher die neueften DBermeffungen befannt macht u. a. m. 
Bon Tertwerken felbft, deren Zahl noch beträchtlich größer ift, heben wir, abſehend 
von den zum Theil vortrefflichen, aber antiquirten Werken eined Pallas, Georgi, 
Reineggs, Gmelin, Güldenfledt, Hermann, Heym, Hupel, Friebe u. A., ebenfalld nur 
die allerwichtigften aus dem gegenwärtigen Jahrhundert hervor, als Storch, „hiſtoriſch⸗ 
ſtatiſtiſches Gemälde des rufflichen Meiches zu Ende des 18. Jahrhunderts” (Miga 
1797—1803, 8 Thle.), defien „Nußland unter Alerander dem Erfien” (Leipzig 1803 


— — — — — — — — 


574 Nußland. (Geographie und Statifkik.) 


bis 1811, 9 Bde.) und deſſen „Denkfchrift über die ruſſiſche Kriegsmacht“ (Leipzig 
1828); v. Wichmann, „Darftelung der ruffifchen Monarchie“ (Riga und Leipz. 1813, 
2 Thle.); Graf v. Nechberg, „les peuples de la Russie* (Paris 1812—13, %01.); 
v. Klaproth, „Rußlands Bergrößerungen unter Alexander I., oder Beſchreibung ber 
ruſſtſchen Provinzen zwifchen dem caspifchen und fehwarzen Meere" (Berlin 1814); 
Erdmann, „Beiträge zur Kenntniß des Innern von R.* (Leipzig 1822—26, 2 Abth. 
in 3 Bänden); R. Lyal, „the Character of the Russians“ (2ondon 1823), Ch. Due 
pin, „Observalion sur la puissance de l’Angleterre et sur celle de la Russie* 
(2. Aufl., Paris 1824); Ehrmann, „neuefte Kunde vom rufflfchen Reiche“ (2. Aufl. 
von F. W. Benniden, Weimar 1826); Bergmann, „Magazin für ruffifche Gefchichte, 
Länder« und Völkerkunde“ (Mitau 1825 —27, 2 Bde.); ©. Engelhardt, „ruffifche 
Miscellen zur genaueren Kenntniß R.'s und feiner Bewohner“ (4 Boch., St. Peters⸗ 
burg 1828— 32); Balbi, „das rufflfche Meich, verglichen mit den vornehmften Staaten 
der Erde” (Weimar 1830); Morton, „Travels in Russia“ (2ondon 1830); Belt« 
ihinsfij, „de l’etat des forces industrielles de la Russie jusqu’en 1832* (St. Bee 
teröburg 1834); A. Erman, „Reife um die Erde durch Nordaflen” (Berlin 1833 ff., 
4 Bde); Schubert, „Handbuch der allgemeinen Staatskunde von Europa“ (Band |, 
Hl. I, Königdberg 1835); die „ Dorpater Jahrbücher für Literatur, Statiſtik und 
Kunft, befonders R.'s“ (Dorpat 1833—35); Domherr Meyer, „rufflihe Denkmäler, 
in den Jahren 1828 und 1835 gefammelt* (Hamburg 1837, 2 Bde); v. Baer und 
v. Helmerfen, „Beiträge zur Kenntniß des ruſſtſchen Reiches und der angrenzenden 
Länder" Afiend“ (St. Peteröburg 1839 ff.); Schlögl v. Ehrenfreug, „Meberblid des 
Katferreiches R.“ (Wien 1839, 2 Ihle.); Boffart, „das Kaifertfum R.“ (Stuttgart 
1839—41, 2 Bde.); defien „die ruſſtſchen Oſtſee⸗Provinzen“ (Stuttgart 1843 ff.); 
Th. Bulgarin, „Rußland in Hiftorifcher, flatiflifcher, geographifcher und literarifcher 
Beziehung“ (deutſch von v. Bradel, Riga 1839—42, 3 Bde.); F. W. v. Reden, „das 
Kaiferreih R.“ (Berlin 1843); derfelbe, „R.'s Kraft» Elemente und Einflußgmittel* 
(Brankfurt a. M., 1854); v. Oldekop, „Geographie des ruſſiſchen Reiches“ (Leipzig 
1843); Krufe, „Bemerkungen über die Oftfee « Gouvernements * (Leipzig 1842); 
X. Marmier „Rußland, Finnland und Polen“ (a. d. Franz. Regensb. 1844, 2 Bbe.); 
3. ©. Kohl „Die deutfch-rufflfhen Oſtſeeprovinzen? (Dresd. u. Leipz. 1841, 2 Bde.), 
derf. „Reifen in Sübrußland (Dresd. u. Leipz. 1841, 2 Bde); Guromäfij „La ci- 
vilisation et la Russie* (St. Peteröburg 1840); v. Krufenfteen „Abriß des Syſtems, 
der Fortfchritte und des Zuftandes des Öffentlichen Unterrichts in R.“ (deutſch von 
Groté, Breslau 1841); Guftine „La Russie en 1839* (Paris 1840, 3 Bde, nebſt 
vielfachen amtlihen und nichtamtlichen Widerlegungen oder Entgegnungen durch 
Tolſtoi, Gretſch, Srimm u. U. m.); Blaflus „Reiſe im europäifchen M. 1840 und 
1841" (Braunfhw. 1843—1844, 2 Bde.), derf. „R.'s inneres Leben" (Braunfchw. 
1846, 3 Bde.); v. Harthaufen „Studien über die inneren Zuflände, das Volks⸗ 
leben u. |. w. in R.“ (Hannover 1847—1852, 3 Thle.), derf. „Les forces militaires 
de ta Russie* (Berl. 1853); Studenberg „Hydrographie des ruſſ. Reiches? (Gt. 
Peteröburg 1844—1849, 6 Be); Murdifon „The Geology of Russia* (London 
1846); Wagner „Das ruffifche Reich“ (Leipz. 1851); Gaulaincourt „Das ruſſiſche 
Reich“ (2 Aufl. Leipz. 1854); Arffenfem „Das Katfertfum MR." (deutfch nad der 
20. Aufl., Riga 1855); Geißler „Geograph.sftatift. Ueberſicht und Weltſtellung des 
rufl.e Reiches" (Riga 1855); Bölter „Das Kaifertfum R. in Europa, Aſten und 
Amerika“ (Eßlingen 1855); Herzen „R.’S ſociale Zuflände* (Hamb. 1854); Alt⸗ 
mann „Neuefter Bevdlkerungsitand in den Städten Mußlands, einfchließlih Polens 
und Finnlands“ (Berlin 1855); Olberg „Statiftifche Tabellen des ruſſ. Reiches Für 
das Jahr 1856* (Berlin 1859); Steinhaus „R.'s induftrielle und commereielle Ber: 
hältniffe (Leipz. 1855); Tegoborsfi „Die productiven Kräfte R's“ (Mosfau 1855); 
Gorowski „Russia and its people etc.“ (Lond. 1854); Tichitfcherin „Die Gebiets- 
‚ einrichtungen R.'s“ (in uff. Sprache, Mosfau 1856); „Sammlung ethnographifcher 
Schilderungen aus verfchiedenen Gegenden des rufflfchen Reichs“ (in rufl. Sprache 
beraußgeg. von der kaiſ. ruſſ. Geograph. Befellichaft, St. Beteräburg 1853 ff.); Sal⸗ 
tykow „Skizzen aus dem ruſſ. Provinzialleben“ (deutfch von Medlenburg, Berl. 1860, 


(Geſchichte. Aelteſte vorgeſchichtliche Zeit.) 575 


2 Thle.); Schedo⸗Ferroti „Die Eiſenbahnen Rußlands“ (daſ. 1861); U. v. Buſchen 
„Bevoͤlkerung des ruff. Kaiſerreichs, in den wichtigſten ſtatiſtiſchen Verhältnifſen dar⸗ 
geftellt" (81 ©. Text und 16 Karten, Gotha 1864) u. ſ. w. Vgl. auch die in dem 
Art. Beier von Köppen angemerften Schriften. Sehr wichtig für die Kunde R.'s 
find audy die „Mömoires* und „Bulletins de l’acadenie Imperiale des sciences de 
St. Petersbourg“, die „Bulletins de la societ& Imperiole des Naturalistes de Moscou“, 
die Arbeiten der „Kaif. ruf. Geograpb. Geſellſchaft“ zu St. Peterdburg (in rufſ. 
Sprache) und die von den meiſten ruſſiſchen Minifterien alljährlich herausgegebenen 
„Nechenfchaftäberichte” u. f. w. Auch der von der Akademie redigirte „St. Peterb: 
burger Kalender” ift als eine wichtige Duelle für die Geographie und Statiſtik R.'s 
zu bezeichnen. 

U. Geſchichte. Aelteſte vorgefhichtliche Zeit. Herodot if der 
erfte unter allen Schriftfiellern bes Alterthums, welcher Gegenden und Bölfer nennt, 
die heut zum ruffifchen Neiche gehören; die beiden Hauptvölker Rußlands, Tſchuden 
ober Finnen (bei ihn Skythen) und Slawen (bei ihm Sauromatä, woraus das fpätere 
Wort Sarmaten entfland) werden bereitd von ihm, in der Mitte des 5. Jahrhunderts 
v. Chr. Geb. erwähnt. Die Flüffe, die er unter dem Namen Borpfihenes und Tanais 
aufführt, entfprechen ben heutigen Dnjepr und Don. Zwifchen beide Flüſſe fegt er 
die Skythen, oflwärts von ihnen verlegt er die Wohnſitze der Sauromaten. Nord» 
waͤrts von legteren Täßt er wiederum Skythen wohnen. Zur geit des Eratofihenes 
(200 v. Chr. Geb.) erfcheinen die Skythen weſtlicher, die Sauromaten nördlicher, und 
flatt ihrer am Pontus Eurinus (dem Schwarzen Meere) zwifchen Tanais und Bory« 
fihenes, der nun auch fchon Danapris heißt, werden die Horolaner (ein Skythenftamm) . 
als feßhaft genannt. Ptolemäus (um die Mitte des 2. Jahrh. n. Ehr.) nennt neben 
ihnen noch die Jazygen, die fich fpäter bis in die Heutige Lifraine binaufzogen; und 
andere von ihm und feinen Nachfolgern ermähnte Völferfchaften zwifchen dem Schwar⸗ 
zen Meere und dem Umfange Germanicend waren Alanen, Melanchlänen, Hyperboreer, 
Boryfideniten, Gelonen und Budinen, Agatbyrfen, Beufinen und Baftarnen. Kegtere 
wohnten fchon in den Weichjelgebieten und berührten die Confinien deutfchen Landes; 
die Erfteren, wozu bald auch die Satarhä und Tauri ſich gefellten, waren ihre Antie 
poden im aͤußerſten Often. Vom 2. bis 5. Jahrhundert fchoben ſich Feilfürmig vom 
Norden ber gothifche Völker zwiſchen die farmatifchen und fEnthifchen Volks maſſen 
ein, und ed if möglih, daß urſprünglich auch die fehr früßzeitig auf 
tretenden Venedi (Wenden) germanifcher Abfunft geweien und nur fpäter 
erft flamifirt morden find. Auf die Venedi ſelbſt drängten von Oſtem ber 
die Aeſtii, Eſthen (alfo Tſchuden, Skythen), welche jene nah dem heutigen 
Preußen bineinfhoben. Beſonders jet dem 5. Jahrhundert wurde Sarmatien der 
Zummelplag für die Völkerwanderung, mo Alanen, „Hunnen, Avaren, Bulgaren u. U. m. 
einander verbrängten, wobei an ihre Stelle fchließlich die Slawen (ein Stamm der 
Sarmaten) traten, welche theilmeis ſelbſt wieder dem Anprall der Chazaren und Pet—⸗ 
Schenegen erlagen. Kurz dor der Zeit der Gründung des Ruſſenreichs ſcheiner die 
Wohnſttze fo vertheilt geweſen zu jein, daß die Chazaren zwifchen Don und Wolga, 
die Petſchenegen zwifchen Don und Aluta jaßen, während die Slawen im Nordweften 
R.'s faßen, wo Kiew und Nomwgorod ihre Hauptniederlaffungen wurden. Im Nord 
often aber baufeten Tſchuden (Skythen, als Finnen, Efihen u. f. w.), in deren Ge 
bieten auch bie und da ſchon Slawen ericheinen. Längs des Baltifchen Meeres hatten 
fe Waräger oder Wiäringer feftgefegt, urfprürglich ein dentich « normännifihes Ge- 
Schlecht, und zunächft feßhaft in Schweden, welche aber im 9. Jahrhundert das ganze 
Land, um Petersburg, Riga u. f. w. bis zum Ladoga und Onegaſee ſich zinsbar 
machten, wo die ihrer Abflummung nad unbekannten Auffen wohnten, die fegt unter 
diefem Namen zuerft auftreten, während fie andrerfeitd auch die am meiften unter all 
diefen Bölkerfchaften gebildeten Slawen um Nowgorod am Ilmenſee, fo wie die dor- 
tigen tſchudiſchen Befchlechter der Binnen, Weflen, Meren und Kriwitſchen knechteten. 
Seitdem führten die im heutigen Auflenreich ſich feflfegenden Waräger den Namen 
ruſſiſche Waräger im Gegenfah zu den in Schweden feßhaften feandinavifchen Wa⸗ 
tägern. Sehr bald verbanden fich indeß die Tſchuden und Slawen zum -Sturze der 


> 


— 


576 Rußland. (Geſchichte. Von Rurik bis Wladimir den Großen.) 


warägiſchen Macht und begründeten am Ilmenſee in der bereits vorhandenen Stabt 
Nomgorod einen demofratifchen Bundesflaat, deffen Berfaffung nicht von Befland war, 
weil ſich ſowohl die eine, als Die andere Völkerſchaft um die Hegemonie flritt und 
weil zudem die Elemente beider Nationalitäten zu verfchlebenartig waren. Man einigte 
ich ſchließlich dahin, eine Geſandiſchaft an bie ruſſiſchen Waräger zu ſchicken und ſich 
von ihnen Herricher audzubitten. So kamen im Jahre 862 die drei Fürftenbrüber 
Rurik, Sineus (Sinaw) und Trumor mit einer großen Schaar Begleiter nah N. 
und wurden die Begründer des jegigen Weltreiches R. welches vor 2 Jahren fchon 
fein 1000jädrige8 Beſtehen zu feiern vermochte. 

I. Beriode. Bon Rurik His Wladimir den Großen, oder Gefchichte 
des heidniſchen Rußland. Rurik, der ältere der drei Brüder, gelangte nach dem 
frühen Ableben feiner Brüder ſchon 864 zur Alleinherrfhaft und nannte fih Fürſt 
von Rußland, während bis dahin das Land noch allgemein Sarmatien genannt warb. 
Er nahm die Sprache und die prädominirenden Bildungs. Elemente der Slawen an, 
jo daß felbft die Namen des Herrſcherſftammes, die Namen der beflegten Volker und 
der neubegründeten Ortichaften fih bald flawifrten. Die vorgefundene Patrimoniale 
Verfaſſung bildete er weiter aus und hatte auf Grund berfelben ſchon feine Brüder 
mit Bürftenfigen Bjeloſerok (im Weflenlande) und Joborsk (im Krimwitfchenlande) bes 
lehnt, die er als offene Lehne wieder einzog, nachdem er zur Alfeinberrfchaft gelangt 
war. Nunmehr verlegte er feinen früheren Herrfcherfig von Alt Ladoga nah Now⸗ 
gorod und nahm den Broßfürftentitel an. Die Kunde von feiner Macht, feiner Weise 
beit und feinem Muthe verbreitete fich fchnell durch alle Stawenländer und ſchon 865 
baten auch die Slawen im heutigen Kleinrußland Rurik um einen Fürften aus feinem 
Stamme. Muri entfendete an fie feinen Stiefſohn Oskold und defien Bundesfreund 
Dir, welche mit ihren Rittern und den Slawen fehnell die feindlichen Ehazaren auf's 
Haupt fehlugen, ihnen einen Theil Ihres Landes abnahmen und ihre Reſidenz In Kiew 
am Dnjepr aufſchlugen. Da Rurik 879 farb und bei feinem Tode nur einen vier» 
jährigen Erben Igor hinterließ, fo machten fi die füblichen Waräger in Kiew von 
den nördlichen in Nowgorod fofort frei, ja fle begten die Hoffnung, auch fi der 
Gewalt über dad Stammland zu bemädhtigen. Dies führte den DBerwalter be Rei⸗ 
ches, Dieg, einen Better Rurik's, zu einem gewaltigen Heereszuge wider Kiew, nach⸗ 
dem er fih durch die Eroberung von Smolenst und Lubetſch ſchnell eine Macht» 
ftellung und einen gebietenden Namen erworben hatte. Gleichwohl ließ er Oskold 
Durch Lift erfchlagen und gleiches Loos bereitete er dem vertrauensſsvollen Dir, welcher 
fih in feinem Lager ohne Wehr und Waffen eingeftellt Hatte. „Dsfoldoma Mogila“ 
nennt ſich ein rufftfches Nationaltrauerfpiel, welches den Heldentod der beiden Waräger- 
fürften betrauert und noch heut als epochemachend fire bie rufftfche Bühne gilt. Oleg 
vereinigte hierauf beide Slawenſtaaten und verlegte die Mefldenz des vereinigten Rei⸗ 
ches nach Kiew und dehnte Die Grenzen feines Neiches bis zum heutigen Güdrußland 
aus. Im Jahre 903 vermählte er feinen Neffen Igor mit der frommen, nachmals 
beilidgefprocyenen, Olga und hatte nichts Geringered vor, als, von dem Thatendurft 
feines normannifchen Blutes getrieben, Byzanz erobern zu wollen, wovon er nur Abe 
ftand nahm, als ein Sturm feine ſchon in den Hafen der Hauptflabt des griedhifchen 
Reiches eingelaufene Blotte zerfireute und zur Heimkehr zwang. Nunmehr plünderte 
und verwüflete er die Anlande des Bosporus und des Pontus und fegelte ſelaven⸗ 
und beutebeladen den Dnjepr wieder aufwärts nad Kiem. Er erwarb ſich darauf 
neuen Ruhm durch die Begründung vieler Städte, durch die Anfnüpfung von Han⸗ 
belötractaten mit den riechen und Chazaren und durch Geſetze, die er dem fidh vom 
Jahr zu Jahr ermweiternden Reiche gab. Erft nah feinem Tode, 912, nahm Igor, 
bereit8 37 Jahre alt, die Zügel der ihm zuſtehenden Herrfchaft In die eigene Sand. 
Igor Aurifowitfh, feit 912 Großfürſt von Rußland, ebenfalld zu Kiew refldirend, 
nahm 941 den Blan Oleg's in Betreff Konftantinopeld von Neuem auf und bie ſicher 
übertriebene Angabe in Neftor’3 Chronik, daß er mit 10,000 Barfen und 400,000 
Mann die Haupiftadt der Griechen angegriffen babe, erhält wenigſtens einen Dämpfer 


durch den Zuſatz, ‚daß das fogenannte griechifche Feuer des Theopompus ober Theo⸗ 


phanes die Flotte vernichtet und ihn zu fehneller Heimkehr gezwungen habe. Dennoch, 


(Bon Wladimir bis auf den Einfall der Tataren.) 577 


heißt es weiter, ſei Igor 944 ſchon zum dritten Male an der Mündung der Donau 
erſchienen und nun haͤtten die Griechen ſich zu einem ſchimpflichenFrieden und zum 
Tribut an die Ruſſen verpflihtel. Dies Jahre war aber zugleich fein Todesfahr; Die 
ſich erhebenden Derewier erfchlugen ihn in offener Feldſchlacht, was Olga, die Mutter 
und Vormünderin des jungen Thronerben Swjatoslaw, zu einem furdhtbaren Rache» 
zuge gegen biefelben veranlaßte. Site foll nad Angabe der Chroniſten das Reich 
bereits in Bezirke getheilt und eine eigenthümliche Kreisverwaltung eingeführt Haben. 
Auch ſetzte fie zuerft geregelte und nach Brineipien bemeffene Abgaben fell. Die 
Stadt Plesſkau oder Pskow dankt ihr den Urfprung. Ueber die Belehrung Olga's 
zum Ghriftentyum fiehe den Art. Ruſſiſche Kirche. Seit 965 führte Swiatoslaw 
ſelbſt das Scepter und dehnte dad Reich bis zum Aſowſchen Meere aus. 967 ber 
friegte er auch erfolgreich die Bulgaren und eilte vom Wahlplatz ſchnell nah Kiew 
zurüd, um baffelhe zu entfegen, melches Betfchenegenhorbden belagerten. Um Bulgarien 
völlig zu erobern, theilte er 970 fein Reich unter feine drei Söhne Jaropolf, dem 
er Kiew, Dleg, dem er das Land der Derewier, und Wladimir, dem er Nowgorod 
zu Lehn gab. Nun wandte er ſich mit einer großen Heeresmacht gegen die Bulgaren, 
vollendete deren Unterfohung und ſetzte ſich zu Perejaslaw feſt, welches er zu der 
esften Glanzſtadt R.'s zu erheben vorhatte. Aus Eiferfuckt zogen aber die Griechen 
971 ſchon wider ihn aus, ſchlugen ihn bei Siliſtria, zwangen ihn zur Räumung 
Bulgariens und reisten auch insgeheim die Petfchenegen wider ihn auf, die ihn 972 
esichlugen. Unter den brei vorhandenen Warägern entfprang alsbald Fehde um die 
Alleinherrfchaft; Jaropolk erfchlug Oleg im offenen Kriege, Wladimir behauptete ſich 
ſchließlich als Großfürſt, indem er 980 Jaropolk dur Liſt zu ſich Todte und ihn 
meuchlings erſtach. 

1. Beriode. Bon Wladimir bis aufden Einfall der Tataren. Die 
Ehriftianifirung Rußlands. Wladimir’ erfled Auftreten war das eines Kriegerd, er 
breitete Furcht und Schreden um fih ber, ald er gegen Galizien aufbrach, ſodann 
ala er Lithauen und Lievland Aberwältigte, und mehr noch, als er die Warägiiche 
Sürftene und Nittergewalt in fchmale Grenzen einengte. Seine Gemahlin, die Schwefter 
des byzantiniſchen Kaiferd Baflliuß, eine fromme und energifche Ehriftin, erfchloß feit 
988, wo er fih zu Cherfon mit ihr trauen Tief, feinen Sinn für dad Höhere. No 
am Hochzeitötage ließ er fich taufen und eben fo, wie er Anfangs genen daB Chri⸗ 
ſtenthum gewüthet, begünfligte er ed von jetzt ab. (S. d. Art. Auffiihe Kirche.) 
Ale Bewohner von Kiew traten 989 zum Chriſtenthum über und auch in Nomgorod 
fand die neue Lehre Eingang. Jetzt zog Wladimir auch Gelehrte und Künfller in 
fein Reich, fandte feine Untertbanen zur Erlernung von Kenntniflen in's Ausland, 
fliftete Kirchen und Schulen, die erflen feines Reichs, und gründete Städte und Fleden 
Wladimir in Volhynien empfing den Namen nach ihm. Er hielt auf Sitte, Recht 
und Geſetz und theilte vor feinem Tode fein Reich unter feine 12 Eöhne, deren einer, 
Jaropolk, Fürf von Nomwgorod, 1015 ſich wider den väterlihden Herrn empörte. 
Das brach dem frommen Megenten das Herz: er flarb im felbigen Jahre, noch ehe 
die offene Feldſchlacht fein oder feines Sohnes Geſchick entſchieden hatte. Jetzt kam 
für Rußland eine der unerquicklichſten Zeiten, welche zwei volle Jahrhunderte waͤhrte 
und gegen das Ende der Periode den wilden Tatatenhorden, als ſie in das Reich 
einbrachen, die Oberberrfchaft ermöglichte; die Zeit der vielen Theilfürftenthümer, die 


‘oft in fehr Ioderem Zufammenhang mit dem Großfürftenflaat fanden, weldyem ihrer- 


jeitd nur zu häufig der Gehorſam und die Tributleiftung gekündigt wurden. Brüder 
wütheten gegen Brüder, jeder trachtete nach der Obergemalt. Dazu benugten die ſchon 
lange aufrührerifchen Grenzvölker, vor Allen die Betfchenegen, Chazaren und Polomzen 
die Uneinigkeit der rufftfchen Machthaber und fielen in Jahr für Jahr ſich erneuenden 
Kriegd- und Naubzügen in das Heich ein, deſſen Grenzen, well Keiner daſelbſt fi 
ficher fühlte, verlaffen murden und veröbeten. Wefmärtö aber breitete der fich ent⸗ 
faltende polnifche Aar feine Schwingen aus und griff mit fcharfen Krallen in das 
Herz des Nachbarflaates hinein. Swjatopolk, ein Baftarbfürft, erfchlug den edlen 
Boris, Wladimir’s Lieblingsfohn, und den fanften Glfeb, deffen nädhftlen Bruder, trieb 
die übrigen Herrfcher zu Paaren und warf fih vier Jahre lang zum Alleinherrfcher 
ZBagıner, Staats⸗ u. Gefellfhter. XVRN. 37 


948 Rußland. (Geſchichte.) 


über Rußland auf. Endlich aber warb er von Jaroslaw, dem Fürſten von Nowgo⸗ 
sod, dem er den Tod fchon zugedacht, beflegt und vertrieben. Er farb auf der Flucht 
an den Grenzen von Böheim. Nun fchmang Jaroslaw Wladimirowitf von Now⸗ 
gorod, der Fräftigfle unter allen Söhnen Wladimir's, unbefchräntt das Scepter 
über Außland. Er war ed, der den Ruſſen die erften gefchriebenen Geſetze gab, 
das fogenannte „Alte ruſſiſche Recht“? (vergleiche den Artikel Ruſſiſches Recht), 
die fpäter für die Entwidelung des Deutſchthums im baltifhen R. fo wichtige Stabi 
Jurgew oder Dorpat begründete, viele Bücher aus dem Griechifchen in's Slawoniſche 
überfegen ließ und zum Theil ſelbſt überfehte, das Chriſtenthum allerorten förberte 
und einführte, und der den Tſchudismus zwang, fi auf Bruchtheile des früheren 
Lievenlandes zu beichränfen. 1019—54 war unter feinem Scepter eine frühe Glanz⸗ 
zeit für die Entwidelung des ruffifchen Culturlebend. Zwei Jahre nad feinem Tode 
wurde Neftor geboren, der Begründer des eigentlichen Schriftenthums R.'s (f. d. Art. 
Aufftihe Sprache und Literatur). Foͤrderlich far die erwachende geiftige und fittliche 
Richtung R.'s wurde die Verbindung mit Deutfchland, in welche Jaroslaw's Sohn 
und Nachfolger auf dem Throne, Isjaslaw, trat, indem berfelbe, bebrängt von feinen 
Brüdern Swjatoslaw nnd Wßewolod, und von einem ferneren Berwandten Wßeslaw, 
fh an Heinrich IV. von Deutichland und an den Papſt Gregor VII. hülfe und 
rathſuchend wandte. Nah dem Tode Isjaslaw's beflieg fein Bruder Wpewolod un⸗ 
angefochten von Verwandten den Großfürſtenthron. Bor dem Ableben hatte Wße⸗ 
wolod feinen Sohn Wladimir zum Nachfolger auserwählt; diefer aber, den größeren 
Beruf Swfatopolf Isjaslawowitſch's für dad Megentenamt anerfennend, überließ ſei⸗ 
nem Onkel den Thron (1093 — 1113). Erf nachdem Smwfatopolf dad Zeitliche ge- 
fegnet, beftieg der inzwifchen geiftig gereifte Wladimir U. Wßewolodowitſch, zubenannt 
Monomach, den Thron. Dem Handel der Juden zog er eine Schranfe, nahm die 
Stadt Kaffa (Beodofla) den Genuefen ab, unterftägte den Kaifer Aleris Komnenus 
gegen übermüthige Feinde, unterwarf die Polomzer und ſetzte fich bei feinen Unter» 
thbanen und Nachbarn in ein ſolches Anfehen, daß der griechifche Kaifer ihm das 
Scepter ‚und die” Eaiferlichen Inflgnien fandte, die noch heute zu Moskau In 
der dortigen Orusheinaja Palata (Schaplammer) aufbewahrt werden. Wladi⸗ 
mir aber entfagte, wie vordem der Megierung, fo auch jegt dem Kaifertitel. 
Nah ihm regierte Mſtislaw MWladimiromitih, der ältefte und kraftvollſte der 
Söhne des zweiten Wladimir, der ſich den ebrenden Beinamen des Brofen er» 
warb, deſſen Herrfchaft aber nur von 1126 bis 1132 währte. Nach feinem 
Tode beftieg 1132 fein Bruder Jaropolk I. den Großfürftentiron, weldher 
bis 1139 das Seepter nicht minder Fräftig führte. Gr hielt fein Anſehen 
nicht nur aufrecht den vielen, ihn und ſich untereinander befehdenden Theilfürften ger 
genüber, fondern auch Angeſichts der von allen Seiten über das Neich einbrechenden 
Feinde, wie der Polowzer, die einen Sprößling aus der alten Herrſcherfamilie, Wa- 
fllifo, zu ihrem Fürften erwäßlt, und namentli der Polen, die ihn hinterliſtig gefan- 
gen nahmen und nur gegen ſchweres Loͤſegeld freigaben. Dafür rächte fich der Großfürft 
durch die Vernichtungsfchladyt bei Halicz, wo er Boleslaw 1. von Polen vollftändig 
aufs Haupt ſchlug und fein Heer total aufrieb. Unter ihm ward auch 1147 der 
Grund zum fpäteren Zarenfige Moskau und von vielen anderen nachmals wichtigen 
Wohn, Handels⸗ und Verkehröplägen gelegt. Sein Nachfolger Wßewolod Olgomitfch, 
ein Enkel Swfatoslaw Jaroslawitſch's (1139—1146), iſt der erfte Monarch, der feier⸗ 
lich von einem Metropoliten gefrönt wurde. Isfaslaw II. Mſtislawitſch (1146 bis 
1154) flemmte fi der Oberberrfchaft des griechifchen Klerus Eräftig entgegen und ließ 
durch ruſſiſche Bifchöfe Clemens zum Kiewer Metropoliten wählen, ohne den Patriarchen 
von Konftantinopel zuvor zu befragen. 7 Er führte zuerfi auch den Zarentitel. Jurij 
Wladimirowitſch Dolgorufif (1154 — 1157), fchon früher der Erbauer des Moskauer 
Krems, und während feiner Megierung ald Großfürft auch Begründer vieler anderer 
Städte, zog Eoloniften aus Bulgarien, Ungarn, Griechenland und Polen herbei und war 
vorzüglich von Bedeutung für das Meich burch Befeſtigung und Erweiterung des Gtädte- 
weſens. 1157 bis 1170 war ber großfürfllide Thron in Händen Andrei Jurgewitſch 
Bogolubskoi’s, früheren Zürften von Susbal, ber den Sig des Großfürſtenthums 


(Rußland während ber Tatarenherrfchaft.) 579 


von Kiew nad Wladimir verlegte, von wo er fpäter nah Moftow, Twer und Now⸗ 
gorod wanderte, bis er felt 1328 in Moskau verblieb. Er führte einen Hauptfloß 
gegen die bulgarifche Macht, indem er die durch Gewerbfleiß, Handel und Betriebfam- 
Telt zu bedentendem Flor gelangten Bulgaren bekriegte, yplünderte und brandfchagte. 
Rad kurzer Zwiſchenherrſchaft Michael's J.. Sohnes des Fürſten Andrei von Tſcherni⸗ 
gow, der ſich momentan auch in Wladimir zu behaupten wußte, 'beflieg Dimitrif 
Wßewolod I. Jurgewitſch, Fürft von Wladimir und Nomwgorod, 1176 den großfürfl- 
lichen Thron, der fi zwar den Beinamen des Großen erwarb, aber den Widerſtand 
der auffäfftgen Theilfürften und Bojaren nicht zu brechen vermochte und den Ungarn 
und Bolen willkommene Gelegenheit bot, fich in die Kriegshaͤndel und innere Politik 
Rußlands einzumifchen. Bis 1212 fchleppte er die ſtets angefochtene Herrichaft hin 
und vermehrte die Verlegenheiten des Meiches, als er in jenem feinem Tobeßjahr die 


-bereitö gefehmächte Gewalt unter feine zwei Söhne theilte, wobei Jurif, Der Jüngere, 


Mladimir und Susdal ererbte, und Konflantin, der Aeltere, Roſtow und Jarodlaw er» 
hielt, welcher zugleich zum Großfürſten defignirt war, mit der Beflimmung, daß ihm 
fein Bruder in der Herrſchaft nachfolgen ſollte. Konftantin regierte nur von 1212 
bis 1219, und Jurij H. trat — für lange Zeit als der Ichte der felbftändigen Herr⸗ 
ſcher Rußlands im letztgedachten Jahre die Regierung an. Unter ihm überſchwemmten 
die Horden der Tataren Rußland. 

IE. Periode. Rußland während der Tatarenherrſchaft. Tamufin, 
der fpdtere Tſchingis⸗Chan, d. h. Fürft der Meere, murde im Jahre 1220 Herricher 
der Mongolen, die unter ihm ihre Sitze von Gentralaften aus bis an die Grefze 
Europa’8 ausdehnten. Auf feinem Bordringen über diefe Grenze traf er ſodann mit 
den Ruffen zufammen und beflegte fle in der Schlacht an der Kalka, einem Flüßchen, 
das dem Pontus zufließt, im Jahre 1224, in welcher ſelbſt der neue Großfürſt Mflis- 
law, der dritte feines Namens, durch die Sireitart eines Mongolen das Leben verlor. 
Neue Eroberungen machte Bati oder Batu⸗Chan, Tſchingis⸗Chan's Enkel, im Jahre 
1237, indem er mit einem Heere von 600,000 Wann faft ganz MR. unterwarf. Um 
fih felbR Die Regierung zu vereinfachen, ließ er die rufflichen Theilfürftentbümer be⸗ 
ftehen, machte fie aber zu mongolifchen Lehen und dem Ehanate tributär. Die Für⸗ 
ften mußten flatt Marderfellchen, welche damals noch die Stelle des Geldes vertraten, 
Geld und Silber zahlen, was zur Einbürgerung der geprägten Münzen führte. Ia- 
soslam II. Wßewolodowitſch (1238—1247) warf fich felbft in den Staub vor Batu- 

Chan und empfing den erflen Belehbnungdbrief und den Vorrang vor ben übrigen 
Fürften. Jeder nachfolgende ruſſiſche Großfäürft mußte ſich auf's Neue gegen Gefchente 
und Tributverpflichtung in der Goldenen Horde vom Großchan der Mongolen, die 
Ah bald auch Tataren nannten, belehnen laſſen. Alle Großfürften bis auf Zar 
Iwan IM. Waſſiljewitſch waren DBafallen der Ehane und hatten ihre Lehnshoheit oft 
ſchwer zu fühlen Einen großen Segen hatte gleihwoßl diefe ſchwere Drangfals- 
periode fir R. Die Großfürften, im Often und Süden gehemmt, fuchten fi den 
Norden und Weften zu erſchließen und traten dadurch den Culturvölkern näher, ale 
ed fonft vielleicht gefcheben wäre. Alerander Jaroslamitfch (1255 —1264) beflegte die 
fieyländifhen Schwertritter und die Schweden an den Ufern der Newa und empfing 
von feinem Siege den Beinamen Newskij. 1264— 1271 regierte Jaroßlam II. Ja⸗ 
soslamomwitfch, der vom Blüde getragen war auf allen Feldzügen wider die Lieyländer 
und die Deutfchen Schwertritter. Als er an die Nechte der flolzen Nowgoroder zu 
rühren begann, hätte ihm Das faft die Krone gefoflet, und nur der Vermittlung des 
Metropoliten verbankte er das Befteben feiner Macht. Auch unter Waſſilij Iaroslas 
mwowitfch (12711276) empoͤrten ſich die Freiftäbter, und ed beburfte für den Groß⸗ 
fürften fogar eines KHülferufs an den Chan, um Nowgorod zu bändigen. Um diefe 
Zeit, 1293, ward Wiburg von den Schweden ald ein Bollwerk gegen die Auflen 
erbaut. Michael TI. Jaroblawowitſch regierte von 1304—1318. Zu feiner Zeit 
nahm der Chan Usbek die mahomedanifche Nellgion an und breitete den Islam durch 
die ganze Horde bis an die Känder der Ehriften aus, Indem er auch bier das Rene⸗ 
gatentyum eifrig förderte. Der Großfürft ward ein Opfer feiner Raͤnke, indem er 
von einer falfchen Anfinge feltend des nach der Hersfcherwürbe trachtenben Fürſten 

37% 


380 Nußland. (Geſchichte.) 


Jurij Danilowitſch in der Goldenen Horde ſich durch Annahme des Islam reinigen 
ſollte, was er ſtolz verſchmaͤhte, ſo daß der betrogene Chan ihn ſchimpflich 
hinſchlachten ließ und ſeinen Verleumder mit dem Großfürſtenſcepter belehnte. 
Jurij Danilowitſch, der ſelbſt eine Schweſter des Chans zur Gattin genommen, die 
nachmals, als ſte getauft worden war, den Namen Agathe empfing, war eben ſo tapfer, 
wie treulos. Er ſchlug die Schweden, entſetzte Kerholm, die von den Schweden be⸗ 
drängte Hauptſtadt Kareliens, erbaute die Feſtung Nöteburg (jetzt Schlüſſelburg) und 
erhob Moskau zur Reſidenzſtadt Rußlands. Mitten in der Horde, im Angeſicht des 
Ehans, vor dem er im Staube lag, traf ihn die unerwartete Mache des Dmitrif IL i 
Michailowitſch, der an ihm den Tod feines Vaters rächte, wofür er felber den Todes⸗ 
fireich empfing. Don 1328 bis 1341 regierte Joann Danilowitſch, Kalita (der Gelb⸗ 
beutel) jeiner Breigebigfeit wegen zubenannt, der die Armen allerorten unterflügte, 
Hofpitäler und Armenbäufer gründete und ein wahrer Belenner Chriſti war. Sie 
meon Joannowitſch Bordyf, d. i. des Stolge, genannt, wegen bed ihm eigenen impo⸗ 
nirenden Anflandes, Durch welchen er Jedermann zum Gehorfam und zur Anerkennung 
zwang, weldyer von 1341 — 1353 regierte, war gleichfalls ein frommer Ehrifl, der bie 
Kirche ſchützte, die erſten Glocken in Rußland einführte und das Schul» und Armen⸗ 
weien, gleich feinem DBorgäpger, förderte. Er flarb zur Zeit einer großen Peſt, welche 
aus China fam und unter dem Namen des „ſchwarzen Todes" unzählige Opfer in 
Nußland und ganz Europa beifchte. Die Regierungen der beiden nachfolgenden Groß⸗ 
fürften Joann U. Joannowitſch (1353—59) und Dmitrij UI. Konſtantinowitſch zeichnen 
fi durch ein beflered Einvernehmen zwilchen den Ruſſen und Tataren aus. Dmi⸗ 
trif IV. Ioannowitfch, der Donifche (Donskoi) zubenannt, war der erfle Nepräfentant 
einer glänzenden Regierung in Rußland, feit dem Einfalle der Tataren unter Tſchin⸗ 
gie-Chan. Als er 1362 den Thron beftieg, Herrfchten Die aflatifchen Horden bereits 
138 Jahre über Rußland ungeſtraft. Dmitrif IV. entzog fich ihrer Oberherrfchaft, 
Ihlug die Tataren am Don auf's Haupt und mar der erfle rufflfche Großfürſt, der 
den Tribut an den Chan zu zahlen_unterlieg. Freilich verfuchten e8 die Tataren, Die 
Zügel der Herrſchaft auf's Neue an fich zu reißen, überfielen Moskau und zerflörten 
den Kreml. Gleichwohl entging Dmitrij Donskoi felbft ihrer Mache; fa er fügte ben 
Zataren noch manche empfindliche Niederlage bei, als fie beutereich in ihre Hordenſitze 
beimfehrten. Das einmal gegebene Beifpiel wirkte elektrifh auf die nachfolgenden 
Beherrfcher Rußlands auf großfürftlidem Stuhle Unter Waſſtlij Dmitrifemitfch zer» 
flörte Jurif Dmitrijewitſch, ſein Bruder, ein apanagirter Fürſt, Kafan, den Haupt 
glanzfig der Tataren, und drang bis in die eigentlichen KHordenfige vor. Hätte ein 
fhmwächerer Fürft auf dem mosfowitifchen Throne gefeflen: Timur Tamerlan, der 1395 
feine Horden über Rußland ergoß, würde feinem Ahnherrn Tſchingis⸗Chan glei, das 
ganze Meich wieder unter feine Botmäßigfeit geführt haben. Wafftlif I. Dmitrijewitſch 
war auch der wefteuropäifchen Gultur zugänglich; er verbreitete Kunſt und Wiſſen⸗ 
Ichaft, förderte Aderbau und Handel und machte Moskau zum Sige einer dem Welten - 
Europa's nachgeahmten Eultur. Nicht minder tüchtig von Charakter und Geflttung 
war Waſſtlij Waſſiljewitſch, Temnyf, d. i. der Finſtere, genannt, der diefen Beinamen 
erhielt, weil ein Eronräuberifcher Berwandter ihn in einer Capelle überfallen und blen⸗ 
den ließ, und der gleichwohl in einer fo fchwierigen Zeitepoche, wie die damalige war, 
wo einerfeitö die Tataren vom Oſten und anbrerfeits die Lithauer unter Witowt vom 
Welten ber Rußland ſchwer bedrängten, fich ala Beherrſcher der Berhältnifie zeigte. 
Er regierte von 1425—1462. Zu feiner Zeit werden die Kofafen von den Chro⸗ 
niften zuerft genannt, auch famen unter ihm viele griechifche Gelehrte und Künfller 
nah Außland, welde bei der Einnahme von Konftantinopel aus ihrem Baterlande 
geflohen waren. Die Sonne der Eivilifation warf ihre Glanzlichter von dem nahen 
Byzanz auf Kiew und Moskau Hinüber, und mit dem Erwachen derfelben ſtaͤrkte ſich 
und erhöhte ſich das nationale Selbfigefühl der Auflen und das Machtbewußtſein der 
ruffifchen Großfürften. Dem Tatarenchanate war die Stunde feines Unterganges in 
Rußland beichieben. 

IV. Periode. Das ruffifhe Zarenreich als erobernder Staat; von 
Iwan Waffilfewitfh dem Großen bis zu den Romanow's. Joann ober 


(Don Iwan Wafflljantif dem Großen bis zu ben Romancw’s.) 581 


Iwan IT Waſſtljewitſch, der Große benannt, war der Befreier Rußlands vom Ta» 
tarenjoche. Zunächft flellte er Die Ordnung in Rußland wieder ber und verfühnte 
die Theilfürften unter einander und mit feiner Obergewalt.e Dann, erflarft an Muth 
und Macht, fagte er Öffentlich den Tataren den Tribut und den Gehborfam auf, und 
als Adımet Shan, der Kafaner Herr, wider ihn ſich rüftete, Fam er ihm zuvor und 
griff 1469 Kafan fo flürmifch an, daß die Stadt fi ihm fogleich ergab und Achmet 
Chan ſich feinerfeitö zu Zins verpflichten mußte. Nun wandte fi Iwan ſchnell wider 
den Breiftaat Nomgorod, der ihm die Hulbigung verweigerte, und hielt 1470 ein 
entjegliched Strafgericht über die Stadt, wobei er die berühmte Marfa Poffadniza 
gefangen nahm und die alte große Sturmglode nach Mosfau führte. 1473 ver⸗ 
mäßlte er fich mit der Tochter des Thomas Paläologus, eines Bruders des letzten 
griechiſchen Kaiferd Conſtantius Paläologus, Sophia, durch welche er Anrechte auf 
den Griechenthron berleitend, einen ſchwarzen zmeiföpfigen Adler in fein Wappen 
nahm. Er nannte fi von jeßt an VBeberrfcher von ganz Mußland. Nun wandte 
ex fih auch wider die deutfchen Ritter in Lievland, ſah fich aber, deren Macht erken⸗ 
nend, zu einem fchnellen Friedensabſchluß genöthigt. In Nowgorod nährte er ben 
Geiſt der Zmwietracht unter den Bürgern, um Gelegenheit zu gewinnen, die Mefte der 
Freiheit, die den Republifanern verblieben waren, vernichten zu fönnen. 1478 bes 
lagerte 'er und unterwarf die Stadt von Neuem, und nun brach er ihre Mechte fo 
erfolgreih, daß ſie fchnell zur Provinzialftadt berabfant. Dann eroberte er Pölom. 
- Nunmehr nahm er, nachdem feine Macht nach innen und außen befefligt war, von 
Neuem den Kampf mit Ahmet Chan auf. 1481 z0g er mit gewaltigen Streitmaffen 
wider ihn aud; der Ehan aber feinerfeitd, die imponirenden Heereskraͤfte überfchauend 
und von paniſchem Schreden erfaßt, wid nah Often zurüd, überfehritt den Ural und 
ward von ſibiriſchen Völkern überfallen. Sein ungebeueres Heer, ward beinahe aufs 
gerieben; Rußland aber fah ſich feit 1481 faft ohne Blutvergießen von der Mongo-» 
lenherrſchaft erlöft. Darauf ſchloß er ein Bündniß mit König Matthiad von Ungarn 
(1483), eroberte Twer (1485), welches er mit Nußland vereinigte, untermarf die 
Wotjaken (1487), die reichen Bergwerfe der Biarmier, in der Statthalterſchaft 
Archangel (1491), ließ von jegt ab goldene und filberne, neben fupfernen Münzen 
fihlagen und eroberte, nachdem 1492 König Kaſtmir der Große von Polen ge» 
florben und deſſen jüngerer Sohn Johann Albrecht Großherzog von Lithauen 
geworden war, im Fluge alle Städte und Landichaften Lithauens zurüd, welche 
je zu Nußland gehört Hatten (1493), worauf 1494 die völlige Abtretung derſelben 
an Rußland erfolgte. 1495 ſchloß Iwan MI. Waſſilfjewitſch einen Handelsvertrag mit 
dem türkifhen Sultan Bajazid IL, und nachdem er fi fo den Rücken gebedt, unter- 
warf er 1499 auch einen großen Theil der tranduralifchen Länder und fügte feinen 
hörigen Titeln den eined Zaren won Sibirien bei. Um auch das Gebiet von Smo« 
lensk zu erlangen, trat er in Fehde mit dem Gropfürften Alerander von Lithauen, der, 
zu ſchwach, fu gewaltigen Streitmaffen zu widerſtehen, mehrere Städte und Diftricte 
den Muffen aufopfern mußte. Da die deutfchen Ritter in Lievland den Lithauern 
Beiſtand geleiftet hatten, wollte er auch fie züchtigen und brach 1501 in Lievland ein, 
doch erledte er es zum erften Male, daß auch feiner Macht eine Grenze gezogen war. 
Zmeimal Hinter einander, an der Siriza 1501 und bei Pskow 1502, ward Iman’s 
Heer von dem Landmeifter Walther von Plettenberg total auf's Haupt gefchlagen, 
und der folge Beherrfcher von ganz Rußland fah fi zum erflen Male genötbigt, 
einen Frieden abzufchließen, der ihm nur einen Waflenflillfiand, aber keinen neuen 
Zändererwerb einbrachte. Iman war unflreitig ein großer und gemaltiger Charakter 
und kann ald der würdige Vorgänger des großen Peter angefehen werden, ber den 
erften und eigentlidden Grund zur Größe des rufflfchen Meiches gelegt hat. Er ver- 
beflerte die Geſetze, ordnete die Abgaben, hielt ſtreng auf Necht, feinen zumeilen her⸗ 
borbrechenden Jaͤhzorn und Die damit verbundene Graufamfeit glich er durch viele 
löbliche Eigenfchaften aus, die ald der Grundzug feines Wefens zu bezeichnen find. 
Dahin gehören Ordnungsfinn, Thaͤtigkeitsdrang, Gerechtigfeitöliebe und mancher andere 
dem Meiche frommende Charakterzug diefed Monarchen, ver zugleich Künfte und Wiſſen⸗ 
ſchaften beförberte, Baumeifler, Rothgießer, Silberarbeiter, Ingenieure, Bergleute 36, 








582 Aukland, (Geſchichte.) 


aus Deutichland und Itallen berief und 1475 auch ben geſchickten Architeften Ariftoteles 
aus Bologna nad Moskau kommen ließ, der Kirchen und Paläfte baute und außerdem auch 
Kanonen zu gießen und Geld zu prägen verfland. Als er am 7. Dct. 1505 zu Moskau 
farb, war das Neich ruhig, in Dauerndem Frieden und nad) innen wie außen fefl gegründet, 
Waſſilij IV. Iwanowitſch, der Sohn des Borigen und der Sophia, führte, getreu in 
die Fußflapfen feines Vaters tretend, von 1505 —1533 fein flarfed Scepter über Me 
überfommenen Länder und fügte ihnen neue, ertragreiche und die Herrichaft nach Oſten 
und Welten bin ermeiternde Hinzu. Die Macht des Kafaner Reiches brach er voll⸗ 
fommen und die legten Theile oder LehnfürftentKämer — Pskow, das fidy wieder bes 
freie Hatte, Smolensk, Rfaͤſan, Severien — verfielen dem Reiche, welches jegt nur 
einen Geſammtherrn in der Perſon des Groffürften beſaß. Durch den Frieden mit 
dem Hochmeifter Albrecht von Preußen wurde 1522 der Drjepr ald Grenzſcheide 
zwiſchen Rußland und Lithauen feflgefegt. Aber noch viel günſtigere Chancen boten 
fih der Erweiterung der Macht Rußlands unter dem Scepter Iwan's IV. ‚Waffllfes 
witſch's dar, welcher, fpäter „der Schredliche” zubenannt, 1533 den Thron zu Mose 
fau beſtieg. In feiner Minderjährigkeit regierte flatt feiner feine Mutter Helena und 
fein Oheim Michail Glinskij. Zügellos in Sitten war die Eine, aufrührerifch und 
nach der Obergewalt firebend der Andere. Als Michail Glinskij, von der nicht min» 
der herrſchſuchtigen Schmwefter geblendet, in Klofterhaft büßte, trat Andrei Glinskiz, 
fein Bruder, an des Verſtoßenen Platz; aber auch er erlag der Rache und Tüde fei- 
ner Schwefler und wurde in einen finftern Kerker geftoßen. 1537 flarb auch Helena 
ungewiffen Todes und ihr Sünftling Obolenskij verfiel der Volkörache, die ihn in 
Stücke riß. Nun drängte ſich Waſſtlij Schuisfof an das Staatdruder; aber au er 
farb plöplih, von feinem Bruder Iwan Schuidfof verdrängt. Diefem folgten, Ienen 
wieder verfcheuchend, fchnell Hinter einander die Regenten Iwan (II.) Schuisfof, Andrei 
und Feodor Schuißfof, welche fort und fort mit andern Großen des Meiches zu kaͤm⸗ 
pfen hatten, fo dap dad Schaffot in fleter IThätigkeit blieb. Die Tataren zu Kafan, 
die Tataren der Krym, die Grenzvölfer des Weftens, Polen und Lithauer — fie alle 
benugten die inneren Parteiungen und Zenrürfniffe Rußlands, und nur mit unge 
beurer Kraftanftrengung gelang es 1541 den ſich vereint zufammenfchaarenden Ruſſen, 
ih der auswärtigen Beinde zu erwehren. Aber Fur; darauf begannen Die inneren 
Fehden ärger denn je, und ein Zürft nach dem andern drängte fi zum egentenfige 
und Keiner kümmerte ſich um die Mechte des eigentlichen Thronerben. Unter fo ent» 
mutbigenden Umfländen war Iwan (IV.) Wafflljewitfh zum Knaben berangereift und 
batte in der Stille feing Kraft erprobt und feinen Herrſcherſinn ermeſſen. 14 Jahre 
alt, ergriff er 1545 die Zügel der Regierung ſelbſt mit einer Energie und einem 
Vollmuthe, vor dem kein Widerſpruch Stand hielt. Sein erſtes Werk war die Er⸗ 
richtung einer ſtehenden Leibwache, der nachmals fo herüchtigten Soldateöfa der Strjelzy 
oder Streligen. Dann wandte er feine Augen oſtwärts nah Kajan, wo Chan Mus 
hammed Indiger ihm den Tribut und Gehorſam verweigert batte. 1552 eroberte er 
Kafan, ließ fämmtliche Einwohner niedermegeln, führte den Chan in. einem Käfig nach 
Mosfau und flürmte weiter oſtwärts nach Aſtrachan, welches Ehanat er 1554 jäh⸗ 
ling mit feinen kriegs⸗ und beutelufligen Heerfchaaren unterwarf, morauf er fih nun 
auch Zar von Aſtrachan nannte. Minder glüdlli waren feine Feldzüge im Weſten, 
wo er Eſthland, meldyes fih an Schweden ergab, und Lievland, wo die deutſchen 
Mitter unter Gotthard Ketteler fi mit den Polen und Dänen verbanden, nicht zu 
erobern vermochte und fih 1561 zu einem Waffenftillkand veranlaßt ſah. Inzwifchen 
batte er fi nach außen bin durch einen Handeldtractat mit der Königin Eliſabeth 
von England und nad innen durch den Erlaß des berühmten Sfubobnif oder Civil- 
gefegbuches (vgl. Ruſſiſches Recht) Hohes Anfehen erworben. Der Tod feiner dur 
Sanftmuth und Klugheit glei ausgezeichneten Gemahlin Anaftafla (1562) wirfte jo 
erfchütternd auf ihn ein, daß er fih auf eine Zeit lang in die Einjamfeit zurückzog 
und dem inzwifchen zum Ghriftenthun übergetretenen Kajaner Chan Indiger, nun⸗ 
mehr Simeon, die Zügel der Herrſchaft überließ. Als aber die Tataren von Aftrachan 
vom Oſten und die Türken Konfltantinopel® vom Süden her in feine Orenzlaude ein» 
drangen, ermannte er fich in feinem Schmerze, trat urplöglih aus der Einſamkeit 


(Den Iwan Waſſiljewitſch dem Großen bis zu ben Romansw’s.) 583 


hervor und trieb bie Feinde fchnell zu Paaren. 1564 eroberte er Polozk, führte 
einen neuen flegreichen Zug wider Lievland, ſchloß einen Waffenflillfiand mit Polen 
(1567), ein Bündnig mit König Erich von Schweden (1568) und einen Vertrag mit 
dem Perſerſchah (1569) wider die Türken; ja englifhe Autoren haben ein Document 
aufgefunden, auf Grund deffen ihm die Königin Eltfaberb eine freundliche Aufnahme 
in England zuficherte für den Ball, daß Außere ober Innere Feinde ibn zu Bart bes 
drängt hätten. Zu wahrhaft gräßlicher Mache reizte ihn der laͤngſt feines Republi- 
kanismus entfleidete Staat am Ifmenfee, welden er aus bloßer Erinnerung feiner 
freien Bergangenheit Hate; im Jahre 1570 bot ihm eine geringfügige Veranlaffung 
Grund, mit einem zahlreichen Heere Nowgorod einzufchliegen und zu erobern; 60,000 
Menichen wurden dabei niebergehauen, erwürgt, verbrannt oder in den Wolchow ge⸗ 
worfen. Dagegen rafften die Tataren ihre legte Lebenskraft auf und rüfteten fich zu 
einem Rachezuge wider den Zarenfig. Der Kreml ward zertrümmert und 100,000 
Männer gld Sclaven nad Aftrachan gefchleppt, von mo aus der Einfall in's Innere 
Rußlands ſich 1572 erneuerte, wo aber Iwan IV. Waſſiljewitſch den Heiden ent» 
gegentrat und durch die Weltfchlacht bei Molody die aſtrachaniſche Macht auf's Neue 
zertrümmerte. Das den Muffen ſchon bekannte Sibirien wurde 1578 durch den Kofafen« 
Hetman Iermal Timofefew der ruffifhen Herrfchaft bis nach Tobolék und bis In bie 
Iſchymſche Steppe Hin erfchloffen, und der Obergewalt des mongollfchen Chan Kuts 
ſchum⸗Chan ein jähes Ende bereitet. 1584 flarb Iwan IV. Waſſiljewitſch, und ber 
ſchwache Beodor I. Imanowitih folgte ihm. Deſſen Untauglichkeit zur Serrfchaft 
ſchmerzlich erfennend, hatte fchon der flerbende Vater ihm einen Negentfchaftsrath, bes 
ſtehend aus 4 Bojaren (Schuiskoi, Mitawskoi, Bjelsfoi und Jurgiew) und 27 ans 
deren Mitgliedern, beigeordnet. Bald verbrängte die unter ſich uneins gewordenen 
Bojaren der Schwager ded Zar, Boris Godunow, indem er fi ſelbſt der Staats⸗ 
gewalt bemächtigte, die er feit 1588, zwar im Namen des Zaren Feodor, doch dem 
wahren. Sadverbalt- nach felbfifländig führte, wobei er fämmiliche zarifche Verwandte 
heimlich oder offen umbringen ließ, um die Zarengewalt an fh und fein Haus zu 
bringen. Dabei wur Borid Godunow's Megiment nah außen bin glüdbringend für 
dad Reich und Rußland Hatte ihm unter anderem bie Golonifation Sibiriens, den 
Abfchluß eines neuen Handelsvertrags mit England, einen Frieden mit Schweren 
(wodurch nur Efthland den Schweden verblieb, Ingermanland aber an Rußland fiel) 
und einen andern mit den Tataren zu danken, wodurch das Reich fich erweiterte und 
die Grenzlaͤnder parificirt wurden. Im Jahre 1598 farb Feodor I. auf verbächtige 
Weiſe und mit ihm erlofh Rurik's Dynaftie im Mannsſtamme, nachdem biefelbe 736 
Jahre über Rußland gebherricht Hatte. Nun ſaß Boris Godunow allein auf dem 
Thron. Alsbald nah dem Megierungsantritt fchloß er einen Bund mit Schweben 
gegen Polen, baute Bereſow im Oſten, befefligte Smolenst im Welten, um die Gren⸗ 
zen zu fichern, und ſchloß 1600 auch mit Polen einen 20 jährigen Waffenfillftand. Er 
320g dem Handel neue ermeiterte Kreife, ermunterte Die Gewerbthaͤtigkeit, unterflügte bie 
Wiffenschaften und Künfte, firebte dad) Verbreitung nüglicher Kenntniffe, zog deshalb 
viele Ausländer in's Land und bielt im Innern auch auf firenge, unpartelijche Nechtd« 
pflege. Allmaͤhlich befreundeten ſich Alle mit feinem Regiment und feine Gewalt 
fhien gefihert. Da brach 1601 jene Hungersnoth im Meiche aus, welche in Moskau 
allein gegen 130,000 Menſchen Hinraffte und Schreden und Berwirrung verbreiteten 
fih durch ganz Rußland. Diefe benupten mehrere Betrüger, die unter dem Namen 
der falſchen Dimitrif's (Pfeudodimitrif’$) bekannt find, und Die als vermeinte Söhne 
des Zaren Feodor nach der Herrfchaft firebten, wobei fie bald von rufflicgen Parteien, 
bald von polnifcher Seite her Unterflüßung und Anhang fanden. Der berühmtefte 
und für Boris Godunow gefährlichfle war der Mönch Otrepiew, der aus einen Klofter 
entfprungen, nad Polen geflüchtet war und fi dort mit der berrfchfüchtigen Marina, 
der Tochter des Palatins von Sendomir Mifchel, vermählt hatte, wobei der Fürft 
Adam Wichnewetöfy, und Insgeheim aud der König von Polen, Sigismund, bie 
Sochfliegenden Pläne jenes PBjeudodimitrif unterflüßte, um ſelbſt zulegt Einfluß auf 
das ruſſiſche Zarenthum zu gewinnen. 1604 fand Ötrepiew bei Nowgorod in Ruß⸗ 
land mit einem anſehnlichen Rebellenheere den zariihen Truppen gegenüber und ber 





584 Rußland. (Geſchichte. Die erfien Romanom’s bis auf Peter d. &r.) 


erfochtene Sieg förderte feine Sache dergeftalt, daß feine Truppen fi unanfhaltfam 
wider Moskau beranmälzten und immer neuen Anhang gewannen, trotzdem die zarifchen 
Feldherren 1605 auch einmal einen tüchtigen Steg über ihn erfochten. Zuletzt ſah ſich 
Boris Godunow auf wenige Getreue im Kreml von Moskau ifolirt und er ging der 
Entſcheidung, wie e8 ſcheint, freimillig aus dem Wege. Seine Gemahlin, Maria, und 
fein junger Sohn, weldyer zwar von einigen noch ald Zar audgerufen wurde, unter 
dem Namen Beodor II., erlagen bald der blutigen Gewalt des vordringenden Dimitrif, 
dem ganz Moskau zulegt zufjubelnd die Thore öffnete und deſſen erſte That — die 
Einferkerung und Erbroffelung der zarifhen Familie war. Aber au über ihm 
fchmwebte ſchon das Machefchwert. Seine Begünftigung der polnischen Fraction, deren 
Unterflügung er feine Erhebung verdankte, feine Verlegung der ruſſiſchen National 
braͤuche und feine Grauſamkeit gegen die Bofaren, in denen er feine natürlichen Feinde, 
die feine Abſtammung durchſchauen möchten, fürchtete, führten ſehr bald eine Ver⸗ 
ſchwörung berbei, welche von Waſſtlij Schuidfoi geleitet wurde und in Folge deren 
der falſche Dimitrif zu Mosfau am 17. Mai 1606 ermordet ward. Die ganze polni- 
ſche Braction erlag der Volksrache, Marina und ihr Vater entfamen mit Mühe und 
Noth und flüchteten fi nach "Polen zurüid. Waſſtlij Sculsfoi wurde hierauf ale 
Waſſtlij V. auf den Thron gehoben. Diejer Eonnte indeß, aller Herrſchertugenden 
baar, gegen die übrigen Pfeudodimitrifs, deren noch 4 der Reihe nach auftraten, fi 
nur kurze Zeit behaupten, wurde bei einer Belagerung Moskau's feitens der Polen 
von den durch Hungersnoth gepeinigten Einwohnern 1610 felbft den Feinden aus⸗ 
geliefert und in ein Kloſter gefperrt, während der Sohn des Königs Sigismund NIT. 
von Polen, Prinz Wladislam, zum Zaren audgerufen ward, der aber bald ebenfalls 
großes Mifvergnügen erregte, da er Rußland nicht wie ein Mei von Unterthanen, 
fondern wie eine eroberte Brovinz betrachtete. Seine Nichtachtung der altehrwürdigen 
Bräuche der griechifchen Religion führte zulegt yu offenem Aufſtande der Nation, 
Schon 1611 fammelte der Bürger Niſhnij Nowgorod's, Kosma Minin, ein zahl- 
reiches und gut bewaffnetes Heer, worüber der Fürft Dimitrif Posharsfif den Befehl 
übernahm, und In Perefaslaml brachte Prokop Lipenow eine zweite Armee zufammen. 
Beide vereint griffen Modfau an: die Polen in der Stadt, weldye wohl fahen, daß 
es das Aeußerſte gelte, fuchten durch eine eingeführte Schredenäherrichaft zu imponie 
ren, zündeten Modfau an fünf Eden an, und ließen jeden, der des Einverfländnifjes 
mit der DBelagerungdarmee verdächtig war, über die Klinge fpringen. Ginzelne, die 
entfommen waren, breiteten die Schredendfunde mit noch grelleren Farben aus, die 
Wuth der Belagerer flieg aufs Höchſte, und als Moskau fiel, wurden die in der 
Stadt befindlihen Polen von den flürmenden Ruſſen In Stüde geriffen. Auch gegen 
die übrigen, feit Jahren im ruſſiſchen Reiche angefledelten Polen richtete fich die 
Volkswuth und bis zum Jahre 1612 waren fümmtlihe Polen Rußlands aufgerieben 
oder aus dem Lande verjagt. Aber Rußland felbft glich einer Brandflätte und Einöde, 
und es fehlte an einem gefeglichen Oberhaupte, der das Staatsfchiff durch die Stürme 
der Zeit Ienfte. Eine Zarmahl, welche am 21. Febr. 1613 flattfand, Hatte, nachdem 
die Bojaren lange zwifchen den verfchiedenen vorgefchlagenen Throncandidaten bins 
und bergefchwanft, daB Ergebniß, daß Michail Feodorowitſch Romanow, ein Sohn 
des Bojaren Feodor Nikitiſch Romanow, des nachmaligen Patriarchen Philaret 
(ſ. d. A.), ein Defcendent Rurik's aus der weiblichen Linie, zum Herrſcher ausgerufen 
ward. So gelangte das Haus Romanow auf den ruſſtiſchen Zarenthron. 

V. Beriode. Die erfien Romanows bis auf Peter den Großen, 
als den Gründer des Kaiferkaats Rußland. Die Auffen hatten fi in 
der Wahl nicht geirrt: der neue Zar entwidelte bald die glänzendften Herrſcher⸗ 
Tugenden. Obwohl bei feiner Thronbefleigung faum 17 Jahre alt und von feiner 
Mutter zu Koftroma fill und Flöfterlich erzogen, begriff er die Pflichten feines hoben 
Amtes fehr wohl und ließ die geiftige und fittlihe Aufklärung ſeines Volkes feine 
erfte und vornehmfte Sorge fein. Deshalb zog er viele Ausländer in dad Reich, ine 
dem er ihnen, damit e8 ihnen in der neuen Heimath mwohlgefalfe, viele Privilegien 
gab, und begünfligte Künfte und Wiffenfchaften, die Literatur und das Bücher» 
"efen. Eine weitere Sorge des edlen und umfichtigen Zaren war die Entwidelung 


— — — —— 


— 


(Reume Geſchichte R.“s ſelt Peter dem Großen.) 585 


des Handels und Gewerbeflandes. Mit der Türkei ſchloß er einen Handels⸗ und 


Friedens « Tractat, mit Berflen regelte er den Grenz» und KRaravanen » Verkehr, nach 
Ghina ſchickte er die erſte ordentliche Geſandtſchaft. Nachdem er Rußland fo im 
Innern ausgebaut und aller Orten neue Infliturionen gefchaffen Hatte, war die Er⸗ 
weiterung des Meiches nach außen bin feine weitere Sorge. . Mit den Schweden 
kaͤmpfend, erhielt er 1617 durch den Prieden von Stolbowa Nomwgorod und die Per⸗ 
tinenzien zurüd, welche jene, die Zeit früherer Wirren benugend, an ſich geriffen Hatten. 
Dafür ließ er ihnen Ingermanland und Karelien, welche Länder fpäter der große Peter 
wieder dem Reiche zurüderwarb. An die Polen gab er 1618 im Frieden zu Dewi⸗ 
lina Sewerien, Tſchernigow und Smolensk zurüd, erwarb dafür aber eine Menge 
neuer Pofltionen im Süden und Weften, die er befefligte und zu Bollwerken erſten 
Ranges wider die Macht der Kofafen, Polen und Lithauer erhob. 1632 zog er auf's 


Neue mit 100,000 Bann gegen die Polen in's Feld, verlaffen aber von den Schwe- 


den, deren Beiftand ihm verheißen worden war, beftätigte er 1634 im Frieden zu 
Wijasma die früheren Abtretungen, entfagte auch den Mechten auf Liev⸗, Eſth⸗ und 
Kurland, zwang aber auch Polen zur Verzichtleiftung auf den zarifchen Thron. Nach 
Großdritannien und nach Frankreich an Ludwig XII. fchidte er glänzende Ambaffaden 
und flößte dem Wellen Achtung vor den zufflfchen Namen ein. So flarb er im 
Sabre 1645 nad einer thätigen, tactvolfen uud flaatöflugen Megierung zu Mogkau. 
Nicht minder tüchtig war die Megierung feines Sohnes und Nachfolgers Alexei 
Michailowitſch, welcher, kaum funfzehn Jahre alt, zur Alleinherrſchaft gelangte. 
Er war ein weitſehender Fürſt mit gebildetem Geiſte und vielumfaffenden Kennt- 
niffen. Wichtig ward er befonders für fein Bolt als Geſetzgeber, indem er alle 
älteren Geſetze fammeln ließ und daraus die fogenannte Uloshenije (vergl. den Artikel 
Auffiihes Recht) zuſammenſtellte. Auch als Förderer der Induſtrie hat fein Name 
einen guten Klang für Rußland. Er legte die erflen großen Selden- und Leinen- 
Ranufarturen an durch Branzofen, Holländer und Schleſter. Aus England und 
Holland berief er geſchickte Schiffbaumeifter und Tief die erflen großen Serfahrten von 
Rußland aus unternehmen. Die Entdedung der großen Meeresenge, welche Aflen und 
Amerika fcheidet, war eine Folge davon. Feind jeder Mevolution, nahm er den Eng⸗ 
ländern in Rußland ihre Privilegien wieder ab, ald die Nachricht von Karl's I. Ent⸗ 
hauptung und von der Erhebung des Ufurpators Erommell an fein Ohr traf. Nach 
Spanien entfandte er die erfte prachtvolle Ambaffade. Nunmehr marf er das Auge 
au auf das Nahbarland Polen, dem er mit Hülfe fremdländifcher Offiziere, die 
feine Armee gefehult hatten, eine Menge wichtiger Städte, wie Kiew, Tfchernigom, 
Smolensk u. f. w., wieder abnahm, worauf er zu feinen übrigen Titeln den eines 
Zars von Klein- und Weiß⸗Rußland Hinzufügte 31 Jahre lang führte der Zweite 
der Romanow's das Scepter. 1676, wo er flarb, umftanden fein Todeslager 5 Kin- 


der: Feodor, Iman und Sophia, die Sprößlinge Alerei’d aus feiner erften Ehe mit 


einer geborenen Miloſlawskij, .und ferner Peter und Natalia, Alexei's Sprößlinge 
aus feiner zweiten Berbindung mit einer geborenen Naryſchkin. Feodor III. 
Alexejewitſch beſtieg zunächfl den Thron. - Schwad und hektiſch trat er die Herrfchaft 
an, die er nicht lange, doch in Anbetracht der Eörperlichen Leiden mit feltenem Geift 
und Geſchick führte. Er. verbrannte auf den Math des welfen Fürfien Golizyn die 
alten Dienflliften der Edelleute und vernichtete dadurch alle Mangflreitigkeiten beim 
Geburtsadel, indem er. erflärte, daß man von nun an nicht mehr wegen der Hohelt 
der Geburt, fondern nur wegen eigener Berdienfte ausgezeichnete Ehrenftellen erhalten 
würde. Feodor liebte auch die Belchrfamkelt, die Künfte und die Wiffenfchaften, trieb 
Muſik, lad eifrig und gründete zu Moskau im Klofter Spasfif das erfle Gymnaſium. 
Er flarb 1682 "kinderlos. Auf feinem Sterbebette erklärte er feinen füngften Bruder 
Beter Alexefewitfch, an welchem er vorzügliche Beifledgaben und einen Großfinn wahr- 
genommen hatte, der dem blödfinnigen Iwan fehlte, zu feinem Nachfolger. Weber bie 
erfien Regierungsjahre Peters, bis er 1696 als. Alleinderrfcher die Regierung an⸗ 
trat, ſiehe den Artikel Peter der Große. 

VI. Neuere Geſchichte R.'s feit Beter dem Großen. Um Wieder 
holungen zu vermeiden, die nothwendig entfliehen müßten, wenn mir von ben ſchon bes 


586 Rußland. (Geſchichte.) 


ſonders behandelten ruſſiſchen Herrſchern und Herrſcherinnen aus der Neuzeit längere 
oder Fürzere biographifche Skizzen beibringen wollten, begnügen wir und damit, nur eine 
Ueberficht der Friedensſchlüſſe, des Ganges der Diplomatie und der territorialen und 
polltifhen Zunahme R.'s in diefem Zeitraume zu geben. Peter ber Große ift als bey 
eigentlihe Schöpfer und Begründer der regulären Militaͤrmacht R.'s zu bezeichnen, die 
er nach Unterdrückung des rulflihen Prätorianerthums — der Streligen — in glän» 
gender, den Forderungen der Neuzeit entfprechender Weife entwidelte. Ebenſo iſt er 
der Schöpfer der ruſſiſchen Seemacht, zu deren Ausbau er kaum eine Keimibee, die 
ihm zur Folie Hätte dienen können, vorfand: denn die Anläufe, welche fein Vater, 
der Zar Aleset, zu marltimen Schöpfungen genommen batte, waren durchweg als 
mangelhaft und unfruchtbar zu bezeichnen. Durch die Aufhebung des Patriarchats, 
wodurch er den hierarchiſchen Gelüften des ruffifch:griechtfchen Klerus ein Ziel fledte, 
und durch die Begründung ded Synodalſyſtems, wodurch er die confeflionellen Bes 
ziehbungen der Landeskirche regelte, ferner Durch Die Reorganiſation des Senats, welche 
einer Neuſchopfung deſſelben gleihfam, fo wie durch feine Gefeßgebungen im Intereffe 
der Schifffahrt, des Binnenverkehrs, des Unterrichts, der Mechtöpflege (vgl. den Art. 
Auffihes Hecht), der Wiſſenſchaft und der Kunſt, endlich durch die Heranziehung 
vieler Künftler, Gelehrten und Induftrielfen, wodurd er nicht nur das Ausland für 
R., fondern au R. dem Auslande, feinen Gulturfigen und feinen Geldmaͤrkten eröffnete, 
hat Peter der Große, die Aufgaben feines hohen Herrſcheramtes und den Genius ber Zeit 
erfennend und würdigend, unabläfflg reiche Segnungen über fein Volk zu verbreiten gewußt. 
Peter der Große war es ferner, der die Anerkennung R.'s als eines europälfchen 
Machtſtaates, den zunaͤchſt die angrenzenden Reiche, wie im Oſten und Süden Perſten 
und die Türkei, im Norden und Weſten Schweden, Polen und dad deutſche Reich 
wohl zu tefpectiren hatten, zu feiner Lebensaufgabe machte, bie er fleghaft durchfocht 
und der die Erweiterung feine® Staates fi vom Anbeginn feiner Regierung an biß 
zum Ende derfelben auf's Erfolgreichfte angelegen fein ließ. Durch den Aufbau ber 
nach ibm benannten neuen nordiichen Haupt und Reſidenzſtadt St. Peteröburg ver⸗ 
legte er den politischen Schwerpunft des Reiches vom centralen R. nach dem finnifchen 
Golf und machte fi zum Kerricher der Oſtſee, deren Hauptverkehr die neubegründete 
ruſſiſche Handeläflotte unter dem Schutze der ebenfalls erſt geichaffenen, wohlorgani« 
firten und mit tüchtigem Kriegämaterial armirten Kriegöflotte an fih riß. Die bier 
fich etablirende ruſſiſche Seemacht war eine glorreihe Errungenſchaft der mis der 
ſchwediſchen Mivalität geführten langjährigen Kämpfe. Der am 10. September 1721 
zwifhen R. und Schweden gefchloffene Nyftädter Frieden, welcher den blutigen, 
21 Jahre hindurch geführten nordifchen Krieg beendete, ficherte Peter den Großen 
nicht nur im Beflge von Ingermanland, auf deſſen Territorium die neue Metropole 
des Reiches und die fle fchügenden Feſtungswerke fi auferbaut Hatten, fondern über⸗ 
gab ihm auch die Herrfchaft über Karelien, mit der Hauptflabt Wiborg, fo wie die 
wichtigen Ofifeeflaaten Lieve und Eſthland, während er Anfprüche R.'s auf Kurland 
durch eine Vermählung feiner Nichte Anna, einer Tochter feined Halbbruders Iwan, 
mit Herzog Friedrich Wilhelm von Kurland ebenfalls ſchon angebahnt hatte. Die 
orientalifhen Kriege, welche Beter der Große mit nicht geringem Kraftaufwand noch 
in den leuten Jahren feines Lebens mit Perſten geführt hatte, waren von ihm zu dem 
Zwecke unternommen worden, um die Serrfchaft über den aflatifchen Handel dem 
ruſſiſchen Reiche zu ſichern und ganz Gentralaften feinem Scepter fügfam zu machen. 
Der Friede zu Derbent vom 12. September 1723, mit dem Schab von Perſiten 
geſchloſſen, welchen auch die hohe Pforte durch einen Separatvertrag vom 8. Juli 1724 
aeceptirte, überlieferte Peter dem Großen die ganze meftliche Seite des Caspiſchen 
Meeres mit Einfchlug der wichtigen See- und Handelsſtädte Bafu und Derbent und 
fegte Ihn fogar in Beflg der fruchtbaren und reichen Provinzen Shilan, Mafenderan 
und Afterabad, welche unter feinen Nachfolgern wieder aufgegeben wurden und fchon 
feit NRifolaus I. auf's Cifrigke wieder angeflrebt worden find. So dehnte Peter’s 
des Großen Herrfchaft Hei feinem am 8. Februar 1725 erfolgten Ableben von Inner» 
aften bis an das Baltifche Meer fi aus. Kurz, unfelbiifländig und an fich unbedeutend 
var die Regierung der unmittelbaren Nachfolgerin Beter'$ des Großen, der Erſten Katha⸗ 


(Neuere Geſchichte R.'s feit Peter dem Großen.) 587 


sina, welche als die Bemahlin Peter's mit Uebergehung der übrigen, theilmeis mit größeren 
Anfprücen verfehenen Kronprätendenten, im Jahre 1725 eigenmäcdhtig den Thron R.'a 
beflieg und denfelben fchwerlich würde behauptet Haben, wenn ihr nit Menſchikow 
(ſ. d.) und Theophanes, der Erzbifhof von Pokow, ald Stügen zur Seite geflanden 
hätten. Letzterer verlieh ihr durch feierliche Salbung und Krönung zugleih beim Bolfe 
den Nimbus der flaatörechtlichen Autorität. Während der zwei Jahre, wo fle unter 
der Aegide der gebachten Meichögroßen auf. dem Throne faß, wurden übrigend die 
leitenden Ideen der Herrſchaft Peter's des Großen und feine Staatöziele unverrädt 
feftgebalten, daher denn auch am 6. Auguft 1726 ein Schutz- und Trugbündnif mit 
Defterreih und Spanien, furz darauf ein Vertrag mit Schweden gegen Dänemarf 
und am 10. Auguft deſſelben Jahres ein Bündniß mis Preußen gegen Polen, weil 
der dortige König, Churfürſt von Sachſen, Auguft IL, Kurland feinem natürlichen 
Sohne, dem Grafen Morig von Sachſen, zumenden wollte, rufflfcherfeits abgeichloffen 
ward. Einen nicht unbedeutenden Antheil an der damaligen Politif R.'s Hatte auch 
der Herzog Karl Friedrich von Holfiein» Bottorp, der in intimen Verhältnifſen zur 
Kaiferin fand und jedenfalld den Uebergriffen der Gewalt des Homo novus, Menſchi⸗ 
kow, wohlttbuend die Spitze abbrach, wie er auch durch feinen Einfluß auf die Mon- 
archin die hierarchiſchen Gelüſte, welche fich ſchon wieder mit der Mehabilitation des 
Patriarchats beichäftigten, erfolgreich niederbielt. Peter II. (f. d. Art.), der 13jähr 
sige Sohn des bingerichteten Alexei, der nach ihrem, am 17. Mai 1727 erfolgten 
Ableben, zufolge ihres Teſtaments, den rufflihen Thron beflieg, Hatte tüchtige Feld⸗ 
herren, wie ben Reichſskanzler Oſtermann und den Feldmarſchall Münnich, welche Die 
Machtſtellung R.'s gegen den Wellen aufrecht zu erhalten verflanden, wogegen in 
einem, 1727 übereilt und durchaus ohne Grund zu Maimatſchin abgeſchloſſenen 
Grenzvertrage mit China von Seiten des Pelinger Hofes auch eine Clauſel ein⸗ 
geihoben ward, welde die Müdgabe der von Peter dem Großen erober« 
ten Provinzen an Berflen bedingte. Peter I. farb bereitd am 19. Januar 
1730 zu Moskau, wohin: er den Hofflg zurüdverlegt Hatte, und eröffnete, 
nah dem Erlöfhen des Haufes Romanow im Mannsſtamme, der weib⸗ 
len Romanow'fhen Defeendenz die Anrechte auf den ruffifhen Kaiſerthron. 
Anfangs batte ed fcheinen wollen, als ob bei den mangelhaften Thronfolgegefepen, 
welche in R. beflanden, dad Haus Romanow nah dem Erlöfhen feines Mannes⸗ 
Bammesd völlig von der Krone ausgeſchloſſen werden würde. Die Abficht des Fürften 
Dolgorufif war zunächfl- dahin gegangen, feine Schwefter Katharina, als die Braut 
Peter’8 II, auf den rufflfchen Kaiſerthron zu erheben, weil fi ihm dadurch die Aus⸗ 
fiht zur uneingefchränften Selbſtherrſchaft aufſchloß. Doc fcheiterte fein Vorhaben 
und Anna, die Tochter Iwan's, des Halbbruders Peter’s des Großen, Wittwe des 
inzwifchen verfiorbenen Herzogs Briebrih Wilhelm von KRurland, wurde durch den 
Einfluß des Senats und der Geiftlichkeit Eurze Zelt nach dem Hintritt des legten 
Romanow's auf den rufflfchen Thron gehoben und zur Kaiferin gekrönt. Die ihr 
vom Senat octroyirte Wahlcapitulation, wonad file ohne den Willen defielben weder 
Krieg noch Frieden fchließen, Teine Auflagen ausichreiben, Peine Krongüter veräußern, 
feine Bütereinziehungen verfügen, feinen Ehebund eingehen und Eeine Beflimmungen 
in Betreff eined Thronfolgerd treffen follte, unterzeichnete fle ebenfo willig, wie ein 
anderes ihr abgezwungene® Deeret, welches die Verbannung ihres Günfllings Biron 
vom Hofe verfügte; kaum indeß zur Herrfchaft gelangt, nahm fie Alles zurück und 
beiraute Biron mit der Leitung der Staatögrfchäfte und der vollen Regierungsgewalt. 
Sibirien foll zu diefer Zeit um 20,000 Adlige, welde der Rache Biron's verfielen, 
bereichert worden fein, dorthin wanderten auch fämmtliche Dolgorufif’s, die Braut des 
vorigen Kaiferd ward in Klofterhaft gebracht und Biron beberrfchte das Neih und 
die Kaiferin. Einer der Eügflen Gedanken dieſes Machthabers war, daß er In Erfennte 
niß feiner Nichtbefähigung zu politifchen Actionen den tapferen Oftermann mit ber 
Leitung der auswärtigen Angelegenheiten und Münnich mit der Leitung des Kriegs⸗ 
minifleriums und der Kriegdoperationen betraut. Auch gefaltete fich die damalige 
europäliche Situation für Die weitere Machtentfaltung R.'s fehr günſtig. Schon 1732 
gelang es bes Kalferin, mit dem berühmten Nadir Schab, dem Beherrſcher Berflene, 


588 Rußland. Geſchichte. ) 


ein Schutz⸗ und Truhbundniß gegen die Türken abzuſchließen, in Folge deſſen die der 
Pforte damals untergeordneten frymfchen Tataren von ihren Raubeinfällen in R. 
zurüdgehalten wurden. Die Erledigung des polntichen Thrones im Jahre 1733 bot 
der Kaiferin eine willkommene Gelegenheit, ihr Anſehen in Polen zu Heben und ihren 
Einfluß auf den Act der Königswahl zu befeſtigen. Die blutigen Reichſtage von 
1733 6i8 1736, welche die Unzufriedenheit in Polen vermehrten und fene Bürger⸗ 
friege hervorriefen, welche den Verfall des Reiches nach fich zogen, waren zum großen 
Theil eine Bolge der fremden Einmifhungen auf die inneren Angelegenheiten Polens, 
da gleichzeitig franzoͤſiſche und ruffliche Truppen die polnifche Wahlurne umftanden. 
Frankreich unterflügte auf's Lebbaftefte die Wiederwahl Stanislaw Leszezynski's, R. 
die Wahl Auguſt's IIE, des Sohnes Auguſt's II., Kurfürften von Sachſen, der 
ſchließlich durch. die Bräponderanz der rufflichen Heereßmaffen ermählt, auf den Thron 
gehoben und als König unterflügt ward, wogegen er, wie nicht anders zu erwarten 
war, dem Einfluffe R's ergeben blieb. Die Kaiferin hatte dadurch zweierlei gemonnen, 
einen Verbündeten auf dem polnifchen Throne, fo daß dreißig Jahre hindurch (1733 
His 1763) während der ganzen Negierungsperiode Auguſt's III. Polen dem ruffifchen 
Willen feinen Widerfland entgegenftellte, und einen Freund an Oeſterreich, dem es 
durch Hintertreibung der Wahl Stanislam Lesgzezynski's, indem dadurch Frankreich 
eine Demüthigung erlitt, einen weſentlichen Dienft -erwiefen Hatte. In den Wiener 
Friedendpräliminarien 1735, weldye den polnifchen Erbfolgeftreit durch die foͤrmliche 
Verzichtleiftung Leszezynski's auf den Thron Polens bekanntermaßen endeten, verbanden 
ſich R. und Oeſterreich noch weiterhin durch eine Stipulation, in Folge deren die 
Kaiferin Anna fich andeifchig machte, den Kaiſer von Deutfchland in feinem Kriege 
mit der hoben Pforte auf eine eclatante Weife zu unterflügen. 1736 fiel Münnic 
mit großer Heeresmacht “in die Krym ein und eroberte Afow, 1737 Oczakow, Choczim 
und die ganze Moldau, ſiegte 1739 bei Stamutfchane über den Seraskier und ſchloß 
1740 den ®rieden von Belgrad, wonach Afom, deffen Wälle zwar gefchleift werden 
mußten, bei R. verblieb und noch einige andere Vortheile errungen wurben, während 
noch größere hätten erzielt werden können, wenn nicht die wieder ermachende Eiferfucht 
Defterreich8 ſolches vereitelt hätte. _ So murden auch die Auffen einfimeilen noch von 
der Schifffahrt auf den pontifchen Bemwäflern ferngebalten. Die Beziehungen R.'s zu 
Preußen blieben während der Megierung der Kaiferin Anna dbiefelben freundlichen, 
welche fle feit Peter dem Broßen unausgeſetzt geweien waren, fa fle ſchienen an In— 


" timität zuzunehmen, als daB Verhältnig mit Defterreich, in Folge des zulegt erwähnten 


peremtorifchen Auftreten® diefer Macht im Belgrader Frieden, fidy notwendig Todern mußte. 
Obgleih die Kaiferin Anna ihre Nichte, die Herzogin Anna von Braunfchweig, 
aboptirt und ihr die Thronfolge zugeflchert hatte, fo erklärte fle doch, unter dem Ein⸗ 
fluffe Biron's deren 1740 gebornen Sohn Iman zum Nachfolger und für den Kal, 
daß derſelbe minderjährig zur Regierung kommen follte, Biron ſelbſt zum Reichs⸗ 
tegenten — ein Fall, der alsbald eintrat, da Anna bereitd am 28. October 1740 ſtarb. 
Sofort ergriff Biron die Zügel der Herrfchaft, hielt fie aber fo firaff In Händen, daß 
viele Großmwürdenträger des Reiches und felbft die Eltern des Kaifers ſich verlegt 
fühlten, zu deren Gunften Münnich und Manſtein einen Auffland erregten, der die 
Befangennahme des Ufurpators und feine Abführung nah Schlüffelburg (18. Novem⸗ 
ber 1740) zur Folge hatte. Jetzt wurde die Herzogin Anna zur Megentin im Nas 
men ihres Sohnes erflärt, Biron, über den urfprüngficy dad Todesurtheil audgefprochen 
worden war, nad Sibirien verbannt, Herzog Ulrich mit dem Oberbefehl über Heer 
und Flotte betraut, Graf Münnich, der urfprünglich jenen Poften inne gehabt, durch 
Ernennung zum erften Miniſter entichädigt, und andere Veränderungen eingeführt, die 
ihrerfeitd manches Gute haben mochten, doch auch zu Mivalitäten führten, weldhe Die 
Hin und ber fehmanfende Megentin nicht nieberzubalten vermochte. So fah fte ſich 
felbft Hald genug zur Entfegung Münnich's gedrängt, Indem der beleidigte Reichskanzler 
Dfermann um deſſen hohen Poften buhlte. Sehr bald trat auch eine Veränderung 
in der ausmärtigen Politik R.'s ein. Wir haben bereits ermähnt, daß feit Peter 
dem Großen MR. fletd auf Seiten Preußens geflanden, und daß auch die Kaiferin Anna 
dieſes Syſtem feftgehalten hatte. Kaum aber war die Herzogin Anna zur Regent» 


(Neuere Geſchicht⸗ N. fett Peter dem Großen.) 589 


ſchaft gelangt, fa mußte ber äferreichifche Gefandte Hei Gelegenheit ber Streitigkeiten 
über die pragmatifche Sanction e8 zu bewirken, daß R. ſich mehr zu Defterreich hin⸗ 
neigte. Der im Jahre 1741 zwifchen MR. und Schweden außbrecdhende Krieg, den bie 
franzöftfche Politik gefchidt zu veranlaffen gewußt hatte, hinderte die Megentin gleich“ 
wohl an einer thätigen Mitwirkung im Intereffe Oeſterrelchs, und bald darauf mußte, 
auf Grund ber profectirten Bermählung Elifabeth’8, der Tochter Peter's des Großen 
aus zweiter Ehe, mit dem Prinzen Ludwig von Braunfchweig, dem Bruder Anton 
Ulrich's, wozu die Regentin jene Fürſtin nöthigen wollte, indem fie ihr Kurland ale 
Mitgift verhieß, ein franzöflfcher Intrigant K’Eftocq, Kelbarzt der Prinzeffin Eliſabeth, 
im Einverſtändniß mit dem franzöſiſchen Gefandten zu St. Petersburg, de la Chetar⸗ 
die, eine Militärrevofte zu veranlaffen, welche den Sturz der Megentin, ihres Gemahls 
and des jungen Kaiſers berbeiführte, welcher Legterer nah Schlüffelburg abgeführt 
ward, während die Erſteren nad Cholmogory am Welßen Meere erilirtt wurden. Am 
6. December 1741 ergriff Eliſabeth, auf deren Seite fofort auch der Senat und 
die hoͤchſten Staatsbeamten traten, die Zügel der Herrfchaft und ließ fi ald unbe» 
ſchraͤnkter Kalferin huldigen. Diefer Monarchin ift e8 wie vielen bedeutſamen Perſön⸗ 
lichkeiten ergangen, daß ihr Zeitalter fie und ihre Motive verfannte und ihr politifche 
Ideen unterfchob, die niemald in ihrem Geiſte murzelten. Belbſt der fcharfe Blick 
Friedrich's des Großen irrte darin, daß er jene Kaiferin für feine geſchworne Feindin hielt. 
Elifabetb mar anfänglich, ehe fle Friedrich IL ſelbſt durch verfchiedene Aruperungen 
über fle kraͤnkte, eine aufrichtige Verehrerin des großen Monarchen und es war Ihr 
angelegentliher Wunſch, eine Annäherung des preußifchen Hofes an den ruffifchen 
durch eine Vermählung des von ihr durch Manifeft vom 7. November 1742 als 
Zhronfolger deflgnirten Großfürſten Peter (II. Feodorowitſch), Herzogs von Holflein» 
Gottory und als folcher Karl Peter Ulrich genannt, der ein Sohn des Herzogs Karl 
Friedrich von Holflein und der Tochter Peter's des Großen Anna PBetromna, fomit 
alfo ein Enkel Peter’s des Großen war, mit der Schweſter Friedrich's II., der Prin« 
zeffin Luiſe Ulrike von Preußen, herbeizuführen. Nur die Abneigung Friedrich's des 
Großen gegen die Zuflände in R. vereitelte diefen Plan, der eine LXieblingsidee der 
ruſſiſchen Selbſtherrſcherin war. Selbſt ale der König von Breußen mit dem 
Vorfchlage, den präfumtiven Erben des ruffifchen Thrones mit einer Tochter 
feined Generalfeldmarfchalle, des Fürften Ehriftian Auguft von Anhalt-Zerbfl, der 
Brinzeffin Sophie Augufte, zu vermählen, herausrüdte, ging die Kaiferin von R. 
augenblidlih auf die Idee bereitwillig ein, weil Sriedrich der Große in den Unter- 
Handlungen mit der Kaiferin ed hatte durchblicken Iaffen, daß der Anhalter Hof der 
preußifchen Politik durchaus nahe flehe, und die Bermählung der anbaltifchen Prin⸗ 
zeſſin, welche nach ihrem Uebertritt zur ruſſtſch⸗griechiſchen Kirche befanntlidy den Na⸗ 
men Katharina Alexejewna empfing, fand am 1. September 1745 mit dem rufflfchen 
Sroffürften allen Ernſtes flatt. Die Politik der nachmaligen fo berühmten Selbſt⸗ 
herrſcherin aller Neußen, Katharina H., wandte fih offenfundig dem preußlichen Mon- 
arhen auf das Freundlichſte und Wärmfle zu; daß aber durch ihr Megime die rufr 
fifche Politik eine totale Schwenkung gegen dad Regierungs⸗Syſtem, welches vordem 
zu St. Beteröburg berichte, erfahren hätte, gehört in das Bereich der Fabeln, welche 
ſelbſt die Heutige Befihichtöfchreibung immer wieder von Neuem aufzumärmen bemüßt 
geweien if. Auch war dad Auftreten der Kaiferin Elifabetb von Beginn ihrer Re⸗ 
gierung an eim feſteres, als man bisher annahm, und zeigte fih mit Ihrer hohen 
Würde durchaus in Uebereinſtimmung lebend. Um fi in ihrer Stellung zu firiren, 
unterfchrieb fle mit fefter Hand eine Menge Ukaſe, welche die einflußreichften Großen 
des früheren Regimes, wie Münnich, Oftermann, Golowfin, Lowenwolde u. A. m., 
nach Sibirien erllirten, und traf eine Menge Neuerungen in dem Berwaltungsiyftem, 
die von ihrem Regierungstact und ihrem Selbfiflänbigfeitögefühl zeugen. Die Schnel« 
ligfeit und Geſchicktheit, mit der fle den durch die franzäfliche Diplomatik fchon unter 
ihrer Borgängerin eingefädelten Krieg mit Schweden durchzuführen wußte, giebt’ zu. 
gleich won ihrem militärifchen Tact ein ehrenvolles Zeugniß. Noch che Flifabeth das 
Seepter felöftftändig in die Hand genommen, hatten die Schweden, von Frankreich 
gereizt, die ruſſtſche Situation vertennend, dem Gt. Peteroburger Gabinet den 


590  Wuhland. (Gefſqhichte.) 


Fehdehandſchuh Hingeworfen und drangen von dem ben Gucrillakrieg begünfti« 
genden Binnland gegen Wiborg, welches bereit, wie oben erwähnt, in rufflichem 
Beſitz war, mit, einer flarfen Dperutiond- Armee vor. Der Sieg des Tufftichen 
Feldherrn LascH über den ſchwediſchen Beneraliffimus Wrangel zu Ende Auguft 1741 
war bereitö erfolgt, ja die Gefangennahme deifelben fammt dem größten Theile feine® 
Heeres am 3. September deſſelben Jahres, al& eine meitere Errungenfchaft jenes Krie⸗ 
ge8 Hatte flattgefunden, bevor Elifubeth die Leitung der ruſſtſchen Politik in ihrem 
Händen Hatte. Kaum aber fah fie fih ald Kalferin tbronen, da fuchte fle dem Ein- 
fluß, den die franzöfifche Diplomatie bisher auf R. gebt, mit Energie entgegenzu- 
treten und da ber Friede, den Frankreich auf Grund des Waffenſtillſtandes zwiſchen 
N. und Schweden zu vermitteln fuchte, ihren Forderungen nicht entfpracdh, fente fie 
den Krieg fogleich fort, occupirte ganz Finnland, eroberte die Hauptſtadt Helfingfers 
(4. September 1742) und dietirte den Schweden den Brieden zu Abo vom 7. Aur 
guft 1743, laut deffen der ganze Theil Finnlands von ber bisherigen rufflichen Grenze 
bi8 an den Kymmenefluß an MR. abgetreten werden mußte. Erſt hierdurch war das 
ruffliche Reich gegen die ferneren Einfälle Schwedens von Finnland Her geflchert. Die 
gegen die Kaiferin im Laufe des letztgedachten Jahres durch Mitglieder der nach Si⸗ 
birien verbannten Lapuſchins, Golowkins und anderer Reichsgroßen bewirkte Verſchwö⸗ 
sung, weiche indgebeim von dem döfterreichifchen Befandten Marquis von Botta be» 
günfligt wurde, brachte, nachdem dieſelbe durch die Energie der Kaiſerin unterdrückt 
und von ihr in den einzelnen Details erfannt worden war, eine bedeutende Abfählung 
gegen das Wiener Cabinet hervor, und felbft ala Elifabeth fpäter, durch das Wachs- 
tum der preußifchen Macht und die feindfelige Stimmung des Berliner Hofes gegen 
fle gereizt, (1744) ein Bertheidigungsbündnig mit Deflerreich ſchloß umd (1747) ein 
ruſſiſches Heer von 40,000 Mann unter Mepnin nach Deutfchland fendete, weldyes 
den Abihluß des Aachener Friedens im Jahre 1748 bewirken Half, waren bie 
Beftrebungen der ruſſiſchen Politik mehr gegen Frankreich als gegen Preußen gerich- 
tet, ja Rußland wirkte mit dahin, daß in Folge fened Friedens der große Friedrich 
in dem Beſthe von Schleflen und der Grafichaft Glaz beflätigt wurde. Wie ſchwach 
aber die Berbeiligung der Kaiferin Elifabetb an dem fiebenjährigen Kriege war, mo 
fle zwar ein Heer von 100,000 Mann unter Aprarin gegen Preußen vorſchob, und 
wie wenig fie die halb wider Abſicht erfochtenen Siege bei Kunersdorf und Groß⸗ 
Jägerndosf und die ebenfalls balbgewonnene Schlacht von Zorndorf für ihre 
Armee audzubeuten bemüht war, darüber Hat ſich dieſes Lerifon in dem 
Abſchnitt, welcher die Politil der Kaiferin Eliſabeth während bes fleben- 
jährigen Krieged (vgl. den Art. Preußen, Gefchichte Friedrich's II.) beleuchtet, bereits 
ausführlih außgefprochen. Der fiebenjährige Krieg bat erſt die moderne Bolitit R.'s 
begründet, doch war e8 der Kaiferin Eliſabeth, welche als die Schöpferin diefer Po⸗ 
litik anzufehen if, nicht mehr verliehen, mit den Trophäen derſelben fi zu fchmüden. 
Ihr am 5. Januar 1762 erfolgter Tod ſetzte den von Ihr mit großem politifchen 
Geſchick durchgeführten Operationen ein Ziel und ihre Nachfolgerin erntete die Früchte 
ihrer Anftrengungen. Die oben erwähnten großen Siege hatten gezeigt, daß R.'s 
Heere nicht nur den Armeen des öſtlichen Europa, fondern fogar Friedrich's des 
Großen Taktik widerfiehen fonnten, und dieſe Wirkung der neuen rufflichen Militär« 
Drganifation war eine Errungenfhaft R.'s, auf welche pochend Katharina die Große 
einen ungleich freieren Spielraum für die rufftfche Diplomatie gewann, als irgend 
einer ihrer Vorfahren auf dem ruffifchen Throne einen foldhen für feine Politik zu 
eigen gehabt hatte. Europa gewöhnte ſich allmählich daran, R. als eine auf das 
politifche Gefyid feiner Staaten Einfluß übende und bei allen Kriegs⸗ und Frie⸗ 
densactionen mitredende Macht anzuerkennen, die von jegt ab fehr fern bon dem 
Barbarismus erfchien, in deſſen Spiegelbilde Briedrich der Große im Anbeginn feiner 
Herrfchaft gern noch fein Nahbarland erkennen mochte. Er Hatte nunmehr die ruf- 
ſiſche Soldateska und Ihr Waffenglüd refpectiren gelernt. Nach dem Tode der Kai- 
ferin Elifabeth, Deren teflamentarifchen Verfügungen gemäß ihr Meffe Beter II. (f. d. 
Art.) den Tbron beftieg, änderte fi die Politik des St. Peteräburger Cabinets in 
"tet Preußens keineswegs; es wurden vielmehr die Beziehungen zwiſchen beiden 


(Neusre Geſchichte R.'s feit Beter dem Großen.) 591 


Staaten nur noch intimer, da Peter eine große und warme Bersbrung für Friedrich 
den Großen beſaß. Diefe Verehrung ging fogar über diejenigen Grenzen hinaus, 
welche die Liebe für fein Volk und die nationalen Sitten ihn klugerweiſe Hätte inne» 
balten lafien follen. Die Einführung preußifcher Uniformen und Exereitien, die Ein⸗ 
richtung einer bolfleinfchen Garde, die Eingriffe in die Mechte des Adels und der 
Geiſtlichkeit waren wenig geeignet, ihm die Liebe feiner Unterthanen zu erweden, und 
ließen ſelbſt manches Treffliche vergeflfen, was R. ihm zu danken hatte, da er Handel 
und Verkehr bob, die Finanzkraft flärkte, die geheime Polizei abfchaffte, die graufamen 
Torturen und entehrenden Strafen aufhob und andere Mißbraͤuche einſtellte. Am 
16. März ſchloß er mit Preußen einen Waffenſtillſtand, am 5. Mai Frieden, Anfangs 
Juni ein enges Bündniß. Sein beabfichtigter Krieg gegen Dänemark und die Zwiflig« 
feiten mit feiner Bemahlin, jener lebens⸗ und thatkräftigen Anhalt« Zerbfter Brins 
zeifin, fegten feiner Negierung und die Brivatrache einiger der Verſchwörer auch feie 
nem Leben ein frühes Ziel. Schon am 9. Suli 1762 murde auf Beranflaltung 
Orlow's Katharina 1. zur Katferin und Selbfihersfcherin ausgerufen. Veter 1. 
aber fiel am 14. Juli zu Ropſcha, wider Willen und Wiſſen feiner Gemahlin, 
durch Mörderband. Der Sohn beider, der fpätere Kaiſer Paul (I.), geboren am 
1. October 1754, war damals faum 8 Jahre alt. — Wenn Katharina Il. auf 
durch ein am eigenen Sohne, für welchen fie eigentlih nur die Megentfchaft hätte 
übernehmen follen, begangened Unrecht fi auf den Thron gehoben Hatte, fo gli 
fie jenes Unrecht durch eine für R. wohlthuende und folgenreiche Megierung aus. Sie 
ſchürzte die politifchen Fäden, welche Elifabeth gefponnen, zu einem gordifchen Knoten 
zufammen, der von nun ab unauflöäbar war und die Geſchicke der übrigen Weltmächte 
mit in ftch verflocht, Die ruffifche. Taktik wurde durch die weiſe Wahl, welche fie in 
Bezug ibrer Feldherren traf, eine achtung-, ja fchredengebietende, und die Eroberungds 
pläne ihres großen Ahns, Peter's I., führte fie nach allen Weltrichtungen hin con» 
fequent weiter, fo daß R. unter ihr zu einer Arrondation wuchs, mie fie bis dahin 
keines der Weltreiche älterer und neuerer Zeit befefien. Im Innern diefes coloffalen 
Reiches dankten ihr mehr als 200 Städte Begründung und Aufblütde Wie fi 
unter ihrem flarfen Scepter Kunſt, Wiſſenſchaft, Handel, Schifffahrt und alle Zweige 
bes mercantilen Lebens boben, der Geldmarkt und die Finanzkraft des Staates ſich 
mebrten und fefligten, wie Bildung und Geflttung und alle Eulturverhältniffe zu er⸗ 
Raunliher Höhe gebiehen, ift bereits in dem ihr beſonders gewidmeten Abfchnitt (vgl. 
Katharina II.) näher entmidelt worden. Ihren Einfluß auf die fremde Diplomatie 
wußte fle mit großer Energie und Staatöflugheit berzuftellen und auszubeuten. Den 
furländifchen Adel zwang fle zur Anerkennung des früheren Herzogs Biron und zur 
Annullirung der eigenmächtigen Einſetzung des Herzogs Karl von Sachſen. Will» 
kommen für ihre Politif war die Thronerledigung in Polen, wo Auguft III. 1763 
geflordben war. Schon 1764 flog fie mit Friedrich dem Großen jene! Bündniß, 
welches ihren Günflling Stanislaus Poniatowmsfi zum König von Polen berief, die 
Regierung aber zugleich ihrem Willen und Einfluß überantwortete. Schon damals 
fhwebte ihr als Ziel vor, welches die Folgezeit verwirklichte, den Glanz jenes alten, 
einft mit R. rivalifirenden Königftnates für immer zu verwiſchen und ihr eigenes 
Reich über die Trümmer deffelben Hin zu erweitern. Als Befchügerin der polnifchen 


0 S 


Diffidenten gewann fie immer mehr Spielraum in dem ih nach allen Richtungen . 


bin abſchwaͤchenden und gefliffentlih ſich zu Tode hetzenden Nachbarſtaat, wo die 
Gonföberirten ihr Keinen größern Dienft erweiſen Eonnten, als daß fle die Pforte 
felbR in die Intrigue verwidelten und gegen R. aufflachelten. Thöricht und ver- 
wegen ging die Türfei in die Falle und erklärte, die Berwüflung der winzigen Stabt 
Balla zum Vorwand nehmend, Katharinen den Krieg. Baft nie bat R. einen glanz» 


vollern Krieg zu Lande wie zur See geführt, wie diefen, mo es den rufflichen Feld⸗ 


bersen Galizyn, Rumjanzow, Panin, Dolgorufij, Effen, Weismann und Anderen ger 
lang, Sieg auf Sieg zu erfechten, die Walachei, Beffarabien und Aſow im Fluge 
zu erobern, die Krym zu befegen und an bed Chan Gherai Stelle einen neuen Chan 
zu erwählen, der von R. abhängig ward, und auch die Gebirgsvölker des Kaukaſus, 
denen General Medem Truppen zuführte, und die Zaren zu Kartbli und Georgim 


32 | Rupland. (Geſchichte.) 


zum offenen Aufſtande gegen die Pforte zu bewegen. Auch die Mainotten in Morea 
und Ali Bei in Aegypten wurden in den Aufſtand hineingezogen, und die Türkei ſchien 
ſomit dem Verderben und dem Aufgehen in R. überliefert. Die Eiferſucht Oeſterreichs 
auf R.'s wachſende Macht und der Aufſtand Pugatſchew's, von polniſcher Seite be⸗ 
günfligt, retteten damals die Pforte aus ihrer kritiſchen Lage. Oeſterreich hatte ſich 
am 6. Juli 1771 den Türken als Bundesgenoſſe angetragen und zug drohende Streite 
maflen an ben Grenzen der Moldan zufammen. Preußens Vermittelung führte zuerſt 
eine Waffenruhe, dann aber die Nerföhnung Oeſterreichs mit R. herbei, als die von 
Katharina II. vorgefchlagene erſte Theilung Polens (f. d. Art. Polen) gemeinfchaft- 
liche Vortheile nachwies. Was Deflerreih und Preußen durch biefelbe gewonnen, iſt 
in der Gefchichte diefer Staaten dargethan worden; R. gewann feinerfeitö die drei 
Woiwodſchaften Lievland, WitebsE und Mecidlam, den im Norden ber Düna belege- 
nen Theil der Woimodfchaft Polozk und einen großen Theil der Woiwodſchaft Minsk, 
zufammen ein Areal von nahezu 1500 Q.-M., worauf faf 2 Mil. Seelen lebten. 
Dagegen fcheiterten die Korderungen, welche R. zu Fokſchani und Bucharefi an die 
Pforte ftellte, an dem entfchloffenen Sinne bes Sultans Muſtapha III., fo daß bie 
Beindfeligkeiten, welche länger denn ein Jahr geruht Hatten, von Neuem auf beiden 
Seiten in energifcher Weile und Anfangs fogar fehr zu Gunſten der Türfen, bis der 
Tod Muſtapha's (Dechr. 1773) und der Aufruhr der Janitfcharen während des neuen 
Regimes Die Kraft der‘ Pforte Tähmte und das Waffenglück wieder auf Seite der 
Auffen trat. Der ruffliche Steg über den Großorzier bei Bazardshik und die Ver⸗ 
nichtung des türkifchen Heeres erleichterten den Muffen den Abfchluß des Friedens 
von Kutſchuk⸗Kainardshi am 21. Juli 1774, laut deflen R. die. Feſtungen Jenikale, 
Kertſch, Aſow und Kinburn und einen Theil der Kabardei erhielt, das Recht der freien 
Schifffahrt auf dem Schwarzen Meere fi ficherte, Die Unabhängigkeit der Krym aus⸗ 
bedang und 5 Mill. Silberrubel Kriegsentfchädigung empfing. Den Pugatſchew'ſchen 
Aufftand warfen darauf die Generale Micyelfon und Suworow (1775) leicht nieder, 
nachdem die Kaiferin den Türken gegenüber die Hände frei hatte. Auch ber ſchwedi⸗ 
Ichen Regierung gegenüber wurde die rufftfche Politik maßgebend; in Uebereinflimmung 
mit dem Berliner Cabinet unterftügte Katharina I. in Schweden die Partei ber 
Müpen In fo erfolgreicher Weife, daß jenes Meich fich fortwährend In Verwirrung unb 
Schwäche erhielt und auf keinen Gegencoup den ruſſiſchen Machinationen gegenüber 
finnen konnte. Im bayriſchen Erbfolgeftriege (f. d.) brachte fle durch die 
Drogung, Preußen mit 60,000 Mann beizuftehen, fchnell den Brieden zu Teſchen, 
13. Mai 1779, zu Stande, auf Grund deſſen Defterreih der bayerifchen Erb⸗ 
ihaft, mit Ausnahme des Innvierteld und Brannau's, die es erhielt, entfagte, Breußen 
Öfterreichifcherfeitö die Berficherung erbielt, daß feine Erbfolge in Anfpah und Bai⸗ 
reuth nicht beanflandet fein folle, Sachſen die Hoheit über die Schönburgifchen Herr⸗ 
Ihaften und Mecklenburg dad Anſpruchsrecht auf die Grafichaft Leuchtenberg empfing 
und MR. ald Hüter des Friedens anerkannt ward. So mar demnach R.'s Politik 
ald eine für das geſammte deutfche Reich maßgebende erfannt worden; doch dehnte 
Katharina II, die eine ungemein feine Kühlung für die Stärken und Schwächen ber 
auswärtigen Diplomatie befaß, ihren politifchen Einfluß bald noch weiter nad Wehen 
aus und zog auch die Übrigen Staaten Europa's in ihre Berechnung hinein. Ein 
Zeugniß, bis wie weit ſich Die Präponderanz des rufftfchen Einfluſſes auf die Angeles 
genbeiten der europäifchen Mächte geltend zu machen mußte, bot die 1780 geftiftete 
bewaffnete Neutralität, wozu die Beleidigung der rufilichen Zlagge dur Spanien 
willfährig Die Hand bot. M. ftellte Die Idee als leitendes Princip bin, daß Schiffen 
mit neutraler Blagge der Verkehr mit den friegführenden Mächten freifteben und daß 
nur die Zufuhr von Kriegöbedürfniffen unterfagt fein folle, — ein Brundfag, welchen 
fofort Preußen, die feandinavifchen Mächte und Portugal acceptirten, während Enge 
land der bewaffneten Neutralität fcheel zufah, ohne doch zu offener Feindfeligkeit ſich 
bemogen zu fühlen. Dem engen Anſchluß Oefterreihs an R. zu Mohilew, mo Jo⸗ 
ſeph 11. 1780 mit Katharina perfönlih zufammentraf, und meldyer den Sturz bes 
turkiſchen Reiches und die Gründung eines griedhifchen Königreich unter einem ruffl« 
ſchen Bringen bezweckte, arbeitete Friedrich II. mit aller Macht, wiewohl vergeblich, 


Neuere Geſchichte RS feit Peter dem Großen.) 593 


enigegen.. Es kam 1783 zu einem förmlichen Schutz⸗ und Trugbändnig R.'s mit 
Deflerreih, und geflügt darauf, eröffnete Katharina II. noch in demfelben Jahre die 
Seindjeligfeiten mit der Türkei, indem fle ben neuen fchwachen Chan der Krym, Sahib 
Gherai, veranlaßte, fein Reich foͤrmlich an R. abzutreten. Bereits fanden ſich ruſſiſche und 
türkiſche Heere drohend gegenüber, da vermittelte Sranfreih am 8. Januar 1784 
einen neuen Briedendvertrag zwifchen den flreitenden Mächten, und die obnmädhtige 
Pforte verfiand ſich, um Ruhe zu haben, jetzt factifch zur Abtretung der Halbinfel 
Krym, der Infel Taman und der Kubanifhen Steppe an R., welches aus jenen 
Eroberungen das jo wichtige Gouvernement Taurien bildete. Die Herrſchaft R.'s auf 
dem Schwarzen Merre war nun erlangt, , und die freie Fahrt durch die Darbanellen 
bildete einen befonderen Artikel des Briedendtractats von 1784. Gleichzeitig Hiermit 
fand bie fcheinbar freiwillige, aber durch R.'s Aufflachelung veranlaßte Unterwerfung 
Kachetien's und Karthli's flatt, deren Zar von nun an gegen ein mäßig gegriffenes 
Jahrgehalt in rufflfhe Dienfle trat. Eine neue Zufammenkunft der Kalferin mit 
Joſeph I. fand 1787 zu Cherſſon flatt, mo eine geheime Alltanz zwifchen R. und 
Deflerreich gegen die Türkei abgeſchloſſen ward und ſchon das ſüdweſtliche Stabtthor 
Cherſſon's die Infchrift empfing: „Weg nah Zargrad” (d. i. Konflantinopel). Die 
Pforte, durch geheime Botfchafter von jener gewitterfchweren Allianz unterrichtet, fuchte 
den Beindfeligfeiten dur die am 24. Auguft 1787 gefchebene Kriegserklärung an 
R. zuvorzulommen. Rumfanzow's, Mepnin’d, Potemkin's und Suworow's Tage 
kamen von Neuem: Oczakow, Galacz, Akjerman, Bender, Chorzim, Kilia und Ismail 
fielen, bei Fokſchani und Martinefti flegten Nuflen und Oefterreicher gemeinfam, im 
Liman des Dnjepr wurde die türkifche Flotte zeriprengt — da hielt die Eiferfucht 
der Schweden die Auffen plößlich in ihrem Giegeslaufe auf, indem König Ouflav IH. 
1788 an Kaiferin Katharina II, den Krieg erklärte und 1789 in ruſſtſch Yinnland 
vorheerend eindrang. Nach wechfelndem Kriegsglück zerflörte er am 9. und 10. Jult 
1790 die ganze ruſſiſche Oftfeeflotte und bedrohte bereits St. Peteröburg, von wo 
Katharina 11. ſchon auf dem Sprunge fland, zu entfliehen, ald Meutereien Im eigenen 
Heere, Durch ruſſiſchen Einfluß hervorgerufen, den König von Schweden am 14. Aug. 
1790 zu dem für MR. nichts weniger als ungünftigen Friedensſchluß von Wäräld ver- 
anlaßten. An Defterreih hatte R. indeß Feinen dauernden Halt, daffelbe zog ſich ſchon 
1790 aus der Affaire, indem es in ber Gonvention zu Reichenbach verſprach, mit 
der Pforte, ohne Länderverluft derfelben, einen Brieden abichließen zu wollen, was es 
auch fchon 1791 im Frieden zu Sziftowa that. Nun fland Katharina II. wieder ifolist 
da, und diefe Situation brachte der Pforte einen günftigeren Frieden, als fle ſolchen 
unter anderen Umfländen erlangt haben würde. Bereits am 11. Aug. 1791 kam e8 zu 
den Sriedenspräliminarien zwifchen R. und der Türkei zu Galacz. Der förmliche Frieden 
erfolgte zu Jaſſy am, 9. San. 1792. Die Abtretung der Krym wurde beflätigt, zu⸗ 
dem erhielt R. Oczakow und dad Land zwifchen dem Dujepr und Dnieflr, woraus 
Katharina II. dad Gouvernement Cherffon etablirte. Nachdem die Kaiferin Schweden 
und der Türkei gegenüber freie Hund gewonnen hatte, richtete fle ihr Augenmerk auf’8 
Neue auf Polen, wo ihr die von den Polen am 1. Mai 1791 angenomniene neue 
Berfaflung guten Grund zur Einmifchung bot, indem fle die Targowicer Confödera- 
tion (f. Bolen), die jener Gonftitution feindfelig gegenüberftand, wirkſam unterflüßte. 
Eine zweite Theilung Polens wurde mit Oeſterreich und Preußen zuerſt Indgeheim 
verhandelt, dann durch den Definitivvertrag zu Grodno am 17. Auguft 1793 factiſch 
ausgeführt, wobei R. die Woimwodfchaften Kiew und Braclaw, die Reſte der Woiwod⸗ 
haften Polozk und Minsk und Theile der Woimodfchaften Podolien, Wolhynien, 
Nowogrodek, Wilna und Brzesc⸗⸗Litewski empfing, fo daß. fich fein Länderbeftand um 
mehr ald 4300 D.-M., worauf 5 Mill. Seelen lebten, vergrößerte. Bekanntlich 
führte dies zur Schilderhehung Polens unter Kosciuszfo und zu jenem blutigen, Ans 
(unge von den Polen, fpäter aber von den Ruſſen mit Glüd geführten Kriege von 

194/5, in Folge deſſen der Neft von Polen, der ſich noch bis dahin die Selbſt⸗ 
ſtaͤndigkeit bewahrt hatte, durch den Örenzvertrag zwilchen Rußland und Preußen vom 
24. October 1795 und durch den Definitivvertrag zwifchen R., Preußen und Oefter- 
reich vom 26. Januar 1797 dergeftalt zwifchen die drei contrahirenden Mächte ver⸗ 


Bagener, Staats⸗ u. Geſellſch⸗Lex. XVI. 38 


594 Nukland. (Geſchichte.) 


teilt warb, daß R. Szamaiten, Kurland und Semgällen und die bis dahin noch nicht 
in Beflg gehabten Theile der früheren Woiwodſchaften Wolhynien, Belcz, Chelm, 
Brzesc⸗Litewöki, Nowogrodek, Troki und Wilna, d. h. neue 2560 D.-M. und mehr 
ale 41, Mill. Einwohner erhielt. R. Hatte demnach durch die drei Theilungen Po⸗ 
lens, welche die Selbfifländigkeit dieſes ihm einft fo gefährlichen Rivalſtaates ver⸗ 
nichteten, ca. 8620 Q.⸗M. und 10,200,000 Einwohner gewonnen. Dad Ende des 
1796 mit Perften eröffneten Krieges, gegen welches Subomw die Rechte des Prinzen 
Heralli von Georgien vertbeidigen und die caspifchen Anlande erobern follte, erlebte 
Katharina I. nicht mehr, fle farb noch In demfelben Jahre (17. November 1796). 
Während der 34 Jahre, wo file das Scepter geführt, hatte R. fi um mehr ale 
10,000 Q.⸗M. und um mehr als 13 Mill. Seelen vergrößert. Das Reich war in 
N., W. und ©. erweitert, das Schwarze Meer der Schifffahrt aufgefchloffen; Handel 
und Verkehr blühten; Wehr- und Steuerkraft Hatten fig vermehrt; die Orga⸗ 
nifation R.'s Hatte ſich durch die Einführung der Gouvernementd » Verwaltungen 
auh im Innern vollzogen; die Stellung RE aber nach außen Hin mar 
eine achtunggebietende, allgemein anerfannte und faſt dictatoriſche geworden. 
Paul (f. d. Art), der neue Kaifer, ein principieller Gegner des Regierungéſyſtems 
feiner Borgängerin, die ihn gefliffentlih von allen ftaatlichen Geſchäften fern gehalten 
Hatte, Fehrte bei feinem Megierungsantritt fogleich alle Beſtehende um, begnabigte 
die von Katharina II. Erilitten, deportirte die am Tode feines Vaters Schuldigen, 
hob den Supfldienvertrag mit England, ein Werk feiner Mutter, auf, befchränkte die 
Staatdausgaben und traf eine Menge burchgreifender Veränderungen, die auf einen 
ftarken, energifchen, wohlmeinenden und von der Sorge für feine Unterthanen erfüllten 
Charakter fließen ‚ließen. Aus demfelben Princip, weldyes ihn dem Regime Katha⸗ 
rina’8 II. gegenüber leitete, entfprang dad neue von ihm am 16. April 1797 erlaffene 
Thronfolgegefeg, welches nur dann die weibliche Linie auf den Thron berief, wenn 
fein Glied der männlichen mehr exiſtirte. So wurden auf gefeglichem Wege eine 
Menge Mißbraͤuche von ihm abgefchafft, und fein guter Wille zur Befeitigung vieler 
anderen war unverkennbar. Damit griff er aber fcheinbar in die alten Vorrechte und 
Prävogative des Militärs und Adels ein, woneben er auch den Klerus durch gelegent- 
liche Befchränfungen, fo wohlthaͤtig diefelben im Interefie des Ganzen fehienen, verlegte. 
Was Paul I. Yutes feiner Nation erwies, ward undankbar überfehen, 3. B. daß er 
ed war, welcher durch einen ausdrücklichen Ukas d. d. Moskau 7. April 1797 die Heilig. 
haltung des Sonntags anbefahl, fo daß Fein LXeibeigner zur Arbeit von feiner Guts⸗ 
berrfchaft gezwungen werden Eonnte; daß er e8 war, melcher die geiftlichen Afabemieen 
zu St. Peteröburg (ded heil. Alexander Newskih) und zu Kafan auf einen hohen 
Gulturftand hob und eine Menge anderer Seminarien, felbft bei der Armee für die 
Kinder der MegimentösGeiftlichen begründete, und daß er es war, welcher allein für 
die geiftlichen Schulen feines Staates 142,000 Rubel Silber ausſetzte. Die Einfüh- 
sung einer geheimen Polizei, die eine weit Über ihren Beruf hinausgehende Spionage 
übte, und die Berfhärfung der Genfur, die ihre Kontrole ebenfalls über die urfprünge 
lichen wohlthuenden Dimenftonen hinaus erweiterte, die faft Hermetifch geübte Schließung 
der Grenze feined Meiches dem Auslande gegenüber, um die ihm verhaßten Freiheits⸗ 
und Gleichheitsibeen des franzoöſiſchen Sanseulottismus nicht nach R. eindringen zu 
Iaffen, womit aber zugleich der Handel und Berkehr eine ſtarke Stodung erlitten, 
riefen Erbitterungen gegen dad neue Regime hervor und lehnten auch den Kaufmanns» 
und Handelsftand wider ihn auf. Anfangs trat Baul, faft leidenichaftlih und Die 
Grenzen des politifchen Tacts überfchreitend, gegen Frankreich, von deifen Directorium 
er fich beleidigt glaubte, auf; am 29. December 1798 kam ein neuer Subflvien- 
vertrag zwifchen R. und England zu Stande, nachdem Paul bereits die rufflfche Flotte 
mit der türkifchen gegen bie franzöfliche Seemacht verbunden Hatte. Das Jahr 1799 
erlebte die Slanzthaten Suworow's in Italien und der Schweiz, wo derfelbe 80,000 
Bann Ruſſen commanbirte und den tapferen, aber feinerfeitd unglüdlih Tämpfenden 
Korßakow zur Seite hatte; zur felben Zeit rüftete Paul eine glänzende Armada aus, 
die fich der britifchen Klotte zur Demüthigung Frankreichs in Holland anfchloß, umd 
endlich warf er Spanien, dem Alliikten Frankreichs, den Fehdehandſchuh bin. Miß⸗ 


(Neuere Gefchichte R.'s feit Peter bem Großen.) 595 


muthig aber fiber die im Ganzen geringen Erfolge eines mit großen Mitteln unternons 
menen Kampfes und bie und da theils In Wahrheit verlegt von feinen Alllirten, wie 
bon den Engländern, die ihm bei der Beſetzung Malta's (er Hatte fi befanntli im 
Jahre 1798 zum Großmeifter des Maltefer- Ordens erklärt) Schwierigkeiten in den 
Weg legten, oder fich doch verlegt glaubend, wie von den Defterreichern, denen er 
feindfeltge Stimmungen gegen R. unterfchob: ſchloß er ſich mit totaler Wendung feis 
ner Bolitit plöglich der Sache Frankreichs an, und man hat diefen Wechfel mit Hecht 
auf die jchmeichelhaften Lobſprüche Napoleon’8 zu fegen, der Baul I. befler durch» 
fhaute und zu nehmen wußte, als irgend ein anderer Machthaber feiner Zeit. Ge⸗ 
wiß ifl, Daß Paul feit 1800 erflärter Freund und Befchüper Napoleon’d war, und ein 
Beweis davon war zunähft die Entfernung der Bourbon aus Mita, wo er ihnen 
bis dahin eine Breiftatt gewährt hatte. Auch alle übrigen Franzoſen, welche Anhaͤn⸗ 
ger des geflürzten Königshaufes waren, murden aus MR. erilirt, der Verkauf von 
Schiffsbauholz, Hanf u. f. mw. nah England unterfagt und die ruffliihen Ambaſſaden 
aus London -und Wien abberufen. Der mit Energie fortgefegte Seekrieg führte zur 
Aequifition der Infel Korfu, und Paul's I. weitere Vorgänge würden Die europäifdhe 
Kriſis, Frankreich gegenüber, wefentlich verlängert Haben, wenn nicht, wie befannt, 
feiner dictatoriſchen Stellung im Often Europa’3 und feinem Leben überhaupt ein 
ſchnelles Ende bereitet worden wäre. Ueber die neuere Auffaffung der evolution, 
durch welche der @emwaltaet der Thronerhebung Kaifers Aleranders 1. erfolgte, vergl. 
den Artifel Paul I. Bereits in der Nacht des 23./24. März 1801 wurde dem älte- 
ſten Sohne des Berftorbenen, jenem erften Alerander, der Eid der Treue von den 
unter den Fenſtern des Michailowſchen Palafles, wo das blutige Drama ſich fpann, 
verfammelten Truppen geleiftet und Pahlen, der die Fäden der Verſchwoͤrung geleitet, 
verbannte fich für einige Zeit freiwillig aus den Augen des tief erfchitterten, wohlwol⸗ 
lenden und ritterlichen jungen Monarchen, der fofort erflärte, nach den milderen Grundfägen 
feiner Großmutter Katharina II., die feine Erziehung überhaupt geleitet hatte, regieren 
zu wollen — wie er e8 denn auch gethan. Er flellte zunaͤchſt alles von feinem Vor⸗ 
gänger in gewiflermaßen revolutionärer Haft Umgefloßene (z. B. den von Peter 1. 
geflifteten dirigirenden Senat und die von Katharina Il. begründete Geſetzgebungs⸗ 
eommiffton) wieder ber, gab der Garde, dem Abel, dem Kierus, der Bürgerfchaft die 


ihnen entriffenen Prärogative, bob alle die perfönliche Freiheit und den Handel ein⸗ 


ſchraͤnkenden Berorbnungen auf und geflattete den Unterthanen die Verbindung mit 
dem Auslande und den Ausländern den Wiebereintritt in R. ficherte den Freigelaffe⸗ 
nen und Kronbauern das Eigenthbumsrecht ihrer Brundflüde gegen einen Grundzind 
zu, und forgte für Bildung, Geflttung, Urmenpflege u. f. w. in einem bis dahin in 
MR. noch nie dageweſenen Maße. Um noch mehr nach innen Bin wirken zu können, 
ſtellte er das friedliche Verbältnig mit den auswärtigen Staaten, welches ebenfalls 
gewaltfam erfchüttert worden mar, in einer fo ruhigen und wohlmollenden Weiſe wie- 
der ber, daß jeder Staat mit ihm zufrieden fein Eonnte. Die Diplomaten, welche 
noch in den Lepttagen der Megierung Paul's audgefandt waren, um Preußen, Däne- 
mark und Schweden zu Erneuerung der bewaffneten Neutralität gegen England auf- 
zufordern, rief er fogleich zurück und fegte fich auf friedlichen Fuß mit dieſer Macht; 
mit Schweden ſchloß er am 11. Suni 1801 einen Bundes⸗ und Handelövertrag; am 
5. October 1801 ſchloß ee mit Spanien und am 8. Oktober 1801 mit Frankreich 
Frieden und mit Iskterem Staate am 4. Juni 1802 eine Convention behufs der Ent- 
fhädigung deutſcher Staaten für ihre Abtretungen an Frankreich. Dabei fuchte Aleran« 
der 1. au fein Heer in dem Anfehen zu erhalten, welches es ſich feit den Tagen der 
großen Katharina erworben hatte: Verwickelungen mit Perſten führten Dazu, den Kampf 
im Kaukaſus zu erneuern und am 9. März 1803 wurde eine blutige flegreihe Schlacht 
gegen die Lesghier gefchlagen, am 20. März 1804 das mwohlbefefligte Etſchmiadzin, 
der Sig des armenifchen Patriarchen, erflürmt, am 30. März 1804 das perſiſche La⸗ 
ger bei Kinagira erobert und am 15. Juli deffelben Jahres eine Schlacht bei Eriman 
gegen das Gros der perfifchen Truppen gefchlagen, deren Sieg zunädhft zwar unente 
fhieden war, aber durch die Folgen doch auf Seite R.'s fi wandte. Seit 1804 
wurden Georgien und Mingrelien ruſſtſche Provinzen, Länder, die 21 Jahrhunderte 

38 * 


N 


596 Aukland. (Geſchichte.) 


hindurch eigene Könige gehabt hatten. Die Fortſchritte Napoleon’s, fowohl was deſſen 
Machtentfaltung als feine Anmaßung den europäifchen Potentaten gegenüber betraf, und 
namentlich die Beſetzung Hannovers und Neapeld durch ihn, erfalteten Alexander's J. Hexz 
für Frankreich und durch die Hinrichtung des Herzogs von Enghien erfannte R.'s chevale⸗ 
resker und großfinniger Monarch, das Princip des Völkerrechts durch den Ufurpator 
auf Frankreichs Throne gefährdet. Alexander ſchloß ſich 1805 der Coalition von 
England, Defterreih, Schweden und Neapel definitiv an und fandte drei Heere gegen 
Frankreich, wovon das eine in Schwediſch⸗Pommern, das zweite in Neapel, das dritte, 
80,000 M. flarke, dem Oberbefehl Kutuſow's untergeordnet, in Deflerreich unter den 
Augen ded Kaiferd felbft agirte. Die unglüdlihde Schlacht bei Aufterlig führte 
fchneller, als anfänglich zu erwarten ſtand, einen Waffenftillftand herbei, welchem fogar 
der Rüdzug der ruſſiſchen Truppen faft unmittelbar darauf folgte. In Dalmatien 
aber fpann ſich der Kampf der Aufien wider die Franzoſen zum Bortheil der Erfteren 
noch länger fort, und am 4. März 1806 fiel Cattaro in die Hände der Ruſſen. 
Dem vom rufftfchen Geſandten Dubril auf Englands Antrieb am 20. Juli 1806 mit 
Frankreich abgefchloffenen Vertrage ſtimmte Alerander in Folge deffen nicht bei, brady die 
Verhandlungen am 15. Auguft definitiv ab, fchloß ſich jept auf's Engſte an Preußen 
an und richtete am 28. November jened Jahres fein Manifeſt gegen Frankreich, welches, 
wiewohl die ruffljchen Hülfsttuppen demfelben auf dem Fuße folgten, doch nicht mehr 
im Stande war, den Untergang Preußens aufzuhalten, auf deffen Zertrümmerung 
Napoleon I. mit einer befonderen Intention ed abgeſehen hatte. Es kamen nım bie 
blutigen Schlahhten von Pultusf, Eylau, Preußifch-Friedland, und der Verluſt In ber 
legteren entlräftete und entmuthigte die Ruſſen fo, daß ber leidige Briede zu Tilſit 
vom 7. Juli 1807 unvermeidlich war. Derfelbe entfchied das Schidfal Preußens vor 
der Hand völlig, aber er lähmte auch R., dem er gegen die Zuerfennung des Diftricte 
Bialyſtok (mit kaum 200,000 Einwohnern) die Abtretung der jonifchen Infeln an 
Sranfreih, der Herrfchaft Jever an Holland und die fofortige Räumung Gorfu's 
und Gattaro’8 zur Pfliht machte Auch hatte fih Rußland in einem geheimen 
Artikel des Tilfiter Friedens Frankreich gegenüber verbindlich machen müflen, dem 
Gontinentale Syftem beizutreten umd den britifchen Schiffen feine Häfen zu ſperren. 
Die Ruhe aber war damit für N. keineswegs bergeftellt, vielmehr begann nun ber 
Krieg mit der Türke, welches durch Frankreich hinterrücks zu einem Einfall auf rufe 
ſiſches Gebiet verleitet worden war. Aber R. Hatte, in Erwartung, daB ibm von 
dieſer Seite Gefahr drohen könne, bereit? Truppen im Süden zu flehen, und ehe. bie 
Türkei noch mit ihrer offenen Kriegserflärung bervortrat, war ruſſiſcherſeits ſchon der 
Dnjeftr überfchritten und die Moldau und Walachei in Händen der Ruſſen. Choczim, 
Bender, Jafſſy und Buchareft fielen binter einander, und eben ald der Frieden von 
Tilſit im Gange war, hatte die Landfchlacht bei Arpatfchal und der Seefleg bei Lem⸗ 
nos das Waffenglück der Muffen im Süden derartig befrönt, daß felbft auf rund 
des Waffenſtillſtandes von SiIobofla, vom 24. Augufl 1807, der die Herausgabe der 
Donaufürftenthümer zur Bedingung machte, die Ruſſen fidh bedenken durften, auf dies 
fen Stipulationdpunft einzugeben. Somit kam es mit der hohen Pforte zu feinem 
Srieden, und der Ausbruch eines neuen Krieges drohte Jahre lang. Inzwifchen hatte 
der Anflug R.'s an das Gontinental- Spflem jened Land auch in einen Krieg mit 
England und Schweden verwidelt. Die Blokade der dänifchen Häfen feitend Englands 
lodte die Kriegserklärung R.'s gegen England hervor; aber derfelben folgte das Un⸗ 
glück auf der Ferſe, denn eine rufflfche Flotte von zehn Kriegsſchiffen, unter dem 
Commando Sinjawin's mußte fih den Engländern im Hafen von Liffabon überant- 
worten, und Lestere bielten auch in der Oſtſee alle ruſſiſchen Häfen und Küſten In 
Shah. Dagegen war R., welches fi zur See völlig gelähmt ſah, im Kriege mit 
Schweden glücklicher. Ein geheimer Artikel des Tilſtter Friedens hatte die Erklärung 
Napoleon's Hingeftellt, fi der Eroberung Finnlands durch die Ruſſen nicht wider» 
fegen zu wollen, und das Jahr 1808 fah unter den flegreichen Waffen Burhöwpen’s 
ganz Finnland, Oſtbothnien und die Hlands-Infeln in die Hände Kaifer Alexander’ 1. 
fallen. In Folge defien Fam es ſchon am 19. November 1808 zu Olkioski zu einer 
Convention und am 17. September 1809 zu Frederikshamn zu einem beflnitiven 


(Neuere Geſchichte R.'s feit Peter dem Großen.) 597 


Friedens abſchluß zwiſchen R. und Schweden, welches Tegtere ganz Oſtbothnien bis Torneä 
einſchließlich der Alandsinſeln an R. abtrat, deſſen Laͤnderareal dadurch um 5500 
DM. und 900,000 Bewohner zunahm. Inzwiſchen ſuchte ſich Napoleon des Kaiſers 
Alerander J., dem er zu Erfurt 1808 perfönlich feine Intimität betbeuerte, noch in 
erhöhterm Maße als eined Bundesgenoſſen zu vergewiſſern. Wirklich blieb der Letztere 
dem gegen England gerichteten Continentalfyſtem getreu und trat, der geheimen Ver⸗ 
abredung gemäß, in dem neuen zwiſchen Defterreich und Frankreich ſich eröffnenden 
Kriege ald Verbündeter Napoleon's auf, fo daß, wiewohl die Auffen zur Entfcheidung 
in diefem Kampfe wenig beitrugen, doch im baldigen Frieden der Tarnopoler Kreis 
von Weflgalizien mit einer Bevölkerung von faft 254 Mil. Seelen R. als Sieges⸗ 
preis zugeiprochen ward. Nachdem Alerander I. fo fein Anſehen im Weſten Europa’s 
gekräftigt Hatte, konnte er feine Blicke von Neuem dem Dften feines Meiches zumenden 
und den Krieg mit den Türken und Perfern erneuern. Das Waffenglüf blieb den 
Ruſſen faſt durchgehends getreu und 1809 fielen Ismail, 1810 Rasgrad, Siliftria, 
Schumla, Aidowo, Ruſtezuk, Giurgewo, Nikopolis, 1811 abermals Ruſtczuk und das 
ganze türkifche Lager daſelbſt, und der Friede von Bucarefi vom 28. Mai 1812, 
den Englands Einfluß zmifchen der Türkei und R. vermitteln und befchleunigen half, 
aus Eiferfucht, daß R. bei Hortfegung ded Kampfes nicht noch größere Vortheile im 
Drient erlange, erhielt R. Im Beſitze feiner Eroberungen am Schwarzen und Kaspi⸗ 
fihen Meer, ließ ihm aber von der Moldau und Walachei nur den transpruthaniſchen 
Theil, d. 5. die Feſtungen Aljerman, Bendery, Choczim, Kilta und Ismail. Daß 
R., melches größere Pläne und Ausfichten an diefen Krieg geknüpft hatte, mit den 
erlangten Bortheilen ſich begnügte, iſt aus der Sachlage der damals fehr veränderten 
Situatton, in der ſich R. Frankreich gegenüber befand, zu erflären. Ein Krieg R.’s 
mit Frankreich Tag nunmehr im Antereffe des Kaifers Alerander und des wider Na⸗ 
poleon fich erbebenden oder die Entwidelung der Kriſis ruhig abwartenden Europa. 
Daher ward auch der Krieg mit Perſien fchnell abgebrochen, und ein vorläufiger 
dem Schah nicht ungünfliger Waffenftillfiand ſeitens R.'s eingegangen. Seht flanden 
dem Kaijer Ulerander auch feine fchlachterprobten Truppen der Südarmee zu Gebote. 
Meber die Verbältniffe, welche eine Lockerung der Freundfchaft zwifchen R. und Frank⸗ 
reich nothmenbig herbeiführen mußten, flehe den Artifel Sontinentalfyftem. Berner 
hatte Rapoleon 1810 dem Herzoge von Oldenburg (vgl. den Artikel Oldenburg) fein 
Land genommen, ohne nur zuvor die Nüdiprache mit Alexander, als Chef des Haufes 
Oldenburg, genommen zu haben. Sowohl hierdurch als durch andere vertragéwidrige 
Eingriffe in die Rechte fouveräner, mit R. befreundeter Fürſten hatte auch Napo⸗ 
leon ſeinerſeits das freundfchaftlihe Verhaͤltniß beider Staaten; die zudem auf 
gänzlich verfchiedenen Hiftorifchen Principien ruhten, gelodert und ven Kaifer 
Alerander 1. zum Gegner feiner Anſichten gemacht. Genug, beide Mächte rüfteten ſich 
zu einem Kriege auf Tod und Leben, der in dem Abfchnitt (f. u.): Ruſſiſcher 
Krieg von 1812, dargeftellt iſt. Leber die ferneren Greigniffe von 1813 — 15 
fiehe die Artikel Freiheitäfriege, Heilige Allianz und Wiener Congreß; über feine 
europäifche Stellung feit 1815 vergl. die Art. Alexander J. Krüdener und wiederum 
den Art. Heilige Allianz. Ueber die blutige Kataftrophe, welche der am 1. December 
1825 zu Taganrog erfolgte Tod des Kaiferd Alerander I. in St. Petersburg bervorrief 
und wie eine bereit Im Gange befindliche, zunächſt noch gegen das alte Regime ge= 
sichtete, dann aber Fünftlih gegen den neuen Monarchen ausgebeutete Berfchwärung 
nur Durch die Energie des Kaiſers Nikolaus 1. niedergebrüdt ward, iſt andern Ortes 
(vergl. die Artikel Nikolaus J., Konftantin, Murawjew u. a. m.) berichtet worden. 
Daß dem Legteren dab Thronfolgereht durch die Verzichtleiftungs-Acte feines älteren 
Bruders Konftantin factifch zuftand, iſt durch die im Reichsrathe aufbewahrten Docu⸗ 
mente erwieſen. Nikolaus J. wußte ſeine Rechte mit aller einem Autokraten zuſtehen⸗ 
den Machtentfaltung zu behaupten, und als er ſich am 3. September 1826 mit ſeiner 
Gemahlin Alexandra (einer Tochter des Königs Friedrich Wilhelm II. von Preußen) 
feierlih zu Moſkau Frönen ließ, waren fchon eine Menge durchgreifender Reformen 
im Militär, Juſtiz- und Schulmefen jenem Acte vorangegangen, fo daß ber neue 


Machthaber das Herz des Volkes bereits in hohem Sinne für ſich gewonnen hatte. 


598 Nußland. (Geſchichte.) 


Bald ſollte auch die kriegeriſche Taktik Nikolaus I. in glänzender Weiſe ſich offen⸗ 
baren. Der Krieg mit Perſien (f. d. Art. Paskewitſch) wurde durch den Frieden von 
Turfmantfchai (22. Februar 1828) beendigt. Was die Verhältniffe zur Pforte ber 
teifft, fo hatte Nikolaus im DVertrage von Uljerman vom 6. Dct. 1826 vom Sultan 
kategoriſch das Recht der freien Schifffahrt auf den pontifchen Gewäflern und die 
Herflellung der Berhältniffe in Serbien, der Moldau und Walachel auf den Status 
von 1820 verlangt; als die Pforte ihren Verpflichtungen nicht nachkam und aud 
der von R. in Verbindung mit den Weflmächten zu London abgefchloflene Bertrag 
vom 6. Juli 1827 in-Bezug auf die Anerkennung Griechenlands nicht refpectist wurde, 
ſo kam es zunächft zum Seefriege, wo Heiden ald Admiral der rufflihen Flotte in 
Verbindung mit den englifchen und franzöftichen Geſchwadern am 20. October 1827 
den berühmten Seefleg bei Navarino erfocht, meldyer die türfifch » Aghptiiche Armada 
vernichtete.. Als die Pforte auch jegt noch fich hartnädig erwies, drang Wittgenflein 
1828, den Pruth überjchreitend, in die Moldau und Walachel ein, eroberte Bratla 
und Varna und belagerte Siliftria, Giurgewo und Schumla, mährend Paskewiiſch die 
aftatifche Türke von Armenien aus bedrängte und mehrere tärfiihe Vaſchas fchlug. 
1829 hatte an Wittgenftein’3 Stelle der noch energiichere Diebitfch (j.d. Art.) dad 
Obercommando erhalten, bebrängte Schumla, flegte in der mörderifhen Schlacht bei 
Madara und überfchritt in Eilmärfchen den Balfan, nahm Adrianopel im Fluge ein 
und bedrohte Konftantinopel. Da gleichzeitig Paskewitſch Erzerum erflürmt hatte und 
Trebifonde (Trapezunt) bedrohte, fo zeigte der geängftete Sultan ſich nunmehr zum 
Frieden geneigt, der zu Aorlanopel am 14. Sept. 1829 durch preußifche Vermittelung 
zu Stande kam; R. gab alle Eroberungen, die ed in dieſem Kriege gemacht, bis auf 
einen Theil des Paſchaliks Achulzihe, zurük und gewann nicht viel mehr als die 
Küftenftädte Poti, Anapa und Achalkalaki, dagegen erhielt es Handeldfreiheit im Um⸗ 
fange der türfifhen Länder, mußte aber die Hegemonie zur See aufopfern, da auch 
den übrigen feefahrenden Nationen von nun an die freie Schifffahrt auf dem Schwar⸗ 
gen Meere geftattet ward. An Kriegdentihädigung empfing der ruſſiſche Staatsſchatz 
10 Millionen und die ruffiihe Kaufmannfhaft 11/7 Millionen Ducaten. Zugleich 
wurden die Stipulationen des Vertrages von Akjerman als für die Pforte noch Bine 
dend erachtet und die: von türkifhen Truppen befegten ſerbiſchen Diftricte follten 
an den Fürflen WMilofy als Hofpodar von Serbien fofort zurüdgegeben werben. 
Dis alles dieſes ausgeführt wäre, follten die Moldau und Walachei Rußland 
gleihfam ald Pfand verbleiben und ruſſtſche Truppen zur Befagung behalten. 
Der Friede von Adrianopel gab R. das Uebergewicht im Orient und bevorzugte die 
zufftfhen Handelsinterefieh in's Unglaubliche, fo daß R. recht eigentlich jenem Ver⸗ 
trage fein ſchnelles mercantilifched Aufblühen zu danken bat. Nachdem Die neue 
franzöftiche Revolution des Jahres 1830 in ihren Folgen auch das fletd zur Empoͤ⸗ 
rung geneigte Polen ergriffen (f. d. Art. Polen, Geſchichte) und Nikolaus mit ges 
waltiger Energie diefelbe niedergeworfen hatte, fland fein Anfeben in ganz Europa 
noch geachteter da. Daß Nikolaus I. der Erhaltung des europäifchen Friedens ge= 
neigt war, erweiſen viele Acte feiner Bolitit nad der Dämpfung des Polen-Aufflandes. 
Sp flimmte er 1831 auf den Londoner Eonferenzen für die Unerfennung Belgiens 
und fandte der Pforte fogar 1832 eclatante Hülfe, ald der DVicefönig von Aegypten 
wider den. Sultan ſich auflehnte. Die Defenfiv- Allianz zu Hunkiar Skeleffi vom 
8. Juli 1833 zwifgen R. und der Pforte gab der orientalifchen Frage eine neue, 
dem Kaifer Nikolaus fehr günftige Wendung, indem. der Sultan nicht nur bie früheren 
Berträge mit R. beflätigte, fondern auch das Berfprechen abgab, allen Mächten, mit 
denen R. in Krieg käme, die Dardanellen verfchließen zu wollen, wogegen auch feinerfeit® 
R. der Pforte feinen Beiftand in Kriegsfällen verhieß. Als die Eiferſucht Englands 
und Frankreichs fich erfennbar machte und faft ein europäifcher Krieg in Folge des 
Bertrages von Hunkiar Skelefft in Ausſicht fand, zeigte Kalfer Nikolaus I. auch bier 
ſich al& der riedliebende, indem er nad Ablauf jenes Vertrages im Jahre 1837 von 
einer Erneuerung diefer ihm fo günftigen Verbindung mit der hohen Pforte Abftand 
nahm. Nachdem fo der politifche Horizont im Weften ſich geklärt zu haben ſchien, 
richtete Nikolaus fein Augenmerk ernſter nah Oſten, zunaͤchſt beſonders auf den 





(Neuere Geſchichie MS feit Peter dem Großen.) 599 


Kaufafus (f. d. Art), deffen Unterwerfung er Eraftuoll vorbereitete. lm den Ein- 
flug R.'s im Orient zu paralpfiren, fuchte ſich England der Pforte in fehr freund 
liyer Weije zu nähern und ein Handelsvertrag zwifchen beiden Staaten bob die Be⸗ 
vorzugung der rufllihen Kaufleute auf. Dagegen begünfligte ein enger Bund R.'s 
mit dem Schah den ruffifch-perfiichen Kandel zum Vortheil der Nuflen, den Engländern 
gegenüber, und der Schah Mohammed Mirza, feit 1834 den ruſſiſchen Intereflen ganz 
ergeben und nur ein Werkzeug in der Hand des ruſſiſchen Befandten, Grafen Simo- 
witſch, ließ fih 1837 fogar zu einem Kriegszuge gegen den Schah von Herat ver⸗ 
leiten, wobei vufflfhe und engliſche Intereflen abermald in collivirender Weife zu- 


‚jammentrafen. Als jener Zug, dem rufflfche Offiziere beigewohnt hatten, mißglüdt 


war, unternahm R. eine neue umfaflendere Expedition 1839 wider den Khan von 
Khiwa, die zwar duch entjeglihe Schneeflürme, weldye den General Perowskij 
(f. d.) und fein tapferes Heer auf dem Uſt⸗Jurt⸗-Plateau trafen und decimirten, nicht 
das erwartete Mefultat Hatten, den Khan in Khiwa felbft zu blofiren, die aber gleich« 
wohl einen neuen Nimbus um die ruſſiſchen Waffen breiteten, fo daß der Khan fortan 
dem Kaifer von R. faſt ald ein Vaſall fi beugte und den xufflfchen Handels⸗ 
intereffen allen Vorſchub leiftete. Nach dem Tode des türkifchen Sultans Mahmud II. 
im Jahre 1839 und nach der Throndbefleigung Abdul Medſchid's drohte das türkifche 
Reich auf's Neue zu zerfplittern, da der Virefönig von Aegypten, der feine Herrfchaft 
fehnell über Syrien, Cypern, Candia u. f. w. auszudehnen wußte, fi völlig von 
feinen Verpflichtungen der hohen Pforte gegenüber loszumachen fuchte. Auch hier 
fam es zur Einfprache feitend der europäifhen Großmächte und R. benugte, feinem 
Principe getreu folgfam, die Schwäche der Pforte nicht, um fi auf den Trümmern 
derfelben zu bereichern, es drang fogar darauf, daß Syrien der Pforte zurüderobert 
würde, und deckte durch feine Flotte die Invaſton der Briten und Defterreicher, welche 


Beirut, St. Jean d’Xcre, und andere ſyriſche Küftenftänte im Fluge einnahmen. 


Sp gelangte der neue Padiſchah unter zufflfchem Cinfluffe, der fi bald vor- 
wiegend in Konflantinopel feflfegte, in den ungefchmälerten Bell feiner Länder. 
Als die Veränderung der Situation in Paris im J. 1848 eintrat, war Nikolaus 1. 
zum erfien Male in feinem Leben erfchüttert. Er hätte eine Revolutidn in Polen lies 
ber gefeben, weil fle minder gefahrdrohend gewefen wäre und er fie mit aller Kraft 
und Stärke feines Genied würde bezwungen haben, während er der Pariſer Revolu⸗ 
tion, deren Tragweite fein klarer Blid wohl abmaß, unthätig aus der Kerne zufchauen 
mußte. Es folgten die Bewegungen in Deutichland, Italien und an vielen anderen 
Orten Europa's. Nikolaus I. inftruirte durch die Note vom 31. März 1848, denen 
andere übereinftimmende folgten, fofort alle ruffifchen Gefandtfchaften in Wefteuropa 
dahin, daß file fi zwar in feiner Weife in die inneren Angelegenheiten der Länder 
einmifchen follten, welche ihre Staatöform verändern wollten, daß fle aber alle Schritte 
der Fürſten und Völker diplomatifch überwachen und berichten follten, und daß ber 
Kaifer feinerfeits fer entichloffen ſei, jede Beeinträchtigung der eigenen inneren Sicher⸗ 
beit von der Hand zu welfen, wie er auch darauf achten werde, Daß das politifche 
Gleichgewicht der europäifhen Großmaͤchte in feiner Weife auf Koſten der feinem 
Scepter zuflehenden Interefien verändert oder aufgehoben werde. R. blieb das einzige 
Reich Europa's, weldyes wie ein Fels inmitten der brandenden Wogen daſtand und 


welches von feiner jener Wellen gefährdet ward. Polen blieb ruhig; die Donaufürs 


ſtenthümer, namentlid die Walachei, benugten aber den anfcheinend günfligen Zeitpunkt, 
um zu revoltiren und ſich aud der Oberhoheit R.'s gleichzeitig zu entziehen. Sofort 
fchritt Nikolaus mit milltärifcher Gewalt in der Moldau und Walachei ein und er 
freute fih am 26. Sept. der Nachricht des Ballet von Bucharefl. (©. d. Art. Aus 
mänien.) Erfolgreich war ferner der Beiſtand, melden der Kaifer Nikolaus dem Kaiſer 
von Deflerreich zur Dämpfung ded ungarischen Aufftandes Ieiflete, indem er ihm die 
erprobten Generale Panjutin und Lüders zur Dispofitton ſtellte. (S. die Art. Oeſter⸗ 
teid) und Ungarn.) Nun wurden die deutfchen Verhältniffe durch die Conferenz zu 
Olmütz und die dänifchen durch die Eonferenzen zu London vom 4. Juli bi8 2. Au⸗ 
guft 1850 geordnet, und die Integrität des dänifchen Staates im Verein mit Eng⸗ 
land, Frankreich und Schweden anerkannt, eine Erklärung, der fpäter bekanntlich auch 


600 Rußland. (Geſchichte.) 


Oeſterreich und Preußen beitraten. Alles was bis dahin noch eine Abkühlung in 
den St. Petersburger, Berliner und Wiener Cabinetten hervorgerufen hatte, war zu 
Anfange des Jahres 1851 beſeitigt. Auf den neuen Londoner Conferenzen vom 28. 
April bis 8. Mai 1852 wurde endlich im Sinne Rußlands die Erbfolge Daͤnemarke 
feftgefegt. Inzmifchen vollzog ſich jened von .den übrigen europäifchen Mächten längft 
voraußdgefehene Ereigniß in Sranfreih: am 1. December 1852 verkündete der Geſetz⸗ 
gebende Körper zu Parid die Wiederherftellung des Kaifertbums und Napoleon Il. 
ſah ih am Schluß des Jahres 1852 faſt von allen Mächten des enropdifhen Conti⸗ 
nents in feiner neuen Würde anerfannt. Nur zögernd folgten mit diefer Anerkennung 
R., Defterreih und Preußen. Erft am 5. Sanuar 1853 überreichte der Geheimrath 
Kiffelew in Paris dem Kalfer der Franzofen die Ereditive, wodurch er als außer- 
ordentlicher Gefandter und bevollmächtigter Minifter des Kaiſers von R. bei dem 
Kaifer Napoleon — dem Nikolaus gleichwohl die zwifchen fouveränen und ebenbür⸗ 
tigen Fürſten bräuchliche Anrede Monseigneur mon frere verweigerte — beftätigt ward. 
Anı 6. Januar 1853 überreichten denn auch die Befandten Oeſterreichs und Preußens 
ihre neuen Beglaubigungsfchreiben am Hofe der Tullerieen. Indeſſen batte fidy bie 
Pforte um fene Zeit in ihrer Schwäche gezeigt. Als der öſterreichiſche Feldmarſchall⸗ 
Lieutenant, Graf v. Leiningen, der in befonderer Mifflon am 31. Januar 1853 nad 
Konflantinopel gefommen war, am 3. Bebruar dem Sultan das eigenhändige Schrei« 
ben feines Souveraͤns vorlegte, in dem verlangt wurde: 1) die Vorgebirge Klek und 
Soterino an der Albanefifchen Küfte, zwiſchen Ragufa und Gattaro für neutrales Land 
anzuerkennen; 2) die Kriegdoperationen gegen Montenegro einzuftellen; 3) bie römifch“ 
katholifche Bevölkerung in Bosnien gegen die fanatifche Berrädung der Türken zu 
fihern, und 4) die politifdyen Flüchtlinge aus der Armee von Rumelien zu entfernen, 
fo wurden die Forderungen Defterreih8 fofort von der Türkei anerkannt, und Graf 
&v. Leiningen verließ am 15. Februar Konftaptinopel volltändig zufriedengeftellt. Eben fo 

wenig erbob die hohe Pforte Einſpruch) ale am 24. Februar ein öſterreichiſches 
Truppencorp8 unter dem Ban von Groatien, Freiherrn von Iellacie, laͤngs ber türs 
fifhen Grenze aufgeftellt wurde, ja dieſes Factum befchleunigte nur noch die Aus⸗ 
flellung des Fermans, der die Feindfeligkeiten gegen Montenegro aufhob. Eben fo 
wenig Widerftand fegte die hohe Pforte der neuen Quarantaine⸗Convention entgegen, 
weldhe Sranfreih am 6. März auf Grund der Beflimmungen der in Parts im ver- 
floffenen Jahre zufammengetretenen internationalen Commiſſton mit der Türkei abfchloß. 
Als es nun aber auch Napoleon IN. gelang, Mechte der Iateinifchen Chriſten in der 
Türkei, welche fi ‘auf einen längft vergeflenen Vertrag von 1740 flügen follten, 
durch Erneuerung dieſes Vertrages wieder zu beleben, glaubte ſich der Kaifer von R. 
in feinen Rechten als Oberhaupt der griechifchen Kirche verlegt und drang durdy feinen 
Gefandten bei der ottomanifchen Pforte, Fürften Menſchikow, auf die Austellung 
eines großherrlichen Fermans, welcher beflimmen follte, daß die römtfche der griechi⸗ 
fhen Kirche In Bezug auf Die Heiligen Stätten nicht vorgezogen merben follte. 
Frankreich ficherte inzmwifchen der Pforte insgeheim feinen Beiftand für den Ball 
eined Kriege zu und England verband fih mit Rapaleon III., um die Macht 
Rußlands im Orient, auf die es laängſt neidifh war, für immer zu brechen. 
So blieb die Pforte ihrerfeitö entfchieden und ſchon am 23. Mat verließ der rufflfihe 
General Fürft Menſchikow Konftantinopel und ging nach Odeſſa, und bafelbft Iangte 
fünf Tage fpäter auch der ruſſiſche Gefchäftsträger bei der Dttomanifchen Pforte, 
Wirklihe Staatsrat Oſerow, mit dem ganzen Berfonal der kaiſerlichen Gefandtfchaft 
an. So waren die Berbandlungen zwifchen R. und der Türkei abgebrochen, und fe 
blieben e8, troß des am 6. Juni Seitens der Pforte veröffentlichten Iradi's, wodurch 
fämmtlihen Chriſten ihre von Alter& Her bewilligten Nechte und freie Religionsübung 
garantirt wurden. Ein Weltkrieg war unvermeiblih. Es liegt noch in ganz naher 
Erinnerung, mie damals die Begebenheiten ſich drängten; wie das englifche Geſchwader 
fhon am 8. Junt and Malta nach den Dardanellen auslief; wie am felbigen Tage Omer⸗ 
Paſcha aus Monaftir nah Schumla ging, wohin er das Hauptquartier verlegte; wie am 
11. auch das franzdflfche Geſchwader aus Salamis nach den Darbanellen auslief; wie 
am 15. bie sombinirten Blotten unter den Befehlen ihrer betzeffenden Admirale (Dundas 


4 


(Neuere Geſchichte M.’S ſeit Peter dem Großen.) 601 


und General Raffuffe) bereits in der Beſikabai, 6 Meilen von ben Darbanellen, vor Anter 
lagen; wie am 26. Juni durch ein in Peterhof erlafienes Manifeft der Befehl zum 
Einrüden der ruffifchen Truppen in die Dongu-Fürftentyümer vevfündet wurde; wie 
bereit am 2. Juli die rufflichen Truppen den Pruth überfchritten; wie fie am 3. Juli 
in Jaſſy einrüdten, wofelbft zmei Tage fpäter auch der Oberbefehlshaber der ruffifchen 
Truppen, Fürſt Gortſchakow, anlangte; wie am 15. Juli Me Vorhut der ruffifchen 
Armee unter dem Befehl des General. Adjutanten Grafen Anrep⸗Elmpt in Buchareſt 
einzog; wie eine in Wien von den Mepräfentanten Englands, Frankreichs, Oeſter⸗ 
reichs und Preußens verfaßte Note zur Beilegung der rufflfch-türkifchen Differenz zwar 
am 31. Juli nah St. Petersburg abging und am 3. Auguft vom Kaifer Nikolaus 
angenommen ward; mie gleichwohl am 19. jenes Monats der türkifche Sultan, auf 
Anratben des englifchen Gefandten Stratfort de Mebclif feine Zuflimmung zu der 
Wiener Note verfagte; wie darauf am 14. September im @inverflänpnig mit ber 
Pforte die englifch-franzöftfche Escadre aus der Beflla-Bai nach dem Marmora: Meere 
auslief und ſich unmelt Konftantinopel vor Anker legte; wie am 4. October in der 
ganzen Türkei da8 Manifeft über den Krieg gegen R. veröffentlicht ward; mie noch 
verfchledene vergebliche Berfuche von den vermittelnden Mächten ohne den rechten Ernſt 
und Nachdruck angeflellt wurden, um die Differenzen audzugleihen, und mie endlich 
R. zu dem Kriegsmanifeft vom 1. November 1853 gedrängt ward, nachdem bereits 
türfifche Truppen in der Nacht vom 28. auf den 29. Detober ben ruſſiſchen Grenz⸗ 
poſten St. Nikolai an der aflatifhen Grenze R.'s gegen Türkifch-AUrmenien überfallen 
und Die gefammte Befagung nach flebenflündigem Kampfe aufgerieben Hatten und 
gleichzeitig die Türken bei Kalafat, Widdin gegenüber, in bedeutender Stärfe über 
die Donau gegangen waren. &8 folgten, wie bekannt, ‚nun in rafcher Anfeinander- 
folge alle Bhafen jenes erfchlitternden, Anfangs auf ruſſtſcher Seite mit Glück ge⸗ 
führten, dann aber, nachdem England und Prankreih gewaltige Truppenmaflen nad) 


der Krym warfen, und nachdem die Kurden, die Bergvdlker und andere Nationen 


in den Krieg mit Hineingezogen waren, zum Verderben R.'s ausfallenden Kampfes, 
der in feinen Hauptrefultaten bereit8 anderweitig (vgl. die Artitel Kryym, Nikolaus 1, 
Nachimow u. f. mw.) gefchildert worden if und deffen Ende Kaifer Nikolaus I., er— 
ſchüttert über Die mißlungenen Berfuche, feine feitherige tongebende Stellung in ber 
Diplomatie aufrecht zu erhalten, am gebrochenen Herzen. flerbend, nicht erlebte. — 
Alerander II. beflieg am 2. März 1855 unter fehr ſchwierigen Berhältnifien den Thron. 
Gleichwohl Hat dieſer Herrfcher, deſſen meichen Sinn man bisher nur hatte kennen 
Ternen, alle feine Unternehmungen mit einer Mannhaftigkeit und Energie durchgeführt, 
die dem Charakter feines Vaters zur Ehre gereicht haben würden. Am 11. Septbr. 
1855 zog zwar der Feind In die Trümmer der Südfeite Sewaſtopols (f. d. Art.), 
wo indefien Fürft Gortfhafom dad Commando erhalten hatte, ein. Allein das 
gewaltige ruſſiſche Süpheer, fi fort und fort durch neue Aushebungen ergänzend, 
land in ungefchwächter Kraft da, fa es rührte ſich energifch, ald das Obercommando 
aus Gortſchakow's Händen in die des Generald Lüders gelegt ward; dazu Tamen bie 
Siege im Kaukaſus und in Kleinaften, wo Kars nad hartnädigem Kampfe den rufs 
fiſchen Waffen unter Murawiew erlag; dad Vordringen R.'s gegen das Centrum 
Aſtens und die weitgreifende Coloniſation längs des Syr-Darja; die verhältnigmäßig 
geringen Progreffen Englands zur See, welches Kronſtadt nicht anzutaflen vermochte; 
die Ausſchreibung einer neuen Anleihe ſeitens R.'s von 50 Mill. Silberrubel, welche 
ſchnell zu Stande fam, und endlich die energifche Kortfegung der Kriegesrüſtungen — 


Turz R. blieb noch immer im Stande, Weſteuropa ke die Stirn zu bieten. Inzwi⸗ 


fyen mar Frankreich des Kampfes müde geworden. Deshalb fepte ſich Napoleon IH. 


