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staats-
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet
Dr. Georg Jelllnek uud Dr. Georg Meyer,
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org Jellinek und Dr. Gerhard ÄnschJitz,
Profuaoran der Raohte in HaidsIbarR.
Sechster Band.
o
Verlag von Duncker &, Humblot.
1907.
Alle Rechte vorbehalten.
Inhaltsyerzeichnis.
1. über die völkerrechtliche clausula rebus sie stantibus sowie
einige verwandte Völkerrechtsnormen. Zugleich ein Beitrag zu
grundsätzlichen Problemen der Rechtslehre. Aus dem Nachlasse
von Bruno Schmidt.
2. Das parlamentarische Interpellationsrecht. Bechtsvergleichende
und politische Studie. Von Hans Ludwig Bo segger.
3. Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten. Von
Benedikt Güntzberg.
über
0» TJUkomehtliche clansvla rebus sie stantifcis.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet
Dr. <3eoi^ Jellinek und Dr. Oeoi^ Meyer,
herausgegeben
von
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Anschütz,
PmftiMri-n i« Rächt* In Haidslbarf.
VI. 1. über die vfilkerrechtliche clausula rebus sie stantibuF^
sowie einige verwandte Völkerrechtsnormen. Von Professor
Dr. Bruno Schmidt.
Leipzig,
Verlag von Du'ncker & Humblot.
1907.
Über
lie völkerreditliche clausula rebus
sie stantibus
einige verwandte Völkerrechtsnormen.
Zugleich ein Beitrag
zu grundsätzlichen Problemen der Rechtslehre.
Aus dem Nachlasse
Dr. jur. Bruno Schmidt,
a. 0. FrofHur nn der UntTsnltlt Heiilelberg.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Hnmblot.
1907.
Von demselben Verfasser sind früher erschienen:
Über einige Ansprüche auswärtiger Staaten auf
gegenwärtiges deutsches Reichsgebiet 1894.
(Verlag von Veit & Co. in Leipzig.)
Der Staat Eine öffentlich-rechtliche Studie. 1896.
Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemein-
willens. 1899.
Der schwedisch - mecklenburgisclie Pfaodvertrag
fiber Stadt und Herrschaft Wismar. 1901.
(Verlag von Duncker & Humblot in Leipzig.)
Die letzte Arbeit eines Veratorbeaen , die hiermit der
OffaatUchkeit übergeben wird, bringt die aclirifta teile ri sehe
Tätigkeit des Verfassers {s. die Auführungen S. 19, Anm. 2,
S. 89, Anm. 2, S, 2, Anm. 1 und 2 und weiter, bes. im Ab-
schnitt VIII) zu einem gewiasen Abachluß, Die Beacbafti-
gung mit der „Spezialfrage des öffentlichen Rechts", die
ihren eigentlichen Gegenstand bildet, reicht zurUck bis in
die ErstlingsBchrift über die Ansprüche ösleri-eichs auf die
Laueitzen und Scliwedens auf Wismar aus den geschieht-
lichen Verträgen (s. dort bes. S. 22 f. und S. 84 ff.) und
ist in der besonderen Sclirift über das letztere Thema schon
bis in die Endergebnisse weiter gediehen, die nur breiterer
Ausführung in gesonderten Erörterungen vorbehalten blieben
(vgl. dortS. 74 ff. und Vorwort S. VI). Sie hatte auch den An-
stoß gegeben au den allgemeinen Studien über Staat, Recht
und Völkerrecht, von denen in den Schriften über den
Staat und über das Gewohnheitsrecht zwei Bruchstücke
veröffentlicht sind (vgl. die Vorrede zu ersterer S. V), und
diese haben ia der vorliegenden Arbeit zugleich ihre Fort-
führung durch Beiträge zu Grundfragen des Völkerrechts
und der allgemeinen Reclitslehre gefunden. Das Streben
nach weiterer Vertiefung dieaer Studien ist es neben dem
harten äußeren Geschicke seiner langwierigen schweren
Krankheit gewesen, was die Arbeit des Verfassers Jahr
um Jahr hinausgezogen und ihren völligen Abschluß durch
ihn verhindert hat. Denn nur die ersten sieben Abschnitte
fanden sich in druckreifer Form von seiner Hand vor,
für den achten, der ihm besonders am Herzen lag, statt
dessen nur einige mehr oder minder ausgeführter Entwürfe,
VI VI 1.
die ersichtlich aus verschiedenen Zeiten herrührten und
wesentlich voneinander abwichen. Im Auftrage der An-
gehörigen hat der unterzeichnete langjährige Freund des
Verstorbenen den Versuch gemacht, aus diesen Entwürfen
die Stücke zusammenzustellen, die als ftlr sich genommen
fertige Ergebnisse im Sinne des Verfassers angesehen werden
konnten. Wenn neben den übrigen Teilen der Schrift in
der Gestalt, die er selbst ihnen gegeben hat, hier auch diese
Materialien zum Schluß-Abschnitt erscheinen, so geschieht
dies, weil sie im Plan des Ganzen nicht wohl zu entbehren
sind. Hoffentlich wird die Schrift auch in ihrer frag-
mentarischen Form nicht bloß den Freunden seiner schrift-
stellerischen Arbeit als deren letzte Frucht willkommen
sein, sondern auch Andren Anregung Air ihre Studien zu
den Grundproblemen der Rechtswissenschaft bieten, die hier
in der eigenartigen Weise des Verfassers in Angriff ge-
nommen sind. Die Mängel dieser Form wird man nicht
dem Verfasser zur Last legen; er würde, wenn ihm die
Zeit dazu geblieben wäre, auch den spröden und für seine
Grandauffassung besondere Schwierigkeiten bietenden Stoff
des letzten Abschnitts gewiß in gleicher Weise zu meistern
verstanden haben, wie er das in den durch Geschlossenheit
und Folgerichtigkeit besonders ausgezeichneten Ausführungen
seines Gewohnheitsrechts in ähnlich schwieriger Lage ver-
mocht hat. So können wir nur bitten, die letzten Gedanken
des Verfassers nicht für sich, sondern im Zusammenhange
mit seiner ganzen Lebensarbeit zu betrachten.
Den Herausgebern der Staats- und völkerrechtlichen
Abhandlungen, die hier, wie einst seiner ersten allgemeinen
Studie, nun auch seinem letzten Worte eine Stätte ein-
geräumt haben, sei dafür ebenso wie seinem Freunde
Dr. Eduard Lehmann in Chemnitz für mannigfache Hilfe
bei der Drucklegung auch hier aufrichtiger Dank gesagt.
Dresden, Ostern 1907.
Landrichter Meyer.
Inhalt.
Seite
Yeneichnis der besprochenen geschichtlichen Vorgänge . . . VIII
Autoren-Begister VIIIu.IX
§ 1 — 8. Erster Abschnitt. Stellung und Begrenzung der
Angabe 1—25
§ 4 — 6. Zweiter Abschnitt. Der rein naturrechtliche
Charakter der üblichen Lehre von der clausula
reltUB sie stantibus 26 — 67
§ 7 — 8. Dritter Abschnitt. Die praktische Gefährlichkeit
der speiifisch-juristisch verstandenen Klausel . . 68 — ^92
§ 9^10. Vierter Abschnitt. Der berechtigte Kern der
ganzen Lehre 93—118
§ 11 — 12. Ffinfter Abschnitt. Das umfassende Geltungs-
gebiet des (richtiggestellten) Grundprinzips der
Klausel 119—151
§13—714. Sechster Abschnitt. Die Unzulänglichkeit des
Moments der „veränderten Umstände^ 152 — 176
§ 15. Siebenter Abschnitt. Bedingter Wert des Moments
der „staatUchen Gefährdung' 177—194
9 lÖ — 17. Achter Abschnitt. Volkerrechtliche clausula und
allgemeine Rechtslehre 195—226
Besprochene gesehielitliehe Vorgänge*).
Römisch- karthagischer Vertrag
508 ▼. Chr 181
Kimonischer Friede 449 v. Chr. 181
FHede de» Nikias 421 v. Chr 44
Rom und Tarent um 850/283
V. Chr 179
Römisch - syrischer Vertrag
190/189 V. Chr 181
Perseus und Genthios 169 v. Chr. 79
Friedrichs IT. Königswahl 1196 156
Genaas Salzlieferungsverträge . 159
Orkneyinseln 1469 .... 60
Prager Friede (betr. die Lau-
sitzen) 1635 ... 45. 54. 57
Der große Kurfürst und Kalck-
stein 1670 127
Bwri^-Traktat 1715/1785. . 188
Spanisches Heiratsprojekt Lud-
wigs XV. 1721/5 .... 162
Advokaten - Edikt Friedrieh
Wilhelm I. 1724 .... 208
Friedrich d. Große u. Breslau
1740/1 70
Friedridi d. Große im Jahre
1756 ... . 129
Erste Teilung Polens 1772. . 112
Rastatter Gesandtenmord 1797 131
Schweden n. Wismar 1803/1908 89
Frankreich u. Bayern 1805 . 44
England u. Danemark 1807 . 136
Republik Krakau 1815/46 124. 158
Luxemburger Besatzungsrecht
1815/67 57
Französisches Sakrileggesetz
1824 207
Luzem u. Aargau 1830/88 . . 78
Londoner Protokoll ^^9. 2. 1881 48
Nassau u. Frankreich 1888 . 166
Lamartines Cirkular v. 2. 3. 1848 48
Clayf on - Bulwer - Vertrag
1850/1901 169
Londoner Protokoll v. 8. 5.
1852 (1864) ... 48. 54. 56
Pontus-Frage 1856/71 49. 57. 80. 90
Trent-Aflfaire 1861 128
Petersimrger Deklaration 1868 143
Londoner Protokoll v. 17. 1.
1871 43. 52. 81
Bfttam-Frage 1878/86 51. 56. 158
ZengniszwaDg i. D. Reich . . 205
Haager Friedens - Konferenz
1^ 69. 75. 145
•Adickes 208.
Affolter 215.
Alciati 17.
Anschütz 139.
Arndts 37.
Auer 99.
Beccaria 148.
Antoren-R^ster *).
Bekker 161.
Bergbohm 13. 85, 38. 41. 183. 164.
215.
Bemh'öft 103.
Bieriing 76. 214. 221.
Binding 142.
Birkmeyer 99.
Bismarck 50. 80. 108. 111. 115. 117.
*) Die Zahlen bedeuten die (ersten) Seiten.
VI 1.
IX
BlnntMhli 18. 39. 82. 104.
Brie 4. d2. 74.
▼. Bulmeriacq 73.
Bfllow 225.
Coceeji 17.
Criste 182.
Deumer 47.
Flofe 21.
Frioker 41.
▼• Frisch 104.
FritM 6. 88.
18. 28. 72. 74. 75. 130. 164.
Ofiitliier-ViUare 162.
GeHeken 29. 85. 51. 81. 165.
GeSner 9. 24.
Gondie 60.
GrotiuB 17.
▼. Hacenf 5.
Hemer la 29. 85. 51. 81. 165.
HeUbom 185. 189. 144.
▼. Hellert 182.
Held 95.
Hie 142.
HoUand 172.
▼. HolteendoriF 82.
Janke 141.
JeUiiiek 5. 9. 19. 87. 65. 85. 105.
115. 124. 162. 165. 214.
Jbering 202.
Klfiber B. 57. 140.
Knener 145.
lAband 144.
LMMm96. 115.
Ledemuum 44.
Lehmiuin 142.
Lejeer 156.
▼. Litit 61. 88. 89. 99. 140. 143.
146. 165. 18L 185.
Loening 104.
Lnnder 144.
y. Martens 13. 16. 24. 133. 164.
178.
Mayer 19.
Merkel 3.
Mill 24. 111.
XeumaDD 18. 21.
Nippold 3. 18. 23. 40. 90. 165. 214.
Pfaflf 5. 6. 16. 3a 89. 156.
1 Pfeiffer 46. 47.
i Phillimore 10. 188.
Pinheiro-Ferreira 18. 93.
Polybius 179.
Pradier-Fod^r^ 11. 16. 21. 24.
Pufendorf 17.
Behm 2. 97.
Rivier 12. 19. 38. 87. 89. 130. 168.
Rolin-Jacquemyns 154. 185.
Rosin 105.
Schroeder 142.
Schulze 144.
Stammler 3. 75. 96. 102. 197.
Stoerk 42. 66.
ThoD 103.
Triepel ^5. 77.
UUmann la 23. 29. 32. 90. 141.
143. 162.
Vattel 12 19. 37.
I
, "V^ach 99.
; Wharton 10. 21. 71. 172.
: Windscheid 6. 55. 102. 108. 117.
Wundt 219.
' Zitelmann 110. 120. 199. 200. 212.
i Zorn 35. 143. 164. 203.
Berichtlsrung:.
Aaf S. 81 besteht der Inhalt der Anin. 1 in dem der Anm. 2 und
die letztere hat za laaten: Vgl. S. 107 ff., sowie 122 ff. und 149 ff.
Erster Abschnitt
SteUnng and Begrenzung der Aufgabe.
5 1.
Der Gegenstand , mit dem sich die vorliegende Ab-
handlung zu befassen hat, führt uns zunflchst in den Bereich
des reinen Völkerrechts, d. h. auf ein Gebiet, welches sich
bei den Juristen (zum mindesten in Deutschland) nicht
eben großer Wertschätzung und Teilnahme zu erfreuen
pflegt. Ohne hier in eine nähere Erörterung dieser Er-
scheinung, namentlich der tieferliegenden Ursachen dafür'
eintreten zu wollen, mag bloß das Eine in aller Kürze
hervorgehoben werden, daß dieselbe unter einem bestimmten
Gesichtspunkte jedenfalls sehr zu bedauern ist; Uber der
grundsätzlichen Veruachlassigung und Mißachtung des ius
inier gentes kommt leider der große j uriatisch e Wert
gar nicht zur gebührenden Geltung, der für allgemein-recht-
liche Fragen der Be^ichiLftigung mit diesem zweifellos inne-
wohnt.
Es ist eine auch dem flüchtigsten Blick beinahe von
lelbst sich aufdrängende Tatsache, daß das Völkerrecht von
■ jVornherein ein ganz eigenartiges Gepräge aufweist. Als
eigentlich primäre Besonderheit, als diejenige, auf welche
alle übrigen in letzter Wurzel als bloße Folgeerscheinungen
u keinem Zweifel unterliegen, daß die Volk errech tawisB
len »icli selbst anzuklagen hat. Vgl, hierzn unten 8. t
ItBireohU. Abhsndl. VI 1. - Sehtnitlt. 1
2 VI 1.
mehr oder weniger sich zurückführen lassen, ist dabei die
gesamte Art der Entstehung anzusehen : während das inner-
staatliche Recht ^ nie direkt von den zu seiner Anwendung
berufenen Einzelindividuen produziert, sondern ihnen stets,
mit Einschluß des speziiischen jus non scriptum^, von
oben her, durch einen einheitlichen Gemeinschaftswillen
auferlegt wird, fällt letzteres die Sache wesentlich kompli-
zierende, schwierige, neue Probleme unlöslich in sie ver-
flechtende Moment für internationale Verhältnisse ganz weg ;
die Staaten, von denen die einzelnen Völkerrechtssätze als
juristisch wirksame Direktiven ihres Tuns und Lassens be-
folgt werden sollen, sind gleichzeitig auch diejenigen Per-
sonen, von welchen der gesamte Normenkomplex entweder
durch ausdrücklichen oder stillschweigend erklärten Rechts-
satzungsvertrag (resp., wie man neuerdings vielfach zu sagen
vorzieht, durch „Vereinbarung") überhaupt erst geschaflFen
^ Zur Vermeidung etwaiger Mißverständnisse mochte ich hier eine
erläatemde Bemerkung einschieben. Wenn ich an der obigen, sowie
zahlreichen anderen Stellen dem Völkerrecht immer nur die interstaat-
liche Ordnung gegenübersetze, so soll damit jenem (als einem ausnahms-
weise auf dem Wege strengster Koordination entstandenen Rechte)
stets bloß das wichtigste Beispiel des normalen und regelmäßigen
Falles (d. h. des einer begrifflich sn per ordinierten Quelle entspringenden
Regelsystems) an die Seite gestellt, keineswegs aber behauptet werden,
es seien weitere selbständige Rechtsoidnungen überhaupt nicht vorhanden.
Diese Art der Auffassung ausdrücklich von mir abzulehnen, habe ich
um so mehr Veranlassung, als ich schon von Rehm expressis verbis
der Zahl derjenigen Schriftsteller eingereiht worden bin, über die er
(Allgemeine Staatslehre, 1899, S. 147) sagt: „Es gibt für sie Recht nur
im, nicht vor, außer und über dem Staat, alles Recht führt auf den
Staatswillen zurück.** In Wirklichkeit ist aber von mir bereits in meiner
1896 veröffentlichten Studie über den „Staat** (Heidelberger „Staats- und
Völkerrechtliche Abhandlungen** I, 6) klipp und klar gesagt worden
(S. 77/78): „Das Recht ist vom Staat keineswegs in der Weise völlig
abhängig, daß es ihm überhaupt seine ganze Existenz verdankte; viel-
mehr idt die H an e Ische Bekämpfung des Satzes, ,Ohne Staat kein
Recht* insofern völlig begründet, als solches auch noch in vielen
anderen Verbänden erzeugt werden kann und wirklich
wird.** Wie Rehm diesen und ähnlichen, aufs Bestimmteste lautenden
Erklärungen gegenüber zu seiner Autfassung gekommen ist, verstehe ich
nicht. Vgl. noch S. 97, Anm. 1.
* Hierüber zu vgl. meine früher publizierte Schrift, „Das Gewohn-
heitsrecht als Form des Gemeinwillens*^ (Leipzig lö99). Cf. bes. S. 46 ff.
VI 1. 3
ist'. Dies hat einerseits freilieh zur unvermeidlichen Kon-
sequenz, daß das so entstehende NormensjsCera viel weniger
in sieh gefestet, ein weit loseres und unsichereres sein wird^;
auf der anderen Öeite aber läßt sieh, da grundlegende Pro-
bleme stets besser an einfachen und primitiven wie an ver-
wickelten Verhältnissen erforscht werden, von Haus aus
auch wieder annehmen, daß das jus inter gentea wegen
seiner essentiell durchsichtigeren Struktur und Bauart für
zahlreiche Fragen der allgemeinen Kechtslehre ein äußerst
' Aus was ITir OrOaden auch unter diesen Umatänden noch waLrea
Eecbt flnüunehmen ist, iiiwiefero die Meioung dKrjenigen, die der
iQtematioDal'irdDung dun npezifiiich-juriflüacbeii Charakter principiell Hb-
nprechen, lediglich nuf die Verwechslung einer bloSeii Art des Eecbte-
IwgriSeB mit der Gattung Buhlechtweg hinnusISuft, diese l'Vage muß
natQrliuli hier unerSrtert bleiben. Eine aehr KDtreffende (in dem gegebenen
Zniammenhang allerdings etwas andern pfemeinte) Formal iur die gesamte
BcchtHentstehung findet sich gelegentlich bei Stammler, indem dieser
(Wirtschaft und Recht nach der materialistischen GeschichtsautTaBBuntc,
1896, 8. 608) sagt, daB von Anfang an „xwei M3gliciikeilen au unter-
scheiden sind: eine solche der Einigung unter den Recht Setaandeti
und nQD zugleich rechtlich Oebundenen. oder aber eine eiascitigc
Saltung durch einen Machthaber gegen den Willen der Unter worfeneD".
Vgl. auch A. Merkel, Juristische Enzyklopädie (2. Aud., 1900),
i 121, I
55.
* Bi'iläuGg sei darauf hingewiesen, daU dos allein eigentlich noch
lange nicht die BeAignis dazn gibt, das Volkerrecht gegenüber dem initer-
staatliehen als „unvollkommen" lu hnuidmarken, trotidem dies (auch
selten» solcher Antoren, die die Hechtsqualität des ersleren prinsipiell
auerkennenl überaus häufig geschieht. l}enn wenn über irgendetwas in
wahrbütl gerechter Weise ein derartiges Werturteil gefällt werden soll,
so muH mRn invor auch den Einfluß des gesamten äußeren, unabänderlich
gegebenen Milieus mit in AiL^atz bringen; man muß scirgfiiltig unter-
snehen, üb es in Anbetracht und unter Berücksichtigung de«
letBleren alles dw geworden ist, was es überhaupt werden konnte,
nnd lediglich hiernach über das VorhandeuHein oder Nichtvorhandensein
der „Vollkommenheit" entacheiden. Demgemäß mag man wuhi das V51ker-
recht mit Fug insofern unvollkommen nennen, als es lachlich* und
inhaltlich zweifellos auch heute noch nicht vQllig das leistet, was es an
sich EU leisten fnhig wäre; dagegen hat es gar keinen Sinn , ihm aius
der, der ganzen Ericheinuog eiiaentiell inhärenten, Abwesenheit gewisser
formaler Sicherheitskriterien («- B, aus dem Fehlen selbständiger, aus
eigener Autorität und nnabhängig von den Parli-ien fungierender Gerichte,
aus dem Mangel einer rechtlich geordneten Zwangsgewalt u. dergl.) einen
Vorwurf zu machen. Grundsätslich riehti(! Nippold, dar völkerrecht-
liche Vertrag, seine Stellung im Rechbisystem und netne Itedentung ftir
das internationale Recht (1K94), S. 2r^2: „Sowie das inncnttsatliche Recht
Gesetzelrecht ist, so ist das Völkerrecht Vertragsrecht. Hierin liegt kciiiu
1*
4 VI 1.
dankbares Studienobjekt abgeben muß^. Diese, hier za-
nächst aus universal-theoretischen Erwägungen hergeleitete
Voraussage wird gerade durch die folgende Einzelunter-
suchung eine praktisch wirksame Bestätigung erfahren :
unsern Ausgangspunkt nehmend von einer rein völkerrecht-
lichen Detailfragp, werden wir im Verfolg zu umfassendsten
und wichtigsten Allgemein resul taten hingeführt werden, mit
einem Ausblick auf Wesen und prinzipielle Auffassung des
Rechts überhaupt zu schließen haben. —
Das internationale Spezialproblem , mit welchem sich
unsere Arbeit ex officio befassen soll, gehört zu den be-
rühmtesten — man kann freilich ebenso gut sagen: berüch-
tigsten — Streitfragen der gesamten Völkerrechtswissen-
schaft; haben wir es doch, der Titelangabe zufolge, mit
der vielumstrittenen Clausula rebus sie stantibus zu tun,
d. h. mit der Lehre, daß durch spätere Änderung der Ver-
hältnisse auch die Wirksamkeit internationaler Verträge un-
günstig beeinflußt wird. Da machen sich nun vor allen
Dingen ein paar kurze Bemerkungen zur formellen Recht-
fertigung der gewählten Überschrift erforderlich. Wenn im
Titel ausdrücklich hervorgehoben ist, daß lediglich „über
die völkerrechtliche clausula rebus sie stantibus" ge-
handelt werden soll, so wird das sicherlich von vielen als
ein durchaus unnötiger und inhaltsloser Zusatz empfunden
werden. Denn einer heutigentags überaus weitverbreiteten
Meinung zufolge ist das Elauselinstitut sämtlichen übrigen
Rechtsgebieten vollständig fremd, dergestalt, daß jede Be-
schäftigung mit diesem Gegenstand von selbst und ohne
weiteres streng international - rechtlichen Charakter an sich
tragen müßte.
UnvoUkommenheit des letzteren: beides ist in der ureigensten Natur der
beiden Gebiete begründet.''
' Vffl. die treffende Bemerkung ron Brie (Die Fortschritte des
Völkerrechts seit dem Wiener Kongreß, 1890, 8. 3), daß „das Völkerrecht
theoretisch gerade durch die [Jnvollkommenheit seiner Quellen und seiner
Realisierung dazu beitragen kann, Begriff und Wesen des Rechts klar*
zustellen*'.
VI I. 5
Nun ist aber in Wahrheit jene HinzufUguDg durchaus
nicht so überflüssig, wie es hiernach allerdings scheinen
möchte, vielmehr mit gutem Grunde zu dem Zwecke vor-
genommen worden, um eine grundsätzliche Begrenzung
unserer Aufgiibe zum Ausdruck zu bringen. Im Gegensatz
nämlich zu dem ebengenannten allgemeineo Vorurteil steht
tatsächlich die Sache so, daß der clausula an und für sich
auch für das innerstaatliche Recht nicht alle und jede Be-
deutung abgesprochen werden darf. Es gilt das sogar in
einem mehrfachen Sinne. Zunächst rein geschichtlich, mit
Rücksicht auf frUber gegebene Zustände und Verhältnisse.
In dieser Beziehung hat insbesondere Jellinek* schon
vor Jahrzehnten darauf aufmerksam gemacht, daß man mit
der Klauaellehre ehedem in viel ausgedehnterem Maße zu
operieren pflegte, und daß sie deshalb in der privatrecht-
lichen Literatur damals gleichfalls eine große Rolle spielte.
In welch bedeutendem Umfange dies der Fall war, das ist
dann vor einigen Jahren durch eine besondere Abhandlung
des österreichischen Gelehrten Ffaff* des Näheren dargetan
und retrospectiv klargelegt worden. In eingehenden Unter.
Buchungen weist letzterer nach, daß, gestützt auf bestimmte
Stellen des corpus iuris civilis, schon die Glossatoren und
ihnen folgend die Kommentatoren mit der Ausbildung eines
entsprechenden zivilistischen Reehtsinstituts begonnen haben,
daß dieses in der Folgezeit zu immer weiterer Anerkennung
gelangte und namentlich auch von der, ja viel später erst
einsetzenden Völkerreohtswissenschaft einfach übernommen
wurde. Bereits diese wenigen Andeutungen lassen zur Ge-
nüge erkennen, wie verkehrt es historisch-genetisch ist, wenn
ein öffentlich-rechtlicher Schriftsteller der Neuzeit^ den Satz
' Vgl, „Rechtliche Natar der StaatenvertrSge" (18Ö0), Anra, 104:
„Es war lange Zeit hindurch natiirrechll ich e Aimchauiuig , daß auch
für EivilistiBche Verträge die Änderung der UmBtäude als AulISsungs-
gmnd gilt "
' Die Klausel Rebaa nie BtantibuB in der Doktrin and der Sater-
reichischen GeeetTgebung. Stattgart 1S98.
* L. V. Uagens, Staat, Recht und Völkerrecht [1890] 8. 54/55.
G VI 1.
formulierte: „Um die Tatsachen in die Schablone pressen
zu können, erfand (!1) die völkerrechtliche Doktrin die
Lehre von der clausula rebus sie stantibus, welche als
essentiale negotii jedem zwischenstaatlichen Vertrag inne-
wohne".
Daß ein derartiger Ausspruch überhaupt fallen konnte,
wurde einzig und allein dadurch möglich , daß die privat-
rechtliche Klausellehre, schon bald nach Erreichung ihres
Höhepunktes, etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts, all-
mählich in Mißkredit kam und schließlich fast vollständiger
Vergessenheit anheimfiel. Dabei blieben aber — und hier-
mit kommen wir zu einem zweiten Punkte, der in einer
ganz allgemein angelegten Arbeit über die clausula rebus
SIC stantibus nicht fehlen dürfte — die sachlichen Verhält-
nisse und Bedürfnisse, die seinerzeit zur Ausbildung der-
selben geführt hatten, völlig in Kraft und Wirksamkeit;
mit anderen Worten, es konnte auf den Rechtsgedanken,
den man bis dahin mit Hilfe jener Lehre zu formein suchte,
keineswegs gänzlich verzichtet werden, sondern er lebte,
nur jetzt in neuen Formen und Konstruktionen, materiell
unbeeinträchtigt fort^ Wenn Windscheid* mitten in
der Erörterung seiner Lehre über die Voraussetzung Anlaß
findet, auf die alte Doktrin von der clausula rebus sie
stantibus Bezug zu nehmen, wenn § 321 des Bürgerlichen
Gesetzbuches für das Deutsche Reich an eine nachträglich
eingetretene „wesentliche Verschlechterung in den Vermögens-
verhältnissen" der einen Vertragspartei wichtige Rechtsfolgen
anknüpft, wenn Pf äff® ausführlich für die österreichische
Gesetzgebung und andeutungsweise auch für einige andere
den Nachweis liefern kann, daß sich dieselben noch immer
von der clausula rebus sie stantibus materiell beeinflußt
* Vgl. hierzu die Bemerkungen, die Fritze in einer Besprechung
des vorhin genannten Pf äff sehen Werkes macht; Kritische Vierteljahrs-
Schrift Bd. 42, 8. 523.
' Pandekten § 98, Anm. 5.
» A. a. O., 8. 78 ff.
VI 1. 7
zeigen, so sind das gewiß ebensoviel überzeugende Belege
dafür, ditß letztere nur dem äußeren Anschein, nicht aber
aueli der Sache nach aus dem beutigen innerstaatlichen
Recht entHchwunden ist.
Mit allen diesen Dingen nun, so interessant sie an und
für sich zweifellos sind, werden wir uns in der vorliegenden
Arbeit in keiner Weise befassen. Wir wollen weder ge-
schichtlich auf die Zeiten zurückgreifen, da die Klausellehrc
geradezu formell- techniadi einen integrierenden Bestandteil
des Privatrechts bildete, noch die Frage untersuchen, durch
was für Sätze sie wenigstens materiell auch heutzutage noch
vertreten wird; vielmehr soll auf jede detaillierte Erörterung
intern- staatlicher Verhältnisse grundsätzlich verzichtet und
die Untersuchung von vornherein bloß auf das beschränkt
werden , was die Wissenschaft des internationalen Rechts
über die clausula rebus sie stantibus zu sagen päegt.
Freilich muß uns, wie wir bald sehen werden, eben
die exklusive Beschäftigung mit dieser, die kritische Prüfung
der völkerrechtlichen Elausellehre in allen ihren Teilen,
doch am letzten Ende selbst wieder hinausführen über die
spezifischen Grenzen der internationalen Verkehrsordnung.
Aber es wird das nach einer ganz anderen Richtung hin
geschehen, wie es bei einem Eingehen auf die beiden vor-
hin genannten Punkte der Fall wäre: während jede Er-
örterung dieser uns sofort in Einzelheiten des Zivilrechts
verwickeln müßte, bleibt dergleichen hier strikt aua-
j;e9chlosaen, und es soll nur die davon völlig verschiedene
Frage kurz erörtert werden, ob nicht vielleicht das Spezial-
phänomen der internationalen clausula in letzter Wurzel
sieh zurückführen läßt auf Eigentümlichkeiten und Be-
schränkungen des Rechtsbegriffes überhaupt'. Das aber
kann offenbar geschehen, ohne die essentielle Anlage der
Arbeit irgendwie zu beeinträchtigen-, der grundsatzlich
völkerrechtliche Charakter derselben bleibt durchaus ge-
' Vgl. g§ 11, 12; 16, 17.
8 VI 1.
wahrt, auch wenn wir den gewonnenen Ergebnissen durch
Bezugnahme auf Probleme der allgemeinen Rechtalehre
schließlich eine breitere Baais, ein tieferes Fundament zu
geben suchen.
§ 2-
Nachdem wir unsere Aufgabe einer ersten und prin-
zipiellen Abgrenzung unterzogen haben, gehen wir jetzt
zur Behandlung des so tixierten eigentlichen Themas ttber.
Da stellt sich denn sofort die Notwendigkeit noch fernerer
Vorarbeiten, einleitender Feststellungen und Forschungen
heraus. Ehe wir nämlich an irgendwelche Beurteilung der
völkerrechtlichen Klausellehre herantreten können, mUBsen
wir sie zuvor inhaltlich überhaupt erst zu bestimmen suchen;
es liegt uns ob, die herrschende Meinung Über diesen Qegen-
etand zu formulieren. Bei der ümtSnglichkeit und Ver-
streutbeit des zu berticksichtigenden Materials (in Frage
kommt ja eigentlich die einschlagende Literatur aller Kultur-
nationen) oflenbar eine Aufgabe, die von vornherein mit
einer gewissen Schwierigkeit zu kämpfen hat.
Der Versuch einer Lösung läßt sich natürlich nur in
der Weise machen, daß jetzt die Äußerungen verschiedener
völkerrechtlicher Autoren über den uns interessierenden
Punkt zitiert und vergleichend nebeneinandergestellt werden,
wobei aus leicht ersichtlichen Gründen Wert darauf zu legen
ist, daß Schriftsteller möglichst mannigfacher Völker und
Staaten zu Worte kommen. Den Anfang mache ich mit der
Meinung einiger deutscher Völkerrechtslehrer.
Sehr dürftig ist noch das, was Klüber über den Gegen-
stand zu bemerken hat, denn wir finden bei ihm ' lediglich
Folgendes: ,Die rechtliche Wirksamkeit der Völkervertrage
hört auf bei wesentlicher Veränderung solcher Umstände,
deren Dasein für die Wirksamkeit des Vertrages, nach dem
Willen beider Teile, als notwendig vorausgesetzt war, gteioh-
tadt (13-51),
§ 165 (
EaropäiBclies Völkerrecht, 2. Aufl. besorel <■
VI 1. 9
viel ob die Voraussetzung ausdrücklich oder vermöge der
Natur des Vertrags atillaciiweigend gemacht war".
Ebenfalls recht knapp gehalten sind die Angaben, die
in Hoitzendorffs Handbuch des Völkerrechts • G e ß n e r
macht. Abgesehen von verschiedenen Zitaten aus anderen
Schriftstellern, beschränkt sich dieser lediglich auf die Kon-
statierung, daß, „wenn die Umstände, unter welchen ein
Staatsvertrag abgeschlossen wurde, sich wesentlich geSndert
haben , derselbe als aufgelöst angesehen werden kann".
Nur wenig mehr läßt sich auch aus einem zweiten pin paar
Zeilen später folgenden Satze entnehmen, woselbst es heißt:
„Veränderte Umstände können auf die Gültigkeit eines
internationalen Vertrags rechtlichen Einfluß haben, da der-
selbe eines Staatszweckes wegen geschlossen wird, und seine
Fortdauer deshalb davon abhängig ist, daß er mit diesem
Staatszwecke nicht in Widerspruch kommt".
Im Gegensatz zu den beiden bisher genannten Autoren
wird die Frage einer viel ausfuhrlicheren Erörterung unter-
worfen von Jeliinek in seinem gelegentlich schon einmal
angezogenen Werke: _Die rechtliche Natur der Staats-
verträge" ^. Ich hebe aus seinen umfassenden Darlegungen
nur die wichtigsten Punkte heraus, „Ein Endignngsgrund
der Staaten vertrage ist auf die eigentümliche Natur des
Staates zurückzuführen. Das ist die Kollision der höchsten
Staatszwecke, unter welche vor allem die Selbsterhaltung
zJihlt, mit der Erfüllung des Vertrages. Hier tritt das Not-
recht des Staates ein, welches ihm gebietet, seine Existenz
hfther zu achten als die Verpflichtungen, welche er gegen
Fremde übernommen hat. Juristisch ist das Eintreten solcher,
die Vertragserfüllung zur Verletzung der Pflichten gegen
sich selbst machender Umstände als unverschuldetes Ein-
' Bd. m (1887), S. 60.
■ Cf. S. 62 ff. An den damuls forinulierteD Sätzen bat Jeliinek
ttiicii ia der Folgezeit unveräudort fentgchalteii. Vgl. besonders Lehre
von den Staatenverhindimgen (1^82). ti. 102f.; Allg:emeine Staatslehre
\ (1900J, e. ()79 Anmerkung.
10 VI 1,
treten der Unmöglichkeit der Leistung aufzufassen. Eine
Gebundenheit des Staates in alle Ewigkeit gehört zu dem
rechtlich Unmöglichen. — Ein Staat ist kein physisches
Individuum, welches die ganze Zeit seines Lebens hindurch
einen nur innerhalb gewisser Grenzen sich verändernden
Typus trägt y sondern es ist ein in steter Bewegung und
Umbildung begriflfener Faktor der weltgeschichtlichen Ent-
wicklung. — Und der Staat der Vergangenheit sollte die
Macht haben y die Gegenwart und Zukunft des Staates zu
beherrschen? Die Erstarrung der Staaten, der Tod der
Weltgeschichte wäre die Konsequenz. Nur eine den Zweck
und die geschichtliche Funktion des Rechts vergessende
Theorie könnte dem Staate eine unlösbare Verbindlichkeit
auferlegen wollen. Der Zweck des Rechts besteht in der
Erhaltung der Bedingungen des menschlichen Gemeinlebens.
Zu diesen Bedingungen zählt aber vor allem die staatliche
Organisation in ihrer freien Entwicklung. Was diese hemmt,
kann also nimmermehr Recht sein." —
An diese Zitate inländischer Schriftsteller mögen sich
nunmehr ein paar aus fremden, nichtdeutschen Autoren an-
reihen. Wieder mit recht kurzen Andeutungen begnügt
sich der Engländer Phillimore, wenn er in seinen Com-
mon tari es upon international law^ sagt: „When that State
of things which was essen tial to, and the moving cause of
the promise or engagement, has undergone a material change,
er has ceased, the fpundation of the promise or engagement
is gone, and their Obligation has ceased. This proposition
restes upon the principle that the condition of rebus sie
stantibus is tacitly annexed to every covenant.^
Etwas mehr Material bietet uns dagegen ein Vertreter
der zweiten angelsächsischen Nation, der Nordamerikaner
W harten, der sich folgendermaßen^ ausspricht: „A treaty
may be modified or abrogated under the following circum-
> 2. Aufl., 1871, Bd. n, S. 109.
« iDtemationÄl law, Vol. U (1886), 8. 58/59 (§ 137 a).
pvi 1.
11
' stances: — 7) When a atate of thinga wliich waa the basis
of the treaty, and one of its tacit conditions, no longer
exists. In most of the old treatiea were inaerted tlie
(Clausula rebus sie stantibus" by which the treaty might be
oonstrued as abrogated when material circumatances on
which it rested changed. To wölk thia effect. it is not
necessary thiit tlie facta alleged to have changed should be
material conditions. It ia enough, if they were streng in-
duceraenta to the party asking abrogation. The maxini
.conventio omnis intelligitur rebus sie stantibus' is held to
appiy to all caaea in which the reason for a treaty has
failed, or there has been such a cbange of circunistances
as to make its performance inipracticable except at an un-
reasonable sacrifice."
So ziemlich ' die gleichen Gedanken, die hierin zum
Ausdruck gelangt sind, treten uns dann weiterhin auch ent-
gegen in den Worten des Franzosen Pradier-Fodörö':
„En droit international on enseigne que leg traites cessent
d'etre obligatoirea lors dn changement essentiel de teile ou
teile eirconstance dont l'exiatenue etait suppos^e nßcesaaire
par les deux parties (aoit ijue cette condition ait 6tA atipulee
express^ment , soit qu'elle r^aulte de Ia nature mcme du
trait^), en d'autres termes loraqu'il se produit une modifi-
cation essentielle des circonalances en vue desquellea le
trait^ a dtö conclu. — L'effet d'un traitö doit n&essaire-
ment ceaser loraqu'il se produit dans Ia aituation r^ciproque
des parties contractantea un tel changement que le but vis^
par le trait^ ne saurait plus gtre atteint et que le maintien
de ce traitä deviendrait un danger pour l'^tat."
Im Anschluß an diese Äußerungen Pradier-Fod^rös
Bei jetzt die Ansicht zweier fernerer Schriftsteller angeführt,
die gleich jenem Franzosen, freilich aber nur der Natio-
nalitHt, nicht auch der politischen Staatsangehörigkeit nach
' Droit inMrnational pnblic enropäen i
12 VI 1.
sind. An erster Stelle beziehe ich mich auf die des
Schweizers Vattel, das heißt eines ziemlich alten Autors,
der jedoch mit gutem Grunde im interationalen Leben noch
immer eine große Autorität genießt. Bei ihm finden wir
in seinem, 1793 erschienenen Droit des gens* einen ver-
hältnismäßig recht eingehenden Versuch, dem Problem ge-
recht zu werden: „On a propos^ et agitö cette question;
si les promesses renferment en elles-memes cette condition
tacite que les choses demeurent dans T^tat oü elles sont,
ou si le changement survenu dans l'ätat des choses peut
faire une exception k la promesse et m§me la rendre
nulle? — S'il est certain et manifeste que la consid^ration
de Tötat present des choses est entr^e dans la raison qui
a donn^ lieu k la promesse, que la promesse a ^tö faite en
considöration , en cons^quence de cet ötat des choses , eile
dopend de la conservation des choses dans le meme ötat.
Cela est Evident puisque la promesse n'a 6t6 faite que sur
cette supposition. Lors donc que l'^tat des choses, essentiel
ä la promesse, et sans lequel eile n'eüt certainement pas
m faite, vient ä changer, la promesse tombe avec son
fondement. — Mais il faut etre tres r^servö dans Tusage
de la prösente r^gle; ce seroit en abuser honteusement que
de s'autoriser de tout changement survenu dans T^tat des
choses, pour se d^gager d'une promesse: il n'y en auroit
aucune sur laquelle on püt faire fond. Le seul ^tat des
choses, a raison duquel la promesse a ätä faite, lui est
essentiel, et le changement seul de cet ^tat peut l^gitime-
ment empdcher ou suspendre Teffet de cette promesse. C'est
Ik le sens qu'il faut donner ä cette maxime des jurisconsultes:
conventio omnis intelligitur rebus sie stantibus.^
Wir gelangen nunmehr zu den Ausführungen des
Belgiers Rivier^ Dieser bewegt sich in der Hauptsache
1 Bd. II, S. 271 f. (§ 296).
* Belgier wenigstens der fast ausschließlichen Stätte seines
Wirkens nach, während er allerdings von Gebart, wie Vattel, der
französischen Schweiz angehört. Zitiert wird hier von ihm sein deutsch
geschriebenes „Lehrbuch des Völkerrechts" (2. Auü. 1899), S. 350 ff.
vr 1. 13
vollständig in J e 1 1 i n e k sehen Gedankengängen , indem os
bei ihm heißt: „Die Staaten sterben nicht, und sie vermögen
nicht auf ewige Zeiten sich ihrer Freiheit zu entÄußern,
Würden sie es vermögen, so würden die Verträge, anstatt
das Leben der Völker zu fördern, es im Gegenteil hemmen,
ihm Fesseln auferlegen und das Selbaterhaltungsrecbt der
Völker verletzen, das das Recht der Entwicklung ein-
begreift. ^ Kraft des Selbsterhaltungsreclits der Staaten
bleiben Verträge' stets einseitiger Kündigung unterworfen,
und man muß den Satz aufstellen, daß ein Volk auf dieses
Recht der Kündigung nicht definitiv verzicbtet, auch wenn
dies nicht ausdrücklich erwähnt sein sollte. ^ Die bier
aufgestellten Sätze werden gewöhnlich in der Form aus-
gedruckt, daß gesagt wird: die Verträge seien geschlossen
mit der stillschweigenden Klausel rebus sie stantibus. Mit
der Veränderung der Verhältnisse sei die Rechtskraft des
Vertrags hinfällig geworden,"
Endlich und zum Beschlüsse der hier gegebenen Lite-
raturnachweise soll noch die Auffassung eines russischen
Autors wiedergegeben werden, nämlich die von F. v. Märten s^,
der sich über das fragliche Problem in folgender Weise
ausspricht: „Die Rechtsverbindlichkeit eines Vertrags hört
auch auf, wenn die Umstände, angesichts welcher oder um
derentwillen er abgeschlossen worden war, sieh wesentlich
verändert haben, — Freilich ist diese sogen, clausula rebus
sie stantibus häutig als Deckmantel willkürlicher Vertrags-
verletzungen benutzt und in dem Sinne verstanden worden,
als ob jedwede Wandlung der Umstände auch gleich die
legale Annullation des Vertrags nach sich ziehe. Der Miß-
' Oajiz gen»a zitiert nehreibt Rivier hier eigentlich „derartige
VertrSga". Die UiniufiiiriiDg' des einschränkenden Beiwort» erklürt sich
daraiiB, daß er eine gewisse Scheiduilg vomelimen will, daQ er bloß lux
bestimmte Traktate die sufW'endo Wirkung der Klausel anerkennt, fiir
andere dngt^n negiert Wir haben späler auf diese Besonderheit noch
EurückEukommen (s. g S, Ü. 87).
^ „Völkerrecht. Daa internationale Recht der zivilisierten Nationen."
, Deutsche Ausgabe von Bergbohin, Bd. 1 (18Ö3), 426/427.
14 VI 1.
brauch vermag aber gewiß nicht zu beweisen, daß die Regel
selbst absolut wertlos sei. Aus dem Wesen der inter-
nationalen Verträge folgt, daß der Staat sich durch sie nur
um eines Staatszwecks willen binden kann, sodaß jedes von
ihm eingegangene Rechtsverhältnis solange besteht, als es
mit diesem Zweck im Einklang steht. Die Gültigkeit eines
Vertrags erlischt daher nur, wenn eine solche Veränderung
in der beiderseitigen Situation der Parteien eintritt, daß
der gedachte Zweck unerreichbar wird, und die fortgesetzte
Anerkennung des Vertrags den Staat in Gefahr bringen
würde. "
§ 3.
Wenn wir die in dem vorausgehenden Paragraphen
genannten Schriftsteller prüfend miteinander vergleichen,
so macht sich sofort bemerklich, daß ihre Ansichten über
die Klausel im großen und ganzen eine weitgehende Ver-
wandtschaft aufweisen^. Zwar scheinen auf den ersten
Blick zwischen ihnen auch manche, recht tiefgreifende Diffe-
renzen obzuwalten ; wir werden jedoch gleich im folgenden
sehen, daß diese mehr formeller Art sind und die Gemein-
samkeit der sachlichen Hauptpunkte nirgends wesentlich
tangieren. Indem vielmehr bezügl. der letzteren überall,
für sämtliche doch recht mannigfachen Ländern angehörende
Autoren, eine prinzipielle Übereinstimmung sich feststellen
läßt, ist schon hierdurch der Nachweis erbracht, daß in der
Theorie eine internationale Harmonie noch immer weit eher
erzielt werden kann, als es, wie das oft genug in greuliche
Dissonanzen sich auflösende „Europäische Konzert^ dartut,
in der Praxis leider möglich ist.
Nun wäre es ja freilich ganz verkehrt, wollte man,
bloß auf das bisherige Material gestützt, ohne weiteres auch
für die gesamte Völkerrechtsliteratur eine entsprechende
communis opinio als gegeben und bewiesen annehmen; denn
im Verhältnis zu der kaum übersehbaren Fülle derselben
^ Näheres hierüber s. u. S. 18 ff.
VI 1. 15
diirfeo gewiß die nngefUhrten Stellen höcliatens die Be-
deutung einzelner Stichproben beanspruchen und müßten
also füT weitergehende Sc;hlußfolgerangen noch beträchtlich
Terraehrt werden. Indes wie die Dinge wirklich liegen,
würde eine auch nur halbwegs genügende Zitierung völker-
rechtlicher Öchriftateller überaus ermüdend wirken und
außerdem zu den bereits gewonnenen Resultaten kaum nocli
etwas Neues hinzufügen. Wenigstens soweit meine Kenntnis
des in Betracht kommenden Materials reicht, verhält sich
die Sache in der Tat so, daß schon die genannten Autoren
als treuer Spiegel der völkerrechtlichen Literatur überhaupt.
und zwar nicht blo6 in den übereinstimmenden HauptzUgen,
sondern auch in den wichtigeren Spezialnuancleruugen und
-abweichungen der Klauseltheorie, gelten dürfen. Wohl
fehlt es in ihr auch keineswegs an grundsätzlicher Oppo-
sition; im Gegenteil gibt es, wie sich im Verlauf der Ab-
, handlung herausstellen wird, auch eine gewisse Anzahl
solcher Autoren, die sich gegen die clausula äußerst skeptisch
verhalten. Das sind jedoch relativ gefaßt bloß recht seltene
Ausnahmsf^lle; in der Hauptsache steht es immer so, daß
die Elausellehre widerspruchslos akzeptiert und verlreteu
wird, wobei die Formen und Wendungen, in denen das ge-
schieht, regelmäßig bloße Variationen der uns bereits be-
kannten Ausführungen sind.
Vom historisch-genetischen Standpunkt aus betrachtet
ist in dieser Erscheinung auch durchaus nichts Über-
raschendes zu tinden; lassen sich doch mehrere Gründe
namhaft machen, warum die internationale Klausellehre eine
solch einheitliche Entwicklung nehmen mußte und wirklich
genommen hat. Es kommen da im wesentlichen zwei Mo-
mente in Frage.
Das erste besteht in der nicht unbedeutenden gegen-
seitigen Beeinflussung, die unter der spezifisch völkerrecht-
lichen Literatur verschiedener Nationen von jeher statt-
gefunden hat. Entsprechend der Eigenart des ganzen
Gegenstandes, der ja allen Kulturvölkern gleichmäßig nahe
L
18 VI 1.
Ansichten völkerrechtlicher Schriftsteller über die clausula
nicht mehr im Wortlaut mitteilen, sondern schon die neun
bisher genannten als ausreichende und hinlängliche Belege
für das Vorhandensein einer internationalen communis opinio
gelten lassen ; und haben nun, ehe wir uns zu unserer sach-
lichen Hauptaufgabe, d. h. zu eingehender Kritik der fest-
gestellten herrschenden Meinung wenden können, nur noch
eine letzte Vorarbeit zu leisten.
Die besteht darin, daß wir die zu besprechende com-
munis opinio analytisch in ihre sämtlichen Bestandteile zer-
gliedern ; wir müssen aufzählend feststellen, was für Einzel-
punkte, teils klar und deutlich ausgesprochen, teils mehr
angedeutet und versteckt, bei den völkerrechtlichen Schrift-
stellern über die clausula stets wiederkehren, damit durch
getrennte Untersuchung der Elemente eine möglichst er-
schöpfende und übersichtliche Beurteilung des Ganzen ge-
wonnen werden kann.
Als solche regelmäßige Bestandteile habe ich in der
Hauptsache folgende zu nennen. In erster Linie dasjenige
Moment, welches schon durch die technische Bezeichnung
des ganzen uns interessierenden Instituts, durch den Namen
Clausula rebus sie stantibus angedeutet wird: alle Autoren
sind sich darüber einig, daß irgendwelche tatsächliche Ver-
änderung von Umständen eingetreten sein muß, wenn
jenes überhaupt platzgreifen soll. Daß das der Klausel
recht eigentlich zu gründe liegende Prinzip von der Berück-
sichtigung des wahren und tiefsten Parteiwillens manchmal
auch dort nach Qeltung ringt, wo absolut kein Wechsel in
den früheren Verhältnissen stattfand, sondern umgekehrt
alles beim Alten blieb, diese von uns in Abschnitt VI zu
erörternde Idee liegt der herrschenden Ansicht völlig fern ;
gleich in diesen und dem folgenden Paragraphen noch auf sieben weitere
Autoren (Neu mann, Pinlieiro Ferreira, Nippold, Ullmann,
Oareis, Heffter, Blnntschli) gelegentlich Kezug nt-hmen. die im
Prinzip (also kleinere Besonderheiten immer vorbehalten) durchaus auf
dem Boden der herrschfuden Lehre stehen.
I
höchstens daß sich einmal eine flüchtige Andeutung tjndet,
die allenfalls in dieaem tiinne ausgelegt werden könnte.
Fernerhin ist zu konstatieren, daß die völkerreclitliche
Wirkung später eingetretener Veränderungen immer bloß
in Ansehung internationaler Verträge erörtert zu werden
pflegt. Wobl gibt es einzelne Autoren, die, sachlich an-
knüpfend an die alte zivilistische Behandlung des Problems,
der clausula rebus sie stantibus eine viel weilergebende
Bedeutung beimessen; es wird dann aber, anders wie bei
uns in § 11/12, die Frage gemeinhin nicht so sehr hin-
sichtlich der übrigen Völkerrechtsnormen als in Bezug
auf innerstaatliche Willensakte publizistischen Charakters
ins Auge gefaßt'.
Drittens ist hervorzuheben, daß die communis opinio
den veränderten Umständen stets einen spezifisch recht-
lichen Effekt zuschreibt, daß sie die Wirkung derselben
in der juristischen Tangierung der VertragsgUltigkeit
selber bestehen läßt. Gerade in diesem Punkte, der der
materiellen Wichtigkeit nach zweifellos den Kern der ganzen
Elausellehre bild^'t, machen sich im einzelnen manche Ab-
weichungen und Besonderheiten bemerklich, die jedoch der
Übereinstimmung im Hauptgedanken schlechterdings keinen
Eintrag tun. So wird beispielsweise von zahlreichen Schrift-
Btellern unter Zuhilfenahme einer angeblich stets vorhandenen
taeita condicio argumentiert, wogegen anderwärts auf diese
Denkform Verzicht geleistet wird; manche, wie Rivier
nehmen bloß ein Recht der Kündigung als gegeben an',
' Da» ist u. a. der Fall bei Viittel, wio ilar Sehlaßabsatz ies
§ 296 seines Droit des gen« beweist: ..Ce fjue nom Jiiom des promewiea
doit B'eDteudre suahi des luis. La loi qai se rupporte a ua certain ätat
Ido cfaosen. De peilt avoir lieu qiie dam Ca mSme ^Ist." Und wie hier
ffir Oeselse wird die eUusuln relius sie Btanfibu« luancbmal auch ffir
«ndero affealliob reuhtliulie Statt-alttB herangeiOfren : vrI. a. B. Otto
Mayer, Deiilac^heit Verwaltuni^Rrectit I. S. 1^09. (isnK nllgemeiD Jeltinnk,
Luhre von dnn StaHteuverbindiiiigen, ü. 108 : „Jeder Altt das StanisnillenB,
maic er sii'b nach innen oder auÜea wenden, trügt die Klausel Uebu» aic
Btiuitibiu in «ich."
* Vgl. dea VerfaMCTB DiaBortatioii Über einig» Aniprache an»-
,
20 VI 1.
während sonst vielfach die ipso iure eintretende Wirkung
Verteidiger findet, und was dergleichen Nebendifferensen
mehr sind. Wir werden auf alle diese Dinge im Verfolg
der Arbeit noch eingehender zu sprechen kommen.
Die drei bisher aufgezählten Punkte der Lehre können
als solche gelten, die in der Oesamtheit der völkerrechtlichen
Literatur (natürlich bloß insoweit, als sie die Klausel über-
haupt prinzipiell anerkennt) gleichmäßig zum Ausdruck ge-
langt sind; wir vermögen sie insbesondere bei allen in § 2
genannten Autoren aufs deutlichste ausgesprochen zu kon-
statieren. Nicht ganz das Nämliche darf von den jetzt noch
folgenden Momenten behauptet werden.
Hierher gehört vor allem die Frage, welcher Art und
Beschaffenheit die Umstände sein müssen, die durch
ihre spätere Veränderung eine juristische Annullation inter-
nationaler Verträge herbeiführen sollen. In dieser Beziehung
läßt sich als wirklich konstanter Faktor der Gesamt-
entwicklung im allgemeinen bloß negativ feststellen, daß
nicht jede beliebige Umgestaltung der früheren Sachlage
als ausreichend angesehen wird; in der positiven Abgrenzung
machen sich dagegen größere Verschiedenheiten bemerklich.
Meist behilft man sich zunächst mit der rein formellen Be-
stimmung, daß wesentliche, essentielle, fundamentale Ver-
änderungen gefordert werden; die materielle Präzisiemng
derselben wird dann bald mehr objektiv, nach generellen
Grundsätzen und Merkmalen, bald mehr subjektiv, im Sinne
der in concreto vertragschließenden Parteien, unternommen.
Schließlich erfolgt aber zwischen beiden Richtungen prak-
tisch doch wieder eine sehr bedeutsame Annäherung. Die-
jenigen Autoren nämlich, die von Anfang an objektiv ein
für allemal die Beschaffenheit der vertra^sauflösenden Ver-
änderungen zu bestimmen suchen, lassen die clausula rebus
sie stantibus, wie dies namentlich J e 1 1 i n e k in voller Klar-
wärtiger Staaten auf gegenwärtiges Deutsches Heichsgebiet (Leipsifl^ 18d4i
8. 24 «id nnten 8. S9 ff.
21
f Jieit ausspricht', überall dort eingreifen, wo infolge der ge-
I icheheDen UmgestAltung der Staat seiner Vertragspllicht nur
I noch auf Kosten der höchsten politischen InleresseD, vor
idlem des Selbsterhaltungszweckes, gentigen könnte. Nun
steht es aber auch um die Anhänger der zweiten, gegen-
sätzlichen Richtung offenkundig so, daß sie fast immer^ bei
der Auafuhrung unvermerkt in die Ideengänge der ersten
hinUberlenken , da6 sie, mindestens prima facie und vor-
wiegend, gleichfalls an Eventualitäten der genannten Art
zu denken gewohnt sind. Zum Beleg brauche ich bloB daran
zu erinnern, daß Wharton bei seinen Ausführungen zu-
letzt den Vorstellungskreis eines „unreasonable sacrifice"
verwendet, ebenso daß Pradier-Fodörii am Schlüsse
von dem Fall eines , danger pour l'^tat" redet. Ja selbst
ein Mann wie Vattel, dessen Text an sich gar keine Hin-
deutung auf das Moment der staatlichen Gelährdung ent-
hält, zeigt sich von ihm doch ebenfalls sachlich beeinflußt,
wenngleich das hier einzig und allein in der Art der ge-
' Hit fUinlichsr BcBtlmmtheit SaBem Rieh aber aach noch Kahlrefube
andere, s. B. Neumann, GrimilriB den bentigen Earopäiachen VSlber^
reuhta ilfSS), &■ 84: „Ein einseitigeB ZurSchtreten vnu einem beidaraeitig
verbindlkhea Vertrage i«t — nur hOchst ausnahmsweise su1Äs)iig, wenn
die ErfQlliing des Vertrags oinem Tuile vordorbliuh — werden würde.
' Eeineawegfl giax ansnohmalos; vielmehr be^gnen wir sui:h Schrift-
stelleni, die mit dem Qedauken, eg komme lediglich auf das an. wan die
konkreten Parteien beim Momente des Vertrsgaschlusges als (ür den
Bcvtand des TrHktata wusentüche UestiminungBgrüiide im Sinne banen,
wirklieb ernst machen. Eine solGhe Wendung, bei der die ganxe Klausel-
lehre in bestimmtem Sinne zu einer blnSeo Anslegangafrige herabsinkt,
liegt u. a. wohl vor bei Fiore. Dieser nämliuh (xa vgl. Trattato di
diritt« internazinnale publico, 8. Aufl. I88S. Bd. II) übergeht zunäcltst
bei Aa&ählung der allgemein wirkenden Endigungngrande des Vertrags ]
(a. a. O-, S. ^5) die Vernndefung der Umstnnde gänzlich; dessen ui
geachtet lä£t er bald darauf die Bemerknng einfließen, ein Vertrag kSog
auch durch den Eintritt neuer Tatsachen außer Wirksamkeit ge-
setzt werden, verweint aber im wesentlichen bloß nuf das von der Aoa-
legiing handelnde Kapitel (of. 8. ä50/351: „La sospeusione del trattato
pull esnere la oonseguenEa di nn fstto nuovo sopmveuuto. —
Delle altre tvorher ist lediglich Ton dem Ausbruche eines Krieges sswiachm
den Kontraheulen die Rede gewesen] cagioni che poasonu giuotilicjire la
sospeDsione, e in certi casi la risoluzione, del trattato, uoi discnrreiiuii I
gik nel Cspitolo antecedenle [das betitelt ist: „Delln interpretaaic
.tiij
22 VI 1.
wählten Beispiele zutage tritt ^. Mit Rücksicht auf alles
dies erscheint es schließlich doch fast als zulässig, auch den
Gesichtspunkt des Konfliktes mit den obersten Staatsinter-
essen, insbesondere mit der Selbsterhaltung, wenigstens zu
den regelmäßigen Bestandteilen der völkerrechtlichen com-
munis opinio zu zählen, wobei allerdings zur Vermeidung
allzugroßer Verallgemeinerung immer im Auge behalten
werden muß, daß ein Teil der Schriftsteller das Anwendungs-
feld der Klausel von vornherein und prinzipiell auf ab-
weichendem Wege zu bestimmen sucht.
Noch verhüllter und beiläufiger als es bei dem eben
erörterten vierten Punkte der Fall war, tritt bei vielen
Autoren die Zustimmung zu dem fünften und letzten Element
auf, welches meiner Auffassung nach in der derzeit herrschen-
den Lehre von der clausula rebus sie stantibus ständig ent-
halten ist. Es betrifft dies 'dasjenige Moment, welches nach
den bereits gegen Schluß des ersten Paragraphen gemachten
Andeutungen zu einer bestimmt gearteten Überschreitung des
exklusiv internationalrechtlichen Gebietes unbedingt nötigt;
stellt doch in ihm, dem auf Seite 4 erwähnten allgemeinen
Vorurteil auch ihrerseits Tribut bezahlend, die spezifische
Völkerrechtswissenschaft selber die eo ipso nur auf solche
Weise anfechtbare Behauptung auf, die clausula repräsen-
tiere, zum mindesten nach ihrer modernen Um- und Fort-
bildung, eine strikte Singularität des ins intergentes.
Freilich findet sich dieser Satz, in derartiger Unmißverständ-
lichkeit und Schärfe ausgesprochen, nicht eben häufig vor;
^ Da letztere seinerzeit nicht mit zitiert worden sind) so mögen sie
hier nachträglich noch folgen: „Si le grand Gustave n'eüt pas M tuä k
Lätzen, le cardinal de Richelieu, qui avoit fait Talliance de son maitre
avec ce prince, qui Tavoit attir^ en Allemagne et aid^ d'argent, se füt
peutetre vu oblig6 de traverser ce conquerant devenu formidable,
de mettre des bornes k ses progr6s ^tonnans et de soutcnir ses ennemis
abattus. Les ^tats-g^n^ranx des Provinces-Unis se conduisirent sur ces
principes en 1668. Ils ferm^rent la triple alliance en faveur de TEspagne,
auparavant leur mortelle ennemie, contre Louis XIV., leur ancien alli6.
n falloit opposer des digues a une puissance qui mena^oit de tont
envahir."
I
f VI 1. 23
insbesondere läßt er sich bei sämtliclien oben in § 2 zitierten
Autoren eigentlich nirgends mit voller Bestimmtheit kon-
statieren. Indes darauf kann nach Lage der Dinge kein
entscheidendes Gewicht gelegt werden. Auf der einen Seite
nämlich sehen wir die hier vermißte ausdrückliche Statu-
ierung wenigstens anderwärts tatsächlich gegeben, beispiels-
weise in den Worten, die Nippold auf Seite 23G seines
18fl4 erschienenen Werkes über den „völkerrechtlichen Ver-
trag" ausspricht: „Wir haben es bei der Klausel mit einem
Endigungsgrund zu tun, der spezifisch-völkerrecht-
licher Natur ist"'. Auf der anderen Seite darf nicht
unbeachtet bleiben, daß im Grunde auch die Ausführungen
der Übrigen bloß mehr stillschweigend vorausgesetzt und
iraplicite das Nitmliche enthalten. Dies ist zunächst mit
unbedingter Sicherheit für alle Autoren zu behaupten, die
in der Weise Jellineks und Riviers expressis verbis
bestrebt sind, der Klausellehre eine tiefere Basis, eine
materielle Rechtfertigung zu geben; denn indem sie sich zur
Begründung derselben darauf berufen, die einseitige Lös-
barkeit internationaler Verträge werde durch die besondere
Natur und Beschaffenheit der im Völkerrecht auf-
tretenden Verkehrsaubjekte, der Staaten, zur Notwendig-
keit gemacht, ist es klar, daß ihr hiermit für innerstaat-
liche Verhältnisse, die ja begrifflich unter völlig anders
gearteten Personen bestehen, jede Existenzberechtigung von
Haus aus ganz abgesprochen wird. Nun läßt sich aber
weiterhin noch feststellen, daß diese gesamte Art der Beweia-
fdhrung keineswegs bloß auf die ausdrücklich mit iiir
Operierenden Vorstellungen beschränkt ist, sondern den
sachlich unentbehrlichen Hintergrund für die internationale
Klauaellehre überhaupt abgibt und demgemäß auch in alle
' VBllig überematimmead u. a. Ullmaan, Völkerrechts. 175/17tir
„ . zififlch- völkerrechtliche EndiganjrBgründe rler ataatay ertrage
lind folgende; — 2. Die Veränderung der Uniatände, unter dantn der
Vertrag ursprönglich Hbgesohlossen worden wsr — ein Endigungsgrund —
"ngulSrer und im Hinblit-.k auf dai
, Verl
aler Na
24
übrigen mehr oder weniger versteckt hereinsj
kann und will das selbstverständlich nicht bis in alle Einzel-
heiten verfolgen, weil uns das sicher allzulange aufhalten
müßte, und gebe deshalb zur Illustration bloß ein paar
Beispiele: Pradi er -Fod'örö , welcher an der früher von
uns genannten Stelle seines Droit international public irgend-
welche Betonung des eigenartigen Wesens der Staaten
nicht erkennen läßt, argumentiert doch wenige Seiten späteEj
ganz offenkundig unter Verwertung und mit Hilfe desselben 'ij
Ähnlich erklärt sich L. v. Marteus* im Verlauf aeinerl
Deduktionen vollinhaltlich mit einer Bemerkung John
Stuart Mills einverstanden, wie „unpassend ea sei,
Staaten zu ewigen Pflichten zu verbinden" ^ die^
Martensschen Darlegungen werden wieder ohne jedoj
Einschränkung akzeptiert und als sehr richtig bezeicbnel
von Geßner*: kurz, sobald man die der Klausel gewid* ■
meten Sätze nicht bloß isoliert für sich, sondern auch iin
Zusammenhang und Lichte der Gesamtdarstellung betrachtet,
wird man so gut wie Überall irgendeiner Anerkennung des
hier erörterten Moments begegnen. Deshalb erscheint ea
schließlich auch an diesem Punkte wieder berechtigt, ein
Normalelement der heutigen Klauseldoktrin schlechthin ttn-a
zunehmen und es als solches mit zur Untersuchung zvM
stellen, wenngleich natürlich die letztere hier stets der ihr4
durch Anlage und prinzipiellen Charakter unserer Abhand-
lung gesteckten Schranken sorglich eingedenk zu bleiben hat
Mit den fünf aufgezHhIten Momenten ist meines Er-
a
uie.^—
edo^
ne^H
rid*^
' Die nähere Entwicklung de» gunzen Gedanken ganges j^bört a:
lilcrher, Bondtrn Ut erst im Eweileo Abschnitt 6. 27 nHcüzabriugea.
• T. II, 931fr. Vgl. bei. S. 932: „Lei uationB ee modifie_
8an> uessB, lonque iee rapporls vienuent k changer, lea Ir&itä« qj
le« eipriinaieDt, ont coulro piix Is force des cboses, et leiir raison d'3tl>
dinarail."
• Völkerrwht I, S. 427.
• Vgl. Holtiendurffs Handbuch des %'61kerrechtii lU , 8. 8|jl
Aaeh bei einer frOheren Gele^nheit evhoa hebt OcBner herror (». a. Ojf
.. 78), <
I fTir ihn „Subjekte und Wirkungen bei dc-n Slaalavet
gani aoder« sind als bei den Priratvertrigen^
;r
VI 1.
25
achtens dasjenige erschöpft, was nach Lage der Dinge als
Gemeingut der modernen Völkerrechtali leratur gelten darf.
Es ist nun unsere Aufgabe, diese Punkte gesondert je flir
sich zu prüfen, um dann schließlich summierend zu einem
Urteil über Wert oder Unwert der ganzen Doktrin zu ge-
langen. Fassen wir sie vorher zur Erzielung eines einheit-
lichen Gesamtbildes nochmals in einem Satz zusammen, so
erhalten wir als Inhalt der üblichen Meinung Folgendes:
Es soll angeblich eine besondere Eigentümlichkeit des
Völkerrechts (hierüber zu vergleichen Abschnitt VIII)
darin bestehen, daß internationale Verträge (Abschnitt V)
eine rechtliche Aufhebung (Abschnitt II — IV) erfahren
können durch jede Veränderung von Umstünden
(Abschnitt VI), .die eine Erfüllung des Versprechens nur
noch unter Verletzung höchster staatlicher
Interessen und Zwecke (Abschnitt VII) als möglich
erscheinen ließe. Hierin ist alles Material enthalten, an dem
die herrschende Lehre über die clausula rebus sie stantibus
den Nachweis ihrer gesamten Existenzberechtigung zu er-
bringen hat; sobald sie bei keinem einzigen dieser Punkte
streng kritischer Prüfung standzuhalten vermag, ist sie in
ihrer derzeitigen Gestalt wohl überzeugend als völlig unzu-
länglich dargetan. Der Verlauf der Untersuchung mag
hierüber entscheiden.
Zweiter Abschnitt
Der rein natnrrechtliclie Charakter
der tihlichen Lehre von der elansnla rebus
sie stantihns.
§4.
Der erste und gleichzeitig allerwichtigste Gegenstand,
mit dem wir uns zu befassen haben ^ besteht in der Unter-
suchung dessen, ob der Satz von der eventuellen Rechts-
Unwirksamkeit internationaler Verträge wirklich in dem Sinne
zu den spezifisch juristischen Regeln gezählt werden darf,
in dem allein man von solchen überhaupt zu sprechen be-
fugt ist. Das ist mit Entschiedenheit zu bestreiten. Der
Beweis dafür soll in doppelter Form angetreten werden:
wir wollen zunächst, in diesem §4, negativ-kritisch er-
örtern, daß und warum die gewöhnlich gebrauchte Argumen-
tation von Haus aus zur Erreichung ihres Zwecks gar nicht
imstande ist; hierauf aber, nach dieser Widerlegung
fremder Beweismethode, werden wir positiv noch
unsererseits versuchen, die juristische Existenz der
Klausel in der prinzipiell möglichen Art zu begründen, um
dann aus dem offenkundigen Mißlingen unseres Experiments
endgültig die Haltlosigkeit des vermeintlichen Rechtssatzes
zu deduzieren; dies im folgenden § 5.
Fragen wir, worauf gemeinhin der juristische Charakter
der clausula rebus sie stantibus gestützt zu werden pflegt.
Bo finden wir bei demjenigen Teil der Scliriftsteller, der
der Sache überhaupt auf den Grund zu gehen sucht', in
immer neuen Wendungen variiert, eachlidi aber ganz gleich-
bleibend bloß diese Antwort: Weil ohne ihn praktisch nicht
auszukommen ist, weil es anders überhaupt nicht geht.
Das erhält dann seine nähere Ausführung und Krlauterung
dadurch, daß man sagt: Die die völkerrechtlichnn Verträge
abschließenden Personen, die Staaten, sind nicht wie die
Individuen zu einer nur kurzlebigen Existenz prildestiniert,
sondern umgekehrt auf die Daner angelegt. Während es
den einzelnen Menschen ganz allgemein bestimmt ist, nach
flüchtigem Dasein rasch wieder zu verschwinden, ist es den
aus ihnen gebildeten Sozialwesen gerade eigentümlich, sich
aus sich selbst heraus stets nur fortzusetzen und bloß aus-
nahmsweise, beim Eintritt ganz besonderer Verhiiltnisse,
ein Ende zu erreichen. So überdauern sie oft viele Jahr-
hunderte, in denen sie einerseits selbst eine recht mannig-
fache Entwicklung durchlaufen, und während deren sie auf
der anderen Seite sich auch sehr verschiedenartigen und
wechselnden Zuständen in der Außenwelt gegenüberseheu.
Aus diesem Grunde muß an ihnen immer von Neuem die
Erscheinung hervortreten, daß etwas, was unter früheren
Bedingungen ganz angemessen, ja vielleicht sogar notwendig
war, heute einen durchaun unhaltbaren Zustand bedeutet;
eben deshalb darf namentlich auch von einer schlechthin
unlösbaren, die Staaten auf ewig bindenden Wirksamkeit
völkerrechtlicher Verträge von vornherein nicht die Rede sein.
Man kann zugeben, daß diese Argumentation sehr viel
Zutreffendes in sich schließt, und doch die Überzeugung
festhalten, daß sie an dem entscheidenden Punkte völlig
versagt. Was nämlich diesen , d. h. den Nachweis der
juriatischen Qualität der clausula anbelangt, so handelt
es sich hier doch entschieden um nichts anderes wie Natur-
recht in optima forma. Denn es wird bloß individuell ver-
' Ct. oben 8. 23/24.
28
VI 1.
standesmäßig festgestellt, daß eine iminerwälirende Ver-
pflichtuQg mit der eigenartigen Beschaffenheit des Staates,
mit seiner , Natur" nicht verträglich wäre, und damit soll
dann ohne weiteres auch das Bestehen eines entsprechenden
allgemeinen Rechtsaatzes dargetan sein, mit anderen
Worten , es liegt hier ein Verfahren vor , auf welches
prinzipiell die bekannte Begriffsbestimmung des GrotiuB
vom Naturrecht durchaus paßt: Jus naturale est diutatum
rectae rationis, iudicans actui alicui ex eius convenien-
tiacum tpsa natura ratio nali inease necessitatem
ni oralem.
Dieses Folgern von spezifisch-juristischen Sätzen i
aus der Natur der Sache, dieses subjektive Behaupten von
Rechtsregeln, ohne daß letztere auf die doch im en ib ehrlich s i
objektive Basis gestellt, aus positiv fließender Normquells ]
hergeleitet würden, wird überhaupt im modernen Völker-
recht noch überaus häufig geübt und stellt also keineswegs
bloß eine der Klausel theorie eigentümliche Erscheinung dar.
Dabei steht jenes Verfahren bei den meisten Schriftstellera
in direktem Widerspruche zu früheren allgemeinen Dar-
legungen, indem theoretisch jetzt überwiegend
wird, daß eine wahrhaft gültige Völkerrechtsordnung einsig
und allein aus dem sich irgendwie manifestierenden gemein-
samen Willen der Staaten entspringen könne; doch gibt
es noch immer eine Anzahl Autoren, die die Entbehrlich-
keit des letzteren für den Prozeß der internationalen Recht*- I
bildung ausdrücklich und prinzipiell verteidigen, und mit ^
diesen muß man sich notwendig auseinandersetzen, wenn
man wie wir die Richtigkeit einer solchen These sowohl
im allgemeinen als bei der Klausel im besonderen strikt
leugnet.
Zu diesem Zwecke mag speziell auf die Ausführungoo I
von Gareis' Bezug genommen werden. Derselbe' sprichi J
' iDsUtutioneu des Vfilkerretiht* (1
«limmaid in der 2, Aufl. |1901\ S. 331.
' Von uideren Schriftslelldm verweite iah nocli beioDden i
I
sich ganz geoerell i'oJ gen dermaßen aus: , Wirkliche echte
Quelle des Völkerrechts ist die Rechtsnotwendlgkeit,
die necessitas; die tatsächlich vorhandeneD Verhältnisse,
Tor allein das Dasein des Staates in seinem \^'esen
and in der Vielheit der Staaten, die wesentlichen
Eigenschaften und Aufgaben des Staates, die Tat-
sache — eines Verkehrs derselben — führen den sie mit
logischer Konsequenz spekulativ beobachtenden Juristen
und ötaatamann zu einer Anzahl von Regeln des äußeren
Verhaltens, die von den Staaten anerkannt werden und
denen sieh keine Politik entziehen kann. Diese Regeln
Bind weit davon entfernt, Naturrecht zu sein; das Natur-
recht ist ein subjektiv- theoretisches, der in notwendigen
Kechtssiltzen bestehende Teil des Völkerrechts, iua neces-
Barium belli et pacis, dagegen ein objektiv-praktisches: das
Naturrecht wird von der Theorie erzeugt, vom Individuum
subjektiv willkürlich gestaltet; das ius necessariutn wird
von der Praxis und für die Praxis gefunden und aufgestellt;
diese, von der Theorie nur unterstützt, nicht geleitet, leistet
flieh in der Erzeugung und Anerkennung der notwendigen
Recbtssätze das, was der Staat für seine innerstaatlichen
Verhältnisse sich durch seine Gesetzgebung leistet; im Privat-
recht und in anderen innerstaatlichen Verhältnissen gibt es
für die Anerkennung solcher notwendigen Rechtasätze des-
halb keinen Raum, weil dort der Gesetzgeber das ausspricht,
was die Not auszusprechen gebietet und das Herkommen,
der Kürze der Zeit wegen, nicht stjituieren konnte.
Im Ralimen einer bloßen Spezialarbeit ist es natürlich
nicht möglich, der eben zitierten Auffassung in aller Aus-
fter. EaropäscheH Völkerrecht, 8. Anfl- (18881 besorgt TonOeffckan,
S- 7: „Eh (rillt ein schon aus innerer Nötigung an zuerkennendes,
n auch keiner auadrücklichen (nach dem ZusamraFnliaug; zu ver-
a als qireder einer gewohnheils-, noch vertrag« müligea'') Anerkenming
bedilrfliges. gegenseitiges Recht der Bkiaten." Dngegen glaulie ich nicht,
im» Ullmann, Muf den lich Gareis (a. a. O., ^. Aufl. S. HS, Anm. S)
■pezitll lieniFC, zu den die neceHaitaa als nähre und selbnl£ailige Kechts-
8 utile anerkennenden Autoren gerechnet werden durf. Vgl. unten
. 3-2, N. 1.
30 VI 1.
führlichkeit und Vollständigkeit entgegenzutreten; ich muß
mich deshalb bloß mit der Hervorhebung einiger besonders
wichtiger Punkte begnügen. Wie man sieht, glaubt Gar eis,
der Einreihung seines ius necessarium unter den Begriff
des Naturrechts dadurch begegnen zu können, daß er fi^
dasselbe eine ganz abweichende Statuierungsmethode in An-
spruch nimmt; er behauptet, wenn ich ihn recht verstehe,
daß im Gegensatz zu letzterem, welches bloß deduktiv aus
obersten Sätzen und Vernunftprinzipien gefolgert sei, das
erstere rein induktiv aus praktischem Erfahrungsmaterial
gewonnen würde. Hier wäre zunächst daran zu erinnern,
daß anerkanntermaßen ^ die wissenschaftliche Untersuchung
in Wahrheit kaum jemals rein deduktiv oder rein induktiv,
sondern immer beides zugleich ist, und daß folglich aus
dem relativen Überwiegen der einen oder anderen Methode
keinesfalls fundamentale Kontrastierungen hergeleitet werden
dürfen. Auch das alte Naturrecht arbeitete durchaus nicht
bloß mit Schlüssen aus der (subjektiven) Vernunft, sondern
stützte sich bei seinen Operationen, freilich mehr unbewußt,
stets auch auf ein gewisses (nur viel zu geringfügiges und
unzulängliches) Tatsachenmaterial. Und umgekehrt folgert
wieder bei Gareis der „spekulativ beobachtende Jurist"
keineswegs nur induktiv aus empirischer Betrachtung der
internationalen Praxis, sondern argumentiert vielfach aus
bestimmten, fertig mitgebrachten Obersätzen wie Natur und
Wesen des Staates u. dergl. mehr.
Indes der Haupteinwand, der von uns geltend zu machen
ist, besteht in etwas anderem. Selbst wenn nämlich Gar eis
in dem eben erörterten Punkte, in der Annahme streng
praktisch-erfahrungsmäßiger Beweisführung, wirklich Recht
hätte, so wäre damit für seine eigentliche These noch nichts
gewonnen. Er will dartun, daß direkt unter dem Einfluß
und Druck naturgegebener „Notwendigkeit" für die be-
teiligten Staaten ein Komplex spezifisch juristischer
» Cf. u. a. Wundt, Logik, 2. Auü. II, 1 (1894), S. 20flf.
SiTormen zu entstehen vermöge; rein aus „der Macht der
eich selbst entwickelnden Lebensverhältnisse, der
Tatsachen"*, aolien letztere prinzipiell gefolgert werden
dürfen. Dabei wird jedoch übersehen, daß, entsprechend
dem allgemein gültigen Satze, nach welchem der generali-
Bierende Schluß den zu gründe gelegten Einzel beobach-
tungea essentiell stets adäquat sein muß, jede
Suramierung streng faktischer GeschehnisBe und Wahr-
nehmungen an sich und zunächst auch nur zur Aufstellung
eines faktischen Gesetzes führen kann. Ein solches zu
formulieren mag unter UmstÄndeii fUr die Wissenschaft vom
praktischen Verkehrsleben der Volker sehr wohl zulässig
and angebracht sein, und wir selbst werden später* die
clausula rebus sie stantibus, reap, genereller aufgefaßt die
internationale Notstandsnorm ganz in diesem ^^inne, als
faktisch zu betätigenden Erfahrungssatz, aussprechen und
definieren. Davon steht aber noch weitab die Ausstattung
r derartigen Regel mit spezifisch rechtlicher Geltungs-
kraft. Soli diese als vorhanden dargetan werden . so ge-
nügen Feststellungen der bisherigen Art schlechterdings
nicht mehr, sondern sie müssen noch in eigentümlicher
Weise qualifiziert sein, sich auf ein gewisses neues Moment
mit erstrecken, ohne das jede juris tisch eNormatatuierung
vornherein ganz in der Luft schwebt. Diese erste und
fundamentale Rechtfertigung weitergehender, essentiell ver-
ftnderter und gesteigerter Schlußfolgerungen kann nun nach
Lage der Dinge bloß in dem Nachweise bestehen, daß das
Bunächat rein tataäehlich-erfahrungsmäßig konstatierte Gesetz
den zur positiven Rechtssatzung kompetenten und be-
fähigten Personen, das srnd -hier die miteinander Verkehr
pflegenden Staaten, auch als technisch-juristische Kegel in
^ea Inhalt ihres gemeinsamen Willens aufgenommen sei^
^.
> Vgl. 8. 91 ff., sowie 103 ff. a. 126 f.
' Vgl Gari'U, Ernyklopädie und Metliodologie der RechtswUwa-
mbiA, 2. AuB. IQOO ». HU.
' Das Erfordernis des Durchguiig» darcb dieaeB Medium wird iin
32 VI 1
Eine solche Auffassung verlangt absolut nicht, daS mi
allen und jeden Einfluß der faktisch gegebenen Zustand»]
auf den gesamten Rechtsbildungsprozeß negieren müßte;.
vielmehr vermag jene mit umfassender Anerkennung dieses
durchaus Hand in H.ind zu gehen. Aber jedenfalls kann
es sich dabei für uns bloß noch um einen mittelbaren Ein-
fluß handeln': die Staaten, deren Wille natürlich ebensogut
wie der individuell menschliche durch äußere Motive bo-
gewisseii Sinue von Gareis 9cil>itt angi^deutet, iusofern rIs er mehrmals tmi'
einer eigeneu ^Anerkeunang;'' äoH jus nfceannriuni durch die Staaten sprichL
Doch erscheint dieaa — die übrigens nirgends als spexiell erteilt nach-
gewieiieD, sondern ülierall. z, B. bei der Kunstriiktion dar so problematiachen
„Grand rechte", bloß generell üngiert wird — bei ihm in keiner Weiss
als entscheidendes Stadiom dea Vorgangs der inlemationsleQ Bechl»-
entatehiing, sondern bildet nur ein nebeniächliches Ueiwerk DaB den
wirklich so ist, ergibt sich nicht bloß daraus, daß (Institutionen S. SSf]
die necessiUs direkt als echte Becbtuqiielte liexeichnet, dag^Bn da*
Moment der „Anerkeanung" nur ganx beiläufig naebgebrncfat wird (w
mhlreichen anderen Stellen bleibt dieses Requisit sogar TÜllig unervibitt;
TgL 8. 5: „Die Macht der Notwendigkeit — Hrzengt eine Reihu tob
Vorschriften des Verhaltens der Staaten untereinander,*' S. 36: „Bachta-
sAtze, die von der Keehtsno twendigkei t erzeugt sind". Ebenso
Kechtsenzyklop&die B. 50: „Hechtsnotwendigheit Als Quelle positivem-
Kechta" und Öfter), sondern folgt anch mit logischer Nntwendigkeit an "
Art nnd ZusamnienbJUig der Beweisfulirung. Ohne hier in eine ausfBhf
lidie £rörteruii)t dieses Punktes, die nur in breiler aiigeleglea Unt
suchungen uiöglich w&re. einiutreten, mSchte ich doch auf eines nenigttti
in aller Kütxe hinweisen. Das jus necessarium soll aitngenproi'htinenDaSeil
etwas von den durch Staatenvertrag oder gewohnheit enengten Keobte-
sätzen Verschiedenes, selbständig neben beide Tretendes sein. Das wlra
jedoch nicht m Sgl ich , fall" es formellen Rechtscharaklor erst durch die
gegenseitige Anerkennung der Staaten empfinge: denn am nach auBen hin
wirksam eu sein, müßte sieh diosn offenbar irgendwie manitestieren, was
wieder von vornherein bloß in doppelter Art, auidrücklich und 'till-
schweigend, zu erzielen wBre, oder wie Brie (Theorie der Stanten-
ve rbind nagen . 18S6, S. 41, N. Ij den ganzen Sachverhalt sehr richtig
formuliert: nDie Anerkennung, welche teilweine als VSlkerreehlKqnella
neben der Gewohnheit und den Staatsserträgen betrachtet wird, ist
immer anter eine dieser beiden Kategorien Ton Quellen einanreihen."
So kommen wir in dem Ergebnis, 'daß Gareis, wenn er sein jtu ne-
cassariiiDi als selbständige Bildung nicht ganz aufgeben will, unbedingt
airf jede schärfere Akzentuierung des Aneifcennungsmoments vencicfaten,
trotz gelegentlicher anders klingender Äußerungen |vgl. be«. Institatiuoen
8. 6, N. I; Enijklopädie S. .36. 37, 42, 43) jenes eventuell anch schoa
vor und unabhängig von der staatlichen Anerkenaung »Is fertiges ßeokt
betrachten nmß.
' Tliermit sachlich vQtlig Qbereinitiinmend Dllmann, VOIkenechh,
S. S7'28 (s. auch 8. 1 ff., 12S.]. '
4
VI 1. 33
stimmt und determiniert Ut, werden durch die Wahrnehmung
realer Zustande und Bedürfnisse veranlaßt, sie vernunft-
gemäß zu berücksichtigen und von sich aus zur Setzung
entsprechender Rechtsnormen zu schreiten. Jedesmal wenn
das in einem einzelnen Falle ans irgendwelchen Gründen
nicht geschieht, ausführlicher und deutlicher gesagt: wenn
die motivierende Kraft der materiellen Verhältnisse sich in
concreto zur Durchsetzung der formal juris tischen Sanktion
als nicht stark genug erwiesen hat, tritt es praktisch in
Erscheinung, daß letztere und nicht erstere das eigentlich
entscheidende Element bilden: wir haben alsdann einen
Kechtijzustand vor uns, der partiell anders und besser, als
er wirklich ist, zu wünschen wäre', der aber bloß deshalb,
rein wegen dieaer sachlichen Verbesserungsbedurftigkeit,
keineswegs aufhört, in positiv-juristischer Geltung zu stehen.
Ein analoges Verhältnis zeigt sich übrigens bei dem Vor-
gang der innerstaatlichen Kechtsbildung. Denn auch bei
diesem liegt die Sache offenkundig so, daß ein recht-
schaffender Wille, hier der, besonders legislativ sich be-
tätigende, des einzelnen Staats, im allgemeinen von den
faktisch gegebenen Sozialbedürfnissen maßgebend heeinfluBt
und geleitet wird, daß er aber diesen gelegentlich die for-
melle Berücksichtigung auch sehr wohl versagen und da-
durch ihre Umsetzung in apezi lisch- juris tische Normen ent-
scheidend Verbindern kann. Da nun nach dieser Richtung
hin Gareis mit uns in der Verzichtleistung auf ein be-
sonderes jus necessariuni ganz einig ist, da er direkt sagt,
daß zivilistische und sonstige innerstaatliche Kechtsregeln
erst dann entstehen, wenn „der Gesetzgeber das ausspricht,
was die Not auszusprechen gebietet"*, so müßte er eigent-
' Unter Umstäudpri kann es sich aber auch ao verhalten, daU der
floheinb&re Hongel in Wahrheit gnr keiner iat, und iwar (leshalb, weil
das Vorliandeugein des veriiiiBt«ii RecbUsatzcB in anderen Beziehungen
Duch neit schlimmere Folgen haben müßte, als jetzt sein Nichtvorfaaaden-
HCin. Nach den Ü. 72 ff. zu ^beuden Ausführnugeu trifft das gerade anf
den Fall der clauBula in ganz hervorragendem Maße xu, ,
' Inatitutioneu des Völkerrechts, S. 34. Wetii^er bestimmt und '
exklusiv allerdings KecbticncyklopädiH, S. 50.
SUMta- u. vOUerrMhil. Alihkudl. VI ]. — äuhmiat. S
i
34 VII
lieh konsequenterweise auch für das ius inter gentes zu ent^
sprechenden Resultaten kommen; geht es docli schwerlich
an, aus den hier wie dort gleichliegenden Präraiasen ab-
weichende Konsequenzen zu ziehen dergestalt, daß die „Not-
wendigkeit" das eine Mal bloS aU materielle Willi
delcrmination, das andere Mal aber als ibrmelle Rechtaqat
selber angesehen wird.
Aus dem Gesagten erhellt, daß atieh im Völkerrecht
nicht der kleinste Rechtsaatz unmittelbar ans faktischen
Tatbeständen, sondern lediglich aus den, durch solche
eventuell ausgelösten staatliuheo Rechtijsetzungaakten ge-
folgert werden darf. Dieses prinzipielle Abstellen aaf
letztere, zu dem wir im vorstehenden zunächst aus allgemein
theoretischen Erwägungen gelangt sind, erweist sich nun
auch in anderer Beziehung, unter mehr praktischen Gesichts-
punkten, als schlechtbin unentbehrlich. Das ist um des-
willen zu behaupten, weil man sich beim Aufgeben jenes
Kriteriums sofort selbst aller Möglichkeit berauht, die Frage:
„Gilt die und die Regel positiv rechtlich?" nach wahrhaft
objektiven, von der Person des Einzelbe trachters losgelösten
Merkmalen zu untersuchen und zu entscheiden. Das Nähere
hierüber läßt sich gerade an dem Problem der clausula
rebus sie stantibus recht deutlich aufzeigen.
Sobald man nämlich, was die herrschende Meinung im
Grunde überall tut, von jeder Erörterung dessen absieht,
wie sich die völkerrechtlichen Verkehrs Subjekte ihrer-
seits zu der behaupteten Einschränkung der Norm Pacta
sunt servanda verhalten haben, sobald man es also nicht
ausschließlich von ihrer Beurteilung abhängen läßt, ob und
event. in welchem Umfange die tatsächlichen Verhältnisse
auch spezitisch rechtliche Wirkungen äußern sollen , so
bleibt gar nichts anderes mehr übrig, als daß diese Be-
urteilung von jedem völkerrechtlichen Einzelforscher sub-
jektiv für sich vorgenommen wird. Damit ist dann aber
unheilbarer Zersplitterung im Detail Tür und Tor geöffnet.
Denn keine einzige individuell menschliche Überzeugung
üt im Stande, der anderen gegenüber diejenige „äußere
Autorität" ^ die eo ipso einleuchtende Superioritflt in An-
aprucb zu nehmen, wie sie zu gunsten der poaitivrechtlichen
"Willenameinung der Staaten aller dinge besteht und vor-
handen ist; vielmehr tritt unter den angenommenen Voraus-
aetzungen immer nur Einzelanschauung' prinzipiell gleich-
berechtigt wider Einzetanschauung. Mag mithin noch so
oft die herrschende Lehre wiederholen : „Nach unserer Auf-
fassung der tatsächlich unter den Staaten gegebenen Ver-
hältnisse ist die Anerkennung der Klausel als Rechtsnorm
eine unbedingte Notwendigkeit", grundsätzliche Gegner der-
selben wie Triepel', Zorn^u. a. brauchen darauf stets
von neuem bloß zu konstatieren, daß sie ihrerseits diese
Notwendigkeit nicht einzusehen vermöchten. Und ganz
ähnlich gestaltet sich die Sache auch wieder unter den-
jenigen Schriftstellern, die zwar übereinstimmend Anhänger
der herrschenden Lehre sind, sie aber doch in Einzelheiten
verschieden ausprägen. Wir sehen z. B., daß der eine
Autor eine recht weitgehende Fassung der Klausel für er-
forderlich hält*, der andere umgekehrt eher zu möglichster
Restringierung neigt*: wie soll man da nun objektiv ent-
' Ber^bobm, t^lnatavertni^ und Gesetze als Quellen des Völker-
rechts, 1877, 8. 41.
^ Valkerrecht und Landesrecht, 1899, S, SO, Anm.: „Oaiiz un-
praktisch scheint mir die berüchtigte Lehre von der cIuobuIh rebus atc
stantibus xa sein."
" ReiehBataatareclit, 2. Aufl. I (1895J, 8. 514, Anui. 47: „Die ^anze
Streitfrage, ob Verträge nur unter der clausula rebus sie stantibus ab-
geschlossen werden und damgemäß bei Änderung der Verhältnisae ein-
seitig gekündigt werden kOnnen, ist nur eine moraUscii-politiache Frage,
und es Tehlt dafür jede MSglichkeit einer juristischen Erörterung." Reich
nnd BeiduTerfassnng (1895), S. 6: gDie berüchtigte clausula rebus sie
■tautibus der »Blkarrechtlichen Verträge."
* Vgl. etwa Heffter, Ettropäischea VBlkerrecht. S. 215: ,Als eine
solche (die Bechtsgülttgkeit den Vertrags tangierende) Veränderung ist
diejenige zu betrachten, wobei der Verpflichtete seine bisherige politiBche
Stellung nicht behaupten könnte und namentlich sich in eine Ungleich-
heit gegen andere Staaten versetzen würde", eine Formulierung, die
Oettcken (ebenda S. 216. N, 8) flir „bedenklich dehnbar" erklärt.
" Das ist offenbar der Fall bei Gareia solbat. Vgl. Institutionen
des Völkerrechts, 8. 213: „Wird unter der clausula rebus sie stantibus
verstanden, daß die Vertragsverbindlicbkeit wegfült, wenn die juristische.
dBi
36 VI 1.
scheiden können, wessen Meinung die richtige ist, wenn
jeder immer nur mit subjektiven Gründen, rein nach dem
Mafistab seiner individuellen Beurteilung der Sache, argu-
mentieren darf? Diese Schwierigkeit findet sofort ihre
Lösung, wenn man mit uns den wahren Rechtszustand, der
doch immer nur A oder B, aber nicht beides zugleich sein
kann, einzig und allein durch den Inhalt des gemeinsamen
Staatenwillens bestimmt sein läßt. Wohl kann es auch dann
noch grofie Schwierigkeiten insofern geben, als dieser Wille
oftmals nur schwer festzustellen sein wird; indes existiert
hier doch wenigstens die prinzipielle Möglichkeit, ein ob-
jektiv mafigebendes Gültigkeitskriterium ausfindig zu
machen. Deon mit dem Moment, wo ein solcher WiUe
positiv-genereller Rechtssetzung wirklich dargetan ist, ver-
lieren alle sonstigen Ansichten von selbst ihre praktische
Bedeutung-, auch wenn der einzelne die festeste Überzeugung
hat, daß der fragliche Rechtsgedanke besser eine andere,
sei es nun engere oder weitere, Fassung erhalten hätte,
kann er doch schlechterdings nicht mehr daran denken,
seine abweichende Meinung für positiv geltendes Recht aus-
zugeben. —
Neben der hiermit wohl genügend widerlegten Richtung
der Völkerrechtswissenschaft, die zur Fundierung der Klausel
von vornherein bloß mit Folgerungen aus der Natur des
Staates, seinen wesentlichen Eigenschaften usw. operiert
und insofern ganz unverkennbar den naturrechtlichen Be-
griff eines jus necessarium verwertet, besteht nun noch eine
andere, die, ohne sich materiell von jener wesentlich zu
unterscheiden, doch wenigstens formell ihrer Beweisführung
durch einen kleinen Zusatz etwas mehr Anschein von
auch im Zivilrecht mit gleicher Wirkung anerkannte Voraussetzung
(causa) in Wegfall geraten, oder die ausdrücklich oder stillschweigend
paktierte, auflösende Bedingung eingetreten ist, so wird hiermit nichts
juristisch Bedenkliches angenommen; anders liegt die Sache, wenn unter
jener Klausel verstanden wird, daß die Veränderung der politischen
Lage allein schon genüge, einen Vertrag als hinfällig geworden zu be*
zeichnen."
PVI 1. 37
W PositiTität zu geben weiß. Das ist der Fall bei allen den-
I jenigeo Schriftstellern, die die einBCitige Lösbarkeit inter-
I nationaler Vorträge nicht schon unmittelbar aus der
I Art der beim völkerrechtlichen Verkehrs] eben obwaltenden
I &kti3chen Verhältnisse als allgemeine Regel entspringen
I lassen, sondern mehr indirekt die Behauptung aufstellen,
I wegen und auf Grund dieser besonderen Beschaifenheit
I sei es der übereinstimmende Wille der vertrags-
lachließenden Staaten selbst, ihren konkreten
I Verträgen beim Abschlüsse stets die, stillschweigend hinzu
I gedachte, weil als selbst verstand lieh vorausgesetzte clausula
I beizufügen'.
I Wilre das iu der Tat richtig, dürfte man wirklich an-
I nehmen, letztere wäre in jedem Einzelubereinkommen
I stets als tacita coudicio , als stillschweigende Resolutiv-
bedingung^ enthalten, so müfite ihr positiv -juristischer
Charakter im Prinzip sicherlich als ausreichend gewahrt
gelten. Denn wenn die Staaten als solche damit einver-
standen sind, durch eine bestimmt geartete Veränderung
' Vgl. hiecza von den in § 2 air^feführton Autoren, u. a. die
Äußerungen Whttrtonx („a »täte of tbingi wbich was — une of its
tacit couditione") and Vattel („on a propoa^ et a«fitä cette qoestiou.
Hl le» promessea renfenneiit en eUea-nidmei cette ccmdition taoite — ."
Dago^ten kann als Beispiel frir die eraterOrterte Bichtuug Jelltnek
dienen, in dessen „ßechtl. Natur der Staaten vertrüge" die Idee der still-
Buliweigenden Ueifügaug der Elaasel höchstene Süchtig; einmal
Anklingt
* Es ist darauf aufmerksam lu mactien, daß tacita condicio an sich
in einem doppelten Sinne verstanden werden kann; vgl. Arndts. Lohr-
bach der Pandekten § 6I>, Anm. 9: Notwendigkeit der „0ntersciieidung
EWiscIiDO stiÜBuhweigender and stillschweigend erklärter Bedingung". Im
Text wird nur die zweite MSgUchkeit einer Besprechung unterzogen,
und zwar deshalb, weil bloB bei dieser, also bei der Annahme, die Ver-
ünderung der Umstände werde bei jedem Einzelvertrag von den konkreten
Parteien als wahre (Kesolutiv-) Bedingung stillicbweigend mitgewollt, in
die ganie Beweisführung etwas wirklich neues hereinkommt. -Sobald
man dagegen an die andere, technisch neuerdings meist als condicio juri»
bezeichnete Eventualität denkt, gelangt man damit in der Hauptsache
einfach auf den bereita widerlegten Standpunkt zuräck; denn es wird
dann offenbar von vornherein wieder bloß postuliert, daß dem inter-
nationalen Vertragsrecht eine solche Beschränkung von Natur inhirieni 1
und eigentümlich sei, obne daß für diese Behauptung irgend ('
ausreichender Beweis erbracht wäre.
L
38 VI 1. ]
von Umständen ihre Verträge immer erlöschen zu las
30 liegt hierin offenkundig auch eine abstrakte Recht
setzende Verfügung der zur (abstrakten wie zur konkreten)
poaitivrecht liehen Regulierung aller internationalen Ver*^
hältnisse wahrhaft befugten Willens Subjekte vor. ■
Indes was Bergbohm', der verdienstvolle Bekämpfefl
alles modernen Krypto-Naturrechts, gelegentlich einmal be^
merkt: „Es kommt auf die Sache an, und der Saehe nach
besteht naturrechtliche Methode überall, wo aus subjektiven
Überzeugungen statt aus objektiven Erkenntniamitteln des
gewordenen Rechts geschöpft wird", das erweist sich bei
schärferer Betrachtung auch hier als zutreffend. Nirgends,
soviel ich sehen kann, wird in ausreichender Form der
Beweis dafUr angetreten, daß die Staaten tatsächlich bei
Abschluß aller Einzeltraktate entsprechend gesinnt und ge-
willt seien , sondern es wird das sofort und ohne weiteres
vorausgesetzt ^. Bald klar ausgesprochen , bald mehr im
Hintergrund stehend, spielt auch hier wieder bei jedem
Autor wesentlich die Vorstellung herein, es müsse, da an
eine schlechthin unlösbare Verbindlichkeit der Staatsver-
träge nach Lage der Dinge gar nicht zu denken sei, hier-
für unbedingt ein geeignetes juristisches Abhilfsmittel aus-
findig gemacht werden, und um ein solches zu erhalten,
greift man dann eben kurz reaolviert zu der Hypotbese
des immer nur bedingt erfolgenden Traktatsabschlusses '.
' Jarisprudenz und Reell tsjihilasopbie, I (1892], S. 141-
' Ganz der DÜioliuhGn Annicht verleiht Hiich Fritze bei seiner
Uesprechang des Pfaffsuheu Werkes über die clausula deutlichen Aus-
druck; Tgl. Eritieche Vierteljahrsaohritl Hd. 42, S. 530: „Eine still-
«cbwei^nde Erklilraiig der Klausel wird von denjenigE^n Schriftstellertti
welche sie kI« ütillBUhweigeDd dem Vertrag beigefügte Bediuf^ng be-
handeln, ledigüp.h fingiert."
* Besonders Echarf tritt der ganze Gedankengang bei Ri vier bervor.
dessen AuBfähningen (Lebrbnch des VBlkerreohts , S. MO) ich deehalb
hier in ihren Hauptiügea nuciimalB wiederholen möchte. I; „Die tjfaaten
sterben nicht, und sie vermögen nicht auf ewige Zeilen sich ihrer Freiheit
ED entäußern" (Konstatierung dar besonderen .Natur", der eigenartigea
BesF-hafrenheit der Staaten). II: Daher ^bleiben — Vettrfige stets ein-
seitiger Kündigung unterworfen und man (I) muß den Satz aufaiellen'
(rein Temunftreehllicher NolwendigkeitsschluB aus I), III: „daß ein Volk
Das erscheint aber doch als ein recht willliUrlichea Ver-
, fahren, zumal wenn in Anschlag gebracht wird, wie wenig
'die Ansichten der Theorie darüber, wie sich die Staaten
praktisch verhalten sollten, bei den letzteren Berücksichti-
gnng gefunden haben *. Diesem Umstand hätte die Wissen-
schaft, wie an zahlreichen anderen Punkten, so namentlich
auch in unserem Falle entschieden mehr Rechnung tragen
mttesen ; sie durfte bei der clausula rebus sie stantibus,
selbst wenn sie noch so fest von deren VernUnt'tigkeit und
■ Notwendigkeit überzeugt war, doch nicht ganz die Unter-
suchung dessen beiseite lassen, ob sich die völkerrechtliche
Praxis wirklich auch ihrerseits die Lehre von der tacita
eondicio streng und folgerichtig zu eigen gemacht habe.
Solange sie derartige Feststellungen gänzlich verabsäumt,
Bo lange sie sich damit zufrieden gibt, das von ihr für
wichtig und wünschenswert Gehaltene den Staaten gleich-
falls zu imputieren, schweben ihre Darlegungen in der Luft,
Terniögen sie niemals über das Stadium rein subjektiver
Behauptungen hinauszulangen. Daß bis jetzt nur und aus-
Bchließlich solche immer vorgebracht worden sind, dafür
lOxistiert ein recht charakteristischer Beleg insofern, als
einige Schriftsteller die ganze Lehre ebenso subjektiv
■wieder haben bestreiten können^, ohne daß sie dabei ge-
aof das Reicht der Kündigung nicht definitiv vernichtet, so daU dasselbe
•tets vurbehalten bleibt, auch wenn dies nicht Ruadrücklicb emähnt «ein
pollte" (FonnulieniDg der angeblich von den Staaten ateta gewollten
ttcita eondicio).
' Han denke an Institute, wie dasjenige der Friedeosblockade, der
Premdenausweisung u. a» in.
■ Vgl. X. B. Bluntaehli, Modemea VSlkerrecbt der liviliaierten
Staaten ala Rechtsbucb dargeatellt, ä. Ana., I87ä, S. 2dö; „Zu weit geben
sinielne Tölherrechtslehrer, wenn sie behaupten, daB die Klausel rebas
sie stantibus k tillsohweigend klUn Verträgen der Staaten
beigefügt sei, nnd da& demgemäß rebna matatis dte Gebundenheit
aufhSre." Trotn dieser prinzipiellen Stellungnahme erkennt übrigens
Bluntschli hinterher die einseitige Aufhebung internationaler Vertrüge
in HO zahlreichen, genauer spezifizierten Einzelfällen als berM:htigt an, j
daß die ganze KlHusellehre schließlich bei ihm doch wieder mindesten* J
denselben Umfang annimmt, wie nur bei irgendeinem Anhänger dar <l
herrschenden Meinung.
40 VI 1.
zwangen gewesen wären, zuvor irgendwelches objektive,
zugunsten der gegnerischen Ansicht sprechende Material zu
entkräften und aus dem Wege zu räumen.
Wir an unserem Teile haben selbstverständlich nicht
Anlaß, das Nichtvorhandensein der Klausel als jedes-
maliger tacita condicio in eingehender Erörterung darzu-
tun ; vielmehr gentigt für unsere Zwecke die Ronstatierung,
daß vorläufig ihr positives Vorhandensein von den
hierfür nach Lage der Dinge beweispflichtigen Autoren noch
nicht bewiesen worden ist. Deshalb können wir uns hier
auch darauf beschränken, nur einen einzigen Punkt an-
zuführen, der es von vornherein so unwahrscheinlich wie
möglich macht, daß die Staaten regelmäßig nur Traktats-
abschlüsse sub condicione im Sinne hätten. Angenommen,
dies träfe wirklich zu, so wäre es nicht bloß, wie Nippold*
meint, „denkbar, daß die clausula rebus sie stantibus dem
Vertrage mitunter auch ausdrücklich beigefügt würde",
sondern es müßte das als eine überaus häufig zu erwartende
Eventualität gelten. Denn da jede stillschweigend er-
klärte Bedingung doch immer etwas recht Unbestimmtes,
Schwankendes, der Anzweiflung Ausgesetztes bleibt, würden
gewiß viele Staaten auf die naheliegende Idee kommen, die
so unsichere tacita condicio durch die viel präzisere aus-
drückliche Bedingung zu ersetzen. Indem nun aber von
der Hinzufügung der letzteren in der völkerrechtlichen
Praxis so gut wie gar nichts zu bemerken ist^, muß man
notwendig zu dem Schlüsse gelangen, daß jene überhaupt
nicht die ernstliche Absicht haben, lediglich unter strikter
Resolutivbedingung® ihre Verträge einzugehen. —
* Der völkerrechtliche Vertrag, S. 237.
2 Vgl. unten S. 70 ff.
' Sorgfaltig im Auge zu behalten iät, daß hier immer nur die An*
nähme einer solchen, d. h. die Behauptung, es werde den Vertrags-
erklärungen bewußt und erkennbar gleich bei Abgabe derselben von den
Staaten eine Beschränkung hinzugefugt, für unzulässig erklärt wird.
Davon völlig verschieden ist die Art, wie wir später — §§ 10 und 15 —
dem (zutiefst zugrunde liegenden, seinerzeit aber nicht zu klarer Erkenntnis
VI 1. 41
Als Fazit aus den in dieaem Paragraphen angestellten
Erwägungen ergibt aich. daß beide Methoden, wie man
bisher eine apezifiBch-juriBtische Wirksamkeit der Klausel
darzutuu versucht hat, gleichmäßig vernunftrechtlichen
Charakter an sich tragen. Der einzige unterschied zwischen
ihnen besteht nur darin, daß dieser Sachverhalt das eine
Mal mehr, das andere Mal minder verschleiert erscheint.
Während die ersterörterte Richtung (S. 20 ff.) direkt aus
naturgegebenen Verhältnissen eine allgemeine Rechtsregel
herleiten wollte, machen die Anhänger der zweiten (S. 3rt ff.)
bloß den etwas weiteren Umweg, daß sie schließen: ^Die
clausula rebus sie stantibus entspricht den subjektiv von
uns festgestellten Zuständen und Bedürfnissen, und deshalb
muß sie unbedingt auch von den Staaten stets in concreto
gewollt und statuiert sein," Auf die prinzipielle Be-
urteilung vermag diese, doch recht nebensächliclie Differenz
keinen Einfluß auszuüben, und so darf man denn von der
Klausellehre schlechthin behaupten, daß sie zu denjenigen
Parteien des Völkerrechts gehört, die nach einem be-
zeichnenden Ausdruck Bergbohms' „ihre juristische
Dlegitimität nicht verbergen können", oder um eine ge-
legentliche Wendung von Fricker" aufzunehmen, die
Schriftsteller der einen wie der anderen Richtung haben
im Orunde immer „bloß ihre eigenen Ansichten ausgesprochen
und nicht mit einem einzigen Wort den Beweis aus dem
positiven Viilkerrecht geführt".
§5.
ungeachtet aller im vorigen Paragraphen beigebrachten
Argumente würde es immerhin noch möglich sein, daß
Idie clausula rebus sie stantibus ein Institut des positiv
gültigen Völkerrechts bildete. Wirklich dargetan ist bisher
dnr
du.
dnrcbgcdruDgeaen) w Ähren und eigentlichen Willen der Koutralioaten
dne gewlBie Borückflichtiguog Kuleil werden lasseu.
■ A. B. O., S, 352.
Gebiet uud Gebietshoheit, 1901, 8. 37.
42
VI 1
bloß soviel, daß die communis opinio den Beweis der juristt
sehen Existenz desselben in durcliaua ungenügender WetH
zu fuhren unternommen hat; dadurch erscheint es aber niuht
ausgeschlossen, daß richtiger angelegte Versuche auch eiol
besseres Resultat ergeben könnten. Enthielten doch die
früheren Strafrechts Systeme zweifellos gleichfalls viel Ele-
mente, denen positiv-juristischer Charakter gar nicht abzu-
sprechen war, nur daß letztere freilich nicht kraft ihrer
behaupteten Vernunftnotwendigkeit, sondern kraft der Ein-
führung durch eine wirkliche Kechtsquelle objektiv galten.
Wie damals die falsche und verfehlte Ableitung bloß durcliJ
die richtige ersetzt zu werden brauchte, um den betr. I
Sätzen ihre Poeitivität durchaus zu retten, so mag Ähn-J
liches vielleicht auch in unserem Falle durchzuführen seiiij
Wollen wir nun hierüber ins Klare kommen, so
wir jetzt noch die Frage untersuchen: wie sich die Staate
selber zu der ganzen Sache praktisch verhalten haben. Nui
wenn uns der Nachweis gelänge, daß die letzteren tataäch-4
lieh, ausdrücklich oder stillschweigend, durch formetleQ-'
Rechtssatz ungs vertrag oder im Wege des Gewohnheitsrechts,
den Willen zu einer derartigen Normachaffung kundgegeben
hätten, könnte der von der Theorie ausgebildeten Klausel- -
lehre auch tatsächlich juristische Geltung zukommen; sia J
,ist nur insoweit aufrechtzuerhalten, als sie sich auf den J
Grundlagen dieser positiven Rechtsquellen festhalten läßt"
Sehr kurz können wir dabei über die Frage nach dai
etwaigen ausdrücklichen Statuierung der clausula hinwej
gehen, denn es wird allseitig anerkannt, daß die unter i
völkerrechtlichen Verkehr pflegenden Kulturstaaten bisb«)
miteinander keinen altgemeinen Satz des Inhalts vereinbi
haben, es solle durch wesentliche Veränderung der Um
stände die juristische Verbindlichkeit der internationale!
Traktate erlöschen. Eher noch ließe sich das direkl
' Worte, die Stark in HnlliandorffsHimdbucIi des Völkerreoh^
Bd. U. S. 515 mit ßeiug na( eine andere intcmatio na (rechtliche Doktij
(uatajUdie Verkehrafreiheit in fremden KüstengenSsseni] aoBipricbt.
Gegenteil behaupten. Das gilt zunächst ganz unzweifelhaft
von einem Spezialfälle, insofern als bezüglich sämtlicher,
eich an der Regier ungsforni , überhaupt der politischen
Organisation eines Volkes etwa vollziehenden Umgestaltungen
seitens der europäischen Hauptmächte expressis verbia,
durch das Londoner Protokoll vom 19. Februar 1831 , der
Grundsatz ausgesprochen worden ist, dieselben vermöchten
keinen Einfluß auf die Gültigkeit internationaler Verträge
zu beanspruchen '. Für alle andersgearteten Veränderungen
fehlt ea freilich an einer derartig bestimmten Erklärung;
doch könnte man eine solche wenigstens implifite in einem
zweiten Londoner Protokoll enthalten finden, welches von
den Großmächten am 17, Januar 1871 unterzeichnet wurde
und in dem ea klipp und klar, ohne jeden Vorbehalt zu
Gunsten der clausula, heißt, daß Traktate lediglich unter
Zustimmung des Gegenkontrahenten, im Wege der freund-
achftfthchen Verständigung aufgehoben oder modifiziert
werden dürften^. Dazu kommt nun noch, daß dieses
Prinzip damals keineswegs ganz neu formuliert wurde,
sondern in gewissem Sinne schon weit früher zu konstatieren
ist. Ein wirkliches Novum brachte nämlich das genannte
' Cf. Martens, N.R.O. X, K. 197; „Len tr&ite» ne perdent paa
lenr puiisauce , queU qae saient les cLangementB uui iuturvieDoent dans
rorganiBHtion inKrieure des penpleH." Vgl. auch fi. Iä9 : „Les chnngements
awi de BeB eogaeemetits ant^rieura — maxime de toue len peuples
clviliB^." In der Folgaieit hat man »ich über dioae» Priniip nocb inehr-
fikch eigenmächtig hinwegziuetKen versucht, beispieUweiie ISIS in Frank-
I reich, als nach Erricfatimg der aneilen Eepiiblik Lamartine dem
I Worlschvall seines Zirknlars vom 2. März u. a. auch die Phrase ein-
I ffi^: .Les traitäa de 1815 n'oxiatent plos ea droit am veax de 1»
, T^piiltlique frani^ae |b. Martena s. a. O., 3 Folge, XII, S. 72); doch
. haben derartige Tendenzen dem einmQtigen Widerstand der übrigen
[ Hächle gegenüber nie diirchzadringen vermocht.
< Härtens, N-H.G. X\1U, 8. 273: „C'est un principe essentiel
I dn droit dea gens qu'aucune piiissance ne peut se d^lier des eugagements
3 trait^ Di cn moditler les stipulationa qn' A la euite de 1'assentiment
l dea partiea coQtractantes , au moyen d'ane entente amicale." Das votl-
. Btändige Schweigen von dem Falle „verSnderler Umstände" ist um so
[ efaarukteristiacher, weil der unmittelbare Anlaß zur Abfax.iung des Protokolls
eiuer auf die clanitula gestützten Vertragskündigung beatand-
[ Tgl. hiersQ dos weiter uoten Folgende.
44
VI 1
Protokoll bloß insofern mit sich, sls der in ihm t
Grundsatz gleich durch eine Mehrzahl von Staaten und
generell fllr alle Verträge ausgesprochen wurde; dagegen
ist, lediglich zwischen je zwei Mächten und beschrankt auf
Einen konkreten Vertrag, Entsprechendes schon oft, zu
allen Zeiten und bereits vor Jahrtausenden erklärt worden.
So enthielt u. a. der auf der ^/axwvotjj arijh; in Athen
verzeichnete Frieden des Nikias die ausdrückliche Stipu^J
lation, Abänderungen desselben setzten, um unbeschadet dei
Eides erfolgen zu kilnnen, die Einwilligung beider Koik|
trahenten voraus', eine Bestimmung, die mehr oder wenrgi
modiKziert auch sonst noch in hellenischen Verträgen vi'el-(
fach wiederkehrt. Und ebenso tauchen derartige Fest- 4
Setzungen in späteren Perioden gelegentlich immer von
neuem auf, wie z. B. noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts
der erste Entwurf des von Talleyrand 1805 dem bayerischen
Kurfürsten vorgeschlagenen AUianztraktatea erkennen läßt*.
Es wird kaum zu bestreiten sein, daß die bisher ge-
ntachten Beobachtungen der Annahme einer positiv- recht-
lichen Sanktionierung der Klausel durch die Staaten nicht
eben günstig sind; geht doch aus ihnen hervor, daß die
letzteren dort, wo sie im voraus, sei es nun generell oder
konkret, die Eventualität des späteren Erlöschens eines auf
die Dauer angelegten Vertrags ausdrücklich ins Auge fassen,
stets nur an den Fall des mutuua disaensus zu denken ge-
wohnt sind und also wahrscheinlich von einer auch wider I
den Willen der Parteien, rein durch die Veränderung der J
' Uf- Thnkj'diden V, 18: «(f J/ti b/juvov rooCair önoTtgtuoSv
'ASijvalotg xal .-iaKeiat/iorfDi;.'
" Wenigstenn scheint mir der Schi uBsrtikel desselben {nach Led
mann, Anschluß Bayenin ut Frankreioli im .luhre 1805, München 3
8, 8, Aiun. 3 folgendeimaßen lautend: „Le präsent trait^ i
affinera et dt^Snira de demeurer r^nsdinbläes ies Uautes partfes
tnctantes auKsi longtemps qa'elles le jag;eront necessaire") nord
vemlinftigeD , der gaiiKen Saebla^ &n);eme»senen Sinn xu geb'
man ihn hU Verbot jeder eiuBeitigeu Tertra^aufhebung verBtebt.
die etidg6ltige Rednktinn de» Traktats bat die aicbt eben klar stilisier
lle»tiinman(; übrigens keine Aafhfthme gefandeo.
45
DmstäDde erfolgeuden Aufhebung von Haus aus überhaupt
nichts wiasen wollen. Nichtsdestoweniger künnte heute
immer noch eine wahrhaft rechtsgültige Anerkennung der
Klauaellebre zu verzeichnen sein; es müßte zu diesem
Zwecke bloß nachgewiesen werden , daß die Staaten die
ursprilngüch bei ihnen vorauszusetzende, der clausula ab-
geneigte Auffassung hinterher nicht praktisch festzuhalten
vermocht haben. Damit gelangen wir zu der zweiten Art,
wie positiv - völkerrechtliche Normen sich bilden können,
d. b. hier zu der Frage, ob vielleicht stillschweigend-
gewohnheitsrechtlich die clausula in die internationale Ver-
kehrsordnung aufgenommen worden ist. Ein Versuch, die-
selbe zu beantworten, ist natürlich nur in der Weise mög-
lich, daß wir nacheinander eine Reihe von EinzelfilUeu
näherer Betrachtung unterziehen, hei denen die beteiligten
Staaten erst nach liereits erfolgtem Vertragsschluß Gelegen-
heit nahmen, sich über den etwaigen Einäuß tatsächlicher
Veränderungen auf die juristische Gültigkeit der Verträge
zu ftußern; bloß unter der Bedingung, daß ein solcher all-
seitig und in konstanter Übung sich akzeptiert findet, würde
man das Recht haben, ein entsprechendes jus non scriptum
jetzt als entstanden zu proklamieren.
Der erste Fall, der hier betrachtet werden soll, bezieht
sich auf ein Rechteverhältnis, welches nun schon annähernd
drei Jahrhunderte zwischen Österreich und Sachüen schwebt.
Während des Dreißigjährigen Krieges, ums Jahr 1035, trat
nämlich die erstere Macht durch den Vertrag zu Prag vom
80. Mai die beiden Lausitzen an die letztere ab. doch so,
daß ,mehrbemeldete Marggrafen thümer von dem Königreich
Böheimb nicht abgesondert werden, sondern demselben als
ein hohes und filrnehmea Stück desselben zugethan ver-
1^ bleiben Bellten" ^. In näherer Ausführung dieser prinzipiellen
K KoUek
H akcneii
' Der ganKe sogen. „TraditionBreEeB" ist abgedruckt im Lauaitzer
LKoUektiouBwerk, Tom. II, S. U09ff., auch bei GUfe;, Kern der
~ LBiechen Qcechlchte, Beilage S, ä. 1268 ff. An deoselben bat sich eine
4ti VII
BeBtimmuDg wurde dann Bölimen neben manchen
wichtigeren Befugniaaen besonders dreierlei reserviert
bebielt die Lehnsherrlichkeit über die Laueitzen, ihm Ständern
vor wie nach bestimmte kirehenhoheitliche Rechte zu, endl
wurde unter gewissen Voraussetzungen ein Rückfall der
zedierten Lande an Böhmen in Aussicht genommen. Wäh-
rend nun die hieraus resultierenden Rechtabeziehungen lange
Zeit keinen Anlaß zu grundsätzlichen Differenzen unter
den Vertragskontrahenten boten, änderte aich dae bald nach
Anfang des 10. Jahrhunderts. Und zwar in der Weise,
daß die sächsiache Regierung damals begann, dem Traditiona-
rezeß seine fernere RechtsgUltigkeit Überhaupt zn bestreiten.
Bei Begründung ihrer Ansicht „legte sie das Hauptgewicht
auf die politischen und staatsrechtlichen Vera nderunge
welche in den Verhältnissen der deutschen Staaten
Länder zu Anfang unseres Jahrhunderts vorgegangen sind'
sie war der Meinung, daß mit Rücksiebt auf die 180tj ein-
getretene Auflösung des alten Reiches, den hierdurch be-
dingten Erwerb der vollen Souverünetät für die deutschen
Eiozelstaaten , das Eintreten Sachsens in den Rhein-
bund usw. U8W, von einem Fortbestand der österreichischen
Ansprüche keine Rede mehr sein könne. Kürzer und in
der uns hier interessierenden Formel ausgedruckt, sie hat
in jener Zeit wirklich den Versuch gemacht, der clausula
rebus sie stantibus die Kraft recbtliuher Vertragsaufhebung
in concreto beizulegen. Osterreichischerseits wurde jedooh'
dieser Auffassung aufs Entschiedenste widersprochen; intl
strikten Gegensatz zu den sächsischen Rechtsdeduktion^j
vertrat die andere Partei in ausführlichen Darlegungen
Ansicht, daß alle seit dem Jahr 180ti erfolgten politischflS^
Umgestaltungen die juristische Gültigkeit des Tradition»*^
) absolut nicht beeinträchtigt hätten, und es ist ihr;
cht
xiemlicib amfangreklie Spezialliteratur angcschloaseu , über die
(S. 19, Änm. 2 angefahrte) Disnertation uähere AiigabeD entbält.
> Pfeiffer, Das Verhältnis der OberlauaitE zur Krane BQhm
■50. Band d«« Neutm LauEitÜBcheu Magavins, S. Sß.
' VI 1.
47
auch schiießlich gelungen, selbst den Gegner zu einer ge-
wissen AbschwächuDg seines achrofi negierenden Stand-
punkts zu bewegen. Durch einen eigenen, vom 9, Mai 1845
datierten Vertrag wurde nämlich das böhmische Schutz- und
Oberaufsich tarecht ilber die katholische Geistlichkeit und
die Klöster in dar Lausitz einer Neuordnung dahin unter-
zogen, daß Sachsen, ohne prinzipiell auf seine Meinung von
der jetzigen Rechtsunverbindlichkeit des Prager Rezesses
zu verzichten, doch praktisch zugestand, „es wolle das
Domkapitel St. Petri zu Budissin und die Frauenklöster
Marienstern und Marientha! hin für wie bisher in ihrem
Rechte und in ihrer Verfassung erhalten", wogegen Oster-
reich, ebenfalls unter aller Wahrung der grundsätzlich ver-
tretenen Auffassung, die Gegenerklärung abgab, „mit Hin-
sicht auf die vorgedachte Kgl. Sächsische Deklaration und
deren unverbrüchliche Festhaltung sich fortan aller Ein-
mischung in die Führung der inneren und äußeren An-
gelegenheiten dieser Stifter zu enthalten" '.
Ein zweiter Fall, in dem wir in der Völkerrechtspraxis
eine deutliche Bezugnahme auf die clausula konstatieren
können , versetzt uns mittenhinein in die welthistorischen
Ereignisse, die in ihrem unmittelbaren Erfolg die Los-
retßuDg Schleswig-Holsteins von Dänemark und indirekt
' Vgl. Pfeiffer, a. «. O., S. 91, Deuraer, ReohUidier Anspruch
Böbmen-OaterreicbB auf das Kgl. Sgchaische Markgrnfeatum Oberlausitz,
S. 62 f. Sachlich lief da» obige Übereinkommen einfarh darauf hinaua,
daß Sacbssn beatimmtu, im TrHditionerezeB äbemommeiiG Pflichten noch-
mata bestätigte und neu anerkannte ; denn wenn Österreich auch formell
auf die frühere „Spezialein Wirkung in die Oenchäfte der Stifter", auf
fortwährende „Detail beTO^ung" veraichtete (Pfeiffer, a. a. O., S. 92/97),
HO geBchali das doch nur deshalb, weil und so lange die sSchsische
Kagierung die geschuldete Aufrechterhai tung des kirchenrechtlichen atatua-
quo schon von aich hob durchführen würde. Betreffs der beiden anderen
Punkte, alao r&cksichtlicb der Lehnaberrlichkeit über die Lausitz und
des eventuellen Heimfallarechts, hat wegen der damaligeu Geringfügigkeit
ihrer praktischen Bedeutung eine neue vertragsmäßige Einigung unter
den Parteien nicht stattgefunden. Jedenfallg gab aber auch bei iJmen Öster-
reich das Erlöschen seiner Ansprüche in keiner Weiae zu, sondern
hielt letztere im Gegenteil ausdrücklich und zu wiederholten Malen
■ofrecht
48 VI 1.
weiterhin die Aufrollung der ganzen deutschen Frage , die
politische Neuordnung unseres Vaterlands auf bundesstaat-
licher Grundlage herbeiführen sollten. Durch das Londoner
Protokoll vom 8. Mai 1852 ^ hatten die europäischen Groß-
mächte mit Einschluß von Preußen und Österreich die Er-
haltung der dänischen Gesamtmonarchie für überaus wichtig
zur Wahrung des Gleichgewichts und Friedens von Europa
erklärt und demgemäß vereinbart, nach dem Aussterben
der augenblicklich über jene noch regierenden Linie den
Prinzen Christian von Sonderburg-Glücksburg als Nach-
folger in sämtlichen, zur Zeit dem König von Dänemark
gehörenden Territorien gemeinsam anzuerkennen. Als die
damals ins Auge gefaßte Eventualität infolge des Todes von
Frederik VII. schon 1863 eingetreten war, schienen die
Ereignisse zunächst auch wirklich in der verabredeten Weise
verlaufen zu wollen; denn die Thronbesteigung des neu-
berufenen Königs fand zwar mit Rücksicht auf die Elb-
herzogtümer lebhaften und ungeteilten Widerspruch bei
der deutschen Nation, nicht aber auch bei den praktisch
ausschlaggebenden Staaten Österreich und Preußen, da diese
sich eben durch das 1852 er Abkommen als gebunden an-
sahen. Selbst nachdem es aus anderen , hier nicht weiter
zu erörternden Gründen zu offenem Kampf zwischen Däne-
mark auf der einen und den beiden deutschen Großmächten
auf der anderen Seite gekommen war, wurde die Gültigkeit
des Londoner Protokolls anfangs noch nicht prinzipiell be-
stritten. Das änderte sich jedoch, als der erstere Staat
trotz aller erlittener Niederlagen mit hartnäckiger Ver-
blendung jedes Eingehen auf die ursprünglich recht mäßigen
Forderungen der Sieger verweigerte : während der Friedens-
konferenzen, die vom 20. April bis 25. Juni 1864 zu London
abgehalten wurden und bei denen die neutralen Mächte
eine Einigung herbeizuführen suchten, tat Preußen und ihm
* Abgedruckt bei Ghillanv, Diplomatisches Handbuch, Bd. U,
S. 170 f.
n 1.
49
folgend Österreich den entscheidenden Schritt, daa frühere
Übereinkommen , hauptsächlich wegen völlig veränderter
Umstände, einfach für aufgehoben zu erklären '. Die fernere
Entwicklung der Sache gehört nicht mehr hierher; vielmehr
bedarf es für unsere Zwecke bloß noch der Feststellung,
daß dem österreichisch -preußischen Vorgehen damals all-
gemein stark opponiert wurde, daß nicht nur das unmittelbar
beteiligte Dänemark, sondern auch die übrigen Staaten nach-
drücklichen und mehrmals erneaerten Widerspruch gegen
jede einseitige Vertragskündigung erhohen.
Als drittes Beispiel nenne ich die Art und -Weise, wie
1870/71 gewisse Stipulationen des den Krimkrieg ab-
flohließenden Pariaer Friedens vom 3U. März lööli* einer
Modifikation unterzogen wurden. Durcli Art. 11, Ki, 14
desselben, sowie kraft einer am gleichen Tage unter-
zeichneten russisch-türkischen Spezialkonvention war den
Uferataaten des Schwarzen Meeres die Verpflichtung auf-
' UraprÜDgHch geschah da» sllerdinga bloß Dänemark xelb^t geifea-
über, dadurch, dafi PreuBeii in der KoniereiiEBitzuiig vom 12. Mai tür
siub und seinen AIIÜerteD formell bemerkte, „qii'ils regardenl le terraiu
de la diBCUHsian comme entiäremeut libre de toute reatriction r£aultHnte
d'engagements qui peovent avoir eiistö «vant la guerre entre leura
Gonvenieroents et le Dänemark" (cf. Martens, N.K.G., T. XVU,
Partie II, ä. 35ii). Im AuacliluB jedoch nn einen von Eiiglaud gemachten
Einwand, durch den auf die .obligaliuns euvera les aiitres PoigRaaces,
cu-Bignataire» du mSme traitä" hiDgevcieBcn wurde, begsDD man nelir bald,
aueh im Vorhältois zu diesen, <ca den Mitunterzuichnem dt^B Londoner
ProtokolU, die fortdauernde Verbindlichkeit denBelbea nii negieren, ^a-
nächHt DocL verhüllt und in etwas eigentSml icher Weine (nüheres bei
MartenH, n a. ü., S. SliÜ), Npäter immer klarer und entschiedener.
DaU man sich dabei materiell auf den Gesichtspunkt veränderter Um-. '
stände zu stiltKen gedachte, kam eralmnlig zum Ausdruck in einer Depesdia
Bismarcks vom 15. Mai (vgl. Holtaandorff, Handbuch des T61ker-'J
recht», Bd. III, S. 81), darauf anch in der Konferenz selbst (cf. Protokt^I
der Sitaung vom 17. Uai^ Martens, a. a. 0., H. 3£S) vermage der (
motivierten Erklärung: „I^s PniajiBnces allemandei, Im Situation ät an t
cbangä depuis, doivent t<e räserver toutt> libcrt^ quant aui banea de
la distuBSion." Noch bestimmter klin^nd die Äußerung PreuBenx in
der Sitzung vom 16. Juni (Martens, a.a.O., 8.416', daß es „ne peat
tract^es le 8. mai 1852 sous d'autres pr^Hupposittons".
' VolUtändigerTeitbei Ghillauny. Diplornnti-tehe* Handbuch Ill.t'fl
S. 36 ff.
StutH- u. Tnlkerrechtl, Abhandl. VI 1. — Bchmidt. 4
50 VI 1.
erlegt worden, Etablissements für Kriegsmarine daselbst gar
nicht und KriegsschiflFe nur in genau fixierter Größe und
Zahl zu unterhalten. Von diesen schon längst als drückende
Fessel empfundenen „ungeschicktesten Bestimmungen des
Pariser Friedens" ^ suchte sich nun Rußland gegen Ende
des Jalires 1870 frei zu machen, wobei es zur Rechtfertigung
seines Verhaltens ganz unverkennbar die clausula rebus sie
stantibus heranzog. Das trat schon in dem Rundschreiben
vom 19/31. Oktober^ deutlich hervor, durch welches der
russische Kaiser erklären ließ, in der gegenwärtigen Liage
der Dinge, dans cet 6tat des choses, könne er jene Stipu-
lationen nicht länger als verpflichtend anerkennen, mehr
aber noch im Verlauf der großmächtlichen Konferenzen ^
die auf Vorschlag Deutschlands zur Regulierung der ganzen
Angelegenheit stattfanden. Diese Neuordnung ist nun in
einer Form erfolgt, die für die Frage der positiv-praktischen
Wirksamkeit der Klauseitheorie überaus bezeichnend und
lehrreicli ist. Ganz wie 18G4 waren nämlich auch jetzt
wieder die Mitunterzeichner des Pariser Friedens durchaus
nicht der Ansicht, daß die Bestimmungen desselben durch
irgendwelche Veränderung von Umständen schon rechtlich
als beseitigt gelten könnten; insbesondere England hat auf
der Konferenz die russischen Erklärungen von Anfang an
umgedeutet zu bloßen „propositions quela Russie däsire
* Bismarck, Gedanken und Erinnerungen II, 8. 104.
2 Cf. Märten 8, N.K.G. XVIIl, 8. 269 ff.
^ Ein Abdruck sämtlicher Öitzungsprotokolie findet sich bei
Märten 8) a. a. O. , IS. 270 ff. Kur ein paar besonders wichtige Beleg-
stellen will ich hier aus ihnen beibringen. 1. Sitzung vom 17 «lan. 1871:
„Le pl^nipotentiaire de Russie a Signale combien la Situation
actuelle enEurope est loin de cellc qui existait ^r^poque
du Congr^s de Paris'^; „prcnant en serieuse consid6ration les
changements produits graduellemcnt par la marche du temps^; ^ces
stipulations sugg^r^es k unc autre epoque sous l'influence de conjonc-
tures toutes differentes de la Situation präsente." 2. Sitzung vom
24. Jan.:. „Combinaisons qui ne sont plus en accord avec Tactualite des
choses." S. Sitzung vom 3. Febr. : „Les stipulations du trait6 de Paris,
^crites sous l'influence des ^venements alors encorc trop r^cents de la
gnerre, ne se trouvent plus en accord aujourd'hui avec la Situation cr^^
par r^tat de paix lieureuseniout retabli en Orient.**
VI 1.
51
nous faii-e par rapport k la r^viaion qu'elle demande des
Btipulations du trait4 de 1850" ^. Prinzipieil in der näm-
lichen, wiewohl vielleicht nicht so prononcierten Weise
äußerten sich aber auch die Vertreter der übrigen Mächte*;
ja was am allerbedeutaamstcn ist, Rußland selbst hielt es
während der Konferenzen t'tir angezeigt, dieser Äuffaaaung
formell nicht zu widerüprechen und so den zuerst ein-
genommenen Standpunkt von der unmittelbar juriatischen
Wirkung veränderter Umstände stillschweigend aufzugeben ".
Freilich wurde ihm das sehr wesentlich dadurch erleichtert,
daß es bei der damaligen politischen Lage* sicher sein
konnte, sein Ziel praktisch doch zu erreichen, wie denn
die beanstandeten Bestimmungen ja auch wirklich durch
L einen neuen Vertrag* schließlich aufgehoben und gemeinsam
I »ußer Kraft gesetzt worden sind.
i Endlich an letzter Stelle mag noch eines Vorfalles aus
den SO er Jahren des 19. Jahrhunderts gedacht werden, bei .
dem Rußland in ganz ähnlicher Weise wie 1870 gegen die 1
fortdauernde liechtsgllltigkeit einer internationalen Traktats-
festsetzung vorgegangen ist. Dieselbe war enthalten in dem
Art. 59 des Berliner Vertrage vom 13. Juli 187« und be-
ätaud sachlich in der vom russiscbeti Kaiser abgegebenen
Erklärung, es sei seine Absieht, die durch den vorher-
gehenden Artikel von der Türkei erworbene Stadt Batum
am Schwarzen Meere zu einem Freihafen zu machen'.
< Martens, a, s. O., B. 275. Ähnlich aueh 3. 283: „La Riiiuie
eiprime ai\joDrd'hai am co-iigriat^tas du trait£ de löSß le dSsir
d'Stre däliä» de aee eu^agemeuta."
* Vgl. 1. B. die Art, wie der deutsche Oasandte (Uartena, a. a. O.,
S. 277) warni der Beräokaichtigiing empSehlt „le döflir du OourernemBat
Imperial de Kuesie de voir les itipulations de lä5ij aouiaiaeB k une
rävision'', oder aiicli die türkischen ErklÄnitigen, S. 2äl.
* Am schärfsten kam das zum Anedn»^ ia der Tatsache. i»A
BuUlaud auch dos, von uns auf S. 43 ziüerte, ProtukoU Ttim 17. Januar
bereitwillig mit nntentchrieb, „wiewohl seine ganze Aktiou in der Frage
dem dort auBgeaiiraoheuen Prinzip widersprach" (Heffter-Oeffcken,
IEnrüpäiBoheH Yülkerrecht, S. 1H4, Anm. 4).
* Vgl. hierzu ü. 67, N. 1.
» Vom 13. Mä« 1871; cf. Marlons, a. a. O., S. 303 ff.
" Im JVauiSsiaiJieu Origiualteit |cf. M »r t c uh , N.K.G., Li. ä^rie, T. III,
i U
52
vn
Diese BeBtimmung war auch zunächst wirklich zar Ai
fllhrung gelangt; doeb wurde schon acht Jahre später, di
einen Ukas vom 23. Juni 188li', einseitig von Kußland
Freibafenstellung Batums wieder beseitigt. Die nähere
grUndung, die man der ganzen Maßregel damals zu geben
versuchte, läuft nun zwar keineswegs lediglich auf den
Oedankengang der Üblichen Klausellehre hinaus, insofern
als daneben, in einem der Haupterkiftrung beigegebenen
Memorandunn , auch noch ein ganz anderer Qesicbtspunkl
geltend gemacht wurde ^; immerhin bestand aber dasjeDiga.
Moment, auf welches sich Rußland in dem Ukas selbst
drUckiic'h stützte, hier abei'mals in dem Hinweis auf di
inzwischen eingetretene Veräaderung der Umstände', Eben-
sowenig jedoch wie der letztere bei dem früheren Vor-
kommnis widerspruchslos durchzudringen vermocht hatte,
sollte das auch diesmal wieder der Fall sein. Wohl setzten
die meisten Unterzeichner der Berliner Kongreßakte, da
ihnen naturgemäß an der Freihafenqualität der entlegenen
klein asiatischen Stadt wenig liegen konnte, dem eigen-
mächtigen Verfahren Rußlands einen Protest nicht entgegen.
Diejenige Macht aber, deren Flagge in Datum weitaus do-
minierte, d. h. England, verhielt sich durchaus anders: sie
erhob formelle Einsprache gegen die einseitige Aufhebung
des Art. öd*; sie erklärte ausdrücklich das uns bereits be-
liffij
1, S. 464: „S. M. remperenr de Uusele d^clure que Son i
d'driger Batoum cn port franc, emieiitialeinBnt ODDimercial." ^m
< et MarleuB, N.K.G., II. Särie, T. XIV, I, 169 ff. ■
> Tgl. Härtens, s. a. O., S. 171: „L'article 59 occupe dms tfl
tr&it£ de Berlin ane place k part, car ü' n'est pae, comme les autrM,
le produjt d'an accord collectif, mais il bome k enre^istrer Dne
djclaration llbre st spontan^ de S. M. l'empereur Alexandre IL'
Wir werden nns mit dieser eigentümlichen „Einrcgiatrieningetheorie'.
mit der Uehauptung, daK manche Beatimmutigcti gar nicht Ewecks recht-
licher Bindung, sondern lediglich zEr Kundmachung und Verlautbarung
unverbindlicher Abtiichten in den Text oines intern ationaleu Vertrag»
au^ianomDicn würden, iioeh bei einem späteren Anlaß (8. IM bei Aiim. S.J
t beschädigen haben und verweisen deshalb jetzt einfach auf daa dort
^t;
Cf. Mai
, 169r „Les ci
'ait it& adnpt^e ae sont bexuci
Angeblieh übrigeni auch nicht
I, dans leacjuelles la dita
modiSäes depuis.^
materieller IntereiMn i
kannte Londoner Protokoll vom Jahre 1871 als hierdurch
verletzt, kurz sie markierte auch in der 1886 er Angelegen-
heit deutlich den Standpunkt, daß „keine Macht sich ihrer
vertragsmäßigen Verbindlichkeiten anders entledigen könne,
als unter Zustimmung ihrer Gegen kontrahenten , im Wege
der freundschaftlichen Verständigung.
Mit den vier ohen aufgefUhrten Beispielen mag es einst-
weilen sein Bewenden haben. An und ftir sich könnte es ja
Bedenken erregen, schon aus einem ao geringtligigen prak-
tischen Erfahrungamaterial allgemeine Schlüsse zu ziehen.
Doch sind gerade bei unserem Falle Gründe vorhanden,
die es erlauben, uns an dieser Stelle mit einer kleineren
Zahl von Einzelbelegen zufrieden zu geben, als es sonst
wohl gestattet wäre. Einmal nämlich werden wir auch im
folgenden noch mehrmals Gelegenheit zur Zitierung prak-
tischer Falle finden* und dabei in dem entscheidenden
Punkte stets die gleiche Erscheinung zu konstatieren haben,
wie sie in sämtlichen vorhin genannten Beispielen überein-
stimmend zutage tritt; dann aber und vor atleu Dingen
ist auf die Ausführungen zu ^ 6 zu verweisen, denen zu-
folge es schon als überaus schwierig, um nicht zu sagen
direkt unmöglich gelten muß, auch nur der Vierzahl der
von uns beigebrachten Belege eine entsprechende Menge
konträr beweiskräftiger Vorkommnisse entgegenzuhalten.
Wenn wir nunmehr festzustellen suchen, was uns jene
vier Fälle für die ganze hier zur Behandlung stehende Frage
zu lehren vermögen, so ergibt sich folgendes. In erster
Linie macht sich ein Moment bemerklich, welches wirklich
zugunsten der positiv -juristischen Geltung der clausula
londern bloß wogen des Principa der Vertra^treae als «olcheu. Vgl.
die Depesche Eoseberry» vom la Juli 1886: „Apart W tho ponition
of Greiit Britaiu M ooe of tlie powera, partie» to the Declaration of the
19*11 January 1871 and to Ihe Treaty ot Berlia, Her MiJeatyV goveroement
luve little or no material interest ia the question."
' Tgl. be». Ä, 57, Änm. 3 (Fall de» Luxemburger BeaatzuugRrechta),
[ 8. 172, Amn. 1 a. E, (Clayton-Balwer- Vertrag), S. 188ff., speziell 189, Anm. 9
I (Barri^re-Traktut) u. a. tu.
54 VI 1.
rebus sie stantibus zu sprechen scheint: mit der Wahr-
nehmung, wie Sachsen bei der Leugnung seiner Lausitzer
Verpflichtungen sich unverkennbar eines derartigen G^e-
dankenganges bedient hat, wie 1864 Preußen und Österreich
in bezug auf das Londoner Protokoll vom 8. Mai 1852
ganz ebenso verfuhren, wie endlich auch Rußland zu wieder-
holten Malen die vertragsaufhebende Wirkung veränderter
Verhältnisse behauptete, ist immerhin soviel dargetan , daß
die Elausellehre bisher schon nicht bloß in theoretisch
wissenschaftlichen Völkerrechtssystemen existiert , sondern
auch im praktischen Verkehrsleben der Staaten eine gewisse
Rolle gespielt hat. Indes die näheren Umstände, unter
denen letzteres geschah, sind keineswegs danach angetan,
der Entstehung eines spezifischen Rechtssatzes als aus-
reichende Basis zu dienen.
Es ist nämlich darauf aufmerksam zu machen, daß die
praktische Bezugnahme auf die Klausel doch stets nur eine
einseitige war. Immer nur derjenige Staat, der sich durch
einen alten Vertrag unangenehm beengt, in seinen Interessen
beeinflußt fühlte, mit einem Worte immer nur der ver-
pflichtete Partner, wenn wir diesen kurzen, aber freilich
nicht überall ganz genau zutrefi^enden ^ Ausdruck brauchen
wollen, ist es gewesen, der sich auf die Umgestaltung der
Verhältnisse berufen und aus ihr das Erlöschen seiner Ver-
bindlichkeit herzuleiten versucht hat; dagegen zeigt sich
auf der anderen Seite regelmäßig das Bild, daß der Richtig-
keit dieser Argumentation scharf widersprochen, der juri-
' Faßt man z. B. den Londoner Traktat vom Jahre 1852 über die
Kegelunfc der dänischen Erbfolge in» Auge, so ergibt sich, daß das 1864
die fortdauernde Gültigkeit desselben behauptende England und das sie
bestreitende Preußen formell in ganz gleicher Lage waren: es handelte
sich bei dem einen wie bei dem andern um die Verbindlichkeit,
die Sukzession des neuen Königs Christian im vollen Umfange an-
saerkennen. Trotzdem darf auch hier, wenigstens materiell, von dem
Verhältnis eines berechtigten Staats zu einem verpflichteten gesprochen
werden, weil die Erhaltung der dänischen Gesamtmonarchie für die
Politik des ersten Staats nur günstig und erwünscht, dagegen für die
des zweiten überaus nachteilig war.
stische Fortbestand des Traktats energisch verfochten wird.
Bei dieser diametralen Gegensätzlichkeit der Beurteilung
ist aber von vornherein dem ersten und obersten Prinzip
aller internationalen Kechtsbildung nicht genUgt, nach
welchem eine solche gerade nur aus irgendeiner Überein-
stimmung mehrerer Staaten hervorgehen kann.
