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Full text of "Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen"

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staats- 


völkerrechtliche Abhandlungen. 


Begründet 
Dr.  Georg  Jelllnek  uud  Dr.  Georg  Meyer, 


o> 


org  Jellinek  und  Dr.  Gerhard  ÄnschJitz, 

Profuaoran  der  Raohte  in  HaidsIbarR. 


Sechster  Band. 


o 


Verlag  von  Duncker  &,  Humblot. 
1907. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Inhaltsyerzeichnis. 

1.  über  die  völkerrechtliche  clausula  rebus  sie  stantibus  sowie 
einige  verwandte  Völkerrechtsnormen.  Zugleich  ein  Beitrag  zu 
grundsätzlichen  Problemen  der  Rechtslehre.  Aus  dem  Nachlasse 
von  Bruno  Schmidt. 

2.  Das  parlamentarische  Interpellationsrecht.  Bechtsvergleichende 
und  politische  Studie.    Von  Hans  Ludwig  Bo segger. 

3.  Die  Gesellschafts-  und  Staatslehre  der  Physiokraten.  Von 
Benedikt  Güntzberg. 


über 

0»  TJUkomehtliche  clansvla  rebus  sie  stantifcis. 


Staats- 

und 

völkerrechtliche  Abhandlungen. 

Begründet 
Dr.  <3eoi^  Jellinek  und  Dr.  Oeoi^  Meyer, 

herausgegeben 
von 

Dr.  Georg  Jellinek  und  Dr.  Gerhard  Anschütz, 

PmftiMri-n  i«  Rächt*  In  Haidslbarf. 


VI.  1.    über  die  vfilkerrechtliche  clausula  rebus  sie  stantibuF^ 

sowie    einige   verwandte  Völkerrechtsnormen.     Von  Professor 

Dr.  Bruno  Schmidt. 


Leipzig, 

Verlag  von  Du'ncker  &  Humblot. 
1907. 


Über 

lie  völkerreditliche  clausula  rebus 
sie  stantibus 

einige  verwandte  Völkerrechtsnormen. 

Zugleich  ein  Beitrag 
zu  grundsätzlichen  Problemen  der  Rechtslehre. 

Aus  dem  Nachlasse 

Dr.  jur.  Bruno  Schmidt, 

a.  0.  FrofHur  nn  der  UntTsnltlt  Heiilelberg. 


Leipzig, 

Verlag  von   Duncker  &  Hnmblot. 

1907. 


Von  demselben  Verfasser  sind  früher  erschienen: 

Über  einige  Ansprüche  auswärtiger  Staaten  auf 
gegenwärtiges  deutsches  Reichsgebiet    1894. 

(Verlag  von  Veit  &  Co.  in  Leipzig.) 


Der  Staat    Eine  öffentlich-rechtliche  Studie.   1896. 

Das  Gewohnheitsrecht  als  Form  des  Gemein- 
willens.    1899. 

Der  schwedisch  -  mecklenburgisclie  Pfaodvertrag 
fiber  Stadt  und  Herrschaft  Wismar.     1901. 

(Verlag  von  Duncker  &  Humblot  in  Leipzig.) 


Die  letzte  Arbeit  eines  Veratorbeaen ,  die  hiermit  der 
OffaatUchkeit  übergeben  wird,  bringt  die  aclirifta teile ri sehe 
Tätigkeit  des  Verfassers  {s.  die  Auführungen  S.  19,  Anm.  2, 
S.  89,  Anm.  2,  S,  2,  Anm.  1  und  2  und  weiter,  bes.  im  Ab- 
schnitt VIII)  zu  einem  gewiasen  Abachluß,  Die  Beacbafti- 
gung  mit  der  „Spezialfrage  des  öffentlichen  Rechts",  die 
ihren  eigentlichen  Gegenstand  bildet,  reicht  zurUck  bis  in 
die  ErstlingsBchrift  über  die  Ansprüche  ösleri-eichs  auf  die 
Laueitzen  und  Scliwedens  auf  Wismar  aus  den  geschieht- 
lichen  Verträgen  (s.  dort  bes.  S.  22  f.  und  S.  84  ff.)  und 
ist  in  der  besonderen  Sclirift  über  das  letztere  Thema  schon 
bis  in  die  Endergebnisse  weiter  gediehen,  die  nur  breiterer 
Ausführung  in  gesonderten  Erörterungen  vorbehalten  blieben 
(vgl.  dortS.  74  ff.  und  Vorwort  S.  VI).  Sie  hatte  auch  den  An- 
stoß gegeben  au  den  allgemeinen  Studien  über  Staat,  Recht 
und  Völkerrecht,  von  denen  in  den  Schriften  über  den 
Staat  und  über  das  Gewohnheitsrecht  zwei  Bruchstücke 
veröffentlicht  sind  (vgl.  die  Vorrede  zu  ersterer  S.  V),  und 
diese  haben  ia  der  vorliegenden  Arbeit  zugleich  ihre  Fort- 
führung durch  Beiträge  zu  Grundfragen  des  Völkerrechts 
und  der  allgemeinen  Reclitslehre  gefunden.  Das  Streben 
nach  weiterer  Vertiefung  dieaer  Studien  ist  es  neben  dem 
harten  äußeren  Geschicke  seiner  langwierigen  schweren 
Krankheit  gewesen,  was  die  Arbeit  des  Verfassers  Jahr 
um  Jahr  hinausgezogen  und  ihren  völligen  Abschluß  durch 
ihn  verhindert  hat.  Denn  nur  die  ersten  sieben  Abschnitte 
fanden  sich  in  druckreifer  Form  von  seiner  Hand  vor, 
für  den  achten,  der  ihm  besonders  am  Herzen  lag,  statt 
dessen  nur  einige  mehr  oder  minder  ausgeführter  Entwürfe, 


VI  VI  1. 

die  ersichtlich  aus  verschiedenen  Zeiten  herrührten  und 
wesentlich  voneinander  abwichen.  Im  Auftrage  der  An- 
gehörigen hat  der  unterzeichnete  langjährige  Freund  des 
Verstorbenen  den  Versuch  gemacht,  aus  diesen  Entwürfen 
die  Stücke  zusammenzustellen,  die  als  ftlr  sich  genommen 
fertige  Ergebnisse  im  Sinne  des  Verfassers  angesehen  werden 
konnten.  Wenn  neben  den  übrigen  Teilen  der  Schrift  in 
der  Gestalt,  die  er  selbst  ihnen  gegeben  hat,  hier  auch  diese 
Materialien  zum  Schluß-Abschnitt  erscheinen,  so  geschieht 
dies,  weil  sie  im  Plan  des  Ganzen  nicht  wohl  zu  entbehren 
sind.  Hoffentlich  wird  die  Schrift  auch  in  ihrer  frag- 
mentarischen Form  nicht  bloß  den  Freunden  seiner  schrift- 
stellerischen Arbeit  als  deren  letzte  Frucht  willkommen 
sein,  sondern  auch  Andren  Anregung  Air  ihre  Studien  zu 
den  Grundproblemen  der  Rechtswissenschaft  bieten,  die  hier 
in  der  eigenartigen  Weise  des  Verfassers  in  Angriff  ge- 
nommen sind.  Die  Mängel  dieser  Form  wird  man  nicht 
dem  Verfasser  zur  Last  legen;  er  würde,  wenn  ihm  die 
Zeit  dazu  geblieben  wäre,  auch  den  spröden  und  für  seine 
Grandauffassung  besondere  Schwierigkeiten  bietenden  Stoff 
des  letzten  Abschnitts  gewiß  in  gleicher  Weise  zu  meistern 
verstanden  haben,  wie  er  das  in  den  durch  Geschlossenheit 
und  Folgerichtigkeit  besonders  ausgezeichneten  Ausführungen 
seines  Gewohnheitsrechts  in  ähnlich  schwieriger  Lage  ver- 
mocht hat.  So  können  wir  nur  bitten,  die  letzten  Gedanken 
des  Verfassers  nicht  für  sich,  sondern  im  Zusammenhange 
mit  seiner  ganzen  Lebensarbeit  zu  betrachten. 

Den  Herausgebern  der  Staats-  und  völkerrechtlichen 
Abhandlungen,  die  hier,  wie  einst  seiner  ersten  allgemeinen 
Studie,  nun  auch  seinem  letzten  Worte  eine  Stätte  ein- 
geräumt haben,  sei  dafür  ebenso  wie  seinem  Freunde 
Dr.  Eduard  Lehmann  in  Chemnitz  für  mannigfache  Hilfe 
bei   der  Drucklegung  auch  hier  aufrichtiger  Dank  gesagt. 

Dresden,  Ostern  1907. 

Landrichter  Meyer. 


Inhalt. 

Seite 
Yeneichnis  der  besprochenen  geschichtlichen  Vorgänge    .     .    .     VIII 

Autoren-Begister VIIIu.IX 

§  1 — 8.    Erster  Abschnitt.     Stellung  und   Begrenzung  der 

Angabe 1—25 

§  4 — 6.  Zweiter  Abschnitt.  Der  rein  naturrechtliche 
Charakter  der  üblichen  Lehre  von  der  clausula 
reltUB  sie  stantibus 26 — 67 

§  7 — 8.    Dritter  Abschnitt.    Die  praktische  Gefährlichkeit 

der  speiifisch-juristisch  verstandenen  Klausel    .     .    68 — ^92 

§  9^10.    Vierter  Abschnitt.      Der   berechtigte    Kern    der 

ganzen  Lehre 93—118 

§  11 — 12.  Ffinfter  Abschnitt.  Das  umfassende  Geltungs- 
gebiet des  (richtiggestellten)  Grundprinzips  der 
Klausel 119—151 

§13—714.    Sechster  Abschnitt.    Die  Unzulänglichkeit  des 

Moments  der  „veränderten  Umstände^ 152 — 176 

§  15.    Siebenter  Abschnitt.    Bedingter  Wert  des  Moments 

der  „staatUchen  Gefährdung' 177—194 

9  lÖ — 17.    Achter  Abschnitt.    Volkerrechtliche  clausula  und 

allgemeine  Rechtslehre 195—226 


Besprochene  gesehielitliehe  Vorgänge*). 


Römisch- karthagischer  Vertrag 

508  ▼.  Chr 181 

Kimonischer  Friede  449  v.  Chr.  181 
FHede  de»  Nikias  421  v.  Chr  44 
Rom  und  Tarent  um   850/283 

V.  Chr 179 

Römisch  -  syrischer    Vertrag 

190/189  V.  Chr 181 

Perseus  und  Genthios  169  v.  Chr.  79 
Friedrichs  IT.  Königswahl  1196  156 
Genaas  Salzlieferungsverträge .  159 
Orkneyinseln  1469  ....  60 
Prager  Friede  (betr.  die  Lau- 
sitzen) 1635  ...  45.  54.  57 
Der  große  Kurfürst  und  Kalck- 

stein  1670 127 

Bwri^-Traktat  1715/1785.    .  188 
Spanisches  Heiratsprojekt  Lud- 
wigs XV.  1721/5     ....  162 
Advokaten  -  Edikt    Friedrieh 

Wilhelm  I.  1724      ....  208 
Friedrich  d.  Große  u.  Breslau 

1740/1 70 

Friedridi   d.  Große   im  Jahre 

1756  ...  .  129 

Erste  Teilung  Polens  1772.    .  112 


Rastatter  Gesandtenmord  1797  131 
Schweden  n.  Wismar  1803/1908  89 
Frankreich  u.  Bayern  1805  .  44 
England  u.  Danemark  1807  .  136 
Republik  Krakau  1815/46  124.  158 
Luxemburger    Besatzungsrecht 

1815/67 57 

Französisches     Sakrileggesetz 

1824 207 

Luzem  u.  Aargau  1830/88  .  .  78 
Londoner  Protokoll  ^^9. 2. 1881  48 
Nassau  u.  Frankreich  1888  .  166 
Lamartines  Cirkular  v.  2. 3. 1848  48 
Clayf  on  -  Bulwer  -  Vertrag 

1850/1901 169 

Londoner    Protokoll    v.    8.   5. 

1852  (1864)  ...  48.  54.  56 
Pontus-Frage  1856/71  49.  57.  80.  90 

Trent-Aflfaire  1861 128 

Petersimrger  Deklaration  1868  143 
Londoner  Protokoll  v.   17.    1. 

1871 43.  52.  81 

Bfttam-Frage  1878/86  51.  56.  158 
ZengniszwaDg  i.  D.  Reich  .  .  205 
Haager    Friedens  -  Konferenz 

1^ 69.  75.  145 


•Adickes  208. 
Affolter  215. 
Alciati  17. 
Anschütz  139. 
Arndts  37. 
Auer  99. 

Beccaria  148. 


Antoren-R^ster  *). 


Bekker  161. 

Bergbohm  13.  85,  38.  41.  183.  164. 

215. 
Bemh'öft  103. 
Bieriing  76.  214.  221. 
Binding  142. 
Birkmeyer  99. 
Bismarck  50.  80.  108.  111.  115.  117. 


*)  Die  Zahlen  bedeuten  die  (ersten)  Seiten. 


VI  1. 


IX 


BlnntMhli  18.  39.  82.  104. 
Brie  4.  d2.  74. 
▼.  Bulmeriacq  73. 
Bfllow  225. 

Coceeji  17. 
Criste  182. 

Deumer  47. 

Flofe  21. 
Frioker  41. 
▼•  Frisch  104. 
FritM  6.  88. 


18.  28.  72.  74.  75.  130.  164. 
Ofiitliier-ViUare  162. 
GeHeken  29.  85.  51.  81.  165. 
GeSner  9.  24. 
Gondie  60. 
GrotiuB  17. 

▼.  Hacenf  5. 

Hemer  la  29.  85.  51.  81.  165. 

HeUbom  185.  189.  144. 

▼.  Hellert  182. 

Held  95. 

Hie  142. 

HoUand  172. 

▼.  HolteendoriF  82. 

Janke  141. 

JeUiiiek  5.  9.  19.  87.  65.  85.  105. 

115.  124.  162.  165.  214. 
Jbering  202. 

Klfiber  B.  57.  140. 
Knener  145. 

lAband  144. 
LMMm96.  115. 
Ledemuum  44. 
Lehmiuin  142. 
Lejeer  156. 

▼.  Litit  61.  88.  89.  99.  140.  143. 
146.  165.  18L  185. 


Loening  104. 
Lnnder  144. 

y.  Martens  13.   16.  24.   133.   164. 

178. 
Mayer  19. 
Merkel  3. 
Mill  24.  111. 

XeumaDD  18.  21. 

Nippold  3.  18.  23.  40. 90.  165.  214. 

Pfaflf  5.  6.  16.  3a  89.  156. 
1   Pfeiffer  46.  47. 
i   Phillimore  10.  188. 

Pinheiro-Ferreira  18.  93. 

Polybius  179. 

Pradier-Fod^r^  11.  16.  21.  24. 

Pufendorf  17. 


Behm  2.  97. 

Rivier  12.  19.  38.  87.  89.  130.  168. 
Rolin-Jacquemyns  154.  185. 
Rosin  105. 

Schroeder  142. 

Schulze  144. 

Stammler  3.  75.  96.  102.  197. 

Stoerk  42.  66. 

ThoD  103. 
Triepel  ^5.  77. 

UUmann  la  23.  29.  32.  90.  141. 
143.  162. 

Vattel  12    19.  37. 

I 

,  "V^ach  99. 

;  Wharton  10.  21.  71.  172. 
:   Windscheid  6.  55.    102.   108.  117. 
Wundt  219. 

'  Zitelmann  110.  120.  199.  200.  212. 
i  Zorn  35.  143.  164.  203. 


Berichtlsrung:. 


Aaf  S.  81   besteht  der  Inhalt  der  Anin.  1    in  dem  der  Anm.  2  und 
die  letztere  hat  za  laaten:  Vgl.  S.  107  ff.,  sowie  122  ff.  und  149  ff. 


Erster  Abschnitt 
SteUnng  and  Begrenzung  der  Aufgabe. 


5  1. 


Der  Gegenstand ,  mit  dem  sich  die  vorliegende  Ab- 
handlung zu  befassen  hat,  führt  uns  zunflchst  in  den  Bereich 
des  reinen  Völkerrechts,  d.  h.  auf  ein  Gebiet,  welches  sich 
bei  den  Juristen  (zum  mindesten  in  Deutschland)  nicht 
eben  großer  Wertschätzung  und  Teilnahme  zu  erfreuen 
pflegt.  Ohne  hier  in  eine  nähere  Erörterung  dieser  Er- 
scheinung, namentlich  der  tieferliegenden  Ursachen  dafür' 
eintreten  zu  wollen,  mag  bloß  das  Eine  in  aller  Kürze 
hervorgehoben  werden,  daß  dieselbe  unter  einem  bestimmten 
Gesichtspunkte  jedenfalls  sehr  zu  bedauern  ist;  Uber  der 
grundsätzlichen  Veruachlassigung  und  Mißachtung  des  ius 
inier  gentes  kommt  leider  der  große  j  uriatisch  e  Wert 
gar  nicht  zur  gebührenden  Geltung,  der  für  allgemein-recht- 
liche Fragen  der  Be^ichiLftigung  mit  diesem  zweifellos  inne- 
wohnt. 

Es   ist   eine   auch   dem   flüchtigsten  Blick  beinahe  von 

lelbst  sich  aufdrängende  Tatsache,  daß  das  Völkerrecht  von 

■  jVornherein    ein    ganz    eigenartiges   Gepräge    aufweist.     Als 

eigentlich  primäre  Besonderheit,    als  diejenige,   auf  welche 

alle  übrigen  in  letzter  Wurzel  als  bloße  Folgeerscheinungen 


u  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die  Volk  errech  tawisB 
len  »icli  selbst  anzuklagen  hat.  Vgl,  hierzn  unten  8.  t 
ItBireohU.  Abhsndl.    VI  1.  -  Sehtnitlt.  1 


2  VI  1. 

mehr  oder  weniger  sich  zurückführen  lassen,  ist  dabei  die 
gesamte  Art  der  Entstehung  anzusehen  :  während  das  inner- 
staatliche Recht  ^  nie  direkt  von  den  zu  seiner  Anwendung 
berufenen  Einzelindividuen  produziert,  sondern  ihnen  stets, 
mit  Einschluß  des  speziiischen  jus  non  scriptum^,  von 
oben  her,  durch  einen  einheitlichen  Gemeinschaftswillen 
auferlegt  wird,  fällt  letzteres  die  Sache  wesentlich  kompli- 
zierende, schwierige,  neue  Probleme  unlöslich  in  sie  ver- 
flechtende Moment  für  internationale  Verhältnisse  ganz  weg ; 
die  Staaten,  von  denen  die  einzelnen  Völkerrechtssätze  als 
juristisch  wirksame  Direktiven  ihres  Tuns  und  Lassens  be- 
folgt werden  sollen,  sind  gleichzeitig  auch  diejenigen  Per- 
sonen, von  welchen  der  gesamte  Normenkomplex  entweder 
durch  ausdrücklichen  oder  stillschweigend  erklärten  Rechts- 
satzungsvertrag (resp.,  wie  man  neuerdings  vielfach  zu  sagen 
vorzieht,  durch  „Vereinbarung")   überhaupt  erst  geschaflFen 


^  Zur  Vermeidung  etwaiger  Mißverständnisse  mochte  ich  hier  eine 
erläatemde  Bemerkung  einschieben.  Wenn  ich  an  der  obigen,  sowie 
zahlreichen  anderen  Stellen  dem  Völkerrecht  immer  nur  die  interstaat- 
liche Ordnung  gegenübersetze,  so  soll  damit  jenem  (als  einem  ausnahms- 
weise auf  dem  Wege  strengster  Koordination  entstandenen  Rechte) 
stets  bloß  das  wichtigste  Beispiel  des  normalen  und  regelmäßigen 
Falles  (d.  h.  des  einer  begrifflich  sn  per  ordinierten  Quelle  entspringenden 
Regelsystems)  an  die  Seite  gestellt,  keineswegs  aber  behauptet  werden, 
es  seien  weitere  selbständige  Rechtsoidnungen  überhaupt  nicht  vorhanden. 
Diese  Art  der  Auffassung  ausdrücklich  von  mir  abzulehnen,  habe  ich 
um  so  mehr  Veranlassung,  als  ich  schon  von  Rehm  expressis  verbis 
der  Zahl  derjenigen  Schriftsteller  eingereiht  worden  bin,  über  die  er 
(Allgemeine  Staatslehre,  1899,  S.  147)  sagt:  „Es  gibt  für  sie  Recht  nur 
im,  nicht  vor,  außer  und  über  dem  Staat,  alles  Recht  führt  auf  den 
Staatswillen  zurück.**  In  Wirklichkeit  ist  aber  von  mir  bereits  in  meiner 
1896  veröffentlichten  Studie  über  den  „Staat**  (Heidelberger  „Staats-  und 
Völkerrechtliche  Abhandlungen**  I,  6)  klipp  und  klar  gesagt  worden 
(S.  77/78):  „Das  Recht  ist  vom  Staat  keineswegs  in  der  Weise  völlig 
abhängig,  daß  es  ihm  überhaupt  seine  ganze  Existenz  verdankte;  viel- 
mehr idt  die  H an e Ische  Bekämpfung  des  Satzes,  ,Ohne  Staat  kein 
Recht*  insofern  völlig  begründet,  als  solches  auch  noch  in  vielen 
anderen  Verbänden  erzeugt  werden  kann  und  wirklich 
wird.**  Wie  Rehm  diesen  und  ähnlichen,  aufs  Bestimmteste  lautenden 
Erklärungen  gegenüber  zu  seiner  Autfassung  gekommen  ist,  verstehe  ich 
nicht.     Vgl.  noch  S.  97,  Anm.  1. 

*  Hierüber  zu  vgl.  meine  früher  publizierte  Schrift,  „Das  Gewohn- 
heitsrecht als  Form  des  Gemeinwillens*^  (Leipzig  lö99).     Cf.  bes.  S.  46  ff. 


VI  1.  3 

ist'.  Dies  hat  einerseits  freilieh  zur  unvermeidlichen  Kon- 
sequenz, daß  das  so  entstehende  NormensjsCera  viel  weniger 
in  sieh  gefestet,  ein  weit  loseres  und  unsichereres  sein  wird^; 
auf  der  anderen  Öeite  aber  läßt  sieh,  da  grundlegende  Pro- 
bleme stets  besser  an  einfachen  und  primitiven  wie  an  ver- 
wickelten Verhältnissen  erforscht  werden,  von  Haus  aus 
auch  wieder  annehmen,  daß  das  jus  inter  gentea  wegen 
seiner  essentiell  durchsichtigeren  Struktur  und  Bauart  für 
zahlreiche  Fragen  der  allgemeinen  Kechtslehre   ein  äußerst 


'  Aus  was  ITir  OrOaden  auch  unter  diesen  Umatänden  noch  waLrea 
Eecbt  flnüunehmen  ist,  iiiwiefero  die  Meioung  dKrjenigen,  die  der 
iQtematioDal'irdDung  dun  npezifiiich-juriflüacbeii  Charakter  principiell  Hb- 
nprechen,  lediglich  nuf  die  Verwechslung  einer  bloSeii  Art  des  Eecbte- 
IwgriSeB  mit  der  Gattung  Buhlechtweg  hinnusISuft,  diese  l'Vage  muß 
natQrliuli  hier  unerSrtert  bleiben.  Eine  aehr  KDtreffende  (in  dem  gegebenen 
Zniammenhang  allerdings  etwas  andern  pfemeinte)  Formal  iur  die  gesamte 
BcchtHentstehung  findet  sich  gelegentlich  bei  Stammler,  indem  dieser 
(Wirtschaft  und  Recht  nach  der  materialistischen  GeschichtsautTaBBuntc, 
1896,  8.  608)  sagt,  daB  von  Anfang  an  „xwei  M3gliciikeilen  au  unter- 
scheiden sind:  eine  solche  der  Einigung  unter  den  Recht  Setaandeti 
und  nQD  zugleich  rechtlich  Oebundenen.  oder  aber  eine  eiascitigc 
Saltung  durch  einen  Machthaber  gegen  den  Willen  der  Unter worfeneD". 
Vgl.     auch    A.    Merkel,     Juristische     Enzyklopädie    (2.    Aud.,    1900), 


i  121,  I 


55. 


*  Bi'iläuGg  sei  darauf  hingewiesen,  daU  dos  allein  eigentlich  noch 
lange  nicht  die  BeAignis  dazn  gibt,  das  Volkerrecht  gegenüber  dem  initer- 
staatliehen  als  „unvollkommen"  lu  hnuidmarken,  trotidem  dies  (auch 
selten»  solcher  Antoren,  die  die  Hechtsqualität  des  ersleren  prinsipiell 
auerkennenl  überaus  häufig  geschieht.  l}enn  wenn  über  irgendetwas  in 
wahrbütl  gerechter  Weise  ein  derartiges  Werturteil  gefällt  werden  soll, 
so  muH  mRn  invor  auch  den  Einfluß  des  gesamten  äußeren,  unabänderlich 
gegebenen  Milieus  mit  in  AiL^atz  bringen;  man  muß  scirgfiiltig  unter- 
snehen,  üb  es  in  Anbetracht  und  unter  Berücksichtigung  de« 
letBleren  alles  dw  geworden  ist,  was  es  überhaupt  werden  konnte, 
nnd  lediglich  hiernach  über  das  VorhandeuHein  oder  Nichtvorhandensein 
der  „Vollkommenheit"  entacheiden.  Demgemäß  mag  man  wuhi  das  V51ker- 
recht  mit  Fug  insofern  unvollkommen  nennen,  als  es  lachlich*  und 
inhaltlich  zweifellos  auch  heute  noch  nicht  vQllig  das  leistet,  was  es  an 
sich  EU  leisten  fnhig  wäre;  dagegen  hat  es  gar  keinen  Sinn ,  ihm  aius 
der,  der  ganzen  Ericheinuog  eiiaentiell  inhärenten,  Abwesenheit  gewisser 
formaler  Sicherheitskriterien  («-  B,  aus  dem  Fehlen  selbständiger,  aus 
eigener  Autorität  und  nnabhängig  von  den  Parli-ien  fungierender  Gerichte, 
aus  dem  Mangel  einer  rechtlich  geordneten  Zwangsgewalt  u.  dergl.)  einen 
Vorwurf  zu  machen.  Grundsätslich  riehti(!  Nippold,  dar  völkerrecht- 
liche Vertrag,  seine  Stellung  im  Rechbisystem  und  netne  Itedentung  ftir 
das  internationale  Recht  (1K94),  S.  2r^2:  „Sowie  das  inncnttsatliche  Recht 
Gesetzelrecht  ist,  so  ist  das  Völkerrecht  Vertragsrecht.    Hierin  liegt  kciiiu 

1* 


4  VI  1. 

dankbares  Studienobjekt  abgeben  muß^.  Diese,  hier  za- 
nächst  aus  universal-theoretischen  Erwägungen  hergeleitete 
Voraussage  wird  gerade  durch  die  folgende  Einzelunter- 
suchung eine  praktisch  wirksame  Bestätigung  erfahren : 
unsern  Ausgangspunkt  nehmend  von  einer  rein  völkerrecht- 
lichen Detailfragp,  werden  wir  im  Verfolg  zu  umfassendsten 
und  wichtigsten  Allgemein resul taten  hingeführt  werden,  mit 
einem  Ausblick  auf  Wesen  und  prinzipielle  Auffassung  des 
Rechts  überhaupt  zu  schließen  haben.  — 

Das  internationale  Spezialproblem ,  mit  welchem  sich 
unsere  Arbeit  ex  officio  befassen  soll,  gehört  zu  den  be- 
rühmtesten —  man  kann  freilich  ebenso  gut  sagen:  berüch- 
tigsten  —  Streitfragen  der  gesamten  Völkerrechtswissen- 
schaft; haben  wir  es  doch,  der  Titelangabe  zufolge,  mit 
der  vielumstrittenen  Clausula  rebus  sie  stantibus  zu  tun, 
d.  h.  mit  der  Lehre,  daß  durch  spätere  Änderung  der  Ver- 
hältnisse auch  die  Wirksamkeit  internationaler  Verträge  un- 
günstig beeinflußt  wird.  Da  machen  sich  nun  vor  allen 
Dingen  ein  paar  kurze  Bemerkungen  zur  formellen  Recht- 
fertigung der  gewählten  Überschrift  erforderlich.  Wenn  im 
Titel  ausdrücklich  hervorgehoben  ist,  daß  lediglich  „über 
die  völkerrechtliche  clausula  rebus  sie  stantibus"  ge- 
handelt werden  soll,  so  wird  das  sicherlich  von  vielen  als 
ein  durchaus  unnötiger  und  inhaltsloser  Zusatz  empfunden 
werden.  Denn  einer  heutigentags  überaus  weitverbreiteten 
Meinung  zufolge  ist  das  Elauselinstitut  sämtlichen  übrigen 
Rechtsgebieten  vollständig  fremd,  dergestalt,  daß  jede  Be- 
schäftigung mit  diesem  Gegenstand  von  selbst  und  ohne 
weiteres  streng  international  -  rechtlichen  Charakter  an  sich 
tragen  müßte. 


UnvoUkommenheit  des  letzteren:  beides   ist  in  der  ureigensten  Natur  der 
beiden  Gebiete  begründet.'' 

'  Vffl.  die  treffende  Bemerkung  ron  Brie  (Die  Fortschritte  des 
Völkerrechts  seit  dem  Wiener  Kongreß,  1890,  8.  3),  daß  „das  Völkerrecht 
theoretisch  gerade  durch  die  [Jnvollkommenheit  seiner  Quellen  und  seiner 
Realisierung  dazu  beitragen  kann,  Begriff  und  Wesen  des  Rechts  klar* 
zustellen*'. 


VI  I.  5 

Nun  ist  aber  in  Wahrheit  jene  HinzufUguDg  durchaus 
nicht  so  überflüssig,  wie  es  hiernach  allerdings  scheinen 
möchte,  vielmehr  mit  gutem  Grunde  zu  dem  Zwecke  vor- 
genommen worden,  um  eine  grundsätzliche  Begrenzung 
unserer  Aufgiibe  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Im  Gegensatz 
nämlich  zu  dem  ebengenannten  allgemeineo  Vorurteil  steht 
tatsächlich  die  Sache  so,  daß  der  clausula  an  und  für  sich 
auch  für  das  innerstaatliche  Recht  nicht  alle  und  jede  Be- 
deutung abgesprochen  werden  darf.  Es  gilt  das  sogar  in 
einem  mehrfachen  Sinne.  Zunächst  rein  geschichtlich,  mit 
Rücksicht  auf  frUber  gegebene  Zustände  und  Verhältnisse. 
In  dieser  Beziehung  hat  insbesondere  Jellinek*  schon 
vor  Jahrzehnten  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  man  mit 
der  Klauaellehre  ehedem  in  viel  ausgedehnterem  Maße  zu 
operieren  pflegte,  und  daß  sie  deshalb  in  der  privatrecht- 
lichen Literatur  damals  gleichfalls  eine  große  Rolle  spielte. 
In  welch  bedeutendem  Umfange  dies  der  Fall  war,  das  ist 
dann  vor  einigen  Jahren  durch  eine  besondere  Abhandlung 
des  österreichischen  Gelehrten  Ffaff*  des  Näheren  dargetan 
und  retrospectiv  klargelegt  worden.  In  eingehenden  Unter. 
Buchungen  weist  letzterer  nach,  daß,  gestützt  auf  bestimmte 
Stellen  des  corpus  iuris  civilis,  schon  die  Glossatoren  und 
ihnen  folgend  die  Kommentatoren  mit  der  Ausbildung  eines 
entsprechenden  zivilistischen  Reehtsinstituts  begonnen  haben, 
daß  dieses  in  der  Folgezeit  zu  immer  weiterer  Anerkennung 
gelangte  und  namentlich  auch  von  der,  ja  viel  später  erst 
einsetzenden  Völkerreohtswissenschaft  einfach  übernommen 
wurde.  Bereits  diese  wenigen  Andeutungen  lassen  zur  Ge- 
nüge erkennen,  wie  verkehrt  es  historisch-genetisch  ist,  wenn 
ein  öffentlich-rechtlicher  Schriftsteller  der  Neuzeit^  den  Satz 


'  Vgl,  „Rechtliche  Natar  der  StaatenvertrSge"  (18Ö0),  Anra,  104: 
„Es  war  lange  Zeit  hindurch  natiirrechll ich e  Aimchauiuig ,  daß  auch 
für  EivilistiBche  Verträge  die  Änderung  der  UmBtäude  als  AulISsungs- 
gmnd  gilt  " 

'  Die  Klausel  Rebaa  nie  BtantibuB  in  der  Doktrin  and  der  Sater- 
reichischen  GeeetTgebung.     Stattgart  1S98. 

*  L.  V.  Uagens,  Staat,  Recht  und  Völkerrecht  [1890]  8.  54/55. 


G  VI  1. 

formulierte:  „Um  die  Tatsachen  in  die  Schablone  pressen 
zu  können,  erfand  (!1)  die  völkerrechtliche  Doktrin  die 
Lehre  von  der  clausula  rebus  sie  stantibus,  welche  als 
essentiale  negotii  jedem  zwischenstaatlichen  Vertrag  inne- 
wohne". 

Daß  ein  derartiger  Ausspruch  überhaupt  fallen  konnte, 
wurde  einzig  und  allein  dadurch  möglich ,  daß  die  privat- 
rechtliche  Klausellehre,  schon  bald  nach  Erreichung  ihres 
Höhepunktes,  etwa  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  all- 
mählich in  Mißkredit  kam  und  schließlich  fast  vollständiger 
Vergessenheit  anheimfiel.  Dabei  blieben  aber  —  und  hier- 
mit kommen  wir  zu  einem  zweiten  Punkte,  der  in  einer 
ganz  allgemein  angelegten  Arbeit  über  die  clausula  rebus 
SIC  stantibus  nicht  fehlen  dürfte  —  die  sachlichen  Verhält- 
nisse und  Bedürfnisse,  die  seinerzeit  zur  Ausbildung  der- 
selben geführt  hatten,  völlig  in  Kraft  und  Wirksamkeit; 
mit  anderen  Worten,  es  konnte  auf  den  Rechtsgedanken, 
den  man  bis  dahin  mit  Hilfe  jener  Lehre  zu  formein  suchte, 
keineswegs  gänzlich  verzichtet  werden,  sondern  er  lebte, 
nur  jetzt  in  neuen  Formen  und  Konstruktionen,  materiell 
unbeeinträchtigt  fort^  Wenn  Windscheid*  mitten  in 
der  Erörterung  seiner  Lehre  über  die  Voraussetzung  Anlaß 
findet,  auf  die  alte  Doktrin  von  der  clausula  rebus  sie 
stantibus  Bezug  zu  nehmen,  wenn  §  321  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich  an  eine  nachträglich 
eingetretene  „wesentliche  Verschlechterung  in  den  Vermögens- 
verhältnissen"  der  einen  Vertragspartei  wichtige  Rechtsfolgen 
anknüpft,  wenn  Pf  äff®  ausführlich  für  die  österreichische 
Gesetzgebung  und  andeutungsweise  auch  für  einige  andere 
den  Nachweis  liefern  kann,  daß  sich  dieselben  noch  immer 
von   der   clausula   rebus    sie   stantibus    materiell    beeinflußt 


*  Vgl.  hierzu  die  Bemerkungen,  die  Fritze  in  einer  Besprechung 
des  vorhin  genannten  Pf  äff  sehen  Werkes  macht;  Kritische  Vierteljahrs- 
Schrift  Bd.  42,  8.  523. 

'  Pandekten  §  98,  Anm.  5. 

»  A.  a.  O.,  8.  78  ff. 


VI  1.  7 

zeigen,  so  sind  das  gewiß  ebensoviel  überzeugende  Belege 
dafür,  ditß  letztere  nur  dem  äußeren  Anschein,  nicht  aber 
aueli  der  Sache  nach  aus  dem  beutigen  innerstaatlichen 
Recht  entHchwunden  ist. 

Mit  allen  diesen  Dingen  nun,  so  interessant  sie  an  und 
für  sich  zweifellos  sind,  werden  wir  uns  in  der  vorliegenden 
Arbeit  in  keiner  Weise  befassen.  Wir  wollen  weder  ge- 
schichtlich auf  die  Zeiten  zurückgreifen,  da  die  Klausellehrc 
geradezu  formell- techniadi  einen  integrierenden  Bestandteil 
des  Privatrechts  bildete,  noch  die  Frage  untersuchen,  durch 
was  für  Sätze  sie  wenigstens  materiell  auch  heutzutage  noch 
vertreten  wird;  vielmehr  soll  auf  jede  detaillierte  Erörterung 
intern- staatlicher  Verhältnisse  grundsätzlich  verzichtet  und 
die  Untersuchung  von  vornherein  bloß  auf  das  beschränkt 
werden ,  was  die  Wissenschaft  des  internationalen  Rechts 
über  die  clausula  rebus  sie  stantibus  zu  sagen  päegt. 

Freilich  muß  uns,  wie  wir  bald  sehen  werden,  eben 
die  exklusive  Beschäftigung  mit  dieser,  die  kritische  Prüfung 
der  völkerrechtlichen  Elausellehre  in  allen  ihren  Teilen, 
doch  am  letzten  Ende  selbst  wieder  hinausführen  über  die 
spezifischen  Grenzen  der  internationalen  Verkehrsordnung. 
Aber  es  wird  das  nach  einer  ganz  anderen  Richtung  hin 
geschehen,  wie  es  bei  einem  Eingehen  auf  die  beiden  vor- 
hin genannten  Punkte  der  Fall  wäre:  während  jede  Er- 
örterung dieser  uns  sofort  in  Einzelheiten  des  Zivilrechts 
verwickeln  müßte,  bleibt  dergleichen  hier  strikt  aua- 
j;e9chlosaen,  und  es  soll  nur  die  davon  völlig  verschiedene 
Frage  kurz  erörtert  werden,  ob  nicht  vielleicht  das  Spezial- 
phänomen  der  internationalen  clausula  in  letzter  Wurzel 
sieh  zurückführen  läßt  auf  Eigentümlichkeiten  und  Be- 
schränkungen des  Rechtsbegriffes  überhaupt'.  Das  aber 
kann  offenbar  geschehen,  ohne  die  essentielle  Anlage  der 
Arbeit  irgendwie  zu  beeinträchtigen-,  der  grundsatzlich 
völkerrechtliche  Charakter   derselben    bleibt    durchaus   ge- 


'  Vgl.  g§   11,  12;   16,   17. 


8  VI   1. 

wahrt,  auch  wenn  wir  den  gewonnenen  Ergebnissen  durch 
Bezugnahme  auf  Probleme  der  allgemeinen  Rechtalehre 
schließlich  eine  breitere  Baais,  ein  tieferes  Fundament  zu 
geben  suchen. 

§  2- 

Nachdem  wir  unsere  Aufgabe  einer  ersten  und  prin- 
zipiellen Abgrenzung  unterzogen  haben,  gehen  wir  jetzt 
zur  Behandlung  des  so  tixierten  eigentlichen  Themas  ttber. 
Da  stellt  sich  denn  sofort  die  Notwendigkeit  noch  fernerer 
Vorarbeiten,  einleitender  Feststellungen  und  Forschungen 
heraus.  Ehe  wir  nämlich  an  irgendwelche  Beurteilung  der 
völkerrechtlichen  Klausellehre  herantreten  können,  mUBsen 
wir  sie  zuvor  inhaltlich  überhaupt  erst  zu  bestimmen  suchen; 
es  liegt  uns  ob,  die  herrschende  Meinung  Über  diesen  Qegen- 
etand  zu  formulieren.  Bei  der  ümtSnglichkeit  und  Ver- 
streutbeit  des  zu  berticksichtigenden  Materials  (in  Frage 
kommt  ja  eigentlich  die  einschlagende  Literatur  aller  Kultur- 
nationen)  oflenbar  eine  Aufgabe,  die  von  vornherein  mit 
einer  gewissen  Schwierigkeit  zu  kämpfen  hat. 

Der  Versuch  einer  Lösung  läßt  sich  natürlich  nur  in 
der  Weise  machen,  daß  jetzt  die  Äußerungen  verschiedener 
völkerrechtlicher  Autoren  über  den  uns  interessierenden 
Punkt  zitiert  und  vergleichend  nebeneinandergestellt  werden, 
wobei  aus  leicht  ersichtlichen  Gründen  Wert  darauf  zu  legen 
ist,  daß  Schriftsteller  möglichst  mannigfacher  Völker  und 
Staaten  zu  Worte  kommen.  Den  Anfang  mache  ich  mit  der 
Meinung  einiger  deutscher  Völkerrechtslehrer. 

Sehr  dürftig  ist  noch  das,  was  Klüber  über  den  Gegen- 
stand zu  bemerken  hat,  denn  wir  finden  bei  ihm  '  lediglich 
Folgendes:  ,Die  rechtliche  Wirksamkeit  der  Völkervertrage 
hört  auf  bei  wesentlicher  Veränderung  solcher  Umstände, 
deren  Dasein  für  die  Wirksamkeit  des  Vertrages,  nach  dem 
Willen  beider  Teile,  als  notwendig  vorausgesetzt  war,  gteioh- 

tadt  (13-51), 


§  165  ( 


EaropäiBclies  Völkerrecht,  2.  Aufl.  besorel  <■ 


VI  1.  9 

viel  ob  die  Voraussetzung  ausdrücklich  oder  vermöge  der 
Natur  des  Vertrags  atillaciiweigend  gemacht  war". 

Ebenfalls  recht  knapp  gehalten  sind  die  Angaben,  die 
in  Hoitzendorffs  Handbuch  des  Völkerrechts  •  G  e  ß  n  e  r 
macht.  Abgesehen  von  verschiedenen  Zitaten  aus  anderen 
Schriftstellern,  beschränkt  sich  dieser  lediglich  auf  die  Kon- 
statierung, daß,  „wenn  die  Umstände,  unter  welchen  ein 
Staatsvertrag  abgeschlossen  wurde,  sich  wesentlich  geSndert 
haben ,  derselbe  als  aufgelöst  angesehen  werden  kann". 
Nur  wenig  mehr  läßt  sich  auch  aus  einem  zweiten  pin  paar 
Zeilen  später  folgenden  Satze  entnehmen,  woselbst  es  heißt: 
„Veränderte  Umstände  können  auf  die  Gültigkeit  eines 
internationalen  Vertrags  rechtlichen  Einfluß  haben,  da  der- 
selbe eines  Staatszweckes  wegen  geschlossen  wird,  und  seine 
Fortdauer  deshalb  davon  abhängig  ist,  daß  er  mit  diesem 
Staatszwecke  nicht  in  Widerspruch  kommt". 