Buch den fächflfchen Minifter v. Seebach zu St. Peteröburg mit Alerander II. in 


ein: geheimes Einverſtaͤndniß und fuchte R. dem Zrieden zugänglich zu machen, den 
e8 durch Defterreich wollte beantragen lafſen. Darauf Hin gab R. am 16. Januar 
1856 feine Zuflimmung zu den in der That dfterreichifcherfeits gemachten Friedens⸗ 


vorfhlägen, und ſchon am 1. Februar wurde von den Bevollmächtigten R.'s, Defler- 


reihe, Englands, Frankreichs und der Türkel ein Protocol über die vorläufigen 
Friedensbedingungen unterzeichnet. Das PBrineip eined Waffenſtillſtandes wurde ans 


N 


602 RNußland. (Geſchichte.) 


erkannt und bie Eröffnung von Conferenzen in Paris zwiſchen Bevollmächtigten der 
fünf friegführenden Mächte und Oeſterreichs beſchloſſen. Bereits am 25. Februar 
wurden zu Paris die Gonferenzen eröffnet. Am 30. März 1856 wurde zu Paris 
der Brieden von fämmtlichen Mächten unterzeichnet. Die Auswechfelung der Hatifica- 
tionen des "Friedendvertraged fand am 27. April flatt, und an demfelben Tage paſ⸗ 
firten den Bosporus die heimfehrenden franzöflihen Schiffe, während gleichfalls an 
demfelben Tage der ruffliche Reichskanzler Graf von Neffelrode aus der DBermaltung 
des Minifteriums des Aeußern fchied und der Geheimerath Fürſt Gortſchakow an deſſen 
Stelle trat. Unter den Beilimmungen dieſes Friedens vertrages, welcher die Unab⸗ 
hängigfeit und lintbeilbarfeit der Türkei unter den Schug der Vertragsmächte flellte, 
die Gewäßrleiftung der Rechte der chriftlichen Untertbanen des Sultans bebingte, die 
Aufrechterhaltung des Vertrages vom 13. Juli 1841 in Bezug auf die Schließung 
des Bosporus und der Dardanellen ausfprach, die Donaufchifffahrt regelte, die Moldau 
durch einen Theil Beflarabiens vergrößerte und ſowohl fle, wie die Walachei und 
Serbien, unter der Oberberrlichkeit der Pforte beließ, fle aber zugleidy unter den 
Schug der Bertragamächte flellte, und enblih MR. verpflichtete, weder am Schwarzen 
Meere Seearfenale zu befigen, noch die Älandsinſeln der Oftfee zu befefligen — bes 
rührten nur Die legten drei Punkte unmittelbar und empfindliy R., und die Reguli⸗ 
zung der neuen Grenzverhältnifie Befiarabiens hätte faſt neue Streitigkeiten veranlaßt, 
wenn nicht Napoleon III. fi auch bier wieder in's Mittel gelegt und die wichtige 
Stadt Komrat, die jenfeit des als Grenzfluß beilimmten Jalpuch liegt, nebft ihrem 
Gebiete, für R. gerettet hätte. Am 19. Juni 1857 wurden zu Paris die legten 
Protocolle, welche fi auf die neuen Gonfinten zwifhen R. und der Pforte bes 
zogen, unterzeichnet. Die ganze Territorialeinbuße R.'s durch die Wbtretungen 
in Beffarabien befchräntte fi) biernady auf 222,., geographiſche Quadrat⸗Meilen. 
Nach Beendigung jenes mehrjährigen Krieged war es des Kaiferd erſte Sorge, mit 
Mafregeln zur Hebung des Staatd- und Volkswohlſtandes vorzugehen. Nun folgten 
wobhlthätige Gefege und Meformen, welche die Zuftände im Innern hoben: die Stel» 
lung des Volkéunterrichts unter des Kaifers befondere Auffiht; Aufhebung der Mi⸗ 
litärcolonieen, die ſich als unzweckmäßig und Eoflfpielig erwieſen hatten; Berflärkung 
der Wehrkraft des Meiches dagegen durch Vermehrung der Artillerie und Gavallerie. 
Dann trat Alerander II. mit feinem bekannten Plane der Aufhebung der Leibeigen- 
Schaft hervor, deren Durchführung eine vollfländige Umwälzung in allen focialen, finan- 
ziellen und wirthichaftlichen Verhältniffen zum Thetl ſchon berbeigeführt bat, zum Theil 
noch herbeiführen wird. (Siehe darüber den obigen Abfchnitt über Statiſtik und den 
Art. Alerander II.) Bei der Stärkung feiner zarifhen Attribute, welche Alexander IL. 
befonderd durch Die Emaneipation der Leibeigenen zu Theil wurde, vermochte er es 
leicht, den neuen Aufftand in Polen, der Anfangs gefährliche Dimenflonen anzunehe 
men fchien, mit Kraft und Energie niederzumerfen (vgl. Polen, Geſchichte). Das 
Jahr 1864 Hat jene erneute, tactlo6 unternommene und verſtandslos durchgeführte 
Infurrection der Polen völlig in den Sand verlaufen fehen. Alexander U. vergab 
und vergaß Alles; alle Segnungen feined Landes trug er auf Polen über, und bie 
Schranken, weldye dem Haß des Volkes als neues Bollwerk hätten dienen Tönnen, 
fielen nieder. Vielfache Reformen in der Juſtiz, wie R. ſie feit 1862 erfuhr, befon- 
ders die Meformen des Strafſyſtems, durch welche Alexander II. Voll, Heer und 
Flotte erfreute, wurden unlängft auch den Polen zu Theil, und das neue humane 
Meglement für die ruffiichen und die finnifche Univerfität vom 30. Junt 1863 fol 
auch der neu zu begründenden Hochſchule in Warſchau zu Statten kommen. — Bliden 
wir am Schluffe unferer Betrachtung noch einmal auf die orientalifche Frage, bie 
beim Negierungsantritt des jegigen Kaiferd in einer für R. fo unbeilvollen Phafe 
fih befand, fo hat fi, obgleich eine völlige Klärung der Berhältniffe im Orient noch 
nicht erfolgt if, doc der Stand der Dinge fehr zu Gunſten R.'s verändert. R., 
welches ſich von dem Seehandel mit Indien faft ganz ausgefchloflen flebt, beſtrebt ſich 
dafür um fo mehr, den indifchen Handel auf dem Landmwege, durch Karawanenzüge, 
in feinen Alleinbeflg zu bringen. In Folge einer mit Perfien ſchon 1856 abgeſchloſ⸗ 
jenen Mebeseinkunft wurde bie Grenze zwifchen Transkaukaſien und Perſiſch⸗Armenien 


euere Geſchichte R.'s feit Peter dem Großen.) 603 


| 
derartig regulirt, daß das längs den Gonfinien von Türfifh » Armenien Hinftreifende 
Gebiet zwifchen Bajazid und Nachitſchewan feit Anfang 1857 zu R. gehören follte. 
Meberbaupt war die Ausbreitung und Stärkung der ruffifhen Macht in Aſten ſchon 
feit den legten Negierungsjahren Nikolaus 1. ein Gegenfland der eifrigften Politit R.'s. 
Schon 1853 war ein neuer erfolgreicher Zug VPerowskij's gegen das Gentrum Aftens 


vorgerüdt und die flarte Feſtung Akmetſchet (jegt Fort Perowokifſ) am Syr⸗Darja im - 


Chanat Khokant war in die Hände der Muffen gefallen. Giner der Hauptichlüffel 
des centralaflatifchen Handeld war fomit ein Eigentbum R.'s geworden. Wit Energie 
wurde felbft während des Krymkrieges der kaukaſiſche Krieg weitergefponnen und Schamyl 
immer mehr auf die Berge beichräntt. Lebhafter ald je ward der Krieg gegen die 
Bergvoͤlker felt 1857 aufgenommen und mit der Gefangennehmung Schamyl’s in 
Shunib und feiner Erilirung nad dem Innern R.'s (im Herbſt 1859) war der Krieg 
fo gut als beendet. Er ward indeß bis 1863 auch in den übrigen noch nicht völlig 
gezähmten Gebieten Fraftvoll fortgeführt und feit einem Jahre iſt der ganze Kaukaſus, 
foweit feine Berge und Wälder reichen, dem rufflichen Scepter untertban. Auf dem 
Kadpifchen Meere, wo MR. allein eine Kriegsflotte unterhalten darf, wurde ebenfalls 
feit dem Krymkriege die ruſſiſche Seemacht bedeutend verftärft, Baku zum Kriegshafen 
erhoben und ruflliche Forts und Befagungen auf die Infeln Tfchelefan und Ogurt- 
hin (an der Oſtküſte des Kaspifhen Meeres) gelegt, angebli zur Züchtigung ber 
truchmenifchen Piraten, in Wahrheit aber zu dem Zwede, um von hier aus militäris 
ſche Operationen nach dem Truchmenen⸗Iſthmus leiten zu fünnen. Während R. fo 
längs der Kaspiſchen Senke erfolgreih gegen Perſien vorbrang, rüdte es aud in 
der großen turanifchen Tiefebene ſiegreich gegen die indobritiſchen @ebirgämälle vor. 
Sämmtliche Länder der bisher freien Kirgifen, die Kleine Kirgifenhorde!) fammt dem 
Uflfurt- Plateau, dem Aralfee und dem Syr⸗Darja, die Mittlere Kirgifenhorde 2) bis 
zum Kara-Rul, die Große Kirgifenhorde 3) mit dem Saiſan⸗Nor, Ala⸗Kul, Ifſyk⸗Kul 
und dem Balkaſch⸗See und dem Lande der Buruten oder Die Horden der Schwarzen 
Kirgifen, d. 5. etwa 40,000 geographiſche Duadratmeilen, famen fo zwiſchen dem 
Kadpiichen Meere und China an R., deshalb fo wichtig, weil von hier aus die Strom⸗ 
gebiete des Jararted und Oxus (Syr- Darja und Amu-Darfja) oder die Ghanate 
China, Bochara und Khofant vollfländig beberrfcht werden. Der Chan des erſtge⸗ 
dachten Randes ift nominell fon Vafall R.'s, die Chane der andern beiden Staaten 
flräuben fich zwar noch wegen des Titels, find aber factifch bereits Lehndträger R.'s, 
und wie auf dem Kaspiſchen Meere A. Berften beberricht, fo influirt ed von ben Kir⸗ 
gifenfteppen aus und durch Flottillen und Garnifonen auf und am Aralſee auf bie 
fo eben erwähnten centralaftatifchen Ehanate. Auch China Hat im Weiten wie im 
Dften feines Laͤnderkoloſſes Abtretungen fich gefallen laſſen müſſen, welche zur Erwei⸗ 
terung des ruffifchen Meiches dienten. Die Stadt Kopal (45° 8’ n. Br. und 96° 47° 
d. 2, von Ferro) im Oſten des R. jept völlig gehörigen Balkafchfeed (eines Wafler« 
bedens von nicht weniger als 402, geogr. D.-M. Areal), auf vormals chinefifchem 
Boden vor wenigen Jahren angelegt, zählte 1861 ſchon A216 Bewohner und bildete 
eine für den Handel mit Gentralajien hoͤchſt wichtige Waarenniederlage.. Don Of« 
fibirien aus haben die Auffen ferner feit 1845 unaudgefegt die Grenze nach China 
weiter ſüdwaͤrts gefchoben, und es wurden Hier ohne Schmertflreich große Landſtrecken 
der öftlichen Mandshurei und zulegt dad ganze Stromgebiet des Amur rufflfcherfeits 
in Beilg genommen. (Siehe darüber den Abſchnitt Geographie und Statiſtik.) 
So Hat denn R. die orientalifche Frage geſchickt nach Gentral- und Oftaflen und nadı 
Amerika hinüberzufpielen geſucht, und bat bier Vortheile gewonnen, welche e8 die Neus 


N) Diefelbe wird im Akademiſchen Kalender von 18864 aufgeführt unter dem Titel „Land 
der Orenburgifchen Kirgifen.” 1858 beitrug das Areal 17,347 geogr. Duabratmellen und bie Bes 
völterung 580,000 Seelen. 

7) Sigueiet in ber xuffifchen Geographie unter : dem Namen „Sibirifches Kirgiſengebiet.“ 
Für 1860 wird das Areal zu 14,550 Q.⸗Ml. und 290,332 Cinw. berechnet. 

3) Heißt jetzt „Semipalatinstifches Gebiet” und hat 8100 DQ.:Mi. und 195,698 Ginw. und 
führte bis vor Kurzem ven Namen „Alataufcher Bezirk”, deſſen Berwaltungsfls laut Ufas vom 28. No: 
vember 1856 nad der feit 1854 a ein Befeſtigung Wiernoje (aud) Almat genannt) verlegt 
ward, jet aber zu Semipalatinek ſich befindet, 


604 Aukland, (Zur Literatur der ruſſiſchen Hiſtoriographie.) 


tralifation des Schwarzen Meeres, die Beſitznahme des Rothen Meeres feltend der 
Engländer und Pranzofen, fo mie die Einflüffe Oeſterreichs und der übrigen Groß⸗ 
mäcdhte auf Die türfifchen Vaſallenſtaaten (Serbien, die Donaufürftentgämer u. |. w.) 
und auf die Türkei ſelbſt wie auf Griechenland ruhig verfehmerzen Taflen Fünnen. 
Zur Literatur der ruffifgen Hiftoriographie. Unter den Schrift 
ftellern in Bezug auf die frühefte ruſſiſche Gefchichte nehmen die älteren Ghroniften, 
wie Neſtor und feine Nachfolger, deren in dem Abfchnitt ruſſtſche Literatur bereits 
Erwähnung gefchehen ift, den erſten Plag ein. Bon befonderer Wichtigkeit iſt unter 
den fpäteren annaliflifhen Werfen die fogenannte Sophienchronik, welche den Zeite 
raum von 862 bie 1534 umfaßt, und deren rufflfchen Text in geläuterter Ausgabe 
Strofem (Moskau 1820—1822, 2 Bände) berausgab. Die Faiferliche archaographiſche 
Geſellſchaft zu St. Petersburg Hat in Bezug auf die Herausgabe fämmtlicher vor⸗ 
handener ruffifcher Quellſchriften aus älterer Zeit, foweit fie in Hof⸗, Unlverſttäts⸗, 
Gerichts⸗ und Klofterarchiven tiber den weiten Umfang des Meiches zerftreut waren, 
das Ihrige redlih gethan. Bon Werken älterer vaterländifcher Autoren find nennens⸗ 


werth: Chilkow's „Kern der ruffiichen Gefchichte von den älteften geiten bis auf 


Peter den Großen" (Mosfau 1770, gefchrieben ſchon 1715); Schiſcherbatow's 
(unvollendete) „Ruſſiſche Gefchichte" (St. Peteröburg 1770 ff.), deflen „Zarenbuch?, 
„Zarenchronik“, „Gemälde der Megierung Monomach's“ u. f. w.; Tatifchtfchew's 
„Ruſſiſche Geſchichte von den Alteften Zeiten an* (Moskau 17691774, St. Peterd- 
burg 1784, A Bde.) u. f. w. Unter den Fremdwerken galten lange Zeit hindurch 
als vorzüglichfted Quellwerk Sigismund v. KHerberftein’® „Rerum Moscovitarum 
Gommentarii* (Wien 1549, Bafel 1551, 56, 66, 67, 71, 73, 74, Antwerpen 1557; 
Frankfurt 1560, 1600, neu herausgegeben von Starczewöki, St. Peteröburg und 
Berlin, Bd. J., überfegt neunmal in's Deutfche, zuerfi Wien 1557, dann Bafel 1567 
von Pantaleon u. f. w., in's Itallenifhe Benedig 1550, in's Böhmifche Prag 1786 
und faft in alle übrigen europälfchen Sprachen); dem erſt faft ein Jahrhundert fpäter 
ein ganzer Reigen neuer Hiftorlographen ſich anfchloß, morunter bie befferen find: 9. 
Petrefuß de Erlafunda, „Hiftorie und Bericht von dem Großfürſtenthum Muſchkow“ 
(Zeipzig 1624); Treuer, „EinlAtung zur Moskowitiſchen Hiftorie bis auf den Stol» 
bomwifchen Frieden (1617)*, Leipzig 1720; ©. Schmidt-Bhifelded, „Einleitung In die 
ruſſiſche Geſchichte“ (Miga 1772—1773, 2 Bde); D. €. Wagner, „Geſchichte bes 
europäifchen Nordens” (Leipzig 1778—1789, 9 Thle); N. G. le Elerc, „Histoire 
de la Russie* (Paris 1783—1794, 6 Bde.); D. €. Merdel, „Geſchichte des ruffifchen 
Reiches“ (Leipzig 1795, 3 Bde.) u. A. m. Leclerc's Schrift hatte durch Bottin's 
„Remarques* (Petersburg 1787) manche Bereicherung und Berichtigung erfahren. Unter 
den Schriftſtellern des gegenwärtigen Jahrhunderts nimmt zunächſt einen bedeutenden 
Rang ein der ald Sammler ausgezeichnete Hifloriograph I. Müller (vgl. denf.), deſſen 
„Alteuffiiche Geſchichte“ (Berlin 1812) noch Heut der Forfhung ala Anhalt dient. 
Schon vor ihm Hatte der um die Aufhellung der älteren ruffifchen Gefchichts- und 
MNechtöbeziehungen verdiente U. 2. v. Schlözer in feinem „Handbuch der Geſchichte 
des Kaiſerthums R. bis zum Tode Katharina’s II.“ (Göttingen 1802) einer neueren 
pbilofophifchen Auffaffung der gefchichtlichen Entmidelung des europälfchen Oſtens bie 
Bahn gebrochen, und in feine Fußtapfen hatte auch C. H. Benden durch feine „Geichichte R.'s 


feit der Gründung ded Staat8 bis auf die gegenwärtige Zeit” (Miga 1811) zu treten verfucht.. 


Einen mehr oberflächlichen Standpunkt nimmt P. C. Levesque’s „Histoire de Russie* (Parts 
1812, 8 Bde), troß der Zufäge eines Deppen, WMaltebrun u. f. w. ein, da nicht ein« 
mal die fämmtlichen bereit3 aufgededten Quellen benugt worden waren. Levesque's 

Erftarbeit: „Histoire des differens peuples soumis à la domination des Russes* (St. 
Peteröburg 1787, 2 Bde.) gehört ſchon zu den völlig antiquirten Werken. In den 
Jahren 1808 — 1816 erihienen I. P. G. Emers, der aus Archiven zu fchöpfen ver⸗ 
mochte, fleißige Zufammenftellungen, wie feine Schrift „vom Urfprunge des ruſſiſchen 
Staates” (Riga und Leipzig 1808), feine „ £ritifchen Vorarbeiten zur Defnite ber 
Aufien" (2 Abth., Dorpat 1814) und feine „Geſchichte der Ruſſen“? (Bd. I., Dorpat 
1816) und fanden verbientes Lob. Epoche machend für die neuere ruſſiſche Siforlo- 
grapbie wurde indeß erſt der bekannte Geſchichtſchreiber Karamfin (f. d.), deſſen 


nn m 


Ruſſtſch⸗franzöſtſcher Krieg von 1812. 609 


„Idtorija Nofflisfaja” (d. i. Ruſſiſche Geſchichte), mit der Fortſetzung von Bludow, 
zuerſt in St. Petersburg 1816 in 11 Bänden erſchien und ſpaͤter mehrfach neu aufs 
gelegt warb (deutfch von Hauenſchild und Goldhammer, Riga und Leipzig 1820 bis 
1833, 11 Bände). Einen geiftreihen Nachfolger fand Karamſin fpäter an Polewoti, 
defien „Geſchichte des ruſſiſchen Volkes“ (St. Petersburg 1829—38, 8 Vde.) freili 
bie biflorifche Entwidelung des Meiches von einem weniger dem idealen Claſſicismus 
zugeneigten Standpunkte aus auffaßt. Die praktifche Seite der KHiftoriographie kehrt 
auch der ſonſt geiftvolle Schriftfieller Uftrfalow in feiner „Geſchichte Rußlands“ 
(deutſch, Stuttgart 1840, 3 Bde.) Heraus. Inzwifchen waren eine Menge, mehr der 
Chronologie, Statiflil und andern fpeciellen Zwecken dienende Werke über Rußland 
esihienen, wie B. v. Widmann’ „chronologiiche Meberficht der rufflichen Geſchichte 
von Peter's des Großen Geburt an" (Leipzig 1821—25, 4 Bde); U. Weremeyer’s 
„Tableau historique, chronologique, geographique et statistique de Russie* (Leipzig 
1828, 16 Tabellen Folio) u. a. m., von denen wir nur flüchtig Act nehmen. Mebr 
als Forſcherſchriften find anzumerfen: C. Gompagnoni, „Sloria dell’ impero Russo* 
(2ivorno 1829, 6 Bde.); Balletti, „Gefchichte des ruiflichen Reiches“ (Leipz. 1832); 
Strahl und Hermann, „Geſchichte des ruſſiſchen Staates” (Hamb. u. Gotha 1832 ff., 
wovon bis 1860 6 Bände erfchienen waren); Bradel, „Geſchichte Rußlands" (Miga 
1841) u. a. m., obgleich deren Berfafjer fehr verfchiedene und zum Theil fehr ein« 
feltige Standpunkte vertraten. Wichtig für die Archäologie und Alterthumskunde 
Rußlands find Schriften wie Lehrberg's „Unterfuchungen zur Erläuterung der älteren 
Geſchichte Auflande " (St. Peteröburg 1816); Hammer's „sur les origines russes“ 
(St. Petersburg 1325); Schlözer’8 „les premiers habitauts de la Russie“ (Paris 


1846); „Antiquilös russes* (Kopenhagen 1850 ff., 2 Bde.) und beſonders Turgenfew'& 


„Historica Russiae monumenta* (St. Beteröburg 1841 ff., 2 Bde.), der die Stod- 
-bolmer, Barifer und Wiesner Archive, die Urkunden des DBaticand und andere wich 
tige Quellorte benupte. 

Ruſſiſch⸗franzöſiſcher Krieg von 1812. Die zu Tilſit gefchloffene und bei der 
Zufammenkunft in Grfurt mit großer Oftentation vor der Welt zur Schau getragene 
Freundſchaft zwifchen Napoleon und dem Kaifer Alerander hatte nach kaum Jahres⸗ 
frift fchon eine bebeutende Erfaltung evfahren, da Feiner ber beiden Autofraten den 
andern feinen Brojesten jo willfäbrig fand, als er von ihm gehofft hatte. Der 1809 
‚ gegen Oefterreich ausbrechende Krieg fand fle allerdings beide als Alliirte, indeß wurde 
suffifcherfeitö der Krieg mit Lauheit geführt und die Stipulationen des Wiener Frie⸗ 
dens gaben fchon Anlaß zu der erflen offenen Beſchwerde Rußlande. Es war nämlich 


der größere Theil der galiziſchen Abtretungen nicht, wie Alexander gehofft, an ihn, 


fondern an das Großherzogthum Warfchau gefallen, deſſen Errichtung er ſchon nadh 
dem Tiljiter Frieden mit Mißtrauen betradytet hatte. Nicht ohne Grund ſah er darin 
einen weitern Schritt zus Wiederherſtellung eines unabhängigen Polens ald Bormauer 
gegen Rußland, und verlangte nun Garantieen, daß dad Herzogthum Feine neuen Ver⸗ 
größerungen erhalte, ganz als fächfliche Provinz behandelt und Polen niemals mieder 
bergeftellt werden follte. Napoleon, dem damals noch daran lag, die rufflfche Freund⸗ 
ſchaft ſich zu erhalten, beauftragte feinen Gefandten Gaulaincourt, die verlangten Ga⸗ 
santieen, nicht aber die pofltive Erklärung der Nichtwiederberftelung Polens zu 
sehen. Auf diefem Iepten Punkt beitand aber Rußland und die linterbandlungen 
zogen fih ohne Erfolg bis in das Jahr 1810 Hin. In diefe Zeit fiel auch der 
Antrag Napoleon’s, fi mit einer ruſſtſchen Prinzeffin zu vermählen. Alexander 
zögerte aus Gründen, die, wie er angab, nicht von ihm abhingen, da brach Napoleon 
plöglich die Negociationen ab und beirathete die Erzherzogin Marie Louife. Natürlich 
teug dieſes Ereigniß nicht dazu bei, das keimende Mißverfländniß, das fich ſchon in 
gereizten Noten Luft machte, zu befeitigen, unb die neuen politifchen Gewaltfchritte 


Napoleon's, die Einziehung des Kirchenſtaats, die Vereinigung Hannovers mit Weſt⸗ 


falen, die Einverleibung Hollands fleigerte noch den Unwillen und die Beſorgniß für 
die Zukunft. Der rufflihe Handel und die Finanzen litten empfindlich unter dem 
Drude des Prohibitivſyſtems gegen England, und je mehr Napoleon fich befchwerte, 
daß Rußland den Schleichhandel Kegünfige und damit die Wirkungen des Syflem” 





606 Ruſſiſch⸗franzöſiſcher Krieg von 1812. 


Hintertreibe, deſto Tauter erhoben fly dort die Stimmen, welche die Freundſchaft Na⸗ 
poleon’8 als Leinen Hinreichenden Erfag für die dem Lande zugeflgten Nachtheile 
bezeichneten und einer Berfländigung mit England das Wort redeten. Der erfle 
Schritt, welcher die Abweihung Rußlands von feiner biöherigen Politik kennzeichnete, 
war die am 31. December 1810 erfolgte DVerlündigung eines neuen Zollſyſtems, 
wonach viele franzöftfhe Waaren ganz verboten, andere Hoch befleuert, dagegen die 
Einfuhr englifher Waaren unter neutraler Flagge geftattet wurde. Faſt gleichzeitig 
wurde der ruſſiſche Hof durch einen Act der Außerften und beleidigendflen Nüdfichtöloflge 
keit überrafht. Mitteld Decrets vom 13. December vereinigte Napoleon 600 Quadrat» 
meilen deutfchen Gebiets, darunter die Hanfeflädte und das Land des dem Kaiferhaufe 
nabe verwandten Herzogs von Oldenburg, mit Franfrei unter dem fehndden und 
nichtöfagenden Vorwande, „dag die Verhältniffe dies nöthig machten“. Unter Hin⸗ 
weiß auf die Verträge erflärte der Kaifer Alerander laut und öffentlih, daß er dieſe 
Beraubung ald eine perfänliche Kränfung anfehe, wies jede Entfhäbigung von der 
Hand und verlangte einfache Wiedereinſetzung. Da dies nicht geſchah, hörte die vertrau⸗ 
liche Stellung, welche Baulaincourt am Peteröburger Hofe gehabt hatte, auf, er wurde kalt 
behandelt, bat um feine Abberufung und wurde 1811 durch Laurifton erſetzt. Hiermit 
war das alte freundfchaftliche Verhältniß zu Ende und von beiden Seiten die Rög- 
lichkeit eines Krieged erwogen. Denn in Laurifton's Inftsuctionen waren ſchon zwei 
Eventualitäten als mögliche Kriegsfaͤlle bezeichnet: Die Ausföhnung Rußlands mit 
England und feine Neigung, auf dem rechten Donau-Üfer auf Koften der Pforte ſich 
zu vergrößern. Gerade dieſe Neigung war aber für Alerander ein Hauptgrund ge= 
weſen, daB franzöftfche Buͤndniß einzugehen, da er Dadurch mit der Zeit Konftantinopel, 
trog England und Defterreih, für fi zu gewinnen hoffte. Hier verficherte man ſich 
gegenfeitig feiner Friedensliebe, indeß ordnete Napoleon eine neue Ausbebung an und 
Alerander that Schritte zur befieren Dedung der Weflgrenze feines Reichs. Der 
gerade jegt unglüdliche Krieg in Spanien und Portugal ließ dem Einen, der nodh 
nicht beendete Krieg mit der Bforte dem Andern bie DBerzögerung bed Kampfes 
mwünfchenswerth erfcheinen, und das Jahr 1811 verging unter fruchtlofen Berfuchen 
der Einigung. Napoleon's Erbitterung gegen Rußland ging indeß fo weit, daß er 
ſowohl bei Gelegenheit der Gratulation, welche das Handeld-Eolleglum ihn zur Ge» 
burt des IThronerben, ald an feinem Namenstages gegen den ruſſtſchen Geſandten 
Fürften Kuralin eine Sprache über Rußland führte, die als ficheres Anzeichen des. 
naben Sturmed gelten konnte. Bereits feit dem Brühfahr war Napoleon eifrig be⸗ 
fhäftigt, große Vorrätbe an LKebensmitteln und Kriegämaterial in den Weichſel⸗ 
feftungen zu etabliren, um ſich dort eine Bafls für den fünftigen Krieg zu ſchaffen; nicht 
minder thätig rüflete Rußland, und bereits zu Ende des Jahres erfchien der Krieg 
unvermeidlih. Beide Theile faben fih nad Verbündeten um. In Rußlands Interefle 
lag es, den türkiſchen Krieg zu beendigen, um freie Sand zu haben; der Friede mit 
England ward dur den ausbrechenden Krieg mit Frankreich von felbft bergeftellt, 
und felöft der alte Erbfeind Schweden, das chen erft Finnland eingebüßt, neigte ſich 
auf Rußlands Seite. Es Tag died zumeift in ber perfönlichen Stellung des zum 
Kronprinzen von Schweden erwählten Bernadotte zu Napoleon, und in der rüdfidhtE« 
lofen Weife, mit welcher diefer bezüglich ded Continental» Syflemd gegen Schweben 
aufgetreten war. Indem Rußland dem Lieblingömunf des Kronprinzgen, Norwegen 
für Schweden zu gewinnen, Genüge zu leiften verſprach, wurde das Einverſtändniß 
vermittelt, und dieſes Vundniß, das dann Rußland den Rücken deckte, war von der 
größten Wichtigkeit. Noch durfte Rußland auf einen Verbündeten zählen, auf bie 
lebhaften Sympathieen der von den Franzoſen gefnechteten Völker, die fie in feinem 
Müden ließen und deren Wünfche und Hoffnungen nachgrade Niemandem ein Ge⸗ 
beimniß waren. Der größte Theil der verfländigen Franzoſen und felbft der frivels 
Jerome Napoleon wieſen mit Beforgniß auf die Gefahr Hin, die dem franzöflfchen 
Meiche drobe, wenn das Heer in Rußland einen Unfall erlitte und die Deutfchen fi 
erböben; nur Napoleon, defien Verachtung der Menfchen ihn fchließlich zur vollflän- 
digen Blindheit führte, verlachte dieſe Bedenken. In der bedrängteflen Rage war 
Preußen; die Berbältnifie dieſes Staats können bier nicht mehr erörtert werben; «+86 


Nujfiſch⸗ franzöfticher Krieg von 1812. 607 


genügt, zu bemerken, daß es, da Rußland ihm vorläufig die unentbehrliche Hülfe 
nicht gewähren fonnte, um nicht von Napoleon übergerannt zu werden, notbgedrungen 
einen Allianz Vertrag mit Napoleon fchloß, demzufolge e8 für den Ball eines Krieges 
mit Rußland demfelben ein Hülfscorp& von 20,000 Mann ftellte. Der Oberſt Kneſebeck, 
General-Adjutant des Königs, welcher mit Bewilligung Napoleon’s im Januar 1812 
nach Beteröburg gefandt murbe, um noch einen Ausgleihungsverfuc) zu machen, hatte 
den geheimen Auftrag, dem Kaifer bie hoffnungslofe Lage des Landes und die Unmöglichkeit, 
fly dem franzoſiſchen Bändniffe zu entziehen, vorzuftellen. Gleichzeitig aber fegte Kneſe⸗ 
bed (ſ. d. Art.) dem Kalfer feine Ideen Üiber die von den Ruſſen anzuwendende Kriegführung 
auseinander, die darin befanden, den Feind durch Raum und Zeit zu fchlagen, 
d. 5. den Krieg durch fortwährendes Zurückweichen tief in dad Innere des dünn bes 
völferten Rußlands zu verlegen, fih auf Feine Schlacht einzulaflen, den Beind durch 
Detadhirungen zu ſchwächen, auf feine Flanken und Rüden zu wirfen und fchließlidh 
die Hülfe des früh eintretenden nordifhen Winters zu erwarten. Gleichzeitig beichwor 
er den Kaifer, unter Leinen Umfländen, ſelbſt nach erlittenen Verluften nicht, Frieden zu 
fhlleßen, da Napoleon’8 Unternehmen fchließlih unfehlbar an der räumlichen Aus» 
dehnimg des ruffifhen Reiches fcheitern mäffe ES gelang ihm, den Kaijer von 
der Nichtigkeit feiner Anfichten zu Überzeugen, und derſelbe entließ ihn mit den Wor⸗ 
ten: „Sagen Sie dem Könige, daß ich keinen Frieden ſchließen würde, und müßte ich 
pie Kafan zurückgehen!“ Trug das franzöſiſche Bundniß mit Preußen dad Gevräge 
des Zwanges und Mißtrauens, ſo war dies keineswegs mit dem zwiſchen Napoleon 
und Oeſterreich abgeſchloſſenen der Ball. ‚Schon längft hatte leyteres mit ſcheelen 
Augen die Fortſchritte Rußlands an der Donau betrachtet; nachdem e8 dad Adriatifche 
Meer verloren, war ed faft mit Notbwendigkeit auf die Donaumlndungen hingewieſen, 
und ald Napoleon Metternich die Erlangung der Moldau und der Walachei, fo 
wie einen Taufch von Galizien gegen Illyrien in Ausficht flellte, ward der Allianz» 
vertrag vom 24. März ünterzeichnet, demzufolge Defterreich genen Rußland ein Hülfs- 
corp8 von 30,000 Mann zu flellen ſich verpflichtete, das felbfifländig operiren 
follte. Un demfelben Tage ward der Allianzvertrag zwifchen Schweden und Rußland 
geſchloſſen, obwohl es erſt im Januar 1813 zum förmlichen Bruch zwiſchen Schweden 
und Sranfreih fam. So mar der Krieg eine feft befchloflene Sache; die Aushebungen 
in Frankreich wurden vollendet, die Garden in Marſch gefeht, die deutſchen Eontin« 
gente mobil gemadht und nun Alles verfucht, um den Gegner binzubalten und trüge- 
riſche Hoffnungen zu erweden, damit dieſer nicht die Initiative ergriffe und die Ma⸗ 
gazine in Polen und Preußen zerftörte, bevor die Heeredfäulen aus dem Weften heran⸗ 
gekommen fein fonnten. Auch die legte Sendung des Grafen Narbonne nah Wilna im Mat 
1812 hatte nur den Zweck, den Ausbruch der Feinpfeligkeiten um einen Monat hinauszu⸗ 
fchieben, damit Napoleon feine Heereßmaflen bie dicht an die rufflfche Grenze fchleben Eonnte. 
In Peteröburg war man übrigens von allem Wichtigen, was geſchah, hinlänglich unterrichtet, 
au Hatte man durch den gewandten Grafen Tfchernitfcheff, der als Attach& der Ge⸗ 
fanbtfyaft in Paris ſich aufhielt, genaue Staͤrke-Nachweiſungen der gegen Rußland 
in Bewegung gefeßten Heeres⸗Maſſen erhalten. Man war aber mit den Rüſtungen 
noch keineswegs weit genug gelommen, um felbfl, wenn dies beabflchtigt geweſen wäre, 
die Offenfive zu beginnen; man wariete daher innerhalb der ruffifchen Grenze den 
Angriff Napoleon’3 ab. Am 9. Mai ging Napoleon von Paris ab und über Mainz 
nach Dresden, wo ihn Die Herrfcher Preußens und Oeſterreichs begrüßten. Am 29. Mai 
brach er nad Polen auf, um den Kampf zu beginnen, nachdem ihm Narbonne die 
Nachricht gebracht, Daß der Kaifer Alerander zum Kampfe entjchloffen fei, ihn aber 
nit beginnen werde. Am 22. Junt erließ er von Wilkowizki aus den Aufruf an 
fein Heer, der mit den befannten Worten ſchloß: Rußland iſt fortgeriffen durch fein 
Berhängniß, feine Geſchicke müflen fih erfüllen! Dort erbielt er audy die unwillkom⸗ 
mene Nachricht, daß Rußland mit der Türkei den Frieden -zu Bufarefi am 28. Mai 
gefchloffen babe, wodurch die bis dahin an der Donau beichäftigte 35,000 Mann flarfe 
Armee des Admirals Tſchitſchagow nun gleichfalld "zum Kriege im Welten diöponibel 
wurde. Bevor zu der Eurzen Schilderung ber Friegerifchen Begebenheiten übergegangen 
wird, iſt es erforberlich, eine Meberficht der gegenfeitigen Streitfräfte zu geben. Die 


608 Muſſiſch⸗franzöſiſcher Krieg von 1812. 


Vorbereitungen Napoleon’d waren im rieflgften Waßflabe betrieben worben, bie Detailg 
darüber finden fich in den zahlreichen Werfen, deren bebeutendfle am Schlufle dieſes 
Artikels aufgeführt find. Lieber 600,000 Mann befanden fi auf dem Marfche gegen 
Rußland, großentheild aus erlefenen Truppen beftehend, welche 13 Armee» und 4 Ga- 
vallerie-Gorp8 bildeten, deren Befehl den bedeutendſten Generalen anvertraut war. 
Die Garden Lefebure. Das 1. Corps Davouft, das 2. Dudinot, das 3. Ney, das 
4. der Vice⸗Koͤnig von Italien, dad 5. Poniatowsky, das 6. Gouvion St. Cyhr, das 
7. Reynier, das 8. Bandamme, das 9. Victor, das 10. Macdonald, dad 11. Aus 
gerau, endlih das dfterreihiihe Gorps unter Schwarzenberg. Außerdem die von 
Murat befehligte Meferve:Cavallerie, A Corps unter Naufouty, Montbrun, Grouchy 
und Latour-Maubourg, zufammen 605 Bataillone, 526 Escadronen, 1400 Ge- 
Ihüße, von denen indeß die Hälfte, 306 Batalllone, 275 Escadronen aus 
Ausländern beflanden, die fi zwar als brave Soldaten mit großem Muthe ſchlugen, 
im Herzen aber größtentheilö den Eroberer verwünſchten, deſſen Bahnen fe folgen 
mußten und deren Sympathieen durchaus auf der Seite des Gegner waren, Don 
diefen 600,000 Mann wurde das 9. und 11. Korps im Juni noch an ber Ober, 
veip. der Elbe zufammengezogen, und 80,000 Mann Marſchbataillone waren auf ben 
ruhwärtigen Etappen zerfireut. 450,000 Bann befanden fid Mitte Juni an der Weſt⸗ 
grenze, die in vier Hauptmaflen vorrüden follten: auf dem linken Slügel Macdonald 
mit dem 10. Corpé Preußen, und die Divijlon Grandjean, 51,000 Wann, fand bei 
zilftt und war gegen Riga beflimmt; dad Centrum (die Garde, das 1., 2, 3., 4., 
6. Armee⸗ und die drei erfien Gavallerie - Corps unter Napoleon felbfl) bei Komno 
und Pilona, 3 Armee - Corps -(das 5., 7., 8. und das 4. Bavallerie,- Eorpb unter 
Jerome) bei Grodno, das öflerreichifche Corps unter Schwarzenberg endlich bei Dro⸗ 
biezyn am Bug. Diefen gewaltigen Truppenmaflen konnte man ruſſiſcherſeits in erſter 
Linie wenig mehr als ein Drittel der Zahl entgegenflellen. Allerdings hatte: man be= 
seitd im Jahre 1811 die Müftungen begonnen; indeß bei den weiten Raͤumen und 
dem mangelhaften Erfagwefen fchritten Diefelben nur langſam vor. Bei Eröffnung bes 
Feldzuges war die rufflfche Armee an der Grenze, kaum 180,000 Mann flarf, in drei 
Hauptmaſſen aufgeftellt: die erfle Weſt-Armee unter Barclay (j. diefen Art.), etwa 
100,000 Bann, fand mit dem rechten Flügel (Wittgenftein) am baltifchen Meere, mit 
dem Iinfen (Doftoroff) gegen Grodno; das Hauptquartier in Wilna. Die zweite 
We - Armee, 48,000 Mann unter Bagration (f. diefen Artikel), dehnte fih von 
Grodno bis zur Muchawetz aus; das Hauptquartier war in Wolkowick. Die britte 
Wefle oder Reſerve⸗Armee unter Tormaſſow, 35,000 M., fland in Volhynien, jenfeit 
der geoßen Pripet-Sümpfe, mit dem Hauptquartiere Luzk. In zweiter Linie land das Re⸗ 
fervecorp3 unter Hertel und Miloradowitfch an der obern Düna und Berefina, das finnifche 
Eorps unter Steindeil 12,000 Wann, uefprünglich zur Unterlügung Schwedens bei 
der Eroberung Norwegens beftimmt, das fpäter Wittgenflein verflärkte, und die Mol⸗ 
dau= Armee, 35,000 Mann unter Tſchitſchagow, die aber erſt durch den Frieden von 
Bukareſt disponibel wurde und für die erfien Monate nicht mit in Berechnung kam. 
Die urjprüngliche Idee, einer excentrifchen DOffenfive auf beiden Blügeln durch eine 
Landung in Schwedifh-PBommern und durch einen Angriff in Illyrien flellte ſich fehr 
bald als gänzlih unausführbar heraus, um fo mehr, ald man durch den Angriff des 
Feindes, troß aller Vorbereitungen, doch gewiffermaßen überrajcht wurbe; man bes 
ſchloß daher, fih auf die Vertheidigung zu beichränfen, und, da man mit Recht an 
nahm, daß der Feind auf dem kürzeren Wege nördlich der Pripet- Sümpfe gegen 
Moskau vordringen werde, die beiden erflen Armeen nördlich bei Wilna und Wolko⸗ 
wid, die dritte ſüdlich derfelben aufzuftellen. Drängte der Beind mit Ueberlegenheit 
gegen die erfle vor, fo follte ſich dieſe excentriſch in das verfchanzte Lager von Drifie 
zurückziehen, die zweite gegen des Feindes Bommunicationen vorgeben; wandte der Geg⸗ 
ner ſich gegen die zweite Armee, fo follte diefe auf Boniffoff und Bobruisk zuräd, 
und die erfte gegen des Feindes Communicationen geben; die dritte Armee follte des 
Feindes rechte Flanke bedrohen und im Notbfall nach Kiew gehen. — Diefer Plan, 
das Project des Generald v. Phull, war fchon darum nicht praktiſch, weil ber Abftand 
von der Grenze zur Düna und zum Dujeſtr zu Bein war, um den Beguer überhaupt 


Auffiich- franzöfliher Krieg von 1812, 609 


durch Anfirengungen in excentrifcher Richtung entkräften zu Tönnen. Berner gehörte 
dazu bie flurmfreie Befefligung von Boriffoff und Bobruisk für den zweiten, und von 
Dünaburg und Sebeſch für den erfien Ball, und namentlich das Lager bei Driffa. 
Die Befefigungen dieſer Pläge waren aber Außerfi mangelhaft, und ebenjo das Lager 
nur durch Schanzen mit Erbprofllen gededt, und außerdem durch bie vor der Front 
fließende Düna zwar gefhägt, diefer Fluß aber fo ſeicht, Daß er rechts und links 
auf geringe Entfernung burchfuhrtet werden konnte. Endlich gehörte nicht nur zur 
offenfiven Vertheidigung des Lagers von Driffa, fondern zur Durdführung des gan- 
zen Phullfchen Plans eine entfchiedene Leberlegenbeit an Truppen, wührend das 
Segentheil vorhanden war. Hatte der Feind nur die gleiche Stärke, fo konnte er, 
von der Mitte aus fi mit verfammelten Kräften, alfo überlegen auf eine der⸗ 
felben werfen und fle erbrüden, bevor die andere wirffam wurde, mar er aber viel 
ſtaͤrker, dieſe Dffenfive gegen beide Armeen zu gleiher Zeit unternehmen. Bei Aus« 


bruch des Feldzugs befand ſich der Kaifer Alexander zu Wilna, und Phull als fein 


Mathgeber ihm zur Seite; und man verfprach fi das Befle von dem Xager von 
Driffa; glüdlicher Weiſe wurde der Plan, ſich dorthin mit der erſten Weſt⸗Armee zu⸗ 
shdzuzieben, bald aufgegeben, und man wich vor dem Anbrängen des fehr viel flär- 
teren Beindes nothgedrungen Schritt vor Schritt zurüd. Wenn rufftifche Schriftfteller, 
namentlich Michailowoki Danilewoki behaupten, daß der Grundſatz, man müffe Feine 
Schlacht liefern, fondern durch fortwährendes Zurückweichen den Feind ind Innere 
Rußlands locken und ihn durch Died Vorgehen allein fih ſchwächen laſſen, 
von vorn herein als leitender Grundfag audgefprochen fei, fo iſt Died durch die un⸗ 
widerleglichften Zeugnifie als Hiflorifches Falſum erwiefen. General Toll, der während 
des Beldzugd zuerfi in der Umgebung des Kaiferd, dann bei Barclay und Kutufom 
General» Quartiermeifter war, fpricht es geradezu aus, daß von einem ſolchen plan⸗ 
mäßigen Zurüdgehen auch nicht entfernt die Mede gewefen, vielmehr ſtets die Abſicht 
geweien fei, fobald als möglich dem Feinde eine Schlacht zu liefern. Allerdings ſprach 
der Fürft Lienen, bisheriger Gefandter in Berlin, der im Lager von Wilna eintraf, 
diefe Anficht aus, die in preußifchen militärifchen Kreifen vielfach als die einzig rich⸗ 
tige anerfannt worden war; er drang aber im rufflfchen Lager Damit nicht durch. 
Es war einfach die Macht der Verbältniffe, oder um es fchärfer auszubrüden, die 
Allmacht des lebendigen Gottes, weldye die ruffifche Armee auf den einzig möglichen 


- Weg des endlichen Sieges führte, und fo den Plan, den Kneſebeck's großartige An⸗ 


fhauungswelfe dem Kaifer ald den einzig erfolgreichen hatte entwideln laſſen — nicht 
nur ohne, fondern geradezu gegen den Willen der ruſſiſchen Feldherren zur Aus⸗ 
führung brachte. Napoleon ſah in R. nur ein Gonglomerat von Rändern, deren 
weftlihe ihm günftig gefinnte nur durch die Macht der Heere, die öſtlichen beſonders 
Durch Moskau zujammengehalten wurben; er mußte daher die Armee [lagen und 
Moskau und damit, wie er wähnte, den Frieden erobern — dies alles aber moͤglichſt 
bald geſchehen, da ſchon Ende Detober der nordifche Winter und damit das Ende 
der Operationen eintrat — fchon deshalb war er alfo aufden kürzeſten Weg nah 
Moskau, den nörblich der großen Sumpflinie, gemiefen. Napoleon befchloß demgemäß, 
mit 230,000 Wann (den Barden 1, 2, 3 und 3 @avallerie-Eorps) bei Komno über- 
zugehen und Barclay fo ſchnell ald möglich zurüdzumerfen, Jerome mit 78,000 Mann 
(5., 7., 8. und 4. Bavallerie» Corps) follte acht Tage fpäter bei Grodno übergehen 
und gegen Bagration marfchiren. Durch biefen.fpäteren Uebergang wollte er den 
Letzteren und Barclay’8 linken Flügel Doktoroff veranlaffen, länger zu verweilen, um 
fie dann durch Detadhirungen aus dem Gentrum gänzlich abzufchneiden. Der Dice 
könig mit dem 4. und 6. Corps, 67,000 Mann, follte bei Pilona übergeben und 
fomohl Napoleon’8 rechte Flanke deden, als die Verbindung mit Jerome vermitteln, 
Schwarzenberg und Macdonald endlich in angemefjener Höhe mit dem Centrum gegen 
ihre Angriffsohjeete vorrüden. Am 24. und 25. Juni überfähritt Napoleon den Nie- 
men, fenbete fofort Oubinot, von Ney gefolgt, gegen Wittgenflein nad Keydami 
links und Davoufl gegen Minsk rechts, um Bagration abzufchneiden. Barclay trat 


am 26. fofort den Rüdzug aus Wilna auf Driffa an, wo er, nachdem er ſich am 


2. Jull Sei Swenzjany mit Doktoroff und Wittgenftein, ber Heftige Arrieregarden⸗ 
Bagener, Gtaats- u. Geſellſch.⸗Lex. XVIL 39 





⁊ 


610 Rujſijch-franzöͤſiſcher Krieg non 1812, 


Gefechte mit Oudinot beflanden Hatte, vereinigt am 10. Juli eintraf. Eugen ging 
am 30. Juni von Pilona auf Novi Trofi, ſchickte von dort auf Napoleon’s Befehl 
da® 6. Corps zur Hauptarmee zurüd und traf am 10. Juli in Dewntdi ein. Den 
1. Juli ging Jerome bei Grodno über und rüdte auf Bialyſtok vor. Bagration 
war am 29. Juni nah Wolfowick aufgebrochen, mo er den Niemen pafflsen wollte; 
als er jedoch den Marfch Davouſt's erfuhr, wandte er fich auf Minsk und, ald er audh 
dort ſchon Beinde traf, auf Mohilew. Die 1. Weſtarmee blieb in Driffa acht, dad Centrum 
Napoleon’d vierzehn Tage in und bei Wilna fleben, da ein anhaltendes Megenwetter, 
fo wie die Schwierigkeit, die Verpflegung in dem dünn bevölferten Lande zu be⸗ 
Schaffen, diefen Halt zur Nothwendigkeit machten. Schon jegt riffen verberbliche 
Krankheiten im franzöftfegen Heere ein und namentliy litten die Pferde durch die 
grüne Youragirung, von denen in einigen Tagen 30,000 zu Grunde gingen. In 
Driffa entſchloß fih der Kaifer Alerander, den Plan Phull's, fi dort zu fchlagen, 
aufzugeben und die Armee zu verlafien, nachdem er Barclay zum Oberbefehlshaber 
ernannt und Bagration befohlen hatte, ſich mit demfelben bei Witepok zu vereinigen. 
Er ſelbſt ging nad Moskau, um von dort aus die Milizen unter die Waffen zu rufen 
und die Bildung der Reſerve⸗Armee zu betreiben. Mit dem Kaifer verließ zwar ein 
großer Theil feined Hauptquartierd die Armee, viele feiner General⸗Adjutanten und 
namentlihd der Großfürſt Conflantin blieben aber zurück. Die an und für ſich fehr 
fhwere Stellung Barclay’, der ald Ausländer den National-Auffen nicht genehm 
war, wurde dadurch faſt unmdglich gemacht, und es gehörte Die ganze Energie und 
Selbfiverläugnung Barclay’& (f. d. Art.) dazu, in derfelben auszuharren. Uebri⸗ 
gens blieb ihm, um fich endlich Ruhe zu fchaffen, nichts Anderes übrig, als einige 
Offiziere, Deren Widerſpruch in offene Meuterei überging, erſchießen zu laflen; 
ebenjo entfernte er nah der Schlaht von Swolensk feinen Haupigegner, den 
Großfürften, dadurch von der Armee, daß er ihn mit wichtigen Papieren an den 
Kaifer enifendete. Das nächſte Ziel Barclay’ war vorläufig die Bereinigung 
mit der Armee Bagration's, um dann zum Angriffe Überzugehen — von einem 
planmäßigen Rückzuge war alfo au damals noch feine Rede. Die DVereinigung- 
mit Bagration war aber diefem, der Alterer General ald Barclay war, durchaus une 
erwuͤnſcht; er flellte deahalb dem ihm aus Driffa mit dem Befehl dazu zugefandten 
Hlügel-Adfutanten v. Wolzogen (f. d. Art.) die Operationen ald bereitd unaus⸗ 
führbar bin und beabfichtigte, fich in die Ukraine zu ziehen, um dort felbfiftändig den 
Krieg zu führen; nur die energifche Vorſtellung Wolzogen's, daß die Bereinigung 
geiheben müſſe, da der Kaifer fie befohlen Habe, veranlaßte ihn endlich zu ges 
horchen. Troß feines Aufenthalts bei Niedzewitfch gelang es ihm, dem verfolgenden 
Jerome zu entkommen, da diefer noch langfamer marfchirte als er und mehrere uns 
zeitige Ruhetage machte. Zornig bierüber ftellte ihn Napoleon unter Davouſt's Be⸗ 
fehl, und Jerome, darüber aufgebracht, verließ die Armee, nachdem er noch durch 
einen ihm bei Mir vom Hetmann Platoff gelegten Verſteck viele Leute verloren hatte. 
Am 16. brach Barclay, nachdem er Wittgenflein mit 25,000 Mann bei Volozk zurüde 
gelaffen, um die Straße nach Peteröburg zu deden, auf dem rechten Düna⸗Ufer nach 
Witepsk auf, um fi mit Bagration zu vereinigen. Am 23. dort eingetroffen, erfubr 
er, daß diefer bei Mohilem auf Davouft getroffen fei, der mit feinem, durch Entfen» 
dungen auf 20,000 Rann gefchwächten Eorp8 in der ſtarken Stellung bei Saltanowka 
land. Obwohl Bagratton 45,000 Mann flarf war, hatte er nicht den Muth, mit 
dem ganzen Corps den Durchgang zu erwingen, er ging daher nach leichtem Ge⸗ 
fecht wieder über den Dnijepr zurüd und bei Mſtislawl auf Smolenet, wo er 
am 4. Auguft anlangte, nachdem Burclay dort bereitd am 2. eingetroffen war. 
Napoleon war mit dem Centrum von Wilna am 26. aufgebrochen und In Fleinen 
Märichen nad Witepsl gegangen, wo auch der Vicekönig von Italien wieder heran 
fam; das 4. und 6. Corps war gegen Wittgenflein ſtehen geblieben. Das 5. hatte 
fih Hei Mohilem mit Davouft vereinigt. Das 7. Hatte die Befllmmung erhalten, 
gegen Tormaflow, den man nur 10,000 Bann fchäßte, zu operiren, und wollte Na⸗ 
poleon, den Beflimmungen des Tractats mit Oeſterreich zumider, Schwarzenberg mit 
zur Sauptarmee heranziehen. Gerade aber als Reynier in Der Gegend von Brzesc⸗ 


— —— — — 


Ruſſiſch⸗franzoͤſtſcher Krieg bon 1812. 6il 


Litewoki eintraf, um die Defterreicher abzuldfen, begann auch Tormaflow feine Oper 
rationen, und es glädte ihm, die fächflfche Brigade Klengel — 6000 Mann ſtark — bei 
Kobrin gefangen zu nehmen. Reynier eilte mit den Hauptfräften zu Hülfe, wurbe 
aber von dem viel flärkeren Tormaffom zum Rückzuge bid nah GSlonim gendtyigt, 
wo Schwarzenberg, von der Stärke des Gegners genau unterrichtet, auf eigene Ber» 
antwortung fliehen geblieben war. Mit Napoleon’8 nachtrüglicher Genehmigung blieb 
er dann ganz auf dieſem Kriegstheater. Auf dem linken Flügel Hatte Macdonald Die 
Preußen gegen Riga vorgeben laflen, wobei fie am 19. Juli einen Theil der Befagung 
unter General Lewis nach Ichhaftem Gefecht bei Edau zurüdwieien und die Belages 
rung begannen. Macdonald mit der Divifion Grandfean blieb mehrere Wochen lang 
unthätig bei Jacobſtadt fichen. Am 8. Auguft Hatte Napoleon fein Eentrum bei Wie 
tepotk gelammelt und lleß die angeflrengte Armee Ruhe⸗Quartiere beziehen. Nach ben 
Mapporten vom 3. Auguft zählte dieſes Gentrum, das mit 375,000 Bann über den 
Niemen gegangen war, nur noch 185,000 Mann — 90,000 Mann davon waren 
Detachirt, daher 100,000 Wann; alfo mehr als der urfprünglichen Stärke von 
285,000 Mann waren, und zwar größtentheil® durch Krankheiten, eingebüßt; 
denn bedeutende Gefechte hattten nicht flattgefunden. Bel Oudinot und Schwarzen⸗ 
berg waren die Verluſte mindeftend eben fo ſtark, nur Macdonald hatte viel weniger 
verloven. Im Heer, das bereitd in Wilna ſich nach Frieden gefehnt hatte, fingen die 
Stimmen, welche gegen ein weiteres Vorbringen fpradyen, an, ſich lauter vernehmen zu 
Saffen; und einen Moment ſchien e8 auch, als fei Napoleon, nachdem er auch bei Wis 
tepot die erfehnte Schlacht nicht gefunden, Angeſichts der bedeutenden Verluſte geneigt, 
nicht weiter vorzubringen. „Der Feldzug von 1812 iſt zu Ende", fagte er beim Ein» 
treffen, „der von 1813 wird das Uebrige thun; wir wollen nicht die Thorbeit 
Karl's XI. begeben, ſondern im nächflen Frühjahr den Krieg beenbigen.” Diefe 
Ausbrüche der Borficht waren aber nur augenblidlihe Megungen, die fein Stolz und 
feine Leidenfchaft bald wieder ſchweigen ließ, und bald trat der Gedanke, in Witepst 
Winter-Quartiere zu beziehen, ganz in den Sintergrund. Fieberhaft aufgeregt und 
theilmeife wirklich Pranf, rief er aus: „In Moskau liegt die Entſcheidung; die Stels 
Iung bei Witepsk iſt nicht ſtark genug. Die Gefahr felbft treibt und welter, wir 
müflen die Welt durch eine große Schlacht bei Moskau in Erflaunen ſezen. Das 
2008 iſt geworfen. Der Sieg muß uns Mettung bringen” So riß ihn fein 
Berbängniß fort, dem Kopffchütteln, ja den dringenden PVorflellungen feiner be» 
währtefen Rathgeber entgegen — am 13. Auguſt brah er nah Smwolensk auf. 
Während der Zeit der Bereinigung des franzöflfchen Gentrumd Hatte inzwifchen Witte 
genftein bei der Gefahr, einerfeitd von dem über Polozk vorrüdenden Dudinot, ans 
dererfeitd von Jacobſtadt ber Durch Machonald angegriffen zu werden, den Entfchluß 
gefaßt, den Erfleren felbft anzugreifen, bevor der Andere weit genug vorgerüdt 
wäre, um mit ihm gemeinfchaftlich zu handeln. Er ging daher am 31. Juli vor und 
flug Oudinot bei Kliafizzi; zwar wurde feine verfolgende Avantgarde, die am fol« 
genden Tage über die Driffa ging, mit großem Berluft zurückgeworfen, dagegen ges 
sieth wieder die dieſe verfolgende Diviflon Verdier mitten unter Wittgenflein’8 Trup⸗ 
pen und wurde geworfen. Dudinot gab in Folge deflen fein Borbringen auf und 
zog St. Eyr heran; Wittgenflein, der den Kräften Beider nicht gewachfen war, ging 
wieder Binter die Driffa zurüd. — In Anbetracht der audgedehnten Stellung der größ«- 
tentheild cantonnirenden franzöflichen Hauptarmee faßte Barclay, gedrängt durch die 
ungeflüm nach dem Angriff verlangende altrufflihe Partei im Heere, fo wie durch 
einen Brief des Katferd, „der mit Uingebuld den Beginn der Dffenfive erwartete”, den 
Entſchluß, nah BZurädlaffung der Diviflon Nemweroffäfoi, auf dem linken Dnieper⸗Ufer 
in Krasnoi beide Armeen auf dem rechten Ufer gegen Rudnia, auf dad Gentrum ber 
feindlichen Stellung zu führen, um diefes zu fprengen. Am 8. Auguſt mwurbe der 
Marſch angetreten, die franzöflfche Avantgarde unter Sebaftiani bei Inkowo überfallen 
und mit Berluft geworfen. Noch an demfelben Tage kam indeß Barclay Die Bes 
forgniß, daß der Feind ſich auf der nördlichen Straße Witepsf- Boretfhie befinde, ex 
daher einen Zufthieb ihun und von Moskau abgefchnitten werben koͤnne. Dieſe uns 
gegründete Sorge ließ ihn jeden Gedanken an die Offenflve wieder aufgeben und da⸗ 
9% 


612 Ausitich » Tranzöflicher Krieg von 1812. 


gegen rückwaͤrts eine Stellung auf diefer Straße beziehen. Gerade hierdurch wäre 
aber beinah feine Befürchtung, von Moskau abgefchnitten zu werden, zur Wahrheit 
geworben; denn am 13. beſchloß Napoleon, feine Dffenfive fortzufegen, aber auf das 
linfe Onjepr⸗Ufer überzugeben und auf diefem Wege Smolendt womöglich vor Barclay 
zu erreichen. Während dieſer, der endlich feinen Irrthum eingefeben, einen neuen 
DOffenfiv-Stoß gegen Rudnia vorbereitete, ging Napoleon am 14. bei Ehomino und 
Maflafina über den Dnjepr auf Smolensk; Murat's Gapallerie griff am 15. bie bei 
Krasnoi ſtehende Divifion Neweroffötoi, Die nur aus Infanterie befland, an, und es 
war nur bem Ungeſtüm dieſes Reiter⸗Generals, der feine Artillerie nicht abmartete, 
fondern die unerfchütterte Infanterie ohne großen Erfolg attakirte, zu danken, daß 
dieſelbe mit Verluft von 1500 Mann entkam. Am 16. Auguf griffen die Branzofen 
das befefligte Smolensk an, in welches Bagratton eilig dad Korps Rajſewski gewor⸗ 
fen hatte; berfelbe vertheidigte fich heldenmüthig gegen die große Leberlegenheit des 
Gegners, bis er am 17. früh durch die ſchleunigſt firomaufmärts marfchirte Armee 
Barclay'® abgelöft wurde, während Bagration die Aufnahme-Stellung Hinter der Kolodnia 
auf der Modfauer Straße bezog. Am 17. ſetzten die Franzoſen ihren Angriff fort und e6 
gelang ihnen, unter fehr großen Verluften die Vorftädte zu erobern. Trot des lebhaften 
MWiderfpruch6 der auf den Großfürften fi flügenden Oppofltion und der Aufforderung 
Bagration’s, die Vertheidigung von Smolendf fortzufegen und dann zur Offenſtve über» 
zugeben, beſchloß Barclay den Rückzug, da er mit Recht befürchten mußte, von ben 
bedeutend überlegenen feindlichen Kräften umgangen und von Moskau abgebrängt zu 
werden. Am 18. verließ er Smolensk, blieb aber den Tag über, der Stadt gegen 
über, auf dem hohen Dnijepr-Ufer flehen und verhinderte fo den Uebergang ber Fran⸗ 
zofen, während Bagration nad Doroghobufch zurüdging. In der Nacht zum 19. trat 
auch Barclay den Rüdzug an, und zwar, da die Straße nach Moskau einige Reilen 
Dem Dujepr fehr nahe bleibt, zuerſt auf der Straße nach Poretfhie und bog dann auf 
einem Seltenwege über Lubino wieder in die große Straße ein. Napoleon, ungewiß, 
: wohin der Feind zurüdgegangen, dirigirte dad dritte Cavallerie⸗Corpé auf die Peters⸗ 
burger, die beiden erften unter Murat, fo wie Ney und Davouſt auf die Moskauer 
Straße. Das DVordringen der lehteren führte zu dem großen Arriere-@arden-Befecht 
bei Balutina Gora, wo die Muffen in der flarfen Stellung hinter dem fumpfigen 
Strachan⸗Bache den Gegner bis zum Dunkelwerden aufbielten. Namentlich zeichnete 
fih der Prinz Eugen von Württemberg durch einen bei Gedeonowo unternommenen 
Angriff auf Ney's rechte Flanke aus. So ehrenvoll die Gefechte der legten Tage und 
das Benehmen Barclay’8 gewefen, war doch fein Anſehen durch alles Bisherige und 
namentlih durch das Zurückweichen, welches man unverfländiger Weile nachgerade 
laut als Berrätherei bezeichnete, ſehr geſunken und auch Dad Einvernehmen mit Ba⸗ 
gration gänzlich geftdrt. Man kannte in der Armee nur die eigenen Berlufte, bie 
allerdings nahe an 20,000 Mann betrugen; und wenn auch der Müdzug in beſter 
Ordnung von Statten ging, war doch die Stimmung gegen den Oberfeldherrn eine 
derartige, daß eine Kataflrophe bevorzuftehen ſchien. Unbeirrt um Alles führte Bar» 
clay unter täglichen Arrieregarden-Gefechten die Armee zurüd; nur mühfam £onnte er 
aber den offenen Ungehorfam unterbrüden, und als am 27. Auguſt Miloradowitſch 
mit 15,000 Mann Verſtaͤrkungen eintraf, warb der Auf nad einer Schlacht allges 
mein. Glüdlicher Weife für dieſe Verbältniffe traf am 29. der neu ernannte Befehls⸗ 
haber Kutufow, der Barclay in jeder Beziehung nahfland, aber als National- 
Muffe alle Sympathieen im Volke und Heere für fi Hatte, bei ber Armee ein und 
Barclay trat an die Spitze der erflen Armee zurüd. Kutufom führte die Armee bis 
Borodino zurüd, wo er am 4. Sept. eintraf, um dort die Entſcheidungsſchlacht zu er⸗ 
warten, nachdem er noch durch 10,000 Milizen verftärkt worden war. Napoleon friner- 
feitö war bis zum 22. in Smolensk geblieben. Wieder waren ihm die Muffen ent⸗ 
gangen, und mit 25,000 Mann Berluft hatte er nur eine verlaffene Stadt gewonnen. 
Er hatte jegt nur noch 155,000 Mann, und nocd einmal tauchte, wie in Witepék, 
ber Gedanke auf, in Smolenst Halt zu machen; aber die Bedenken, die fi dort ge⸗ 
funden Hatten, traten bier noch flärker hervor. Daß diefelben in Moskau, falls er dort 
nicht den Frieden erzwang, in noch viel echöhtem Maße zu Tage treten mößten — ben 


— — — — — — 


Kuiſfſch-framzöfſcher Krieg von 1812. 613 


Gedanken, wenn er ihn überhaupt faßte, wies er weit von ſich. Kaiſer Alexander, fo waͤhnte 
er, mußte dort fa Frieden machen. Zudem kamen ibm von den Flügeln günſtige Nach⸗ 
richten zu; Wittgenftein hatte Dudinot am 17. bei Polozk angegriffen, war aber am 
folgenden Tage, da St. Cyr berangefonmen war, mit Verluſt zurückgewieſen worben 
und wieder Hinter die Driffa zurücdgegangen, wo beide Theile bis zum October ein» 
ander beobachtend gegenüber blieben. Auf dem dußerfien Iinten Flügel (Macdonald) 
dauerte die Belagerung von Riga fort, wobei viele Eleine, aber blutige Gefechte — 
daB bedeutendſte bei Dahlenkirchen am 23. Auguft — flattfanden. Auf dem aͤußerſten 
rechten Flügel hatte Schwarzenberg am 12. Auguft den General Tormaffom bei 
Gorodeczno gefchlagen und denfelben hinter den Styr zurücgewiefen, wo er bis zu 
der Mitte September erfolgenden Ankunft der Moldau» Armee ftehen blieb. Das 9. 
Corps ging in diefer Zeit über den Niemen und auf Smolendf, um ale Gentral« 
Meferve zu dienen. So begann Napoleon am 21. den entfcheidenden Marfch auf 
Moskau, der den Sieg bringen follte. Die Mühen des Zuges wurden aber größer 
ale zuvor; das Metter war fihleht und die Truppen ſchmolzen derartig zufammen, 
va ſelbſt der Kaifer ausfprach: „Bleibt das Wetter fo unglinflig, fo machen wir Halt. * 
Am 4. September murde das Wetter zwar beffer, aber die fonfligen Befchwerben 
wuihfen. Die Altsuffen, deren Land man jept durchzog, betrachteten die Branzofen 
nicht mit Unrecht ald Mäuber, die Landleute flüchteten in die Wälder, die Vorraͤthe 
wurden vernichtet, gegen Rachzügler und Verſprengte ein erbitterter kleiner Krieg ger 
führt, und der nationale und religidfe Eifer im Volke muchs, je mehr fih die Opfer 
des Krieges fleigerten. So thürmten. ſich mit jedem Schritte vorwärts die Schwierig« 
fetten immer höher; mit faum 130,000 Mann Iangte Napoleon am 5. bei Klofter 
Kolozkoi an; am frühen Morgen ded 7. begann die Schlacht von Borodino oder 
an der Moskwa (f. dief. Art.) blutig und verbeerend, wie wenige. Am Abend 
zogen fih die Auffen, allerdings mit gewaltig gelichteten Reihen, aber in völliger 
Ordnung, zurüd, und mit 30,000 Mann Berluft hatte Napoleon keinesweges einen 
enticheidenden Sieg, fondern nur ein ödes Schlachtfeld erkauft. Er mußte aber, das 
lag in feiner Situation, eine fo pofitive Entfcheidung erfechten, daß die Ruſſen 
den Muth zu fernerem Widerfland verloren; dies war nicht nur nicht geichehen, 
fondern Napoleon hatte nicht einmal den Muth gehabt, feine letzten noch intacten 
Kerntruppen — 20,000 Barden — an dieſen Preis zu fegen. So fand alfo daB 
Ergebnig des Tages auch nicht annähernd im Verbältnig zu den Opfern, die es 
gekoſtet. Auf Moskau hatte er jegt alle Hoffnung gefeht, dort mußte der Briebe 
fommen; er verbeblte fich nicht, daß ohne dieſen Frieden der Beſitz der Haupifladt 
ein mindeftens zmeifelhafter Gewinn fei, und er Außerte felbft, In diefem Falle gliche 
die auf 90,000 Streiter gefchmolzene Armee einem Schiffe, das im Eife feſtſäße. 
Voller Hoffnung näherte man fich der alten Zarenfladt; Kutufow, der bis zulegt den 
Schein bewahrt, als wolle er dem Feinde eine neue Schlacht vor den Thoren liefern, 
gab fle Preis. Am 14. begann Napoleon’3 Einzug in die menfchenleere Stadt, Feine 
Deputation empfing ihn, fein Menſch war auf den Straßen; dagegen verkündete ihm 
das Feuermeer, welches fih am 15. über. die ganze Stadt verbreitete und ihn 
nöthigte, fogar den Kreml zu verlaſſen, laut die Abficht des Gegners, keinen Frieden 
zu machen mit den Eindringlingen, ſondern Krieg zu führen bis auf's Meffer. Als 
am 20, das euer erlofch, Tagen zmei Drittel der Stadt in Aſche, und die Wirkung 
dieſer Kataflroppe auf die franzdflihe Armee war verhängnißvoll; das Gebot, 
niht zu plündern, übte Feine Macht mehr, und die Zeichen der Auflöfung 
aller’ Diseiplin mehrten fich in gefahrdrohendfter Weiſe. Bon dem Derbleib der 
ruſſiſchen Armee hatte Napoleon in den erften Tagen feine Ahnung; erſt die vorfichtig 
folgende franzoͤſiſche Anantgarde unter Murat, welche auf den Strafen von Rfaͤſan 
und Raluga folgte, traf fie am 26. September bei Krasnoi-PBachra, wo fie ſich lang⸗ 
fam nach Tarutino zurückzog, am 2. October eine fefte Stellung hinter der Nara be⸗ 
z0g und aus diefer Flankenſtellung heraus der ihr hei Winfowo gegenüberflehenden 
Avantgarde Murat's tägliche und oft blutige Gefechte lieferte. So war die ruffifche 
Armee keineswegs, wie Rapoleon nach der Schlacht an der Moskwa verkündet hatte, 
vernichtet, ſondern fland drohend in feiner Flanke; ihre Streifeorps rückten bis an d’ 


614 Ruſſiſch⸗franzoͤſiſcher Krieg von 1812, 


Shore der Stadt, und es mar die böchfle Zeit, dur einen Entfchluß bie Kriſts ab» 
zumenden, in welche eine 90,000 Mann flarke, 120 Beilen weit feilartig in Rußland 
bineingetriebene Armee, der ein glei flarfer und ſich fletö verftärkender Gegner in 
der Flanke land, nothwendig gerathen mußte. Napoleon affectirte eine gewiſſe Sicher« 
beit, that aber, als der gehoffte Friede nicht Fam, doc bie erfien Schritte, indem er 
ben 24. September dem Kaifer Alexander felbfi Friedensanträge ſchickte und bald dar⸗ 
auf auch Laurifton an Kutufom fandte, um den Weg zur Audgleihung zu bahnen, 
Jetzt kam Alles darauf an, dag man in Peteröburg feft blieb, dort hatte die lügen- 
hafte Botſchaft Kutuſow's von dem Siege bei Borodino großen Jubel erregt, der aber, 
als die Wahrheit mit der Nachricht von dem Aufgeben Moskau's an den Tag fam, 
der tiefften Niedergefchlagenheit Plag machte. Eine große Partei, zu der namentlich 
diejenigen gehörten, welche zuerſt Barclay’8 heftigſte Gegner gewefen waren, rieth 
zum Brieden. Alexander felbfi, eine weiche gefchmeidige Natık, bedurfte in dieſer 
fhmeren Zeit einer feften Anlehnung; es iſt daher wieder als die ſichtbare Fügung 
Gottes zu betrachten, daß er jept einen Mann an feiner Seite hatte, der Furcht und 
Schrecken nicht kannte. Stein, der Geädytete, von ihm nah Rußland berufen, um 
feine Mitwirkung Der großen Sache zu leihen, war diefer Aufforderung nachgekommen. 
Don Petersburg aus, wohin ihm Morig Arndt gefolgt war, fepte er fich wit allen 
Denen in Deutſchland in Verbindung, von welchen Hülfe und Mitwirkung zu erwarten. 
war, um durch einen Aufftand in Norddeutfchland dem Feinde eine fräftige Diverflon 
zu bereiten. Zur Leitung diefer Angelegenheiten bildete der Kaifer ein deutfches Co⸗ 
mitö; außerdem war bereitö im Jull zu Derebro ein vorläufiges Einverſtaͤndniß mit 
England erreiht und auf der Zufammenfunft zu Abo im Auguſt ein enges per⸗ 
fönliche® Verhältniß zwifhen dem Kaifer und Bernadotte bergeftellt. Die erfte Folge 
davon war, daß Leßterer vorläufig auf die Mitwirfung des Steinheilfen Corps zu 
Bunften der Eroberung Norwegens verzichtete und daflelbe daher zur Verſtaͤrkung 
Wittgenftein’8 disponibel wurde. Stein war es nun, der nach dem Verluft Moskau’s 
mit feinem ungebeugten Muth die Baflung des Kaifers ftählte und ihn bewog, jeden 
Sriedensantrag abzumeifen. Nach diefer Wunde, ſchrieb Alerander an Bernadotte, find 
alle andern Wunden nur Schranmen; Napoleon oder ich-muß untergehen, fein Ver⸗ 
gleich mit ihm! Geht er nach Petersburg, gehe ich nady Sibirien! So hatte, Dank der Zu- 
derficht des Kaiſers, Die Eroberung von Moskau bald den Stachel des Schreckens verloren, da» 
gegen die nationale Erbitterung auf's Höchfte gefleigert. Dem Volke ſchien kein Opfer mehr 
des Bedenfend werth, feitbem die heilige Stadt in Afche lag. Die Erregung der Maflen 
theilte fich den Behörden mit und gab dem nationalen und religiöfen Rachefrieg gerade 
jegt, wo Napoleon des Friedens unumgänglich bedurfte, den furdtbarften Aufſchwung. 
Das wiederholte Drängen um Antwort aus Peteröburg verrieth nur noch deutlicher 
die verzmeifelte Lage des Erobererd. Endli Fam lange zurüdgebalten ber ablehnende 
Beſcheid an Kutufom, dem gleichzeitig jeder Verkehr mir dem Feinde unterfagt warb. 
Anfangs Dectober Eonnte fih Napoleon felbft nicht mehr täufchen, daß der Briebe 
nicht zu erwarten fei. Brach er jegt fofort mit feinen 90,000 Wann auf, gewann 
Smolensk und zog die Flügelcorps an ſich heran, fo war der erfle Feldzug zwar miß⸗ 
lungen, aber ein Heer gerettet, impofant genug, einen zweiten zu beginnen. Aber 
der erfle Schritt rüdmärtd, — die Erſchütterung des Zaubers feiner Unüberwindlich⸗ 
keit — das war ed, was er fürdhtete, dies hielt ihn 5 unwieberbringliche Wochen wie 
gebannt in Moskau feft und verzögerte feinen Enfchluß fo Tange, bis ed zu fpät 
wurde, auch noch die Reſte der Armee zu retten. Seine milltärifche Lage verſchlim⸗ 
‚merte fich täglich; die ruſſiſche Armee verflärkte fich betraͤchtlich; Kutufow war durch 
Milizen auf 110,000 Mann gebracht, Wittgenftein auf 40,000 Mann verflärft wor⸗ 
den, mit dem Befehl, die Verbindung der franzöflichen Armee, nah rückwaͤrtd zu 
unterbrechen und bei ihrem Nüdzuge ihr die Deftleen des Ula-Zluffes zu fperren. Er 
ging daher gerade an dem Tage, wo die große Armee ihren Rückzug antrat, zur 
Offenffve über, ſchlug Dubinot und St. Eyr am 18. und 19. October in. der zwei- 
ten Schlacht von Polozk, zwang fie zum Rückzug und folgte langſam Oudinot, 
während er gegen das 2. und 6. Gorps, das auf Wilna und Chasnicki zur Ver⸗ 
'nigung mit Victor birigirt wurde, betachirie. Steinheil war am 20. September in 


- — — — — — — 


Anſſiſch⸗franzoͤſiſcher Krieg von 1812. 615 


Kiga angefommen und Batte am 26. die Dffenfive ergriffen, war aber durch Dort 
bei Rauhenthal mit großem Verluſt zurädgewiefen und brach zur Bereinigung mit 
Wittgenftein auf, ben er am Tage der Schlacht von Polozk erreichte. Im Süden 
hatte ih Tſchitſchagow am 18. September mit Tormaffom bei Luzk vereinigt; beibe, 
jegt 65,000 Mann ſtark, drüdten die zufammen nur 40,000 Mann zählendnen Generale 
Reynier und Schwarzenberg Über den Bug bis Bialyſtok zurüd. Mitte October 
wurde Tormaſſow zur Haupt= Armee verfegt und erhielt Tſchitſchagow Befehl, mit 
feiner Armee an die Berezina zu rüden, um Napoleon den Müdzug zu verlegen; da 
er hierzu noch hinreichend Zeit zu haben glaubte, bezog er bis Ende des Monats 
Erholungs-Duartiere. Kutufow hatte inzwifchen, wenn auch mit großer Borficht, ber 
gonnen, durch Detachements auf die Flanke der Haupt-Urmee zu wirken; am 26. Sep« 
tember wurde bereitd das flüchtig befefigte Werefa angegriffen und die Befagung zu 
Gefangenen gemacht; die Branzofen wurden in immer engere Kreije eingefchloffen und 
Napoleon mußte fi endlich — zu fpät — entichließen, den Rüdzug doch anzutreten. 
Am 18, October, an demfelben Tage, an dem der Ausmarih aus Moskau begann, 
griff Kutuſow Murat bei Tarutino an und warf ihn mit Verluſt von 4000 Wann 
und 36 Kanonen zurüd. Am 18. und 19. endlich verließ die franzöflfche Armee 
Moskau, in der nur Mortier mit der jungen Garde bis zum 23. blieb, nachdem er 
auf Napoleon’d Befehl den Kreml gefprengt. Der ruffifche General Wingingerode, 
der noch während des Abzugd mit Kofafen in Moskau eindrang, wurde gefangen ger 
nommen. Da Kutuſow von Taratino aus an Smolenst 3 bis 4 Marſche näher 
land, als Napoleon, beſchloß dieſer mit einer ibm auch des moralifhen Eindrucks 
balber wichtigen fcheinbaren Dffenfive nah Süden zu beginnen, um Kutufow 
erft auf Kaluga zurüdzumerfen und dann tiber Medyn und Juchnow die noch 
nicht von Truppenmärfchen berührte Straße Kaluga-Smolensf zu gewinnen. Er ging 
daher auf der alten Kalugaer Straße bie Krasnoi-Pacına, wandte fit dann plöglich 
bei Kominsko& auf die neue, und bedrohte Kutuſow's linke Flanke, um ihn fo ohne 
Schlacht nah Kaluga zurüdzumandpriren. Jener batte aber nach Zeit, fih bei Malo 
SJaroslameg vorzufchieben und nad einem fehr hartnädigen Gefechte, in welchem beide 
Theile über 6000 Wann verloren, erkannte Napoleon, daß er ohne die größten Ver⸗ 
luſte die ſüdliche Straße nicht gewinnen fönnte. Er kehrte baber um und bog bei 
Mofaisk in Die nördliche Mosfau-Smolensler Straße, auf der er gekommen, wieder ein, 
nachdem feine ArrieresGarde durch Platow am 25. bei Gorobnia überfallen und er 
feld fa gefangen genommen worden wire. Am 31. war die Avant⸗Garde bei 
Wiasma, Die ArrieresBarde unter Davouft bei Gridnewo, alfo die kaum noch 90,000 
Mann flarke Armee mit 600 Gefchägen und einem ungeheuren Wagentroß auf 14 Mei⸗ 
len aus einander gezogen. Schon damals hätte Kutufom durch einen energifchen An⸗ 
geiff fie vernichten köͤnnen. Er Hatte aber zu großen Mefpect vor Napoleon’s Feld⸗ 
herrn⸗Talent, um ihm in offener Schlacht gegenüberzutreten, oder ihm den Weg zu 
fperren. Er cotoyirte vielmehr feinen Marſch auf den beflern Seitenflraßen und bes 
gnügte fich, die Franzoſen, Die durch den völlig verwüſteten Landſtrich an ber großen 
Straße zogen und den bitterfien Mangel litten, durch feine leichten Truppen zu beun« 
subigen. Schon jegt begann aus Mangel an Lebensmitteln fich die franzöflfche Armee 
aufzulöfen, Ruhe und Verpflegung fehlte, die Zugpferde fielen in Maflen, ganze Wa- 
genzüge der geraubten Beute blieben fichen, und unzählige Exploflonen verfimdeten 
das Sprengen der flehen gebliebenen Gefüge und Wunitiond-Wagen. Bei Wiäsma 
blieb Napoleon ein paar Tage flehen, um die Armee etwas zu fammeln, fo daß am 
2. November die Ausdehnung derfelben nur noch 6 Meilen betrug. Sie wurde aber 
nicht nur zu beiden Seiten vom Beinde umfchwärmt, fondern leichte Truppen eilten 
ihr vorauf und fortan drängte Miloradowitſch mit 25,000 Mann auf der großen 
Strafe nad) und nahm Taufende von Maroden und Nachzüglern gefangen. Am 
3. November griff Miloradowitfh die bei Wfäſsma gefammelten 40,000 Mann 
ſtarken Corps an, Kutufow fam bis auf 1 Melle beran, nahm aber keinen Theil am 
Gefecht, fo daß die Franzoſen, nachdem die Arriere-Garde unter Davouft herange⸗ 
kommen war, wenn auch mit bedeutendem Verluſt, doch ohne daß Abtheilungen ab⸗ 


geſchnitten wurden, den Nüdzug antreten Eonnten. Vom 6. November ab trat ein 


616 Ruffich+frangöfider Krieg Son 1812, 


neuer furchtbarer Feind, der nordiſche Winter ein, der bie letzte Kraft der Truppen 
brach ; todte Pferde, umgemorfene Geſchütze bezeichneten ven Weg der Armee und viele 

warfen ſchon jetzt Waffen und Patronen fort. Der Mari bis Smolensf, wo bie 
erfien Truppen am 9., die legten erft am 13. eintrafen, war eine fortgefegte Reihe 
von Arriere-Barben- Gefechten, die den Franzoſen ungeheure DVerlufte brachten; eine 
ganze Brigade der Divifton Baraguayp wurde am 9. November an der Moskowa durch 
Drloff Deniffof gefangen genommen, und der Vice⸗Koͤnig, der eine Seitenfirafe ein⸗ 
geichlagen, hatte bei dem Mebergange über den Wop feine fämmtlichen 60 Geſchütze 
„fehen Taffen müflen. Als fi am. Ende die Armee in Smolendt zufammen 
fand, zählte file Faum mehr 50,000 Bewaffnete, ver Reſt unordentlide Haufen 
ohne Waffen und Disciplin, gegen 400 Geſchütze waren feit Moskau verloren ge⸗ 
gangen. An ein Berbleiben in SmolensE war nicht zu denken; für nichts war 
Sorge getragen, Feine Magazine, keine Quartiere, fo daß die Truppen bei 
15 Grad Kälte auf den Straßen lagen. Dazu jagte eine Unglüdöbotfchaft die andere. 
Bor Riga Hatte ſich im Allgemeinen nichts geändert, und da Macdonald nur ganz 
allgemeine Mittheilungen über den Zufland der Haupt- Armee, aber den Befehl zu 
feinem Rüdzug erſt von Wilna aus, unterm 10. December, erhielt, konnte er denfelben 
nicht vor dem 19. antreten. Victor, welcher ſich mit Saint Cyr vereinigt hatte, 
wollte Wittgenflein, der Oudinot auf Czaniski folgte, angreifen; Diefer Kam ihm aber 
zuvor, warf feine Avantgarde am 31. October mit Verluſt über die Lukomlia zurüd, 
worauf Victor ſich nach Czereja zurüdgog, wo er am 6. November eintraf. Wittgene 
flein detachirte \inzwifchen den General Harpe nah Witepsk, welcher diefe, mit bedeu⸗ 
tenden Magazinen vollgehäufte Stadt am 7. Novbr. flürmte und die Befagung gefan« 
gen nahm. Am 13. erhielt Bictor den Befehl von Napoleon, Wittgenflein wieder 
über die Düna zurüdzumerfen, griff ihn bei Smollanyg mit der Avantgarde am 14. 
an, bielt aber ein allgemeined Engagement bet defien flarker Stellung nicht für rath⸗ 
fam und ging daher wieder nach Czeraja zurüd. In diefer Stellung blieben beide 
Theile, bis die Ankunft der großen Armee an der Berezina ihre weiteren Bewegungen 
beflimmte. Im Süden war Tſchitſchagow am 27. October gegen Minsk aufgebrochen, 
das er am 16. November erreichte, und von dort den polnifhen General Dombrowski 
nach Boriffoff zurädwarf. Schwarzenberg, von Tſchitſchagow's Abmarfch unterrichtet, 
umging die rechte Flanke des mit 28,000 Mann gegen ihn fliehen gebliebenen Saden, 
marfchirte Tſchitſchagow nach und erreichte Slonim am 14. November. Saden folgte 
ihm, griff am 15. Reynier an, der fih am 11. mit der Diviflon Durutte ded 11. Korps, 
die von Warfchau Lam, vereinigt hatte, und warf ihn mit großem Verluſt bei Wol« 
kowisk zurüd; am folgerrven Tage Fam jedoch Schwarzenberg Saden in den Müden, 
fo daß diefer feinerfeitd gefchlagen und auf Swiſolz zurüdgedrängt wurbe. Reynier 
folgte auf Brzesc⸗Litewsk, Schwarzenberg auf Kobrin. Dort erhielt Lehterer am 
25. November Napoleon’8 Befehl, auf Minsk zu marfchiren, und fehte fih am 27. 
dorthin in Bewegung; Meynier folgte am 1. December. Tſchitſchagow hatte inzwiſchen 
am 21. Boriffoff genommen, die Diviflon Dombrowski mit großem Berluft geworfen 
und war den 22. über die Berezina gegangen, fland alfo der Haupt-Armee im Müden. 
Aufftfcherfeits hatte Miloradowitſch nur feine Avantgarde auf der großen Straße 
folgen laffien und war mit dem Hauptecorpo, das Deflle des Wop und Smolenst 
umgehend, auf Lisfowa gegangen und hatte fi dadurch Kutufow genähert, der am 
8. in Selnia eintraf. Beide fegten nun gemeinfam ihren Weg auf Krasnoi fort. 
Unter foldyen Umfländen mar es für Napoleon, der außerdem die beunrubigende 
Nachricht von der Verſchwoͤrung Mallet's (f. d. Art.) In Paris erhalten hatte, die 
hoͤchſte Zeit, Smolensk zu verlafen und den weiteren Rüd;ug anzutreten. Kutus 
fom war ihm bereitö bei Krasnoi völlig zuborgefommen, fo daß ed nur von ihm abe 
gehangen Hätte, ihm den Weg ganz abzufperren, wozu der nahe Dufepr die befte 
Gelegenheit gab. Uber auch fegt fürchtete der ruffliche General den franzöflfchen 
Feldherrn noch, dem er nur fo viel Schaden thun wollte, ald mögli, ohne ſich der 
Gefahr, von ihm gefchlagen zu werben, außzufegen. Er ließ ſich daher in 
fein entfcheidended Engagement ein, und fo entfland bei Krasnoi in den 
Tagen vom 14. bis 18. November eine Weihe von Gefechten, in wel 


oO — — — — 


KRufſiſch⸗ framzoͤſſcher Krieg von 1812. 617 


Gen die Pranzofen ſich zwar den weiteren Rückzug bahnten, aber wieberum 
harte Berlufte erlitten. Den jchwerften Stand hatten der Vicefünig Eugen am 18. 
und Davouft in dem Gefechte vom 17. Letzterer entging nur dadurch der Gefangen⸗ 
fhaft, daB Napoleon mit 14,000 Mann umkehrend ihm Luft machte, doch verlor er 
6000 Befangene und 45 Geſchütze, 112 andere waren von Smolendf ab durch Die 


Koſaken genommen morden. Ney, der am welteften zurück und aft am 17. aus 


Smolenst abmurfchirt war, verjuchte vergeblih, am 18. bei Krasnoi dDurchzubrechen; 
ee ging daher in der Nacht auf einem großen Umwege bei Syrofosenle über das is 
des Dnjepr, und dann über Naflafina auf Orsza, wo er den 21. freilich mit nur noch 
600 Mann wieder zur Hauptarmee ſtieß. ?/,0 feines Corps und die fämmtliche Ar- 
tilferte fiel in die Hünde der Ruſſen. — Durch diefe Gefechte war die Anzahl der 
Waffentragenden bei der franzdflfhen Armee, die ſich am 19. bei Ordza fammelte, bis 
auf circa 25,000 Mann verringert, fo daß, wenn durch fle auch fein ganzes Corps 
gendthigt worden war, die Waffen zu fireden, Diefelben doch bedeutenden Einfluß auf 
die gänzliche Vernichtung der Armee ausübten. Seitden Witepsf verloren, war Minsk 
das nächfle große Magazin; dorthin führte eine große Straße, und außerdem näherte 
man fih in diefer Richtung Schwarzenberg. Deshalb z0g Napoleon diefelbe dem 
geraden Wege auf Wilna vor. Bet Boriffoff führt die Straße über die mit Mo⸗ 
räßten eingefaßte Berezina; dort war aber, wie oben bemerkt, Tſchitſchagow, nachdem 
er Minsk genommen, bereit am 22. angelommen. Wittgenflein fand bei Gzereja an 
ber Ula, um den Uebergang über diefen Fluß zu fperren. So fanden die beiden 
ruffifhen Korps nur etwa 12 Meilen aus einander, mährend die Entfernung der 
franzäftfchen Armee von Orsdza zur Berezina 18 Meilen betrug. Napoleon, als er 
den Berluf von Minsk erfuhr, mußte nun auf irgend einem Punkte die Berezina :zu 
überfchreiten fuchen, um dann auf dem geradeften Wege Wilna zu erreihen. Die zu 
biefem Unternehmen nothwendigen Vorbereitungen und der Uebergang felbfi vom 26. 
bis zum 28. November find in dem Artikel Berezina befhrieben. Durch die Zag⸗ 
haftigkeit Kutuſow's und die falſchen Mafregeln Tſchit ſchagow's gelang es den Trüm⸗ 
mern des Heeres, bei Studianka den Fluß zu überſchreiten, wiederum aber nur unter 
den bedeutendſten Verluſten, namentlich wurde durch den auf dem linken Ufer nach⸗ 
drängenden Wittgenſtein die ganze Diviſton Partonneau des 9. Corps, fo wie 
8—10,000 Nachzugler gefangen genommen und eine ungeheure Menge Kanonen und 
Bagage erbeutet. Noch bleibt zu bemerken, daß, obwohl Napoleon in Warfchau am 
10. December gegen eine Deputation mit feiner gewöhnlichen großfprecherifchen Weife 
äußerte: „Ich babe mich Tiberzeugt, daß man mit Branzofen noch bei 7 Grad Kälte 
Krieg führen Eann, während Die Deutfchen nur 5 Grad vertragen,” es gerade bie 
deutfhen Truppen, Badener und Weflfalen, waren, welche heldenmüthig ben 
Rückzug der fliehenden Franzoſen gegen Witigenflein dedten. Da die Branzofen fo» 
wohl die Brüden über den Fluß, wie auf dem eine Meile langen Damm von Weſſe⸗ 
lowo nach Sembin zerflört Hatten, fo mußte vorläufig Die Verfolgung durch die Corps 
von Wittgenftein und Tſchitſchagow aufhören, nur der General Tfchaplig und einige 
Parteigänger mit leichter Gavallerie, welche ſich Wege durch die Moräfte fuchten, blie- 
ben der fi immer mehr auflöfenden circa 12,000 Mann flarken Armee auf den 
Berien, fcheuchten fle au den Bivouacs auf, fammelten die flehenbleibenden Geſchütze 
und lieferten Die Arrieregarden» Gefechte bei Sembin (1.), Chotatitſch (2.) und Mo- 
lodezno (4. December), in melden 6—7000 Gefangene und einige ſechzig Ges 
fihüge in ihre Hände fielen. Am 3. December erließ Napoleon von Molodezno aus 
daß befannte 29. Bulletin, in welchem er zum erften Mal in feinem Reben die Hergänge zieme 
lich der Wahrheit getzeu ſchilderte, aber alle Unfälle lediglich der Kälte zuſchrieb. Bis dahin war 
man im Weften über die Ereigniffe beider Armee fo im Unklaren gewefen, daß das 
Bulletin eine ſchwer zu beſchreibende Wirkung in ganz Europa hervorbradhte. Zwei 
Tage fpäter, am 5. December, in Smorgony verließ Napoleon die Armee, deren 
Gommando er an Murat übergab, mit dem Befehl, fie bei Wilna zu fammeln, und 
eilte unerfannt in einem Schlitten über Wilna und Warfchau nach Paris, wo er am 
19. December, zwei Tage nach Publication des 29. Bulletins, eintraf. An demjelben 


Tage, wo et bie Armee verließ, fließ die Diviſion Loifon des 11. Korps in Oomiana 


618 Nuſſiſch⸗franzoͤſſcher Krieg von 1812. 


zu berfelben, wurde aber noch an demfelben Abend durch ben ruſſiſchen Oberſten 
Seclawin überfallen, verlor 3000 Mann ‚und 25 Geſchütze und loͤſte ſich nad) we» 
nigen Mürfchen mit der großen Armee ebenfalld auf, deren Trümmer am 8. und 
9. December in Wilna anfamen. Auch dort war an Halten nicht zu benfen; bereits 
am 10. griffen die Ruſſen Wilna an, erflürmten die Stadt, nahmen über 300 Offi⸗ 
ziere und 14,000 Bann, meift kranke Nachzügler und Marfchbataillone, gefangen und 
erbeuteten die großen Magazine, welche zu zerftören die Franzoſen Leine Zeit fanden. 
Am 11. traf auch Tichitihagoff, am 13. Kutufow in Wilna ein, wo er Halt 
machte, um feine ebenfall8 fehr ermübeten Truppen zu fammeln. Er ließ nur durch 
Kofafen die fliehenden Franzoſen verfolgen, die am 11. noch 4300 Mann und 12 Ge⸗ 
fhüge ftarf ihre Flucht auf Kowno fortfegten, wo am 12. und 13. etwa 1500 Mann 
ohne eine einzige Kanone den Niemen überfchritten und, von Platoff verfolgt, weiter 
über Bumbinnen der Weichjel zueilten. So war die franzöflihe Hauptarmee, welche 
gegen 400,000 Wann ſtark vor kaum ſechs Monaten den Niemen überfchritten hatte, 
völlig vernichtet, und nur die Flugeleorps Machonald’8 und Schwarzenberg's zogen 
fit geordnet über die Grenze zurück. Legterer befand fih in Slonim in völliger 
Ungewißheit über die Lage der Dinge, da Napoleon ihm die Nadhricht von einem 
großen Siege an der Berezina hatte zufommen lafflen. Erſt am 14. December erfuhr 
er die wahre Sadjlage durch Murat und trat fofort den Rückzug auf Bialyſtok umd 
dann auf Oftrolenka an, während Meynier, von Sacken gefolgt, nad Wengrow ging. 
Macdonald war, wie bereit! erwähnt, am 19. December in zwei einen Tagemarfdh 
von einander entfernten Colonnen von Riga aufgebrochen und Fam mit ber erften am 
28. December in Tilſtt an. Wittgenjtein, welcher über Willomir und Georgenburg an 
den Niemen marfchirte, um ihn abzufchneiden, traf mit der Tete am 26. in Biltus 
pöhnen ein; dort warf ihn Macbonald zurüd; dagegen gelang ed ihm, fich zwiſchen 
diefen und die von Dorf geführte zweite Golonne zu werfen und dieſer bei Koltintani 
den Weg zu verlegen. General Nork (f. dief. Art.), der mit Necht für Preußen 
jeßt oder nie den Moment gekommen ſah, un fi von dem verhaßten Bundniß mit 
" Sranfreih loszuſagen und das Joch der Knechtſchaft abzumerfen, beſchloß, feine 
Truppen nicht In unnügen Kämpfen zur Erzwingung der Bereinigung mit Macs 
Donald zu opfern, fondern ſchloß auf eigene Berantwortung am 30. December 
die Convention in der Bofcherauer Mühle bei Tauroggen, wonach dad preußifche 
Corps für neutral erklärt wurde und bis zur Ratification derſelben im preußifchen 
Lithauen Gantonnirunge- Quartiere bezog. Macdonald, als er am 31. dieſe Nachricht 
empfing, brach fofort nach Königäberg auf, wo er am 3. Januar anlangte, nachdem 
er bei Zabiau einige Koſaken⸗Regimenter zurüdgeworfen hatte, traf dort die Divifion 
Heudelet des 11. Corps und fegte mit Ihr den Rückzug über die Weichſel fort, wo» 
bin Die Ueberrefte der großen Armee bereitd voraußgegangen waren. Wittgenflein 
folgte Macdonald auf eigene Verantwortung auf dem Fuße und z0g dadurch auch 
bie große ruffliche Armee nach Deutichland hinein, ganz gegen den Willen Kutufow’s 
und der altrufflichen Partei, deren Anſicht nach die Offenſtve nicht über die Weflgrenze 
des Reichs hinübergreifen follte. Durch die Vorrücken Wittgenflein’s erhielt auch 
Preußen den Anhalt, auf welchen König und Volk lange und ſchwere Jahre ſehn⸗ 
fuchtsvoll gewartet hatten, und die heldenmüthigen Anftrengungen dieſes Landes, auf 
dem das franzöflfhe Joch am fchmwerften gelaftet, waren es zumeifl, welche das End» 
ziel des Befreiungdfrieges von der Fremdherrſchaft vom Niemen an die Seine verlegs 
ten. — Die biftorifche und militärtfche Literatur über den Feldzug des Jahres 1812 
it natürlich eine fehr umfaflende; Dabei iſt jedoch zu bemerken, daß da fowohl fran- 
zoͤſiſcher mie ruffifcherfeitö die authentifchen Actenflüde lange Jahre hindurch ſeeretirt 
waren, erft die neueren Werke zu wirklichen Studien brauchbar find. Die diteren, 
mit Ausnahme der vortreffliden Geſchichte des Feldzuges von Glanfewig, im 7. Theil 
feiner Schriften, enthalten namentlich, was die Etat-Stärken und auch die Feldzugs⸗ 
Dlane und Dispofitionen betrifft, ſehr viele falfche Angaben, welche tbeild aus Un⸗ 
kenntniß, theils mit Abſicht falfche Darftellungen zur Verherrlichung der einen oder an⸗ 
— deren Seite enthalten. Im hoͤchſten Maße gilt dies von den franzäflfchen Werfen Sägur’s 
und Bain’s und den ruſſiſchen von Miailoffsli Danilewsli. Es find dies Ro⸗ 


— — — 


i 


Saffihe Kirche 619 


mane ohne hiſtorifchen und militärifchen Werth. Mit großer Vorſicht If auch der 
betreffende Band von Thiers, Histoire du consulat ei de l’oempire, und das Werf 
von Bontourlin, Histoire de la campagne de 1812, 1824 zu gebrauchen. Dagegen 
iR das frangdfifche Werk Chambray’s in 8 Bänden mit einer für einen Franzoſen el 
tenen Unparteilichkeit gefchrieben. Ebenfo enthalten die beiden erften Theile der von 
Bernbardi herausgegebenen Memoiren Toll's eine Klare Darſtellung des Feldzugs, die 
Aber manches bis dahin Unaufgeklaͤrte Licht giebt. Dad neuefte ruſſiſche Werk des Gene⸗ 
rald Bogdanowitſch — deutfh von Baumgarten 1863 — ift nah archivaliſchen 
Quellen bearbeitet und für das gründliche Studium unentbehrlich, wenn auch nicht 
ohne Kritif zu benugen. — in bedeutendes deutſches Werk über den Feldzug von 
1812 fehlt, da das Beitzke'ſche in diefe Kategorie nicht zu rangiren iſt. Dagegen 
enshalten die zablreihen Memoiren deutſcher Generale über einzelne Epiſoden des 
Feldzugs die gewiſſenhafteſten Angaben. Die bedeutenoflen find die Memoiren der 
Generale v. Kneſebeck und v. Wolzogen, die Werke von Glaufewig; die Erinne⸗ 
zungen ded Prinzen Eugen von Württemberg und des Generals Hoffmann; die Schrift 
des Generals v. Schredenftein über die Leiſtungen der Cavallerie, namentlich in der 
Schlacht an der Roskwa; dad Werl des Generals v. Ganig, Thaten und Schidfale 
der Reiterei. Ueber die Campagne der preußifchen Truppen in den Oſtſeeprovinzen 
enthält das vom Oberſt v. Seydlitz 1823 herausgegebene Tagebuch des preußifchen 
Armee» Corps v. Dort die erfchöpfennften Details; enpli find für die Geichichte 
der deutfchen Gontingente während des Feldzugs die Werke von Loßberg, Briefe in 
die Heimath und von Moeder, „Erinnerungen aus dem Leben des Markgrafen Wilhelm 
von Baden”, Karlörube 1863, zu nennen. ' 

Aufftihe Kirche Wenn man den ruſſiſchen Kirchenhiftorikern folgen wollte, fo 
müßte man die Einbürgerung des Ehriſtenthums in Rußland ſchon in das erſte Jahre 
hundert der chriftlichen Zeitrechnung fegen, indem der Apoſtel Andread bereits um daß 
Jahr 40 am Don, in Eherfon und in der Gegend von Kiew mit Lehre und Taufe 
thätig gewefen fein foll. Ja, einige ruſſiſche Gefchichtfchreiber führen eine ganze Reihe 
von Bifchöfen auf, welche in Cherſon ihren Sig gehabt haben und fämmtlich den Märtyrere 
tod geftorben fein follen. Alles Died gebört indeß in die Sagengeichichte, wie es 
auch fraglich ifl, ob von Byzanz aus fchon vor Gründung des Auffenreiches, im Jahre 
858, die Chaſaren das Chriſtenthum angenommen und ob ummittelbar nach der Bes 
grändung deffelben Durch Rurik ſchon Die mit den Griechen Fämpfenden Auflen, und 
unter andern Askold, 864 und 866 fid haben taufen laffen. Die einbeimifchen Kir⸗ 
chenfchriftfieller behaupten, daß im leptgedachten Jahre- der griechiſche Patriarch Pho⸗ 
tin (f. d. Art.) den Ruſſen einen Biſchof und mehrere Prieſter gefandt und der 
Auffen Eifer für das Chriſtenthum höchlich belobt habe. Gewiß und: auch natlürlid 
ift e8, daß das Chriſtenthum eher in Klein- ald Groß⸗Rußland Pla gegriffen hat, 
und es ift nicht unmahrfcheinlih, daß um das Jahr. 867 wirklich fchon Durch grie- 
hifche Bekehrer, die der Kalfer Bafllius Macedo auf Antrieb des Patriarchen Igna⸗ 
tius nach Kiew entfandt, einige lebertritte zum Chriſtenthum ſeitens ber heidnifchen 
Voͤlker des fünlichen Rußlands gefchehen find und daß bald darauf auch bie erfte 
chriſtliche Kirche, die dem beiltgen Eliad ſich weihte, in Kiew begründet ward. Um 
diefe Zeit lebten , lehrten und wirkten die Slawen⸗Apoſtel Methodius und Gonftanti- 
nus, bei den Ruſſen Cyrill (ſ. über viefelben den Artikel Cyrillus und Methodius). 
Die erften ruffifchen Herrſcher aus dem Waräger - Stamme fahen übrigens ber Ent⸗ 
wickelung bes Chriſtenthums in Rußland mehr aus der Ferne zu, ald daß fie dem⸗ 
felben ſelbſt Vorſchub geleiftet oder fich zu ihm perfönlich befannt hätten. Es wurde 
der neuen Lehre erſt der eigentliche Weg in das Gerz des Meiches durch die von 945 
sis 955 über Rußland regierende Fürftin Olga die Heilige gebahnt, welche im letzt⸗ 
erwähnten Jahre feierlih in Konſtantinopel fi taufen ließ, wobei fle den Namen 


Helena empfing. Sie war es au, welde im Jahre 956 in Kiew eine Kirche zum 


heiligen Nifolaus erbaute, welche als die erſte und ältefle in ganz Rußland angefehen 
werden muß. . Der Großfürſt Smfatoslam ſelbſt wies zwar wieberbolentlich die ein- 
dringligen Ermahnungen feiner Mutter, die ihn für das Chriſtenthum gewinnen wollte, 
zurück, hinderte jeboch Niemanden an ber Taufe, und fo nahm bie neue Lehre, ben 


620 Ruſſiſche Kirche. 


ſonders nachdem der deutſche Kaiſer Otto J. durch den Biſchof Adalbert von Magde⸗ 
burg unbehindert in den weſtlichen Diſtrieten Rußlands Proſelyten für den römlſchen 
Cultus anwarb, ihren ruhigen Fortgang, und die beiden Hauptrichtungen des 
Chriſtenthums, die durch den Papſt in Rom und die durch den Patriarchen von Kon⸗ 
ſtantinopel vertretene, machten ſchon vor dem J. 1000 vielfach Propaganda im Ruſſeureich. 
Erſt Wladimir (f. oben ruſſiſche Geſchichte) erhob nad, feiner Bekehrung das Be⸗ 
kenntniß der griechiſchen Kirche. Das Heidenthum wurde mit Gewalt im ruſſiſchen 
Reiche geſtürzt, das Volk auf Befehl ſchaarenweiſe getauft, der Goͤtze Perun in den 
Onßepr geworfen und an der Stelle, wo bei Kiew fein Haupttempel Rand, eine praͤch⸗ 
tige Kathedrale zum heiligen Bafllius erbaut. Zum erflen Metropoliten von Kiew 
und ganz Mupland warb 988 Michael erhoben, dem ſechs Biſchöͤfe Beigegeben wur» 
den, mit deren Hülfe überall in Rußland das Chriſtenthum ausgebreitet ward. Nur 
mit Mißmuth fah der Papft aus Nom dem Umfichgreifen des griechiſchen Gultus in 
Rußland zu und er ließ es an Schritten nicht fehlen, Wladimir zu ſich hinüber⸗ 
zuziehen. So trafen 991 mehrere Gefandte aus Rom in Kiew ein und machten dem 
Großfürften ernfte Borflelungen. Da indeß der griechifche Patriarch die bereits er⸗ 
rungenen Bortheile nicht aufgeben wollte, rügte er den Verkehr Wladimir's mit ber 
römifchen Eurie aufs Schärffte und rieth dem Großfürften, bei Androhung geifllicher 
Strafen, ſelbſt von einem Briefmechfel mit dem Haupte der Tateinifihen Kirche ab, 
ja er befefligte ihm dergeflalt im griechiichen Geremoniel, daß Wladimir 993 felbft die 
unter dem Namen Nomocanon befannte Kirchenordnung verfahte und erließ, melde 
die griechifche Geiſtlichkeit in Rußland mit einer vollffändigen bierardifchen Gewalt 
befleidete. Nach diefem Nomocanon wurde den Bifchöfen nicht nur der Zehnte vom 
allen Feldfrüchten, Erträgen der Pifcherei und Jagd u. f. w. bewilligt, fondern es 
wurde auch behufs Entfeheidung über Eheſachen und Cheverträge, Yaftenverlegung, 
Kegerei u. f. mw. die weltliche Madıt von dem Kirchenweſen außgefchloffen und nidt 
bloß Popen und Diakonen mit ihren Familien, fondern alle Wittwen und Walfen, 
Aerzte und Wechbler, Bettler und Ausländer der geiftlichen Gerichtsbarkeit unter» 
worfen, ja felbft Maße und Gewichte unter die geiftliche Oberaufficht geſtellt. Wladi⸗ 
mir erledte noch die erfien Störungen in der ruffiihen Kirche, welche durch Den 
Mönd Andreas veranlapt wurden, der gegen den Bilderbienft, die Kirchenfagungen 
und die Hierarchie ſelbſt eiferte, und der viele Anhänger fand. Jener Möndh, der 
zuerfi im Jahre 1003 auftrat, wurde dadurch gewifiermaßen der Gründer des fpäter 
in Rußland faſt mehr als irgendwo verbreiteten Sectentbums. Jaroslaw I, welcher 
von 1016 bis 1054 zu Kiew regierte, gab 1017 einen Coder der Geſetze heraus, 
der unter dem Namen des rufflfchen Rechtes bekannt ifl, worin aud bie auf bie 
Geiftlichkeit Und die Ausübung der Meligion bezüglichen Gefegeöftellen enthalten find; 
er begründete 1019 zu Nomwgorod das erfle große geiftliche Seminar, in welchem 
mehr als 300 Eleven zu Prieftern fi ausbildeten. Wichtig if Jaroslaw I. auch 
infofern, daß er der Anmaßung des Konftantinopolitaniichen Patriarchen ſich entgegen- 
ftellte, indem er bei dem Tode des 1051 verftorbenen Metropoliten Eyrill die Bifchöfe 
Rußlands in Kiem verfammelte und ihnen befahl, den Nachfolger beffelben, Hilarion, 
ohne Mitwirfung von Seiten dis griechifchen Patriarchen zum ruſſiſchen Metropoliten 
zu falben; dagegen. gewährte er einer großen Zahl griechiſcher Sänger aus Konflan« 
tinopel Aufnahme in Kiew und Tieß durch diefelben den noch heut in ganz Rußland 
bräuchlichen Kirchengeſang einführen. Nach Iaroslam’d Tode unter Jojaſslaw und 
feinen Brüdern wurde die ruffliche Kirche wieder in die frühere Abhängigkeit von ber 
griechifchen zurüdgeführt, indem freiwillig den Patriarchen von Konftantinopel daß 
Met eingeräumt ward, die Metropoliten von Kiew einzufegen. Isfaslam führte 
den Igumenen- Titel ein, der zunähfi den Vorſtehern des Kiew'ſchen Höhlen⸗ 
Kloflerd verlichen ward, er fanctionirte die vom Igumen Theodoflus eingeführte 
Studien» Klofterregel, der die Megel des heiligen Baſilius zu Grunde liegt und die 
von nun an in fämmtlichen rufflfchen Klöftern al Norm angenommen wurde, 
Seine Behden mit feinen Brüdern, befonderd dem Ihn vom Throne verbrängenden 
GSroßfürſten Swjatoslaw, ſuchten ſowohl der deutſche Kaiſer Heinrich IV. im Jahre 
1073 dur den nach Kiew entſandten Trlerſchen Propft Burchard, wie auch der Papft 


L BF 


--- — — — —— Ai > 


Auifiihe Kirche. 621 


Gregor VI. im Jahre 1075, wobei Letzterer den erwähnten Swiateslaw in einem 
Schreiben d. d. Rom, 15. Mat 1075, Demetrius rex Russorum benannte, vergeblich 
zu vermitteln, da der Abficht des papftlichen Stuhles, Einfluß auf die geiſtlichen An⸗ 
gelegenbeiten in R. zu gewinnen, fofort der Patriarch von Konftantinopel mit aller 
Energie entgegentrat. Ja der nach Isfaslaw’3 Tode 1080 zum Metropoliten geweibte 
Pruͤlat Johann 1, von feinen Zeitgenofjen der Prophet Chriſti genannt, erließ einen 
geiftlichen Sanon, worin er fogar gegen den damaligen Gebrauch der zufftfchen Zürften 
ſehr lebhaft eiferte, ihre Töchter mit Anhängern der römifch»Fatholifchen Kirche zu 
vermaͤhlen. Daß troß der Hinneigung der rufflichen Kirche an das Konflantinopoli» 
ſaniſche Patriarhat noch ein gewifler Anfchluß an. die römifche Gurte flattgefunden 
Gaben muß, gebt aus mehrfachen Legationen hervor, welche feitend der Päpfle nad 
M. flattfanden; fo ſuchte Bapfl Urban II. durch feinen Bifchof Theodor den Groß⸗ 
fürften 1091 zum Kreuzzuge gegen die Saragenen zu infpiriren und durch den neunten 
ruſſtſchen Metropoliten, Ephraim J., ward fogar die Gedächtnißfeier der Verfegung der 
Meliquien des heiligen Nikolaus aus Lyeien nach Bari in Italien, ein Feſt, welches 
der alten griechifchen Kirche fremb war und nur in der römifchen gefeiert wurde, 
1094 als Kirchentag auch für vie rufflfche Kirche anerlannt und der 9. Mai dafür 
feſtgeſetzt. Gleichwohl betheiligte ſich die ruſſiſche Chriſtenheit an den Kreugzügen nicht 
maſſenhaft, ſondern nur durch einzelne Wallfahrer; fo. wallfahrtete im Jahre 1103, 
als Balduin in Paläfina regierte, ver ruſſiſche Abt Daniel nach Serufalem, verzeichnete 
dort im Klofler des heiligen Sabbas die Namen der rufflfchen Fürften zur Erinnerung 
und zum Gebete und fllftete eine ewige Lampe vor dem Grabe unfers Erlöfers. Kaum 
funfzig Jahre fpäter, 1164, war jedoch der Einfluß des Patriarchats bereitö fo groß, 
daß nach dem Ableben ded Metropoliten Theodor ein neuer Prälat Johann III. von 
Könflantinopel nad Kiew gefandt ward, ohne daß zuvor die greoßfürftlihe Zuſtimmung 
eingeholt worden war. Auch nahm der ruſſiſche Großfürſt Roſtislaw denfelben als 
Meiropoliten an, obgleich er ſich Ehren halber die Bedingung vorbebielt, daß für bie 
Bolgezeit die Wahl des oberſten Kirchenherrn für die chriſtliche Kirche in R. nur mit 
feiner Sanetion gefchehen ſolle. Johann IH. war ein fehr gewandter Kirchenfürft, der 
jedes Aergerniß aus der Kirche binmwegzuräumen bemüht war: er erfannte dem Now⸗ 
goroder Bifchofe das Prädicat Wladyka (Herrſcher, Regent) und die Würde eines 
Erzbifchofs zu und ſchrieb auch einen ſehr fchmeichelhaften Brief an den Papft 
Alerander II., worin er die Lehrſätze der orientalifchen Kirche rechtfertigt und Ihn zu 
bewegen fucht, die Einheit des Glaubens wieder herzuftellen. "In Lievland gewann um 
Diefe Zeit das römifche Chriſtenthum feften Boden, indem Meinarbus, Augufliner des 
Klofters Siegburg bei Bonn, 1170 unter den Heiden dafelbft Iehrte, 1172 zu Dieskol 
(Uexkuͤll) in Lievland die erfte chriſtliche Kirche baute und erfter Bifchof von Lievland 
ward. Papſt Innocenz III. erneuerte die Berfuche der römifchen Curie, den Fürften von 
Halitſch und andere Theilfürften R.'s zum Uebertritt zur römifchen Kirche zu bewegen, 
wurde aber wie feine Borgänger ſtolz abgewielen. Dafür breitete ſich, beſonders durch 
die Bemühungen des dritten Biſchofs von Lievland Albert, des Stifter des Ordens 
der Schwertritter, feit 1201 das römifche Chriſtenthum in den baltifchen Provinzen 
des Heutigen R.’E mit Miefenfchnelle aus und im Laufe weniger Jahrzehnte waren 
fämmtliche Heiden daſelbſt befehrt. Ja, es Fam eine Beit für R. wo es fchien, ald 
follte der römische Katholiclömus im Meiche feſte Wurzeln fchlagen: fon 1214 
erflärte fi der Furſt von Halitiy, Koloman, dur ein Schreiben an den Papfl 
bereit, die griechifche mit der lateinischen Kirche zu vereinigen, dafern der Papſt nichts 
an den Kirchengebräuchen ändern und es geftatten wollte, daß bei dem. Gottesdienſte 
nach wie vor Die flamijche Sprache angewandt werde. In Folge defien regte Koloman 
felöft das Volk an, den ruffifhen Biſchof aus Halitſch zu vertreiben und trat mit 
einen großen Theil des Volkes zum Papſtthum über Wenige Jahre fpäter (1217) 
gingen die Nowgoroder fo weit, daß fle den römifch-Fatholifchen Deutichen in ihrer 
Stadt eine Kirche zu erbauen erlaubten. Ums Jahr 1222, zur felbigen Zeit, als 
rufflfche Maubfchaaren in Lievland einbrachen und die Tateinifchen Kirchen und Klöfter 
pländerten, wurden in den Hauptfläbten R.'s, in Nowgorob und Kiew, alle Religionen 
gebuldet, und römifche Katholiken, Armenier, Juden und Muhamedaner durften frei 





622 Aufkihe Kirche. 


und mit allem Gepränge ihren @ottesdienft üben, nur waren Belchrungdver- 
ſuche, Weligionäflreitigkeiten und öffentlichen Anſtoß erregende Aufzüge unterfagt. 
Inzwifchen war auch in R. über bie Chriftenheit eine Zeit ber Bedraͤngniß gefommen: 
die Tataren zerirümmerten ein rufllfches Fürſtenthum nad dem andern. Abermals 
ſuchten zu Diefer Zeit der allgemeinen Troftloflgkeit die römifchen Päpfte auf bie 
Semüther der Rufſen zu influiren, Bapft Innocenz IV. wedte bei dem Bürften Daniil 
von Halitſch ſogar das geheime Verlangen, die ruſſiſche mit ber lateinifchen Kirche 
zu vereinigen, und nährte baflelbe Durch den nach Galizien gefchidten Erzbiſchof von 
Preußen, welcher ſich bereit erklärte, alte Gebraͤuche des griechifhen Glaubens, bie 
dem römifchen nicht zuwider feten, fernerbin den Ruſſen zu geftatten. Dagegen faud 
der päpftliche Regat Johannes de Garpini 1246 ‚beim ruffifhen Großfürften Alerander 
Newökif in Kiew kein günftiged Terrain, indem Leßterer, nachdem der Legat in einsr 
langen Rede die Vorzüge des römifchen Katholicismus vor dem griechifchen Chriſten⸗ 
thum entwidelt Hatte, alle weiteren Disputationen buch die Erklärung abichnitt: 
weder Beuer, noch Wafler und Schwert follten ihn von dem griedhifchen Glauben 
abbringen Finnen. Schließlich ſah ſich der päftliche Legat veranlaßt, mit Unzufrieden⸗ 
heit auch Bulizien zu verlaffen, da Daniil zögerte, fi zur roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche 
offen zu befennen. 1274, 1284 u. f. w. fanden in Kiew große Kirchenverfammlun- 
gen flatt, wegen Verſetzung des Metropolitenftuhls nah Wladimir; dieſelbe erfolgte 
am 18. April 1299; Marim war der erfle Metropolit, der zu Wladimir reflbirte. 
Der ganze hohe Klerus verließ mit Ihm Kiew. Endlich wurde der Metropolitenfig 
1325 nach Moskau verlegt. Nachdem die Päpfte noch verfchiedentlich mit ſchlechtem 
Erfolge verfucht Hatten, im eigentlichen Rußland Profelyten für ihre Kirche zu ge⸗ 
winnen, fuchten fie von Norden und Süden ber auf daflelbe Einfluß zu üben: fo 
fegte Papſt Johann XXI. im Sabre 1318 in Kaffa einen Bifchof ein, deſſen Epardhie 
fih von Bulgarien bis zur Wolga (Sarai) ausdehnte und vom Schwarzen Meere 
bi8 an das Land der Muffen erfiredte. Um diefe Zeit (1330) erhielten die Ruſſen 
das erfte Euchologion oder Gebetbuch, verfaßt in griecdhifcher Sprache von dem Des 
tropoliten Theognoſt und auf Befehl des Großfürften Johann Danilowitſch Kalita 
ine Ruſſiſche überfegt. In Kiew, Moskau und Jaroslaw, von welchem lettgedachten 
Orte eine eigene fogenannte Iarodlamfche Urkunde datirt, fanden 1334, 1343 u. ſ. w. 
große Concile ftatt, wobei unter Anderm feflgefeht ward, daß das Neue Jahr nur 
vom 1. September und nicht mehr vom 1. März anzufangen habe. Die Geſchichte 
diefer Zeit zeigt mehrere-Belfpiele, daß es in der ruffifchen Kirche Sitte war, die von 
ihr aufgenommenen Roͤmiſch⸗Katholiſchen abermals zu taufen. Ein kraͤftiger Schug 
erwuchd der ruſſtiſchen Chriftenheit, als der Großfürſt Dimitri Donskoi im Jahre 1363 
den Thron beflieg, den er bis 1389 inne Hatte Er opponirte fih nicht nur dem 
immer maßlofer auftretenden Patriarchen von Konflantinopel, fonbern er unterftüßte 
felb den Archimandriten Mitäͤi (Michael), als verfelbe fich die Inſignien eines Mes 
tropoliten anlegte, fandte ihn an den Chan Tjulubek, um einen neuen Jaͤrlik (Breibrief) 
für Die rufflfche Kirche auszumirfen, und entzog fich zulegt dem tatarifchen Einfluß dur 
den Sieg am 8. September 1380 auf der Kulikower Ebene, zu deſſen Gebädhtniß er 
eine jährliche Todtenfeier fliftete. Doch mar fein Lebensende getrübt, feit 1385 herrſch⸗ 
ten gleichzeitig drei Metropoliten: Bimen, Cyprian und Dionys, welchen Iegteren bie 
Kiewer ind Oefängniß fegten, und felbft die vom Großfürften 1386 und fpäter beru⸗ 
fenen Goncile konnten in diefem Streite feinen Ausweg finden; endlich trat der Fürſt 
Jagiello von Litauen 1386 offen zur römiſch⸗katholiſchen Kirche über und wurde 
aus einem eifrigen Beſchützer der griehifchen Kirche nun ihr Verfolger, fo daß er nit 
nur die bürgerlichen Rechte feiner griechifchen Untertbanen befchränfte, fondern auch 
die Ehe zwifchen Griechen und Katholiken ſtriete unterfagte und der Ausbreitung bez 
griechiſch⸗ rufflfchen Lehrte überall bemmend in den Weg trat. Auch traf die Kirche 
mehr ald den Staat ein unerwarteter Schlag aud Nowgorod, indem die dortige Mes 
gierung fih von dem geiftlichen Gerichte der Moskauiſchen Metropolie lo&fagte und 
feierlich erklärte, fich in feiner einzigen, zur geiftliden Surlöbiction gehörigen Rechts⸗ 
ſache an den Metropoliten, fondern nur an den eigenen Erzbiſchof menden und bie 
Gerichtobarkeit Durch ihn und den Poſſadnik auf Grund des griechiſchen Nomotanon 


— — — — — — — —— Bu 
% 


Nuſſiſche Kirche. 623 


üben Taffen zu wollen. Da Chroniken vom Jahre 1388 gleichwohl bie Thatfache 
melden, daß Der neue Exzbifchof von Nowgorod zu Moskau durch den Metropoliten 
faerirt worden fei, fo fcheint der 1386 zwiſchen Dimitrif Donskoi und den Rowgo⸗ 
rodern entbrannte und mit wechfelndem Glück geführte Krieg wenigftens eine Berftän« 
digung herbeigeführt zu Haben. Gegen Ausgang des 15. und zu Anfang des 16. 
Jahrhunderts war das Anfehen des Metropoliten von Rußland auf der Höhe feiner 
Macht; er war Schiedsrichter über die ruſſiſchen Theilfürften, Eonnte fle in Gewahrfom 
fegen, belegte oft ganze Ränder mit dem Interdiet und gab feinen Segen zu jeder 
irgend wichtigen Staatdunternehmung. Auch das Mönchsthum felerte feine Blüthezett: 
gebeugte Fürften fuchen in den Klöftern irdifches und Seelenheil oder legen in ben 
legten Tagen ihres Lebens die Mönchskutte an; Klöfter und Kirchen mehren fich, ber 
fonderd durch den Schuß, den die Tataren durch ihre Freibriefe der Beiftlichkeit ger 
währen; die Sucht nach der Heiligiprechung wehrt fi, eine wahrhafte Märtyrermanie 
bat die Rufſen ergriffen; Reliquien, Bilder und Bücheg kommen unaudgejegt aus 
Griechenland und zum Theil auch aus Rom; die byzantiniſche Baukunſt, die griechifche 
Helligenmalerei feiern in Rußland, leztere Durch Rublew und Andere, ihre Triumphe, 
die Haffifchen Sprachen leben in Klöftern und Schulen auf, die Geſchichtſchreibung 
nimmt einen glänzenden Anlauf. Das Chriſtenthum dehnt fich zu gleicher Zeit mächtig 
aus: Permier, Sprjänen, Morbwinen, Bulgaren, Serben und andere Heiden werben 
befehrt. Die Zeit der bierarchifhen Macht iſt für den rufflichen Klerus und der Tag 
der Emancipation für die griechiich»Fatholifche Chriſtenheit gekommen. Weber die 
fateinifche Lehre noch der Jolam beeinfluffen mehr die orthodoxe Kirche von Moskau, 
Doch mifchen fi die Kirchenfürſten von jeht ab in alle politiihe Händel und 
fon von Cyprian flieht es Hiftorifch feſt, daß er den ruſſiſchen Großfürſten be= 
einflußt. Er farb 1406 und erlangte 1472 die angeftrebte Kanonifation. Der nach⸗ 
folgende Meiropolit, ein in Konftantinopel geweihter Grieche Photias, fuchte die Kreife 
feiner geiflliden Gewalt noch zu erweitern; dabei war er aufgeflärter als feine Vor⸗ 
gänger, wie Died fein 1410 erlaſſenes Verbot gegen bie Ordalten und Duelle ‚erweift, 
während er doch wahrer Beflttung dad Wort redete und Kirchenflrafen tiber Die ver⸗ 
bängte, welche ohne priefterliche Einfegnung In der Ehe lebten. Um dieje Zeit wäre 
durch Die Bemühungen des auf Anfliften Witowt's, des Lithauerfürften, neu erwählten 
Metropoliten Gregor Zamblaf, eines gelehrten Bulgaren, dem eine von ber nördlichen 
Metropolie eigens abgezmeigte fünliche, beftehend aus den Bisthümern Kiew, Tſcher⸗ 


nigow, Luzk, Cholm, Wladimir, Smolensk und Turow, eingeräumt wurde, bie ber 


Genehmigung des Patriarchen ermangelte, im Jahre 1418 beinahe eine Vereinbarung 
des PBatriarchats mit der römifchen Curie erfolgt, wenn nicht das fchließliche Auftreten 
des Papſtes febe Vermittelung unmöglich gemacht hätte. 1419 farb Georg Zamblat, 
1429 der Fürft Witowt; Photiad aber fuchte vergebens In Wilna die Vereinigung 
der Kiewſchen mit der Mostauifchen Metropolie wieder zu ermöglichen; ja nad des 
Lesteren 1431 erfolgtem Tode verblieb jogar die nördliche oder Moskauiſche Metropolie 
ſechs Sabre lang ohne Bertretung, indem der Kiemfche Metropolit Geraſſim, von 
Herrfchfucht getrieben, die Wiederbefegung des Prälatenftuhles verhinderte. Als Geraſſim 
indeß am Hofe des Fürften Swibrigailo von Lithauen mit geiſtlichem Hochmuthe auf- 
teat, machte der Fürft kurzen Proceß und ließ den Metropoliten auf einem Scheiter- 
haufen verbrennen. Mehr ald die Dei, welche zur Zeit der Regierung des Groß⸗ 
fürfen Waſſilij Dimitrijewitfch (1389—1425) mehrere Male auf fchredliche Weile in 
R. geherrſcht und für deren Beſchwörung man vielfache Herenautodafe's im Reiche 
veranftaltet hatte, ſchadeten der Ehriftenheit Die Zmifligkeiten, welche durch die Herr⸗ 
fehaft der beiden Metropoliten Jonas, der urfprängli auf dem Goncil zu Moskau 
vom Jahre 1437 einflimmig zum Metropoliten von Kiew und Moskau gewählt und 
als folcher auch in Griechenland anerkannt mar, und Sfldor, welcher unmittelbar 
danach binterliftigerweife vom Patriarchen als Metropolit inftallirt ward, hervorgerufen 
wurden. Iſidor hielt es mit allen Parteien zugleich und verbarb ed daher auch mit 
allen, wozu feine unfeligen Neuerungen Tamen, die er in bie Ghriftenwelt einführen 
wollte. Ehrgeizig wie inbifferent, bereifte er 1437 Italien und ließ fih auf dem 
Florentiner Eoncil mit dem Cardinalshut bekleiden. In Rom ſchmeichelte er dem 


624 Ruſſiſche Kirche. 


Papft und verſprach ihm insgeheim, bie griechiſche Kirche in den Schooß der romiſchen 
zurüdzuführen; ja 1439 verkündete ex In Ofen durch ein feierliches Sendſchreiben bie 
“Bereinigung beider Kirchen. Als er darüber mit dem Großfürften in Streit gerieth 
und inhaftirt ward, entwich er aus dem Klofterkerker, flüchtete in die Arme ded Papſtes 
und mirkte felbft aus der Kerne noch durd einen feiner Schüler, den Bulgaren Gregor, 
auf R. ein, fo daß die Kiewſche Metropole, welche damals ſchon aus den Bisthimern 
Briansk, Smolendf, Peremyfchl, Turow, Luzk, Wladimir, Polozk, Cholm und Halitſch 
beftand, fhließlich Die Union annahm. Da der neue Metropolit von Moskau, Jonas, 
den Kiewſchen Metropoliten ald untreuen Hirten, der der Iateinifchen Kirche zugetban 
fei, verketzerte, ſo fchleuderte 1458 Papft Pius II. von Nom aus eine Bannbulle 
gegen ihn, worim er als Apoſtat und gottvergeflener Kirchendiener bezeichnet wird. 
Gleichwohl behauptete ſich Jonas, getragen von der Bunft des Großfürften, der feiner, 
feits jenen Prälaten als Hauptwaffe zur Zügelung der anderen Zürften anerkannte, 
in feiner Würde. Ein neues Lebendelenent kam in das ruffifche Kirhentbum vom 
Dften ber herein, "nachdem Konftantinopel (1453) in die Hände der Türken gefallen 
war; ber Patriarch von Serufalem, die Moͤnche vom Berge Athos, die Beiftlichkeit 
von Byzanz flohen fchaarenweile nad R. und brachten geläuterte Begriffe mit. Jener 
1461 von den rufftfchen Bijchöfen gewählte und gemeibte Metropolit Theodoflus war 
der Erfte, welcher deshalb ohne Einfluß und Mitwirkung des griechiſchen Patriarchen 
in fein Amt eingeführt worden war. Diefer Umftand Hatte ebenfalld vielen am Alt« 
bergebrachten Elebenden Ghriften R.'s Aergerniß gegeben. Der Metropolit entfagte 
zulegt freiwillig feiner Würde und ging in's Tſchudowkloſter (in Modfau), wo er in 
größter Demuth lebte und ſtarb. Phllipp I, 1467 zum WMetropoliten von ganz R. 
geweiht, eiferte gegen dad fih damals fehr einbürgernde Sectenwefen, bejonder® gegen 
den Nomgoroder Häretifer Zacharias, der in feine Lehre viel Juͤdiſches eingemifcht 
hatte, warnte auch die Nowgoroder vor den römifch-Fatholifchen Glauben, ald einem 
folhen, der nur Unheil bringe und der der Seele verderblih fe. Den Legaten 
Antonius des Papftes Sixtus IV, fertigte er derart ab, daß derfelbe aud die Ente 
ſcheidung des für den Metropoliten fehr eingenommenen Großfürften Iman Waſſtlje⸗ 
witih, den er zur Annahme des Blorentiner Conecils bewegen wollte, vorausfehen 
fonnte und unmuthig abreifte. Durch die Heirath des Broßfürflen mit der griechl« 
ſchen Prinzeffin Sophia wurde das Bund zwiſchen den Griechen und Ruſſen noch enger 
und ein wohlthuender Einfluß breitete fih vom Orient ber über das ganze ruffliche Reich 
aus und machte ſich in Bezug auf Kirche, Sprache, Literatur, Kunft und Gefittung fühlbar. 
Unter Iwan I. (III.) Wafftljewitfh, der von 1462 His 1502 regierte und ſich den 
Beinamen ded Großen erwarb, wurde ber Ausbau der chriftlichen Kirche gefördert und 
nach der Abwerfung des Tatarenjoches und der Unterbrüdung des Nomgorodifchen 
Staates die Befreiung der rufflfchen Chriſtenheit von den Feſſeln des Islam und dem 
Despotiömus der HSterarchie herbeigeführt. So warb die Uebermacht der allgewaltigen 
Erzbifchöfe vom Nomgorod gebrochen, ihre Mevenuen auf bie Hälfte vermindert, ihre 
Güter zum Theil als Staatsdomänen eingezogen und der legte Wladyka Theophilus, 
der insgeheim Verbindungen mit Lithauen angelnäpft, in Klofterhaft geführt. Bei 
feinen angebahnten Reformen fland dem Großfürften der Metropolit Herontiad Fräftig 
zur Seite, und die gefammte rufftfche @eiftlichkeit zeichnete ſich durch Ihren Yeuereifer 
und ihre Opferfreudigfelt bei Befreiung ihres Vaterlandes von den Tataren auß. 
Schon am 23. Juni 1440 Eonnte ein ewiger Feſttag zum Angedenken an dad abge- 
ſchüttelte Tatarenjoch angefeht werden. Nachdem MenglieGirei, der Tataren-Ehan, der 
auß einem Feinde Rußlands jetzt deflen enger Verbündeter geworden war, auf Ans» 
fliften des Großfürften die Länder des ſüdlichen Rußlands, welche damals zu Polen 
gehörten, namentlich Kiew, Tfchernigow u. f. w., überfallen und vermüftet hatte, wobei 
er die Beuten aus den Kirchen und Klöftern gleichfam als Tribut Iwan I. Waffll- 
jewitſch überfendete, fagten ſich die Bifchöfe des ruſſiſchen Lithauen von der An⸗ 
nahme des Florentiner Concils los und nahmen feit dem Tode des Kiewſchen Metro» 
politen Gregor ihre neuen Metropoliten wieder aus der Hand des Konftantinopoli- 
tanifchen PBatriarchen oder des ruſſiſchen Großfürften entgegen. Um zu zeigen, daß 
ihm das Inveſtiturrecht zuſtehe, feßte Iwan Waſſiljewitſch im Jahre 1495 den vierzige 


Nuſſfiſche Kirche. 625 


‚Ren Meiropoliten Simon nad eigener Wahl und Weihe in fein Ami ein; aud er» 
mahnte er feinen Sobn, den 1505 den Thron befleigenden Großfürften Waſſilij Iwa⸗ 
nowitfch, die Krönung mit eigener Hand, ohne Beihülfe des Metropoliten, vorzunehmen, 
was derfelbe auch that, und wodurch er der Geiftlichfeit ihre nothmendige Unterorde 
nung unter die zarifche Gewalt kundthat. Der neue Gropfürft bersfchte im Sinne 
feines Borgängers. Einen Gefandten, weldyen der König von Dänemark nad Mos⸗ 
Tau fandte, um die Bereinigung ber vrientalifchen und occidentalifchen Kirche von 
Neuem auf's Tapet zu bringen, fertigte er fchnöde ab. Berner berief er 1514 zur 
Ausmerzung der in die flawifch-rufflfgen Kirchenbücher eingefchlichenen Irrthümer 
den gelehrten Moͤnch Maxim vom heiligen Berge Athos na Moskwa, der mit Hülfe 
von drei moskowitiſchen Geiſtlichen die Exegefe des Pialter u. f. w. ins Ruſſiſch⸗Sla⸗ 
vonifche Überfegte. Ja um Ddiefelbe Zeit, ald Luther in Wittenberg fein großeß refor⸗ 
matorifches Werk der römifchen Kirche gegenüber begann, entmidelte der Großfürft 
Rußlands eine ungemeine Thätigkeit, um die ruiflich » griechifche Kirche In ihrer ur» 
fpränglichen Einfalt und Reinheit wieder berzuftellen. Iwan Waifllfewitfch der Schred« 
liche, während 50 Jahre (1534— 84) über Rußland regierend, ſetzte zunächſt die Geiſt⸗ 
Iipkeit in den Wahn, als wolle er ihr das Heft der Oberherrſchaft über alle Glau⸗ 
bensfachen vollfländig in die Hände legen. Das Anfehen des Meiropoliten gewann 
beſonders bei.der Beier feiner Krönung; denn bier geſchah es 1547 zum erfien Male, 
daß der Metropolit, Makar, dem zu kroͤnenden Sroßfürften die Krone auffegte und ihm 
die anderen Reichsinſtgnien anlegte. Kaum aber war der Großfürft zum Thron ger 
langt, als fi. fein Sinn und Gharafter merklich änderten und er fi eben fo gewalt« 
thaͤtig als vordem human erwied. Die Strenge feiner Geſinnung bezeigten das im 
Jahre 1550 unter dem Namen Sſudebnik erlaffene Geſetzbuch und feine Beflimmun« 
gen auf dem berühmten Concil nom 23. Februar 1551, welches befannt iſt unter dem 
Namen 'Stoglawnik (Eoneil von hundert Hauptflüden) D, wo er der Geifllichfeit den 
Nero der Selbſtſtaͤndigkeit vollſtaͤndig zerfchnitt und fle nicht nur in ihren Einnahmen 
wefentlich befchräntte, fondern ihr auch Abgaben und Steuern auferlegte, ‘Die ur« 
ſprünglich für Alte und Kranke beilimmt waren, oft aber In feinen eigenen Sädel 
floffen. Auch ben Patriarchen von Konflantinopel, Dionyflos, beugte er feiner Ge⸗ 
walt und diefer fchidte mehrfach unterihänige Gefandtfchaften nah Modfau. Iwan's 
des Schredlihen Leben und feine Regierung ift übrigens ein feltfames Gemiſch von 
Sreigeifteret und Aberglauben, Duldfamfeit und Tyrannei, Indifferentismus und Ins 
toleranz. Für Schandtbhaten, die er verübte, 3. B. die Ermordung feines Sohnes, 
fuchte er durch Geſchenke an die Geiſtlichkeit Sühne nach, auf der einen Seite plün« 
derte er die Klöfter und Kirchen, auf'der andern errichtete er fie; während er felbft 
weder an Gott noch ewige Vergeltung glaubte, glaubte er an Heren und Bauberer, 
er Tieß felbft den tapferen Helden und Erretter des Vaterlandes, den Fürſten Michael 
Worolinzkij, der des Umgangs mit böfen Geiſtern angeklagt war, 1577 zum Tode 
auf dem Scheiterbaufen verurtbeilen. Weshalb er den Portfhritten der Union, bie 
dur Drudjchriften von Lemberg aus in Rußland Wurzel zu faſſen fuchte, und ben 
Belehrungdgelüften des Papftes Gregor XIII., der ihn 1576 durch den Theologen 
Rudolph Klenchen und 1581 durch den PBefulten Anton Boffesin für die römifche 
Kicche zu gewinnen trachtete, fo energiſch entgegentrat, tft kaum' erflärlich; jedoch 
ift es wahrfcheinlih, daß cher politifche als religiöfe Gründe den Zaren damals 
und fpäter beflimmten, den römifch » Fatholifchen Ghriften eine eigene Kirche in Ruß⸗ 
fand zu verfagen, die er doch den Rutherifchen in Moskau felbft (im Jahre 1565) 
zugeflanden hatte, und die er 1583 auch den Engländern für Moskau geftattete. 