Letzteres Erfordernis, welches zunächst bei der aus-
drücklichen Normsetzung ganz deutlich darin zutage tritt,
daß zu derselben nicht isolierte Erklärungen der einzelnen
Staaten, sonderu bloß gemeinsame, aufeinander bezogene
Aktionen ausreichend und imstande sind, ist der still-
schweigenden Rechtsbitdung mutatis mutandis genau so
charakteristisch .und wesentlich. Daher erscheint z. B.,
bloß in diesem Sinne verstanden und speziell in Atiwendung
auf das Völkerrecht, auch beispielsweise die Fürmelung
Windscheids' — mit der man eich im übrigen durchaus
nicht zu identifizieren braucht — als völlig zutreffend, es
mUsse bei jedem Gewohnheitsrecht „der Ausdruck einer
gemeinsamen Rechtetiherzeugung des Kreises, für welchen
behauptet wird, gefunden werden können". Ist dem
aber wirklich so, so achließt das offenbar vor allem auch
dies mit ein, daß die beiden in concreto beteiligten Par-
lien über die Beurteilung der Sache immer ganz einig
gewesen sein müssen, widrigenfalls eine zugunsten des
fraglichen Gewohnheitsrechts sprechende Übungshandlung
von vornherein gar nicht zu entstehen vermochte^ läßt sich
doch die gesamte Bildung von internationalem jus non
scriptum näher bloß in der Weise konstruieren, daß aus
r stets von neuem beobachteten Übereinstimmung dieser
sutetzt der allgemeine Schluß gezogen wird, derartiges sei
als präsumtiver Wille der Kulturstaaten schlechthin und
\ überhaupt anzusehen. Aus alledem erhellt, wie wenig die
i uns analysierten historischen Vorkommnisse als positive
I Unterlage und Stütze der behaupteten Klauselnorm heran-
' Pandekten § 16 im Eingaug».
56 VI 1.
gezogen werden dürfen. Denn selbst völlig zugegeben, daß
dafür auf der einen Seite, bei den jeweils verpflichteten
Mächten, die geeigneten Voraussetzungen wirklich vorhanden
waren, so fehlte es an ihnen doch jedenfalls unbedingt auf
der anderen, da hier die Gläubigerstaaten eben stets eine ganz
entgegengesetzte Auffassung wie jene an den Tag legten.
Wo aber niemals eine Übereinstimmung in concreto zu
konstatieren ist, da kann natürlich auf ein innerhalb der
ganzen Völkerrechtsgemeinschaft akzeptiertes jus non scrip-
tum erst recht nicht geschlossen werden. Das ist umso-
weniger zulässig, als einige Male, bei den Ereignissen der
Jahre 1864 und 1871, die Zahl der der clausula opponieren-
den Staaten notorisch eine größere war wie die der für sie
eintretenden.
Zu den Erwägungen dieser Art kommen nun aber
unterstützend noch andere hinzu. Es kann nämlich be-
gründeten Zweifeln unterworfen werden , ob auch nur die
vorhin gemachte Annahme wirklich zutreflFend ist, dafi
wenigstens die Haltung der Schuldnerstaaten an sich für
gewohnheitsrechtliche Übung der clausula sprechen würde.
Sollte das tatsächlich der Fall sein, so müßte in erster
Linie auch bewiesen werden können, daß die Betreffenden
immer optima fide ein spezifisches Recht im Sinne hatten,
die Erfüllung der fraglichen Verbindlichkeiten wegen ge-
änderter Umstände verweigern zu dürfen. Qerade diese
eigene Gutgläubigkeit erscheint aber aus verschiedenen
Gründen ziemlich problematisch. So ist es beispielsweise
Tatsache, daß einige Staaten sich bei Anfechtung ihrer Ver-
pflichtungen nicht ausschließlich auf die clausula stützten,
sondern außerdem noch die Heranziehung anderer Momente
für angezeigt hielten ^ und damit selber nicht allzu großes
* Vgl. u. a. die Ba tum -Angelegenheit, bei der ja Rußland sehr
wesentlich auch mit der „Einregistrierungstbeorie" operierte. In ähn-
licher Weise haben 1864 Preußen und Österreich neben dem Gesichtspunkt
veränderter Verhältnisse noch denjenigen der Nichterfüllung gewisser, 1852
▼on Dänemark übernommenen Verbindlichkeiten („non-accomplissement
de couditions pr^liminaires'^) geltend gemacht.
VI 1.
Zutrauen auf die juristiache Durchschlagskraft der ersteren
bekundeten. Fernerhin ist in Anschlag zu bringen, wie
bereitwillig man teilweise die ursprungliche Argumentation
iiinterher ganz aufgab ' oder sich doch mindestens zu ge-
wissen Konzessionen an den Standpunkt des Gegners bereit
finden ließ^. Endlich muß es noch als sehr bezeichnend
gelten, daß oft die nämlichen Staaten, die in der Rolle des
Verpflichteten mit der Anwendbarkeit der Klausel durchaus
erstanden sind, sich ihr höchst abgeneigt zeigen, sobald
sie wider sie selbst ala Berechtigte gekehrt werden soll',
' ßo Rnßland 1871 in der PoDtasfrage; vgl. S. 51 bei Ann». 3.
■ So SschBBn 1845 in Bezug auf die kirehenrechtlichen Verhfiltuiise
r Lausita; vgl. 8. 47.
° Sin Beleg hierfür läßt sieb unter nochmaliger AnknDpfang an
die SchleBwig-Holateinache Kache gewinnen. Wir wissen, daß bei dieser
'ie dentachen Großmächte UQTerkenubsr für die vertragssnf hebende
Wirkung ron res mutatae sich ausgesprochen haben. An anderer Stella
jedoch verhielt sieb in diesem Punkte sowohl Österreiub wie PreaBan |
▼Öllig entgegengoBBtüt. Und »war geschah das seileiis de» ersteren
rtohtlich der Lsuaitzer Frage, im Verhältnis za Sachsen, dagegen se
■ letzteren im Falle dos Luxemburger Itesatzungarenlits. ßn die z'
genauntu Angelegenheit in den vorliegenden Unters ucimngen noch i
ber&brt wurde, gleichzeitig aber I3r unsere Zwecke in mehrfacher Be-
ziehung reubt instruktiv ist, so mag hier eine kurze Daratellung der-
selben Platz Enden. Im Anschluß an Art. 67, Abs. Ü der Wiener Kongreß-
akle, durch den die Stadt Luxemburg gan« allgemein Enr deutschen
Bundesfestang erklArt wurde, hatte speziell Preußen auf Orand tbi^
Bchiedener völkerrechtlicher Erwerbstitel (bes. zu beachten der Franfc:*
furter Vertrag mit dem König der Miederlande vom 8. November ISlSt*!
Klüber, Öffentliches Kcchl des deutoohen Bundes, 4. Aufl., 8.280, H.S^n
die Befugnis erlangt, in der Hauptsache die Besatzungstruppen dieses
Plattes KU stellen. Als dann darcb die Ereignisse des Jahres 1886 das
Ende des deutscheu Bundes herbeigeführt worden war, nabm die luxem-
burgische Regierung der proußischeu gegenüber sofort den Standpunkt
ein, letztere habe unter den veränderten Verhältnissen kein Recht mehr,
in Jener fremden Festung Qarnison zu halten (vgl. die Erklärung Bismnrcks
im norddeutschen Reichstag am I.April 1867; H a h n , Zwei Jahre preußisch-
deutscher Politik, S- 582). Diese Meinung von der cu ipio eingetretenen
Hinfälligkeit des BeaatzungsrccbCs wurde jedoch von Preußen absolut
nicht gebilligt; vielmehr vertrat dasselbe in amtlichen und halbamtlichen
Erklärungen entschieden die Ansicht, es bliebe lediglich „weiterer Er-
wägung und Verständigung der beiden beteiligten Mächte vorbehalten,
inwieweit sie den in Bede stehenden Vertrag aufrecht erhalten oder
Ietwa abändern wollten" (Hnhu, a. a. O., 8. 589). Tatsächlich sind ,
dann auch erst durch „nonveanx arrangements", durch den bekaontani —
yon den europäischen Großmächten mitunterzei ebneten Vertrag voqI
It Mai 1867 (Ohillany, Diplomatisches Handbuch, Bd. lO, S. 408ft) ]
58 VI 1.
Angesichts aller dieser Umstände wird man gewiß mit
der Möglichkeit, vielleicht sogar der großen Wahrschein-
lichkeit zu rechnen haben, daß nicht einmal seitens der auf
Umgestaltung der Verhältnisse sich wirklich berufenden
Staaten an eine wahre Rechtsübung der clausula gedacht
wurde; im Gegenteil erscheint durch sie die Vermutung
sehr nahe gelegt, daß die letzteren die von der Theorie
ausgebildete Elausellehre bloß als politisch brauchbares
Hilfsmittel zur Bekämpfung drückend gewordener Vertrags-
pflichten benutzten, ohne selbst von der juristischen Za-
lässigkeit ihres Verhaltens durchdrungen zu sein. Damit
wäre dann aber auch der letzte schwache Anhalt geschwunden,
in jenen Vorkommnissen praktische Belege zugunsten der
behaupteten Rechtsnorm erblicken zu dürfen: wenn nach
den früher gegebenen Ausführungen immerhin noch ein-
seitige Versuche einer Rechtsübung möglich blieben, Ver-
suche freilich, die stets auf den nachdrücklichen Widerstand
der Gegenkontrahenten stießen und also schon deshalb nie
zur Ausbildung einer positiv -juristischen Norm führen
konnten, ist nunmehr auch dies noch mindestens recht frag-
lich geworden.
In Summa: das von uns untersuchte Material ist so un-
geeignet wie nur möglich, der Annahme einer stillschweigend-
gewohnheitsrechtlichen Sanktionierung der clausula irgend-
welche positive Stütze zu gewähren ; weit entfernt, für eine
solche zu sprechen, vermag es umgekehrt nur aufs Ent-
schiedenste wider sie zu zeugen.
§ 6.
Wie bereits (auf S. 53) angedeutet wurde, bietet unsere
Beweisführung, daß die clausula rebus sie stantibus bis auf
den heutigen Tag auch nicht als Bestandteil des völker-
dem „changement apporte k la Situation da grand-duch6 par snite de la diaso-
laüon des liens qui Tattachaient k rancienne confi^d^ration germaniqne*
praktisch wirkHame Folgen zugesprochen, eine grundsätzliche Neuordnung
des Verhältnisses vereinbart worden.
VI 1.
reclitlichen ius non scriptum sich dartiin läßt, in gewisser
Beziehung noch Gelegenheit zur Beanstandung. Es beruht
das auf derselben Schwierigkeit, die wegen der oigentüra-
liehen Natur und Beschaffenheit des Gewohnheitarechta mehr
oder weniger überaU wiederkehrt, wo der Nachweis resp.
wie in unaerewi Falle die Widerlegung eines solchen unter-
nommen wird ; bleibt doch dem Gegner trotz aller kon-
kreten Belege nach der einen oder anderen Richtung hin
atets noch die Chance, durch Anführung einer entsprechend
größeren Zahl entgegengesetzter Beispiele zu zeigen, daß
jene bloß seltene Ausnahmefölle darstellen und deswegen
einen allgemeinen Schluß in ihrem Sinne nicht gestatten.
Gerade bei unserem Sposialproblem mag aber ein derartiger
Versuch von vornherein gar nicht so aussichtslos dünken,
denn nicht bloß haben wir für unsere Auffassung verhält-
niamfißig nur wenig Einzelbeweiae beigebracht, sondern es
kann sich auch die gegenteilige i^Ieinung unleugbar auf
zahlreiche geachichtliche Vorkommnisse berufen, die ihr für
den ersten Augenblick sehr günstig zu sein scheinen.
Unter diesen Umständen macht sich nun zur Ergänzung
unserer Argumentation noch eine nithore Präzisierung dessen
notwendig, was für Merkmale historiacb gegebene Fälle
unbedingt aufweisen müaaen , wenn aie in Wirklichkeit für
eine positiv- rechtliche Einführung der Klausel sprechen
sollen. Wir werden dabei zu dem Resultate gelangen, daß
von dem gesamten umfänglichen Gegenmaterial, an das man
Eunächst wohl zu denken geneigt wäre, bestenfalls nur ein
geringfügiger Bruchteil den zu erhebenden Anforderungen
wahrhaft zu genügen vermöchte.
Vor allem ist eine ganze große Gruppe auszuscheiden,
bei der sorgfältige Prüfung des Sachverhalts zu dem Er-
gebnis führen muß, daß hier überhaupt gar keine rechtliche
Aufhebung des Vertrags und also noch viel weniger eine
Aufhebung durch veränderte Umstände vorliegt. Zur Ver-
ftnschaulichung und Erläuterung mag auf ein praktisches
Beispiel Bezug genommen werden.
60
VI l.
Im Jahre 14t)9 übertrug der dänisch-norwegische König
Christian I. auf seinen Schwiegersohn Jakob II. von Schott-
land an Stelle der ausbedungenen Mitgift von (iOOOO rhei-
nischen Gulden die Arkaden und IShctlandiDseln, behielt
aber sich und seinem Staate gleichzeitig die Befugnis vor,
durch nachträgliche Zahlung den Rückfall derselben an den
Vorbesitzer zu bewirken. Weil jedoch eine wirkliche Aus-
lösung der verpfändeten Inselgruppen aus Geldmangel nie
zustande kam, so blieben dieselben dauernd unter der Herr-
schaft Schotttands und weiterhin des diesem folgenden ver-
einigten Königreichs von Großbritannien. Demgemäß haben
wir jetzt den Tatbestand vor uns, daß ein durch Staats-
vertrag' sichergestellter Anspruch jahrhundertelang nicht
geltend gemacht wurde, und damit erhebt sich notwendig
die Frage, ob vielleicht das bisher Verabsäumte heute noch
nachgeholt werden darf.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß im allgemeinen
und prima facie hierauf eine entschiedene Verneinung zu
erwarten ist, d. h, man wird weit überwiegend der Ansicht
begegnen, daß die noch aus dem Mittelalter stammende
Einlösungsbel'ugnis jetzt ganz antiquiert sei und nicht mehr
zu Recht bestehen könne. Indes diese Auffassung entbehrt,
wie noch neuerdings von einem geborenen Schottlftnder *
in eingehenderen Untersuchungen gezeigt wurde, der festen
und ausreichenden Grundlage. Selbstverständlich haben wir
an dieser Stelle nicht nötig, uns auf alle Details der Beweis-
führung einzulassen, sondern dürfen uns mit der Hervor-
hebung eines Hauptpunktes begnügen, welcher speziell fllr
unsere Zwecke von Wichtigkeit ist. Derselbe besteht In
dem Umstände, daß der internationalen Rechtsordnung sn-
' Uaß ea sich bei dem 1469 wr Traktat trote des prtTalfargtaii-
rechtUcheu Beiwerks wirklich um eineo flal(:)iea handelte, muß hier snr
Vi mi ei dang «lUngroßer Weitläufigkeit einfach vorausgesetzt werden.
' QiUiert Ooudie, in den Procoedinf!^ of tUe Socie^ of Anti-
qDariee of Scatland. leb verdanke die Kenntui» der Schrift einer freund-
lichen Uitteilong des Herrn Prof. Dr. Kahle in Heidelberg. Sie iit
angeiührl in „Nord und Sud", Ud, 83, 8. 288.
VI 1. 61
erkanntermiLSen die Verjährung als technisch-juristisches
Institut durchaus fremd ist'. Hier vermag niemals der
einfache Zeitahlauf als solcher irgendwelche Rechts-
verschiebungen zu erzeugen, namentlich die durch V er ti-Üge
gewonnenen Befugnisse aufzuheben — ein derartiger Erfolg
knnn erat dort in Frage kommen, wo noch etwas anderes
hinzutritt, wo näraÜch unverkennbar die beteiligten Staaten
durch die lange, inzwischen verstrichene Frist dabin
beeinflußt worden sind, dem betreffenden Vertrage keine
fernere Wirksamkeit mehr beizumessen.
Schon aus dieser Feststellung resultiert eine bedeutende
Verengerung desjenigen Kreises historischer Vorkommnisse,
den man hei oberflächlicherer Betrachtung vielleicht zur
Begründung der clausula rebus sie stantibus für geeignet
halten möchte: indem ganz allgemein gezeigt wurde, daß
im Völkerrecht der Zeitablauf immer nur durch das Medium
des von ihm determinierten Staaten willens juristische
Wirkungen Büßern kann, ist offenbar insbesondere auch
dargetan, daß er allein selbst dann nicht genügt, wenn er
mit wesentlicher Veränderung der Umstände kombiniert
auftritt. Wir gehen nunmehr einen Schritt weiter und
untersuchen diejenigen Fälle, bei denen das obige für die
Beseitigung vertragsmäßiger Rechte unerläßliche Moment
wirklich gegeben ist, oder direkt auf das vorhin gebrauchte
ikrete Beispiel angewandt, wir fingieren jetzt, daß sieh
sowohl auf Seiten des skandinavischen Heimfallsberechtigten
wie des rückgabepflichtigen Englands eine ausdrücklich er-
härte Willensmeinung * des Inhalts konstatieren laase, an
' Vgl, n. a. von Lisit. Völkeireeht (2. Aufl. 1902), Ö. 155: „Die
/erjAhniDK b^t rölkerrecbtlich weder als acqiiinitive liDsbeBandera ala
XrsitzuDg) Doch als eztiuktive di« Kraft eiuer recht«erhebliclieD TatHache."
* Eine aulche wird eq dem Zwecke angenommeD , dninit über den
:8schverba1t selber abaulat kein Zweifel melir möglich bleibt. An and
"Br sich wflfden natürlich auch Mill schweigend dokumentierte Vensichts'
ibsichten genügen, vornusgeietzt nur duB auf das wirkliche Vorhandenaein
flerselben mit hinlänglicher Sicherheit geBChloaseo werden kann. Gerade
hieran pflegt ee aber bei Folgerungen bloB aus kouitludeiiteu Handlungen
62 VI 1.
eine Realisierung des 1469 stipulierten Einlösungsrechts sei
gegenwärtig nicht mehr zu denken. Es fragt sich nan, ob
mit Fällen dieser Art etwas für den Nachweis international-
rechtlicher Gültigkeit der Klausel auszurichten ist. Darauf
kann die Antwort nur lauten: Nichts, aber auch gar nichts.
Wohl steht jetzt das Eine mit aller Sicherheit fest, daß die
betreffende Traktatsbestimmung ihre juristische Gültigkeit
verloren hat. Aber um das zu erklären, reicht schon voll-
ständig die Tatsache aus, daß beide Kontrahenten sich in
diesem Sinne übereinstimmend geäußert haben, anders aus-
gedrückt, es greift nunmehr einfach die altbekannte Regel
Platz, daß offenkundiger mutuus dissensus ganz generell und
unterschiedslos die Traktate wieder aufhebt, womit der be-
haupteten Spezialnorm von der vertragsaufhebenden Kraft
geänderter Umstände von vornherein gar kein Raum zur
eigenen und selbständigen Entfaltung mehr gelassen ist.
Auf diese Weise scheint sich für die in Frage stehende
Beweisführung eine logische Scylla und Charybdis zu er-
geben, an der schlechterdings nicht vorbeizukommen ist
Denn eine von den zwei eben erörterten Möglichkeiten
muß doch wohl jedenfalls vorhanden sein: Entweder liegt
bei den zugunsten der clausula anzuführenden Fällen die
Sache so, daß es über das Schicksal des betr. Vertrags
noch gar nicht zu einer irgendwie gearteten Willenserklärung
beider beteiligten Staaten selber gekommen ist; dann wird
notwendig zu wenig bewiesen, weil nach völkerrechtlichen
Grundprinzipien der Traktat, mag er noch so lange Zeit
unausgeführt geblieben sein und sachlich noch so wenig in
die dermaligen Verhältnisse hereinpassen, überhaupt nicht
als beseitigt gelten darf. Oder aber man ist wirklich in
der Lage, das für seine Aufhebung recht eigentlich ent-
scheidende Erfordernis als gegeben darzutun; dann wird
wieder umgekehrt zu viel bewiesen, weil hier gar nicht
nur zu oft zu fehlen, und speziell für den Fall der Orkneys scheinen mir
die Momente, die nach dieser Richtung hin etwa anzuführen wären, in
keiner Weise ausreichend zu sein.
VI 1, 63
mehr der urupriinglidi gesuchte Aut'hebungägriind, aondem
ein weit umfassenderer Reehtssatz praktisch belegt wird.
Nichtsdestoweniger wäre es verfehlt, wollte man darauf-
hin den NHchweis der gewohnheitBrechtlichen Klausel als
logiacli- begrifflich ausgeschlossen, an einem unentrinnbaren
Dilemma scheiternd, ausgeben, und zwar deshalb, weil jene
Disjunktion genau genommen doch nicht ganz schlüssig ist.
Es bleibt nämlich bei ihr die Möglichkeit unberUckaichtigt,
daß in concreto uußer der Tatsache neuer, unter sich har-
monierender Parteiwilleuserklärungen auch noch besondere
Nebenkriterien vorbanden sein künnen, und daß dann viel-
leicht diese qualiü zierten Fälle geeignetes Beweismaterial
für den Spezialsatz der clausula rebus sie stantibus zu
liefern fähig sind. Da dies nun tatsächlich der Fall ist,
muß die theoretische Konatruierbarkeit einer gewohn-
heitsrechtlichen Ausbildung der Klausel vor wie nach zu-
gestanden werden. Gleichzeitig läßt sich allerdings — und
rein praktisch wird das so ziemlich zu demselben Resultat
wie eine allgemein logische Unmöglichkeit des Beweises
fuhren — mit Bestimmtheit voraussehen, daß es meist überaus
schwierig sein wird, das reale Gegebensein der erforder-
lichen Dctailniomente vollüberzeugend darzutun.
Suchen wir jetzt am Schlüsse unseres ganzen Gedanken-
ganges noch die nähere Beschaffenheit der letzteren kurz
präzisieren, so wäre da an erster Stelle naturgemäß zu
verlangen, daß der von den konkreten Parteien an den Tag
gelegte Wille, den bt.'tr, Vertrag nicht mehr als gültig zu
behandeln, nicht so abstrakt und schlechthin, sondern mit
der ausdrücklichen Spezialmotivierung erklärt wurde, solches
geschehe lediglich und im Hinblick auf die große mittler-
weile eingetretene Voränderung der Verhältnisse; zum
mindeaten muß in anderer Weise, aus der Gesamtheit der
Begleitumstände, geschlossen werden können, daß ein der-
artiger Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen be-
steht. Das will besagen, daß es nicht genügt, bloß gotrennt
fllr sich hier das Vorhandensein der res rautatae, dort jener
64
Vll
ätaatlicLen Willensstimmung zu konstatieren ; vielmehr
man auch die gegenseitige Verknüpfung, die Tatsache, da8
das zweite aus dem ersten gelbigt ist, gewissermaßen den
psychologischen RausalnexuB darzulegen, wenn ich mich
dieses bezeichnenden, wiewohl aachlich anfechtbaren Ai
drucks bedienen darf.
■ Aber auch das würde für sich allein noch keineswegi.
ausreichen; es liegt ja auf der Hand, daß Überall, ■wo aus
rein politischen Erwägungen auf einen Vortrag ver-
zichtet wird, wo man einen Anspruch freiwillig und bloß
deshalb fallen läßt, weil seine Geltendmachung infolge der
Umgestaltung aller Verhältnisse nicht länger opportun und
dem eigenen Vorteil entsprechend scheint, die ersten und
unerläßlichsten Voraussetzungen fUr die Statuierung eines
spezifischen Rechtssatzes fehlen. Welcher Art wieder die
letzteren sind, was für faktische und sozial psychologische
Merkmale positiv gegeben sein mtlssen, wenn aus den
betr. Fällen schließlich eine generelle, für die einzelnen
Staaten event. auch wider ihren Willen maßgebende Rechts-
norm soll gefolgert werden können, das zu untersuchen
würde hier zu weit fuhren, denn es liefe nach Lage der
Dinge einfach darauf hinaus, an einem Einzel problem die
ganz, allgemeine Frage zu erörtern, unter welchen Be-
dingungen überhaupt internationales Gewohnheitsrecht zur
Entstehung gelangen kann. Demgemäß will ich mich an
dieser Stelle bloß mit einer kurzen Erinnerung an das
Moment der spezitiachen Rechtaübung, des Handelns
opinione j uris, begnügen, ohne den Begriff des letzteren
selbst näher zu analysieren.
Wir sehen, es sind recht mannigfache und zum Teil
äußerst schwer zu vermeidende Klippen, an denen der Ver-
such, mit Hilfe praktisch-historischer Fälle den Nachweis
einer positiv-rechtlichen Einführung der Klausel zu führen,
Schiffbruch leiden kann; man wird es daher jetzt auch als
ein nichts weniger wie leichtes Unternehmen bezeichnen
dürfen, wahrhaft einwandsfreie Beispiele Uberliaupt auafindig
lieh
1
äus
zu machen. Mir selbst ist jedenfalls nicht ein einsiges be-
kannt, das den oben autgestellten Erfordernissen nach allen
Richtungen hin entspreche. Deshalb kann und aoU aber
natürlich nicht die Möglichkeit in Abrede gestellt werden,
daß hier und da vielleicht doch volibefriedigendea Material
«ich aufzeigen ließe; ea ist bloß darauf aufmerksam zu
machen, daß derartig vereinzelte und gelegentliche Vor-
kommnisse für allgemeine Schlußfolgeruugen unbrauchbar
wären. Wir haben in § 5 immerhin eine gewisse Anzahl
Fälle kennen gelernt, die direkt wider die gewohnheits-
rechtliche Einsetzung der clausula zeugen, und um diese
zu entkräften, würde es sicherlich schon einer ziemlich regel-
mäßigen und umfangreichen OegenUbung bedürfen. Daß
Aber eine solche dargetan werden könnte, halte ich nach
I Lage der Sache geradezu fllr ausgeschlossen. —
' Mit alledem erscheint jetzt die in Abschnitt LI zu
lösende Aufgabe als beendet. Wir haben zuerst (§ 4) ge-
zeigt, daß die Art, wie die communis opinio die völkerrecht-
liche Geltung der clausula zu demonstrieren sucht, von
vornherein und begrifflich verfehlt ist; wir haben weiterhin
(Sf 5| festgestellt, daß in der internationalen Praxis ge-
wichtige Zeugnisse zu Ungunsten der positiv -juristischen
Existenz jeuer zu tinden sind; wir haben endlich (§ 6)
I dargetan, daß und warum es so gut wie gar keine Erfolgs-
I '»ussicht bietet, in letzterer Beziehung den entsprechenden
I Gegenbeweis anzutreten. Das Gesamtergebnis dieser Unter-
w auehungen ist, daß die In unendlich vielen Lehrbüchern und
(Abhandlungen vorgetragene Klau sei theorie als jeder festen
|4Jnterlftge entbehrend gelten muß, d. h. es ist wieder einmal
(«ach einer Spezi al rieh tu ng hin der Nachweis erbracht, wie
lihegründet Jellineks' Klage ist, daß „in den Systemen
P-des Völkerrechts noch immer das alte Naturrecht seine
l^wohlbekannten Orgien feiert".
In der Tat ist das der schwerwiegendste Fehler, der
6t;
VI 1
der WiBaenschait des Völkerrechts im großen und ganzei:
heute noch anhaftet, und der es vor allen Dingen ver-
schuldet hat, daß sich diese Disziplin bisher so wenig der
ihr gebührenden Wertschätzung erfreut. Hierin ist eine
allmfihliche Besserung nur dann zu erwarten, wenn jene in
weiser Selbstzucht allgemein dazu übergehen wird, sich von
Haus aus strikt auf Darstellung bloß der objektiv gültigen
International normen zu beschränken, dagegen auf alle sub-
jektiven Ilaisonnements grundsätzlich zu verzichten. Zu
diesem Zweck ist aber unbedingt erforderlich, daß die
Wissenschaft bei jeder einzelnen Norm ', bevor sie dieselbe
als wahrhaft gegeben statuiert, in eingehender und mühe-
voller Untersuchung des von den Staaten p faktisch -ge wohn-
heitsmfißig beobachteten Verhaltens zeigt, daß sie aus dem
Willen der letzteren und nur dieser als spezifische Rechts-
norm hergeleitet werden kann. Verföhrt man streng nach
diesem, selbstverständlich ausgebreite tstc Geschichtskennt-
nisse voraussetzenden Prinzip , scheidet man rücksichtslos
alle SKtze aus, bei denen weder direkt noch auch nur
mittelbar, durch zwingenden Analogieschluß usw., eine der-
artige Intention der zur positiven Rechtssetzung allein be-
fugten Potenzen wirklieh sich dartun läßt, so wird gewiß
rein äußerlich das System des Völkerrechts Überaus xa-
sammenschrumpfen. Aber was es hier verliert, das gewinnt
es überreichlich in anderer Beziehung, denn mit einer
Methode, die ,sich bemüht, den Wegen nachzugeben, auf
denen das Heale lebend sich bewegt" ", wird schließlich zu
einem gewissen Bestände objektiv nachgewiesener und all-
gemein anerkannter Normen zu gelangen sein, wogegen die
subjektiv -naturrechtliche Methode immer nur im Kreise
hemmführt. Gerade die letztere aber wird eben leider noch
immer, bewußt oder unbewußt, überwiegend zur Anwendung
gebracht: statt durch sorgfllltige Erforschung des historisch
' Abgecehen natürlicL voa den, selbst heute noch ^ertiiiltuisaiittig
■elteneii Fallen, in ilenen eioe ausdrücklicb erfnlgtc RegelBBtEung vorliarl
■ Stoerk, Znr Meüindik des effimtlicheii RechM (1686), S. 8.
VI 1. 67
gegebenen Erfahrungsmaterials klarzulegen, was die völker-
rechtlichen Subjekte selber als von ihnen juristisch gewollte
Verkehrsnormen dargetan haben und was nicht , hat man
das System derselben nur zu oft, bestenfalls unter nach-
träglicher Hinzufügung einer leichten „geschichtlichen
Retouche^", bloß nach subjektiv vernünftig scheinenden
Gesichtspunkten zu gewinnen und auszubauen gesucht,
uneingedenk des L e s s i n g sehen Wortes, „wieviel andächtig
Schwärmen leichter als gut Handeln ist".
^ «toerk, a. a. O., S. 34.
5*
Dritter Abschnitt
Die eminente Gefährlichkeit der spezifisch-
jnristiscli verstandenen Klansei.
§7-
Durch die Ausführungen der §§ 4 — 6 ist gezeigt worden,
daß die clausula rebus sie stantibus für den derzeitigen
Status jedenfalls noch keinen Bestandteil der positiv-
gültigen Völkerrechtsordnung darstellt. Indes das auch
zugegeben, so wäre damit natürlich über die zukünftige
Gestaltung noch gar nichts ausgesagt: es wäre möglich,
daß dieser Sachverhalt materiell einen empfindlichen Mangel
des internationalen Normenkomplexes bedeutete und dem-
gemäß de lege ferenda, wie man für innerstaatliche Ver-
hältnisse sich ausdrücken würde, seine baldige Änderung
zu wünschen und auch praktisch zu erwarten bliebe.
Wie es nun hiermit in Wirklichkeit steht, ob tatsächlich
die Klausel Aussicht hat, die ihr vorläufig bestimmt fehlende
formale Sanktionierung durch die Staaten späterhin noch
beigelegt zu erhalten, das ist natürlich eine Frage, die nicht
mit voller Sicherheit beantwortet werden kann; immerhin
ist ein recht wertvolles Indizium vorhanden, welches, zum
mindesten für die nächste Zukunft, ihre Aussichten so
ziemlich gleich Null erscheinen läßt.
Hinsichtlich der meisten, erst neuerdings entstandenen
Völkerrechtsnormen vermag man nämlich übereinstimmend
VI 1. 69
die Beobachtung zu niaclien, daß dieselben lange Zeit, be-
vor sie generell als solche formuliert und ausgesprochen
wurden, zunächst von konkreten Parteien ad hoc vereinbart
zu worden pflegten. Um das durch ein einzelnes Beispiel
zu illustrieren, so hat jetzt bekanntlich infolge der auf der
Haager Friedenskonferenz beschlossenen (5.) Konvention
„pour le reglement pacitique des conflits internationanx"
die Idee der schiedsgerichtlichen Streitschlichtung zwischen
Staaten eine gewisse allgemeine, wiewohl sachlich höchst
verklausulierte Anerkennung gefunden. Aber schon ehe
dies formell vollzogen war, durfte man mit Bestimmtheit
darauf rechnen, daß es über kurz oder lang zu einer der-
artigen Einigung kommen würde. War doch ganz abgesehen
von den vielen erst hinterher, nach bereits ausgebrochenem
Konflikt, der schiedsgerichtlichen Regulierung überwiesenen
Fällen, die sogen, kompromissariache Klausel, d. h. die
Verpflichtung, alle aus dem betreff'enden Traktate sich etwa
ergebenden Streitigkeiten arbiträr entscheiden zu lassen,
schon in den Text zahlreicher Handels- und Freundschafts-
verträge', des Weltpostvereins, der Brüsseler An tisklaverei-
akte UBW. usw. eingerückt worden. Wäre nun Entsprechendes
auch ftlr die clausula rebus sie stantibus nachweisbar, mit
anderen Worten ließe sich zeigen, daß häutig in Einzel-
traktaten von den Kontrahenten expressis verbia verabredet
wurde, jene sollten durch wesentliche Veränderung der Um-
gtände ihre Oültigkeit verlieren, so würde zweifellos auch
ihr ein günstiges Prognostiken hinsichtlich einer spateren All-
gemeineinführuog ins positive Völkerrecht zu stellen sein.
Denn indem die betreffenden Parteien sich ausdrücklich für
die Aufnahme entschieden, trat darin offenbar jedesmal eine
entschiedene Überzeugung des Inhalts zutage, die Klausel
sei als sachlich angemessen und empfehlenswert anzusehen;
wenn aber eine solche Auffassung erst einmal in concreto
I' Bei. dieser vgl. die Anicsben v. Helles io Holtxendarff*
Baadbach des VSlkemwbts, Ul, 8. 253 ff,
70 VI 1.
mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu konstatieren ist, dann
wird aller Voraussicht nach auch die grundsätzliche und
generelle Anerkennung nicht mehr allzulang'e auf sich
warten lassen.
In der Tat sind derartige Stipulationen praktisch wieder-
holt vorgekommen. Zum Beleg soll hier auf ein historisches
Vorkommnis aus dem 18. Jahrhundert etwas näher ein-
gegangen werden, welches in verschiedenartiger Hinsicht
recht lehrreich ist.
Als Ende des Jahres 1740 Friedrich der Große in
Schlesien einfiel, suchte die Hauptstadt Breslau von Anfang
an zwischen den kriegführenden Parteien eine mittlere
Stellung einzunehmen ^. Demgemäß verweigerte sie, gestützt
auf ein altes ihr zustehendes Privileg, das sogen, jus prae-
sidii, zunächst die Aufnahme einer österreichischen Be-
satzung und wünschte dann auch von Preußen die An-
erkennung ihres Standpunkts der Nichtbeteiligung zu
erlangen. Das glückte ihr auch tatsächlich durch den am
3. Januar 1741 zustande gekommenen „Neutralitätsvertrag** *
mit König Friedrich, kraft dessen der letztere ihr überaus
günstige Bedingungen wie Freiheit von Kontributionen und
Leistungen aller Art, Nichtbesetzung durch preußische
Truppen usw., bewilligte. Der Fülle dieser Zugeständnisse
gegenüber, die den Breslauer Ratsherrn das glücklich zu-
stande gebrachte Werk geradezu als „Meisterwerk der
Diplomatie" erscheinen ließ, hatte Friedrich der Große zu
seinen eigenen Gunsten nur eine einzige Bestimmung ge-
^ Näheres hierüber s. bei Grünhagen, f, Friedrich der Große und
die Breslauer in den Jahren 1740/41", S. 59 ff.
" Daß unter den gegebenen Verhältnissen genau genommen diese
völkerrechtliche Bezeichnung keine Anwendung: hätte finden dürflBn, ist
klar, und auch bei den preußischen Unterhändlern stieß sie ursprünglich
auf schwere Bedenken: erst der König selbst, der hier wie überall nur
auf das Sachliche Gewicht legte, hat die gemachte Proposition endgültig
akzeptiert (cf. Grünhagen, a. a. O. , S. 77). In Wirklichkeit konnte
auf den ganzen Furmalskrupel wenig mehr ankommen, nachdem man sich
einmal entschlossen hatte, eine einfache Territorialstadt zur Paktiemng
über militärische politische Dinge, d. h. durchaus anomaler Weise als
internationales Vertragssubjekt überhaupt zuzulassen.
VI 1. 71
troffen, allerdings eine solche, daß er sofort mit vollem
Recht seinem Kriegaminister achreiben durfte: „Brealau
gehört mir'"; er hatte nämlich den ihm vorgelegten Vertrag
bloß mit der Klausel unterschrieben: „bei den jetzigen
Konjunkturen und so lange dieselben dauern werden". Was
das zu bedeuten hatte, wurde den Brealauern erst klar, als
nach wenig Über einem halben Jahr der König plötzlich
erklärte, es müsse jetzt mit der Neutralität ein Ende haben,
und sich am lO. August 1741 der Stadt durch raschen
Handatreich bemächtigte. Formell rechtlich war gegen dieses
Verfahren, man mochte im übrigen über dasselbe denken
wie man wollte, nichts einzuwenden, denn daß die früheren
„Konjunkturen" nicht mehr bestanden, nachdem mittlerweile
die Mollwitzer Schlacht von den Preußen gewonnen und
auch sonst noch vieles anders geworden war, konnte von
niemandem in Abrede gestellt werden.
Eine derartige ausdrückliche Stipulierung der clausula,
wie sie in dem eben geschilderten Vorkommnis aus dem
ersten schlesischen Kriege zutage tritt, würde nun auch
sonst mehrfach noch nachzuweisen sein. Dabei ist es je-
doch sehr charakteristisch, daß diese Fälle eigentlich durch-
weg Perioden angehören, die schon verhältnismäßig weit
zurückliegen ; je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto
seltener werden sie ', und was den heutigen Stand der Sache
betrifft, so können sie wohl kaum noch, wenigstens soweit
meine Kenntnis des einschlagenden Materials reicht, aul
nennenswertes praktisches Vorkommen Anspruch erheben.
Hieraus ist oifenbar der Schluß zu ziehen, daß die Staaten
zurzeit kein wesentliches Bedürfnis, die Klausel in formeller
Rechtskraft zu sehen, empfinden, und es wird demgemäß
auch die Aussicht auf baldige Einführung derselben als
Äußerst geringfügig zu bezeichnen sein.
' Übri^ns sind sie aueh m Älterer Zeit nie gereAe allnu häufig
gewesen, weshalb ex auch eine entschiedene Übertreibnng iat, wenn
WfaartuD um oben S. 11 angef. Orte die Uebauptung an&l«llt: In
t of tbe nid treaties were inserted the „clausula rebus sie itantibus*.
L
^
72
VI 1
Ja, man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehet
und auf Grund des historisch gegebenen Sachverhalts jede"
juriatisclie Sanktionierung der clausula überhaupt für end-
gültig und alle Zeit ausgeschlossen erachten: man könnte
den Umstand, daß in trüberen Epochen tatsächlich eine
gewisse Neigung zur konkreten Statuierung derselben vor-
handen war, daß aber gegen die Neuzeit hin diese Tendenz
unverkennbar immer mehr abgenommen hat, recht gut da-
hin ausdeuten, daß die Staaten bei nüherem Einblick in die
Verhältnisae die Klausel als materiell schädlich und gejähr-
lioh erkannt haben und folglich präsumtiv niemals mehr
Lust spüren werden, ihre generell-rechtliche Satzung vor-
zunehmen.
Von dieser Argumentation wäre zum wenigsten so viel
ganz richtig, daß wirklich schwerwiegendste Gründe vor-
handen sind, die den Staaten auf die Dauer und unter allen
Umständen einen solchen Schritt widerraten müssen; nur
unter vollständiger Verkennung der wahren und eigentlichen
Bedürimsse des internationalen Verkehrs wären sie imstande,
der von der Theorie solange schon gegebenen Anregung
Folge zu leisten und die clausula rebus sie stantibus prak-
tisch unter sich einzuführen.
Machen wir uns klar, von was fUr Erwägungen die
Völkerrechts Wissenschaft bei ihrer Befürwortung dieser
Norm geleitet wurde, welche Vorteile sie mit Hilfe derselben
SU erreichen suchte. Ihren Ausgangspunkt nahm sie von
der Feststellung, daß die Staaten als eines der wichtigatea
Prinzipien ihres wechselseitigen Verkehrs die Regel Pacta
sunt servanda positiv -juristiscb statuiert haben'. Man
machte jedoch bald die Wahrnehmung, daß die strenge und
I Daß uud warum die Dnktriii mit dieser Annatime ganz du
Richtig trftf, inwiefeni mau keineüiregx mit Gareis (IuBtitutioiien des
Velkerrechls, 2. Aufl., S. 34, aacb S. ITü) aur Konstniktiun jeses Satsw
bluß auf dea bedenklichen Weg des jus necessarium, des „notweDdigen"
VBlkerreobt« angewiesen ist, »ondern ihn direkt auf den Willen der «
intemationaleu NomiHctiatfung befugen Subjekte xa »tütüen vermag, d
im Hnxelnen ^a zeigen, muli freilich einer anderen Gelc^nbeit t
behftllen bleiben.
auBi] ahm alose Durchführung der letzteren hin unt! wieder
zu zweifellosen Härten führte, daß die Norm manchmal auf
Tatbestände stieß, für die sie mtchlich offenbar nicht mehr
recht paSte und geeignet war, und bei denen folglich dem
natürlichen Gefühl gerade die Nichterfllllung des Vertrags
viel angemessener vorkam als die normalerweise zu fordernde
strikte Erfüllung'. Diesem Ühelstande sollte nun dadurch
abgeholfen werden, daß man der ersten abstrakten Regel
eine zweite beschränkende hinzufügte, ausführlicher gesagt :
man wollte den Satz Pacta sunt servanda prinzipiell in
lebendig-juristischer Geltung erhalten, gleichzeitig aber aueb
durch eine feinere und speziellere Ausbildung des objektiven
Rechtssystems den Vorteil gewinnen, daß er sich fortan
nur noch innerhalb der Grenzen seiner materiellen Recht-
fertigung betätigen, dagegen auf außergewöhnliche Fälle
— wie die vorhin angedeuteten — überhaupt nicht mehr er-
strecken könne. Dieses letztere Ziel — das muß rückhalt-
los zugestanden werden — würde allerdings mit Hilfe der
clausula aufs wirksamste erreicht sein; es wäre mit ihr
wahrlich ausreichend dafür jjesorgt, daß dem Verpflichteten
gegen jede Überspannung des Grundsatzes der Vertrags-
treue ein juristisches Verteidigungsmittel zu Gebote stünde.
Leider aber auch nicht nur und ausschließlich gegen Über-
spannung, sondern praktisch gegen jede Anwendung der
obersten und Prinzipalnorm Pacta sunt servanda überhaupt;
mit anderen Worten, man hätte über der Erreichung de»
zweiten Ziels das viel wichtigere erste allzusehr außer Acht
gelassen, dergestalt, daß die vermeintliche bloße Exemtion
in Wirklichkeit direkt zur „Inanisierung"* sämtlicher Ver-
träge ausschlagen könnte.
- Zur Erläut^^rung sei aa duE bekaimte und vielffebmacble Schul-
beispiel erinnert, duä der Staat A dem Staat B für jeden Kriegafall ein
bentimmten Uilt'gknDttnRent versprachen hat, dnB aber der casus foederia
B geradd lu einer Zeit eintritt, wo er seinerBeitx mit äem Staat L' sich in
B Kampf befindet und alBo lämtliche militärischen Kräfte weit noC<*'endiger
^B ffir Hieb selber braucbt
H ' Vgl. V. Uulmerincq, Völkerrecht (im Handbuch des BSentlicben
74
VI 1
Um das des Näheren klarzulegen, bedarf es
kurzen Hinweises auf die völlig eigenartige Struktur und
Beschaffenheit dea Völkerrechts soivie der hieraus sich e
gebenden, von seinem Wesen unzertrennlichen Mängel
Der internationale Verkehr wird anerkanntermaßen von
keiner selbBtandigen Oberpotenz, von keiner die Vielh«
der Einzelstaaten zur höheren Einheit vorbindenden Sozial
gewalt beherrscht. Daraus folgt neben anderen, hier weniger
in Betracht kommenden Punkten, dem Fehlen einer inter-
nationalen Legislative, einer durch spezifische Gemeinschafts-
organe gehandhabten Zwangsverwirklichung des Rechts, ina-
besondere auch dies, daß tlir die Anwendung der abstrakt-
juristiachen Normen auf den konkreten Einzelfall keine
autoritäre, unabhängig von der Anerkennung durch di^
jedesmaligen Parteien fungierende Richterinatanz zur Ver^j
fUgung steht*. Der Schluß, der aus der vollständigen Ab-
wesenheit der letzteren für eine gesunde internationale
Rechtssetzungspolitik zu ziehen ist, kann natürlich nur der
sein, daß von vornherein gleich die abstrakten Regeln so
gehalten werden müssen, daß sie das Eingreifen einer in
concreto erst entscheidenden Stelle möglichst wenig ver-
langen und erforderlich machen: deutlicher ausgedruckt,
für jede praktische Brauchbarkeit internationaler Normen
bleibt die unerläßlichste Voraussetzung stets die, daß eie
ao einfach, so präzis, so unmißverständlich wie nur irgend
angängig formuliert sind und folglich den beteiligten Partei«
bei voller bona fides derselben ganz selten, am liebsten ni(
Bechu I, 2; 1384), S. 302. Eine ülmliche Weudmtg auch bei Uareii.
der, trotzdem er prinzipiell ein AnbKnger der Klausel ist, ea offen ana-
cpricht, daß „bei einer l&xen Interpretation die graÜe Ge&lir vorlicgtil
das Yertragarocht überbaupt ku unterminieren und nach der andenT
iUchtung hin unhaltbare Verhältnisno üu sciinffen" (n, a. O., 8. 213),
' Vgl. iu der ganaen Sache die AoBfrihrungen von Brie, '.
der Staatenrerbindnogen, S. 42 ff.
* Daß hieran gelbst die ausgcdehnteute Akzeptierung der 6
gericbt«idee gmndsätzlich nichts ändern konnle, lie^ auf der Hand, eb«.
«eil et sich dabei immer am bloße Schiedsgerichte handeln würde.
VI 1. 75
AnlaS zu Zweifeln über ihr Zutreffen oder Nichlzutreffen
geben können ',
Dieser ersten und notwendigsten Bedingung tut aber
gerade die clausula rebus sie stantibus nicht im Entfern-
testen Genüge; sie gehört zu einer Gruppe von Normen,
die wohl im innerstaatlichen Recht, nie und nimmer aber
für den istemationalen Verkehr wahrhaft ersprießliche
Dienste zu leisten fkhig ist. In ersterem lassen sich Kegeln
genug aufzeigen, die jener nach Anlage und Gesamtcharakter
ganz ähnlich sind, aber anders wie sie sich auf ihrem Ge-
biet praktisch durchaus bewähren. Greifen wir z. B. § (i2(i
des Bürgerlichen Gesetzbuchea für das Deutsche Reich
heraus^, in dem es folgendermaßen heißt: p,Das Dienst-
Terhältnis kann von jedem Teil ohne Einhaltung einer
Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn ein wichtiger
Grund vorliegt." Die äußerlich -formelle Analogie, die
dteae Ordnung eines innerstaatlichen Verhältnisses zu dem
von uns behandelten internationalen Problem aufweist, ist
offenkundig und bis ins einzelnste gehend. Beidemal wird
ausgegangen von der Anerkennung einer allgemein und un-
beschränkt lautenden Norm, hier des Satzes Pacta sunt ser-
vanda, dort der Regel, daß kein Dienstverhältnis anders
als nach genau fixierter, im Detail wieder verschieden
normierter^ Kündigungsfrist aufgelöst werden kann; darauf
sucht man noch, gleichfalls völlig übereinstimmend, etn-aigen
außergewöhnlichen, unter die Schablone nicht passenden
Füllen juristisch gerecht zu werden und bestimmt daher,
daß eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse den
internationalen Traktat, ein wichtiger Kündigungsgrund
^ üchoii der Temuch, feiner ausgebildete Internatiunalnornieii 8uf-
zuslellen, »tflßt auf Schwierigkeit und filhrl lur gleiclieeitigen Ver-
klauBuliemiig, (He die praktJBcbe Bedeutung der neuen Bechtsa&tKe alab&ld
wieder in Frage stellt. Han bedachte die vieldeutig'en Bedingungen
Lvronn die Umstände es gestatten werden" '.) im Haagfer Abkommen *oin
^. Jnli 1899 (Denlsches RG.BI. 1901, ä. 393). S. aueb Garei« 8.303.
* Andere Beispiele bei Stamm ler. Vom riehtigen Hechte, 8.562ff.
» Cf. B.G.B. S G20 ff.
7(i
VI i
das private Dienstverbältnia sofort aufheben soll. Hierbä"
ist ganz gewiß das zweite Mal die einschränkende Norm
an sich nicht präziser ausgefallen als das erste Mal; viel-
mehr setzt die eine wie die andere noch schärfere, erst in
concreto vorzunehmende Detail feststellungen voraus. Blofi
daß das eben im innerstaatlichen Recht nach Lage der Dingn
nicht schadet, weil ja dieses die vorläufig noch mangelnde
nähere Erläuterung jeden Augenblick nach zubrio gen im-
stande ist: sobald die Parteien in einem einzelnen Falle ver-
üciuedener Ansicht Über die Wichtigkeit einea KUndigungs-
grundes sind, wird die unbedingt maßgebende Entscheidung
durch den zuständigen Richter und in ihm durch den realen
Gemeinschafts willen selber getroffen. So ist es einzig die
stets vorhandene letztere Möglichkeit, wegen deren die staat-
liche Gesetzgebung sich gestatten darf, prinzipiell aufgestellte
Normen durch unbestimmt gehaltene Ausnahmssätze zu
durchbrechen, ohne befürchten zu mUiisen, daß jene durah
diese praktisch ganz aufgehoben und illusorisch gemacht
werden.
Wie anders im Völkerrecht. Da hier ausschließlich die
Parteien selbst Richter darüber sind, ob die einzelnen
Normen auf den gegebenen Fall zutreffen , so ist eo ipso
jede Formulierung derselben zu verwerfen, die durch Ver-
wendung gänzlich vager Unterschiede wie „Wesentlichkeit"
und gUnwesentlichkeit" der Veränderungen zu auseinander-
gehenden Auffassungen geradezu herausfordert'. Selbst
' Dar gesamte hier verfolgte Gedsakongaiig berührt Hidi in ge-
wJBHem äiDue mit ialeressanten AuafQhmngen, die uaoh eiuer andecoi
Richtimg hin Bierliue gegeben hat. Dieser |JuriBtinche Prinztpieti-
lehre, Bd- 11 (1898), S, 37 ff.) warnt mit allem ßeuht rlavor, „völlig; nicbu-
»agende Aasdrücke" zu gebraiicben, „die nur dem veratändlich Bind, der
bei ihrer Verwendung eine beHoudere Erkliruog sur Seite hat". Nun
heaiehen sieb ja allerdings Bierllngs Bemerknngen auf theoretisd-
wiiienachaftliehe Arbeiten, wÄbrend wir es mit einer Frage der praktitohcn
Bechtaausgestaltung KU tun balien; trotüdem lassen sich aber beide FTUIe
inaofem uuter einen Remeinsaaieu Üesiuhtspunkt bringen, weil der tieftte
Grand, wamm sowohl die atigemeine Kechtswiasenschafc wie das poaitJT
gesetcte Völkerrecht auf derartig Tieldeutige Wendungen vtrziehten müssen,
in dem hier nie dort vorhandenen Mangel einer die leeren fiüUen nadi
VI I.
77
r
■ wenn wir, entsprechend den S. 20 ff. gemachten Festatel-
" hingen, die rein formale Begriäsbestimmung durch einen
Versuch der materiellen ersetzen, wenn wir anstatt der viel-
fach bloß verlangten essentiellen, wesentlichen,
fundamentalen Umgestaltungen solche fordern, vermöge
deren jetzt eine ErtMUung des Vertrages nur noch unter
Gefahr düng der höchsten Staatsinteressen mög-
lich bleibt, selbst dann ist an Präzision kaum viel gewonnen,
denn was kann nicht alles auch unter diese Fassung noch
eingereiht werden! Daraus erhellt, daß die praktische Ein-
führung der Klausel sofort zu einer ununterbrochenen Kette
von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten führen
müßte: auch ohne jede böae Absicht, ganz von selbst und
unwillkürlich, wird der Berechtigte stets zu einer möglichst
restriktiven, der Verpflichtete umgekehrt zu einer möglichat
extensiven Auslegung der clausula neigen und Niemand ist
da, der den Streit für beide Teile bindend zu schlichten
vermöchte. Daß gerade in letztgenanntem Punkte und nur
in ihm der eigentliche Sitz der Schwierigkeit getroffen wird,
darauf gibt es auch noch eine überzeugende praktische
Probe. Sobald nämlich eine Anzahl völkerrechtlicher Ver-
kehr ssubjekte ausnahmsweise doch durch eine dauernde
Sozialorganisation zur korporativen Einheit verbunden ist.
sobald über ihnen ein direkt für sie maßgebender Oberwille
existiert, verliert die clausula sofort wieder ihre prinzipielle
Bedenklichkeit. Denn bei solcher Lage der Dinge, die
übrigens meines Erachtens nicht bloß für den, "freilich in
erster Linie zu nennenden Bundesstaat', sondern auch schon
für den einfachen Staatenbund angenommen werden muß,
erdffnet sich jetzt, genau wie ira innerstaatlichen Recht, die
Mügtichkeit, eventuelle Streitigkeiten der Mitglieder durch
ein besonderes Gemeinschaftsorgan entscheiden zu lassen;
Bedarf mit konkretem Iiibatt
bemht.
' Bw. diesei vgl, die Darlegiingei
lÄDdesrecht, S. CK ff.
itullenden Erkiriniiigs- und IliltiiinatBiiE
iejiBl. Völken-Bcht und
78
VI 1.
dieses vermag doiin von sich aus, unabhängig von den
Parteien, die Bedeutung aller inzwischen eingetretener Ver-
änderungen objektiv prüfend zu würdigen und so der Ge-
fährdung der Vertragssicherheit wirksam vorzubeugen'.
Wenn schon die im Vorstehenden niedergelegten Er-
wägungen die positive Einfügung der Klausel in die inter-
nationale Rechtsordnung unrätlich erscheinen lassen, so gilt
dies in noch ungleich höherem Mafie unter einem anderen
Gesichtspunkt. Wir haben das Problem bisher stets nur
nach der Seite erörtert, daß die Staaten, die praktische
Gültigkeit jener einmal angenommen, selbst bei voller
bona fides, beim besten Willen, immer nur streng rechts-
gemäß zu verfahren, fortwährend in unlösbare Meinungs-
verschiedenheiten über die Tragweite der clausula geraten
werden, dergestalt, daß man wahrscheinlich bald bei den
allerwenigsten Verträgen noch ihres gänzlich unangezweifel-
ten Fortbestands gewiß sein könnte. Hierzu tritt nun aber
noch der viel bedenklichere Umstand, daß die Klausel ein
überaus bequemes Mittel bietet, hinter dem jederzeit auch
der bOse Wille, der dolus malus, Deckung zu finden vermag.
' Rei'hl iiutruktiv ist id dieser Rinsicht oin Vorkommnis iwiscbeu
zwei eidgenSssischeu KmiloDen, ilber welches in Blumer-Horels
Huidbucli des Schweizer llundesstaatBrechts (Itd. 1,8. AuÜ- ISßl, S. 231 ff, ;
Bd. 111. S. Aufl. 1Ö8T, S. 35«. 369 ff.) auofübrlicli beriuhtet wird. Es
liMidelte sich dabei um einen im Jahre 1830 «wiscben Lustini und Aargau
sbgeschloSHenen Vertrag, knift dewen emU^ror Knnton dem letxterea die
Vomabin« gewisser ateaerhoheitlicher .\k(e auf seinem Territorinm au-
gestand. Dieser Verpäiobtung, die man tbeoretiach als äerritul, al«
iStnatsdienstbnrkeit kuDstruiurte, sachte sich Luxem spater zu entledigen
und priff deshalb, nacbdom frühere sjidersartige Versuche fehlg«SFhlNgeli
waren, 1888 einfach zur Kündigung d«s Traktats, worauf Aargau die
Sache vor das II und enge rieht brachte. Letiteres (cf. Bundesgericbtliche
Entscheidungen Vllt, S. 55 ff.) erkannte auch in der Tat an, daB viel-
leicht nnler bestimmlen Voraussetxuogen eine einseitige Kandigung
kantonaler Verträge prinzipiell lulfissig sei, Dämlich dort, wo „ihr Fort-
bwtand mit den l^^bensbedin^ngeu des verpflichteten !Jt*ata als selb-
stindigen Gemeinwesens oder dessen wesentlichen Zwecken anvereinbar
sei, oder wo eine Veränderung solcher Umstände eingetreten ist, welche
nach der erkennliaren Absiebt der Parteien lur Zeit Ihrer Begrindung
die stillschweigende Bedingung ihre» Bestand» bildeten" ; gleichseitig
entschied es jedoch . daß im gegebenen Einxelliille nicht? dergleichen
vorliege, und verw«rf deshalb die Liuemer Kändigong als lubi^rCnilnt
I
I
VI 1.
79
Um zu zeigen, daß mit ihrer Hilfe zur Not selbst der be-
kannteete und schlimmste Wortbruch formell sich recht-
fertigen läßt, daflir gewährt uns ein recht schlagendes
Beispiel die alte Geschichte. Durch das Versprechen einer
großen Geldsumme hatte der letzte König von Macedonfen,
Peraens, den illyrischen Fürsten Genthios dazu bewogen,
sich mit ihm zu verbinden, die gerade an seinem Hofe be-
tindliehen römischen Gesandten einzukerkern und so definitiv
mit Rom zu brechen; nachdem das aber wirklich geschehen
war, „fand der sparsame König es überflüssig, die zuge-
sicherten Gelder zu zahlen, da Genthios nun allerdings
ohnehin gezwungen war, eine entschieden feindliehe Stellung
gegen Rom einzunehmen'"'. Hätte Perseus schon von der
modernen Errungenschaft der clausula rebus sie stantibus
Kenntnis gehabt, so wäre es ihm gar nicht so schwer ge-
fallen, diesem schmählichen Vertrauensmißbrauch ein juri-
stisches Entschuldigungsmäntelchen umzuhängen. Denn daß
das Verbalten des Genthios eine fundamentale Ver-
finderung der ganzen Sachlage herbeigefuhrt hatte,
war ja über allen Zweifel erhaben, und auch an dem er-
forderliehen Konflikt mit den obersten Staats-
interessen fehlte es insofern keineswegs, weil doch zu
diesen der Besitz möglichst großer Geldmittel unbedingt
gleichfalls zähltl
Ganz ähnliche Konsequenzen, wie sie hier an der Hand
eines geschichtlichen Einzelbeispiels entwickelt worden sind,
würde aber die Klausel so ziemlich überall und bei der
Gesamtheit der internationalen Vertragsbeziehungen hervor-
rufen; immer und immer wieder könnte sie dazu ausgenützt
werden, bei dolos-willkürlichen Traktataufhebungen eine Art
> Homms«ii, K^miscbe Geschichte (7. Aafl. IB^l) I, 8. 767. Der
antike Bericht über die Sache steht bei Livius (XLIT, 27) und lautet:
„GentiuB, eiigua parte pocimiiie accepta, quam adaidue a Fautancho
ad lacetiseadOB hostiti fHoti) Romanos süinularetur, M. Perpemain et
L. Petilliunt legsloi, qui tum forle ad eiun venorant, in costodiam uoDJecit.
Hoc audito, Persea», conlraiiaae eum aecessitaten ratus ad beüum
atiqne cum Komanis, ad revociudiuii, qai peouniain portabat. misit.''
80 VI 1.
rechtlicher Begründung vorzutäuschen. Das ist aber um
deswillen unendlich gefährlich, weil auf diese Weise eine
der festesten Stützen des Völkerrechts untergraben wird.
Einer oft gemachten Beobachtung zufolge sind heutzutage
im Allgemeinen die Staaten selber sorgfältig bemüht, nicht
in offenen Widerspruch zu anerkannten Normen der inter-
nationalen Ordnung zu treten, resp. wie Bismarck^ es aus-
drückt, die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Rechts-
bruch pflegt auch bei gewalttätigen Regierungen nicht
vorhanden zu sein." Nun liegt es aber auf der Hand,
daß diese halb instinktive Scheu vor der nackten, unver-
hüllten Rechtswidrigkeit wesentlich abgeschwächt werden
mufi, sobald man durch sachlich schwer präzisierbare
Exzeptionalbestimmungen den Parteien Gelegenheit gibt,
mit gewandten Deduktionen das konkrete Zutreffen der
einzelnen Normen fort und fort anzuzweifeln und so den
formalen Rechtsboden, den äußeren Schein des Rechts immer
festzuhalten; speziell auf unsern Fall angewandt, es macht
einen gewaltigen Unterschied aus, ob der einen Vertrags-
bruch planende Staat sich genötigt sieht, mit brutaler Offen-
heit wider die oberste Regel Pacta sunt servanda zu ver-
stoßen, oder ob er in der Lage ist, sie prinzipiell vor wie
nach anzuerkennen und sein Vorgehen durch die Berufung
auf einen hier angeblich Platz greifenden Ausnahmesatz zu
begründen.
Wie überaus günstig, ja beinahe unangreifbar die
Situation sich für ihn im letzteren Falle gestaltet, das wird
praktisch in hellstes Licht gerückt durch einen geschicht-
lichen Vorgang, den wir bereits in § 5 herangezogen haben
(oben S. 49 f.). Als der russische Kaiser während des
deutsch-französischen Kriegs sich von der ihm 1856 aufge-
zwungenen Neutralisier ung des Schwarzen Meers lossagte,
ging das Bestreben Englands zunächst natürlich dahin, das
als eine flagrante Verletzung des Grundgesetzes von der
^ Gedanken und Erinnerungen U, S. 247.
n 1.
81
i
■:
w
Vertragstreue zu churnkteriaiereQ. Rußland wich dem jedoch
einfach dadurch aus, daß es von vornherein jede gegen
diesen gericiitete Intention in Abrede stellte; es erklärte
wiederholt und aufa Feierlichste (Mituoterzeichnung dos
Londoner Protokolls vom 17. Januar 1871!), daß ea auch
seinerseits von der Heiligkeit des einmal gegebenen Worb»
durchdrungen sei, nur erleide nach völkerrechtlichen Theo-
remen (die ea in diesem Falle zu acceptieren für gat fand)
Ata Prinzip unter gewissen Umständen eice Durchbrechung,
die selbst wieder juristisch sanktioniert sei. Indem es nun
in concreto das wirkliche Gegebensein eines derartigen Falles
behauptete, war die Sache äußerlich, wiewohl es sich dabei
notorisch um den „schlimmsten Rechtsbruch" ' handelte, in
nicht zu widerlegender Weise auf eine bloße Divergenz in
der beiderseitigen Auffassung und Auslegung, des objektiv
gegebenen Rechtszustandes hinausgespielt, eine Divergenz,
die eelbstverstAndlich wegen des völligen Mangels eines
internationalen Richters der formell-autoritären Schlichtung
genau so unzugänglich war wie jede andere, ganz bona fide
'«Dtetandene auch. —
Wir stehen am Schlüsse der über den rechtspol itiachen
'Wert oder Unwert der clausula rebus sie stantibus entscheiden-
den Betrachtungen. Werfen wir einen zusammenfassenden
IHUckblick auf das gesamte in § 7 enthaltene Material, so
wird schwerlich noch ein Zweifel darüber möglich sein, daß
das Urteil über sie schlechthin verwerfend ausfallen muß;
man kann nur durchaus der Ansicht beipttichten, die, eben
Während der letzterwähnten Pontusangelegenheil, ein prak-
• Herfter-Geffckeii, Europäisches Völkerrecht, S. 21(i, N. 5.
' BuBlnnd lediglich ^die Üunsl der poli tischen Sitnatiuii he-
d war", gab es während der Londoner Konferenzisn inaplicite
nmal insofern «n, xl« e« unter den seit 1856 eingetretenen „Ver-
" anch den Stan des franzSsUehea Rniserreichs mit anrührte
>Bt. N.K.G. XVin, S. 279). Dm bieK doch wirklich dem
ien OroHbritauuien ge^euüber lum Scbadea noch difn l^pott
; denn dieties konnte jn hierin nur eine ahaiuht liehe Erinnernng
ie Tabiaohe erblicken, daH es früher einen mäcbtig'en ftuDdeB^nomen
B gehabe, jetzt aber ihn verloren habe.
Stalte u. •alkerrsobtl. Abhuidl. VI L. - SalimMt. 6
82
VI 1.
tiächer HtaAtsniann ^ daliin foroiuliert hat, daß jede allge-
meinere Anwendung derKlauael geradezu zerstörend und zer-
setzend auf die Vertragsaicherheit überhaupt einwirken würde.
Und zwar hat daB mvht etwa blos für jetzt und die nächste
Zukunft, sondern ganz unbeBchränkt zu gelten : wir haben
ja geächen, daß die Sache in tiefster und letzter Wurzel
mit der grundaätzlich nie ablegbaren Eigenart des Völker-
rechts als solchen zusammenhängt. Wie die Dinge einmal
liegen, muß letzteres es sich unbedingt versagen, nach dem
Muster des innerstaatlichen Rechta auf möglichste Voll-
ständigkeit und feine Detailauaarbeitung des juristiBchen
Systems auszugehen; es bedeutet für dasselbe einen gefähr-
lichen Luxus, die obersten und unentbehrlichsten Prinzipien
des wechselseitigen Staaten verkehr» mit mannigfach ver-
zweigten Ausjmhmsfestsetzungen zu Uberspinnen ^. Denn in
demselben Maße wie hierdurch die theoretisch befriedigende
Geschlossenheit der völkerrechtlichen Ordnung steigt,
schwindet anderseits die praktische Brauchbarkeit: die
Staaten erhalten auf diese Weise blos einen Freibrief, mit
den Normen und Mitteln des Rechts selbst das Hecht beliebig
zu verhöhnen.
§8-
Man kann der Wissenschaft des Völkerrechts das
Zeugnis nicht verweigern, daS sie die große Bedenklichkeit
der von ihr aufgestellten Klausellehrc sehr wohl gefühlt
und oftmals, freilich durchweg ohne viel Erfolg, versucht
hat, Abhilfe hiergegen zu gewinnen. Die Verbesserungs-
< Lord Oraovitle in Reiaer Note vom la November 1870 (vgl.
BluntBcbÜ, Modernes Völherrecht, 3. Aufl., S. 257): ,NBch Jener Lehre
norde dem individuellen Sonderermeisen einer jeden Vertragspartei anheim-
gegeben sein, den g'Bozen Inbnll des Vertrags wieder ihrer Kontrole lu
antarwerfen nnd nur so lange gebunden eu «ein, als e» ihm beliebt,'
* Ähnlich, wiewohl ohne jede nähere AuAtfihraiig und Degrändung,
Eoltzendorff im UtmdbDch des Völkerrecbtit II (IttäT), S. 53: „Es
wäre im höchsten Grade gefährlich, die GrundsätEe oder die intemationHleD
Fandainente durch theoTetiscbe Koiifltruktion«n von Ansnahmeu an dnrch-
IGchem."
I
VI 1. 83
yorschlüge, tlie zu diesem Zweck gemacht wurden, haben
sich auf mannigfache Teile der Gesamttheorie erstreckt.
Als nächstliegendes Mittel bot sich offenbar diea dar,
die Art und Beschaffenheit der res mutatae, die durch ihr
Eintreten völken-echlliche Verträge juriatiseh aufheben
sollten, noch scharfer zu präzisieren, d. h. weiter auf dem
Wege fortzugehen, welchen schon die regelmäßige Lehre
einschlug, als sie von der Forderung wesentlicher Ver-
andenmgeii zu solchen überging, welche den betreffenden
Staat in einen EonBikt zwischen seinen eigenen höchsten
Interessen und der Pflicht der Vertragstreue hineindrangen.
Als Beispiel für diese Richtung kann u. a. auf die Aus-
fuhrungen Bezug genommen werden, die v. Liazt in der
ersten Auflage ' seines Völkerrechts gegeben hat.
Zunächst und prima facie scheint derselbe zwar zu den
prinzipielle» Gegnern der clausula zu zählen, da er^ ganz
allgemein sagt: „Die Beliauptuug, daß alle völkerrechtlichen
Verträge mit der stillschweigenden Klausel rebus sie stan-
tibus geschlossen werden, ist zweifellos unrichtig"; man
hat indes zu beachten, daß letzterer »achlich doch eine
partielle in integrum restitutio widerfiihrt vermöge des
gleich darauf folgenden" Satzes: ^Bei Verträgen, die auf
anbestimmte Zeit, vielleicht sogar auf ewige Zeiten ge-
BchloBnen sind, ist keiner der vertragsschließenden Teile
mangels besonderer Vereinbarung zur einseitigen Kündigung
berechtigt, soweit nicht etwa ein Notstand im
technischen Sinne des Wortes vorliegt.'" Indem
dann der letztere Begrifl' an einer noch späteren Stelle in-
haltlich mit der Rücksicht auf die staatliche Selbsterhaltung
gleichgesetzt wird', gelangen wir kombinierend schließlich
■ A. ». O., 8. 117. WSrtÜch üLereiMtimmuHd unch iii üirk-
meyerB BechtaeuEyblo pädia (1901), ». 1291.
> Völkerrecht, S. 118; auch BevhUeQE.vklnpÄdie, H. 1291.
* S. 129: „Auch diejenigen tichriftiil« 11 er, welche die Anwendtiarkeit
dM NotatandsbegriOea im VDIkerreuht ieugneii, gewähren dem bedrohtea
84 VI 1.
zu dem Resultat, dafi wenigstens bei Gefährdung dieser
Selbsterhaltuug einseitige Vertragsaufhebung rechtlich
doch nicht unstatthaft sein solP.
Es ist nicht zu bezweifeln, dafi auf diese Weise theo-
retisch eine wesentliche Verengerung der bedenklich vagen
Fassung erzielt wird, welche der üblichen und herrschenden
Elausellehre, sehr zu ihrem Schaden, eigentümlich ist:
Staat das Recht auf Selbsterhaltan^. Damit ist derselbe Begriff durch
einen anderen Ausdruck bezeichnet.
^ In der zweiten, aus dem Jahre 1902 stammenden Auflage (mit
der die dritte wörtlich übereinstimmt) hat v. Liszt die betreffenden
Partien einer Umarbeitung unterzogen, dergestalt, daß jetzt die Klausel-
doktrin bei ihm folgende Form aufweist. Ausdrücklich anerkannt er-
scheint sie nunmehr in dem Maße, daß „Verträge, die im Hinblick auf
einen bestimmten rechtlichen Zustand und unter Voraussetzung seiner
Fortdauer geschlossen sind, einseitig gekündigt werden können, wenn
dieser Zustand sich wesentlich geändert hat'' (S. 166), resp. daß (S. 167)
„eine Ausnahme von der Norm Pacta sunt servanda insoweit zugegeben
werden muß, als der geschlossene Vertrag eine bestimmte Rechtslage, sei
es ausdrücklich, sei es stillschweigend, zur Voraussetzung nimmt und
diese Rechtslage sich wesentlich veränd^rt^. Büt anderen Worten,
V. Liszt schließt sich jetzt grundsätzlich derjenigen Richtung an, die
Art und Umfang der eine TraktalsannuUation gestattenden Umgestaltungen
nicht nach objektiv generellen Merkmalen, sondern rein subjektiv, im
Sinne der in concreto vertragschließenden Parteien, bestimmt wissen
will (vgl. hierzu oben S. 20, 36). Nicht völlig klargelegt wird dabei,
in welcher Weise das des Näheren zu verstehen ist. Sollte vielleicht
nur an direkte, ausdrücklich oder stillschweigend erklärte Resolutiv-
bedingungen gedacht werden, so wäre natürlich gegen die diesen zu-
geschriebene juristische Tangierung der Vertragswirksamkeit nicht
das Mindeste einzuwenden (cf. oben S. 87). Dagegen gestaltet sich die
Sache praktisch wieder recht bedenklich, falls etwa — und Ausdrucks-
form wie Art der gewählten Beispiele machen das zu dem weitaus Wahr-
scheinlicheren — nicht bloß solche, rechtswirksam gleich bei Abgabe
der Vertragserklärung hinzugefugte Willensbeschränkungen gemeint sind,
sondern auch schon den (nach außen nicht mit hinlänglicher Schärfe
markierten, vielleicht sogar den betreffenden Mächten selbst erst hinterher
zu klarem Bewußtsein gekommenen) „wahren und eigentlichen Willen^
der Kontrahenten spezifisch- rechtliche Berücksichtigung, und zwar
die Einräumung juristischer Befugnis zur Kündigung (s. unten S. 89 ff.)
zugedacht wird (hierüber zu vgl. § 15, S. 183 ff., bes. S. 186, Anm. 2).
Eine fernere, durch die zweite Auflage an der ersten vorgenommene
Modifikation macht sich bez. der Verwendung des subsidiär aucli jetzt
noch herangezogenen (cf. 8. 167/168 in Verbindung mit 182/183) inter-
nationalen Notstandsbegriffes bemerklich; doch ist in diesem Punkte,
anders als bei dem vorhin besprochenen, richtiger keine materielle Ver-
änderung des früher Gesagten, sondern lediglich eine formale Berichti-
gung (cf. unten § 12, S. 140, Anm. 3j zu erblicken.
VI I.
85
während fUi- diese die politische Selbsterhaltung blos den
wichtigsten, aber keineswegs einzigen FhII der in Betracht
kommenden „obersten Staats! ntereasen und -zwecke" be-
deutet', soll jetzt eine juristisch erlaubte Bezugnahme auf
die clausula eben ausschließlich dort eintreten dürfen, wo
die ErflllluDg des betreffenden Vertrags unmittelbar die staat-
liche Existenz des Verpflichteten bedrohen würde. Indes
wenn damit natürlich auch dem unwillkürlich -frivolen Miß-
brauch der Klausel gewisse Schwierigkeiten in den Weg
gelegt werden, so sind doch praktisch die letzteren nach
Lage der Dinge keineswegs sehr hoch zu veranschlagen;
denn offenbar vermag mala fides den Gesichtspunkt der not-
wendigen Selbsterhaltnng formell gerade sd (und streng
juristisch nicht weniger unwiderleglich!) stets vorzuschützen,
wie das bei der allgemeiner lautenden Abstellung auf
Wahrung der höchsten Interessen schlechthin der Fall ist.
Diese Aussicht ist um so bedenklicher, weil die wahrhaft
vitalen Existenzbedingungen bei den einzelnen Staaten je
nach ihrer Eigenart und Besonderheit als Agrar- oder In-
dustrie-, Kontinental- oder Seemacht etc. etc. auch ganz
verschieden sind und sein müssen. Wie nahe gerückt er-
scheint da die Möglichkeit, daß, nachdem der Staat A —
und zwar von seinem Standpunkt aus mit gutem Grunde —
die Einhaltung eines Traktats verweigert hat, der .Staat B
in einer analogen Lage unter Berufung auf den gegebenen
Präzedenzfall das Gleiche tun wird, wiewohl es sich bei
ihm tatsächlich gar nicht um eine Gefährdung seines poli-
tischen Fortbestandes handelt.
Nach alledem würde die clausula rebus sie stantibus
auch in der abgeänderten Fassung noch immer höchst ge-
lUbriich bleiben; man dürfte sich, wenn in wirklich durch-
schlagender Weise beliebigen Umgehungen des Satzes Pacta
sunt servanda vorgebeugt werden soll, keineswegs mit der
. H. aiil' (lit S. 9'10 wiadei^pge belle Formulierung-
86 VI 1.
Aufstellung eines allgemeinen, vielfältigster Mißdeutung aus-
gesetzten Schlagworts begnügen, sondern müßte im voraus
konkreter die Umstände zu bestimmen suchen, unter denen
in Wahrheit von einer Bedrohung der staatlichen Existenz-
fähigkeit gesprochen werden kann. Indes sobald man sich
auf diesen Weg drängen läßt, wird man mit Notwendigkeit
wieder in anderer Beziehung zu völlig unbefriedigenden
Ergebnissen kommen. Angenommen nämlich, es gelänge
tatsächlich eine Formulierung zu finden, die infolge ihrer
Präzision und casuistisch-detaillierten Ausarbeitung jede
Mißbrauchsmöglichkeit so gut wie ausschlösse, so wäre das
ganz sicher nur um den Preis erkauft, daß die früher zu
weite Fassung jetzt wieder zu eng geworden ist. Kann
doch jede speziellere Bestimmung der zulässigen An-
wendungsfklle stets nur auf Grund und mit Hilfe des bis
dahin schon vorhandenen Erfahrungsmaterials vor sich gehen,
dergestalt, daß sie von Anfang an auch nur auf dieses in
der Hauptsache paßt und zugeschnitten ist. Nun bringt
aber anerkannt das praktische Leben wie überall so auch
hier fortwährend ganz neuartige Konstellationen hervor, an
die man früher absolut nicht denken konnte und die des-
halb jetzt auch von der positiven Formulierung der Klausel
nicht im mindesten berücksichtigt erscheinen. Demgemäß
wird gerade die vorsichtigste und detaillierteste Fassung
am allerhäufigsten auf Vorkommnisse stoßen müssen, denen
sie nach der Gr^indabsicht der clausula gerecht werden
sollte und doch nicht gerecht wird, das will sagen auf
Vorkommnisse, bei denen tatsächlich und bona fide die
Rücksicht auf politische Selbsterhaltung die Erfüllung eines
Vertrags unmöglich macht, die aber trotzdem nicht von
dem strikten Wortlaut 'der Regel umspannt und erfaßt
werden.
Mit den letztgegebenen Erörterungen haben wir über-
haupt ganz allgemein die Schwierigkeit berührt, an der
ausnahmslos jeder Versuch, die clausula durch schärfere
Präzisierung ihrer materiellen Voraussetzungen zu ver-
VI 1.
87
besaern, mit begrifflicher Notwendigkeit scheitert, gleichviel
ob man nun dabei an den Gesichtspunkt der Selbst-
erbaltung oder an irgeadwelchen anderen anzuknüpfen be-
strebt ist. Eb ist nämlieh bei der ganzen Lehre praktieeh
nie über eine peinliche Alternative hinauszagelangen. Ent-
weder man wiQ der ursprünglichen Idee treu bleiben, d. h.
die Obernorm Pacta sunt servanda grundsätzlich von der
ErBtreckung auf alle Fälle ausschlitasen, für die sie sach-
lich nicht angemessen ist. In diesem Falle muß man die
den Ausnahmesatz statuierende clausula unbedingt mit
einer gewissen Vieldeutigkeit der Ausdrucksform aus-
statten, weil sonst der Mannigfaltigkeit des Lebens er-
schöpfend eben nicht beizukomnien ist, öffnet aber damit
freilich in der frUher geschilderten Weise auch dem dolosen
Mißbrauch Tür und Tor. Oder man bemüht sich in erster
Linie, letzteren nach Möglichkeit zu verhüten. Dann wird
wieder die Klausel allmählich immer enger und speziali-
sierter gehalten; es tritt alsbald an ihr die Erscheinung
hervor, daß, wie in der Logik Inhalt und Umfang der ab-
strakten Begriffe stets im umgekehrten VerhBltnis zu
einander stehen, so Entsprechendes auch von abstrakten
Rechtsnormen gilt: je mehr eine solche Einzelheiten als Vor-
aussetzungen in sich aufnimmt, desto geringer wird die Zahl
der ihr praktisch zu unterstellenden Fälle, womit sie nach
der entgegengesetzten Richtung zusehends an Wert verliert.
So muß die völkerrechtliche Klauseldoktrin stets zwischen
zwei konträren Zielen hin und her schwanken, ohne bei
dem Mangel eines internationalen Richters jemals beide
gleichzeitig erreichen zu können. —
Auf einem prinzipiell anderen Wege als dem bisher be-
handelten sucht Kivier' eine sachlich beschränklere und
damit weniger gefiihrliche Fassung der clausula rebus sie
aiantihus zu erhalten : er will nicht die Art und Beschaffenheit
der zu fordernden Veränderungen schärfer bestimmen,
■ Ober ihn >. § 3, S. 12 bei Aum. 2.
88 VI I.
sondern von vornherein, wie bereits gelegentlich ' bemerkt
wurde, blos einen Teil der Stmitaverträge, lediglich j
wisse Klassen und Gruppen von solchen der rechtlichen
Aufbebung infolge späterer Umgestaltung der Verhältniase
unterwerfen. Und zwar läuft seine Ansicht, näher betrachtet^
darauf hinaus, daß lediglich bei einem Vertrage „der fort-
dauernde soziale und politische Verhältnisse regelt,
also bei Handelsverträgen, Schiffahrts vertragen, Nieder-
las SU ngs vertrage II, Post-, Telegraplien-, MUnzvertrUgeu, auch
Bündnissen und dergl." einseitige Lossagung juristisch ge-
stattet sein soll; dagegen hält er die letztere „für nie zu-
lässig bei Verträgen, die ein fUr alle Mal bestimmt sind,
einen definitiven Zustand zu achaifen", eine Klasse, zu der ^
er „vorzüglich Dispositiv vertrage wie Friedens- und Gre
traktate" rechnet.
Es darf mit Bestimmtheit behauptet werden, daß daa
Ganze eine verfehlte Idee ist. An erster Stelle wäre zu
bemerken, daß gerade hier die von uns bereits früher'
konstatierte Tendenz der Völkerrechts Wissenschaft zu rein
naturrechtlicher Fortbildung der internationalen Ordnung 1
wieder einmal so recht deutlich zu Tage tritt; wenn wir |
fragen, wie Rivier zu seiner prinzipiellen Unterscheidung
zwischen den Verträgen kommt, so ist von irgendwelchem
positiven Nachweis, von praktisch-historischen Belegen
dafUr, daß die Staaten in dem einen Falle die juristische
Aufhebbarkeit der Traktate wollen und in dem andereo
nicht, nicht die Rede, sondern lediglich weil der einzelne
Autor subjektiv diese Gestaltung fUr vernünftig und an-
gemessen hält", „muß man den 8atz aufstellen", wird die
betr. Lehre als gültiges Hecht proklamiert. Fernerhin liegt 1
es auf der Hand, daß die versuchte Grenzziehung seibat J
sehr unsicher und schwankend ausgefallen ist; namentlich j
' S. 13, Anw. I.
" Cf. oben S. 65 ff.
^ Nebenbei gesagt aibd aucti uouh d
als änßerst anfechtbar zu bezeicbueii.
a beigebrachttn Oründe |
' VI 1.
89
der Begriff der Di 8 positiv vertrage igt ein rei^lit unpräzieer,
um so mehr, aU bei einigen dereelbeu ausdrlicklicii doch
wieder Kündigung ziigelasBen wird'. Und wenn wir
schließlich b!oa diejenigen Verträge ins Auge faasen, bez.
deren die einseitige Lösbarkeit mit voller Bestimmtheit von
Rivier ausgeschlossen wird, so ist nicht im mindesten ein-
zusehen, warum beispielsweise allen Grenz- und Territorial-
abmachungen dieses Privilegium odiosum zukommen soll;
im Gegenteil kann auch bei ihnen sehr wohl eine materielle
Notwendigkeit der Nichterfüllung alter vertragsmäßiger
Zusagen sich einstellen, wie u, a. bei dem konkreten Falle,
der dem Verfasser zu der ganzen liier vorliegenden
Arbeit den ersten Anlaß gegeben hat, aufs Klarste zu be-
obachten ist*.
Eine dritte Methode^, die clausula rebus sie stantibus
praktisch annehmbarer und erträglich zu machen, operiert
nicht mehr wie die beiden anderen mit möglichster Ein-
Bchrltnkung der materiellen Elemente derselben, sondern
ist bemüht, das gewünschte Resultat durch Hinzufügung
eines formalen Moments zu erreichen. In der völker-
rechtlichen Literatur herrscht vielfach eine große Unklar-
heit darüber', wodurch eigentlich das juristische HinMlig-
werden internationaler Verträge eintreten soll: ob unmittel-
bar schon durch die Veränderung der Umstände als solche
oder erst durch die auf sie gestützte Kündigung". Dieser
theoretischen Unsicherheit, die manche Spuren auch in dem
konkreten Verhalten der Staaten" hinterlassen hat, machen
' Vgl. a 352, Anm. 2.
* 0£ B SüLiaidt, Der BcliwediBcb-meckleaburg'Uchc Pfaudvcrtra^
T Stadt und Harr«cliaft Wismar (Leipzig 1901), ä. 67 ff.
* Die ftbrigüDS mit den swei ar8t«ii auch kombjuiert ttuflreteii ttanu.
0«rade bei den zuletit genaimten Schrift«teilern , lowobl Bivier wij
■ it, ist daa tatBäfhlicii der Fall.
* Nach den Ausfljlirungen, die Pfaff in aeioem Bcbun S. 5, Äain. 2
•tifMOgonen Werke g'ibt, srjkr gaua die oämlidie Erscbeiiiuiig in der
ehemaligen liviligtlscben El«tuellebre KlcichfatU la beobacbtea. Cf. a.
». O., S. 20, Anm. I, S. 72, S. lOS, Anm. 1 imd Gfter.
■ Vfl. oben 8, 19 bei Anm. 2.
* El verlieht sich von ulbit. daß melhojologiidi richtiger hier
90 VI 1.
nun diejenigen Schriftsteller ein Ende, die mit Entschieden-
heit eine ausdrückliche Lossagung von den Traktaten ver-
langen und hierin ein ausreichendes Korrektiv wider all-
zugroSe Unbestimmtheit der Klausel gefunden zu haben
meinen ^
In der Tat sind dieser Formulierung einzelne Vorzüge
gar nicht abzusprechen. Vor allem nach der Richtung hin,
daß mit ihr wenigstens ein festes äußeres Kriterium für
die fortdauernde Rechtsgültigkeit internationaler Verträge
gewonnen ist: wenn man bei der Annahme der Ipso-jure-
Wirkung wegen der außerordentlichen Dehnbarkeit der
clausula rebus sie stantibus eigentlich von keinem einzigen
Uebereinkommen mit voller Bestimmtheit behaupten kann,
ob es noch in Kraft steht oder nicht, erscheint nunmehr
unbedingt jedes gültig, das nicht expressis verbis gekündigt
wurde. Ebenso darf man der modifizierten Fassung eine
gewisse Erschwerung des ungerechtfertigten und dolosen
abermals nur von einer Untersuchung des Willens dieser hätte aus-
gegangen werden sollen. Da dies jedoch nicht der Fall war, vielmehr
die Klausellehre, wie überhaupt, so auch in dieser Beziehung rein subjektiv
doktrinär entwickelt wurde, so mußten von ihr natürlich umgekehrt die-
jenigen Staaten sachlich beeinflußt werden, die erst hinterher (et oben
S. 5o) die bequeme, ihnen dargebotene Theorie zu fraktifizieren und in
die Praxis umzusetzen suchten. Demgemäß findet sich eben das im Text
erwähnte Schwanken der Wissenschaft u. a. auch getreulich wieder in
dem russischen Rundschreiben vom 19./31. Oktober 1870 über die Auf-
hebung der Neutralisierung des Schwarzen Meeres, denn dort heißt es
das eine Mal: „Sa Majest^ Imperiale ne saurait se consid^rer plus
longtemps comme li^e aux obligations du trait^ de 18/30 mars 1856"
(hier wird offenbar die Annahme einer Ipso -jure -Wirkung angedeutet),
gleich darauf aber auch: „Sa Majestä Imperiale se croit en droit de
d^noncerla Convention'^ (in diesen Worten ist nur von einem spezifischen
Recht auf Kündigung die Rede).
^ Vgl. z. B. Nippold, Der völkerrechtliche Vertrag, seine Stellung
im Rechtssystem und seine Bedeutung für das internationale Recht, S. 240 :
„Der Vertrag erlischt nicht ipso jure, sondern er muß unter Berufung
auf die Klausel gekündigt werden. Die Gefahr des Mißbrauchs derselben
ist sonst zu groß." Völlig übereinstimmend Uli mann, Völkerrecht,
S. 177: „Es lieg^ in den Bedingungen eines rechtlich geordneten Staats-
verkehrs die Forderung, daß in einem selbständigen Akte der Wille, das
bestehende Vertragsverhältnis aufzuheben, der Gegenpartei zum Ausdruck
gebracht werde, nämlicli durch Kündigung des Vertrags. Die Kündigung
fungiert hier zugleich als Mittel zur Verhütung des Mißbranchs."
VI 1.
91
■
I
Vertragsbruchs lEsoferii wirkHuh nachrdrimen , als die
Notwendigkeit, den Traktat formell aufsjtgen und dies
im einzelnen auch begründen zu mUsseD, vielleicht
manchen Staat von der einseitigen Aufhebung zurUck-
lialten wird.
Freilich ist gleichzeitig davor zu warnen, von dem
letzteren Moment gerade allzuviel zu erwarten^ ist doch
das hauptsächlichste und echlinimste Übel der ganzen
Klausellehre, die eigentliche radix malorum, noch immer
unausrottbar vorhanden. Wie wir aus § 7 (oben S. 7ö)
wissen, besteht dasselbe darin, daß die Staaten durch die
clausula in den Stand gesetzt werden, heuchlerisch den
wahren Sachverhalt zu maskieren, den schamlosesten Ver-
tragsbruch zu begehen, ohne ihn doch offen als solchen
eingestehen zu mlissen. Das ist aber unter den neuen
Verhältnissen kaum weniger der Fall als unter den alten.
Im Grunde bedeutet es doch bloß eine kleine Verschiebung,
wenn man nicht mehr sagt „das objektive Völkerrecht er-
klärt Verträge, seit deren Abschluß wesentliche Ver-
änderungen vor sich gegangen sind, direkt für aufgehoben",
sondern die Sache so formuliert „Es gewährt unter diesen
Umstanden dem Verpflichtelen ein Recht der Traklata-
kUndigung" ; das Eine wie das Andere kann offenbar dem
bSsen Willen gleichmäßig als juristischer Deckmantel
dienen, weshalb es, sobald ein Staat einmal fest entschlossen
ist, unter nichtigen Vorwänden sich über früher über-
nommene Verbindlichkeiten hinwegzusetzen, fllr ihn schwer-
licli noch viel ausmachen wird, auch die ausdrückliche
LoBsagung zu vollziehen.
So wären wir denn immer wieder zu der Erkenntnis
zarückgedrängt, daß die Klausellehre unter allen Umständen,
auch in ihren Um- und Fortbildungen, ein recht bedenk-
liches Geschenk darstellt, welches die Theorie der Praxis
gemacht hat, daß sie, sie mag des Näheren formuliert sein
wie sie will, stets nur unendlich mehr zu schaden als zu
nützen vermag. Das Ganze ist ein recht charakteristisches
92 VI 1.
Beispiel dafür, wie leicht auch die beste Absicht in der
Wahl der Mittel sich vergreifen und dann geradezu das
Gegenteil des gewollten Erfolges herbeiführen kann. Denn
blos der materiellen Gerechtigkeit gedachte die Doktrin
durch sachgemäße und feinere Ausgestaltung des inter-
nationalen Normensystems zu dienen, und sie hat doch
lediglich der Ungerechtigkeit formal -juristische Waffen
geliefert.
Vierter Abschnitt.
Der berechtigte Kern dei* ganzen Lehre.
§9.
Die clausula rebus sie stantibus bildet weder zur Zeit
eine positiv-gültige Norm des durch die Staaten für ihren
wechselseitigen Verkehr geschaffenen Völkerrechts, noch
hat sie wegen ihrer eminenten Gefährlichkeit in Zukunft
Aussicht, von jenen zu einer solchen erhoben zu werden —
das ist das Ergebnis, zu welchem unsere bisherigen Unter-
auchuagen notwendig getuhrt haben. Damit ist featgestellt,
daß streng juristisch an der Geltang des Satzes Facta sunt
servauda schlechthin und prinzipiell festgehiilten werden
muß: er ist in der heutigen Internationalurdnung durch
keine rechtlich wirksamere Ausnahmsregel durchbrochen
und wird es aller Voraussicht nach auch niemals werden.
Seine starre und unbeschränkte Statuierung scheint nun
Ireilich mit gewissen praktischen ErwÄgungen nicht zu-
sammenstimmen zu wollen, die bei tieferem Eingehen auf
die Sache jedem von selbst sich aufdrängen, und die auch
in der völkerrechtlichen Literatur schon oftmals nachdrück-
liche Formulierung gefunden haben, in besonderer Schärie
z. B. durch den portugiesischen Staatsmann und Publizisten
Pinbeiro-Ferreira. dessen Ausführungen hier in extenso
zitiert werden mögen. Derselbe sagt in einem seiner Werke '
wörtlich folgendes.
94 VI 1.
Ce n'est pas parce que deux gouverments ont conclu
ensemble teile ou teile Convention que leurs nations sont
tenues d'en accomplir les obligations, mais parce que les
rapports d'oü ces obligations dörivent, continuent d'avoir
lieu entre les deux peuples, que ceux-ci (aussi bien que si
c'ötaient deux individus dans la 80ci6tö)sont tenus d'observer
les stipulations du contrat. — Du moment que ces rapports
existent, la r^iprocitö des devoirs qui en est la suite
nöcessaire, commencera d'avoir lieu et continuera aussi long-
temps que ces rapports subsistent. Aussi du moment oü
les rapports d*oü ces devoirs tiraient leur origine auront
cessö, Tune des parties aura beau allöguer les Conventions
contract^es avec eile et sign^es par Tautre, celle-ci estautorisöe
ä lui röpondre qu'on ne saurait concevoir Texistence d'un
effet apr^s que la cause a cess^ d'exister; et cette röponse
qui serait catögorique entre deux individus qui auraient
contractu en vue des circonstances qui ont cessö d'exister
pour tous les deux et sans la faute ni de Tun ni de
Tautre, acquiert une force irr^sistible lorsqu'il est question
de deux nations; car, dans le premier cas, il y a identitö
des personnes contractantes, tandis que dans Tautre, ceux
qui ont contractu ne sont plus ceux qui devaient accomplir.
Or, ce que les tröpassös ont contractu entre eux, ne
saurait obliger les vivants qu'autant que eela peut ^tre
compatible avec les intör^ts et des uns et des autres; et il
serait de la derni^re absurditö de prötendre que la gönera-
tion actuelle d'un pays doit faire le sacrifice de ses int^rets
a la gönöration actuelle de l'autre, parce que les gouverne-
ments de jadis, non contents de Commander ä leurs con-
temporains, se sont foUement imagin^s que, m§me apr^s
leur tr^pas, ils continueront de Commander ä toutes
gön^rations dans Tavenir.
Suchen wir den in diesen Sätzen enthaltenen Grund-
gedanken aus dem nebensächlichen Beiwerk herauszuschälen
und scharf zu bestimmen, so ergibt sich offenbar als
Pinheiro-Ferreiras Meinung dies : Wie alles Recht überhaupt,
' VI 1.
95
) stellt auch Jeder konkrete International vertrag stets den
formellen Ausdruck matericHer VerhältniGse und Interessen-
zustände dar: die Parteien haben ihn geschlossen, weil sein
Inhalt damals beiden gleichmäßig angenehm und vorteilhaft
erscheinen mußte'. Dieser Sachverhalt, dal3 der eine wie
der andere Staat bei dem Traktat seine Rechnung findet
und an ihm interessiert ist, kann unter Umsttlnden ein
' dauernder sein; dann bleibt notwendig auch der Vertrag
[ die richtige und zutreffende Formel realgegebener Zustünde
und deshalb in permanent unangefochtener Wirksamkeit
Die ehemaligen Verhältnisse können sich aber auch später
von Grund aus and<Tn, dergestalt, daß, während früher das
dringendste Staatainteresee den Abschluß dea Traktats gebot,
I es jetzt gerade umgekehrt seine Nichteinhaltung verlangt;
in diesem Falle bat der Vertrag seine materielle Grundlage
' durchaus verloren. Bei der ausnahmslosen Proklamierung
der Kegel Pacta sunt servanda wird aber das Letztere
aufier Acht gelassen: sobald jeder einmal abgeschlossene
, Vertrag auf die Dauer rechtliche Gültigkeit bewahren soll,
erhebt die Vergangenheit die durch nichts begründete
\ Prätension, auch Gegenwart und Zukunft unwandelbar zu
binden^; man sucht, indem der nur aus der früheren
Interessen läge hervorgegangene und zu begreifende Traktat
jetzt auch ohne sie aufrechterhalten wird, längst entschwun-
I dene Zustände künstlich zu petriäzieren, und tritt dadurch
lebendigen Wirklichkeit in all er schärfsten Wider-
' Selbst bei (tinem Überciiikommen , dlm ünUerlich betrHchtet für
a Partner nicbto wie achwerste Opfer mit sich bringt, kann äia
BMhl wohl der Füll nein. Wemi beispieleweiBe d[e eiae Macht der anderen
■ durch Friedenitraktst wartvolle Provinzen ledierl, so tut nie diee ans der
KEnfignng hersua, daB sie BoQBt, bei hartnäckigem Widerstände, toq ihrem
fner im Wege der debelintio Tielteicht gäDalich niedergeworfen und
n politischen Selbstündigkeit fiberbaupt beraubt werden wnrde, eine
r«icht, mit der verglichen der Verla«! eines Teil» dea SMat^gebieta
r noch dax kleinere Übel darstellt Tgl. Held, in Botteck-
Welukera Staats texikon, Bd. 14 (S. Aufl. 1866}, S. 594: „Ein VSlkcr-
Tertrkg kann, obgleich hSchat beachwerend, ja lähmend, doch im ersten
Augenblick and auf einige Zeit ein SelbiterhaltungB vertrag eeia — ■"
* Vgl. den Ähnlichen Qedankengang Jellineka, oben ß. 10.
96 VI 1.
Spruch. Da das aber für ein wahrhaft gutes und brauch-
bares Recht sicherlich unzulässig ist, so bedarf eben die
obengenannte Völkerrechtsnorm unbedingt einer entsprechen-
den Korrektur.
Daß eine solche wirklich nötig ist, wird so leicht kein
Verständiger in Abrede stellen ; niemand, der die Dinge
tiefer zu durchdenken bemüht ist, wird in der Regel Pacta
»unt servanda unter allen Umständen der Weisheit letzten
Schluß erblicken wollen. Daß jedoch die erforderliche
Korrektur gerade in Form eines neuen juristischen
Satzes vorgenommen werden müßte, diese von so vielen und
offenbar auch von Pinheiro-Ferreira ganz selbstverständlich
gefundene Folgerung ist damit noch nicht begründet, viel-
mehr aufs Entschiedenste zu bekämpfen. Nur derjenige,
der das Recht als prinzipiell selbständige Welt, als „abseits
gelagertes eigenes Reich *^ ^ anzuschauen gewohnt ist, wird
zu derartigen Konsequenzen mit Notwendigkeit gedrängt
werden, weil er sich nunmehr naturgemäß auch alles Heil
und alle Abhilfe stets blos in spezifisch juristischen Formen
vorzustellen vermag; wer es dagegen in der allein zulässigen
Weise nicht isoliert und abgeschlossen, sondern als integ-
rierenden Bestandteil des sozialen Gesamtlebens, dem Ein-
flüsse des letzteren stets unterworfen und ausgesetzt, zu
erfassen strebt, der wird für manche Schwierigkeit, welcher
der andere wohl oder übel* immer wieder nur durch das
Recht selbst beizukommen sucht, ohne und gegen dieses
eine befriedigende Lösung finden*. Die Sache gestaltet
sich alsdann einfach so, daß auf der einen Seite der betr.
formal-juristische Satz konstatiert wird und ohne jede, ihm
selbst wesensgleiche Einschränkung bestehen bleibt, daß
aber anderseits auch die Macht der Tatsachen als allge-
meines, faktisch wirksames Gesetz sich betätigt, daß sie
^ Stammler, die Lehre von dem richtigen Recht (1902), S. 6.
^ Fast regelmäßig gerät man dabei an irgendeiner Stelle rettungslos
in den Flugsand des Naturrechts hinein. Vgl. hierzu oben S. 27.
' Auf das ganze, hier angedeutete Problem wird später, in § 16,
nochmals zurückzugreifen sein (s. 8. 197 flf., bes. S. 201 f.).
■TI 1.
97
I
fortlaufend in concreto der widerstrebenden Rechtsnorm die
nötigen Ausnahmen abringt und damit schließlich doch eine
regelmäßige Einzelkorrektur derselben herbeifllbrt '.
Freilich ist hier der Einwand zu erwarten, die Sache
werde dadurch auf ein Gebiet hinüber gespielt, welches für
die theoretische Betrachtung überhaupt nicht mehr geeignet
und zugänglich sei; daß die generellen Rechtsvorschriften
sich praktisch oftmals nicht durchzusetzen vermöchten, sei
ja ganz zweifellos und anerkannt; es lasse sich aber mit
solchen rein faktiacben Vorkommnissen für die Wissenschaft
des Rechts weiter nichts anfangen, weshalb sie auch in
dieser irgendwelche Berücksichtigung nicht beanspruchen
dürften.
Der Einwurf hat seine volle Berechtigung insoweit, als
die überwiegende Masse des Zuwidcrhandelns gegen juri-
etiscbe Normen in Frage kommt. Denn da dasselbe aus
rein individuell bedingten, konkret eigenartigen Verhält-
nissen und Zuständen hervorzugeben pflegt, so kann wirk-
lich die ihre Aufgabe unter generellen Gesichtspunkten er-
fassende Rechtswissenschaft regelmäßig zu ihm keine andere
Stellung einnehmen, als daß sie die weiterer Allgemein-
bearbeitung weder fähige noch bedürftige Tatsache kon-
statiert, jede Regel vermöge unter Umständen übertreten
za werden. Das ändert sich jedoch vollständig, sobald
unter gewissen genau bestimmbaren Voraussetzungen mit
konstanter Regelmäßigkeit die Nichteinhaltung eines Kechts-
satxes zu beobachten ist: hier handelt es sich sicherlich nicht
mehr um eine bloße Summe unter sich zusammenhangs-
' An deu auRcIi ein enden Selbstniderepruch („dllgemei n wirk-
*Miet OeietB" und „ia l^oIlc^eto', „regelmäßige Einzelkorrektur*')
wolla nuin sich nicbt BtoSen, nm mich nicht miBiuTenitehen. Icli verweile
•diaa hier darauf, daß er im folgenden, an passender Stella (t^I. bea.
S. Ulf.. ISS, 149, 2I5r.[aDehS. 222, Anm.4]) seine genügende Aundäning
Sndon *rird. Ich hin in dieser Beniehnng etwas vomichtig k^"<"^^">
leltdeiD mir Hehm in einer Uesprechung meiner Studie Tiber den Staat
eiiie Reihe von „ Widersprachen " vorgeworien hat (cf. Kritiscbe Viertel-
Jabitschrüt, Bd. 89, S. 262 f.), die nach Sinn utid Zosaininenhang sämtlich
gax ktäoe sind (vgl. oben S. 2, Anm. 2).
n. vRlk^iTfahtl. Abhandl. VI 1. — Sohmldt.
98 VI 1.
loser Einzelf'akta, sondern es kommt darin geradezu eine
aligemeine, dem abstrakten K echt durch dae reale Leben
unüberateigbar gesetzte Schranke zu empirischem Auedruck.
Eine solche darf aber auch die spezifische Rechtswissen-
schaft nicht prinzipiell ignorieren, denn wie man überhaupt
ein I)iog nur dann ganz zutreffend zu erfassen und begriff-
lich zu bestimmen vermag, wenn man seine natürliche, ihm
wesentlich eignende Begrenzung genau kennt, so ist
ganz entsprechendes insbesondere vom Hechte gleichfalls za
behaupten.
Es ist nun sehr interessant, zu sehen, daß auch schon
bei dem innerstaatlichen Rechtssystem zahlreiche Erschei-
nungen zu finden sind, die meines Erachtens nur unter
Zuhilfenahme des eben angedeuteten Gesichtspunkts voU-
befriedigend sich begreifen lassen. Zwar kommen dabei
wegen der essentiellen Verschiedenheit, die zwischen der
völkerrechtlichen Ordnung und jenem obwaltet, Gebilde in
Betracht, welche von der nachher zu gebenden Konstruktion
der internationalen clausula rebus sie stantibus noch sebr
bedeutend differieren ; bei alledem besitzen aber beide doch
auch wieder soviel Verwandtes, daß es für die prinzipielle
EMasaung der letzteren nur vorteilhaft sein kann, wenn
wir jetzt, in einem kleinen Exkurse, zunächst einige voD
den ersteren besprechen.
Vor allen Dingen ist da der theoretisch wie praktisch
verhältnismäßig spät entwickelte Begriff des kriminalen
Notstandes zu nennen. Von den drei verschiedenen
Auffassungsmöglichkeiten, die bei der näheren Konstruktion
desselben in der Wissenschaft vertreten sind, d. h. von der
Zuerkennung eines spezifischen Notrechts* an die in einer
„gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben" * befindlichen
I
■ Vgl. u. a. Lanaon, Hystem der RecbtsphiloHophi« (l^^X S.460/4UJ
' Oder wie aonet die Detailprälisiening: der materiellen Voraoa
Setzungen de« NotHbwdR in der einzelatiuitlicbeu Legislatire atiBgefalla]
aeiu mag. Das Obige ist bekauntiieh die Fassung, die von dem dentncbM
Reicbatralgeaetxbucb in g 54 gegeben wird.
I
VI 1. m
Personen, von der Annahme ferner, daß hier „die Rechta-
ordoung weder erlaubt noch verbietet, sondern, ihrer Ohn-
macht bewußt, gewähren laßt" ', endlich von der Statuierung
eines einfachen S trafausschließungägrunds', ist meines
Erachtens die letztgenannte als diejenige zu bezeichnen, die
für die ganze Sache die zutreffendste, rech tsselzungspuli tisch
empfehlenswerteste^ Formulierung findet. Und zwar haupt-
eächlich aus folgenden Erwägungen.
Alle drei Richtungen sind darin einig, daß das gesamte
Institut als eine notgedrungene Konzession an faktisch vor-
Lsndene Zustände anzusehen ist. Immer von neuem mußte
man die Wahrnehmung machen, daß im Falle der Kollision
Ewiscben rechtlich anerkannten Interessen verschiedener
Individuen der Mensch wegen des natürlichen, ihm einge-
pflanzten Egoismus sich regelmäßig für Verletzung der
fremden RechtsgUler entscheidet, unbekümmert nra die zum
Schutze derselben erlassenen staatlichen Strafandrohungen,
und so kam man schließlich zu der resignierten Einsicht,
daß eine wahrhaft verständige Kriminal pol itik hierauf von
vornherein praktische Rücksicht zu nehmen, den realge-
gebenen Machtfaktoren auch ihrerseits gewisse Zugestflnd-
nisBe zu machen habe*. Diesen Zweck suchen nun die
t, Lclirbuuh des deutachGii Strnfrevhbt , Ü. Aufl. 1897,
«. 144.
Vgl. E. a. die Aunführungen Ui rkiu uyura in der 1901 von ihm
legebenen „Enzyklopädie der KechlswiaHenscIiaft", S. 1085 f.
Darin ist entLalten, daß ich durchaus nicht de lege Inta ein Urteil
darSbei abgeben will, nie die Frage io den geltenden StrafgeaetEbllchem
pMitir entachioden worden ist; mit anderen Worten, ich erkenne voll-
«Ondfg an, daß in diesen sowohl das Prinzip den Notrcuhts wie da«
der bloßen juristischen IndifferenE vielfach ansgesprocben sein mag,
und behaupte nur, daß dieae Art der Bcgelung den wirkliirheu Itcdiirf-
niiaen nicht völlig gerecht wird. Für das nns nächstliegende Ileispiel
also fiir das deutsche BtrafreL'ht, bin ich allerdings der
laß hier von Anfang an lediglich ein ätrafausachlieBungsgrund
in Sinne Birk meyers ntatuierl werden gnlhe, und daß auch nach dem
Inkrafttreten der einschlagenden BeaUmmungeu des ll.O.B. (§§ 22ä u. 804)
daran nichta geändert worden ist (zu letzterem Punkte vgl. u. a. Auer,
0er atrafrechtlluhe Notstaud und das Bürgerliche Gesetzbuch, 1903,
100
VI 1.
zwei ersten Lehrmeinungen in der Weise zu erreichen, daß
aie daa normale, direkt an alle Untertanen sich wendende
Regelsyateni selber einer entsprechenden Korrektur unter-
werfen, die eine positiv, durch Einfügung einer ausdrück-
lichen Ermächtigung zu Gunsten der in Notstand geratenen
Subjekte, die andere wenigstens negativ, in der Form, daß
sie die generellen Gebote „Du sollst nicht töten" etc, inso-
weit als außer Gültigkeit stehend erachtet wissen will.
Indes das führt, unter allgemein rechtsphilosophischen Ge-
sichtspunkten betrachtet, beide mal zu einem doch recht wenig
befriedigenden Ergebnis, Denn soviel wird sich schwerlieh
bestreiten lassen: der sozialethisch am meisten wünschens-
werte Zustand, das wahrhaft anzustrebende Ziel wäre erst dann
verwirklicht, wenn die Menschen in der Tat den „sittlichen
HeroismuB" besäßen, daß sie lieber ihre eigenen Interessen
verloren geben, als fremde im geringsten schädigen möchten.
Warum soll nun das Kecht auf jede erziehliche Einwirkung
nach dieser Richtung hin ganz verzichten, warum soll es
seinen eigenen Imperativ, der doch wenigstens bei dem
einen oder anderen jenes moralisch hüchststehende Ver-
halten mit erzeugen helfen mag, selbst der Gültigkeit be-
rauben und so von sich aus ein immerhin nicht zu unter-
schätzendes Motiv zu demselben außer Kraft setzen? Viel
besser und teleologisch weit vorzuziehen wäre es sicherlich,
falls sich ein Weg entdecken ließe, der diesen unerwünschten
Nebeneffekt vermeidet und gleichzeitig doch erlaubt, sich
mit den faktisch nun einmal bestehenden Verhältnissen in
ausreichender Weise abzufinden. Einen solchen Weg bietet
aber jene dritte Auffassung der Notstandsiehre wirklich
dar. Indem dieselbe nämlich die Notstandehandlung auf
der einen Seite für straffrei erklärt, trägt sie vollwirk-
sam der Macht der Tatsachen den nicht zu verweigernden
Tribut ah; sie nimmt den deutschrechtlich formulierten
Erfahrungssatz „Not kennt kein Gebot" als etwas bin,
was sie wohl anders wUnschen müchle, was aber doch so,
wie es in Wahrheit ist, gebührende Berücksichtigung er-
vr I.
lol
heischt. Und andrerseits, indem aie die Notatandahandlung
trotzdem als verboten und rechtswidrig behandelt, lediglich
die straf rieh te;-lichen Organe des Staats ausnahmaweiGe
zum Nichteinschreiten verpflichtet sein Iftßt, vermeidet
sie den sozial pädagogischen Fehler, der in der kanontstischen
Lehre „necessitaa non habet legem" enthalten ist: dadurch
daß das Recht die an die Untertanen adressierte BefehU-
norm als solche durchaus aufrecht erhält, geht ea nicht
bis zu dem Punkte, sich seinerseits mit einem sittlich
jedenfalls recht anfechtbarer Verhalten derselben irgendwie
einverstanden zu erklaren, sondern sucht dieses vor wie
nach zu bekämpfen, soweit ea bei verstandiger Uückaicht-
nahme auf die real vorhandenen Zustände eben möglich
und ratsam iat.
Im Gegensatz zu dem bisher erörterten Notstands-
begriST, der seine eigentliche und ursprüngliche Ausbildung
Qur durch das Strafrecht gefunden hat und flir dieses auch
in Zukunft wenigstens überwiegende Bedeutung behalten
wird, entnehme ich das zweite Beispiel einem anderen Teil
des innerstaatlichen Normensystems, dem Privatrecht, näm-
lich die zivilistiache Verjährung, apezicU die extinktive Art
derselben. So gut wie Überall, selbst auf verhältnismäßig
noch recht unvollkommenen Stufen der juristischen Ent-
wicklung, stoßen wir in irgend einer Form auf den Grund-
satz, daB rechtlichen Ansprüchen der einen Person wider
die andere dann fernere Wirksamkeit zu versagen sei,
wenn seit ihrer Begründung schon ein betrilchtl icher (nur
praktisch- positiv sehr verschieden bemessener) Zeitraum
verstrichen ist. Was für Gründe zur Statuierung dieses
Prinzips mit zwingender Notwendigkeit geführt haben, da-
von braucht hier nicht ausführlich gesprochen zu werden;
sind doch die einschlagenden Momente (insbesondere der
mächtige Einfluß, den schon der einfacheZeitablauf als solcher
auf das menschliche GemUt auaUbt, dann die immenac,
durch ihn eintretende Erschwerung der Feststellung der
wahren juristischen Sachlage, die sozial-politische Verfehlt-
102
VI 1.
heit eines Zustands, bei dem jeden Augenblick jedes vor-
handene Verbältnis in Frage gezogen und damit die Streit-
möglichlteit und Ungewißheit in Permanenz erklärt werden
könnte, usw. usw.) bereita von so vielen und so überzeugend
dargetan worden ', daß die grundsätzliche Rechtfertigung,
ja Unentbehrlich keit des Verjährungsinstituts heute so leicht
von niemandem mehr angezweifelt werden wird.
Indes trotz dieser rückhallloBen Anerkennung des
Prinzips darf und muß die Kritik doch Jedenfalls insoweit
einsetzen, als die Art, wie dieselbe zur praktischen Durch-
führung gelangt, in Betracht kommt. Als gegenwärtig
herraehende Meinung kann in dieser Beziehung wohl dioa
gelten, daß durch den Ablauf der Verjährungszeit das be-
treffende Recht selber gänzlich erlöschen und juristisch auf-
gehoben werden soll. Damit vermag man sich jedoch, abermals
aus uni Versal- teleogiachen Erwägungen heraua, keineswegs
einverstanden zu erklären. Denn „es ist nicht zu leugnen,
daß das natürliche Rechtagefühl die verjährte Schuld nicht
weniger als Schuld anerkennt; der rechtliche Mann erfüllt
sie, obgleich sie verjährt ist" '. Mit dieser allein zu billi-
genden Beurteilung des Sachverhalts tritt aber das Recht
in offenkundigen Widerspruch, sobald es nach dem oben
angegebenen Rezept verfahrt; es macht sich gewissermaßen
zum Komplizen des böswilligen Schuldners, setzt direkt
eine Prämie auf moralisch verwerfliches Verhalten, wenn
es erklärt: „lu Ansehung, daß du es verstanden hast, dich
30 Jahre lang der Erfüllung einer zweifellosen Verbindlich-
keit, etwa auf Rückgabe eines empfangenen Darlehns, zu
entziehen, erkläre ich dich jetzt zur Anerkennung deiner
Gewandtheit überhaupt jeder Pflicht für los und ledig."
Will man das Recht diese, ea schon durch den bloßen An-
I
1 Vgl. BUS neuerer Zeit Stammler, rom richtig:en Becfate, S. 26S.
■ Windacheid. PHndekteD,§I12,N.5. Äbnlii^h auch Stammler, '
t. a. O., a. 264: Zitierung des volkotümlicheD Sprichwort! „Hundert
Jalira Unrecht ist keine Stunde Hecht", S. 4S7: „Aucb das liczohlen von
veijibiter Schuld ist eine Pfiichl des richtigen Rechts."
VI 1. 103
ächein schwer herabwürdigende Holle nicht spielen lassen,
ebenflowenig aber auch auf sachgemäße Berücksichtigung
der gewaltigen, dem Zeitablauf unleugbar innewohnenden
Macht völlig Verzicht leisten, so wird man ganz von selbst
auf das nämliche Auskunftamittel zurückgelangen müssen,
welches wir vorbin bereits beim Notstand kennen gelernt
haben; d. h. genau wie es dort der Fall ist, empfiehlt sich
wiederum, die Rechtapflicht als solche unverändert fortbe-
stehen zu lassen, dagegen den realgegebenen Verhältnissen
in der Weise Rechnung zu tragen, daß den jurisdiktionellen
Organen des Ötaata die Weisung erteilt wird, sie möchten
unter gewissen Voraussetzungen die sonst von ihnen vor-
zunehmende Tätigkeit unterlassen, denjenigen zivilistischen
Ansprüchen nicht mehr zur Verwirklichung verhelfen, bei
welchen ihnen eine bestimmte längere Frist als seit der
Begründung verflossen dargetan wird'.
Das dritte und letzte Beispiel mag in der Weise ge-
wählt werden, daß jetzt, nach Straf- und Privatrecht, auch
n der Harvorhebimg bedarf es wohl, daß auf die nbigen Dtx-
II die Note S der Seite S9 ebenblls sinngeoiilBc Anweadung leidet,
_ , daß ich aaeh bex. de» Verjäliritugtproblema l^iglich de legE
1 meine Aiuflihniii)^eii geniariit höbe. Woa die wirkliche Ordnung
\ dM VerUltniuea in einüelneu poNitiven RecbtsHyttemeu betrifft, ao glaube
im rfimiachen Recht die von mir vertretene AalTsssiing tat-
I «icÜicli wiederfinden lu können, f&r duaelbe sehe ich nämlich die
1 Ansicht vonSiiviKaj, Puchla and anderen als die richtigere nn, daß
I tuieh nach Ablauf der TeijährungxEeil von porsOnlichen Ansprachen noch
„obligatio naturalia" übrig bleibt. Da nun das Wesen dieser, im
I eraBen und gsiiEen übe rein stimmend, dahin dc&niert wird, daß hier eine
Juristisch exiatente, über des Kiagerechb« ermangelnde VerliiDdlich-
keit gegeben ist und weiterhin die letztere Befagnis an und für sich g&r
keinen integrierenden Bestandteil des eigentlichen uud ursprQnglii'hen
Anapruchs Weulrt, sondern einen ganz „neuen, an bestimmte Blaatlidie
Oimne erlasseuen Imperativ" (Thon. Rechtsnorm und subjektives Keebt.
8. ffi6) darstellt, so würde demgenüß jener abea al^ noch imiuer vor-
handen, der einfache Xnrmeunchutz als durch Veijäbrung nicht entzogen
■u gelten habeii. — Für das heutige deutsche PrivaCrecht wage ich, an-
gMiehts des Wortlauts de< § 222 U.G.B. sowie mancher anderer wichtiifcr
Momente, Entsprechendes nicht «u behaupten; immerhin ist zn beachten,
daft anoh bei diesen teilweise, e. K. von BernhSft, die Meinung ge-
iuftert wird, eine Vollendung der Veijährungsfrist bewirke bloB Verlast
des Ktagrei'bt«, Inasn dagegun den Tatbesland einer .naiürlichen Ver-
bindlicbkeit' gnnz unbcrübn.
104
VI tft
noch das spezifische Staatsrecht zu Worte kommt. Wenn
u, a. § 5 der Badischen Verfassung sagt „Die Person des
Großherzogs ist Iieilig und unverletzlich", so schließt dieser
in konstitutionellen Gemeinwesen Ja überaus häufig wieder-
kehrende Satz neben manchem sonstigen Material auch dies
nach allgemeiner Übereinstimmung mit einj daß das monar-
chische Staatsoberhaupt für Handlungen, die, von einem
anderen begangen, den Tatbestand eines strafrechtlichen
Delikts verwirklichen würden, nicht zur kriminalen Ver-
antwortung gezogen werden darf. Mit dieser Privilegierung
bezweckten jedoch die Verfassungen ganz sicher nicht, dem
Fürsten eine juristieche Befugnis zu gewähren, nach Be-
lieben zu verleumden, zu morden, Körperverletzungen zu
begehen etc.; vielmehr sucht sich der Staat nur in geeig-
neter Weise damit abzufinden , daß hier wegen der tat-
sächlich vorliegenden Verhältniaee eine praktische Durch-
setzung seiner allgemein erlassenen Rechtsgebote entweder
gar nicht oder bestenfalls bloß unter den allergrößten Er-
schwernissen und Unzuträglich keiten zu erreichen wäre'.
„Der Verfolgung des Staatsoberhaupts wegen eines Ver-
brechens steht teils der Umstand im Wege, daß die Gerichte
dem König unter-, nicht übergeordnet sind, teils die Ehre
der Krone und das Staatsinteresse, welche den Skandal
eines Kriminalprozesses gegen den Monarchen und die da-
mit verbundene Gefahr für die öffentliche Ruhe nicht er-
tragen. Es erscheint als ein geringeres Übel, wenn
einzelnes Verbrechen des Souveräns ungeahndet bleibt, ala
wenn durch das Strafverfahren die Rechtsordnung und der
Friede des gesamten Staats erschüttert würde". ^ Zur au8*-
reichenden Vermeidung aller dieser Übelatände ist abep
eine Revision der normaljuristischen Ordnung als solcher^
' Danlber, daß das Prinzip der monarcliischeii Uiivi^rautiTortlichkt
aui rein politischen BnrSgungen und nur soleben eu erkIJiren ist, «iel
auch V, FriBch, Die Verantwortlichkeit der Monarcben und hScbiti
MagiBEralts (1904), S. 104, 128 0'.
* B1unt«ch1i, Lehre vom modernen Staat, 6. Aufl., beBorcrt vi
E. LoeniiiKi H, S. 207/208.
■vi 1.
1(15
eine personale Außerkraftselziing der Imperative „Du
sollst nicht töten" usw. absolut kein unumgängliches Er-
fordernis; vielmehr genügt es zu dem Zwecke schon voU-
stflndig, wenn den kriminalen Behörden die Pflicht
I strikter Passivität sämtlichen etwaigen Verbrechen des
I Monarchen gegenüber auferlegt wird, und tatsächlich ist
I dies denn auch diejenige Ordnung des Verhältnisses, die
der Staat in und durch den vorhin genannten publizistischen
I Grundsatz in Wahrheit hat treffen wollen'.
Zu den bisher von uns namhaft gemachten Fällen, zu
[ dem kriminalen Notstandsinstitut, der zivilistischen Ver-
I jähruug, der staatsrechtlichen Un Verantwortlichkeit des
1 Monarchen, ließen sich noch zahlreiche andere aus den
I verschiedensteu Gebieten des innerstaatlichen Normensystems
hinzufügen; doch wird an dieser Stelle nach Lage der
I Dinge auf die Anführung noch weiterer Belege wohl besser
verzichtet*. Suchen wir statt dessen jetzt übersichtlich
[ hervorzuheben, was, speziell für die Zwecke der vorliegenden
I Arbeit, schon aus den drei erörterten Beispielen mit Sicher-
I beit gewonnen ist, so zeigt sich folgendes. An sehr mannig-
t fachen Stellen, bei inhaltlich äußerst heterogenen Verhält-
len kann sich im innerstaatlichen Recht die Konstellation
I ergeben, daß übergewaltig sich betätigenden faktischen
I Zuständen und Momenten eine gewisse Einflu6nahme auf
1 Ganz mit dem Obigen überctnatimmenil iit z. B. die Art, wie
i«in, Souveränctät, Staat, Uetneiude, Selbstverwaltung (1883), S. 14,
to. 3. „dsa Wenen der strafrechtlichen Unverletzlichkeit des KSnigB
cbsnkterisiert: „Die Norm ,du »olUt nicht morden' ^It auch für den
KBd)^ nicht bloQ als Satz der Moral oder Religion, sondern auch all
Bat« dea Rechts: nur der im Falle der Verletzung dieser Norm au den
8traAicfat«r gerichtete Uefphi , in Gemäßheit den Gesetaes zn strsfen,
scatiert dem Honnrciion gegonSber." — Ans dem Gesagten folgt flbrigens,
daB man in unnerem Falle richtiger gnr nicht von einem, dem Souverin
nituektiv »lateheiiden „B e t h t der Un Verantwortlichkeit" apreclien sollte,
aondem dafi für ihn höchsteon eine Art der sogen. Reflexrecht« aniunehmen
iit. Vgl. hiennit das. was Jellinek, Bystem der aobjektiven öffent-
lichen Rechte, S. 14-S (verbunden mit S. 74 ff.}, aber den Gegenstand
bemerkt.
^ Weitere ÜKiapiele werden ID anderem Zusanunenbange noch er-
Srtert werden. Vgl. unten S. SO^ff. (auch S. 212, Anm. 1],
106
VIl.^
die vorausschauende Regulierung des gesaraten Soziallebenv
unbedingt zugestanden werden muß, daß aber gleichzeitig
bestimmte Gründe es dringendst widerraten, dies in Form
einer Modifikation des prinzipiell gültigen Rechtssystems
selber zu tun. Aus dieser Verlegenheit vermag sich der
ytaat am bequemsten dadurch zu helfen, daß er einfach
seine mit der konkreten Kealtsierung des abstrakten Rechts
betrauten Organe dahin instruiert, sie sollten unter den und
den Umständen ausnahmsweise von jeder Betätigung ihrer-
seits absehen: auf diese Weise ergibt sich ganz von seibat
das nach allen Seiten befriedigende Resultat, daß das Recht
einen praktisch eo ipso aussichisloaen Kampf mit über-
mächtigen Tatsachen von vornherein klug vermeidet, daS
es sieh damit die Unannehmlichkeit einer fortgesetztes'
Reihe eklatanter Niederlagen erspart, und dies doch nicht)
um den Preis einer Verleugnung anderer wichtiger Rück-
sichten zu erkaufen braucht. Überall nun, wo der Staat
von diesem Mittel wirklichen Gebrauch gemacht hat, stellt
sieh fUr die Untertanen der normalen und gewühnlicl
Rechtsordnung ein ganz eigenartiges Verhältnis heraus. Der
Staat hat ihnen gegenüber beispielsweise die generelle Vor*'
Schrift, „du sollst das empfangene Darlehen zurückzahlen'
erlassen, und nimmt sie auch für den Fall abgelaufen«
Verjährungszeit formell keineswegs zurück; darin ist ent*'
halten, daß dieselbe eine ihr selbst wesensgleiche Ein-^
schränkung nicht erfahren hat. Andrerseits ist aber auci
stets von neuem die Erscheinung zu beobachten, daß dii
Norm unter gewissen Voraussetzungen nie zur praktischen
Realisierung und Durchführung gelangt; d. h., eine sehr
weitgehende und wichtige Einengung derselben muß denn
doch als zweifellos vorhanden anerkannt werden, bloß daft
diese nach Lage der Sache — immer von den Unte
tanen und dem für sie gültigen Recht aus gesel
' Eintiig diese Seite äea Verbal tu issea komrat hier überhaupt i
Frage- Kfiuh aoderer RJchtDDg hin von Wichtigkeit und deshalb C
eine erschöpfende Beurteilung der Sache notwendig heranzuziehen :
1
'VI I.
107
I
nicht als technisch-juristiBche, sondern lediglich faktisch-
existente, qualifiziert werden darf'.
Vielleicht mag nun etwas Ähnliches auch bei der
völkerrechtlichen Lehre von der clausula rebus sie staatibos
SU konstatieren sein.
i 10.
Wenn wir jetzt daran gehen, den in dem vorigen
Paragraphen besprochenen innerstaatlichen Phänomenen ein
internationales Änalogon zur Seite zu stellen , so ist dabei
von Haus aus jedenfalls das eine völlig klar , daß zum
mindesten die Form, in welcher das zugrunde liegende
Prinzip praktische Verwirklichung finden kann, hier eine
von jenen wesentlich abweichende sein muß. Dort verlief
die Sache stets so, da6 die herrschende Staatsgewalt aelbst
in den Verlauf der Dinge entscheidend eingriff, daß sie als
der oberste Regulator des sozialen Gesamtlebens die richter-
lichen Behörden anwies, in bestimmten Fällen von sich aus
überhaupt nicht einzuschreiten, und so dem offenen Konflikt
zwischen den Anforderungen des praktischen Lebens und
des abstrakten Hechts aus dem Wege zu geben. An etwas
derartiges ist aber im Völkerrecht von vornherein nicht zu
denken, denn nicht bloß mangelt es hier, wie wir wieder-
holt schon zu konstatieren Gelegenheit hatten', an jeder,
unabhängig von den Parteien, autoritär durch sich Beihst
fungierenden Jurisdikttonsgewalt, sondern es gibt vor allen
Dingen auch gar keine feste, allgemeine Verkehrsnormen
vorschreibende Legislativpotenz, Deshalb bleibt aber der
Einfluß faktisch gegebener Verhältnisse gerade so gut fühlbar
und wirksam, nur daß er hier nicht von einer maßgebenden
Zentralstelle ausgesprochen und sachgemäß formuliert werden
kann, vielmehr sich ohne solche ausdrückliche Anerkennung
mier Umntuid, JaD iler »n die jur isdiktionelltiii Orgaue gerichtet«
znm eventuelleo NichteiaschreiU'U jedeufslls auoh fiir uunere Auf-
j ein ipesiSscIi-rechtlii-liBB Element in dvn gegebenen üesauittat-
k'ftestand hereinbringt. Vgl. noeh S. 20!) bei Anin. 'd.
• Vgl. be«- 8. 74.
108
Till
zur Geltung bringen muß'. Die Macht des Lebens wirj
sich stets und überall real betätigen, „wenn nicht geregell,
80 ungeregelt", um eine sehr richtige, von Windscheid'
bloß für den Spezialfall der Verjährung gemachte Be-
merkung hier ganz allgemein aufzunehmen.
Betrachten wir rein empirisch das Nebeneinander-
bestehen und den gegenseitigen Verkehr zwischen der
Vielheit koexistentcr Staaten , wie es jetzt schon seit Jahr-
tausenden in der Geschichte sich abspielt, so ist in der
Tat eine gewisse, regelmäßig wiederkehrende Nichteinhaltung
internationaler Verträge gar nicht wegzuleugnen, ungefähr
in dem Umfange, wie dies die herrschende Lehre der
clausula rebus sie stantibus zu bestimmen sucht: sobald
die Erfüllung dea Traktats die verpflichtete Macht in Konflikt
mit ihren eigenen höchsten Interessen, mit den vitalsten
Bedingungen ihres gesicherten Fortbestands bringen mUßte,
wird sie immer und immer wieder strikt verweigert, un-
geachtet der entgegenstehenden Norm Pacta sunt servanda
und im Widerstand gegen sie. Es ist das eine Tatsache
von 80 allgemeiner Anerkennung, daß auf die Anführung
noch weiterer historischer Belege, abgesehen von denjenigen,
die in dieser Arbeit ohnehin schon an den verschiedensten
Orten zu finden sind, wohl unbedenklich verzichtet werden
darf; ich will mich daher an Stelle derselben auch bloß
auf das bestätigende Zeugnis eines Mannes beziehen
weitgehendste Sachkunde und Urteilskompetenz sicher nicht
abzusprechen ist, nämlich auf die Worte Bismarck
„Die Haltbarkeit aller Verträge ist eine bedingte, sobald
sie ,in dem Kampf ums Dasein' auf die Probe gestellt
wird. Keine Nation wird je zu bewegen sein, ihi
stehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern,
sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das ultra
posse nemo obligatur kann durch keine Vertragsklausel
' Wir werden Auf diesen Oegeniiatz später,
osQ^ebea hftben.
1 p,
I
I
^ Pandekten, g 105, N. G.
' vr 1.
109
außer Kraft gesetzt werden; — Selbstaufopferung für die
Vertragstreue ist nie zu erwarten".'
Auf Grund dieses konstanten, in der Vergangenheit
Btets von neuem beobachteten Sachverhalts erscheint nun
, aber die Wissenschaft von den Regeln und Formen des
internationalen Wechsel Verkehrs fiwischen Staaten vollauf
dazu befugt, von sich aus zur Aufstellung eines ent-
sprechenden allgemeingültigen, auch für die Zukunft Wirk-
samkeit beanspruchenden Satzes zu schreiten. Sie darf
ihn allerdings in keiner Weise für eine technisch-juri-
sche Norm ausgeben, wie zur Vermeidung etwaiger
Mißverständnisse hier nochmals nachdrücklich betont werden
' mag^. Aber wenn auch die Annahme einer aolchen von
' Gedaukeii und Eriunoruugen II, S. 249/250. Der giuiKe Oedanken-
I R>ng kehrt übrig^ens bei Biaiunrck auch aoont mehrfach wieder, irird
I liuiMsondiire in aeioer weltgeticiiiuhtlicheu Keichatagsrede Tom 6. Februar
888 TerBcbiedene Male klar und deutlich zum Ausdruck gebr.ichL
' Die Gründe, warum derartiges unmCKlich ist, aind bereits in den
I aiufShrlichen Erdrlermigen des zweiten Abachnitt« sur Oeuä)^ dargelegt;
icb will indea auf das Wiulitignte davon liier wiederholend kura Bezug
aebmea, und zwar deshatb, weil der jetzt festgeBlellle Tatbeataiid in ge-
•riiiaer Hinoicht für die von nnti perhorreazierte Folgerung gar nicht ao
angeeignet zu sein eclieint. Man könnte nämlich au aich, bei ober-
flftcUieher Betrachtung der Dinge, wohl leicht m dem ächlnaiie geneigt
sein: „Wenn denn praktisch die Niehteinhaltnng der Vertrage in dem
vorhin genannten Umfange mit ununterbrochener KcgelraäÜigkeit ein-
getreten ist, wenn sugeatBodenermaSeti die Staaten (>elber einem Teil der
TrfthtAte die Erfilllung konaequeot und stetig veraagt haben, nun so mulS
das eben »cblieSlich dahin ausgelegt werden, daU vou ihnen im Wege
der gewohnbeitsmilBigen Übung ein entsprechender Rechtsiatz. eine
juristisch wirkende Beschränkung der Norm Pacta sunt servanda geschaffen
wurde." Daa wäre jedoch eiu schlimmer ParHlogismus, herbeigeführt und
ermSglieht durch das Operieren mit dem doppeldeutig su verstehenden
Begriff „die Staaten". Die Verwendung dieses allgemein lautenden Aus-
drücka hat ihre volle Berechtigung in dem Sinne, daß sicherlich jeder
StaAt, wenn er als Verpflichteier in die Lage kummt, auf Erfüllung
MDe« seine eigene Eäateni jetxt ge^rdenden Vertrags in Anspruch
genommen in werden, die Leistung strikt verweigert; sie wird aber
anrolians irreführend und nnzuläasig, sobald man ihm, daa bis dahin immer
noch vorhandene Uoment der Differeniiarung unvermerkt fallen-
iMsend, die weaentlieh weitere Bedeutung unterstellt, aU sei von einem
ßlktiichen Verhallen „der Staaten" Tßllig nnlorschiedsloa und schlecht-
1 die Kede. Gerade daa letztere tut nun offenbar deijenige wirklich,
r hier eine juristische Kegel statuieren zu kOnnen meint; er muB,
■ da ji positives Völkerrecht ntets blott aus koiniidenler WiUenafiber-
~iStimmung melirerer Ktaaten zu eutapringen vermag, notwendig
no
VI 1.1
vornherein auf unüberwindliche Hindernisse stößt, so gilt
nicht daa gleiche von der Postulierung einer rein tatsäch-
lichen, bloß faktisch erfahrun gemäß ig sich betätigenden
Regel. Die Lehre von dem gesamten Verkehrsleben der
Völker, überhaupt allgemein gesprochen die ganze Soziologie,
von der die spezifische Rechtsdisziplin lediglich einen,
zwar deutlich sich abhebenden, aber doch integrierenden
Bestandteil bildet, Ist eine streng empirische Wissenschaft,
30 gut wie nur irgend ein Zweig der mit den Vorgängen
in der realen Außenwelt sich beschäftigenden Naturwiaaen-
schaft, und vermag daher prinzipiell auch ganz mit den
Mitteln und in der Art dieser ku arbeiten. Wenn z. B.
von der letzteren die Schwerkraft als objektiv und aua-
nahmslos geltend proklamiert wird, so verfilhrt sie dabei
in der Weise, daß sie aus immer gleichbleibenden, exakt
erfahrungamäßigen Einzelbcobachtiingen der Vergangen-.
heit das Bestehen eines überall und immerdar wirk-.
aamen Gesetzes folgert'; ganz das nämliche wird alaa,
auch jener gestattet werden müssen. Freilich, wie die
Dinge praktisch einmal liegen, wird die Soziologie im all-
gemeinen bloß unter äußersten Schwierigkeiten zu solchen
hinlänglich gesicherten Generalschi üsaen gelangen können,
schwerer als ein beliebiger Teil der Natiirlehre, schwer«
selbst als die an sich so heikle Physiologie, von d<
subintelligieren , daß die inlemationaku Verkehrssubjekti? bo
der Kelle de» Uerecbtigten. wie in der des Verpfl
eine entsprecLende Abniclit konstant Iiekundet haben. Wie «
diese, nur durch Wechael des Worlsinnn erschlichene Vorstellang mit den
tatsächlich gegebenen TerhältDiaBcn hannouiert, du wiBieu wir hinUng-
lich aus den, in § S teils ein^hend annljdierteD , teils kurz erwUioten
(hierau vgl. die Anmerkani; 1 der Seite 53) hisloriscbon EinzelbeiBpielen;
wir habea diinials g^esehen, daß die jeweils berechtigten Mächte, wwt
entfernt, von aicb nun der TrakUhkündigunj; seitens des VerpSiditeten
regelmäßig- Kuzusüminen, iimgekelirt wider cie, bald mehr bald miader
scharf akzentuiert, gmiidgätzliche Verwahrung einunlegen pflej^n.
' Eine nähere KlarlegniiK des hier stattfindenden pK^chologischoi
Prozesses bieten die trefflichen AuHtuhrnngen Zitclmanns, Gewohu?'
heitsrecht und Irrtiua (188aj, S. 4S0ff., bes. 8. 460/461. Zu vgl.
das Ton mir schon bei anderer Gelegenheit (in der Studie über den
ä. ib a. E. und im Oewobnheilareoht S. 44/45J bemerkte.
I
ber^l
I
Mill' nur mit Unrecht behauptet, daß sie , größeren natür-
lichen Schwierigkeiten begegne und wahracheinlich eines
geringern Grades von letzter Vervotl komm nun g fähig sei
wie die soziale Wissenschaft". Immerhin, daß auch die auf
FinduDg allgemein-empiriacher Gesetze gerichtete Arbeit der
letzteren nicht als grundsätzlich verfehlt und hofTnungaloa
bezeichnet werden darf, das vermag gerade der uns liiei
beschäftigende Spezialfall recht gut zu illustrieren; denn
wann »oll man überhaupt zur Formulierung eines ausreichend
festgestellten Erfahrungssalzes gelangen können, wenn nicht
hier, wo der entsprechende Tatsachen verlauf im inter-
nationalen Soziallebeil immer und immer auf die gleiche
Art sich abgespielt hat, wo es notorisch „noch gar nicht
dagewesen ist, daß sich ein Volk aus Liebe ftlr das
andere geopfert" hätte, bloß weil „der Buchstabe eines
unter anderen Umstanden unterschriebenen Vertrags" * dies
eo verlangte?
Auf diese Weise sind wir nun wirklich bezüglich der
internationalen Klausellehre zu Resultaten gelangt, die den
in der zweiten Hälfte des § 9 erörterten innerstaatlichen
Erecheinungen dem Grundgedanken nach durchaus analog
sind. Wir haben zunächst die positiv geschaffene und
gültige Völkerrechtsnorm Pacta sunt servanda vor uns und
müssen konstatieren, daß dieselbe formal-techniech ganz
umfassend und ausnahmslos gehalten ist, daß sie auch für
die Eventualität der total geänderten Umstände keine Ein-
engung, die seihst wieder juristischer Art wäre, erleidet,
vielmehr prinzipiell rebus mutatis genau dieselbe Befolgung
wie rebus sie stantibus beansprucht. Auf der anderen Seite
wieder läßt sich aber auch die erfahrungsmäßig feststehende
Tatsache nicht von der Hand weisen, daß diese Prätension
I of logic ratiociDativi
I indoetive, 9. Aufl., Bd. I
■ Worte iiisroarcka &ds der vorhin bereit« erwÄhntcn Fohruarredo
St» Jshrea 1888; cf. btenographiaclie Berichte über die Keichntagsrer-
L SesRion 1887/1888, 8. T»0.
der Allgeraeingültigkeit unter gewissen VornuBsetzunge%.
dann nämlich, wenn wegen eines voll st und igen Umschwung»
der Verhaltnisse die Erfüllung des betr. Vertrags jetzt den
verpflichteten Staat zu einer Gefährdung seiner eigenen
höchsten Existenzbedingungen ni3tigen würde, in Wahrheit
doch nie beachtet zu werden pflegt. Beide Momente zu-
sammengpfaBt fuhren zu der Schlußformulierung: Trot»
allea scheinbar dawider Sprechenden liegt auch hier das bo
vielfach zu beobachtende Phänomen vor, daß die eine Regel
von einer zweiten durchbrochen und in ihrem Geltunga-
gebiet weaentlich beeinträchtigt wird; dabei verhält sich
nur die Sache des näheren ho, daß diese mit jener nach
Beschaffenheit und Charakter nicht übereinstimmt, sondern
anders geartet ist, daß ein spezifisch-juristischer Sats
von einem bloß faktisch sich betätigenden Geselz partiell
seiner Kraft und Wirksamkeit beraubt wird'.
grolta Rolle spielt; nocli zahlreiche andere Bätze, die man hentzutags
aU direkt vSlkerrechtliche zu verstehen pflegt, sind meineB Eracblen*
lediglich in der obigen Weise aiifreoht zu erlialten. Auf einisea davon
werden wir später noch zu sprechen koinmcn; vgl. nimentlioli § 12, S. 139ff.
(internationaler Notstand!), daneben auch die in § 14, S. 162 ff. geatreifte
Frage nacli dem Einflüsse des Vertrags bruüba vou einer Seite auf den
Bestand des Vertrags verlialtnisses. Von weiterem hier in Betracht
kommenden Material sei weg«n seiner hervorragenden Wichtigkeit bloB
dies noch erwähnt, daB man lediglich mit Hilfe jener Formel dem inter-
nationalen VerjAhrungsproblem allseitig ersohQpfend beiEukommen
vermag. Für eine wahrhaft befriedigende Erfassung desselben genügt es
nSmlich keineswegs, bloQ die Frnge, ob von einer technisch -j iiristiaohen
Wirkung die Rede sein hSnne oder nicht, au antersnchen nnd sieb mit
der heutzutage weit überwiegenden Meinung im verneinenden Sinne En
entscheiden; vielmehr bedarf es, so ziilreffend letzteres an und fiir sieb
zweifellos ist, daneben, zur Herstellang eines richtigen Ge samtbildM,
auch noch der nachdrüi-klicbeu Betonung dessen, daß wenigalens als
tatsächlich gegebene und sieh bewährende Macht der Zeitahlauf fQr
den Verkehr der Volker nnd Staaten gleichfalls, trotx der hier mangelnden
Formal Sanktionierung, anerkannt werden muli. Daß dem wirklich so ist,
ist auch in der internationalen Praxis oft genag zur unverkeniibareii
Andeutung gelangt (sehr interessant ist z. B. die Weise, wie die beiden
grundsätilich verachiedenen Standpunkte, der formsl-recbtliche nnd der
materiell-faktische, bei Gelcgeuheit der ersten Teilung Polens ein:
direkt gegearibereeslellt worden sind; vgl. das preußische Patent
1». September 1772 [Ghiltannj. Diplom Uiaches Handbuch, I, S. 205 ff/
I VI 1.
113
Einzig und allein eine Bolche Auffassung des ProblemB
bietet die Möglichkeit dar, dein richtigen Kern, der in der
einen wie dar anderen hinsichtlich der clausula bisher ver-
tretenen Grundmeinung, d. h. sowohl in der herrschenden
Befürwortung als in der aus n ahm a weise vorkommenden
Bekämpfung deraelhen, enthalten ist, gleichzeitig gerecht
zu werden und beide sachgemäß miteinander zu versöhnen.
I Wie aus unserem ganzen Abschnitt IV hervorgeht, ist der
I ersten Richtung materiell insofern nur durchaus beizu-
I stimmen, als sie mit vollem Recht praktisch gegebene und
I gar nicht wegzuleugnende Verhältnisse auch theoretisch be-
I rUcksichtigen , ihnen zu entsprechendem wissenschaftlichen
I Ausdruck verhelfen will; sie vergreift sich aber deshalb
I TöUig in der Form, weil sie ohne alle ausreichende Be-
gründung positiv-juristische Kraft für die Klausel in
Anspruch nimmt. Hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß
I die relativ wenigen Autoren, welche die Rechtsgültigkeit
der letzteren — regelmäßig freilich mit unzulänglicher
j Beweisführung — in Abrede stellen, rein negativ-kritisch
[ genommen das richtige treffen ; es ist aber wieder an ihrer
I Lehre das zu tadeln, daß sie lediglich bei dieser Seite des
Problems stehen bleiben, daß sie sich damit begnügen, ein-
fach zu zerstören und so bloß eine klaffende Lücke auf-
eureißen, ohne daß der Versuch gemacht würde, etwas
I neues an die Stelle des vernichteten Alten zu setzen.
rWährend demgemäß der bisherigen Behandlung der Streit-
I frage wohl hier wie dort immer entschiedene Vorzüge
m Friedriuli d«r GroSe zur Befürwortung Heiuer, bis auf dna
I anrückgroireuden Territorinlannpräche bemerkt, diiG „La Cau-
Pologoe, poBuMant cea pHyn inj astement , ne laurait faire
le pn^scription paar s'f Tnaintenir" und die Antwort des
in 17. September: Qhillanay, a. ii. O., S. 210S.1, die
<1 die Dnhealrellliare Tatnacbe einer Jnnissance de plunieurn stiele«"
■ebarf hervorhebt, daß solche anttqaierte „titres ne peuvent Stre
sauB inlirmer la sAretä des ponsession« de toutes les aoiiverainet£<t,
ranler U baae do tous les Irtlnes", Überhaupt mit lauter Argumenten
t, die man snnst Eiir i<nchli(;heii Recbtfertignug i^en inaer« taat lieben
rungaiiutitiita vor»u>iriD)rea pflegt).