Im  Gegensatz  zu  den  beiden  bisher  genannten  Autoren 
wird  die  Frage  einer  viel  ausfuhrlicheren  Erörterung  unter- 
worfen von  Jeliinek  in  seinem  gelegentlich  schon  einmal 
angezogenen  Werke:  _Die  rechtliche  Natur  der  Staats- 
verträge" ^.  Ich  hebe  aus  seinen  umfassenden  Darlegungen 
nur  die  wichtigsten  Punkte  heraus,  „Ein  Endignngsgrund 
der  Staaten  vertrage  ist  auf  die  eigentümliche  Natur  des 
Staates  zurückzuführen.  Das  ist  die  Kollision  der  höchsten 
Staatszwecke,  unter  welche  vor  allem  die  Selbsterhaltung 
zJihlt,  mit  der  Erfüllung  des  Vertrages.  Hier  tritt  das  Not- 
recht des  Staates  ein,  welches  ihm  gebietet,  seine  Existenz 
hfther  zu  achten  als  die  Verpflichtungen,  welche  er  gegen 
Fremde  übernommen  hat.  Juristisch  ist  das  Eintreten  solcher, 
die  Vertragserfüllung  zur  Verletzung  der  Pflichten  gegen 
sich  selbst  machender  Umstände  als   unverschuldetes  Ein- 


'  Bd.  m  (1887),  S.  60. 

■  Cf.  S.  62  ff.  An  den  damuls  forinulierteD  Sätzen  bat  Jeliinek 
ttiicii  ia  der  Folgezeit  unveräudort  fentgchalteii.  Vgl.  besonders  Lehre 
von  den  Staatenverhindimgen  (1^82).  ti.  102f.;  Allg:emeine  Staatslehre 
\  (1900J,  e.  ()79  Anmerkung. 


10  VI  1, 

treten  der  Unmöglichkeit  der  Leistung  aufzufassen.  Eine 
Gebundenheit  des  Staates  in  alle  Ewigkeit  gehört  zu  dem 
rechtlich  Unmöglichen.  —  Ein  Staat  ist  kein  physisches 
Individuum,  welches  die  ganze  Zeit  seines  Lebens  hindurch 
einen  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  sich  verändernden 
Typus  trägt  y  sondern  es  ist  ein  in  steter  Bewegung  und 
Umbildung  begriflfener  Faktor  der  weltgeschichtlichen  Ent- 
wicklung. —  Und  der  Staat  der  Vergangenheit  sollte  die 
Macht  haben  y  die  Gegenwart  und  Zukunft  des  Staates  zu 
beherrschen?  Die  Erstarrung  der  Staaten,  der  Tod  der 
Weltgeschichte  wäre  die  Konsequenz.  Nur  eine  den  Zweck 
und  die  geschichtliche  Funktion  des  Rechts  vergessende 
Theorie  könnte  dem  Staate  eine  unlösbare  Verbindlichkeit 
auferlegen  wollen.  Der  Zweck  des  Rechts  besteht  in  der 
Erhaltung  der  Bedingungen  des  menschlichen  Gemeinlebens. 
Zu  diesen  Bedingungen  zählt  aber  vor  allem  die  staatliche 
Organisation  in  ihrer  freien  Entwicklung.  Was  diese  hemmt, 
kann  also  nimmermehr  Recht  sein."  — 

An  diese  Zitate  inländischer  Schriftsteller  mögen  sich 
nunmehr  ein  paar  aus  fremden,  nichtdeutschen  Autoren  an- 
reihen. Wieder  mit  recht  kurzen  Andeutungen  begnügt 
sich  der  Engländer  Phillimore,  wenn  er  in  seinen  Com- 
mon tari  es  upon  international  law^  sagt:  „When  that  State 
of  things  which  was  essen tial  to,  and  the  moving  cause  of 
the  promise  or  engagement,  has  undergone  a  material  change, 
er  has  ceased,  the  fpundation  of  the  promise  or  engagement 
is  gone,  and  their  Obligation  has  ceased.  This  proposition 
restes  upon  the  principle  that  the  condition  of  rebus  sie 
stantibus  is  tacitly  annexed  to  every  covenant.^ 

Etwas  mehr  Material  bietet  uns  dagegen  ein  Vertreter 
der  zweiten  angelsächsischen  Nation,  der  Nordamerikaner 
W harten,  der  sich  folgendermaßen^  ausspricht:  „A  treaty 
may  be  modified  or  abrogated  under  the  following  circum- 


>  2.  Aufl.,  1871,  Bd.  n,  S.  109. 

«  iDtemationÄl  law,  Vol.  U  (1886),  8.  58/59  (§  137  a). 


pvi  1. 


11 


'  stances:  —  7)  When  a  atate  of  thinga  wliich  waa  the  basis 
of  the  treaty,  and  one  of  its  tacit  conditions,  no  longer 
exists.  In  most  of  the  old  treatiea  were  inaerted  tlie 
(Clausula  rebus  sie  stantibus"  by  which  the  treaty  might  be 
oonstrued  as  abrogated  when  material  circumatances  on 
which  it  rested  changed.  To  wölk  thia  effect.  it  is  not 
necessary  thiit  tlie  facta  alleged  to  have  changed  should  be 
material  conditions.  It  ia  enough,  if  they  were  streng  in- 
duceraenta  to  the  party  asking  abrogation.  The  maxini 
.conventio  omnis  intelligitur  rebus  sie  stantibus'  is  held  to 
appiy  to  all  caaea  in  which  the  reason  for  a  treaty  has 
failed,  or  there  has  been  such  a  cbange  of  circunistances 
as  to  make  its  performance  inipracticable  except  at  an  un- 
reasonable  sacrifice." 

So  ziemlich '  die  gleichen  Gedanken,  die  hierin  zum 
Ausdruck  gelangt  sind,  treten  uns  dann  weiterhin  auch  ent- 
gegen in  den  Worten  des  Franzosen  Pradier-Fodörö': 
„En  droit  international  on  enseigne  que  leg  traites  cessent 
d'etre  obligatoirea  lors  dn  changement  essentiel  de  teile  ou 
teile  eirconstance  dont  l'exiatenue  etait  suppos^e  nßcesaaire 
par  les  deux  parties  (aoit  ijue  cette  condition  ait  6tA  atipulee 
express^ment ,  soit  qu'elle  r^aulte  de  Ia  nature  mcme  du 
trait^),  en  d'autres  termes  loraqu'il  se  produit  une  modifi- 
cation  essentielle  des  circonalances  en  vue  desquellea  le 
trait^  a  dtö  conclu.  —  L'effet  d'un  traitö  doit  n&essaire- 
ment  ceaser  loraqu'il  se  produit  dans  Ia  aituation  r^ciproque 
des  parties  contractantea  un  tel  changement  que  le  but  vis^ 
par  le  trait^  ne  saurait  plus  gtre  atteint  et  que  le  maintien 
de  ce  traitä  deviendrait  un  danger  pour  l'^tat." 

Im  Anschluß  an  diese  Äußerungen  Pradier-Fod^rös 
Bei  jetzt  die  Ansicht  zweier  fernerer  Schriftsteller  angeführt, 
die  gleich  jenem  Franzosen,  freilich  aber  nur  der  Natio- 
nalitHt,  nicht  auch  der  politischen  Staatsangehörigkeit  nach 


'  Droit    inMrnational    pnblic    enropäen    i 


12  VI   1. 

sind.  An  erster  Stelle  beziehe  ich  mich  auf  die  des 
Schweizers  Vattel,  das  heißt  eines  ziemlich  alten  Autors, 
der  jedoch  mit  gutem  Grunde  im  interationalen  Leben  noch 
immer  eine  große  Autorität  genießt.  Bei  ihm  finden  wir 
in  seinem,  1793  erschienenen  Droit  des  gens*  einen  ver- 
hältnismäßig recht  eingehenden  Versuch,  dem  Problem  ge- 
recht zu  werden:  „On  a  propos^  et  agitö  cette  question; 
si  les  promesses  renferment  en  elles-memes  cette  condition 
tacite  que  les  choses  demeurent  dans  T^tat  oü  elles  sont, 
ou  si  le  changement  survenu  dans  l'ätat  des  choses  peut 
faire  une  exception  k  la  promesse  et  m§me  la  rendre 
nulle?  —  S'il  est  certain  et  manifeste  que  la  consid^ration 
de  Tötat  present  des  choses  est  entr^e  dans  la  raison  qui 
a  donn^  lieu  k  la  promesse,  que  la  promesse  a  ^tö  faite  en 
considöration ,  en  cons^quence  de  cet  ötat  des  choses ,  eile 
dopend  de  la  conservation  des  choses  dans  le  meme  ötat. 
Cela  est  Evident  puisque  la  promesse  n'a  6t6  faite  que  sur 
cette  supposition.  Lors  donc  que  l'^tat  des  choses,  essentiel 
ä  la  promesse,  et  sans  lequel  eile  n'eüt  certainement  pas 
m  faite,  vient  ä  changer,  la  promesse  tombe  avec  son 
fondement.  —  Mais  il  faut  etre  tres  r^servö  dans  Tusage 
de  la  prösente  r^gle;  ce  seroit  en  abuser  honteusement  que 
de  s'autoriser  de  tout  changement  survenu  dans  T^tat  des 
choses,  pour  se  d^gager  d'une  promesse:  il  n'y  en  auroit 
aucune  sur  laquelle  on  püt  faire  fond.  Le  seul  ^tat  des 
choses,  a  raison  duquel  la  promesse  a  ätä  faite,  lui  est 
essentiel,  et  le  changement  seul  de  cet  ^tat  peut  l^gitime- 
ment  empdcher  ou  suspendre  Teffet  de  cette  promesse.  C'est 
Ik  le  sens  qu'il  faut  donner  ä  cette  maxime  des  jurisconsultes: 
conventio  omnis  intelligitur  rebus  sie  stantibus.^ 

Wir  gelangen  nunmehr  zu  den  Ausführungen  des 
Belgiers  Rivier^     Dieser  bewegt  sich  in  der  Hauptsache 

1  Bd.  II,  S.  271  f.  (§  296). 

*  Belgier  wenigstens  der  fast  ausschließlichen  Stätte  seines 
Wirkens  nach,  während  er  allerdings  von  Gebart,  wie  Vattel,  der 
französischen  Schweiz  angehört.  Zitiert  wird  hier  von  ihm  sein  deutsch 
geschriebenes  „Lehrbuch  des  Völkerrechts"  (2.  Auü.  1899),  S.  350  ff. 


vr  1.  13 

vollständig  in  J  e  1 1  i  n  e  k  sehen  Gedankengängen ,  indem  os 
bei  ihm  heißt:  „Die  Staaten  sterben  nicht,  und  sie  vermögen 
nicht  auf  ewige  Zeiten  sich  ihrer  Freiheit  zu  entÄußern, 
Würden  sie  es  vermögen,  so  würden  die  Verträge,  anstatt 
das  Leben  der  Völker  zu  fördern,  es  im  Gegenteil  hemmen, 
ihm  Fesseln  auferlegen  und  das  Selbaterhaltungsrecbt  der 
Völker  verletzen,  das  das  Recht  der  Entwicklung  ein- 
begreift. ^  Kraft  des  Selbsterhaltungsreclits  der  Staaten 
bleiben  Verträge'  stets  einseitiger  Kündigung  unterworfen, 
und  man  muß  den  Satz  aufstellen,  daß  ein  Volk  auf  dieses 
Recht  der  Kündigung  nicht  definitiv  verzicbtet,  auch  wenn 
dies  nicht  ausdrücklich  erwähnt  sein  sollte.  ^  Die  bier 
aufgestellten  Sätze  werden  gewöhnlich  in  der  Form  aus- 
gedruckt, daß  gesagt  wird:  die  Verträge  seien  geschlossen 
mit  der  stillschweigenden  Klausel  rebus  sie  stantibus.  Mit 
der  Veränderung  der  Verhältnisse  sei  die  Rechtskraft  des 
Vertrags  hinfällig  geworden," 

Endlich  und  zum  Beschlüsse  der  hier  gegebenen  Lite- 
raturnachweise soll  noch  die  Auffassung  eines  russischen 
Autors  wiedergegeben  werden,  nämlich  die  von  F.  v.  Märten  s^, 
der  sich  über  das  fragliche  Problem  in  folgender  Weise 
ausspricht:  „Die  Rechtsverbindlichkeit  eines  Vertrags  hört 
auch  auf,  wenn  die  Umstände,  angesichts  welcher  oder  um 
derentwillen  er  abgeschlossen  worden  war,  sieh  wesentlich 
verändert  haben,  —  Freilich  ist  diese  sogen,  clausula  rebus 
sie  stantibus  häutig  als  Deckmantel  willkürlicher  Vertrags- 
verletzungen benutzt  und  in  dem  Sinne  verstanden  worden, 
als  ob  jedwede  Wandlung  der  Umstände  auch  gleich  die 
legale  Annullation  des  Vertrags  nach  sich  ziehe.    Der  Miß- 


'  Oajiz  gen»a  zitiert  nehreibt  Rivier  hier  eigentlich  „derartige 
VertrSga".  Die  UiniufiiiriiDg'  des  einschränkenden  Beiwort»  erklürt  sich 
daraiiB,  daß  er  eine  gewisse  Scheiduilg  vomelimen  will,  daQ  er  bloß  lux 
bestimmte  Traktate  die  sufW'endo  Wirkung  der  Klausel  anerkennt,  fiir 
andere  dngt^n  negiert  Wir  haben  späler  auf  diese  Besonderheit  noch 
EurückEukommen  (s.  g  S,  Ü.  87). 

^  „Völkerrecht.    Daa  internationale  Recht  der  zivilisierten  Nationen." 
,   Deutsche  Ausgabe  von  Bergbohin,  Bd.  1  (18Ö3),  426/427. 


14  VI  1. 

brauch  vermag  aber  gewiß  nicht  zu  beweisen,  daß  die  Regel 
selbst  absolut  wertlos  sei.  Aus  dem  Wesen  der  inter- 
nationalen Verträge  folgt,  daß  der  Staat  sich  durch  sie  nur 
um  eines  Staatszwecks  willen  binden  kann,  sodaß  jedes  von 
ihm  eingegangene  Rechtsverhältnis  solange  besteht,  als  es 
mit  diesem  Zweck  im  Einklang  steht.  Die  Gültigkeit  eines 
Vertrags  erlischt  daher  nur,  wenn  eine  solche  Veränderung 
in  der  beiderseitigen  Situation  der  Parteien  eintritt,  daß 
der  gedachte  Zweck  unerreichbar  wird,  und  die  fortgesetzte 
Anerkennung  des  Vertrags  den  Staat  in  Gefahr  bringen 
würde. " 

§  3. 

Wenn  wir  die  in  dem  vorausgehenden  Paragraphen 
genannten  Schriftsteller  prüfend  miteinander  vergleichen, 
so  macht  sich  sofort  bemerklich,  daß  ihre  Ansichten  über 
die  Klausel  im  großen  und  ganzen  eine  weitgehende  Ver- 
wandtschaft aufweisen^.  Zwar  scheinen  auf  den  ersten 
Blick  zwischen  ihnen  auch  manche,  recht  tiefgreifende  Diffe- 
renzen obzuwalten ;  wir  werden  jedoch  gleich  im  folgenden 
sehen,  daß  diese  mehr  formeller  Art  sind  und  die  Gemein- 
samkeit der  sachlichen  Hauptpunkte  nirgends  wesentlich 
tangieren.  Indem  vielmehr  bezügl.  der  letzteren  überall, 
für  sämtliche  doch  recht  mannigfachen  Ländern  angehörende 
Autoren,  eine  prinzipielle  Übereinstimmung  sich  feststellen 
läßt,  ist  schon  hierdurch  der  Nachweis  erbracht,  daß  in  der 
Theorie  eine  internationale  Harmonie  noch  immer  weit  eher 
erzielt  werden  kann,  als  es,  wie  das  oft  genug  in  greuliche 
Dissonanzen  sich  auflösende  „Europäische  Konzert^  dartut, 
in  der  Praxis  leider  möglich  ist. 

Nun  wäre  es  ja  freilich  ganz  verkehrt,  wollte  man, 
bloß  auf  das  bisherige  Material  gestützt,  ohne  weiteres  auch 
für  die  gesamte  Völkerrechtsliteratur  eine  entsprechende 
communis  opinio  als  gegeben  und  bewiesen  annehmen;  denn 
im  Verhältnis   zu   der  kaum   übersehbaren  Fülle   derselben 


^  Näheres  hierüber  s.  u.  S.  18  ff. 


VI  1.  15 

diirfeo  gewiß  die  nngefUhrten  Stellen  höcliatens  die  Be- 
deutung einzelner  Stichproben  beanspruchen  und  müßten 
also  füT  weitergehende  Sc;hlußfolgerangen  noch  beträchtlich 
Terraehrt  werden.  Indes  wie  die  Dinge  wirklich  liegen, 
würde  eine  auch  nur  halbwegs  genügende  Zitierung  völker- 
rechtlicher Öchriftateller  überaus  ermüdend  wirken  und 
außerdem  zu  den  bereits  gewonnenen  Resultaten  kaum  nocli 
etwas  Neues  hinzufügen.  Wenigstens  soweit  meine  Kenntnis 
des  in  Betracht  kommenden  Materials  reicht,  verhält  sich 
die  Sache  in  der  Tat  so,  daß  schon  die  genannten  Autoren 
als  treuer  Spiegel  der  völkerrechtlichen  Literatur  überhaupt. 
und  zwar  nicht  blo6  in  den  übereinstimmenden  HauptzUgen, 
sondern  auch  in  den  wichtigeren  Spezialnuancleruugen  und 
-abweichungen  der  Klauseltheorie,  gelten  dürfen.  Wohl 
fehlt  es  in  ihr  auch  keineswegs  an  grundsätzlicher  Oppo- 
sition; im  Gegenteil  gibt  es,  wie  sich  im  Verlauf  der  Ab- 
,  handlung  herausstellen  wird,  auch  eine  gewisse  Anzahl 
solcher  Autoren,  die  sich  gegen  die  clausula  äußerst  skeptisch 
verhalten.  Das  sind  jedoch  relativ  gefaßt  bloß  recht  seltene 
Ausnahmsf^lle;  in  der  Hauptsache  steht  es  immer  so,  daß 
die  Elausellehre  widerspruchslos  akzeptiert  und  verlreteu 
wird,  wobei  die  Formen  und  Wendungen,  in  denen  das  ge- 
schieht, regelmäßig  bloße  Variationen  der  uns  bereits  be- 
kannten Ausführungen  sind. 

Vom  historisch-genetischen  Standpunkt  aus  betrachtet 
ist  in  dieser  Erscheinung  auch  durchaus  nichts  Über- 
raschendes zu  tinden;  lassen  sich  doch  mehrere  Gründe 
namhaft  machen,  warum  die  internationale  Klausellehre  eine 
solch  einheitliche  Entwicklung  nehmen  mußte  und  wirklich 
genommen  hat.  Es  kommen  da  im  wesentlichen  zwei  Mo- 
mente in  Frage. 

Das  erste  besteht  in  der  nicht  unbedeutenden  gegen- 
seitigen Beeinflussung,  die  unter  der  spezifisch  völkerrecht- 
lichen Literatur  verschiedener  Nationen  von  jeher  statt- 
gefunden hat.  Entsprechend  der  Eigenart  des  ganzen 
Gegenstandes,  der  ja  allen  Kulturvölkern  gleichmäßig  nahe 


L 


18  VI  1. 

Ansichten  völkerrechtlicher  Schriftsteller  über  die  clausula 
nicht  mehr  im  Wortlaut  mitteilen,  sondern  schon  die  neun 
bisher  genannten  als  ausreichende  und  hinlängliche  Belege 
für  das  Vorhandensein  einer  internationalen  communis  opinio 
gelten  lassen ;  und  haben  nun,  ehe  wir  uns  zu  unserer  sach- 
lichen Hauptaufgabe,  d.  h.  zu  eingehender  Kritik  der  fest- 
gestellten herrschenden  Meinung  wenden  können,  nur  noch 
eine  letzte  Vorarbeit  zu  leisten. 

Die  besteht  darin,  daß  wir  die  zu  besprechende  com- 
munis opinio  analytisch  in  ihre  sämtlichen  Bestandteile  zer- 
gliedern ;  wir  müssen  aufzählend  feststellen,  was  für  Einzel- 
punkte, teils  klar  und  deutlich  ausgesprochen,  teils  mehr 
angedeutet  und  versteckt,  bei  den  völkerrechtlichen  Schrift- 
stellern über  die  clausula  stets  wiederkehren,  damit  durch 
getrennte  Untersuchung  der  Elemente  eine  möglichst  er- 
schöpfende und  übersichtliche  Beurteilung  des  Ganzen  ge- 
wonnen werden  kann. 

Als  solche  regelmäßige  Bestandteile  habe  ich  in  der 
Hauptsache  folgende  zu  nennen.  In  erster  Linie  dasjenige 
Moment,  welches  schon  durch  die  technische  Bezeichnung 
des  ganzen  uns  interessierenden  Instituts,  durch  den  Namen 
Clausula  rebus  sie  stantibus  angedeutet  wird:  alle  Autoren 
sind  sich  darüber  einig,  daß  irgendwelche  tatsächliche  Ver- 
änderung von  Umständen  eingetreten  sein  muß,  wenn 
jenes  überhaupt  platzgreifen  soll.  Daß  das  der  Klausel 
recht  eigentlich  zu  gründe  liegende  Prinzip  von  der  Berück- 
sichtigung des  wahren  und  tiefsten  Parteiwillens  manchmal 
auch  dort  nach  Qeltung  ringt,  wo  absolut  kein  Wechsel  in 
den  früheren  Verhältnissen  stattfand,  sondern  umgekehrt 
alles  beim  Alten  blieb,  diese  von  uns  in  Abschnitt  VI  zu 
erörternde  Idee  liegt  der  herrschenden  Ansicht  völlig  fern ; 


gleich  in  diesen  und  dem  folgenden  Paragraphen  noch  auf  sieben  weitere 
Autoren  (Neu mann,  Pinlieiro  Ferreira,  Nippold,  Ullmann, 
Oareis,  Heffter,  Blnntschli)  gelegentlich  Kezug  nt-hmen.  die  im 
Prinzip  (also  kleinere  Besonderheiten  immer  vorbehalten)  durchaus  auf 
dem  Boden  der  herrschfuden  Lehre  stehen. 


I 


höchstens  daß  sich  einmal  eine  flüchtige  Andeutung  tjndet, 
die  allenfalls  in  dieaem  tiinne  ausgelegt  werden  könnte. 

Fernerhin  ist  zu  konstatieren,  daß  die  völkerreclitliche 
Wirkung  später  eingetretener  Veränderungen  immer  bloß 
in  Ansehung  internationaler  Verträge  erörtert  zu  werden 
pflegt.  Wobl  gibt  es  einzelne  Autoren,  die,  sachlich  an- 
knüpfend an  die  alte  zivilistische  Behandlung  des  Problems, 
der  clausula  rebus  sie  stantibus  eine  viel  weilergebende 
Bedeutung  beimessen;  es  wird  dann  aber,  anders  wie  bei 
uns  in  §  11/12,  die  Frage  gemeinhin  nicht  so  sehr  hin- 
sichtlich der  übrigen  Völkerrechtsnormen  als  in  Bezug 
auf  innerstaatliche  Willensakte  publizistischen  Charakters 
ins  Auge  gefaßt'. 

Drittens  ist  hervorzuheben,  daß  die  communis  opinio 
den  veränderten  Umständen  stets  einen  spezifisch  recht- 
lichen Effekt  zuschreibt,  daß  sie  die  Wirkung  derselben 
in  der  juristischen  Tangierung  der  VertragsgUltigkeit 
selber  bestehen  läßt.  Gerade  in  diesem  Punkte,  der  der 
materiellen  Wichtigkeit  nach  zweifellos  den  Kern  der  ganzen 
Elausellehre  bild^'t,  machen  sich  im  einzelnen  manche  Ab- 
weichungen und  Besonderheiten  bemerklich,  die  jedoch  der 
Übereinstimmung  im  Hauptgedanken  schlechterdings  keinen 
Eintrag  tun.  So  wird  beispielsweise  von  zahlreichen  Schrift- 
Btellern  unter  Zuhilfenahme  einer  angeblich  stets  vorhandenen 
taeita  condicio  argumentiert,  wogegen  anderwärts  auf  diese 
Denkform  Verzicht  geleistet  wird;  manche,  wie  Rivier 
nehmen  bloß  ein  Recht  der  Kündigung  als  gegeben  an', 


'  Da»  ist  u.  a.  der  Fall  bei  Viittel,  wio  ilar  Sehlaßabsatz  ies 
§  296  seines  Droit  des  gen«  beweist:  ..Ce  fjue  nom  Jiiom  des  promewiea 
doit   B'eDteudre  suahi  des  luis.     La  loi  qai  se  rupporte  a  ua  certain  ätat 

Ido  cfaosen.  De  peilt  avoir  lieu  qiie  dam  Ca  mSme  ^Ist."  Und  wie  hier 
ffir  Oeselse  wird  die  eUusuln  relius  sie  Btanfibu«  luancbmal  auch  ffir 
«ndero  affealliob  reuhtliulie  Statt-alttB  herangeiOfren :  vrI.  a.  B.  Otto 
Mayer,  Deiilac^heit  Verwaltuni^Rrectit  I.  S.  1^09.  (isnK  nllgemeiD  Jeltinnk, 
Luhre  von  dnn  StaHteuverbindiiiigen,  ü.  108  :  „Jeder  Altt  das  StanisnillenB, 
maic  er  sii'b  nach  innen  oder  auÜea  wenden,  trügt  die  Klausel  Uebu»  aic 
Btiuitibiu  in  «ich." 
*  Vgl.  dea  VerfaMCTB  DiaBortatioii  Über  einig»  Aniprache  an»- 
, 


20  VI  1. 

während  sonst  vielfach  die  ipso  iure  eintretende  Wirkung 
Verteidiger  findet,  und  was  dergleichen  Nebendifferensen 
mehr  sind.  Wir  werden  auf  alle  diese  Dinge  im  Verfolg 
der  Arbeit  noch  eingehender  zu  sprechen  kommen. 

Die  drei  bisher  aufgezählten  Punkte  der  Lehre  können 
als  solche  gelten,  die  in  der  Oesamtheit  der  völkerrechtlichen 
Literatur  (natürlich  bloß  insoweit,  als  sie  die  Klausel  über- 
haupt prinzipiell  anerkennt)  gleichmäßig  zum  Ausdruck  ge- 
langt sind;  wir  vermögen  sie  insbesondere  bei  allen  in  §  2 
genannten  Autoren  aufs  deutlichste  ausgesprochen  zu  kon- 
statieren. Nicht  ganz  das  Nämliche  darf  von  den  jetzt  noch 
folgenden  Momenten  behauptet  werden. 

Hierher  gehört  vor  allem  die  Frage,  welcher  Art  und 
Beschaffenheit  die  Umstände  sein  müssen,  die  durch 
ihre  spätere  Veränderung  eine  juristische  Annullation  inter- 
nationaler Verträge  herbeiführen  sollen.  In  dieser  Beziehung 
läßt  sich  als  wirklich  konstanter  Faktor  der  Gesamt- 
entwicklung im  allgemeinen  bloß  negativ  feststellen,  daß 
nicht  jede  beliebige  Umgestaltung  der  früheren  Sachlage 
als  ausreichend  angesehen  wird;  in  der  positiven  Abgrenzung 
machen  sich  dagegen  größere  Verschiedenheiten  bemerklich. 
Meist  behilft  man  sich  zunächst  mit  der  rein  formellen  Be- 
stimmung, daß  wesentliche,  essentielle,  fundamentale  Ver- 
änderungen gefordert  werden;  die  materielle  Präzisiemng 
derselben  wird  dann  bald  mehr  objektiv,  nach  generellen 
Grundsätzen  und  Merkmalen,  bald  mehr  subjektiv,  im  Sinne 
der  in  concreto  vertragschließenden  Parteien,  unternommen. 
Schließlich  erfolgt  aber  zwischen  beiden  Richtungen  prak- 
tisch doch  wieder  eine  sehr  bedeutsame  Annäherung.  Die- 
jenigen Autoren  nämlich,  die  von  Anfang  an  objektiv  ein 
für  allemal  die  Beschaffenheit  der  vertra^sauflösenden  Ver- 
änderungen zu  bestimmen  suchen,  lassen  die  clausula  rebus 
sie  stantibus,  wie  dies  namentlich  J  e  1 1  i  n  e  k  in  voller  Klar- 


wärtiger Staaten  auf  gegenwärtiges  Deutsches  Heichsgebiet  (Leipsifl^  18d4i 
8.  24  «id  nnten  8.  S9  ff. 


21 

f  Jieit  ausspricht',  überall  dort  eingreifen,  wo  infolge  der  ge- 
I  icheheDen  UmgestAltung  der  Staat  seiner  Vertragspllicht  nur 
I  noch  auf  Kosten  der  höchsten  politischen  InleresseD,  vor 
idlem  des  Selbsterhaltungszweckes,  gentigen  könnte.  Nun 
steht  es  aber  auch  um  die  Anhänger  der  zweiten,  gegen- 
sätzlichen Richtung  offenkundig  so,  daß  sie  fast  immer^  bei 
der  Auafuhrung  unvermerkt  in  die  Ideengänge  der  ersten 
hinUberlenken ,  da6  sie,  mindestens  prima  facie  und  vor- 
wiegend, gleichfalls  an  Eventualitäten  der  genannten  Art 
zu  denken  gewohnt  sind.  Zum  Beleg  brauche  ich  bloB  daran 
zu  erinnern,  daß  Wharton  bei  seinen  Ausführungen  zu- 
letzt den  Vorstellungskreis  eines  „unreasonable  sacrifice" 
verwendet,  ebenso  daß  Pradier-Fodörii  am  Schlüsse 
von  dem  Fall  eines  , danger  pour  l'^tat"  redet.  Ja  selbst 
ein  Mann  wie  Vattel,  dessen  Text  an  sich  gar  keine  Hin- 
deutung auf  das  Moment  der  staatlichen  Gelährdung  ent- 
hält, zeigt  sich  von  ihm  doch  ebenfalls  sachlich  beeinflußt, 
wenngleich   das   hier  einzig  und  allein  in  der  Art  der  ge- 


'  Hit  fUinlichsr  BcBtlmmtheit  SaBem  Rieh  aber  aach  noch  Kahlrefube 
andere,  s.  B.  Neumann,  GrimilriB  den  bentigen  Earopäiachen  VSlber^ 
reuhta  ilfSS),  &■  84:  „Ein  einseitigeB  ZurSchtreten  vnu  einem  beidaraeitig 
verbindlkhea  Vertrage  i«t  —  nur  hOchst  ausnahmsweise  su1Äs)iig,  wenn 
die  ErfQlliing  des  Vertrags  oinem  Tuile  vordorbliuh  —  werden  würde. 

'  Eeineawegfl  giax  ansnohmalos;  vielmehr  be^gnen  wir  sui:h  Schrift- 
stelleni,  die  mit  dem  Qedauken,  eg  komme  lediglich  auf  das  an.  wan  die 
konkreten   Parteien    beim    Momente   des    Vertrsgaschlusges   als    (ür   den 
Bcvtand  des  TrHktata   wusentüche  UestiminungBgrüiide   im   Sinne  banen, 
wirklieb  ernst  machen.    Eine  solGhe  Wendung,  bei  der  die  ganxe  Klausel- 
lehre in  bestimmtem  Sinne   zu  einer  blnSeo  Anslegangafrige  herabsinkt, 
liegt  u.   a.   wohl   vor   bei    Fiore.     Dieser  nämliuh  (xa   vgl.  Trattato   di 
diritt«   internazinnale   publico,   8.  Aufl.  I88S.   Bd.  II)   übergeht  zunäcltst 
bei  Aa&ählung   der   allgemein  wirkenden  Endigungngrande   des  Vertrags  ] 
(a.  a.  O-,   S.  ^5)   die  Vernndefung  der   Umstnnde  gänzlich;   dessen   ui 
geachtet  lä£t  er  bald  darauf  die  Bemerknng  einfließen,  ein  Vertrag  kSog 
auch   durch   den  Eintritt   neuer  Tatsachen  außer  Wirksamkeit  ge- 
setzt werden,   verweint   aber  im  wesentlichen  bloß  nuf  das  von  der  Aoa- 
legiing  handelnde  Kapitel  (of.   8.  ä50/351:   „La  sospeusione   del  trattato 
pull  esnere  la  oonseguenEa  di   nn  fstto  nuovo  sopmveuuto.  — 
Delle  altre  tvorher  ist  lediglich  Ton  dem  Ausbruche  eines  Krieges  sswiachm 
den  Kontraheulen  die  Rede  gewesen]   cagioni   che  poasonu  giuotilicjire  la 
sospeDsione,   e  in  certi  casi  la  risoluzione,   del  trattato,   uoi   discnrreiiuii  I 
gik  nel  Cspitolo  antecedenle  [das  betitelt  ist:  „Delln  interpretaaic 


.tiij 


22  VI  1. 

wählten  Beispiele  zutage  tritt  ^.  Mit  Rücksicht  auf  alles 
dies  erscheint  es  schließlich  doch  fast  als  zulässig,  auch  den 
Gesichtspunkt  des  Konfliktes  mit  den  obersten  Staatsinter- 
essen,  insbesondere  mit  der  Selbsterhaltung,  wenigstens  zu 
den  regelmäßigen  Bestandteilen  der  völkerrechtlichen  com- 
munis opinio  zu  zählen,  wobei  allerdings  zur  Vermeidung 
allzugroßer  Verallgemeinerung  immer  im  Auge  behalten 
werden  muß,  daß  ein  Teil  der  Schriftsteller  das  Anwendungs- 
feld der  Klausel  von  vornherein  und  prinzipiell  auf  ab- 
weichendem Wege  zu  bestimmen  sucht. 

Noch  verhüllter  und  beiläufiger  als  es  bei  dem  eben 
erörterten  vierten  Punkte  der  Fall  war,  tritt  bei  vielen 
Autoren  die  Zustimmung  zu  dem  fünften  und  letzten  Element 
auf,  welches  meiner  Auffassung  nach  in  der  derzeit  herrschen- 
den Lehre  von  der  clausula  rebus  sie  stantibus  ständig  ent- 
halten ist.  Es  betrifft  dies  'dasjenige  Moment,  welches  nach 
den  bereits  gegen  Schluß  des  ersten  Paragraphen  gemachten 
Andeutungen  zu  einer  bestimmt  gearteten  Überschreitung  des 
exklusiv  internationalrechtlichen  Gebietes  unbedingt  nötigt; 
stellt  doch  in  ihm,  dem  auf  Seite  4  erwähnten  allgemeinen 
Vorurteil  auch  ihrerseits  Tribut  bezahlend,  die  spezifische 
Völkerrechtswissenschaft  selber  die  eo  ipso  nur  auf  solche 
Weise  anfechtbare  Behauptung  auf,  die  clausula  repräsen- 
tiere, zum  mindesten  nach  ihrer  modernen  Um-  und  Fort- 
bildung, eine  strikte  Singularität  des  ins  intergentes. 
Freilich  findet  sich  dieser  Satz,  in  derartiger  Unmißverständ- 
lichkeit und  Schärfe  ausgesprochen,  nicht  eben  häufig  vor; 


^  Da  letztere  seinerzeit  nicht  mit  zitiert  worden  sind)  so  mögen  sie 
hier  nachträglich  noch  folgen:  „Si  le  grand  Gustave  n'eüt  pas  M  tuä  k 
Lätzen,  le  cardinal  de  Richelieu,  qui  avoit  fait  Talliance  de  son  maitre 
avec  ce  prince,  qui  Tavoit  attir^  en  Allemagne  et  aid^  d'argent,  se  füt 
peutetre  vu  oblig6  de  traverser  ce  conquerant  devenu  formidable, 
de  mettre  des  bornes  k  ses  progr6s  ^tonnans  et  de  soutcnir  ses  ennemis 
abattus.  Les  ^tats-g^n^ranx  des  Provinces-Unis  se  conduisirent  sur  ces 
principes  en  1668.  Ils  ferm^rent  la  triple  alliance  en  faveur  de  TEspagne, 
auparavant  leur  mortelle  ennemie,  contre  Louis  XIV.,  leur  ancien  alli6. 
n  falloit  opposer  des  digues  a  une  puissance  qui  mena^oit  de  tont 
envahir." 


I 


f  VI  1.  23 

insbesondere  läßt  er  sich  bei  sämtliclien  oben  in  §  2  zitierten 
Autoren  eigentlich  nirgends  mit  voller  Bestimmtheit  kon- 
statieren. Indes  darauf  kann  nach  Lage  der  Dinge  kein 
entscheidendes  Gewicht  gelegt  werden.  Auf  der  einen  Seite 
nämlich  sehen  wir  die  hier  vermißte  ausdrückliche  Statu- 
ierung wenigstens  anderwärts  tatsächlich  gegeben,  beispiels- 
weise in  den  Worten,  die  Nippold  auf  Seite  23G  seines 
18fl4  erschienenen  Werkes  über  den  „völkerrechtlichen  Ver- 
trag" ausspricht:  „Wir  haben  es  bei  der  Klausel  mit  einem 
Endigungsgrund  zu  tun,  der  spezifisch-völkerrecht- 
licher Natur  ist"'.  Auf  der  anderen  Seite  darf  nicht 
unbeachtet  bleiben,  daß  im  Grunde  auch  die  Ausführungen 
der  Übrigen  bloß  mehr  stillschweigend  vorausgesetzt  und 
iraplicite  das  Nitmliche  enthalten.  Dies  ist  zunächst  mit 
unbedingter  Sicherheit  für  alle  Autoren  zu  behaupten,  die 
in  der  Weise  Jellineks  und  Riviers  expressis  verbis 
bestrebt  sind,  der  Klausellehre  eine  tiefere  Basis,  eine 
materielle  Rechtfertigung  zu  geben;  denn  indem  sie  sich  zur 
Begründung  derselben  darauf  berufen,  die  einseitige  Lös- 
barkeit internationaler  Verträge  werde  durch  die  besondere 
Natur  und  Beschaffenheit  der  im  Völkerrecht  auf- 
tretenden Verkehrsaubjekte,  der  Staaten,  zur  Notwendig- 
keit gemacht,  ist  es  klar,  daß  ihr  hiermit  für  innerstaat- 
liche Verhältnisse,  die  ja  begrifflich  unter  völlig  anders 
gearteten  Personen  bestehen,  jede  Existenzberechtigung  von 
Haus  aus  ganz  abgesprochen  wird.  Nun  läßt  sich  aber 
weiterhin  noch  feststellen,  daß  diese  gesamte  Art  der  Beweia- 
fdhrung  keineswegs  bloß  auf  die  ausdrücklich  mit  iiir 
Operierenden  Vorstellungen  beschränkt  ist,  sondern  den 
sachlich  unentbehrlichen  Hintergrund  für  die  internationale 
Klauaellehre  überhaupt  abgibt   und  demgemäß  auch  in  alle 

'  VBllig  überematimmead  u.  a.  Ullmaan,  Völkerrechts.  175/17tir 
„  .  zififlch- völkerrechtliche  EndiganjrBgründe  rler  ataatay ertrage 
lind  folgende;  —  2.  Die  Veränderung  der  Uniatände,  unter  dantn  der 
Vertrag  ursprönglich  Hbgesohlossen  worden  wsr  —  ein  Endigungsgrund  — 
"ngulSrer   und   im   Hinblit-.k    auf  dai  


,   Verl 


aler  Na 


24 

übrigen  mehr  oder  weniger  versteckt  hereinsj 
kann  und  will  das  selbstverständlich  nicht  bis  in  alle  Einzel- 
heiten verfolgen,  weil  uns  das  sicher  allzulange  aufhalten 
müßte,  und  gebe  deshalb  zur  Illustration  bloß  ein  paar 
Beispiele:  Pradi  er -Fod'örö  ,  welcher  an  der  früher  von 
uns  genannten  Stelle  seines  Droit  international  public  irgend- 
welche Betonung  des  eigenartigen  Wesens  der  Staaten 
nicht  erkennen  läßt,  argumentiert  doch  wenige  Seiten  späteEj 
ganz  offenkundig  unter  Verwertung  und  mit  Hilfe  desselben  'ij 
Ähnlich  erklärt  sich  L.  v.  Marteus*  im  Verlauf  aeinerl 
Deduktionen  vollinhaltlich  mit  einer  Bemerkung  John 
Stuart  Mills  einverstanden,  wie  „unpassend  ea  sei, 
Staaten  zu  ewigen  Pflichten  zu  verbinden"  ^  die^ 
Martensschen  Darlegungen  werden  wieder  ohne  jedoj 
Einschränkung  akzeptiert  und  als  sehr  richtig  bezeicbnel 
von  Geßner*:  kurz,  sobald  man  die  der  Klausel  gewid*  ■ 
meten  Sätze  nicht  bloß  isoliert  für  sich,  sondern  auch  iin 
Zusammenhang  und  Lichte  der  Gesamtdarstellung  betrachtet, 
wird  man  so  gut  wie  Überall  irgendeiner  Anerkennung  des 
hier  erörterten  Moments  begegnen.  Deshalb  erscheint  ea 
schließlich  auch  an  diesem  Punkte  wieder  berechtigt,  ein 
Normalelement  der  heutigen  Klauseldoktrin  schlechthin  ttn-a 
zunehmen  und  es  als  solches  mit  zur  Untersuchung  zvM 
stellen,  wenngleich  natürlich  die  letztere  hier  stets  der  ihr4 
durch  Anlage  und  prinzipiellen  Charakter  unserer  Abhand- 
lung gesteckten  Schranken  sorglich  eingedenk  zu  bleiben  hat 
Mit   den    fünf  aufgezHhIten   Momenten    ist  meines    Er- 


a 

uie.^— 
edo^ 
ne^H 
rid*^ 


'  Die  nähere  Entwicklung  de»  gunzen  Gedanken  ganges  j^bört  a: 
lilcrher,  Bondtrn  Ut  erst  im  Eweileo  Abschnitt  6.  27  nHcüzabriugea. 

•  T.  II,  931fr.  Vgl.  bei.  S.  932:  „Lei  uationB  ee  modifie_ 
8an>  uessB,  lonque  iee  rapporls  vienuent  k  changer,  lea  Ir&itä«  qj 
le«  eipriinaieDt,  ont  coulro  piix  Is  force  des  cboses,  et  leiir  raison  d'3tl> 
dinarail." 

•  Völkerrwht  I,  S.  427. 

•  Vgl.   Holtiendurffs    Handbuch   des   %'61kerrechtii  lU ,    8.    8|jl 
Aaeh  bei  einer  frOheren  Gele^nheit  evhoa  hebt  OcBner  herror  (».  a.  Ojf 


..  78),  < 


I   fTir   ihn   „Subjekte   und  Wirkungen  bei  dc-n  Slaalavet 


gani  aoder«  sind  als  bei  den  Priratvertrigen^ 


;r 


VI  1. 