1) Auf diefem Contil wurde auch die Iutherifche Lehre und der Arlanismus und Socinia⸗ 
nismus, welde befonders von Polen her in Rußland eingedrungen waren, bereits in Moskau ſich 
ansqubreiten angefangen hatten und bald bis zur Wolga, bis Bjelofero vorbrangen, zum erften 
Male ruffifcherjeits mit Entſchiedenheit befämpft. Gleichzeitig waren die Angriffe der griechiſchen 

Kirche auch wider. die. Neformirten gerichtet, und fie bewirkten es allerdings, daß das Lutherthum in 
Rußland auf fehr beflimmte und enge Territorien befhränft blieb, während bie Unitarier, Katho⸗ 
liken und Zefuiten ſich gleichzeitig und confequent über das ganze Neid, ausbehnten, bis fpäter, wie 
unten gezeigt werben wird, auch dieſe Gonfefftonen plögliche Beihränfungen und zum Theil völlige 
Aufhebungen trafen. 
Wagener, Staats⸗ u. Befellfeh.-Lex. XVIL 40 


6220 Nuſſtſche Kirche. 


Eine der wichtigſten Neuerungen innerhalb der griechiſch⸗ruſſiſchen Kirche fand unter 
dem Sohne und Nachfolger Iwan's des Schrecklichen, dem Zaren Feodor I. Iwano⸗ 
witſch, der unter der Beihülfe ſeines Schwagers, des nachmaligen Zaren Borid Go⸗ 
dunow, 1584 bis 1598 regierte, ſtatt, nämlich die Gründung des ruffifchen Va⸗ 
triarchen ſtuhls. Man bat, um den Blanz der Megierung Iwan's des Schreck⸗ 
lichen zu erhöhen und ihm die Hebung- ded geiftlichen Anfehend und einen chriftlichen 
Sinn zu fupponiren, oft die Stiftung des Patriarchatd zu Moskau ald von ihm aus⸗ 
gehend betrachtet. Die wahre Sadjlage tft die, daß, im vierten Jahre nach dem Ab⸗ 
leben jenes Alleinherrſchers, Borid Godunow, der eigentliche Beherrſcher Rußlands, 
der fofort den alten Metropoliten Dionys nach Nowgorod verbannt und den Erz⸗ 
bifhof von Roſtow, Hiob, als Metropoliten von Rußland eingefeht, auch den Pa⸗ 
triarchen von Konftantinopel Jeremias II. nach Moskau hatte kommen laffen, mit vier 
fem und mit Hiob indgeheim die Einführung eines Patriarchats, ferner Die Errich⸗ 
tung von 4 Metropolitenfigen, 6 Erzbisthämern und 8 Bisthümern zur Erhöhung 
des zarifchen wie des hierarchiſchen Glanzes verabredete und biefen Plan auf dem 
Concil defielben Jahres zu Moskau zur Ausführung brachte. So wurde Hiob im 
Jahre 1588 der erfte ruſſiſche Patriarch, wobei zu bemerken ift, daß, was die eigents 
lich weltlihe Macht betrifft, die Metropoliten vergangener Jahrhunderte feld bie Bao 
triarchen übertrafen, wogegen biefe in Betreff der geiftlihen Gewalt eine bei Weiten 
größere Machtvollkommenheit, als die früheren ruſſiſchen Kirchenfürften befußen. Bereits 
1589 ward dies rufflfche Patriarchat von den Patriarchen von Alerandrien wid Je⸗ 
rufalem, von 65 Metropoliten und von 11 griechifchen Erzbifchäfen anerfannt umb, 
dem Range nad, nach dem von Serufalem und als das fünfte, eingefeht. Faſt wäre 
unter dem Papfte Clemens VII. au ein Anfchluß des neuen PBatriarchats an Rom 
erfolgt, wie anbererfeitd eine entfchiedene Verbindung mit dem Zaren von Georgien 
flattfand, welcher Lebtere 1589 den rufflihen Zaren Feodor Iwanowitſch um Hülfe 
gegen feine äußeren Feinde bat, die ihn und fein Volk in Religionsangelegenheiten 
hart bedraͤngten. Damals fandte die ruffffch-griechifche Kirche einen Ardyimandriten, 
Igumen, mehrere Erzpopen oder Archiereis und Erzdiakonen, viele Helligenbilber, 
Kirchenbücher, Gefäße und Paramente nach dem Kaukaſus und die Union der griedhie 
fhen und armenifchen Kirche wäre vielleicht erfolgt, wenn nicht die Unduldſamkeit des 
erften ruſſiſchen Patriarchen dieſelbe verhindert hätte. Auch empoͤrte des Letzteren 
große Strenge gegen den Metropoliten von Kiew und gegen andere Biſchöfe der ſud⸗ 
lichen ruſſiſchen Kirche dieſe dergeflalt, daß fie auf dem von der rufflichen Kirche ver« 
fluchten Goncil von 1594 zu Brzese fi der Union anfchloffen und mit Rom in Ders 
bindung traten, während nur zwei Bifchöfe dieſer Metropolie, Gedeon von Lemberg 
und Michael von Peremyſchl dem Patriarchen und der rufflfchen Kirche getreu blieben. 
Dagegen dehnte ſich nah der Entbedung und Eroberung Sibiriend das griedhifche 
Ghriftentgum in neuen weiten Kreifen durch ganz Sibirien aus und gewann in Nord⸗ 
Alten eine Station, welche fpäter auf Das heidniſche oder muhamedanifche Gentral« 
Aften und auf China und Japan im Süden influirte. Hiob fjalbte 1598 den Regen» 
ten Boris Godunow, dem er fein Entfleben verdankte, zum Zaren von ganz Rußland; 
er felbft aber ward verdrängt und ermordet (1604) durch den Throntäuber Griſchka 
Dtrepiew, als diefer unter dem Namen des ermordeten Großfürften Dmitrij zu Mos⸗ 
kau den Zaren-Thron beflieg. Der falſche Dmitrij, aus politifhen Gründen fi zur 
tömifchen Kirche, die in Bolen vertreten war, neigend, feßte 1604 einen unirten Griechen, 
Ignatius, Bifchof von Rjaͤſan, auf den ruſſiſchen Patriarchenſtuhl, deffenerfte Beftimmung 
war, daß die Römifch-Katholifchen, welche zur ruffifchen Kirche überträten, nicht noch einmal 
brauchten getauft zu werben und daß fie nur mit dem Chrijam oder heiligen Weihdl zu 
falben felen. Angeſtachelt durch feine ebenfo ehrgeizige, wie fanatifche Gemahlin Maria, bie 
Tochter des katholiſchen Staroften Mniſzek, Tieß er 1605 durch den Iefuiten Andrei 
Plowitſch dem Bapf Paul V. feine Bereitwilligkeit vermelben, vie roͤmiſch⸗katholiſche 
Religion anzunehmen und in Rußland einzuführen. ilfertig fehicdte der Papſt meh⸗ 
vere Sefuiten und Carmelitermoͤnche nach Moskau und belobte durch ein in den Sy⸗ 
nodalardhiven noch vorhandenes Schreiben den Thronräuber, deſſen Anſprüche auf den 
Barentitel er anerkannte und den er einen treuen Sohn ber Kirche nannte, für feinen 


Anfſiſche Kirche, 627 


Eifer. So murden noch In demſelben Jahre den Jeſuiten einige xuffifche Kirchen 
überlaffen, worin fle den römifch » katholiſchen Gottesdienſt Hielten und von wo aus 
fie ihr Bekehrungswerk begannen. Noch weitere Meformen in der griechiichen Kirche 
anftrebend, führte jener Pſeudodimitrij beim Gottesdienſte die Inftrumentalmuflf ein und 
geftattete allen Fremden, was bis dahin unerlanbt war, den. Zutritt zu den rufflfchen 
Kirchen... Hätte er länger regiert, würde zuletzt die griechtfch » rufflfche Kirche eine 
zwitterbafte Copie der Inteinifchen geworden fein; feine Ermorbung im Jahre 1606 
rettete Die Kirche Mußlandd. Waſſilij Iwanowitſch Schuiskoi, der neue Bar, berief 
fogleih ein Goneil, welches den unionilflifchen Patriarchen Ignatiud für abgefegt exe 
Härte und feine Würde auf Hermogen, früheren Exrzbifchof von Kafan, übertrug. 
Diefer ſuchte die Meinheit der Lehre wieder berzuftellen; die Polen indeß, mit den 
Auffen im Kriege, brachen feiner bierarhifchen Gewalt bald die Spige ab, ließen ihn 
graufam im Tſchudowkloſter verhungern und ferkertien den Metropoliten Philaret 
(vergl. Diefen Artikel) jahrelang ein. Da halfen der Metropolit von Roſtow und der 
Pater Kellner Abraham Balizyn vom Troizkifchen Klofler den beiden ruſſiſchen Pa⸗ 
twioten, dem Bürften Posharsfij und dem Nifbegorodfchen Bürger Minin, ihre große 
That verrichten, Moskau und Mußland von dem Polenfeinde zu befreien. Die Geiſt⸗ 
lichkeit war es injonderbeit, welche 1613 das Haus Romanow auf den ruſſiſchen 
Barenthron bob, und ber Metropolit von Kafan, Jephrem, kroͤnte und falbte Michael 
Feedorowitſch Romanow zum Selbfiherrfcher aller Meußen. Im Jahre 1619 kehrte 
ber Metropolit Bhilaret auf Grund der Bedingungen bed Drulinfchen Friedens aus 
feiner polniſchen Sefangenfchaft zurück und ber gerade In Mosfau anweſende Patriarch 
von Jeruſalem Theophan weihte ihn, auf den Wunſch des Zaren, feines Sohnes, am 
2. Iuli zum ruſſiſchen Patriarchen und heflätigte zugleich Ras ruſſtiſche Patriarchat in 
feiner ganzen Tragweite. Unter diefem Patriarchen (vgl. die Urt. Mogila u. Phi 
laret) breitete fich nicht nur das griechifch » zuffifche Chriſtenthum im Norden, Süden 
und Oſten des europäifchen Reiches, ſondern bis tief in Aften hinein aus, wo. 1620 
die Eparchie Sibirien und Tobolsk errichtet ward. Den Zuwachs der Union, 3. B. 
1629 an den Eparchieen Polozk und Witebsk, 1539 an den Eparchieen Chelm und 
Samborst, 1632 der Eparchte Mogilem, welcher wie bei den erfieren vier durch Leber» 
tritt aus der rufflichen Kirche, oder wie bet der legtgebachten durch Neuerrichtung er» 
folgte, konnte Philaret freilich nicht hemmen. Als aber 1632 in Kleinrußland in 
Heinsrufflicher und polnifcher Sprache ein Katechiömus der römiſch⸗katholiſchen Reli- 
gion erfchien, fegte Bhilaret auf einem in Kiew zufammenberufenen Eoncil 1632 fefl, 
dag au für Die der griechifch » rufflichen Kirche zugeihbanen Gläubigen eine befondere 
Kischenagende (die vom Acchimandsiten der Troizer Lawra Dionys und vom Moͤnch 
Arſenij Gluchoi 1616 gedrudte Agende war als Fegerifch anerkannt und Dionys 
deshalb eingekerfert worden) und ein Katechiömus audgegeben, den Patriarchen der 
GHriftenHeit gur Durchſicht zugefchidt und darnach von ſämmilichen Bifchdfen als für 
Die ruſſiſche Kirche verbindlich anerkannt werden follten. Der Metropolit von Kiew, 
ber gelehrte und claſſiſch gebildete, mit allen Schriften ber heiligen“ Kirchenvaͤter ders 
trante Pater Mogila unterzog ſich diefem, ihm aufgetragenen Werke mit ganzer Liebe 
und Hingebung und feine „Opd6öotos bpokoyla is xadoiunfns xal drrootoAuwfis 
&xxinalas TAs Avarokıztc“ wurbe fpäter (1672) durch die Synode zu Serufalem, als 
die. Satıptbefenntnißfchrift ‚der griechifchen Kirche, zu deren Symbol erklärt und ind 
Aufflfche überfegt (f. d. Art. Mogila). Diefe Schrift ift auch al& der fogenannte 
„Größere Katechismus der Ruſſen“ ‚befannt, während das ebenfalls von ihm verfaßte 
und 1645. unn 1646 in weißruffifcher nnd polnischer Sprache zum Drud beförberte 
Euchologium (ruffifh Trebnik) oder die Kirchen » Agende jenem Werke gegenüber 
auch als der „Kurze oder Kleinere Katechismus" bezeichnet wird. Gegen bie unioniſti⸗ 
fhen Beſtrebungen und Vebergrife wurde die rufflfche Kirche durch weitere Concile, 
wie Das zu Kiew vom Jahre 1640, 1644 und andere, gewahrt, und fowohl der Bas 
triarch Soafaph (1634—1641), als der Patriarch Joſeph (1642—1652), befonders 
aber der Patriarch Nikon (1652 — 1668), trugen viel zur Läuterung des chriftlichen 
Zebend und zur DBerbeflerung der Kirchenzucht bei. Der von 1645 bis 1676 über 


Rußland Herrjchende Zar Alerei Michallowitſch genehmigte den 1649 von Nikon, als 


40* 


628 | Ruſſiſche Kirche. 


derſelbe noch Archimandrit des Nowoſpaskiſchen Kloſters und Metropolit von Nowgorod 
war, im ganzen Reiche eingeführten wohllautenden Partiturgeſang und die vom ihm 
feftgeftellte Orbnung der Predigt» Terte, und :fanctionirte weltlicherfelt® bie auf der 
wichtigen Kirchenverfammlung von 1654 zu Moskau gefaßien Beſchlüſſe in Betreff 
der Kirchenbücher, die von allen Städten des ruffifchen Reichs und felbfl von der 
Mehrzahl der Klöfter des Orients eingefandt worden waren. Er errichtete eine große 
Zahl griechiſcher und lateiniſcher Schulen und fegte e8 endlich durch, daß in den 
Jahren 1657 bis 1660 die Patriarchen von Konftantinopel, Alerandrien, Ierufalem 
und Antiochlen dem ruſſiſchen Geſandten in Konftantinopel Urkunden außftellten, wos 
durch fie die Berechtigung dem rufftfchen Meiche zugeflanden, ſich feine Patriarchen: von 
der ruſſiſchen GBeiftlichkeit allein wählen Kaflen zu Fönnen, ohne erfi die Zuflimmung 
der Patriarchen des Orients einzuholen. Auf dem Concil zu Moskau im Jahre 1668 
wurben bie Berbefferimgen Nikon's zu dem rufilfchen Reßbuche, auf Grund einer Ders 
gleichung der flawifchen Terte mit den griechifhen Originalien, troß der bereits flatt« 
gefundenen Abfegung des Patriarchen, die derfelbe feinem flarren Charakter verdankte, 
für kanoniſch anerkannt, und gleichzeitig die Satzungen des hundertartiteligen Contils 
von 1551 verworfen, fo wie 35 neue Sagungen rückſichtlich der Verbeſſerung einiger 
Kircyenceremonien feftgeftellt. Die drei nächften Patriarchen Joſeph IH. (1668-1672), 
Pitirim (1672—1673, nur 10 Monate lang vegierend) und Joachim (von 1674 a6) 
herrſchten in dem Geiſte ihrer Vorgänger, fonnten aber dem Umflchgreifen des See 
tenthums nicht wehren, welches befonderd durch die fogenannten Altgläubigen 
oder Raskolniks große Erfolge fih errang. Die Verbeſſerung der Kirchenbücher 
durch den Patriarchen Nikon gab diefer von den Erzprieflern Iman Nerenow in Mose 
fau, Awwakum (Habakuk) in Tobolsf und Daniel in Koflroma und dem Diafon 
Zheodor begründeten Seete den Vorwand, fi vom Schooße ber Landeskirche loszu⸗ 
reißen und ſich zu einer felbfifländigen Kirchengemeinfchaft zu conflituiren. Ihr An⸗ 
bang mehrte ſich bald aus allen Thellen des Staats, indem namentlich von der Kirche 
abgefegte Priefter und loſes Geſindel zu ihr übertraten. Banndullen und Kirchen» 
firafen frommten nicht, Schriften der ruſſiſchen Geiftligkeit wurde durch Schriften 
jener Haͤretiker begegnet, die beftigfte Polemik machte fich geltend, und felbft die oft 
angewandte militärifche Gewalt fruchtete feHlleßliy nicht mehr, nachdem dus Maskol⸗ 
nikenthum fih an unzähligen Orten eingebürgert hatte. Die Raskolniki, welchen 
Namen die Auffen fchimpfmweife dieſen Schiömatifern gaben, denn Raskolniki bedeutet 
Ahtrünnige, nannten ſich ſelbſt Staromierzi oder Nitgläubige, auch Prawo⸗ 
flamnyje oder Nechtgläubige, und Isbraniki oder Auserwählte; Heutzutage 
nennt man jene Separatiftien, um ſte nicht zu kränken, offteiell Staroobradzi, 
d. i. Leute, melde die alten Bräude beobachten. Die Raskolniken Haben 
Priefter, Sacramente und Kirchen, feben den Zaren indeß nicht ald das gebeiligte 
Oberhaupt ihrer Kirche an und verwerfen alle von dem Patriarchen Nikon herſtammen⸗ 
den Reformen, die Berbeflerungen der griechifch-flawonifchen Bibelverfion und anderer 
liturgiſcher Bücher, indem fie nur den alten flamonifchen Bibeltert als Acht aner- 
fennen. Außer der Heiligen Schrift halten fle auch die Schriften der griechifchen und 
rufflichen Kirchenväter 518 zur Mitte des 17. Jahrhunderts für maßgebend. Sie 
unterfcheiden fich in ritualer Beziehung von der herrſchenden Kirche auch In ver Schla« 
gung des Kreuzes, indem fle das Kreuzeszeichen nicht wie die Ruſſen mit den drei 
erften Bingern, noch wie die Katholiten mit der flachen Hand, fordern mit dem Zeige⸗ 
und Mittelfinger machen, daß fie fh eines achteckigen Kreuze bedienen, ſich nie ben 
Bart fcheeren, den Genuß des Tabaks, der Kartoffeln u. ſ. m. verwerfen, und daß fe 
beim SKirchengefange flatt des dritten Halleluja die Worte: Lob fei dir, Bott! anwenden. 
Das Haupt ihrer Kirche iſt der Storik (Alte), welcher tauft, aber nicht firmelt, traut, 
noch das Abendmahl reicht, weil eine eigene priefterliche Verrichtung für vergleichen 
gotteßdienftliche Bräuche nicht flattfindet. Bei allen kirchlichen Ceremonien, Taufen ıc. 
geben fie nicht, wie die orthodoxen Auffen, von der Mechten zur Linken um ben Taufe 
fein oder das Pult, fondern von der Linken zur Rechten, nach dem ſcheinbaren Laufe 
der Sonne. Ihre Meßopfer verrichten fle nicht wie Die Auffen mit-5, fondern mit 7 
Weizenbroten; fie erkennen nur die alten Bilder ober folche an, welche von ihren 


- — —— — — — — — 


efkiöe Kirche. 623 


SHaubensbrädern ſtammen, beiteten Feine anderen Kirchen, halten Feine Bemeinfchaft 
mit Anderägläubigen, und Schreiben den Namen Jeſus nicht wie die orthodoxen Ruſſen 
disus, fondern Jsus. Im Allgemeinen gehörten dieſe Sectiser, welche ſich bald genug 


. in viele linterfecten zerfpalteten!), zu den nieberen Klafien und erhalten noch heut 


1) Die Zahl fümmtliher Haupt: und Nebenfecten der suffljch-griechijchen Kirche beläuft ſich 
Bereit auf nahe 200. Als die beiden Hauptfecten fann man die Popowſchtſchina, oder bie 
mit Brieflern verfehenen, und die Bespopowſchtſchina, oder bie priefterlofen Raskolniken be: 
zeichnen. Die erſtgedachte religtöfe Gemeinſchaft, über Sibirien, Polen, in Kleinrußland und unter 
den len und yraliihen Koſaken weit verbreitet (wo zwiſchen 1858 und 1864 indeß Tauſende 
zur ruſſiſchen Hauptficche zurückkehrten), zählt gegenwärtig etwa 5 Millionen Anhänger und befteht 
aus mehr ald 20 Secten, unter denen bie Bhilipponen die bemerfenswertheften find, weldye Let⸗ 
tere die Taufe der Staatöficdhe verwerfen und ſich weigern, Eide zu leiflen und Kriegsdienfte zu 
thun. Unter ver Secte ber Bespopowſchiſchina, welche feine Geiftlichen haben, tritt weniger 
das altgläubige Clement hervor, . als vielmehr das Beſtreben, das Dogma bes morgenländifcen 
Katholicismus mit dem des abendländifchen zu identificiren und den Ruffogräcismus aus feinem 
leeren Geremoniel zu befreien und zu einem entwidelungsfähigen Leben zu führen. Sie gehen 
barin juſt jo weit, wie bie Lichtfreunde in der evangelifhen Kirche, oder die Deutfchfatholifen in 
der römischen Kirche, ober endlich die Neformjuben innerhalb des Mofaismus, während die Philip: 
ponen eher den Herruhutern oder Duäfern gleihen. Sie zerſplittern fi, obgleich ſie an Volkes 
zahl ber Hauptfecte der Popowſchtſchina nicht gewachſen find, in ungleich mehr Unterfecten als jene, 
unter denen die Duchoborzen oder Geiftfämpfer die bedeutfamfte if. Ste find befonders feit 
Mitte des 18. Sahrh. in R. ausgebreitet, wurden Anfangs verfolgt, unter Katharina II. milder be: 
Prag und unter Alexander I. feit 1804 in Taurien angeflevelt, wo fie befondere im Melitopol⸗ 
hen Kreife leben. Sie glauben an innere Offenbauung und Erleuchtung und an eine unfihtbare 
Kirche, zu ber aud Juden und Muhamebaner gehören Fönnen, verwerfen bie äußere Kirche mit 
ihren geiefern, Sarramenten und Bräuden, halten unbeftimmte geiftlihe Berjammlungen, wobei 
nur gebetet wird, und welche im Haufe des Neltefien flattfinden, der ben Priefler vertritt und ber 
jelbſt feinerfeits die Weihe durch Ganbauflegung der ganzen Gemeinde empfängt. Obgleich fie die 
Treinität und Gottheit Se nicht läugnen, verbinden fie doch damit andere als bie kirchlichen Bes 
griffe, und obgleich fle die Bibel für heilig halten und auch den Apokryphen benfelben Werth wie 
den fanonifhen Schriften des Alten Teftaments beimefjen, wollen fie diefelbe doch nur geiftig ange⸗ 


wandt wiffen. Sie find bei alledem fireng rechtlich, arbeitfam, orbnungsliebend, nüchtern, pflicht⸗ 


etreu, fennen feinen Ehrgeiz und verfchmähen Auszeihnungen, Ehren und irdiſche Gewalten, 
Pemören auch nicht, thun feine Kriegsbienfte, wollen Gleichheit der Stände und beziehen Geſetze 
und Gerichte nicht auf fih. Sie behaupten auch eine Präeriftenz ver Seele vor der fihhtbaren Welt. 
Andere Secten, zur Hauptfecte der Bespopowſchtiſchina gehörig, find die Molokaner (die Miſch⸗ 
löffler), fpottweis fo genannt, weil fie während der Faften nur Milchſpeiſen effen, welche den Sonn- 
tag ſtreng beobadhten, Taufe und Abendmahl aber als bloß äußere Gebräuche betrachten, fich zur 
reinen Schrijtlehre befennen u. |. w.; die Bomoranen (die Seeanwohner), fo benannt, weil ihre 
Stifter die Küften des Weißen Meeres bewohnten, welhe alle Priefler feit dem 17. Jahrh. für uns 
acht halten, weshalb die zu ihnen Mebertretenden die Wiebertaufe empfangen, fih in Kirchen zu 
Abendmahl” und Gebeten verfammeln, wo ber fich Berufen Fühlende als Priefter fungiren kann, 
ben Selbfinwrn, anf Marc. 8, 35 ſich Kügend, als Bott wohlgefäflig betrachten, fic, daher oft verbren- 
nen, und durch Polen, wo fie 1751 cine ſtürmiſche Synode hielten, Lievland, Galizien und die 
Türkei weit verbreitet find; die Kapitonier, nah ihrem Stifter Kapiton fo benannt, welche feine 
Kirchen Haben, alle ihre religiöjen Beremonien in ihren Häufern verrichten, Shen willkürlich ſchlie⸗ 
fen und löfen. und ein fittenlofes Xeben führen; bie Podreſchetniki (d. i. unter dem Siebe), 
eine Unterferte der Vorigen, fo genannt wegen ihrer Begehung des Abenpmahle, wobei Trauben, 
bie ein Mäbdyen in einem Siebe trägt, bie Stelle des Brotes und Weines vertreten; bie Ne: 
towſchtſchina, Kosminowſchtſchina ober Brüberfchaft zum Heiland, gegründet durch ben 
Bauer Kosma, läugnet die Nothwendigkeit der Wiedertaufe, verwirft die Ehe und aud) die Sacra⸗ 
mente, weil ber Antidhrift alles Heilige von der Erbe vernichtet Habe, hängt aber im Mebrigen mehr 
dem alien Kirchenthum an, als andere Mitglieder der Bespopowſchtſchina und zerfällt wieder in 
mehrere Unterfecten; die Abrahamiten oder bie Awramjewihtihina und die Raſtri⸗ 
gowſchtſchina, welche beide ben ſchon wirklich gejchehenen Gintritt des Antichrifts in die Welt 
annehmen und fi nur in Kleinigkeiten unterfcheiden; die Tſchuwſtwenniki (gerühlvollen), ge- 
Piftet von dem aus dem Tſchudowkloſter entfprungenen Mönd Benedikt, welche in Beꝛug auf Re⸗ 
ligion und Moral faſt ganz indifferent find, daher ſich zum Atheismus neigen und in Bezug auf 
Alt: und Necdtgläubigleit annehmen, daß dem fhon ber Weg zur Seligfeit offen fei, wer fid) 
immer nur zum NAltertfum halte, gleichviel ob er der Secte der Popowſchiſchina oder der Bespo⸗ 
powſchiſchina angehöre; die Nowoshen; (Neuvermählte), welde fid, zwar, um feinen Anſtoß zu 

eben, in der orthodoxen Kirche trauen ließen, die Handlung felbft aber für ketzeriſch erflärten und 
35 dafür in ihrer Gemeinde durch Bußübungen reinigten; die Artamonowſchtſchina oder 
BawrilosArtamonowen, nach einem der Che das Wort redenden Popen Gawrila Artamonow 
benannt, von ber eben genannten Secte wenig verſchieden; die Bogomilen, eine Art Mefjalias 
ner, weiche glauben, af fleißig Beten den Teufel vertreibe, Ruhen und Schlafen Werke ber Fröm⸗ 
migfeit feien, die größte Ausſchweifung vor einer geſchloſſenen Ehe ven Vorzug verdiene, die Che 
GetöR als eine Berbindung mit dem Antichrif zu bezeichnen ſei u. |. w.; die Potemtowſchiſchina, 


N 


630 -  Aufihe Kirche. 


ben größten Zuwachs durch dad Landvolk, unter welchem ihre Wifftonäre fehr eifrig 
wirken, während, wie bereit8 bemerkt, die energifchſte Thätigkeit der rechiglänbigen Geiſt⸗ 
lichkeit dieſen Schiömatikern feinen Damm entgegenzuftellen vermag. Die Störung 
der kirchlichen Einheit, die Unzufriedenheit vieler dieſer Diffidenten mit den bürger- 
lichen und gefeglichen Zuftänden, ihr Sichentziehen von der Militärpflicht, die Einbuße, 
welche das Volkscapital durch den freiwilligen Opfertod und Die Selbſtverſtümmelung 
vieler folcher Zanatifer erlitt, veranlaßten Die Meglerung, oft mit harten Strafen wider 
fie einzufchreiten. Nachdem aber durch die Berfolgungen unter Beter dem. Großen für 
das Staatsoberhaupt die Meberzeugung gewonnen war, daß die Naskolnifen, wenn 
man allzuftreng gegen fle einfchritt, lieber den Märtyrertod farben oder die Flucht in 
fremde Länder ergriffen: fo gewährte die ſtaatskluge Katharina II., welche, nebenher 
bemerkt, auch ziemlich indifferent in Qlaubensfachen war, gleidy bei ihrem. Regierungs⸗ 
antritt 1762 ihnen Neligiondfreihett und 1783 auf Potemkin's Beranlaffung die Er⸗ 
laubniß, Kirchen und Klöfler zu erbauen. Seit der Regierung des jegt herrſchenden 
Kaifers Alerander II. iſt der Weg der Außerften Milde und frommer Belehrung beliebt 
worben und diefer Verſuch ift über alle Erwartung geglüdt, da Jahr für Jahr Tau⸗ 
fende von Schidmatifern in den Schooß der Wutterfirche zurüdfehren. — Ein anderes 
feindfelige8 Element bürgerte ſich zu derfelben Zeit in Rußland ein, wo bie griechifch- 
zuffifche Kirche in ihren Außeren Formen firirt ward, und that der Orthodoxie großen 
Abbruch: dies war der aus dem Welten Europa's auch nah R. übergepflanzte Myſti⸗ 
eismus, der fich in ber Aftrologie, Magie, Goldmacherei und anderen Ausgeburten der 
Phantafle kundgab, die feit 1660 ihre Blüthezeit in Rußland feierten. — Indeffen erhielt 
Die Landeskirche durch die Begründung einer Gemeinde in Peking (1684), durch wie 
Stellung der Klewichen Metropole unter den rufftfchen Patriarchen (1686) und durch 
Ausbreitung des Chriſtenthums in Sibirten unter den dortigen tatarifchen und mon⸗ 
golifhen Stämmen (1683 — 96) Zuwachs und Gonflflenz. Adrian, der eilfte Patriarch, 
feit 1690 regierend, ein großer Eiferer, der feln Amt mit dem Autobafe zweier Deuts 
ſchen begann, welchen Berbreitung iliaflifcher Ideen zugefchrieben wurde, war zugleich 
der legte Patriarch Rußlands. Peter der Große arbeitete confequent feiner Gewalt 
entgegen, indem er 1699 den Gebrauh aufhob, daß ſich Zar und Patriarch 
am Neujahrstage öffentlich umarmten und füßten, indem er 1700. ohne die 
Sanction des Klerus den Anfang des Neuen Jahres auf den 1. Januar fefflellte 
und die Zählung der Jahre von Ehrifli Geburt und nicht von Erſchaffung der Welt, 
anbefahl, indem er auf alle Beflgungen der Klöfer und Erzbisthümer eine neue Abe 
gabe legte und neben geiftlihen auch weltlichen Berfonen bie Aufficht über Die Klofler- 
Mevenüen übertrug, und indem er jedem Klofler einen gewifien Etat anmded, wobei 
er auf's Strengfte verbot, binfort den Klöftern neue Güter und Ländereien zu ver 


vom Bauer Potemfin gegründet, weldhe die Neugebornen Nachts tauft, weil. Chriftus In ber Nacht 
fei getauft worden, und welde beim Tode alle Sarramente begehen, die dann erſt eine völlige 
Reinigung ber Seele bewirken; die Roſinkowſchtſchina, geftiftet vom Bauer Anyſtj Wol⸗ 
Tonstij, die den ganzen Grünen Donnerſtag in abgeſchloſſenen Räumen beten und babei den Mund 
aufiperren, um die Speifung der Engel zu erlangen; die Otulinowſchtſchinag, geſtiftet von 
einer Schwärmerin Ofulina, die in einer geiftlihen Brüder: und Schwefterfchaft leben, ihre Vruft- 
frenze taufchen, die Heiligenbilder füffen und carnale Vermiſchungen audy ohne kirchliche Cinſegnung 
geflatten; die Sſamoſtrigolſchtſchina, die ſich felbft Orbinirenden, begrändet durd) ven Mönd) 
Theodor und die Nonne Anthifta, melde Iehrten, daß man fich ſelbſt jum Möndy ober zur Ronne 
weihen könne durch Abſcheerung ber Haare, Anlegung der Kuite vor einem Heiligenbilve, Annahme 
eines neuen Taufnamens u. f. w.; die Sfamofrefhtihinowfhtihina, die Sece der Selbſt⸗ 
fäufer, in zwei Unterfecten, der des Roman Danilowez und der des Pawel, welche lehren, daß man 
fi ſelbſt taufen fönne, en Erfterer auch das Fluß⸗, Lebterer nur das Regenwaſſer für dienlich 
zur Taufe erflärt; die Chriſtowſchtſchina oder Nagowſchtſchina, durd den Strelipen 
Prokopij Lupfin und den Iwan Waiftljewitfh Nagoi aus Kaſſimow entflanden, welche fidhtbare 
Stellvertreter Chrifi, der Mutter Gottes, der Apoftel u. |. w. wählen; die Schtſchelniki (Spals 
tenguder), mweldye ihr Gebet verrichten, iubem fie dabei in eine Spalte ſchauen, gar feine Heiligens 
bilder verehrten, indem fie fi auf das zweite Gebot beziehen, in Feine Kirche gehen, weil der Aller 
höhe überall wohne, und die verbefjerten Kichenbüder 'anertennen, ganz im Gegenfap u aflen 
übrigen Raskolniks; die Stonoborfhtfhina oder Bilderſtürmer, welche alle Helligenbilber zer⸗ 
trümmern und Gott nur im Freien verehrten, die Sheles newſchtſchina, melde Mofes höher 
ftellen ale Ehriftus, den Sonnabend feiern, die Beſchneidung bei fi eingeführt haben und bie 
Schriften bes Alten Teſtaments ſtreng beobachten u. a. m, De 
\ 


Auffihe Kirche. 631 


Baufen ober zu vermachen. So legte Peter der Broße ſchon Die Art an den Baum 
der Hierarchie, ald Adrian noch Ichte und regierte; Bei deſſen im Jahre 1702 erfolg- 
ten Tode erflärte er fofort dad Patriarhenthum für gänzlich erlofchen und übertrug 
auf ſich ſelbſt, mie die hoͤchſte weltliche, fo auch die oberfte geiſtliche Macht. 1702 
erließ auch Beter d. Gr. das berühmte Manifeft für die Ausländer, worin er ihnen 
unter anderen Privilegien freien öffentlichen Gotteödienft in feinem ganzen Reiche ger 
flattete. Dabei war der große Zar keineswegs indifferent in Bezug auf Glaubens⸗ 
ſachen der Landeskirche, ex unterbrüdte Eegerifche Lehren, wie die halbcalviniſtiſche des 
Dinitrif Tweritinow (1713), die des Bilderſtürmers Koma (1715) und andere mit 
Gewalt, ließ fh von den Raskolniks eine Abgabe zahlen, gab den Seetirern ein ge= 
wifſſes Abzeichen, woran fle fofort erfannt werden E£onnten, ) beförderte die Heiden⸗ 
Miſſton und erzielte durch fie größere Mefultate, als irgend einer feiner Vorgänger 
(50 bekehrte der Metropolit von Sibirien, Philotheus, zwifchen 1714—19 allein gegen 
40,000 Oftfafen) und gründete Schulen und Seminare zur Bildung junger Gelfl« 
lies. Ein fehr wichtiges Geſez, welches der Ausbreitung des rufflichen Glaubens 
ſehr fjdrberlih mard, war das im Jahre 1719 von ihm erlaffene, in Betreff der ge- 
mifchten Ehen, kraft deſſen Ehen zwifchen Befennern der rufflfchen und anderer chriftlicher 
Confeſſtionen zwar für zuläffig erklärt wurden, an benen jedoch die Bedingung der 
fſchriftlichen Erklärung feitend der zu Trauenden baftete, daß jämmtliche, aus folcher 
Ehe erzeugte Kinder in ber orthodoxen ruffifch«griechifhen Kirche getauft und erzogen 
werden follten. Um bie exeluflv- priefterliche Tendenz aus den geifllihen Schulen 
zu verdrängen, gebot er 1719, In demfelben Jahre, wo er die Sefuiten, deren Raͤnke 
ihm verhaßt waren, zum Berlaffen feiner Staaten zwang und wo er erllärte, daß 
bie gur griechifchen Kirche übertretenden Lutheraner und Galviniften feiner Wiedertaufe 
‚bebürften, daß Gefchichte, Geographie und Mathematif daſelbſt gelehrt würben, und 
um. der willfürlich geübten Jurisviction eine Schranke zu ziehen, entwand er der Geift- 
lichkeit das Recht der Entfcheidung über Leben und Tod und verlangte auch in an« 
dern Fällen Appellation an die weltlichen Gerichte, oder an feine Perſon. Die häu⸗ 
fige Berufung von Goncilien ſowohl wegen des Koftenpunfts ald megen der Nutzloſig⸗ 
keit der Verhandlungen zu hemmen, mar einer feiner ferneren Pläne. Zur Realiflrung 
dieſer Idee fepte er 1720 auf dem Concil, welches. er für daß legte erflärte, bie hei⸗ 
lige Synode als hoͤchſte geiftliche Behörde ein, bie fortan ald fortvauernded Concil 
‚ongefeben werden folite, weldyes alle geiftlicden Angelegenheiten zu entjcheiden hätte. 
Mit dem Jahre 1721 (25. Januar) trat dieſe neue Behörde zum erften Male in 
Kraft und Hat bis heut (1864) bereits 143 Jahre ununterbrochen fungirt. Die Sanction 
eines neuen geifllichen Reglements als einer Ergänzung zum Nomofanon war ihr erſtes 
Werk; ihr erfler Praͤſident war der Metropolit von Rjaͤſan Stephan Jamoreftj, ein 
gelebrter Mann, weldyer die Gunft des Monarchen 20 Jahre hindurch bis an feinen , 
Tod zu behaupten wußte. Noch die legten Jahre feines für die Entwidelung des 
ruſſtſchen Staateb fo thätigen Lebens wendete Peter der Große in einer der Entfal- 
tung der zuffifchen Kirche und des geiftlichen Lebend gedeihlichen Weiſe an, indem er 
ſich mit der an ihm gewohnten Energie der unterdrückten griechiſchen Blaubendgenoffen 
in Polen annahm und diefed Reich mit Krieg bedrohte, wenn die Bedrückungen nicht 
eingefiellt würden. Der legte Dienfl, den er der Kirche erwies, war feine Entfendung 
von Geiftlichen, Lehrern, Lehrbüchern, Kirchenichriften und Kirchengeräthen nadı Ser⸗ 
vien, welches Land ihn 1724 um Mittel zur Aufklärung gebeten hatte. Die nächft- 
folgenden Megierungen der Kalferinnen Katharina J. Anna und Elifabetb gaben der 
weiteren freien Entwickelung der Kirche und des Kleruß nicht viel neue Anhaltpunkte, 
ausgenommen, daß 1726 zur Verwaltung der Kloflergüter ein eigenes Oekonomie⸗ 
eollegium eingerichtet warh?), dag 1731 ein Ukas erging, wonach die Kinder der Po⸗ 
pen und Kirdyendiener dem weltlich en Gerichte unterworfen ſein ſollten, und daß 


N) Sie mußten feit 1702 eine kupferne Medaille tragen, worauf ein langer Bart in Anbe⸗ 
tracht des Umſtandes, daß ſie fich das Haar ungeſchoren wahſen ließen, dargeſtellt war. 
Dieſes Defönomiscolleglum, welches 1736 und 1738 von ber Kaiterin Anna Iwanowna 
Heftktigt ward, befand gleichwohl nur bis 1742, in welchem Jahre bie Katferin Elifabeth die Ber: 
waltung ber geiftlichen Guͤter der heiligen Synode übertrug. 


632 Auffiihe Kirche. 


1760 den in der Wietla vereinigten Raskolniks vollkommene Amneſtie verkündet ward, 
wenn fle in den Schooß der redhtgläubigen Kirche zurückkehren würden, mas gleichwohl 
Die Meiften bartnädigen Sinnes vermeigerten. Unter der Träftigen Katferin Katha- 
sina II. nahm auch die Entwidelung der ruffifchen Kirche ihren weiteren Berlauf. 
Nachdem jene Monarkin 1762 den geflüchteten Raskolniks große Nechte angeboten 
batte, wenn fie nach Rußland zurüdfehren würden, ließ fie die Wietla 1763 durch 
den General Maßlow militärifch beſetzen, diefelbe zerftören und zwang die Raskolniks 
zur Golonifation und Nutzbarmachung des Landes, während fie ihre . religidfen 
Bräuche unangetaftet Tief. Die Kloftergüter mit leibeigenen Bauern zog fe 1764 
ein und fäcularifirte fle; über 900,000 Bauern und große Reichthümer, ‚namentlich 
feiten® der Kiew'ſchen und Sfergei’jchen Lawren gingen dadurch an die ruſſiſche Krone 
über. Sämmtlihe Klöfter theilte fie hierauf rüdfihtlih des Ranges in drei und 
rückſichtlich des Einkommens in zwei Klofien. Die Zahl aller geiflliden Schulen im 
ganzen Reiche erhöhte fle auf 28 und brachte deren Schülerzahl auf 6-—-7000, für 
welche fle ein Jahresgehalt von 40,000 Ruben Silber anwied. Nachdem fie fchon 
1765 den Erzbifhof von Weißrußland, Georg, in Angelegenheiten der Diffidenten, 
deren fie ſich lebhaft annahm, nach Polen geſandt, erhielt fie 1768 auf dem Reichs⸗ 
tage zu Warfchau die flipulirte Zufage der Befreiung, aller Uinterdrüdungen, unter 
weldhen die fogenannten Diffidenten (Nicht - Unirten) oder der griechiſch⸗ vuſſi⸗ 
Then Kirche zugetbanen Ghriften in Polen feufzten. Diefelben durften fortan 
‚nicht mehr Häretiker oder Seftirer genannt werben, hießen griechifche Chriften, konnten 
eigene Kirchen, Schulen und Hoßpitäler haben, mit voller Freiheit ihren Gottesdienſt 
in ihren Kirchen verrichten, geiftliche Bücher druden laffen und eine eigene Typogras 
phie befigen. Die den Nichtunirten entriffenen Kirchen und Kapellen follten ihnen zu⸗ 
rüdgegeben werden und ſie follten gleiche bürgerliche Rechte mit den Katholiken haben. 
Bei gemifchten Ehen follten die Knaben dem Bater, die Töchter der Mutter folgen. 
Auch die Ordnung ber geiſtlichen Angelegenheiten der übrigen. chrifllichen und nicht 
chriſtlichen Glaubensbekenntniſſe lag ihr am Herzen; fo befahl fie, für die Leitung ber 
Meligiondangelegenheiten der Muhamedaner ein eigenes Collegium mit zwei Muftis 
auf Staatsfoften einzufegen, und mit dem Papſte Pius VI. einigte fle ſich in Betreff 
der im rufſiſchen Meiche ſich beflndenden Sefulten, von denen die Kaiferin den Eid ber 
Unterthänigkeit fordert und denen fle es verbietet, obne Ihre Einwilligung päpftliche 
Bullen anzunehmen. Kaifer Paul I. befahl durch einen außbrüdlihen Ufas, d. d. 
Moskau 7. April 1797, daß die Sonn- und Feſttage nicht durch Arbeit entweiht und 
die Bauern nicht zur Beldarbeit an dieſen Tagen von ihrer Herrfcyaft gezwungen wer⸗ 
den follten. Kaifer Alexander 1. erweiterte den Kreis der Lehrthätigkeit in den geifle 
lihen Akademieen, fo daß zulegt außer der Religion, den alten Spraden, dem Ruf⸗ 
ſiſchen u. f. w. noch die franzöfifche und deutſche Sprache, Mathematik, Geſchichte und 
Geographie und ſelbſt Medicin Lehrobjecte bildeten. Wichtiger für die Erweiterung 
der ruffifchen Orthodoxie, was die numerifchen Berhältniffe derfelben betrifft, als bie 
Megierung des Kalfers Nikolaus I., war feine ihr vorangegangene. Nicht nur, daß 
er durch weile Geſetze der Ausbreitung des Raskolniömus fogleih bei feinem Regie⸗ 
sungdantritt (1826) einen Eräftigen Damm entgegenftellte, fo ließ er es ſich auch un⸗ 
außgefegt am Herzen liegen, die Sektirer, die er für Verirrte bielt, auf den Weg des 
kirchlichen Heils zurückzuführen. Tauſende und aber Taufende von Raskolniks kehrten 
während ber Jahre 1825 bis 1855 in den Schooß der griechifch-ruffifchen Kirche zu⸗ 
rüd; den größten Zuwachs aber erhielt die orthodoxe Kirche Rußlands durch die am 
25. Maͤrz (6. April) 1839 erfolgte Wiedervereinigung der Unirten mit den ber grie- 
hifchen Lehre zugethanen Ruſſen, wodurdy der rufflfche Staat mit einem Schlage meh⸗ 
rere Millionen neuer Belenner für die berrfchende Kirche gewann. Diele Bereints 
gung der vorher mit der röwifch-Fatholifchen Kircye unirt gewefenen griechifchen Ghriften, 
welche befonderd die weftlichen, vormald zum polniich » lithauifchen Reiche gehörenden 
Theile Rußlands berührte, war feit fat einem Jahrhundert ein Lieblingsplan der ruf- 
ſiſchen Selbſtherrſcher. Schon die erfte Theilung Bolens 1772 bot der Kaiferin Ka⸗ 
tharina II. den willfommenen Anlaß, eine feflere Berbindung ber neugewonnenen Läne 
der mit Rußland dur das Band der Meligion anzuſtreben und theilweis durchzu⸗ 





_ nr — 





Aufkide Kirche. 633 


führen, nachdem fich 1794. der Erzbiſchof yon Minsk und 1795 ber Biſchof von Mo⸗ 
bilem der Ablöfung von der Tateinifchen und dem Anſchluſſe an die griechiiche Kirche 
geneigt gezeigt Hatten. Der Gewinn von mehr ald einer Million Seelen fam bamals 
der berrfchenden Kirche zu gut. Es verblieben zu damaliger Zeit nur noch brei unirte 
Eparchieen, die Bischümer zu Orſcha und Brzesc in Lithauen und zu Chelm in Bo- 
Ien, wie folche auch zur Zeit noch befanden, als KRaifer Nikolaus den Plan der Ber- 
einigung beider Meligionsparteien mit Lebendigkeit wieder aufnahm und mit feiner 
befannten Energie realiſtrte. Zuerſt (1828) feßte er, nad dem Vorbilde des geift- 
lichen Gollegiums , zur Leitung der Angelegenheiten der römifch-Fatpolifchen Kirche in 
Aupland ein griechifch » unirted Collegium ein, welchem der Metropolit der unirten 
Kirche Rußlands präflpirte. Mit Hülfe dieſes, von ihm mit großer Auszeichnung be 


handelten Oberhaupt der Union fuchte er darauf den Mitus der unirten Kirche all- 


maͤhlich dem der griechifchen zu nähern, und endlich, nachdem bie polnifche Revolution 
von 1830 erfolgreich niedergeworfen war, drängten ihn die politifchen Beweggründe 
föpneller, als die Firchlichen, zur Entſcheidung, zumal bie früher ſchon nicht fehr fried⸗ 
lien Berhältniffe Rußlands mit der römifchen Gurie jet in eine völlige Feindſelig⸗ 
Teit ſich umgeftaltet hatten. Die Protefationen des Papſtes wurden daher vom Kaifer 
Nikolaus J. unbeachtet gelaflen, und nachdem die von rufflichem Militär beberrfchte 
Synode von Block fi; für den Bruch mit Nom audgefprochen batte, bie Anhänger 
der .unirten Kirche fammt und fonders, mochten fie Damit einverflanden fein oder nicht, 
zur griechifch « ruſſtſchen Kirche übergeführt. Uebrigens murde bie Berwaltung ſelbſt 
unangetaftet gelaffen, auch wurbe das frühere griechifch » unirte geiftliche Collegium 
keineswegs aufgehoben, es erhielt nur den Namen „mweißruffifchslithauifche® geiftliches 
Eollegium“* und wurde in dafjelbe Verhaͤltniß zur heiligen dirigirenden Synode ge= 
fegt, wie das moskauiſche und georgifihe Comptoir. Auch fuchte der Kaifer Niko» 
laus I. in feinem Glaubenseifer Abfälle ſowohl innerhalb der römifch-katholifchen und 
der proteftantifchen und reformirten Kirche, wie auch innerhalb der armenifch«gregorianifchen 
Kicche zu begünftigen,. und faft Jahr für Jahr gewann die orthodoxe Landeskirche einen 
Zuwachs von mehreren taufend Belennern durch freiwillige oder erzmungene Uebertritte. 
Nachdem: durch die Erfolge der ruſſiſchen Waffen in Berften ein Theil von Armenten, 
und befonders das als Sitz des Katholikos oder Patriarchen der armenifchen Chri⸗ 
Renheit hochwichtige Kloſter Etſchmiadſin (im jegigen Gouvernement Eriman) an Ruß⸗ 
land. gefallen war, machte der ruſſiſche Einfluß ſich auch für die armeniſche Kirche 
fühlbar, und auch bier wäre Die vom Kaifer Nikolaus I. beabſichtigte Verfchmelzung 
beider Kirchen bei der Bereitwilligkeit mehrerer Bifchöfe ber armenifchen Beiftlichkeit 
zu einer Annäherung an die griechifche beinahe erfolgt, wenn nicht der in feinem Ein- 
Fuß bedrohte Patriarch energiſch feinen Willen Eundgethan hätte, den Batriarchenftuhl 
von Erfhmiadfin nah Sis auf särfifchem Gebiet zu verlegen. So fland Nikolaus 
von feinen Blänen ab und diefelben find bis heute unrealiftrt verblieben. Der ars 
geblich im Dienfle der Kirche unternommene ruffifch-orientalifche Krieg, deſſen Beenbi- 
gung Kaifer Nikolaus I. nicht mehr erlebte, hatte die gehofften MRefultate wicht, da⸗ 
gegen debnte die unter dem jet regierenden Monarchen, Kaiſer Alexander II., 1858 
Rattgefundene Abtretung des Landſtrichs am linken Ufer des Amur und einer Streede 
am rechten durch die mit China geichloffenen Verträge von Sachalin⸗Ulaͤ⸗Chotöon 
(16. Rai) und von Tientſin (1. Juni), fo wie die 1859 erfolgte Unterwerfung des 
Dagheſtan durch die Gefangennahme Schamil’s in Gunib, feinem letzten Zufluptsorte, 
die Kreife für die Wirkfamkeit der griechifchen Miſſton weſentlich aus und führten neue 
Maffen Bekehrter der Landeskirche zu. 

Die Blaubenslehre, die Symbole und der Eultus Der rufflfchen Kische flimmen 
mit Denen der griechiſchen wefentlih überein. (©. d. Art. Mogilad.) An der Spike 
der Kirche flcht, wie bereitö ermähnt, der Kaifer von Rußland felbft, in deſſen Namen 
der: heilige dirigirende Synod zu St. Petersburg die Kirche verwaltet. Derfelbe, 1721 
errichtet, bildet rine von den Staatöminifterien durchaus unabhängige oberfle Staatd- 
Törperfchaft, aͤnlich wie ber Reichsrath und der birigirende Senat, deren Präflpent 
augenblicklich Iſidor, Metropolit von Nomgorod, St. Petersburg, Eſthland und Zinn- 
dand if. Er zählt gegenwärtig in Ganzen 13. Mitglieder, worunter die -Metropoliter 





634 Rufſiſche Kirche. 


von Kiew und Galizien, von Moskau und Kolomna und Lithauen und Wilna in er⸗ 
fter Linie fliehen; die Uebrigen find der Eparch von Georgien und andere Erzbifchäfe, 
Biſchöfe, Srofalmofeniere und Protopresbyter, nebfl einem General Brocurator; und 
e8 gehören dazu eine Kanzlei, eine Direction der Unterrichtöanftalten, welche die Aka⸗ 
demieen, Seminare u. f. w. des orthodoxen Klerus umfaßt, fo wie eine Bermaltung 
und Buchführung, fämmtlich unter Specialdirectoren. Er dehnt feine Wirkfamkeit aus 
über 4 Eparchieen erfien, 20 Eparchieen zweiten und‘ 33 Epardieen britten 
Ranges, zufammen über 57 Epardhien. Die Eparchieen erfien Hanges (Kiew, Mos⸗ 
fau, Nowgorod und St. Petersburg) find fämmtlich Metropolieen, die Eparchiten 
zweiten Ranges fämmtlih Erzbisthümer, die Epardhieen dritten Nanges find zum gror 
Ben Theile bloße Bisthümer. Specielle Mefforts bilden Der Hof, die Armee und 
Flotte, dad Garde-⸗Corps, dad Grenadier⸗Corps und Das kaukaſiſche Korps, weldye 
unter befonderen Obergeiftlihen ſtehen. Der ruffliche Klerus theilt fi in Kloſter⸗ 
oder Ordendgeiftlihe und Weltgeiftliche. Erſtere, von ihrer ſchwarzen Kleidung au 
Schwarze Geiftlichkeit (Ifchernofe Duchowenſtwo) genannt, bilden im Allgemeinen die 
höhere Beiftlichkeit, auß der man die Archlerei’8 oder Prälaten wählt, zu Denen die 
Metropoliten, Erzbifhöfe und Bifchöfe gehören, welche die Berwalter ber unter fi 
felbfiftändigen, indgefammt aber vom Synod dependirenden Eparchieen find. Biel 
weniger Rang haben die eigentlichen, ebenfalld zur Schwarzen Geiſtlichkeit zählenden 
Bewohner der Klöfler, ald Archimandriten oder Aebte, Igumenen oder Brioren, Möndke 
und Anadporeten in den Manns⸗ und Igumeni oder Priorinuen und Nous 


nen in den Braun» und Sungfrauen» Klöftern. Kür. die Mönchsklöfter gilt 


indgemein die Örbendregel des. heil. Bafilius (vergl. dieſen Artikel). Alle 
zur . Schwarzen Geiſtlichkeit gehörigen Perſonen müſſen unverbeiratbet fein, 
wogegen die weiße Geiftlichkeit (Bielofe Duchomenfiwo), nur im @egenfag zu jener, 
trog ihrer braunen, violetten und anderen Kleidung fo benannt, verheirathet fein kön⸗ 
nen, zum zweiten Male aber nur zur Ehe fchreiten Dürfen, wenn fie wicher in ben 
Zaienftand zurückgetreten find, mas ihnen In.neuerer Zeit erlaubt if. Moͤnche und 
Nonnen werden vom Staate erhalten, leben aber fehr einfach, auch find die Gehälter 
für die weiße Geiflichkeit faſt insgeſammt fehr niebrig gegriffen, und nur bie Ober⸗ 
oder Erzprieſter (Brotopopen, Protoierei) find einigermaßen ausfömmlich beſoldet. 
Die niederen Priefler (Bopen, Ieri oder Swiaſchtſchenniki) find meiſt' auf gewiſſe 
Sporteln und Taren der Gemeinde angewiefen, die geringfügig und vom Zufall ab⸗ 
bängig find, daher oft bittere Armuth bei ihnen herrſcht. Auch ift der zu deu Ste 
len gehörige Grundbeflg fehr verfchleden, und nährt den Einen reichlich, während ex, 
befonders in Mißwachszeiten, den Andern darben laßt. Durch Sammlung freimilliger 
Dpfergaben in allen griechiſchen Kirchen bes Staats bat die Regierung einen Bonds 
zur Berbeflerung der Lage der Landgeifllichen gebildet, welcher gegenwärtig ſchon ca. 
10 Mill. Silberrubel beträgt. An jeder größeren Kirche (Sſobor heißt eine Kathedral⸗ 
Kirche, Zerkow oder Chram If der Name für jede Kirche) fungiren ein oder mehrere 
Diafonen und Unterdialonen, welche zwar eine geiflliche Weihe erhalten, aber nicht 
trauen und faufen dürfen, ferner Küfter, Chorfänger, Glodenläuter, Kirchenmädhter 
und andere Kirchendiener, deren Zahl oft fehr groß ifl. Alle zur Beiftlichkeit zaͤh⸗ 
lende Berfonen find frei von ‘Abgaben, fo wie von der Gonfcription, dod find ihre 
Kinder militaͤrpflichtig, Für die letzteren beflehen Bildungsanfalten, worin ihnen 
Wohnung, Koft und Unterricht frei ertheilt wird. Zus Ausbildung der Geiſtlichen 
felbR find vier geiftlidge Afadenuieen (in St. Petersburg, Moskau, Kiew und Kaſan) 
und 50 Seminare vorhanden. Zu Anfange des Jahres 1862 befanden außerdem im 
Umfange ded ganzen Reiches 185 Kreiß-, 22 Kirchipield- und 18.585 Kirchen⸗ und 
Klofteriyulen für Die orthodoxe Kirche, fo dab im Ganzen 18,847 Unterridtsanftal- 
ten mit 374,481 Zöglingen beiderlei Geſchlechtes für die Beiftlicyfeit ſelbſt und für 
ihre Kinder beftanden. Die gefammten Autgaben der allgemeinen Staatöverwaltung 
betrugen 1863 im Reſſort deg Heiligen Synods für die Gentralvermaltung 189,735 
NR. ©., für Kathebralen, geiſtliche Conſiſtorien und Verwaltungen, Erjprieflerhäufer 
und Weihbiſchöfe 599,790 R. S., flr Klöfter (Kawry und Monaſtyri) 303,089 R. S., 
für Stadt» und Landgeifllichkeit 3,765,293 R. ©. und für Unterhalt ber Synodab⸗ 





Veſſtſche Rice. 635 


Hebäube, Bauausgaben und verſchledene Eleine Ausgaben 275,909 R. S., indgefammt 
alfo 1863 für den heiligen Synod 5,133,817 R. ©. (gegen 4,909,791 im Vorjahr), 
wovon 5,084,157 R. ©. für die befländigen und 49,660 N. ©. für die temporären 
und außerordentlichen Ausgaben fich verrechneten. Die Geiftlichfeit hat ihren Gerichtsſtand 
beim Bifchof, Erzbifchof oder Metropoliten, die legte Inftanz bildet der heilige Synod felbfl. 
In Eivile und Eriminalfachen fteht die Geiftlichkeit jedoch unter den weltlichen Gerichten. 
Die zuffliihen Kirchen find meiftentbeild im orientalifchen (byzantinischen) Geſchmack 
erbaut und durch eine Haupt⸗ umd vier Nebenkuppeln geſchmückt, weldhe zum Theil 
gewdibt, zum Theil in eine Spitze auslaufend oder zwiebelartig anfragen. Sie find 
gum Theil blau, roth oder grün angeflrichen, oder. auch vergoldet und. zumellen mit 
Sternen verfehen, und tragen einfadye oder Doppelte Kreuze, die meift durch Ketten 
mit einander verbunden find. Die Kirche befteht aus dem Borfaal, dem Tempel und 
bem erhöhten Allerbeiligfien, wohin nur Geiſtliche Zutritt haben, fe bat feine ge- 
goflenen,, gebauenen oder gejchnigten Bilder, mit Ausnahme von Engelflatuen; da⸗ 
gegen iſt fie reich an gemalten Muttergottes⸗,, Chriftus- und Helligenbildern, die ge⸗ 
wöhnlich im altbyzantiniſchen Styl auf Goldgrund gemalt find, während die Bilder 
ſelbſt reich mit Bold, Silber ober Evelfleinen verziert find. Gebetet wird fichend 
(die ruſſiſche Kirche Hat Feine Sige), oder auf dem Antlig liegend. Das Gebet der 
Prieſter wird begleitet oder ‚unterbrochen durch den eigentlih nur in drei Sägen: 
Gospodr pomilui, Gospodi pomolimsse, Podal gospodi (Herr erbarme Dich, Herr 
wir bitten Dig, gieb. das Herr) beſtehenden, ſehr wohltönennen Kirchengefang, ben 
eime eigene gut eingeübte Kapelle, ohne Orgel⸗ oder fonflige Inſtrumentalmuſik, aus⸗ 
führt. Die in der ruſſiſchen Kirche noch heut gebräudliche, in Der altflamifchen oder 
kirch enſlawoniſchen Sprache abgefaßte Liturgie 1) zeichnet ſich durch Die Kraft der dabel 
üblichen Gebete, durch das Wechſelrecitativ der Priefter und Chöre und durch die 
dem gewöhnlichen, wie dem Feſtgottesdienſt eigenthümlichen Bräuche und Handlungen 
aus. Zu den wichtigſten religidfen Handlungen gehört das Kreuzſchlagen und 
dad. Kergenanzlinden vor den Helligenbildern. Das Faſten wurbe früher firenger 
beobachtet, als heut, wo Biele fih Dispenfationen ertheilen laſſen. Eigenthümliche 
Feſte der zuffifchen Kirche (alle anderen Feſte, wie Oftern, Pfingſten, Weihnachten, 
Neujahr u. f. w. bat fie mit den. übrigen chriftligen Confeſſtonen gemein) find das 
Jordansfeſt oder die Waflerweihe, vom gemeinen Wann. die Bdtterwäfche genannt, 
welches fährlih dreimal gefeiert wird. und wobei vie Heillgenbilder in da® Wafler 
getaucht werben, welches dadurch felber geweiht wird; die Obſtweihe (am 6./18. 
Auguf), wo das Obſt gewiffermaßen erft für den Genuß geeignet und unſchaͤdlich 
gemacht wird, und die Heerdenweihe (em 23. April/5. Mai), wonach bas 
Bieh audgetrieben wird; ferner die Feier der Verfluchung der Ketzer ober Anders⸗ 
gläubigen (7./19. März) und das Moleben oder Tedeum als PVerfonalmeihe, wobei ber 
Prieſter in der Kirche über Jemanden fingt, betet und ihn beräuchert. Als perſoͤnlich iſt auch 
Die Sräberweihe für Berftorbene zu bezeichnen, welche alle diejenigen, welche die Koften daran 
zu wenden vermögen, aus alter Sitte gewöhnlich um die Pfingſtzeit flattfinden lafien, 
weil da bie. Friedhoͤfe nach dem langen Winterfchlafe der Natur von den Angehörigen 
zuerft pflegen wieder befucht zu werden. - Schon im Jahre 1851 zählte die ruffliche 
Kirche 53,659,108 Blaubensanhänger, welche in 35,067 orthodoren Kathebralen und 
Kirchen und in 10,721 Bethäufern und Kapellen ihre Andacht verrichteten, während 
tm ganzen Reihe 578 Möndyd-. und Nonnenflöfler mit 14 dazu gehörigen Kranfen« 
und 530 Armenbäufern befanden. Die gefammte Welt- und Kloſtergeiſtlichkeit begriff 
damals 144,298 Individuen in fi. Nah den Zufammenftelungen des flatiflifchen 
Gentral-Gomites. in St. Petersburg zählte im Jahre 1861 Die ruſſiſche Religion fchon 
62,436,595 Belenner (movon 59,809,891 im europälfcyen Rußland und 2,626,704 
in Sibirien), wozu noch 822,418 Schismatiker der ruffiichen Kirche oder Naskolniki 
famen (759,880. im europäifchen Rußland und 62,538 in Gibirten). Die betreffen- 
ben Angaben über den Kaukaſus, fo wie über Das amerikaniſche Rußland waren bis 


Bu Die griechiſche Liturgie im eigentlihen Koͤnigreich Griehenland ſelbſt if in ber neu⸗ 
griechiſchen, die griechiſche Lihmgie in Georgien (Grußen) in ber altgeorgijchen Sprache abgefaßt. 


636 | Kuffjches Recht. 


zum Moment (1864) noch nicht eingegangen. Auch waren Polen und Binnlanb 
(f. d.) in der obigen Ziffer nicht inbegriffen. Näheres über die Vertheilung der Bes 
völkerung nad Confeſſtonen ſ. im Abſchnitt Statiftil von Mußland. Im ganzem 
Reiche befieben gegenwärtig ca. 50,000 Kathebralen, Kirchen und Kapellen, mit Eine 
ſchluß der Klofterkirchen, welche dem. griechiichsrufflfhen Gottesdienſte gewidmet find. 
Bol. nachfolgende Werfe: Iohn Glenfing „The rites and ceremonies of the Greek 
Church in Russia“, London 1722 (deutfh Riga 1773); Bellermann „Abriß der 
suffifchen Kirche nach ihrer Geſchichte, Glaubenslehre und Kirchengebränchen“, Erfurt 
17885 Schmitt „Die ruſſtſche Kirche”, Mainz 1926; derſelbe „Kritiſche Geſchichte der 
neugriechiſchen und rufflichen Kirche“, ebendaf. 1840; Strahl „ Sefchichte der ruſſiſchen 
Kirche", Halle 1830; Schloffer „Die morgenländifch-orthodore. Kirche Nußlande", 
Heidelberg 1845; Wimmer „Die griehifche Kirche in Rußland“, Leipzig 1848; Mus 
rawiew (ruffiih gefchriebene) „Briefe über den Gottesdienſt der morgenlaändiſchen 
Kirche“, St. Petersburg 1837 (deutich von Muralt, Leipzig 1838); derſelbe „Ber 
fehichte der ruſſiſchen Kirche“, 3 Aufl, St. Petersburg 1845 (engl. ale „History of 
the Church of Russia“, Orford 1842, deutfch von I. König, Karlöruhe 1857) u. a. m. 
Eine Geſchichte des rufflfchen Patriarchats eriftirt vom Erzbifchof Philaret (Riga 1847). 
Was die eigentlihen Symbole der griechifchrufflichen Kirche anbetrifft, fo iR beach⸗ 
tendwerth die Schrift von Kimmel „Libri symbolici ecclesiae orientalis“, Jena 1843, 
wozu Weißenborn, ebendaf. 1850, einen Appendir geliefert bat. Die Vitae ber. zufr 
Afcyen Heiligen find im Auszuge in dem vom Heiligen Dimitrij von Roſtow zuſam⸗ 
mengeftellten, 1689 bis 1695 :3u Kiew gebrudten, ſogenannten Eleinen Menolos» 
gium enthalten, weldyes die verfürzten Biographieen des vom Metropoliten Makar 
während eines Zeitraums von 12 Jahren verfaßten, 4 Bände flarken, bis Heut nod 
ungebrudten großen Menologlums, wovon ſich Abjriften in der Moskauer 
Patriarchal ⸗Bibliothek, In der Gophienbibliothek zu Nowgorod und in mehreren an⸗ 
dern Kloſterarchiven befinden, enthaͤlt. 

Ruſſiſches Recht. Das ruſſiſche Recht, wie es ſeit dem 9. Jahrh. ſich entwickelte, 
iſt ein eigenthüumliches und ſelbſtſtaͤndiges Ganze, auf welches nicht, wie in ben meiſten 
Ländern des meftliden Europa, der Einfluß des römiſchen Rechts fih mit befonberer 
Entfihiedenheit geltend machte. Die Harmonieen, welche gleichwohl in heutiger. Zeit 
zwifchen der vuffifchen und römifchen Geſetzgebung beftehen, find erft ein Ergebniß ber 
modernen Zeit und datiren erſt aus den Tagen Peter's des Großen, der befltebt 
war, mie in Allem, fo auch In. der Rechtspflege, R. In die Reihe der :civilifisten 
Staaten einzuführen. Die älteften Aufzeihnungen des rufflfchen Rechts geben bis. im 
das 10. Jahrhundert zuräd, wo die Friedensbedingungen Oleg's und Igor's mit den 
Griechen aus den Jahren 912 und 945 die erften Grundlagen einer gefeplichen Ord⸗ 
nung für R. abgaben. Freilich waren biefelben überaus mangelhaft und bezogen ſich 
weniger auf die innere Mechtöpflege, als auf Beflimmungen, meldhe den Schub ber 
beiderfeitigen Staatdangehörigen, die Auslieferung der Verbrecher u. |. w. betrafen. 
Außerdem fragt es fick, inwieweit wir bei der mangelhaften Bildung der damaligen 
Zeit und der Aufzeichner der geſchichtlichen Ereigniffe den MittHeilungen in Betreff 
jener Rechtsgrundzüge trauen dürfen. Sehr mager und. dürftig ift auch noch das 
Geſetz des Großfürſten Jaroſſaw, die fogenannte „Prawda ruflfafe” (das ruſſiſche 
Mecht), welches aus dem Jahre 1020 ſtammt und nur 17 Artikel umfaßt, welche 
von nichts anderm ale Mord und Todtſchlag, Verwundung, Raub und. Diebflahl 
handeln, wofür der Nichtung der damaligen Zeit entfprechende, das Verbrechen wo⸗ 
möglich überbietende Strafbeftimmungen feftgeftellt find. .Iaroflam’8 Göhne ermeiter- 
ten diefe „Pramda rufffafa” durch neue 18 Paragraphen, die in Hinfiht anf Härte der 
Strafen den Yorigen analog waren. In Hinſicht auf die geiftlicde Gerichtöbarkeit 
hatte fhon Wladimir der Große, welcher von 981 bis 1015 regierte, Beflimmungen 
erlaffen, welche auf dem ihm von Konftantinspel her befannt gewordenen kanoniſchen 
Rechte beruhten. Das bürgerliche Geſetz felbft wurde im Laufe ber Zeit mehrfad) 
verändert und ermeitert und die unter dem Namen „PBramwda rufjfaja“ uns vorliegende 
ältefte Handſchrift aus dem 13. Jahrhundert, die von einheimischen Schrififtelleen 
ziemlich übereinftimmend zwijchen 1280-99 gejegt wird, enthaͤlt ſchon ungleich mehr 


Vufftſches Recht. m 


Artikel, ala die Prawda Jaroſlaw's und feiner unmittelbaren Nachfolger. Die Theis 
Iung des ruſſiſchen Reiches durch Wladimir den Großen (1015) unter feine 12 Söhne 
und die Einfälle der Tataren in R. (1224), welche zur Knechtung des Reiches führ- 
ten, waren auch in Bezug auf die Befehgebung und Rachtspflege M.’&- folgenfchwer, 
indem eine mehrere Jahrhunderte hindurch währende Zerfplitterung der Rechts quellen 
eintrat, fo daß jedes ThellfürftentHum und das eigentliche Großfürſtenthum wieder für 
ſich beſondere Gerichtsosdonnangen (Ssudebnaja gramota), Zoll und Steuergefehe, 
und. andere Berichts» und: Strafbeftimmungen befaß. Beſonders beachtenswertb und 
zugleih als Beitrag für die Entmwidelungsgefchichte des Städtemefend in M. überaus 
wichtig find die verfchiedenen Städteprivilegien und namentlih das Stabtpribilegium 
son. Großnowgorod (Nowgorod Welitif), welches Behrmann in feiner daͤniſch gefchrie- 
benen Schrift (De Skra etc., Kopenhagen 1828) einer eingehenden Prüfung und Bes 
ferecchung unterzogen bat. Aus dem 13. und 14. Jahrhundert: Datiren noch mehrere 
andere auf Berträgen mit den hanſeatiſchen Städten beruhende Privilegien ruffifcher 
Städte (Narwa, Dorpat, Meval, Miga), und andere Städte (mie Pokow, Smolenst, 
Moskau u. f. w.) traten, obgleich fie nicht factifch der Hanſa ſich anfchloffen, doch 
in eine gewiffe, durch Gefegbeflimmungen normirte Beziehung zu ihr und befonders 
in Verbindung mit Nowgorod. Vgl. Burmeifter, „Beiträge zur Geſchichte Curopa's 
im 16. Jahrhundert“, Rofted .1843. Auch von den Tatavenhanen wurden mehrere 
Farlyki oder Jerlyki oder Specialgefeße erlaffen, welche meift nur in Beflättgungen 


früherer Votrechte und Privilegien beſtanden. Es waren dies Schreiben der Horden⸗ 


fürſten an die unter ihnen flebenden . ruffifchen Fürften, welche mit dem Ghanatflegel 
bedruckt waren Und dadurch Geſetzeskraft empfingen. Auch Städte, Meligiondgefell« 
fihaften und andere. Genoffenfchaften erbaten oder erfauften fich oft dergleichen Bes 
flätigungsicheine von. den tatarifchen und mongolifchen Chanen. Nach Beleitigung ber 
Fremdherrſchaft durch Iman II. Waffllfewitfch ließ dieſer im Jahre 1487 alle noch 
guͤltigen Gerichtdorbnungen und die neuen durch ihn erlaffenen Mechtöbeflimmungen 
in einem Gefepbuche fammeln, welches unter dem Namen „Sfubebnik" in Rußland 
befannt iſt und das von nun als der allein gältige Rechtscoder betrachtet warb. 


Im Jahre 1550 erfuhr jenes ruſſiſche corpus juris unter dem Großfürften Iwan IV. . 


Wajfſiljewitſch, dem Schrelichen, eine Reviſton und weitere Ausführung, wodurch 
mehrere, namentlich die Eriminalgerichtöbarkeit betreffende Strafbeſtimmungen, die fich 
durch ihren Barbarismus auszeichnen, in das rufftfche Geſezbuch Hineinfamen. Köpfen, 
Verbrennen, Abhauen der Hände oder Füße, Knuten u. f. w. waren fehr gewöhnliche Stra«- 
fen, und an Bauberel, Gottesurtheile u. f. w. herrfchte allgemeiner Glaube. Erſt der Zar 
Alerei Michailowitſch erließ mildere Gefetze; fein im Jahre 1649 erlaffenes neues 
Gefetzbuch, bekannt in R. unter dem Titel: „Ulofſhenije“, vereinigte in 25 apiteln 
und 965 Artikeln dae gefammte geltende Recht. Vgl. „das Gefehbuch des Sropfürften 
Alerei Michailowitſch“ u. ſ. w. (deutfch von .Btruve, Danzig 1723), Doc war bie 
Arbeit in viel zu kurzer Zeit (man hatte ihr kaum 3 Monate gewidmet) zu Stande 
gebracht und diejenigen, welche derſelben fich unterzogen, Hatten nur fehr geringe 
Begriffe von der Jurisprudenz und Nechtöpflege überhaupt, fo daß die vielen im 
„Uloſhenije“ vorhandenen Lüden bald genug fich fühlbar machten und eine Ergänzung 


durch neue Gefege und Verordnungen erbeifchten. Diefe neuen Geſetzesparagraphen 


bilden, im’ Berein mit dem Hauptftatut, dem Ulofhenije, felbft die Baſis des neueren 
uffifchen Rechtes. Vgl. Meup, „Verfuch über Die gefchtchtliche Ausbildung des 
ruffifchen Staats und der Rechts verfafſung“ (Mitdu, 2 Bde., 1829). Bis zum Jahre 
1700 Hatten ſich die gedachten Ergänzungsufafe, Statuten und Berorbnungen dergeflalt 
angebäuft, daß ſich Die Nichter Faum noch aus dem Wuſt der zu Hecht beflchenden, 


fo wie der aufgehobenen Geſetze berauszuretten wußten; der überall in feinem Reiche 


als Reformator auftretende Peter der Große ſuchte daher auch Einheit in die Geſetz⸗ 
gebung zu bringen und fetzte eine legiskatorifche Commiſſton nieder, der aber das 
Geſchick zu dem fchwierigen Unternehmen, einen neuen puriflcitten und überfichtlichen 
Gefetzescodex zu fchaffen, mangelte, weshalb der Kaifer diefe Commiſſton mehrfach 
erneuerte und auch oft Ausländer herbeirief, Die er mit weitgehenden Inflructionen ver⸗ 
fh. - Für Letztere war dis Aufgabe Inden ſelbſtverſtandlich noch viel ſchwieriger als 


- 
— nn —— ———⏑ 





“ 


3 | ginſſtſches Neiht 


für Infänder, welche der ruſſiſchen Sprache und der rufflfchen Gewohnheiten kundig 
waren. Daher fcheiterte das Unternehmen völlig und bie Gerichts ordnung ward von 
Jahr zu Jahr verworrener.. Kaiferin Elifabeth, um. dem Nothſtande abzuhelfen, fetzi— 
1754 eine allgemeine und mehrere fpecielle Commiſſionen nieder, welche mit Zugrunde- 
legung ber beflebenden Gefege, welche fämmtlich revidirt, umgearbeitet und ergänzt 
werden follten, die Abfaffung neuer, klar Giberfichtlicher, auch dem Laien verfkänblicher 
und dem Beitgeifte angemefiener Geſetze ſich follten ungelegen fein laffen. Alles, waß 
von diefen Gommifftonen, welche fich fchließlich ohne die Erlangung der Sauction ihrer 
Arbeiten aufldften, geichab, war die fehr flüchtige Zuflandebringung dreier Geſetz⸗ 
bücher über den Proceh, bie Griminalgerichtöbarkeit und die Standesverhältnifie. Nicht 
viel beffer ging es unter der Kaiferin Katharina U., trotz ihrer zur Zelt in gan 
Europa Auffehen ersegenden, von ihr felbft verfaßten und ſtyliſtiſch trefflidden In⸗ 
firuction zur Abfaffung eined neuen Geſetzbuches, wozu fie Commiſſton auf Commiſſion 
ernannte und wieder auflöfte, nadybem fie die eberzeugung ihrer Untüchtigkeit gewonnen. 
Seit 1774 . unterblieb ihrerfeitö jeder fernere Verſuch, die immer mehr verfabrene 
zuffiihe Gefepgebung zu regen. Paul 1. nahm das Werk feiner Mutter 
wieder auf und ernannte 1797 eine neue Tegislatorifhe Commiſſton, Die 
ee mit großen Vollmachten und bebeutenden Geldmitteln verſah, una die 
gleichwohl fo wenig wie ihre Borgängerinnen leiſtete. Kaifer Alexander J. 
veröffentlichte 1804 eine Infteuction, welche meift aus feiner eigenen Feder gefloffen 
war, die det neu einberufenen Befeggebungs-Gommiffion zur Richtſchnur dienen follte, 
und es feßte fih mit den nambaftefen Mechtögelehrten im Auslande in Berkinbung, 
damit deren Winfe den Gommifflonen zu Gute fommen möchten. Der Krieg untere 
brach das Unternehmen, welches, nad der Beendigung deffelben von Nenem reorganifirt, 
wieder aufgenommen wurde, obne daß weber die frühere, noch die fpätere Gommifflen 
etwas irgend Erfledliche® zu Stande bradte. Bid zum Abſchluß der Regierungs⸗ 
Periode des Kater Alexander I. waren es neun Gommifflonen gemefen, welde mit 
der Prüfung der alten und ber Gründung einer neuen Gelehgebung ohne ein an» 
bered Reſultat betraut geweſen waren, als daß fie dem Staate 5,678,935 Rubel 
Ausgaben verurfacht hatten. Bis zum Jahre 1825 war die Geſammtzahl aller, daB 
ruſſiſche Necht repräfentirenden Ulafe, Reglemente, Berorbnungen, Statuten, Berträge x. 
auf 30,920 angewachſen, ja als im Jahre 1832 eine neue Zählung der einzelnen 
zerfireuten Gejeged- Paragraphen flattfand, ergab fi, daß jene Ziffer viel zu niedrig 
gegriffen worden war, denn es betrug die Anzahl aller Verordnungen in letztgedachten 
Jahre bereits 53,993! Erſt der von Kater Nikolaus im Jahre 1826 eingefegten 
und von feinen Bliden überwachten Commiſſton, als deren Präfed der Graf Michael 
Sperandftf (vergl. d. Art.) fungirte, dem es möglich war, noch während feiner 
Miefenarbeit das gediegene Werk: „Precis des notions historiques sur la reformation 
du corps des lois russes* (St. Petersb. 1333) zu fchreiben, gelang es, Einheit in 
das Chaos der rufflichen Geſetz⸗Erlafſe zu bringen. Speranskij fichtete und orbnete 
in verhältnigmäßig furzer Zeit alle beftehenden Tegiälativen Acte von 1649 — 1832, 
ſchied das Anwendbare von den Unpraftifchen aus und flellte das neue, noch heut 
gültige Sefehbucdh unter dem Namen Swod Sakonow (d. i. Befegesfammlung ober 
Corpus juris) in 8 Büchern, welche 15 Bände füllen, zufammen, wozu noch ein 
9. Buch trat, weldyes in 6 Bänden- die Militärgefepe enthält. Am 31. Januar 1833 
wurde Diefed neue Geſetzbuch, deſſen Wirkfamfeit vom 1. Januar 1835 ab beginnen 
follte, publiciet, und im Jahre 1842 wurde eine. zweite Redaction deſſelben veranflaltet 
und unterm 4. März 1843 veröffentlicht, deren Inkrafttretung mit den Anfange des 
Jahres 1845 erfolgte. Im letztgedachten Jahre erfolgte eine vällige Umarbeitung bes 
15. Bandes des Swad, welcher die Griminalgefeggebung weiter audbaute und neue 
Beſtimmungen in Betreff der Griminal- und Gorrectiondftrafen fetfegte, auch während 
der Ießten zehn Jahre der Regierung des Kaiſers Nikolaus J., fo wie wäß- 
send der neun Jahre (1855 — 1864), melde feit dem Megierungsantritt 
bed jept regierenden Kaiſers Alexander I. verfloflen find, bat der rufe 
ſiſche Swod mehrfache Beränderungen, Exrneuerungen und Ergänzungen erfahren. 
So find feit der Vollendung ber zweiten Redaction des „Swad“ bereit 21 Na» 


Raffiihe Sprache und Riteretur. 639 


träge veroͤffentlicht. Bollftändige Ueberfegungen deſſelben in neuere Culturſprachen 
Hegen bis Heut nicht vor, fo daß die Kritik ihr letztes Wort über die gegenwärtige 
suffliche Befeggebumg noch zurückhalten muß. Im 8. Band von Foucher's „Gollec- 
tion des lois civiles, commerciales etc.“ (Paris 1844) ift eine Ueberſetzung der 
eivilrechtlichen Beflimmungen ves Swod enthalten. Lieber die im Königreiche Polen, 
fo wie im Großfürſtenthum Finnland flattfindenden Nechtäverhältniffe und den hiſto⸗ 
riſchen Entwidelungsgang berfelben vgl. die Art. Bolen und Finnland. Auch in 
ben deutſchen Oſtſeeprovinzen Rußlands, d. h. in Kur-, Liev⸗und Efibland, find die 
Rechtsbefſtimmungen von den im eigentlichen Mußland gültigen verfchteden. Außer 
der‘ Bereit8 erwähnten juriftifch wichtigen Schrift Alexander Magnus Fromhold v. 
Reutz' (geb. 1799, gef. 1862), des eigentlichen Begründers ber ruſſiſchen Hechtäger 
jchichte, der alle jeine Vorgänger, wie Ewerd, Neumann u. A. weit übertraf, find 
von biefer Haupt» Autorität für das ruffiihe Recht nachſtehende Schriften er» 
wähnensmwertb: ‚Verſuch ein& hiſtoriſch⸗dogmatiſchen Darftellung des rufſiſchen Vor⸗ 
munbfchaftsrechte" (Tübingen 1821, 2. Aufl., u. d. T.: „Verſuch einer geſchichtlichen 
Entwidelung der Brundfäge des ruffiihen DBormundfchaftärehts" Dorp. 1825); 
„Berfuch über die gefchichtlihe Auffaſſung der rufllihen Staatd+« und Rechts ver⸗ 
faſſung“ (Mitau 1829); „Berfaffung und Rechtszuſtand ber balmatinifchen Küften» 


ſtaädte und Infeln im Mittelalter, aus ihren Municipal» Statuten” (Dorp. 1841); 


„Gewohnheitsrecht und Gopdification in Rußland“ (in den „Dorpater Iahrbüchern für 
Literatur, Statiftif und Kun”); „Ueber die Frohndienſte“ (in der „Ruſſtſchen Land» 
wirchfchaftlichen Zeitung”) und andere leſenswerthe Abhandlungen in der „Baltiichen 
Monatäjchrift” und anderen rufflichen Zeitfchriften. Weber die ruffliche Agrargefege 
gebung fihrieben Stepan Michailowitfh Uſſow (geb. 1798, gef. 1859), welcher in 
feinem „&urjus der Agricultuc“, in feinen , Hülfsbuch für Butähefiger und Land» 
wirthe“ und in feinem Journal „Poßrebnif" (der Vermittler), einer Zeitfchrift für Indus 
firte, Defongmie und Healwiffenfchaften überhaupt, auch die den Landwirth berühren« 
der Geirge beſprach; Maria Nikolajewna Wernadöfi, geborne Schigafem (geb. 1831, 
geh. 1860), welche treffliche Abhandlungen für den von ihrem Gatten herausgegebe⸗ 


‚nen „Delonomifchen Anzeiger” fihrieb, u. a. „Die ariflofratifche Arbeit“, „Die weib⸗ 


liche Arbeit”, „Die Hauswirthſchaft“, „Die Bekimmung des Weibes’, „Ueber Ele⸗ 
mentar» Unterricht", „Allgemeine Bedeutung der öfonomifchen Geſetze“ u. ſ. w., und 
verfchiedene Andere. Bir Handelögefehgebung iſt wichtig Ludwig Balerianowitich 
Tegoborsfi (gefl. 1857), deffen „Eludes sur les forces productives de la Russie“, 
in 4 Bänden, die gültigen Handelstarife, Zollgefebe u. f. w. beibringen. Die ges 
richtliche Medicin fand in Sfergei Alekfejewitſch Gromow (geb. 1776, get. 1856) 
einen tüchtigen Schriftfleller, deſſen „Kratnnje uloshenije ssudehnoi mediziny etc.* 
(Kurzes Meglement der gerichtlichen Mediein für den akademiſchen Vortrag und bie 
praftifche Unwendung), welches er im Auftrage der akademiſchen Conferenz fehrieb, 
noch heut als Leitfaden für Die gerichtlich medicinifche Prarid gilt. Für die Militärs 
geſetzgebung find wichtig Wladimir Andrejewitfch Wladißlawlew (gefl. 1856), durch 
feine „Pamjatuaja Kniga Wojennych postanowlenii* (Denfbud der Wilitärgefege); 
Alekſandr Waſſiljewitfch Wiskowatow (geſt. 1858), durch feine Beiträge für den 
„Sohn des Baterlandes", die „Nordifche Biene”, das rufflfche „Encyklopädifche Leris 
fon? und das „Militär» Encyfiopäpifche Lexikon“ und feine felbfifländigen, die ruſſt⸗ 
ſchen Kriegsgeſetze mehr oder weniger fpeciell beleuchtenden Schriften, als „Imperator 
Alpksandr eic.“ (dev Kaiſer Alexander und feine Waffenbrüber) „Istoritscheskoje 
Opissanije etc.* (Hiſtoriſche Beſchreibung u. f. mw. der rufflihen Truppen) u. U. m. 

Ruſſiſche Sprahe und Literatur. Die Auffen find der einzige ſlawiſche Stamm, 
der feine politiſche Selbftfländigfeit bewahrt hat. In Europa reichen ſie weftwärts 
bi8 an den Drjepr, die Düna und den Bug, ſüdwärts bis in die Karpatbengebänge 
und das Schwarze Meer, oftwärts bis an den Ural und Obfchifchei Syrt und nord⸗ 
wärts bis an's Nordliche Eismeer; in Aflen dehnen fie ſich über ganz Sibirien auß, 
und in Amerika haben fie den äuferfien N⸗W.⸗Saum bes Feſtlandes inne und greis 
fen außerdem auf die zmifchen ihm und dem aflatifchen Gontinent ſich gruppirenden 
Bufelarchipsie, wie die leuten u. ſ. w., über. In diefer ganzen Ausbehnung herrſcht 





640 ANuffiſche Sprache und Literatur, 


das Ruſſiſche als Staatsfprache und wird gegenwärtig von Vornehmen wie Niederen 
faſt ohne alle Dialektverſchiedenheit geſprochen, was ein Zeugniß dafür iſt, daß ſich 
ein eigentlicher ſelbſtkraͤftiger und individueller Geiſt noch nirgends in dem ungeheuern 
Reiche entfaltet hat. Die beiden Hauptdialekte, die inan faſt als zwei geſonderte 
Sprachſyſteme erachten kann, find das Groß⸗ und Kleinruſſiſche oder Ralo⸗ 
ruſſiſche, jenes im Norden, dieſes im Süden und Südoſten Rußlands ausgebreitet. 
Das Großruſſiſche if in Moskau und in ber Umgegend heimiſch, wo «8 am reinſten 
gefprocdgen wird; e8 entwidelte ſich allmählich nicht aus der altflawifchen oder kirchen⸗ 
flawifhen Sprache, dem fälfchlich fogenannten Slawoniſchen, fondern neben ihr und 
wurde vorzüglich feit Peter dem Droben, der ein neued gefälligered Alphabet aus ben 
fleifen und unförmlichen Buchflaben des Kirchenflamiichen für fle ſchuf, zur Schrift⸗ 
jpracdhe erhoben. Eine unreine Abart davon iſt dad Susdalifche in der Umgegend 
der Stadt Susdal im heutigen Bouvernement Wladimir, welches viele ſonſt in kei⸗ 
nem flawifchen Dialekt vorfommenden Ausdrücke hat, And eine andere Abart if das 
Dlonegkifche, welches erflärbarer Weife fehr mit Finnismen geſchwaͤngert ifl. Das In 
und un St. Peteröburg gefprochene Großruſſiſche ift nicht ganz fo rein, wie das 
moskowitiſche Muffifh, Tann aber doch kaum ald ein weientliher Provinzialismus 
deſſelben gelten, da es ſich zwifchen beiden Sprachen bloß um die Ausſprache einzel« 
ner Buchftaben und befonders Vocale handelt. ‚Das Kleinruffifche iſt der alten Kirchen« 
Iprache zunaͤchſt verwandt, doch fegt fehr mit Polonismen vermiſcht. Die elegantefle 
Mundart deffelben, das Ukrainifche, herrſcht um Kiew, in der alten Ufraine (mört« 
lich Grenzland), während fonft noch Kleinrufflich durch den ganzen Süden Rußlands, 
durch das ehemalige Königreich Polen, vom Don bis an die fchleflfhe Grenze, und 
durch ganz Balizien und Lodomirien oder Rothreußen gefprochen wird. Beſondere 
Dialekte find Hier dad Rußniakiſche, Rutheniſche oder Auffinifche, in 
Obergalizien und dem nordöftligen Ungarn bis an die Ebenen am untern Thelß, und 
das Weißruſſiſche in ganz Lithauen und Volhynien, welches. jünger ift als bie 
übrigen Dialekte, indem es fich erft feit der Vereinigung Lithauens mit Bolen (1386) 
gebildet bat. Daher findet man in ihm ſowohl viele polnifche ala lithauiſche Aus⸗ 
drüde, während auf das Mußnlafifche neben dem Polniſchen auch dad Magyariſche 
influirt hat, Die altflawifche oder Kirchenipradhe, auch die altrufflfhe Sprache oder 
Starorufffi genannt, bat nach Kopitar (vergl. deſſen Werk „Ueber die altflawifche 
Sprache u. f. w.* in: den Wiener Jahrb. -1822 Th. 17) ihren Urfig In Bannonien 
nnd Kärnthen gehabt; mogegen eines. der allerälteften Denfmale dieſer Spradye (vgl. 
Woſtokow „Ueber die altflam. Sprade u. f. w.“ in den Abhandlungen ber Liebhaber 
ruff. Literatur, Heft 17, Moskau 1820), der Evangelien-Goder des Nowgoroder Poſſad⸗ 
nits Oſtromir vom Jahre 1056, auf denjenigen Theil Rußlands als den Helmathfig 
jenee Sprache bin verweiſt, wo Rurik und die Waräger zuerft den Grundſtein zum 
ruffifchen Meiche legten. Gewiß ift, daß dieſes Kirchenflawifch die erſte in fchriftlichen 
Momenten firirte Mundart des Slawiſchen ift, und daß fomohl das fegige Ruſſiſch, 
“wie alle übrigen flawifchen Sprachen, ibm um Vieles näher ſtehen, als etwa die jegige 
deutfche Sprache dem Althochdeutfchen oder gar dem Bothifchen, oder wie die, heutigen 
tomanifhen Sprachen dem Altroͤmiſchen. Gefchrieben wurde das Altflawifche theils 
In der Kyrilliſchen Schrift (Kyrilliza), theils in der Glagolitifchen oder Hieronymiſchen 
Schrift (Glagoliza), die ebenfalls eine vollſtaͤndige Literatur bat (vgl. Dobrowsky 
„Glagolitica u. f. w.* Prag 1807, 2. Aufl. von Hanka, daf. 1832, 3. Aufl. 1845; 
Kopitar „Glagolita Clozianus“, Vindobonae 1836; Schafarif und Höfler, „Glago⸗ 
Nitifhe Fragmente." Brag 1856; Schafarit: „Ueber Urfprung. und Heimath bes 
Glagolitismus“, ebendaf. 1858; Mikloſich: „Slawiſche Bibliographie", Wien 1851 ff. 
Derfelbe über glagolitifche Sprache und Riteratur in Erſch und Gruber'd „Allgemeiner 
Encyelopädie*, Seite I, Band 68, Leipzig 1860), und melde nad den neueren For⸗ 
chungen mindeſtens eben fo alt iſt ald die Kyrilliza. Jakob Grimm hat fogar in einzelnen 
glagolitifchen Schriftzeihen Runencharaktere aufgefunden, was jedenfalls die Anſicht 
Dobrowéki's, als entſtamme die Blagoliza erfi dem 13. Sabrhundert, widerlegt. 
Miklofih bat in feiner Schrift: „Radices linguae slovenicae veleris dialecti“ (Lipsiae 
1845) alle glagolitiſchen Schriftdenkmale aus Der älteften bulgarifchen, ſerbiſchen und 


Auffiihe Sprache und Literatur. 641 


ruſſiſchen Literatur benutzt, die meiſt in Bibeln, Pfaltern, heiligen Legenden, Kicchengefängen 
und Chroniken beſtehen (vgl. u.). Die der kyrilliſchen Schrift ſich bedienende ruſſiſche 
Kirchenfpradye, in welcher außer der Bibel, einigen Paftoralvorfchriften, liturgiſchen Ges 
fängen und Gebeten, auch Heftor’s Chronik aus dem 12. Jahrhundert abgefaßt iſt, 
hat fi im Laufe ihres langen Beſtehens wenig verändert und liegt heut, wie vor 
acht⸗ und neunhundert Jahren, dem Gotteöbienfle der Ruſſen und anderer Volker 
flawifcher Zunge, die dem griechifhen Glauben zugethan find, zum Grunde, ald den 
Yulgaren,. einigen ferbifehen Volksſtaͤmmen u. f. w. Bis auf Peter den Großen galt 
fie in ganz R. allgemein ald Schriftipradhe, bis diefer die Landesſprache, jene ur⸗ 
fprünglid den Slawen R.’8 ureigene, von der Kirchenfprache allerdings fletö ber 
einflußte, Später während der Tatarenberrfchaft mit tatarifchen und mongolifchen Wörtern 
durchmifchte und endlih in Folge der Berührung mit den Polen Kleinzußlands und 
Lithauens auch mit polnifhen Phrafen übermucherte Sprache zur Schriftfprache erhob 
und ihr Alphabet glättete und reinigte. Peter der Große, Indem er die Sprade 
purificigen wollte, beging feinerfeit6 den Fehler, eine große Menge deuticher, hollaͤn⸗ 
bifcher und franzöflfcher Ausdrücke ihr einzuverleiben, mie denn die ganze Militär- und 
tethniſche Sprache der Muflen eine erborgte wefteuropäifche if. Die Alteren Dichter, wie 
Dersbawin, Dmitrijew u. A. m. hielten noch mit großer Zähigfeit am Slawonismus 
fe; jo firogt die berühmte Ode „Bog* (Gott) des Erfleren von flamonifchen Worten 
und Wendungen. Allmählich verlieh bie poetifche wie die profalfche Literatur M.'s 
jedoch. den Boden der Kirchenſprache und entwickelte ſich ſelbſtſtaͤndig, wobei fie Indeß - 
in einen neuen Fehler verfiel, indem ſie ſich durch eine allzuflarre Abfperrung vom 
Altflareifchen zugleich. des Mittels beraubte, ſich fletd durch neue Wortbildungen zu 
bereichern und ſich Eräftig, voll und mohlflingend auszubilden. Der Sandtkritwelt 
fteht die ruſſiſche Spradeniphäre oft näher als die germanifche oder romanifche; und 
namentlich liegen die Etyma der altflawilchen Kirchenfprache oft erfennbar im Sanskri⸗ 
tanismus (vgl. Miflofih, Radices linguae Slovenicae veteris dialecti, Leipzig 1845). 
In Wörtern wie: Altſlaw. snocha, Lat. nurus, Goth. snörjd, Sandkr. snusä, für 
Schnur, Schwiegertochter überblickt ſich der ſprachliche Eonnerus aller diefer Sprachen 
gruppen. in überrafchender Weile und würde zur Evidenz erbellen, wenn wir, maß 
wir könnten, flatt Diefed einen Beifplels, ihrer Tauſende aufflellen würden. 

Die Geſchichte der r. L. zerfällt eigentlih nur in zwei Hauptperioden, 
wovon die eine von den Erflanfängen des SchriftentHumd bis zur Einführung des 
fogerannten Civiltypus durch Peter den Großen, die andere von da an bis zum ge» 
genwärtigen Momente reiht. In der zweiten biefer beiden Perloden kann man erft 
eigentlich von einer Nationalliteratur der Auffen reden, während in ber erfleren nur 
von literarifchen Einzelverfuchen die Rede iſt. Diefe erfiermähnte Periode Täßt fich füg«- 
fi in drei Unterperioden zerlegen, wovon die erfle bis zur Einführung des Chriften- 
thums in Rußland, die zweite bis zur Vernichtung der Tatarenberrfchaft und die dritte 
bis zur @inführung der Clviliſation ſich erfiredt. Ein eigentliched Denkmal der ruſſi⸗ 
fhen Volksſprache aus der älteſten Berlode eriftirt gar nicht; heidniſche Volkslieder 
giebt es zwar in Menge (vgl. die 1863 in Berlin erfchienene Schrift: Ruſſiſche Volks⸗ 
lieder, überfegt von I. Altmann), aber es ift fehr fraglich, welche Veränderungen bie 
mündliche Fortpflanzung im urfprünglichen Terte jener Lieder veranlaßt bat und ob 
nicht einige überhaupt bloß in Ueberfegungen aus andern flawifchen oder fonftigen 
Sprachen beftehen, oder gar durch neuere Poeten untergeſchoben find. In bie Periode, 
don Einführung des Chriſtenthums bis zur Befeitigung der Tatarenherrfchaft (989 
bis 1462) entfällt als eines der wichtigften Denkmaͤler der ruffiichen Vorzeit, Die von 
Tatiſchtſchew im Jahre 1737 aufgefundene, von Schlözer zu St. Petersburg 1767 
betaudgegebene und von Rakowiecki (2 Bde, Warſchau 1820-1822) mit gereinigtem 
Tert abgedrudte „Prawda russkaja“ (Mufflfches Recht oder das im Gegenfag zum 
Sfudebnif oder Geſetzbuch des Zaren Iwan Waſſtljewitſch fogenannte Erſte rufflfche 
Recht), aus der Zeit Jaroslaw's, welcher 1018 —54 regierte. Die ruſſiſche Helben- 
fage wurzelt ihrem Entflehen nach in dieſer Zeit; fie bat noch vollfländig heidniſche 
@lemente, und das Chriſtenthum blickt gleichſam nur verftohlen hindurch; Bogatyren 
(Helden) voll Mark und Kraft, aber mit übermenfchlihen Eigenfchaften verjehen, kaͤm⸗ 

Wagener, Staats u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 41 


642 Nuſſiſche Sprache und Ateratur. 


pfen mit Rieſen, Zauberern und Drachen; fle find dem Namen nach oft bloße Per⸗ 
fonificationen von Naturkraͤften. So if Dunai Donau, Potok Gießbach, Sjolemjei 
Nachtigall, Smiejewitfh Sohn der Schlange, Plenkowitſch Eifenfohn, Dobryna Tapfere 
fetu.f.w. Ein ganzer Sagenkreis gruppirt ſich um Wladimir, feinen Sohn Mſtiſlaw, 
und die Geliebte beider Smwietlana, während andere Lieder Rogneda, die verfloßene 
Battin Wladimir'd und deren Sohn Isjaslaw feiern. (Vgl. die deutiche Dichtung: 
Furt Wladimir und feine Tafelrunde, Leipzig 1819, eine bloße Nachbildung der Wla⸗ 
dimirfage, Hervorgegangen aus Rumjanzow's Sammlung altrufflicher Volkslieder.) 
Eine andere Nationaldichtung diefer Zeit Ik die vermutblich aus dem 12. Jahrhundert 
flammende Dihtung: „Igor Bug gegen die Polowzer“ (1796 vom Grafen Muſſin⸗ 
Puſchkin aufgefunden und Moskau 1S00 und dfter Herausgegeben, mit beutfcher Ueber⸗ 
fegung von Hanka, Prag 1821, Sederholm, Moskau 1825, und Boltz, Berlin 1854), 
welche indeß die neuefte in die Tiefen ihres ſprachlichen Gehalts eindringende For⸗ 
ſchung als unächt bezeichnet; und hierher gehören ferner eine Menge anderer Volks⸗ 
Dichtungen heiterer und ernfler Art, welche mehr oder minder von der Kritik ange- 
zweifelt werben, wie die Dichtungen von den Helden Filipat, Tſchinagrip, Dula u. f. w.; 
von der Entführung der Stratigomna und der Hochzeit der Domginia. Diele rujfle 
fhen Bolfslieder find zum Theil Acht national gehalten, haben bei aller Kedheit eine 
gewifle jungfraͤuliche Verſchaͤnmtheit und zeigen fchon Anflüge von Heinen, bei ausgebil⸗ 
detem Rhythmus, wie fle überhaupt die Bieg- und Bildſamkeit der ruffifchen Volksſprache 
. fpäterer Zeit auf's Trefflichfte vorausfennzeichnen. Die beften Sammlungen rufflfcher Volks⸗ 
lieder find von Kalaidowitſch auf Beranlaffung des Reichskanzlers Grafen Numjanzow (St. 
Peterob. 1818), Michailow Tſchulkow (St. Petersb. 1770, in 4, 1788 in 6 Bon.), Lwow 
und Pratfh (St. Petersburg 1790, 1805 und 1815, 2 Bde. in 4. mit Muſikbeilagen), 
von Dmitrijew (Mosfau 1796, 3. BYre.), von Shufomwslif, Kalatilin, Blafunow, Bai⸗ 
kow, Zertölem u. A. m. veranflaltet worden, womit zu vergleichen find Glagolew's 
gebaltreiher Auffag „Ueber das Gharafterifiifche der ruſſiſchen Volkslieder” (in den 
Arbeiten der Befellfehaft von Freunden der rufflfchen Kiteratur, Moskau 1818), deflen 
Abhandlung „Ueber die alten Zeftfpiele" (im Europ. Boten, Mosk. 1821, Bd. CXVL.), 
v. Staͤhlin's „Nachrichten von ber Tanzkunft und der Ruſik in Rußland", Tſchul⸗ 
kow's Abhandlung „über den zufflfchen Aberglauben*, Grammatin’d „Abhandlung über 
die altrufftfche Literatur”, Schiſchkow's „Unterrebungen über die Literatur", Derſha⸗ 
win’d „Auffag über Inrifche Poecfle”, Woſtokow's „Verſuch einer Darftellung ber 
ruſſtſchen Proſodie“, Guthrie's, Gneditſch's, Oſtolopow's Werke, welcher Leptere in 
feinem Wörterbuch der alten und neuen Dichtkunſt ebenfalls viele ruſſiſche Volkslieder 
mittbeilt, w. U. m. LUeberfegungen lieferten B. v. Goetze („Stimmen des ruffiichen 
Volks in Liedern”, Stuttg. 1828), Ludewit Stur („O narodnich pisnich etc.*, Ueber 
die Bollölieder und Volksſagen der flawifchen Stämme), Friedrich Bodenſtedt („Ueber 
flawifche Volkopoeſie“ in feiner Schrift „Aus Of und Wet“, Berlin 1861), Julius 
Altmann („Balalaika*, Berlin 1863) und Andere. Wad die Ueberfehungsliteratur 
in Außland felber während jened Zeitraums anbetrifft, fo erichienen mehrere hiſtoriſche 
Werke, wie Arrian's Schrift über Alerander den Großen und andere llebertragungen 
aus griechiſchen und römifchen Schriftflellern, deren Werth an ſich fehr gering if. 
Biel werthvoller find die in Lirchenflawifcher Schrift verfaßten Proſadenkmäler diefes 
Zeitraumd, unter denen Neſtor's, des Vaters der ruffifchen Gefchichte, berühmte 
Chronik obenan fleht. Ste bildet no heute die Balls der rufflicden und gefammten 
flanifchen Geſchichte, und Karamfin hat auf ihrer Grundlage feine Geſchichte Rußlands 
aufgebaut. Neftor ift daher beſonders für die gefammte Geſchichte des europätfchen 
Mittelalters fo hoch wichtig, weil er zum großen Theile als Augenzeuge erzählt und 
feine Bemerkungen anberntheild aus werthvollen griechifhen Quellen, die ihm noch 
vorlagen, jetzt aber verloren gegangen find, fo wie aus Traditionen gelehrter Männer 
mitthetlt, die ihm bei feinem Unternehmen hülfreich und gewiffenbaft zur Seite fanden. 
Neftor, geb. um 1056, lebte feit 1073 ale Mönch im Höhlenklofter zu Kiew und 
flarb nah 1116. Seine Chronik, welche vom Anfange des ruffifchen Meiches bis 
auf feine Zeit berabreicht, wurde zuerft vollſtaͤndig herausgegeben zu St. Peteröburg 
1767 in 5 Bänden und ind Deutſche übertragen von Schlözer, Göttingen 1802—9, 


Nuſſiſche Sprache und Literatur. 643 


in 5 Bänden, während einen Auszug davon ſchon Scheerer (Leipzig 1774) geliefert 
battle. Er ſchrieb auch ein Paterikon (Lebensbeſchreibung einiger Hetligen ſeines 
Kloftere), welches 1661 und dfter im Drud erfchlen. Unter feinen Fortſetzern find 
ber Abt Sylweſter vom St. Micyaelöllofter zu Kiem, fpäter Bifchof von Perejaslawl 
(gef. 1124), deflen Chronik bis 1123 reicht, Simon ber Heilige, Biihof von Susdal 
(gef. 1226), Niphont, Johann, Priefter von Nongorod, Zimofet unter Anderen bers 
worzubeben, welche wieder ihre ununterbrochenen Zortfeger fanden, bis biefelben wäh« 
vend der Megierung des die Wiflenfchaften nach anderen Richtungen bin fürbernden 


"Zaren Alexei Michailowitſch, um die Mitte des 17. Jahrhunderts, plöglich verftumm⸗ 


ten. Sie find die lauterfien, uber gleichzeitig gefehmadlofeften Quellen der flawifch« 
ruſſiſchen Gefchichte, welche, in Verbindung mit den verſchiedenen Stufenbüchern (z. 2. 
dem Stufenbuch ded Metropoliten Kyprian, geft. 1406), der Sophiendronif, welche 
den Zeitraum von 862 bis 1534 umfaßt (herausgegeben von Strojem, 2 Bde, Moöf. 
1820-22), und einigen anderen hiſtoriſchen Schriften, das ichägbarfle hiſtoriſche, 
juridifche und literariſch⸗ſprachliche Vermächtnig jener Zeit find. In der „Polnoje 
Ssobranije Russkich ljetwpissei“ (Vollſtaͤndige Sanımlung rufflfcher Annalen, St. 
Petersburg 1840 ff.) Hat die Archäographiſche Commiſſton dad Material von nicht 
winiger als 164 foldyer Chroniken verarbeitet. Andere Schriftfteller dieſes Zeitraumes 
find: Lukas Zirjata, Biſchof von Nowgorod (gef. 1059), Nikiphor, Metropolit von 
Rußland (gef. 1121), der fpätere Großfürſt Wladimir Monomach (geft. 1125), 
Kyrill, Metropolit von Kiew (geft. 1281) und Photij, ebenfalls Metropolit von Kiew 
(gef. 1431), melde ſich als Kanzelredner und durch verfchiedene Sammlungen von 
Bredigten und Gebeten und durch andere Erbauungsichriften audzeichneten. 

Die dritte Beriode der Älteren ruſſiſchen Literatur reicht von Beflegung der 
Zatarn und Mongolen bis zur Begründung des Culturſtaates Rußland durch 
Peter den Broßen, d. 5. von 1462 bis zu Ausgang des 17. Jahrhunderts. Im 
Allgemeinen Eennzeichnet ſich dieſe Periode als eine von der polnifchen Literatur, 
welche ſchon damals ihre Blüthezeit feierte, fehr beeinflußte und flellenweiß total be⸗ 
herrſchte; ja, es gab Schriftileller in Rußland, welche glaubten, Ihrer Nation einen 
Dienft zu erweifen, wenn fle fich bei ihren fchriftflellerifchen Leiſtungen nicht der Lan» 
des⸗, fondern der ausgebildeteren polnifchen Sprache bedienten. Als Hauptförberer 
der Gultur iſt der Fürſt Eonftantin von Oftrog (vergl. den Art. Oſtrog) zu nennen, 
welcher als Wofewode von Kiew und Marfchall von Volhynien Die gefammte flawifche 
Literatur bob, eine kyrilliſche Typographie zu Oſtrog begründete und auch ben erflen 
Drud der ganzen Bibel in altflamifcher Sprache (1581) veranlaßte. Auch der Pa⸗ 
triach von Rußland, Niton, war der Geichichtöforfchung und Literatur überhaupt in 
Nupland gebeihlidh, indem er eine Sammlung ber rufflichen Jahr» und Stufenbücher, 
fo wie der griechifchen Chronographen veranftältete, welche bis 1620 reicht und unter 
dem Titel der Nikon’schen Annalen zu St. Beteräburg 1767 — 92 in 8 Bänden im 
Druck erfchien. Weber Peter Mogila’s Schriften, welche in diefe Zeit fallen, vergl. 
man den befonderen Artikel Mogila. Er iſt auch der Erfte, der verfchiedene Gedichte 
im fyllabiichen Versmaße verfaßte. Unter den Schrififtellern dieſer Zeit‘ find fonft 
noch erwähnenswerth: der Metropolit von Rußland Mafarif (} 1564), der Verfafler 
der großen Legendeniammlung („Tfchetij Minei“), der zugleich als Ergänzer der Stufen⸗ 
büdyer und durch feine geifllichen Reden fich Verdienſte erwarb; der Minifler des Zar 
Alerei Michailowitſch, Matwjefew, der DBerfaffer mehrerer Hiftorifcher und Heralbifcher 


Werke, der lithauiſche Erzpriefter Zizania, der Berfafler der erſten flawifchen Gram⸗ 


matit (Wilna 1596), der Erzpriefter von Tfchernigow, Laſarij Baranowitfch (F 1693), 
ber Die griechifch » ruffifche Kirche gegen ihre Feinde vertheidigte u. U. m. Geit An 
fang des Flebzehnten Jahrhunderts ward auch der Grundflein der ruſſiſchen Dramatik 
und Schaufpielertunft gelegt, indem aus Bolen theatralifche Vorftellungen nach Kiew und 
von da 1626 nad Moskau gelangten, wobei Anfangs dad religidfe Drama maßgebend 
war, während das weltliche Drama erſt unter Feodor II, um das Jahr 1680, auf 
dem zarifchen Hoftheater im Kreml zur Aufführung fam. Moliere’s „le medecin malgre lui“ 
(in rufſ. Ueberf.) war das erſte nichtgeiftliche Stud, das übers die ruſſiſche Bühne ging. — 


Auch im zweiten Hauptabfchnitte der ruſſiſchen Literatur, welcher von Beter dem Großen — 


41* 





64 Ruſſiſche Sprade und Literatur. 


bis zur Gegenwart reicht, laſſen fich. drei Unterperioden aufflellen, deren erfle durch 
Lomonofjow unter Kaiferin Elifabeth und deren zweite durch Karamſin unter Alexan⸗ 
der I. abgegrenzt wird, während bie dritte der Jüngſtzeit angehört. Zu den litera- 
riſchen Hauptichöpfungen Peter's des Großen dürfen wir rechnen: die Einführung der 
gegenwärtigen rufflihen Typen, fett 1706; die Schöpfung des Zeitungsweſens, feit 
1705 zu Moskau und feit 1714 zu St. Peteröburg; die Begründung der Ukaſen⸗ 
druderei zu St. Petersburg, 1711, und die Schöpfungen des St. Peteröburger Mu⸗ 
feumd, der dortigen Akademie der Wiffenfchaften und der St. Petersburger Univer⸗ 
fltät, fo wie auch andere Rebranflalten, wodurch er bie. Bildung feines Volks und 
die Berbreitung gemeinnägiger Kenntniffe erftrebtee Der Hauptfchriftfieller dieſer 
Periode iſt Kantemir (vgl. dief. Art), 1708—1744, weldyer ſich eine Achteuffliche 
poetifche Sprache fchuf, als Gründer der weltlichen ruſſiſchen Poeſte zu betrachten ift 
und als Satyrifer noch bis heut den erfien Rang in ber rujflihen Literatur einnimmt. 
Ein geihmadlofer Poet iſt Dagegen Tretiafowstij (1703—1769), der Dichter der 
Telemachide, des Trauerfpield Dridamija und vieler Ueberfegungen, die jeicht und 
wäfferig find, während feine Afthetifch - philofopbifchen Arbeiten, wie feine „Anleitung 
zur ruſſiſchen Dichtkunſt“ (St. Peteröb. 1735), „Gedanken über die alte, mittlere 
und neue ruffifche Dichtkunſt“ (abgedrudt im Juniheft von 1755 der afadem. Ver⸗ 
Handlungen), feine Abhandlungen „über ruffifche Alterthümer“ (St. Betersb. 1773), 
„über Orthographie“ (ebd. 1748 und öfter) wenigftens ein ſchätzbares Material au» 
deren gefchichteren Händen boten. Als Liederdichter und Sammler ruſſtſcher Bolfs- 
lieder zeichneten fly einigermaßen aus die Koſaken Sfemen Klimowskij und Kyrila 
Danilow, defien Sammlung freilih noch aller Iogifhen Anordnung entbehrt und 
Willkürlichkeiten aller Art fih zu Schulden kommen laäßt. Die profaifche wiſſenſchaft⸗ 
liche Riteratur fand ihre Vertreter an Theophan Prokopowitſch (1681—1736), dem 
Mönch Nifodem Sfelly (+ 1746) und Waſſilij Nikititfch Tatifchtichem (1686 — 1750), 
welche fämmtlich durch Leiſtungen auf dem Gebiete der rufflicden Geſchichtſchreibung 
ſich verdient gemacht haben, und welcher Leßterwähnte eine „Istorija Rossiiskaja® 
(4 Bde, Most. 1769, 1773 u. 1774 u. St. BVetersb. 1784) fchrieb, die von den 
älteften Zeiten bis zum Jahre 1462 geht und gewiffermaßen das Mefume der vielen 
einzelnen Ljetopifie und Annalen bildet; did auch Karamſin fpäter zum Grunbflein 
feines Werkes nahm. Tatifchtfchem, ein Polyhiſtor feiner Zeit, ſchrieb auch ein großes 
„Ruſſiſches Hiftorifchepolitifch-bürgerliches Lexikon”, welches, nur bis zum Buchflaben % 
fortgeführt, zu St. Petersburg 1793 gedrucdt ward. Die dietatorifche Macht, melde 
Peter der Große über Sprache und Literatur ausübte, rief bei einzelnen Pa⸗ 
trioten und Literaten großen Widerfpruch hervor, und es entfland ein Zwie⸗ 
Spalt zwifchen den Verfechtern des Kirchenflavoifchen und der gemeinrufliichen Sprache, 
der durch dieſe ganze erſte Periode der neueren ruflifchen Literatur erſichtlich 
if. Man Fann ihn auch bezeichnen als den Kampf zwiſchen dem Nationalen und 
Srembländifchen, ein Kampf, der erft in der zweiten Beriode, befonders unter Elifabeth 
und Katharina II, nachzulafien begann, wo die verfchledenen in bie rufflfche Literatur 
eingedrungenen Elemente fidy zu einem organifchen Ganzen geftalteten. Zomonoffow 
(f. d.) ift der Anfang diefer zweiten Gulturperiode des neuen Rußland, und er bleibt 
gleichzeitiger Träger für die ganze Dauer derfelben. Er war es, der mit fcharfen 
Linien die Grenzen zwifchen dem Ruſſtcismus und Slavonismus z0g, der Sprache 
wie Schreibart firirte, der Iyrifchen Dichtung eine profodifche und metriſche Bafls lieh, 
und der die Regeln der Poetik wie der Grammatik feſtſtellte. Ihm find die Poeſie 
wie die Eloquenz, die Geſchichte wie die Naturwiſſenſchaften zu gleichem Dank ver 
pflichtet. Er gab nicht nur Lehren: er befolgte fie au. Seine 27 Schriften, theilb 
in Berfen (Epopden, Dramen, Oden, Epigramme, Ipyllen), theils in Profa (Gram⸗ 
matit, Rhetorik, Poetik, Lobreden, Hiflorifches, Schriften über Phyſik und Chemie) 
und fowohl aus Driginalien wie auß Ueberfegungen (aus dem Deutfchen, Franzöſtſchen, 
Zateinifchen) beftehend, bezeugen dies. Seine fümmtlihen Werfe gab die Akademie der 
MWiffenfchaften in ſechs Bänden heraus, wovon 1803 die dritte Auflage erichienen if. 
„Batjuſchkow, Mersljakow u. U. widmeten ihm ehrenvolle Nachıufe. Seine Haupte 
fpüler find: Cheraskow, Betrow, Popomslii, Bogdanowitſch und Dershamwin, bie 


Rufſiſche Sprache und Literatur. 645 


Sterben der ruſſiſchen Literatur im Zeitalter der großen Katharina. Die bis dahin 
bruchſtuckartige Literatur Rußlands concentrirt und vervollftändigt ſich jeht zu einem 
Literatusgangen; an bem Riteraturblatte Müller’8 (feit 1755) arbeitet ein ganzer Cyklus 
von Gelehrten; die Akademie zu St. Peteröburg zählt Kapacitäten aus allen Bereichen 
der Wiffenfchaft zu Mitgliedern; die ruffiiche Bühne erweitert ſich durch die Verbienfte 
des Dramatifers, Dramaturgen und Schaufpieler® Feodor Wolkow zu Jaroslaw, der 
dort und fpäter in St. Petersburg ein ſtehendes Theater errichtete, dem dann die 
Gründung des Moskauer Nationaltheaters folgte: mit der Entwidelung des Theaters 
ging die Entwidelung des Dramas gleichen Schritt. AB Tragddiendichter erſter 
Größe glänzen Alexander Petrowitſch Sſumarokow (1718 — 1777), der Dichter 
des falſchen Dimitrif, der 1800 in's Franzoͤſiſche und fpüter auch in's Englifche über- 
fegt ward, des Mflislam, des Wpfcheflam, ded Sinam und Truwor, des Chorew, de 
Jaropolk, der Ariftome und der Semire — Michael Matwiejewitſch Cheraſskow 
(1733— 1807), der Berfaffer der Dramen Milona, Die BVerfolgten, Die Schule der 
Tugend, Der Kreund der Unglüdlichen, Die Eiferfucht u. ſ. w., und zugleich Dichter ver 
Epopden Die Nofflade, Wladimir, Die Schlacht bei Tſchesöme, auch Berfaffer mehrerer 
didaktifcher Dichtungen, wie Das Weltall, Die Früchte der Wiffenfchaften u. f. w., und 
Wladislaus Alerandrowitih Dferom (1770-1816), auf dem Lebergange zur fol- 
genden Periode flebend, der Umbildner des rufflichen Trauerfpiels, welches ihm Werke 
verdanft, wie die och heut beliebten Fingal (mit Muflf von Koslowökij), Olga’s 
Tod, Dmitrif Donskoi, Polyrens und Debipus in Athen, melde fämmtlich große 
Erfolge erzielten. Als Zuftipieldichter feierten die größten Triumphe Jakow Boriflfo- 
witſch Knjaſhnin (1742—1791), der auch Tragddien (Dido, Roßlaw, Wladimir, 
Titus, Sopbonisbe und Wladißan) fehrieb, und deſſen Komdbien (Der Prahler, Die 
Sondirlinge, Der ungtüdliche Sriedensftifter, Die getößtete Mittwe) und Opern (Der 
Beizige, Der Shiienträger, Das Unglüf dur die Kutfche, Die verftellte Wahnfinnige) 
fih fange hielten, und Deniß Iwanowitſch Wiffin (1745 — 1792), deſſen Städe 
(Der Brigadier, das Mutterfühnchen) noch heute mit Beifall gegeben werden. Ihnen 
ebenbürtig zur Seite ſtand Waffllif Waſſiljewitſch Kapnift (gef. 1823), der außer 
Oden und Elegieen das Trauerfpiel Antigone und daB durch beißende Satyre bekannte 
Luſtſpiel Die Rechtsverdreher fchriedb. Ein ganzer Chorus minder berufener Geifter 
reihte fi an die Borigen an; die Befleren find noch Maikow, Nikolew, Ableffinom, 
Sefimfew, Klufchin und Plawilichtichilom, welcher Legtere zugleich als Schuufpieler glänzte. 
Der gefeiertfle Dichter im Zeitalter Katharina's II. mar aber Gawriil Romanowitſch 
Dersbamin (1743 — 1816), der zuerft den Boden der Rhetorik verließ und bie 
Begeifterung und das dichterifche Gefühl an deren Stelle fegte. Er ift in gewiflen 
Sinne Rußlands größter Lyriker verblieben; feine weltberüähmte Obe „Gott” (über 
feßt in alle Sprachen, felbft ind Griechifche, Lateinifche und Chinefliche, ind Deut⸗ 
fihe von v. d. Borg, Notter, Altmann, Bodenftedt) iſt ſchwungvoll und im erhabenen 
Style abgefaßt. Neben ihm glänzen Waſſilij Petrowitfh Betrom (1736 — 1799), 
der Epifieln und Oden fchrieb und Virgil's Aeneis überfegte; Dmitrif Imanowitfch 
Chwoſtow (1757 — 1835), der Lhrifches und Didactifches ſchrieb; Sfeinen Sfer- 
giejewitſch Bobrow (} 1810), der Verfafler des befchreibenden Gedichte Cherſonida; 
Iwan Iwanowitſch Ehemnizer (1744-1784), der erfte ruſſtſche Fabeldichter, Ip⸗ 
yolit Feodorowiiſch Bogdanowitfh (1743 — 1803), deflen trefflihe Dichtung 
Duſchinka ſich durch ihren gragiöfen Styl auszeichnet; Fürſt Michailowitf$ Dolgo- 
zutif (1764 — 1823), der philofophifche Kehrgedichte fchrieb, und Jurij Alerandro- 
witſch Neledindkij- Melezkif (geb. 1751), der erfte bedeutende Lieder- und Balla⸗ 
Dendichter Rußlands. Auch der Grundflein einer guten Profa und einer gefunden in 
ihr ſich geltend machenden Wiſſenſchaft wurde in diefem Zeitraume gelegt, der trodene 
Kanzleiftyi ſah ſich plöglich durch die gewandte biplomatifche Weder eined Teplow, 
Sawadomstif, Chrapowicky und befonderd eined Besborodko verbrängt, welcher 
Lehtere als der eigentlihe Schöpfer der höheren Gefchäftgfpradhe der Ruſſen zu Bes 
teachten if. Auch der bürre Boden ver Ljetopiffe, jener magere Chronifenfiyl, der 
die Geſchichtſchreibung Rußlands ſeit Neftor beherrſcht, wurde verlafien, und 
Hifloriker wie Iwan Nikititfeh Boltin (} 1792) und Fürſt Michael Schtfcherbater 


— 


646 | Ruſſiſche Sprache und Literatur. 


(7 1790) wurden durch ihre Beleuchtungen der vaterländifchen Gefchichte die wärbi« 
gen Vorgänger Karamfin’d. Ueberhaupt war nach allen Richtungen bin der wiflen- 
ſchaftliche Sinn der Ruſſen erwacht, felbft die Kaiferin Katharina gab Denkwürdigkeiten 
der rufftfchen Geſchichte heraus, der gefeierte Polyhiſtor Gerhard Friedrich Müller (F 1783) 
bereifte ganz Rußland und durchflöberte alle Archive des Reiches. Neben ihm wirkte 
Aug. Ludwig Schlözer durch Herausgabe des Neflor und anderer Geſchichtsquellen. 
Die erſte ausführliche rufftfche Statiſtik ſchrieb Plefchtfchefem (F 1802); einen Abriß 
der ruſſiſchen Kicchengefchichte verfaßte der Metropolit von Moskau Platon (F 1812) 
und felbf die Kanzelberepfamkeit wandte zum erften Male auf den Styl eine rührige 
Sorge. So murden Krinowskif, Koniwskij, Bratanowslif, Platon und Lewanda die 
Begründer des höheren Kirchenſtyls. Nebenher regte fi) auch die Ueberfegungsluft, 
und fowohl aus den clafflichen Sprachen des Altertfums wie aus den Weifterwerfen 
der modernen Sprachen wurde dad Wichtigfte übertragen. in hohes Verdienſt um 
Berbreitung guter Nationalwerfe zu billigen Breifen und ein noch höheres durch Er⸗ 
ichtung verfchiedener Buchhandlungen, Begründung der erften Leihbibliothet und Ein- 
führung des Journalweſens in Rußland erwarb fi Nikolaus Iwanowitſch Nowikow 
(+ 1818), der felbft durch feinen „Verſuch eines Xerifond ruſſiſcher Autoren” ſich 
als talentvoller Schriftftellee Eennzeichnete. Ideenreicher als ſprachlich gewandt if 
Nikititfh Muramjemw (f..d.), der dur feine moralifhen Schriften viel zur fltts 
lichen Hebung des Volkes beitrug. Erwähnenswerth iſt auch das große vergleichende 
Wörterbuch der rufflichen Spradhe (St. Petersb. 1787—89 u. dfter), deffen Entwurf 
von der großen Katharina felber außging, daher das Werk unter dem Namen Voca- 
bularium Catharinae befannt ift und welches für die Sprachforſchung einen großen 
und unberechenbaren Nutzen gehabt Hat. — Die dritte bis zur Heutzeit waͤhrende 
Periode der neueren rufflichen Literatur bebt mit dem berühmten ruffifchen Hiſtorio⸗ 
grapben Karamfin an, dem ein eigener Abfchnitt in diefem Werke gewidmet ift, 
auf welchen wir vermeifen. Er bat die Odomanie zuerfi aus der Sprade gebannt 
und einen reinen, Feufchen, nüchternen Styl der ruffifchen Sprache geſchaffen, wie er 
denn überhaupt die Literatur und Poeſte zu ihrer wahren Quelle, den einfachen menſch⸗ 
lichen Empfindungen zurücdführte und ihr die richtige Stellung innerhalb des Volks 
lebens anwied. Kaifer Alerander 1. und feine Minifter Rumjanzow und Tolſtoi für» 
derten die großen Abfidyten Karamfin’d und Dichter und Denker wie Dmitrijem, 
Batjufhlomw verfolgten die von ihm vorgezeichnete Richtung und wurden eben fo 
maßgebend für den poetifchen Ausdrud, wie Karamfin für die projaifche Sprache, 
indem fie das Clement der Glätte und Befeiliheit in die Poeſte bineintrugen. Die 
bis auf fleben angeftiegene Zahl der Univerfitäten, die Errichtung von vier theologi⸗ 
fhen Akademieen und von 36 Seminaren, fo mie von einer großen Menge durch das 
Meich vertheilter Gouvernementd- und Kreidfchulen, die großartige Umgeftaltung ber 
Alademieen der Künfte und Wiſſenſchaften, fo wie der für Sprache uud Geſchichte, 
endlich die mit Fatferlicher Yreigebigkeit ausgeführte Unterflügung ded Talents wirkten 
fo befruchtend auf die literarifche Productiyität der Ruſſen, daB Sopifow in feinem 
„Essai de bibliographie russe* (St. Peterob. 1813— 23, 6 Bde.) bereitö 13,249 in flawis 
fcher und ruſſiſcher Sprache in Rußland erfchlenene Werke verzeichhen konnte, weldye yon der 
Einführung der Buchdruderfunft (1553) an bis zur Gegenwart aus den Tppographieen 
des Meiches hervorgegangen waren. Bon 1824 aber, wo die Zahl der neugebrudten 
uffifchen Werke nur 264 betrug, flieg die Zahl derfelben bis 1844 auf 1040 (837 
Originalwerke, 53 Ueberfegungen, 150 Zeitfchriften) und bis 1864 wuchs fle fogar 
auf mehr ald 3000 an. Die Anzahl aller bis fegt in flawifcher und rufflfcher 
Sprache erfchienenen Literaturwerfe Rußlands iſt ſchon auf mehr denn 50,000 
angefliegen, was immerhin in Betracht der Hiterarifchen Fruchtbarkeit anderer 
Culturvdlker eine Eleine Ziffer ift, Da ja befanntlih im übrigen Europa mit 
Ausflug Rußlands alljährlih ca. 100,000 Neumerke erfcheinen. Große 
Verdienfte erwarb fih der Minifter der Volks - Aufllärung, Alexander Schiſch⸗ 
tom (geb. 1754, } 1328) durch feine Schrift „Weber den alten und neuen Styl der 
ruſſiſchen Sprache”, Indem er der Verweichligjung der Sprache, melde durch die 
ußlich⸗ fentimentale Stimmung ber felchten Nachtreter Karamfin’d in der rufſſtſchen 


Aufkige Sprache und Literatur, 64 


Literatur ſich eingebürgert hatte, mannhaft entgegentrat. Es traten ſich bald barauf 
zwei Literaturfchulen, die Moskauer (Karamſin'ſche, vertveten feit 1803 befonberd durch 
Makarow) und die St. Peteröburger (vertreten durch Krylow, den geiftvollen 
Fabeldichter, vgl. d. Art. Krylow) entgegen. Die erftere Schule kann man auch die des 
Romantiémus, die andere die des Claſſieiömus nennen, welche Parteien fi 
feit 1820 mit großer Exbitterung gegenüberfianden. Der berühmtefte Romantifer ift 
Waſſilij Andrjejewitſch Shufo peti j (geb. 1783, F 1852), weldyer die beften Nor 
manzen und Balladen, die Rußland befigt, dichtete und Schiller’fche Werke vortrefflich 
in's Ruſſiſche vertirte. Andere Dichter dieſer Richtung find Alexei Feodorowitſch 
Merljakow (geb. 1778), ausgezeichnet als Dichter, Ueberſetzer von Taſſo, Lieder⸗ 
ſammler, Xiterarbifloriker und Kritiker, Nikolai Gnjeditfch (geb. 1784), der Ueber⸗ 
feßer Homer's und Ginführer des Herameters in die ruſſiſche Literatur, und beſonders 
Alssander Sfergiefemitih Puſchkin (geb. 1799, F 1837), der Schöpfer einer neuen 
nationaleren Richtung der Voefle (vgl. den befonderen Art. Puſchkin); während Kon⸗ 
flantin Nikolajewitſch Batjuſchkow (geb. 1787) der reinfle Nachahmer der Blaffiker 
war, welcher der rufflichen Poeſie die Weihe der idealen Dietion verlieh, und während 
Alerander Chriſtophorowitſch Woftofom (geb. 1781) fogar bemüht war, das alte 
toniſche Metrum der Ruſſen, weldyes nicht die Zahl der grammatifchen, fonbern ber 
poetifchen Accentuationen beachtet, wicder zur Geltung zu bringen, indem er den von 
2omonoffom und Dershawin eingeführten Jamben und Trochäen und den gleichfalls 
aus den Frempliteraturen herübergenommenen Reimen ben Krieg erklärte. Die Puſch⸗ 
kin'ſche Bocfle behauptete fi indeß im Siege. Baratynskij, Dahl, Delwig, Jaſykow, 
Kodlow, Benediftom, Gogol u. A. m., fammtliy Schüler Puſchkin's, wandten ihre 
gefammten Iiterarifchen Kräfte unverbroffen auf das Ziel hin, die originalen Elemente 
der Heimat zu fammeln und zu durchgeifligen. Die gedachte Richtung verfolgten ferner 
mit mehr oder minder Glück und Geſchickk Senkowskij, Nikitenko, Pletniew, But⸗ 
fow, Straf Sollohub, Bantfharow, Turgenjem und Richael Jurjewitſch Xermon« 
tom (f. d.),. welcher Legtere für die r. 2. ein Stern erfier Größe iſt. Das vater- 
ländifche Drama, das fatyrifche Zuftfpiel und der politifche, Eultur- und Sittenroman 
fanden von jegt ab und fliehen bis heut auf dem Vorgrunde der r. 2., was die Poeſte 
betrifft, während die fociale und commerziale Frage von den Tagesichriftfiellern Ruß⸗ 
Iands innerhalb des profaifchen Gebietes auögebeutet wird. Beſonders erwachte feit 
dem Degierungsantritt des jept über Rußland Herrfchenden Kaifers Alerander I. ein 
beharrlicher politiſcher wie Titerarifcher Kampf zwifchen dem Geiſte des Alten und 
Neuen, und wenn auch noch von feiner gereiften Frucht der r. 2. die Rede fein Tann, 
fo it doch die Zelt des Embryonenthums überwunden. Den Borermähnten reiben 
wir noch die Namen Beſtuſhew (vgl. den Art. Marlinskij), Ayleiew (f. d.), Wo⸗ 
jeikow, Grebenko, Baron Roſen, Baratynskij, Koslom, Wiaſemskij, Jomailow, Maf- 
ſalskij, U. Welimann, Markow, Bulgarin, Sagoskin, Baron Theodor Korff, Fürft 
Odojewskifj, Kukolnik, Polewoi, an, denen ſich auch Frauen zugefellen, wie die Paw⸗ 
low, Schiſchkin, Helene Weltmann u. A., welche fämmtlihe Klänge der Epik, Lyrik 
und Didaktik, fo wie des Romans und der Novelle angefchlagen haben. Auch das 
Drama wurde ausgebaut und, den modernen Anfprüchen accontmobdirt, was die Ver⸗ 
fuche Oſerow's, Polewoi's, Fir Schachowokoi's, Gribofedow’s, Gogol’s, Oſtrowokij'do, 
Sagoskin's, Grigorjew’s und Karatygin's, welcher Letztere zugleich der bedeutendſte 
Aeteur Rußland ift, auf dem Boden Der Tragödie, der Komödie, der Oper und des 
Baudeville's darthun. Hand in Hand mit den Fortfchritten der Poefle in Rußland 
ging die Entmwidelung ber Proſa und der Wiſſenſchaft. Der Geſchichte wurde 
wader vorgearbeitet durhd Sammlung der Duellichriften, die Graf Rumfanzow durch 
Männer wie Ralinomsfij, Kalaidowitſch, Strojem, die Archängraphifche Commiſſton 
durch Männer wie Berednikow, Solowjew u. f. w. audführen lief, und Die zum 
Theil Gelehrte wie Alerander Turgenjem aus eigenem Antriebe und eigenen Mitteln 
unternahmen. Auch zählt die vr. 2. bereits gute DBerarbeiter jener nunmehr aufs 
Reichhaltigſte erfchlofienen Geſchichtsquellen, z. B. Uſtrjalow, Polewoi, Pogodin, 
Kaldanow, Szreznewski, Puſchkin, Berg, Lefort, Krug, Arheniem, Solowjew, 
Pawlow, Schulgin, Koſtomarow, Tſcherbinin und ein ganzes Heer Anderer, während 


N 


648 5 | Ruſſiſche Sprache und Literatur. 


Glinka, Piſſarew, Sebbeler, Michailomskij-Danilewstif, Buturlin, Lukjanowiiſch, Bog⸗ 
danowitſch, Milfutin u. A. die Geſchichte der Kriege verarbeiteten, Biographieen von 
Generalen oder Admiralen lieferten oder Militär- Enchklopädieen fchrieben. ine flart 
hervortretende politifche Färbung tragen die Schriften Tſchichatſchew's, Dolgorufow's, 
Swan\Golewin’s, Alerander Herzen's, welche Leßtgedachten zubem dem Publicum viel 
Sabelbaftes auftifchen, um für ihre Anflcht Bropaganda zu machen. Für Geogra⸗ 
phie ift Durch Reiſende viel geichehen, welche, wie Krufenftern, Golownin, Koßebue, 
Laſarew, Wrangel, Lütle und viele Andere die liberalfte Unterflüßung feitend der 
Megierung genofien. Auch förderten die kaiſ. Akademie der Wiffenfchaften zu St. Beterb- 
burg und die kaiſerl. Geſellſchaft der Naturforfcher zu Moskau derartige Unternehmun⸗ 
gen, die auch der Aftronomie, Meteorologie und dem gefammten Bereiche der Nature 
wiffenfchaften zu Gute famen. Namentlich ift für Zoologie und Botanik viel geſchehen. 
Auch der Ethnographie und Spracenfunde frommten diefe Unternehmungen, und 
Männer wie v. Baer und v. Helmerſen ſuchten die gewonnenen Üefultate 
durch Sahresmittheilungen zu verbreiten und. zu verallgemeinern. Crwähnend«- 
wertb iſt auch Die rufflfche Geographiſche Geſellſchaft, deren Arbeiten eines 
euzopäifchen Mufss genießen. Speciell für Geographie thätig erwieſen fi 
Arßenjew, Nadeshdin, Peter v. Koͤppen, welcher Letztere (vgl. den befonderen Artikel 
Köppen) außer vielen Specialwerfen über ruffljche Geographie und Statifif auch 
eine ethnographiſche Karte des rufflichen Reiches (St. Petersburg 1852, in 4 BI.) 
veröffentlichte. Um Hydrographie machte ſich Studenberg, um Meteorologie 
Kupfer, Barrot und Weffelowstlif, um Nautik die ruſſiſche Admiralitaͤt durch ihre 
Memoiren verdient. Nicht nur M. wurde nach allen Richtungen der Windrofe und 
der Wiffenfchaft unterfucht, auch die fernflen Ränder wurden durchforicht, wie Die 
Bampas (durch Tſchichatſchew), das gelobte Land (durch Muramjew-Apoftol, Norow, 
Dawydow), Braftlien, China, Japan u. f. w. In Verbindung hiermit fland die Pflege 
und Förderung der Arch äologie; Fürſt Demidow, Alexei Umarom, Michael Gra⸗ 
bowoki veröffentlichten wahre Vrachtwerke über flamiiche und griechiſche Alterthümer. 
Eine Ueberſicht der ruſſiſchen Hiftoriographie nady ihren einzelnen Disciplinen georbnet 
lieferte Startſchewskij (1845)... Auch die Kirchengeſchichte fand ihre Bearbeiter 
im großen Styl, wo in erfler Linie Andrei Muramjew (vgl. den Artikel Murawjew), 
Platon (f. d.) und Philaret (f. d.) zu erwähnen find. Was die Vortheile ber 
trifft, welche der Linguiftik durch die Forſchung rufflicher Gelehrten erwuchſen, fo 
find diefelben keineswegs gering anzufchlagen. Die zum altaifhen Sprachflamm gehörende 
finnifye Sprache und ihre Munenliteratur (vgl. Schröter's finnifche Munen, Upſala 
1819, Stuttgart 1834; Topeltus’ Suomen Kansan Wanhoja Runoja, 3 Bde., Tu⸗ 
ruffa. d. i. Abo, 1822—1826; Europaeus’ Pieni Runon seppä, Helfingfors 1847; 
Lönnroth's Kalewala, Helfingford 1849, deutſch von Anton Schiefner, Helſingfors 
1852; Altmann's Runen finnifcher Volkspoeſte, Leipzig 1856, 2. Aufl. 1861) fand 
befonder8 thätige Bearbeiter; lexikaliſch und grammatifalifch wirkten Sjdgren (f.d.), 
Juden, Gaftren, Kellgren, Euren, Renvall u. A., welche zum Theil auch die übrigen 
dem Sprachſyſtem zugehörigen Dialekte, wie das Syrjänifche, Wotjätifche, Tfcheremiiltfche 
u. f. w. Eritifch Geleuchteten. Auch Das Efthnifche, vertreten in feinem reichen Lieber- 
ſchatz, beſonders durch ‚die Gelehrte Eſthnifche Befellfchaft zu Dorpat,. fanb treffliche 
Forfcher in Fahlmann, Neuß, Kreugwald, Meinthal u. A., welche, Dorpat 1857 bis 
1861, das efihnifche Originalepos Kalewi Poeg in 20 Befängen und 19,037 Berfen 
herausgaben und mit einer deutſchen Ueberfegung ‚der Originaldichtung verſahen. Um 
das Lettifche machten fi die Lettifch = Iiterarifhe und. die Furlindifche Geſellſchaft für 
Literatur und Kunft verdient; Napiersfi, Heflelberg und Andere flrirten die Grammatik. 
Die Sprachen des aflatifchen R. beleuchteten Böhtlingk (dad Iakutifche), Bopow (dad 
Kalmykifche), Bobrownikow, Kowalewskij, Schmidt (dad Mongoliſche), Wojclechowski 
(das Mandſchu), Trojanskij, Bereſin, Kaſembeg (die türfifch » tatarifchen Idiome), 
Brofſſet, Tſchubinow (das Gruſiniſche), Sfoͤgren (das Oſſetiſche), Ciakeiak (das Ars 
meniſche), Geitlin, Dorn, Fraͤhn, Erdmann, Gottwaldt (dad Verſtſche und Arabiſche), 
Bitſchurin (das Chineſiſche), Schiefner (das Tibetaniſche), Boͤthlingk (dad Sanskrith. 
Die arktiſchen Sprachen des nordweſtlichen ober ruſſiſchen Amerika's, namenilich 


 Nuyabened: (Johann). u. 649 


die Syrachen der Koloſchen und Kabjaker, unterfuchte und. beleuchtete grammatifch 
Wenfaminow. Adelung, Graͤfe, Köppen u. A. m. leifteten für Die allgemeine Sprady« 
forfhung Vorzuügliches. Für die alten clafflihen Sprachen gefhah verhältnipmäßig 
aur Weniged; -Leontfew, Kutorga, Ordynskij, Staffalewitich, Babſt, Krufe und einige 
Andere, find die wenigen nambaften Vertreter der griechifchen und römifchen Studien 
in Rußland, welche Uwarow mehr begünfligte, al& feine Nachfolger im Cultusminiſte⸗ 
rium. Das Studium der flawifchen Sprachen, als der der Forſchung in R. zunächſt 
liegenden, fand Dagegen von mancher Seite ber eine millfommene Anregung. Außer 
den Gelehrten, Die mir: oben bei Betrachtung der rufflichen Sprache bereit nambaft 
gemacht baden, erwähnen wir noch Woſtokow's als des Fritifchen Beleuchters her 
„HSandfriften des Rumjanzow'ſchen Mufeums”" (St. Petersburg 1842 ff.), v. Korff's, 
als Herausgebers mehrerer Funde auf der Eaiferlicden öffentlichen Bibliothek zu St. 
Beteröburg, und Boͤhtlingk's, der feit 1851 einzelne Thetle der ruffifchen Grammatif 
vom wifienfchaftlichen Standpunfte and betrachtet. — Was die Gefchichte der ruiflichen 
Literatur betrifft, fo find zu erwähnen: Meroljakow (Vorlefungen über Literatur, 4 Bde); 
Pletnjew (Allgemeine Charakteriſtik der rufflfchen Dichter); Alexander Beſtuſhew (Ueber⸗ 
ſicht der suffifchen Literatur); Nilolat Gretſch (Lehrbuch der rufitichen Literatur, St. 
Petersburg 1819—21, 4 Bde.); Oſtolopow (Lerifon der alten und neuen Poeſte, 
St. Petersburg 1821, 3 Bde); Polewoi (Umriffe der ruſſiſchen Literatur, St. Peters⸗ 
burg 1839, gr. 8., 466 und 510, 2 Bde.); Nikitenko (Borfludien zu einer Befchichte 
der Literatur, St. Petersburg 1845); Milfalow (Gefchichte der rufflfchen Poeſte, St. 
Petersburg 1847); Dudyſchkin (Ueber ruſſiſche Literatur, dal. 1850) u. 9. m. Eine 
ſehr wichtige literarhiftoriiche Monographie lieferte Wjaſemskij (Das Leben Wiſtn's, 
eine Schilderung der Literaturperiode unter Katharina I). Schäßbare Beiträge zur 
ruſſiſchen Literatur bot auch Der Metropolit Jewgenif dar, durch fein Lerifon der 
suffifchen Schriftfeller ſowphl geiftlichen als weltlichen Standes, Iepteres Beraudgegeben 
und vervollfländigt von Sfufagirem. Hierher ‚gehört auch dad Sſopikow'ſche Werk 
über ruſſtſche Bibliographie (St. Betersburg 1813 ff. in 6 Bänden). Deutiche 
Schrifiſteller über ruſſiſche Literatur find: Otto, „Lehrbuch der ruffifchen Literatur", 
Leipzig 1837; König, „Literarifche Bilder aus Rußland“, Stuttgart 1838; Jordan, 
„Geichichte der ruſſtſchen Literatur", Leipzig 1847; Boltz, „Ueber.die rufflfche Literatur“, 
Berlin. 1800, u. U. m. Anthologieen ruſſiſcher Schriftfteller in lesbarer Ueberfegung 
lieferten K. Fr. von. der Berg —— Erzeugniſſe der Ruſſen“, 2 Bde., Dorpat 
1820 und Riga und Dorpat 1823); K. von Knorring (, Ruſſiſche Bibliothet für 
beutfche Heberfegungen", Reval 1831 ff.); Dupre de St.⸗Mauris (für die Sranzofen); 
Bowring (für die Engländer) u. f. mw. 

Auysbroed (Ichann), chriſtlicher Myſtiker des vierzehnten Jahrhunderts. Er iſt 
im Jahre 1293 im Dorfe Ruyébroeck bet Brüſſel geboren, wurde feit feinem eilften 
Jahre in Iegterer Stadt unter den Augen eines Verwandten, welcher dafelbft Auguftinere 


 SGorherr war, für den geiftliden Stand audgebilpet und darauf Vicar an der Gudula⸗ 


Kirche zu Brüflel. Durch feine myſtiſchen Schriften kam er mit den Bleichgefinnten 
am RMhein, die wie er in der Bereinigung der Seele mit Gott die Mettung aus ber 
Aeußerlichkeit der Kirchenfagungen fahen, in Verbindung, befonderd mit Köln, aber 
auch mit den Geifleönerwanbten am Oberrhein. In feinem. fechszigften Jahre z0g er 
fih nad; dem Augufliner-Klofler Groenendael im Walde Soigny bei Brüffel zurüd, 
ward bafelbfi von den Brüdern zum Prior ernannt und flarb 1381. Er hat feine 
Schriften in der niederländifchen ‚Mundart gefchrieben, mie die im Ausgang des Mit⸗ 
telalters ſich ausbreitende Myſtik ich Überhaupt um die fchriftftellerifche Geltendmachung 
der Nationalfpradhen verdient gemacht Hat. Erſt in neuerer Seit hat A. v. Arno 
waldt (f. d. Art.) feine vier Hauptſchriften in niederländifcher Sprache herausge⸗ 
geben: „Bier Schriften von I. R., mit einer Vorrede von Ullmann” (Hannover 1848). 
Bis dahin waren. die Trastate R.'s nur in der lateinifchen Ueberfegung des Lorenz 
Surius (Rusbrochii Opera, Köln 1552, und 1609) zugänglih; auch G. Arnold 
hat feine deutſche Ueberfegung (Offenbach 1701) nad dieſer Iateinifchen Ueberſetzung 
berfertigt.. Iene vier Hauptichriften R.'s And: „Die Zierde der geiftlihen Hochzeit”, 
„Der Spiegel der Seligkeit*, „Bon dem funfelnden Stein" und „Samuel“. Seins 


650 Nuyter (Michel Abriaanzosn). Rylejew. 


Myſtik will den Geiſt zum Bewußtſein feiner Weſensheit mit Gott erziehen und dahin 
bringen, daß er, über Glauben, Hoffnung und alle Tugenden ſich erhebend, ſich in 
den Abgrund des göttlichen Weſens verſenkt; er will nicht Pantheiſt fein, vielmehr 
die Verſchiedenheit des geichaffenen Geiſtes und des ewigen fefthalten, kann ſedoch 
nicht umhin, die Srenzlinie zwifchen beiden zu hberjchreiten und ſich zur Darſtellung 
der Vereinigung des Menſchen mit Gott pantheiftifcher Formeln zu ‚bedienen. An 
diefen nahm auch Gerſon Anſtoß und ſprach fi darüber in einer Verhandlung mit 
Johann v. Schönhofen, einem Augufliner von Groenendael (1406 und 1408) tadelnd 
und bedauernd aus. Der Schüler R.'s, Gerhard Groot, war der Stifter der Brü⸗ 
dDerfhaftdes gemeinfamen Lebens (f. d. Art.). 

Nuhter (ſpr. Reuter, Michiel Adriaanzoon), berühmter hollandiſcher Seefahrer 
und Admiral, geb. 1607 zu Vlieſſingen in Seeland, ſollte nah dem Willen feines 
Vaterd daB Seilerhandwerk erlernen, nahm aber heimlich Schiffspienfte und ent⸗ 
widelte bier bald fein ihm angeborenes Talent für die Marine. Bon 1622 bis 1641 
machte er, erft als Matrofe, dann ald Steuermann und zulept als Gapitain, wieder. 
bolte große Seereifen nad Weftindien, Brafllien und Grönland, wobei er zu zehn 
verfchtenenen Malen das Atlantifhe Meer durchſchiffte. Dom Staube aufdienend, 
beachte er ed durch Eifer und Talente bis zur höchſten Stellung, welche die hollaͤndi⸗ 
ſche Blotte fannte, zu der eines Lieutenant-Admiral-Generalde. Ale 1641 Holland im 
Kriege Portugals mit Spanien Partei für das erfiermähnte Land nahm, erwarb ſich 
R. fon ald Contre- Admiral die erflen Kriegslorbeeren, indem er der Damals noch 
furhtbaren Seemacht Spaniens mit feiner Eleinen Hülfsflotte kühn entgegentrat. Im 
mehreren Kämpfen mit den afrifanifchen Haubflaaten bewährte er fpäter feinen Helden» 
muthb und fein Siegeöglüd noch mehr, und der Nome R. galt den Gorjaren bes 
Mittelmeeres lange Zeit ald Schreden. Nachdem er fi eine Zeit lang ganz vom 
Staatödienfte zurüdgezogen, übernahm er erſt im Jahre 1652 im Kriege Hollands 
mit England das Commando wieder, wo er ald Vice» Admiral unter Witt und 
Tromp (f. diefe) focht, dann nad Hergeftelltem Brieden auf's Neue gegen bie 
afrifanifhen Piraten kreuzte, mehrere türkifhe Schiffe ale Priſe nahm und die 
Brfangennahme des berüchtigten portugieſiſchen Seeräuber und Menegaten Armand 
de Dias bewirkte. Dom Könige von Dänemark, den er erfolgreich im Seekriege gegen 
Schweden unterflügt, ward er nebſt feiner Yamilie in den Adelfland erhoben. Als 
dann abermals der Krieg Hollands mit England ausbrady, wurde der Oberbefehl über 
die holländifche Flotte in R.'s Hände gelegt und er 1665 zum Lieutenant» Admiral 
befördert. Hier fchlug er, nachdem er den Briten fchon verfchiedene kleinere Berlufte 
zugefügt, 1666 ihre Flotte in drei glänzenden Seeſchlachten im Canal fo grünplid, 
Daß er direct in die Themfe einlanfen fonnte und 1667 Veranlaflung zu dem denk⸗ 
werthen Zrieden von Breda ward. ben fo nützlich erwies eh R. feinem Vater⸗ 
lande im dem britten Seekriege Hollands gegen die tombinirte engliſch⸗ franzöflfche 
Seemacht im Jahre 1673. Beim Sturze der dem Haufe Oranien feindlichen Fraction 
der Brüder de Witt fchonte die Parteiwuth R., wiewohl er jener Fraction zugebärte. 
Später zur Unterflügung der Spanier gegen die Branzofen von der hollandiſchen 
Republik nad Sichlien geſchickt, focht er auf's Neue mit Gluͤck, bis er 1676 in der 
Seeſchlacht bei Mongibello in der Nähe von Meſſtna durch einen Kanonenfhuß den 
Fuß verlor, in Folge deffen er am 29. April jenes Jahres zu Syracus am Wunde 
fieber ſtarb. Das dankbare Baterland ehrte dad Gedächtniß des Helden durch ein 
über feinem Grabe in der Neuen Kirche zu Amflerdam aufgebantes Denkmal und bie 
Neuzeit Hat ihm 1841 zu Blieffingen und 1856 zu Rotterdam zwei neue Denkfäulen 
errichtet. 

Ayleiew, geboren 1795 zu Petersburg, einer ber formgewandteften, Inhaltlich 
aber frivolften und indifferenteften Dichter Rußland, der von den gähbrenden, dem 
Mihilismus und Peſſimismus huldigenden Ideen feiner Zeit angeftedt, feine Zerfah⸗ 
renheit durch Gonfpirationdgelüfte tundgab, die ihn auf das Schaffot führten. Ein 
Freund Alerander Beſtuſhew's, der fpäter unter dem Pſeudonym Marlinskij dichtete, 
theilte er deſſen von Freiheitsrauſch fprudelnde Gedanfen und bielt es mit Jenem 
nad anderen GEsaltirien für feine Aufgabe, zu Ende 1825 daß feiner Meinung nach 


Ayswit. 6 


dem Verfall entgegengehende Vaterland zu befreien. Die Deeemberverfchwärung jenes 
Jahres, an der außer den Erwähnten noch der Fürſt Trubetzkoi, der Oberfilieutenant 
Murawjew⸗Apoſtol, der Oberft Peſtel, Kapowokij und Andere als Leiter partieipirten, 
hatte urfprünglich die Ermordung des Kaiſers Alerander bezweckt, richtete ſich aber, 
nachdem diefer am 1. Dec. 1825 zu Taganrog geflorben war, auf befien Nachfolger, 
ven KRaifer Nikolaus 1., der an feines Bruders Konftantin Stelle, weil dieſer Berzicht 
geleifet Hatte, den Thron Rußlands befliegen hatte. Nikolaus I. hatte jenem am 
26. December wirkliy zum Ausbruch gelangten Aufftande befanntermaßen mit ber 
feinem Weſen eigenen Energie die Stirn geboten, einen großen Theil der Infurgenten 
germalmt und die Haupträbelöführer in Haft genommen. Einige wurden ertlirt, unter 
ihnen Beftufhew, Andere gehentt, unter ihnen Rylejew. Als der Strid riß, der um 
feinen Hals geknüpft war, rief er noch: Fluch über den Kaifer, fein Volk if ſelbſt 
zum Hängen zu dumm! Das waren bie legten Worte des Sterbenden, denn ein 
neuer Strid führte ihn erfolgreich feinem Ziele entgegen. Daß ein folder Geift, der 
die Zerriſſenheit feine® Weſens ſelbſt bis an die Pforten der Emigkeit mit fig nahm, 
ber ihm gewordenen poetifchen Miffion nicht eben in zarter Welfe Rechnung tragen 
£onnte, war felbfiverfländlih. Brüh ſchon z0g er die Aufmerffamkeit feiner Lehrer 
und Freunde auf fi; mit Beſtuſhew gab er vereint den rufflich geichriebenen „Bolare 
ſtern“ beraus, den befien Muſenalmanach, den Rußland fe befrffen, wenn man über 
Der prächtig gebandhabten Form die inhaltliche Seite der Dichtung vergeffen will. 
Auch an defien „Ueberficht der rufflichen Literatur“ bat er einen nicht geringen Antheil, 
Da R. auch in. der Profa federgewandt war, was viele damals die Sauptiournale 
Nußlands füllenden Feuilletonartikel R.'s beweiſen. Nachdem er früh fchon den Militäre 


: fand quittirt, deſſen damalige Hohlheit ihn anmiderte, ward zugleich dad Militär bie 


Zielfcheibe feines Spottes, obgleich er gendtbigt war, fo zu fchreiben, daß man zwi⸗ 
ſchen den Zeilen lefen mußte. Es gab Died feinem profaifchen Styl etwas Gedräng⸗ 
tes, Taciteiſches. Auch feine Mufe legte oft eine Hülle um, und leidet Dadurch gele- 
gentlih an Dunkelheit und Unverftändlichkeit, wenigſtens für die in die Zeitverhältnifie 
und überhaupt in die Geſchichte Rußlands Uneingeweihten, daher denn R. für Deutfche 
total ungeniehbar If. Das Beſie, was er fchrieb, find ſeine „Hiflorifhen Hymnen“, 
worin die Großthaten der Vorfahren feines Volkes befungen werden. Binin, Bor» 
Sharsfif und Andere find feine Helden, und das Haus Romanow gilt ihm nur in 
fofern, als es ſelbſt einft dem Volke angehörte und durch Wahl der Nation zum 
Throne gelangte. Mersljakow (Borlefungen über Literatur, 4 Bde., neue Außgabe 
mit Zufäpen), Pletnew (Allgemeine Charakteriftif der ruſſiſchen Dichter) und beſon⸗ 
ders Polewoi (Umriffe der rufflfchen Literatur, 2 Dde., St. Petersb. 1859) haben 
Rußland in Betreff R.'s gezeigt, wohin die Ueberſchäthung des Genius einen Dichter 
führen müfle; die Neuzeit hat R. zum Ideal der Dichtung zu erheben verfucht, und 
hat fein Maͤrtyrerthum hoch gepriefen. Es courfiren in Rußland und im Auslande 
eine Menge Poefleen (Achte und unaͤchte) aus dem Nachlaß R.'s, Die Feines andern 
Geiftes find, als deſſen, den wir oben erwähnten und den wir felbfi im Angefichte 
diefer Neudichtungen nur als den der Blaſtrtheit und Hohlheit Tennzeichnen müffen. 
N. Hatte treffliche poetifche Anlagen, es ift um fo mehr zu beklagen, daß er biefelben 
nicht beffer und edler anzuwenden verfland. 

Ryswyk ift ein Dorf in ber nieberländifchen Provinz Süpholland, wo 1697 
der berühmte Friede zwifchen England ,’Sranfreih, Holland, Deutfchland und Spas 
nien abgefchloffen murde. Das Schloß des Prinzen von Dranien, in dem die Un⸗ 
tergeihnungen flatthatten, iſt verſchwunden, eine 70 Fuß Hohe Spigfäule, 1792 von 
dem Erbſtatthalter Wilhelm V. errichtet, bezeichnet jedoch noch die Stelle. Wie wich⸗ 
tig audy die Trennung des Herzogs von Savoyen von den gegen Frankreich Ver⸗ 
bündeten durch den Frieden zu Turin am 29. Auguft 1696 gewefen war, fo legten 
Die Anerkennung Wilhelm’s III., den Die Nevolution in England auf den Thron feis 
ned Schwiegernaterd erhoben hatte, und die Forderungen Oeſterreichs ber Beendigung 
des neunjährigen. Kampfe® und dem Frieden für Ludwig XIV. große Schwierige 
feiten in den Weg. Aber die Entwürfe Frankreichs auf die fpanifche Monarchie, 
Deren Borbereitung, nur im Brieben möglich, nicht länger aufgehoben werden burfte, 


652 Sa oder Sea (Emanuel). 


und das Mißtrauen unter den Berbündeten auf der anderen Seite beförderten ihn. 
Ein Gongreß, der fih in R. verfammelte, betrieb unter ſchwediſcher Vermittelung Die 
Unterdandlungen, und Ludwig XIV. erreichte um fo eher feine Zwecke, da es ihm 
gelang, neue Trennungen unter den Alltirten zu veranlafien. Der Congreß wurbe 
am 9. Mai genannten Jahres erdffnet, ein vorläufige Einverflänpnig mit den. Se» 
mädhten erzielt und nach Ablauf des dem Kaifer und Meich gefehten Termins der 
Friede mit ihnen und Spanien am 20. September unterzeichnet, worauf auch ber 
Kaifer und das Reich fih bald dazu entichließen mußten (30. October). Branfreich 
erfannte in Bezug auf England Wilhelm TI. an, und Beide gaben die wechfelfeitigen 
Eroberungen heraus; in Bezug auf Holland wurde eine wechſelſeitige Reſtitution be» 
fiimmt und ein Handelstractat geichloffen; an Spanien alle Eroberungen und He 
unionen in Gatalonit und den Niederlanden bis auf einige Ortfchaften als Grenz⸗ 
berichtigung zurüdgegeben, und in Hinſicht Deutfchlands behielt Frankreich alles 
Meunirte in Elſaß, auch Straßburg, Alles außer dem Elſaß Heunirte wurde zurück⸗ 
gegeben (doch nach eingefchobener Clauſel feſtgeſetzt, daß die katholiſche Religion in 
statu quo zu bleiben babe), und beſtimmt, daß bie pfaͤlziſche Erbſchaftoſache durch 
Schiedsrichter außgemadht, fo wie daß der Herzog von Kothringen in allen feinen 
Landen reftituirt werden follte. Wenn nun glei durdy den langwierigen Krieg, der 
durch dieſen Frieden beendigt wurde, der Wunf der Berbündeten, Zurüdführung 
der Dinge auf dem Nijmweger, oder wo möglich felb auf den mweflfäliichen und den 
pyrenäifchen Brieden, keineswegs völlig erfüllt wurde, fo ward doc die Hauptſache 
erreicht: die wechfelfeitige Freiheit und Unabhängigkeit der "Staaten war behauptet 
und geſichert. Drei Kriege zu diefem Zwei geführt und durch drei foldhe Frie⸗ 
densfchläffe geendigt, hatten die Wichtigkeit ber Erhaltung des politifchen Gleichge⸗ 
wichtd zu fühlbar gemacht, ald daß fie in der praftifchen Politik fich Leicht Hätte ver⸗ 
lieren können. Eben damit fland ald Folge dieſes Krieges in enger Verbindung bie 
Beflimmung der britifhen Gontinentalpolttif in ihren Hauptformen. Sie 
ging hervor aus der Rivalität mit Frankreich und murde vorbereitet Durch die Han⸗ 
delseiferfucht unter den Volkern, durch Wilhelm II. dauernd gegründet. Zu ſchwach, 
um als Landmacht Frankreich gegenüber zu ſtehen, ſchloß fih England an die zweite 
Landmacht des Gontinents, an Defterreich, an, und fo lange aud noch Habébur⸗ 
ger in Spanien berrfchten, natürli zugleich an dieſes. Die enge Verbindung mit 
den Niederlanden war eine Folge der Thronbefleigung Wilhelm’s IN.; In Italten 
lernte man fon ſetzt die Wichtigkeit des Herzogs von Savoyen fihäken, und in 
Deutſchland konnte es nicht leicht an einzelnen Verbündeten fehlen. 


S. 


Sa oder Saa (Emanuel), vortugieſiſcher Theologe und Jeſuit des 16. Jahr⸗ 
hunderts. Er iſt 1530 in Billa de Condé in Portugal geboren, ſtudirte zu Coimbra 
und zwar mit ſolchem Erfolg, daß ihn Klefeker (in feiner Bibl. erud. praec.) unter 
den frühreifen Gelehrten aufzählt. Funfzehn Jahre alt, bekannte ex fih zur Regel 
des Ignatius und begab fih, nachdem er in Goimbra die Philofophie gelehrt Hatte, 
nad; Gondia, mo ber Herzog von Borgia das erfle Collegium der Iefulten gegründet 
hatte. Bon bier folgte er einem Auf feines Ordens nad Italien und ward einer 
der Brofefioren am Collegium Romanım zu Rom. Papſt Pius V. überteug Ihm 
die vom Goneil von Trient angeorbnete Reriſion der Bulgata; doch zogen ihn feine 
anderen Beichäftigungen von biefer Arbeit ab, fo daß jene Reviſion erfl unter Girtus V. 
zum Abſchluß Fam. Gr war dfters auf Mifflonen, 3. B. zehn Jahre lang in Obere 


777 653 


italien, fpäter in Loretto.und in Genun; zulegt zog er fi in dad Profeßhaus zu 
Arona, in der Didcefe Mailand, zurüd, wo er mehrere Jahre in Bußübungen zus 
brachte und den 30. Dechr. 1596 flarb. Neben feinen exegetiſchen Schriften Haben 
ihm in der katholiſchen Kirche beſonders jeine Aphorismi confessariorum ex doctorum 
sententiis (Douai 1627), ein Sammelwerf, dem er eine, Arbeit von vierzig Jahren 
gewidmet bat, einen Namen gemacht. 

Saadi, mit dem Beinamen Moslih⸗eddin, perfifcher Dichter, um das Jahr 
1164 n. Chr. zu Schiras von armen Eltern geboren. Er foll nad der Angabe 
eined fpäteren perſiſchen Biographen, deſſen fommetrifche Eintheilung feined Leben 
freilich nicht allzu genan zu nehmen iſt, breißtg Jahre fludirt, dreißig Jahre auf 
Reifen verwandt und fodann dreißig Jahre der Andacht in feiner Heimath gewidmet 
und fomit drei Menfchenalter ale Schüler, als thätiger Mann und in Gontemplation 
zugebracht Haben, ehe er im vierten BMenfchenalter die Schäße feines Gemüths und 
feiner Erfahrungen in feinen Werken der Welt mittheilte. Zur Zeit feiner Geburt 
herrſchte Die Familie der Atabege über Berfien; fein Vater diente Saad L, dem zu 
Ehren er auch Saadi genannt fein foll, und die Huld diefer Serrfcherfamilie begleis 
tete ihn durch fein Xeben. Er flubdirte zu Bagbad, widmete fih darauf der myſtiſchen 
Speculation des Sufismus und durchwanderte als abenteuernder und contemplativer 
Derwifch die Länder zwifchen der Berberei und Indien. Vierzehnmal ſoll er bie 
Wallfahrt nach Mekka, meift zu Fuüß, gemacht Haben. Schäge an Bold und Silber 
“beachte er von feinen Reifen nicht heim, aber wohl Erfahrungen und Kenntniffe, bie 
ihm ein geehrtes und freundliches Alter in Schiras, die Bun des Sultans von 
Derfien, Abu⸗Bekr, und die Berehrung feiner Zeitgenoffen verfchafften. Er farb im 
Sabre 1263. Sein Biograph Dauletfchah befuchte In der Witte des 15. Jahrhunderts 
fein Grabmal in der Nähe von Schiras; es Tag in einem Barten, in welchem fi 
ein Armenhaus befand. Ismail Schab, der Perfien von 1760—1775 beherrfähte, ließ 
über feinem Grabe ein Gebäude aufrichten, in dem ein Derwiſch wohnte und ein 
Exemplar der Werke S.'s aufbewahrt wurde; das Erdbeben vom 25. Juni 1824 
ftürzte feboch das Grabmal in Trümmer... Die Perfer nannten S.'s Werke „das 
Salzfaß der Dichter”, und fie verdienen diefen Namen wegen des Witzes, der feinen 
Bildern und Analogieen eigen tft, wegen der Feinheit feiner Bemerkungen und bed 


Meichthums an moralifchen Bemerkungen. Er predigt das Glück und die Lebens⸗ 


Flugheit der Weltentfagung und die Freiheit der Weltverachtung, empflehlt aber auch 
Uebung der Barmperzigfeit, Teilnahme für die Verirrten, und will den Weltgenuß 
nicht immer und vollfändig verwerfen, wenn er nur mit Mäßigkeit verbunden if. 
Die Werke, die feinen Namen in der Gefchichte der Literatur erhalten werden, find 
der „Guliſtan“, ober der „Mofengarten*, in welchem Proſa und Poeſie mit einander 
abwechſeln, und der durchgängig in Berfen abgefaßte „Boftan” oder „Luſtgarten“. 
Die erfte europälfche Ausgabe des „Buliften* gab Gentius zu Amflerdam (1651) 
mit einer lateinifchen Ueberfegung und mit Noten. Einen feanzdflihen Auszug ver⸗ 
Öffentlichte Andr6 du Ryer 1634 zu Paris unter dem Titel: Gulistan ou l’Empire 
des roses, composé par Sadi, welche Bearbeitung Johann Friedrich Offenbach mit 
einer Vorrede des 1635 verftorbenen Schidard in deutſcher Ueberfegung veröffente 
lichte. Die erſte originale deutſche Bearbeitung gab 1654 Adam Dleariud heraus, 
den 1633 der Herzog Friedrich von Holflein-Bottorp mit Philipp Cruſtus und Otto 
Brügmann und einem anfehnlidhen Gefalge an den Zar von Modfau und an den 
Schah von Perſten abgefandt hatte; eine zweite Ausgabe diefer Ueberſetzung erſchien 
1660 zu Schleswig. Wine fpätere deutfche Ueberfepung des „Bultftan* gab Graf 
(Leipzig 1846), wie auch des „Boſtan“ (Iena 1850); die neuefte Ueberfegung des 

„Guliſtan“ Hat G. H. 8. Reſſelmann (Berlin 1864) veroͤffentlicht. Der Originaltert 
Des „Buliftan* ift öfter in Galcutta, Cawnpore, London, Konftantinopel erfchienen; 
die beſte Eritifche Ausgabe verdffentlichte Sprenger 1851 zu Galcutta; eben dajelbft 
find auch mehrere Ausgaben des „Boflan” erfchienen. Kin kleines moraliiches 
Gedicht S.'s, „Pend⸗nameh“, erſchien 1788 in englifcher Weberfegung zu Cal⸗ 
cutta, eine Geſammtauſsgabe der Werke S.'s im Urtert ebendafelbft in 'zwei Bänden 





— — — — — — — — 


654 : Sandie-Baon (Ben Joſeph). Saale. 


Saadia⸗Gaon Ben Joſeph, namhafter Rabbine, geb. 892 zu Fayum im 
Aegypten. Der Beiname Gaon ift der Ehrentitel, der Damals den Oberhäuptern der 
jüdifchen Akademieen beigelegt wurde und mit der Akademie von Babylon gegen Ende 
des 11. Jahrhunderts erlofh. 927 war der Muf von S.'s Gelehrſamkeit fo groß, 
daß ihn David Ben Baccai, der damalige Naſt, d. h. Fürft der jüdifchen Nation, an 
die Spite der Akademie von Sura bei Babylon berief. Nach zwei Jahren ſchon aber Grab 
zwifchen beiden ein Zwiſt aus, der ©. zur Blut zwang, morauf er ſieben Jahre 
lang in der Verborgenheit lebte, in welcher er die meiften feiner Werke fchrieb. Er 
verjöhnte fich zwar wieder mit dem Naſi, farb aber bereitd 942. Don feinen Wer⸗ 
Ten find hervorzuheben: eine arabifche Ueberfegung des A. T., von welcher der Pen⸗ 
tateuch 1546 zu Konflantinopel erfchien und darauf in bie Parifer und Londoner 
Polyglotten aufgenommen wurde. Die Ueberfegung des Jeſaias gab fpäter Baulus 
beraus (Jena 1790 — 1791. 2 Bde.). Berner Sepher Emunoth, d. 5. Buch der 
Blaubendwahrheiten, arabiſch um das Sahr 933 gefchrieben, ſodann von Juda ben 
Saul aben Tibbon 1186 ind Hebräifche überfegt und 1562 zu Konftantinopel, 1628 
in Amſterdam gedrudt. Dies Buch ift eins. der heftigften, die gegen das Chriſtenthum 
geichrieben find; der achte der zehn Abfchnitte, in die es zerfällt, Sepher appedud 
veappurkan (Buch der Erldfung und Befreiung) iſt 1556 zu Mantua und 1658 zu 
Amſterdam befonderd herausgefomnen. Außerdem ift nach der Tractat gegen bie 
Karaiten erwähnendwerth; einer der Lehrer S.'s gehörte felbit zu dieſer Secte und 
derjelbe, Salomon ben Jerucham antwortete fehr Lebhaft auf. dieſe Schrift feins® 
Schülers, der von ihm Gelehrſamkeit gewonnen Hatte, ohne fich zu feinen Lehrmeinun- 
gen befehren zu laſſen. Endlich bat fih S. noch dur Schriften zur hebraͤiſchen 
®rammatif, zur Chronologie und über die Kabbala einen Namen gemacht. 

Saale heißen drei Flüſſe Deutfchlands, von denen die fächfifche ober thü⸗ 
ringiſche ©., ein linker Nebenfluß der Elbe, 2152 Fuß hoch am Weſtabhange bes 
großen Waldſtein auf dem Zichtelgebirge im bayriſchen Kreife Oberfranken entipringt, 
durch die Fürſtenthüͤmer Neuß, Schwarzburg⸗Rudolſtadt, die Herzogthümer Meiningen, 
Altenburg, Das Großherzogthum Weimar, die preußiſche Provinz Sachſen, Bernburg 
und Kötben geht und nad einem 46 Meilen langen Lauf unterhalb Barby in zwei 
Armen mündet. Ihre Nebenfläffe find: Zamig, Regnitz, Selbitz, Lemnitz, Wiefenthal, 
Loquitz, Schwarza, Orla, Roda, Ilm, Unſtrut, Wetha, Zeiſel, Skopau, Elſter, Luppa, 
Wipper, Bode und Fuhne; ſie iſt von Natur bei Halle, durch Kunſt ſchon bei Naum⸗ 
burg ſchiffbar, Hat an ihren Ufern viele Salzwerke (Sulza, Kdien, Dürrenberg, Halle) 
und iſt ziemlich flichreich; ihr Blußgebiet wird zu 393 Q.⸗M. angegeben. Bis über 
Naumburg Hinaus durchfließt die S. ein enges, größtentheils tiefes Thal, das aber 
von Weißenfeld an weiter und reich an reizenden Punkten wird. Die wichtigſten 
Städte an ihr find: Hof, Rudolſtadt, Iena, Naumburg, Weißenfeld, Merfeburg, Halle 
und Bernburg. Bon den beiden anderen ©. entipringt die frankfifche, ein rechter 
Nebenfluß ded Main, aud dem Saalbrunnen auf der bayerifchen und meiningifhen 
Grenze bei Sta. Urfula, geht Durch den bayerifchen Kreis Unterfranken, nimmt rechts 
die Milz, Streu, Brenn, Sinn, links die Lauer auf und mündet bei Gemünden, waͤh⸗ 
send die falzburgifche, ein linker Nebenfluß der Salzach, auf der Grenze Tyrols 
ihre Quelle bat, durch das dflerreichiiche Herzogthum Salzburg geht und unter- 
bald Salzburg mündet Was nun den Namen S. anbftrifft, fo meint B. Jacobi: 
„Die mit Saale und ähnlich benannten Gewäſſer bedeuten nur Begrenzung ober 
Quell an ſich. Bei Bach⸗ und‘ Flußnamen kann man dabei auch Sırgela, jenen fich 
in Schnella verwandelnden böhmifchen Bachnamen denken. Denn auch fehroffe Berge 
abhänge, wie 3. B. der Sohlsberg bei Tüfchau im Lüneburgifchen werden fo befchrie- 
ben. In Medienburg mwimmelt es von Fleinen Pfuhlen und ſtehenden Aderfeen, weiche 
als Sahl, Sal, Sol in den Karten bezeichnet find. Ein ſolches Sal if auch ber 
Kanonenteich im Johannisthal zu Leipzig. In ſolchen Faͤllen ifk die Bedeutung Um⸗ 
fhliefung und entipridt flamifh selo, Darf. Die alten fränlifhen Sal» oder 
Haupthoͤfe prüfen in Sul eine politifche Nebenbebeutung aus. Der Name „faliiche 
Franken“ muß auf das flußreiche, Heutige Niederrhein, Belgien und Holland begogen 
werden." 