114
VI 1.
eigen, aber atetß auch mit wesentlichen Mängeln gepaart
waren, erscheinen nach unserer Konstruktion die ersterea
vollständig festgehalten und nur aus der Verbindung mit ■
letzteren losgelöst. —
Es gilt nun hier noch einen Punkt zu erörtern. Wir
haben uns in dena Vorhergehenden immer bloß mit der
Feststellung des Faktums zufrieden gegeben, daß die
Internationalnorm Pacta sunt servanda in bestimmtem Um-
fang praktisch nie eingehalten und befolgt wird, sind aber
einstweilen auf die Grtlnde, warum dasselbe regelmäßig
eintreten muß, noch gar nicht eingegangen. Das soll nun,
jetzt am Schlüsse des ganzen Abschnitt IV, noch geschehen;
wir wollen versuchen, das zunächst rein empirisch gefundene
Spezialgesetz auf eine innere Notwendigkeit zurtickzuf\lhren
und ihm so eine tieferfundierte Erklärung zu verschaflTen,
Dies wird uns gelingen in Form einer Spezialan Wendung
der allgemeingültigen Wahrheit, daß überhaupt jedem Recht
vermöge des begrifflich von ihm gar nicht loszutrennenden
Zweckgedankens eine gewisse, der technisch-juristischen
Sphäre transzendente Beschränkung anhaftet.
Dabei zeigt sich in unserem Falle sofort, daß eben
dasjenige Moment, welches die positive rechtliche Er-
fassung der gesamten eigenartigen Völkerverkehrsordnung
notorisch am meisten erschwert', d. h. die rein verein-
barungsmäßige Form ihrer Entstehung, für die klare
und durchsichtige Führung des hier zu erbringenden Beweises
überaus gUnstig wirkt. Wie wiederholt schon erwähnt
worden ist, wird das Völkerrecht den Staaten nicht von
oben her, durch einen superordinierten Sozialwillen, auf-
erlegt, sondern sie selbst ziehen, im Wege der ausdrücklich
oder stillschweigend erklärten Willenseinigung, ihrer aa
sich unbeschränkten Handlungsfreiheit gewisse Grenzen.
Fragen wir jetzt nach dem Motiv, welches sie zur Ein-
führung der letzteren, speziell zur Sanktionierung der Regel
' Vgl. oben ä. 3, Anm. 1
TI 1.
115
I
Pacta sunt servaoda bewogen hat, so ist darauf nur zu
antwortet], daß es zweifellos die Rücksicht auf ihr eigenes
wo hl verstanden es Interesse war. Ea wurde ihnen klar, daß
der für sie alle so vorteilhafte und nutzliehe ständige Ver-
kehr zwischen ihnen ohne gegenseitige Vertragstreue über-
haupt nicht aufrechtzuerhalten ist; sie erkannten, daS das
Opfer, welches jedes Übereinkommen dem verpflich-
teten Partner auferlegt, an Bedeutung weit überwogen wird
von dem Gewinn, den die nur um diesen Preis mögliche
Fortsetzung jenes Verkehrs gewährt, und so, „in kluger
Voraussicht künftiger dauernder Bedürfnisse nach dem Rufe
der Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit strebend" ',
gelangten sie dazu, den Satz von der unbedingten Verbind-
lichkeit der Verträge als für ihren wechselseitigen Verkehr
allgemeingültiges Rechtsprinzip zu statuieren.
Ans diesem, bloB kurz angedeuteten Grundsachverhalt
geht hervor, wie berechtigt es ist, wenn J ellin ek^ ftir inter-
nationale Traktate die These aufstellt: „Es ist das Interesse,
welches die Treue, und die Treue, welche das Interesse
schQtat", oder wenn Bismarck^ mit einem anschaulich-
realistischen Bild aus der Schneiderwerkstatt denselben Ge-
danken dahin formuliert: „Ich glaube, daB das wandelbare
Element des politischen Interesses ein unentbehrliches Untcr-
futter für geschriebene Verträge ist, wenn sie haltbar sein
Bollen." Indem nämlich der Katz Pacta sunt servanda durch
die Staaten von vornherein offenbar nicht um seiner selbst
willen, sondern bloß als Mittel zum Zweck geschaffen
wurde, indem man vermöge desselben grundsätzlich stets
eine Interessenförderung zu erzielen gedachte, er-
scheint das wirkliche Vorhandensein der letzteren teleologisch
gedacht als beschränkende Voraussetzung für die gesamte An-
wendbarkeit jenes Satzes; anders ausgedruckt, die Aussicht,
durch einen einseitigen Vertragsbruch das Vertrauen, den
■ Laiaon. RcchlsphÜosapbie, S. 404.
* Becbtlirhe Natur der Staate overtrSge. 6. 57,
* 0«duiheD uad Erinnarungen, II, S. 850.
116
VI 1. ]
ganzen völkerrechtlichen Kredit bei den übrigen Mächten
zu erschlittern und eo im letzten Einsatz die Möglichkeit
eines geordneten wechselseitigen Verkehrs überhaupt in Frage
zu stellen, muß filr den betr. Staat bedenklicher und ge-
fUbrlicher sein wie die Hingabe oder Schmälerung desjenigen
Einzelrecbtaguts, auf das er im Sinne des konkreten Trak-
tats zu Gunsten des anderen Kontrahenten zu verzichten hat.
Das trifft ja nun sicherlich auf die unendlich über-
wiegende Mehrheit der FJlllc im vollsten Maße wirklich zu,
nicht aber auch auf die ganz besondere Eventualität, die
eben hier für uns in Betracht kommt. Denn sobald ein
Staat von der praktischen Durchführung eines antiquierten
Übereinkommens direkt seinen eigenen Untergang zu be-
fürchten hat, sobald er voraussieht, dnß er nach treulicher
Erfüllung seiner Vertragspfliclit aller Voraussicht nach seine
fernere politische Existenz nicht mehr aufrechtzuerhalten
fähig sein wird, muß die Sorge um die ununterbrochene
Fortführung des internationalen Staaten Verkehrs (der sich
doch naturgemäß immer nur unter lebendig bestehenden
Subjekten abzuspielen vermag) notwendig zur cura posterior
werden; d.h. das wohlverstandene und wahre Ei gen Interesse
gebietet hier ausnahmsweise einmal doch nicht die Ein-
haltung, sondern die einseitige Durchbrechung des früher
abgeschlossenen Traktats.
Unter diesen Umständen ergibt sich schließlich folgen-
der Gesamttatbestand, Die Stellungnahme der Staaten zu
dem Grundsatz Pacta sunt servanda ist verschieden zu be-
stimmen, je nachdem man lediglich auf ihren in spezitisch-
rechtlicher Form dokumentierten Willen Bezug nimmt oder
aber über denselben hinausgeht. Geschieht das eratere, ao
haben sie die Regel ohne jedwede Beschränkung auf-
gestellt und mußten das auch notwendig tun, wenn sie
überhaupt zu einer wahrhaft brauchbaren, praktisch nicht
mehr schädlichen als nützlichen (vergl. die Ausführungen
des Abschnitt III") Verkehrsnorm gelangen wollten. Indes
diese Art der Autfassung, die zur unbedingten Konsequenz
I
VI 1.
117
I
■
I
hat, daß auch unter den vorhin charakterisierten Verhält-
niBaen jede einen Vertrag einseitig lösende Macht eine
zweitellose Rechtswidrigkeit begeht, ist um deswillen
nicht die höchste und einzig mögliche, weil der „ausgedrückte
und erklärte Wille" sich durchaus nicht Überall mit dem
nach Lage der Sache zu vermutenden „wahren und eigent-
lichen Willen" zu decken braucht ^ Gerade für das uns
beschäftigende Spezialproblera ist aber eine solche Inkon-
gruenz beider mit voller Sicherheit anzunehmen, denn
unmöglich können die Staaten eine nur zur Interessen-
förderung bestimmte Norm auch fUr die exzeptionellen
Falle totaler Interessen Vernichtung bewußt gewollt haben.
So schwebt in der Tat, nicht formal-juristisch, aber prä-
jurislisch- zwecklich, über jedem internationalen Kinzeltraktat
eine essentielle und notwendige Beschränkung; es ist,
in diesem Sinne verstanden, nur allzu richtig, daß „die
clausula rebus sie stantibus bei Staatsv er trägen, die
Leistungen bedingen, stillschweigend angenommen wird"*.
Mit alledem wäre jetzt der Inbegriff desjenigen erschöpft,
was meines Erachteus den berechtigten Kern der vielum-
Btrittenen, oft bitter geschmähten und doch nie ganz zu
entbehrenden, immer von neuem sich aufdrängenden clau-
sula rebus sie stantibus ausmacht. Es wird nicht zu be-
streiten sein, daß dieselbe in der Form, wie sie von uns
Terstanden und aufrechterhalten wird, sehr wohl ohne ge-
' E» ist doa eine Formel für den GegeiiBst», deren sicli bekauntÜch
■ben AndereD beHondera Winduchoid uiehrfuuh nnd zu Terschiedeneu
Zwecken (vgl, z. B. Pandekten g^ 22, 97) bedieut hat
* Biamarck, Gedanken und Erinnerungen, II, S. 259. Es ist be-
greiflich, dnß die Anhän^r der berrschenden Klaiuellehre sich auf diesen
Au3B{iracb gern zur Begründung ibrer Auffnsaung zu berufen pSe^n; es
üt jedoch dagegen zu bemerken, dnä der einfncho äalz aln solcher nicht
<|ju HEndeste darüber aasaagt, ob die Wirkung der clausula als spezISacb-
roebtlicbe oder nlchtrechtlicbe gedacht sein aolt, ja daß er, mit allem
ToMOiigegangenen und Folgendon maammengeli alten (vgl. x. B. den bc-
'rtilt« oben S. 108 zitierten Ausspruch, in welchem lediglich die tabiächliche
'Haltbarkeit der Verträge, also nicht etwa ihre juristische Gültig-
"keil, ala eine bediogto beüeichnet -Kird), eigentlich nur die letztere
iJDentDng tuUlit.
118 VI 1.
fUhrliche Aushöhlung des prinzipiell geltenden Satzes Yon
der Vertragstreue bestehen bleiben kann. Wir haben
(S. 78 flF.) gesehen, daß dasjenige Moment, welches die herr-
schende Lehre praktisch so überaus bedenklich erscheinen
läßt, darin besteht, daß sie, einschließlich der Richtung, die
eine spezifische Befugnis zur Kündigung (cf. S. 89/90)
annimmt, dem bösen Willen die Möglichkeit bietet, die
Auseinandersetzung mit seinem Partner formal stets auf
juristischen Boden zu verlegen, den frivolsten Rechts,
bruch zu begehen, ohne ihn doch brutal als solchen zu-
geben zu müssen. Derartiges ist bei uns von Haus aus
ausgeschlossen und zwar deshalb, weil wir ja eine ohne
formelle Rechtswidrigkeit stattfindende einseitige Vertrags-
lösung gar nicht kennen. Ist es nun wirklich richtig, was
wir S. 80 festgestellt haben, daß nämlich die Staaten heut-
zutage eine weitgehende Scheu vor dem offenen und
zweifellosen Rechtsbruch an den Tag legen, so wird
unsere Auffassung der Klausel notwendig als starkes Gegen-
motiv wider leichtfertige und materiell ungerecht-
fertigte Trak tatsauf hebungen wirken müssen; es wird
darauf zu rechnen sein, daß man sich zu einseitigen Los-
sagungen überhaupt nur sehr schwer und selten, bloß in
wirklichen Notfällen dringendster Art entschließen wird.
Fünfter Abschnitt
Das umfassende Geltungsgebiet des (richtig-
gestellten) Grnndprinzipg der Klausel.
I
I
8 11-
Durch die in den Abschnitten II— IV enthaltenen D«r-
legangen erscheint jetzt der weitaus wichtigste Teil unserer
kritischen Prüfung der üblichen Klausdlehre bereits aU
erledigt; wir haben gesehen, daß im vollen Gegensatz zu
dieser, die einen apezitischen Rechtasatz als gegeben
annimmt, kein solcher, sondern bloß eine ganz anders-
geartete Einschrllnkung der International norm Pacta sunt
servanda in Betracht kommen darf. Für alle nunmehr
noch folgenden Punkte erweist sich eine derartig ausfllhr-
liche Behandlung, wie sie dem ersterörterten nach Lage
der Dinge zuteil werden mußte, keineswegs als erforderlich,
sodaß wir sie viel kürzer, sdmtlich in je einem Abschnitt,
erledigen können.
An erster Stelle haben wir da die Frage aufzuwerfon,
ob es wirklich in den Umständen begründet ist, daß man
gerade den vorhin genannten Völkerrechtssatz und nur ihn
vermögo der clausula in seinem GuUigkeilsbereicho woHcnt-
lich einzuengen versucht. Das ist auf das bestimmtest^.^ eu
verneinen; denn dem von uns richtiggestellten Grundprinzipo
nach, d. h. nicht als technisch- rechtliche, sundern rein
faktisch-empirische Beschränkung, ist genau das nämliche
120 VI 1.
Phänomen wie bei jenem auch bei allen übrigen juristischen
Regeln des Staatenverkehrs zu konstatieren : nicht lediglich
in Anwendung auf das internationale Vertragsrecht, vielmehr
„überall bricht sich die volle Durchführung der völker-
rechtlichen Sätze an der Sorge des Staats für sein eigenes
Wohl" *). Damit entftlllt aber jedwede Berechtigung, aus-
schließlich die eine Norm durch solches Privilegium odiosum
auszuzeichnen.
Zur näheren Begründung der von uns aufgestellten
These bedarf es bloß einer entsprechend erweiterten Fassung
der früher speziell hinsichtlich der clausula gegebenen Be-
weisführung. Demgemäß läuft das jetzt Folgende in der
Hauptsache auf eine einfache Wiederholung bestimmter
schon aus § 10 bekannter Ideengänge hinaus ; das eine unter-
scheidet sich bloß äußerlich insofern von dem anderen, als
an der ganzen Gedankenfolge eine kleine Umgestaltung
vorgenommen wird. Während wir nämlich dort zuvörderst
(cf. S. 107 flF.) bloß historisch-erfahrungsmäßig eine gewisse,
tatsächlich vorhandene Einengung der Norm Facta sunt
servanda statuierten und dann erst (S. 114 ff.) dem empirisch
gefundenen Spezialgesetz noch eine tiefere, auf die Eigenart
der hier obwaltenden Gesamtszustände gestützte Erklärung
zu geben suchten, soll diesmal der umgekehrte Weg ein-
geschlagen werden.
Es liegt auf der Hand, daß die am letztgenannten Orte
angestellten Erwägungen ganz von selbst und ohne alle
Veränderung der Übertragung auf weitere Verhältnisse
filhig sind. Denn offenbar haben die Staaten nicht bloß
die eine Regel von der unbedingten Verbindlichkeit der
Verträge, sondern allgemein und schlechthin das gesamte
Völkerrecht bloß in der Absicht einer für sie zu erzielenden
Interessen förd er ung geschaffen. Sobald sie überhaupt
erkannt hatten, daß ständige Wechselbeziehungen zwischen
ihnen für jeden einzelnen vorteilhafter und nützlicher wie
' Zitelmann, Internationales Privatrecht, I (1897), 8. 80.
■
■
(las Verharren in Isolierung seien, und Bobald sie darauf-
hin die ungestörte Unterhaltung solcher als wünschena- und
erstrebenawerten Zustand betrachten lernten, mußten sie
auch zu der Einsicht kommen, daß sie zu diesem Zwecke
ihre an Bich unbegrenzte Willensfreiheit einem ganzen
Komplex beschränkender Bestimmungen zu unterwerfen
hittten. Bloß eine von den letzteren, allerdings gerade zu
den allerwichtfgsten zJllilend, ist der Orundsalz, daß einmal
abgeacblossene Traktate nicht ganz nach Beliebeu erfüllt
oder nicht erfüllt werden dürfen, sondern unbedingt und
jederzeit einzuhalten sind; es gehört aber ebensogut hierher
die Norm von der Unverletzlichkeit der Gesandten, von
der gegenseitigen Achtung der exklusiven Territorialhoheit,
Überhaupt der Inbegriff aller derjenigen Regeln, die ini
Laufe der Geschichte allinfthlich zu anerkannten Sfttzen des
internationalen Verkehrsrechts geworden sind.
Diese grundsätzliche Übereinstimmung in der prÄsum-
tiven Zweckanlflge hat nun zur notwendigen Konsequenz,
dafl bei den letzteren auch durchweg und unterschiedslos
genau die nämliche, eigentümlich -teleologische Beschränkung
unterstellt werden darf, die wir seinerzeit zunächst bloß im
Hinblick auf die Kegel Pacta sunt servanda entwickelt
haben. Das will besagen: nicht bloß bei jener, sondern
schlechterdings überall, wo die Staaten irgend einen Satz
als generell verbindlich proklamiert haben, nahmen sie
sicherlich zur stillschweigenden Voraussetzung stets dies,
daß die allgemeine Durchführung derselben sich für die
Interessen jedes einzelnen nur förderlich und vorteil-
haft erweisen würde; sie haben an die ausnahmsweise
vorkommenden Fälle, bei denen das nicht zutrifft, bei denen
vielmehr die gewissenhafte Einhaltung einer internationalen
Rechtspäicht der betreffenden Macht direkt zur eigenen
Seibatvernichtung ausschlagen muß, klarbewußt kaum ge-
dacht und sie deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach auch
gar nicht mittreffen wollen. Daraus würde zu folgern sein,
daß aftnttlichen internationalen Verkehrsregeln unter Um-
122 VI 1.
ständen die tiefste und letzte Rechtfertigung ihrer Anwend-
barkeit durchaus abgehen kann.
Freilich wäre diese Zuhilfenahme eines supponierten
wahren und eigentlichen Staatswillens für ^ich
allein noch keineswegs imstande, als ausreichendes Fundament
für eine feste und präzise Einschränkungsformel zu dienen.
Haben wir denselben doch im Grunde bisher immer nur
verstandesmäßig-subjektiV; aus Reflexionen über die
mutmaßliche Zweckbestimmung des ganzen Völkerrechts
deduziert; dagegen mangelt unserer Argumentation noch
jede Basierung auf objektiv gegebene, in dem Verhalten
der Staaten selbst hervortretende Betätigungsmomente , die
den Rückschluß auf das wirkliche Vorhandensein jenes
Willens überhaupt erst zu einem hinlänglich gesicherten zu
machen vermag.
Soll nun unsere Beweisführuiig nach der angedeuteten
Richtung hin noch vervollständigt werden, so stehen dafür
von Anfang an wieder bloß die beiden Möglichkeiten zu
Gebote, die wir in ihrer essentiellen Wesen- und Verschieden-
heit schon mehrfach charakterisiert und einander gegen-
übergestellt haben. Man könnte zunächst versuchen, einen
das gesamte Völkerrecht sachlich einengenden Willen der
Staaten in der Form als realexistent darzutun, daß man
direkt eine neue, von ihnen durch gegenseitige Einigung
geschaffene Regel entsprechenden Inhalts nachweist. Im
Fall des Gelingens würde das natürlich eine spezifisch-
juristische Korrektur und Fortbildung des internationalen
Verkehrssystems bedeuten: man würde zu konstatieren
haben, daß alle seine Normen durch einen, ihnen selbst
adäquaten Ausnahmssatz durchbrochen, in ihrem Gültigkeits-
bereiche beschränkt werden. Dieser Weg ist derjenige,
welchen die Völkerrechtswissenschaft bisher mit Vorliebe
eingeschlagen hat; er erscheint jedoch, wie wir unten ^ noch
ausführlicher sehen werden, bei schärferer Betrachtung
1 Cf. S. 134 ff., 140 ff.
I
VI 1. 123
scblecbterdings ungangbar und darf daher auf keine Weise
in Frage konnnen,
unter solchen Umstanden bleibt von vornherein ledig-
lich die zweite Methode übrig, die damit recht eigentlich
zum entscheidenden Prüfstein für die objektive Richtigkeit
Oller Unrichtigkeit des vorhin rein subjektiv Gefundenen
wird. Angenommen nämlich, jener präsumierte wahre
Wille der Staaten ist bei ihnen tatsächlich vorhanden
und hat sich bloß aus bestimmten Gründen nicht zu einem
allgemeinen Rechtssatz verdichten können, so steht ihm,
nachdem die generelle Art der Existenzbetätigung ganz
ausgeschieden ist, überhaupt nur noch diejenige in con-
creto offen; d, h. wir sind jetzt unbedingt auf den Nach-
w«s angewiesen, daß die Mächte im Einzelfalle den völker-
rechtlichen Imperativen stets faktisch den Gehoruani zu
verweigern pflegen.
In der Tat kann nun das letztere aus der erfahrungs-
mäßigen Beobachtung des ganzen staatlichen Verkehrs jeden
Augenblick und mit Leichtigkeit demonstriert werden: wo-
hin wir nur blicken mögen, stets von neuem sehen wir den
Tatbestand realisiert, daß bei den Staaten sofort jede Rück-
sicht auf volkerrechtliche Sätze schwindet, sobald sie von
deren Befolgung — mit Recht oder mit Unrecht ' — schwerste
Gefahren für ihre eigene gesicherte Fortexislenz glauben
fUrchten zu müssen. Wie konstant und gleichmäßig diese
Erscheinung überall wiederkehrt, dafür ist nunmehr not-
wendig eine Anzahl historischer Einzelbelege beizubringen;
wir haben an der Analysierung praktischer, den ver-
schiedensten Gebieten der völkerrechtlichen Beziehungen
zu entnehmender Fälle Jetzt den Nachweis zu führen, daß
international die Sorge für Selbsterhaltung in Wirklichkeit
' Gelegpentlicb liiiirt ilabei nohl elDtnol eine Bubjaktive Selbat-
täascbuQg' , eine objekliv uDrii'htige Wertuni; der potitischea Gesnnitlage
mit unter, in der Wotae, daß du einseitige lliDwegxetRen Hber du Vdlker-
recht in Wirklichkeit gnr nicht dit> Befreiung aus bedrohlicher Sitnaticn
idialll, Bondeni erst rücht eine solche herbeiiilhrt (rgl. unten S. 127'12d).
Fflr die priaxipielle Bearteilnng der Bache Ist dies natQrlich belaugloi.
124
VI 1.
jene EoUe der letztentsdieideiiden, die Motivatio na kraft des
speziäachen Völkerrechts regelmäßig ganz ausacbaltendea
Willensbestimmung spielt, die wir früher aus allgemeiaen
Erwägungen heraus für sie in Anspruch genommen haben.
Erst wenn dies geschehen, wenn in eingehender Spezial-
untersuchung gezeigt ist, daß hier die empirisch -induktive
Forachung die zuvor abstrakt-deduktiv gewonnenen Ergeb-
nisse nun vollinhaltlich bestätigt, darf unsere Geaamt-
arguinentation als wahrhaft abgeschloaaen gelten. —
Als erstes Beispiel diene uns die Aufhebung der
politischen Existenz der Republik Krakau, die 1846 von
den drei Ostuiächten Preußen, Rußland und Österreich
einseitig, ohne jeden vorausgegangenen Kriegszustand, voll-
zogen worden ist'. Als objektiv feststehend darf dabei
gelten, daß dies auch im Verhältnis zu ersterer selbst^
einen schweren Bruch internationaler Rechts pflichten in
sich schloß; denn unmöglich kann doeh Personen, die
unter sich eine feste, viel geringwertigere Lehensgüter
juriatiaeh achützende Verkehraordnung eingeführt haben,
gestattet sein, sich gegenseitig aua der Welt zu schaffen I^
' Sämtliche diesen ^'o^gAng betreffende AktenatUcks aiud abgedruckt
bei Martena, N.U.G., tome X, S. 1 ff.
' Von vornherein aus dem Spiele bleiben muß bier natürlich die-
jenige Rechtiwidrigkeil , die gegen die Mitiintenieiclmer eines völker-
rechtlichen Vertragn, das ist die in ihrem Art. 6 die staatliche Selb-
ständigkeit Krnkaus verfügende Wiener Eangrelinkle vom 9. Juni 1815,
begnügen wurde. Unter anderen Oenichtspunkten |cf. § 13. S. 153) werden
wir jedoch aach dieser Seite der Angelegenheit noch einige Worte km
widmen haben.
' Über die richtige Formulierung, die mun dienern Gedanken eu
geben hat. wird «ich nllerdingH atreiten laBseu. Ganz Kweifellos un-
genQgond erscheint er namentlich in der Gestalt, die er bei der commoniB
opinio, durch die einfache llerufiing nnf die »o unendlich probtemati scheu
internationalen „Grundrechte", speziell das der Selbsterbaltung, annitnntt.
Indes mag man die Idee so oder anders fassen, etwa sie mit Jellinek
(äjstem der subjektiven Sffentlicben liechte, S. 804) ganz allgeinein dabin
wenden, daB „kein Staat von dem anderen etwas fordern oder ihn recht-
mäßig zu etwas zwingen darf, als auf Grund eines Rechtasatxes" ; Die
Sache selber wird so letcbt von Niemandem bestritten worden, und es
kann an diesem Orte, wo ja schon die AnCBhmng von mati:riell an-
erkannten Völkerrechts Widrigkeiten durchaus genügt, niclht unsere Än^he
nein, nüher xn nntersnchen, ob die letzteren von der herrachenden Meinung
falsch oder richtig famuliert werden. iVgl. 8. 130, Anra. 2J.
VI 1.
125
Auf der anderen Seite aber wird man, soll eine wahrhaft
gerechte urd allumfassende Beurteilung des Falles eintreten,
auch wieder nicht verkennen dürfen, daß vom präjuristischen
Standpunkte aus, im Hinblick auf ihre eigenen linchsten
Staatsinteresscn, die Ostmäcbte sehr viel zugunsten ihrer
Handlungsweise anzuführen vermochten. Als das einzige,
mit politischer Unabhängigkeit ausgestattete Überbleibsel
des ehemaligen Königreichs Polen war naturgemÄß Krakau
Mittelpunkt und Sammelslätte aller nationalen Aspirationen
geworden, dergestalt, daß es nach einem öaterreichischer-
seits gebrauchten Ausdruck ' „von 1830 — ^1840 geradezu im
Zostand fortwährender Verschwörung gegen die drei Mächte
sich befand". Politische Emissäre und Flüchtlinge hielten
sich ständig und in großer Menge, manchmal nach Tausenden
zählend, dort auf, fanden für ihre Zwecke die offene Unter-
Btützung der Bevölkerung und die stillschweigende Duldung
der Regierung, durften ungehindert geheime Gesellschaften
bilden, aufreizende Druckschriften in den Nachbarstaaten
verbreiten usw. Wie getJlhrlich das alles war, wie überaus
leicht der in Krakau latent stets vorhitndene Zustand der
Feindseligkeit zu offenen gewaltsamen Ausbrüchen übergehen
konnte, das zeigte sich im Anfang des Jahres Iä4i3. Ohne
jede Schwierigkeit bemächtigte sich die revolutinnilre Partei
Krakaua, bildete h\r:r eine Nationalregierung und suchte
dann mit deren Hilfe die Stadt als natürlich gegebenen
Stützpunkt auszunutzen, von dem aus das Innerlich doch
80 zerrissene und zers palten e Polen tum wieder zu einer
einheitlich -politischen Existenz gelangen könnte. Und
diesen brodelnden Hexenkessel, iu dem republikanische und
monarchische, altfeudalistische und modern kommunistische
Tendenzen wüst gemengt waren, in dem die Bestrebungen
des hohen und niederen Klerus, des Adels und der Bauern-
schaft und noch viele andere verwirrend sich kreuzten, dieses
ordaungsloae Durcheinander, in dem alles sich gegenseitig
1. O., S. 87.
befehdete, das aollteo die Ustmäelite an und in ihren Grenzen
ruhig fortbestehen lassen ? Es liegt auf der Hand, daß da
energische Abhilfeveraui;he dringend geboten, ja geradezu
unentbehrlich waren. Wenn irgendeintnal , so war damals
ein Fall gegeben, bei dem die Sorge für die eigene gesicherte
Existenz ' die Ergreifung der erforderlichen Qegen maßregeln
trotz aller formell ihnen anhaftenden Völkerrechtswidrigkeit
sachlich entschnldigto und begründete, und der beste und
zu Verl Aasigste Weg zu diesem Zwecke blieb eben unter allen
Umständen die vollständiga Aufhebung des gesamten, den
Frieden permanent bedrohenden Staatswesens,
Daß 1846 zn diesem radikalsten Abhilfsmittel gegriffen
wurde, war um ao weniger zu beanstanden, als früher ge-
machte Erfahrungen schon hinlänglich bewiesen hatten, dafi
mit gelinderen Maßregeln kein dauernder Erfolg zu erzielen
sei. Zu wiederholten Malen ^ hatten sich die Oatmächte
bereits genötigt gesehen, zur Wiederherstellung der völlig
zerrütteten Ordnung, den polnischen Kleinstaat militärisch
vorübergehend zu besetzen; immer wieder hatte, sofort nach
dem Abzug der fremden Truppen, das alte Treiben von
neuem begonnen. Selbstverständlich waren auch schon d
temporären Okkupationen, angesichts des anerkannt im
Volkerrecht ausgebildeten Grundsatzes, daß kein Staat im
Gebiet des anderen eigenmächtig Uoheitsbetätigungen vor-
nehmen darf", zweifellose Rechtswidrigkeiten gewesen ; dod
* Die Hücksioht auf diene, meist freilich mit der grundflätiliDll ■
nnriclitig^n Wendung verbunden, ala ob liierdurch ein spezi^chea Sacht
zum Einnchreitcn gegeben Bei, wird auf« deutlichste betont in ÄttB^magen
nie den folgenden: „Le droit qu'a chaquo itU de se garsntir dn danger
qni le menuce" (Härtens, a. >. O , 8. 45/46).; la premi^re des.loitqtd,
a la foiii, conatitue paur les j^auverneinente le premier de* devoirs, oelpt I
de Is propra conservation'' (Msrtens, S. 67); „les trtiis Coura ont toori
gult£ la premi/iro loi de chaque itat, le drntt de propre conaerration'V
(DepeacliB Metternichs vom 4. Januar 1847, Harte " "
8. 125).
» In den Jahren 1831 u. 1837.
* Dtuu kam in untrem Falle noch die anadröckliche Terfflgui^
der Wiener Kongreßakle (Art. 9): „Aaciiue force armSe ne poum junii*
j etre iniroduite aous quelque pr^Iexte que ce aoiL"
J
'm
a
a
1
sh ^
ht
V
VI 1.
127
I
liatten dieselben Gründe dringendster Zwangslage, die
nachmals die völlige Vernicbtung Krakaus enlachuldbar er-
■L-Iieinen ließen, jene Verletzung des Prinzips der exklusiven
Territorialhoheit gleichfalls wahrlich ausreichend genug ge-
rechtfertigt.
Bezüglich der letzteren macht sich Übrigens auch sonst
recht häufig, mehr fast wie bei jeder anderen I nter national -
norm, die Tatsache bemerklich, daß sie von den Staaten
in (wirklichen oder vermeintlichen) NotlUUen keineswegs
strikt respektiert zu werden pflegt. Um dafür wenigstens
ein Beispiel noch anzuführen, sei bloß an die Art erinnert,
wie der große Kurfürst gegen den Obersten Christian
Lndwig T, Kalckstein verfahren ist. Bekanntlich war der-
lelbe in Ostpreußen das Haupt der ständischen Opposition
Tfider die brandenburgiache Souveränetät gewesen und hatte
den Kampf auch noch fortgesetzt, als der Widerstand der
übrigen bereits gebrochen war. Nach verschiedenen Wechsel-
ftlUen 1670 nach Polen geflüchtet, suchte er hier bei den
maßgebenden Personen in jeder Weise gegen seinen Landea-
herrn zu hetzen und ein bewaffnetes Einachreiten herbei-
zuführen. Weil nun der große Kurfürst darin eine äußerst
liedenklicbe , um jeden Preis zu beseitigende Gefahr für
Brandenburg-Preußen erblicken mußte, auch die Auslieferung
Kalcksteins in Güte nicht erlangen konnte, so grifl* er
lur Selbsthilfe; er ließ jenen auf polnischem Territorium,
in der Hauptstadt W'arachau selbst, durch seinen Minister-
residenten festnehmen und zu harter Bestrafung Über die
Grenze schaffen. Auch hier wieder, wie man sieht, grund-
sätzlich das nämliche Bild, welches wir oben zu konstatieren
hatten: in der Fürsorge für das Wohl des eigenen Staats
wird eine offenkundige Rechtswidrigkeit gegen einen fremden
begangen.
Allerdings läßt sich gerade in dem gegebenen Falle
billig bezweifeln, ob, rein politisch genommen, das an-
gewandte Mittel wirklieb sehr zweckentsprechend war;
mußte doch Friedrich Wilhelm nach Lage der Dinge
128
VI 1.1
darauf gefaßt sein, daß es das, was verhindert werden aollla,
nämticli die kriegeriüühe Einmischung des Auslands in die ]
preußischen Verhältnisse , von sich aus erst herbeiführte '. 1
Ein ganz ähnlicliea Urteil wird auch tlber die jetzt zu b&- J
trachtende Angelegenheit zu fällen nein.
Es handelt sich um einen Vorgang gegen Ende desj
Jahres 18(31, bald nach dem Ausbruche des großen ameri-a
kanisclien Sezeasionskrieges. Der bisherige Verlauf dea f
Kampfes hatte bereits gezeigt, daß die Auflehnung der Slid-
ataaten, wenn überhaupt, so jedenfalia bluß unter den größtea I
Schwierigkeiten zu bezwingen sein würde, und es bedeutete I
demgemäß für die Union direkt eine Lebensfrage, den
letzteren nicht auch noch den Beistand und die Bundea-
genossenschaft einer europäischen Großmacht zuteil werden i
zu lassen. Und speziell nach dieser Richtung hin wurden J
in jener Zeit seitens der Richraonder Künftderationsregiermig I
ernstliche Anstrengungen gemacht; zwei Kommissare dep-1
selben, Muson und Slidell, waren glücklich durch die f
von der nordstaatlichen Flotte unterhaltene Klistenblockade |
hindurch gelangt und schifften sich nun in Havanna auf!
dem englisclien Postdampfer Trent nach Europa ein. um I
in London und Paris kräftig t'tir ihre Sache zu wirk«
Da indes in Washington das Vorhaben derselben bekannt |
geworden war, so vermochten sie ihre Reise nicht
vollenden; ein amerikanisches Kriegsschiff, der San Jacinto, I
hielt am 8. November 18til den Trent im Bahamakanal an,
erzwang trotz allen Protestes die Herausgabe der beiden 1
Agenten und führte sie samt ihren zwei Begleitern gefangen I
nach Newyork,
Daß dieser, an Bord eines fremden (noch dazu auf |
der Fahrt von einem neutralen Hafen zum andern be-
griffenen!) Schiffes erfolgten Festnahme unbewaffneter Zivil- 1
personen von Anfang an jede völkerrechtliche Rechtfertigung
' TabtiicbltcU ist dns durtli die BEtgraote OebietaverleUung BchwerJ
gereiste Ptdeo damals nnr mühsam bewogen worden, die t5ai;he nichfl
Kiim casus belli au niaoben.
VI 1
129
durchaus abging, darüber lierrBcht, abgesehen von den
Amerikanern seibat, so gut wie allseitiges Einveretänd-
nis ' ; 68 zeigte sich aber bald , daß die ganz«; , auf
§taatliche Präventivverteidigung gerichtete Aktion auch im
pnlitiaehen Sinne schlechterdings verfehlt war. Weil näm-
lich Engtand „tlie violation of international law", „the
aflFront to the British flag" nicht ruhig hinnahm, vielmehr
in unverkennbar drohendem Tone die FreilasBung der Ge-
fangenen forderte, so sahen die Amerikaner eben die zu
verhütende Eventualitüt plötzlich in geiährlichste Nähe
gerückt; sie mußten atch die Frage vorlegen, ob sie durch
eigensinniges Verharren auf dem einmal eingeschlageneu
Wege den Rebellenstaaten selber die ersehnte Unterstützung
I durch eine auslandische Großmacht zuführen oder nicht
I statt dessen lieber einen Schritt ziirllcktun sollten. Unter
I den obwaltenden Umstünden konnte die Wahl nicht schwer
I werden: wiewohl im Kongreß manche Abgeordnete tatsäch-
[ lieh dafUr eintraten, man möge das Geschehene gutheißen
I und es auf den offenen Konflikt ankommen lassen, wurde
l-darcb den Staatssekretär des Auswärtigen der Kapitän des
TSan Jacinlo desavouiert und in einer den prinzipiellen
FRUckzug nur schlecht maskierenden Note das Verlangen
^Englands rUckhaltslos zugestanden.
Im Unterschied zu den beiden letzterwähnten Fällen,
l,4i]f die man mutatis mutandis wohl unbedenklich den be-
I kannten, Talleyrand hinsichtlich der Erschießung des duc
■ d'Enghien zugeschriebenen, Ausspruch anwenden darf, daß
Ibier mehr wie ein Verbrechen, nämlich ein Fehler vorlag,
■ bietet beispielsweise das Verhalten, welches Friedrich der
BfiroBe unmittelbar vor und bei Beginn des siebenjährigeD
Lriega beobachtete, vom reinen Zweckmäßigkeit« Standpunkt
ms der Kritik nicht die geringste Angriffsfläche dar. Nach
- formal -juris tischen Seite hin freilich gab es mindestens
Abhunill. VI ].
\m
VI 1.
ebensosehr als jeue zu den schwerwiegendsten Ausstellungen
Anlaß, In erster Linie gilt daa natürlich von dem Schluß-
und Endpunkt seiner damaligen Politik, d. h. dem gegen
Ende des Jahres 1756 plötzlich und unerwartet erfolgten
Einbruch in Sachsen; denn dieser Überfall mitten im
Frieden war entschieden eine der gröblichsten Verletzungen
des Völkerrechts', die sich nur ausdenken lassen. Aber
auch schon von einzelnen Maßregeln der vorausgehenden
Periode ist ahnliches zu behaupten. Wenn insbesondere
zu den Mitteln, durch welche König Friedrich der sich all-
mählich wider ihn bildenden Koalition entgegenzuwirken
suchte, u. a. auch dies gehörte, daß er durch seinen Ge- "
sandten in Dresden den sächsischen Kanzlisten Menzel
bestechen ließ, ihm Abschriften der von dessen Regierung
mit Österreich und Rußland geführten geheimen Korre-
spondenz zu liefern, so kann ein derartiges Unternehmen,
fremde Beamte zu korrumpieren und zur Untreue am eigenen
Vaterland zu verleiten, nimmermehr zu den völkerrechtlich
erlaubten Handlungen gezählt werden'. Indes, wie die
Dinge damals für Friedrich lagen, konnte er sich unm^Sglich
an Rücksichten formal-juristischer Art kehren. Nachdem
er einmal erfahren hatte, daß eine übermächtige Alliuix
' Vnn dorn Umstand, daß die buiden beteiligten Forsten nominell
auch noch UDler EemeinBuneD itantsroabtlicben MormeD, outer dur
llerracbiift des heiligeD rSmiBcben Reiches deutscher Nstion standeti,
»ehe ich mIr unwuneDtlich ganz ab. Die liieriiiiii Biegenden BBaonderheiten
bieten blaS KariositfttaintereBB«.
' Bacblich in dieseni Punkte nit der herrBchendca Lehre durcbau»
übereinstimmeDd, mScbte ich mich auch hier wieder mit der Art, wi
den Gedsuken techuiacb meist konstruiert, keineswegs ideatifixieren, ecbon
deshalb, neu sie abenuAls bloB mit BioeiD sogeD. „Grundrechte", n&mlich Aem
„auf Achtang " lu operieren pfiegt fcf, u. a. llivior, Lehrbucb des Völker-
rechts, 2. AuS-, S. 2TT; Der Gesandte „darf nicht Mittel anwenden, darcb
die die den Staaten gescimidete Achtung verletzt würde; aluo nnmeutlich
nicbt Bestechong tod Itenmten , Verleitung za Dienst- und anderen Ver-
gehen u. dei^t." ; Gareis, Institutionen des VSIkerreobts, 2. Aufl., S. 1"
„Der Gesandte darf niemals la Mitteln greifen, deren Gebrauch <
Verletzung des Grandrevhtfl auf Arhtnng im vSlherrecbllicbeD Verkehr
in «ich nehlieBen wflrde: dem Gesandten ist Spionage nicht aiir Päicbt
gemacht, «indem sogar TSikerrecbllii'h verboten"). Vgl. iilerxu daa oben
8. 124, N. 3 Bemerkte.
rvi 1.
131
I wider ihn im Entstehen begriffen war, eine Alhanz, der
I gegenüber es sich für Preii6en von vornherein offenbar um
ISeia oder Nichtsein handelte, war ea für ihn von der
' höchsten Wichtigkeit, stets genau über die Pläne seiner
Gegner unterrichtet zu aein, und dieses Ziel vermochte er
voUbetViedigend nur durch die Verbindung mit Menzel zu ei--
reichen und hat er so auch wirklich erreicht. Daa von
letzterem gelieferte Material, im Verein mit der in Dresden
selbst 175ö vorgefundenen Korrespondena, gab später den
I Stoff ab für Hertzbergs berühmtes „Memoire raiaonnd",
I welches jedem UrteilsiUhigen in der Tat eine „gegründete
I Anzeige des unrechtmäßigen Betragens und der gefähr-
lichen Anschläge und Absichten des wienerischen und
sächsischen Hofs" gewährte.
Das ftnfte und überhaupt letzte Beispiel, welches hier
als konkreter Beleg für die allgemeine, im ersten Teil
unseres Paragraphen entwickelte Regel angeführt werden
soll, mag wegen der besonderen Wichtigkeit des inter-
nationalen Gesandtschaftsrechts diesem entnommen werden.
I Es bezieht sich auf die noch immer nicht völlig auf-
[ geklärten Vorgänge, die unter dem Namen des ^Hastatter
l Gesandtenmords " eine berüchtigte Rolle in der Geschichte
I spielen.
Um zunächst den äußeren Tataachenv erlauf kurz zu
Ibericbten, so bestand derselbe bekanntlich in folgendem.
L'Oemäß Art. 20 des zwischen Frankreich und Österreich
|l797 geschlossenen Vertrags von Oampo Formio war in
I dem badischen Orte Rastatt ein Gesandtenkongreß zusammen-
I getreten, der einen Frieden der französischen Republik auch
Imit dem Deutschen Reich vermitteln sollte. Die Verband-
I luDgen zogen sich jedoch, ohne endgültige Ergebnisse zu
I liefern, so sehr in die Länge, daß inzwischen die zweite
I Koalition gegen Frankreich sich bilden und den Krieg,
anfangs mit entschieden günstigem Erfolge, neu aufnehmen
konnte. Als die kaiserlich österreichischen Heere Rastatt
näher und näher rUckteu, löste sich der gegenstandslos
132 VI 1.
gewordene FriedenskoDgreß allmählich auf; insbesondere
reisten am Abend des 28. April 1799 auch die drei repu-
blikanischen Delegierten nach Frankreich ab. Unmittelbar
vor den Toren der Stadt wurden sie überfallen, zwei von
ihnen niedergemacht und der dritte in unaufgeklärter
Weise gerettet.
Die große, der unbestrittenen Lösung noch immer
harrende Frage ist nun, von wem diese Freveltat angestiftet
und begangen wurdet Der von Haus aus weit über-
wiegende Verdacht richtete sich gegen Angehörige der
kaiserlichen Armee, speziell gegen Szekler Husaren, wobei
die Ansichten des Näheren wieder darüber sehr auseinander-
gingen, ob der Mord von oben her angeordnet war oder
nicht, und eventuell, wieweit hinauf man beim Suchen nach
der den Befehl erteilenden Stelle zu greifen habe. Dieser
Verdacht ist auch nach dem gegenwärtigen Stande der
Forschung noch nicht als gänzlich widerlegt zu erachten;
er ist jedoch, wie zugegeben werden muß, durch Publika-
tionen der jüngsten Vergangenheit, namentlich durch das
umikngliche Werk von Criste, „Beiträge zur Geschichte des
Rastatter Gesandtenmords** ^, mindestens schwer erschüttert
worden, sodaß das kaiserliche Heer von der allerschlimmsten
Verletzung des internationalen Gesandtschaftsrechts, von
der brutalen Tötung der französischen Kongreßbevollmäch-
tigten, möglicher Weise gänzlich wird freigesprochen werden
müssen.
Indes auch angenommen, daß das wirklich der Fall
ist, so ist damit die Angelegenheit für Österreich noch längst
nicht völlig erledigt. Selbst eifrigste Verteidiger desselben
wagen nämlich nicht zu leugnen, daß alle Papiere der
Ermordeten von österreichischen Truppen beschlagnahmt^,
^ Es ist in dieser Beziehung eine ganze Anzahl verschiedener
Meinungen angestellt und vertreten worden; eine gute Übersicht über
dieselben findet man u. a. bei v. H eifert, „Zur Lösung der Rastatter
Gesandtenmord-Frage^. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1900.
2 Wien 1900.
^ Die spezielle Frage, von wem die ausdrückliche Weisung hierzu
VI I.
133
I
I
I
ins Hauptquartier eingeliefert und erst nach gründlicher
Durclisicht den zuständigen französiackeii Behörden ausge-
folgt wurden, Ea ist auch leicht einzusehen, was für Be-
weggründe und Motive damals für dieses Vorgehen maBgebend
gewesen sind. Die republikanischen Bevollmächtigten hatten
notorisch mit zahlreichen deutschen Reichsständen, teila
direkt, durch Verbandlungen mit den betreffenden Kongreß-
delegierten, teils indirekt, durch Vermittelung der an den
einzelnen Höfen sich aufhaltenden französischen Agenten,
weitgehende Beziehungen angeknüpft, und es mu6te jetzt
filr den Kaiser militärisch wie politisch von größter Wichtig-
keit sein, tlber Inhalt und Umfang derselben ins Reine zu
kommen.
Nun kann es aber doch, streng juristisch beurteilt, gar
keinem Zweifel unterliegen, daß aus dieser Sachlage eine
formelle Befugnis zur Beschlagnahme der Papiere schlechter-
dings nicht hergeleitet werden durfte; die gesamte ein-
schlägige Literatur ist sich ja darüber völlig klar, daß die
dem Gesandten zugebilligte Unantastbarkeit nicht bloß für
seine Person unter allen Umständen geachtet werden muß,
sondern sich ebenso auf die ihm gehörenden Gegenstände,
in erster Linie sein Archiv, mit bezieht'. Hieraus geht
tervor, daß Österreich, mag auch die Frage nach dem Ur-
heber und Vollstrecker des eigentlichen Gesandten m o r d a
■u beantworten sein, wie sie will, sich doch auf jeden Fall
«rteilt norden war, kann dnbei vullatÄndig auf sich lierubeo bleiben; sa
macht einen geringen Unterschied aua, ob man (xo beUpieUweise
T. Helfen, a. a. O., S. 40 ff., 130ff.) den Oberkommatidioronden, Ere-
faercog Kvl, aelbst an dem Anschlag auf das Archiv tailhaben läßt oder
(m> Cri«t«, a. a. O. , S. 43 ff.) bloU Keinem Oeneralslabachef die letEl«
Verantwortung mschiebeu will.
1 Statt vieler seien hier bloß die Worte von M arte dm- Bergbob m
{VSlkerrecht, Bd. n, S. 41) auadrüuklic-b angeführt: „Die Unverletcbarkeit
antreckt lich, wie auf die Gesandten, so auf alle Objekte, welche mit
deren Amt und persünliclier Würde unmittelbar insaminenhSngen. Dem-
Ucbe Habe de» Gesandten ,
und
134 VI 1.
in der Kastatter Angelegenheit eines offenkundigen Bruchs
positiver Völkerrechtssatzungen schuldig gemacht hat; der
ganze Vorfall vermag uns als praktischer Beleg dafür zu
dienen, daß auch die den internationalen Gesandtschafts-
verkehr regelnden Normen, genau wie alle übrigen, bloß
insoweit auf reale Befolgung rechnen dürfen, als der in
concreto beteiligten Macht nicht die Übertretung derselben
durch dringendstes Staatsinteresse unvermeidlich geboten
erscheint.
§ 12.
In dem vorausgehenden Paragraphen ist gezeigt worden,
daß der üblichen und meistvertretenen Lehre über die
clausula rebus sie stantibus insofern ein schwerer metho-
discher Fehler anhaftet, als sie etwas, was in Wahrheit für
alle internationalen Verkehrssätze ohne Ausnahme gilt,
speziell für die eine Regel Facta sunt servanda proklamiert:
wir haben gesehen, daß keineswegs bloß diese, sondern
überhaupt prinzipiell das gesamte Völkerrecht dort nie
stand hält, wo für die Staaten die Sorge um die eigene
gesicherte Existenz in Frage kommt.
Diese letztere Beobachtung ist nun eine so naheliegende
und selbstverständliche, daß es kaum zu begreifen wäre,
wenn sie noch niemals wissenschaftlich erfaßt und in irgend
eine feste Form gebracht worden sein sollte. Tatsächlich
ist das denn auch, ganz unabhängig und losgelöst von der
Klausellehre, schon längst geschehen ; ja es lassen sich sogar
in dieser Beziehung zwei verschiedene Lösungsversuche
konstatieren, die aber beide, wie jetzt in aller Kürze gezeigt
werden soll, nicht zu sachlich befriedigenden Ergebnissen
geführt haben.
Als Beispiel für die erste Richtung können passend
die Worte verwandt werden, die der englische Schriftsteller
Hall an die Spitze des siebenten Kapitels im zweiten Teil
seines International law^ setzt: „In the last resort almost
' S. 226.
VI 1.
135
the whole of the duties of states are subordinated to the
righl ofaolf-preaervation".
Das in den völkerrechtlichen Lehrayetemen überhaupt
8o viel heruinspukende „Recht der Öelbaterhaltung" also
ist €8, dem hier die Rolle eines Helfers aus der Not zuge-
wiesen wirdf d. h, eine internationale Doktrin, der wir
schon bei einer früheren Gelegenheit (Seite 124 Note 3)
einmal flüchtig begegnet sind. Indes ist leicht zu bemerken,
daß ihm jetzt eine wesentlich andere Aufgabe zugedacht
wird, als es damals der Fall war; während es dort nur in
negativem Sinne verstanden wurde, lediglich den wider
alle übrigen Mächte gerichteten Anspruch des Staates darauf
zu technischem Ausdruck zu bringen hatte, daß diese jede
Vernichtung (oder, allgemeiner gesprochen, jede Verletzung)
seiner politischen Existenz unterlassen, erscheint es hier,
wie 'aus den unmittelbar folgenden Darlegungen Halls
deutlich liervorgeht, in positiver Funktion; es soll eine
Befugnis zum Tun, „die Berechtigung zur Ergreifung aller
Maßregeln, welche zur eigenen Selbster halt ung notwendig
sind" ', gewähren.
In der völlig verschiedenartigen Beurteilung nun, die
man diesen beiden heterogenen, von der Theorie zu einem
Begriff vereinigten Bestandteilen nach der Lage der Dinge
widerfahren lassen muß. tritt an einem Einzelpunkte recht
instruktiv eine Eigentümlichkeit zutage, die ganz generell für
die Kategorie der sogenannten internatiünalen Grundrechte
charakteristisch ist. Dieselben sind nHmlicb ihrem materiellen
Gehalte nach keineswegs vollständig zu verwerfen; vielmehr
begreifen sie unleugbar zahlreiche und wesentliche Elemente
der positiv- gültigen Internationalordnung in sich. Aber
freilich, da die letzteren in durchaus unzulässiger Weise
mit fremdartigen Bestandteilen vermischt und durchsetzt
sind, die innerhalb des eigentlichen Völkerrechts nicht das
136 VI 1.
mindeste zu suchen haben, so vermag nur vollständige
Preisgabe der Grundrechtsformel als solcher wenigstens
sachlich etwas von der ganzen Lehre zu retten; es ist in
der Tat ganz richtig, daß „der juristische Inhalt dieser
Materie unter anderweite Kategorien im System des Völker-
rechts zu subsumieren ist, der naturrechtliche und politische
Inhalt dagegen ausgeschieden werden muß^ ^ Speziell auf
unseren Fall bezogen, nimmt dies die Gestalt an, daß in
jener negativen Funktion des Selbsterhaltungsrechts,
ungeachtet der auch hier recht unbefriedigenden Formu-
lierung, ein durchaus berechtigter Kern enthalten ist^,
daß jedoch die positive jedweder Legitimation und
Grundlage entbehrt und daher restlos zu eliminieren ist.
Um die prinzipielle Verfehltheit derselben recht augen-
fällig zu machen, dazu genügt es eigentlich schon vollständig,
auf sie den bekannten Spruch anzuwenden „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen" ; gelangt doch mit ihrer Hilfe insbe-
sondere Hall dazu, sogar die kaum noch zu überbietende
Brutalität, die England 1807 an Dänemark verübte, ganz
unbedenklich und gerechtfertigt zu finden. Er deduziert
nämlich^ in aller Harmlosigkeit: weil in diesem Jahre die
nahe Möglichkeit bestanden habe, daß sich Frankreich der
großen dänischen Flotte bemächtigte, so sei England im
Interesse seiner Sicherheit unbedingt genötigt gewesen, diese
seinerseits . in Besitz zu nehmen ; da nun Dänemark das
entsprechende Verlangen in Güte nicht habe zugestehn
wollen, so habe England zu seinem eigenen großen Be-
dauern, keinesfalls aber völkerrechtswidrig, dazu verschreiten
müssen, die Hauptstadt eines neutralen Staats drei Tage
lang zu bombardieren, und so die gewünschten Schiffe
schließlich durch sanfte Gewalt zu erhalten! Und doch
lag damals die Sache offenkundig so, daß eine bereits vor-
handene Gefahr für den Bestand des britischen Staats noch
1 Uli mann, Völkerrecht, S. 80.
^ Das ist ja auch von uns seinerzeit ausdrücklich anerkannt worden.
8 A. a. O., S. 229 flf.
rvi 1.
137
gar nicht in Frage kam; vielmehr vei-mochten die englischen
Staatsmftnnei' mit einer bloßen Hypothese, mit dem kondi-
tionell höchst verklausulierten Gedankengang zu operieren:
„Wenn Kaiser Napoleon sich mit Dänemark verbündet
>(oder auch es zwangsweise seinem Willen unterwirft), wenn
«r dadurch die gesamte Flotte desselben in seine Macht
bekommt, w e n n er sie zum Transport französischer Soldaten
an die britische KUste benutzt, wenn diese den langen
Weg dorthin trutz der weit überlegenen gegnerischen See-
macht glücklich zurücklegen, und wenn es auch gelingt,
eine beträchtliche, sofort gefechtst'ühige, mit hinlänglichem
Kriegsmaterial und Proviant versehene Streitkraft wirklich
»zu landen, so kann sich daraus (ür unser Gemeinwesen
eine recht bedrohliche Situation ergeben/ Man darf wohl
getrost behaupten, daß, sobald einmal eine derartige Argu-
mentation als ausreichend ungesehen wird für Fälle, bei
denen „the right of self-preeervation juatifies the commission
of acts of violence .igainst a friendly or neutral state", über-
haupt kein Völkerrechtssubjekt nur einen Moment lang
wider gewalttätige Angriffe aller übrigen Juristisch geschützt
«rschieue; denn die Möglichkeit, daß jeder Staat jedem
Staat unter irgendwelchen Zukunftskombinationen einmal
gefährlich werden kann, ist offenbar ätets vorhanden, und
es müßte daher den Mächten konsequenter Weise auch
gestattet sein, zur präventiven Selbstverteidigung einander
permanent zu überfallen und unschädlich zu machen.
Aber auch bei vorsichtigster, unmittelbar gegen-
I WÄrtige Gefahr fordernder Itestriktivfassung wUrde
Idie Sache kaum wesentlich besser ausfallen. Wegen der
r Öfters schon' konstatierten Tatsache nämlich, daß dem
I Völkerrecht jede autoritäre selbständige, unabhängig von
tAtto Parteien über das konkrete Zutreffen oder Nichtzutreffen
Ider abstrakten Normen befindende Jurisdiktionsgcwalt
Idurcbaus abgeht, muß der Satz „Jeder Staat darf, iinbe-
' Vgl. S. 74, 107.
138
VI 1.
kümmert um Inleressen und Ansprüche der übrigen, kraft
seines Selbsterhaltungsrechts sämtliche Maßregeln vornehmen,
die zu seiner gesicherten Fortexistena objektiv notwendig
sind," praktiseh sofort zu dem anderen umschlagen „die er
subjektiv für notwendig hält". Damit erscheinen aber
alle jene achwernten Unzuträglichkeiten, die wir S, 74 flf.
speziell für die clausula rebus sie stantibus entwickelt haben,
alsbald wieder auf der BildüUcbe, nur mit dem Untere ciiiedof
daß sie hier, wo nicht mehr bloß die eine Regel Pacta sunt
servanda, sondern, entsprechend der ungemeinen Dehnbar-
keit des angeblichen S el bst er hal tu ngs rechts, überhaupt der
ganze internationale Normenkoniplex partiell außer Funktion
gesetzt werden soll, geradezu bis ins Ungemesseoe wachsen,
Helhst wenn stets auf vollste bona iides der Parteien zu
rechnen wäre, müßte die Verwirrung, die infolge der
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der subjektiven An-
sichten unbedingt einreißen wird, die unheilvollsten Wir-
kungen äußern; noch weit schlimmere Befürchtungen würde
aber zweifellos der Umstand rechtfertigen, daß jetzt anch
dem bösen Willen überall eine bequeme juristische Mas-
kierung gesichert ist, daß er nunmehr die schwersten
Rechtsverletzungen formell immer in das Gewand d<
eigenen Rechtabehauptung einzukleiden vermag.
Nach alledem würde die real-geltende Völkerrechta-
ordnung an sich selber einfach eine Art Harakiri vollstreckt'
haben, wenn sie wirklich die positive Seite des doktrinXri
gebildeten Sei bs terhal tu ngs rechts hätte gutheißen und in^
sich aufnehmen wollen. In Wahrheit ist aber etwas d<
artiges niemals und in keiner Weise geschehen. Daß dii
wichtige, ja allea entscheidende Tatsache von der Theori*
80 ganz ignoriert werden konnte, ist lediglich darauf zurück-
zuführen, daß die letztere, fußend auf früher ganz allgemein
herrschenden Anschauungen, die sogenannten internationalen
Grundrechte überwiegend noch heute als absolute sub-'
jeklive Rechte, d, h, als solche behandelt, die den Staaten b&-|
grifflich und ganz von selbst, ohne besondere Konzeasio
I
VI 1.
139
seitens der übrigen, zustehen sollen. Nun paßt aber doch
auf diesen ganzen Ideenkreis sicher nicht weniger die
Qtialitizierung als „Werte von geetem", wie diese Bc-
seichnuDg auf veraltete staatsrechtliche Gedanken Systeme
angewandt worden ist ' ; nach dem jetzigen Stande wissen-
schaftlicher Erkenntnis dürfte man eigentlich nirgendsmehr
subjektive Ansprtkhe anerkennen, die nicht aus positiv
fliol3ender Rechtaquelle, in unserem Fall aus der irgendwie
zu erschließenden Willensübereinstimmung der mit
einander Verkehr pflegenden Staaten, herstammen. So-
bald man es jedoch unternimmt, in dieser allein zulAssigen
Weise den auf Grund des „Selbsterhaltungsrechts" erfolgen-
den Aktiv eingriffen in fremde Rechtssphären ein objektiv
gültige« Fundament zu verschaffen, zeigt sich sofort die
prinzipielle Haitlnsigkeit der ganzen Lehre; liefert doch
schon eine Durchmusterung der wenigen, in § U gegebenen
Oeschtchtsfälle Belege genug dafür, daß die jeweils positiv
betroffenen Staaten die Sache nicht bloß nicht stillschweigend
hiozunehmen pflegen, aondern regelmäßig wider sie scharfen
■Protest erheben. — ■
Angesichts der schweren, vorstehend entwickelten
Schwächen und Übelstände kann es nicht Wunder nehmen,
daß die hier bekämpfte Konstruktion bald als recht mangelhaft
«mpfunden werden mußte, und daß deshalb von manchem
Schriftsteller der Versuch gemacht wurde, sie durch eine
andere und bessere zu ersetzen. Nach welcher Richtung
man die erforderliche Abhilfe zu gewinnen strebte, das
ergibt sich beispielsweise aus den Worten Heilborns^,
1a8 in den uns interessierenden Fällen von den Staaten
anicht ein Sclbsterhaltungsrecht ausgeübt, sondern im Not-
tande gehandelt wird",
Eb iet nicht zu bezweifeln, daß diese Formulierung,
' VooAnai^iiüIz in sein
I VeTmCgerubeauliädigun^n
■ ««ralt*'.
* A. II. O, S. 2Ö6.
140 VI 1.
verglichen mit der früheren, einen wesentlichen Fortschritt
bedeutet. Dann schließt sie auch ganz unverkennbar
eine gewisse Annäherung an die von uns adoptierte Auf-
fassungsart in sich, wie schon aus dem Umstände sich ver-
muten läßt, daß wir seinerzeit^, bei der Vorbereitung zur
Entwicklung der letzteren, auf den innerstaatlichen Notstand
als eine, in bestimmtem Sinne verwandte Erscheinung bezug
nehmen konnten. Freilich, da das damals bloß in An-
wendung auf eine der drei an sich hier gegebenen und
vertretenen Konstruktionsmöglichkeiten geschah, und da
diese alle auch bei der völkerrechtlichen Notstandslehre un-
verändert wiederkehren, so kann jene Annäherung nicht bei
sämtlichen in Betracht kommenden Autoren mit der gleichen
Stärke zu konstatieren sein. Sie ist am wenigsten vor-
handen bei denjenigen, die den internationalen Notstand
als spezifisches Not recht auffassen^; sie beginnt dort schon
etwas mehr hervorzutreten, wo man weder die Erlaubt-
heit noch das Verboten bleiben , sondern die juristische
Indifferenz der in ihm vorgenommenen Handlungen be-
hauptet^; sie ist endlich am meisten bemerklich bei der
' § 9, S. 98ff.
^ Konform der im modernen Kriminalrecht zu machenden Be-
obachtung, wird eine solche Lehrmeinung heute auch für das Völker-
recht entschieden am seltensten ausgesprochen und verteidigt; daß sie
aber in diesem keineswegps ganz unvertreten geblieben ist, daför können
als Beleg die Worte Klübers (Europäisches Völkerrecht, 2. Aufl. 1851,
§ 44, S. 53/54) dienen: „Da die Pflicht der Selbsterhaltung für den Ver-
pflichteten höher ist als jede andere, so kann es nicht als Rechtsverletzung
geahndet werden, wenn bei evident dringender Not des Staates, in dem
Fall unvermeidlicher Kollision zwischen vollkommenen Pflichten gegen
andere Staaten und seiner Selbsterhaltung, eine Staatsregierung — die
letztere vorzieht und so von der Not^nst Gebrauch macht, die von
einigen sogar Not recht genannt wird.
' Zum Beleg für diese, gegenwärtig wohl von der überwiegenden
Mehrheit der Schriftsteller angenommene Konstruktion darf auf die Aus-
fabrungen V. Liszts (Völkerrecht, 3. Aufl., S. 191, verb. mit S. 11)
verwiesen werden. Wie derselbe nämlich schon im innerstaatlichen Recht
für die oben charakterisierte Anschauung eingetreten ist, so hat er das
gleiche auch für die Behandlung der Internationalverhältnisse strikt durch-
geführt; eine scheinbare Hinneigung zur Theorie des spezifischen Not-
rechts, die in der ersten Auflage seines Völkerrechts an einer bestimmten,
nicht ganz unmißverständlich formulierten Stelle (S. 118) noch vor-
'VI 1.
141
durch Ullmann' und andere bekundeten Auflassung,
welche der im innerstaatlichen Recht einen bloßen Straf-
auaschlieBungsgrund statuierenden Lehrt; entspricht.
Bei alledem ist aber selbst die letztgenannte Richtung
noch weit davon entfernt, einen durchaus befriedigenden,
der Eigenart des Völkerrechts völlig angemessenen Ausdruck
für den zur Erörterung stehenden Sachverhalt zu bieten;
im Gegenteil läßt sich auch der völkerrechtlichen Not-
Btandsdoktrin in allen ihren bisherigen AusprAgungen
nicht der Vorwurf recht mangelhafter Fundierung ersparen.
Quell und Ursprung alles Übels ist die viel zu geringe
Genauigkeit, mit der sie die beiden Bedeutungen ausein-
! anderzuhaiten pflegt, in denen das Wort Notstand nach
I Lage der Dinge gebraucht werden kann.
Dasselbe vermag einmal zur Bezeichnung einea rein tat-
[ Bäcblich vorhandenen Zustands zu dienen'. Streng auf
l solche Weise, ohne jedes weitere Zusatzelement verstanden,
I will 66 lediglich der mit dem Bestehen aller Rechtsordnungen,
[also auch der internationalen, ganz von selbst gegebenen
EUöglichkeit zum Ausdruck verhelfen, daß manchmal Juri-
Istisch gleichmäßig geschützte Interessen verschiedener Per-
BD in KoUision geraten können und alsdann eines immer
nur auf Kosten des anderen ausreichend zu wahren ist.
bmden war, ist echon in der zweiten durch ächärfere und prSziserc FanButig
fJpC. 8. 1S7'168) TollBtSndig vermiedeD.
■ > Vgl. VSlberrecht, S. 81: „Beßndpt «idi ein Staat iu einer Lage,
■in der die Erhaltung Heiner BiiBtenz derart in Frng« gestellt Ist, daß er
WMk Qefiibr nur dnrch Übertretung von Narmen des VBikcrrechls — be-
Mltigen kann, so liegt ein Fall des NotctandB vor ^; ein Recht znr
Tornshue betreSeader Handlungen wird nicht anerkoniiti die Handlungen
find rechtswidrig, es xensieren nur die mit aolclien HHiidliuigeu koubF
VQTlmfipften rcohllichen Folgen."
* In dicHem t^lnoe wird es, mehr oder weniger deutlich, bei allen
•riSabeaümmungen angewandt, die die «trafrechtlichen SjAteme und
wrbücfaer allgomeiu-aprioriach , noch ohne Rücksicht auf die jeweils
lorhandeDe positiv-juriatiBche AuaprSgung des Gedankens, vonNotstand
B geben pfleget). Beaonderti klar tritt die» beiJanke cstage, da dieser
JDer «cafrecbtliche Noteland, 1878, 8. 2«/29) unseren Fall als „daa Ver-
«Sl t nis" deflniert, .in welchem mehrere aelliatÄndig nebeneinander
lebemle, durch da« Recht gesicherte Giilerintereasen tatnichlicb ncben-
' oder nicht bestehen kSnneu".
142 VI 1.
Sorgfältig hiervon zu unterscheiden ist die zweite Be-
deutung, bei welcher Notstand das technisch ausgebildete,
positiv sanktionierte Institut je eines einzelnen Rechts-
sjstems bezeichnen soll. Es liegt nun auf der Hand^ daß,
in diesem Sinne gefaßt, mit dem Begriff keineswegs so
voraussetzungs- und ausnahmslos hantiert werden darf, wie
es beim Gebrauch in der ersten Bedeutung allerdings und
ohne weiteres zulässig erscheint. Um ein praktisches Einzel-
beispiel anzuführen, so stand auch für die germanischen
Stammesrechte die Sache von Anfang an so, daß hier oft
genug Lagen vorkamen, „worin man nur durch eine ver-
botene Handlung ein gefährdetes Rechtsgut erretten konnte" ^;
spezifische juristische Berücksichtigung jedoch haben die-
selben lange Zeit, teilweise bis ins 15. Jahrhundert^, nicht
erfahren; vielmehr wurde damals die in (faktischem) Not-
stand begangene Tat prinzipiell genau so behandelt und
geahndet, wie jede andere Verletzung fremder Rechtsgüter
auch®. Darin konnte, hier wie überall, eine Wandlung
lediglich auf dem Wege eintreten, daß die betr. Rechts-
ordnung selber, fußend auf der allmählich gewonnenen Er-
kenntnis, daß jene, zunächst rein tatsächlich vorhandene
Konstellation gerechter Weise auch eine juristische Privi-
legierung verdiene, ihr dieselbe zu gewähren beschloß und
wirklich gewährte.
Gerade dieser Umstand aber, daß der faktische Not-
standsbegriff einzig und allein durch Akte positiver Rechts-
setzung in den juristischen überführt werden kann, wird
von der Lehre vom internationalen Notstand so gut wie
vollständig außer Acht gelassen ; sie operiert offenkundig mit
1 Binding, Handbuch des Strafrechts, I, S. 759.
* Wie aus den Darlegungen von His, Das Strafrecht der Friesen
im Mittelalter (Leipzig 1901j deutlich hervorgeht. Darüber, wie spät und
mühsam auch sonst im deutschen Recht der Notstandsgedanke praktisch-
wirksame Anerkennung gefunden hat, vgl. Schroeder, Deutsche Rechts-
geschichte (4. Aufl. 1902), S. 348.
' Cf. u. a. Lehmann in Birkmejers Enzyklopädie der Rechts-
wissenschaft, S. 281.
rvi 1.
143
[ letzterem als rechtlicb relevantem Institut, ohne irgend-
I welchen exakten Nachweis dafür zu liefera, wann und wo-
I durch die auaschlieBlich zur Um- und Fortbildung des
I internntionalen Normenaystema kompetenten Subjekte, die
I Staaten, eine entsprechende Regel sanktioniert haben sollen.
1 Und doch waren derartige Unterauchungen für sie in ihren
sämtlichen drei Richtungen gleich unentbehrlich und not-
wendig gewesen. Denn wenn ein spezifisches Notrecht
bestellen aoU. no muß diesea unbedingt allen in gefährliche
Lagen geratenden Mächten positiv zugebilligt worden sein;
Lvenn die juristische Indifferenz, das Fehlen der He chts-
liridrtgkeit fUr Notstandsfhile behauptet wird, so ist die
I Schaffung einer einschr äu k en d- ii egati v wirkenden
[ Korm des Inhalts eingehend darzutun, daß sämtliche VOlker-
ichtspflichten ' auf gewisse ExzeptionalverhfiltniBse keine
1 £r3treckung finden, wenn die UllDiann'sche Auffassung das
I aufinabinsweise „Zessieren der sonst mit rechtswidrigen
[.Bandlungen verknüpften rech tliclien Folgen" vorsieht,
hao hat sie den generell verfugten äatz aufzuzeigen, auf
rGrund dessen diese regelmäßig und im allgemeinen ein-
I tretenden Folgen* unter bestimmten Voraussetzungen nicht
|Flatz greifen sollen. Solaiige für alle diese Dinge der
' Einatliließlich dnr durcli aiisdrilckliche Vereinbarung völlig ilü-
B Buttert übemommenen ! Ein Beispiet mag die Suche verdeutlichen. Durch
"b St. Petersburger Deklaration vom 11. UeKetnl>er IS68 hal>en die be-
a Michto ohne jeden Vorbehalt versprochen, »ich hui Krie^n mit-
JT gewiBBer EiploHivgeschoBne nicht xa bedienen; trotzdem wäre
« nach der durch v. Liszl, Völkerrecht, 6. 19lKattx all^mein aufgestelllBii
rbMe, nicht als formelt völkerrechtswidriff zn Hrachlen, wenn aiu Staat
llWiin lebrten Bingen um seine Existenz im Gebrauch derartiger Ku«aln
ll^e ReHuni; snchen wollte. Das bastreitu ich Jedoch auf das Ent-
KscUedenste: ich vermisse eben gAnzUch die positiv-juristische
■SnuuUaee für den abstrak t-snpponierlen Satz, daß „der Notstand
K*llen Afctou den Charakter der Rechts Widrigkeit lu nebmen vermag"
Efv- Lixt, a. a. O., S. 176), daß „der BegrifT der vaikerreuhts widrigen
■ BandluDgen anter alten Umständen dann enttSllt, sobald das Vorgehen
' le« Staats gegen einen anderen im Interesse «einar eigenen Sichurheit.
r Wahrung seiner SanveränctAt erforderlich wird" (A. Zorn, Qrand-
ge de« VOtkerrechtü, 2. Aufl.. S. U6).
' Was als solche tut das der speziflschen Strafeewalt entbehrende
UkeiTetht allenfalls in Betracht komtneu könnte, darüber siehe Uli'
i. O., 8. 177 f.; V. Liszt, 8. 183 f.
144 VI 1.
Nachweis entweder gar nicht angetreten ^ oder bestenfalls in
unzulänglicher^ Form geführt wird, schwebt die Annahme,
daß auch in die internationale Ordnung das Notstands-
institut in technisch-juristischem Sinne Aufnahme gefunden
habe, vollständig in der Luft; sie kann nur die Rolle eines
naturrechtlichen „Mädchens aus der Fremde" spielen —
„man wußte nicht, woher sie kam!** ®
Selbstverständlich würde dieses Urteil seine Berech-
tigung verlieren, sobald überzeugend dargetan würde, daß
die Staaten einen derartigen, sei es nun ausdrücklich oder
stillschweigend-gewohnheitsmäßig erklärten Gemeinschafts-
' Das ist u. a. bei Heilborn der Fall, der dem S. 139 von uns
zitierten Satze: „Es wird im (faktischen Notstande gehandelt^ noch auf
derselben Seite (a. a. O.» S. 296) ganz unvermittelt den anderen folgen
läßt: »die Notstandshandlung ist nicht widerrechtlich", worauf später
(S. 858) von „der allgemeinen Notstandsnorm des Völkerrechts*' wie von
etwas unbestreitbar Feststehendem gesprochen wird.
"^ Das g^lt z. B. von demjenigen, was Lunder in Holtzendorffs
Handbuch des Volkerrechts (Bd. IV, S. 255), freilich nicht generell,
sondern bloß far einen angeblichen Notstand- Spezialfall (Verhältnis der
sogen. Kriegsraison zur regelmäßig einzuhaltenden Kriegsmanier) bemerkt:
„Ebensowenig kann die Berechtigung zur Kriegsraison geleugnet werden
beim Eintreten äußerster Noträlle. Ist schon bei Notlagen einzelner (!)
die Straflosigkeit von noch so schwer verletzenden Notstandshandlungen
anerkannt (!!), so muß (?!) das in noch höherem Maße im Kriege der
Fall sein, bei dem so viel mehr auf dem Spiele steht." Darauf ist zu
erwidern, daß, wenn auch in 100 Kechtsordnungen irgend ein Satz positiv
eingeführt ist und besteht, dies noch gar keinen Rückschluß auf die 101.
erlaubt, am wenigsten dort, wo die letztere (was auf das Völkerrecht
notorisch zutrifft) weitaus unentwickelter und loser organisiert ist wie
sämtliche ersteren.
' Übrigens läßt sich ganz die nämliche Kritik auch auf gelegent-
liche Erscheinungen aus anderen Rechtsgebieten anwenden. Wenn u. a.
H. Schulze (Preußisches Staatsrecht, II, S. 447) das Nichtzustande-
kommen des Etatgesetzes einen „abnormen, verfassungswidrigen Zustand
nennt, in welchem die Regierung nur nach den Geboten des Notstands
die Staatswirtschaft weiter zu führen berechtigt (!) und verpflichtet ist'',
so sieht man sich vergebens nach Normen um, durch welche dieses Prinzip
in das ^Staatsrecht positiv eingeführt wäre. Sollte etwa eine Basierung
auf solche überhaupt für entbehrlich und überflüssig gehalten werden,
dann könnte man natürlich mit derselben Berechtigung beispielsweise
auch behaupten, in dringenden Notfällen sei die Regierung des Deutschen
Reiches zum Erlaß sogen, provisorischer Gezetze formell befugt, trotzdem
die spezifisch-rechtliche Regelung unseres Verfassungslebens, insbesondere
die Konstitution vom 16. April 1871, von dieser Kompetenz nicht das
mindeste weiß (vgl. Lab and, Reichsstaatsrecht, 3. Aufl., 1, S. 265, 567).
'VI 1.
145
I
I
willen wirklich an den Tag gelegt haben. In der Tat stößt
man, sobald zunächst die erstere Form internationaler
Rechtsbildung, die rechtsetzenden Verträge daraufhin durch-
gesehen werden, verhältnismäßig gar nicht so selten auf
Bestimmungen, die ganz unverkennbar eine gewisse Regelung
des Notstand 8 Problems bezwecken. Indes ist wobt zu be-
achten, daß es sich dabei fast stets nur um völkerrechtliche
Abmachungen darüber handelt, wie nach beatimniten, auch
das Ausland tangierenden Richtungen die innerstaatliche
Herracliaftsgewalt gehandhabt werden soll; mit anderen
Worten, die betr. Traktate geben weit überwiegend nur
bindende Anweisungen, daß und wann einzelne in Notstand
geratene Menschen von letzterer für ihre Handlungen
nicht haftbar zu machen sind '. Dagegen bieten sie im
allgemeinen äußerst wenig, was auf das hier allein in Frage
kommende gegenseitige Verhältnis der Staaten als
solcher Bezug hätte; vielmehr läßt sich in dieser Hinsicht
nur höchst spärlich und ausnahmsweise' einmal eine Fest-
setzung, daß die Mächte selber in außerordentlichen Fällen
von der Befolgung normaler Völ k errech tssätze absehen
dürfen, namhaft machen; und selbst wenn dies häufiger, als
> Vgl. I. B. Art. 2 iea Parieer Vertrags (vom 14. Märe 1884] zum
SoblttEe der imti^rHeeiaubcn Tctegraphenkab«! IMiirteiiN, N.ILG., t, 11,
t XI, 8. 283): „La riipture ou la d^tärioration d'iin cäble — »ouamarin —
mI jnitiisMbU. Cett« dUposition nv a'applique pas aux ruptureB oq
ÜtirioratioiiB do&t les ttuteurB u'auraient eu qae le bnt l^itime de
proliger lear vte ou la a^caritä de leur» bätimeiits, apr^i avoir priii iDutea
Im prfcautioUH pour ^viter ces ruptiire» nu d^teriorations." Einen ireitereii
rechl iDtereHHNDtüu Fall (bei dem der tecbnieche Notstaadsbegriff xu dem
einer Art Notbilfe erweitert auftritt — bez. diesen Begriff« eu vgl. n. a.
E&atier, Ober den strafrecbtlicLen Notstand und die Grenzen dar Selbst-
bille ameh UeiuljuU-alrecbt, 1902, S. IT) gewährt die BeiidnunujBg des
. dmtMh-tiiederländiaeheD Vertrag» vom 11. DisKember 1873, daß Äreten
Lder GrenBgenjeiudea bei drohender TodeHgefahr anuh im Nat^hbar-
EMaat die (somit verbotene) Verabfulgung von Medikamenlen gestattet ist.
■ * üf. ArL 23 des auf der Haager FriedenakonfereaE angenommenen
I K^Bment ooncemant les lois et coutiimes de la guerre lur terre: .,t)ul7e
Im probibition» ätalilies pour des conventionn cpäciales, il e
(Uerdil: — g., de d^trulre ou de saiair des proprift^i enu
3 n^cei
ildti de la
SluU- u
olitl. ,
■Hin.
- SdiDiiJI.
10
146
VI 1. '
es wirklich zutrifft, der Fall wäre, würde bis zum strikten
Beweise des Gegenteils jedenfalls immer noch die Regel
Platz zu greifen haben, daß gerade die ausdrLickliclie An-
erkennung, die einem Qrundsatz für bestimmte Spezial-
beziehungen beigelegt wird, weit eher gegen die Absicht J
seiner unbeschränkten und generellen Sanktionierung (
spricht ala für sie'.
Demgemäß würde man von vornherein in der Haupt- j
sache darauf angewiesen sein, durch Argumentation aus dei
gewobnheitsreciitlichen Praxis den Nachweis für die positive
Einführung eiuer allgemeinen internationalen Notstandsnorm
zu versuchen. Indes, wer diesen Weg einachlägt, für den
macht sich alsbald wieder die schon oben*, bei der Lehre
j AuBBinaiider-
' Itei dieser ßelegenlicil wird jiuMiend gleich «ach
^ i ätellung zu nehmen sein, die v, Liszt auf S. Wi! Beioea
VSIkerreclitB gibt. Nachdem derselbe nämlicb, S. 191, EuuöchBt bloß die
unbewiesene (vgl. üben S. I42f.] Behauptung angestellt hnt: „Uer strnf-
rechtliuh und privatrechtlich anerkiinnte Begriff den Notattmd«
BohlieBt auch für dns Gebiet de« VöllterrechtB die Bechtawidrigkeit der
begangenen Verletzung kub*', xählt er weiterhin nls „auf dem Begriff de«
Nutstanda berDfaend" nocb „eine lleihe vun allgctnetn anerkannten (?),
wenn auch meiBt nicht unter ihn gebrachten (SpeEial-lRechtagrundBätzen" auf.
Daraus h5nnte man »lienfalls schlieBeu wollen, daß indirekt überhaupt
das Prinzip aU solcbeiSi in und vermöge der Sanktionierung der letzteren,
nach V. Liest ala positiv anerkannt zu erachten sei. Index würde gi^en
eine solche Argumentation bei der doch inunerhin recht geringen Zahl
(bb Bind bloß vier] der von ihm namhaft gemachten Einzelnomien vor
allem natürlich der oben im Text formuliert« OrundBatz wieder mit Tollei
ächSrfe Bprecfaen ; anHerdem aber lieBe Eich wider sie auch noch ver-
achledenea andere ins Feld führen. Namentlich tväre darauf hinzuwüsen,
daB die Bngeiührten Fälle — der grSQere Teil TolUlJlndig, der BcBt
wenigstens partiell und nach hostimmteD Richtungen hin ~ dem apesi-
üscbou Eriegsrecht angeli5ren: ea maß aber nffenbor als raethodiBch
bedenklich gelten, aua einem anomalen, bloß ausnahmaweiEe unter den
Staaten herrBchendeu Rechts zuEtande Schlüsse iiuf da» normale Verhältnis
zwischen ihnen xu ziehen. Dazu komnil dann noch, daß der Euletlt
gt^ebcnc Fall, der der aogen. rel&che farc^e, gar niclit oder höchstens
sekundär, in den gegebenen Zusammenhang herein paßt, wie mir scheint;,
denn wenn ein (Staala- oder Privat-)Schiff bei Seenot einen freuidan, kri^»v
rechtlich blockierten oder aus sonut einem Grunde ihm verachloBseiiBlS
Hafen anlaufen darf, so handelt doch eigentlich kaum die HeimatmaohU
sondern bloß die Bemannung des Fahrzeugs in dringender Zwangalaj
d. h. es wird sfstematisch richtiger eine zugunsten von Individu
personell erlassene Notstandsbsstimmuug (und damit in gewissem Si
ein Seitenstück zu den S. 145. S, 1 genannten Fällen) anzunehmen a
' S. 139.
I
Vi 1.
147
vom Selbsterlialtungsrecht, kurz bertÜarte Tatsache eut-
scheidend bemerklich, daS eigeiitltch jedesmal, wenn eine
Macdit in dringender Zwangslage sich über irgendwelt;he
IntemationalpBicht hinweggeaetzt bat, die Gegenpartei teb-
ha.it dawider remonstriert, und es folglich zu der für die
[Entstehung praktisch -gültiger Völkerrechtsnormen sehleohter-
dings unentbehrlichen staatlichen Wüleneein igung regel-
mftßig nicht kommt. Damit iat nun auch die zweite und
letzte Möglichkeit geschwunden, mit der überhaupt die
Bildung solcher Normen positiv sich dartun läßt, und man
wird deshalb notgedrungen ganz darauf verziehten müssen,
in dem dermaligen Bestände rechtlich gesetzter und ge-
übter Völkerverkehrssätze etwas ähnliches wie die vou
einem Teil der Wissenschaft theoretisch gelehrte Notstands-
doktrin wiederzufinden.
Auch ist meines Erachtens nicht darauf zu rechnen,
riUS hierin jemals eine wesentliche Änderung eintreten wird,
lenn im letzten Einsatz und auf die extremste Möglichkeit
xogespitzt, würde die positive Anerkennung jener Norm
notwendig doch auch das gegenseitige Zugeständnis invol-
vieren müssen, in Fällen dringender Gefahr dürfe der eine
Staat sogar auf Kosten des gesamten politischen Bestands
des anderen sich helfen. Tiefer und schärfer erfaßt, die
Mächte müßten erat altruistisch genug denken, sich unter
Umstanden zu Gunsten eines Mitstaats die eigene Existenz-
berechtigung abzusprechen; sie müßten dii; Erklärung —
formell oder doch der Sache nach — über sich gewinnen, zu
sagen: „Ich gestehe dir d^s ausdrückliche Kecht zu, unter
Umständen mich selber umzubringen," resp.: „Eine derartige
Tat soll mir wenigstens als rechtlich unverboten, materiell
verseihlich und entschuldbar (oder wie sonst die Formel
gewählt werden mag) gelten," Einer Entwicklung nach
dieser Richtung hin steht aber ein für alb^mal die rein
egoistische Tendenz entgegen, auf Grund deren der gesamte
Völkerverkehr entstanden ist und permanent sich abspielt:
wenn die Staaten innerhalb desselben notorisch stets bloß
10*
148 VI 1.
Nutzen und Vorteil, Förderung ihrer spezifischen Einzel-
interessen suchen, so wird nie daran zu denken sein, daß
sie die Antastung ihres höchsten Interesses, des eigenen
Lebens je in irgend einer Form für erlaubt oder auch nur
diskutabel erklären sollten^. —
Durch die sämtlichen, vorstehend entwickelten Er-
wägungen kann jetzt wohl soviel als ausreichend festgestellt
gelten, dafi die Heranziehung des technisch-juristisch geord-
neten Notstand sinstituts für das Völkerrecht prinzipiell
verfehlt ist Ja es läßt sich aus ihnen im Grunde sogar
noch ein wesentlich weitergehender Schluß ziehen, nämlich
ganz allgemein folgern, daß überhaupt keine wie immer
geartete Konstruktion des uns hier beschäftigenden Problems
sich praktisch wirksam zu bewähren vermag, die, wie
es bei jenen tatsächlich zutrifft, für den tiefsten und ent-
scheidenden Nachweis ihrer Berechtigung lediglich auf das
Dartun einer seitens der Staaten selbst gemeinsam
gesetzten Regel angewiesen ist; einzig eine solche Theorie
darf von vornherein auf befriedigende Ergebnisse hoffen,
die von dem letzteren Requisit vollständig zu abstrahieren
in der Lage ist.
Das ist nun aber bei derjenigen Lehre wirklich der
Fall, die von uns seinerzeit aufgestellt wurde, und die jetzt
' Des Vergleichs wegen sei hier die Einflechtong einer rechts-
historischen Reminiszenz ans einem anderen Gebiet gestattet. Als
Beccaria sich 1764 entschieden gegen die Zulässigkeit der Todesstrafe
aussprach, war einer der Hauptgründe fu% seine Stellungnahme bekanntlich
der, „weil in dem Vertrag, worauf der Staat beruht, keiner eine Macht
gewollt haben kann, welche das Recht, ihn zu töten, einschlieBt^. Diese
Argumentation war, von allem anderen abg^ehen, schon um deswillen
falsch, weil der (auf realgeg^bene Naturtriebe basierte) Staat und mit ihm
sein Recht in Wahrheit gar nicht erst aus einer Vereiubarung von
Individuen hervorgegangen ist und also aus dieser, bei ihm nur &tiver
Weise angenommenen Entstehungsart auch keine Folgerungen bez. der
Grenzen seiner Betatigungsfahigkeit gezogen werden dürfen. Dagegen
paftt jener Gedankengang, sofern man ihn nur seiner spezifisch-krimina-
listischen Gewandung entkleidet, nach der tatsächlich gegebenen Lage
der Dinge recht gut auf das internationale Leben und das letzterem
eigentümliche Völkerrecht.
n 1.
149
I
Kontrastierung nochmals kurz und in ihren Hauptzügen
abersichtlich zusammengestellt werden mag,
Selbstv erstand lieh ist auch sie nicht imstande , ohne
jedwede Bezugnahme auf den real sich beffltigenden Willen
der Staaten auszukommen; das erscheint ja schon gegen-
stSndlich völlig ausgeschlossen, da doch die ganze Lehre
vom Verkehrsleben der Völker grundsätzlich mit nichts
anderem als eben mit staatlichen WiUensaktionen zu tun
hat. Demgemäß bilden solche auch für uns den ausschlieB-
lichen Gegenstand aller Ausführungen; wir knüpfen an die
historisch erfahrungsmäßig festatehende Tatsache an, daß
jedeatnal, wenn die getreuliche Erfüllung einer Völkerrechta-
pflicht den betreffendne Staat mit schwerer Gefährdung
«einer vitalen Existenzbedingungen bedi-oht, ihre Einhaltung
schlechterdings verweigert zu werden pflegt. Dabei handelt
«8 sich aber ftlr unsere Auffassung stets und durchweg bloß
um einseitig vorgenommene Einzelhandlungen; wir
behaupten nicht, daß die mit konstanter Gleichmäßigkeit
^ verfahrenden Subjekte selbst schon zur gemeinsamen (aus-
drücklich oder auch nur stillschweigend erklärten) Setzung
einer derartigen Regel gelangt wären •, Diejenige Ina tanz,
welche zur Statuierung dieser verschreitet, ist vielmehr eine
total andere: lediglich durch die völkersoziale Wissen-
schaft als solche wird sie vollzogen nach derselben
Methode und mit genau der nämlichen Berechtigung, wie
die Naturwissenschaft^ ihre rein empirischen Gedetze bloß
aus der Fülle regelmäßig übereinstimmender Einzelgescheh-
nisse herleitet.
Nach alledem ist als SchluSergebnIs jedenfalls dies fest-
■ Hieran ändort nichls dur Umstand, daB wir die partielle Nicht-
einbaltoDg aller VÖlltorreiJitsBätEe friiher (vgl. S. 116f., aowie 8. I20f.)
knnweg bIb dem „wahren und eigentlichen Willen" der Staaten eiit-
nrectiimd bezeichnet halten (s. aucb noch ti. 160 f.). Denn in onserem
Sume manifeatiert eich der letEtere eben ausachließlich in aolchen,
nin koolcreten Akten und Betätignngen, hat es dagegen in keiner Weise
Termoclit, sich in eine allgemeine, vereint geachaSeue und auage-
•prochene Norm umznaetRen.
■ C£ oben S. Uüf.
150 VI 1.
zuhalten, daß das Phänomen einer eigenartig- faktischen
Beschränkung, welches wir, den Wegen der üblichen Klausel-
lehre nachgehend, ursprünglich bloß in Anwendung auf die
eine Regel Pacta sunt servanda kennen gelernt haben,
überhaupt für das gesamte Völkerrecht unverändert wieder-
kehrt und bemerkbar ist. Bei jeder positiv - allgemein-
gültigen Norm des letzteren steht prinzipiell die Sache so,
daß eine wesensgleiche, d. h. selbst wieder juristische Ein-
engung ihrer Gültigkeit schlechterdings nicht stattgefunden
hat; deshalb können und müssen vom einseitigen Rechts-
standpunkt aus alle Verletzungen derselben, gleichviel
welche speziellen Umstände dabei vorliegen, zunächst nie
als etwas anderes wie konkrete Zuwiderhandlungen
charakterisiert werden. Indem dann aber die praktische
Beobachtung lehrt, daß solche unter bestimmten Voraus-
setzungen sich unbedingt und mit nie versagender Zuver-
lässigkeit einstellen, tritt in gewisser Weise, eben streng
tatsächlich genommen, dem ersten Satze trotzdem ein
zweiter beschränkend an die Seite: beide lassen sich, wie-
wohl nach Wesen und Beschaffenheit völlig von einander
verschieden, immerhin in dem Sinne synthetisch zu dem
Verhältnis von Regel- und Ausnahmenorm verknüpft denken,
weil die eine der anderen offenbar einen Teil ihrer
faktischen Wirksamkeit, ihres realen Geltungsbereiches*
entzieht.
Zum Schlüsse dieses ganzen § 12 nur noch einige
wenige Bemerkungen, die einen Gegenstand rein termino-
logischer Natur betreffen. Man könnte nämlich die Frage
aufwerfen, ob im Interesse einer knappen Bezeichnung des
soeben skizzierten Tatbestands, daß bei Konflikten mit dem
höchsten staatlichen Interesse, dem der Selbsterhaltung, kein
einziger Völkerrechtssatz praktische Befolgung und Durch-
führung zu finden pflegt, nicht dennoch Begriff und Aus-
druck eines internationalen Notstands zu empfehlen und
* Über die diesem beizulegende Bedeutung s. ausfuhrlich § 17.
151
Torteilbat't anzuwenden sei. In der Tat wird gegen die
analogische Verwertung desselben kaum etwas Stiel ili altiges
eingewandt werden können; liegt es doch auf der Hand,
dafi es grundsätzlich gleichartige SozialzustSnde und -be-
dllrfnisse sind, die einerseits das juristisch -geordnete Not-
stand sine ti tut der innerstaatlichen Kechtssyateme, anderseits
jene faktisch sich belStigende Eigentümlichkeit des Völker-
verkehralebens gezeitigt haben. Mit Rücksicht hierauf er-
scheint es keineswegs bedenklich und unangemessen, die
für das eine Mal allgemein gebräuchliche Benennung auch
auf den zweiten Fall prinzipiell anzuwenden, um so weniger,
als wir ja wissen, daß in bestimmt begrenzter Weise für
das innerstaatliche Kriminalreclit gleichfalls von einem rein
tatsächlichen Notstandsbegriff gesprochen werden kann
und wirklich gesprochen wird '. Freilich aber, aur Ver-
meidung weittragender Irrtümer und Mißverstflndnisse, muß
dabei eben unbedingt an dem von uns klar gelegten Sach-
rerhalt festgehalten werden, daß im Völkerrecht die letztere
Bedeutung, ganz anders wie bei jenem, die einzig mög-
liche geblieben ist, daß, wtlhrend dort im Laufe der Jahr-
hunderte aus dem faktischen Notstand allmühlich auch
ein irgendwie rechtlieh geordnetes Verhältnis heraus-
wachsen konnte, dieses hier durchaus und vollständig
mangelt; man muß sich wohl bewußt bleiben, daß, mit dem
innerstaatlich-juristischen Institut verglichen und in
Parallele gebracht, das von uns beobachtete Internulional-
phänomen — bei aller Übereinstimmung im materiellen
Grundgedanken ! — formell doch eine ganz selbatftndig
geartete, von jenem scharf differierende Bitdung darstellt.
> Vgl. obea S. 141.
Sechster Abschnitt.
Die Unznlängliclikeit des Moments der
„veränderten Umstände^^
§ 13.
Wir gelangen nunmehr zur Erörterung und kritischen
Prüfung desjenigen Elements der herrschenden Klausel-
theorie, dem diese recht eigentlich ihren technischen Namen
verdankt. Indem sie das internationale Vertragsrecht dahin
geordnet wissen will, daß beim Fortdauern von „rebus sie
stantibus^ alle Traktate prinzipiell gültig bleiben sollen,
setzt sie ihrer vertragsaufhebenden Wirkung selbst eine
festumschriebene Grenze: sie erklärt, unter keinen Um-
ständen dort Platz zu greifen, wo nicht irgendwelche Ver-
änderung der früheren Verhältnisse objektiv vorhanden
und nachweisbar ist.
Jedem, der eine etwas eingehendere Kenntnis von der
bunten Mannigfaltigkeit des praktischen Völkerverkehrs-
lebens besitzt, werden von vornherein einige Zweifel bei-
kommen müssen, ob diese Formulierung nicht auf ein viel
zu geringes Erfahrungsmaterial zugeschnitten und deshalb
die ganze Beschränkung recht willkürlicher Art ist. Es
sind nämlich offenbar die historisch gegebenen Tatbestände
gar nicht so selten, für welche die Heranziehung der clau-
sula rebus sie stantibus ihrem innersten (von uns bestimmt-
artig modifizierten) Grundgedanken nach durchaus passend
und geeignet erscheinen würde, bei denen aber das Dartun
-VI T.
153
I
von res mutatae auf erheblichste Schwierigkeiten stößt, wo
nicht geradezu anmöglich ist.
Um das näher zu illustrieren, wollen wir zunächst noch
einmal auf einen schon früher behandelten Fall, die ein-
seitige Einverleibung der Republik Krakau in Österreich,
EU rückgreifen. Wir haben seinerzeit' nur dasjenige Rechts-
Verhältnis ins Auge gefaBt, welches zwischen den drei
Oatmfichten Preußen, Rußland, Österreich einesteils und
Krakau selbst anderenteils stattfand, und haben dabei kon-
statiert, daß hier naturgemäß nicht so sehr eine Verletzung
des völkerrechtlichen Satzes Pacta sunt servanda, als die
einer von ihm prinzipiell verschiedenen Internationalnorm
anzunehmen ist. Wie jedoch damals bereits kurz ange-
deutet wurde, hat man wohl zu beachten, daß die Ange-
legenheit fttr die juristische Betrachtung auch noch eine
ganz andere Seite darbietet, insoweit nämlich, als die Be-
ziehungen Englands und Frankreichs zu der Sache in Frage
kommen.
A!s Mitunterzeichner der Wiener Kongreßakte waren
diese Mächte rechtlich zweifellos befugt, die Einhaltung
aller in ihr festgesetzten Bestimmungen und so u. a. auch
desjenigen Artikels zu verlangen, der die Bildung eines
besonderen Staates Krakau verfügt hatte. Zwar haben ihre
Qe^er den Versuch gemacht, ihnen die juristische Kom-
petenz hierzu abzustreiten, aber mit recht schwächUchen,
unzureichenden Grlinden : sie stellten nämlich fUr die Trag-
weite der W^iener Kongreßbeschlüsse eine eigenartige „Ein-
registrier ung8''-Theorie ' auf, derzufolge Angelegenheiten,
die zuvörderst durch einen Sondertraktat zwischen einzelnen
Staaten ° reguliert und erst nachträglich der allgemeinen
I ' Vgl. 8. 124, insbcH. Anm. 2.
I ' Am deutlichsten gelangt diese, von RuBland 40 Jabrs spiter iu
I der Bstumfrage unverinderl wieder iLn^enommeae (cf. oben 8. 52, N. 2)
Lehre Eam Ausdruck iu einer Metternich'dcben DepRucba vum
9. JiuUT 1847. Vgl. MsrteoB, N.R.6., X, 8. 128tf.
* Fflr den Krakaner Fsll fungiert aU solcher der riMi»ch-preuBlMh-
-=-i.._..g Vertrag »om 3. Maij21. April 1815.
154
VI 1.
Kongreßakte einverleibt worden waren, in letztere gewisser-
maßen bloß zur öffentlichen Kenntnisnahme, ohne öe-
Währung eigener vertragsmäßiger Rechte an die Mitunter-
zeichner, autgenommen sein sollten, und also auch jederzeit
von den ursprünglichen Kontrahenten einseitig abgeändert
werden durften. Selbstverständlich geht es an dieser Stelle '
nicht an, uns in eine ausflibrlicher gehaltene Widerlegung'
der ostmächtlichen Argumentation einzulassen; es sei daher
bloß das Eine in aller Kürze hervorgehoben, daß für die
Behauptung einer derartig abgeschwächten Wirkung in der
Kongreßakte selber irgend ein Anhaltspunkt nirgends zu
ünden ist. Überall aber, wo die Sache so liegt, wo in einem |
völkerrechtlichen Vertrag nicht klar und deutlich ges
wird, daß derselbe, ganz oder auch teilweise, bloß in einem
besonderen, von der üblichen Bedeutung durchaus al>-
weichenden Sinne gemeint war, da muß auch „juaqu'k preuve
d'une Intention contraire des parttes" * unbedingt präsumiert
werden, daß aus der Gesamtheit seiner Beatimmungen für
alle Signatarmächte eigene Ansprüche und Rechte ent-
springen sollen; oder, speziell auf den hier zur Erörterung I
stehenden Fall angewandt, formal-juristisch waren England I
wie Frankreich nur zu sehr befugt, in der ohne ihre Zu-
stimmung erfolgten Aufhebung des Krakauer Freistaata
eine rechtswidrige Verletzung des 1815 mit ihnen abge-
achlosaenen Vertrags zu erblicken.
Allerdings aber auch nur formal -juristisch. Denn da |
die beiden Seiten des einen RechtsverhAltniases doch un-
möglich einer prinzipiell verschiedenartigen Beurteilung I
unterzogen werden dürfen, so muß die Rechtfertigung a
einem höheren, der spezifisch-juristischen Betrachtungsweise I
transzendenten Standpunkt, die wir frUher dem Verfahren [
der Ostmachte Krakau selbst gegenüber zuteil werden |
ließen, im Verhältnis zu den Kosignataren der Wiener Kon-
' Speziell in Anwenilung auf die Ualumsffaire gibt eine Bolcha 9
Ko]iu-Jac([uemyDB iu der Revue de droit inteniBtioniLl, XIX, S. Üff. f
* Boliii-Jauquemyiia, a. a. Ü., S. 43.
' VI 1. 155
greßakte nicht weniger eintreten; sobald einmal dort die
Verletzung dea strengen Völkerrechts als materiell begründet
und zulässig anerkannt ist, kann das Gleiche aucli der
Übertretung der Regel Pacta sunt servanda Bclilechterdings
nicht mehr versagt werden: d, h. wenn irgendwo, liegt
gerade hier ein Fall vor, auf den man auch die fiir das
spezielle Vertragsrecht ausgeprägte clausula rebus sie stan-
tibus mit vollstem Recht anzuwenden in der Lage ist'.
Ein Anhanger der tlhltchen und herrschenden Klausel-
lehre freilich müßte, ehe er das zugestehen dürfte, zuvor
eben noch die zu Beginn dieses Paragraphen formulierte
Frage aufwerfen und befriedigend beantworten können, er
müßte den Nachweis liefern, daß in der Zeit von 1815 bis
184(i eine fundamentale Veränderung in der politischen
Gesamtlage vor sich gegangen ist. Das ist aber eine Auf-
gabe, an der er, wenn er die .Sache logisch genau nimmt,
im gegebenen Falle rettungslos scheitern wird. Der aach-
lich entscheidende Punkt bestand ja, wie wir wissen, einzig
und allein darin, daß die Existenz des kleinen Freistaats
für die Nachbarmllchte eine permanente Bedrohung invol-
vierte und deshalb von ihnen im Interesse der Selbst-
erhaltung einlach nicht länger geduldet werden konnte.
Dieser Sachverhalt ist nun aber keineswegs uls das Resultat
einer erst später eingetretenen Entwicklung der Dinge
anzusehen; vielmehr stand die Sache gleich von Anfang an
80, daß „eine Republik Krakau unfehlbar der Herd einer
höchgefUhrlichen polnischen Propaganda werden mußte" '_
Anstatt also daß, wie die völkerrechtliche Doktrin generell
' TktKibhlicIi tinden sieb in dem auf diu KrHknuer Angelegen lieit be-
■Qfflichen Akleomsterial mebrfach Stellen vor, die eine gswiise Bein^ahme
auf jenA dcDtlioh erkennen laason (vgl. 7.. B. die Österreichische Depesche
vom \h. NoTember 1&46, Martens, a. a. O., S. 67: „Toute sitnatioa
peut Atre altSräedanasesfondementn. llenect ainsi de l'exiBteDce
de CraooTie'), wenngleich dieser Gesichtspunkt der vorhin zurückgewiesenen
Einregistrierungstheorie gegenüber verhiltnismäBig viel lu wenig kuj
lieltung kotniut.
' Treilechke, Deutsche Gesthichte im 19. Jahrhundert! (5. Aufl.J,
». 651,
156 VI 1.
verlangt, im Laufe der Jahre eine wirklich neue Konstella-
tion sich herausgebildet hätte, liegt in concreto die Sache
vielmehr so, daß bloß etwas Altes, objektiv längst Vor-
handenes zunächst latent geblieben, subjektiv übersehen und
verkannt worden ist und erst hinterher die zutreffende
Beurteilung fand.
Bei alledem soll ja nicht geleugnet werden, daß die
Krakauer Affaire auch gewisse Momente darbietet, in denen
man bei oberflächlicher Betrachtung immer noch die von
der Theorie geforderte objektive Veränderung der Dinge
zu erblicken vermöchte *. Es können aber auch Fälle vor-
kommen, bei denen von etwas derartigem nicht, selbst nicht
bei weitherzigster Auslegung der Sachlage, mehr die Rede
sein darf. Das läßt sich sehr instruktiv an einem Vor-
kommnis aus der deutschen Kaisergeschichte demonstrieren,
welches auf Grund der üblichen schablonenhaften, nicht
sachgemäß rektifizierten Klausellehre tatsächlich schon einer
recht schiefen und ungerechten Kritik unterworfen worden
ist, und das ich deshalb auch hier kurz mitbesprechen
möchte, wiewohl es sich dabei nach Lage der Dinge nicht
eigentlich um ein technisch - völkerrechtliches Geschehnis
handelt
Ich meine den Fall, welchen Pfaff auf S. 28 seiner
wiederholt bereits zitierten Schrift* erörtert. Derselbe be-
schäftigt sich dort mit der Form, die die Klausellehre
seinerzeit bei Leyser angenommen hat, und führt als
dessen lileinung u. a. folgendes an: „Man habe mit ihr
Mißbrauch getrieben ; unverschämt oft sei sie der Vorwand
gewesen, hinter dem sich Wankelmut und Wortbruch ver-
bargen. So hätten auf Grund eines mit Heinrich VI.
geschlossenen Paktes die Fürsten seinen Sohn zum König
^ Z. B. in der Weise, daß man die erst seit dem Jahre 1830 ein-
setzenden offenen Insur^erongen der Nachbarg^biete nicht als bloBe
Symptome eines tieferliegenden Gmndübels, sondern als wahre, för sich
bestehende novae res aufiaßte.
« Vgl. S. 5, Anm. 2.
rvi 1.
I
^H gewAhlt und ihm Treue geschworeo, seien aber alabald uach
^H Heinriche Tod vod ihm abgelatlcD, und man habe dieBen
^B Vorgang durch die Berufung auf die Kkuael rechtfertigen
^H wollen. Nie aber sei diese Regel unglücklicher angewendet
worden, Allee, worauf sich die Füraten zur Beschönigung
ihres Abfalls beriefen, hätten sie vorausgewußt, insbesonders
• daß der von ihnen Gewilhlte ein in der Wiege liegendes
Kind war, und ebenso seien ihnen bekannt gewesen jene
novae res, quas circa llberam Germanorum electionem
imperatoris moliebalur pontifex."
Gegen diese ganze Art der Argumentation lassen
sich gewichtige Einwände geltend machen. Dabei mag
noch vollständig von der Frage abgesehen werden, ob eine
Bezugnahme auf das {technisch erst seit der späteren
Cllossatorenzeit auftauchende) Institut der clausula nach
der Gedankenwelt jener Epoche überhaupt möglich war
und praktisch vorkommen konnte'; es ist das ein ver-
hältnismäßig nebensächlicher Punkt, der hier um so eher
unerörtert bleiben darf, als aus den Leyaer'schen Worten
selbst nicht mit voller Sicherheit zu entnehmen ist, ob unter
denjenigen, ,die den Vorgang durch die Berufung auf die
Klausel rechtfertigen wollten", die deutschen Fürsten in
Person oder nur spätere Verteidiger ihres Verhaltens ver-
standen werden sollen. Wogegen aber mit aller Entschieden-
heit protestiert werden muß, das ist die Behauptung, die
ersteren hätten alles Wesentliche von der nachmals er-
tblgenden geschichtlichen Entwicklung „vorausgewußt" :
woher sollte es ihnen denn bekannt sein, daß Heinrich VI.
so unerwartet früh sterben würde? Gerade dies ist
aber hier dasjenige Moment, auf welches alles ankommt.
' Soviel mir t^kHimt ist, waren es, dem ganzen Zeilchnrakter ent-
■prechend, weit nndere Gesichtspunkte, die fBr die Zuliniigkeit einer neuen
W»bl geltend gemacht wurden, insbe«oiidere das Bedenken, ob ein Eid,
il^r einem noch gar nicht gelauften Kinde geschworen Hei (und
ein ■olehcs war damaln der Bpster« Kaiser Friedrich n. noch) über-
haupt Verbindlichkeit beaitie.
158 < « VI 1.
Als die Fürsten Ende I19l3, auf dem Reichslage zu Frank-
furt, dem Drängen des Kaisers nachkameu und sein nicht
lange vorher geborenes Söhni-hen zum Nachfolger wählten,
da stand Jener in der Blüte seiner Jahre; mensehlicher
Berechnung nach war gewiß anzunehmen, daß ihm noeh ein
langes Leben beschieden suin wlirde, und man durfte des-
halb auch zuversichtlich darauf hoffen, daß mit dem zum
König gewählten Kinde vor der wirklichen Thronbesteigung
noch eine wesentliche Umwandlung, das Heranwachsen
zum Jünglings- oder Manneaalter, vor sich gehen würde. Statt
dessen trat aber, schon ehe ea in dieser oder irgendwelcher
sonstigen Beziehung auch nur zur geringsten Änderung hatte
kommen können, bereits wenige Monate nach vollzogener
Wahl, der für Deutschland so verhängnisvolle Tod Hein-
richs VI. ein, und es hätte also nunmehr eine langwierige
Zeit der Regentschaft vergehen müssen, bis endlich das
nominelle Reichsoberhaupt auch tatsächlich die Funktionen
seiner Stellung wahrnehmen konnte. Die Erfahrungen jedoch,
die man bei früheren Gelegenheilen (insbes. Heinrich IV,)
mit einer auf viele Jahre sich erstreckenden Reichsver-
wesung gemacht hatte, erschienen sicherlich nicht gerade
als verlockend, und ganz besonders die stürmische Zeit
gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts mit ihren mannig-
faltigen weltlichen und kirchlichen Wirren war wohl fUr
die Wiederholung eines derartigen Experiments am aller-
wenigsten geeignet. Mit Hinblick hierauf hat man im vollen
(legensatz zu Leyser auzuerkennen, daß die deutschen
Fürsten damals ihren formellen Treubruch materiell mit
guten Gründen zu entschuldigen vermochten: die Wohlfahrt
des Reiches, auf die es vor allem ankam, wurde tatsächlich
schwer gefährdet, wenn sein König ein zweijähriges Kind
war, und vor dieser Erwägung mußte die Rücksicht auf
frühere, unter andereu Voraussetzungen undE
Wartungen abgegebene Zusagen notwendig zurücktreten.
Nur bei einer solchen Auffassung der Dinge läßt sich den
Motiven der beteiligten Personen vollständig gerecht werden,
1
VI 1.
159
■nd nur sie vermag es auch zu erklären, warum gerade die
treuesten Ghibellinen, darunter Heinrich dem Sechsten per-
Bßnlich nahestehende Männer wie sein ehemaliger Erzieher
und Waffenmeister, der Reichsmarschall Heinrich von Kalden,
die Königswahl des persönlich lange widerstrebenden Philipp
von Schwaben entweder von sich aus direkt verlangten oder
doch aofiirt acceptierten. —
Ea versteht sich von selbst, daß das zuletzt gebrauchte
Beispiel, weit nicht dem spezifiadien Völkerrecht angehörend,
für unsere Zwecke keine unmittelbar beweisende Kraft in
Anspruch nehmen darf. Um so mehr ist das aber indirekt
der Fall; wird doch zum mindesten die Möglichkeit kaum
sich bestreiten lassen, daß auf diesem Rechtsgebiet, bei den
internationalen Verkehrsbeziehungen, gleichfalls Konstella-
tionen eintreten können, die jenem durchaus analog sind
und mithin vollständig nach seinem Vorbild beurteilt werden
müssen'. In diesem Sinne erscheint es nicht unzulässig,
auch aus dem zweiten Falle, genau so gut wie aus der
früher erörterten Krakauer AfFaire, Jetzt die entsprechenden
Schlußfolgerungen zu ziehen: beide zusammen
lern Jedenfalls genügendes Material, um die Revisions-
• Zur Illustration diene ein mögliehsl einfitch iiiid fiberaiiihtlioh ge-
wtUtea Beispiel. In frflhcreii Zeilen bildete elneu recht büuügeii Gegen-
stand Ton Traktaten zwiaohen HuuverüBDii Staaten die Zuange, dsQ einer
dem kndern ein Ijeatimmtes Quantum von Getrpide oder sonstigen Leliens-
mitleln g6gea Entgelt tu l>BseLBffen habe (ich erianere u. h. an die von
der Repablik Genua regelmäßig abgeguhlosaenen S8lxliererungsvcrtr£ge ;
et. Siereking, Genueser Finannweseii, I, 1898, S. 94f.). Wenn nun
der Tenprechendo urgprQnglicb einen, seinen eigenen Bedarfaberstuigenden
Torrat tatiichiich zur Verrägung gebebt, hinterher über den Cherfluß durcli
irgeDdwelcbe Umetfiude eingebaut hatte, ao waren hier offenbar wirkliche
na mutatae und damit der typiiche Sdiulfall fBr die Anwendhnrkeit
der daiunlB rebus sie stantibus gegeben. Wenn dngegBn ein entsprechender
Teitrag von einem Stnate eingegangen wurde, der momentan gar kein
UwrKliQsnges Getreide besaß, wohl aber solches spAter mit voller Sicher-
bcät *Q erlangen hoffen durfte, und wenn dann die letztere AoHsicht wider
lÜM Erwarten fehtgesch lagen war, ho lag hier, an Slelle der vorhin be-
ohaebteten mutntio, nur ganz der gleiche tataächliche Zustand noch wie
Mlier vor, und doch hat mit Rücksicht auf die ntaatlicbe Beibsterholtung
die Hichtliererung in dem zweiten falle sicherltrh ^rnde so als ent-
1 materiell gerechtfertigt ru gelten wie in dem cnlen.
160
VI 1
bedUrftigkeit der bisherigen Fassung der Klausellehre übei
zeugend darziitun.
Die Bich aus ihnen ergebenden Konsequenzen sindfl
offenbar folgende. Es bedeutet eine viel zu enge Auffassung <
des zur Behandlung stehenden Problems, wenn lediglich
der Veränderung der (zur Zeit des Traktatsabschluaaes
vorhandenen) Umstände eine vertragsaufhebende Kraft
zugeschrieben wird. An und für sieh vermag über-
haupt keine wie immer geartete objektive Gestaltung
der Dinge ohne weiteres Einfluß auf den Bestand oder
Nichtbestand eines menschlichen Willensaktes zu üben^J
vielmehr wird das erst dadurch möglich, daß sie subjektirfl
zur Voraussetzung gemacht, das Geschäft von ihr
scheidend, wiewohl vielleicht nicht klar bewußt, intern ab-
hängig gemacht ist. Da wird es nun zunächst in der T*l
überaus häutig vorkommen, daß eine stillschweigende Bs-1
zugnahme auf die Fortexistenz der wesentlichen, dermals
vorhandenen äußeren Verhältnisse stattfand. Daneben aber
kann man auch auf Fälle stoßen, bei denen (vgl. die Ange-
legenheit Krakau) nicht so sehr auf die Dauer der letzteren
wie darauf abgestellt ist, daß die innere Beurteilung,
die man ihnen seinerzeit zuteil werden ließ, unverändert —
dieselbe bleiben darf. Und weiterhin drängen sich wiedefg
abweichend gestaltete Erscheinungen nach der Rieht unf
hin auf, daß (Königawahl Friedrichs II.) manchmal das dei
Fortbestand des rechtsgeschäftlichen Willensaktes tangierendu
Moment überhaupt nicht mehr in irgend einer {sei es nai
äußeren oder inneren) Veränderung, sondern gerade dari^
besteht, daß eine solche wider alles Verhoffen nicht eln^]
getreten ist, vielmehr genau der ursprünglich gegebeof
Status auch jetzt noch anhält.
Diese sämtlichen Fälle, die auf den ersten Blick i
mannigfach von einander differieren, stimmen unverkennbi
in dem einen Punkte durchaus liberein, daß es bei
im Grunde darauf ankommt, dem „wahren und eigentlichen
Willen" der Parteien wider den ausgesprochenen zur Geltung
'VI 1.
161
Bu verhelfen': überall ist ein rechtsgeschäftlicher Akt zu-
\ etande gekommen, der nicht gewollt worden wäre, wenn
» der Betreffende hätte vorauasehen können, daß die in ihm
"vorhandene Vorstellung vom Verlauf der Dinge und die
nachmalige wirkliche Entwicklung sich in wesentlichen
Elementen nicht decken würden. Mit anderen Worten, es
ist eben ein rein subjektives Kriterium, welches in
den von uns kurz skizzierten FJllIen g!eichmil6ig den Aus-
uchlag gibt, und auf das überhaupt, Liernneh zu schließen,
Jie gesamte Klausellehre entscheidend zurückgeführt werden
muß. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Wendung die
von der völkerrechtlichen Theorie regelmRßig gewandelten
Bahnen beträchtlich und nach den verschiedensten Richtungen
hin' überschritten werden. Indes ein solches Hinausgreifen
über sie erscheint als gar nicht zu vermeidende Notwendig-
keit; denn nur, wenn jenes subjektive Moment^ und zwar
in allgemeinster Fassung* — zugrunde gelegt wird, kann
maa dem internationalen KKiuselproblem wahrhaft er-
. ichfipfend und vollbefriedigend gerecht werden; namentlich
■iTermag erst dann dem von der herrschenden Lehre allzu
■CJnseltig bevorzugten Falle, dem Eintritt nichterwarteter
'Veränderungen, ebenbürtig seine vollständige Um-
kehrung, d. h. der Nichteintritt erwarteter Ver-
Xnderungen, an die Seite zu treten*.
I ' Vgl. hierzu oben 8. 117, Anm. L
L * Die vorhin erfolgte Nennung^ vou Ein««lJ311en bcAUBpriic:ht iturch-
üi nicht, voUstündig tu sein.
* Etwa DHch dem Muster der Formuliening, die für doa Privatrecht
wn Bekker aufgestellt worden ist; rf. Pandekten, II (1889), S. a67;
„Voraouetiiuigen' eiuengeeiJiHflIiehen Willvoa baiBea wir dasjenig« Denheo
■Üd Meinen des Wullendon bezQglieh auf das waa ist und ans wiu geschehen
Jat (.annebmen'), sowie aaf das waa iat und du« waa eescheheu wird (,er>-
i*n% ohne welch«« er diesen Willen nicht gefaßt haben wQrde. Älao
ibt die falsche Voraoasetzung auch einen gefSIschtea Willen."
' Speiiell der letztere Fall würde eine belräehtlich eingehendere
IJang verdienen, ata sie ihm hier naeh Lage der Dinge luteil werden
Uiuu BeBDoderi wichtig und deihalb sueh an dieser Stelle wenigstens
kan SU erwiUinen ist der Umslaad, daß der Zeitpuekt, bis tu welchem
■Bf die aar wesentlichen Vorausietunng erhobene Änderung gewartet
werden moB, durch die obwaltenden UmslAnde meist Kiemlicb strliHrf be-
BrrtM.-lii.l. AbhimU, VI I. — Schmirit. 11
^^Ut (,ani
^Krurtcn')
^Rriuuidl
§ 14.
Im Anschlufi an die zuletzt gegebenen AusfUhrungea
mag noch auf eine spezielle Frago kurz eingegangen werden, '
eine Frage, die nach der gewöhnlichen Formulierung der
Klauaellehre mit diesor scheinbar nichts zu schaffen hat,
die sich aber für una, in dem vorstehend veränderten und I
erweiterten Sinne derselben, aufs engste damit verknüpft
erweist.
Zwei eigentümliche Endigungsgr linde sind es, die von ]
der völkerrechtlichen Doktrin fast übereinstimmend flir das
internationale Vertragarecht in Anspruch genommen und
als besondere Singularitäten des letzteren ausgegeben zu
werden pflegen: das ist einmal die uns hier grundsätzlich
beschättigende „wesentliche Veränderung der Umstände",
außerdem aber noch die „Nichterfüllung des Über
kommens von seiten der einen Vertragspartei" ', Beide
werden regelmäßig als völlig selbständige, isoÜert nebt
einander stehende Dinge behandelt, dergestalt daß zwischen
stimmt wird, dei^est<, daß jede frühere DerufiiDg auf den Nlchteintritt 1
jener nls uDEolHüsig erscheint. Wir geben auch dnfilr wieder ein historischBi^ i
BeiBpiel. Im Jahre 172t wurde, banptiiächlich auf Betreiben des Regenten 1
Philipp van Orleans, ein apanisch -französischer Traktat des InhAlta al>- 1
geschlossen, daB König Ludwig XV. die damals erat drei Jahre liblenda f
luOuitin Marin Anna Viktoria heiraten solle. Indes bereitn 1725 sagte
man sich in Frankreich tou dem Vertrage einseitig loa, und zwar mit
der ausBch ließ liehen Motivierung, dall das Staats inte resse gebieleriach die
mSglichat rasche FortpQanzung des kGuigliclien Mannsstamins erheische,
eine aolche aber noch in weite Feme rücke, wenn man auf Kealisiening
der apauischeu Heirat warten wolle {cf. Gauthier-Villars, Le mariave
de Louia X.V d'apria des documentfl nouveaui [Paria 1900], S. 26, ^,
SS, 8ä, 93 nnd Öfter). Dieser Versuch einer materiellen Hechtfertigung
des formellen Vertragsbruchs war jedoch insofern zweifellos mit einem
bedenklichen Mangel behaftet, weil der geltend gemachte Sachverhalt doch
absolut nichts Unvorh ergesehen ea enthielt; vielmehr mnßte man gleich
anfangs, als die kleine Prinzessin in Paris ihren Eining hielt „assiae
aur les genoux de «a gouvemnnte, en tenant sa poup^e (Qanthier-
Villars, a.a.O.. 8. 9), genau wissen, daB die „erwartete Veränderung*,
d. i. das Heranreifen sur wirklichen Vollzieh hark eil dor Ehe erat be-
iletltend npäter wie 1735 gegeben «ein würde.
■ Vgl. Ulimann, Völkerrecht, 8. 175, Jellinek. BecbtUchaJ
N«tur der Staatenvertrige, S. 62'S4 u. a. m.
1 1. Ili3
ibnan venneintlifh kein Zusaiiimeuhang; obwalten soll. In
Wahrheit ist aber ein solcher sehr woIjI vorhanden; die
zwei Ffille lassen sich recht gut untftr einen gemeinsamen
obersten Gesichtspunkt bringen, wobei die Art, wie das zu
geschehen hat, nach dem vorausgegangenen kaum noch
irgend welche Schwierigkeit bereiten kann.
Wir haben in § 13 geseben, daß dem Eintritt nicht
•erwarteter Veränderungen der Nichteintritt erwarteter Ver-
Ibiderungen gleichwertig ist. Nun liegt es aber auf der
Hand, daß der Traktatabruch ungezwungen als bloßer
Spezialfall der letzteren Ocstaltung aufgefaßt werden darf.
Denn die erste und nächstliegende „Veränderung" gegen
den derzeitigen Stand der Dinge, die vernünftigerweiae bei
em Vertrag von den Parteien envartet werden muß, ist
h offenbar die, daß der Gegen kontrahent die von ihm
ibemommene Leistung auch wii-klioh ausfuhrt; der eine
ie der andere Teil hofft, in den wirkliehen Genuß eines
jetzt entbehrten, nunmehr aber ihm versprochenen
Interessenguts einzutreten, und gibt lediglich unter dieser
•tillschweigenden Voraussetzung seine eigene Zusage ab'.
Danach liegt, wenn von der einen Seite der Vertrag ge-
brochen, die Ausführung der in Aussicht gestellten Leistung
verweigert wird, für den zweiten Paziszenten, gana nach
dem iß § V-i allgemein entwickelten Schema, die Sache so,
daß derjenige Tatbestand, den er subjektiv erwartete und
nach Lage der Dinge erwarten durfte, objektiv nicht ein-
getreten ist; mit anderen Worten, die Erfüllung des an
' Znm minde«teD gilt das Huaiuihinsloa von den (weitaun die M«hr-
uM Uldenden) Fällen, bei denen die gegenseitig« Verbindlich keil auf eiu
poritivea Tun gerichtet iai, Von den (viel neltener vorkommeuden) Ver-
pfliebtuiigen auf ein «pesiliBdieR Uuterlaseen ist balJ, je dilcIi den
nlhereo Umaländcn, dun nnmliche lU behaupten, bald kommt wieder mehr
dar Ouaichtapankt des „Einlrilts nithterwarleter Veränderungen" in Be-
tracht Ein geniioerea Eingeben auf diese Fragen int liier unmdglich.
* Vgl. die auf S. 72 der Pfaffschen Schrift über die Klausel (oben
H. 6, Anm. 2) Eitierte ÄuBemng Bchmitthenners: „Indem ich die
Lelstnng unternehme, Ine ich dies natürlich nur unter der Vorauasetaung.
daB die Oegenleistung erfolgen irerde."
11»
li>4
VI 1.
seinem Teile Versprochenen und streng juristisch auch jetzt
noch Geschuldetoo steht unter den angenommenen Verhiilt-
nissen abermals in Widerspruch zu seinem wahren und
eigentlichen Willen und braucht deshalb in Durch-
brechung des formellen Rechts von ihm ebenfalls nicht mehr
präatiert zu werden.
Wäre dies, und nicht mehr als dies, der Sinn der von
der herrschenden Theorie behaupteten vertragsauf hebenden
Kraft des Traktatebruchs, so wUrde man sich mit ihr,
wenigstens im Resultat, durchaus einverstanden erklären
dürfen. In Wirklichkeit jedoch begnUgt sie sieb keineswega
mit einem qualitativ so eng begrenzten Ergebnis, sondern
sucht weit mehr zu erreichen; damit gerät sie aber auf
einen Abweg, wie jetzt gezeigt werden soll. Freilich kann
das letztere an dieser Stelle nicht mit der eigentlich erfor-
derlichen Ausführlichkeit geschehen, etwa in der Weise,
wie solche bei den völlig analoge Verhältniese behandelnden
Darlegungen unserer Abschnitte II ff. zur Anwendung gelangt
ist; vielmehr müssen wir uns hier mit bloßen Andeutungen
zufrieden geben und dürfen das auch, da ja das Ganze für
uns lediglich die Bedeutung eines Eickurses hat.
Es geht nämlich die Völker rechts wissenschaftliche
communis opinio ' ohne Zweifel dabin , daß die Regel,
durch Bruch eines internationalen Übereinkommens werde
auch der andere Vertragspartner seiner Obligation los
und ledig^, selbst wieder einen Teil des zwisuhen
Staaten gültigen technischen Rechts bilde. Um diese'
' Eiuzelne AuBUtlmeii von ihr kommen ftllerdings vor. So erwfthat
X. B. Martens-Bergbohm bei Aolxähluiig da juristiBCb wirkBuaett'
Endi^nngngrüiide für iDteinationato Vertrüge unseren Fell Qberlmapt nicht'
(cf. seiu Völkerrecht, l, S. 425 ff.)-, das gleiche gilt auch von " "
(Grandzüge des VSIkerrechts, 2. Aufl., S. 1460.
' Uesp,, mit einer kleinen Variante, er aei »aineraeits zur formellen'
liOBsagung von dem betr. Traktat befugt. Vel. hierzu u. &■ Gari
Institutionen des VSIkerrechts (2. Anfi.J, 8. 213: „Im GegensatE i
Privatrecht wird im velkerrecht der Vertragsbruch «um Eiidignngsgniud)
mindestens wird durch ihn der nicht Vertragsbrüchige Teil zum BSoktritt
berechtigt'', und die oben S. 19 f., 89 ff. benprochenen Lehre.
rvi 1.
IG5
L Auffassung' zu begründen, wird indeß nie etwas anderes
I iitigefiihrt wie allgemeine philosophisehpolitische Erwägungen
I darüber, daß und warum im internationalen Verkehr wegen
der besonderen Eigentümlichkeiten desselben ohne eine der-
artige Hilfe einfach nicht auszukommen sei*. Nun wird ja
sicherlich die praktische Unentbehrlichkeit der letzteren so
leicht von niemandem verkannt und geleugnet werden;
I Anderseits ist doch aber auch gar nicht in Abrede zu stellen,
I da6| wofern ihre Qualität als spezifisch -juristische Norm
I einzig und allein auf Material wie da« oben kurz charak-
I terisierte gestützt wird, reinstes Naturrecht das notwendige
[ Produkt sein wird. Soll das vermieden bleiben, soll die
I gegebene Erscheinung in dem einzigen Sinne, in dem heut-
L latage tiberhaupt noch von Recht die Rede sein darf, als
I solches dargetan werden, so muß man unbedingt zeigen
L können, daß sie durch gemeinsamen, entweder ausdrück-
kjiich oder stillschweigend erklärten Willen der Staaten
Die wieder eine DOtwendige Einzelbau sequenz des (^eDwürtig
a weit Tcrbreiteten GmndirrlumB darBteUt, daß jedes ReclitnByslem eine
ich selbBt ^nügende, der Eriränzung durch anders geartete Normen
EWeder fiihige nach bedArftigc Welt sei. Wir bnlien diesen Punkt schon
ittnlAl. bei ErSrtorung der dpeKiäsrbcn Klausellebre, benlhrt (cf. oben
J. 96) und werden auf ihn. wie dort (Anm. 5) bemerkt, noch allgemciDer
■«nräokk omman.
Ich verweise z. B. auf Nippoid, Der TSIkcrrecbtIicbo Vertrag
, S4ä: „Ein weiterer Onind, der zum Rücktritt vom Vertrnp; b(>-
Vreehti(;t — <^iu Grund, der ebenfaHs dem VQlkerrecht eit^ntSmlich
WSgt — ist Bruch des Vertrags von selten eines der Kontrabenten. —
riüM Bücktrittarecht verstebt sich velkcrrecbtlich wohl (!) doshnlb von
aelbit (!?]. weil bis Jetat die Staaten aaf rechtlichem Wege iu den
meiilcn räleo keine Erfiillung erlangen kSnnen, und ihnen also solchen-
ftlla neben dem Rücktritt nur der Weg der Selbslhilfe bffeu sl4;ht.'' Vgl.
ferner t. Liast, VSIkcrrecht (3. AuS.). 8. 17t!: „Nicblerfalluug des
Vertrags durch den einen der vertragschlieQ enden Teile berechtigt
dm andern cum Uficktritt von dem Vertrage. Die Recblfertigung (aber
Aueh die positiv -juristische Quelle?) dieses von den meisten Privat-
rechten abweichenden Satzes liegt darin, daß das Völkerrecht keinen
mleren Erfüllungsxwiuig als die Gewalt, in letzter Linie deu Kri^,
kennt, dem gegenüber der Rücktritt vom Vertrage für beide Teile das
kleinere Übel darstellt." Gnnz ähnlich auch Jellinek, a. a. O., S- 64,
aefftor-Oeffcken, Earopniscbes Vülkerreeht, 8. 216, Anm. 8, und
nodi Tiele andere.
166
VI 1.
selbst positiv eingeführt wurde. Und da nun die erste
Entstehungsart, die Statiilerung durch generellen Rechts-
setzungsvertrag, anerkanntermaßen nicht stattgefunden hat,
80 kommt hier praktisch, wie schon früher öfters, alles auf
den (von der Doktrin nicht einmal angetretenen) Nachweis
an, ob hinreichend zahlreiche Einzelfillle auftindbar sind,
bei denen unsere Regel in concreto stflndig zur Anwendung
gebracht und so gewohnheitsmHfiig schließlich zum Rechts- ,
aatz erlioben worden ist.
Tatsächlich stoßen wir denn auch in der völkerrecht-
lichen Praxis verhUltnismHßig gar nicht so selten (jedenfalls
häufiger als dies zugunsten der spezifischen Klauaellehre
zutrifft) auf Vorkommnisse, die daftir ein völlig geeignetes
Belegniaterial abzugeben scheinen'. Indes ganz abgesehen
davon, dafi von den Beispielen dieser Art durchaus nicht
sftmtliclie einer schärferen und eingehenderen Prüfung stand-
halten werden*, ao ist wohl zu beachten, daß in noch viel
zahlreicheren Fällen die (zur eventuellen Rechtsnormbildung
unerläßliche) Übereinstimmung beider Parteien voll-
ständig fehlt und somit immer wieder dem (hier und da
vielleicht wirklieh voihandenen) usus der contrarius usus ,
gegenübersteht. Ich darf für letzteres hier einen praktische»
Einzelbeleg anführen.
Am 19. September 1833 Bchloaaen das Herzogtum
Nassau und Prankreich mit einander einen Hnndelstraktat
ab, kraft dessen jenes versprach, für fünf Jahre keine ZoU-
erfaöhuog auf französische Weine und Seidenstoffe vorzu- |
nehmen, wogegen dieses sich zu einer Begünstigung der
I
I
* Ea int auuh leicht einiuacheit , ivRrnni ea na sulchvn präsumtiT
nicht mHtigelii kann: jcite Hiicht, die efn«n als drückende Posaol emp- I
fimdenen Vürtrag doloacr Weise bricht, wird Bieherlich nichla einwendeii, i
wenn diest-r daraufhin von dem GogPTik'Hitriihpnten überhaupt für anf-
|i;ehaben erklärt wird, denn sie en-Gieht damit im Grundp doch nur c'
wan aip (\\t Kiuh erstrebt und gewollt hat.
' Eb kommen d« analoge Erwägungen und Bedenken in t'rs^',
sie von uns in g 6, S. 01/62 angedeutet wt.rden sind.
Nassauischen Mineralwäaser verpflichtete '. Wiewohl nun
, der Vertrag beatimmungsgeinäß gleich in der nächsten
Session von den französischen Kammern hätte genehmigt
werden mtlasen, war die Vorlegung an diese im Drange
lebhafter parlanientariöcher Kampfe verabsäumt worden;
doch hatte Frankreich aachlich seiner Verbindlichkeit da-
durch völlig genügt, daß es zugunsten der Nassauischen
Mineralwässer eine königliche Ordonnanz erließ und gleich-
zeitig versprach, ftir diese Verordnung nachträglich die
(mit zweifelloser Sicherheit zu erwartende) Zustimmung der
Kammern einzuholen. Nichtsdestoweniger erklärte das
Herzogtum, für welches sich mittlerweile der Eintritt in
den preußischen Zollverein als eine unbedingte Notwendig-
I keit erwiesen hatte, den Traktat für gebrochen und folglich
, nicht mehr rec htabeständig. Es fand aber flir diese Art
der Beweisführung bei Frankreich keine Zustimmung; im
Gegenteil sprach ihm letzteres durch eine geharnischte
Erklärung im amtlichen Moniteur^ jede Befugnis zum Rück-
tritt ausdrücklich ab und erhob nunmehr seinerseits gegen
Nassau die Anklage dolos-rechtswidrigen „Vertragsbruchs",
der nur schlecht hinter einer „Spitzfindigkeit" versteckt
worden sei.
Eine derartige Auffassung des Verhältniasea hätte nicht
vertreten werden können, falls wirklich, wie die Theorie
gern glauben machen möchte, der Satz von der durch Ver-
letzung des Vertrags erfolgenden Aufhebung desselben in
Allgemein anerkannter und unangefochtener Gültigkeit
sttlnde; ist doch jedenfalls soviel sicher und wurde auch
l'gar nicht geleuj^et, daß ein gewisser Fonnalverstoß gegen
Leine Traktalspflicht tatsächlich vorgekommen war. Wohl
^war es ein recht nebensächlicher und materiell belangloser
' Nilherea iiher den Fall a. hei Trc-itachke, Deutsche Geschichte
1 19. Jsbrhitbriert, IW. IV, S, 3fl8 f. Den Vertragstait aelbst anaufuhren
kl l«ider nicht mfiKticfa, da en mir niclit gelungen iat, eineu TolUtändigcn
Äbdriick de» (n«ch TreitBChke aeincneit ängstlich gehcimge halte nea)
IVaktat« in die Hand au bekommen.
■ Cf. Treitschkc, «. a. O,. 8. 399.
168 \
Punkt, um den eis sich hier handelte. Indes es liegt auf
der Haod, daß, wenn einmal jene Norm ala rechtlich gültig
angenommen wird, jede Differenzierung zwischen den ver-
schiedenen Bestandteilen und Elementen eines International'
Vertrags schlechterdings unzulässig erscheint: der von
einzelnen Rechtslehrern nach der Richtung hin unternommene
Versuch, daß nur der Verletzung von wesentlichen, prin-
zipiellen, Hauptartikeln die traktatauflösende Kraft inno-
wohne, ist wegen der Vagheit und objektiven Unfaßbarkeit
dieser rein subjektiv- vernunftrechtlich postulierten Unter-
scheidung als gänzlich mißlungen zu bezeichnen'. Dem-
gen^ß wäre es unter der gemachten Voraussetzung auck
für Frankreich einfach unmöglich gewesen, der Nassauischi
Argumentation mit solcher Schroffheit und apodiktischen
Sicherheit zu widersprechen; da es aber in Wirklichkeit
doch in dieser Weise vorgegangen ist, so kommt darin eben
zu deutlichem Ausdruck, daß jene angebliche Rechtsnorm
keineswegs von sämtlichen Staaten gleichmäßig als gültig
und prinzipiell verbindlich behandelt wird,
Hiermit übereinstimmende Betrachtungen werden über-
haupt regelmäßig dort zu machen sein, wo die ursprüngliche
Verlragskontravention, analog dem hei der französisch-
nasaauisclien Angelegenheit zweifellos obwaltenden Tatbe-
stände, nicht aus bösem Willen, sondern aus bloßer Fahr-
lässigkeit hervorgegangen ist: jedesmal wenn ein Staat rein
versehentlich wider eine, wichtige oder unwichtige, Traktats-
bestimmung verstoßen hat, pSegt er sich begreiÖicher weise;
energisch dagegen zu sträuben, daß dies gleich zur Auf-
hebung des ganzen Vertrags ausgebeutet werden soll. Alle
derartigen Vorkommnisse sind nun aber offenbar ebenaa
viele Zeugnisse dafllr, daß unser, von der völkerrecbtv<{
wissenschaftlichen communis opinio schrankenlos und ii
weitestem Umfange behaupteter, Kechtssatz einer koH'
' Vgl. hie
, Lehrbuch des Völkerrechts, 2. Aufl^
PVI 1.
169
I
Stauten tatsächlichen Übung vollständig entbehrt und
deshalb gewohnheitsmäßig entstandene posttiT-juristische
Kraft in Wahrheit gar nicht besitzt.
Man wird auch rückhaltlos zugestehen mllsaen, daß
letzteres die den realen IJedürfnisaen des Völkerrechts einzig
entsprechende Ordnung des Verhältnisses darstellt, daß das
Gegenteil einen gesicherten internationalen Vertragaverkehr
aufs Schwerste gefährden würde. Um das darzutun, braucht
nur nochmals an die schon öfter erwähnte Tatsache er-
innert zu werden, daß das Völkerrecht jeder autoritär
fungierenden Richtergewalt durchaus ermangelt'. Daraus
folgt, daß der Satz: „Ein Traktat verliert seine Rechts^'er-
bindlichkeit, sobald er von der einen Partei verletzt wird"
praktisch wieder mit Notwendigkeit auf die bedenklich
subjektive Lehre hinauslaufen muß: „sobald er von der
einen Seite für verletzt gehalten wird". Unter diesen Um-
ständen wird man aber bald von den wenigsten Verträgen
mit voller Gewißheit sagen können, ob sie noch in Gültig-
keit sind oder nicht. Denn die große Mehrzahl derselben
ist keineswegs so klar und unmißverständlich gehalten, daß
;jiie die Parteien absolut nicht in verschiedenem Sinne zu
interpretieren vermöchten; vielmehr werden die letzteren
Auch bei vollster bona fidea immer und immer wieder zu
Weht differierenden Auslegungen einzelner Artikel gelangen
können und so überaus häutig Gelegenheit haben, den
Traktat als von dem Gegenkontrahenten verletzt zu erachten.
Ich will das Ganze durch AniUhrung eines praktischen
Falles anschaulicher zu machen suchen und wähle dazu
I4en bekannten, nach der Person der beiderseitigen Unter-
'IiAndler so bezeichneten Clajton - Bulwer- Vertrag vom
19. April 1850*. In Art. I deaaelben bestimmten, veranlaßt
durch den schon seit langer Zeit bestehenden Plan, den
Mexikanischen Meerbusen durch einen Schiffahrtakanal mit
' Vel. 8. 74 ff„ 87, 107, 137, auch unten 8. 186, Anm- 2,
* Abgedruckt bei Martc-ns, N.R.O. XIT, 8. 187 ff.
170 VI 1.
dem Stillen Ozean zu verbinden, England und die Vereinigten
Staaten von Nordamerika folgendes: „The Governments of
Great Britain and the United States hereby declare, that
neither the one nor the other will ever obtain or maintain
for itself any exclusive control ever the said ship-canal;
agreeing that neither will over erect or maintain any forti-
fications commanding the same, or in the vicinity there of,
or occupy or fortify or colonize or assume or exercise any
dominion over Nicaragua, Costa Rica, the Mosquito Coast
or any part of Central America — ". Bereits wenige Jahre
nach Unterzeichnung dieses Abkommens, schon 1854, ent-
standen tiber seine Tragweite unter den beteiligten Mächten
wesentliche Differenzen: Nordamerika behauptete, England
habe in Eonsequenz desselben die Pflicht gehabt, das von
ihm über die Mosquito-Indianer * ausgeübte Protektorat auf-
zugeben^, wogegen der andere Kontrahent die Existenz
einer solchen Verbindlichkeit aufs entschiedenste in Abrede
stellte.
Ich vermag mich nun in dieser Streitfrage keineswegs
der mehrfach geäußerten Meinung anzuschließen, nach
welcher von vornherein einzig und allein der letztere
Standpunkt haltbar erscheinen, dagegen die amerikanische
Deduktion jedweder Möglichkeit der Rechtfertigung aus
dem Vertrage entbehren soll; umgekehrt glaube ich aner-
kennen zu müssen, daß der Wortlaut desselben (mag auch
vielleicht die bri tisch erseits geäußerte Auffassung die objektiv
richtigere und begründetere gewesen sein) doch zu subjek-
tiven Zweifeln sehr gut Anlaß geben konnte. Sollten die
Kontrahenten nur keine neuen Besitzungen erwerben
(occupy, assume) oder überhaupt in der Nähe des zu er-
bauenden Kanals keine Herrschaft ausüben (exercise any
^ Das Territorium derselben bildet jetzt einen Bestandteil des Staates
Nicaragua.
^ Daneben wurden auch noch einige weitere Klagen erhoben, die
ich hier übergehe. Vgl. zu der ganzen Angelegenheit Martens, a. a. O.,
t5. 204 — 250, woselbst die zwischen beiden Rogiorungon gewechselten
Noten vollinhaltlich mitgeteilt sind.
TU.
171
I
dominion)? Muß nicht der ausdrückliche Vorbehalt, den
England zugunsten eines bestimmten, schon länger besessenen
Territoriums' machte, die Frage in dem letzteren Sinne
entscheiden, dergestalt da6 es außer dem speziell reservierten
Gebiet gar keine Hoheit mehr behalten sollte?* Dieses
auch zugestanden, involviert ein bloßes Protektorat „any
dominion"? Und wenn das wieder im allgemeinen wohl
Sil leugnen sein dürfte, muß ea nicht wenigstens in An-
wendung auf unzivilisierte Stämme wie die Mosquito-Indianer
unbedingt behauptet werden ? Das alles sind Punkte, über
die sich selbst unter Voraussetzung beiderseitiger Gut-
gläubigkeit immerhin streiten ließ, und die denn auch
wirklich in dem englisch- nordamerikanischen Schriften-
wechsel als wichtige AuslegungadifFerenzen ausgiebig erörtert
worden sind.
Übrigens ist die Art, wie die Auseinandersetzung beider
Parteien damals vor sieh gegangen ist, für uns auch noch
in anderer Hinsicht wie als Einzelbeleg für die ständig
unter Staaten sich ergebenden Interpretationsstreitigkeiten
recht instruktiv. Wiewohl nämlich die Vereinigten Staaten
den Traktat in einem einzelnen Punkte tatsächlich als ver-
letzt ansahen, und wiewohl diese behauptete Verletzung
ftier zweifellos einen Hauptartikel, ja recht eigentlich den
'Kern des ganzen Abkommens betraf, so waren sie doch
weit entfernt, ihn daraufhin ohne weiteres als hinfällig zu
behandeln; im Gegenteil suchten sie gerade auf Grund
desselben, aus dem noch als bestehend vorausgesetzten
Vertrag heraus die Verpflichtung zur Aufgabe des Mosquito-
iProtektorats zu aemonstrieren und so im Wege der ("reund-
' Britisch-HoDdnrBn. DbU auf dipses der Clayttm-Biil wer- Vertrug kninL-
Lnwendung xa finden Ltitic, wird in itlncr besonderen Erhlüriin^ vuni
1^ Juni 1850 durch GroQlirilannipn mit. NHchdnick bi'tont imit iinlerm
I^Jnli auch von der Uoion amirkanoi. Cf. Märten», h. h. O., (>. 192 ff.
* Vgl. die ArgumentÄtion der Vereinigten Siasteii, Marlcna, a. a.
i. 232; die Engtinder seien naeli dem Satze Exprecaio uilius i>at
lia allf.rius verpfiiclitet eowesen, „to with draw from all their otber
nilnd American posauRBions .
172
VI lA
schaftlichen Verständigung, durch Ausführungen mancherlMl
Art den Mitkontrahenten von der Richtigkeit dieser Auf'l
Fassung zu überzeugen'.
In dieser Weise pflegen überhaupt regelmäßig derartig» I
Angelegenheiten sich abzuspielen. Abgesehen von demf
, oliglpich mit dieser EvenluaÜtäl an nicht-
amtliclien Stellen araerikaniHcherseita oft genug gespielt wurde. Vielmehr
ist dor Clayton-Bulwer-Vertrag in Wirklietkeit niu durch rngelreohten
nintuug diasenans, duri^h den, Ende 1901 Kwischcn England and den
Vereinigten Staaten abgescbloasenea, (Eweiten) Hay-Paunceforc-Tr«kt«t
BD^eboben worden; erst seil diesem ist das eachlich sehr begreifliche
(schon von Goethe einmal nls durchaus gerechtfertigt bexeicbnele) Be-
atreben der letzleren, eich eine gewiBne VorKogskantrole über den pro-
jektierten Kanal xn aichem, international voll diiruli|;edruiignn und von
dem 1850 übemommenen vertraglicfaen Hindernis formell frei geworden.