25 


achtens  dasjenige  erschöpft,  was  nach  Lage  der  Dinge  als 
Gemeingut  der  modernen  Völkerrechtali leratur  gelten  darf. 
Es  ist  nun  unsere  Aufgabe,  diese  Punkte  gesondert  je  flir 
sich  zu  prüfen,  um  dann  schließlich  summierend  zu  einem 
Urteil  über  Wert  oder  Unwert  der  ganzen  Doktrin  zu  ge- 
langen. Fassen  wir  sie  vorher  zur  Erzielung  eines  einheit- 
lichen Gesamtbildes  nochmals  in  einem  Satz  zusammen,  so 
erhalten  wir  als  Inhalt  der  üblichen  Meinung  Folgendes: 
Es  soll  angeblich  eine  besondere  Eigentümlichkeit  des 
Völkerrechts  (hierüber  zu  vergleichen  Abschnitt  VIII) 
darin  bestehen,  daß  internationale  Verträge  (Abschnitt  V) 
eine  rechtliche  Aufhebung  (Abschnitt  II — IV)  erfahren 
können  durch  jede  Veränderung  von  Umstünden 
(Abschnitt  VI),  .die  eine  Erfüllung  des  Versprechens  nur 
noch  unter  Verletzung  höchster  staatlicher 
Interessen  und  Zwecke  (Abschnitt  VII)  als  möglich 
erscheinen  ließe.  Hierin  ist  alles  Material  enthalten,  an  dem 
die  herrschende  Lehre  über  die  clausula  rebus  sie  stantibus 
den  Nachweis  ihrer  gesamten  Existenzberechtigung  zu  er- 
bringen hat;  sobald  sie  bei  keinem  einzigen  dieser  Punkte 
streng  kritischer  Prüfung  standzuhalten  vermag,  ist  sie  in 
ihrer  derzeitigen  Gestalt  wohl  überzeugend  als  völlig  unzu- 
länglich dargetan.  Der  Verlauf  der  Untersuchung  mag 
hierüber  entscheiden. 


Zweiter  Abschnitt 

Der  rein  natnrrechtliclie  Charakter 
der  tihlichen  Lehre  von  der  elansnla  rebus 

sie  stantihns. 


§4. 

Der  erste  und  gleichzeitig  allerwichtigste  Gegenstand, 
mit  dem  wir  uns  zu  befassen  haben ^  besteht  in  der  Unter- 
suchung dessen,  ob  der  Satz  von  der  eventuellen  Rechts- 
Unwirksamkeit  internationaler  Verträge  wirklich  in  dem  Sinne 
zu  den  spezifisch  juristischen  Regeln  gezählt  werden  darf, 
in  dem  allein  man  von  solchen  überhaupt  zu  sprechen  be- 
fugt ist.  Das  ist  mit  Entschiedenheit  zu  bestreiten.  Der 
Beweis  dafür  soll  in  doppelter  Form  angetreten  werden: 
wir  wollen  zunächst,  in  diesem  §4,  negativ-kritisch  er- 
örtern, daß  und  warum  die  gewöhnlich  gebrauchte  Argumen- 
tation von  Haus  aus  zur  Erreichung  ihres  Zwecks  gar  nicht 
imstande  ist;  hierauf  aber,  nach  dieser  Widerlegung 
fremder  Beweismethode,  werden  wir  positiv  noch 
unsererseits  versuchen,  die  juristische  Existenz  der 
Klausel  in  der  prinzipiell  möglichen  Art  zu  begründen,  um 
dann  aus  dem  offenkundigen  Mißlingen  unseres  Experiments 
endgültig  die  Haltlosigkeit  des  vermeintlichen  Rechtssatzes 
zu  deduzieren;  dies  im  folgenden  §  5. 

Fragen  wir,  worauf  gemeinhin  der  juristische  Charakter 
der  clausula  rebus  sie  stantibus   gestützt  zu  werden  pflegt. 


Bo  finden  wir  bei  demjenigen  Teil  der  Scliriftsteller,  der 
der  Sache  überhaupt  auf  den  Grund  zu  gehen  sucht',  in 
immer  neuen  Wendungen  variiert,  eachlidi  aber  ganz  gleich- 
bleibend bloß  diese  Antwort:  Weil  ohne  ihn  praktisch  nicht 
auszukommen  ist,  weil  es  anders  überhaupt  nicht  geht. 
Das  erhält  dann  seine  nähere  Ausführung  und  Krlauterung 
dadurch,  daß  man  sagt:  Die  die  völkerrechtlichnn  Verträge 
abschließenden  Personen,  die  Staaten,  sind  nicht  wie  die 
Individuen  zu  einer  nur  kurzlebigen  Existenz  prildestiniert, 
sondern  umgekehrt  auf  die  Daner  angelegt.  Während  es 
den  einzelnen  Menschen  ganz  allgemein  bestimmt  ist,  nach 
flüchtigem  Dasein  rasch  wieder  zu  verschwinden,  ist  es  den 
aus  ihnen  gebildeten  Sozialwesen  gerade  eigentümlich,  sich 
aus  sich  selbst  heraus  stets  nur  fortzusetzen  und  bloß  aus- 
nahmsweise, beim  Eintritt  ganz  besonderer  Verhiiltnisse, 
ein  Ende  zu  erreichen.  So  überdauern  sie  oft  viele  Jahr- 
hunderte, in  denen  sie  einerseits  selbst  eine  recht  mannig- 
fache Entwicklung  durchlaufen,  und  während  deren  sie  auf 
der  anderen  Seite  sich  auch  sehr  verschiedenartigen  und 
wechselnden  Zuständen  in  der  Außenwelt  gegenüberseheu. 
Aus  diesem  Grunde  muß  an  ihnen  immer  von  Neuem  die 
Erscheinung  hervortreten,  daß  etwas,  was  unter  früheren 
Bedingungen  ganz  angemessen,  ja  vielleicht  sogar  notwendig 
war,  heute  einen  durchaun  unhaltbaren  Zustand  bedeutet; 
eben  deshalb  darf  namentlich  auch  von  einer  schlechthin 
unlösbaren,  die  Staaten  auf  ewig  bindenden  Wirksamkeit 
völkerrechtlicher  Verträge  von  vornherein  nicht  die  Rede  sein. 
Man  kann  zugeben,  daß  diese  Argumentation  sehr  viel 
Zutreffendes  in  sich  schließt,  und  doch  die  Überzeugung 
festhalten,  daß  sie  an  dem  entscheidenden  Punkte  völlig 
versagt.  Was  nämlich  diesen ,  d.  h.  den  Nachweis  der 
juriatischen  Qualität  der  clausula  anbelangt,  so  handelt 
es  sich  hier  doch  entschieden  um  nichts  anderes  wie  Natur- 
recht  in  optima  forma.    Denn  es  wird  bloß  individuell  ver- 


'  Ct.  oben  8.  23/24. 


28 


VI  1. 


standesmäßig  festgestellt,  daß  eine  iminerwälirende  Ver- 
pflichtuQg  mit  der  eigenartigen  Beschaffenheit  des  Staates, 
mit  seiner  , Natur"  nicht  verträglich  wäre,  und  damit  soll 
dann  ohne  weiteres  auch  das  Bestehen  eines  entsprechenden 
allgemeinen  Rechtsaatzes  dargetan  sein,  mit  anderen 
Worten ,  es  liegt  hier  ein  Verfahren  vor ,  auf  welches 
prinzipiell  die  bekannte  Begriffsbestimmung  des  GrotiuB 
vom  Naturrecht  durchaus  paßt:  Jus  naturale  est  diutatum 
rectae  rationis,  iudicans  actui  alicui  ex  eius  convenien- 
tiacum  tpsa  natura  ratio nali  inease  necessitatem 
ni  oralem. 

Dieses  Folgern  von  spezifisch-juristischen  Sätzen  i 
aus  der  Natur  der  Sache,  dieses  subjektive  Behaupten  von 
Rechtsregeln,  ohne  daß  letztere  auf  die  doch  im en ib ehrlich s  i 
objektive  Basis  gestellt,  aus  positiv  fließender  Normquells  ] 
hergeleitet  würden,  wird  überhaupt  im  modernen  Völker- 
recht noch  überaus  häufig  geübt  und  stellt  also  keineswegs 
bloß  eine  der  Klausel theorie  eigentümliche  Erscheinung  dar. 
Dabei  steht  jenes  Verfahren  bei  den  meisten  Schriftstellera 
in  direktem  Widerspruche  zu  früheren  allgemeinen  Dar- 
legungen, indem  theoretisch  jetzt  überwiegend 
wird,  daß  eine  wahrhaft  gültige  Völkerrechtsordnung  einsig 
und  allein  aus  dem  sich  irgendwie  manifestierenden  gemein- 
samen Willen  der  Staaten  entspringen  könne;  doch  gibt 
es  noch  immer  eine  Anzahl  Autoren,  die  die  Entbehrlich- 
keit des  letzteren  für  den  Prozeß  der  internationalen  Recht*-  I 
bildung  ausdrücklich  und  prinzipiell  verteidigen,  und  mit  ^ 
diesen  muß  man  sich  notwendig  auseinandersetzen,  wenn 
man  wie  wir  die  Richtigkeit  einer  solchen  These  sowohl 
im  allgemeinen  als  bei  der  Klausel  im  besonderen  strikt 
leugnet. 

Zu  diesem  Zwecke  mag  speziell  auf  die  Ausführungoo  I 
von  Gareis'  Bezug  genommen  werden.    Derselbe'  sprichi  J 

'  iDsUtutioneu   des   Vfilkerretiht*   (1 
«limmaid  in  der  2,  Aufl.  |1901\  S.  331. 

'  Von    uideren    Schriftslelldm    verweite    iah    nocli    beioDden   i 


I 


sich  ganz  geoerell  i'oJ  gen  dermaßen  aus:  , Wirkliche  echte 
Quelle  des  Völkerrechts  ist  die  Rechtsnotwendlgkeit, 
die  necessitas;  die  tatsächlich  vorhandeneD  Verhältnisse, 
Tor  allein  das  Dasein  des  Staates  in  seinem  \^'esen 
and  in  der  Vielheit  der  Staaten,  die  wesentlichen 
Eigenschaften  und  Aufgaben  des  Staates,  die  Tat- 
sache —  eines  Verkehrs  derselben  —  führen  den  sie  mit 
logischer  Konsequenz  spekulativ  beobachtenden  Juristen 
und  ötaatamann  zu  einer  Anzahl  von  Regeln  des  äußeren 
Verhaltens,  die  von  den  Staaten  anerkannt  werden  und 
denen  sieh  keine  Politik  entziehen  kann.  Diese  Regeln 
Bind  weit  davon  entfernt,  Naturrecht  zu  sein;  das  Natur- 
recht ist  ein  subjektiv- theoretisches,  der  in  notwendigen 
Kechtssiltzen  bestehende  Teil  des  Völkerrechts,  iua  neces- 
Barium  belli  et  pacis,  dagegen  ein  objektiv-praktisches:  das 
Naturrecht  wird  von  der  Theorie  erzeugt,  vom  Individuum 
subjektiv  willkürlich  gestaltet;  das  ius  necessariutn  wird 
von  der  Praxis  und  für  die  Praxis  gefunden  und  aufgestellt; 
diese,  von  der  Theorie  nur  unterstützt,  nicht  geleitet,  leistet 
flieh  in  der  Erzeugung  und  Anerkennung  der  notwendigen 
Recbtssätze  das,  was  der  Staat  für  seine  innerstaatlichen 
Verhältnisse  sich  durch  seine  Gesetzgebung  leistet;  im  Privat- 
recht und  in  anderen  innerstaatlichen  Verhältnissen  gibt  es 
für  die  Anerkennung  solcher  notwendigen  Rechtasätze  des- 
halb keinen  Raum,  weil  dort  der  Gesetzgeber  das  ausspricht, 
was  die  Not  auszusprechen  gebietet  und  das  Herkommen, 
der  Kürze  der  Zeit  wegen,  nicht  stjituieren  konnte. 

Im  Ralimen   einer  bloßen  Spezialarbeit  ist  es  natürlich 
nicht  möglich,   der  eben  zitierten  Auffassung  in  aller  Aus- 

fter.  EaropäscheH  Völkerrecht,  8.  Anfl- (18881  besorgt TonOeffckan, 
S-  7:  „Eh  (rillt  ein  schon  aus  innerer  Nötigung  an  zuerkennendes, 
n  auch  keiner  auadrücklichen  (nach  dem  ZusamraFnliaug;  zu  ver- 
a  als  qireder  einer  gewohnheils-,  noch  vertrag« müligea'')  Anerkenming 
bedilrfliges.  gegenseitiges  Recht  der  Bkiaten."  Dngegen  glaulie  ich  nicht, 
im»  Ullmann,  Muf  den  lich  Gareis  (a.  a.  O.,  ^.  Aufl.  S.  HS,  Anm.  S) 
■pezitll  lieniFC,  zu  den  die  neceHaitaa  als  nähre  und  selbnl£ailige  Kechts- 

8 utile  anerkennenden  Autoren  gerechnet  werden  durf.  Vgl.  unten 
.  3-2,  N.  1. 


30  VI  1. 

führlichkeit  und  Vollständigkeit  entgegenzutreten;  ich  muß 
mich  deshalb  bloß  mit  der  Hervorhebung  einiger  besonders 
wichtiger  Punkte  begnügen.  Wie  man  sieht,  glaubt  Gar  eis, 
der  Einreihung  seines  ius  necessarium  unter  den  Begriff 
des  Naturrechts  dadurch  begegnen  zu  können,  daß  er  fi^ 
dasselbe  eine  ganz  abweichende  Statuierungsmethode  in  An- 
spruch nimmt;  er  behauptet,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe, 
daß  im  Gegensatz  zu  letzterem,  welches  bloß  deduktiv  aus 
obersten  Sätzen  und  Vernunftprinzipien  gefolgert  sei,  das 
erstere  rein  induktiv  aus  praktischem  Erfahrungsmaterial 
gewonnen  würde.  Hier  wäre  zunächst  daran  zu  erinnern, 
daß  anerkanntermaßen  ^  die  wissenschaftliche  Untersuchung 
in  Wahrheit  kaum  jemals  rein  deduktiv  oder  rein  induktiv, 
sondern  immer  beides  zugleich  ist,  und  daß  folglich  aus 
dem  relativen  Überwiegen  der  einen  oder  anderen  Methode 
keinesfalls  fundamentale  Kontrastierungen  hergeleitet  werden 
dürfen.  Auch  das  alte  Naturrecht  arbeitete  durchaus  nicht 
bloß  mit  Schlüssen  aus  der  (subjektiven)  Vernunft,  sondern 
stützte  sich  bei  seinen  Operationen,  freilich  mehr  unbewußt, 
stets  auch  auf  ein  gewisses  (nur  viel  zu  geringfügiges  und 
unzulängliches)  Tatsachenmaterial.  Und  umgekehrt  folgert 
wieder  bei  Gareis  der  „spekulativ  beobachtende  Jurist" 
keineswegs  nur  induktiv  aus  empirischer  Betrachtung  der 
internationalen  Praxis,  sondern  argumentiert  vielfach  aus 
bestimmten,  fertig  mitgebrachten  Obersätzen  wie  Natur  und 
Wesen  des  Staates  u.  dergl.  mehr. 

Indes  der  Haupteinwand,  der  von  uns  geltend  zu  machen 
ist,  besteht  in  etwas  anderem.  Selbst  wenn  nämlich  Gar  eis 
in  dem  eben  erörterten  Punkte,  in  der  Annahme  streng 
praktisch-erfahrungsmäßiger  Beweisführung,  wirklich  Recht 
hätte,  so  wäre  damit  für  seine  eigentliche  These  noch  nichts 
gewonnen.  Er  will  dartun,  daß  direkt  unter  dem  Einfluß 
und  Druck  naturgegebener  „Notwendigkeit"  für  die  be- 
teiligten   Staaten    ein    Komplex    spezifisch    juristischer 


»  Cf.  u.  a.  Wundt,  Logik,  2.  Auü.  II,  1  (1894),  S.  20flf. 


SiTormen  zu  entstehen  vermöge;  rein  aus  „der  Macht  der 
eich  selbst  entwickelnden  Lebensverhältnisse,  der 
Tatsachen"*,  aolien  letztere  prinzipiell  gefolgert  werden 
dürfen.  Dabei  wird  jedoch  übersehen,  daß,  entsprechend 
dem  allgemein  gültigen  Satze,  nach  welchem  der  generali- 
Bierende  Schluß  den  zu  gründe  gelegten  Einzel beobach- 
tungea  essentiell  stets  adäquat  sein  muß,  jede 
Suramierung  streng  faktischer  GeschehnisBe  und  Wahr- 
nehmungen an  sich  und  zunächst  auch  nur  zur  Aufstellung 
eines  faktischen  Gesetzes  führen  kann.  Ein  solches  zu 
formulieren  mag  unter  UmstÄndeii  fUr  die  Wissenschaft  vom 
praktischen  Verkehrsleben  der  Volker  sehr  wohl  zulässig 
and  angebracht  sein,  und  wir  selbst  werden  später*  die 
clausula  rebus  sie  stantibus,  reap,  genereller  aufgefaßt  die 
internationale  Notstandsnorm  ganz  in  diesem  ^^inne,  als 
faktisch  zu  betätigenden  Erfahrungssatz,  aussprechen  und 
definieren.  Davon  steht  aber  noch  weitab  die  Ausstattung 
r  derartigen  Regel  mit  spezifisch  rechtlicher  Geltungs- 
kraft. Soli  diese  als  vorhanden  dargetan  werden .  so  ge- 
nügen Feststellungen  der  bisherigen  Art  schlechterdings 
nicht  mehr,  sondern  sie  müssen  noch  in  eigentümlicher 
Weise  qualifiziert  sein,  sich  auf  ein  gewisses  neues  Moment 
mit  erstrecken,  ohne  das  jede  juris  tisch  eNormatatuierung 

vornherein  ganz  in  der  Luft  schwebt.  Diese  erste  und 
fundamentale  Rechtfertigung  weitergehender,  essentiell  ver- 
ftnderter  und  gesteigerter  Schlußfolgerungen  kann  nun  nach 
Lage  der  Dinge  bloß  in  dem  Nachweise  bestehen,  daß  das 
Bunächat  rein  tataäehlich-erfahrungsmäßig  konstatierte  Gesetz 

den  zur  positiven  Rechtssatzung  kompetenten  und  be- 
fähigten Personen,  das  srnd -hier  die  miteinander  Verkehr 
pflegenden  Staaten,  auch  als  technisch-juristische  Kegel  in 
^ea  Inhalt  ihres  gemeinsamen  Willens  aufgenommen  sei^ 
^. 

>  Vgl.  8.  91  ff.,  sowie  103  ff.  a.  126  f. 

'  Vgl  Gari'U,  Ernyklopädie  und  Metliodologie  der  RechtswUwa- 
mbiA,  2.  AuB.  IQOO  ».  HU. 

'  Das  Erfordernis   des  Durchguiig»  darcb   dieaeB   Medium   wird   iin 


32  VI  1 

Eine  solche  Auffassung  verlangt  absolut  nicht,  daS  mi 
allen  und  jeden  Einfluß  der  faktisch  gegebenen  Zustand»] 
auf  den  gesamten  Rechtsbildungsprozeß  negieren  müßte;. 
vielmehr  vermag  jene  mit  umfassender  Anerkennung  dieses 
durchaus  Hand  in  H.ind  zu  gehen.  Aber  jedenfalls  kann 
es  sich  dabei  für  uns  bloß  noch  um  einen  mittelbaren  Ein- 
fluß handeln':  die  Staaten,  deren  Wille  natürlich  ebensogut 
wie   der   individuell  menschliche   durch   äußere  Motive  bo- 


gewisseii  Sinue  von  Gareis  9cil>itt  angi^deutet,  iusofern  rIs  er  mehrmals  tmi' 
einer  eigeneu  ^Anerkeunang;''  äoH  jus  nfceannriuni  durch  die  Staaten  sprichL 
Doch  erscheint  dieaa  —  die  übrigens  nirgends  als  spexiell  erteilt  nach- 
gewieiieD,  sondern  ülierall.  z,  B.  bei  der  Kunstriiktion  dar  so  problematiachen 
„Grand rechte",  bloß  generell  üngiert  wird  —  bei  ihm  in  keiner  Weiss 
als  entscheidendes  Stadiom  dea  Vorgangs  der  inlemationsleQ  Bechl»- 
entatehiing,  sondern  bildet  nur  ein  nebeniächliches  Ueiwerk  DaB  den 
wirklich  so  ist,  ergibt  sich  nicht  bloß  daraus,  daß  (Institutionen  S.  SSf] 
die  necessiUs  direkt  als  echte  Becbtuqiielte  liexeichnet,  dag^Bn  da* 
Moment  der  „Anerkeanung"  nur  ganx  beiläufig  naebgebrncfat  wird  (w 
mhlreichen  anderen  Stellen  bleibt  dieses  Requisit  sogar  TÜllig  unervibitt; 
TgL  8.  5:  „Die  Macht  der  Notwendigkeit  —  Hrzengt  eine  Reihu  tob 
Vorschriften  des  Verhaltens  der  Staaten  untereinander,*'  S.  36:  „Bachta- 
sAtze,  die  von  der  Keehtsno twendigkei t  erzeugt  sind".  Ebenso 
Kechtsenzyklop&die  B.  50:  „Hechtsnotwendigheit  Als  Quelle  positivem- 
Kechta"  und  Öfter),  sondern  folgt  anch  mit  logischer  Nntwendigkeit  an  " 
Art  nnd  ZusamnienbJUig  der  Beweisfulirung.  Ohne  hier  in  eine  ausfBhf 
lidie  £rörteruii)t  dieses  Punktes,  die  nur  in  breiler  aiigeleglea  Unt 
suchungen  uiöglich  w&re.  einiutreten,  mSchte  ich  doch  auf  eines  nenigttti 
in  aller  Kütxe  hinweisen.  Das  jus  necessarium  soll  aitngenproi'htinenDaSeil 
etwas  von  den  durch  Staatenvertrag  oder  gewohnheit  enengten  Keobte- 
sätzen  Verschiedenes,  selbständig  neben  beide  Tretendes  sein.  Das  wlra 
jedoch  nicht  m  Sgl  ich ,  fall"  es  formellen  Rechtscharaklor  erst  durch  die 
gegenseitige  Anerkennung  der  Staaten  empfinge:  denn  am  nach  auBen  hin 
wirksam  eu  sein,  müßte  sieh  diosn  offenbar  irgendwie  manitestieren,  was 
wieder  von  vornherein  bloß  in  doppelter  Art,  auidrücklich  und  'till- 
schweigend,  zu  erzielen  wBre,  oder  wie  Brie  (Theorie  der  Stanten- 
ve rbind nagen .  18S6,  S.  41,  N.  Ij  den  ganzen  Sachverhalt  sehr  richtig 
formuliert:  nDie  Anerkennung,  welche  teilweine  als  VSlkerreehlKqnella 
neben  der  Gewohnheit  und  den  Staatsserträgen  betrachtet  wird,  ist 
immer  anter  eine  dieser  beiden  Kategorien  Ton  Quellen  einanreihen." 
So  kommen  wir  in  dem  Ergebnis, 'daß  Gareis,  wenn  er  sein  jtu  ne- 
cassariiiDi  als  selbständige  Bildung  nicht  ganz  aufgeben  will,  unbedingt 
airf  jede  schärfere  Akzentuierung  des  Aneifcennungsmoments  vencicfaten, 
trotz  gelegentlicher  anders  klingender  Äußerungen  |vgl.  be«.  Institatiuoen 
8.  6,  N.  I;  Enijklopädie  S.  .36.  37,  42,  43)  jenes  eventuell  anch  schoa 
vor  und  unabhängig  von  der  staatlichen  Anerkenaung  »Is  fertiges  ßeokt 
betrachten  nmß. 

'  Tliermit  sachlich  vQtlig  Qbereinitiinmend  Dllmann,  VOIkenechh, 
S.  S7'28  (s.  auch  8.  1  ff.,  12S.].  ' 


4 


VI  1.  33 

stimmt  und  determiniert  Ut,  werden  durch  die  Wahrnehmung 
realer  Zustande  und  Bedürfnisse  veranlaßt,  sie  vernunft- 
gemäß zu  berücksichtigen  und  von  sich  aus  zur  Setzung 
entsprechender  Rechtsnormen  zu  schreiten.  Jedesmal  wenn 
das  in  einem  einzelnen  Falle  ans  irgendwelchen  Gründen 
nicht  geschieht,  ausführlicher  und  deutlicher  gesagt:  wenn 
die  motivierende  Kraft  der  materiellen  Verhältnisse  sich  in 
concreto  zur  Durchsetzung  der  formal  juris  tischen  Sanktion 
als  nicht  stark  genug  erwiesen  hat,  tritt  es  praktisch  in 
Erscheinung,  daß  letztere  und  nicht  erstere  das  eigentlich 
entscheidende  Element  bilden:  wir  haben  alsdann  einen 
Kechtijzustand  vor  uns,  der  partiell  anders  und  besser,  als 
er  wirklich  ist,  zu  wünschen  wäre',  der  aber  bloß  deshalb, 
rein  wegen  dieaer  sachlichen  Verbesserungsbedurftigkeit, 
keineswegs  aufhört,  in  positiv-juristischer  Geltung  zu  stehen. 
Ein  analoges  Verhältnis  zeigt  sich  übrigens  bei  dem  Vor- 
gang der  innerstaatlichen  Kechtsbildung.  Denn  auch  bei 
diesem  liegt  die  Sache  offenkundig  so,  daß  ein  recht- 
schaffender Wille,  hier  der,  besonders  legislativ  sich  be- 
tätigende, des  einzelnen  Staats,  im  allgemeinen  von  den 
faktisch  gegebenen  Sozialbedürfnissen  maßgebend  heeinfluBt 
und  geleitet  wird,  daß  er  aber  diesen  gelegentlich  die  for- 
melle Berücksichtigung  auch  sehr  wohl  versagen  und  da- 
durch ihre  Umsetzung  in  apezi  lisch- juris  tische  Normen  ent- 
scheidend Verbindern  kann.  Da  nun  nach  dieser  Richtung 
hin  Gareis  mit  uns  in  der  Verzichtleistung  auf  ein  be- 
sonderes jus  necessariuni  ganz  einig  ist,  da  er  direkt  sagt, 
daß  zivilistische  und  sonstige  innerstaatliche  Kechtsregeln 
erst  dann  entstehen,  wenn  „der  Gesetzgeber  das  ausspricht, 
was  die  Not  auszusprechen  gebietet"*,  so  müßte  er  eigent- 

'  Unter  Umstäudpri  kann  es  sich  aber  auch  ao  verhalten,  daU  der 
floheinb&re  Hongel  in  Wahrheit  gnr  keiner  iat,  und  iwar  (leshalb,  weil 
das  Vorliandeugein  des  veriiiiBt«ii  RecbUsatzcB  in  anderen  Beziehungen 
Duch  neit  schlimmere  Folgen  haben  müßte,  als  jetzt  sein  Nichtvorfaaaden- 
HCin.  Nach  den  Ü.  72  ff.  zu  ^beuden  Ausführnugeu  trifft  das  gerade  anf 
den  Fall  der  clauBula  in  ganz  hervorragendem  Maße  xu,  , 

'  Inatitutioneu    des   Völkerrechts,   S.   34.     Wetii^er   bestimmt    und  ' 
exklusiv  allerdings  KecbticncyklopädiH,  S.  50. 

SUMta-  u.  vOUerrMhil.  Alihkudl.    VI  ].  —  äuhmiat.  S 


i 


34  VII 

lieh  konsequenterweise  auch  für  das  ius  inter  gentes  zu  ent^ 
sprechenden  Resultaten  kommen;  geht  es  docli  schwerlich 
an,  aus  den  hier  wie  dort  gleichliegenden  Präraiasen  ab- 
weichende Konsequenzen  zu  ziehen  dergestalt,  daß  die  „Not- 
wendigkeit" das  eine  Mal  bloS  aU  materielle  Willi 
delcrmination,  das  andere  Mal  aber  als  ibrmelle  Rechtaqat 
selber  angesehen  wird. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt,  daß  atieh  im  Völkerrecht 
nicht  der  kleinste  Rechtsaatz  unmittelbar  ans  faktischen 
Tatbeständen,  sondern  lediglich  aus  den,  durch  solche 
eventuell  ausgelösten  staatliuheo  Rechtijsetzungaakten  ge- 
folgert werden  darf.  Dieses  prinzipielle  Abstellen  aaf 
letztere,  zu  dem  wir  im  vorstehenden  zunächst  aus  allgemein 
theoretischen  Erwägungen  gelangt  sind,  erweist  sich  nun 
auch  in  anderer  Beziehung,  unter  mehr  praktischen  Gesichts- 
punkten, als  schlechtbin  unentbehrlich.  Das  ist  um  des- 
willen zu  behaupten,  weil  man  sich  beim  Aufgeben  jenes 
Kriteriums  sofort  selbst  aller  Möglichkeit  berauht,  die  Frage: 
„Gilt  die  und  die  Regel  positiv  rechtlich?"  nach  wahrhaft 
objektiven,  von  der  Person  des  Einzelbe trachters  losgelösten 
Merkmalen  zu  untersuchen  und  zu  entscheiden.  Das  Nähere 
hierüber  läßt  sich  gerade  an  dem  Problem  der  clausula 
rebus  sie  stantibus  recht  deutlich  aufzeigen. 

Sobald  man  nämlich,  was  die  herrschende  Meinung  im 
Grunde  überall  tut,  von  jeder  Erörterung  dessen  absieht, 
wie  sich  die  völkerrechtlichen  Verkehrs  Subjekte  ihrer- 
seits zu  der  behaupteten  Einschränkung  der  Norm  Pacta 
sunt  servanda  verhalten  haben,  sobald  man  es  also  nicht 
ausschließlich  von  ihrer  Beurteilung  abhängen  läßt,  ob  und 
event.  in  welchem  Umfange  die  tatsächlichen  Verhältnisse 
auch  spezitisch  rechtliche  Wirkungen  äußern  sollen ,  so 
bleibt  gar  nichts  anderes  mehr  übrig,  als  daß  diese  Be- 
urteilung von  jedem  völkerrechtlichen  Einzelforscher  sub- 
jektiv für  sich  vorgenommen  wird.  Damit  ist  dann  aber 
unheilbarer  Zersplitterung  im  Detail  Tür  und  Tor  geöffnet. 
Denn  keine    einzige   individuell   menschliche   Überzeugung 


üt  im  Stande,  der  anderen  gegenüber  diejenige  „äußere 
Autorität"  ^  die  eo  ipso  einleuchtende  Superioritflt  in  An- 
aprucb  zu  nehmen,  wie  sie  zu  gunsten  der  poaitivrechtlichen 
"Willenameinung  der  Staaten  aller  dinge  besteht  und  vor- 
handen ist;  vielmehr  tritt  unter  den  angenommenen  Voraus- 
aetzungen  immer  nur  Einzelanschauung'  prinzipiell  gleich- 
berechtigt wider  Einzetanschauung.  Mag  mithin  noch  so 
oft  die  herrschende  Lehre  wiederholen :  „Nach  unserer  Auf- 
fassung der  tatsächlich  unter  den  Staaten  gegebenen  Ver- 
hältnisse ist  die  Anerkennung  der  Klausel  als  Rechtsnorm 
eine  unbedingte  Notwendigkeit",  grundsätzliche  Gegner  der- 
selben wie  Triepel',  Zorn^u.  a.  brauchen  darauf  stets 
von  neuem  bloß  zu  konstatieren,  daß  sie  ihrerseits  diese 
Notwendigkeit  nicht  einzusehen  vermöchten.  Und  ganz 
ähnlich  gestaltet  sich  die  Sache  auch  wieder  unter  den- 
jenigen Schriftstellern,  die  zwar  übereinstimmend  Anhänger 
der  herrschenden  Lehre  sind,  sie  aber  doch  in  Einzelheiten 
verschieden  ausprägen.  Wir  sehen  z.  B.,  daß  der  eine 
Autor  eine  recht  weitgehende  Fassung  der  Klausel  für  er- 
forderlich hält*,  der  andere  umgekehrt  eher  zu  möglichster 
Restringierung  neigt*:   wie   soll  man  da  nun  objektiv  ent- 

'  Ber^bobm,  t^lnatavertni^  und  Gesetze  als  Quellen  des  Völker- 
rechts, 1877,  8.  41. 

^  Valkerrecht  und  Landesrecht,  1899,  S,  SO,  Anm.:  „Oaiiz  un- 
praktisch scheint  mir  die  berüchtigte  Lehre  von  der  cIuobuIh  rebus  atc 
stantibus  xa  sein." 

"  ReiehBataatareclit,  2.  Aufl.  I  (1895J,  8.  514,  Anui.  47:  „Die  ^anze 
Streitfrage,  ob  Verträge  nur  unter  der  clausula  rebus  sie  stantibus  ab- 
geschlossen werden  und  damgemäß  bei  Änderung  der  Verhältnisae  ein- 
seitig gekündigt  werden  kOnnen,  ist  nur  eine  moraUscii-politiache  Frage, 
und  es  Tehlt  dafür  jede  MSglichkeit  einer  juristischen  Erörterung."  Reich 
nnd  BeiduTerfassnng  (1895),  S.  6:  gDie  berüchtigte  clausula  rebus  sie 
■tautibus  der  »Blkarrechtlichen  Verträge." 

*  Vgl.  etwa  Heffter,  Ettropäischea  VBlkerrecht.  S.  215:  ,Als  eine 
solche  (die  Bechtsgülttgkeit  den  Vertrags  tangierende)  Veränderung  ist 
diejenige  zu  betrachten,  wobei  der  Verpflichtete  seine  bisherige  politiBche 
Stellung  nicht  behaupten  könnte  und  namentlich  sich  in  eine  Ungleich- 
heit gegen  andere  Staaten  versetzen  würde",  eine  Formulierung,  die 
Oettcken  (ebenda  S.  216.  N,  8)  flir  „bedenklich  dehnbar"  erklärt. 

"  Das  ist  offenbar  der  Fall  bei  Gareia  solbat.  Vgl.  Institutionen 
des  Völkerrechts,  8.  213:  „Wird  unter  der  clausula  rebus  sie  stantibus 
verstanden,  daß  die  Vertragsverbindlicbkeit  wegfült,  wenn  die  juristische. 


dBi 


36  VI  1. 

scheiden  können,  wessen  Meinung  die  richtige  ist,  wenn 
jeder  immer  nur  mit  subjektiven  Gründen,  rein  nach  dem 
Mafistab  seiner  individuellen  Beurteilung  der  Sache,  argu- 
mentieren darf?  Diese  Schwierigkeit  findet  sofort  ihre 
Lösung,  wenn  man  mit  uns  den  wahren  Rechtszustand,  der 
doch  immer  nur  A  oder  B,  aber  nicht  beides  zugleich  sein 
kann,  einzig  und  allein  durch  den  Inhalt  des  gemeinsamen 
Staatenwillens  bestimmt  sein  läßt.  Wohl  kann  es  auch  dann 
noch  grofie  Schwierigkeiten  insofern  geben,  als  dieser  Wille 
oftmals  nur  schwer  festzustellen  sein  wird;  indes  existiert 
hier  doch  wenigstens  die  prinzipielle  Möglichkeit,  ein  ob- 
jektiv mafigebendes  Gültigkeitskriterium  ausfindig  zu 
machen.  Deon  mit  dem  Moment,  wo  ein  solcher  WiUe 
positiv-genereller  Rechtssetzung  wirklich  dargetan  ist,  ver- 
lieren alle  sonstigen  Ansichten  von  selbst  ihre  praktische 
Bedeutung-,  auch  wenn  der  einzelne  die  festeste  Überzeugung 
hat,  daß  der  fragliche  Rechtsgedanke  besser  eine  andere, 
sei  es  nun  engere  oder  weitere,  Fassung  erhalten  hätte, 
kann  er  doch  schlechterdings  nicht  mehr  daran  denken, 
seine  abweichende  Meinung  für  positiv  geltendes  Recht  aus- 
zugeben. — 

Neben  der  hiermit  wohl  genügend  widerlegten  Richtung 
der  Völkerrechtswissenschaft,  die  zur  Fundierung  der  Klausel 
von  vornherein  bloß  mit  Folgerungen  aus  der  Natur  des 
Staates,  seinen  wesentlichen  Eigenschaften  usw.  operiert 
und  insofern  ganz  unverkennbar  den  naturrechtlichen  Be- 
griff eines  jus  necessarium  verwertet,  besteht  nun  noch  eine 
andere,  die,  ohne  sich  materiell  von  jener  wesentlich  zu 
unterscheiden,  doch  wenigstens  formell  ihrer  Beweisführung 
durch    einen    kleinen    Zusatz    etwas    mehr    Anschein    von 


auch  im  Zivilrecht  mit  gleicher  Wirkung  anerkannte  Voraussetzung 
(causa)  in  Wegfall  geraten,  oder  die  ausdrücklich  oder  stillschweigend 
paktierte,  auflösende  Bedingung  eingetreten  ist,  so  wird  hiermit  nichts 
juristisch  Bedenkliches  angenommen;  anders  liegt  die  Sache,  wenn  unter 
jener  Klausel  verstanden  wird,  daß  die  Veränderung  der  politischen 
Lage  allein  schon  genüge,  einen  Vertrag  als  hinfällig  geworden  zu  be* 
zeichnen." 


PVI  1.  37 

W  PositiTität  zu  geben  weiß.  Das  ist  der  Fall  bei  allen  den- 
I  jenigeo  Schriftstellern,  die  die  einBCitige  Lösbarkeit  inter- 
I  nationaler  Vorträge  nicht  schon  unmittelbar  aus  der 
I  Art  der  beim  völkerrechtlichen  Verkehrs] eben  obwaltenden 
I  &kti3chen  Verhältnisse  als  allgemeine  Regel  entspringen 
I  lassen,  sondern  mehr  indirekt  die  Behauptung  aufstellen, 
I  wegen  und  auf  Grund  dieser  besonderen  Beschaifenheit 
I  sei  es  der  übereinstimmende  Wille  der  vertrags- 
lachließenden  Staaten  selbst,  ihren  konkreten 
I  Verträgen  beim  Abschlüsse  stets  die,  stillschweigend  hinzu 
I  gedachte,  weil  als  selbst  verstand  lieh  vorausgesetzte  clausula 
I  beizufügen'. 

I  Wilre  das  iu  der  Tat  richtig,  dürfte  man  wirklich  an- 

I  nehmen,  letztere  wäre  in  jedem  Einzelubereinkommen 
I  stets  als  tacita  coudicio ,  als  stillschweigende  Resolutiv- 
bedingung^ enthalten,  so  müfite  ihr  positiv -juristischer 
Charakter  im  Prinzip  sicherlich  als  ausreichend  gewahrt 
gelten.  Denn  wenn  die  Staaten  als  solche  damit  einver- 
standen  sind,   durch   eine   bestimmt  geartete  Veränderung 

'  Vgl.  hiecza  von  den  in  §  2  air^feführton  Autoren,  u.  a.  die 
Äußerungen  Whttrtonx  („a  »täte  of  tbingi  wbich  was  —  une  of  its 
tacit  couditione")  and  Vattel  („on  a  propoa^  et  a«fitä  cette  qoestiou. 
Hl  le»  promessea  renfenneiit  en  eUea-nidmei  cette  ccmdition  taoite  — ." 
Dago^ten  kann  als  Beispiel  frir  die  eraterOrterte  Bichtuug  Jelltnek 
dienen,  in  dessen  „ßechtl.  Natur  der  Staaten  vertrüge"  die  Idee  der  still- 
Buliweigenden  Ueifügaug  der  Elaasel  höchstene  Süchtig;  einmal 
Anklingt 

*  Es  ist  darauf  aufmerksam  lu  mactien,  daß  tacita  condicio  an  sich 
in  einem  doppelten  Sinne  verstanden  werden  kann;  vgl.  Arndts.  Lohr- 
bach  der  Pandekten  §  6I>,  Anm.  9:  Notwendigkeit  der  „0ntersciieidung 
EWiscIiDO  stiÜBuhweigender  and  stillschweigend  erklärter  Bedingung".  Im 
Text  wird  nur  die  zweite  MSgUchkeit  einer  Besprechung  unterzogen, 
und  zwar  deshalb,  weil  bloB  bei  dieser,  also  bei  der  Annahme,  die  Ver- 
ünderung  der  Umstände  werde  bei  jedem  Einzelvertrag  von  den  konkreten 
Parteien  als  wahre  (Kesolutiv-)  Bedingung  stillicbweigend  mitgewollt,  in 
die  ganie  Beweisführung  etwas  wirklich  neues  hereinkommt.  -Sobald 
man  dagegen  an  die  andere,  technisch  neuerdings  meist  als  condicio  juri» 
bezeichnete  Eventualität  denkt,  gelangt  man  damit  in  der  Hauptsache 
einfach  auf  den  bereita  widerlegten  Standpunkt  zuräck;  denn  es  wird 
dann  offenbar  von  vornherein  wieder  bloß  postuliert,  daß  dem  inter- 
nationalen  Vertragsrecht  eine  solche  Beschränkung  von  Natur  inhirieni  1 
und  eigentümlich  sei,  obne  daß  für  diese  Behauptung  irgend  (' 
ausreichender  Beweis  erbracht  wäre. 


L 


38  VI  1.  ] 

von  Umständen   ihre  Verträge   immer  erlöschen    zu   las 
30    liegt    hierin    offenkundig    auch    eine    abstrakte     Recht 
setzende  Verfügung  der  zur  (abstrakten  wie  zur  konkreten) 
poaitivrecht liehen    Regulierung    aller    internationalen     Ver*^ 
hältnisse  wahrhaft  befugten  Willens  Subjekte  vor.  ■ 

Indes  was  Bergbohm',  der  verdienstvolle  Bekämpfefl 
alles  modernen  Krypto-Naturrechts,  gelegentlich  einmal  be^ 
merkt:  „Es  kommt  auf  die  Sache  an,  und  der  Saehe  nach 
besteht  naturrechtliche  Methode  überall,  wo  aus  subjektiven 
Überzeugungen  statt  aus  objektiven  Erkenntniamitteln  des 
gewordenen  Rechts  geschöpft  wird",  das  erweist  sich  bei 
schärferer  Betrachtung  auch  hier  als  zutreffend.  Nirgends, 
soviel  ich  sehen  kann,  wird  in  ausreichender  Form  der 
Beweis  dafUr  angetreten,  daß  die  Staaten  tatsächlich  bei 
Abschluß  aller  Einzeltraktate  entsprechend  gesinnt  und  ge- 
willt seien ,  sondern  es  wird  das  sofort  und  ohne  weiteres 
vorausgesetzt  ^.  Bald  klar  ausgesprochen ,  bald  mehr  im 
Hintergrund  stehend,  spielt  auch  hier  wieder  bei  jedem 
Autor  wesentlich  die  Vorstellung  herein,  es  müsse,  da  an 
eine  schlechthin  unlösbare  Verbindlichkeit  der  Staatsver- 
träge nach  Lage  der  Dinge  gar  nicht  zu  denken  sei,  hier- 
für unbedingt  ein  geeignetes  juristisches  Abhilfsmittel  aus- 
findig gemacht  werden,  und  um  ein  solches  zu  erhalten, 
greift  man  dann  eben  kurz  reaolviert  zu  der  Hypotbese 
des   immer  nur   bedingt   erfolgenden   Traktatsabschlusses '. 