Saalfeld. (Schlacht Hei). 655 


Saalfeld, Stadt von 5000 Einwohnern an der mittleren Saale, etwa 5 Viertel⸗ 
meilen ſuͤdlich von Rudolſtadt gelegen, war feit 1681 die Hauptfladt des von Herzog 
Ernſt, dem Sohne Ernſt des Frommen, geflifteten Fürſtenthums Sachen » Saalfeld, 
welches 8 Duadratmeilen umfaßte. 1735 fiel das Fürftentyum Koburg an die Saal« 
felder Linie, und nach dem Erloͤſchen der Sachſen⸗Gothaiſchen Speeiallinie und ber in 
Bolge deflen eintretenden Lanbestheilung fam Saalfeld im Jahre 1826 an Sachſen⸗ 
Meiningen- Hildburghaufen. Die Stadt hat ein Gymnaſium, eine Mealichule und mehr⸗ 
fache induftrielle Etabliffements, Tuch» und Lederfabrifen und auch bergmännifchen 
Betrieb, Schwelzhütten, Alaunmerke, Potafchenflederei und dergleichen. In der Kriegd- 
geſchichte ift Saalfeld befannt durch das unglückliche Gefecht, welches die aus preußi⸗ 
ſchen und fächſiſchen Truppen beſtehende Avantgarde des Hohenlohe'ſchen Corpo dem 
Marſchall Lannes am 10. October 1806 lieferte und bei welchem ihr Führer, der 
Prinz Lonis Ferdinand (f. d. Art.) von Preußen, den Heldentod ſtarb. Napoleon 
hatte bei Ausbruch der Zeindfeligkeiten den Entſchluß gefaßt, in drei Colonnen von je 
zwei Corps reſp. über Koburg — NAugerau und Lanned, — über Saalburg — Ber» 
nabotte und Davouft — und über Hof — Ney und Soult — In Sachen einzu» 
dsingen, alfo feine Gegner in der linken Flanke zu umgehen und fle nach Bereinigung 
feiner Golonnen durch feine Ueberlegenheit zu ſchlagen. Alles kam ihm nur darauf 
an, daß diefe Colonnen nicht einzeln von der verfammelten Macht ded Feindes ans 
gegriffen wurden, bevor fie ſich vereinigt oder wenigftend die ſchwierigen Saal⸗ 
deflleen überfchritten hatten. Preußiſcherſeits war man bei den unglüdlichen Berhälts 
nifien, die dadurch ohmalteten, daß man zwei von einander getrennte Armeen unter 
dem Mefehl des Herzogs von Braunfshweig — welcher allerdings dem Namen nad) 
den Oberbefehl führte — und des Bürften Hohenlohe gebildet Hatte, vom Horn herein 
zu Teinem Entſchluſſe gefommen. Der urfprüngliche Blan, in drei Golonnen über den 
Thüringer Wald zu gehen und die Offenfive zu ergreifen, wurde aufgegeben, ald Na⸗ 
poleon's Plan, die Armee links zu umgeben und fle von der Elbe abzujchneiden, ſich 
zu entfchleiern begann, und man beabfichtigte am 10., die Armee Gantonnementö zwi⸗ 
chen Kranichfeld, Polkeroda, Blankenhayn und Magdala beziehen zu lafien. Der Fuürſt 
Hehenlohe indeß, der in Dem Linksabmarſch der Armee auf das rechte Ufer der Saale, 
um ſich den Franzoſen vorzulegen, die einzige Rettung fab, befchloß, am 10. in bie 
Stellung von Böllnig bei Triptis zu rüden, um dadurch die Hauptarmee gewiflere 
maßen wider Willen mit fich fortzuziehen. Als er Died dem Herzoge meldete, befahl ' 
ihm dieſer jedoch, auf dem linken Ufer zwiſchen Kabla und DOrlamünde den Anmarſch 
der Hauptarmee erfl zu erwarten. Durch dieſes Zieben nach verfchiedenen Richtungen 
ging” audy der Iepte Reſt von Energie verloren. Allerdings wollte der Herzog dem 
Bürften entgegengehen; über das Wie? konnte er ſich aber nicht Elar werden, und fe 
fam es, daß noch am ten, während Napoleon bereitö den linfen Flügel umging und 
den General Tauengien bei Schleiz mit Verluſt zurückwarf, die preußifchen Corps noch 
auf 18 Meilen zerfplittert flanden. — Prinz Louis Ferdinand, Gommandeur ber 
Avantgarde Hohenlohe's, welche in 6 ſaͤchſiſchen, 41/, preußifchen Bataillons, 5 ſaͤchſi⸗ 
ſchen, 10 preußifchen Escadrons, 1 fächflihen und 2 preuß. Batterien 8300 M. zählte, 
batte dieſe zwifchen Stadt Ilm und Rudolſtadt ſtehen, die Defileen der Saale und 
Schwarza bei Saalfeld und Blanfenburg befegt und Poſten ſüdlich bis Gräfenthal 
und Hohen⸗CEiche auf der Koburger Straße vorgeichoben. Am 9. früh erbielt er vom 
Fürſten Hohenlohe den Befehl, feine Truppen bei Rudolſtadt zu fammeln, diefen Ort 
und Blankenburg bis zur Ankunft der Avantgarde zu halten und demnächft nad 
Poͤsſsneck und Rahnis abzuziehen, um mit dem General Tauentzien die Avantgarde der 
bet Mittel-Bölinig fi fammelnden Armee zu bilden. Im Laufe des 9. erhielt bie 
Avantgarde folgende Auffellung: die beiden preufifchen Füfllier-Bataillone Nühle und 
Nabenau, eine halbe reitende Qatterie Ganſe und 5 Eöcadrond Huſaren in Saalfeld; 
eben dahin zog ſich die vor ber Avantgarde von Lannes zurückweichende Jäger⸗Com⸗ 
pagnie zurüd und bivouaquirte, von der Füfllier» Compagnie Gneifenau unterftügt, 
auf dem Lerchenhügel ſüdlich der Stadt, dad Defllee von Garnsdorf beobachtend, durch 
welches die Koburger Straße führte; in Blankenburg fland General Pelet mit 4 Fü⸗ 
filter und 1 bis Unter Wirbach vorgeſchobenen Jaͤger⸗Compagnie, die andere halbe 


d 


656 Saalfeld. (Schlacht bei). 


seitendbe Batterie Ganſe's und 3 Escadrons fächflfche Huſaren; Die preüßiſche Batterie 
Niemann in Schwarza, dad Gros der Avantgarde, die fächflfche Brigade Verilaqua 
(6 Bataillone, 1 Batterie) in Rudolſtadt, das preußifche Regiment Mäffling in Remda, 
5 Escadrons fächftihe Hufaren in Preilig und Culmbach. — Napoleon feinerfeits 
legte großes Gewicht auf den Bells von Saalfeld, weil er erfi dadurch mit feiner linken 
Blügelcolonne in birecte Verbindung kam. Auf die Meldung von Lannes vom 9.. 
Abends, Daß dieſer bis Bräfenthal vorgerüdt und die feindlichen Vortruppen zurück⸗ 
gedrängt habe, befahl er ihm, falls die ganze Armee dort concentrirt fei, nichts vor der 
Ankunft Augerau's zu wagen, fondern vorläufig bei Gräfenthal Stellung zu nehmen, 
falls ihm aber nur 15—20,000 Wann entgegenfländen, diefe anzugreifen. — Prinz 
Louis hatte am 9. die Meldung erhalten, daß ein feinbliches Corpo von 20,000 Rann 
auf der Koburger Straße vordringe und vorausfichtlih am folgenden Tage Saalfeld 
angreifen werde; er hielt dies indeß nur für eine Demonflration, da er annahm, daß 
der Feind ernſthaft nur in der linken Flanke der Armee über Schleiz vorbringen würde; 
vor einer ſolchen Demonftration aber Saalfeld nicht zu räumen, erfchien ihm 
um fo wichtiger, da Fein anderer brauchbarer Weg von Rudolſtadt nach Bösned führte, 
als der auf dem linfen Ufer über Saalfeld; fo daß, wurde. diefer Punkt vom Keinde 
genonmen, er von dem Gros des Corps abgefchnitten, und biefes, auf ſchlechten Ge⸗ 
birgöwegen marfchirend, von dem auf Neuftadt marfchirenden Feinde in der Flanke 
bedroht werden mußte. Außerdem lag ihm daran, das in Saalfeld befindliche bedeu⸗ 
tende Magazin zu.retten. Er beichloß daher, Saalfeld kraͤftig zu vertheidigen und mit 
dem Gros der Mvantgarde am 10. früh dorthin zu rüden. Das Terrain um Gaal- 
feld Eannte er gar nicht, und wußte nur, daß bei Diefem Ort das Debouche der Kobur⸗ 
ger Straße aus dem Gebirge liege und das GSaalthal dort fi mehr erweitere, als 
unterwärte. Der Umftand, daß der auf dem hoben Linken Thalrande ankommende 
Beind alle feine Bewegungen im Thal überfah, ſich felbf aber überhöhend und überall 
. bin völlig gedeckt bewegen fonnte, bis zu dem Punkt, wo er auftreten wollte, war 
ihm unbekannt. Abgeſehen davon war die Wahl feiner Aufftellung vor dem Defilee, 
die wirkliche Stadt und die Saale unmittelbar im Rüden für ihn um fo bebenklicher, 
als er nicht nur den Uebergang bei Saalfeld ſelbſt vertheidigen, fondern aud ben 
Nüdzug auf Rudolſtadt fich offen halten wollte, alfo in der Lage mar, mit 8300 
Mann die an Ausdehnung faft eine Meile betragende Terrainftrede von ©. bis 
Blankenburg zu befegen. Am 10. mit Tagesanbruch war der Oberſt Rabenau mit 
den in ©. flehenden Truppen ausgerückt und hatte fi auf den der Stabt ſüdweſtlich 
vorgelegenen Lerchenhügel aufgeftellt, die Artillerie, auch die Batterie Riemann, die 
aus Schwarza herangefommenen, war auf einer fanften Anhöhe vorgefhoben. Einige 
Zirailleurd der Franzoſen, welche am Debouch bei Garnsdorf erfchienen, wurden 
zurücdgeworfen und ein Gefangener fagte aus, daß Lannes mit 30,000 Mann zum 
Angriff vormarfchire, aud ein oberhalb Garnsdorf nördlich, alfo auf Blanken⸗ 
burg reſp. Rudolſtadt führender Gebirgsweg recognoseirt fe. Die um 7 Uhr 
von Rudolſtadt aufgebrochene Brigade Berilaqua traf um 9 Uhr zwifchen Wols⸗ 
dorf und Grabe noͤrdlich von ©. ein und wurde dort, die Saale unmittele 
bar im Nüden, aufgeftellt. Das fpäter eintreffende Regiment Müffling in zwei« 
ter, die ſächſiſchen Hufaren in dritter Linie; fpäter wurden von dort 2 fächfliche 
Bataillone und die Hufaren zur Unterflügung der bei Saalfeld ſtehenden Truppen ab⸗ 
gelandet. In diefer recht unvortheilhaften Bofltion mollte der Prinz den Feind erwar« 
ten, da derfelbe vor feiner Front aus den Gebirge debouchiren mußte; und es ſchien 
ihm möglich, den bloßen Schein« vom ernften Angriff zu unterfcheiden und den Feind 
fo lange aufzuhalten, bis der Fürſt Hohenlohe, den er fälſchlich im Marich nach Bölle 
nig wähnte, die Saale überfehritten haben würde und nicht mehr durch den Aber 
Saalfeld vordringenden Feind geflört werden könne. Von dem unglädlichen Gefechte 
des Generals Tauengien bei Schleiz wußte der Brinz nichts. Inzwifchen hatte Lannes, 
der in 3 Colonnen von Gräfenthal vorgegangen war, die Stellung bed Gegners 
und das Terrain recognodcirt, das er der franzöſtſchen Fechtart fehr günflig fand; 
feine Truppen hatten eine das ganze Saalthal von Saalfeld His Schwarza überhöhende 
Stellung, während die Ebene felbf durch eine Mehge Elsiner bebufchter Thalrinnen, 


Saalfeld (Schlacht bei). 657 


Die zur Saale ziehn, durchſchnitten war. Sehr richtig beſchloß er, den Feind in ber 
Front durch die Avantgarde zu beichäftigen, fo lange, bi8 Die Umgehung des rechten 
Flügeld gegen Schwarza hin mit den Hauptkraͤften in Wirkſamkeit treten koönne. 
Bergen 10 Uhr fielen die erften Schäffe, der Feind dffnete fih daB Debouchoͤ 
von Garnsdorf und marſchirte am Buße des Lerchen» Hügeld in geſchloſſenen 
Trupps auf; die preußifhe Artillerie feuerte mit Erfolg; allmählich zeigte «8 
fh aber, daß das, was man vor ſich Habe, nur die Blanfendedung der Hauptmacht 
bed Beindes jet, deſſen Golonnen man zumellen auf dem Marſch nad Norden bin auf 
dem Kamm des Gebirges erblicte, und der erfichtlih fein Augenmerk auf die rechte 
Flanke des Bertheidigers gerichtet hatte. Um 11 Uhr kehrte ein vom Bringen zum 
Bürflen gefondter fächflfcher Offizier mit dem Befehl zurüd, In der am 9. gehabten 
Stellung zu verbleiben — alfo nicht über die Saale zu geben und nicht anzugrete 
fen; Dagegen brachte er weber eine Mittheilung, dab bes Fürſten Uebergang über bie 
Saale nicht flatifinden würde, noch von dem Eder, den Tauengien erlitten. So 
mußte für den Prinzen im Hinblid auf die am 9. vom Fürflen erhaltenen Nachrichten 
©. Immer eine große Wichtigkeit behalten. Man flellte ihm vor, daß bei der offen» 
baren Ueberlegenheit des Gegners es nicht rathſam fet, in diefem Terrain das Gefecht 
fortzufegen, falld man nicht auf anfehnliche Verflärkung rechnen koͤnne. Der Prinz 
antwortete nicht, fondern eilte nach dem rechten’ Flügel, um das dortige Terrain zu 
recognodciren; inzmwifchen wurde aber das Detadyement bei S., von bem fich immer 
verflärkenden Feinde hart gedrängt, durch überlegene Artillerie beicheflen und endlich 
gezwungen, ben Lerchenbügel zu verlaffen, auf dem fich fofort eine feindliche Batterie 
etabliste. Da der Feind auch in der Richtung nach dem Schwarzathal immer mehr 
Tertain gewann, erkannte der Prinz die Nothwendigkeit des Ruckzuges nad Rudol⸗ 
ſtadt; er wollte indeß noch einen Verſuch machen, durch einen Vorſtoß des Meftes der 
Brigade Berilaqua gegen die Höhen den Feind zum Stugen und Aufhalten zu bes 
wegen, während er ein Bataillon des Megiments Müffling nach der Brüde von Schwarza 
zus Sicherung des dortigen Deſtlö's entfandte, und das andere Bataillon mit der 
ſächſiſchen Apflındigen Batterie den nörblidy ded Dorfes Aue gelegenen Sandberg, das 
ſächſtſche Regiment Elemend das Dorf felbft und die zwifchen diefem und Gröften ge- 
legene bufchige Höhe, die obere Hayn genannt, befegte, um einerfeltä den Rückzug 
nah Schwarza zu begünfligen, andererfeitd den Stüßpunft des rechten Flügels für ben 
vorbabenden Schein- Angriff zu gewinnen. Der Feind, der von der Höhe Alles über- 
ſah, erfannte dieſen bald als folchen, fette den 3%, ſchwachen Bataillons, welche in 
Echellons vorrädten, und den Truppen bei Aue nur die Brigade Glaparede, 6 Ba- 
taillons, entgegen, während die Brigade Wedel ihren Linksabmarſch ruhig fortſetzte. 
So ging ber letzte Moment, in welchem ein georbneter Rückzug hätte angetreten wer⸗ 
den können, vorüber. Die zum Angriff beflimmten fächflfchen Bataillone geriethen bald 
in ein fo beftiges Enfilirfeuer, daß fle zurüdgenommen werben mußten; einen Moment 
entſtand Unordnung, indeß fammelten fi die Truppen bald wieder und warfen ben 
in‘ Gröften eingenrungenen Feind mit dem Bafonett heraus. Es trat nun eine Pauſe 
im Gefecht ein und der Prinz befahl, daß die Brigade Bevilaqua und das Bataillon 
Müffling eine neue Stellung, mit dem Tinten Flügel an Aue, dem rechten an 
ver Saale, nehmen, und die von ©. wieder herangezogene Gavallerie dieſe 
Bewegung in der Ebene deden follte; er felbft wandte fi nad der Stadt, in 
welche inzwifchen die Truppen des linken Flügels in ziemlicher Verwirrung hineinges 
drängt worden waren. Mit großer Kaltblütigkeit flellte er auch dort Die Ordnung 
wieder ber und ließ die beiden Küfllier-Bataillone und eine Escadron nah Wolsdorf 
abmarfchiren, um fi dort als Soutien der Arriere » Barbe — 2 Jäger- und eine 
Büftlier - Compagnie — aufzuftellen. Der Feind verfolgte anfangs lebhaft von der 
Stadt Her, wurde aber von den Jägern und Füfllieren In Mefpeet gehalten. - Indeß 
war, nachdem die Brigade Wedel ihre Umgehung vollendet und Unter⸗Woibach änge- 
griffen Hatte, auch die Brigade Claparoͤde ernſthaft vorgegangen; ihre Tirailleurs nah⸗ 
men Gröften; die Befagung — Negiment Kurfürft — wurde nah Wälsdorf zurüde 
geworfen, und als bie danebenſtehenden beiden Bataillone des Regiments Xaver dies 
faben, folgten fie und warfen fich ebenfalls in die dortigen Gaͤrten. Gleichzeitig mit 
1) agener, Staats» u. Geſellſch⸗Lex. XVIL 42 


658 | Saalfeld (Schlacht, bei). 


der franzoͤſiſchen Infanterie war das 9. und 10. Hufaren-Megiment aus den Gründen 
des Keſſel⸗ und Siegen⸗Baches in Eolonnen debouchirt, entwidelte ſich In zwei Treffen 
und ging zum Angriff gegen die preußifch - fächfliche Eavallerie vor, welche der Ger 
neral Irhgfchler eben in zwei Treffen Binter dem Wege von Grabe nad, Woͤlsdorf 
aufgeftellt hatte. Der Befehl des Prinzen an zwei reitende Geſchütze, den aufmarfchi« 
renden Beind zu befchießen, ward nicht befolgt; dagegen erhielt das erfle franzöfliche 
Treffen Beuer von zwei Gompagnieen und fehrte in Unordnung um. Sofort warf 
fh der Prinz an der Spige von fünf ſächſiſchen Schwabronen auf die Weichenden, 
wurde aber durch eine geſchickte Bewegung bed zweiten franzöflfchen Treffens in beide 
Slanfen genommen und geworfen; die. fünf preußifchen Edcadrons eilten herbei, kamen 
aber zu fpät, um dad Gefecht zu wenden, und wurden mit fortgeriffen. Vergeblich 
bemühte der Prinz fih, die Fliehenden aufzuhalten. Alles befand fi in wildem 
Durcheinander; die im Marſch begriffene Artillerie gerieth hinein, warf die Geſchütze 
in den Hohlwegen um und vermehrte die Verwirrung. Der Prinz mußte nun die 
Hoffnung aufgeben, das Schickſal des Taged zu wenden, und auf feine eigene Rettung 
bedacht fein. Unglüdlicher Weife blieb fein treffliches englifche® Pferd beim Ueber⸗ 
fepen eines Gartenzauns mit einem Hinterfuße hängen; ber Prinz erhlelt von einem 
Unteroffizier des 10. Hufaren-Megiments einen tiefen Hieb in den Hinterkopf, und al® 
er deſſen Aufforderung, fich zu ergeben, mit dem Degen beantwortete, den töbtlicyen 
Stich in die Brufl. Sein Adfutant v. Noſtiz, der gleich darauf dazu fam, fand ihn 
bereitö entfeelt auf dem Pferde hängen und bemühte fich vergebens, mit dem Haupt⸗ 
mann v. Balentint den Leichnam zu retten, der dem Feinde in bie Hände fiel und vor⸗ 
läufig in Saulfeld beigefegt ward. Die Mafle der Hufaren ſchwamm durch die Saale 
und entlam, da der Feind nicht durch den Fluß nachfegte; dagegen gingen bie preu⸗ 
ßiſchen Gefhüge bis auf eins verloren. Durch die Niederlage der Meiterei waren 
alle oberhalb Wolsdorf befindlichen Truppen abgefchnitten; bie fächfliche Infanterie 
und die Füflltere nahmen ihren Müdzug durch die Saale, viele wurden niedergehanen 
und gefangen, — die Oberſten NRühle und Rabenau theilten dies Schidfal; nur bie 
Jäger -» Compagnie Balentini entfam nach bem linken Ufer der Saale und vereinigte 
fiy in Schwarza mit dem dort flehenden Bataillon von Müffling. Nicht beſſer er⸗ 
ging es den Truppen bed rechten Flügels; das andere Bataillon des Regiments Müff⸗ 
ling zog fl nach einem vergeblichen Verſuche, das Dorf Schwarza zu erreichen, weiter 
oberhalb über den gleichnamigen Fluß und entlam, wenn auch nur mit bedeutendem 
Verluſt. Ebenfo zog ſich der General Pelet bei Blankenburg über den Flug und nach 
Stadt Ilm zurüd; die ſächſiſche Infanterie wurbe zerfprengt und niedergehauen ober 
gefangen genommen; auch General Bevilaqua fiel dem Feinde in die Hände. Der 
Berluft der Breußen und Sachen beitrug circa 1800 Mann und 15 ypreußifche, 18 
ſaͤchſiſche Geſchutze inclufive der Bataillond- Kanonen, faft die ganze Bagage und 4 Fah⸗ 
nen. Bon den Franzoſen hatte nur die Diviflon Suchet, circa 14,000 Mann, ger 
fochten. Der Verluft war zwar empfindlich, keineswegs aber entfcheivend für ben 
Ausgang ded Krieges; feine Bedeutung erhielt er erſt Durch den entmuthigenden Ein⸗ 
drud, den der Tod des Prinzen Louis Ferdinand, auf den die Armee mit Bertrauen 
geblickt Hatte, und der Anblid der Flüchtlinge machte, der bei ihrer Zerfireuung nadh 
allen Richtungen bin dem ganzen Heere wurde. Außerdem wurde das gute Einver⸗ 
nehmen zwifchen preußifchen und fächflfchen Truppen dadurch fühlbar geflört und Alles, 
was bisher noch Hoffnung gebegt hatte, ahnte nun den böfen Ausgang ded Krieged. — 
Die Gründe des unglüdlichen Ausganges des Gefechts find weniger in der Ueberlegen- 
heit des Gegners, als erſtens in dem ungünftigen Terrain, dann in der zu großen 
Ausdehnung der Aufftellung vor dem Defilee, die zweckentſprechender hinter bemfelben 
auf dem rechten Saalufer, mit dem Nüdzuge auf Orlamünde, hätte genommen werben 
möüflen, und drittens in der Unbeweglichkeit der ſaächſiſchen Infanterie zu fucdhen, welche 
fein Mittel hatte, den Tirailleurfhwärmen des Feindes Widerftand zu leiſten, und trog 
aller fonfligen Bravour durch dieſe allein geichlagen wurde, bevor die nadfolgenben 
Maſſen noch heranfamen. Auf dem Außerfien linken Slügel, wo preußifche Jäger und 
Fuͤſtliere fochten, bei welchen die zerfireute Fechtart reglementömäßig eingeführt war, 
hatte fi das Gefecht ziemlich im @leichgewicht gehalten. Der Sieg der Franzoſen 


Saar. | 659 


bet Saalfeld war daher zugleich ein volffländiger Sieg der neueren über bie ältere 
Linear» Laktil. — Die befle und erſchöpfendſte Darftellung des Gefechts bei 
Saalfeld findet ſich nebſt einem fehr guten Plan in dem erflen Theile des bekannten 
Hödpfner’fchen (f. biefen Art.) Werkes: „Der Krieg von 18067," dem aud die 
obige Skizze entnommen iſt. 

Saar, ſchiffbarer Nebenfluß der Mofel, welcher In dem franzöftfchen Departement 
der Bogefen, in dem Walde vn St. Quirin, am Weftabhange der Vogefen ent« 
Ipringt, dann in den preußifchen Regierungsbezirk Trier übertritt, bei Saarbrück 
ſchiffbar wird, die Vlies, Brems, Nied sc. aufnimmt und nach einem 33 Meilen langen 
Laufe unterhalb Conz mündet, fohließt mit der Nahe in den ſüdlichen Vorbergen bes 
Hunsrücks ein elliptifhes Kohlenbeden ein, deſſen Länge von Norboften nad 
Südweften etwa 13 Meilen, feine Breite aber vier Meilen beträgt. Die äußere Form 
diefeß Gebietes ift eine fehr unebene bergige; im Inneren Bau zeigt ſich aber einiger» 
maßen muldehförmige Schichtenftellung, nur vielfach geflört durch neuere Eruptiv« 
gefleine. Die höchſten Kuppen erreichen bier Faum 1500 Fuß Meereshöhe, bleiben 
alfo weit zurüd hinter denen Ded Hunsrücks. Es iſt größtentheils ein Liebliches, oft 
ſehr romantifches und fruchtbare Bergland, nach vielen Richtungen von freundlichen 
Thaͤlern durchfchnitten. Außerorventlich groß iſt der Unterfchieb nach Zahl und Art 
der Drte in diefem Gebiete, verglihen mit dem unmittelbar anftoßenden Hungrüd, 
und das iſt offenbar nicht nur Folge der Höhenunterfchiede, fonbern auch beB 
inneren Baues, genug der gefammten Bodennatur. Vorherrſchend find in biefem 
Sligellande die Schichten der Rohlenformation, beftehend aus Kohlenfandftein, Schiefer» 
thon mit ſehr vielen Pflanzenreſten, 164 bekannten und darunter gegen 100 bau⸗ 
würdigen Steinkohlenlagern in einer Geſammtmaͤchtigkeit von 338 Fuß, Kalkſtein⸗ 
flötzen und einzelnen Einlagerungen von Thoneiſenſtein (Sphaͤroſtderit). Es iſt die 
flzreichſte unter allen bekannten Steinkohlenmulden, aber freilich 
viele der Floͤtze beſitzen nur ſehr geringe Mächtigkeit; die, welche man abbaut, ſchwanken 
zwiſchen 2 und 14 Fuß. Die ganze Mächtigkelt der Saarbrüder Flöge iſt noch nicht 
bekannt, weil noch zu wenig Erfahrungen über deren Lagerungsverhältniffe erworben - 
find, dennoh wird man mindeftens 77 Hauptflöge annehmen bürfen. Diefe Blöge, 
von benen manche unmittelbar von Kalkflein begleitet find, Tiegen wahrfcheinlich in 
wellenförmigen Biegungen hinter einander, fo daß man ein und daſſelbe mehrmals an 
ber Oberfläche erſcheinen ſieht. Der Theil der Kohlenablagerung, welcher mittels 
2000’ tiefer Schächte bebaut werden kann, enthält 55,000 Millionen Gentner Brenn» 
ſtoff. An zwei Stellen wird der etwaß veränderte Kohlenfandflein von Duedfilber- 
orzgängen durchſetzt, welche feit lange bebaut werben, das iſt am Stahlberg und 
am Moſchel⸗Landsberg bei Obermofchel. Die Koblenformation iſt zwifchen Lauben⸗ 
beim an der Nahe und Öberflein, fo wie zwifchen Dambah und Neuficchen an der 
Spaar von breiten Streifen des Rothliegenden überlagert, welches wie gemöhn- 
lich aus rothem (hier porphyrreichen) Gonglomerat und gleichfarbigem Sandflein bes 
ſteht, der nordweſtlich von Kreuznach Leicht mit buntem Sandſftein verwechfelt werben 
fann. Den Felsboden diefer Ablagerungen bilden offenbar zum großen Theil ältere 
Quarzporphyre, welche bier und da darunter hervorragen. Der Quarzporphyr 
(oder Thonporphyr) zeigt ſich unbedeckt: döfllih von Düppenmeiler, weſtlich von St. 
Wendel, im oberen Nahethal am Gonnesweiler, im 1670’ hohen Königsberg bei Wolf- 
fein, im 2050 Hohen Donnersberg bei Kirchheim⸗Boland und in der malerifchen Re» 
gion des Pahethales, mo oberhalb Kreuznach die Alfenz einmündet; bier ragen die fchönen 
und fchroffen Porphyrfelſen des Rheingrafenſteins gegenüber der Ebernburg auf, und in 
der Thalfohle entfpringen merkwürdiger Weife aus dem Porphyr die jodhaltigen 
Salzquellen der Kreugnacher Salinen und berühmten Soolbäder. Sünger 
als die Quarzporphyre und als die Kohlenformation oder felbft das Mothliegende, 
zeigen fich dagegen gewiſſe dichte oder mandelfteinartige Eruptivgeſteine, welde 
in Diefer Gegend zwifchen der S. und der Nahe gewöhnlich Trapp genannt worden 
find und bie man als pyroxenhaltig abmechfelnd auch zum Diabas, Aphanit, Mela- 
phyr oder Dolorit gerechnet bat. Sie treten in dem ganzen Gebiet an fehr vielen 
einzelnen Stellen ale burchbrechende Kuppe ober durchſetzende Gänge hervor, bilden 

42* 


- 660 Saarbrück. (Hauptftabt.) . Saardam. (Stabt.) 


eine Menge kleiner Hügel, Felskuppen ober In die Thäler hineinragende Felspartieen, 
haben die regelmäßige Schichtung oft geftört, find aber auch Tagerförmig zwifchen fie 
eingedrungen und tragen durch das Alles nicht wenig zum malerifchen Wechiel der 
Landſchaft bei. Sie find aber noch außerdem technifch wichtig geworben durch bie 
großen und fchönen Ahatmandeln, die fle häufig enthalten oder welche fich loſe 
in ihren Verwitterungsproducten finden. Diefe haben die Steinfchleiferei als 
einen befonderen Induſtriezweig in großartigen Maßſtabe veranlaßt. Ihren Hauptfig 
bat diefelbe in Dberflein und deſſen Umgegend. Die Nabe treibt bier eine große 
Zahl Heiner Schleifmühlen, aus denen die Frankfurter und Leipziger Meſſen mit 
achatnen Dofen, Ringen, Armbändern, Brofchen, Peifchaften sc. verforgt werben. 
Diefe einmal in Gang befindliche Induftrie beichränkt fich jegt nicht mehr bloß auf 
einheimische Achate, fondern verarbeitet auch fremde Steine, infonderheit aus Vraſilien 
bezogene. Der Verein diefer mancherlei mineralifchen Rohproducte, Kohlen, Eifenftein, 
Queckſilber, Alaun, Salz und Adat Hat die Gegend zwiſchen Saarbrüden und Kreuze 
nach zu einer vorzugsweife induftriereichen gemacht. Doc abgefehen von dieſen ver⸗ 
ſchiedenen Mineralihägen tft die Gegend auch ungemein fruchtbar, infonderhelt wird 
der Weinbau in ausgedehnten Maßſtabe und mit großem Erfolg betrieben. 

Saarbrüd (Saarbrücken), Hauptfladt der früheren Grafſchaft gleichen 
Namens, welhe der Walramfhhen Kamille des Hauſes Naffau (j.d.) von 1381 
bis 1801 gehörte, in dem preußifchen Negterungsbezirke Trier, an der Saar, mit ber 
auf dem rechten Ufer biefes Fluſſes gelegenen Vorſtadt St. Johann (früher eine 
befondere Stadt) durch eine Brüde verbunden, Sig einer Bergwerksdirection, mit 
Baumwollenfpinnerei, Tuch⸗ und Leinweberei, Tabaks⸗ und ifenwaarenfabrifen, 
Schifffahrt, Handel und 11,288 Einwohnern nach der Zählung von 1861, ifl be» 
sühmt durch den Steinfohlenbergbau in feiner nächſten Nähe. Dad reiche und große 
Steintohlengebiet, das ſich zwiſchen ©. und Bingen am ſüdöſtlichen Buße des Huns⸗ 
rück erfiredt und in welchem fchon mehr ald Hundert einzelne Koblenflöge gezählt 
worden find, iſt das weftlichfle Deutfchlande und von großer Wichtigkeit, inſonder⸗ 
heit nachdem ©. ein Knotenpunkt der Eifenbahnen nah Neunkirchen (Bingen, Lud⸗ 
wigshafen), Trier und Metz geworben ift und die Kohlen leicht und ſchnell verführt 
werden können. ine Stunde von der Stadt Tiegt dad Dorf Durtweiler, mit 
einem in des Nähe befindlichen, fchon feit 180 Jahren im Innern brennenden Stein» 
Eohlenflög, auf deſſen äußerer Erdrinde ſelbſt im ſtrengſten Winter kein Schnee liegen 
bleibt. Das Schloß S.'s, bis 1793 Nefldenz des Fürſten Naffau-S. wurde währ 
rend ber franzöflichen Mevolution zerflört. Die nahe Schloßkirche zu Arnual, eine 
im beflen gothifchen Styl 1350 erbaute Kirche, enthält viele ſehr bemerkenswertbe 
alte Srabmäler der fürftlichen Familie. 

Saardam, rihtiger Zaandam, Stadt von 12,000 Einmohnern in der nieder⸗ 
ländifchen Provinz Nordholland, an der Mündung der Zaan in dab D, befteht eigent«- 
lich nur aus einer langen Reihe von Windmäühlen mit dazu gehörigen Eleinen Ge⸗ 
bäuden. Diefe Windmühlen, an 700, erftreden fi am Ufer der Zaan bis zu den 
benachbarten Dörfern Zaandyk, Koog, Wormerveer und Krommenie. Zum Betriebe 
einer Windmühle foll ein Capital von 100,000 Gulden gehören, für den Bau der 
Mühle, Vorrath an Korn und Rübſamen, an Mehl oder Del, und die für den Han- 
del mit diefen Producten nöthigen Geldſummen. Sie werden zu allen mögliden 
Dingen gebraudt. In einigen von ihnen wird ein befonderer Sandftein, der aus der 
. Umgegend von Bremen hierher gebracht wird, zu Staub zermalmt, um den, bolländi- 
Shen Hausfrauen ald Sand für ihren Flur zu dienen; doch meit wichtiger find bie 
Mühlen, in welchen Traß gemahlen wird, ein vulkaniſches Product, dad, ale Tuff» 
flein, von den Ufern bed Mheins, aus der Nähe von Andernach und vom Laacherfee, 
hierher trandportirt wird und, mit Kalk und Sand vermifcht, jene treffliche Bindunge« 
mittel giebt, welches beim Bau der Schleufen, Deiche und anderer Waflerwerke fo 
große Dienfte leiftet, indem e8 unter bem Wafler an Härte ſtets zunimmt, Die größte 
Merkwürdigkeit für ©. iſt die Hütte, in der Peter der Große gewohnt. Sie iſt von 
sohen Brettern und neigt ſich etwas nach einer Seite, weil die Grundmauer nach⸗ 
gegeben hat. Die verwitiwete Königin der Niederlande, Tochter Kalferd Paul von 


GSaarlonis. (Stadt.) Saavedra (Angel de). 661 


Mußland, Hat die Hütte zum Schuß gegen das Wetter und die Reliquienwuth ber 
Meifenden mit einem auf Pfeileen von Backſteinen rubenden Dache umgeben laffen. 
Die Hütte felbft, 1697 von dem Zar angeblich felbft erbaut, befleht aus zwei Kam⸗ 
mern. Aus den mit Namen von Reeiſenden bebedten Wänden ragt über den Kamin 
eine Marmovtafel mit der Infchrift: Petro Magno — Alexander hervor, welche der 
Kaifer Alerander bei feiner Unwefenheit im Jahre 1814 hier einmauern ließ. Die 
Anweſenheit des jebt regierenden Kaifers im Jahre 1839 feiert die rufflfche Inſchrift 
einer zweiten Marmortafel. Die Hütte bemohnte Peter der Große, während er ale 
gemeiner Schiffszimmermann auf dem Werfte von Mynheer Calf arbeitete, in der 
Abſicht, ſich von der Schiffsbaukunſt Kenntniffe zu erwerben, um ſeine Unterthanen 
darin zu unterrichten. Er kam in Zimmermanndkleidung unerkannt mit andern Arbei⸗ 
tern unter dem Namen Peter Michaelof hier®an und wurde von biefen Peter Baas 
oder Meifter Peter genannt. So gebt die Sage. In der That war aber Peter’s 
Aufenthalt in S. Eürzer, ald man gemöhnlih annimmt, er mährte nur acht Tage. 
Dem Zar wurde daß Gedränge neugieriger müßiger Zufchauer fo läflig, daß ex vor- 
30g, nach Amſterdam zurüdzufehren, wo er ungeflört auf den Werften der oftindifchen 
Compagnie arbeiten Fonnte. Die Werfte für- große Schiffe, melde damals in ©. 
beftanden, find eingegangen. Die technifhen Auspräde in der ruffifchen Marine find 
aber heute noch meift hollaͤndiſchen Urfprungs. 

Saarlonis, Stadt und Feflung im preußifchen Regierungsbezirke Trier, auf 
einer Halbinfel der Saar, mit Woll» und Leinwebereien, Gerbereien, Blei⸗ und 
Eifengruben in der Nähe, Flußſchifffahrt und 4647 Einwohnern im Jahre 1861, der 
Geburtsort Grenier's und Ney's, verdankt feine Entſtehung Ludwig XIV., der in den 
Jahren 1681 — 85 die hieſige Feflung mit einem Koftenaufwande von 5 Millionen 
Zivres, die eigentliche Stadt aber etwas fpäter anlegte. Im Ryswyker Frieden blieb 
Frankreich im Beſitz dieſer feiner Schöpfung und 1718 trat der Herzog von Kothrin« 
gen an Frankreich auch den Plab der nahegelegenen vermüfteten Stadt Baudre- 
fange oder Walderfingen, jett ein Dorf mit großer Fayencefabrik, nebft meh⸗ 
teren Dörfern ab, welche da8 Gebiet von S., In der franzöflfhen Mevolution Sarre 
libre genannt, bildeten, dad zum Gouvernement Meg gehörte. Durch den erften Barlfer 
Brieden iſt es, nachdem die Beftung am 10. Januar von den Verbündeten eingejchloffen 
und am 19. deffelben Monats befchoffen worden war, an Deutfchland gekonimen und 
vermödge der Beichlüffe des Wiener Gongreffes der Krone Preußen zugelegt worben. 

Saavedra f. Cervantes Saavedra (Miguel de). 

Saavedra (Angel de), Herzog von Rivas, geb. zu Cordova am 1. März 1791, 
Fänıpfte feit 1810 gegen Napoleon’E Heere, wurde als Oberſt verabfchiedet und war 
nad der Revolution von 1820 Mitglied der Eorted. Als die Franzoſen 1823 Spa- 
nien befegten, ging er nach London und fpäter nach Italien. Bon hier verwiefen, 
wendete er ſich nah Malta. Seit 1830 lebte er in Frankreich, zuerfi als Zeichen» 
Iehrer in Orleand und fodann In Tours. 1834 kehrte er nad Spanien zurück, 
erdte die Titel und Güter des Hauſes Nivad und wurde zum PBrocer des Reiches er- 
nannt; 1836 übernahm er unter Ifluriz das Minifterium des Innern, wurde aber 
dur die Revolution von La Granja, 1837, gendthigt, diefe Stellung wieder aufs 
zugeben. Später wurde er fpanifcher Gefandter zu Neapel. In feinen Dichtungen 
ahmte er Anfangs franzöflfche Mufter nah, als er aber fpäter mit ber englifchen 
Literatur befannter wurde, gab er die conventionellen Formen, deren er ſich bis dahin 
bedient hatte, auf und dichtete nun in volfsthlimlicherer Welfe. Er beging aber da⸗ 
bei, wie die franzöflfchen Romantiker, den Fehler, daß er durch Anhäufung fchredlicher 
Kataſtrophen die Aufmerkfamkeit feiner Lefer und Zuhörer zu fefleln verſuchte. An 
dieſem Mißgriff leidet hauptfächlich fein Drama: Don Alvaro 0 la fuerza del Sino. 
Seine befte Arbeit ift wohl fein LZuftfpiel: Solaces de un prisionero, welches ſich 
durch feine Charakteriſtik und lebendige Darftellung außzeichnet. Außerdem fchrieb er 
noch Ensayos poeticos, 1813 und 1820, die Tragdbie Lanuza, das Epos EI moro 
exposito (2 Bde., Paris 1834), das Auftfpiel: Tanto vales cuanto tienes (1834), 
da8 Drama La morisca de Alajuan (1842) und eine Historia de la sublevacion de 
Napolos (2 Bde. Madrid 1848). 





662 Snevedra y Farardo (Diego de). » 


Sanvedra y Faxardo (Diego de), ein fpanifcher Staatsmann, geboren 1584 in 
der Provinz Murcia, Hat fih eben ſowohl als Schriftfteller, wie als Praktiker in 
feinem Baterlande einen wohlverdienten Ruhm erworben, und fein wichtigites ſchrift⸗ 
ſtelleriſches Werk bekannter zu machen, als es bisher iſt, fcheint und eine höchſt wür⸗ 
dige Aufgabe für Staatsgelehrte zu fein. Er war als Gefandter des Königs Phi⸗ 
lipp IV. i. 3. 1636 zu Regensburg und i. 3. 1643 zu Münfter beim Gongref. Im 
3. 1648 flarb er als Mitglied des hoben Raths für Indien. Buß (Gefchichte ber 
Staatöwiflenfchaft) bezeichnet ihn ale einen praftifhen Staatsmann, „der eine edle 
Seele bewahrte und Wahrheiten zeigt, groß und einfach, wie die Geſchichte. Nicht 
ſyſtematiſch, fondern in fententiöfer Kernigkeit legt er die Schäße eines vielbewegten 
Lebens nieder; ein Sag mit der Schmere feiner Wahrheit miegt ein ganzes Syſtem 
auf.” Das Werk, weldhes wir meineng hat in der fpanifchen Ausgabe den Titel: 
Empresas politicas 6 Idea de un principe politico christiano representado en cien 
empresas (zu Monaco 1640 und öfter erfchienen). Line liegt eine lateinifhe Aus⸗ 
gabe vor unter dem Titel: Iden principis Christiano-Politici 101 symbolis expressa 
a Didaco’Saavedra Faxardo Equite etc. Amstelodami 1659. Zum Verſtändniß 
des Titeld bemerken wir, daß das Buch aus 101 kurzen Kernfprüchen beflcht, deren 
jeder mit der entfprechenden Erläuterung und mit einem Fleinen fymbolifchen Bilde 
verfeben if. S. hat es, laut eined Zueignungsfchreibend, welches vom Jahre 1640 
aus Wien Datirt ift, feinem Könige gewidmet. In diefem Schreiben giebt er als 
Zwe des Werkes an, „ut visu pariter et auditu (quas duos sensus sciendi instru- 
menta appellat philosophus) Serenitatis Vestrae animus gubernandi scientiam hau- 
riat, et figurae istae pro artiliciali memoria eidem deserviant.“ Er führt ferner an, 
wie er die Beifpiele der Vorfahren des Königs benugt babe, ohne irgend Jemandem 
Ichmeicheln oder etwa begangene Fehler verheimlichen zu wollen. Gine Sammlung 
feiner fämmtlihen Werke ift zu Antwerpen '1688 herausgekommen und eine desgleichen 
der politifchen und biftorifchen Werke zu Madrid 1789—90. ©. flellt alfo das Ideal 
eines hriftlich regierenden Fürften auf. Sein Bud ift ein Fürftenfpiegel überragt, aber 
alle unter ſolchem Titel und befannten Werke weit an Reichhaltigkeit, Wiſſensumfang und 
Tiefe politifcher Einfiht. In der Anführung vieler Audfprüche des Tacitus, des 
Nriftoteled, des Königs Alphons des Weifen, auch der heiligen Schrift und anderer 
zeigt ſich große DBelefenheit, fo wie in der Benugung gefchichtlicher Beifpiele eine 
außerordentliche Gefchichtöfenntnig, insbeſondere der fpanifhen Geſchichte. Die erflen 
ſechs Symbola behandeln die Erziehung des Fürſten. Der Denfungsart des Ver- 
faſſers entfpricht feine ind Einzelne gehende Darftellung der forgfältigen Behandlung 
des Kindes, welche fchon im zarteften Alter, mit Berüdfichtigung der natürlichen Eigene 
thümlichkeiten defjelben, ihr Werk beginnen fol. Wir Heben bier nur die fhöne Stelle 
bervor, in welcher ©. nachdrücklichſt darauf dringt, daß von dem jungen Zürften Alles 
entfernt gehalten werde, was entweder unebrenhaft fei oder Haß errege (quae vel 
turpitudinem habent, vel odium pariunt, eo quod facilius sese in animos penetrent): 
er foll nie etwas Unanfländiges oder Unzüchtiged (turpe quid aut lascivum) hören 
oder felbft ausfprechen Dürfen. Unter dem Haſſe verfieht S. wahrfcheinlich Liebloſtg⸗ 
feit und Härte überhaupt: der Fürſt foll kein Menfchenhaffer oder Menjchenverächter 
werden. ©. entwidelt ſodann feine Grundfäge und Regeln der Regierungs— 
kunſt, theild im Allgemeinen, theild in befonderen Beziehungen. Was feine Funda⸗ 
mentalprincipien betrifft, fo flieht er auf dem Boden der yeligidfen Staatdane 
fhauung. Dies ergeben vorzüglich die folgenden Symbola: S, 18) A Deo Opt. 


Max. Regnum se habere memineril, — 19) Idque Successori tradendum, — 24) 
In omnibus vero spectanda Religio, — 25) In qua omnis Imperii sita est firmitns, 
— 26) Et spes victoriarum omnium, — 27) Caveat maxime a religione fucata 


et ludicra. Zum Lichte, das vom Himmel ſtrahlt, follen die Fürften oft ihre Blide 
richten, wie der Mond beftändig zur Sonne emporfchaut, um von ihr erleuchtet zu 
werden. Un der durch dad göttliche Licht entzündeten Fackel des Vorfahren foll der 
Nachfolger die feinige anzünden. Die Gerechtigkeit, die Säule des Staats, fchmebt 
in der Luft, wenn fie nicht auf dem Grunde der Religion ruht: dieſen Sag begründet 
©., indem er z. B. bemerkt, daß ohne Religion Feine Treue und Erin Glaube, eins Haltung 


Ganvebra y Farardo (Diego be). 663 


der Berträge, Fein wahres und wirkſames Recht der Strafen und Belohnungen denkbar fel. 
Berner führt er Beifpiele der bekannten Erfahrung an, daß durch die Kraft bes religidfen 
Glaubens Siege erfochten worden find und daß Gottvertrauen Fürſten und Völker 
durch Niederlagen und fchwere Kriegsnoth zum glüdlichen Ausgange- geführt Hat. Er 
erwähnt auch die befannten verberblihen Zolgen der Meligionduneinigkeit, empfiehlt 
mithin die Einheit des Glaubens in einem Bolfe, und warnt vor nicht reiflih und ’ 
von den Berfländigen geprüften, fo wie vor gewaltſamen Meligiondneuerungen. Der 
Fürft foll die Hohe Gottesgabe, die Vernunft, aber nicht Gemüthöneigungen (affectus) 
und Leidenfchaften zur Nichtfchnur nehmen. Er foll immer Beftigfeit zeigen uub feine 
Würde behaupten. Er foll 3. B. nit durch Schwäche ſich zum Mitleiden gegen ein- 
zeine Perfonen binreißen Iaffen, während er vielleicht gegen begründete Klagen bes 
Volkes taub if. Doc follen die Gemüthäneigungen keineswegs bei ihm außsgerottet 
werden; denn obne folge würde Der Fürſt zu allen edleren Handlungen unfähig fein. 
Nicht umfonft hat uns die Natur Liebe, Zorn, Hoffnung, Furcht und andere Leiden, 
ſchaften eingeflößt; fle find Begleiterinnen und Mittel der Tugenden. Dies lehrte 
©., mie fpäter Möfer in feiner Abhandlung vom Werthe wohlgemogener ee 
und Leidenfchaften. — Wenn aber die Bernunft zur Richtſchnur dienen foll, fo darf 
der Fürft ſich auch nicht von der Meinung des großen Haufens abhängig machen 
(non dependere a vulgi opinione), Wie Goethe fagte, daß vie Vernunft nicht 
populär fein könne, fondern Leidenfchaft und Gefühl, fo lehrte ſchon ©., daß bie 
Wahrheit nicht von der Meinung abbänge, und daß der Fürft dieſe verachten müffe, 
wenn er ſich bewußt fel, nad Borfchrift der Vernunft gehandelt zu haben. Das 
Symb. .32 — Justitia et Clementia firmanda Majestas — ſteht mit der Anſicht von 
Ver göttlichen Einfehung des Kürfienthumes in Verbindung. Die Fürften erhalten 
(fagt S.) die Rechtsgewalt zwar durch (flillfchweigende) Uebertragung vom Volke, 
aber unmittelbarer (immediatius) von Gott, deffen Stellvertreter fle find. Sie follen 
fie nicht nach ihrer fubjectiven Meinung ausüben, fondern nach feflen Geſetzen, naͤmlich 
theils nach dem natürlichen Bernunftgefege, theild nach gewiflen, aus langem Ge» 
braude und Erfahrung (longo rerum usu atque experienlia) hervorgehenden 
Normen. Die dur die Erfahrung feftgeflellten Geſetze erhalten erft Leben und Geift 
(intelligentiam), fo wie ihre Anwendung auf gewifje Fälle, durch die Richter. Sie 
Dürfen nicht zu ſehr vervielfältigt werben, wenn fie nicht Verwirrung erzeugen und 
der Bergefienheit oder Mißachtung anheimfallen follen. S. fagt geradezu: es gebe Fein 
größeres inneres Staatsübel, ald eine zu große Menge von Geſetzen. Er beruft fich dabei 
u. U. auf Ariftoteles, welcher wenige Geſetze nur für die wichtigeren Bälle für genügend 
erflärte und bie übrigen Fälle dem natürlichen Verſtandesurtheile (judicio naturali) 
Gberlaffen wollte. S. meinte, daß 3. B. in Spanten alle vermeintlich neu erfundenen 
Abhülfsmittel für Uebelſtäͤnde in Mechtsverhältnifien ſich ſchon in den alten Befegen 
des Reiches fänden. Auch meinte er: ein Staat, welcher fefte, wenngleih unvoll⸗ 
fommene Gefege babe, werde beſſer regiert, als ein Staat, welcher fie häufig ver⸗ 
Andere (m. f. Symb, 21). @benfo, wie über Die große Menge der Gefete, beklagt er 
die große Menge der Bücher, welche in Spanien eingeführt würden und dazu dienten, 
die Geifter zu verwircen und Zweifel anzuregen, ohne die Gelehrſamkeit zu förbern. 
Schon er fand, daß die Buchdruderfunft zu feiner Zeit nichts als ein Gewerbe und 
eine Sandeläbefchäftigung fei (neque Typographiae aliud hodie sunt, ac nundinationes 
et mercaturae). Uebrigens follen die Fürften, nach forgfältiger Wahl der Michter, 
den ordentlichen Kauf der Mechtöpflege nicht hemmen. Sie dürfen die Auslegung der 
Gefetze nicht über dasjenige hinaus, was entweder Sache der Gnade (Clementia) oder 
der Billigkeit (Epiikia) if, ausdehnen. Es giebt allerdings Fälle, in welchen die Ge⸗ 
rechtigkeit durch Barmherzigkeit gemildert werden muß, wenn fie nicht zur Graufamkeit 
werden foll. (Dies iſt ein Ausfpruch des Königs Alpbons.) Ueber die phyſiſchen 
Mittel zur Regierung fpridht ©. in dem Symb. 69: Belli pacisque sit arbiter seu 
ferro, seu auro. Die Waffen, fagt er, feien die Arme der Staaten, die Geldſchaͤtze 
(thesauri) ihr Blut und ihre Lebensfäfte (spiritus). Der Herrſcher foll einen Schat 
zu fammeln fuchen, nicht aus Geiz, fondern zu nüßlicher Anwendung. Es fei ein ges 
faͤhrlicher Zuftand, wenn das Gemeinweſen arm fei, während Privatperfonen reich ſeien. 


664 Sanvebra 4 Farardo (Diego de). 


©. führt für dieſe Anſicht einerſeits das Beiſpiel der Spartaner nach Ariſtoteles, andrerjeits 
dasjenige der alten Roͤmer nach Horaz an, welcher von den Letzteren rühmt und ſagt: 
privalus illis census erat brevis, commune magnum. Einen Grund für diefe Anſicht 
bat fchon Thomas von Aquino angegeben, indem er fagte: Turpe est et multum re- 
gali reverentiae derogat a suis subditis mutuare pro sumptibus regis vel regni. 
©. empfiehlt zwar Beförberung der Schifffabrt und des Seehandels, bemerkt aber, 
daß dabei die geographbifche Lage des Staated zu berüdfichtigen fe, und grundfäglich 
erſcheint er nicht als ein Anhänger des zu feiner Zeit emporgetaudhten Merkantil⸗ 
ſyſtems, da er vielmehr die Im Mittelalter herrfchende und von Thomas von Aquino ge⸗ 
lehrte Anſicht darlegt, daß der Reichthum eines Landes zunähft und vorzugsweiſe In 
Iandwirtbfchaftlichen Erzeugniflen beſtehe. ©. fagt, die fruchtbaren Abhänge des Veſuv 
nüsgen mehr, als die Bergwerke von Potoſt, und er führt das Beifpiel Spaniens, im 
Befonderen Gaftiliend an, welches zur Zeit des Königs Alphons ungemein reich ger 
weien, aber nah der Entdedung der neuen Welt in einen entgegengefegten Zuſtand 
gerathen fei. Sletit illico aratrum agricultura, et jam sericum induta mollius ha- 
buit callosas a labore manus, — Den damaligen Zuftand Spaniens im Auge ha—⸗ 
bend, räth unfer Politiker, für genügende Bevölkerung des Landes vorzugäwelfe durch 
einheimifche Bortpflanzung zu forgen, mobei er Worte des weiſen Alphons anführt, 
welcher aber nicht nur die angemeflene Befegung bed Landes mit gemeinem Volke, 
fondern auch mit Adelsfamilien für ratbfam hielt. ©. fegt hinzu: Haec (plebeja 
gens) si quidem seipsa parum efficiet, nisi Nobilitatem habeat comitem, quae spirilus 
et anima illius est suoque exemplo docet appetere honesta el pericula spernere. Plebs 
absque Nobilitate exangue quoddam est etc. Bon diefem Geſichtspunkte aus ver⸗ 
theidigt S. auch die Fideicommiffe, fofern fle von Alters ber beſtehen. Daneben foll 
für die Erhaltung und Fortpflanzung eines tüchtigen Richter- und fonfligen Beamten⸗ 
flandes, durch entfprechende Bildungsmittel geforgt werben. Aber ©. warnt Dagegen, 
daß die Jugend der Menge (juvenlus popularis) in den für die Regierer nöthigen 
Wiſſenſchaften unterrichtet werde. Die Menfchen befinden fi in ber bürgerlichen Ge⸗ 
ſellſchaft nicht ſowohl um des fpeculativen Denfens und der Theorie willen, fonbern 
zum Zweck des praftifchen Wirkens zu mwechfelfeitiger Hülfe. Wenn bie Untergebenen allzu 
gelehrt und in Spigfindigfeiten geſchickt find, fo meiftern fie tadelfüchtig (carpunt) bie Re⸗ 
gierung, ziehn die Befchläfle der Herricher vor ihren Richterſtuhl (ad examen) und regen das 
Bolt auf. Auch leidet unter folchen zu fehr verbreiteten wiflenichaftlichen Beſchaͤfti⸗ 
gungen die friegerifche Tüchtigkeit des Volkes. Den Werth der Wilfenfchaften in ihrer 
Anwendung zur Widerlegung der Sectiver, zur Verwaltung der Rechtspflege, zur Er- 
haltung und Förderung der Künfte, vorzügli der Kriegokunſt und der Schifffahrts⸗ 
funde, erkennt ©. übrigens ausbrüdli an und empfiehlt indbefondere bie ebengenann« 
ten beiden Faͤcher auch für eine größere Anzahl Studirender (Symb. 66); für das 
Berhalten des Fürften inneren und äußeren Feinden gegenüber, fo wie überhaupt in 
ben auswärtigen Angelegenheiten, giebt er ebenfall® manche treffende Regeln. Es 
fehlt nicht die alte, beſonders bei inneren unrubigen Bewegungen von Megierungen 
häufig vernachlaͤſſigte Regel: principiis obsta. Die Erfahrung beftätigt feine Wars 
nung, ſich nicht durch den oft trügerifchen Schein der Stärke eines Staates täufchen 
zu lafien, und gering oder noch entfernt ſcheinende Urfachen von Unruhen nicht zu 
überfeben. Ob Strenge oder Milde anzuwenden fei, müflen zwar die Umflände er» 
geben; fo viel iſt aber gewiß, daß wohl vorbereitete vernünftige Reden nichts fruchten 
gegenüber einem wüthenden Pöbel: er muß ſelbſt in Furcht geratben, wenn er fi 
nicht Andern furchtbar machen fol. Wir müflen, der ndthigen Kürze wegen, die weis 
tere Befprechung diefed wichtigen Begenflandes (Symb. 73) übergeben, und berühren 
weiter die Befprehung der Behandlung äußerer Berbältniffe. Unſer Verfafler warnt 
. gubörberfi gegen die Eroberungsfudt. Enim vero qui injuste alteri statum suum 
eripit, occasionem praebet et jus, ut suomet quoque privelur ab aliis (Symb. 59). 
Obgleich S. einen großen Werth auf die Kriegstüchtigfeit eine Staates legt, fo ſtellt 
me doch den Krieg ald ein großes, wenngleih unter Umfländen nothwendiged Uebel 
dar und bekennt fich zu dem fchon von Salluft ausgefprochenen, von Hugo Grotius 
wisberholten Grundfage, daß Kriege um des Friedens willen ‚unternommen werben 


Saabebra y: Fararbs (Diego de). 565 


follen (Symb. 74). Der Herrſcher fol nur wegen bebeutender Urfachen und nach reiflicher 
Erwägung der Rechtsgründe, fo wie der politifhen Verbältniffe und der wahrſchein⸗ 
lichen Folgen, einen Krieg beginnen. Insbeſondere foll er au das Machtverhältniß 
der betreffenden Staaten wohl erwägen. Da dabei au der Nationaldharafter der be⸗ 
treffenden Völker in Betracht fommt, fo bat ©. (nach langer Beobadhtung, wie er 
fagt) die Hauptzüge der Eigenthämlichkeiten der verfchiebenen europäifchen Bölfer an» 
gegeben. Don den Teutichen, fagt er, daß fie Durch den Meligiondzwiefpalt, fo wie 
durch Bürgerkriege und bei ihnen kriegführende fremde Volker verborben felen: man 
Sonne nicht ohne Thränen einen Vergleich anftellen zwifchen dem, was dieſes Herrliche 
und heldenmüthige Volk (illustris illa et heroica natio) einft gewefen fei und dem, 
was es dermalen fei (man bat fich dabei zu erinnern, daß dieſes zur Zeit des dreißig. 
jährigen Krieges gefchrieben iſt). Er mildert jedoch diefen Tadel, indem er bemerkt, 
daß noch ein großer Theil von ihnen die Tugenden der Borfahren bewahrt habe; 
ferner, daß alle Künfte bei ihnen blühen. Auch fegt er Hinzu: nobilitas conservatur 
accuratlissime, qua de re prae Nationibus omnibus haec gloriari potest (Symb. 81). 
Wie wunſchendwerth unferem Schriftfieller ein Friede und Freundſchaft beförderndes 
Benehmen in internationalen Verhältniffen erfcheint, erhellt indhefondere aus Symb. 75, 
Qui discordias seminat, bella metet. Er tabelt es dort, wenn man, um Ruhe und 
Srieden im eigenen Staate zu haben, Zwiefpalt zwifchen verfchledenen Staaten errege, 
wodurch oft dad Begentheil von dem bewirft werde, was man fi Davon verfpredhe. 
Die an einem Orte entzündete Kriegsflamme ergreife bald auch andere Wohnungen 
und oft Die eigene des Brandſtifters. DBeifpiele ſolchen Verfahrens führt er aus der 
Geſchichte der Republik der Niederlande und der Ligue von Gambray an, wobei er 
Bemerkungen darüber macht, mie felbflfüchtig, gebäfftg und tyrannifch Republiken (von 
denen er jedoch Denedig beziehungswelle ausnimmt) zu verfahren pflegen, da bie 
Stimmen in ihren Beratbfchlagungen weniger gewogen als gegählt werden, — wie 
aber auch an Höfen und in Paläften, insbefondere bei Miniftern, der Ehrgeiz aͤhn⸗ 
liche, Zwieſpalt fliftende Kunftgriffe erzeuge. Beherzigungswerthe Kiugheitäregeln 
enthalten, in Bezug auf die auswärtige Politik, unter anderen Symb. 82 Honestas 
et decor in armis sit, — Symb. 85 Gaveat Princeps a consiliis mediis, — Symb. 86 
Regnis sui bellis praesens adsit, — Symb. 91 Amicis reconcilitatis nequaquam 
fidendum, — Symb. 92 Nocet subinde protectio, — Symb. 95 Neutralitas nec 
amicos parit, nec placat hostes, Was dieſes letzte betrifft, fo führt er das Beiſpiel 
Staliend an, welches die Neutralität zwifchen Frankreich und Spanien nicht erhalten 
fünnen und vor Frankreichs Uebermacht durch den Anfchluß an Spanien fidy gerettet 
babe, wodurch es ruhig und glüdlich geworben ſei. Dabei finden fi Bemerkun⸗ 
gen, welche in unferen Tagen gefchrieben zu fein: feheinen Töhnten. Gr zeigt 
einerfeitö, welche Mebelflände daraus entſtehen würden, wenn ein Monardy, auch 
wenn es der Papſt wäre, zum König von ganz Italien gemacht mürbe, und 
andererfeitö, mie. eine fremde Macht diefem Lande nothbwendig ſei, da es 
von verfehiedenen Herrſchern regiert werde, welche ſich nie alle gegen jene bei⸗ 
den Kronen vereinigen, fondern, .nwie die Vergangehheit zeige, durch innere Kriege 
einander aufreiben würden, si quidem Natio Italica tam est generosa, ut modum tenere 
haud sciat, aut dominari vult absolute, aut parere. Beſondere Betrachtungen finden 
fih (Symb, 94) über die Stellung des Papftes und die Bedeutung des Papſtthumo. 
Die päpflliche Tiara erleuchte mit Ihren Strahlen von Rom aus, fagt S., alle Welt« 
theile: auch ohne Waffen fei die paͤpſtliche Würde mächtiger, als die vollftändigften 
Kriegsheere. Des Papſtes Hirtenamt fei nicht das des Krieges, fondern des Frie⸗ 
dens, und feine Autorität gelte mehr, als Waffenmacht, zur Beilegung der Streitig« 
keiten der Fürflen: Erhebungen gegenden Papſt feien nie von erwünfde 
tem Erfolge begleitet. Auch über die Verbindung der geiftlichen Gewalt mit 
der weltlihen erklärt ©. fich beifällig. Schließlich, wa die auswärtigen Angelegen- 
beiten betrifft, empfehlen wir die Ratbichläge, welche das Verhalten des Herricherd 


« bei glädlicher, wie bei unglüdlicher Krtegführung, fo wie die Friedensſchlüſſe betref⸗ 


fen (Symb. 96-99). Eine Beide von Sprüchen betrifft das Verhaͤltniß des Fürſten 
zu feinen Miniftern und das Verhalten der leßteren. Eine Haupttegel if, daß 





666 Gabälsmus. 


ber Fürſt fi nicht vom Miniſter blindlings oder ſchwaͤchlich leiten laſſe, fonbern ſich 
die hoͤchſte Autorität und Entſcheidung vorbehalte. Si totum illi committat, oſſicio 
Principis sese exuet (Symb. 59). Dem Miniſter wird gefagt: Subditum se arbi- 
tretur, non principis socium: honestum ducat et gloriosum se ipsum perdere (si 
ita necessitas tulerit) ad augendam illius amplitudinem. Consilia ei suggeralt, 
cum libertate animi gratiosa, demissa et sincera, absque pericuwli ullius 
metu et ambitione elc.: silentium ejus sit opportunum, si utilitas postulaverit, 
verba prompta et expedita, si opus fuerit. Gefaͤhrlich if dem Minifter nicht weniger 
bes Volkes Teidenfchaftliche Liebe, als deſſen Haß: Breves plerumque et infausti 
selent esse populi amores (Symb. 50). . Die Rathgeber eined Fürſten find freilich 
(nad der orientalifhen Ausdrucksweiſe) mit feinen Augen zu vergleichen, weil er 
nicht Alles mit eignen Augen ſehen Tann, fle follen aber wenigſtens in widjtigeren 
Angelegenheiten nicht feine Hände fein: Die obere Leitung foll er in feines eigenen 
Sand behalten. Sie follen flille Theilnehmer an der Negierung fein, gleihjam die 
Räder ber Uhr, deren Zeiger der Fürſt if. Sie follen auch ihre Berathungen geheim 
balten: Nullum enim bonum consilium est, si secretum non maneat (Symb. 57). 
Dafür follen fle mit ausgezeichneter Ehre belohnt werden, mit Ausnahme derjenigen 
Ehrenzeichen, welche der fürfllihen Würde ausſchließlich angehören. Wir- erwähnen 
noch die Bemerkung, Daß, wenn es möglich wäre, Könige von Königen berathen wer⸗ 
den follten (morauf auch Göthe hingedeutet Hat), und daß, da dies nicht angehe, es 
paſſend fei, daß foldye Mathgeber gewählt werben, qui tamelsi principes non sint, 
animos tamen et spiritus gerant principum, et ex sanguine generosiori descendant. 
©. drüdt den Grund davon mit den Worten aus: Saepe sua persona minus dig- 
num aliquid agit Princeps, quia vili et abjecto est animo, qui sic consulit. Bum 
Schlufſe des Werkes finden wir Nathfchläge für die Kürften, welche das Alter dem 
Ende ihrer Laufbahn nahe bringt. S. bemerkt, e8 komme vor, daß bie guten:.Eigen« 
(haften eines Fürſten im Alter abgeſchwücht erfcheinen (wir finden, daß audy das 
Gegentheil vorkommt: ein alter Fürſt bat den Vorzug langer Erfahrung und Uebung). 
Er ermahnt den Fürſten, zu bedenken, daß feine letzten Thaten feiner Regierung bie 
Krone aufiegen werben, und daß er das Seinige thun folle, um einen ruhigen und fried⸗ 
lichen Uebergang der Staatögewalt auf einen würdigen Nachfolger vorzubereiten. 
Daran ſchließt fich zulegt noch das Mufterbild des Könige Ferdinand des Katholiſchen, 
defien Leben und Wirken S. als eine lebendige Verwirklichung feiner Lehren betrachtet. 
Wir Haben nur einzelne wenige Edelſteine aus dem reihen Schage flaatömännifcher 
Weisheit, welchen dieſes Buch enthält, hervorgehoben. Wir möchten wünfchen, daß kein 
Staatsmann es ungelefen ließe. Diefed aber zu boffen, verbietet und der Zeitgeift. 

Sabäldmud iſt der Name einer im Semitismus audgebildeten, namentlich unter 
den Arabern einft weitverbreiteten Religion, nach welcher die Himmelskörper, Sonne, 
Mond und Sterne, für göttliche Weſen galten und Verehrung empfingen. Die Eat 
flebung einer foldyen Religion lag beſonders nahe einem Volke, welches, wie die 
Araber, in der einfamen, ſtillen Wüfe feine Tage verlebte, in der. fengenden Gluth 
der Sonne bie furchtbare Wirkung eined Gottes und in dem kühlen Silberlicht bes 
Mondes die mildere Macht deſſelben zu erfennen glaubte Vorzüglich mußte das 
Bemüth des Wüfenbemohners von der lieblihen Pracht der Sterne ergriffen werben, 
welche über der Wüſte Hin am Simmel ihre glänzenden Bahnen zogen, Sturm uud 
bie Jahreszeiten verfündeten und dem Reiſenden den Meg buch die weite Debe 
zeigten. Da lag es nahe, ihnen auch einen unmittelbaren Einfluß auf die menfch- 
lichen Geſchicke zuzufchrelben, Kummer und Freude aus ihrer Einwirkung abzuleiten 
und fie als Lenferinnen des menfchlihen Geſchickes au verehren. In der That find 
die fünf großen Planeten, Sirius und Canopus als Himmelsherren im ©. befonberer 
Berehrung gewürdigt worden. Einzelnen unter ihnen, wie dem Mars, brachte man 
wohl fogar Menfchenopfer dar. Vielfache Modiflcationen erfuhr der &., ala er ſich 
in der vordhriftlichen Zeit in den meftaflatifchen Ländern verbreitete und Die verſchi e⸗ 
denen Völker Ihre Mythen in ihn einführten, nach ihm ihre Gulte regelten. Gr attete 
fchlieplig in einen üppigen Naturdienf aus, von dem ſelbſt die heldniſch » griechiſche 
Welt nicht ni blieb. 


Sabatai⸗Gevi. 667 


Sabatai⸗Sepi, tädifcher Pſeudomeſſitas, geb. 1625 zu Smyrna, Sohn Bes 
Mardochai Sevi, welcher in diefer Stadt als Factor einen englifchen Kaufmann an 
die Hand ging und fih damit feine GSubſiſtenz gewann. ©. felbft dagegen wibmete 
fih den Studien, machte im Hebraiſchen und Arabifchen große Fortſchritte, zeichnete 
fih frühzeitig in der Theologie und Metaphyſtk aus und ward in der Dialektik fo 
ſtark, Daß er mit feiner neuen Auslegung des Geſetzes einen Kreid von Anhängern 
um fi verfammelte, ‚aber auch den Argwohn der ordentlichen Gejegeblehrer, ber 
Koham’s, auf fih zog. Bon dieſen endlich aus der Stadt verwiefen, begab er fi 
nach Salontca, wo er nach einander zwei Frauen nahm und ſich von beiden fchied, 
worauf er ſich nach Jerufalem begab und unterwegs eine in Livorno geborene Deutfche 
oder Bolin zu feiner dritten Frau nahm. Sogleich nach feiner Ankunft in der heiligen 
Stadt fing er an, als Meformator des Geſetzes aufzutreten, und ſchaffte er die In den 
Monat Juni fallenden Faſten des Tamuz ab. Bald darauf Iernte er einen Juden, 
Namens Nathan, Fennen, entdedte demfelben, wer er ſei und daß er als Meiflas auf- 
treten wolle, gewann ihn für feinen Plan und Fam mit ihn dahin überein, Daß er 
ihm als Borläufer dienen folle. Während demnah ©. zu Baza die Befreiung des 
jüdifchen Volks nnd feine Erlöfung verfündigte, beeilte fih Nathan, feinen Stamny 
genofjen zu Serufalem zu melden, daß „der Bräutigam“ unter ihnen weile und daß 
fie demzufolge fi von den flrengen Satzungen des Geſetzes Iodzufagen und ſich in 
Subel und Freude auf ihren Triumph über die Völker vorzubereiten hätten. Den 
vereinten Bemühungen beider Abenteurer gelang ed, die Juden ber Türfei dermaßen 
aufzuregen, daß diefelben alle Geichäfte und Handthierungen aufgaben und in der 
fihern Ueberzgeugung, daß fle in Kurzem Herren und Gigenthümer aller Güter und 
Herrichaften der Ungläubigen werden würden, ihre Vorräthe verfchleuberten und ihr 
Bermögen ald Almojen an die Armen vertheilten. Als die Erwartung feiner Stamm- 
genofien dieſen Brad der Schwärmerei erreicht hatte, begab ſich S. nah Smyrnu, 
um fodann in Konftantinopel feine WRifflon zu erfüllen, während Nathan nad Da- 
mascus ging, von wo er an feinen Herrn und Meifter, den Herrn aller Herren, der 
das Gefängnig Ifrael’8 gewendet, den „bimmlifchen Löwen“, einen oflenfiblen Huldi⸗ 
gungsbrief fchrieb und die Juden des Orients auf die bevorſtehende Befreiung vor⸗ 
bereitete. In Smyrna hatte ©. Anfangs mit dem Widerfland der Kocham's zu 
fampfen, boch gelang ed ihm, denſelben mit Hülfe des aufgeregten Volks fo voll« 


- fländig nieberzufchlagen, daß er von Smyrna aus in einem Erlaß an die gefammte 


Judenfchaft der Erde fich als den verheißenen Mefllad und dem Volk Iſrael die nahe 
Erhebung zur Herrſchaft über alle Völker ankündigen konnte. Sodann fehritt er zur 
Wahl der Fürften, die das Volk auf der Reiſe nach den heiligen Lande führen und , 
nach der Wiederaufrichtung des Gottesſtaats Recht und Berechtigkeit handhaben follten. 
Dem Bolfe fehlte zwar nod Etwas — ein Wunder; jedoch auch diefem Mangel warb 
abgeholfen, ald S., um doch Etwas zu thun, ſich zum Stadtrichter, dem Kadi, begab 
und benjelben in öffentlicher Serihtäfigung um Erleichterung des Drudes, der auf 
feinen, Stammgenofien rubte, und um Abhülfe für einige alte Beſchwerden erfuchte, 
Die Juden, bie ihn begleiteten, meinten, daß jegt oder niemald ein Wunderwerk 
geſchehen müffe, flaunten über die ernfle Würde, mit weldher S. vor der Obrigkeit 
erfchien, und glaubten, eine feurige Säule zwifchen bemfelben und dem Kadi zu fehen. 
Der Ruhm S.'s als eined Wunderthäters war bamit geflchert, feine Bofltion in 
Smyrna fchien vollfommen befefligt und er beftieg im Januar 1666 ein Schiff, um 
nah Konflantinopel überzufegen. Der Großvezier indeflen, beforgt gemacht dur bie 
Lebhaftigkeit, mit welcher die Juden der Hauptfladt Ihren Mefflad erwarteten, ließ 
diefen auf feiner Seefahrt feftnehnen und in's Gefängnig werfen. Die Juden ließen 
fi dadurch nicht entmutbigen und faben im widrigen Schickſal ihres Erretters nur 
die Erfüllung der Weiffagung von ben Leiden, welche der herrlichen Regierung deſſelben 
vorangeben follten. Als darauf nad zwei Monaten S. nach einem Darbanellenfchloß 
geichafft wurde, fahen die Juden in dieſer Verfegung eine Erleichterung feiner Haft 
und einen Beweis dafür, daß die Türken ihm nicht an's Leben zu geben wagten, 
logerten ſich fehaarenweife vor dem Gaftell, während aus dem Abendlande ganze Züge 
anfamen, die Alle das Zeichen zum Aufbruch nach dem heiligen Lande erwarteten, 


668 Sabaial⸗Sevi. 


Die Kataſtrophe wurde durch einen polniſchen Juden, Namens Nehemia Cohen, herbei⸗ 
geführt, der, in dem Talmud und in der Kabbala ſehr bewandert, ſich auf den Weg 
gemacht hatte, um auch“ ſeinen Antheil an der meſſtaniſchen Zeit in Empfang zu 
nehmen. In einer Conferenz mit ©. berief er fich Darauf, daß nach den gelehrteften Aus⸗ 
legern der Schrift zwei Mefftaffe erſcheinen müßten, der irdiſche und der himmliſche, ber Pre⸗ 
diger des Geſetzes und ber Herr der Herrlichkeit, der Ben (Sohn) Ephraim und der Ben David. 
Er wollte ferner zugeben, daß man die Siege und Triumphe, die dem Letzteren, dem Erben 
des Thrones David, beſtimmt ſeien, von S. zu erwarten habe, doch glaube er be⸗ 
ſtimmt, darauf Anſpruch machen zu dürfen, als der Ben Ephraim, der geplagte und 
zur Niedrigkeit beftimmte Meſſtas, anerfannt zu werden. S. wagte au nicht, bie 
Rechte dieſes Prätendenten von vorn herein zu beftreiten; als aber oben mit dem 
Bedenken bervorrüdte, dag er, S., fih zu frühzeitig für den obern Mefflad außgege- 
ben Habe, ehe der Ben Ephraim der Welt Fund geworden, faßte der Obermeſſtas den 
Verdacht, Cohen würde, wenn er ihn einmal als feinen nöthigen Official und irdi⸗ 
fhen Genoſſen zugelaffen babe, ihm feinen Thron der Herrlichkeit rauben wollen, und 
verfagte ihm darauf feine Anerkennung. Der Streit der beiden Prätendenten pflanzte 
Ach au unter den Juden fort, die Partei, die für S. war, behielt aber die Ober- 
band, worauf Cohen im Einverfländnig mit einigen unzufriedenen Kocham's bei dem 
Stellvertreter (Kaimalam) des Großvezierd Köprili, der auf Candia zu Felde Tag, 
feinen Gegner S. als einen gefährligen Verfchwödrer denuncirte und ed bewirkte, daß 
der Kalmafam an den gleichfalls abmefenden Sultan Mohamed IV. berichtete, worauf 
der Befehl eintraf, den S. fofort nach Adrlanopel zu fehaffen. Hier wurde dann 
©. nach der Rückkehr des Sultans vor diefen gebracht und, indem ihm mit der Er⸗ 
probung feiner Mefllanität gedroht wurde, monad er den Schügen des Großherrn 
zum Biele dienen follte, zur Mefignation auf den mefflanifhen Titel gezmungen. 
Eine fernere Drohung mit der’ fofortigen Pfählung bemog ihn zur Annahme deB 
muhamedaniſchen Belenntniffes. Die Nachricht von der Apoftafle des ©. brachte zmar 
die Judenfchaft der Türkei zur Beflnnung; da aber Einige immer noch den Glauben 
zu verbreiten fuchten, er felbft fei nicht Türke ‚geworden, fein Leib und feine Seele 
feien vielmehr in den Himmel aufgenommen, von wo er zur beflinmten Zeit wieber 
fonımen würde, nur fein Schatten fet auf der Erde geblieben und ginge daſelbſt mit 
bem weißen Zurban der Türken umber, mußten die Kocham's von Konftantinopel In 
einem Öffentlichen Erlaß ihre Stammgenoffen vor aller ferneren Beicyäftigung mit 
der Perfon des S. warnen. Deögleichen traten fie Nathan, als diefer endlich bei 
Emyrna eintraf und als der verheißene Elias die mefflanifche Erwartung wieder bes 
leben wollte, in einem öffentlichen Erlaß entgegen und zwangen ihn, nachdem er das 
Grabmal der Mutter des ©. ah hatte, fi nach Chios zurüdzuziehen. — Ein 
ausführlicher Bericht Über diefe S.’fchen Unruhen findet fih in der ‚Geſchichte der 
drei berühmten Betrüger diefed Jahrhunderts", Die in englifcher Sprache unmittelbar 
nach dem Auftreten S.'s erfchien und dem Staats ſecretaͤr Lord Arlington gewidmet 
war und deren Verfaſſer feine Nachrichten von einem Augenzeugen hatte; von der⸗ 
ſelben Schrift erſchien 1669 eine deutſche Ueberſetzung, welche Sigismund Hosmann 
in feiner Schrift: „Das ſchwer zu bekehrende Judenherz“ (Helmſtädt 1701) vollftän« 
dig mittheilt. — In der zu Augsburg 1700 erfchienenen Eontinuation des Werks: 

„Neuerdffnete Dttomannifche Bforte* wird ferner erzählt, daß S., nachdem er durch 
fein Bekenntniß zum Koran fein Leben gerettet, von dem türfifchen Geſetzeslehrer 
Banni Effendi in der Meligion Muhamed's unterrichtet wurde und während biefeß 
Unterrichts längere Zeit am Hofe des Sultans Iebte. Er foll eine Menge feiner 
Stammgenoſſen für den Webertritt: zum Muhamedanismus gewonnen haben, wie er 
denn den Türken zu Gefallen erklärt hatte, er habe bie Idee, feine Nation nach Ie= 
sufalem zu führen, aufgegeben, e8 wäre denn, daß feine Leute ihm glei mürden 
und wie er den Schatten und die Unvollkommenheit ihres Geſetzes gegen die Religion 
Muhamed's aufgäben. Er hatte dadurch das Bertrauen der Türken in dem Grade 
gewonnen, daß fle ihm erlaubten, mit feinen Leuten frei zu verkehren, doch foll er 
durch feine neue Lehre, die eine Kombination des Judenthums und des Muhameba- 
nmiſmus gewefen zu fein feheint, es fo weit gebracht haben, daß ibn Viele feiner 


Sabelllens (Marcus Antonius Cocclus). Sabine (Edward). 669 


Stammgenoffen immer noch für ben Mefilad hielten und dem Ausgang ſeines Aben⸗ 
teuerd ungeduldig entgegenfahen, ohne jedoch Durch Hffentliches Gerede ihm und fi 
fel6ft der Türken und Juden Zorn zuzuziehen. Indefien erledigte fein Top im Jahr 
1676 feine Angelegenheit. — Als Zeugniß für die Aufregung, die S.'s Auftreten 
in den Judenkreiſen des Abendlandes hervorgerufen hatte, ift noch Wagenfeil’d Mit⸗ 
theilung in feiner Pera librorum juvefilium erwähnenswert, wonach er ſich Dazu» 
mals, als die Juden, um die Meife nach Kanaan anzutreten, ihre Sachen verkauften, 
in Amfterdam befand und von diefem Weſen auch feinen Nupen hatte, fofern er bei 
biefer Gelegenheit viele jübifche Bücher, ſowohl gedrudte als gefchriebene, erfland, zu 
denen er fonft nimmer gefommen wäre. — Man zählte im vorigen Jahrhundert unter 
den ‚jübifchen Secten auch eine foldhe auf, die als Sabbatärr oder Schabba⸗ 
täer die Anſichten des Subatai (mir behalten nämlich die Form dieſes Namens bei, 
unter welcher die Berichte der Zeitgenofien von ihm erzählen) fortgepflanzt bätten, 
bis fle fich feit der Mitte des vorigen Jahrhundert unter den Ghriften und Muha⸗ 
mebanern verloren. Neuere jüdifche Gefchichtfchreiber des Judenthums glauben von 
dieſer Secte etwas Weitereß berichten zu Eönnen; allein mehr als ein bloßer Schein, 
daß den Anhängern derfelben eine Art von Ausgleichung des Judenthums mit dem 
Mubamedanismud oder auch mit dem Chriftenthum als Ziel dunkel vorgefchwebt habe, 
kann von ihnen nicht gelagt werden. Die legte, noch von der Kabbala beberrichte 
Sectenbildung des Judenthums war eine höchſt formlofe; erft nachdem die Aufklaͤ⸗ 
rung des Abendlandes felt der Mitte des vorigen Jahrhunderts in das Jadenthum 
eindrang, bat dafjelbe auch feine Ausgleichungdverfuche mit der chrifllicden Religiond⸗ 
entwickelung in geordneterer Weile anftellen und feine Oberherrichaftsaniprüche neben 
dieſem herablaſſenden Synkretismus etwas Flarer formulicen Fünnen. (Siehe darüber 
den Artikel: jubenshum in der Fremde.) Ä 

Sabbatäer, f. d. Art. Sabatai⸗Sevi. 

Sabbath |. Sonntag. 

Sabbathianer ſ. Sabatai⸗Sevi. 

Sabeller ſ. Rom. 

Sabelliend (Marcus Antonins Coccius), Hiſtoriogtaph Venedigs, geb. 1436 
zu Wicovaro in der Campagna di Roma, an der Grenze des alten Sabinerlandes, 
weshalb er feinen Namen Coccio in Coccius S. ummandelte. Er wurde, nachdem 
er fi unter Pompontus Lätus gebildet, 1475 als Profeffor der Beredſamkeit nad 
Udine berufen, 1484 für daſſelbe Amt nach Venedig, von wo er fich jedoch bald 
darauf der Pefl wegen nach Verona zurädzog. Hier fchrieb er feine 1487 zu Venedig 
veröffentlichte Historia rerum Venetarum, ab urbe condita ad obilum ducis Marei 
Barbadici, von welcher 1507 und 1534 italienifihe Veberfegungen erfchienen. Die 
Republik war mit Diefer Arbeit fo zufrieden, daß fle ihm eine Jahrespenſion dafür 
derretirte und ihn außerdem zum Gonfervator der Bibllothek von San-Marco ernannte, 
weicher Poſten bis dahin den Großmürbenträgern des Staates vorbehalten war. 
Unter feinen andern Arbeiten, 3. B. Gommentaren zu römifchen Autoren, iſt noch 
bervorzuneben feine Weltgeichichte, die unter dem Titel Rhapsodiae historiarum in 
den Jahren 1498 und 1504 erfhien. Er flarb zu Benedig 1508; eine vollfländige 
Sammlung feiner Werke erichien 1560 zu Venedig in 4 Folianten. 

Sabelling ſ. Antitrinitarier. 

Sabine (Edward), engliicher Phyſiker und Mathematiter, geb. 1790, gehört 
einer aus Italien flammenden Familie an. Er trat als Artillerieoffizier in die eng- 
lifche Armee ein, nahm darauf als Phyſiker der Expedition an Parry's (f. d. Art.) 
Meife in den Jahren 1819 und 1820 Theil und leitete 1822 und 1823 felbft - eine 
Expedition, ‚welche die Küften Afrika's und Amerika's unterfuchte und darauf nad 
Spigbergen und Grönland vordrang, um unter verfchiedenen Längen über den Pendel 
md Erdmagnetidmus Beobachtungen anzuftellen. Spättr übertrug ibm bie englifche 
Regierung die Geſammtredaction der magnetlichen und meteorologifchen Beobachtungen 
der Golonieen. 1837 zum Major, 1846 zum Oberfllientenant ber Artillerie ernannt, 
it er 1852 Vicepräfident und Schagmeifler der Royal Society geworden. Seine 
Sauptfchriften find: A pendulum expedition (Kondon 1825), ferner Magnetical and 





620 Sabiner. Sabinns (Aulus. — Georg). 


meteorological observatory at St.-Helena (London 1847). Außerdem Hat er die 
Nefultate feiner Linterfuchungen in den Philosophical transactions veröffentlicht. 

Sabiner waren ein fabellifher, mittelitalifcher Volkoſtamm, einft ſeßhaft auf 
ben Höhen des Apennin, um den jekigen Gran Saffo und um Amiternum, von wo 
er ſich nach den Gegenden des Tiber und Anio zu audbreitete und mit einem Zweige 
in dem fpäteren Stadtgebiete Roms den Quirinal einnahm. Die Sage läßt die qui« 
sinalifche Bevölkerung unter dem König Titus Tatius mit den auf dem Balatin an- 
fAßigen Latinern unter Momulus zu einem Volke verſchmelzen und giebt dem fpäteren 
Mom fogar einen fabinifchen König Numa Pompilius. Die Namen der Könige, wie 
Die näheren Umſtaͤnde, unter denen die Verfchmelzung von S. und LKatinern In Mom 
Rattgefunden haben fol, läßt fich eine Eritifhe Geſchichte Noms nicht mehr als glaub⸗ 
haft aufbringen, aber das Vorhandenſein fabinifcher Elemente in dem älteften römi« 
Ihen Staatd- und Religionsweſen erkennt fle mit Bereitwilligkeit an. Vergl. d. Art. 
Nömiſche Geſchichte und Berfafiung. In der Sage vom Raube der Gabine- 
sinnen liegt vielleicht mythiſch die Idee ausgedrückt, welcher hiſtorlſche Facta ent⸗ 
ſprechen, daß der männlich kraͤftige und kriegeriſche Latinerſtamm von den S. das bie 
Sitten mildernde Religiondmwefen zum großen Theil entlehnte. Im Uebrigen aber 
erzählt Die ältere römifche Geſchichte auch von Kriegen zwifchen den Roͤmern und 
Sabinern, die bie zum Jahre 448 v. Chr. dauerten und nad einer geraumen Frie⸗ 
denszeit im Jahre 290 v. Ghr. von Neuem entbrannten, bis die S. dem flegreichen 
Eurius Dentatus erlagen. Mom errang in diefem Kampfe die politifhe Oberherr- 
fchaft über die mittelitalifhen Stämme überhaupt. In den fpäteren Zeiten wurde 
der Sabinerſtamm ganz unbedeutend und Sabini ein „geographifcher Begriff“. Den 
alten ©. rühmte man Yrömmigkelt, Sittenfirenge und Genügſamkeit nach und daB 
fabinifhe Rand (ager Sabinus) war fruchtbar und weidereld. 

Sabinus (Aulus), Iateinifcher Dichter des Zeitalters des Auguflus und Freund 
des Dpid, dem er im Genre der Heroiden in fofern ſich anfchloß, als er auf beflen 
Hervendriefe Antworten verfertigte, von dehen und nur noch bie Briefe des Ulyffes 
an Penelope, de8 Demophoon an Phyllis und des Paris an Denona erhalten find. 
Diefelben entbehren der Phantafle und der geiftreichen Sprache, die feinem Breunde 
und Muſter zu Gebote ſtanden. Man Hat jedoch öfters die Behauptung aufgeſtellt, 
daß fie von Angelus Sabinus, einem lateinifchen Dichter des 15. Jahrhundert, Her» 
rühren, obgleich fle ſchon in der erften Ausgabe der Werke des Ovid (Venedig 1486) 
fich finden. 2örd in der Ausgabe von Ovidii Heroides et Sabini Epistolae (Köln 
1829 — 30. 2 Bde.) Hat fie Fritifch bearbeitet. 

Sabinus (Georg), deutfcher Gelehrter, Diplomat und Poet. Ex hieß eigentli 
Schüler, legte fi aber in einem Verein von Freunden, die gleich Ihm der latei⸗ 
nifhen PBoefle Huldigten, den Namen des römifchen Dichters Sa binus (f. d. Art.) 
bei. Er ift den 23. April 1509 zu Brandenburg in der Mark geboren, kam im 
15. Jahre feines Alters auf die Univerfität Wittenberg und zeichnete ſich daſelbſt durch 
den Erfolg feiner Studien, unter Anderm aud durch feine Nachahmungen des Ovid 
jo aus, daß Erasmus in einem Briefe von ihm prophezeite, er werde bereinft eine 
befondere Zierde von Deutfchland werden. Er war auch ein vortrefflicher Redner 
und wurde deshalb von verfchiedenen hohen Häuptern bewundert. Seine zwei Bücher 
de caesaribus germanicis, von ihm im 25. Jahre gefchrieben, machten ihn zuerft be⸗ 
fannt, und bdiefelben wurben fpäter von Freher unter die Scriplores rerum germani- 
carum aufgenommen. Darauf midmete er fi ver Jurisprudenz, wurde Doctor der⸗ 
felben und machte 1533 eine Reife nah Italten, wo Ihn der Erzbifhof von Brinpifl 
zum gefrönten Poeten, Ritter und comes palatinus machte. Nach Wittenberg zurück⸗ 
gekehrt, Heirathete er daſelbſt 1536 Melanchthon's Tochter, die im Lateinifchen wohl 
erfahren war und 1547 zu Königäberg farb. 1538 warb er Profefior zu Frank⸗ 
furt a. O. und erklärte an diefer Univerfität die Lateinifchen Redner und Dichter. 1541 
ging er mit dem Kurfürften von Brandenburg nad Regensburg und wurbe bort von 
Karl V. auf's Neue geadelt. Darauf half er die Univerfität Königsberg aufrichten und wurbe 
1544 der erſte Rector berfelben, follte auch dieſes Amt Iebenslang behalten, legte 
Yaffelbe aber drei Jahre fpäter und darauf wegen ber Händel mit Ofiander (f. d. Art.) 


Sabliöre (Antoine Rambouillet de Ta). Y 


auch feine Profeſſur nieder und brachte den Heft feines Lebens in Frankfurt mit 
Lehren und Stantsgefchäften zu, nachdem ihn der Kurfürft Joachim von Brandenburg 
unter feine vornehmften Mäthe aufgenommen hatte. Derfelbe ſchickte ihn 1560 als 
Geſandten nad Itallen; von dort fam er aber krank zuräd und flach noch in dem⸗ 
felben Jahre am 2: December zu Frankfurt. Meben feinem libellus de electione et 
coronatiene Caroli V. (auch Melanchthon zugefchrieben und in Schardii Scriptores 
rerum germanicarum aufgenommen), ferner der Historiola de Hugane et Theodorico 
Marchionibus Brandeburgeusibus ımd der Schrift de vila et rebus gestis Maximilieni, 
haben ihn befonderß feine in der Art des Dvid verfaßten Elegieen befannt gemadt; 
dieſelben erfchienen 1563 zu Leipzig unter dem Titel Sabini carmina. Sein von 
P. Albinus verfaßtes Leben, „vita Sabini*, bat Gruflus (Liegnig 1724) vermehrt 
beraudgegeben. Vergl. Töppen: „Die Gründung der Univerfltät zu Königsberg und 
das Leben ihres erfien Nectord Georg S.“ (Königsb. 1844) und Heffter: „Erinnes 
sung an Georg S.” (Leipzig 1844). 

Sablidre (Antoine Ramboutllet de Ta), Verfaſſer einer Eleinen Sammlung 
von franzöftichen Mabrigalen und der Mann der Frau v. S., einer Illuflration des 
Zettalterd Ludwigs XIV. Sein Vater, Namens Rambouillet, der. fih als Finanz« 
pächter ein anſehnliches Vermögen erworben, hatte fich bei dem Vorwerk Heulli, dem 
alten Romilliacum, dem Luftfig der erften franzöflfchen Könige, in der Mitte des 17. 
Jahrhunderts noch: ziemlich weit außerhalb der Mauern von Paris gelegen, fpäter mit 
dem Faubourg St. Antoine vereinigt, angefauft und einen großen Kunftgarten mit 
einem geſchmackvollen Landhaus angelegt. Wan nannte diefen Lanbfig, den die Bots 
fihafter der nicht-Fatholifchen Mächte zum Ausgangspunkt ihrer folennellen Auffahrten 
zu machen liebten, Sarbin de Reuilli oder Folie⸗Rambounillet. Obwohl dieſes Be⸗ 
figthum von einem fpäteren Käufer (1720) in einen Gemüfegarten umgewandelt ifl, 
fo Hat fih der Name Rambonuillet doch an dem Grund und Boden und an einer 
vor demſelben vorüber führenden Straße erhalten. (Beiläuſtg iſt zu bemerken, 
daß der Finanzpächter Rambouillet mit- der alten Bamilie der d'Angennes de 
Hambouilfet nicht zufammenhängt, und dab man mit Unredht dad Landhaus bed 
Finanzpaͤchters Hfter mit dem Hotel jener Familie, dem ald Sig der Pröcieufes, ber 
feinen Lebensart und der Schöngeiftigfeit berühmten Hotel de Mambouillet, verwechfelt 
hat.) Antoine, der Sohn des Finanzpädters, geb. um das Jahr 1615, erhielt 
eine ausgezeichnete Erziehung, ergab fich mit Eifer den Studien und wußte Gefchäftd- 
tüchtigkeit und die Sorge für die Vermihrung feines Vermögens mit dem Geſchmack 
für die Wiffenfchaft, fo wie mit feiner Leidenfchaft für dad Vergnügen und für bie 
Frauen zu vereinigen. Eine ebebrecherifche Verbindung, die er mit einer Madame 
La Tanneur hatte, löfte ſich in der Reue ber Legteren auf, die Alles ihrem Manne ge⸗ 
Reben wollte, wa8 S. nur dadurch verhinderte, daß er fich plöglich mit einer Mile. 
Heflein oder Heſſelin verheirathete. Die Schönhelt und Anmuth, der Geift, das Wiffen 
und alle jene Eigenfchaften der Frau von La ©., die ihr in der Gefellfchaft einen 
großen Namen verfchafften, konnten jedoch die unbeftändige Neigung ihres Mannes 
nicht feſſeln, und fle ſelbſt hielt fich nicht für verpflichtet, einem Wanne, ber im Ber» 
bältniß zu den Frauen mit den Eiden fpielte, eine unverlegliche Treue zu bewahren, 
Ein Verwandter, eine würdige Magiftratöperfon, fagte ihr eines Tages: „Ei, Madame, 
immer Liebeleien! Man Hört nur davon in diefem Kaufe reden! Machen Sie wenig⸗ 
ſtens zumellen eine Pauſe! Selbft die Thiere haben dazu nur eine beſtimmte Zeit!* 
„Dad macht, erwiderte Frau von La S., weil. fie Thiere find.“ Beide, Mann und 
Frau, gleich liebenswürdig und geiftreih, wußten ihre Haus zum Sammelplag der 
anßgewählteften Gefrllfchaft zu machen. Die Gelehrten und Schöngeifter fanden bei 
ihnen gerechte Würdigung und eine aufgeflärte Protection. Ihr Haus ward unter 
Andern vie Helmath La Fontaine's. Der Mann übertraf dabei alle feine Zeitgenoflen 
in der Kunfl des Madrigals und erwarb’ fich fogar den Beinamen bed „franzdftichen 
Madrigaliflen*. Die meiften diefer kleinen poetifchen Kunſtſtückchen, die fih noch er⸗ 
halten haben, hatte er einer jungen Dame gewidmet, Die er unter dem Namen Iris 
feierte. Sie war Marie Banghanghel, Tochter‘ eines Holländers, dem ihr Verehrer in 
der Verwaltung der koͤniglichen Domänen einen Poſten verſchafft Hatte. Sie ſelbſt 


612 Sachini (Antonio Maria Gasparo). Sacheverell. 


hing mit Beſtaͤndigkeit an ihm und blieb un ſeinetwillen gegen alle Anträge, bie ihr 
gemacht wurden, taub. Rachdem La S. diefer Verbindung mehrere Sabre hindurch 
genofjen hatze, hörte er, von einer Meife zurückkehrend, beim Eintritt in fein Haus, 
daß die Vanghanghel geftorben fei, brach zuſammen und flarb dad Jahr darauf, 1680. 
No in feinem Todesjahre veröffentlichte fein Sohn Nicolas eine Auswahl feiner 
Madrigale, die fogleich in Holland von den Elzevirs nachgebrudt wurde, 1758 ihre 
legte Audgabe erlebte, und aus ber feitdem in Literarifchen Sammelwerfen Proben 
mitgetheilt wurden. Voltaire zählte ihn im feinem Sieche de Louls XIV. unter den 
illüſtren Perfonen jenes Zeitalter auf. — Seine Frau genoß in der Sefellichaft ihrer 
Zeit einen noch größeren Ruf ald er. Akademiker Hatten fie in der Mathematik, 
Phyſtk und Aftronomie unterrichtet. Bernier, den fie wie La Fontaine in ihr Haus 
aufgenommen hatte, verfertigte zu ihrem Unterriht einen Auszug aus den Werken 
Gafſendi's. Boileau, den ſie einmal auf einen ſprachlichen und ſachlichen Schniger 
aufmerkjam gemacht hatte, zeichnet fie In einem feiner Verſe, ohne ihren Namen zu 
nennen, als eine Bedantin. Bayle aber verfichert, daß fie überall als ein außer» 
orbentlicder Geiſt befannt geweſen fei. Ludwig XIV., der für alle Arten von Berbienft 
ein fcharfes Auge hatte, beehrte fie äfter mit feinen Geſchenten. In den Briefen der 
Sevigné und in allen Schriften: jener Zelt wird ihr jene Art von Liebenswürdigkeit 
zugeichrieben, Die Das Lächerliche des Bedantifchen ausfchließt. Die flolze und reizbare 
Mile. de Montpenfter beklagt fi in ihren Memoiren darüber, daß dieſe Feine Bürs 
gerliche ihr den Herzog von Lauzun geraubt habe, und daß ihre Gefellichaften dem 
Hofe oft die Tiebenswärdigfien Seigneurd entzögen. Das Zufammentreffen ded Todes 
ihres Mannes und des Grfaltens ber Leidenfchaft, welche fie dem Marquis de Ia Fare 
eingeflüßt Hatte, führte die La S. zur Religion zurüd. Sie widmete den Meft ihres 
Lebens der Unterflügung der Armen und der Krankenpflege und zog ſich zu letzterem 
Zwed endlich feldft zu Den Ineurables zurüd, wo ſie den 8. Januar 1693 farb. Sie 
hatte ſelbſt weiter nichts als einige Pensees ehrötiennes gefchrieben, welche Amelot 
de la Houſſaye und fpätere Herausgeber an ihre Ausgaben der Marimen La Roche⸗ 
foucauld’6 anbängten, die aber, nachdem fie fpäter aus diefer Verbindung abgelöft 
worden, nicht wieder zum Drud gebradt find. 

Sachini (Antonio Maris Gasparo), italienifcher Gomponift, geb. 1735 zu Nea⸗ 
pel, erhielt ebendaſelbſt unter Durante feine muſikaliſche Ausbildung, führte feine 
erfien Opern zu Mom auf, erhielt darauf die Direction des Gonfervatoriumd von 
Ospebaletto zu Venedig und folgte dann einem Auf ald Componiſt für bie Italieni- 
fhe Oper nach London. Hier erwarben ihm fein Montezuma, fodann der Perfen® 
und ber Gid allgemeinen Beifall. 1783 nahm er den Auf ald Gomponift nach Paris 
an. Do wurde ed ihm fchwer, fich bier zwilchen den für Biccini oder für Glud 
ftreitenden Parteien zu behaupten; den größten Triumph erwarb ihm bie Aufführung 
feined Debipus auf Kolonss auf dem Hoftheater zu Verſailles, in welchem feine 
Stärke, die Combination des Geſanges mit ber Declamation, beſonders effectvoll here 
vortrat; feine Gegner wußten indeflen diefe Oper vom Mepertoire bes Hofes zu ent⸗ 
fernen und er wollte bereitö einem neuen Auf nach England folgen, al8 er den 7. De 
tober 1736 zu Paris plöglich farb. 

Sachenrechte ſ. Realrechte. 

Sacheverell, Doctor der Theologie und Prediger der Hochkirche unter der Ks 
nigin Anna, ift einzig und allein dadurch befannt, daß er lirfache der kurzen Rieder⸗ 
lage der Whigpartei von 1710—1714 geworden if. Er hatte den Muth gehabt, 
in einer Predigt abfolutiftifch -facobitifche Grunpfäge auszufprechen. Godolphin und 
Marlborough ließen ihn gerichtlich verfolgen. Sept trat er als Märtyrer auf. Seine 
Bertheidigungsrede, die wahrfcheinlich von dem befannten facobitifchen Biſchof Atter- 
bury aufgefegt war, berechnet auf die noch im Großen dem Haufe Stuart wohlge⸗ 
finnten Waffen, ftellte feine Verfolgung als eine gegen die Hochkirche gerichtete Dar. 
Er wurde freigefprochen und von dem Jubel des Volkes begrüßt. Da auch Aana 
in feiner Berfolgung einen autofratifchen Webergriff der Whigs gefehen hatte, fo er⸗ 
folgte feßt dad Unerwartete. Die Minifler, die jene durch ihre Freundin, die Herzogin 
Sarah yon Narlborough, biäher ale Werkzeug benutzt Hatten, wurben entlafien, und 


Sacht (Sans). | 673 


Harley, Graf von Orford und Bolingbrofe an bie Spike einer Torpregierung ges 
ftellt. Sie fchloffen mit Frankreich den Frieden von Utrecht und Hätten vielleicht ohne 
den plöglihen Tod der Königin der facobitifchen Sache zum Siege verholfen. Seribe, 
der in feinem „Glas Wafler* die Hofintriguen fchildert, welche in den Sturz Marl⸗ 
borough's mit hinein fpielten, laͤßt Bolingbrofe fagen, „daß auch ein Sandkorn unter 
dem Rade den Wagen umftürzgen Eönne*, ein Ausfpruch, der auf ©. und die Folgen 
feiner Predigt vollfommen zutrifft. Die englifchen Siftorlfer nehmen von ihm ſelbſt 
nur, als von einer „thoͤrichten Perſon“ Notiz. Er ſtarb den 5. Juni 1724. 

Sachs (Hans), deutſcher Dichter, geboren am 5. November 1494 zu Nürnberg, 
wo fein Vater ein ebrfamer Schneidermeifter war, befchäftigte fih fchon als Schuh⸗ 
macherlehrling mit der Dichtfunft und ließ ſich im Technifchen des Meiſtergeſungs von 
Leonhard Nunnenbed, einem Leinmweber, unterrigten. Mit 17 Jahren ging er als 
Handwerfögefell auf die Wanderfchaft, und zwar zuerfi über Regensburg nach Tirol. 
In Innsbruck fchien fein Lebensplan eine andere Wendung nehmen zu wollen; er 
wurde nämlich Kalfer Marimilian’s I. „Waidmann“. Seine „Kurke Lehre für einem 
Waydmann“, die er 1555 bichtete, zeigt, daß er dem Waidwerk mit aller Liebe oblag. 
Bald wanderte er aber als Schufler meiter und kehrte erft nach fünf Jahren in feine 
Helmath zurück (1516), wo er fih als Schuhmadhermeifter niederlich und ſich mit 
Kunigunde Ereugigerin verheirathete. Er farb dafelbfi den 19. Ianuar 1576. H. 
S. war ein außerordentlich fruchtbarer Dichter; er verfertigte in feinem 74. Lebens⸗ 
jahre ein Berzeichniß feiner poetifchen Producte. Da fand er denn in 34 (Folio⸗) 
Bänden, die er mit eigener Hand zufammengefchrieben, 4275 Meiftergefänge, 208 
„Fröliher Comedi, trawriger Tragedi und Eurgmweiliger Spiel”, 1700 „Geſprech, 
Sprüch, Babeln und Schwenk, geiftli und weltlich“, außerdem noch proſaiſche Dia⸗ 
Iogen, Pfalmen und andere Kirchgefäng, verändert geiflliche Lieder, auch Baffenhauer, 
Lieder von Kriegögefchrey und etliche Buhllieder, im Banzen 6263 Stüde. Die von 
ihm felbft begonnene Folio-Ausgabe feiner Werke erfhien 1570—1579 zu Nürnberg, 
nachdem er fchon früher (1558—1561) eine Sammlung in gleihem Format hatte 
erfcheinen .Taffen. Selten iſt die Ausgabe: „H. Sachſens artliche und gebundene Ge⸗ 
dichte in mancherley Art" (Nürnberg 1591, Fol.). Auswahlen aus feinen Werfen 
baben veranftaltet: Bertuch, „Proben aus ©. S.'s Werken" (Weimar 1777), Büs 
fing, „Erzählungen, Dichtungen u. f. w.“ (Nürnberg 1829—1830, 4 Bbe.), I, A. 
5; (Nürnberg 1829—30, 2 Thle.) W. Hopf „Hand Sachs“ (Nürnberg 1856, 
2 Bochn.). Sein Leben if geſchmacklos und wmeitichweifig befchrieben worden von 
Ranifch (Altenburg 1765). Bol. auch Leonard Meiſter's Charakteriſtik deutfcher 
Dichter“ (1. Band, Züri 1785), S. 75—93, Ehr. Heinr. Schmibt's „Nekrolog der 
teutfchen Dichter“ (Berlin 1785), 1. Bd., S. 20—34, Friedrich Yurdhau „Hand 
Sachs“ (Leipzig 1820), I. 8. Hoffmann, „Hand Sachs. Sein Leben und Wirken, 
aus feinen Dichtungen nachgewiefen* (Nürnberg 1847), Heinrich Kurz, „Deutiche 
Dichter und Profaiften* (Leipzig 1863), S. 277—317. Ueber die Stellung, welche 
H. ©. in feiner Zeit einnahm, bat Gervinus fich in feinem „Handbuch der Geſchichte 
der poetifchen Riteratur”, 6 135, fehr treffend ausgeſprochen: H. S. galt im 16. 
Jahrhundert ſelbſt Het "Belehrten und Geiftlichen als eine moralifhe Autorität. 
Anders wurde e8 in der Folgezeit. Zwar gab es noch immer während des 17. Jahr⸗ 
Hundertd einzelne Verſtaͤndige, die den Werth feiner Poeſte anerkannten, im Allgemei« 
nen ‚jedoch ſank fein Anſehen fihilih, zumal nad der Mitte dieſes Jahrhunderts, 
Immer mehr drang die Meinung dur, H. ©. fei nichts weiter, al8 ein elender, ges 
fhmadlofer Reimer gewefen ; ganz unverhällt trat fie and Licht in dem verrufenen 
Streit zwifchen Wernide und Boftel in den erftlen Jahren des 18. Jahrhunderts. 
Wernide, von PVoftel beleidigt, fuchte ſich durch ein fogenannted Heldengedicht zu 
rächen, welches „Hand Sachs“ überfchrieben war. Erft Goethe, von Liebe und Ber» 
ebrung für den alten Meifler durchdrungen, bat fein Andenken wieder zu Ehren ger 
bracht, indem er, In Form und Ton ihn nachahmend, feine unvergleichlihe „Erklaͤ⸗ 
sung eines alten Holzſchnittes, vorftellend Hans Sachfens poetifche Sendung“ (zuerft 
mit einem Nachworte Wielands, im Mprilhefte des „Mercurs” vom Jahre 1776 er⸗ 
ſchienen) dichtete. Vgl. über dieſes Gedicht Die treffliche Abhandlang, welche Auguſt 


Wagener, Staats⸗ m. Geſellſch.⸗Lex. XVI. 43 


674 Sachfen. (Konigreich). 


Koberſtein unter der Ueberfchrift: „Zu und über Goethe's Gedicht, Hans Sachſens 
poetifhe Sendung” in feinen „Bermifchten Auffäben zur Literaturgefchichte und Aeſthe⸗ 
tif” (Leipzig 1858), ©. 63—90, veröffentlicht bat. Das Nachwort Wieland’s if 
wieder abgebrudt in dem 48. Band der Gruber’jchen Ausgabe, ©. 238 ff. Am aus⸗ 
gezeichneiften iſt H. S. in den Faftnachtsfptelen und in den fogenannten 
Schwänfen, und auf diefe if varzugsweife der Ausfpruh Jacob Grimm's (Vgl. 
Haupt’ „Zeitfchrift für deutſches Alterthum“, 2. Bb., S. 258) zu beziehen, Daß 
„Hand Sachs Alles dichte und Doch nichts erdichte.“ Alle Gedichte Hand Sachſens 
beſchließt ein Reim auf jeinen Namen. Durch das allegorifihe Gedicht: „Die Wit 
tenbergifh Nachtigall, Die man jetzt Höret überall“ (1523) wurde H. ©. einer der 
erfien Vertheidiger der Meformation, und unter den Dichtern wohl der erfle. Als 
Luther flarb, dichtete er „Ein Epitaphium oder Klagred ob der Leih D. Matt. Lu⸗ 
theri.“ Beide Gedichte find abgebrudt in der Eleinen Schrift: „Stimmen aus drei 
Sahrhunderten über Luther und fein Werk“ (Dresden, 1817), S. 5—30. Kaum 
war Luther's Bibelüberfegung erfchienen, fo arbeitete er einzelne Theile in gebunde- 
ner oder ungebundener Mebe aus und verbreitete diefe neue Lehre mit Hülfe der Mittel, 
die ihm Nürnberg bot, in reißender Schnelligkeit über alle Theile Deutſchlands. Be⸗ 
fonder8 erwirkte er der Neformation auch dadurch Eingang bei der arbeitenden Kläffe, 
daß er beliebten Volksliedern evangelifhe Dichtungen unterlegte und fie jo dem 
Volksgedächtniſſe mit didaktiſcher Muſik einprägte. Cine größere Bedeutung für Die 
Säynelligkeit, mit der die Lehren der Neformation überall in Deutichland Wurzel faß- 
ten, haben aber die profaifchen Gefpräce, in welchen S. die Mibbräuche der päpft- 
lichen Kirche und die Grundfäße des neuen Glaubens mit einer wirklich bewunderungs⸗ 
würdigen Gewandtheit in Behandlung der Form und der Sprache darſtellte. Ban 
legt ihm gewöhnlich ſieben Dialoge bei, doch find jegt nur vier befannt (herausge⸗ 
geben yon R. Körner, Weimar 1858.) Sie wurden fon 1524 gebrudt und fan 
den fo viel Beifall, daß bald darauf eine niederdeutſche Ueberſetzung von ihnen er⸗ 
fhien. In dem erflen „Diöputachen zwifchen einem Chorherrn und Schuhmacher, 
darin das Wort Gotted und ein recht Chriſtlich weſen verfochten wirt. Hans Sache, 
1524" wird die Unmiffenheit der Geiftlichkeit und ihr Hang zur Völlerei auf eine 
ſarkaſtiſche Weife, die freilich unferem Geſchmacke ziemliy fern Itegt, die aber auf Die 
damalige Zeit von bedeutender Wirkung gewefen fein muß, bloßgeftellt. Aber nicht nur 
gegen die Beiftlichkeit, den Adel und die höheren Stände überhaupt wendet fih S.; 
bieder, gemäßigt und voll edler Menichlichkeit, wie er war, kaͤmpft fein volks thüm⸗ 
liches Talent gegen alles Gemeine und Boßhafte, wo er es findet, und giebt er auch 
nicht weniger feinem Stande derbe Lectionen. — Deinhardftein bat in „Hans Sachs”, 
einem dramatifchen Gedichte in vier Acten („Künftlervramen”, 2 Thle.), den „ Schu- 
ſter“ zu ſehr, den „Dichter” zu wenig berausgeftellt. Der bekannte Volksſchriftfteller 
Auguft Wildenhahn Hat jegt, wie er früher Johannes Arndt, Paul Gerhardt, Martin 
Luther und Philipp Jakob Spener behandelte, auh H. S. zum Gegenftande einer 
populären Darftellung gemacht (Leipzig 1864). Die Grundlage des Buches bildet 
die Erzählung, welche der ehrfame Bürger von Zwidau und Schuhmachermeifter Jo⸗ 
hannes Roth, der emfl in feinen Wanderjahren einige Zeit beim Meifter Hans Sachs 
in Nürnberg arbeitete, als alter Mann niebergeichrieben hat. Die fpärlihen Bro» 
famen der Bamilienfage über den Meifterfänger find von Wildenhahn gefammelt; er 
meint, der geneigte Leer möge fle, ohne die Scrupeln eines Gelchichtöforfchers, zu 
feiner Ergdglichkeit und ohne Arg gentefen und des Hauſes Nr. 969 im Mehlgäßchen, 
der jeßigen Hans⸗Sachſens⸗Gafſe, zu Nürnberg gedenken. 

Saäachſen und die ſachſiſch-thüringiſchen Staaten — I. Königreig 
Sachſen. A. Geographie und Statiftif. — Das Königreih ©. bildet außer 
einigen Eleinen in Thüringen gelegenen Enclaven ein abgeichloffenes Land, das öſtlich 
an die preußifche Oberlaufig, ſüdoſtlich an Böhmen, ſüdlich an Bayern, ſüdweſtlich 
an das Fürſtenthum Neuß und das weimarifche Gebiet, weftlich ebenfalld an dieſes, 
an Sachſen⸗Altenburg und an die preußifche Provinz Sachſen, norbwefllih und noͤrd⸗ 
lich ebenfalld an letztgenannte und norböftlich an die preußifche Riederlauſitz grenzt. 
Seine natüslihen Grenzen gegen Böhmen, das böhmifch-fächlliche Gebirge, das fi 


(Geographie und Gtatifik.) 676 


vom Boigtlande über das Erzgebirge bis zum frienlänbifchen Gebirge ausbehnt, fallen 
felten mit den politifchen zufammen, im Uebrigen bildet das Land eine große gegen 
Nordweſten etwas abfallende Ebene, von geringen Höhenzügen bin und wieder durch⸗ 
brochen. Die größte Länge des Königreich® beträgt in der Richtung von Oſten nad 
Weſten 30,, Meilen, die größte Breite von Süd nad Nord 19,, Meilen und der 
Flächenranm 271,5, DM. (vor der Teilung von 1815 betrug das Areal des Kb 
nigreihs 639 DM), auf welden nach der letzten Zählung vom Jahre 1861 
2,225,000 Einwohner leben, die ihrer Abſtammung nach Überwiegend deutfchen Stam⸗ 
med find, nur im norböfllichen Theile der alten Markgrafſchaft Meißen wohnen Abs 
koͤmmlinge alter wendifcher Stämme etwa in der Zahl von 55,000, ihre eigene Sprache 
redend. Dem religiöfen Befenniniffe nach gehört die große Mehrzahl der Landes- 
bemphner, etwa 2,150,000, der evangelifch-Iutherifchen Kirche an, etwa 50,000 (ver 
größte Theil diefer Zahl in der Oberlaufig und im altkatholifchen Baugen) find rd» 
miſch⸗katholiſch, 5000 MReformirte, etwa 1500 Deutich- Katholiken und eben fo viele 
Juden, zu denen noch circa 500 Griechiſch⸗Katholiſche und kaum 300 Anglifaner 
kommen. Von dieſer Befammtzahl der Staatsangehörigen leben etwa 38 Procent 
oder 825,000 Köpfe in den 142 meift kleinen Städten des Landes, die übrigen 62 
Procent der Bevölkerung in den 3696 Fleden, Dörfern und einzelnen Wellen. Die 
Dichtigkeit der Bevölkerung beiträgt im Durchſchnitt auf die Quadratmeile 8185 und 
übertrifft fomit die aller europäiichen Staaten mit einziger Ausnahme Belgiens, mo 
der Durchſchnittsſatz die Zahl 8707 erreicht. Die volkreichſten Diſtricte S.'s find das 
Erzgebixrge, dad Voigtland und die Oberlauflg, wo etwa 12,000 Einwohner auf der 
Quadratmeile wohnen. Nach der Zeitfchrift des ſtatiſtiſchen Bureaus des königlich 
ſaͤchſiſchen Minifleriums des Innern kommt auf die 3841 Ortfchaften bed Landes eine 
Durchfchnittö-Benölferung von 585 Seelen, auf die 236,419 Wohngebäude aber in 
den Städten eine foldhe von 14, auf dem Lande von 8 Seelen; die Bevölkerung iſt 
in der Zeit von 1834 bis incl. 1861 um 391/, Proc. gewachſen, wobei die Einwirkung 
von Aus» und Einwanderung ohne Bedeutung if, Iegtere fogar die erflere überſteigt. Die 
Hauptſtadt des Landes und Mefldenz des Königs if Dresden (f. d. Art.); unter 
den übrigen Städten find bie bedeutendſten Leipzig, Freiberg, Chemnitz, 
Zittau, Baugen, Zwidau, über welche wir in fpeciellen Artikeln gehandelt 
haben, vefp. handeln werden. In politiſcher Beziehung ift das Königreih In vier 
Megierungsbezirke getbeilt: den Dresdener, 781, DM. groß, mit 5 Amts⸗ 
Hauptmannfchaften und 12 Aemtern; den Leipziger Bezirk, 68 Q.M., mit 3 
Amtshauptmannfchaften und 13 Aemtern; den Zwickauer Bezirk, 84 D.-M., mit 
4 Amtshauptmannfchaften und 14 Aemtern und den Baugener Beirf, 45 Q.⸗M., 
mit 2 Amtöhauptmannfchaften und 10 Aemtern. An ber Spige dieſer Bezirke, Die zus 
glei Appellatione-Gerichtd-Kreife und Steuerbezirke find, fleht für Die Innere Ders 
waltung die Kreisdirection; für die Verwaltung der indirerten Steuern, das Forfi⸗ 
wefen, die Domänen» und Rentämter find andere Eintheilungen getroffen; die alte 
durch das Patent vom 1. Juli 1835 aufgehobene Eintheilugg in vier Kreiſe hat nur 
noch auf die Wahlen der ritterfchaftlichen Abgeoroneten zum Randtage und der Kreid- 
flände Gültigkeit und auch diefe nur für die Erblande (den Meißener, Leipziger und 
Boigtländer .Kreid), während der Erzgebirgifche Kreis nach feinen provinziellen Sta» 
tuten verführt. — Die Bodenverbältniffe betreffend zeigt S. orographifch eine 
ziemlich gleichmäßige Abdachung und Verflahung von Süden nad Norden; am 
meiften nach Erhebung und Ausdehnung tritt hervor das Erzgebirge mit einer 
Kammböhe von 2000—3000 Fuß, welches ſich vom Elbthale in ſüdweſtlicher Nich- 
tung und in einer Länge von 18 Meilen bis zum Boigtlande zieht und bier mit dem 
&ichtelgebirge verbindet. Seine böckflen Gipfel find: Der Kichtelberg, 3700 Fuß hoch, 
ver Scheibenberg mit 2450, der Rammelsberg 2960 Fuß, der Bärenftein 2750 Zuß 
und der Pöhlberg 2550 Fuß. Im Süden erhebt ſich weſtlich von der Elbe das 
Lauſiter Gebirge oder der wohliſche Kamm in einer Höhe von 1500—1800 
Barifer Fuß und einer Ausdehnung von fünf Meilen Länge mit dem höchſten Bunte: 
die Laufche, 2460 Fuß. Die Verbindung zwifchen Erzgebirge und Lauflger Gebirge 
macht dad Elbſandſteingebirge, eine wire vier bis fünf Meilen lange Mafle 
43% 


6% Sachſen. (Königreih). 


taufendfach geflüfteter Felswaͤnde, von der Elbe durchbrochen, wegen feiner pittoresfen 
und romantifchen Formation die „Saͤchſiſche Schweiz" benannt. Außer diefen drei 
Sauptbergzügen S.'s find noch zwei niedrige Höhenzüge zu erwähnen, von denen fid 
der eine in paralleler Richtung mit dem nördlichen Abfall des Erzgebirges von Lom- 
matſch bis Glaucha zieht, und der andere, noch vier Meilen nörblicher, das Oſchatzer 
Gebirge genannt und im Kolmberg zu 975 Fuß ſich erhebend, von Strehla bis 
Grimma und Borna fidh erſtreckt. In geognoflifcher Hinficht zeigt das Erzgebirge 
eine Formation aus Gneis und Granit, fein Thalbafiin Mothlager und reiche Stein« 
foblenflöge; das Laufiger Gebirge enthält in feinen Kegelbergen eine Zufammenfegung 
von Granit, Bafalt und Grauwacke, während die beiden Fleinen Züge des fächflichen 
Mittelgebirge vormiegend ald Granulitmaffe erfcheinen, dad Oſchatzer Gebirge Grau⸗ 
wade überwiegend zeigt und die zmifchen ihnen liegenden Thäler mit Porphyr- Ablage» 
rungen gefüllt find. Das Tief« und Flachland beſteht größtentheild aus Alluvial⸗ 
Zagern, in denen fi bin und wieder Braunkohlen⸗Formationen in ſchwachen Schichten 
zeigen. Der niedrigfte Punkt des ſächſiſchen Flachlandes Tiegt im Flußbett der Elbe, 
wo fie zwiſchen Mühlberg und Strehla das preußifche Gebiet betritt. — Bon den 
fließenden Bewäffern ©.8 bildet die Elbe (f. d. Art.) den Hauptfluß; zu 
ihrem Stromgebiet in S., etma 264 Q.⸗M., gehören alle Flüſſe mit Ausnahme der 
in der fünöftlichen Lauſitz, die burch die Neifle in die Over fallen; ihr. Stromlauf durch ©. iſt 
15 Meilen lang, ihre größte Strombreite in dieſem Rande beträgt unterhalb der Stadt Meißen 
1115 Buß; von ihren NRebenflüffen, die in ©. entfpringen und daſſelbe zum Theil bewäflern, 
find die bedeutendſten: 1) die Mulde, deren beide Duellarme, die Zwidauer und 
Sreiberger Mulde, fich erfi nach einem 17, xefp. 131/, Meilen langen Laufe ver⸗ 
einigen; fie iſtenicht fchiffbar, wird aber ſtark von Flößen benupt; ihr Hauptzufluß 
it die fiihreihe Zihopau; 2) die weiße Elfter, welche in die Saale mündet; 
3) die ſchwarze Elfter und 4) die Spree. Seen befinden ſich einige bon ger 
ringem Umfange im Erzgebirge, aber an Teihen ift das Land reich, befonders das 
Voigtland und das Erzgebirge. Bon den Heilquellen find die von Schandau und 
Tharand Hervorzuheben; Soolquellen find nicht vorhanden. — Das Klima dei 
Koͤnigreichs if gemäßigt und gefund, im hoben Erzgebirge bei Wiefenthal am raube- 
fin, mo der Thermometer- Durchfchnittäftand 4,,,0 Eelf. ift, am mildeften in Lelpzigs 
Ebenen, wo derfelbe im Durchſchnitt die Höhe von 10,540 C. erreicht; die Regen- 
menge fleigt nicht über 25,5, °, und ber Barometer zeigt einen Durchfchnittöfland von 
27" 1° — Der Boden iſt durchweg nur von mittlerer Güte, aber durch rege und 
rationelle Gultur zur Höchftmöglichfien Ergiebigkeit gebracht; das productive real 
beträgt etwa 2,630,000 Ader, wovon 1,350,000 als Aderland, 300,000 als Wiefen, 
56,000 ald Weiden, 77,000 als Gärten, 3100 als Weingärten benugt werden, da⸗ 
gegen 825,000 Wald, 3100 Steinbrüde und 24,400 Teiche find. Der eigentliche 
Ackerbau fleht am höchſten im Leipziger Bezirk, in den „Pflegen von Pegau, 
Leisnig, von Zittau, Baugen und vor Allem in den Nieberungen von Lommapich, 
den „großen Korntenneg”" Meißniſchen Landes fhon im Mittelalter; am niedrigſten 
im widauer Kreife, wo er Taum 40 pCt. des Gefammt- Areale einnimmt. Der 
Nahrungsmittelbenarf des Landes wird jedoch durch Die erzielten Bodenerträge nicht 
völlig gededt, und die jährliche Einfuhr an ſolchen erreicht durchſchnittlich einen Sag 
von 13/, Millionen Eentner zum Werthe von etwa 51, Millionen Thaler. Außer 
den gemöhnlichen Gedretdearten: Weizen, Roggen, Gerfte und Hafer, werben Kartofe 
fein beſonders im Erzgebirge und Voigtlande, Haideforn um Meißen und in det Ober⸗ 
lauſitz, Flachs Im mittleren Erzgebirge, Maps und Rüben in den großen Ebenen des 
weftlichen und nörblichen Leipziger Kreifes und um Meißen, Karden bauptfälih um 
Großenhayn und Lommapfch und Küchengewächſe in der Nähe der Mitielfläbte gebaut. 
Der Weinbau, ſchon feit Tanger Zeit in den Uferbiftricten der Elbe zmifchen Billnig 
und Meißen betrieben und außer diefen Gegenden nur noch um Baugen in neuefler 
Zeit etwas ceultivirt, Tiefert von einer VBodenfläcdhe von etwa 17 — 1800 Ader einen 
Durchſchnittsertrag von jährlih 25,000 Eimern, der bei guten Jahren jedoch das 
Bierfache diefer Höhe erreicht. Der Hopfenbau iſt menig verbreitet, die Pflanzungen 
von Pothſchappel und Lützſchena liefern jedoch eine reichliche und fchöne Wittelfrucht. 


(Geographie und Statiftif.) 677 


Die Obſtzucht ſteht in der Umgegend von Leipzig, Meißen, Dredden und Kolbig in 
hoher Blüte, und für die Seidencultur läßt es die Regierung an Unterflügungen 
Durch Prämien und Vertheilung von Maulbeerpflanzen nicht fehlen, ohne jedoch biäher 
viel erreicht zu haben. — Die Viehzucht Hat fih in neuefter Zeit ſehr gehoben, 
nomentlih die Rindviehzucht durch Veredelung des einbeimifchen Thieres durch 
ſchweizeriſchen, bolfteinifchen und frießländer Stamm, am wichtigſten ift fie im Voigt» 
lande. Die Zahl dieſes Viehs erreicht jetzt die Höhe von etwa 650,000 Haupt; 
Schlachtvieh wird Überdies aus Ungarn und Holftein ſtark eingeführt. Die Pferdes 
zucht ift nicht beträchtlich und deckt weitaus nicht den Bedarf; zu ihrer Unterflügung 
dient die mit dem Landſtall⸗Amte in Morigburg verbundene Beichäl-Anftalt und bie 
mit ihr in Verbindung ſtehenden Beichäl-Stationen, auf denen fjährlih etwa 70 Be⸗ 
fhäler gegen 1300 Kohlen erzeugen. Die Summe fänmtlicher Pferde in S. flellt 
fih nach der Zählung von 1863 incluflve von 3563 Wilitärpferden auf ebvad über 
100.000 Städ. S.'s Schafzudt, obwohl fe in neuefter Zeit wegen Abſchaffung 
der Hutungen am Ertragd- Quantum fehr verloren hat, ſteht dennoch Durch Die Qualität 
der Wollen auf einer fehr hoben Stufe. Durch die Einwirkung der Stanımfchäferei 
und Schäferfchule in Stolpen, gefiftet 1768, iſt die Zucht hochfeiner Schafe eine beinahe 
allgemeine geworben, und fähfliche Stähre und WMutterfchafe gehen noch fort und 
fort zur Veredlung nad England, Frankreich, Rußland, ja felbft nah Spanien, um 
dort die edle Merino⸗Race wieder zu erhalten. Die ausdgezeichnetfien Schäfereien find: 
bie Löniglihen zu Rennersdorf bei Stolpen, Hohenſtein und Lohmen, die privaten zu. 
Rochsburg, Lüpfchens und Klipphaufen. Die Bienenzucdt, früher fehr bedeutend, 
wird wenig betrieben. Bon Wild enthalten die größeren Wälder im Erzgebirge und 
an der böhmifchen Grenze Roth⸗ und Schwarzwild in Menge, auch viele Füchfe und 
Dachſe; der Hafe iR am bäufigften in der Gegend um Leipzig, der Auerhahn im 
Erzgebirge und im Voigtlande; eben fo die Trappe. Die Jagdrechte auf fremden 
Grund und Boden find durch das Geſetz von 25. Novbr. 1858 zwar den Berechtigten 
zurüdgegeben worden, aber zum allergrößten Theile abgelöfl. Die Ausübung der 
Jagd ift nur den Bellgern von mindeſtens 300 Morgen zufammenhängenden Landes 
geflattet. Die Singvdgelzudt wirb im Erzgebirge flarl betrieben und abgerichtete 
Thiere von: dort viel in’8 Ausland gebraht. Der Fiſchreichthum Sr's ift wenig 
Hedeutend; nur einige Gebirgäbäche liefern fchöne Forellen; die Berlenfifcheret 
in der voigtländifchen Elſter ift wegen geringfügiger Ergiebigkeit eingeftellt worden. — 
Der Wald, von welchem der dritte Theil, etwa 25 Q.⸗M., Staatseigenthum if, 
enthält zum größten Theile Nadelhölger; die größten Waldungen befinden fih im 
Zwickauer und im Süden ded Dresdener Regierungsbezirks; der Holz» Ertrag ber 
Sorften überfleigt jährlih 600,000 Klafter und repräfentirt einen Werth von 31/, Mill. 
Thaler. — S.3 in früherer Zeit berühmter Mineral⸗Reichthum im Erzgebirge 
tft in neuefter Zeit fehr zurückgegangen, namentlich die Silberproduction. Im Brei 
berger Revier ergaben beim Silberaudbringen des Jahres 1861 453,670 Etr Erze 
nur etwa 55,000 Pfund Silber und 100,000 Eentner Blei; der Zinn-Ertrag erreichte 
faum 3000 Etr., der von Eifenftein 820,000 Etr., ganz unbedeutend war der Gewinn 
von Nidel und Kobalt. (Vgl. die „Iahrbücher für den Berg- und Hüttenmann” ber 
Königl. Berg-Afademie zu Freiberg). Marmor findet man bei Maren und Grün- 
bayn, die Sandfleinbrüche des Elbgebirged bei Pirna und die von Zittau, die Ser⸗ 
pentinfteindräüche von Zoͤbliz und die Porzellanerdlager bei Aue und Nieder⸗Zwoͤnitz 
find noch immer fehr ergiebig und geben ein vorzügliche Material. Der Kohlen- 
bergban fleigt von Jahr zu Jahr an Bedeutung: in den bis jeht betriebenen acht 
Steintohlenbergmerfen und 160 Braunfohlenwerfen und Gruben werben jegt jührlich 
Aber 25,000,000 Ctr. in einem Wertbe von ca. 4 Mill. Thlr. gefördert, die zum 
großen Theile in's Ausland, den Süden Deutfchlands, gehen, In biefen Koblen- 
werten erreichte die Zahl der Beamten und Arbeiter Ende 1863 die Höhe von 15,600 
Köpfen. Der KRohlenbergbau ift frei; der Metallbergbau dagegen Regale, jedoch auch 
den Privaten die Auffuchung und Gewinnung der Metalle durch Ertheilung von Schürfs 
feheinen, Entrichtung von Gruben» Abgaben und einem Antheil vom Meinertrage, fo 
‚wie unter polizeilicher und volföwirtbfchaftliher Aufſicht der koͤniglichen Bergaͤmter 


678 Sachſen. (Königreich) 


geftatte. Auch unterfiigt der Staat das Berg- und Hüttenwefen durch Abgaben» 
Erlaffe, Geldvorſchüſſe und Aequivalente für frühere Steuerfreiheiten, fo mie durch 
Öffentliche Lehranſtalten und die Anlegung fiscalifcher Stollen. Die Verarbeitung 
der audgebrachten Erze beforgt die General-Schmelz-Adminiftration zu Freiberg. — 
Sn Anbetracht der Gewerbe⸗Induſtrie lebt ©. auf einer fehr Hohen Stufe, und 
durch die Zahl feiner Fabriken in Nüdficht feiner Bevdlferung geben ihm nur Eng⸗ 
land und Belgien vor; durdy dad Gefeg vom 15. Det. 1861 ift dad Princip der 
Gewerbefreiheit eingeführt, und nur einige Gewerbe find aus fanitätöpolizeilichen 
u. f. w. Gründen hiervon audgeichloffen. Der felbfiftändige Gewerbebetrieb hängt in 
ber Regel von einem Alter von 24 Jahren ab; der Beitritt zu den Innungen iſt nicht 
erforderlih; die Zuziehbung von Gehülfen ift nicht befchränkt,, doch dürfen Kinder vor 
erreichtem zehnten Lebensjahre gar nicht und auch alddann nicht Über zehn Stunden 
tägliy befchäftigt werden. Die Geſammtzahl der Handwerfsmeifter betrug Ende 1861 
etwa 62,000 mit circa 70,000 Gefrllen, bei einem Gefammtverdienft von circa 20 
Millionen Thalern. Zu den widhtigften Induftriezweigen gehört die Leinweberet, 
vor allen flark in der Oberlaufig betrieben; ebenfo ift die Damaſtweberei nod 
Immer in hohem Blor, dagegen die Spißenklöppelei im Ober» Erzgebirge und 
Boigtlande fehr zurüdgegangen. Pofamentier- und Strumpfwaaren, Wachs⸗ unb 
Malertuche werden in den Fabriken von Chemnig, Zichopau, Leipzig und Dresden 
noch weit über den inländiichen Bedarf gefertigt. Die Wollen-Ranufactur« 
waaren in Streih- und Kammgarn, Tuchen, Halbtuchen, halbwollenen Waaren, 
Thibets und Merinos find ebenfalld vorzüglich und werben felbft auf englifhe und 
frangöflihe Märkte gebracht. Die Hauptfige dieſer Manufactur find Großenhayn, 
Krimmitzſchau, Biſchofswerda, Leißnig, Blauen und Glauchau, der Baummollen« Ins 
duftrie Aue, Mitweida, daB Erzgebirge und Boigtland. Appretur-Etabliffementd für 
alle diefe Producte befinden fi in Annaburg, Broßenhayn, Aue, Plauen und Ghem- 
nid; neben der Raſenbleiche ift die chemifche Bleichmethode, befonders für baumwol⸗ 
Iene Babrifate in Gebrauh. Die Bapterfabrilation, obſchon in circa 70 Fa« 
brifen betrieben, iſt doch faum im Stande, den großen Bedarf der einheimischen 
Drudereien zu decken. Die Fabrikation von Rünfelrübenzuder ift erft in aflerneuefter 
Zeit im Zunehmen begriffen, ebenfo find Siebereien für Rohrzucker weit unter dem 
Bedarf vorhanden. Bon eben jo geringer Bedeutung find der Tabaksbau und Die 
Fabrikation von Tabaden und Cigarren. Ginige der handwerfsmäßig betriebenen Ge⸗ 
werbe, wie die Fabrikation Hölzerner Spielmaaren, Strohgeflechte, die Schuhmacherei, 
Klempner» und Bürftenmacher- Arbeiten, erportiren bedeutende Maſſen ihrer Artikel in's 
Ausland. Zur Regelung der Berhältniffe des Fabrif- und Handelsftandes find bereits 
fünf Handel» und Gewerbefammern gebildet und außerdem Gewerbegerichte in der 
Einrichtung als Schiedögerichte zwifchen Babrifanten und Arbeitern, fo wie ald Bes 
hörden in Pollzei« und Straffachen der Gewerbetreibenden. Bon befonderer Bedeu⸗ 
tung il der Buchhandel mit feinem Gentralpunft Leipzig, welcher einen europälfchen 
Auf ſich erworben und feit beinahe zwei Jahrhunderten ſich bewahrt hat. Ebenfo 
fteben die Ddenfelben und den Kunftbandel befördernden und ihnen bienenden inbus 
firiellen Etabliffements, die Buch“, Stein» und Stahldrudereien S.'s, deren Hauptſttz 
ebenfalld Leipzig ift, in hohem Flor. Diefer rege und immer mehr aufblühende Manu⸗ 
factur« und Kunftfleiß belebt in außerordentlicher Welfe den Handel des Königreichs, 
deifen Umfag fich jedoch ſchwer auf gemiffe Zahlen firiren läßt, weil ©. ein abge- 
ſchloſſenes Zollgebiet nicht beſtzt. Der Transito⸗, Speditiond-, Gommifflons- und 
Wechfelhandel hat, wie der Buchhandel, ebenfalls feinen Mittelpunkt in ‚Leipzig, beffen 
drei fährliche Meffen bei einem Umfab von circa 80 bi8 100 Mill. Thalern und von 
400,000 Etr. Waaren die frequenteften Deutſchlands find. Der Eolonialmaarenhandel 
bat von Hamburg elb-aufwärts feinen Mittelpunkt in Dresden, der Baummollenmaarens 
Handel in Ehemnig, daneben in Leipzig, Plauen, Zittau und Großenhayn. Seine 
weſentlichſte Foͤrderung erbält dieſer ausgebreitete Handel durch die vielen natſur⸗ 
lien und Fünftligen Berfehrsmittel des Landes. Seit der Eröffnung ber 
freien Elbſchifffahrt im Jahre 1821 und durch die neuefle Konvention der Elb⸗Ufer⸗ 
Staaten vom 4. April 1863 find die befchränkenden Zölle theils aufgehoben, theils 


(Geographie. und Stanfif). 679 


fehr ermäßigt worben, die Hlußbauten der neueften Zeit haben der Schifffahrt ebenfalls 
den nambhafteften Nugen gebracht, fo daß der internationale Schifffahrtöverkehr, durch 
Dampf-Schleppfchiffe ftromaufwaͤrts gefördert, von Jahr zu Jahr im Wachsthum be⸗ 
ariffen iſt; Derfelbe betrug im Jahre 1863 von Hamburg firomaufmärts# an 15 Mill. 
Gentner, ſtromabwaͤrts gegen 3 Mill., meiftens Exporte. Der Grödler-Ganal verbindet 
die Elbe mit der Elfter, ein anderer fchiffbarer Canal zur direeten Waflerverbindung 
Leipzigs mit der Elbe ift in Angriff gendmmen. Zahlreihe Eifenbahnen, in 
fleter Erweiterung begriffen, vermitteln Durch ihr fich immer enger fpannended Netz ben 
internen und internationalen Berfehr; von ihren 109 Meilen am Ende des Jahres 
1862 find etwa 75 Meilen Staatöbahnen, 34 Meilen Privatbahnen. Erftere bilden 
zwei Gruppen: 1) die weſtlichen Staatsbahnen mit der Directton in Leipzig umfarfen 
die fächfifch-bayerifche Bahn mit der Zwickauer Zweigbahn, die obererzgebirgifche Bahn mit 
der Schneeberger Zweigbahn und die niedererzgebirgifche mit der Zmeigbahn na Goͤßnitz; 
2) die oͤſtlichen Staatsbahnen mit der Direction in Dresden umfaflen die fächfifch-böhmiiche 
Bahn, die fächflfch=fchleftihe und die Tharand » Freiberger. Die beveutendfle Privat⸗ 
bahn iſt die Reipzig- Dresdener mit den Zmweigbahnen nach Meißen und Möderau, bie 
Prieſtewitz⸗ Broßenhayner Zweigbahn und die Albrechtsbahn von Dresden nach Tha⸗ 
tand. Hierzu kommen noch die Kohlentransport - Bahnen von Zittau - Meichenberg, 
Ziru- Löbau, Ehemnig- Würfchnig, von Zwickau und im Plauenfchen Grunde Im 
Bau begriffen ift eine neue Staatd-Eifenbahn von Chemnig nach Annaberg, eine ans 
dere durch das Boigtland nach Eger und mehrere Privatbahnen. Das Anlagecapital 
für Staatöbahnen betrug Ende 1863 über 52 Mill. Thaler, für die Privatbahnen an 
20 Millionen; der Gütertransport bei beiden Bahnen gewährt circa 70 p&t. der Ein⸗ 
nahmen; ihre Mentabilität ift mehr als auskömmlich. Der Telegraphenverkehr 
IR in fleter Aufnahme und durch das Geſetz vom 21. September 1855 der Bau 
von Linien auch den Privaten geftattet. Die Landverbindung durch Straßen 
und Wege iſt fehr gut, zum allergrößten Theil chauſſirt. Das Poſtweſen ifl 
Negale und trefflich eingerichter, Ende des Sahres 1863 beftannen 243 Poſtcourſe. 
Die Zahl der beförderten Briefe betrug an 14 Millionen, der Perſonenverkehr er- 
reichte jedoch wegen der vielen Eifenbahnen nur eine geringe Höhe. — Bon den 
volkswirthſchaftlichen Einrichtungen S.'s iſt Maaß und Gewicht durch das 
Geſetz vom 12. März 1858 geordnet, als Maaß⸗Einheit gilt der Leipziger Fuß — 
O, 28319 frz. Metre, als Flähenmaaf die Quadratruthe = 15 Fuß 2 Zoll, 300 Au- 
then — 1 Uder, als Hohlmaaß die Dresdener Kanne = 71,186 Kubikzoll = 
1,3683 Pfd. deſtill. Wafler von 159 Réaumur. Gewichtseinheit ift das Zollpfund, 
für Getreide der ſächſiſche Scheffel = 7900 Kubikzoll Inhalt neben ufuellem Frucht⸗ 
gewicht. Der Münz verkehr ift durch Vertrag vom 24. Januar 1854 mit den meiften 
deutfchen Staaten geregelt; die gefeglichen Silbermünzen find im Vereinsfuße geprägt 
und im Thaler⸗Courantſatze; dad Staatspapiergeld in verfchiedenen Appoints bis 50 
Thaler beträgt 7 Millionen Thlr., das Papiergeld der Leipzig - Dreddener Bahn im 
Betrage von einer Million in Appoints von I Thlr. hat keinen Zwangscours, ebenfo 
wenig wie dad von ben verichiedenen Banken audgegebene Papiergeld und Banknoten. 
Staatsbanken erifliren dem Namen nach zwar nicht, Doch werden durch die Lan 
beslotterie-Direetton die zeitweilig verfügbaren Gelder in bankmäßiger WBeife verliehen; 
von Privatbanfen find die bebeutendflen die ritterfchaftlichen Grebitvereine, Die 
allgemeine deutfche Ereditanftalt in Leipzig, “die Leipziger Bank, vie landpſtaͤndiſche 
DOberlaufiger Bank und die Chemniger Stadtbank. Sparkaflen, Spar- und Vor⸗ 
ſchußvereine, Leihinftitute beſtehen in faft allen Städten mit einer Einlagfumme von 
ec. 27 Mil. Thlr. (Ende 1862), eben fo Berficherungsgefellichaften für Mobilien und 
Immobilien. Für letztere ift eine Landed-Immobilier-Brandverfiherungs-Anflalt feit 
1862 errichtet, zu deren Beitritt jeder Befiger verbunden iſt; auch eine Mentenver- 
fiherungs - Anftalt if vom Staate begründet, — Hinfitlih der wiſſenſchaft⸗ 
linden Eulturverhältniffe nimmt und nahm ©. von fe ber einen ausgezeich⸗ 
neten Rang ein und in allen Zäcern der Wiffenfchaften leuchten Namen feiner Lan⸗ 
deöfinder hervor. An der Spige der Höheren Bildungsanftalten fleht die 
Univerfität in Leipzig, gegründet am 2. December 1409 vom Kurfürfen 


680 Sachſen. (Königreich). 


Friedrich dem Streitbaren aus dem Haufe Wettin, reorganifirt 1830 und vefp. 1851 
durch das Statut vom 23, Mai. Ste hat alle Farultäten, außer der der katholiſchen 
Theologie, wiffenfchaftlide Sammlungen aller Art, worunter namentlich die Bibliothek 
hervorzuheben, bie neben einer vorzüglichen Handfıriften » Sammlung gegen 60,000 
Werke in über 100,000 Bänden zählte An ihr lehrten im Jahre 1863 43 ordent- 
liche und 46 außerordentliche PBrofefforen und Docenten; in vemfelben Jahre betrug 
die Anzahl der Studirenden 1056, darunter 123 Ausländer. Hiernächſt befleht eben⸗ 
fall zu Leipzig die am 1. Juli 1846 zu Ghren des Hundertjährigen Beburtötages 
Leibnigend (vergl. dief. Art.) gegründete königlich ſaͤcchſiſche Befell- 
ſchaft der Wiffenfhaften, zuglei für die ſaächſtiſch⸗thüringiſchen Zande, mit der 
auch die frühere fürſtlich Jablonowski'ſche Geſellſchaft der Wiflfenfchaften vereinigt If. 
Gelehrtenſchulen, reſp. Gymnaſien ſind 11 vorhanden, naͤmlich die beiden 
Landesſchulen zu Meißen und Grimma, zwei ſtädtiſche und das Vitzthumſche Ge⸗ 
ſchlechts⸗Gymnaſtum in Dresden, die Nicolale und Thomasſchule in Leipzig, die in 
Zwickau, Zittau, Breiberg, Baugen, Plauen und das Progymnaflum zu Annaberg. 
Die Schülerzahl derfelben betrug 1863 über 2200. Das Realſchulweſen bat 
erft durch das Regulativ vom 2. Juli 1860 eine neue Örganifation erhalten und be⸗ 
fliehen demnach erft 7 folder Lehranſtalten. Zur Bildung der Volköfchullehrer beſtehen 
ebenfalld aht Seminarien, unter ihnen dad durch Dinter's organijatorifche nd 
Rehrthätigkeit fo gediehbene Seminarium für Landfchullehrer in Dresden, gegründet 
1788, die evangeliihden Seminare in Freiberg, Annaberg, Grimma, Waldenburg, 
Plauen, Mildenau und das für Fatholifche und proteftantifche "Zöglinge gemeinfchaft- 
liche in Baugen. Eine Taubſtummen⸗Lehranſtalt eriftirt feit 1778 in Leipzig und 
ein Blinden » Inftitut ſeit 1853 in Dresden. Als Fachſchulen find zu er 
wähnen die Bergafapemie in Freiberg, die Forſtakademie zu Tharand, feit 
1830 au mit einer landwirthſchaftlichen Lebranftalt verbunden, die Militär 
Bildungsdanftalt in Dresden, die im Jahre 1828 gefliftete techniſche Lehr- 
anftalt für Die Gewerbe in Dresden; eine flenograpbifhe Schule nah dem 
verbefierten Gabelobergerſchen Syſtem; die Handelsfhule in Reipzig, die Ges 
werbefhulen in Plauen, Chemnitz und Zittau, die mechanifche Baugewerlſchule in 
Freiberg, eben folche in Ehemnig, Blauen, Zittau und Leipzig. Zür die mediciniſchen 
MWiftenfchaften die 1816 reorganifirte hirurgifh-mebictnifhe Akademie in 
Dredden, mit der eine Poliklinik, eine Hebammenfchule und eine Thlerarzneifchule ver» 
bunden ſind. Für die Körderung der bildenden Künfte ift die Akademie in 
Dresden fundirt, auch feit 1819 mit ihr eine Baufchule verbunden. Die Mufit 
wird durch Staatöunterflügungen an talentvolle Jünger diefer fchönen Kunft ungemein 
gefördert, daB 1844 auf Mendelſohn's Beranlaffung geftiftete Conſervatorium für 
Muſtik in Dresden, die Singafademieen bier und in Leipzig und die Thomasfchule in 
leytgenannter Stadt geben firebfamen Talenıen vorzügliche Gelegenheit zur Ausbildung 
und werden felbft von ausländifhen Schülern frequentirt. Auch an wiſſenſchaftlichen 
und Kunftvereinen it S. reich, wir nennen von ihnen hier nur die bebeutenbflen: 
Die deutſche Geſellſchaft zur Erforfchung vaterländifcher Sprache und Altertbümer, 
der Föniglich ſachſiſche Alterthumsverein, die Linne’jche und die naturforfchende Geſell⸗ 
Schaft, die mediciniſche Geſellſchaft In Leipzig, die Geſellſchaft für Natur⸗ und Heil⸗ 
kunde, die botaniſche Geſellſchaft „Flora“, der landwirthſchaftliche Hauptverein in 
Dresden mit feinen vielen Zweigvereinen, der Induſtrie⸗Verein zu Chemnitz, eine ge 
meinnügige Baugefellfhaft in Dresden und Kunftvereine in Dresden, Leipzig und 
Zittau. — Das Elementar⸗Volksſchulweſen ifl durch das Geſetz vom 6. Juni 
1835 georbnet; nach demfelben beſteht ein Auffichtörecht der Kirche über die Schule 
durch die betreffenden Orts- oder Kirchfpieldgeiftlihen im Verein mit dem Iocalen 
Schulvorſtand aus Mitgliedern der Gemeinde, die Kreißbirectionen fungiren als Ober« 
behoͤrden; die Schulpflicht beginnt mit dem vollendeten fechöten Jahre und endet mit 
dem zurüdgelegten vierzehnten. Durch Geſetz vom 28. October 1858 if das Dienfl« 
einfommen der Schullehrer geregelt: der Minimalgehalt eines felbfiftändigen Lehrers 
auf dem Lande if ausfchließplih der Wohnung auf 150 Thlr., in Mittelſtädten auf 
380 Ahlr., in größeren auf 200 Thlr. fefgefept und ſteigt nach und nad bis reſp. 


( Staats verfaſſung und Staats verwaltung.) 681 


270, 360 und 400 Thlr. Die Zahl der Lehrer beitrug Ende 1863 an den Land» 
faulen 1746, an den Stabtfchulen 2125. Die Zahl der ſchulpflichtigen Kinder be⸗ 
trug Im Gefammt 374,216 in 260 evangelifchen, 16 fatholifhen und 2 jüdlichen 
Stadt und 1746 Landfchulen. Außerdem wurden nod 58 Privatichulen von 4669 
und ‚AU Fabrikſchulen von ca. 1500 Kindern beſucht. Es giebt in S. Fein Kirchſpiel 
oder Gemeinde, die ohne Schule wäre, und außerdem beftehen noch zur Fortbildung 
in elementarer oder zur Anleitung in techniicher Ausbildung in vielen Gemeinden 
Sonntagsfchulen für bereitd dem fchulpflichtigen Alter entwachſene Maͤdchen, Knaben 
und Lehrlinge. — In Betreff der kirchlichen Verhältniffe wird bie Iandesherrliche 
Kirgengewalt über die vvangeliſch-lutheriſchen Glaubensgenoſſen nad den ge- 
feglihen Beflimmungen von 1697 und dem Regulativ vom 12. November 1337 dur 
ein Collegium ausgeübt, welches aus dem Minifter des Gultus uud zmei anderen 
dem evangeliſchen Glauben&befenntniffe angebörenden Mitgliedern des Minifteriums zu⸗ 
fommengefeßt if; die äußeren kirchlichen Angelegenheiten werben durch die den Kreis⸗ 
directionen verbundenen Kirchen» und Schuldeputationen nah Anhörung der Tocalen 
Unterbebdrden, der Superintendenten und der Kirchen-Infpection behandelt. In rein 
geiftlichen Angelegenheiten Kungirt als hoͤchſte Behörde das evangeliſche Landesconfiflo- 
rium, für die Beilgungen des fürfllichen und gräflichen Hauſes Schönburg (laut Bun- 
desbeſchluß vom 27. Aug. 1828) das Schoͤnburg'ſche Sefammtconfiflorium in Glauchau, 
unter ihnen beforgen die Superintendenten die geiftlichen Auffichtögefchäfte in den Spren- 
geln, reſp. Ephorieen mit Ausnahme des oberlaufigfchen Kreifes, mo deren Functionen 
von dem Kirchenrath bei der Kreißbirection In Baugen, reſp. von den Wagiftraten der 
Bierflädte verfehen werben. Superintendenturen beflehen in den Erblanden 37 mit 
799 Barochieen, die Anzahl, der Ichteren im oberlaufigfchen Kreife beträgt 98. — 
Für die römiſch-katholiſche Kirche, zu der ſich auch die königliche Bamilie bes 


feunt, ift das apoflolifche DBicariat, welches gewöhnlich von dem Dechanten des Doms - 


Rift St. Peter zu Baugen befleidet wird, die oberfle Behörde. Dieſer apofolifche 
Bicar wird vom Papfte delegirt, entfcheidet in letzter Inflanz in rein kirchlichen Sachen, 
das DVicarlatögericht in zweiter, daB Eatholifche Conflfiortum in erſter Inflanz. Zur 
Gültigkeit der vom Papfle angeordneten allgemeinen Beflimmungen bedarf ed des 
Blacet des Könige. Die reformirten Gemeinden ©.’8, die in Dresden und 
Leipzig eigene Prediger haben, leiten nach dem Megulativ vom 7. Augufti 1818 ihre 
Angelegenheiten burch ein Eonfiftorium, welches durch die Wahl jeder Gemeinde ge- 
bildet wird; in höheren Inflangen entfcheiden die evangelifchen Kirchenbebörben. ı Den 
Deutſchkatholiken giebt das Statut vom 19. Februar 1859 freie Meligiond« 
übung mit freier Wahl ihres aus 9 Mitglievern beſtehenden Landeskfirchen-Vorflandes; 
der in Dreöden feinen Sig hat. Die Juden finden in einem Landes-Nabbinat zu 
Leipzig ihren kirchlichen Mittelpunkt. Klöſter eriflivcen nur zwei in S. und zwar 
in ‘der Fatholifhen Oberlaufig die Nonnenklöfter der Gifterzienfer in Bautzen und 
Wurzen; das Hochflift zu Meißen iſt fäcularifirt; die Capitularftellen werden vom 
Könige als Stiftsherrn als Sinecur-PBräbenden verliehen; in berfelben Weife wird 
mit den. Stiftern des Collegiatſtifte Wurzen verfahren. — Für religidfe Zwede bes 
fieben Feine Staatseinrihtungen außer der tbeologifchen Bacultät in Leipzig; von 
BPrivatvereinen iſt zu erwähnen bie 1814 grfliftete Bibelgeſellſchaft und der zur Be⸗ 
förderung ber Heidenbefehrung gegründete Miillone » Verein zu Dresden mit ihren 
Zweigvereinen. 