Ausdrücklich herrorgehoben »ei noch, daß Norditnorika bei den spSteren
Verhandlungen mit GroBbrilanuien das Moment der angeblichen Traktato-
verletnung achlieHüch ganz fallen ließ, und dafür immer mehr deu Oesicfala-
pnnkt der Hpesiflsehen clausula rebus sie stantibns, der „vollständif; i _.
ftndertcD Umstftude" in den Vordergmnd rückte. Zwar ist derselbe aoel
schon 1854 hier und da gestreift wurden {cf. Härtens, a. s. 0>, 8
20B, 212, 233); doch ist eine schärfere Detonutw e[Bt nachmals eu
atatieren, besonders deutlich im Anfang der 80 er Jahre des 19. Jalll
hundert«, wo ein amerikanischer Staatsrnnun in einer amtlichen Note efM
ganz (itfeo als Leitgedanken aussprach: „The conditiong of 1882 are notl
those of 1650" (s. Wharton. International law U, S. 228. Auch dl»^
eigenen Bemerknagen von Wharton über diesen Ge^nstand nelunen ■
sehr entschieden auf die Klausel Bezug, wie n. a. aus der ÄuBcmng aof
S. 238 lierrorgeht^ „Stipulations in treaties based an a particular ntate
of fauts become inoperativc, when thesc facta are so Diateriolljr modiEod
that these stipulations connot be rightfully onfbrced"). Speziell fUr unsere
Zwecke recht beachtenswert erscheint bei diesen nenerea Vorgänj^n noch
Eweierlei. Einmal daß England auch diese Art der amerikanischen Beweii-
ßhrung in keiner Weise als durchschlagend anerkannte, und damit einen
neuen Beleg für den, von uns oben auf S. S4 statuierten allgemeinen ESr^
fahmngssntz lieferte, daß immer nur der verpflichtete, keineswegs aber
auch der berechtigte Partner etwas van einer praktischen Gültigkeit der
clausula rebus sie stantibus wissen will. Andererseits ist sehr charakteristisob,
daß auch die Union, wie zu Eingang dieser Note bereits kurz bemerkt,
dem britischen Protest gegenüber nie gewagt hat, auf Grund der rer-
änderten UmStande ofBziell die direkte Beohtsun Verbindlichkeit des Clayton-
Bulwei^ Vertrags »n behaupten, weshalb es z. B. auch aU irreführend und
ungenau zu bezeichnen ist, da& Holland in seinen 1898 erschieneneil
„Studies in international law" (cf. 8. 274} ohne jeden einschränkenden
Kommentar sagt: ,It will be remcmbered thal the United States in IBST ~
gave notico that, owing the chango of circumstonces , and espeuialty i
Oie development of their trade on the Pacific coast, they could not eoll'l
■ent to remain bonnd by the treaty."
VI 1.
173
großer Völkerkriseii ', die ohnehin rasuh zur Ent-
.•cheidung durch Waffengewalt hindrängen, stößt man relativ
nur buchst selten auf die Erscheinung, da6 ein Staat die
(wirkliche oder veimeintliche) Verletzung eines Traktats
Bofort mit der Erklärung beantwortet, er sehe denselben
deshalb für aufgeiflst an, Statt dessen zieht die betreffende
Macht gewöhnlich es vor, bei der Gegenpartei voretelllg zu
werden, ihr das Unzulässige und Rechtswidrige ihres Tuns
Dacbzu weisen, auch wohl von sich aus die Geneigtheit zu
gewissen Konzessionen, zu einer Revision des bisherigen
Zustande durchblicken zu lassen; kurz, sie legt ein Verhalten
an den Tag, welches deutlich zeigt, daß fQr sie trotz des
Traktatbruchs der Vertrag als solcher noch immer existent
geblieben ist und die Basis zu weiteren Verhandlungen
bildet. Es wird nun schwerlich zu bestreiten sein, daß
diese Tatsachen mit der üblichen kategorischen Lehre
, Einseitige Verletzung eines Vertrags hebt letzteren ganz
auf" nicht zum besten zusammenstimmen, sodaß also die
Untersuchung der völkerrechtlichen Praxis, die uns vorbin*
:Lon auf seiten des Traktatsbrechers selbst wichtiges, gegen
'die Ausbildung eines solchen Satzes sprechendes Material
geliefert hat, auch auf seiten der Gegenpartei zu einem
fthnltchen Resultat fuhrt. —
Das Sclil ußfazit, welches man aus alledem zu ziehen
hat, kann hiemach nicht zweifelhaft sein: wie schon mehr-
mals im Verlauf dieser Untersuchungen dUrfen wir auch hier
den Tatbestand konstatieren, daß die Doktrin vorschnell
id ohne die unbedingt nötige Durchforschung des realen
) Boi ibiiBU kommt as naturgcmgU bi-süuders leicht EU dem «chon
r einmal beobachteten (vgl. ^ 5 S. 5») Tatboatand, dall die Stub-a
I, nolchü voo der Dolitrin falscblicb lär ipezifisch-juri »tische MormcD
0 wprdeu , gpru für politische Zwecke als Argumentationnnittel
Recht interL-BHant ist in dieser Hinxicht beiapiciswoige die
■ohidite des läCÖer preuBisch-österreichiHchea Kriegs, insoweit als
1l auf die StelluDE;nahmc beider Parteien zur Gtuteioer Kouvention,
tooben BimdsBakte u. dergl. beliebt. Cf. Hahn, Zwei Jalire
h-Deutacber Politik, 8. 110. 119, 125.
.. oben 8. lös f.
174
VI 1/
Staaten Verkehrs etwas als formelle Reehteregel proklamiert
hat, was in Wirklichkeit diese Qualität nicht besitzt und
deshalb aus dem spezifisch -juristischen internationalen
Normensy fitem zu entfernen ist.
Nun ist es allerdings einleuchtend, daß es bei diesem
negativ-kritischen Ergebnis allein unmöglich sein Bewenden
haben kann. Wir haben selbst anerkannt', daß die Theorie,
indem sie einen derartigen Satz aufstellte, nur einem gar
nicht wegzuleugnenden praktischen Bedürfnis wiasensL-haft-
lieb Rechnung zu tragen suchte; wir dlirfen es daher auch
keinesfalls von uns ablehnen, die durch unsere Darlegungen
zweifellos entstandene Lücke nach Müi^lichkeit wieder aus-
zuflillen, in anderer und besserer Form für das Aufgegebene
Ersatz zu beschaffen. Auch in dieser Beziehung erscheint i
der von uns einzuschlagende Weg durch frdheres bereit! I
klar vorgezeichnet.
Zunächst haben wir, gleich bei Beginn dieses Para-
graphen, schon dargetan, daß es keineswegs dem wahren
und eigen tlichen Willen des Kontrahenten entsprechen >J
kann, einen Vertrag selbst dann noch einzuhalten, w
er von dem einen Partner unerfüllt gelassen wird. El-1
liegt aber auf der Hnnd, daß diese (als latent stets vor-J
banden supponiertej Schranke des ausgesprochene
nach außen rechtswirksam erklärten Willens notwendig I
^ wofern sie objektiv überhaupt existiert und von unalJ
nicht bloß irrtümlich aus der „Natur der Sache" subjektiT^B
deduziert wurde — in einer entsprechenden tatsächlichetfr
Behandlung der praktisch vorkommenden Einzelfalle i
tage treten wird; anders ausgedrückt, die von uns mit den!
Mitteln des abstrakten Rechts vergeblich gesuchte Korrektur-J
und Hilfsnorm vermag sich noch ohne und gegen davf
Recht, in Form eines rein faktisch sich betät igen d eil' J
Erfahrungssatzes als gegeben zu erweisen.
Demgemäß würde es an und für sich jetzt unbedingtj
■ T^. oben S. 1G5,
VI 1.
unsere DäcliBtliegende Autgabe ^ein müssen, eio derartiges
empirisches Material wirklich zu sammeln und sü das
Schlußresultat, welches wir, unsßrer gesamten Grund-
anschauung nach, hier wie überall von der verataiidea-
mäSigen Deduklion allein nimmermehr erwarten dUrfeii,
auf das sichere Fundament erfahriiDgsmäßig gefundener
[ndoktioDsreihen unterstützend aufzubauen. Indes mit
Rücksicht darauf, daß wir uns bei der ganzen Frage doch
auf einem bloßen Seitengebiet unseres Hauptthemas bewegen,
mag die (praktisch zwar unschwer zu bewerkstelligende,
aber auch der Gefahr ermüdender Eintönigkeit leicht anheim-
fallende) Durchführung dieser Aufgabe im einzelnen hier
unterbleiben, und es soll dafür nur das gesamte Er-
gebnis, das auf solchem Wege zu gewinnen ist, in aller Kürze
angegeben werden. Dasselbe lautet:
Unbekümmert um das formelle Völkerrecht, welches in
einem derartigen Falle einfach die grundlegende Norm Pacta,
sunt servanda fortbestehen, d, h. beide Parteien gleichmäßig
Weiler gebunden sein läßt, pflegen die Staaten, sobald Be-
Btimmangen eines Vertrags von dem einen Kontrahenten ver-
letzt werden, das Übereinkommen am letzten Ende auch ihrer-
Mits nicht mehr zu beachten und zur Realisierung zu bringen.
labei sind und bleiben die näheren Umstände, unter denen
geauhicht, regelmäßig so ijuaütiziert, daß von dieser fort-
Uufeaden Kette faktischer Ereignisse niemals eine, all-
mähiich sich anbahnende spezifisch -Juristische Korrektur
des bisherigen internatii.'nalen Normenbestands erhofft werden
darf'; außerdem ist noch wohl zu beachten, daß die eben
iOostatierte Erscheinung durchaus nicht unterschiedslos bei
iiige Form, in cler wenigstens nlwna ähuliclie» ertiin&l a
Mltl
^pas
ertrsgsinnBir
„ „ iMiKn
iipcnditrt wflrdi^, d. h. daß er, unbcschBaet
tati aU «olchen, jurinliüch bofogt entthittnc^, dio
t mrflokitihRlbm, äla von der andpren Partei dii^ Ongt^nlcintuiig
rt wird. Ich will jedoch dtTgleichen in kt^iner WcisD positiv tK-banptfii,
m tcdigtich nln nicht gans ■ung«scblos)>ene HSglichheJl xngeben.
Vemprochon« recht-
ier FortcxiBteni des
LBistung lo
176 VI 1.
sämtlichen Vertragsbrüchen, sondern nur bei einer ganz
bestimmten Gruppe derselben eintritt. Welcher Art wieder
die letztere ist, darüber läßt sich an dieser Stelle bloß so-
viel sagen, daß stets solche Punkte verletzt sein müssen,
um derentwillen die betreffende Macht den ganzen Traktat
recht eigentlich erst abgeschlossen hat, ohne die er also für
sie jeden realen Wert, jedes praktische Interesse überhaupt
gänzlich verliert.
Siebenter Abschnitt.
Bedingter Wert des Moments der „staatlichen
I "-'
W § 15.
^T Von den einzelnen Bestandteilen, die in ihrer Ver-
einigung das Gesamtbild der üblichen Theorie von der
völkerrechtlichen clausitla rebus sie stantibus ergeben, ist
nunmehr bereits die Mehrzahl kritisch untersucht und als
irrig befunden worden. Wir haben an erster Stelle nach-
zuweisen vermocht, daß die clausula durchaus nicht einen
spezifischen Rechtssatz, sondern eine ganz andersartige
Regel darstellt. Es ist ferner gezeigt worden, daß das,
entsprechend modifizierte, Grundprinzip der Klausel keines-
wegs bloß dem internationalen Vertrags recht eigentümlich
ist, vielmehr einen weit größeren, überhaupt das gesamte
Völkerrecht ergreifenden Herrschaftsbereich hat. Wir haben
endlich dargetan, daß eine wahrhaft erschitpfende Erfassung
des Problems nicht im Siune der herrschenden Lehre aus-
schließlich an das Moment der veränderten Umstände
KoIcnUpfen darf, sondern nach den verschiedensten Richtungen
ber dasselbe hinausgehen muß.
Wir schreiten jetzt zur Erörterung dea vierten von
ns zu besprechenden Punktes. Derselbe betrifft, wie wir
wiMen, die Frage, welcher Art und Beschaffenheit die Ver-
Knderung der „res sie stantee" dea näheren zu sein hat, wenn
178 VI 1.
sie zu einem hinlänglichen Anstofi für die Aufhebung des
ganzen Vertrags werden soll.
In dieser Beziehung haben wir (abgesehen von dem
eine ganz spezielle Frage behandelnden § 14) bisher durch-
weg an der Voraussetzung festgehalten, daß die Umgestaltung
der früheren Zustände, bezw., genauer und allgemeiner ge-
sprochen, die Diskrepanz zwischen der subjektiv erwarteten
und der objektiv eintretenden Entwicklung der Dinge eine
derartige ist, daß jetzt eine treuliche Erfüllung des Traktats
den betreffenden Staat geradezu gefährden, seine eigene
gesicherte Fortexistenz schwer bedrohen würde. Es ist nun
zu untersuchen, ob diese Beschränkung tatsächlich ganz
das richtige trifft oder aber zugunsten einer ausgedehnteren
Fassung aufgegeben werden muß.
Getreu der von uns überall befolgten Methode gehen
wir hier abermals von der Betrachtung tatsächlich-konkreter
Verhältnisse aus; und zwar empfiehlt sich in diesem Zu-
sammenhang als äußerst charakteristisches Beispiel ein Fall
aus der antiken Geschichte^.
^ Die Heranziehung auch dieser wird wohl insofern grundsatzlichem
Widerspruch begegnen, weil nach einer weit verbreiteten Meinung (zu
virl. beispielsweise die Ausfuhrungen von F. v. Märten s, Völkerrecht I,
lo83, S. 31 ff.) das Altertum ein eigentliches jus inter gentes gar nicht
gekannt haben und deshalb auch för spezifisch* yölkerr^^tliche Zwecke
kein prinzipiell brauchbares Material darbieten soll. Diese Ansicht ist
jedoch nicht als richtig anzuerkennen. Selbstverständlich kann ich nicht
daran denken, das hier im Vorbeigehen, sozusagen als Inzidentpunkt, mit
darsutun, und will daher an dieser Stelle bloft kurz auf den Uanptirrtum
hinweisen, der meines Erachtens das fehlerhafte Schlußresultat in erster
Linie verschnldet hat. Es legt nämlich die völkerrechtliche Doktrin,
mehr oder weniger bewußt aiä der Grundanschauung fußend, die das
Recht nicht als etwas der objektiv-realen Außenwelt Angehörendes, sondern
in letzter Instanz als etwas Subjektives, bloß Vorrostelltes , Intern-
Psychologisches betrachtet (vgl. hierzu unten § 17, S. ^16 £), regelmäßig
viel zu viel Gewicht darauf^ wie das gegenseitige Verhältnis versäiedener
Völker damals von einzelnen Individuen, insbesondere von den antiken
Philosophen und anderen Schriftstellern in abstracto beurteilt und auf-
gefaßt worden ist (cf. Martens, a. a. O., S. 32: Ablehnung des antiken
Völkerrechts „schon aus rein theoretischen Erwägungen — a priori" ;
S. 49, Anm. 13: „gesamte Weltauffassung der antiken Völker'').
Anstatt aber deduktiv aus beiläufig hingeworfenen, allgemein lautenden
Aussprüchen dieser (z. B. Aristoteles, Politik I, 4, 7; weitere Angaben
bei Martens, a. a. O. , S. 33) prinzipielle Schluißfolgerungen zu ziehen,
VI 1.
17fl
I
Derselbe ist der so wichtigen und Jnbaltreicben Periode
des dritten und vierten Jahrhunderts vor Christi Geburt
entnonimpn: Za einem nicht genau zu bestimmenden Zeit-
punkte, wahracheinlifh gegen 350', hatten nämlich Rom
und Tarent miteinander einen Vertrag des Inhalts ge-
schlossen, daß die tichiffe des ersteren nicht ilbi^r das
lakinisehe Vorgebirge hinaus^ das Meer befahren dürften*.
bitte man nucli hier wieder ulluii Anlaß gebebt, die »treug iuduktivi!
Uethode ear Anwondung xu brioguD. Die begriff] iclieD yorHussctzangen
der Bntsteliuiig iuteraatiaiialer Eeguln (eine Vielheit untibhängi^r Staaten ,
(Wischen denen eine gewiBse stiiiidige Beiiefaung und BeFühraug statt-
Bndet) waren jedenfalls,. schon im Vcrhültnis der Oriochen und Itömer zu
d«n „Barbaren", ^Bnn besonders aber innerhalb der so reich entwickelten
btllenisoben Staalauwelt. tatsäclilich vorhanden i wo aber dies der Knil
bt, da pSegt aii^h auch, unter dem Druck realer VerhAitniHse, zwischen
den beteiligen Mächten objektiv sehr rascb ein in wechselseitigem Bin-
TBiatindnis repilnüUig ^&blei Normnnujstem und damit eiu technische»
TBIkerrecbt su entwickeln, gleichviel ob man nun subjektiv die Sache
richtig erkennt und formuliert oder niclit Mit diesem notwondipen Vor-
behalt Tctalandeii, entbehrt auuh das Altertum keioe^wegs einea spezifischen
^utes, ja dasselbe muß, wie teils mit Hilfe der alten Gescbichts-
Mdireiber, teils und mehr noch an der Jlaod des uns erhaltenen Urknaden-
materiali siub Keigeu laßt, in einzelnen Partien sogar eiu sehr niugebildetes
Imd detailliertes gewesen sein. Eine sorgfältige Durchforschung beider
IjDelleii wfirde alsbald eil dem Ergebnisse ßhren. daS so maaehes, schein-
lur gaiu moderne interoatiooale Kechtsinstitut bereits ia jener Zeit einen
Torlsafer. ein iinverkennbares Seitenstück g:ehabt hat! ~ Als für nns
esiantes Kuriosum mSchte ich bei dieser Gelegenheit wenigstens das
dne erwähnen, daB selbst die Lehre von der eliuiula rebus sie stantibus
damal« nicht ganü uuvertreten geblieben ist; spricht sieb dach ein Antiker
Historiker (und zwar gerade derjenige, dem schon direkt nachgesagt
worden ist, er müsse theoretisch-vSlherrcchlliche, apfilcr leider verloren
gegangene, Schriften gekaunt und benutzt haben (cf. v. Ijcala, Bludieti
das PolfbioB I, S. I5öf.) einmal mit aller Klarheit dahin an», wenn hei
einem Vertrage (im gegebenen Falle einem Kriegsblind nis) die jetzigen
VarbklmiMe genau die nämlichen seien wie beim AbBchlusse desselben,
■o kabe mau bei dem Traktat ausinharren, wenn sie sich aber vollständig
IMindert bitten, lo dQrfe man sich die 8ache noch einmal von frischem
ll1b«i^«a(Pol7biDs iX, H. 87: Tr.0ra d' ijv tl fiit a/ioi tail ib
'■truäyuara vüv *iii xnü' u!k xanioÖ! fnoitiaüt liiv avfifiujflar. ititt
ttl /tffftv Kai T^f ifififf/tf nfQfnr rwr vnüxfifx/vmr. — li iT' ölo-
•jfl]pi3c ^Xlniaiai, 4titi •Slxaiöv ii>Ji xot rüir v/ing If attpatov flov-
• • — - 1 räv Ttit^ttktvoft^m/). Vgl. noob das Beispiel oben 8. 44.
t er. Mommscn, Rflmische Geschichte (7. Aufl.). I, ü. »91 und 4111.
* D. h. nicht östlich *on dem jetzigen Kap Nao i[i Calabrien (aacli
L ySiulenkap", Capo Colunne genannt),
■ Van antiken Kcbriftstellern erwähnt den Traktat gelegentlieh (bei
lernug der nHuhmaligdii , zum casus belli werdenden Ehreignisse)
180
VI^
Dieses Übercinkonimeii, das über der großen mittlerweile^
eingetretenen Umwälzung der poÜtiscben Oesamtlage viel-
leiclit etwas in Vergessenheit geraten sein mochte, sollte
dann 70 Jahre später die Ursache zu ernstesten Mißhellig-
keiten, ja im weiteren Verlauf zum Ausbruch des offenen
Kriegs zwischen den Kontrahenten werden. Denn als im
Jahre 283 eine kleine römische Flotte, die sich auf der
Fahrt nach den kurz vorher von ihrem Staate erworbenen
neuen Besitzungen am adriatischen Meer befand, in den
Hafen von Tarent eingelaufen war, wies in der Stadt ein
Demagog das leicht erregbare Volk darauf hin, daß dies
eine zweifellose Vertragswidrigkeit involviere, und reizte
die Massen hierdurch so sehr auf, daß sie einen plötzlichen
Angriff auf die Römer machten, fünf Schiffe derselben
wegnahmen und ihre Bemannung der Hinrichtung oder d^
Sklaverei überlieferten.
Will man in dem hier gegebenen Streitfälle nach Möglich-
keit beiden Parteien Gerechtigkeit widerfahren lassen, sa
muß zunächst rllckhaltslos anerkannt werden, daß die Römer;
da für jenen Vertrag ein spezifisch-rechtlich wirkender Auf-
hebungsgrund, insbesondere mutuus diasensus, sicher nicbl
vorlag, formal-juristisch jedenfalls im Unrecht waren'. El
ist aber weiterhin auch noch zuzugeben, daß für ihre Um«
fahrung der ytcm-tvia aA.qa ebenso der Versuch einer
materiellen Rechtfertigung, wenigstens in der bis jeferf
Appiaa mit den Worten (Samnit. 7); "Oii Ko^v^lioi iti xaiaifgäurttr
itxB vtmv tSiäro xiiii /tfyalij]r 'EiilniTir — ' — '- '"■-- -* '-
^iitd^Bpif — nalai<öv än/jf/irijaxe avt
ngoau .luxivlai äxgnq , nopofi
' Dnmit erledigeo sicli tür uns
(Bamische Oeachichte, I, S. 418, N. 16) in einer Polemik wider iii, mit
der hier vertretenen AufT&ssuDg durchaus übertinatiiiiinendeii, Darleganna
Mommsens die entrüstete if>age safWirft, ob clenii in einem aol^Mi
Falle „der TertriK sofort aufhören aolle bindend zn sein"? Ein derr
artiges Verlangen wurde in der ThI viel au weit gehen, wird aber
aar von der von una gerade alii irrig bekämpften bisherigen Klani
lehre (nnd selbst von dieser, mindestens furmell, nii^ht durchweg, cf. *
8. 89 ff.) aufgestellt.
'VI 1.
181
I
I
von uns geiibtfin Weise (cf. oben S. 178), vollständig
fehlschlägt; kann doch gewiß nicht davon die Rede sein,
daß eie zu ihrem vertragswidrigen Verhalten durch eine
dringende Notlage, durch wesentliche Gefährdung der
politischen Existenzbedingungen Roms gezwungen worden
wären. Dagegen in anderer und neuer, von dem tetzt-
angedeuteten Moment völlig abstrahierender Form läßt sich
ein solcher Versuch sehr wohl erfolgreich durchflihrtn,
woraus dann die Notwendigkeit einer entsprechenden Er-
weiterung der nur jenes berücksichtigenden alten Fassung
ganz von selbst sich ergibt.
Man darf nämlich nicht außer acht lassen, in welchem
Sinne der ganze Vertrag in concreto eigentlich gemeint
war. Die Absicht, in der er von den Tarentinern ab-
geschlossen wurde, ging anerkannt dahin, der Gegenpartei
den Zutritt zum östlichen Becken des Mittelmeers zu ver-
sperren und sich seibat so von deren maritimer Konkurrenz
£11 befreien; unter Verwendung eines neuzeitlichen terminus
technicuB könnte man sagen, sie wollten jenes zur exklusiven
, Interessensphäre" ' machen mit der Wirkung, daß sie
innerhalb desselben „das Recht, die Ausübung fremder
Staatsgewalt auszuschließen"^, erwarben". Dieses Ziel wurde
auch ursprünglich durch die von ihnen gewählte Formel
vollkommen erreicht. Denn da die Römer um die Mitte
' Die Puralleliflierang mit dicHem lastitut des moderuen VSIherrechts
soll sieb natQrlicb nur auf die hier wie dort g-leiclinjäQig Torbaadene
Oeaatatteudenz , nicht aber auub auf die, bcidomal rocht vernchiedenen,
Mittel lur Kcalisiemiig des angestrebten Zwecks belieben. DaB in
letEterer Hiusicht die beutige Pansung: wegen ibrer grüBeren Zuverläitsig-
kcil weitaus den Vonitg vor der ziemlich {irimitiren actikea verdient,
iat sicher.
» V. Liszt, Völkerrecbt, 2. Aufl., ü. 73.
* Ähnlicbe Vertrage sind im Altertum (Iberaus häuGg la konBlatieren.
VkI. e. B. den, binsichtlich seines föroilichen Abschlnssen allerdlnifg etwas
xweiJelhaften, Kimonisehun Frieden, den römlsch-karthagiachen Handels-
ond [ich iffiüirta vertrag vom Jahre 508 (interessant auch deshalb, weil in
Um, vielleicht Eum ersten Haie in der Geschichte, der BegrifT der sogen.
reliche foru^e aufgestellt und völkerrechtlich fixiert wurde; uf. v. äcala,
Staatorertrige des Altertums. I, S. 29/31X weiter den IQOÜSdpr Vertrag
Boms mit dem s}-ris«hen KOnig Antiocbos, a. m, dorgl.
182 y
des 4. Jalirliunderta bloß Besitzungen an der Küste
tyrrhenischen Meeres hatten , so vermochten sie von dort
aus OHr unter Passierung des lakinischen Vorgebirges nach
dem Osten zu gelangen und wurden folglich durch die
Sperrung dieser Route überhaupt ganz von ihm abgeschlossen,
Hierin war jedoch spdterhin eine große Wandlung ein-
getreten. Teilweise schon vor der Vernichtung des keltischen
Stammes der Senonen, in erster Linie aber durch diese
hatten die Römer am adriatischen Litoral gleichfalls weite
Landstriche gewonnen und dieselben auch schleunigst durch
Befestigung von Land- und Küstenstädten (Sena Oallica,
Castrura Novum, Hadria) gesichert. Damit hatten sie aber
offenbar auch im Östlichen Mittelnieer wieder freie Hand
erhalten, insofern als keinerlei Vertrag ihnen untersagte,
dasselbe von den neuen Kriegahafen aus, also unter gänz-
licher Vermeidung der uiemtvia ixu^a, mit ihren Schiffen zu
befahren. Mit anderen Worten , wegen inzwischen eil
getretener faktischer Veränderungen hatte ji
jener alte Vertrag für die Tarentiner seine eigentliche
ratio, seinen Grund- und Hauptwert vollständig eingebüßt,
dergestalt, daß er bloß die praktisch kaum ins Gewicht
fallende, höchstens zu Chikanezwecken noch brauchbare
Bedeutung behielt, die direkte Seeverbindung zwischen deikr
tyrrhenischen und adriatischen Küstenstrichen der Kftmar^
zu sperren. Unter diesen Umständen hatten aber die letzteren
gewiß guten Grund zu der Annahme, das mit ihnen bisher
ständig befreundete Tarent werde seine formelle Weiter-
beachtung überhaupt nicht mehr verlangen: schon du
natürliche Gefühl muß ja jedem unbefangenen Beobachter
sagen, daß einem derartig antiquierten, in seinem innerste».
Kern und Wesen überlebten Traktat jede materielle Existeni
berechtigung fortan eigentlich abgeht.
Es gilt nun aber, für dieses natürliche Geflihl, dii
vorläufig mehr instinktiv gewonnene Überzeugung, noch dl
geeignete wissenschaftliche Ausdrucks- und Begründunj
formel zu finden. Dabei wird gleichzeitig auch zu eol
\
zu _
■Vll.
183
I sufaeiden sein, ob und in welcher Weise die hier erürterten
I Falle mit der bisher (vor § 15) ausschlieBlich behandelten
I Gruppe doch unter einen gemeinsamen höheren Gesichta-
I punkt eich bringen lassen.
Die grundsätzliche Mögliehkcit einer solchen Ver-
[ einigung ergibt sich leicht aus folgendem Gedankengange.
Nach seinerzeit erfolgten Feststeltungen ' erscheint theo-
retisch auch das Kriterium der staatlichen Geföhrdung
keineswegs schon als solches an und ftlr sich, sondern
lediglich auf Grund der komplizierteren Erwägung als die
Tertragliche Gültigkeit wesentlich tangierend, weil es prä-
, «umtiv dem wahren und eigentlichen Willen der
' Parteion zuwiderläuft, daß eine von ihnen, wenn nötig,
«elbat auf Kosten der eigenen Existenz den Traktat
durchführen soll. An dieses international-subjektive Moment
darf aber offenbar bei den uns jetzt beschäftigenden Fällen
genau so gut angeknüpft werden, bloß mit einer kleinen,
die volle Gemeinsamkeit des Prinzips nicht beeinträchtigenden
Differenzierung. Jener wahre und eigentliche Wille
'ler Kontrahenten kann nämlich inhaltlich entweder
«0 gestaltet sein, daß er überall ohne weiteres vorauszusetzen
I i«, bei sämtlichen Verträgen generell und unverändert
I wiederkehrt; er kann aber auch eine derartige Beschaffen-
P heit aufweisen , daß er der einen konkreten Vereinbarung
und nur dieser eigentümlich ist. Das erste war der Fall
bei der früher besprochenen Eventualität: es liegt eben in
der Natur der Sache begründet, daß ausnahmslos jedem
Vertrag die prüjuristisch-zweckliche Schranke gesetzt ist,
■eine Erfüllung dürfe niemals auf eine Gefährdung der
politiBcben Helbsterhaltung hinauslaufen. Mit dem zweiten
haben wir es hier, in § 15, zu tun: es kommen hier die-
ieitigei] Tatbestände in Frage, bei denen ein Traktat außerdem
voa irgendwelchem Sondermomente wesentlich beherrscht
, d. h, bei denen er lediglich um einer, nicht rechts-
« Vgl. 8. 116f.. Ifil, IttOi.
wirksam mitatipulierten ' , deshalb aber nicht weniger
existenten, Spezial vorausaetzung; willen überhaupt ab-
geschlossen wurde und folglich durch nachträgliche Ver-
eitelung derselben seine letzte Basis, sein sachliches
Fundament völlig verliert.
Das so gewonnene Resultat ist Übrigens auch noch in
anderer Beziehung, im vergleichenden Hinblick auf die
entsprechenden Teile der üblichen Klauaclformulierung,
von großem Interesse. Wir haben in § 3' gesehen, daß
die letztere prinzipiell nach zwei verschiedenen Seiten aus-
«.'in and ergeht, daß die völkerrechtlichen Autoren bald nach
generellen, bald nach konkreten Gesichtspunkten und Merk-
malen die den ßechtsbestand des International Vertrags durch
ihre spätere Änderung ungünstig beeinflussenden Momente
näher bestimmt wissen wollen. Zu dieser Htreitfrage haben
wir unsrerseits nunmehr in der Weise Stellung zu nehmen,
daß von den beiden Lehren keine ganz recht und keine
ganz unrecht hat, daß es sich hier in Wahrheit nickt so
sehr um ein „Entweder — oder" wie ein „Sowohl — als
auch" handelt. Die erste, d. h. diejenige Richtung, welche
grundsätzlich das öegebensein eines „Konflikts mit deu
hltchsten Staatsinter essen" verlangt, in einzi^lnen Vertretern
auch, formell noch besser und präziser, diese Interessen
ausdrucklich mit der Rücksicht auf Selbsterhaltung :
tifiztert^, bringt insofern ein sehr richtiges uud zutreffendes
Element zur Geltung, als das durch de erörterte Gebiet
nicht bloß das weitaus wichtigste*, sondern vor allem dai
' NatBrlich kann es praktisch auch vorknmmeii , dati im Vertrage
selbst mit aller Btistimmtheit erkl&rt ist, er werde nur ini Hinblick i '
gewisao kunkrete Verhältnisse und für die Zeit ibror Finrldauer n
geschloBseu; dnch bedarf dieser FaU hier keiner weitereu llieoretischen
ErnrtemDg, denn es versteht sich ja von nelbst, daß jedes unter eL
spezifiacheu Resolutiv- Bedingnu^j^ [(esetite Übereinkommen sofort i
deren Eintritt schon von Bechts wegen seiner OQItiEkeit verlasUe eehl.
' Cf. 8. 20.
' Vgl. § 8, S, 83 ff.
* DaB dem wirklich so ist, wird schon durch die, ron uns S. . .
konstatierte Tatsacbe aur Qen&ge bewiesen , daß regelmfißig ancb die I
VI I.
185
einzige allgemein- iheoretiseiier Betrachtung überhaupt fähige
ist; sie irrt aber darin, daß sie die außerdem noch vor-
handenen Müglichkeiten gänzlich ignoriert und ho den
bloßen Teil zum Ganzen erhebt. Die andere wieder ver-
meidet zwar glücklicli den letztgenannten Fehler; denn ihre
These, es komme stets auf das an, waa die Parteien bei
jedem Einzeltraktat entscheidend voraussetzten und intima
in mente hatten, vermag offenbar den ständig wieder-
kehrenden Vorbehalt der politisühen Öelbsterhaltung eben-
fajis mit zu decken; hingegen verurteilt sie sich dadurch,
daß sie mit dieser streng konkreten FormuliiTung durchweg
«nd schlechthin sich zufrieden gibt, selbst zum hoffnungs-
'osen Verzicht auf jede tiefergreifende Erfassung des Problems,
die naturgemäß immer nur auf gener eil -gültiger Grundlage
^'^olgreich versucht werden kanu. Erst eine Verbindung
''^« richtigen Gehalts beider Lebrmeinungen vermag hier
*** einem wahrhaft und allseitig befriedigenden Ergebnisse
*«» ftihren'. —
. Durch die zuletzt gegebenen Darlegungen ist iniplizitL-
^reits angedeutet, daß und warum dem Wenigen, was Über
£W**hänger der gegneriacheu
^^«irang ihrer Aoaicht melir
^ ' Eb ist nicht m verkennoii. ilnB eine derartige Verachmalzang liier
^^^d du bereits angestrebt worden iat. Wena e. B. Roli n-J acquemr ns
_^S^rQe de droit inlernslional , XIX, S. 46) fBr die Anwendbarkeit der
^tcosel rohns eic slantibux aoluhe Verfinderungen verlangt „(a) qoi
^uivAlent i nne impofiBibilitä materielle ou morale d'ei^cutioD ou (b)
Htti däsinl^ressent la partie au prafit de Inquelle rei^catioa devait se
^Ure") an paBt iedenfalla die letztere Hälfte dieser Ilegriffgbestimmung
^rtreffUch auf Fälle nie die im Text besprochene rOmiach-tarentiniiche
itroverse, während die erstere auf den Gesichtspunkt der Sorge für die
„sneEKiatenz sieh wenigsteuB mitbeziehen läßt. Eine äbnlichc TuudeOE
Fttitt in den Ausfnbningen zutage, die v. Liszt in der zireiten Auflage
•Bioen VSIkern^cbta , S, lij6— 166 über die clausula gibt; dabei zeichnet
lieh seine Durstellung (die im übrigen, besonders in ili^r spestiSsch-
jariatisoben Qualifizierung der Elausellehre, «owia in dem einseitig-
«iklnsiT^Q Betonen das Moments der „veränderten Verbal tnisae", durubaus
an den gewOholicben Fehlern partizipiert) nocb durch den weileron Um-
itaml wesentlich aus, da^ sie, ganz mit Recht, die aus Rücksichten der
Selbsterbaltung erfolgenden Traktats Verletzungen mit einem vic! umfassen-
deren Institat, mit der allgomeiiien internationalen Nolataudsnorra in Ver-
bindung bringt ivgl. ti. Ö4. Anm. Ij.
186 VI L
das spezifische Thema unseres Paragraphen bisher gesagt
wurde, kaum noch viel hinzuzuftigen sein wird. Wir haben
uns jetzt, gewissermaßen nachtragsweise, nur noch mit
solchen Elausel&Uen näher zu beschäftigen, die nach Aus-
scheidung der ganzen, aus dem staatlichen Selbsterhaltungs-
triebe zu erklärenden Teilgruppe noch übrig bleiben; für
diese muß es aber (allein den ebenfalls schon erledigten
und deshalb jetzt nicht mehr in Betracht zu ziehenden Gegen-
stand des § 14 ausgenommen) notgedrungen dabei sein
Bewenden haben, daß sie nur rein individuell, durch sorg-
fältigste Analysierung des jeweils gegebenen Einzelfalls
richtig zu erfassen sind — für wissenschaftlich - allgemein
gehaltene Erörterungen eo ipso ein höchst sprödes und un-
ergiebiges Arbeitsfeld!
Die einzige Aufgabe, die diesen unter den obwaltenden
Umständen überhaupt noch zufallen kann, besteht darin^
kurz die Art und Weise zu schildern, wie bei solchen
konkreten Untersuchungen regelmäßig zu verfahren ist;
wir müssen auf diejenigen Momente hinweisen, an denen
eine etwa vorhandene Differenz zwischen dem in Traktats-
form erklärten und dem wahren Partei willen auch nach
außen hin kenntlich und nachweisbar zu werden vermag.
Am wenigsten kompliziert liegt die Sache überall dort,
wo der Text des Übereinkommens selbst eine mehr oder
minder klare Hindeutung darauf enthält, daß die Parteien,
ohne direkt die Rechtsbeständigkeit ihrer Willenserklärungen
davon abhängig zu machen^, doch jedenfalls materiell nur
unter der bestimmten Voraussetzung irgendwelchen Ge-
schehens, Sobleibens, Anderswerdens usw. gehandelt haben ;
hier ist nach Lage der Dinge noch die einfache Vertrags-
auslegung imstande, eventuell, beim einseitigen Hinweg-
setzen über den Traktat, auf sachlich-metajuristische Recht-
fertigung, natürlich aber auch nur auf solche* zu plaidieren.
' Cf. oben S. 184, Adid. 1.
' Da nach den gemachten Annahmen einerseits eine rechtlich-gültige
Deklaration des vertraglichen Hauptwillens durchaus gegeben ist, anderer-
Vi 1.
187
Indes wirfl man damit allein bloß in den seltensten
[ Fällen auskommen, vielmehr zu diesem Zweck zumeist noch
lodere und fernerliegende UnistSnde zu Hilfe rufen müsBen,
f Da wSre zunächst auf die dem wirklichen Vertragsabschlüsse
[ TToraUBgeh enden Besprechungen und Verhandlungen der
' Ireiderseitigen Unterhändler hinzuweisen: schon aus diesen
kann mit voller Deutlichkeit hervorgehen, daß das von den
Kontrahenten eigentlich Beabsichtigte in der offiziellen Ver-
tragsurkunde durchaus keinen genau angemesBeni-n Aus-
druck gefunden hat. Dann haben wir auch, noch weiter
zurückgreifend, die ganze politische Entwicklungsreihe in
Rechnung zu ziehen, die unter den betreffenden Mächten
vor der Vereinbarung selbst sich abspielte, und als deren
ächlußprodukt die letztere erscheint; es muß berücksichtigt
werden , ob der Traktat am Ende eines Krieges zwischen
Sieger und Besiegten zustande kam oder nicht, ob und
durch welche praktischen Ein zelvorkonimn lese er nach-
weislich angeregt wurde, und mehr dergleichen. Endlich
darf aber auch das gesamte sonstige Milieu, aus welchem
derselbe hervorgewachsen ist, keineswegs völlig außer acht
issen werden. In dieser Hinsicht ist z. B. das Verhältnis
I Jes einen oder des anderen Kontrahenten zu fremden Staaten
tdte der in die*äm hinzutretende und ilm beschrankende Nebenwille der
idiqiuU wirksamen (d. b. ^radexn regolntiv bedingenden) Erktitruiig um-
pkeiut ermangelt, ho muß aus diesen PräntiABen mit begrifflicher Not-
wendi(;keit der SdituB gezogen werden, dnß die formal-jurialische
Kraft des ersteren nuf nlle Fälle gewahrt bleibt Wenn im Gegeosatz
' 1 für daa innerRtaatlicbe (Frivat-JHecht derartigen Willenserklärungen
ir Umständen direkt die jurixtische WirksHmkeil abgesprochen werden
■o kommt dies nur dadurch lualande, daß hier aatoritir ont-
Bicbter auf Grund einer entaprer benden positiven Er-
^^iclltigangsnorm tätig xa werden vermögen — iwei schlechthin
Ttnenthehrliche TatsnclienToraiunetzungeQ, an denen es je dem juH inter
» leider gänzlich gebricht. DemgemäB haben wir ans für letzteren
ait dem bekannten, Kchnn su wiederholten Malen [a. B. 169 bei
... _. m. 1| konfitjitierlen Sachverhalt resigniert absuflnden, daB hier
fc' 4as Btwht die ku seiner Bachgemäßen Uorichtigung erforderliehen Mittel
nicht aelber eu beEchaffen fähig ist, und daß deehalb. genau wie bei den
IrSber«!! Fällen, alle in concreto gebieterisch sich aofdräugenden Korrektaren
iniDBr bloB faktisch, im Wege der regelmABIgeii Durch breohung jenes,
dntretea kStmen.
188 VI 1. '
manchtnal geeignet, wichtige Aufschlüsse zu geben; sogar
Beziehungen lediglich zwischen dritten Mächten können
unter Umständen recht bedeutungsvoll werden.
Für sämtliche eben gouannte Momente ist noch wohl
zu beachten, daß bei ihnen, genau genommen, überhaupt
nicht mehr von eioer Auslegung des Vertrags als solchen,
sondern nur des letzterem zugrunde liegenden staatlichen
Willens die Rede sein darf: liegt es doch auf der Haud,
daß, wenn in einem Traktatstexte irgend ein Element,
hier der materiell als Willensbeschränkung wirkende Be-
stimm ungsgrund, von Allfang an nicht enthalten gewesen
ist, es niemals durch bloße Interpretation nachträglich auB
ihm herausgeholt werden kann'.
Zur Ergänzung dieser abstrakten Ausfdhrungen sei
schließlich noch eine historische Untersuchung eines Einzel-
falls gegeben, die die nicht leicht übersehbare Materie besaer
veranschaulichen wird.
Am 15. November 1715 kam zwischen jien nieder-
ländischen General Staaten und Österreich der sogen. Barrifere-
Vertrag^ zum Abschluß, kraft dessen die erateren in zahl-
reichen genau angegebenen belgischen Festungen, in Namur,
Vpern, Tournai usw., ein Besatzungsrecht ^ erhielten. Nach
ziemlich siebzigjährigem Bestände wurde dieses Überein-
kommen von Kaiser Josef II. einseitig aufgehoben, als der^
selbe 1781 zwecks gründlicher Informierung über die ihm'
bis dahin sehr wenig bekannten Verhältnisse seiner nieder-
ländischen Besitzungen eine Reise durch letztere machte*;,
' 8d n. a. zu v^ratebeii die gnleii Bemarknii^n bei PhllUiu
Commentaries upoQ iiilemationnl law, II, W. 105. Vgl. lu der gi
Sache aucli die vom ^'erfaaaer an nnderem Ort« (Das Gawohuheibireclrt 'J
als Form dos OiiiDoiDwilleiiH, S. '^9, Anm. 1) über analoge inDerataatlich« J
Verhältnisse gemachten Auarühningeu. i
" Ahgedrucfct u. b. bei Zioek, Uahe de» jetzt lebendeii Eutoptl
(Cobnrg 17261, I, 8. 463. 1
' Übrigens traten zu der speEiflscb-militiriachen StaatsdienatbarkeU-a
noch einige anderBgeartete Akseasorien, namentlich krafl Artikel S
wiiac kirchlich-koufesnonelle befiignisse.
* Vgl. faierza Scblitter, Die R^erang Josefe ü. in c
reiohlMllen Niederlanden, I, (1900); S. U. 148, N. 11.
I
189
: ließ nämlich unterm 7, November des genannten Jahres
der Qogen parte! eine Erklärung ' zuatellen, daß er sÄmtlrehe
Barrißre-Pl.ltze zu schleifen beabsichtige und aus diesem
Grunde die ungesäumte^ Zurückberufung aller auf belgischem
Boden garniaoniereuden holländischen Truppen erwarte. Da-
bei war er bestrebt, sein eigenmächtiges Vorgehen näher in
einer Weise zu motivieren, die, zwar nicht formell und
L expressis verbia aber doch sachlich, einer Bezugnahme auf
tdie clausula rebus sie stantibus gleichkommt: denn indem
fer zur prinzipiellen Rechtfertigung desselben lediglich an-
führte, daß die Fortexiatenz einer so großen Menge von
Festungen für Österreich „aus vielen Gründen nicht mehr
luträglich sei", stützte er sich offenkundig darauf, daß ein
an&oglich vorhandener wichtiger Umstand hinterher in
Wegfall gekommen und insofern „veränderte Verhältnisse"
überhaupt eingetreten seien.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Argumentation,
Izein juristisch beurteilt, durchaus ungenügend ist, in keiner
(Weise von der österreichischen Aktion daa Stigma des
^lechthin rechtswidrigen Traktatabruchs ^ zu nehmen ver-
■ Cf. Martona, Becueil des prlDcipanx tntiHs, IV, S. 433.
* BereilH lua 27. November erging ■□ die Niederländer eine zweite
reicbinchc yatu, in weicher von „nccSIfrstion pnrtictiliire qile l'eni-
r däiire danB cett« aSaire" die Kede ist Man siebt, wie aucb nof
I Gebiet die eigeatümliciie Charaliteraulage Joiofa II. aitb nicht
lenenen konnte!
'Lediglich ala eolcher ist sie auch von Beilen der gegnerischan
Tertragapartei aufgefaßt und empfundm worden. Diea geht iinier nnderem
düani dentlich bervor, daß die Geiiernlxtajilen (die bei der großen llti^leieh-
hdt der beideraeitlgeu Machtmittel absolut nii'bl, nud am wenigsteD unler
den damaligen poliÜBclien KonBlellntionen. an tätliche Wideratondslcistung
denken konnten) dem niederbollen UrSogen Jaeeta nur rein foktisih aich
filjrira: sie haben zwar die Featnn^en 1781 wirklieb gerinmt, dabei aber
j«de jnrtaliflche Anerkennung der Aufhebung ihres Besnliung^rrchti aufs
Sor^^tigate vermieden, im Gegenteil dRiaelbe dndurcb unverkennbar in
wahren geiueht, dali aie in ihre, formell böihst vorsicbtig gefaUtr Gegen*
eiUIrnng vom 20, November eine Erinnerung an „les trHitäs et lea
EllgagemeiitB les piu» solennels qui ont subsiali^ jnsqo'ici entre 8. M, et
la rApublique, et qui n'ont jamnia it6 Tivoqain" einflieDen ließen. Erat
vier Jahre spater ist auch eine juriBii>ehwirk.''iune Veraichtleii'tung ihrei^
ttita aungeaprochen worden, und zwar durch den Österreich ifch-bciliündiarhen
DefimtiweTtrigzuFontainebleauvom8.NoTemtierlT85(Te»beiHartenfl,
190 VI 1.
mag; ist es doch nach dem ganzen Wortlaut des Ant-
werpener Abkommens als vollkommen ausgeschlossen zu
bezeichnen, daß in ihm dem Kaiser unter irgendwelchen
Voraussetzungen die Befugnis zur einseitigen Kündigung
reserviert worden wäre. Sonach würde die einzige Mög-
lichkeit, wie der Beweisführung Josefs II. eine gewisse
Legitimation vielleicht zukommen könnte, von vornherein
nur darin bestehen, daß jener uns bekannte Zwiespalt
zwischen dem rechtsgültig deklarierten und dem wahren,
dem eigentlichen Parteiwillen im gegebenen Einzelfalle sich
aufzeigen ließe.
Bei Untersuchung dieser Frage ist zunächst vor-
behaltlos die Tatsache anzuerkennen, daß von Haus aus
nicht bloß die Generalstaaten, sondern wirklich auch der
Gegenkontrahent von dem Barriere-Traktat recht mannig-
fache Vorteile hatte. Beispielsweise wurde Österreich,
sobald es seine belgischen Territorien durch holländische
Truppen vor dem westlichen Nachbar, Frankreich, ge-
schützt wußte, der Notwendigkeit enthoben, selbst für deren
Verteidigung Sorge zu tragen, und konnte also die sonst
hierzu erforderlichen Streitkräfte nach Bedarf und Belieben
anderweit verwenden. Fernerhin zog es von dem ganzen
Arrangement insofern auch finanziellen Gewinn, weil es
fortan nicht mehr die gesamte, zur Instandhaltung seiner
Festungen nötige Summe aus eigenen Mitteln aufbringen
mußte, sondern dazu bloß einen, im Verhältnis zu der
ziemlich großen Zahl jener recht mäßigen, Jahresbeitrag zu
leisten hatte.
Gesetzt nun den Fall, es wäre der Nachweis zu führen,
daß gerade Momente nach Art der letztgenannten die im
t II, S. 602 ff.). Letzterer erwähnt freilich die Barriere-Frage nicht aus-
drücklich, aber es ist auf sie sicher mit zu erstrecken der ganz allgemein
gehaltene Art XX VII: ^^Les deux Hautes Parties Contractantes r^nonoent
respectivement , sans aucune r^serve, k toutes les pr^tentions qa^elles
pourroient encore avoir, Tone k la chaige de Tautre, de quelque natnre
qu'elles puissent §tre.^
Grunde beabsichtigte Hauptwirkung, die speziüsche causa
tinalis des Barriere-Vertrag« darstellteHj das heißt alao an-
genommen, daß man ein Beaatzungsrecht eigentlich nicht
schlechthin, sondern nur damit und solange der äervituta-
ochuldner selbst Nutzen davon hätte, zu schaffen gedachte',
so würde offenbar ein späterer Fortfall aller dieser Momente
prinzipiell sehr wold geeignet sein, den 1781 einiteitig voll-
zogenen Rücktritt sofort in völlig iiDderem und weit milderem
Licht« erscheinen zu lasaen: wenn wirklich für Österreich
dje Fortsetzung des 171Ö konstituierten Verhältnisses ijli
Jahre darnach „aus vielen ürlioden nicht mehr zuträglich"
geworden war, wenn es, im schneidenden Gegenajitz zu der
BUpponierten Grundintention der Parteien, neuerdings aus
ihm absolut keinen Vorteil mehr zog und bloß diu mit
jeder ständigen Besetzung von Staatsgebiet durch fremde
Trappen notwendig verbundenen Unbequemlichkeiten
und Lasten noch übrig waren, so dürfte man, unbeschadet
natürlich der formal immer bestehen bleibendi^n Rechts-
widrigkeit, doch ganz gewiß aachlich nichts gegen ein Be-
streben einwenden, das die gänzliche Beseitigung eines
durch veränderte Umstände direkt ins zweckliche Gegenteil
umgeschlagenen und deshalb jetzt zweifellos veralteten
Traktats sich zum Ziele setzte. Um aber Über das tatsäch-
liche Zutreffen oder Nichlzutreffen jener, alles weitere über-
haupt erst ermöglichenden Grund-Hypothese ins klare zu
kommen, dazu haben wir nichts anderes zu tun, wie die
^ SeßhVieh würde iIsb Gause einFaeh diirauf hiuBiislMufen , diB dem
■cheinbar Iterechti|;teD in Wahrheit mehr eioe üeitntxnligRpflich t
anhrlegt werden aollte. Eioe derartig OeHtaltung kann pnktiwh sehr
«cdil Torkommeii, und es ist daher als fehlerhaft la bexeicIiDeo, daß die
Doktrin, hier wie bei mancbein anderen Völkerrechts vcrhiltois die real-
Torhandancii Unterschiede luiBulftssig nivellierend, von dieser MSelichkeil
InslwT regeliD&fiig keine Soli* genooimea hat. Mfm m^ es e. B. nur
einmal versunhen, diu van 1849 — 1S70 dauernde Okkupation RomH, tenp,
CiTitaveccbiag durch fraDzSsiflche Truppen strikt nnch dem gewöhnlichen
Schema lU konstruieren, daß Frankreich gegenüber dem KircbeDBtxat ein
lechniichea BesatEuagsrechl ausübte , und man wird uutwendig tu einem
wahren Zerrbildo den iu Wirklichkeit (gegebenen Zuitauds einer inter-
oational Sbemcimmenen Hchulzpflicht gelangen.
192
VI Kl
S, 180 ff. abstrakt bebandelten Punkte nunmehr am konkratea \
Falle einer kurzen Prüfung zu unterwerfen^.
Beginnen wir demgemäß mit einem fluchtigen Blick ,
auf die das Barriere - Abkommen hiatoriach vorbereitenden,
in der Zeit vor Abschluß desselben unter den Kontrabenten
obwaltenden Zustände und Beziehungen, so ergibt sich
folgendes. Gleich so vielen anderen ein Einzelglied des
großen Vertragekomplexes bildend, der nach dem spanischen ,
Erbfolgekrieg die westeiiropäiaohen Verhältnisae international ■
neu ordnete, steht der Traktat am Ende einer langjährigen '
Periode, die Holland und Öaterreich ständig als Alliierte^
als Teilnehmer an einem umfassenden WaffenbUndnis gegen
gemeinaame Feinde (Frankreich-Spanien) gesehen bat. Schon
dieser Sachverhalt eröffnet, wie gar nicht zu bestreiten ist,
recht wenig günstige Aussichten darauf, daß für die vorhin
gemachte Annahme die erforderlichen tatsächlichen Unter-
lagen wirklich beige bracht werden könnten; denn wenn
Schlüsse eines Kriegs zwei Verbündete über ein erobertes
Land in der Weise disponieren, daß dieses dem einen von
ihnen gehören, der andere aber innerhalb desselben be-
stimmte Festungen besetzen solle, so ist fLir die letztere
Bestimmung von vornherein sicher das weitaus wahrschein-
lichere dies, daß sie, auch dem zweiten Staate einen posi-
tiven Anteil an dem gemeinsam erkämpften Gewinn zu-
weisend, nur zu seinem Nutz und Frommen prinzipiell:
vereinbart wurde, keineswegs aber den konträr wirkenden
Hintergedanken verfolgte, in dieser Form dem au sich und
ohnehin schon übermäßig begünstigten Gegen ko n trabe nten
materiell noch weitere Vorteile zu gewähren.
In völliger Übereinstimmung hiermit steht auch da»-
jenige, was aus den zur formellen Verträgst ex tierun^,
zwischen den österreichisch- holländischen Bevollmächtigten!
' AllerdingB kann diese UntersucbuD); , dn der Traktat als solcbm.
für unsere Zwecke nicbt die miodeste Ausbent« liefert, hier nicht gleich*'
inäßifr an aämlltchen, sondern nar an den die apeiifisclie „VertragMOt- -
legang" überschreitenden Momenten praktisch durcbgefShrt werden.
VI I.
193
u
abgehaltenen KoDterenzen und Besprechungen zu entnehmen
ist: soweit dieses Material der Beurteilung Überhaupt zu-
gänglich ist, läßt ee immer bloß den einen Schluß zu, daß
ein Besatz urgsr echt durchaus in normalem Sinne, unter
Vermeidung jeder fremdartigen Beigabe geplant war, und
daß folglich der auch Österreich aus demselben erwachsende
Nutzen als rein zufUllige, unmittelbar nicht gewollte Neben-
wirkung angesehen werden muß.
Schließlich erfährt diese ganze Auffassung auch noch
dadurch eine höchst wichtige Bestätigung, daß offenbar sie
allein den von den übrigen Teilnehmern am spanischen
Erbfolgekrieg unmißverständlich geäußerten Absichten voll-
kommen sich anpaßt. In dieser Beziehung ist darauf
aufmerksam zu machen, daß der 1715er Vertrag inhaltlich
durchaus nichts ganz Neues brachte, sondern nur die
(etwaa detailliertere, zum Teil freilich auch modifizierte)
Wiederholung und Bestätigung früherer Festsetzungen war.
Bereits vor dem Ende des ganzen Krieges, im Jahre 1709,
War Holland von England, namentlich auf Betreiben Marl-
boroughs, ein Besatzungsrecht in Festungen der spanischen
Niederlande traktatsmäßig zugesichert worden. Als dann
wenige Jahre darnach die (von Österreich zunächst nicht
geteilten) Friedensverhandlungen mit Frankreich begannen,
verwandte sich der englische Minister Bolingbroke letzterem
gegenüber lebhaft für die Anerkennung dieser Stipulation,
was zur Folge hatte, daß in den holländisch - französischen
Vertrag vom 11. April 1713 ebenfalls eine entsprechende
Bestimmung — Art. 7 — Aufnahme fand'. Und wieder
ein Jahr später, im Friedensvertrag mit Ludwig XIV. am
7. März 1714 zu Rastatt, mußte sich auch Österreich aus-
drücklich damit einverstanden erklären, daß es die belgischen
Territorien nicht völlig frei und unbeschwert, sondern nur
mit der beschränkenden Auflage erhielt, den Inhalt beider
nigenannten älteren Abmachungen durch direkte Ver-
' Cf. Ghillsny, Diplomatiaehes HandhucL, I, 6. 140.
StuU- u. TOllterreebll, Al.h»ndl. Vt 1. - Sobmldt. 18
194 V
ständigUDg mit den Generalstaaten nunmehr in Wirklichkeit
umzusetzen. Diese sämtlichen, nach der Person der Trak-
tatssubjekte mannigfach variierenden und untereinander sich
kreuzenden International Vereinbarungen lassen jedenfalls
sachlich nicht den mindesten Zweifel darüber aufkommen,
daß sie (in strengster Exklusivität!) dem holländischen
Freistaat und nur diesem ein politisches lucrum zu ver-
schaffen bestimmt sind, und es würde daher einen geradezu
unbegreiflichen Bruch in die Kontinuität der geschichtlichen
Entwicklung hereinbringen ^ wenn der, in unmittelbarem
Veranlassungsnexus durch jene doch herbeigeführten, Schluß-
regulierung, d. h. dem österreichisch - niederländischen
Barriöretraktat vom Jahre 1715, urplötzlich eine total ab-
weichende Grundtendenz eigentümlich sein sollte.
Nach alledem, da auch nicht der geringste Anhalts-
punkt für das Vorhandensein eines, dem ausgesprochenen
zuwiderlaufenden , wahren und eigentlichen Parteiwillens
aus den hierzu eventuell geeigneten Umständen zu ent-
nehmen ist, kann für die uns beschäftigende Angelegenheit
die endgültige Entscheidung nur dahin ausfallen, daß das
Verhalten Kaiser Josefs 11. nach jeder überhaupt möglichen
Auffassungsart einen reinen Gewaltakt darstellt, materiell
genau so wenig wie formal-juristisch sich rechtfertigen läßt.
Achter Abschnitt.
Völkerrechtliche Clansola und aUgemeine
Rechtslehre.
I
§ 16.
Die in den sieben ersten Abschnitten vun uns an-
gestellten Untersuchungen sind vielfach über den Gegen-
stand unserer eigentlichen und nächstliegenden Aufgabe,
die völkerrechtliche Einzel frage der Clausula rebus sie
Btantibus, schon weit hinausgegangen. Auf der einen
Seite haben wir bei Erörterung dieser wiederholt die Be-
merkung machen können, daß die hier gegen die herrschende
Meinung zu erhebenden Bedenken zu einem guten Teile
nicht etwa auf Mängeln der spezifischen Klausel theorie be-
ruhen, sondern ganz allgemeiner Natur sind, d. h. auf
ewientielie Fehler der gemeinhin geübten Behandlung des
jus inter gentes Überhaupt hindeuten. In dieser Hinsicht
ist vor allen Dingen darauf hinzuweisen, daß der in Ab-
schnitt II wider die clausula geltend gemachte Einwand einer
völlig unzulänglichen positiv-juristischen Fun-
dieruDg genau so gut auch auf viele andere der durch die
intemationalrechtliche Wissenschaft gelehrten Regeln zutrifft',
deutlicher und ausführlicher gesagt, daß von dem ganzen
mmat bloß aus apriorischen Erwägungen vernunftrechtlich
deduzierten und hinterher unbefangen als „objektives Völkei"-
' Vgl, hierin BpeEi?)! 8. 65 ff.
recht" etikettierten) Nonnen komplex wahrscheinlich nur ein
geringer Bruchteil die — für die wahre Rech tsquali tat als
condicio sine qua non erscheinende — Probe praktisch zu
bestehen vermöchte, daß die betreffenden Sätze auch durch
den zur positiven Rechtssatzung allein kompetenten Faktor
(d. i. durch den irgendwie erklärten Willen der am Völker-
verkehr teilnehmenden Staaten selber) wirklich sanktioniert
worden sind; ebenso gehört in diesen Zusammenhang die
in § 7' erfolgte Feststellung, daß (nicht bloß bei der
Klausel, sondern fiir das Völkerrecht schlechthin) auch
rein rechtssetzungspolitisch, sozusagen de lege
ferenda genommen, jede feinere Spezialisierung und
Detaillierung der internationalgültigen Verkehrsregeln eo
ipso als verfehlt und schädlich zu bezeichnen ist. Auf
der anderen Seite sei dann in aller Kürze noch daran er-
innert, daß des Zusammenhanges wegen außer und neben
der clausula selbst auch schon einige sonstige völkerrecht-
liche Einzelprobleme etwas näher beleuchtet worden
sind: namentlich hat sich in diesem Sinne § 12 mit der
Frage des internationalen Notstands und § 14 mit der ge-
wöhnlich in der Literatur vorgetragenen Lehre beschäftigt,
daß Bruch des Vertrags von selten der einen Partei auch
die zweite von ihrer Verbindlichkeit rechtlich freimachen soll-
Immerhin, so mannigfach und teilweise auch weitgehend
die bisherigen Überschreitungen des ursprünglichen Themas
zweifellos sind, jedenfalls ist bei ihnen regelmä6ig die eine
Schranke noch gewahrt geblieben, daß alle Erörterungen
dem Sondergebiete des Völkerrechts und nur diesem an-
gehörten. Mit dem nunmehr folgenden achten und letzten
Abschnitt unserer Abhandlung werden wir auch hiertlber
hinausgehen.
Das ist, wie wir wissen, um deswillen unbedingt nötig,
weil nach den seinerzeit" gegebenen Darlegungen zu den
normalen Bestandteilen der Lehre von der clausula rebus
^VI 1.
197
! Stantibus auch die Tliese zu zählen ist, daß dieselbe
' eine spezifische Singularität dea Völkerrechts dar-
[ stelle.
Diese Behauptung kann von Haus aus in zwiefachem
ne verstanden und dementsprechend auch auf doppelte
, Weise bekämpft werden.
Zunächst empirisch-rechtsvergleichend. So gemeint,
[ bringt jener Satz nur ein auf erfahr unganiäßige Beobachtung
j und Gegenüberstellung gegründetes Urteil des Inhalts zum
' Ausdruck, daß die Klausel allein im jus inter gentes ala
positiv eingeführtes Rechtainatitut wirklich vorkomme. Es
würde deshalb auch der Gegenbeweis auf den ebenso er-
fahrungsmäßig zu führenden Nachweis hinauslaufen mUasen,
L in Wahrheit seien „voränderte Umstände" auch anderwärts
I gar nicht so selten als in gleicher Weise wirksamer
. Vertragsaufhebungsgrund anerkannt. Tatsächlich wäre
auch ein solches Unternehmen an sich durchaus erfolg-
veraprechend : wie Pfaff es für die österreichische Gesetz-
gebung gezeigt hat', au könnte auch für sonstige inner-
staatliche Rechtssysteme dargetan werden, daß in ihnen die
Klausel — zwar wohl nirgends mehr unter diesem Namen,
aber doch der Sache nach — gleichfalls noch eine bedeutende
Bolle spielt*. Mit RUckaicht jedoch auf die Grundanlage
unserer Arbeit wird von derartigen Untersuchungen an dJeaer
■ Stelle besser ganz abgesehen und sofort zur zweiten Art
■ der Betrachtung übergegangen.
I Diese besteht in der philosophisch-kritischen Auffassung
^ Abb thema (re-)probandura. Die Behauptung, die Klausel
sei eine Singularität des Völkerrechts, läßt sich nämlich
auch so verstehen, daß das Institut gerade für diese Rechts-
ordnung und nur für sie hervorragend passe, ihren ganz
besonderen Bedürfnissen genüge, daß also eben nur bei ihr
die sachlichen Voraussetzungen für die Ausbildung des
1 An dem 8. 5, Anm. 2 angeführten Orte,
' Das erkennt beispieUweise auch Stamnile r, Lehre vom richtigen
" 562, an. Vgl. oben S. 75 f.
198
VI 1.
Satzes von der Aufhebung der Vertrage durch rea mutatae
gegeben seien. Und so meint es vielfach auch wirklich die
internationale Doktrin'. Wenn dann im weiteren Verlaufe
diese Auffassung, die Klausel sei nur hier materiell an-
gemeBsenea Recht, unmerklich in die erat erwiUinte um-
schlägt', nur das jus inter gentes habe sie allein als positiv
sanktioniertes Institut aufzuweisen, so büßt sie damit ihre
Bedeutung nicht ein. Selbst wenn dies durch den oben
erwähnten empirischen Nachweis widerlegt würde, so wäre
damit die Annahme immer noch verträglich, daß die Klausel
nur für das Gebiet des Völkerrechts passe, für andere Rechts-
ordnungen dagegen nicht. Indes ist auch sie nicht richtig.
Der immer wiederkehrende Grundgedanke der bisherigen,
auf das Völkerrecht beschränkten, Untersuchungen über
das Wesen der clausula rebus sie stantibus war der, daß,
und zwar nicht bloß in Vertragsverhaltnissen, sondern auch
da, wo andere als Vertrags normen in Frage kamen (vgl,
^§ 12, 14, 15), das Recht unzulänglich zur alleinigen
Regulierung, daß es der Ergänzung durch Normen anderer
Art bedürftig erschien, Ist dieses Ergebnis richtig, so
handelt es sich aber um etwas, was dem gesamten Rechte
eigentümlich ist. Das soll jetzt noch in aller Kürze gezeigt
werden. Damit wird dann ein doppeltes gewonnen: Ein-
mal weisen wir den letzten noch übrigen Bestandteil der
herrschenden Klauseltheorie (wenn auch unter einer gewisses
Verschiebung der Frage*) als ebenso irrig wie die früher
behandelten nach, und sodann geben wir zugleich durch
die Art dieses Nachweises, durch die Zurückführung unserer
Grundgedanken auf immanente Beschränkungen des Rechts-
begriffs überhaupt, unseren GesamtauafUhrungen die breiteste
Grundlage.
' Cf. obBH g .?, 8. 28.
* Manchmal fiiid«ll aich beide AufTaBsungen der Bebflaptung bd'J
demBelben SchriftsleUer unmittelbar uebeneinauder. T
* Die bekämpfe Thenrie behauptet den $ats der ClansoJa als Keeblc J
Batz; wir finden ja in ihm eine anduBartige Konn. S. Abadinitt IV
»VI 1.
199
Wenn wir die Unzulänglichkeit des Völkerreohts für
die Herstellung eines allseitig ausreichenden NormenbestandeB
feststellen, so heißt das nichts anderes als wir finden beim
Völkerrechte , Lücken im Recht".
Zur vollständigen Erfassung der Sache ist aber noch
ein Punkt hervorzuheben, auf den erst neuerdings ganz
mit Recht aufmerksam gemacht worden ist*. Es handelt
sich in unserem Falle um eine „unechte" Lücke, eine Lücke
im un eigentlichen Sinne. Eine den konkreten Tatbestand
ergreifende allgemeine Rechtsnorm ist sehr wohl vorhanden,
nämlich der Satz Pacta sunt servanda. Aber es wird an-
gesichts besonderer Umstände des Falles, mit Rücksicht auf
I inzwischen eingetretene ,res mutatae' das unveränderte Platz-
greifen jener Norm aachlich beanstandet. Eine Lücke
I ist nur in dem Sinne vorhanden, dafi innerhalb des juri-
1 etiechen Gesamtsystems, „für besondere Tatbestände, eine
tbesondere von der allgemeinen Regel abweichende recht-
I liehe Behandlung vermißt wird" ', Gerade die Fälle dieser
pArt aber sind es, in denen man gemeinhin von „Lücken"
spricht ^. Und dabei handelt ea sich um eine Erachainung,
die schon längst auch innerhalb der innerstaatlichen Rechts-
aysteme beobachtet worden ist.
Es ist auch leicht einzusehen, warum derartiges geradezu
, unTermeidlich ist, sich überall mit unbedingter Notwendig
keit einstellen muß*. Die Gesetze, sowie alle sonstigen
generellen Bechtssatzungen, in denen die herrschende Meinung
80 gut wie ausschließlich das Recht der Neuzeit sich ver-
körpern läßt, sind stets allgemeine Normen, die bestenfalls
auf Grund und unter Verwertung des gesamten bisherigen
Erfahrungsmaterials erlassen sind. Wenn sie schon aus
I- snd 23f.
» Zitelmann
' Über die hie:
. Rocht (1903), S. 17 ff., ho8. 8.
a dEH VerfasBers StsBt, S. 80 ff., Qewohnheita-
200 VI Ij
dem letzteren immer bloß einen Teil der konkreten Tat-
bestandamomente berücksichtigen ^, und wenn sie deshalb
oft genug schon hier Zweifeln über die sachliclie An-
gemeaaenheit ihrer Anwendung Raum geben, so erweiaen
sie sich gegenllber den von dem realen Leben in unerschöpf-
licher Fülle stets hervorgebrachten neuen Gestaltungen
erat recht ala nur bedingt zutreffend und brauchbar. Daß
aolche Erscheinungen stets von neuem vorgekommen sind
und jeden Augenblick noch vorkommen, ist eine unbeatrittene
Tatsache. Dafür hier nur zwei Beispiele, Das noch geltende
Deutsche Strafgesetzbuch von 1871 konnte nach dem da-
maligen Stande der Erfahrung unbedenklich die Diebstahls-
strafe {§ 242J auf die Wegnahme einer fremden beweglichen
Sache beschränken. Der ungeahnte Aufschwung der Ver-
wendung der Elektrizität stellte gegen Ausgang des 19. Jshr-
hunderta die Richter vor die Frage, ob die Aneignung
fremder elektrischer Kraft von dieser Strafdrohung (wie
ea § 2 StG.E. fordert) getroffen sei, eine Frage, die an-
gesichts der nicht zu beseitigenden Verachiedenheit des natUr-
liehen Tatbestands zu verneinen war und meist verneint
worden ist^. Und wie man hier wegen einer flagranten
„Lücke" im abstrakten Rechtasystem gegen das allgemeine
RechtsgefUhl zur Freisprechung kam, so kann unter Um-
ständen auch das Umgekehrte eintreten. Die Strufdrohung
des § 223 StG.B, führt immer wieder zur Bestrafung in
Fällen, in denen das Bechtsgefühl sich dagegen ganz ent-j
schieden sträubt, so in dem von Zeit zu Zeit zur Sprache^
kommenden Falle, daß der Vater bei Abwehr eines Not-
zuchtsvers ucha gegen seine unmündige Tochter dem Täter
zugleich eine als wohlverdient empfundene alsbaldige körper-
liche Züchtigung angedeihen läßt Im höchsten Qrade
billig erscheint das insbesondere dann, wenn zur Strafe not
I
, Zorn GreQESlreit ziriBchen Keiclil- iind Lands!
.. äea Verfasaors Oewolmheilarecht als Foi
I
I
der Zwang zu einer SchadloshaltuDg nach § 231 St.G.B.
tritt. In allen Fallen dieser Art glaubt die Jurisprudenz
als einzige Abhilfemöglichkeit immer nach einem ent-
sprechenden GesetzgebuDgBakte rufen zu müssen. Aber
mag es nun zu einem aolchen komnoen oder nicht*, eine
wahrhaft dauernde Heilung des Übels ist in dieser Weise
nie zu erzielen. Denn wenn auch die gesetzgebende Gewalt
dem Wunsche wirklich genügt, so hat sieh jetzt nur die
Zahl der allgemeinen Normen um eine neue vermehrt.
Diese aber nimmt natürlich von vornherein an allen Mängeln
dieser Art Normen ebenfalls leil; sie muß alao auch über
kurz oder lang abermals zu sozial widrigen, materiell unan-
gemessenen Entscheidungen Anlaß geben. Soll dann wieder
4uf gleiche Weise abgeholten werden , so kommt man not-
wendig zur Schraube ohne Ende : es ist das B i s m a r c k sehe
Wort nur zu wahr, daß „Gesetze wie Arzneien sind, die
immer nur die eine Krankheit durch die andere heilen."
In dem Vorhandensein dieses Grundmangels, daß ein
System abstrakter Regeln der unübersehbaren Reichhaltig-
keit des konkreten Lebens nie restlos und vollbefriedigend
gerecht werden kann, stimmen innerstaatliches und Völker-
Becht überein; es wird daher hier wie dort gleichmäßig
niemals an apeziäschcn „Lücken im Rechte" fehlen. Ein
«nziger Unterschied zwischen beiden besteht allerdings. Und
Ewar darin, dafl dem ersteren wenigstens die Möglichkeit,
sich auf anderem Wege au helfen, prinzipiell gegeben ist,
n&mlich durch die Einsetzung einer zu autoritativer Entschei-
dung berufenen Instanz, zumal unter Verwendung der „freien
Becbtsändung" *, die es seiner autoritären Jurisiliktionsgewalt
!ni gewähren jederzeit in der Lage ist, während das auf
das kummerliehe Surrogat des Schiedsgerichts angewiesene
Völkerrecht dem nichts an die Seite zu setzen hal^ und
Was bekanntlich inzwischen Im ersten der beiden BeispieliiAUe
geMheben ist (R.O. vom 9. April 1900, B.0.B1., S. 22ä), im letzteren da-
gegen niciit.
» Hierüber noch unten im § 17, 8. 324 einige Worte.
* Tgl> obenS. 187 inderAnm. a. die dort in Beiag; genommenen ßlcllen.
202 vr :
deshalb auf ein ganz besondere einfaches, unzweideutigM'
Recht angewiesen ist'. Indes ist auch im innerstaatlichen
Leben jener eigentümliche Vorzug noch längst nicht aus-
genützt, und insbesondere ist von dem erwähnten besonderen
Auskunftsmittel tatsächlich bisher nur höchst vereinzelt
und zaghaft Gebrauch gemacht worden. Das an sich be-
rechtigte Bestreben, die BeamtenwillkUr auszuschließen,
erwartet alles Heil, anstatt von der „persönlichen Ver-
antwortlichkeit" ^, von der objektiven Bindung. Man türmt
daher lieber Normen auf Normen und kommt mil dieser
Sisyphusarbeit niemals zum Abschluß — gerade wie die
alte Astronomie, um das im Prinzip unhaltbare ptolemäische
Weltsystem aufrecht zu erhalten, immer neue Hilfsfiguren
einführte, Epizyklen auf Epizyklen konstruierte, und dal
nie darüber hinwegkam, daß das immer kompliziertem]
werdende Gebftude ihrer Theorie der Bewegung der Planetea
um die Erde von weiteren empirischen Beobachtungen stets
wieder als praktisch ungenügend dargetan wurde. Die
Erscheinung, daß ein noch so weit ausgedehnter Bestand
von Rechtsnormen in fortwährendem Kampfe mit den von
ihnen ungenügend beherrschten und sich deshalb fiberall
gegen sie geltend machenden tatsächlichen Verhältnissen
liegt, ist daher allen Rechtsgebieten gemeinsam.
Wir kommen nun im zweiten, positiven, Teile unsei
§ IG ^ zu der Frage, wie denn die zu konstatieren gewesenen
andersartigen Normen, die faktisch wirksamen Erfahrungs-
sätze, berichtigend und beschränkend in den eigentlich dem
spezifisch -juristischen System vorbehaltenen Bereich ein-
greifen.
Es kann das an sich in verschiedenen, mehrfach a1
gestuften Formen geschehen.
Die erste Gruppe haben wir schon gelegentlich
' Vgl. B. 74. 87.
« Vgl. Jbering. Zweck im
' Vgl. 8. 198.
VI 1. 203
»weiten Teile des § 9', zu erwähnen gehab^, ho daß sie hier
nur kurz gestreift zu werden brancht. Greifen wir beispielB-
weise noch einmal den Fall der zivilistischen Extinktiv-
verjahruog^ heraus, so liegt hier, wie seinerzeit bereierkt, die
Sache nach unserer Auffassung so ; Die zivilen Rechtsnormen,
die dem Verpflichteten ein bestimmtes Verhalten gebieten,
bleiben auch nach Ablauf der Verjährungsfrist in Kraft.
Trotzdem vermögen sie regelmäßig keine Befolgung mehr
EU erzielen. Und zwar deshalb, weil die Staatsorgane, die
sonst zur Verwirklichung der zivilen Rech taansprti che dienen,
jetzt vom Staate gerade umgekehrt angewiesen sind, ihre
Hilfe zu versagen.
Diese Fälle zeigen also noch ein Doppelgesicht: Vom
Standpunkte des einfachen Staatsbürgers angesehen, er-
scheint der ftir ihn gültige Normenbestand nur einer tat-
sächlichen Beschränkung seiner Wirksamkeit unterworfen.
Immerhin macht sich aber doch in dem an die gerichtlichen
Behörden sieh wendenden Staats ge böte , nicht einzugreifen,
ein technisch-rechtliches Moment bemerkbar". Bei den
im folgenden behandelten Tatbestilnden schwächt sich dies
aber wesentlich ab, um schließlich ganz zu verschwinden.
Das Wesen der nächsten Gruppe ist am besten durch
das Beispiel des Duells zu erläutern. Dieses wird be-
kanntlich einerseits schon seit langem als Verbrechen mit
kriminellen Strafen belegt, anderseits aber auch heute noch
in bestimmten Gesellschaftsklassen als unentbehrliche Not-
wendigkeit f[ir gewisse Fälle betrachtet, dergestalt, daß dos
I einzelne Mitglied einer solchen RIasse unter Umständen
lljrich selbst widerwillig dem Zwange ihrer Anschauungen
Jugt, anstatt dem strafrechtlichen Verbote Gehorsam zu
' Vgl- S. 88 ff.
» Vgl. 8. 101 ff.
• Vgl. 8. lOfi hei und in Anm. 1. Die verbreitete MflinunR, d»8
li Bifehle nur an etoatliuhe Organe kein nhjektiveH Recht entstehen
kSnDe, beruht ntif dem Mangel nunrcichender Featntellung diene! Orund-
b«griK; doch kann das hier nicht weiter verfolgt werden. (Vgl. e. ß.
Zorn, BeicliMtaatsrecht, 2. Aufl., I, 6. 405, Anm. 35).
204 VI 1
leisten. Die Tatsache nun, daß die Dämliche Handlung,
Ton Staate wegen untersagt ist, gleichzeitig gesellschaftlich
unbedingt gefordert wird, führt notgedrungen auch zu Ver-
suchen innerhalb des spezifischen Rechtsgebiets, den Gegen-
satz zu vermitteln und auszugleichen. Ist es doch schon
ein Kompromiß zwischen der gesellschaftlichen und der
doktrinär-juristischen Auffassung, daß der Zweikampf im
geltenden Recht nicht als Fall der gemeinen Tötungs- und
Körper verletzuDgs- Vergehen, sondern als delictum sui generis
erscheint. Aber auch dieser milderen Gesetzgebung gegen-
über erscheint eine noch mildere tatsächliche Handhabung,
Schon die Gerichte lassen bei der ihnen zustehenden Fesi
Setzung des Strafrnaßes erfahrungsgemäß meist große Mildi
walten. Vor allem ist aber der eigentümliche Einfluß zu bi
achten, den das Institut der Begnadigung für die tatslicl
liehe Gestaltung der Bestrafung gerade des Duells gewinnt
Wahrend die Begnadigung in ihrer allgemeinen Anwendung
auf alle, oder doch nahezu alle Straftaten, die nur im
einzelnen Falle mit Rücksicht auf dessen Besonderheit ein-
tretende Ausnahme ist, weil sie nach ihrem Zwecke nur die
Härte des im allgemeinen als gerecht empfundenen Gesetzes
in dem besonders gestalteten Einzelfalle mildern will, wird
sie hier zur Regel und setzt an Stelle der gesetzlichen
Regelung eine davon grundsätzlich abweichende tatsächliche
Behandlung, bei der die gesetzliche Straftat jedenfalls al»^,
ein viel milder zu beurteilendes Delikt erscheint.
Hier wie in den zuerst erwähnten Fällen sind es staal
liehe Organe , die von der Rechtsordnung abweichen ,
gegenüber den Einfluß real gegebener Lebenamächte
Geltung bringen. Aber ein wesentlicher Unterschied
steht doch auch hier schon. In jenen Fällen keine fi
Wahl des Organs, sondern eine ausnahmslose Pflic
und in ihr eine rechtliche Gewähr für den steten Sieg je
Einflusses über die strenge Rechtsnorm. Hier nur e
Befugnis des Organs zur Abweichung von der Recl
Ordnung, deren Ausübung im Einzelfalle rechtlich v
in-
I
VII.
205
Belieben desselben abhängt, also die Gewähr für ihr regel-
mäßiges Eintreten nur in der gleichmäßigen Fortdauer der
tatsächlichen Verhältnisse selbst findet.
Nach diesem letzteren Schema wird aber im modernen
ßechtsleben auch sonst weit häufiger verfahren, als im
großen und ganzen wohl angenommen zu werden pflegt.
Und in noch zahlreicheren Fällen könnte dieser Weg mit
Erfolg dazu benutst werden, um fiir allgemein beklagte
Übeiatände ausreichende Abhilfe zu schaffen. Hierfür noch
ein Beispiel.
Der Zeugniszwang, die Pflicht zum Zeugnisse vor den
Öeriehten, deren Erfüllung durch Strafen ihrer Verweigerung
und unmittelbaren Zwang gewährleistet ist, erscheint im
Allgemeinen unentbehrlich und ist deshalb wohl in allen
Rechtsordnungen von Kulturlandern vertreten ', Ebenso
»gewiß ist aber, daß er mit Rücksicht auf besondere per-
•Öüliche Verhältnisse Ausnahmen fordert. Diese sind im
■IJgemeinen ebenso gesetzlich anerkannt, wie die Regel
•ö'bst'. Trotzdem kann ein Fall eintreten, der außerhalb
der gesetzlichen Ausnahmen liegt, und in dem doch, ebenso
^'^ in den davon betrofi'enen Fällen, der Zeugniszwang
^'Qe ungerechtfertigte Härte enthält. Das ist insbesondere
'" neuerer Zeit, zumal angesichts bestimmter Vorgänge,
^•^eenfUllig geworden hinsichtlich des Zwanges gegen
«edakteure von Zeitungen zur Ermittlung der Urheber
strafbarer Handlungen, die ohne ihre Mitschuld durch die
Presse verübt worden sind. Hier ergab sich für den als
®v»ge in Anspruch genommenen Redakteur ein Konflikt
•** einer offenbaren sittlichen Pflicht, das ihm geschenkte
p^Ptrauen nicht zu täuschen, der den Zwang nicht minder
nesaen erscheinen ließ als in den Fällen gesetzlich
"^^rkannter Verschwiegenheitspflichten.
Das nächstliegende, tatsächlich auch vorgeschlagene
206
vr 1. '
radikale Mittel, Anfstellung einer neuen gesetzlichen Aus-
nahme zugunsten der Redakteure, erscheint unannehmbar,
da den bisher ina Auge gefaßten Fällen andere gegenüber-
stehen, in denen der Zeugoiszwang auch gegen sie als un-
entbehrlich und nur berechtigt empfunden wird. Man würde
also zu einer Kasuistik gedrängt, die von vornherein un-
gerechte Ergebnisse für den Eiuzelfall mit sich brächte
und ein sehr treffendes Beispiel für die oben geschilderte
Entwicklung der GeselzgebuDg durch Einfügung immer
neuer Ausnahmen abgäbe. In Frage käme nur eine der
neuerdings häufiger werdenden, aber auch vielfach sehr
bekämpften Ermächtigungsnormen, die den Wegfall des
Zeugniszwangs in diesem Falle vom Ermeesen des Gericht»
abhängig machen würde. Eine solche Regelung würde
jedenfalls sehr bald zu einem entsprechenden Zustande
führen, wie er hinsichtlich des Zweikampfs durch die aus-
giebige Anwendung der Begnadigung geschaffen ist. Die
Hache läge auch in der Beziehung, die uns hier interessiert,
durchaus gleich.
Aber auch schon der unter der gegenwärtigen gesetz-
lichen Regelung bestehende Zustand gibt wenigstens in ge-
wissen Grenzen, nämlich beim Haftzwang im Straf-
prozesse' ein gleiches Bild. Das deutsche Gesetz verfügt
hier nur, daß zur Erzwingung dos Zeugnisses auch die Haft —
in gewissem Umfange — angeordnet werden kann. Die
damit an den Richter verliehene Ermächtigung enthält allei^-
dings zugleich auch ein Gebot, von ihr nur nach sachlichett
Gründen Gebrauch zu machen. Dazu gehört aber
beaondere auch die Rücksicht auf das Wohl des Staats-
ganzen im allgemeinen, abgesehen von dem durch daa
anhängige Verfahren zu erreichenden Einzel zwecke. Und
gerade diese Rücksicht kann sogar zu einer allgemeinen
tatsächliclien Außerkraftsetzung des Zeugniszwanges gegea
Redakteure fUhren, wenn die Annahme richtig ist, daß seine!
I
' StP.O. g 69, Abs. 2.
VI 1.
207
I
Durchführung wegen der dadurch ganz allgemein heraus-
geforderten Kritik und Mißatinamung dem Staate selbst
mehr Schaden bringt, als der bestimmungsgemäß dadurch
zu erreichende Zweck wert ist.
Und so ist ja, nach den Darlegungen von aeiten der
Regierungen in der Sitzung des deutschen Reichtaga vom
16. Januar \9U4, der Zeugniszwang tatsächlich seit dem
Bestehen der Reichsjustizgesetze gegenüber Redakteuren
gebandbabt worden, so daß es nur in einer ganz ver-
ficbwindenden Anzahl von Fällen zu seiner Durchfilbrung
gekommen ist.
Auch bei den Fällen der zuletzt erörterten Art steht
aber zwiacben dem sieb durchsetzenden tatsächlichen Leben
and der ihm zunächst widerstreitenden staatlichen Rechts-
ordnung doch noch ein Satz derselben Ordnung, der die
BerUckaicbtigung des erste ren durch die Staatsorgane
wenigstens in gewisser Richtung deckt. Die an sich augen-
tkllig gegebene Machtlosigkeit der Rechtsordnung tritt zu-
folge einer von ibr selbst wenigstens nachgelassenen Be-
schränkung, mindestens praeter legem, ein. Um eine
völlige Parallele mit der zum Ausgange der Betrachtung
genommenen völkerrechtlichen Erscheinung zu gewinnen,
müßten wir aber eine Diskrepanz zwiacben abstrakter
Rechts reg el und faktisch- konkreter Erfahr ungsregel nach-
weisen können, die völlig contra legem besteht; ca würen
Fälle darzutun, in denen juristisch völlig gültige, inner-
staatliche Normen der praktischen Befolgung durchaus er-
mangeln, ohne daß dies in irgendwelcher Anlehnung an
das Recht selbst und durch seine Vermittlung seine Er-
klärung findet. Indes gibt es tatsächlich solche Fälle.
Dafür zunächst einige historische Beispiele ohne aktuelle
Bedeutung.
Als man in Frankreich 1824 nach dem Regierungs-
antritte Karls S. die schon unter seinem Vorgänger stark
einsetzende klerikal- feudale Restauration zu vervollständigen
antemahm, wurde auch ein Gesetz vorgelegt, und im weaent-
208 VI ]
liehen im Jahre 1825 durchgesetzt^, das mehr in
mittelalterlichen, ala in einen Staat des 19. Jahrhunderts
zu passen schien. In diesem, zur Stärkung von Macht und
Ansehen der Kirche bestimmten, „Sakrileggesetz" sollte
nach der Vorlage auf Einbruch in katholische Kirchen du
weg der Tod angedroht, die gleiche Strafe auch für Eni
weihung der heiligen Gefäße festgesetzt werden; unter be-
stimmten Voraussetzungen sollte sogar eine qualifizierte
Todesstrafe zur Anwendung gelangen. Und nur die letztere
Bestimmung gelang es der Opposition zu eliminieren; im
übrigen wurde die Vorlage tatsächlich Landesgesetz. Indes
zu wirklichem Leben, praktischer Geltung, kam sie doch
nur in ganz geringem Umfange, Es suchten nttmlich die
zur Handhabung berufenen Staatsorgane, die Gerichte,
jeder realen Anwendung so viel wie irgend möglich aus
dem Wege zu gehen, so daß die drakonischen Straf-
drohungen nur sehr wenig in konkrete Urteile umgesetzt
worden sind.
Ein anderes Beispiel bietet uns das Ende der Regierungs-
zeit Friedrich Wilhelms I, von Preußen. Im Jahre 1739
erliefi dieser in aller Form ein Edikt', daß, „wenn ein
Advokat oder Prokurator oder andrer dergleichen Mensch —
Leute aufwiegeln würde, um in abgetanen und abgedroschenen
Sachen Sr. Majestät immediate Memorialia zu übergeben,
alsdann Se. Majestät einen solchen Advokaten — ohne
alle Gnade und Pardon aufhängen und neben ihn einen
Hund hängen lassen wollen". Auch hier ergab sich in der
Praxis ein ähnliches Bild, wie in dem vorigen Falle: wenn-
gleich, nach der Darstellung Adickes', zu wiederholten
Malen Gelegenheit gewesen wäre, die menschenfreundliche
Absicht des Edikts zur Wirklichkeit werden zu lassen,
ist das tatsächlich doch kein einziges Mal geschehen.
In diesen Fällen finden wir einerseits rein juristii
' Vgl. Weber, WelteeBcliiclite, XIV (2. Äufl, 1B88), 8. 770.
' Vgl, Adickes, Zur Lehre von den Kechtsquellea , iabaio
Aber diu Gewohnheitaracht (187S), ä. 77.
209
gewisse Rechtssätze zweifellos in Kraft und Gültigkeit^,
L «odererBeits aber ein praktiBches Verhalten der Staatsorgane,
I die ee anging, das nacli empirisch feststellbarer Regel'
durchnuB nicht diesen Normen. gemäß war, sondern völlig
entgegengesetzt. Solche Fälle sind aber durchaus nicht so
selten, auch der Wissenschaft längst bekannt, und von ihr in
aUgemeinen Sätzen erörtert. Dabei macht sich aber als solche
allgemein aufgestellte These insbesondere die bemerklich,
daä man solche Erscheinungen durchweg als recht kurzlebig
betrachtet, daB man behauptet, der offene Kontlikt zwischen
den Anforderungen der Rechtsnorm und dem faktischen
Geschehen vermöge sich nie auf längere Zeit zu stabilisieren,
sondern finde immer bald wieder seine Lösung dahin, daß
L BDI weder das Recht über das Leben oder dieses über jenes
Kaiege, d. h. daß das eine Mal der zunächst blaß faktisch
r geltende Erfahrungssatz allmählich unter Überwindung des
bisherigen Rechts selbst zur neuen Rechtsnorm werde, das
andere Mal das alte Recht die Anfechtung siegreich über-
«iode und wieder zur ausschließlichen Herrschaft gelange.
r ' Ans früher herrscb enden AnscbaaimgeD heraos bätle msu dm
' tilerdii>e'* mit der Motivierung bestreiten kOniieii. daB Oeüctse nicht der
Sittlicbkeit, der Vernunft, dem eanzen Vulksgeist widemprechen dürften.
Qegenwirtig wird aber eine Kolch« unhRltbsre BeweiHführnng kaum noch
atBfÜioh nntemommen. Aucb Adickc« a. a. O. erkennt e. B. auB-
driloUicJi an, daß mit derartigen Argumeutatiunen der (formalen) Recht«-
gUtigkeit der betreffenden Gesetze nicht briEukommen ist. Vgl, u. a.
a. 3&IL, Tet
■ Darüber, waim eine sottlie R«gel aununehmea iat, kasii hier nicht
im ZnaammcDtiange gehandelt werden. Es genügt bier der Hinweis, daß
■ritiv tteU ein rt^lmäSigos Znwiderhüdeln gegen formell - gültige
eebtsoornien stattfindet, diivh so, daß dabei negativ nicht selbst wieder
entsprechend geänderto neue juriatiitehe Norm xuiitaade kommt, sei es,
B die« prinsipiell gar nicht mdglich ist (wie im Falle der iDlemationaleD
lumla rebuB sie stantibus!, sei es, daß bei an sich gegebener Höglich-
t die dazu notwendige längere Frist Doch nicht abgelaufen ist. Die
' "obeZahl von KontraventionBfiUeo lillt sich im altgemeiaen nicht
n. Unter Umatändca erncheint schon eine geringe Anzahl ans-
Hclimd. Nnr je geringer die Zahl der praktiscbou Fälle ist, uuf Omnd
Heu ein empirisches Gesetz au%estellt nird, am so grüBer ist auuh die
Oetkhr, daß es auch wieder empirisch widerlegt werden kann, bei den
Miialempiriaehen Gesetzen so gut wie bei den empiriachen Gesetzen jeder
■■tuTwisaenscbaft. [Vgl. noob ä. 232 ff. O. H.|.
StMt*- n. TUlkerreohtl. Ablmnill. Vi J. — Si'huiidl, 14
210
VTI
Daß „B.a( die Länge das menschliche Bewußtsein
spalt zwischen rechtloser Macht und machtlosem Recht nicht
erträgt" (Gierke), dafür lassen sich gerade die zwei er-
wähnten Fälle recht gut als Beispiele anführen. Denn im
eineu dauerte die Diskrepanz gerade fünf Jahre, 1825 bis
1830, im zweiten noch bedeutend kürzere Zeit. Es fragt
sich aber, was solche kurzatmige Fälle überhaupt für die
uns obliegende Darlegung beweisen.
Wir suchen nach Analogien des innerstaatlichen Rech)
für die bei der internationalen clausula rebus sie stantibiu
gefundene Erscheinung, daß sich der formell gültige Rechts-
satz (dort der äatz pacta sunt servanda) und das tatsächlich
abweichende Verhalten der Betroffenen (dort der Bruch
der Vertragstreue bei eigener Gefährdung des Vertrags-
Btaats) ständig , auf die Dauer , als nebeneinander be-
stehende Kräfte behaupten, von denen keine die andere zu
verdrängen vermag. Dergleichen ist nun hier freilich sehr
selten. Immerhin darf aber sein Vorkommen, im Gegensatz
zur herrschenden Meinung, auch nicht als völlig aus-
geschlossen bezeichnet werden.
Die deutschen Verfassungen pflegen eine unterschit
liehe Behandlung der ätaatsan gehörigen in Bezug auf di«
Zulassung zu den Staatsämtern zu verbieten. So bestimmt
Art. 4 der preußischen Verlas s u ngs u rkund e : Alle Preußen
sind vor dem Gesetze gleich. Standes Vorrechte finden nicht
statt. Die öffentlichen Amter sind, unter Einhaltung der
von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für alle dazu
Belkhigten gleich zugänglich. Der Sinn solcher Be-
stimmungen ist ganz klar, insbesondere wenn man berück-
sichtigt, welche geschichtlicli vorhanden gewesenen Zustände
damit ausgeschlossen sein sollen. Diesen Rechtsaätzen ent-
spricht aber die tatsächliche Übung keineswegs durchgängig,
wie man immer wieder nachdrücklichst festgestellt hören
kann. Allerdinge erledigen sich viele Beschwerden , ins-
besondere die konfessionellen Im pari täts klagen, meist damit,
daß das Vorhandensein befähigter Elemente in den angeblich
10
IU8- _
di«!
"VI I.
■211
mrückgesetzien Klassen nicht nachweisbar ist Andere
dftgegen sind gewiB nicht unbegründet. So ist nicht zu
bezweifeln, daß hie und da eine Bevorzugung des ehe-
maligen Korpsstudenten! ums bei der höheren Beamten-
k&rriere stattfindet. Ebenso gilt es ziemlich allgemein als
feststehende Tatsache, daß vom Stabsoffizier an eine nicht
sachlich begründete Zurücksetzung des bürgerlichen Elements
hinter dem adligen stattfindet. In denselben Zusammenhang ge-
hört es, wenn in einzelnen Staaten Angehörige des mosaischen
Glaubens grundsätzlich nicht zum Richteramte zugelassen
werden. In allen diesen FÄllen liegen hemmende Störungen
vor, die den unzweifelhaften Bechtssatz nicht zur tatsäcblicben
Durchführung gelangen lassen. Ihre Gründe sind höchst
mannigfach, wenn sie auch meist auf eine Art sozialer vis
inertiae zurückgehen, die geschichtlich gewesenen Gestalten
der gesellschaftlichen Verhältnisse einen Einfluß noch auf
die Gestaltung der an sieh veränderten Gegenwart er-
mllgHcht
Einfach ignorieren lassen sich diese Erscheinungen
nicht. Auch als vorübergehende lassen sie sich angesichts
der Tatsache nicht betrachten, daß sie durch ihre Fortdauer
seit der Einführung der konstitutionellen Verfassungen bis
auf die Gegenwart doch eine ziemliche Lebenskraft be-
wiesen haben. Auf der anderen Seite geht diese aber nicht
weit, daß es ihnen gelungen wäre oder je gelingen wird,
ie Hechtsurdnung ganz zu beseitigen. Die an sich mög-
;be Folgerung aus den Tatsachen, daß die letztere den
Bedürlnisseu keineswegs entspreche, »vird von keiner Seite
gezogen, auch nicht von derjenigen, die ihrer Nichtbeachtung
du Wort zu reden geneigt iat. liier bandelt es sich also
wirklich um Fälle, in denen im innerstaatlichen Rechlsleben
Rechtssatz und tatsächlich gefundene Erfahr ungsnorm ah
ebenbllrtige Milchte sich gegenüberstehen. Hier darf also,
wenn ein vollständig getreues Abbild von dem wirklich be-
stehenden Sachverhalt gegeben werden soll, auch wiaaen-
sohaftlich nur von einem in seiner Geltung durch die
„Uacht der Tatsachen" eigentümlich beschränkt «1|
Recht gesprochen werden.
§n.
Die Erscheinung, die sich aus den in § lö erörterte
Beispielen ergibt['), zeigt einen mehr oder minder gro6eii,n
nämlich durch Beeinflussung des erste ren durch letztere
modifizierten, Widerspruch zwischen Recht und Tatsache.
Das Wesen dieses Widerspruchs zu erfassen und seine
Lösung Ton einem höheren Gesichtspunkte aus zu var-J
suchen, ist nun noch unsere Aulgabe. Diese Aufgabe gehl
über den Stoff der Rechtswissenschaft insofern hinaus,
es sich hier um mehr oder weniger rein tatsächliche Vor«
gänge handelt, die der Herrschaft der Rechtssätze sich enfe^
[' Nor um BeiBpiele handelt es aicli. Ihre Auswahl ist vom Yee-
iUBter ersichtlich sua dem Oesichlapiuilile getroffcD, möglichst allgeiDein
bekannte Fälle zu trefTen. Will man in Sp^Kialgebieto eingehen, so lieBen
lie sich leicht qdi weitere Fälle vermehren, die die OeeAmterscheinnng
nooh treffender veranschs ulichen würden. So ließe sich der Fall der
Verjährung in der Bichtung EinerseitB auf die iogen. Nalnral-
obligationcn im allgemeinen, anderseits auf die Einrede im Sinne
dea Deutschen B.Q.B. überhaupt verallgem einem. Aber auch sonst hätte
daa straf- and livilrechtliche Problem der Orensen der Rechta-
widrigkeit mit Kückslcbt auf tataächtiche Verhältnisse, die die be-
treffende Handlung forderu, dem Verfasser reichen Stoff zur Durchführung
«einer AnscJiauuDg im einzelnen geboten. Man Tergegenw&rtige sich nur
die Fälle, die Zitelmann in seinem Auisatze über den AnsecblaB der
I Widerrechtlicbkeit im Archiv für die liviliatische Praxis, Bd. 99, S. 1 ff.,
knOrtert, und die LSsung, die der VerfasBcr in ihnen von seinem 8tand-
Ipnnkle aus gefunden haben wQrde. Der Ijehandlnng des Zweikampfs
f onrcb Gerichte und Gnfldeninstani steht das VerhSltni» der Poliiei bot
ppelei in den gewShnliohen Fällen, die «eitweise gacE begreuMtc
Verwendung des gesetzlichen Strafrahmens dafür (§ 180 des Oentsuhen
BtO.B.) durch die Oerichto und die ebenfalls zeitweise den weitesten
Umfang annehmende Begnadigung in derartigen Fällen sar Seite. Für
den Fall des Bndget-Konflikts hat der Verfasser die sieb ihm
gehende ADfrassimg selbst wenigstens angedeutet (vgl. oben S. 144, Ä)
Ansfiihrtich beabsichtigte er nach vorhaiidenon Aabeichnungen das Thi
des Widerstreita zwischen der gesetzten Staats v^rfassnng i
den realen Staatgbedürfnisson in polemischer AuseinandersetxnaS
mit den Ausführungen von Jagemanns über die rechtlichen Mittel ntt
Erhaltung der IlfliuUQngsfähigkeit des Reichs gegenüber Obstruktions-
beHtrp.bungen, in de»i<en Vorträgen über die Retchaverfassung, xa behandeln.
D. H.]
vri.
213
gegensteilen, genauer gesprochen, um die Wirkung von
Ursaclien anderer Art, als es die Rechtsgebote sind, auf
die Gestaltung des tatsächlichen Lebens, hior noch dahin-
gestellt, welcher Art sie 8ind['], Andrerseits gehört es
aber doch auch zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft,
die Grenzen der Herrschaft der Rechtsordnung im all-
gemeinen festzustellen, also auch insoweit, als diese Grenzen
in rein tatsächlichen d. h. andersartigen Umstünden bestehen,
nicht in dem Wesen der Rechtssatzungen an sich und ihrem
eigenen Willen. Ebenso wie die Rechtswissenschaft auch
da, wo es sich nur um den Inhalt der Rechtsordnung
handelt, an dem rein faktischen Geschehen, das für ihre Ge-
staltung wesentlich ist, nicht einfach vorbeigehen darf, sondern
z. B. auch den Tod des Menachen, den Besitz u. dergl. in
den Kreis ihrer näheren Betrachtung ziehen muß*.
Die Frage nach der Begrenzung der Rechtsordnung
durch tatsächliche Verhältnisse gehört der Lehre von der so-
genannten Geltung des Rechts an ". Diese Geltung wird heut-
zutage ganz allgemein als ein Erfordernis filr die Annahme
[' Die weitere AuEfuhraug dieses otfea gelassenen Puakt^s, ist in
An&eichnnngen de« Verfassers nicht entballeu. Nach Andeutuu^u
1 blieb sie einer für später in Aussicht genommeneD allgemeineil
itslehte Torbehalten. In früheren Teilen der Torliegenden Schrift,
Inders 8. 109tf., aber aach S. 96f. und 184 f., wird auf die nähere
kterisierung des Gegensataea von Recht und Tntsacbe anacheinetid
Tereichtet. IJocb enthält ja schon die Eiuordnung dieses Rechts uod
Tatsache unter den höheren B^riff des J^oiiaUebeua (oben &. 96,
S. 236) wenigstens den Anfang einer solchen. Des weilereo bleibt
inch die Frage oSen, ob das deui Rechte in den besprochenen
nUm BBtgwuDii'esetEte Tatsäehliche als das Sachgemäße aiuasehen iet;
dsDll es wird von einer Kritik, llilligung oder MiSbilligung . der einen
oder anderen iSeite des Oegensatzfs, abgesehen und auf die bluße MSglich-
k^t hingewiesen , daC das tatsächliche Nicbtrecht den Voraug vor dem
Secbta verdiene. Um so weniger läBt sich beurteilen, ab im letzteren
'~ lle die Rechtfertigung des Nichtrcchts gegenüber dum Rechte in der
tckmltBigkeit , oder in einer das Reolit überregenden sittlichen Norm
mtobea ist, oder ob Zweck mäfligfaeLt und «ittliche Berechtigung au-
. fkllen Süllen. Hier bleibt also der Ergänzung noch mancher
Vgl. aber doch oben S. 209, Anm. I und unten S. 225. D. H.]
» Vgl. schon oben 6. 96 ff, H. 107 f.
■ Vgl. oben S. 150 vor N. 1 und auch schon des Vcrfasaers Ocwohn-
beitarecht. 8. 23 f., S. 48 ff.
214
VI 1.1
von Recht ilberliaupt angesehen'. Daraus ergibt sich
vornherein ein Anstoß gegen unsere AutTaasung. Denn
wenn man daa Erfordernis der Geltung zunächst in seinem
Wortainn nimmt, so kann man aus ihm die Verneinung
einer beachtlichen Erscheinung der hier behandelten Art
überhaupt herauslesen. Gibt es nur geltendes Recht
läßt sich scheinbar einfach sagen: In unseren Fällen handelt
es sich, soweit die Tatsachen wirklich dem Rechte wider-
sprechen, um nichtgeltended, also überhaupt nicht mehr'
um Recht; es steht nicht Recht im Widerspruch zur tat-
sächlichen Lebenegestaltung , sondern Recht ist überhaupt
nicht vorhanden. Dabei liegen aber Mißverständnisse nahe,
die durch den Doppelsinn teils des Ausdrucks „Geltung",
teils der zur Feststellung dieses Begriffs gegebenen Um*«
Schreibungen hervorgerufen werden '.
Die Geltung wird in mehr oder minder abweichenden
Förmelungen als die tatsächliche Übung bezeichnet. Selbst-
verständlich ist damit nicht die ausnahmslose Befolgung der
Rechtssätze in dem Sinn gemeint, daß tatsächliche Voi>
gänge, die damit im Widerspruche standen, gar nicht vor-'
kämen ["). Das Recht ist und bleibt seinem Wesen nadt
eine Forderung, die von denjenigen, an die sie gerichtet
ist, befolgt oder nicht befolgt werden kann; ja es gehört
gerade das zum Wesen der Forderung auch des Rechts,
daß sie Beweggründen zum entgegengesetzten Handeln tob
beachtlicher Stärke eben durch ihr Dasein entgegenzuwirk»
sucht. Mit einem Worte: Die Verletzbarkeit des Recht
liegt notwendig im Begriffe des Rechts, das Vorhanden!
I
t-
T
n
,t ■
I Tgl. E. B. JeUinek, ÄII|;cmeiiie Staatslehre (1900), 8.
Nippold, Der Telkeirechtliche Tertrag, 8. 18.
* Ähnlich wie in dem S. 109, Anm. 2 erörterten Falle. VgL z
folgenilen: Bierling, J uristi sehe Primi p[eii1 ehre, Bd. I, S. 128, i
Bd. U, S. 246 tf.
[* Vgl. hierin Jellineh, Verfsssungsäudening und VorTluBiingi^
Wandlung (ISOli, fi. 2. Diese Schrift behandelt nehen anderem andi
einen Teil des Itier erörterten Probleme, die BeeinflusBuug des rechtlichen
VerfnBBURgsbestsiideB durch abweichende tatsächliche ZuatAude. D. H.]
VI 1.
215
von Unrecht ist, vielleicht paradox, aber durchuus richtig
gesagt, geradezu Voraussetzung der Annahme von Recht.
Wo das tatsächliche Geschehen ausreichend den An-
forderungen des Rechts entspricht, da hört das Recht als
solches auf zu wirken. So weit das von vornherein der
Fall ist, besteht kein Bedürfnis für die Aufstellung von
Itechtsa ätzen und unterbleibt diese deshalb '. Darum handelt
es sich hier natürlich nicht. Hier sind vielmehr solche
Fälle in Frage, in denen das Leben grundsätzlich die tat-
sächliche Herrschaft des Rechtssutzea, ganz oder in gewissen
Grenzen, überhaupt oder innerhalb gewisser Zeit, nicht
ftufkommen läßt. Es fragt sich, ob das möglich ist, ohne
dafi das Vorhandensein von Recht entfallt.
Möglich ist es zunächst zweifellos bei derjenigen Auf-
fassung der Geltung, die dazu nichts weiter als das formelle
Bestehen, genauer die Entstehung, des Rechtssatzes erfordert,
die Erfüllung der Voraussetzungen, die fUr das Zustande-
kommen eines Gesetzes oder eines Gewohnheitsrechtssatzes
notwendig sind. Das ist die Bedeutung der Geltung, wenn
von geltendem Recht im Sinne von positivem Hechle im
Gegensatz zu dem bloß aus der subjektiven Vernunft ab-
geleiteten, dem Naturrechte gesprochen wird^.
Aber darum handelt es sich wieder für uns nicht.
Die Erscheinung, die uns beschäftigt, ist — das wird
nach dem Gegensätze, wie er bisher erörtert ist, nun ohne
weiteres klar sein — die, daß ein Rechtssatz nicht bloß
formell gesetzt ist, sondern auch als bestehend, ver-
I bindlich, Forderungen an die der betreffenden Rechts-
I Ordnung Unterworfenen begründend anerkannt*, trotzdem
' Vgl. hierau des VorfasseTs OewohnlioitB recht, 8. 42 ff
* Vgl. Bergbohm iin dem Anro, 3 «ngetührteo Orte, 8, 51, Anm. *,
■ Dieseii Bugriff der Gdtnng finden wir x. B. bei AffoltBr, Grund-
tOn den Allgemeinen SMAtsrecbta, S. 22, aiK-h S. 66 (d«r fteilich dieie
GflltuDg liir niehu dem Rechte WeHeiitlicheii »nsieht — vgl. a. a. 0. und
Archiv fiir öffenllicheH Recht, Bd, V, 8, 'iOö f.). "iet Bergbohm, Juri«-
prndenr und Kechtipbilosophte, H. SO; ferner H. a. O., S. 402, 8. 18,
ti. 560 in der Anm.
216
VI 1.
aber aua überwiegenden anderen Beweggründen bei jeder
Gelegenheit dazu tatsächlich nicht befolgt wird.
Wie schon angedeutet, ist daa auch dann der Fall,
wenn dem anerkannten Satze der Gehorsam nur in gewiaBen
Grenzen verweigert wird. Und zwar ist daa die tatsächlich
überwiegende Zahl der Erscheinungen : Dabei lassen sich
nun, wie auch schon bemerkt, zwei Gruppen von Fallen
unterscheiden, Einmal handelt ea sieh um inhaltliche Aua-
nahmen, die im Übrigen Bchleehthin mit dem Bestehen des
Rechtssatzes verknüpft sind, aber es nicht zur sachlich gleich-
artigen Einschränkung desselben bringen, wie im Falle der
Verjährung. Oder aber es findet eine völlige Nichtbeachtung
des Rechtesatzes statt: dann dauert aber — das soll einst-
weilen zugegeben werden ; vgl. aber unten S. 223 f. — regel-
mäßig, wie in den geschichtlichen Fällen, dieser Zustand
nur begrenzte Zeit, weil, wie oben {S. 209 f.) bemerkt,
in aolchen Fällen eine achließlich siegreiche Tendenz der
Vereinigung von Recht und Tatsache, genauer, der Wieder-
vereinigung nach zeitweiligem Auseinandergehen, in der
einen oder der anderen Richtung besteht. Auch solche vor-
übergehende Zustände wollen aber — ganz abgesehen von
ihrer absolut vielfach ganz erheblichen Dauer — verstanden
sein; und davon darf auch der Umstand nicht abhalten,
daß die tatsächliche Feststellung, daß und worin der be-
treffende Zustand wirklich besteht, sehr schwierig ist und
daß vielfach über daa aubjektive Meinen des einzelnen
Beobachters dabei nicht hinauszugelangen sein wird.
Wir kommen damit zu einer Seite des Rechts begriffs,
die uns bisher noch gar nicht' beschäftigt hat, auf daa Ver-
hältnis des Rechts zu dem subjektiven Empfinden der am
Rechte Beteiligten, seien dies die theoretisch mit ihm Be-
schäftigten, seien es die praktisch davon Betroffenen, die
Lebenskreise, denen es gilt, und die möglicherweise damit in
I
. nur die B«rührui>f j^legentliuh einer beaondereD Frage oben
VI 1.
217
Konäikt kommen. Die zur Erörteruug stebende Erscheinung
bietet nun der Erklärung ganz verschiedene und verschieden
große Schwierigkeiten dar, je nachdem man aicli dieses Ver-
hültnis denkt.
Beispielsweise ist für den, der die Existenz des Rechts
überhaupt nur in das subjektive Empfinden des einzelnen
verlegt, eine Schwierigkeit gar nicht vorhanden. Das
Kechtsgefiihl , Rechtsurteil, oder wie man sonst sagen will,
steht dann neben anderen Vorstellungen, Beweggründen;
es wird fUr die Feststellung dessen, was talsächlich ge-
schieht, geschehen soll, von den letzteren überwunden; als
solches bleibt es aber trotzdem neben diesen, weder im
Inhalt noch in der Geltung an sich beeinträchtigt, weiter
bestehen. Die Schwierigkeiten zeigen eich erst, wo ein
objektives Element im Rechte anerkannt wird. Deshalb sind
die Tei'schiedenen Möglichkeiten der Auffassung des Rechts
in dieser Beziehung gesondert zu betrachten.
Die Auffassung, die das Recht nur als Inhalt mensch-
licher Vorstellung denkt, ist nicht bloß an sich möglich,
sondern auch, wenigstens in gewissem Sinne, richtig und
unanfechtbar. Wir gehen aus davon, daß unsere Erkenntnis
nicht über den Kreis unserer Vorstellungen in der wirk-
lichen Welt hinausreicht, daß also alles, was wir von Er-
scheinungen in der Welt aussagen, philosophisch genau
genommen, nur von entsprechenden Vorstellungen des Be-
obachters gesagt erscheint. In diesem Sinne ist auch das
Recht im allgemeinen, wie jeder einzelne Rechtsaatz nur der
Gegenstand einer, freilich ziemlich verwickelten, Vorstellung'.
Folgerichtig ist insofern auch kein Unterschied zwischen
einem bloß vorgestellten, möglichen und einem wirklichen,
^tenden Rechtssatze zu machen: das Paradoxon Kants
' Die Fhilosophiö redet Eamaiat nur von iler Erkenuharkeit der
Dinge, des Seins. i5eim Recht liuidelt en aicIi zweifelloB um eine Un-
■atDaie von Vorgängen. Indes er^bt dM in Wirklichkeit keinen
tJnterschied. Auch das Sein ial in Walirheit aai eine ZusammenfiiKaung
rinM andaaernden Vorgangs oder einer Menge von Vorgäugeu.
von den lUH wirklichen und den H.H) bloß vorgestellten Talern,
die sich nicht voneiniinder iinterscheiden, Iflßt sich genau
ebenso fiir diese beiden Arten von Recht aufstellen,
In diesem Sinne müßte man »uch den Satz von der
Clausula rebus sie stantibus, von dem wir bei allen unseren
Betrachtungen ausgingen, als einen Rechtssatz, gleichartig
dem Satze Pacta sunt servanda, anerkennen, obwohl er
nachgewiesenermaßen eben rein auf der Vorstellung des be-
treffenden Bearbeiters des Völkerrechts von dem Zweck-
und Rechtmäßigen beruht. Und das gleiche gälte von den
anderen einschränkenden Normen der Art, wie wir sie in
§ \6 erörtert haben. Von dieser Auffassung aus käme man
aber zu einer höchst einfachen Lösung der Schwierigkeit
auch dann, wenn man diese einschränkenden Normen, wie
wir es tun, als solche tatsächlicher Art auffaßte, hier also
die Rechtsvorstellung völlig ausschaltete. Denn die Existens
der vorgestellten Rechtsnorm würde durch die Anerkennung
der Vorstellung solcher andersartigen Normen in keiner
Weise alteriert. Diese Anschauung laßt also die Möglich-
keit doppelter Lösung der Frage zu, Sie kann schon dee-
halb nicht die entscheidende sein. Überhaupt ist aber in
dieser Abstraktion mit der Vorstellung vom Rechte ebenso-
wenig für das praktische Leben, wie für die weitere wissen-
schaftliche Erkenntnis des Rechts etwas anzufangen. B>
verhält sich hier nicht anders als mit anderen Erscheinungen
aus dem Weltbilde, für die mit dem Stehenbleiben bei dent
Satze von der Unerkennbarkeit der Dinge außer uns eben
alles weitere Forschen von selbst aufhört.
Tatsächlich sind nun die Einzelwissenscbaften. un-
bekümmert um die philosophische Erkenntnistheorie, ruhig
ihren Weg weiter gegangen, haben die Dinge der Welt aü'
erkennbar behandelt und sind so zu Ergehnissen hinsichtlicli
ihres Wesens gelangt, die, wenn auch nicht als erschöpfend,
so doch auch von vornherein nicht als praktisch bedeutungor
los gelten können. Insbesondere ist das hei der Natup-
wissenechaft der Fall, die gerade in ihrer Abwendung toq>
' VI 1.
219
der pbiloHophiscIien Abstraktion einen großen Aufschwung
genommen hat. Ebenso liegt die Sache aber auch für die
Rechts Wissenschaft. Und zwar handelt es sich dabei nicht
bloß um ein gleichartiges Vorgehen wie dort, sondern nach
unserer Auffassung ist das Recht als eine Erscheinung des
sozialen Gescheliena ebenso ein Gegenstand naturwissen-
schaftlicher Betrachtung, wie es die Vorgänge im Leben
des Einzel menschen und in der sonstigen Natur sind'. In
der Tat steht aber diese, kurz gesagt, naturwissenschaftliche
Betrachtungsweise, insbesondere des Rechts, der philoso-
phischen keineswegs so fern, wie es auf den ersten Blick
scheinen mag.
Nähere Betrachtung findet ja, daß sich den Vor-
Btellungen von Vorgängen der Welt, von denen der Philosoph
allein redet, doch noch etwas, was in den rein abstrakten
Vorstellungen nicht vorhanden ist, beimischt, wenn sie die
wirklichen Lebens Vorgänge ins Auge fassen, nämlich die
Berücksichtigung ihrer Wirkung auf Dinge, die außerhalb
der Erscheiiiung selbst liegen. Schon die Beobachtung ent-
sprechender Vorstellungen bei anderen Personen als dem
Beobachter, genauer gesprochen, das Hinzutreten der Vor-
stellung von solchen Vorstellungen zur Beobachtung der
eigenen, liefert für Jenen in den Fallen, wo sie auftritt,
den unmittelbaren Beweis, daß noch mehr da ist, als bloß
seine Vorstellung. Auch wenn wir dies hier im aligemeinen
nicht weiter verfolgen', dürfen wir, ohne auf Widerspruch
stoßen zu müssen, für unsere besondere Frage, die nach
der Geltung des Rechts, den 8atz aufstellen, daß in unserer
Vorstellung das rein abstrakte Recht von dem wirklich
geltenden sich deutlich dadurch unterscheidet, daß mit
■ letKtfirem sich ohne weiteres die Vorstellung einer Ein-
wirkung sogar auf das praktische Verhalten auch anderer
' Darüber b. nooli unten.
' Oher die Veracliiebung des GegeriHUinda der B*obacUtiitig|, je nsch-
1 «um seine Eiiiwirkna^; auf die mniRch liehen Viirslelluogan in Betr ' '
p tieht oder nicfat, vgl. a. B. Wuudt, Orandriß der Psychologie, 8. 2
220
VI 1.
Personen verbindet. Selbst wenn wir bei diesem Unter-
schiede des wirklichen von dem bloB gedachten ReL'hte
stehen bleiben, wie dies heute noch von einer verbreiteten
MeiDung geschieht, verschiebt sich unsere Frage schon
ganz erheblich. Denn schon hier tritt die Schwierigkeit
zutage, der die Anschauung, die das Recht in die bloße
Vorstellung verlegt, nicht ausgesetzt ist: es handelt »ich
alsbald um die Feststellung, ob in den zur Erörterung
stehendeu Fällen eine Beeinflussung des praktiseheu Ver-
haltens durch das Recht oder durch Ursachen anderer,
tatsächlicher Art erfolgt.
Noch augenfiUliger wird dies aber, wenn wir weiter-
gehend das Recht nicht bloß als einen in der Vorstellung
wurzelnden und den Willen beeinflussenden Beweggrund
des einzelnen auffassen, sondern diesen Beweggrund als eine
reale Macht denken, die von außen an die dem Rechte
Unterworfenen herantritt, weil dies unseren Vorstellungen
vom Wirken des Rechts am besten entspricht. L>iese Auf-
fassung kann hier nicht noch einmal eingehend gerecht-
fertigt werden. Dies ist vom Verfasser in seinen früheren
Schriften ' geschehen, soweit es in dem dortigen Zusammea-
bange geschehen konnte; und eine weitere Ausführung,
insbesondere von dera im Vorstehenden berührten philoso-
phischen Ausgangspunkte aus, könnte mit der nötigen
Gründlichkeit nur in der von ihm weiter geplanten besonderen
Studie über das Recht^ erfolgen. Hier sei nur noch ein-
mal das Ergebnis hervorgehoben. Recht ist nichts Anderes
als der Wille der Gemeinschaft, die dazu berufen ist, die
Verhältnisse ihrer Angehörigen in irgendwelcher Hinsiebt
2u ordnen, zumal des Staates, der diesen Beruf im um-
fassendsten, grundsätzlich nicht beschränkten, Umfange hat.
Der Gemeinschaftswille hat in seiner Art keine anderen
Voraussetzungen seines Werdens und Seins als der Wille
' Vgl. üiübeBondere die
(S. 76 S).
[» Vgl. ebenda im Vorwort (S. V).
über den Staat, Absi^lmitt V iiud n
D. H.]
VI 1.
221
des Einzelnen. Auch eine besondere Art der Erklärung ist
ihm nicht wesentlich. Die Erklärung macht auch ihn nur
nach auSen erkennbar. Das geschieht für den nach innen,
auf Verhältnisse im Innern, gerichteten Willen durch Gesetz
und Gewohnheit', nach außen durch Übereinkunft zweier
oder mehrerer Staaten und wieder entsprechende Gewohn-
heit [*]. Aber das sind, wie gesagt, nur die Formen, in
denen das Recht erkennbar wird. Vorhandensein kann
es auch ohne sie; nur daß es dann eben nicht zu er-
kennen ist. Deshalb ist es im einzelnen Falle sehr woht
möglich, daß eine scheinbar rein tatsächliche Hand-
habung in Wahrheit das geltende Recht ist, das formell
erklärte dagegen nicht oder doch nicht mehr, oder, wenn
doch, so nur eingeschränkt gilt. Daraus ergibt sich
flir dieae Auffassung des Rechts zunächst eine große
' Über lelEtera Tgl. dee VerfiWBers Gewohnlieitareolil.
[' Über die Natur eleu VölkerrecbU, die er ebenfBlU in pinor bo-
gouderen Studio «n behandeln fachte (vgl. die Vorrede tum ,8Ust'
a. a. O.), insbesondere ilbar seine RechtsquftHtät and seine Einordnung
in einen böbereu Kecbtabe griff, der anch das inneretiuillicbe, allgemeiner
innergemeinschaflliehe, Kecht rnntiiltte, bat der Verfanger nocb keine
Gelegenbeit gebabt, sieb ausEnsprechen. Soviel an eneben, iat ihm auch
hier das Entacbeidende , also beiden FKUen Gemein b ame , der Gemein-
BchaR8-(8taaIs-) Wille, das Unterscheidende hier die Einseitigkeit des einen
Willens, dort der Zusammenschluß mehrerer solcher Willen (vgl. oben
S. 2, 3 Amn. 1, S. 28, 81, 55f., 109 Ajim. 2, 8. lU, 165f.). Daß so
der Wille der einzelnen StaAlen auch fQr das VSIkerrecht als die einzige
Quelle erscbeinti ist übrigens nur die formal-jaristischs Seite der gansen
AofcbannDg, die den Staat und sein Interesse in den Mittelpunkt der
fietachtuDg anch d^a Kechtea stellt, einer Anschauung, die mehrfach
(vgl. 8. 95 f., IIa f., 120 f.) anch auf die Bestimmung des Inhalt« maß-
gebenden Einfluß gehabt bat , notem dort auch die TSIkerrecbtticben
Pflichten des Staats, insbesondere die der Vertragstreue, im letzten Grunde
auf sein eigenes Interesse zurück geßhrt werden, nicht bei dem gemoin-
■amen Interesse aller am Völkerrechte beteiligten Staaten stehen geblieben
wird. Diese Grundanscbauung des Verfassers liefert auch den BchlOaael
in seiner Verneinung jeden Rechts innerhalb der Gemeinschaft, das nicht
roii dieser ausginge, insbesondere eines Privatrecbts, welches dieEi meinen
durch Vertrag oder Gewohnheit schüfeu, neben den slnatlicheo und kirch-
lieben Normen des Privallebens, Aus der HÖgliuhkeit derartigen Rechts
fwiicben Gemeinschaften, wie es das vnikerrecht ist. darf nicht auf jene
USglichkeit geschlossen werden, weil ancb dort der Oemeinsohaftawillc
das wesentliche ist. Man sieht, wie mit dem Ausgangspunkte alles steht
tind filK, warum st. B. der Verfasser zu ganz anderen Ergebnissen kommen
BUll ala Bierling in seiner jurittischen Prinxipienlehre. D. H.]
222
VI 1.
Schwierigkeit, festzustellen, was Hecht und was rem tat-
sächliches Geachehen iat'.
Die Frage iat im Anschluß an frühere A usfiih rangen ^
dahin zu lösen, daß Recht erst dann anzunehmen ist, wenn
feststeht, daß ein tatsächliches Verlialten, welches im Wider-
spruch mit den bisherigen Rechtasätzen steht oder doch in
ihnen keine ätiltze tindet, keine Rektifikation durch irgend-
ein kompetentes Staatsorgan auf Grund des biaherigen Be-
standes an Rechtsnormen zu erwarten hat. Daraus ergibt
sich für die Unterscheidung zwischen dem wirklich geltenden
Recht und dem es wirksam bekämpfenden tatsächlicheo
Verhalten sowie für die Begrenzung des letzteren im Gegen-
satz zur gewöhnlichen Rechtsverletzung folgendes.
Die letztere erkennt den Rechtssatz, zu dem sie in
Widerspruch tritt, als vollwirksain und für den Betreffenden
selbst in jeder Richtung verbindlich an; sie handelt ihm
nur im einzelnen Falle zuwider. Das tatsächliche Ver-
halten, das uns hier beschäftigt, bekämpft die Herrschaft
des Rechtssatzea als solche; es will ihm nicht nur in jedem
Einzelfalle entgegentreten, sondern grundsätzlich den Gehor-
sam versagen, weil ea seine Herrschaft der Gemeinschaft
nicht für zuträglich, nicht für sozialgemäß hält*. Es wird
zum Recht, wenn es die Anerkennung aller berufenen
Staatsorgane und damit des Staates selber, bezw. aller
beteiligten Staaten erhält, gleichviel ob in Gesetzes- bezw.
Vertragsforra oder durch ihr tataächlichea Verhalten, und,
soweit als dies geschieht. Bis dahin und soweit diese An-
erkennung nicht erfolgt, bleibt es Nichtrecht, auch wenn
es sich tatsächlich dem Rechte gegenüber durchsetzt [*].
' V^l. oben 8. 216 und Qewohnheita recht, 8. 2Bl'.
' BeBODder» Gewobnheitarecbt, 8. 21 f, 29, 47; aber auch schon
obea H. 209.
* Darüber nuuh imten ä. 225.
[* M&ber ausgeiübrt ist dieaer Geeensstz von Recht nnd Nichtrecht
vom Verfaaaer hier nicht (vgl. such S. 209, Anm. 2). Aus anderen Teilan
seines Werkes läBt sich seiue Auflossnng wenigstens in iwei Biohtungen
ergänsen. Soviel scheint sicher, daß er aur Annahme eines Hechtasaties
eine als allgemeine gewollte Beg;el fordert und im Gegensatae daau das
VI 1.
223
I
Damit ist der Grundsatz für die Beurteilung der in
den Beispielen des § lö vorgeführten Erscheinung gewonnen.
Er deckt sich mit demjenigen, der nach unseren Aus-
führungen fttr die zutreffende Auffassung des Satzes von
der clausula rebus sie stantibus und der gleichartigen Er-
scheinungen des Völkerverkehrs aufzustellen war. Das
wird nach dem Gesagten jetzt näherer Ausführung nicht
mehr bedürfer.
Wie nur in Wiederholung des früher* Gesagten noch-
mals hervorgehoben werden soll, mag faktisch dieser ZuEtand
der Herrschaft der bloßen Tatsache über das Recht vielfach
ein bloßer Übergangazustand sein; aber zu seinem Wesen
gehört das keineswegs; vielmehr spielt die Herrschaft von
Tatsachen ohne rechtliche Sanktionierung im Leben der
Staaten, und zwar sowohl im inneren Leben, wie im Ver-
WeBfiti dar hier beHprochenen Eracheinuiig in Einzelentschi üaaeD »jebt,
die gleichmäßig mied erkeli reo, aber doch nur von FhII xu FhU erfolgen,
■Jm aar erfnhrungimlBigeD Anhalt für die weitere GesUiltune: in gleichen
Flllen liefern (vgl. S. 27. 123, 149). Femer wird sich aus seinen Beispieleu
folgern lassen, daß er dem xnr Annatune vom Becht woaentlichea Gemein-
Bouftawillen (Staats- und Staaten- Willen] den in der tatsäahlichen Hand-
habung luni Ausdrack hnnimenden Willen einzelner Subjekte, eincelner
Staaten und einzelner Leben«kreise innerhalb eines Staats, insbesondere
elnaelner StaatHorgane entgegensetzt, die, wie die Gnaden Instani in der
Joitiz, so gnt wie ausschlieulich zur Normierung der Eiuzelverhältnisse
in gewissen Richtungün berufen sind und in ihren regelmSBig befolgten
Uaximen leicht den Anachein einer allgemeinen ßechtsregel hervorrufen
kfinnen, während es sich immer nar nm eine bloU tatsächliche und als
•otche im Gegensatz zn eiuem geltenden Kechtssatze stehende Übung
bandelt Dem wird man nicht entgegenhalten dürfen, daB er vielfach
den BichterS[imch als dem Rechtssatze gleichwertig behandele, insbesoDdere
wo er den Mangel des Vöikern-chts in dieser Hinsicht hervorhebt (vgl.
8. 187, Anm. 2 mit Anfiihmngen); vielmehr erscheint gerade hier der
Riabterspnich überall auf einer Stufe mit der tatsächlichen, nicht
rochtlichen, Beeindussung des Volk orvorkehrs durch die dafttr erheblichen
Umitände (res mutatae, res nie stantcs). Als Zwischenglied zwlcchen
den beiden Mächten, Kecht und Tatsachen, erscheint allenüngs äie lie-
bfirdliehc Handhabung da, wo nach der Aulfiusung des Verßusers ueb«u
dem Bechtasatz für die sämtlichen btsutaunternorfeneD eine besondere
recbtiiche Anweisung zur Abweiehmig davon für die Behörden be-
sieht, die den Tatsachen bis zu einem gewissen Grade Kechnnng trägt,
wie im Falle der Veijährnng — eine Erscheinung, die aber nstni^miK
anf das innfirstnatlicbe Lehen beschränkt bleibt, dem VSlkerreoht fremd
iat (vgl. a. 106 f., 2m. D. H.)
' 8. 20a. 216.
I
226 VI 1.
einseitigen Rechtswissenschaft verteidigt werden muß. Sie
ist die Grundlage einer Rechtslehre, die das Recht am
gebührenden Platze in die Gesamtheit der im mensch-
lichen Gemeinschaftsleben, zumal im Staatsleben wirk-
samen Faktoren einordnet, der empirisch-sozialen, sozial-
dynamischen Rechtslehre.
Piereriohe Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet
Dr. Georg: Jelllnek und Dr. Georg Meyer,
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Anschütz,
ProfeiioreD der Rechte in Htidelbng.
VI. 2. Dbb pari am enta rieche Interpellation arecht. Bechts-
vergleichende nnd politische Studie von Dr. Hans Ludwig
Rosegger.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot
19ü7.
Das parlamentarische
Interpellationsreeht
Rechtsvergleichende und politische Studie
Dr. Hans Ludwig Rosegger.
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot
1907.
Alle Rechte vorbehalten.
Pierersche Hofbuohdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
Vorwort.
Die Darstellungsart, die dieser Arbeit zugrunde liegt,
setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus einem juri-
dischen und einem politischen; eine rein rechtliche, oder
eine rein politische Behandlung des Themas wäre weder
dem Geiste noch der theoretischen und praktischen Be-
deutung des parlamentarischen Interpellationsrechtes gerecht
geworden, denn sein Wesen beruht in allen Parlamenten
nicht nur auf Rechtsnormen, oder der Interpretation von
solchen, und auf Geschäftsordnungsbestimmungen, sondern
auch auf teilweise ungeschriebenen Regeln welche die Be-
dürfnisse der Praxis zeitigten. Die Notwendigkeit, alle
diese verschiedenen Quellen zu berücksichtigen, bestimmte
die Art der Darstellung.
Die Abhandlung zerfällt in zwei Teile-, der erste all-
gemeine erörtert den Charakter des Interpellationsrechtes,
sein Werden, seinen Ausbau und seine zeitlich und
örtlich wandelbaren Erscheinungsformen und streift den
„Zweck" der Institution; der zweite besondere Teil bringt
das Interpellationsrecht einzelner parlamentarischer Kammern
für sich abgeschlossen zur Darstellung.
Die in konstitutionellen Staaten in Kraft stehenden
Normen und Gewohnheiten, die sich auf das Interpellations-
wesen beziehen, fanden nicht durchwegs gleiche Berück-
sichtigung ; die für uns historisch wichtigeren und praktisch
bedeutsameren wurden in den Vordergrund gerückt, und
überdies war der Arbeit durch das dem Autor zugängliche
VI VI 2.
Material, wie es Theorie und Praxis liefern, eine gewisse
Grenze gezogen.
Ohne daß diese Arbeit daher auf Lückenlosigkeit An-
spruch erheben könnte, dürfte sie doch auch anderseits
keine wichtige Seite des Stoffes gänzlich vernachlässigt
haben.
Aufrichtigen und wärmsten Dank für wertvolle Rat-
schläge und stets hilfsbereite Unterstützung dieser Arbeit
schuldet der Verfasser Herrn Geheimrat Professor Georg
Jellinek, und ebenso fühlt er sich verpflichtet, Herrn Pro-
fessor Franz Hauke und Herrn Dr. Karl Neisser fUr die
liebenswürdige Förderung zu danken, die sie dieser Studie
angedeihen ließen.
Dr. H. L. üosegger.
Heidelberg, im Frühling 1907.
Inhaltsverzeichnis.
A. AUffemeiner Teil.
Seite
1. Wesen und Zweck des Interpellationsrecbts 1
2. Gegenstand der Interpellationen 15
8. Der rechtliche Charakter des Interpellationsrechts 25
4. Erscheinnngsformen des Interpellationsrechts 45
5. Dem Interpellationsrecht ähnliche Institutionen 64
B. Besonderer Teil.
1. PreuBen und das Deutsche Reich 68
a) Der Landtag des Königreichs Preußen 71
a) Das Abgeordnetenhaus 71
ß) Das Herrenhaus 77
b) Der Reichstag des Deutschen Reiches 78
Anhang: Die Einzelstaaten 81
2. Österreich 84
a) Das Interpellationsrecht der beiden Häuser des öster-
reichischen Reichsrates 88
a) Das österreichische Abgeordnetenhaus 88
ß) Das österreichische Herrenhaus 95
b) Das Interpellationsrecht der Delegationen 96
Anhang 97
a) Ungarn 97
fi) Die Landtage der im Reichsrate vertretenen König-
reiche und Länder 97
3. Frankreich 99
4. England 103
5. Das Interpellationsrecht anderer Staaten 109
Abkürzungen.
Abg^.H. = Abg^eordnetenhaus ;
Bericht des Abg^.H. = Bericht des Geschäftsordnongsausschasses über die
Anträge . . . betreffend die Änderung der G.O. des Abg.H. ; 1729
der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des Abg.H.; XVII.
Sess. 1908;
Bericht des H.H. = Bericht der Spezialkommission zur Beratung des
Antrages des Fürsten Schönburg, betreffend die Abänderung des
Ges. vom 12. Mai 1878, R.Q.B. 94, über die G.O. des Reichs-
rates; 247 der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des H.H.
XVH. Sess. 1905;
G.O. = Geschäftsordnung;
G. ü. d. R.y. (Gesetz über die Reichsvertretung) = Ges. vom 21. Dezember
1867 R.G.B. 141, wodurch das Grundgesetz über die Reichs-
vertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird;
H.H. = Herrenhaus;
I.R. == Interpellationsrecht;
Regierungsvorlage = Reg^erung^orlag^ , wonach das Ges. vom 12. Mai
1878 R.G.B. 94 in betreff der G.O. des R.R. abgeändert werden
soll; 2552 der Beilagen zu den stenogr. Protokollen des Ab-
geordnetenhauses; XVn. Sess. 1906;
R.R. = Reichsrat:
R.T. = Reichstag; daher z. B. D.R.T. == Reichstag des Deutschen
Reiches;
T.O. = Tagesordnung.
A. Allgemeiner Teil.
I. Wesen und Zweck des Interpellattonsreclits,
L'm das Weson der Begriffe „Interpellation" und
„Interpellationareclit" zu durchdringen, um es von dem
ähnlich gearteter parlamentarische!- Einrichtungen — der
Anfragen, Petitionen, Resolutionen — zu scheiden, müssen
seine typischen , essentiellen Merkmale hervorgehoben
werden.
Allerdings darf die Erledigung einer Vorfrage nicht
(Ibergangen werden , von deren Beantwortung es abhängt,
ob es überhaupt möglich ist, die in den verschiedenen
Kammern in Geltung stehenden Interpellationarechte einer
vergleichenden Darstellung zu unterziehen; diese Vorfrage
lautet: Existieren solche erwähnte „typische und essentielle
Merkmale" ? Hat das Interpellationsrecht in allen den
parlamentarischen Kollegien, in denen es in Kraft steht,
tatsHchlich eine im Kern gleichartige Gestaltung und einen
überall vorhandenen Grundstock derselben charakteristischen
Eigenschaften ?
Es ist ja auch denkbar — auf manchen anderen Ge-
bieten ist ein konformer Vorgang zweifellos zu konstatieren — ,
daß unter die Itegriffe „Interpellation" und „Interpellations-
recht" völlig von einander abweichende Institutionen sub-
sumiert werden, denen schließlich niciils als der Name und
nur dieser gemeinsam ist.
Dagegen bleibt es fUr diese Untersuchung gleichgültig,
wenn Einrichtungen, die sich auf Grund des noch fest-
2 VI 2.
zustellenden Wesens der Interpellation als solche charakteri-
sieren, in einschlägigen Gesetzen, in sonstigen Bestimmungen
oder im parlamentarischen Jargon mit einem individuellen
Namen bezeichnet werden. Es kommt nicht auf die Be-
nennung, sondern auf den Gehalt der Institution an. Gleich-
falls ohne Bedeutung wird es sein, wenn in manchen
parlamentarischen Kollegien besondere Gruppen von An-
fragen mit unter dem Titel „Interpellation" registriert sind,
ohne daß diese Gruppen alle deren typische Merkmale an
sich tragen; für eine vergleichende Darstellung ist es
irrelevant, ob die Grenzen eines BegriflFes bald weiter bald
enger gezogen sind.
Tatsächlich gibt es in jedem Parlamente ein besonders
qualifiziertes Fragerecht von Mitgliedern der Kammer oder
von der Kammermehrheit an einen genau bestimmten
Personenkreis ^ , dem allgemein markante Eigenschaften
inhärieren, so daß es sich namhaft von sogenannten „ein-
fachen Anfragen^ unterscheidet und es nicht nur gerecht-
fertigt, sondern geradezu ein Gebot der klärenden Not-
wendigkeit ist, es mit einem eigenen Ausdruck zu versehen.
Trotz der Gemeinsamkeit der Grundelemente, die das
Interpellationsrecht bilden, zeigt dieses im übrigen auf der
Verschiedenheit der Parlamente basierende Eigenheiten, die
es in jedem Kollegium doch noch zu einem Individualgebilde
stempeln.
Somit sind die Voraussetzungen für eine vergleichende
Untersuchung gegeben : Einheit der Gattung und Spezialität
des Individuums^.
^ So^ar die Constitution ottomane, promulg^e le 7. Zilhidje 1293
(23. Dezember 1876) — ein Verfassungsversuch in der Türkei — statuierte
in Art. 37 u. 38 die politische Verantwortlichkeit der Minister und deren
Pflicht, der Deputiertenkammer auf gestellte Anfragen Antwort zu erteilen.
Annuaire de legislation ^trang^re, 1877, S. 707 S.
^ Über die Spezialitat dpa 1. R. in den verschiedenen parlamentarischen
Kollegien sagt Es mein, Elements de droit constitutionnel fran^ais et
compar^; 3. Aufl., S. 813: „. . . le sjst^me de questlons et des inter-
pellations est un produit de Tbistoire et de la pratique et, par suite,
chaque Parlement Ta modelt selon son g^nie et ses besoins.''
VI 2. 3
Daß dieser allen In terpellations reell ten zugesprochene
gemeinasme Charakter auch wirklich vorhandün und nicht
nur die Ausgeburt einer theoretisch wuchernden, aystemi-
aierungsl liste r 11 en Phantasie, die mit Vorliebe kategoHsierend
und uniformierend im Widerspruch mit der Wirklichkeit
arbeitet, ist, läßt sich leicht auch aus der Genesis des
Interpellations Verfahrens nachweisen. Sein Typus verdankt
zwei Ursachen, die sich teils unterstutzten, teils ergänzten,
seine Entstehung:
a) der Nachahmung und
b| den gleichen Bedürfnissen.
a) Die MachahmuDg.
Wenn man bedenkt, welche ereignisschwere und kata-
strophenreiche Entwicklung der Ausgestaltung die Staaten
auf dem Kontinente durchmachten, wie sie — allen voran das
zentralgelegene deutsche Reich — den weiten Schauplatz
für blutige Kämpfe und Kriege boten, landfremde wUstende
Heere gegen andere landfremde sengende Armeen streiten
sahen, während England Über ein halbes Jahrtausend im
eigenen Stammlande keinen Feind — außer sich selbst —
EU bekriegen hatte, wenn man ferner bedenkt, daß dadurch
auch das englische Verfassungswesen eine zwar nicht
knoflikt- und sturmlose, fUr den RUckblickendeu aber immer-
hin organische Entwicklung hinter sich hat, so kann ea
nicht wundernehmen, daß seit der Herrschaft des Absolutismus
in West- und Mitteleuropa die Blicke aller „liberal"
Denkenden, in der* Suche nach berühmten Mustern, un-
willkürlich über den Kanal schweiften, und die utopistiechen
Köpfe der Reformer in Überschätzung der Rechtsnormen
und deren Einfluß auf die Gestaltung des TatsSchlicheii
eine Nachahmung englischer Organisationsformen forderten
und empfahlen.
England schien und scheint manchem heute noch das
Eldorado, das strahlende Vorbild, das man auch verfassungB-
rechtlich nachahmen mUäse,
4 VI 2.
Und in der Tat: englische Ideen, englische Systeme
zogen über den Kanal nach Osten, genau wie sie vorher
über das Weltmeer nach Westen gesegelt; sie wurden
akzeptiert und imitiert.
Natürlich konnte von einer sklavischen Nachahmung
keine Rede sein, denn erstens kannte man das Urbild zu
wenig und zweitens bedurfte das Übernommene gewisser
durch die Verhältnisse der Rezipienten bedingter Ver-
änderungen, die oft vielleicht in zu geringem Ausmaße,
jedenfalls jedoch zu theoretisch-rationalistisch vorgenommen
wurden.
Das Frankreich der Revolution schritt mit der Rezeption
an der Spitze, der übrige Kontinent, sowie und soweit er
konstitutionellen Einflüssen zugänglich, folgte nach und
akzeptierte das angelsächsische Vorbild in romanischer Form,
die nun jeder Staat für sich abermals, entsprechend seiner
Vergangenheit und seiner Gegenwart, ummodelte — und
diese Verfassungsurkunden und Verfassungsgesetze , die
zumeist unter dem Dröhnen revolutionärer Strömungen ge-
boren wurden, übten aufeinander Wechselwirkungen aus;
man kopierte einander.
Es läßt sich im einzelnen gar nicht mehr oder nur in
groben Umrissen konstatieren, was in einer Verfassung
„urwüchsig" das Produkt eigener sozialer Kräfte ist, und
was fremden Organisationen entliehen wurde. Und nicht
nur gewichtige Organisationsgrundsätze waren es, die
ein Staat von einem anderen Staat, uneingedenk, daß es
auch auf dem Rechtsgebiete keine absoluten Werte gibt,
annahm , sondern auch Nebenbestimmungen , Geschäfts-
ordnungen^, unter anderem: Das Interpellationsrecht.
* So z. B. hat auch das englische Unterhaas, als es nach der ersten
Reformbill an eine Umgestaltung seiner G.O. ging, Informationen über
das Verfahren in der franzosischen Kammer und im Repräsentantenhaus
der Union eingeholt. (Redlich, Recht und Technik des Englischen
Parlamentarismus, 1905 Seite 106) vergl. bezügl. ähnlicher Vorgänge
femer Plate, die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses,
2. Aufl. S. 8; ebenso die ^^Regierungsvorlage'^ betreffs Abänderung des
G.O.Ges. für den österr. R. R.
VI 2.
Dieses Wandern doa Inlerpellationsrechts von Parlament
zu Parlament, das Aufbauen einer Kammer auf den Er-
fahrungen einer andern Kammer, das Nachahmen fremder
Formulierungen sind die eine Ursache für die Wesens-
gleifhheit der Interpellationsrechte in den parlamentarischen
Kollegien.
Tiefer und bedeutsamer liegt die zweite Wurzel der
HomogenitSt. Gleifhea erzeugt Gleiches — der Satz gilt
auch fUr das Werden sozialer Erscheinungen und das
Interpellation arecht bedingten in den Kammern auch
b) die gleichen Bedörftiisse.
Rezipieren , indem anderswo sieh bewährende Ein-
richtungen übernommen werden , d. h. daß etwas in Form
eines Gesetzes oder einer andern Vorschrift als geltende
Norm bezeichnet wird, ist ein formaler Vorgang, der von
Einfluß auf die Praxis sein kann, aber nicht sein muß.