'  Jarisprudenz  und  Reell tsjihilasopbie,  I  (1892],  S.  141- 
'  Ganz  der  DÜioliuhGn  Annicht  verleiht  Hiich  Fritze  bei  seiner 
Uesprechang  des  Pfaffsuheu  Werkes  über  die  clausula  deutlichen  Aus- 
druck; Tgl.  Eritieche  Vierteljahrsaohritl  Hd.  42,  S.  530:  „Eine  still- 
«cbwei^nde  Erklilraiig  der  Klausel  wird  von  denjenigE^n  Schriftstellertti 
welche  sie  kI«  ütillBUhweigeDd  dem  Vertrag  beigefügte  Bediuf^ng  be- 
handeln, ledigüp.h  fingiert." 

*  Besonders  Echarf  tritt  der  ganze  Gedankengang  bei  Ri  vier  bervor. 
dessen  AuBfähningen  (Lebrbnch  des  VBlkerreohts ,  S.  MO)  ich  deehalb 
hier  in  ihren  Hauptiügea  nuciimalB  wiederholen  möchte.  I;  „Die  tjfaaten 
sterben  nicht,  und  sie  vermögen  nicht  auf  ewige  Zeilen  sich  ihrer  Freiheit 
ED  entäußern"  (Konstatierung  dar  besonderen  .Natur",  der  eigenartigea 
BesF-hafrenheit  der  Staaten).  II:  Daher  ^bleiben  —  Vettrfige  stets  ein- 
seitiger Kündigung  unterworfen  und  man  (I)  muß  den  Satz  aufaiellen' 
(rein  Temunftreehllicher  NolwendigkeitsschluB  aus  I),  III:  „daß  ein  Volk 


Das  erscheint  aber  doch  als  ein  recht  willliUrlichea  Ver- 
,  fahren,  zumal  wenn  in  Anschlag  gebracht  wird,  wie  wenig 
'die  Ansichten  der  Theorie  darüber,  wie  sich  die  Staaten 
praktisch  verhalten  sollten,  bei  den  letzteren  Berücksichti- 
gnng  gefunden  haben  *.  Diesem  Umstand  hätte  die  Wissen- 
schaft, wie  an  zahlreichen  anderen  Punkten,  so  namentlich 
auch  in  unserem  Falle  entschieden  mehr  Rechnung  tragen 
mttesen ;  sie  durfte  bei  der  clausula  rebus  sie  stantibus, 
selbst  wenn  sie  noch  so  fest  von  deren  VernUnt'tigkeit  und 
■  Notwendigkeit  überzeugt  war,  doch  nicht  ganz  die  Unter- 
suchung dessen  beiseite  lassen,  ob  sich  die  völkerrechtliche 
Praxis  wirklich  auch  ihrerseits  die  Lehre  von  der  tacita 
eondicio  streng  und  folgerichtig  zu  eigen  gemacht  habe. 
Solange  sie  derartige  Feststellungen  gänzlich  verabsäumt, 
Bo  lange  sie  sich  damit  zufrieden  gibt,  das  von  ihr  für 
wichtig  und  wünschenswert  Gehaltene  den  Staaten  gleich- 
falls zu  imputieren,  schweben  ihre  Darlegungen  in  der  Luft, 
Terniögen  sie  niemals  über  das  Stadium  rein  subjektiver 
Behauptungen  hinauszulangen.  Daß  bis  jetzt  nur  und  aus- 
Bchließlich  solche  immer  vorgebracht  worden  sind,  dafür 
lOxistiert  ein  recht  charakteristischer  Beleg  insofern,  als 
einige  Schriftsteller  die  ganze  Lehre  ebenso  subjektiv 
■wieder   haben   bestreiten   können^,   ohne  daß  sie  dabei  ge- 


aof  das  Reicht  der  Kündigung  nicht  definitiv  vernichtet,  so  daU  dasselbe 
•tets  vurbehalten  bleibt,  auch  wenn  dies  nicht  Ruadrücklicb  emähnt  «ein 
pollte"  (FonnulieniDg  der  angeblich  von  den  Staaten  ateta  gewollten 
ttcita  eondicio). 

'  Han  denke  an  Institute,   wie  dasjenige  der  Friedeosblockade,  der 
Premdenausweisung  u.  a»  in. 

■  Vgl.  X.  B.  Bluntaehli,   Modemea  VSlkerrecbt  der   liviliaierten 
Staaten  ala  Rechtsbucb  dargeatellt,  ä.  Ana.,  I87ä,  S.  2dö;  „Zu  weit  geben 
sinielne  Tölherrechtslehrer,   wenn  sie  behaupten,   daB  die  Klausel  rebas 
sie   stantibus   k tillsohweigend    klUn   Verträgen    der    Staaten 
beigefügt   sei,   nnd  da&   demgemäß   rebna  matatis   dte   Gebundenheit 
aufhSre."      Trotn    dieser    prinzipiellen    Stellungnahme    erkennt    übrigens 
Bluntschli  hinterher  die  einseitige  Aufhebung  internationaler  Vertrüge 
in   HO   zahlreichen,  genauer   spezifizierten  Einzelfällen  als   berM:htigt  an,   j 
daß   die  ganze  KlHusellehre   schließlich    bei  ihm  doch  wieder  mindesten*  J 
denselben   Umfang   annimmt,    wie    nur    bei    irgendeinem    Anhänger   dar  <l 
herrschenden  Meinung. 


40  VI  1. 

zwangen  gewesen  wären,  zuvor  irgendwelches  objektive, 
zugunsten  der  gegnerischen  Ansicht  sprechende  Material  zu 
entkräften  und  aus  dem  Wege  zu  räumen. 

Wir  an  unserem  Teile  haben  selbstverständlich  nicht 
Anlaß,  das  Nichtvorhandensein  der  Klausel  als  jedes- 
maliger tacita  condicio  in  eingehender  Erörterung  darzu- 
tun ;  vielmehr  gentigt  für  unsere  Zwecke  die  Ronstatierung, 
daß  vorläufig  ihr  positives  Vorhandensein  von  den 
hierfür  nach  Lage  der  Dinge  beweispflichtigen  Autoren  noch 
nicht  bewiesen  worden  ist.  Deshalb  können  wir  uns  hier 
auch  darauf  beschränken,  nur  einen  einzigen  Punkt  an- 
zuführen, der  es  von  vornherein  so  unwahrscheinlich  wie 
möglich  macht,  daß  die  Staaten  regelmäßig  nur  Traktats- 
abschlüsse sub  condicione  im  Sinne  hätten.  Angenommen, 
dies  träfe  wirklich  zu,  so  wäre  es  nicht  bloß,  wie  Nippold* 
meint,  „denkbar,  daß  die  clausula  rebus  sie  stantibus  dem 
Vertrage  mitunter  auch  ausdrücklich  beigefügt  würde", 
sondern  es  müßte  das  als  eine  überaus  häufig  zu  erwartende 
Eventualität  gelten.  Denn  da  jede  stillschweigend  er- 
klärte Bedingung  doch  immer  etwas  recht  Unbestimmtes, 
Schwankendes,  der  Anzweiflung  Ausgesetztes  bleibt,  würden 
gewiß  viele  Staaten  auf  die  naheliegende  Idee  kommen,  die 
so  unsichere  tacita  condicio  durch  die  viel  präzisere  aus- 
drückliche Bedingung  zu  ersetzen.  Indem  nun  aber  von 
der  Hinzufügung  der  letzteren  in  der  völkerrechtlichen 
Praxis  so  gut  wie  gar  nichts  zu  bemerken  ist^,  muß  man 
notwendig  zu  dem  Schlüsse  gelangen,  daß  jene  überhaupt 
nicht  die  ernstliche  Absicht  haben,  lediglich  unter  strikter 
Resolutivbedingung®  ihre  Verträge  einzugehen.  — 


*  Der  völkerrechtliche  Vertrag,  S.  237. 

2  Vgl.  unten  S.  70  ff. 

'  Sorgfaltig  im  Auge  zu  behalten  iät,  daß  hier  immer  nur  die  An* 
nähme  einer  solchen,  d.  h.  die  Behauptung,  es  werde  den  Vertrags- 
erklärungen bewußt  und  erkennbar  gleich  bei  Abgabe  derselben  von  den 
Staaten  eine  Beschränkung  hinzugefugt,  für  unzulässig  erklärt  wird. 
Davon  völlig  verschieden  ist  die  Art,  wie  wir  später  —  §§  10  und  15  — 
dem  (zutiefst  zugrunde  liegenden,  seinerzeit  aber  nicht  zu  klarer  Erkenntnis 


VI  1.  41 

Als  Fazit  aus  den  in  dieaem  Paragraphen  angestellten 
Erwägungen  ergibt  aich.  daß  beide  Methoden,  wie  man 
bisher  eine  apezifiBch-juriBtische  Wirksamkeit  der  Klausel 
darzutuu  versucht  hat,  gleichmäßig  vernunftrechtlichen 
Charakter  an  sich  tragen.  Der  einzige  unterschied  zwischen 
ihnen  besteht  nur  darin,  daß  dieser  Sachverhalt  das  eine 
Mal  mehr,  das  andere  Mal  minder  verschleiert  erscheint. 
Während  die  ersterörterte  Richtung  (S.  20  ff.)  direkt  aus 
naturgegebenen  Verhältnissen  eine  allgemeine  Rechtsregel 
herleiten  wollte,  machen  die  Anhänger  der  zweiten  (S.  3rt  ff.) 
bloß  den  etwas  weiteren  Umweg,  daß  sie  schließen:  ^Die 
clausula  rebus  sie  stantibus  entspricht  den  subjektiv  von 
uns  festgestellten  Zuständen  und  Bedürfnissen,  und  deshalb 
muß  sie  unbedingt  auch  von  den  Staaten  stets  in  concreto 
gewollt  und  statuiert  sein,"  Auf  die  prinzipielle  Be- 
urteilung vermag  diese,  doch  recht  nebensächliclie  Differenz 
keinen  Einfluß  auszuüben,  und  so  darf  man  denn  von  der 
Klausellehre  schlechthin  behaupten,  daß  sie  zu  denjenigen 
Parteien  des  Völkerrechts  gehört,  die  nach  einem  be- 
zeichnenden Ausdruck  Bergbohms'  „ihre  juristische 
Dlegitimität  nicht  verbergen  können",  oder  um  eine  ge- 
legentliche Wendung  von  Fricker"  aufzunehmen,  die 
Schriftsteller  der  einen  wie  der  anderen  Richtung  haben 
im  Orunde  immer  „bloß  ihre  eigenen  Ansichten  ausgesprochen 
und  nicht  mit  einem  einzigen  Wort  den  Beweis  aus  dem 
positiven  Viilkerrecht  geführt". 

§5. 
ungeachtet  aller  im  vorigen  Paragraphen  beigebrachten 
Argumente  würde  es  immerhin   noch   möglich   sein,    daß 

Idie  clausula  rebus  sie  stantibus  ein  Institut  des  positiv 
gültigen  Völkerrechts  bildete.  Wirklich  dargetan  ist  bisher 
dnr 
du. 


dnrcbgcdruDgeaen)  w  Ähren  und  eigentlichen  Willen  der  Koutralioaten 
dne  gewlBie  Borückflichtiguog  Kuleil  werden  lasseu. 
■  A.  B.  O.,  S,  352. 
Gebiet  uud  Gebietshoheit,  1901,  8.  37. 


42 


VI  1 


bloß  soviel,  daß  die  communis  opinio  den  Beweis  der  juristt 
sehen  Existenz  desselben  in  durcliaua  ungenügender  WetH 
zu  fuhren  unternommen  hat;  dadurch  erscheint  es  aber  niuht 
ausgeschlossen,   daß  richtiger  angelegte  Versuche  auch  eiol 
besseres    Resultat    ergeben    könnten.     Enthielten    doch    die 
früheren  Strafrechts  Systeme   zweifellos   gleichfalls    viel   Ele- 
mente, denen  positiv-juristischer  Charakter  gar  nicht  abzu- 
sprechen war,   nur   daß   letztere   freilich   nicht   kraft   ihrer 
behaupteten  Vernunftnotwendigkeit,  sondern  kraft  der  Ein- 
führung durch  eine  wirkliche  Kechtsquelle  objektiv  galten. 
Wie  damals  die  falsche  und  verfehlte  Ableitung  bloß  durcliJ 
die    richtige    ersetzt   zu    werden    brauchte,    um    den    betr. I 
Sätzen  ihre  Poeitivität   durchaus   zu   retten,    so   mag  Ähn-J 
liches  vielleicht  auch  in  unserem  Falle  durchzuführen  seiiij 

Wollen  wir  nun  hierüber  ins  Klare  kommen,  so 
wir  jetzt  noch  die  Frage  untersuchen:  wie  sich  die  Staate 
selber  zu  der  ganzen  Sache  praktisch  verhalten  haben.    Nui 
wenn  uns  der  Nachweis  gelänge,  daß  die  letzteren  tataäch-4 
lieh,    ausdrücklich    oder    stillschweigend,    durch    formetleQ-' 
Rechtssatz ungs vertrag  oder  im  Wege  des  Gewohnheitsrechts, 
den  Willen  zu  einer  derartigen  Normachaffung  kundgegeben 
hätten,  könnte  der  von  der  Theorie  ausgebildeten  Klausel-  - 
lehre  auch   tatsächlich  juristische  Geltung  zukommen;    sia  J 
,ist  nur   insoweit   aufrechtzuerhalten,   als   sie  sich  auf  den  J 
Grundlagen  dieser  positiven  Rechtsquellen  festhalten  läßt" 

Sehr  kurz  können  wir  dabei  über  die  Frage  nach  dai 
etwaigen  ausdrücklichen  Statuierung  der  clausula  hinwej 
gehen,  denn  es  wird  allseitig  anerkannt,  daß  die  unter  i 
völkerrechtlichen  Verkehr  pflegenden  Kulturstaaten  bisb«) 
miteinander  keinen  altgemeinen  Satz  des  Inhalts  vereinbi 
haben,  es  solle  durch  wesentliche  Veränderung  der  Um 
stände  die  juristische  Verbindlichkeit  der  internationale! 
Traktate    erlöschen.      Eher    noch    ließe    sich    das    direkl 


'  Worte,  die  Stark  in  HnlliandorffsHimdbucIi  des  Völkerreoh^ 
Bd.  U.  S.  515  mit  ßeiug  na(  eine  andere  intcmatio  na  (rechtliche  Doktij 
(uatajUdie  Verkehrafreiheit  in  fremden  KüstengenSsseni]  aoBipricbt. 


Gegenteil  behaupten.  Das  gilt  zunächst  ganz  unzweifelhaft 
von  einem  Spezialfälle,  insofern  als  bezüglich  sämtlicher, 
eich  an  der  Regier ungsforni ,  überhaupt  der  politischen 
Organisation  eines  Volkes  etwa  vollziehenden  Umgestaltungen 
seitens  der  europäischen  Hauptmächte  expressis  verbia, 
durch  das  Londoner  Protokoll  vom  19.  Februar  1831 ,  der 
Grundsatz  ausgesprochen  worden  ist,  dieselben  vermöchten 
keinen  Einfluß  auf  die  Gültigkeit  internationaler  Verträge 
zu  beanspruchen  '.  Für  alle  andersgearteten  Veränderungen 
fehlt  ea  freilich  an  einer  derartig  bestimmten  Erklärung; 
doch  könnte  man  eine  solche  wenigstens  implifite  in  einem 
zweiten  Londoner  Protokoll  enthalten  finden,  welches  von 
den  Großmächten  am  17,  Januar  1871  unterzeichnet  wurde 
und  in  dem  ea  klipp  und  klar,  ohne  jeden  Vorbehalt  zu 
Gunsten  der  clausula,  heißt,  daß  Traktate  lediglich  unter 
Zustimmung  des  Gegenkontrahenten,  im  Wege  der  freund- 
achftfthchen  Verständigung  aufgehoben  oder  modifiziert 
werden  dürften^.  Dazu  kommt  nun  noch,  daß  dieses 
Prinzip  damals  keineswegs  ganz  neu  formuliert  wurde, 
sondern  in  gewissem  Sinne  schon  weit  früher  zu  konstatieren 
ist.     Ein  wirkliches  Novum   brachte   nämlich  das  genannte 

'  Cf.  Martens,  N.R.O.  X,  K.  197;  „Len  tr&ite»  ne  perdent  paa 
lenr  puiisauce ,  queU  qae  saient  les  cLangementB  uui  iuturvieDoent  dans 
rorganiBHtion  inKrieure  des  penpleH."    Vgl.  auch  fi.  Iä9 :  „Les  chnngements 

awi  de  BeB  eogaeemetits  ant^rieura  —  maxime  de  toue  len  peuples 
clviliB^."  In  der  Folgaieit  hat  man  »ich  über  dioae»  Priniip  nocb  inehr- 
fikch  eigenmächtig  hinwegziuetKen  versucht,  beispieUweiie  ISIS  in  Frank- 
I  reich,  als  nach  Erricfatimg  der  aneilen  Eepiiblik  Lamartine  dem 
I  Worlschvall  seines  Zirknlars  vom  2.  März  u.  a.  auch  die  Phrase  ein- 
I  ffi^:  .Les  traitäa  de  1815  n'oxiatent  plos  ea  droit  am  veax  de  1» 
,  T^piiltlique  frani^ae  |b.  Martena  s.  a.  O.,  3  Folge,  XII,  S.  72);  doch 
.  haben  derartige  Tendenzen  dem  einmQtigen  Widerstand  der  übrigen 
[   Hächle  gegenüber  nie  diirchzadringen  vermocht. 

<  Härtens,  N-H.G.  X\1U,  8.  273:  „C'est  un  principe  essentiel 
I  dn  droit  dea  gens  qu'aucune  piiissance  ne  peut  se  d^lier  des  eugagements 
3  trait^  Di  cn  moditler  les  stipulationa  qn'  A  la  euite  de  1'assentiment 
l  dea  partiea  coQtractantes ,  au  moyen  d'ane  entente  amicale."  Das  votl- 
.  Btändige  Schweigen  von  dem  Falle  „verSnderler  Umstände"  ist  um  so 
[  efaarukteristiacher,  weil  der  unmittelbare  Anlaß  zur  Abfax.iung  des  Protokolls 
eiuer  auf  die  clanitula  gestützten  Vertragskündigung  beatand- 
[  Tgl.  hiersQ  dos  weiter  uoten  Folgende. 


44 


VI  1 


Protokoll  bloß  insofern  mit  sich,  sls  der  in  ihm  t 
Grundsatz  gleich  durch  eine  Mehrzahl  von  Staaten  und 
generell  fllr  alle  Verträge  ausgesprochen  wurde;  dagegen 
ist,  lediglich  zwischen  je  zwei  Mächten  und  beschrankt  auf 
Einen  konkreten  Vertrag,  Entsprechendes  schon  oft,  zu 
allen  Zeiten  und  bereits  vor  Jahrtausenden  erklärt  worden. 
So  enthielt  u.  a.  der  auf  der  ^/axwvotjj  arijh;  in  Athen 
verzeichnete  Frieden  des  Nikias  die  ausdrückliche  Stipu^J 
lation,  Abänderungen  desselben  setzten,  um  unbeschadet  dei 
Eides  erfolgen  zu  kilnnen,  die  Einwilligung  beider  Koik| 
trahenten  voraus',  eine  Bestimmung,  die  mehr  oder  wenrgi 
modiKziert  auch  sonst  noch  in  hellenischen  Verträgen  vi'el-( 
fach  wiederkehrt.  Und  ebenso  tauchen  derartige  Fest- 4 
Setzungen  in  späteren  Perioden  gelegentlich  immer  von 
neuem  auf,  wie  z.  B.  noch  zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts 
der  erste  Entwurf  des  von  Talleyrand  1805  dem  bayerischen 
Kurfürsten  vorgeschlagenen  AUianztraktatea  erkennen  läßt*. 
Es  wird  kaum  zu  bestreiten  sein,  daß  die  bisher  ge- 
ntachten Beobachtungen  der  Annahme  einer  positiv- recht- 
lichen Sanktionierung  der  Klausel  durch  die  Staaten  nicht 
eben  günstig  sind;  geht  doch  aus  ihnen  hervor,  daß  die 
letzteren  dort,  wo  sie  im  voraus,  sei  es  nun  generell  oder 
konkret,  die  Eventualität  des  späteren  Erlöschens  eines  auf 
die  Dauer  angelegten  Vertrags  ausdrücklich  ins  Auge  fassen, 
stets  nur  an  den  Fall  des  mutuua  disaensus  zu  denken  ge- 
wohnt sind  und  also  wahrscheinlich  von  einer  auch  wider  I 
den  Willen  der  Parteien,    rein  durch  die  Veränderung  der  J 

'  Uf-  Thnkj'diden  V,  18:  «(f  J/ti  b/juvov  rooCair  önoTtgtuoSv 

'ASijvalotg  xal  .-iaKeiat/iorfDi;.' 

"  Wenigstenn  scheint  mir  der  Schi uBsrtikel  desselben  {nach  Led 
mann,  Anschluß  Bayenin  ut  Frankreioli  im  .luhre   1805,  München   3 
8,   8,    Aiun.    3    folgendeimaßen    lautend:    „Le    präsent   trait^   i 
affinera   et   dt^Snira   de   demeurer   r^nsdinbläes    ies    Uautes   partfes 
tnctantes  auKsi  longtemps  qa'elles  le  jag;eront  necessaire")  nord 
vemlinftigeD ,   der  gaiiKen  Saebla^   &n);eme»senen  Sinn  xu  geb' 
man  ihn  hU  Verbot  jeder  eiuBeitigeu  Tertra^aufhebung  verBtebt. 
die  etidg6ltige  Rednktinn  de»  Traktats  bat  die  aicbt  eben  klar  stilisier 
lle»tiinman(;  übrigens  keine  Aafhfthme  gefandeo. 


45 

DmstäDde  erfolgeuden  Aufhebung  von  Haus  aus  überhaupt 
nichts  wiasen  wollen.  Nichtsdestoweniger  künnte  heute 
immer  noch  eine  wahrhaft  rechtsgültige  Anerkennung  der 
Klauaellebre  zu  verzeichnen  sein;  es  müßte  zu  diesem 
Zwecke  bloß  nachgewiesen  werden ,  daß  die  Staaten  die 
ursprilngüch  bei  ihnen  vorauszusetzende,  der  clausula  ab- 
geneigte Auffassung  hinterher  nicht  praktisch  festzuhalten 
vermocht  haben.  Damit  gelangen  wir  zu  der  zweiten  Art, 
wie  positiv  -  völkerrechtliche  Normen  sich  bilden  können, 
d.  b.  hier  zu  der  Frage,  ob  vielleicht  stillschweigend- 
gewohnheitsrechtlich  die  clausula  in  die  internationale  Ver- 
kehrsordnung  aufgenommen  worden  ist.  Ein  Versuch,  die- 
selbe zu  beantworten,  ist  natürlich  nur  in  der  Weise  mög- 
lich, daß  wir  nacheinander  eine  Reihe  von  EinzelfilUeu 
näherer  Betrachtung  unterziehen,  hei  denen  die  beteiligten 
Staaten  erst  nach  liereits  erfolgtem  Vertragsschluß  Gelegen- 
heit nahmen,  sich  über  den  etwaigen  Einäuß  tatsächlicher 
Veränderungen  auf  die  juristische  Gültigkeit  der  Verträge 
zu  ftußern;  bloß  unter  der  Bedingung,  daß  ein  solcher  all- 
seitig und  in  konstanter  Übung  sich  akzeptiert  findet,  würde 
man  das  Recht  haben,  ein  entsprechendes  jus  non  scriptum 
jetzt  als  entstanden  zu  proklamieren. 

Der  erste  Fall,  der  hier  betrachtet  werden  soll,  bezieht 
sich  auf  ein  Rechteverhältnis,  welches  nun  schon  annähernd 
drei  Jahrhunderte  zwischen  Österreich  und  Sachüen  schwebt. 
Während  des  Dreißigjährigen  Krieges,  ums  Jahr  1035,  trat 
nämlich  die  erstere  Macht  durch  den  Vertrag  zu  Prag  vom 
80.  Mai  die  beiden  Lausitzen  an  die  letztere  ab.  doch  so, 
daß  ,mehrbemeldete  Marggrafen thümer  von  dem  Königreich 
Böheimb  nicht  abgesondert  werden,  sondern  demselben  als 
ein  hohes  und  filrnehmea  Stück  desselben  zugethan  ver- 
1^  bleiben  Bellten"  ^.   In  näherer  Ausführung  dieser  prinzipiellen 

K  KoUek 
H  akcneii 


'  Der  ganKe   sogen.    „TraditionBreEeB"  ist   abgedruckt  im  Lauaitzer 
LKoUektiouBwerk,   Tom.    II,    S.    U09ff.,   auch    bei    GUfe;,    Kern   der 
~    LBiechen  Qcechlchte,  Beilage  S,  ä.  1268  ff.    An  deoselben  bat  sich  eine 


4ti  VII 

BeBtimmuDg  wurde  dann  Bölimen  neben  manchen 
wichtigeren  Befugniaaen  besonders  dreierlei  reserviert 
bebielt  die  Lehnsherrlichkeit  über  die  Laueitzen,  ihm  Ständern 
vor  wie  nach  bestimmte  kirehenhoheitliche  Rechte  zu,  endl 
wurde  unter  gewissen  Voraussetzungen  ein  Rückfall  der 
zedierten  Lande  an  Böhmen  in  Aussicht  genommen.  Wäh- 
rend nun  die  hieraus  resultierenden  Rechtabeziehungen  lange 
Zeit  keinen  Anlaß  zu  grundsätzlichen  Differenzen  unter 
den  Vertragskontrahenten  boten,  änderte  aich  dae  bald  nach 
Anfang  des  10.  Jahrhunderts.  Und  zwar  in  der  Weise, 
daß  die  sächsiache  Regierung  damals  begann,  dem  Traditiona- 
rezeß  seine  fernere  RechtsgUltigkeit  Überhaupt  zn  bestreiten. 
Bei  Begründung  ihrer  Ansicht  „legte  sie  das  Hauptgewicht 
auf  die  politischen  und  staatsrechtlichen  Vera  nderunge 
welche  in  den  Verhältnissen  der  deutschen  Staaten 
Länder  zu  Anfang  unseres  Jahrhunderts  vorgegangen  sind' 
sie  war  der  Meinung,  daß  mit  Rücksiebt  auf  die  180tj  ein- 
getretene Auflösung  des  alten  Reiches,  den  hierdurch  be- 
dingten Erwerb  der  vollen  Souverünetät  für  die  deutschen 
Eiozelstaaten ,  das  Eintreten  Sachsens  in  den  Rhein- 
bund usw.  U8W,  von  einem  Fortbestand  der  österreichischen 
Ansprüche  keine  Rede  mehr  sein  könne.  Kürzer  und  in 
der  uns  hier  interessierenden  Formel  ausgedruckt,  sie  hat 
in  jener  Zeit  wirklich  den  Versuch  gemacht,  der  clausula 
rebus  sie  stantibus  die  Kraft  recbtliuher  Vertragsaufhebung 
in  concreto  beizulegen.  Osterreichischerseits  wurde  jedooh' 
dieser  Auffassung  aufs  Entschiedenste  widersprochen;  intl 
strikten  Gegensatz  zu  den  sächsischen  Rechtsdeduktion^j 
vertrat  die  andere  Partei  in  ausführlichen  Darlegungen 
Ansicht,  daß  alle  seit  dem  Jahr  180ti  erfolgten  politischflS^ 
Umgestaltungen  die  juristische  Gültigkeit  des  Tradition»*^ 
)  absolut  nicht  beeinträchtigt  hätten,   und  es  ist  ihr; 


cht 


xiemlicib    amfangreklie   Spezialliteratur    angcschloaseu ,    über   die 
(S.  19,  Änm.  2  angefahrte)  Disnertation  uähere  AiigabeD  entbält. 

>  Pfeiffer,   Das  Verhältnis  der  OberlauaitE   zur   Krane   BQhm 
■50.  Band  d««  Neutm  LauEitÜBcheu  Magavins,  S.  Sß. 


'  VI  1. 


47 


auch  schiießlich  gelungen,  selbst  den  Gegner  zu  einer  ge- 
wissen AbschwächuDg  seines  achrofi  negierenden  Stand- 
punkts zu  bewegen.  Durch  einen  eigenen,  vom  9,  Mai  1845 
datierten  Vertrag  wurde  nämlich  das  böhmische  Schutz-  und 
Oberaufsich  tarecht  ilber  die  katholische  Geistlichkeit  und 
die  Klöster  in  dar  Lausitz  einer  Neuordnung  dahin  unter- 
zogen, daß  Sachsen,  ohne  prinzipiell  auf  seine  Meinung  von 
der  jetzigen  Rechtsunverbindlichkeit  des  Prager  Rezesses 
zu  verzichten,  doch  praktisch  zugestand,  „es  wolle  das 
Domkapitel  St.  Petri  zu  Budissin  und  die  Frauenklöster 
Marienstern  und  Marientha!  hin  für  wie  bisher  in  ihrem 
Rechte  und  in  ihrer  Verfassung  erhalten",  wogegen  Oster- 
reich, ebenfalls  unter  aller  Wahrung  der  grundsätzlich  ver- 
tretenen Auffassung,  die  Gegenerklärung  abgab,  „mit  Hin- 
sicht auf  die  vorgedachte  Kgl.  Sächsische  Deklaration  und 
deren  unverbrüchliche  Festhaltung  sich  fortan  aller  Ein- 
mischung in  die  Führung  der  inneren  und  äußeren  An- 
gelegenheiten dieser  Stifter  zu  enthalten" '. 

Ein  zweiter  Fall,  in  dem  wir  in  der  Völkerrechtspraxis 
eine  deutliche  Bezugnahme  auf  die  clausula  konstatieren 
können ,  versetzt  uns  mittenhinein  in  die  welthistorischen 
Ereignisse,  die  in  ihrem  unmittelbaren  Erfolg  die  Los- 
retßuDg   Schleswig-Holsteins    von   Dänemark    und   indirekt 


'  Vgl.  Pfeiffer,  a.  «.  O.,  S.  91,  Deuraer,  ReohUidier  Anspruch 
Böbmen-OaterreicbB  auf  das  Kgl.  Sgchaische  Markgrnfeatum  Oberlausitz, 
S.  62  f.  Sachlich  lief  da»  obige  Übereinkommen  einfarh  darauf  hinaua, 
daß  Sacbssn  beatimmtu,  im  TrHditionerezeB  äbemommeiiG  Pflichten  noch- 
mata  bestätigte  und  neu  anerkannte ;  denn  wenn  Österreich  auch  formell 
auf  die  frühere  „Spezialein Wirkung  in  die  Oenchäfte  der  Stifter",  auf 
fortwährende  „Detail beTO^ung"  veraichtete  (Pfeiffer,  a.  a.  O.,  S.  92/97), 
HO  geBchali  das  doch  nur  deshalb,  weil  und  so  lange  die  sSchsische 
Kagierung  die  geschuldete  Aufrechterhai tung  des  kirchenrechtlichen  atatua- 
quo  schon  von  aich  hob  durchführen  würde.  Betreffs  der  beiden  anderen 
Punkte,  alao  r&cksichtlicb  der  Lehnaberrlichkeit  über  die  Lausitz  und 
des  eventuellen  Heimfallarechts,  hat  wegen  der  damaligeu  Geringfügigkeit 
ihrer  praktischen  Bedeutung  eine  neue  vertragsmäßige  Einigung  unter 
den  Parteien  nicht  stattgefunden.  Jedenfallg  gab  aber  auch  bei  iJmen  Öster- 
reich das  Erlöschen  seiner  Ansprüche  in  keiner  Weiae  zu,  sondern 
hielt  letztere  im  Gegenteil  ausdrücklich  und  zu  wiederholten  Malen 
■ofrecht 


48  VI  1. 

weiterhin  die  Aufrollung  der  ganzen  deutschen  Frage ,    die 
politische  Neuordnung  unseres  Vaterlands  auf  bundesstaat- 
licher Grundlage  herbeiführen  sollten.    Durch  das  Londoner 
Protokoll  vom  8.  Mai  1852  ^  hatten  die  europäischen  Groß- 
mächte mit  Einschluß  von  Preußen  und  Österreich  die  Er- 
haltung der  dänischen  Gesamtmonarchie  für  überaus  wichtig 
zur  Wahrung  des  Gleichgewichts  und  Friedens  von  Europa 
erklärt   und   demgemäß   vereinbart,   nach   dem  Aussterben 
der   augenblicklich  über  jene   noch   regierenden  Linie    den 
Prinzen  Christian  von  Sonderburg-Glücksburg  als  Nach- 
folger  in   sämtlichen,   zur  Zeit  dem  König  von  Dänemark 
gehörenden  Territorien   gemeinsam  anzuerkennen.     Als  die 
damals  ins  Auge  gefaßte  Eventualität  infolge  des  Todes  von 
Frederik  VII.  schon  1863  eingetreten  war,  schienen  die 
Ereignisse  zunächst  auch  wirklich  in  der  verabredeten  Weise 
verlaufen   zu   wollen;    denn   die  Thronbesteigung  des  neu- 
berufenen Königs   fand   zwar  mit   Rücksicht  auf  die    Elb- 
herzogtümer    lebhaften    und    ungeteilten    Widerspruch    bei 
der   deutschen  Nation,    nicht  aber   auch  bei  den  praktisch 
ausschlaggebenden  Staaten  Österreich  und  Preußen,  da  diese 
sich   eben   durch  das  1852  er  Abkommen  als  gebunden  an- 
sahen.    Selbst   nachdem   es  aus  anderen ,  hier  nicht  weiter 
zu  erörternden  Gründen  zu  offenem  Kampf  zwischen  Däne- 
mark auf  der  einen  und  den  beiden  deutschen  Großmächten 
auf  der  anderen  Seite  gekommen  war,  wurde  die  Gültigkeit 
des  Londoner  Protokolls  anfangs  noch  nicht  prinzipiell  be- 
stritten.    Das   änderte   sich  jedoch,    als   der   erstere   Staat 
trotz    aller    erlittener    Niederlagen    mit    hartnäckiger    Ver- 
blendung jedes  Eingehen  auf  die  ursprünglich  recht  mäßigen 
Forderungen  der  Sieger  verweigerte :  während  der  Friedens- 
konferenzen, die  vom  20.  April  bis  25.  Juni  1864  zu  London 
abgehalten    wurden    und    bei    denen    die    neutralen   Mächte 
eine  Einigung  herbeizuführen  suchten,  tat  Preußen  und  ihm 


*  Abgedruckt   bei   Ghillanv,    Diplomatisches   Handbuch,   Bd.   U, 
S.  170  f. 


n  1. 


49 


folgend  Österreich  den  entscheidenden  Schritt,  daa  frühere 
Übereinkommen ,  hauptsächlich  wegen  völlig  veränderter 
Umstände,  einfach  für  aufgehoben  zu  erklären '.  Die  fernere 
Entwicklung  der  Sache  gehört  nicht  mehr  hierher;  vielmehr 
bedarf  es  für  unsere  Zwecke  bloß  noch  der  Feststellung, 
daß  dem  österreichisch -preußischen  Vorgehen  damals  all- 
gemein stark  opponiert  wurde,  daß  nicht  nur  das  unmittelbar 
beteiligte  Dänemark,  sondern  auch  die  übrigen  Staaten  nach- 
drücklichen und  mehrmals  erneaerten  Widerspruch  gegen 
jede  einseitige  Vertragskündigung  erhohen. 

Als  drittes  Beispiel  nenne  ich  die  Art  und -Weise,  wie 
1870/71  gewisse  Stipulationen  des  den  Krimkrieg  ab- 
flohließenden  Pariaer  Friedens  vom  3U.  März  lööli*  einer 
Modifikation  unterzogen  wurden.  Durcli  Art.  11,  Ki,  14 
desselben,  sowie  kraft  einer  am  gleichen  Tage  unter- 
zeichneten russisch-türkischen  Spezialkonvention  war  den 
Uferataaten   des  Schwarzen   Meeres   die  Verpflichtung   auf- 


'  UraprÜDgHch  geschah  da»  sllerdinga  bloß  Dänemark  xelb^t  geifea- 
über,  dadurch,  dafi  PreuBeii  in  der  KoniereiiEBitzuiig  vom  12.  Mai  tür 
siub  und  seinen  AIIÜerteD  formell  bemerkte,  „qii'ils  regardenl  le  terraiu 
de  la  diBCUHsian  comme  entiäremeut  libre  de  toute  reatriction  r£aultHnte 
d'engagements  qui  peovent  avoir  eiistö  «vant  la  guerre  entre  leura 
Gonvenieroents  et  le  Dänemark"  (cf.  Martens,  N.K.G.,  T.  XVU, 
Partie  II,  ä.  35ii).  Im  AuacliluB  jedoch  nn  einen  von  Eiiglaud  gemachten 
Einwand,  durch  den  auf  die  .obligaliuns  euvera  les  aiitres  PoigRaaces, 
cu-Bignataire»  du  mSme  traitä"  hiDgevcieBcn  wurde,  begsDD  man  nelir  bald, 
aueh  im  Vorhältois  zu  diesen,  <ca  den  Mitunterzuichnem  dt^B  Londoner 
ProtokolU,  die  fortdauernde  Verbindlichkeit  denBelbea  nii  negieren,  ^a- 
nächHt  DocL  verhüllt  und  in  etwas  eigentSml icher  Weine  (nüheres  bei 
MartenH,  n  a.  ü.,  S.  SliÜ),  Npäter  immer  klarer  und  entschiedener. 
DaU  man  sich  dabei  materiell  auf  den  Gesichtspunkt  veränderter  Um-.  ' 
stände  zu  stiltKen  gedachte,  kam  eralmnlig  zum  Ausdruck  in  einer  Depesdia 
Bismarcks  vom  15.  Mai  (vgl.  Holtaandorff,  Handbuch  des  T61ker-'J 
recht»,  Bd.  III,  S.  81),  darauf  anch  in  der  Konferenz  selbst  (cf.  Protokt^I 
der  Sitaung  vom  17.  Uai^  Martens,  a.  a.  0.,  H.  3£S)  vermage  der  ( 
motivierten  Erklärung:  „I^s  PniajiBnces  allemandei,  Im  Situation  ät an t 
cbangä  depuis,  doivent  t<e  räserver  toutt>  libcrt^  quant  aui  banea  de 
la  distuBSion."  Noch  bestimmter  klin^nd  die  Äußerung  PreuBenx  in 
der  Sitzung  vom  16.  Juni  (Martens,  a.a.O.,  8.416',  daß  es  „ne  peat 

tract^es  le  8.  mai  1852  sous  d'autres  pr^Hupposittons". 

'  VolUtändigerTeitbei  Ghillauny.  Diplornnti-tehe*  Handbuch  Ill.t'fl 
S.  36  ff. 

StutH-  u.  Tnlkerrechtl,  Abhandl.    VI  1.  —  Bchmidt.  4 


50  VI  1. 

erlegt  worden,  Etablissements  für  Kriegsmarine  daselbst  gar 
nicht  und  KriegsschiflFe  nur  in  genau  fixierter  Größe  und 
Zahl  zu  unterhalten.  Von  diesen  schon  längst  als  drückende 
Fessel  empfundenen  „ungeschicktesten  Bestimmungen  des 
Pariser  Friedens"  ^  suchte  sich  nun  Rußland  gegen  Ende 
des  Jalires  1870  frei  zu  machen,  wobei  es  zur  Rechtfertigung 
seines  Verhaltens  ganz  unverkennbar  die  clausula  rebus  sie 
stantibus  heranzog.  Das  trat  schon  in  dem  Rundschreiben 
vom  19/31.  Oktober^  deutlich  hervor,  durch  welches  der 
russische  Kaiser  erklären  ließ,  in  der  gegenwärtigen  Liage 
der  Dinge,  dans  cet  6tat  des  choses,  könne  er  jene  Stipu- 
lationen nicht  länger  als  verpflichtend  anerkennen,  mehr 
aber  noch  im  Verlauf  der  großmächtlichen  Konferenzen  ^ 
die  auf  Vorschlag  Deutschlands  zur  Regulierung  der  ganzen 
Angelegenheit  stattfanden.  Diese  Neuordnung  ist  nun  in 
einer  Form  erfolgt,  die  für  die  Frage  der  positiv-praktischen 
Wirksamkeit  der  Klauseitheorie  überaus  bezeichnend  und 
lehrreicli  ist.  Ganz  wie  18G4  waren  nämlich  auch  jetzt 
wieder  die  Mitunterzeichner  des  Pariser  Friedens  durchaus 
nicht  der  Ansicht,  daß  die  Bestimmungen  desselben  durch 
irgendwelche  Veränderung  von  Umständen  schon  rechtlich 
als  beseitigt  gelten  könnten;  insbesondere  England  hat  auf 
der  Konferenz  die  russischen  Erklärungen  von  Anfang  an 
umgedeutet  zu  bloßen  „propositions  quela  Russie  däsire 


*  Bismarck,  Gedanken  und  Erinnerungen  II,  8.  104. 

2  Cf.  Märten 8,  N.K.G.  XVIIl,  8.  269  ff. 

^  Ein  Abdruck  sämtlicher  Öitzungsprotokolie  findet  sich  bei 
Märten 8)  a.  a.  O. ,  IS.  270 ff.  Kur  ein  paar  besonders  wichtige  Beleg- 
stellen will  ich  hier  aus  ihnen  beibringen.  1.  Sitzung  vom  17  «lan.  1871: 
„Le  pl^nipotentiaire  de  Russie  a  Signale  combien  la  Situation 
actuelle  enEurope  est  loin  de  cellc  qui  existait  ^r^poque 
du  Congr^s  de  Paris'^;  „prcnant  en  serieuse  consid6ration  les 
changements  produits  graduellemcnt  par  la  marche  du  temps^;  ^ces 
stipulations  sugg^r^es  k  unc  autre  epoque  sous  l'influence  de  conjonc- 
tures  toutes  differentes  de  la  Situation  präsente."  2.  Sitzung  vom 
24.  Jan.:.  „Combinaisons  qui  ne  sont  plus  en  accord  avec  Tactualite  des 
choses."  S.  Sitzung  vom  3.  Febr. :  „Les  stipulations  du  trait6  de  Paris, 
^crites  sous  l'influence  des  ^venements  alors  encorc  trop  r^cents  de  la 
gnerre,  ne  se  trouvent  plus  en  accord  aujourd'hui  avec  la  Situation  cr^^ 
par  r^tat  de  paix  lieureuseniout  retabli  en  Orient.** 


VI  1. 