B. (Staatsverfaffung und Staatſsverwaltung.) Das Königreich 
©. bildet eine durch Volksvertretung befchränfte und durch die Beſtimmungen des 
Staatögrundgefehed vom 4. September 1831 geordnete unthellbare Erbmonardie. 
Ergänzungen zu jenem Staatögrundgefeg finden fi in den Geſetzen vom 5. Mai 1851, 
27. November 1860 und 19. October 1861. Die Krone if nad dieſen erblich 
im Mannsſtamme ber albertinifchen Linie des fächfifchen Fürflenhaufes nach dem Rechte 
der Erfigeburt und der agnatifchen Linealerbfolge. In Ermangelung eines durch Ber» 
wandtfchaft, zeip. Erbverbrüderung berechtigten. Prinzen gebt die Krone auf eine aus 
ebenbürtiger Ehe flammende weibliche Linie tiber, wobei jedoch die Nähe der Ber» 
wandtſchaft mit dem zulegt segiesenden Könige, bei gleicher Nähe das Alter der Linie 


ud 


682 Sachſen. (Königreiä). 


und in biefer wieder daB höhere Alter unter den gleich Berechtigten enticheiden; doch 
gilt nach diefem Mebergang wieder der Vorzug des Mannesſtammes nady dem Rechte 
der Erfigeburt. Das Fönigliche Haudgefeh vom 30. December 1837 enthält die Be⸗ 
ſtimmungen über die Berhältniffe der Mitglieder der Eöniglichen Familie über Titel, 
Bermählung, Maforennität u. |. w. Der König erreicht mit zurüdgelegtem 18. Lebens⸗ 
jahre die Volljaͤhrigkeit; im Kalle feiner Minderfährigfeit oder wenn er an der Aus⸗ 
übung der Negierung auf längere Zeit verhindert wird, tritt als fein Vertreter ber 
naͤchſte männliche Agnat als Meichöregent an feine Stelle, muß jedoch bei event. Ver⸗ 
faffungsänderungen auch die Genehmigung des Familienraths einholen. Der König 
ift das fouveräne Oberhaupt des Staats, er vereinigt in fich alle Rechte der Staats⸗ 
gewalt und übt fie aus unter den durch die Verfaffung feftgefehten Beflimmungen; 
feine Perſon iſt Heilig und unverleglih ; er Fann ohne Zuflimmung der Stände, außer 
in Folge eines Erbanfalld, weder zugleich Oberhaupt eines andern Staates fein, nodh 
feinen Aufenthalt auf längere Zelt außer Landes nehmen. Der König bezieht eine 
mit den Ständen auf die Dauer feiner Regierung vereinbarte Givillifte, im Jahre 1831 
. auf 500,000 Thlr. feſtgeſetzt, jeßt aber auf 570,000 erhöht; diefelbe iſt das Aequi⸗ 
valent für die Nugungen ded der StaatBkaffe zugefchlagenen Domänenfonds, die jedoch 
eine folche Ertragshöhe noch lange nicht erreichen. Außerdem ift ber zeitige König 
auch im Beflg des königlichen Hausfldeicommißguts, welches aus den wiſſenſchaftlichen 
und Kunftfammlungen, den Eöniglihen Schlöffern, den Mobilien und dem Inventar 
derfelben und aus allem dem beſteht, was der König während feiner Megierung aus 
einem pridatrechtlichen Titel oder durch Erfparniffe an feiner Civilliſte etwa ermirbt, 
infofern darüber nit von ihm unter Lebenden verfügt worden ift, ingleichen aus 
dem, wad er vor feiner Thronbefleigung als Brivatvermögen befefien hat, wenn er 
nicht sbereitö unter den Lebenden oder auf den Todeöfall darkber Verfügung getroffen. 
Aber auch dieſes Hausfideicommiß iſt unveräußerlic und gehört unzertrennbar zum 
Staatögute, nur die zu demfelben gehörenden Koftbarkeiten dürfen zu Staatözweden in 
außerorbentlihen Fallen verpfändet werden. Außer den im Begriff der Staats gewalt 
liegenden Regierungsrechten, befchränft durch die Beſtimmungen der Berfafiung, iſt der 
König noch im Beflge der Mechte als Oberlehnsherrund summus episcopus der evan⸗ 
gelifchen Landeskirche. Der gegenwärtig regierende König ift Johann, füngfter Sohn 
des Prinzen Marimilian von ©. und Bruder des verflorbenen Königs Friedrich Au⸗ 
guſt; er iſt geboren am 12. December 1801, regiert feit dem 9. Auguft 1854; der 
präftmtive Thronfolger, Kronprinz Friedrich Auguft Albert, ift geboren am 23. April 
1828. Sämmtliche Glieder des Königshaufes von ©. bekennen ſich zur Fatholifchen 
Kirche, indeſſen ift e8 nur der Gemahlin des Thronfolgers geboten, die Meligion Ihres 
Batten anzunehmen. Die Kinder, Gefchwifter, Neffen und Nichten des Königs führen 
das Brädicat „Königliche Hoheit“, die volljährigen Prinzen Hierzu noch dad Prädicat 
„Herzog zu Sachen” als Mitglied des Gefammthaufes S. — Die Ständever- 
fammlung befleft aus zwei Kammern, von denen bie erfle aus den volljährigen 
Prinzen des königlichen Haufeß, den 5 Herrfchaftöbeflgern der Schönburgfchen Meceffe 
und Lehndgüter von Wildenfels, Koͤnigobrück und Meibersborf, refp. deren Bevoll« 
mächtigten, einem Deputirten der Univerfität Leipzig, je einem der Stifte zu Meißen, 
Wurzen und St. Peter zu Bautzen, dem Dresdener evangelifchen Oberhofprebiger und 
dem Superintendenten in Leipzig, aus zwölf auf Kebenszeit gewählten und zehn vom 
König auf Lebenszeit berufenen Rittergutöbeflgern und endlich aus 8 Mepräfentanten 
der Städte. Die Wahlen jener 12 Rittergutöbeflger erfolgen durch die Kreislandtage, 
doch gehört zur Wählbarkeit der mindeſtens breifäßrige Beflg eined Rittergutes von 
nicht unter 2000 Thlr. Reinertrag. — Die Wahlen zur zweiten Rammer, welde 
aus 20 Abgeordneten der Mitterfchaft, 25 der Städte, 10 des Handels und Fabrik⸗ 
wefens und 25 des Dauernflandes befteht, erfolgen nach dem Wuahlgefepe vom 19. 
Dctober 1861 bei den ritterfchaftlichen Abgeordneten durch directe Wahlen auf ben 
Kreißtagen, bei den übrigen Abgeordneten durch inbireete Wahl in Wahlbezirken, wo⸗ 
bet auf je 500 Einwohner ein Wahlmann zu mählen If. Stimmberedtigt für Die 
flädtifchen und bäuerlichen Wahlen ift jeder Staatsbürger, der im Beflg der bärger- 
lichen Ehrenrechte, im Befige eines Grundſtückes oder Wohnhauſes fich befindet, ober 


[4 


(Stantsverfaffung und Staatbverwaltung.) 6833 


eine directe Steuer von fährlih 2 Thalern (in den größeren Städten 3 Thaler) zahlt; 
wählbar zum Wahlmann macht außerdem nur ein jährlidyer Cenſus von 10 Thalern, 
zum Abgeordneten felbft dreifährige Anfälligkeit im Bezirk, ein jährlidyer Cenſus von 
10 Thalern, 15 Thaler in den Städten, 20 Thaler auf dem Lande. Bei den Wahlen 
der Abgeordneten für den Handeld- und Fabrikſtand find Mitglieder diefer Stände 
wahlberechtigt und wählbar zum Wahlmann, wenn fie 40 Thaler Taufmännifche oder 
10 Thaler Steuer aus Fabriken entrichten, wählbar zum Vertreter ihres Standes, 
wenn fle außerdem drei Jahre anfäfftg find. Ausgefchloffen von den Wahlen überhaupt 
find alle jene Berfonen, welche das 25. Xebensjahr (als Abgeorbneter das 30.) noch 
nicht zurüdgelegt haben, bispofltionsunfähig, Banquerotteurs, Allmofenempfänger, 
Steuerreftanten, von öffentlichen Uemtern Entfegte oder Sußpendirte, wegen eined ent« 
ebrenden Verbrechens Angeklagte oder nicht völlig Breigefprochene und endlich früher wegen 
eined ſolchen Verbrechens Berurtheilte find. Zur Zeit nicht wählbar find: die Staats» 
minifler im Dienft, Berfonen im ausländifchen activen Dienfte, Berfonen des Geſinde⸗ 
ſtandes und unfelbfiländiges Gewerbeperſonal. ine Ablehnung der Wahl zum Ab⸗ 
geordneten darf nur flattfinden wegen längerer Krankheit, nothwendiger Anweſenheit 
am Aufenthaltsorte, hohen Alters (über 60 Jahre) und nach bereits erfolgter Bel« 
wohnung von drei ordentlihen Zandtagen für die vierte. Sämmtlihe Staatöbeamte, 
Seiftlige und Lehrer, fo nie Militärs im aetiven Dienfte oder des Penflonsftandes 
haben die Zuflimmung ihrer Dienfibehörde wegen Annahme der Wahl einzuholen, doch 
fol ihnen diefe Annahme nur wegen erheblicher Gründe, worüber den Ständen Mit⸗ 
tbeilung zu machen, verfagt werden. Beförderung oder Anftellung eined Abgeorbneten 
tm GStaatödienft, fo wie der Eintritt in ein befoldetes Hof⸗ oder ſtadtiſches Amt bes 
dingt Neuwahlen. — Jegliche Legislaturperiode der Kammern foll eine dreijährige 
“ Dauer haben, doch darf der König diejelben bis auf 6 Monate vertagen, aud die 
zweite Kammer auflöfen. Alldreijaͤhrig fcheidet ein Drittheil der Mitglieder der zweiten 
Kammer aus und wird duch Neuwahlen erfegt. Der König ernennt den Präfldenten 
der erften Kammer ohne Präfentation, den Präfldenten der zweiten Kammer aber und 
die Vicepraͤſtdenten beider. Kammern aus den ihm präfentirten, duch Wahl bes 
Rimmten Candidaten. Den Geſchäftsgang in beiden Kammern regelt die Landtags⸗ 
ordnung vom 8. October 1857; hiernach verhandeln beide getrennt von einander, Bes 
rathungen können nur bei Anweſenheit von wenigftend der Hälfte der Mitglieder, Ber 
ſchlußfaſſungen In der erflen Kammer nur, wenn mindeftens die Hälfte ihrer Mitglies 
der, in der zweiten nur, wenn minbeftend zwei Drittheil der Mitglieder ihre Stimme 
abgeben, flattfinden. Sind beide Kammern biffentirend In ihrem Votum, fo foll ein 
. Bereinigungsverfahren eingeleitet werden durch die Berathungen einer aus den Mit- 
gliedern beider erwählten Commiſſion; vermerfen die Kammern auch die Propofitionen 
dieſer Gommiffionen, fo bedarf es in ihnen zur Verwerfung eines Geſetzesvorſchlags 
oder eines Bewilligungspoftulats alddann einer Maforität von zwei Drittheil der ab» 
gegebenen Stimmen. Die Sigungen find dffentlih; es kann jedoch auf Antrag ber 
Miniſter und reſp. Lönigligen Commiſſarien, jo wie eined Viertheils der Mitglieder 
die Deffentlichkeit audgefchlofien werden. Die Verfaffungsurfunde beſtimmt die Gegen- 
fände der fländifchen Wirkſamkeit im Speciellen und außer biefem darf ſich die Kammer 
nur mit den föniglichen Propoſitionen befchäftigen. Ohne Zuflimmung der Stände foll 
fein Geſetz erlaffen, abgeändert oder authentifch interpretirt werden, ber König aber publicirt 
und promulgirt dieſe Befege und erläßt die Darauf bezughabenden Verfügungen und Ver⸗ 
ordnungen zur Handhabung derfelben. Auch Eönnen in dringenden, durch das Staatswohl 
gebotenen limftänden Berorbnungen mit Gefegeökraft einfeitig vom Könige, jedoch 
unter Berantwortlichkeit des gefammten Minifteriums, erlafien werden. Die Stände 
beſchließen über die Nothwendigkeit, Zweckmäßigkeit und die Höhe der von der Re⸗ 
gierung verlangten Steuern und Abgaben und es darf ohne ihre Zuftimmung 
nichts an denfelben durch. Erhöhung oder Berminderung abgeändert werden. Steuer⸗ 
ablehnungen werden mit einer Maforität von zwei Drittbeil der Stimmenden gefaßt. 
Für den Fall, daß ſich die Regierung mit den Ständen in den Finanzfragen nicht 
einigen Tann, darf fle die Auflagen für den Staatöbebarf auch nad Ablauf der Ver⸗ 
willigungszeit moch auf ein Jahr weiter erheben. Gier und bei verfpäteter Bewilligung 


684 | Sachen. (Koͤnigreich.) 


durch die Stände if das dann einzutretende Verfahren im Speciellen durch die Ver⸗ 
prdnungen vom 5. Mai 1851, refp. vom 27. November 1861 beflimmt. Auch Anlehen 
dürfen ohne Rändifche Zuftimmung nur in den beregten dringenden Fällen gemacht 
werden. Dad Budget wird immer auf eine breijährige SKinanz- Periode 
feßgefegt. Die Stinde haben auch über die Erhaltung des Staatöguts und des 
föniglichen Haußfldeicommifjes zu wachen und die Bermaltung der Staatäfchuldenfafle 
durch einen Ausfhuß zu prüfen, fo wie deren Jahreßrechnungen zu controlliren, zu 
revidiren und zu becdargiren. Das Recht der Petition und Befhwerde- 
führung iſt den Ständen auddrädlich zuerkannt, und zwar der Art, daß fie aud 
bei Ihnen eingegangene Petitionen und Beſchwerden zu ihrer eigenen Sade machen 
können, ebenſo ſteht ihnen dad Recht der Anklage wegen Verfaflungeverlegung 
gegen die Minifter ober andere Staatöbehörden auf gemeinfamen Beihluß zu. Ein 
befonderer, aus 12 Mitgliedern beftebender Staatögerichtähof hat über eine ſolche 
Anklage nad Maßgabe des Geſetzes vom 3. Februar 1838 zu erkennen. Die Hälfte 
diefer Mitglieder wird vom Könige aus dem Berfonal der höheren Berichte, die andere 
Hälfte von den Ständen aud der Zahl der Abgeorpneten felbft gewählt. Die befons 
deren Nechte der Ständemttglieder beflehen in dem Mechte der freien Meinungs⸗ 
äußerung, wie fie der $ 83 der Berfafjungsd-Urfunde definirt, in dem Brivilegium, 
ausgenommen wegen Wechſelſchulden und bei der Ergreifung auf frifcher That im 
alle eines peinlichen Verbrechens, nur auf ausdrüdliche Genehmigung der Kammer 
in Haft genommen zu werden, und in der Portofreiheit für ihre Eorrefpondenz während 
der Sigungs- Perioden. Außerdem erhalten fänmtliche Mitglieder der Zweiten Kammer, 
fo wie diejenigen der Erfien, welche von den Grundbeflgern und Städten gewählt 
find, und die geifilichen Beer, für die ganze Dauer der Einberufungszeit tägliche 
Diäten von 3 Thalern und Vergütigung der Meifekoften. — Die Ausübung ber 
politifhen Rechte der Staatdangehdrigen ift von den befonderen gefeßlichen 
Errorderniffen in Bezug auf Lebensalter, Ortsangehoͤrigkeit, event. Beflg und Genfuß 
abhängig gemacht und wird durch Die Gelege vom 26. November 1834, 12. October 
1840, 2. Juli 1852 und die Berfaffungs-Urkunde im Speciellen geordnet. Im 
Allgemeinen enthält legtere die Beflimmungen, daß die Freiheit der PBerfon und des 
Eigenthums Jeden innerhalb der geſetzlichen Schranken geſichert fei ($ 27 ff.), eben fo 
wie die Freiheit der Wahl des Berufes und Gewerbes, ded Wegzugs aus dem Staate, 
des Glaubens und des Ausbruds feiner Meinungen in der Preſſe ($ 33 ff.). Als 
Allgemeine Pflichten werben die firlete Beobachtung der Staatögefehe und der Trene 
gegen ben König, der. Dienft unter den Waffen und der gefeplihe Beitrag zu den 
Steuern und Staatdlaften hervorgehoben. Die Gleichheit in Beziehung diefer Rechte . 
und Pflichten wird im 6 55 anerfannt für alle Uintertbanen des Staates, indeß vor⸗ 
bebaltlich der durch Bundesbeſchluß vom 27. Auguft 1828 refp. 18. Februar 1846 
den Mitgliedern des fürftlich-graflihen Hauſes Schönburg und des gräflichen Haufe 
Solms: Wildenfeld verlichenen Reſervat⸗Rechte und Eremptionen. — Die Gemeinde» 
Berfaffung wird dur die Städte-Ordnung vom 2. Februar 1832 und bie 
diefelbe declarirende Berorbnung vom 9. December 1837, fo wie durch die Land⸗ 
gemeinde-DOrdnung vom 7. November 1838 geregelt. Erſtere verlangt einen 
Stadtrath als verwaltende und die Stadtgemeinde nach außen repräfentirende colles 
gialifche Behörde, deren Mitglieder von der Semeindevertretung zu wählen find. 
Lebtere wird von den Bürgern in einem gewiſſen Turnus durch birecte Wahl zu⸗ 
fammengefeßt und ihrer Beflimmung bedarf es bei allen Inneren Angelegenheiten ber 
Gemeinde. Den Landgemeinden if in den Gerichtöämtern eine von der Regierung 
ernannte Ortsobrigfeit vorgeſetzt, indeß leiten fie ihre Verwaltung durch die ſelbſt⸗ 
gewählten Gemeinde⸗Aelteſten und ®emeinde-Borflände. — Die Ungehörigfeit zur 
Gemeinde entfteht in der Stadt durch Erlangung bed Bürgerrecht ober durch An« 
nahme der Schußverwanbtfchaft; bei erfterem ifl die Gründung eines ſelbſtſtaͤndigen Wohn⸗ 
fige& wefentlich, und hieraus folgt der Genuß der bürgerlichen Ehrenrechte, des Stimm- 
rechts zur Wahl der fläbtifchen Aemter und die Wählbarkelt zu denfelben. In den 
Landgemeinden wird diefe Angehörigfeit durch Anfäffigkeit im Bezirke und durch 
bleibende ſelbſtſtaͤndige Wohnflgnahme darin begründet. — In der Staatsurrmale 


(Staatsverfaſſung und Staatsverwaltung.) 685 


tung bes Koͤnigreichs S. bildet das Geſammtminiſterium bie oberfle colle- 
gialifche Behoͤrde; fie beſteht aus den Chefs der einzelnen Minifterlal- Departements, 
den Miniftern des Innern, der Juſtiz, der Finanzen, des Cultus und des Öffentlichen 
Unterrichtö, des Krieges und der audwärtigen Angelegenheiten, und ihre Reſſort⸗Ver⸗ 
bältnifie find Durch die Verordnung vom 7. November 1831 geregelt. Daneben bes 
ſteht zufolge derfelben Verordnung ein Staatsrath, zufammengefeht aus ben ſaͤmmt⸗ 
lichen Miniftern, den majorennen Prinzen und anderen vom Könige auf Lebendzeit be⸗ 
rufenen ober für befondere Fälle mit feinem Vertrauen beebrten Berfonen; derfelbe ift 
jenoch nur eine berathende Behörde und bat durchaus feine Executive. Auch die pro 
evangelicis beauftragten Staatöminifter bilden, wie bereits erwähnt, eine dem Ge⸗ 
fammt-Minifterium coorbinirte Behörde, ebenfo wie die Commifflon zur Entſcheidung der 
Gompetenz » Gonflicte zwifchen den Jußiz« und Bermaltungd » Behörden. Unter bem 
Befammtminifterlum flehen unmittelbar die Ober⸗Rechnungskammer und das Haupt⸗ 
Staatdarhiv. Das Mintfterium des Innern Ift die höchſte Inftanz für die po» 
fieifhe Verwaltung und In eine General» und vier Special» Ubtbeilungen ge⸗ 
gliedert, melche die gefammte Wohlfahrts = Volizet, fo wie Die Perfonals Etatd- und 
Berfaffungsfachen, die Sicherheits. und Preß - Polizei, die Angelegenheiten für Han⸗ 
del, Aderbau und Gewerbe und die für Strafe und Berforgungs-Anflalten umfaffen. 
In zweiter Inſtanz fungiren die bier Kreis-Direetionen, zu denen die Amtshauprleute 
in dem Verhäͤltniß delegirter Mitglieder fliehen, und in Ietter Inflanz Die Stadträthe 
und GBerichtsänter. Außerdem beftehen in jedem Gerichtöamte noch eine Anzahl Frie⸗ 
vensrichter als obrigkeitliche Hülfsbeamte, und in vielen ehemals den Patrimonial« 
Gerichten untergebenen Orten baben die Qutöherrfchaften noch verfchiedene obrigkeit⸗ 
Tide Brivilegin. Die Boltzei wird mit Ausnahme von Dredden und Leipzig, 
wo beſondere koͤnigliche Behörden dafür beflehen, in den Städten von den Stabt« 
räthen, auf dem Lande von dem Gemeinde» Vorflande verwaltet. Als Tandespolizets 
liches Inftitut Geflecht Die Gendarmerte, welche den Kreiß-Direetionen, refp. den Amts 
Hauptleuten untergeben ift. Unter dem Minifterium des Innern flehen ferner noch die 
General = Eommifflonen für Abldfungen und Gemeinheitstheilungen, die Landarmen⸗ 
pflege mit der Aufficht über die für Befferungszmede errichteten Landes Gorrectiond- ıc. 
Anftalten, die Medicinal-Bollzel, welche in unterer Inflanz von den Bezirks « Aerzten, 
in der mittleren von den ärztlichen Mitgliedern der Kreis-Direetionen und im Minifte- 
rium von der aus 3 Medicinalräthen beftehenden Commiſſton verfehen wird (flaatliche 
Heil refp. Berforgungs-Anftalten beftehen zu Hubertsburg, Koldig und Sonnenftein), 
und endlich das Brand» Berficherungsmwefen, welches durch das Geſetz vom 23. Auguſt 
1862 auf's Neue organiflrt morden if. Das General- Gommando über die 
Gommunalgarden, gefiftet 1830 und durch Geſetz vom 7. Juli 1831 organi» 
firt, veffortivt theild vom Minifterium des Innern, theils von dem des Krieged. Die 
Rechtöpflege wird jept in ganz S., nad Aufhebung der in den Schönburg'fchen 
Mecebberrfchaften beſtandenen felbfifländigen Berichte, von Tandeäherrlichen Berichten 
ausgeübt. Als höchſte Inftanz fungirt dad Ober-Appellationsgericht. Don ihm refe 
fortiren zunächft die vier Appellationsgerichte in den Bezirken, und von biefen wieder 
die Gerichtsaͤmter in den Städten und auf dem Lande, von denen erftere zugleich im 
Eivilprocefife für die lezteren eine Mittel» Inflanz bilden. Yür das Militär beftchen 


‚Kriegdgerichte und für die Kommilitonen der Univerfität Leipzig ein erimirter Gerichts⸗ 


ftand ohne höheren Inflangenzug. Ein allgemeines Bürgerliches Geſetzbuch vom 2. Ja⸗ 
nuar 1863 beflimmt das in ©. geltende materielle Civilrecht. Daffelbe beruht 
Hauptfächlich auf dem gemeinen Rechte, modificirt durch fehr zublreiche Bartifularrechte 
und Iocaled Statutenrecht, und mo jenes nicht ausreicht, greift es auf gemeined beut- 
ſches und fanonifches, ja felbft römifches Necht zurüd. (Wegen des altdeutfchen 
fähfifhen Rechtes vergleihe man den Artikel Sachſenſpiegel.) Kür gewifle 
Nechtögebiete find in neuefter Zeit ausführliche Verordnungen als Normen erlaflen 
worden; fo ift die Allodial-» Erbfolge geregelt worden durch das Mandat von 1829, 
das Hypothekenweſen durch das betreffende Gefeg von 1843, denen unterm 25. April 
1849 die Einführung der allgemeinen beutfchen Wechfel-Orpnung und unterm 30. Det. 


1861 die des allgemeinen deutfchen Handelsgefehbuches folgte. Das formelle Br 








686 Ä Sachfen. (Königrei). 


vilrecht bat feit Oftern 1864 durch die Publication einer neuen Civil⸗Proceßordnung 
‚eine feit langer Zelt nothwendige Megelung erfahren. Bis dahin mar die alte Proceß⸗ 
Ordnung von 1622 nebfl den dazu gehörigen Erläuterungen von 1724, 1817 und 
1861 in Gültigkeit. Das Berfahren if bei Objecten über 50 Thlr. Werth und bei 
in Gelde nicht abfchägbaren Objecten fchriftlih und berubt auf der Verhandlung, 
fo wie der Eventual-Marime. Der Inflanzen find drei; doch Darf, bei conformen Er⸗ 
Eenntniffen der unteren beiden Gerichtd « Inflangen, die britte nur befchritten werben, 
wenn das Object über 200 Thlr. beträgt; bei Objecten unter 100 Thlr. iſt nur bie 
zweite Inſtanz geflattet. Die Lehensfachen find erimirt für die Appellationdgerichte in 
Dresden und Baugen. Acte der freiwilligen Gerichtsbarkeit gehören vor die beiden 
unteren Berichts = Inftanzen. Die Zunctionen der Öffentlichen Notare beſtimmt bie 
Notariatd-Orbnung vom 3. Juni 1859. In Ehefachen bilden die Appellationdgeridhte 
die erſte Inflanz; das Berfahren in Fällen gemifchter Ehen und zwilchen katholiſchen 
Ehegatten ift durch befondere Gefebe geregelt. Das Criminalverfahren iſt durch 
dad Strafgefegbuh, reſp. Militaͤr⸗Strafgeſetzbuch, und durch die Straf Proceßorbnung, 
reſp. Milttär-Strafproceßordnung vom 11. Auguft 1855, reſp. 23. April 1862, feft- 
gefeßt; e8 beruht auf dem materiellen Unterſuchungs⸗Princip, in allen ſchweren Bällen 
auf der Anklageform bei Mündlichkeit und Oeffentlichkeit der Verhandlungen. Als 
Öffentlicher Anfläger fungirt die Staatdanwaltfchaft mit einem Staatsanwalt bei jedem 
Bezirkögerichte, einem Ober « Staatsanwalt bei jedem Appellationdgerichte und dem 
General-Staatdanwalt beim Ober-Appellationdgericht. In den geringeren Strafſachen 
bilden die Gerichtsaͤmter die erſte, die Bezirkögerichte die zweite Inflanz; in ben ſchwe⸗ 
reren find die Bezirkögerichte in erfter, Die Appellationsgerichte in zweiter Inflang com⸗ 
petent. Das Ober-Uppellationdgericht iſt Caſſationshof. Die gerichtliche Polizei ſteht 
unter den Iocalen Bolizeibehörden und reffortirt ebenfalld von dem Miniflertum der 
Juſtiz, wie die übrige gefammte Rechtspflege — Das Binanzwefen flebt unter 
dem Winifterium der Finanzen, welches in drei Abtheilungen für Zoll» und Gteuere 
fachen, für Poft-, Telegrapben» und Eifenbahn » Angelegenbeiten und für dad Berge 
wefen geteilt ift, denen wieder verfchiebene Mittel- und Unterbehörden fuborbinirt find. 
So beftehen: für den Zollverkehr die Zoll» und Steuer - Direction in Dresden, 
unter ihr die Haupt⸗Zoll⸗ und Steuerämter; für die Grund⸗, Gewerbe», Perſonal⸗ 
und Stempel-Steuern die vier Kreis-Steuerräthe in den Bezirken und unter ihnen bie 
Bezirkö- Steuereinnahmen, für die Verwaltung ber Regalien und baaren Gefälle bie 
ZandrentensBankverwaltung in Dreöden und unter ihr die Mentämter, für das Poſtweſen 
die Oberpoftdirection in Leipzig und unter ihr die Poſtaͤmter und Erpeditionen, für 
das Staatseifenbahnwefen die Directionen in Dredden und Leipzig und für das Berg. 
weien daß Oberbergamt zu Breiberg. Das Budget der legten Binanzperiode erreichte 
die Summe von 12,360,000 Thlr. in Einnahme und Ausgabe. Bei letzterer war 
Die Verzinſung der Staatsfhulden und ihre Amortifation mit 2,835,000 Thlr., der 
Militäretat mit 2,175,000 Thlr., der Finanzetat mit 474,500 Thlr., dad Departement 
des Innern mit 851,000 Thlr., das der Juſtiz mit 384,073 Thlr., das des Cultus 
und öffentlichen Unterrichts mit 391,000 Thlr., das des Auswärtigen mit 94,500 Thlr., 
der Benflonsfonds mit 590,000 Thlr. und das dffentliche Bauweſen mit 3,339,000 Thlr. 
in Anſatz gebracht. Diefer gegenüber wurden die Einnahmen aus den Nugungen bed 
Staatövermdgend und der Stantsanflalten auf 5,117,000 Thlr., aus den Directen 
Steuern mit 2,096,000 Thlr., den indirecten mit 2,880,000 Thlr. und aus ben 
Zufhüffen aus den disponiblen Beftänden des Staatövermögend mit 2,364,000 Thlr. 
balancirt. Die Staatöfchulden erreichten ultimo 1863 incluflve der courfirenden Kaflen- 
billets und der Staatseifenbahnfchuld die Summe von circa 63,000,000 Thlr. Die 
Armee befleht zur Zeit aus 16 Infanterie und A Jägerbataillonen in 4 Brigaben, 
4 Regimentern Gavallerie in 2 Brigaden, 1 Regiment Buß- Artillerie von 10 Batterieen, 
2 reitenden Batterieen, 1 Btonier-Bataillon mit einer Brüden-Equipage, 1 Sanitätd- 
corps und 1 Trains Brigade. Als Bundescontingent ftellt dad Königreih an 13,000 
Bann, welche die 1. Diviflon des 9. Bundes⸗Armeecorps bilden, deſſen Commandeur 
von ©. zu ernennen if. An befefligten Plaͤtzen beſitzt S. nur die Feſtung Königfein 
an der Elbe. Die Dienfizeit beträgt acht Jahre, von benen die Iegten zwei Jahre 


Sachſen. (Das Großherzogthum Sachſen⸗Weimar⸗Eifenach.) 687 


in der Meferve; es werben jedoch nur flärkere Cadres unter den Waffen behalten, bie 
übrigen Mannſchaften nach 2«, vefp. jähriger Dienftzelt zur Reſerve beurlaubt. Im 
Kriege iſt die Dienflzeit unbeſchraͤnkt. WMilitärpflichtig iR jeder Staatsbürger mit 
‚ vollendetem 20. Lebensjahre, doch iſt im Frieden eine Stellvertretung gegen eine Eins . 
ſtandsſumme von 300 Thlr. geflattet; in Kriegszeiten gilt nur freiwillige Stellyertres 
tung. Orden und Ehrenzeichen hat ©. drei: den Tönigliden Hausorden 
der Rautenkrone, nur in einer Klaffe befkehend, wird nur an Zürften und hohe 
Staatöbeamte verlieben; er wurde geftiftet von König Friedrich Auguft I. kurz nach 
feiner Grhebung durch Napoleon I. zur Eöniglichen Würde am 20. Juli 1807, und 
der franzöfliche Kaiſer war der erſte Mitter deffelben; der Rilitäriihe St.⸗Hein⸗ 
richs⸗Orden, gefliftet 1736 vom Kurfürften Friedrich Auguſt II. und 1829 mit 
neuen Statuten verfehen und in vier Klaffen verliehen, kann nur Durch kriegeriſches 
Berbienft vor dem Feinde erlangt werden. Der Civil⸗Verdienſt⸗Orden, ge 
fliftet von König Friedrich Auguf I. nach feiner Rückkehr aus der Kriegögefangen« 
ſchaft am 7. Juni 1815, wird in drei Klaſſen nur an verdiente Eiviliften verlieben, 
und ihm affillirt iſt eine goldene und fllberne Eivil-DBerdienfi- Medatlle 
(2Ziteratur. Bofe: „Handbuch der Beographie, Statiſtik und Topographie des 
Königreihd Sachen“, 2. Aufl, Leipzig 1846; Bülau: „Darftellung der Verfafſung 
und Verwaltung ded Königreihd S.“; „Staatshandbuch für das Koͤnigreich S.“, 
Dresden 1863; „Zeltichrift des ſtatiſtiſchen Bureaus des Eönigl. ſächſ. Miniſteriums 
des Innern”, Leipzig 1864; Ndumann's „Geognoſtiſche Skizze von S.“, Dresden 
1843; „Jahrbücher für den Berg- und Hüttenmann”, herausgegeben von der Fönigl. 
Bergalademie in PBreiberg; „Pie Steinkohlen des Königreichs S.“, geognofifche 
chemiſch⸗techniſche und flatiflifche Monographie von Beinig, Hartig, Köttig und Stein 
im Auftrage des koͤnigl. fach]. Minikeriums bed Innern bearbeitet, Leipzig 1855 u. ff.; 
Bunfe: „Die Bolizeigefege und Verordnungen bed Königreichd S.“, Leipzig 184764, 
bio jegt 6 Bände, Haubold: „Lehrbuch des Fänigl. fächflfhen Privatrechts“, Leipzig 
1847; Gurtius: „Handbuch des in Kurfachien geltenden Civiltechts“, Thl. 1 -4, 
Leipzig 1846 u. ff.; Schönberg: „Die Armengefepgebung des Koönigreichs S.“, Leipzig 
1864; Schiffner's „Beichreibung von ©. 30. ꝛc.“, Dresden 1845, und Engelhardt's 
„Vaterlandskunde“, 9. Aufl, Leipzig 1853.) — C. Grundzüge der politiſchen 
Geſchichte fiehe unten, wo mir diefelbe im Zuſammenhange mit der der übrigen 
fähflfchethüringifchen Rande. Darftellen werden. 

1. Das Großherzogthum Sachfen-Weimar-Eifenac beftcht bei 
einer Sröße von 67 DM. und einer Gefammtbevölferung von etwa 266,000 Ein« 
wohnern aus drei geographiſchen Haupttheilen und einigen Fleineren Zändergebieten, 
welche letztere das am Thüringer Walde liegende Amt Ilmenau bilden. Bon jenen 
drei Hauptiheilen iſt der größere das Fürftentbum Weimar mit beinahe 34 O.⸗M., 
bon der Provinz Sachen, dem Fürſtenthume Schwarzburg⸗Rudolſtadt und dem 
Herzogthum Sacjen » Altenburg begrenzt, ber zweite dad Fürſtenthum Eiſenach mit 
19,5 Q.⸗M., grenzt im Weften und Süden an das Kurfürftentbum Heſſen, im Oſten 
an dad Herzogthum Sachen Meiningen und an dad Herzogthum Sachſen⸗Koburg⸗ 
Gotha und im Norden an die preußifche Provinz Sachen, und der dritte, der 1815 
vom Königreih S. losgeriſſene Neuftädter Kreis mit 12 Q.⸗M., ift vom Königreich 
S., den Fürſtenthümern Neuß und den Herzogthümern Sachfen- Altenburg und Sadı- 
ſen⸗Meiningen umſchloſſen. Der größte Theil des Amtes Ilmenau, fo wie des Fürften« 
thums Eiſenach ift bergiged Land, in diefem dominiren das Rhöngebirge mit feinen 
vielen Zweigen und in jenem erhebt fidy der Thüringerwald im, Gickelhahn bis zur 
Höhe von 2700 Fuß; im Kauflädter Kreife verlieren fich die nördlichen Gehänge des 
voigtländifchen Gebirge und in der zum Weimarifchen Kreife gehörenden Enclave 
Allſtedt flacht ſich die fühöftliche Megton des Harzes zu einer fchönen Wellenlandichaft 
ab, die fi weithin fortfeßt. Der Hauptfluß des Großherzogthums iſt Die in der 
Nähe von Ilmenau entfpringende Ilm, die unterhalb Weimar von Kleinen Floͤßen 
befahren werben Tann, außerdem find von den meift ganz unbebeutenden Bergflüffen 
nur noch zu nennen die Werra, die niemals zufrierende Neffe, bie Orla und die 
weiße Elſter. Die Raturproducte des Landes find nicht audgezeichnet und bieten auch 


688 Sahjen. (Das Großherzogthum Sachſen⸗Weimar⸗Ciſenach.) 


nichts Figenthümliche® dar; Holz giebt es in Menge, der Aderbau wird in neuefter 
Zeit rationeller betrieben und giebt namentli guten Roggen und Flachs, die Obſt⸗ 
baumzucht wirft einen reichlichen Ertrag ab. Bon Mineralien finden ſich Eifen, Salz, 
Stein- und Braunfohlen. Das Kupfer- und Silberbergmerf von Ilmenau, das alteſte 
in Deutfchland, liegt fchon fett fange unbenugt; die bedeutendfte Saline iſt Louiſen⸗ 
halle bei Stotternheim, Mineralquellen finden fi in Ilmenau, Ruhla, Berka, Raſten⸗ 
berg bei Eifenah u. a. a. D. Die Viehzucht Hat erft in neuefter Zeit größere Fort⸗ 
fohritte gemacht, fomwohHl durdy Vermehrung der Stückzahl mie durch Veredelung ber 
Race, der Beſtand det den Bedarf und ein Import findet nur bei Pferden flatt, bie 
übrigens in den bergigern Gegenden und von dem Fleineren ländlichen Beſitze nur 
wenig bendthigt und gehalten werden. Das trefflichſte Rindvieh findet fi in den 
reichen Niederungen des Amtes Allftebt In der durch ihre Fruchtbarkeit ſchon von 
Alters ber Hochberühmten goldenen Aue. In den Gebirgsgegenden iſt die Ziegenzucht 
in Aufnahme und ber Efel wird flark gebraucht. Die Schafzucht endlich nimmt feit 
einer Reihe von Jahren eine audgezeichnete Stelle ein und Hat feit 1850 nicht nur 
einen beinahe doppelten Beftand erlangt, fondern befonders fowoHl in der Landrace 
als auch in hochedler Zucht eine bedeutende Berbeflerung erfahren. Die Woll- 
Production von 1861 betrug bei einer Zahl von etwa 350,000 Stüd etwa 1 Million 
Pfund, von denen der überwiegend größte Theil in's Ausland geht, obwohl durch 
dad ganze Product die inlindifhe Eonfumtion Faum gedeckt würde. Der Holjbebarf 
wird reichlich durch die vorhandenen Hölzer gedeckt und die Ausfuhr liefert einen 
nicht unbebeutenden Ertrag. Die Weincultur tritt nur in ganz vereinzelten Punkten 
auf und ift ohne alle Bedeutung, der Obſtbau aber mird in allen Diſtricten des Lan- 
des in den einheimifchen Sorten forgfam betrieben und getrodnetes und gebadene® 
Obſt geht viel außer Landes. Bon den Nebenzweigen des Landbaues und 
der Landwirthſchaft liegt der Seidenbau und die Bienenzucht Hier noch in der 
Kindheit, Die Zucht des Federviches jedoch wie auch die Fifcherel und fünflliche Fiſch⸗ 
zucht find fehr bedeutend und bie Jagd und Wildſtands⸗Statiſtik erreicht eine verhältnig- 
mäßig bobe Ziffer. Zur Belebung der wirthfchaftlichen Gewerhe wirken die groß⸗ 
berzoglihde Stammfchäferet in Oberweimar, verbunden mit einer landſchaftlichen 
Schule und einer Viehmaſtungs⸗Anſtalt, und Die von Bertuch in Weimar gegründete 
Centralbaumſchule. Der Bergbau ift gering, die Production von Salz dedit den 
Bedarf, das Quantum der geförderten Bineralien iſt unbedeutend, dad an Stein- und 
Braunfohlen Gewonnene ebenfalld Hinter dem Conſum zurüdbleibend. Der Stand 
der Gewerbe if im Allgemeinen ein befriedigender, die bürgerlichen Gewerke be⸗ 
ſchraͤnken fidy meiſtens auf den Gonfum des eigenen Landes, nur in Strumpfwirker⸗ 
waaren und leinenen Geweben wird In Eiſenach, Neufladt, Triptid u. a. O. für den 
Erport gearbeitet und nur die Fabrikation von Ruhla (f. diefen Artikel) if von 
größerer VBebeutung. In demfelden Maaße ift auch der Handel, das Kind ber In⸗ 
duftrie, nur in Ruckſtcht jener Fabrikate ermähnungswerth und wird berfelbe durch bie 
Vollendung einiger profectirter Eifenbahnflränge nad) Iena, refp. Neuſtadt wohl neue 
Stügen gewinnen. In Bezug auf die geiftige Bildung nimmt das Grofiherzog- 
tum ımter den deutfchen Ländern eine der bervorragendften Stellen ein. Vortrefflich 
if für den Volksunterricht geforgt, und feit Carl Auguſt, dem edlen Freunde Schil⸗ 
ler’8 und Goͤthe's, Tag derfelbe auch feinen Nachfolgern vor Allem am Kerzen. Jede 
Ortſchaft, fie fei noch fo Elein, bat ihre Schule, und fo erreicht die Zahl der Dorf- 
ichulen die Höhe von ca. 600, die der Bürgerfchulen die von 80. Auf den Schul» 
lehrer - Seminarien In Weimar und Eiſenach wird für Heranbilbung der Lehrerfräfte 
bie erfprießlichfle Sorge getragen und durch Bymnaften In beufelben Städten für bie 
Börderung geiftiger Bildung gewirkt. Die für fämmtliche Beflgungen der Erneſtini⸗ 
ſchen Linie gemeinfame Univerfltät Jena (f. diefen Artikel), geftiftet 1548, Hat feit 
lange unter den deutſchen Sochfchulen einen verdienten Ruf, und von ihren etwa bie 
Durchſchnittszahl 450 erreihenden akademiſchen Bürgern beſteht wohl die Hälfte aus 
Ausländern. An freien Bildungsanftalten find noch zu nennen: daB freie 
Kunflinftitut zu Weimar mit feinen Zmeiganftalten in Jena und Eiſenach, die Haupt⸗ 
Bibliothek in Weimar mit 130,000 Bänden, Kupferfliche und Handzeichnungen⸗;Samm⸗ 


Sadhfen. (Das Großherzogthum Sadfen-Welmar-Cifena.) 689 


lungen, Blan- und Landfarten, geographifchem Inftitut u. f. w., die Forſtlehr⸗Anſtalt 
zu Sifenah, Gewerbeſchulen in Weimar, Eifenah und Jena, die DBrennerei= und 
Brauerei-Schule in Lietzendorf, viele wifienfchaftliche Brivat- Vereine und Sammlungen. 
Bon den Mitgliedern der Hoftheater- Kapelle werden im Bonfervatorlum für Muſik die 
bervorragendften als Lehrer verwendet und bie Theaterichule In Weimar erfreut ſich 
noch immer eines guten Rufes. Auch an öffentlichen und Privat-Wohlthätigkeitsanftalten 
ift fein Mangel, das Waifenhaus In Weimar Ifl eined der großartigften und beftdotirten 
Etabliffements diefer Art, Kranfenhäufer in Jena, Neuftadt, Eifenah, Weimar u.a. O., 
Kinderbewahr-Anftalten und Bereine zur Beaufſichtigung und fittlichen Beſſerung ent« 
laſſener Sträflinge find feit 1829 gefliftet und wirken fegensreih. — In Rückſicht auf 
Staatöverfaffung und Staatöverwaltung des Großherzogthums fei in 
Kurzem Nachſtehendes erwähnt: Daffelbe bildet eine durch die Verfaffung von 1816 
befchränfte conflitutionelle Monarchie, deren Regent als Großherzog dad Prä- 
bicat „ Königliche Hoheit *, am deutfchen Bundestage eine Stimme im Plenum 
fügrt und im engern Mathe die Führung der zwölften Stimme bat. Der Thron 
ift erblih Im Mannesſtamme des fächflfch = erneftinifchen Haufe nach dem Mechte der 
Erfigekurt und der agnatifchen Rinealerbfolge; im Kalle der Minverfährigfett tritt Re⸗ 
gierungsverwefung durch den nächften majorennen Agnaten ein. Die Verhältniffe der 
Mitglieder des großherzdglihen Haufes find durch Bamilienflatuten geregelt. Die 
2Zandflände befleben aus einer Kammer von 31 Abgeordneten, deren Präflvent, der 
Zandtagsmarfchall, auf Kebendzeit von ihnen gewählt wird. Don ihren Mitgliedern 
geben durch Wahl, die fich alle ſechs Jahre erneuert, Der Bauernfland und der Bürger- 
Rand je zehn, der große Grundbeflg neun, Der chemald reichöunmittelbare Abel ein 
und die Univerfität Jena ebenfalld ein Mitglied. Diefe Stände müſſen mindeflens 
alle drei Jahre einmal zufammenberufen werben und fle haben dad Hecht der Steuer- 
bewilligung, der Theilnahme an der Gefeßgebung durch Prüfung der von ber Regie 
sung proponirten Entwürfe oder Einbringung eigener Propofftionen, dad Mevifions- 
recht über bie fiscalifcyen Inflitute und Kaflen, das Petitionsrecht u. f.w. Die höchſte 
Staatöbehörbe ift das Sefammtminifterium, welches aus brei Departements befteht, 
von welchen das erfte die Angelegenheiten des großherzoglichen Hauſes, die Binanzen 
und Dad Innere, die zweite das Kirchen“, Schule und Medicinalmefen, die landwirth⸗ 
fchaftlihen Angelegenheiten und das Kriegsweſen, die dritte die Juſtiz, die audwär« 
tigen Angelegenheiten und die Berhältniffe zum beutfchen Bunde umfaßt. Die böchfte 
Juſtizbehörde iſt das für alle erneftinifchen und die fürfllich reußifchen Lande gemein« 
fihaftlihe Ober - Appellationdgericht in Iena, welches auch in civilen Proceſſen biefer 
Höfe unter einander als Auftrigalgericht eingefegt if. Als Mittelbehörben fungiren 
im Großherzogthum die beiden Landeöregierungen zu Weimar und Eiſenach, Denen 
wieder in Civilſachen die Stadt- und Patrimonialgerichte, refp. Gerichtsaͤmter, in 
Griminalfahen die bier Griminalbezirkögerichte in Weimar, Welda, Eifenah und 
Dermbarh als unterfuchende Behörden unterflehen. Die Berwaltung der Abtheilung 
für dad Innere veffortirt zu oberfl von der Landesdirection in Weimar, unter denen 
wiederum die Stadt: und Batrimonialgerichte und Aemter als Unterbehörben fungiren. 
Ionen iſt auch die Polizeiverwaltung anvertraut, und nur in den Städten Weimar, 
Iena und Eiſenach erifliren befondere PBolizeibehörden. In Bezug auf das Finanz⸗ 
wefen und deſſen Berwaltung erifliren zwei Behörden, von denen die eine, daß 
Kammercöllegium, die Gefälle der Domänen und Krongüter und die Upanagengelder 
verwaltet, die andere, daß Randfchaftscollegium, Die directen und die indirecten Steuern 
und die übrigen baaren Gefälle der Staatdanftalten in Verwaltung und Verrechnung 
dat, Die kirchlichen Berbältniffe anlangend, fo flehen ald Oberbehörben für die 
evangelifchen Chriften unter dem Departement des Cultus die Oberconfiftorien in Weis 
mar und Eifenach, für die Katholiken die Immedtatcommifflon in Weimar und für die 
Iftaeliten dad Nabbinat ebendafelbftl. Den evangelifchen Oberconſiſtorien liegt zugleich 
die Prüfung der anzuftellenden Geiftlichen ob. Als Unterbehörben find die Superintenden- 
turen, deren 9 mit. 64 Parochieen beftehen, eingefeht, denen für die Parochials Anges 
legenbeiten die localen Kirchenräthe zur Seite ſtehen. Bon der Einwohnerzahl des 
Großherzogthums bekennt ſich der Überwiegend größte Theil zum Proteſtantismus, 


Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. XVIL 44 


690 Sachſen. (Herzogthum Sachfen, Meiningen-Hilvburghaufen.) 


die Zahl der Katholiten Beträgt etwa. 11,000 (vie Mehrzahl in der Gegend um 
Eifenadh), die Der Juden 1700, die der Deutfch- Katholifen 900. Das flehende 
Militär befieht nur aus zwei Bataillonen Infanterie, einer Diviflon Cavallerie und 
zwei Sußbatterieen in einer Sriedensflärke von ca. 3000 Mann, dad Bunbescontingent 
beträgt nach der . erhöhten Matrifel von 1863 2247 Mann. Die Dienfizeit dauert 
8 Jahre, wovon fünf in Der Meferve; die Dienftpflicht ift allgemein, aber Stellvertretung 
geftattet. Die taktifche Ausbildung der Offiziere erfolgt auf preußiichen Militär« Bile 
dungs-Anflalten nad Maßgabe der mit dieſem Staate geichloffenen Militär-Gonvention. 
Die Staatsfhulden des Großherzogthums belaufen ſich auf ca. 4,000,000 Thlr., Die 
Kammerfchulden auf 800,000 Thlr. Die jährlichen Einkünfte betrugen 1862/3 
über 1,560,000 Thlr., wovon das Kammercollegum die Hälfte bezog, hiermit fm 
Balance ſteht die Ausgabe, bei der feit 1851 kein Deftcit vorgefommen iſt; die Amor⸗ 
tifation der ſchwebenden Staatsfchuld ift gefeglih in die Wege geleitet und geht, da 
die Etats feit 1861 einen Ueberihuß an Einnahmen nachweiſen, auch factiſch vor fidh. 
An Orden und Ehrenzeichen befigt dad Großherzogtfum den Hausorden ber 
Wachſamkeit oder ded weißen Balken, welcher, 1782 geftiftet, im Jahre 1815 in drei 
Klaffen erweitert wurde und ald Ehrenzeichen für bürgerliches und militärifched Ver⸗ 
dient verliehen wird; ihm affilitrt iſt eine Civilverdienft» Medaille in Gold, Silber 
und Bronze. Außerdem bat der Großherzog die Berechtifung zur Verleihung des 
allen erneflinifchen Prinzen ded Stammhauſes gemeinfchaftlichen fächfifch - erneflinifchen 
Sausordend, welcher ald Großkreuz, Comthurkreuz 1. und 2. Klaffe und Ritterkreuz 


.1. und 2. Klaſſe vergeben wird. Der gegenwärtige Regent iſt der Großherzog Carl 


Alerander Auguft, regiert feit dem 8. Juli 1853. Die Mefldenz ik Weimar (f. d. 
Art.); außer den größeren Städten Eiſenach und Jena (f. d. Art.) find nur noch 
wichtig Berka, 1300 Einwohner, mit einer Forftlehranftalt und einem Geſundbrun⸗ 
nen, Allſtädtt mit 2400 Einwohnern und einem Geftüt. Das alte verfallene Berg. 
ſchloß in der Nähe der Stadt war der Sig der alten Pfalzgrafen von S. und bie 
Pfalzgraffhaft felbft, gegründet von Heinrich J. dem Vogelſteller. (Das: Nähere 
hierüber fiche unter dem Artikel Sachſen, Pfalzgraffchaft) Die Stadt Ilmenau 
mit 2700 Eimwohnern, am Fuße des Gidelbahn, gehörte früher zur gefürfteten Graf⸗ 
[haft Henneberg (ſtehe diefen Artikeh; Neuſtadt an der Orla mit 4000 Ein- 
wohnern, Hauptort des Neuftädter Kreifes, der 1815 vom Königreih S. an Weimar 
abgetreten wurde. In dieſem Kreife find noch anzuführen die Städte Triptis und 
Auma wegen ihrer bedeutenden Fabrikation in Webereien; im Fürſtenthum Eiſenach 
außer diefer Stadt felbft der gewerbreihe Ort Ruhla (ſiehe diefen Artikel) und Die 
Städte Kreugburg mit der Saline Wilgelmglüdsbrunn, Geifa nit den Ruinen der 
Rockenſtuhlburg, Vacha oder Fach an der Werra und Oſtheim an der Rhön. 
Das Geſchichtliche des Großherzogthums wird unten behandelt werden unter G. 1. 

HL Das Herzogthum Sahfen-Beiningen-Hildburghaufen ume 
faßt einen Ylächenraum von 44, Q.⸗M. mit etwa 170,000 Einwohnern, zieht fi 
als langer Landflreifen in der Form eines Hufeifens von der Gegend um Eiſenach 
zwifchen dem Großherzogthum Sachſen⸗Weimar und dem kurheſſiſchen Gebiete von 
Schmalkalden ſüdoſtwärts an der baperifchen Grenze entlang, dann oflwärts zwifchen 
Koburg » Gotha und dem preußifchen Antheil der Braffchaft Henneberg über den 
Thüringer Wald zwifchen den reußifchen Landen und dem Neuftädter Kreife des Groß⸗ 
herzogthums hindurch bis an's Herzogthum Altenburg; feine Breite ift felten größer 
als zwei Meilen, im fchmalften Theile noch unter 1/, deutfche Meile. Es iſt wegen 
feiner Lage am füdlichen Abhange des Thüringer Waldes durchgehendé Hochland, doch 
von reizenden Thälern durchfchnitten, unter denen das Plußthal der Werra das 
meiningenfche Unterland und das Herzogthum Hildburghaufen ihrer Länge nach durch⸗ 
zieht. Der hoͤchſte Punkt des Hoclandes ift der Bleßberg, der eine Höhe von 
2583 Fuß erreicht. Außer der Werra find von Fläffen nur noch die Saale und 
Ilm zu ermühnen, die Rotha, Ip, Tettau, Steinach, der Kred, die Kolihau, Zopte 
und Sorbig find unbebeutende Gebirgswäfler. Der Boden des Landes iſt mit Aus⸗ 
ſchluß der Höher gelegenen Gegenden, wo namentlidy der Betreivebau nicht mehr fort- 
kommt, ziemlich ergiebig und durch eine gute und ſich ſtets hebende Gultur und rationelle 


- — 


Sachſen. (Herzogthum Sachſen⸗Meiningen⸗Hildburghauſen.) 691 


Bewirtbfchaftung wird demſelben eine fährlich wachfende Erträgniß abgewonnen. Die 
wenigen flatiflifchen Doten über Bodenprobucte find überdied eben fo wenig zuverläßlidh, 
doch läßt fih daraus entnehmen, daß von dem vorhandenen Aderlande der größere 
heil mit Roggen und Hafer, weniger mit Weizen und Gerſte bebaut iſt, welche 
legtere beiden Hulmfrüchte zumeiſt aus den Nachbarländern eingeführt werden; Kate 
toffeln werden genügend für den Conſum produeirt; für Handeldgewächfe, Hülfen- und 
Hackfruͤchte, Blatt⸗ und Futterkräuter, fo wie Brachen bleiben etwa !/, der vorhandenen 
Morgenzahl an Aderland übrig. Der Obſtbau ift im Zunehmen und die Vieh⸗ 
zucht erlaubt felbft eine wachfende Ausfuhr, ebenfo wie der Holzreichthum bes Landes. 
Der Bergbau beichräntt fi auf die Eifen- und Kupferprobuction im Fürftenthume 
Saalfeld, befchäftigte jährlich an 1200 Menfchen und brachte bei einer jährlichen Aus« 
beute von etwa 600,000 Thlr. einen Neingeminn von 15 pCt.; die Salinen zu Sal 
zungen und Kamburg fördern jährlich etioa 200,000 Etr. Salz. Die große In» 
duſtrie befchränkt fi auf die ausgehreitete Fabrikation von Leinwand und wollenen 
Zeugen, Eifenwaaren, Schiefertafeln und Platten, hölzernen Spielfachen, die meift in's 
Ausland geben; die mechanifchen Productionskräfte find in Iangfamer Vermehrung, 
Dagegen bie bürgerlichen Gewerbe in demjelben Grade in Verfall, als jene die menfch- 
lichen Arbeitskräfte erfegen; die Vermehrung der Fabrikbevölkerung ift unbedeutend, 
die Berarmung der Arbeiter und Gemerbetreibenden nimmt immer mehr zu, obgleich 
in neuefter Zeit gewerblihe Vereine und Ereditanftalten, fo wie die Ders 
befferung ber Verkehr⸗ und Beförberungsmiitel dieſem Verfalle entgegenzumirken fuchen. 
Die Auswanderungen aus dem Herzogthum dauern fort, wenn fle auch feit drei Jahren 
durchſchnittlich kaum 80 Berfonen betrugen. Der Handel leidet unter dieſem Ginken 
der Induftrie felbftverfländlich in gleichem Grade und ift nur für obengenannte Fabrikate 
der großen Induftrie von einiger Bedeutung. In Bezug der geifligen Cultur 
And die dazu nöthigen Bildungsmittel in mehr als genügendem Maße vorhanden: 
das Elementar-Ünterrichtöwefen ift von großer Vortrefflichkeit. Das Seminar in Hildburg⸗ 
haufen, unter Nonne's Leitung zu hohem Rufe gelangt, forgt für die Ausbildung der Lehr⸗ 
Eräfte, Realſchulen in Meiningen und Saalfeld, Gymnaſten in dieſen beiden Städten, 
Hildburghaufen, Eisfeld, Heldburg beförbern die höhere wiſſenſchaftliche Bildung, 
während Gewerbes und Induſtrieſchulen in Meinungen und Hilbburghaufen und eine 
Handelsſchule in erflerer Stadt für die Förderung technifcher und praftifcher Gewerbs⸗ 
Eenntniffe forgen. Auch an wiffenfchaftlicden und technifchen Privatvereinen mangelt 
es nicht und von ihnen gebt fo manches Gute und Förbernde aus. Bon wiflen- 
ſchaftlichen reſp. Kunſtſammlungen ſei erwähnt die herzogliche Bibliothek mit Mu⸗ 
feum in der Eliſabethenburg in Meiningen, fo wie das bibliographiſche Inſtitut in Hild⸗ 
burghaufen. Die Univerfität zu Iena bat das Herzogthum gemeinfähaftlih mit den 
hörigen fächflichserneftinifchen Ländern. — Die Staatsverfaffung des Landes 
iſt die conflitutionelle Monarchie, georbnet durch den Berfafjungsvertrag vom 23. 
Auguſt 1829. Die Herzogswürde ift erblih im Mannesſtamme des Stifterd ber 
Linie Herzogs Bernhard, dritten Sohnes Ernft des Frommen, nach den Rechten ber 
Erſtgeburt und der agnatifchen Lineal⸗Erbfolge. Begenmwärtiger Megent iſt der Herzog 
Bernhard Erich Freund, feit 24. December 1803 (zuerft unter Bormundfchaft); bie 
Mefldenz Meiningen. Als Bundesfürft hat der Herzog im Blenum des Bundesrathes 
eine Stimme, im engern Mathe einen Thell an der zwölften Virilſtimme. Die Lande 
ſtande befichen nach der revibirten Berfofiung vom 23. Auguft 1829 aus 24 Me 
präfentanten der Stände, welche alle ſechs Jahre durch Neumahl erfegt und mindes 
fiend alle drei Jahre berufen werben müflen. Sie werben zu je acht von dem 
Stande der Rittergutöbeflger, Bürger und bäuerliden Grunbbeflger durch directe 
Wahlen gewählt, erhalten während der Zeit der Sefflonen Diäten und genießen 
die mit dieſer Stellung uſuell verbundenen Rechte der‘ Bortofreiheit, Haft⸗ 
loſigkeit ꝛc. Zu ihrem Präfldenten ernennen fle durch Wahl den Landtagsmarſchall, 
zu diefem zwei Directoren als Vicepraͤſidenten, welche drei Ermählte zugleich ald Men 
präfentanten des Landtags bei der Steuerverwaltung und in Staatöfchuldenfragen 
fungiren und mit noch andern drei duch Wahl beflimmten Mitgliedern der Verſamm⸗ 
Iung den ſtaͤndiſchen Ausfchuß Des Landtags bilden. Die Gegenſtaͤnde der fländifchen 
44*® 





6% Sachſen. (Herzogthum Sachſen⸗Meiningen⸗Hildburghauſen.) 


Wirkſamkeit ſind in der oben allegirten Verfaſſungs⸗Urkunde ſpeciell beſtimmt und die 
Verſammlung darf ſich nur mit dieſen, ſo wie mit den von der Regierung des Her⸗ 
zogs an ſie gebrachten Angelegenheiten beſchäftigen; indeß iſt ihnen das Petitions⸗, 
reſp. Beſchwerderecht ausdrücklich zugeſtanden. Als Centralbehörde der geſammten 
Staatsverwaltung des Herzogthums fungirt das Landesminiſterium mit ſpeciellen 
Departements für die einzelnen Zweige der Verwaltung, deren Chefs unter dem Vorfig 
des Minifterd das geheime Natbscollegium bilden, Für die innere Verwaltung 
ift Die oberfle Behörde die Landesregierung in Meiningen mit drei Senaten für eigent- 
liche Bermwaltungd>, Finanz⸗ und Forſtſachen, denen als Unterbehörden acht Berwals 
tungsämter in den Kreifen unterfieben. Die geiftlihen Angelegenheiten flehen 
unter dem Conftflorium in Hildburgbaufen, denen Epborieen in ben acht Kreifen unter- 
geben find, welche auch die Aufficht über die Schulangelegenheiten führen. Eheſachen 
gehören vor daß furiflifche Forum. Als oberſte Juſtizbehoͤrde gilt in den höchſten In» 
flanzen und als Spruchcollegium das Oberappellationdgericht in Jena, ale zweite In» 
ftanz dad Oberlandesgeriht in Hildburghaufen und als Unterinflanzen vier Kreiß- 
und acht Landgerichte. Der Patrimonialgerichtöftand und alle Exemptionen find felt 
dem 1. Januar 1847 aufgehoben. In Eriminalfachen gilt mit einigen Mopdificationen 


feit dem 1. Auguft 1844 das Föniglich fächflfche Strafgeſetzbuch. Brivatrechtliche 


Streitigkeiten werden wie Injurienfachen vor der gerichtlichen Verfolgung im Wege 
foftenfreien Vergleichs durch das Inftitut der Friedensgerichte und dad der gerichte 
lichen Freitage zu heben verſucht. Die Finanzlage des Herzogthums iſt eine bes 
fonderd günflige, feit fih auf dem fechäten Landtage des Jahres 1846 Hegierung und 
Stände über die Aufhebung aller Steuerbefreiungen (gegen Entichädigung aus ber 
Staatskaſſe) geeinigt haben. Die Einfünfte betragen circa 1,500,000 Fl. rbein., wozu 
die herzoglichen Domänen beinahe die Hälfte Tiefen; die Staatöfchulden betragen 7 
Mill. Flor., die berzoglichen Apanagengelver 300,000 Fl. jährlih. Das Herzogtum 
gehört feit 1838 zum fühdeutfchen Münzverein, felt dem 1. Ianuar 1834 zum deuts 
fhen Zollverein. — Das ſtehende Militär befteht aus einem Infanteriebataillen, 
einer Jäger Abtbeilung und einer Artillerie»Compagnie mit einer Friedensftärke von im 
Summe 760 Köpfen; das Bundescontingent beträgt 1280 Mann. Die Dienftpflicgt 
ift allgemein, aber Stellvertretung und Abldfung durch Zahlung geftattet. Die Dienfto 
zeit dauert 8 Jahre, wovon 2—3 Jahre unter der Waffe, der Reſt in der Reſerve. 
Von Orden wird nur der fähfifchserneftinifche Hausorden und ein erſt neuer- 
dings geftifteted Verdienſtkreuz mit einer dieſem afftllirten Medaille verliehen. Die ein⸗ 
zelnen 2andeötheile werden auch politifh nad ihrer geographifchen Trennung ge= 
fıhieden, und fo bildet a. das Herzogthum Meiningen in zwei abgefonderten Stüden 
das LUnterland mit den Aemtern, reſp. Kreifen Meiningen, Römbild und The⸗ 
mar, und das Oberland; b. das Fürſtenthum Hildburghaufen zwei Kreife mit 
vier Aemtern, c. das Fürftentbum Saalfeld einen eigenen Kreis, ebenfo d. die Herr- 
Schaft Kranichfeld und e. die Grafihaft Kamburg mit einem Theile des Amtes Eifen- 
berg. Bon den größeren Städten und Ortfchaften find zu ermähnen: die Reſtidenz 
Meiningen, auch öfter Meinungen genannt, an der Werra, mit 6000 Einwohnern, 
mit Bibliothek und Mufeum, dem fchönen Reſtdenzſchloß Elifabethenburg, erbaut 1681 


durch Herzog Bernhard zu Ehren feiner Gemahlin, Gymnaſium, Induftriefchule, gro⸗ 


ßem Waifenhaufe und einigen Fabriken in Tuchen und leinenen Geweben. Henne- 
berg, Dorf mit einem berzoglichen Kammergut, in der Nähe die Ruinen des alten 
Stammfchloffes der Grafen von Henneberg, welches 1525 im Bauernkriege in Afdye 
gelegt wurde. Wafungen, uralte Stadt an der Werra, mit einem berühmten, 
1596 durch Bernhard Marſchalk von Oſtheim geftifteten adeligen Präuleinftift und 
2400 Einw. Im Mittelalter erzählte man Abderiten⸗Geſchichten von ben braven 
Waſungern und nannte den Ort fcherzbafter Weife „das fränkische Abdera“. Sal- 
zungen, Umtshauptflabt mit 3000 Einwohnern und einem bedeutenden Salzwerk, 
in der Nähe liegt dad Dorf Möhra, der Stammort von Luther's Eltern, deren Wohn⸗ 
haus noch wohl erhalten il. Sonnenberg, Amtshauptitabt im Oberlande, an der 
Rotha, mit 3200 Einwohnern und bedeutendem Handel mit Schieferwaaren und Spiel» 
zug Schalkau nit dem Rauenſtein, in dem jetzt eine Porzellanfabrif ſich 


Sahfen. (Herzogtum Sachſen⸗Koburg⸗Gotha.) 693 


befindet. — Hildburghaufen, Stadt an der Werra, mit 4000 Einwohnern, mit 
ſchönem Schloß, vom Herzog Ernſt dem Srommen 1685 erbaut, Gymnaflum, Seminar, 
@ewerbeinftitut, Irrenhaus, Zucht» und Waifenhaus. In der Schloffirdye befindet 
fih das Herzogliche Erbbegräßbnig. Im uralter Zeit war Hildburghaufen die Reſidenz 
der erflen Srafen von Henneberg, und Kaifer Ludwig der Bayer gab dem Grafen 
Berthold 1324 die Erlaubniß, den Drt zu befefligen und verlieh ihm Stadtrecht. 
Saalfeld, Hauptfladt. diefes Fürſtenthums, an der Saale, in reizender Lage, mit 
altem und neuem Schloß, fchönem gotbifchen Rathhauſe, Gymnaſium, Armenhaufe, einer 
Schmelzhütte, einer Münzflätte, einem Bergwerk und vielen Babrifen in Tabaden, 
Eifig, Potaſche und Tuch⸗ und Leinenwaaren. Die Stadt, jet bald 5000 Ein⸗ 
wohner zählend, ift eine der Alteften Deutfchlandd; ſchon 939 hielt König Heinrich 1. 
bier Hof, und 1074 wurde die Benebictiner- Abtei zu St. Peter, das fogenannte Stift 
Saulfeld, bisher Collegiatlirche des Erzflifts Köln, zu einem Klofler umgemanbelt 
und ihrem Abt die Meichöfürftenmürde und Sig und Stimme auf den Reichstagen 
ertbeilt. Mit der Stadt felbft belehnte Kaifer Friedrich U. den Grafen Seinrih X. 
von Schwarzburg, aber Graf Günther XXIX. verkaufte fle fpäter an die Markgrafen 
von Meipen. Auch die Abtei ging bei der Reformation an Die Nachfolger der Meißner 
Markgrafen über, indem fte Graf Albrecht von Mansfeld, der fle vom legten Abte 
1525 erflanden, an Kurfürft Johann den Beftändigen 1532 für 30,000 Gulden ver» 
kaufte. In der Nähe der Stadt liegen die Auinen der GSorbenburg, einer uralten 
Grenzfeſtung gegen die Sorben und Wenden. Im Treffen, bei Saalfeld, 
welches am 10. October 1806 zwifchen den Avantgarden der preußifchen und fran⸗ 
zöfffhen Armee flattfand, fiel in der Nähe des nördlich von Saalfeld gelegenen Dorfes 
Woͤhlsdorf, an der von Rudolfſtadt fommenden Chauffee, der Prinz Ludwig Ferdinand 
von Preußen, Bruderfohn Briedrih’8 de8 Großen. Gin Denkmal von @ußeifen, 
errichtet 1823 durch Die Schmefter des gefallenen Helden, die Prinzeß Louiſe, vers 
mählte Fürftin Radziwill, bezeichnet den Ort, wo der Prinz vom Pferde ſank. Kam⸗ 
burg, Amtshauptfladt an der Saale mit 1800 Einwohnern, und Kranichfeld, 
"Stadt in der gleichnamigen Herrfchaft, deren größter Theil jedoch zu Weimar gehört; 
der Meiningenfche Theil mit dem oberen Schloffe zahlt 700 Einwohner. — Ger 
ſchichte des Herzogtums S.⸗Meiningen flehe unter G. A. 
— 1. Das Herzogthum Sahfen-Altenburg, flehe den Art. Altenburg. 
V. Das Herzogthum Sahfen-Koburg-Botha mit einem Flächenraum 
"yon 3615 Q.⸗M. und einer Bewohnerzahl von 154,000, befleht auß zwei geogra⸗ 
phiſch getrennten Sheilen, den Fürſtenthümern Gotha mit 27%, Q.⸗M. und, dem Für⸗ 
ſtenthume Koburg mit DOM. Dieſes Iegtere Ilegt auf der Südſeite des Thüringer 
Waldes, im Dften, Weften und Norden vom Herzogtfum Meiningen und im Süden 
vom Königreich Bayern begrenzt, mährend das Fürftentbum Gotha, von jenem durch 
die Meiningenfhen Lande und den preußtfchen Antheil der Graffchaft Henneberg ge⸗ 
fihleden, ſich auf der nördlichen Abdachung des Thüringer Waldes und deflen Plateau 
Hinerfiredend, im Norden und Oſten vom Negierungdbezitt Erfurt der preußifchen 
Provinz Sachſen, im Weflen vom Weimarfchen Kürftentbum Eiſenach und im Süden 
und Südmeften von der Kurhbefflichen zur Provinz Fulda gehörigen Grafihaft Schmal« 
Balden, Preußiſch⸗Henneberg und dem Fürſtenthume Schwarzburg begrenzt wird. Beide 
Theile des Staates liegen alio zum größten Theile in den Vorbergen und auf dem 
Hochplateau des Thhringer Waldgebirges, welches bier feine höchſten Spigen, den 
Deerberg mit 3075 Zuß und den Schneefopf mit 3040 Fuß Höhe, fo wie an 
der Botha» Eifenachfchen Grenze den 2950 Fuß hohen Inſelsberg, auf dem Her» 
zog Ernſt der Fromme 1649 ein Luftfhloß errichten Tieß, bat, auch Hier die Quellen - 
der Gera und Schwarza, der Werra mit der Hörfel, der Steinah und Itz enthält. 
Nur der nörblichere Theil des Fürſtenthums Gotha ift eine von fanften Hügeln wel⸗ 
lenformig durchzogene Hochebene, aber eben fo fruchtbar wie diefe find die Gebirgs⸗ 
thäler der ſüdlichen Zandestheile, an deffen Gelaͤnden felbft hier und da der Wein 
gedeiht und deren Abhänge von trefflichen Obſthainen bedeckt find. Aderbau und 
Viehzucht werben fleißig betrieben und die Production erlaubt in guten Jahren felb* — 
nicht unbedeutende Erporte in die Nachbarländer. Der Hauptreichthum des Kar 


694 Sachſen. (Herzogihum Sachſen⸗Koburg⸗Gotha). 


beſteht jedoch in den gut beſtandenen Laub» und Tannenwäldern auf den Vorhügeln 
und in der Bergregion. Auch der Bergbau iſt von ziemlicher Bedeutung, im Für⸗ 
ſtenthum Gotha beſonders auf Eiſenerze, wie in Friedrichsroda, Blaſti⸗Zella und 
Tambach auf Marmor, Vitriol, Steinkohlen und Salz, das reichſte Steinſalzla⸗ 
ger befindet ſich bei dem Dorfe Bufleben und heißt Ernfihalle (entdeckt 1828). Die 
Induſtrie iſt im Koburgſchen, wo fie ſich auf Glaſs⸗ und Holzwaaren beſchränkt, ſehr 
unbedeutend, im Fürſtenthum Gotha jedoch bedeutend höher und erſtreckt ſich bier auf 
Manufacturen in Wolle, Baummolle und Leinwand, Weberei in Teppichen, auf 
ladirte Waaren, Glasfabrikation, Porzellan und fpeciell in der Stadt Gotha auf feine 
Fleiſch⸗ und Wurſtwaaren, die In alle Welt gehen. Der Reichthum des Herzogthums 
an Bildungdanftalten iſt verhältnigmäßig ein vielleicht zu großer, da das Herzogthum 
außer der gemeinfamen Landesuniverfität in Iena vier Gymnaſien, in Gotha, Koburg, 
Ohrdruff und Königäberg, mehrere Real- und lateinifche Schulen, dad Salzmann'ſche 
Inftitut in Schnepfenthal und zwei Schullebrerfeminarien, Gewerbe: und Handelsſchu⸗ 
len und Snftitute befist. Die Zahl der Bürgerfchulen beträgt 39, die der Dorfſchu⸗ 
len 314. Bon wifienfchaftlichen Inflituten und Sammlungen für Kunft und Bil- 
dung find erwähnenswerth die herrlichen Kunflfammlungen, dad Münzcabinet und die 
über 150,000 Bände zählende Bibliothek im Schloſſe Friedenſtein bei Gotha, Die 
Sternwarte auf dem Seeberge (1195 Fuß Hoch) bei derſelben Stadt, diejenige in 
Koburg mit reihen Sammlungen mathematifcher und phpfllalifcher Inftrumente, die 
Antillen» und Münzcabinette, Gemälde» und Kupferflich = Ballerien in Gotha 
und Koburg. Bon gemeinnügigen Anftalten find zu nennen die beiden großen 
Armens und Kranfenhäuferr in Koburg und Gotha, fo wie DaB zu Ohrdruff, Die 
MWaifenbäufer in den beiden Mefldenzen, die Feuer⸗ und Lebenäverficherungs » ®efells 
[haft in Gotha und die Handwerker» und Wrbeiter- Hülfs- Vereine in mehreren 
Drten. Die Einwohner find, mit Ausfchluß von etwa 3000 Romiſch⸗Katholi⸗ 
fyen, 800 Deutfch » Katholiten und 2000 Sfraeliten, Bekenner der evangelifch- 
Intherifchen Kirche. — Das Herzogthum gehört feit der am 8. Auguft 1821 gegebe» 
nen Repräfentativ-Berfaffung, die jedoch feither verſchiedenfach revidirt und modificirt 
worden, in die Reihe der conflitutionellsmonardhifchen Staaten. Lieber die Einrichtung 
und die Nechte der Stände wird in der Darftellung der Geſchichte des Herzogthums 
(fiehe unten) das Nähere erörtert werden. Regent des Landes ifl ein Herzog, 
der den Titel „Hoheit“ führt; der gegenwärtige Herzog iſt Ernſt II, geboren am 
21. Juni 1818, regiert feit 29. Ianuar 1844. Die berzogliche Würde erbt im 
Mannsflamm nach dem Rechte der Erfigeburt und der agnatifchen Lineal« Erbfolge. 
Die Staatsverwaltung fleht unter einen Gefammtminifierium mit den ent» 
fprechenden Departements, der Sig diefer Staats» Gentralverwaltung befindet ſich in 
Koburg, ProvinzialeMegierungen find für die geographifch getrennten beiden Fürften⸗ 
thümer in den beiden Hauptfläbten bderfelben, die Localvermaltung führen bie Kreiß- 
ämter, fünf im Fürſtenthum Koburg und neun im Fürſtenthum Gotha; von ihnen 
reffortiren alle Steuer-, Zoll⸗, Handeld-, Gewerbes und Polizei⸗Sachen, eben fo die 
Gemeinde» Angelegenbeiten mit Ausnahme der rein kirchlichen und Schulfachen, bie 
unter dem Gonfiftorium zu Koburg, refp. dem OÖber- Confiftorium in Gotha flehen. 
Für die Rechtspflege bilden die Gerichtsaäͤmter die unterſte Inflanz, die Juſtizeollegien 
in Gotha und Koburg die zweite und dad Ober-Appellationdgericht zu Iena die höchſte 
Inſtanz. Für die Finanzen befleben als Oberbehörden die Oberfteuer - Gommilflon 
in Koburg und das Öberfleuer-Collegium in Gotha, für die Domänen die Kammer- 
Eollegien in Koburg und Gotha mit Ihren untergebenen Domänenämtern, für bie 
Militär-Angelegenbeiten die Militär» Berwaltungsfammer in Gotha. Das ſtehende 
Militär beftebt aus einem leichten Infanterie-Bataillon, das Bundescontingent aus 
circa 1200 Mann; durch eine mit Preußen gefchloflene Rilitär- Gonvention werben 
die Gommando-Berhältniffe fiber die Truppen geregelt, ihre Ausbildung gefchieht nach 
preußifchem Mufter, und die Offizierafpiranten fowohl wie die Offiziere erhalten ihre 
SHeranbildung auf preußifchen Militär-Inflituten. Die Staatseinfünfte des Herzogthums 
beitragen jährlih etwa 453,000 Thlr., die Staatsfchulden 2,560,000 Thlr., incl, 
eines Anleihe von eisca 800,000 Thls, zu Eifenbahndauten. Als Mitglied des Deut» 


Sachſen. (Politiſche Geſchichte von S. und der ſachſ.⸗thür. Staaten) 695 


fihen Bundes bat der Herzog eine Stimme im Plenum, im engeren Rathe participirt 
er an der zwölften Stimme. — Der Herzog bat das Recht der Verleihung des ſachſen⸗ 
erneftinifchen Hausordens, von befonderen Ehrenzeichen wird nur ein Verdienſtkreuz 
nebft einer derſelben affiliirten Medaille für Auszeichnung in Wiflenfchaften, Künften ıc. 
vergeben. — Don den Städten und Ortfchaften des Herzogthums find zu erwähnen: 
Koburg oder Coburg, gewöhnliche Hefldenzflabt des Herzogs, an der Ip gelegen, 
mit 4000 Einwohnern, dem fhönen Schloß Ehrenburg mit ſchoͤnem Park, der Biblio» 
het, Reithaus, Theater; unter den Gebäuden zeichnen ſich die Moritzkirche aus mit 
der berzoglichen Gruft, das von Johann Gaflmir 1604 gefliftete Gymnaſium und das 
fhöne 1597 erbaute Hofkanzlei-Gebäude. Nicht weit von der Stadt auf einem hohen 
ſteilen Berggipfel liegt Die ehemals fefte Burg Coburg, jegt zu einem herzoglichen 
Luftichloffe eingerichtet. In der Nähe liegen dad herzogliche Luſtſchloß Nofenau 
amd die alte renovirte Burg GBallenberg oder Kablenberg. Ganz vom ehe- 
maligen Bisthum Würzburg umgeben, jegt im bayerifchen Kreife Unterfranken, etwa 
drei Meilen vom eigentliyen Fürſtenthum Goburg entfernt, liegt das Amt Königs⸗ 
berg mit der gleichnamigen Stadt, 1200 Einwohner, der Geburtsort des Aftronomen 
und Mathematiker Joh. Müller, genannt Reglomontanus. Stadt und Amt ges 
hörten früher den gefürfteten Grafen von Henneberg, kamen 1390 an Herzog Swan« 
tibor von Pommern durch Heirath, der fie vier Jahre fpäter an den Bifchof Gerhard 
von Würzburg verkaufte; 1401 erfianden fie die Markgrafen von Meißen, und feither 
blieb fle Dem fächflfchen Haufe. — Im FürftentHum Gotba tft Gotha, die eigent- 
liche Hauptſtadt und größte Stadt des Herzogthums mit 15,300 Einwohnern, In 
neuefter Zeit fehr verfchönert und durch Vorftädte erweitert worden; lebhafter Handel 
und flarfe Fabrikation. Ueber der Stadt auf einer Anhöhe fleht dad Nefidenz- 
ſchloß Friedenſtein, 1643 an der Stelle des durch die Grumbach’fchen Händel 
befannt gewordenen und 1567 gefchleiften Shloffes Grimmenflein. Hier ber 
finden fich die große Bibliothek, Münzcabinet und andere reiche Kunftfammlungen. In 
des Vorſtadt vor dem Siebleber Thor if das Lufffhloß Friedrichsthal mit 
fhönen Barkanlagen. Reinhardsbrunn, eine ehemalige von dem Landgrafen von 
Thüringen Ludwig dem Springer gegründete und reich dotirte Benebictiner-Abtei mit 
den Gräbern vieler Landgrafen, mit fehöner Kirche, iſt jeßt herzogliches Luſtſchloß. 
Altenberg, Dorf, berühmt durch Die erfle in Thüringen vom heiligen Bonifacius 
erbaute Johanniokirche Ohrdruff, Stadt an der Ohra, mit 4300 Einwohnern, 
JebHafter Induftrie und Handel mit Holzwaaren, früher der Hauptort der Graffchaft 
Gleichen, die 1631 nad dem Ausſterben dieſes Geſchlechts zum größten Thelle an die 
Fürften von Hohenlohe, Neuenfteiner Linie, fiel, weldye fie noch befigen. In diefer 
liegt Wachfenburg, die unter dem Namen der „drei Gleichen” bekannten feften 
Bergiglöffer, und dient jegt als Staatsgefängniß. — Das Geſchichtliche des 
Herzogthums ſiehe unter G. 2 und 3. 

VI Politifhe Geſchichte von Sachſen und der fähfifh-thürin« 
atfhen Staaten. — A. Vorgeſchichte und das alte deutſch⸗nationale 
Herzogthum Sachſen. Was den Namen „Sachſen“ anbetrifft, fo legten nach 
J. Grimm, „Geſchichte der deutfchen Sprache“, und anderen Forſchern unfere Vor⸗ 
fahren in das altnordiſche Wort „Saxi*, hochdeutſch „Sahso“, angelſächſiſch „Seaxa“, 
den Begriff eines „ſchwerttragenden Mannes”, eine „Kriegers“. Schon dad Hanno⸗ 
lied ermähnt als Etymologie des Namens „Sachſen“, daß man große Meffer und 
Schwerter „Sahs* Genannte und den Bellegern der Thhringer von diefer Waffe den 
Namen gab: „Bon den Meihten, alfo wahfin, wurden fie geheißen Sahsin.“ Aud in 
der ſaͤchſiſchen Chronik des Wittefind wird erwähnt, daß „cultelli enim nostra lingua 
„Sahs“ dicuntur, ideoque Saxones nuncupatos, quia cultellis tantam multitudinem 
fudissent,* Auch Hengift rief bei der Eroberung Britanniend fein kriegeriſches Ges 
folge mit dem Rufe auf: „Ehen Saroned, nimet Eure Saxas.“ Dit diefen alten 
Stammfagen im BZufammenhange fleht wohl unbeftreitbar auch die Aufnahme der 
„Sara”, des Schwerted, in Schild und Bahne des alten Herzogthums Sachen, fy 
wie die Uebertragung dieſer Embleme auf die fächftfchen Kurfürften, welche in ihrem 


Gröonite als Reichsmarſchall dem erwählten Könige der Deutſchen das Neihafche —— 


696 Sachſen. (Bolitifhe Geſchichte von ©. und ber fähf.thür. Staaten.) 


vortrugen. Andere Etymologen find der Anficht, die Bezeichnung „Sachen“ rühre 
von der Eigenthümlichfeit diefer Stämme ber, ſich fchnell ſeß haft zu machen und 
ihre Wohnftge nicht zu wechfeln, babe urfprünglid „Saffen* gelautet und den Ge⸗ 
genfag zu „Sueven“ und „Branfen“ bezeichnen follen. Welche Stämme in den erfien 
fünf Sahrhunderten hriftlicher Zeitrechnung den Namen „Saren" geführt, laäͤßt fich 
biftorifch nicht nachweiſen, indeß ift es gewiß, daß es Stämme germanifcher Abflanı- 
mung, niederdeutfche Völkerfchaften waren, die fi} fo benannten und von den römifchen 
Gefchichtöfchreibern jener Epoche fo genannt wurden. Ptolemäud unterfcheidet zwei folder 
Stämme oder Volks» Genoffenfchaften, den einen am Gingange der cimbrifchen Halb⸗ 
infel und im Süden und Südoſten derfelben, in dem Lande zwiſchen Elbe, Eider und 
Trave wohnhaft bis hinauf zu den nordfrieſiſchen Inſeln, und einen zweiten, welcher 
nach den aͤlteſten Nachrichten ſüdoöſtlich von jenem, von der Mittel⸗Elbe an um den 
Harz und Thüringer Wald herum bis zum rechten Ufer der Ems faß, und aus den 
Cheruskern, Chaufen und Angrivariern befland. In der That find jene beiden Stämme 
ſowohl durch ihre Gefchichte wie durch ihre Spradye von einander unterfchieden, und 
wenn fle auch gemeinfamer Abflammung waren, fo trennten fie jene beiden Umflände 
immer mehr. Die Roͤmer Fannten nur jenen erfteren Stamm der Sachſen auf der 
eimbrifchen Halbinfel, der auf leichten Kähnen die nördlichen Meere durchzog und ſich 
ihnen durch feine häufigen Raubzüge gegen die römifchen Küftenländer furdtbar machte. 
Diefe Züge datiren fchon bis in den Anfang des dritten Jahrhunderts zurüd und er« 
ſtreckten ſich bis zu den Küften Der Bretagne, waren aber am bäufigften gegen bie 
‚ihnen fo nahe gelegene britannifche Inſel gerichtet. Mit ihrer Hülfe entriß unter dem 
Imperium des Marentiug um 290 n. Chr. der Menapier Sarauflus Britannien der 
römifchen Herrfchaft, und wohl ſchon zu Diefer Zeit mögen fie bier Niederlaffungen 
gehabt haben, die ihnen einen feften Anhalt für die fpätere gewaltfame Beflgergreifung 
abgaben. Auch in Armorifa, der heutigen Normandie, um die Mündung der Seine 
und weiter diefen Strom hinauf, ſetzten fich dieſe Sachen im Anfange des vierten 
Jahrhunderts feft, und diefer Landflrich trug, nad) ihnen benannt, lange den Namen 
„Limes Saxonicus*; ebenfo eriftirten zu diefer Zeit in ber Bretagne um dad Mün- 
dungsland der Loire fächfifche Niederlaffungen, aber Hier mie dort verſchwanden fe 
bald unter der fich mehr und mehr außbreitenden SHerrfchaft der Franken. Auch zu 
Zande prüften diefe Saronen glei ihren übrigen deutichen Brüdern ihre Kraft im 
Öfteren Anftürmen gegen das römifche Weltreih; den erften Angriff machten fie aber 
wohl erft in Berbindung mit den ripuarifchen Franfen gegen Gallia Belgica unter 
Kaifer Julian um 360 n. Chr. Trogdem daß derfelbe unglüdlih ausfiel, wiederhol⸗ 
ten fle ſolche Züge faft jährlih, bis fle der Kalfer Valentinian am Rhein bei Köln 
im Jahre 376 nah Chriſto bis zur Vernichtung ſchlug. Seltvem befchränkten fle 
ſich auf ihre Seezüge; von ihren Thaten zu Lande wird nur wenig vbermeldet, 
aber doch in bervorbebender Weife der kühnen Tapferkeit gedacht, mit der fle 
auf den catalaunifhen Gefilden in der Hunnen» Schlaht zum Siege beigetragen 
haben. Als in der allgemeinen Bewegung der Völker im fünften Jahrhundert 
auch fie ſich entfchloffen, die alten Sige zu verlaffen, da zogen fie nach Britannien 
hinüber und gründeten bier ein großartiges deutſches Reich, das ihren Namen zu welt« 
biftorifcher Bedeutung brachte (vergleiche den Artikel Großbritannien, Bolitifche Ge⸗ 
ſchichte). Zwar wanderten mit ihnen Jüten und Angeln dort ein; Daß aber der ſaͤch⸗ 
fihe Stamm überwog, dad beweift nicht allein der Name der geflifteten Reiche Eſſex, 
Weſſex, Middleſex und Suſſex, ſondern auch der Umfland, daß noch bis zur heutigen 
Zeit die Nachbarſtaͤmme die Engländer „ Sachſen“ nennen. (Der Wälſche ſagt: „Sais, 
Sarfon,* der Kelte „Sar, Sachſ,“ der Bretagner „Sacz,* der Sale „Saſunnaich,“ 
der Ire „Sagfone, Sagſonache.“ Die geringen Hefte dieſer Saren, welche in der 
alten Heimath zurüdblieben, vermifchten ſich bald mit den Stämmen, welche die Völker» 
wanderung bierher führte, den riefen und Ghaufen, und au ihr Stammname ging 
ihnen damit verloren. Der zweite Stamm der Sachfen, der nach dem Abzuge der 
Zongobarden und Chamaven nach dem Süden noch aus den Cheruskern, haufen und 
Angriyariern beitand, tritt im dritten Jahrhundert n. Chr. unter dem Gefammtnamen 

Sachſen“ ald dritte große Volkerverbindung deutfcher Stammgenoſſen⸗ 


Sachſen. (Politiſche GBefchichte von S. und ber fächf.thär. Staaten.) 697 


fhaften neben den Franken und Alemannen in das Licht der Geſchichte. Geit 
der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts machten fle ſich unter diefem Namen dem 
benachbarten Nömerlande furchtbar und waren deffen Bewohnern durch ihre tollfühne 
Verwegenheit und Rafchheit ein Schreden. Gregor von Tours befchreibt mehrere ihrer 
Züge zur Unterflügung der Longobarden, von denen fie aber fletd in ihre alten Sige, 
die ſich jedoch vom Harz nad Südweſten bin erweitert hatten, zurüdfehrten. Nach 
dem Abzuge jenes erfien Stammes nach England wurden fie, zum Unterfchiede von 
diefen, auch Altfachfen” genannt, und diefer Name erhielt fi für dieſe Stämme 
bis in's achte Jahrhundert, wo erft bei den großen Sachfenzügen der Franken dieſe 
legteren dem fehr umfaflenden Völfervereine der Sachſen verfchiedene Namen gaben. 
Sp nannten fle dad von Altſachſen bewohnte Land im Often der Elbe bis an biefen 
Strom und den Harz Oftfalen, das zwifchen Elbe und Rhein belegene Weftfalen 
und hiernach auch die Bewohner deſſelben (Falah oder Fale bedeutet „Bewohner 
der Ebene, des Flachlandes"), während fie den Stämmen im Uferlande der Wefer den 
Namen Engern gaben, welcher wohl identifch ift mit der alten Stammbezeichnung 
der Angrivarier. Hierzu tritt fpäter nach den Eroberungszügen Karl's des Großen 
ein vierter Sahfenflamm, die -Nordalbinger oder überelbifhen Sadfen, 
welche im Norden dieſes Fluſſes bis zur Eider und gegen Oſten bis zu den heutigen 
Grenzen Medlenburgs wohnten und ohne Zweifel die mit den Briefen und Chauken 
vermifchten Reſte jener nach Britannien gewanderten Sachſen waren, was auch aus 
des Thatfache erhellt, daß die Sprach » Ipiome der Holfaten, der Dithmarfchen und 
Sturmarier, in welche Unterabtheilungen die Engern fich ſchieden, der Sprache der 
Altfachjen urverwandt waren und auch beute noch find. Gemeinfchaftlihe Gefahr 
führte alle dieſe Sachfenflämme zu einer nationalen Einheit fchon am Unfange des 
fechöten Jahrhunderts ; denn nachdem die fpäter Oftfalen genannten Säachſenſtämme 
das alte Thüringer⸗Reich im Bunde mit den Kranken geftürzt und ihre Sige durch 
die Gaue zwifchen Harz und Unfteut bis zur Saale erweitert hatten, geriethen fte 
kurze Beit nachher mit den Frankenkoͤnigen ſelbſt in Streit und riefen ihre ſaͤmmt⸗ 
lichen Stammgenoffen zu den Waffen. Bon Ehlotar I. an der Wefer 552 n. Ehr. total 
gefchlagen, mußten fie Die ſüdweſtlichen Bauen den Siegern einräumen, wurden biefen tribut⸗ 
pflichtig und blieben ſeither in Abhaͤngigkeit von ihnen. Unter den legten meromwingifchen 
Königen gewannen fle zwar nad) und nach ihre Unabhängigkeit wieder und in faſt dreihundert⸗ 
jährigem Kampfe erflritten fle fich ihre Freiheit wieder, aber nur auf kurze Zeit; denn 
als fih der gewaltige Majordomus Karl Martell der fränkifchen Herrſchaft thatſaͤchlich. 
bemächtigt Hatte, war fein Hauptaugenmerk jofort wieder auf Erweiterung des Reiches 
nach Oſten gerichtet und der Kampf gegen die Sachfen ward von Neuem aufgenommen. 
Unter feinen Nachfolgern Pipin dem Kurzen und Kaifer Karl dem Großen 
(vgl. diefen Artikel) fchienen diefe Kämpfe felbft den Charakter eines DVernichtungs- 
frieges annehmen zu wollen, da die oftmals beflegten Sachen den. durch Unterwerfung 
und Annahme des Chriſtenthums erhaltenen Frieden immer wieber von Neuem brachen, 
die chriſtlichen Tempel zerflörten, die Prediger des Evangeliums tödteten ober verjagten 
und wieder zum alten Heidenthum zurüdfehrten. Nachdem Karl der Große file 772 
n. Chr. von Neuem unterworfen, bei welchem Zuge er ihr Hauptbollwerk, die Eris⸗ 
burg, eroberte und das Nationalheiligthum der Sacfenftämme, bie heilige Säule 
Irminful’s, zerflörte und Furze Zeit darauf bie. Beflegten wiederum den Eid der Treue 
erachen, ja felbft plündernd, fengend und mordend in die fränfifchen Grenzgaue ein» 
fielen, beſchloß der Frankenkaiſer im Jahre 782 einen Vernichtungézug gegen fie. 
Das fächftfche Heer unter feinem erprobten und tapferen Heerführer Wittefind wurde 
im Herbſte des genannten Jahres bei Verden an der Weſer von den Franken über- 
fallen, bis zur Vernichtung gefchlagen und bie Gefangenen, 5000 an der Zahl, auf 
Befehl des erzürnten Siegerd ald Mordbrenner und Eidbrüchige erbarmungslod nie» 
bergehauen. Hoffte der große Karl durch diefe blutige Strenge die gänzliche Unter« 
werfung der Sachjen zu befchleunigen, fo ſah er fich bitter getäufcht, denn jetzt er» 
hoben fi zum Rachekriege fämmtlihe Stämme unter Führung ihrer, Fürſten Witten 
End und Alboin, 783, und drei Jahre hindurch wurde der Streit mit der erbitteriften 
Graufamkeit jener rohen Zeit geführt, Endlich flegten der Franken Uebermacht, ihre 


⸗ 


698 | Sachſen. (Politifche Geſchichte von G. und der fähkethür. Staaten.) 


ı hößere Kriegöfunft und das Genie ihres gewaltigen Fürſten. lm ihren Stamm vor 
völliger Vernichtung zu retten, erklärten Wittefind und Alboin freiwillig ihre Unter» 
werfung, übergaben fich felbft als Geiſeln des gefchloffenen Bertrages, buldigten dem 
Kalfer und nahmen das Chriſtenthum an. Alle Sachtenführer folgten diefem Bei⸗ 
fpiele, und jo wurde dem langwierigen- Kampfe durch diefen 785 gefchloffenen Frieden 
ein Ziel gefeht und das freiheitliebende Sachſenvolk als feſter Beſtandtheil dem 
großen Frankenreiche einverleibt. Zwar kamen bis zum Meichötage von Selze, 803, 
noch Hin und wieder Aufftände einzelner Stämme vor, die auf's Beſte beweifen, mit 
welcher zaͤhen Befligkeit der Stamm gegenüber den Verſuchen der Unterwerfung unter 
fraͤnkiſche Herrſchaft und Chriftenglauben an angeflammter Freiheit und dem Eultus 
der Altvordern feſthielt — ein Feſthalten an dem von Alters Hergebrachten, das 
noch heute harakteriftifch iſt für Die Urenkel jener Sachfenfläimme — allein ihre Uns 
terdrüdung machte Feine Schwierigkeiten, und. auch ihnen feßte die endliche Befefli« 
gung des Chriſtenthums ein Ziel. Iener Frieden zu Selze war für den fäd- 
ſiſchen Stamm ein in jeder Beziehung höchſt ehrenvoller und ftellte fle den Sie 
gern in Nüdfiht auf politifhe Rechte und Pflichten völlig gleih. In den 
Gapitularten, welde die gegenfeltigen echte der Franken und Sachfen regelten, 
blieben die leßteren im völligen Genuffe ihrer nationalen Freiheit, ihrer Rechte und 
Gewohnheiten, felbft ein Tribut wurde ihnen nicht aufgelegt, außer dem Zehnten, der in 
dem ganzen Frankenreiche entrichtet werben mußte und der zur Erhaltung der Kirdyen 
und ihrer Diener beftimmt war; nur zur Heereöfolge wurden die Sachfen verpflichtet, zur 
treuen Anhänglichkeit an das Chriſtenthum und zur Anerkennung des fränkifchen Köd« 
nig& als ihres Oberherrn. Die civile Verwaltung erfolgte ganz nach den Grunde 
fägen des fränkiſchen Reiches durch Gau⸗ und Sendgrafen, die juriftifde aber nad 
altem Sachenrecht, welches Karl der Große aufzeichnen lied. Don den geflifteten 
Bisthümern find die älteften Dsnabrüd, 783, Verden und Bremen, 788, Paderborn, 
Minden, Hildesheim, um 804, Halberftadt und Mänfter, 807, Hamburg, 836, aber 
858 mit Bremen vereint. Zur größeren Befefligung der fränfifhen Herrichaft fanden 
zahlreihe Einwanderungen von Franken und Obotriten flatt; dafür mußte eine An« 
zahl Sachſen größtentheild aus den norbalbingifhen Brenzgauen, auf deren Treue man 
ih am wenigften verlafien Fonnte, ihre Heimath aufgeben und fidy innerbalb ber 
altfränfifchen Grenzen eine neue gründen. Nach dem Tode Ludwig's des Frommen 
flelen die Sachſengaue an Ludwig den Deutfchen, dem fie aber Lothar I. fireitig machte 
und die Sachſen dur das Verſprechen, daß es ihnen unter feiner Herrſchaft wieder 
geftattet fein follte, Heiden zu fein, zum Abfalle von jenem zu bewegen fuchte. Indeß 
wurden die Wenigen, welche diefem Berfprechen trauten, das Chriſtenthum aufgaben 
und gegen Ludwig den Deutfchen ſich empörten, nad kurzem Kampfe von Letzterem 
unterworfen, 844. Da um diefe Zeit die Einfälle der Normannen an den Mün« 
dungen der Elbe und Wefer und an den Küften der Nordſee die befondere Aufmerk⸗ 
ſamkeit der deutfchen Könige auf diefe nördlichen Brenzen des Reiches zogen, wurde es 
für nötbig gehalten, die nationale Kraft der Sachſen wiederum in einer Hand zu vereinen 
und fie fo zum Widerflande gegen die Räuberzüge jener Normannen Fräftiger zu machen. 
Ludwig der Deutfche vereinigte daher um das Jahr 850 fämmtliche von den Stämmen ber 
Weſtfalen, DOfifalen und Engern, fo wie von den Norbalbingern bewohnte Gaue zum Here 
zogthum Sachſen und gab ihnen in dem fächftfchen Brafen Ludolf, einem Nachkommen 
Wittekind's, ihren erfien Herzog. Nach einer Eurzen Regierung folgte diefem fein 
Sohn Bruno, melder um 870 in einer Schlacht gegen die Itormannen fiel und im 
feinem Bruder Otto dem Grlauchten feinen Nachfolger hatte. Unter der Beinahe vier» 
zigiährigen Regierung dieſes Fürſten erhob fi daB Herzogtum ©. zu hoher Blüthe 
und als nad dem Tode des Herzogs Burkhard von Thüringen auch diefe Land mit 
©. vereinigt wurde, galt Dito für den mädtigften Fürften der Deutfchen. Während 
der Minderfährigfeit Ludwigs des Kindes führte er gemeinfam mit dem Erzbifchofe 
Hatto von Mainz die Hegierung des beutfchen Reiches und nad dem Ausfterben bes 
Karolingifgen Haufes fiel auf ihn die Wahl der Fürfſten zur deutfchen Königswürde. 
Indeß verzichtete Dito der Erlauchte wegen feines hohen Alters auf biefelbe un» 
empfahl den Zürflen den Frankenherzog Konrad, der zum Dank Hierfür Eur; vor ſei⸗ 


Sachſen. (Das Herzogthum S. unter dem Haufe Askanien ober Anhalt.) 699 


He Tode Otto's Sohn Heinrich den Wählern des Reichs zu feinem Nachfolger in 
Vorſchlag brachte. Als Heinrich I. zum deutfchen Könige erwählt worden war, be 
hielt er zwar dad Herzogthum ©. bei, indeß trennte er davon diefenigen Güter, mit 
denen er feine Pfalzgrafen in Sachſen ausfattete. (Bol. das Weitere darüber 
unter Sachen, Pfalzgrafſchaft.) Erf fein Sohn und Nachfolger, Otto I. der Große, 
gab die Fahne des Herzogihums an den Grafen Herrmann v. Billungen, 960, bei 
deſſen Haufe fie bis zum Tode des Herzogs Magnus, mit dem der Stamm ber Bil 
lungen audftarb, blieb, 1106. Der Iegtgenannte Herzog Magnus fland in Waffen 
gegen Kaifer Heinrich IV. auf, welder die alten Freiheiten der Sachfen bes 
ſchraͤnken und aufheben mollte, 1067, und troß des gefchloffenen Friedens entbrannte 
1073 von Neuem der Krieg, als Heinrih fein gegebened Wort brad. Im Bunde 
mit Otto von Nordheim, dem des Kaifer dad Herzogthum Bayern genommen, leiftete 
Herzog Magnus tapfern Widerfland und Heinrich mußte fih zum Frieden bequemen, 
weldyer den Billunger im Beflge beſtaͤtigte. Kaifer Heinrih V. gab das erledigte 
Herzogthum S. 1107 dem Grafen Lothar von Supplingenburg, welcher, als er 1125 
zum deutſchen König erwählt wurde, dafjelbe auf feinen Scwiegerfohn übertrug, 
Herzog Heinrich den Stolzen von Bayern, der dur feine Mutter Wulfhilde Bil⸗ 
lung'ſchen Stammes war. Als Kaifer Konrad II. die wachfenne Macht des Welfifchen 
Hauſes brechen wollte, nahm er dem im Beflge der beiden Herzogthlimer Bayern und 
©. befindlichen Herzog Heinrich dem Stolzen das letztere Herzogthum, 1138, verlich 
e8 dem tapfern Markgrafen der Nordmark, dem Anhaltiner Albreht dem Bären, 
belehnte jedoch bereits im folgenden Jahre nad dem Tode des Welfenherzogs aufs 
Neue deſſen ächnjährigen Sohn, den fpäteren Heinrih den Löwen, damit. 
Es ift hier nicht der Drt, weiter auszuführen, wie diefer gewaltige Fürft durch feine 
fegreihen Kriege die Macht und das Anfehen des Herzogthumd mehrte und diem 
felben auch gegen die mächtigen geiſtlichen und weltlichen Großen deſſelben hbe- 
feftigte; als aber Heinrich der Löwe von dem Hohenftaufen Friebrih I. Barbaroffe 
(vgl. dief. Art.) 1180 in Die Acht und feiner Lehen verluftig erklärt ‚wurde, verlor 
er auch S. und die eroberten OÖflfeeländer. Das Herzogtbum Sachſen fiel 
zwar unter dieſem Namen an den Brafen Bernhard von Anhalt, Albrechts des Bären 
Sohn, indeß war ed in feinem Gebiete bedeutend verkleinert worden und neue Ge⸗ 
biete waren binzugetreten, welche früher niemals zu S. gehört Hatten, fondern Theile 
der Nordmark oder der thhringifchen und meißner Mark geweſen waren. Der größte 
Theil des alten Sachſenlandes, Oftfelen und ein Theil von Engern waren Familien⸗ 
güter Heinrichs des Löwen aus den Erbfchaften der norbheimer und fupplingenburger 
Strafen; fie blieben demnach auch im unbeftrittenen Beflge des Welfenflammes und 
aus ihnen ward das Herzogthum Braunſchweig 1235 gefliftet, das fich fpäter in 
bie Linien Braunfhweig- Wolfenbüttel und Braunfhweig-Lüneburg, 
aus welchem Iegteren Hannover fidh bildete, theilte. Unter diefen Artikeln vergl. 
man über diefe alt-fächlifchen Bande daB Weitere. ‘ 

B. Das Herzogthum Sadhfen unter.dem Haufe Askanien oder 
Anhalt. Nur ein geringer Theil der alten Sachfenländer, aus denen außer jenen 
braunfchweiger Ländern das Herzogthum Weftfalen gefliftet wurde, welches an ben 
Erzſtuhl von Köln (ſ. diefen Art.) Fam, und die geiftlihen Stifte von Münfler, 
Osnabrück, Paderborn, Minden, Bremen, Verden u. f. w., wie die Dpnaften von 
Tecklenburg, Schaumburg, Lippe, Oldenburg u. U. mit reihen Landantheilen bedacht 
wurden, — nur ein Eleiner Theil des alten Herzogthums ©., die Landſchaften um Witten 
berg und die lauenburger Lande, verblieben dem neuen Inhaber der Fahne S.'s, dem 
Herzoge Bernhard von Askanien. Indeffen waren auch die Bauen um Wittenberg 
nur eroberted und zu den fächftfchen Marken gebörendes Land, deſſen Borgefchichte 
wie in Kurzem bier geben wollen. In der Gegend um Wittenberg, hart am rechten 
Ufer der Elbe und am linken Ufer dieſes Yluffes bis zur Saale hinauf wohnte in 
der Zeit vor der Völkerwanderung der fuenifche Stamm der Semnonen. Als Nach» 
folger in dieſen Wohnplägen, die während der großen Wanderung der DBölkerfchaften 
im 6. Jahrhundert von ihren alten Dewohngn verlafien worden, erfchienen fofort 
flawifge Stimme, die den Bermanın auf dem Fuße nächdraͤngten. Es waren dies 


00 Sachſen. (Das Herzogthum S. unter dem Haufe Askanien oder Anhalt.) 


vornehmlich die Tfchechen in den Queligegenden ber Elbe. und um die Moldau bis 
tief nad; Mähren hinein, die Wilgen oder Lutizen in der Mark Brandenkurg, die 
Obotriden in Medlenburg und endlih die Sorben an der Mittel⸗Elbe biß zur 
Saale.. Diefe Sorben, die in der Gefchichte auch häufig unter dem Namen Sorben⸗ 
Menden vorkommen, weil fle wie die Wenden Bruderſtämme flamwifchen Urfprung® 
find, blieben beinahe vier Jahrhunderte im unbeftrittenen Beſitze der von ihnen: ein« 
genommenen Gaue und erbauten während dieſer langen Beſitzzeit in den Flußgebieten 
der linken Nebenflüſſe der Elbe, der weißen und ſchwarzen Elſter, der Pleiße, Mulde, 
Chemnitz u. ſ. w. verſchiedene Orte, welche die Grundlagen der Städte Zwenkau, 
Zeitz, Leipzig, Borna, Altenburg, Grimma, Colditz, Wurzen, Oſchatz, Rochlitz, Chem⸗ 
nitz, Zwickau, Lommatzſch und anderer mehr geworden find. Mit ihren weſtlichen 
Nachbarn, zuerſt den Thüringern, Franken und Sachſen, dann den Frieſen, Heſſen 
und Schwaben, die ſich gegen Ende des 6. Jahrhunderts in dem nach ihnen ber 
nannten Schwabengau im heutigen Herzogtum Anhalt feftgefegt Hatten, kamen 
diefe Sorben- Wenden in Häufige feindliche Berührung und diefe wiederholten Unruhen 
an der Nordoflgrenze des Reiches veranlaßten endlich den König ber Deutfchen, Hein⸗ 
rich J. den Vogler, die Unterwerfung der Wenden an der Elbe, Saale, Havel und 
Doffe vorzunehnen. Schon im Winter des Jahres 926 konnte diefelbe mit der Er⸗ 
oberung Brandenburgs als beendet betrachtet werben. Um aber die nördlicher und 
öftlicher zwifchen der Havel, Spree und Oder mohnenden Stammgenofien ber fo ſchnell 
unterworfenen Wenden-Sorben zu beobachten und ebenfalld der deutſchen Hertfchaft 
zu unterwerfen, ſetzte der beutfche König in die Grenzmarfen Markgrafen mit ſtarkem 
friegerifchen Gefolge, denen er bad eroberte und zu erobernde Gebiet zu Reben gab. 
So enifland denn allmählich in der heutigen Altmark (Stendal, Tangermünde, Salz⸗ 
wedel) auf dem linken Elbufer die fogenannte Nordſächſiſche Mark oder Nord- 
fachfen, deren Wachsſsthum wir in dem Artikel Prenßen, Bolitifhe Geſchichte, 
wie auch in dem Artikel Anhalt bereitd gefolgt find. Schon am Ende des 10. Jahr. 
hunderts Famen durch dad Ausfterben der öftlichen Markgrafen deren anſehnliche Güter 
im Schwabengau und in Nord» Thüringen an Efifo von Askanien, der fih von 
‚feinen Erbbefigungen Graf von Ballenflädt nannte. Sein Enfelfohn Otto der Meiche 
erwarb 1097 durch feine Berehelihung mit Eilifa, der Tochter des legten Herzogs in 
Sachſen aus dem Billunger Stamme, Magnus, Anſprüche auf dieſes Herzogthum, Das 
jedoch, wie wir oben gefehen haben, nach Magnus’ Tode, 1106, an den Grafen Lothar 
von Supplingenburg vergeben wurbe. Erſt Otto's des Reichen Enkelfohn, der oben- 
genannte Bernhard, zweiter Sohn Albrecht's des Bären, erhielt zu den anhaltinifchen 
Zändern 1180, nach der Über Heinrich den Löwen verbängten Acht, jenen obengenann« 
ten Theil des alten nationalen Herzogthums Sachſen mit der auf diefen rubenben 
Kurwürde, dem Stimmrechte bei den Wahlen der deutfchen Könige. Der Si des 
neuen Kurfürften und Herzogd von ©. war Wittenberg an der Elbe, melde Stabt 
mit dem dazu gehörigen Bezirk, der fetthber Kurkreis hieß, Bernhard's Vater, Als 
dreht der Bär, den Wenden entriffen und als Grenzort befefligt Hatte. Uebrigens 
führten Bernhard und feine Nachfommen nur den Namen und Titel eines Herzogs 
von ©., aber daB Anfehen eines ſolchen Fonnten fie in feiner Welfe geltend machen, 
da es ihnen an der dazu nötbigen Macht gebrach. Die WMarfgrafen von Weißen und 
die von Thüringen, die Erzbifchöfe und Bifdyöfe von Magdeburg. Merfeburg, Weißen 
und Brandenburg waren weit mächtiger wie fle, befaßen alle territorialen Hoheitsrechte 
und erwarben diejelben in der nächfifolgenden Zeit von den deutfchen Königen. Nur 
über die minder mächtigen fächflichen Bafallen, die Grafen v. Schwerin, v. Dannen⸗ 
berg, v. Schönburg u. A. behauptete Bernhard die Oberhoheit, fo wie über die an 
der Nieberelbe im Lande der Polaben gemachten Eroberungen, wo er zur Sicherung 
derfelben gegen die beflegten Slawen Die Stadt Lauenburg (Polabenburg) gründete. 
Wittemberg (mitte oder weiße Burg) wurde erweitert und befefligt, eine Menge 
Städte, wie Zahna, Elftermünde, Wiefendurg, Dobin und Eofjewig (jet Cotmig) 
angelegt und durch Einwanderer dad Land bevölkert. Namentlih aus den Nieder⸗ 
landen, Flandern und Brabant zogen zahlreihe Goloniften in's neue Herzogthum S. 
und ihnen danken die Ortfchaften Kemberg (Cambray), Brüd (Brügge), Graͤfen⸗ 


Sachſen. (Die Markgrafſchaft Meißen.) 20 


hainchen (Grafenhaag) und Niemegk (Nimmegen) ibre Entflebung. Als Landeswappen 
führte Herzog Bernhard das alte Hauswappen der Grafen von Ballenflädt fort: 
fünf fchwarze Balken im goldenen Felde mit ſchraͤg darüber liegendem Rautenkranze. 
Nah feinem Tode, 1211, fand eine Theilung der Länder ftatt, in Folge mweldyer Als 
brecht I. dad Herzogthum Sachſen und die fauenburger Länder erhielt, der ältere 
Bruder Heinrich 3. es jedoch vorzog, bie anhaltinifhen Beflgungen zu übernehmen. 
Heinrich nahm den Titel eines Fürſten zu Anhalt an und ift der Stammvater des 
noch jegt blühenden andaltinifchen Haufed. Auch die Söhne Albrecht's 1. nahmen 
nach dem Tode dieſes Fürften eine neue Theilung vor, 1260, und wie gering dad 
Anfehen des Herzogthums ©. in jener Zeit gemefen, gebt nun wieder daraus hervor, 
daß auch jetzt wieder der ältere der theilenden Brüder, Johann, die lauenburgifchen 
Lande für fi erwählte, während dem jüngeren, Albrecht II., dad Herzogthum S., 
von jegt ab Sachen Wittenberg genannt, zuflel. Die fachfen-Tauenburg' iche Linie er- 
loſch 1689 und ihre Beilgungen kamen an Braunfchweig- Gelle (vergl. den Artikel 
Zauenburg). Die fachſen⸗wittenbergiſche aber ftarb ſchon 1422 mit Herzog Ale 
brecht Ill. "aus, worauf der Kalfer Sigismund das Herzogthum Sachſen⸗Wittenberg, 
das damit verknüpfte Kur» und Erzmarfchallamt, mit der Burggraffhaft Magdeburg, 
den pfalggräflichefächftichen Landen und der Graffchaft Brena dem Narkgrafen von 
Meißen und Landgrafen von Thüringen, Friedrich dem Streitbaren, als erbliched Lehn 
zuertbeilte. Seither ift denn nun die Marfgrafichaft Meißen die Bafls und der geogra- 
ybifch-gefchichtliche Kern, auf dem das Kurfürftentfum und ‚fpätere Königreich ©. 
nebft dem größten Theile der fächflfchen Herzogthümer beruht und aus welcher ſich 
dieſe nah und nach herausgebilder haben. Es ift dieſerhalb nötbig, auf die Ent» 
Rehungs- und Vorgeſchichte der Markgrafichaft Meißen zurüdzugehen und diefelbe bis 
zur Erlangung der Kurwürde und der Fahne bed alten Sacjenherzogtfums zu tes 
eapituliren. 

GC. Die Rarkgraffhaft Meißen, ihre Stiftung und ihre Fürften aus 

dem Haufe der Grafen von Wettin bis auf Friedrich den Streitbaren, 928—1424. 
Zwei Jahre nah der Gründung der Warkgrafichaft Norbiachfen durch König Hein» 
sich J. 926, entfland eine ähnliche Markgraffchaft zum Schuge der norböftlichen Grenze 
gegen die Wenden und Sorben, von demfelben Könige gefiftet. Sie erhielt ihren 
Namen von dem 930 erbauten feſten Schloſſe Weißen im Lande der Daleminzier und 
wurde nach deren Vertreibung bauptjächlih von fächflichen, thüringifchen und frän« 
Eifhen Eoloniften bevölkert, welche König Heinrich gemwaltfam hierher verpflanzen lich. 
Zur Zeit vor der Völkerwanderung faßen hier die Hermunduren, aber ihr Name vers 
liert ih ſchon gegen das Ende des 4. Jahrhunderts aus der Gefchichte und gebt 
wohl in dem eines verwandten Stammes auf, der Thüringer, die von nun an 
bis zur Mitte des fechften Säculumd in den Bauen zwifchen Elbe, Saale, Yulda 
und Werra 5i8 zur oberen Wefer als Herrfchendes Volk gebieten. Als im Jahre 531 
das thüringifche Neich eine Beute der verbundenen Sachfen und Branfen wurde, ließen 

fih in den Gegenden um Elbe, Saale und Mulde die Sorben nieder, ein flamifcher - 
Stamm, welcher Aderbau und Viehzucht treibend, den Anbau des Landes befdrberte 
und daſſelbe mit einer Menge Städte und Ortfchaften bededte. Die Gegend um 
Lommapfch war der angefehenfle und bevöolkertſte Gau und Diefer war von den oben 
genannten Daleminziern bewohnt. Grenzflreitigkeiten diefer mit den Branfen und 
Sachſen in dem Thüringer Lande und den neuen Anfleblern im Schmabengau vers 
anlaßten endlich König Heinrich I. die ſchon früher unter den erften Nachfolgern Karl's 
des Großen gegen die Sorbens Wenden errichteten Marken, die füdthüringifche zwiſchen 
der Werra und Mulde (das Ofterland oder Mark Thüringen) und die nordthüringifche 
zwifchen Saale und Elbe (öflliche Mark oder Mark Landsberg) meiter gegen Often 
audzubehnen. So begann 926 die Aggreffive gegen dieſe Stämme, und ber Stiftung 
der Mark Morbfachfen folgte 928 die der Mark Meißen. Die Stadt ſelbſt (Misni 
genannt) wurde von Heinrich I. ſchon 930 zu bauen unternommen und von hier aud 
die weitere Unterwerfung reſp. Vertreibung der Sorben geleitet. Schon wenige Jahre — 
fpäter wurde Baugen, der Hauptort. der Milzener, mit flürmender Hand genomr 
und der ganze Gau ber neuen Mark einverleist. Die Einfegung von Markgr 


25 


102 Sachſen. (Die Markgrafichaft Reißen.) 


mag wohl analog den anderen Grenzgauen erfolgt fein, doch wird unter biefem Nas 
men erfi 977 eines Markgrafen von Meißen in den Urkunden erwähnt, eines fächflichen 
Mbeligen, Rigdag, den Kalfer Otto IE zu diefer Stellung in jenem Jahre ernannte. 
Ihm folgte in der markfgräflihden Würde Ekhard I., nach ibm Egbert I., und biefem 
Ekhard II., der Enkel Rigdag's. Als Ekhard II. um 1050 flarb, erhielt die Mark- 
grafihaft Egbert II., wahrfcheinlih ein Verwandter feines Borgängers; in den 
Kämpfen jener Zeit zmifchen Kaifer Heinrih IV. und den Fürften des Reichs fland 
er gegen den Kaifer und ftarb wohl auf Anftiften des Legtern an Gift 1088. 
Welchen Dynaftengefchlehtern jene bis bier ermähnten Markgrafen angehörten, if 
nicht nachzumelfen. Nach Egbert's II. gemwaltfamem Tode vergabte Heinrich IV. Die 
Markgrafichaft Meißen an Dedo Il. Brafen von Wettin, worauf fie auf feinen 
Sohn Heintih und dann auf deflen Sohn Heinrich den Jüngern überging, weldyer 
1127 ohne directe Nachkommen mit Tode abging. Jeztzt belchnte Kaifer Lothar U. 
von Supplingenburg den Schweſterſohn Heinrih’8 des Jüngern, ben Gra- 
fn Conrad von Wettin, mit der Mark Meißen und der Marlgrafichaft 
Niederlaufig „auf ewige Zeiten, für fi und feine Nachkommen." Wettin nannte 
fih dieſes alte Adelsgeſchlecht von feinem feften fo benannten Haufe, welches zwifchen 
den Städten Halle und Bernburg an der Saale gelegen war, und führte feinen 
Stamm bis in's 7. Jahrhundert zurüd, in die Zeit der Wenden. Es iſt hiernach 
zweifelhaft, 06 die Wettiner Brafen deutfcher oder wendifcher Abkunft find; wahre 
ſcheinlicher iſt das Letztere, weil fle felbft ihre Abkunft auf die Buzici zurückführen, 
die entfchieden wendifchen Stammes waren, Markgraf Konrad, genannt ber 
Große, der Stanımvater der noch jegt herrfchenden fächflfchen Fürften beider Linien, 
vermehrte durch Erbſchaft wie durch kaiſerliche Gnade fein Beſitzthum bedeutend; 
durh das Ausfterben einer Nebenlinie feines Hauſes brachte er 1140 die eilenburgis» 
fhen Güter an fi, ebenfo die Allodien der Grafen von Groitzſch, wie die Graf⸗ 
Schaft Brena mit Kamburg und Torgau, und 1151 ſchenkte ihm der Kaifer bie 
Meihödomäne Roclig. 1156 Iegte Konrad die Megierung freiwillig nieber, theilte 
feine Beflgungen an feine fünf Söhne und zog ſich in ein Klofler zuräd, wo er 
1161 flarb. Die Markgrafichaft Meißen erhielt der ältefte feiner Söhne, Otto der 
Reiche, 1156 — 1190, während die Niederlauftg, die eilenburger und groigichen 
Allodien und die Stammgüter Wettin den jüngeren Brüdern des Markgrafen zufielen, 
aber mit Ausnahme des Stammſitzes ſchon in dieſem und in der erflen Hälfte bes 
folgenden Jahrhunderts durch Ausfterben biefer jüngeren Linien wieder mit Dem 
Markgrafthum verbunden wurden. Das Stammgut Wettin kam 1288 durch legt- 
willige Schenfung an dad Ersftift Magdeburg. Unter Dtto dem Reihen wurden 
1163 die reichen Silberbergmwerle im Erzgebirge eingerichtet und 1175 durch bie 
Verbindung der in der Nähe liegenden Dörfer Loßnig und Chriſtiandberg 
die Stadt Freiberg gegründet und mit Ringmauern umgeben; auch ber 
Stadt Leipzig gab dieſer Fürſt das Mecht, jährlich zwei Jahrmärkte, zu 
Oſtern und Michaelis, zu halten, aus denen fi die berühmten Leipziger 
Mefien berausgebildet haben. Ueberhaupt bewied ſich Markgraf Dtto den Städten 
fehr Hold, gab ihnen Handels⸗, Zolle, Markt- und Münzgerechtigfeiten, ben bürger» 
lichen Gewerben Privilegien und Breibriefe aller Art und hob auch die Gultur bes 
Zanded durch die reichen Geldunterflügungen, welche er dem Landbau zufommen ließ. 
Namentlich Meißen felbf gelangte unter feiner Megierung zu Hoher Blüthe durch den 
Handel, der von dem Mhein und der Donau nad Böhmen, Polen und den Oſtſee⸗ 
ländern bier feinen Hauptflapelplag an der Elbe fand. Unter feiner Regierung 
wurden auch die erfien Silbermünzen aus einheimifchem Silber gefchlagen; man rech⸗ 
nete nah Marken, Talenten und Pfunden Silber. Das Talent zerfiel in 20 Schil⸗ 
linge, zu denen je 12 Denare gehörten; biefe Denare waren die einzig geprägte Münze 
und zwar waren fle einfeltig geprägt in der Bröhe eines Viergroſchenſtücks; da fle 
aber nicht vollfommen gleich an Gewicht Hergeftellt werben Tonnten, mußte an ber 
Berehnung nach Pfunden feflgehalten werden. Die geprägten Denare galten nur 
ein Jahr, mußten zu Mariä Lichtmeß umgetaufcht werden gegen ein Aufgeld für bie 
Praͤgekoſten, welches die Stelle der Vermoͤgenoſteuer einnahm. Neben dieſer nicht 


Sachſen. (Die Markgrafſchaft Meißen.) 703 


undebdentenden Steuer befanden als Staatdabgaben noch die Entrihtung von Erb⸗ 
zinfen für die Ländereien an den Grundherrn und von diefem an bie marfgräflidyen 
Beamten, in den Städten eine Haus» und Gewerbefteuerr. Die Landbemohner waren 
zumeiſt Hinterfaffen auf dem Cigenthum der fleinen Allodialherren und Lehnäträger 
der Markgrafen, indeſſen Eonnten fie den Manfus Land (wohl einer Hufe an Größe 
entfprechend) auch als Eigenthum für eine Baarzahlung erwerben, bie bei den Anſted⸗ 
lern ein Minimum von 6 bis 8 Denare betrug. Die Alteften der im Lande Meißen 
gebanten Betreidearten find Roggen und Hafer; Gerſte und Welzen kommen fpäter 
vor; im Anfange des 13. Jahrhunderts fchon Lein und Hopfen. Der Weinbau muß 
jeboch fpäter betrieben fein, ald man gewöhnlich annimmt, da eines Weinberges zuerft 
im Jahre 1161 erwähnt wird. Die Schafe und Hühnerzucht war fchon fehr bedeu⸗ 
tend zur Zeit Otto des Meichen, mas daraus hervorgeht, daß die Ziefe hauptſäachlich 
in einer großen Anzahl Eier und in Käfen,. die felbf nah Scheffeln und Maltern 
berechnet wurden, beflanden. Der Frohndienſt erſcheint in der Markgrafſchaft 
Meißen erſt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunders, konnte jedoch durch eine 
jährlige Geldleiftung abgelöft werben; Leibeigenfchaft bat in der Mark niemald bes 
flanden, und erſt mit der Ausbildung der Gutöherrlichkeit entfland im 15. Jahrhundert 
ienes Abhängigkeitöverhältnig der Bauern Durch perfönliche und dingliche Leiftungen, 
welches zur Hoͤrigkeit führte Die Verfaffung der Mark mar urfprünglich eine 
durchaus militärifche zum Schutze nach außen und zur Sicherheit im Innern, 
wie es der Abficht des Gründers entfprah. Slawiſche Herren, die fih dem 
Sieger unterworfen, und ablige GBefolgichaften aus den bdeutfchen Landen Hatten 
gegen Belaffung ihres Beſitzes, beziehungsweiſe gegen Uebertragung eines ſolchen die Ver⸗ 
pflihtung übernommen, die Mark zu fügen. Aus diefen Kriegern wurden nach Erb» 
lichfeit der marfgräfliden Würde nach und nach Minifteriale, marfgräflidde Hofbeamte, 
und da ihnen große Vortheile zugewandt wurden, fo traten immer mehr freie Grund⸗ 
bolde in dieſes Dienfiverhälmiß. Die Bewohner der Stävdte, die Bürger, waren 
Sreifaffen, und das fläbtifche Gemeinwefen hatte dad Necht der eigenen DBerwaltung, 
welche zumeifi in den Händen alter Familien war, die fich adliger Abflammung rühm⸗ 
ten. Unter den Zinsbauern waren am günftigften diefenigen geftellt, welche unter der 
geiftlichen Hoheit der Bifhödfe von Meißen flanden, über deren politiihe Stel⸗ 
kung wir an diefer Stelle einige Detaild geben wollen. Die Stiftung bed Bisthums 
Meißen datirt aus dem Jahre 967, bis wohin das Land unter den Sprengel bed 
Biſchofs von Hildesheim gehörte. Kaiſer Otto der Große flattete das Biſsthum mit 
reichem Grundbeſitz aus und mit vielen Privilegien und ernannte einen Hildesheimer 
Kanonikus, Burchard, zum erſten Bifchof. Kaifer Heinrich IH. gab den Biſchöfen 
von Meißen den Fürflenrang; ſie mußten dem Kaifer bewaffnete Hülfsvölker ftellen 
und nahmen an den Fürftentagen Theil, welche die Kaiſer ausſchrieben; fle waren 
ſchon früher, als die Marfgrafen, von großem Blanze umgeben, hatten wie diefe ihre 
erbliden Hofämter und übten bereitö im Anfange des 13. Jahrhunderts das Münz⸗ 
seht aus. Anfangs waren die Bifchdfe im alleinigen Beilg des kirchlichen Vermoͤ⸗ 
gens und der Einkünfte aus den Zanonifhen Zehnten und führten mit ihren Geiſt⸗ 
lichen eine vita communis, doch ſchon 1036 erhielten letztere Befigungen mit Einfänfs 
sen zur ausfchließlich eigenen Verwendung, und die Mitglieder des Domcapiteld eigene 
Reſtdenzen. Die Zahl der Lepteren varlirte im Anfange, erft 1309 wurde dieſelbe 
auf vierzehn feftgefegt. Die Aufnahme in das Gapitel fland allen Ständen offen; 
die Thatſache jedoch, daß außfchließlich der Adel In die geiftlichen hohen Würden ge» 
langte, ift leicht daraus zu erklären, daß nur die Söhne des Adels fih jenen höheren 
Studien wibmeten, welche zur Erlangung eined Kanonikats erforderlih waren. Bon 
ben geiftlichen @infünften mußte ein jährlicher Zins an den päpftlichen Stuhl ents 
sichtet werben, welder ziemlich bedeutend mar und mit Strenge beigetrieben wurde. 
Die Stellung der Biſchoöfe zu den Markgrafen mar felten eine gute, und bierardyifche 
Anmeaplichkeit und Eingriffe in die Rechte der Wettiner Fürften führten oft genug 
zu Hader und Streit, der von den Meichögerichten in gewohnter Weile ver 
ſchleppt, felten zu einer Entiheidung gelangte. Kurfürft Morig mußte bei Ueber» 
nahme der Kur die Criſtenz des Meißener Hochſtifts garantiren, und erſt im 





204 Ä Sachſen. (Die Markgrafſchaft Meißen.) 
werfälifchen Frieden wurde daſſelbe fäcularifirt und feine Bellgungen dem Kurs 


fürſtenthum einverleibt. — Auf Otto den Meichen folgte in der ÜMegierung ber 


Mark fein ältefter Sohn Albreht der Stolze, 1190—1195, welcher wahrſchein⸗ 
lich auf Anftiften des nach den Bergwerken von Freiberg lüfternen Kaifers Heinrich VL 
vergiftet wurde. Auch befegten die Kaiferlihen Stadt und Land Meißen, aber es ges 
lang dem Nachfolger Albrechts, feinem Bruder Dietrich, genannt „der Bedrängte“, 
1195—1221, fih im Bunde mit den Welfen der hohenſtaufiſchen Macht zu erwehren 
und feine Erblande zu befreien 1198. In neue VBerrängniß brachte den Markgrafen 
1214—1217 eine langwierige und blutige Fehde mit der Stadt Leipzig und dem 
Adel des Ofterlandes wegen Stiftung bed Thomaskloſters nebft Kirche und Schule, 
welche die Leipziger Bürgerfchaft als Eingriff in ihre Nechte nicht dulden wollte, 
In dem Beginn des Kampfes war die Bartei der Bürger im Bortheil und bie alte 
Pleißenburg im Innern der Stabt felbft wurde von ihnen erobert und zerflört, 
indeß gelang es dem Markgrafen endlich doch, den Uebermuth der Städter und adli⸗ 
gen Bafallen zu brechen. Dietrich's Sohn und Nachfolger, Heinrich der Erlauchte, 
1221 —1283, erwarb 1246 dur DBermählung eines feiner Söhne mit der Tochter 
des Hohenftaufen Friedrich's 11. das Pleißnerland, ein unmittelbared Reichsgebiet, 
welches aus Gütern befland, die Kaifer Friedrich der Rothbart gekauft Hatte und 
welche feither mit geringer Unterbrehung ſtets bei der Markgrafſchaft Meißen geblie- 
ben find. Cine noch anfehnlichere Bergrößerung erwarb Heinrich der Erlauchte, als 
Heinrich Raspe, der legte Landgraf von Thüringen, 1247 ohne männliche Erben flarb, 
aber erft nach einem fünfzehnjährigen Erbfolgeftreite mit dem Herzoge von Brabant, 
defien Gemahlin, eine Tochter Ludwig des Heiligen, Zandgrafen von Thüringen, ein 
näheres Recht auf die Berlaffenfchaft in Anſpruch nahm, als Heinrih nad ihrer 
Meinung nachmeljen konnte, welcher doch ald Schweflerfohn des Heinrich Raspe der 
naͤchſte männliche Erbe war. Kriegsglück fomohl wie kaiſerlicher Entſcheid erklärten 
fih endlih für Heinrih den Erlauchten und fo erbielt er 1263 im gefchloflenen Frie⸗ 
den die gefammte Landgraffchaft Thüringen ald Erblehn mit Ausnahme der Beflgun- 
gen an der Werra und der befflihen Güter, welche als neue Landgrafichaft Heſſen 
dem Sohne der Brabanter Herzogin, Heinrich dem Kinde, zuftelen (vgl. den Artikel 
Heffen). Eine glänzende Entwidelung hätte jegt dieſe Kändermaffe, die fih von ben 
Zaufiger Bergen und dem linken Oderufer bis zum Harz und der Werra und in ben 
Mittelpunkt Deutfchlands erſtreckte, auf ruhmreiche Bahnen weifen können, wenn fie, in 
einer Hand vereinigt, die Wucht ihrer Bedeutung in die zu jenen Zeiten ſtets ſchwan⸗ 
fende Waagfchale der politifchen Gewalten des Meiches warf. Jedoch flatt beffen 
fhwächte der fonft fo politifch Fluge und andgezeichnete Fürft feine Hausmacht durch 
Theilungen feiner Güter, die feither in den fächflichen Fürſtenhäuſern bis auf bie 
neuefte Zeit fih in auffallender Weife wiederholten und der Grund geworben find, 
dab das ſaͤchſiſche Haus, wie der fächflfchsthüringifche Volksſtamm trog ber günftigften 
Berbältniffe zu einer politifchen Bedeutung nicht gelangen ‚konnte. No bei feinen 
Kebzeiten nahm Heinrich der Erlauchte eine Theilung feiner Länder vor: er felbfl be⸗ 
bielt die Markgraffchaft Meißen mit der Niederlauflg, die Kandgrafichaft Thüringen 
übergab er feinem älteften Sohne, Albrecht dem Unartigen, dem zweiten, Dietrich, das 
Dfterland (zwifchen Saale, Mulde und Eifer) nebfl der Stadt Leipzig, und dem 
dritten, PBriedrich, die Stadt Dresden und die Landſchaften um biefe Stadt. Kaum 
war dieſe Theilung geſchehen, fo entbrannte der Streit zwifchen den Brüdern über die 
zufünftige Herrfchaft in der dem noch lebenden Vater gehörenden Markgrafſchaft und 
zwifhen den Söhnen Albrecht's untereinander und dann gemeinfchaftlich gegen den 
Bater. Ja, ald Heinrich der Erlauchte 1288 mit. Tode abging, verkaufte Albrecht 
Der Unartige, der ſich im Nachteile gegen feine Brüder fah und an der Erwer⸗ 
bung ber ihm beftrittenen Markgrafichaft Meißen durch Waffengewalt verzweifelte, Dies 
felbe fogar an den Kaifer Adolf von Naffau, woraus cin neuer Krieg zwifchen den 
Brüdern und Söhnen Albrecht's einerfeitö gegen dieſen Kaijer und feinen Nachfolger 
Albrecht 1. von Oeſterreich entbrannte, der bi8 zum Jahre 1307 andauerte. In dem 
jept geichlofienen Frieden erhielt Friedrich mit der gebiffenen Wange (fo ge- 
nannt, weil ihn feine von ihrem Gemahl mit Tod bedrohte Mutter im Schmerz des 





Sachſen. (Die Markgrafſchaft Meißen.) 705 


Abſchieds vor ihrer Flucht in die Wange gebiſſen, wovon ihm Zeit ſeines Lebens ein 
Maal geblieben), der Sohn des 1296 verftorbenen Albrecht des Unartigen, die Marks 
grafſchaft nebſt Thüringen und die Neiheftädte Altenburg, Zwickau und Ghemnig, er 
warb auch durch Heirath die Grafſchaft Ziegenrüd nebſt den Städten Neuflabt an der 
Drla, Auma, Triptis und einen Theil der Stadt Iena, mußte jedoch auf die von 
feinem Bruder Diezmann an die Brandenburger Markgrafen verkaufte Niederlaufig 
verzichten. Ihm folgte 1324—1349 fein Sohn Friedrich der Ernftbafte, wel 
her Ireffurt, Orlamunda und einen Theil der Stadt Langenſalza erwarb, aud die 
Stadt Jena ganz an fich brachte und ſich durch die Strenge, mit der er das Steg 
reifritterthum außrottete und den Landfrieden aufrecht zu erhalten beflrebt war, einen 
guten Namen machte. Nach feinem Tode regierten feine Söhne bis zu dem Ableben 
bes älteſten, Friedrich des Strengen, welcher 1381 farb, gemeinfchaftlich, 
nahmen dann aber eine Thellung vor, in welcher Balthafar die Landgraficaft 
—hüringen, Wilhelm die Markgrafſchaft Meißen erhielt und die Söhne des ſtren⸗ 
gen Friedrich, von denen nur Friedrich der Streitbare großführig war, mit 
bem Ofterlande abgefunden wurden; nur Zreiberg mit feinen Vergwerfen blieb gemein» 
ſchaftliches Eigenthum. Reiche Ermerbungen fielen jetzt den Wettiner Zürften zu: 
Balthafar, welcher 1406 flarb, erbeirathete Die Aemter Hildburghauſen und Eisfeld, 
Friedrich der Strenge Fam durch feine Gemahlin Katharina von Henneberg in 
den Beſitz der Pflege Koburg, und Wilhelm erwarb durch Kauf von den reuffifchen 
Defigungen bie Monneburg, Voigtsberg, Werbau und Schmöllen, außerdem von den Gra⸗ 
fen von Schwarzburg Die Aemter Dornburg und Lobdaburg. Im Kriege des Landgrafen 
Herrmann von Heflen gegen ben Herzog Dtto den Quaden von Braunſchweig und die ihm 
verbundene Rittergenoſſenſchaft der Sternbrüber nahmen die Brüder Partei für das 
anyerwandte Heffliche Haus, verhalfen ihm zum Siege und fchloffen mit bemfelben 
eine Erbverbrüberung. Alse nach dem Tode des Finderlofen Wilhelm die Mark Meißen 
zur Hälfte den Söhnen Friedrich's des Strengen, Friedrich dem Streitbaren 
und Wilhelm II. (Georg war fchon 1401 geflorben) zuflel, regterten fle zmar Anfangs 
gemeinfchaftlich, nahmen aber doch 1410 eine neue Theilung vor, bis nach dem Tode 
Wilhelm's I. von Meißen und Wilbelm’s II. fämmtliche Lande an Friedrich den Streits 
baren zurädfielen. Der legtgenannte Fürft Faufte von den Grafen yon Schwarzburg 
jegt auch die Städte Saalfeld, Rohda, Kahla und das Schloß Leuhhtenburg, fo wie 
vom Hochſtift Würzburg Stadt und Amt Königsberg, durch welche Erwerbung er 
fh auch im Herzogthum Franken feftfepte; Wilhelm I. und Balthafar hatten eben« 
falls durch Kauf die Herrſchaften Colditz, die Stadt Pirna, die Grafichaften Käfern- 
burg und Gleisberg, fo wie das Fuldaer Amt Gerftungen an ſich gebracht. Aber 
mit dem Zuftande des Landes ſah es ſchlecht aus, da felther die ewigen Fehden 
zwifchen den Wettiner Fürften jede Entwicelung gehindert Hatten und der reiche 
Boden menig bebaut worden mar. Eben fo darnieder Tag die Geiftesbilbung, zu 
deren Förderung die beiden Brüder, Priedrich der Streitbare und Wilhelm II., 1409 
die Univerfltät zu Leipzig flifteten, wozu die Auswanderung vieler Studenten aus 
Prag wegen der Huſſiſchen Lehren die Beranlaffung gab. Auch die Nuffitenkriege 
brachten ſchweres Unheil über die meißenfchen Ränder und geringen Erfaß dafür bie 
Ortſchaften Schöned, Mühlberg, Stolberg, Oſſeck und Andere, womit Kaifer Sigis- 
mund den kraͤftigen Beiftand Friedrich's des Streitbaren in biefen Kämpfen belohnte. 
Bon meittragenderer Bedeutung aber war die Anwartfchaft, welche derfelbe Kaifer 
dem tapferen Friedrich 1420 auf die fächflfche Kurwürde und das Herzogtfum Sachen 
bei dem bevorflehenden Erlöfchen der Linie Sachſen⸗Askanien gab. Denn als ſchon 
drei Jahre ſpäter letztere mit Kurfürft Albrecht III. (ſiehe oben) wirklich erlofch, be⸗ 
lehnte der Kalfet Sigismund troß des Einfprechens der Kurfürften von der Pfalz 
und Brandenburg und ded Herzogs von Sachien- Lauenburg den Markgrafen von 
Meipen mit dem Herzogthum Sachſen und gab ihm die erledigte Kurmürbe, wodurd” 
berfelpe, da er mit dem Blanze der neuen Würbe und ber nunmehrigen vereinten 
Sachſenmacht feines Haufes eine Fräftige PVerfönlichkeit und audgezeichnete Regenten⸗ 
tugenden vereinigte, der erfle Fürft des Reiches wurbe. 
Wagener, Staata⸗ u. Geſellſch.⸗Lex. XVI. 45 


706 Sahien, (Das Kurfürftenifum S. unter den Wettiner Fürften.) 


D. Das Kurfürſtenthum Sachfen unter ben Wettiner Fürften bis 
zum Uebergange der Kur an die jüngere (Albertinifche) Linie, 1428 
bis 1547. Mit dem Ermwerbe der Kur Sachſen traten Die Wettiner Fürften in bie 
erſte Reihe der deutſchen Neihöftände, und ihr Einfluß auf die Beflaltung der bald 
an einen Hauptwendepunft fommenden Berbältniffe des deutſchen Reichs und auf bie 
kirchliche Neformation war ein hervorragender und bon weltgefchichtlicher Bedeutung 
(fiehe Die Artikel Deutſchland und Reformation), wäre auch ein für fie felbft und 
"ihre Staaten fegenbringender geweien, wenn fidy nicht durch bie leidigen Theilungen 
ihrer Beflgungen die Kraft der Gefammtbeit nach verfchiedenen oft entgegengefehten 
Nichtungen gefpalten und ſelbſt gefchwächt hätte. Schon. nad dem Hinfterben Kur« 
fürft Sriebrih des Streitbaren, 1428, Fam es nach einer kurzen gemeinfchaftlicyen 
Regierung der beiden Söhne, Friedrich des Sanftmüthbigen, 1428—1463, 
welcher Die Kurwürde erhielt, und Wilhelm III, 1440, zu einer Sheilung, in 
welcher Letzterer Thüringen erhielt, welches bei dem Tinderlofen Tode Wilbelm’s, 
1482, wieder an die. ältere Linie zuräcdfiel. Zwiſchen dieſen beiden Brüdern brach 
alddann 1445 der Krieg aud wegen des Öberlandes, der Hinterlafienfchaft ihres 
Oheims, Friedrich des Einfältigen, zweiten Sohnes des Landgrafen Balthajar von 
Thüringen. Diefe Fehde wurde zwar 1451 dur den Vertrag von Naumburg ger 
endet, eine Folge derſelben war jedoch noch der Naub der. beiden Söhne des 
Kurfürften Friedrich des Sanftmäthigen aus dem Schlofie zu Altenburg, den Kunz 
v. Raufungen in der Naht zum 9. Juli 1455 unternahm, der aber durch bie 
Beiftedgegenwart eines Kohlenbrenners Schmidt auf dem Fürſtenwege zwifchen Grüns 
hayn und Nafchau vereitelt wurde. (Vergl. Hierüber den Artikel Kaufungen.) Die 
geretteten Bringen Ernft und Albert folgten nad des Vaters Tode in gemeinſchaft⸗ 
licher Negierung ſaͤmmtlicher Meißenfcher Lande, während Ernſt, der ältere der beiden 
Brüder, im Kurkreiſe Sachen allein die Herrſchaft ausübte und die Kur verwaltete 
und übte; als aber nah Wilhelm's II. Tode auch Thüringen Ihnen zufiel, theilten 
Beide 1485 am 26. Auguft zu Leipzig die gefammten Kamilienlande. Nach Sachſen⸗ 
recht machte der Aeltere die Theilung, der Jüngere batte die Wahl; fo Fam ed, daß 
Albrecht das beſſere und arrondirtere Theil, die Markgraffchaft Weißen und eine 
Hälfte des Oberlandes, Ernft die thüringifhen und fränkiſchen Linder und ben 
anderen Theil des Oberlandes erhielt; die Silbergruben im Erzgebirge blieben auch 
jet noch gemeinfchaftliches Eigentum. So bildeten fih die beiden Linien des 
fahfifhen Fürſtenhauſes, die Erneſtiniſche Ältere und die Albertini« 
he jüngere, welche ſeit diefer Theilung niemals bis zu. unferer Zeit wieder 
vereinigt worden find, obwohl der Reſttzſtand derſelben ſeitdem innerhalb beider 
Linien bedeutend verändert worden iſt, auch durch Außfterben einzelner Linien eine 
folhe Wiedervereinigung fi hätte in Die Wege leiten lafien. Meißen und Thüringen 
wurden bei diefer Theilung als Stammländer angefehen, und mit legterem wurden 
die voigtländifchen Beflgungen vereinigt, dabei aber jener Linie, um eine Entfrembung 
berielben unter einander möglihfl zu verhüten (eine Abficht, die Hierdurch gerade um⸗ 
gelehrt Hintertrieben, nicht gefördert wurde), eine Zahl Städte und Rändereien im 
Gebiete der andern Linie zugemiefen. So erhielt Ernſt, der auch jetzt wieder den 
Kurkreis als Voraus empfing, neben Thüringen (namentlih Eifenah und Gotha) 
und Koburg im Gebiete der Albertinifhen Linie die Städte Torgau, Eilen- 
burg, Düben, Grimma, Goldig und Dommitzſch nebſt kleineren Ortſchaften, 
Albrecht aber im Erneftinifcyen Gebiete Die Städte Iena, Weißenfeld, Weißenſee, 
Camburg, Tennftädt, Edartöberge und andere. In der kurfürſtlich erneflinis 
hen Linie folgte auf Ernſt, welcher 1486 flarb, fein Sohn Friedrich III., der 
MWeife, 1486—1525, der ausgezeichnetfte Megent feiner Zeit, der durch fein männlich 
muthiges Betragen, durch feine Eluge Leitung der Meichäwähler bei der Kürung Kaifer 
Karl des Fünften und durch den Schuß der Wiffenfchaften, zu beren Förderung er 
am 18. October 1502 die Univerfität zu Wittenberg, die Pflanzfchule ber Re⸗ 
formation, ftiftete, fich den ehrenden Beinamen des „Weilen” erwarb. Unter feinen 
Augen nahm die Reformation (vergl. diefen Artikel, fo wie bie über Luther und 
Melanchthon) ihren Anfang, und er war es hauptſaͤchlich, welcher mit veligiöfem 


Sachſen. (Die Albertiniſche Linie der Wettiner Kürken) 7097 


Sinne die Kirchenverbefferung förderte, den großen Meformatar vor dem Schidfale 
eines Huß bewahrte und, unter umfichtiger Benutzung ber politifchen Berhältnifle, jene 
zu einem guten Ende führte. Ebenſo bedeutend war des weiſen Kurfürften Einfluß 
auf Die Öffentlichen Angelegenheiten des Neiches, auf die Entfchließungen der Kaiſer 
Rarimiltian I. und Karl V. (f. diefe Artikel), welche er bei ihren Abweſenheiten 
als Stellvertreter und Meichörsgent erſetzte. Erſt auf feinem Todesbette nahm er die 
neue Lehre mit feinem Haufe an, flarb am 5. Mat 1525 und hatte, da er ohne legi⸗ 
time Leibeserben ſtarb, in feinem Bruder Johann dem Befländigen, 1525 bis 
1532, einen Nachfolger, welcher die Iutherifche Lehre in allen feinen Landen einführte, 
fih an der Proteflation der Iutherifchen Fürſten in Speyer betbeiligte, auf dem Meichd- 
tage zu Augsburg am 25. Juni 1530 die von Melanchthon verfaßte Eonfefflon dem 
Kaifer überreichte und Im folgenden Jahre dem ſchmalkaldiſchen Bunde beitrat. Ihm 
folgte in der Megierung fein Sohn Johann Friedrih der Großmüthige, der 
legte Kurfürft aus der älteren erneftinifchen Linie, der als Haupt bes 1536 erneuerten 
Ihmalkaldifchen Bundes nebſt dem Landgrafen Philipp von Heffen 1545 vom Kaifer 
Karl V. in die Reichsacht erklärt wurde. Mit der Durchführung der Achts⸗Acte wurde 
Herzog Morig von Sachen, Enkel des Stifters der jüngeren Linie, beauftragt, der 
jedoh vom Kurfürften aus feinen eigenen Landen verfagt wurde. Der Kaifer zog nun 
dem ihm feit 1546 im geheimen Bündniß allitrten Herzoge zu Hülfe, und in ber 
Schlacht bei Mühlberg (vergl. diefen Artikel und den über Morik von Sadien), 
am 24. April 1547, flegten Beide über den Kurfürften, welcher dabei in die Gefan⸗ 
genfhaft geriet. Während derſelben erzwangen die Sieger von ihm die fogenannte 
Wittenberger Capitulation, 19. Mai 1547, in welcher Johann Friedrich für 
fih und feine Nachkommen auf die Kur und feine fämmtlichen Lande Verzicht Teiften 
mußte. Doch wurde feinen Söhnen ein jährliches Einkommen von 50,000 Gulden 
zugefichert und zu deren Erhebung eine Anzahl thüringifcher Aemter, Schlöffer und 
Städte (Weimar, Iena, Eiſenach, Gotha, Saalfeld u. f. w.) gegeben, aus benen ſich 
dann fene fächflich - thüringifchen Herzogthümer herausbildeten, deren Geſchichte wir 
unten geben werden. 

E. Die Aldertinifhe Linie der Wettiner Fürſten von ihrer 
Stiftung und Ermerbung der Kur Hi zur Erlangung der könig— 
lien Würde, 1485—1806. Der Stifter diefer Linie, Herzog Albrecht, 1485 
bis 1500, ein tapferer und Friegerifcher Fürſt, erbielt für die Hülfe, die er dem 
Kaifer Friedrich TIL. gegen den Herzog Karl von Burgund leiftete, die Anwartfchaft 
auf die Jülich» Berg’fchen Beilgungen, die jedoch außer dem Titel dem Haufe einen 
reellen Gewinn nicht einbrachte. In friedlicher Regierung folgten ihm nach einander 
feine beiden Söhne: Georg der Bärtige, 1500—1539, und Heinrich der Fromme, 
1539 — 1541, welcher Letztere die Reformation einführte und mit feinem Sohne 
Morig, der ihm fuccedirte, Die neue Lehre annahm. Molitifche Gründe veranlaßten 
biefen, fih vom Schmalkaldifchen Bunde zu trennen und die Spannung zwifchen dem 
Kaijer und den Iutberifchen Zürften zu fehüren. Wie dies ihm gelang, Haben wir 
oben beſprochen. Indeß war der Erwerb der Kur und des Herzogtums Gachfens 
Wittenberg, fo wie der übrigen Länder der Erneftinifchen Linie nicht ohne 
eigene Einbuße zu erlangen gewefen, und Morig mußte in jener Gapitulation von 
Wittenberg an den König von Böhmen das fchlefliche Herzogthum Sagan und die 
voigtländifchen Lande, als durch die Aechtung Johann Friedrich's erledigte böhmifche 
Leben, jo wie die biöherige füchflfche Lehnshoheit über die reußifchen Grafſchaften 
abtreten und auch die Fortdauer der Bifchöfe und Domcapitel in den drei Meipenfchen 
Hochfliften zugeftehen. Erſt nachdem dieſe Zugeflänbniffe erfolgt und verbrieft waren, 
wurde Morik 1548 auf dem Meichötage zu Augsburg mit der kurfürſtlichen Würde 
und den neu erworbenen Ländern feierlich belehnt. Welche Umflände den Kurfürften 
Moritz kurze Zeit nachher bewogen, dad Bünbnig mit dem Katfer zu Idfen, ſich deflen 
Gegnern zuzugefellen, und wie er im glüdlichen Kriege gegen Karl V. demfelben den 
Paffauer Bertrag abnöthigte, welcher den gefangenen Fürſten Johann Friedrich 
von Sachſen und Bhilipp von Heflen die Freiheit gab, das, -fo wie die religidfen 
und politifchen Kolgen dieſes Schrittes, haben wir in den Artikeln Karl V., Morik 

. 45% 


108 Sachſen. (Die Albertinifche Linie der Wettiner Fürſten) 


von Sachſen, Religionsfrieden und Reformation, auf die wir Hiermit’ verweiſen, 
bed Speciellftien erörtert. Hier fei nur noch erwähnt, wie Kurfürft Mori durch Die 
Errihtung der Landesjchulen zu Porta, Grimma und Meißen und der Conſiſtorien 
in Leipzig und Meißen auch für die höhere Eultur feiner Länder forgte und durch 
Zoleranz die veligiöfe Breiheit beider Meligiondparteien förderte. Moritz flarb am 
11. Juli 1553 an einer Wunde, die er zwei Tage vorher in der Schlacht bei Sievers⸗ 
Haufen gegen den Markgrafen Albrecht von Kulmbach von einem Meuchelmörder er. 
halten. Ihm folgte fein Bruder, Kurfürfi Auguft, 1553—1586, der ausgezeich⸗ 
netſte Fürſt feiner Zeit, ein mweifer Staatswirth, Organifator und Geſetzgeber. Sekt, 
nachdem der politifche Standpunkt des Kurfürſtenthums gefichert ſchien, war es Zeit, 
an die innere Verwaltung des Staates zu denken, und fo fliftete Auguſt im geheimen 
Gonfllium die Centralſtelle für biefelbe, gab durch die Rande» Ordnung von 1572 
eine geregelte Juftigpflege, orbnete dad Steuer» und Pinanzwefen, die Polizei, 
führte die Poſt ein, reorganifirte dad Münz⸗ und Bergmefen und forgte 
felbft für die Privat» Defonomie in freigebigfter Weiſe. Auch den Umfang 
feines Staates erweiterte Kurfürſt Auguft beträchtlich Durch den Erwerb bed voigt⸗ 
laͤndiſchen Kreifed, einiger thüringifcher Aemter und der Hennebergifchen Erbichaft, 
obgleih er der erneftinifchen Linie die Städte Altenburg und Gifenberg, fo wie bie 
thüringifhen Aemter Sachſenburg und Herbisleben überließ. Die Territorialhoheit 
der Kurfürfien wuchs durch die Verwaltung ber proteftantifch ‚gewordenen Stifte 
Meigen, Merfeburg und Naumburg-Zeig, welche durch Vertrag mit den Domcapiteln 
an den Staat Übergingen und felbft Fünftige Bergrößerungen des Beflged wurden 
vorbereitet Durch die Anmartfchaft auf die mit Sequefler belegten Mandfelder Lande, 
1570. — Streng bielt der Kurfürft an der Intherifchen Lehre und ahndete daher die 
Beitrebungen der Krypto-Balviniften, welche ſelbſt die ſtaatliche Orbnung gefährdeten, 
in firengfier Weiſe an Stöffel, Schüg und dem Kanzler Eracau, welcher Letztere durch 
Henkershand bei Anwendung der Tortur endete. Unter der kurzen Megierung feineb 
Sohnes Chriſtian I, 1586 — 1591, Teitete der Kanzler Erell die Staatögeichäfte, 
nicht ohne Befählgung, aber In allzugroßer Abhängigkeit von dem Kajferhofe in Wien 
und mit einer Sucht nach eigener Bereicherung auf Koften des Staats, die ihn unter 
Chriſtian's Nachfolger und Sohne, EHriftian II, 1591 — 1611, auf Antrag von 
deffen Bormunde, Herzog Friedrich Wilhelm von Sadfen- Weimar, vor das Bericht 
der Landflände und auf's Blutgerüfl führte, 8. October 1601. Chriſtian Il, der nach 
erlangter Volljährigkeit 1604 die Negierung felbf übernahm, war ein die unthätige 
Ruhe in folhem Maße liebender Fürft, daß er es beim Ausſterben des fülich'ſchen 
Haufe Im Jahre 1609 unterließ, feine Anſprüche auf, die Jülich» Berg’fchen Lande 
mit Entfchiedenheit zu verfolgen. Ihm folgte in der Negierung von 1611 — 1656 
fein Bruder Johann Georg l. dem die aufrührerifchen Böhmen die Krone anbo- 
ten, welche fte nach feiner Ablehnung an den Kurfürften Friedrich V. von der Pfalz 
gaben. Ueber feine Mitbetbeiligung an dem dreißigiährigen Kriege vergl. 
man biefen Artikel. In dem Brieden von Prag, 1635, erhielt er vom Kaiſer bie 
isn feit 1623 für verauslagte Kriegskoſten verpfändeten beiden Laufigen als böhmi«- 
ſches Lehn, die querfurt’jchen Aemter des Erzftiftes Magdeburg und für feinen Sohn 
Auguf die Verwaltung dieſes Erzftiftes, Erwerbungen, welche der Weſtfaͤliſche Friede 
lediglich beftätigte. — In diefem Zeitraume war ed den furfäcflichen Fürften durch 
kluge Benugung der politifhen DBerbältniffe nicht allein gelungen, ſich gegen alle 
Juſtizhoheit des deutſchen Kaiſers und der Kirche völlig abzufchließen, die ehemaligen 
Reſervat⸗Rechte des Kalferd in eigene Megalien umzuwandeln, fondern auch im In⸗ 
nern felbft zur vollen Landesherrlichkeit Dadurch zu gelangen, daß fle die Thaͤtigkeit 
der Stände auf die Mitwirkung bei rein finanziellen Sragen befchränkten. Dagegen 
gab der Kurflaat Sachſen jetzt die erſte Stelle nach dem Kaiferhaufe im Reiche feit 
dem Prager Frieden, welcher den Gipfelpunkt feines politifchen Gewichtes in Deutſch⸗ 
land bezeichnet, jeßt immer mehr an Kurbrandenburg bin, welches unter der Regie⸗ 
rung des großen Kurfürftlen durch große Erwerbungen feine Macht bedeutend ver- 
ſtaͤrkte und durch fetne Kräftige Teilnahme an den Meichshändeln fchnell zum 
höchſten Einfluffe gelangte. Zu diefem Falle S.'s wirkte nicht gering bie fortge 


— — — — nn 


Sachſen. (Die Aldertinifche Linie der Wettiner Fürften.) 709 


feßte Thellung der Lande, die ja auch jeht Johann Georg wieder vornahm, indem 
er beftinimte, daß fein Altefler Sohn Johann Georg II., 1656—1680, die Kurs 
würde mit dem Kurfreife, den Leipziger, Erzgebirgifchen und Meißener Kreis und bie 
Oberldufig, Auguft die Verwaltung des Magdeburger Erzflifts mit den Weißen» 
felsſchen Landen und die Braffchaft Barby, Mori die Stadt Zeig, dad Stift 
Naumburg, einige Uemter im Bolgtlande und die Hennebergifch - fächhflichen Lande, 
Chriſtian endlih das Stift Merfeburg und die Niederlaufig erbielt. Die von 
ihm angefauften Aemter und Kammergüter vertheilte jedoch Johann Georg I. nicht in 
gleicher Weife, fondern Seftimmte in feinem Teflamente, daß biefelben auf ewige Zeiten 
ungetheilt bei der Kur Sachfen bleiben, aber nicht als Bamiliengüter des Megenten, ' 
fondern als Staatsdomänen verwaltet werden follten. Jene drei Nebenlinien des 
albertinifchen Haufes erlofchen jedoch ſchnell wieder: zuerft biefenige von Sachſen⸗ 
Zeig ſchon 1718, als des Stifters Sohn, Herzog Wilhelm Moritz, nach zweimaligem 
Religiondmechfel, wonurd er das Stift Naumburg verloren, kinderlos farb; dann 
Sachſen⸗Merſeburg, weldhe 1738 mit Herzog Heinrich, und endlich Sachſen⸗ 
Weißenfels, die 1746 mit Herzog Johann Adolph II. ausftarb. Ihre fämmtlichen 
Länder fielen wieder an die Hauptlinie zurüd. In ber Kur folgten auf Johann 
Georg II. fein Sohn Johann Georg lIII., 1680-1691 und diefem Johann 
Georg IV., 1699 —1694, welcher Iegtere nach einer kurzen frieblichen Regierung 
feinen Bruder Friedrtich Auguft I, 1694—1733 zum Nachfolger hatte. Als nach 
dem Tode des großen Polenkönigs Johann Sobiesky, 1696, die Wähler des Reichs 
einem auslaͤndiſchen katholiſchen Bürften die Krone geben wollten, vermittelte Rußlande - 
Einfluß, daß die Wahl auf den Kurfürften fiel, der dieferhalb vorher die Tatholifche 
Religion wieder angenommen hate. (Siehe das Weitere über bie ſächſiſchen Fürften 
auf dem polnifchen Throne unter dem-Artifel Bolen, Band XV., S. 703 flgdd.) Zwar 
berirkte dieſer Religionswechſel für Sachſen feine wefentlichen Veränderungen , aber 
dur die Verbindung mit Polen wurde der Kurftaat in eine Mitleivenfchaft bei Aus⸗ 
tragung der politifchen Wirrniffe jenes Meiches gezogen, welche ſchwer auf Staat und 
Volk Tagen und die das Kurhaus ©. nöthigten, für diefe neue Erwerbung durch den 
Mebertritt zum Katholicismus das proteftantifche Primat in Deutfchland aufzugeben 
und Damit den beften Theil feined polltifchen Einfluffes zu opfern. Der glänzende 
Aufwand des Königs⸗Kurfürften und der unglücdliche Krieg mit König Karl XII. von 
Schweden, deſſen Heere in beinahe einjähriger Anweſenheit im Kurſtaate unerſchwing⸗ 
liche Requiſttionen beitrieben, flürzten dad Land tief in Schulden. Im Frieden von 
Altranflädt am 24. September 1706 verlor der Kurfürft die Krone Polens und wenn 
auch nach Karl’ XII. Niederlage von - Pultawa der erneuerte Krieg demfelben die ver⸗ 
lorene Koͤnigskrone mwiedergab, fo brachte Died Doch Sachen Eeinerlei Vortheile, ſon⸗ 
dern neue Berlufte, da diefer Krieg ausschließlich mit fächflfchen Truppen und Geldern 
geführt wurde und der Kurfürft, um letztere zu erhalten, einige Gebietätheile an Bran« 
denburg » Preußen verkaufen, mehrere fächflfche Aemter verpfänden und an das Haus 
Schwarzburg bedeutende Mechte veräußern mußte Daß Auguſt's Prachtliebe manche 
Verſchönerung in feiner Mefldenz Dresden und eine Belebung ded Kunfifinnd im Allgemeinen 
bewirkte, ex fich auch als freigebigen Mäcen der Wiffenfchaften berotes, fteht zu jenen Nach» 
theilen in feinem Verhaͤltniß. In noch höherem Brade wuchſen diefe Nachtheile für den Kur⸗ 
flaat S. unter dem folgenden Regenten Kurfürft Friedrich Auguft IL, 1733—63, 
welcher auch in Polen ald König Auguft II. feinem Vater fuccedirte, nachbem er ſich 
diefen Thron mit Unterſtützung der drei Mächte Rußland, Defterreih und England 
gegen den von Frankreich begünfligten Stanidlaud Leszezynski im polnifchen Thron« 


‚folgefriege erfämpft Hatte, Unter feiner Megierung ruhten die Waffen nur kurze Beit: 


faum mar fener polnifche Krieg beendet, ald der Tod Kaiſer Karl VI. und der Re 
gierungsantritt Maria Thereſia's den Hfterreichifchen Erbfolgefrieg entbrennen Tief. 
Kurfürft Friedrich Auguft 11. flellte jich in Diefem auf die Seite der Gegner der Kai⸗ 
ferin » Königin und machte Anfprüche auf einen Theil der öfterreichifchen Exrblande; 
feine Truppen eroberten 1741 Prag und vccupirten ganz Böhmen und einen Theil 
bon Mähren und Schleftlen von Polen aus, aber im Frieden zu Berlin 1742, dem 
fih ©. anſchloß, ward: ihm doch nicht der geringfte Erwerb zu Theil. Als der Kur⸗ 


110 Sachſen. (Die Albertiniſche Linie der Wettiner Fürften.) 


fürfl Diefen entgangenen Gewinn durch eine nähere Berbinbung mit Oeflerreih auf 
Koften Preußens zu erzielen hoffte, wurbe er in den zweiten fchleflichen Krieg ver⸗ 
widelt, feine Truppen bei Keſſelsdorf und Hohenfrienberg vollſtaͤndig geichlagen; er 
rettete im Frieden zu Dresden, 25. December 1745, mit Mühe feinen Länderbeftand 
und mußte überbied eine Million Thaler Kriegskoſten an Preußen bezahlen. Die ver» 
ſchwendriſche Verwaltung des Miniſters Grafen v. Brühl war nicht Dazu angethan, 
in den nun folgenden wenigen Priebensjahren die Wunden, melde jener Krieg ge⸗ 
Schlagen, vergeflen zu machen und feiner engherzigen, hinterliſtigen und felgen Politik 
war es au in dem Jahre 1756 beizumefien, daß Die Gonlition gegen Preußens gro« 
fen König einen neuen Krieg beichloß, der über den unglüdlichen Kurflaat die furdht« 
barflen Leiden brachte. (Vgl. die Art. Friedrich II., König von Preußen, und Sie⸗ 
benjähriger Krieg.) Der Kurfürft mußte nach der Gefangennahme feines Heeres bei 
Königftein nach Polen flüchten, ©. wurde vom Sieger als eroberte Land. behandelt 
und erft im Frieden von Hubertöburg 1763 reftituirt, erbrüdt beinahe von einer 
Schulvdenlaft von 40 Millionen Thaler, bis zur Wüſte verheert mehr von den Bünd- 
nern, den Defterreichern und Neichötruppen, als den flegreichen Gegnern, Dresden, 
Wittenberg, Zittau, Torgau durch Bombardementd zerflört und die Einwohnerzahl 
Decimirt Durch Krieg, Elend, Veft und Hunger; dabei die Sitten verwildert in er⸗ 
ſchreckender Weife und das Eigenthum unficher durch räuberifhe Schaaren, die In den 
boigtländifchen Bergen und im Grzgebirge ihr Depot hatten und von hier aus das 
ganze Land durchſtreiften. Es bedurfte in Wahrheit einer weiſen und fparfamen es 
gierung, wie fie nach dem Tode Friedrich Auguft U. unter feinem Sohne Friedrich 
Ehriftian, der nur zehn Wochen (vom 6. October biß 17. December 1763) regierte, 
inaugurirt und von feinem Nachfolger Kurfürft Friedrich Auguſt IL, 1763—1827, 
zuerſt unter Bormundfchaft des wütdigen Prinzen Xaver, 1763 —68, fortgeführt 
wurde, um den politifchen und focialen Ruin des Kurflaated aufzuhalten und zum 
Beffern zu wenden. Unter des Letzteren weifer und gerechter Regierung erholte ſich 
das Land überrafchend fchnell von allen Drangfalen. Zuerſt wurde das Schulden⸗ 
wefen in der Art vegulirt, daß die neu geflifteten Steuer- und Kanımer» Ereditfaflen 
durch jährliche Natenzahlung diefelben ablöften, und war fchon 1792 der Landeserebit 
fo gefichert, daß die in diefem Jahre emittirten Papiergelder im Betrage von 11% 
Millionen Thaler zum vollen Werthe begeben werben Fonnten. Sparfamer Hausvater, 
ging der Kurfürft feinen Unterthanen in Einfachheit und dkonomiſcher Einfchränkung 
ald Mufter voran, und fein Bamilienleben war das Borbild eines chriflliden Haus⸗ 
weſens. Gewerbfleiß und Handel wurden gehoben, durch neu eingerichtete Behörden 
das Manufactur- und Commerz » Gollegium in rationellfter Weife geleitet, ber Acker⸗ 
bau blühte empor durch Abftellung anerkannter Mißbräuhe und die Bemühung der 
Randesdfonomie-Deputation, welche in Staats-Mufterwirtbfchaften felbft mit praftifchen 
Verfuchen vorging. Befonders für die Wollproduction that der Kurfürfi perſoͤnlich 
fehr viel und bielt auf feinen Domänen verebelte Heerden zur Zucht, die er an bie 
Grundbeſttzer zu billigen Preifen abgab. Gewerbefchulen wurden errichtet, die Gewerbe 
felbft durch Prämien gefördert, von den drüdendften Feſſeln befreit und die Induſtrie 
in die ergiebigfien Wege geleitet. So waren die Drangfale jener unglädlichen Zeiten 
bald verfchmerzt, und der Wohlftand warb nach und nad) allgemein. In der inneren 
Drganifatton des Staates wurden faft alle Inflitute einer Reviſion und Vervolllomm- 
nung unterzogen, über dad Finanzweſen haben wir oben ſchon berichtet; bei der Jufliz= 
osganifation wurde zuerfi 1770 die Tortur für immer abgefchafft, wie Todesſtrafe 
in fehr befchränkter Weife angewendet und in menfchliherer Form, bie Reinigungs⸗ 
eide vermindert, bie Juſtizpacht in den Aemtern aufgehoben, eine Vormundſchafts⸗ 
Ordnung erlaffen und im Jahre 1791 eine Commiſſion mit dem Entwurfe einer neuen 
Gerichtsordnung 1810 eine foldye zur Ausarbeitung einer neuen Griminal- Orbrung 
errichtet, welche beide permanent erklärt wurden. Im Unterrichtöwefen wurde der Eifer 
der Regierung durch bie Unterflügung von Privaten noch übertroffen. Die für bie 
höhere Bildung und den wiffenfchaftlichen Verkehr geftifteten Univerfttäten in Leipzig und 
Wittenberg und die Landesfchulen Pforta, Meißen und Grimma erhielten bedeutende 
Erweiterungen und dis heiten Behrkräfte, Die beiden Schullehrerfominasien in Weißen⸗ 


Sachſen. (Die Albertiniſche Linie der Wettiner Fürſten.) 1 


feld und Dresden, fo wie das Soldaten-Knaben-Inflitut in Annaberg, bie nieberen 
Bergfchulen im Erzgebirge wurden neu geftiftet und bie Hlitteralademie in Dresden 
teorganifirt; Die Gehälter der Lehrer bedeutend erhöht und durch Prämien ein reger 
Wetteifer unter ihnen in's Leben gerufen. In Fünftlerifcher Beziehung wurden die Ge⸗ 
mäldesGallerie, die Antifenfammlung und die Sammlung der Mengé'ſchen Gypsabgüfſſe 
angelegt, die Fänigliche Kapelle vermehrt und ein Gonfervatorium für Muſik gefchaffen, 
auch durch Meife» Unterflägungen der Sinn für Kunft und die Ausübung derſelben 
gefördert. Bon gemeinnützigen Anftalten entflanden unter dem Kurfürften Friedrich 
Auguft II. die Zucht- und Arbeitshäufer in Torgau und Zmwidau, das Taubflummens 
Inſtitut in Leipzig, eine Blinden = Erziehungsanftalt ebenbafelbft, eine Landes - Erebit- 
Geſellſchaft trat in’8 Leben, und eine Brandaflecuranz-Orbnung wurde erlaffen.. Für 
den Öffentlichen Berfehr von Bedeutung war die Schiffbarmahung der Saale, 1790, 
die Rectification des Elbftrombettes um Auffig und Schandau, die Vermehrung von 
Öffentlichen und Communalwegen und die Anlage von größeren Kunftftraßen, womit 
eine andgebehntere Wirkſamkeit der Poftanftalten im Intereffe des Handels und Ver⸗ 
Echre Hand in Hand ging. Das Heerwefen wurde bei größter Sparfamfeit und 
Beſchraͤnkung der activen Truppenzahl doch in Eeiner Welfe ftiefmütterlich behandelt, 
fondern nach preußifchem Mufter reorganiftrt und durch Die Errichtung der Artillerieſchule 
in Dresden für die taktifhe und theoretifche Ausbildung der Offiziere geforgt. In 
Hinſicht Der auswärtigen Berbältniffe machte e8 fich der Kurfürft zum Grundfag, den 
Srieden fo fange mie möglich aufrecht zu erhalten und dieſerhalb, und weil er den 
Nachtheil einer Verbindung des Kurftaates mit Polen für den erfleren erfannt, fchlug 
er die polntfche Königötrone 1791 aus, bie ihm der Meichdtag angeboten. Indefſſen 
Tießen Die politifhen Berhältniffe Deutfchlands wie Europa’ ihm nicht den Genuß 
“eineß ungeflörten Friedens zu. Schon 1778 im bayerifhen Erbfolgefriege 
fah er ſich gendthigt, im Bunde mit Preußen die ihm von feiner Mutter, Maria An⸗ 
toinette von Bayern, abgetretene Anwartſchaft auf die bayerifche Allovialerbfchaft mit 
den Waffen aufrecht zu erhalten, und erlangte er denn auch im Frieden zu Tefchen, 
1779, von Kurpfalz eine Entfchädigung von ſechs Millionen Gulden und die Abtre- 
tung der von der Krone Böhmen feit 1777 in Anfpruch genommenen Lehnsherrlich⸗ 
keit über die Schönburg’fchen Herrfchaften (f. d. Art. Bayerliher Erbfolgefrieg 
und Schönburg.) Nocd enger wurde die Verbindung mit Preußen 1785 durch den 
Beitritt des Kurfürften zu dem Fürſtenbunde (f. d. Urt.) Friedrich des Großen 
gefnüpft. An der Pillniger Bonvention betheiligte ſich der Kurfürft nicht, aber den 
Reichokriegen wider Frankreich brachte er das Opfer feiner reichsſtaͤndiſchen Pflicht 
durch Stellung feines Bundescontingentes, welches 513 zum Abfchluffe des Waffen- 
ſtillſtands⸗ und Neutralitätd-DVertrages von Erlangen, 13. Auguft 1796, gegen bie 
Franzoſen focht, dann aber zur Dedung der Grenzen des oberfächflfchen Kreiſes zu⸗ 
rüdgezogen wurde. Auf dem Briedenscongreffe zu Raſtatt, 1802, wie bei den Reichs⸗ 
beputationshauptfchluße Verhandlungen zu Regensburg, 1803, machte der Kurfürft die 
Rechte des deutſchen Reiches und die der Stände mit Entfchiedenheit und Würde, aber 
umfonft geltend, fa war auch nicht im Stande, feine Anfprüche auf die reuſſtſchen Län⸗ 
der und Stadt und Gebiet Erfurt durchzufegen. Auch nach dem Untergange bes deut- 
ſchen Reiches führte Friedrich Auguft, welcher zweimal, in den Jahren 1790 und 1792 
das Meichövicariat verfehen Hatte, den Titel eines Kurfürften fort und trat troß der 
ihm in Ausficht geftellten Bergrößerungen dem unter Napoleon's Protectorate am 12. 
Juli 1806 gefifteten Rheinbunde nicht bei. Bet dem bald barauf erfolgten Aus⸗ 
bruche des Krieges zwifchen Yrankreih und Preußen trat Kurfürft Friedrich Auguft 
mehr aus Patriotismus und verlegt durch Napoleon's Liebermuth als durch politifche 
Ermägnngen geleitet in eine Allan; mit Friedrich Wilhelm III. und in der unglüd- 
lichen Doppelſchlacht bei Iena und Auerſtaͤdt kaͤmpften 22,000 Sachfen unter Hohen⸗ 
Iohe’8 Anführung um die Entfcheivung. Auch der Kurftaat fühlte jet ſchwer die 
Zaſten des Krieged, da der Sieger demfelben außer großen Naturalskieferungen bie 
Zahlung einer Kriegscontribution von 25 Millionen Francs, zahlbar in drei Raten 
bis ullimo 1807, auflegte, und eine proviforifche Verwaltung des Landes einricytete. 
Erſt nach dem Rückzuge der Preußen Hinter die Weichſel und als die Exiſtenz feiner 


112 Sachen. (Als Glied des rheinifchen und beutfchen Bundes.) 


Staaten gefährdet fchien, ſchloß der Kurfürft mit Napoleon den Frieden zu Pofen, 
11. December 1806, in welchem er dem Mheinbunde beitrat und ſich verpflichtete, zu 
dem Heere defielben ein Kontingent von 20,000 Bann zu flellen; eine Allianz mit 
Frankreich wurde gleichfalls geichlofien, und ein Hülfscorpg von 6000 Sachſen für 
den preuftich-ruffifchen Krieg verftärkte Die franzöflfche Armee. Zugleich fah Friedrich 
Auguft fich veranlaft, da er als fouveräner Fürft Mitglied des Rheinbundes war und 
die Auflöfung des deutfchen Reiches feinen bisher geführten Titel eines „Kurfürften“ 
iuforifch gemacht hatte, den Königstitel anzunehmen und die gefammten kurfürſt⸗ 
‚ lien Lande zu einem Königreicdhe zu erheben, 20. December 1806. 