Nur dort, wo die Verhältnisse, die Vorbedingungen derart
sind, daß die rezipierten Regeln ihnen entsprechen, da geben
diese ihr leeres Papierdasein auf und werden lebendes ge-
übtes Recht, sonst fristen sie in einem Archiv ein Schein-
dasein ohne Kraft und reale Bedeutung.
Ein derartiges blutleeres Jammerdaaein war dem
Interpellationsrecht nicht beschieden, im Gegenteil: seine
Übung zeigt sogar die unbestrittene Tendenz, die ihm ge-
zogenen Schranken zu durchbrechen, seine Machtsphäre über
das Maß und die Grenzen hinaus zu erweitem, die ihm seine
Urheber oder Rezipient«n zugedacht hatten.
Das hängt innig zusammen mit dem Streben der
Parlamente, ihre Kompetenz auszuweiten und besonders die
ihnen auf den mannigfachsten Gebieten zustehenden Kontroll-
befugnisse auszudehnen. Wer zur Kontrolle berufen, bedarf
Informationsmittel; nur wer die besitzt, kann Aufsicht,
Kritik Üben und Interpellationen sind geeignet, Über
Kegierungsaktc authentische Aufklärungen durch die Re-
gierung selbst zu erlangen. Das Informationsbedtlrfnis., um
6 VI 2.
die Aufgaben des parlamentariöcheii Wirkungskreises erfllllen
zu können, iat die zweite überall fließende Quelle des
Interpellationsrechts.
Naclialiraung und gleiebartige Bedürfnisse zusammen-
wirkend, einander in Form und Inhalt ergänzend, waren e»
also, die fllr jede Kammer ein Interpellationarecht schufen
und sie zeugten Institutionen, die allgemein durch essentielle
Merkmale charakterisiert sind, oline des individuellen Aus-
baues für die Anwendung au entbehren.
Betrachtet man die Interpellationen, wie sie in den
Parlamenten gestellt werden und greift das in die Augen
Fallende heraus , so kann man sagen : man versteht unter
ihnen im parlamentarischen Leben besonderen Formen
unterworfene Anfragen einer Kammer an die Regierung,
Akte derselben betreffend, die nicht Gegenstand der ge-
führten Verhandlung sind noch damit zusammenhangen
müssen. Uiese Anfragen und ihre Erledigung genießen
eine bevorzugte Behandlung in der Geschäftsführung de«
Kollegiums.
Bisher wurde der Zweck des In terpellations rechts nur
gestreift.
Alle Institutionen staatlicher und nichtstaatlicher Natur
dienen Zwecken; keine ist also zwecklos gedacht und das
Zweokstrehen des Menschen geht sogar soweit, daB er auch
allen natürlichen Erscheinungen eine ihnen innewohnende
Zielstrebigkeit imputiert.
Wenn aber auch einerseits anerkannt werden muß, daB
kein Ding, keine Organisation, soweit sie sich auf mensch-
lichen Willen ganz oder teilweise zurückführen lassen, ein-
fach geschaffen wurden, um existent zu sein, sondern mit
ihnen immer Äußere Erfolge angestrebt werden, so i&Ut
doch anderseits die überall konstatierbare Tatsache auf,
daß im Laufe der Zeit die Zwecke einer und dereelben
Einrichtung wechseln, daß dieselben Einrichtungen von den
verschiedenen Faktoren, die sich ihrer bedienen, ver-
schiedenen Endzwecken dienstbar gemacht werden.
VI 2. 7
Nicht einmal das einfachste und primiti\~ste ist, in der
Grundbedeutung des Wortes, so „einfältig", daß es nur zu
einem Ende führen könnte.
In diese Wandelbarkeit der Zwecke unserer Institutionen
greift die systemisierende nach Vereinheitlicbung und Ein-
heit tastende menschliche Ratio ordnend und Ändernd ein
und sucht für jedes Ding einen spezitisehen Zweck zu er-
gründen, um das Ei^ebnis dieser rein theoretischen Arbeit
als dss einzig „richtige' hinzustellen.
Der Vorgang dieser spekulativen Tätigkeit nimmt seinen
Anfang mit Vorliebe bei der Entstehung einer Tatsache,
unterlußc es zumeist, zu untersuchen, ob sie bewußt oder
unbewußt entstand, nimmt ersteres gewöhnlich kritiklos an,
und aus den herausgeklUgehen Motiven ihres wirklichen
oder vermeintlichen Urhebers wird ihr Zweck abgeleitet.
Ganz abgesehen von den Irrtümern Über die Ursachen vieler
Ersehe inimgen, können solchen Untersuchungen besonders
noch zwei Fehler zu Orunde liegen: erstens wird oft an-
genommen, der Zweck einer Sache stehe unwandelbar fest
und sei aus ihrer Genesis zu erkennen, und zweitens, daß
jedes Ding nur einen Zweck habe. Und trotzdem müssen
wir mit unserem linearen stets einseitig funktionierenden
Denken, um dem Probleme näher zu treten, bewußt in den
gleichen Fehler verfallen, indem wir flir Einrichtungen, dem
Gebote der Praxis folgend, einen Hauptzweck festzustellen
trachten und daneben Nebenzwecke anerkennen, ohne uns
darüber zu täuschen, damit objektiv allerdings unhaltbare,
doch subjektiv zu rechtfertigende Werturteile ausgesprochen
zu haben.
Betrachten wir die parlamentarischen Interpellationen
und fragen wir nach ihrem Zweck, so können wir keine
eindeutige Antwort darauf geben, sondern die Beobachtung
zeigt uns, daß sie als Mittel zu verschiedenen Zielen benützt
werden.
In die Augen springend ist ein Informationszweck; ja
auch rein togisch betrachtet scheint ea so selbstverständlich,
8 VI 2.
daß mit einer Frage eine aufklärende Antwort gefordert
wird.
Tatsächlich ist dem nicht immer so ; man braucht nur
z. B. einen Blick auf die Interpellationen des öst. Abg.H.
im Verlaufe des letzten Jahrzehntes zu werfen, um mit
Deutlichkeit wahrzunehmen, daß diese vielfach keine In-
formationen anstreben, sondern ohne ernstlich auf eine
Äußerung des Interpellierten zu reflektieren, obstruktio-
nistische Zwecke verfolgen. Anderseits gibt es wieder
Interpellationen, die man als „bestellte" bezeichnen kann;
Minister wünschen es, sich in einer Kammer über bestimmte
Angelegenheiten zu äußern und Anlaß dazu sollen Fragen
aus der Mitte des Hauses selbst geben. Der Bericht ist in
erster Linie . vielleicht nicht einmal für die Kammer, noch
für die breite Öfi'entlichkeit bestimmt, sondern an gewisse
Kreise gerichtet, ein Programm, eine Mahnung enthaltend.
Interpellationsbeantwortungen über auswärtige Angelegen-
heiten tragen nicht selten die Adresse an das Ausland, ihr
Charakter ist ein diplomatischer.*
Bei dem heutigen Stande des Interpellationswesens wird
man weder die Unterstützung eines ministeriellen Äußerungs-
bedürfnisses noch viel weniger aber die Verschleppung der
parlamentarischen Arbeit praktisch als dessen Hauptzweck
bezeichnen, obschon nicht geleugnet werden kann, daß im
gegebenen Falle das eine oder das andere allein angestrebt
wurde.
Wir beschränken uns zuvörderst darauf, Interpellationen
als ein wichtiges parlamentarisches Informationsmittel zu
betrachten.
fX' Aus den einfachen Anfragen erwachsen, haben sie mit
diesen den Typus der Frage gemeinsam; solche einfache
Anfragen werden im Laufe einer Verhandlung gestellt,
nehmen Bezug auf den gerade vorliegenden Gegenstand der
T.O. und sind — Seydel nennt sie ein natürliches Recht
^ S. aach Redlich a. a. O., S. 513.
I
rvi 2. 0
eines Parlamentes — der aelbatverständliclie Ausfluß geniein-
aamer Beratungen, um sicti über die Ansichten anderer,
nicht nur etwa der Regierung zu orientieren.
Unbeschadet der staatsrechtlichen Auffassung der Volks-
vertretungen als Organe des Staates, in dessen Interesse sie
Aufgaben im zugewiesenen Wirkungskreise zu erf'flllen haben,
stehen sie der Regierung wirtschaftlich doch immer als
Gegenpartei gegenüber und Adolf Wagner' bezeichnet die
Regierung bei der Budgetfeatstellung als Partei des An-
gebotes, das Parlament als die der Nachfrage. Dieses Ver-
hultnis, das im ständischen Staate zu direktem Handel um
materielle und immaterielle Werte zwischen Staat und
Ständen führte, ist auch heute trotz mancherlei geHnderter
Auftiassungen und Formen tatsächlich noch nicht geschwunden.
Bemerkenswert ist diesbezüglich ein im englischen Unter-
faause' bis 1857 geübter Usus, wonach, wenn in den Aus-
BchUssen in Fragen der Geldbewilligung insofern ein Streit
herrschte, als es sich um eine größere oder kleinere Summe
handelte, zuerst tlber die Gewährung der kleineren Summe
abgestimmt wurde, und man den Zweck dieser Regel damit
erklärte, dem Volke die Lasten so leicht als möglich zu
machen. Auf das ätaatsintercsse scheint weniger Rücksicht
genommen worden zu sein.
Überall, wo es sich ura Verlangende und Gewährende
handelt, sind Aussprachen, Debatten, Anfragen und Ant-
worten ein natürliches Requisit der Verhandlungen und der
Verständigung; parlamentarisclie Kollegien nehmen fUr sich
hierin keine Ausnahme in Anspruch; die Aufgaben ihres
Wirkungskreises machen sie auch für einschlägige Anfragen
kompetent. Diese Kompetenz bedarf weder einer Bestätigung
durch ein Gesetz noch durch die Geschäftsordnung, eben-
' FinstuwUicD^chuft, 3. Aufl. läSS, I., B. 70.
' Hny, das engUeche Parlameut uud aein Terfabren; ai
I 4. Aoflvffe des Origiuals übersetzt und bearbeitet von Oppei
l 1860 1 6. 477.
10 VI 2.
sowenig wie z. B. die Befugniß zu debattieren^. Anfragen
im Laufe einer Verhandlung kamen und kommen überall
vor und unterliegen zumeist keiner besonderen Form Vorschrift^.
Eine Äußerungspflicht des Befragten korrespondiert nicht
mit ihnen. Eine solche existiert nur dort, wo die Anfrage-
befugnis ausdrücklich Anerkennung in der G.O. fand; so
ist es zum Beispiel gemäß § 67 G.O. des Ost. Abgh. jedem
Abgeordneten gestattet, „Anfragen**, die hier nicht gerade
glücklich auch als „Interpellationen" bezeichnet werden, an
den Präsidenten des Hauses und an die Vorsitzenden der
Abteilungen und Ausschüsse zu richten^. Die normative
Anerkennung eines formlosen „Fragerechts" ist gleich-
bedeutend mit der Begründung einer Außerungspflicht für
den Befragten.
Verschieden davon sind Anfragen zu behandeln, die an
die Regierung gerichtet sind und auf Angelegenheiten Bezug
nehmen, deren Behandlung augenblicklich nicht Gegenstand
einer parlamentarischen Durcharbeitung ist. Es liegt an
und für sich weder im allgemeinen noch im Interesse der
Regierung oder des Parlamentes, es jedem Mitgliede
des Hauses anheimzugeben, vom Verhandlungsthema ab-
irrende Fragen an die Minister zu richten. Ohne Be-
schränkung auf den Verhandlungsgegenstand ist keine
geordnete Geschäftsführung möglich und überall ist da-
für gesorgt, daß überflüssige Abschweifungen vermieden
werden *.
Allmählich und nicht ohne Widerstreit wurde dem
' Allerdings werden zu verschiedenen Zeiten solche „Befugnisse*'
besgl. ihrer Tragweite recht abweichend interpretiert; 159B faßte der
Kanzler die „Redefreiheit'^ des englischen Unterhauses als Privileg Ja"
oder .nein'' zu sagen auf (Redlich a. a. O. S. 54).
^ Ausnahmen kommen vor. Vgl. u.a. Brusa, Das »Staatsrecht des
Königreichs Italien, 1892, S 166 f.
^ Bezügl. ähnlicher Anfragen in England vgl. Th. E. May,
Parliamentary Practice, 11. Ed. 1906, 8. 247 ff.
* Vgl. G.O. D.R.T. § 46; Preuß. Abgh. § 48; Ost. Abgh. § 56;
S. auch May, a. a. O. 11. Ed. S. 324.
englischen Parlamente tJie Kompetenz zuerkannt, Minister
auch über Angelegenheiten zu interpellieren, die mit den
Materien der Verhandlung keinen Zusammenhang aufwiesen.
Der erste Ansatz zu einem solchen der Kootrolte dienenden
außerordentlichen Int'ormati ans mittel war in dem Augen-
blicke gegeben, als das Parlament sich für kompetent ansah,
darüber au wachen, daß die von ihm bewilligten Gelder
auch für den von ihm anerkannten Zweck benutzt wurden.
Unter Riehard II (1377— 135i!i) drang das Parlament mit
seinem Anspruch, Kenntnis von der Verwendung be-
willigter Gelder nehmen zu können, durch, doch fand die
Forderung noch nicht prinzipielle Anerkennung'. In der
Folgezeit wurde das System der Spezialität des Budgets
mehr und mehr anerkannt, so daß es heute als sine qua
non eines geordneten Staatshaushaltes erscheint. Um aber
festzustellen, ob die Regierung die bewilligten Summen im
Sinne des Parlament» verwende, muBte die Möglichkeit ge-
geben werden, sie zu kontrollieren. An die Seite einer
Oeldmanipulationskontrolle trat alloiUhlich die zu einem
Rechte sich verdichtende Übung, auch über die gesetzliche
ZuläsHtgkeit und praktische Zweckmäßigkeit der Staats-
verwaltung überhaupt zu wachen. Ein hervorragendes
Mittel dazu konnte durch direkte Anfragen an die Regierung
über ihre Akte geschaffen werden, und zwar auch durch An-
fragen, die nicht auf einem inneren Zusammenhang mit den
Oeschät'ten der Tagesordnung fußen, sondern nach Bedarf
unabhängig und getrennt von diesen gestellt werden
können ".
' Oneint, ans eiigUtchc Parliinir^Dt in taiiBendjnhrigeu Wiiti<I[uiigt!ii,
2. Aua, S. 157.
' Die „T-O." bU ArbritspenHum de» Kaueei mit dem A'erbot der
Vormisehnng von Deballen vtrschiedener GegeuständH entstanil im eng-
Ufchen PuUmeDt am Anfang des IT. Jikhrliunderts. wtidurch H«rechtiguDpen,
in «iaielnen F&Ucn von ihr absuweicben , erst die rechte Bedeutung- be-
kamen, aber in der Folgezeit gibt es wieder Epochen, die «treng geregelte
Tafte** und Arbeitaordnun^en nicht lienueo [üedlich &. a. O.,
S. 6.S; 84f.l.
12 VI 2.
Daß das englische Parlament erst im Jahre 1721 eine
offiziös beglaubigte Interpellation im Oberhause aufweist
und selbst heute noch kein streng akzentuiertes Interpellations-
recht besitzt, hat seinen Grund auch in den sonst ihm zu
Gebote stehenden Informations- und Kontrollbehelfen, wie
sie auf dem Kontinente in gleich wirksamer Weise nicht
zur Ausbildung gelangten. Durch die Schaffung mittel-
alterlicher Schatzkollegien und später der modernen
Rechnungshöfe sind eigene Instanzen in die staatliche
Organisation eingetreten, deren Aufgabe die Kontrolle der
Ausgaben war, bzw. ist; seitdem fJlllt den parlamentarischen
Kollegien bezüglich der übrigen Verwaltungstätigkeit zu,
zu untersuchen — nicht nur ob diese sich gesetzmäßig,
sondern auch, ob sie sich zweckentsprechend abwickelt.
Die direkte parlamentarische Kontrolle hat somit ihren
Wirkungskreis allmählich verschoben. Antworten der
Regierung auf Anfragen über von ihr vollzogene Akte
bieten nun allerdings nicht das einzige Material, welches
die Kontrolle unterstützt, denn daneben stehen den Kammern
und ihren Mitgliedern noch zahlreiche andere Informations-
hilfen zu geböte ; man denke nur an die Presse, an Enqueten,
an private Erkundigungen und dergl., aber fast überall
wird die direkte Zuredestellung der Minister am kürzesten
und klarsten zum Ziele führen und es entbehrt nicht eines
gewissen Interesses, zu sehen, wie hoch von manchen das
Interpellationsrecht eingeschätzt wird. In Zola's Roman
„Das Geld"* findet sich z. B. folgende Stelle: „Großen
Eindruck hatte eine Reihe von Aufsätzen in betreff des
Dekretes vom 19. Januar 1867 gemacht, welches die übliche
Adresse an den Kaiser durch das Recht der Interpellation
ersetzte — eine neue Konzession des der Freiheit zu-
schreitenden Kaisers." — Das englische Parlament mit
seiner Zuständigkeit, Zeugen — unter Umständen sogar
beeidete Zeugen — vor die Schranken eines jeden Hauses
1 Deutsche Verlagsanstalt 1891, II. Band, S. 46.
VI 2.
13
I
ZU rufen ' oder eich aucli von Behörden Urkunden direkt
vorlegen zu lassen ^ ist, ganz abgesehen von der besonders
intimen Stellung, die das Miniaterium zur Majorität ein-
nimmt, bei weitem weniger bemüßigt, zu interpellieren als
die kontinentalen Kammern, deren of'tizieller Verkehr nach
AuBen zumeist nuf ein gewisses Minimum beschränkt ist^.
Aber weder das englische Parlament* mit seinem relativ
spät entwickelten Interpellationsrechte noch der auf diesem
Gebiete staatsrechtlieh schneller vorgeschrittene Kontinent
konnten es ohne weiteres, wie sie es bei einfachen An-
fragen tun, dem Einzelnen überlassen, durch Interpellationen,
deren Gegenstand nicht der Verhandlungsgegenstand ist,
den geordneten Lauf der Geschäftsflihrung, dar regelmäßigen
Arbeit, zu unterbrechen und damit zu verzögern. Deshalb
ist überall die Zulässigkeit von Interpellationen an die
Einbaltnng genau fixiertei- Form Vorschriften gebunden, die
bald in höherem bald in geringerem Maße die Eignung be-
sitzen, ohne die Kontrolle der Regierungsakte überhaupt
zu verhindern, doch den geordneten Arbeitegang eines
Hauses zu gewährleisten.
Und dieser Kon trolle Charakter der Interpellationen
überwiegt an Bedeutung derart alle anderen von einzelnen
oder Fraktionen angestrebte Zwecke, daß die Kontrolle
als Zweck einer Interpellation Katexochen aufgefaßt werden
kann, dem erst an zweiter Stelle das einfache Begehren
nach Information an die Seite tritt'.
Auch der gewöhnliche Sprachgebrauch verleiht schon dem
Worte „interpellieren" den bedeutungsvollen Beigeschmack
einer kritischen Tätigkeit, ja vielleicht sogar eine Nuance
' Heute werden Zeugun nur mehr durch KoiniteeB
1 Bedlieb a. n. O., ä. 456 f.
' BedlUh n. a. O., tj. 298 f.
* Q.O. Gbs. g 8 d. est K.R. (§ 30 G.O. d. Öat. Abgli.).
* Redlich H. 3. 0., B. 235 f., Anm. 2: W&hrend des elidafriksmxehen
J Kriege* wurden ioi Jnhre 1901 aber ieuDoch 7180 InterpellHtionen eiu-
gebnicfat und benntwortel! Die Bedeutung und dnn AusmnB de» engliBchen
\ luterpellatinnsreclitB -wird häufig unterschitvt
* Vergl. S. Low, The goTemuica or Bngland. 2, Auf], ü. 98 f.
14 VI 2.
von Mißtrauen und Unwillen über das Nichtverständigtsein
in einer Angelegenheit oder über die Angelegenheit selbst.
Und dieser ünterton klingt auch in den Ruf vieler parla-
mentarischer Interpellationen und nur dieser rechtfertigt es^
wenn letztere im deutschen Reichstag^ als „schweres Ge-
schütz^ bezeichnet wurden, eine Benennung, die, falls
Interpellationen zuvörderst dem Stillen eines anerkennens-
werten Wissensdurstes allein dienen würden, gerade nicht
sonderlich glücklich gewählt wäre.
In Kammern, wo die gesamte Geschäftsführung ver-
wahrlost, verlieren auch die verschiedenen Einrichtungen
ihren eigentlichen Charakter ; Interpellationen beginnen
außerparlamentarische Ziele zu verfolgen, ihre große Zahl
und der Inhalt zeigen, daß ernstlich auf eine Erledigung
nicht reflektiert wird und mit der Einbringung der ge-
wünschte Erfolg schon erzielt ist, nämlich Zeitgewinnung
oder Zeit Verschwendung, Immunisierung der dem objektiven
Verfahren zum Opfer gefallenen Drucksachen oder lokal-
patriotischer Wählerfang. Andere parlamentarische Kollegien
dagegen, die konsequent daran arbeiten, die Grundvesten
ihres Bestandes zu verstärken, ihren Einfluß auf die Ge-
staltung des Staatswillens zu heben oder ihren Wirkungs-
kreis zu erweitern, erblicken in den Interpellationen ein
mächtiges Kontrollmittel, dessen Abschwächung durch über-
triebene Anwendung vermieden werden muß. Auch Staaten
mit parlamentarischem Regime betrachten das Interpellations-
recht mit großer Wertschätzung, obschon die Mehrheit den
Ministertl politisch verwandt und daher durch die Bande
des Vertrauens mit ihnen verbunden ist ; natürlich legt hier
ebenfalls die Minderheit mit ihrem immanenten oppositionellen
Mißtrauen auf die Kontrollbefugnisse den entschiedensten
Wert 2.
I Session 90/92 Stzg. 135. Steno^. Prot. 3254 C.
* Vergl. Redlich a. a. O. S. 236, wo eine diesbezügl. Äußerung
des 1902 in der Opposition stehenden CampbeU'Bannermann an-
geführt ist; (ferner S. 513.) aber die Regierung hat eine solche Macht
VI 2.
15
I
I
Auä dem hier gelten nzeiclmeten Kontrollzweckc der
lolerpellationen geht theoretisch die Sclieidung zwischen
ÜiDea und den Anfra^n, den Petitionen und Kesolutionen
klar hervor,
Anfragen entbehren des kritischen Charakters; Petitionen
sind Bitten oder Beschwerden des Parlamentes oder an das
Parlament, die von diesem an die Regierung allenfalls
weitergeleitet werden ' ; Resolutionen stellen sich entweder
als Beschlüsse dar, welche die Regierung beeinflussen sollen,
oder sind das Resultat von Beratungen in Beschlußform.
In der Praxis fließen die Zwecke mancher dieser Ein-
richtungen hie und da vielleicht ineinander, zum njindesten
aber bleiben ihnen die verschiedenen Süßeren Formen als
trennendes formalem Kennzeichen inhärent,
2. Gegenstand der Interpellationen.
Die Betrachtung des Wesens und des Zweckes des
Interpellationsrechtes berührte schon mehrmals das Problem
des Interpellationsinhaltes; aber es restiert noch eine spe-
zielle Untersuchung, welche Fakten, Tatbestttnde, Aktionen
und Verbältnisse, Anfragen zugrunde gelegt werden können,
80 daß diese als gesetzmäßige luterpellalionen erscheinen.
Eine Umgrenzung des Gebietes, worüber die Regierung
interpelliert werden kann, ist nicht nur für jene Parlamente
wichtig, deren Vorsitzender, oder deren Plenum jene Inter-
pellationen zurückzuweisen vermag, die den gestellten An-
forderungen nicht entspreolien, sondern eiue Umgrenzung
ist für jede Kammer Von großem Werte, da Anfragen zu
denen sie oder ihre Mitglieder als nicht kompetent angesehen
werden, unbedingt vom Interpellierten ad acta gelegt werden
dürfen, da sie als gesetzwidrig gelten mllssen.
ethlilteD, iIaA aie sognr die ilir der Gesinnung nncb nahestehende Mnjoriläl
behorracht, wodurch aucb diene geewongen ist, an ihren Kontroltnütteln
Btrikt« festziiLaltfU.
' Das das laterpellatioiurecht vi«l&cb berilhreude Petition»- und
Beachwerdereubt iil »In Gegenstand für eine weitere Arbeit in Auasicht
p^Deninieti.
16 VI 2.
Jene Verfassungen, die das Interpellationsrecht selbst
nicht erwähnen, enthalten erklärlicher Weise auch keine
Bestimmungen über dessen Grundlagen * ; manche enthalten
Normen über beides, Normen, die aber einer gründlichen
Interpretation bedürfen. Für das österreichische Parlament
sagt § 21 G. ü. d. R.-V. ; „Jedes der beiden Häuser des
Reichsrates ist berechtigt, die Minister zu interpellieren, in
allem, was sein Wirkungskreis^ erfordert, die Verwaltungs-
akte der Regierung der Prüfung zu unterziehen ..." Dem
Sinne nach muß der Ausdruck „in allem was sein Wirk-
ungskreis erfordert" nicht allein auf den Folgesatz bezogen
werden, sondern auch auf den einleitenden, denn Interpel-
lationen sind eben eins von den Mitteln, welche die Prüfung
von Regierungsakten ermöglichen. Damit scheint der Gegen-
stand der Interpellation fest umrissen : er muß in den Wir-
kungskreis der interpellierenden Kammer fallen; doch
türmen sich da neuerlich Schwierigkeiten auf — der „Wir-
kungskreis" eines Hauses ist in der Praxis nie so klar,
wie Gesetz und zuweilen auch Theorie anzunehmen pflegen.
Ferner zeigt das Interpellationsrecht die sichtbare Tendenz,
auf den buchstäblich festgesetzten Wirkungskreis eines par-
lamentarischen Kollegiums ausweitend zu wirken, dessen
Zuständigkeit auszudehnen®.
Die Verfassungen von Hamburg (Art. 65), Lübeck
(Art. 45) und Oldenburg (Art. 128 § 2) lassen Interpella-
tionen in „Staats- Angelegenheiten" zu.
Werfen wir einen Blick auf die Litteratur, so fällt es
auf, daß sie zwar in der Behandlung des Interpellations-
rechts recht stiefmütterlich zu Werke geht, dafür jedoch
^ Geschäftsordnungsgesetze und selbständige Geschäftsordnungen be-
rühren den Punkt nicht.
* Daß der Gegenstand der Interpellation in den Wirkungskreis der
Kammer zu fallen hat, sagt ausdrücklich auch § 56 des Landesgrundgesetzes
für Schwarzburg-Sondershausen.
^ Bezügl. des „Wirkungskreises" vergl. u. a. Hauke, Grundriß des
Verfassungsrechtes, S. 53 ff; femer Ulbrich im österr. Staatswörterbuch
von Mischler-Ulbrich II. Band 2. Hälfte 1897, S. 920 ff.
VI 3.
17
I
^" fcftn
umso großmütiger den Kreis um die Gegenatünde zieht,
welche Interpellationen zugrunde gelegt werden können.
Ülbrich erklärt die gesamte Regierungstäligkeit ale Gegen-
stand der Kontrolle, aoroit als Gegenstand von Interpella-
tionen; Eyscben ' und Torres Campoa' lassen die von ihnen
eLarakterisiertcn Kammern über alle Angelegenheiten von
jjjjßentlicbem Interesse" interpellieren. Der Begriff, „öffent-
liches Interesae" ist ziemlieh vieldeutig; man kann sich vor-
stellen, daß gewiß Äußerst sonderbare Dinge — nehmen wir
B. die , Verkündigung" eines erd zerstörenden Kometen
— breite Schichten der Bevölkerung zu , interessieren" im
Stande sind; diese-s Interesse an oben angeführten Kometen,
ist sogar nicht einmal ein private», und doch dürfte es
kaum die Eignung haben, in einer Interpellation an die
Regierung Ausdruck zu linden, es müßte denn sein, etwa
Form : „Welche Maßregeln gedenkt der Herr Minister
;en allfällige Ruhestörungen oder Paniken zu ergreifen,
,ie eich aus Anlaß der Furcht vor dem Kometen ereignen
konnten ....?" So kann bis zu einem gewissen Grade
allerdings jede Tatsache zu gerechtfertigten Interpellationen
Anlaß geben, aber nicht nur deshalb, weil sie das „öffentliche
Interesse" in Anspruch nimmt, sondern weil sie auch eine
.rechtlich relevante Seite aufweist.
I Redlich^ spricht dem englischen Unterhause die Kom-
petenz zu, die Regierung über die innere und äußere Politik,
über die Landes-, Reichs-, und Kolonialverwaltung, über
ihre Absichten und Pläne zu interpellieren, woraus hervor-
geht, daß das [nterpellations-Material im [JnterhauBe seit
dem Jahre 1859* eine beträchtliche Erweiterung erfahren
hat, ohne daß ein förmliches Gesetz dies dekretierte.
Von der französischen Deputiertenkammer und dem
' BTRcben, das St&atsrecht des UroQherEogtiuna Luieinbiir|r,
D S. 97.
* Torre» Campoa, da<i Stanlsrechl des Küiiigreiche Spanien,
B89 S. 37.
■ Redlicb a.n.O. S. 51». S. aucb May, a.a.O., 11. Bd. H. 248.
* Vorgl. Mjiy-Oppeiiüeiin a. «. 0. ti. 26Ö.
atuU- ". »olfce[T«<^litl. Al.linn.ll. VI a. - Rosugger, 2
18 VI 2.
Senate sagt Pierre ^, daß alle Interpellationen, welche keinen
unkonstitutionellen Charakter tragen, zulässig seien und
behandelt an verschiedenen Einzelfällen in Bezug darauf
das Problem der Verfassungsmäßigkeit und Verfassungs-
widrigkeit. Zorn* stellt fest, daß der deutsche Reichstag
seine kontrollierende Tätigkeit auf alle und jede Sphäre des
öflfentlichen Lebens erstrecken könne und Laband^ nimmt
an, daß „keine Aufgabe, welche das Reich als der souveräne
deutsche Staat zu erfüllen hat, kein Gebiet des nationalen
Gesamtlebens, auf welche die Fürsorge des Reichs sich er-
streckt" von „der Teilnahme und Mitwirkung des Reichstages
ausgenommen ** sei.
Die wenigen hier skizzierten Ansichten in der Litteratur
können leicht zum Glauben verleiten, die Gegenstände der
Interpellationen ließen sich überhaupt gar nicht allgemein
für alle Parlamente bestimmen, sondern sie müßten für jedes
einzelne speziell auf Grund der Verfassung herausgearbeitet
werden ; das entspricht jedoch nicht ganz den Tatsachen :
es ist möglich, prinzipiell jene Gebiete zu charakterisieren,
die Interpellationen behandeln können, aber zugleich muß
für die einzelnen Kammern darauf hingewiesen werden, daß
besondere Gesetze besondere Schranken ziehen können.
Die Grenze zwischen verfassungsmäßigen und verfassungs-
widrigen Anfragen läßt sich allerdings nicht streng und
dezidiert feststellen; sie ist wandelbar, von den Ansichten
der politischen Strömungen und von der Interpretation der
Gesetze durch die verschiedenen Staatsorgane abhängig;
gleichwohl liegt jenseits aller Wandelbarkeit ein fester kon-
stanter Kern, auf dem die Interpellationen fußen.
Um den gesetzlich zulässigen Inhalt der Interpellationen
zu erkennen, muß von dem Wirkungskreis der parlamen-
tarischen Kollegien ausgegangen werden : Diese sind durch-
^ Trait^ de droit politique 61ectoral et parlamentaire par Eugene
Pierre 2© ed. 1902 S. 793.
2 Zorn, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 2. Aufl. 1895, I.
S. 241.
^ Lab and, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4. Aufl. I. S. 275.
VI 2.
19
I
wegs für Akte der Geaelzgebung. Verwaltung und Kontrolle
Euständig, doch ist der Umfang dieser Kompetenz verschieden
ausgebreitet; es ist auch kein Gebiet, auf dem sich der
Staat betätigt, prinzipiell dem direkten oder indirekten
Eindusse eines Hauses vollständig entzogen, aber ihm auch
kaum eines auaschließlich vorbehalten.
Wenn nun aber auch im Laufe der modernen Ent-
wicklung die gesetzgebende und verwaltende Tätigkeit der
Parlamente gesetzlich kaum eine Änderung nennenswerter
Art erfahren haben dürften, so nahm doch die Praxis eine
tatsächliche Beschränkung der parlamentarischen Arbeiten
insofern vor, als sie wohl ziemlich überall den Willen der
Regierung gegenüber den Parlamenten stärkte und dieser
„Wille" die Tendenz hat, bei der Bildung des „Staata-
willena" ein maßgebenderer Faktor zu werden, als der Buch-
stabe der Verfassung dies vorzuzeichnen glaubte und es
vermuten ließe. Vor allem ist es das Plenum der parlamen-
tarischen Kollegien, dessen Bedeutung in Rückbildung be-
griffen ist, während die Ausschüsse und Kommissionen mehr
und positive Arbeit leisten, doch auch sie unter der Führung
der Regierung. Symptomatisch dafiir ist die Schaffung der
neuen Zivilprozessordming in Österreich und das Anwachsen
des RegterungaeinSusses auf das Budgetrecht in England,
Diesem Zurückdrängen der parlamentarischen Betätigung —
eine Betätigung, die manche Enthusiasten oft als „souveräne"
bezeichneten, — folgte jedoch anderseits eine Korrektur zu
Ounsten des Parlamentes; diese ist durch die allmähliche
Attsweilfung der Kontrollrechte gegeben.
Die Sta^ttsmascliine wird immer komplizierter, die
Leitung und Förderung der ganzen btaatlicheu Organisation
erfordern gebieterisch größere und grOßere Sachkenntnis
und Konzentration der an ihr beteiligten Faktoren in Bezug
ftuf die inner- und au ßer-poli tischen, sozialen, ökonomischen
und technischen Fragen, die als Ergebnis der rasenden kuU
turellen Evolution wie Pilze aus dem Boden schießen und
anwachsen. Die vielköpfige Versammlung eines meist
•20
VI 2.1
ziemlich wahllos zusammengesetzten Parlamentes kann in
ihrer Gänze Löchetens koursbeatimmend und anregend,
nicht aber positiv arbeitend wirken. Die dem Parlamente
zustehende Initiative zur Schaffung materieller und immi^
terieller Mittel, die ausersehen sind, staatliche und sosials
BedUrfniase zu befriedigen, schrumpft in praxi mehr und
mehr ssusammen und konsequenter Weise nimmt die Ini-
tiative der Regierung dadurch unaufhaltsam zu. Die Re-
gierung, ein Fachkollegium, beschilfligt sich berufamääig;
gestutzt auf einen großzügigen Apparat von Beamten, In-
f'ormationa- und Instruktions-Mitteln mit den Aufgaben, die
dem Staate gestellt werden. Die Spezialisierung aller Pro-
bleme und das lawinengleiche Anwachsen der gesetzlich in
den Wirkungskreis der Parlamente fallenden Geschäfte
machen diese zur Bearbeitung von Fachfragen, Ubei'haupt
für jede eingehende Arbeit von Tag zu Tag ungeeigneter.
Gemahnend an die alten ständischen Versammlungen
beginnen die „zweiten Kammern" die Interessen Währung
der von ihnen Vertretenen in den Vordergrund ihrer Tätig-
keit zu stellen und der Regierung die Sorge für die „Staats"
Wohlfahrt" zu überlassen. Die „ersten Kammern" hingegen
wirken als retardierendes Moment auf die Aktionen jener
Staatsorgane efu, die wenig konservativ oder direkt radikal
Änderungen in der staatlichen Organisation inaugurieren^
Mit diesen Ausführungen wurde der historischen Ent-
wicklung entschieden vorgegriffen; keineswegs in allen
Staaten, kaum in einem einzigen ist der p'ditisch parlamen-
tarische Zustand auegesprochen ein solcher, daß die Regie-
rungen gegenüber den Parlamenten entschieden in den
Vordergrund geschoben werden. Gewiß ist zum mindesten
noch Überall ein starker tauschender Schein gewahrt, und
nur die Litteratur berührt hie und da das hier Gesagte^
wenn sie z. B. erklärt, daß das englische Kabinett de fact»
ein AuaschuBs des Parlamentes sei, der für dieses fast un-
bedingt den Ton angiebt; sicher sind in allen modernea
Staaten Ansätze zur wachsenden Macht der Regierung vor-
I
rn 2.
21
I
banden, die ala positiv schaffendes Organ an Bedeutung
gewinnt; hingegen wachen die Kammern über die Gesetz-
mäßigkeit der Regierungshandlungen — die parlamentarische
Kontrolle und die durch die breite Öffentlichkeit nimmt an
Aiiadehuung zu. Dieae Kontrolle erstreckt sich auf den
ganzen, sowohl dem parlamentarischen Kollegium, als der
Verwaltung zugewiesenen Wirkungskreis und da die in den
der erateren fallenden Aufgaben tatsächlich mehr und mehr
von der Regierung geleitet werden und die Parlamente
durch das Budgetrecht nur mehr oder minder beschränkend und
richtunggebend agieren, so lenken sie ihr Augenmerk zu-
vörderst auf die Beaufsichtigung und Kritik- Darin liegt
auch eine Hauptursache für den stets wachsenden Wert
des In terpellations rechts. Wenn die volkavertretenden Staats-
organe ihre Kontrolle langsam und tastend auch auf jene
Gebiete, die vielleicht nur lose und nicht unbestritten mit
ihrem Wirkungskreis zusammenhängen, auszudehnen suchen,
80 nehmen sie sich gewissermaßen eine Kompensation für
die Verluste, welche ihr Einfluß aU schöpferischer Faktor
im staatlichen Organismus erfuhr. Und da ist es das Inter-
pellation srecht mit seinen Anfragen, das Materien berührt,
für deren Beurteilung und Behandlung die Kammern nach
dem Buchstaben des Gesetzes nicht fraglos kompetent sind
und Interpellationen sind es, die aufklärungs bedürftige Akte
und Ereignisse durch Aufdeckung und Besprechung im
Parlamente der öffentlichen Aufmerksamkeit zuführen, was
um 80 bedeutungsvoller ist, da die sogenannte „öffentliche
Meinung" sogar mit Umgehung der repräsentativen Institu-
tionen eine auf die Regierung unmittelbar und konstant
einwirkende politiache Macht zu werden beginnt, in einer
Form, der die Verfassung keine gefestigte Grundlage bietet'.
' H. Jellineh, VerfMsUQgsälidenuig und VerfasRuugvwaDdliing.
|490e, H. 71 ff.
Ein nami Etil I barer recbtlicber Einöoit des Volken vit die Regierung
n unmittelbaren Ucmokrntien" gegeben; wo die«eB Verisss ungnygtem
[.,ai«ht hemoht, bleibt nur du Waljlrecbt aar rcpräseutatiTen Kammer und
I ■chwäcbliche PetitiooBreclit; der oben etwäbute constaut wirkeude
22 VI 2.
Zwei Hauptrichtiingen fallen besonders auf, nach denen
die Vorstöße der Parlamente, zumal in monarchisch regierten
Staaten mit ihren Prärogativen der Krone, verlaufen : die
militärische und die diplomatische. Zumeist ermangelt es
auch flir die Praxis der nötigen scharfen Grenzlinie, die
zwischen den Machtsphären der Regierungstätigkeit einer-
seits und der parlamentarischen Machtsphäre anderseits
gezogen ist, und die Repräsentationsinstitutionen des Volkes
streben konsequent nach Erweiterung ihrer Aufsichtskom-
petenz. Den Ausgangspunkt des Weitergreifens bieten
ihnen die Befugnisse, Geldmittel für den Staatshaushalt zu
gewähren oder zu versagen; der Zweck des Übergreifens
ist, das Gebiet der Kontrolle zu erweitem; die Mittel
dazu liefern vielfach die Interpellationen an die Regierung
über kompetenzstrittige Angelegenheiten, wodurch die Zu-
ständigkeit der Kammern zu solchen Einflußnahmen be-
hauptet und dokumentiert werden soll.
Nochmals muß erklärt werden, daß, um so recht klar
und deutlich die Hauptursachen für die Erweiterung der
kontrollierenden Tätigkeit eines Parlaments zu veranschau-
lichen, das Zurückdrängen selbständiger positiver Arbeit
desselben und das damit verbundene Vordringen der Re-
gierung auf diesem Gebiete dezidierter dargestellt wurden,
als die Tatsachen des parlamentarischen Lebens es gestatten,
aber dem objektiven Beobachter werden die zu einer solchen
Wandlung vorhandenen Tendenzen kaum entgehend
Der Wirkungskreis der Parlamente wird
allmählich sachlich tatsächlich erweitert, zu-
vörderst ihre Zuständigkeit zu Kontrollakten
ausgedehnt, zugleich aber ist die Intensität
ihrer Anteilnahme an den Arbeiten, für deren
Einfluß der politisch agierenden „Volksmacht" ist streng zu scheiden von
revolutionären Vorstößen, denen zwar die Unmittelbarkeit der Wirkung,
doch auch Unstetigkeit und Rechtswidrigkeit zukommen.
^ Vergl. J e 1 1 i n e k , Verfassungsänderung und Verfassungswandlung,
8. 46 ff.; 71 ff.
IVornahme sie kompetent sind, in Abnalime be-
iffeu *.
Ob die Zukunft ein Weiterachreiten, Stagnieren oder
■ «ogar ein Zurückgehen dieses Prozesses, der nicht Überall
Igleichmäßig vor sich ging, bringen wird, litßt sich kaum
i sagen ^ man wird annehmen dürfen, daß eine Rückbildung
l'ltller Wahrecheinlichkeit nach nicht zu erwarten steht, doch
I keineswegs als aufgeschlossen gelten darf.
Kehren wir zurück zu der mit diesem Problem in Zu-
r sammenhang stehenden Frage nach dem Gegenstände der
Interpellationen, so ist rebus sie atantibu» zu konstatieren:
alle jene Sphären des öffentlichen Lebens, auf
die der Wirkungskreis einer Kammer Bezug
nimmt', und soweit sie auch nicht dem Ein-
flüsse der Regierung entzogen sind, können
denStoff für quäl ifi zierte An fragen an letztere
abgeben. Dieser Wirkungskreis ist jedoch nicht der in
der geschriebenen Verfassung generell, taxativ oder exempli-
, kativ bezeichnete und von der Theorie abstrakt interpretierte,
■ fondern der im Verlaufe der parlamentarischen Tätigkeit
§aurch die Praxis sich bildende gewohnheitlich gefestigte".
Da die kontinentalen Kulturataaten eine ihrem Wohl-
B&hrtssysteme entsprechende Vielseitigkeit besitzen, die bald
Kala polizeiliche Bevormundung bekämpft, bald als humane
' Die hier angedeutet« io 4cn partanicntfiriHohen Koilegiea wahr-
shmtiare Tondeni iet eine, die in erster Linie den Ze ntralparlnmenton
rmkanunt, bh welchen hier nllerdinga aacb der Ssterr. K.R. eiiurhUeBlich
■einer Delegation gerechoet wird. Den Kamraem der OlieditaaleD eines
Bandenataatea , den Landtagen der im R.R. vertrcteuen KCnigreiche und
Lünder und ähnlich gearteten Organ inationen iet eine derartige Ent-
wicklung, wenn auch nicht fremd, so doch in einer anderen auf partikula-
ittiBchen Beatrebungen beruhenden Form eigentümlich.
■ Dagegen Soydel, Jlajeriuches fitaataraoht, S. Aufi. 1896 I., S. 48ä:
I Interpellati OD «recht ist nicht auf die Qe^eost&nde de» Wirkonga-
I dei Landtages beflchräukt" — eine KoDstatierutig , die in ihrer
üven BcBtimmtheit nicht unbedenklich erscheint, t^. auch ebda.
. 1. wo äejdel Beine Theorie beernudet.
* Siehe n. a. Seydel, n. a. O., S. Sö&ff. u. S. 375 IT. über die den
gekreia dei Bayrischen Landlages ausweitenden Petitionen und
inigibeBchwerden.
24 VI 2.
Sozialpolitik gepriesen wird, und diese Vielseitigkeit auch
den Wirkungskreis der staaüichen Organe sehr weit zieht,
so gilt für die Parlamente des Kontinentes cum grano salis
der Satz: Interpellationen sind über alle Fragen zulässig,
die rechtliehen, politischen und sozialen Inhaltes sind und
die nicht in die Prärogativen des Staatsoberhauptes noch
in die Unabhängigkeit des richterlichen Amtes ^ ein-
greifen.
Und damit ist der Kreis, der das Interpellationsmaterial
umschreibt, charakterisiert, zwar nicht mit jener Schärfe,
die für jeden Einzelfall alle Zweifel darüber ausschließt, ob
er zu den abgezirkelten Tatsachen gehört oder nicht, aber
immerhin prinzipiell ; jeder Aufstellung eines Prinzipes haftet
eben die Notwendigkeit an, es in der Praxis und für die
Praxis zu interpretieren.
Dem hier anerkannten Prinzipe mit seinem festen Kern
und seinen fluktuierenden Grenzen widerspricht nicht die
Individualität aller staatlichen Organisationen, denen die
Gemeinsamkeit gewisser Strukturen typisch ist, ohne daß
der Typus es hinderte, daß die abweichenden äußeren Er-
scheinungsformen, die oft sehr wesentlich sein können, ihnen
einen individuellen Stempel aufdrücken. Dem gleichartigen
Aufbau des Staates als Gattungsbegriff und dem Mangel
eines Prinzipes, das etwa lückenlos und konsequent in seinen
Gesetzen verwirklicht wäre, ist es zuzuschreiben, daß in
den einzelnen Parlamenten die zur Interpellation führenden
Akte bald engherziger, bald weitherziger anerkannt werden.
Das erstere wird zumeist in Monarchien, das letztere in
RepuUiken der Fall sein; so ergehen in Frankreich zum
Teil nicht widerspruchslos auch Anfragen über die praktische
Rechtsprechung, was deshalb begreiflich ist, weil diese
^ Selbstverständlich können aber Fakten, welche die administra-
tive Seite der Justiz betreffen, zum Gegenstand von Interpellationen ge-
macht werden.
25
Tdort mehr aU anderswo politischen ElnäUsaen zugäng-
lich ist*.
Wie aber die Verhältniäae heute liegen , bann die
Praxis die Interpellationen nicht sehr weit von dem gesetü-
lichoD und tatsächlichen Felde, zu dessen Bearbeitung ein
Haus zuständig ist, abirren lassen, ohne dadurch — eine
»Duldung von Seite der Regierung überdies vorausgesetzt —
die Kompetenz der parlamentarischen Kollegien zu erweitern.
Diese rechtliche Konaequenz eines politischen Vor-
Ipinges darf nicht zu gering angeschlagen werden,
Zusammenfassend lautet das Ergebnis der Spezial-
hntersuchung über die als Grundlagen für Interpellationen
«ulftesigen Gegenstände: Alle Tatsachen und Aktionen, die
in den durch das Gesetz und die Praxis sich
fixierenden Wirkungskreis einer Kammer fallen,
können Material parlamentarischer Kontrolle werden und
Interpellationen begründen. Anderseits sind es auch Inter-
pellationen, die ausweitend auf die Kompetenz eines Parla-
mentes wirken.
X Der rechtliche Gbarakter des Interpellatlonsrecbts.
Da» Interpellationsrecht als Inbegriff von Bestimmungen,
siehe die qualifizierten Anfragen an die Regierung regeln,
organisatorischer Natur und zerfällt in ein materielles
md in ein formelles.
Das materielle Interpellationsrecht setzt die Kompetenz
Mner Kammer zu Interpellationen fest, es schafft damit kein
labjektives Recht des Hauses oder seiner Mitglieder, sondern
pklärt sie nur für zuständig, Interpellationen zu stellen'.
' Bill Gegenstflck da2u Iktert Kußland, iro nnr Ober gewisie
'ungflakte, die „Dicht gcaetzmäßig; ncheinen", InterpellatioDen der
« BnUBaig aind. Ü bei. Teil, Abach.: Da,t Interpellationsrecht anderer
Eng ist scheinbar auch der Kreis der Objekte fflr da« italienisabs
PBrlkmeot geiogeii — ver^I, Briisn a. a. O. S. 166.
■ Dngegen d. a. Seydel n. a. O., S. 494", der die „InterpellatJon"
als eia „ppreanlichea gesetiliche^ Recht des Kammennitgliedas" nur be-
Rcbrinlct dnreh die Nntwesdigkeit einer „ Unter* lütitui^ auffallt.
26 VI 2.
Der Mangel eines subjektiven Interpellationsrechts folgt
aus der Stellung, welche parlamentarische Kollegien in der
staatlichen Organisation als Organe des Staates einnehmen ;
demnach sind sie keine Korporationen, keine juristischen
Personen, nicht Träger von subjektiven Rechten, die ihnen
etwa zur Wahrung eigener Interessen und zu deren Geltend-
machung tibertragen wurden, sondern diese Organe üben
staatliche Funktionen aus, woran auch der Umstand nichts
ändert, daß die Parlamente zugleich Organe des in Ge-
sellschaftskreise, Gruppen und Parteien gegliederten
Volkes sind ^.
Wenn nun die Verfassung eine Kammer fUr kompetent
erklärt, die Minister zu interpellieren, so bleibt nur noch
die Frage offen, ob damit auch eine Pflicht des Interpellierten
zur „Antwort" begründet ist^
Gehen jedoch die Gesetze über die „Interpellationen"
völlig mit Stillschweigen hinweg, so tauchen eine Reihe
komplizierter Probleme auf: ob etwa ein Parlament nur
auf Grund seines Wirkungskreises, auch ohne weitere aus-
drückliche Zuständigkeitserklärung dazu, berechtigt sei,
Interpellationen einzubringen — ob es sich vielleicht durch
die G.O. dafür selbst kompetent erklären könne — ob
daraus dem Interpellierten eine Äußerungspflicht erwachse
und dergleichen mehr.
Mit der Durcharbeitung dieser Fragen wird das so
überaus strittige Gebiet des Gewohnheitsrechtes und sein
Verhältnis zum Gesetzesrecht berührt werden müssen, ohne
daß es der Zweck dieser Monographie sein kann, an eine
' Bezügl. der Organstellung des Parlamentes vergl. Jellinek,
System der subjektiven Rechte, 2. Aufl., S. 228 ff.; ders., Allgemeine Staats-
lehre, 2. Aufl., S. 546 ff.; 568 ff.
* Unter „Beantwortung" wird in der Literatur bald nur eine
materielle Antwort auf die Interpellation verstanden, bald jede
Äußerung des Interpellierten auf eine Anfrage, mag sie auch nur ent-
halten, daß das Thema für weitere Erörterungen ungeeignet sei. EUn-
deutiger wäre es, ganz allgemein von „Äußerung" zu sprechen, wenn eine
negativ formelle Antwort mit inbegriffen sein soll, dagegen von „Be-
antwortung", sobald es sich um eine materielle Erledigung handelt.
pVI 2. 27
prinzipielle Lösung der in der Litteratiir hör räch enden
Ueinungsdifferenzen heranzutreten.
Für das In terpell.it ionsrecht kommt, und diese Tat-
sache darf vor Allem nicht übersehen werden, das maß-
gebende Faktum in Betracht, daÖ in allen europäischen
Kammern, mag das Gesetz dafür Vorsorge treffen, oder
nicht, interpelliert wird und die Praxis keinen namhaften
Unterschied zwischen gesetzlich ausdrücklich begründeten
und gesetzlieh nicht ausdrücklich begründeten Interpella-
tionen kennt. Zur juridischen Durchleuchtung der Er-
scheinungen auf dem Gebiete des Interpellationaverfahrens
werden wir zu trennen haben das Interpellationsrecht ohne
ausdrückliche gesetzliche Grundlage von dem ni i t ausdrück-
licher gesetzlicher Grundlage '.
Dem wird sich schließlich eine Besprechung des for-
mellen Interpc-Ilationsrechtä anschließen, das die Art und
Weise bestimmt, in der Interpellationen in Erscheinung
treten.
A. Das InterpellatiOQsrecht ohue ausdrückliche
gesetzliche Grniidlage.
In manchen Htaaten schweigen die Verfassungsgesetze
darüber, ob ein parlamentarisches Kollegium zuständig sei,
Jlinister zu interpellieren. Solche und ähnliche „LUcken"
in Verfassungen sind nichts seltenes, und nicht gerade die
flir die Praxis ungeeignetsten Konstitutionen zeichnen oft nur
in großen Umrissen die staatliche Organisation und über-
lassen es Ergänzungsgesetzen oder der stillschweigenden
Übung, alles das zu regeln, was durch sie selbst unerledigt
blieb.
Mit Recht vermeidet man es, durch schwerfällige, he-
^nders komplizierte Bedingungen in Bezug auf Abänderung
' WeuD nicht, wtw siDn^mäBer schiene, an «roter Bt«11e das „im
GwetzB ausdrücklich bekundete InteriiellalioniTecht" zur (Sprache kommt.
■o lind fllr den Autor teuhnicche Gründe inaBgehend gewesen : er hofft so
Wiederliolungen tunlichst zu vermvideti.
28 VI 2.
unterworfene Normen die staatlichen Grundprinzipien bis
in alle feinsten Details festzulegen, denn dadurch würde
man der Praxis, die sich dem un vorherzusehenden Wechsel
anzupassen hat, unleidlichen Zwang anlegen und der wün-
schenswerten staatsrechtlichen Entwicklung überhaupt Hem-
mungen bereiten.
Gewisse Materi^a scheut man sich wegen der ihnen
anhaftenden politischen Delikatesse normativ zu fixieren;
die Gesetzgeber begnügen sich mit der Schaffung von
„Verheißungsgesetzen," die einerseits gewiesen Forderungen
entgegenkommen, anderseits aber der Anwendbarkeit ent-
behren, so lange nicht Durchführungsvorschriften, an deren
Erlassung nicht einmal gedacht wird, praktisches Recht ^^
zeugen. In solchen Fällen wurde dem Verlangen nach
rechtlicher Erfassung dieser oder jener öffentlichen Tatsache
theoretisch Rechnung getragen, ohne sich hierbei der Täu-
schung hinzugeben, daß praktisch eine klaglose Ordnung
dieser Angelegenheiten, vorderhand wenigstens, ins Gebiet
der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit gehört^.
Derartige Lücken ^, falls keine Ergänzung durch Nach-
tragsgesetze erfolgt, soweit als möglich zu beseitigen, ebenso
wie am geschriebenen Rechte die sich als notwendig heraus-
stellenden Korrektionen vorzunehmen, muß der rechtsbil-
denden Kraft des Tatsächlichen vorbehalten bleiben. Man
könnte nun zur Annahme verleitet werden, daß die sich
zu Rechten und Pflichten verdichtenden Übungen der
Praxis, wenn einmal genügend befestigt und bewährt, for-
^ Es sei nur auf Art. 19 des österr. StG.G. über die allgemeinen
Rechte der Staatsbürger mit seiner Unrealisierbarkeit hingewiesen.
'^ „Lücken in der Verfassung^ sind entweder von allem Anfange an
vorhanden oder entstehen erst später dadurch, daß die wirtschaftliche,
soziale und politische Entwicklung neuartige Verhältnisse schafft, die einer
prinzipiellen rechtlichen Regelung bedürfen. Von nur „scheinbaren Ver-
fassungslücken'' kann man dann sprechen, wenn sie durch eine reguläre
Interpretation des Gesetzes zu beheben sind, doch werden widerstreitende
Auslegungen bei wichtigen Problemen den Mangel einer ausdrücklichen
Bestimmung fühlen lassen. Dem kann abgeholfen werden durch eüun
Formalakt der Legislative oder durch Bildung eines Gewohnheits-
rechtes.
VI 2.
mell auch in der VerfaaeuDg Aufnahme und wichtige Fragen
:*o authentische Löaung finden würden, aber diesem selten
zu beo bat; blenden Vorgehen widerspricht eine beinahe
wunderliche Abneigung gegen VertasaungeänderuDgen.
Typisch dafür ist die nordamerikanische Union, doch auch
die D.R.V, bietet aehfttzbares Untersnchungsraaterial.
Wie in den schweren Kämpfen, die den Tod des Ab-
eolutiamus besiegelter, das leidenschaftliche Begehren nach
einer Konstitution, nach einer Verfassung, ertönte, und eine
ideale Anschauung in der Erfüllung dieses politischen
Sehnens die Eröffnung kaum geahnter Perspektiven für
das Volkswohl erblickte, da entstand oder festigte sich die
fixe Idee, die Verfassung sei der Bauplan des neuorgani-
sierten Staates; an ihr dürfte man möglichst wenig rühren,
sie müsse über dem Wandel der Augen bllcksvariatio neu
unversehrt und erhaben thronen. Das war ein arges Ver-
kennen des gesellschaftlichen Lebens; die Verfassung, im
materiellen Sinne nichts anderes, als die organisierende
Hachtsphttrenabgrenzung zwischen den sozialen Bestandteilen
des Staates, muß auth den sozialen Machtverschiebungen
nachrücken, soll sie nicht Gefahr laufen, mit der Zeit za
einem bedruckten oder beschriebenen Stück Papier degra-
diert zu werden, so daß nicht sie, sondern nur die Be-
obachtung der Tatsaühen ein wirkliches und wahres Bild
der staatlichen Organisation gibt Tatsächlich ist die
Theorie von der Heiligkeit fundamentaler Gruudgesolze noch
nicht verschwunden und daher müssen wir, um die faktische
Organisation eines Staates mit allen ihren reichen Hilfs-
mitteln kennen zu lernen, neben der formellen Verfassung
echeinbar oft nebensilchliche Gesetze, Verordnungen und das
raktische Schalten und Walten auf staatsrechtlichen Terri-
H-ien ine Auge fassen'.
' Ver([l. OuinplowicK, <!m Meir, StK. 1902, 8. 20: „, . . sie
(eine VOTTHSBun^urkunil?! kann allen&llii als Oruiidia^ uad AiisgaogH-
pDDkt weiterer Entwioklung dienen: um aber Utsichlich die VeräuiRUiig
QM Stuti» m werden and eine aoldie in der WirkJicbkeit sa sein, muK sie
30 VI 2.
Und wenn wir nun die Frage nach dem Interpellations-
rechte für jene Parlamente, denen es das Gesetz nicht aus-
drücklich zugesprochen hat, beantworten wollen, so dürfen
wir nicht bei dem, was staatsrechtlich sein soll, Halt machen,
sondern müssen auch noch das, was ist, in den Kreis der
Untersuchung ziehen. Ein Teil des Problems läßt sich,
entsprechend der Theorie von der Organstellung des Par-
lamentes, folgendermaßen formulieren:
Ist eine Kammer zufolge der Aufgaben
ihres Wirkungskreises ohne weiteres für die
Stellung von Interpellationen an die Regierung
kompetent oder nicht?*.
Den Wirkungskreis eines parlamentarischen Kollegiums,
das nicht auf eine organische Entwicklung zurückschauen
kann, zu bestimmen, stößt nicht nur in der Theorie, sondern
kuch in der Praxis häufig auf große Schwierigkeiten ; er
ist abzugrenzen gegen den Wirkungskreis der Verwaltung
und der Justiz einerseits, gegen den anderer zur Gesetzgebung
jene notwendige Entwicklung behufs Anpassung an die wirklichen
Machtverhältnisse erst durchmachen und die zu diesem Zwecke nötigen
Korrekturen hinterdrein erhalten; sie muß den Ausgleich mit der
Wirklichkeit durchmachen, bevor sie als tatsächliche Verfassung aus
dem Kampfe der sozialen Bestandteile nach ihren gegenseitigen Macht-
verhältnissen modifiziert und approbiert hervorgeht, um sodann wieder
in den Strom der staatsrechtlichen Entwicklung gestellt zu werden. '^
Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung , 1906,
8. 2. ,,Wir wissen heute, daß Gesetze viel weniger vermögen, als man
noch vor einem Jahrhundert glaubte, daß sie stets nur ein Sollen be-
deuten, dessen Umsetzung in Sein niemals in vollem Umfange stattfindet, da£
das reale Loben daher stets Tatsachen erzeugt, welche dem vernünftigen
Bilde, das der Gesetzgeber zeichnet, nicht entsprechen. . . . Die Grund-
gesetze, wie alle anderen, sind mit unentrinnbarer Notwendigkeit ... in
den Fluß des historischen Geschehens gestellt"
La band, die Wandlungen der D.R.V., im Jahrbuche der Gehe-
Stiftung, Bd. L 1896, S. 2: „Zwischen dem wirklichen Verfassungszustand
eines Staates und den in der Verfassungsurkunde formulierten Regeln be-
steht oft ein so großer Unterschied, daß die erstere die größten Um-
wandlungen erfahren kann, ohne daß der Wortlaut des Verfassungsgesetzes
abgeändert zu werden braucht."
^ Es sei hier gleich erwähnt, daß für das englische Unterhaus
Palmerstone 1861 diese Frage wenn auch indirekt, so dennoch unzweifelhaft
bejaht hat. Vergl. Redlich, a. a. O., S. 141.
iiri 2.
Mithilfe zur Gesetzgebung berufener Staatsorgane
PttDderseits.
Id dieser Darstellung muß das Problem des „Wirkungs-
liaea" jener Eammern gestreift werden, um daraus
■ Folgerungen zu zielien, für die der Gesetzesbuchstabe
B.daa luterpellationsrecbt ignoriert. Dies ist in der Ver-
fassung des Deutschen Reiches bezüglich des Reichs-
tages der Fall; sie schweigt über dessen Zuständigkeit zu
Interpellationen, aber sie beruft ihn zur Kontrolle der
Regierung innerhalb gewisser Grenzen und statuiert die Ver-
Lwitwortlichkeit des Reichskanzlers'. Diese Verantwortlichkeit
l^rd durch politische Mittel geltend gemacht; die Möglichkeit
flines Anklageverfahrens besteht nicht, da es dafür an den
nötigen gesetzlichen Bestimmungen fehlt, aber der Reichstag
vermag auch gegen Gesetzwidrigkeiten mit seinen politischen
Machtmitteln vorzugehen ; auch mufi betont werden, daß dem
allgemeinen Interesse oft weniger damit gedient wird, daß alle
Aktionen sich streng im Rahmen des Gesetzes vollziehen, als
damit, daß sie- zweckentsprechend und nützlich sind und
Zweckmäßigkeit wird sogar das Manko der Geaete Widrigkeit
in praxi unter Umstünden beheben können.
Das sind Fragen der Politik, zumeist der praktischen
Politik im Einzelfalle, aber unsere Beobachtungen der
Bosialen Gestaltungen führten uns zur Erkenntnis, daä es
weite und wichtige Grenzgebiete giebt, von denen man
nicht mit Bestimmtheit sagen kann, oh sie nicht auch
rechtlicher Natur, von denen es jedoch gewiß ist, daß sie
dtirch die streng juridische, alle gesetzliche und rechtliche
Irrelevanz absorbierende Brille betrachtet, die ganze staat-
liche Organisation nur als Fragment, nur alt ein Bruchatlick
zum Bewußtsein kommen lassen.
So geht es auch nicht an, die tatsAchliche politisch
parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister als jenseits
jeder rechtlichen Sphäre liegend, zu betrachten. Sie ist
' D.ß.V. Art. 4, 17, 72.
32 VI 2.
der Ausfluß der Kontrollbefugnis, die in den Wirkutigskreis
eines Parlamentes fkllt — und mit ihr fallen auch Mittel
hinein, sie zu üben ^.
Welche Mittel sind nun einem Hause für die Kontrolle
gegeben? Abgesehen von dem rein etatrechtlichen der
Rechnungsprüfung und abgesehen von mehr minder privaten
Erkundigungen kommen neben Adressen, Resolutionen,
Petitionen, Kommissionen, die direkten Anfragen an die
Minister in Betracht 2.
Sowie ein Parlament für die Kontrolle zuständig ist, muß
es auch für competent erachtet werden, den Kontrollierten
^ Fortlaufend praktisch gestaltet sich nur die Verantwortlichkeit der
Minister für die Zweckmäßigkeit ihrer flandlungen vor dem Parlament«,
das allerdings — was eine Folge der scheinbaren Lebensunfahigkeit eines
formellen Anklageverfahrens in den meisten Staaten — auch die Gesetz-
widrigkeit ministerieller Akte durch Ausspruch eines Mißtrauensvotums,
dessen schärfste Form die Budgetverweigerung ist, zu richten pflegt Und
so lange eine Kammer imstande ist, im Etat Striche vorzunehmen, sowie
überhaupt Pläne der Regierung zu vereiteln, so lange ist sie auch im-
stande, deren Vertreter wegen Rechtsbruches oder Interessenverletzungen
insofern zur Verantwortung zu ziehen, als sie ihnen Schwierigkeiten durch
eine Durchkreuzung ihrer Bestrebungen bereitet
In diesem Sinne stehen „Kontrolle" und „Ministerverantwortlichkeit"
im engsten Zusammenhang.
Ob die politische und eben angedeutete staatsrechtliche Ver-
antwortlichkeit der Minister vor dem Parlamente im herrschenden Zuge
der Demokratisierung einer Art „sozialen" vor der Öffentlichkeit weichen
wird, ist eine Frage, deren Beantwortung in der Zukunft liegt; Anzeichen
scheinen für eine Holche bedeutsame Wandlung zu sprechen und „Inter-
pellationen" tragen auch die Fähigkeit in sich, schnell und prägnant auf-
klärungsbedürftige Regierungsakte in den Kreis der allgemeinen Auf-
merksamkeit zu schieben.
Vergl. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassun^swandlung,
8. 41 f.; S. 74; Low, The governance of England, 2. Aufl. 1906, S. 91 ff.;
Bezügl. der Arten der Miuiste^erantwortlichkeit s. Hauke, Die Lehre
von der Ministerverantwortlichkeit, 1880, S. 8 f.; 12ff. ; Frisch, Die
Verantwortlichkeit der Monarchen und höchsten Magistrate, 1904, S. 48,
147 ff.; 8. auch S. 372 f.
* Vergl. Ul brich, österr. Staatswörterbucb , B. II, zweite Hälfte,
S. 924; derselbe, das österr. StR., 1904, S. 105 f.
Redlich, a. a. O. , S. 294, sagt betreffs der Informationsmittel,
die zumeist auch Kontrollmittel sind „. . . (es) darf wohl vorübergehend
bemerkt werden, daß nicht nur die ältere konstitutionelle Theorie des
Festlandes wie auch die neuere deutsche Staatsrechtslehre die außer-
ordentliche politische und rechtliche Bedeutung dieses Grundrechtes auf
Information keineswegs genügend erkannt und gewürdigt hat."
ryi 2,
33
I
über gewiaae Akte zu befragen; es ist eine interne
igelegenheit einer Kammer, zu beatimmen, welche beson-
Formen sie für vom Verhandlungsthema abirrende
terpellationen fordert, aber daß dolcbe gemäß ihrer
Stellung verfassungsmäßig sind, geht aus der sinngemitßen
Grenzbestimmung des parlamentarischen Wirkungskreises
hervor. Natürlich kann ein Gesetz durch ein akzentuiertes
Verbot' Interpellationen kurzweg ausschließen; sowie aber
Gesetze darüber nur einfach mit Htitlschweigen hinweggehen,
mögen sie auch die staatsrechtliche Verantwortlichkeit
der Regierung negieren — eine Negation der politischen
ist m. E. ausgeschlossen — , müssen Interpellationen als in
dea Wirkungskreis einer Kammer fallend angesehen werden.
Daß diese Auslegung so ziemlich allgemein anerkannt
it, beweisen die Tatsachen der Praxis.
Die Regierungen hatten ja immerhin, wenn sie die
Interpellationen eines Parlamentes als ungehörigen Übergriff
betrachtet hätten, die Möglichkeit, deren Einbürgerung
durch Ignorierung der Anfragen zu verhindern; taten sie
das nicht von allem Anfange, gaben sie dadurch nicht ihre An-
sicht über die von ihnen behauptete Kompetenzüberschreitung
kund, 80 halfen sie durch ihre Duldung die parlamentarische
Konipetenzsphäre dahin zu interpretieren, daß auch Inter-
pellationen in sie fallen.
Auch der Umfang des Wirkungskreises ist der Er-
scheinung der Verfassungswandlung unterworfen ; tatsächliche
Vornahme von Akten durch ein Staatsorgan und rUckhalta-
lose Duldung derselben dui'ch andere Staatsorgane können
sie zu von berufener Seite vorgenommenen Rechtsakten
stempeln.
I Die Ergebnisse theoretischer Erwägung und praktischer
B ' Einem solchen Verbote kontnit in den Kon9ei|ueDieii der geseCttiche
AnBichluB der Regieruiigsmitgüeder von den Sitzungen eüiei) tlAUsei
);leich; damit i«t praktiach die Möglichkeit nti Interpellationen (nfttltrliob
nicht die snr Kontroll« ülierhaupt und die MiuiBterverantwortlielikeil] gt-
34 VI 2.
Folgerungen zusammenfassend, kann somit die Behauptung
dezidiert aufgestellt werden, daß einem Parlamente, dem
Kontrollrechte zustehen, auch das Interpellationsrecht ge-
bührt; und die G.O. welche ein solches annimmt und be-
hauptet, nimmt eine Interpretation der Verfassung vor*.
Fraglich mag es für die Theorie sein, wie groß der
staatsrechtliche Gehalt eines solchen Interpellationsrechtes
ist, sein politischer ist jedenfalls anerkannt^. Es muß aber
nochmals wiederholt werden, daß wenn wir in den staat-
lichen Einrichtungen alle Institutionen, die nicht der for^
mulierte Ausdruck eines Gesetzes sind, als rechtlich bedeu-
tungslos bezeichnen, schließlich theoretisch nur eine ganz
unvollständige staatliche Rumpforganisation zurückbleibt.
Der durch die Praxis gelieferte Kitt ist durch die Dauer
seines Bestandes so hart und uuausscheidbar geworden, daß
die aus den Tatsachen abgeleiteten abstrakten Regeln Form
und Bedeutung von Rechtssätzen annahmen.
Diese nun als Gewohnheitsrecht zu bezeichnen, oder
sie unter einem andern Begriff zu subsumieren, ist eine
Frage der juridischen Technik. Solche Regeln sind eben
da und Staatsorgane handeln nach ihnen.
Wie es sich nun mit der Außerungapflicht des Inter-
pellierten auf im Gesetze nicht ausdrücklich anerkannte
Anfragen verhält, ist eine weitere Frage. Ganz allgemein
wird man sagen müssen, daß eine solche besteht.
Das Vorhandensein einer solchen Außerungspflicht ist
zu bejahen, mag sie nun eine rechtliche, politische oder
moralische sein; auf die Bezeichnung kommt es nicht an.
* Für Norwegen leitet Aschehoufi", das Staatsrecht der vereinigten
Königreiche Schweden und Norwegen, I086, S. 144, das Interpellations-
recht aus der Befugnis des Storthings ab, jedermann vor seine Schranken
zu laden, um ihn über Staatsangelegenheiten zu vernehmen.
^ Die politische Durchschlagskraft von Interpellationen hängt von
mancherlei Faktoren ab , die juridisch nicht erfaßbar sind , so von der
Farteistellung, dem persönlichen Ansehen des Interpellanten u. dergl.
mehr. Siehe Low, a. a. O., S. 92; vergl. auch La band, Staatsrecht,
I, S. 283 f.
VI 2.
a5
Und aljermals ist ea die Praxis, die zu dieser Bejahung
■ berechtigt.
I Die Äußerung kann sein eine materielle Antwort oder
I die Verweigerung einer aolchen mit oder ohne Angabe von
Gründen. Als Regel wird man als Mindestpflicht eine mit
Gründen versehene Antwortsablehnung durch den Inter-
pellierten annehmen müaaen. Wenn gesagt wird, daß die
englischen Minister ohne Angabe von Gründen die Antwort
verweigern können, was sich in einem Nichtreagieren auf
Anfragen äußert, so bezieht aich das nur auf „inquiry in-
oonvenient", wie Low eine gewisse Kategorie von Inter-
pellationen nennt, die man also als „ungehörige" bezeichnen
I kann'.
■ Die „ÄuQerungspflicht" kUhl erwägend muß man sagen,
■ daß ihre Anerkennung wenig bedeutet, während das Nicht-
beachten ordnungsmäßiger Interpellationen deren politisches
Gewicht über Gebühr steigern kann und oft zur Schluß-
folgerung verleiten wird, die Regierung habe alle Ursache,
r aich der Kontrolle zu entziehen. Natürlich gilt das nicht
I iftlr obstruierende Anfragen, die überhaupt auf keine Ant-
Iwort reflektieren^.
Es giebt auch kaum eine so starke und so undiplo-
tinatische Regierung, welche ea auf eine Kraftprobe mit
|«inem Hause nur deshalb ankommen läßt, nur um nicht
Igen zu müssen, sie lehne eine materielle Antwort aus
oder Jenem Grunde ab. Sollte aich aber dennoch
F«n solcher Konflikt im Zusammenhang mit anderen Streit-
fragen entspinnen, dann wird, wie ao hituHg bei Verfaasunge-
problemen, weder das Gesetzes- Recht, noch das Gewohnheits-
recht, sondern die Macht entscheiden.
I In Erwägung aller dieser Gründe hat das Verlangen
■ D»li eine AuaernngapHicht im o. S, , dd» bo[at eine Pflidjt lar
Antwort, die eine materielle Ertedi^np der Frage entbHIt, nicht exintiert,
ttacb nicht in jenen ParlaiDenten, für die das Interpellatiousreclil aiu-
drttdclieli dnrah daa Oesetx fixiert ist, wird unter B. erGrtert werden.
36 VI 2.
nach einer Äußerung des Interpellierten mit dessen Willen
sie nicht zu versagen, unter normalen Umständen stets
harmoniert.
Der Kampf drehte sich nur um die Pflicht, eine mate-
rielle Antwort zu erteilen. So ist auch des Bundeskanzlers
Grafen von Bismarcks Erklärung zu verstehen, die er an-
läßlich einer einschlägigen Debatte im verfassungsberatenden
Reichstag abgab; sie lautet: „ (ich) weiß
nicht welche Gewalt, welche parlamentarische
wenigstens, mich zwingen könnte, zu reden, wenn ich
schweigen wilP," .... doch werde die Bundesregierung
sich der Beantwortung etwaiger Interpellationen nicht ent-
ziehen ^. Mit anderen Worten bedeutet das : die Regierung
wird eine materielle Antwort nicht verweigern, wenn sie
sich mit dem Staatswohl vereinbaren läßt; nicht jedoch darf
aus der materiellen Antwort ein Präcedenzfall geschmiedet
werden, daß sie unbedingt zu ihrer Erteilung verpflichtet
wäre. Mit keinem Worte wehrt sich der Kanzler gegen
eine bloße Außerungspflicht.
Der unter normalen Verhältnissen allgemein übliche
Modus, eine Interpellation zu beantworten oder die Antwort
aus anzuführenden Gründen abzulehnen, ist eine feststehende
Institution geworden, die alle Anzeichen des Gewohnheits-
rechtes an sich trägt.
Selbstverständlich und kaum zu erwähnen nötig ist es,
daß, wenn ein parlamentarisches Kollegium es seinen Mit-
gliedern gestattet, die Regierung zu interpellieren, ohne auf
ein damit korrespondierendes Gesetz hinweisen zu können,
daraus nicht ohne weiteres eine Außerungspflicht des Be-
fragten konstruiert werden kann. Die selbständigen Ge-
schäftsordnungen vermögen nur fUr die Mitglieder des
Hauses eine Art Recht und Pflicht zu konstituiren, für die
Regierung aber nur insofern, als diese gehalten ist, den so
^ Thudichum, Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und
des Deutschen Zollvereins, 1870, S. 213 f.
^ Rönne, d. StR. des Deutschen Reiches, 2. Aufl., I. S. 268Anm.3.
VI 2.
37
I
geregelten interncTi Geschäftsgang der Kammer zu reapek-
tiereu. Erst die tatsÄehliclie Auätibung von Interpellationen
and tatsÄchliche Äußerungen des Befragten darauf, die
durch geraume Zeit anstandslos erfolgen, schaffen eine
Äußerungapflicht, so daß die „Äußerungen" nicht mehr als
inhaltsleere Akte der Kourtoisie erscheinen; auf diesem
Punkte der Entwicklung sieht diesbezüglich das Parlaments,
recht aller Kulturataaten.
B. Das Interpellatlonsrecht mit ansdrQckliehei-
geHetzIicfaer Ornndlage.
Georg Meyer' sagt: „wo das Interpella-
tionsrecht in der Verfassung förmlich anerkannt ist, hat
der interpellierte Regierungs Vertreter stets eine Antwort
auf die Anfrage zu geben. Nur braucht diese nicht not-
wendig eine materielle Auskunft zu enthalten, es steht ihm
frei, eine solche zu verweigern, wenn eine öffentliche Be-
handlung der fraglichen Angelegenheit mit dem Staatswohl
nicht vereinbar erscheint" '.
Diese richtige Auflassung, daß Interpellationen, die ihre
Zulässigkeit auf den Wortlaut des Gesetzes gründen, eo
ipso mit einer Äußemngspflicht des Interpellierten kor-
respondieren, findet in den verschiedenen Verfassungen und
in der Litteratur bald klaren, bald minder klaren Ausdruck.
Die Unklarheiten, besonders in der Litteratur, resultieren
u. A. auch daraus, daß das Wort „Antwort" bald in der
ideutung „materielle Beantwortung" bald auch in der
< Mever-A.asohtilz. LclirbuL^b d. Ueuteclien SlR., 190Ö, B. 299f.
' Üau eine nittcrielte Autwort hei bestehender ÄuBemu^pflicht mit
lia auf d«» flffeutliohe Interease oder unter Angabe von OrSnden
gelehnt werden kiinn, sprechen raanclie Oesetie siiidrflcklicb iuh,
" Art. IX der ZuMtiartikel «ur L.O. (Ür du Königreich Böhmen,
; Oe<i V. T. Mni 1877 Tür latrien, L.O. B. S ; Art 1 1 Os>. v. 2. Febr.
»77 für Steiermsrk, L.G. B. 6: Siohi. L.O. g 31; Verf. v. Hamburg
L, 65; V. Lilbeek Art. 45.
38 VI 2.
Bedeutung einer mit Gründen versehenen Ablehnung der-
selben gebraucht wird^.
Wenn, wie schon ausgeführt, selbst für jene Parlamente,
die ein Gesetz zur Einbringung von Interpellationen nicht
ausdrücklich kompetent erklärt, dennoch mit Hinblick auf
ihren ganzen Wirkungskreis die Zuständigkeit dazu an-
genommen werden mufi, und es zumeist auch nicht an einer
nachfolgenden Außerungspflicht (mag man diese nun als
gewohnheitsrechtliche auffassen oder nicht) fehlen wird, so
muß unbedingt die Konsequenz aus der gesetzlichen Fest-
legung der Interpellations-Zuständigkeit gezogen werden,
daß die Regierung auf jede Anfrage zu reagieren hat^.
Interpretiert man z. B. nur rein juridisch § 21 Ges.
ü. d. R.V. (Österreich): „Jedes der beiden Häuser des
R. R. ist berechtigt, die Minister zu interpellieren '^
und § 12 Abs. 2 des G.O.Ges., (gleichlautend mit § 08^
G.O. Abg.H.): „Der Interpellierte kann sogleich Antwort
geben, diese für eine spätere Sitzung zusichern, oder mit An-
gabe der Gründe die Beantwortung ablehnen", dann kann man
diese Bestimmungen doch nicht so auslegen, daß ihr Sinn
schließlich höchst nichtssagend lautet: Jede Kammer kann
die Minister interpellieren, diese können sofort oder spätei
Antwort geben oder eine solche mit Angabe von Gründen
ablehnen, oder vollständig schweigen. Das Letztere
widerspricht durchaus einer gesunden, ungekünstelten Auf-
fassung, auf welche doch auch Gesetze in ihrer Auslegung An-
spruch erheben können. Nur der absolutistische Niederschlag
vergangener Epochen, der noch tief in den Gliedern steckt,
mag die Ursache sein, daß eine solche Interpretation ernst-
1 Vergl. österr. Ges. ü. d. R.V. § 21 ; Ungarn, Ges. Art. m, 1847/48,
§ 29; Sachs. L.O. § 31 u. a.; Ulbrich im österr. Staatsworterbuch II,
2. Hälfte, 1897, S. 924, wo ohne Interpretation § 12 G.O. Ges. zum Ab-
druck gelangt; Manuel Torr es Campos, das Staatsrecht des König-
reichs Spanien, S. 37; u. a.
*^ Über „Pflichten" als „logische Korrelate" von „ausdrücklich an-
erkannten Rechten", vergl. Lab and, Staatsrecht, I. S. 285 Anm. 2; daft
einer „Kompetenz" keine „Pflicht" zu entsprechen braucht, s. Jellinek,
Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 25 f. Anm. 1.
vr 2.
3!)
lieh diskutiert wurde. Ein merkwHrdigeH f/iefnhl der
SchwOohe, der Unsicherheit, und ein JingstUcheB Hangen
an dem rein Formalen spricht aus dem Zweifel, der sich im
Berichte des G.O. Ausschusses ' findet, wonach aus dem
Gesetze nicht „zum klaren Ausdrucke" komme, ob dem
Interpellierten überhaupt die Verpflichtung obliege, auf eine
Anfrage „irgendwie zu "reagieren". Der politische Kampf
bis aufs Messer, der im österr. Abg.H, entbrannt war, die
obstruierenden Interpellationen, sowie die Verwahrlosung
der gesamten Geschäftsführung lassen ja solche Bedenken
über die selbstverständlichsten parlamentarischen Institu-
tionen verstündlich erscheinen — für den objektiven, außer
dem Kriegsrayon stehenden Beobachter bestehen sie nicht.
Und faßt man die „Äufierungspflicht" vom politischen
Standpunkt ins Auge, so ist sie ebenso unbedingt zu be-
jahen; der zitierte § 21 des St. G.G. gehört nicht zu
jenen, die praktisch zwecklose Sclieinhefugnisse formulieren,
«ondern er betont die Kontrollkompetenz des Rcichsratea,
I die sich gewiß nicht in Fragen einerseits und im Schweigen
■ anderseits erschöpft
Keineswegs freilich braucht die Äußerung des Inter-
pellierten eine materielle Antwort auf die Interpellation zu
enthalten; eine mit Gründen versehene Ablehnung der
Antwort genügt, und mehr will auch diesbezüglich der oben-
genannte, bewußt bescheidene G.O.Ausschuß , wie aus der
I von ihm vorgeschlagenen Ntuformulierung des § C8C G.O. ^
[■ manifestiert, gar nicht anerkannt wissen.
Die Staatsraison, verschleiernd oft auch als „öffentliche
Wohlfahrt" bezeichnet, kann sehr wohl einer materiellen
I. Antwort unbedingt entgegenstehen. Ist die Kegierung der
^Ansicht, cB sei dies bei einer eingebrachten Interpellation
Ider Fall, dann hat sie sogar die Pflicht, ihre materielle
I Erledigung zu versagen, damit aber auch die Folgen davon
40 VI 2.
auf sich zu nehmen. Besonders häufig treten solche Fälle
bei diplomatischen Angelegenheiten auf; sehr richtig sagt
Redlich * : „In betreßt der Mitteilung diplomatischer Akte
muß . . jede Regierung die Kompetenz besitzen, rein dis-
kretionär zu beurteilen, was veröffentlicht werden kann,
und was nicht". Oft werden über eine Angelegenheit Er-
kundigungen eingezogen, die entweder noch nicht spruch-
reif ist, oder erst dann wird, wenn sie bereits der Geschichte
angehört, in die Domäne des Historikers und nicht mehr
in die des praktischen Politikers fkllt. Aus dem Aufsehen
und den schweren Verstimmungen, die häufig selbst mit
der Veröffentlichung von sogenannten Memoiren einst füh-
render Staatsmänner Hand in Hand gehen, kann die Rich-
tigkeit dieser Deduktionen ersehen werden.
Aber nicht nur ausschließlich auswärtige Angelegen-
heiten sind es, für die „Schweigen" — „Gold" zu bedeuten
vermag, sondern auch innerpolitische", ebensowenig wie ein
ängstliches Vertuschungssystem läßt sich auch die regellose
Flucht in die Öffentlichkeit jederzeit rechtfertigen. Die
„öffentliche Meinung" beeilt sich gar zu oft, jedes beklagens-
werte Ereignis sofort als ein Symptom unter Vielen für die
Verrottung der Verwaltung, zuweilen sogar des gesamten
Kulturzustandes auszuposaunen ; vorschnelle (oder aus Partei-
taktik absichtlich irreführende) Schlußfolgerungen schaden
oft nicht nur dem Prestige der Exekutive überhaupt, son-
dern speziell auch der Sache selbst, der sie vielleicht
dienen sollen.
Natürlich darf hier nicht generalisiert, sondern es muß
spezialisiert werden ; es wäre ganz verfehlt, angelsächsische
Verhältnisse etwa zum Beweis für die Stichhaltigkeit kon-
tinentaler Forderungen heranzuziehen; und auch die staat-
lichen, politischen und sozialen Zustände auf dem Festlande
differieren abermals in den verschiedenen Staaten, ja sogar
^ Redlich, a. a. O., S. 296.
VI 2.
41
N
Staatsteilen, derart untemnander, daß das, was bier für die
Öffentlichkeit geeignet ist, dort ungeeignet ist.
Ganz allgemein und für die verschiedensten Verhültnisac
passend, ist deshalb jene Ausgestnllung des Interpellationg-
rechts, die es der Regierung überläßt, zu antworten, oder
die Antwort mit Gründen versehen, abzulehnen. Diese Auf-
fassung des Interpellatron&reclita für die Kammern und in
den Kammern ist auch praktisch die herrschende. Die
Größe des Vertrauens eines Hauses zum guten Willen, zuv
Ehrlichkeit und zu den Fähigkeiten eines Kabinettes ent-
scheidet dann darüber, ob das gemeinsame Zusammen-
arbeiten zwischen Regierung und Parlament bald mehr bald
weniger differenzen reich lat,
und selbst wenn eine Verfassung wie z. B. die dos
.Königreichs Ungarn' bestimmt: „Die Minister sind ver-
lichtet, in jedem Hause des Reichstages, welches es wünscht,
zu erscheinen und die erforderlichen Aufklärungen zu geben,"
so darf das nicht etwa so verstanden werden, daß die Mi-
nister unter allen Umständen materielle Äufklftrungen
anf Interpellationen zu leisten haben^; eine solche Auffassung
eotsprSche zwar den Intorpretationsregeln, die bezüglich der
Privat-Rechte Anerkennung fände», nicht aber jenen, die
für Verfassungsbestimniungen gelten müssen. Verfassungen
können nie rein theoretisch ihrem Buchstaben nach ausgelegt
werden, immer hat die Auslegung auf die Staatsraiaon Rück-
eicht zu nehmen, besonders dann, wenn sie in Einzelfällen
keine subjektiven Rechte schufen.
Es kann Staatsorganen nicht zugemutet werden, die
Verfassung so zu interpretieren, daß das Staatäwesen ge-
fÜthrdet würde, statt gefördert. Das übersehen alle atomi-
stischen Theorien, die als letzte Konsequenz für alte staat-
liclie Aktionen den ungeschriebenen und gleichwohl allen
' G«., Art. 11[ g ai, V. .1. 1847/48,
' Siehe «nch Art, 50 dor rumäniBohen Terfasaung: «Lei miniatreH
sant tenna de donner de« expliculinna aur leiir tcneur tontea le» foii i^
iwChMnbrealeademsndenl," Da rede, Leaeanitinodemei^.Ed. II, S.220.
42 VI 2.
Konstitutionen inhärenten Satz negieren: rem publicam
vivere necesse est, te vivere non est.
Daher kann auch § 29 für den ungarischen R.T. nur
eine Äußerungspflicht des Interpellierten, nicht eine Ant-
wortspflicht i. e. S. involvieren und dasselbe gilt für alle
Verfassungen, die das Interpellationsrecht objektiv dem Par-
lamente zusprechen.
Neben jenen Verfassungen, die das Interpellationsrecht
ausdrücklich behandeln, und jenen, in denen es keine Er-
wähnung findet, steht noch eine dritte Gruppe, für die, so
merkwürdig es klingen mag, Zweifel obwalten, ob sie das
Interpellationsrecht regeln oder nicht. Hierher gehört die
Verfassungs-Urkunde des preußischen Staates; die hier
auftauchende Frage wird im besonderen Teile untersucht
werden.
Wie wenig es übrigens praktisch von Bedeutung ist,
ob das Gesetz die Materie der qualifizierten Anfragen be-
handelt, beweist ein kurzer Blick auf statistische Angaben.
Im englischen Unterhause, wo nicht einmal die Parteisitte
vom Minister eine Antwort fordert und das nachdrückliche
Bestehen des Interpellanten darauf als geschäftsordnungs-
widrig angesehen wird, wurden im Jahre 1901 während
der Wirren des südafrikanischen Krieges 7180 Interpella-
tionen gestellt undbeantwortetM das preußische Abg.H.,
dessen gesetzliches Interpellationsrecht bestritten ist, erlebte
in der Zeit von 1887 — 1906 (abzüglich der zurückgezogenen)
92 Interpellationen^, von denen 8 unerledigt blieben; ein
trauriges Resultat zeigt das österr. Abg.H., in dem z. B.
in der 13. Sess. 1897 von 336 Interpellationen nur 4, d. i.
1,19 ^/o beantwortet wurden^, — und von allen drei er-
wähnten Kammern ist es gerade diese, welche durch die
Verfassung und das G.O.Ges. am besten mit Bestimmungen
für das Interpellationsrecht bedacht wurde.
1 Redlich, a. a. O., S. 2:35 f. Anm. 2.
2 Siehe bes. Teil.
^ Siehe Regierungsvorlage S. 31 u. bes. Teil.
rVI 2. 43
Nicht deraiiagespi'oohene Kothtsstandpunkt
und nicht die mehr oder minder klare Rechte-
lage sind maßgebend für die den Inter-
pellationen entsprechende Außerungspflicht,
ndern in erster Linie das tadellose Funktio-
Knieren der parlamentarischen Einrichtiingen
L'in einem Staate.
Parlamentarisches Regime oder mchtparlamenlarisches
J Regime — keine Regierung schlechtweg wird einem Parla-
l^nent, das die Aufgaben seines Wirkungskreises erfaßt und
1 Tollzieht, heute die Zuständigkeit zur Kontrolle durch
F prinzipielle Nichteried igungder Anfragen erschweren, sondern
t«D dem eingebürgerten Usus der Äußerungspflicht womöglich
Inrch Erteilung einer materiellen Antwort festhalten; wo
■ dagegen Interpellationen di>n typischen Charakter politischer
' Hachenechat't an faich tragen oder übertriebenen lokal-
patriotischen Neigungen entspringen , dort wird auch die
Regierung es mit ihrer Außerungspäicht nicht sehr ernst
■■ nehmen können '.
■ Im Zustande des Kampfes weichen die Rechtaf ragen
llonsequcnt gogeuUber dem Bedürfnisse nach politischer
' Zweckmäßigkeit zurück ',
Ein Unterschied ist gleichwohl vom Standpunkte der
rechtlichen Theorie aus zwischen dem Interpellationsrecht,
I das sich auf den Wortlaut des Gesetzes stützt und dem,
sich nur aus dem Wirkungskreis einer Kammer ab-
leiten läßt, festzustellen. Die Nichtanerkennung des ersteren
^urch die Regierung, die auch aus der konsequenten Nicht-
BtSrledigung der Anfragen manifestiert, ist eine Verfassungs-
I In den niliigen Jahren 1861—1885 wnrde ii
BiBig über die HUfte, in einer SesBion vmrdeii
teilten luterpelUlionen beintnortet.
* \etgl Redlich, a. h. O., S. If32ff., Aber das Vorgehen vou
iemng, Speaker nnd Unterhausmehrheil gegen die obatruiereoden irischen
ionalisten. Plate, die (i.O. den prenB Abg.H., ». 124: Ini Jahre 1SII$
neigerte lich das Ministeriuiq, an den Verhau dloDgen des preuß, AI'g.H
- ■ - ÖO Ab». 2 V.U. toilKinehmen.
44 VI 2.
Verletzung, welche unter Umständen mit der Ministerankläge
beantwortet werden könnte; eine Nichtanerkennung des
letzteren bedeutet rechtlich nur einen Interpretationszwiespalt
zwischen Parlament und Regierung.
Eine eingehende juridische Untersuchung über die
Möglichkeit, ein Ministerium oder einzelne seiner Mitglieder
wegen Verletzung eines gefestigten Gewohnheitsrechtes
staatsrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, würde interessant
und anregend sein, wäre nicht die Ministeranklage als solche
auf dem Kontinente eine Totgeburt^ gewesen — ein „toter
Buchstabe" geblieben. Und noch aus einem zweiten Grunde
wäre in praxi eine Ministeranklage wegen Verletzung des
Interpellationsrechts kaum oder gar nicht in jenen Staaten
möglich, wo keine Frist gestellt ist, innerhalb welcher eine
Äußerung des Interpellierten zu erfolgen habe.
So bleibt schließlich nur die politische Verantwortlichkeit
auch in staatsrechtlichen Fragen nach der Gesetzmäßigkeit
eines Aktes über — aber diese geltend zu machen, falls
Interpellationen durch Nichterledigung von Seite der Re-
gierung ihren Zweck als Kontrollmittel zu verlieren drohen,
steht jeder Kammer zu.
Wenn das materielle Interpellationsrecht die Zuständig-
keit eines Hauses zur Stellung von Interpellationen an
Mitglieder der Regierung ausspricht, so bestimmt das
formelle dagegen die Art und Weise, w i e qualifizierte An-
fragen eingebracht und erledigt werden. Die Bedeutung
des formellen geht aber weit — ähnlich der des Straf-
prozesses — über die Bedeutung rein formaler Form-
vorschriften hinaus; es bestimmt z. B., ob nur das Parlament
durch seine Mehrheit oder ob auch eine Minderheit, vielleicht
^ Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlang, S. 41 ff.
Allerdings wird es oft großer Schwierigkeiten nicht entbehren, in
praxi ein „Gewohnheitsrecht" von einem einfachen „Usus" za scheiden;
so findet z. B. Redlich (a. a. O. S. 657), wenn er die Verweigerung
der Sanktion für eine Bill durch die Krone Großbritanniens als „Brach
des positiven Rechtes" auffaßt, von manchen Seiten Widersprach and die
„Theorie" macht ebenso viel dafür wie dagegen geltend.
"VI 2. 45
Eir schon ein Mitglied des Haueea deu Informatioue- und
Kontrolleapparat in Bewegung setzen kann, Daa ist von
nachhaltigstem Einfluß besonders dort, wo das Wahlsysteni
den in den breitesten Schichten der Bevölkerung basierenden
Parteien eine der Zahl nach nur geringe Vertretung er-
möglicht, eine Vertretung, der für sich allein durch rigorose
Bestimmungen über die Anzahl von Mitgliedernj welche eine
Interpellation unterstützen müssen, um sie relevant zu
machen, die Fähigkeit genommen ist, .Äußerungen der
, Minister zu veranlassen.
Überdies regelt das formale Interpellationareeht die
Iform der Antwort, daß sie schriftlich oder mündlich erteilt
rwird, setzt deren Behandlung im Plenum fest, indem bald
P]Debatten und Anträge im Anschluß daran gestattet, bald
l'Tersagt werden und dergleichen mehr.
Eine Erörterung dieser wichtigen Fragen und ihrer
ili&sung in einzelnen parlamentarischen Kollegien erfolgt im
■ aSchsten Abschnitte.
4. Erscheinungsformen des Interpellatlonsrechtes.
Nach der Darlegung des Wesens und der Erkenntnis
der Ursachen, die zu Interpellationen und zur Ausbildung
eines Interpellationsrechta führten, mllssen nun die Erschei-
nungsformen, unter welchen das Informations- und Kontroll-
recht in die Wirklichkeit umgesetzt wird, einer Untersuchung
unterzogen werden. So allgemein und konform die Vor-
Iftuflsetzungen sind, auf denen das Interpellationarecht beruht,
io allgemein die Ziele sind, denen es dient, ebenso mannig-
Bch und verschieden sind die Bestimmungen über eine
Geltendmachung in den einzelnen Kammern. Als Form-
Vorschriften, die den Geschäftsgang regeln, stärken
bder schwächen sie seine Potenz, machen es zu einer
scharfen Waffe selbst kleiner Minoritäten oder behalten
seine Realisierung der überwiegenden Kammer- Mehrheit
vor. Über die Äußerungspflicht, die der Kompetenz zur
46 VI 2.
Anfrage entspricht, wurde bereits gesprochen; sie ist ein
generelles Merkmal des Interpellationswesens ; dagegen sind
noch die wichtigsten speziellen oft nur in diesem oder
jenem Parlamente zur Ausbildung gelangten Momente zu
erörtern. Auf kleine Abweichungen im Einzelnen kann
nicht eingegangen werden und es muß diesbezüglich auf
den besonderen Teil dieser Abhandlung verwiesen werden.
Fristbestimmimgen bezüglich Interpellationen.
Eioe Bestimmung^ daß der Interpellierte innerhalb
einer gewissen Frist zu antworten habe, findet sich kaum
in einer Verfassung und ist nur in wenigen Parlamenten
durch die G.O. oder einen Brauch festgelegt.
Präsident Grövy erklärte 1874^ in der französischen
Deputiertenkammer, es sei „une v^ritable confiscation du
droit d'interpellation", wenn eine solche Frist nicht gesetzt
sei. Dieser Ausspruch hat allerdings in Frankreich eine
besondere Bedeutung, denn das einzelne Mitglied gibt
gewissermaßen nur die Anregung zur Interpellation und
die Kammer selbst ist es, die interpelliert, indem sie inner-
halb einer Frist von vier Wochen eingebrachte Interpella-
tionen über die innere Politik (für solche der äußeren exi-
stiert keine Begrenzung) zur Behandlung bringt; bei der
Fixierung des Datums hat die Regierung nur eine beratende
Stimme. Diese Frist von vier Wochen macht es der
Kammer unmöglich, Anfragen dadurch, daß sie sie nicht
auf die T.O. setzt, in praxi zu unterdrücken^, aber auch
die Regierung, beziehungsweise der Interpellierte, sind da-
durch wirksam gehindert, durch Zögern und Hinausschieben
des Antworttermines, ohne die Antwort direkt zu verweigern,
den loterpellanten solange hinzuhalten bis die Anfrage
1 S. Pierre, a. a. O., S. 798.
2 In Belgien darf nur, falls der Interpellant zustimmt, die Inter-
pellationshandlung länger als acht Ta^e verschoben werden. Manuel i^
Tusage des membres du senat et de la chambre des representants.
1897, S. 82.
VI 2.
47
nicht mehr akut, interesselos oder durch Tataachen über-
holt ist'.
Viel einschneidender wäre die Einführung einer Frist
zur Äußerung des Befragten fUr jene KaDunern, in denen
die Unterzeichnung einer Interpellation durch relativ wenige
Mitglieder des Hauses genügt, um den Informalions- und
Kontrollapparat automatisch spielen zu lassen. Ein der-
artiger Vorschlag ist im Berichte des G.O.Ausschusaea des
österreiohiachen Abg.H.^ enthalten; er will der Regierung
zur Erfüllung ihrer ÄußerungspfÜcht eine , angemessene
Frist" setzen und sagt, in den meisten Fällen dürfte ein
„Zeitraum von sechs Wochen" genügen. Dieser Antrag
bedeutet einen gewaltigen Vorstoß des Parlamentes, der
besonders für das österreichische Ahg.H. ein wenig ver-
wunderlich ist, da die bei ihm zu konstatierende Entartung
des J. K. eher eine Beschränkung und Abschwäcimng dea-
twlben erwarten ließe; diese waren allerdings auch von der
^nrch das Herrenhaus unterstützten Itegierung geplant und
ÜB scheint nicht ganz unwahrscheinlich, daß die Xeuforderung
^es Abg.H. nur als Kompensationsobjekt für das Fallen-
loBeen beengender, von anderen Staatsorganen befürworteter
Regeln gedacht war, demnach der Vorschlag nur als poli-
tischer Trick aufgefaßt werden müßte.
In England bestimmt einseitig der Interpellant, an
welchem Tag er die Antwort der Regierung auf seine An-
frage wUnscht, aber dort ist dem J. R. seine Spitze durch
mancherlei Verklausulierungen — Beschränkung des ganzen
Verfahrens auf eine kurze Spanne Zeit, Häufigkeit der
^K^hriftlicheu Antwort u. dgl. — genommen, so daß der
' NatJi g 74 iler G.I1. des preuB. Abg'h. und § 70 der 0.0. d«i
D.E.T. sind auch Interpellationen mit dem Ablnuf der Sitzungsperiode,
in welahcT «ie eingebracht und in welcher sie oiclit belinndelt wurden,
für Hrledig:t in orschteo. Ähnlich verfithrt auch die Fraiin anderer
KKmmeru, jedoch nicht die des francSsiechen ParUment«. Über das
'" p der KoDtäDuitit und Diskontinuität der parlameDtari schon
iiKtioo UDdOsHchSftsfiihruag des Ssterr. R.R. vergl. Harike, Orund-
I» TuriaasTiugB rechtes, ld05, S. 70.
' lieri«bt dos Abg.O. S. 24; 30,
48 VI 2.
„Befristung" durch das fragende Mitglied keine sonderliche
Bedeutung zugesprochen werden kann.
Jedenfalls liegt in dem Mangel einer zeitlichen Grenze,
innerhalb welcher die Äußerung fallen mufi, eine Abschwä-
chung der Bedeutung des J. R., aber sein politischer Wert
wird dadurch nicht sehr stark tangiert und in regelmäßig
funktionierenden Kammern dürfte nicht häufig ein Grund
vorliegen, diesen Mangel zu beklagen.
Keineswegs scheint es den Bedürfnissen der Praxis an-
gemessen, in Bezug auf die Beantwortungsfrist für Inter-
pellationen der inneren und der äußeren Politik gleiche Be-
stimmungen zu treffen, und Pierre ^ äußert sich darüber fol-
gendermaßen : Les auteurs des r^glements n'ont pas entourä
des memes garanties le droit d'interpellation sur la politique
extörieure, parce qu' ils ont voulu röserver ä la Chambre
pleine libertö d'ajourner des däbats qui pourraient compro-
mettre nos relations d'amiti^ avec les puissances ^trang^res.
Im allgemeinen wird sich korrigierend hinzufügen lassen,
daß die Entscheidung, wann auswärtige Angelegenheiten
spruchreif seien, wohl am besten in die Hand der Regierung
zu legen ist, denn ihr muß man zuerst die Fähigkeit zu-
sprechen, die internationale Lage zu überblicken und daher
ein Urteil zu fallen.
Auch was die internen Angelegenheiten eines Staates
anlangt, wird es nicht jederzeit wünschenswert sein, sie
vor der Öffentlichkeit zu besprechen und zu glossieren ; ein
Mittelweg zwischen den parlamentarischen Ansprüchen auf
Kontrolle und den praktischen Bedenken, diese immer rück-
haltslos zu gewähren, läge in der Ausgestaltung des Frage-
rechtes von Kommissionen, deren Mitgliederzahl enger be-
grenzt und deren allenfalls wünschenswerte Diskretion nicht
allzuschwer zu erzielen ist ; davon wird noch die Rede sein.
Bei diesen Erörterungen handelt es sich zuvörderst um
eine Frist zur Erteilung materieller Antworten und die
^ Pierre, a. a. O., S. 801.
VI 2. 49
bloäe Äußerung, eine Angelegenheit eigne eich noch nicht
L zur offiziellen Diskussion, wird auch bei kritischen Fragen
ftschwerlich die Lage verwirren.
r In jenen Parlamenten allerdings, welche auch Debatten
über negative Antworten des Interpellierten kennen, kann
durch unzeitgemäße Besprechungen immerhin Unheil ge-
^ stiftet werden.
Es hängt eben immer und jederzeit von der Einsicht,
dem Takte und dem guten Willen einer Kammer ab, ob
sie die ihr zugewiesenen Aufgaben zum staatlichen und
politischen Nutzen auszuführen bestrebt ist oder nicht.
Eine Befristung der Außorungapflicht wird dort erklärlich
sein, wo ein chronisches Mißtrauen zwischen Regierung und
Parlament Platz gegriffen hat, wo eine Regierung sich ihrer
Stellung im konstitutionellen Staate wenig bewußt ist, oder
wo die Rammern auf Kosten der Staatsraiaon die eigene
Machtspbäre zu erweitern suchen; die Befristung wird dort
zur Notwendigkeit, wo sie eJn Zwangsmittel für das Haus
lelbst enthält, Interpellationen verhandeln zu müssen, die
. sonst durch Hinausschieben der Diskussion begraben
Btönnte, und die Befristung wird schließlich unbedenklich
ind einwandfrei sein, falls sie in einem Parlamente geltende
Horm ist, dessen politische Einsicht durch Beachtung der
<ehren der Vergangenheit und Jahrhunderte langer Erfah-
■Tongen vertieft wurde.
Wenn wir historisch das iDterpellationsrecht überblicken,
F&Ut es auf, daß es im englischen Parlamente aus einfachen
Anfragen der Mitglieder an die Regierung entstand. Auf
dem Kontinente begann es in Frankreich mit dem Dekret
der Constituante' vom 21. Juli 1701, das den Ministem
die Pflicht auferlegte, der Deputierten kämm er Auskunft zu
erteilen. Seine Ausbildung und Verallgemeinerung in und
fllr die verschiedenen parlamentarischen Kollegien vollzog
Mch allmählich, erlitt mancherlei Hemmungen und so folgte
50 Via
z. B. in Frankreich auf eine Biüteperiode der Interpellationen
im Jahre 1848 ihr vollständiges Verschwinden vier Jahre
später und über ein Jahrzehnt währte diese interpellations-
lose Epoche; inzwischen bildeten sich allerdings Informations-
aushilfsmittel als Surrogate, doch eigentliche Interpellationen
waren unstatthaft, gesetzwidrig. Interessant sind die Äuße-
rungen MohTs und Mittermaiers aus den Jahren 1829
bezw. 1838 über das Interpellationsrecht; sie beweisen dessen
embryonales Dasein in den Ständekammem der deutschen
Staaten. MohP schreibt: „Mit den einzelnen Ministerien
kommunizieren die Kammern durch ihre Präsidenten.
Dasselbe ist der Fall bei den landständischen Kommissionen,
welche ebenfalls das Recht haben, mit den betreffenden
Ministerien Rücksprache zu nehmen. ... Es handelt sich hier
um bloße Geschäftskommunikationen, in welchen kein
definitiver Beschluß der Ständeversammlung oder der Re-
gierung mitgeteilt, sondern z. B. nur die Mitteilung von
Urkunden oder von faktischen Verhältnissen verlangt werden
soll ..." Und Mittermaier^: „Über das Recht der Mit-
glieder durch Fragen an die Minister . . . irgend einen be-
liebigen Gegenstand, der nicht auf der T.O. steht, zur
Sprache zu bringen, erklären sich die Geschäftsordnungen
nicht oder nur sehr ungenügend." Es folgt nun ein Hin-
weis auf England und Frankreich, die zur Zeit hierin
weiter vorgeschritten waren, dann filhrt der Autor fort:
„Daß der gefragte Minister nicht genötigt werden kann,
eine Frage zu beantworten, versteht sich ; eigenes Interesse
wird ihn oft antreiben, zu antworten, damit nicht sein
Schweigen als Zugeständnis oder als Schwäche ausgelegt
werde. Solche improvisierte Fragen und Äußerungen . . ,
haben für sich, daß dadurch oft andere, sonst durch eigent-
liche Motionen weitläufige ftSrmliche Verhandlungen ab-
* Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, I, 8. 579
und 585.
■ Mittermaier, in Welker 's Staatslexikon, S. 629, im Abschnitte
,)Ge8chäftsordnung" .
mitten werden, und daß oft momentane EreigiiisHe An-
fragen und Bemerkungen im Interesse des Volkes fordern
können."
Die Entwicklung der Parlamente machte zwar solche
primitive und uns selbstverständliche Begründungen des
Interpellationsrechts überflüssig , brachte es jedoch auch
mit sich, daß der Ausübung des Rechtes gewisse Schranken
gesetzt werden mußten, wenn nicht durch überflüssige An-
fragen Zeit und Geduld der Kummermitglieder über das
nötige Maß hinaus in Anspruch genommen und der normale
Geschäftsgang nicht fortwährend gestört werden sollte. Die
verschiedeneu Kollegien schützten sich nun auf verschiedene
Art und Weise gegen einen Mißbrauch des Interpellationa-
rechts und alle waren bestrebt, neben der theoretischen und
praktischen Anerkennung der Interpellationen doch auch
hemmende Regeln zu schaffen, die eine rücksichtslose oder
die parlamentarischen Arbeiten gefUhrdende Ausnützung des
Rechts zu verhindern geeignet schienen. Dafür gab es
mancherlei Mittel, die zum Teil historisch zu erklären sind.
Fürs erste kommen in Betracht die Bestimmuugen
über den Interpellanten. Sie enthalten folgende drei
■uppeo :
a) ein einzelnes Mitglied interpelliert;
b) eine gewisse Anzahl von Mitgliedern ist zuständig,
Interpellationen einzubringen;
c) die Kammer, bezw. die Kammormehrlieit, inter-
pelliert.
a) Dies tinden wir klar in England verwirklicht. Das
Interpeilationsrecht ist hier am individuellsten, doch werden
wir auf seine Beschränkungen, die es durch die Fixierung
der Ausübung auf eine gewisse kurzbemessene Zeit und
durch die Einbürgerung der schriftlichen Antwort erfährt,
erat im folgenden zu sprechen kommen und hier nur darauf
hinweisen, daß Mißstände, die durch die liberale Einführung,
jedem Einzelnen die Interpellationsmöglichkeit zu ge-
■«ri
52 VI 2.
währen, aufkeimen könnten, durch verschiedene Präventiv-
maßregeln verhindert werden sollen ^.
b) Auch im D,R.T. dem österr. R.R. und dem preußischen
Landtage ist anscheinend ein einziges Mitglied allein der
Interpellant, aber es bedarf der schriftlichen Unterstützung
einer gewissen Anzahl von Kollegen (9 — 29), wodurch tat-
sächlich erst beim Vorhandensein von lOr— 30 Interessenten
dieser Minderheit die Möglichkeit zu interpellieren ge-
geben ist^
Daß in der Theorie nur e i n Interpellant vorhanden ist,
dem eine Gruppe anderer Mitglieder nur ihre Unterstützung
verleiht, äußert sich in der Praxis darin, daß er — ein
primus inter pares — bei der Behandlung der Interpellation
im Hause eine bevorzugte Stellung als Redner einnimmt
Was diese Interpellation durch Gruppen anlangt, so
erzielt sie den angestrebten Erfolg einer wünschenswerten
Beschränkung der Anfragen auf wichtige Angelegenheiten —
da man nur für solche die genügende Anzahl unterstützender
Interessenten erwarten zu können glaubte — tatsächlich nicht
inmier. Der Parteiverband und die kollegiale Kourtoisie
versagten, wo das Interpellationsrecht im Vereine mit anderen
parlamentarischen Institutionen verwahrloste, wohl selten
einem unterstützungsuchenden Interpellanten ihre Mithilfe;
wo aber Interpellationen von sich ihrer Stellung bewußten
Mitgliedern streng technisch gehandhabt werden, scheint
eine derartige Beschränkung überflüssig, da im allgemeinen
eine Selbstbeschränkung des Einzelnen zu erwarten ist.
^ Zwischen den „einfachen Anfragen" und den eigentlichen Inter-
pellationen kommen in Frankreich die auch dem einzelnen Mitgliede zu-
stehenden questions adress^es aux ministres in Betracht, doch werden sie
aus bestimmten später näher zu erörternden Gründen nicht hier, sondern
im nächsten Abschnitte besprochen. Yergl. auch SchoUeuberger,
Grundriß des Staats- und Verwaltungsrechtes der schweizerischen Kantone
1900; I. Bd. S. 205, wonach in den meisten Kantonen ein einzelnes Mit-
glied interpellieren kann; eine Interpellationsdebatte ist nicht zulässig.
''^ Im osterr. Abgh. schwankte die zu einer Interpellation notwendige
Anzahl unterstützender Abgeordneter seit dem Jahre 1861 zwischen 15
und 20; ein neuerlicher Vorschlag wollte sie auf 80 erhöhen.
rvi 2.
53
c) Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß die einer
Kammer zustehenden Rechte durch die Kamraermehrheit
als Verkörijerung des Willens der Kammer ausgeübt werden
sollen, gelangte man in Frankreich von der Interpellation
Einzelner dahin, daß heute der Einzelne nur mehr gewisaer-
maSen den Vorschlag macht, das Haus möge interpellieren
und dieses setzt den Tag für die Erledigung der Anfrage
fest^. In der preußischen zweiten Kammer* stand eine
ähnliche Regel — über die Zulassung der von 31 Mit-
gliedern unterzeichneten Interpellation entschied das Haue
ohne Debatte ~ im Jahre 1849 einige Monate in Kraft;
in Dänemark kann jedes Reichs tagsmitglied mit Ge-
nehmigung des Thinges, dem es angehört, jede
öffentliche Angelegenheit zur Verhandlung bringen und
eine Erklärung darüber von Seite des Ministers verlangen.
Ebenso muß in Holland* jedes Mitglied, das zu interpellieren
wünscht, die Erlaubnis der Kammer dazu einholen. Eine
strenge Interpretation des § 21 Ges. ü. d. R.V. mlißte auch
in Osterreich dazu führen , daß nur ein Haus als solches
interpelliert, aber das G.O. Gesetz nahm eine andere Aus-
legung der Verfassungsbestimmung vor.
Entschieden ist durch eine Interpellationsmöglichkeit,
die nur der jeweiligen Mehrheit sicher gewährleistet,
qualifizierte Anfragen an die Minister zu stellen, die
Minorität stark beeinträchtigt und ihr ein wichtiger KontroU-
behclf nur unter der Bevormundung der Majorität zu-
gestanden. Wie sich diese zu ihr unangenehmen oder fUr
' OhichoD die Kammer alle Antrageu über die innere Pnlilik binnen
vier Wochen aacli ihrer Einbringang Huf die T.O. stellen niuB, so hat
sie eleichwoh] die Möglichkeit, ihr genehme Interpellationen za bevonngeo,
da die Keilionfulge der Behandlung von dem Ennesnen des Hauses abhängt
und die neit. einiger Zeit eingeführte BeachrAnkiing der den Interpollationen
ppwidmeten Tage an ungünstiger Stelle angesetatt Anfragen nicht oder
erst verepÄtet lur Erledigiuig kommen läßt S. a. bes. Teil: Frankreich.
" PUlB, a. a. O., 8. 118 f.
' Goos and Hansen, das Stsattrecht des Königreichs DAnemarh
1889, S. 70.
' Hart OS, das Staatsrecht des KBnigreichs der Niederlajide,
1686. S. 88.
54 VI 2.
sie interesselosen Fragen stellt, hängt sehr von der parlamen-
tarischen Sitte und Eourtoisie ab.
Vorschriften, wonach Interpellationen schriftlich ein-
gebracht werden müssen, um dann verlesen oder in Druck
gegeben und an die Mitglieder verteilt zu werden, bezwecken
erst in zweiter Linie den Schutz des Hauses gegen Miß-
bräuche und fbrdern vor allem die Beschleunigung und
Vereinfachung des Verfahrens. Der Interpellierte bekommt
dadurch die Anfrage in authentischer Fassung in die Hand
und kann die Antwort, gestützt auf sein Material, durch-
arbeiten oder durcharbeiten lassen, während rein mündliche
Anfragen Mißverständnisse mancher Art nach sich ziehen
können, die weder wünschenswert sind, noch einem regel-
mäßigen Geschäftsgange zuträglich. Ferner hat die Schrift-
lichkeit der Interpellationseinleitung für jene Kammern noch
eine besondere Bedeutung, wo dem Präsidenten das Recht
zusteht, Interpellationen, die dem Gesetze oder der Sitte
widersprechen, zurückzuweisen. Widerspruchslos gilt dieser
Usus in Frankreich und England und galt im Jahre 1849
für die zweite preußische Kammer.
Die Kritik des Präsidenten erstreckt sich zuerst
auf die Verfassungsmäßigkeit der Anfragen ; es handelt sich
darum, ob durch sie nicht der Wirkungskreis des Hauses
überschritten wird. Aber selbst wenn sie in diesem Sinne
verfassungsmäßig, wenn die Grundlage der Interpellation
die Eignung hat, im Parlamente zur Sprache zu kommen,
kann es noch immer möglich sein, daß ihre Form den ge-
stellten Ansprüchen nicht entspricht. Wie weit solche
Formvorschriften gehen können, ist z. B. in England zu
ersehen und wird im besonderen Teile zur Darstellung
gelangen.
Es versteht sich eigentlich von selbst, daß, da Ver-
letzungen des An Standes und der Sitte durch Verlesung,
Niederschrift oder Drucklegung nicht entschuldbarer werden,
als wenn sie nur improvisierte Ausflüsse einer plötzlichen
Erregung sind, derartige Unziemlichkeiten ebenso unter
" i. *- * *, fc \ .-
I VI 2.
55
die Disziplinargewalt des Vorsitzenden eines parlamen-
tarischen Kollegiums zu fallen hätten, wie Ungehörigkeitea
in einer Rede oder bei Zwischenrufen,
Gleichwohl beziehen sich die Bestimmungen über eine
„gröbliche Verletzung der Ordnung" im D.R.T. (G.O.,
§ ttOff.) ihrer ganzen Fassung nach nur auf tätliche und
verbale; aber aus der Stellung, die der Präsident gemäß
§ 13 G.O. einnimmt („Dem Präsidenten liegt , . . die Hand-
, habung der Ordnung . . . ob") wird mit Recht gefolgert
werden können, daß er auch aoleiie Verletzungen der
Ordnung, die durch SchriftatÜcke erfolgten, diszipllnariter
zensurieren kann.
Mit bezug auf die mangelnde Disziplinargewalt der
Vorsitzenden der beiden Häuser des iisterr. R.R. über den
Inhalt von Interpellationen sagt der Bericht der Spezial-
kommission des Herrenhauses ' : „Als eine Anomalie und
als eine Lücke der geltenden Geschäftsordnungen stellt es
I sich dar, daß der Präsident . . , zwar mit bezug auf die
Reden der Mitglieder das Recht des Ordnungsrufes und
der Entziehung des Wortes besitzt (G.O. des Abgh., § 57,
vergl. G.O. des H.H., § 40), hingegen nach der derzeit
herrschendenAuffassung mancher Faktoren jeder disziplinaren
, Gewalt gegenüber dem Inhalt und dem Wortlaut selbst
solcher Interpellationen entbehren soll, welche den Tatbestand
I strafbarer Angriffe gegen Personen oder strafrechtlich ge-
schlitzte Institutionen begründen oder gröbliche Verletzungen
des Anatandes und der Sitte enthalten." Anschließend
daran wird empfohlen, dem Präsidenten ein Zenaurrecht
tlber den Inhalt von Interpellationen ausdrücklich zu-
I cuaprecben und dabei auf Art. 43 der 0.0. des belgischen
i Repräsentantenhauses hingewiesen, wo es ohne Unterscheidung
l von Reden und Interpellationen seit 18i'7 heißt: „Le
k pr^ident peut faire supprimer des ,AnnAles parle mentai res'
du ,Compte rendu analytlque' les paroles confraires
' Bericht dei H.H., S
56 • VI 2.
ä Tordre ou Celles qui auraient iiA prononcies par un
membre qui n'avait pas la parole." Nach dem Vorschlage
der Spezialkommission wäre § 12 des G.O. Gesetzes unter
anderem folgendermaßen abzuändern: „Enthält eine Inter-
pellation nach dem Urteile des Präsidenten entweder eine
gröbliche Verletzung des Anstandes oder der Sitte oder eine
Äußerung, welche den Charakter der Strafwürdigkeit an-
nimmt, so hat er den betreflfenden Teil der Interpellation
sowohl von der Eintragung in das Buch und der Druck-
legung, als von der Verlesung im Hause auszuschließen ** *.
Übrigens machten schon bisher mehrere Vorsitzende
des österr. Abgh. in Anwendung ihrer Disziplinargewalt
das Recht auf Zensur auch bezüglich Interpellationen
geltend ^.
Jedenfalls ist mit einer Ausdehnung der präsidialen
Ordnungsgewalt auch auf schriftliche Eingaben gewiß die
Möglichkeit gegeben, einer gewissen Kategorie von Aus-
wüchsen des Interpellationsrechts wirksam entgegenzutreten,
doch — ohne einem übertriebenen Minoritätenschutz das
Wort zu reden und die Majorität kann sich immer selbst
helfen — setzen derartige Bestimmungen einen taktvollen
und einsichtigen Präsidenten voraus, der unparteiisch von
seinen Rechten Gebrauch macht. Dem „Speaker" wird
dies fast allgemein und jederzeit nachgerühmt, doch selbst
hier macht vorher der Clerk des Hauses, ohne selbst eine Ent-
scheidung zu fällen, auf Unzulässigkeiten in der ein-
gebrachten Interpellation aufmerksam. Es ist nicht immer
leicht, zwischen einer „berechtigten Kritik" und dem, was
in Geschäftsordnungen ein wenig verschwommen „gröbliche
Verletzung des Anstandes und der Sitte" genannt zu werden
pflegt, zu scheiden, und zu Zeiten großer Parteikämpfe und
in Tagen entfesselter politischer Leidenschaften mag der
Präsident — ungewollt — in den Wirbel des Streites
gerissen werden, was gerade für die Zensur an Inter-
^ Vergl. Regierungsvorlage, S. 5, § 12 a.
^ Regierungsvorlage, S. 23 f.
VI 2,
57
I
pellationen um so unerwünschter eracheintj da ja die Inter-
pellationen ein hervorragendes Mittel der Kontrolle sind,
dessen eminente Bedeutung in mancher Verfassung und in
allen parlamentarischen Kollegien anerkannt wird. Zum
mindesten müßte der Entscheidung des Präsidenten in der
G.O. ein klareres Prinzip der „Ungehörigkeit" zugrunde
gelegt werden und gegen das präsidiale Urteil ein Appell
an das Plenum offenstehen.
Die Epoche des rapid zunehmenden Verkehres, von
der wir nicht wissen, ob wir uns in ihrem Anfangs Stadium
befinden, oder vorderhand wenigstens, schon nuf jener
Entwicklungsstufe, die mit den heute gegebenen Mitteln
keine erhebliche Beschleunigung des Verkehre mehr erzielen
kann, brachte es im Verein mit den mannigfachen ge-
steigerten technischen Möglichkeiten dazu, daß gewisse
Arbeiten mit einer noch vor wenigen Jahrzehnten kaum
geahnten Raschhoit geleistet werden können; aber ander-
seits gibt es auch Tätigkeitsgebiete, deren Inhalt in fort-
währendem Anwachsen begriffen ist, ohne daß die Ent-
deckungen und Erfindungen der Moderne im gleichen Maße
in der Darbietung beschleunigender Hilfsmittel zur Be-
wältigung Schritt gehalten hätten.
So wächst das Arbeitsfeld und die nötige Arbeits-
intensität der staatlichen Aktionen und gerade was den
auf die Parlamente entfallenden Teil derselben betrifft,
bietet die ausgebaute Technik hier nur wenige Neuerungen,
die eine schnellere Erledigung des zunehmenden Arbeits-
pensuma ohne Beeinträchtigung der Genauigkeit und
Präzision der Tätigkeit und ohne BeeintrJtchtigung der Güte
des Resultats gestatten. Einerseits folgt daraus die ao-
iichwellende Bedeutung der Regierung mit ihrem stets
Steige rungs fähigen Beam tenap parat , anderseits das ent-
^hiedene Begehren der Kammern, die Zeit überall dort zu
'Sparen, wo sie bisher anscheinend oder tatsächlich Überreich
-ingem essen war.
Zahlreiche Bestimmungen legen für dieses Bestrebsn
58 VI 2
Zeugnis ab ; auch dem Interpellatibnsrecht sucht man Zügel
anzulegen ) um Zeit für andere parlamentarische Geschäfte
zu sparen. Solchen Zügelungen dienen mancherlei Regeln,
die auch andere Zwecke verfolgen, aber als diesbezüglich
typische Institutionen sind zwei zu nennen : zur Entwicklung
der Interpellationen wird nur an einem bestimmten Termin
oder innerhalb einer bestimmten Frist Gelegenheit gegeben
und die mündliche Antwort wird durch eine schriftliche
Erledigung ersetzt.
Die zeitliche Begrenzung der Interpellationsbehandlung
wird nicht in allen parlamentarischen Kollegien angestrebt,
sondern nur in jenen, die durch eine zunehmende Anfragen-
zahl ein Verkümmern der andern ihnen obliegenden Arbeiten
zu befürchten haben.
Im englischen Unterhause gelangen Interpellationen
nur am Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag zur
Entwicklung, und zwar ist ihnen jedesmal bloß eine Zeit
von 45 Minuten reserviert^; provisorische Bestimmungen
in der französischen Deputiertenkammer und Art. 33 der
im Jahre 1901 revidierten G.O. des belgischen Repräsentanten-
hauses lassen ihre Behandlung in der Regel nur an einem
Tage der Woche zu^ und schon seit 1890 sind in der
II. Kammer des italienischen Parlamentes ebenfalls nur
40 Minuten an jedem Sitzungstage den Interpellationen und
Anfragen und überdies 5 Minuten für die Replik auf die
Antwort des Ministers zugesprochen^. Wenn bisher weder
der D.R.T. noch das preußische Abgh. solche Beschränkungen
für sich vornahm, so kommt dies daher, daß beide Kollegien
noch keinen Grund fanden, die den Interpellationen ge-
widmete Zeit mit Beunruhigung wahrzunehmen. Für das
österr. Abgh. mit seiner chronischen Obstruktion, von der
es fraglich ist, ob sie auch noch nach Einführung des all-
gemeinen Wahlrechts fortdauern wird, brachte zwar kein
^ Stjyiding Order IX; vergl. auch besonderen Teil: England.
^ Pierre, a. a. O., Supplement 1906, S. 337 ff.; 341.
' Brusa, a. a. O., S. 491, Anm. 2.
VI 2.
59
GeBchfiftsiininiingsvorstjhlag eine hier charakterisierte Zeil-
beschränkung , doch finden sich in den verschiedenen Ab-
änderungaent würfen Hinweise auf derartige in andern Parla-
menten übliche Regeln, die beweisen, daß der Gedanke
einer zeitlichen Grenze für die Behandlung qualifizierter
Anfragen wenigstens in Erwägung kam '.
Gegen eine klug berechnete und nicht zu engherzige
Termiuiaierung läßt sich Erhebliches, das mit Hinblick auf
die große Zeitersparuia in Betracht körne, kaum einwenden,
aber immerhin kann sie dazu führen, daß, falls die fest-
gesetzte Zeit zur Erledigung der Interpellationen nicht aus-
reicht, ein Großteil derselben unbeantwortet bleiben mUßte,
der gewöhnlich mit dem Schluß der Seasion begraben
wtirde^, Dem abzuhelfen sind schriftliehe Antworten in
Anwendung gekommen, um das mUndlich nicht Erledigte
luf diese Weise aufzuarbeiten.
Mit der Schriftlichkeit der InterpeUationsbeaatwortung
ist ein neues Problem aufgestellt.
Noch im Jahre 1677 konnte im preußischen Abg.H.
> auf die obligate Mündlichkeit der Interpellationsbehandlung
i englischen Parlamente hingewiesen und erklärt werdeu,
Interpellationen stellen eich dar — im Gegensatz zu dem in
der Budget- und Rechnungakommiasion üblichen schriftlichen
Auskunft verfahren — als mündliche Verhandlung zwischen
dem Interpellanten und der Regierung^, In diesem Punkte
änderte sich verschiedenes. Das englische Unterhaus er-
lebte in einer Session über 7tJ00 Interpellationen und da-
^ durch acquiricrte die mündliche Prozedur den Todeskeim;
k ihre Nachfolgerin war die Schriftlichkeit. Die mlindliche
I Erledigung gilt nur mehr als Ausnahmsfall, wenn der Inter-
' Vergl. Berielit d. H.H., S, '.
r etwas unklnrea Vi-rbindmiK v
I tag'^ bvEügliuli des D.R.T.
* Ober eiiwchllgige Schwierigkeit«!] in der frMueeiachcn Deputierteu-
mer, «. Pierre, Hupplement ISO«, fi- Xnß.
• 8«8. 1877/78, Siteg. 18, 8. Ml. i-iUsg. Ü8. S. 709f.; verj^LPUle,
60 VI 2.
pellant sie fordert, die Antwort noch innerhalb der £tir In-
terpellationen zugemessenen Zeit fällt, oder sonst beach-
tenswerte Umstände in Betracht kommen. Auch in Dänemark
können die Minister schriftlich antwortend
Die Regierungsvorlage* wollte für den österr. R.R.
ebenfalls die Schriftlichkeit der Beantwortung als das nor-
male fixieren, doch sollte es den Mitgliedern der Regie-
rung (nicht den Mitgliedern der Kammer!) vorbehalten
bleiben, auch den Weg der mündlichen Erledigung zu
wählen®. Der Bericht der Spezialkommission des H.H.*,
schlug flir das Interpellationsverfahren, sowohl für die Ein-
bringung der Anfragen, wie für den weiteren Prozeß einen
schriftlichen Gang vor, aber immerhin könnten 25 Mit-
glieder im Herrenhause, beziehungsweise 50 im Abgeord-
netenhause eine Verlesung der Interpellation und eine ver-
bale Beantwortung durchsetzen.
Schwere Bedenken lassen sich gegen das schriftliche
Verfahren, dem auf andern Gebieten mit Recht energisch
entgegengearbeitet wird, erheben. Natürlich werden sie
nicht in allen Kammern gleich gewichtig sein, sondern sehr
von deren sonstigen Institutionen, Sitten und Gebräuchen
abhängen. Gewiß ist nur, daß das Kontrollmittel der Inter-
pellationen dadurch aus dem Kreis der Öffentlichkeit ge-
rückt wird und eine Abschwächung erfährt, die besonders
in der Erschwerung einer folgenden Interpellationsdebatte
zutage tritt, wie auch im englischen Parlamente eine Dis-
kussion über die ministerielle Äußerung ausgeschloßen ist
Wenn die Zukunft die Tätigkeit der parlamentarischen
Kollegien noch weiterschreitend zu einer überwiegend kon-
trollierenden ausgestaltet, dann wird möglicherweise die
Mündlichkeit im Interpellationsverfahren wieder zurückkehren,
^ Goos und Hansen, a. a. O., S. 48.
* Regierungsvorlage, S. 5; 23.
^ Mündliche oder schriftliche Antworten je nach Belieben des inter*
pellicrten Ministers, läßt Art. 22 des Ges. vom 17. Juni 1874, die Und-
standische Geschäftsordnung betreffend, in Hessen zu.
* Bericht des H.H., S. 4; 16.
beziehungsweise erhalten bleiben, wenn die Zukunft dagegen
nicht mehr die Tendenz zeigt, die wir heute auf parlaDujn-
tariächem Gebiete wahrzunehmen glauben, so wird es von
der weisen Selbstbese Kränkung der Parlamente und ihrer
Mitglieder abhängen, ob sie durch eine kluge Mäßigung
nur wenige und wichtige Angelegenheiten zur Sprache
bringen und diesen das gesprochene Wort vorbehalten,
■ oder üb sie durch ein Überschwemmen mit nebensächlichen
lAnfragen die Notwendigkeit beweisen, die Zeit für andere
■Arbeiten durch eine schriftliche Behandlung der Interpella-
ftionen freizumachen.
Eine weitere bereits angedeutete Folge mu6 die Öchrift-
Sichkeit der Autwort unbedingt nach sich ziehen: Sie schließt
^tdoe weitere Debatte so gut wie aus.
Würden die Interpellationen reine Inf ormations Instru-
mente sein, so wären sie mit der Äußerung der Regierung
beendet, und nur falls diese keine genügende Aufklärung
gäbe, wäre Anlaß fltr weitere Fragen vorhanden, um eine
befriedigende Auskunft zu erhalten. Da jedoch die quali-
fizierten Anfragen in erster Reihe ein Kontrollmittel sind,
das einen kritischen Charakter trägt, so werden die Kammern
danach streben, zur Behandlung der Interpellation durch
den Minister Stellung nehmen zu können, über dessen
Handlungen und Hallung zu diskutieren und allenfalls
durch Einbringung, Annahme oder Ablehnung von Anträgen
auszusprechen suchen, ob sie der Interpellierte durch seine
Äußerung befriedigte oder nicht. Wo die G.O, die Mög-
lichkeit giebt, der ministeriellen Antwort eine Debatte
folgen zu lassen, kann sie nicht der Einzelne nach seinem
individuellen Belieben inaugurieren, sondern sie ist von
einem dahingehenden Antrag einer größeren Anzahl von
Mitgliedern, allenfalls von einem Mehrheitsbeschluß des
Hauses abhängig gemacht'.
' G.O. D.R.T., g 33, dei preoM. Aligh., ü 'Ai. des Raten. Abgh.
9 l}9i Tugl. auch Bma«, «. s. O., 8. 16(! u. a.
62 VI 2.
Im englischen Unterhause war eine Interpellationsdebatte
sei^ jeher geschäftsordnungsmäßig ansgeschlossen, im Ober-
haase ist eine solche nicht durchweg untersagt Vom Jahre
1849 — 1862 entbehrte auch die preußische zweite Kammer
der Möglichkeit einer Besprechung der ministeriellen Ant-
wort. Selbstverständlich kann der Interpellationsg^;enstand,
wie dies manche Geschäftsordnungen^ ausdrücklich be-
merken, in Form eines selbständigen Antrages weiter
verfolgt werden, was von besonderer Bedeutung auch dort
ist, wo zwar eine Interpellationsdebatte gestattet, aber es
unzuläßig ist, diese mit einem darauf bezüglichen Antrag
und einem Beschlüsse zu beenden. Eine solche Motion
unterliegt der gewöhnlichen geschäftsmäßigen Behandlung,
die gegebenenfalls als „dringliche*' beschleunigt zu werd&k
vermag^. Eine Diskussion auch ohne folgenden Beschluß
ist geeignet, Unklarheiten zu beseitigen, politische Wirkungen
zu erzielen, aber auch eine beklagenswerte Zeitverschwen-
dung zu begünstigen.
Wie schon erwähnt, untersagen es manche Geschäfts-
ordnungen ausdrücklich und bestimmt, die Besprechung
einer Interpellation durch Stellung und Erledigung eines
Antrages abzuschließen^.
Manche Parlamente dagegen gestatten eine Beselilii&«
fassung am Ende der Besprechung. In der französischen
Deputiertenkammer können Interpellationen durch die An-
nahme einer Tagesordnung beendet werden*; ähnlich ist das
für Holland geregelt*^.
Damit hat jederzeit das parlamentarische Kollegium die
Macht, dem Ministerium oder Einzelnen seiner Mitglieder
bezugnehmend auf eine rechtlich, politisch oder sozial rele-
^ G.O. D.RT., § 33, G.O. preuß. Abgh., § 34.
* Vergl. u. a. auch Scholle nberger, a. a. O., I. Bd., S. 205.
^ Vergl. u. a. im besonderen Teile das über den D.R.T., den preoft.
Landtag und den österr. R.R. Gesagte: desgl. s. Aschehoug, jl jl O.,
S. 62 für Schweden.
* Lebon, das Staatsrecht der Bepublik Frankreich, 1886, S. 72
^ Hartog, a. a. O., S. 41.
VI 2.
63
vante Frage und Antwort, sein Vertrauen oder Mißtrauen
unzweideutig auezuap rechen. Einerseits wilclist dadurch
der kontrollierende Einfluß des Parlamentes, anderseits
können kleine Augenblicksdifferenzen und momentane Ver-
stimmungen unsinnig weite Kreise ziehen.
Der Bericht des Geechäftaordnungsausschusses, der fUr
das österr. Abgeordnetenhaus die Zuläßigkeit eines Antrages
im Anschluß an die Interpellation sdebatte in Vorschlag
brachte, äußerte sich u. a. folgendermaßen": „Nach der
1 geltenden Vorschrift durfte auch dann, wenn das Haus die
rDebatte Über eine Interpellationsbeantwortung beschloß, bei
•4'^^^'' Besprechung kein Antrag gestellt werden. Somit
men innerhalb der Debatte wohl die Anschauungen ein-
nlner Mitglieder, aber nicht die Auffassung des Hauses
Ausdruck. Und doch kann es bei Interpellationen
Hber wichtige politische Vorgänge von grußer Bedeutung
ein, zu erfahren, ob die Mehrheit des Hauses mit dem von
Ider Regierung vertretenen Standpunkte übereinstimmt oder
Idiesen Standpunkt mißbilligt In dieser Erwftgung em-
1 plieliU der Ausschuß, bei dem erwähnten Anlasse die
['Stellung des Antrages zu gestatten: ,Das Haus nehme die
■Beantwortung der Interpeltation sur Kenntnis,', «der des
KAntrages, das Haus nehme diese Beantwortung nicht zur
Kenntnis. "
Mit der Darlegung der wichtigsten Ausschmückungen
ftdie das materielle Interpellationsrecht formell in den ein-
Fzelncn Kammern erfahrt, kann hiermit geschlossen werden.
Unbeachtet blieben nebensächliche formale Bestimmungen,
die zum Teil aus dem „besonderen Teile" zu entnehmen
sind, der auch mancherlei Wiederholungen bringen muß,
um die monogratische Darstellung des Interpellationarechta
in speziellen parlamontariaohcn Kollegien ohne stOrende
Lücken geben zu können.
Damit die Institutionen, die darauf abzielen, durch Ver-
■ Bericht des Ab^h., S. 24, s. auch S. 1
64 VI 2.
klausulierung des qualifizierten Anfragerechtes Zeit zu ge-
winnen und Störungen der regelmäßigen Arbeiten zu ver-
meiden, für die Praxis richtig gewürdigt werden, möge
daran erinnert werden, daß bisher außer den drakonischen
Bestimmungen, obstruierende oder sonst störende Abgeordnete
aus dem Hause zu entfernen, kaum eine gegen zeitvergeu-
dende Bestrebungen gerichtete Regel einer entschlossenen,
skrupellosen auch kleinen Minorität gegenüber, die um
jeden Preis den Lauf der Verhandlungen ernstlich hemmen
wollte, den gewünschten Erfolg erzielte. Nur der mehr
gedankenlosen menschlichen Schwäche, in Über-
schätzung der eigenen oder vertretenen Angelegenheiten
weitschweifig die Geduld und die Zeit anderer in Anspruch
zu nehmen, wird durch* einschränkende Geschäftsordnungs-
regeln ein wirksamer Riegel vorgeschoben.
5. Dem Interpellationsrecbt Sbnlicbe Institutionen.
Wenn im Abschnitte „Wesen und Zweck des Interpel-
lationsrechtes" gesagt wurde: „Es gibt in jedem Parlamente
ein besonders qualifiziertes Frageverfahren von Mitgliedern
der Kammer oder von der Kammermehrheit an einen genau
bestimmten Personenkreis" und dieser später zusammen-
fassend als „Regierung" bezeichnet wurde, so darf das
nicht etwa so verstanden werden, daß überall Interpel-
lation s institutionen vorhanden sind. Solche, im kontinen-
talen Sinne, fehlen dort, wo eine strengere Durchführung
des Prinzips der „Gewaltentrennung" den Vertretern der
Executive untersagt, in den parlamentarischen Kollegien zu
erscheinen. Das war in manchen Stadien der französischen
Verfassungsentwicklung der Fall und gilt heute noch für
die Union *. Hier finden zwischen dem Repräsentantenhaase
' Vereinzelt, doch chronologisch weit zurückliegend, sind allerdings
Fälle verzeichnet, daß sich Minister im Senate eingefunden hatten, sowie,
daß an sie Vorladungen zu mündlichen Verhandlungen ergingen. YergL
Holst, das Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, If
8. 50 ff.
VI 2.
05
und den Staate Sekretären, die den Exekutiv- Departemente
voratehen, achriftliche Verhandlungen statt, woran grund-
aätalich der Umstand nichts ändert, daß an Stelle des Ple-
nums seine Komitees mit ihren Vorsitzenden den Verkehr
mit der Exekutive fast ausachließlich zu besorgen beginnen*.
Ob sich Interpellationen an diese „Vorsitzende" (als „Mi-
nister zweiten Grades") einbürgern werden, muß dahin ge-
stellt bleiben. Den Übergang von dem auf französischem
Vorbilde fußenden Interpellationsverfahren mit seiner flüs-
sigen Handhabung zum schwerfälligen Systeme der Union
bilden die Questions im englischen Parlamente'.
Neben den eigentlichen Interpellationen kommen in
den verschiedenen Kammern noch „einfache Anfragen" vor.
Auf sie, die im Laufe der Verhandlung, bezugnehmend
auf den Verhandlungsgegenstand, an die Regierung gestellt
werden, wurde bereits verschiedentlieh hingewiesen; zumeist
bedürfen sie keiner besonderen Vorbereitung und keiner
bestimmten Form, doch giebt es auch hierin Abweichungen.
In Italien sind Anfragen, auch mehrere Einzelfragen ent-
haltend, schriftlich abzufassen , wenn sie mit ,ja oder „nein"
zu beantworten sind, also etwa über die Wahrheit oder
Unwahrheit einer Tatsache Erkundigungen einziehen *.
Eine besondere IVIiitelstelhing zwischen den , einfachen"
und den „qualifizierten" Anfragen (Interpellationen) an die
Minister nehmen in Frankreich die sogen. Questions adres-
' Vergl. Jellio ek, VerbssnngÜDdenuig nnil VerfagmmgswandlDiig,
ö. 46 f-
' Der republikanische BandeButaat aaf demokratischer Qriuidliige iu
Europ* — die t5thwcizerische EidgenoaaeDBchaft — folgte in seiner Vei^
faSHiin^ beiQ^^I. der InformntioiiB- imd Kantrollmitl«] nicht dem fieispiele
den DurdunierikatiischpD SohweBteratJuitea, sondern spricht im Vetf. Ari 85,
Abs. II der BnndeaTersBDiiDlDng die Aufsicht über die eidgenSsBioche
Verwütlung (u. Rechtspflege) lu und regelt, soweit das vorliegende
Problem dadurch lietroffen wird, die Form der AuftichtadurehfÜbrung in
Art 102, Ab«. 1». letztem Sntxe. fblgendennoBen: „Er (der Bundesrat) hat
Hiich besondere Kerii'.hle zn erstatten, wenn die Bundes vertamminng oder
eine Abteilung derselben ea verliingt." Dadurch wird eine Interpell&tioni-
berechti^unff beer findet.
' Vergl. Brusa, n. a, O., 8. lÖßf.
66 VI2.
s^es aux ministres ein; ihr Gegenstand ist nicht auf die
augenblickliche Verhandlungsmaterie beschränkt, aber sie
müssen vom Minister genehmigt sein, werden am Beginn
oder am Ende einer Sitzung verhandelt, und zu ihnen
haben nur der. Fragesteller und der Befragte das Wort
Die Umwandlung solcher Questions in Interpellationen ist
durch den Usus genau geregelt*.
Neben den dieser Arbeit zu Grunde gelegten Inter-
pellationen an die Regierung oder an die R^gierungsmit-
glieder existiert in manchen parlamentarischen Kollegien
noch ein Frageverfahren, das in der G.O. (österr. R.R.),
oder in der deutschen Literatur (f)ir das englische Par-
lament) unpräzis ebenfalls als Interpellationsverfahren be-
zeichnet wird. § 67 G.O. des österr. Äbg.H. sagt: „Jedem
Abgeordneten steht das Recht zu, an den Präsidenten des
Hauses, an die Vorsitzenden der Abteilungen und Aus-
schüsse Interpellationen zu richten ..."
Ebenso können im englischen Unterhause an den Speaker,
den Leader der Opposition und solche Mitglieder des Hauses,
die sonst an einem seiner Geschäfte beteiligt sind, An-
fragen gestellt werden, aber nur in Betreff einzelner
Geschäftsstücke oder der Geschäftsbehandlung'.
Bei dieser Art Anfragen tritt der Charakter der Kon-
trolle hinter dem der bloßen Information zurück.
Von besonderer Bedeutung ist das „Kommisaionen*
oder „Ausschüssen*' zustehende „Fragerecht" ; es ist geeignet,
solche Angelegenheiten, die im Plenum des Hauses, in An-
wesenheit einer großen Anzahl von Abgeordneten — wenn
1 Vergl. Pierre, a. a. O., S. 783 ff; Lebon, das Stamtsreeht der
Republik Frankreicb, S. 72 f.
^ Die vom Beriebt des Abgb. vorgeschlagene „Schrifilichkeit* der-
artiger „Interpellationen'' sollte nur auf Grund der „mangelhafteu Akustik
des Beratungssaales*' und der dort^meist berrscbenden Unruhe*' eingeführt
werden, (i^richt des Abgb.. S. 23.)
* Vergl. M &j, a. a. O., 11. Ed. S. 247 ff; — Bezüglich der „InterpeUatioii*
von Deputierten der H. Kammer Frankreichs, wenn es sich am An-
gelegenheiten bandelt, die etwa in ihrer Stellung als ,3^amte in ihr
Ressort fallen" vergl. Pierre, a. a. O., S. 804 f.
I
fXl 2. 67
auch mit „Ausschluß der Öffentlichkeit" — nicht ohne
schwere Bedenken besprochen werden können , in dem
engen Kreis eines Auäsclmsses, dessen Verschwiegenheit und
Diskretion alleiifall» noch zu erzielen wäre, zu befriedi-
gender Erledigung zu bringen. Materielle Antworten,
welche die Regierung aus ganz beatimmten Gründen vor
der breiten Öffentlichkeit zu geben sich acheut, können in
Komitees erteilt werden.