51 


nous  faii-e  par  rapport  k  la  r^viaion  qu'elle  demande  des 
Btipulations  du  trait4  de  1850"  ^.  Prinzipieil  in  der  näm- 
lichen, wiewohl  vielleicht  nicht  so  prononcierten  Weise 
äußerten  sich  aber  auch  die  Vertreter  der  übrigen  Mächte*; 
ja  was  am  allerbedeutaamstcn  ist,  Rußland  selbst  hielt  es 
während  der  Konferenzen  t'tir  angezeigt,  dieser  Äuffaaaung 
formell  nicht  zu  widerüprechen  und  so  den  zuerst  ein- 
genommenen Standpunkt  von  der  unmittelbar  juriatischen 
Wirkung  veränderter  Umstände  stillschweigend  aufzugeben ". 
Freilich  wurde  ihm  das  sehr  wesentlich  dadurch  erleichtert, 
daß  es  bei  der  damaligen  politischen  Lage*  sicher  sein 
konnte,  sein  Ziel  praktisch  doch  zu  erreichen,  wie  denn 
die   beanstandeten   Bestimmungen  ja   auch   wirklich   durch 

L  einen  neuen  Vertrag*  schließlich  aufgehoben  und  gemeinsam 

I  »ußer  Kraft  gesetzt  worden  sind. 

i  Endlich  an  letzter  Stelle  mag  noch  eines  Vorfalles  aus 

den  SO  er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  gedacht  werden,  bei  . 
dem  Rußland  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  1870  gegen  die  1 
fortdauernde  liechtsgllltigkeit  einer  internationalen  Traktats- 
festsetzung vorgegangen  ist.  Dieselbe  war  enthalten  in  dem 
Art.  59  des  Berliner  Vertrage  vom  13.  Juli  187«  und  be- 
ätaud  sachlich  in  der  vom  russiscbeti  Kaiser  abgegebenen 
Erklärung,  es  sei  seine  Absieht,  die  durch  den  vorher- 
gehenden Artikel  von  der  Türkei  erworbene  Stadt  Batum 
am    Schwarzen    Meere    zu   einem    Freihafen    zu    machen'. 

<  Martens,  a,  s.  O.,  B.  275.  Ähnlich  aueh  3.  283:  „La  Riiiuie 
eiprime   ai\joDrd'hai   am   co-iigriat^tas   du   trait£    de    löSß    le    dSsir 

d'Stre  däliä»  de  aee  eu^agemeuta." 

*  Vgl.  1.  B.  die  Art,  wie  der  deutsche  Oasandte  (Uartena,  a.  a.  O., 
S.  277)  warni  der  Beräokaichtigiing  empSehlt  „le  döflir  du  OourernemBat 
Imperial  de  Kuesie  de  voir  les  itipulations  de  lä5ij  aouiaiaeB  k  une 
rävision'',  oder  aiicli  die  türkischen  ErklÄnitigen,  S.  2äl. 

*  Am  schärfsten  kam  das  zum  Anedn»^  ia  der  Tatsache.  i»A 
BuUlaud  auch  dos,  von  uns  auf  S.  43  ziüerte,  ProtukoU  Ttim  17.  Januar 
bereitwillig  mit  nntentchrieb,  „wiewohl  seine  ganze  Aktiou  in  der  Frage 
dem   dort   auBgeaiiraoheuen  Prinzip  widersprach"   (Heffter-Oeffcken, 

IEnrüpäiBoheH  Yülkerrecht,  S.   1H4,  Anm.  4). 
*   Vgl.  hierzu  ü.  67,  N.  1. 
»  Vom  13.  Mä«  1871;  cf.  Marlons,  a.  a.  O.,  S.  303  ff. 
"  Im  JVauiSsiaiJieu  Origiualteit  |cf.  M »r t c uh  ,  N.K.G.,  Li. ä^rie,  T. III, 
i U 


52 


vn 


Diese  BeBtimmung  war  auch  zunächst  wirklich  zar  Ai 
fllhrung  gelangt;  doeb  wurde  schon  acht  Jahre  später,  di 
einen  Ukas  vom  23.  Juni  188li',  einseitig  von  Kußland 
Freibafenstellung  Batums  wieder  beseitigt.  Die  nähere 
grUndung,  die  man  der  ganzen  Maßregel  damals  zu  geben 
versuchte,  läuft  nun  zwar  keineswegs  lediglich  auf  den 
Oedankengang  der  Üblichen  Klausellehre  hinaus,  insofern 
als  daneben,  in  einem  der  Haupterkiftrung  beigegebenen 
Memorandunn ,  auch  noch  ein  ganz  anderer  Qesicbtspunkl 
geltend  gemacht  wurde  ^;  immerhin  bestand  aber  dasjeDiga. 
Moment,  auf  welches  sich  Rußland  in  dem  Ukas  selbst 
drUckiic'h  stützte,  hier  abei'mals  in  dem  Hinweis  auf  di 
inzwischen  eingetretene  Veräaderung  der  Umstände',  Eben- 
sowenig jedoch  wie  der  letztere  bei  dem  früheren  Vor- 
kommnis widerspruchslos  durchzudringen  vermocht  hatte, 
sollte  das  auch  diesmal  wieder  der  Fall  sein.  Wohl  setzten 
die  meisten  Unterzeichner  der  Berliner  Kongreßakte,  da 
ihnen  naturgemäß  an  der  Freihafenqualität  der  entlegenen 
klein  asiatischen  Stadt  wenig  liegen  konnte,  dem  eigen- 
mächtigen Verfahren  Rußlands  einen  Protest  nicht  entgegen. 
Diejenige  Macht  aber,  deren  Flagge  in  Datum  weitaus  do- 
minierte, d.  h.  England,  verhielt  sich  durchaus  anders:  sie 
erhob  formelle  Einsprache  gegen  die  einseitige  Aufhebung 
des  Art.  öd*;  sie  erklärte  ausdrücklich  das  uns  bereits  be- 


liffij 


1,   S.  464:    „S.  M.   remperenr   de   Uusele   d^clure   que  Son  i 
d'driger  Batoum  cn  port  franc,  emieiitialeinBnt  ODDimercial."  ^m 

<  et  MarleuB,  N.K.G.,  II.  Särie,  T.  XIV,  I,  169  ff.  ■ 

>  Tgl.  Härtens,  s.  a.  O.,  S.  171:  „L'article  59  occupe  dms  tfl 
tr&it£  de  Berlin  ane  place  k  part,  car  ü'  n'est  pae,  comme  les  autrM, 
le  produjt  d'an  accord  collectif,  mais  il  bome  k  enre^istrer  Dne 
djclaration  llbre  st  spontan^  de  S.  M.  l'empereur  Alexandre  IL' 
Wir  werden  nns  mit  dieser  eigentümlichen  „Einrcgiatrieningetheorie'. 
mit  der  Uehauptung,  daK  manche  Beatimmutigcti  gar  nicht  Ewecks  recht- 
licher Bindung,  sondern  lediglich  zEr  Kundmachung  und  Verlautbarung 
unverbindlicher  Abtiichten  in  den  Text  oines  intern ationaleu  Vertrag» 
au^ianomDicn  würden,  iioeh  bei  einem  späteren  Anlaß  (8.  IM  bei  Aiim.  S.J 
t  beschädigen  haben   und  verweisen  deshalb  jetzt  einfach  auf  daa  dort 


^t; 


Cf.  Mai 


,  169r  „Les  ci 
'ait  it&  adnpt^e  ae  sont  bexuci 
Angeblieh   übrigeni   auch   nicht 


I,  dans  leacjuelles  la  dita 
modiSäes  depuis.^ 
materieller  IntereiMn  i 


kannte  Londoner  Protokoll  vom  Jahre  1871  als  hierdurch 
verletzt,  kurz  sie  markierte  auch  in  der  1886  er  Angelegen- 
heit deutlich  den  Standpunkt,  daß  „keine  Macht  sich  ihrer 
vertragsmäßigen  Verbindlichkeiten  anders  entledigen  könne, 
als  unter  Zustimmung  ihrer  Gegen  kontrahenten ,  im  Wege 
der  freundschaftlichen  Verständigung. 

Mit  den  vier  ohen  aufgefUhrten  Beispielen  mag  es  einst- 
weilen sein  Bewenden  haben.  An  und  ftir  sich  könnte  es  ja 
Bedenken  erregen,  schon  aus  einem  ao  geringtligigen  prak- 
tischen Erfahrungamaterial  allgemeine  Schlüsse  zu  ziehen. 
Doch  sind  gerade  bei  unserem  Falle  Gründe  vorhanden, 
die  es  erlauben,  uns  an  dieser  Stelle  mit  einer  kleineren 
Zahl  von  Einzelbelegen  zufrieden  zu  geben,  als  es  sonst 
wohl  gestattet  wäre.  Einmal  nämlich  werden  wir  auch  im 
folgenden  noch  mehrmals  Gelegenheit  zur  Zitierung  prak- 
tischer Falle  finden*  und  dabei  in  dem  entscheidenden 
Punkte  stets  die  gleiche  Erscheinung  zu  konstatieren  haben, 
wie  sie  in  sämtlichen  vorhin  genannten  Beispielen  überein- 
stimmend zutage  tritt;  dann  aber  und  vor  atleu  Dingen 
ist  auf  die  Ausführungen  zu  ^  6  zu  verweisen,  denen  zu- 
folge es  schon  als  überaus  schwierig,  um  nicht  zu  sagen 
direkt  unmöglich  gelten  muß,  auch  nur  der  Vierzahl  der 
von  uns  beigebrachten  Belege  eine  entsprechende  Menge 
konträr  beweiskräftiger  Vorkommnisse  entgegenzuhalten. 

Wenn  wir  nunmehr  festzustellen  suchen,  was  uns  jene 
vier  Fälle  für  die  ganze  hier  zur  Behandlung  stehende  Frage 
zu  lehren  vermögen,  so  ergibt  sich  folgendes.  In  erster 
Linie  macht  sich  ein  Moment  bemerklich,  welches  wirklich 
zugunsten    der    positiv -juristischen    Geltung    der    clausula 


londern  bloß  wogen  des  Principa  der  Vertra^treae  als  «olcheu.  Vgl. 
die  Depesche  Eoseberry»  vom  la  Juli  1886:  „Apart  W  tho  ponition 
of  Greiit  Britaiu  M  ooe  of  tlie  powera,  partie»  to  the  Declaration  of  the 
19*11  January  1871  and  to  Ihe  Treaty  ot  Berlia,  Her  MiJeatyV  goveroement 
luve  little  or  no  material  interest  ia  the  question." 

'  Tgl.  be».  Ä,  57,  Änm.  3  (Fall  de»  Luxemburger  BeaatzuugRrechta), 

[  8.  172,  Amn.  1  a.  E,  (Clayton-Balwer- Vertrag),  S.  188ff.,  speziell  189,  Anm.  9 

I  (Barri^re-Traktut)  u.  a.  tu. 


54  VI  1. 

rebus  sie  stantibus  zu  sprechen  scheint:  mit  der  Wahr- 
nehmung, wie  Sachsen  bei  der  Leugnung  seiner  Lausitzer 
Verpflichtungen  sich  unverkennbar  eines  derartigen  G^e- 
dankenganges  bedient  hat,  wie  1864  Preußen  und  Österreich 
in  bezug  auf  das  Londoner  Protokoll  vom  8.  Mai  1852 
ganz  ebenso  verfuhren,  wie  endlich  auch  Rußland  zu  wieder- 
holten Malen  die  vertragsaufhebende  Wirkung  veränderter 
Verhältnisse  behauptete,  ist  immerhin  soviel  dargetan ,  daß 
die  Elausellehre  bisher  schon  nicht  bloß  in  theoretisch 
wissenschaftlichen  Völkerrechtssystemen  existiert ,  sondern 
auch  im  praktischen  Verkehrsleben  der  Staaten  eine  gewisse 
Rolle  gespielt  hat.  Indes  die  näheren  Umstände,  unter 
denen  letzteres  geschah,  sind  keineswegs  danach  angetan, 
der  Entstehung  eines  spezifischen  Rechtssatzes  als  aus- 
reichende Basis  zu  dienen. 

Es  ist  nämlich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  die 
praktische  Bezugnahme  auf  die  Klausel  doch  stets  nur  eine 
einseitige  war.  Immer  nur  derjenige  Staat,  der  sich  durch 
einen  alten  Vertrag  unangenehm  beengt,  in  seinen  Interessen 
beeinflußt  fühlte,  mit  einem  Worte  immer  nur  der  ver- 
pflichtete Partner,  wenn  wir  diesen  kurzen,  aber  freilich 
nicht  überall  ganz  genau  zutrefi^enden  ^  Ausdruck  brauchen 
wollen,  ist  es  gewesen,  der  sich  auf  die  Umgestaltung  der 
Verhältnisse  berufen  und  aus  ihr  das  Erlöschen  seiner  Ver- 
bindlichkeit herzuleiten  versucht  hat;  dagegen  zeigt  sich 
auf  der  anderen  Seite  regelmäßig  das  Bild,  daß  der  Richtig- 
keit dieser  Argumentation  scharf  widersprochen,   der  juri- 


'  Faßt  man  z.  B.  den  Londoner  Traktat  vom  Jahre  1852  über  die 
Kegelunfc  der  dänischen  Erbfolge  in»  Auge,  so  ergibt  sich,  daß  das  1864 
die  fortdauernde  Gültigkeit  desselben  behauptende  England  und  das  sie 
bestreitende  Preußen  formell  in  ganz  gleicher  Lage  waren:  es  handelte 
sich  bei  dem  einen  wie  bei  dem  andern  um  die  Verbindlichkeit, 
die  Sukzession  des  neuen  Königs  Christian  im  vollen  Umfange  an- 
saerkennen.  Trotzdem  darf  auch  hier,  wenigstens  materiell,  von  dem 
Verhältnis  eines  berechtigten  Staats  zu  einem  verpflichteten  gesprochen 
werden,  weil  die  Erhaltung  der  dänischen  Gesamtmonarchie  für  die 
Politik  des  ersten  Staats  nur  günstig  und  erwünscht,  dagegen  für  die 
des  zweiten  überaus  nachteilig  war. 


stische  Fortbestand  des  Traktats  energisch  verfochten  wird. 
Bei  dieser  diametralen  Gegensätzlichkeit  der  Beurteilung 
ist  aber  von  vornherein  dem  ersten  und  obersten  Prinzip 
aller  internationalen  Kechtsbildung  nicht  genUgt,  nach 
welchem  eine  solche  gerade  nur  aus  irgendeiner  Überein- 
stimmung mehrerer  Staaten  hervorgehen  kann. 

Letzteres  Erfordernis,  welches  zunächst  bei  der  aus- 
drücklichen Normsetzung  ganz  deutlich  darin  zutage  tritt, 
daß  zu  derselben  nicht  isolierte  Erklärungen  der  einzelnen 
Staaten,  sonderu  bloß  gemeinsame,  aufeinander  bezogene 
Aktionen  ausreichend  und  imstande  sind,  ist  der  still- 
schweigenden Rechtsbitdung  mutatis  mutandis  genau  so 
charakteristisch  .und  wesentlich.  Daher  erscheint  z.  B., 
bloß  in  diesem  Sinne  verstanden  und  speziell  in  Atiwendung 
auf  das  Völkerrecht,  auch  beispielsweise  die  Fürmelung 
Windscheids'  —  mit  der  man  eich  im  übrigen  durchaus 
nicht  zu  identifizieren  braucht  —  als  völlig  zutreffend,  es 
mUsse  bei  jedem  Gewohnheitsrecht  „der  Ausdruck  einer 
gemeinsamen  Rechtetiherzeugung  des  Kreises,  für  welchen 
behauptet  wird,  gefunden  werden  können".  Ist  dem 
aber  wirklich  so,  so  achließt  das  offenbar  vor  allem  auch 
dies  mit  ein,  daß  die  beiden  in  concreto  beteiligten  Par- 
lien  über  die  Beurteilung  der  Sache  immer  ganz  einig 
gewesen  sein  müssen,  widrigenfalls  eine  zugunsten  des 
fraglichen  Gewohnheitsrechts  sprechende  Übungshandlung 
von  vornherein  gar  nicht  zu  entstehen  vermochte^  läßt  sich 
doch  die  gesamte  Bildung  von  internationalem  jus  non 
scriptum  näher  bloß  in  der  Weise  konstruieren,  daß  aus 
r  stets  von  neuem  beobachteten  Übereinstimmung  dieser 
sutetzt  der  allgemeine  Schluß  gezogen  wird,  derartiges  sei 
als    präsumtiver   Wille    der   Kulturstaaten    schlechthin   und 

\  überhaupt  anzusehen.     Aus  alledem  erhellt,    wie  wenig  die 
i  uns  analysierten  historischen  Vorkommnisse  als  positive 

I  Unterlage  und  Stütze  der  behaupteten  Klauselnorm  heran- 


'  Pandekten  §   16  im  Eingaug». 


56  VI  1. 

gezogen  werden  dürfen.  Denn  selbst  völlig  zugegeben,  daß 
dafür  auf  der  einen  Seite,  bei  den  jeweils  verpflichteten 
Mächten,  die  geeigneten  Voraussetzungen  wirklich  vorhanden 
waren,  so  fehlte  es  an  ihnen  doch  jedenfalls  unbedingt  auf 
der  anderen,  da  hier  die  Gläubigerstaaten  eben  stets  eine  ganz 
entgegengesetzte  Auffassung  wie  jene  an  den  Tag  legten. 
Wo  aber  niemals  eine  Übereinstimmung  in  concreto  zu 
konstatieren  ist,  da  kann  natürlich  auf  ein  innerhalb  der 
ganzen  Völkerrechtsgemeinschaft  akzeptiertes  jus  non  scrip- 
tum erst  recht  nicht  geschlossen  werden.  Das  ist  umso- 
weniger  zulässig,  als  einige  Male,  bei  den  Ereignissen  der 
Jahre  1864  und  1871,  die  Zahl  der  der  clausula  opponieren- 
den Staaten  notorisch  eine  größere  war  wie  die  der  für  sie 
eintretenden. 

Zu  den  Erwägungen  dieser  Art  kommen  nun  aber 
unterstützend  noch  andere  hinzu.  Es  kann  nämlich  be- 
gründeten Zweifeln  unterworfen  werden ,  ob  auch  nur  die 
vorhin  gemachte  Annahme  wirklich  zutreflFend  ist,  dafi 
wenigstens  die  Haltung  der  Schuldnerstaaten  an  sich  für 
gewohnheitsrechtliche  Übung  der  clausula  sprechen  würde. 
Sollte  das  tatsächlich  der  Fall  sein,  so  müßte  in  erster 
Linie  auch  bewiesen  werden  können,  daß  die  Betreffenden 
immer  optima  fide  ein  spezifisches  Recht  im  Sinne  hatten, 
die  Erfüllung  der  fraglichen  Verbindlichkeiten  wegen  ge- 
änderter Umstände  verweigern  zu  dürfen.  Qerade  diese 
eigene  Gutgläubigkeit  erscheint  aber  aus  verschiedenen 
Gründen  ziemlich  problematisch.  So  ist  es  beispielsweise 
Tatsache,  daß  einige  Staaten  sich  bei  Anfechtung  ihrer  Ver- 
pflichtungen nicht  ausschließlich  auf  die  clausula  stützten, 
sondern  außerdem  noch  die  Heranziehung  anderer  Momente 
für  angezeigt  hielten  ^    und   damit  selber  nicht  allzu  großes 

*  Vgl.  u.  a.  die  Ba  tum -Angelegenheit,  bei  der  ja  Rußland  sehr 
wesentlich  auch  mit  der  „Einregistrierungstbeorie"  operierte.  In  ähn- 
licher Weise  haben  1864  Preußen  und  Österreich  neben  dem  Gesichtspunkt 
veränderter  Verhältnisse  noch  denjenigen  der  Nichterfüllung  gewisser,  1852 
▼on  Dänemark  übernommenen  Verbindlichkeiten  („non-accomplissement 
de  couditions  pr^liminaires'^)  geltend  gemacht. 


VI  1. 

Zutrauen  auf  die  juristiache  Durchschlagskraft  der  ersteren 
bekundeten.  Fernerhin  ist  in  Anschlag  zu  bringen,  wie 
bereitwillig  man  teilweise  die  ursprungliche  Argumentation 
iiinterher  ganz  aufgab '  oder  sich  doch  mindestens  zu  ge- 
wissen Konzessionen  an  den  Standpunkt  des  Gegners  bereit 
finden  ließ^.  Endlich  muß  es  noch  als  sehr  bezeichnend 
gelten,  daß  oft  die  nämlichen  Staaten,  die  in  der  Rolle  des 
Verpflichteten  mit  der  Anwendbarkeit  der  Klausel  durchaus 
erstanden  sind,  sich  ihr  höchst  abgeneigt  zeigen,  sobald 
sie  wider  sie   selbst  ala  Berechtigte   gekehrt  werden   soll', 

'  ßo  Rnßland  1871  in  der  PoDtasfrage;  vgl.  S.  51  bei  Ann».  3. 

■  So  SschBBn  1845  in  Bezug  auf  die  kirehenrechtlichen  Verhfiltuiise 
r  Lausita;  vgl.  8.  47. 

°  Sin  Beleg  hierfür  läßt  sieb  unter  nochmaliger  AnknDpfang  an 
die  SchleBwig-Holateinache  Kache  gewinnen.  Wir  wissen,  daß  bei  dieser 
'ie  dentachen  Großmächte  UQTerkenubsr  für  die  vertragssnf hebende 
Wirkung  ron  res  mutatae  sich  ausgesprochen  haben.  An  anderer  Stella 
jedoch  verhielt  sieb  in  diesem  Punkte  sowohl  Österreiub  wie  PreaBan  | 
▼Öllig  entgegengoBBtüt.  Und  »war  geschah  das  seileiis  de»  ersteren 
rtohtlich  der  Lsuaitzer  Frage,  im  Verhältnis  za  Sachsen,  dagegen  se 
■  letzteren  im  Falle  dos  Luxemburger  Itesatzungarenlits.  ßn  die  z' 
genauntu  Angelegenheit  in  den  vorliegenden  Unters ucimngen  noch  i 
ber&brt  wurde,  gleichzeitig  aber  I3r  unsere  Zwecke  in  mehrfacher  Be- 
ziehung reubt  instruktiv  ist,  so  mag  hier  eine  kurze  Daratellung  der- 
selben Platz  Enden.  Im  Anschluß  an  Art.  67,  Abs.  Ü  der  Wiener  Kongreß- 
akle,  durch  den  die  Stadt  Luxemburg  gan«  allgemein  Enr  deutschen 
Bundesfestang  erklArt  wurde,  hatte  speziell  Preußen  auf  Orand  tbi^ 
Bchiedener  völkerrechtlicher  Erwerbstitel  (bes.  zu  beachten  der  Franfc:* 
furter  Vertrag  mit  dem  König  der  Miederlande  vom  8.  November  ISlSt*! 
Klüber,  Öffentliches  Kcchl  des  deutoohen  Bundes,  4.  Aufl.,  8.280,  H.S^n 
die  Befugnis  erlangt,  in  der  Hauptsache  die  Besatzungstruppen  dieses 
Plattes  KU  stellen.  Als  dann  darcb  die  Ereignisse  des  Jahres  1886  das 
Ende  des  deutscheu  Bundes  herbeigeführt  worden  war,  nabm  die  luxem- 
burgische Regierung  der  proußischeu  gegenüber  sofort  den  Standpunkt 
ein,  letztere  habe  unter  den  veränderten  Verhältnissen  kein  Recht  mehr, 
in  Jener  fremden  Festung  Qarnison  zu  halten  (vgl.  die  Erklärung  Bismnrcks 
im  norddeutschen  Reichstag  am  I.April  1867;  H  a  h  n ,  Zwei  Jahre  preußisch- 
deutscher  Politik,  S-  582).  Diese  Meinung  von  der  cu  ipio  eingetretenen 
Hinfälligkeit  des  BeaatzungsrccbCs  wurde  jedoch  von  Preußen  absolut 
nicht  gebilligt;  vielmehr  vertrat  dasselbe  in  amtlichen  und  halbamtlichen 
Erklärungen  entschieden  die  Ansicht,  es  bliebe  lediglich  „weiterer  Er- 
wägung und  Verständigung  der  beiden  beteiligten  Mächte  vorbehalten, 
inwieweit   sie   den    in   Bede    stehenden   Vertrag    aufrecht   erhalten    oder 

Ietwa  abändern  wollten"  (Hnhu,  a.  a.  O.,  8.  589).  Tatsächlich  sind  , 
dann  auch  erst  durch  „nonveanx  arrangements",  durch  den  bekaontani  — 
yon  den  europäischen  Großmächten  mitunterzei ebneten  Vertrag  voqI 
It  Mai  1867  (Ohillany,    Diplomatisches  Handbuch,  Bd.  lO,  S.  408ft)  ] 


58  VI  1. 

Angesichts  aller  dieser  Umstände  wird  man  gewiß  mit 
der  Möglichkeit,  vielleicht  sogar  der  großen  Wahrschein- 
lichkeit zu  rechnen  haben,  daß  nicht  einmal  seitens  der  auf 
Umgestaltung  der  Verhältnisse  sich  wirklich  berufenden 
Staaten  an  eine  wahre  Rechtsübung  der  clausula  gedacht 
wurde;  im  Gegenteil  erscheint  durch  sie  die  Vermutung 
sehr  nahe  gelegt,  daß  die  letzteren  die  von  der  Theorie 
ausgebildete  Elausellehre  bloß  als  politisch  brauchbares 
Hilfsmittel  zur  Bekämpfung  drückend  gewordener  Vertrags- 
pflichten benutzten,  ohne  selbst  von  der  juristischen  Za- 
lässigkeit  ihres  Verhaltens  durchdrungen  zu  sein.  Damit 
wäre  dann  aber  auch  der  letzte  schwache  Anhalt  geschwunden, 
in  jenen  Vorkommnissen  praktische  Belege  zugunsten  der 
behaupteten  Rechtsnorm  erblicken  zu  dürfen:  wenn  nach 
den  früher  gegebenen  Ausführungen  immerhin  noch  ein- 
seitige Versuche  einer  Rechtsübung  möglich  blieben,  Ver- 
suche freilich,  die  stets  auf  den  nachdrücklichen  Widerstand 
der  Gegenkontrahenten  stießen  und  also  schon  deshalb  nie 
zur  Ausbildung  einer  positiv -juristischen  Norm  führen 
konnten,  ist  nunmehr  auch  dies  noch  mindestens  recht  frag- 
lich geworden. 

In  Summa:  das  von  uns  untersuchte  Material  ist  so  un- 
geeignet wie  nur  möglich,  der  Annahme  einer  stillschweigend- 
gewohnheitsrechtlichen  Sanktionierung  der  clausula  irgend- 
welche positive  Stütze  zu  gewähren ;  weit  entfernt,  für  eine 
solche  zu  sprechen,  vermag  es  umgekehrt  nur  aufs  Ent- 
schiedenste wider  sie  zu  zeugen. 

§  6. 

Wie  bereits  (auf  S.  53)  angedeutet  wurde,  bietet  unsere 
Beweisführung,  daß  die  clausula  rebus  sie  stantibus  bis  auf 
den   heutigen  Tag   auch   nicht   als    Bestandteil   des    völker- 


dem  „changement  apporte  k  la  Situation  da  grand-duch6  par  snite  de  la  diaso- 
laüon  des  liens  qui  Tattachaient  k  rancienne  confi^d^ration  germaniqne* 
praktisch  wirkHame  Folgen  zugesprochen,  eine  grundsätzliche  Neuordnung 
des  Verhältnisses  vereinbart  worden. 


VI  1. 

reclitlichen  ius  non  scriptum  sich  dartiin  läßt,  in  gewisser 
Beziehung  noch  Gelegenheit  zur  Beanstandung.  Es  beruht 
das  auf  derselben  Schwierigkeit,  die  wegen  der  oigentüra- 
liehen  Natur  und  Beschaffenheit  des  Gewohnheitarechta  mehr 
oder  weniger  überaU  wiederkehrt,  wo  der  Nachweis  resp. 
wie  in  unaerewi  Falle  die  Widerlegung  eines  solchen  unter- 
nommen wird ;  bleibt  doch  dem  Gegner  trotz  aller  kon- 
kreten Belege  nach  der  einen  oder  anderen  Richtung  hin 
atets  noch  die  Chance,  durch  Anführung  einer  entsprechend 
größeren  Zahl  entgegengesetzter  Beispiele  zu  zeigen,  daß 
jene  bloß  seltene  Ausnahmefölle  darstellen  und  deswegen 
einen  allgemeinen  Schluß  in  ihrem  Sinne  nicht  gestatten. 
Gerade  bei  unserem  Sposialproblem  mag  aber  ein  derartiger 
Versuch  von  vornherein  gar  nicht  so  aussichtslos  dünken, 
denn  nicht  bloß  haben  wir  für  unsere  Auffassung  verhält- 
niamfißig  nur  wenig  Einzelbeweiae  beigebracht,  sondern  es 
kann  sich  auch  die  gegenteilige  i^Ieinung  unleugbar  auf 
zahlreiche  geachichtliche  Vorkommnisse  berufen,  die  ihr  für 
den  ersten  Augenblick  sehr  günstig  zu  sein  scheinen. 

Unter  diesen  Umständen  macht  sich  nun  zur  Ergänzung 
unserer  Argumentation  noch  eine  nithore  Präzisierung  dessen 
notwendig,  was  für  Merkmale  historiacb  gegebene  Fälle 
unbedingt  aufweisen  müaaen ,  wenn  aie  in  Wirklichkeit  für 
eine  positiv- rechtliche  Einführung  der  Klausel  sprechen 
sollen.  Wir  werden  dabei  zu  dem  Resultate  gelangen,  daß 
von  dem  gesamten  umfänglichen  Gegenmaterial,  an  das  man 
Eunächst  wohl  zu  denken  geneigt  wäre,  bestenfalls  nur  ein 
geringfügiger  Bruchteil  den  zu  erhebenden  Anforderungen 
wahrhaft  zu  genügen  vermöchte. 

Vor  allem  ist  eine  ganze  große  Gruppe  auszuscheiden, 
bei  der  sorgfältige  Prüfung  des  Sachverhalts  zu  dem  Er- 
gebnis führen  muß,  daß  hier  überhaupt  gar  keine  rechtliche 
Aufhebung  des  Vertrags  und  also  noch  viel  weniger  eine 
Aufhebung  durch  veränderte  Umstände  vorliegt.  Zur  Ver- 
ftnschaulichung  und  Erläuterung  mag  auf  ein  praktisches 
Beispiel  Bezug  genommen  werden. 


60 


VI  l. 


Im  Jahre  14t)9  übertrug  der  dänisch-norwegische  König 
Christian  I.  auf  seinen  Schwiegersohn  Jakob  II.  von  Schott- 
land an  Stelle  der  ausbedungenen  Mitgift  von  (iOOOO  rhei- 
nischen Gulden  die  Arkaden  und  IShctlandiDseln,  behielt 
aber  sich  und  seinem  Staate  gleichzeitig  die  Befugnis  vor, 
durch  nachträgliche  Zahlung  den  Rückfall  derselben  an  den 
Vorbesitzer  zu  bewirken.  Weil  jedoch  eine  wirkliche  Aus- 
lösung der  verpfändeten  Inselgruppen  aus  Geldmangel  nie 
zustande  kam,  so  blieben  dieselben  dauernd  unter  der  Herr- 
schaft Schotttands  und  weiterhin  des  diesem  folgenden  ver- 
einigten Königreichs  von  Großbritannien.  Demgemäß  haben 
wir  jetzt  den  Tatbestand  vor  uns,  daß  ein  durch  Staats- 
vertrag' sichergestellter  Anspruch  jahrhundertelang  nicht 
geltend  gemacht  wurde,  und  damit  erhebt  sich  notwendig 
die  Frage,  ob  vielleicht  das  bisher  Verabsäumte  heute  noch 
nachgeholt  werden  darf. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  im  allgemeinen 
und  prima  facie  hierauf  eine  entschiedene  Verneinung  zu 
erwarten  ist,  d.  h,  man  wird  weit  überwiegend  der  Ansicht 
begegnen,  daß  die  noch  aus  dem  Mittelalter  stammende 
Einlösungsbel'ugnis  jetzt  ganz  antiquiert  sei  und  nicht  mehr 
zu  Recht  bestehen  könne.  Indes  diese  Auffassung  entbehrt, 
wie  noch  neuerdings  von  einem  geborenen  Schottlftnder * 
in  eingehenderen  Untersuchungen  gezeigt  wurde,  der  festen 
und  ausreichenden  Grundlage.  Selbstverständlich  haben  wir 
an  dieser  Stelle  nicht  nötig,  uns  auf  alle  Details  der  Beweis- 
führung einzulassen,  sondern  dürfen  uns  mit  der  Hervor- 
hebung eines  Hauptpunktes  begnügen,  welcher  speziell  fllr 
unsere  Zwecke  von  Wichtigkeit  ist.  Derselbe  besteht  In 
dem  Umstände,  daß  der  internationalen  Rechtsordnung  sn- 


'  Uaß  ea  sich  bei  dem  1469  wr  Traktat  trote  des  prtTalfargtaii- 
rechtUcheu  Beiwerks  wirklich  um  eineo  flal(:)iea  handelte,  muß  hier  snr 
Vi  mi  ei  dang  «lUngroßer  Weitläufigkeit  einfach  vorausgesetzt  werden. 

'  QiUiert  Ooudie,  in  den  Procoedinf!^  of  tUe  Socie^  of  Anti- 
qDariee  of  Scatland.  leb  verdanke  die  Kenntui»  der  Schrift  einer  freund- 
lichen Uitteilong  des  Herrn  Prof.  Dr.  Kahle  in  Heidelberg.  Sie  iit 
angeiührl  in  „Nord  und  Sud",  Ud,  83,  8.  288. 


VI  1.  61 

erkanntermiLSen  die  Verjährung  als  technisch-juristisches 
Institut  durchaus  fremd  ist'.  Hier  vermag  niemals  der 
einfache  Zeitahlauf  als  solcher  irgendwelche  Rechts- 
verschiebungen zu  erzeugen,  namentlich  die  durch  V er ti-Üge 
gewonnenen  Befugnisse  aufzuheben  —  ein  derartiger  Erfolg 
knnn  erat  dort  in  Frage  kommen,  wo  noch  etwas  anderes 
hinzutritt,  wo  näraÜch  unverkennbar  die  beteiligten  Staaten 
durch  die  lange,  inzwischen  verstrichene  Frist  dabin 
beeinflußt  worden  sind,  dem  betreffenden  Vertrage  keine 
fernere  Wirksamkeit  mehr  beizumessen. 

Schon  aus  dieser  Feststellung  resultiert  eine  bedeutende 
Verengerung  desjenigen  Kreises  historischer  Vorkommnisse, 
den  man  hei  oberflächlicherer  Betrachtung  vielleicht  zur 
Begründung  der  clausula  rebus  sie  stantibus  für  geeignet 
halten  möchte:  indem  ganz  allgemein  gezeigt  wurde,  daß 
im  Völkerrecht  der  Zeitablauf  immer  nur  durch  das  Medium 
des  von  ihm  determinierten  Staaten  willens  juristische 
Wirkungen  Büßern  kann,  ist  offenbar  insbesondere  auch 
dargetan,  daß  er  allein  selbst  dann  nicht  genügt,  wenn  er 
mit  wesentlicher  Veränderung  der  Umstände  kombiniert 
auftritt.  Wir  gehen  nunmehr  einen  Schritt  weiter  und 
untersuchen  diejenigen  Fälle,  bei  denen  das  obige  für  die 
Beseitigung  vertragsmäßiger  Rechte  unerläßliche  Moment 
wirklich  gegeben  ist,  oder  direkt  auf  das  vorhin  gebrauchte 
ikrete  Beispiel  angewandt,  wir  fingieren  jetzt,  daß  sieh 
sowohl  auf  Seiten  des  skandinavischen  Heimfallsberechtigten 
wie  des  rückgabepflichtigen  Englands  eine  ausdrücklich  er- 
härte Willensmeinung *   des  Inhalts   konstatieren  laase,   an 


'  Vgl,  n.  a.  von  Lisit.  Völkeireeht  (2.  Aufl.  1902),  Ö.  155:  „Die 
/erjAhniDK  b^t  rölkerrecbtlich  weder  als  acqiiinitive  liDsbeBandera  ala 
XrsitzuDg)  Doch  als  eztiuktive  di«  Kraft  eiuer  recht«erhebliclieD  TatHache." 
*  Eine  aulche  wird  eq  dem  Zwecke  angenommeD ,  dninit  über  den 
:8schverba1t  selber  abaulat  kein  Zweifel  melir  möglich  bleibt.  An  and 
"Br  sich  wflfden  natürlich  auch  Mill schweigend  dokumentierte  Vensichts' 
ibsichten  genügen,  vornusgeietzt  nur  duB  auf  das  wirkliche  Vorhandenaein 
flerselben  mit  hinlänglicher  Sicherheit  geBChloaseo  werden  kann.  Gerade 
hieran  pflegt  ee  aber  bei  Folgerungen  bloB  aus  kouitludeiiteu  Handlungen 


62  VI  1. 

eine  Realisierung  des  1469  stipulierten  Einlösungsrechts  sei 
gegenwärtig  nicht  mehr  zu  denken.  Es  fragt  sich  nan,  ob 
mit  Fällen  dieser  Art  etwas  für  den  Nachweis  international- 
rechtlicher  Gültigkeit  der  Klausel  auszurichten  ist.  Darauf 
kann  die  Antwort  nur  lauten:  Nichts,  aber  auch  gar  nichts. 
Wohl  steht  jetzt  das  Eine  mit  aller  Sicherheit  fest,  daß  die 
betreffende  Traktatsbestimmung  ihre  juristische  Gültigkeit 
verloren  hat.  Aber  um  das  zu  erklären,  reicht  schon  voll- 
ständig die  Tatsache  aus,  daß  beide  Kontrahenten  sich  in 
diesem  Sinne  übereinstimmend  geäußert  haben,  anders  aus- 
gedrückt, es  greift  nunmehr  einfach  die  altbekannte  Regel 
Platz,  daß  offenkundiger  mutuus  dissensus  ganz  generell  und 
unterschiedslos  die  Traktate  wieder  aufhebt,  womit  der  be- 
haupteten Spezialnorm  von  der  vertragsaufhebenden  Kraft 
geänderter  Umstände  von  vornherein  gar  kein  Raum  zur 
eigenen  und  selbständigen  Entfaltung  mehr  gelassen  ist. 

Auf  diese  Weise  scheint  sich  für  die  in  Frage  stehende 
Beweisführung  eine  logische  Scylla  und  Charybdis  zu  er- 
geben, an  der  schlechterdings  nicht  vorbeizukommen  ist 
Denn  eine  von  den  zwei  eben  erörterten  Möglichkeiten 
muß  doch  wohl  jedenfalls  vorhanden  sein:  Entweder  liegt 
bei  den  zugunsten  der  clausula  anzuführenden  Fällen  die 
Sache  so,  daß  es  über  das  Schicksal  des  betr.  Vertrags 
noch  gar  nicht  zu  einer  irgendwie  gearteten  Willenserklärung 
beider  beteiligten  Staaten  selber  gekommen  ist;  dann  wird 
notwendig  zu  wenig  bewiesen,  weil  nach  völkerrechtlichen 
Grundprinzipien  der  Traktat,  mag  er  noch  so  lange  Zeit 
unausgeführt  geblieben  sein  und  sachlich  noch  so  wenig  in 
die  dermaligen  Verhältnisse  hereinpassen,  überhaupt  nicht 
als  beseitigt  gelten  darf.  Oder  aber  man  ist  wirklich  in 
der  Lage,  das  für  seine  Aufhebung  recht  eigentlich  ent- 
scheidende Erfordernis  als  gegeben  darzutun;  dann  wird 
wieder   umgekehrt  zu   viel   bewiesen,    weil   hier  gar   nicht 

nur  zu  oft  zu  fehlen,  und  speziell  für  den  Fall  der  Orkneys  scheinen  mir 
die  Momente,  die  nach  dieser  Richtung  hin  etwa  anzuführen  wären,  in 
keiner  Weise  ausreichend  zu  sein. 


VI  1,  63 

mehr  der  urupriinglidi  gesuchte  Aut'hebungägriind,  aondem 
ein  weit  umfassenderer  Reehtssatz  praktisch  belegt  wird. 

Nichtsdestoweniger  wäre  es  verfehlt,  wollte  man  darauf- 
hin den  NHchweis  der  gewohnheitBrechtlichen  Klausel  als 
logiacli- begrifflich  ausgeschlossen,  an  einem  unentrinnbaren 
Dilemma  scheiternd,  ausgeben,  und  zwar  deshalb,  weil  jene 
Disjunktion  genau  genommen  doch  nicht  ganz  schlüssig  ist. 
Es  bleibt  nämlich  bei  ihr  die  Möglichkeit  unberUckaichtigt, 
daß  in  concreto  uußer  der  Tatsache  neuer,  unter  sich  har- 
monierender Parteiwilleuserklärungen  auch  noch  besondere 
Nebenkriterien  vorbanden  sein  künnen,  und  daß  dann  viel- 
leicht diese  qualiü zierten  Fälle  geeignetes  Beweismaterial 
für  den  Spezialsatz  der  clausula  rebus  sie  stantibus  zu 
liefern  fähig  sind.  Da  dies  nun  tatsächlich  der  Fall  ist, 
muß  die  theoretische  Konatruierbarkeit  einer  gewohn- 
heitsrechtlichen Ausbildung  der  Klausel  vor  wie  nach  zu- 
gestanden werden.  Gleichzeitig  läßt  sich  allerdings  —  und 
rein  praktisch  wird  das  so  ziemlich  zu  demselben  Resultat 
wie  eine  allgemein  logische  Unmöglichkeit  des  Beweises 
fuhren  —  mit  Bestimmtheit  voraussehen,  daß  es  meist  überaus 
schwierig  sein  wird,  das  reale  Gegebensein  der  erforder- 
lichen Dctailniomente  vollüberzeugend  darzutun. 

Suchen  wir  jetzt  am  Schlüsse  unseres  ganzen  Gedanken- 
ganges noch  die  nähere  Beschaffenheit  der  letzteren  kurz 
präzisieren,  so  wäre  da  an  erster  Stelle  naturgemäß  zu 
verlangen,  daß  der  von  den  konkreten  Parteien  an  den  Tag 
gelegte  Wille,  den  bt.'tr,  Vertrag  nicht  mehr  als  gültig  zu 
behandeln,  nicht  so  abstrakt  und  schlechthin,  sondern  mit 
der  ausdrücklichen  Spezialmotivierung  erklärt  wurde,  solches 
geschehe  lediglich  und  im  Hinblick  auf  die  große  mittler- 
weile eingetretene  Voränderung  der  Verhältnisse;  zum 
mindeaten  muß  in  anderer  Weise,  aus  der  Gesamtheit  der 
Begleitumstände,  geschlossen  werden  können,  daß  ein  der- 
artiger Zusammenhang  zwischen  beiden  Erscheinungen  be- 
steht. Das  will  besagen,  daß  es  nicht  genügt,  bloß  gotrennt 
fllr  sich  hier  das  Vorhandensein  der  res  rautatae,  dort  jener 


64 


Vll 


ätaatlicLen  Willensstimmung  zu  konstatieren ;    vielmehr 
man  auch  die  gegenseitige  Verknüpfung,  die  Tatsache,  da8 
das  zweite   aus  dem  ersten  gelbigt  ist,   gewissermaßen  den 
psychologischen   RausalnexuB   darzulegen,    wenn    ich   mich 
dieses  bezeichnenden,    wiewohl   aachlich   anfechtbaren  Ai 
drucks  bedienen  darf. 