F. Das fouveräne Königreih Sadhfen als Glied des rheini» 
{hen und deutſchen Bundes und in feiner Ausbildung zum confie» 
tutionellen Staate, 1806—1864. Die Annahme ber Koönigéwürde bewirkte 
übrigen® weder eine Aenderung in der landſtändiſchen Verfaſſung, obgleich die Zeite 
ereigniffe vorübergehend zu einer größern Unabhängigkeit der Regierungsmaßregeln 
von der Mitwirkung der Stände führten, noch eine Annahme der franzöflichen Ein- 
rihtungen in Verwaltung und Jufliz, fondern nur die Verwandlung des Namens 
„Kurkreis" in die des „Wittenberger Kreiſes“, und durch franzöflihden Einfluß die 
Gleichſtellung der Katholiken und Reformirten mit den Befennern des lutheriſchen 
Glaubens. Im Frieden von Tilfit erhielt der König von Sachſen den Kott- 
bufer Kreis von Preußen, mußte dagegen durch Bertrag vom 19. Mär; 1808 an das 
neugeftiftete Königreich Wefalen fein Miteigenthumsrecht an der Sanerbfchaft Treffurt 
und der Voigtei Doria, das füchflihe Mansfeld mit Ausnahme des Diſtriets von 
Artern, die Aemter Gommern und Barby abtreten. Außerdem wurden in Folge des 
Sriedendtractatd von Tilfit aus den von Preußen abgetretenen polniichen Ländern 
Süd-Preußen, Neu-Oftpreußen und einem Theil von Weftpreußen das Herzogthum 
Warfchau gebildet und der König von Sachſen, den die polnifhe Gonflitution vom 
3. Mai 1791 ſchon einmal zum König von Polen berufen, zum fouveränen und erb⸗ 
lichen Herzog von Warfchau ernannt. (S. den Art. Polen.) Die neue polnifche 
Eonftitution wurde am 22. Juli 1807 von Napoleon in Dresden unterzeichnet und 
vom Könige befchworen. Seit Friedrich Auguft dem Rheinbund beigetreten, bielt ex 
treu zu dem Protector deffelben und vertraute deſſen Sterne. Im Kriege gegen 
Defterreih 1809 ftellte er fein Gontingent, welches fih unter dem Marfchall Berna⸗ 
dotte, Herzog von Ponte⸗Corvo, befonders bei Wagram auszeichnete, und vergrößerte 
im Srieden zu Wien fein Herzogthum Warfchau durch Weftgalizien mit Krakau, dab 
junge Königreih aber nur durch einige böhmifche Enclaven in der Lauflg, deren 
Beſitznahme nah langen Streitigkeiten erſt am 4. Juli 1845 erfolgte, und durch die 
Balley Thüringen in Folge der Aufhebung des deutichen Ordens. Nach dem ruffiichen 
Kriege, in welchem fich die jächflichen Truppen al8 eine Diviflon des Reynierſchen Korps 
verfchiedenfach audgezeichnet hatten, befahl zwar der König die Trennung feines Con⸗ 
tingentd von ber franzöflfchen Armee, verfuchte auch ſelbſt (ſ. d. Art. Freiheitskriege) 
mit Defterreich und Dänemarf den Frieden zu vermittelg, ald jedoch nach den Schlachten 
von Kügen und Baugen fein Königreich wieder von den Franzoſen beſetzt war, mußte 
er der Eategorifchen Aufforderung Napoleon's, ſich entweder für ihn oder gegen ihn 
zu erklären, im Interefle feines Landes folgen, nad Dresden zurückkehren und feinen 
Pflichten als Glied des Rheinbundes Genüge leiten. Demnach wurden die Feſtungen 
des Landes, mit Ausnahme des Königfleind, und die fämmtlichen Truppen dem fran⸗ 
zöftfhen Kalfer zur Verfügung geftellt, der König felbft in Dresden, fpäter in Leipzig 
von letzterem wie ein Oefangener bewacht, nach dem Verluſte der Schlachten um Leipzig 
aber von den Alliirten als Kriegögefangener behandelt, nad Berlin geführt und 
feine Laͤnder als eroberte® Land behandelt. Ein General⸗Gouvernement verwaltete ©. 
bis zur Unterzeichnung ded Wiener Theilungsvertrages, 18. Mai 1815, nah welchem 
die ganze Niederlauflg, der wittenbergjche, thüringifche und neufläbtifche Kreis, das 
Fürftentfum Querfurt, der größte Theil der Stifter Merfeburg und Naumburg-Beig, 
fo wie Theile des Keipziger und Meipenfchen Kreifes, in Summa 335 D.:Meilen mit 
beinahe 1 Million Einwohner, die größere Hälfte des Königreihd an Preußen refp. 
Weimar abgetreten werben mußte. (Das Speclelle über die Unterhandlungen in biefer 


Sachen. (Als Glied des rheiniſchen und beutfchen Bunbes.) 113 


Angelegenheit fiche unter dem Artikel Wiener Congreß). Am 7. Juni 1815 erft 
fehrte der König in feine Reſidenz Dresden zurüd, wo’ nunmehr eine Ausgleichungs« 
Kommiſſion von preußifchen und fächfljchen Abgeordneten zufammentrat, welche megen ber 
nöthigen Berichtigungen der neuen Landesgrenzen, Randesfchulden, milden Stiftungen ꝛc. 
bis zum Auguft 1819 verhandelte. Diefe durch den Wiener Frieden berbeigeführte Ver⸗ 
Eleinerung des Stauted, welche zugleich zue Berminderung der Staatöbehörden nöthigte, 
führte im Befolge der letzteren eine theilmeife Umgeflaltung der Staatöverwaltung berbei. 
So wurde 1817 der Geheimrath errichtet, welcher als berathende Behörde die ge⸗ 
fammte Berwaltung beauffichtigte, das Finanz⸗Collegium wurde reorganiflrt, ein 
katholiſches Conſiſtorium und apofloltfches Vicariat in’d Leben gerufen, die Kriegs⸗ 
verwaltung geregelt und eine Menge von Bildungs- und gemeinnügigen Anflalten 
gegründet und erweitert, von denen beſonders ermähnendmwerth find: die medicinifch- 
hirurgifche Akademie in Drespen, 1815, die Korfl- Akademie in Tharand, 1816, die 
Militär Ulademie in Dresden, 1816, und bie Dresdener Ritter⸗Akademie, 1821. Der 
Bergbau wurde rationeller und einträglicher betrieben, und die neuen theoretiſchen 
und praftifchen Berg- Ordnungen galten überall als Muſter. So gelang ed in weni« 
gen Jahren, die Bermüflungen der Kriegdjahre, die ſchweren Schläge der Hunger 
jahre 1804 und 1805 auszugleichen und dem Lande zu einem Wohlflande zu vers 
belfen, den ſelbſt die in den Jahren 1822 — 1825 eintretende bedeutende Stodfung 
Der. Gemmerbe- und des Handels nur auf eine Eurze Zeit unterbrechen Eonnte. Cine 
Umgeftaltung refp. Erweiterung der fländifchen Landesvertretung, wie fle der Urt. 13 
der Wiener Bundesgete ambeutet, fand troß des auf den Landtagen von 1817 und 
1818 beliebten Vorgehens einer Eleinen Braction um deswillen nicht flatt, weil, wie 
die Regierung mit Recht einwarf, der damalige Zuſtand des erfchütterten und zer. 
siffenen Staated dergleichen flaatliche Erperimente, die ſich erft bewähren follten, nicht 
zuließe, während die beſtehende Berfaffung durch heilfame Ergebnifle fi wieder in 
den legten Jahren genügend erprobt babe. Die überwiegende Maforität der Stände 
erfannte auch das Wahre in diefen Erklärungen der Negierung an und gab ihr 
Botum in Berüdfichtigung diefer Berhältniffe des Staates ab, fo daß die Yon 
der. ‚Eleinen Minorität eingebrachten Anträge auf fofortige enge Bereinigung ſaͤmmt⸗ 
licher fächflfcher Lande unter gleicher Verfaſſung und Berwaltung, gleihem Abgaben⸗ 
ſyfltem, Theilnahme des Bauernflandes an der Landesvertretung, vollfländige Dar- 
legung des Staatshaushaltd und auf Veröffentlichung der Landtagsverhandlungen 
eine Stimmenmehrheit für fich nicht erhielten. Indeß lag es Doc auch der Regierung 
am Gerzen, die Verwaltung ded Staates möglichft zu concentriren, eben jo wie ger 
wiffe offenfundige Mängel in der Iandfländifchen Bertretung in Wegfall zu bringen, 
und fle nahm dieferhalb ſelbſt Die Initiative, ohne durch Eingriffe in altermorbene 
Rechte und gewaltfame und übereilte Meformen zu verlegen. So wurde dem Anirage 
der Stände der Oberlaufig, mit denen der Erblande in gemeinfamer Berathung über 
die Zandesangelegenheiten zu verhandeln, fhon 1817 entfprochen, der Geheime Kath 
mit der Controle über die geſammte Derwaltung betraut und in der Eurie der. 
landtagsfählgen Ritterſchaft auch die Bertretung der bürgerlichen Ritterguts⸗ 
befiger zugelaffen. In Rückſicht der auswärtigen Ungelegenheiten gab der Friede, 
welger den Zelten langdauernder Stürme folgte, dem Königreihde S. alle 
Gelegenheit, feine Kräfte einzig und allein auf die Prosperität feiner inneren Ver⸗ 
baltnifle zu verwenden. Der Erbfolgefireit der jüngeren gothafchen Linie beim Aus⸗ 
ferben des -Haufes Sachien » Gotha, 1826, wurde vom Könige, als dem Chef bed 
Sefammihaufes ©., friedlich vermittelt. Als Friedrich Auguſt am 5. Mai 1827 das 
Zeitliche endete, folgte ihm nach einer langen, fegendreichen, aber doch ſchickſalsſchwe⸗ 
zen Megierung, . deren fünfzigfährige Iubelfeter im Jahre 1818 ein Feſt allgemeiner 
Rührung und Dankbarkeit gewefen war, der Auf des „Gerechten”, der eingeben der 
Heiligkeit feiner Fürftenpflicht mit der forgfamften Thätigkeit, der gewiſſenhaffeſten 
Rechtlichkeit, der edelften Mäßigung und aufopferndflen Hingebung ald wabrbafter 
Vater feiner Untertbanen gewaltet und unabläjftg für ihre Wohl beforgt gewefen war. 
Da er ohne Söhne flarb (von feinen Kindern war zur Zeit feine Toded nur bie 
Prinzefſin Clementine Augufte, geb. 1785, am Leben), jo folgte ibm auf dem 


714 Sachſen. (Als Glied des rheintſchen und beutfchen Bunde.) 


fächftfchen Throne fein Altefler Bruder Anton Clemens Theodor, 1827 — 1886, 
weldyer an dem Megierungsinftem feines Vorgängers feftbiell. Dem lebhaften Drängen 
des Landtag von 1830 auf ausgedehnte Meformen, auf Entlaffung des Minifleriums 
Einſiedel und auf eine fländifhe Berfaffung moderner. Art fegte der König eine kraͤf⸗ 
tige Haltung entgegen; der Landtag wurde am 8. Jult 1830 bis zum Januar 1832 
vertagt. Indeß lieh fi der König Unton doch einjhüchtern, als die liberale Partei 
den aufrührerifchen Bewegungen bei der Jubelfeier der Augsburger Gonfeffion in den 
erften Tagen des September 1832 andere in Dresden, Leipzig, Chemnizt folgen lieh, 
bie im Boigtlande ihren Höhepunkt erreichten, die Abfehung des Königs verlangten 
und dad zeitige Winifterium mit dem Tode bedrohten. Zwar wurbe in Dresden der 
dort zufammengeflrömte Pöbel am 14. September durch die bewaffneten Bürger zu 
Paaren getrieben und: die Ruhe wieder hergeftellt, aber dem Einfluffe des Prinzen 
Friedrich Auguft, Neffen des Königs, der bei biefen Vorgängen eine höchſt zweideu⸗ 
tige Rolle fpielte, gelang es, den durdy Alter gefchmächten (Anton war 1755 gebo«- 
zen) und die Ruhe Tliebenden Monarchen zur Entlaffung des Minifteriums Einflebel 
zu bewegen, und für fich felbf die Berufung zur Mitregentfchaft zu erlangen, 13. Sep- 
tember 1832, auch den Erlaß einer neuen Städte- DOrbnung, fo wie die von ber 
liberalen Partei verlangten Meformen in Staatöverfafjung und Verwaltung ;ald ge= 
währt und nächflend ind Leben tretend vom Könige ald genehmigt zu verkünden. 
Was feitdem geihah, {ft denn auch einzig und allein durch den vorgenannten 
Prinzen » Mitregenten Friedrich Auguft ind Werl gefeht worden, welcher ben 
König ganz und gar in der Gewalt Hatte und ihn mit feinen Greaturen und 
Bünftlingen umgab. Der Geheime Math v. Lindenau trat an die Spige bes 
neuen ‚Rinifteriums. Durch die Verordnung vom 29. November 1830 wurde bie 
Eommunalgarde ind Leben gerufen, durch die vom 15. December deſſelben Jahres die 
Gemeinde» Bertretung In den Städten eingerichtet und den am 25. September einbe- 
zufenen Ständen durch bie Staatöregierung am 1. März 1831 die Entwürfe der neuen 
Berfaffungs-Urfunde, der neuen Städte⸗Ordnung, eined Wahlgefeges, einer Zoll⸗ und 
Steuer » Ordnung u. f. m. vorgelegt. Am 4. September 1831, beim Scluffe des 
Landtags, befchworen der König und der Prinz-Mitregent die von den Zandfländen ger 
nehmigte DVerfaffung, welche von diefem Tage an in Gültigkeit trat. Das nadh der» 
felben verantwortliche Miniſterium wurde im November 1831 aus den Herren Ge 
heimrath v. Lindenau’ für das Minifterium des Innern mit dem VBorfig im Miniſter⸗ 
Rathe, Dr. Müller für Eultus und Unterricht, v. Minfwig für die auswärtigen An⸗ 
gelegendeiten, v. Zefhau für Die Finanzen, v. Könnerig für bie Juſtiz und v. Zefhwit 
für den Krieg zufammengejegt und die Errichtung bes Staatsraths verordnet. Die 
Städte» Ordnung wurbe am 2. Februar 1832, das Gefek über Abläfung und Ge— 
meinheitstheilungen für Tändlihe Grundftüde am 17. März deſſelben Jahres publicirt, 
ber erfte conftitutionelle Landtag des Königreichs aber zum 27. Januar 1833 zufammen«- 
Berufen und an demfelben Tage feierlichft eröffnet. Nachdem in langen fruchtloſen 
Debatten über die Landtags - Orbnung beinahe 4 Monate vergangen waren und man 
enblich wieder auf den Regierungs⸗Entwurf zurüdlam, ohne doch feine Beflimmungen 
feftzubalten, wurden in ber zweiten Kammer eine Unzahl Gefegentwäürfe, 29 an der 
Zahl, in Berathung gezogen, von denen vier theils In Folge einer Meinungsverſchie⸗ 
denbeit der erften Kammer, theild auf Grund größerer und weitergehender Forderungen 
der zweiten Kammer, denen bie Regierung nicht entfprechen zu müflen glaubte, ſchei⸗ 
terten. Dies Schidfal hatte zuerft Die Gewerbe⸗Ordnung, das Gefeg über die Grün 
dung eined Uctienvereind für gewerbliche Unternehmungen und dann der Entwurf einer 
Reform der Gelehrtenfchulen und der einer Neuorganifation der Untergerichte. Es 
war bei den Berathungen der zweiten Kammer zwar eine ſyſtematiſche Oppofltion noch 
nicht zu erkennen; aber die Einflüffe der revolutionären Ideen, die foeben in Frank⸗ 
rei und im Süden Deutfchlands wieder aufrührerifche Bewegungen verurfacht Hatten, 
leuchteten doch aus den rebfeligen Führern der Rinfen in ber zweiten Kammer in deut⸗ 
licher Weife hervor. In ihr zeichneten ſich Durch Talent und Mebnergabe der Geheime 
Finanzrath v. Friefen, v. Thielau, der Praͤſtdent Generallieutenant v. Leißer, Dr. Haafe, 
GSachſe, Eiſenſtuk, Claus und bie beiden Richter aus, während in der erſten vor allen 


— — —— — — — — ——— 


Sachſen. (Als Glied des rheiniſchen und deutſchen Bunded). 215 


Prinz Johann, ber füngere Bruder des Prinzen-Mitregenten, hervorleuchtete, neben 
ihm der oberlaufigifche Landesalteſte und Präfldent v. Gersdorf, v. Garlowig, Dr. 
Gruftus und v. Ammon. Aus den angenommenen Befepentwärfen, welche eine völlige 
Umgeflaltung der Organifation der Verwaltung in allen Branchen im Gefolge hatten, 
felen als die wichtigften bier angeführt: Die neue Kirchenverfaffung, mwonad 
die Außeren Kirchenangelegenheiten und die geiftliche Gerichtsbarkeit an die weltlichen 
Behörden übergingen und ein Zanded » Gonfiflorium eingelegt wurde; dad Staats⸗ 
bienergefeg vom 7. März 1835, Die Aufhebung der privilegirten Gerichtöftandfchaft 
durch Geſetz vom 28. März 1835, welchem die Gefege tiber Adminiſtrativ⸗Juſtiz und Ver⸗ 
fahren vom 28—30. Januar defielben Jahres vorangegangen waren und die Einrich⸗ 
tung ber Juſtizbehoͤrden folgte, wie wir fie oben unter Berfaffung und Berwals 
tung des Königreichs Sachſen im Speciellen erörtert haben. Durch Geſetz 
vom 22. Februar 1834 war ſchon früher die Allodificirung der. Lehne auf für bie 
Berechtigten fehr billige Beflimmungen geflattet worden; ihm folgte dad Geſetz vom 
23. October 1834, welches dem Adel vie begünfligenden Beflimmungen im Injurien⸗ 
Procepverfahren entzog. Der Dienflzwang der Bauernſoͤhne ward durch das Geſetz 
vom 15. Juni 1833 aufgehoben, die Theilung der Bäuerlihen Grundſtücke durch das 
Geſetz vom 14. Juni 1834 in engere Grenzen befchränft, bie Hörigfeit durch den im 
Heimathögefehe vom 26. November 1834 ausgefprocdhenen Grundfag der Freizügigkeit, 
jedoch ohne alle Entſchaͤdigung der Berechtigten, für immer audgefchloffen. Durch daß 
Erpropriationdgejeh vom 3. Juli 1831 wurde der Bau der erften deutſchen Eifenbahn 
in Sachen, von Dresden nach Leipzig, veranlaßt und ber Öffentlichen und privaten 
Unternehmung von Gommunicationsmitteln, im Interefie des Handels und der In⸗ 
duſtrie, die gefeflelten Hände frei gemacht. Mit noch bedeutenderen Umgeftaltungen 
zum gemeinen Beften war der Beitritt Sachfens zum deutſchen Zollverein, welcher im 
Jahre 1833 mit der bereitwilligft ertheilten Genehmigung ber Stände erfolgte, ver⸗ 
bunden. Sämmtliche Aecifen, die Ausgangs⸗Abgaben, die Trankfteuer, Leipziger Han⸗ 
delsabgabe, die Amtögleite, die Kleifch- und Mahlfteuer und eine Menge anderer lo⸗ 
caler und provinzieller Gefälle und Steuern wurden durch das Belek vom 9. Nov. 


1833 aufgehoben, durch Berorbnung vom A. December befjelben Jahres der Ver⸗ 


einszoll mit Eintritt feiner Gültigkeit vom 1. Januar 1834 eingeführt und von 
demfelben Datum ab eine Schlachte und Tabaföfleuer, fo mie eine Abgabe für Spi⸗ 
situofen an der Stelle der obenberegten Berbrauchöfteuern erhoben. Auch die frühere 
Berfonals Abgabe kam in Wegfall und an ihre Stelle trat eine durch das Geſetz vom 
22. November 1834 pubkciste Gewerbe» und Berfonal«s Steuer. Das Grundfleuers 
Spflem wurde einer Neueinrichtung durch eine vorgenommene Kataflrirung und Bo⸗ 
nitirung des Landes entgegengeführt und eine befondere Commiſſton für dieſe Ge⸗ 
fihäfte ernannt. In Nüdficht des Münzweſens wurde die Tarifirtung ber neu einge- 
führten Zollſteuern nach dem preußifchen Münzfuße und die Annahme diefer Steuern 
in preußifchem Gelde verfügt. Bon welchem Einfluffe jene Zoll- und Steuereinrich⸗ 
tungen auf die Staatdeinnahmen waren, gebt aus den Einnahme⸗Budgets der Jahre 
1834 und 1836 hervor, deren letztes jened um eine Mehreinnahme an Steuern und 
Zollantheil bereitt um 163,756 Thlr. übertraf, während die Ausgaben des letztge⸗ 
nannten Jahres gegen die des Jahres 1834 um circa 45,000 Thlr. zurüdblieben. 
Der in Folge diefer und anderer Mebreinnahmen gehobene Grebit des Staates ließ 
eine. Berminderung der Staatsfchulden durch Rückzahlungen und eine Zinsrebuction zu, 
obne daß irgendwie Kündigungen der Staatögläubiger eingetreten wären. Auch im Depar⸗ 
tement des Krieges ließ man ed an Meformen nicht fehlen. Die Militärpflicht wurde Durch 
ein Befeg vom 26. Octbr. 1834 auf alle Staatäbürger ausgedehnt, die Stellvertvetung in 
Briedenszeiten gegen Zahlung von 200 Thlr. (fpäter erhöht auf 300 Thlr.) geftattet, das 
Militarſchulweſen verbefert und eine Neuuniformirung vorgenommen. Da dieſe Refor⸗ 
men alle unter der Aegide bes !Pringen-Mitregenten vorgenommen worden, fo änderte 
ber Tod bes Königs Anton am 6. Juni 1836 nichts in dem biöherigen Regierungs⸗ 
fofem, das ſich im Haſchen nach Volksgunſt Überflürzte, da Jener nach der Thron« 
entfagung feined Vaters Marimilian als nächfter Agnat unter dem Namen Friedrich 
Auguft I den Thron beftieg, 1836— 1854. Auf dem zweiten Sanbtage, ber vom 


716 Sachen. (Als Glied des rheiniſchen und beutfchen Burke.) 


November 1836 bis zum December 1837 dauerte, wurbe die Gobification bed Gri⸗ 
minalrechtö durch das unterm 30. März 1838 erlaffene Geſetz vollendet, Die Inneren 
Nechtöverhältniffe der Mitglieder des föniglichen Hauſes durch das Haudgefeh vom 
30. Dee. 1837 geregelt, ein Gefeg über Streitigkeiten wegen Bagatellfachen und ein 
anderes über dad Erecutiondverfahren erhielten die Zuflimmung der Stände, und ebenfo 
ward die Landgemeinde-Ordnung vom 7. November 1838 eingeführt, dad Geſetz Über 
die Milttärlaften und ein anderes über die Penflonen verdienter Militärperfonen traten 
mit 1. Januar 1838 in Gültigkeit. Dagegen feheiterten die Geſetzentwürfe über bie 
Asfhebung der PBatrimontalgerichte, über die Actiengefellfchaften und die Einführung 
einer neuen Kreistagsordnung an der Meinungdverfchiedenheit der beiden Kammern. 
Wegen der unterm 13. October 1836 in Gültigkeit getretenen Breßpollzei- Ordnung 
fam e8 in der 2. Kammer zu bitigen Debatten, bei denen fich der Abgeordnete Todt 
durch eine heftige Oppofltion im republifanifchen Sinne namentlich hervorthat. Dies 
felben wiederholten fich im erhöhten Maße während des dritten Landtags 1839 — 40 
und auch jetzt gelang e8 der Megierung nicht, ihrem Entwurfe eined neuen Preßges 
fees die Maforität in der 2. Kammer zu verfchaffen. Der michtigfte Beſchluß dieſes 
Landtags betraf die Annahme einer neuen Münzverfaffung nad dem 14>Thalerfuße 
unter entichiedener Durchführung des Decimalſyſtems. Bei der feierlichen Eröffnung 
der Leipzig-Dreddener Eifenbahn am 7. April 1839 und der Magdeburg⸗Halle⸗Leip⸗ 
ziger Bahn am 24. Auguft 1840 betbeiligte fi der Hof wie die Stände durch ihr 
Erfcheinen, ebenjo wie bei dem im Jahre 1839 gefelerten 300fährigen Jubildum der 
Reformation und der in Leipzig 1840 feſtlich begangenen 400fjährigen Jubelfeier der 
Buchdruckerkunſt. Bel Iegterer warfen verfähtedene Meden über die Preßzuſtaͤnde S.'s 
einem neuen Brand zwifchen die PBartesen, Doch bewies die Megierung noch Stärke 
genug, die Verordnung vom 13. October 1836 aufrecht zu erhalten. Im folgenden 
vierten Landtage des Jahres 1842 — 43 wurde das neue Grundfteuerfgflem und die Damit 
zufammenhängende Verbeſſerung der auf Immobilien bezüglichen Medhtögefeßgebung 
dur die Stände genehmigt, ein Gefeg über Iiterarifche8 Eigentum angenommen, 
da8 neue Preßgefeh aber wiederum verworfen. In diefe Zeit fiel die von Ronge 
(f. dief. Art.) in's Leben gerufene Stiftung der deutſch⸗katholiſchen Gemeinden und 
ihr folgte bald eine lebhafte Agitation auch auf proteftant‘fchem Gebiete, die in ©. 
zahlreiche Anhänger fand und trog der beftehenden Verbote In Öffentlihen Berfamm- 
lungen lebhaft betrieben wurde, wobel man die politifchen Verdältniffe des Königreichs 
in gebhäfflgfter und oppoſttionellſter Weife in den Kreis der, Beiprechungen zog. Nir« 
gends mehr ald gerade bier im Königreihe ©. zeigte es ih, daß dieſe religiäfen 
Bewegungen nur den Deckmantel abgaben für politifche Beflrebungen im revolutionde 
ren Sinne und die Berbindung ihrer Leiter durch ganz Deutfchland mit den republis 
kaniſchen Parteien in Frankreich, Italien, Ungarn und Bolen ift in fpäterer Beit jur 
Evidenz nachgemiefen worden. Endlih ſah fih denn auch die füchflihe Regierung 
veranlaßt, gegen dieſe aufrübrerifchen Demonftrationen und die Ugitationen ein» 
zufchreiten, und es erfchien unterm 19. Juli 1845 ein Verbot aller jener öffentlichen 
Berfammlungen, welches unter den Agitatoren große Senfation erregte und zu jenen 
Poͤbel Unruhen in Leipzig am 12. Auguft führte, bei denen der Prinz Johann eine 
durch feine Schwäche verfchuldete traurige Rolle fpielte. In Folge dieſer Unruhen 
wurde die Genfur verfchärft und unter Hinwelfung auf das Bundesgefeg von 1832 
unterm 26. Auguft 1845 ein Verbot aller Vereine und Volfäverfammlungen erlafien. 
Unter dem Einfluffe diefer Probibitivs Mafregeln trat am 14. September der fünfte 
Landtag zufammen, welder in der zweiten Kammer überwiegend aus Oppofitions- 
Mitgliedern befland, als deren Führer fi der Bürgermeifler Todt aus Adorf ſchon 
in der Debatte, betreffend eine zu erlaffende Adreſſe auf Die Thronrede, dur die Hefe 
tigfeit und unparlamentarifche Form feiner Rede gerirte. Die erfie Kammer lehnte 
die Betheiligung an diefer Adreffe ab, In der die ungegründetflen Befchwerden gegen 
.da8 Minifterium wegen der Preßzuftände, der Leipziger Ereigniffe, des Verbots der 
Bereine, der kirchlichen VBerhältniffe, der Reform des Wahlgefege® a. geſchleudert 
wurden. Indeß gelang ed der Ruhe und feflen Conſequenz, mit weldyer die Regie⸗ 
sung der zweiten Rammer gegenüber trat, bie bewegte Haltung jener zu mildern und 


un — - 


Sachſen. (Als Glied des rheinifchen und beutfchen Bundes.) 117 


den meiften ihrer Propofttionen die Genehmigung zu verfchaffen. So wurden die 
Meberfchüffe der vorhergegangenen Finanzperiode im Betrage von ca. 1,600,000 Thlr. 
zur Begründung verfchiedener gemeinnügiger Inftitute, zur Verbefferung der Bolfs- 
fyulen und der Befoldungen ihrer Lehrer verwandt, die Grundfteuer pro 1846 nier 
briger veranlagt und die Gewerbe» und PerfoneusSteuer pro 1845 zur Hälfte erlafien. 
Bon den zu Stande fommenden Gefegen waren bie wichtigften: bad über Abldfung 
der Lehngelver, über die Schug-linterthänigfeit und die Ablöfung der damit zuſam⸗ 
menbängenden Laflen, eim Geſetz über den Schug des geifligen Eigenthums und bie 
Beillmmungen zu dem Militär Dienfi-Regulative.. Eben fo wurden die Handels- und 
Schifffahrtd » Verträge mit Belgien vom 1. September 1844, mit Portugal vom 
19. September 1844, mit Sardinien vom 23. Juni 1845 und mit mehreren deutſchen 
Staaten wegen der Elbſtrom⸗—Nutzung von der Ständeverfammlung genehmigt. Ein 
Geſetz über die Preffe wurde für fpätere Zeiten zugefagt, die Verordnung von 1836 
blieb einftweilen in Bültigfeit. Der Landtag wurde hierauf am 17. Juni 1846 ge⸗ 
figloffen, aber am 18. Januar 1847 ald außerorbentlicher wieder eröffnet, um von 
demfelben die Genehmigung zum Staatderwerbe der fächflich-bayerifchen Eifenbahn zu 


erhalten. Im nächſtfolgenden Jahre, 1848, brachte die Kunde von der im Februar 


in Paris audgebrochenen Mevolution auch in S. wie Im ganzen übrigen Deutfchland 
eine ungeheure Aufregung hervor. Die bemofratifhe Partei bildete Clubs, die unter 
dem Namen der „Vaterlandsvereine“ die Hffentlihe Meinung zu beberrichen fuchten 
und auf die Regierung im Sinne republifanifcher Reformen Einfluß gewannen, da bie 
Schwäche des Königs ihnen die Sache leicht machte. Dennoch glaubte der leptere, 
durch einen Minifterwechfel Die Bewegung befchwören zu koͤnnen. Das Minifterium 
Könnerig, dem man feit den Leipziger Aufruhrtagen die Beſchtaͤnkungen der Preffe 
und des Vereinsgeſetzes tro& der Nothwendigkeit derfelben als reactionäre Gelüſte zur 
Zaft legte, erhielt feine Entlaffung und wurde am 13. März durch ein anderes erſetzt, 
in welchem der bayeriſche Profeffor v. d. Pfordten (f. diefen Artikel), der Adoocat 
Braun und der Babrifbeflger Beorgi die liberale Partei, der Minifter des Innern, 
Oberländer, aber die demofratifche repräfentirten., Zur Ernennung des Leipziger Buch⸗ 
haͤndlers Robert Blum, der ſchon 1845 dort eine Rolle gejpielt, zum Minifter batte 
fih Friedrich Auguft durchaus nicht verftehen wollen. Das Programm, mit dem das 
neue Minifterium vor die nach der Gonftitution von 1831 zufammenberufenen Kam⸗ 
mern trat, enthielt eine ganze Reihe der wichtigften Neformen im Sinne des Pro⸗ 
gramms der badifchen Liberalen, aber die immer fürmifcher werdenden Anforderungen 
der Demokratie in und außerhalb der Kammern begnügten fi Damit nicht, man ver⸗ 
langte völlige Freigabe der Preſſe und die Publicatton der in Sranffurt von ber 
Natjonalverfammlung votirten Grundrechte, befchuldigte auch das Mintfterium der 
Räfftgkeit und Pflichtverlegung, weil es die flandrechtliche Beſtrafung des in Wien 
mit den Waffen in der Hand ergriffenen Robert Blum nicht verhindert habe. In 
Folge diefer Vorgänge reichte das Minifterium ſchon im Sanuar 1849 feine Entlaffung 
ein, und an feine Stelle trat dad Minifterium Held, in welchem diefer mit dem Vorſitze 
im Minifterrathe das Portefeuille der Juſtiz, v. Beuſt das der ausmärtigen Anges 
legenbeiten, v. Rabenhorſt das ded Krieges, Welnlig das des Innern und v. Ehren» 
ftein das der Finanzen übernahmen. Aber auch jegt gelang e8 dem Minifterium nicht, 
Die Kammer gefügiger zu machen; man verlangte jetzt außer der Publication der 
Grundrechte auch noch die unbebingte Anerkennung der Neichöverfaflung, beſchloß eine 
progreſſive Einfommenfteuer, Auflöfung des Heeres, Wahl aller Beamten durch dad 
Bolt und eine allgemeine Bewaffnung. Das Minifterium entſchloß ſich daher zur Auflöfung 
Diefer Kammern, welche am 28. April 1849 erfolgte. Da jedoch auch im Minifterium eine 
Meinungsverfchiedenheit wegen der deutfchen Brage entflanden war, wurde daffelbe Durch 
den Eintritt der Herren Zſchinsky, v. Briefen und Behr für die außjcheidenden liberalen 
Minifter Held, Weinlig und von Ehrenflein ergänzt und von den neuen Miniftern 
die Einführung der Neichöverfaffung entfchienen abgelehnt. Die demokratiſche Partei 
wollte diefe Anerkennung mit den Waffen erzwingen. . Nachdem fchon im Ökctober 
1848 in Zwidau und anderen Orten Unruhen audgebrochen waren, kam es am 
3. Mai 1849 in Dresden zwifchen der Communalgarde, zugezogenen Freiſchaͤrlern au’ 


+ 


' 


118 Sachſen. (Als Glied des rheiniſchen und beutichen Vundes.) 


der Umgegend, Bergleuten aus dem Erzgebirge und dem Dresdener Pöbel, die durch 
franzöſtſche, italieniſche und polniſche Sendlinge des revolutionären Londoner Central⸗ 
Comitoͤs mit Geld, Verſprechungen auf Huͤlfe und Branntwein haranguirt worden, 
zum Kampfe mit den wenig zahlreichen Truppen. In der Nacht zum 4. Rai hatte 
der König mit feiner Familie die Haupiſtadt verlafien und war nah dem Königsflein 
gegangen. Auf feinen Befehl war die preußifche Megierung um militäriihe Hülfe 
zur linterdrüdung des Aufflandes erfucht worden und ſchon am 6. Mai griffen Die 
preußifchen Truppen im Verein mit den fächflfchen die in den Straßen hinter gewal- 
tigen Barrikaden verfchanzten Aufftändifchen an. Schon am 9. war der Kampf ber 
endet und die Stadt unterworfen, die proviforifche Negierung, die fi nad dem Ab⸗ 
gange des Könige am 4. mit Tfchirner, Todt und Heubner an der Spike gebildet 
batte, ergriff die Flucht, Heubner wurde gefangen, mit ibm Bakunin, ein ruſſtſcher 
Flüchtling, welcher die militärifche Organifation des Aufftandes geleitet hatte. — Die 
Deutfche Politik Sachfens hatte ſich bisher den preußiichen Beftrebungen zugeneigt, 
S. betheiligte fih an den Berliner Eonferenzen, betreffend die Schließung eines engeren 
deutfchen Bundes und fchloß mit Preußen und Hannover am 26. Mai das fogenannte 
Dreilöntgsbündniß, jedoch nur als Proviforium auf ein Jahr, bis zum 1. Juni 1850, 
weldyes Preußen die militärifche und biplomatifche Leitung des Bundes zuſicherte. 
Indeß geichah Died, wie die weiteren Greigniffe bewiefen, nur im eigenen Sntereffe 
und in Nüdfiht der noch immer bedenklichen geitumflände, mehr um an der preu⸗ 
Blicken Macht einen Schirm gegen die Mevolution zu haben, ald aus Liebe zur dent» 
ſchen Sache, um derentwillen man entichloffen war, nicht ein Atom der eigenen Selbfl- 
fändigfeit aufzugeben. Mißgunſt und Eiferfucht gegen Preußen veranlaßten S., Der 
Erflärung Hannoverd gegen die Berufung des deutfchen Parlaments nach Erfurt bei⸗ 
zutreten, dad Bündnig vom 26. Mai aufzulöfen und am 27. Februar 1850 mit Bayern 
und Württemberg jenen neuen Berfaffungsentwurf abzufchließen, der eine fündeutfche Union 
beabfichtigte und eine Neviflon der alten Bundesacte, aber in biefer Weife nicht zur 
Ausführung gekommen ift. Seitdem ſchloß fih ©. ganz der öfterreichifehen Anſchauung in 
der deutſchen Frage an, folgte der Einladung des Kaifers vom 26. April 1850 zur Beſchickung 
des Brankfurter Congreſſes und befchidte den in Branffurt am 2. September eröff« 
neten engeren Bundesrath. Am 23. December wurden in Dredden die in Olmäs 
verabredeten Gonferenzen eröffnet, in denen Sachen ſowohl gegen den Wechſel Oeſter⸗ 
seih8 und Preußens an der Spige des Bundes, wie gegen die Triad und ein deut⸗ 
ſches Parlament flimmte, nur die Wiederherftellung des deutfchen Staatenbundes, wis 
er bis 1848 beflanden, anftrebte und Durch den Schluß dieſer Gonferenzen am 15. Mat 
1851 feine Beftrebungen mit Erfolg gekrönt ſah. Daß in den inneren Berhältniffen 
des Königreih8 nad Unterdrüdung der revolutionären Bewegungen eine Reaction 
eintreten nıußte, war natürlich, und felbft von liberaler Seite wurbe die Unmoͤglichkeit 
erkannt, die von der Demagogenkammer feit 1848 votirten Geſetze in Kraft zu laffen. 
So ließ denn der König den Kammern die Mittbeilung machen, daß er alle jene Ge⸗ 
feße als nicht gegeben betrachte und einzig und allein auf die Conftitution von 1831 
fih ſtütze. Die Kammer nahm diefe Erklärung als ſelbſtverſtaͤndlich bin; als fle aber 
wegen der Deutichen Frage eine Adreſſe an den König beantragte, wurde fle fofort 
aufgelöft, Die neuen Kammern nach dem Wahlgefeg von 1831 zufammenberufen und 
noch im Winter 1851 eröffnet (6. December). Die Verhandlungen der neuen Kam⸗ 
mer, welche in ihrer Maforität der Megierung ihre Unterftügung gab, bezogen fidh 
zumeift auf innere ragen, Reviſton der Givil« und Griminalgefeggebung und Ernen⸗ 
nung einer Commiſſton zur Ausarbeitung ber hierauf bezüglichen neuen Gefegentwärfe 
und Godificationen, deren Arbeiten jedoch erſt In der näcflen Sitzungsperiode zum 
Abſchluß gelangten. In der Zollvereinsfrage brachte der zwifchen Preußen und Han⸗ 
nover am 7. September gefchlofiene Handelsvertrag eine große Aufregung in ©. her⸗ 
vor, wo fich der Handelsſtand mehr dem Anfchluß an Breußen zuneigte, die Regie⸗ 
rung aber lieber mit Defterreich gegangen wäre, die Zollconferenz, die Defterreich "zum 
2. Januar 1852 nach Wien berufen, beſchickte und auch an den Darmflädter Ver⸗ 
bandlungen (April 1852) Theil nahm. Indeß ſchloß ©. fi Doch im Frühjahr 1853 
dem wieberhergeftellten Zollvereine an, der durch den Steuerverein eine Erweiterung 


Sachſen. (Als Glied des rheiniſchen und beutfchen Bundes.) au⸗ 


erhlelt. In Rückſicht auf die auswaͤrtigen Angelegenheiten betheiligte fh ©. auch 
an der verſuchten Löſung der orientalifchen Frage: im engen Bunde mit Bayern bes 
zief e8 die Conferenz von Bamberg und erließ an die durch den Vertrag vom 
20. April verbundenen Höfe von Wien und Berlin die Identifche Note vom 20. Juli, 
in ber für den deutſchen Bund ald Großmacht eine Betheiligung an der orientalifchen 
Brage in AUnfpruch genommen wurde, lediglich um den Einfluß der deutichen Groß⸗ 
mächte zu befchränfen. Diefer unzeitige Verſuch machte jedoch das verdiente Fiasco, 
da der Vertrag vom 930. April am Bundestage allgemeine Billigung erhielt 


und der Politif der deutſchen Broßmädte von allen Bundesflaaten, mit Aus⸗, 


nahme Mecklenburgo, bedingungslos beigefimmt wurde. — Am 9. Auguft 1854 
verlor Sachſen in Folge eines unglücklichen Sturzed aus dem Wagen auf 
einer Meile im bayerifchen Gebirge feinen König, Friedrich Auguſt, durch einen ploͤtz⸗ 
lihen Tod und ihm fuccedirte fein füngfler Bruder Johann, Sohn des Prinzen 
Marimillan, geboren am 12. December 1801 und vermählt mit der Brinzeffin Amalie, 
Zochter des Königs Mar Joſeph von Bayern. Neben feiner juriftifchen und ſtaaté⸗ 
männifchen Bildung, die der neue. König feit Jahren ſchon in feiner Stellung als 
Mitglied der Geſetz⸗Reviſtons⸗Commiſſton Der Kammer bemwiefen, zeichnet derfelbe ſich 
noch durch den Eifer und den Erfolg aus, mit welchem er ſich fpeciellen Studien über 
italienifche Gefchichte und Literatur widmete, Seine Ueberfegung der „Divina Com- 
media“ Dante’3 bat Durch die Dazu. gegebenen geiftvollen und gelehrten Anmerkungen 
eine verdiente Anerkennung erlangt. In der Mitte October 1854 wurden die Kams 
mern zu einer außerorbentlichen Diät zufammenberufen, um verſchiedene Geſetzes⸗Vor⸗ 
lagen in Special-Gommifflonen zu berathen; die wichtigften derfelben waren: die Me» 
form des Juſtizweſens, die Neuorganifation des Civil- und Strafrechts, ſowie der 
Milttärgerichtöbarkelt und Die Umänderung des Griminalverfahrend. In der Verfol⸗ 
gung ber orientaliihen Frage fchloß ſich S. mit den Betheiligten der Bamberger Con⸗ 
ferenz der vom Berliner Gabinet intendirten Neutralitätöpolitit an, verwarf den An» 
trag Oeſterreichs auf fofortiged Aufgebot der Bundescontingente und begnügte fich 
mit der Kriegöbereitichaft derfelben, in Folge deſſen e8 die eigenen Truppen auf 
30,000 Mann mit 60 Kanonen im December 1854 completiren mußte. Die Kanımer- 
diät des Jahres 1855 dauerte vom 9. Januar bie 7. Auguft: fie wurde ausgefüllt 
a) von den Berathungen über das Jagdgeſetz, welches zur Annahme gelangte und den 
durch das fjeßt aufgehobene Gefeg vom 2. März 1849 benadhtheiligten Berechtigten 
eine entiprechende Entfhädigung gewährte, b) von den Debatten über die Propofition 
auf Einführung der Briedendgerichte unter Aufhebung der gutäherrlichen Gerichtöbarfeit, 
bie ebenfalld zur Annahme gelangte, und denen über die Geſetze, welche das Bewaͤſſerungs⸗ 
und Drainage» Wefen betrafen; und c) durch die Beratbungen über das Budget. pro 
1855— 1857, welches im Orbinarium auf 9,040,902 Thlr. und im Grtraordinarium 
auf 7,893,550 Thlr., die ausfchließlich zum Eiſenbahnbau zur Verwendung fommen 
follten, feflgefegt wurde. Zur Dedung des Ertraordinariumd wurde ein Anlehen von 
41, Mil. Thlr. in Actien verzindlich zu 4 pCt. bewilligt. Im folgenden Jahre wurden 
mit den Abgeordneten der fächflich-thüringifchen Staaten in Dresden Verhandlungen 
eröffnet über die gemeinfame Einführung !eined Eigenthums⸗ und Hypothekengeſetzes, bie 
im MRürz 1857 zum erwänfchten Abfchluß führten; das Gefeg vom 11. Auguft 1855, 
betreffend die Neu-Drganifation der Juftiz, trat am 1. October 1856 in Gültigkeit, wo» 
nad das Königreich in vier Appellationd« Gerichts. Bezirke, 19 Gerichte erfler Inftanz, 
Bezirks⸗Gerichte und 116 Friedend-Gerichte getheilt wurde. Die Sefflon der Kammern, 
eröffnet am 16. Noveniber 1857, war von geringem Intereffe, nur die Deutfche Frage 
gab zu intereffanten Debatten Beranlaffung, in denen der Minifter v. Beuſt in ber 
Sigung vom 18. Februar 1858 feine Neigung zur öſterreichiſchen Politik offen aus« 
fprah und die Angriffe der Gothaer Partei unter Führung des ehemaligen Miniſters 
Georgi unter Berufung auf die zu fchügende Souveränetät Sachſens energifch zurück⸗ 
wies. Auch nah dem Schluffe der Kammern berrfchte in ©. noch lange eine gewiſſe 
Aufregung fort, die durch die Maßnahmen der Negierung in Bezug auf den italieni- 
ſchen Krieg neue Nahrung enthielt. Denn wie Die Mehrzahl der Kammermitgliener 
und bed Volkes einer Unterſtützung Oeſterreichs feitens des Bundes abgeneigt war, 


. 
-—_n. Alan — 


120 Sachſen. (Als Glied des rheinifchen und beutfchen Bundes.) 


fo fehr beftrebt war die Megierung, eine bewaffnete Vermittelung zu Gunſten Defter- 
reichs in der deutſchen Confdderation in die Wege zu leiten. Nachdem eine Eönig« 
lie Orbonnanz vom 16. April 1859 den Ankauf von Pferden u. f. w. behufs 
Eompletirung der Armee im Wege der Requifltion angeordnet hatte, wurde unterm 
26. April die Ordre zur Mobilmahung nit nur des Bunbescontingents, fondern 
Der ganzen Armee ertbeilt. Die Kammern wurden im Hinblid auf mögliche Friege 
riſche DVerwidelungen zu einer außerordentlihen GSeffton znfammenberufen und am 
25. Mai 1859 eröffnet. In derſelben gingen ihnen die Eöniglichen Propofltionen auf 
Benilligung eine außerordentlihen Credits im Betrage von 5,636,725 Thlr. zu, 
der nach lebhaften Debatten mit großer Wajorität in beiden Häufern bewilligt wurde. 
Mitte Juni fchon wurden die Kammern wiederum vertagt. Während jeht die Megies 
rung alles Mögliche that, um die Armee tüchtig in den Krieg zu ſchicken, auch Oeſter⸗ 
reich thatſachlich dadurch unterflügte, daß ſie die Beförderung des Clam⸗Gallasdſchen 
Armeecorpé auf den ſaͤchſiſch-bayerſchen Eiſenbahnen nach Tyrol und Vorarlberg be— 
ſorgte und fo das Eintreffen dieſes Corps auf dem italieniſchen Kriegdtbeater be⸗ 
fhleunigte, verbehlte die Majorität der Kammern ihre Antipathie gegen bad Haus 
Habsburg in Feiner Weife und die Deputirten fprachen ſich vor ihren Wählern rüd- 
ficht8lo8 darüber aus. Zum Glücke erfparte der Frieden von Villafranca der ſächſiſchen 
Megierung die Wahl, aus diefem Dilemma herauszufommen und Herr v. Beufl konnte, 
ohne Gefahr gelaufen zu fein, den Ruhm nah Haufe tragen, „bis zum Lehten zu 
Oefterreih und für die Weltflellung des deutſchen Bundes eingeftanden zu fein.“ 
In den nädften Jahren befchäftigte ſich die Megierung ausſchließlich mit inneren 
Sragen: die Kammern votirten das Budget für die Binanzperlode von 1861 — 64 
ohne Beichränkung, genehmigten die Einführung eined Nachtrags zum Strafgeſetzbuch 
und zur Strafproceh » Ordnung 25. Septbr. 1861; das Geſetz vom 30. December 
1861, betreffend die Abkürzung und Vereinfachung des bürgerlichen Proceß⸗Verfah⸗ 
rend, wurde publicirt und bie allgemeine deutfche Wechfelordnung vom 30. October 
1861 auch Im Königreihe ©. für gültig anerfannt, mährend im nädhften Jahre die 
Publication der Milltär » Strafprocegorbnung erfolgte, 23. April 1862. Auch in 
materieller Beziehung geht ©. unter der Megierung des Königs Johann einer ruhigen 
und geficherten Zufunft entgegen: die Finanzen des Staat! werden mit Weisheit und 
Sparfamfeit geleitet und der dffentliche Wohlſtand wächft burch bie auflebende In⸗ 
duftrie und den bedeutenden Handel von Jahr zu Jahr; die Steuern find verhältniß- 
mäßig niedrig und betragen kaum 4 Thlr. pro Kopf, geben aber dennoch jährlidy 
bedeutendere Ueberſchüſſe. In der Zollvereind« Krife ſchloß ſich S. dem Vorgehen 
Preußens an, genehmigte den von Preußen gefchloffenen Handelsvertrag mit Frank⸗ 
rei und unterzeichnete am 11. Juni 1864 den neuen Bolfvereinsvertrag, nachdem er 
von der Kammer, die am 9. November 1863 eröffnet wurde, genehmigt worden war. 
Bon diefer Rammerbiät, die nach Erledigung des Budgets ſich auf den Antrag des 
eigenen Vicepräſidenten auf fech8 Monate vertagte, ift nur zu bemerken, daß ſie nach 
langen Debatten mit geringer Majorttät die Aufhebung der geſetzlichen Zinsbefchrän- 
tungen votirte (publicirt unterm 25. October 1864) und daß die zweite Kammer mit 
der Regierung wegen des Militär- Etats in Eollifton kam. Letztere hatte von ber 
Kammer die Erhöhung des Präfenzftandes der Armee um 2000 Mann bewilligt er⸗ 
halten, die Kammer aber zog nachher wegen der im Volke darüber entflandenen 
Unzufriedenheit ihre Bewilligung unter dem Vorgeben zurüd, fie habe nur eine Ver⸗ 
mebrung der Cadres wollen eintreten laſſen. Diefe wurde aber von der Megierung 
abgelehnt. In der dDeutfh-dbänifhen Frage fprah fh S. am Bundestage 
gegen den Antrag der beiden deutſchen Großmächte, für die Occupation ber beiden 
Elbherzogthümer aus und betreibt feitbem die Anerkennung des Grbprinzgen von 
Auguftendburg im Bunde mit den übrigen Mittelftaaten. Zur militärifchen Beſetzung 
Holfteind gab S. unter dem Befehl des Generallieutenants v. Hake die Hälfte ber 
Erecutiondtruppen, ſtimmte jedoch in der Bunbestagsfigung vom 11. Januar 1864 
gegen bie Inpfandnahme Schleswigs. Hierbei fei erwähnt, daß Herr v. Beuſt im 
Namen der Regierung fowohl die Drobacte der englifchen Negierung, wie daß ans 
maßende Auftreten bes engliſchen Geſandten am fächflfchen Hofe, Mr. Murray, in 


— — — — - 


Sachſen. (Gef gichte der fähf.thär. Staaten ber erneftiniſchen &inte) 721 


die gebührenden Schranken zuruͤckgewieſen bat. Uebrigens geben auch nach dem fleg« 
reichen Erfolge der Verbündeten deutſchen Großmaͤchte die Mittelftaaten ihre Sonber- 
politit in Der Deutfch » bänifchen Frage nicht auf, und namentlih iſt es Sachſens 
Minifter der auswärtigen Angelegenheiten, v. Beuft, welcher fortwährend ſich bemüht, 
zwifchen biefen Staaten eine Verfländigung über ein den beiden beutfchen Großmächten 
opponirendes gemeinfames Verfahren zu Stande zu bringen. 

G. Geſchichte der ſächſiſch-⸗thüringiſchen Staaten der erneflini- 
fen Linie feit dem Uebergange der Kurwürde an die füngere, al« 
bertinifhe Linie, feit 19. Mai 1547. Als Iohann Friedrich der Großmüthige in jener 
Gapitulation von Wittenberg den größten Theil feines Landes an Herzog Morik abgetreten 
hatte, erhielten feine drei Söhne ein jährliches Einfommen non 50,000 Bulden und 
zu deren Erhebung eine Anzahl thüringifcher Aemter, Schlöffer und Städte (Weimar, 
Jena, Eiſenach, Gotha und Saalfeld) als erblihes Fürſtenthum, während dem Bru⸗ 
der ihres Vaters, dem Herzoge Johann Ernft, die Pflege Koburg ſchon 1533 als 
eigenes Herzogthum zugeteilt worden war. Während der bis 1552 dauernden Ge⸗ 
fangenfchaft Johann Friedrich's, welcher feinen kurfürſtlichen Titel bis zu feinem Tode, 
1554, führte, regierte fein älteftee Sohn Johann Friedrich der Mittlere DaB neue 
Herzogthum und fliftete 1548 die Univerfltät Iena. Kurfürft Johann Friedrich erbte 
nach dem Tode feines Bruders Johann Ernft, 1553, die Foburgichen Länder, erwarb 
burh den Vertrag zu Naumburg, 1554, von der albertinifchen Linie die Städte Alten« 
Burg und GEifenberg, fo wie die thüringifgen Aemter Sachfenburg und Herbidlchen, 
theilte feine Lande in fünf Kreife, den weimarfchen, altenburgfchen, gothafchen, pos⸗ 
neckſchen und fränfifchen, und empfahl feinen drei Söhnen, daſſelbe nicht zu theilen, 
fondern in gemeinfchaftliche Negterung zu nehmen. Dies geſchah au 6i8 1565; als 
aber in diefem Jahre der jungfle der Brüder flarb, nahmen bie beiden älteren fofort 
eine Theilung vor, in Folge deren Johann Friedrich der Mittlere die weimarifchen 
und thüringifhen Beflgungen mit Gotha, Johann Wilhelm die fränkiichen und 
ofterländifchen Aemter mit Koburg In getrennte Verwaltung erhielten, jedoch mit ber 
Verabredung, daß alle drei Jahre mit den Landestheilen und deren Megierung unter 


ihnen gewechfelt werden follte. Dieſer Zuftand dauerte jedoch nur kurze Zeit, da ſich 


Johann Friedrich der Mittlere 1567 durch die ihm vorgefptegelte Wiedererlangung bes, 
Kurwürde verleiten ließ, den geächteten Ritter Wilbelm von Grumbach (f. dieſen 
Artikel), den Mörder des Biſchofs von Würzburg, bei ſich aufzunehmen und zu fhügen. 
Er wurde Deshalb gleichfalls in die Acht erklärt, feine Lande befegt, nach Eroberung 
der Burg Grimmenftein gefangen und nach Steyer in Oberdfterreich geführt, wo er 
1572 flarb. Seine Untertanen mußten nunmehr dem Herzog Johann Wilhelm hul⸗ 
digen, Doch nahm auch er eine Theilung vor, indem er den Söhnen feined Bruders 
die Hälfte feiner Länder abtrat, von denen Johann Kaſimir die Pflege und das 
Amt Koburg nebſt Hildburghaufen, Johann Ernft aber Eiſenach nebfl Gotha er⸗ 
hielt: für ſich ſelbſt behielt Johann Wilhelm Weimar, Iena und Altenburg. 
Als Legterer im folgenden Jahre flarb, blieb das Land zwar von den Söhnen unges 
theilt, aber nach dem Tode des älteren, Friedrich Wilhelm's, 1602, nahm der jüngere, 
Johann, eine Theilung in der Art vor, daß er felbfi Weimar behielt, die vier Söhne 
Jenes aber Altenburg erhielten und unter fich theilten. Da dieſe letztere altenburger 
Linie ungeachtet Ihrer vierfachen Mepräfentation ſchon im Sabre 1672 ausgeſtorben 
war, und Indeflen die Söhne des geädhteten Johann Friedrich II., Johann Kaflmir 
von Koburg 1633 und Johann Ernft von Eifenach 1638 ebenfalld ohne Kinder 
farben, fo ifi der ‚Herzog Johann von Weimar der alleinige Stammvater fämmtlicher 
jegt regierender erneftinifcher Linien. Als Sodann 1605 farb, Hinterlieg er 11 Söhne, 
von Denen der Altefte, Johann Ernft, 1628 ohne Erben ftarb, ſich aber ald Gründer 
der Fruchtbringenden Geſellſchaft (f. d. Art.) und als Pfleger der Wiſſen⸗ 
fchaften einen Namen gemacht hat, der jüngfte, Bernhard yon Weimar (f. d. Art.) 
aber als Feldherr im dreißigjährigen Kriege zu hoher Berühmtheit gelangte. Bei der 
1640 unter den Brüdern vorgenommenen Theilung waren nur noch drei berjelben am 
Leben: Wilhelm IV., welcher Weimar erhielt und troß einer fpäteren Theilung ber 
Stifter der heutigen Linie Sahfen- Weimar geworden ifl, welche wir weiter unten 
Wagener, Staats u. Geſellſch.⸗Lex. VI. 46 


122 Sahfen. (Die Linie Sachſen⸗Weimar⸗Eiſenach.) 


fortführen werden, Ernſt L, der Fromme, welcher Gotha erhielt und 1673 fein Land 
durch Koburg vergrößerte (ſiehe das Weitere über biefe Linie unten unter Geſchichte 
ber Linie Sachſen-Gotha) und Albrecht, welcher Eifenach nebft mehreren 
thüringifchen Aemtern befam, aber fchon 1644 farb, ohne Kinder zu binterlaffen. 
Bon feiner Berlaffenfchaft nahm nun Weimar Eifenach in Bells und Gotha die thü⸗ 
singifhen Uemter. Die weiteren Theilungen diefes Linien werden bei jeder derſelben 
befonders erörtert werben. 

1) Die Linie Sahfen- Weimar Eifenach, deren Stifter, Herzog Wil- 
beim IV., 1662 mit Tode abging, Hatte bereits 1660 durch den Anfall einer Hälfte 
der Grafichaft Henneberg eine Vergrößerung ihrer Beflgungen erfahren, und bie Söhne 
Wilhelm's befchloffen daher nad den Tode ded Vaters fofort wieder eine Theilung, 
die ſich jedoch nur auf die Nugungen des Landes und nur in fofern auf das Gebiet 
erfireckte, Daß jeder der vier Brüder eine Stadt als Reſidenz erbielten. So enıftanden 
auf kurze Zeit denn, bis 1672, die vier Weimarfchen Linien Neu Weimar, Eiſenach, 
Jena und Warffubl, von denen die von Eifenah fdhon 1664 mit dem finderlofen 
Herzog Albrecht wieder erloſch. Unaufhoͤrliche Streitigkeiten zwifchen den drei übrigen 
Brüdern und die Androhung bes Kaiſers, durch Reichſsgewalt die Ruhe zwifchen Ihnen 
berzuftellen, Tießen jenen eine factifche Gebietstheilung um fd wuͤnſchenswerther erfcheinen, 
als 1672 das Erlöfhen der Altenburger Linie mit Herzog Friedrich Wilhelm UL 
ihnen einen neuen Xänderzumadhd gebracht hatte So fand denn im Jahre 1673 
eine neue Theilung flatt, bei der die Linie Markſuhl die Eifenacher Länder erhielt, 
während Neu-Weimar und Jena die Altenburger Erbfchaft theilten. In der Weimar 
ſchen Linie folgte auf Herzog Johann Ernft V., der von 1662—1683 regierte, deſſen 
Sohn Herzog Wilhelm Ernft, 1683—1724, welder feine Lande durch einen Theil 
der Länder der Jenaiſchen Linie vermehrte, die 1690 ausflarb, und ſich dadurch ver» 
anlapt fah, ſich den Titel eined Herzogs von Engern und Weſtfalen beizulegen. Ern ſt 
Auguft, fein Bruder und Nachfolger, 1724—1748, vereinte nad dem Grlöfdien 
der Eiſenacher Linte, 1741, fämmtliche Befigungen der alten Linie Weimar wiederum 
in einer Hand und forgte durch ein Hausgeſetz, in dem das Erfigeburtörecht den An« 
fall fümmtlicher Beflgungen einfchloß, dafür, daß fernere Theilungen nicht mehr vor⸗ 
fommen durften. Der Zufland des Landes bei der Wiedernereinigung dieſer ſämmt⸗ 
lihen Gebiete war durch ben Öfteren Negentenwechfel in Folge der wiederholten Thei⸗ 
lungen ein ziemlich fchlechter; die ſchwer erfchwingbaren und durchaus nicht niedrigen 
Steuern wurden zum geringften Theile zum Beflen des Landes verwendet und dienten 
meift dazu, den Lurus der Fürften, die in hohler Nadäfferei des „großen Lub⸗ 
wig XIV. von Frankreich große Summen in Luftihlöffern, franzöſtſchem Tand unb 
Hofſtaaten, fo wie von dortber ſtammenden Maitreſſen verfehwendeten, zu befriedigen. 
Ernft Auguſt fuchte durch Sparfamkeit und einfache Lebensweiſe die Süuden feiner 
Borgänger wieder gut zu machen, that viel für die Erziehung und Bildung bed 
Volkes durch Hebung des Elementarunterrichts; doch verwandte er immer noch mehr 
als nöthig, beionders die jungen Kräfte feines volksarmen Landes, auf die Etablirung 
einer Milttärmaht, die im Geifte des großen Briedrih von Preußen ausgebildet 
und nach preußifhem Muſter einerereirt wurde. Nach feinem Tode folgte ihm fein 
minderfähriger Sohn, Ernſt Auguft Conſtantin, 1748—1758, zuerf unter 
Bormundfhaft des Herzogs Friedrich Il. von Gotha, nachher unter gemeinfdhaftlicher 
diefed Herzogs und des Herzogs von Saalfeld bis 1755, wo er großjährig die Re— 
gierung felbft übernahm. Nach feinem plöglichen Tode erbte die herzogliche Würde 
auf den unmündigen faum zweijährigen Sohn, Karl Auguft, 1758—1828, defien 
Mutter, die Herzogin Anna Amalia, Tochter des Herzogs Karl von Braun« 
ſchweig, ebenfalld noch nicht volljährig war und deshalb mit Cinwilligung 
der Stände ihrem vorgenannten Vater die vormundfchaftlihe Megierung übers 
trug. Died führte zu einer Beichwerde der verwandten Linie von Gotha beim 
Kalfer Franz J., welder fih 1759 veranlaßt fah, die Herzogin Anna Amalia 
großjährig zu erklären und ald Vormünderin und Regentin einzufegen. Der junge 
Herzog übernahm nad erreichter Volljährigkeit 1775 die Regierung, die er durch 53 
Jahre in ausgezeichnetſter Weife führte. (Dal. den Art. Karl Anguft, Großherzog 


Sachſen. (Die Linie Sadfın- Weimar Eiſenach.) 123 


von Weimar) Unter ihm warb feine Mefidenzfiabt Weimar der Mittelpunkt der 
deutichen Bildung, der Aufenthaltsort Goethe's, bier fand Schiller eine neue Heimath, 
Herder, Wieland und Die erfien Geifter der Nation, Alles, was Kunft und Wiſſen⸗ 
ſchaft pflegte, fanden an diefem Sitze der beutfihen Mufen und In der ädht fürftlichen 
Liberalität Karl Auguſt's Stüge und Förderung. Für feine Unterthanen forgte er 
mit wahrhaft väterlichem und unabläfftgem Eifer, namentlih lag ihm ber Volksunter⸗ 
richt am Herzen, der unter ihm zu einer hoben Stufe gelangte. Den Künften und 
Arbeiten des Friedens geneigt, verminderte er zwar bie Zahl feines Militärs, doch 
war er felbfi ein Freund veffelben und bemies ſich, als er ein preußifches Corps im 
Feldzuge am Mhein 1792. führte, als tücdhtiger General. Beim Ausbrude des Krie⸗ 
ges von 1806 bildeten feine Truppen einen Theil des von ihm geführten Armeecorpe, 
mit dem er als Avantgarde des preußiichen Heeres die Uebergänge über Die Saale-zu 
decken Hatte. Nach dem Verluſte der Schlachten von Jena und Auerfiädt machte er 
feinen Frieden mit Napoleon, trat nach der Aufldfung des deutſchen Reiches als ſou⸗ 
veräner Fürſt dem Mheinbunde Bei, ſchied aus demſelben nad der Schlacht bei Leipzig 
und commandirte von 1813 bis 1815 ein Armeecorps der verbündeten Heere, mit 
dem er verfchiedene nach von den Franzoſen befehte Feſtungen belagert. Durch bie 
Wiener Gongreßacte erhielt er für ſich und feine Nachfolger auf dem Throne die 
Würde eine Großherzogs und einen Länderzumahs von 31 D. » Meilen mit über 
120,000 Einwohnern, welcher aus dem ehemallg königlich fächflichen Kreife Neufladt 
a. d. Orla, einigen Eurbefftichen und einigen ehemals preußifchen Aemtern des Bis⸗ 
thbums Merfeburg beſtand. Dem fo vergrößerten Lande gab ber nunmehrige Große 
berzog unter der Garantie des beutfchen Bundes die octropirte Berfaffung vom 5. Mai 
1816 an Stelle der am 20. September 1809 ins Leben getretenen landfländifchen, 
eoncentrirte und vereinfachte die Berwaltung, reorganifirte bie Juſtiz, griff aber mit 
verfchiedenen anderen Meformen zu weit vor, fo daß er diefelben widerrufen mußte, 
So machte die gewährte Freiheit der Preffe Das Großherzogthum im Anfange der 
zwanziger Jahre bei der damals in Deutfhland herrſchenden demagogiſchen Richtung 
zum ‚Herde ihrer Agitationen und führte zu den bedauerlichen Ereigniffen bed Wart- 
burgfeftes (f. d. Art. Burſcheuſchaft), welche Die Karlsbader Beſchlüſſe ndthig machten, 
in Folge deren audy im Großherzogthum die Prefie wiederum befchränkt wurde. Karl 
Auguft farb am 14. Juni 1828; ihm folgte fein Sohn Kar! Friedrich, 1828— 
1853, dem es vor Allem am Herzen Tag, die fchweren Mängel der Verfaflung zu 
heben, wobei die Regierung mit der Oppofltion, welche jede Aenderung ber gegebenen 
Verfaffung als Rückſchritt betrachtete, in fchmere und langwierige Kämpfe gerieth. Die 
Anträge der Ständeverfammlung auf Deffentlichkeit ihrer Verhandlungen und Wieder⸗ 
berftellung der Preßfreigeit wurden von ber Megierung abgelehnt und ihr die Debatten 
über Bundesangelegenheiten und die allgemeinen deutſchen Nationalrechte wie über ben 
„verlegten” Nechtözuftand in Hannover nicht geftattet. Durch den Beitritt des Groß⸗ 
herzogthums zum deutfchen Zollverein, 1. Januar 1834, dur den Bau der Eifen« 
bahn von Halle über Weimar nach KaflelTund die Neuanlegung, reſp. Verbeſſerung 
der Kunſt⸗ und Landſtraßen wurden dem Handel und der Induſtrie Durch die Eröffe 
nung neuer Abſatzwege möglichfte Förderung gefchaffen. Im Landtage von 1834 
wurden den Juden. verfchievene Rechte eingeräumt, bie ed ihnen grfatteten, ſtaͤdtiſche 
und ländliche Grundflücde zu erwerben und Bürger zu werden, ohne jebod; landftän» 
difche und grundberrliche Befugniffe auszuüben, die Einführung eined neuen Straf» 
gefeßbuches, eines Erpropriationdgefeges, die Aufhebung der Landeslotterie folgten in 
den nächſten Jahren durch Beichluß der Stände, denen auch die Verdffentlichung ihrer Dee 
batten von der Megierung wiederum geftattet wurde. Die revolutionären Bewegungen von 
1848 erzeugten zwar im Großherzogthum mancherlei Aufregungen, dieſe nahmen aber 
um fo weniger größerere Dimenflonen an, ald pie Megierung durch den Zeitumftänden 
entfprechende .Goncefflonen, die Aufhebung des Jagdrechts, des Vereinsgeſetzes, der 
Genfur u. f. w., den Forderungen der Liberalen entſprach. Es trat demnach mit dem 
Siege der Orbnungspartei auch keine Meaction im Großherzogthum ein, wenn aud) 
die Regierung in den nächflen. Landtagen den Forderungen der liberalen Kammer wer 
niger Conceſſionen machte und entfchiedener an dem Stanbpunkte bed Conſervirens 
' 46? 


724 Sachſen. (Die Linie Sachſen⸗Gotha.) 


hielt. _ Sp führten in der Domänenfrage bie nächften Jahre noch zu Feiner Einie 
gung, die Debatten über die conflitutionelle Frage erregten durch ihre Heftigkeit erft 
zecht den Widerfland der Regierung, Dagegen verwarfen die Kammern wiederum bie 
proponirte Aenderung des Wahlgeſetzes. Am 8. Juli 1853 flarb der Großherzog 
Carl Friedrich und ihm folgte in der Regierung fein ältefter Sohn Carl Alerander, 
geb. den 24. Januar 1813, vermählt mit Wilhelmine Prinzeffin der Niederlande. 
Der Minifter u. Watzdorf leitete unter ihm die Angelegenheiten bes Großherzogthums 
mit Umſicht und glüdlichem Erfolge. Die Differenzen mit der Kammer fanden in ben 
‚nächften Jahren ihre Ausgleichung dur den Verfauf der Domänen und den Erlaß 
eines Preßgefeges (1857), während die Publication des Jagdgeſetzes ben feit 1848 
gefchädigten Srundbeflgern eine entjprechende Entfehädigung gewährte und eine Ders 
mehrung der Civilliſte des Großherzog und der regierenden Bamilien den Ausfall 
der Domänen-Erträge zu paralyfiren geeignet war (1859). Die Rechte der Mediati⸗ 
firten wurden nach langen Streitigkeiten in Zolge ihrer Befchwerden beim Bunde durch 
diefen geregelt und feflgefegt, 1861. Der Einführung des preußifchen Maaß⸗ und 
Gewichtſyſtems, 1857, folgte in den nächften Jahren die Annahme der koͤniglich ſach⸗ 
ſiſchen Suftiz- Organifation, 1861 und 1862, der Beitritt zum neuen Zollverein und 
zum franzöflfch = preußifchen Handelsvertrage, 1864. In kirchlichen Angelegenheiten 
ſchloß ſich Weimar den Beichlüflen der am 11. Juni 1857 in Eiſenach eröffneten 
Generals Berfammlung der evangelifchen Kirche Deutfchlands an: die Beflattung des 
Fatbolifhen Cultus, jedoch mit Aufhebung aller Feſttage, die auf einen Wochentag 
fallen, Verbot öffentlicher Procefflonen und Duldung gemifchter Ehen, deren Kinder 
der Religion des Vaters folgen follen. Der finanzielle Zufland des Großherzog. 
thums läßt nichts zu wänjchen übrig, das Budget von 1861/3 fchließt mit bedeuten⸗ 
dem Plus bei einer Ausgabe von 1,557,000 Thlr.; die dÖffentlihe Schuld beträgt 
ausfchlieglich eines Eiſenbahn⸗Anlehens kaum 3 Millionen Thlr. und die Steuern find 
äußert mäßig veranlagt. Dur den Schuß der Wiffenfchaften und ber Küffte beweiſt 
fi) der Großherzog als der würdige Enkel Karl Auguſts. 

2) Die Linie Sahfen-Gotha wurde von Herzog Ernſt I., dem From—⸗ 
men oder Gottfeligen, dem vierten Sohne des gemeinfamen Stammvaterd der [pä- 
teren erneftinifchen Linien, 1640 geftiftet und erwarb diefer Fürft nah dem Tode 
Herzog Albrechtd von Sachfen-@ijenach die zu Diefem Herzogthum gehörenden fraͤnkiſch⸗ 
tbüringifchen Aemter, 1644, fo wie 1672 nad dem Erlöfchen der Altenburger Nibens 
linie die Hälfte ihrer Beflgungen, beftehend aus ten Fuͤrſtenthumern Altenburg und 
Hildburghauſen, Koburg und Saalfeld, fo wie die Hennebergſchen Aemter Meiningen 
und Roͤmhild. Herzog Ernft war ein vortrefflicher Regent, welcher feine Lande zu einem 
Grade von Gultur und feine Untertbanen dadurdy zu einem Stande ber Wohlhaben⸗ 
beit brachte, wie er zu jenen Zeiten unerhört war. Dabei ordnete er dad Verwal⸗ 
tungs» und Rechtsweſen, proclamirte eine allgemeine Neligiondfreiheit, unterflügte bie 
deutfche Literatur (f. d. Art.) und Hinterlich bei feinem 1675 erfolgten Tode den 
Ruf des „weiſeſten und gebildetften Fürften des flebzehnten Jahrhunderts“. Seine 
fieden Söhne, die in Gemäßheit der väterlichen Verorpnung Anfangs gemeinichaftlich 
regierten, nahmen ſchon 1680 eine völlige Theilung vor, fo dag ein Jeder einen be» 
fonderen LZandesantheil, theils mit aller Reichshoheit, theils nur mit gewiflen Rega⸗ 
Iten, erblih erhielt. Der ältefte Sohn, Herzog Friedrich J. befam Gotha und ben 
größten Theil von Altenburg, Herzog Albrecht die Koburger Lande und Herzog Bern⸗ 
hard Meiningen mit voller fürflliher Souveränität. Letzterer iſt der Stifter der 
Linie Sahfen- Meiningen, die fpäter Hildburghbaufen erwarb (flehe unten 
das Weitere). Bon den Übrigen vier Söhnen erhielt Herzog Heinrich die Aemter 
und Städte Romhild und Königäherg, welches letztere er durch einen Mech au 
Hildburghaufen abtrat, dad mit den Aemtern und Städten Eisfeld, Hildburg, Schals 
fau und Bellsdorf an Herzog Ernſt kam (fiehe das Weitere unter Linie Sach ſen⸗ 
Hildburghauſen). EhHrifftan erhielt die Aemter Eifenberg, Camburg, Moba 
und Monneburg und Johann Ernft das Amt, Stift und Stadt Saalfeld, die 
Aemter und Städte Bräfentgal und Kebften, fo wie die Stadt Pösnid und das Amt 
Hella. Don diefen Linien hatten aber nur die von Sachſen⸗Gotha, Sachſen⸗ 


Sachſen. (Die Linie Sachfen⸗Koburg⸗Gotha.) 725 


Meiningen, Sahfen-Hildburghanfen und Sachſen⸗Saalfeld Länger 


Dauer, die von Koburg flarb ſchon 1699, die von Eifenberg 1707 und bie von 
Römhild 1710 mit dem Tode ihrer Einderlofen Stifter aus. Die Linie Sachſen⸗ 
Gotha erhielt nach Iangwierigem Erbfchaftöftreite über Die Hinterlaffenfchaft jener Linien, 
welcher ft 1735 durch kaiſerliche GEntſcheidung geendigt wurde, nur einen geringen 
Laͤnderzuwachs, doch forgte Friedrich's I. Sohn und Nachfolger Herzog Friedrich ll. 
(1691—1732) dur Einführung des Mechts der Erfigeburt dafür, daß weitere Theis 
lungen des Beſitzes vermieden wurden. Auf ihn folgte In der Regierung Friedrich DIL 
(1732—1772), deflen Sohn und Nachfolger Ernft Il. Ludwig (1772-—1804) ſich 
Durch feinen Eintritt in den Illuminaten-Orden und durch den Schub Weishaupt’ 
(flehe d. Art.) bemerklich machte. Mit feinen beiden Söhnen Auguft (1804—1822) 
und Friedrich IV. (1822—1825) erlofh die Linie Sachſen⸗Gotha und ihre Be⸗ 
flgungen gingen durch den Theilungsvertrag von 1826 auf die Häufer Hildburghau⸗ 
fen, Meiningen und Koburg über, welches letztere das Fürſtenthum Saalfeld an Weis 
ningen abtrat, dafür das ganze biäherige Herzogthum Gotha (mit Ausſchluß einiger 
Aemter) erhielt und fich feither 

3) Die Linie Sahfen-Koburg- Gotha nannte. Ihr eigentliher Stifter 
iſt jener Johann Ernfl, fiebenter Sohn Herzog Ernſt's J., des Frommen, der bei 
. ber Theilung das Fürftentyum Saalfeld erhielt, welches feine ihm in gemeinfchaftlicher 
Regierung folgenden Söhne Chriſtian Ernfl, 1729-—1745, und Franz Joſiaeë, 
1729—1764, mit dem 1735 geendigten Erbfchaftöftrelte über die Verlaſſenſchaft ber 
Linie S.⸗Koburg durch den Anfall der Pflege Koburg und einiger anderer Aemter 
vergrößerten und ſeither Koburg- Saalfeld nannten. Herzog Franz führte die 
Regierung in diefen Fürſtenthümern in humanſter Weiſe und patriarchalifchfler Form, 
gab auch durch ein 1760 erlaffenes Hausgeſeß denfelben durch Feſtſetzung des Erſt⸗ 
geburtsrechts die Untheilbarkeit. Unter feinem Sohne und Nachfolger, Ernft Fried⸗ 
ih, 1764 — 1800, der durch Meppigkeit und Lurus das Land in tiefe Schulden 
flürzte, trat Dieferhalb feit 1773 eine kaiſerliche Sequeftration des Herzogthums ein, 
welche bis zu feinem Tode andauerte, aber die DVerbältniffe in Eeiner Weile beflerte. 
Das unter den fchwerften Auflagen feufzende Volk fand nun zwar in dem jungen 
Herzoge, Franz Friedrich, 1800—1806, einen Helfer in der Noth, dem e8 gelang, 
ſchon 1802 die Sequefer-Kommifflon los zu werden; indeß fland es noch immer fo 
fyleht um die Landes-Finanzen, dab die hohen Steuern und Abgaben nicht ermäßigt 
werden konnten. Diefe fchweren Berhältniffe führten zu verfchiedenfachen Ruheſtoͤrun⸗ 
gen in der Hauptſtadt Koburg und in einigen anderen Orten, die jedoch bald durch 
das Linfchreiten kurſächſiſchen Militärs unterdrüdt wurden, 1803, Borfälle, welche 
ſich der Herzog fo zu Gemüthe zog, daß er langfam binflechte und am 9. December 
1806 in der Kraft männlicher Jahre farb. Zu diefer Zeit befand ſich Dad Herzog⸗ 
thum in ben Gänden der Franzoſen, obgleich fih der Herzog im Kriege zwiſchen 
Preußen und Branfreich neutral gehalten hatte, und da der Nachfolger und Sohn 
Franz Friedrichs, Ernft 1if., 18061844, als General in ruſſtiſchen Dienften fland, 
fo wurden feine Länder don den Branzofen In Beflg genommen und als eroberte® 
Land behandelt, ihm auch erft nach dem Frieden von Tilftt und nur unter der Bedin« 
gung reflituirt, Daß er als fouveräner Fürſt in den Rheinbund einträte. Nach der 
Schlacht bei Leipzig trat der Herzog zu den Alliirten über gegen Zuficherung feines 
Herzogthums, wurde am 8. Juni 1815 Mitglied des dentfchen Bundes und erhielt 
durch die Wiener Gongreß- Schluß» Acte eine Randvergrößerung durch dad am linken 
Rheinufer gelegene Fürſtenthum Lichtenberg, mit einem Areale von 11%, DO. 
Meiten und ca. 45,000 Einwohnern, welches er jedoch der Durch die weite Entfernung 
von feinen übrigen Landen erfchwerten Verwaltung wegen durch Staatövertrag vom 
31. Mai 1834 gegen eine auf einen Jahredertrag von 80,000 Thlr. gefchätte Jahres⸗ 
zente in Domänen an Breußen abtrat. Beim Erlöfchen der Linie Sahfen- Gotha 
durch den Tod Friedrich's IV, am 11. Februar 1825 machte Herzog Ernſt als Ge 
mahl der Schmeftertochter des Erblafiers Anfprud auf das gefammte Allod jener 
Linie, während der Herzog von Meiningen, als Ablömmling eines älteren Sohnes 
Ernft des Frommen, die gefammte Sinterlafienfchaft nach deutſchem Lehnrecht bean» 


- 


126 Sathſen. : (Die inte Sachſen⸗Koburg⸗Gotha.) 


fpeuchte und der Herzog von Hildburghauſen eine Theilung zu gleichen Theilen ber» 
Iangte. Nach kürzer gemeinfchaftlicher Verwaltung kam am 12. Novbr. 1826 unter 
Bermittelung des Chefs fämmtlicher fächfifcher Käufer, ded Königs von Sachen, der 
Iheilungdvertrag zu Stande, nach welchem Koburg- Saalfeld gegen Abtretung bes 
Iegteren Fürſtenthums das ganze Herzogthum Gotha, weldyes auf 28 O.⸗M. 87,000 
Einwohner zählte, erhielt und feither den Namen Herzogthum Sachſen⸗Koburg⸗ 
Gotha führte. Schon am 6. December defielben Jahres wurke in Koburg bie 
erfte Berfammlung der Stände beider Herzogthümer eräffnet, wurde aber 
bald wiederum getrennt in ihnen berufen, da Koburg feit dem 8. Auguſt 
1821 eine Repräfentativ-Berfaflung erhalten hatte, in Gotha aber noch die alte Feudal⸗ 
Derfafiung in Gültigkeit war, von der man ſich nicht losfagen wollte. Die Stände- 
Berfammlung in Koburg befland bis dahin aus 17 Abgeordneten, von denen ſechs 
aus dem Stande der Rittergutäbeflger, fünf aus den Städten Koburg, Saalfelb und 
Poͤſneck, Die übrigen ſechs endlich von den übrigen Städten und den ländlichen Kreis 
fen gewählt wurden; nach der Abtretung des Fürſtenthums Saalfeld wurde die Zahl 
Diefer Nepräfentanten auf zwölf vermindert, fpäter aber bei der flärkeren Bevölferung 
wiederum auf fechözehn erhöht. Die Berechtigung diejer Landflände des Herzogthums 
bezog ſich auf die Verwaltung der Steuern und Abgaben als controlirende Behörde, 
doch war ihnen nur geftattet, die Propofltionen der Regierung zu debattiren, anzu⸗ 
nehmen oder zu verwerfen, micht fie zu amendiren. Diefe legtere. Beflimmung führte 
während der Randtage von 1840 und 1842 zu argen Zerwürfniffen zwifchen Regie⸗ 
sung und Ständen, die endlich mit der Auflöfung der Verfammlung endeten. Daffelbe 
Schickſal erfuhr der im November 1843 zufammenberufene neue Landtag ſchon nach 
vierzgehntägigem Belfammenfein, und die Negierung erklärte, mit Auflöfungen fo lange 
fortzufahren, als es den Ständen belieben mürde, flatt die proponirten Befegentwärfe 
zu berathen, fid mit Anträgen zur Befchränfung Iandeöherrlicher, durch die Verfaſſung 
garantirter Mechte zu befchäftigen. Uebrigens befanden fich Die Finanzen ber Herzog⸗ 
thümer bei der Sparfamfeit der Regierung in einer fehr guten Lage, und das Ge⸗ 
fammt-Minifterium,, das dv. Garlowig feit 1828 leitete, ließ es an mwohlthätigen Res 
fornen In feiner Weife fehlen: 1830 wurde die Patrimonial-Gerichtöbarfeit geordnet, 
"1835 ein Gefet über die Ablösharkeit der Feudal-Laften emanirt und 1836 eine neue 
Steuer- und Landgemeinde» Ordnung erlaffen. In Gotha, deſſen Verfaffung dahin 
modificirt murde, daß das Recht der Landſtandſchaft audy auf Die bürgerlichen Ritter⸗ 
gut&befiger audgedehnt wurde, erhielt die Verwaltung ebenfall$ eine größere Concen⸗ 
tration, eine Städte⸗Ordnung wurde 1833 und eine Landgemeinde-Orbnung im fol⸗ 
genden Jahre, beide analog den in Koburg geltenden, eingeführt, auch wurde von 
den Ständen die Steuerfreiheit der Rittergüter freiwillig aufgegeben; am 1. Januar 
1834 trat das Herzogthum mit Koburg dem beutfchen Zoll» Verein bei. Wäh- 
send die Regierung bemüht war, die Differenzen mit den Koburger Ständen 
gütlih auszugleichen, farb der Herzog, der fich feit der Bereinigung der bei⸗ 
den Herzogthüͤmer Herzog Ernſt L von Sadhfen-Koburg- Gotha nannte, 
plöglih am 29. Januar 1844. Ihm folgte in der Regierung ein Sohn, Herzog 
Ernft Il., über deffen Regierungszeit bi8 1856 der Artikel in Bd. 7 Seite 185 ff. 
dieſes Werks das Weitere enthält. Doc fügen wir demfelben noch Nachſtehendes 
bei: In der Bemwegungdzeit der Jahre 1848—49 murde von der Botha’fchen Kae 
mer die Frage wegen Verkaufs der Domänen aufgenommen und nach langen Debatten 
unter anfänglidem Widerſpruch der Megierung beſchloſſen, zwar. vom Berfauf ber 
Domänen abzufehen, die Erträge derfelben jedoch zu Staatszwecken zu verwenden, 
unter die Apminiftration ded Staates zu flellen und aus denfelben dem regierenden 
Serzoge eine Givillifte von 100,000 Thalern pro Jahr zur Dispofltion zu flelen. 
Obgleih nun der Herzog diefe Eingriffe in die ihm zuflehenden Rechte über feine 
Bamiliengüter gut hieß und den Beichlüffen der Kammer feine Genehmigung ertheilte, 
proteftirte doch der Prinz-Gemahl Albert als nächfter Agnat gegen dieſe Beſchraͤn⸗ 
tungen des freien Eigenthumsrechts fomohl bein Bunde wie bei dem gemeinfamen 
ſaͤchſiſchen Ober» Appellationdgericht zu Iena, und nad langwierigen fchriftlihen und 
mundlichen Erörterungen und gegenfeltigem Nachgeben kam im Jahre 1854 eine Eier 


Sachſen. (Die Linie Sachfen-Meiningen.) 727 


nigung dahin zu Stande, daß bie hergogligen Familtengüter in der Verwaltung des. 


berzoglichen Kammerbirectoriums verbleiben, jedoch folle den Siänden das Hecht der 
Gontsole zuſtehen; für den Ball jedoch, Daß das herzogliche Haus einft durch Media- 
tiffrung die Souveränetät über feine Lande verliere, follen ihm feine Samiliengüter 
ungefchmälert reflituirt werden. Außerdem erfolgte im Jahre 1856 vie Einführung 
der Befchwornengerichte für Criminal⸗Vergehen in beiden Herzogthümern, doch wollte 
08 der Megierung während ber gemeinfamen Seſſion der Stände, die am 16. April 
1857 eröffnet wurde, nicht gelingen, eine vollkändige Union der Herzogthümer Sotha 
und Koburg zu ermöglichen; fle fcheiterte an dem Widerſpruche der Gothaer Land» 
fände, und das neue Organifationdgefeg für Die Verwaltung vom 23. December 1857 
ernannte für jedes der Herzogthümer ein befonderes Miniſterium. Die richterliche 
Gewalt wurde von der Verwaltung getrennf, ein Geſetz über die Verminderung der 
höheren Berwaltungsftellen und VBerbefferung der Lage der Subalternbeamten wurde 
votirt und eine Commiſſion ernannt, melde Im Verein mit den übrigen füchfifchen 
Staaten über eine gemeinfame Meorganifation des civilen und eriminalen Rechtes Ger 
rathen follte. Diefe Beratungen führten im Jahre 1862 zu der fhon unter G. 1. 
(Sachfen- Weimar Eifenady) erwähnten Annahme der Fönigl. ſachſiſchen Rechts⸗FInſtitu⸗ 
tionen. Im März 1861 traten beide Kammern in Gotha zufammen, um dad für bie 
Finanzperiode von 1861—1864 nöthige Budget zu berathen, wobei der Stand ber 
Finanzen fih als. ein in feber Beziehung befriedigender erwies. In der deutſchen 
Reformbewegung der Jahre 1849 — 1852 folgte Die Herzogliche Negierung ganz der 
Bolitit Preußens; bei dem neneften Meformverfuche Oeſterreichs jedoch betheiligte ſich 
der Herzog Ernſt in hervorragender Weife bei dem refultatlofen Kürflencongrefle in 
Frankfurt a. M., 16. bis 31. Auguft 1863, beſchickte auch die Minifterconferenzen in 
Nürnberg, October 1863. In der deutſch⸗daͤniſchen Frage fuchte die herzogl. Regierung im 
engen Anichluß an die Mittelftaaten und durch Protection des Erbprinzen von Auguſten⸗ 
burg den deutſchen Großmäaächten, weldye Die Frage der Decupation der Herzogthümer 
von der Beflimmung der Erbfolge in denfelben getrennt behandeln wollten, Oppoſition 
zu machen und das Herzogthum Sachen Koburg-Botha that fh unter dem Vorgange 
feines Herzogs ald Herd einer fogenannten deutfch.nationalen Agitation hervor, welche 
unter dem Ausbängelchilde eines Liberalen Fortſchritts die PBarticular »Intereffen der 
deutfchen Kleinſtaats⸗Miſere zu den ihrigen machte. In der Zolle und Handelspolitif Hat 
fh dad Herzogthum wieder Derfenigen Preußens angeichloffen und ift unterm 11. Jult 
1364 dem erneuerten Zollvereindvertrage beigetreten, welcher durch den Abfchluß des 
preußiſch⸗ franzdjlfchen Handelsvertrages eine größere Ausdehnung erhalten bat. — 
Schließlich wollen wir noch der politifchen Bedeutung Erwähnung thun, melde das 
fürftlihe Haus von Sacfen-KRoburg in neuefler Zeit dadurch erlangt hat, daß Glieder 
deſſelben reſp. Nachkommen derfelben auf verichiedenen Thronen Europa’d regieren. 
So wurde Leopold I. König der Belgier, ein Baterbruderfohn des jetzt regierenden 
Herzogs Ernſt 1. von Sachfen-Koburg-Gotha, im Jahre 1831 durch; Wahl auf dier 
fen nenerrichteten Thron berufen, und des Letzteren jüngerer Bruder, Prinz Albert 
von Sachſen⸗Koburg, am 10. Februar 1840 von der Königin Wictoria von England 
zum Gemahl erkoren, während die Nachkommen des flngeren Sohnes Herzogs Ernftl., 
des Prinzen Ferdinand, welcher als Gemahl der Königin Maria da Gloria den 
Zitel eines „Königs von Portugal" führt, den Thron dieſes Landes einnehmen, feine 
jüngfe Tochter aber, Donna Antonia, feit dem 12. September 1861 mit dem Erb 
prinzen Leopold von Kohenzollern-Sigmaringen vermäblt If. Auch mit der Yamtlie 
Drleans if das Haus Koburg In zweifacher Weife verbunden, einmal durch die Ehe 
Des Könige der Belgier mit einer Tochter Ludwig Bbilipp’s I. und dann dur die 
Bermählung ded Herzogs von Nemours mit der Prinzeffin Bictoria von Koburg. 
Dre präfumtive Erbe der Herzogihümer Sachſen⸗Koburg⸗Gotha iſt bei der Kinder« 
loſigkeit des regierenden Herzogs "fein Bruderfohn, der Prinz Alfred von England, 
geboren den 6. Auguft 1844. | 

4) Die Linie Sahfen-Meiningen, jeht Im Befiße der Herzogthümer Sach⸗ 
fen-Reiningen-Hildburghaufen, hatte, wie oben unter Sachſen⸗Gotha aus⸗ 
gefuͤhrt if, den Herzog Bernhard, 1680-1706, zum Stifter, den dritten Sohn 


128 Sachſen. (Die Linte Sadfen- Meiningen.) 


Ernſt's IL, de8 Frommen, welcher feine Reſidenz nach Meiningen verlegte, diefe Stadt 
erweiterte und verfchönerte und bie nach feiner Gemahlin benannte Elifabethen« Burg 
erbaute. Ihm folgte fein Sohn Ernfi Ludwig, 1706— 1724, der ed nur mit 
Mühe verhindern Fonnte, daß feine Brüder Friedrih Wilhelm und Anton Ulrich nicht 
eine weitere Theilung des Beſihes vornahmen. Bel feinem Tode führten legtere Beide 
gemeinjchaftlich Die Negterung ald Vormünder der unmlndigen Söhne ihres älteren 
Bruders, und als auch der letzte derfelben, Herzog Karl Friedrich, 1727—1743, 
ohne Nachkommen flarb, nahmen fie das Land mit Bewilligung bed Kaifers in ge⸗ 
meinfchaftlicden Beftg und gemeinfame Verwaltung, bi8 im Jahre 1746 der Herzog 
Briedrih Wilhelm mit Tode abging und Herzog Anton Ulrich, 1746 —63, 
zum Alleinbefig gelangte. linter feiner Megierung hatte das Land ſchwer durch Die 
Reichstruppen zu leiden, fo wie die franzöflfchen Hülfsuölfer, weldye während bei 
flebenjährigen Krieges lange Zeit in den thüringifchen Ind fränfifchen Landen lagen 
und Hier wie im Feindeslande hauften. Hierzu kam noch eine Meberbürbung durch 
Steuern und Abgaben, welche der nem Lurus und leichtfinniger Verſchwendung er⸗ 
gebene Herzog mit Strenge beitreiben ließ. Gewaltſchritte gegen die Yeubalflände 
führten zu einem Einfchreiten der Reichsgerichte, weldye durch ihre Koftfpieligfeit und 
durch die Langſamkeit des Interimificums die Lage des Landes nur noch drüdenber 
machten. Nach des Herzogs Tode folgten feine beiden Söhne zweiter Ehe (die erſte war 
unftandesmäßig und durch die Eatferlichen Berichte getrennt worden, 1753), die Gerzöge 
Auguft Friedrich Wilbelm Karl und Georg Friedrih Karl unter Vor⸗ 
mundfchaft ihrer Mutter, und nach der kurzen gemeinfchaftlichen Regierung Beider bis 
1782, wo der ältere Bruder flarb, der jüngere, Herzog Georg, 1782—1803. Der 
Herzog war ein thätiger und mit Entſchiedenheit eingreifender Hegent, welcher mit 
reblidem Willen und nach befler Einficht dad Wohl feines Volkes zu fördern fuchte 
und in einem von der Natur nicht gerade begünftigten Lande durch fein ausdauerndes 
Wirken viel des Guten ſchaffte. Die DVerfertigung der Eifen- und Holzwaaren und 
die Induftrie der Schieferwaaren in den Bezirken des Oberlandes um Sonnenberg 
brachte er durch Unterflügungen der Gemerbetreibenden zu hoher Blüthe; im Hauenftein 
und zu Limbach legte er die erften Porzellanfabrifen Thüringens an, in Ober⸗Steinach 
Marmormühlen, Eifen- und Emaillir» Werke. Die Landwirthſchaft und die Verbeſſe⸗ 
rung des Obſtbaues wie der Viehzucht Tag ihm vor allen Dingen am Herzen, unb 
das Werra» Thal des meiningifchen Unterlande® ward unter feiner thätigen Mithuülfe 
eine der fruchtbarften und anmuthbigften Gegenden Deutſchlands. Auch für den Volkß⸗ 
unterricht that er viel und fliftete zu deffen Hebung das Landfhyullehrer » Seminar zu 
Meiningen. Durch ein Hausgefe vom Jahre 1801 führte” er das Erſtgeburtérecht in 
feinem Herzogtdum ein. Sein Nachfolger — der noch jeht lebende Herzog Berne 
bard Erih Freund, geboren am 17. December 1800 — fand bis zu feiner im 
Jahre 1821 erflärten Gropjährigkelt unter der Vormundſchaft feiner Butter, der Her⸗ 
zogin Louiſe Eleonore, geborenen Brinzeffin von Hohenlohe » Langenburg, welche 
die Megentfchaft des Herzogthums während der bewegteften Zeiten mit Umfiht und 
Weisheit führte, 1807 dem Rheinbunde beitrat und 1815 dem deutfchen Bunde, 
Nach der Uebernahme der Regierung zeigte ber junge Herzog eine lebhafte Zunei⸗ 
gung zu Meformen Im Ginne derjenigen liberalen Bartei, zu welcher er während 
feiner Studien in Heidelberg und Jena in naher Beziehung geſtanden; er verfuchte 
mancherlei, wechfelte mit Maßregeln und Perfonen, fand aber weder beim Volke eine 
Empfänglichkeit für feine Neuerungen, noch die rechten Organe für deren Ausführung, 
fo daß ſowohl die 1823 ind Leben tretende neue Organifation der Staatöverwaltung, 
als die am 4. September 1824 publicirte, der weimarfchen nachgebildete fländifche 
Berfaffung ihm durchaus feinen Dank eintrugen und auch ſchon In den nächften Jahren 
verfchiedenfahe Modiflcationen erleiden mußten. Nah dem Audfterben der Linie 
Sachſen⸗Gotha erlangte der Herzog im Theilungsvertrage vom 12. November 
1826 die Fürftenthümer Hildburghauſen und Saalfeld und verſchiedene gothaifhe und 
altenburgifche Aemter mit einem reale von 25 Quabratmellen und 60,000 Einwoh⸗ 
nern und nannte fi feither Herzog von Sahfen-MReiningen- Hilbburge 
Haufen. Um dem neuen Staate, ber in feinen verfchiebenen Theilen nach feinen 


no em 0 


Sachſen. (Die Linie Gain Altenburg.) \ 129 


Stammlanden verwaltet und regiert wurde, die fo nöthige Einheit zu geben, erfolgte 
in den Jahren 1828 und 1829 die Neuorganifation fämmtlicher Behörden und am 
23. Auguft 1829 die Publication einer gemeinfamen Verfaſſung, über deren bie 
adligen Stände verlegende Beftimmungen in ben erften beiden Landtagen ſcharfe Zer- 
wöürfnifie ausbrachen, weldhe 1832 zu einer Auflöfung führten. Dieſelben glichen ſich 
jeboch in ben nächften Jahren nach und nach aus und fanden ihre. endliche Erledigung 
auf dem fechflen Randtage des Jahres 1846, wo die Megierung für die Aufhebung 
der Patrimonialgerichtöbarkeit und der Grund» und Lehnähsrrlichkeit Die entſprechende 
Entſchaͤdigung gewährte. in Streit über die Domänen, die. als Fidelcommiß bes 
Megentenhaufes bisher zu einer Befleuerung nicht herangezogen worden, wurde zwar 
auf dem Landtage des Jahres 1849 durch das Nachgeben des Herzogs gütlich bei⸗ 
gelegt, aber die damaligen Feflfegungen wurden in Folge der Befchwerden der Agnaten 
durch Bundes» Entjcheidungen wieder aufgehoben und fanden erſt auf dem Landtage 
bed Jahres. 1854 ihre verfaffungsmäßige Megelung. Die Bewegungen bes Jahres 
1848 pflanzten fih auch bis in's Herzogthum fort und obgleich dieſelben keineswegs 
die Folge hoher und edler Tendenzen waren, fo fanden fie doch bei der Maforität ber 
Stände Anklang, der Herzog ſah fich zu Gonceffionen und zur Berufung der Führer 
der Oppoſition ins Miniflerium berufen und die naͤchſten Randtage gaben den Reform⸗ 
beftrebungen einen Nachdruck, der weit über dad Ziel hinausging, welches ſich der 
Herzog gefeßt, dem er aber keinen ober nur einen geringen Widerſtand entgegenjehte. 
Erf in neuefter Zeit iſt e8 der Regierung gelungen, die Berhältmifie fo ziemlich wieder 
auf den Standpunft vor 1848 zurüdzufähren und fie hat ſich dadurch, fo mie Durch 
ihre Bemühungen für mancyerlei wirklichen Kortichritt, Anſchluß an den Zollverein, 
Einfhhrung eines neuen Munzſyſtems, eines bürgerlihen Geſetzbuches und der Anlage 
von Eiſenbahnen, mannicdhfache Verdienſte erworben. 

5) Die Linie Sahfen-Altenburg, früher Sachſen⸗Hildburghauſen 
genannt, wurde von Herzog Ernſt, dem festen Sohne Herzog Ernſt's des 
Frommen, 1680, gefliftet, welcher aus der Exbfchaft feines Vaters das Fürfſtenthum 
Hilpburghaufen, die Aemter und Städte Eisfelo, Heldburg, Schallau, Veilsdorf und 
einige Jahre fpäter Dusch einen Bertrag mit der Linie Sachſen⸗Roͤmhild das Amt 
Königsberg erhielt. Ihm folgte, nachdem er dur ein Hausgefeg einer Zerfplitterung 
feines Beſitzes vorgebeugt, fein Sohn Ernſt Friedrich I, 1715—1724, der in kaiſer⸗ 
lien Dienften fi in den Yeldzügen gegen die Branzofen am Rhein und in Piemont 
außgezeichnet hatte, aber das Land durch feine Liebhaberei für das Militär in ſchwere 
Schulden fürzte, weldhe fein Sohn Ernft Friedrich H., 1724—1745, vergeblich 
zu tilgen verfuchte. Diefem folgte fein Sohn, Ernſt Friedrich Karl, bis 1748 
unter Bormundfchaft feined Vaterbruders, des Eaiferlichen Feldmarſchalls Prinzen 
Joſeph Friedrich von Hildburghauſen, von da ab bis 1769 in felbfifländiger Regie⸗ 
sung, bie. jedoch in ſolche Verfchwendung audartete, daß die Einkünfte des Herzog⸗ 
shums fchen auf Jahre hinaus im Boraus erhoben, die Domänen verpfändet und ver- 
fauft werden mußten. Auf Antrag der Agnaten wurde daher 1769 vom Reichs⸗ 
bofratb dem Herzoge die Dermaltung entzogen und der vorgenannte Prinz Joſeph 
Friedrich damit betraut, ber auch über den nach dem Tode des Vaters zur Neglerung 
gelangenden Herzog Briedrih, 1780—1834, die Bormundfchaft führte. Die 
Bermaltung der Staatseinfünfte blieb bis zur Auflöfung des deutjchen Reiches in dem 


Händen einer kaiſerlichen Debitscommiffton behufs Tilgung der Schulden des Herzogs 


Ernft Friedrich, welcher Zwed jedoch durch die lange Sequeftration nur zum geringen 
Theile erreiht wurde. Nach dem Frieden von Tilfit trat Herzog Friedrich als fous 
veräner Furſt dem Mheinbunde bei, doch behielt er für fein Land die alte ſtaͤndiſche 
Berfaftung bei, die erſt durch ein am 19. März 1818 publicittes Staatögrundgelek 
nach Analogie der weimarfchen modifleirt wurde. Zufolge des nad dem Ausfterben 
der gothaer Linte mit ben verwandten Linien von Koburg und Meiningen gefchloffenen 
Theilungdvertrages vom 12. November 1826 trat Herzog Briebrih fein Stammland 
Hildburghauſen an Meiningen ab und erhielt dafür das Fürſtenthum Altenburg nebſt 
Stadt und Amt Eifenberg, von welchen neuen Beflgungen fi ſeither die Linie be⸗ 
nannte (ſ. das Weitere unter dem Artikel Altenburg). 


J 


730 Sachſen. (Die Ausbreltung des ſaͤchſ. Stammes.) Sachſen. (Pfalzgraffchaft.) 


H. Die Ausbreitung des fähftfhen Stammes. Wie weit im Be 
ginne des Mittelalters der kleine fächflihe Stamm fich ausgebreitet, laͤßt ſich mit 
Beſtimmtheit nicht behaupten, nur fo viel flebt feſt, daß ſich ſchon tm Anfange bes 
4. Jahrhunderts ganze Volksſtaͤmme von dem großen Frankenbunde trennten und an 
den der Sachfen fchlofien. So wurde derfelbe allmäplich zu einem Volkoſtamme ges 
fördert, der, fih In feſten Wohnftgen fchnell vermehrend, beinahe bis an ben Nieder⸗ 
thein grenzte und Hier mit den Frauken bald in harte Kämpfe gerieth. An Gegen 
fägen zwifchen diefen beiden Stämmen fehlte e8 nicht; da war zuerft die Verſchieden⸗ 
beit der Stammverfaffung, welche, bei den Franken fchon zur Monarchie ausgebildet, 
bei den Sadhfen noch in den patriarchalifchen Formen des demokratiſchen Familien⸗ 
verbandes fi bewegte, ferner der Umfland, dag die Franken bereits das Ghriften- 
tum angenommen batten, während der Sachſenbund treu an feinem alten @ötter- 
glauben hielt, und endlich die Eiferfucht der Franken, daß ein Theil ihrer eigenen 
Stammedangebdrigen, die Ehafuaren, Angrivarier, Amflvarter, vielleicht auch bie 
Brufterer, um fich der drohenden Oberherrfchaft der feit der Hunnenſchlacht bei Cha⸗ 
lons erobernd auftretenden niederrheiniſchen Frankenſtaͤmme zu entziehen, fly dem 
Sachſenbunde anfchloffen. Nach der Unterwerfung der Sachen und fon vom Ans 
fange des 7. Jahrhunderts an beginnen bie Auswanderungen der Erfleren aus ihrem 
alten Lande nah dem Nordweſten in das neugegründete Sachfenreicy England und 
nah dem Süden in dad alemannifche Land um den Bodenfee. Eine flarke Colonie 
fächftfcher Auswanderer ging nad ben Berichten bed Eginhard um das Jahr 780, 
alſo nach den erſten Niederlagen ihres Stammes durch Karl den Broßen, in bie 
dfllihen und nordoͤſtlichen Grenzländer Nordalbingiens, und ber letztgenannte Kaifer 
verpflanzte gewaltfam ganze Sacyfenftlämme in dem Gebiete ſeines weiten Reiches, wo 
fie ſich nah und nad den Einwohnern afilmilirten. Länger bewahrten ihre Nationa⸗ 
lität und die Sitten ihrer Heimath jene Goloniften fächflichen Stammes, welche König 
Heinrich I. in den von den Ungarn verwüſteten Brenzländern Oſtfrankens, im Bis⸗ 
thum Würzburg, anflevelte, und jene Anderen, bie Kaifer Heinrich IV. als Bergbauer 
nach dem Harze verpflanzte. Aber von der größten Bedeutung find die mafjenhaften 
Anfledelungen fächhfiiher Stammesleute im füpdflichen Ungarlande, dem heutigen 
Siebenbürgen, welche unter dem Könige Geyſa II. um 1045 die verddeten Strom⸗ 
gebiete der Aluta und des Maroſch bevölferten und durch die Zufldyerung bedeutender 
politifcher Breiheiten, die ihnen König Andreas II. 1224 für ewige Zeiten verbriefte, 
zu einem Gemeinweſen erfiarkten, welches unter der Stüärmen von beinahe fleben 
Jahrhunderten mit der alten fächftfchen Zähigfeit fi ein immer Eräftigered Leben ge» 
wahrt und gefchaffen Hat. (Vgl. das Nähere hierüber in dem Art. Siebenbürgen.) — 
Die Literatur und Kunftgefchichte S.'s ift in den Artikeln Dentiche Yiteratur, 
Dentihe Kunſt, Dentihe Muſik, Deutihe Bhilojophie, fo wie in den biographifcyen 
Artikeln Goethe, Gottihed, Gellert, Rietſchel u. ſ. w. bereits behandelt worden. 

Literatur: Engelhardt „Geſchichte der kur⸗ und Herzoglich ſaͤchſt chen Lande”, 
2 Bde., Leipzig 1802 ff.; Günther „Gefchichte Sachſens“, 2.Boe., Leipzig 1842; 
Poͤlitz „Selcyichte des Koͤnigreichs Sachen”, Leipzig 1817; Gretſchel und Bülau 
„Geſchichte des jährlichen Volkes und Staates”, Leipzig 1843, 3 Bde.; W. Menzel 
„Die legten Hundert Jahre der MWeltgeichichte”, 1850—56; Arndt „Gefchichte ber 
neueften Zeit von 1840—1860*, Leipitg 1863, 1 Bd.; Gervinus ‚Geſchichte des 
neunzehnten Jahrhunderts”, Leipzig 1850 ff.; Gottſchalg „Geſchichte des herzoglichen 
Haufes Sachen Weimar und Eiſenach“, Leipzig 1826; Heidenreih „Annalen vom 
Fürſtenthum Gotha“; Schulte „ Sachſen⸗Koburg⸗Saalfeldſche Landesgeſchichte von 1425 
bis auf die neuefle Zeit", 2 Bde, Koburg 1818; veſſelben „Koburgſche Landes⸗ 
geſchichte im Mittelaltes", Hildburghauſen 1814; Brommelt „Gefchichte ded Herzog⸗ 
thums Sachſen⸗Altenburg“, Leipzig 1838. 

Sachſen, die alte Pfalzgrafſchaft, wurde 917 von König Heinrich L, dem Vog⸗ 
ler, geſtiftet als Lehn für die Pfalzgrafen, denen er die Bermaltung ber Juſtiz in 
feinen niederſaͤchſiſchen und thüringifhen Burgen und Pfalzen übertrug. Solche Bur⸗ 
gen befanden fich in Merfeburg, Grona, Allſtaͤdt, Wallhaufen, Goslar, Dornburg und 
Aberall in ihnen fprach der Pfalzgraf von ©. im Namen des deutſchen Könkgs Recht. 


Sachſen. (Brosinz.) , re} 


Sein Lehnbeſitz beſtand in einem bebeutenden Territoriale, das ſich zwifchen ben Stäb- 
ten Eifenah und Querfurt 618 nach Allſtaͤdt bin erfiredite, in welch letzterer uralten 
Stadt und in dem bazu gehörigen Bergichloffe Die Pfalzgrafen ihren. gewöhnlichen 
Sig Hatten. Der erfte Pfalggraf von S., der genannt wird, war ein gewiſſer Burk- 
hard, der um 922 belehnt wurde; Doch ſcheint die pfalzgräflide Würde damals noch 
kein Erblehn gewefen zu fein, da fle bis zu Kaifer Heinrich des Dritten Zeiten einem 
häufigen Wechfel unterworfen war, der fi auch auf die Titulatur Ihrer Inhaber er- 


ſtreckte. Denn in den alten Chroniken wird bald ein Edehard, Guonrad, Hein» 


ri u. ſ. w. ohne naͤhere Angabe des Geſchlechts als Pfalzgraf genannt und biefe 
Würdenträger bald Pfalzgrafen in Niederfachien, bald in Nord⸗, Oſt⸗ oder Suüdthü⸗ 


ringen gebeißen, ohne daß ſich irgend die Eriftenz einer anderen Pfalzgrafſchaft in S. 
urkundlich nachweisen läßt. Es entſpräche auch nicht den Einrichtungen der deutſchen 


Könige, wenn im alten Herzogthum Sachſen die Ausübung der königlichen Hoheits⸗ 
rechte mehr als einem Pfalzgrafen übertragen worben wäre, wie dies in den anderen 
Herzogtbümern Bayern, Schwaben und Lotharingen ebenfall ja nur flattfand. Jene 
Titulatur der „Pfalzgrafen in Norbfachlen, Oſt⸗, Wefl- Thüringen” n. f. w., ift wohl 
nur ein Beweis für die Thatfache, daß bei der Ausbreitung des Herzogthums ©. 
nah Oſten Hin durch Eroberung der Länder zwifchen Elbe und Ober. Die beutichen 
Könige den Pfalzgrafen in ©. auch die Verwaltung der Juſtiz in den neuen Mark⸗ 


graffſchaften Meißen, Nordfachfen u. f. w. übertragen haben. Kaiſer Heinrich IL. über» 


trug im Jahre 1040 die Bfalzgraffchaft an den Grafen Dedo von Goſeck, bei deſſen 
Gefchlecht fie bis zum Jahre 1089 verblieb, wo fle an die Grafen von Sommerjeburg 
fam. Doc führten bie Goſeck's den pfalzgräflichden Titel fort und benannten ſich 
nach ihrer feſten Burg Putelendorf an der Unflrut Bfalzgrafen von Putelendorf. 
Als im Jahre 1179 das Haus der Sommerfeburger Grafen ausſtarb, kam die Pfalz- 
graffchaft an die Landgrafen von Thüringen und nach deren Ausfterben mit Heinrich 
Maspe, 1247, zum größten Theile an die Markgrafen von Meißen, zum Eleineren an 
bie Brafen von Henneberg und Churmainz. Markgraf Friedrich der Freudige von 
Meißen trat die Pfalggrafichaft 1317 an den legten Brandenburger Barfgrafen aus 
dem Haufe Adkanien, Seintih III. ab, bei deſſen 1320 erfolgtem Tode fle nebft der 
Mark Landöberg und den Schlöffern Kyffhauſen und Alfädt an feine binterlaflene 
Wittwe Agnes von Bayern, Schweiter des Kaifers Ludwig von Bayern, fiel, welcher 
fie zwar im Beſitze beftätigte, aber die Ausübung der Juſtizhoheit den Grafen von 
Anhalt übertrug. 1333 erhielt Herzog. Magnus von Sachfen» Lauenburg mit ber 
Sand der Tochter fener Herzogin Agnes die Pfalzgrafichaft als Heirathögut und ver» 
kaufte deren Iufligrechte mit der Mark Landöberg 1347 an den Markgrafen Friedrich 
den Ernfihaften von Meißen, während das pfalzgräfliche Territorium an Die Herzoge 
von Sachſen fam. Nah dem Ausfterben diefer Herzoge fiel auch die Pfalzgraffchaft 
mit dem Herzegthum Sachen an den Markgrafen von Meißen, Friedrich den Streit⸗ 
baren, 1422, der fie feinen übrigen Ländern einverleibte, den Titel aber ablegte und 
das Wappen nur beibehielt. Bei der Thellung der Gefammtländermafle des Meißen⸗ 
ſchen Megentenhaufes, am 26. Auguft 1485, kam das alte Nfalzgrafenland an die 
seneflinifche Linie und In Folge der nach dem Tode Johann Friedrihs, 1554, wiederum 
bargenommenen Thellung an Johann Friedrich IL, Herzog von Weimar, in Beflg von 
defien Nachkommen es ſich heute noch befindet (f. d. Art. Sachen: Weimar» Eifenach, 
politifche Geſchichte). 

Sachſen, eine Provinz des preußifchen Staates, mit 460,5 Q.⸗M. und (nad 
ber Zählung von 1861) darauf mohnenden 1,976,417 Einwohnern, befleht zum 
größeren Theile aus den 1815 nach Maßgabe der Wiener Eongreß-Schlußacte erworbenen 
ehemals koniglich ſaͤchſiſchen Rändern, die unter dem Namen des „Herzogtbums Sachſen“ 
in ſich begreifen: ben ganzen Kur» oder Wittenbergfchen Kreis, den Thüringer und 
Reuflädter Kreis, die Niederlaufig, einen Theil der Oberlaufig, To wie Theile bes 
Leipziger und Meißenſchen Kreifed, die beiden Hochflifter Merfeburg und Naumburh⸗ 
Zeig, das Fürſtenthum Ouerfurt, den Edniglich ſaͤchſiſchen Antheil an Senneberg, Die 
fogenannten votgtländifchen Enclaven, bie 1808 von Sacıfen an Weflfalen abgetretenen 
Grafſchaften Barby, Gommern, Theile der Grafihaft Mansfeld, die Herrſchaften 


132 . Sachſen. (Provinz.) 
Treffurt und Dorla. Mit ihnen verbunden wurden bie Altmark, das Herzogthum 
Magdeburg, die Fürſtenthümer Halberſtadt und Erfurt, Die ehemalige Reichsabtei 
Dueblinburg, ber größte Thell des ehemalig kurmainziſchen Eichsfeldes, die Graf 
fchaften Stolberg, Werningerode und Hohenflein und die früheren freien Keichs ſtudte 
Nordhauſen und Mühlhauſen. Die Provinz bildet kein abgefchlofienes geographiſches 
Ganze, da verfchiebene Theile ded Regierungébezirks Erfurt, der Schleufinger und Biegen» 
rucker Kreis, getrennt von der Hauptmafle des Bezirks find und von kurheſſtſchem, groß⸗ 
Gerzoglich und herzoglich ſaͤchſiſchem Gebiet und den fchwarzburgfchen und reußifchen 
Landen umgeben werden. Sie grenzt gegen Norden an die Provinz Brandenburg 
und das Königreich Hannover, im Weften an das bannoverfche Fürſtenthum Lüneburg, 
das Herzogthum Braunfchweig und das Kurfürftentbum Heſſen, im Süden an bie 
ſaͤchſiſchen und thüringifchen Staaten und das Königreich Sahfen und im Oſten an 
die Provinz Brandenburg Die Bevölkerung, die ſich feit 1815 durchſchnittlich Pro 
- Zahe um 1,5, Procent gemebrt Hat und auf der Quadratmeile 4291 Seelen beträgt, 
beflebt zum überwiegend größten Theile aus Proteflanten (1,842,500 Seelen), zu 
denen etwa 125,000 römiich-Fatholifche, 6000 Juden, 3200 Diffiventen, 20 Menno⸗ 
niten und in der Golonie Gnadau no 500 evangelifhe Brüder (Herrnhuter) kom⸗ 
men und die in 144 Städten, 29 Fleden, 2956 Dörfern, 551 Colonieen, Weiler 
und Dorwerken wohnen. Die Zahl.der Gebäude und Erabliffements betrug (ſammt⸗ 
liche ftatiftifche Notizen ſtammen aus offlciellen Zählungen des Jahres 1861) 680,960. 
— In Nülfiht der natürlichen Bodenbefhaffenheit "gehört der nördliche 
und weftliche Theil der Provinz ©. als ebenes und größtentheils fandiges Flachland 
der norddeutfchen Tiefebene an, der füdliche Theil iſt dem hyrciniſchen Gebirgäfyfteme 
zugehörig und zmwar feiner Hauptmafle nach dem Thüringer Walde und dem Harze, 
welcher erftere in felnen Südabhängen' im Kreife Schleußingen fi bi8 zu 1950 Fuß 
Höhe erhebt, während Iegterer al8 Unterbarz im Auersberge bei Stolberg 
1851 Fuß und In feinem bödften Punkte, dem Broden, 3508 Buß abfolute Höhe 
erreicht. Die Zahl der Seen if gering, fle beträgt nur 7, noch geringer aber {fl 
ihre Größe, die zufammen nur O,4 Q.⸗M. beträgt; der bedeutendſte if der „falzige 
See” bei Ober-Rövelingen unmelt von Halle. Der Hauptfluß der Provinz If die 
Elbe (f. dieſen Artikel) mit ihren Neben- und Seitenflüffen, der fchwarzen Elſter, 
der Mulde, der Saale mit der Unftrut und die Havel mit der Spree. 
Bon den Canalen ift der PBlauenfhe, welder die Verbindung ver 
Elbe mit der Havel macht, der bedeutendfle. Der Boden if in de 
Ebene fruchtbar, wenn auch dfter fandig, im Gebiete der Saale, namentlich 
in der goldenen Aue, ein vorzüglicher Weizenboden von höchſter Ergiebigkeit, die 
Naturproducte in Folge einer im fleten Steigen begriffenen Eultur reich und von 
größter Mannichfaltigkeit, der Bergbau in der Grafichaft Mandfeld auf Kupfer und 
Eifen, bei Halle auf Salz und im thüringifhen Walde auf Stein- und Braunfohlen, 
fo wie auf Marmor und Sandflein von Bedeutung. Bon der Bodenflaͤche der Pro⸗ 
vinz werden 114,900 Morgen als Bartenland benupt, melde in der Erfurter Ges 
gend hauptfächlich zur Blumen-@ultur und zu trefflihen Obflbaum-Anpflanzungen und 
um Naumburg zum Bau von Hülſenfrüchten und Tabak cultivirt if; die 5,470,000 
Morgen Aderland, zumeifi nach der Dreifelderwirtbichaft behandelt, geben ein reiche 
liches Product an Roggen, welder in großen Waffen in die Nachbarländer und 
in's Ausland gebt, nicht minder an Kartoffeln und Runkelrüben, zumeift zur 
Spiritus» und Zuckerfabrikation als Materlal Dienend, und an Weizen, Gerſte und 
Safer, der legte meift leichtes Gewächs und. die Konfumtion Taum dedend. Die 
Vieh⸗, vor allem die Schafzucht, kommt erſt in neuefter Zeit mehr In Aufnahme; 
das Wiefen- und Weideland der Brovinz umfaßt fept bereits über 1,200,000 Bor» 
gen, überwiegend in der Altmark und in den Gebirgsgegenden. Der Holzbedarf der 
Provinz wird Im Allgemeinen gedeckt Durch einen Waldbefland von 1,760,000 Ror- 
gen, ift jedoch durch die Separation ganzer Gemeindeforften durch Häufige Lieberhiebe 
und Devaftationen in neuefter Zeit ſehr gefährdet worden. - Die Inpuftrie befchäfe 
tigt ſich vorzüglich mit der Fabrikation von Eiſen- und Stahlmaaren (in Sul), von 
Tu und baummollenen Waaren (in Burg, Barby, Langenfalza, Beig u. ſ. m.), von ' 


- - — — 0. 


Sachſen. Brovim) | 133 


Leinwand und Teinenen Zeugen (in Erfurt, dem Eichöfelbe, Merfeburg u. a. D.), von 
Branntwein (befonberd In Norbhaufen), von Zuder (in Magveburg, Halberſtadt und 
Muhlhauſen) und von Porzellan» und Steingutwaaren, und iſt im fltten Wadsthum 
begriffen, eben fo wie der Handel der Provinz in Folge der neueflen Vermehrung 
der Gommmnicationsmitiel. Der Rittelpunkt des Handels iſt Magveburg, durch feine 
Lage an der Elbe und als Knotenpunkt des fächflfchen Eifenbahnneges Hierzu beſon⸗ 
ders paſſend gelegen. Den Hauptartitel der Ausfuhr bildet Salz, das in den Salzs 
werten von Halle, Schoͤneberk, Eroß- Sala, Staßfurth gemonnen wird, und nächft 
diefem die Eifen- und. Stahlfabritate Suhl's, die mit denjenigen England auch auf 
den überfeeifchen Märkten glücklich concurriren. In Müdficht der geiftigen Cultur 
fteht die Provinz S. auf einer fehr hohen Stufe und nimmt felb unter den preußi⸗ 
ſchen Provinzen den erflen Rang ein. Die Kenntnig der Elementarien if ausnahms⸗ 
los verbreitet, die Volksſchulen find zahlreih, dem Bebürfniß völlig genügend, mit 
entiprechenden Lehrkräften befegt und gut Dotirt; an Gymnaſten und höheren wiffen« 
ſchaftlichen Anftalten befist die Provinz 23, darunter die vielberähmte Fürſten⸗ 
ſchule zu Bforta (flebe diefen Artikel), außerdem eine fährlih wachfende Zahl von 
Reale und höheren Stabtfchulen, 9 Schullebrer-Seminarien, Handels⸗ und Gewerbes 
Schulen in Magdeburg, Merfeburg, Erfurt, Naumburg, Halle, Nordhauſen, Halber- 
ſtadt, Aſchersleben, Querfurt, Eisleben u. f. w., Kunfle und Baugewerkſchulen in 
Magdeburg und Erfurt, Taubftummen - Anftalten in Erfurt und Quedlinburg, eine 
Provinztal-Irrenanftalt, vier Hebeammen « Inflitute, eine Landarmen » Anftalt und ver⸗ 
fhiedene Inflitute öffentliher und privater Wohlthätigkeit. In Nüdfiht auf Ber» 
faffung und Verwaltung iſt das Specielle ſchon unter dem Artikel Breußen bes 
handelt, bier fei nur noch bemerft, daß die Provinzialflände S.'s ſich mit Ausfchluß 
derer der Altmark, welche zum Provinzialverbande der Marken gehören, abwechſelnd 
In Magdeburg und Merfeburg verfammeln und aus 88 Mepräfentanten beftehen, von 
denen 6 Virilftimmen des großen Brundbeflges und ber ehemals reichäunmittelbaren 
Fürften und Grafen find, 29 von den Mittergutäbeflgern, 40 von den Städten und 
13 von den bäuerlichen Srundbeflgern gewählt werben. Die Provinz ift in 3 Regie⸗ 
rungsbezirke eingetheilt, die von Magdeburg, Merfeburg und Erfurt, welche wieder 
in 40 Iandräthliche Kreife zerfallen, jeder mit einem Kreidgerichte. Das Eonfiftorium 
bat feinen Sig in der Provinzialbauptfiant Magdeburg, und von ihm reffortiren Die 
94 Superintendenten ber Provinz; die Katholiken gehören in 13 Defanaten zum 
Sprengel des Bisthums von Paderborn. Appellationdgerichte befinden fih in 
der Provinz drei: in Magdeburg, Halberſtadt und Naumburg a. d, Saale; eine 
Provinzial» Steuerdirection in Magdeburg, unter der die 12 Hauptzoll- und 


Hauptſteuer⸗Aemter der Provinz fliehen. In militärifcher Beziehung bildet die 


Provinz den Bezirk des 4. Armee» Gorps mit dem Corps» Commando und den dazu 
gehörigen Berwaltungs-Stäben in Magdeburg. Die Staböquartiere der beiden Divi⸗ 
flonen befinden fih in Magdeburg und Erfurt; befeftigt find die Städte Magdeburg, 
Torgau und Erfurt mit dem Betersberge und der Cyriaksburg; die Feſtung Wittenberg 
iſt in neuefter Zeit desarmirt worden. — Bon den 144 Städten der Provinz haben 
wir bie drei Hauptſtädte der Regierungsbezirke bereits in befonderen Artikeln erwähnt, 
von den Übrigen verdienen bier noh Anführung: A. Im Regierungsbezirk 
Magdeburg: Egeln mit 3000 Einwohnern, großen Berbereien und Brauereien. 
In der Nähe liegt das ehemalige Eifterzienferinnen-Klofter Martenftubl, 1262 ges 
ftiftet von Jutta, Bräfln von Blankenburg; Barby, Kreisftadt am linken Ufer ber 
Elbe, mit 3600 Einwohnern, früher Hauptort der Grafihaft Barby, deren Ges 
ſchichte bereitö gegeben if; Aken, alte Stadt am linfen Elbufer mit 3000 Ein« 
wohnern, gehörte früher dem Orden der Tempelberren, welche auch Die Burg und bie 
alte Kirche erbauten; Froſe, Stadt an der Elbe mit 1000 Einwohnern, bekannt 
durch das Treffen im Jahre 1278 zwifchen dem Erzbifhof Günther von Magdeburg 
und dem Markgrafen Otto IV., ‚mit dem Pfeil, von Brandenburg, welcher Leßterer 
hier geichlagen und gefangen wurde; die Salzwerl- Städte Schönebed mit 7000, 
Großſalza mit 2500 und Staßfurth mit 2300 Einwohnern Neuhaldens⸗ 
leben, Kreisſtadt mit A600 Einwohnern, burdy die Herren v. Natbuflus in neuefler 


134 Sachſen. (Provin.) 


Beit zus bebeutenden Fabrikſtadt in Leder» und Wollen» Waaren, Porzellan, 
Ehampagner, Liqueuren u. f. w. erhoben. Burg, Kreisflabt des erflen Jerichower 
Kreifes, an der Ihle, mit wichtigen Tuchfabriken, bebeutendem Tabadd- und Karbeubau 
und 14,000 @inwohnern. Stendal, ehemalige Hauptflabt der Altmark mit 7000 Ein» 
wohnern, gegründet 1151 vom Markgrafen Albrecht dem Bären, mit einem reichen 
Stift, welches 1188 von dem Markgrafen Heinrich errichtet und 1551 anfgelöft, Direct 
unter dem päpftlihen Stuhle fand. Die Stadt gehörte im Mittelalter zum Hanſa⸗ 
Hunde, hatte die erſte von Idachim Weſtphal geleitete Buchbruderei in den Marten, 


. 1488, und ift der Todesort des Kurfürflen Joachim's I. (gef. den 11. Juli 1534), 


11 


wie der Geburtsort des Archäologen Windelmann. Die Stiftölirche ober ber 
Dom zu Stendal ift eines der fchönften und woblerhaltenften Werke gothiſcher Bau⸗ 
kunſt in den Marken. Tangermünde, Stadt an der Mündung der Tanger in bie 
Elbe, mit 4000 Einwohnern, die erfte Mefldenz der Markgrafen von Brandenburg, 
Geburtdort des Kurfürften Friedrich II. (12. November 1421), wahrſcheinlich ges 
gründet vom Markgrafen Gero von Nordſachſen und als Stadt ſchon im Jahre 1009 
erwähnt. Werben, alte Stadt an der Elbe, mit 2000 Einwohnern, welche Albrecht 
der Bär 1160 an die Johanniter⸗Ritter fchenkte, die bier eine Komthurei errichteten. 
Derühmt ift in der Komthurei⸗Stiftskirche der Altar und ein Glaßgemälbe, das jüngfle 
Bericht darſtellend. Salzwedel oder Soltwedel, an der Iehe, mit 7500 Ein» 
wohnern und wichtigen Tuch» und Wollzgeug-Webereien, gab in alten Zeiten der gleich 
namigen Mark den Namen und war lange Zeit die Mefldenz der Markgrafen. Garde⸗ 
legen, Kreiöfladt mit 5000 Ginwohnern, einem Schullebrerfeminar und großem 
Hoſpitale. 11, Meilen von bier Tiegt das 1555 vom Kurprinzen Johann Georg 
erbaute Jagdſchloß Leglingen, wo der große Kurfürft ald Knabe eine Zuflucht 
vor den Schweden und Kaiſerlichen im breißigfährigen Kriege fand. Halberſtadt 
(ſ. dieſ. Art). Aſcherbleben, Kreisftabt mit 10,000 Einwohnern, mit großen 
Gerbereien, Töpfereien und Leinewandfabrifen, früher Hauptſtadt der Grafſchaft Aefanien 
oder Anhalt, defien Stammhaus, die Burg Askanien, in der Nähe der Stadt in 
Trümmern liegt. Thale, Dorf an der Bode und am Buße des Harzed, mit einem 
Eiſen⸗ und Blechyhüttenwerfe und einer großen Obſtbaumſchule. In der Nähe dieſes 
Dorfed nimmt das Bodethal feine romantifch » pittoresfe Formation an und befinden 
fi die unter den Namen „Noßtrappe* und „Teufeld« Tanıplag” bekannten Felſen⸗ 
partieen ded Harzes. Ueber Stadt und Stift Quedlinburg ſiehe den br 
treffenden Artikel eben fo wie über Stadt und Grafſchaft Werningerode. — 
B. Im Regierungsbezirf Merfeburg: Schkeudihd, Stadt mit 2600 Einw., in 
der Nähe dad Dorf Breitenfelde, bekannt durch die Siege Guſtav Adolph's, 1631, 
und Torftenfohn’s, 1642, über die Kaiſerlichen. Die Stadt Zügen, bie Dörfer 
Groß⸗Görſchen und Altranftädt find nad ihrer hiſtoriſchen Bedeutung bereits 
in befonderen Artikeln erwähnt, ebenfo die Stadt und das Hochſtift Naumburg, 
das Stift Bforta und die Stadt und Braffhaft Mansfeld (vgl. dieſ. Art.). 
Zeig, Kreidfladt an der weißen Eifter mit 11,000 Einwohnern, lebhafter Induſtrie 
und Kandel, mit der vom Kurfürften Moritz erbauten Morigburg, einem evangelifchen 
Gollegiatftift, ſchoͤner Stiftskirche, Gymnaſium, Waifendaus, Irrenanftalt und zwei 
reich dotirten Hoſpitälern. Das alte Hochftift Naumburg-Zeig wurde in lepterer 
Stabi im Jahre 968 von Kaifer Otto I. gefliftet, aber 1029 nah Naumburg ver» 
legt. Nach der Aufhebung des Stifte durch Sücularifation kam Zeig an das Haus 
Sachſen, deſſen albertinifcher Linie es im metfälifhen Frieden zugefihert wurde. Am 
6. November 1678 ging es als ein beſonderes Herzogthum an Morig, den Stifter 
der Linie Sachſen⸗Zeitz über, deffen letzter Herzog, Morig Wilhelm, es 1717 an 
Kurſachſen abgab, obgleich der Kurfürft Friedrich Auguſt I. es bereit mit gewaffneter 
Hand in Belt genommen hatte, unter dem DBorgeben, das Herzogthum gegen bie 
Bewaltthätigfeiten feines Fürſten ficher flellen zu mollen. 1815 Fam der Zeiger Bes 
zirk mit dem Hochſtift Naumburg an Preußen. Die Domcapitularftellen find Sinecur⸗ 
Präbenden geworden, meldye der König von Preußen zu vergeben bat, — Helbrum 
gen, Stadt des ehemaligen Fürſtenthums Querfurt, mit einem einft feflen Schlofie, 
dem Stammflge der reichefreien Bamilie. dieſes Namms, welche 1414 audflarben, 


Sachſenſpiegel. Schwabenſpiegel. 133 


In diefer Burg ſaß der Führer der Bauernaufflände, Thomas Münzer, nach feiner 
Sefangennahme bei Frankenhauſen bis zu feinem Tode, 1525, gefangen. Sanger⸗ 
Haufen, Kreidſtadt mit 5500 Einwohnern, bildete vormald mit noch anderen Bes 
figungen eine befondere Herrichaft, die durch Heirath an den Landgrafen Ludwig den 
Bärtigen von Thüringen und nad dem Ausfterben dieſes Geſchlechts an den Markgrafen 
Heinrich von Meißen fam. Im Jahre 1372 wurde die Stadt von ber Mitiergenoflene 
Schaft der „Sterner” eingenommen und zum größten Theil zerflörtt. Heeringen, 
Stadt an der Helme und in der goldenen Aue belegen, gehörte früher gemeinſchaft⸗ 
lich den Fürſten von Schwarzburg und den Grafen von Stolberg-Mofla und kam 
1816 an Preußen. Gräfenhainchen, Stadt mit 2500 Einwohnern, Geburtsort 
des Dichters geifllicher Lieder Paul Gerhard. Eilenburg, Stadt auf einer Infel 
der Mulde, mit 6500 Einwohnern, mit einem alten Bergfchlofle, dem Stammflg der 
Grafen von Jlburg, welde im Anfange des 15. Jahrhunderts ausſtarben. 
Zorgan, Kreisſtadt und flarke Feſtung an dem linken Ufer ber Elbe, mit 8000 
Einwohnern (f. d. Art). Annaburg, Marktflecken mit einem von ber Gemahlin des 
Kurfürften Auguft 1. 1572 neu aufgeführten Schloffe, worin ein Soldaten - Kuaben«- 
Erziehungs-Inflitut. Der Ort ſelbſt hieß früher Lochau, und in der nach dieſem benann« 
ten „Lochauer Haide” wurde Johann Friedrih von Sachſen nach dem Berlufte der 
Mühiberger Schlacht gefangen genommen. — C. Im Regierungbbezirt Er» 
furt: Sömmerda, Stadt an der Unftrut, mit 3000 Einwohnern und großen Fa⸗ 
brifen in Stahl» und Eifenwaaren. Langenſalza, Kreisfladt mit 6500 Ginwoh« 
nern, gehörte in frühefter Zeit dem Klofter Homburg, dann den Herren zu Salza, 
Schutze und Schtrmvögten der Klöfter Homburg und Breitingen, erhielt 1211 Stadt⸗ 
gerechtfame, kam nach dem Ausflerben jene Dynaſtengeſchlechtd an Thüringen und 
von Diefem an die Markgrafen von Meißen, die bier Öfter reſidirten. Treffurth, 
Stadt an der Werra, mit 1900 Einwohnern; In der Nähe liegen die Trümmer bes 
Schloſſes Nordmannflein, des Stammfiges der Herren von Treffurtb, welche im 
13. Jahrhundert zu den mächtigften Dynaften Thüringens gehörten, 1329 aber von 
dem Kurfürften von Mainz, den Landgrafen von Thüringen und Heflen wegen Bruch 
des Landfriedens ihres DBeflges beraubt wurden. Schleufingen, Kreiäftabt und 
vormalige Reſidenz der gefürfleten Grafen von Henneberg, mit 3000 Einwoh- 
nern, Pulver und Bapiermühlen, Kupfer- und Blechhaͤmmern. Suhl oder Suhla, 
Stadt an der Lauter und auf dem Thüringer Walde, mit 8000 Einwohnern und 
einer großartigen Eöniglichen Gewehrfabrik, Stahl» und Eifenhämmern, Fabriken von 
Eifen-, Stable und Blechwaaren, Barchenten, Baumwollen- und Wollen-Zeugen, auch 
mit vielen Mahl», Schneide», Del» und Lohmühlen. Ziegenrück, Kreisfladt an 
der Saale, mit 900 Einwohnern: In der Nähe der Stadt find große Schieferbrüdhe 
und das Eifenhbammerwerl Lämmerfhmiede. — Das Geſchichtliche über die 
Brosinz ©. iſt in Bezug auf die ehemals fächfifchen Theile derfelben unter dem Ar« 
titel Sachſen gegeben, in Betreff der übrigen Theile aber in den Artikeln Preußen, 
Diagbeburg, Merieburg, Erfurt, Naumburg, Ouedlinburg, Querfurt, Halberſtadt, 
Mansjeld, Hohenftein, Henneberg, Mühlhaufen, Nordhauſen, Eichsfeld ebeufalts 
bereits bebandeli worden. 

Sahjenipiegel. Schwabenfpiegel. Unter ven Rechtbüuchern des Mittel- 
alters, mweldhe, von Privatperfonen abgefaßt, als ehrwürdige Denfmäler des Stres 
bens, das nationale deutſche Recht zu erhalten, uns aufbewahrt find, zeichnen 
fih die beiden genannten, fowohl Durch den Reichthum ihres Inhalts, ald ihre weite 
Berbreitung aus. Der Berfaffer. des wahrfcheinlih im dritten Jahrzehent des drei⸗ 
zehnten Jahrhunderts gefchriebenen fächflichen Lande und Lehnrechts if ein anhaltiſcher 
Gerichtaſchoͤppe Eike von Rppgow (Eyke von Repegowey), und dem Lehnredit liegt 
gewiß 1), dem Landrecht böchſt wahrfcheinlidh ein Tateinifches Original zum Grunde, 
welches fpäter mehrere Zufäge von verichiedenen Händen erhielt und in dieſer Geſtalt 
mit einer Gloſſe verfehen wurde. 2) Diefe enthält indeß weniger eine Erklärung des 


5) Der fogenannie vetus auctor de beneficiis hat vielleicht denſelben Verfaſſer. 
2) Diefelbe hat den märkifhen Edelmann Johann v. Buch zum Verfaſſer. 


136 Sachſenſpiegel. Schwabenſpiegel. 


Inhalts, als vielmehr einen Verſuch, denſelben auf das roͤmiſche Recht zurüdzuführen 
und aus dieſem zu ergänzen. Im Groben genommen behandelt der erſte Theil das 
jus allodiale, und zwar in 5 Büchern: das Privatrecht, Criminalrecht und ben Pro⸗ 
ceß, während der zweite Theil ald Anhang dem jus feudale gewidmet iſt. Der Name 
„Spiegel" ift ein Tropus und rührt von einer gereimten Borrebe zum fächfligen Land⸗ 
secht ber, in der es heißt: 
Ders 178: fpigel der Saxen 
fat diz Buch fin genant; 
und Vers 181: wende Sauren recht iſt bir an befant, 

als an einem fpiegele de vrouwen 

ir Antlize beſchouwen. 
Dies Buch hat eine große und weit verbreitete Auctorität erhalten und gilt noch Heute 
in manchen Gegenden Deutſchlands als ſubſidiäres, unmittelbar anwendbares Mecht.!) 
Die Geſchichte des Schwabenſpiegels iſt Dunkel. Wan kennt weder feinen Berfafler, der 
nach einen Hypotheſe ein Geiſtlicher geweſen fein foll, noch die Zeit feiner Entſtehung, 
Die man nur ungefähr in das vorletzte Viertel des dreizehnten Jahrhunderts fegen 
kann. Da die meiften Handſchriften in ſüddeutſcher Mundart gefchrieben find und In 
dem Mechtöbuche auch Öftere Beziehungen auf Schwaben vorfommen, fo ift ed höchſt 
wahrfcheinlich, daß es in und für. Schwaben oder Bayern geſchrieben fel; zugleid 
fheint aber die Abſicht des Verfaſſers auf Darflellung eines allgemeinen Reichsrechtes 
"gerichtet gewelen zu fein. Die Handfchriften führen den Titel: Kaiferredht, Land⸗ und 
Lehnrecht, Feine den Namen Spiegel, der beſonders feit der Goldaft’fchen Ausgabe 
(1609) in Gebrauch ifl. Leber das Verhaͤltniß dieſer beiden Rechtsbücher zu ein» 
ander wird ein lebhafter Streit geführt. Die meiften Gründe Hat noch immer bie 
zuerſt von Eichhorn (Rechtg. F 282) aufgeftellte Anficht, wonach der Schwabenfpiegel 
als eine Verarbeitung und Ergänzung des Sachjenfpiegeld (In deffen Altefter Geftalt) 
dur Materialien des römifchen und canonifchen Rechts, der Bibel, Volksrechte, Ca⸗ 
pitularien und Reichägefege aufzufaflen if. Ihr gegenüber ſteht die in neueſter Zeit 
von v. Daniels) wiederholte, ſchwer zu haltende Anſtcht von einer Entſtehung des Sachfen- 
ſpiegels aus dem Schwabenſpiegel. Diefe Rechtebücher 9) enthalten die zur Zeit ihrer 
Abfaffung geltenden Rechtsgrundſaͤtze in ber einfachften Korm, indem fie bloß ben 
Mechtsfah aufflellen ohne deſſen nähere Begründung und weitere Entwidelung, was 
aber aucd ganz dem Vedürfniffe entſprach, weil ed der Erhaltung des nationalen 
Rechtes gegen das eindringende fremde galt, wozu die Beurkundung der wefentlichen 
Rechtsſatze genügte, mäÄhrend die nähere Begründung und weitere Entwidelung dem 
lebendigen Organen (Schöffenftühlen und, Oberhöfen) überlafen werden Eonnte. Die 
uns erhaltenen Urtbeile und Weisthümer der Schöffen laffen megen der Fund⸗ 
grube gefunder Rechtsanſchauungen, die in ihnen enthalten ift, Iebhaft bedauern, daß 
die von ihnen audgegangene Ausbildung des nationalen Mechted durch das imma 
größere Umfichgreifen ded fremden, namentlich des roͤmiſchen Rechtes, unterbrochen und 
gebemmt worden if. Sie beweifen zur Genüge, daß ed in Deutfchland weder an 
einem volksthümlichen Nechte, noch an ber Faͤhigkeit zu deſſen weiterer Entwidelung 
und Anpaffung auf neue. Berbältniffe fehlte. Allein die Mechtsbücher waren Volks⸗ 
büher — das römische Rechtsbuch, wie Feines, ein Herrfcherbuh! Don Kaifern und 
Königen wurde feine Einführung begünftigt, well fte in ihm die Mechtöfertigung der 
von ihnen angeftrebten Vergrößerung und Unbefchränftheit der Megentengewalt fanden, 
von den Päpften, weil das römifhe Recht die erfien Keime eines befonderen Rechts 
der Kirche und des geiftlichen Standes enthält, und unter Borausfegung feiner Geltung 


7) Es giebt fogar eine holländische Bearbeitung, den fog. holländischen Sachſenſpiegel, und 
er ift Duelle des livländifchen Ritterrechts. ' 

De Saxon. speculi origine ex juris communis libro Suevico speculo pefperam 
nominari soltto, und v. Daniels: Alter und Urfprung bes Sachſenſpiegels ıc., 1852. 1853. Das 
gegen namentlid Homeyer: Berhanblungen der Berliner Akademie vom 5. Auguft 1852 unb über 
die Stellung bes Sachſenſpiegels zum Schwabenfpiegel, 1853. | 

2) Die beflen Ausgaben find: 1) des Sacfenipiegele: bie von Gärtner, Leipzig 1732, und 
von Homeyer, 3 Bde., Berlin 1835445 2) des Schwabenfpiegels: die vom Freiherrn v. Laßberg, 
1840, und von Wadernagel, Thl. I Landrecht, 1840. 


Sähfiihe und Saliſche Kalter, 132 


eine immer größere Ausdehnung ber Rechte der Kirche und Ihrer Oberhäupter. leichter 
zu tealifiren war, als wenn das nationale Recht, welches hauptfächlich auf der Selbſt⸗ 
beflimmung der Nation und der einzelnen Theile berfelben, der Gorporationen und 
Bemeinden berubte, fortwährend in Geltung blieb. 

Sähfiihe und Saliihe Kaiſer. Die ſaͤchſiſchen Katfer entflammen dem 
herzoglichen Gefchlecht der Liubolfinger, welches zur Zeit Karl's des Großen ſchon 
eine hervorragende Stellung In Sachſen behauptete und feit 911 die berzogliche Ge⸗ 
walt in Sachen und Thüringen unangefochten für fidy in Anſpruch nahm. 918 bes 
flelgt Herzog Heinrich von Sachſen, von den fächflfchen und fränfiihen Großen zum 
König gewählt, ald Heinrich I. den Thron des oſtfraͤnkiſchen Reiches. Er Tann 
mit Mecht ald Begründer des beutfchen Reiches angefehen werben, da er bie Aufgabe 
loͤſte, alle die deutſchen Stämme, die früher zum oflfränkifchen Neiche gehört Hatten, 
wieder untereinander zu vereinigen. Schon 920 Hatte er die Herzöge von Schwaben 
und Bayern gezwungen, feine Oberhobelt anzuerfennen und 925 auch Rothringen ohne 
blutigen Kampf, nur durch weiſe und geſchickte Benugung ber Verhältniſſe, dem Oſt⸗ 
reihe gewonnen, wie auch den König Karl der Weftfranfen vermocht, allen Anfprüchen 
auf das oflfränkifche Reich zu entfagen. 924 fchloß er mit den in Sachfen einge» 
fallenen Ungarn einen Bertrag ab, nach welchem fle gegen einen jährlichen Tribut 
das Sachſenland 9 Jahre zu ſchonen verfprachen, und benupte dieſe Zeit zu durch⸗ 
greifenden Verbefferungen In feinen Erblanden, indem er die offenen Grenzen befeftigte, 
Städte und DOrtfchaften, wie Quedlinburg und Goslar, gründete, und fi vor Allem 
badurch ein Heer fchuf, daß er feine Bafallen mit ihren berittenen Dienflleuten und 
Knechten feinem Aufgebot ſich zu flellen nöthigte. 928 griff er Die Wenden an, er. 
oberte mit der Veſte Brandenburg das ganze Hevellerland, machte 929 bei Lenzen 
ihrer 100,000 Wenden nieder und Hatte 932 mit der Einnahme der Hauptveſte Lebuſa 
in der Laufig auch den lezten Wendenflamm zinspflichtig gemacht. Die in demfelben 
Jahre wieder eingefallenen Ungarn mwurben 933 bei Miade in der goldenen Aue ges 
ſchlagen und zerfireut, und 934 traf Heinrich's Schwert auch die Dänen und im Nor» 
ben wurden bie Länder zwifchen Eider, Treene und Schlei, fpäter die Mark Schleswig 
genannt, die Grenze des Reiches. Bet feinen Tode (936) wurde fein Sohn Otto, 
ald Otto I, zum König gewählt und nach altem Gebrauche in Aachen gejalbt und 
gekroͤnt. Er z0g fogleich gegen die Böhmen, das flreitbarfte flamifche Bolt des Oſtens, 
in's Feld und die wieder aufgeflandenen wendiſchen Stämme befriegte Graf Hermann 
aus dem Haufe der Billinger und wurde dafür zum Markgrafen über ihre Länder 
eingeleht. 937 ſchlug Otto die Ungarn nachdrücklich auf’d Haupt, noch che fle die 
Grenzen Sachſens erreicht hatten. Die folgenden Jahre nahmen feine Thätigkeit für 
innere Zwiftigkeiten in Anſpruch. Zunaͤchſt in Bayern verfuchten die Söhne des ver⸗ 
florbenen Herzogs Arnulf wie Herrſchaft der Sachſen abzufhätteln, wurden aber ſchon 
938 von Dito beflegt, und um die Macht des herzoglichen Haufe® zu brechen, neben 
dem neuen Herzog Berthold ein Pfalggraf in Bayern eingefegt und Ibm die Aufe 
ſicht über alle Königlichen Burgen, Güter und Leben, wie über bie @inkünfte des Her⸗ 
zogthums übertragen. Solches Verfahren reizte die großen Vaſallen des Meiches, 
und bald war auch Herzog Eberhard von Franken in vollem Aufflande gegen ben 
König, und felbft fein Stiefbruder Thankmar ftellte fih auf Seite der Empörer. 
Otto's Lage wurde dadurch noch gefahrvoller, daß auch die Ungarn wieder verheerend 
eingedrungen waren und die Gegend an der Bode verwüfleten. Da fie ſich aber un» 
vorfichtiger Weife theilten, wurden fle von den Sachſen überfallen und meiſtens er- 
Ihlagen, und ſeitdem Hat das nördliche Deutfchland ihre verheerenden Züge nicht 
mehr zu ertragen gehabt. Raum mar 938 Franken durch den Tod Eberhard's und 
die Unterwerfung Thankmar's wieder beruhigt, fo trat Otto's Bruder Heinrih, im 
Bunde mit Herzog Gifelbert von Lothringen in offene Empörung gegen ihn auf. 
Zwei Mal wurde der König auf faſt wunderbare Weife von feinen Feinden befreit; doch 
erſt 941 Fam zum Segen des DBaterlandes eine dauernde Ausföhnung zwifchen beiden 
Brübern zu Stande. Die folgenden frieblichen Meglerungsjahre benugte Otto zur 
Vollendung des begonnenen Werkes der Einigung der deutfchen Stämme und zur Bes 
fefligung und Ausbreitung feiner königlichen Macht. In den Firchlichen Angeleger 


Bagener, Staats n. Gefellich.-Ler. XVII. 47 


138 Sähfihe und Saliſche Kaiſer. 


heiten fland ihm fein jüngfter Bruder Brun trefflich zur Seite, und bie Bekehrungs⸗ 
berfuche unter den dflliden Wenden machten foldhe Fortichritte, daß er 946 das Bis⸗ 
thum Savelberg, 949 das Bisthum Brandenburg zu gründen vermochte. Zur Ver 
wirflihung feines Lieblingsgedankens, der Wiederherſtellung des Kaifertbums, ging 
Dtto 951 nach Italien, Eehrte aber 953 unverrichteter Sache wieder nach Deutichland 
zurüd. Nachdem er 954 aud die Empdrung feines Sohnes Liudolf und feines 
Schwiegerfohnes Konrad von Lothringen glüdlich überwunden hatte, galt es wieber 
die Ungarn zu bekämpfen, weldhe brennend und fengend die deutfchen Bauen ver⸗ 
wüfteten. Anm 10. Auguft 955 ſchlug er fe in offener Feldſchlacht auf dem Lechfelde 
bei Augdburg dermaßen auf's Haupt, dhß fie feitvem nicht wieder in Deutichland er» 
fohlenen find. 961 ging er zum zweiten Mal nach Italien und Fieß fih am 2. Febr. 
962 durch Payft Iohann XII. in Nom feierlich zum Kaifer Erdnen. In den nächflen 
Jahren nahm er in Deutfchland vornehmlich feine kirchlichen und Mifflonspläne wieder 
auf und flärkte Die Macht des Klerus, um ſich ein Gegengewicht gegen die Herzoge 
und Grafen zu fchaffen. 966 ging er, voll der weitfliegendften Pläne, zum dritten 
Mal über die Alpen und nach fehöjährigem Aufenthalt in Italien gelang es ihm, 
bie Bermählung feines Sohnes Otto mit Theophano, der Tochter des abendländifchen 
Kaifers, und damit die Anerkennung des italiichen Kaiſerthums in Konftantinspel, 
durchzufegen. Nach Deutfchland zurüdgekehrt, farb er im Mai 973 im 61. Xebend- 
jahre zu Memleben — der einzige deutsche Kalfer, dem Mit- und Nachwelt den Namen 
eines Großen nicht verwehrt haben. Sein Sohn, Otto II., fhon als Knabe in 
Nom zum Kaifer gekrönt, ergriff ohne jede Störung die Zügel der Megierung, wurde 
aber gleich in lange und gefahrvolle Kämpfe zur Behauptung feine® Erbes verwidelt. 
Nachdem er 974 in Lothringen den Lanpfrieden hergeftellt und in Bayern eine Ver⸗ 
»ſchwörung feined Vetters, des Herzogs SHeinrih von Bayern, mit Glück befämpft 
hatte, warf er noch in demfelben Jahre die Dänen, die wieder über den Grenzwall 
borgedrungen waren, nad Jütland zurüd und machte ihren König Harald auf's 
Reue tributpflichtig. Nach einem mißlungenen Zuge gegen die Böhnten hatte er 976 
wieder den Aufftand des entflohenen Betters Heinrich zu bekämpfen, dem jept Bayern 
entzogen und nad Abtrennung des Herzogthums Kärntben an des Kaifer Freund, 
den Herzog Otto von Schwaben, vergeben wurde. Ein zweiter Zug gegen die Boͤh⸗ 
men mißglüdte 977 ebenfalls, Dagegen gelang es einer neuen, in Bayern ausgebroche⸗ 
nen Berrätherei nach hartem Kampfe der Dttonen gegen bie Heinriche in der Gegend 
von Pafſau, Herr zu werden. 978 burch König Lothar von Frankreich angegriffen, 
drang der Kaifer bis in die Nähe von Paris vor, Tehrte dann aber plöplih um und 
erdffnete einen Feldzug gegen Polen, deifen Herzog Mieczislaw zur Unterwerfung ges. 
nöthigt wurde. Und nun fehlen dem Kalfer der Zeitpunkt gefommen zu fein, das 
begonnene Werk feines Vaters fortzufegen, Italien mit den deutfchen Ländern zu ber 
binden und ein einiged Katferreih berzuftellen, tie e8 Karl der Große beherrſcht 
Hatte. 980 überflieg er die Alpen, fegte in Nom den vertriebenen Papſt Benebiet VL. 
wieder ein und eröffnete einen Feldzug gegen die Araber, der aber 983 mit der Aufs 
Iöfung feines Heeres und feiner Nüdfehr nach Mom endigte. Hier erreichten ihn bie 
betrübenpften Nachrichten aus Deutfchland, wo die Dänen die Veſte am Grenzwall 
niedergebrannt und die Wenden die Städte Brandenburg und Havelberg erobert und 
zerflört hatten. Fortan Eränfelte der Katfer und flarb noch im December 983 im 28. 
Lebensjahre. Weber die Führung der Vormundfchaft feines Ajährigen Sohnes und 
Nachfolgers Dtto IT. erhob fich fofort ein heftiger Streit, in welchem Theophano, 
die Mutter des jungen Königs, Siegerin blieb. Sie ergriff mit männlicher Entfchlofs 
fendeit die Zügel der Negierung und war gemillt, ihrem Sohne fein Erbe zu erhalten. 
Bei ihrem Tode 991 übernahmen Adelheid, die Wittwe Otto des Großen, und Erz⸗ 
biſchof Williges die vormundfchaftliche Megterung und führten faſt ununterbrochen 
Krieg gegen die Wenden, mit denen erfi 996 ein Friede gefchloffen wurde. Als Otte 
enblich felbft zur Negierung Fam, hatte das Anſehen des Reiches nach außen Bin. fehr 
gelitten und auch im Innern waren die einzelnen Theile allmaͤhlich Ioder geworben. 
Noch in demfelben Jahre’ zog der junge König zum erflen Male über die Alpen, fegte 
Papft Gregor V. ein und ließ fh in Mom von ihm zum Kalfer kroͤnen. Mad 


Sädhfihe und Saliſche Kaiſer. 139 


Deutfchland aber brachte er einen eigentbümlichen Hang zu fehwärmerifchen Bußübun⸗ 
gen und phantaſtiſche Lebensanſichten zurüd, um flellte fi fortan das Lebengziel, 
aus dem deutfchen Kaiſerthum ein römifches, nach dem Mufter des byzantiniſchen zu 
machen und die Herrſchaft Roms über alle Welt zu erhöhen. Schon 987 ging er 
zum zweiten Male nah Italien und kehrte im Jahre 1000 nur über bie Alpen 
zurüd, um dad Erzbisthum Gneſen zu gründen - — im December war er ſchon wieder 
in Rom. Dort war das fühliche Italien in offener Empörung und in Deutjchland 
hatte ich ein großer Theil der Herzöge und Grafen in eine Verſchwörung gegen den 
Kaifer eingelafien, der ſelbſt die Beiftlichkeit nicht fremd war. Alles das betrübte ihn 
fo, daß er langſam hinſtechte und 1002 im 22. Lebensjahre zu Palermo farb. 