Manche Gesetze oder Geschäftsordnungen sahen einem
Fragerechte der Ausschüsse vor. Üo § 21 G. ü. d, R.V. :
„Jedes der beiden Häuser des R.R. ist berechtigt
Kommissionen zu ernennen, welchen von Seiten der Mini-
sterien die erforderliche Information zu geben ist . . ." '
Ein weiteres Informationa mittel mit inhärentem Eon-
troll charakt er schuf z. B. Art. 81 Aba. 3 der preußischen
Verfassung dadurch, daß Jede Kammer die an sie gerich-
teten Schriften an die Minister überweisen und von den-
selben Auskunft über eingehende Beschwerden verlangen
liann; und § ^5 G.O. des preuS. Abg.H. regelt das nähere
Verfahren*.
Auf alle mögliche Art und Weise suchten gesetzliche
und 0,0. Bestimmungen das In terpcllations verfahren za
ergänzen und dort, wo Interpellationen im eigentlichen Sinn
des Wortes ausgeschlossen, untunlich oder zu schwerfällig
sind, Surrogate zu linden, um vorhandenen Mängeln ahr-ii-
belfen, aber sie entbehren meist einer akzentuierten Prä-
sision und Schärfe — und diesbezüglich nähern sich ihnen
die „Interpellationen" jener Parlamente, in denen die
^Schriftlichkeit der Prozedur an Boden gewinnt.
' Verg-I. nach § 28 Satz 8 des Gesetzes über die Üsterreich-UngHrn
Dsimen Angetegenbeitenj bezahl, eines schrifUichen FrageTerf&hroiiB
T KoromiasioneD im preaB. Abcb.: Plate, die G.O. des preiiB, Abgh..
119.
Ein Fragerecht des „ Bfirgeraunchusses sieht Art. 60' der Ver-
lang voD HambuTB vor oud Art. 63' der VerffiHSiing von Lftbeck,
•^Veifl. «nch § -34 G.O. de« D.R.T.
B. Besonderer Teil.
1. Preafien and das Deatsßhe Reich.
Die historische Erörterung irgend einer Geschäftsord-
nungsmaterie des Deutschen R.T. oder eines Problems,
das auch nur teilweise seine G.O. streift, läfit sich nicht
von der Einsichtnahme in den geschichtlichen Entwicklungs-
gang der Geschäftsfuhrungsbestimmungen für das preufi.
Abg.H. trennen, denn dessen selbständige G.O. ist es, die,
wenn auch zum Teil abgeändert, doch in den Grundprinzi-
pien gleich, über den verfassungsberatenden (24. Februar
bis 17. April 1867) und den Reichstag des norddeutschen
Bundes (getagt innerhalb des 10. September 1867 und des
10. Dezember 1870) auf den deutschen R.T. überging.
Erst vom 25. Februar 1867 an, dem Tage des Zu-
sammentrittes des konstituierenden R.T. gehen die Aus-
gestaltung, die Entwicklung und Weiterbildung der G.O.
des preuß. Abg.H. und der des späteren Deutschen R.T.
getrennte Wege, doch wirkten die Gemeinsamkeit der Ab-
stammung, gleichartige Bedürfnisse und Bedürfnisse nach
Gleichartigkeit auf die Ähnlichkeit dieser Wege ein.
Was aber die voneinander dennoch abweichende Ent-
wicklung der G.O. in den zwei parlamentar. Kollegien
anlangt, so ist zu konstatieren, dafi, trotz der vielfach diffe-
rierenden Form der Änderungen, Neuerungen und Ergän-
zungen, die tatsächliche Übung innerhalb, neben und auch
gegen das geschriebene Wort die unverkennbare Tendenz
aufweist, über den trennenden Buchstaben hinweg die
VI 2.
m
faktische Gleidiheit oder ALnlichkeit der BestininiuDgen in
ihrer Handhabung zu vermitteln.
Ein solcher „Ausgleich" kann bisher nicht beobachtet
werden bezüglich der Regeln über die Anzweifelung der
Beschlußfähigkeit eines Haueee, über die namentliche Ab-
stimmung bei Schluß- und Verl agiingsan trägen, die Dis-
ziplinarvorschriften , die Damentlichen Zettelabstimmungen
und die G.O.-Bemerkungen '.
SelbatTerstündlich war es der Deutsche R.T. mehr,
denn das preuß. Abg.H., der an seiner G.O, herummodelte,
denn es galt bei ihm die filr ein anderes Kollegium ge-
schaffenea und aus diesem herausgewachsenen Regeln den
eigenen, und, wie tn jeder neuen Organisation, schwankenden
Ve rhu Uni säen anzupasBen.
Dagegen nahm das Abg.H. des preufi. Landtages seit
über einem Vierteljahrhundert keine nennenswerten Ver-
änderungen vor ■ — das Haus und seine G.O. traten, vorder-
hand wenigstens, in das Stadium innerer Konsolidierung.
Was nun speziell das Interpellation Brecht betrifft, so
stimmen die darauf bezugnehmenden gg 32, 3'j G.O.
des D.R.T. und die §§ 33, 34 G.O. des preuß. Abg.H.
sinngemäß, und sieht man von den Bezeichnungen,
die aus der Verschiedenartigkeit des Interpellierten resul-
tieren, ab, auch beinahe wörtlich Uberein. Hinter dieser
* Formenähnlichkeit verbirgt sich jedoch in der Litteratur
ein Dissens; daB das Interpellationarecht des D.R.T,
nicht ausdrücklich in der Verfassung ausgesprochen ist,
steht fest; üb das Gleiche für den Preußischen Landtag
gilt, oder ob Art. (j<l" und 81 "^ V.U. es unmittelbar dekre-
tieren, ist in der Theorie strittig, Obschon m. E, ^ es
Bei auf den Absch. ,der rechtliche Charakter des Interpel-
tat ionsrechtes' im allgem. Teile verwiesen — das Problem
nicht die ihm zum Teil zugesprochene Bedeutung besitzt,
wird dennoch darauf kurz einzugehen sein und aus
diesem Grunde soll zwar die historische Entwicklung des
' S. Piste, die G.O. des preuß. Al.gh-, 1904, 8. vm.
70 VI 2.
InterpellatioDsweseiis im D.R.T. und im preufi. Abg.H.
gemeinsam, aber die Erläaterang der heute geltenden Be-
stimmungen getrennt dargestellt werden.
Gemäß der sogen. „Viebahnschen, vorläufigen G.O."
fiir die 11. Kammer des preuß. Landtages vom 28. Feb-
ruar 1849 entschied über die Zulässigkeit der vom Inter-
pellanten und außerdem von 30 Mitgliedern (in Summa
also von 31 Abgeordneten) unterzeichneten Interpellation
der Gesamtvorstand der Kammer; im Falle sich dieser für
die Zuläßigkeit aussprach, wurde sie dem Ministerpräsi-
denten zugestellt, unter die Mitglieder verteilt und in der
Kammer zur Lesung gebracht; wenn auch diese ohne Be-
sprechung die Zulassung der Interpellation beschlossen
hatte, erhielt der Interpellant das Wort zur näheren Aus-
führung und hierauf bestimmte die Staatsregierung den Zeit-
punkt der Beantwortung.
Die gegenwärtige Fassung des das Interpellationsrecht
betreffenden § 33 G.O. stammt aus der sogenannten „end-
giltigen G.O." vom 28. März 1849.
Die „vorläufige" hatte abweichend von jener der preuß.
Nationalversammlung keine Besprechung der Interpellations-
antwort vorgesehen ^.
Diesen Mangel beseitigte die Simson-Forckenbecksche
G.O. vom 6. Juni 1862; ihr entstammt § 34 Abs. 1; einer-
seits machte die Regierung dagegen Bedenken geltend,
anderseits erachtete ein Teil des Hauses eine „Besprechung*'
ohne die Möglichkeit, sie durch einen Beschluß zu krönen,
für zwecklos. Mit Recht wurde dieser skeptischen Wertung,
die nur rein formal folgerte, die politische Bedeutung einer
Diskussion entgegengehalten.
Abs. 2 des § 34 G.O. verdankt seine Entstehung einem
^ Die Dauer der Nationalversammlnng währte vom 22. Mai 1848 —
mit einer Vertagnng — bis 1. Dezember 1848; ihre G.O. basierte am
firanz. o. belgischen Reglements, diese ihrerseits auf engl, von Bentham
rationalisiertem von M o h 1 in Deutschland empfohlenen Vorbilde. VergL
Hatschek, a. a. O., S. 426 ffl
rvi 2.
71
I
I
Antrage des Abg. Virchow und wurde am 5. Dezbr. 1B77
lieechlosseD. Er eDlhJtlt die Anwendung von Art. 60 Abs. 2
V.U. auf eiuen speziellen Fall und stellt nur fest, da6 die
Stellung von solchen Antrügen bei der Besprechung zu-
lllasig sei, welche die Verfassung generaliter gestattet'.
Dieser rückbliek enden Erörterung hat nun getrennt die
Behandlung der beute geltenden Interpellationsnormen für
den preaS. Landt.ig und den D.R.T. zu folgen.
a) Der Landtag des Eönigreiehs Preofien.
Gemeinsam sind beiden HSusem die Bestimmungen der
Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom
31. JÄnner 1850 Art. ti'i". 61 und ArL Sl'". Art. 6U"
lautet: „Jede Kammer kann die Gegenwart der Minister
verlangen', Art. 61 spricht die Verantwortlichkeit der Mi-
nister den Kammern gegenüber aus; Art, Sl^^ sagt: ,Jede
Kammer kann die an sie gerichteten Schriften an die Minister
überweisen und von deoselben Auskunft über eingehende
Beschwerden verlangen."
a) Das Abgeordnetenhaai.
Die Verfassung ergänzend und auslegend sagen §§ 33,
S4 G.O.; und zwar:
§ 33: H Interpellationen an die Minister müesen bestimmt
formuliert und von 3i' Mitgliedern unterzeichnet dem PrS-
üdenlen des Uause« überreicht werden, welcher dieaelben
dem Staataministenum abschriftlich mitteilt, und dasselbe
in der nSchsten Sitzung des Hauses zur Erklärung darüber
auffordert, ob und wann es die Interpellation beantworten
«erde. Erklärt das Ministerium sich zur Beantwortung
bereit, so wird an dem von ihm bestimmten Tage der Inter-
pellant zu deren näheren Ausführung verstattet."
' Dieser korae Überblick über den Entwicklungsgui^ de« loter-
pdlBNoDArechta iu der 0.0. des preaB. Abgh. ist ein Remniäe kos der
Uareo und übenichtlicfaea DarsteUuns' hui Pl*le, die 0.0. de« preuS.
Afagb-, 1904, S. 118 f. nnd B. 121 f.
72 VI 2.
§ 34: „An die Beantwortung der Interpellationen od^
deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des
Gegenstandes derselben anschließen, wenn mindestens
50 Mitglieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrages
bei dieser Besprechung ist unzulässig. E^ bleibt aber
jedem Mitgliede des Hauses überlassen, den G^enstand in
Form eines Antrages weiter zu verfolgen.
Anträge im Sinne des Art. 60 der Verfassungsurkunde
Abs. 2 sind jederzeit zulässig. **
Ean recht beträchtlicher unterschied liegt zwischen der
,, vorläufigen*' und der heute in Kraft stehenden G.O.; das
Interpellationsrecht wurde gewissermafien „demokratisiert*,
modernisiert — aus dem schwerfälligen .Mörser'' ist ein
akkurates „Schnellfeuergeschütz'' geworden und, um im
Bilde zu bleiben, die neue Konstruktion hat, wie die geringe
Zahl der eingebrachten Interpellationen beweist, zu keiner
Munitionsverschwendung geführt
Die eine Minorität strangulierende Verfügung, daß
Kammervorstand und Kammer über die Zuläßigkeit und
Zulassung einer Interpellation zu entscheiden hätten, blieb
nur kurze Zeit in Kraft; sie bedeutet ja die von der Mehr-
heit absolut abhängige Stellung der Minorität, welche keine
der ersteren unangenehme oder von ihr nicht gebilligte
Anfrage an das Staatsministerium ^ stellen konnte.
Dem Minoritätenschutze wurde durch die Beseitigung
des Kammerkriteriums Rechnung getragen ; belanglos, wohl
nur der Ausfluß menschlichen Strebens nach „abgerundet^i
Zahlen", ist die Herabsetzung der 31 unterstützenden
Unterschriften auf 30.
Dreizehn Jahre nach dieser ersten Reform folgte die
zweite ergänzende und brachte die Diskussionsmöglichkeit
über die vom Interpellierten erteilte oder verweigerte Ant-
wort; sie ist an den Antrag von mindestens 50 Mitgliedern
^ Die Interpelbition wird trotz der Einleitnngsworte des § 33 G.O.
nicht an den Fachminiffter^ sondern entsprechend des weiteren Satxinhaltes
an das Staatsministeriom gestellt YergL Plate, a. a. O^ S. 119*.
VI2. T3
gebunden: dieae Zahl anf 30 zu beaclirgnken, fand nicht
Anerkennung. D&& die Äußerung des Ministers besprochen
werden dürfe, lag Dicht im Interesse der Regierung, deren
Opposition gegen die Neuerung bereits Erw&hnung fand,
ebenso wie das Verkennen des politischen Wertes einer
Interpellationsdebatte durch einen Teil des Hauses. Eine
.Besprechung" hat aber abgesehen von ihrer kritischen
auch noch d i e Bedeutung. daÖ sie wertrolles Material zu
Tage fördern und einen Einblick in die Stimmung des
Hauses gewähren kann , wodurch ein Mitglied, das den
Gcf:enatand der luterpellation in Form eines selbständigen
Antrages weiter verfolgen will (g 34 Abs. 2 G.O.). beber-
ligenswerte Fingerzeige erhKlt
So lange das preußische Abgeordnetenhaus auf Grand
des Dreiklassen Wahlsystems zusammengesetzt wird, dürfte
das Interpellationsrecht kaum eine Erhöhung seiner Durch-
schlagskraft dadurch erbalten, dafi derÄu&erungsbesprechung
ein materieller Antrag angeftigt werden dtirfe, um Frage
und Antwort harmonisch mit einer .Abstimmung'', einem
Beecbluä, abzuschließen. Es ist eher aus der ganzen Ten-
denz, die die GeschSftsordnungen heute durchsetzt, zu er-
warten, daß die „ Mändlichkeit" des Verfahrens, die 1877
noch ein Vorbild im englischen Uuterbause fand, ganz oder
teilweise einer zeitsparenden Seh rtftl ichkeil weichen werden
müsse, — doch das auch erst dann, wenn eine andere so-
xiale und politische Strömung in der II. Kanuner Ober-
wasser bekommt, die von dem Interpellationsrecht nicht
mehr so selbstbescheiden Gebrauch macht, wie das Haas
in den verHossenen Jahrzehnten es tat.
In manchen Fällen (z. B. Session 1875 Stzg. 80 S.
2257) wurde vom Interpellierten eine Antwort ohne Angabe
von Gründen verweigert, doch ist dieser Umstand deshalb
Ton verschwindender Bedeutung, da in den letzten zwanzig
Jahren überhaupt nur 8 Interpellationen unerledigt blieben,
also nicht 10" o-
Dem Hinister ist keine Frist gesteckt, innerhalb welcher
74 VI 2.
er sich zu äußern habe; tatsächlich läßt die Antwort oft
sehr lange auf sich warten ^. Von den sonst bei Interpel-
lationen üblichen Formalien sei nur erwähnt, daß eine
Drucklegung der Interpellationen und ihre Verteilung an
die Mitglieder des Hauses durch die G.O. zwar nicht
vorgeschrieben, aber tatsächlich geübt wird; femer wird
die Interpellation gewöhnlich nicht fär die nächste Sitzung
auf die Tagesordnung gesetzt, sondern nach Verständigung
mit dem Staatsministerium spielt sich der Gesamtkomplex
ihrer Abwickelung in einer und derselben Sitzung ab und
zwar in jener, welche für die Beantwortung vom Minister
ausersehen wurde; die nicht vorgeschriebene Verlesung der
Interpellation findet bald statt, bald nicht; die Verbindung
der Behandlung zweier Interpellationen oder die Besprechung
einer Anfrage mit der Beratung eines Urantrages wird in
der Regel, wenn kein Widerspruch erhoben, ftir zulässig
erachtet *.
Interpellationen können zurückgezogen werden; ob von
demselben Interpellanten auch wieder aufgenommen, ist
strittig; nach § 24, Satz 1 6.0. scheint jene Ansicht die
begründete, die nur anderen Mitgliedern der Kammer die
Berechtigung zur Wiederaufnahme zuspricht, doch scheint eine
neuerliche Unterstützung durch 30 Unterschriften nötig.
Strittig ist die rechtliche Frage, ob das Interpellations-
recht ausdrücklich in der V.U. festgelegt ist, oder nicht.
In der Litteratur herrscht diesbezüglich ziemlich bedeutende
Wirrnis. Georg Meyer* erklärt z. B., daß viele Ver-
fassungen der deutschen Gliedstaaten den Mitgliedern des
Landtages das luterpellationsrecht einräumen und zählt zu
diesen Verfassungen auch die preußische; Schulze^ sagt:
„Jede Kammer kann die Gegenwart der Minister verlangen.
Darnach sind die Kammern selbstverständlich berechtigt^
» Ver^l. Plate, a. a. O., S. 121 «
2 Vergl. Plate, a. a. O , S. 121 «>; 124'«.
' Mejer- Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 299.
^ Schulze, das preußische Staatsrecht, 188d, I., S. 628.
VI 2.
75
voD den Minietern Aufklärungen über die bu ihrem Wirkungs-
kreise geböngen GegeDsUlnde zu verlangen, wobei es in
der Regel indessen den Ministem vorbehalten bleibt, in-
wieweit sie eine solche Auskunft erteilen wollen." Auch
jedem einzelnen Mitgliede stehe nach der G.O. daa Recht
zu, Anfragen, Interpellationen, an den Minister zu stellen . . . '
Thudichum' äußert sich: „Auch die preafiiscbe Ver-
fassung garantiert ein Interpellationeredtt nicht, während
die Geschäftsordnungen beider Häuser sie zulassen."
Wenn die Frage nach dem rechtlichen Wesen des
Interpellationsrechtes im preußischen Landtage nicht so
formuliert wird, ob eine Kammer, die Kammermehrheit
oder einzelne Mitglieder ein subjektives Recht zur Stellung
von qualifizierten Anfragen hätten, sondern: ob Inter-
pellationen an das Staauminisierium in den Wirkungskreia
der Kammern fallen, dann entbehrt die LOsung des Problems
jeder Schwierigkeit.
Art 61 V.U. macht jedes der beiden Häuser zu Minister-
anklagen und damit (ür die Kontrolle der Minister tiber-
haupt kompetent. Daraus ist auch die Zuständigkeit zur
Einleitung von Interpellationen abzuleiten ', deren Form die
selbständigen Geschäftsordnungen bestimmen.
Nach ArL IJ<J" kann jede Kammer die Anwesenheit
der Minister fordern; dadurch vermag sie auf die Vertreter
der Regierung einerseil« einzuwirken, bei den Beratungen
anwesend zu sein — allerdings liegt es außer ihrer Macht-
sphäre^ sie zur aufmerksamen Anteilnahme an den Ver-
' HarkwQrdi^r erich«ii)t e« bier, dafl dip Amnitbmea von der
.Begel" keine Beeprecbnn^ finden, um klanalec^en, in welchen Fitlen
vom Autor für den luterpellierten eine Anfklärungapflicbt Bncenommea icird.
etengel. DudStMtorechtdesKBni^reiehsPranBen, 1^8.71, ■prichl
jeder Kammer das „Roebt" lur fitellung Ton iDterpellatioDeu m: ver^
auch LiiliaDd, Stubrecht, I.. 8. 284, Anm. I.
*ThndicbDm, VeiÜascungsivcfal de« norddentachen Bundes und dM
denuchen ZollvereiBe«, 1870, S. 213, Anw. 2.
' S. im >llg«m. Teil den Abarh. „Der rechtliche Chanbter dei Inter-
«lUtioiunoht«''.
76 VI 2.
handlangen zu zwingen^ — anderseits unterstützt die Be-
fugnis, auf ihrer Gegenwart bestehen zu können, die Durch-
führung des Interpellationsprozesses, dem die Interpellierten
ansonsten durch beliebiges Absentieren arge Hemmungen
zu bereiten vermöchten. Art. 81 ^° V.U. nimmt Bezug auf
Bitten und Beschwerden, welche an die Kammer gerichtet
durch diese an die Minister weitergeleitet werden können;
anknüpfend daran regelt § 35 G.O. des Abgh. (bezw. § 52
G.O. des H.H.) das einschlägige Verfahren. Ein direkter
Zusammenhang des angezogenen Artikels mit dem Inter-
pellationswesen kann nicht behauptet werden — aus seinem
Inhalte läßt sich unmittelbar nur schließen, daß jede Kammer
Petitionen auch aus ihrer eigenen Mitte zu erheben befugt
sei — , aber gleichwohl ist daraus indirekt eine Auskunfts-
pflicht der Regierung auf Anfragen noch besonders ab-
zuleiten, denn wenn diese die an sie über eingegangene
Beschwerden gerichteten Schriften durch Auskunfterteilung
zu erledigen hat, so kann logischerweise eine Art Ver-
bindlichkeit, sich auf gestellte Interpellationen zu äußern,
denen zumeist ein kritischer, oft ein beschwerender Charakter
anhaftet, kaum geleugnet werden ; faßt man demnach Art 61
und die darauf fußende Kontrollkompetenz der Kammern,
Art. 60^^ mit der dafür geschaflfenen Erleichterung und
Art. 81^^^ mit seiner Auskunftspflicht der Regierung auf
qualifizierte Petitionen, sowie die durch die selbständigen
Geschäftsordnungen interpretierend geregelten und danach
tatsächlich geübten Interpellationen ins Auge, so ist die
Frage nach der Kompetenz der beiden Kammern des
preußischen Landtages zur Stellung von Interpellationen an
das Staatsministerium zu bejahen und mit Recht eine damit
korrespondierende Außerungspflicht zu behaupten'.
Unabhängig vom formalen Interpellationsrecht ist die
Befugnis der einzelnen Mitglieder der Kammer an die
1 Plate, a. a. O., 8. 124 1».
3 Yergl. auch Rehm, aUgemeine Staatslehre, 1899, S. 850 £
VI 2.
77
Minister im Zusammenhang mit dem Gegenstande einer
Verhandlung Fragen zu stellen*.
Folgende Statistik gibt ein übersichtliches Bild über
die Übung des Interpellationsrechtes im preußischen Ab-
geordnetenhause ^.
Session Zahl d. Interpell. zurückgez. beantwortet
1887 ,
1888 .
1889 .
1890 .
1890/91
1892 .
1892/93
1894 .
1895 .
1896 .
1896/97
1898 .
1899 .
1900 .
i901 .
1902 .
1903 .
1904/05
1905/06
1
2
2
4
8
5
4
6
8
4
7
4
6
10
11
10
1
2
2
4
6
5
4
5
6
4
6
3
6
8
11
10
ß) Das Herrenhaas.
§ 51 G.O. des Herrenhauses" weist nur unbedeutende
Abweichungen von den §§ 33, 34 Q.O. des Abgeordneten-
hauses auf, die zum Teil in der verschiedenen Struktur der
* Über ein in der G.O. nicht TOrj^ehenes, doch tatstchlich aus-
gebildetes schriftliches Frageverfabren in den Kommissionen vergl. Plate,
a. a. O., S. 119«.
' IKese Zosammenstellnng verdanke ich dem Entgegenkommen Herrn
A. Plates, Boreandirektors des PrenBischen Abgeonlnetenhanses.
* Die G.O. des preoBischen Herrenhauses bembt anf einem Be-
sohlasse vom 15, Jnni 1892.
78 VI 2.
beiden Häuser begründet sind — so beträgt hier die ZM
der eine Interpellation unterstützenden Mitglieder nur 20 — ;
teilweise glich die Praxis formell bestehende Differenzen
aus. Die Drucklegung und Verteilung der Interpellationen,
die für das Herrenhaus vorgeschrieben sind, werden der
Sitte gemäß auch in der IL Kammer geübt.
Über die verfassungsmäßigen Grundlagen des Inter-
pellationsrechts gilt das bei der Behandlung bezüglich des
Abgeordnetenhauses Gesagte.
b) Der Reichstag des Deutschen Reiches K
Obschon die das Interpellationsrecht regelnden §§ 32,
33 G.O. des D.R.T. fast wörtlich mit den bereits ange-
führten §§ 33, 34 G.O. des preußischen Abgeordnetenhauses
übereinstimmen, sollen sie dennoch der klaren Übersicht
wegen wörtlich zitiert werden; sie lauten:
§ 32: „Interpellationen an den Bundesrat müssen, be-
stimmt formuliert und von 30 Mitgliedern unterzeichnet,
dem Präsidenten des Reichstages überreicht werden, welcher
dieselben dem Reichskanzler ^ abschriftlich mitteilt und diesen
in der nächsten Sitzung des Reichstages zur Erklärung
darüber auflFordert, ob und wann er die Interpellation beant-
worten werde. Erklärt der Reichskanzler sich zur Beant-
wortung bereit, so wird an dem von ihm bestimmten Tage
der Interpellant zu deren näheren Ausführung verstattet."
§ 33 : „An die Beantwortung der Interpellationen oder
deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des
Gegenstandes derselben anschließen, wenn mindestens 50 Mit-
glieder darauf antragen. Die Stellung eines Antrages bei
dieser Besprechung ist unzulässig. Es bleibt aber jedem
Mitgliede des Reichstages überlassen, den Gegenstand in
Form eines Antrages weiter zu verfolgen".
^ Verel. Pereis, das autonome Reichstafifsrecht , 1903, 8. 42 ff:
67, 65 f.
^ Während des Bestandes des Norddeutschen Bundes stand sinn-
gemäß an Stelle des Wortes „Reichskanzler" die Bezeichnung „Bundes-
kanzler".
^"VI 2.
79
Das Interpellation arecht des Deutschen Reichstages ist
nicht ausdrücklich in der Verfassung ausgesprocheri ^, den-
noch ergiebt sich die Rechtlichkeit seines Bestandes aus
der Kontrollbefugnis des Hauses und der Verantwortlichkeit
des Kanzlers (Art. 4; 17; 72 der Verfassung des deutschen
Reiches). Von diesem Standpunkte aua, der den R.T. zur
Stellung von Interpellationen kompetent ansieht, und mit
Hinblifk auf die Praxis, die tatsächliche Übung, wird auch
eine Außerungspflicht des Intorpellierten — welcLo wohl
zu scheiden ist, von einer Pflicht zu materiellen Antworten —
I Angenommen ".
Die Reichs Verfassung berechtigt den Reichskanzler als
[ aolchen nicht zur offiziellen Anwesenheit im Reichstage;
r nach Art. fl R.V. kann er nur als preußischer Bevollmüch-
f tigler zum Bundesrat den Sitzungen beiwohnen, um die
[ Ansichten seiner Regierung zu vertreten; tatsächlich nimmt
als Vorsitzender des Bundesrates und als verantwort-
[ lieber Minister daran teil, als dieser wird seine Anwesen-
( lieit gefordert und als dieser wird er interpelliert^. Mit
f dieser Wandlung der Verfassung ging Hand in Hand eine
' Wandlung der G.O. ; diese spricht von Interpellationen an
Eden „Bundesrat" ; der Bundesrat ist aber unverantwortlich
rund seine Tätigkeit der Kontrolle des R.T. entzogen; daher
* Ein darauf zielender Aotrng Lnskers und ABinsaaB im kon-
■'■(itiiierenden R.T. wurde als nicht erforderlich ab^lehnt, da auch ohne
1 mudrückltche VerfansuiigHbestiinmnngen der R.T. vermüge seiner ät«ltaD|;
f Äu Becbt KU InterpeliHtionen (u. Adressen) besitze. Vergl. KBnne, das
StMbirecbt des Deatscben Reiches, 2. Aafl,, I., S. 26ä, Anm. 3, 4, 6.
" Laband, .Staatsrecht, 1., S. 283, nennt du« Interpellation! recht
ein .Paendorecht" ; Zorn, das St.R. des D.R-, 1895, I., 8. 240f., ein
.moraliaohes", während Sloerti, zur Metliodik des Sifentlicheu Hechtes,
1S85, 6. 63 f. es als ein „verCnssungsrnftBiges Recht" bezeichnet, wogegen
Seydel, EommnnUr zur Verfassimgs Urkunde für das Doiibiche Reich,
2. Aofl., 1897, 8. 203, sagt: „Ein ,Becht- ... der InterpellatiDuen hat der
E.T. nicht. ... Da ein Kocht der Interpellationen nicht besteht, gibt es
ffir den Bundesrat und den Beichakanzler sueh keine Pflicht der Be-
antwortung." Vergl. damit da» im allffemeinsn Teil iui Abschnitte „der
rechtliche Charakter des Inlerpellationsrechts'' Oesngtc.
' Vergl. Jetlinek, VerfnisongaHndarung und Terfasaungawandlimi;,
S. 24 ff.
80 VI 2.
können Interpellationen nur an den Kanzler als verantwort-
lichen, der Eontrolle unterliegenden Minister ergehen, was
auch der tatsächliche Zustand anerkennt. Dem Kanzler
gleich stehen seine „Stellvertreter"^ und die Anfragen, ob
der Reichskanzler zur Beantwortung einer Interpellation
bereit sei, werden in praxi an den „Herrn Vertreter der
verbündeten Regierung" gerichtet — eine Form die nicht
ganz entsprechend ist, da die verbündeten Regierungen
einer Kontrolle nicht unterliegen ; soweit dieser „Vertreter"
aber zugleich ein Vertreter des Reichskanzlers ist, scheint
diese Formulierung gleichwohl zulässig'. Überhaupt ist
die faktische Übung des Interpellationsrechts recht liberal
und es kommen sogar Anfragen an Unterstaatssekretäre
vor^. Jedenfalls hängen die Schwankungen des Interpel-
lationsrechtes im D.R.T. eng mit den Verfassungswand-
lungen zusammen und werden erst zur Ruhe kommen,
wenn diese stabiler geworden sind.
Was die Behandlung der Interpellationen betrifft, so
wurden sie bis zum Jahre 1874 nicht auf die T.O. gesetzt,
was seit 1879 jedoch Regel ist. Jetzt ist die Feststellung
der T.O. durch die Interpellationen gebunden, welche auf
der T.O. jener Sitzung erscheinen müssen, die ihrer Ein-
bringung folgt. Sind es mehrere Interpellationen, so steht
von ihnen keiner der Anspruch auf Priorität zu, sondern
über die Reihenfolge ihrer Verhandlung entscheidet das
Haus durch Mehrheitsbeschlufi. Ebenso können die Inter-
pellanten nicht verlangen, daß ihre Anfragen als erster
Gegenstand angesetzt werden. Liegen tatsächliche oder
rechtliche Gründe vor, welche verhindern, die Interpella-
tionen auf die T.O. der ihrer Einbringung folgenden Sitz-
ung zu bringen, so werden sie auf die der nächstfolgenden
gesetzt.
^ Yergl. das Reichsgesetz betreffend die Stellvertretang des Beichs-
kanzlers vom 17. März 1878.
* Vergl. PerelSf a. a. O., S. 65, Anm.
' Z. B. am 1. Mai 1880, Leg. Per. IV: 3. Sess. Stenograph. Protok.
S. 1071.
2, 81
EinBtimmtgkeit des R.T. kann eie auch auf einen spä-
teren Termin verschieben.
Vor der Beantwortung gebührt dem Fragesteller du
frt zur Begründung; durch die Verweigerung einer mate-
len Antwort ist auch eine formelle Interpellationshe-
ndung in der Interpellationsdebatte ausgeschlossen.
i
Anfaaug: Die Einzelstaateo.
Die parlamentarischen Organisationen der Gliedetaatett
3eB Deutschen Reiches bieten zum Teil ein buntes Gemisch
ständischer Einrichtungen mit modernen Institutionen und
an diesem Gemenge mit seinen interessanten etaatarecht-
liehen Gegensiltzen zwischen der Struktur des Reiches und
per Einzelstaatea partizipiert auch das Interpellationsrecht.
ald hat es eine Regelung in den Verfassungen erfahren,
nie teilweise eingehender', teilweise nur grundsätzlich- Be-
itimmungen festlegten, bald ordnen es einfache Gesetze*,
kld bauen die selbständigen Geschäftsordnungen — wie
, B. in Baden nnd Württemberg — auf der Baeia der
■en Kammern zustehenden Kontrollrechte das Interpella-
|Ions Wesen auf.
Preußen mag vielfach vorbildlich gewesen sein; so
1 Lübeck: Verfassung vom b. April 1875, Art. 4ö; Hamburg
Ferfaisimg der freien und Haiifei>Udt Hambarg', pabliiiert am 18. Oktober
"^" in Kraft getreten am 4. Man 1880, Art 60»; 65.
■ Sachsen-Weimar-EiBenacb: Raridiertes GrundgesetE Tom
rW. Oktober 1850 Aber die Verfassung dea Großlierzogttuna Ssvhsen-
Weimai^EiBenach, g 29, Abs. 2; Oldenburg: Reridierle» Staats-
grundgefleti vom 22. November 1852 tiir das GroBherzogtum Oldenburg,
Art 128, § 2 and Art 12, §4; Schnanburg-Sonderabansen:
Lanitesgrundgeseti vom 8. Juli 1857 für daa F'ürstentnm Schwanbnrg-
Sondershauiea, § 66 n. a.
' ilsyern: Qes. vom IS. Januar 1872 den Geschäflsgang des Land'
Uges belreflend, Art 18—21, 83, Abs, 1, abgeändert durch Laiidtn^-
aböcbied vom I. Juli 1868, § 26; äachaen: LandtagsardnuDg vorn
12. Oktober 1874, § 31; Hessen: Gesetz vom 17. Juni 1874, die land-
ständiaclie Geachäftsordnung betreffend, Art. 22; Sachaen-Heiningen:
Ges. vom 23. April 1868, die Binführang einer neuen Qeachäftsordnuag
für d«n Landtag betrcOend, g 28.
auala- D. valkarrechtl. Abhandl. VI t. — Buegg«'. 6
82 VI 2.
auch für Bayern*, wo die Interpellation von einem Ein-
zelnen kurz begründet und schriftlich eingebracht wird und
dann in der Kammer zur Verlesung kommt, worauf die
Unterstützungsfrage zu stellen ist; im Übrigen lehnt sich
das Verfahren an das preußische an.
Ähnlich ist das Verfahren inSa'chsen^; in Hessen'
kann der Minister die Antwort mündlich oder schriftlich
geben und in Schwarzburg-Sondershausen* soll die
Antwort auf die Interpellation „nur dann verweigert werden,
wenn sie schwebenden Verhandlungen nachteilig sein würde."
Für Baden besagen §§ 45; 46; 47; 48 der G.O.
§ 45: „Motionen, Anträge, Interpellationen müssen
schriftlich angezeigt und von mindestens^drei Abgeordneten
unterzeichnet sein."
§ 46. „Interpellationen an die Regierung werden von
dem Präsidenten dem betreffenden Minister oder Regier-
ungskommissär in Abschrift und mit der Anfrage mitgeteilt,
ob und wann er die Interpellation in einer öffentlichen
Sitzung beantworten werde.**
§ 47. „An einem bestimmten Tage findet dann die
Begründung der Interpellation durch einen der Interpellanten
statt."
§ 48. „An die Beantwortung der Interpellation kann
sich eine sofortige Besprechung anschliefien; dabei ist jedoch
die Stellung eines Antrages unzulässig. Es bleibt jedem
Abgeordneten überlassen, den Gegenstand später in Form
eines Antrages weiter zu verfolgen."
In Württemberg*^ fehlt den Interpellationen, da die
Anwesenheit der Minister verfassungsgesetzlich von den
^ S. auch Sejdel, das Bayerische Staatsrecht, 2. Aufl., 1896, I.,
S. 354ff., 488f.
^ S. auch Leuthold, das Staatsrecht des Königreichs Sachsen,
1884, S. 238 f; Opitz, das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 1887,
II., S. 195 f; 203 f.
' a. a. O.
* a. a. O.
^ Siehe Gaupp-Göz, das Staatsrecht des Königreichs Württemberg,
1904, 3. Aufl., S. 119.
83
KEsrnmern nicht getordert werden kann, die durchdringende
Icharfe.
So verschieden präsentieren sich das Interpellationsrecht
*and seine Ausgestaltung in den verschiedenen parlamenta-
rischen Kollegien der Gliedstaaten entsprechend den Ver-
fassungen und den selbständigen Geschäftsordnungen, welch
letztere — eine merkwürdige Erscheinung — in dem den
i beiden Großherzogtüraern Mecklenburg- Schwerin und Meck-
I ienburg-Strelitz gemeinaanien Landtage überhaupt fehlt*.
In der Stadtrepublik Hamburg stellt das Interpella-
J-tionsrecht eine kunstvolle Kombination von besonderer Ver-
klauBulierung unterworfenen einfachen Anfragen, formellen
»Anträgen und eigentlichen Interpellationen dar*. Ob der
■rfienat eine von fünfzehn Mitgliedern der Bürgerschaft unter-
Bitützte Interpellation beantworten will oder nie ht , liegt
■T&llig in seinem Belieben. Entscheidet eich der Senat für
■ die Nichtbeantworlung , so kann die Interpellation zum
Qegenstand eines selbständigen Antrages gemaeht werden
«nd, wenn die Bürgerschaft diesem zustimmt, so hat der
Senat die Pflicht, sich über die Anfrage zu äußern. Die
Äußerung muß in einer materiellen Antwort bestehen, falls
es sich nicht um Angelegenheiten handelt, die obschwebende
Verhandlungen des Reiches oder auswärtige Agenden be-
rUiiren. Wird das Interpellationsverfahren als „dringlieh"
bezeichnet, dann hat der Senat bereits in der nächsten
Sitzung zur Anfrage in oben erwähnter Weise Stellung zu
nehmen.
Eine Antwortablehnung ist mit Gründen zu versehen.
Älinlicli wie Verf.-Art. liS für Hamburg regelt das Inter-
pol alionsr echt für Lübeck Verf. Art. 45.
< Siehe BriHing, das Staatsrecht der GroBheran^fimer Mecklpuburg-
Schwerin und Mecklünburg-StrelilE. 1888, 8 91 f.
* Ü. auch Wolffson, das Staatsrecht der frcicit und Hansostad.
Iliimhiirs. 1888. S. 19
2. Österreich.
Die Pillersdorf'Bche Verfassung für Österreich vom
25. April 1848 — die sogenannte oktroierte April-
verfassung — , welche die weatlicben Länder zum erstenmal
zu einem Staate vereinigte^, enthielt zwar keine Be-
Btimmungen über das Interpellationsrecht, doch statuiert
einerseits § 32 die Verantwortlichkeit der Minister für alte
Handlungen und Antrftge in ihrer Amtsführung, anderseits
wurde die Initiative jeder der beiden Kammern und ihre
Kompetenz, Über eingehende Petitionen zu verhandeln, in
§ 48 anerkannt; somit war, ähnlich wie durch Art. 81 der
preuß. Verf. Urkunde von 185t), für die Entwicklung
des Interpellationsrechta die Grundlage gegeben, aber die
Folgezeit hat eine ununterbrochene Entwicklung nicht ge-
bracht; die inner- und auöerpolitischen Vorgänge der
nächsten Jahrzehnte zeugten Verfassungen, vernichteten
Verfassungen und die Materie des Interpellationsrechta stand
mitten in dem Wirbel der wechselnden Konstitutionen. Der
nie realisierte „Kremsierer Entwurf'"' sagte in § 67, Abs. 2;
„die Kammern können die Anwesenheit der Minister
fordern ..." in § 91 : „Jede Kammer hat das Recht, von
den Ministern Auskünfte zu verlangen, Erhebungen durch
dieselben zu veranlassen, und ihnen Petitionen zur Erledigung
zu überweisen oder zur Beachtung zu empfehlen" und in
§ 92: „Jedem Mitgliede des Reichstages steht das Recht
zu, die Minister zu interpellieren'". Dieser Entwurf, der,
wie erwähnt, nie in Kraft trat, wollte das I.R. atomisieren,
indem er es jedem einzelnen Abgeordneten gewiBsermafien
als „Individualrecht" — eine Auffassung des Rechtes, wio
4
4
' S. BerofttKik, die Ssterr. Verfassimgsgesetie 1906, 8. 73L
' Bermtaib, a. a. 0-, S. 85 ff.
* Dieser Paragraph fehlte in dem Verfassungavorachlagp , den (
FünferkoDiitee dem VerfaBaaugsausscbusse des B.T. vorlegte, warde «1
dem Antrag« des Abg. Scholl entaprechend autgencimmcii. Protokolle d_
VerfansiingaauBsehusBea im Bsterr. Rfichi^tage, 1848 — 1849. heraiug«rebe
und eingaleitet von Antou Spring- '^"'^ " "" "•"
S. ni, 334.
VI 2. 85
«ie heute noch in Frankreich lebt — zusprach. Die Reichs-
verfaasung vom 4. März 1849 („MärzverfaBsung") führte
die Interpellationen auf jenem rechtlichen Wege weiter, den
ihnen die oktroierte Aprüverfaaaung angewiesen hatte, doch
• das Jahr 1851 brachte einen absolutistischen Rückschlag,
der dem Reichstag mit allen seinen Rechten und Pflichten
ein jfthes Ende bereitete; § 22 des Kaiser], Patentes vom
13. April 1851 R.G.B. Nr. i)2 hatte dagegen dem Reichs-
mit seiner rein beratenden Stellung eine wenig
akzentuierte formale Informationamöglichkeit dadurch ver-
' liehen, daß dieser den „Wunsch" aussprechen konnte, Mit-
glieder des Ministerrates zwecks Aufklärungen über Vorlagen
leinen Beratungen beizuziehen.
Das A.H, Kabinetteschreiben vom 20. August 1851
IB.O.B. 196 griff hierin noch beschränkend ein und das
'Patent vom 5. März 1800 R.G.B. 56 mit der Schaffung des
'^verstärkten Reichsrates" änderte für das Interpellations-
M;ht nichts zum Besseren. Die prinzipiellen Bestimmungen
aes Oktoberdiploms (20. Oktober 1860, R.G.B. 226) und
das Februar-Patent (26. Februar 1861, B.G.B. 20) gaben
«war dem Interpellationsrecht einen neuen Inhalt, aber ohne
^tlafUr ausdrückliche Normen zu enthalten; § 21 des Patentes
sjedoch lautete: „Die näheren Bestimmungen über den Ge-
-«chäftsgang, den wechselseitigen und den Außenverkehr
beider Häuser werden durch die G.O. geregelt." Obsehon,
vie Bernatzik' liervorbebt, darin nicht gesagt wird, wer
[iese G.O, zu erlassen habe, so löste sich docli die Frage
n der Praxis durcli das Gesetz vom 31. Juli 1861, in
IwtrefF der G.O. des Reichsrates R.G.B. Nr. 37 und dessen
) 12 besagte: „Interpellationen, welche ein Mitglied an einen
^ Minister, Hofkanzler oder den Chef einer Zentralstelle
richten will, sind dem Präsidenten schriftiich, und zwar im
H.H. mit wenigstens zehn, und in dem Hause der Ab-
^ordneten mit wenigstens zwanzig Unterschriften verseben
I Bernatzik,
1. O., a, 227, Anm
86 VI 2.
zu übergeben, werden sofort dem Interpellierten mitgeteilt
und in der Sitzung vorgelesen. Der Interpellierte kann
sogleich Antwort geben, diese für eine spätere Sitzung zu-
sichern oder mit Angabe der Qründe die Beantwortung
ablehnen/ Durch dieses Qesetz ist das Interpellationsrecht
jeder Kammer ausdrücidich und bestimmt anerkannt.
Die Sistierungsperiode von 1865 bis 1867 bedeutete aber-
mals einen Einschnitt in das Verfassungsleben. Und das
Jahr 1867 stellte die Organisation der österreichisch-
ungarischen Monarchie , den tatsächlichen Verhältnissen
besser Rechnung tragend, auf neue Grundlagen; § 29 des
Ges. — Art. XII („über die zwischen den Ländern der
ungarischen Krone und den übrigen unter der Regierung
Sr. Maj. stehenden Ländern obschwebenden gemeinsamen
Angelegenheiten und über den Modus ihrer Behandlung";
sanktioniert und kundgemacht in beiden Häusern des
Reichstages am 12. Juni 1867) sieht „Delegationen^, sowohl
des R.T. als des R.R., zur Behandlung der dem Gesamt-
reiche gemeinsamen Angelegenheiten vor, und § 39 Satz 2 f.
des oben zitierten Gesetzartikels, auf den wir noch zurück-
kommen müssen, spricht den Delegationen das Interpellations-
recht zu. Dadurch, femer durch das Gesetz vom 21. Dezember
1867, über die Reichsvertretung R.G.B. 141, und das Gesetz
vom selben Datum R.G.B. 146, über die allen Ländern der
österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten,
wird das Interpellationsrecht des österr. R.R. bezw. des
ungarischen R.T. sachlich in zwei Teile gespalten, in einen,
der jeder Kammer für sich innerhalb ihres Wirkungskreises
zustellt, und in einen, zu dem jede Delegation zuständig ist.
Mit den Verfassungsgesetzen vom Jahre 1867 ist die
Frage nach der rechtlichen Natur der Staaten Verbindung
Österreich- Ungarn aufs neue akut geworden, die hier jedoch
nur soweit zu streifen ist, als es die Besprechung des
Interpellationsrechts bedingt ^.
' Vergl. Hauke, Grundriß des Verfassungsrechtes 1905, S. 141 ff.
auch bezgl. der dort angeftlhrten Litteratur.
VI 2.
Die zwei extremen Anschauungen bezüglich der
Delegationen lassen sich kurz dahin charakterieieren , daß
diese einerseiU als Reichsparlament, andereeits als qualifizierte
Auaachüsae des öaterr. und des ungar, Parlaments angesehen
werden'. Keine Theorie wird vollkommen den Tatsachen
des praktisch -politischen Lebens gerecht; ftlr die erstere
ließe sich manches vom Standpunkte der Gesetzesbuchstaben
und der Interpretation des ideologischen österr. „Staats-
gedankens" gelten dmachen, für die letztere liefert die Ent-
wicklung der Praxis mehr und mehr Grundlagen. Sie ist
es auch, die der ungarische Reichstag in seiner Majorität
propagiert und sie ist es, die durch einen Beschluß der
Delegation des österr. R.K. vom 7. Januar 1907 dadurch
eine neue Stärkung erfuhr, daß von nun an auch die speziell
österreichischen Minister in der Delegation des österr. R.K.
erscheinen dürfen, befragt, und um Antwort und Auskunft
Lgebeten werden können '.
m Was das Interpellationsrecht anlangt, so werden im
tusterr. Abgh. und im österr. H.H. die Minister interpelliert,
und zwar tatsAchlich auch oft über Angelegenheiten des
Heeres und der auswärtigen Politik, die streng genommen
in den Bereich der Delegationen fallen. Da diese jedoch
relativ selten versammelt sind und außerdem ihre „Ausschuß-
stellung" politisch behauptet wird, so scheint der Usus den
Wirkungskreis des R.R. bezw. des R.T, ausweitender Inter-
pellationen immer markantt^re Formen anzunehmen*.
Anderseits hat jetzt auch die Delegation des Ost. R.R.
■nne Art Fragerecht durch ihre G.O. an die österr, Re-
L. a. O., S. 160 ff.
' DiesbeKüglich kano ich mich r
freien Presie" bexw. des „Neuen Wiene
stBtxen.
* Wenn sicli diu) Mitglied den österr, U.H. Hofral Czilarc« am
7. Januar 1907 in der aaleir. Delegation gegen die AufiksBimg der
gDeleeation" als „AuBschnB" verwahrte und sie aU „Organ des R.R,"
beMichnet« , ho durfte damit von dem herrorragenden juriet«u douh nur
eine praktücb wenig bedeutsame NamcndiflerenzremDg rorgenommen
88 VI 2.
gieruDg zu statuieren gesucht und damit ihr bisheriges
Interpellationsrecht (an die gemeinsamen Minister) aus-
gedehnt; die weitere Entwicklung ist allerdings der Zukunft
vorbehalten.
Im folgenden wird das Interpellationsrecht der beiden
Häuser des österr. R.R. und das seiner Delegation getrennt
behandelt, obschon sie kaum etwas anderes, als zwei Stämme
aus einer Wurzel sind.
a) Das Interpellationsrecht der beiden Häuser des
österr. B.B.
Der aus dem G. 0. Gesetz vom Jahre 1861 angeführte
§ 12 regelte das Interpellationsrecht des Parlamentes; er
findet sich in § 12 des G. O. Gesetzes vom 12. Mai 1868
R. G. B. Nr. 17 wieder, nur daß er in Berücksichtigung
der staatlichen Neuorganisation Anfragen an den Hof-Kanzler
ausschaltet und überdies die Zahl der unterstützenden Mit-
glieder im Abg.H. auf 15 herabsetzt. Inzwischen hatte
das Ges. ü. d. R.V. § 21 auch in der Verfassung folgendes
ausgesprochen : „Jedes der beiden Häuser des R.R. ist be-
rechtigt, die Minister zu interpellieren . . ." Diese Be-
stimmung, ferner § 12 des heute geltenden G. O. Gesetzes
vom 12. Mai 1873 R. G. B. Nr. 94, die §§ 68, 69 der selb-
ständigen G.O. für das Abg.H. (beschlossen am 2. März 1875)
bzw. § 57 der selbständigen G.O. für das H.H. (beschlossen
am 25. Jan. 1875) enthalten die in Kraft stehenden Inter-
pellationsnormen für die beiden Kammern des Ost. Parlamentes.
a) Das österreichische Abgeordnetenhaus.
§ 21 Ges. ü. d. R. V. wurde bereits zitiert; § 12
des G. 0. Ges. vom Jahre 1873 ist gleichlautend mit § 12
G. O. Ges. vom Jahre 1868 und fand mit Weglassung der
speziell auf das H. H. bezugnehmenden Bestimmungen —
gemäß § 17 G.O.Gesetz — in den korrespondierenden Para-
graphen der selbständigen G. O.Aufnahme, die sagen :
§ 68: „Interpellationen, welche ein Mitglied an mnen
VI 2.
89
I;"
I
Itnist«r oder den Chef einer Zentral stelle richten will, sind
dem Präsidenten schriftlich und mit wenigstens 15 Unter-
ichriften versehen, zu übergeben, werden sofort dem Inter-
pellierten mitgeteilt und in der Sitzung vorgelesen. Der
r Interpellierte kann sogleich Antwort geben, diese für eine
r«patere Sitzung zusichern oder mit Angabe der Gründe die
f Antwort ablehnen (Ges. § 12)."
^ Ö9: „Ob infolge der Beantwortung einer Interpellation
fl-odei' deren Ablehnung sofort oder in der nächsten Sitzung
eine Besprechung des Gegenstandes slatifinden soll, ent-
scheidet das Haus ohne Debatte, Ein darauf zielender An-
trag muß in der Sitzung, in welcher die Beantwortung der
I Interpellation erfolgte, oder in der nächsten Sitzung ein-
gebracht werden. Die Stellung eines Antrages bei dieser
Besprechung ist unzulässig" ',
Zwischen den Bestimmungen des Interpellationsrechta
in § 21 Ges. ü. d. R.V. und § 12 G.O.Gea. (1873) besteht
«in kleiner Unterschied auch darin, daß letzterer die „In-
terpellationen an den Chef von Zentralstellen" aus dem
G.O.Ges. vom Jahre 18t}8 mitübernahm. Ferner enthält
§ 12 eine Art Interpretation der Verfassung; diese spricht
»das Interpellation Brecht jedem Ilau^e des R.U, zu; das
O.O.Ges. legt das so aus, daß bereits eine gewisse Anzahl
▼on Kammermitgliedern zuständig sei, die Minister zu inter-
pellieren. Nach dem Wortlaute der Verfassung müßte die
„Kammer" bezw. die Kammermehrheit, interpellieren
und diese Auffassung ist z. B. in Holland, wo die Ver-
thältnisse diesbezüglich ähnlich liegen, so maßgebend ge-
wesen, daß jedes Mitglied, welches die ülinister zu inter-
pellieren wünscht, die Erlaubnis des Hauses dazu einholen
> Nicht hierhar guMtt g 67 aber die „ Interpol lationen" an den
FriHidenleo und die VarsitKeoäen der Abteilungen und Auaschftuse. Vergl,
AbKi^hnitt über die dem InteqiellatiODareuhl ihnlichen Inttitutirinen,
* Hartog, du Stastsrecht des Klinigreiohit der Niedertatide,
90
VI 2.
1 als
huDg
maß
Pra-
ß.O.Gea. keine Bedenken lier vorgerufen und wird «1»
völlig korrekt angesehen.
Die Beatimmungen der §§ 68, 69 G.O. bedürfen,
dem sebon im allgemeinen Teile Geaagten, hier nur nochl
einer geringen Erläuterung. Der „Autrag" auf Besprechung
einer Interpellation ist nach § 18 G.O. zu bebandeln, muß
also von 20 Abgeordneten unterstützt acbriftlich dem Prä-
sidenten überreicht werden ', Das Verbot, einen Antrag b
der BesprecLuQg selbüt zu stellen, bezieht sieb
materielle, nicht aucb auf formale.
Ein interessantes Licht einerseits auf die praktische
Unzulänglicbkeit der Beatimmungen über das Interpellati-
onareeht, anderseits auf die verschiedenen Bestrebungen der
an der parlamentarischen Arbeit beteiligten Faktoren werfe»
drei auf eine Abänderung der G.O. hinzielende Vorschlägeu
die sich alle drei auch mit den Interpellationen befasaen u
vom Abg.H., dem H.H. und der Regierung stammen.
K!ie an die Besprechung dieaer Vorlagen, denen
rigena es bisher an praktischen Konsequenzen fehlte, herai
getreten werden kann, muß ein Blick auf die Übung dM
Interpellationarecbts im Abg.H. geworfen werden , dem
diese Übung, d. h. die Art derselben, wie sie Regel wurd«^^
bedingte die auf eine Reform bedachten Pläne, Die Inter-
pellationen bewahrten hier aus verschiedenen an dieaer i
Stelle nicht näher zu erörternden Gründen ihren Informar
tions- und Kontrollcharakter nicht, sondern in Epochen
parlamentarischer Kämpfe verfolgten sie zum Teil Zwecke,
die nicht als „staatliche" bezeichnet werden können; lokale
Interessen, das Bedürfnis den dem objektiven Verfaliren
zum Opfer gefallenen Zeitungsartikeln und Broschüren das
Immunitätsprivileg zu verschaffen oder der Drang, die regel-
mäßige Arbeit zu obstruieren, traten in den Vordei^rund.
Die große Zahl der Anfragen in manchen Sessionen allein
' Die Untttrstützung kann ancb nach Bekanntgabe de» Antragei in
Hause auf Grund der vom Präsidenten geelellten UnterstüUiungtfrag« er-
{o]gea — g läE O.O.
VI 2.
91
»
war es nicht, daß ein ungeheurer Perzentsatz davon ohne
Antwort blieb, sondern andere Umstände spielten da herein:
rasch aufeinander folgende Wechsel der Minister und jene
Obstruktionsinterpellationen , die auf gar keine Antwort
reflektierten, sondern mit ihrer Einbringung schon ihr Ziel
erreichten ^ nämlich Verzögerung der Geschäftsbehandlung
anderer Gegensüinde.
Schon lange vor dieser Kontliktszeit hatte ein durch
die Q.O. nicht begründeter modus procedendi Zeilgewinnnng
bei der Interpellationa- Behandlung angestrebt; nur jene
wurden naralich ira Hause wörtlich verlesen, von denen
dies ausdrücklich begehrt wurde; zur Regel wurde es,
nur den Titel, allenfalls noch die eigentliche Anfrage ohne
Begründung, mündlich vorzubringen^.
Mancher Vorsitzende nahm auch das Recht in Anspruch,
die Zensur Über den Interpellationsinhalt zu üben, beriet
sich dabei auf die §§ G, 57 G.O,, und binderte die Vor-
lesung der Anfragen so weit, als sie Anstand und Sitte
verletzten oder gar den Charakter der Strafwürdigkeit an-
nahmen*.
Soviel über die Praxis.
Die anfangs angedeuteten Mißstände, die Entartung des
Rechtes, brachten es dazu, daß Rufe nach Reformen laut
wurden. Um den Rufen nachzukommen, schlug der
Geschaftsordnungsauaschuß des Abg.H.^ gerade nicht den
glücklichsten Weg ein, da er eine Umbildung der selbstfin-
digen G.O. plante, statt des G.O. Gesetzes — nur dieses
könnte eine rechtliche Bindung der Regierung bewerkstel-
ligen.
§ 68 6.0. lautet mit den vom Ausschüsse angeregten
Änderungen * :
' Etieieo Vorgang beieichnetenTenchiedenePriUidenteii — Clumeckj,
Smolka, Kathrein — als „Usas*. S. B^ieruu^vorlafrv, S. 23.
* Vergl. die AaBerungen des Präaidenlen Ur. Smolka in der 142.
Sitzutig vom IT. Juni 1^92; XI. 8ms. 6. 6502.
■ Siehe Bericbl äex Abgli.
' Bericht d«a Abgh., S. 86.
92 VI 2.
„Interpellationen, welche ein Mitglied an einen Minister
oder den Chef einer Zentralstelle richten will, sind dem
Präsidenten schriftlich und mit wenigstens 15 Unterschriften
versehen zu tibergeben, werden dem Interpellierten
mitgeteilt, in Druck gelegt und im Hause ver-
teilt. Falls 50 Mitglieder es verlangen, mufi
die Interpellation im Laufe der Sitzung ver-
lesen werden. Der Interpellierte ist verpflich-
tet, binnen 6 Wochen Antwort zu geben oder
mit Angabe der Gründe die Beantwortung ab-
zulehnen" *.
In § 69 G. O. sollte nur der letzte Absatz neu redigiert
werden und zwar*:
„Bei dieser Besprechung kann der einfache
oder begründete Antrag, das Haus nehme die
Beantwortung der Interpellation zurKenntnis,
oder ein solcher Antrag, das Haus nehme die
Beantwortu-ng der Interpellation nicht zur
Kenntnis, gestellt werden."
Von wenig einschneidender Bedeutung ist der Vor-
schlag, an Stelle der zum Teil auch heute schon nicht mehr
geübten „Verlesung der Interpellation" deren Drucklegung
und Verteilung an die Mitglieder einzuführen und eine Ver-
lesung nur auf einen besonderen Antrag hin vorzunehmen.
Groß wäre dagegen die politische Tragweite der Einrichtung,
die Diskussion mit einem Vertrauens- oder Mißtrauens-
votum für den Interpellierten beschließen zu können, es
wäre dies gleichbedeutend mit einem Versuch die parla-
mentarische Regierungsform zu inaugurieren. Die „Äußer-
ungspflicht" des Ministers besonders zu betonen, scheint
infolge § 21 Ges. ü. d. R.V. einerseits überflüssig, anderseits,
falls man annimmt, sie sei dort nicht begründet, ist die
selbständige G.O. nicht geeignet, sie zu fixieren.
' Hier, wie im folgenden, ist das neufonnalierte dnrch gesperrten
Druck hervorgehoben.
^ Siehe Bericht des Abgh., S. 36 f.
VI 2.
93
Wahrend das Abg.H. auf den kräftigeoden Ausbau
dea Interpellationsrechts hinarbeitete und die Besserung der
lierrscheaden Zustände von einer Einkelir aller Abgeord-
neten in aiL'h erwartete, betrachtete das H.H. in seinem
Berichte der Spezialkommission ' das Interpellations prob lern
ausschltcfilicb von der technischen Seite und glaubte schein-
bar nicht dem Satze, der in dem Berichte der H. Kammer
steht^: „Im Übrigen kann, wenn sich nicht die Mitglieder
freiwillig zu einer liöheren Auffassung des Interpella-
tionsrechts aufschwingen, keine Änderung der Vorschrift
wirkliche Besserung schaffen."
Aus der Mitte des H.H. wird folgende Änderung des
§ 12 G.O.Gesetzes in Vorschlag gebracht^: „Interpel-
lationen, welche ein Mitglied an einen Minister oder den
Chef einer Zentralstelle richten will, sind dem Präsidenten
schriftlich zu übergeben. Sind dieselben im Herrenhause
mit wenigstens 10, im Abg.H. mit wenigstens 15 Unter-
schriften versehen , so werden sie in ein besonderes im
Hause aufliegendes Buch eingetragen. In eben dieses Buch
erfolgt die Eintragung der Antwort oder der Erklitrung.
daß der Interpellierte aus bestimmten, von ihm anzugebenden
QrUnden die Antwort ablehne. Die in das luterpellations-
buch eingetragenen Anfragen und deren Beantwortungen
werden in Druck gelegt und dem Sitzungsprotokoll als
Beilagen angei^lgt. Wenn der Interpellierende es verlangt
und dieses Verlangen im H.H- von 25, im Abg.H. von
50 Mitgliedern durch deren Unterschrift unterstützt wird,
so ist die Interpellation im Hause vorzulesen und erfolgt
auch deren Beantwortung bezw. die die Beantwortung aus
bestimmten Gründen ablehnende Erklärung in der Sitzung
des Hauses. Enthält eine Interpellation nach dem Urteile
dea PrAsidenten entweder eine gröbliche Verletzung des
Anstandes oder der Sitte oder eine Äußerung, welche den
94 VI 2.
Charakter der Strafwürdigkeit annimmt, so hat er den be-
treffenden Teil der Interpellation sowohl von der Eintragung
in das Buch und der Drucklegung als von der Verlesung
im Hause auszuschließen."
Der hier zur Anregung gebrachte schriftliche Interpel-
lationsprozeß sollte die mündliche Erledigung nicht voll-
kommen ausschließen, aber der Typus des Verfahrens würde
dennoch ein anderer werden und die Kontrolle — auch
von Seite der Öffentlichkeit — eine Abschwächung er-
fahren.
Bisher waren die Parteigegensätze im R.R. so bedeu-
tend, die Gegensätze, zuvörderst in der großen Krisenzeit
so schroff, daß die präsidiale Zensur unter Umständen grö-
ßerer Unordnung statt gesteigerter Regelmäßigkeit Vorschub
leisten könnte. Der bisher übliche Usus sah nur von der
Verlesung beanstandeter Stellen ab, der neue Vorschlag
wollte solche als null und nichtig erklären. Verfehlt ist
der etwas verschämte Hinweis des Berichtes * auf England,
dessen parlamentarische Verhältnisse wegen ihrer vom Kon-
tinente verschiedenen Grundlagen keine kritiklose Nach-
ahmung von Institutionen gestatten.
Noch weiter geht in mancher Beziehung die Regierungs-
vorlage^. Der reformierte § 12 G.O.Gesetz sollte lauten:
§ 12: „Interpellationen, die ein Mitglied an einen Minister
richten will, sind dem Präsidenten schriftlich, und zwar im
H.H. mit wenigstens 10 und im Hause der Abg. mit wenig-
stens 30 Unterschriften versehen, zu übergeben, werden
sofort dem Interpellierten mitgeteilt und ohne Verlesung
ins stenographische Protokoll aufgenommen. Der Interpel-
lierte kann mündlich oder schriftlich Antwort geben oder
mit Angabe der Gründe die Beantwortung ablehnen.
Schriftlich erteilte Antworten werden ohne Verlesung so-
gleich ins stenographische Protokoll aufgenommen. **
' Bericht des H.H., S. 4.
^ Regierungsvorlage, S. 5.
; „Der Präsident ist berechtigt, Interpellationen,
sowie sonstige, von Mitgliedern überreichte Schriftstücke
zurückzuweisen, wenn sie Stellen enthalten, die atrafgeaetz-
■widrigen Inhaltes sind, oder den Anatand oder die Sitte
blich verletzen."
Die Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Antworten
,rde demnach völlig in das Belieben des Interpellierten
leBtellt, dem Fragesteller und dem ganzen Hause keinerlei
linfluß auf den Modus der ministeriellen Äußerung ein-
geräumt! Die Beseitigung der „Chefs der Zentralstellen"
als durch Interpellationen kontrollierbare Personen steht im
Einklang mit § 21 Ges. ü. d. R.V. und die Hinaufsetzung
der Zahl der eine Anfrage unterstützenden Mitglieder von
15 auf 30 wäre nur eine Konsequenz der seit 18ö7 fort-
dauernd steigenden Anzahl der Mitglieder des Abgh.
Die Abänderungsvorschläge der Regierung und die aus
Mitte der I. und der II. Kammer des iisterr. R.R.
'urden, obschon sie bisher keine Reform des Interpellations-
rechts herbeifüTirten, hier genau registriert — wobei ihre
Besprechung mit Rücksicht auf das im Abschnitte;
^Erscheinungsformen des Interpellationsrechta" gesagte starke
Beschrünkung erfuhr — , weil sie dem Gedankengang nach,
kommenden auf Grund des allgemeinen Wahlrechts ge-
TTfihlten Abgh, eine große Rolle spielen dürften und Über-
dies klar und deutlich die Tendenzen zeigen, die der Re-
gierung, den konservativ staatlichen und den aggressiv
politischen Elementen bei der Behandlung dieses Problema
1er parlamentarisch an Kontrolle innewohnen.
ji) Das österreichische H.H.
Der § 21 Gea. ü. d. R.V. und § 12 G.O.Ges. von
1873 geben auch dem H.H. fUr sein Interpellationsrecht die
Metzlichen Grundlagen, dessen genauere Regelung § 57
der aelbstAndigen G.O. enthält. Dieser unterscheidet sich
»inahe nicht von den §§ (i8, 69, G.O. dos Abgh., nur
rei
B
,E
Km
96 VI 2.
braucht eine Interpellation von blofi 10 Mitgliedern unter*
stützt zu werden und der Antrag, eine Debatte anzugliedern^
kann nur in derselben Sitzung , da die Äufierung der Re-
gierung erfolgte, eingebracht werden — nicht, wie in der
11. Kammer, auch noch in der nächsten Sitzung. Die
Reformanträge der Regierung und der Spezialkommission
des H.H. tangieren auch dessen Interpellationsrecht, doch
ist die ganze politische Stellung des Oberhauses eine solche,
daß die Einschränkung dieser Kontrollmittel und seine
Umsetzung in ein schriftliches Verfahren weniger in die
Wagschale fielen, als dieselbe Änderung es im Abgh. täte»
b) Das Interpellationsrecht der Delegationen.
§ 39, Satz 2f des ungarischen Ges. Art. XII vom
12. Juni 1867^ besagt allgemein: „Jede Delegation wird
das Recht haben , an das gemeinsame Ministerium oder je
nach dem Ressort an das betreffende Mitglied desselben
Fragen zu richten , und von demselben Antwort und Auf-
klärung zu verlangen. Eben darum wird das gemeinsame
Ministerium das Recht und — wenn es hiezu aufgefordert
wird — die Pflicht haben, bei der einen Del^ation, sowie
bei der andern zu erscheinen, zu antworten oder mündliche
oder schriftliche Aufklärungen zu geben, oder, wenn es
ohne Nachteil geschehen kann, auch die nötigen Dokumente
vorzulegen,**
Diese bestimmte Formulierung hat in § 28 Abs. 3 des
Ges. vom 21. Dez. 1867 R.G.B. 146 (betreffend die allen
Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen An-
gelegenheiten und die Art ihrer Behandlung) für die
Delegation des österr. R.R. eine Abschwächung erfahren:
„Die Delegation hat das Recht, an das gemeinsame Ministerium
oder an ein einzelnes Mitglied desselben Fragen zu richten
und von demselben Antwort und Aufklärung zu verlangen^
1 Bernatzik, a. a. O., S. 289 ff.
rvi 2.
97
femer Kommissiooen zu ernennen, welchen von Seiten der
Miniflterien die erforderliche Information zu geben ist,"
Erst eine sinngemäße Auslegung des „Anfragerechtes"
zeitigt hier dieselben Ergebnisse, die oben zitierter § 39
klar und deutlich auch ausspricht.
Ein G.O.Beachluß der Delegation dea österr. R.R. vom
7. Januar 1907' enthält eine Weiterung der authentischen
Informationamöglichkeit der Delegation insofern, als von nun
an auch die Mitglieder dea österr. Ministerrates den Sitzungea
beiwohnen können und von ihnen Antwort und Aufklärungen
Iftuf Anfragen gefordert werden dürfen.
Mi]
Anhang: «) Ungarn.
Daa Interpellationsrecht des ungarischen R.T. behandelt
i 29 Ges. Art. III vom Jahre 1847/48*; er lautet: „Die
' Minister sind verpflichtet, in jedem Hause des R.T. welches
ea wünscht, zu erscheinen und die erforderlichen Auf-
klärungen zu geben."
u) Die Landtage der im R.R. vertretenen Königreiche
■ and Länder.
Der nicht realisierte, nicht einmal zur ersten Lesung
gelangte „Kremsierer Entwurf" vom Jahre 1849* enthielt
in § 118: „Der Landtag ist berechtigt, von der Regierung
Aufschlüsse über alle Zweige der Landes Verwaltung zu ver-
liingen, Petitionen an und in Verhandlung zu nehmen,
Unterauchungskomniiasionen anzuordnen . . ,"
Die Landesordnungen (Beilagen II a — p zum „Februar-
patent") vom 2tj. Februar 18(il* bestimmen in § M Satz 2
(bezw. § 36 Satz 2*): „Wenn die Absendung von Mit-
' Der Verfnsc^r stiitzt sich auf die bereits erwähntou Berichte der
n 8. Jnnuar 1907.
' Abgedruckt bei Mani, die StaatugrundgieaetEe.
• 8, Bernatzik. «. ». O., 8. 85 ff.
* AbKedi'uckt bei Msnz, a. a. O.
' § 36* der L.O, iUr die Bukoiriua, Dalnuitieii, Salabarg und
Rbiarlber^.
Btnits- I
•Dlk^ri
lOhll, AbhRIKl
VI ■;.
7
98 VI 2.
gliedern der Regierungsbehörden wegen Erteilung von Aus-
künften und Aufklärungen bei einzelnen Verhandlungen
notwendig oder wünschenswert erscheint, hat sich der Land-
marschall ^ an die Vorstände der betreffenden Behörden zu
wenden".
Daran anknüpfend können die selbständigen Geschäfts-
ordnungen der Landtage die Formalien der Interpellationen
regeln *.
Übersicht fiber die Interpellationspraxis im
österreichischen Abgh. 1861—1907.«
Session
Zahl der Interpell.
beantwortet
I.
85
83
1 1.
22
13
ITT.
27
14
IV.
68
51
V.
15
8
VI.
26
15
VII.
25
16
VIII.
249
152
IX.
227
120
X.
524
257
XI.
2063
770
XII.
294
7
XIII.
336
4
XIV.
452
96
XV.
749
110
XVI.
1167
125
XVII.
11520*
2946 kii Mt 1905
^ Bezw. Oberstlandmarschall, Landeshauptmann.
' Ein förmliches gesetzliches I.R. jedoch mit Ausschloß einer Debatte
über die Äußerung des Interpellierten fand Anerkennung für Böhmen (laut
Kundmachung der K. K. Statthalterei vom 1. Dez. 1863, L.O.B. 56)|
Steiermark (Ges. vom 2. Februar 1877, L.G.B. 6) und Istrien (G^. vom
7. Mai 1877, L.G.B. 8).
^ S. Regierungsvorlage, a. a. O., S. 30 f.
^ Letztangefnhrte Zahl, sowie die Daten bezägl. des H.H. stammen
aus dem „Neuen Wiener Tagblatt" vom 28. Januar 1907.
I
In der XVII. Session tH)01— 1907) wurden im H.H.
r Interpellationen eingebracht und eine davon be-
antwortet.
3. Frankreich'.
AU Bentham auf Betreiben des Grafen Mirabeau aua
der Geschäft sordnnng des englischen Unterhauses gewisse
Prinzipien herausarbeitete, welche von nachhaltigem Einfluß
auf das Reglement der französischen Constituante wurden,
hatte England seibat noch kein ausgebildetes Interpellations-
recht und Frankreich schuf sich ein aolchea aus Eigenem',
Das Dekret der Constituante vom 21. Juni 1791 be-
stimmte, daß die Minister der Nationalversammlung Auskunft
auf Anfragen zu erteilen hätten und diese machte von
ihrer Fragebefugnia auagiebigen Gebrauch, Darin liegt die
Wurzel des ganzen Interpellationsrechtes'.
F ' DlMem AbachnUte siDd zugrunde gele^; Pierre, Trsile de droit
politiqDe 61ectoral et parlementaire , 1903, S. T83tf. u. T90ff; äxsa
Sapptlment 1906, ä. 'iS5B; EBmein, ^UmeDts de droit coiutituttoniiBl
franfiiis et campsrf, S. Aufl., S. 809 ff; Leben, das Stoatarecbt der
franzSaiacheD Kepublik, lä86, S. 17, 73.
' Vergl. über dieae G.O. Hatschek, daa englisclie Stastsreoht,
1905, 1. ä. 426ff. u. Rcdlicb, Becht u. Technik des oaglischea ParU-
raeuUriamuB. 1905, S. 777 ff.
' Uie AaskunlterleilunK der Minister aaf Aatrieb der Kamtnem ge-
schieht beute auf dreierlei Weise ;
a) auf Qrtind von Antragen einzelner Mitglieder im Verlaafe der
Budgetdebatte, wobei auBer dem Fragealeller sich auch noch andere Mit-
glieder der Kammer an der Debatte beteiligen kOnnen ;
b) auf Qnmd von besonderen „Queetiona adreaa^es aox ministrea",
die EU Beginn nder am Ende einer Sitzung gestellt werden kSnnen, falls
der zu befragende Minister die question vorher genehmigt hat, und wozu
nur dem Frageatoller und dem Minister das Wort zukommt. Die „Ge-
nehmigung" ist im Art. HO des Reglements fBr den Senat ausdrilcklieh
gefordert, in der DepDtierteakammer zwar nicht durch die G.O. wohl aber
rturch das Herkommoii verlangt. Bsmein, n. a. O., S. MWf., der,
nebenbei bemerkt, daa „Interpellationsrecbt" mit dem parlamentariaciien
Regime in eugsle Verbindung bringt und es als «.laeatiellea Merkmal der
Interpellationen, sie durch ein Vertrauens- oder HiBtrauenavotam au be-
enden, betrachtet, «teilt die Qitestions der Kammern des franilsiachen
Pnrtameutes den Queationa der beiden Häuser dea englischen gleich, ohne
den tiefen Unterschied zu beohnchten. der dadurch zwischen ihnen liegt,
daä der Kontrollcharakter der englischen questiona durch die Un-
100 VI 2.
Die Verfassungen zwischen den Jahren 1795 bis
1814 schlössen mit den Vertretern der Exekutive zugleich
ihre Interpellation aus den Kammern aus und erst die
Charte von 1814 brachte mit dem Zutritt der Minister zu
den Sitzungen auch die Möglichkeit wieder, von ihnen
mündlich Auskunft zu fordern. Die Geschäftsordnungen
regelten bis 1849 das Interpellationsrecht nicht, obschon
Interpellationen tatsächlich vorkamen.
Auch die Epoche der Restauration beschränkte die
Initiative des Parlamentes und ebenso auch die direkte
Übung der Interpellationen, so daß Anfragen über die innere
und äußere Politik vor Allem im Anschlüsse an Finanz-
gesetze, Petitionen und dergl. erfolgten. Seit der Juli-
monarchie, genau: seit dem 5. November 1830 setzten
wieder ausgesprochene Interpellationen mit Diskussionen
ein und fanden zuweilen ihren Abschluß durch Annahme
einer einfachen, seltener einer motivierten Tagesordnung*.
Dieser Usus weckte manchen Widerstand — und das
Reglement ordnete das Interpellationsrecht noch immer
nicht. Es wurde allmählich üblich, den Gegenstand und
den Tag der Anfrage vorher mitzuteilen, und am 5. März
1834 nahm von diesem Formalismus ausgehend die Depu-
tiertenkammer die Befugnis für sich in Anspruch, über die
Zulässigkeit einer Interpellation zu bestimmen und den
Tag ihrer Behandlung festzusetzen.
Das Jahr 1848 mit seinen Verfassungsbestimmungen
brachte den Interpellationen eine Blütezeit, das Reglement
vom 8. Juli 1849 regelte sie*. Aber die Konstitution des
zweiten Kaiserreiches beseitigte das Interpellationsrecht im
Jahre 1852. An seine Stelle trat seit dem Dekret vom
abhängigkeit ihrer Einbringung vom Willen des Interpellierten absolut
gewahrt ist;
c) endlich als Äußerung auf die eigentlichen Interpellationen, von
denen im folgenden allein die Rede sein soll.
* „Motivierte Tagesordnung", wenn die Kammer ihr Vertrauen oder
Mißtrauen ausdrucken will, „eiiufache" dagegen, wenn dies nicht der Fall.
> Art. 79, 80, 81, 82 des Reglements der „Assembl^ l^slative**.
_ wie
!. 101
24. November IßÖO die „Adresse" ala Antwort auf die
Thronrede, und neugescliaffene Minister ohne Portefeuille, die
durch das Dekret vom 23. Juni 1863 dem ,Miniatre d'Etat"
den Platz räumten, vermittelten den direkten Verkehr
zwischen der Regierung und den Kammern. Das Dekret
vom 19. Januar 1867 ersetzte die Adresse an den Kaiser
durch ein allerdings verklausuliertes 1 u te rpe IIa tionsr echt,
das durch Zugeständnisse der in den Grundvesten wan-
kenden Monarchie allmählich erstarkte, um endlich im
Gesetze der Repuhlik vom 31. August 1871 sogar ein Frage-
recht an den Präsidenten zu erhalten, das jedoch apater
wieder beseitigt wurde. Die für Frankreich pvaktiüch-
wicbtige Scheidung von Interpellationen über Akte der aus-
irtigen und Über solche der inneren Politik vollzog sich
Tch das Gesetz vom 13. März 1373.
Die Verfassung von 1875 enthält nichts über das droit
d'interpellation, das jedoch aus dem Prinzipe der Minister-
verantwortlichkeit resultiert und in der Geschäftsordnung
normiert ist*.
Einer besonderen Unterstützung bedürfen die Anfragen
nicht; sie werden vom Interpellanten oder dessen Stellver-
treter dem Präsidenten überreicht und von diesem der
Kammer vorgelegt. Da über den Gegenstand der Inter-
pellation keine näheren Bestimmungen bestehen, so fUllt daa
Zensurrecht des Präsidenten schwer in die Wagschale; er
weist konstitutionswidrige Anfragen zurück und läßt
beleidigende Stellen und dergleichen nicht zur Verlesung
kommen. Was der Verfassung entspricht und was nicht,
ist oft eine Frage des Einzelfalles, welche nicht immer im
selben Sinne beantwortet wird. Vor Allem wichtig ist, daß
die Regierung nur darüber interpelliert werden kann, wofür
sie verantwortlich ist. Dem älteren Reglement war ea
' B^glemcDt de chambre des dipatSR, Art. 40; Reglement da Benat^
Art. 61 ; inliBltlidi Btimmen in lieiug aaf dn» Interpellitionsrecbt die Oo*
Msb&ftaordDiuigen der beiden Kammem Sberein.
102 VI 2.
fremd, daß Interpellationen über die „innere Politik" nicht
auf länger als einen Monat zurückgestellt werden dürfen;
heute ist das Vorschrift; eine Vorschrift, die sich aber
nicht auf Anfragen bezüglich der äußeren Politik erstreckt ^
Interpellationen können auch sofort nach ihrer Einbringung
in Behandlung genommen werden, doch geschieht dies nur
im Einverständnis mit dem Interpellierten, während sonst
die Kammer nicht an den Tag gebunden ist, den dieser
vorschlägt, und ihn ohne Debatte festsetzt. Eine Debatte
im formellen Sinne, nämlich soweit es sich um die Be-
stimmung des Termines handelt, ohne auf das Tatsächliche
der Anfrage einzugehen, ist dabei nicht ausgeschlossen.
Der Minister kann die Beantwortung einer
Interpellation ablehnen.
Die G.O. untersagt es, ein anderes Mitglied des Hauses
zu interpellieren, doch wird solches in praxi ausnahmsweise
gestattet, wenn es ein Beamter ist und die fragliche Ange-
legenheit in sein Ressort feilt. Zwei oder mehr Interpel-
lationen können, wenn die Kammer es beschließt, gemeinsam
unter gewissen Klauseln zur Behandlung gelangen.
Die Zurückziehbarkeit von Anfragen — übrigens darf der
Minister auch solche zurückgezogene beantworten — und
die Möglichkeit, daß sie unter Umständen von Anderen
wieder aufgenommen werden dürfen, ist deshalb von Be-
deutung, weil sie wieder eingebracht ihren Lauf dort be-
ginnen, wo dieser sich befand , als sie fallen gelassen
wurden.
Der Sessionsschluß erledigt die Interpellationen nicht
eo ipso. Daß die Interpellationsdebatte durch Annahme
einer einfachen oder motivierten Tagesordnung abgeschlossen
zu werden vermag, wurde bereits erwähnt und ist deshalb
von Bedeutung, weil die usuelle politische Empfindlichkeit
^ Der Bestimmung ist jedoch Genüge getan, wenn die Interpellation
vier Wochen von ihrer Einbringung an gerechnet, auf die T.O. gesetzt
wird; daß sie dann aus irgendwelchen Gründen nicht zur Verhandlung
kommt, wird als rechtlich irrelevant angesehen.
VI 2.
103
der Regierung sie aus jeder Mißtrauenskundgebung die
weitestgehenden Konsequenzen ziehen läßt'.
Die lange Praxis unter den wechselnden Systemen hat
sowohl im Senate wie in der Deputierten kämm er manchen
Usus erzeugt ; hier griff eine Beschränkung auf die wesent-
lichsten Prinzipien des Interpeliationswesens Platz.
Zu erwähnen bleibt nur noch, daß die zweite Kammer,
ohne die Textierung des Art. 40 G. O. einer Revision zu
unterziehen, zu verschiedenen Malen (u. A. 1897, 1900, 1901,
1902 . . .) Beechiüsae mit provisorischer Kraft faßte, wonach
— für Einzelfalle einen entgegengesetzten Beschluß offen
lassend — die Freitagssitzungen für die Diskussion von
Interpellationen bentimrat wurden. Diese Zeitbeschränkung
macht es faktisch unmöglich, alle Anfragen, bezugnehmend
auf die innere Politik innerhalb eines Monates nach ihrer
Einbringung zu erledigen.
4. England'.
Einfache Anfragen ira Laufe der Verhandlung und
bezugnehmend auf ihren Inhalt gehen im englischen Par-
lamente weit zurück, aber erst das XIX. Jahrhundert schuf
ein eigentliches Recht der Interpellationen — die hier „que-
Btions to members" genannt — ^, das aber von der kon-
' Die übertriebene politiicbe Nervosität der Kabinette ]fi£t sich aug
der Inatilatioii des parlamentariBcUen Regimea aar teilweise erklären;
vielleicht spielt noch dae psfcbolof^nche Momeiit aus der Zeil des NatioDal-
honventes herein, daß Jedes J'accuse' aus der Mitte der Versammlung ge-
schlendert den „ Verdächtigten " zittern machte.
■ Tb. B. IStkj, Parliamentary Practice, II- Ed. 1906, S. 210f:
246ff; dasselbe 10. Ed. 1893, S. 205f; 336ff.i femer Maj, da« en^
liache Parlament und sein Verfahren, aus der 1659 orschieneaen 4. Aofl.
des englischen Oripnala flhersetzt und bearbeitet von Oppenheini 18130,
S.268f; Todd, über die parlamentariHCbe Regierung in England, deutsah
von Ast mann. II. S. 286 ff; S. Low. The governanceof England, 2. Aufl.
1906, S. 91 f; Bodlich, Recht und Technik des englischen Parlamen-
tariamuB, 1905, 8. 144ff; ÄMff; 301; 51.3ff; 52:1; 570; 572ff; 596;
Hatschek, Englisches Staatsrecht, 1905, I. S. 375 IT., 395 f; II. S, 220.
* Formell sind demnach die Interpetlati''iien an die Uinlster in ihrer
Eigeniolufl als Mitglieder des Hauses gerichtet.
104 VI 2.
tinentalen Gestaltung namhaft abweicht und keinen fran-
zösischen Einschlag aufweist.
Die früheste Aufzeichnung einer formellen Interpellation
an einen Minister datiert vom 9. Februar 1721, als Lord
Cowper den Premier Earl of Sunderland fragte, ob eine
Person, gegen die das Oberhaus ein Strafverfahren ein-
zuleiten gedachte, tatsächlich im Auslande, wie ein Gerücht
besagte , verhaftet worden sei. Im U n t e r h a u s e finden
sich Interpellationen zur Zeit des jüngeren Pitt, doch erst
zu Beginn der dreißiger Jahre des verflossenen Jahrhunderts
begannen sie jenen eigenartigen Charakter anzunehmen,
der sie typisch von den einfachen Anfragen unterscheidet;
die Parteicourtoisie gewährte ihnen eine besondere Stellung
in der Geschäftsbehandlung und seit dem 27. Februar 1835
erscheinen Interpellationen gedruckt im Notice Paper, ein
Verfahren, das allmählich konstant wird, wobei sie über-
dies noch bis zum Beschlüsse vom 7. März 1888 im Hause
zur Verlesung gelangen. Dennoch ist der Usus ihrer An-
erkennung nur langsam gefestigt worden ; noch 1859 schreibt
May^: „Dergleichen Fragen (d. s. Interpellationen) sind
aber möglichst auf solche Gegenstände zu beschränken,
welche zu den Parlamentsgeschäften in unmittelbarer Be-
ziehung stehen ..."
Nachhaltigen Einfluß auf die Institution nahm eine
Bestimmung des Jahres 1861, da die T. O. zu Gunsten
der Regierung insofern gebunden wurde, dafi diese ein
Anordnungsrecht der Beratungsgegenstände an gewissen
Tagen — den „Order- Days" — zugestanden erhielt. Durch
diesen Einflußzuwachs des Kabinetts gewannen die Inter-
pellationen als Eontrollmittel für das Parlament an Wert
und allmählich, nicht ohne Widerspruch, erstarkte die In-
stitution. Gleichwohl bestand seit je das Verbot, an-
schließend an sie eine Debatte über die Antwort zu führen ;
dieses wurde zeitweise durch einen Antrag auf Vertagung
^ May-Oppenheim, a. a. O.
lYI 2.
105
[ des Hauses zum Zweck der Diskussion zu miigehen gesucht,
etn Vorgang, der Bchließlich keine Duldung mehr fand,
Die Interpellationen selbst, als parlamentariscIiGs Inrorma-
tions- und KontroUmittel, waren aber durch Geschäftaord-
I nungsvorschriften anerkannt und geregelt und die Sitte er-
gänzte nur mehr die Bestimmungen fllr die Praxis.
Die geltende Gestalt des Interpellationswesens setzt sich
[ ftu3 Beschlüssen des Unterhauses vom 7. März 1888',
\ 29, April 1902^ und S.April liMlÜ^ zusammen und ist mit
Berückaiehtigung des Usus folgende: Der Inlerpellatit über-
reicht die an den Ressortminister gerichtete und schriftlich
formulierte Anfrage dem Clerk des Hauses und sie wird im
Notice Paper dor belreffeuden Sitzung, für die sie bestimmt
, abgedruckt. Die Interpellation hat den Naraou des
Fragenden zu enthalten, ferner die Angabe des Tages, an
dem er die Antwort wünscht ^ soll diese eine mündliche
iein. so ist dies durch ein „.StcrnchcD" anzudeuten, doch
I iteht dem Minister, falls er die Angelegenheit für wichtig
. tält, auch sonst der Weg einer mündlichen Erledigung frei.
I Der Clerk prüft, ob die Anfrage jenen Anforderungen ent-
spricht, welche an sie gestellt werden. Der Koiivenienz nach
I soll sie nur jene Dinge enthalten, die zu ihrem Verstund-
nisse unbedingt notwendig sind; für die Korrektheit der
ihr enthaltenen Behauptungen ist der Interpellant ver-
antwortlich; sie darf keine Argumente, Folgerungen, Epi-
theta, ironische Satzwendungen in sich schließen und nicht
auf Debatten, die in der laufenden Session stattgefunden,
oder auf einen späteren Punkt der T.O,, noch auf Vor-
gänge in einem Komitee, das seinen Beriebt dem Hause
noch nicht vorlegte, bezugnehmen. Auch sind Questions
> SUnditif l'rder XX, abgedruckt büi Mny, lu >i. O., 10. Ed.
B. 820 F.
* KeueSI.O, IX, abgedrackt bü Redlich, n. n 0., K.8Wf; ilb«r
d«a nicht re&lisierteu Entwurf Balfoors vom Juble 1902, der auf Wider-
■tand itieß, liobe sbendn, S. ZUB. u. 839.
* tu Kraft stehende StO. IX mit ihrer Umaestalliuig vom A. April
1906, abgedruckt bei Maj, a. a. Ü-, 11. Ed. S. 91df.
106 VI 2.
bezüglich abstrakter Rechtsfragen, sowie solche, die mög-
licherweise eintretende Eventualitäten ins Auge fassen, un-
zulässig.
Persönliche Ausfälle sind zu vermeiden.
Interpellationen dürfen nicht als Vorwand [für eine
Debatte dienen und, ist eine Frage einmal genügend beant-
wortet, dann ist ihre wiederholte Stellung ausgeschlossen,
doch kann eine erteilte Antwort zum Gegenstand weiterer
der Aufklärung einzelner Punkte dienenden Anfragen ge-
nommen werden.
Finden sich in einer Interpellation Unzulässigkeiten, so
hat der Clerk den Interpellanten darauf aufmerksam zu
machen, jedoch das eigentliche Zensurrecht steht nur dem
Speaker selbst zu, in dessen Macht es auch liegt, die Ver-
lesung einzelner Fragen im Hause zu gestatten. Ebenso
scheidet der Sprecher Interpellationen aus, welche die
Krone oder deren Einfluß auf irgend eine RegierungsmaB-
regel in Frage stellen, auch kürzt er unter Umständen, wie
es besonders 1887 anläßlich der irischen Obstruktionsinter-
pellationen geschah, langathmige oder sich häufende Que-
stions. Die Zeit zur Stellung von Interpellationen ist
erstens auf Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag
beschränkt und zweitens hier wiederum auf 46 Minuten,
nämlich auf die Frist von 3.0® h. bis 3.*» h.
Wenn auf eine mündliche Antwort reflektiert wird, so
muß die Interpellation — durch das „Sternchen" gekenn-
zeichnet — auf die T.O. spätestens des Tages gesetzt
werden, der dem Tag vorangeht, an dem die Erledigung
gewünscht ist.
Zur üblichen bereits erwähnten Zeit — der „Question
time" — ruft der Sprecher jene Interpellanten, die eine
mündliche Antwort verlangten, der Reihe nach auf, sie oder
ihre Stellvertreter melden sich und stellen durch die Angabe
der Zahl, die ihre Frage im Notice Paper erhalten hat, die
Interpellation an den Minister. Solche „Stellvertreter" sind
VI 2.
107
zulässig, soweit es sich nicht um persönliche Beschwerden
gegen den Interpellierten handelt.
Interpelliert können werden : Minister (bezüglich jener
Angelegenheiten, die in ihr Ressort fallen). Exminister,
Mitglieder des Hauses, welche der Regierung sonstwie an-
gehören, jedoch nur, wenn der Kabinettschef nicht anwesend
ist, ferner der Speaker, der Leader der Opposition und
solche Mitglieder, die mit einer Bill zu tun haben, Antrüge
anmeldeten oder sonst an einem Geschäfte des Hauses be-
teiligt sind; der Sprecher, der Leiter der Opposition und
die letztgenannte Kategorie nur betreffs der Geschfifta-
behandlung oder einzelner in ibre Tätigkeit einschlagender
Gescbfiftsstücke, was übrigens relativ selten vorkommt.
Sonst gelten als Interpellationsgegenstäude alle Vor-
gänge der inneren und äußeren Politik, der Landes-, Reichs-
und Koloniat-Verwaltung; man fragt auch die Regierung
über ihre Absichten in einem konkreten Fall und von ihr
selbst werden selbstverständlich im Bedarfsfälle Interpella-
tionen inauguriert.
Nicht einmal die Parteisitte erfordert es, daß der inter-
pellierte Minister eine Antwort zu erteilen habe; es steht
ihm immer zu, eine solche mit Berufung auf das öffentliche
Interesse abzulehnen. Das Bestehen eines Mitgliedes auf
Beantwortung gilt als geschäftsordnungswidrig, doch ist es
möglich eine unerledigt gebliebene Angelegenheit in Form
eines Antrages vor das Haus zu bringen. Eine von einem
Minister zurückgewiesene Interpellation darf nicht an einen
ideren neuerdings gestellt werden.
Der Minister, der sich in seiner Äußerung kurz und
indig fassen soll, kann im Notice Paper enthaltene Inter-
pellationen auch dann beantworten, wenn sich weder der
Interpellant noch ein Stellvertreter zur Ausübung des
Rechtes meldeten, auch darf er sich durch einen anderen
Minister vertreten lassen. Wurden bei der Beantwortung
Schriftstücke verlesen und sind diese öffentliche Dokumente,
so müssen sie, wenn es ohne GelUhrdung öffentlicher Inter-
108 VI 2.
essen angängig ist, auf den Tisch des Hauses niedergelegt
werden.
Eine Beantwortung von Questions nach Ablauf der
question time, erscheint nur dann zulässig, wenn ihre Er-
ledigung in Folge der Abwesenheit des Ministers unterblieb
oder wenn es sich um Fragen handelt, die nicht im Notice
Paper erschienen, aber einen dringlichen für die Öffent-
lichkeit wichtigen Charakter tragen, oder die Feststellung
der künftigen Tagesordnung betreffen. Seit 1902 wird die
mündliche Antwort — maßgebend wirkt das Bedürfnis nach
Zeitersparnis — mehr und mehr durch die schriftliche Er-
ledigung der Interpellationen ersetzt und zwar regelmäßig
1) wenn der Interpellant nicht auf „Mündlichkeit" besteht,
2) wenn weder das interpellierende Mitglied noch dessen
Stellvertreter beim Namensaufruf im Beratungssaale an-
wesend ist und der Minister sich nicht aus Eigenem zu
einer verbalen Antwort entschließt, 3) nach Ablauf der In-
terpellationszeit, falls bis dahin eine Interpellation nicht er-
ledigt werden konnte und der Interpellant auch nicht das
Begehren aussprach, die Frage zurückzustellen. Eine schrift-
liche Antwort wird in Druck gelegt und am nächsten Tag mit
den Notes und Proceedings (Verhandlungs berichten) publiziert.
Wie schon erwähnt, ist eine Debatte anläßlich der An-
fragen ausgeschlossen ; im englischen Unterhause der Gegen-
wart gibt es keine Möglichkeit für ein von der Antwort
des Ministers unbefriedigtes Mitglied, eine solche zu provo-
zieren; das Äußerste ist, daß es beschränkte „Supplemen-
tary questions" zur Aufklärung einzelner Punkte in der
Beantwortung stellt und dies darf nicht in ein „Kreuz-
verhör" ausarten.
Im Oberhause ist die Interpellation vorher bekannt
zu geben und auf die gedruckte T.O. zu stellen ; die Form-
vorschriften werden hier nicht sehr streng beachtet und es
ist die Möglichkeit gegeben, eine unformale Debatte zu
führen.
VI 2.
109
— Interpellationen
Folgende Übersicht ' Aber die Praxis der Interpellationen
an die B^erong seigt von dem erstaunlichen Anwachsen
der Anfragen im ünterhause:
1800 gab es
1847 . , 129
1848 „ , 222
1850 ,. , 212
1860 „ 099
1870 . , 1203
1880 , 1546
1885 „ , 3354
1890 , 4407
1894 , , 3567
1897 , „ 4824
1899 „ „ 4521
1900 , „ 5106
1901 , „ 6448
1902 bis 5. Mai 2917
von da ab nach Änderung der standing
Order gab es mündl. beantwortete . 2415
schriftl. beantwortete 1836
115 (
Summa 7168
1903 mündlich beantwortet
schriftlich
25541
1992 I
Summa 4546
5. Das Interpellationsrecbt anderer Staaten.
Aus den Ausführungen über das Interpellationsrecht
der wichtigsten West- und Zentralstaatcn Europas und den
kurzen Erörterungen der Materie für die Deutschen Bundes-
staaten und die österreichischen Provinzen kann man cr-
sehen, wie überall sein Kern in einer gesetzlich ausdrücklich
ausgesprochenen oder aus der Kompetenz eines parlamen-
tarischen Kollegiums indirekt hervorgehenden Fragebefugnis
^ Siehe Redlich, a. a. O., S. 235, Anm. 2 u, 516.
110 VI 2.
besteht, welche an Aufgaben der Minister oder ihrer Unter-
gebenen anknüpft, gewissen Formalismen unterworfen ist,
nicht auf den augenblicklichen Verhandlungsgegenstand
beschränkt bleiben muß und mit einer Äußerungspflicht des
Interpellierten korrespondiert. Daneben zeigt das Inter-
pellationsrecht in den einzelnen Parlamenten und Kammern
eine individuelle Ausgestaltung, die durch die verschieden-
artige, wechselvolle Verbindung jener Einrichtungen, die
im Abschnitt „Erscheinungsformen des Interpellationsrechts''
besprochen wurden, zustande kommt.
Ganz derselbe Typus: Gleichartigkeit des Grundcha-
rakters, des Prinzips, und individueller Ausbau im Spezi-
ellen — eine Folge konformer Bedürfnisse, rechtlicher und
politischer Nachahmung, angepaßt an die Eigenart der ein-
zelnen konstitutionell-parlamentarischen Organisationsformen
— ganz derselbe Typus ist auch in den verschiedenen an-
deren Staaten, die ein modernes Parlament haben, zu beob-
achten.
Wenn die Union dabei eine Ausnahme macht, so ist
das darauf zurückzuführen, daß sie streng konservativ an
dem System der „Gewaltentrennung" festhält, das einen
offiziellen mündlichen Verkehr zwischen Legislative und
Exekutive in den Vereinigten Staaten von Nordamerika
ausschließt. Der „Kongreß' ' ohne Interpellationsrecht ist
eine exzeptionelle Erscheinung unter den parlamentarischen
Kollegien.
Die markantesten Organisationsformen, die sich um die
Interpellationen in den Parlamenten am Kontinent weben,
fanden bereits im allgemeinen Teile an den entsprechenden
Stellen Erwähnung ; schon ein oberflächlicher Vergleich der
geltenden Normen und Gewohnheiten scheint zu dem Ur-
teile zu berechtigen, daß es dem Interpellationsrecht in den
germanischen, besonders in den angelsächsischen Staats-
wesen nicht bestimmt ist, eine so bedeutende Rolle zu
spielen, wie in den romanischen, vor Allem in Frankreich.
Nur von dem Interpellationsrecht eines der jüngsten
VI 2.
111
koQsti tut! on eilen Staaten — nämlicli Rußlands — soll noch
die Rede sein >.
AIb Japan mit der Verfaasnngaurkunde am 11, Februar
1889 auch das Gesetz betreffend den R.T, verkündet wurde,
euthielton die g§ 48, 49 dieses Gesetzes die Formulierung
des Interpellationsrechts, das dem des preußischen Abg.H.
nachgebildet ist*. Nicht so einfach rezipierend ging Ruß-
land im Jahre 1900 zu Werke. Dieses verband Einrich-
tungen verschiedener westeuropäi scher Staaten und krönte
sie durch einen Schlußstein, der spezifisch den russischen
Verhältnissen entsprechen mag, aber ein absolutistischer
Block im konstitutionellen Interpellatio na recht ist, das hier
Übrigens nicht mit einer staatsrechtlichen Minis terverantwort-
lichkeil Hand in Hand gebt.
Es ist bei den verwirrten politischen Verhältnissen im
russischen Reiche noch nicht klar, ob und wie die Praxis
auf den Buchstaben und die Auffassung der Bestimmungen
korrigierend einwirken, wie die tatsächliche t!lbung das
■ Interpellationsrecht gestalten wird.
Der A.H.Ukas vom 30. Februar 1906 (russischen
Datums) über die Reichsduma' sagt in den §§ 58, 69: eine
von 30 Mitgliedern der Duma unterzeichnete Interpellation
ist dem Präsidenten schriftlich zu übergeben und dieser
legt sie dem Hause zur Beratung vor; sie kann eine An-
trage enthalten, die Aufklarung und Auskunft über solche
Akte der Minister, der Chefs von Zentralstellen oder der
ihnen unterstellten Personen und Amter fordert, welche
' RuQlaiid» Zustlireiton auf eine KonntituKun fand Nachahmung in
Peraien unJ Moutenegra; ilie Verfassung lieiiter Staaten, soweit Tages-
blätter darüber bericliten, regeln aurh das Interpellationsrechl, das in
Persien sogar zu einem VerfasfluiiKskonflikt »wischen Parlamont und ße-
giemog AnlaS (;ogeben haben fioU.
' Vergl. Reklam Nr. :^7%, „die japanische Verfassungsurkunde",
S. 25.
" Abgedruckt in dem Werke „die geaetslichen Akte der Übergangs-
epocbe 1904/1806", Petersburg 1906. Die hier augrunde gelegten gosetz-
lichen Besümmungen wurden mir liebenswürdig von Dr. MarkeU aus
dem Bnasiscben übersetzt Vergl, iiuob Pierre, Suppl.^menl, 8. S3I; :it3,
der den Ukas vom 19. August 1905 datiert.
112 VI 2.
nicht gesetzmäßig scheinen. Stimmt die Mehrheit der
Duma der Interpellation zu, dann wird sie dem betr. Mi-
nister bezw. dem Chef der Zentralstelle mitgeteilt und diese
müssen innerhalb eines Monats entweder die nötigen Auf-
klärungen und Auskünfte erteilen, oder die Gründe an-
geben, warum sie eine materielle Antwort verweigern.
Doppelt hat sich die Regierung gegen Interpellationen
gewappnet: 1) sind sie an die Zustimmung der Duma-
mehrheit gebunden und die Minderheit ist so dem „guten
Willen" der Majorität ausgeliefert; 2) sollen nur Akte, die
nicht gesetzmäßig scheinen, Gegenstand der Anfrage sein.
Aber entschieden die eigentümlichste Einrichtung blieb
dem § 60 vorbehalten : falls sich nämlich die Reichs-
duma mit den Auskünften und Aufklärungen
der Interpellierten nicht zufrieden gibt und
dies durch einen mit Zweidrittel-Mehrheit ge-
faßten Beschluß deklariert, so wird die Ange-
legenheit durch den Vorsitzenden des Staats-
rates zur A.H.Entscheidung gebracht.
Dieser Passus muß in praxi entweder ein „Begraben"
der ungenügenden Interpellationserledigung zur Folge haben,
oder, falls die Krone sich der Angelegenheit annimmt,
wird der Monarch leicht in den politischen Kampf gezogen.
Keineswegs scheint die Formulierung politisch klug oder
glücklich.
Allgemein sind die Bestimmungen über das Interpel-
lationsrecht in § 66, Kap. IV der Staatsgrundgesetze vom
24. April 1906 (russischen Datums) gehalten*. Sie regeln
die Materie auch für den Staatsrat. Soweit sie hier nieder-
gelegt sind, können sie nur auf Initiative des Zaren abge-
ändert werden, da bezüglich Verfassungsgesetzen nur ihm
die Initiative zusteht.
^ Abgedruckt (russisch) in der Sammlung der Gesetze und Ver-
ordnungen der Regierung; herausgegeben vom Regierungssenat.
Staats-
und
völkerrechtliche Abhandlungen.
Begründet
Dr. Oeorg JelUnek und Dr. Oeoi« Heyer,
herausgegeben
Dr. Georg Jellinek und Dr. Gerhard Änschütz,
PrDfessoiCD der B«chle in Haidalb«g.
VI. 8. Die GsBellttchafta- und Staatslehre der Physiokraten.
Von Benedikt GHntzberg.
sm,
Leipzig,
Verlag von Duncker & Humblot.
1907.
Die
Gesellschafts- und Staatslehre
der Physiokraten.
Benedikt GOntzberg;.
Verlag von Duncker & Humblot
1907.
Alle Reehte yorbehalteB.
Pierersche Hofbuchdmekerei Stephan Geibel k Co., Altenbnrg.
Meinen Eltern.
Vorwort.
Die vorliegende Schrift behandelt den Physiokratismus
von einem bis jetzt noch wenig beachteten Standpunkt und
beansprucht somit, eine der noch zahlreichen Lücken aus-
zufüllen, die die Geschichte der politischen und sozialen
Ideen aufzuweisen hat
Die Arbeit ist im Seminar des Herrn Geheimen Hof-
rats Georg Jellinek entstanden, dessen mannigfachen geistigen
Anregungen der Verfasser als Hörer und Schüler in seinem
Wissen und Auffassen vieles zu verdanken hat.
Besondem Dank schuldet Verfasser Herrn Prof. Jellinek
für die Aufnahme dieser Arbeit in seine Staats- und völker-
rechtlichen Abhandlungen.
Inhalt.
S«it«
Einleitung. Die bisherige literarische Behandlung der sozialen
und politischen Ideen der Phjiiokraten und der Pkn der vor-
liegeadea Arbeit |
Erstes KapiteL Die philot<^pbischen Gmndlagem des Phjsio-
kratismiis 7
I. Die Gmndsüge der theoretischen Philosophie Qnesnaj^s«
seine Erkenntnislehre 9
U. Die Moralphilosophie Quesnay^s und seiner Schule . . 16
ni. Die Quelle der Quesnay 'sehen Moralphilosophie — Male-
branche 24
Zweites Kapitel. Die Sozialphiloiophie der Physiokraten und
die Methode ihrer „neuen Wissenschaft'' 32
Drittes Kapitel. Die Lehre von der Gesellschaft bei den Physio-
kraten 41
I. Die Gesellschaft als natumotwendige Erscheinung. Staat
und Gesellschaft 41
II. Der Entwicklungsgedanke im Physiokratismus und die
soziale Struktur der „soci^t^ r^guliire'' 49
Viertes Kapitel. Die Lehre vom Rechte bei den Physiokraten. 57
Fünftes Kapitel. Der Staat und seine Au%abe in der physio-
kratischen Lehre 66
I. Der Staat Die Vertragsidee bei den Physiokraten . . 66
II. Die Staatsgewalt, ihre Funktionen, ihre „physische^
Unterlage 70
III. Die Au%abe des Staates : die Sicherheit und die ilerbei-
führung des „ordre naturel'' 75
Sechstes Kapitel. Die Politik der Physiokraten in der ersten
Periode ihrer Entwicklung 89
I. Die Ausgangspunkte der physiokratischen Politik und ihr
revolutionärer Charakter 89
XII VI 3
Seite
IL Die Kritik der verschiedenen Staatsformen und die Lehre
von dem „despotisme l^gal" und der „monarchie 6cono-
mique" 95
III. Fortsetzung der Lehre von der monarchischen Crewalt
und der sie einschränkenden Momente: die Hervorhebung
der öffentlichen Meinung und der Übergang der phjsio-
kratischen Politik in die zweite Periode ihrer Entwicklung 107
Siebentes Kapitel. Die zweite radikalere Periode in der Politik
der Physiokraten 113
I. Die inneren, in der Lehre beruhenden, und die äußeren
Gründe des Umschwungs 113
II. Der Munizipalitätenentwurf als das Dokument dieser
Periode: sein Inhalt und die in ihm enthaltenen Ten-
denzen 118
III. Turgot's Sonderstellung. Der Marquis Mirabeau. Schluß 127
Achtes Kapitel. Die historische Bedeutung der behandelten Seite
des Physiokratismus für die Geschichte der sozialen und poli-
tischen Ideen und für die vorrevolutionäre politische Bewegung
in Frankreich 185
Yerzeichnis
der benatzten physiokratischen Literatur.
Fr. Quesnay, Oeuvres 6conomiques et philosophiques de F. Qaesnaj,
fondateur du Systeme physiocratique, publikes avec une introdaction
et des uotes par Auguste Oncken, Francfort s/M. et Paris, 1888;
derselbe, Fragmente aus der Abhandlung ,,Hommes'', mitgeteilt von St.
Bauer in Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik,
N. F., Bd. II, Zur Entstehung der Physiokratie;
derselbe, Brief an den Intendanten von Soisson, mitgeteilt von Ottomar
Thiele in der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,
1906, Bd. IV, S. 644—652.
Marquis de Mirabeau^ Theorie de l'impdt, 1760.
derselbe, Philosophie rurale, 1763, 3 Bde.;
derselbe, Lettres sur la l^gislation ou Pordre social, d^prav6, r^tabli et
perp^tu6 par L. D. M., Beme 1775, 3 Bde;
derselbe, Les ^conomiques, Amsterdam, 1769, 4 Bde.;
derselbe, La science ou les droits et les devoirs de Thomme, 1774;
derselbe, Education civile d^un prince par L. D. M., k Durlach chez
. Müller, 1788;
derselbe, Briefvrechsel:
a) an seinen Bruder, den bailli, mitgeteilt (in Auszügen) von L. de
Lom^nie, Les Mirabeau, t. II;
b) an den Marquis Longo — im Anhang des dritten Bandes der
„M^moires biographiques , litt^raires et politiques de Mirabeau
^rits par lui-m6me, par son p^re, son oncle et son filH
adoptif;
1 In das Verzeichnis sind die Torphysiokratischen Sohriften Mirabeau's
— der nAmi des hommes" und der „Preciii de rorffanisation ou memoire tor
les Etat« provinciauz** — nicht aufgenommen, wenn me auch in der vorliegenden
Arbeit in Betracht gezogen werden mUssen, besonders die zweite der genannten
Schriften.
XIV VI 3
c) an Charles de Butr6, mitgeteilt (in Auszügen) von Rodolphe Beuss,
Un physiocrate tourang^au en Alsace et dans le Margraviat de
Bade, 1887;
d) an Karl Friedrich von Baden — in dessen Briefw^echsel mit
Mirabeau und Dupont, herausg. von Karl Knies, 1892, Bd. I.
Le-Mercier de la Rivi^re. LWdre naturel et essentiel des soci^t^s
politiques, 1767;
derselbe, L^int^ret g^n^ral de T^tat ou la libert^ du commerce des bl6s
(eine Streitschrift geg^n Galiani), 1770;
derselbe, Memoire sur rinstraotkn publique, in den Nouvelles Eph^m^rides
Economiques vom Jahre 1775, Heft IX und X.
Dupont de Nemours. Discours de l'^diteur im Sammelwerk — Phjsio-
cratie ou Constitution naturelle du gouvemement le plus avantageux-
au genre humain , publik par Du Pont, Tverdon 1768 , t. I ; daselbst
t. ÜI — De l'origine et des progr^s d'une science nouvelle;
derselbe, Table raisomi^ des principee de T^conomie politique« 1773;
derselbe, sahireiche Abhandluiigen in der Zeitschrift EphSm^rides du
cito^ren.
derselbe, Briefwechsel:
a) an L. B. Say — in E. Daire's Ausgabe der Phjsiokraten , 1846,
t. I;
b) an Turgot (in Auszügen), mitgeteilt von Schelle, Dupont de Ne-
mours et r^cole physiocratique, 1888 (daselbst auch Auszüge aus
Dupont^s Reden während seiner parlamentarischen Tätigkeit);
c) an Karl Friedrich von Baden und an den Erbprinzen Karl Ludwig
in der schon genannten Knies^schen Ausgabe des Briefwechsels
des Markgrafen Karl Friedrich, Bd. I und II.
d) an den Baron Edelsheim, in der Politischen Korrespondenz Carl
Friedrichs von Baden, bearbeitet von B. Erdmannsdörffer , 1888,
Bd. I.
Abb^ Baudeau. Introduction k la philosophie ^onomique in der
Daire^schen Ausgabe der Physiokraten, t. II;
derselbe, verschiedene Abhandtungen in den Eph^m^rides du citoyen;
derselbe, Nouveauz ^Uments du commerce, Discours pr^liminaire zu Bd. I
der Abteilung „Commerce^ in der Encyclop^die m^thodique, Bd. 78.
Turgot. Oeuvres, nouvelle Edition par Eugene Daire, 1844, t. I — II;
derselbe, Briefwechsel mit Condorcet:
a) Charles Henry, Correspondanee in^dite de Condorcet et de Turgot;
b) in Dupont's, an den Erbprinzen Karl Ludwig gerichteten Abschrift,
in der E[nies' sehen Ausgabe des Briefwechsels des Markgrafen Karl
Friedrich, Bd. II, S. 282—261 ;
VI 3 XV
c) in den Letters of eminent persona addressed to D. Home, Edin-
burgh and London, 1894^.
Le-Trosne. Recueil de plasieurs morceaux ^conomiques, 1788;
derselbe. De Tordre social, 1777.
derselbe, De Tadministration provinciale et de la röfonne de Timpdt t. 1,
livre V; t. II, Dissertation sur la feadalit^.
Die Zeitschrift Ephem^rides du citoyen, Jahrgänge 1767 — 1770.
> Der Briefwechsel der Physiokraten , besonders Turgot's, Mirabeau's und
Diipont's, ist in verschiedenen Werken und Zeitschriften zerstreut abgedruckt.
Wir haben in das Verzeichnis nur dasjenige aufgenommen, was uns ftlr unser
Thema von Wert erschien.
Einleitung.
I
Das Interesse für die phjaiokratische Doktrin ist erst
vor verhältnismäßig wenigen Jahren wach geworden.
Ein ganzes Jahrhundert lang wurde sie geringschätzig
behandelt, und wenn man es für geboten hielt, bei einer
kritischen Übersicht der nationalökonomischen Lehren, zwar
wohlwollend, aber doch herablassend, über die Phantasien
der „Sekte" kurz hinwegzugehen, so war von ihrer Sozial-
lehre, mit wenigen Ausnahmen, oder gar von ihrer Politik,
fast überhaupt nicht die Rede. Auch die Neuausgabe ihrer
Hauptwerke in den vierziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts von Engine Daire und dessen Schrift' über die
Physiokraten haben wenig zur Hebung des Ansehens ihrer
politischen und sozialen Lehren bi.' iget ragen.
Bekanntlich hat sich mit den Physiokraten besonders
liebevoll Karl Marx^ beschäftigt; er bat auch die beste
Erklärung des Tableau ^onomique gegeben und nicht nur
die Genialität seines Autors gepriesen, sondern sich auch
nicht gescheut, ein anerkennendes Verständnis fUr die über-
triebenen LobsprUche des älteren Mirabeau zu zeigend
' Zuerät im Joamal des läcouomistes Dd. X.VII encbienen und
dann, mit wenigun Abäuderungen, als Jutroductiun tni ersten Baude der
im Texte an^liihrten Ausgabe wieder abt^edruckt.
' Wozu nähere Beweise der erste Band der von Kauti)k}> aus
ManeuB NaeLlsB herauBgegebeuen Tbuorion über den Mehrwert, 1905,
iJBd. I lieFem. ^ Außerdem das von Man herrührende 10. Kapitel im
L IL Abschnitt des Engels'aclien An(i-DQhring.
■■ 8. Karl Marx, Theorien Qber den Mehrwert, S. 92.
«Olkan
ichtl. J
. Via.
- rjnni
1
2 VI 3
Das alles galt aber nur für die nationalökonomische Theorie
(speziell für die Lehre vom produit net als Mehrwert) ; von
der Sozial- und Staatslehre der Physiokraten war aber bei
Marx kaum die Rede.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat, Hand in Hand
mit den erweiterten Untersuchungen zur Geschichte der
Nationalökonomie, auch die uns hier interessierende Seite des
Physiokratismus die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.
Neben August Onckens zahlreichen Schriften * ist die Arbeit
Hasbachs *^ hervorzuheben, die die allgemeinen Grundlagen
der physiokratischen Lehre im Zusammenhang mit der Ge-
schichte der Naturrechtstheorien in ihrer Bedeutung für
die Entstehung der Nationalökonomie behandelt. Eine
zusammenfassende Darstellung seiner Soziallehre hat dann
der Physiokratismus in neuerer Zeit in der französischen
Literatur in allgemeinen Werken und in speziellen Mono-
graphien über einzelne Physiokraten gefunden*.
* Die Kapitel über die Physiokraten in den zahlreichen deutschen
Qeschichteu der Nationalökonomie und der Staatswissenschaften treten
ihrer Bedeutung nach hinter Onckens Schriften zurück. Von den älteren
französischen Werken ist besonders Blancqui's Geschichte der National-
ökonomie zu nennen.
^ W. Hasbach. Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der
von Fran^ois Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie,
Schmollers Forschungen, Bd. X 2 (im folgenden kurz — Hasbach —
zitiert).
** Besonders hervorzuheben sind folgende Werke : Espinas, Histoire
des doctrines ^conomiques, 1902. (Das ebenso betitelte Buch «von
R am band ist von geringer Bedeutung). H. D^nis. Histoire des
syst^mes ^conomiques et socialistes, 1904. B o n a r , Philosophy and political
Economy, 1896. M. Kowalewski (aus dem Russischen übersetzt^ Les
origines de la d^mocratie contemporaine, Bd. I, Abt. EL. A. Lichten-
berger, Le socialisme au 18 i^me si^cle, Ch. X. Schelle, Dupont de
Nemours et T^cole physiocratique , Paris 1888. Henri Ripert, Le
Marquis de Mirabeau (L'Ami des hommes). Ses th^ories politiques et
sociales. Th^se. Paris 1901. — Versuche über die Sozial philosophie der
Physiokraten enthalten neben der Daire'schen Schrift auch zwei ältere
französiche Abhandlungen im Journal des Economistes: Passy, De T^cole
des physiocrates (Bd. XVII) und Baudrillart, La philosophie des
physiocrates (Bd. XXIX); s. auch des letzteren Abhandlung „Quesnay,
du droit naturel'^ im I. Bd. seiner Etudes de philosophie morale et
d'dconomie politique. — Von den älteren französischen Werken über die
Geschichte der sozialen Theorien war mir das Werk von Bar ni, ebenso
I
[VI 3 3
Weniger wurde die Politik der Phyaiokrateii beliandelt;
meistena beachät'tigen sich mit ihr nur allgemeine historische
Werke: so, um die bedeutendaten zu nennen, schon Louis
Blanc in der Geschichte der französischen Revolution, dann
besonders Tocqueville ' ; zuletzt auch Adalbert Wahl in eeiuen
verschiedenen Schriften. Schließlich ist der Physiokratis-
mus neuerdings auch in den Streit über den Ursprung der
Erklärung der Menschenrechte hineingezogen worden".
Im allgemeinen hat sich das Interesse für die sozialen
und politischen Ideen der Physiokralen derart gesteigert,
daB vor kurzem eine Stimme laut werden konnte, die den
Mangel der Behandlung dos Phjsiokratismus in einer all-
gemeinen Geschichte der Staats theo rien für eine nicht un-
wesentliche Lücke erklärte". Dieser Mangel mag nun den
in der vorliegenden Arbeit enthaltenen Versuch rechtfertigen.
Unsere Darstellung wird mit den allgemeinen philo-
'Aopbiachen Grundlagen des Physiokratismus und den Grund-
seiner Sozialphilosophie beginnen, um nach Fest-
itlung der philosophischen Tendenzen, in deren Rahmen
sich bewegt, an die Lehre von der Gesellschaft und vom
ichte anzuknüpfen. Darauf wird dann die Lehre vom
Staate und der Politik folgen. Aufgrund dieser Erörterungen
wird es am Schlüsse auch möglich sein, ein Urteil Über die
historische Bedeutung der in dieser Arbeit behandelten
Seite des Physiokratismus zu gewinnen.
) dns Hiitii dos zum PhjBiokralismuB »ich bekeiiDuudeu DutcDs, La
Ulosuphie de l'eooiioinie politique 1837 aiizugäiig:liah.
^ Im „Ancien regime'', im Kapitel: Comment lea ITrsnvais ont voulu
.. B riformes avitnt de vouloir des libert^s; dnoD Bpoziell über den Turgot'
^^npont'when HuniEipalititenentwurf in dea MMHnges et fragmentB
plüitoriqne». Taine bebandelt die Phjsiokrnteti nirhl besondera, — er
itBt tie im all^mi^lneu „■'sprit claisique" anfgeheu; vgl. Bein „Ancien
rfiKime". livre trniiiime. — Kura bebandelt, vom Standpnnlite der Oe-
•obiokle der politiBvbtiii Ideen, iit auch das Hauptwerk des Ph/iiolcralan
Iie-Mercier hei Jauel. Ilistoire de ta science politique, 1. U. Ob. XI.
* Mareseei, Les originixi de la d^claration dea droits de rhotume
i9. Paris l'.m.
' Biermann — gelegeatlich einer Besprechung der , Geschichte
Ir Staatstheoriea" ron Qumploivics in der MQncheDer Allgemeinen Zeitung,
"', Beilage vom SQ. Mai.
!•
4 VIS
Bei den folgenden Ausführungen wird uns der Physio-
kratismus nur in seiner französischen Erscheinungsform
interessieren und die Darstellung wird sich hauptsächlich
auf die ihn als Ganzes charakterisierenden allgemeinen
Gedankengänge beziehen, so daß nur hier und da auf die
wichtigsten Abweichungen einzelner Physiokraten hingewiesen
werden soll. Diese Einheitlichkeit wird aber bei der Be-
handlung der eigentlich politischen Ideen nicht gewahrt
werden können : hier ist vielmehr der Physiokratismus, gemäß
der Entwicklung, die er durchgemacht hat, in zwei Perio-
den einzuteilen.
In der ersten Periode, zu der die Werke von Quesnay,
Le-Mercier, Mirabeau des Alteren und teilweise von Baudeau,
sowie die ersten Schriftenvon Dupont (später de Nemours) ge-
hören, ist das Hauptgewicht auf die rein ökonomischen, wirt-
schaftspolitischen und naturrechtlichen Fragen gelegt (die
Lehre vom „ordre naturel" !), wobei das praktisch-politische
Problem kaum gestreift und nur als nebensächlich betrachtet
wird. Wohl beschäftigen sich die Physiokraten schon hier mit
der besten Form der Regierung, wofür ja ihr in dieser Hin-
sicht bedeutendstes Werk, das Buch von Le-Mercier ^^, ge-
nügenden Beweis liefert Nur schweben die hier vor-
getragenen Ideen noch in den fernsten Gebieten des „ordre
naturel"; die Physiokraten suchen die allgemeinsten Prin-
zipien festzustellen, ohne sich über die Einzelheiten und die
praktische Durchführung zu kümmern. Von den Höhen
rein naturrechtlicher Postulate haben sie sich zu den
niederen Regionen praktisch-politischer Sätze noch nicht
herablassen können. So ist, im Zusammenhang mit den
legitimistischen Tendenzen der ersten Physiokraten, die
von den Zeitgenossen so sehr mißverstandene und viel ver^
höhnte Lehre vom „despotisme l^gaP entstanden, die den
*^ Le-Mercier de la Rivi^re. L'ordre natarel et essentiel des
soci^t^s politiqaes. — Im folgenden kurz — Le-Mercier — zitiert (nach
der in 4" Ausgabe vom Jahre 1767).
Ü
VI 3 5
«igentlich revolutionären Keru, der dem Fliysiokratiämus
BU Grunde lag, fast vollständig verhüllte.
Diese Periode hat aber nicht lange anhalten können;
schon am Ende der Regierung Ludwigs XV, Ist ein ge-
wisser Umschwung eingetreten. Unter dem Einfluß Turgot's
und hauptaäclilich unter dem Drucke der damaligen
politischen Verhältnisse, die eine Stimmung erzeugten, welcher
sich auch die Geraäßigsten nicht entziehen konnten, haben
sich auch die Physiokraten mehr der praktischen Politik
augewendet: da galt es unter Festhaltung der früheren
[«Ugemeinen Prinzipien , besonders der der monarchischen
taatsform . aber unter allmählichem Verlassen der Idee
despotisme lögal", aus den natu r rechtlichen Grund-
radikalere Konsequenzen zu ziehen. Dies ist nun
iurch Turgot, Dupont und Le-Trosne geschehen. Aus be-
facheidenen Anfängen entwickelt sich hier der Pliysiokratis-
us zu einem immer entschiedeneren , wenn auch etwas
[verhüllten Radikalismus, der schließlich über den Physio-
selbst hinausführt, was schon, wie wir sehen
erden, bei Turgot, der immer als strenger Monarchist ge-
ilten hat, deutlich hervortritt. Diese Entwicklung greift
iber noch über Turgot hinaus und zieht in ihren Strom
luch Condorcet bis zum Jahre 89 hinein".
Das ist die zweite Periode in der Entwicklung des
'hysiokratismus, wo die politische Doktrin nicht melir
ipezitisch physiok ratischen Charakters bleibt, wie am An-
"mg, aber doch noch von phyaiokratischen Gedanken durch-
drungen ist. Sie gehört aber auch in unsere Darstellung
hinein, weil die immer radikaler werdenden politischen An-
schauungen der physiokratisch gesinnten Schriftsteller als
Konsequenzen der im Physiokratismus selbst niedergelegten
ivolutionftren naturrechtlichen Gedanken zu betrachten
" Übur die nicht unweBButlicben physiokratisclien Elemente in den
palitiichen Anscbaaungen Condorcet'a vgl, beaonder« L. Cahen, Condorcet
et Ir rovolutioQ franfaiie, erster Teil, Thise. Paris 1W4.
6 VI 3
sind, denen nur das persönlich revolutionäre Temperament
ihrer Träger gefehlt hat.
Dieses alles berechtigt uns auch Turgot, der nicht
nur Physiokrat war, vollständig in unsere Darstellung
hineinzuziehen. Nicht als Schüler, als treuer Adept, was
er durchaus nicht war, sondern grundsätzlich und ur-
sprünglich hat er mit dem Physiokratismus viel Gemein-
sames; daher werden auch seine Jugendschriften in Betracht
gezogen werden müssen. Besonders deutlich tritt seine
geistige und weltanschauungsmäßige Verwandtschaft mit
dem Gründer der „neuen Wissenschaft**, mit Quesnay selbst
hervor, und zwar speziell in bezug auf die Stellung zur
Enzyklopädie und zum Condillacismus. Näheres darüber
soll uns die Darstellung der allgemeinen Grundlagen des
Physiokratismus bieten.
Erstes Kapitel-
Die philosophischen Ausgangspunkte des Pfaysiokratis-
mus, die in den geistigen Strömungen des Zeitalters liegen,
haben wir hauptsächlich in den Schriften des Gründers der
Schule zu suchen.
Fran9ois Quesnay hat, wie uus seine Biographen be-
richten , ^ noch als Student in Paris , neben den medizini-
schen eifrig philosophische Studien betrieben. Zu jener
Zeit — und noch tief bis ins 18. Jahrhundert hinein —
galt als offizielle akademische Doktrin die kartesische, deren
Vertreter an den französischen Hochschulen mit allen
Kräften für ihre Alleinherrschaft kämpften. Dieser Kampf
wurde durch die im 18. Jahrhundert beginnende starke
Einwirkung der englischen Denker verschärft, die ihre
Philosophie mit den das Zeitalter besonders interessierenden
Erörterungen über soziale und politische Fragen zu ver-
einigen wußten^.
Der englische Einfluß zeigte sich vor allen Dingen in
den Naturwissenschaften. Es war hauptsächlich Newton,
dessen Lehre, dank der popularisierenden Tätigkeit Voltaire's
siegreich durch das Land zog, um die Unhaltbarkeit der
^ Physiocrates , 6d. Eugene Daire, Bd. I, Notice sur la vie et les
travauz de Fr. Quesnay, p. 6. — A. Oncken, Zur Bio^aphie des
Stifters der Physiokratie , in Kuno Frankensteins Vierteljahrschrift fQr
Staats- und Volkswirtschaft, 1894, S. 409.
^ Vgl. Bouiller, Histoire de la philosophie cart^sienne, 8 6d.|
1868, Bd. n, Ch. XXIX— XXXI.
8 VI 3
Prinzipien der kartesischen Naturwissenschaft allen einsichts-
vollen Geistern klar zu machen.
Auf dem Gebiete der reinen Philosophie dagegen war
der Siegeszug der englischen Denker nicht von gleichem
Erfolg. Trotz eines Condillac, war es auch in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts der alte kartesische Geist, der
in mancher Hinsicht noch das Feld behauptete, auch bei
solchen Denkern, die sich von ihm befreit zu haben
glaubten^. Das gilt auch für die Moralphilosophie, in der
ja gerade die Engländer zu jener Zeit viel Anregendes ge-
leistet haben.
Was die eigentlich theoretischen Probleme betriflFt, so
begegnen wir bei der Behandlung derselben überall den
Locke'schen Prinzipien in Verbindung mit einer starken An-
feindung der kartesischen Überlieferungen, die sich zu einer
allmählichen Verwerfung der Metaphysik und zu den An-
fängen einer positivistischen Philosophie zuspitzt*, ohne in
allen Fällen die materialistische Einseitigkeit eines Holbach
anzunehmen. Doch ist die lange kartesische Schulung nicht
ohne Wirkung geblieben, und in dieser Periode sind Ver-
suche gemacht worden, den alten Standpunkt mit neueren,
auf den Resultaten der Naturkenntnis und der eng-
lischen Philosophie beruhenden, zu vereinigen. Zu diesen Ver-
suchen die Locke'sche Sensationstheorie mit dem karte-
sischen Spiritualismus in Einklang zu bringen, gehören auch
die Versuche Quesnay's ^ und Turgot's, von denen der erstere,
wie wir sehen werden, dem Alten näher steht, weil er trotz
seines vom exaktwissenschaftlichen Geiste gegen die Meta-
physik genährten Sträubens sich der kartesischen Frage
und Antwort nach dem Rapport zwischen Seele und Körper
8 Vgl. Henri Michel, Vidie de l'^tat, pp. 64-68.
* Vgl. Georg Misch im Archiv für Geschichte der Philosophie,
Bd. XIV, Zur Entstehung des französischen Positi7i8mas, besonders
SS. 18-39.
^ Vgl. A. Oncken im Handwörterbuch der Staats Wissenschaften,
2. Auflage, Bd. VI, S. 281; Derselbe, Geschichte der Nationalökonomie,
1902, SS. Ui/by 397/8.
I
Vr3 9
nicht entziehen konnte. So steht Quesiiay, noch viel mehr
als Turgot, in gescbichuphilosophiseher Hinsicht an der
Grenze zwischen der traditionellen französischen Philosophie
und dem neuen philosophischen Geist.
Diese philosophische Stellung ist auch für das uns
speziell interessierende Thema von Bedeutung: je mehr wir
uns im folgenden in den Gedankengängen Quesnay's orien-
tieren, desto klarer wird sie zu Tage treten und desto ver-
ständlicher wird uns dadurch die Eigenart seiner sozialen
und politischen Anschauungen erscheinen , die mit ihm
Tui^ot geteilt hat,
Es scheint daher geboten, zum Verständnis der
geistigen Verwandtschaft Quesnay's und Turgot's womöglich
auf die Übereinstimmung der beiden Denker hinzuweisen.
Diese Übereinstimmung war in zwei wichtigen Fragen vor-
handen, die auf ihre Stellung in der Geschichte der franzü-
sischen Philosophie hinweisen: erstens, in der Verwerfung
der metaphysischen Konstruktionen der Kartesianer und in
der Annahme der Sensationstheorie ; zweitens, in der Er-
kenntnis der Einseitigkeit der von Locke ausgehenden
Lehren,
I.
Der Ausgangspunkt der Quesnay 'sehen Betrachtungen
ist der kartesische Dualismus zwischen Materie und Geist,
deren unmittelbares Aufeinander wirken für uns unbegreif-
lich sei". Die Vereinigung dieser beiden Substanzen bildet
daher ein Problem, dessen Lösung mit den Mitteln der
natUrIluben menschlichen Erkenntnis unmöglich ist Die
Lösung, die Malebranche, der „große Mann", in seiner
Lebre vom „Schauen in Gott" zu geben versucht hat, ist
I fruchtloses Unternehmen, denn das Prinzip von dem er
I ausgeht, meint Quesnay, ist falsch: die Idee der unendlichen
" Oeuvre* äcnnorniqueti et philosophique^ de Fr. Qnesnaj, ii.
l A. OncksD, Ig88 (im folgenden kunc — Quexiui.T — Bitiert), p. 791t;
en SpinoHu McmiBinns Innil^ de substanoe), daselbit p. T9T.
10 VI 3
Ausdehnung, auf der er das ganze System aufbaut, ist eine
intelligible, also eine willkürliche, weil sie auf keine wahre
Ausdehnung hinweist und daher unfafibar, unerkennbar
(ineoneevable) bleibt ^.
In diesen Auseinandersetzungen tritt schon die Ab-
lehnung der angeborenen Ideen hervor, die Quesnay mit
Nachdruck in seinem späteren Enzyklopädieartikel „Eyi-
dence'' mehrmals wiederholt hat
Die eben genannte und wichtigste philosophische Schrift
des Vaters der Physiokratie enthält auch die Grundlagen
seiner eigenen Erkenntnislehre, die völlig an die Sensations-
theorie Locke's sich anschließt und inhaltlich an die analogen
Ausführungen Turgot's erinnert®.
Quesnay löst alle psychischen Zustände in Sensationen
auf, in denen er die Grundlage (fondement) aller unserer
Kenntnisse und das Prinzip ihrer Gewißheit (certitude) er-
blickt. Nicht nur die angeborenen und allgemeinen Ideen,
sondern auch die Urteile führt er auf Sensationen zurück, auf
die „radikale** Eigenschaft des Menschen als eines „Stre passif"
Eindrücke zu empfinden. Dieselben Eigenschaften schreibt
er auch den Tieren zu und entzieht sich konsequenter Weise
nicht dem Schlüsse, daß auch Tiere abstrakte Ideen
haben. Schließlich führt er aus, daß der Mensch nicht
nur in seinen Urteilen, sondern auch in seinem von Schmerz-
und Lustgefühlen bestimmten Wollen von den Sensationen
geleitet wird. —
Verfolgen wir jedoch weiter die theoretischen Aus-
führungen Quesnay 's, so ergibt sich, daß er in derselben
Abhandlung „Evidence" die früher (im Essay physique) um-
gangene Frage nach der Einwirkung der Materie auf den
"^ Quesnay, Auszug aus dem III. Bande des „Essai phjsiqae sur
r^conomie animale", p. 745/6, Note, Abs. 4.
^ Für das im Texte folgende s. Quesnay, Art. Evidence, besonders:
p. 765 und §§ 1—3, 15 (p. 769), 26, 'M, 38 (p. 780), 39 (p. 782). Dann
Turgot, Oeuvres, 6d. E. Daire (im folgenden kurz — Turgot — zitiertX
Bd. II, Enzyclopädieartikel „Existence , pp. 756—770. Vgl. über Turgot
auch die erwähnte Abhandlung von G. Misch, S. 25/6.
VI 3
11
Geeist, oder nauh der ersten Ursache unserer Em ptin düngen,
dennoch aufwirft. Er kommt also auf den scheinbar (il)er-
wundenen kartesischen Standpunkt zurück, und auch seine
Antwort auf die traditionelle Frage lautet, daß diese , erste
Ursache" — und zugleich das aktive Prinzip in uns —
Gott sei". Eine nähere Erklärung dieser ^Aktion" Gottes
muß er sich freilich versagen.
Durch die Rückkehr in verlaBsene Bahnen wird die
Körperwelt in ihrem Rapport zu den seelischen Zustünden
zu einer Ursache anderer Art, als es nach der öenaations-
theorie anzunehmen war, herabgedriiekt: sie bildet von nun
ab, im Gegensatz zur „cause primitive" — der Gottheit,
bloß die „cause conditionelle" oder „instrumentale" '". So ent-
halten die Gedankengänge Quesnay's im Keime die Annahme
zweier Kausalreihen in unserer Erkenntnistätigkeit: die
Quelle der einen ist die Außenwelt, der anderen — die
Innenwelt, die Vereinigung unserer Seele mit Gotl.
Mit diesen Anschauungen konnte Quesnay nicht lange
im Fahrwasser der englischen Philosophie verbleiben und
erschöpft er daher die geistige Tätigkeit des Menschen,
weder als eines erkennenden, noch als eines handelnden
Wesens, mit dem, was er von Locke gelernt hat. Der
Mensch ist nicht nur, wie alle Tiere, ein passives Wesen,
denn Gott macht ihn, wie schon oben angedeutet, durch
die ihm verliehene Vernunft auch seiner Aktivität teil-
haftig. Wohl bleibt der Salz besteben, daß ea keine Ideen
gibt, die unabhilngig von den von der Außenwelt hervor-
gerufenen Reizen wären; aber durch die dem Intellekt
eigentümliche Aktivität, die sich in der Aufmerksam-
keit äußert, vermag der Mensch in den Sensationen vieles
" QnBsiiay, Art. Eviileace, S§ 50— .^3. Tiirgot umgeht die direkte
Ffiaantwortuiig diaaer Frage. G. Miacb fShrt in seiner Untersuchung aus,
PfdaB sie tod d'Alembert, den er mit Titrgot als Begränder des fmnxfisischcin
IrVllSnonienaliBmus hinstellt, ausffihrlicher berOhrt and in konsequenter
■'WeilereDtwicklnng seines Standpunktes mit einem ignonunun beantwortet
* • •; ». Misch, a. ■. O. SB. 25—29.
"> Qaemay, Art. Evidence, § 50.
12 vr3
zu entdecken, was ihm sonst unmöglich wäre: „c'est par
ces exercises qu'elle se procure des idäes ou des pereeptions
intellectuelles et qu^elle n'est pas born^e comme Päme sensitive
des betes" ^^
Nähere Ausführungen darüber, worin die Aktivität des
menschlichen Geistes bei der reinen Erkenntnis sich äußert,
finden wir bei Quesnay nicht. Es ist aber wohl anzunehmen,
daß er nicht nur etwa die Bildung der „v6rit6s id^Ies^
(über die Beziehungen der Sensationen untereinander) im
Auge hat, sondern auch die der „värit^s räelles*^, die die
Beziehungen zwischen den Dingen und den Sensationen
betrefFen und deren Inhalt imser eigentliches Wissen von
der Außenwelt ausmacht*^. Mit Hilfe der formalen Logik
und des Syllogismus, meint Quesnay, kann man die Welt
nicht erkennen lernen. „Die Kunst der wahren Logik besteht
darin, an die notwendigen Sensationen zu erinnern, die
Aufmerksamkeit zu wecken und sie zu leiten, um in den
Sensationen das entdecken zu können, was man darin be-
greifen will"^^. Also auch hier, bei den „vörit^s reelles",
ist es die Aufmerksamkeit, das aktive Prinzip, das die
Erkenntnis erst möglich macht.
" Quesnay, p. 745, Note, auch Art. Evidence, § 52. — Dieselbe
Wendung nehmen auch Turgot's Ansichten an; vgl. besonders die ein-
leitenden Bemerkungen zum Art. Existence, Turgot, II, p. 757: das, was
Quesnay das „aktive Prinzip^ nennt, heißt bei Turgot das Bewußtsein
des ..jlch" (moij. — Dieser Punkt ist von G. Misch nicht hervorgehoben,
dagegen ist er ausführlich, aber einseitig, in den älteren französischen
Schriften über Turgot von Batbie, Tissot und Mastrier erörtert
worden ; ähnlich auch Baudrillart in der ersten Abhandlung seiner ,,£todes
de Philosophie morale et d'^conomie politique", Bd. I, p. 10/11. — Wir
betonen an dieser Stelle diese Seite in den philosophischen Anschauungen
Turgot's, um das früher Gesagte über seine geistige Verwandtschaft mit
Quesnay und beider analoge Stellung in der Geschichte der fran-
zösischen Philosophie zu rechtfertigen. Die Tatsache, daß Turgot von
metaphysischen Erörtenmgen im kartesischen Geiste sich fern g^alten
hat und daß er die Locke'schen Prinzipien ausgeprägter vertreten und
weitergebildet, berechtigt also nicht zu der oft vorkommenden Annahme,
daß er in seinen philosophischen Ausgangspunkten von Quesnay voll-
ständig divergiert.
^'^ Quesnay, Art. Evidence, § 87.
13 Ibidem, §§ 20—22.
VI 3
13
Das Ergpbois des bisher Gesagten kann nun derart
aufgefaßt werden, daß die Erkenntnietätigkeit nach Quesnay
sowohl durch die Sensationen des passiven ,ctre aensitif".
wie durch dos dem Menschen innewohnende Prinzip der
Vernunft, bedingt ist. Dementsprechend kann die Richtig-
keit unserer Ideen vor allen Dingen nur durch ihre Zer-
legung und ZurUckflihrung auf ursprüngliche Sensationen
bewiesen werden. Danach lautet auch die Ueünition
des Quesnay'schen Kriteriums der Wahrheit — der Evi-
dence: „Evidence, une certitude k laquelle il nous est ausai
impossible de nous refuser qu'il nou8 est impossible
d'ignorer nos aensationa ac tuellea" '*.
Es ist aber daraus nicht zu schließen, daß die Wahr-
heit sich mit derselben physischen Notwendigkeit aufdrängt
wie die Sensationen: dieser Annahme widerspricht ja das
aktive Prinzip unseres Wesens, die freie Intelligenz, die in
une tätig ist, die „cause puissante et directrice" unseres
ganzen vernünftigen Oedankenlebens. Die Sensationen
bilden daher nur die physisch notwendigen Elemente unserer
Denk tätigkeil, und nur in diesem Sinne sind die Ausdrücke
der Physiokraten „övidemment nÄcesBaire" oder „physi-
quement n^cessaire" zu verstehen Oberall, wo sie von
menschlichen Dingen sprechen: also eine pbysisch-de-
terminierte, eine „passive" Notwendigkeit ist trotz des so
oft gebrauchten Wortes„ physiquement" keinesfalls gemeint.
Wenn von einer Notwendigkeit hier die Rede sein soll, so
kann das nur die Notwendigkeit der Vernunft, eine logische
Notwendigkeit sein. Die Sensationen als solche, sagt
Quesnay, sind nur die Motive der Vernunfttätigkeit '*.
Daher aber auch, wo sie als Grundlage dienen, und nur
, da, haben wir die natürliche Erkenntnis, die natürliche
Evidenz; wo sie fehlen, da herrscht entweder bloße Will-
' [bidem, pp. 7M, 780.
1* Ibidem, p. 793 (Art. Evidenoe, § 56): ,
itifs QU \ea caiuea dStermiiiaiitea de la i
t de 1a Yolonti
14 VI 3
kür, oder es kommen andere Mittel hinzu — der Glaube
(foi) und die Offenbarung (secours surnaturel). — So
mündet aber die Erkenntnislehre Quesnay's in ein neues
Gebiet ein. —
Die Vereinigung mit Gott, der „sagesse supreme", voll-
zieht sich nicht nur auf dem Wege der Vermittlung durch die
Sinne, sondern auch unmittelbar durch den Glauben (foi)^®. —
Das, was wir mit Hilfe der Sinneseindrticke erkennen und
dessen Kriterium die unmittelbare Sicherheit einer aktuellen
Sensation bildet, ist, wie schon erörtert, die natürliche
Evidenz. Ihr Bereich ist aber beschränkt, und sie ist da-
her ungenügend, weil unser physisches Wesen, von dem
sie abhängt, beschränkt ist. Hier setzt eben ergänzend der
Glaube ein, da er uns das erschließt, was für die natürliche
Evidenz unerklärlich, unerkennbar bleibt, — nämlich die
ethischen Werte, den Unterschied zwischen dem „bien
moral" und dem „mal moral". EJs ist dieselbe „erste Ur-
sache" — die Gottheit, die bei der natürlichen Erkenntnis
wirkt, welche uns auch die ethischen Wahrheiten offenbart.
Sie ist hier nur auf eine andere Weise tätig: „C'est moins
une facult^ active qu'une lumifere qui 4claire la voie que
nous devons suivre" ^'.
Doch muß dabei bemerkt werden, daß mit der Vor-
stellung von der „foi" als einer Erkenntnisquelle nicht die gött-
liche Offenbarung, die in den religiösen Dogmen ihren
Ausdruck gefunden hat, gemeint ist, denn für das Religiöse
hat Quesnay eine andere Bezeichnung: er nennt es die
„lumieres de la röv61ation" im Unterschiede von den „lumi^res
de la raison ^^. Bei der Frage nach der Quelle der ethischen
Werte heißt es daher nicht, daß Gott uns direkt dieselben
offenbart, sondern nur, daß dasjenige geistige Vermögen,
welches die Erkenntnis dieser Werte ermöglicht, ein Teil der
»6 Ibidem, p. 764/5.
**^ Ibidem, Art. Evidence, § 56.
*^ Vgl. darüber einen Auszug aus dem ^^Essai physique** über die
Unsterblichkeit der Seele, Quesnay, pp. 759—763.
[ 3
15
^'Weisheit des höchsten Wesens ist. Man ist daher zur An-
nahme berechtigt, daß es Quesnay mit dem Begriffe der
„foi" hauptsachlich darauf ankam zu zeigen, daß die
ethischen Werte eigentlich nichts anderes, als a priori uns
zukommende, aber nicht demonatri erbare Maximen sind,
daß ihre Quelle in der von jeder empirischen Gegebenheit
befreiten Vernunft zu suchen ist'*. Hierdurch wird der
Weg zur Kechtfertigung des deduktiven Verfahrens offen-
gelegt und ihm eine gleiche Stellung neben der Induktion,
I als der Grundlage des „natürlichen" Erkennens, eingeräumt.
Fassen wir nun das bisher Gesagte zusammen, ao ergibt
»ich überall bei Quesnay als letztes erklärendes Prinzip
Wäie Gottheit, die im Menschen in dreifacher Weise tätig ist:
psle erste Ursaclie der Empfindungen (der passiven Sen-
Mtionen^, als aktives Prinzip unseres natürlichen Erkennens
B^nd als unmittelbare auf dem Wege des Glaubens wirkende
Cinaicbt'". So steckt im Grunde genommen der Vater der
'hysiokratie , trotz seiner positiv - wiBsenachaftlicheu Ge-
Bdnnung und trotz der Aufnahme der wichtigsten den
jsianlsmuH bekämpfenden Lehren, mit seinen letzten
Hieoretischen Prinzipien noch tief in den Schuhen der von
Descartea ausgehenden philosophischen Richtung. Quesnay
war ein metaphysisch veranlagter, nacli den letzten Gründen
grübelnder Geist, der weder mit der Oberflöchlichkeit seines
Zeitalters, noch mit dem zu früh einsetzenden „ignoramua"
eines d'Alembert siclj befriedigen konnte. Wohl wuSte
auch er der menschlichen Vernunft Grenzen zu ziehen; er
KBgt es aber dennoch, wenn nicht zu erklären, so doch
enigstens anzudeuten, wo die „letzte Ursache" zu suchen
DHgo^^ii iist X. B-, Locke keiuu Belbstevidente ethiBclie HaiimBIl
lerkaunt, sondern sie bloß au» der Erfkhrung oder der Offenbarung ab-
Kollen. Vgl. JodI, Oefrliichte der Ethik, ßd. I. S. 15!^.