■  Aber  auch  das  würde  für  sich  allein  noch  keineswegi. 
ausreichen;  es  liegt  ja  auf  der  Hand,  daß  Überall,  ■wo  aus 
rein  politischen  Erwägungen  auf  einen  Vortrag  ver- 
zichtet wird,  wo  man  einen  Anspruch  freiwillig  und  bloß 
deshalb  fallen  läßt,  weil  seine  Geltendmachung  infolge  der 
Umgestaltung  aller  Verhältnisse  nicht  länger  opportun  und 
dem  eigenen  Vorteil  entsprechend  scheint,  die  ersten  und 
unerläßlichsten  Voraussetzungen  fUr  die  Statuierung  eines 
spezifischen  Rechtssatzes  fehlen.  Welcher  Art  wieder  die 
letzteren  sind,  was  für  faktische  und  sozial  psychologische 
Merkmale  positiv  gegeben  sein  mtlssen,  wenn  aus  den 
betr.  Fällen  schließlich  eine  generelle,  für  die  einzelnen 
Staaten  event.  auch  wider  ihren  Willen  maßgebende  Rechts- 
norm soll  gefolgert  werden  können,  das  zu  untersuchen 
würde  hier  zu  weit  fuhren,  denn  es  liefe  nach  Lage  der 
Dinge  einfach  darauf  hinaus,  an  einem  Einzel problem  die 
ganz,  allgemeine  Frage  zu  erörtern,  unter  welchen  Be- 
dingungen überhaupt  internationales  Gewohnheitsrecht  zur 
Entstehung  gelangen  kann.  Demgemäß  will  ich  mich  an 
dieser  Stelle  bloß  mit  einer  kurzen  Erinnerung  an  das 
Moment  der  spezitiachen  Rechtaübung,  des  Handelns 
opinione  j  uris,  begnügen,  ohne  den  Begriff  des  letzteren 
selbst  näher  zu  analysieren. 

Wir  sehen,  es  sind  recht  mannigfache  und  zum  Teil 
äußerst  schwer  zu  vermeidende  Klippen,  an  denen  der  Ver- 
such, mit  Hilfe  praktisch-historischer  Fälle  den  Nachweis 
einer  positiv-rechtlichen  Einführung  der  Klausel  zu  führen, 
Schiffbruch  leiden  kann;  man  wird  es  daher  jetzt  auch  als 
ein  nichts  weniger  wie  leichtes  Unternehmen  bezeichnen 
dürfen,  wahrhaft  einwandsfreie  Beispiele  Uberliaupt  auafindig 


lieh 

1 

äus 


zu  machen.  Mir  selbst  ist  jedenfalls  nicht  ein  einsiges  be- 
kannt, das  den  oben  autgestellten  Erfordernissen  nach  allen 
Richtungen  hin  entspreche.  Deshalb  kann  und  aoU  aber 
natürlich  nicht  die  Möglichkeit  in  Abrede  gestellt  werden, 
daß  hier  und  da  vielleicht  doch  volibefriedigendea  Material 
«ich  aufzeigen  ließe;  ea  ist  bloß  darauf  aufmerksam  zu 
machen,  daß  derartig  vereinzelte  und  gelegentliche  Vor- 
kommnisse für  allgemeine  Schlußfolgeruugen  unbrauchbar 
wären.  Wir  haben  in  §  5  immerhin  eine  gewisse  Anzahl 
Fälle  kennen  gelernt,  die  direkt  wider  die  gewohnheits- 
rechtliche Einsetzung  der  clausula  zeugen,  und  um  diese 
zu  entkräften,  würde  es  sicherlich  schon  einer  ziemlich  regel- 
mäßigen und  umfangreichen  OegenUbung  bedürfen.  Daß 
Aber  eine  solche  dargetan  werden  könnte,  halte  ich  nach 
I  Lage  der  Sache  geradezu  fllr  ausgeschlossen.  — 
'  Mit    alledem    erscheint   jetzt    die    in    Abschnitt    LI    zu 

lösende  Aufgabe  als  beendet.     Wir  haben  zuerst  (§  4)  ge- 
zeigt, daß  die  Art,  wie  die  communis  opinio  die  völkerrecht- 
liche  Geltung  der   clausula   zu    demonstrieren    sucht,    von 
vornherein  und  begrifflich  verfehlt  ist;  wir  haben  weiterhin 
(Sf   5|    festgestellt,    daß    in    der    internationalen    Praxis   ge- 
wichtige Zeugnisse   zu   Ungunsten   der  positiv -juristischen 
Existenz  jeuer  zu   tinden   sind;    wir   haben   endlich   (§   6) 
I  dargetan,  daß  und  warum  es  so  gut  wie  gar  keine  Erfolgs- 
I  '»ussicht  bietet,   in   letzterer  Beziehung  den  entsprechenden 
I  Gegenbeweis  anzutreten.    Das  Gesamtergebnis  dieser  Unter- 
w  auehungen  ist,  daß  die  In  unendlich  vielen  Lehrbüchern  und 
(Abhandlungen  vorgetragene  Klau  sei  theorie  als  jeder  festen 
|4Jnterlftge  entbehrend  gelten  muß,  d.  h.  es  ist  wieder  einmal 
(«ach  einer  Spezi  al  rieh  tu  ng  hin  der  Nachweis  erbracht,  wie 
lihegründet  Jellineks'  Klage   ist,    daß   „in  den  Systemen 
P-des   Völkerrechts    noch    immer   das   alte    Naturrecht    seine 
l^wohlbekannten  Orgien  feiert". 

In  der  Tat   ist   das  der  schwerwiegendste  Fehler,   der 


6t; 


VI  1 


der  WiBaenschait  des  Völkerrechts  im  großen  und  ganzei: 
heute  noch  anhaftet,  und  der  es  vor  allen  Dingen  ver- 
schuldet hat,  daß  sich  diese  Disziplin  bisher  so  wenig  der 
ihr  gebührenden  Wertschätzung  erfreut.  Hierin  ist  eine 
allmfihliche  Besserung  nur  dann  zu  erwarten,  wenn  jene  in 
weiser  Selbstzucht  allgemein  dazu  übergehen  wird,  sich  von 
Haus  aus  strikt  auf  Darstellung  bloß  der  objektiv  gültigen 
International  normen  zu  beschränken,  dagegen  auf  alle  sub- 
jektiven Ilaisonnements  grundsätzlich  zu  verzichten.  Zu 
diesem  Zweck  ist  aber  unbedingt  erforderlich,  daß  die 
Wissenschaft  bei  jeder  einzelnen  Norm ',  bevor  sie  dieselbe 
als  wahrhaft  gegeben  statuiert,  in  eingehender  und  mühe- 
voller Untersuchung  des  von  den  Staaten  p faktisch -ge wohn- 
heitsmfißig  beobachteten  Verhaltens  zeigt,  daß  sie  aus  dem 
Willen  der  letzteren  und  nur  dieser  als  spezifische  Rechts- 
norm hergeleitet  werden  kann.  Verföhrt  man  streng  nach 
diesem,  selbstverständlich  ausgebreite tstc  Geschichtskennt- 
nisse  voraussetzenden  Prinzip ,  scheidet  man  rücksichtslos 
alle  SKtze  aus,  bei  denen  weder  direkt  noch  auch  nur 
mittelbar,  durch  zwingenden  Analogieschluß  usw.,  eine  der- 
artige Intention  der  zur  positiven  Rechtssetzung  allein  be- 
fugten Potenzen  wirklieh  sich  dartun  läßt,  so  wird  gewiß 
rein  äußerlich  das  System  des  Völkerrechts  Überaus  xa- 
sammenschrumpfen.  Aber  was  es  hier  verliert,  das  gewinnt 
es  überreichlich  in  anderer  Beziehung,  denn  mit  einer 
Methode,  die  ,sich  bemüht,  den  Wegen  nachzugeben,  auf 
denen  das  Heale  lebend  sich  bewegt" ",  wird  schließlich  zu 
einem  gewissen  Bestände  objektiv  nachgewiesener  und  all- 
gemein anerkannter  Normen  zu  gelangen  sein,  wogegen  die 
subjektiv -naturrechtliche  Methode  immer  nur  im  Kreise 
hemmführt.  Gerade  die  letztere  aber  wird  eben  leider  noch 
immer,  bewußt  oder  unbewußt,  überwiegend  zur  Anwendung 
gebracht:  statt  durch  sorgfllltige  Erforschung  des  historisch 

'  Abgecehen   natürlicL  voa  den,   selbst  heute  noch  ^ertiiiltuisaiittig 
■elteneii  Fallen,  in  ilenen  eioe  ausdrücklicb  erfnlgtc  RegelBBtEung  vorliarl 
■  Stoerk,  Znr  Meüindik  des  effimtlicheii  RechM  (1686),  S.  8. 


VI  1.  67 

gegebenen  Erfahrungsmaterials  klarzulegen,  was  die  völker- 
rechtlichen Subjekte  selber  als  von  ihnen  juristisch  gewollte 
Verkehrsnormen  dargetan  haben  und  was  nicht ,  hat  man 
das  System  derselben  nur  zu  oft,  bestenfalls  unter  nach- 
träglicher Hinzufügung  einer  leichten  „geschichtlichen 
Retouche^",  bloß  nach  subjektiv  vernünftig  scheinenden 
Gesichtspunkten  zu  gewinnen  und  auszubauen  gesucht, 
uneingedenk  des  L e s  s  i  n  g sehen  Wortes,  „wieviel  andächtig 
Schwärmen  leichter  als  gut  Handeln  ist". 


^  «toerk,  a.  a.  O.,  S.  34. 


5* 


Dritter  Abschnitt 

Die  eminente  Gefährlichkeit  der  spezifisch- 
jnristiscli  verstandenen  Klansei. 


§7- 

Durch  die  Ausführungen  der  §§  4 — 6  ist  gezeigt  worden, 
daß  die  clausula  rebus  sie  stantibus  für  den  derzeitigen 
Status  jedenfalls  noch  keinen  Bestandteil  der  positiv- 
gültigen Völkerrechtsordnung  darstellt.  Indes  das  auch 
zugegeben,  so  wäre  damit  natürlich  über  die  zukünftige 
Gestaltung  noch  gar  nichts  ausgesagt:  es  wäre  möglich, 
daß  dieser  Sachverhalt  materiell  einen  empfindlichen  Mangel 
des  internationalen  Normenkomplexes  bedeutete  und  dem- 
gemäß de  lege  ferenda,  wie  man  für  innerstaatliche  Ver- 
hältnisse sich  ausdrücken  würde,  seine  baldige  Änderung 
zu  wünschen  und  auch  praktisch  zu  erwarten  bliebe. 

Wie  es  nun  hiermit  in  Wirklichkeit  steht,  ob  tatsächlich 
die  Klausel  Aussicht  hat,  die  ihr  vorläufig  bestimmt  fehlende 
formale  Sanktionierung  durch  die  Staaten  späterhin  noch 
beigelegt  zu  erhalten,  das  ist  natürlich  eine  Frage,  die  nicht 
mit  voller  Sicherheit  beantwortet  werden  kann;  immerhin 
ist  ein  recht  wertvolles  Indizium  vorhanden,  welches,  zum 
mindesten  für  die  nächste  Zukunft,  ihre  Aussichten  so 
ziemlich  gleich  Null  erscheinen  läßt. 

Hinsichtlich  der  meisten,  erst  neuerdings  entstandenen 
Völkerrechtsnormen  vermag  man  nämlich  übereinstimmend 


VI  1.  69 

die  Beobachtung  zu  niaclien,  daß  dieselben  lange  Zeit,  be- 
vor sie  generell  als  solche  formuliert  und  ausgesprochen 
wurden,  zunächst  von  konkreten  Parteien  ad  hoc  vereinbart 
zu  worden  pflegten.  Um  das  durch  ein  einzelnes  Beispiel 
zu  illustrieren,  so  hat  jetzt  bekanntlich  infolge  der  auf  der 
Haager  Friedenskonferenz  beschlossenen  (5.)  Konvention 
„pour  le  reglement  pacitique  des  conflits  internationanx" 
die  Idee  der  schiedsgerichtlichen  Streitschlichtung  zwischen 
Staaten  eine  gewisse  allgemeine,  wiewohl  sachlich  höchst 
verklausulierte  Anerkennung  gefunden.  Aber  schon  ehe 
dies  formell  vollzogen  war,  durfte  man  mit  Bestimmtheit 
darauf  rechnen,  daß  es  über  kurz  oder  lang  zu  einer  der- 
artigen Einigung  kommen  würde.  War  doch  ganz  abgesehen 
von  den  vielen  erst  hinterher,  nach  bereits  ausgebrochenem 
Konflikt,  der  schiedsgerichtlichen  Regulierung  überwiesenen 
Fällen,  die  sogen,  kompromissariache  Klausel,  d.  h.  die 
Verpflichtung,  alle  aus  dem  betreff'enden  Traktate  sich  etwa 
ergebenden  Streitigkeiten  arbiträr  entscheiden  zu  lassen, 
schon  in  den  Text  zahlreicher  Handels-  und  Freundschafts- 
verträge',  des  Weltpostvereins,  der  Brüsseler  An tisklaverei- 
akte  UBW.  usw.  eingerückt  worden.  Wäre  nun  Entsprechendes 
auch  ftlr  die  clausula  rebus  sie  stantibus  nachweisbar,  mit 
anderen  Worten  ließe  sich  zeigen,  daß  häutig  in  Einzel- 
traktaten von  den  Kontrahenten  expressis  verbia  verabredet 
wurde,  jene  sollten  durch  wesentliche  Veränderung  der  Um- 
gtände  ihre  Oültigkeit  verlieren,  so  würde  zweifellos  auch 
ihr  ein  günstiges  Prognostiken  hinsichtlich  einer  spateren  All- 
gemeineinführuog  ins  positive  Völkerrecht  zu  stellen  sein. 
Denn  indem  die  betreffenden  Parteien  sich  ausdrücklich  für 
die  Aufnahme  entschieden,  trat  darin  offenbar  jedesmal  eine 
entschiedene  Überzeugung  des  Inhalts  zutage,  die  Klausel 
sei  als  sachlich  angemessen  und  empfehlenswert  anzusehen; 
wenn   aber  eine  solche  Auffassung   erst    einmal  in  concreto 

I'  Bei.    dieser    vgl.    die   Anicsben   v.   Helles   io    Holtxendarff* 
Baadbach  des  VSlkemwbts,  Ul,  8.  253  ff, 


70  VI  1. 

mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  zu  konstatieren  ist,  dann 
wird  aller  Voraussicht  nach  auch  die  grundsätzliche  und 
generelle  Anerkennung  nicht  mehr  allzulang'e  auf  sich 
warten  lassen. 

In  der  Tat  sind  derartige  Stipulationen  praktisch  wieder- 
holt vorgekommen.  Zum  Beleg  soll  hier  auf  ein  historisches 
Vorkommnis  aus  dem  18.  Jahrhundert  etwas  näher  ein- 
gegangen werden,  welches  in  verschiedenartiger  Hinsicht 
recht  lehrreich  ist. 

Als  Ende  des  Jahres  1740  Friedrich  der  Große  in 
Schlesien  einfiel,  suchte  die  Hauptstadt  Breslau  von  Anfang 
an  zwischen  den  kriegführenden  Parteien  eine  mittlere 
Stellung  einzunehmen  ^.  Demgemäß  verweigerte  sie,  gestützt 
auf  ein  altes  ihr  zustehendes  Privileg,  das  sogen,  jus  prae- 
sidii,  zunächst  die  Aufnahme  einer  österreichischen  Be- 
satzung und  wünschte  dann  auch  von  Preußen  die  An- 
erkennung ihres  Standpunkts  der  Nichtbeteiligung  zu 
erlangen.  Das  glückte  ihr  auch  tatsächlich  durch  den  am 
3.  Januar  1741  zustande  gekommenen  „Neutralitätsvertrag**  * 
mit  König  Friedrich,  kraft  dessen  der  letztere  ihr  überaus 
günstige  Bedingungen  wie  Freiheit  von  Kontributionen  und 
Leistungen  aller  Art,  Nichtbesetzung  durch  preußische 
Truppen  usw.,  bewilligte.  Der  Fülle  dieser  Zugeständnisse 
gegenüber,  die  den  Breslauer  Ratsherrn  das  glücklich  zu- 
stande gebrachte  Werk  geradezu  als  „Meisterwerk  der 
Diplomatie"  erscheinen  ließ,  hatte  Friedrich  der  Große  zu 
seinen   eigenen  Gunsten   nur   eine   einzige  Bestimmung  ge- 

^  Näheres  hierüber  s.  bei  Grünhagen,  f, Friedrich  der  Große  und 
die  Breslauer  in  den  Jahren  1740/41",  S.  59  ff. 

"  Daß  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  genau  genommen  diese 
völkerrechtliche  Bezeichnung  keine  Anwendung:  hätte  finden  dürflBn,  ist 
klar,  und  auch  bei  den  preußischen  Unterhändlern  stieß  sie  ursprünglich 
auf  schwere  Bedenken:  erst  der  König  selbst,  der  hier  wie  überall  nur 
auf  das  Sachliche  Gewicht  legte,  hat  die  gemachte  Proposition  endgültig 
akzeptiert  (cf.  Grünhagen,  a.  a.  O. ,  S.  77).  In  Wirklichkeit  konnte 
auf  den  ganzen  Furmalskrupel  wenig  mehr  ankommen,  nachdem  man  sich 
einmal  entschlossen  hatte,  eine  einfache  Territorialstadt  zur  Paktiemng 
über  militärische  politische  Dinge,  d.  h.  durchaus  anomaler  Weise  als 
internationales  Vertragssubjekt  überhaupt  zuzulassen. 


VI  1.  71 

troffen,  allerdings  eine  solche,  daß  er  sofort  mit  vollem 
Recht  seinem  Kriegaminister  achreiben  durfte:  „Brealau 
gehört  mir'";  er  hatte  nämlich  den  ihm  vorgelegten  Vertrag 
bloß  mit  der  Klausel  unterschrieben:  „bei  den  jetzigen 
Konjunkturen  und  so  lange  dieselben  dauern  werden".  Was 
das  zu  bedeuten  hatte,  wurde  den  Brealauern  erst  klar,  als 
nach  wenig  Über  einem  halben  Jahr  der  König  plötzlich 
erklärte,  es  müsse  jetzt  mit  der  Neutralität  ein  Ende  haben, 
und  sich  am  lO.  August  1741  der  Stadt  durch  raschen 
Handatreich  bemächtigte.  Formell  rechtlich  war  gegen  dieses 
Verfahren,  man  mochte  im  übrigen  über  dasselbe  denken 
wie  man  wollte,  nichts  einzuwenden,  denn  daß  die  früheren 
„Konjunkturen"  nicht  mehr  bestanden,  nachdem  mittlerweile 
die  Mollwitzer  Schlacht  von  den  Preußen  gewonnen  und 
auch  sonst  noch  vieles  anders  geworden  war,  konnte  von 
niemandem  in  Abrede  gestellt  werden. 

Eine  derartige  ausdrückliche  Stipulierung  der  clausula, 
wie  sie  in  dem  eben  geschilderten  Vorkommnis  aus  dem 
ersten  schlesischen  Kriege  zutage  tritt,  würde  nun  auch 
sonst  mehrfach  noch  nachzuweisen  sein.  Dabei  ist  es  je- 
doch sehr  charakteristisch,  daß  diese  Fälle  eigentlich  durch- 
weg Perioden  angehören,  die  schon  verhältnismäßig  weit 
zurückliegen ;  je  mehr  wir  uns  der  Gegenwart  nähern,  desto 
seltener  werden  sie ',  und  was  den  heutigen  Stand  der  Sache 
betrifft,  so  können  sie  wohl  kaum  noch,  wenigstens  soweit 
meine  Kenntnis  des  einschlagenden  Materials  reicht,  aul 
nennenswertes  praktisches  Vorkommen  Anspruch  erheben. 
Hieraus  ist  oifenbar  der  Schluß  zu  ziehen,  daß  die  Staaten 
zurzeit  kein  wesentliches  Bedürfnis,  die  Klausel  in  formeller 
Rechtskraft  zu  sehen,  empfinden,  und  es  wird  demgemäß 
auch  die  Aussicht  auf  baldige  Einführung  derselben  als 
Äußerst  geringfügig  zu  bezeichnen  sein. 

'  Übri^ns   sind   sie  aueh   m   Älterer  Zeit  nie   gereAe   allnu  häufig 
gewesen,    weshalb   ex    auch   eine   entschiedene    Übertreibnng   iat,    wenn 
WfaartuD    um   oben   S.   11    angef.    Orte   die   Uebauptung   an&l«llt:    In 
t  of  tbe  nid  treaties  were  inserted  the  „clausula  rebus  sie  itantibus*. 


L 


^ 


72 


VI  1 


Ja,  man  könnte  sogar  noch  einen  Schritt  weiter  gehet 
und  auf  Grund  des  historisch  gegebenen  Sachverhalts  jede" 
juriatisclie  Sanktionierung  der  clausula  überhaupt  für  end- 
gültig und  alle  Zeit  ausgeschlossen  erachten:  man  könnte 
den  Umstand,  daß  in  trüberen  Epochen  tatsächlich  eine 
gewisse  Neigung  zur  konkreten  Statuierung  derselben  vor- 
handen war,  daß  aber  gegen  die  Neuzeit  hin  diese  Tendenz 
unverkennbar  immer  mehr  abgenommen  hat,  recht  gut  da- 
hin ausdeuten,  daß  die  Staaten  bei  nüherem  Einblick  in  die 
Verhältnisae  die  Klausel  als  materiell  schädlich  und  gejähr- 
lioh  erkannt  haben  und  folglich  präsumtiv  niemals  mehr 
Lust  spüren  werden,  ihre  generell-rechtliche  Satzung  vor- 
zunehmen. 

Von  dieser  Argumentation  wäre  zum  wenigsten  so  viel 
ganz  richtig,  daß  wirklich  schwerwiegendste  Gründe  vor- 
handen sind,  die  den  Staaten  auf  die  Dauer  und  unter  allen 
Umständen  einen  solchen  Schritt  widerraten  müssen;  nur 
unter  vollständiger  Verkennung  der  wahren  und  eigentlichen 
Bedürimsse  des  internationalen  Verkehrs  wären  sie  imstande, 
der  von  der  Theorie  solange  schon  gegebenen  Anregung 
Folge  zu  leisten  und  die  clausula  rebus  sie  stantibus  prak- 
tisch unter  sich  einzuführen. 

Machen  wir  uns  klar,  von  was  fUr  Erwägungen  die 
Völkerrechts  Wissenschaft  bei  ihrer  Befürwortung  dieser 
Norm  geleitet  wurde,  welche  Vorteile  sie  mit  Hilfe  derselben 
SU  erreichen  suchte.  Ihren  Ausgangspunkt  nahm  sie  von 
der  Feststellung,  daß  die  Staaten  als  eines  der  wichtigatea 
Prinzipien  ihres  wechselseitigen  Verkehrs  die  Regel  Pacta 
sunt  servanda  positiv -juristiscb  statuiert  haben'.  Man 
machte  jedoch  bald  die  Wahrnehmung,  daß  die  strenge  und 

I  Daß  uud  warum  die  Dnktriii  mit  dieser  Annatime  ganz  du 
Richtig  trftf,  inwiefeni  mau  keineüiregx  mit  Gareis  (IuBtitutioiien  des 
Velkerrechls,  2.  Aufl.,  S.  34,  aacb  S.  ITü)  aur  Konstniktiun  jeses  Satsw 
bluß  auf  dea  bedenklichen  Weg  des  jus  necessarium,  des  „notweDdigen" 
VBlkerreobt«  angewiesen  ist,  »ondern  ihn  direkt  auf  den  Willen  der  « 
intemationaleu  NomiHctiatfung  befugen  Subjekte  xa  »tütüen  vermag,  d 
im  Hnxelnen  ^a  zeigen,  muli  freilich  einer  anderen  Gelc^nbeit  t 
behftllen  bleiben. 


auBi]  ahm  alose  Durchführung  der  letzteren  hin  unt!  wieder 
zu  zweifellosen  Härten  führte,  daß  die  Norm  manchmal  auf 
Tatbestände  stieß,  für  die  sie  mtchlich  offenbar  nicht  mehr 
recht  paSte  und  geeignet  war,  und  bei  denen  folglich  dem 
natürlichen  Gefühl  gerade  die  Nichterfllllung  des  Vertrags 
viel  angemessener  vorkam  als  die  normalerweise  zu  fordernde 
strikte  Erfüllung'.  Diesem  Ühelstande  sollte  nun  dadurch 
abgeholfen  werden,  daß  man  der  ersten  abstrakten  Regel 
eine  zweite  beschränkende  hinzufügte,  ausführlicher  gesagt : 
man  wollte  den  Satz  Pacta  sunt  servanda  prinzipiell  in 
lebendig-juristischer  Geltung  erhalten,  gleichzeitig  aber  aueb 
durch  eine  feinere  und  speziellere  Ausbildung  des  objektiven 
Rechtssystems  den  Vorteil  gewinnen,  daß  er  sich  fortan 
nur  noch  innerhalb  der  Grenzen  seiner  materiellen  Recht- 
fertigung betätigen,  dagegen  auf  außergewöhnliche  Fälle 
—  wie  die  vorhin  angedeuteten  —  überhaupt  nicht  mehr  er- 
strecken könne.  Dieses  letztere  Ziel  —  das  muß  rückhalt- 
los zugestanden  werden  —  würde  allerdings  mit  Hilfe  der 
clausula  aufs  wirksamste  erreicht  sein;  es  wäre  mit  ihr 
wahrlich  ausreichend  dafür  jjesorgt,  daß  dem  Verpflichteten 
gegen  jede  Überspannung  des  Grundsatzes  der  Vertrags- 
treue ein  juristisches  Verteidigungsmittel  zu  Gebote  stünde. 
Leider  aber  auch  nicht  nur  und  ausschließlich  gegen  Über- 
spannung, sondern  praktisch  gegen  jede  Anwendung  der 
obersten  und  Prinzipalnorm  Pacta  sunt  servanda  überhaupt; 
mit  anderen  Worten,  man  hätte  über  der  Erreichung  de» 
zweiten  Ziels  das  viel  wichtigere  erste  allzusehr  außer  Acht 
gelassen,  dergestalt,  daß  die  vermeintliche  bloße  Exemtion 
in  Wirklichkeit  direkt  zur  „Inanisierung"*  sämtlicher  Ver- 
träge ausschlagen  könnte. 

-  Zur  Erläut^^rung  sei  aa  duE  bekaimte  und  vielffebmacble  Schul- 
beispiel erinnert,  duä  der  Staat  A  dem  Staat  B  für  jeden  Kriegafall  ein 
bentimmten  Uilt'gknDttnRent  versprachen  hat,  dnB  aber  der  casus  foederia 

B      geradd  lu  einer  Zeit  eintritt,  wo  er  seinerBeitx  mit  äem  Staat  L'  sich  in 

B     Kampf  befindet  und  alBo  lämtliche  militärischen  Kräfte  weit  noC<*'endiger 

^B     ffir  Hieb  selber  braucbt 

H  '  Vgl.  V.  Uulmerincq,  Völkerrecht  (im  Handbuch  des  BSentlicben 


74 


VI  1 


Um  das  des  Näheren  klarzulegen,  bedarf  es 
kurzen  Hinweises  auf  die  völlig  eigenartige  Struktur  und 
Beschaffenheit  dea  Völkerrechts  soivie  der  hieraus  sich  e 
gebenden,  von  seinem  Wesen  unzertrennlichen  Mängel 
Der  internationale  Verkehr  wird  anerkanntermaßen  von 
keiner  selbBtandigen  Oberpotenz,  von  keiner  die  Vielh« 
der  Einzelstaaten  zur  höheren  Einheit  vorbindenden  Sozial 
gewalt  beherrscht.  Daraus  folgt  neben  anderen,  hier  weniger 
in  Betracht  kommenden  Punkten,  dem  Fehlen  einer  inter- 
nationalen Legislative,  einer  durch  spezifische  Gemeinschafts- 
organe gehandhabten  Zwangsverwirklichung  des  Rechts,  ina- 
besondere auch  dies,  daß  tlir  die  Anwendung  der  abstrakt- 
juristiachen  Normen  auf  den  konkreten  Einzelfall  keine 
autoritäre,  unabhängig  von  der  Anerkennung  durch  di^ 
jedesmaligen  Parteien  fungierende  Richterinatanz  zur  Ver^j 
fUgung  steht*.  Der  Schluß,  der  aus  der  vollständigen  Ab- 
wesenheit der  letzteren  für  eine  gesunde  internationale 
Rechtssetzungspolitik  zu  ziehen  ist,  kann  natürlich  nur  der 
sein,  daß  von  vornherein  gleich  die  abstrakten  Regeln  so 
gehalten  werden  müssen,  daß  sie  das  Eingreifen  einer  in 
concreto  erst  entscheidenden  Stelle  möglichst  wenig  ver- 
langen und  erforderlich  machen:  deutlicher  ausgedruckt, 
für  jede  praktische  Brauchbarkeit  internationaler  Normen 
bleibt  die  unerläßlichste  Voraussetzung  stets  die,  daß  eie 
ao  einfach,  so  präzis,  so  unmißverständlich  wie  nur  irgend 
angängig  formuliert  sind  und  folglich  den  beteiligten  Partei« 
bei  voller  bona  fides  derselben  ganz  selten,  am  liebsten  ni( 


Bechu  I,  2;   1384),   S.  302.     Eine  ülmliche  Weudmtg  auch  bei  Uareii. 
der,  trotzdem  er  prinzipiell  ein  AnbKnger  der  Klausel  ist,   ea  offen  ana- 
cpricht,   daß   „bei   einer    l&xen  Interpretation   die   graÜe  Ge&lir   vorlicgtil 
das   Yertragarocht    überbaupt   ku   unterminieren   und    nach    der    andenT 
iUchtung  hin  unhaltbare  Verhältnisno  üu  sciinffen"  (n,  a.  O.,  8.  213), 

'  Vgl.   iu  der  ganaen  Sache  die  AoBfrihrungen   von  Brie,   '. 
der  Staatenrerbindnogen,  S.  42  ff. 

*  Daß   hieran   gelbst  die  ausgcdehnteute  Akzeptierung  der  6   

gericbt«idee  gmndsätzlich  nichts  ändern  konnle,  lie^  auf  der  Hand,  eb«. 
«eil  et  sich  dabei  immer  am  bloße  Schiedsgerichte  handeln  würde. 


VI  1.  75 

AnlaS  zu  Zweifeln   über   ihr  Zutreffen    oder  Nichlzutreffen 
geben  können  ', 

Dieser  ersten  und  notwendigsten  Bedingung  tut  aber 
gerade  die  clausula  rebus  sie  stantibus  nicht  im  Entfern- 
testen Genüge;  sie  gehört  zu  einer  Gruppe  von  Normen, 
die  wohl  im  innerstaatlichen  Recht,  nie  und  nimmer  aber 
für  den  istemationalen  Verkehr  wahrhaft  ersprießliche 
Dienste  zu  leisten  fkhig  ist.  In  ersterem  lassen  sich  Kegeln 
genug  aufzeigen,  die  jener  nach  Anlage  und  Gesamtcharakter 
ganz  ähnlich  sind,  aber  anders  wie  sie  sich  auf  ihrem  Ge- 
biet praktisch  durchaus  bewähren.  Greifen  wir  z.  B.  §  (i2(i 
des  Bürgerlichen  Gesetzbuchea  für  das  Deutsche  Reich 
heraus^,  in  dem  es  folgendermaßen  heißt:  p,Das  Dienst- 
Terhältnis  kann  von  jedem  Teil  ohne  Einhaltung  einer 
Kündigungsfrist  gekündigt  werden,  wenn  ein  wichtiger 
Grund  vorliegt."  Die  äußerlich -formelle  Analogie,  die 
dteae  Ordnung  eines  innerstaatlichen  Verhältnisses  zu  dem 
von  uns  behandelten  internationalen  Problem  aufweist,  ist 
offenkundig  und  bis  ins  einzelnste  gehend.  Beidemal  wird 
ausgegangen  von  der  Anerkennung  einer  allgemein  und  un- 
beschränkt lautenden  Norm,  hier  des  Satzes  Pacta  sunt  ser- 
vanda, dort  der  Regel,  daß  kein  Dienstverhältnis  anders 
als  nach  genau  fixierter,  im  Detail  wieder  verschieden 
normierter^  Kündigungsfrist  aufgelöst  werden  kann;  darauf 
sucht  man  noch,  gleichfalls  völlig  übereinstimmend,  etn-aigen 
außergewöhnlichen,  unter  die  Schablone  nicht  passenden 
Füllen  juristisch  gerecht  zu  werden  und  bestimmt  daher, 
daß  eine  wesentliche  Veränderung  der  Verhältnisse  den 
internationalen  Traktat,   ein  wichtiger  Kündigungsgrund 


^  üchoii  der  Temuch,  feiner  ausgebildete  Internatiunalnornieii  8uf- 
zuslellen,  »tflßt  auf  Schwierigkeit  und  filhrl  lur  gleiclieeitigen  Ver- 
klauBuliemiig,  (He  die  praktJBcbe  Bedeutung  der  neuen  Bechtsa&tKe  alab&ld 
wieder  in  Frage  stellt.  Han  bedachte  die  vieldeutig'en  Bedingungen 
Lvronn  die  Umstände  es  gestatten  werden" '.)  im  Haagfer  Abkommen  *oin 
^.  Jnli  1899  (Denlsches  RG.BI.  1901,  ä.  393).    S.  aueb  Garei«  8.303. 

*  Andere  Beispiele  bei  Stamm  ler.  Vom  riehtigen  Hechte,  8.562ff. 

»  Cf.  B.G.B.  S  G20  ff. 


7(i 


VI  i 


das  private  Dienstverbältnia  sofort  aufheben  soll.  Hierbä" 
ist  ganz  gewiß  das  zweite  Mal  die  einschränkende  Norm 
an  sich  nicht  präziser  ausgefallen  als  das  erste  Mal;  viel- 
mehr setzt  die  eine  wie  die  andere  noch  schärfere,  erst  in 
concreto  vorzunehmende  Detail  feststellungen  voraus.  Blofi 
daß  das  eben  im  innerstaatlichen  Recht  nach  Lage  der  Dingn 
nicht  schadet,  weil  ja  dieses  die  vorläufig  noch  mangelnde 
nähere  Erläuterung  jeden  Augenblick  nach zubrio gen  im- 
stande ist:  sobald  die  Parteien  in  einem  einzelnen  Falle  ver- 
üciuedener  Ansicht  Über  die  Wichtigkeit  einea  KUndigungs- 
grundes  sind,  wird  die  unbedingt  maßgebende  Entscheidung 
durch  den  zuständigen  Richter  und  in  ihm  durch  den  realen 
Gemeinschafts  willen  selber  getroffen.  So  ist  es  einzig  die 
stets  vorhandene  letztere  Möglichkeit,  wegen  deren  die  staat- 
liche Gesetzgebung  sich  gestatten  darf,  prinzipiell  aufgestellte 
Normen  durch  unbestimmt  gehaltene  Ausnahmssätze  zu 
durchbrechen,  ohne  befürchten  zu  mUiisen,  daß  jene  durah 
diese  praktisch  ganz  aufgehoben  und  illusorisch  gemacht 
werden. 

Wie  anders  im  Völkerrecht.  Da  hier  ausschließlich  die 
Parteien  selbst  Richter  darüber  sind,  ob  die  einzelnen 
Normen  auf  den  gegebenen  Fall  zutreffen ,  so  ist  eo  ipso 
jede  Formulierung  derselben  zu  verwerfen,  die  durch  Ver- 
wendung gänzlich  vager  Unterschiede  wie  „Wesentlichkeit" 
und  gUnwesentlichkeit"  der  Veränderungen  zu  auseinander- 
gehenden   Auffassungen    geradezu    herausfordert'.      Selbst 


'  Dar  gesamte  hier  verfolgte  Gedsakongaiig  berührt  Hidi  in  ge- 
wJBHem  äiDue  mit  ialeressanten  AuafQhmngen,  die  uaoh  eiuer  andecoi 
Richtimg  hin  Bierliue  gegeben  hat.  Dieser  |JuriBtinche  Prinztpieti- 
lehre,  Bd-  11  (1898),  S,  37  ff.)  warnt  mit  allem  ßeuht  rlavor,  „völlig;  nicbu- 
»agende  Aasdrücke"  zu  gebraiicben,  „die  nur  dem  veratändlich  Bind,  der 
bei  ihrer  Verwendung  eine  beHoudere  Erkliruog  sur  Seite  hat".  Nun 
heaiehen  sieb  ja  allerdings  Bierllngs  Bemerknngen  auf  theoretisd- 
wiiienachaftliehe  Arbeiten,  wÄbrend  wir  es  mit  einer  Frage  der  praktitohcn 
Bechtaausgestaltung  KU  tun  balien;  trotüdem  lassen  sich  aber  beide  FTUIe 
inaofem  uuter  einen  Remeinsaaieu  Üesiuhtspunkt  bringen,  weil  der  tieftte 
Grand,  wamm  sowohl  die  atigemeine  Kechtswiasenschafc  wie  das  poaitJT 
gesetcte  Völkerrecht  auf  derartig  Tieldeutige  Wendungen  vtrziehten  müssen, 
in  dem  hier  nie  dort  vorhandenen  Mangel   einer  die  leeren  fiüUen  nadi 


VI  I. 


77 


r 

■  wenn  wir,  entsprechend  den  S.  20  ff.  gemachten  Festatel- 
"  hingen,  die  rein  formale  Begriäsbestimmung  durch  einen 
Versuch  der  materiellen  ersetzen,  wenn  wir  anstatt  der  viel- 
fach bloß  verlangten  essentiellen,  wesentlichen, 
fundamentalen  Umgestaltungen  solche  fordern,  vermöge 
deren  jetzt  eine  ErtMUung  des  Vertrages  nur  noch  unter 
Gefahr  düng  der  höchsten  Staatsinteressen  mög- 
lich bleibt,  selbst  dann  ist  an  Präzision  kaum  viel  gewonnen, 
denn  was  kann  nicht  alles  auch  unter  diese  Fassung  noch 
eingereiht  werden!  Daraus  erhellt,  daß  die  praktische  Ein- 
führung der  Klausel  sofort  zu  einer  ununterbrochenen  Kette 
von  Meinungsverschiedenheiten  zwischen  den  Staaten  führen 
müßte:  auch  ohne  jede  böae  Absicht,  ganz  von  selbst  und 
unwillkürlich,  wird  der  Berechtigte  stets  zu  einer  möglichst 
restriktiven,  der  Verpflichtete  umgekehrt  zu  einer  möglichat 
extensiven  Auslegung  der  clausula  neigen  und  Niemand  ist 
da,  der  den  Streit  für  beide  Teile  bindend  zu  schlichten 
vermöchte.  Daß  gerade  in  letztgenanntem  Punkte  und  nur 
in  ihm  der  eigentliche  Sitz  der  Schwierigkeit  getroffen  wird, 
darauf  gibt  es  auch  noch  eine  überzeugende  praktische 
Probe.  Sobald  nämlich  eine  Anzahl  völkerrechtlicher  Ver- 
kehr ssubjekte  ausnahmsweise  doch  durch  eine  dauernde 
Sozialorganisation  zur  korporativen  Einheit  verbunden  ist. 
sobald  über  ihnen  ein  direkt  für  sie  maßgebender  Oberwille 
existiert,  verliert  die  clausula  sofort  wieder  ihre  prinzipielle 
Bedenklichkeit.  Denn  bei  solcher  Lage  der  Dinge,  die 
übrigens  meines  Erachtens  nicht  bloß  für  den, "freilich  in 
erster  Linie  zu  nennenden  Bundesstaat',  sondern  auch  schon 
für  den  einfachen  Staatenbund  angenommen  werden  muß, 
erdffnet  sich  jetzt,  genau  wie  ira  innerstaatlichen  Recht,  die 
Mügtichkeit,  eventuelle  Streitigkeiten  der  Mitglieder  durch 
ein   besonderes  Gemeinschaftsorgan   entscheiden   zu  lassen; 


Bedarf  mit   konkretem  Iiibatt 
bemht. 

'  Bw.  diesei  vgl,  die  Darlegiingei 
lÄDdesrecht,  S.  CK  ff. 


itullenden  Erkiriniiigs-  und  IliltiiinatBiiE 
iejiBl.  Völken-Bcht  und 


78 


VI  1. 


dieses  vermag  doiin  von  sich  aus,  unabhängig  von  den 
Parteien,  die  Bedeutung  aller  inzwischen  eingetretener  Ver- 
änderungen objektiv  prüfend  zu  würdigen  und  so  der  Ge- 
fährdung der  Vertragssicherheit  wirksam  vorzubeugen'. 

Wenn  schon  die  im  Vorstehenden  niedergelegten  Er- 
wägungen die  positive  Einfügung  der  Klausel  in  die  inter- 
nationale Rechtsordnung  unrätlich  erscheinen  lassen,  so  gilt 
dies  in  noch  ungleich  höherem  Mafie  unter  einem  anderen 
Gesichtspunkt.  Wir  haben  das  Problem  bisher  stets  nur 
nach  der  Seite  erörtert,  daß  die  Staaten,  die  praktische 
Gültigkeit  jener  einmal  angenommen,  selbst  bei  voller 
bona  fides,  beim  besten  Willen,  immer  nur  streng  rechts- 
gemäß  zu  verfahren,  fortwährend  in  unlösbare  Meinungs- 
verschiedenheiten über  die  Tragweite  der  clausula  geraten 
werden,  dergestalt,  daß  man  wahrscheinlich  bald  bei  den 
allerwenigsten  Verträgen  noch  ihres  gänzlich  unangezweifel- 
ten  Fortbestands  gewiß  sein  könnte.  Hierzu  tritt  nun  aber 
noch  der  viel  bedenklichere  Umstand,  daß  die  Klausel  ein 
überaus  bequemes  Mittel  bietet,  hinter  dem  jederzeit  auch 
der  bOse  Wille,  der  dolus  malus,  Deckung  zu  finden  vermag. 