Gleich nach Otto’s II. Tode traten drei Bewerber um die Krone Des veunſchen Meiches - 


aufs von denen Herzog Heinrich von Bayern über feine Nebenbuhler den Sieg davon 
trug und ald Heinrich I. den deutfchen Thron beſtieg. Er Hatte fogleih nicht 
allein Empdrungen Im Innern zu bekämpfen, fondern auch unter ben fehmwierigften 
Verhältniffen das deutfche Reich im Oſten und Welten zu fchühen. Nach 1004 ge» 
lang e8 ihm, einer von Polen ausgehenden, aber auch in Deutfchland weit verzweig- 
ten Verſchwoͤrung Herr zu werden, an welcher ſelbſt ſein Bruder Theil nahm, und in 
der Lombardei eine aufrühreriſche Bewegung des Grafen Arduin zu unterdrücken. 
1005 zieht er gegen Herzog Boleslaw von Polen ind Feld und nöthigt ihn zum 
Srieden. 1006 bringt er den empdrten Markgrafen Balduin von Flandern zur Ruhe 
und eröffnet 1007 einen neuen Feldzug gegen Polen, ver mit abmechfelnden Glüde 
geführt wird und 1013 mit Polens Anerkennung der Bafallenfchaft endet. Im Win- 
ter deſſelben Jahres zieht Heinrich zum zweiten Mal nach Italien und läßt fih 1014 
durch Papſt Benepict VII. zum Kalfer frönen. Ein neuer Krieg‘ mit Bolen 1015 
nimmt eine fo gefährliche Wendung, daß der Kaiſer froh ift, durch den Frieden zu 
Baugen 1018 in dem früheren Beſitzftande zu verbleiben. Die folgenden Jahre ver- 
langen feine Gegenwart in Lothringen und Schwaben zur Beilegung von Bamilien« 
handeln, und 1022 geht ex noch einmal über die Alpen und führt einen kurzen Krieg 
gegen die Griechen, die in die Iongobarbifchen Fürftenthilimer eingefallen waren. In feinen 
legten Lebensjahren befchäftigte ſich Heinrich ernfllih mit Durchführung einer Kirchenre⸗ 
form und flarb im Juli 1024 zu Grona bei Göttingen. Bon den beiden einzigen Verwand⸗ 
ten des Kaiſers folgte ihm Konrad, ein Urenkel Herzog Konrad’8 von Lothringen, ald Ko n- 
rad I. und damit befteigt bie fraͤnkiſche oder falifche Linie den Thron des deutfchen Reiches. 
Auch er hatte in den erften Jahren feiner Negierung Empdrungen im Innern nieder 
zuhalten, konnte aber ſchon 1027 nach Stalien geben und ſich durch Papft Johann XIX. 
zum Kaifer krönen laffen. 1029 führte er ein Heer längs der Donau nach Ungarn, 
wurde aber bald wieder zum Nüdzug genöthigt, und 1031 gelang es ihm nur durch 


Zwiftigfeiten, die er dem Herzog Mierzislam von Polen in feinem eigenen Lande zu 


erweden wußte, biefen zum Frieden und zur Abtretung der Nieberlaufig und ber 
ſaͤchſiſchen Oſtmark zu nöthigen. Wichtiger war 1034 die Erwerbung von Burgund, 
welche zugleich die Machthöhe der Megierungdzeit Konrad's bezeichnet. 1036 ging 
der Raifer zum zweiten Male nach Italien, um dort Ruhe und Ordnung wieder her- 
zuftelfen, farb aber, kaum nach Deutfchland zurüdgekehrt, fhon 1039 im 60. Lebens⸗ 
jahre zu Utrecht. Sein längſt gefrönter 22jähriger Sohn folgt dem Vater ald Hein- 
rich Mi. Noch nie Hatte ein deutfcher Fürſt eine Macht überfommen wie er. Unbe⸗ 
firktten fiel ihm in Deutfchland, Italien und Burgund die königliche Macht zu, die 
Ariſtokratie Deutfchlands war tief gebeugt und der Kleruß ganz von der Krone ab» 
hangig. Das Papſtthum lag in Sünde und Schande, in Frankreich herrfchte die 
Hägliäke Obnmadt, Polen war in vollftändiger Auflöfung, und die beiden größten 
Seinde der Deutfchen, Knud der Große von Dänemark und Stephan der Heilige von 
Ungarn, waren aus dem Leben gefchieden. Gleich in den erften Jahren feiner Regie⸗ 
sung zeigte Heinrich, wohin feine Pläne gingen. Er wollte das ganze Abendland 
unter feinen Scepter bringen, eine allgemeine Reformation der Kirche durchführen und 
fidatliches wie geiftliches Mecht zur Geltung bringen. 1042 drang er weit in Ungarn 
ein und gewann dem deutſchen Reiche dad Land von der Fiſcha bie zur Leitha- und 
Mark Mündung. 1044 ſchlug er die Ungarn unweit Ragb und fehte den vertriebenen 
47* 


N 


% 


240 Saͤchſiche und Saliſche Kelfer. 


König Beier wieder auf den Thron. Um dem kirchlichen Unwefen in Italien ein Ende zu 
machen, unternahm er 1046 den exften Roͤmerzug. Er befeitigte Die drei ſich gegen⸗ 
feitig befämpfenden Päpfte und fegte Element II. und nad defien bald erfolgendem 
Tode Leo IX, auf den päpfllihen Stuhl. Fortan ging er Hand in Hand mit dieſem 
Papfte, der auf höchſt energifhe Weile die Kirchenreform durchzuführen firebte und 
namentlich gegen die Simonie, den Berfauf der Aemter und Würden, einen unerbitt⸗ 
lichen Kampf führte. In Deutfchlend gelang es ihm, 1050 Heinrich den Bärtigen 
und Balduin von &landern für einige Zeit zur Ruhe zu bringen. 1051 und 1052 
führt er auf's Neue, aber vergeblich, ein Heer nach Ungarn, dämpft in Bahern einen 
Aufruhr und zieht gegen den wieder aufgeflandenen. Balduin zu Felde. Der Tod 
Leo's IX. ruft ihn 1054 zum zweiten Mal nad Italien, wo er Papfſt Spivefer IL 
einfegt und auf dem Heimmege nad Deutfchland fchnell eine neue Bewegung in 
Bayern unterdrüdt. 1056 waren im Oſten die Ungarn und die Liutizen gleichzeitig 
gegen des Kaiſers Oberhoheit aufgeftanden, und im Weſten hatte König Heinrich von 
Frankreich mit Balduin von Flandern gemeinſchaftliche Sache gemacht, ald er im 
Detober zu Bodfeld im Harze farb. Für den kaum fechsjährigen König Heintidy IV. 
übernahm zunädhft feine Mutter die Megierung und verfuhr mit vieler Mäßigung und 
Klugheit, vermochte aber der 1059 durch Papft Nikolaus I. erlaffenen, die 
echte des Kaiferd offenbar beeinträchtigenden Verordnung, daß fortan bie 
Papſtwahl nicht mehr durch das Boll, fondern durh die Gardinäle vollzogen 
werden follte, nur durch Aufftelung eines Gegenpapfled entgegen zu treien. 
Bald Hatte feH auch, mit Bifhof Anno von Köln an der Spike, eine 
Verfhwörung gegen bie vormundfchaftliche Megierung gebildet, der es 1062 gelang, 
den jungen König und damit die Regierung felbft in ihre Gewalt zu bringen. Anno, 
fo wie die meiften Großen des Reiches, fuchten fich fo viel als möglich zu bereichern, 
während. fle den jungen König fich felbft überließen. Daher geſchah es, daß 1066 
die Obotriten und Liutizen die Täftigen Feſſeln des Chriſtenthums abwarfen, die Städte 
Hamburg und Schleswig zerflörten und das Heidenthum wieder annabmen. Als 
Heinrich endlich felbft die Megierung übernahm, Hatte fein Charafter durch Die ver» 
ſchiedenen Erziehungsarten eine Richtung erhalten, die ihn alle Schranken feiner 
Gewalt als feindfelig betrachten und die Föniglihe Würde ald das höoͤchſte Gut ans 
fehen ließ. Er begann damit, bie Sachen fo willfürlih zu behandeln, daß ſchon 
1067 eine Verſchwoͤrung gegen ihn ausbrach, die er aber mit leichter Mühe bändigte. 
Nor einer zweiten Verſchwörung Fonnte er fih 1073 nur durch die Flucht retten; 
als er die Sachen aber 1075 bei Hohenburg total gefchlagen hatte, ließ er fle feinen 
ganzen Zorn fühlen. Nun aber wurbe feine ganze Aufmerkfamfeit auf Ron gelenkt, 
wo Hildebrand, feit Leo IX. die Seele aller Handlungen der Paͤpſte, ald Gregor VI. 
den Stuhl Petri beftiegen hatte. Er warf ſich zunähft zum Schiedärichter in dem 
Streite des Königs mit den Sachſen auf und frtte 1075 auf der Kirchenverfamms 
lung zu Rom das Verbot ber Inveflitur, das heißt der Belehnung der Geiſtlichkeit 
mit Ring und Stab durch den Kaifer, durch. Sofort berief Heinrich in Deutfchland 
eine Kirchenverfammlung und ließ Gregor abfegen, und biefer antwortete damit, dap 
ee den König in den Bann that. Und fo groß war damals ſchon die Macht des 
Papftes, daß fogleich die meiften Großen von Heinrich abflelen und ihm nichtd übrig 
blieb, ald nah Italien zu geben und perſönlich die Löfung des Banned vom Papſte 
nachzuſuchen. Im Vorhofe von Canoſſa mußte er im mollenen Büßerbembe bei der 
bitterften Kälte 3° Tage lang Buße thun, ehe Gregor den Bann von ihm nahm. Ju 
Deutichland war unterbefien in Nubolf von Schwaben ein Gegenkönig aufgeſtellt 
worden, und als 1077 auch Heinrich plößlich wieder erfcheint und beide Könige nun, 
ſich gegenfeitig befehdend, raubend und plündernd das Land durchziehen, beginnt eine 
trübe Zeit für das deutfche Reich. Erft ald 1080 in der Schlacht bei Flarchheim 
Rudolf fallt, Schließen beide Parteien einen Waffenftillkand, welchen Heinrich zu einem 
Zuge nad Italien benutzt, um Gregor VIL auf der Kirchenverfammlung zu Pavia 
nochmals abfegen zu lafien. 1084. öffnet ihm auch Rom feine Thgre und der Gegen« 
papft Elemens III Erönt ihn zum Kaifer. In Deutfchland wird durch bie Wahl eines 
neuen Gegenfönigs der Bürgerkrieg wieder angefacht, den auch des Kaifers Rückkehr 


1 — — nu Be - 


Sad (Friedr. Samuel Gotifrled). | 741 


nicht zu dämpfen vermag, ja bie auf's Neue beleldigten Sachfen fhlagen ihn 1086 
Hei Bleihfeld, fo daß er flüchten mußte. 1090 gebt er zum dritten Male nach Italien, 
und obdgleih Anfangs glücklich, verliert er bald alles gewonnene Land wieder und 
felbft fein Sohn Konrad erklärt fih gegen ihn. Erſt 1097 gelingt e8 dem nad 
Deutfchland zurückgekehrten Kaifer nah und nad wieder, einige Ruhe und Ordnung 
berzuftellen, fo daß er 1098 feinen zweiten Sohn Heinrih in Aachen zum König 
frönen laffen und 1100 einen allgemeimn Landfrieden außsfchreiben kann. Doc ſchon 
1105 gelang es feinen Feinden, ihm auch feinen Sohn Heinrich abwendig zu machen, 
fa diefer fcheute fich nicht, den Vater binterlifliger Weife gefangen zu nehmen und 
zur Abdanfung zu zwingen. Aus der Haft entflohen, wollte der Kaifer 1106 zu 
Unterbandlungen mit feinem Sohne in Aachen zufammenfommen, als ihn der Tod 
ereilte. Sein fogleich überall anerfannter Sohn Heinrich V. firebte fofort dahin, die 
alten Vorrechte des Regiments gegen die Fürften zu behaupten und das Recht der 
Inveftitur in Teinem Balle gegen den Papſt aufzugeben. Zunaächſt benugte ev die 
innere Ruhe des Reiches, fein geſunkenes Anfehen in Böhmen, Polen und Ungarn 
wieder herzuſtellen. 1110 gebt er über die Alpen, behauptet gegen den Papft Das 
Recht der Inveftitur und Laßt fih 1111 zum Kaiſer Trönen. Uber kaum hat er 
Italien den Rücken gekehrt, fo bricht der Papſt den eingegangenen Vertrag und fpricht 
den Bann Über ihn aus. A114 mar der Katfer im Meiche ſchon fo mißliebig gemor- 
den, daß fi, mit Bifhof Friedrih von Köln an der Spige, eine Verfchwörung gegen 
ihn bildete, und als er 1115 von den Sadhfen am Welfelöholze geſchlagen wurde, 
fielen die meiften feiner Anhänger von ihm ab. Dieſes Hinderte ihn aber nicht, 1116 
nah Rom zu geben und einen Gegenpapfi aufzuftellen. 1119 ſchließt er mit den 
weltlichen Großen zu Tribur einen Vergleich ab, als Ihn aber In demfelben. Jahre 
der Papſt auf's Neue mit dem Banne belegt, wird er bald wieder von Allen ver. 
lafſen und muß froh fein, 1122 unter Aufgabe des Mechted ver Inveflitur feinen 
Srieden mit der Kirche fchließen zu Fünnen. So war denn endlich der Streit, ber 
länger als ein halbes Jahrhundert gewährt hatte, zu Gunften des Papſtthums ent⸗ 
fihieden worden. Im Jahre 1124 unternahm er noch einen Feldzug gegen Frankreich, 
der aber ohne Mefultate blieb, und Hatte 1125 eben einen allgemeinen Landfrieden 
auögefchrieben, ald er am 23. Mat zu Utrecht flarb. Meber die nächftfolgende Zeit 
ſiehe den Art. Sohenftanfen. | 

Sähfiihe Schweiz f. Sachſen. | | 

Sad (Friedr. Samuel Gottfr.), deutfcher veformirter Geiftlicher und einer der Erften, 
die in Preußen die Union (f. d. Art.) angeregt haben. Er ift 1738 in Magde⸗ 


burg geboren, wo fein Vater Aug. Frieder. Wilhelm S. Prediger war. Ders 


felbe wurde jedoch von dem König Friedrich Wilhelm I. kurz vor deſſen Tode nach 
Berlin berufen und ließ daſelbſt feinen Sohn das Joachimsthalſche Gymnaſtum bes 
ſuchen und darauf zu Frankfurt a. O. Theologie fludiren. Schon auf der Univerfi« 
tät, fagt S. ſelbſt in feiner Autobiographie („Bildniſſe jegt lebender Berliner Ges 
lehrten, mit ihren Selbftbiographieen", Berlin 1806) „Ieuchtete e8 ihm ein, daß 
Bibellehre und Dogmatik fehr von einander verfchieden ſeien.“ Bald darauf, nachdem 
er (1757) die Univerfität verlaffen Hatte, machte er eine Reiſe nach England und 
ward nach feiner Rückkehr von dort (1759) Erzieher eined jungen Grafen v. Finden 


“Hein und begleitete denfelben 1767, nachdem er der Pringeffin Wilhelmine, Schwefter 


des fpätern Königs Friedrich Wilhelm II., in der englifhen Sprache, ®eographie 
und Geſchichte Unterricht gegeben, auf die Univerfltät von Frankfurt. Während er 
hier die Studien feines Zöglings leitete, erhielt er 1768 von dem reformirten Kir- 
hendirectorium einen Ruf an die Deutfche reformirte Kirche zu Magdeburg und folgte 
demfelben das Jahr darauf, nachdem er feinen Zögling bis zum Schluß von deflen 
Univerfitätöcurfus geleitet hatte. Das Fahr darauf verheirathete er ſich mit der Toch— 
ter des Iutherifchen Geiftlihen Spalding (f. d. Art), „Diefe Verbindung, fagt 
er felbft, gehörte des Mirchlichen Unterſchiedes wegen damals noch zu den feltenen; doch 
veranlaßte fie mehr Befremdung als Anftoß; warb eher gebilligt als getabelt.” 1777 
ward er als fünfter Hof- und Domprediger nach Berlin berufen und am erſten Tage 
nach der Thronbeſteigung des Königs Briedrih Wilhelm IL zum Ober « Eonfiftorials 


142 | Sad (Karl Heinrich). 


rath ernannt; auch wurbe ihm bald darauf die Meligiond-Unterweifung des Kronprins 
zen und der übrigen Föniglichen Kinder übertragen. Zwei Jahre darauf (1788) er 
ſchien das Neligions-Edict, über welched der Art. Wöllner nachzuſehen if. ©. ſelbſt 
fagt über feine Stellung zu demfelben: „Nach dem Berhältniß, in welddem id mich 
befand und da auch mir befonders im Eöniglichen Gabinetsfchreiben befohlen ward, 
was und wie ich lehren, folglich auch, was und wie ich glauben follte, Hielt ich mich 
für verpflichtet, meine Meinung laut werden zu laffen, Ich ließ es mein erfled Ge⸗ 
fchäft fein, meine Bedenklichfeiten dagegen und meine Beforgniß der nachtheiligen 
Bolgen, die es bervorbringen würde, in ein Promemoria zu bringen und freimütbig 
zu erklären, daß ich mich in dem Falle derer befände, welche, ohne zu heucheln, ſich 
den Beflimmungen des publicirten Geſetzes ‚nicht unterwerfen Fönnten. Da mir das 
hoͤchſt wichtige Gefchäft anvertraut war, die Eönigliche Jugend in der chriſtlichen Re⸗ 
ligion zu unterrichten, fo hielt ich es für Gewiffenspflicht, zu erklären, daß ich von 
meiner biäherigen Lehrart nicht abweichen Fönnte und. würde und es alfo höherer Bes 
urtbeilung überlaffen müßte, ob ich bei meiner Anflcht der Sache in meinem Boften 
fernerhin gelaffen werden könnte. Diefe Vorftellung überfandte ih am 26. Auguft 
dem Chef des veformirten geiftlihen Departements, Freiherrn v. Dörnberg, mit ber 
Bitte, fle Höchften Orts vorzulegen, theilte fle aber zugleich den Minifter v. Wöllner 
abfchriftlih mit. Wenige Tage nachher glaubten die Ober-Eonfiftorialräthe Spalding, 
Teller, Büſching und Dieterih e8 ihrem Amte und ihrem Gharafter ſchuldig zu fein, 
eine gleiche Borftellung gegen die ergriffene Maßregel vor den Thron zu bringen. Sie 
ward bon mir aufgefegt und mit unterjchrieben und, nach zuvor erhaltener Erlaubniß, 
Str. Mafeflät am 5. September vorgelegt. Ich felbft erhielt nie eine beftimmte Bes 
Scheidung; aber durch fehr Heftige Nefcripte wurden die Ober » Gonflftorialräthe mit 
ihren @inmendungen und Borfchlägen unter Drohungen abgewiefen. Sie behielten 
ihre Grundfäße und erwarteten ruhig die Wirkungen oder das Aufhören bes 
Sturms.“ Inzwiſchen gaben Spalding und Teller ihre Prebigerftellen auf; der Erftere 
trat von feinem Poſten überhaupt: zurüd; S. dagegen ging unbeläftigt durch die 
Krifts hindurch. 1804 erfchien zu-Berlin feine Schrift: „Leber die Berbefferung bes 
Zandſchulweſens, vornämlich in der Churmark Brandenburg”; diefelbe war urſprüng⸗ 
li ein Gutachten, welches er beim Oberconfiftorium abgegeben hatte, und ift nicht 
ohne Einfluß auf die Fortbildung des preußiſchen Schulmeiend geblieben. Ebenſo 
if feine Schrift: „Ueber die Bereinigung der beiden proteflantifchen Kircdhenparteien 
in der preußifgen Monarchie" (Berlin 1812. 2. Aufl. 1818) für die Befchichte der 
Unton von Bedeutung; diefelbe ward vom König Friedrich Wilhelm IM. beifällig aufe 
genommen und der Verfaſſer 1814 zum Vorfigenden der Commiſſion ernannt, welche 
Borfchläge zur Erneuerung des gefammten Kirchenweiens außdarbeiten follte. Er felbft 
wurde 1816 zum Bifhof erhoben und flarb den 2. October 1817. — Bon feinen- 
Schriften find neben feinen „Predigten” (Berlin 1781, 2. Aufl. 1788), den „Amts 
reden" (Berlin 1804) und der Ueberfegung von Hugo Blair's Predigten (Leipzig 
1781—1800), deren vierter Band von Schleiermacher zum Theil, der fünfte Band 
vollftändig herrührt, feine „LXebensbefchreibung U. Fr. W. Sack's nebft einigen von 
ihm binterlaffenen Briefen und Schriften® (Berlin 1789. 2 Bde.) zu erwähnen. 
Sal (Karl Henri), evangelifcyer Theologe, der Sohn des Vorigen, geboren 
den 17. Octbr. 1790 zu Berlin, bezog 1807 die Liniverfität Göttingen, wo er An⸗ 
fangs die Rechte, fodann Theologie fludirte, worauf er in Berlin noch drei Jahre 
hindurch Vorlefungen hörte. 1813 nahm er als freiwilliger Jäger, 1815 als Brigade⸗ 
Prediger beim dritten Armeecorps an den Beldzügen Theil. 1814 erfchienen zu Ber- 
lin feine ſchon 1812 verfaßten „Reden an deutiche Jünglinge über Werth und Weiz 
der Theologie und des geiftlihen Standes.” Die Frucht feiner 1816 unternomme- 
nen Reife nach England waren die „Anfichten und Beobachtungen über Religion und 
Kirche in England" (Berlin 1818), fo wie einer fpäter (1843) unternommenen Reife nach 
Schottland die Schrift: Die Kirche von Schottland” (Heidelb. 1844—1845. 2 Bde). 
1817 Habilitirte er ſich an der tbeologifchen Facultät zu Berlin, fam das Jahr Darauf als‘ 
außerordentlicher Profeſſor nach Bonn und ward bafelbf 1823 ordentlicher Brofeffor der 
Theologie, nachdem er bereit 1819 das Amt eines Pfarrers der evangeliichen Gemeinde von 


m — I m — — 


- —— 


Sadville (Lord George). Ä 243 


Bonn erhalten hatte, welches er bis 1834 verwaltete. Auf feine theologiſche Entwickelung 
hatte beſonders Schleiermacher Einfluß ausgeübt; doch verband er mit deſſen dialekti⸗ 
fcher Richtung ein ſtrengeres Feſthalten am Pofltigen, namentlih an ver Autorität der 
Bibel. Zeugen diefer feiner Vereinigung der Schleiermacher'ſchen Dialeftit mit dem 
Poſitiven find feine Schriften: „Bom Worte Gottes” (Bonn 1825), fein Beitrag zu 
der von ihm, Nitzſch und Lüde Heraudgegebenen Schrift: „Ueber das Anſehen der 
heil. Schrift und ihr Verhältniß zur Glaubensregel“ (Bann 1827), die „Ebriftliche 
Apologetik“ (Hamburg 1829. 2. Aufl. 1841) und die „Ehriflliche Polemik“ (Ham⸗ 
burg 1838), ferner die mit feinem Altern Bruder heraudgegebenen „Brebigten” (Bonn 
1835) und bie ihm allein angehörigen „Brebigten” (Berlin 1850). Anonym hatte 
ee (Eſſen 1823) „Briefe über die Union der beiden evangelifhen Kirchen“ beraudgegeben. 
1832 erfchiep zu Elberfeld fein Gedicht: „Die Böttlichkeit der Bibel.” Zeugniß feis 
ner Pfarrthaͤtigkeit, ift der „Katechismus der chriftlichen Lehre für Die Jugend evangel. 
Gemeinden" (Bonn 1819. 2. Aufl. 1834). 1846 wohnte er als Abgeordneter der 
evangelifch-theologifchen Facultät von Bonn der Generalfgnode zu Berlin bei; 1847 
ward er Mitglied des Conſiſtoriums der Provinz Sachen zu Magdeburg. — Sein 
älterer Bruder Friedr. Ferdinand Adolph ©., geb. den 16. Juli 1788, gef. 
den 16. Oetbr. 1842 als Oberhofprediger und Conſiſtorialrath zu Berlin, bat ver 
Beit von 1813 — 1815 folgende Bedichte gewidmet: „Neun Gedichte in Bezug auf 
bie großen Greigniffe der legten Jahre“ (Berlin 1814), „An meine Mitbürger“ (Ber- 
lin 1814) und „Das Jahr des Friedens“ (Berlin 1815). 
geden ſ. Often Saden. 

adville (Lord George), Tpäter nach feinem ererbten Landgut Lord Germaine 
genannt, endlich als Viscount ©. zur Pairie erhoben, war ein jüngerer Sohn des 
erfien Herzogs und legten Grafen von Dorfet. Sein altes und berühmte Gefchlecht 
war befonders durch Kunflfinn audgezeichnet. So gedenken der Familie Macaulay und 
Mahon. Der Leptere erwähnt (Gefchichte von England, Eap. 50) ihres „alten grauen 
Stammflges Knole, wo verborgen in gleichaltrigen Buchenhainen, die begabte Familie 
&., die jegt in der männlichen Linie erlojchen iſt, ſich ſowohl als Theilhaber wie als 
Beſchuͤtzer von geiftiger Bedeutung erwies." George S. war 1716 geboren. Kühnen 
und flolzen Geiſtes hatte er früh Kriegsdienſte genommen und ohne Tadel gedient, 
war dann während der irischen DVicekönigichaft ſeines Vaters Secretär von Jrland 
geweien und Hatte im irischen Unterhaufe ſich als klarer und geiflreicher Debattirer 
bewährt. Im flebenjährigen Kriege war er der Zmweitcommandirende der 10—12,000 
britiſchen Soldaten, die unter Ferdinand von Braunfchweig fochten. In der Cam⸗ 
pagne von 1759 war nach dem Tode des Herzogs von Marlborougb das Kommando 
an ©. gefallen. Als es zur Schlacht von Minden fam und die franzöflfche Cavallerie 
nach vergeblichen Berfuchen, das Centrum der Deutfchen zu durchbrechen, ſich zum 


Muückzuge wendete, erging an ©., der diesmal Die ganze englifche und einige deutſche 


Gavallerie auf dem linken Flügel der Alliirten als Reſerve befehligte, Die dringende 
Aufforderung des Herzogs, fich fogleih an Verfolgung der Branzofen zu machen, 
bevor. fie ſich ſammelten. Unzweifelhaft waren fie dann verloren, wie die Ausfagen 
ihrer eigenen Gefchichtöfchreiber darthbun. „L’armee de Contades devait ätre antanlie; 
bommes, chevaux, canons, drapeaux, tout serait tomb& aux mains de l’enuemi“, 
fagt. Sismondi, Histoire des Frangais, val. 29, p. 197. Umnbegreifliderweife aber 
gehorchte ©. nicht... Vergeblich ſchickte Ferdinand ihm einen deutfchen und zwei eng⸗ 
liſche Adiutanten mit erneuten Befehlen; S. erwiderte, Se. Hoheit konne nicht die 
Abficht Haben, Die Linte zu unterbrechen; ‘er müfle felbft darüber mit dem Prinzen 
fprehen. Inzwiſchen hatte biefer voll Unmuths den Marquis von Granby mit der 
zweiten Linie. vorchden laffen. Doch war es nicht mehr möglih, die durch S.'s 
Zögern verlorene halbe Stunde wieder nachzuholen. Contades entlam, wenn auch 
mit großen Derluften, welche ibm die in feinem Ruͤcken gelungene Aufftellung des 
Erbprinzen von Braunſchweig zufügte. Am Abend des Sieges erfchien S. an der 
Zafel des Prinzen, der zu den umſtehenden Offizieren feine Verwunderung äußerte, 
ohne indeß fich weiter Öffentlich zu äußern. In dem nächften Tagesbefehl indeß brüdte 
es feine Ueberzeugung aus, daß, wenn bad Glück, gewollt hätte, daß Lord Brandy 


— M 


744 Saerament. 


die Cavallerie des rechten Flügels tommandirt haben würde, die Entfcheibung des 
Tages glaͤnzender ausgefallen fein mürde; worauf ©. ſogleich feinen Abſchied nahm. 
Hatte die deutfche Armee ihn mit Verachtung behandelt, fo empfing ihn in England, 


wo Ferdinand allgemein gefeiert wurde, vollfommener Abſcheu. Pitt der Aeltere, 


bon feinen Erklärungen unbefriedigt, entließ Ihn von allen feinen militäriſchen Poſten 
und aus dem Geheimen Rath. Dennoch trat Anfangs 1760 das ihm. verfprachene 
Kriegsgericht zufammen, nicht ohne Bedenken, ob es gegen einen aus der Armee Ge⸗ 
floßenen noch verhandeln fönne. Die Zeugenaußfagen ſprachen gegen ©. Er ſelbſt 
konnte nur einen nicht wefentlichen Widerfprurh in zwei verfchiedenen Befehlen für fi 
anführen. Er wurde daher trog feiner höͤchſt beredten und geſchickten, wenn aud 
gegen die Nichter hochmüthigen Vertheidigung, für unfähig erklärt, jemals wieder 
dem Könige ald Soldat zu dienen. Lord Mahon, ein megen feiner Gerechtigkeits⸗ 
liebe mwohlberufener Geſchichtsſchreiber, billigt in feiner Gefchichte von England, Cap. 36, 
Died Urtheil. Don den zwei Fragen, die betreffö der Beweggründe S.'s vorlagen, 
ob diefer von einer plöglichen Lähmung feines Muths, wie fle bei veigbaren Näturen 
mitunter plöglich eintritt, befallen worden fet, oder ob er vielmehr aus Neid gegen 
Ferdinand unthätig geblieben fei, bejaht Mahon die erflere, während Archenholz, Ber 


ſchichte des Tiährigen Krieges, Bd. 11 ©. 22, und Sismondi, a. a. DO. ©. 198, 


fih für Die zweite entfcheiden. Die Laufbahn S.'s war mit jener Niederlage nichts 
weniger ald abgefchloffen. Voll Bemußtfein feiner Bähigfeiten und unbeugfamen 
Stolzes trat er bald als Redner im Unterbaufe auf. Beſonders tadelnd fpradh er 
1762 gegen die verſchwenderiſchen Subfivienzahlungen Pitt's an Deutfchland, Juorauf 
ihn der Angegriffene beftig fchmähte und zu der berühmten Scene fortgeriffen murbe, 
indem er ausrief: „Wenn er (S.) meint, daß mit dem Gelde nicht reines Spiel ger 
trieben wurde, Ich weiß nichts davon”; wobei er zugleich feine Hände ausſtreckte und 
die Finger bin und ber bewegend hinzufügte: „Diefe Hände find rein, es klebt nichts 
davon an ihnen!" 1766 wurde ©. Durch den mächtigen Einfluß feiner Familie wieder 
in den Geheimen Rath eingeführt, obgleih Pitt dies als eine Beletvigung gegen den 
verflorbenen König und feine Minifter bitter beklagte und betheuerte, daß er ſelbſt 
nie an einem,Tifcy mit ©. figen werde. Cine höhnifche Anfpielung eines Mr. John⸗ 
ftone 1771 auf jene alten DBorgänge führte zu einem erfolglofen Duell, dad ©. 
wenigſtens von dem Vorwurf der Feigheit befreite... 1775 wurde er als entfühiebener 
Anhänger firenger Maßregeln gegen die Colonieen amerifanifcher Serretär. Go gut 
er nun aud feine Kollegen berieth, wie er denn im Unterhauſe nähft Lord North 
führender Minifter war, fo fchadete er anf der andern Seite durch feine Neigung, mit 
ihnen und feinen Untergebenen in Streit zu geratben. Die Abberufung der Heerführer 
Sir Buy GBarleton und Sir William Howe war folhen Beranlaffungen zuzuschreiben. 
Diefe „malevolence of mind* murde felbft von Georg III. mit Entrüflung getabelt. 
Doch mußte ihm der Mann theuer bleiben, der felbft noch 1782, als die Trennung 
Amerika’s felbft Lord North unabwendbar ſchien, erklärte, daß, welches auch die Folgen 
fein möchten, er als Minifter niemald einen Vertrag unterzeichnen mürbe, der Amerika 
Unabhängigkeit zufpräde. Als S. deshalb beim Einlelten frienlicher Mapregeln feinen 
Abſchied nehmen mußte, erbob ihn der König zur Pairie, damit „Niemand fagen 
fönne, er fei in Ungnade gefallen." Als diefe Ernennung veröffentliht wurde, er» 
innerte man fich wieder des Mindener Vorfalld und der Marquis von Gaermarthen 
beantragte, die Verleihung als der Ehre des Oberhauſes nachtheilig zu erklären. 
Unter Pitt flügte er beſonders befien iriſche Politik. Er ſtarb 1785. Intereffante Mit⸗ 
theilungen über ihn finden fi in Wraxall's posthumous memoirs 1834, Band L 
Sarrament. Die Leugnung des Sapes, das Irdifche fet ein Träger des Himm⸗ 
liſchen, hebt au die Wahrheit von der Schöpfung des Wenfchen nach dem Eben⸗ 
bilde Gottes auf; ja laßt nicht einmal übrig, daß die Welt die DOffenburung eines 
Höheren als die Welt ſei. Wem die Welt völlig das PBrofane if, eine Stätte deB 
Bdttlichen nur nach Taͤuſchung fuchendem MRißbrauche des Wortes, dem find die Hei⸗ 
ligthümer der Völker vielleiht Schönheit und Poeſte, Abbilder der Weishelt und 
Tugend, aber Feine Sarra; das Sarrament wird er aber jenfeit der Grenze finden, 
an welcher jedenfalls umzukehren ſei. Nämlih in der bei Kirchenſchriftſtellern ger 


Sacrament. | 155 


braͤuchlichen Bedeutung des Wortes, welches ja fonft In der Iateinifchen Sprache auch 

ein deponirtes Pfand, einen abgelegten Eid, oder eingegangene Verbindung und Ver⸗ 
abredung bezeichnet. Iſt jedoch das Irdiſche und Weltliche dem Böttlichen, gegen- 

fäglih dem Dämonifchen zuganglich, wie alles gefchichtliche Leben dieſe Wahrheit 

„ſtets im Blauben oder im Aberglauben bezeugt bat, fo koͤnnen die Beziehungen in 
verfihledener Weife eintreten. Neben der ertenfiven Fülle, daß alle Dinge durch das 

kraͤftige Wort Gottes getragen find, tritt die intenflve Kraft, daß dem aus Erbe ges 

formten Menſchen ein Athem aus Bott eingehaudt iſt; aber auch das Sacrament, 

daß Heflimmte Dinge dur das Wort Gottes glievlihe Einfügungen zur Herüber- 

nahme des Menjchen aus der Entwidelung der Sünde in das Reich Bottes werben. 

Bleibt die Ewigkeit deg Meiches Gottes ungefchmälert durch den Eintritt in Raum 

and Zeit, durch wie dinglihe Seite des Sacraments muß nicht mit Nothwendigkeit 

bie Schranke des in ihr gegenwärtigen örtlichen fein. Wir Haben hiermit den alt« 
kirchlichen Canon zur Bellimmung deffen, was Sacrament fei, voraudgenommen: 
accedit verbum ad elementum et ft sacramentum. Das Wort verbum, 6 Aöyos nicht 
lo8gelöft von feinem Urfprunge und feiner Quelle und ohnmächtig geworden in dem 

Munde ded Menſchen, fondern als Ausdruck und inhaltsvolle Form des Willens und 

der Weisheit Gottes, die wahre Mealität aller Dinge, an welche es berantritt und 

fie in fi aufnimmt. Eben fo wie das Wort der Predigt nicht als die Vibration 

der Luft und der artieulirte Ton der menfchlichen Stimme, fondern als die das wirk⸗ 

Tihe Weſen Gottes außfprechende Offenbarung fchärfer iſt als Fein zweiſchneidiges 
Schwert. Dedmegen ift aber auch Feine Beflimmung aus fonft immerhin mahren 

Sägen zu ziehen, jondern einfach zu ermägen, wie das Wort Gottes laute, welches 

dur Offenbarung ermählten Dingen Gehalt des Sacramentes wird. Aus welder 
Wahrheit fi auch zunächft die Anzahl der Sacramente unter Wahrung des altfirdhe 

lichen Ganon wird feftfiellen laſſen, «8 fei daB Sacrament eine heilige Handlung, in 

welcher der Menſch vorgefchriebene Beziehung zu einem der Willfür entzogenen Ele 

mente nehme, dent feine eigentlich facramentale Kraft durch ein beflimmt gegebenes 
Gotteswort herantrete. Man kann der römifchen Kirche nicht das Recht beflreiten, 

- das Wort Sacrament in einem weiteren Begriffe zu fallen und jede auetorifirte hei— 
| ge und fegensreihe Handlung aljo zu nennen. Hat diefe Kirche jo 7 Sacramente 
und weiß man aus Kenntniß des geſchichtlichen Verlaufes, daß die Erfüllung der 
heiligen Zahl fleben Hierbei von Wichtigfeit war, fo bleibt bei urgirter Unter⸗ 
ſcheidung zwifchen Klerus und Laien die Verlegenheit, daß diefe der Prieftermeihe, 
jene der Ehe entbehren mäffen, alfo auf jede Seite immer nur 6 Sacramente fommen. 
Denn die 7 Saeramente der rdmifchen Kirche find: Abendmahl, Taufe, Buße, Firme- 
lung, legte Delung, Ehe, PBrieftermeige. "Aber alle Anerkennung kirchlicher Auctorität 
für @ultus und Dogmenbildung wird nie einen birecten Befehl und beſtimmtes Wort 
Gottes oder Ehrifli für einen Theil dieſer Sacramente nachweiſen können, und einem 
andern fehlt wieder das Element, zu welchem das Wort hinzutrete. War anfänglich 
Melanchthon geneigt, die Buße um ihrer tiefgreifenden Bedeutung willen ein Sacra- 
ment zu nennen, fo konnte er doch die Einſicht nicht abmeifen, da® in der Taufe Im 
Namen des Baterd, des Sohnes und des heiligen Geiſtes badende Wafler, das von 
Ghrifto zum Genuffe mit den Worten: das ift mein Leib, bargereichte Brod fammt 
dem Weine fländen in ber chriftlichen Kirche fo einzigartig da, um wohl die Sonder 
rung und die Auszeichnung eines eignen Namend zu beanfpruchen. Zumal auch bie 
Zeugniffe der älteften Kirche beurkfunden, daß dieſelbe Eeinen @ultusact auch nur im 
entfernften gleicher Würbe als diefe beiden Sacramente erachtet habe. Hinzu kommt, 
daß fle Analoge im alten Bunde haben, nämli die Befchneidung und das Pafcha. 
Allerdings ift Die Beſchneildung immer nur der Vollzug eined Glaubensactes des Men- 
ſchen an ſich ſelbſt, und das Paſcha wird nie fo fehr über die andern Opfer des alten‘ 
Teſtamentes erhöht werden dürfen, daß feine Erfüllung nicht auch erſt In der 3 
kunft gelegen bätte, aber fle Haben doch in der Heiligen Schrift außgefprochene Be⸗ 
ziehung zur Taufe und zum Abendmahl, Die Prieſterweihe des alten Teftamentes 
fiebt in fofern über der neuteflamentlichen, als jenes Sacerdotium -ein in der fpecielle 
fien Welfe von Gott georbnetes war. Bragen wir jet nach dem Nutzen der Sacra⸗ 


746 Shenleriietion. 


mente für Die chriſtliche Kirche, fo ermöglichen fle allein eine Feſtſtellung ihrer Gren⸗ 
zen. Wer zu ihre gehöre, laͤßt fih allein durch Die Theilnahme an ihren: Sarramen- 
ten beflimmen, wie die Kirche ſtets eine Ausſchließung von ſich durch. Die Entziehung 
ihrer Sarramente audgefprochen bat. Ohne die Sacramente würde auch nad rein 
verſtandesmaͤßiger Auffafiung Die Kirche nicht der eine Xeib unter dem einen Haupte 
fein, da die bloß innerlihen Beziebungen zur Lehre nicht feftfkellbar find und Feine 
Außerliche Circumſcription ermögliden; dann bloß. von der Kirche auctorifirte Acte 
nicht ihre Beziehung zu dem einen Haupte Chriſtus über alle Zweifel zu erheben ver- 
mögen. Hierzu fommt, daß die Sarramente zu allen Zeiten ein Damm gegen ſpiri⸗ 
tualifirende und rattonalifirende Nichtungen und Devaftationen der Kirche gemeien 
find. In der Urkirche, ald noch Schrift und lautere Tradition congruisten, flanden 
die Sacramente und fie erklaͤrende Säge fo feft, daß aus ihnen heraus als aus einer 
feften Burg die Kirchenväter eine das Chriſtenthum feiner Mealitäten beraubende 
Speculation befämpften; auch in der neuern Zeit, in den „aufgeklärteften Tagen” ifl 
dad allgemeine Eirchlihe Bemußtfein um die Sacramente, mie es fih in den Gefühlen 
der großen Menge der Getauften darlegt, ein ganz andered, als die rationellen Docs» 
trinen erwarten ließen. Unter dem Dringlichfien der Gegenwart möchte für bie Geiſt⸗ 
lichen auch eine an den Tag hervortretende Demüthigkeit vor dem Sacramente liegen. 
Die Gemeinde flellt das Sacrament ganz ungezweifelt höher, als es wenigſtens ſchein⸗ 
bar je und je von den Weiftlichen geachtet wird. Die Wirkfamkeit der Sacramente *) 
hängt an ber befonderen Gegenwart Gottes in denfelben, da ja feine Allgegenwart 
ethiſche Steigerungen nicht ausſchließt. Gott iſt dem raufhenden Winde. anders ges 
genwärtig als dem auffleigenden Gebete. Kann fo daflelbe Element durch das Verhal⸗ 
ten des Menfchen eine modificirte Gegenwart Gottes tragen; noch vielmehr vermag, ' 
was fonft ſchlecht Wafler iſt, Durch ethifche Beziehungen eine Taufe im Namen bes 
dreieinigen Gotted zu werden. Weil aber Die Gegenwart Gottes im Elemente bier ſich 
gefaltet von Seiten Gottes ber durch fein Wort, fo if Die Wirkung flets da, aber 
kann In der Zeit der Gnade von dem Menfchen zurüdgewiefen werden. Berfchmähte 
Gnade trägt die Strafe in fi; reiner Segen auch im Erfolge find Die Sacramente, 
wo fie in Meue und Blaube aufgenommen werden, 

Säculariſation, von dem Iateinifchen Worte Säculum, und zwar In derjenigen 
Dedeutung abgeleitet, wonach e8 in der chriſtlich⸗kirchlichen Sprache die Welt und 
da8 bürgerliche Leben in derfelben im Gegenſatz zur Kirche und deren geiftlichem 
Leben bezeichnet, nennt man die Einziehung des Kirchenvermögend durch einen vom 
Staat einfeitig vollzogenen Act und die Beflimmung beflelben zu weltlichen ober 
wenigftend nichts unmittelbar kirchlichen Bweden. Speciell nennt man S. die Um⸗ 
wandlung der mit weltlichen Hobeitsrechten begabten geifllichen Stifter und Territo⸗ 
rien in rein weltlihe Güter und Länder. Die franzgöflichen Bevollmächtigten, die 
beim Abſchluß des weffäliichen Friedens mitwirkten, haben in den Berhandlungen, 
welche diefem Frieden Yorangingen, das Wort zum erfien Male in legterem Sinne 
gebraucht. Bis in die neuere Zeit nahm man, einer im Mittelalter verbreiteten Ueber⸗ 
lieferung folgend, an, daß Karl Martell zuerfi eine große ©. vollzogen und einen 
großen Theil des Eirchlihen Grundbeſitzes unter feine Bafallen veriheilt habe. Da⸗ 
gegen bat Paul Roth in feiner „Befchichte des Beneficialweſens“ (Erlangen 1850) 
nachzuweiſen gefucdht, daß erft unter den Söhnen des 741 verflorbenen Karl Martell, 
nämlih unter Karlomann und Pipin, die allgemeine Einziehung des Kirchenguts 
“ fattgefunden babe. Nachdem er darauf in einem neueren Buch: „Yeubalität uud 
Unterthanenverband“, namentlih gegen Waitz, feine Anſicht über die mit der ©. zu- 
fammenhängende Karolingifche Beneficien⸗Verleihung vertheidigt hatte, iſt er in bem 
„Münchener hiſtoriſchen Tafchenbuh für 1865" noch einmal auf die Karolingifche 
Einziehung des Kirchenguts zurüdgeflommen. Danach galt bei diefer ©. des 8. Jahr⸗ 
hunderts als allgemeines Princip: Einziehung aller derjenigen Belltungen, - bie 
fih bei den einzelnen. Klöflern und Kirchen als Ueberſchuß über den nothwendigen 
Bedarf ergaben. Daß diefer den kirchlichen Inflitutionen gelafien werben follte, iR 





®) Giche Abendmahl and Tanfe, 


- — — — — — — — ——— 


Saenlarifation. 141 


dabei in den Urkunden dfterd ausgeſprochen unb außerdem durch bie That bewieſen, 
indem ſchon Pipin, noch mehr feine Nachfolger, dem Bedürfniß, wo es ſich fand, durch 
Refitution abhalfen. Es war daher nicht eine ©. im Sinne und Umfange ber 
neueren Zeit; 28 ſollten nicht ganze kirchliche Inſtitute aufgeloͤſt, nicht das ganze 
kirchliche Vermögen eingezogen und das kirchliche Inſtitut, ſo weit es fortbeſtand, auf 
eine Rente angewieſen werden; es war vielmehr eine Theilung. Auch für dieſen 
Quoten⸗Theil wurde das Cigenthumsrecht nicht gaͤnzlich aufgehoben, ſondern für den 
neuen Inhaber nur ein Nuzungsrecht conſtituirt; wohl aber ſiel ber ſelbſtſtaͤndige 
Anſpruch der Kirche auf Ruckgabe weg, weshalb das Verfahren von Walter unrichtig 
eine Anleihe genannt wird. Der Grund der großen Einziehung lag übrigens nicht 
in einen bloßen Act räuberiſcher Bewaltthat, wie man früher annahm — war nicht, 
wie Pland meinte, eine mißbriuchliche Ausbehnung des Schutzrechts; denn erft ſeit 
Karl dem Er. wurde der Kirchenſchutz als eine beſondere Aufgabe der Eöniglichen 
Gewalt angefehen — noch weniger hatten, nah Waig’ Hypotheſe, die Könige fi 
bei ihren Schenkungen an die Kirche ein Verfügunhsrecht vorbehalten und diefes im 
Laufe der Zeit auf alles Kirchengut audgedehnt; denn die Urkunden weiſen nur dad 
Gegentheil eines ſolchen Verfügungsrechtes auf. Bipin und feine Nachfolger behaup⸗ 
teten nicht, ein Recht der Einziehung zu haben; fie fprachen vielmehr es offen auß, 
daß ſie nur aus Noth fo handelten, und trafen von Anfang an Einrichtungen, wo⸗ 
durch eine Zurüdgabe möglich gemacht wurde. Meberlafiung einzelner Stüde in das 
Eigentbum der Inhaber Fam nur mißbraͤuchlich vor und wurde abgeftellt, wenn es 
befannt wurde; der Inhaber, welchem der König dad Gut ald Beneficium verliehen 
hatte, follte der Kirche einen Precarienbrief audftellen, der, ganz in den Formen der 
Urkunden über freiwillige Verleihungen der Kirche gehalten, nur durch Ermähnung 
des Föntglichen Befehls von diefen ſich unterfchled und durch feine Eriftenz den Beweis 
für das Eigenthum der Kirche lieferte, weldyer auch ein Theil des Ertrages noch 
fortbezahlt werden mußte. Der Nothſtand aber, in deſſen Drange die Könige fo 
handeln mußten, wurde von den kirchlichen Behörden ſelbſt anerfannt. Die perfün« 
liche Leiſtung des alten Heerdienfles war unmöglich geworden. Es blieb nichts An⸗ 
deres übrig, ald die gelichteten Meiben der Armee durch Ginführung des Seniorats 
und durch ausgedehnte Benefleienverleifungen wieder zu füllen. Die S. ſchuf ein 
neues Wilitär-Budget, welches, da es auf der unentgeltlichen Dienflleiftung der freien 
Unterihanen berubte, hoͤchſt einfach und für den Staat wohlfell war, in der That 
aber fehr theuer zu ſtehen Fam, da diefe Einrichtung in ihrer Fortbildung zum Feudal⸗ 
ſtaat zulegt Die gemeine Freiheit und die weſentlichſten Rechte der Eöniglichen Gewalt 
als Kaufpreis verlangte. — In Bezug auf diefe Rothe'ſche Auffaffung iſt jedoch, was 
menigftens ihre chronologifche Borausfegung betrifft, zu bemerken, daß v. Daniels 
in feinem „Handbuch der deutfchen Rechts⸗ und Staatentehtd-@eicichte” (Tübingen, 
1859, Theil J., ©. 514 ff.) nicht ohne bedeutende Gründe darzuthun verfudht Hat, 
daß nicht nur einzelne Wegnahmen, fondern ſchon die Saupteinziehung von Karl 
Martell Herrührt. — Eine fpätere ©., und zwar wiederum zu den Zweiten des Kriegs⸗ 
Budgets, wurde von Kaifer Heinrich N. ausgeführt; fle traf befonders bie Klöfter, 
die mit ihren ungeheuern Reichthümern zu den Staatözweden nur unverhältnigmäßig 
wenig beitrugen, und deren Disciplin im Wohlleben untergegangen war. Der Kaifer 


. benugte bie nothwendig gewordene Neform der Klöfter für feine finanziellen Zwecke 


und fagte unter Anderm in einer Urkunde für Fulda (1024): „Bald wird die Zeit 
kommen, wo die Welt zurücdnimmt, was fie Bott gegeben hat, * — Bur Seit der 
Reformation bildete in Deutfchland, wo allein die Bettelmönde eine Jahres- Einnahme 
von einer Million Gulden Hatten, die S. nicht nur das Loſungswort der auffländie 
Shen Bauern, fondern auch Fatholifche Fürſten dachten an die Einziehung der geift« 
Uden Güter. Erzherzog Ferdinand Tieß z. B. das zerrüttete Stift Briren zu feinen 
Händen nehmen und ordnete eine meltlihe Verwaltung an „bid auf ein allgemeines 
Bonciliun oder die Meformation des Reichs.“ Bayern wollte mit Oeſterreich zuſam⸗ 
men das Stift Salzburg ſequeſtriren und preßte dann demſelben auf eigne Hand für 
feine Hülfsleiſtung gegen die Bauern zahlreiche Verpfaͤndungen ab. Schon im Jahre 
1525 eirculirte ber Entwurf ziner allgemeinen S., bie von Kaiſer und Reichs wegen 


⸗ 


48 | Säctlariiation, 


ausgeführt werden müſſe. Indeſſen wurde diefer Einziehungsproceß katholiſcherſeits 
von den einzelnen Territorialberren in die Hand genommen; man hob einzelne Klöfter 
auf, felbft der Kurfürft von Mainz legte in feinen Gebiete Hand an diefelben, waͤh⸗ 
send Defterreih dad Beifpiel dazu gab, die temporelle Verwaltung geiftlicher Güter 
an ſich zu ziehen. Auf proteflantifcher Seite war die ©. des Herzogthumd Preußen 
(f. d. Art. Deutihe Nitter und deutſcher Orden) 1525 ein bedeutungsvolles Ereig— 
niß. In den einzelnen, zur neuen Lehre ſich befennenden Rändern wurde den einzelnen 
Kirchen und Pfarrftellen ihr Vermögen und Einkommen grundfäglicy gelaffen. Das 
Vermögen der Klöfter und Stifter blieb meiſtens ungefchmälert und ward großenthells 
zur Ausftattung von Schulen und Univerfltäten verwendet. Hofpitäler, Siechen: und 
Armenhäufer wurden Ihrem Zwede erhalten und nur einer anderen Verwaltung unter« 
worfen. Andere Gorporationen wurden (f. d. Art. Kanonifer) zu Verſorgungs⸗An⸗ 
ftalten weltlichen Verdienſtes und Vorrechts benußt; ein weiterer Theil aller jener 
Anftalten wurde den Stiftern und Patronen zurüdgeftellt; Bisthümer endlich, wie 
Havelberg, Brandenburg, Lebus, Werfeburg, Naumburg, Meißen ır., kamen unter 
weltliche Adminiftration, bis diefelbe mit der Iandeöherrlichen Gewalt für immer ver⸗ 
bunden wurde. — Epochemachend ift der weſtfäliſche Frieden (1648) Durdy . 
denſelben famen die Stifter Bremen und Verden als weltliche Herzogthümet an bie 
Krone Schweden, die Bisthümer Halberſtadt, Minden und Camin als meltlihe Für⸗ 
ftenthüimer und das Erzfiift Magdeburg als wmeltlihes Herzogtfum an Kurbranden⸗ 
burg, die Stifter Schwerin und Ratzeburg an Mecklenburg, die Abtei Hersfeld an 
Heflen-Kaffel, worüber, fo wie über die ferneren Detailbeflimmungen der Art. Weſt⸗ 
fäliſcher Frieden zu vergleichen if. — Im 18. Jahrhundert fam an den Jeſuiten⸗ 
Orden (f. d. Art. Jeſuiten) die Reihe. Portugal, Branfreih, Spanien, Neapel, 
Parma, die den Orden verbannten, feit 1759 bie 1768, zogen auch feine Güter 
ein. Als der Papſt Clemens XIV. (f. d. Art.) durch das Breve vom 21. Juli 
1773 den Orden völlig aufhob, gedachte er, die Güter beffelben für fich ſelbſt in 
Anfpruch zu nehmen, und follte nach der Enchflifa vom 14. Auguft 1773 eine zur 
Ausführung jenes Breve niedergefegte Gongregation die Hinterlaffenfchaft des Ordens 
ermitteln und etwaige Inhaber mitteld Firchlicher Cenſuren zur Herausgabe zwingen. 
Allein au in Deutfchland kam das Verfügungdrecht, welches der Papft nach römi« 
fer Theorie über dad gefammte Kirchengut In Anfprud nahm, nicht zur Anerkennung 
und bie Territorialherren behaupteten fidh im Bell der Ordendgüter. — In Frank 
reich führte die Nevolution die umfaſſendſte S. herbei. Seit dem Beichluß der Natio⸗ 
nalverfaffung vom 2. November 1789 murden alle geiftlichen Güter in National» 
eigentbum verwandelt, womit ſich die Aufhebung der Klöfter verband, fo mie der 
Umfturz der Fatholifchen Kirchenverfaffung. Als das Concordat (f. d. Art.) vom 
15. Juli die von der Revolution völlig zum Sturz gebrachte Kirche wiederherftellte, 
wurde der Verkauf der Eirchlichen Güter als gültig anerkannt, und verpflichtete ſich 
die Regierung, die Geiftlichkeit aus der Staatsfaffe zu fälariren. — Der Friede von 
Zuneville (9. Zebrnar 1801) brachte das S.-Gefchäft in Deutfchland in Gang. 
Durch die Abtretung des linken Rheinuferd mit Einſchluß von Mainz an Frankreich 
ward die ©. aller auf jenem Ufer belegenen geiftlichen Territorien als rechtskräftig 
anerfannt und der Grundjag aufgeflellt, daß die erblichen Fürſten für ihre Verluſte 
auf dem linken Rheinufer „aus den Mitteln des Reichs“ entfhädigt werden follen. 
Unter Rußlands und Frankreichs DVermittelung wurde das Entfhädigungsgefchäft er 
Iedigt und das Mefultat durch den Neichödeputationd- Hauptfhluß vom 25. Februar 
1803 formulirt, fo wie durch das Fatferliche Ratificationd-Deeret vom 23. April zum 
Meichögefeg erhoben. Danad blieben nur der zum Kur-Erzkanzler ernannte Kurfürft 
von Mainz und die Obern des Maltefer- und deutſchen Ordens geiftlihe Meichöflände; 
(über die Schickſale dieſer Beflimmung f. d. Art. Dalberg und Deutſcher Orden); 
fämmtliche übrige reihäunmittelbare Fürftenthümer und Herrſchaften verfielen der ©. 
und wurden unter die weltlichen Stände vertheilt; die Tandfäffigen Stifter und Kloͤſter 
dienten zur Ausfüllung der Entſchaͤdigungsmaſſe. Nah $ 35 des Reichsdeputations⸗ 
Hauptfchluffes follten die Güter der Domcapitel und ihrer Dignitarien, fo wie ber 
biſchoͤſlichen Domänen mit den Bisthümern auf die neuen Randesherren übergeben. 


Saculariſation. | 149 


Ferner $ 35 beflimmte: „Ale Güter der fundirten Stifter, Abteien und Klöfter, In 
den alten ſowohl ald in den neuen Beflgungen, katholiſcher ſowohl als Augdburs» 
sifher Confeſſionsverwandten, mittelbarer ſowohl als unmittelbarer, werben 
der freien und vollen Dispofltion der refpectiven Randesherren, ſowohl zum Beſten 
des Aufwandes für Bottesdienft, Unterrichts» und andere gemeinnügige Anftalten, als 
zur Erleihterung ihrer Finanzen überlaffen, unter dem beflimmten Borbehalt 
der feften und bleibenden Ausflattung der Domfirchen, welche werden beibehalten werben, 
und der Penflonen für. die aufgehobene Geiſtlichkeit.“ ine Folge diefer Gleichſtellung 
ber alten und muen Beilgungen, des Eatholifchen und des proteflantifchen Kirchenguts 
war ed 3. B., daß In Württemberg (f. d. Art.) das allgemeine Kirchengut für 
Staatdeigenthbum erklärt und mit den Domänen vereinigt wurde. In Preußen fah 
fi die Regierung durch die dem Frieden von Tilſit folgende Landes⸗Calamität dazu 
gezwungen, von jener Ermächtigung ded Reichsdeputations⸗Hauptſchluſſes Gebraud zu 

machen. ‚So beflimmte dad Ebdict vom 30. Octbr. 1810 in G 1: „Alle Klöfter, Doms 
und andere. Stifter, Balleyen und. andere Gommenden, fig mögen zur katholiſchen oder 
proteflantifchen Religion gehören, werden von jett an ald Staatsgüter betrachtet. * 
Auf dem Wiener Congreß (f. d. Art.) beantragte zwar die römifche Kurie durch 
Eonfalvi die Herftellung des gefammten status quo ante und damit des heiligen römie 
ſchen Reiches deutſcher Nation und der geiſtlichen Kürftenthümer, fo wie Herausgabe 
alles eingezogenen Kirchenguts; indeflen mußte fle ſich mit einem feierlichen Proteſt 
(vom 14. Juni 1815) gegen die territorialen Feflfegungen des Congreſſes begnügen, 
wie fie auch gegen den weſtfaͤliſchen Frieden proteflirt battle. Indeſſen bereitet ſich 
jegt Alles dazu vor, die legte und bebeutenpfle ©. in's Werk zu fegen, nämlich die 
des Papfittumd. Seit dem italienifchen Kriege von 1859 bat der Heilige Stuhl 
fhon einen Theil des Kirchenſtaats (f. d. Art.) verloren; die zwilchen Frankreich 
und dem Königreid Italien unterm 15. September 1864 abgefchloffene Convention 
will nun dem Papfl die Friſt von zwei Jahren für die Probe gönnen, ob er im 
Stande fei, Rom ohne den Schuß der franzöflfhen Befagung zu behaupten. Das 
italienifche Parlament zu Turin wird wahrfcheinlich noch in der gegenwärtigen Seſſton 
(von 1864 auf 1865) über einen Gefegentwurf berathen, wonach der Staat bie geiftlichen 
Büter einzieht und aus dem Ertrage derfelben ein Cultus⸗Budget bildet. In dieſem 
Augenblide ferner ift unterm 8. Noyember 1864 zu St. Petersburg der Ulas in Ben 
treff der Klöfter in Polen vollzogen worden. Auf Grund peffelben unterliegen alle 
diejenigen roͤmiſch⸗katholiſchen Mönchd- und NonnenFlöfter: im Königreiche Polen, in 
denen fich nicht Die dem kanoniſchen Rechte zufolge nöthige Anzahl geiftlicher Mit⸗ 
glieder (nämlich weniger ald 3 Mönche oder Nonnen) befindet, der unverzüglichen 
Aufhebung. Unabhängig davon unterliegen alle diejenigen Klöfter im Königreiche 
Polen, die dffentlid und erweislih an den rebelliſchen Umtrieben gegen die Regie⸗ 
rung Theil genommen baben, der fofortigen Schließung. Sämmtliche zu den aufge- 
hobenen Klöftern gehörenden Kirchen werben fortan unter die Gerichtöbarfeit der 
Diözeflal- Obrigkeit geftellt; Diejenigen, zu welchen ein Kirchfpiel gehört, verbleiben 
ferner Parochlalfirhen. Die bei den Klöftern im Königreiche eriftirenden Anfangs⸗ 
ſchulen follen afjervirt bleiben und verbleiben in ben Kloftergebäuden, Die bei der 
Songregation der Mifflonarien « Mönche befichenden Seminarien geben unter die voll 
Rändige Gerichtöbarkeit der Didzefial» Behörden. Die zu den aufgehobenen und ges 
fchloffenen Klöftern gehörenden Spitale, Zufluchtshäufer und andere wohlthätige An⸗ 
falten werben unter Berwaltung der Negierungd - Commiffton des Innern und des 
Cultus geftellt. Nach der auf Grund des gegenwärtigen Ukas erfolgten Aufhebung 
und Schließung der Klöfter werben ſolche in etatsmäßige und nicht ⸗etatsmaͤßige ein⸗ 
getheilt. Die legteren unterliegen der Aufhebung im Maßftabe der allmählichen Ver⸗ 
minderung der Bewohnerzahl. Um die Möndhögeiftlichkeit zur wahren Pflichterfüllung 
zurüdguführen, fo wie ed dem Mönchsſtande ziemt, fo wie auch, um die für die im 
Königreiche Polen übrig bleibenden römifchsfatholifchen Klöfter und für Die der römifch- 
katholiſchen Geiftlichkeit nöthigen Bebürfniffe zu fihern, geht alles den aufgehobenen 
und geſchloſſenen Mönche» und Nonnenklöflern gehörende unbewegliche Vermögen, fo 
wie daßjenige der auf Etat und nicht auf Etat geftellten Klöfter, fo wie auch deren 


150 Sacy (Antoine Ifaae Silvefire de). 


Gapttalien, zur Verwaltung des Staated über. Ungeachtet Die Mevenüen des beweg⸗ 
lien und unbeweglichen Bermögend der aufgehobenen Klöfter unter Verwaltung ber 
Regierungs-Eommiffare der Finanzen kommen, fo dürfen dennoch ſolche unausfchließe 
li nur zu den Bedürfniffen des römifch-FLatholifchen Klerus und nur zur Erhaltung 
und Beförderung der Aufklärung, indbefondere aber zur Erhaltung der Anfangsſchulen 
verwendet werden. Die Zahl der etatsmäßigen Klöfter im Königreihe wird auf 25 
Mönchsktöfter und 10 Nonnenklöfter feftgefegt und In denfelben a. 360 Mönche, näme 
lich in Czenſtochau 24 und in den anderen Möndhsflöftern je 14; b. 140 Nounen 
werden egal zu einem jeden der etatömäßigen 10 Nonnenklöfter befiimmt. Alle die 
in den aufgehobenen und gefchloffenen Klöftern übrig bleibenden Mönche und’ Nonnen, 
die das feierliche Gelübde geleitet haben, werden nach andern Klöftern ihres Ordens 
innerhalb der Grenze des Königreichs verieht. Zum Unterhalt eines jeden Mönches 
oder Nonne bewilligt der Staat 40 Nubel jährlid. — In der Nacht vom 26. zum 
27. November 1864 Fam der Faiferlihe Ulead im Königreiche Polen zur Ausführung. 
Im Ganzen find in diefer Nacht 104 Klöfter gefchloffen. — Endlich verweilen wir 
noch auf den Artikel Aumänen, in meldyem die Bedeutung der Klofterfrage für bie 
Donaufürftenthümer auseinandergefegt if. 
' Saeculum f. Zeit. 

Sacy (Antoine Iſaac Silveftre de), franz. Orientalifl. Sein Familienname 
war Silveftre, und er legte fih, mährend biefen fein älterer Bruder fortführte, den 
Beinamen de S. bei, defien Urfprung wir nicht angeben können. Er ift den 21. Sep⸗ 
tember 1758 zu Paris geboren; fein Bater war ein wohlhabender Notar, Doch ver⸗ 
lor er denfelben ſchon in feinem fiebenten Jahre, feine Mutter jedoch, die Wittwe 
blieb und ſich feiner Erziehung widmete, erft in feinem einunnfechzigften. Schon früh⸗ 
zeitig empfand er den Trieb zur Erlernung fremder Sprachen. Neben dem Lateini- 
fhen Iernte er durch eigene Bemühung das Griechiſche und Hebräifche, fpäter als 
Autodidaft fämmtliche femitifye Hundarten, die wichtigſten europäifchen Sprachen 
endlich das Berflihe und Türkiſche. Daneben fludirte er, gemäß den Ueberlieferun« 
gen feiner Familie, die echte, murbe in feinem 23. Jahre Math am Münzhofe, zehn 
Jahre fpäter an demfelben Generalcommiffar, zog ſich aber 1792 in's Privatleben- 
zurüd und widmete fich ausfchlieglich feinen Sprachftudien. Nur Einmal kam er auß 
dieſer Abgefchloffenheit, die er auch fpäter nicht aufgab, ala ihm feine Sprachgelehr- 
ſamkeit neue Aemter auflud, über die nächſten Umgebungen von Parts hinaus, als 
er im QAuftrage der Eaiferlichen Regierung 1805 nah Genua ging, um daſelbſt nady 
literarifchen Schägen zu fuchen. Schon vor der Revolution Hatte er fich durch feine 
Gelchrfamkeit auf dem Gebiete der orientalifchen Sprachen einen Namen gemacht, und 
war er mit I. D. Michaelis, W. Jones und Eichhorn in Verbindung getreten; auch 
hatte er zu dem Repertorium, fo wie zur biblifchen Bibliothek des Letzteren Beiträge 
geliefert. In Frankreich felbft veröffentlichte er 1785 eine Abhandlung über den Ur⸗ 
fprung der atabiſchen Literatur und 1787 eine Bearbeitung der Naturgefgichte des 
Demirt. Während der Schrediendzeit gab er feine M&emoires sur diverses antiquites 
de la Perse (1793) heraus. Ludwig XVI. Hatte ihn bereits 1785 zum Academicien 
libre an der Akademie der Infchriften ernannt, 1792 ward er ordentliches Mitglied 
der Ießteren und 1795 an der vom Gonvent gegründeten Schule für die Iebenden 
Sprachen des Morgenlandes. Profeffor des Arabifchen, welche Stelle er bis zu feinem 
Tode bekleidete. Seiner Berufung in das neusrganifirte Institut de France leiſtete 
er nicht Folge, weil er den damals erforderlichen Eid, wonach er Haß dem Könige 
thum zu fchmören Hatte, nicht. leiften wollte, er wurde zwar, da man ihn nicht er» 
fegen konnte, in feinem Amt gelaffen, doch trat er erſt im Beginn des Kaiferreiche 
in das Inflitut ein. 1806 warb er Profeffor der perflihen Sprache am College de 
France, 1808 Mitglied des Corps legislatif, 1813 Baron. In der Krifld des April 
1814 erflärte er fi) gegen Napoleon und war er für die Zurädberufung der Bour⸗ 
bond thätig, worauf er in ber erftien Reſtauration Hector der Univerfität, nach der 
zweiten Mitglied des Königl. Oberſchulraths wurde. Später zum Adminifirator des 
Collöge de France ernannt, ließ er an demfelben Lehrflühle für das Sanskrit und 
für die chineſiſche Sprache gründen. Nah ber Juli⸗Revolution warb er Conſervator 


Sach (Louis Iſaak Le Maitre de. — Samuel Uflazade Silvefre de). 75 


Der Manuferipte der konigl. Bibliothek und 1832 Pair. In der Palrdlammer trat 
ex dfter als Mebner auf, wie er auch vor der Julisfevolution in anonymen Schriften 
feine eonfervative Geſinnung ausgeſprochen hatte. Neben feinen zahlreichen Amtöges 
fihäften blieb er jedoch bis zu feinem Tode der Lehrthätigkeit treu. Schon vorge. 
fhrittene Schäler firömten ihm aus allen Ländern zu. Gewiffenhaftigkeit, Dienfifer- 
tigkeit, Zuverläfflgkeit und Uebergenugungdtreue zeichneten ihn als Lehrer und in allen 
andern Verhältniffen feines Lebens aus. Er flarb den 21. Februar 1838, nachdem 
ihn zwei Tage vorber auf der Straße der Schlag getroffen hatte. Bon feinen Wer⸗ 
ten beben wir hervor: Principes de la Grammaire generale (Paris 1799, neuefle 
Außgabe 1815); Grammaire arabe (1810, 2 Bde., zweite Ausg. 1831); Chresto- 
malhie arabe (1806, 3 Bde., zweite Ausgabe 1826), nebft einer Anthologie gram- 
maticale arabe (1829); die Ueberfegung von Abdullatifs Relation de l’Egypte; Ka- 
lila et Dimna, oder die arabifche Bearbeitung der Fabeln des Bippai, mit einer Ein- 
leitung über die Geſchichte der Zabel (1816); die Ausgabe des Pendnameh (1819); 
die Ausgabe der Malamen des Hariri (1829); endlich das Exposd de la religion 
des Druses, an welchem er ſchon in feiner Jugend gearbeitet hatte und welches er 
furz vor feinem Tode vollendete (1838, 2 Bde.). 

Sacy (Louis Iſaak Le Maitre de), einer der Einſiedler von Port⸗Moyal, 
jüngerer Bruder des gleich ibm in Dem Kreife der Männer von Port⸗Royal nambaft 
gewordenen Antoine Le Maitre. (Den Namen Sacy, der daher eigentlich, wie auch von 
ihm felber immer gefcheben If, Saci [Anagramm von Jfac] gefährieden werden muß, 
bat er fih felbft gebildet.) Er ift zu Paris den 29. März 1613 geboren, wurde 
unter feinem Oheim, dem berühmten Antoine Arnaud, auf dem Gollege von Beauvaid 
für den geiftlichen Stand vorgebildet und darauf Director der Religidfen (Jungfrauen) 
von Port⸗Royal. In die Verfolgungen der Bewohner dieſes Zufluchtsortes der Er» 
bauung und der Askeſe verwidelt, wurbe er das eine Mal (von 1666 bis 1669) in 
die Baſtille geſteckt; das zweite Mal wieder von PBort-Royal (1679) vertrieben, zog 
er ih zu feinem Better, dem Marquis Bomponne, welchen Louvois und Golbert 
damald von feinem Minifterpoften geſtürzt hatten, zurüd, In welchem Afſyl er den 
4. Januar 1684 flarb. 1657 erfchien unter der Ortsangabe Mond, die bon ben 
Elzevirs 34 Amſterdam gebrudte franzdflfche Ueberſehung des Neuen Teflaments, die 
der Grundlage nad von ibm herrührt, an welcher aber. außer ihm noch Arnauld, Le 
Maitre, Nicole und der Herzog von Luynes gearbeitet haben. Als ex in der Baflille 
faß, begann er fein großes Werk, die Sainte Bible, lateiniſch und franzöflich, mit 
Grläuterung des wörtlichen und geiftlihen Sinnes; der Anfang erfhien 1672 zu 
Paris, das Ganze wuchs zu 32 Bänden an, doch wurde ed erfi Son Thomas bu 
Bofle vollendet. Außerdem Hat er unter Anderm die Fabeln des Phaͤdrus und brei 
Komödien des Terenz überſetzt. 

Sacy (Samuel Uſtazade Silveſtre de), franz. Journaliſt, der Sohn des 
Drientaliften U. ©., geb. den 17. October 1801 zu Paris, trat Anfangs als Advocat 
auf, ward 1836 Eonfervator, fodann 1848 Adminiftrator der Bibliothek Mazarin und 
1854 Mitglied der franz. Akademie. Sein einziges Buch, für welches er unter An⸗ 
berm auch die leßtere Ehre erhalten bat, iſt das Journal des Debats, an den er jelt 
18238 ununterbrochen gearbeitet und dem er mehr ald zwei Drittel feiner politischen 
Artikel geliefert hat. Seit dem 2. December lieferte er, ohne das politifche Genre 
ganz aufzugeben, vorzugäweife Tritifchsliterarifche Artikel. Er gehört als Politiker der 
eonftitutionellen Säule an; ala Philoſoph Hält er ſich an die Traditionen von Port⸗ 
Royal; als Schriftfieller winmet er den Autoren des „grand siecle“ eingn ergebrnen 
Cultus, iſt aber daneben auch ein Schüler Voltaire’s. Unter der Mäßigung, die 
feine Arbeiten und felbft feine Oppofltion gegen manche Maßregeln der Negierungen 
Ludwig Philipp’s charakteriſtrt, fühlt man eine gewifle energifche Kraft und Leiden⸗ 
ſchaft und durch allen feinen Nüdhalt dringt ein gewiſſer Haß gegen Alles, was er 
in Politik, Literatur und Moral als falfch betrachtet. 1858 erfchien eine Sanımlung 
feiner Journals Artikel in zwei Bänden, unter dem Titel: Varidtes litteraires, morales 
et historiques; doch enthält diefe Sammlung, in welcher fi nach der Abflcht des 
Berfafiere Die Zeit der Juli⸗Dynaſtie in ihrem Gontraf gegen die imperialififche Ge⸗ 


758 Sadducãer. Sabe (de. Geſchlecht) - 


genwart wieberfpiegeln foll, vorläufig‘ bloß Auffäge literariſch⸗kritiſchen Inhalte. We⸗ 
nige Jahre vorher hatte er Michel de Marillac’8 franz. Ueberfegung‘ der Imitatio 
Jesu Christi (1854) herausgegeben; ferner eine Ausgabe der Introduction A la vie 
devote des heil. Franz von Sales (1855) und eine Ausgabe der Letires spirituelles 
Fenelon's (1856. 3 vol.) beforgt. 

Sabducher, eine in den Jahrhunderten vor Chriſto unter den Juben entflanbene 
xeligiöfe Secte mit gewiffermaßen freifinnigen Tendengen, erhielten ihren Namen wahre 
ſcheinlich von ihrem Stifter Zadof, nicht von dem Hebräifcgen zaddik — gerecht. Sie 
fanden in einem principiellen Begenfage zu den Bharifäern (f. d.), deren Satzungs⸗ 
weien fle verwarfen und deren Lohnſucht fle verachteten. Sie forderten, daß man das 
Gute um feiner felbf willen thue und laͤugneten die Auferftehung, und dad Dafein 
von Engeln und Geiftern. Ihre Entſtehung und die Ausbildung ihrer Grundſätze 
erklärt fi wohl am beflen aus dem Einfluffe griechifcher Anflchten auf das Juden 
thum in der Zeit der Seleneiden, obgleich das Buch Kohelet, welches einer frühen 
Beit, aber doch der vorfeleucidifchen angehört, ſchon verwandte Anſchauungen enthaͤlt. 
Im Volke der Juden konnte die fabducäifche Denkweiſe keinen Boden gewinnen, war 
aber um fo mehr in den höheren Kreifen vertreten, wie denn Sadducäaͤer nicht bloß 
im Synedrium faßen, ſondern auch das hoßepriefterliche Amt bekleideten. Chriſtus 
bat die Anflchten der Sadducaͤer bekämpft wie bie der Pharifäer, obgleich mit weniger 
Bitterfeit als den PhHarifäismus. Leber den Gegenfag der Sadducaͤer und Pharijäer 
im Synedrium und In der Lehre unterrichtet und am anſchaulichſten die Apoftelgefchichte 
(vgl. Gay. 23). 

Sade (de), ein Geſchlecht Suüdfrankreichs, welches gel Sugues 1., dem Dann 
Der Laurette de Noves, in welcher man bie Laura If. d. Art.). Betrarca's zu finden 
geglaubt hat, ſich durch ehrenfefle und verdiente Männer "andgezeichnet hat, bis aus 
ihm im 18. Jahrhundert ein Mann hervorging, welcher die revolutionären Tendenzen 
feiner Zeit 6i8 zum Kriege gegen bie Moral und Sitte Überhaupt fortgetrieben hat. 
Hugues, genannt der Alte, heirathete 1323 Laurette de Noves. Er war fehr reich 
und gab 1355 die Damals anfehnlidde Summe von 200 Goldgülden zur Reparation 
der Brüde über den Rhone zu Avignon, die der Heil. Benezet 1177 erbaut batte. 
Wahrſcheinlich gefchah es bei Diefer Gelegenheit, daß. dad Wappen bed Haufes ©. 
an dem erflen Bogen diefer Brüde angebracht wurde. Nah dem Tode feiner. erfien 
Brau batte er aus einer zweiten Ehe mehrere Kinder, unter Anderm Paul de ©., 
der 1397 Math Martin's, Königs von Aragonien, wurde, dad Vertrauen Iolanthe’s, 
der Königin von Aragonien und Wittwe Ludwig's II, Könige von Neapel, erhielt, 
Selchäftsträger derfelben am päpftlihen Hofe und durch ihre Fürſprache Bifhof von 
Marjeille wurde. Er wohnte 1409 dem Eoneil von Piſa bei, und flarb 1433, Inden er 
der Kathedrale von Warfeille feine Beſitzthümer vermachte. — Hugues IL oder Su 
gonin de S., der dritte Sohn Hugues' II. und der Laurette de N., ifl der Stamm- 
vater der drei Zweige der Familie S., nämli von Mazan, von Eiguieres und von 
Zaragon. — Jean de ©., der ältefle Sohn bed Vorhergebenden, war ein gefchidier 
Jurift und eine angefehene WMagiftratäperfon. Er batte 1403 eine Tochter des Kanz⸗ 
lerd der Provence, Pons de Gays, geheirathet, folgte feinem Schwiegervater und ward 
1415 erfter Praͤſident des Barlaments, welches Ludwig I. von Anfou, König von 
Neapel und Graf von der Provence, in letzterer errichtet hatte Er war auch als 
Diplomat auf wichtigen Mifflonen thättg. — Eleazar de ©., ein Bruder des Vor⸗ 
hergehenden, war Stallmeifler und Mundſchenk des Gegenpapftes Benebict XL; zur 
Anerkennung der Dienfte, welche er und feine Borfahren dem Reich geleiftet hatten, 
erlaubte ibm der Kaifer Sigismund den Reichsadler in das Wappen der Familie aufs 
zunehmen. — Pierre de ©. zeichnete fih von 1565 bis 1568 als Landrichter in 
Marfeille aus. — Jean Baptifte de S. ward 1665 Bifhof von Cavaillon und 
ftarb den 21. December 1707. Diefer tugendhafte und gelehrte Prälat war Berfaffer 
mehrerer ascetifcher Schriften. — Joſeph David, Graf v. S., Herr v. Eiguieres, 
mo er 1684 geboren ifl, trat früh in bie Armee, wohnte den Beldzügen von 1713, 
1735 und von 1741—1745 bei, warb 1746 Gommandant von Antibes, welches er 
gegen bie Angriffe der Auſtro⸗Sarden und seines englifchen Flotte erfolgreich verthei⸗ 


Sade (Donatine Alfonſe Brangois, Graf von). 153 


Digte, ward Maroͤchal de Camp und flarb den 29. Januar 1762. — Hippolyt, 
Grafv. S., widmete fich dem Dienft in der Marine, ward 1746 Schiffslieutenant, 1776 
Escadre⸗Chef, zeichnete ſich 1778 bei Oueſſan aus, ſodann in den Kämpfen mit 
Rodney und ſtarb 1780 Angefichte von Cadix auf dem Meere. — Jacquesé Fran 
g0i8 Paul Alfonfe de ©., geb. 1705, widmete ſich dem geifllichen Stande, warb, 
nachdem er zu Touloufe, darauf zu Narbonne Generalyicar geweien, 1744 Abt von 
Ebreuil in der Anvergne und würde bei feiner vielfeitigen Begabung zu den erften 
ficchlichen Würden aufgefliegen feln, wenn er nicht plöglich den Ehren und Angeles 
genheiten der Welt entfagt hätte. Der Verfaſſer der Vie du marechal de Richelieu 
jagt, der Abbe v. ©. habe die Madame La Popliniöre für die Unbefländigfeit jenes 
Seigneur, nachdem fie 1748 von ihrem Manne gefchieden war, getröftet. 1752 z0g 
er fih nah Saumane, dem Stammſchloß feiner Väter bei Bauckufe zurüd, alfo in 
berfelden Zeit, als jene Dame geftorben war, fo daß fich daraus allerdings fein Ent⸗ 
ſchluß erklären Laßt. In der Zurückgezogenheit zu Saumane widmete er fidh bis zu 
feinem Tode, der am 31. December 1778 eintrat, ausfchließlih den Studien, vor 
Allem aber der Compoſition des Werkes, weldyes feinen Ruhm bildete. Diefes Haupt⸗ 
wert find nämlich (neben feinen Remarques sur les premiers poetes francais et les 
troubadours) feine M&moires sur la vie de Frangois P&trarque, die er zu feiner fran« 
zöflfhen Ueberfegung der Oeuvres choisies de Frangois Pötrarque hinzugefügt hat. 
Diefes 1764 zu Amflerdam anonym erfchienene Werk iſt in einer reinen Sprache abe 
gefaßt und ein Schag von Gelehrſamkeit. Mit dem Leben des italienifchen Dichters 
giebt der Verfaſſer zuglei ein anziehendes und belebted Gemälde der politifchen, 
kirchlichen und Iiterarifchen Gefchichte des 14. Jahrh., in welchem Petrarca eine fo 
wichtige Rolle gefpielt Hat. — Der ältere Bruder des DVorigen, Jean Baptifte 
François Joſeph Graf v. S., folgte feinem Vater in dem erblichen Bouvernes 


"ment der Stadt und des Schloffes Baifon, für den Papfl, und ward Commandeur 


der Chevauxlegers der Grafſchaft Venaiſſin, was ihn jedoch nicht hinderte, als Dra⸗ 
gonercapitaͤn im Regiment Condé in franzöflfche Dienſte zu treten. 1730 ward er 
als Botſchafter nach Rußland geihidt; da aber der Tod des jungen Zaren, Peter's IL, 
und die Verbindungen der neuen Kaiferin Anna mit Oeflerreich feine Miſſton unwirt- 
fam machten, übertrug ihm der Cardinal Fleury eine geheime Unterhandlung in Lon⸗ 
don und darauf andere diplomatiihe Mifftonen. 1733 verhbeirathete er fih mit Marie 
Eleonore de Maille, Geſellſchaftsdame der Prinzeffin Eonde, damals Herzogin von 
Bourbon. Diefe Heirath, die ihn, da der große Eonde fi mit Claire El&mence de 


. Maille, Nichte des Cardinals Richelieu, vermäplt hatte, zum Haufe Bourbon-Eonde in 


verwandbtichaftliche Beziehungen brachte, bemog ihn 1738, auf die Aemter, die ihn an 
den Dienft des Papſtes knüpften, Verzicht zu Telften, worauf er die Generalftatthalter« 
fHaft der Provinzen Braffe, Bugey, Ger und Valromay faufte und das Landgut 
Blatigny bei DVerfailles erwarb. In feinen legten Jahren von den Gefchäften zurück⸗ 
gezogen, frequentirte er die Abtel Saint-Bictor und flarb den 24. Januar 1767 zu 
Montreuit bei Verfailles. Er Hat im Manufeript mehrere Sammlungen von Anek⸗ 
doten und moralifhen und rellgtöfen Gedanfen binterlafien. Seine Familie bewahrt 
auch noch feine Eorrefpondenz, die tiber die Ereignifie des Krieges von 1741—1746 
manche Aufflärungen enthält. Der Sohn des Letzteren iſt nun 

Sande (Donatine Alfonfe Brangois Graf von), geb. zu Parts den 2.Iuni 1740 
im Hotel Conde, in welchem feine Mutter Ehrendame der Prinzeffin war. Als fein 
Bater 1744 als bevollmächtigter Minifter nach Köln ging, brachte man ihn zu feiner 
Großmutter nad Avignon, darauf zu feinem Obeim nach der Abtei Ebreuil, endlich 
auf das College Louis le Grand zu Parts. In feinem 14. Jahre trat er in bie 
Armee, brachte e8 in derfelben bis zum Gapitän in einem Cavallerie⸗Regiment und 
machte den flebenjähriden Krieg in Deutfchland mit. Nah Paris zurüdgefehrt, ver⸗ 
beirathete er fich mit Fräulein v. Montreuil, Tochter eined Praͤſtdenten vom Steuer⸗ 
Hofe. Diefe Verbindung, an melcher die Liebe Eeinen Theil Hatte, fcheint Die Epoche 
zu bezeichnen, wo ©. feinen Leidenſchaften ohne alle Scham die Zügel ſchießen ließ. 
Seine Frau, fenft, Ticbensmwärdig, tugendhaft, hübſch, ohne ſchon zu fein, beſaß alle 
Eigenfchaften, um einen Ehrenmann zu fefleln; aber Feine ihrer Reize, Feine ihrer Tu⸗ 

Wagener, Gtaats- u. Pefellfg -Ler. XVIL 48 


194 Sade (Donatine Alfonſe Frangois Graf von). 


genden war im Stande, ihn zu gewinnen; bock muß bemerkt werden, daß er bei alles 
dem, wenn er fle ohne Aufbören durch feine Wüftheiten beleidigte, nicht fo weit ging, 
fie brutal zu mißhandeln. Schon im erften Jahr feiner Ehe hatte er ein Abenteuer, in Folge 
beffen er mit Gefängnißhaft, fodann mit Eril beflraft wurde, Nachdem er die Strafe 
beftanden Hatte und nah Paris zurücdgefehrt war, verband er fih mit der Schau⸗ 
fpielerin Beauvoiſin, führte fle nach feinem Schloß Lacoſte in der Provence, gab fie 
für feine Frau aus und myſtificirte einen großen Theil des dortigen Adels, den er zu 
Beten einlud und vor dem er mit feiner Bemahlin Komddien aufführte. Nach dem 
Tode feines Vaters übernahm er deſſen Generalſtatthalterſchaft, kehrte nach Paris 
zurück und benutzte ein Landhaus zu Arcueil zu ſeinen Ausſchweifungen, mit denen 
er blutige und toͤdtliche Mißhandlungen zu verbinden liebte. So führte er ſelbſt, 
während fein Kammerdiener auf fein Geheiß ſchon zwei Sreudenmädchen berbeigefchafft 
hatte, am Oſtertage, den 3. April 1768, eine Roſa Keller, Wittwe Balentins, eines 
Paftetenbädergehülfen, der er unterwegd begegnete, nad jenem Landhaufe, und nad 
dem er ihr im Haufe die Vorbereitungen zum. Feſtin gezeigt Hatte, In eine Boden⸗ 
kammer, wo er jle, mit der Piflole drohend, fich zu entlleiden zwang, ihr die Hände 
band, fie bis auf's Blut geißelte und Tiegen Tief, nachdem er ihre Wunden mit Bal- 
fam eingerieben und verbunden hatte. Der Unglüdlichen gelang es jedoch, ihre Feſſeln 
zu zerreißen und fich durch's Fenſter zu flürzen, worauf de ©. auf Befehl des Polizei» 
lieutenantd feflgenommen wurde. Dad Bericht wollte zwar den Prozeß einleiten, ein Befehl 
des Königd entzog aber auf Antrag und Betrieb der S.fchen Familie den Schuldigen 
der Unterfuhung und erklärte, das Verbrechen, deſſen er fich fchuldig gemacht Habe, 
fei von den Gefegen nicht vorgeſehen und biete in feiner Gefamntheit 'ein fo ob⸗ 
feönes und ſchmachvolles Bild, daß man es bis auf das Andenken daran der Ber« 
geifenheit anheimgeben müſſe. Die Roſa Keller erhielt Hundert Louisd’or Abflands- 
geld, was fie als Ausflattung für ihre Wiederverheirathung am 5. Mai darauf ber. 
nugte, und de ©. Fonnte fein Teandalöfes Leben wieder beginnen. Er hielt fi ab⸗ 
wechfelnd in Paris und auf feinem Landgut La Eofte auf, machte auch eine Reife 
nach Italien, auf weldhe er feine Schwägerin mitnahm, bie er mit Anmendung eben 
fo fchauerlicher als lebensgefährlicher Mittel verführt hatte. Im Juni 1772 war er 
in Marfeille und führte daſelbſt in einem öffentlichen Haufe mit den dortigen Frauen⸗ 
zimmern eine Orgie auf, bei der ihm fein Kammerdiener, der Genoſſe feiner Aus⸗ 
ſchweifungen, afflflirte, und er felbft mit Iebensgefährlichen Meigmitteln die Miüdchen fo 
zeigte, daß die Erkrankung, nah andern Nachrichten der Tod von zweien derſelben, 
dad Parlament von Air zur Einleitung einer Unterſuchung gegen ihn und feinen Domeſti⸗ 
ten beftimmte, worauf ed am 11. Sept. 1772 Beide als der Sodomie und der Vergiftung 
fhuldig zum Tode verurtheiltee De ©. flüchtete Darauf nah Genua, ſodann nach 
Chambery, mo Ihn der König von Sardinien im Schloffe Miolans einfperren Tieß. 
Bon feiner Frau, die zu ihm berbeigeeilt mar, befreit, irrte er fodann in Frankreich 
und Jtalien umber, bis er 1777 im Berfte bei feiner Frau zu Parid arretirt und 
in den Thurm von Vincennes eingefledt wurde. Das Jahr darauf gewährte zwar 
Zudwig XVI. die Neviflon des Proceſſes, und der Gefangene wurde 1778 felb nad 
Air gefhafft, wo das Gericht dad Urtheil von 1772, weil dad angenommene Ver⸗ 
brechen der Vergiftung durchaus nicht vorliege, cafjirte; dem Grafen jedoch wegen 
„Übertriebener Doͤbauche“ einen Verweis vor der Barre zuerfannte. Er wurde barauf, 
weil eine Lettre de cachet noch über ihm ſchwebte, nad Vincennes und 1784 nady 
der Baftille gefhafftl. Seine Frau, die ihm 1778 noch einmal zur Flucht verholfen 
hatte, befuchte ihn in beiden Gefängniffen, flellte aber feit 1784 ihre Beſuche ein, ba 
fle ihn als unverbeflerlich erfannte, fuhr jedoch fort, für feine Bebürfniffe zu forgen, 
und ihm Bücher zu fhiden. Das Studium des Alterthums und der neueren Zeit, 
welches ihm dadurch möglich wurde, benußte er Indefien nur, um Borbilder und Auto 
ritäten für feine Ausfchweifungen aufzufuchen und aus den Thatfahen eine Art von 
Syſtem und Doctrin aufzuftellen, worauf er an eigene Gompofltionen ging, un da⸗ 
durch feinen Anſichten eine weitere Verbreitung zu verichaffen. So verfaßte er in ber 
Baftille den Roman „Aline ot Valcourt“ und fodann „Justine ou les malheurs de 
a verlu“. In erflerem Roman, der im Jahre 1795 zu Paris. in acht Dänben mit 


Sabe (Donatine Alfonfe Srangois Graf von). 735 

dem Untertitel „Roman philosophique* erfihten, bat er unter dem Namen Val⸗ 
court ſich ſelbſt dargeftellt und bin und wieder feine eigene Geſchichte erzählt. Die 
„Justine“ erfchien zuerft in zmei Bänden im Jahre 1791, fodann im Jahre 1797 
in vier Bänden; in biefem Roman find die Sitten, GBefege, Natur, Religion 
und alle Humanität verfpottet und die ungeheuerlichfien Verbrechen zum Range von 
‚ Borfchriften erhoben; der Beifall, den er bei feinem Erfcheinen fand, war aufßeror- 
dentlich und einer Zeit entfprechend, in welcher die Grundlagen des focialen Gebäudes 
erfhättert waren. Als die erften Megungen der Revolution, die der Graf aus den 
Zeitungen erfuhr, eintraten, war er darüber entzückt und feßte er ſich durch ein Sprach» 
sohr mit dem Volk in Berbindung, fo daß fi de Launay, Gouverneur der Bar 
fille (ſiehe d. Artikel) vor der Erſtürmung derfelben gezwungen ſah, ihn’nach der 
Irrenanſtalt Charenton zu verfegen. Ueber die Mönche, welche diefelben damals diri⸗ 
gisten, gewann er ein Uebergewicht, welches die Beſchlüſſe der Mationalverfammlung 
von Tag zu Tag vermehrten. Am 17. März 1790 erhielt er die Nachricht, daß bie 
Berfammlung die Sreilaflung der auf Grund von Lettres de cachet Inhaftirten be⸗ 
fchloffen Habe. Den Tag darauf beſuchten ihn feine beiden Söhne, die er feit acht« 
jehn Jahren nicht gefehen Hatte, und die er kaum Fannte; den 29. März ward er freie 
gelaffen. Seine Frau, die mit ihrer Tochter fi in das Kloiter von Saint « Auray 
gurüdgezogen hatte, und bei der er fich anmelden ließ, entjagte der Verbindung mit 
ihm, und zwei Monate darauf warb die Scheidung von Tifhy und Bett dur dab 
CHatelet ausgefprochen, bald darauf emigrirten feine Söhne, und er ſelbſt, der An- 
fange nur mit dem Grafen Glermont-Tonnerre einen engen Umgang batte, warf ſich, 
waͤhrend er von ſeiner Feder lebte, ganz der Revolution in die Arme. Eine Reihe 
von feinen Theaterſtücken kam zur Aufführung, der Misanthrope par amour im Sep- 
tember 1790 auf dem Theätre frangais mit großem Beifall, der Homme dangereux 
auf dem ITheätre Favart, das Feenflüd Azelis oder die Coquette punie 1790 auf dem 
Theater der Straße Bondi. Im Bolfsverein der Section der Piques ward er Ser 
eretär; als früherer Adliger warb er jedoch verdaͤchtig, auf Befehl des Sicherheit 
Ausfchuffes am 6. December 1793 arretirt und erſt im October 1794 wieder frei« 
gelaffen. Fünf Eremplare der neuen, prachtvoll audgeflatteten une mit Kupfern ver⸗ 
ſehenen Ausgabe feiner Justine fchicdte er den Directoren zu, die ohne Widerfireben 
biefe Huldigung annahmen. 1798 veröffentlichte er mit gleichem typographifchen Luxus 
da8 Gegenſtück zu jenem Roman, nämlich die Juliette (6 Bde.), in weldyer er den’ 
Triumph des Laſters darftellte. Eine neue Ausgabe beider Romane (in 10 Bänden 
mit 100 Kupfern) wurbe indeflen von der Polizei mit Beichlag belegt, der Berfafler 
arretirt und am 5. März 1801 in das Gefüngnig von Saint: Pelagie gebracht; Bo» 
naparte naͤmlich, der nad feiner Erhebung zum Gonfulat auch in den Sitten die 
Nevolution in Bergeffenheit bringen wollte, und dem de S., wie früher den Direc⸗ 
toren, feine Romane zufchicte, wollte dieſer Literatur der Auflöfung ein Ende machen. 
Ald de ©. in dem genannten Gefängniß zu fchreiben fortfuhr, wurden feine Papiere 
am 9. März 1803 mit Befchlag belegt und er felbft nah dem Hoſpiz Charenton 
gebracht. Noch zweimal erfuhr er daſelbſt eine Beichlagnahme feiner Papiere (1804 
und 1807), fonft aber war feine Behandlung eine fehr milde und nachſichtige, was er 
beſonders dem Oberarzt der Anftalt, dem Doctor Gaftaldy, und dem Director, dem 
früheren Abb& Boulmier, zu. danfen hatte. Bing man doch in der Nachficht fo weit, ihm 
zuweilen zu erlauben, Daß er von den Narren der Anftalt auf einem im Hofe errichteten 
Theater feine Stüde.fpielen ließ, wobei er ſelbſt eine Rolle übernahm und gewöhnlich 
mit dem Vortrage eines Couplets zu Ehren der Damen und des Directors der Anftalt 
ſchloß. Sonft fuchte er mit feinen Büchern, Manuferipten und Reden Unter allen 
Demohnern des Etabliffements Profelyten für feine Weltanfidt zu gewinnen. Es 
liefen zwar öfter Klagen über die Unordnungen ein, zu denen er bie Gefangenen ver- 
leitete; Goulmier erhielt wegen der Freiheit, die er de S. geflattete, vom Minifler 
des Innern Verweiſe, und die Bolizei war ſchon mehrere Male im Begriff, ihn nad 
einem engeren ©efängniß zu verfegen; allein jedesmal fand er mächtige Vefchüger, 
ſelbſt Frauen der großen Welt Iegten beim Minifter ihre Fürfprache ein, und fo ließ 
man ibn in eines Umgebung, deren Maitre de Plaiflr er war, ungeflört fihalten und 

48% 


196 Sadeler. Gamilie.) 


walten. Seine Phantaſie behielt bis zu ſeinem Tode ihre alte Kraft, mit welcher ſte 
Mord und Todesmartern mit den Raffinements der Ausſchweifung combinirte. Nichts 
hatte ihn verändern oder niedermerfen Eönnen. Als Greis mit weißen Haaren empfing 
er die Beſuche, die er erhielt, mit ladelven Worten, die er mit fanfter Stimme vor⸗ 
bradyte, während er eine ausgezeichnete Höflichkeit entwidelte. Seine Kräfte blieben 
bis zu feinem Tode faſt ungeſchwächt; er flarb am 2. Dechr. 1814, faſt ohne Frank 
gewefen zu fein, eined fanften und ruhigen Todes. Er hatte für fich felbf eine Grab» 
ſchrift aufgefegt, in der er ſich als ein Opfer feiner Zeit darftellte und ſich deſſen 
tröftete, dag Ihn die Nachwelt rächen werde. Jedenfalls ftellte er in feinen Erlebnifien, 
Ausſchweifungen und Schriften in charakteriſtiſcher Weile die Zeit der Auflöfung dar, 
der er angehörte. Neunundzwanzig Jahre hat er im Gefängniß zugebracht; während 
der vierzehn Jahre, die feine legte Haft dauerte, Iebte er, da thn Bonaparte auf der 
Emigrantenlifte Hatte ftehen Taffen, und fomit feine Güter unter Sequefter flanden, von 
der Unterflügung, die ihm fein zweiter Sohn mit kindlicher Pietät bis zu feinem Tode 
gewährte. — Bon feinen Werken find außer den oben genannten gebrudt: Oxstiern 
ober die Malheurs du libertinage, Drama in drei Acten und in Profa, am 13. Des 
cember 1799 zu Verſailles aufgeführt und in demfelben Jahre gedrudt; es war ſchon 
im November 1791 aufgeführt worden. Der Berfaffer bat in demfelben eine der 
zwölf Hiftorifchen Novellen dramatifch bearbeitet, Die unter dem Titel Crimes de 
l’amour oder Delire des passions 1800 zu Paris in 4 Bon. erfchienen find. Berner 
erfhien zu Paris 1813 in 2 Bon. die Marquise de Ganges. — Als Manufeript 
eireulisten eine Menge dramatifher Sachen; im Bells feiner Familie befinden fich 
außerdem zwei biftorifche Romane, welche die Iegten Arbeiten de S!'s zu fein fcheinen, 
nämlich Isabelle de Baviere (Königin von Frankreich) und Adelaide de Brunswick, 
princesse de Saxe, Beides Schauergemälde und in fofern Borläufer der fpäteren 
franzöftichen Romantik; fodann eilf Hefte feines Tagebuchs, feit 1777 bis zu feiner 
Entlafjung aus Charenton im Sabre 1790, und fünf Hefte Notes, Pensees, Extraits, 
Chansons und Melanges au8 der Zeit feiner legten Haft. Eine Menge anderer Sadhen 
befinden fidy entweder in den Cartons der Polizei oder des Miniftertums des Innern, 
oder find in Gegenwart feines zweiten Sohnes, der fich vergeblich um Ihre Ausliefe⸗ 
rung bemühte, verbrannt. — Sein ältefler Sohn, Louis Marie de S., geboren zu 
‚ Baris 1767, trat 1783 in den Militärbienft, emigrirte 1791 und diente im Gorps 
Condé's. 1794 nach Frankreich zurückgekehrt, übte er, um Sicherheit zu genießen, zu- 
Paris die Kupferftecherei und arbeitete an einer Histoire de la. nation frangaise, don 
welcher der erfle Band, die Geſchichte der erſten Race umfaflend, zu Paris 1805 er- 
fhien. Dieſes Werk, neue und intereffante Forfchungen enthaltend, dÖffnete dem Ver⸗ 
faffer die eltifche Akademie. 1806 trat er wieder in den Dienft, machte den Feldzug 
von Jena mit, ward Gapitän und bei Friedland verwundet. Darauf dem Regiment 
Iſenburg beigegeben, wollte er fi in Dtranto einfchiffen, um fi zu feinem Corpé 
in Corfu zu begeben, ald er am 9. Juni 1809 auf der Landflraße von Raͤubern ums 
gebracht wurde. Sein jüngerer Bruder Srancoid Xavier Yof. David de ©, 
geb. 1777 zu Air, mar feit 1828 Mitglied der Deputirten » Kammer. Er flarb im 
Jahre 1845. (Die Schrift Jules Janin's, „Le Marquis de S.* [deutfch, Leipzig 1835] 
ift phrafenhaft und werthlos.) 

Sadeler, Kupferftecherfamilie, deren Ruhm von Johann S. begründet ward. 
Derfelbe ift 1550 zu Brüffel geboren, arbeitete Anfangs ald Damadcirer unter feinem 
Bater, widmete ſich aber feit feinem zwanzigſten Jahre der Kupferflecherfunft und 
machte fi zuerſt in Antwerpen durch feine Leiflungen einen Namen. . Er befuchte 
darauf die bedeutendflen Städte Deutfchlands und Italiens und erhob ſich in letzterem 
Lande zur Höhe feiner Kunfl. Sein „üngfled Gericht”, ferner die beiden Blätter 
„Die in ihren Ausfchweifungen von der SünpflutH" — und die „vom füngften Gericht 
Meberrafchten”, fodann fein „Baftmahl bei Martha und Maria” find feine Haupt⸗ 
werte. Er flarb 1610 zu: Benedig. Sein Sohn Juftus flach in feiner Manier, 
fein Bruder Raphael, 1555 zu Brüffel geboren, der ihn auf feinen Reiſen in 
Deutfhland und Italien begleitete, erwarb ſich einen eigenen Namen. Bon feinen 
zahlreichen Werken werden beſonders geſchätt: „Iefus Chriſtus zum Grabe getragen”; 


Sadolet (Jacob). | 197 


„Sefus CHriflus im Grabe, von zwei Engeln beweint“; „bie Auferfiehfung Chriſti“ — 
alle drei Blätter nach Ban Achen; ferner feine „Schlacht von Prag" in acht Folio⸗ 
blättern. Er farb 1616 zu Venedig. — Sein Sohn Raphael, auch Kupferfiecher, 
kam ihm nicht gleich. — Dagegen Egidius ©., der Neffe Johann's und Raphael's, 
geb. 1570 zu Antwerpen und ihr Begleiter in Deutfchland und in Italien, flach in 
legterem Lande eine Reihe geichägter Blätter nad den berühmteften italienischen 
Meiſtern und folgte fodann einem Auf des Kaifers Rudolph nah Prag, wo er, 
fpäter auch von Matthias und Ferdinand II. begünftigt, die größte Zahl feiner Werke 
flach. Er erwarb fih den Namen des Phönix der Kupferfiecherfunfl. Sein Haupt» 
wert iſt „der Prager Saal” in zwei Blättern; er flarb 1629 zu Prag. — Sein 
Sohn und Zögling Philipp erhob ſich nicht zur Höhe feines Vaters, und fein 
zweiter Sohn Marcus bat fi bauptfächlih nur als Herausgeber der Mehrzahl der 
Prager Werke feines Baterd einen Namen gemacht. 

Sadolet (Jacob), Eardinal und einer der Mitarbeiter an der durch die Mefor- 
mation nöthig gewordenen und im Gegenfag gegen diefelbe verfuchten Erneuerung des 
römifchen Katholicismus. Er ift 1477 zu Modena geboren. Sein Vater war Rechts⸗ 
lehrer an der Univerfität Bija, fobann zu Berrara, und er felbfl ward von einem 
Gollegen deflelben, Nikolaus Leonicenus, in die Weisheit des Alterthums eingemeiht. 
In Rom, wo er fih dann im Umgange mit Künftlern und Gelehrten welter bildete, 
erwarb er fich durch feine gelehrte Bildung, fo wie durch fein ernfled und befcheidened 
Wefen die allgemeine Achtung, die Protection des Garbinald Dlivier Caraffa, der ihm . 
das Kanonikat zu St. Lorenz übertrug, und bie Yreundfchaft des Petrus Bembus. 
Leo X. machte Ihn fogleih nad feiner Stublbefleigung zu einem feiner Secretäre.. 
Diefer Hohe Voften, in dem er fi als thätig, treu und gefchldt bewies, entfrembete 
ihn feinen Studien nit, und die Gelehrten empfanden die Folgen feines Credits, 
indem er ihnen Penflonen und Beneflcien verfchaffte, während er nie für ſich felbft 
um eine Gunft anbielt. 1517 machte er eine Wallfahrt nach Loretto, und mährend 
feiner Abwefenheit ernannte ihn der Bapft zum Biſchof von Garpentrad. Nur mit 
Mühe Eonnte er zur Annahme diefer Würde bewogen werden. Adrian VI. theilte 
nicht die Vorliebe ſeines VBorgängerd für Die Literatur. Er war gebildet in der 
Strengigkeit der alten jcholaftifhen Methode und die Eleganz ober Gefuchtbeit des 
Styls waren in feinen Augen ohne Verdienſt. Als man Ihm Briefe S.'s zeigte, 
fagte er: „Das find Briefe eined Poeten!“ ©. zog ſich auf das Land bei Rom 
zurück; man entband ihn feiner Dienfte, und er mußte fich fogar gegen die fäljchliche 
Anklage, ein Breve verfälicht zu haben, vertheidigen. Im April 1523 begab er ſich 
nach Garpentrad; Clemens VII. berief Ihn jedoch nach feiner Stuhlbefleigung wieder 
zurück und bewog ihn, in feinen früheren Boften wieder einzutreten. In der Ange 
legenheit des 1526 zu Kognac gegen Karl V. gefchloffenen Bündniſſes fonnte jedoch 
©. den Papſt nicht zur friedlichen Haltung beflimmen; zwanzig Tage vor der Erflürmung 
und Plünderung Roms (1527) verließ er Italien und zog ſich in fein Bisthum zuräd, 
welches er darauf mit Sorgfalt verwaltete; gegen die Proteftanten, die fich dfters in 
ihrer Noth an ihn mandten, benahm er fih mild und freundlih, wenn er auch die 
firengen Maßregeln, mit denen man fie bedrängte, nur verzögern, nicht verhindern 
konnte. Paul 11. rief ihn 1536 nah Nom zuräd, gab Ihn der Kongregation bei, 
welche Die dem Später zu Trient eröffneten Goneil vorzulegenden. Gegenflände bearbeiten 
follte, und ernannte ihn zum Garbinal. 1538 folgte S. dem Papſt nad Nizza, wo 
Karl V. und Branz I. eine Zufammenkunft Hatten, und er trug wefentli zu der 
Waffenruhe bei, welche beide Fürften befchworen. Weniger glüdlich war er 1542, 
wo er, von feinem mehrjährigen Aufenthalt zu Garpentrad nach Rom berufen, Franz I. 
zum Frieden bewog, aber an der Politik Karl's fcheiterte. Während jenes Aufente 
balts zu Carpentras war e8, daß er 1539 feine Epistola ad Senatum populumque 
Genevensem erließ, in welcher ex die Genfer durch Liebevolles Zureden für die römtifche 
Kirche wieder zu gewinnen fuchte;s der Brief if mit Gewandtheit und in elegantem 
Gtyl gefchrieben; doch charafterifirte Calvin denfelben richtig, indem er fagte, daß in 
bemfelben mehr der Ahetor, als der Theologe Hervortrete. 1544 unterhandelte ©. 
noch einmal im Streit Karl's und Franz'ens und flarb den 18. October 1547 zu 


158 Sagan. (Imſtenthum. — Stadt.) 


Nom. Die milde Gefinnung S.'s bewies ſich auch darin, daß er mit proteſtantiſchen 
Gelehrten in Briefwechfel fand; befonders fchäßte er Martin Bucer und Relanchthon, 
den er um feine Freundſchaft bat. Den Zwiſt der Bekenntniffe wollte er durch liebe⸗ 
volles Benehmen und kluges Zureden befchwichtigen. In feiner michtigften dogma⸗ 
tifchen Schrift: In Pauli epistolam ad Romanos commentariorum libri tres (£yon 1535) 
wollte er auch in der Streitfrage über Gnade und natärlihen Willen vermitteln, 
indem er dem Menſchen die erfte und freie Bewegung und die Neigung, das Gute zu 
wollen und zu thun, zufchrieb und dabei zugab, daß die göttliche Gnade Hinzufommen 
muüffe, um den Willen zu befeftigen und zur That werben zu laflen; daneben ſprach 
er fich gegen den Unfug des Moͤnchthums und der vorfchriftömäßigen Askeſe aus; 
Doch wurde diefe Schrift, der man in Betreff Der Lehre von der Gnade Semipela- 
gianismus vormwarf, in Mom gemißbilligt und unterdrüdt, und ©. ſah ſich gendthigt, 
diefelbe 1536 und 1537 mit Aenderungen von Neuem beraudzugeden. Bon feinen 
übrigen Schriften, bie meiftens den Charakter rhetorifcher Uebungen haben, iſt nur 
noch hervorzuheben die Abhandlung Phaedrus sive de laudibus Philosophiae libri 
duo (Lyon 1538), in welcher er die der PHilofophie gemachten Vorwürfe zu ent- 
fräften fuchte. Ein Seitenftäd zu feinem Schreiben un die Genfer ift feine Schrift: 
Ad principes populosque Germaniae exhortatio gravissima, ut, desertis et abjectis 
pestilentissimarum haeresium insaniis, in gremium calholicae et apostolicae Christi 
ecclesiae redeant. Er befämpft zwar auch in Diefer Abhandlung die Lehre von ber 
Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne jedoch den eigentlichen Kern ber Ans 
gelegenheit zu fallen, da er es bequemer findet, die Ueberzeugung der Broteflanten als 
mißbräuchliche Webertreibung des allgemein verfländlidhen und angenommenen Satzes 
von der Notbwendigkeit der Gnade zu bezeichnen. Die vollflänvigfle Ausgabe feiner 
fämmtlihen Werke erfhien 1737 zu Verona In 'vier Quartanten. 

Sagan. Das ehemalige, fonft mittelbare Fürſtenthum ©. war urfprünglid 
ein Beftandtheil des Fürſtenthums Glogau. Als aber Herzog Heinrich's VII. Söhne 
nach feinem 1395 erfolgten Ableben fich in die väterlichen Rande theilten, befam Herzog 
Johann S., welches damals ein beſonderes Fürftentfum wurde, von dem er ſich 
nannte. Sein Sohn Johann II. verkaufte dad Fürſtenthum S. 1473, mit des Kai⸗ 
ſers Matthias Bewilligung, für 55,000 Dukaten an den Kurfürften Ernfl von Sachfen, 
welcher e8 feinem Bruder, Herzog Albrecht, übergab, dem feine Söhne Georg und 
Heinrich nach einander darin folgten, fo wie der Letztere feine Söhne, die Herzoge 
Morig und Auguft, zu Nachfolgern hatte Als Morig die fächflihe Kur erhalten 
hatte, trat er 1549 das Fürftenthum S. an Kaifer Ferdinand I. ab, welcher felbiges 
mit den Herrfchaften Priebus, Sorau, Triebel, Muskau und Friedland 1553 an ben 
brandenburgifchen Markgrafen Georg Friedrich verpfändete. Diefe Pfandſchaft brachte 
Balthafar v. Promnig, Zürfibifchof zu Breslau, 1558 an fi; nach deſſen Ableben 
aber, 1662, fiel ©. an die Krone Böhmen zurüd. Kaifer Ferdinand II. vergab es 
1623 an feinen Feldherrn Albrecht von Wallenflein, der ſich nach demfelben Herzog 
zu ©. nannte, zog es aber nach deſſen erfolgter Ermordung wieder ein, worauf 
Kalfer Ferdinand II. das Fürſtenthum 1646 an Wenzel Eufebius, Fürſten v. Lobko⸗ 
wis, verkaufte, defien Nachkommen es bis 1786 befaßen. Der Fürſt, der ſich eben⸗ 
fall® Herzog zu ©. fchrieb, Hatte in der Stadt ©. feine Regierung, ein Land⸗ und 
Manngericht, ein Conſiſtorium, ein KHofgericht und eine Rentkammer. Das Fürften- 
thum zerfiel in drei Weichbilder oder Kreife, denen aber nur ein Landrath vorgefegt 
war. Diefe Kreife waren S., Priebus und Naumburg, mit den Zunamen am Bober. 
Don der fürftlih Lobkowitz'ſchen Familie gelangte das Fürſtenthum in dem genannten 
Jahre durch Kauf an den Herzog Peter von Kurland und nad deffen Tobe am 
13. Januar 1800 an feine jüngere Tochter Dorothea, Herzogin von ©. dur 
Fönigliche Inveftitur vom 6. Sanuar 1845. Nach ihrem Ableben am 19. September 
1862 erhielt das Herzogthum ihr Altefter Sohn Napoleon Ludwig, Herzog von 
©.» Balencay. Das Herzogtbum umfaßt 31 O.⸗M., 5 Städte, 147 Dörfer und 
70,000 Einwohner, und die Reſidenz des Herzogs iſt 

Sagan, am Bober, mit einem großen und ſchoͤnen Schloffe, einem katholiſchen 
Gymnaſium, Strafgefängniß, Streichgarnpinnerei, Keine, Baummollen- und Tuch⸗ 


Sage Er). 759 


weberei, Papiermühle, Kupferhammer, Getreides, Vieh⸗ und Wollmärkten und 9072 
Einwohnern Ende 1861. | 
Enge (die) if eine Kunde aus der Vorzeit, auf organifhem Wege im Volke 
entflanden und ausgebildet, gleichviel ob dieſelbe mit der biftorifchen Wahrheit im 
Einklang ſteht oder nicht. Wie ein Heiliger Strom, defien Quellen in tiefer Berbor« 
genheit Tiegen, zieht Die Sage Durch die Völker. Die Sagenmelt eined Volkes bildet 
gleichfan das Allerbeiligfte im Tempel feines Nationallebend; in feinen Sagen ver« 
erbt jedes Volk einen großen Theil feines Lebens, Glaubens und feiner Dichtung auf 
die Nachkommen. Ale Völker Huldigten und huldigen der S., indeflen Herrfcht eine 
fehr große VBerfchiedenheit in den Tendenzen der Sagen eined Volkes ſowohl, als in 
den Sagen der Bölker überhaupt, Die Verfolgung der einzelnen Spuren ihres Ent« 
fiehens, ihrer Wanderungen und ihres Verſchwindens in verfchiebenen Ländern lehrt, 
daß die verjchiedenen Arten von Sagen mit dem Klima, dem unfruchtbaren ober leicht 
zu bearbeitenden Boden, der größeren oder geringeren &ultur des Landes in eben fü 
genauer Verbindung flehen, als mit der Meligion eines Volkes und mit der Regie⸗ 
rungd-Verfoffung (Vgl. Otmar, „Volcksſagen“, Bremen 1800, ©. 11 ff.). Unver- 
kennbar prägt fich fletS der Grundzug des Volksocharakters in dem allgemeinen Cha⸗ 
vater der Sage eines Volkes aus. Die Sagen der morgenländifchen Völker, ver 
Magyaren und auch der Spanier fprechen weit weniger von den ®hreigniffen, die fte 
erzählen, ald von deren Eindrüden und Wirkungen, — von den Aeußerungen der Na⸗ 
tur und des Menfchen, — von Schmerz und von Freude. Ganz anders iſt ſchon bie 
Sage der ſlawiſchen Völker, der Böhmen, Bolen, Koſacken, Rufen; Krieg und Kampf 
und Verrath fpielen die Hauptrolle in derfelben; felsener fommen Geifter und Nym⸗ 
phen, öfter Zauberer und Heren vor; mitunter, aber nicht fo oft als in deutſcher 
Sage, der Teufel. Die Sage des Stalieners und des Branzofen ift Hauptfächlich auf 
Dravour und Galanterie gerichtet; das Vebernatürliche darin reiht ſich an den kirch⸗ 
kihen Glauben. Die alten Volksſagen der Schotten, der Iren, der Dänen, ber mei- 
ſten deutfchen Völkerfchaften, Haben faft immer ein furchtbar fchanerliches Eolorit, 
(Bgl. Arvin, „die Volkoſage, insbeſondere die fhleftfche, in ihrem Sinne und ihrer 
Bedeutung“ in den von Th. Oelsner herausgegebenen „Schleſtſchen Provinzialbläte 
tern". Neue Folge. Erfler Band. Slogan 1862. ©. 585 ff. und ©. 649 ff.). Viele 
Sagen Haben fich über mehrere Ränder verbreitet und fi Jahrhunderte, felbft Jahr- 
tauſende hindurch erbalten; andere beſchränken ſich auf einen Eleinen Umfreid oder auf 
kurze Zeiträume. Diefe Fortpflanzung und Erhaltung der Sagen, fo mie die Bezie⸗ 
Hung derfelben auf Zeit, Dertlichfeit und Nationalität Iehrt, dag in ihnen nothwendig 
etwas enthalten fei, was überhaupt dem menfchlichen Geiſte gemäß und in einer ge= 
wiffen Naturnothwendigkeit begründet ſein müſſe. Vgl. U. ©. Lange, „die Sage vom 
Meifter und Gefellen, mit vorläufigen Gedanken Uber das Gemeinfame in den Bolfd- 
fagen" (in Lange's „Vermiſchten Schriften und Reden“, herausgegeben von K. ©. 
Jacob, Leipzig 1832, ©. 224 ff.) und Julius Braun, „Rückführung aller religidfen 
Ideen, Sagen, Syſteme auf ihren gemeinfamen Stammbaum und ihre legte Wurzel“ 
(München 1864), worin der Verfaffer „einen Ordnungsplan aufflellen will für daß 
ganze unermeßliche Chaos der menfchlichen Ideenwelt in allen Sagen, Syftemen, Res 
ligionen von Joland bis Aetbiopien, Indien und Merico hinüber." Diefer Plan, 
beißt es, „beiteht einfach in der Aufdeckung und Serflellung des urfprünglichen, 
ftellenmeiß begrabenen und zertrümmerten Zuſammenhangs aller diefer Ideen, Sagen 
und Meligtonen.” Es foll gezeigt werden, „daß die menfchliche Eultur nicht an zweit 
verfchievenen Plägen (etma in Aegypten und Inner⸗Aſten) oder gar an noch mehreren 
von vorn anfing, fondern daß der Menfchheit geiflige8 Grundcapital am älteften 
Eulturfige, in Aegypten, in allem Wefentlichen fchon vorhanden war und Yon dort 
biftorifch weitergeſchoben wurde nach Ehaldäa, von Chaldäa eben ſowohl nad Indien 
als dem europäifchen Norben, zu den Hebräern und Phöniciern, mie nach Griechen⸗ 
land und Italien.“ Frühere Berfuche an derfelben Aufgabe, wie fle von Greuzer 
(in der „Symbolif*), Nork u. U. gemadht find, find, wie Braun fagt, mißlungen, 
und allerdings übertrifft der Verfaſſer jened große Anfprüche machenden Werkes feine 
, Borgänger an Genauigkeit und Umfang der Kenntnifſe. — Will man die Sagen in 


760 | Sage (pie). 


verfchiedene Gruppen eintheilen, fo gefchlebt dies am beſten nah der Art des 
Stoffes, auf welhem ſie ruhen; die Form kann die profaifche fo gut wie Die poe⸗ 
tifche fein („Balladen“). Am großartigften flellt fi die Sage dar, wenn fie aus 
den Urzeiten des Menfchengefchledhts ſtammt, wo fie dann fletd mit ber Weltiydpfung 
(Kosmogonie) und den Göttern zu thun bat. Sagen biefer Art heißen Mythen, 
und ihre Verbindung zu einem foftematifchen Ganzen innerhalb der Grenzen eined be» 
flimmten Bölferkreifes bildet die Mythologie deſſelben. Nahe verwandt mit der 
Bätterfage if die Heldenfage; fle verfchmilzt mit ihr oder geht in fle über, wenn 
einzelne Männer durch ihr Wirken oder ihr Geſchick an die Götterfage erinnern, wenn 
die Idee des Göttlichen felbft in Höheren geifligen Formen angefhaut und gewußt 
wird, ein neuer Glaube auffeimt oder auch Iocale Bötterfagen von einem allgemeinen 
Eultus überwachen werben; ihre Träger gelten dann nicht mehr für Götter, fondern für 
Herven. An die Heldenfage nüpft fich die Hiftorifche Sage; diefe ftammt nicht mehr aus 
der Urzeit, fondern aus folchen Zeiten, über welche bereitß glaubwürdige Quellen vorhanden 
find, und handelt von gefhichtlichen Perfonen. Beſonders wird in Schleflen, ſeitdem das 
Land preußifche Provinz geworden, die neuere Gefchichte von der Volksſage gepflegt. 
Der alte Brig und Vater Blücher find die hervorragendſten Verfonen darin. Einen 
lehrreichen Beitrag zur Kritik der vielfachen Sagen, die fih an Friedrich den Großen 
knüpfen, bat Grünhagen in einem bejondern Schrifthen: „Aus dem Sagenkreiſe 
Friedrichs des Großen“ (Breslau 1864) gegeben; er zeigt darin, daß — worauf zum 
Theil ſchon Andere aufmerkffam gemacht haben — die Erzählungen von Gefechten und 
Lebendrettungen des Königs, die zur Zeit der ſchleſiſchen Kriege in Wastha, Zindel, 
Oppeln, Kollin und Kamenz flattgefunden haben follen, in den meiften Punkten un« 
gefhichtlih find. — Zur Aufzeichnung von Sagen in profaifcher Form fchritt man 
in Deutfchland erſt fpät, während fle in Skandinavien und befonderd in Island („bie 
Edda, die ältere und jüngere, nebft den mythiſchen Erzählungen der Skalda*, über 
fegt und erläutert von Simrock, 3. Auflage, Stuttgart 1864) ſchon früh erfolgte. 
Die erſte planmäßige Sammlung von noch gegenwärtig im Volksmunde lebenden 
Sagen bearbeiteten die Sebrüder Grimm („Deutfche Sagen," 2 Bde, Berlin 1816 
—1818). Die Grimm'ſche Bearbeitung der Sage ift maßgebend für faft alle Ratio- 
nen geworden. Meberall Hat man fid mit lebendigem Bleiße bemüht, die im Munde 
des Volkes noch erhaltenen, fagenhaften Meberlieferungen zu fanımeln, fie dem Spiele 
der Phantafle und des Wiges zu entziehen und fie in Ihrer Wahrheit und Echtheit aufs 
zugreifen und ber wiſſenſchaftlichen Benußung zugänglich zu machen. Neben den Ge⸗ 
brüdern Grimm Haben die Romantiker große und unbeftreitbare Verdienſte um bie 
Wiederbelebung der Sagen; fle find mit dem entfchiedenften Talent. für die Sagen 
verarbeitung begabt gewefen. Die Sagenliteratur ift eine fehr reihe; in Deutichland, 
welched die rechte Heimath der Sage iſt, bat fogar die Sagendichtung fait jedes 
befondern Diſtriets, fogar der einzelnen Städte, ihre befonderen Forſcher, Sammler 
oder Bearbeiter gefunden. Unter allen deutfchen Sagenfammlungen, die nah Grimm’s 
großem Hauptwerk erfchienen, find die von Joh. Wilhelm Wolf, „Nieberländijche 
Sagen" (Reipzig 1843), „Deutihe Märchen und Sagen" (Leipzig 1845) und 
„Heſſiſche Sagen” (1853), dem wir aud eine treffliche „Zeitjchrift für deutfche My⸗ 
tbologie und Sittenkunde“ (Göttingen 1853) verdanfen, und die von Adalbert Kubn, 
„Märkiihe Sagen und Maͤrchen“ (Berlin 1843), „Norbdeutfhe Sagen, Märchen und 
Gebräuche" (Leipzig 1848), mit W. Schwark beraußgegeben, und „Sagen, Ges 
bräuche und Märchen aus Weſtfalen“ (2 Thle., Leipzig 1859), die reichſten. Außer- 
dem. find zu erwähnen: Bechſtein, „Sagenfhug ded Thüringer Landes" (4 Thle., 
Hildburghaufen 1835—38), und von demfelben „Sagenſchatz bed Franfenlandes * 
(Würzburg 1842) und „Deutſches Sagenbuch“ (Leipzig 1853), Binder, „ Alemannifche 
Volksſagen“ (Stutigart 1842), Börner, „Bolfsfagen aus dem Orlagau” (Nlten- 
burg 1838), v. Herrlein, „die Sagen des Speflart" (Aſchaffenburg 1851), Hoder, 
„des Mofellandes Geſchichten, Sagen und LKegenden“ (Trier 1852) und von- dem- 
felben „die Stammfagen der Hohenzollern und Welfen" (Düffelvorf 1857), Klopp, 

„Geſchichten und Sagen der deutſchen Volfäflämme* (2 Thle., Leipzig 1851), Frhr. 
yon Leoprechting, „Aus dem Lechrain. Zur deuiſchen Sitten“ und Gagenfunde“ 


— — — — 


Sagittariud (Caspar). 61 


(Münden 1855), Lyncker, „Deutſche Sagen und Sitten in beffligen Bauen gefam- 
melt“ (Kaſſel 1854), ©. Meier, „Deutiche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwa- 
ben" (2 Thle., Stuttgart 1852), Schöppner, „Sagenbuch der bairifchen Rande” (3 
Dde., Münden 1852—53), Müllendoff, „Sagen, Märchen und Lieder der Herzog- 
thümer Schleöwig« Holflein und Lauenburg” (Kiel 1845), Schambach und Müller, 
„Niederfächfifche Sagen und Märchen” (Böttingen 1855), €. Sommer, „Sagen, 


Maͤrchen und Gebräuhe aus Sachſen und Thüringen” (Halle 1846), Graͤſſe, „ber 


De 


Sagenſchatz des Königreih& Sachen” (Dresden 1855), Alfred Reumont, „Rheins 
lands Sagen, Geſchichten und Legenden” (Köln und Aachen 1837), Aler. Kaufmann, 
„Quellenangaben und Bemerkungen zu Karl Simrock's Mheinfagen und Uleränder 


Kaufmann's Mainfagen” (Köln 1862), Pröhle, „Deutfhe Sagen” (Berlin 1863), 


2. Uhland, „Sagenforfhungen,” auch unter dem Titel „der Mythus von Thor nad 
norbifchen Duellen® (Stuttgart und Augsburg 1836) und „die Zodten von Luſtnau. 
Ein Beitrag zur ſchwäbiſchen Sagenktunde* (in Pfeiffer’s „Germania®, 8. Jahrgang, 
1. Heft, Wien 1863), Nieverhöffer, „Medlenburgs Bolksfagen " (Reipzig 1864). An« 
Hänge und Antnüpfungen an die Sagen des übrigen Deutfchlands bietet die Samm⸗ 
Jung „Sagen des preußifchen Samlandes“ von Reuſch (Berlin 1863) dar. Was 
die Sagenliteratur der nichtdeutfchen Völker anbetrifft, fo führen wir bier an: Wenzel, 
„Bruchſtücke zur wiffenfhaftlihen Würdigung der ungrifchen National= Heldenjage* 
und Steinader, „die ungrifche Heldenfage” in feiner „Geſchichte der ungrifchen Diche 
tung” (Pe 1863), S. 49 ff., Grohmann, „Sagen aus Böhmen*, aud unter dem 
zitel „Sagen- Bud don Böhmen und Mähren” (1. Thl., Prag 1863), Rußwurm, 
„Sagen aus Harfel und der Umgegend” (erfle Sammlung, Reval 1856), Schott, 
„die eſthniſchen Sagen von Kalewi⸗Pony“ (Berlin 1863), Peterfen, „Denemarks 
Sagenhiftorie* (Kopenhagen 1835), Afzeltus, „Volksſagen und Volkslieder aus 
Schwedens älterer und neuerer Zeit,” überfeßt von Ungewitter (Leipzig 1832), San« 
Marte, „Groß⸗Polens Notionalfagen” u. |. w. (Bromberg 1842), Thoms, „Alte 
englifhe Sagen” u. f. w., deutſch von Spazier (Braunfchweig 1830), H. Schiff, 
„Hundert und ein Sabbat. Oper Gefcyichten und Sagen des israelitiſchen Volks“ 
(Leipzig 1842), Tendlan, „DaB Buch von Sagen und Legenden jüdiſcher Vorzeit“ 
(Stuttgart 1842), U. Holgmann, „Indifche Sagen” (3 Thle., Karlsruhe 1845 und 
1846). Endlich begegnen wir einer Nacherzählung von Sagenreihen nach dem Volks⸗ 
munde der Süpfeefämme in Schirren's Werke, „die Wanderfagen ber Neufeeländer 
und der Mauimythos“ (Niga 1856). So if denn innerhalb eines Furzen Zeitraums 
die Sagenkunde auf den Standpunkt einer Wiflenfchaft gehoben. Sie giebt als hir 
ſtoriſche Hülfswiſſenſchaft welt lebendiger Zeugniß von der Vergangenheit, als Stein, 
Schild und Wachs; fie nimmt ihre Zeugniffe aus den mündlichen Weberlieferungen 
des Volks. — Die norbifche Mythologie kennt auch eine Göttin Saga (f. „Bragur“, 
Bd. J. S. 77), und Saga nannte der ſkandinaviſche Norden die uralten Helden» 
lieder, in welche die UrsSagen der germanifchen Frühzeit fich geflüchtet und geborgen 
Batten. Um die Kiteratur dieſer Sagas bat ſich der daͤniſche Biſchof P. E. Müller in 
feiner „Sagebibliothel" (3 Bde., Kopenhagen 1817—20) fehr verdient gemacht. 
Bol. auch Hierüber 2. Ettmüller's „Handbuch der deutfchen Literaturgefchichte”, S 
105—113, und Ludwig Bechflein, „Mythe, Sage, Märe und Babel im Leben und 
Bewußtſein des bdeutfchen Volks“, der im 3. Theile dieſes Werkes (Reipzig 1855, 
©. 220 ff.) auch einen literarifchen Ueberblid über „beutiche Sagen⸗, Märchen» und 
Fabelſammlungen? giebt. 

Sagittarind (Caspar), Iutherifcher Theologe und fächflicher Hiſtoriograph, geb. 
den 23. September 1643 zu Lüneburg, wo fein Vater Pfarrer war. Gr fludirte, 
nachdem er den Schulcurfus zu Lübeck abfolvirt Hatte, zu Helmſtaͤdt außer der Theologie 


. die philofophifchen und exacten Wiflenfchaften und bildete fih, beſonders unter Con⸗ 


ring's Leitung, zum Polyhiſtor aus. Don 1668 bis 1671 war er darauf Nector der 
Schule zu Saalfeld, fodann übernahm er einen Lehrſtuhl an der Univerfität zu Jena 
und 1674 erhielt ex den Lehrſtuhl der Geſchichte. 1678 ward er Profeflor der Theologie, 
ſodann Hiſtoriograph der Herzoge von Sachen und flarb den 9. März 1694. Neben 
feinen polemifchen Schriften zus Vertheidigung des Kutherthums gegen den Katholicis⸗ 


762 Sagro (Don Ramon be la). 


mus und bed Pietlömus gegen das flarre Lutherthum find es feine biftorifchen Arbeiten, 
die ihm einen dauernden Namen verfchafft Haben. 1674 erfihien zu Jena feine historia 
antiquissima urbis Bardevici, in qua simul antiquus universae inferioris Saxoniae 
status — constitutio Ducum, Comitum, Episcoporum in Saxonia, eorundemque potestas, 
origines item et incrementa variarum urbium — nec non potentissimi quondam 
Bavariae et Saxoniae Ducis, Henrici Leonis vita et res gestae ex optimis velerum 
monumentis expenduntur. Dad Jahr darauf folgten die Arbeiten: De praecipuis 
scriptoribus historiae germanicae; ferner Nucleus historiae germanicae (in's 
Stanzöftfche von Rocoles überfegt) und die an Johann Scilter gerichtete Epistola 
de antiquo statu Thuringiae sub indigenis, Francorum Germaniaeque regibus, ut 
et Ducibus, Gomitibus, Marchionibus usque ad ortum Landgraviorum. Letztere Skizze 
verarbeitete er dann in den drei großen, deutfch gefchtiebenen Werfen: 1) Antiqui- 
tates regni Thuringici (Iena 1685); 2) Antiquitafes gentilicismi et Christianismi 
Thuringiei (Sena 1685) und 3) Antiquitafes ducatus Thuringici. (Jena 1688). 
Seine Historia Gothana Hatte er nicht vollenden können; erſt G. E. Tengel gab fie 
(Sena 1700) mit einem Supplementbande heraus, auf welchen er 1702 und 1716 
noch zwei andere Binde folgen ließ; dieſer Herausgeber theilt unter Anderen auch die 
Driefe des Gothaiſchen Kanonikus C. Mucianus Rufus mit (vergl. über denfelben ben 
Artikel Humanismus). S. felbft Hatte von jener Historia rur eine Skizze unter dem 
Titel Memorabilia historiae Gothanae 1689 veröffentlicht. Außer diefen bedeutenden 
Werken bat er unter Anderen noch herausgegeben: die Historia Lubecensis (Jena 
1677, 78 und 79 in 4 Bbn.), eine Historia antiqua Noribergiae, ferner Antiquitates 
archiepiscopatus Magdeburgensis (1684); endlich eine Historia Georgii Spalatini 
(Iena 1684). Im Jahre 1692 hatte er begonnen die Introductie in historiam eccle- 
siasticam, sive Notitia scriptorum veterum atque recentium, doch Fonnte er fle nicht 
vollenden; no an feinem Todestage dietirte er dad Kapitel über die Manichder; der 
Abt Schmidt, der Depofltär feiner Papiere, gab Died Werk noch 1694 heraus und 
1718 in einer neuen Auflage mit einem Supplementband aus feiner eigenen Feder. 
Bergleiche Joann. Andr. Schmidii Commentarius de vita et scriptis Caspari Sagita- 
rii (Iena 1713). — Derfelben &amilie, deren urfprünglicher deutfcher Name Schüße 
war, gehörten noch mehrere Gelehrte an. Thomas S., Caspar's Oheim, geb. 1577 
zu Stendal, geflorben den 21. April 1621 als Rector des Eliſabeth-Gymnaſtums zu 
Bredlau, hat außer anderen Schriften einige Abhandlungen über bizarre Themata her⸗ 
außgegeben, z. B.: Qui fiat, quod multi abhorreant ab esu casei. — Deffen Sohn 
Johann Chriſtfried S,, geb. 1617, Profeffor der Gefchichte und Poeſte zu Iena, 
darauf GeneralsSuperintendent und Hofprediger zu Altenburg, mo er den 16. Februar 
1689 farb, bat die Altenburger Ausgabe der Werke Luther's (1661 — 1664, 
9 Bde.) beſorgt und die Tateinifhen Werke Luther's in's Deutfche überſetzt. — 
Des Legteren Sohn Baul Martin ©., geb. 1645, geftorben den 31. Juli 1694, 
durchlief die Laufbahn feines Vaters. Bon ihm bat man fee Differtationen: De 
numis Saxoniae ducum (Altenburg 1769 flgbd.) und einen Syllabus monelae cupreae 
Saxoniae, aufgenommen von Mende in feine Scriptores rerum Germanicarum. — 
Ein fpäterer S., Dietrich, veröffentlichte kurz vorher, che eine engere Berührung 
zwifchen Juden und Ghriflen eintrat, 1745 zu Frankfurt eine deutſche Schrift, in 
welcher er zu beweiſen fuchte, daß ein kranker Chrift nit mit gutem Gewiffen einen 
jüdiſchen Arzt confultiren dürfe und daß es nicht erlaubt fei, das Dorctorat der 
Medicin einem Juden zu verleihen. 

Sagro (Don Ramon de Ia), fpanifcher National» Debonom, geb. 1798 zu La 
Gorufa, Audirte zu Madrid und warb 1820 zum Director des botanifchen Gartens 
zu Havafla und zum Profeffor der Agricultur: Chemie ernannt; zugleich dirkgirte er 
daſelbſt eine landwirthſchaftliche Muſteranſtalt. Zwölf Jahre fpäter machte er eine 
Meife nach den Bereinigten Staaten Nord « Amerlla’d, 1835 Fam er nah Europa 
zurück, befuchte mehrere Hauptfläbte und bielt ſich befonders zu Paris auf, wo er 
correſpondirendes Mitglied der Akademie der moralifhen und politifchen Wiſſenſchaften 
ward. Seine erfle Schrift erfihien 1831 zu Havafla unter dem Titel: Historia eco- 
nomica, politica y estadistica de la isla de Cuba. Als Nachtrag dazu erfchien 1836 


Caguntem, (Stubt.) | Sahara. 163 


zu Paris: Breve idea de la administration del comercio y de las rentas y gastos 
de Guba, durante los annos de 1826—1834. Beide Werke Hat der Verfaffer ſodann 
in feiner Historia fisica, politica y natural de la isia de Cuba (Paris 1837—1842, 
2 Folianten) zu einem Ganzen verarbeitet. 1836 veröffentlichte er zu Paris fein Reiſe⸗ 
Tagebuch Cinco meses en los Estados unitos, ferner erfchien 1839 ebendafeläft im 
franzoͤſiſcher Sprache: Voyage en Hollande et en Belgique sous le rapport de l’in- 
struelion primaire, des e&tablissements de bienfaisance et des prisons dans les 
deux pays (von letzterem Werk erihien 1839 — 1842 eine Holländifhe, 1845 eine 
fpanifche Ueberſezung). Ein gemäßigter Anhänger der Mevolution, beteiligte ſich ©. 
au an den polittfchen Bewegungen feines Vaterlandes; feit 1840 aber bemühte er ſich 
bauptfächlich, dle moderne National-Dekonomie für die Spanier zu popularifiren. So 
hielt er am Athenaͤum zu Madrid national-dfonomifche Vorlefungen, gründete zu dem⸗ 
felben Zwe eine Wochenſchrift und gab ferner eine Reihe von Schriften über die 
fpanifche, ferner Über die belgifche und über die deutfche Induftrie heraus. Nach dem 
Sturze Ludwig Philipps etlte er nach Paris, betheiligte ſich daſelbſt fehr lebhaft an 
der Verhandlung der focialen Fragen, verband fich namentlih mit BProuphon (f. d. 
Art.) und warb ein eifriger Vertheidiger der Bankidee deſſelben. So ließ er 3. B. 
eine Brofchäre: Organisation du travail; ferner Banque du peuple u. f. w. erfcheinen. 
Bald aber verließ er dieſes Schlachtfeld, Tieß 1850 eine Abhandlung über die befondere 
Befähigung der Blindgeborenen zum Kopfrechnen und über die Benugung dieſes 
Talents zu ihrer Ausbildung erfcheinen und repräfentirte fein Land in der internatio« 
nalen Jury zu London während der erfien Welt» Ausflellung bafelbft, bei welcher 
Gelegenheit er zu London 1851 eine Schrift über die zur Ausftellung eingefandten 
Producte veröffentlichte. Die Revolution von 1854 zog ihn wieder in bie Politik, 
er warb Mitglied der conflituirenden Cortes, durch O'Donnell's Staatsſtreich (Juli 
1856) aber wieder in's Privatleben zurücdgemiefen. 

Saguntum (Saguntus), Stadt der Edetaner im tarraconenfifchen Spanien, 
auf einer Anhöhe, unweit des Meeres, am Pallantiad und in einer fruchtbaren, durch 
ihre ausgezeichneten Zeigen berühmten Ebene, ift nur noch in einigen Ruinen, beſon⸗ 
ders in einem Amphitheater und einem Bacchustempel bei der Stadt Murviedro vor⸗ 
handen. S. war von Griechen aus Zakynthos gegründet, mit denen fih Mutuler 
aus Arden verbunden haben follen, und wurde durch Induſtrie, namentlih durch 
Verarbeitung des in feiner Nähe ſich vorfindenden vortrefflihen Toͤpferthons, durch 
Land» und Seehandel bald reich und bedeutend. Als die unbegreiflih rafche und 
gewaltige Ausbreitung der Farthagifchen Macht in Spanien die Aufmerfjamfeit und 
die Beforgniffe des Nömer erregte, fhloflen fie um das Jahr 226, ihres jungen 
Hellenenthums eingebent, mit S. und Emporiae (Ampurias) Bündniß, und indem fle 
den Farthagifchen Feldherrn Hasdrubal davon in Kenntniß fegten, wiefen jle ihn zu« 
gleich an, den Ebro nicht erobernd zu überfchreiten, wad auch zugefagt wurde. Doch 
fhon 249 begann Hannibal S. anzugreifen und zu belagern, das ſich vertheidigte, 
wie fih nur fpanifche Städte vertheidigen koͤnnen, endlich nach einer achtmonatlichen 
Belagerung ſich aber ergeben mußte. Nach acht Jahren nahmen die Roͤmer den Kar 
thagern ©. ab, ftellten e8 wieder ber und ſchickten eine Golonie dahin. 