'" Eine «jntematitiche Darstellung der dreifachen Art, in der die
Gottheit aU .cause primitive" in der Itetäti^ung der raenschliohBH Vbt'
ntinft erscheint, ist bei Que«na7 nicht vorhanden; der darauf geriditats
Oedankengang Iftltt sich aber ans seinen philosophischen Sehriften, trotx
' Widerspräche, ermitl«l]i.
manoher Ünklarheilen und s
16 VI 3
ist. Und das tut er in einer Weise ^ die in ihm einen
Schüler der Kartesianer erkennen läßt. Noch deutlicher
und verständlicher wird das uns werden, wenn wir die
Prinzipien seiner praktischen Philosophie erörtern. Dort
sollen wir in Quesnay einen Schüler Malebranche's kennen
lernen.
II.
Die Entwicklung der theoretischen Probleme führt
Quesnay, wie wir eben gesehen haben, zur Erörterung der
Frage nach dem Ursprung der ethischen Werte — des
„bien moral^ und des „mal moral". Es ist uns dabei klar
geworden, daß ihre Quelle im Glauben, einem der Evidenz
beigeordneten Kriterium der Gewißheit zu suchen ist. Was
ethisch gut oder böse sei, ist daher empirisch nicht ab-
zuleiten; denn es ist rein induktiver Natur und hat seinen
letzten Grund in der Vernunft (intelligence).
Nun wissen wir aber auch, daß unser Willen und
unsere Werturteile von Lust- und Schmerzgefühlen bestimmt
sind, die in uns die Sensationen auf empirischen Wege her-
vorrufen^^. So entstehen die natürlichen unser Leben ent-
haltenden Triebe, die uns das „bien physique" vom „mal
physique" zu unterscheiden lehren. Diese „physischen"
unsere Handlungen bestimmenden Werte sind also in ihrer
Quelle von den ethischen verschieden. Natur und Morali-
tät stehen sich auf diese Weise ihrem Ursprung nach in
der Quesnay'schen Philosophie gegenüber.
Derselbe Dualismus, dem wir bei den erkenntnis-
theoretischen Erörterungen begegneten, zieht sich also auch
durch die moralphilosophischen Ansichten Quesnay 's hin-
durch ^^. Wie bei der Erkenntnistätigkeit von zwei Kausal-
reihen, so sind wir auch in unserem Handeln von zwei
Motivenreihen bestimmt. Erstens sind es die auf empirischem
"* Quesnay, Art. Evidence, §§ 55—56.
«2 S. für das im Text folgende Quesnay, pp. 794—797, 747—758
und Note auf SS. 369/70.
VI 3
17
Wege entstandenen Affekte und L^idenscliaften {motifs
senaitifs et affectifa), die unsere Taten stimulieren ; zweitens
sind es die auf Grund freier Überlegung nufgestellten Sätze
(motifs instruetifs), die entweder als objektive Maximen oder
als durch die Erziehung gewonnene subjektive Zustände in
uns tätig sind und in das Walten der ^physischen" Motive,
wie Quesnay die ersten nennt, mächtig hineingreifen und
ihnen Richtung geben. Der „mechaniache" Vorgang in der
menachiichen Seele besteht im Kampfe dieser Motive, wo-
bei es bei den erateren — den „physischen" — die Stärke
dieses oder jenen Motivs iat, die über den Sieg entscheidet. —
Quesnay bezeichnet diesen Kampf der Affekte ala ,libertö
animale" oder „libertd physique".
Aber außerdem steht noch dem Menschen als ver-
[ nünftigem Wesen die andere oben gekennzeichnete Motiven-
I reihe zu — die „motifa instructifa". Sie bildet die freie
Motivation — die „libertö raorale"**. Und hier iat es
wiederum die Aufmerksamkeit, die die Tätigkeit der Seele
[ leitet, und die Willensfreiheit besteht in nichts anderem, als in
r der Macht dieses unseres Vermögens **. Was sie kenn-
(asichnet iat nicht die Freiheit von der Motivation, sondern
! Freiheit in der Motivation, in der Möglichkeit, die uns
^Urch die Sinne sich aufdrängenden Motive durch anders-
rtige, weil frei gewonnene, durchbrechen zu lassen.
Wir sehen nun, daß das Gebiet der menschlichen Tätig-
Kkeit durch die „libertä morale" in dem Gefltge dea Weltalls
laich besonders hervorhebt. Was überall nach notwendigen
[ehernen Gesetzen geschieht und was nueh den Menschen
eilweise umgarnt, das hat in seinem vorausbestimmten un-
L«blenkbaren Ablauf für ihn doch keine unbedingte Geltung,
j8i l'etro «uprgroe n'flvait pafi eii cette inteation ixtun ein Feld
__r freie» TltiglieH la gawährenj, il dous Hurnit iissujet« Dfcessairement
I i'eiäcutidii du scs volont^a, ü mpiiü aurait fuil Bgir sans inteliigenae,
■ libertj conune des bSleR, c'est k dire par den impulaiona domiDantea
jl puremeul phyBique»". Queanay, p. 761.
" „Ve pouvuir de la libertd coaaiBie diii;i; rndicalement dsos Ib
. ••- - " Qnesnay, p. 751.
Abli«nJl. VI ». - OQnWbBrg. 2
18 VI 3
Das vernünftige Wesen schaltet frei in seinem Bereich und
wird selbst maßgebend für seine Stellung» inmitten von
gleichgültigen Dingen und Vorgängen der Außenwelt. Neben
der „Ordnung" im Weltganzen — im kosmologischen Sinne —
erhebt sich eine spezitische Ordnung der menschlichen Dinge
für sich, eine neue, eigenartige ethische Welt***. Die eine
unterliegt der Notwendigkeit der Natur, die andere der
Notwendigkeit der Vernunft.
Dadurch ist auch die Stellung dieser beiden Welten
zueinander bestimmt. Alles was einer naturnotwendigen
Gesetzmäßigkeit unterliegt und dem menschlichen Willen
entrückt ist, kann an und für sich weder als gut, noch als
schlecht bezeichnet werden. Von diesem Standpunkte ge-
sehen, stellt sich uns die Natur als indifferent dar, denn sie
ist die gleiche Ursache (cause physique) des Guten und des
Bösen 2«.
^^ Diese Gegenüberstellung zweier Welten, zweier Ordnungen
(„ordres"), tritt besonders klar in Quesnay's Erörterungen über die Willens-
freiheit und in der Abhandlung über das Naturrecht hervor, wo die
Scheidung des „ordre de la nature" (oder „de pure nature") vom „ordre
naturel" durchgeführt ist. Übrigens ist terminologisch diese Scheidung
nicht überall gewahrt, was aus der Zweideutigkeit des Wortes „nature^
sich erklären läßt, das sowohl als naturwissenschaftliche, wie auch als norma-
tive Kategorie im stoischen Sinne gebraucht wird. — Auf der Trennung
der beiden „ordres" begründet dann Quesnay die Scheidung des Tat- *
sächlichen vom Rechtlichen (Quesnay, p. 756/7).
^® Belege für diese Auffassimg finden wir hauptsächlich an den-
jenigen Stellen, wo vom „bien physique" nicht im Sinne einer bloft
tierischen Genugtuung, sondern im Sinne eines befriedigten vernünftigen
Interesses die Rede ist, was unter allen lebenden Wesen sich nur auf den
Menschen beziehen kann, dank der bloß ihm zustehenden vernünftigen
Beherrschung der indifferenten Naturkräfte. Es wird daher von Quesnay
hervorgehoben, daß das von der Natur Gegebene — „ne sont, dans Tordre
naturel relatif aux hommes, des lois obligatoires que pour le bien". Denn
dieser „ordre naturel relatif aux hommes** ist nicht gegeben, sondern wird
erst von den Menschen herbeigeführt, daher heißt es auch: „II faut donc bien
se garder d'attribuer aux lois physiques les maux qui sont la juste et in^vi-
table punition de la violation de Tordre meme des lois physiques, institn^
pour op^rer le bien. Si un gouvemement s'^cartait des lois naturelles
qui assurent le succ^s de Tagriculture , oserait on s'en prendre k l'agri-
culture eile meme de ce que Ton manquerait de pain ?" — Quesnay, eh. III
der Abhandlung Le droit naturel (vgl. Text SS. 33/84 über den Begriff
der „loi physique" in Quesnay's Sozialphilosophie). — Ähnliche Gedanken
bei Le-Trosne, De l'ordre social, Paris, 1777 (im folgenden kurz
Le-Trosne — zitiert), pp. 206 et suiv.
VI 3
19
Zu diesem Bereich der Natur geliört auch der Mensch
aU SinnesweBcii , als passives Snbjekt. Wir werden daher
die Erhebung eines Naturtriebes oder eines Gefühls zur
Höhe eines ethischen Motivs bei Quesnay oder bei seinen
Schülern vergebens suchen. Die menschlichen Triebe sind,
solange sie nicht von der Vernunft geleitet werden, für die
Phjsiokraten ethisch gleichwertig. Es gibt von Natur
aus keine unmoralischen Triebe, denn alle können gleich-
zeitig als „Motive", sowohl des Guten, wie des Bösen,
dienen. Daher wendet sich auch Mirabeau gegen diejenigen
Moralisten, die entdeckt zu haben glauben, daß es „deux
etres taoraux oppos^s" als Verkürperungen des „guten und
des bösen Prinzips" gebe — „landis qu'ils ne aont que deux
effets divers d'un seiil et meme ressort de notre action, ressort
util dans l'ordre, inutile dans le dör^glement" *', Aus den-
selben Gründen wendet sieb auch der Phyaiokrat Baudeau
gegen die Gef'ühlsmoral der „Shaftesburysten", die die Prin-
zipien der Vernunft mit den natürlichen Trieben vermengen
und zu einem „rein passiven Instinkt" herabsetzen wollen ".
Denn jenes Prinzip, das die sittliche Welt schafft und
den „physischen" Vorgängen ihren ethischen Wert verleiht,
kann nur von der Vernunft ausgehen. Mögen die mensoh-
lichen Handlungen gut oder schlecht sein: die Natur als
solche geht das nicht an. Die guten oder schlechten Folgen
der natürlichen Vorgänge sind daher im Menschen selbst
begründet, je nach dem er sich durch freie und vernünftige
Überlegung oder durch die Macht seiner Triebe hat lenken
lassen. In letzterem Falle sind es die Leidenschaften, nicht
" Mirsbeau, Lettre» tut is I^Ulation oii t'oMrc tociai däpravi,
rJtabli et perp^tu« par L. D. H., Beme, 1775. Bd. II, p. 299'^WO; äbnUch
derselbe, La science ou los draits et les devoir« de riiomnie, 1774, p, 117.
" „. . . 11 ne nufSt pHH de dire, l'inRtiiict nmn doane de la ripa-
gnance pour ce qui out vice, de l'attrait pour ee qni est vertu, il tallait
«ipliquer coinmeDt et paurqDoi. La raisoo i|ai cotuuiit l'onlre iage
d'npi^a »et principes, et c'e«t en coM^quenoe ijirelle riproiive le vice,
üU qu'elle Charit la vertu. Appelez cette facultä de jiigcr aens monJi
mal* ne la qualiäec pa» d'iDBtinct, et ne la confoudei pas avec la doolenr
et 1« plaiilr . . ." Ephim^ridwi da citoyen, 1767, Befl II, pp. IS?«.
20 VI 3
die Vernunft, die über ihn geherrscht haben; oder es ist
der Mangel an Einsicht, die unvollkommene Erkenntnis, die
auch die gut gesinnten zu falschen Schlüssen und Taten
führen kann. So werden die Ursachen der Störungen in der
ethischen Welt dem Bereiche der Natur entzogen und in
unsere Vernunft, vielmehr in unser Wissen, in unser Er-
kennen verlegt. „Le d^r^glement moral est toujours
accompagn^ du d^rfeglement d'intelligence".*®
Es wäre daher unrichtig, wenn man behaupten wollte,
daß flir die Physiokraten die ethische Welt und die phy-
sische, das Sein und das Sollen, zusammenfallen^^. Es ist
nicht in ihrem Sinne anzunehmen, dafi die ethische
Ordnung die ganze Natur durchdringt, oder dafi sie nichts
anderes als das Natürliche selbst, das mit „physischer"
Notwendigkeit aus dem Walten der Naturkräfte Entstandene
bedeute. Denn das Ethische bleibt für Quesnay und seine
Schule immer in der Vernunft, als der „cause primitive",
begründet.
Anlafi zur falschen Beurteilung der Physiokraten hat
ihre metaphysische Grundtendenz gegeben, die in einer
geschlossenen optimistischen Weltanschauung Natur und
Moralität, durch einen einheitlichen göttlichen Zweck ver-
eint, zusammenfassen will. Es war also wiederum der
Gottesgedanke, in dem das Band zwischen Natur und Moral
gefunden werden sollte.
Da Gott der Schöpfer der Natur und die Quelle der
ethischen Werte ist, so mufi zwischen diesen eine Harmonie
bestehen, die wir nicht ergründen können, zu deren An-
nahme uns aber die Idee Gottes, als des Allgütigen [und
Allweisen zwingt. Diese Harmonie beruht auf dem das
Weltganze durchdringenden einheitlichen Zweck, der im
29 Quesnay, Art. Evidence § 29 (p. 776).
^^ Wie es zum Beispiel Kaut z annimmt, Die geschichtliche Entwick-
lung der Nationalökonomie in ihrer Literatur, S. 374; ähnlich H. D6nis.
Histoire des syst^mes ^conomiques et socialistes, 1904, pp. 68. — Auf
dasselbe läuft auch die Marxen'sche Auffassung hinaus: s. Text 8. 45.
rvi 3 '
21
I
t
*
Plane Gottes nur in der Vollkommenheit seiner St'höpfniig
bestehen kann; — in hezug aber auf den Menschen, der
wertvollsten, weil allein unter allen lebenden Wesen mit
Vernunft begabten Schöpfung^', ist dieaer Zweck die
Glückseligkeit.
tio gesehen, bekommt auch die Natur und mit ihr die
natürlichen Triebe, wie Überhaupt die ganze menschliehe
Sinnenwelt, ihren ethischen Werl als Mittet, die zu dem
von Gott gesetzten Zwecke führen. Nur müsäen diese
Mittel in ihrer unabänderlichen Wesenheit {esseoce immuable)
und ihren untrennbaren Eigenschaften (propri^tös ins4-
parables) erkannt und ihrer Beatiraraung nach vernünftig
angewendet werden. Ist dies nicht der Fall, bo geht doch
die Natur unbeschadet ihren Weg, aber zum Unheil der
Menschen. Nur die Rückkehr zur wahren Erkenntnis und
vernünftigen Einsicht gibt der Natur wieder ihre heil-
bringende Bedeutung, die Quesnay und seine Schüler vom
Standpunkte ihres eben geschilderten weltanscbauungs-
mUBigen Optimismus als die „hygi^ne de la nature" be-
«eichnet haben**. —
Diese Gedankengänge in ihrer optimis tischen Be-
leuchtung geben der physiokratischen Ethik die dem ganzen
Zeilalter gemeinsame utilitaristische Färbung.
Quesnay, p. 375, Note.
Diuse Gedanken lie^^en ullen Kuliriftea Quesiiaj''» zugrunde. Es
bt bemi'rkenBWL'rt, daß das Motiv der .Ujgi^ne de U natare", das die
'ifiebülur Quesnay'« und viele seiner Kritiker (nicht im Sinne der Aa*-
ftbrunguii im Text», sondern im ZusainniuDliaog luil dem Laiisen fü>e-
Prinxip), betonen, von Adam Smith dem Orfinder der Phifsiokratie votl-
stSndig, abgesprochen wird, Für Smith ist QuoKuay einer jener „speknlB-
liv«n Ärzte" für diu „the health of the human bod; could be preeerved
only by a cerlaln previae regimen of diet and exercise, of which every,
the Bmallest, violation necessarily occasioned Bome degree of dissens or
iliflorder pro|>iirtinned to the durree of the viotation". ^ A. Smith,
Wealth of nalions, ed. 1791, vol. Ül. p. 286/7. — Das ist ein sehr lehr-
reiches Beispiel für die Art. wie der Physiokralismiu beurteUt wurde, in-
dem die einen — um phyat akratisch xn sprechen — in ihm nnr den
lOTdrc nalurel", die anderen dat^esen bli>B den „ordre de la nature" betont m
'en glaubten. Indexseu liestand gerade die Eigentflmlicbkeit der Physio-
itie darin, daß sie diese beiden Momente vereinigen wollte, wie ea JD
irilegendeu Schrift m zeigea versucht werden toll.
22 VI S
Ist der Zweck des Menschen als des vollkommensten
Geschöpfes seine Glückseligkeit, so muß diese auch da»
leitende Prinzip seiner Tätigkeit werden und mit dem
ethisch Guten (bien moral) in Einklang stehen. Auch das
Irdische und das Sinnliche, soweit es diesem Zwecke dient^
bekommt seine ethische Sanktion, wird in das „Reich Gottes"
hineingezogen. Daher ist auch das Nützliche als das, was
unsere Selbsterhaltung fördert, zu gleicher Zeit das ethisch
zu Bejahende und das Gerechte. Diese Kongruenz ist aber
nur in der höheren Einheit des Weltganzen aufzufassen
und nicht etwa so, als ob das Gute und Gerechte aus dem
Sinnlich-Nützlichen abzuleiten wäre. Denn die Quelle der
ethischen Wertung ist in der Vernunft, und, sobald wir den
metaphysisch- religiösen Standpunkt verlassen , bleibt die
Natur für Quesnay außerhalb der Sphäre des Ethischen. —
In diesem Sinne entwickeln die Physiokraten auch die
utilitaristische Tendenz ihrer Morallehre.
Als Prinzip gilt ihnen nicht das eigennützige, sondern
das wohlverstandene Interesse, welches aus der Wertung
des Ganzen, nicht des Einzelnen fließt. Das egoistische
Interesse, der tierische Trieb zur Selbsterhaltung ist nur
ein psychologisches Motiv und gehört zum Bereiche der
Natur. Es wird aber in den Bereich der Moralität durch
das höhere, das Ganze umfassende Prinzip des wohlver-
standenen Interesses hinübergeleitet, das nicht mehr als
Motiv, sondern als Regulativ, als eine in unserem freien
Wesen und seinem „principe actif" begründete Norm der
Vernunft aufzufassen ist. War nun die ganze Propaganda
der physiokratischen Schule darauf gerichtet, die Moral aus
der rein intellektuellen Predigt in die Willenssphäre hin-
überzuführen ^^ , um sie im Leben wirksam zu machen, so
bleibt ihnen doch das egoistisch-persönliche Interesse als
das „physische" Moment nur die „cause conditionnelle ou in-
^^ „II fallait donc prendre Thomme par ses d^airs, par son int^ret,
et se servir de ces motifs pour le conduire ä la verhi morale et civile".
Le-Trosne, p. 79.
*VI 3
23
Btrumentale'' der ethischen Betätigung, deren letzte Quelle
in den „lumieres de la raison" zu suchen ist.
Bezeichnend fiir diese Auffassung des ethischen
Problems bei den Phjsiokraten sind die Ausführungen Le-
Mercier's, dessen Ausdrucksweise— oft nicht ohne Grund —
zu ganz anderer Beurteilung ihrer Moralphilosophie Anlaß
gegeben haben. Indessen stimmen sie völlig mit der im
Kartesianismus wurzelnden Gesam tan sc hauung Quesnay's
überein **.
Die Quelle der Wertachätzung ist auch für Le-Mercier
ein „principe actif ; er nennt dieses Prinzip ,aniour propre"
und erhebt es gleichzeitig zum selbattosen Regulativ unserer
Handlungen, weil es, wie er in origineller Weise sich. aus-
druckt, in uns die geistige Macht erweckt — «ii compter
8on int^ret pnur tntit, el celui de notre existence pi>ur rien."
Dieses Prinzip ist ihm etwas, was von unseren Sinnen unter-
i schieden werden soll, „quoiqu'il ait besoin de nos aena qui
I ne sont que paasifs". Er bemüht sich zu zeigen, daß die
I Wirkungen der Sinne und des „amour propre" ganz ver-
p schieden sind: während die ersteren uns nur dasjenige
L geben, was uns gefftlll („ce qui nous plait") — also einen
Itnomentanen, vergänglichen und trügerischen Zustand der
I Befriedigung"^ — , bewirkt das letztere in uns „une sensibi-
1 lH& qui fait naitre en nous l'amnur de la gloire, la crainte
[ de l'humiliation, tous les autres sentiments qui tiennent de
I ces deux premiers, en un mot un besoin tr^a reel, trös
lliressant, de l'estime de soi m§me et de celui d'autrui''.
I Dnd hier ist der Grund, daß „wir freie Wesen sind, deren
[ GlUck und Unglück in ihrer eigenen Macht und in der Art
tder Ausnutzung ihrer Eigenschaften liegt"*. —
; 1775
'* Drs im Teile folgenile Ut nach eintr Schrift L«-Meri'ie
l^Htullt, diti unter dem Titel Memoire lur l'inatriiction [)ubli<iue
■ ''Ulli X, tiefte der Noiivellee Ejjb^märidex ^unoiniqiiea vnm Jkh
f HbK^dniekt isL
«n Vgl d^j,, giieKnaj'H Aiwdi'ucks weine, Oeuvre«, p. 750, I. Absatii.
** Pitjehologiatische Tendenieu Rind kber bei Le-Merrier keiiiexwegs
l)|n verkennen: nennt er dueb 8uch den niuuour propre" eiuf Leidenauhäft
24 VI 3
So wird es klar, wie tiefgehend im letzten Grunde der
Unterschied der physiokratischen Moralphilosophie von der
zeitgenössischen von Shaftesbury beeinflußten englischen ist,
die das Ethische direkt in das Natürliche hineinlegen
wollte ^^. Wohl haben beide die Bedeutung der natürlichen
Triebe und Leidenschaften hervorgehoben; nur sind diese
für die an den Kartesianismus sich anlehnenden Physiokraten
bloß notwendige Mittel, unabwendbare „Motive" — um mit
Quesnay zu sprechen — , die bei ihrer vollständigen ethischen
Indifferenz erst durch die Vernunft zu Trägern ethischer
Werte erhoben werden ; dagegen werden bei den Engländern
die „passions" schon als solche gewertet. Die Rehabilitation
des Sinnlichen, die wir also in der französischen, wie in
der englischen Moralphilosophie vorfinden, geschieht in
beiden auf verschiedenen Wegen, trotz der sie bedingenden
gemeinsamen optimistischen Weltanschauung. Denn der an
Shaftesbury anknüpfende Optimismus ist ein empirischer:
die emotionellen Regungen sind gut, wie sie gegeben
sind. Dagegen ist der Optimismus bei den Physiokraten
in seiner letzten Grundlage ein transzendentaler: die emotio-
nellen Regungen sind gut — nur im letzten Plane
Gottes^s.
III.
Die bisherigen Erörterungen haben den Zweck gehabt,
die philosophischen Ausgangspunkte der Physiokraten, trotz
der positivistischen Elemente, die sie in sich aufgenommen
(„nous avons deux sortes de passions tr^s distinctes . . . Celles des sens
et Celles de Tamour propre"). Dieser Tendenz hat schon Descartes in
der französischen Philosophie den Anfang gegeben, indem er als Tagend
den „Affekt" der Bewundening („admiration") hingestellt hat — Der
prinzipielle Unterschied von der englischen Ethik (s. weiter u. im Text)
bleibt doch bestehen, wenn auch in der Lehre von den Affekten Be-
rührungspunkte, die für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung
wurden, festzustellen sind.
" Vgl. Jodl, a. a. O. SS. 170—173.
'* Die im Texte vertretene Auffassung weicht völlig von derjenigen
Hasbachs ab, der die physiokratische Moral so interpretiert, dafi das
Gerechte aus dem Sinnlich-Nützlichen abzuleiten sei. Dies geschieht bei
I
"VT 3 25
haben und trotz des inodem-wissenscbaftlichen Geiates, von
dem das ökonomische System Quesnay's durchdrungen ist,
in der Beleuchtung ihrer Abhängigkeit von der karteaiachen
Philosophie darzustellen. Bei der schon früher hervor-
gehobenen philosophischen Stellung des Physiokratisraus
verdient diese Abhängigkeit, die für ihn von entscheidender
Bedeutung geworden ist, ganz besondere Betonung, was
bis jetzt in der Literatur nur wenig geschehen ist.
Da man mit Recht gewohnt war, die einzelnen Elemente
der. nationalökonomischen Doktrin Quesnay'a in England zu
suchen, so hat sich auch Hasbach bei seinem Versuch,
die philosophischen Ausgangspunkte des Phyaiokratiamus
zu erläutern, dorthin gewendet, wobei die traditionelle
französische Philosophie von ihm fast ganz außer acht
gelaasen wurde. Die Resultate, zu denen Hasbach gelangt
ist, und an denen er in einer späteren die LUcke aus-
flillenden und talsäcblich, u. E., die Darstellung prinzipiell
verändernden Abhandlung"", doch festhält, — weichen von
der hier vertretenen Ansicht ab. (Vgl. Anui. 38).
Im Vorlauf dea Bisherigen haben wir schon auf den
prinzipiellen Unterschied zwischen den Grundlagen der an
die karteaisclie Philosophie anknüpfenden Pliysiokraten und
der englischen Gefuhlsmoral hingewiesen. Es sei nun noch
■«iniges über die ebenfalla von Hasbacb stark betonte Be-
deutung dea Cumberland 'sehen Buches „Dtsquiaitio de
legibus naturae philosopliica" ftir die Entstehung der
, Quesnay'schen Anschauungen erwähnt*".
ub&oh aus dem Gründe , weil ^r den FLysiokratismiis tu euge Vur-
bodang mit der englischeu MoMlphilonophic nml ipeEioll mit Slittftesl>ury
bringen vill. 8. da^ in der Einleitung ^nannte Werk von Hnsbnch,
hkuplaSchlich 88. 88 -BO und Knp, V.
** Hflsbnch in der RevQe d'Economio poliliqae Ud. VII, Le«
fbndementa pbiloaophiquea de l'^ouomie polilique de Qaeauay et de
r Ad. Smith. Vgl. auch 8L l)sH«r, eiue BeBprechaoK de« Hnabauh'sclieu
L Verkai in Cnnrad» Jahrbüchern, J&hrganir 1891: Derselbe, im Economic
■<}oumBl, 1895. p. 9. Note I.
■" Hasbftch. SS. 149-152.
26 VI 3
Das genannte Buch, ein seinerzeit sehr bedeutsames
Werk, hat sicherlich, dem Inhalte nach zu urteilen, zur
Herausbildung der philosophischen Ansichten Quesnaj's
manches beigetragen. Man könnte noch auf viele von
Hasbach nicht betonte übereinstimmende Momente hin-
weisen, die aber trotzdem Quesnay nicht aus Cumberland,
sondern aus der beiden Denkern gemeinsamen Quelle —
der kartesischen Philosophie — zu schöpfen brauchte: ge-
hört doch noch Cumberland einer Periode an, die der-
jenigen, die mit Locke beginnt, vorangeht.
E^ ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum man
in der Frage nach dem Ursprung der grundlegenden
Quesnay'schen Ideen sich nur auf Cumberland beschränken
soll. War doch der Optimismus jener Tage, sowie das
In-eins-setzen von gerecht und nützlich und die Lehre vom
Zusammenhang zwischen der ethischen und physischen Welt
schon zum Gemeingut aller Denkenden geworden, als
Quesnay seine philosophischen Anschauungen herausgebildet
hat. Es waren alles Glaubenssätze der damaligen Welt —
und Lebensanschauung, sie galten als feste communis opinio
und man ist nicht mehr berechtigt in diesen Punkten fUr
Quesnay diesen oder jenen bestimmten Schrfftsteller als
Quelle anzugeben.
Der Optimismus als Rehabilitation der Sinne und des
Sinnlichen und der eudämonistische Gedanke, erweitert
auch auf das irdische Leben — früher bezog es sich nur
auf das Jenseits — war ja überhaupt jener mächtige ge-
dankliche Zug, der nach Abschüttlung der mittelalterlichen
Dogmen seit der Reformation die ganze Philosophie be-
herrschte. Die Fortschritte der Naturwissenschaften und
— auf politischem Gebiete — die Vorzüge des im steten
Wachsen begriffenen mächtigen weltlichen Staates, haben
diese Gedankengänge noch bestärkt. Auf welchem Wege
diese Rehabilitierung des Sinnlichen auch geschehen sein
mag, wir begegnen ihr überall, auch bei Malebranche, wie
wir zu zeigen haben werden.
VI 3
27
Kehren wir aber üii Cumberland zurfifk, so tinden wir
gerade in dem Punkte, den Hasbacli als den für seine An-
nahme entscheidenden hervorhebt, auch die Grllnde des
wichtigen Unteracbieda von Quesnay's Gedankengängen.
Denn die vom engliachen Theologen betonte „aanction
physitjue" des Ethischen hat, bei dem mit Queanay gemein-
samen optimistischen Hintergrund, im spezielleren doch eine
wesentlich andere Bedeutung als dieselbe Vorstellung in der
Dupont 'sehen Interpretation des phjsiokratischen Systems*':
bei Cumberland dient diese Vorstellung zur Verschärfung
der eudftmonistiachen Tendenz seiner Moral, bei Quesnay
dagegen tritt dieser Gedanke zurUck, um das moralische
Handeln mehr in seiner Abhängigkeit von der äußeren Natur
zu erklfiren, als es nach seinen Folgen zu recht-
fertigen. Auf dieses Moment der „Erklärung" haben aber
die Physiokraten ein besonderes Gewicht gelegt ; darin haben
sie ihr Haiiptverdienst, das „Neue" in der Wissenschaft er-
blickt".
äind sie dazu durch den spezielleren Gegenstand ihres
^Nachdenkens und durch den herrschenden Zeitgeint, den
wohl zum größten Teil die englische Philosophie geachaflFen
hat, getrieben worden, so hatten sie die weltanschauungs-
mäßige Rechtfertigung dieses ihres Versuchs, dieser fast
ausschließlichen Zuwendung zum Irdischen, nicht jenseits
des Kanals zu suchen: sie konnten sie in der heimatlichen
Philosophie finden, und zwar bei Malebranche, den uns die
Biographen Quesnay's als seinen Lieblingsphilosophen an-
geben, und den auch Le-Mercier und Mirabeau als hohe
philosophische Autorität gepriesen haben, was jedenfalls auf
das hohe Ansehen hinweist, dessen der genannte Philosoph
" Queenay. p. 1-V2 (Aunzug aus eiDer Dupont'sdieii Schrift).
" Auch ist bei CDinberlniid ätia wohlTcrstiindeiie Interenne kein
1 VeraiuittaprinKip, mmdern einGefQhl der Gottes- und (W NächBtonliebe,
im menschlilJiun Wptien al* «in „pencbant nnturel" BiwgeprAgt i«t
I Eomit Eur ^nalure btlinsine" ^hSrt. Darin lieifen die ertten AnaiUe
späteren englischen Gefilhi*nioral, Vg\. Ciimberlanil in der fraiiEÖHi-
■chen (ybemetEung von BnrbcjTHC, Les Tniii de In unture einliqaün pNr
[ le DoeteuT Hiehard Cumberland, cb. V, g 4Ti aiieh eh. U, §§ »-4.
28 VI 3
noch in manchen Kreisen und speziell bei den Physiokraten
sich erfreuen konnte, wenn auch im allgemeinen seine Lehren
schon längst keinen Einfluß mehr ausgeübt haben.
Die physiokratische Scheidung der physischen und der
ethischen Welt und die Auffassung von ihrer gegenseitigen
Beziehung geht ganz in der Malebranche'schen Teilung aller
„Wahrheiten" in Größenverhältnisse und Vollkommenheits-
verhältnisse auf (rapports de grandeur und i^apports de
perfection) *®. Die ersteren bilden die Erkenntnis der Natur,
der ^puisaance de Dieu", die von den „d^crets divins** be-
herrscht wird, — die letzteren beziehen sich auf die sittliche
Welt der menschlichen Handlungen (den „ordre immuable'),
wo unabänderliche und unverletzbare Regeln „de tous les
mouvements d'esprits", denen Gott selbst folgt, maß-
gebend sind. Die Natur und die ethische Ordnung fallen
nicht zusammen, sie durchkreuzen sich; daher heißt es
auch der Natur nur dann folgen , wenn die Gesetze der
Ethik es gebieten, denn die Natur für sich „est plutfit
nöcessit^ que vertu**.
Das sind Grundgedanken der Malebranche'schen prak-
tischen Philosophie, in denen die Lehre Quesnay'a am
nächsten zu suchen ist, daß die Natur gleichgültig und
unbiegsam der ethischen Ordnung gegenübersteht, daß wir
in der Natur den Unterschied von gut und böse nicht finden
können. Regen und Wind sind Naturerscheinungen, die
mit dem Verdienst und dem Vergehen nichts zu tun haben,
sagt Malebranche gerade so, wie es später Quesnay wieder-
holt hat*^
Neben dem Dualismus zwischen dem „ordre immuable*'
und dem „ordre de la nature" verschwindet aber hier bei
dem Philosophen des Oratoriums die Gegenüberstellung des
■*' Darüber und über das folgende s. Malebranche, Oeuvres,
4d. J. Simon, 1871, Bd. IL M^ditations chretiennes, eh. III, §§ 21
(pp. 83/4), 23, 34; eh. IV, §§ 7—8: Trait^ de la morale, Rotterdam 1684,
eh. I, §§ 4—6, 18—19, 21, 23. Vgl. auch ßouiller, a. a. O., Bd. IT.
pp. 89-91.
** Trait6 de la morale, eh. I, § 21; Quesnay p. 368.
VI 3
29
I
Körperlich-Sinnlichen und des Geistigen, weil auuh für ihn
alles Natürliche im Plane Gottes, alao vom Standpunkte
eines sich überhebenden metaphysischen Optimismus, gut
ist nnd in seinen Best im mutigen nur durch den mensch-
lichen Willen entartet und vereitelt wird**, Denn die
Sinne und die Leidenschaften sind nicht nur als Vermittler
zwischen der Seele und dem Körper bei der Erkenntnis
der Außenwelt, sondern aue als Mittel zur Förderung
unserer Selbaterhaltung zu bejahen: daher sind sie auch
von Natur aus keinesfalls schlecht und man soll ihren Ur-
sprung nicht in dem Sündenfall suchen: „pas tout un d^s-
ordre du cötä des sens, <jue de celui de l'esprit et de la
volonte des hommes". — Malebranche wird nicht müde,
auf die Bedeutung des Sinnlichen, der Lust- und Schmerz-
gefühle, als unserer „radikalen" Eigenschaften, hinzuweisen.
„Du liebst deinen Leib", sagt er „du willst und sollst ihn
erhalten (conserver), — du sollst daher auch in zwei
Richtungen arbeiten, für das Wohl deines Körpers und dein
eigenes (d. h. deine Seele)" ", So haben wir es hier klar
mit einer anderen Rehabilitation der Sinne zu tun, als es
in der englischen Gefühlsmoral der Fall war, und auch
hier liegt es am nächsten, die Quelle der weltanschauungs-
mfißigen Grundlage des Physiokratismus in diesen Gedanken-
gängen zu suchen.
Es darf nicht befremden, daß wir einen mystischen
Theologen, wie Malebranche es war, in eine Untersuchung
über die Entstehung moderner, weltlicher Ansehauungeu
hineinziehen. Malebranche war nicht nur Mystiker, sondern
auch Rationalist (man erinnere sieh seiner Ausführungen
über die Religion , wonach diese der Philosophie als dem
Böheren unterstellt werden soll!) — und oft ein radikaler:
' Darüber uud über das fulgende ». Ualebranche, Oeuvres,
I. n, Hiditationg chr^ticnnea, eh. X, gS 2—4; Kd. Hl und IT, BecbercJie
Wae la firM, Uvre 1, ek. V, up. 35—40, livre IV, cb. X, pp. 73—77;
Traiti de la morale, eh. XI, ^§9 et «uiv,, eh. XUI, g 7, ch, XXIV, g 10.
«MMitaUoiut chritieniiei, XX, gg 15.
30 VI 3
wurde er doch wegen seiner Rechtfertigung der Sinne
von den Kartesianern Arnauld und R^gis bekämpft
und sogar Epikureer genannt*^! Freilich ist bei ihm alles
Sinnliche dem „ordre immuable" dienstlich unterstellt, und
wo es in selbstgenügsame Leidenschaften umschlägt, da soll
es bekämpft und unterdrückt werden bis aufs Äußerste.
Das aber haben auch Quesnay und seine Schüler gepredigt
mit dem Unterschiede, daß Malebranche sofort vom Rationalis-
mus in einen radikalen Mystizismus und Asketismus ver-
fällt, der ihn fast bis zur Verneinung alles Sinnlichen führt
Damit ist aber eine Tendenz von bleibender Bedeutung nicht
aufgehoben worden, nämlich, daß alles Sinnliche ein not-
wendiges Mittel zur Erreichung höherer Zwecke ist
„L'homme renvers^ par terre, s'appuie sur la terre, mais
c'est pour se relever"*®, sagt Malebranche an einer Stelle.
Dieser Satz könnte als Motto an die Spitze des physio-
kratischen Systems gestellt werden**.
*'' Vgl. Bouiller, a. a. O., Bd. 11, p. 98; Windelband, Geschichte
<ier neueren Philosophie, 8. Aufl., Bd. I, § 27.
*8 Trait^ de la morale, V, § 18.
*^ Die von Hasbach in seiner Abhandlung in der Revue d'Economie
politique gegen die Abhängigkeit der Moralphilosophie Quesnay^s von
Malebranche dargebrachten Argumente erscheinen uns wenig stichhaltig.
Z. B. , daß Malebranche vom „ordre'' spricht, Quesnay dagegen vom
„ordre naturel" : wichtig ist aber für uns, daß beide vom „ordre immuahle^
sprechen ; oder , daß die Geschichtsschreiber des Naturrechts sich nie auf
Malebranche berufen: das ist selbstverständlich, da Malebranche sich mit
dem Naturrecht nicht beschäftigt, und uns kommt es nur darauf an, die
allgemeine philosophische Stellungnahme zu ergründen. Auch, daß Male-
branche unter dem „ordre immuable" Vollkommenheitsverhältnisse versteht,
wird wenig gegen die im Text vertretene Auffassung zu besagen haben,
da wir uns ja nur mit der Feststellung begnügen, daß M. die ethische
und physische Ordnung gegenüberstellt Diese Gegenüberstellung schließt
aber trotz Hasbachs Behauptung die Annahme ihrer Verneinung in einer
höheren Harmonie vom Standpunkte eines transzendentalen Optimismas
gar nicht aus, wie das auch bei Malebranche wirklich geschehen ist. Und
wenn das bei den Physiokraten in einer empirischen Bejahung des Sinnlichen
sich äußert, so ist es, wie wir gezeigt haben, auch bei Malebranche nach
der Abschüttlung der mystisch-theologischen Zutat nicht anders der Fall. —
Bei dem allen dürfen die mannigfachen Anregungen, die Quesnay von
England aus bekommen hat, durchaus nicht geleugnet werden. Uns
kommt es aber nicht darauf an, den einzelnen auf ihn ausgeübten Ein-
flüssen nachzugehen, sondern auf die Feststellung dessen, wes Geisteskind
er doch im letzten Grunde war.
VI 3
31
I
EIh darf wohl nur angedeutet werden, daß auch die Konse-
quenzen, die die Physiokraten, wie die ganze Literatur der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aus der karteaiachen
Philosophie gezogen haben , nämlich der Glaube an die
Möglichkeit, die Menachen zum vemlinftigen Dasein zu er-
ziehen, schon bei Malebranche zu finden ist.
Die Erziehung muß danach nicht nur auf die Aus-
bildung der Vernunft gerichtet sein, sondern auch auf eine
derartige Lenkung der Sinne, daß ihre Forderungen den-
jenigen des ^ordre immuable" entsprechen, mit anderen
Worten, in jedem Menachen muß, wie Malebranche es
mehrmals ausdrückt, ein „amour propre öclairö" er-
zogen werden^".
Es ist daher auch hier anzunehmen, daß die phyaio-
kratiachen Erörterungen über die Eigenliebe (vgl. oben
Le-Mercier's Lehre) im Prinzip näher den analogen An-
sichten Malebranche's als irgend welchen anderen Aus-
führungen über denselben Gegenstand stehen, wenn auch
andersartige Beeinflusaungen im einzelnen nicht zu ver-
kennen sind. Einer der letzten „reinen" Kartesianer, der
17ö9 voratorbene Chancolier d'Arguesseau, hat ebenfalls in
seinem rechtsphilosophischen Werke die Lehre vom „amour
propre" zu vertreten gewußt, ohne dabei an seinen philo-
sophischen Ausgangspunkten 7,u rütteln*'. Es ist also klar,
daß eine gewisse Auffassung von der Eigenliebe mit den
moratphiloaophischen Grundlagen dea Kartesianismus nicht
Im Widerspruch steht. An diesen Punkt konnten also die
Physiokraten anknüpfen.
So stehen wir auch im Rahmen der Malebranche'schen
Philosophie auf dem Boden einer ideellen Harmonie zwischen
der sinnlichen und der sittlichen Welt und kommen genau
zu demselben Schluß über ihre gegenseitige Beziehung, wie
wir es bei den Physiokraten gefunden haben
'" Trfti« de U morale, ch, IV, gg 13-19, cb. V. Sg 16, 22, eh. Via
■< UonilUr, A. n. 0„ Bd. II, ch. XXX, p. 605/6.
Zweites Kapitel.
Auf den philosophischen Voraussetzungen, wie wir sie
bisher dargestellt haben, beruhen die Ausgangspunkte der
Sozialphilosophie der Physiokraten.
Die Gesellschaft ist die Sphäre, in der der Mensch
sich betätigt als zugleich passiv-sinnliches und aktiv-ethisches
Wesen; in ihr durchkreuzen sich zwei verschiedenartige
Elemente und schmelzen zu einem neuen Ganzen zusammen :
das physisch Determinierte mit der freien Tat und der ireien
Wertschätzung. Das erstere bildet die unabwendbaren, vom
menschlichen Willen unabhängigen, ihren eigenen Gesetzen
folgenden Gegebenheiten des gesellschaftlichen Daseins. Die
Abhängigkeit von diesen dem Willen entrückten Daten,
hauptsächlich in der Gestalt der Bedingungen der An-
häufung materieller Güter, ist der leitende Gedanke der physio-
kratischen Sozialphilosophie.
Nur diese Abhängigkeit, nicht das Aufgehen der Welt
der menschlichen Betätigung in dem „Physischen" ist ge-
meint, wenn die Physiokraten vom „ordre physique" in
der Gesellschaft sprechen, oder wenn ihnen die daraus sich
ergebenden Konsequenzen „physiquement nicessaires" er-
scheinen, oder wenn sie die von den Daseinsbedingungen
und den natürlichen Trieben abhängigen ethischen, recht-
lichen und politischen Maximen, als „morale physique" be-
zeichnen. Das, worauf es ihnen ankommt, besteht darin,
die Motive der menschlichen Tätigkeit, die Elemente seiner
Bewußtseinsinhalte in der „physischen", seinem Willen ent-
VI3
33
I
rückten Welt zu auchen, zu der auch seine eigenen natür-
liclieD Triebe gehören. — Auf Grund dieser Erkenntnis
soll das Gerechte von nun ab auch den nicht Aufgeklärten
in der faßbaren Gestalt ihrer eigenen Bedürfnisse und in
der erkennbaren Gesetzmäßigkeit der Jtußeren Natnr ein-
leuchtend gemacht werden: „La justice doit avoir un point
d'appui sensible pour devenir manifeste dans toutes sea
cons^quencea aus faommes ignorants", heißt es bei Le-Trosne ^.
So soll auch der normale, zu verwirklichende gesell-
schaftliche Zustand — der ordre naturel — wie das
Weltganze im Plane Gottes, eine harmonische Einheit der
Natur und der Moralität darstellen. Auf dieser Doppel-
seitigkeit des „ordre naturel" bei der gewaltigen Betonung
der ^physischen" Abhängigkeit einerseits, und der schließ-
lichen weltanschauungsmäßigen Anerkennung des Primats
der freien Vernunfttätigkeit — die sowohl im Einzel-
dasein und in der unorganisierten Existenz der Menschen-
menge, als auch ganz besonders in dem organisierten staat-
lichen Leben zum Ausdruck kommt — andererseits, beruht
das ganze physiokratisehc System. Es ist notwendig dies
hervorzuheben, um sich klar zu machen, daß für die Physio-
kraten die „loi physique" in ihrer Gesellschaftslehre nicht
identisch ist mit dem Naturgesetz, weil sie das Eingreifen
der überlegten Tat in die natürlichen Vorgänge voraussetzt,
was beim Naturgesetz ganz ausgeschlossen ist'. Doch dies
bedarf noch näherer Ausführungen,
Da die ethischen Werte den „ordre de la nature" niclit
berühren, so kann der menschliche Bewertungsmafistab der
Natur nur insofern angelegt werden, als diese in den Bereich
der menschlichen Betätigung hineingezogen und die ethische
' Ls-Tfosne, p. 84.
' Es ist muerefl Ernchl«Ds nicht genügend darauf liiiig(iwie)i«ii
I worden, daB Quemuiy in aeinen soziiilphilosopliiBcbeD AuKtiitinmgeu unter
1 «loi pbysique" durcbauB kein Naturgesetz ini Sinne der Nulurwisitea-
I «ohaften meint; er hesieht «ie nur auf die GeaetUuhaft nnil den soziiilen
SU&t«- u. vOlkuriDobtl. Abhundl. Vt s. - oantiherg. g
34 VIS
Welt somit in realen Vorgängen konkretisiert wird. Die
Beziehung der moralischen Ordnung zur nattlrlichen ge-
staltet sich dann derart, dafi die erstere nur einen durch
die freie menschliche Betätigung erzeugten und kraft der
ethischen Sanktion hervorgehobenen Ausschnitt der letzteren
bildet^. Jede Erscheinung, die wir als gut oder schlecht
bezeichnen, ist aufierdem auch natürlich, aber nicht um-
gekehrt: nicht alles, was in der Natur ist und vorgeht, wird
von der menschlichen Vernunft gut oder böse geheißen;
denn nur die vom Menschen geregelte Natur, deren
Gesetze aber dabei unveränderlich bleiben, kommt hier in
Betracht. Daher gehören nur diejenigen Vorgänge, die
von menschlichen Zwecken geregelt sind, in den Geltungs-
bereich der „loi physique^ hinein, und so heißt es auch
bei Quesnay: „On entend ici par loi physique le cours
r^gl^ de tout^v^nement physique de Tordre naturel
le plus avantageux au genre humain^.
Nur so wird der Sinn der theoretischen Sätze der
Nationalökonomie verständlich, wie sie sich aus dem Tableau
^onomique ergeben, und wie sie die Physiokraten in den
„lois physiques" aufgestellt haben. Sie sind unabhängig
vom menschlichen Willen, weil sie den Gesetzen der Natur
unterworfen sind, sie unterscheiden sich aber von den
letzteren, weil sie tibertreten werden können — und tat-
sächlich übertreten werden. Daher ist im letzten Grunde
die physiokratische Auffassung von einem in sich ge-
^ Das erkennt am besten E. Daire, wenn er sagt (Physiokrates
hd. I, Introduction, p. XI, Note 2) : „Par lois physiques, on n'entend pas
pr^cis^ment les lois de la mati^re, mais bien plutdt la direction utile
que Tintelligence humaine peut donner k ces lois. Que l*on cultive oa
ne cultive pas le sol, il est certain que Tune ou Tantre hypoth^e ne
ühangera rien aux lois physiques de la v6g^tation*^.
*■ Quesnay, p. 375. — liebt die Definition der „loi physique" die
Zweckbestimmung för den Menschen hervor, so betont dagegen die
Definition der „loi morale" die andere Seite des physiokratischen Grand-
gedankens, nämlich die Abhängigkeit von den physisch-determinierten
Voraussetzungen — und so lautet sie: „. . . une r6gle de toute action
humaine de 1 ordre moral con forme a Tordre physique 6videmment
le plus avantageux au genre humain".
VI 3 35
Bublosaenen Ganzen, das von den „lois physiquea" beherrscht
wird, keine „organische" Lehre von der Gesellschaft, aondarn
eine Lehre vom „richtigen" geseltschaftlicheD OrganiamuB,
wie er sein soll". So fehlt von vornherein jedem Ver-
suche, in der physiokratiachen Gesell sc ha ftsi ehre eine posi-
tivistische Auffassung im Sinne einer Lehre von der
„sozialen Statik" zu erblicken, jede Berechtigung". Unter
diesen Voraussetzungen tritt in der ersten wissenschaftlichen
Soziallebre, als welche zu gelten der Physiokratismua das
Recht hat, die „Wirtschaft" nicht als Naturprodukt, sondern
als Kulturprodukt auf, denn die ^lois physiques", die
den wirtschaftlichen Organismus schaffen, kommen erst
durch die freie menschliche Tat und die menschliche Be-
wertung zur Geltung, —
Daraus ergeben sich auch die methodischen Grund-
lagen der phygiok rauschen Gesellschaftslehre. Ist der
Gegenstand ihrer Betrachtungen in seinen Erscheinungs-
formen von der vernünftigen menschlichen Tat bedingt, so
muß er auch seine letzte Erklärung in einem Vernunft-
prinzip finden, das gegeben, das aber nicht abzuleiten ist.
Dieses Prinzip ist das durch richtige Einsteht erkannte,
wohlverstandene eigene Interesse. So bildet die deduktive Me-
thode den eigentlichen Weg, den die Fhysiokraten beschreiten.
Erwfigt man aber daneben die Bedeutung, welche die
Physiokraten der äußeren Natur und ihren Gesetzen für
den Abiaul des menschlichen Lebens beimessen, so ergibt
sich von vornherein die Notwendigkeit einer exakten Er-
kenntnis dieser Außenwelt. Das ist aber nur auf induktivem
Wege möglich, wie es die Sensationstheorie, die Verwerfung
der angeborenen und die Lehre von den allgemeinen Ideen
'^ Vgl. A. Oncketie Ausführungen über da» Tfthloau äcouomique,
2 Owaliichte der NAlional Ökonomie, Sä. S44, 386 — 102.
' Ähnliche VcrsuuliB Hiud aueb yoa solchen gemacht wonlen, die
t4i« »toiadie Orunillni^ das PhysiokratiRniiu erkannt haben: H. Deuia,
La. a. O., [ntrodaküon § 2, H. Bipert, Le Marquie de Mirabean. get
[-fUoricB politiquM et sociale», p, 320 ähnlich Juhn Morley, Critioal
"boeUanie*, L aerie, pp. ^9, 81.
36 VI i
in der Quesnay'schen Auffassung zur Gentige bewiesen
haben. Übertragen auf die Wissenschaft von der mensch-
lichen Gesellschaft, ergibt sich daraus die Forderung der
Beobachtung von Tatsachen („donnäes^ oder „conditions
donn^es" nach Dupont^), die als Material Air die Kon-
struktion des normalen gesellschaftlichen Organismus dienen
sollen. So ist auch für die induktive Methode der Boden
geebnet.
Doch bleibt die Bedeutung der Beobachtung und der
Ableitung aus induktiv erworbenen Daten nur im Rahmen
der endgültigen Deduktion aus dem Vernunftsprinzip be-
stehen. Die Induktion ist nur ein Hilfsmittel ohne selbst-
ständigen Wert fUr die Wissenschaft von Moral und Politik,
die den Physiokraten mit der Lehre von der Gesellschaft
identisch war. Das wohlverstandene Interesse bleibt ihnen
stets als Regulativ der Obersatz, der es erst möglich macht,
die auf dem Wege der Induktion errungenen Tatsachen zu
theoretischen Sätzen zu erheben.
Trotzdem sprechen die Physiokraten im Geiste des von
den Naturwissenschaften getränkten Jahrhunderts in ihrer
Gesellschaftslehre immer von Naturgesetzen. Abgesehen also
von der Art, wie wir diese „Gesetze" erkennen und von
der Überzeugung, daß der „ordre naturel" und der „ordre
de la nature" zwei verschiedene Welten bilden, haben sie
den formalen Begriff des Gesetzes auf die soziale Ordnung
übertragen, ohne daran Anstoß zu nehmen, daß das Gesetz-
mäßige sich hier bei ihnen auf das Gewünschte, nicht auf
das Seiende bezieht. Diese Übertragung war um so nahe-
liegender, als die Vorstellung des Gesetzmäßigen haupt-
sächlich auf dem Boden der Mechanik ihre herrschende Be-
deutung gewonnen hat, so daß unter dem Naturnotwendigen
nicht die kausale, sondern die mathematische Notwendigkeit
verstanden wurde. Daher liegt auch die Beweiskraft der
^ S. A. Oncken, Geschichte . . ., S. 390.
VIS
37
I
Physiokraten im Kalkül, und ihre „Notwendigkeit"
sie seibat überall die „geometrische ^
So haben die Physiokraten einerseits die Bedeutung
und das Wesen des sozialen Ideals verstanden, anderer-
seits es aber naeh der Formel des Naturgesetzes erfüllt sehen
wollen. Daher haben sie auch keine Ausnahmen in der
zu konstruierenden Wirklichkeit und folglich keinen Gegen-
satz zwischen allgemeinen und individuellen Interessen zu-
lassen können. In dieser Forderung einer sozialen Lücken-
losigkeit lagen schon die Keime einer Knechtung des Indi-
viduums verborgen.
Neben dem Zeitgeist mag aber auch das besondere Be-
Btreben, das Neue in ihrer Doktrin hervorzuheben, maß-
gebend gewesen sein , wenn sie vom Naturgesetz in der
Lehre von der Gesellschaft sprechen. Denn hieß es früher
die Menschen sollen nach den Kegeln der abstrakten Moral
handeln, so blieb doch die Erfüllung dieser Hegeln den
Meisten tatsächlich versagt; jetzt soll aber den ethischen
Maximen in der menschlichen Tätigkeit ein fester Boden
gegeben werden, sie sollen in eine vom jeweiligen Willen
unabhängige Motivenreihe hineingezogen werden und als
konstant wirkender Beweggrund in gleichen Fällen bei
gleichen Voraussetzungen die gleichen Folgen hervorrufen —
mit derselben mathematischen Notwendigkeit, wie es in
der Natur vorgeht. Dieser feste Boden sind die natürlichen
Triebe des Menschen, sein Streben zur .Selbsterhaltung.
Steht also das Naturgesetz in seiner außerzeitlich an
Abstraktheit im Mittelpunkt der methodischen Prinzipien
des Phyaiokratismus, so wird damit dennoch nichts an der An-
nahme geändert, daß der „ordre naturel" und seine Gesetze
etwas von der naturnotwendigen Ordnung ganz Ver-
«chiedenes ist.
, Den eigentlichen Gegenstand der Lehre von der Ge-
lUscbaft soll aber nur der „ordre immuable" bilden. Da-
it liegt die Erklärung für die Methode, der die Physio-
Juesn«)-. p. 645, § (*
38 VIS
kraten folgten, klar auf der Hand. Der Physiokrat Dupont,
dem manchmal das für den modernen Beurteiler so ver-
führerische Wort von einer „exakten'' Wissenschaft ent-
schlüpft, hat diesen Standpunkt der Schule unzweideutig
hervorgehoben.
In kritischen Bemerkungen über eine Rede Beccaria's*
tritt er dessen Behauptungen entgegen, dafi man auch in
den Sciences morales et politiques nicht von allgemeinen
Wahrheiten, sondern von den „värit^ particuliöres'' ausgehen
müsse. Wer so denkt, meint Dupont, der glaubt in diesen
Wissenschaften ein nur für Botanik, Physik und Chemie
taugliches, ja ausschliefilich notwendiges Verfahren an-
wenden zu können. Das ist aber falsch, denn die volle
Wahrheit bei der Erkenntnis der äußeren Natur ist dem
Menschen, wegen der Beschränktheit seines Geistes und
seiner Sinnesorgane und wegen der Unermefilichkeit des
zu erkennenden Gebiets, für immer versagt. Daher
können die „physiciens"^ die Natur nur hier und da in
Bruchstücken erfassen („Obligos de prendre par les rampeaux
quelques portions de connaissances""), ohne imstande zu
sein je die wahre nur der Gottheit erschlossene Ursache
zu ergründen. Anders aber verhält es sich mit den Wissen-
schaften der Ethik und der Politik, weil ihre Regeln uns
betreffen, nicht die äußeren Vorgänge „qui n'ont aucun
rapport ä nous", weil sie von der Vorsehung für uns
„sous nos yeux et dans nos coeurs'' als Regeln unseres
Handelns bestimmt und daher mit voller Einsicht von uns
erfaßbar sind : so ist es mit der Idee des Rechts, der Pflicht,
der Gerechtigkeit, des gegenseitigen Interesses usw. Hier
haben wir also die Prinzipien, von denen wir ausgehen
müssen, vor uns, ohne sie erst auf Grund einzelner Tat-
sachen aufstellen zu müssen.
So gesehen wird es klar, daß für die Physiokraten
die Gesellschaftslehre nicht eine Lehre von den Er-
« Ephem^rides du citoyen, 1769, Heft V, pp. 63- 66, Note.
schemuDgen des aozinlen Lebens ist, wie sie sich natur-
I notwendig entwickeln; sondern sie ist ihnen eine Lehre von
der Einmischung der vernünftigen menschlichen Tat in die
I Gestaltiing der Gesellsehnft, wie sie nach den Forderungen
■ Vernunft werden soll. Die physiokratiache Gesetl-
ecbafts- und Staatslehre läuft somit auf die ökonomische
und rechtlich-politische Konstruktion eines Idealstaates hinaus.
Daher hat sich Quesnay direkt die Aufgiibc gestellt, nur
den bestmöglichen (einen „archiä-type des gouvernements",
wie es bei ihm an einer Stelle hei0t), nicht den wirklichen
Staat zu schildern '<*. ^Die Theorie hat sich nur mit dem
Besten zu beschäftigen", sagt mit ihm sein großer Schüler
Turgot " und wiederholt es bei jeder Gelegenheit. —
Der bisherige Erfolg der naturwissenschaftlichen Methode,
heißt es bei Dupont au der schon angeführten Stelle, sei
nur durch den Schutz zu erklären, den sie bei den Macht-
habenden in der bestehenden Ordnung gefunden hat: diesen
war ea bequem die Völker in Ungewißheit über ihre Rechte
und Pflichten verharren zu lassen, um den „despotisme
arbitraire", der ja gegeben ist, den wir Überall wahrnehmen,
in seinem Bestände zu rechtfertigen ".
Wohl sei BS notwendig und wichtig, ergänzt Mirabeau
Beine GesinnungagenoBsen'", auch über die bestehenden
Staaten zu belehren, doch soll man sich weder mit dieser Auf-
I ^abe allein begnügen, noch diese Aufgabe gar mit der Lehre
1 „ordre naturel" vermengen. Das aber sei der Fehler des
■ „genialen" Montesquieu gewesen, der im Geiste der Ge-
e den Geist der Gesetzgebung zu finden geglaubt bat,
t ohne einzusehen, daß „l'esprit des lois ou l'esprit de la
1» que»ui<y. 1». -Mi.
" Tiireot, tl, p. ^iK\i ähnlich Le-Meraier, p. 117; «iich Bsadeau,
i IntrcHlnctioii n la jihilusophle economiqae in der Daire 'scheu Aus^Hbe der
I PhTBJokritten, Ud. 11 (im folgonden kurz — B&udena — litiert), pp 691
^ " ■ I 1, G92.
■■ . hnlicb Turgot in einem Briefe an M-elle de l'GspinSHs«, Oourren
.. BOl.
■■ Mirabeau, Lettrea nur U ligislaüon Bd. II, pp. tiSh'i.
40 VIS
lägislation ne sont pas la m§me chose''. Man muß aber
stets der Verschiedenheit dieser beiden Aufgaben eingedenk
sein. „Nos deux objets", sagt Mirabeau weiter sich gegen
Montesquieu wendend, „n'ont rien de commun; le g6nie
et r^rudition ätaient ses guides et Tordre naturel est
le mien".
Drittes Kapitel.
Die am Schluß des vorigen Kapitels angeführten
ÄuöeruiJgen Mirabeau's legen uns die Aufgabe der „neuen
Wiflaensehaft", wie aie sich die Physiokraten aeibst (lachten,
klar vor Augen. Methodisch haben wir ea hier mit einer
uralten, aber ewig sich verjüngenden und dem Geiste der
Aufklärung so sehr entsprechenden Form des politischen
Raisonneinents zu tun: nicht die verwerfliche Wirklichkeit,
sondern die vollkommene soziale Ordnung, den Idealstaat,
soll die Wissenschaft schildern. Das Neue aber, was hinzu-
kommt, ist der Versuch, die Konstruktion nicht aus der
Luft zu greifen, sondern sie ans den zu einem System zu-
sammengefaßten notwendigen Bedingungen abzuleiten, von
denen die im gesellschaftlichen Zustande lebenden Menschen
in ihrem Streben zur Selbsterhaltung abhängig sind. So wird
von den Physiokraten der Staat, wie er sein soll, auf der
Grundlage der Tatsachen des sozialen Lebens aufgebaut,
die vor- und außerstaatlicher Natur sind, insofern sie zur
Staatenbildung führen oder neben dem Staate von setbst-
stSndiger Bedeutung und Wirksamkeit bleiben. Auf diese
Weise wird es notwendig, in der physiok rat! sehen Doktrin
diejenigen Ideen besonders auszuscheiden, die sich nicht
das Seinsollende, sondern auf die soziale Wirklichkeit
[ In ihrem Sein und Werden beziehen.
Die erste und wichtigste Tatsache, die an der Spitse
■■ physiokratischen Systems steht, ist die des geselligen
42 VI 3
Zusammenlebens der Menschen, die Tatsache der Oesell-
Schaft. — Dieser Gedanke, den Quesnay schon im vierten
Kapitel seiner Abhandlung über das Naturrecht andeutet,
wird nachher von seinen Schülern besonders scharf hervor-
gehoben. Die Gesellschaft ist ihnen eine „physische" Not-
wendigkeit, der eigentliche „natürliche Zustand" des
Menschen \ Le-Trosne betont dies direkt im Gegensatz eq
der Theorie, die den Ursprung des sozialen Daseins in
einem Gesellschaftsvertrage erblickt^. Der junge Graf
Mirabeau rühmt in einer polemischen Wendung gegen
Rousseau's Contrat social diese Lehre „des klaren und
methodischen Entdeckers (auteur) der wahren Grundlagen
des Naturrechts" ®. Und wirklich ist in der ganzen physio-
kratischen Literatur nur an einer Stelle, in einem unter-
geordneten Artikel Baudeau's in den Ephemeriden vom
Jahre 1768*, vom „pacte social" die Rede.
Die Gesellschaft ist also keine freie Schöpfung, sondern
* Le-Mercier, eh. I und Anfang des eh. III; Dupout, Physiocratie
ou eonstitution naturelle du gouvemement le plus avantagetix au genre
humain, Reeueil publi6 par Du Pont, Yverdon, 1768 (im folgenden knn
— Physioeratie — zitiert) Bd. III, De Torigine et des progr^ d*Qne
seienee nouvelle, p. 15; Mirabeau hat ähnliche Gedanken schon in seiner
vorphysiokratisehen Periode im Ami des hommes, eh. I, geäußert.
^ „. . . que la soei^^ n'est pas un ^tat de ehoix et de Convention . . .'
„L'^tat de la nature que tant de philosophes opposent continuellement
k r^tat social, est une pure imagination, et une supposition absolument
gratuite, qui ne peut donner aueune Inmi^re, ni conduire k la connaiuance
de Thomme puisqu'elle met k la place de Thomme tel que Dieu Ta (bü,
un etre faetice et id^al". (Le-Trosne pp. 13/14 und Anmerkung.)
^ ComtedeMirabeau, Essai sur le despotisme, 2-i^me ^d., Londret
1776, pp. 86—39. Das war die erste bekannt gewordene, ganz physio-
kratisch gehaltene Schrift des großen Volkstribunen, vgl. A. Stern , Das
Leben Mirabeau s, 1889, Bd. I, SS. 84/5.
* Im VI. Heft des im Texte genannten Jahrganges in der Abhand-
lung „Vrais prineipes du droit naturel". — An einer anderen Stelle
äußert sich jedoch Baudeau gegen den Gesellschaftsvertrag noch schärfer
als die anderen Physiokraten, indem er sagt: „Nous aimons k croire que'
l'homme est le fruit de la soci^t^ qui pr^c^a sa naissance . . . Cette
phrase banale si souvent r^p^t^c par la tourbe de nos ^erivains „quand
les hommes se r^unissent en soci^t^s*^ n'exprime qu^lne chim^re absurde,
tout mortcl de uotre esp^ee ^tant n4 dans une soci^te dont il etait l*ef fet
et non la cause.^ S. Baudeau, Nouveaux Clements du commerce,
Discours pr^liminaire zu Bd. 78 der Encyclop^die m^thodique, pp. VII
und XII.
eine auf notwendigen , pliysiauhen " Voraussetzungen be-
ruhende natürliche Ordnung des menschlichen Daseins.
Die Phyaiokraten begniigen sich im allgemeiuen mit
dem Hinweiö auf die Notwendigkeil des geselligen Zusammen-
lebens, die in der Natur des Menschen und seinen Lebens-
bedingungen begründet ist, ohne näher auf die hier in Be-
tracht kommenden psychischen Voraussetzungen einzugehen,
wie das vor und nach ihnen in den meisten Theorien der
Fall ist. — Le-Mercier, der im ersten Kapitel seines großen
Werkes den Versuch einer psychologischen Erklärung unter-
nommen hat, beschrankt sich nicht auf die Betonung einer
bestimmten psychischen Eigenschaft; ftir die Erklärung des
sozialen Daseins sind ihm die emotionnelle Seite der mensch-
lichen Natur und die Vernunft, rein „natürliche" Beweg-
gründe „dans l'ordre phyaique" und ideale Zwecke „dans
['ordre m^ta phyaique" gleichbedeutend. Man könnte daher
im Sinne der Physiokratcn die psychischen Motive mir all-
gemein aU das Streben zur Selbsterhaltung auffassen, das
psychisch von der ganzen Fülle des menschlichen Seelen-
lebens bedingt ist. Diese atigemein gehaltene Erklärung
hat oft die Schüler Quesnay's veranlaßt, die psychischen
Beweggründe des gesellBchaftlicben Zustandes in der bloßen
Vorstellung vom persönlichen Interesse zusammenschrumpfen
zu lassen, wogegen sie aber an anderen Stellen durch den
Hinweis auf die selbstlose Seite der menschlichen Natur
selbst Einspruch erheben''.
Diese Lehre von der Oeaellschaft als einer dem mensch-
lichen Willen entzogenen Daeeinsbildung , knüpft an die
' Altere, den Gesellschaft »vertrag bekämpfende französische
^ Dics^ beldun Beliaiiptim^ii ßadeu wir besundera olt bti Mirabeau;
Tgl. ilbar das Gute in der meoschlithen Nntur in der Philosophie rurale,
I7K8, l, III, p. 14; ähnlich in den hettra» mr 1« l^alstion, Bd. I.
ATertiBiemunl. — Ini nllgemeincD wird sbcr ron den Pliysiokreten die
tute Beile der men^chlirheu Natur Dur bei der bekünipliiijf der Vertra^-
Jienri« lierror^hobeu. dn diese Theorie von der Annahme ausgeht, daB
I die Menschen den „pacle Kodfti" erhtießen, am ihreii „ natu r liehen'
I FeiDdielittkeiten nnd (^treilJKkeiten ein Ende kq mochen: ». besonders
I Baudeau'i NouTeanx £lämenta d
44
Literatur an, etwa an F^nelon und Bossuet*. Zweifa
log haben auch bei Quesuay metaphysisch-religiöse Motiv«
insoweit mitgewirkt, als er die Gesellschaft als eine gott-
gewollte, der menschlichen Willkür entrückte Institution
auffaßte. Die göttliche Sanktion bezog sich aber bei ihm
auf die Gesellschaft nur als Naturerscheinung im Gefilge
des Weltgauzen, nicht auf irgend eine bestehende staatlich
organisierte Form der Sozietät. Wenn die Pbysiokratäii
aber von einer „Theokratie" sprechen^, so verstehen sie
darunter den „ordre naturel" als ein Ideal, welches fem ist
von jeder Wirklichkeit und dessen vollständiger praktischen
Undurchführbarkeit sie eich wohl bewußt sind'*; dagegen
war das Bestreben ihrer Vorganger ausgesprochen auf die
Rechtfertigung des französischen Königtums gerichtet.
Auch die Ähnlichkeit zwischen dieser physiokrattscboj
Lehre und der späteren katholischen Staatstheorie ist noi
eine scheinbare, weil für diese die göttliebe Sanktion dem
historisch Gewordenen galt, wodurch das Bestehen einer un-
erschütterlichen und greifbaren Autorität über den einzelnoBn
gerechtfertigt werden sollte. Eine ähnliche Autorität i
Gegensata zur „Anarchie der Meinungen" haben aucb (
Physiokraten gesucht; nur sollte sie nicht außerhalb dw"
Menschen, sondern in ihm, ebenfalls in einer „Meinung",
die sich aber zur „Evidenz" erhoben hat, gefunden werden:
denn das gesellschaftliche Dasein wird nicht nur durch das
Naturnotwendige " , sondern auch durch den freien menacb-
lichen Willen bewirkt, der sowohl die „Depravation" wie den
di«^^
dem
nn-
t is^M
idiM
* V^l. Oierke, Joliannes Altosiua. S. 82, Anm. 22, S. 100, Anm. OB
' QueRnny, ]>. 642: handeau, 799. V
• Darüber Bandeaii, p. 792i Le-Trosne, p. 265. ■
' Der charKkleriüCiiiclie Zug der kathnlischen StnatHlehre. der ikr
das realiatisoh-liistaTiHtiscbe Oepräge verleibt, ist siien die IdentifiEi«ran|{
de« Gotteowillens mit der rohen, den menaublichen Willen brei^hendca
„gBKetini&liigfjt" Natiimotwendi^keit; nie kannten in Gott keinen Unter-
tdiied, wie Halebranohe es tit, twisohen den ,.däcreta divini'' oder der „puii
sance de Dien" (dem „Nstii notwendigen") einerBeita und der „Tolonti d
Diou" (dem frei vom Mensohen eu verwirklichenden „ordre immiuibW
Aadererseita.
VI 3
45
I
„ordre naturel" herbeiführen kann. Darin äußert sicli der
individualtstisch-aufklareriBche Zug des Physiokratismue im
Gegensatz zur späteren legitimistischen Staatstheorie. Es ist
daher schwer, einen Zu.*ammenhang zwischen den Lehren
des Physiokratisinus und des späteren Legitismus zu
finden, weil sie aul' Verschiedenee gerichtet sind und in
entgegengesetzten Weltanschauungen wurzeln : jene in der
Aufklärung, diese in der Romantik '",
Gehen wir nun den grundlegenden Ideen der Physio-
kraten weiter nach, so ist an dieser Stelle noch einmal
hervorzuheben, daß sie in ihrer Gesellachaftslehre den Ge-
danken der Notwendigkeit mit demjenigen der freien mensch-
lichen Handlung in eine Einheit zu bringen wußten. Den
Schwerpunkt der zwingenden Ursache bei der Erklärung
des sozialen Daseins haben sie aus dem güttlichen Willen,
wie es sonst die den Sozialvertrag verwerfenden Theorien
taten, oder aus einem unbewußten sozialen Trieb in die
auf den Menschen einwirkende äußere Natur, in die Be-
dingungen und Mittel der Herstellung materieller Güter
verlegt. Im Prinzip hat das schon eigentlich Montesquieu
getan , nur haben es die Physiokraten auf Grund ihrer
nationalökonom lachen Theorie versucht — um mit Baudeau
zu sprechen — „d'expliquer par l'ordre physique, comment
fl'opere lo bien commun de tous". Dadurch haben sie die
Möglichkeit gewonnen, den Grundstein zu einer wissenschaft-
lichen Gesell Schafts lehre zu legen und, wie Karl MarxQuesnay
nachrühmte, „materielle" Gesetze der Gesellschaft, die „von
Willen, Politik usw. unabhängig sind" , aufzustellen ".
I Diese Äußerung Marxens entspricht aber nicht ganz dem
"^ Diesen ZuBitmmeDhaii|; liat indessea Henry Michol a. a. O. p. 20
EU Gilden (^egUnbl. — DA^eeen ist intorexsAnt ku sehen, diiB äe Bonftld
(Ebsm/ Bnn1;li<|Ue aiir les loin nsturelJes de l'ordre socIaI, Oeavreii,
Bd- 1, p. 'iÖHIl) dum (iliiloRophisulien hebier der Pbyaiokrateii Malebrauche
den Vorwurf matüit, daft er eine von Gott BHnktionierle GeaetEmiBigkeit
nur in der phjaiachvn und in der ilbernatürUi^en W«lt — dem „ordre
imnua.lile'' — , nickt aber in der hiitoriscb ^nardenen Oesellschaft feHl-
genellt hal.
■< K. Uarx, a. ». U. S. U.
46 VIS
Sinn des physiokratischen Systems, weil sie die Vorstellung
hervorruft, als ob in der Organisation der Gesellschaft der
menschliche Wille bedeutungslos wäre. Das war aber nicht
die Anschauung der Physiokrateh ; denn für sie war wohl
der Mensch ganz von „physischen" Voraussetzungen ab-
hängig, seine Vernunft wurde aber dadurch keinesfalls ge-
bunden oder in ihrer realen Bedeutung beeinträchtigt. Denn
die Vernunft ist es, welche es dem Menschen möglich
macht, im Rahmen der Notwendigkeit sich zu orientieren *',
das „Physische" bewertend, ordnend, ja sogar in das Zu-
sammenwirken der natürlichen Erscheinungen gebieterisch
eingreifend.
Die Vereinigung dieser beiden Gedanken, die sich
scheinbar bekämpfen, und der Versuch, darauf ein neues
systematisches Gebäude zu errichten, bildet die Eigenart des
Physiokratismus und bedingt seine eigentümliche Stellung
in den naturrechtlichen Gesellschaftstheorien. Aber angesichts
dieses scheinbaren Widerspruchs zwischen der Determiniert-
heit des sozialen Lebens und der alles beherrschenden Ver-
nunft, ist die literarische Beurteilung der Physiokratie
verschieden ausgefallen, je nachdem man auf die eine oder
die andere Seite die Aufmerksamkeit gelenkt hat.
So haben die einen betont, daß die Physiokraten gegen
den Sozialvertrag waren und die Gesellschaft aus ihrer
„physischen" Notwendigkeit erklärt haben, die anderen,
unter ihnen Oncken und Hasbach, sprechen unumwunden
vom Sozialvertrage bei den Physiokraten, ohne überhaupt
näher auf diese Frage einzugehen. Hasbach scheint bei der
Analyse des Le-Mercier'schen Werkes doch daran Anstofi
zu nehmen und macht schließlich diesem Physiokraten den
Vorwurf des Widerspruchs und der inneren Inkonsequenz ^^
^* „Se conduire avec sagesse, autant que le lui permet Tordre des
lois ))hy8iques qui constituent rimivers", Quesnay, p. 370.
^^ Hasbach, S. 60; ähnlich Espinas, Histoire des doctrines
^conomiqueSf p. 217. — Hasbuch sieht in den Ausführungen Le^MercierV
ein Salto - mortale , weil er dessen Grundidee durchaus auf Lockens
Lehre vom Staatsvertrag zurückfuhren will. Indessen muß dieses Unter-
VI 3.
47
t
Indessen läßt sii-h dieser Vorwurf vermeiden, wenn man
den phyiiiokratischen Gedanken so auffaßt, daß die Ge-
bundenheit an die äußere Natur in voller Übereinatimniiing
Diit der freien VernunfttÄtigkeit bestehen kann, die in den
Grenzen ihrer Macht die Natur zu überwältigen und unter
ihre Zwecke zu beugen sucht.
Kb darf daher nicht wundernehmen, wenn wir nun
behaupten , daß diejenigen Publizisten , die Montesquieu
immer vorgeworfen haben, daß er das Wesen der staat-
lichen Ordnung auf die Einwirkung der äußeren Natur,
wie Klima, geographische Lage usw. zurückfiihren wollte ",
selbst die Determiniertheit der menschliehen Gesellschaft
scharf betont haben. Der Unterschied bestand aber darin,
daß Montesquieu nach der Auffassung der Phyaiokrateo
auch die Prinzipien der vernünftigen Organisation des ge-
sellschaftlichen Lebens von den Bedingungen abhängig
machen wollte, die sie nur fllr den Unterbau des Staates,
fUr die „physische" Basis der Gesellschaft gelten ließen'".
Die wichtige Konsequenz, die sich aus alledem er-
gibt, ist. daß wir es bei den Physiokrateti mit einer deut-
lich hervortretenden Unterscheidung von Staat und Gesell-
Mhmeu miBlingen, weil bei Locke das Indiriiluiini staatai^Tideiid ist
{vgl. JcllUek, Allgomeine (ttaatslehre , 1. Aufl., BS. ISö.T), bei
Le-Mercier iagegen, wie bei allen Plij-Bio c raten , i«t es, wie wir iiuch
Mben werden, nur ein rational istiBchea Prinzip.
'* QneaDsj, p. 578; Dupout, Physiocralie, Bd. III, p. T/S.
" In vüllem MnBe liBt sich dies aach kuf Tnr^ot beaieben, der
in Beinen berdhmlen Jugendscbriften , anter dem EiiiSuH Monteaqaieu's,
die Bedeutung des Klimas nnd der geographiHclien La|i^ für di« t^taalen-
bildnoRen hetont (Oeuvres. II, p. 611 et sniv. und an vielen nnderen
BMllen). Er hebt dabei aber auch den anderen ätaudpunkt hervor, und
awar ausdrQoklich ge^u Montesquieu |pp, 646/7), wenn er HHgt, daS so-
bald ea unx auf das bewußt organisierie soziale Leben ankommt, wir
dann den Uripning in den leitenden PrtnEtpieii der organiiatorischen
TStii;keit — in der Vernunft, in den „caugex morales" — »uclien
inOasen. Erst wenn diese Quelle emi'hBpft ist. wenn wir Eur O renne des
Bereiches des dem Menschen offen stehenden freien Tittigkeittgebietes an-
gelangt sind, dtinn i^t es erlaubt auf die natürlichen Ursachen au
kommen. Also aucib nach Turgut, wie hei den nudereu Ptysiokratea,
ist im gesellschaftlichen Lebeu das frei Erworbene und frei KoDftruierte
von dem tatsäoLlieb Gegebenen und Naturnot wendigen ta n
48 VIS
Schaft zu tun haben . Diese ist eine in allen Stücken von
der Natur abhängige „physische" Erscheinung , jener da-
gegen eine bewußt vollzogene, vernünftige und vereinheit-
lichende Organisation der ausgereiften sozialen Beziehungen
auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung.
Diese staatliche Organisation soll sich nach Prinzipien
vollziehen, die als allgemeingültige, aufierzeitliche und un-
veränderliche Maximen des Handelns freier Wesen in ihrem
gesellschaftlichen Leben gelten müssen. Die staatliche
Ordnung, die auf diesen Prinzipien aufgebaut ist, bildet
das für alle Zeiten und alle Länder gültige Vorbild eines
„ordre naturel et essentiel des hommes räunis en soci^t^'^.
Das ist der eine rein naturrechtliche Standpunkt der
Physiokratie in ihrer Auffassung der Gesellschaft.
Daneben wird aber von den Physiokraten der zweite
an dieser Stelle uns speziell interessierende Standpunkt ver-
treten, von dem aus die sozialen Beziehungen in ihrem Sein und
Werden einer Betrachtung unterzogen werden sollen. Hier
wird das Veränderliche, vom Menschen Unabhängige, nach
den Gesetzen der Natur sich Vollziehende zum Gegenstand
der Erörterung gemacht. Das ist das „Relative" bei Ques-
nay", das ist die Veränderlichkeit „selon les lieux et les
circonstances" , die auch seine Schüler trotz der Angaben
der Gegner hervorgehoben haben ^'.
^^ Vgl. darüber Oncken, Zur Biographie des Stifters der Physio-
kratie , in Kuno Frankensteins Vierteljahresschrift für Staats- und
Volkswirtschaft, 1895, S. 154.
^"^ Diesen Vorwurf hat den Physiokraten Rousseau in einem Briefe
an Mirabeau gemacht; vgl. A. Oncken in der oben (Anmerkung 16) g^
nannten Zeitschrift, Jahrg. 1896. S. 277. Dagegen ließen sich aber
manche Stellen aus den physiokratischen Schriften anfuhren, die die Not-
wendigkeit der Anpassung „selon les lieux, les temps et les circonstances**
betonen. So Baudeau in seiner Hauptschrift, p. 688 und in den Epheme-
riden, 1767, Heft I, p. 5/6, Heft II, p. 93. Ähnlich Mirabeau über die
Variabilität der „lois constitutives** eines Staates nach der Beschaffenheit
des Klimas und des Bodens, Lettre» sur la l^gislation, II, p. 688. —
Baudeau bezeichnet an einer der angeführten Stellen (in den Ephemeriden
1767, II) den Inbegriff der relativen Kegel für einen gegebenen Staat
als den „ordre national de chaque empire*^ im Unterschiede vom „ordre
social '^ im allgemeinen.
VIE
49
I
I
Hier stehen wiederum Turgot und die anderen Physio-'
kraten auf ein und demselben Boden, und daher wird der
Versuch sie scharf gegenüberzustellen , weil Turgot in
seinen Jugendschriften den Entwicklungsgedanken ver-
treten hat, nicht ganz der wahren Sachlage gerecht.
Der Vorwurf der prinzipiellen Einseitigkeit gegen die
Physiokraten tat ebensowenig berechtigt, wie derjenige, der
gegen Turgot gerichtet worden ist, daß er allmählich seinen
Jugendgedanken untreu geworden sei, um schließlich in
einen engherzigen Dogmatismus zu verfallen.
Das Mißverständnis beruht darauf, daß raan sowohl hei
Turgot, als bei den übrigen Physiokraten entweder den
einen oder den anderen der von ihnen vertretenen Gesichts-
punkte in der Gesellschaftslehre außer acht läßt. Bei den
Physiokraten wird vergessen, daß sie neben dem Unver-
änderlichen, ewig sich gleich bleibenden „ordre naturel"
auch das Veränderliche, von der Natur im steten Wechsel
Gegebene, das sich Entwickelnde, wie wir gleich sehen
werden, hervorgehoben haben'*. Turgot wiederum wird es
als Widerspruch angerechnet, wenn er neben seiner
Evolutionstheorie hartnäckig an dem Gedanken festhält,
daß die Wahrheit unabhängig bleibt von ihrem Entstehen
im menschlichen Geiste, unabhängig von all den Stadien,
die der Geist durchzumachen hat. um zu ihr zu gelangen.
II.
Den Enlwicklungsgedanken im Zusammenhang mit der
Perfektibilitätaidee hat, wie schon erwähni, zuerst Turgot
als befruchtenden Samen auf den Boden der französischen
Philosophie gestreut. Von ihrem mehr positivistisch ge-
färbten Standpunkt aus (im Gegensatz zum naturrechtlichen)
wußten die Physiokraten diesen Gedanken nicht nur anzu-
erkennen, sondern auch in dem systematischen Aufbau ihrer
liChre zu verwerten.
"* In hexug aar Quesosy wird dji* von Oncken in vollem MnBc nn-
Kukannti da er durauf nein ganxe« ijyatein der Dartitt>llnBg bnal, iiidem
r flbersll den „ordre naturel" vom „ordre positif unterncheidet.
StiioK- 11. v.iIkDirechtL. Abhudl. VI 3. — GfliKiber«. 4
50 VI 3
Die Entwicklungsidee äußert sich in der physio-
kratischen Schule in der Lehre vom allmählichen Entstehen
der Bedingungen, die die Verwirklichung der „natürlichen
Ordnung" in den „ötats policös" ermöglichen, dann in der
Lehre von den Entwicklungsformen der staatlichen Oi^ni-
sation und schließlich in dem allgemeinen Glauben an den
Fortschritt des menschlichen Geistes.
Was diesen letzten Punkt anbetrifft, so ist er schon in
der sokratischen Lehre Quesnay's von dem Zusammenhang
der Erkenntnis und der Tugend enthalten. E^ ist ja ein
Grundgedanke der ganzen Doktrin — und zwar im rein
Quesnay 'sehen Sinne — , daß die Erkenntnis zur Tugend
und Glückseligkeit führt, und daß die wahre Einsicht nach
Überwindung der im Laufe der Geschichte begangenen
Irrtümer zum Wohle der Menschheit schließlich doch ein-
treten wird. Die Menschheit entwickelt sich also in der
Richtung immer besser werdender Daseinsbedingungen, je
weiter die fortschreitende vernünftige Erkenntnis gelangt
Mit Recht nennt daher auch Espinas die Physiokraten die
Schule der Progressisten ^®. Der Unterschied von Turgot
besteht hier nur darin, daß die Physiokraten den Fortschritt
mehr in der Zukunft betonen, während Turgot auch in der
Vergangenheit den allmählichen Progreß konstatieren wollte,
um darin die Bürgschaft für das Kommende zu erblicken.
Doch liat auch Mirabeau, trotz seines Sträubens gegen
den allzu „philosophischen" Turgot, auch diesen Gedanken
von ihm übernommen, indem er vom „principe präpara-
toire" spricht, das auch den Erscheinungen der Depravation
eigentümlich ist. Das ist derselbe Gedankengang, den wir
in Turgot's „ Disco urs sur l'histoire universelle" finden, nur
weist die Mirabeau'sche Formulierung („il n'est point de mal
qui n'ait son bien ä port^e") auf die innere Verwandtschaft mit
Quesnay's Lehre von der „hygiene de la nature" deutlich hin**^
^^ E s p i n a s , La philosophie sociale du 18-i6me si^le et la r^volution,
p. 94.
^^ Turgot, II, 682 et suiv. , Mirabeau, Lettres sur la l^g^slation,
Bd. I, Avertissement und pp. 125 6; Quesnay, p. 868.
VI 3
51
Überlassen wir nun die Lehre von den Entwicklunga-
formen der staatlichen Organiaation dem später Folgenden,
und wenden wir uns dem ersten der oben erwähnten
Punkte — über die Entwicklung der sozialen Bedingungen,
die zum Staate ftthren — zu.
Es ist hier vor allen Dingen zu bemerken, daß wir
diese Lehre fast in allen pliysiokratischen Schriften tinden
können, ausgenommen denen Quesnay'a, bei dem sie nur
flüchtig gestreift wird ^^ Dieser Umstand beeinträchtigt
aber imsore Auffassung wenig, denn auch Quesnay hat —
neben Turgot — Diipont's „Table raiaonn^e des principes de
l'öconomie politique", in der diese Lehre systematisch aus-
geführt wird, gutgeheißen ''.
Zuerst sind die Gedanken, die wir hier darzulegen
baben, in der Gestalt einer Auffassung von der stufenweisen
Entwicklung der menschlichen GeselUchaft in den Jugend-
scbriften Turgofs zu finden". Als Gemeingut aller zur
Physiokratie- sich bekennenden Publizisten sind sie dann
in der eben genannten Schritt Dupont's, an die auch wir
uns halten werden, behandelt worden.
Den Ausgangspunkt bildet die Vorstellung von einem
ungordneten sozialen Dasein der Menschen, vod einem
Nebeneinander Violer („4tat de multitude"), die jedem Blut-
vergießen fremd, in ihren Bedürfnissen und Beziehungen
Äußerst primitiv, friedlich leben, alle von demselben Bestreben
I
*' Quesna; , Am EingRngr des in. Kh|i. der Abbtindluot; Qber dns
NAtnrrecht, dium noch ji. 6-16 § 11.
" Schelle, Dupont de Nemours et l'^cole phyiiocratique, p. 163:
vgl. DaponfB Schreiben an den Markgrafen Karl Friedrich von Baden
in dem von K. Knii» herHusgegebonen IJriefwechsel de» Mark^afen mit
Uirabeaa und DnponI, 1892, Bd. I, S. IM6. (Im folgenden — Briefwechsel
4m Markgrafen Karl Friedrich — citiert)
" Turgot, JI, p. 629—6^1; auch Miraboaa, Pliiloiophie riirale.
Bd. II, p, 17—20. Mastrier — Turgot, sa vie et sa doctrine, p. 410 —
weist daranf hin, daB diese Gedanken dberhaupt luerst von Turgot aui-
ftCHprodien waren-, das ist aber nielit ganz riubtig, denn der vemieiutlicli
originelle Turgot'sche Qedanke int uralt — wir finden ilin solion bei
Ariatgtelaa, vgl. Handwörterbuch der Staats wissonachnfleni Jl. Aoftage, Art.
Aristoteles, Bd. I. ß. 1051.
52 VI
zur Selbsterhaltung geleitet, das durch aufgefundene Bode
fruchte, durch „spontane Erzeugnisse", befriedigt wird. D
war das Stadium „de la recher che des productions v^
tales spontan^es". In dieser kurzen Periode gab es tum
fast keine Ungleichheit; alle Menschen bildeten eil
Klassn; nur die vliterliche Gewalt war das Brzeugn
dieser Periode. Die Familie, „les liens du sang'^y ist al
der Anfang jedes sozialen Zusammenschlusses.
Als der natürliche Ertrag der Erde sich dann allnifthlic
als ungenügend zur Befriedigung der Bedürfnisse erwiese
hatte, da mußten neue Wege gesucht werden , und es h
gann das zweite Stadium in der Entwicklung des soziale
Daseins. Nicht mehr durch Sammlung verschiedem
Pflanzen, sondern durch das Töten anderer lebender Wese
konnten die Menschen jetzt ihr Leben und ihre Gattun
erhalten. Hier entsteht das Verderben im menschliche
Geschlecht, meint Mirabeau'*: mit dem Blutvergießen b<
ginnt die Geschichte der Gewalttaten, die Menschen werde
blutgierig, kampfeslustig, rachsüchtig. Das ist die Jägei
und Fischerperiode. Auch hier gibt es noch keine Klassei
aber die gemeinschaftliche Jagd macht eine obere Leitun
notwendig und so entsteht die Gewalt.
Mit dem dritten Stadium tritt eine Milderung der Sitte
ein: es entsteht die Viehzucht und mit ihr die Hirtei
periode. Gesellschaftlich ist diese Zeit dadurch bemerken«
wert, daß neben der schon früher erfolgten Ausscheidun
gewalthabender einzelner Personen jetzt eine weitei
Difl^erenzierung sich vollzieht: die Eigentümer wirtschaf
lieber Güter — naturgemäß beweglicher Güter — trenne
sich von den Nichteigentümern, die ihre Ernährung vo
den ersteren erhalten; neben der Klasse der „propri^taires
entsteht die Klasse der „salari^s".
Je weiter aber die Menschheit fortschreitet, desi
"^ Mirabeau, Lettres sur la 16g^islation, Bd. I. Avertissemeii
pp. XVI— XIX.
VI 3
53
dürftiger werden die natürlichen Mittel zur Befriedigung
ihrer Bedürfnisse. Hier kommt dem Menachen seine Intelli-
genz, die Möglichkeit durch seine „Kunst" („art") die Natur
zu beherrschen, zu Hilfe, und es beginnt die Behauung der
Scholle. So entsteht die Ackerbau- und Ansäasigkeits-
periode, das letzte und höchste Stadium der Entwicklung.
Hier beginnt die eigentliche Gesellachiift („ötat de so-
ciöt^"). Die menachÜcheo Beziehungen entfalten und ver-
vielfältigen sich. Die Mittel, die zur Selbsterhaltung, zur
Vermehrung und Anhäufung materieller Güter dienen,
können nicht mehr von den nebeneinander stehenden, lose
zusammeiigeechloasenen Einzelnen erreicht werden. Die
Aufgaben müssen geteilt werden, und diese Teilung bedingt
die Struktur der Gesellacliaft. Was Queanay hier im Quer-
schnitt der Geaellachaft darstellt — die Lehre von den drei
Bevölkerungsklassen — , das hat schon Le-Mercier in den
«raten Kapiteln seines Werkes in dem Übergang von der
^soci^t^ universelle" zu den „aoei^tös particuliörea" (a, unten
S, 67) in aeinem Werden geschildert. Noch deutlicher mit
direkter Betonung der Bedeutung der Arbeitsteilung fltr
die gesellschaftliche Differenzierung ist das bei Turgot ge-
Bchehen"'. — Auf dem Boden dieser neuen mit dem
Ackerbau entstehenden Bedingungen bildet sich nun die
„aoci^tö r^guliöre" heraus, der Staat, der „corpa poli-
tique".
Wir sehen also, wie in der Phyaiokratie die Voratellung
von einem vorstaatlichen sozialen Zustand entsteht, die von
der Locke'schen und Hulcheson 'sehen Lehre von der „natür-
lichen Geaellachaft" aich unterscheidet, weil durch den Ent-
wicklungsgedanken neue Perapektiven in die bisherige Be-
handlung dea Gegenstandes hineingetragen werden. Wir
haben es hier mit einer Fülle von Tatsachen zu tun, die
ihrem Bestände und in ihrem Werden unabhängig vom
' Turgot, IMfleiions s
ributioa des richesBas,
54 VI 3
menschlichen Willen sind und erst auf einer bestimmten
Stufe der Entwicklung die Notwendigkeit und die Möglich-
keit des Staates als einer durch freie Bestimmung gelenkten
sozialen Ordnung schaffen.
Betrachten wir nun näher die Struktur der Gesellschaft
in der Periode, wo das soziale Leben sich zum staatlichen
organisiert ^®.
Die Grundtatsache, die hier die Gestaltung der sozialen
Verhältnisse verursacht, ist das Entstehen des Privateigen-
tums auf Grund und Boden. — Die Grundeigentümer als
diejenige Bevölkerungsschicht, die zuerst durch ihre Arbeit
dem Boden seine Erträge abgezwungen hat, stehen der
Natur der Sache gemäß („physiquement", wie es die Physio-
kraten ausdrücken) an der Spitze der Gesellschaf);. Auch nach-
dem die unmittelbare Bearbeitung der Erde auf die „salari^^
übertragen worden war, haben sie wegen der einst ver-
wendeten und in die Scholle hineingelegten Arbeit das Recht
auf das Grundeigentum nicht verloren. Sie bilden nun die
„classe des propri^taires**, deren soziale Bedeutung einer-
seits in der indirekten Erhaltung und Vermehrung der
Fruchtbarkeit des Bodens, andererseits in der Handhabung
der verschiedenen Funktionen der öffentlichen Gewalt be-
steht. Durch diese zweite Seite ihrer sozialen Tätigkeit,
für die sie durch einen Teil der Bodenerträge entschädigt
werden, geraten sie in die Klasse der „salari^s**. Daher be-
zeichnet sie auch Quesnay als die „classe mixte^ ^^.
Die Landbebauer bilden die zweite, die eigentlich pro-
duktive Klasse der Bevölkerung. Innerhalb dieser Klasse
sind aber die kapitalkräftigen Leiter der landwirtschaft-
lichen Unternehmen, die Pächter (fermiers), von den eigent-
lichen Arbeitern — den „salari^s" — zu unterscheiden.
Zur produktiven Klasse im eigentlichen Sinne haben die
Physiokraten nur die erste Kategorie gezählt. Hier tritt
^^ S. hauptsächlich die Analyse du Tableau 6coiiomiqae , Quesnay,
p. 805 et suiv.
»•^ Quesnay, pp. 318, 529.
VI 3 55
die Besonderheit zu Tage, daß die pliysiokratische Snzrallehre
nur die in ihrem Sinne für den „ordre naturel" bedeutsamen
Klassen hervorhebt, ohne den tatsäehlicben Bestand der
Gesellschaft restlos zu erschöpfen. So bleibt fast die Mehr-
heit der Bevölkerung, die landwirtschafthchen und in-
dustriellen Arbeiter, ohne Beaclitung. Nur in dem nn-
gedruckten für die Enzyklopädie bestimmten Artikel
„HomraeB" ^* erwähnt sie Quesnaj unter dem Sammel-
namen „menu peuple" oder „bas peuple". Charakterisiert
werden sie nicht durch ihre produktive Kraft, sondern
durch ihren Verbrauch, durch die Kosten, die sie dem
eigentlich produktiven Leiter eines Unternehmens ver-
schaffen ".
Neben den Eigentümern und den im Ackerbau Be-
schäftigten steht die dritte gesellschaftlich bedeutsame Be-
Tölkerungsschicht, die mit der Nutzbarmachung der Er-
zeugnisse der Erde Ijeschäftigt ist, entweder durch Ver-
teilung der Guter auf dem ganzen Gebiete der menschlichen
Gemeinschaft (traticants) oder durch ihre Umformung (arti-
sans). Auch hier, wie schon erwähnt, sind die Unternehmer
von den eigentlichen Arbeitern in derselben Weise zu
unterscheiden, wie bei den Ackerbautreibenden. Die soziale
Leistung dieser Klasse besteht nicht in ihrer Produktivität,
sondern in ihrer Nützlichkeit^"^'.
Die Gütererzeugung, ihre Verteilung und Erhaltung,
die die eben genannten drei Klassen bewirken, bildet den
eigentlichen Inhalt des sozialen Lebens. Diesen Inhalt in
L winer Vielfältigkeit einem obersten /wecke zuzuwenden,
^ Aoatüge im Uriginal und iu ÜlHirsetxuiig in St. Jiaaen Ab-
' handlung' in CoorailB Jahrbüi'hem , N. F. , Itd. II, Zur Entstehung dei
Fhyriohrfttie.
■* Hirabenu, Philosophie rurale. Bd. I, eh. V. p. 152 et »uir.
'" Itkudcnu, p. ti60; Je le r^p^te . • . gtSril«« pur Opposition Ji
, l'art fäoond, mais iion par Opposition k utilea . . ."
Im Art. „HommeB" spricht Quesuay noch nicht von einer pro-
I und sterilen Kinase, Bondem von direkt und indirekt prodoktiven
__ 8. St. Bauer, a. a. O., 8. 127/20; Mirabenti. Tli^rie de l'impat,
Sm, p. 166.
56 VIS
ist die Aufgabe der staatlichen Organisation. Der Staat
ist also nur ein Mittel^ und neben ihm bleibt das eigentlich
Soziale als das Primäre, als der Inhalt des LebeDs, in seiner
Bedeutsamkeit und Wirksamkeit bestehen. Die speziellen
Aufgaben des Staates, die „besoins politiques'', müssen da-
her stets den sozialen, den „besoins physiques" — in der
Terminologie der Physiokraten — unterstellt sein. Das
Ideal des „ordre natureP ist, daß zwischen diesen beiden
Arten der „besoins", zwischen dem Staatlichen und dem
Sozialen kein Qegensatz bestehe, und so wird, als Konse-
quenz der durchgeführten Scheidung, die Frage nach den
Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft zum Zentral-
punkt der physiokratischen Politik. Doch bevor wir an
diese Frage herantreten, soll uns noch die Rechtslehre der
Physiokraten beschäftigen.
Viertes Kapitel.
Das Recht wird von Queanay als soziale Erscheinung
und als ethischer WertbegrifF einer doppelten Betrachtung
unterzogen. In dem einen Falle Bpricht er und mit ihm sein
Schüler Le-Mereier von der „idöe relative" des Rechts,
im anderen — vom Juate abaolu" im Rechte',
Als soziale Erscheinung bedeutet das Hecht eine
zwischenmenachliche Beziehung (relation), und es ist nur
da zu finden, wo ein Zusammenleben der Menschen vor-
handen ist. Willst du den Menschen als isoliertes Weaen
betrachten, sagt Quesnay, so wirst du auch vergebens den
Unterschied zwischen gerecht und ungerecht suchen*. Da-
her ist es auch unmöglich, eine inhaltlich allgemeingültige
Definition dea Rechtes zu geben, wie das die meisten Philo-
sophen tun, denn es ist den jeweiligen Zuständen der
Menschen entaprechend verschieden. Da aber diese Zu-
stände von den Bedingungen abhängig sind, in die der
Mensi'h von der äußeren Natur gestellt wird, so wird auch
das Recht von vornherein in das Naturnotwendige, vom
menachlichen Willen Unabhängige hineingezogen.
Je komplizierter daa soziale Leben dui-ch die Stellung
' Der im Texte durchgefübrteu Aosicbt von der dopiielten Uehsud-
lung des Hechts bei den Phyninkratea liegen baupbrSchlich dns 1, und
U. Kap. der Q Des uay 'neben Abliaiidluiig über das Naturrecht oud der An-
fang dos II. Kap. in Le-Mercier's groäem Werke lugrunde. Vgl. aueb
Itaudrillart, La philoBD|jhie des Pbjliocrates im Jonrnat des fconomiates,
Bd. 29, p. «.
■ Queinaj'. 364, Note 8, p. »71.
58 VI 3
zur äußeren Natur wird, desto komplizierter und vielseitiger
wird auch das Recht. Das Recht entwickelt sich mit
der Qesellschaft und ist überall, je nach den sozialen Be-
dingungen, verschieden. Das ist ein sich stets wiede^
holender Gedanke bei den Physiokraten. Es ist eine
Illusion , meint Baudeau , zu glauben y dafi es ein einheit-
liches natürliches Recht für „alle Menschen, Air alle Staaten,
für alle Verhältnisse'' gebe^ Daher ist auch in den ersten
Zeiten des menschlichen Zusammenlebens , in den primi-
tiven Zuständen, das Recht primitiv : es entspricht dann voll-
ständig dem Wesen und der „Natur" der einfachen Vei^
hältnisse, die allen gleich klar und verständlich sind.
Zwischen dem Natürlichen und dem Gerechten herrscht
auf diesen ersten Stufen der Entwicklung volle Harmonie.
Zwischen dem Rechte und der Wirklichkeit besteht noch
kein Konflikt, so wenig wie zwischen dem persönlichen
Interesse und dem Interesse des Ganzen. Das primitive
natürliche Recht ergibt sich aus den primitiven natürlichen
Beziehungen *,
Aber mit der Entwicklung der Lebensverhältnisse er-
weitert und entfaltet sich das natürliche Recht , und im
Einzelbewußtsein wird dann sein letzter Zweck durch das
Vorwalten der Triebe und durch das egoistisch- persönliche
Interesse verdunkelt. Dann entsteht die Notwendigkeit,
daß die Menschen sich über ihr natürliches Recht ver-
ständigen. So beginnen die „Conventions" — das eigentlich
positive Recht — , die ihrem Sinne* nach eine allgemein-
gültige Formulierung der vernunftsgemäß entwirrten natür-
lichen Rechtsverhältnisse bedeuten. Daher ist auch das
positive Recht kein neugeschaffenes Recht, denn seine Auf-
gabe ist nur eine „deklaratorische" in bezug auf das natür-
liche Recht*. —
Gehen wir nun zur Betrachtung des Rechts nach seinem
« EphÄm^rides du citoyen, 1768, Heft VI, p. 188 9.
* Le-Mercier, p. 121.
^ Quesnay, p. 648.
I V13
59
jrfinderlichen und , absoluten"' Wesen über, ao ist zu-
vörderst festzustellen, daß das Eingeliea auf diese Frage
durcliaiis nicht mit der tatsächlichen Veränderlichkeit des
Rechts im Widerspruch steht, denn das absolut Gerechte
verwirklicht sich im Relativen , in zwischenmenschlichen
Beziehungen, die immer wechseln". So kann sich der In-
halt des Rechts verändern, ohne dadurch etwas an seiner
Bedeutung einzubüßen, gerade so wie ein und dieselbe
Materie verschiedene einander aiiBschtießende Formen, an-
nehmen kann'.
Dieses Wesen des Rechts erschließE sich uns nicht auf
empirischem Wege, sondern durch die Einsicht der Ver-
nunft, daher gipfelt auch von diesem Standpunkte aus die
Definition des Rechts als des Gerechten in den Worten —
„regle naturelle et souveraine reconnue par les lumiöres de
la raison".
Die Vernunft deckt uns unsere Pflichten Gott und deu
Mitmenschen gegenüber auf: die Pflicht der Selbe terhaltung,
der ein natürlicher „unersättlicher" Trieb entspricht, und
die Pflicht, den Mitmenschen in ihrer Erfüllung der gleichen
Aufgabe nicht zu schaden. Auf diesen Pflichten und den
aus ihnen folgenden Rechten mit allen daraus für die je-
weiligen Zustände sich ergebenden Konsequenzen beruht
der zu erstrebende „ordre naturel" ; durch das Bewußtsein
dieser Pflichten wird der soziale Zustand in die ethische
Welt hinübergeleitet und gestaltet sich zum „ordre de la
justice" im Unterschied vom , ordre de la nature": denn
ist auch der letztere ein Kampf um die Daseinsmittel und die
Daseinsbediogungen , so steckt darin noch kein Recht^.
' „hv tenae d'abi>olii n'cnt point ici (^mpto;^ pur D|>|)oiiitioD rd
'; CHT ce n'est qua Jan» le relstif que le Juate et rinjuil« pouvent
lieai miis ce <|ui , rigourfeiuemeDt parlant, a'est qu'un ju*te relatif
i«jit FependsDt un jiiate absolu par rApport A U aicBisili abHoIue oh
de vivte ta aoeiiti." L6-M*rciar p. 11.
ine verit^ «D eiclut nne aittre daoB on meme etre krequ'il
cluuii^ d'AlJit, comme nne forme e»t U privsüon actaelle d'one autre forme
daiui nn mSme crirps." Qii«siiay, p. -{68.
" QneniBj, pp. 366'7 iPulemik gegen Hobbea): vgl. auch Minbeau,
Lettrea »ar Im l^gislatiun, Bd. II, p|). 471—473.
fiO
VIS
Ein Recht kann man nur auf etwas Bestimmtes httben, ab«
nicht auf alle Möglichkeiten: „die Schwalbe besitzt kets
Recht auf alle Mücken, die in der Luft schweben'^. Recht
iat eine Beziehung, die auch effektiv da vorhanden iat,
sie in aktuellen Handlungen im gegebenen Moment oichl
hervortritt". Und im Gegenteil, nicht jeder faktische Za-
stand ist ein Rech tazus tan d ; daher bekämpfen auch die
Phyaiokraten , besonders Queanay und Turgot, die Macht-
theorie. Die Gewalt der Tatsache, führt der erstere auM,
erstickt in uns nicht das Streben zum Besseren, zur freies
gegenseitigen Selbsteinschränkung'", Auch der Sieger unct
der Tyrann, meint Mirabeau ", bedarf des Rechtes, um dia
Früchte seiner Eroberungen zu genießen. Wenn das Rech^
nichts anderes wäre als die Macht, heißt es bei Turgo^
so könnte ja der Herrscher nur das unternehmen, was ihi
seine Untertanen gestatten würden '^
So bleibt das Recht seinem Wesen nach etwas von
dem Tatsächlichen ganz Verschiedenes, in seiner Bedeutung
nie dadurch beeinträchtigt, daß die Wirklichkeit von ihm ■
abweicht. Daher ist auch das Wesen des Rechts unabhängig
von seinen jeweiligen Erscheinungsformen, und will i
es erfassen, so muß man sich das Recht vor jedem tat-
sächlichen Zustand denken, wenn es auch in der Wirklich-
keit nur mit diesem erscheint. Niemand hat dies unter den
Physiokraten scharfer hervorgehoben als Le-Mercier, wenn er
sagt, daß das Recht nur gleichzeitig mit der Gesellschaft ent-
steht, weil die Gesellschaft die naturliche Form des menscli-
lichen Daseins ist, daß aber seiner Bedeutung nach als Vor-
stellung von den Rechten und Pflichten der Menscheo das
* „, . . son droit (des Menachen) ■ . . doli etre cnnsidärä daus rordr»
de 1» natura et dans Tordre de la jaetice; car danH l'ordre de la nBtora
i! est iiidäterminä tant qu'il ti'eit piu asatu^ par la poHsesaion actudlttj'
et dans l'ordre de la justice il est dätermioä par une poeseaBiun MBenS'n-
de droit naturel . . ." Quesnay, p. :i67.
'" Qaesnay, pp, 7.W7.
" Mirnbvau, Lettre» aar U l^alation, Bd. 1. p, 13, Bd. tl, p.
■- Turgot, II, pp. C80/1, Lettre» aar la tolfrauce, 2. Brief.
VIS
61
I
Recht — „dans l'ordre des id^es" — als vor der Ge-
sellschaft bestehend gedacht werden muß '^.
So wird das Absolute im Recht zum festen Kern des
phyeiokratiachen Systems, dem es sein besonderes Gepräge
verleiht, ao daß es sein Licht — oder vielmehr seinen
.Schatten — auch auf alle anderen .Seiten der Lehre wirft und
ihnen eine eintönige Färbung gibt oder sie gar völlig im
Duükel läßt. —
Verfolgen wir nun weiter mit den Physiokraten — und
hauptsächlich mit Quesnay — ihre Ausfuhrungen über das
Wesen des Rechts, so ist vor allen Dingen festzustellen,
daß der rechtliche Zustand, wie schon aus dem Obigen
folgt, eine Einschränkung des natürlichen Zustandes darstellt.
Diese Einschränkung ist wiederum doppelter Natur; denn
sie hängt von der physischen und moralischen Beschaffen-
heit des Menschen ab.
In erster Hinsicht ist das Recht durch die Bedürfnisse
des Menschen und durch das Maß der ihm zustehenden
Herrschaft über die äußere Natur bedingt; durch die Be-
dürfnisse aber wird das Recht nur ungenau (vaguement)
bestimmt, dagegen werden ihm durch das Maß der Herrschaft
über die äußere Natur feste Grenzen gesetzt. Dieses Maß
wird durch die Arbeit bestimmt, und es gibt also nur ein
Recht auf diejenigen Güter, die wir uns durch unsere Arbeit
erworben haben. Je größer das Quantum und das Resultat
unserer Arbeit, desto umfangreicher unser Recht. „C'eat le
travail des homraes . , . qui 6tend l'exerciee de leur droit" '*.
In zweiter Hinsicht — dans l'ordre moral — beruht
" nQuoi qii'ü iioit vrsi de dir« ((ue chiique homme aaisse en Bovi^tö,
cepeudant dann l'urdre des idto, le besoin qua tea bommM nnt de la
■oci£l^, doit HO pinuer ikvant l'exifitetice de In socift^. Ce n'est parce qae
las hommea »e aont r^unis en Hociätia, qu'ila out entre enx dea devoiri et
dea droit« r£cipru(|uea; mui c'iMt parc« qu'ila aTaieat naturelleiDeal et
näceaaairement entre eux dea dovoira et dee droits r^cipraqilea qu'ila
TiTent natnrellement et n^eaasiremetit en fiociätä." Le-Uercier, p. 11 — 13.
Da« ist die Stelle, die Hnabach ala äallo-mortale in den GedonkeugBngen
Le-Mercior'a betraubtet (Vgl. IIl. Kap. dieser Sehrlft, Note 13}
'* Bandeau, Tg;!, die in Note ^ dieae* Kapitels angegebene Stelle.
62 . VI
das Recht auf der moralischen Beschaffenheit des Menschei
Da der Zweck des Daseins eines jeden gleich ist den
jenigen seines Nächsten, so wird dieses letzteren Wohl zu
Orenze der rechimäßigen Betätigung: man darf daher nu
das unternehmen, was in die Sphäre des Nächsten nie!
hinübergreift.
Die eben geschilderten einschränkenden Momente sin
aber von den jeweiligen realen Verhältnissen abhängig/ an
daher ist die endgültige Definition des Rechtes oder der G<
rechtigkeit nur formell bei Quesnay gehalten und lautt
wie folgt: „Une regle naturelle et souveraine, reconnu
par les lumieres de la raison qui dätermine ävidemment c
qui appartient ä soi-meme et k un autrui*'.
Aus diesem grundlegenden Gedanken folgen die weitere
Sätze des physiokratischen Naturrechts. — Da die £ii
schränkung der Tätigkeit des Individuums durch den ebei
hurtigen Zweck des Nächsten eine Pflicht diesem Nächste
gegenüber ausmacht, so entspricht ihr bei diesem letztere
ein Recl)t, dem aber durch dessen Pflicht dem erstere
gegenüber wiederum feste Schranken gezogen sind. S
steht an der Spitze der Lehre der Satz — ,,point de droit
sans devoirs, et point de devoirs sans droits" ^^.
Das ist die Maxime, deren praktische Anwendung vo;
Turgot in seiner sozialpolitischen Tätigkeit manchem spätere)
liberalen französischen Nationalökonomen Anlafi gegeben hai
den großen Minister Ludwigs XVI. als halben Sozialiste
zu betrachten. Ja sogar Louis Blanc hat geglaubt in Tui
got's Tätigkeit, auf der „wohl sein Ruhmestitel beruht'
eine Inkonsequenz seinen Prinzipien gegenüber erblicke
zu können ^^.
Indessen verkennen diese Urteile den eigentliche
Charakter des Physiokratismus. Denn überall, wo di
Physiokraten von der bezeichneten Maxime ausgehen un
^'^ Le-Mercier, p. 16.
*® L. Blanc, Histoire de la r^volution fraii^aise, t. I, p. 533.
VI 3 63
vom Rechte auf Existenz oder vom Rechte der Armen auf
den Überfluß der Reichen und dergleichen (Turgot) sprechen,
da bedeutet „Recht** nur einen objektiven vom „ordre
naturel" geforderten Zustand, aber keinen 8ubjekti>ren
Rechtsanspruch. Freilich muß für die Verwirklichung
dieses objektiven Rechts, dessen Wirkungen als „Reflex",
um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, den einzelnen
zu gute kommen , die Oesamtheit, der Staat Sorge tragen.
Der Staat muß auch Hilfe leisten, wo die objektive Ordnung
(aber nicht ein subjektiver Rechtsanspruch!) verletzt wird.
Das ist aber die Fürsorge, die von oben kommt, von einer
aufgeklärten Regierung, nicht von unten, aus dem eigen-
mächtigen Recht der Regierten. Doch kehren wir zur
Naturrechtstheorie der Physiokraten zurück.
Die Pflicht zur Selbsterhaltung und das Recht auf
Selbsterhaltung, die in dem Mittelpunkt der Lehre stehen,,
ist von den Physiokraten den landläufigen naturrecht-
lichen Theorien entlehnt und nur durch die Betonung
der Oesetzmäßigkeit der Ökonomik zur besonderen Be-
deutung erhoben. Unter dem deutlich hervortretenden Ein-
fluß Locke's " hat sich die Vorstellung von dem Rechte
auf Selbsterhaltung zu dem Rechte auf die freie Entfaltung
der Persönlichkeit entwickelt. Das ist in der Weltanschauung
Quesnay's eine logische Folgerung aus dem ethisch-religiös
begründeten Zweck des menschlichen* Daseins, dessen Er-
füllung durch den Selbsterhaltungstrieb bedingt ist, der
also zur Pflicht gegenüber dem Schöpfer der Natur erhoben
wird. Damit ist das erste Grundrecht, das Recht auf
Freiheit gegeben.
Frei zu sein — oder das Recht auf Freiheit ist aber
das persönliche Gut des Menschen, sein persönliches Eigen-
tum. So ergibt sich zu gleicher Zeit mit Notwendigkeit
aus dem Rechte auf Freiheit das Eigentumsrecht, zuerst in
der allgemeinsten Form des Eigentums an seiner eigenen
" Vgl. Hasbach, S. 47 ff.
64 VIS
Person. Daher sind eigentlich Freiheit und Eigentum
Wechselbegriife, und sie können sich gegenseitig als Mafi
dienen ^®.
Nun bedarf aber der Mensch zur Erhaltung seiner
Persönlichkeit materieller Güter, die er durch seine Arbeit
erwirbt, d. h. in den Bereich seiner Person hineinzieht. So
wird auch das Recht des Eigentums auf materielle Güter,
zuerst auf bewegliche Güter und dann im Laufe der Ent-
wicklung auch auf Grund und Boden, abgeleitet und
gerechtfertigt ^®.
Da aber dieses Eigentumsrecht aus den natürlichen
Rechten der Menschen und aus der Idee der Gerechtigkeit
deduziert wird, so ist auch in der Gerechtigkeit die wirk-
samste Einschränkung des Eigentums zu erblicken. Daher
haben die Physiokraten das ungerechte Eigentum verworfen,
so vor allem die Feudalrechte. Hier sind besonders Turgot
und seine Schüler Boncerf und Le-Trosne hervorgetreten *®.
Diese physiokratische Einteilung des Eigentums in gerechtes
und ungerechtes mag auch für den Beschluß des französischen
Adels in der Nacht des 4. August nicht ohne Bedeutung
gewesen sein^^ —
Fassen wir nun unsere Betrachtungen über die
physiokratische Rechtslehre zusammen , so ergibt sich für
uns an dieser Stella als Hauptresultat, daß das Recht so-
wohl als soziale Erscheinung, als auch seiner inneren Be-
^^ Le-Mercier, p. 46.
'^ Das ist die in allen physiokratiscben Schriften vorzufindende
Lehre von den drei Arten des Eigentums: dem persönlichen und dem-
jenigen auf bewegliche und unbewegliche Guter.
^^ Le-Trosne, Dissertation sur la fSodalit^, im U. Bande seines
Werkes De Tadministration provinciale et de la r^forme de l*impdt, 1788.
Boncerf, Les inconv^nients des droits f<6odaux. Paris et Londres, 1776.
Ähnlich auch Mirabeau, Les Economiques, Amsterdam, 1769, Bd. II,
p. 73 imd Le-Mercier, L'int6ret de letat, 1770, p. 70.
*^ Es ist interessant, daß Le-Mercier im Namen der Gerechtigkeit
sich überhaupt gegen allzu großen Besitz ausspricht, weil solcher meistens
nur aus einer Verletzung des Eigentumsrechts entsteht. Nouvelles
Eph^m^rides Economiques, 1775, Heft IX, p. 172, Note.
VI 3 65
deutung nach, nicht vom Staate geschaffen wird, sondern
schon als vorstaatliche Tatsache besteht.
Somit ist der Inhalt des sozialen Lebens nicht nur
seiner materiellen, sondern auch seiner rechtlichen Seite
nach schon vor dem Staate gegeben. In diesem Sinne ent-
wickeln auch die Physiokraten ihre Lehre vom Staate und
seiner Aufgabe.
Staats- u. TOUcerreohtl. Abhandl. VI 8. — Gflntzb«rg.
Fünftes Kapitel
I.
Bei der Gegenüberstellung von Staat und Oesellschaft
ist uns schon in allgemeinen Zügen klar geworden , worin
die Physiokraten das Wesen des Staates gesehen haben.
Um das kurz zusammenzufassen, war ihnen der Staat
eine bewußte vernunftgemäße Organisation der von Natur
aus gegebenen menschlichen Gemeinschaft. Diese Auffassung
ist als Folgerung der schon im zweiten Kapitel dargestellten
Lehre von der Gesellschaft und dem „ordre naturel" als
einer Verschmelzung der physischen und der ethischen
Ordnung zu betrachten: das „Physische" bezieht sich da-
nach auf die Abhängigkeit von der äußeren Natur und
ihren Gesetzen und bildet die Elemente des naturnotwendigen
sozialen Daseins ; das „Ethische" dagegen ist die Organisation
der zwischenmenschlichen Beziehungen nach den durch die
Einsicht der Vernunft den Menschen sich erschließenden
ethischen Maximen auf der Grundlage der physischen Not-
wendigkeit. Diese Organisation ist der Staat: insofern er
sich diesen „physischen" und „ethischen" Anforderungen
anpaßt, bildet er den „ordre naturel" ; im entgegengesetzten
Falle — den „ordre de döpravation" , wie er in der Ge-
schichte und in der Gegenwart überall zu konstatieren ist
Als Form des sozialen Daseins ist der Staat auf einer
bestimmten Stufe der Entwicklung entstanden: mit dem
Beginn der Ansässigkeit und des Ackerbaues hat er sich
mit Notwendigkeit („physiquement") herausgebildet. Ent-
VI 3
67
sprechend dem Fortachritte in der Bewältigung der äußeren
Natur hatten sich dann die Aufgaben der menschlichen Ttltig-
keit vermehrt und verwickelt, so daß die einem jeden wegen
seiner Selbaterhaltung obliegenden Pflichten von ihm allein
nicht mehr erfüllt werden konnten: das Objekt der Be-
arbeitung, der Grund und Boden, ja die Arbeit selbst,
mußte daher zwischen den Menschen geteilt werden, „Les
hommes se sont trouv^s dans la n^cessit^ ph^sique de se
■diviser comnie lea terrea memes" ',
Damit aber alle einen und denselben gemeinsamen
Zweck verfolgten, der diese Teilung hervorgerufen hatte,
■war es notwendig, daß man Bestimmungen traf, die die
Menschen gegenseitig verpflichteten. So sind an Stelle der
einfachen Beziehungen, wonach jeder nur für seine eigene
Unabhängigkeit zu sorgen hatte, jetzt kompliziertere, die
einzelnen in ein höheres Ganze verflechtende, eingetreten.
Diese Bestimmungen über die gegenseitigen Beziehungen sind
die Bedingungen der neuen Gemeinschaft, ihre eigentlichen
Gesetze, ihre „conventionB". Le-Mercier schildert dieae
Entatehung der „aoci^t^ r^guliÄre" als den Übergang der
„Eoci^tt^ universelle et tacite" in die eigentlich staatlichen
Formen der „aociöids particuliörea et conventionelles" ^
Die erste Aufgabe, die dieae „Conventions " zu lösen
haben, ist die Schaflfung einea Zentrums, von dem aus die
geteilte gesellschaftliche Arbeit zu dem einen gemeinsamen
Ziele geführt werden soll. Dieses Zentrum ist die Staats-
gewalt, die „autoritö tutölaire". So beginnt der Staat mit
dem Moment, wo die ansBsaigen und ackerbautreibenden
Menschen eine Macht schafi'en, die, wie wir nachher aehen
werden, unparteiisch über die Einaelinteressen »ich erhebt
und Eigentum und Arbeit der Glieder der Gemeinschaft
nach innen und nach außen zu schützen hat. So knUpfen
die Phyaiokratcn das Zustandekommen der „Conventions",
' Le-Mereier, p. 19/20.
» Ibidem, pp. 18—20. 31
1768, Heft VI, p. 134^.
; Utindeau ia deu Ephtn
68 VI»
das Eingreifen der vernünftigen organisatorischen Tätig-
keit in das soziale Dasein, an das Einsetzen der Staats-
gewalt an^
Die Unterwerfung unter eine alles befehligende Macht
setzt aber die Annahme voraus, dafi die verschiedenen
Klassen, in die die Gesellschaft auf dieser Entwicklung»*
stufe gespalten ist, zu einer neuen Einheit zusammen-
geschlossen werden. Die „Conventions" fuhren also nicht
nur die Unterwerfung unter eine Gewalt, sondern, auch
eine neue Vereinigung herbei. Der Staat, sagt LiC-Mercier,
ist eine durch das gemeinsame Interesse, durch den „accord
parfait" der diesem Interesse dienenden sozialen Institutionen
geschaffene Einheit^. In dieser Einheit, die durch die
Herausbildung eines leitenden vernünftigen Willens, einer
Zentralgewalt (un centre commun, une intelligence, une
volonte premi&re) verwirklicht wird, hat Baudeau den
eigentlichen Kern eines „ätat polic^** zu sehen g^laubt
C'est ce qu*on appelle souverainetö, fügt er hinzu ^.
Wollte man nun diese physiokratischen Erörterungen im
Sinne einer Vertragstheorie auffassen, so ist festzustellen,
daß die Physiokraten im Anschluß an Hobbes^ die her-
kömmlicheTheorie vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrage
zu Gunsten eines einzigen Vertrages, der die beiden ge-
nannten in sich enthält, verlassen haben — mit besonderer
Betonung des Herrschaftsvertrages als des eigentlich staats-
bildenden.
^ Quesnaj, p. 378; Le-Mercier, 20; Dupont, Physiocratie, Bd. I,
Pr^face, p. XIV; auch in der schon erwähnten Table raisonn^ aar les
principes d'^onomie politique.
* Le-Mercier, pp. 25, 369.
^ Baudeau, p. 797, — Vereinheitlichend und zentralisierend war
auch die nationalökonomische Lehre der Phjsiokraten, da sie die Ab-
schaffung aller „binnenländischen Verselbständigungen" verlangte. VgL
Knies, Einleitung zu Karl Friedrichs von Baden brieflichen Verkehr mit
Mirabeau und Dupont, Bd. I, SS. 88/9. Über die Bedeutung des Physio-
kratismus in dieser Hinsicht vgl. auch J. S. Drojsen, Vorlesungen
über die Freiheitskriege, Bd. I, Kiel, 1846, S. 97.
« Über Hobbes vgl. Gierke, a. a. O., SS. 86, 101/2.
l VI3
1)9
Die Hobbes'sche Theorie war flir die Phyaiokraten
eine passende Auslegung des Naturrechts , an die sie am
besten mit ihrer Lehre von der Gesetlschaft als einer natur-
ootwendigen, „physischen", von dem Willen und der Über-
einkunft der Menschen unabhängigen Erscheinung anknüpfen
konnten. Denn dank dieser Auslegung war das Eingreifen
das freien menschlichen Willens nicht etwa schon bei dem
Entstehen der Gesellschaft betont, sondern erst bei der be-
wußten Einsetzung einer zentralen G-awalt, mit a. \\'., bei
der vernünftigen und vereinheitlichenden Regulierung der
sozialen Beziehungen und der „natürlichen" KechtsverhSlt-
niese, die als Tatsachen von vornherein gegeben sind.
Dadurch erhält aber der Gedanke des Staats Vertrages
eine besondere Beleuchtung; denn die schöpferische Kraft
des Individuums, die der Vertragsidee zu Grunde liegt,
betätigt sich danach nur im Bereiche der Vernunft, neben
der die sozialen Beziehungen als naturnotwendige Er-
scheinungen unberührt bestehen bleiben, der freien Vemunft-
tätigkeit feste Grenzen setzend und sie nach einer be-
stimmten Richtung hin zwingend. So spielt der Vertrags-
gedanke im Physiokratismus nur die Rolle eines Vernunft-
Von einer zeitlichen oder örtlichen Angabe des Zu-
standekommens eines „Vertrags" kann dalier gar nicht die
Rede sein, wenn auch „dans l'ordre des id^es" angenommen
werden muß, daß die Rechte und Pflichten der Menschen
vor der Gesellschaft feststehen und zur Ausgestaltung des
liemeinwesena führen; in der Wirklichkeit ist es aber ein-
fach so, daß die Gesetze „naissent avec la soci^t^" ', wie
«8 bei Le-Mercier heißt. Wollte man sich daher fragen,
sagt Baudeau an der schon erwähnten Stelle, wo er vom
„pacte social" spricht, „corament ont-ils formö le premier
^acte social", so wird man durch diese Frage die „Lehre der
^Philosophen" (vom Staatsvertrage) gar nicht erschüttern:
* Le-Hercier, pp, 71/2.
7U
vu
„coiDtne si la lai pliysiqtie, <^vidente, äternelle, immu&ble
pourrail etre detruite par un erreur de fait sur \es temps ti
lee lieiix oü les homraes l'auront connue, l'auront suivie"? —
So wenig nun die Phyaiokraten die Gesellschaft in
allgemeinen als menaciilicbe Schöpfung betrac:btet itatieJi.
so vtcnig ist ihnen aber auch der Staat in seiner tvirk-
lichen Gestaltung das Resultat der freien Ubereiiikimti
gewesen. Auch die Staatsgewalt ist nicht ao sehr eine ht>
wußte Institution , als eine aus der Natur der Oesellsclistt
sich notwendig ergebende Erscheinung; dem meaechlicheu
Willen bleibt auch hier nur die nähere Bestimmung und
FesisetBung der Aufgaben frei.
Im Anschluß an diese Ausführungen haben Turgot,
Mirabeau und Le-Troane auch hier den Entwicklungsgedanken
eingeüochten und das zeitlich erste Staatswesen, ohne {rg«nd>
wo auf einen Vertrag hinzuweisen, aus der Natur de« sozialen
Daseins erklärt^. So haben sie ein Schema der Entwicklung;
des Staates aufgeätellt: die zeitlich vorangebende Despotie,
die auf ihren Zerfall folgenden kleinen Kepubliken, dann der
neue Zusammenschluß unter einem despotischen Herrscher,
und schließlich der allmähliche Übergang zur aufgeklärten
Monarchie.
II.
Bedeutet nun die Einsetzung einer zentralen Macb|
eines „centre comraun'", einer „volonte premiöre", den Anfall
des Staates, so fragt sich jetzt, wie das Wesen der so ent^
standenen Staatsgewalt aufzufassen ist,
Der prinzipiellen Stellungnahme der Physiokraten
niäß, soll es uns hier nur auf die Idee der Staatsgewät
nicht aber auf die wirklichen Verhältnisse ankommen.
* Toroot — üa iweilvii an der äurboiinc gehallenen Diccoors. i
Esquiise d uu plan de geographie politit|UB lud im eratvn Diacoun am
liistoire oniverielle; Mirahsaa, Lettrea aur U l^islalion, Bd. I Aver1i«#-
ineot und Ud, II Sur In d^pravation du l'ordre soaJal, pBasim; Le-Tronw.
hnupteäcblich der dritte und vierte Dioeoim MJnea Uauptwerkea.
VI 3
71
I
I
Wir wenden uns daher QueBTiay'ä „Maxi'mes g^nörales
d'un gouTernement economique" zu, in denen der Gründer
der Physiokratie den von allen seinen Hchülern in ver-
echiedenen Variationen wiederholten Satz aufgestellt hat:
„Que l'autoritö aouveraine aoit unique et supörieure 4 toua
lea individus de la sociöl^ et k toules lea entreprises injustes
de» inidrßta parti c ulier s" ", Die Staatsgewalt ist also eine
Macht, die sich Über alle partikulären Interessen erhebt und
sie zu einer dem Wohle dea Ganzen dienenden Kinheit zu-
sammenschließt.
Da aber das Wohl der Menaeben durch ihre natlir-
lieben Rechte und Pflichten bestimmt ist, die in den „natllr-
lichen" von Gott gegebenen Gesetzen (die ^'"'^ naturelles"
des „ordre immuable") verkündet sind, so wird die Staats-
gewalt zum Depositar und Hüter dieser Gesetze*". Daher
ist auch das erste Attribut der Staatsgewalt die Gesetz-
gebung: freilich, nicht die Schaffung der Gesetze, denn
diese bestehen nach der „natürlichen Ordnung" für immer
fest und sind der vernünftigen Einsiclit zugänglich, sondern
ihre Anwendung, ihre Auslegung und Anpassung an die
(gegebenen Verhältnisse". Die positive Gesetzgebung ist
daher nur ein „recueil de calcule touts faits."
Um aber die Gesetze wirksam zu machen, muß die
Staatsgewalt die Macht haben, ihre Erfüllung zu erzwingen.
lo der Macht besteht daher ihr eigentlicher Kern, denn sie
soll als Mittel zum Zweck dienen diese Gesetze Überall da
durchzufuhren, wo das durch menschliche Unvernunft und
Leidenschaften verhindert wird. Die Staatsgewalt befiehlt
daher über die Macht der geordneten Gesellacbaft, und ihre
gesetzgebende Funktion geht in Anbetracht der Tatsache,
cUß die Gesetze unabhängig von ihr bestehen, im Grunde
• Auch an einer anderen Stelle bei Qucsna^ — p. 651 — heißt w:
. une autorite nuiqite, Rup^rieare aui clitferenta int^rtla eiclutiis
[n'elle doit riprimer." Vgl. snch Le-Mercier, pp. 122, 140/1.
'0 Le-Uercier, pp. 9% 102, 112, 120.
' „Le pnQToir ligislatif consiite dooc h d^daire, h Mppliqaer. k
ir" Le-Tro«ne, p. 53, 'Note.
72 VI 3
genommen fast völlig in der vollziehenden auf: „dicterdes
lois positives c'est Commander". Aus diesem Grunde be-
zeichnet auch Le-Mercier die Staatsgewalt end^ltig als die
„administration de la force publique" ^*. Die Verwaltung
wird somit von den Physiokraten in den Mittelpunkt ihrer
Erörterungen gestellt, die gesetzgebende Tfttigkeit aber in
den Hintergrund geschoben. Alle ihre Reformvorschlfige,
einschließlich des Turgot'schen Muniztpalitätenentwurfs, be-
ziehen sich daher nur auf die „Administration''.
Durch diese einseitige Betonung der Verwaltungs-
funktion, die, wie wir sehen, aus der rigorosen, rein natur-
rechtlichen Auffassung des Gesetzes folgt, wird auch der
Begriff der Souveränität bei den Physiokraten beeinflufit
„La souverainetä est dans la justice'', formuliert
Mirabeau die Ansicht aller Anhänger der Schule. In dieser
Beziehung ist also die Staatsgewalt nicht irei, nicht souverän,
denn die Prinzipien der Gerechtigkeit stehen schon vor ihr
unerschütterlich fest. „Oü s'arrete la justice, Ik se bome
Tautoritä'* ^^. Die Souveränität kann sich aus diesem Grunde
nur bei der verwaltenden Tätigkeit der Staatsgewalt geltend
machen, und sie besteht daher in der Handhabung der
organisierten gesellschaftlichen Macht, um die Ausübung
der Gesetze zu überwachen. Die Souveränität als Merk-
mal des Staates und Attribut der Staatsgewalt bedeutet so-
mit die höchsteMacht der geordneten Gesellschaft: „la
souverainetä vue en eile m6me n'est autre chose que la
force publique formte par le concours et la räunion de toutes
les forces particuH^res" ^*.
Diese Definition weist auch auf die eigentliche Quelle
der Macht der Staatsgewalt hin, nämlich auf die Macht der
vereinigten Staatsuntertanen. Damit wird aber
'2 Le*Mercier, eh. XIV.
1» Mirabeau, Lettres sur la l^gislation, Bd. n, pp. 542, 634, 648.
^* Le-Mercier, 201: ähnlich Mirabeau, La science ou les droits et
les devoirs de Thomme, p. 121, Dapont, Phjsiocratie, Bd. I, p. 92,
Bd. UI, p. 26.
VIS
73
I die Basis der Staatsgewalt berührt, und Le-Mercier stellt
. fest, daß die Vereinigung der „forces physiques" der Ge-
Bellscliafl nur durch die Vereinigung der Willen der einzelnen
I („reunion des volontis") möglich ist. Daher bildet der Wille
I der Staatsglieder die eigentliche Grundlage, auf der die
Herrschaft der Staatsgewalt beruht, denn „la force n'existe
qu'apres la räunion et par la reunion" '^
Le-Mercier kommt wiederholt in seinem Werke auf
diese Gedankengänge zurllck und hebt sie mit Kachdruck
hervor, um eine psychologische — eine „physische" würde
er sagen — Erklärung des Wesens der Staatsgewalt zu
geben.
Die Art und Weise, wie das bei ihm geschieht, gibt
den besten Beweis dafür, wie er seine Staatslehre auf der
doppelten Beschaffenheit des Menschen als eines nach natur-
notwendigen Trieben und freien Vernunftschlüseen handeln-
den Wesens begründen wollte. Dies tritt deutlich in dem
Beatreben hervor, die zum „ordre naturel" führende Staats-
maschine so aufzubauen, daS das egoistisch-persönliche
Interesse nur als Naturtrieb genommen und als mechaniache
Größe behandelt wird, während als Regulativ und Vemunfts-
prinzip — im Sinne der eudämoniatiachen Ethik — das
wohlverstandene, also auch auf die Gesamtheit sich be-
ziehende Interesse dienen soll. Darin besteht die ganze
, Magie" einer wohlgeordneten Gesellschaft, heißt es bei
Mirabeau'". Daher muß in der Leitung des Staates jedes
partikularistische und persönliche Interesse ausgeschlossen
sein, in ihrer psychologischen Basis dagegen soll sie
eben auf diesen Interessen beruhen. Die Gesellschaft soll da-
durch geheilt werden, schreibt Mirabeau an seinen Bruder
(den bailll), daß man einen jeden „im Lazarett seines persön-
lichen Interesses isoliert" ". Daher soll auch die Interessen-
loaigkeit des Herrschers, die ja nach dem Wesen der
" Ibidom, p|.. 43, 57. 105— lOÖ.
>■ PbiloBophie rurale, Bd. I. p. 1.18.
" 8. L. de Lom^nie, Lm Hirnbeau, L II, p. 392.
74
Staatsgewalt notwendig ertbrderlicb ist, auf seinem persOa
liehen Interesse begründet werden '*.
Das „physische" Molekül, aua der die StaatsgewaM
herauswächst, ist also das Einzelinteresse, der Einzelwilld
Wir können schon hier die weiteren Gedankengänge c
Physiokraten andeuten, um die Tragweite dieses Punkte
ihrer Lehre ilir ihre Politik zu bemesseu.
Die Macht der Staatsgewalt beruht auf der Vereinigung
der Willen, der „röunion des volont^s" : diese aber ist
nichts anderes, als die Trägerin dessen, was roan die
„Meinung", die „opinion" nennt. Die „Meinung" ist aber
die Herrscherin der Welt'". Dank ihr, solange sie auf
falschem Pfade sich befindet, können Despoten ihre Willkür
über die Völker ausüben; denn sie ist es, die eini
einzelnen die Macht über viele verleiht: „ils ob^tasent J
un chef, parce qu'ils sont d ans l'opin ion qu'ila lui doiventH
ob^ir". Die „Meinung" regiert über die Menschen, mn^
ihr Inhalt auch noch so absurd sein. Unsere physist
Kraft ist ihre gehorsame Dienerin: will man über jene
verfügen, so muß man die „Meinung" zu leiten verstehen.
ist die „opinion", mit anderen Worten die OffentlicbM)
Meinung, die notwendige Grundlage jeder bestehenden. I
Staatsgewalt. — Wir haben es in diesen Erörterungen der
Physiokraten wohl zum erstenmal mit einer so aachdrucke-
voUen Betonung der Bedeutung der öffentlichen Meinung
und ihrer Einfügung in eine systematische Lehre vom Staatu
zu tun. I
Es ist nun klar, daß diese „physische" Grundlage der '
Staatsgewalt, die ,röunion des volontös", eben dieser ihrer
Eigenschaft wegen, zum „physisch" notwendigen und un-
fehlbaren Mittel werden muß, den „ordre naturel" herb«-
zufUhren. Es ist nur notwendig, die öffentliche Meinung
bis zur „Evidenz" aufzuklären um dieses Ziel zu erreichen.
i3/4; Le-Trosne, pp. 294/5.
VI 3 75
Die „Evidenz" wird dann jeder Willkür entgegensteuern
und zur Garantie rechtmäßiger Zustände werden*''.
Le-Mercier war noch aber zu zaghaft, um die daraus
mit vollster Deutlichkeit aich ergebenden Konsequenzen zu
ziehen und die öffentliche Meinung nicht nur als einen die
Macht gewahrenden, »ondern auch als einen sie ein-
schränkenden Faktor zu erklären.
UI.
Die nächste an dieser Stelle zu berührende Frage ist
die nach der Aufgabe des Staates in der physiokrati sehen
Auffassung; ihre Beantwortung ergibt sich schon teilweise
aus dem bisher '
l
Der Zweck des menschlichen Daseins ist die Glück-
seligkeit. Die Gesellschaft ist die natumot wendige Be-
dingung zur Erreichung dieses Zweckes. Daher hat auch
der Staat als die bewußte und vernünftige Organisation
der Gesellschaft zu einem Endzweck das Wohl und die
Glückseligkeit der Menschen.
Die Bedingungen des glücklichen sozialen Daseins
sind aber die Freiheit der Betätigung und die Möglichkeit,
die Früchte seiner Arbeit sich aneignen zu können. Frei-
heit und Eigentum mu6 also auf dem Banner des Staates
geschrieben stehen. Der Staat hat diese höchsten Güter
zu fördern und zu schützen: „protection" und „süretö" sind
daher die Aufgaben des Staates, Zweck und Aufgabe
werden dann von den Physiokraten in einer Formel zu-
sammengefaßt, die die Losung ihres Zeitalters war: libert^,
propri^lä, siiret^"'.
In dieser allgemeinen Formulierung wiederholen die
Physiokraten die hergebrachten Resultate der zur Zeit
' La-Mercier, pp. 51 — 53.
■' Ibidem, p. 445; der SIcbei hei Ui weck wird besonders betont bei
QueNiay, pp. 329— 38'^, 650 (§ 18); veI. auch Dnpont, PhjiiacTatis, t. I,
p. U, t m, p. 24.
76 VI 3
herrschenden naturrechtlichen Staatstheorie, wie sie auch
von den Theoretikern des vernünftigen Polizeistaates prokla-
miert wurden. Bei näherer Einsicht in ihre Ausführungen
erweist sich jedoch der Unterschied und die Eigenart ihrer
Lehre. Das tritt schon vor allem bei der Rechtfertigung
des Staates als einer die Freiheit einschränkenden Zwangs-
institution hervor.
Das Naturrecht hat die Freiheit als die Ureigenschaft des
Menschen im Naturzustande betrachtet. Der Gesellschafts-
vertrag hat nach dieser Auffassung den Menschen eines Teiles
seiner Freiheit beraubt, um ihm den Genuß des anderen Teiles
in Sicherheit und Ruhe zu gewähren. Das praktische Resultat
war, trotz des beständigen Hervorhebens der Freiheitsidee,
die völlige Unterwerfung des Individuums unter die leitende
vernünftige Obrigkeit Nicht nur in seiner politischen
Stellung, sondern auch in seiner ökonomischen Tätigkeit
(von den Franzosen oft als „libert^ materielle" bezeichnet)
war der einzelne bevormundet. Der Merkantilismus und
der Protektionismus, wenn sie auch zeitlich vor der litera-
rischen Ausbildung des vernünftigen Polizeistaates geherrscht
haben, ist die eigentliche Konsequenz dieser Theorie.
Die Lehre der Physiokraten bietet uns hier ein ganz
anderes Bild. Indem sie die Idee des Gesellschaftsvertrags
in der üblichen Formulierung ihrer Zeitgenossen verworfen
haben, ist ihnen auch der Gedanke fremd gewesen, daB der
Mensch in der geordneten Gesellschaft, im Staate, einen
Teil seiner Freiheit einbüßt. Ihre Auffassung in diesem
Punkte war die direkt entgegengesetzte. Die geordnete
Gesellschaft ist es, lehrten die Physiokraten mit Quesnay
an der Spitze, die erst den Menschen frei macht, weil er
im Naturzustande unfrei ist*^. Denn Freiheit ist nicht nur
ein abstraktes Reclit, sondern vor allen Dingen die kon-
krete Möglichkeit des Könnens , die wirkliche Äußerung
*^ Quesnajf pp. 373, 377; Le-Mercier, p. 20 et suiv.; Le-Trosne,
Discours II, Note 8; Mirabeau, Lettres sur la l^slation, Bd. II, p. 520.
I
VIS 77
der iDdividuellen Energie in ihrer Tätigkeit ^^. Im un-
geordneten Zustand, wie er bei kompliziertet! sozialen Ver-
hältnissen vor dem Staate zu denken ist, besitzt der Mensch
dieae Freiheit nicht. Nur der Staat als eine auf der An-
erkennung von gegenseitigen Rechten und Pflichten be-
ruhende Ordnung kann hier Abhilfe leisten und der Tätig-
keit des einzelnen wahrhaft frei machen. Entstehen für
das Individuum dadurch neue Pflichten, so eröffnen sich
ihm aber auch neue geschützte Rechte, die ihm erst
die eigentliche Freiheit gewähren (^point de droits sans
' devoirs, et point de devoira sans droits").
Es kann wohl erscheinen, daß dieses nur eine andere
I Wendung der älteren Lehre ist von der Aufopferung eines
( Teiles der Freiheit-zur Wahrung des anderen Teiles ; dennoch
I bleibt der Ausgangspunkt bei den Phyaiokraten ein gänzlich
verschiedener, nfimlich: die Unfreiheit des Menschen im
KatuFEUstande (ötat de pure nalure). Die wirkliche Frei-
heit besteht also nur im Staate, und dieser bedarf daher
keiner weiteren Rechtfertigung. —
Mit der Freiheitaidee hängt dann die nähere Be-
stimmung der Aufgabe des Staates zusammen , denn die
I Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis des Wirkiings-
Icreises des Staates und der Freiheit der Staatsbürger wird
▼erachieden beantwortet, je nachdem es auf die wirtschaft-
liche Freiheit ankommt oder auf die politische Tätigkeit,
auf die Handhingen des Individuums als eines Gliedes
einer organisierten Gemeinschaft. So erwachsen innerhalb
der Frage von den Aufgaben des Staates zwei Probleme:
das von den Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft
einerseits, und denjenigen zwischen Staat und Indivi-
duum andererseits. Wenden wir uns zum ersten dieser
beiden Probleme.
Dem Menschen als wirtschaftlichem Subjekt steht die
_ökonomische Freiheit zu, die Freiheit der Tätigkeit, die
* Le-Heroier, p. %.
7)^
sich auf die Selbaterhaltung richtet, die den eigentlichen
Inhalt des socialen Daseins ausmacht und in strikter Ab
hangigkeit von den sozialen ,loiB physiques" sich befindet.