'  Rei'hl  iiutruktiv  ist  id  dieser  Rinsicht  oin  Vorkommnis  iwiscbeu 
zwei  eidgenSssischeu  KmiloDen,  ilber  welches  in  Blumer-Horels 
Huidbucli  des  Schweizer  llundesstaatBrechts  (Itd.  1,8.  AuÜ-  ISßl,  S.  231  ff, ; 
Bd.  111.  S.  Aufl.  1Ö8T,  S.  35«.  369  ff.)  auofübrlicli  beriuhtet  wird.  Es 
liMidelte  sich  dabei  um  einen  im  Jahre  1830  «wiscben  Lustini  und  Aargau 
sbgeschloSHenen  Vertrag,  knift  dewen  emU^ror  Knnton  dem  letxterea  die 
Vomabin«  gewisser  ateaerhoheitlicher  .\k(e  auf  seinem  Territorinm  au- 
gestand.  Dieser  Verpäiobtung,  die  man  tbeoretiach  als  äerritul,  al« 
iStnatsdienstbnrkeit  kuDstruiurte,  sachte  sich  Luxem  spater  zu  entledigen 
und  priff  deshalb,  nacbdom  frühere  sjidersartige  Versuche  fehlg«SFhlNgeli 
waren,  1888  einfach  zur  Kündigung  d«s  Traktats,  worauf  Aargau  die 
Sache  vor  das  II  und  enge  rieht  brachte.  Letiteres  (cf.  Bundesgericbtliche 
Entscheidungen  Vllt,  S.  55  ff.)  erkannte  auch  in  der  Tat  an,  daB  viel- 
leicht nnler  bestimmlen  Voraussetxuogen  eine  einseitige  Kandigung 
kantonaler  Verträge  prinzipiell  lulfissig  sei,  Dämlich  dort,  wo  „ihr  Fort- 
bwtand  mit  den  l^^bensbedin^ngeu  des  verpflichteten  !Jt*ata  als  selb- 
stindigen  Gemeinwesens  oder  dessen  wesentlichen  Zwecken  anvereinbar 
sei,  oder  wo  eine  Veränderung  solcher  Umstände  eingetreten  ist,  welche 
nach  der  erkennliaren  Absiebt  der  Parteien  lur  Zeit  Ihrer  Begrindung 
die  stillschweigende  Bedingung  ihre»  Bestand»  bildeten" ;  gleichseitig 
entschied  es  jedoch .  daß  im  gegebenen  Einxelliille  nicht?  dergleichen 
vorliege,   und  verw«rf  deshalb  die  Liuemer  Kändigong  als  lubi^rCnilnt 


I 
I 


VI  1. 


79 


Um  zu  zeigen,  daß  mit  ihrer  Hilfe  zur  Not  selbst  der  be- 
kannteete  und  schlimmste  Wortbruch  formell  sich  recht- 
fertigen läßt,  daflir  gewährt  uns  ein  recht  schlagendes 
Beispiel  die  alte  Geschichte.  Durch  das  Versprechen  einer 
großen  Geldsumme  hatte  der  letzte  König  von  Macedonfen, 
Peraens,  den  illyrischen  Fürsten  Genthios  dazu  bewogen, 
sich  mit  ihm  zu  verbinden,  die  gerade  an  seinem  Hofe  be- 
tindliehen  römischen  Gesandten  einzukerkern  und  so  definitiv 
mit  Rom  zu  brechen;  nachdem  das  aber  wirklich  geschehen 
war,  „fand  der  sparsame  König  es  überflüssig,  die  zuge- 
sicherten Gelder  zu  zahlen,  da  Genthios  nun  allerdings 
ohnehin  gezwungen  war,  eine  entschieden  feindliehe  Stellung 
gegen  Rom  einzunehmen'"'.  Hätte  Perseus  schon  von  der 
modernen  Errungenschaft  der  clausula  rebus  sie  stantibus 
Kenntnis  gehabt,  so  wäre  es  ihm  gar  nicht  so  schwer  ge- 
fallen, diesem  schmählichen  Vertrauensmißbrauch  ein  juri- 
stisches Entschuldigungsmäntelchen  umzuhängen.  Denn  daß 
das  Verbalten  des  Genthios  eine  fundamentale  Ver- 
finderung  der  ganzen  Sachlage  herbeigefuhrt  hatte, 
war  ja  über  allen  Zweifel  erhaben,  und  auch  an  dem  er- 
forderliehen Konflikt  mit  den  obersten  Staats- 
interessen fehlte  es  insofern  keineswegs,  weil  doch  zu 
diesen  der  Besitz  möglichst  großer  Geldmittel  unbedingt 
gleichfalls  zähltl 

Ganz  ähnliche  Konsequenzen,  wie  sie  hier  an  der  Hand 
eines  geschichtlichen  Einzelbeispiels  entwickelt  worden  sind, 
würde  aber  die  Klausel  so  ziemlich  überall  und  bei  der 
Gesamtheit  der  internationalen  Vertragsbeziehungen  hervor- 
rufen; immer  und  immer  wieder  könnte  sie  dazu  ausgenützt 
werden,  bei  dolos-willkürlichen  Traktataufhebungen  eine  Art 


>  Homms«ii,  K^miscbe  Geschichte  (7.  Aafl.  IB^l)  I,  8.  767.  Der 
antike  Bericht  über  die  Sache  steht  bei  Livius  (XLIT,  27)  und  lautet: 
„GentiuB,  eiigua  parte  pocimiiie  accepta,  quam  adaidue  a  Fautancho 
ad  lacetiseadOB  hostiti  fHoti)  Romanos  süinularetur,  M.  Perpemain  et 
L.  Petilliunt  legsloi,  qui  tum  forle  ad  eiun  venorant,  in  costodiam  uoDJecit. 
Hoc  audito,  Persea»,  conlraiiaae  eum  aecessitaten  ratus  ad  beüum 
atiqne  cum  Komanis,  ad  revociudiuii,  qai  peouniain  portabat.  misit.'' 


80  VI  1. 

rechtlicher  Begründung  vorzutäuschen.  Das  ist  aber  um 
deswillen  unendlich  gefährlich,  weil  auf  diese  Weise  eine 
der  festesten  Stützen  des  Völkerrechts  untergraben  wird. 
Einer  oft  gemachten  Beobachtung  zufolge  sind  heutzutage 
im  Allgemeinen  die  Staaten  selber  sorgfältig  bemüht,  nicht 
in  offenen  Widerspruch  zu  anerkannten  Normen  der  inter- 
nationalen Ordnung  zu  treten,  resp.  wie  Bismarck^  es  aus- 
drückt, die  Bereitwilligkeit  zum  zweifellosen  Rechts- 
bruch pflegt  auch  bei  gewalttätigen  Regierungen  nicht 
vorhanden  zu  sein."  Nun  liegt  es  aber  auf  der  Hand, 
daß  diese  halb  instinktive  Scheu  vor  der  nackten,  unver- 
hüllten Rechtswidrigkeit  wesentlich  abgeschwächt  werden 
mufi,  sobald  man  durch  sachlich  schwer  präzisierbare 
Exzeptionalbestimmungen  den  Parteien  Gelegenheit  gibt, 
mit  gewandten  Deduktionen  das  konkrete  Zutreffen  der 
einzelnen  Normen  fort  und  fort  anzuzweifeln  und  so  den 
formalen  Rechtsboden,  den  äußeren  Schein  des  Rechts  immer 
festzuhalten;  speziell  auf  unsern  Fall  angewandt,  es  macht 
einen  gewaltigen  Unterschied  aus,  ob  der  einen  Vertrags- 
bruch planende  Staat  sich  genötigt  sieht,  mit  brutaler  Offen- 
heit wider  die  oberste  Regel  Pacta  sunt  servanda  zu  ver- 
stoßen, oder  ob  er  in  der  Lage  ist,  sie  prinzipiell  vor  wie 
nach  anzuerkennen  und  sein  Vorgehen  durch  die  Berufung 
auf  einen  hier  angeblich  Platz  greifenden  Ausnahmesatz  zu 
begründen. 

Wie  überaus  günstig,  ja  beinahe  unangreifbar  die 
Situation  sich  für  ihn  im  letzteren  Falle  gestaltet,  das  wird 
praktisch  in  hellstes  Licht  gerückt  durch  einen  geschicht- 
lichen Vorgang,  den  wir  bereits  in  §  5  herangezogen  haben 
(oben  S.  49  f.).  Als  der  russische  Kaiser  während  des 
deutsch-französischen  Kriegs  sich  von  der  ihm  1856  aufge- 
zwungenen Neutralisier ung  des  Schwarzen  Meers  lossagte, 
ging  das  Bestreben  Englands  zunächst  natürlich  dahin,  das 
als   eine   flagrante  Verletzung  des   Grundgesetzes   von   der 


^  Gedanken  und  Erinnerungen  U,  S.  247. 


n  1. 


81 


i 

■: 

w 


Vertragstreue  zu  churnkteriaiereQ.  Rußland  wich  dem  jedoch 
einfach  dadurch  aus,  daß  es  von  vornherein  jede  gegen 
diesen  gericiitete  Intention  in  Abrede  stellte;  es  erklärte 
wiederholt  und  aufa  Feierlichste  (Mituoterzeichnung  dos 
Londoner  Protokolls  vom  17.  Januar  1871!),  daß  ea  auch 
seinerseits  von  der  Heiligkeit  des  einmal  gegebenen  Worb» 
durchdrungen  sei,  nur  erleide  nach  völkerrechtlichen  Theo- 
remen (die  ea  in  diesem  Falle  zu  acceptieren  für  gat  fand) 
Ata  Prinzip  unter  gewissen  Umständen  eice  Durchbrechung, 
die  selbst  wieder  juristisch  sanktioniert  sei.  Indem  es  nun 
in  concreto  das  wirkliche  Gegebensein  eines  derartigen  Falles 
behauptete,  war  die  Sache  äußerlich,  wiewohl  es  sich  dabei 
notorisch  um  den  „schlimmsten  Rechtsbruch"  '  handelte,  in 
nicht  zu  widerlegender  Weise  auf  eine  bloße  Divergenz  in 
der  beiderseitigen  Auffassung  und  Auslegung,  des  objektiv 
gegebenen  Rechtszustandes  hinausgespielt,  eine  Divergenz, 
die  eelbstverstAndlich  wegen  des  völligen  Mangels  eines 
internationalen  Richters  der  formell-autoritären  Schlichtung 
genau  so  unzugänglich  war  wie  jede  andere,  ganz  bona  fide 
'«Dtetandene  auch.  — 

Wir  stehen  am  Schlüsse  der  über  den  rechtspol itiachen 
'Wert  oder  Unwert  der  clausula  rebus  sie  stantibus  entscheiden- 
den Betrachtungen.  Werfen  wir  einen  zusammenfassenden 
IHUckblick  auf  das  gesamte  in  §  7  enthaltene  Material,  so 
wird  schwerlich  noch  ein  Zweifel  darüber  möglich  sein,  daß 
das  Urteil  über  sie  schlechthin  verwerfend  ausfallen  muß; 
man  kann  nur  durchaus  der  Ansicht  beipttichten,  die,  eben 
Während  der  letzterwähnten  Pontusangelegenheil,  ein  prak- 


•  Herfter-Geffckeii,   Europäisches   Völkerrecht,   S.   21(i,    N.   5. 

'   BuBlnnd   lediglich    ^die   Üunsl    der    poli tischen    Sitnatiuii    he- 

d    war",   gab    es    während  der  Londoner   Konferenzisn    inaplicite 

nmal  insofern  «n,  xl«  e«  unter  den  seit  1856  eingetretenen  „Ver- 

"  anch  den  Stan  des  franzSsUehea  Rniserreichs   mit  anrührte 

>Bt.   N.K.G.   XVin,    S.   279).      Dm  bieK  doch   wirklich   dem 

ien   OroHbritauuien    ge^euüber   lum   Scbadea    noch   difn   l^pott 

;  denn  dieties  konnte  jn  hierin  nur  eine  ahaiuht liehe  Erinnernng 

ie  Tabiaohe  erblicken,  daH  es  früher  einen  mäcbtig'en  ftuDdeB^nomen 

B  gehabe,  jetzt  aber  ihn  verloren  habe. 

Stalte  u.  •alkerrsobtl.  Abhuidl.    VI  L.  -  SalimMt.  6 


82 


VI  1. 


tiächer  HtaAtsniann  ^  daliin  foroiuliert  hat,  daß  jede  allge- 
meinere Anwendung  derKlauael  geradezu  zerstörend  und  zer- 
setzend auf  die  Vertragsaicherheit  überhaupt  einwirken  würde. 
Und  zwar  hat  daB  mvht  etwa  blos  für  jetzt  und  die  nächste 
Zukunft,  sondern  ganz  unbeBchränkt  zu  gelten :  wir  haben 
ja  geächen,  daß  die  Sache  in  tiefster  und  letzter  Wurzel 
mit  der  grundaätzlich  nie  ablegbaren  Eigenart  des  Völker- 
rechts als  solchen  zusammenhängt.  Wie  die  Dinge  einmal 
liegen,  muß  letzteres  es  sich  unbedingt  versagen,  nach  dem 
Muster  des  innerstaatlichen  Rechta  auf  möglichste  Voll- 
ständigkeit und  feine  Detailauaarbeitung  des  juristiBchen 
Systems  auszugehen;  es  bedeutet  für  dasselbe  einen  gefähr- 
lichen Luxus,  die  obersten  und  unentbehrlichsten  Prinzipien 
des  wechselseitigen  Staaten  verkehr»  mit  mannigfach  ver- 
zweigten Ausjmhmsfestsetzungen  zu  Uberspinnen  ^.  Denn  in 
demselben  Maße  wie  hierdurch  die  theoretisch  befriedigende 
Geschlossenheit  der  völkerrechtlichen  Ordnung  steigt, 
schwindet  anderseits  die  praktische  Brauchbarkeit:  die 
Staaten  erhalten  auf  diese  Weise  blos  einen  Freibrief,  mit 
den  Normen  und  Mitteln  des  Rechts  selbst  das  Hecht  beliebig 
zu  verhöhnen. 

§8- 
Man  kann  der  Wissenschaft  des  Völkerrechts  das 
Zeugnis  nicht  verweigern,  daS  sie  die  große  Bedenklichkeit 
der  von  ihr  aufgestellten  Klausellehrc  sehr  wohl  gefühlt 
und  oftmals,  freilich  durchweg  ohne  viel  Erfolg,  versucht 
hat,   Abhilfe   hiergegen  zu  gewinnen.     Die  Verbesserungs- 


<  Lord  Oraovitle  in  Reiaer  Note  vom  la  November  1870  (vgl. 
BluntBcbÜ,  Modernes  Völherrecht,  3.  Aufl.,  S.  257):  ,NBch  Jener  Lehre 
norde  dem  individuellen  Sonderermeisen  einer  jeden  Vertragspartei  anheim- 
gegeben sein,  den  g'Bozen  Inbnll  des  Vertrags  wieder  ihrer  Kontrole  lu 
antarwerfen  nnd  nur  so  lange  gebunden  eu  «ein,  als  e»  ihm  beliebt,' 

*  Ähnlich,  wiewohl  ohne  jede  nähere  AuAtfihraiig  und  Degrändung, 
Eoltzendorff  im  UtmdbDch  des  Völkerrecbtit  II  (IttäT),  S.  53:  „Es 
wäre  im  höchsten  Grade  gefährlich,  die  GrundsätEe  oder  die  intemationHleD 
Fandainente  durch  theoTetiscbe  Koiifltruktion«n  von  Ansnahmeu  an  dnrch- 
IGchem." 


I 


VI  1.  83 

yorschlüge,  tlie  zu  diesem  Zweck  gemacht  wurden,  haben 
sich  auf  mannigfache  Teile  der  Gesamttheorie  erstreckt. 

Als  nächstliegendes  Mittel  bot  sich  offenbar  diea  dar, 
die  Art  und  Beschaffenheit  der  res  mutatae,  die  durch  ihr 
Eintreten  völken-echlliche  Verträge  juriatiseh  aufheben 
sollten,  noch  scharfer  zu  präzisieren,  d.  h.  weiter  auf  dem 
Wege  fortzugehen,  welchen  schon  die  regelmäßige  Lehre 
einschlug,  als  sie  von  der  Forderung  wesentlicher  Ver- 
andenmgeii  zu  solchen  überging,  welche  den  betreffenden 
Staat  in  einen  EonBikt  zwischen  seinen  eigenen  höchsten 
Interessen  und  der  Pflicht  der  Vertragstreue  hineindrangen. 
Als  Beispiel  für  diese  Richtung  kann  u.  a.  auf  die  Aus- 
fuhrungen Bezug  genommen  werden,  die  v.  Liazt  in  der 
ersten  Auflage '  seines  Völkerrechts  gegeben  hat. 

Zunächst  und  prima  facie  scheint  derselbe  zwar  zu  den 
prinzipielle»  Gegnern  der  clausula  zu  zählen,  da  er^  ganz 
allgemein  sagt:  „Die  Beliauptuug,  daß  alle  völkerrechtlichen 
Verträge  mit  der  stillschweigenden  Klausel  rebus  sie  stan- 
tibus geschlossen  werden,  ist  zweifellos  unrichtig";  man 
hat  indes  zu  beachten,  daß  letzterer  »achlich  doch  eine 
partielle  in  integrum  restitutio  widerfiihrt  vermöge  des 
gleich  darauf  folgenden"  Satzes:  ^Bei  Verträgen,  die  auf 
anbestimmte  Zeit,  vielleicht  sogar  auf  ewige  Zeiten  ge- 
BchloBnen  sind,  ist  keiner  der  vertragsschließenden  Teile 
mangels  besonderer  Vereinbarung  zur  einseitigen  Kündigung 
berechtigt,  soweit  nicht  etwa  ein  Notstand  im 
technischen  Sinne  des  Wortes  vorliegt.'"  Indem 
dann  der  letztere  Begrifl'  an  einer  noch  späteren  Stelle  in- 
haltlich mit  der  Rücksicht  auf  die  staatliche  Selbsterhaltung 
gleichgesetzt  wird',   gelangen  wir  kombinierend  schließlich 


■  A.  ».  O.,  8.  117.  WSrtÜch  üLereiMtimmuHd  unch  iii  üirk- 
meyerB  BechtaeuEyblo pädia  (1901),  ».  1291. 

>  Völkerrecht,  S.  118;  auch  BevhUeQE.vklnpÄdie,  H.  1291. 

*  S.  129:  „Auch  diejenigen  tichriftiil«  11  er,  welche  die  Anwendtiarkeit 
dM  NotatandsbegriOea   im  VDIkerreuht  ieugneii,  gewähren  dem  bedrohtea 


84  VI  1. 

zu  dem  Resultat,  dafi  wenigstens  bei  Gefährdung  dieser 
Selbsterhaltuug  einseitige  Vertragsaufhebung  rechtlich 
doch  nicht  unstatthaft  sein  solP. 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dafi  auf  diese  Weise  theo- 
retisch eine  wesentliche  Verengerung  der  bedenklich  vagen 
Fassung  erzielt  wird,  welche  der  üblichen  und  herrschenden 
Elausellehre,     sehr   zu    ihrem    Schaden,    eigentümlich    ist: 


Staat  das  Recht   auf  Selbsterhaltan^.     Damit  ist  derselbe  Begriff  durch 
einen  anderen  Ausdruck  bezeichnet. 

^  In  der  zweiten,   aus  dem  Jahre   1902  stammenden  Auflage  (mit 
der    die   dritte   wörtlich    übereinstimmt)   hat  v.   Liszt   die    betreffenden 
Partien  einer  Umarbeitung  unterzogen,  dergestalt,   daß  jetzt  die  Klausel- 
doktrin bei  ihm   folgende  Form    aufweist.     Ausdrücklich  anerkannt  er- 
scheint sie  nunmehr  in  dem  Maße,   daß  „Verträge,  die  im  Hinblick  auf 
einen   bestimmten  rechtlichen  Zustand    und  unter  Voraussetzung   seiner 
Fortdauer  geschlossen   sind,   einseitig  gekündigt  werden  können,   wenn 
dieser  Zustand  sich  wesentlich  geändert  hat''  (S.  166),  resp.  daß  (S.  167) 
„eine  Ausnahme  von  der  Norm  Pacta  sunt  servanda   insoweit  zugegeben 
werden  muß,  als  der  geschlossene  Vertrag  eine  bestimmte  Rechtslage,  sei 
es   ausdrücklich,   sei   es   stillschweigend,  zur  Voraussetzung  nimmt  und 
diese    Rechtslage     sich    wesentlich    veränd^rt^.      Büt    anderen    Worten, 
V.  Liszt   schließt  sich  jetzt  grundsätzlich  derjenigen  Richtung  an,   die 
Art  und  Umfang  der  eine  TraktalsannuUation  gestattenden  Umgestaltungen 
nicht   nach   objektiv  generellen  Merkmalen,  sondern  rein  subjektiv,   im 
Sinne    der    in    concreto    vertragschließenden    Parteien,    bestimmt   wissen 
will  (vgl.   hierzu  oben   S.  20,   36).     Nicht  völlig  klargelegt  wird  dabei, 
in  welcher  Weise  das   des  Näheren  zu  verstehen  ist.     Sollte  vielleicht 
nur    an    direkte,    ausdrücklich   oder  stillschweigend   erklärte    Resolutiv- 
bedingungen gedacht  werden,  so  wäre  natürlich  gegen  die  diesen  zu- 
geschriebene  juristische    Tangierung    der    Vertragswirksamkeit    nicht 
das  Mindeste   einzuwenden  (cf.  oben  S.  87).    Dagegen  gestaltet  sich  die 
Sache   praktisch   wieder  recht  bedenklich,  falls  etwa  —  und  Ausdrucks- 
form wie  Art  der  gewählten  Beispiele  machen  das  zu  dem  weitaus  Wahr- 
scheinlicheren  —  nicht   bloß  solche,   rechtswirksam   gleich   bei   Abgabe 
der  Vertragserklärung  hinzugefugte  Willensbeschränkungen  gemeint  sind, 
sondern    auch    schon   den   (nach   außen  nicht  mit  hinlänglicher  Schärfe 
markierten,  vielleicht  sogar  den  betreffenden  Mächten  selbst  erst  hinterher 
zu  klarem  Bewußtsein  gekommenen)   „wahren   und  eigentlichen  Willen^ 
der    Kontrahenten    spezifisch- rechtliche    Berücksichtigung,    und    zwar 
die  Einräumung  juristischer   Befugnis  zur  Kündigung  (s.  unten  S.  89  ff.) 
zugedacht  wird  (hierüber  zu  vgl.  §  15,   S.  183  ff.,  bes.  S.  186,  Anm.  2). 
Eine  fernere,  durch  die  zweite  Auflage  an  der  ersten  vorgenommene 
Modifikation    macht   sich   bez.   der  Verwendung  des   subsidiär  aucli  jetzt 
noch   herangezogenen  (cf.   8.  167/168   in  Verbindung  mit   182/183)  inter- 
nationalen  Notstandsbegriffes    bemerklich;    doch    ist    in    diesem    Punkte, 
anders   als  bei  dem  vorhin  besprochenen,  richtiger  keine  materielle  Ver- 
änderung des   früher  Gesagten,   sondern   lediglich   eine   formale  Berichti- 
gung (cf.  unten  §  12,  S.  140,  Anm.  3j  zu  erblicken. 


VI  I. 


85 


während  fUi-  diese  die  politische  Selbsterhaltung  blos  den 
wichtigsten,  aber  keineswegs  einzigen  FhII  der  in  Betracht 
kommenden  „obersten  Staats! ntereasen  und  -zwecke"  be- 
deutet', soll  jetzt  eine  juristisch  erlaubte  Bezugnahme  auf 
die  clausula  eben  ausschließlich  dort  eintreten  dürfen,  wo 
die  ErflllluDg  des  betreffenden  Vertrags  unmittelbar  die  staat- 
liche Existenz  des  Verpflichteten  bedrohen  würde.  Indes 
wenn  damit  natürlich  auch  dem  unwillkürlich -frivolen  Miß- 
brauch der  Klausel  gewisse  Schwierigkeiten  in  den  Weg 
gelegt  werden,  so  sind  doch  praktisch  die  letzteren  nach 
Lage  der  Dinge  keineswegs  sehr  hoch  zu  veranschlagen; 
denn  offenbar  vermag  mala  fides  den  Gesichtspunkt  der  not- 
wendigen Selbsterhaltnng  formell  gerade  sd  (und  streng 
juristisch  nicht  weniger  unwiderleglich!)  stets  vorzuschützen, 
wie  das  bei  der  allgemeiner  lautenden  Abstellung  auf 
Wahrung  der  höchsten  Interessen  schlechthin  der  Fall  ist. 
Diese  Aussicht  ist  um  so  bedenklicher,  weil  die  wahrhaft 
vitalen  Existenzbedingungen  bei  den  einzelnen  Staaten  je 
nach  ihrer  Eigenart  und  Besonderheit  als  Agrar-  oder  In- 
dustrie-, Kontinental-  oder  Seemacht  etc.  etc.  auch  ganz 
verschieden  sind  und  sein  müssen.  Wie  nahe  gerückt  er- 
scheint da  die  Möglichkeit,  daß,  nachdem  der  Staat  A  — 
und  zwar  von  seinem  Standpunkt  aus  mit  gutem  Grunde  — 
die  Einhaltung  eines  Traktats  verweigert  hat,  der  .Staat  B 
in  einer  analogen  Lage  unter  Berufung  auf  den  gegebenen 
Präzedenzfall  das  Gleiche  tun  wird,  wiewohl  es  sich  bei 
ihm  tatsächlich  gar  nicht  um  eine  Gefährdung  seines  poli- 
tischen Fortbestandes  handelt. 

Nach  alledem  würde  die  clausula  rebus  sie  stantibus 
auch  in  der  abgeänderten  Fassung  noch  immer  höchst  ge- 
lUbriich  bleiben;  man  dürfte  sich,  wenn  in  wirklich  durch- 
schlagender Weise  beliebigen  Umgehungen  des  Satzes  Pacta 
sunt  servanda  vorgebeugt  werden  soll,  keineswegs  mit  der 


.  H.   aiil'  (lit  S.  9'10  wiadei^pge belle  Formulierung- 


86  VI  1. 

Aufstellung  eines  allgemeinen,  vielfältigster  Mißdeutung  aus- 
gesetzten Schlagworts  begnügen,  sondern  müßte  im  voraus 
konkreter  die  Umstände  zu  bestimmen  suchen,  unter  denen 
in  Wahrheit  von  einer  Bedrohung  der  staatlichen  Existenz- 
fähigkeit gesprochen  werden  kann.  Indes  sobald  man  sich 
auf  diesen  Weg  drängen  läßt,  wird  man  mit  Notwendigkeit 
wieder  in  anderer  Beziehung  zu  völlig  unbefriedigenden 
Ergebnissen  kommen.  Angenommen  nämlich,  es  gelänge 
tatsächlich  eine  Formulierung  zu  finden,  die  infolge  ihrer 
Präzision  und  casuistisch-detaillierten  Ausarbeitung  jede 
Mißbrauchsmöglichkeit  so  gut  wie  ausschlösse,  so  wäre  das 
ganz  sicher  nur  um  den  Preis  erkauft,  daß  die  früher  zu 
weite  Fassung  jetzt  wieder  zu  eng  geworden  ist.  Kann 
doch  jede  speziellere  Bestimmung  der  zulässigen  An- 
wendungsfklle  stets  nur  auf  Grund  und  mit  Hilfe  des  bis 
dahin  schon  vorhandenen  Erfahrungsmaterials  vor  sich  gehen, 
dergestalt,  daß  sie  von  Anfang  an  auch  nur  auf  dieses  in 
der  Hauptsache  paßt  und  zugeschnitten  ist.  Nun  bringt 
aber  anerkannt  das  praktische  Leben  wie  überall  so  auch 
hier  fortwährend  ganz  neuartige  Konstellationen  hervor,  an 
die  man  früher  absolut  nicht  denken  konnte  und  die  des- 
halb jetzt  auch  von  der  positiven  Formulierung  der  Klausel 
nicht  im  mindesten  berücksichtigt  erscheinen.  Demgemäß 
wird  gerade  die  vorsichtigste  und  detaillierteste  Fassung 
am  allerhäufigsten  auf  Vorkommnisse  stoßen  müssen,  denen 
sie  nach  der  Gr^indabsicht  der  clausula  gerecht  werden 
sollte  und  doch  nicht  gerecht  wird,  das  will  sagen  auf 
Vorkommnisse,  bei  denen  tatsächlich  und  bona  fide  die 
Rücksicht  auf  politische  Selbsterhaltung  die  Erfüllung  eines 
Vertrags  unmöglich  macht,  die  aber  trotzdem  nicht  von 
dem  strikten  Wortlaut  'der  Regel  umspannt  und  erfaßt 
werden. 

Mit  den  letztgegebenen  Erörterungen  haben  wir  über- 
haupt ganz  allgemein  die  Schwierigkeit  berührt,  an  der 
ausnahmslos  jeder  Versuch,  die  clausula  durch  schärfere 
Präzisierung    ihrer     materiellen    Voraussetzungen    zu    ver- 


VI  1. 


87 


besaern,  mit  begrifflicher  Notwendigkeit  scheitert,  gleichviel 
ob  man  nun  dabei  an  den  Gesichtspunkt  der  Selbst- 
erbaltung  oder  an  irgeadwelchen  anderen  anzuknüpfen  be- 
strebt ist.  Eb  ist  nämlieh  bei  der  ganzen  Lehre  praktieeh 
nie  über  eine  peinliche  Alternative  hinauszagelangen.  Ent- 
weder man  wiQ  der  ursprünglichen  Idee  treu  bleiben,  d.  h. 
die  Obernorm  Pacta  sunt  servanda  grundsätzlich  von  der 
ErBtreckung  auf  alle  Fälle  ausschlitasen,  für  die  sie  sach- 
lich nicht  angemessen  ist.  In  diesem  Falle  muß  man  die 
den  Ausnahmesatz  statuierende  clausula  unbedingt  mit 
einer  gewissen  Vieldeutigkeit  der  Ausdrucksform  aus- 
statten, weil  sonst  der  Mannigfaltigkeit  des  Lebens  er- 
schöpfend eben  nicht  beizukomnien  ist,  öffnet  aber  damit 
freilich  in  der  frUher  geschilderten  Weise  auch  dem  dolosen 
Mißbrauch  Tür  und  Tor.  Oder  man  bemüht  sich  in  erster 
Linie,  letzteren  nach  Möglichkeit  zu  verhüten.  Dann  wird 
wieder  die  Klausel  allmählich  immer  enger  und  speziali- 
sierter gehalten;  es  tritt  alsbald  an  ihr  die  Erscheinung 
hervor,  daß,  wie  in  der  Logik  Inhalt  und  Umfang  der  ab- 
strakten Begriffe  stets  im  umgekehrten  VerhBltnis  zu 
einander  stehen,  so  Entsprechendes  auch  von  abstrakten 
Rechtsnormen  gilt:  je  mehr  eine  solche  Einzelheiten  als  Vor- 
aussetzungen in  sich  aufnimmt,  desto  geringer  wird  die  Zahl 
der  ihr  praktisch  zu  unterstellenden  Fälle,  womit  sie  nach 
der  entgegengesetzten  Richtung  zusehends  an  Wert  verliert. 
So  muß  die  völkerrechtliche  Klauseldoktrin  stets  zwischen 
zwei  konträren  Zielen  hin  und  her  schwanken,  ohne  bei 
dem  Mangel  eines  internationalen  Richters  jemals  beide 
gleichzeitig  erreichen  zu  können.  — 

Auf  einem  prinzipiell  anderen  Wege  als  dem  bisher  be- 
handelten sucht  Kivier'  eine  sachlich  beschränklere  und 
damit  weniger  gefiihrliche  Fassung  der  clausula  rebus  sie 
aiantihus  zu  erhalten :  er  will  nicht  die  Art  und  Beschaffenheit 
der  zu  fordernden  Veränderungen  schärfer  bestimmen, 


■  Ober  ihn  >.  §  3,  S.  12  bei  Aum.  2. 


88  VI  I. 

sondern  von  vornherein,  wie  bereits  gelegentlich '  bemerkt 
wurde,  blos  einen  Teil  der  Stmitaverträge,  lediglich  j 
wisse  Klassen  und  Gruppen  von  solchen  der  rechtlichen 
Aufbebung  infolge  späterer  Umgestaltung  der  Verhältniase 
unterwerfen.  Und  zwar  läuft  seine  Ansicht,  näher  betrachtet^ 
darauf  hinaus,  daß  lediglich  bei  einem  Vertrage  „der  fort- 
dauernde soziale  und  politische  Verhältnisse  regelt, 
also  bei  Handelsverträgen,  Schiffahrts vertragen,  Nieder- 
las SU ngs vertrage II,  Post-,  Telegraplien-,  MUnzvertrUgeu,  auch 
Bündnissen  und  dergl."  einseitige  Lossagung  juristisch  ge- 
stattet sein  soll;  dagegen  hält  er  die  letztere  „für  nie  zu- 
lässig bei  Verträgen,  die  ein  fUr  alle  Mal  bestimmt  sind, 
einen  definitiven  Zustand  zu  achaifen",  eine  Klasse,  zu  der  ^ 
er  „vorzüglich  Dispositiv  vertrage  wie  Friedens-  und  Gre 
traktate"  rechnet. 

Es  darf  mit  Bestimmtheit   behauptet  werden,   daß   daa 
Ganze    eine  verfehlte  Idee    ist.     An    erster  Stelle    wäre    zu 
bemerken,    daß   gerade   hier  die   von    uns    bereits   früher' 
konstatierte  Tendenz  der  Völkerrechts  Wissenschaft  zu  rein 
naturrechtlicher    Fortbildung    der    internationalen  Ordnung   1 
wieder    einmal   so   recht  deutlich  zu  Tage  tritt;    wenn  wir   | 
fragen,    wie    Rivier    zu  seiner  prinzipiellen  Unterscheidung 
zwischen  den  Verträgen  kommt,   so   ist  von  irgendwelchem 
positiven   Nachweis,   von   praktisch-historischen   Belegen 
dafUr,  daß  die  Staaten  in  dem  einen  Falle  die  juristische 
Aufhebbarkeit   der  Traktate   wollen   und   in   dem   andereo 
nicht,  nicht  die  Rede,  sondern  lediglich  weil  der  einzelne 
Autor    subjektiv  diese  Gestaltung  fUr  vernünftig  und  an- 
gemessen hält",    „muß  man  den  8atz   aufstellen",   wird  die 
betr.  Lehre  als  gültiges  Hecht  proklamiert.    Fernerhin  liegt  1 
es  auf  der  Hand,   daß   die   versuchte  Grenzziehung  seibat  J 
sehr  unsicher   und  schwankend  ausgefallen  ist;    namentlich  j 


'  S.  13,  Anw.  I. 
"  Cf.  oben  S.  65  ff. 
^  Nebenbei  gesagt  aibd  aucti  uouh  d 
als  änßerst  anfechtbar  zu  bezeicbueii. 


a  beigebrachttn  Oründe   | 


'  VI  1. 


89 


der  Begriff  der  Di  8  positiv  vertrage  igt  ein  rei^lit  unpräzieer, 
um  so  mehr,  aU  bei  einigen  dereelbeu  ausdrlicklicii  doch 
wieder  Kündigung  ziigelasBen  wird'.  Und  wenn  wir 
schließlich  b!oa  diejenigen  Verträge  ins  Auge  faasen,  bez. 
deren  die  einseitige  Lösbarkeit  mit  voller  Bestimmtheit  von 
Rivier  ausgeschlossen  wird,  so  ist  nicht  im  mindesten  ein- 
zusehen, warum  beispielsweise  allen  Grenz-  und  Territorial- 
abmachungen dieses  Privilegium  odiosum  zukommen  soll; 
im  Gegenteil  kann  auch  bei  ihnen  sehr  wohl  eine  materielle 
Notwendigkeit  der  Nichterfüllung  alter  vertragsmäßiger 
Zusagen  sich  einstellen,  wie  u,  a.  bei  dem  konkreten  Falle, 
der  dem  Verfasser  zu  der  ganzen  liier  vorliegenden 
Arbeit  den  ersten  Anlaß  gegeben  hat,  aufs  Klarste  zu  be- 
obachten ist*. 

Eine  dritte  Methode^,  die  clausula  rebus  sie  stantibus 
praktisch  annehmbarer  und  erträglich  zu  machen,  operiert 
nicht  mehr  wie  die  beiden  anderen  mit  möglichster  Ein- 
Bchrltnkung  der  materiellen  Elemente  derselben,  sondern 
ist  bemüht,  das  gewünschte  Resultat  durch  Hinzufügung 
eines  formalen  Moments  zu  erreichen.  In  der  völker- 
rechtlichen Literatur  herrscht  vielfach  eine  große  Unklar- 
heit darüber',  wodurch  eigentlich  das  juristische  HinMlig- 
werden  internationaler  Verträge  eintreten  soll:  ob  unmittel- 
bar schon  durch  die  Veränderung  der  Umstände  als  solche 
oder  erst  durch  die  auf  sie  gestützte  Kündigung".  Dieser 
theoretischen  Unsicherheit,  die  manche  Spuren  auch  in  dem 
konkreten  Verhalten  der  Staaten"  hinterlassen  hat,  machen 


'  Vgl.  a  352,  Anm.  2. 

*  0£  B    SüLiaidt,   Der  BcliwediBcb-meckleaburg'Uchc  Pfaudvcrtra^ 
T  Stadt  und  Harr«cliaft  Wismar  (Leipzig  1901),  ä.  67  ff. 

*  Die  ftbrigüDS  mit  den  swei  ar8t«ii  auch  kombjuiert  ttuflreteii  ttanu. 
0«rade   bei   den   zuletit   genaimten   Schrift«teilern ,    lowobl   Bivier  wij 

■  it,  ist  daa  tatBäfhlicii  der  Fall. 

*  Nach  den  Ausfljlirungen,  die  Pfaff  in  aeioem  Bcbun  S.  5,  Äain.  2 
•tifMOgonen  Werke  g'ibt,  srjkr  gaua  die  oämlidie  Erscbeiiiuiig  in  der 
ehemaligen  liviligtlscben  El«tuellebre  KlcichfatU  la  beobacbtea.  Cf.  a. 
».  O.,  S.  20,  Anm.  I,  S.  72,  S.  lOS,  Anm.  1  imd  Gfter. 

■  Vfl.  oben  8,  19  bei  Anm.  2. 

*  El   verlieht   sich   von  ulbit.    daß  melhojologiidi   richtiger  hier 


90  VI  1. 

nun  diejenigen  Schriftsteller  ein  Ende,  die  mit  Entschieden- 
heit eine  ausdrückliche  Lossagung  von  den  Traktaten  ver- 
langen und  hierin  ein  ausreichendes  Korrektiv  wider  all- 
zugroSe  Unbestimmtheit  der  Klausel  gefunden  zu  haben 
meinen  ^ 

In  der  Tat  sind  dieser  Formulierung  einzelne  Vorzüge 
gar  nicht  abzusprechen.  Vor  allem  nach  der  Richtung  hin, 
daß  mit  ihr  wenigstens  ein  festes  äußeres  Kriterium  für 
die  fortdauernde  Rechtsgültigkeit  internationaler  Verträge 
gewonnen  ist:  wenn  man  bei  der  Annahme  der  Ipso-jure- 
Wirkung  wegen  der  außerordentlichen  Dehnbarkeit  der 
clausula  rebus  sie  stantibus  eigentlich  von  keinem  einzigen 
Uebereinkommen  mit  voller  Bestimmtheit  behaupten  kann, 
ob  es  noch  in  Kraft  steht  oder  nicht,  erscheint  nunmehr 
unbedingt  jedes  gültig,  das  nicht  expressis  verbis  gekündigt 
wurde.  Ebenso  darf  man  der  modifizierten  Fassung  eine 
gewisse   Erschwerung   des   ungerechtfertigten   und    dolosen 


abermals  nur  von  einer  Untersuchung  des  Willens  dieser  hätte  aus- 
gegangen werden  sollen.  Da  dies  jedoch  nicht  der  Fall  war,  vielmehr 
die  Klausellehre,  wie  überhaupt,  so  auch  in  dieser  Beziehung  rein  subjektiv 
doktrinär  entwickelt  wurde,  so  mußten  von  ihr  natürlich  umgekehrt  die- 
jenigen Staaten  sachlich  beeinflußt  werden,  die  erst  hinterher  (et  oben 
S.  5o)  die  bequeme,  ihnen  dargebotene  Theorie  zu  fraktifizieren  und  in 
die  Praxis  umzusetzen  suchten.  Demgemäß  findet  sich  eben  das  im  Text 
erwähnte  Schwanken  der  Wissenschaft  u.  a.  auch  getreulich  wieder  in 
dem  russischen  Rundschreiben  vom  19./31.  Oktober  1870  über  die  Auf- 
hebung der  Neutralisierung  des  Schwarzen  Meeres,  denn  dort  heißt  es 
das  eine  Mal:  „Sa  Majest^  Imperiale  ne  saurait  se  consid^rer  plus 
longtemps  comme  li^e  aux  obligations  du  trait^  de  18/30  mars  1856" 
(hier  wird  offenbar  die  Annahme  einer  Ipso -jure -Wirkung  angedeutet), 
gleich  darauf  aber  auch:  „Sa  Majestä  Imperiale  se  croit  en  droit  de 
d^noncerla  Convention'^  (in  diesen  Worten  ist  nur  von  einem  spezifischen 
Recht  auf  Kündigung  die  Rede). 

^  Vgl.  z.  B.  Nippold,  Der  völkerrechtliche  Vertrag,  seine  Stellung 
im  Rechtssystem  und  seine  Bedeutung  für  das  internationale  Recht,  S.  240 : 
„Der  Vertrag  erlischt  nicht  ipso  jure,  sondern  er  muß  unter  Berufung 
auf  die  Klausel  gekündigt  werden.  Die  Gefahr  des  Mißbrauchs  derselben 
ist  sonst  zu  groß."  Völlig  übereinstimmend  Uli  mann,  Völkerrecht, 
S.  177:  „Es  lieg^  in  den  Bedingungen  eines  rechtlich  geordneten  Staats- 
verkehrs die  Forderung,  daß  in  einem  selbständigen  Akte  der  Wille,  das 
bestehende  Vertragsverhältnis  aufzuheben,  der  Gegenpartei  zum  Ausdruck 
gebracht  werde,  nämlicli  durch  Kündigung  des  Vertrags.  Die  Kündigung 
fungiert  hier  zugleich  als  Mittel  zur  Verhütung  des  Mißbranchs." 


VI  1. 


91 


■ 

I 


Vertragsbruchs  lEsoferii  wirkHuh  nachrdrimen ,  als  die 
Notwendigkeit,  den  Traktat  formell  aufsjtgen  und  dies 
im  einzelnen  auch  begründen  zu  mUsseD,  vielleicht 
manchen  Staat  von  der  einseitigen  Aufhebung  zurUck- 
lialten  wird. 