Sahara Heißt Ebene und zwar unangebaute im Gegenfag zur Tehama. Unter 
diefem arabifchen Namen erfiredt fich zwiichen 17° und 28 bis 29° noͤrdl. Br. und 
zwifchen dem Kerromeridian und 46 bis 490 Hfll. 2, der ald Grdftes von Wüfle 
auf der Erde berüchtigte Randesraum des nördlihen Ovals von Afrika, welcher .mit 
den zahlreichen Dafenländern, wozu aud daB Land Feſſan gehört, über 120,000 
DM. mißt, aber eben deshalb weder ununterbrochene Wüſte ift, noch auch ununter- 
brochene Ebene. Zur Unterfcheidung von den Ebenen am Südfuß des Atlas, Die im 
Gegenſatz zum Hochland („Tell”) auch ſchlechtweg „Sahara heißen, wird fle heut 
zu Tage gewöhnlich als die große Sahara bezeichnet, bei den arabifchen Norbs 
afrifanern „Sahara el Balat” oder fehlechtweg Falat. Sie bat von ihren Schreden 
durch die neueren Reiſen viel verloren, und wenn der große Landesraum ununter- 
brochene Sandwuſte im eigentlichen Sinne wäre, wie e& große Abtheilungen deſſelben 
wirklich find, fo wäre er in der That unbewohnbar und undurchreiäber. Wie ander“ 


764 | Sahara. 


große afrifanifche Ebenen, im Norden wie im Shen des Weltiheils, fo befleht auch 
bie große ©. zum größten Theil und im Weften durchaus aus wagerecht gefchichteten , 
Sandftein, von verichiebener Färbung, welcher auch die zahllofen Tafel» und Kegel» 
berge, fo wie die Gebirgszüge und Küftenfäume bildet, und bie dunkel gefärbten Berg- 
fetten, wie der Schwarze Harutſch In Feſſan find ebenfalld nur gefchwärzter 
Sandflein, keineswegs, wie man glaubte, Bafalt, was ohnehin bei der Kette , ſchwarzer 
Berge", Dſchebel Afuad, der Fall fein wird, die im weſtlichen Sanbdfleingebiete 
vom Gap Bofador landeinwärts zieht, während vom Gap Blanco auch ein 
„weißes Gebirge”, Dſchebel el Abiadb, ausgeht. Im Norden der centralen ©. 
bis füdlich von Ghadames ift die dolomitiſche Formation vorberrfchend, dagegen 
beftehen die fünlicheren Plateaur aus Sandflein. Im Alluvialboden ber Thäler des 
Zaffili (f. u.) find Rollſteine aus vulcaniſchen Gebilden gefunden worden und 
e8 beweift Died die Eriftenz von alten Bulcanen im höheren Theile des Tafflli; daſſelbe 
wird wohl au für die @ipfel des Ahaggar (f. u.) gelten. Aeltere Steine, wie 
Bafalt und gefärbte Phylladen, erjcheinen, die erfleren in der Berggruppe ber 
Soda ſüdlich von Sofna, die anderen aber im Thale von Mhat. Dennoch herrſchen 
In der oͤſtlichen S. in Anſchluß an das ügyptifche Kalkplateau Kalkfteine vor, theils 
nadı zu Tage gehend, theils mit Sand bedeckt, bald Flächen bildend, bald iſolirte 
Beldmaflen und ganze Bergreihen. Diefe ungeheuren Sandmaſſen, welche aus ber 
Berwitterung der Geſteine hervorgehen, find in befländiger Bewegung mit dem allges 
meinen Erfolg, die Wüfe nach ihren verfchiebenen Grenzen bin zu vergrößern und 
die Dafen zu verkleinern. Un der atlantifchen Küfte gebt dad Großartigfle von 
Dünenbildung auf der Erbe vor fi, indem ſich Hügelzüge von 100 Buß Höhe 
bilden, ja am Cup Bojador mitunter bis zu 400 Fuß. Durch ungeheure Mengen 
von Sand, welche der Wind fortwährend in's Meer führt, bat fih der Boden deflelben 
erhöht und in eine fubmarine Fortjegung der S. verwandelt, und wegen diefer Un- 
tiefen ift die Saharaküſte eine der gefürchtetften. Im Innern der S. wechfeln große 


- völlig ebene und kahle Strecken von 8 bis 10 Tagereifen Erftredung ohne Thal und 


Hügel, ohne Pflanzen und Wafler, wo bald die Kameele bis zur Bruſt in den Sandy 
einfinfen, bald nadter dürrer Feld zu Tage geht, fo wie geichloffene Becken mit Sand⸗ 
boden, unter welchem in einiger Tiefe falziges Waſſer ſich befindet, mit hochanftreben« 
den felfigen Bergmaflen, fo wie mit tiefer liegenden anbaubaren Stellen, beide mit 
Quellen begabt. Unter den großen kaählen Ebenen, den „Meeren ohne Wafler* 
bei den Eingebornen, den eigentlichen Wüften in der S., wird die des nörblidyen 


Tibbulandes, die im ganzen Welten berüchtigte Ebene von Tanesruft zwifdhen den 


Dafen Tuat und Mabruf, und die Ebene von Gidi oder Igidi im Welten von 
Zuat bervorgehoben. Daß die ©. viele falzige Niederungen und falzige 
Becken enthält, iſt Schon feit längerer Zeit befannt. Unter diefen wollen wir nur 
die am wenigften befannte erwähnen, die Sebcha von Ahmadghor, weldye nord- 
oͤſtlich vom Ahaggar, zwilchen diefem und dem Taſſtli der Asdjer legt. Sie enthält 
eine Salzmine, über welche eine alte Handelöftrage von Wargla (Algier) bis nad 
dem Sudan über Aflu führte. In früheren Zeiten wurde bier jährlich ein Markt 
gehalten, wo die Producte des Sudans gegen eingeführte Fabrikate der Berberei aus⸗ 
getaufcht wurden. Zugleich kamen die Leute vom Süden dorthin, um den Vorrath 
an Salz für den Sudan zu, kaufen.“ Die Flüſſe der Quellen auf den felfigen Berg 
maffen, fo wie in den tiefer Tiegenden anbaubaren Stellen verfiegen meiſtens ober 
fliegen bloß periodiſch, bei mandyen flebt dies in Frage, wie z. B. bei dem Wabi 
Mia im Süden von Algier. Ale Thäler in der ©. zeigen nur audgetrodnete Fluß⸗ 
beiten, nach dem Regen wird aber dad niedergefallene Wafler von dem feinen Sande 
abforbirt und gegen die Sonne geihügt, fo daß Brunnen in diefen Wadi's gegraben 
werden fünnen. Nur nach den flärkften Regengüſſen wird die Waflermenge hinreichend, 
um in den Thälern zeitweilige Bäche zu bilden. Schwerlich kann dies jedoch immer 
fo geweien fein, weil man in der ©. Thäler von mehreren Kilometern Breite flieht; 
fiher find dieſe Betten durch riefenhafte Strömungen gegraben worden. Die neueflen 
Reifen vom Sprienmeer nach dem Sudan haben bier einen geboppelten Höhen» 
zug kennen gelehrt, wovon ber eine von Feſſan bie Yir fih ausdehnt, Der andere 


_ Scham. | 165 


öftlicher mit fleilen Felsbergen von Feſſan gegen den Tfabfee geht und wodurch das 
öftliche Becken der S. oder die Tibyfhe Wüſte von dem weftlichen getrennt wird, 
eine Abtheilung des Sandmeeres, die ganz derjenigen des Mittelländifchen Meeres 
entfpricht, zugleich die Grenze zwifchen den weftlihen Tuariks und den öſtlichen 
Tibbus. Nördlich von Air oder Asben ift jenes Hochland unbemohnt, in Ar 
felbſt erhebt fih im Culturland die höchſte Spige des daſtgen Gebirges majeſtaäͤtiſch 
bis zu 6000: Fuß. Im Mllgemeinen fireihen die Saharagebirge norbfüdlich 
und das ganze Land hebt ſich ſüdwärts von den niedrigfien Stellen im Norden 
an, wo man theild im Oſten in ber Dafe Siwah, theils weſtliche am See Mel» 
ghigh fogar Depreffionen annehmen zu müfjen glaubt. Eine gemwellte Sandflädhe 
zieht ſich jedoch von der Nähe der Kleinen Syrte, ſüdweſtlich von Babes, faft 
ohne Unterbrehung bis in die Nachbarfchaft von Arguin an den Ufern des Dreand 
und liegt ziemlich body. Das große Plateau des Ahaggar, welches als Kern diefer 
Hochebene zu betrachten ift, erhebt fih unter dem Meridian von Setif (Algier) und 
einer ungefähren Breite von 240 N. An der böcjften Etage dieſes Plateau’8 haben 
zwei große Zlußbetten ihren Urfprung. Der Igharghar geht von bier nad Nor⸗ 
den und verliert fi nördlich von ber Sandregion in den falzigen Nieberungen des 
Wadi Righ in der algierifhen S. In alten Zeiten floffen die acciventellen Wafler 
diefed Stromes durch den Schott Melghigh und den Schott Firaun (Palus 
Tritonis) nach dem Golf von Babes, jegt find aber dieſe Schott oder falzigen Beden 
ohne Verbindung mit einander und ihr Bett wird nur im Winter durch Negenmaffer 
befeuchtet. Diefe Verteilung einer großen Niederung in Tleinere, unabhängig von 
einander erfcheinende Becken findet binlänglihe Erklärung in dem Vorſchreiten 
der Sanddünen von Of nah Wef. Ein anderes Strombett, Wadi Tin 
Tarabin genannt, zieht fid von Atafor-en-Ahaggar zuerfi nach Südoſten und dann 
nach Südmweften und Süden, und gebt nach dem Niger zu, in welchen e8 unterhalb 
Sfat mündet. Norböflih von Ahaggar findet fich ein Tängliches, aber ziemlich breites 
Plateau, Taffili der Asdjer genannt; die den ganzen nördlichen Abhang des⸗ 
felben fchneidenden Thäler verlieren ſich in der fich Dicht anfchliegenden, Ighargharen 
genannten Niederung, welche nad Nordweflen allmählich In den Igharghar übergeht. 
Ein anderes Plateau nördlich von Abaggar leidet Mangel an Waſſer und endlich ein 
lepte8 erhebt ſich nordweſtlich. Die Thäler, welche von dieſem letzteren herabfleigen, 
falfen öftlich dem Igharghar zu und weftlich bringen fie durch untertrdifche Infiltration 
dem Tidikelt (Tuat) den nöthigen Waflervorrath zur Bemwäflerung feiner Dafen. Nicht 
minder eigenthümlich als die geologifchen Verbältniffe der ©. find ihre meteoros 
logiſchen Berbältniffe. Es if vor Allem der fcharfe Wechſel zwifchen der 
erſtickenden Tageshitze und der empfindlichen Nachtkälte mit den ausnehmend flarten 
Thaufällen. Dennoch iſt dad Klima in der centralen ©. vorzugswelfe ehet ge⸗ 
fund ald dem Menfchen nadhtheilig; jedoch machen hier die tief gelegenen Dafenländer 
eine Ausnahme Die Luft auf den PBlateaur ift befonders ſehr gefund und ſtaͤrkend. 
Der Höhe der Plateaur wegen ift e8 dort im Winter ziemlich Falt, wird aber ſehr 
heiß im Sommer. Duvenprter beobachtete, ald Ertreme — 2,,° (E.) in Timel⸗ 
Nlulen am Morgen des 18. December 1860 und zwei Mal + 44,,° In Murzuf, den 
5. und.den 26. Juli 1861 Nachmittags. Lieutenant I. Auert bat während 44 
Monaten drei Mal täglich Beobadhtungen in Tuggurt angeflellt, und obgleich wir 
glauben, daß fein Inftrument nicht vor dem Einfluß der Stadt gefhügt war, fo find 
feine Beobachtungen doch fehr intereffant. In der Periode von 1855 — 59 Hat er 
ein Minimum von + 2° und ein Marimum von 510. gehabt. Der Boden der 
©. iſt aber noch viel größeren Temperatur⸗Unterſchieden ausgefegt. Duveyrier beob⸗ 
achtete an einem leicht mit Sand Üüberbedten Thermometer zwifchen Ghadames und 
Rhat den 22. Januar 1860 ein Minimum von — 4,,,° und in Murzuf den 20. Juli 
ein Rarimum von + 66,,° in der Sonne. Solch ein Unterfchied in den Tempera, 
turen des DBodend mit dem Mangel an Waſſer erflärt zur Genüge, wie das Leben 
in der ©. fo fpärlih if, wie die Specied der Pflanzen und Thiere relativ fo bes 
fhränft an Zahl find. Der auffteigende Luftfirom über den glühenden Sand- und 
Belfenmaffen erzeugt an den Küflen der ©. im Sommer Seewinde, weldhe den 





766 Sahara. 


ſonſt herrſchenden Paffaten gerade entgegengeſezt und den nach. Amerika ſegelnden 

Schiffen hinderlich find, vorzüglich zwiſchen den Canariſchen und Gapverbifchen Inſeln, 
am meiſten wiederum zwiſchen dem Gap Bojador und der Senegalmändung Die 
berrfchenden Winde im Winter find die ausnehmend dürren, bei Tag heißen, bei Nacht 
kalten Oftwinde, welche vornehmlich den Sand weflwärts und in das Meer tragen. 
Diefe regelmäßigen Winde werden durch bie unregelmäßig ſich erhebenden Wählen» 
flürme unterbrochen; es ift der höchſt verberblihde Samum, welder bie Wüſte 
in ein bewegtes Meer verwandelt und die Luft fo mit Sand erfüllt, DaB das 
Athmen dadurch verhindert wird, ſchon gefährlich genug, wenn es auch übertrieben 
it, Daß er unter den Yon ihm aufgewirbelten Sandmaflen ganze Raramanen be= 
graben Föünne. Die Dafen ber ſüdlichen Sahara fallen bereitd in's @ebiet der tro⸗ 
yif Gen Regen; ‚die nörblichen haben‘ da Winterregen, wo es überhaupt regnet, 
was in jenen eigentlichen Wüflen und im Innern des ganzen Landesraumes höchſt 
felten der Fall iſt. Je weiter nach Süden, beflo mehr nimmt der Megen und mit 
ihm Bevölferung und Unbau zu. Gewächſe und Thiere, welche die ©. beleben, 
find zwar nicht fehr zahlreich, aber wegen der. relativ großen Unterfhiede im Niveau 
des Landes etwas mannichfaltiger, als man geglaubt hat. Die Sandregion bietet dem 
Auge oft grüne Striche, nämlich in den niebrigen, waſſerhaltenden Thellen berfelben. 
Wenn man in der centralen ©. diefe Sanddünen hinter ſich bat, fo if dad Land aufe 
fallend kahl bis zum Plateau des Taſſili. Hier Eommen in neuen hypſometriſchen 
Berbältniffen Gewaͤchſe vor, die dem europälfdhen Ufer bes Mittelmeeres eigen find, 
während unmeit Davon, aber in tieferen Theilen der Wüſte, die erfien Vertreter ber 
tropifchen Flora auftreten. Die Dattelpalme, welche fih mit ber Annäherung an 
die Tropenzone verliert, iſt die wichtigfte Pflanze ded großen Wüſtenlandes, bie in 
außerordentlichen Mengen vorfommt und jede nur einigermaßen bewäflerte Stelle ein“ 
nimmt; mit ihr wetteifert die Doumpalme als eine der wichtigften Nahrungspflangen 
ber ©. Nächſtdem find Acazien und Urtemiften, welche in der Begetation des 
Wüfenreiches eine bedeutende Stelle einnehmen, und Insbefondere bebedt die Ar» 
temiflenart Schih mitten in den fandigflen Strichen bufchariig große Streden und if 
‚zum Butter der Kameele und Gazellen, fo wie zur Beuerung für die Heifenden von 
großer Wichtigkeit. Außer dem Kameel, dem Mebari bejonders, welches ſich durch 
Schnelligkeit und Ausdauer auszeichnet, dem Pferde (höchft felten), dem Hunde, 
dem Ejel, dem Haarſchaf und der Ziege giebt es feine Hausthiere; die Zahl der 
wilden iſt aber etwas größer. Wir erwähnen nur die Hyäne, eine Wolfsart, den 
Gepard, den Schalal, zwei Arten von Gazellen, die Antilope bubalis, die A. leuco- 
ryx, die A. mohor, den Ovis tragelaphus, Hafen, Springratten, eine Art Murmelthier. 
Unter den Bögeln iſt der Strauß der größte; Raubvögel find Häufig und die Rep⸗ 
tilien find in einigen Schlangen- und Eidechfen-Arten vertreten. Nach der Ausfage 
der Tuariks fcheint dad Krokodil in den auch durch Waflervögel belebten Süßwafler- 
Seen von Mihero yorzufommen, d. h. gerade am Urfprunge des alten Ylufies Trito 
(jest Igharghar), welcher fich früher in der Nähe von Babes in’s Mittelmeer ergof. 
Auch lebt in diefen Seen eine Art Fiſche, die in dem Nil und in dem Niger nicht 
felten ift; ebenfo finden fi Fiſche in der algierifchen und tuneflfchen Sahara. In⸗ 
fecten werden durdy mehrere Specied veprüäfentirt, doch fcheinen fait gar feine Lepi⸗ 
dopteren vorzufommen. Vom Mineralreiche darf man feine großen Schäße er- 
warten, obwohl fih Eifen, Schwefel « Antimon, Alaun, Salpeter, Natron und Salz 
theild auf den Sanpflein» Plateaur, theild in den Fahlen Ebenen, in den Sanddünen 
und in den eigentlichen Schotts oder Sebchas finden. Salpeter, Natron, Alaun wirb 
an verſchiedenen Stellen gewonnen; das Salz flellt ſich aber der Dattelpalme und 
dem Kameel als dritter Hauptartikel zur Seite. Die Sahara» Bevölkerung, 
welche größtentheild nomadiſch if, in Zelten wohnend und mit Viehzucht und Handel 
beſchaͤftigt, zu einem Eleineren Theil feßhaft in den größeren Dafen, welche Aderbau 
geflatten, gehört 3 Völkerſtaäͤmmen an. Es iſt erfllih der ſemitiſche, nämlich 
die eingemwanderten arabifchen Beduinen, gewöhnlihd in Europa Mauren genannt, 
im Weften entlang der atlantifchen Küfte bis zum Senegal; der zweite iſt ber Ber⸗ 


Sahara. 167 


bernſtamm, dem die Tuariks im Innern angehören 1); dazu kommt als dritter bie 
Tibbu⸗-Nation im Ofen und der Wüſte eigenthümlich wie die Tuariks, fo aber, 
daß im Außerfien Often, entlang dem ägpptifch » nubifchen Dafenzuge bis nad Darfur 
und Kordofan abermals die arabifche Bevölkerung auftritt, weldye fomit über den ger 
fammten äußeren Umfang Nordafrika's fi) verbreitet bat. Daß in den algieriichen 
Dafen auch Europäer fi niedergelaffen oder vorübergehend ihren Aufenthalt haben, 
it ſelbſtredend, ihre Zahl iſt jedoch gering, größer Ifl die der Juden, bie fi in fall 
allen Dafen ber ©. vorfinden. Troß des nicht geringen Verkehrs mit ihren Stamm- 
genofien find doch dieſe Judengemeinden in einem kaum minder verwahrloften Zuflande, 
als die neu aufgefundenen Judencolonieen in China. Sie Haben fafl nur die negas 
tive Seite ihres Glaubens bewahrt; die Abfonderung von den Andersgläubigen, wie 
dies ſich im Drient bei allen Secten Häufig findet. Von geregeltem Gottesdienſt, 
Einhaltung der meiften Gebräuche und Kenntniß der Heiligen Schrift iſt hier Feine 
Rede. Erf in den legten Jahren wurbe in den alglerifchen Dafen wenigflend mit 
der Organifation der Judengemeinden der Anfang gemacht und befonders bie heiligen 
Schriftrollen geliefert. Der (europäifche) Oberrabbiner von Algier iſt Praͤſtdent bes 
Conſiſtoriums und damit geiftliches Oberhaupt aller Ifraeliten Algiers. Er bat 
ficherlich feinestheild dieſe Unterflügung angeregt ober gefördert. Wir fchließen mit 
Angabe der bedeutenpflen Oafen in der großen S. und der wichtigflen Karawanen⸗ 
wege durch die Wüfte, wobei jedoch die größte aller Dafen mit dem Reiche Feſſan 
bier unermähnt bleibt, indem mir berfelben einen befonderen Artikel bereitd gewidmet 
haben. igentlih ift Feſſan ein Inbegriff von Dafen, ein „Archipel“ kleinerer Infel- 
Dafen und daflelbe gilt von Tuat, einer großen fandigen Ebene mit einer Unzahl 
von Keinen Dafen, von Tuarif8 und Arabern bemohnt, mit mehr ald 300 Ortfchaften, 
worunter die ummauerte Hauptſtadt Timimun 10,000 Einwohner haben foll. Tuat 
ift auch darin ein Seitenſtück von Feſſan, daß ſie, obwohl durch ein Stud Wüſte von 
Zafllelt, der Oaſe Marokko's, getrennt, neuerdings In die maroffanifchen Grenzen bes 
griffen wird; fle foll übrigens aus fünf Heinen, von einander unabhängigen Staaten 
in eben fo .vielen einzelnen Dafen beftehen; ihre übrigen bedeutenden Orte find: 
Infalah (Ain-Salah, d. h. heilige Quellen), Akebli, Inghar, Aulef, Timmi, Tefja- 
hit, unter welchen im Süden (Landfchaft Tidikelt) Infalah voranfteht, wie Timimun 
im Norden (Landfchaft Gurara). Die dritte Oaſe von ber größten Sorte und am 
entgegengefegten Mebergange zum Sudan gelegen, ift die gebirgige Landſchaft Air ober 
Asben, in etma 60 Drten von mindeftens 50,000 Tuariks bewohnt, unter zwei 
Häuptlingen im Norden und einem im Süden; diefer ift der Sultan von Agades, 
jener der von Tin⸗Telluſt, einer Stabt von 450 Einwohnern, in deren Nähe Die 
herabgefommene Handelsſtadt Affubi liegt. Agades, 2500’ über dem Meere erhaben, 
war ehedem ‚gleich wichtig und angefehen wie Zimbuftu im Weſten, nur baß fein 
Name in Europa kaum genannt wird. Durch fünf Berberſtämme ward aller Wahr- 
fcheinlichkeit nach Agades In alter Zeit gegründet, als eine Golonie, welche den Han⸗ 
del zwifchen den Berberfisaten und den Negerländern vermitteln Half. Ums Jahr 
1515 eroberte e8 der große Sonrhay« Krieger Hadſchi Muhammed Adfia und ver 
trieb Die Berber, wenigftens die angefehenften verfelben. Ein großer Theil der niede⸗ 
sen Klaffen blieb wahrfcheinlih im Orte zurüd und vermifchte ſich mit den eingebruns 
genen Sonrhay; denn obſchon die jegigen Bewohner von Agades ungemein den eigen⸗ 
thümlichen Sonrhay ähneln, wie diefe wenig muskulss find, breite offene Nafenlöcher, 
miüßig dicke Kippen, eine hohe Stirn und Hellfchwarze Haut wie dieſe haben, fo iſt 
ihre Statur doch vorberrfchend ſchlanker und höher und ihre Haut bat nicht jenen 
Glanz, wie er in Sourhay gewöhnlich if. Dies fcheint durch eine Vermiſchung mit 
Berberblut entflanden zu fein. Agades befaß in feiner Blüthezeit 30— 50,000 Ein« 


N Duveyrier fagt: „Vielleicht ift es zu früh, fchon jet meine Anſicht auszuſprechen, daß 
die Tuariks, fo wie alle Ureinwohner der Berberei, welche nicht Die arabifche Sprache reden, ethno⸗ 
graphisch mit der altägpptiichen Mare verwandt find. Mit dem jet vorhandenen Material zur 
Kenntniß ihrer Sprache, nämlih Dr. Barth’s Vocabular bes Auelimmiden⸗Dialects, Hannoteau's 
trefflihe Grammatif und_eine unveröffentlichte Woörterſammlung des Dialects der Asdjet, die ich 
gejammelt habe, wirb hoffentlich dieſe Frage in ein neues Licht geſetzt werben.“ 


768 Sahara. 


mwohner und war von einer Mauer umgeben; jetzt enthält es dagegen nur noch 700 
Käufer, die von ungefähr 7000 Einwohnern bevölkert find. Der größte Theil beſteht 
aus Auinen. Welche Wichtigkeit Diefer Ort ehedem befaß, melde Großartigkeit der 
hier getriebene Handel erlangte, gebt aus der Angabe hervor, daß der Herrfcher von 
Agades, der fich außerdem einer ziemlichen Selbftländigfeit erfreute, an ben Sultan 
von Timbuktu einen Jahrestribut von 150,000 Dufaten zahlte. Der widtigfle Urs 
tifel des Handels von Agades war damals Gold, ein Mineral, dad gegenwärtig nicht 
mehr dorthin gebracht wird. Die fjehigen Bewohner befchäftigen fich eben ſowohl 
mit Sandwerfen, als mit dem Handel.” Außer den drei genannten Dafenländern 
erfter Größe nennen wir von den weſtlichen arabifchen Dafen: Waran, die weſtlichſte 
von allen (30 Meilen von der Küfte) mit der gleichnamigen Hauptſtadt, Walata, 
Tifhit, Arauan, Taudeni, Mabruk, Kabla, meift mit gleichnamigen 
Hauptfläbten. Mittlere Dafen im Tuarik⸗Lande find Zariba, Talmas Im 
Norden, und Aifiu, Dſchanet, Ghat oder Rhat, Knotenpunkt der Straßen von 
Tuat und Agades nah Murzuf und Tripolis. Ghat, die Hauptſtadt des Asdjer⸗ 
‚gebieteß, liegt füdlich des berüchtigten Teufelsfchloffes Idinen, eines balbmondför«- 
migen Gebirges mit einem jähen, tief zerriffenen Kamme von flimmernd blendend 
weißer Farbe und zieht fi am nordweſtlichen Fuße einer felfigen Anhöhe entlang, 
die in die Mitte eines Thales vortritt und an ihrer Weftfeite mit Sandhügeln um- 
geben iſt. Die Stadt gewährt einen freundlichen Anblid. Die Mauern ringsum find 
aud weißem Thon und Sand aufgeführt und die Häufer aus gleichem Raterial ger 
baut, wodurch das Ganze einen beitern Anftrich bekommt. Die Mofchee ift ſchoͤner, 
als irgend eine der Dafenorte und befindet fich ziemlich Dicht am Fuße des erwähnten 
Berges. Auf dem Iegteren foll ehedem die alte Stadt geftanden haben, durch Einflurz des 
Felſens aber zerflört worden fein. Trotzdem daß der Ort nur verbältnigmäßig Fein 
ft und nur etwa 250 Käufer zählt, befitt ex, wie gefagt, für den Handel befondere 
Wichtigkeit. Die letztere würde fi noch um ein Bedeutendes fleigern, wenn nicht bie 
Eiferfucht des weit nordmefllich gelegenen Tuat den Asdfern feindlich entgegenträte, 
fobald Letztere eine unmittelbare Verbindung mit dem fernen Timbuftu verfuchen. Zu 
den öftlihen Dafen im Tibbulande gehören: Bilma, ein eigener Staat mit 
gleidhnamiger Hauptfladt, in deren Nähe unerfchöpfliche Steinfalzlager ſich befinden, 
und Aſchenumma, die Mefldenz des KHäuptlingd der Tibbu, Ikbar, El-Ham-» 
mar, Didi, die Dafen der Tibbu's von Wadſchenga, reich an Felfen wie an Pal⸗ 
men, Ien, der Dafenort der Tibbu Borgu, Tibeſti, Dafe der Tibbu Reſchade 
(d. 5. Felſentibbu, die in den Felfenhöhlen von Tibefti wohnen), bie ehebem zu 
mancherlet geographifchen Uebertreibungen Veranlaſſung geweien, und Abo, Haurt⸗ 
ort der benachbarten Titurfihaden. Endlich gehört hierher, da die dftlihen ägyhptiſch⸗ 
nubifhen Dafen dem Bicefönigreich angehören und wir fle eben fo wenig, wie bie 
Marokko's, von Algier, Tunis und Tripolis ermähnen wollen, die alfberühmte Dafe 
oder Dafengruppe von Audfchila mit Halb arabifirten Berbern, die den Handel 
zwifchen Fefſan und Aegypten, wie zwiſchen Tripolis und Wadai betreiben, wozu 
Audſchila felbft Die vorzüglichften Datteln Tiefer. Unter den Karamanenmegen 
find ſüdnoͤrdliche und oſtweſtliche zu unterfcheiden. Es follen 13 fübnörbliche Pfade 
durch die Wüfte vorhanden fein; allein biefelben vereinigen fh zum Theil auf halbem 
Wege, fo wie auch mehrere nad} denfelden Punkten convergiren. Die weflligen 
unter den ſüdnördlichen Wegen führen von Maroffo (reſp. Feb), Algier 
und Tunis nad Timbuftu, zum oberen und unteren Senegal. Der meftlichfte 
naͤmlich gebt von Maroffo über Sus entweder entlang dem Ocean nad Vontendik 
und St. Louis, .oder über die Dafe Walata nach dem oberen Senega), bi wohin 
50 Tagemärfche erforderlich find. Der fürzefte und Hauptweg von Marokko nach Time 
buktu geht über Tatta (Ele Akfa) und weiterhin über die Dafen Taudeni und Arauan; 
er vereinigt fi zu El-Arib mit dem Wege von Tafllelt ber und zu Taudent mit dem 
Meg von Infalah und Akebli in Tuat ber, von wo noch ein zweiter Weg über Mas 
bruf nach Timbuftu führt. Da zu Inſalah (Afebli) Wege von Tafilelt, Metlilt (Al⸗ 
gier) und Ghadames (Tunis) ſich vereinigen, fo ift ber legtere Weg, von Infalah 
(Akebli) an, zugleich der nach Timbuktu von Algier und Tunis. Ohne die Raſttage 


Sailer (Johann Michach. | 769 


zu Taudeni, Arauan ꝛc. erfordert der Weg durch die ©. von Tatta nah Timbuftu 
36 Zagereifen, und mit allen Raſttagen werben von Fes nah Timbuktu 124 Tage 
verwendet; der große Handelsweg von 435 Mellen Länge von Algier über Ghar⸗ 
dafa, Infalah, Mabruf erfordert ohne die Raſttage nur .70 Meifetage. Die mittles 
ren unter den fübdndrdlihen Wegen führen von Tunis und Tripolis nad 
Sokoto und zum Tfadfee, wobei Ghadames und Agades oder Tin Tel- 
luſt in Air Knotenpunkte für den weſtlicheren Hauptweg find, indem fi zu Gha⸗ 
dames die Wege von Tunis und Tripolis vereinigen, zu Tin Telluft aber die Wege 
nah Sokoto und Kuka divergiren, Murzuf in Feſſan dagegen die Hauptflation für 
den weſtlicheren Hauptweg ift, den gerabeften über Tripolis zum Tſadſee, über die 
Oaſe Bilma. Bon Murzuk aber führt nicht nur ein Seitenweg zum vorigen weſt⸗ 
lihen Wege nad der Dafe Ghat, fondern ed Divergirt auch ein noch äftlicherer Durch 
das Tibbuland (in 45 Tagen) nah Wadai (weiterhin Darfur). Zu den öftllihen 
unter den füdndrdlihen Wegen gehört der erft in neuerer Zeit nad vielen ver- 
geblihden Verſuchen eröffnete Weg von Benghafi (in Barka oder dem öftlidhen Trir 
poliß) über die Dafen Aupfchila und Kebabo nah Wadai, auf welchem bereits viele 
eusopäifche, namentlich franzoͤſtſche Waaren, in's Innere gelangen, endlich der große 
und Öfllichfle Hauptweg von Siut über die Ägyptifchen und nubifchen Dafen (Chard⸗ 
ſcheh, Selima, Leghea) nach Kobbeh in Darfur, mozu 45 Tage erforderlich find. In 
oftweftlicher Nichtung gebt der nördliche Hauptweg von Maroffo nah 
Aegypten, indem er zroifchen der eigentlihen Broß-Sahara und dem Atlasfug den 
Dafen der Kleinen ©. nah Ghadames folgt, wo früher, vor der franzöftichen Beſitz⸗ 
nahme Algier die Karamanenzlige aus mehreren Taufenden von Reiſenden und Ka⸗ 
meelen befanden. Ein fünliher Weg geht von Senegambten nah Nubien 
‚über Timbuftu und Air, indeflen wenden ſich meiſtens die Karamanen zuerfl nach 
Norden, um entweder ſchon in Tuat oder erſt in Feffan in den erfien ald den Haupt⸗ 
weg nach Aegypten einzulenken. Seit uralter Zeit befteht der Binnenhandel der 
Saharabewohner im Austaufh von Vieh und Salz, ihren Hauptartifeln, an bie 
Sudanbewohner gegen Getreide für fich, fo wie gegen Goldſtaub, Sclaven, Elfenbein, 
nebft andern Producten Inner⸗Afrika's, welche fle nebft eigenen Artikeln, wie Straußen- 
- federn, Gummi, Alaun, in die Küftenländer des Weſtens und Oſtens bringen, wo-fle 
fi Heutzutage mit Waffen, Pulver und Kleidungsftoffen, hauptſächlich aus Europa 
(England und Frankreich), verforgen. Für Europa find die wichtigften Artikel Gold, 
Elfenbein und Gummi. Die Hauptflapelpläge für den Handel nach außen find: bie 
franzoͤſiſchen Poſten am Senegal, alsdann Bes, Taftlelt, Algier, Tunis, Tripolis, 
Murzuk, Benghafl, Kairo, Suafin; Murzuf aber iſt der Hauptvereinigungspunft der 
nordafrifanifhen Handels» und Pilgerfaramanen. Jede Stadt von einiger Bedeutung 
in der Wüſte bat ihren periodifhen Markt. Es iſt nichts Ungewöhnliches, daß 3. 2. 
in Ghat die Zahl der auswärtigen Kaufleute auf 500 und mehr fleigt und der Werth 
der Waaren aus dem Sudan, Sclaven, Elfenbein, Sennesblätter, der bis zur An⸗ 
kunft der Waaren auf dem europäifchen Markt fich verboppelt, auf 200,000 Thaler 
gefhägt wird. Der Handel der Wüfte ift faft nur Taufchhandel und felten bebient 
man fih des Geldes. Die Münzen von Tunis find in Feffan und Tuat am meiften 
verbreitet, weiter im Süden bemerkt man einige fpanifche Piaſter, die über Marokko 
fommen, und türfifche Münzen, die aus Tripolis hergebracht werden, aber man nimmt 
fle nur fehr ungern, wogegen die franzöftfchen Fünffrankenſtücke allmählid Eingang 
gewinnen. Eine gewöhnlich Kauri genannte Mufchel dient bei den Negern ala Münze, 
und jedes Jahr führen die Engländer 100 Tonnen (200,000 Pfr.) an ſolchen Mu⸗ 
fheln aus Bengalen ein, wo ihr Werth zehnfach geringer ifl. 
Sailer (Johann Michael), fchöngeifttg gebildeter katholiſcher Theologe, geb. den 
17. November 1751 im Dorfe Arefing bei Schrobenhaufen im Bistum Augsburg. 
Sein Bater, ein armer Schufter, brachte ihn, da er frühzeitig befondere Geiſtesan⸗ 
lagen zeigte, nah München auf die Schule. Nachdem er daſelbſt das Gymnaſtal⸗ 
ftudium vollendet Hatte, trat er 1770 als Novize in die Gefellfchaft Jeſu zu Lands⸗ 
berg, vollendete nach ber Aufhebung deſſelben (1773) zu Ingolftadt feine philoſophi⸗ 
Then und theologifchen Studien und erhielt 1777 die Prieſterweihe. Nachdem er 


Wagener, Staats⸗ m Geſellſch.⸗Lex. XVIL 49 


770 Saint⸗Albin (Alexandre Rouſſelin Corbeau, genannt von). 


darauf drei Jahre hindurch als Repetent an derſelben Univerſitaͤt gelehrt hatte, erhielt 
er 1780 die Profeffur der Dogmatik, mußte aber bereitd 1782 feine Stelle aufgeben, 
als die bayerifhen Klofterabteien alle Lehrſtellen aus ihrer Mitte befegten. In ber 
dreijährigen Muße, die ihm darauf ward, verfertigte er mehrere Schriften, unter denen 
fein „Gebetbuch für Fatholifche Chriſten“ das meifte Auffehen machte. Die äfhetifche 
Ausfhmüdung, weldhe er in diefer Schrift dem Eatholifchen Werfvienft gab, beſtach 
Lavater und deffen Freund Pfenninger dermaßen, daß fie von ihm nicht nur dem 
Uebertritt zum Proteflantißmus ermarteten, fondern auch dad Gebetbuch in ihren Kreis 
fen lebhaft empfahlen. Nicolai (f. d. Art.) fah Dagegen fchärfer und erfannte ganz 
beflimmt den katholiſchen Charakter des Buches, wenn er auch mit feiner Behauptung, 
©. babe die Proteflanten hinterrücks zu Katholifen machen wollen, etwad zu weit 
ging. ©. vertheidigte ſich gegen diefe Auffaffung in der Schrift: „Das einzige 
Mährchen in feiner Art" (1786). 1784 erbielt er die Profeffur der Paftoraltheolo- 
gie an der Univerfltät Dillingen und behauptete fich dafelbft bis 1794, wo er, den 
Katholiken von vorn Herein als nicht ganz ortbodor verdaͤchtig und der Sinneigung 
zu den Illuminaten angeflagt, feine Entlaffjung erhielt. Er privatifirte Hierauf zw 
München, fodann zu Ebersberg in Oberbayern, bis (1799) Maximilian Iofeph, der 
nachmalige erfle König von Bayern, Kurfürft warb und ihm wieder eine Profeflur zu 
Ingolftadt ertheilte. Er wanderte das Jahr darauf mit der Univerfität nah Lands⸗ 
But und lehrte dafelbft bis 1821 mit großem Erfolge. In Iegterem Jahr ward er, 
nachdem er fich in feiner Öffentlichen Erklärung vom 17. November 1820 gegen bie 
Beſchuldigung der Hinneigung zum Proteſtäntismus ald gehorfamen Sohn der römiſch⸗ 
Fatholifchen Kirche befannt hatte, zum Domcapitular in Regensburg und fodann 1822 
zum Coadjutor des Biſchofs Nepomuf v. Molf und zum Biſchof (in partibus) von 
Germanifopolis ernannt. 1829 wurde er Bifchof von Megenäburg und flarb den 
20. Mat 1832. Er verglich fih in der fo eben ermähnten Erklaͤrung vom Jahre 
1820 mit Zenelon, deffen Betiptel er mit der Unterwerfung alles deffen, was er ge⸗ 
fihrieben und gelehrt habe, unter das Urtheil des Papftes folge. Jedoch wird man 
zugeftehen müflen, daß Fenelon cf. d. Art. und den Art. Quietismus) eine bei 
weitem größere Bedeutung in der Entwickelungsgeſchichte des Katholicismus bat, als 
©., der doch nur die Wolffche Aufklärung des vorigen Jahrhunderts und bie äſthe⸗ 
tifchen Tendenzen der auf diefe folgenden Literaturpertode zur Populariſtrung des 
Fatholifhen Dogma benugt bat. Von feinen vielen Schriften ift neben dem genann⸗ 
ten Gebetbuch noch hervorzuheben: „Die Glüdfeligkeitsichre aus Gründen der Ber- 
nunft, mit Sinficht auf die Urfunden des Chriſtenthums“, welche Schrift in der drit⸗ 
ten Auflage unter dem Titel: „Moralphilofophie“ erfchien. Er felbft begann 1820 
Die Heraußgabe feiner fämmtlichen Schriften; diefelbe hat nach feinem Tode Widmer 
bis 1842 (Sulzbach) fortgeführt und fie umfaßt 40 Bände. (DBergl. Bodemann: 
„Joh. M. von S.*, Gotha 1856.) 

Saiut⸗Albin "(Alexandre NRouffelin Eorbeau, genannt von), einer ber 
Freunde und Genofin Danton's (f. d. Art.), in der Zeit der Revolution öfter 
unter dem Namen Rouſſelin aufteetend, fpäter in einen Herrn v. St.-Albin verwandelt. 
Er ift 1773 geboren und 1847 geflorben, der Sohn eines 1813 verftorbenen Oberft- 
lieutenantd der Artillerie und Verfaſſers einer unter dem Titel Formation des elals 
modernes erfchienenen Gefchichtöarbeit. Der junge Nouffelin gab in der Revolution 
das von Garat gegründete Blatt Bien public heraus, war Vertrauter Danton’8 und 
Camille Desmoulins' und erhielt als folcher vom Minifter Pare einträgliche Mifflonen, 
3. B. im Herbſt 1793 nah Provins. Hier erfchien er mit aflatifcher Pracht, Tebte 
wie ein Sardanapal und ſetzte diefe Lebensweiſe auf feiner Miffton in Troyes fort. 
Meldungen an die Iacobiner aus Provins, Deputationen aus Troyes feit dem De» 
cember 1793 blieben wie ähnliche Berichte und Klagen aus den Provinzen bei der 
Unflarheit, in welcher die Parteien (f.d. Art. Robeöpierre) übereinander lebten, ohne 
Erfolg. Als auch Couthon ihm im Mai 1794 bei den SJacobinern vorwarf, daß er 
auf einer vom Heilsausſchuß erſchlichenen Miffton 100,000 Bres. vergeubet habe, im 
Juni ein Abgefandter aus Troyes ihn als Unterbrüder der Patrioten daſelbſt bezeich⸗ 
nete und einen Monat darauf aus Troyes die Anklage Tam, daß Danton und Rouſſe⸗ 


Saint⸗Clond. 74 


lin, unter Drohung mit dem Revolutiondgericht, der Stadt eine Taxe von 1,700,000 
Fres. abgepreßt hätten, von welchen 118,000 in die Tafchen Roufſelin's und des mit 
ihm einverflandenen Maire geflofien feten, da war Mobespierre'8 Macht über die Re⸗ 
gierungsmafchine fchon fo weit gebrochen, daß Mouffelin firaflos diefen Angriffen ent« 
ging. (Bgl. die Schrift Fr. Funck's „1793*, ©. 341 ff.) Später erſcheint er wies 
der als Secretär im Kriegäminifterium unter Bernadotte (1799), fodann in den hun⸗ 
dert Tagen als Secretär im Miniſterium des Innern unter Garnot. 1815 war er 
einer der Gründer des Independant, welches Oppoſitions-Journal bald darauf den 
Namen Constitulionnel annahm und an deſſen Medaction er fi bis zum Jahre 1838 
betbeiligte.. Er Bat ein Vie de Hoche (1798) und. andere militärifche Biographieen 
herausgegeben. 1839 kündigte er auch eine Biographie Danton’s an; allein aus den 
yon ihm mitgetheilten Proben und aus den obigen Notizen erhellt, daß von ihm Feine 
wirklihen Aufflärungen über jenen royaliflifhen Demagogen zu erwarten find. — 
Sein Sohn Hortenfius Rouffelin Eorbeau, genannt von St.-Albin, 
geb. den 20. December 1805, fludirte die echte, hielt als Advocat des Barreau von 
Paris eine Lobrede auf Barras, als deſſen Verwandten er fich bezeichnete, warb 1831 
becorirt, weil er vor der Volkswuth die Bildfäule Malesherbes' im Juftizpalafl gerettet 
batte, und Michter am Eivils-Tribunal der Seine. 1837 kam er in die Deputirten- 
kammer, in der er fih bis 1848 auf den Bänken der Oppofltion erbielt. Auch in 
die conflituirende Verfammlung gewählt, fllmmte er mit der Nechten gegen die Revo⸗ 
Intion; in die Legislative ward er nicht gewählt, dagegen zum Math am Appellhofe 
zu Paris ernannt. Er bat Po&sies Iyriques, zwei Odes auf Lafayette, eine Histoire 
de Sulkowski, eine Logique judiciaire (1841 in zweiter Aufl.) und eine Logique de 
la conscience (1844) herausgegeben. 

Saint:Aldegonde (Herr von Mont) f. Marnig (Philipp von). 

Saint-Clond. Der Flecken St.-E., zwei Stunden von Paris an der Seine 
belegen, mit einem fchon oft befchriebenen Schloffe und einem fchönen Parke, berühmt 
dur feine Wafferkünfte, ift in vielfacher, Hinficht Hiftorifch merfwärbig. Der Ort iſt 
ſehr alt, fein Urfprung verliert fih in Die erften Zeiten der fränkifchen Monarchie, und 
e8 batten bier die Könige der erften Dynaftie ein Luſtſchloß. Anfünglih hieß der 
Ort Novigentum, fpdter wurde Nogent-fur-Seine daraus, um ed von Nogent-fur- 
Marne zu unterfcheiden; nachdem aber Clodoald, ein Sohn des Königs Elodomir, um 
den Nachſtellungen feiner beiden Oheime Childebert und Clothar zu entgehen, fich bier- 
ber zurüdgezogen, ein Klofter gefliftet hatte und als heiliger Einſtedler geflorben war 
(er hatte 551 die Priefterweibe vom Bifchofe Eufebius erhalten), und auf feinem 
Grabe mehrere Wunder gefchahen, wurde der Name Novigentum in Sanctus Clodo⸗ 
aldus verwandelt, aus dem nach und nach das verdorbene St.⸗C. ward. Im Jahre 
- 581 empfing Ghilperich hier die Geſandten wieder, bie er drei Jahre früher nach Kon- 
ſtantinopel geſchickt hatte. Don fegt liegt beinahe acht Jahrhunderte lang ein tiefed 
Dunkel auf dem Ort und er bleibt gänzlich unbefannt, bis die Gefchichte feiner 1358 
wieder erwähnt, wo er durch die mit Karl dem Böfen von Navarra verbündeten Eng⸗ 
länder geplündert, verbrannt und zerflört wurde; 1411 hatte er ein gleiches Schidfal 
dur die Partel der Armagnacd zu erfahren. Den 1. Auguft 1589 wurde Hein⸗ 
rich II. durch den Jacobinermönd Jacob Element hier ermordet. Der Flecken St.-E. 
ift auf einer fehr fleilen Anhöhe erbaut, fo dag zu vielen Straßen Treppen führen; 
. er zählt jeßt über 3000 Einwohner. Die neue Kirche, die fich hier befindet, fing Die 
unglüdlihde Marie Antoinette 1780 zu bauen an, fie wurde aber erſt 1820 vollendet 
und eingeweiht. Bemerkenswerth ift auch daB Haus, das Heinrich IV. bewohnte, ale 
Heinrich III. ermordet wurde, wie das, welches dem befannten Intendanten Bouquet 
gehörte. St.⸗C. iſt der Geburtsort mehrerer bedeutender Männer, unter denen befon- 
ders Guillaume von St.⸗C., der berühmtefle Afttonom feiner Zeit, hervorragt. Zwei 
merkwürdige Werke im Manufcripte, die er auf Befehl Philipp des Kühnen verfaßte, 
werden in der Zaiferfichen Bibliothek aufbewahrt. Das Schloß ſelbſt, welches eine 
herrliche Ausficht in die ganze Umgegend oberhalb Paris hat, if eined der fchönften 
in der Nähe der Hauptſtadt und war urfprüngli ein von Gondy 1572 erbautes 
Haus. Nach dem Tode dieſes Edelmannes, des veichften Finanzmannes feiner Zeit, 

49* 


72 Saint⸗Cyr. (Dorf.) Saint⸗Denis. (Stadt.) 


beſaßen es mehrere Biſchoͤfe von Paris, im Jahre 1658 kaufte es Ludwig XIV. und 
ſchenkte es ſehr verſchoͤnert ſeinem einzigen Bruder, dem Herzoge Philipp von Orleans, 
ber es in kurzer Zeit außerordentlich vergrößerte und eine wahrhaft Föniglihe Woh⸗ 
nung aus demfelben machte. Der berühmte Le-Notre legte den fchönen Park an. 
1782 Eaufte Ludwig XVI. diefe Beſitzung, um fle feiner Gemahlin zu fehenfen, die fle 
ebenfalld noch fehr verfchönern ließ. 1793 wurde das Schloß, mie alle Föniglichen 
Schloͤſſer, Eigenthum der Nation, und der Rath der Fünfhundert hielt in ihm feine 
Sigungen ab, als am 18. Brumaire de8 Jahres VII. Bonaparte ihn durch feine Gre⸗ 
nadiere auselnanderfagte und einige Tage fpäter ſich zum erſten Gonful ernennen ließ. 
Diefe Erinnerungen des Beginns feiner Macht mögen mit DVeranlaffung gemwefen fein, 
dag er während der Kaiferzeit fletd eine Vorliebe für St.C. behielt. Im Jahre 1815 
wurden bier die Bedingungen der zweiten Uebergabe von Paris unterzeichnet, dann 
hatte Blücher fein Hauptquartier im Schloſſe. Auch Karl X. unterzeichnete hier am 
25. Juli 1830 die bekannten Ordonnanzen, welche die Julirevolution zus Folge hatten. 
Jetzt iſt. St.-E. wieder Sommerrefidenz des Kaifers. Wine von Heinrich Il. 1556 
erbaute fleinerne Brüde führt Hier über die Seine und zu Dem auf dem rechten Ufer 
dieſes Fluſſes St.⸗C. gegenüberliegenden fchönen und großen Flecken Boulogne, ber 
ebenfalld an 3000 Einwohner zählt. Diefer Ort hieß früher Menus⸗les⸗Saint⸗Cloud. 
Da die Parifer vor Zeiten die Gewohnheit Hatten, zu einer Kirche nach Boulogne⸗ 
ſur⸗Mer zu wallfabren, fo erlaubte ihnen 1319 Philipp V. oder der Lange, in dem 
Dorfe Menus eine Kirche ganz nah dem WMufter derjenigen zu erbauen, nad welcher 
fle pilgerten. Papſt Johann XXI. bewilligte bei den Wallfahrten zu derfelben Die 
nämlichen Indulgenzen, wie für die nach der Kirche zu Boulogne am Meere, und man 
nannte Das neue Gotteshaus nun Notre Dame de Boulogne und dad Dorf felbf nahm 
erfi den Namen Klein-Boulogne, ſodann / Boulogne fchlechtweg, an. Hier befand fi 
auch die berühmte Abtei Longchamp und dad Boulogner Wäldchen grenzt mit dem 
einen Ende an diefen Ort. Zu erwähnen ifl noch, daß St.»E. den berühmteften Jahre 
markt in der Umgegend von Paris bat, der mit dem 7. September jedes Jahr beginnt 
und drei Wochen dauert, und zu dem fih mo möglich alle Gaufler, Hiftrionen ze. aus 
ganz Frankreich zufammenfinden. Das Ganze ift weiter nichts als eine Wiederholung 
des Schaufpiel in den elyfälfhen Feldern zu Paris an Befttagen, nur weit weniger 
großartig. 

Saint: Cyr, Dorf im franzoͤſiſchen Departement der Seine und Dife, in der 
Nähe von Verſailles, mit einer von Napoleon I. angelegten Milttärfhule, war der 
Lieblingsort der Maintenon, welche Ludwig XIV. dahin zu bewegen mußte, daß er 
hier 1686 eine Erziehungsanftalt für 250 adelige Yräulein von Manfard errichten 
ließ. Diefe genofien bis zu ihrem 20. Jahre unentgeltlichen Unterricht und wurben 
von eben fo vielen Raienfchweftern bedient. Die Maintenon wählte St.⸗C. nad dem 
Tode Ludwig's, 1715 zu ihrem Wohnflg und liegt auch bier begraben. In der es 
volution murde diefe Anftalt zerfiört, weil der Convent diefe angebliche royalififche 
und ariftofratifche Schule vernichtet wiflen wollte. 

Saint⸗Cyr (Louis Gouvion, Marquis v.) ſ. Cyr. 

Saint: Denid, Stadt von 16,000 Einwohnern in der Nähe von Paris, am 
rechten Seineufer, mit mehreren Erztehungsanftalten, herrlichen Baumfchulen, zwei ar⸗ 
teftfchen Brunnen, einer fchönen Kaferne und zahlreichen Indufrieanflalten, die zum 
Theil dur das Wafler des Erou betrieben werden und worunter bie Kautfchulfpin- 
neret, deren Producte fehr gefucht werden, und große Mahlmühlen, merfmürbig wegen 
ihres Mechanismus, würde troßdem ohne ihre Abteikirche mit den Königsgrüften kaum 
genannt werben. Bald nach dem Beginn chriftlicher Zeitrechnung, um das Jahr 250, 
entftand bier eine chriftliche Kapelle über dem vermeintlichen Grabe bed auf dem Mont⸗ 
martre getöbteten Biſchofs St. Dionyſtus Areopagita, des Beifigerd des Areopags zu 
Athen. Dagobert I., König von Auftraften und fpäter des ganzen Frankenlandes, 
begann um 630 den Neubau einer Kirche. Er iſt Stifter der Abtei; die bankbaren 
Bewohner derfelben, Benebictiner Ordens, vergaßen nie, am 19. Januar, feinem To⸗ 
deötage, ein Seelenamt zu halten. Bon diefem erften Bau ift feine Spur mehr vor⸗ 
banden, eben fo wenig von dem zweiten Bau, ben 754 Pipin begann, und fein Sohn 


Saini⸗ Dizier. Saint-Epremont (Charl. Marguetel de St. Denis, Seign. de). 773 


Kaiſer Karl der Große 775 vollendete. Suger (} 1152), der berühmte Abt von 
St.⸗D., der Freund Ludwig's VI. und Ludwig's VIL, der Verwalter des Meiches 
während der Pilgerfahrt des Legteren nach Balaflina, führte eine neue Kirche auf, bie 
1144 eingeweiht wurde. Gin Jahrhundert fpäter zerfiörte der Blig den Thurm und 
einen Theil des Bebäuned. Der Neubau, welcher nun unter Ludwig IX., dem Hei⸗ 
figen, von 1234—84 flattbatte, bildet die Grundlage des heiligen Gebäudes, das in 
fpäteren Jahrhunderten noch mancherlei Veränderungen erfahren, unter der Megierung 
Louis Philipp's aber ziemlich wieder Die alte Geſtalt erhalten bat. Die fchwerfien 
Berlegungen hatte die Kirche zur Zeit der erſten Mevolution zu erleiden; fie diente 
nach einander ald Tempel der Vernunft, Urtillerie-Depot, Gauklerbude, Salzmagazin. 
Selbſt der Name der Stadt St.-D. wurde, da die Heiligen abgejchafft waren, in 
Branciade verändert. Es war fchon beabfichtigt, Die dem Einflurz drohenden Ge⸗ 
wölbe niederzureißen und das Gebäude in einen „Marche publique*, die Kapellen 
in Boutiquen zu verwandeln, ald Napoleon I. mittel‘ Decrets vom 19. Februar 
1806 die Herflellung der Abtei und des Kapiteld befahl. Die weitläuftigen Gebäude, 
welche an die Abteifirche grenzen, hatte Ludwig XV. an der Stelle des alten Klofters 
aufführen laſſen. Nach 1815 wurde das Erziehungshaus für Tächter oder Schweftern von 
Mitgliedern der Ehrenlegion, welches Napoleon I. bald nah Stiftung des Ordens 
(17. Mai 1801) im Schloß zu Ecouen, zwei Stunden nörblih von St.-D., gegrün- 
bet batte, hierher verlegt. Es Hat diefe Beſtimmung behalten (Maison Imperiale 
d’Education de la Legion d’Honneur). Die Zahl der Zöglinge überfleigt 500; 
fie bleiben meift bis zum achtzehnten Jahre im Haufe und genießen eine fehr forgfäl- 
tige Erziehung. 

| Saint» Dizier, hübſche Stadt im franzoͤſtſchen Departement der Ober» Marne, 
mit fhönem Rathhauſe, Dods, flarfem Schiffbau, Indbuftrie, Handel und 7000 Ein» 
wohnern, Bat ihren Namen von dem Heiligen Deſtderius, Biſchof von Zangres, erbals 


ten, welcher im 4. Jahrhundert von den Bandalen erfchlagen und hier begraben fein 


fol. St»D. gehörte früher dem Haufe Dampierre, von dem es an bie Krone Frank» 
reich gefallen und mit der Champagne vereinigt if. Kaiſer Karl V. nahm 1544 
bie Stadt, nachdem er ſechs Wochen davor gelegen Hatte, mit Accord ein, trat fie 
aber noch daflelbe Jahr, vermöge des Creſpiſchen Friedens, wieder an Frankreich ab. 
1813 Hatte das Schleflfche Heer den 27. Januar in und um St.-D. ein unglüde 
liches Gefecht und eine ruſſtſche Divifton mußte diefen Ort räumen, welcher aber brei 
Tage darauf von den Verbündeten wieder befegt wurde. 

Saint: Clme (Ida), franzoͤſiſche Abenteurerin, genannt die Contemporaine; fle 
hieß eigentlich Elſelina Banayl de Dongh und if 1778 zu Balambrofe im ſüdlichen 
Frankreich geboren. Ste war die Geliebte verfchiedener. Generale der Republik und 
Marſchaͤlle des Kaiferreichd und hatte als folche Gelegenheit, Berfonen und Zuftände 
des Republik, der Napoleonifcgen Zeit und der Neflauration kennen zu lernen. Diele 
ihre Erfahrungen und viele Erfindungen verarbeitete fie mit der Hülfe mehrerer Literaten 
(3. B. Lefourd, Malitourne, A. Pichot) zu den Memoires d’une contemporaine, ou 
souvenirs d’une femme sur les principaux persönnages de la Röpublique, du Con- 
sulat, de ’Empire et de la Restauration (Paris 1827. 8 Bde. 2. Aufl. 1833), 
welche einen Beſtandtheil der Lavocat'ſchen Memoirenfammlung bilden. Deffelben 
Geiſtes find ihre Fragments el &pisodes contemporains (Warfeille 1828) und Mes 
dornieres indiseretions (Bari 1833. 2 Bde). Eine Meife, die fie 1829 und 1830 
im Orient machte, gab ihr den Stoff zu der Schrift: La Contemporaine en Egypte 
(Daris 1831. 6 Bde. 3. Aufl. 1833). Ihre Novellen find nicht erwaͤhnenswerth. 
Nach der Julirevolution nahm fie ihren Wohnſttz zu London und lieferte von dort 
aus, befonders 1839, den Iegitimiftifchen Journalen zu Paris durch ihre Drohung, 
eompromitticende Brieffchaften zu verdffentlichen, Anlaß zu Ausfällen gegen dad Haus 
Orleans. . Ste farb 1854 im Hofpiz der Urfulinerinnen zu Brüflel. 
Saint-Enremont (Charles Marguetelde St. Denis, Seigneur be), einer der Erften 
derjenigen Sranzofen, die, von den Eigentbümlichkeiten und Vorzügen des englifchen 
Weſens eingenommen, biefelben mit den Eigenheiten des franzöftfchen Weſens zu ver« 
binden, alfo der Vorläufer jener Männer, die im 18. Jahrhundert in der englifchen 


N) 
774 SalintEvremont (Charles Marguetel de St. Denis, Seigneur be). 


Literatur und Befellfchaft eine Ergänzung des Franzoſenthums fuchten. (Siebe d. Art. 
Frankreich, politiſche Geſchichte, Band VII, ©. 566. 567.). Er if den 1. April 
1613 zu St.⸗Denis⸗le⸗Guaſt bei Coutances geboren. Zur Magiſtratur beſtimmt, 
machte er bei den Jefuiten zu Parld feine Studien; feine Neigung zu dem Waffen» 
dienſt bewog ihn aber, die Beſchaͤftigung mit dem Rechte aufzugeben und in die Armee 
einzutreten. Gr machte ſich bald durch feine Bravour bemerklich, ließ ſich jedoch durch 
den Lärm ber Lager nicht vom Studium der Philofopbie und der fhönen Wilfen- 
fchaften abhalten und erwarb ſich durch die Bereinigung der militärifchen Bravour 
und der wiſſenſchaftlichen Bildung die Achtung der berühmteften Benerale feiner Zeit. 
Beſonders zeichnete ihn der Herzog von Enghien aus und zog ihn in feine unmittels 
bare Nähe, um jederzeit die Meize feiner geiftreichen Uuterbaltung zu geniefen. Unter 
den Befehlen diefes Feldherrn that fih St.E. bei Rocroi, Freiburg und Nörblingen 
bervor. In der Zeit der Fronde blieb er der Eöniglihen Bartei treu und befämpfte 
die Gegner derfelben fowohl mit den Waffen, wie durch geiftreihe Satiren, welche 
die Aufmerkſamkeit Mazarin's auf fich zogen. 1652 ward er zwar dafür zum Ma⸗ 
söchaledescamp ernannt, verfchonte aber auch feinen Gönner nicht mit Sarcasmen; 
denen er in Befellfchaften freien Lauf ließ, und ward auf ein Biertelfahr in bie 
Baftille geſteckkt. Mazarin verzich ihm zwar halb und Halb und nahm ihn 1659 zum 
Abfchluß des Pyrenaͤenfriedens mit; wiederum aber machte fih St.-E. zum Drgan 
der mit diefem Frieden unzufriedenen Kriegspartei und fchrieb einen geiftreich ſcherzen⸗ 
den Brief an feinen Freund, den Marfchall von Erequi, der jedoch nach dem Tode 
Mazarin’8 eine weitere Verbreitung erhielt, Ludwig XIV. vor die Augen kam und 
dem Berfaffer einen Berbaftöbefehl zuzog. St.E. floh fjedoh 1661 nah Holland 
und begab ſich darauf nad England. Bis an feinen Tod blieb er im Auslande. 
Dreifig Iahre lang bemühten fich die mächtigſten Fürfprecher am Hofe Ludwig's ver⸗ 
geblih, den Monarchen zu Bunften des Flüchtlinge umzuflimmen; der König blieb 
aber gegen die Bitten eines Turenne, Lauzun, Grequi, Lionne taub. Man bat immer 
daran gezweifelt, daß die Plaifanterie gegen einen verflorbenen Minifter allein die an« 
dauernde Strenge Ludwig's verurfacht babe: St.-E. Hat fi nie über den wahren 
Grund ausgeſprochen; ein vertrauter Breund defjelben bat aber fpäter Voltaire ver⸗ 
fihert, daß jener Brief an Crequi nicht allein die Schuld trage; wahrfcheinlih If 
e8, daß der fcharffichtige König in dem Verfaſſer diefes Briefes einen felbiifländigen, 
über die Stimmung feiner Regierung und über die damaligen Schranken des Fran⸗ 
zoſenthums binausreichenden Mann erkannte, der zum goldenen Zeitalter feiner Regie⸗ 
rung nicht paßte. In ‚England gewann St.E. die Freundſchaft der erflen Berfonen 
des Landes und die Gunft des Königs Karl’s II. 1664 nahm er, um feine Gefund- 
beit zu flärfen, feinen Aufenthalt in.Holland, verkehrte daſelbſt vielfach mit Spinoza, 
ſchloß mit Vofflus eine dauernde Verbindung und trat auch zu dem Oranier, fpäteren Wils 
helm III, der in der Folge fein Wohlthäter werden follte, in Beziehung. 1670 von 
Karl II., der ihn an feinem Hofe mit einer Benflon firiren wollte, nach England zu⸗ 
rückberufen, verließ er feitdem London, deſſen Einwohner er ein Mittelding zwifchen 
franzöflihen Hofleuten und „Amſterdamer Bürgermeiftern” nannte, nicht mehr. Als 
die Herzogin von Mazarin nah England fam, ward er bis zu ihrem 1699 erfolgten 
Zode ihr Freund und Bertrauter und die Seele ihres gefellfchaftlihen Kreifes, im 
dem man fich über Philoſophie, Hiftorie und fchöne Literatur unterhielt. Der Tod 
Karl's II. beraubte ihn feiner Penflon; Jakob Il. wollte ihn zwar zu feinem Gabi» 
netöfecretär machen und ihm die Abfaffung feiner Privatbriefe an die auswärtigen 
Souveräne übertragen; ihm widerſtand es aber, ein Amt zu übernehmen, weldyes ihn 
in feinem Alter um feine Ruhe und Unabhängigkeit gebracht hätte, und das er außer⸗ 
dem als unter Ihm betrachtete. Wilhelm III. gab ihm dagegen fogleih nad feiner 
Thronbeſteigung außerordentliche Zeichen feiner WMunificenz und zog ibn, um feine 
geiftvolle und immer belehrende Unterhaltung zu genießen, in feine Intimität. 1689 
ließ ihm zwar Ludwig fagen, daß er nach Brankreich zurückkehren Eönne und daſelbſt 
wohl aufgenommen werden folle. Er machte indefjen von Diefem Anerbieten keinen Gebraud, 
nicht, wie Voltaire im Siecle de Louis XIV. fagt, aus philofophifcher Nichtachtung, 
fondern weil er die Helmath, die er in England gefunden hatte, in feinem Hohen 


® 


Saint:Germaln (Elaude Louis, Graf von). 775 


Alter nicht mit einer Umgebung vertaufchen wollte, in der er ſich nach einer faſt funf⸗ 
zigjährigen Abweſenheit erſt wieder Hätte acclimatifiren müflen. Hochmuth oder Ges 
reiztheit waren feiner ruhigen und beiteren Seelenflimmung fremd, Nachdem er feine 
Geiſteskraͤfte bis in fein hohes Lebensalter unverfehrt erhalten Hatte, flarb er nad 
einer kurzen und ſchmerzloſen Krankheit den 20. September 1703; feine irdiſchen 
Nefte wurden in der Weftminfter- Abtei beigefeht. Man nennt ihn gemöhnlid einen 
Epikuraͤer, eine Bezeichnung,, bie wenigftens in dem Sinne, welche die hiftorifhe Un- 
wifienheit mit Ihr verbindet, für ihm nicht paffend if. Er war nur ein Gegner ber 
lieberfpanntheit und Uebertreibung. Abgeſehen von feinen Reflexions sur la doctrine 
d’Epicure, in denen er die gewöhnlichen Borftelungen über diefen PHilofophen bes 
richtige, bat er fich in feiner Dissertation sur le mot de vaste à Messieurs de 
PAcademie auf claffifche Weife über die Uebertreibungen in Geſellſchaft, Kunft, Po⸗ 
litit und gewöhnlichem Leben ausgeſprochen. Seine Observations sur Salluste et 
sur Tacite, ferner die Observalions sur les divers genies du peuple romain, auch 
fein Jugement sur Seneque, Plutarque et Petrone, diefe Auffäge, in denen ſich Ge⸗ 
Ihmad, Kritik und geiftvolle Meflerion verbinden, haben die neuere Geſchichtsbetrach⸗ 
tung, fofern diefelbe auf der Wiederbelebung ded Altertbums in dem eigenen Gemüth 
oder auf der Wiederbelebung des Hiſtoriſch-Originalen in der eigenen modernen Ori⸗ 
ginalität beruht, fchaffen helfen. Seine Defense de quelques pieces de theätre de 
M. Corneille, die Reflexions sur les tragedies et sur les comedies frangaise, espagnole, 
italienne et anglaise haben den Mangel und die Schranken des franzöflfchen Drama's 
mit großer Schärfe aufgefaßt. Don den franzöflfhen Stüden fagt er 5. B., „daß 
fie feinen wirklich flarfen Eindrud machen; was das Mitgefühl und Mitleiden bilden 
ſoll, Bringt es nur zur Zärtlichkeit (tendresse); den franzöflicyen Empfindungen fehlt 
ed an Tiefe"; Voltaire bemerkte daher mit Necht, daß „St.-€. allein auf die geheime 
Wunde des franzöflichen Theaterd den Finger gelegt hat.” Die genannten Aufiäße 
und eine Reihe Eleinerer über dad Derhalten in der Gefellfchaft und im gemöhnlichen 
Leben enthalten einen wahren Schatz treffender Bemerkungen von bleibendem Werth, 


die auch jeßt noch Beachtung verdienen. Seine werthlofen Gedichte und das verfehlte, | 


mit dD’Aubigny und dem Herzog von Budingham verfaßte Luftfpiel Sir Politick would 
be dürfen dem Andenfen an feine gebaltvollen Arbeiten Feinen Eintrag thun. — Die 
noch während feines Lebens erfchienenen Sammlungen feiner Aufiäge find ohne feine 
Betheiligung nach Abfchriften, welche Indiscretion oder Gewinnſucht den Buchhändlern 
in Die Hände gegeben hatten, veranftaltet worden. Die erfte diefer Art (Paris 1668, 
2 Bde.) mar fo Schnell vergriffen, daß andere Verleger ſich um jeden Preis neue 
Piecen zu verfchaffen fuchten, wobel fo wenig Wahl flattfand, daß man in dieſe 
Sammlungen aud von St.-E. nicht herrührende Auffäge aufnahm. St.⸗E. fah die 
fem Treiben mit großer Gemüthörube zu, ohne dagegen ein Wort zu erheben. Erſt 
einige Monate vor feinem Tode verfland er fich Dazu, mit Desmaifeaur und Silveftre 
feine Manuferipte zu revidiren, und zmei Jahre nach feinem Tode veröffentlichten diefe 
beiden Literatoren (Rondon 1705. 3 Bde. in 4.) die erfle vollſtaͤndige und authenti⸗ 
fhe Ausgabe feiner Werke (mit dem von Desmalfeaur verfaßten Leben des Verſtor⸗ 
benen). 1804 gab Dedeffart (in Einem Bande) Oeuvres choisies de St.-E. heraus. 

Saint-Germaln (Claude Louis, Graf von), franzöftfcher Kriegsminifter und einer 
der unglüdlihen Meformer vor der NMevolution. Er iſt den 15. April 1707 aufdem 
Schloſſe Bertamboz bei Lons-le-Saulnier geboren und flammt aus einer altzadligen 


aber verarmten Familie. Nachdem er in einem MilizeRegiment, defien Oberfter fein. 


Vater war, den Dienft begonnen hatte, ging er, um ſich in der Kunſt des Krieges 
zu vervollfomninen und in der Hoffnung, fchneller zu avanciren, nach Deutſchland, wo 
er fi durch den franzöftfchen Kriegsminifter beim Kurfürften von der Pfalz und beim 
Prinzen Eugen empfohlen fand. Legterer gab ihm eine Compagnie und machte ihn zum 
Gouverneur ſeines Neffen; feine Verheirathung mit einem Bräulein v. Often (1737) 
verfchaffte ihm ferner mächtige Protectionen im Reiche. Das Jahr darauf zeichnete 


er fih in Ungarn gegen die Türken aus und ward DragonersMafor. Als Frankreich, 


fh gegen Maria Therefla erflärte, ging er in bayrifche Dienfte und erhielt für feir 
Zeitungen in der Sache des Kaifers Carl VIL den Grad des Feldmarſchall⸗Lie 


116 | | Saint-Bermaln (Graf von). 


nantd. Nach dem Tode jened Gegenkaifers wandte er fi, nachdem er fich in Berlin 
umgefeben, aber feinen Entſchluß, dafelbft Dienfte zu fuchen, aufgegeben hatte, an 
den Marfchall von Sachſen, der ihm mit dem Range eines Marecdhal de Camp den 


Eintritt in den franzöflfchen Dienft wieder Öffnete. Er zeichnete ih darauf in Zlan- - 


dern aus (1746 — 1748) und im flebenjährigen Kriege rettete er unter Anderm bie 
Reſte der franzöflichen Armee nach der Schlacht bei Roßbach, wie er au 1759 den 
Rückzug von Minden dedte. Sein ganz befondered Selbfigefühl, fein Blaube, daß 
er den GBeneralen über ihm überlegen fei, daß die Megierung ihn nicht genug an« 
erfenne und Alles gegen ihn verfchworen fei — Alles daB machte feine Stellung in 
der franzöflfchen Armee unbaltbar. Um den Unannehmlichkeiten, welche feine Querelen 
ihm endlich zuzuziehen drohten, zu entgehen, ging er nad Holland, von wo er um 
Dienſt in Dänemark nachſuchte. 1762 ftellte ihn Friedrich V. an die Spige der Armee, 
welche fih in Medlenburg aufftellte, un den erwarteten Angriff des Kaiferd Peter III. 
(f. d. Art.) zurüdzumeifen. Der Tod des ruſſtſchen Kaifers befreite St. Germain von 
der Probe, die er mit einer Kleinen und ungeübten Armee hatte beſtehen follen, nach 
feiner Nüdlehr warb er in Kopenhagen ald Befreier begrüßt, vom König zum Feld⸗ 
marfhall ernannt und mit der Meorganifation der Armee beauftragt. Der Tod bes 
Königs Hatte jedoch zur Folge, daß alle Reformpläne, deren überellte Einführung 
St.⸗G. dYiele Feinde zugezogen hatte, aufgegeben wurden, und der General hielt um 
feinen Abfchied an, der ihm mit einer Benflon bewilligt wurde. Gr war mit Lande 
wirtbfhaft auf einem Gut feiner Kamille in Frankreich beichäftigt, ald er 1768 noch 
einmal die Ordre zur Rückkehr nach Dänemark erhielt; er war aber nur Zeuge der 
Revolution, welche die Königin Mathilde flürzte und Struenfee auf dad Schaffot 
führte. Er verhandelte darauf wegen Gapitaliflrung feiner Penſton, erbtelt 100,000 
Thaler, Iegte Diefelben bei einem Bankier in Hamburg an und ließ ſich darauf im 
Elfaß auf- einem fleinen Gut, welches er ſich bei Lauterbach Faufte, nieder. Der 


Banferutt feines Banfierd warf ihn zwei Jahre darauf in die Armuth, aus weldger 


thn die Penflon zog, die ihm der Kriegsminifter außfegte, nachdem die Nachricht, daß 
die Offiziere der im franzöflfchen Dienft flebenden deutfchen Regimenter ihm ein Jahr- 
gehalt zufammenbringen wollten, die dffentlihe Meinung gegen bie Regierung auf- 
gebracht Hatte. Einmal mit der Megierung wieder in Zufammenbang, arbeitete 
St.⸗G. Memoiren über die Reform des Militärwefend aus, die er dem Kriegdäminifter 
zuſchickte. Erſt ald Turgot (f. d. Art.) diefelben zu Geſicht befam, erfolgte bie 
Berufung des Generals zum Poften des Kriegsminifters (1775), worauf derfelbe ſo⸗ 
gleih an die neue Organifation der Armee, Befchränfung der Maison du roi, @in« 
führung von Erfparnifien und Reform der Militärjchule wie des Invalidenhaufes 
ging. Allein ihm fehlte die nöthige Geduld und Feſtigkeit, um die Unzufriedenheit, 
bie feine Reformen hervorriefen, zu bejlegen; außerdem beleidigte er die Soldaten durch 
Einführung der deutfchen Disciplin und der Schläge mit dem platten Säbel; nad 
dem Sturz Turgot’8 und Maledherbed’ warb feine Stellung vollends unhaltbar, und 
nachdem er durch die halbe Ausführung feiner neuen Pläne nur die fpätere Des- 
organifation der franzöftfchen Armee vorbereitet hatte, ſah er ſich im Septbr. 1777 
gezwungen, feine Demilfton anzubieten. Nur noch menige Monate lebte er in feiner 
Zurüdgezogenheit; er flarb, unzufrieden mit fi und mit der Welt, den 15. Januar 
1778. (Die unter feinem Namen zu Amſterdam 1779 erfchienenen Memoires find 
nach feinen. Papieren vom Abbe de La Montagne redigirt. Wimpfen und Grimoarb, 
die Ihn In feinem Minifterium unterfügten, Haben Erfterer Commentaires des Memoi- 
res de Saint-Germain (2ondon 1780), -Zegterer Gorrespondance particuliere du 
comte de Saint:Germain avec M. Paris Duverney (Xondon 1789) Herausgegeben. 
Saint⸗Germain (Graf von), Abenteurer des achtzehnten Jahrhunderts, Alchymiſt, 
geheimer diplomatifcher Agent, induflrieller Erfinder, Hofmann und Polyhiftor, mit 
Unrecht der Borläufer Caglioſtro's genannt, da er in der Benugung der damaligen 
Sucht nad unverflegbaren Goldquellen und nach einem langen gefunden Xeben zur 
Emporbringung feiner Perfönlichkeit fi der grob-myftifchen Erfindungen des letzteren 
enthielt und eine Klugheit in feiner Haltung bewies, daß er ſich nicht nur ben Zutritt 
um Hofe Ludwig's XV. Öffnete, fondern auch in der kritiſchſten Beit des ſieben⸗ 


— — — — — 


Saint-®ermain (Graf von). 77 


jährigen Krieges als geheimer Unterhaͤndler verwandt wurde, — endlich Zeitgenofie 
Caſanova's (ſ. d. Art.), mit dem er im Schloſſe der Alchymiſtin Frau von Urfé 
zuſammentraf, dem er aber an Klugheit und außerordentlichen Kenntniffen überlegen 
war. Die Quellen zur Erforfchung der Geſchichte dieſes Mannes find die Memoiren 
der Dame du Hauflet, der -fohlichten und refleriondlofen Kammerfrau der Marquife 
von Pompadour, vor Allem aber des Grafen Marimilian von Lamberg Memorial 
d’un mondain und die noch ungebrudten Denkwürdigkeiten des Barons von Gleichen, 
welche im Mercure £iranger 1813 auszugsweiſe mitgetheilt find. Mit Benugung 
diefer Quellen, dazu noch unter Anderm Caſanova's Schilderung ded Grafen, ferner 
die Oeuvres: inedites de P. J. Grosley (Paris 1813) benugend und die Uebertrei⸗ 
‚ bungen der Rarquife von Brequi in ihren Souvenirs berichtigend, bat F. W. Barthold 
in feines gelebrten und geiftvollen Arbeit „die gefchichtlichen Perfönlicyfeiten in Jakob 
Caſanova's Memoiren” (Berlin 1846, Band IL) ein Bild des Grafen aufgeftellt, 
defien Umriffe wir in Folgendem wiedergeben. Seine Herkunft ift unerforfchbar und 
son Ihm felbft mit Abficht in das raͤthſelhafteſte Geheimniß gebällt; daß feine Geburt 
feine geringe gewefen, deutete er oft an, wie er 3. B. fagte, „man werde nach feinem 
Tode erflaunen." In den höchſten Kreifen von Berfailles und Paris hielt man ihn 
für einen Baſtard aus Eüniglihem Geblüt von Portugal; in Holland glaubte man, 
wie Grodley berichtet, er fei in Bayonne von einer geflüchteten Prinzeffin und einem 
Juden aus Borbeaur geboren; Choifeul fagte in einer Befellichaft, in der ſich auch 
der Baron von Gleichen befand, er fei der Sohn eines portugieflihen, Juden. Was 
fein Alter betrifft, fo verfland er e8 zwar, im Gefpräce die lebendigſten Schilderungen 
aus gefchichtliher Vergangenheit einzumeben und durch feine Detailfenntnig in den 
Zuhörern den Glauben zu erweden, daß er fchon vor einigen Jahrhunderten gelebt 
babe; indeſſen war er Doch zu Elug, dad Ding auf die Spige zu treiben und Be 
bauptungen aufzuftellen, die auch den Gläubigften von vorn herein irre machen 
mußten. Alle jene Erzählungen von unvordenklichen Bekanntichaften find durch Feinde 
oder Spötter in Umlauf gebradht worden, wie z. B. ein Engländer, der unter den 
Bürgern Im Stabtviertel des Marais feine vornehme poſſenhafte Rolle fpielte, von 
der er Lord Gower hieß, fih in jenem Winkel von Paris für den Grafen ausgab 
und als ſolcher von feinem vertrauten Umgange mit Jeſus Chriftus redete, „den er 
vergeblich noch auf dem Delberge vor den Bolgen feiner Unbedachtſamkeit gewarnt 
babe." Er ſelbſt fpottete am Hofe von Verſailles zumellen über den Glauben der 
bötes de Paris, als fei ex 500 Jahre alt, gab aber immer zu verftehen, „er fet älter ale 
er fcheine." Die Frau des Grafen Languet de Gergy, der von 1723 bis 1731 
franzöftfcher Geſandter in Venedig war, verfiherte um 1758, als er feine Hauptrolle 
am Hofe Ludwig's XV. fpielte, ihn Schon während ihres Aufenthaltes in der Ragunen- 
flabt in derfelben Geftalt gekannt zu Haben; damals in Verfailles hielt man ihn beim 
erften Anbli für einen rüfligen Bunfziger, meinte aber dennoch etwas feltfam Greifen- 
» baftes in feinen Zügen zu entbeden. Er müßte demnach um 1670 geboren, und ba 
ee 1784 in Schleöwig flarb, etwa 114 Jahre alt geworden fein, was, da fein letzter, 
treuefter Anhänger, Landgraf Karl von Heflen«Kaffel, in deffen Armen er flarh, 92 Jahre 
alt wurde, nicht geradezu zum Erfchreden fein würbe. Indeſſen erwiderte er auf die Bes 
merfung der Kammerfrau der M. von Bompadour, er müfle nach jener Aeußerung der 
Gräfin Gergy jetzt über hundert Jahre alt fein: „das iſt nicht unmöglich, allein ich 
räume ein, daß es noch möglicher ift, daß dieſe Dame, die ich hochfchäße, rabotirt.“ 
So wies er die profaifche Berechnung feines hohen Alters mit geſchickten Wendungen . 
zurüd, ließ aber bie Leute, indem er mit außerorbentlicher Detailfenntniß die Ereig« 
niffe und Perfonen früherer Jahrhunderte jchilderte, in dem Wahn, als fpreche er als 
Augenzeuge. Zuweilen fagte er bei der Erwähnung irgend eines alten Könige aus 
der Urslirväterzeit: „der König wandte ſich zu mir," fügte dann aber verbeflernd Hinzu: 
„zu dem Herzog So und So". Jedenfalls muß er, in Anbetracht feiner erflen müh⸗ 
famen und gründlichen Vorſtudien, befonders in Geſchichte und Genealogie, feiner 
tiefen Kenntniffe in ber Chemie, Phyſik und in den Naturwiffenfchaften überhaupt, 
feiner ſtaunenswerthen technifchen Bertigkeiten und feiner genialen muflfallfchen Vir⸗ 
twofttät, wer weiß unter welchem Namen, lange vos und während bed bſterreichiſche⸗ —— 


778 Saint:Germain (Graf von). 


Erbfolgekrieges fich in Deutfchland und den Niederlanden umbergetrieben und bereits 
der vornehmen Welt genähert haben, ehe er, mitten unter den jafobitifchen Unruhen, 
1745 in London auftrat. Damals beliebte e8 dem Wundermann, der überhaupt mit 
der Production feiner Talente fparfam und Haußhälterifch voranging, nur fein Talent 
auf der Violine geltend zu machen. Graf Lamberg, der fpäter fein Geigenfpiel zu 
bewundern Gelegenheit hatte, berichtet, daß er während des Spiels Hinter einem Schirm 
ftand und zugleih die Töne von fünf bis ſechs Inftrumenten hervorbrachte. Bon 
1745 bis 1755 war Wien der Schauplag feines reifer gewordenen und ausgebilde- 
teren Talents. Sein Gönner war bier Fürft Ferdinand von Lobkowitz, Maria The⸗ 
reſta's audgezeichneter Feldherr und Minifter; unter den Großen, zu denen er in ver⸗ 
trautem Verhaͤltniß fand, war der Unger, Graf Zobor, einer der reichſten Cavaliere 
Europa’8 und Kammerberr Franz J., fein Hauptjünger, mit dem er die Fabrikation 
von Diamanten betrieb, der aber trog diefer Kunſt fpäter durch feine Verſchwendung 
in Armut fiel und mit ungebrochenem Humor fein Xeben von einer unverfäuflichen 
Reibrente friftete. 1757 endlid tritt St.-&. als vollendeter Adept, mit völliger Bes 
berrichung feiner Erfahrungen, Studien und Kenntniffe und als grand seigneur am 
Hofe von Berfatlled und in den Gemächern der Bompadour auf. Sein erfler Batron 
in Paris war der Marfchall von Belle⸗Isle, zur Zeit Kriegsminiſter und fchon früher 
in Deutfchland fein Freund. Er kam aus Deutfchland, will aber, nach feiner fpäteren 
Erzählung an Lamberg, 1755 mit dem Gefchwader, weldhes damals Sir Robert, 
fpäter Lord live, nah Oſtindien brachte, eben dahin gefommen und mit feinem 
Sohn, den er auf die Bitte des Nabob von Baba (?) daſelbſt zurüdließ, mit großen 
Ehren aufgenommen fein. Wie er demſelben Lamberg erzählte, ift er, worüber natür⸗ 
lich nicht zu entſcheiden ift, fchon früher einmal im Orient gewefen und hatte er 
Tomas Kulikan in Berften, wahrfcheinlih den 1747 ermordeten Nadir Schah, den 
Beflger ungeheurer Edelfteinfchäße, gefannt. Kurz, am Hofe Ludwig's und der Pom⸗ 
padour gewann er die Achtung ded Monurchen, das Vertrauen der Marquife und das 
ebrfurchtsvolle Entgegentommen der Herren und Damen des Hofed. Er war damals, 
wie die Hauffet berichtef, weder fett noch mager, Batte eine feine, geiftreihe Miene, 
war fehr einfach, aber mit Geſchmack gekleidet und trug an feinen Fingern, fo wie 
an feiner Dofe und Uhr die fehönften Diamanten. Außer den Evelfteinen, von denen 
er gewöhnlich eine Büchfe voll bei fih trug, die ex den erflaunten Hofleuten zeigte, 
und mit denen er gelegentlich auch Präfente machte, war es befonders fein Lebens⸗ 
elixir, was den nach Schägen und langem Leben lüfternen Monarchen in feine Gewalt 
brachte. Auch mit diefem Elirir bat ed die Bewandtniß, wie mit feinem eigenen bors 
geblihen Alter von Jahrhunderten. Er behauptete nicht, Daß es jung mache, 
fondern nur bad Alter, in dem man fich befinde, confervire. Die erſtere Bes 
bauptung iſt ihm von Gegnern und Spöttern untergefhoben, von Denen aud) 
die Gefhichten von den Kammerfrauen berrühren, die aus den Elixirflaſchen 
ihrer Herrinnen aus Unfenntniß des Recepts in zu vollen Zügen getrunfen hätten und 
von ihren Gebieterinnen, wenn diefe nady Haufe gefommen, als Eleine fpringende Mäb« 
hen oder, auf dem Fußboden figend, als einjährige Kinder, anı Daumen faugend, 
gefunden felen. Der König, nachdem er die Talente des Alchymiſten erfannt batte, 
wies demfelben das Prachtſchloß Chambord ald Sig und wahrſcheinlich auch als La⸗ 
boratorium zu, damit er daſelbſt feinen bemunderten Erperimenten im Goldmaden, 
Diamanten» Schmelzen und »DBergrößern und im Deſtilliren des Lebenseltrirs obliegen 
könne. Endlich gab er ihm Ende des Jahres 1759, als alle Theilnehmer am fleben« 
jährigen Kriege auf Schleichwegen eine neue Wendung deflelben oder den Frieden vor⸗ 
zubereiten fuchten, eine geheime finanziell » diplomatifche Miffton nad Holland. Er 
follte im Saag 100 Millionen für die Krone anleihen. Barthold nimmt nach den 
vorliegenden Indicien an, daß der Agent Diamanten feiner eigenen Schmelze unter 
dem Titel als Eigentum der Krone mit ſich führte, um fie als Unterpfand für bie 
gebachte Summe in die Hände hollaͤndiſcher Banquierd zu geben. Caſanova aber, 
der fih um diefelbe Zeit mit einem balboffieiellen Geſchaͤfte der Minifter in Holland 
befand, umſchlich den unmittelbaren Agenten des Königs, didcerebitirte ihn bei den 
Yanquierd und reichen portugleſiſchen Juden, brachte bei Herrn von Hope — der ihn 


Saint-Bermain-en-Laye, (Siadi) 719 


gleich feiner Tochter als Orakel bewunderte — einen präcdtigen, den bollänbifchen 
Geldleuten fchon eingehändigten Solitär als „reine Compoſition“ in Berruf und zmang 
den Grafen, plöglih aus Holland zu verfchwinden. Wie weit ber franzdfliche Ge⸗ 
fandte, Graf d'Affry, in das fänigliche Gcheimniß eingeweiht war, ift bier nicht aud« 
einander zu feßen. Genug, im Frühjahre fuhr derſelbe Mann, den die Megierung in 
Holland fcheinbar Hatte fallen laffen, nach England, um daſelbſt defto ficherer als Bes 
obachter zu dienen und eventuell mit Friedensanträgen aufzutreten. Jedoch auch dieſe 
Miſſion fcheiterte; die engliſchen Minifter ließen ſich durch den Schein, Daß der Alchy⸗ 
mift in Ungnade gefallen fei, nicht dupiren. Seitdem iſt die Kunde über den Aben- 
teurer nur lückenhaft. Der franzöftfche Hof verwarf ihn nach jenen verunglüdten Miſ⸗ 
fionen nicht, aber wollte ihn nach dem Frieden auch nicht mehr in feiner Nähe haben. 
1764 fand ihn Caſanova zu Tournay, befuchte ihn in feinem Laboratorium und hörte 
von ihm, daß er auf Farben laborire und dem Grafen Kobenzl, Gefandten der Kai⸗ 
ferin Maria Therefla in Brüffel, zu Gefallen eine Hutfabrik einrichte, zu welchem Bes 
huf der Minifter nur 105,000 Gulden, er aber das Uebrige zufchöfle. 1769 fand 
Graf Lamberg den Meifter unter dem Namen Marquis d'Aymar oder Belmar in Des 
nebig, wie er in der Mitte von hundert Frauen, die eine Aebtiffin ihm zugebracht 
hatte, Flachs bleichte und denfelben der italienifchen Seide gleih machte. Der legte 
Patron des Wundermanned war der obengenannte Landgraf Karl von Heffen » Kaflel. 
Derfelbe wollte die Kenntniffe Saint⸗Germain's, die ihm enormes Geld gefoftet haben 
folfen, benußen, indem er ihn an die Spige eine8 großen Fabrik⸗Etabliſſements flellte, 
das aber nicht zum Betriebe Fam, indem der Graf 1784 im Fabrifgebäude zu Eckern⸗ 
förde flarb. Landgraf Karl, der nach dem Ruhme, welchen ibm Jung « Stilling er⸗ 
tHeilt, zu den „Erweckten“ feiner Zeit gehörte und zugleich in die Freimaurer» Bewegungen 
von damals vermwidelt war, foH dem Gerüchte nah Schriftliche über St. - Germain 
verſchiedenen Freimaurer⸗Logen vermadht haben. 

Saint-Germainsen-Paye, mwohlgebaute Stadt mit breiten, wenn auch krummen 
Straßen, am linken Seineslifer, drei’ Meilen weftlih von Paris, iſt der Geburtsort 
der Margarete von Valois, Tochter Franz I, Heinrich's IL, Karl’s IX. und Lud⸗ 
wig’8 XIV. Der Urfprung dieſes Orts geht nicht Über das 11. Jahrhundert zurüd. 
1019 fliftete König Robert bier ein Klofter, dem er verfchledene Privilegien fchenfte. 
Ludwig der Dide ließ 1224 bier ein feſtes Schloß erbauen, das feine Nachfolger all« 
mählich vergrößerten; nun erbauten viele Adelige Wohnungen um dafjelbe, und fo 
entfland nach und nad die Stadt, weldhe nach dem Namen, den man dem Klofter 
gegeben, St.-&. genannt wurde. Früher, noch zur Zeit Karl des Großen, hatte ber 
noch jegt, fhöne Wald von St.G. aud den Raum bededt, auf dem die Städt fpäter 
erbaut wurde und den man Ledia Sylva nannte; hieraus wurde Lela, dann Laia und 
endlich Laye, daher St.⸗G.⸗en⸗Lahe. 1316, wo die Stadt ſchon anfehnlich war, 
wurde fle von den Engländern genommen, fo wie dad Schloß geplündert und eins 
geäfchert. Karl V. begann fie 1370 wieder berzuftellen, aber 1419 ward fie nebft 
dem Schloß zum zweiten und 1438 zum dritten Male von den Engländern zerflört. 
Franz 1. flellte das In Ruinen verfallende Schloß wieder her, vergrößerte es durch Die 
Befigungen Jaques Cotiers, des Arztes Ludwig's XI, und bald darauf wurde ein 
. heil des Waldes mit einer Mauer umgeben. Als fih KarlIX. in Paris nicht mehr 
figer glaubte, nahm er hier feinen Aufenthalt, der für St⸗G. von hohem Nugen 
war, indem es diefem Monarchen die erfle Spiegelfabrit, die in Kranfreih nad 
dem Muſter derer zu Venedig eingerichtet wurde, verdankt. Heinrich IV. und Marta 
von Medicis, die wiederholt in St.⸗G. refldirten, befreiten die Einwohner diefer Stadt 
von allen Abgaben, ein Privilegium, das fie bis zum Ausbruch der Mevolution von 
1789 behielten. Seinrich U. Hatte bier für Gabriele d'Eſtroͤes eine prächtige Wohs 
nung bauen laffen, welche man dad neue Schloß nannte und zu defien Gunften man 
nach und nach daß alte derlich. Hier flarb Ludwig XI. und hier Fam Ludwig XIV. 
zur Welt, Grab und Wiege von KRönigen. Ludwig XIV. Tieß dies Schloß durch Le 
Nöte verſchoͤnern; er vollendete die prächtige Terrafſe, die fchon unter dem vierten 
Heinrich angefangen war, und verwandte nicht weniger ald 61, Millionen Livres 
daranf. Linbefchreiblich ſchoͤn IR die Aussicht, die man von ber Terrafie aus genießt; 


780 Saint⸗Hilaire (Aug. Sranc. Ekfar Prouvenfa). Saint: Yuft (Antoine). 


vor dem Auge entfaltet fi das Herrliche Panorama der Ile de France. Die La 
Dalliere zog fih in das Schloß von St. = &. auf kurze Zeit zurüd und 12 Jahre 
Iang bewohnte daſſelbe der legte Stuart, der auch in der Schloßfirdhe begraben liegt 
Das alte Schloß, welches während der Nevolution an Privatleute vermiethet war, ifl 
. jegt Militärgefüngnig, von dem neuen Schloffe iſt nur noch der Thurm übrig, in 
welhem Ludwig XIV. geboren wurde, Verleiht die Terrafle ſchon St.⸗G. einen gro» 
Ben Heiz, fo geichieht Died noch mehr durch den 'fchönen und trefflich gehaltenen Bark, 
den berühmteften Frankreichs, mit dem noch vorhandenen Gebäude des von Anna 
von Defterreich gegründeten Auguftinerfloflerd, jegt La Maifon des Loges genannt, 
wohin die Dubarry mährend der legten Krankheit Ludwig XV. verwiefen murbe. 
St.⸗G. hat mehrere für Frankreich vorzügliche Erziehungs-Anftalten, kaiſerliche Ställe, 
prächtige Gavallerie » Kafernen, ein großes Hofpital für Kranke beiderlei Geſchlechts, 
welches an die Stelle des vormaligen, von der Frau v. Montespan geflifteten Urſu⸗ 
Iinerflofter8 gefommen ift, und 14,000 Einwohner. Am Abhang des Hügeld, deflen 
Platte. die Höhe von, St.-©. frönt, liegt Le-PBecque, eigentlih nur eine Borfladt 
von St». Es ift ein uralter Ort, der in. den erften Seiten Alpicum, Alpecum, 
‚ nachher Aupec genannt wurde. Childebert II. ſchenkte dieſe Herrfchaft 704 dem Abte 
von Saint-Babrille und Karl der Kahle beftätigte 845 diefe Schenkung. Heinrich IV. 
befreite den Ort 1596 von allen Abgaben; dieſes Privilegium wurde ihm jedoch 1688 
wieder genommen. 

Saint: Hilaire (Auguflin François Eefar Prouvenfal, genannt Augufle de), 
franzöfljcher Naturforfcher und Reiſender. Er ift den 4. October 1799 zu Orleans 
geboren und Fam mit feiner Familie nach Hamburg, wo er mit ber deutſchen Sprache 
und Literatur befannt ward. Nach Frankreich zurückgekehrt, widmete er ſich dem 
Studium der Botanif und wurde, als der Herzog von Leucdhtenberg feine Meife nach 
Braſtlien antrat, mit der Erforfchung der Pflanzenwelt dieſes Neiches beauftragt. Das 
Ergebniß feiner fehsjährigen brafllianifchen Forfchungen legte er in folgenden Werfen 
nieder: Flora Brasiliae ıneridionalis (Paris 1825—33. 3 Bde. mit 192 colorirten 
Zafeln); Voyage dans les provinces de Rio Janeiro et de Minas Geraes (Paris 
1830, 2 Bde.) und Voyage dans le district des diamants et sur le litoral de Bresil 
(Paris 1833, 2 Bde). Berner find zu erwähnen feine Lecons de botanique (Baris 
1840). Er flarb 1853 zu Paris. | 

Saint⸗Hilaire (Etienne) f. Geoffrey Saint-Hllaire. 

Saint⸗Hilaire (Jules Barthelemy), franzöftiher Philologe und Journalift, geb. 
den 19. Auguft 1805 zu Paris, begann feine Sournaliften« Laufbahn feit 1827 am 
„Globe“, unterfchrieb am 26. Juli 1830 die Proteflation der Journaliften gegen bie 
Juli⸗Ordonnanzen und war darauf fleißiger Mitarbeiter an den bedeutendflen Oppo⸗ 
fitiondsJournalen. Seit 1834 winmete er ſich aber ausschließlich feinen phllologifchen 
Studien, die ſich bauptfähhlic auf Ariftoteles bezogen; 1835 übergab er der Akademie 
der moralifhen und politifchen Wiffenfchaften fein Memoire sur l’ordre des livres de 
la politigue d’Aristote und 1837 das Memoire sur la logique d’Aristote. Schon 
1834 Hatte er eine Nepetentenftelle an der polgtechnifchen Schule erhalten, 1838 er⸗ 
hielt er eine Profeffur am College de France, 1840 ward er eine Zeit lang im 
Minifterium des öffentlichen Unterrichts angeftellt. Nach der Kebruar-Mevolution von 
1848 ward er als alter Mepublifaner Ober-Secretär in der proviſoriſchen Megierung 
und Mitglied der conflituirenden Verſammlung, ohne jedoch eine befondere Rolle zu 
fpielen. Seine SHauptleiftung ift feine Ueberfegung ber Werke des Ariſtoteles: La 
politique d’Aristote (1837, 2 Bbe.); La logique d’Aristote (1843, 4 ®be.); Psycho- 
logie d’Aristote (1846—47, 2 Bde.). Bon feinen Abhandlungen find noch hervor⸗ 
zubeben dad Memeire sur la philosophie sanserite (1839) und das Memoire sur 
Pécole d’Alexandrie (1845). . 

Saint⸗Juſt (Antoine), Genoſſe Robespierre's und Theoretifer bes Terrorismus. 
Er ift 1768 zu Decife im Nivemois’fchen geboren. Sein Bater war Ludwigs⸗Ritter, 
aber nicht adelig und Hatte fich zu Blerancourt bei Noyon niedergelafien. Der junge 
St.⸗Juſt fludirte zu Soiſſons und hatte feine Studien kaum beendigt, als bie Revolution 
augbrach. Mobespierre war der befondere Gegenfland feiner Verehrung und berfelbe 


Saint-Qambert (Charles Frangois, Marquis von). 781 


verſtand ſich auf ſeine Bitten gern dazu, mit ihm eine Correſpondenz zu unterhalten. 
Robespierre trug auch dazu bei, daß er zu dem Convent gewählt wurde. 1789 Hatte 
er Organt, ein Gedicht in zwanzig Gefängen, herausgegeben und nody 1792 erfchien von 
ifm Mes Passetemps, ober der Nouvel Organt, ein fchlüpferiged Gedicht in zwei 
Bänden. In feinen Vorträgen im Convent entwidelte er in ftreng bialektifcher Weiſe 
feine Auffaffung des Schredend, wonach derfelbe dazu dienen follte, die Herrichaft 
eined einzigen Willens im Staate herbeizuführen. So fagte er auch unter Anderem, 
man müfle die Armee befiegen, wenn man wolle, daß fle ihrerfeits flege, d. 5. man 
müfle ‚fie wie alles Andere dem Einen berrfchenden Willen unterwerfen. Um Wieder 
holungen zu vermeiden, werden mir im Artikel Terroriſsmus feine Theorie zur Dar» 
ſtellung des Schreckensſyſtems bemigen. Wir bemerken nur noch, daß er ald Com⸗ 
miffar des Convents die Armee des Elfaffes im Winter von 1793 auf 1794 zum 
Siege führte und kurz vor Mobespierre’s Sturz ald Gommiffar bei der Norb- Armee 
zus Ginnahme von Eharleroi und zum Sieg von Fleurus das Seinige beitrug. Im 
Artikel Robespierre ift bereits feine Niederlage im Convent am 9. Thermidor (27. 
Juli 1794) und feine Hinrichtung am folgenden Tage gemeldet. 1800 erfchienen 
aus feinen Hinterlaffenen Bapieren: Fragments sur les institutions röpublicaines. * 

Saint:Rambert (Charles Francois, Marquis von), franz. Dichter und Genoſſe 
der Encpklopädiften, geb. 1717 zu Bezelife, ſtammt auß einer adligen, aber armen 
Familie. Gr begann feinen militärtfchen Dienft in den Gardes-Lorraines; allein nad 
dem Aachener Frieden (1748) attachirte er fi an den König Stanidlaus, defjen Hof 
zu Zuneville eine Bereinigung von geiftreichen Frauen und literarifchen Schöngeiftern 
darbot. Hier Iernte er die Marquife du Ehatelet Eennen, die troß ihres vertrauten 
Berbältniffes zu Voltaire die Huldigungen eines Offiziers, der 20 Jahre jünger als 
der Dichter war, nicht verfchmähte. Als Voltaire ſich am Hof von Luneville nieder- 
Heß, pries er mit einer Art von Entbuflasmus die erſten poetifchen Berfuche des fun« 
gen Militärs, fcherzte aber auch in kleinen poetifchen Zufchriften an ihn Über den 
Borzug, den ihm die Marquiſe gäbe. Indeſſen nahm dies Verhältniß einen unglüds 
lihen Ausgang — aud der Intimität des Offizier und der Marquife entfland ein 
Kind, deflen Geburt 1749 der Mutter Das Leben koſtete. Bald darauf begab fi 
&t.-2. nach Paris, wo der Eclat feines erflen Abenteuerd für ihn eine mächtigere 
Empfehlung war, als es feine poetifchen Kleinigkeiten fein fonnten. Seit diefer Zeit 
verband er fi mit Duclos, Diderot, Grimm, Roufleau u. f. w. Als Oberſt in franz. 
Dienften machte er die bannoverfchen Kampagnen von 1756 und 1757 mit, und da⸗ 
mald war es, daß Mouffeau (f. d. Art.) in fein Eurz vorher mit der Gräfin 
d'Houdetot angefnüpftes Verhaͤltniß eingriff. Hier bemerken wir nur, daß dies Ver⸗ 
haͤltniß zwiſchen St.-2. und ber Bräfln bie an den Tod der Legteren dauerte, ja, daß 
fogar der -Anbeter und der Mann der Gräfin, der in früheren Jahren fehr nachſichtig 
gewefen war, in ihrem hohen Alter eiferfücdhtig wurden, wie 3. B. der Anbeter, als 
Graf und Gräftn ihre goldene Hochzeit feierten, von feiner Giferfucht ſich zu einer 
lächerlichen Scene verleiten ließ. Nach feinen bannoverfchen Keiftungen trat St.⸗L. 
aus dem Dienft und lebte in Paris allein der Gefellichaft, Poeſte und der Mitarbeit 
an der Encyklopaͤdie. Für Ießtere lieferte er unter Anderm die Artikel Luxe, Genie, 
Inter&t de T’argent, I,&gislateurs, Manitres. Seit 1753 befchäftigten ihn feine Me- 
moires 'sur la vie de Bolingbroke, mwelched Werk erft 1796 erfchien, zwar wenig be» 
achtet wurde, aber ein lebendige8 Gemälde der Megierung der Königin Anna giebt. 
Sein poetifched Hauptwerk, die Saisons, erfchlen 1769 und dffnete ihm 1770 die 
Pforten der Akademie, in welcher er für die Enchklopäbiften Propaganda machte, 
während dieſe das Lob jenes Lehrgedichts verfündigten, jedoch unter ſich einander zus 
geflanden, daß es Falt und langweilig fe. Nach der Sitte jener Zeit verarbeitete er 
die Grundfäße der Aufklärung in einer Reihe von Kleinen Erzählungen und Fables 


orientales; bedeutender und intereſſanter ift fein Essai sur la Vie et les Ouvrages 


d’Helvetius, den er dem 1772 erſchienenen nachgelaffenen Werk des Helvetius, dem 
Po&me du Bonheur binzufügte. Die Summe feiner aufgeklärten Gedanken veröffent- 
lichte er erſt 1797 bis 1801 unter dem Titel Printipes des moeurs chez toutes les 
nations, oder Galechisme universel. Witten in ber Revolution, bie ihm fehr wenig 


N 





182 Galnt-Malo, (Stabt.) Saint: Martin (Louis Claude be) 


gefiel, bielt er in der Akademie bis zum Jahre 1793 aus; nach der Auflöfung ber» 
felben zog er fih nad dem Thal von Montmorenct zurüd, wo er vergeflen von ben 
Mevolutionärd und gepflegt von der Frau dv. Houdetot lebte. Den 1. Juli 1800 
befand er fi unter den alten Afademifern, die zufammentraten, um ſich über bie 
Wiederherfiellung ihrer Corporation zu berathen. Doch trat diefelbe erfi am 28. Ja» 
nuar 1803 als Klaffe der franz. Kiteratur in den vier Sectionen bes Inflituts wieder 
in’d Leben; auch St.⸗kK. wurde ald Mitglied dieſer Klaffe berufen, flarb aber den 
9. Februar 1803. | 

Saint⸗Malo, Stadt und Feſtung in der Bretagne, im Departement der Ile 
und DBilfaine, am britifhen Canal, ſüdlich und 10 Meilen von Jerſey, mit einer 
Schifffahrtsſchule, einem äffentlichen Lehrkurs der Geometrie und Mechanik, zahlreichen 
Handelsfchiffswerften, Tabaks⸗ und Taufabriken, fo wie 12,000 Einwohnern, iſt durch 
einen Damm von 200 Metern, le Silon genannt, mit dem feſten Lande verbunden 
und bat eine Ringmauer, die fo did ift, daß fle als Promenade dient. Auf ihrer 
Höhe find naͤmlich ſowohl gegen die Stadt ald gegen dad Meer ſtarke Bruftwehren 
angebracht, zwifchen denen der Spaziergänger ruhig herumſchlendern und dabei bald 
auf den Hafen und, das Meer, bald in dad zweite Stockwerk der Häufer bliden Tann. 
Ungeachtet der geringen Groͤße der Stadt ift fie in Hinficht ihrer Handelömarine eine 
der vorzüglichfien Frankreichs, fo wie auch in Hinſicht Ihres Küftenhandels, ihrer zahl» 
reihen Schiffs ausrüſtungen nach den beiden Indien und befonvers ihres Kabeljaur 
fange. Für legteren iſt St.-M. der Hauptort Frankreichs, indem ed über ein Drit- 
tel der fämmtlichen zu dieſem Fiſchfang gebrauchten Schiffe ausrüfle. Der Hafen iſt 
groß und ficher, bat aber einen fehwierigen Eingang. Im diefem Hafen findet man 
das hoͤchſte Steigen der Fluth, das man auf dem ganzen europäifchen Feſtlande Eennt. 
Mit Rennes if St.-M. durch einen Canal verbunden. Die Stadt iſt der Geburtdort 
Jacob Cartier's, der 1534 zum erfien Mal den Mündungsbufen des St, Lorenzfiro- 
med erforfchte und Canada entdeckte, ferner des berühmten Maupertuid und Chateau 
briands. Seeleute aus St.⸗M. waren e8, die den Falklandsinfeln den Namen Ma- 
louinen gaben und fich unter Anführung Duguay⸗Trouin's den Engländern gefürdhtet 
machten. St.⸗M. foll auf der Stätte einer alten Stadt, die Aleth hieß, oder eigent⸗ 
fi eine Stunde davon an einem Orte, wo ein dem heiligen Bincenz gemibmetes 
Klofter ftand, erbaut worden fein und feinen Namen von dem erſten Bifchof zu Aleth, 
Macloviud oder Macutus, erhalten haben. 1695 wurbe es von den Holländern und 
Engländern bombarbirt und faft ganz zerflört. In der Nähe liegt Saint⸗Servan, 
Seeftadt mit einem Kriegd- und KHandeldhafen, flarfem Kabeljaufang und 8000 Ein⸗ 
wohnern. St.Servan war ehemals eine Vorſtadt von St.M. Deftlih von bier, 
nach der Küfle der Normandie zu, ift die durch ihre reichen Aufternbänfe befannte 
Bai von Bancale, wo vom 1. September bis in ben April mehrere 200 Wil- 
lionen Auftern gefifcht werben. 

Saint⸗Mare⸗Girardin f. Girardin (Brangois Augufle St. Marc.). 

Saint-Martin (Iean Antoine de), franzöflfcher Orientalift, geb. zu Paris ben 
17. Januar 1791, widmete fi unter Sacy dem Studium der orientalifchen Sprachen, 
ward 1820 Mitglied der Akademie der Infchriften und 1824 Bibliothelar des Königs. 
Als Anhänger der geſtürzten Dynaſtie verlor er diefe Stelle nach der Juli⸗Revolution 
und flarb in Armuth an der Cholera zu Paris, den 20. Juli 1832. Bon feinen - 
wichtigen Schriften heben wir hervor: Me&moires historiques et geographiques sur 
l’Armenie (Paris 1818—1922. 2 Bde); Nouvelles recherches sur Pepoque de la 
mort d’Alexandre et sur la thronologie des Ptolemees (1820); Notice zur le zodiaque 
de Denderah (1822); Histoire de Palmyre (1823); endlich hat er die Art de veri- 
fier les dates fortgefeßt. | 

Saint: Martin (Louis Elaube de), franzöflfcher Spiritualiſt, genannt der Phi- 
losuphe inconnu, geb. zu Amboife den 18. Januar 1743, flammt aus einer adligen 
Familie, wurde für die Magiftratur beſtimmt und fludirte die Nechte, zog ed aber 
doch vor, fih dem Militärbienft zu widmen, ber ihm wihrend des Friedens Muße für 
die Meditation, der er ſich fchon früh ergeben Hatte, zu gewähren verfprad. Er kam 
nach Borbeaur in Barnifon, wo er mit Martinez Pasqualis, eincka portugieſiſchen Juden 


Saint⸗Michel. (Dorf. Gefängniß) 183 


und Haupt der Martiniften, die berfelbe für feine theofophifche Theurgie gewonnen Hatte, 
bekannt wurde. Er ließ fi unter die Geweihten deffelben, die „Kohen“ (Priefter), 
aufnehmen. 1775 ging er nach Lyon, dem Hauptflg der Martiniften, traf daſelbſt mit 
Caglioſtro zufammen, ſchloß fih ihm an und befchäftigte fih außerdem mit Somnam« 
bulismus und mit den Schriften Swedenborgs. Ebendafelbfi gab er fein erfled und 
beſtes Werl heraus: Des erreurs et de la verit& ou les hommes -rappeles au prin- 
cipe universel de la science (1775). Im Jahre 1782 folgte fein Tableau- naturel 
des rapporis qui existent entre Dieu, !’homme et l’univers (deutfch 1784). Als die 
Schule der Martiniften nach dem Abgang des Meifters nad S. Domingo und nad 
deſſen Tod ſich Hauptfächlih der Alchymie ergab, hielt fih St.-M. von ihnen fern. 
1787 begab er fi, nachdem er den Kriegsdienft aufgegeben hatte, nach England und 
ward bier durch den Ueberſetzer Jakob Böhm’s, William Law, mit diefem deutfchen 
Theofophen befannt. Nachdem er darauf mit einem Fürflen Galigin Italien bereift, 
in Straßburg no weiter für Jakob Böhm begeiftert war, lernte er die beutfche 
Sprache, um denfelden im Original zu flubirn. Seine Verbindungen waren dußerft 
audgebreitet; fchon fräher fiand er dem Herzog von Drleans, der Herzogin von Bour⸗ 


bon, dem Marquis von Lufignan, Marſchall von Richelieu, dem Chevalier von Bouff . 


lers u. f. w. nahe; fpäter ward er neben Gondorcet, Sieyes und Bernardin de 
Saint» Pierre ald Erzieher von Ludwig's XVI. unglüdlichem Sohne in Vorſchlag ge 
bracht, fodann In die Unterfuhungen wegen der Theot’fchen Angelegenheit (f. d. Art. 
Robeöpierre) verwicelt und in's Gefängnig geworfen und nad dem 9. Thermidor 
wieder freigelafien. Seine legten Lebensjahre verbrachte er im Haufe des Senators 
Lenoir» Laroche in Aunay bei Chatillon, wo er den 13. October 1803 flarb. Bon 
feinen fpäteren Schriften find noch zu nennen: Ecce homo, le nouvel homme (1796); 
de l’esprit des choses (1800. 2 Bde.; deutfh von Schubert unter dem Titel: 
„Dom Geiſt und Welen der Dinge”, Leipz. 1811. 2 Bde.); Ministere de l'homme 
esprit (1802); FPhomme de desir (1790. 2 Bde.; neue Aufl. Meg 1802; deutſch 
von Wagner unter dem Titel: „Des Menfchen Sehnen und Ahnen”, Leipz. (1813); 
Le Crocodil ou la guerre du bien et du mal, poöme epico-magique (1800); de 
Dieu et de la nature. Er Hat durch feine Bekämpfung des Materialiemus und Sen- 
fualigmus in Frankreich und Deutfchland viel gewirkt und namentlich durch feine 
Zheorie, in welcher ber Menſch ald der Schlüffel aller Nätbfel erfcheint, nach vielen 
Seiten bin angeregt. Er nennt nämlich den Leib des Menfchen das Urbild alles 
Sichtbaren, feinen Geiſt das Vorbild alles Unfichtbaren, Gott felbft aber dad Pro⸗ 
totyp des Menſchen, welcher nur ein Gedanfe Gottes if. Vgl. „Angelus Sileflus 
und St.⸗Martin.“ (Berlin 1834.) 

Saint:Mihel oder Mont St.⸗NMichel, mit Dorf und Zelfenfeftung, fo wie 
einem Gefängniß, in der Nähe von Avranches an der Küfle der Normandie, ragt als 
Schwarzer Belfen fchroff empor und wird täglich zwei Mal durch die Fluth vom feflen 
Zande getrennt. Er iſt nur von Süden ber zugänglich, und dieſer Zugang ift gefperrt 
durch eine vom heiligen Ludwig erbaute, von Ludwig XI. bergeftellte und durch Lud⸗ 
wig XIV. renovirte Mauer, die, als der Berg eine Nolle zu Tpielen Hatte zwiſchen 
Sranfreih, England, der Bretagne und Normandie, das Hauptvertheipigungsmittel deſſel⸗ 
ben bildete. Ein fchmaler Waffenplag liegt vor dem Dorfe und ift mit zwei ungebeuren 
Kanonen geihmüdt, welche von den Engländern bei Ihrem unfruchtbaren Angriff im 
Jahre 1423 zurüdgelafien wurden. Das Dorf, deſſen Häufer wie Schwalbennefter 
auf der Südſeite des Berges geklebt find, mag 300 Einwohner zählen; diefe Bevölfe 
rung flammt eben von der, welche einft ihren Unterhalt in den Almofen, den Bebürf- 
niffen und den Beluftigungen der Mönche der Abtei, die den Mont St.⸗M. kroͤnte, 
fand; fle baut In den Höhlungen der Felſen einige Gärten, fpannt in der Zwifchen- 
zeit zwifchen zwei &luthen auf den Uferfirihen Netze aus, in denen die Ebbe fodann 
Solen, Barben und Salmen zurüdläßt; endlich Iebt fie von dem Dienfle im Gefängniß 
und bei den beiden Infanterie » Gompagnieen, Die ſolches bewachen. Der Unblid der 
Wohnungen if erbärmlih. Man fleigt hinauf in die alte Abtei mit ihrem berühmten 
Nitterfaal und ihrer prächtigen gothifchen Kirche und auf die Terrafien, von benen 
ber Blick Über die Uferfiriche der Bretagne und das weite Meer binflreift, durch finftere 


— — — — — — — 


% 


734° ‚ Saint-Bierre (Charles Irende Caſtel be). u 


Gaßchen oder über eine prachtvolle Treppe, die am Rande des Abgrundes binführt. 
Dies fhöne Werk datirt aus den Zeiten Ludwigs's XIV., und die Abtei, welche es 
aufführte, befaß 150,000 Livres Einkünfte Die Gefchichte des Mont St.⸗M. ſteht 
im Verhältnig zu der Selffamkeit feiner Architeetur und der wilden Großartigkeit der 
Umgebung. In Folge einer Erſcheinung des Erzengeld Michael baute ber Heilige 
Aubert, Biſchof von Avranches, bier 708 eine Kapelle, zu deren Schug er ſich mit 
zwölf Kanonifern auf dem Berge nieverließ. Die Herzoge von Bretagne und der Nor⸗ 
manbie, die Könige von Franfreick und England füumten nicht, mwetteifernd die Kirche 
mit ihren Gaben zu überhäufen. Im Laufe des 10. Jahrhunderts bedeckte ſich der 
Berg mit prachtvollen Bauten, von denen Die Mehrzahl noch jegt der neuen Kunft 
Trotz bietet. Bon der Gründung des heiligen Aubert bis zur Regierung Ludwig's XIV. 
iſt die Gefchichte des Mont St.-M. eben fo wohl militärifch als kirchlich, und von 
allen Waffenthaten, deren er Zeuge war, ift ohne Widerfpruch die Vertheidigung im 
Sahre 1423 von 119 bretagnifchen und normannifchen Epelleuten gegen eine ganze 
englifhe Armee die glänzendfte. Unter Lubwig XIV. wurde eine Art Correctionshaus 
für Die Söhne guter Familien, Deren Betragen die Ruhe der Geſellſchaft flörte, der 
Abtei angefügt, und wenn die Stürme des menfchlichen Herzend in ber Einſamkeit 
fi beruhigen, fo paßte auch hierfür Fein Ort beffer ald der Mont St.-M,; nirgends 
bin gelangt da8 Geräufch der Welt in abgefchwächteren Tönen, nirgends führt daß 
Scaufpiel der Größe der Schöpfung den Menfchen mehr zu Bott. Ein Decret des 
Jahres 1811 verwandelte den Mont St.-M. in ein Gefängni. Das großartige Ge⸗ 
bäude, wo einft Philipp der Schöne 1312, Karl VII. 1422, Ludwig XI. 1462 und 
1469, Franz I. 1528 und 1532 und Karl IX. 1561 aufgenommen wurde, öffnet feine Thore 
nur noch Neugierigen oder Gefangenen. Wenn man einer Sage Glauben ſchenken 
darf, die fi in den Chroniken erhalten bat, waren einft die Uferfiride um Mont 
St.⸗M. mit dem Eichenwald von Sciffy bededt. Weiden und angebaute Ländereien 
follen fi nicht bloß über den größten Theil der Bai von St.⸗M., fondern feldft 
über die Landungspläge von Bancale und Saint-Malo erfiredt, die Infel Cefambre, 
der Archipel von Chauſey follen zum feften Lande gehört haben und dies ganze Ge» 
biet im Jahre 695 oder 709 vom Meere verfchlungen worden fein; bie Fahlen Klippen« 
bäupter, Die noch jegt über die Wellen bervorragen, ſeien die Knotenpunfte ehemaliger 
Hügel gewefen. An der Sage mag etwas Wahres fein, und fle giebt einen Yinger- 
zeig, unter welchen Verhältniſſen auch noch Heutzutage die Alluvionen fich bilden und 
wieder zerflört werden. Noch in neuerer Zeit wurden ganze Kirchfpiele an der Bat 
von St.⸗M. fortgeriffen: das von Tommen wurde im 14. Jahrhundert verfchlungen ; 
im Jahre 1733 legte ein Orkan die Grundlagen der St. Stephanskirche von Palluel 
bloß, die 1630 zerftört worden war; die Kirchfpiele SaintsLouis, Maulny, Ta Feillette 
flanden noch bis 1664 auf den Synobaltegiftern des Bisthumd von Dol. Don 
allen diefen Drten ift nur noch ber Name geblieben, felbft ihre Lage kennt man 
nicht mehr. 

Saint-Bierre (Charles Irense Caſtel de), der Begründer der neueren imperia- 
liſtiſchen und demofratifchen GCongreßidee und der Theorie vom ewigen Frieden, if 
den 18. Februar 1658 auf dem Schloffe Saint» Pierre- Eglife bei Barfleur in ber 
niedern Normandie geboren; feine Familie hing mit der des Marſchalls Billard zus 
fammen; fein Bater Charles Caſtel war Gouverneur von Valogne. Er machte feine 
Studien zu Caen und widmete fih nah dem Wunfch feiner Eltern dem geiſtlichen 
Stande, lebte darauf in der Vorſtadt Saint Farqued zu Parid den abflracten Wiflen- 
fhaften und dem Studium der Moral und Politik. 1695 wurde er wegen feiner 
Forfchungen über die franzöflfhe Sprache zum Mitglied der Akademie ernannt; 1697 
trat er aus der Zurüdgezogenheit jened Vorſtadtlebens heraus, fiedelte nach Berfatlles 
über und nahm am Hofleben Theil; endlich 1702 kaufte er die Stelle des erften 
Almofenierd der Herzogin von Orleans, die ihm die Abtei von Tiron ver 
Ichaffte. Der Abb& von Polignac nahm ihn auf den Gongreß von Utrecht (1712) 
mit, und die Schwierigkeiten, die fi dem Abſchluß des Friedens entgegenftellten, 
waren e8, die Ihn bewogen, fein Projet de paix perp&tuelle (Utrechi 1713, 3 Bde.) 
zu veröffentlichen, in welchem ex den Borfchlag machte, eine Urt von Senat, beflehend 


Saint⸗Pierre (Jacques Henri. Bernarbin be). 185 


aus Mitgliedern aller Nationen, zu eonflituiren, vor welchem bie Fürften ihre Zwiſtig⸗ 
feiten vorzutsagen hätten. Diefe polltifche Oberbehörde, welcher die Löfung aller 
politifchen Streitfragen übertragen werden folfte, nannte er die europäifche Tagſatzung 
(Diete europeenne),. in Discours über die Polysynodie, in meldyem er die vom 
Megenten eingefegten Conseils lobte und zugleich die Megierung Ludwig's XIV fireng 
Iritiflese und ihr vorwarf, daß ſie das Meich an den Mand des Abgrundes gebracht 
Babe, zog ihm 1718 die Ausfloßung aus der Akademie zu. Die Guütigkeit, Theil⸗ 
nahme und Breude am Wohlthun, die ihn in feinem Privatleben charakterifirten, leiteten 
ihn auch in feinem Nachdenken über Volitit und Derwaltung und er fegte feine Re⸗ 
formoorfchläge in einer Meihe von Abhandlungen auseinander, deren Titel allein in 
der von ihm veranflalteten Sammlung: Ouvrages de palitique et de marale (Rotter- 
dam 1738— 1741, 18 Bde.) vierundgmanzig Seiten einnimmt. Reform der Kloſter⸗ 
fatuten, Unterhaltung und Sicherheit der Landſtraßen, Polizei, Verminderung der Zahl 
der Proceffe, Aufhebung der Bettelei und Armuth, Verbefferung des Looſes der Sol 
Daten, Zurückkauf der Läuflichen Aemter ohne Erhöhung der Steuer, Hebung des 
Inneren Handel, Beförderung ded Studiums der Naturmiffenfchaften, Nutzbarmachung 
der Öffentlichen Anleihen, Dispend der Priefter vom Gölibat, Vernichtung der Piraterie 
der Barbaresfen, Reform der Schulen und der franzöflfchen Akademie u. f. w., das 
waren die Ideen, die ihn befchäftigten und die er in Umlauf brachte. In der Schrift: 
Nuuveau plan de gouvernement des états souverains bringt er bie Bildung einer 
politifchen Akademie in Vorfchlag, die aus zwei Klaffen beftehen und aud Deren oberer 
Klaffe der Monarch nach einer von der Alademie überreichten. Bandidatenlifte Die 
Minifter wählen folle. Seine Hanptbeforgnig war nur, daß die Engländer den Frans 
ofen in allen. diefen Reformen zuvorkommen möchten. „Ic flerbe vor Furcht,“ 
ſchrieb er 1740, „daß Die menfchliche Bernunft Eräftiger und früber in London herans 
wachfe, ald in Paris, wo die Communication pofltiver Wahrheiten für jetzt weniger 
leicht if." Er farb zu Varis den 29. April 1743. Nad feinem Tode famen (Lon⸗ 
don, eigentlich Paris 1757, 2 Bde.) feine Annales poliliques heraus, in denen er 
von 1658 an bis 1739 chronologiſch nach der Folge der Ereigniffe feine Tritifchen 
Bemerkungen über dieſelben aufgeftellt, ſich ſehr fcharf über Ludwig XIV. ausfpricht, 
immer auf feinen ewigen Frieden zurückkommt und feine Gedanken barlıber, wie man 
die Herzöge und Pair, die GBeiftlichkeit und bie Akademieen für den Staat nutzbar 
machen könne, wiederholt. Der wilde Literaturhiftorifer und Kritiker Sabatier Hat 
nit ohne Brund die Behauptung aufgeftellt, daß Voltaire die Idee zu feinem ver⸗ 
fehlten Siecle de Lonis XIV. und zu feinem Essai. sur l’'histoire generale des na- 
tions diefem Werke St.⸗P.'s entlehnt habe. (I. 3. Rouffeau bat aus dem Projet 
de paix perpetuelle und aus ber Polysynodie einen Auszug verfertigt.) 

| SaintsBierre (Jacques Henri Bernarbin de), franz. Meifter der Naturfchilderung, 
geb. den 19. Januar 1737 zu Havre. Bon feiner Kindheit an zeigte er einen Hang 
zur ‚Einfamfeit und eim flärmifches, mißtrauifches und ſchwer zu zügelndes Werfen. 
Die Lertüre von Meifchefchreibungen war. feine Luft, und in feinem zwölften Jahre 
ſchwaͤrmte er für das einfame Leben Mobinfon Cruſoe's. Seine Eltern glaubten in 
ihm eine Neigung zur Marine zu entdecken und ließen ihn auf dem Schiffe eines 
Oheims eine Meife nach Martinique machen; megen feiner Auflehnungen gegen bie 
Seedisciplin fchidte man ihn aber aldbald nach Europa wieder zurüd, wo ihn feine 
Eltern zu Caen und Rouen feine Studien machen ließen. Darauf zur Ecole des 
ponts et chaussdes "zugelaffen, erhielt er nach ſchnell durchlaufenem Gurfus (1760) 
eine Niffion nach Düffldorf unter dem Grafen St.⸗Germain; aber auch bier verbarb 
er ſich durch fein frondirendes Wefen feine Stellung, und trog ber Tüchtigkeit, Die 
er bei mehreren gefährlichen Actionen, z. B. in der Schlacht bei Warburg, bewiefen 
hatte, warb. er feiner Functionen enthoben und zurädgeichidt. Bon feiner Familie 
und von feinen Obern fehr fohlecht empfangen, begann er nun jened Abenteurerleben, 
weldyes, während es an ihm den Menfchen unter wenig achtungowerthen Außenfelten 
zeigte, dazu beitrug, fein Genie als Stylift zu entwickeln und ihm jenen Anſtrich von 

Bagener, Staate⸗ u. Gefellih.-Rex. XVIL | 50 
) 





186 | Saint⸗Pierre (Jacques Henri Bernardin de). 


wilder und zaͤrtlicher Melancholie zu geben und jene romanhaften Ideen und bei alledem 
jenen kauſtiſchen Ton mitzutheilen, die feinen Schriften ihren originalen Charakter 
aufprüden. Erſt erhielt er einen Auf nad Malta als Ingenieur des Ordens, reiſte 
aber, ehe er die Beftallung erhielt, ab und wurde ald undeglaubigt von Malta wieder 
zurüdgefhidt. In Paris verfuchte er es darauf, durch Unterrihtöflunden in der 
Mathematik fein Leben zu friften, fand dieje Eriftenz unerträglih und wanderte nad 
Amfterdam, wo ihn ein franz. Mefugie, der dafelbft ein Journal rebigirte, als Bes 
noffen annahm und ihm felbf die Hand feiner Schwägerin anbot. Ein fo fimples 


Glück konnte St.⸗P. auch nicht genügen; er fchlug fi daher nad, Rußland durch, fand 


in Beteröburg einen Protector am Marfchall Münnich, begab ſich mit deffen Empfehlung 
nach Moskau, wo ſich damals Katharina aufbielt, warb bier vom Großmeiſter der Artillerie, 
Billeboid, der Kaiferin vorgeſtellt und follte, wie fein Introbneteur hoffte, Drloff’s 
Gredit bei der Semiramid des Nordens flürgen; Bernarbin hatte aber ganz andere 
Ideen; flatt daran zu denken, die Augen und dad Herz der Kalferin zu feſſeln, 
träunte er nur davon, an den Ufern des Aralſees eine Republik zu gründen und 
in der Manier Plato’8 und Rouſſeau's ihre Gefengeber zu werben. Indeſſen kam 
aus dem Wirrwarr feiner Unruhe, Unzufriedenheit und ungeflümen Undankbarkeit gegen 
feine Protectoren und Breunde, aus den Machinationen der Gegner, die ihm feine 
Ungebuld zuzog, und der Gunſt ber Kaiferin, Die ihm eine Gratification und baß 
Capitaͤnsbrevet zuwies, zulegt, als er ſchon wieder nach Frankreich zurüdwollte, eine 
Meife nach Finnland heraus, wohin ihn General Dubosquet mitnahn, um mit ihm 
die militärifchen Pofltionen zu flubiren und ein Bertheidigungsfuftem aufzuftellen. 
St-P. entwarf ein ausführlides Memoire zur Vertheidigung Yinnlands, fand aber 
nach feiner Nüdlehr nad Petersburg feinen Protector Dillebois in Ungnaden, wies 
das Anerbieten Orloff's, ſich ihm anzufchließen, fo wie die Nichte Dubosquet’s, deren 
Sand ihm diefer General anbot, zurück und reifte nach Polen, um dort in den Reihen 
ber Patrioten gegen Mufland zu fechten; allein feine Leiflungen befchränkten fich 
darauf, daß er daB Herz einer polnischen Brinceffe gewann und ein Jahr lang mit 
ihr Öffentlich Iebte. Als diefe endlich den Beichwörungen ihrer Familie folgte, zog 
er abenteuernd über Dresden und Berlin nach Frankreich zurüd, wo er 1766, arm 
wie vorber, eintraf. Endlich erbielt er, nachdem er die Minifterialbeamten mit Ge» 
ſuchen beflürmt hatte, das Patent ald Ingenieur für Isle⸗de⸗France; eigentlich follte 
er in Madagascar das Fort Dauphin wieder aufrichten und die Wilden civilifiren. 
In der That zankte er fih nur mit allen Beamten auf Iölesde-France herum und 
Fam, nachdem diefer Zank drei Jahre gedauert Hatte, wiederum phne Geld, aber reich 
an Beobachtungen und von feinen philanthropiſchen Illuſtonen balb geheilt, 1771 
nach Paris zurück. Nun beſchloß er, fih allein dem Schriftſtellerleben zu widmen, 
und trat, Dur ben Baron Breteuil an d’Alembert empfohlen, mit den damaligen 
pbilofophifchen Literatoren In Verbindung. Aber auch deren Macht und Herrichaft, 
Die damals ihren Höchften Grad erreicht hatte, war ihm unerträglidy; allein konnie er, 
trog feiner ſchoͤnen Figur, In der Gefellfchaft Feine Bedeutung gewinnen, da er nidyt 
fpredyen konnte. So ergab er fi der Einfamkeit, In der er dann feine Werke aus⸗ 
arbeitete. Zuerſt erfhien (1773, 2 Bde.) Voyage à Isle-de-Frauce, à Isle-de- 
Bourbon, au Cap etc, Diefe trefflihe Schrift Hatte nur wenig Erfolg — außerorbent- 
lich aber war derjenige ber Etudes de la nature, die 1784 erſchien; 1788 veröffentlichte 
Bernardin den fentimentalen Roman Paul et Virginie, von weldyem, waren ſchon bie 
Etudes oft nachgebrudt worden, im Lauf eines Jahres mehr als funfzig Nachbräde 
erfchienen. Die Revolution begrüßte er mit Begeifterung in feinen Voeux d’un soli- 
taire (1789), ferner in der Suite des Voeux d’un solitaire. Zu Ende des Juli 1792, 
wenige Tage vor dem 10. Auguft; ernannte ihn Ludwig zum Intendanten des Jardin 
des Plantes und des naturbiftorifchen Cabinets; vorher war er anf die Lifte der Lehrer 
gefommen, welche die äffentlihe Meinung dem prince royal, wie man damals ben 
Dauphin nannte, beftimmt hatte. Um biefelbe Zeit heirathete ex eine Tochter Didot's, 
des Verlegers feiner Etudes, und z0g ſich mit ihr nad Effonne zurüd, als ber Con⸗ 
vent feinen Poſten am botanifhen Garten unterbrädt Hatte. 1794 wurde es zum 


⸗ 


Saint⸗Prieft (Aleris, Graf v.) Saint⸗Quen. 787 


Lehrer der Moral an der Normalſchule ernannt, 1795 zum Mitglied des Inflituts. 
Bonaparte als Eonful und fodann ale Kaiſer unterflügte ihn, Joſeph gab ihm eine 
anfehnliche Penflon; noch in hohem Alter verheirathete er ſich zum zweiten Male mit 
einem jungen $räulein v. Pelleport und flarb zu Erigny (an der Dife) den 21. Ja⸗ 
nuar 1814. Der fpätere Mann feiner zweiten Frau, Aimoͤ Martin, gab 1815 (in 
3 Bon.) feine Harmonies de la nature heraus, an denen er fchon nad feinem Um⸗ 
zug nach Effoune gearbeitet Hatte — eine Fortführung des Themas der Etudes: Gott 
und Borfehung, offenbart in der Zwedmäßigkeit und Zufammenflimmung der Natur. 
Außer Gott und Vorſehung find es die Meize der Tugend, die Vergnügen der Ein- 
famkeit, die Annehmlichkeiten der natürlichen Güter und der bäuslihen Zuneigungen, 
was den Stamm bildet, um den fich In den Etudes bie aufgeflärten Ideen über Reli» 
gion, Philoſophie, Moral, Wiffenfchaft, Landbau, Verwaltung und Politik herum⸗ 
ſchlingen. Die Erzählung Paul und Birginie, vermeintlich und der Abſicht des Ver⸗ 
faffers nach, eine Feier der Natur, läuft in eine unnatürliche und geziert-fentimentale 
Askeſe hinaus. Das bleibende Verdienſt St.⸗P.'s find feine Schilderungen ber 
Naturfeenen und die Erhebung derſelben zum Ausbrud von Geelenflimmungen. Der 
genannte Martin Hat eine Sammlung feiner Werke (Paris 1821, 12 Bde.) heraus 
gegeben, auch einen in Meberfchwenglichkeiten fidy bewegenden Essai sur la vie et les 
ouvrages de St.-P. (Baris 1821) verdffentliht. Die Me&moires et correspondance 
de St.-P. (Paris 1829, 4 Bde.) find unbedeutend. | 

SaintsBrieft (Aleris, Graf v.), franzöflfger Diplomat und Schriftfleller. Sein 
Großvater, Franois Emannel Guignard, Graf v. St.⸗P., geb. 1735, geft. 
1821, war von 1768 bis 1783 Befandter in Liffabon und Konftantinopel, warb 
1789 Minifter des Innern, als welcher er für Anwendung ber Gewalt gegen bie 
sevolutionären Unruhen fprach, wanderte 1790 aus und ward 1815 Palr. Die Cor⸗ 
sefpondenz deflelben mit Ludwig XVII. ward 1845 veröffentliht. Der Sohn dieſes 
Minifterd Ludwig’® XVI. Armand von St.⸗P., rzogen in Mußland, heitathete da⸗ 
ſelbſt eine Fürftin Saligin und bekleidete mehrere rufflfche Gouverneurftellen; fpäter 
faß er von 1821 bis 1848 in der franzdflichen Pairdfammer. Aleris, deffen Sohn, 
it 1805 in St. Beteröburg geboren, befuchte das franzäflfche Colloͤge von Odeſſa, 
als daſelbſt fein Vater Gouverneur war, kam in der erften Zeit der Meftauration 
nad Frankreich zuräd, betrat die politifche Laufbahn aber erſt unter Louis PhHilipp’s 
Regierung. Er zeigte fih als eifriger Anhänger der liberalen Ideen und mar von 


1832 bis 1842 Gefandter in Brafilien, Portugal und Dänemarf, Nah der Rück⸗ 


kehr von feinen diplomatiſchen Mifflonen ward er Pair und midmete fich feitdem dem 
Abſchluß der Hiftorifchen Studien, die ihn ſchon ſeit Tanger Zeit befchäftigt hatten. 
1842 erfchlen (in drei Bänden) feine Histoire de la royaut& consideree dans ses 
origines jusqu’& la formation des principales monarchies de l’Europe. Seine Histoire 
de la chute des Jesuites (1844) griff wirkſam In den Kirchenflreit der damaligen 
Zeit ein. Sein Hauptwerk, welches ihm 1849 die Pforten der Akademie dffnete, iſt 
die Histoire de la conquöte de Naples par Charles d’Anjou (Paris 1847 — 48, 
4 Bde). Die 1850 (in zwei Bänden) erfchienenen Etudes diplomatiques et litt&- 
raires find eine Sammlung früherer Journalaufjäge. Er farb auf einer Reiſe in 
Rußland, wo feine Schwefter an den Fürſten Dolgoruki verheiratbet war, den 27. Sep⸗ 
tember 1851 zu Moskau. 

Saint⸗Quen, ein in der Nähe von Paris in einer großen Ebene am rechten Ufer 
der Seine und zwar zwifchen dieſem Bluffe und dem fogenannten Rebellenwege bele- 
gened Dorf, ift jehr alt und hieß früher Billa ſancti Auboeni; es war ſchon zu 
Dagobert's Zeiten vorhanden. Das berrfchaftligde Schloß von St.-D. wurde aber 
erft 1660 durch einen Herrn v. Boisfranc erbant, der praͤchtige Feſte in bemfelben 
deranflaltete. Später gehörte ed dem Herzog v. Gesvres, der ed 1745 an Frau v. 
Bompabour verkaufte, welche es fürfilich einrichtete und mehrere Jahre darauf dem 
Herzog v. Tremes kauflich abtrat. 1814 wohnte Ludwig XVII, bier, ald er nad 
24 Jahren der Verbannung wieder nach Brankreich zurüdgefehrt war, unb empfing 

50° 


788 Saint-Onentin. (Stadt). Saint⸗Réal (Gefar Vichard, Abbé be). 


daſelbſt alle Staatöbehörben, bevor er in Parts ſelbſt einzog. Hier verlich er au 
ben 2. Mai deflelben Jahres Franfreih feine Charte. Auch der Herzog v. Nivernois 
und der Fürft Rohan Hatten fchöne Landflge zu St.-D.; in der Villa des Leptern 
wohnte der Minifter Neder längere Zeit und ein Zumpenfammler Taufte fle während 
der Revolution um ein Zumpengeld. In einem andern Landſtz befindet fich eine Zucht 
von Tühbetziegen, von deren Wolle Gewebe gemacht werben, die faſt fo fchön wie Die 
der Levante find. Jedes Jahr wird in St.⸗Q. eine breitägige, aber fehr befuchte 
Meile gehalten. Die Nühe des Canals von Saint-Quentin bat hier mehrere Kabri« 
Een und einen Hafen mit fehr großen Baffins, geräumigen Kais und großen Waaren⸗ 
niederlagen hervorgerufen. 

Saint-Onentin, feſte Stadt in dem franzöflfchen Departement der Aisne, an dem 
gleichnamigen Canal und an der Somme, mit einem ſchönen gothifchen Rathhauſe und 
einer Hauptkirche, die in Bezug auf ihre Größe die Kathedrale von Mouen übertrifft, iſt 
blühend durch ihre Battiſt⸗ Linon=, Gazes, Shawls⸗, Spiken- und Baummollen- Fabriken 
und bat u.a, eine Handelsſchule, eine Zeichnenfchule, eine Lebranftglt der Geometrie und 
Mechanik in ihrer Anmendung auf die Gewerbe, eine Gefellichaft der Wiſſenſchuͤften, 
Künfte und des Aderbaues und 30,000 Einwohner. In der Nähe der Stabi find 
die Gewölbe des Canals von St.«D. merfwürbig. St.⸗Q. hieß im Alterthum Augufta 
Beromanduorum und foll feinen jegigen Namen von dem Heiligen Quintinus, ber 
angeblich auch Hier begraben liegt, erhalten haben. Es gehörte fpäter den Grafen 
v. Dermandais, von denen Rolf 1. zwei Töchter binterlieh, Elifabeth, die Gemahlin 
Philipp's von Elſaß, Grafen von Flandern, und Eleonore, Die zwar viermal ver» 
mäplt geweien, aber ohne „Kinder zu Binterlaffen flarb. Eliſabeth ſetzte ſich in der 
Grafſchaft St.⸗Q. fe, worüber es zwiſchen dem König Philipp Augufl und dem 
Grafen von Flandern zum Kriege kam. Endlich wurden dem Grafen St.-D. und 
Beronne auf Lebenszeit überlaffen, nach feinem Tode aber mit der Krone Zranfreich 
vereinigt. St.-D. iſt nach diefer Zeit mehrere Mal an die Kerzoge von Burgund 
verpfändet, aber auch nebfl anderen Städten an der Somme fjebedmal wieder. eingelöfl 
worden. 1557, nachdem ber Waffenftillfiand zmwifchen dem König Bhilipp II. von 
Spanien und Franz I. von Frankreich gebrochen worden mar, belagerte Philibert 
Emanuel, Herzog von Savoyen und Gouverneur der Niederlande, St.O., welches 
damals fchlecht befefligt war und eine nur ſchwache Befakung hatte. Admiral Go» 
ligny warf fich zwar mit einigen Truppen in die Stadt, Do genügte deren Zahl 
noch nicht. Daher ging Montmorency über die Somme und verfuchte In aller Eile 
noch einige hundert Mann in den Bla zu detachiren. Kaum war ihn dies mit 500 
Mann gelungen, ald er vom Herzoge von Savopen zwifchen ben Dörfern Effigny und 
Rizeroles plöglid, überfallen und total gefchlagen wurde, Er felbft ward nebſt feinem 
Sohne Montberon, den Herzogen von Montpenfler und Longueville, dem Ludwig dv. 
Gonzaga, nachmaligem Herzog v. Neverd, dem Marfchall v. Andre ac. gefangen ge⸗ 
nommen. Die Spanier mußten. fi des errungenen Vortheils nicht zu bedienen; fie 
Tehrten zur Belagerung von St.⸗O. zurüd, daB Goligny endlich aufgeben mußte. 
1559 erhielt Frankreich durch den Gambrefifchen Frieden St.⸗Q. zurüd. 1814 wurde 
ed den 11. März von den Alliirten eingenommen. 

Saint: Real (Coſar Vichard, Abbe de), ein franzoͤſiſcher Hiftoriker, wurde 1639 
zu Chambery geboren. In Paris, wohin er fich zeitig begab, um ſich wiſſenſchaftlich 
zu bilden, genoß er längere Zeit des Umgangs des Beichichtöfchreibere Varillas, 
deifen Richtung und Manier er ſich fo völlig aneignete, daß diefer behauptete, St.⸗R. 
habe ihm feine Papiere entwendet. 1675 Eehrte er nad Chambery zurüd und be⸗ 
gleitete von da die Herzogin von Mazarin nach England. Nachdem er biet mehrere 
. Jahre zugebracht, dann wieder in Paris gelebt hatte, farb er 1692 in feiner Bater- 
ftadt, mo er furz zuvor wieder feinen Aufenthalt genommen hatte. Er fihrieb umter 
Anderem: „Sept discours sur l’usage de l'histoire* (Bari 1671); „Don Carlos, nou- 
velle historique“ (ebendaſ. 1672, deutſch von S. 2. Schmidt, 2. Aufl, Mainz 1831); 
„Histoire de la conjuration, que les Espagnols formerent en 1618 contre ia r&pe- 
blique Venise“ (ebd. 1674); „Cesarion* (Gefpräce philofophifchen und hiſtoriſchen 


Saint⸗Simon (Louis de Rouvroi, Herzog von). 189 


Inhalte); „Sur la valeur" (1698). Die beiten Sammlangen feiner Werke find eine 
in 4 Bon. (Hang 1724), eine in 3 Bon. 11745) und eine in 4 Bon. (1757). Eine 
Auswahl daraus erfchien von Defeflarte (Parts 1804). St.⸗R. zeichnete fich aus durch eine 
höchſt anmuthige Darftellung und große Kunft des Style, worin Ihn viele zum Mufter 
genommen haben. Geringer iſt der eigentliche Hiftorifche Werth feiner Schriften, die 
zum Theil mehr Roman als Geſchichte find. Bekannt if Die Behauptung von Grosley 
aus Troyes (F 1785), daß die Befchichte der Verfhmärung. der Spanier gegen Ber 
nedig nichts als ein fchöner Roman und die Verſchwoͤrung ſelbſt vielleicht eine bloße 
Erfindung des venetianifhen Senats fel. 

"Saint: Simon (Rouis de Rouvroi, Herzog von St.⸗S.), geb. zu Parid am 
46. Juni 1675, trat nach einer Im väterlichen Haufe empfangenen forgfältigen Er⸗ 
ziebung unter die Föniglichen Kaustruppen, diente unter dem Marfchall Luxembourg 
und zeichnete ſich bei Fleurus und Neerwinden aus. Später zog er ſich auf feine 
Güter zurüd, wo er fireng moralifhe und religiöfe Grundfätze in dem Verhältnifſe 
zu feinen Untergebenen praftiich berhätigte, Als der Herzog von Drleand die Regent⸗ 
fchaft übernahm, deflen Anſprüche St.-&. durch linterhandlungen mit den Notabeln 
des Reichs unterftüßt hatte, trat er ſelbſt in den Regentſchaftsrath, widerfegte fich aber 
den Finanzoperationen Law's. Dad ganze damalige Ungläd fah er In den durch die 
langjährigen Kriege verurfachten Schulden. Deren Tilgung meinte er fjeboch nicht 
durch allmaͤhliche Abzahlung zu bewirken, denn dazu würden neue Auflagen gehören, 
durch die das Rand vollendd zu Grunde geben müßte: er ſchrak nicht davor zurüd, 
den Bankerott zu empfehlen, der, wenn er den Ginzelnen allerdings verderblich et, 
dem Ganzen zum Heile gereiche. Ohnehin fei es rathſam, die Generalflände zu ber 
rufen; denen müſſe man die Frage vorlegen, fle werde von Ihnen ohne Zweifel in 
diefem Sinne entfchieden werden. Er hoffte von’ den Generalfländen, daß fie das 
Reich und den Adel von der Serrfchaft der Beamten und von der unbeichränkten 
Macht des Königthums, aud der er zulegt alle Uebel herleitet, befreien würden. Nach 
dem Brieden mit Spanien ſchickte ihn der Regent na Madrid, wo er die Verlobung 
des jungen Ludwig mit der Infantin zu Stande brachte. und zum Granden erhoben 
wurde. Mit dem Tode des Regenten verlor er fein Anſehen bei Hofe, weshalb er 
ſich auf fein Landgut Rafertö zurüdzog, wo er am 2. März; 1755 ftarb. Sein langes 
Leben bat er ausfchließlich der Abfaſſung perfönlicher Denfwürdigfeiten gewidmet. Im 
Jahre 1694, im Lager zu Gau⸗Böckelheim, Kreis Alzey, wo ihm die Memoiren 
Baflompierre’8 in die Hände fielen, beſchloß er, gleich diefem, aufzuzeichnen, was er 
erleben würde; im Juli 1694 fing er an zu fchreiben und fuhr über fünfzig Sabre 
lang fort — ein unerfhöflihes Magazin für die Epoche, die es umfaßt, 1692 bie 
1742, alfo für die fpäteren Jahre Ludwig's XIV., in denen das vornehmſte Intereſſe 
des Werkes liegt, und für die Megentfchaft; von literarifher Bedeutung auch deshalb, 
weil es von allen Geſchichtoſchreibern diefer Zeit ausgebeutet murde. Schmerlich dürfte 
ein geiftreicher und fchärfer aufgefaßte®, treuered und pifanter gefchriebenes Gemälde 
diefer frivolen Zeit aufzufinden fein. Die Franzoſen flellen den Werth dieſer Me» 
moiren unendlih hoch; einige ihrer: erften Literar« Hiftorifer, Billemain felbfl, be⸗ 
ſonders Nifard, vergleichen fie alles Ernſtes mit Tacitus. Bei der großen Zahl 
von Berfönlichkeiten, welche St.-E. angreift, und der nachwirfenden Bedeutung einzelner 
bat e8 nicht an Gegnern fehlen Fünnen. Man bat gefagt, die Memoiren feien weniger 
Geſchichte, als ein Kibell, Das nur darum Succeß habe, weil ed, indem ed ein großes eitalter 
fehr im Einzelnen verbächtige, der Eitelkeit der heutigen Beneration fchmeidhle. Die Brage, 
inwiefern die perfönliche Stellung und Eigenthümlicgkeit St.⸗S.'s auf feine Auffaffung 
eingewirft, ffe mehr oder minder glaubwürdig gemacht hat, ifl neuerdings von Ranke, 
Franzoͤſiſche Geſchichte, 5. Band, Stuttgart 1861, ©. 443—469, einer die einzelnen 
Darftellungen fein kritiſirenden Prüfung unterzogen worden. Ranke ſchließt fein Urtheil, 
wie folgt: „Nicht als unbefangene Anfhauung fönnen wir die Urtheile St. Simon’s 
anfeben : fie find in den Anflchten des Hofes und der Parteiftellung begründet. Aber 
dad große Talent ded GSchrififtellerd giebt ihnen doch einen hohen Werth. In feiner 
Gefinnung If bei aller Barteibefchränktheit etwas Aechtes, was über dieſelbe erhebt, 


790 Saint⸗Simen (Louis de Rouvroi, Herzog von). 


Er vedet den Bewegungen ber menſchlichen Seele, welche fie adeln, das Wort: Ent⸗ 
fernung von gemeinem Interefie, Unabhängigkeit der Gefinnung und Brapheit. Alles 
entgegengefeßte Beſtreben verdammt er und verfolgt ed mit unbarmberzigem Scharfe 
finn bis in feine gebeimflen Schlupfwinfel., Diefer ſcharfen und firengen Moral vere 
danft er jene Vergleihung mit Tacitus. Hauptſächlich uns iſt e8 etwas werth, daß 
er fle in einer verfallenden Zeit behauptete; aber in allen andern Cigenſchaften, bie 
den Hiftorifer machen, flebt er tief unter ibm.” Soulavie veranftaltete eine mangel- 
bafte Ausgabe der oeuvres completes, Strassbourg 1791, 13 Bde. Erſt Karl X. ließ 
der Familie St.-S. das Original-Manufeript zuflellen, worauf Fautelet eine vollſtaͤn⸗ 
Dige, im Ausdrud aber oft gemilderte und in der Orthographie veränderte Ausgabe 
der „Memoires complets et authentiques du duc de St.-S. sur le si&cle de Louis XIV. 
et la regence,* Paris 1829—31, 20 Bbe., erfcheinen ließ. 


Orud von 8. Heinicke in Berlin, Hirſchelſttaße d. 


Druckſehler ·Verzeichniß. 


Nachtrag zu Band XVI. 


Seite 647 Zeile 7 v. u. lies: Kaſtus ſtatt Kaſhus. 
„ 6% „ 286 v. o. „ frühe flatt früher. 
„ 27365 „ 320 „ Denner fallt Danner. 


e 


Ä \ Band XVIL 
Seite 38 Zeile 18 v. o. lies: ob er flatt ob es. 
„ 38, 1v. u. „ alter und neuer flatt altes und neues. 
„4 „ 23»u „ Dugald fait Duguald. 
„ 66 „’ 25». o. freie politifche. 
„68 „ 9» o.lies: nun es fatt nur es. 
„ 8 „ 2v. u. „ nur die Religion fait nur bie R. 
„ 0 „ 21 u. 22 v0. lies: hätte flatt Hatte. 
„50 „ 24 v. u. lies: am 20. Juni 1863 geforben if fatt noch gegenwärtig 


wirft. 
n„ 592 „ 18». 0.: nad Weiſe feße losbrachen und nah Türken feße ausliefen. 
„608 „ 5». u. lies: Boriffoff flat Boniſſoff. 


794 -  Begifter zum fiebenzehuten Bande. 


Seite Seite 

Renaiffance. ... 74Revolution.. 125 
Renan Goſeph Ernefl) . 0. TD5| Der franzöfifce Rationalharalier 126. 
Rendsburg . Ta] 7 ring der Dereluen ans bem 
Rene von Ynjou 2 Stien, Be zeitung der Revolution im ancien 
Reni (Buido) . oo. .o 80 gime 129. — Berlauf der franzöfl- 
Rennel (James) .. 80 Ken en Revolution 136. 
Mente und Rentenkauf f. Reallaften. Rewbel (Jean Baptifle) - . . . 138 
Mepealafjociation |. O’Eonnel. Ne ne... 138 
Repnin (Gefhleht) - . - BL | Menband (Marie Hoch Louit). . 139 
Mepräfentationdreht . . .. 83 | Mepnaud (Sean Ernef) . . . . 139 
Mepräfentativfyftem ſ. Staat. Reynier (Iean Louis Antoine). . 140 
Republik |. Staat. Reynier (Johann Ludwig abenezen 140 
Requiem.. .83Rehynolds Goſhua) .. 142 
Requiftiondigftem. . . 83 | Mhitla - > 2 2. 142 
Reſchid Paſcha (Muflapha, Mehemed) 85 Rheimsß....143 
Reservatio mentalis ſ. Jeſuiten. Rhein.... 145 
Neferve . » nen. 86 Allgemeiner Ghacalter. 15. _ zauf 146, 
Reſſel (Fofeph). .. >} -\ — Hiftorifche Bedeutung 151. - Saf- 
Neflauration . 20... fagıh 152, — Bertehr 153... 

— an bie Eon tion bes Rats Aheinaun: : 2 2 2 20000. 155 

erreiche — te champr - R 

ie 90. — Das Minifterium Richelien's Aheinbund ; . [ut 15 

91. — Das Minikerium Decazes' 93. — heingau : : in. 

Niederlage des Liberalismus 94. — Neues Nheindefien ſ. Seflen.. 

Auffteigen des Liberhlismus 95. — Mes Rheinprovinz f. Preußen. 

ſuliate der Reſtauration 96. | Rheinsberg. . . > 1 3.1360 
Reftitutionsedit . . 97 | Ahetoren und Mbetorlf . . . . 162 
Metiffe de la Bretonne (Niclas Edme) 271Rheyd oder Rheydt (Stadt). 164 
Retorſion und Repreffalien . . . IT | NhHode Island f: Vereinigte Staaten 
Nettungshäufer. . . 97 Nord» Amerika’. 
Retz (Iean Franc. Bau. be — NRhodus . . 165 

Gardinal 0.) . - 98 CErſte Anfänge dee Gultwe 488. — In 
Metzius (Andrea) -» -» © 2.99 | der Hriechenzeit 166. — In ber Romer⸗ 
Regow (Briedrih von) . . . . 100] dit In der Kürtenpet hannitern 168, 


Reuchlin (Iohann) -. . -» . . 10 


Reumont (Alfred 0). » . ..„. 102 Ryo u 

MReuniondfammern. . . +. 103 ai. ge binenſche Bedeutung 178, 174 
04 an 

Neuß (Bürftenthümer) . . . . 1 Ribeaupierre (Aerander Graf von) 175 

Reuß⸗Greiz 105 | Ricarvo (David) : . . . 1% 

ReußeBeranEiäleEobenfein-@bert 0% Ricafoli (Baron Bettino ” 219 

Reutlingen. — 107 | Ritt (Beine)... ... . 181 

Reutz (Aler, Magnus Bromfotb ») 112 a (udopieo): . . . . 182 


Nevai Millöd . . . 112 Ni 111 | Ä 

Reval (Hauptftadt) . 113 | a) N pörtaunen, 

Meveilleresfepeaur (2. Marie 2). 115 Richardſon (Jamet) » - . . . 188 

Fa (Brafen v.) . - 18 Nihardfon (Samud) . . . . 188 
eviews . - Richardſon (Sir John) . 186 

ber E d Re- 

———— —* der nd) e diichellen (Armand du left, Ker- 
Verfahren gegen die Berfafler 119. — 309 von). 186 
Begenwärtiger Stand bes Streits 120. Richelieu (Jean Armanb du Biefks, 

Hevival . . . 121 Gardinal, Herzog von) . . 188 
Entfiehung des Revival von 1858 121. Richelieu (Louis Franc. Armand * 


— Ausbreitung des Revival von 1858 

122. an Berlauf bes Revival in Rw Pleifte, Herzog von) . . . 198 

—* 123. — Berfall des Meoinal von Michter, Richteramt . . . . . 195 
858 124. Richter (Nemilius Ludwig) . . . 196 


we 


Negiiter zum Rebenzehnten Bande 195 


Site Seite 
ter (Jo aul Friedri 197 Innerhalb der Nationalverſammlung 250. 
—E » 2 —— — — neber bie Kriegs: und Friedensfrage 
Seine Berfönlihkeit 199. — Als Hu⸗ 251. — Stellung zu ben Girondiften 
morift 200. — Als Politifer und in fei- Und zu Danton 253. — Sein Ghurz 257. 
ner Stellung zum Chrifenthum 201. — Nobinet (Jean Baptifte Rene). . 260 
Seine Stellung zu den Frauen 202. Robinfon (Eiwart) . - 960 
Richter Ifraeld |. Judenthum. Robinfon (Thereſe Adolph. Ruife) . 261 
MNicord. (Peter Iwanowitſch/ . 203 | Mobinfon .Erujoe . . 262 
ie. . . 204 Rochambeau (Sean Baptfe Donstien 
Riego 9 Nuiz . (Don Rafael ve) 204 de Bimeur, Erf). - - 263 
Riehl (Wilhelm Heinsih) . . 205 | Rochdale (Stadt). . » » ...%3 
Riemer (Kriebrih Wilhelm) . . 206 | Noclig (Briedrih) - - - - - 268 
Mienzi. (Cola di) . 0207 | Room (Beihleht) - - - - » 265 
Miepenhaufen (Exnft Ludwig) . . 208 | Nodal . . 271 
Ried (Ferdinand) |. Ruf Rockingham (Charles Waiſon Bent 
Rieſe (Adam) . . . 0. 208 worth, Marquis 9.) . - 272 
Riefengebirge LE 208 | Rococco-Styl . . .. 973 
Miefier (Babriel) . - -» .» . . 211 | Rode (Ehriftian Bernbard) . 274 
- Wietberg. 211 | Möverer (Pierre Louis, a) 274 
—* (Einf Briehi ug) 213 | Modigaft (Samuel) . . 275 
Ri . 215 | Rodney (George Brydged) . . . 275 
ige. . “0. 215 | Modrigued (Benjamin Olinde) . . 275 
—* Gonianunce) . 21171Roebuck (John Arch). . . . 276 
Righini (Vincenzo) - - .» . . 217 | Moer (Hand Heinrich, eduard) .. 277 
Rigi . 000 ZT | Moelibe . . . . .. » 277- 
*X (Senti, a. 0. 218 | Mogers (Samuel). » -» » . . 278 
Rimini. . - 00. 218 | Mogier (Eharled). - -» » .» . 279 
Rimnit . . . - . 219 | NRogniat (Joſeph, Vicomte de) . . 279 
Rindviehzucht |. Thierreich. Rohan (Geihleht) - » » 280 
Ringseis (Iob. Nepomuk dv.) . . 219 | Mohmer (Brievrih) . . . . . 281 
Mingwaldt Gartholomaus) . . . 220 Nöhr (Johann Friedrich) >. 282 
Rinteln . . . 221 | Noland de la Platiere Gean Darc 
Nio de Santo 000. 221 Baptifle).. . . , ..283 
Nipen 226 | Molanddfage (die). - - 2 2. 285 
Mipperbe (dohann Wilke Baron) 228 | Molandsfäulen. - 2 2 2.286 
Niquet de Garaman . . 228 | Mole (Johann Sein) 20.287 
Misbed (Kadpar) . » . - . . 229 | Rollenhagen (Beorg) .. 00.287 
Riſt (Sohann). . ©. 2. . 229 | Noliv. . . nn 288 
Riſtori (Adelaide). - - - . . 229 | Rolin (Eharled) - » © =. . 289 
Ritſchl (Friedrich Wien) 230 | Nom (Stadt) . . 289 
Nitter (Earl) . . oo... 231 Im Alterthum 290. — Das nene Rom 298. 
Mitter (Heintih) . 2002235 | Mom (Geſchichte und Berfoffung) - 312 
Rittergut © > 0 0 000 286 | Mömifche Literatur . . 333 
Mitterpoefle. -» «© » 0 00. 237 | Romiſche Aufl - 2 2 20. . 342 
Nitterweien. . .’ 0.238 | Mömifche Religion . . - 8346 
Nivarol (Antoine, Graf) 0. 244 | Romiſches Recht . . 347 
Nive (Jean Joſeph, YbbE) . - . 245 | Nomagnoff (Gianbomenico) . . 853 
NRivet de la Orange (Dom Antoine) 245 | Roman . 354 
Rivoli . . 245 Zu Alterthum und Mittelalter 354. — 
Rizzio CDavid) rn 245 Mefen des Romans 355. — Der hiſto⸗ 


riſche R 356. — Der literari 
ee — En pr ne uuehihorifee Roman 857. — Fl 
22 politiſche, der Schelmens und ber Ver⸗ 
Roberthin (Mobert) . . . . . 248 brecherroman 358. — Der philofophifde, 
Nobertfon (Willem). -. . . . 248 humorififche u. Ientimenfae Roman 369. 
Mobeöpierre (Zrang. Marim. Sof. Romanen . . 0. 360 
Mor) 2 een 249 | Romänen |. Rumänien. 


_—u 


96 Regiſter zum ſiebenzehnten Vande. 


ſtomanin (Samuel) . . . 

Romanifhe Sprache . Spradie, 

Romanow (Besten) . 

Romantif ... 

Romberg (Andreas) . 

Römer (Friedrich v.). 

Romieu (Auguf) .. . . 

Romilly (Sir Samuel) . 

Romme (Charles) . . 

Rommel (Dietrich Chriſtoph v.) 

ſtomodanowskij (Geſchlecht). 

Romulus ſ. Rom. 

Romulus Auguſtulus. 

ſtoncesvalles 

Ronge (Johannes) . . 

Rönne (Ludw. Peter Moritz ») 

Ronfard (Pierre be) . . 

ſtonsdorf . . 

Roon (Albrecht. Theodor Emil ») 

Roo8 (Familie) . . . 

Roothaan (Ich. Philipp ” 

Rofa (Salvator) . . 

Rofad (Juan Manuel de) . 

Roßcelinus (Ioh.) f. Saolafieiämus 

Rofcher (Albrecht) 

ſtoſcher (Wilhelm) . 

Roscius (Quintus) f. Sgenfpetun. 

Rodcoe (William) .- 

Rofe (die goldene) 

Rofe (Bamilie) . . 

Rofellini (Sppolito) . 

Rufen (Geſchlecht) .. 

ſtoſen (Friedrich Auguſt) 

Rojenberg (Geſchlecht) 

Rojenblät (Hans). 

ſtoſenkranz. .». 

toſenkranz (Joh. Karl Br) 

Rofenfreuer . . 

toſenmüller (Joh. Ge) 

Rofette (Stadt) . . 

toftni (Giovanni) 

tosmini (Barlo) . . 

to8smini-Sorbate (Antonio) 

toſſe Eawrente William Parſone 
Earl of) . . 

doſſi (Bellegrino, Sf) 

toffini (Bioadimo) . .- 

toft (Valentin Ghriftian griedrich 

doſtock (Stadt) 

doſtopſchin (Feodor Graf von) 

toſtowzow (Jakow Wwanowitſch) 

toswitha . 

toß (Sir John) . . 

toß (Sir James Klar) 

Roß (Ludwig) . 


Seite 
361 


362 
363 
365 
365 
366 
366 
367 
367 
368 


369 
369 
369 
370 
373 
374 
374 
385 
385 
386 
387 


388 
390 


391 
392 
392 
393 
394 
396 
396 
397 
397 
397 
399 
401 
402 
403 
403 
403 


404 
404 
405 
407 
408 
409 
410 
411 
412 
413 
413 


Roßbach (Schlaht bei) . 

Roßhirt (Konrad Frans). 

Roßleben . . 

Roßlyn (Aler. Webberburn, Graf v) 

Roßſchweif ſ. Türkei. 

Röth (Eduard Marimilian) . 

Roth (Johannes Rudolf) . 

Rothe (Richard) 

Rothes Meer . . 

Rothrußland |. Rußland. 

Rothſchild Gamilie und Banquier⸗ 
Geſchaͤft). .. 

Mothwällh . . 

Entftehun des neueren Gaunerthums 427. 
— Entſtehung der Gaunerſprache 428. 

Roͤtſcher (Heinrich Theodor) 

Rotte.. 

Rotteck (Karl von) 

Motten. . . 

Rotten-Borougb ſ. Reformbi. 

Rotterdam . . 

Rottweil. 

Rouen . . 

Rouget de Lisle. (Joſeph)j 

Rouſſeau (Jean Baptiſte) 

Rouſſeau (Jean Jacques) 
Ueberſicht ſeines Lebens und ſeiner Sqrif⸗ 
ten 437. — Sein C Charakter 444. — 
Sein Einfluß auf feine Zeit 446. — 
Nachwirkung in der Gegenwart 448. 

Rouffin (Albin Reine, Paron) 

Rovigno. . . 

Rowe (Niholad) . 

Moyaliömud . . . 

Royer⸗Collard WMierre Paul) 

Royle (John' Forbes) 

Rubens (Peter Bud 

Nübezahl . 

Rubichon (Maurie) . 

Aubicon.. . ". 

Nucellai Geſchlecht). 

Rüchel (Ernft —*— Beiebr. v) 

Rückert (Friedrich) 

Rückzug ſ. Strategie und atit. 

Rudbeck (Olov) “ 

Rudelbach (Andr. IE 

Nüderdporf . . . 

Nudhart (Ignaz von). .. 

Rüdiger (Friedrich, Graf von) . 

Rudloff (Withelm Auguf) . 

Rudolph I. (deutſcher Kaifer) . 

Rudolph MH. (deutfcher kaiſer). 

Rudolph von Ems .. 

Rudolphi (Karl Asmund) 

Rudolſtadt ſ. Schwarzburg. 

Rue (Charles de la). . 


Seite 
414 


’ NRegiſter zum flebenzehnten Bande. 
u Seite 
Ruffo (Fabricio) . . 474Rurik . . 
Aufinus CEoraniut) . 474 | Ruffel (William Howard) 
Ruge (Arnold) 475 | Auffel (Lord Iohn) . 
Mügden .. . . 476 | Auffinen. . 
Rugendas (Familie) . en 476 | NMuft (Joh. Nepomuf Philipp) . 
Ruͤhl Ghiliv Jakob) W ATT | Rußegger (Joſeph, Ritter vr 
Ruhla 477 | Rußland. . . 
Rühle von . Lilienſtern oh dt Geographie und Statifiif 530. — Größe 

Otto Auguſt) 478 und Ausdehnung. Allmählicher Laͤnder⸗ 

anwadıs 531. — — Bodengeftaltung 633. — 
Ruhnken (David)... 478 Klimatifche Berhäftniffe 536. — Poli: 
Ruhrort (Stadt) . 479 tifhe und abminifteative Gintheilung 
Bet | 
Ruthiere (Blaude Carloman d 480 EA bel und @ —5 — 
Rumaͤnien. 481 550. — Handel ıc. 553. — Geiftige 

‚@eograpbie und Statifit 481. — Ge⸗ Eultur 555.— Staatsverfaffung. Staates 

ſchichte 486. — Gründung der Türken: verwaltung 558. — Gemeindeverband 

Herrſchaft 487: — Die Beit der Banas 563. — Rechts⸗ und Gerichtsberfafiung 

rioten-Herrfchaft 489. — Das ruffiiche 564. — Finanzweſen 566. — Militärs 

Brotestorat und bie Revolution von 1848 wefen 568. — Riteratur 573. — Ge⸗ 

491. — Oeſterreich in den Füͤrſtenthü⸗ ſchichte. Aeltefte vorgeſchichtliche Zeit 875. 

mern 495. — Die Union der Fürſten⸗ — Ron Rurik bis Wladimir den Großen 

thümer 497. — Geſchichte. Schluß 500. * u Don Blebinie DR an ben ai 
Numelien f.. Türkei, all ber Qataren 7 rn m 
Rumford (Benf. Thompſon, Graf v.) 502 | Tb ber Aether en 
Rumjanzow (Gefhledt) . . 503 ——— rn — Die een * 
Rümker (Karl Ludwigh . . 505 manowe bie af Beten ben — Fr 
Rumohr (Karl Friedr. Ludw. Felix v.) 506 TAerere We a 
Rumowskij (Stepan Jakowlewitſch) 507 ten Oiforiograpfie —— 
Rundſchit⸗Singh ſ. Sikhs. ſiſch⸗franzoͤſiſcher Krieg von 1812 005. 
NRunen . . 508 } Auffifhe Kirche . | 
Aunfelrübenzuder-Babrifat. ſ. guæa. | Ruſſiſches Recht 
Rupert (der Heilige). .. 509 Ruſſiſche Sprache und Literatur 
Rupp (Julius) 509 | ARuysbroed (Johann). . . 
Ruͤppell (Wild. Peter er. Simon) 512 | NRuster (Michiel Aoriaanjoon) . 
Nuppin . . . 513 | Nylefew . 
Ruprecht (von ber Pfalz) 515 | Ryswyke. 

S. 

Sa oder Saa (Emanuel) j . 652 | Sabbatäer ſ. Sabatai⸗Sevi. 
Saudi . . . 653 | Sabbath f. Sonntag. 
Saadin«Gaon (Ben 3ofeph) 654 | Sabbathianer ſ. Sabatai⸗Sevi. 
Sale . 654 | Sabeller f. Rom. 
Saalfeld (Schlacht bei) . 655 | Sabellicus (Marcus Anton. Goccins) 
Saar. . . 659 | Sabellius f. Antitrinitarier. 
Saarbrüd (Sauptflabt) 660 | Sabine (Eoward) . 
Saardam (Stadt). . . 660 | Sabiner . 
Saarlouis (Stadt) . . 661 | Sabinus (Aulus) . 
Saavedra |. Cervantes Saavedra Sabinus (Georg) .. 

(Miguel de). Sabliere (Antoine Rambouillet dela) 
Saavedra (Angel de). . . 661 | Sachini (Antonio Maria Gadparo) 
Saavebra y Farardo Disge %) . 662 | Sadjenredite ſ. Realrechte. 
Sabaͤismus. . 666Sacheverell... en 
Sabatal-SeHi . 667 Sachs (Sant) . ER 


619 
636 
639 
649 
650 
650 
651 


669 


669 
670 
670 
670 
671 
672 


672 
673 








798 


Sachſen (Königreih). - . - 
Geographie und Statifit 675. — Staats⸗ 
verfaflung und Staatsverwaltung 681. — 
Das Großherzogtfum Sachſen⸗Weimar⸗ 
Gifenady 687. — Herzogthum Sachſen⸗ 
MeiningensHilpburghaufen 690. — Her: 
zogthum Sachſen⸗Koburg⸗Gotha 693. — 
Belitifche Geſchichte von Sachſen und 
ber fädhf.-thür. Staaten 695. — Das 
Herzogtbum Sachſen unter dem Haufe 
Asfanien oder Anhalt 699. — Die Marl; 
rafſchaft Meiffen 701. — Das Kurs 
Pirfentbum Sachſen unter den Weitiner 
Fürſten 706. — Die Albertinifche Linie 
ber Wettiner Fürſten 707. — Sadfen 
als Glied des rheiniſchen und beutfchen 
Bundes 712. — Geſchichte der ſaächſ.⸗ 
tür. Staaten der Grneftinifchen Linie 

721. — Die Linie Sachen : Weimar: 
Aſenaq 722. — Die Linie Sachſen⸗Gotha 
— Die Linie Sachſen⸗Koburg⸗Gotha 
225. — Die Linie Sadhjfen : Meiningen 
727. — Die Linie Sacjfen : Altenburg 
729. — Die Ausbreitung bes ſaͤchſiſchen 
Stammes 730. — Literatur 730. 


Seite 


Negifter zum fiebenzehnten Bande, 


674 | Sagittarius (Caspar) . 


Sachſen (Bialzgrafichaft) . 730 
Sachſen (Provinz). . - . 731 
Sachſenſpiegel. Schwabenſpiegel 735 
Sächſiſche und Saliſche Kaifer . 737 
Saͤchſiſche Schweiz ſ. Sachſen. 

Sad (Friedr. Samuel Gottfr.). 741 
Sack (Karl Heinrich). _. 742 
Saden |. Often-Saden. 
Sackville (Lord George) - 143 
Sarrament . . . .., 144 
Säcularifation . . 746 
Saeculum ſ. Zeit. | 
Sacy (Antoine Sfaac Silbefte de) 750 
Sach (Louis Iſaak Le Maitre de). 751 
Sacy (Sam. Uſtazade Sieftre de) 751 
Sadducaͤer 752 
Sade (be, Geſchlecht). .. 752 
Sade (Donatine Alfonſe Brangalt 

Graf von) . 753 
Sabdeler (Familie) . 756 
Sadolet (Jacob) 757 
Sagan (Fürftenthum) . 758 
Sagan (Stadt). . 758 
Sage (die) . 759 


Sagro (Don Ramon de la) 

Saguntum (Stadt) 

Sahara . .. 

Sailer (Johann Michael . 

Saint-Albin (Alerandre Rouffelin 
Gorbeau, genannt von) . . 

Saint-Aldegonde (Herr von Mont) 
ſ. Marnir Ghilipp von). 

Saint-Eloub . 

Saint⸗Cyr (Dorf). . 

Salnt-Eyr (Louis Gouvion, Marquis 
von) f. Cyr. 

Saint⸗Denis (Stadt) . 

Saint-Dizter (Stabi) . 

Saint⸗Elme (Ida). . 

Saint-Epremont (Charles Barguetel 
be St. Denis, Seigneur be). 


Saint-Germaln (Claude Louis, Or.v.) 


Saint-Bermain (Gr. v.). - 

Saint-Germainsen-Raye (Stadt) 

Saint Hilaire (Auguſtin Prangois 
Eefar Prouvenfal, gen. Augufte de) 

Saint⸗Hilaire (Etienne) f. Beoffroy 
Saint-Hilaire. 

Saint⸗Hilaire (Jules Barthelemy) . 

SainteJuft (Antoine) . . 

Saint-tambert (Charles Brangoi, 
Marquis von) . 

Saint⸗Malo (Stadt) . . 

Saint- Matc« Girardin ſ. Girardin 
(François Auguſte St. Marc). 
Saint⸗Martin (Jean Antoine de) . 
Saint-Martin (Louis Claude de) . 

Saint-Michel (Dorf. Gefängnif) 
Saint-Pierre (Charl. Irenée Gaftel be) 
Saints Pierre (Jacques Henri Ber- 
nardin de) . . 
SaintePrieft (Aleris, Graf vo) 
Saint-Quen (Dorf) 
Saint-Ouentin (Stadt) . . . 
Saint⸗Roͤal (Gefar Vichard, Abbe de) 
Saint-Simon (Louis be Rouvrot— 
Herzog von St⸗S.) . . . 


— — © RAN 


n a} 
) 
- m 


i N — —E — ——— * 1% — * I ——— ik 1 er . N nr 4 To SAN 
u OUT HE u — —— FE | i Z 1 F 
EL u u WITT —— —— —— 
Fa —— ar er EEE FE EN UE U 
— TE ET ST RT u ST TE 


— En 
Sn RM a 
— 
— SC 
S x FE 
iR HI 
ur x 2 3 

ee 

* * * 

— — — — — — — Tr T — I ss 

EN Ten —* * EEE ROH ER 
— — ER un er ur” X x IR SR 
— RE — ae a8, ne 1% —* 

I DIENT EEE — — 

F— ee, 


of this book is due on the date 
indicated below 
borrower should 
the date Bet > 
r over-due bo 


= 


DUE 


Usually books are lent out for two weeks, but 
there are exceptions and the 


note carefull 


The return 





Er Sr, SU STE 
SE Sl en ER ik nr 
5 AS Aug NIE u | — — | up tz Zu