Diese „lois physiques" sind, wie wir schon an anderer
Stelle erörtert haben, im Quesnay'auhen Sinne die Gesetze
der sozialen Ökonomie, die durch das Eingreifen der
freien VernunfttStigkeit tn das Wallen der Natur zur
Geltung gelangen und in ihrer objektiven Bescbaffenh^'l
dem mathematischen Kalkül unterliegen. Den von iliesen
Gesetzen beherrschten natllrlichen Erscheinungen ninß ihr
freier Lauf gelassen werden, damit der Gang dieser Er-
scheinungen seiner Bestimmung nach „le plus avantAgeux
au genre huraain" werde. Hier ist jede Beeinflussung, jede
von außen kommende Regelung unstatthaft. Die wirt-
schaftlichen Subjekte dürfen in ihren Bestrebungea und
Unternehmungen nichl gestört werden. Ihrem Tun und
Treiben muß der freie Wettbewerb offen stehen , denn auch
die freie Konkurrenz hat nur den Sinn, im sozialen Leben
den „lois physiques- freie Entwicklung zu gewahren und
so die normale Preisbildung herbeizuführen , die dem ge-
gebenen Zustande des Ackerbaus ohne störende Beein-
äussung der produktiven Arbeil entspricht".
Das ist der Kornpunkt der physiokratlschen Wirtschaft»-
piilitik, die in der berühmten Formel „laissez faire-Iaisses
aller" ihren Ausdruck gefunden hat. Somit hat sich t
Frage von der Beziehung zwischen Staat und Wirtschi
zu der sogenannten negativen Interventionstheorie gestalte
die vom Staate nur die Abschaffung der Hindernisse vei
langt, die der freien wirtschaftlichen Tätigkeit im We^
stehen '*.
Man könnte annehmen, daß diese Ansicht der Allmat
des Staates, wie es der aufgeklarte Absolutismus — dio t
" Le-M6rci«r, L'int^ret gAaiia\ de l'Etat, pp, 122, 396. Vgl. i
H. DbhU fl. 11. O., pp. 117—119.
^ Vgl. Hlertnann, SWial uud Wirtsdiaft. Ud. I. Die
den Öhonomiiclieii IndivEdualieinnB, 1904, cli. IIL
jener Zeit herrachende Staatstlieurie — lehrte, einen starken
Schlag versetzte, denn uuu wui-de ein konkret abgegrenztes
Gebiet entdeckt, wo dem Staate keine Rechte zustehen. Doch
sehen wir näher zu, ho ergibt sich, daß in der Frage nach
den Beziehungen zwischen Staat und Individuum dieses
neue Moment innerhalb der physiok ratischen Lehre zu
keiner wesentlich anderen Stellungnahme geführt hat, aU
das in der Theorie des aufgeklarten Ahsolutismus der Fall
war; denn in bezug auf die politische Stellung des einzelnen
■in der Gesellschaft ist der PhyBiokratisinus in den Bahnen
der herkömmlichen Theurie und der Praxis des französischen
Königtums geblieben**.
Der Hauptzug dieser Slaatsauffaasung im 18. Jahr-
hundert besteht darin, daß im Staate, der die verschieden-
artigen Tätigkeiten und Interessen zu einer Cinheit
zusammenschließt, keine andere neben ihm organisierte
partikuläre Interesseneinheit bestehen darf, weil dadurch
der Staat in seinem Wesen beeinträchtigt wird; alles Soziale
wird aus diesem Grunde vom Staate absorbiert und kein
,nderes selbständige soziale Gebilde neben ihm geduldet.
Das ist die im 18. Jahrhundort herrscheode Gegner-
baft gegen jeden „eaprit de corps" innerhalb des Stnates.
Es ist nun interessant zu sehen, wie auch bei den
'hysiokraten die in ihren Ausgangspunkten durchgeführte
egenüberstellung von Staat und Gesellschaft verschwindet,
iobald sie auf das Gebiet der Politik gelangen. Hier
'erschlingt der Staat alles Gesellschaftliche, und so
iht ihm, gerade wie in der herkömmlichen Theorie,
" Uit Beeilt glaubt dalier II. Micbel a. a. 0., pp. 11 et aaiv,. die
Phyiiokrat^u EUBanimeii mit Voltaire iincl den EnityklopitdiHten unter ?.jne
politische Qrupp?, dio dem aufgeklärteii AbsolutiamaH hnldigle, iiuterbrinveii
lu kBnnen. Ein ist inttreaaant, daß die Politik der PbyAiakritten mit der
JBDigsn Holbitcb's, eiues euageBprodieiiBn Vertraters des anfj^ kl Arten
Alisolutismna, stihr viel Oemeinnames hat (H. Micliel a. a. O , pp. 15 -17).
Hulbach war es auch, der zu^aninien mit Diderot Tdr das f^roBe Werk
Le Mercler'g tieb besoadera begeiatort hat, (vgl. Schelle ini NouTeaii
DictioDnaire d'Eeonomie pnlitiqae, 11, p. 114).
80 VI 3
nur das „schwache'' ^'^ Individuum gegenüber, und nur fiir
dieses gilt auch auf wirtschaftlichem Gebiete die Maxime
des „laissez faire''. Nur die Einzelpersönlichkeit wird frei
gemacht; sobald man aber aus diesem Rahmen hinau^geht^
sobald die Persönlichkeit ihre Freiheit bis zur Erweiterung
ihrer Macht durch Zusammenschluß mit anderen Individuen
ausdehnt, da legt der Staat sein veto ein ; denn solche Er-
scheinungen enthalten die Keime einer politischen Oegen-
macht, die den Staat in seiner Bedeutung und Aufgabe
aufheben könnten.
Die Vorstellung von einer Assoziation innerhalb des
Staates war noch speziell für die Physiokraten eng mit der
Vorstellung einer die Harmonie des „ordre naturel*' aus-
schließenden und die Hemmung der „lois physiques" herbei-
führenden Interessengemeinschaft verbunden. Daher sind
auch im Interesse der sozialen Ökonomie keine Assoziationen
zu gestatten. Das ist auch die Grundlage der berühmten
Turgot'schen Zunftpolitik, die freiheitlich erscheint, wenn sie
die Rechtsbanden des alten Zunftwesens auflöst, und aufklärt
— despotisch, wo sie jede Arbeitervereinigung verhindert*®.
Mag also in wirtschaftspolitischer Hinsicht in der
physiokratischen Lehre ein großer Fortschritt liegen,
rein politisch betrachtet, tritt hier die alte Weisheit des
Polizeistaates hervor, die den einzelnen seiner Freiheit und
seines Glückes halber in seiner Freiheit beschränken will,
um ihn zu verhindern, ein starkes, dem Staate trotzendes
Individuum zu werden.
Allen diesen Gedankengängen liegt der Fetisch des
Staates zu Grunde, der das 18. Jahrhundert beherrscht
hat. War auch der Staat, den man kannte, der schlechte
und verwerfliche, so ist er doch zu dem, was er ist, erst
durch die depravierte Menschheit geworden : nicht also, weil
^'^ Dieser Ausdruck ist von Faguet geprägt; s. seine Abhandlung
„Sur les id^es maitresses de la r^volution" im Sammelwerk L^Oeuvre sociale
de la r^volution fran^aise, p. 24 et suiv.
28 Turgotf Pr^ambule zum Edikt über die Abschaffung der Zünfte
und § 14 des betreffenden Gesetzes, Oeuvres, U, p. 802 et suiv.
»
er Bchon an und für siuh eine zu bekämpfende Institution
ist. Bis spät in das 18. Jahrhundert hinein war der Staat
in der Idee für die meisten auf dem Kontinent ein Zauber-
wort geblieben. Er war das einzige und höchste Mitte],
das Individuum nicht nur glücklich, sondern auch sittlich
zu machen. Keine höheren Zwecke konnten danach ohne
den Staat erreicht werden. Alle Neuerungen, alle Um-
wälzungen sollten fUr den kStaat, durch ihn und in seinem
Namen, aber nicht gegen ihn geschehen. Dem un-
bistoriacheu Geiste jener Zeit fehlte jedea Verständnis dafür,
daß der historische Staat sich so gestaltet hat, daß jeder Ver-
such, ihn neu aufzubauen, um den individualiatischen frei-
heitlichen Tendenzen einen Weg zu bahnen — wozu ja das
Zeitalter strebte — , die konkrete Form einer Bekämpfung
des Staates annehmen und zu der Herausbildung eines
Rechtes gegen ihn fuhren muß. Daher auch die schon
früher hervorgehobene Anfeindung jedea „eaprit de corps"
und, wie manche vielleiclit mit Recht betonen, das Fehlen
der Idee der politischen Freiheit im modernen Sinne auf
dem Kontinent im 18. Jahrhundert'^; allerdings bilden
hierbei Montesquieu, der das Wesen des politischen Lebens '
Englands erkannt hat, und Blackstone, dem die politische
Freiheit nicht bloß Lelire, sondern greifbare Wirklichkeit
war, eine wohl zu beachtende Ausnahme.
Diese Betrachtungen gelten in vollem Maße fUr die
Beurteilung des Physiokratismus. Wollten die Physiokraten
einerseits der vom Naturrecht ererbten abstrakten Freiheits-
idee eine konkrete und wirksame Gestaltung in ihrem öko-
nomischen Laisseji faire-Prinzip geben, so haben sie doch
andererseits an einer diese Intention untergrabenden Idee
vom Staate festgehalten. Denn kann das Individuum seine
natDrlichen Rechte nur durch die Gesellschaft verwirklichen,
4ie aber, wie wir gesehen haben, politisch ganz im Staate
iofgeht, so gewinnt der Staat Über das Individuum diejenige
■ Vgl. Fsquat, Le IS-iime si^te, |
1 Bay, Torgot, p. 159.
393: in benig »ufTurgot -
1. VI 3. — GlinWb«g-
82 VI 3
Macht, die in anderem Falle, wenn auch unter ihm, so doch
neben ihm bestehende gesellschaftliche Bildungen ausgeübt
hätten.
Von einer „Selbsthilfe^ etwa in einer staatsfeindlichen
Zuspitzung, wie es in folgerichtiger Weiterentwicklung des
Laissez faire-Prinzips das Manchestertum im nächsten vor
dem „esprit de corps" nicht zurückscheuenden Jahrhundert
herausgebildet hat (die Anfänge der englischen Trade-
Unions!), kann daher beim Physiokratismus gar nicht die
Rede sein^ denn die in seiner Wirtschaftspolitik verborgene
liberale Absicht wird durch andere Gesichtspunkte
vereitelt.
Ein sozial befreites (die „libert^ materielle'' !) und po-
litisch bevormundetes Individuum — das war der Gedanke
der Physiokraten. Was sich aber gedanklich trennen läfit,
das bildet tatsächlich ein untrennbares Ganzes. Eine ab-
solutistische Staatsgewalt muß auch da eingreifen, wo es
ihr theoretisch die Idee der „materiellen Freiheit" verbietet
Das sieht man am besten an Turgot's sozialpolitischer
Tätigkeit, die, trotz ihres überwiegend philantropischen
' Charakters, mit einer folgerichtigen Durchführung der im
Physiokratismus festgelegten wirtschaftspolitischen Prin-
zipien nicht völlig übereinstimmt**^.
An diesem Festhalten am Prinzip der politischen
Bevormundung hat auch die Tatsache nichts geändert, daß
die „soziale" oder „materielle" Freiheit sich aus den Engen
der rein ökonomischen Tätigkeit auch auf das weite Reich der
Entfaltung der Persönlichkeit auf kulturellem und geistigem
Gebiet ausgedehnt hat, wie es bei den Physiokraten der
Fall war.
Denn auch die ethisch-liberale Idee der freien Persönlich-
^® Vergl. Neymark, Turgot et ses doctrines, Bd. I, pp. 407 et suiv.,
wo die entsprechenden Maßnahmen Turgot's hervorgehoben sind ; ähnlich
Tocqueville, Oeuvres, Bd. VIII, p. 158. — Am besten erscheint uns doch
Mastrier's Formulierung — Turgot, sa vie et ses doctrines, p. 261 —
wenn er sagt: „Turgot regardait donc la charit^ comme un devoir de
droit, c'est k dire comme pouvant etre impos6e par la force sociale''. —
VI 3
83
I
I
keit ist von den Physiokraten dem vernllnt'tigen, den „ordre
naturcl" herbeiführenden ötaale zum Opfer gebracht. Auch
in dieser Hinsicht hat der Phyaiokratistnua .den alten Stand-
punkt nicht verlasaen; und nur die AViederbelebung der
naturrechtlichen Postulate am Vorabend der Revolution,
wo die alten Formeln einen ganz anderen Sinn gewinnen
konnten, suwie die ethische Emphase und Überzeugungs-
kraft, mit der sie ein Turgot gepredigt hat, können hier zu
anrichtigen Annahmen verführen*'.
Bei diesem Sachverhalt ist mit der Feststellung des
äicherheitszwecks („de sonner l'alarme daus la com-
munant^", wie das der junge Gral" Wirabeau'''^ formuliert)
die Frage nach der Aufgabe des Staates in der physio-
kratischen Auffassung durchaus nicht abgetan. Denn ist
auch die Sicherheit des Staates vornehmste Aufgabe, so
ist er daneben noch berufen, die Tätigkeit der einzelnen
auf verschiedenen Gebieten zu fördern, weil er ja die
Macht des Ganzen, die dem einzelnen dienlich ist, allein
und ausschließlich in sich aulnimmt.
Neben dem Sicherheitszweck entsteht daher ein im
weitesten Umfange gedac^htor Wohlfahrtazweck , neben der
„süretö" die „protection". Der radikalste Vertreter des
Laissez faire-Frinzips, Mirabeau, der oft betont, daß des
Staates „action" nur in der „Jurisdiction" "^ besteht, hat auch
" Tnrgol wußte ea, die Hecht« den ludiTidnuini nichi nur iu der
vag^n Formel einer Harmonie iwisehen dem allgameinen und dem iudiri-
duellen InteresBe im „ordre nntiirel", loadem auch in viel intuüt^ reicheren
Siltaei] auuudrQcken. und ho nn)it nr unter anderem: „Ce principe
3ne rien me doit bomer \ea droils ds la sociätä, me pnrait faux et
■Dürens. Toat honime eat u& libre, et il u'est jamais permis de gener
cette litwrtä, ji moins qu'elle ne dig^äre en licence" (Lettres sur la
tolirftuce, 1753, Oeavrei, II, p, G9Ö). ^ Gans beaonderB ener^ich iat
Turgot fSr die Gewisaensfreiheit eingetreten, wenn er auch der Ansieht
war, dsB die Kirche dem Staate in der Krnillung seiner Au^be Hilfe
leisten soll, worin mit ihm auch alle anderen PhvHiokraten üherein'
stiBiniten: so Queau^. pp. 573, 506, Le-Troane, p. 284, Mirabeau, Ami
dei Hommea (öd. 1883), p. '241.
'* Comte de Mirabean, Snr le deapotisme, p. IOC.
'* Theorie de rimpfit, piuilm,
84 • VI 3
diese andere Seite hervorgehoben, wenn er sagt, daS der
Staat zur Aufgabe habe nicht nur „de r^primer le brigan-
dage" , sondern auch „de protäger et diriger raction de la
soci^t^, de pourvoir ä Tabondance qui comprend la sub-
sistance et la commodit^" ^*.
Dieser allgemeinen Formel des Wohlfahrtszwecks haben
die Physiokraten auch einen Inhalt zu geben gewufit. So
obliegt dem Staate vor allen Dingen die Förderung des
Ackerbaues. Alle Maximen, die Quesnay für einen „gouveme-
ment ^onomique" aufgestellt hat, sind von diesem Gedanken
durchdrungen®^. Daneben erhebt sich zur Pflicht für den
Staat, die von der Gemeinschaft zu Gunsten des Ackerbaues
auszuführenden öffentlichen Arbeiten zu übernehmen. Diese
„travaux publics", besonders den Wegebau und das Ver-
kehrswesen, haben die Physiokraten immer als eine der
wichtigsten Aufgaben des Staates betrachtet**.
Aber in noch viel höherem Mafie wurde von ihnen die
Sorge für die Volksauf klärung , für den allgemeinen
obligatorischen Unterricht hervorgehoben, mit der aus-
gesprochenen Absicht auf diesem Wege eine staatserhaltende
öffentliche Meinung zu schaffen °''. Das ganze politische
^^ Lettres sur la l^gislation , Bd. U, p. 875; Theorie de Timpot,
p. 17. — Wenn Biermann, a. a. O. S. 40, meint, daß der „Wohl£siirt8-
zweck mit dem Physiokratismus unvereinbar ist", so können wir das jet£t
dahingestellt sein lassen, denn wir haben nur festzustellen, dafi die
Physiokraten den Wohlfahrtszweck dennoch anerkannt haben.
^^ Quesnay verlangt vom Staate für die Landwirtschaft „une protection
d^cid^e", Quesnay, p. 183. — Wie Quesnay sich diese y,protection*' im
Unterschiede von der üblichen Auffassung des Polizeistaates gedacht hat,
beweist folgende Stelle aus seinem Briefe an den Intendanten von Soisson
(mitgeteilt von Ottomar Thiele in der Vierte\jahrschrift für Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte, 1906, S. 644): „. . . c'est du gouvemement
seul que dopend la prosp^rit^ ou la d^gradation de l'agricaltore et non
des instructions que l*on prätend donner aux cultivateurs^
(gesperrt von uns. B. G.).
"• Quesnay, pp. 333 (VIII Maxime), 553; Mirabeau, Philosophie
rurale, Bd. I, pp. 185—192.
^^ Quesnay, pp. 375—377, 594—598, 641, 645—646. Auch bei allen
anderen Physiokraten bildet die „instruction publique** den wichtigsten
Teil ihrer Lehre. (Vgl. auch den Munizipalitätenentwurf, Turgot, U,
VI 3
ä5
System der Pliysiok raten war auf dieser Seite der Tätig-
keit des Staates aufgebaut, wie wir schon oben angedeutet
haben, und wie es uns im Verlaufe der weiteren Aus-
führungen noch klarer werden wird. Eb kann oiuht genug
hervorgehoben werden, welche Macht über das Individuum
durch die Leitung der Volksaufklärung, dieses „Palladiums"
Jedes Staatswesens, wie Mirabeau sieb ausdrückt, dem Staate
gegeben werden sollte. So haben einige Phyaiokraten auch
die Forderung gestellt, daß im wohlgeordneten Staate die
Vollberechtignng der Bürger von einer staatlichen Prüfung
abhängig gemacht werden soll"". Auf denselben Punkt
der Wirksamkeit des Staates sich stützend, hat Baudeau
die Frage nach der Beziehung zwischen Staat und Individuum
in einer Weise entschieden, die am besten die Aufgabe
des Staates ini Sinne der Physiokratie charakterisiert:
„L'^tat fait des homnies tout ce qu'il veut", faßt er kurz
Das alles ist nur daraus zu erklKrea, daß die Physio-
kraten im letzten Gründe dem Staate die Aufgabe auferlegt
haben, die Gesellschaft aus dem „ordre de döprava-
tion" in den „ordre naturel" hinllberzuführen.
Diese Auffassung schließt aber die Idee vom Staate als
«inem bloßen „Nachtwächter" gänzlich aus. Daher hat auch
[ B. 506 et auiv.). Sie bsbeu sfieziolle Sohrifteo über die Orgauifiittioii der
L VolkiaofkläriiDg verTaßt (ao L,a-Meruier, Mlmbeau, Dupoat) und mit be-
r londerer Energie filr dieaeu ihreu LteblingHgedAiikeD ia der Oeaellacbaft
I Btiraumiig in machen gesucht, ('ondorcet hat ipSter in »einer literariaeben
! nnd politischen Tütigkdt (aU Vorsitiender der Kommiasion für die
[ Organisation der Volkfanfklänrng im EooTent) in dieser Hinsicht nur
' I Erbe der Physiokraten Obemommeu.
'* Mirabeau in einer uugedruukteu, an den Kfinig von Schweden
I MTichteten Denkacbrift über die Volksaufklilrung; aitiert bei J. Edel-
I Seim, Beiträge zur Geachicbta der SnzialpSdagogik mit besonderer Bh-
1 (fiajuicbtiguag der frantfiitiscbeu KevolaÜon, 1902, »K. 106'7; ibnlicb,
Le-Trosne, p. 2&S.
" Zit. bei Tocqueville, Anoien nigime, 7-i4äie id. (OeavreB, IV),
p. 240; vgl. auch Queaiuij fibar die Aufgabe der Staatsgewalt — p. 688:
„. . . maintenir el r^farmer les cautumes et les usng^s introduits dan»
Ia natiDn''.
86 VI 3
die „destruction des obstacles" — eine Bezeichnung, mit der
Turgot die Aufgabe des Staates charakterisieren will — nicht
den Sinn, daß der Staat bloß eine „polizeiliche", sondern
auch eine schöpferische und umgestaltende Tätigkeit ent-
falten soll. Die Hindernisse sind die bestehenden Zustände:
diese sollen zerstört und abgeschafft werden; die negative
Bezeichnung enthält nur den Hinweis auf die der Willkür
entzogenen , jeder von außen kommenden Einmischung
widerstrebenden sozialen „lois physiques".
Es ist also aus dem bisher Gesagten zu schließen, daß
die Physiokratie mit dem Manchestertum (nicht als bloß
ökonomische Theorie, sondern als Staatstheorie gedacht) nur
die negative Seite, die Bekämpfung des Merkantilismus
und Protektionismus gemeinsam hat. Bei der positiven
Auffassung von der Aufgabe des Staates ist aber die Ver-
wandtschaft der Gedankengänge durchaus nicht so ein-
leuchtend ; denn die weltanschauungsmäßige Grundlage von
der Harmonie der Interessen hat in den beiden Theorien
eine verschiedene Bedeutung.
Das Manchestertum bezieht die Harmonie der Interessen
auf das wirklich Bestehende und historisch Hergebrachte,
und es hat daher etwas Gemeinsames mit der Bestaurations-
politik, mit der es auch zeitlich zusammenftlllt Die Physio-
kratie dagegen hat den hartnäckig vertretenen Gedanken
von der Harmonie zwischen dem Einzelinteresse und dem
Gesamtinteresse nur auf den „ordre naturel", auf die ideale,
zu verwirklichende Zukunft und nicht auf die schlechte,
unvernünftige, depravierte Gegenwart bezogen. Um diesen
idealen Zustand herbeizuführen und aufrecht zu erhalten,
bedarf es aber eines starken Staates, der die Geister zum
„ordre naturel" erzieht und formt.
Hier teilt die Physiokratie ihre Auffassung mit dem
ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert herrührenden „rationalen
Sozialismus"^, und die Berührungspunkte sind aus der
gemeinsamen Quelle, aus der sie fließen, zu erklären: den
rvi3
87
}
kartesischen Tendenzen der tVanzösisthen Philosopliie*".
Es ist einerseits der Glaube an die Macht des vernünftigen
Willens, der die Welt umzugestalten berufen ist, der sie
vereint, ebenso wie andererseits der Glaube an das All-
gemeingültige, Vernünftige, „Natürliche", an jenen „urdre
innDuable" Malebranche's, der das Reich der Ethik und der
menschlichen Tat im Gegensatz zum Reiche der physischen
[otwendigkeit darstellt, und den die Menseben auf Erden
zu verwirklichen haben.
So beruht die Lehre von der Nichteinmischung und
der Harmonie der Interessen bei den Physiokraten auf
einer ganz anderen weltanscbauungsmäßigen Grundlage, als
die spätere dieselben Maximen vertretende Mancheater-
theorie, wenn das auch oft verkannt wird. Zu Miß-
verständnissen hat die dem 18. Jahrhundert geläufige Ver-
mengung von Erkennen und Künnen geführt; denn, glaubte
man, ist die natürliche Ordnung mit ihrer Harmonie der
Ijiteressen erkannt, dann ist sie schon herbeigeführt, und
das Ziel ist erreicht; jeder muß sich nur von dem Gedanken
ihres Vorhandenseins durchdringen lassen, um sie verwirk-
lichen zu können.
Es war nun ein leichtes, von hier aus auf den Stand-
punkt hinüberzugleiten, der die Harmonie der Intereasen aucb
auf die bestehenden Verhältnisse bezieht, wie es im
Physiokratismus in ökonomischen Dingen wirklich oft ge-
schehen ist. Gerieten die Physiokraten dadurch auf eine
ihreraufkläreriachenWeltanschauung fremde Bahn, so beweist
schon die Mj5glichkeit dieser Entgleisung, daß ihr wirtschafts-
politisches Prinzip, sobald man es in der Praxis folgerichtig
anwenden wollte, nicht ganz — wenn auch nicht subjektiv —
mit ihren anderen Ansichten über die Aufgabe des Staates
und überhaupt mit der aufklärerischen Beurteilung der
Wirklichkeil barmonierte. Daher haftet auch an der ganzen
Lehre das Gepräge eines Widerspruchs zwischen der alten
., SuEiHliBTRii8 und BOEialc Bewegtmf^, ö. Anfl.
88 VI 3
Staatsphilosophie und einer modernen dem Geiste des auf-
strebenden Kapitalismus entstammenden Tendenz. Wir
werden im folgenden sehen, wie sich dieser Widerspruch mit
der Zeit auch in ihrer Politik wiedergespiegelt hat. Doch
soll vorher diejenige Periode geschildert werden, in der die
älteren Tendenzen im Physiokratismus noch die vorherrschen-
den waren.
Sechstes Kapitel
I.
Der Staat, für den die Physiokraten die politischen
Prinzipien festlegen wollten, ist der landwirtschaftliche
Staat. Die Geschichte und die Gegenwart, lehrten sie,
kennt aber noch barbarische Staatswesen und industrielle
Staaten: den ersteren fehlt überhaupt jede Ordnung, die
letzteren unterliegen in ihrer Organisation ganz anderen
Prinzipien.
Gegenstand theoretischer Erörterungen kann daher nur
der „6tat agricole" werden *, weil er das Staatswesen einer
auf produktiver Arbeit beruhenden Gemeinschaft darstellt.
Die industriellen Staaten dagegen sind schon aus dem
Grunde für die theoretische Betrachtung minder geeignet,
weil sie ein kleines, für die Ernährung der Einwohnerschaft
ungenügendes Territorium besitzen und daher immer vom
landwirtschaftlichen Staate abhängig sind ^. Sie spielen nur
die Rolle großer Warendepots und Vermittler im Verkehr
(commerce) — besonders im maritimen — zwischen den
großen Staaten. Als solche stehen sie in engen Beziehungen
zu den Handeltreibenden aller Staaten und bilden mit ihnen
eine universelle, kosmopolitische Republik, den ersten An-
* Quesnay, p. 647.
* Die Physiokraten hatten dabei ihre zeitgenössischen Verhältnisse
vor Augen: das kleine Holland und die handeltreibenden Städterepubliken ;
Vgl. Mirabeau, Lettres sur la l^gislation, Bd. II, p. 647, Theorie de
rimpöt, p. 297/8.
90 VI 3
satz und die beste Bürgschaft für die künftige Brüder-
schaft der Völker ^
Aus diesen Gründen ist auch die Verfassung der
industriellen Kleinstaaten ganz anderer Art. Wir haben
uns aber jetzt dem wahren Staate, dem „^tat agricole",
zuzuwenden.
Der Staat ist, wie wir schon früher gesehen haben,
kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Sicherung und
Förderung der sozialen Güter: er wird daher von der
Gesellschaft geschaffen, und das geschieht auf jener Stufe
der Entwicklung, auf der von den* produktiven Arbeitern
die beiden Funktionen der Erzeugung und Erhaltung der
Güter nicht mehr ungetrennt ausgeführt werden können.
Die „avances", die aufgewendet werden müssen, um die
Ertragsfähigkeit der Scholle zu heben, werden nun in die
„avances fonciferes" (für die Produktion) und in die
„avances sociales" (zur Aufbewahrung der angehäuften
Güter) eingeteilt, und diese letzteren werden dem Repräsen-
tanten der neu eingesetzten Ordnung, dem Souverän, über-
tragen. Die „avances sociales^' gestalten sich auf diese
Weise zu den „avances souveraines" , dem eigentlichen
Mittel der Ausübung der Staatsgewalt, die also wie aus
dem Gesagten folgt, keine ursprüngliche, sondern eine er-
teilte Macht ist — „instituöe dans la soci^t^ et par la soci^t^" *.
Es ergibt sich daraus, daß, wenn bei den Mitgliedern
der staatlichen Gemeinschaft die Rechte den Pflichten
vorangehen, weil diese nur die Bedingungen der Ausübung
jener sind, so ist für den Staat, bezw. den Träger der
Staatsgewalt, dagegen das Verhältnis ein umgekehrtes. Für
den Souverän sind seine Rechte nur eine Bedingung zur
Ausführung seiner Pflichten, die vorangehen. Denn nur
die Eigentümer haben ihre Rechte von der Natur, der
Souverän bekommt sie erst von der Gesellschaft*. Wir
^ Quesnay, p. 520, Note (ein Auszug aus einer Dupout^schen Schrift).
* Quesnay, p. 687; Le-Mercier, 154.
^ Vgl. Dupont, Table raisonn^ des principes de l'^conomie politique.
VIS
;i|
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haben ea hier also mii OcilankeD r.u tun. <lie von vorii-
berein auf eine Einschränkung der Sbwt^g««-»!! Biclen. 8iA
knUpten im Kerne ao ia& ftitere NaliirnH'Ut an. aber, wio
wir seheD, keinestallä an die absolutistUchpu StAMblhrorU'ii.
wie man es vielleicht nach dem ersten Eindruck vun
der physiokra tischen Suatslehre anttohmcn kaniUe. B»-
merkeDsweri ist im Qegeateil, daS di« Physiokrxtun K*>K*>n
die sLaatsabeolutisti sehen Tendenzen Rouaaean's und Muntctt-
qaieu'a, die in der Betonung des tbrmcUen OetteUcHtiogritls
■um Ausdruck kommen (Rousseau'ä „volenti^ ){ifn*'rnlu"
«inea souveränen Volkes und Montesqiiimi's berlllimto
Deünitton der politischen Freiheit!), gelegentlieh Eins)iruch
erheben. So hat Dupont bei einer Bospreohung der Gonfnr
Angelegenheiten in einigen gegen Rousseau gorichttflen
Ausführungen darauf hingewiesen, daß »b hucIi ia oiuur
Republik nicht genüge, wenn das Volk soiiTerlln svt, denn
auch das souveräne Volk müsse gerecht «ein und seinoii
Pflichten nachgehen °. Daneben polemisiert auch BftudeHU
gegen Montesquieu's DeHiiitlou der politiaihoii Freihält, di«
nach den phyaiokratischen Vorstellungi») dazu fuhren nuißtn,
dnä die Gerechtigkeit, die ju, uur mw: soi, in den vsr-
flchiedenen Staaten eine verschiedene wenin'.
Bestimmend ist auch hier ftlr die Ilaltunff dtiT Fliysio-
Lten dasAblehnen jedesKomprnmtM«"«gewe«<m, der irgend-
oberste Gesetz der Gerechtigkeit iMioinlrtiebtlgen
Auf diesen Grundsatz ist ihre ganz«! Politik
itten, der dadurch nicht zum mindesten ninn gut«
Dosis .rerolationären Temiferameiit»" h»ig(tbracht wurd«.
Daneben kommen aber schon in den politisclHMi Aruganga-
pnnkten der Pbysiokraten auch andere fUr diu ahsolril«
Ksnigtam geftfarlicbe Momente hinzu, di« io jenen h^wtffUra
• tfätmiriin da ciU.ytN. I7?0. D*»Mf'i
M, HIV, u«paa>> Mutmm^uatg tta 1«
92 VI 3
Zeiten nicht lange verborgen bleiben konnten und gar bald
reife Früchte tragen mußten.
Wir haben schon betont, daß der Staat den Physiokraten
nur ein Mittel zum Zweck war, eine von der Oesellschaft
für ihre Interessen geschaffene Institution. Als Folge daraus
mußte sich ergeben, daß der Träger der Souveränität eben-
falls die Gesellschaft, das Volk ist. So haben es auch die
Physiokraten gelehrt.
Le-Mercier knüpft hier an den Begriff der Souveränität
als den der höchsten Macht an. Der eigentliche Depositar
und Hüter der Gesetze, führt er aus, ist das Volk, nicht
weil es allein die Wahrheit besitzt, — diese ist nur da
vorhanden, wo die Evidenz herrscht — sondern weil das
Volk als die Summe der physischen Kräfte, dazu
von der Natur aus bestimmt ist®. Es ergibt sich dann
daraus mit Notwendigkeit, daß Souveränität und Souverän
nicht dasselbe ist. Das hat mit besonderer Deutlichkeit
Mirabeau hervorzuheben gewußt. Es ist falsch, meint er,
wenn der König sagt — „la souverainetÄ est k moi": der
Souverän ist nur der Repräsentant der Souveränität und
dieser, nicht jenem gehören die „avances souveraines".
Es war nur ein Schritt von diesen Ausführungen zu dem
kühnen, wenn auch nicht mehr neuen, von Mirabeau
Ludwig XV. gegenüber hingeworfenen Satze, daß er nur
der erste Staatsbeamte sei^, ein Satz, den der berühmtere
Sohn später seinem Vater entlehnt hat.
Diese Gedanken, besonders in den Erörterungen der
Mirabeau'schen „Theorie de Timpot"^, stehen im inneren
Zusammenhang mit dem ganzen physiokratischen System,
^ Le-Mercier, p. 92.
* Mirabeau, Theorie de l'impöt, pp. 48 — 50; La science ou des
droits et des devoirs de rhomrae, p. 260. — Mirabeau erkennt dann
weiter, daß man dieses Prinzip mit der Forderung einer erblichen
Monarchie vielleicht unvereinbar finden würde, weil die Souveränität kein
Eigentum des Monarchen ist. Er kommt aber diesem Einwurf in
folgenden bemerkenswerten Worten zuvor: ,,lor8 de la vacanoe da
trdne la loi saisit le roi, d^s lors il fait partie lui-mSme de la
propri^t^ publique'^. Lettres sur la l^gislation, Bd. I, p. 197.
PI 3
93
de
mfü»
mit dem VerBuuh, die Entatebung des Staates und wo-
möglich auch seine Organisation auf der OkonomiBchen
Basis der Geaellachaft zu begründen. Denn wird diese
ökonomische Grundlage durch die Tätigkeit der Individuen
geschaffen, so folgt daraus mit Notwendigkeit die ent-
scheidende Bedeutung dieser letzteren für die Gestaltung
des Staates und fUr den Gang der Dinge in ihm. Es liegt
lar auf der Hand, daß dies vor allen Dingen in derjenigen
'atigkeit des Staates zum Ausdruck kommen muß, die
seine materielle Existenz bedingt, also in der Finanz- und
Steuerpolitik. Das war aber für jene Zeit von größter
politischer Wichtigkeit.
Im Laufe des ganzen 18. Jahrhunderte bildeten die
Finanzen in Frankreich den Brennpunkt aller politischen
Erörterungen, weil am Finanzwesen der französische Staiits-
körper am meisten gekrankt hat, und weil jedenfalls in
seiner Unzulänglichkeit die Zeitgenossen den Grund der
kritischen Lage des Staates zu sehen geglaubt haben. Nun
sollen nach der physiokratischen Lehre die Steuern, auf
die es hauptsächlich damals ankam, jeder Willkür entzogen
werden, und nicht von den Staatsgliedem, als solchen,
sondern aus der Quelle des Reichtums selbst, und zwar
aus seinem , disponiblen" Teil, dem Reinertrag, gewonnen
werden. Da aber die Herstellung dieses Reinertrages aus-
schließlich von der Tätigkeit der einzelnen abhängt, in der
sie durch keine Rticksichten gestört werden dürfen, so wird
der Staat in seiner eigentlichen „physischen" Grundlage in
direkte Abhängigkeit von den Staatsuntertanen gebracht,
denn die Maxime, daß die „besoins politiques" den „besoins
physiques" unterstellt werden sollen, verleibt denjenigen,
die für die letzteren zu sorgen haben, das entscheidende
Wort in Finanz- und Steuerfragen , d. h. in den Fragen,
die den damaligen Politikern in jeder Beziehung die auS'
echlaggebenden waren.
Freilich ist diese politische Rolle nicht dem ganzen
Volke sondern einem kleinen Bruchteil zugedacht, oämlicb
1
94 VIS
demjenigen, der nach der Auffassung der Physiokraten die
ökonomische Grundlage des Staates schafft, also der pro-
duktiven Bevölkerungsschicht, als welche ihnen nur die
Grundeigentümer ' und die Ackerbautreibenden (vielmehr
die in der Landwirtschaft Beschäftigten) erschienen sind.
Diese sind also die eigentlichen Gründer und Erhalter des
Staates; bei ihnen ruht die Souveränität, von ihnen geht
sie aus und wird auf die Staatsgewalt übertragen. Sie
bilden daher die politisch bevorzugte Klasse, die von Natur
aus zu herrschen berufen ist*®.
Diese Tendenz, deren Nachklänge wir nicht nur bei
Turgot **, sondern auch bei Condorcet finden, hebt aber den
Grundgedanken nicht auf, den wir aus dieser Stelle zu be-
tonen haben, und zwar, daß die Physiokraten schon in
ihren Ausgangspunkten dem Gedanken einer unbeschränkten,
jede Volksanteilnahme ausschließenden Herrschergewalt
fremd waren. Wir werden im nächsten Kapitel der Weiter-
entwicklung dieser Keime innerhalb des Physiokratismus
nachgehen; hier sei nur bemerkt, daß sie für die physio-
kratische Lehre von der Staatsform nicht von entscheiden-
der Bedeutung geworden sind. Denn in diesem Punkte
haben sich die Physiokraten von andersartigen, mehr
historisch zu erklärenden Erwägungen leiten lassen.
Prinzipiell war ihnen die Frage nach der Staatsform
^® Mirabeau hat diese politische (und staatsrechtliche) Unterscheidung
auch terminalogisch durchgeführt: die Grundeigentümer bezeichnet er als
„r^gnicoles", die übrige Bevölkerung als „sajets" oder „habitants*^.
S. Mirabeau, La science ou les droits et les devoirs de Thomme, p. 168;
älmlich in einem Briefe an den schweizerischen Physiokraten de Butre,
mitgeteilt von R. Reuß, Charles de Butr6, un Physiocrat tourenguau
p. 95/6; vgl. auch Lettres sur la l^gislation, Bd. II, p. 675. — Louis
Blanc, a, a. O. , p. 521, will die Nachwirkung dieser Unterscheidimg in
der später durchgeführten Teilung aller Bürger in aktive und inaktive
sehen.
^^ „Dans la Constitution naturelle des soci^t^s il n'y a que deox
ordres reellement distingu^s, c'est-ä-dire, dont la distinction soit nette,
tranch^e et donne Heu k des droits diffi6rents, Tordre des propri^taires
de biensfonds et le reste des citoyens non propri^taires." Turgot in
einem Briefe an Condorcet, in der Knies^schen Ausgabe des Briefwechsels
des Markgrafen Carl Friedrich, Bd. II, s. 243.
ri!
95
I
glt^ichgUltig, weil es ihueii bloß darauf ankam, daS
im Staate des „ordre natiirel" die Evidenz sonverän walte,
wer auch der konkrete Träger der Souveränität sein mag:
einer, mehrere uder gar alle. Das hat schon voa Anfang
an Quesnay eelbst betont'*, und der Phyaiokrat Baudeau,
den Dupont gelegentlieh als einen eifrigen Verfechter der
absoluten Monarchie hinstellt, ist noch viel weiter gegangen,
indem er es sich Überhaupt versagt zu entscheiden, welche
fitaatsform für den „ordre naturel" die beste ist, und die
liöBung diese« Problems der Anschauung seiner Leser
Überläßt '*.
Es ist nun klar, dafi bei einer ähnlichen Auffassung
die Physiokraten die oben beaprochenen Tendenzen ihrer
Lehre zu einer Politik, wie es ihre Zeit verlangte, nicht
ausbilden konnten, weil ihnen wenig daran gelegen war. —
Die physiok ratische Doktrin ist daher in der ersten Periode
ihrer Entwicklung weniger Politik, als ausgesprochene
Äaturrechtslehre. Zur Politik ist sie allmählich eher unter
dem Drucke der politischen Verhältnisse, als aus inneren
Gründen geworden. Und nicht diese, sondern jene haben
.in Ihr mehr und mehr den „esprit rövolutionnaire" genährt,
der eigentlich jeder Naturrechts lehre innewohnt.
IL
Wofern die Physiokraten, besonders Quesnay und Le-
tfercier, die Präge nach der Staataform näher berühren,
P legen sie doch großes Gewicht darauf zu beweisen, daß die
Monarchie dem „ordre naturel" am meisten entspreche.
Bei der grundsätzlichen Anerkennung der untergeordneten
Bedeutung der Staatstbrm ist diese politische Tendenz nur
IrBua pereönlicber legitimistischer Gesinnung und Königstreue
IjSU erklären, die die meisten Franzosen des IS. Jahrhunderts,
ibeeonders dem „roi bien-aimö", Ludwig XV. gegenüber.
96 VI 3
ausgezeichnet hat. Eine nicht unerhebliche Rolle mag
auch der Gedanke gespielt haben — wenigstens nach den
Angaben Dupont's ** — , daß es mit Hilfe eines aufgeklärten
Prinzen leichter sei den Staat zu reformieren. Diese Ver-
mutung Dupont's beruht hauptsächlich auf den mißlungenen
Versuchen Quesnay's, den König fiir die Doktrin zu
gewinnen.
Hat diese Gesinnung den Physiokraten Le-Mercier nicht
verhindert, in privaten Gesprächen sehr radikale Gedanken
über die französischen Verhältnisse auszusprechen ^^, so war
er es doch hauptsächlich, der die Monarchie als „physique-
ment nöcessaire" für den Staat im „ordre naturel" hin-
gestellt hat. An seine Ausführungen, die die politischen
Tendenzen des Physiokratismus in seiner ersten Periode
illustrieren, soll auch hauptsächlich die folgende Darstellung
anknüpfen.
Ausgehend von dem Gedanken der Einheitlichkeit und
Unteilbarkeit der Staatsgewalt, haben die Physiokraten zu-
vörderst mit allem Nachdruck sich gegen diejenige Staats-
form ausgesprochen, die schon dem älteren Naturrecht unter
dem Namen des „Ätat mixte" bekannt war und als dessen
Vorbild vielen seit dem „Esprit des lois" die englische Ver-
fassung in der Montesquieu 'sehen Darstellung gegolten
hat^®. Das Hauptargument, das gegen diese Verfassung,
das sogenannte „Systeme des contrepoids" oder „systfeme
des contreforces", von den Physiokraten ins Feld geführt
wurde, war der Hinweis auf die der Staatsidee wider-
sprechende Einführung der sozialen Gegensätze in die
oberste Leitung des Staates, die dem allgemeinen Interesse
'^ Quesnaj, p. 125, Note; vgl. Blanqui, Geschichte der National-
ökonomie (in deutscher Übersetzung , 1S40), Bd. II, S. 70; Condorcet
ähnlich über Turgot's Überzeugungen, Vie de Turgot (Oeuvres, t. V),
p. 119/20.
^^ M^moires de Mme. du Hausset, Collection des M^moires
relatifis k la Revolution fran^ise, p. 185/6.
^* Vgl. darüber Tchernoff, Montesquieu et J. J. Rousseau in der
Revue du droit public, Bd. XX, p. 61 et suiv.
zu dieuen berufen ist und die nicht auf den jeweiligea
MachtTerhältDiBseD, sondern auf den unerachütter liehen und
allgemeingültigen Prinzipien der Gerechtigkeit beruhen aolP'.
Die Gesellschaft ist wohl auch in der physiokratist-hen Auf-
fassung sozial geschichtet, aber im Staate sollen sich alle
Klassen zu einem gemeinsamen Zwecke vereinigen. Danach
Boll sieh auch die Leitung des Staates richten, und daher muß
jede parteiische Regierung oder auf immer wechselnden
Kompromiaaen beruhende Staatsordnung im „ordre naturel
lea plus avantageux aux horames rt^unis en soci(5t^" aua-
» {geschlossen sein'*. —
t Es ist interessant zu sehen, daß Quesnay in der ersten
teiner Maximen die Verurteilung des „Systeme des contre-
poids" in einem Satze mit der Verurteilung des Stände-
staates zusammenfaßt („la diviaion des sociöl^a en differents
ordres de citoyens"). Diese Gleichstellung des „^tat mixte"
und des Ständestaates lüßt erkennen, daß der erstere seinen
phy sink ratischen Gegnern nicht als eine Teilung der ver-
schiedenen Funktionen vorkam, sondern die Gestalt einer
jeden Einheit baren Staatsgewalt angenommen hat, bei der
die Ordnung auf bestfindigen zu Recht gewordeneu Kämpfen
beruht. Nur so wird es verständlich, daß alle physiokra tisch
gesinnten Publizisten, einschließlich Turgot's und Con-
dorcet's'", immer ihre feindliche Stellung der englischen
Verfassung gegenüber bewahrt haben*". Dupont hat noch
KifÜr im Jahre 1818 dieselben Argumente angeführt, wie
" QufWDay, pp. 329 — 331, 624 et suiv.; besoniien Le-Morcicr, eh.
U; Dupant, Physiot^rMtie, Bd. 1, p. 51/2; Bsudenu, p. 783 et boIv.
I' Le-Uercier p. lb!i hetunt besonders, daß dna alles nur (tt den „ordre
tarer gilt; in einem depravierton Staate kann dagegen such du
„afittme dea contreforcea" nütilich sein; „. . . la mauvaiea volontd pont
trouver des oppositions pour faire le mal, Eomme In bonne voloutÄ ]>eiit
en troiiier pour faire le bieii".
" Turgot, II. p. 807 (Brief an Price); über Condoroet vgl. L. Cahen
a. a. O., p. ■477, Note 5.
** Von allen physiokralisdien PnblisiBten hat nur der für den Physio-
kralismns wenig bedeutende Abb£ Morellet die englituhe Verfasini^ ver-
teidigt. Vgl. desacn .MSlanges de lilt^rnlure et de philoaophie du Id-iAme
Staala- a. vOlkBiroehtl. Abhan.n. Vis. — Oanttbsrg. 7
98 VI 3
seine Gesinnungsgenossen vierzig Jahre vor der Revolution*'.
In den Ausführungen Le-Trosne's wird es uns auch besonders
klar, wie in den Augen der Physiokraten das „Systeme des
contreforces" auf der Voraussetzung beruhte, daß die Staats-
gewalt dazu da sei, von anderen Mächten im Volke, denen
sie feindlich gegenübersteht, bekämpfit zu werden**. Wir
haben schon an einer anderen Stelle gesehen, dafi eine der-
artige Auffassung mit der Staatsidee im 18. Jahrhundert
völlig unvereinbar war.
Daher haben die Physiokraten mit ihrer ablehnenden
Haltung gegen das „systfeme des contreforces" nicht gegen
die Teilung der Funktionen innerhalb einer einheitlichen
Staatsgewalt Einspruch erhoben, sondern gegen eine Ze^
splitterung der Staatsgewalt überhaupt, als welche ihnen
die englische Verfassung vorkam. Sie haben ja selbst in
ihrer eigenen Lehre die vollständige Abteilung der richter-
lichen Gewalt verlangt und sind, an französische Verhält-
nisse anlehnend, sogar bis zur Forderung gegangen, daB
diese zwischen Souverän und Nation über die Verfassungs-
mäßigkeit der Gesetze zu entscheiden habe (vgl. unten
S. 109). Und dann haben sie auch die Vereinigung der
gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt in einer Hand
nicht so sehr im Zusammenhang mit der Polemik gegen
den „ötat mixte" als mit der Auffassung von der bloß ver-
waltenden Aufgabe der Staatsgewalt befürwortet, worauf
wir noch näher zurückkommen werden*®.
si^cle, t. III., Lettre ecrite k roccasiou de rouvrage intital^ — Examen
du gouvernement de TAngleterre (besonders p. 177).
«' Phvf'iocrates, ^d. E. Daire, Bd. I, p. 413.
22 Le-Trosne, pp. 249/51.
*^ Die im Text vertretene Ansicht wird auch dadurch bestätigt,
daß zwei während der Revolution tatige Schüler der Physiokraten, Con-
dorcet und Dupont, bei der fortgesetzten Bekämpfung der englischen Ver-
fassung oder des „Systeme des balances", wie man es damals nannte,
dennoch nichts gegendieTeilungder Funktionen derStaatsgewalteingewendet
haben; daß sie sogar bei der Forderung einer einheitlichen Volksvertretung
die Teilung der letzteren in zwei Kammern vorgeschlagen haben. L. Cahen
a. a. O., pp. 477 — 479, 511/2 berichtet, daß die diesbezüglichen Vorschläge
Condorcet's von den Jakobinern sogar direkt als ein Zweikam mersyatem
99
B Staatsgewalt, die von den Datürlichen Gesetzen ein-
geschränkt ist, darf also in der AuaUbung ihrer Pflichten
auf keioe Hemmungen stoßen, wie es in den „4tat8 mixtes"
tder Fall ist. Welche Staats form bürgt aber am besten
fcr die Erfüllung dieser Forderung?
' Das erste, worauf man bei einem Versuche diese Frage
au beantworten kommt, bezieht sich darauf, wem eigentlich
im Staate die gesetzgebende Gewalt gehöre. Hier treten
bei den Physiokraten gleich diejenigen Erwägungen auf,
mach denen es ein Problem der Gesetzgebung im eigent-
pchen Sinne des Wortes gar nicht gibt. Die Gesetzgebung
[ehöre „primitivement" weder dem Volke, noch dem
marcheo, denn die Gesetze sind von Gott für immer in
Ben „lois physiquea et morales" niedergelegt. Die Staats-
[ewalt ist, wie wir schon mehrmals hervorgehoben haben,
nur eine vollstreckende Gewalt. Als zweckmäßigster Voll-
Btrecker erscheint ihnen aber nur ein mit voller Macht aus-
gestatteter Monarch.
ILe-Mercier versucht ea dennoch naher auf eine Kritik
■er Staatsform einzugehen, bei der die gesetzgebende Ge-
Pralt der „nation en corps" übertragen wird". Die Vcr-
Kidigung einer derartigen Verfassung, meint er, beruht
ftuf dem Wahn, daß die primitiven Menschen von Natur
Aus gleich seien. Das ist aber falsch, weil es dem in der
menschlichen Natur begründeten Prinzip des Eigentums,
das die Ungleichheit voraussetzt, widerspricht. Und wenn
diese Annahme auch richtig wäre, konnten doch nicht alle
ICitglieder der Nation an der Gesetzgebung teilnehmen,
Ireil die Gesetze ihrem Inhalte nach keine Gleichheit her-
^ trarden. Belege dafür lu bezog fLaf Dupont b. bei Schalle a. a. O.,
. 271—276. — Auch der Graf Mirabeau ist ala Verteidiger der Ge-
altanteilang (s^paratiaD des ponvoire, besonders der Selbstündtg-keit der
erichte) and, in AnlchnuDg na »eine ph/siokratiacheD Lehrer, gE){«n
doü „sjBtime deo balances" aiifgetret«n ; vgl. F. Deerne, Lh id^a
Slitiquea de Miraheati in der KeTDO historiane, 1883, t. KXIl, pp. 43,
6 et auiv.
•♦ Lfl-Mercicr, oh. XVI.
100 VI 3
stellen, sondern im Gegenteil die Ungleichheit konsolidieren.
Auch ist es verfehlt, lehrt er weiter, wenn man die Demo-
kratie auf dem Begriff der „nation en corps^ begründen
will, weil dieser Begriff das Vorhandensein eines gemein-
samen Interesses schon voraussetzt, das durch einen ein-
heitlichen Willen repräsentiert wird. Dieser einheitliche
Wille muß aber ein Zentrum, einen Sitz haben, der nichts
anderes als die Staatsgewalt selbst sein kann. Daher wird
die Nation zu einem „corps" erst, wenn eine Staatsgewalt
vorhanden ist; denn ohne diese bildet sie nur eine Vielheit
verschiedener ^ordres des citoyens" , die ihre besonderen
Interessen vertreten und zwischen denen Einheit eigentlich
nur durch Stimmabgabe zu erreichen wäre. Da stellt sich
aber gleich heraus, daß Einstimmigkeit zu erreichen tat-
sächlich unmöglich ist, während das Mehrheitsprinzip jeder
vernünftigen Unterlage bar ist, denn es setzt an Stelle des
monarchischen Despotismus die Tyrannei der Mehrheit
(der „Demokratie") und gewährt somit einem Teile des
Volkes die Herrschermacht über den anderen. Le-Mercier
fürchtet dann auch die Allmacht, die sich die Volksversamm-
lung, wenn sie gesetzgebend wirkt, zu eigen machen könnte,
weil sie sich dann über alle Gesetze erhaben fühlen würde.
Da die Beschlußfassungen auf Machtverhältnissen beruhen
(das Mehrheitsprinzip!), so, glaubt er, wird die Volksversamm-
lung stets bemüht sein, die richterliche und vollziehende
Gewalt in ihre Hand zu nehmen, was ihr aber nur zur Zeit
ihres Funktionierens gelingen wird; sobald sie aber aufgelöst
ist, verliert sie ihre Macht und mit ihr der Staat jede autora-
tive Gewalt^*.
So ist die Kritik der „nation en corps" als eines Gesetz-
gebers allseitig begründet. Diese Kritik läuft schließlieh
^^ „. . . par ce moycn tout serait confondu: lors qa'eUe serait
asserabl^e, eUe forraerait une puissance absolument et nScessairement
ind^peudante des lois d6j4 faites, mais d^s qu'eUe serait dispersa, ii ne
resterait plus apr^s la dissolution de cette puissance arbitraire, que des
lois Sans autorit^, et un 4tat gouvem^ sans 6tat gouvemant . . .^ (Le-
Mercier).
ii
6
101
wiederum auf die Behauptung hinaus, daß man bei der
Entscheidung der Frage nach der Staataform hauptsächlich
im Auge haben muß, daß die eigentliche Aufgabe der
Staatsgewalt die Verwaltung im weitesten Sinne des Wortes
Ea bleibt aber doch noch die Frage bestehen, ob nun
I die verwaltende Funktion vom Volke als Ganzem ausgeübt
I werden kann. Naher sind die Phyaiokraten darauf nicht
I eingegangen. Es leuchtet aber aus allen ihren Ausfllhrungen
daß sie diese Frage entschieden verneinen mußten.
I Begieren heißt nicht Gesetze machen, sagt Le-Trosne, und
lea wäre daher etwas „Monströses", wenn man die Regierten
I mit den Regierenden vermengen wollte *".
Le-Mercier geht noch dann kurz auf die ariatokratiscbe
Regierungsform ein*'. Er lehnt sie ebenfalls ab, weil sie zu
Interessen kämpfen innerhalb des „corps desadministrateura''
und zu Spaltungen der oberaten Gewalt führt und dadurch
die Tätigkeit hemmt. Der Glaube, daß die aufgeklärte
öffentliche Meinung hier die Mißbräuche entfernen könnte,
»fährt er fort, beruht auf einer falschen Annahme, daß die
Begierten aufgeklärter sein könnten als die Regierenden,
einer Annahme, die die Physiokraten Überhaupt gar nicht
ßmsen konnten. Dann werden auch bei einer aristokratischen
Begierung die Beschlüsse nicht auf Grund vernünftiger Ein-
sicht, sondern nach der Meinung der Mehrheit gefaßt.
Alle diese Mängel besitzt sowohl eine „natürliche" Aristo-
kratie, wie auch Kollegien gewählter Administratoren, mögen
sie auch aus Vertretern der oberen und unteren Volksschichten
zugleich bestehen. Die einzige rationale Staataform bleibt
also nur die monarchische, deren allseitige positive Ver-
teidigung Le-Mercier nun unternimmt.
Der Monarch soll als Träger der Souveränität nur
iTerwalten und zu diesem Zwecke über die „force publique"
»Verfügen. Da der Hauptinhalt seiner Tätigkeit in der ein-
102
VlSi
walt '
lan-
heitlicben Leitung der Gesellschaft in dar Richtung eines |
all gemeinen Zweckes über alle Einzelinteressen hinweg
bestehen soll, und da bei den anderen Staatafornien sowohl
die Einheit als die Möglichkeit, Über partikulare Interessen
sich zu erheben nicht vorhanden ist, so muß nun bewiese!
werden , daß diese Bedingungen bei der monarchisch«
Staatsform zutreffen.
Was vor allen Dingen die Einheit der Staatsgewalt
betrifft, 80 ist sie durch den einen physischen Träger gaian-
tiert — „par rapport a l'action et par rapport au principe",
wie sich Le-Mercier auadrückt^". In erster Hinsicht (.pai
rapport ä l'action"), weil nur einer die Unteilbarkeit dei
Staatsgewalt repräsentieren kann, und weil die Ausübung
der Gewalt in der Gesellschaft nur durch einen hüchstei
Willen vollzogen werden muß, widrigenfalls wir nicht einoj
sondern zwei und mehrere Staaten und Staatsgewalten^
hätten. In zweiter Hinsicht („par rapport au principe'),
weil die soziale Gerechtigkeit, oder die Evidenz der natür-
lichen Gesetze der Gesellschaft, auch nur eine ist und daher
ebenfalls nur von einem vertreten werden kann; denn wollte
man glauben, daß dazu mehrere notwendig sind, so mUßto
man annehmen, daß die Wahrheit nicht aus der EinsicbftH
der Vernunft, sondern aus dem Kampfe der Meinungen her«
rUhre und auf dem mechanischen Majori tlUsprinzipe berubafl
Dann ist es zweitens ersichtlich, daß nur ein Monarch
allen EinzelinteresEen gleichgültig gegenüberstehen kann,
um das Interesse des Ganzen zu verfolgen '", Der Beweis
dafür beruht darauf, daß nur bei einem Monareben daa
nilgemeine Interesse zu seinem persönlichen Interesse werden
kann , so daß es „physisch" unmöglich ist, daß er zum
Nachteil des Staates handle, weil man nicht annehmen
kann, daß man sich selbst schaden wird, sobald man dio
richtige Einsicht darüber, was schädlich und was nUtzlidi
ist, gewonnen hat.
Vi 3
103
Nun besteht aber das atigemeine Interesse der Gesell-
schaft in der Vermehrung der materiellen Güter durch den
Äckerbau, d. b. in der Vergrößerung des disponiblen Teiles
der Ertrage. An diesem disponiblen Ertrag hat auch der
Monarch einen rechtlichen Anspruch zur Bestreitung seiner
Ausgaben. Dieses Recht stützt sich darauf, daß der
Souverän auf seinen Anteil an Grund und Boden und
dessen unmittelbare Ausnutzung (aU ^propriölaire" und
„cultivateur") naeh der vollzogenen sozialen Differenzierung
verzichtet hat, um sieh vollstilndig der Aufgabe der öffent-
lichen k)icherheit zu widmen. Das so entstandene ^Mit-
eigentum" ^", welches nun das Recht der Besteuerung be-
gründet, Süll auch den Beweis der „physischen Notwendig-
keit" einer monarcliischen , durch Erblichkeit in ihrer
Wesenheit bekräftigten Gewalt liefern : denn nur ein Monari.-h
Ikann durch das Miteigentumsrecht an den Interessen aller
von dem disponiblen Teile der Erträge Lebenden gleich-
inBßig gebunden werden. Wo die Hlaatsgewalt mehreri.n
^hört, die nicht nur Über der Geseilsehaft, sondern auch
iin ihr stehen, die nicht nur Eigentümer der öffentlichen
Qewolt, sondern auch Vertreter partikulärer Interessen sind,
dort wird es stets Konflikte geben, die gewöhnlich zu Gunsten
4ieser Interessen entschieden worden.
Diese Begründung der monarchischen Slaatsform spitzea
die Physiokraten noch durch folgende Ausführungen zu.
Da der Souverän für die Verwirklichung der sozialen Ge-
rechtigkeit zu sorgen hat, die im , ordre naturel", so wie
die Theoreme in der euklidischen 'leoraetrie, despotisch
herrschen sollen, so ist auch die wahre Monarchie nach der
physiokratischen Terminologie als ein „deapotisme l^gal"
L»u bezeichnen^'.
Le-Mercier ist noch einen Schritt weiter gegangen
Lcd hat im Hinblick auf die „physische" Eigenschaft dieser
im, pp. 146'9; Queanay, p. 517.
' Dero „deapotianio l^gul" wird der „despotigme arbitraire" gegen*
hergestellt; Le-Hercier, .cb. XXU und XXIV.
10(!
VI 3l
keine „loie fondaraentalea" Laben, sondern nur „reglemenU ]
de detail et de police" bedürfen*^. Dort gibt es keine
Richtscbnur für einen Monarchen, wie im agrarischen
Staate, dort muß in jedem Falle besonders entschieden
werden, damit man sich an die jeweiligen Umstände anpassen
kann. Darüber soll aber nur das ganze Volk Entschlüsse
fassen; daher bedürfen die nichtagrarischen Staaten keines
Oberhauptes, und sie bilden eine Republik, für die auch
der kleine Umfang des „dtat marchand" günstig ist^'
So verstehen die Physiokraten auch die republikanische
Staatsform zu rechtfertigen, und zwar wiederum von
ökonomischen Voraussetzungen ausgehend: wo die Steuern
den „lois physiquea" nicht unterworfen werden können, da
muß das ganze Volk dem jeweiligen Souverän entgegen-
treten und über sie entscheiden; da haben wir es mit einer
republikanischen „Constitution orageuse" zu tun.
Wird aber die Republik im industriellen Staate sur
Notwendigkeit, so ist sie dagegen in einem Staate wie Eng-
tand nur als das Resultat der Unkenntnis des „ordre naturel'
zu betrachten, wenn auch die dadurch hervorgerufenen Miß-
stände durch andere gute Gesetze gemildert werden. Man ,
sieht nun, wie den Physiokrateu nach ihrer eigenartigen Ter-
minologie auch eine Monarchie wie England als ein seinem I
Wesen nach republikanischer Staat gelten konnte, wenn die ■
Steuergesetzgebung nicht auf den „lois phyetques", sondern
auf einem Kompromiß zwischen Volk und Herrscher beruhL
Unter diesem Gesichtspunkte sind auch die Physiokraten ii
ihrer Zeitschrift, den Ephemeriden, bei den bestehendei
steuerpolitischen Verhältnissen sowohl für die englische Ver- I
fassung überhaupt, wie auch für die Forderung der nord-
amerikanischen Kolonien, nicht ohne Bewilligung besteuert |
zu werden, eingetreten,
" Darilber Miraheau in der Philoaophio rurale, U I, jip. 24'5 uud j
Dupont in den sohon erwÄbuten Abhandluagen über dio Genfer Bepublik
in den Ephemeriden vom Jahre 1710, Beli XII.
" EphimitiduÄ du eitoyen, 1768, Heft VH, p, 31; 1770, Heft SIL I
pp. 186/18Ö. ' V ^ ' "* j
r VI 3
107
I
I
Wie tief diese Anschauung im PhyBiokratisrnua gesteckt
hat, bfiwetst ein Brief Dupont's an den badischen Minister
Edetsheim am Vorabend der Revolution, in dem der
Beschluß vom 9. Mai 1787 über die Einführung eines
port de repartition" an Stelle eines „import de quo-
It^"^' als ein Moment von größter historischer Bedeutung
bezeichnet wird, weil dadurch Frankreich von einem monarchi-
schen zu einem republikanischen Staatswesen geworden
sei ; denn von nun ab soll die Höhe der Steuer nicht von der
Höhe des disponiblen Teiles des Nationaleinkommensabhängen,
sondern von der Summe der Ausgaben, die von der Re-
gierung bestimmt wird, und gegen die die Eigentümer im
Interesse des nationalen Reichtums stets das Recht haben
werden Einspruch zu erheben*'.
Immer wieder kommen also die Fhjsiokraten auf die
„natürlichen" Gesetze der Steuerverfassung im landwirt-
Bchaftlichen Staate zurück und geraten somit allmählich auf
umstürzlerische, anfänglich nicht beabsichtigte politische
Bahnen. Doch treten sie mit den eben geschilderten Er-
örterungen schon in die zweite Periode der Entwicklung
ihrer Politik ein,
UI.
Kehren wir nun zu den Ausführungen über die
monarchische Staatsgewalt zurück, so sind ihre Haupt-
bedingungen die Vereinigung der Legislative und der Exe-
kutive in einer Hand und die vollkommene Selbständigkeit
der Gerichte. — Die erste dieser Bedingungen folgt wieder-
um aus der Grundauffassung von dem Wesen der Staats-
la bezieht sii^h withrsclieialich nuf die von Briemie nficli dt
FAUr(|Deai'B Kiichtritt (dessen erster MiUrboiter Dupont war) bestimiiit
tetgewtete Summe, die durch die der NotRbcliiTerBftniiDlaDgTorgeschlH^eiio
Stenerrefonii erzielt werden soll. V);l. A. Wahl. Die NotsbelnreTBainm-
limg von 1787, 8. 72, Anm. 1.
"* PolitiBcho Korrespondenz von Kiirl Friedrich von Boden, hernusg.
von B. EMmonnsdörfer, tb68, Bd. I; Briefe vom U. Juli und 21. Aagatt
1887 (8. 27» ff); vgl. des>elben Krilik der ent^litchen Verfassung im Aii-
schluB Hn eiue Aualjse des bekanntea Buches von de l'Olme in einem
Schreiben an den Erbprinien Karl Ludwig von Baden, a. Briefwei^el
Markgrafen Karl Ir^iedrich, II, SS. 216—234.
108
VIS
gewalt, wonach ibre eigentliche Funktion die Verwaltung
iat. Die Gesetze, die der Souverän verkündet, sind
Veroi-dnungen, die im Rahmen der „lois naturelles" gehalten j
werden müssen. Wer Verordnungen erläßt, muß aber auch |
die Macht haben, sie auafuhren zu können; daher,
schließen die PJiysiokraten, ist im „ordre naturel" die Exe- 1
kntive „physiquement" an die Legislative gebunden, weil J
im entgegengesetzten Fall die Slaategewalt die Macht nicht J
ausüben könnte, die sie de jure besitzt^*.
Mit großem Nachdruck wird dann die Notwendigkeit^
der Trennung der richterlichen Gewalt von der gesell- f
gebenden betont. Die Richter sind in der geordnetea I
Gesellschaft berufen „gardiens et d^positairea" der Gesetss '
zu sein *". Ihnen muß die Evidenz der natürlichen Gesetze
erschlossen sein. Der Kichterstand ist der „corps moral
de la natioE, c'est k dire la partie pensante du peuple*
(Quesnay); er bildet daher durch die Anwendung und Aus-
führung der Gesetze den „Heu commun de la soci^t^'.
Dem Souverän muß die richterliche Gewalt entzogen
bleiben, weil ihre Hauptaufgabe auf die Feststellung der
Tatbestände sich bezieht, welche Tätigkeit bei den hier
leicht vorkommenden Irrtümern die Autorität des Souveräns
beeinträchtigen könnte. Außerdem, wenn der äouverän
Richter wäre, wüßte man nicht, wann er als Gesetzgeber
und wann er als Richter aussagt, und bei einem möglieben
Irrtum wäre keine höchste Gewalt vorhanden, an die man
appellieren könnte. Sprechen diese Gründe für die Unab-
hängigkeit und Selbständigkeit der Gerichte, so sind aber
die Formen der richterlichen Tätigkeit, die für die Objek-
tivität bei der Feststellung des Tatbestandes bürgen sollen,
von dem Souverän zu bestimmen, der auch in Fällen der
Verletzung dieser Formen als Appellationsins tanz gelten soll*'.
s» Le-Mercier, pp. 101—103, 181/2; Dupont, Phj-Biocralie, tin,p.2
*" Le-Marcier, eh. Xm.
*' Ibidem, cb. XU, pp. 82—85; Dupont, Physiooralie , I
p. 27— -Ä.
VI 3
109
Doch steht den Gerichten not'h eine weitere, viel
wichtigere Aufgabe zu, AU „d^positaires et gardiena des
vollziehen sie nicht nur den Willen des Gesetzgebers,
mdern sie prüfen auch dessen Verordnungen auf ihre
Verfasaungsmäßigkeit, ob sie nicht etwa mit den ,lois
I naturelles et easentielles" im Widerspruch stehen — ,dans
lea caa oü on serait parvenu k ögarer son (des
(Herrschers) opinion."'^ Ist nach den phyaiokratischen
Y Anschauungen die „Evidenz" die einzige natürliche „contre-
I force" gegen die möglichen Ausschreitungen des Herrschers,
\ so bekommt sie nun im Richterstande einen konkreten
Darin liegt die Einschränkung, die Mäßigung der
lanonarchiachen Gewalt.
Unzweifelhaft stand hier dem Physrokraten Le Mercier,
Ksinem Parlamentsherm , das parlamentariache Recht der
l^remontrances" vor Äugen; man erkennt in der ganzen
Darstellung den warmen Verteidiger dieses in der zweiten
iHfilfte des 18. Jahrhunderts politisch ao hoi'hbedeutenden,
I bis torisch hergebrachten Instituts*'; ja sogar die Termino-
Klogie (z, B. die Bezeichnung „gardiena et d^positaires dea
tlois") erinnert an die Sprache der Parlamente. Ea war
■den Phjeiokraten um so leichter, dieses Inatitut in den
■ „ordre natural" zu übertragen, als Quesnay es auch im
I Ifl US ter lande China entdeckt zu haben glaubte. Daß da-
I mit gerade ein einschränkender Faktor gemeint war, beweist
■ auch der Umstand, daß in bezug auf die „ rem on trän ces",
' die die monarchische Gewalt mäßigen aollen , Quesnay es
fbr notwendig hielt hinzuzufügen, daß sie die Staatsgewalt
nicht untergraben, sondern im Gegenteil stutzen und be-
festigen. Dennoch warnt er den Herrscher vor den Folgen,
I wenn er die „reraontrances" nicht beachten sollte".
' Iie-MoreiBr, p, IlO/li.
■"■■■■ E. etwa
B pUyaioi
s gewagt
l'StellQiig der GerEchte
■ 'i ce qui devait fttni in Uour siipnli
■■Ii'tdäe de la SouverainutiS d'npri» li
|:«i«cle. ThAse. Paris. 1904, p. 281.
* QueanBr, p. 60a/7.
nun , daß duruli dioae
prupoaent uno Institution analogue
1 dea EtatH-Unis". L. Amiline.
iurivains fransaia do XVIII-iAroo
111)
VI 3
In (lieBör Lehre von der Stellung der Gerichte tritt der
Zusammenhang deutlich vor Augen, in dem die politische
Doktrin der Physiokraten in der ersten bis jetzt geschilderten
Periode ihrer Entwicklung mit den zu ihrer Zeit herrschenden
Anschauungen von den Grundgesetzen des frauKösischen
Staates steht.
Schon KU Zeiten Ludwig XIV, und dann besonders
im Laufe des 18. Jahrhunderts sind die Überreste der
von altersher der königlichen Gewalt widerstreitenden
Machte zu einer Theorie der „monarchie tompöröe" zu-
sammengefaßt worden, als welche auch nach seinen Grund-
gesetzen das französische Königtum gelten sDlIte**, Die
Phjsiokraten, die auf möglichst friedlicliom Wege die
Reformierung des französischen Staates erreichen wollten,
haben immer ihre Plane und Ansichten an bestehende
Verhältnisse anzuknüpfen gesucht, und sieht man nun
nilher zu, so erscheint auch wirklich ihre Lehre vom
^despotisrae I4ga!" nur als eine neue Begründung der Lehre
von der „raonarchie tempöröe" *^. Neben der mäßigenden
Wirkung der Gerichte und der unverletzbaren „natürlichen"
Gesetze, die die Physiokraten mit den historisch her-
gebrachten Grundgesetzen des französischen Königtums oft
zusammenfassen, ist hier auch die Stellung hervorzuheben,
die sie den Grundeigentümern in ihrem Staate zuschreiben
als denjenigen, die von Natur aus berufen sind, die
herrschende Volksschicht zu bilden. Diese Auffassung war
sehr günstig für den Adel, und die Physiokraten haben
eich dadurch trotz der Bekämpfung der Standeprivilegien
wiederum an einen Faktor aus der ,monarchie temp^r^e-
angelehnt, der den Monarchen, wenn nicht einzuschräDken.
so doch zu mäßigen berufen ist. Und wirklieb soll die
ganze Verwaltung nach der physiok ratischen Lehre in den
* Vgl. A, Wühl, Nota bei nvernammlnng, 8. 5,
s V, Note 15 — hervor
Hunden dieser bevorzugten Klasse sich befinden, die Bau-
deau ausdrücklich die „classe des propriitaires" oder
es nobles" nennt, wobei er gerade im Hin-
blick auf ihre poÜtische Stellung auf die zweite Beziehung
besonderen Nachdruck legt*'.
Waren schon in dieser Theorie von der „monarchie
terapör^e" einige einschränkende Elemente vorhanden, so
kommt aber nun bei den Physiokraten noch ein neues Moment
hinzu, nämlich: der Staatsgewalt soll als „contreforce" auch
noch das gesamte aufgeklärte Volk gegenübergestellt
werden **. Wohl sind sie noch vorsichtig genug zu behaupten,
daß die eigentliche „contreforce" die Evidenz der natürlichen
Ordnung ist. Gar bald kommen sie aber darauf zu sprechen,
i6 der Träger dieser Evidenz die Gesellschaft, das
olk ist.
Das war ein Gedanke, der in den Anfängen noch in
sehr bescheidener Formulierung in die Lehre von der
gemäßigten Monarchie unter der Bezeiclinung „publicit^",
„4vidence publique", „opinion gönörale", „opinion pub-
lique"*^ eingeführt wurde. Aber schon Baudeau's Er-
örterungen in seiner „Introduction k la philosophie (5cono-
mique", wo von einer Organisation der öffentlichen Meinung
noch gar nicht die Rede ist, laufen vom 6. Kapitel ab auf
den Beweis hinaus, daß die „monarehie iSconornique" nicht
die Herrschaft eines einzelnen, sondern die Einheitlichkeit
1er Staatsleitung und die Mäßigung der Staatsgewalt durch
lie Öffentliche Meinung bedeute.
Wie gesagt, haben wir es anfänglich nur mit Ansätzen,
lie Bedeutung dieses neuen Momentes hervorzuheben, zu
>
uri
i
' Biudeau, p. 669. — Es iat «elbBtrerständlicti , daß dar MNrquis
■irabean an dieser ADfTasBiing Hieb beiondcrn fealhiolt, vgl. seinen Brief
T Longo Tom 3, Nov. 1778 im Appfindice dos III. Bandes der MÄmoirea
' raphinues, litt£raires ot politiquca de Hirabean Berits jiar lui mfime.
n pere, sod oncle et «on fils adoptif.
" Qaemar, pp. 831 (II Maxime), 584 et Buiv., 641; Le-Trosne,
m.
* Le-Mercier, pp. 110, 155 et miy., 169, 198-200, 212.
112 VI 3
tun. Es wird daher im Anschluß au Quesnay's „Despo-
tisme de la Chine" mehr die Bedeutung der „instruction
publique" als der „opinion publique" betont. Die Auf-
klärung (instruction) soll eben die öffentliche Meinung im
Sinne der Forderungen des ^ ordre naturel" gestalten, zu
welchen Zwecken die nötigen Bücher, die Katechismen der
Volksautklärung, wie in China, allen zugänglich gemacht
werden müssen. Im Anschluß daran haben auch die Physio-
kraten die Bedeutung der freien Presse anerkannt, wenn
sie auch manchmal die Meinung aussprechen, daß schlechte
Gedanken und verführerische Bücher unterdrückt werden
sollen *®.
Diese ersten Äußerungen über die Bedeutung der
öffentlichen Meinung haben den Boden geschaffen, auf dem
der anfänglich von Quesnay und Le-Mercier so stark
legitimistisch gefärbte Physiokratismus allmählich in das
Fahrwasser der damaligen staatserschütternden Theorien
geriet. Diese revolutionäre Wendung war aber schon in den
naturrechtlichen Ausgangspunkten der Lehre begründet.
Erinnern wir uns, daß die Staatsgewalt für die Physio-
kraten nur eine dienende Rolle spielt, daß sie von der
Gesellschaft bzw. den Eigentümern eingesetzt ist, daß ihre
Grundlage die „röunion des volontös" bildet, so wird es
verständlich, wie leicht sehr weitgehende Konsequenzen
aus der Betonung der öffentlichen Meinung gezogen werden
konnten, sobald der Gedanke einer faßbaren Organisation
des „voeu public" aufgetaucht war. Das ist auch bald
geschehen.
^® Mirabeau, Ami des Hommes (^d. Eoozel), p. 240; Dupont, Physio-
cratie, t. I, p. 52/3.
Siebentes Kapitel.
I.
Einer der unversöhnlichsten Gegner der physio-
kratischen Doktrin, der Abbö Mably, hat dem Physiokraten
Le-Mercier vorgeworfen, daß er im Widerspruch mit der
Lehre von der Unfehlbarkeit des Monarchen ein Gegen-
gewicht in der kontrollierenden Tätigkeit der Gerichte ein-
gesetzt habe ^. Mag dieser Vorwurf auch den Kernpunkt
der Theorie vom „despotisme 16gal" nicht treffen, jedenfalls
weist er richtig darauf hin, daß die Physiokraten, nachdem
was wir bis jetzt von ihnen geschildert haben, zwischen
Monarch und Volk keine Zwischenstufen, keine „corps inter-
mödiaires" dulden konnten, weil das nach ihrer Meinung
zur Spaltung der Staatseinheit führen muß. Diesen starren
Standpunkt hat aber der Physiokratismus , als Ganzes be-
trachtet, im Laufe der Zeit verlassen müssen, als er in
der praktischen Politik, vertreten von Turgot und Dupont,
in der Gestalt eines Systems von Reformplänen zur Rettung
Frankreichs auftrat ^. Die Gründe für den Umschwung sind
ebenso sehr innerhalb, wie außerhalb der Doktrin zu suchen.
Was die inneren Gründe betrifft, so haben wir darauf
schon in der früheren Darstellung, bei der Hervorhebung
der oppositionellen Momente in den Ausgangspunkten der
^ Mably, Doutes propros^s auz philosophes ^conomistes sur Tordre
natarel et essentiel des soci^t^s politiques, eh. III.
' Über die allmähliche Radikalisierung der Physiokraten vgl.
A. Jobez, La France sous Louis XVI, p. 341/2.
Staats- u. Völkerrecht!. Abhandl. VI 3. — Qflntzberg. 8
114 VI 3
physiokratischen Politik hingewiesen. Von praktischer Be-
deutung sind dabei die Grundsätze der Steuerpolitik
geworden. Mit der Steuerlehre — also von den die Zeit
am meisten bewegenden finanzpolitischen Problemen aus-
gehend® — sind daher auch die Physiokraten zuerst hervor-
getreten, um die Umbildung der sozialen und politischen
Struktur des französischen Staates anzubahnen. Was wir
aus dieser Lehre hier hervorzuheben haben, ist die mit
Notwendigkeit aus ihr sich ergebende Forderung, bei einem
Versuche, die Reform ins Leben zu rufen, das Volk bzw.
die Grundeigentümer, zur Finanz- und Steuerverwaltung
heranzuziehen. Denn hängt die Steuerquote, also die
materielle Grundlage des Staates (man beachte, daß die
indirekten Steuern von den Physiokraten aufs Schärfste
verdammt und zur vollständigen Abschaffung verurteilt
waren) von der Höhe des Reinertrags ab, an den sie
sich anzupassen hat, so müssen die „rägnicoles" nicht nur
über die Höhe ihrer Erträge befragt werden*, sondern
auch das Recht haben, sich regelmäßig zu versammeln, um
über die Steuerveranlagung und Erhebung zwecks gleich-
mäßiger und gerechter Belastung zu beraten und zu be-
schließen. Die Verwaltung des Steuerwesens und alle anderen
damit zusammenhängenden Verwaltungszweige müssen also
von den königlichen Beamten auf die Steuerzahler selbst
übertragen werden.
Mag dadurch nur eine tiefgehende Verwaltungs reform
angebahnt worden sein, so enthält dies doch schon im
Keime den Gedanken der Notwendigkeit einer gewissen
Organisation der Staatsuntertanen dem Monarchen gegen-
über, eine klare Absicht diesen, wenn nicht in seinen Rechten
einzuschränken, so doch, um mit Mirabeau zu reden,
„Ätablir un compte ouvert entre le Souverain et la nation"*.
Nun kann aber diese Berufung des Volkes zur Anteil-
« Vgl. St. Bauer, a. a. O. S. 153/4.
* Durch die Forderung der Selbstanzeige; vgl. Qaesnaj, p. 191 '2.
^ Theorie de l'impot, p. 473.
115
BSahme an der Regierung nur unter der Bedingung zu
ersprießlichen Resultaton fiihren, daß daa Volk, wie die
Physiokraten lehrten, über die Grundsätze der Politik
unterrichtet wird und eine aufgeklärte öffentliche Meinung
herauBbUdet ; nur dann werden auch eeine RepräHentanlen
die Volksmeinung tiber die Zustände im Lande, über die
allgemeinen Bedürfnisse und die geeignetesten Maßnahmen
dem Herrscher gegenüber vertreten können. Dieses Ver-
langen eines „compte ouvert" zwischen Volk und Monarch
Iund die Forderung einer aufgeklärten, das Volksintereeae
wahrenden öffentlichen Meinung vereinigen sich aber mit
Kotwendigkcit zu der Erkenntnis, daß der ^voeu public"
gewisse greifbare Formen annehmen muß und daß schließ-
lich die Bildung der anfänglich so energisch abgelehnten
,corp9 intermödiaires" zwischen dem Souverän und dem
Volke doch unumgänglich ist.
Zu diesen Konsequenzen, die die politisch zaghaften
■Physiokraten aus ihrer eignen Lehre unter anderen Um-
ntflnden vielleicht nicht gezogen hätten, haben sie auch
■feoch Süßere Gründe bewogen.
Schon seit dem Ende der Regierung Ludwig XIV., als
die ersten Symptome des allmählichen Verfalls der alten
französischen Monarchie zum Vorschein kamen, hat sich
die öffentliche Meinung in der Person einiger hervorragender
Geister mit Plänen zur Rettung des Staates von den ihm
drohenden Gefahren zu beschäftigen begonnen. Wie es in
solchen Fällen oft vorkommt, hat man zuerst die Mittel
zur Genesung bei den alteu, zur Zeit besiegten Mächten zu
finden geglaubt. FUr Frankreich waren es diejenigen
Mächte, die einst der emporsteigenden, starken, zentra-
lisierenden Köuigsgewalt langen und hartnäckigen Wider-
stand geleistet haben, also vor allem der feudale Adel,
P So sind auch zuerst am Anfang des 18. Jahrhunderts die
ffeudalistiscb-aeparatisti sehen Pläne der Herzöge von Burgund
mnd St.-Simon sowie Fönelon's aufgetaucht, denen sich in
116 VI 3
ihrer Jugend die Brüder Mirabeau, der Marquis und der
bailii, angeschlossen haben®.
Bald darauf ist die Erinnerung an die Reichs- und
Provinzialstände wach geworden, besonders an die letzteren,
seit den von Marquis Mirabeau in seiner vorphysiokratischen
Periode (1750) geschriebenen „Mömoires sur les ötats pro-
vinciaux", in denen die Aufmerksamkeit auf die besseren
Verhältnisse in den noch bestehenden vier „pays d'^tats"
gelenkt wurde. Das Buch hat großes Aufsehen erregt und
Gärung hervorgerufen'; es wurde mehrmals aufgelegt und
hat die in ihm enthaltenen Gedanken zum bleibenden
Besitztum der öffentlichen Meinung gemacht.
Im Zusammenhang mit den Mirabeau'schen Vorschlägen
ist auch das Beispiel der benachbarten, republikanisch
regierten niederländischen und schweizerischen Staaten,
besonders dank der schriftstellerischen Tätigkeit eines der
merkwürdigsten Publizisten des 18. Jahrhunderts, des Mar-
quis d' Argenson®, nicht ohne Einfluß auf die Gemüter
gewesen.
Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist schließlich
auch die Forderung der Reichsstände lauter geworden, die
dann dem jungen Ludwig XIV. von Malesherbes, dem da-
maligen Präsidenten der Chambres des Aides und späteren
Mitarbeiter Turgot's, offiziell überbracht wurde •.
Alle diese Forderungen sind aus monarchisch gesinnten
Kreisen hervorgegangen und haben in der öffentlichen
Meinung das immer reger werdende Verlangen einer posi-
tiven Anteilnahme des Volkes an der Regierung erzeugt,
* Vfifl. L. de Lom^nie, a. a. O., pp. 3 — 5, 116, 351 et saiv;
W. Oncken, Das Zeitalter Friedrich des Großen, Bd. I, 18 ff.; H. Ripert,
a. a. O., p. 68; de Lu^ay, Les assembl^es provinciales sous Lrouis XVI,
2-ifeme ^d. 1871, eh. VI.
"^ Vgl. Lom^nie, a. a. O., p. 125; Eocquain, LWprit r^volation-
uaire avant la revolution, p. 285.
^ Besonders seine Considerations sur le gouvernement ancien et
präsent de la Franke.
^ A. Wahl. Zur Vorgeschichte der französischen Revolution, 1905,
Bd. I, p. 255.
Vi 'i
117
toiclit zum wenigsten unter Berufung auf die Verhältnisae
^m alten Frankreich. In diese Bewegung ist nun aucli
Däer PhysiokratisniuB hineingezogen worden.
Schon die phys!okr;itisehen Pläne Mirabeau's sind
" später in die von ihm gemeinschaftlich mit Quesnay ge-
schriebene „Theorie de PimpSt" , allerdings in physlo-
kratischer Modifizierung, aufgenommen worden. Freilich
sind die Ständeversammlungen, wie sie Mirabeau in den
fünfziger Jahren verlangt hatte, und die nach den physio-
kratischen Prinzipien folgerichtig konstruierten „assembl^es
Provinciales'' Turgot's — zwei ganz verschiedene Dinge.
Nichtig ist aber featzu 8 teilen, daß in der allgemeinen Frage
ach der Anteilnahme des Volkes an der Regierung die
leibenden Mäuhte der Zeit mit den konsequent aus dem
'hjsiokratismus gezogenen Sätzen zusammenfallen^".
Das eigentliche Dokument der jetzt von uns zu
schildernden zweiten Periode in der politischen Entwicklung
der Physiokraten , ist der berühmte Turgot-Dupont'sche
Munizipali täten entwurf, der von praktisch-politischer Be-
deutung fllr die Zukunft auch außerhalb Frankreichs ge-
worden ist". Eine theoretische Rechtfertigung der in
diesem Entwurf enihnitenen Gedanken in dem oben von
> angedeuteten, als Konsequenz aus den physiokra tischen
Ausgangspunkten sich ergebenden Sinne rinden wir bei
Uem Freunde Turgot's, dem Parlamentsherrn von OrMans,
e-Trosne*'.
Dieser Physiokrat verteidigt schon ausdrücklich den
l^edanken der aus den Grundeigentümern gebildeten „corps
btermädtaires", die, ebenfalls ohne die Macht des Monarchen
" Aach der doktrinärste und am meisten vera|iotlele Phjaiokrtit
A-Hercier konnte dem Andrang der Zeit nicht nidereteben, und so
"* ' ' ihn in don Nouvcllc EphämSrideB ^conomiqoeB vom JAhra
foß. X< pp. 114—124 — davon sprechen, daß die Legi.ilative
„Corps politique" aelbut gehöre, wenn auch die best« H^ierongsform
r die monarchische bleibe.
" Darüber A. Wahl in den Aniuilen dts Deububen Beiclis, 1903,
r Geschichta von TurgolV Muniiipalitätenenlwurf, S, 876.
" Hauptsächlicb im VI. Discoura »eine» Werkes „De l'ordre social".
118 VI 3
rechtlich einzuschränken, als Träger der öffeDtlichen Meinung
die Garantien eines rechtmäßigen Staates bilden sollen.
In einer derartigen Organisation der öffentlichen Meinung,
sagt er, besteht eben die „Constitution'' eines Staates, auf-
deren Notwendigkeit er im Anschluß an Turgot hinweist ^*.
Le-Trosne geht nicht mehr, wie Le-Mercier, von dem
Gedanken der Unfehlbarkeit des Monarchen aus; er setzt
gerade das Gegenteil voraus und sieht das Gegengewicht
gegen dessen Willkür nicht mehr ausschließlich in den
Gerichten , sondern eben in den „corps interm^diaires''.
Nur Tyrannen, meint er, versagen dem Volke „tout con-
cours ä la chose commune''; sie betrachten die Gewalt
als ihr persönliches Eigentum: „ils n'ont garde de la
communiquer k des corps permanents, encore moins de
consulter la nation par des repr^sentants et de Tintäresser
k la chose commune" ; sie verzichten auf den glorreichen
Titel des ersten Bürgers im Staate.
Aber eine Nation, die ihren Wünschen und Bedürf-
nissen keinen Ausdruck geben kann, fährt er fort, ähnelt
einem Menschen, dem man das Sprechen verbietet und dem
nichts mehr als seine Arme übrig bleiben, um das zu be-
kunden und zu fordern, was er wünscht**.
Doch wollen wir uns die Grundzüge des Munizipalitäten-
entwurfs näher vergegenwärtigen ^.
n.
Die einleitenden Ausftihrungen beginnen zuerst mit
der Feststellung des Zwecks der vorgeschlagenen Reform.
Dieser Zweck ist ein doppelter und ist durch die Miß-
stände im französischen Staate gegeben, die ebenfalls auf
zwei Grundübel zurückgeführt werden können und zwar:
erstens, auf die durch den Mangel an „öffentlichem Geist"
(„esprit public") bedingte ständische Zerrissenheit und
>8 Le-Trosne, pp. 260/1, 276—278.
1* Ibidem, pp. 279—281.
" Turgot, Oeuvres, II, pp. 502—551.
VI 3
119
Spaltung, die den Staat seiner Einheitlichlieit beraubt und
eine vom Zentrum herrührende allgemeine Leitung ver-
eitelt; zweitens, auf das Beatreben der Regierung vom
Zentrum aus alle ^dfStaita" der Verwaltung zu bestimmen,
ein Mißstand, der in seinen schlechten Wirkungen durch
die Unkenntnis der Lage mangels eines „voeu public" noch
verstärkt wird. Es muß nun zur Gesundung dieser Ver-
hältnisse, besonders des zweiten der angeführten Mißstände,
eine Selbstverwaltung geschaffen werden, die in den Händen
der „magiatrata naturels" (Mirabeau) sich befindet — „afin
que la plupart des choaes se fassent d'ellea memea".
Es ist hier gleich zu bemerken, daß diese Worte im Munde
Turgot's politisch keine Einschränkung der Prärogativeo
der Staatsgewalt bedeuten; denn sie beziehen sich nur auf
das Gebiet der Herrschaft der „loia physiques" in den
Steuersachen, welche im Zusammenhang mit den öffentlichen
Arbeiten, die Im Dienste der Landwirtschaft stehen, den
eigentlichen Gegenstand der Lokal Verwaltung ausmachen
aollen, also auf solche Dinge, die der Willkür der Staats-
gewalt so wie so entzogen sind, und llber welche diese bei
den Staatsuntertanen Auskunft suchen muß, um nach den
„natürlichen Gesetzen" den Staat zu verwalten. Wie diese
letzte Begründung deutlich zeigt, läuft die Rechtfertigung der
Selbstverwaltung darauf hinaus, die Regierung im laufenden
über die allgemeine Lage zu halten, denn um die Nation
gut zu regieren ,il faudrart connaitro sa Situation, aes
besoins, acs facultöa, et memo dans un assez grand detail'
So gehen wir unmittelbar zum anderen Zwecke des
Turgot'achen Planes über, zur Stärkung der Regierung,
zur Hebung ihrer Macht mit Hilfe der durch die organisierte
Öffentliche Meinung geschaffenen Auakunfts Instanzen
" Dupont bnt Aber deu Zweck der Refnrm in seiner Ansgtibe dai
Werke Turgot's noch liiusugefii^ : „donner nu chef äo la social^ um
aatariti d'autaot plaa grande, i)Ub n'dWnl, ne pouvant etre qae bien-
fniisate, il D'atirait jnmitis, oi motif, a\ int^rpt du U coDlestur" ; s. Turf^t,
Oenvrei, id. Daire, U, p. 550.
120 VI 3
Denn die Aufgabe der geplanten assemblöes besteht nur
darin, über die Zustände aufzuklären, und bei einem etwaigen
Widerstand ihrerseits entscheidet der König eigenmächtig:
„ces assembl^es municipales, depuis la premiere jusqu'ä la
dernifere, ne seraient que des assemblöes municipales, et
non point des Etats** — fügt dabei Turgot hinzu.
Diesen Grundsätzen gemäß soll auch eine Hierarchie der
Selbstverwaltungskörper geschaffen werden. — Die niedrigste
Einheit soll danach auf dem platten Lande die „assembl^e
de village", in den Städten die „municipalitö" bilden. Aus
den Deputierten, je einer von jeder assembl^e, wird die
municipalit^ der nächsten Stufe, in den „arrondissements"
(^lections, districts) zusammengesetzt. Aus diesen wieder
kommen auf dieselbe Weise die „assemblöes provinciales*"
zustande, und aus den letzteren schließlich die „grande
municipalitö" , die „municipalit^ g^nörale du royaume^'*.
So soll eine Stufenleiter von Verwaltungskörpern nach dem
Vorbilde administrativer Instanzen entstehen, wo jedes Mit-
glied nach den Instruktionen der Wähler vorzugehen hat.
Es ist aber auch gestattet, die Deputierten einer höheren
assemblöe (in den Distrikten und Provinzen) nicht bloß
aus den Mitgliedern der niederen zu wählen, um somit
auch außerhalb stehenden befähigten Männern Zutritt zu
geben.
Als Organe der „assembl^es de village" und der
Munizipalitäten in den Distrikten und Provinzen sind ein
Präsident und ein Greffier angegeben, wobei in den größeren
Städten dem Monarchen die Mitwirkung bei der Ernennung
der „officiers municipaux" vorbehalten wird. Diese Organe
bilden mit dem aus der betreffenden assembl^e gewählten
Deputierten einen beständigen Ausschuß, um die Korre-
17 Turgot behält, wegen der noch bestehenden Verschiedenheit der
Stäudeverhältnisse , die Standeunterschiede in seinem Entwurf bei; da-
nach soll es dreierlei Gemeindeversammlungen geben: eine kleine nur
für den dritten Stand, eine mittlere — für Entscheidungen in Steuer-
sachen, die auch den Adel betreffen und eine große für Fälle, in denen
alle Stände besteuert werden.
i'VI 3
121
[' Bpondeuz zu führen, — „compulaer les registres et veiller
leur conservation".
Difiten erhalten die Deputierten nur für eine ganz
L kurze Zeit, Ihre Wahl soll jährlich erneuert werden. Die
E Sessionen der assembl^es sind ebenfalls auf kurze Zeit
, berechnet.
Was die ZusainmeDsetzung anbetrifft, bo haben in rein
I physiokratischem Sinne nur diejenigen das aktive und
I passive Wahlrecht, denen „phjsiquenient" die politische
\ Vollberechtigung gebührt — also nur die Grundbesitzer.
I. Damit aber die Versammlungen nicht zu groß werden, soll
paur derjenige eine ganze Stimme erhalten, der ein Ein-
kommen von GOO Livree aus dem Grundbesitz bezieht.
Die kleineren Einkommen dürfen aich behufs Erlangung
einer Stimme zusammentun und einen in der aaaemblöe
Stimmberechtigten aus ihrer Mitte withleu. In den Städten
j werden den Grundbesitzern die Haushesitzer gleichgestellt,
I aber nur nach Maßgabe des Kapitalwertes des Bodens, auf
[dem das Haus gebaut ist, und zwar ist der Besitzer eines
I Grundstückes im Werte von 15000 Li vres stimmberechtigt.
L Bezieher größerer Einkommen haben auch mehr Stimmen;
sind aber einige Maßnahmen gegen Majorisierung vor-
^esehen.
Die Befugnisse der assembläes beziehen sieb:
1. auf die Steuerveranlagung: in den niedrigsten
Stufen auf die Verteilung der aufzubringenden Steuern
auf die Individuen, in den höheren — auf die unter-
geordneten Verwaltungscinheiten '";
2. auf die öffentlichen Arbeiten und das kommunale
Verkehrswesen ;
3. auf die Armenpolizei;
4. auf die Beziehungen zu den gleichen und höheren
Verwaltungseinheiten ;
^ Den nssemlileea ist es ancli gestattet für koiumnaale Zwecke Oeld
(«nfxiibringen: »ie mQaaen aber dnrOber den hSheren HMemblfe» Rechon-
" "laft «bl^eii.
122
VIS
5. auf die all mäli liehe Aufatellung eines Kataalers
(terrier g^iiöral).
Von dem dritten Punkte ist bei den höheren assembl^ea
nicht die Hede. Im Hinblick auf den zweiten Punkt haben die
höheren Braunicipalitös" die von den unteren angenommenen
und den ganzen Distrikt betreffenden Vorschlilge zu prüfen
und darüber zu entscheiden, sowie Raklaraationen entgegen-
zunehmen und Beiträge bei etwaigen „granda accidents
physiques" oder größeren öffentlichen Arbeiten zu leisten.
Schließlieh ist die Aufgabe der „grande muuicipalitä", den
vom König verlangten SteiieraoU unter den Provinzen zu
verteilen und über die von der Regierung vorgeschlagenen
„travaux publics" zu beraten und BoschlUase zu fassen. Ein-
tritt und Recht zur Teilnahme an den Debatten in der „muni-
cipalitä du royaume" haben auch die Minister des Königs.
Wenn wir nun die im Munizipali tätenentwurf nieder-
gelegten Ideen unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen
wollen, so tritt uns hier hauptsächlich der Gedanke der
Notwendigkeit einer starken Staatsgewalt vor Augen, die,
ganz im physiok ratischen Sinne, kraft ihrer Autorität die
Gesellschaft aus dem „ordre de d^pravation" in den ^ordre
naturel" hinüberzufuhren berufen sein soll. Von diesem Ge-
danken war sowohl der Gründer der Physiokratie Quesnay, wi«
sein genialer Schüler und praktischer Befürworter der Doktrin,
Turgot, beseelt; wir finden ihn also In den eben skizzierten
Reformplänen wieder. Die Volksvertreter bekunden nur
die Meinung des Volkes und klären die Regierung über den
Zustand der Dinge auf; das Entscheiden und Handeln im
Namen des Staates gehört aber nur der letzteren. Ist jetzt
die Regierung ohnmächtig, weil sie die Verhältnisse im
Lande nicht kennt, und weil sie in der „räunion des
volont^s" keine genügende Stütze finden kann, so muß sie
nun mit Hilfe der Volksvertreter als Organen der öffent-
lichen Meinung gestärkt werden, um die Macht in ihren
Händen zu konzentrieren. Der „r^union des volontäs" soll
durch die politische Erziehung der Bürger eine bestimmte
h
Richtung gegeben werden, um die Bürger an politischen
Dingen zu interessieren und in ihnen das Bewußtsein der
Wohltätigkeit einer aufgeklärten Regierung zu erwecken,
damit aie diese in ihrem reformatorischen Vorhaben unter-
stützen. Zu diesem Zweck wird die Organisation der
„Instruction nationale" vorgeschlagen, die unter der obersten
Leitung eines ^conseil"' sich befinden soll. Dazu soll auch
die geplante Verwaltungare form dienen, um bei den Bürgern
das Bewußtsein einer Harmonie zwischen den privaten und
öffentlichen Interessen zu schaffen, und aus ihnen die
Staatsgewalt unterstützende, nicht dieser feindlich gesinnte
Elemente zu bilden '".
Wie wenig es Turgot daran lag, aus den Volks-
'ertretern eine die Staatsgewalt einschränkende und etwa
lie gesetzgebende Gewalt handhabende Macht zu schaffen,
möge auch das beweisen, daß er die zur Anteilnahme an
der Regierung berufenen Bürger als bloße Teile einer
großen Verwaltungamaschine betrachtete; denn sie sollten
sich nicht mit allgemeinen politischen Fragen beschäftigen,
sondern nur für die enge Sphäre ihrer eigenen lokalen
Bedürfnisse , die sie öffentlich zu vertreten haben, Sorge
tragen, damit ihre partikularen Interessen ein Teil dea
allgenieinen Interesses werden , weil dieses nach der
mechanistiscEien Auffassung nur die Summe jener darstellt:
„Le premier principe de la mnnicipalitd pour les villoa
est le meme que pour les campagnes. C'est que personne
ne ae mele que de ce qui l'intt^resse et de t'administration
de sa propriet^ *"■'. Daher haben auch die vorgeschlagenen
indirekten Wahlen nur den Sinn, daß die Deputierten in
jeder assembläe bis zur „municipnlitö g^näralc" hinauf nicht
das ganze Volk, sondern bloß jeder seine lokalen Interessen
zu vertreten hat Daher sind auch die Mandate weaent-
» Tnrgot. U, pp. 506 -50tt, 549.
124 VI 3
lieh imperativen Charakters*^. Die ganze Vertretung war
also nur als eine Interessenvertretung geplant.
So ist der Physiokratismus im Munizipalitätenentwurf
sich selbst treu geblieben : die zentrale Gewalt teilt nicht mit
dem Volke ihre Befugnisse; die Volksvertreter sind bloße
Organe der Selbstverwaltung, die ihrerseits die zentrale
Gewalt noch stärken sollen.
Und doch enthält der Turgot'sche Plan ein gutes Stück
revolutionärer Gedanken, und das war im letzten Grunde,
sowohl der Gedanke der Berufung der Volksvertreter zur
Anteilnahme an der Regierung, als ganz besonders die Art,
in der das geschehen sollte. Mag auch der König ein
Jahrzehnt später sich gezwungen gesehen haben, vieles
aus dem Plane Turgot's zu verwirklichen, so mußte in
der Mitte der siebziger Jahre dieser Plan noch als ganz
unannehmbar erscheinen**. Und gerade der Mangel näherer
Bestimmungen über die neu zu schaflFenden Institutionen
und über ihre Beziehungen zu den bestehenden Staats-
einrichtungen, sowie die ganze Art des Vortrags in der
berühmten Denkschrift heben deutlich hervor, daß es dem
Verfasser nicht auf eine bloße Reform der Verwaltung,
sondern auf eine, wenn auch nur allmählich durchgeführte
Umwälzung der Staatsverfassung im demokratischen Sinne
^^ Sehr deutlich spricht sich für imperative Mandate und gegen das
englische System Dupont aus, s. Briefwechsel des Markgrafen Karl
Friedrich, II, S. 226, 229/30.
22 Ob Ludwig XVI. den Munizipalitätenentwurf je gelesen hat, ist
noch nicht entschieden; zurzeit bleibt nur mit Dupont anzunehmen, dafi
das nicht der Fall war. Die ganze Frage ist wegen der von Soulavie
(Mömoires historiques et politiques du rfegne de Louis XVI, t. III) mit-
geteilten ßandberaerkungen des Königs zur Denkschrift angeworfen
worden. Die Brüder Oncken haben trotz des von Soulavie angegebenen
Datums (das Jahr 1788) angenommen, daß Ludwig XVI. die Denkschrift
schon in den 70-er Jahren gelesen hat und deswegen gegen Turgot ver-
stimmt wurde, was zur Demission des Ministers führte. A. Wahl hat da-
gegen zu beweisen versucht (in den Annalen des Deutschen Reichs, 1903),
daß der König die Denkschrift erst in einer Ausgabe des Qrafen Mirabean
vom Jahre 1787 gelesen und darauf seine Anmerkungen gemacht hat.
Neuerdings wird aber in der Historischen Zeitschrift (Bd. 9o, Ologan,
Turgot's Sturz) ausgeführt, daß die Randbemerkungen überhaupt eine
Fälschung sind.
VI 3
125
l«iikaiti. Denn bestand auch die Absicht, die zentrale
I Staatsgewalt durch die Reform zu stJlrkeii, ao wurde dennocli
ftdem absoluten Monarchen als solchen durch die
r "Vorschläge ein starker Schlag versetzt^". Bleibt also der
Munizipalitätenentwurf von dem ursprünglich physio-
kratischen Gedanken durchdrungen, daß eine starke, po-
litisch alles beherrschende Staatsgewalt notwendig ist, so
tritt jetzt noch ein zweiter Gedanke hervor, der zwar eben-
falls in der 'Jihysiokra tischen Lehre begründet ist, aber
erst in der zweiten Periode ihrer Entwicklung zu ent-
scheidender Bedeutung gelangt: der Gedanke von der Not-
wendigkeit, Volksvertreter zur Anteilnahme an der Regierung
, SU berufen. Die vom aufgeklärten Absolutismus ererbte
I Idee einer starken Staatsgewalt wird hierdurch d e m o ■
rfcratisiert. Eine sehr bezeichnende Erscheinung zur
■'Charakteristik der politischen Geschichte Frankreichs, wie
sie sich auch nach der Revolution entwickelt hat!
Betrachten wir aber den Munizipali tiltenentwurf als
öanzes, so bleibt doch in uns das Gefühl zurück, daß die beiden
I ihm enthaltenen Hauptgedanken in Wirklichkeit zu einer
inneren Einheit sich doch nicht zusammengeschlossen haben.
Das, was wir uns jetzt dank unserer größeren politischen
" Einen gsni aoJerBn Chamkler tragt der dein Turgot'arliea Plnno
oschgaLildete Versuch Le-Trnsne'a — De l'iuiiiiinistratiun provinoialii et
ds la ritbrme de Tirapöt, t I, livra V — . wenn auiih bei diesem den neu
■u ichaffendea Institutionen weitgehende ßefugnisae einer ausfübreiiden
und baapbäcblicb kontrollierendon Gewalt genäbrt sind. Denn tritt in
Tnrgot's Entwurf, dnuk den knappen und unbestinioiten Aiulülirnngen
Aber die Angaben der asiembläci) nnd ihre EinfOgung in die besteheade
VerwaltangBrnascIiine, haaplaäcblich der Gedanke der Notwendigkeit ainer
Organiaation des „vueu public" hervor, eo zielen Le-Trosne'B Pläne aas-
gIMproohen auf eine bloße Reform der Verwaltung, man kQnnte lagen —
■nf die Schaffung: einus au<i Valkswahlen herrorgeh enden Beamtenstaudes
hin. Dieaen Charakter verleiht dem Plane LiB-Tronue's neben einer
Bcbärieren Betonung des „bon plaisir du roi" und einer sehr undcmukra-
tiicheu Einengung dea Kreises der pasair Wahlberechtigten in ileu höheren
Terwaltuagseinheiten (durch einen immer steigenden Zensut) hauptsncb-
lich der Umstand, daß er den Schwerpunkt der gaiuien Koform von den
Provinzial- nnd DistriktaverBammliiogen auf die «üb lebenslänglich
gewAhlten Mitgliedern bcEtebondcn „conseils" überträgt, denen fast die
ganie Verwaltung lugsteUt weiden «oll,
126 VI 3
Erfahrung leicht denken können: eine starke Regierangs-
gewalt einerseits und eine weitgehende Liberalität in bezug
auf die politische Betätigung der Staatsuntertanen anderer-
seits, — dafür mangelte es dem 18. Jahrhundert an Ver-
ständnis. Versuche einer ähnlichen Vereinigung mußten
in praxi zu Kollisionen führen, und auch im Geiste der sie
vertretenden Politiker konnte sie sich nicht zu einer wahren
Einheit gestalten. Denn die „starke Regierung" trug in ]enen
Tagen noch den Abglanz und lebte noch zu sehr von den
Traditionen der absoluten Monarchie, — und was man sich
dabei vom „freien Individuum" dachte, das triflFt nicht ganz
mit der modernen Idee der politischen Freiheit zusammen,
wie wir es schon früher erörtert haben. Gerade in bezug auf
diesen letzten Punkt war das 18. Jahrhundert noch politisch
unreif genug, um den Gedanken einer freien eigenmächtigen
Persönlichkeit, die zu gleicher Zeit politisch gebunden ist,
vertreten zu können : denn für dieses so stark politisierende
Zeitalter blieb die Freiheitsidee im letzten Grunde vielleicht
doch eine außerpolitische, und die Bedeutung der Frei-
heit vom Staate konnte daher wegen Mangel an politischer
Erfahrung, in ihrer ganzen Tragweite noch gar nicht ge-
würdigt werden **. Sobald aber das Bestreben wach wurde
die Freiheit nicht nur in der Idee zu vertreten, sondern
sie auch zu verwirklichen — mag es auch anfänglich nur
in der Form der ökonomischen Freiheit mit allen daraus
sich ergebenden Konsequenzen geschehen sein — , so mußte
die anfänglich einheitliche Auffassung des 18. Jahrhunderts
sich zersetzen.
^ Wenn Locke als der erste Theoretiker des modernen Liberalis-
mus betrachtet wird, so geschieht das mit Recht nur aus dem Grunde,
weil er ein Interpret von politischen Verhältnissen in seinem Lande war,
die sich historisch ganz anders entwickelt haben als auf dem Kontinente,
und weil er den Liberalismus nach einer glücklich durchgeführten Revolu-
tion zu vertreten hatte. Mag auch die naturrechtliche Begründung der
Freiheit bei den kontinentalen Schriftstellern keine andere gewesen sein, als
bei Locke, so mangelte ihnen dennoch jener Sinn für die politische Frei-
heit, die der Engländer schon besaß: erst während und nach der großen
Revolution ist auch auf dem Kontinent in diesen Vorstellungen ein Um-
schwung eingetreten.
127
Daher fehlt auch dem Munizipali tätenentwurf die
innere, organische Vereinigung zwischen den beiden in ihm
enthaltenen Gedanken — dem einer starken Regierungs-
gewalt und demjenigen der politischen Freiheit im Sinne
■ Abachüttelung der gouvernementalen Bevormundung.
j5o ist Turgot, im Herzen der glühendste Befürworter der
IVeiheit im weitesten Sinne des Wortes, zu gleicher Zeit
mn ausgesprochener Vertreter einer im Namen des Volks-
pückfi absolutistisch regierenden Staatsgewalt gewesen^".
Beim näheren Zusehen werden wir hier wieder die Folgen
jener Kollision zwischen der alten Staatsidee und den nach
Verwirklichung ringenden freiheitlichen Bestrebungen er-
kennen, die wir schon einmal festzustellen hatten, als wir
[bei den Physiok raten die Frage nach dem Verhältnis
wischen Staat und Individuum anders beantwortet vor-
jefunden haben, als diejenige nach dem Verhältnis zwischen
ptaat und Wirtschaft.
III.
Es ist in der Literatur darauf hingewiesen worden,
IaQ es auch Quesnay und sogar Mirabeau hauptsächlich
tar auf eine starke Regierungsgewalt ankam, und daß
3tnen an der monarchischen Form wenig lag^^. Wenn
Biese Annahme vom Standpunkte der naturrechtlichen
Brundlagen des PhysiokratismuB eich auch rei-htfertigen
lät, so muß doch dem gegentiher entschieden hervorgehoben
Irerden, daß alle Phjsiokraten monarchisch gesinnt waren;
EVm Quesnay und Mirabeau anbetrifft, jeder verschieden,
nach der Art seines Temperaments und seiner sozialen
Stellung.
Die rein politische Abachwächung des monarchischen
ßedankens ist aber nur bei Turgot zu konstatieren, wenn
Bemerkiingen, Oeuvres, VIH,
• Vgl, über Turgot Tocqi
pp. 152—168.
" Kellner, Studien Kur Gesehichte der Ph^siokrntii
8. 60; H. Ripert, o. a. O., p. S95.
128 VI 3
auch er in seiner Jugend ähnlicher Gesinnung, wie die
übrigen Physiokraten gewesen sein mag*"^. Wegen der
späteren Wandlung dieser Gesinnung nimmt er aber inner-
halb der Physiokratie eine besondere Stellung ein, die ihn
schließlich über die Grenzen des eigentlichen Physio-
kratismus hinausführt.
Daß Turgot für Frankreich unter den bestehenden
Verhältnissen einen glücklichen Ausweg nur von der
Stärkung des Königtums erwartet hat, dürfte wohl keinem
Zweifel unterliegen. Eine prinzipielle, allgemeine Recht-
fertigung der Monarchie werden wir aber bei ihm dennoch ver-
gebens suchen. Dagegen weisen manche seiner Äußerungen
auf die Anerkennung der Idee einer Volksregierung hin.
So ist vor allem das Interesse und das Wohlwollen
hervorzuheben, das er für die neuentstehenden amerikanischen
Demokratien zeigte, wenn er auch die Rezeption der eng-
lischen Verfassung, die ihm, wie allen Physiokraten eine
„Constitution orageuse" war, getadelt hat. In seinem Briefe
an Price vom Jahre 1778 lernen wir Turgot als aus-
gesprochenen Anhänger der freien Demokratien kennen.
Er fühlt, daß diese seine Anschauungen mit denen, die er
als Minister für Frankreich vertreten hat, nicht harmonieren
und bittet deshalb seinen englischen Freund den Inhalt des
Briefes nicht bekannt zu geben ^®. In einem anderen Briefe,
an Dupont, hat er noch schärfer seiner Anschauung Aus-
druck gegeben, indem er gelegentlich sagt: „je ne suis
pas ^conomiste, parce que je ne veux pas un roi" ^®.
Aber noch wichtiger erscheint uns zur Charakterisierung
der politischen Überzeugungen Turgot's die Tatsache der
Einführung einer „municipalit^ g^n^rale du royaume" in
seinen Reformplan. Darin kommt das verhüllte Verlangen
eines Mannes zum Ausdruck, der sich für die neuen
'"^ Vgl. M^moires de Mme. du Hausset, p. 163 (enthält einen Aus-
zug aus einer Rede Turgot's).
'^8 Turgot, ir, pp. 805—811.
*® Mitgeteilt von L. de Lomänie, a. a. O. p. 416.
rvi 3
129
I
amerikaDi'sclien Demokratien zu begeistern wußte, — das
Verlangen, durch die Konzentrieninyder Volksinteresaen in
einer aus Wahlen hervorgegangenen Institution, auch in
seinem Vaterlande die künftige Volkaregierung vorzu-
bereiten. Das war ein neuer, wahrhaft revolutionärer
Gedanke.
Denn die Publizisten, die in dem öffentlichen Bewußt-
sein die Erinnerung an die allen Provinziabtände er-
weckten und durch deren Umgestaltung in Provinzial-
versammlungen der alten Monarchie neues „republikanisches"
Blut^" zuführen wollten, wie Mirabeau und d'Argenaon,
haben sich deutlich gegen alles ausgesprochen, was an eine
derartige ,municipaht6 gön^rale" erinnern könnte, weil sie
nicht ohne Grund fürchteten, daß eben dadurch die monarchi-
sche Gewalt beeintrUchtigt werden müßte*'; Turgot dagegen,
wie wir sehen , hat die Einführung einer „municipalit«^
g^n^rale" direkt befürwortet.
Wenn er auch vieles fVlr seinen Plan, wie Adalbert
Wahl nachzuweisen gesucht hat, d'Argenson entlehnt
liat^', so war doch der Gedanke einer zentralen Munizi-
'* Die AuBdrBoke — republikaniacli, Republik, Demukrstie und der-
gleichen wurden im Sinne von Selbstvarwnltung gebrancht. So epriclit
"Argenson, ». a. O, , p. 133, von ainor „viriuble dämocrfttie au milieu
I I& monkrchie". Und Mirabeau schreibt in einem Briefe an Longo
' vom 5. Sept. 1775 (in den schon i^tierten Memoiren); „11 est impoB.iible
^tie In r^publiqiie gouverne jamaiB bien mais eile consulte tr^s
bien pour un chef abtolu".
'' D'Ai^eDijon, a. n. O. pp. 24/5; Mirabeau, Lettrea sur la Ifgislatioti,
im Briefe vom 29. Nov. 1767.
" A. Wahl in den Annalen des Deutschen Reichs, S. S70/I. — Dali
der d'Ar^nson'ache Flau in seiner ersten F'nsaung (nach der Niederschrifl
vom Jahre 17^7 und nach der gedrackten Auflag vom Jahre 1767) von
besonderer Bedeutung fftr Turgot s Denkschrift war, ist nicht anzunehmen ;
denn vraa d'Argengon bicr vorschlägt, sind keins Oemeindeversammlangen.
«oodem nur ein neuer Modus der Beaetzung der GemKindeämter dnrcli
Mitwirkung der Gemeindemitglieder, die Eaudldnltm zu wählen haben,
KUB deren Mitte der KOnigliche Beamte nach eigenem Ermeaaen die Er-
nennnng vollzieht; vgl. d'Arganaon's Plan a. a. O., p. 17(1 et »uiv., passim,
besonders Art. 1, 37 tmd 39, — Anders scbciul ea mit der zweiten Auf-
iMge bestellt zu lein (una liegt die vom Jahr« 1787 vor). Hier haben
wir es achon mit dem Qedanhen der eigentlichen asaemUlfea zu tun.
Hauptsächlich kommt es dem Verfasser auf eine Btofenartig durchgeführte
vnlkBrrBcbtl. Abhaodi. VI H. - aantibtrs. 9
130
VI a1
palität ein vüUig selbständiger, Mirabeau, der im Jahre 1787
die EinfttliruDg der „assembl^es provinciales'" begrüßt und
sich sogar als ihren geistigen Vater bezeichnet hat, ist in
den siebziger Jahren Turgot gegenüber feindlich aufgetreten,
weil er ihm zu republikanisch war*'*. Dieser Republikanismus
Turgot's, der in verhüllter Form in dem Vorschlag einer
„municipalitd gön^rale" zum Ausdruck kommt, war in den
eingeweihten gesellachaftlichen Kreisen wohl bekannt, und
der königstreue Mirabeau hat sich nicht ohne Grund gegen
diese „republikanischen" Tendenzen gestrHubt^'.
Es ist daher anzunehmen, daß Turgot trotz seiner
Versicherungen über die Untastbarkeit der monarchischen
Gewalt, wie er ea auch in einer oftizielleu Denkschrift
nicht anders tun konnte, bei seinem Verlangen nach einer
starken Regierung den Monareben dennoch allmählich ein-
schränken wollte, um den Boden für eine Staatsfonn zu
schaffen, die ihm vielleicht auch prinzipiell als die beste
erschien — und diese konnte die nubeschränkte monarchische
nicht sein**.
noi mit oniüprecheDiIcii gewählten Beamten versehene DeEOnb'BliMfion
au, tlber den Modus der Beamtenwnbl, der jn den Schweq>iuikt der
ersten Auflage bildet, Enden wir in der zweiten nielit« mehr- Die M-
sembläes Hotlea aus Beamten. Vertretern des OroBgrundbecitzes und
vfi-nigcQ Vertretern der Bärgerachsfl ansammengeBetzt werden. Die »d-
miniBtratiTen Funktionen sind den BeNmten iiigedacht. Die usemblfiM
sind nur SteaerveranUgungskommisaionen, die in bestimmten Fälleii fdl
stAsdige Vorschläge machen und die motivierten, die Prorinz betreffe
Beform vorschlage der Regi eräug anhSren Itönnen. ~ Im allgein
unterscheiden sich die Plfine d'Argenson's von demjenigen Mirabeau'
durch, daß sie „modemeT" und durch Rezeptionen aus der hoUSndil
Verfassang, die für viele freie Geister jener Tage mustei^ltift
fruchlel sind. Was die Beziehung der d'Argpusou'schen Pläne KU dwl-
jptiigen Turgot'a betrifft, so ist eine lieeinSussung hier keinetMll n
leugnen, wenn auch bemerkt werden mall, daß den ersleien der demckni-
tiscbe Zag und der umwälzende Geist des Munizipalitätenentwnrb fei'
•» Vgl. L. de LomÄQie, pp. laO, 412/3.
'* Üo schreibt Turcot an Hume über Gonssean's Coutrat Hocia]:
1a värit^, ce livre se reduit ii In distinction pi'^clse du souveraia et
gouventenient ; mais cette distiuction präsente une v^ril^ bien lumini
et qui me parait fiier i janiaU Ics idiSes sur l'iualiioabilite de ta
veraiuetS du peuple dans queli]Ue gonveruement que ce sait."
of eminent persons addrcssed to D, Hume, p. 152.
^' A. Wahl, der besonders stark die monarchischen uod seatrali
Von diesem Standpunkt aus stellt sich auch Con-
dorcet's Darstellung der politischen Ansichten Turgot's,
die man gewöhnlich mehr als den Ausdruck der persön-
lichen Gesinnung des Autors auffaßt, in ganz anderem
Lichte dar. Die oben angeführten, nicht von Condorcet
herrührenden Argumente berechtigen also vielleicht zur
Annahme, daßTurgot's pri n zi p i eile politische Ansichten,
auf die es uns ja hier hauptsächlich ankommt, und über die
er, der praktische Politiker, der sich den Verhältnissen
doch anzupassen wußte, fast gar nicht oder nur gelegent-
lich sehr knapp sich ge&ußert hat, — daß diese seine
Ansichten vom Verfasser der „Vie de Turgot" , seinem
intimsten Freunde, treu wiedergegeben worden sind^".
Und dae um so mehr, als zu Beginn der achtziger Jahre,
(ibidem , pp.
de droit de pntem
Beben Teadeazen TorROt'« im MunicipMlitStenentwarf betont, weist im
Gegensatz dazu auf Mirsbeau hin, der für seine Etats prorinciaux di»
Steuerbewilligiingsrecbl verlangte, was natb Taryot's Plan nicht der Fall
sein snilte. Dennoi^b ist es u. E. Mirabcnu, der in den alten Vorstellnngen
einer unbescii rankten Monarchie sich bewe^ nicht Turgot.
Wenn Mirabeau aucb ausdrücklich vom „conaentement dn peuple'
•pricht (Tli^orie de l'impat, pp. 157/3), an will er damit nur auf die ob-
jektiv-ron den „natörliehen" Gesetoen der lienteuBTUng gegebenen Grenien
der KdnigBgewalt hiowciaen, aber keine Reclitsanaprücbe des Volkes gegen
'' B bEgründen, was gegen alle Gesetze „der Menscbheit und des Staats"
. 173/4) wäre ; „Quand je parle ici da droit vis-A-»is roon
' s'agit pna de droit jiiridique, de droit t^gsl, mais
, de droit uui n'impüqae pas ooutradiction avec
1 de la äouverainel^" (ibidem, p. 41S). — Daß Turgot's
verhallte Absichten andere waren, haben wir schon im Text lu zeigen
versucht, aber eine leise Andeutung Snden wir in bezog anf das Ile-
■teneningsrecht auch im Munizipalitätenentwnrf: da haiBt es nämlich
(Turgot, II, p. 54ß), daß, wenn der jetzige Plan gelingen sollte, auch das
möglieh iein wird „qui a pani chimärique jusqu' i prSsent" , und Kwar
„qne le revenu public urdinaire, ätant une portion d^terniinfe des rcvenns
particuliera , s'accrüt avec cux pur lee goins d'une bouno admiiiistratiou,
on diminoSt avec eni si le royaome devenail mal goavem^". Zar Ans-
fQbmng der hier gemeinten rein pbfsiok ratischen Forderui^ wird es
natürlich nicht mehr genflgen, wenn die Itegierang „ferait declarer par
Bon miniatr« des Gnanccs, lea aommea dont celle nvait besoin". wie es
nach den vorläufigen Vorschlägen des Entwurfes sein aoll. Vgl. auch
P, Foncin, Bssaj sur le minintire de Turgot, Parin, 1677, über Turgot's
politische Ansichton, p. 551.
" Condorcet. Vie de Turgot (Oeuvres, V), pp. 120 et suiv. j vgl. Ober
Turgot und Condorcet die Bemerkungen St. Ueuve's, Caaseriea du tundi,
S-iAme iA^ t Ul, pp. 340-344.
13:
VI i
wo das Buch geschrieben wurde, ihr Autor noch nicht
extrem republikanisch gesinnt war, als die im Buche ent-
haltenen Gedanken von einem sehr mäßigen Geiste ge-
tragen sind, ala ea noch ein starkes Gepräge des Physio-
kratiamus sogar in politischer Hinsicht zum Vorschein
kommen läBt, und als ea schließlich in bezug auf Frank-
reich ausgesprochen königstreu ist*'.
Ist nun also anzunehmen , daß Targot mit seinen
endgültigen politischen Überzeugungen aus dem Rahmen
der Phjsiokratie heraustritt, so kann doch andererseits
nicht stark genug betont werden, daß seine Anschauungen
eine Weiterentwicklung der Ausgangspunkte des Physio-
kratismua waren, eine Weiterentwicklung, die aus ihrer
ursprünglichen Quelle die wichtigsten £leniente beibehalteD
hat, und zwar: die Forderung einer starken, die Gesell-
schaft zum „ordre naturel" führenden Staatsgewalt, die Ab-
neigung gegen die englische konstitutionelle Eompromißform
unter dem Zeichen eines unbiegaamen natorrechtlicben
Rationalismus, die Hervorhebung der politischen Bedeutung
einer aufgeklärten öffentlichen Meinung und die Be-
schränkung der politischen Rechte auf die Eigentümer
(Grundbesitzer). —
Finden wir nun, daß die Sonderstellung Turgot's darin
besteht, daß seine politischen Anaichten über diejenigen der
anderen Pbysiokraten hinausgreifen, so können wir noch
die Frage aufwerfen, ob ein anderer aus dem Chorus
der Ökonomisten, der Marquis Mirabeau, politisch auch
wirklich bis zu jenen von Quesnay und Turgot vertretenen
Anaichten emporgewachsen ist, wonach vor allen Dingen
eine starke zentrale Gewalt notwendig ist. Zweifel über
den „Ami des honunes" könnten wegen seiner in der Jugend
gehegten separat! etischen Hoffnungen und seiner in den
ersten Schriften (im „Memoire sur las ötata provinciaux"
und im „Ami des hommes") auch noch später zum Vor-
133
lebein kommenden Bekämpfung einer ailzu zentralisierenden
Und nivellierenden Staatsgewalt bestehen, Eb ließen sich
Tielleicht auch in der Verteidigung der ^ Etats prorinciaux'
Nachklänge dieser Stimmung vernehmen. Etwas Positives
dafür oder dagegen läßt sich aber doch aus seinen schwülstigen
Schriftbn nicht anführen. Das Überall durchbrechende
Temperament macht es unmöglich, die politischen An-
schauungen Mirabeau's in klaren Umrissen zu kennzeichnen.
Die beste Charakteristik bleibt daher auch hier das Wort
Tocqueville's : ^un esprit Ködal envahi des id^es
■^imocfatiquea" ", Dennoch kann man sich dem Eindrucke
Weht entziehen, daß die extreme Propagierung des Laissez
feire-Prinzips bei Mirabeau eine innere Genugtuung zum
Vorschein kommen läßt über die Möglichkeit, auf Grund
der „neuen Wissenschaft" alten Gedanken nachgehen zu
können und der zentralen Staatsgewalt womöglich viel zu
entreiäen. Was uns aber trotzdem berechtigt, ohne Rilck-
«icht auf die persönliche Stimmung Mirabeau's, ihn auch
politisch unter die Physiokraten einzureihen , ist einer-
;aeits die konsequente Verteidigung der Monarchie, die oft
die Form der rücksichtslosen Übergewalt des Staates über
das Individuum , das diesem gegenüber keine Rechts-
ansprüche hat, annimmt ^ und andererseits die durch
Unabliängigkeitsreminiszenzen gestärkte Forderung eines
„compte ouvert" zwischen Volk und König, die den demo-
kratischen Einschlag der feudalen Gesinnung dieses jeden-
falls ungewöhnlichen Mannes bildet.
Fassen wir alles bisher Gesagte zusammen , so ergibt
Knch uns als Schlußfolgerung vor allen Dingen, daß die
Physiokratie kein stabiles politisches System ausgebildet
nicht wegen der Verschiedenheit der Gesinnung
" Tocquorille, OeuvrM, VIII, p. IM.
134 VI 3
einzelner Physiokraten, sondern wegen der Wandlungen, die
sie im Laufe ihrer Blütezeit mit der rasch dahinflutenden
revolutionären geistigen Bewegung durchgemacht hat
Stabil war sie nur bei ihrem ersten Auftreten ; hier hat sie
sich aber auf rein naturrechtliche Sätze beschränkt, die
eine faßbare politische Gestalt erst mit der allmählichen
Radikalisierung angenommen hat.
Doch ist der feste Kern, den der Physiokratismus von
Anfang an bis zu den ihn überragenden Anschauungen
Turgot's behält, die Forderung einer starken Staats-
gewalt unter dem Zeichen eines sehr ideal aufgefaßten
Staatszwecks mit zweifellosen, anfänglich verhüllten, aber
allmählich sich offenbarenden demokratischen Tendenzen.
Achtes Kapitel.
»
Überblicken wir die Gesamtheit der Bozialen und poli-
^chen Ideen der Physiokraten, um über ihre Bedeutung
■ein historischoa Urteil zu gewinnen, so wird sich die Not-
wendigkeit ergeben hierbei zweierlei zu unterscheiden. —
Es wird das Urteil über die Bedeutung der Physiokraten
für die Wissenschaft von der Gesellschaft und der Stellung
des Menschen in ihr von einer anderen Frage geschieden
werden müssen — und zwar: von der Frage nach ihrer
Stellung zu den politischen Ström ungen ihrer Tage und
nach ihrem Zusammenhang mit den späteren großen poli
tischen Ereignissen. Die Beantwortung der ersten dieser
■Fragen steht in enger Verbindung mit den Erörterungen
ttber die Grundlagen des Pliysiokratiamus.
Wir haben rn den ersten Kapiteln zu beweisen ver-
sucht, daß die vermittelnde Stellung, die Quesnay in seinen
philosophischen Grundlagen zwischen Malebranche und
Locke einnimmt, und die im wesentlichen auch Turgot
kennzeichnet, ihren Stempel der ganzen physlokratischen
Doktrin aufdruckt. Wir wollen nun einiges aus dem
schon Behandelten rekapitulieren.
Fern von der alten kartcstschen Metaphysik, hat sich
der Physiokratismua, wie wir gesehen haben, die englische
empirisliache Philosophie zu eigen gemacht, ist aber bis zu
den Konsec^uenzen des Condillacismus nicht gelangt; er hat
diesen im Gegenteil sogar bekämpft. Daher steht er auch
lern G^ei8te der EnzykiopHdisten feindlich gegenüber. Er
it in der Enzykioptldie die materialistische Zuspitzung, den
136 VI 3
Atheismus und die egoistische Moral bekämpft. Mag auch
das, was er dem entgegengestellt hat, nicht völlig klar ge-
wesen sein, jedenfalls ist ein innerer Protest festzustellen,
ein Protest, der nur durch die philosophische Schulung im
kartesischen Geiste zu erklären ist, durch die unaustilgbare
Wirkung, die dieser Geist, angesichts der Einseitigkeiten
des englischen Empirismus und seiner materialistisch ge-
färbten Moral- und Sozialphilosophie, auch auf kritisch ge-
stimmte Denker, wie es Quesnay und Turgot waren, aus-
geübt iiat. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang
mit der älteren Weltanschauung in Quesnay's philosophi-
schen Schriften zu erkennen. Im allgemeinen läßt sich
aber das Charakteristische in der philosophischen Position
der Physiokratie nur niehr negativ, mehr als Gegensatz zur
Enzyklopädie, als positiv kennzeichnen. Man könnte daher
auf den ganzen Physiokratismus ein Wort anwenden, das
Turgot in einem Briefe an Öuponi — im Zusammenhang
mit einem schon erwähnten ähnlich klingenden Satze* —
auf sich bezogen hat; „Je ne suis pas encyclop^diste, parce
que je crois ä Dieü". In diesen Worten lag fiir jene Zeit
ein ganzes Programm.
Bei der Darstellung der Grundlagen der physiokrati-
schen Sozialphilosophie haben wir dann zu zeigen versucht,
wie diese ihre Stellungnahme deutlich in dem Bemühen zum
Ausdruck kommt in menschlichen t)ingen das notwendig
sich Vollziehende und vom Willen Unabhängige mit der
freien vernünftigen Tat zu vereinigen. So konnten die
Physiokraten von der Naturnotwendigkeit der iGiesellschaft
einerseits und von der freien vernünftigen Regulierung des
sozialen Lebens andererseits sprechen; so haben sie den
BegriflF der sozialen „loi pliysique" atifgestellt, die weder
mit aem reinen Naturgesetz noch mit dem Begriff der
Norm im Sinne eines naturrecnÜichen Gesetzes völlig zu-
sammenfällt; so haben sie die „idie absolue" des Rechts
' Kapitel VII dieser Schrift, Anmerkung 29.
von der „idi5e relative" untorscliiedeii , und achließlicli in
der Methode Beobachtung und Tatsachen verlangt, und
doch hervorgehoben, daß man in den „sciences socialea et
politiquea" nicht von einzelnen Tatsachen, wie in den Natur-
wisaenachaften , sondern von allgemeinen Prinzipien auszu-
gehen hat. Mag auch der Versuch, diese beiden ver-
schiedenen Elemente zu vereinigen, dem Physiokratismus
nicht gelungen sein, mögen sie sich einmal völlig nach der
einen, das andere Mai gänzlich nach der anderen Seite ge-
neigt haben, er bleibt als solcher in aeiner ganzen Eigen-
art doch bestehen.
In den späteren Lehren hat das naturwissenschaftliche
Prinzip in der Gesell seh aftswissenachaft den Sieg davon-
getragen, und die Geaetze der Gesellschaft sind zu Gesetzen
im naturwiasenschaftlichen Sinne erhoben worden: dem
Physiokratismus war diese Einseitigkeit fremd, wenn er
auch den formellen Bogriff des Gesetzes beibehalten hat,
weil er an die Möglichkeit glaubte, eine soziale Maschine,
wie irgend einen anderen Mechanismus, aufbauen zu können.
Jedoch soll nicht behauptet werden, daß dieses Vermeiden
einer einseitig naturwissenachaftlichen Auffassung und der
Versuch, diese mit einer entgegengesetzten Anschauung zu
vereinigen, aiia kritischer Weitsichtigkeit und Überlegenheit
geschehen ist. Die Eigentltütltchkeiten der Physiokratie
sind vielmehr aua ihrer oben geschilderten Stellung zu den
Philoaophemen ilirer Zeit zu erklären. Eb war kein Vor-
Sprung in ihren Lehren vor dem, was nach ihnen kam,
sondern vielmehr eine Rückständigkeit in bezug auf die-
jenige Stellungnahme in der Gesellschaftswissenschaft, die
schob damals die Oberhand zu gewinnen begann. Daher
konnte in dieser Hinsicht ihr Versuch auf die sjjäteren
Lehren keinen Einfluß ausübet), weil man geriLde in setner
eben aufgedeckten Besonderheit eine unersprießliche Ver-
qiiTckung der zur Wissenschaft werdenden Nationalökonomie
iiiil dem alten Naturrecht zu sehen glaubt»;. In Aet rein
naturwissenschaftlichen Richtung sind aber die Physiokraten
138
VI3
von den späteren völlig verdrängt und in deo Hintergrund
geschoben worden. — So stellt sich uns der Phyaiokratis-
mus, vom Standpunkte der Geschichte der sozialen Theorien
betrachtet, als eine bloße Illustration der nach beiden
Seiten hin wirkenden Periode des Übergangs von der alten
wissenschaftlichen Auffassung zur neuen.
Was aber, u. E., im Phyaiokratismua von Bedeutung
geworden ist, ist die Art der evolutioniatiachen Auffassung der
Gesellschaft, die man ihm dem ersten Anblick nach gar
nicht zutrauen müchte. Wir haben wohl gesehen, daß zuerst
von Turgot in einer Jugendschrift der Gedanke von den
drei Stadien der Entwicklung der Gesellschaft ausgesprochen
worden ist. Diesen Gedanken haben aber nachher alle
Phjsiokraten aufgenommen, ihn zum Gemeingut ihrer Lehre
gemacht und in ihren zahlreichen Schriften popularisiert.
Mag diese Auffassung auch aus einer abseits liegenden
Quelle herstammen, sie hat aber vollständig in die grund-
legenden Anschauungen der Physiokraten von der Gesell-
schaft und dem Rechte als natürlichen, sich entwickelnden
Erscheinungen hineingepaßt. Damit hat der Phydiokratis-
mus zweifellos jener Auffassung den Weg gehahnt, die dann
durch Condorcet's Esquisse d'un tableau historique auf die
spätere Geseüachaftslehre bis Comte hinaus eingewirkt hat.
Aus den positivistischen Elementen der physiokrati sehen
Lehre von der Gesellschaft ist dieser Punkt, u, E., der
einzige, der von historisch weiterwirkender Bedeutsamkeit ,
geworden ist.
Völlig fremd war dagegen dem Physiokratismus dieser
evolutionistische Gedanke bei der Beurteilung der politischen
Gebilde seiner Zeit und der Aufstellung seiner reformatori-
schen Pläne. — Nicht durch den Grad des historisch be-
dingten menschlichen Könnens im gegebenen Zeitpunkt
der Geschichte, sondern durch das bloße Wissen, durch
die unsere Vernunft erhellende Erkenntnis des sozialen
Ideals soll nicht nur die Gegenwart beurteilt, sondern auch
das Handeln bestimmt werden. Es war jenes verh&ognis-
<
f
ToUe, utopische Vermengen von Können und Wissen, das
dem ao klugen, geistreichen und skeptischen 18. Jahrhundert
den Stempel einer kindlich-naiven Weltfremdheit aufdruckt.
Wir haben aber gesehen, daß, sobald der Physiokratis-
mus in die praktische Politik eingetreten ist, die Verhält-
nisse ihn mit sich gerissen haben. Er mußte mit seinem
Ideal, dem souveränen Vernunftprinzip, den treibenden
historischen Machten dienen, und sich zu einer immer radi-
kaler werdenden politischen Doktrin umbilden. Es ist eine
interessante Erscheinung, daß der auf der Geschichte be-
ruhende spätere Legitimismus, mit dem man die physio-
kmtiscbe Politik in Zusammenhang bringen wollte, trotz
der Geschichte, in deren Schofle er geboren, unbeweglich
stehen blieb, während die souveräne Vernunft der Physio-
kraten, die über die Geschichte erhaben ist, in ihren
Strom hineingezogen und zu ihrer Dienerin gemacht woi-den
ist Aus diesem Grunde hat auch der Physiokratisnius kein
geschlossenes politisches System aufzustellen vermocht, das
iUr die spätere Geschichte der politischen Ideen von Be-
deutung hätte werden können.
Freilich war der Physiokratismus grundlegend und
von weitgehender historischer Bedeutung für die wirt-
schaftspolitischen Grundsätze, die die Revolution und die
vorrevolutionäre reformatorische Periode bei ihren zer-
störenden und aufbauenden Versuchen beherrscht haben.
Diese Bedeutung ist schon längst anerkannt und ist neuer-
dings von einem der letzten Historiker der französischen
Revolution, Adalbert Wahl, ins volle Licht gerUckt. —
Wir haben indessen nicht darauf unser Augenmerk zu
richten, sondern vielmehr auf die historische Bedeutung
ihrer rein politischen Lehren und Bestrebungen. Diese
aber haben keine positive Wirkung auf ihr Zeitalter aus-
geübt, denn sie sind mit ihm gegangen.
Entstanden in einer Zeit der keimenden Revolution,
liat der Physiokratismus geglaubt, mit Hilfe der alten Mo-
narchie auf friedlichem Wege in Frankreichs alterskranken
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VI 3'
Ötaatakörper neue Lebenssäfte hineinbringen zu känaen.
Zu diesem Zwecke war es nötig, die königliche AutoriUt
in dem skeptisch-kritischen GemUte der Zeitgenossen wieder
zu heben. Persönliche Stimmung, Nachklänge der Theorie
der „monarchie teinpöröö''j ein aristokratisch-autklärerischer
Geist, starker Idealismus und politische Weltfremdheit, die
jede Kompromißform prinzipiell von sich abweist: das
alles im Zusammenhang mit der starken Einwirkung der
hergebrachten jannsköpfigen n a tu r rechtlichen Qesellschafts-
und Staats theo rien hat ihnen ihre Aufgabe erleichtert und
den Boden für den „despotisme lögal" geschaffen.
Wir haben aber gezeigt, wie in dieser Lehre viele
Elemente verborgen waren, die mit Leichtigkeit «u gaiu
anderen Konsequenzen führen konnten. Wir habeu auch
gesehen, wie das wirklich geschehen ist, und wie die politische
Doktrin über die Kilpfe der Physiokraten selbst hinaus-
gewachsen ist und schließlich zu einer politischen Außassung
sich gestaltet hat, die in sich wohl auch physiok ratische
Elemente enthält, aber selbst nicht mehr physiokratisch ist.
Diese Elemente, die zu solchen Folgen geführt haben, ver-
leiben dem Physiokratismua von Anfang an den schon
früher besprochenen Charakter einer von Wideraprfichen
nicht freien Lehre. Sehen wir aber näher zu, so war dieser
M'iderspruch in der Politik des „ancien rögime" in den letKten
Jahrzehnten seiner Existenz begründet , Wo es mit einer
Hand an seiner alten Macht festhalten, mit der anderen,
dem „esprit r^volutionnaire" nachgebend, seinem alfcn
Wesen widersprechende Reformen einführen wollte. So
sind jene Schwankungen in der Politik entstanden, die
schließlich, wie schon Tocqueville bemerkt hat', zur Kata-
strophe flihrten. Hätte Turgot durch sein energisches Vor-
gehfen auch noch so viel erreichen können, wenn er Minister
geblieben wäre, dieser innere Widerspruch charakterisiert
auch ihn als Politiker, weil er überhaupt da* gan/e
I
(
1 i^^ma, Iiitre III, eh. V und VI.
rvi 3
141
politisch taumelnde Zeitalter kennzeichnet. Ein Abbild solcher
politischen Zustände bietet uns die Politik der Phyaiokraten,
— ihr Versuch das Alle mit dem Neuen auf irgend einer
theoretischen Grundlage zu vereinigen. So ist der Phyaio-
kratisinus in politischer Hinsicht, um es nochmals zu wieder-
holen, nur ein Abbild der kritischen Überzeug ungsperiode
gewesen. Seine historische Bedeutung beruht also auch
hier, gerade so wie in seiner Gesellschaftslehre und seinen
theoretischen Ausführungen über die Politik darauf, daB
«r seine Gegenwart illustriert; dariiher hinaus ist sie kaum
anzuschlagen. —
Man bat versucht, dem Physiokratismus ftir die Egt-
Btehung der Erklärung der Menschenrechte eine besondere
iBedeutung zuzuschreiben. Ein t'ranzö Bischer Autor Mar-
^ggi (vgl. Einleitung, Anm. 8) ist fdr diesen Gedanken
jn einer besonderen Schrift eingetreten. — Es mag nun
sitvörderst auf den in der Polemik über den Ursprung der
^anzösischen ,Döclaration" hervorgehobenen entscheidenden
Uoment hingewiesen werden, daß in der umstrittenen Frage
die verfftssungsgeschichtliche Seite von der ideen geschicht-
lichen zu trennen ist: die Präge nach dem Ursprung der
Erklärung der Menschenrechte als einer Tatsache aus der
Verfaasungsgeschichte Frankreichs, und die Frage nach
dem Ursprung der in der Erklärung enthaltenen Ideen —
sind zwei verschiedene Dinge*. Mit dieser Scheidung ist
die Streitfrage prinzipiell entschieden, indem sie sich in
die Frage von dem Einfluß der Ideen und Theorien auf die
Ereignisse der Geschichte umwandelt.
Vertritt man nun den Standpunkt, daß Ideen — nicht
als psychologischer Faktor, sondern als Theorien, als Systeme
von Erkenntniswerten — keine Geschichte im wirklichen
Sinne des Wortes machen, so ist es ebenso verfehlt, den
Ursprung („les origincs") der verfassungsgeachichtHchen
° Tgl. .Tellinck, Erkläraiig der Mtoscheui echte, Vorrede nur zneiten
142
VI 3
Tatsache der Erklärung der Menschenrechte in irgend einer
„Schule" zu suchen, wie es unangemeasen wäre, den Ur-
sprung der französischen Revolution, etwa in den Schriften
Rousseau's aufdecken zu wollen. Damit ist aber nattirlicb
der Zusammenhang zwischen der Ideengeschichte einerseits
und der sozialen und politischen Geschichte andererseits,
sowie die Einwirkung jener auf diese durchaus nicht ge-
leugnet. Auch in der uns hier interessierenden Frage gebührt
eine nicht hoch genug zu bewertende Bedeutung der seil
dem Beginn der neueren Geschichte aufgebauten indivi-
dualistischen Ideenwelt, auf deren Ursprung wir hier nicht
näher einzugehen haben, und die unter anderem in den
Naturrechtslehren systematisch zur Geltung kam.
Hier darf aber diese Ideenwelt nur als Ganzes, mit
ihren wenigen allgemeinen im Resultate gewonnenen festen
SStzen in Betracht gezogen werden. Von den einzelnen
Lehren und ihren einzelnen Vertretern in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts verdienen nur diejenigen hervorgehoben
zu werden, die aus irgend welchen Gründen von der Sffent-
lichen Meinung als Trftger der schon längst in ihrer Be-
deutung für die Geschichte vorbereiteten und reif gewordenen
Ideen betrachtet wurden. So sind von besonderer historischer
Bedeutung die zdndenden Schriften Rousseau'» geworden*,
die während der Revolution in aller Munde waren. Von
den Physiokraten kann das aber nicht behauptet werden,
wenn auch ihre Lehre zum Beetandteil des geistigen Eigen-
tums mancher hervorragenden Männer während der Re-
volution, vor allem des Grafen Mirabeau, geworden ist.
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* NGUerdinga wird die Bedeutung RoUiMeüu'a für die Rerolation he- 1
iitritten (Jellinek, F&gnet). Qegen diese Meinung ließe sich kiHin etma I
einwenden, inaofem sie sich nur auf die Terfaniungsrechtlichen Ermngen- 1
Schäften der Berolntion bezieht. Anders verbält es sich aber in facaof J
nuf die allgemeine Stimmung, für deren HerBusbildong die t^chrinaD J
Kousseau'e von großer Bedeutung waren , und vou der aDch di^enigiea I
Hänner dev Kevolution beseelt und in ihrer politischen Tntigksit bectitnml I
waren, die darxus — - aus Gründen, die anch auQerhnlb der Ideenf;«achicbM'l
ticken — Konsequenzen gezogen haben, die mit den politischea AnaicbM
ihrei Urhebers nicht übereiustimmeii.