Freilich  ist  gleichzeitig  davor  zu  warnen,  von  dem 
letzteren  Moment  gerade  allzuviel  zu  erwarten^  ist  doch 
das  hauptsächlichste  und  echlinimste  Übel  der  ganzen 
Klausellehre,  die  eigentliche  radix  malorum,  noch  immer 
unausrottbar  vorhanden.  Wie  wir  aus  §  7  (oben  S.  7ö) 
wissen,  besteht  dasselbe  darin,  daß  die  Staaten  durch  die 
clausula  in  den  Stand  gesetzt  werden,  heuchlerisch  den 
wahren  Sachverhalt  zu  maskieren,  den  schamlosesten  Ver- 
tragsbruch zu  begehen,  ohne  ihn  doch  offen  als  solchen 
eingestehen  zu  mlissen.  Das  ist  aber  unter  den  neuen 
Verhältnissen  kaum  weniger  der  Fall  als  unter  den  alten. 
Im  Grunde  bedeutet  es  doch  bloß  eine  kleine  Verschiebung, 
wenn  man  nicht  mehr  sagt  „das  objektive  Völkerrecht  er- 
klärt Verträge,  seit  deren  Abschluß  wesentliche  Ver- 
änderungen vor  sich  gegangen  sind,  direkt  für  aufgehoben", 
sondern  die  Sache  so  formuliert  „Es  gewährt  unter  diesen 
Umstanden  dem  Verpflichtelen  ein  Recht  der  Traklata- 
kUndigung" ;  das  Eine  wie  das  Andere  kann  offenbar  dem 
bSsen  Willen  gleichmäßig  als  juristischer  Deckmantel 
dienen,  weshalb  es,  sobald  ein  Staat  einmal  fest  entschlossen 
ist,  unter  nichtigen  Vorwänden  sich  über  früher  über- 
nommene Verbindlichkeiten  hinwegzusetzen,  fllr  ihn  schwer- 
licli  noch  viel  ausmachen  wird,  auch  die  ausdrückliche 
LoBsagung  zu  vollziehen. 

So  wären  wir  denn  immer  wieder  zu  der  Erkenntnis 
zarückgedrängt,  daß  die  Klausellehre  unter  allen  Umständen, 
auch  in  ihren  Um-  und  Fortbildungen,  ein  recht  bedenk- 
liches Geschenk  darstellt,  welches  die  Theorie  der  Praxis 
gemacht  hat,  daß  sie,  sie  mag  des  Näheren  formuliert  sein 
wie  sie  will,  stets  nur  unendlich  mehr  zu  schaden  als  zu 
nützen  vermag.    Das  Ganze  ist  ein  recht  charakteristisches 


92  VI  1. 

Beispiel  dafür,  wie  leicht  auch  die  beste  Absicht  in  der 
Wahl  der  Mittel  sich  vergreifen  und  dann  geradezu  das 
Gegenteil  des  gewollten  Erfolges  herbeiführen  kann.  Denn 
blos  der  materiellen  Gerechtigkeit  gedachte  die  Doktrin 
durch  sachgemäße  und  feinere  Ausgestaltung  des  inter- 
nationalen Normensystems  zu  dienen,  und  sie  hat  doch 
lediglich  der  Ungerechtigkeit  formal -juristische  Waffen 
geliefert. 


Vierter  Abschnitt. 
Der  berechtigte  Kern  dei*  ganzen  Lehre. 


§9. 
Die  clausula  rebus  sie  stantibus  bildet  weder  zur  Zeit 
eine  positiv-gültige  Norm  des  durch  die  Staaten  für  ihren 
wechselseitigen  Verkehr  geschaffenen  Völkerrechts,  noch 
hat  sie  wegen  ihrer  eminenten  Gefährlichkeit  in  Zukunft 
Aussicht,  von  jenen  zu  einer  solchen  erhoben  zu  werden  — 
das  ist  das  Ergebnis,  zu  welchem  unsere  bisherigen  Unter- 
auchuagen  notwendig  getuhrt  haben.  Damit  ist  featgestellt, 
daß  streng  juristisch  an  der  Geltang  des  Satzes  Facta  sunt 
servauda  schlechthin  und  prinzipiell  festgehiilten  werden 
muß:  er  ist  in  der  heutigen  Internationalurdnung  durch 
keine  rechtlich  wirksamere  Ausnahmsregel  durchbrochen 
und  wird  es  aller  Voraussicht  nach  auch  niemals  werden. 
Seine  starre  und  unbeschränkte  Statuierung  scheint  nun 
Ireilich  mit  gewissen  praktischen  ErwÄgungen  nicht  zu- 
sammenstimmen zu  wollen,  die  bei  tieferem  Eingehen  auf 
die  Sache  jedem  von  selbst  sich  aufdrängen,  und  die  auch 
in  der  völkerrechtlichen  Literatur  schon  oftmals  nachdrück- 
liche Formulierung  gefunden  haben,  in  besonderer  Schärie 
z.  B.  durch  den  portugiesischen  Staatsmann  und  Publizisten 
Pinbeiro-Ferreira.  dessen  Ausführungen  hier  in  extenso 
zitiert  werden  mögen.  Derselbe  sagt  in  einem  seiner  Werke ' 
wörtlich  folgendes. 


94  VI  1. 

Ce  n'est  pas  parce  que  deux  gouverments  ont  conclu 
ensemble  teile  ou  teile  Convention  que  leurs  nations  sont 
tenues  d'en  accomplir  les  obligations,  mais  parce  que  les 
rapports  d'oü  ces  obligations  dörivent,  continuent  d'avoir 
lieu  entre  les  deux  peuples,  que  ceux-ci  (aussi  bien  que  si 
c'ötaient  deux  individus  dans  la  80ci6tö)sont  tenus  d'observer 
les  stipulations  du  contrat.  —  Du  moment  que  ces  rapports 
existent,  la  r^iprocitö  des  devoirs  qui  en  est  la  suite 
nöcessaire,  commencera  d'avoir  lieu  et  continuera  aussi  long- 
temps  que  ces  rapports  subsistent.  Aussi  du  moment  oü 
les  rapports  d*oü  ces  devoirs  tiraient  leur  origine  auront 
cessö,  Tune  des  parties  aura  beau  allöguer  les  Conventions 
contract^es  avec  eile  et  sign^es  par  Tautre,  celle-ci  estautorisöe 
ä  lui  röpondre  qu'on  ne  saurait  concevoir  Texistence  d'un 
effet  apr^s  que  la  cause  a  cess^  d'exister;  et  cette  röponse 
qui  serait  catögorique  entre  deux  individus  qui  auraient 
contractu  en  vue  des  circonstances  qui  ont  cessö  d'exister 
pour  tous  les  deux  et  sans  la  faute  ni  de  Tun  ni  de 
Tautre,  acquiert  une  force  irr^sistible  lorsqu'il  est  question 
de  deux  nations;  car,  dans  le  premier  cas,  il  y  a  identitö 
des  personnes  contractantes,  tandis  que  dans  Tautre,  ceux 
qui  ont  contractu  ne  sont  plus  ceux  qui  devaient  accomplir. 
Or,  ce  que  les  tröpassös  ont  contractu  entre  eux,  ne 
saurait  obliger  les  vivants  qu'autant  que  eela  peut  ^tre 
compatible  avec  les  intör^ts  et  des  uns  et  des  autres;  et  il 
serait  de  la  derni^re  absurditö  de  prötendre  que  la  gönera- 
tion  actuelle  d'un  pays  doit  faire  le  sacrifice  de  ses  int^rets 
a  la  gönöration  actuelle  de  l'autre,  parce  que  les  gouverne- 
ments  de  jadis,  non  contents  de  Commander  ä  leurs  con- 
temporains,  se  sont  foUement  imagin^s  que,  m§me  apr^s 
leur  tr^pas,  ils  continueront  de  Commander  ä  toutes 
gön^rations  dans  Tavenir. 

Suchen  wir  den  in  diesen  Sätzen  enthaltenen  Grund- 
gedanken aus  dem  nebensächlichen  Beiwerk  herauszuschälen 
und  scharf  zu  bestimmen,  so  ergibt  sich  offenbar  als 
Pinheiro-Ferreiras  Meinung  dies :  Wie  alles  Recht  überhaupt, 


'  VI  1. 


95 


)  stellt  auch  Jeder  konkrete  International  vertrag  stets  den 
formellen  Ausdruck  matericHer  VerhältniGse  und  Interessen- 
zustände  dar:  die  Parteien  haben  ihn  geschlossen,  weil  sein 
Inhalt  damals  beiden  gleichmäßig  angenehm  und  vorteilhaft 
erscheinen  mußte'.  Dieser  Sachverhalt,  dal3  der  eine  wie 
der  andere  Staat  bei  dem  Traktat  seine  Rechnung  findet 
und    an    ihm    interessiert  ist,     kann    unter    Umsttlnden     ein 

'  dauernder   sein;   dann   bleibt   notwendig  auch  der  Vertrag 

[  die  richtige  und  zutreffende  Formel  realgegebener  Zustünde 
und  deshalb  in  permanent  unangefochtener  Wirksamkeit 
Die  ehemaligen  Verhältnisse  können  sich  aber  auch  später 
von  Grund  aus  and<Tn,  dergestalt,  daß,  während  früher  das 
dringendste  Staatainteresee  den  Abschluß  dea  Traktats  gebot, 

I  es  jetzt  gerade  umgekehrt  seine  Nichteinhaltung  verlangt; 
in  diesem  Falle  bat  der  Vertrag  seine  materielle  Grundlage 

'  durchaus  verloren.  Bei  der  ausnahmslosen  Proklamierung 
der  Kegel  Pacta  sunt  servanda  wird  aber  das  Letztere 
aufier   Acht   gelassen:    sobald  jeder    einmal    abgeschlossene 

,  Vertrag  auf  die  Dauer  rechtliche  Gültigkeit  bewahren  soll, 
erhebt    die    Vergangenheit    die    durch    nichts    begründete 

\  Prätension,  auch  Gegenwart  und  Zukunft  unwandelbar  zu 
binden^;  man  sucht,  indem  der  nur  aus  der  früheren 
Interessen  läge  hervorgegangene  und  zu  begreifende  Traktat 
jetzt  auch  ohne  sie  aufrechterhalten  wird,   längst  entschwun- 

I  dene  Zustände  künstlich  zu  petriäzieren,  und  tritt  dadurch 
lebendigen    Wirklichkeit  in   all  er  schärfsten  Wider- 


'  Selbst   bei   (tinem    Überciiikommen ,   dlm   ünUerlich   betrHchtet  für 

a  Partner  nicbto  wie  achwerste  Opfer  mit  sich  bringt,  kann  äia 

BMhl  wohl  der  Füll  nein.    Wemi  beispieleweiBe  d[e  eiae  Macht  der  anderen 

■  durch  Friedenitraktst  wartvolle  Provinzen  ledierl,  so  tut  nie  diee  ans  der 

KEnfignng  hersua,  daB  sie  BoQBt,  bei  hartnäckigem  Widerstände,  toq  ihrem 

fner   im  Wege  der   debelintio   Tielteicht  gäDalich  niedergeworfen  und 

n   politischen  Selbstündigkeit   fiberbaupt  beraubt  werden  wnrde,   eine 

r«icht,   mit   der   verglichen   der  Verla«!   eines  Teil»   dea   SMat^gebieta 

r   noch   dax   kleinere   Übel   darstellt     Tgl.  Held,   in  Botteck- 

Welukera  Staats texikon,    Bd.   14  (S.  Aufl.  1866},  S.  594:   „Ein  VSlkcr- 

Tertrkg  kann,  obgleich  hSchat  beachwerend,  ja  lähmend,  doch  im  ersten 

Augenblick  and  auf  einige  Zeit  ein  SelbiterhaltungB vertrag  eeia  — ■" 

*  Vgl.  den  Ähnlichen  Qedankengang  Jellineka,  oben  ß.  10. 


96  VI  1. 

Spruch.  Da  das  aber  für  ein  wahrhaft  gutes  und  brauch- 
bares Recht  sicherlich  unzulässig  ist,  so  bedarf  eben  die 
obengenannte  Völkerrechtsnorm  unbedingt  einer  entsprechen- 
den Korrektur. 

Daß  eine  solche  wirklich  nötig  ist,  wird  so  leicht  kein 
Verständiger  in  Abrede  stellen ;  niemand,  der  die  Dinge 
tiefer  zu  durchdenken  bemüht  ist,  wird  in  der  Regel  Pacta 
»unt  servanda  unter  allen  Umständen  der  Weisheit  letzten 
Schluß  erblicken  wollen.  Daß  jedoch  die  erforderliche 
Korrektur  gerade  in  Form  eines  neuen  juristischen 
Satzes  vorgenommen  werden  müßte,  diese  von  so  vielen  und 
offenbar  auch  von  Pinheiro-Ferreira  ganz  selbstverständlich 
gefundene  Folgerung  ist  damit  noch  nicht  begründet,  viel- 
mehr aufs  Entschiedenste  zu  bekämpfen.  Nur  derjenige, 
der  das  Recht  als  prinzipiell  selbständige  Welt,  als  „abseits 
gelagertes  eigenes  Reich *^  ^  anzuschauen  gewohnt  ist,  wird 
zu  derartigen  Konsequenzen  mit  Notwendigkeit  gedrängt 
werden,  weil  er  sich  nunmehr  naturgemäß  auch  alles  Heil 
und  alle  Abhilfe  stets  blos  in  spezifisch  juristischen  Formen 
vorzustellen  vermag;  wer  es  dagegen  in  der  allein  zulässigen 
Weise  nicht  isoliert  und  abgeschlossen,  sondern  als  integ- 
rierenden Bestandteil  des  sozialen  Gesamtlebens,  dem  Ein- 
flüsse des  letzteren  stets  unterworfen  und  ausgesetzt,  zu 
erfassen  strebt,  der  wird  für  manche  Schwierigkeit,  welcher 
der  andere  wohl  oder  übel*  immer  wieder  nur  durch  das 
Recht  selbst  beizukommen  sucht,  ohne  und  gegen  dieses 
eine  befriedigende  Lösung  finden*.  Die  Sache  gestaltet 
sich  alsdann  einfach  so,  daß  auf  der  einen  Seite  der  betr. 
formal-juristische  Satz  konstatiert  wird  und  ohne  jede,  ihm 
selbst  wesensgleiche  Einschränkung  bestehen  bleibt,  daß 
aber  anderseits  auch  die  Macht  der  Tatsachen  als  allge- 
meines,  faktisch    wirksames   Gesetz   sich   betätigt,    daß   sie 

^  Stammler,  die  Lehre  von  dem  richtigen  Recht  (1902),  S.  6. 

^  Fast  regelmäßig  gerät  man  dabei  an  irgendeiner  Stelle  rettungslos 
in  den  Flugsand  des  Naturrechts  hinein.     Vgl.  hierzu  oben  S.  27. 

'  Auf  das  ganze,  hier  angedeutete  Problem  wird  später,  in  §  16, 
nochmals  zurückzugreifen  sein  (s.  8.  197  flf.,  bes.  S.  201  f.). 


■TI  1. 


97 


I 


fortlaufend  in  concreto  der  widerstrebenden  Rechtsnorm  die 
nötigen  Ausnahmen  abringt  und  damit  schließlich  doch  eine 
regelmäßige  Einzelkorrektur  derselben  herbeifllbrt '. 

Freilich  ist  hier  der  Einwand  zu  erwarten,  die  Sache 
werde  dadurch  auf  ein  Gebiet  hinüber  gespielt,  welches  für 
die  theoretische  Betrachtung  überhaupt  nicht  mehr  geeignet 
und  zugänglich  sei;  daß  die  generellen  Rechtsvorschriften 
sich  praktisch  oftmals  nicht  durchzusetzen  vermöchten,  sei 
ja  ganz  zweifellos  und  anerkannt;  es  lasse  sich  aber  mit 
solchen  rein  faktiacben  Vorkommnissen  für  die  Wissenschaft 
des  Rechts  weiter  nichts  anfangen,  weshalb  sie  auch  in 
dieser  irgendwelche  Berücksichtigung  nicht  beanspruchen 
dürften. 

Der  Einwurf  hat  seine  volle  Berechtigung  insoweit,  als 
die  überwiegende  Masse  des  Zuwidcrhandelns  gegen  juri- 
etiscbe  Normen  in  Frage  kommt.  Denn  da  dasselbe  aus 
rein  individuell  bedingten,  konkret  eigenartigen  Verhält- 
nissen  und  Zuständen  hervorzugeben  pflegt,  so  kann  wirk- 
lich die  ihre  Aufgabe  unter  generellen  Gesichtspunkten  er- 
fassende Rechtswissenschaft  regelmäßig  zu  ihm  keine  andere 
Stellung  einnehmen,  als  daß  sie  die  weiterer  Allgemein- 
bearbeitung weder  fähige  noch  bedürftige  Tatsache  kon- 
statiert, jede  Regel  vermöge  unter  Umständen  übertreten 
za  werden.  Das  ändert  sich  jedoch  vollständig,  sobald 
unter  gewissen  genau  bestimmbaren  Voraussetzungen  mit 
konstanter  Regelmäßigkeit  die  Nichteinhaltung  eines  Kechts- 
satxes  zu  beobachten  ist:  hier  handelt  es  sich  sicherlich  nicht 
mehr  um   eine   bloße  Summe   unter   sich   zusammenhangs- 


'  An  deu  auRcIi  ein  enden  Selbstniderepruch  („dllgemei  n  wirk- 
*Miet  OeietB"  und  „ia  l^oIlc^eto',  „regelmäßige  Einzelkorrektur*') 
wolla  nuin  sich  nicbt  BtoSen,  nm  mich  nicht  miBiuTenitehen.  Icli  verweile 
•diaa  hier  darauf,  daß  er  im  folgenden,  an  passender  Stella  (t^I.  bea. 
S.  Ulf..  ISS,  149,  2I5r.[aDehS.  222,  Anm.4])  seine  genügende  Aundäning 
Sndon  *rird.  Ich  hin  in  dieser  Beniehnng  etwas  vomichtig  k^"<"^^"> 
leltdeiD  mir  Hehm  in  einer  Uesprechung  meiner  Studie  Tiber  den  Staat 
eiiie  Reihe  von  „  Widersprachen "  vorgeworien  hat  (cf.  Kritiscbe  Viertel- 
Jabitschrüt,  Bd.  89,  S.  262  f.),  die  nach  Sinn  utid  Zosaininenhang  sämtlich 
gax  ktäoe  sind  (vgl.  oben  S.  2,  Anm.  2). 


n.  vRlk^iTfahtl.  Abhandl.    VI  1.  —  Sohmldt. 


98  VI  1. 

loser  Einzelf'akta,  sondern  es  kommt  darin  geradezu  eine 
aligemeine,  dem  abstrakten  K echt  durch  dae  reale  Leben 
unüberateigbar  gesetzte  Schranke  zu  empirischem  Auedruck. 
Eine  solche  darf  aber  auch  die  spezifische  Rechtswissen- 
schaft nicht  prinzipiell  ignorieren,  denn  wie  man  überhaupt 
ein  I)iog  nur  dann  ganz  zutreffend  zu  erfassen  und  begriff- 
lich zu  bestimmen  vermag,  wenn  man  seine  natürliche,  ihm 
wesentlich  eignende  Begrenzung  genau  kennt,  so  ist 
ganz  entsprechendes  insbesondere  vom  Hechte  gleichfalls  za 
behaupten. 

Es  ist  nun  sehr  interessant,  zu  sehen,  daß  auch  schon 
bei  dem  innerstaatlichen  Rechtssystem  zahlreiche  Erschei- 
nungen zu  finden  sind,  die  meines  Erachtens  nur  unter 
Zuhilfenahme  des  eben  angedeuteten  Gesichtspunkts  voU- 
befriedigend  sich  begreifen  lassen.  Zwar  kommen  dabei 
wegen  der  essentiellen  Verschiedenheit,  die  zwischen  der 
völkerrechtlichen  Ordnung  und  jenem  obwaltet,  Gebilde  in 
Betracht,  welche  von  der  nachher  zu  gebenden  Konstruktion 
der  internationalen  clausula  rebus  sie  stantibus  noch  sebr 
bedeutend  differieren ;  bei  alledem  besitzen  aber  beide  doch 
auch  wieder  soviel  Verwandtes,  daß  es  für  die  prinzipielle 
EMasaung  der  letzteren  nur  vorteilhaft  sein  kann,  wenn 
wir  jetzt,  in  einem  kleinen  Exkurse,  zunächst  einige  voD 
den  ersteren  besprechen. 

Vor  allen  Dingen  ist  da  der  theoretisch  wie  praktisch 
verhältnismäßig  spät  entwickelte  Begriff  des  kriminalen 
Notstandes  zu  nennen.  Von  den  drei  verschiedenen 
Auffassungsmöglichkeiten,  die  bei  der  näheren  Konstruktion 
desselben  in  der  Wissenschaft  vertreten  sind,  d.  h.  von  der 
Zuerkennung  eines  spezifischen  Notrechts*  an  die  in  einer 
„gegenwärtigen  Gefahr  für  Leib  und  Leben"  *  befindlichen 


I 


■  Vgl.  u.  a.  Lanaon,  Hystem  der  RecbtsphiloHophi«  (l^^X  S.460/4UJ 
'  Oder   wie   aonet   die   Detailprälisiening:  der  materiellen   Voraoa 
Setzungen   de«  NotHbwdR   in   der  einzelatiuitlicbeu  Legislatire  atiBgefalla] 
aeiu  mag.    Das  Obige  ist  bekauntiieh  die  Fassung,  die  von  dem  dentncbM 

Reicbatralgeaetxbucb  in  g  54  gegeben  wird. 


I 


VI  1.  m 

Personen,  von  der  Annahme  ferner,  daß  hier  „die  Rechta- 
ordoung  weder  erlaubt  noch  verbietet,  sondern,  ihrer  Ohn- 
macht bewußt,  gewähren  laßt" ',  endlich  von  der  Statuierung 
eines  einfachen  S trafausschließungägrunds',  ist  meines 
Erachtens  die  letztgenannte  als  diejenige  zu  bezeichnen,  die 
für  die  ganze  Sache  die  zutreffendste,  rech tsselzungspuli tisch 
empfehlenswerteste^  Formulierung  findet.  Und  zwar  haupt- 
eächlich  aus  folgenden  Erwägungen. 

Alle  drei  Richtungen  sind  darin  einig,  daß  das  gesamte 
Institut  als  eine  notgedrungene  Konzession  an  faktisch  vor- 
Lsndene  Zustände  anzusehen  ist.  Immer  von  neuem  mußte 
man  die  Wahrnehmung  machen,  daß  im  Falle  der  Kollision 
Ewiscben  rechtlich  anerkannten  Interessen  verschiedener 
Individuen  der  Mensch  wegen  des  natürlichen,  ihm  einge- 
pflanzten Egoismus  sich  regelmäßig  für  Verletzung  der 
fremden  RechtsgUler  entscheidet,  unbekümmert  nra  die  zum 
Schutze  derselben  erlassenen  staatlichen  Strafandrohungen, 
und  so  kam  man  schließlich  zu  der  resignierten  Einsicht, 
daß  eine  wahrhaft  verständige  Kriminal  pol  itik  hierauf  von 
vornherein  praktische  Rücksicht  zu  nehmen,  den  realge- 
gebenen Machtfaktoren  auch  ihrerseits  gewisse  Zugestflnd- 
nisBe   zu   machen   habe*.     Diesen   Zweck   suchen   nun   die 


t,    Lclirbuuh    des    deutachGii   Strnfrevhbt ,   Ü.   Aufl.    1897, 
«.  144. 

Vgl.  E.  a.  die  Aunführungen  Ui rkiu uyura  in  der  1901  von  ihm 
legebenen  „Enzyklopädie  der  KechlswiaHenscIiaft",  S.  1085  f. 
Darin  ist  entLalten,  daß  ich  durchaus  nicht  de  lege  Inta  ein  Urteil 
darSbei  abgeben  will,  nie  die  Frage  io  den  geltenden  StrafgeaetEbllchem 
pMitir  entachioden  worden  ist;  mit  anderen  Worten,  ich  erkenne  voll- 
«Ondfg  an,  daß  in  diesen  sowohl  das  Prinzip  den  Notrcuhts  wie  da« 
der  bloßen  juristischen  IndifferenE  vielfach  ansgesprocben  sein  mag, 
und  behaupte  nur,  daß  dieae  Art  der  Bcgelung  den  wirkliirheu  Itcdiirf- 
niiaen  nicht  völlig  gerecht  wird.  Für  das  nns  nächstliegende  Ileispiel 
also  fiir  das  deutsche  BtrafreL'ht,  bin  ich  allerdings  der 
laß  hier  von  Anfang  an  lediglich  ein  ätrafausachlieBungsgrund 
in  Sinne  Birk  meyers  ntatuierl  werden  gnlhe,  und  daß  auch  nach  dem 
Inkrafttreten  der  einschlagenden  BeaUmmungeu  des  ll.O.B.  (§§  22ä  u.  804) 
daran  nichta  geändert  worden  ist  (zu  letzterem  Punkte  vgl.  u.  a.  Auer, 
0er    atrafrechtlluhe    Notstaud    und    das    Bürgerliche    Gesetzbuch,    1903, 


100 


VI  1. 


zwei  ersten  Lehrmeinungen  in  der  Weise  zu  erreichen,  daß 
aie  daa  normale,  direkt  an  alle  Untertanen  sich  wendende 
Regelsyateni  selber  einer  entsprechenden  Korrektur  unter- 
werfen, die  eine  positiv,  durch  Einfügung  einer  ausdrück- 
lichen Ermächtigung  zu  Gunsten  der  in  Notstand  geratenen 
Subjekte,  die  andere  wenigstens  negativ,  in  der  Form,  daß 
sie  die  generellen  Gebote  „Du  sollst  nicht  töten"  etc,  inso- 
weit als  außer  Gültigkeit  stehend  erachtet  wissen  will. 
Indes  das  führt,  unter  allgemein  rechtsphilosophischen  Ge- 
sichtspunkten betrachtet,  beide  mal  zu  einem  doch  recht  wenig 
befriedigenden  Ergebnis,  Denn  soviel  wird  sich  schwerlieh 
bestreiten  lassen:  der  sozialethisch  am  meisten  wünschens- 
werte Zustand,  das  wahrhaft  anzustrebende  Ziel  wäre  erst  dann 
verwirklicht,  wenn  die  Menschen  in  der  Tat  den  „sittlichen 
HeroismuB"  besäßen,  daß  sie  lieber  ihre  eigenen  Interessen 
verloren  geben,  als  fremde  im  geringsten  schädigen  möchten. 
Warum  soll  nun  das  Kecht  auf  jede  erziehliche  Einwirkung 
nach  dieser  Richtung  hin  ganz  verzichten,  warum  soll  es 
seinen  eigenen  Imperativ,  der  doch  wenigstens  bei  dem 
einen  oder  anderen  jenes  moralisch  hüchststehende  Ver- 
halten mit  erzeugen  helfen  mag,  selbst  der  Gültigkeit  be- 
rauben und  so  von  sich  aus  ein  immerhin  nicht  zu  unter- 
schätzendes Motiv  zu  demselben  außer  Kraft  setzen?  Viel 
besser  und  teleologisch  weit  vorzuziehen  wäre  es  sicherlich, 
falls  sich  ein  Weg  entdecken  ließe,  der  diesen  unerwünschten 
Nebeneffekt  vermeidet  und  gleichzeitig  doch  erlaubt,  sich 
mit  den  faktisch  nun  einmal  bestehenden  Verhältnissen  in 
ausreichender  Weise  abzufinden.  Einen  solchen  Weg  bietet 
aber  jene  dritte  Auffassung  der  Notstandsiehre  wirklich 
dar.  Indem  dieselbe  nämlich  die  Notstandehandlung  auf 
der  einen  Seite  für  straffrei  erklärt,  trägt  sie  vollwirk- 
sam der  Macht  der  Tatsachen  den  nicht  zu  verweigernden 
Tribut  ah;  sie  nimmt  den  deutschrechtlich  formulierten 
Erfahrungssatz  „Not  kennt  kein  Gebot"  als  etwas  bin, 
was  sie  wohl  anders  wUnschen  müchle,  was  aber  doch  so, 
wie   es   in  Wahrheit  ist,   gebührende  Berücksichtigung  er- 


vr  I. 


lol 


heischt.  Und  andrerseits,  indem  aie  die  Notatandahandlung 
trotzdem  als  verboten  und  rechtswidrig  behandelt,  lediglich 
die  straf  rieh  te;-lichen  Organe  des  Staats  ausnahmaweiGe 
zum  Nichteinschreiten  verpflichtet  sein  Iftßt,  vermeidet 
sie  den  sozial  pädagogischen  Fehler,  der  in  der  kanontstischen 
Lehre  „necessitaa  non  habet  legem"  enthalten  ist:  dadurch 
daß  das  Recht  die  an  die  Untertanen  adressierte  BefehU- 
norm  als  solche  durchaus  aufrecht  erhält,  geht  ea  nicht 
bis  zu  dem  Punkte,  sich  seinerseits  mit  einem  sittlich 
jedenfalls  recht  anfechtbarer  Verhalten  derselben  irgendwie 
einverstanden  zu  erklaren,  sondern  sucht  dieses  vor  wie 
nach  zu  bekämpfen,  soweit  ea  bei  verstandiger  Uückaicht- 
nahme  auf  die  real  vorhandenen  Zustände  eben  möglich 
und  ratsam  iat. 

Im  Gegensatz  zu  dem  bisher  erörterten  Notstands- 
begriST,  der  seine  eigentliche  und  ursprüngliche  Ausbildung 
Qur  durch  das  Strafrecht  gefunden  hat  und  flir  dieses  auch 
in  Zukunft  wenigstens  überwiegende  Bedeutung  behalten 
wird,  entnehme  ich  das  zweite  Beispiel  einem  anderen  Teil 
des  innerstaatlichen  Normensystems,  dem  Privatrecht,  näm- 
lich die  zivilistiache  Verjährung,  apezicU  die  extinktive  Art 
derselben.  So  gut  wie  Überall,  selbst  auf  verhältnismäßig 
noch  recht  unvollkommenen  Stufen  der  juristischen  Ent- 
wicklung, stoßen  wir  in  irgend  einer  Form  auf  den  Grund- 
satz, daB  rechtlichen  Ansprüchen  der  einen  Person  wider 
die  andere  dann  fernere  Wirksamkeit  zu  versagen  sei, 
wenn  seit  ihrer  Begründung  schon  ein  betrilchtl icher  (nur 
praktisch- positiv  sehr  verschieden  bemessener)  Zeitraum 
verstrichen  ist.  Was  für  Gründe  zur  Statuierung  dieses 
Prinzips  mit  zwingender  Notwendigkeit  geführt  haben,  da- 
von braucht  hier  nicht  ausführlich  gesprochen  zu  werden; 
sind  doch  die  einschlagenden  Momente  (insbesondere  der 
mächtige  Einfluß,  den  schon  der  einfacheZeitablauf  als  solcher 
auf  das  menschliche  GemUt  auaUbt,  dann  die  immenac, 
durch  ihn  eintretende  Erschwerung  der  Feststellung  der 
wahren  juristischen  Sachlage,  die  sozial-politische  Verfehlt- 


102 


VI  1. 


heit  eines  Zustands,  bei  dem  jeden  Augenblick  jedes  vor- 
handene Verbältnis  in  Frage  gezogen  und  damit  die  Streit- 
möglichlteit  und  Ungewißheit  in  Permanenz  erklärt  werden 
könnte,  usw.  usw.)  bereita  von  so  vielen  und  so  überzeugend 
dargetan  worden  ',  daß  die  grundsätzliche  Rechtfertigung, 
ja  Unentbehrlich keit  des  Verjährungsinstituts  heute  so  leicht 
von  niemandem  mehr  angezweifelt  werden  wird. 

Indes  trotz  dieser  rückhallloBen  Anerkennung  des 
Prinzips  darf  und  muß  die  Kritik  doch  Jedenfalls  insoweit 
einsetzen,  als  die  Art,  wie  dieselbe  zur  praktischen  Durch- 
führung gelangt,  in  Betracht  kommt.  Als  gegenwärtig 
herraehende  Meinung  kann  in  dieser  Beziehung  wohl  dioa 
gelten,  daß  durch  den  Ablauf  der  Verjährungszeit  das  be- 
treffende Recht  selber  gänzlich  erlöschen  und  juristisch  auf- 
gehoben werden  soll.  Damit  vermag  man  sich  jedoch,  abermals 
aus  uni  Versal- teleogiachen  Erwägungen  heraua,  keineswegs 
einverstanden  zu  erklären.  Denn  „es  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  das  natürliche  Rechtagefühl  die  verjährte  Schuld  nicht 
weniger  als  Schuld  anerkennt;  der  rechtliche  Mann  erfüllt 
sie,  obgleich  sie  verjährt  ist" '.  Mit  dieser  allein  zu  billi- 
genden Beurteilung  des  Sachverhalts  tritt  aber  das  Recht 
in  offenkundigen  Widerspruch,  sobald  es  nach  dem  oben 
angegebenen  Rezept  verfahrt;  es  macht  sich  gewissermaßen 
zum  Komplizen  des  böswilligen  Schuldners,  setzt  direkt 
eine  Prämie  auf  moralisch  verwerfliches  Verhalten,  wenn 
es  erklärt:  „lu  Ansehung,  daß  du  es  verstanden  hast,  dich 
30  Jahre  lang  der  Erfüllung  einer  zweifellosen  Verbindlich- 
keit, etwa  auf  Rückgabe  eines  empfangenen  Darlehns,  zu 
entziehen,  erkläre  ich  dich  jetzt  zur  Anerkennung  deiner 
Gewandtheit  überhaupt  jeder  Pflicht  für  los  und  ledig." 
Will  man  das  Recht  diese,  ea  schon  durch  den  bloßen  An- 


I 


1  Vgl.  BUS  neuerer  Zeit  Stammler,  rom  richtig:en  Becfate,  S.  26S. 

■  Windacheid. PHndekteD,§I12,N.5.   Äbnlii^h  auch  Stammler,    ' 
t.   a.  O.,  a.    264:    Zitierung   des   volkotümlicheD   Sprichwort!   „Hundert 
Jalira  Unrecht  ist  keine  Stunde  Hecht",  S.  4S7:   „Aucb  das  liczohlen  von 
veijibiter  Schuld  ist  eine  Pfiichl  des  richtigen  Rechts." 


VI  1.  103 

ächein  schwer  herabwürdigende  Holle  nicht  spielen  lassen, 
ebenflowenig  aber  auch  auf  sachgemäße  Berücksichtigung 
der  gewaltigen,  dem  Zeitablauf  unleugbar  innewohnenden 
Macht  völlig  Verzicht  leisten,  so  wird  man  ganz  von  selbst 
auf  das  nämliche  Auskunftamittel  zurückgelangen  müssen, 
welches  wir  vorbin  bereits  beim  Notstand  kennen  gelernt 
haben;  d.  h.  genau  wie  es  dort  der  Fall  ist,  empfiehlt  sich 
wiederum,  die  Rechtapflicht  als  solche  unverändert  fortbe- 
stehen zu  lassen,  dagegen  den  realgegebenen  Verhältnissen 
in  der  Weise  Rechnung  zu  tragen,  daß  den  jurisdiktionellen 
Organen  des  Ötaata  die  Weisung  erteilt  wird,  sie  möchten 
unter  gewissen  Voraussetzungen  die  sonst  von  ihnen  vor- 
zunehmende Tätigkeit  unterlassen,  denjenigen  zivilistischen 
Ansprüchen  nicht  mehr  zur  Verwirklichung  verhelfen,  bei 
welchen  ihnen  eine  bestimmte  längere  Frist  als  seit  der 
Begründung  verflossen  dargetan  wird'. 

Das   dritte   und   letzte  Beispiel  mag   in  der  Weise  ge- 
wählt werden,  daß  jetzt,  nach  Straf-  und  Privatrecht,  auch 


n  der  Harvorhebimg  bedarf  es  wohl,  daß  auf  die  nbigen  Dtx- 
II  die  Note  S  der  Seite  S9  ebenblls  sinngeoiilBc  Anweadung  leidet, 
_  ,  daß  ich  aaeh  bex.  de»  Verjäliritugtproblema  l^iglich  de  legE 
1  meine  Aiuflihniii)^eii  geniariit  höbe.  Woa  die  wirkliche  Ordnung 
\  dM  VerUltniuea  in  einüelneu  poNitiven  RecbtsHyttemeu  betrifft,  ao  glaube 
im  rfimiachen  Recht  die  von  mir  vertretene  AalTsssiing  tat- 
I  «icÜicli  wiederfinden  lu  können,  f&r  duaelbe  sehe  ich  nämlich  die 
1  Ansicht  vonSiiviKaj,  Puchla  and  anderen  als  die  richtigere  nn,  daß 
I  tuieh  nach  Ablauf  der  TeijährungxEeil  von  porsOnlichen  Ansprachen  noch 
„obligatio  naturalia"  übrig  bleibt.  Da  nun  das  Wesen  dieser,  im 
I  eraBen  und  gsiiEen  übe  rein  stimmend,  dahin  dc&niert  wird,  daß  hier  eine 
Juristisch  exiatente,  über  des  Kiagerechb«  ermangelnde  VerliiDdlich- 
keit  gegeben  ist  und  weiterhin  die  letztere  Befagnis  an  und  für  sich  g&r 
keinen  integrierenden  Bestandteil  des  eigentlichen  uud  ursprQnglii'hen 
Anapruchs  Weulrt,  sondern  einen  ganz  „neuen,  an  bestimmte  Blaatlidie 
Oimne  erlasseuen  Imperativ"  (Thon.  Rechtsnorm  und  subjektives  Keebt. 
8.  ffi6)  darstellt,  so  würde  demgenüß  jener  abea  al^  noch  imiuer  vor- 
handen, der  einfache  Xnrmeunchutz  als  durch  Veijäbrung  nicht  entzogen 
■u  gelten  habeii.  —  Für  das  heutige  deutsche  PrivaCrecht  wage  ich,  an- 
gMiehts  des  Wortlauts  de<  §  222  U.G.B.  sowie  mancher  anderer  wichtiifcr 
Momente,  Entsprechendes  nicht  «u  behaupten;  immerhin  ist  zn  beachten, 
daft  anoh  bei  diesen  teilweise,  e.  K.  von  BernhSft,  die  Meinung  ge- 
iuftert  wird,  eine  Vollendung  der  Veijährungsfrist  bewirke  bloB  Verlast 
des  Ktagrei'bt«,  Inasn  dagegun  den  Tatbesland  einer  .naiürlichen  Ver- 
bindlicbkeit'  gnnz  unbcrübn. 


104 


VI  tft 


noch  das  spezifische  Staatsrecht  zu  Worte  kommt.  Wenn 
u,  a.  §  5  der  Badischen  Verfassung  sagt  „Die  Person  des 
Großherzogs  ist  Iieilig  und  unverletzlich",  so  schließt  dieser 
in  konstitutionellen  Gemeinwesen  Ja  überaus  häufig  wieder- 
kehrende Satz  neben  manchem  sonstigen  Material  auch  dies 
nach  allgemeiner  Übereinstimmung  mit  einj  daß  das  monar- 
chische Staatsoberhaupt  für  Handlungen,  die,  von  einem 
anderen  begangen,  den  Tatbestand  eines  strafrechtlichen 
Delikts  verwirklichen  würden,  nicht  zur  kriminalen  Ver- 
antwortung gezogen  werden  darf.  Mit  dieser  Privilegierung 
bezweckten  jedoch  die  Verfassungen  ganz  sicher  nicht,  dem 
Fürsten  eine  juristieche  Befugnis  zu  gewähren,  nach  Be- 
lieben zu  verleumden,  zu  morden,  Körperverletzungen  zu 
begehen  etc.;  vielmehr  sucht  sich  der  Staat  nur  in  geeig- 
neter Weise  damit  abzufinden ,  daß  hier  wegen  der  tat- 
sächlich vorliegenden  Verhältniaee  eine  praktische  Durch- 
setzung seiner  allgemein  erlassenen  Rechtsgebote  entweder 
gar  nicht  oder  bestenfalls  bloß  unter  den  allergrößten  Er- 
schwernissen und  Unzuträglich keiten  zu  erreichen  wäre'. 
„Der  Verfolgung  des  Staatsoberhaupts  wegen  eines  Ver- 
brechens steht  teils  der  Umstand  im  Wege,  daß  die  Gerichte 
dem  König  unter-,  nicht  übergeordnet  sind,  teils  die  Ehre 
der  Krone  und  das  Staatsinteresse,  welche  den  Skandal 
eines  Kriminalprozesses  gegen  den  Monarchen  und  die  da- 
mit verbundene  Gefahr  für  die  öffentliche  Ruhe  nicht  er- 
tragen. Es  erscheint  als  ein  geringeres  Übel,  wenn 
einzelnes  Verbrechen  des  Souveräns  ungeahndet  bleibt,  ala 
wenn  durch  das  Strafverfahren  die  Rechtsordnung  und  der 
Friede  des  gesamten  Staats  erschüttert  würde". ^  Zur  au8*- 
reichenden  Vermeidung  aller  dieser  Übelatände  ist  abep 
eine  Revision   der  normaljuristischen  Ordnung  als  solcher^ 

'  Danlber,  daß  das  Prinzip  der  monarcliischeii  Uiivi^rautiTortlichkt 
aui  rein  politischen  BnrSgungen  und  nur  soleben  eu  erkIJiren  ist,  «iel 
auch  V,  FriBch,  Die  Verantwortlichkeit  der  Monarcben  und  hScbiti 
MagiBEralts  (1904),  S.  104,  128  0'. 

*  B1unt«ch1i,  Lehre  vom  modernen  Staat,  6.  Aufl.,  beBorcrt  vi 
E.  LoeniiiKi  H,  S.  207/208. 


■vi  1. 


1(15 


eine     personale    Außerkraftselziing     der     Imperative     „Du 
sollst   nicht   töten"  usw.    absolut  kein   unumgängliches  Er- 
fordernis;   vielmehr   genügt  es  zu  dem  Zwecke  schon  voU- 
stflndig,     wenn     den     kriminalen  Behörden     die     Pflicht 
I  strikter  Passivität   sämtlichen   etwaigen  Verbrechen  des 
I  Monarchen    gegenüber    auferlegt  wird,    und    tatsächlich    ist 
I  dies   denn   auch    diejenige   Ordnung  des  Verhältnisses,   die 
der  Staat  in  und  durch  den  vorhin  genannten  publizistischen 
I  Grundsatz  in  Wahrheit  hat  treffen  wollen'. 

Zu  den  bisher  von  uns  namhaft  gemachten  Fällen,  zu 
[  dem  kriminalen  Notstandsinstitut,  der  zivilistischen  Ver- 
I  jähruug,  der  staatsrechtlichen  Un Verantwortlichkeit  des 
1  Monarchen,  ließen  sich  noch  zahlreiche  andere  aus  den 
I  verschiedensteu  Gebieten  des  innerstaatlichen  Normensystems 
hinzufügen;  doch  wird  an  dieser  Stelle  nach  Lage  der 
I  Dinge  auf  die  Anführung  noch  weiterer  Belege  wohl  besser 
verzichtet*.  Suchen  wir  statt  dessen  jetzt  übersichtlich 
[  hervorzuheben,  was,  speziell  für  die  Zwecke  der  vorliegenden 
I  Arbeit,  schon  aus  den  drei  erörterten  Beispielen  mit  Sicher- 
I  beit  gewonnen  ist,  so  zeigt  sich  folgendes.  An  sehr  mannig- 
t  fachen  Stellen,  bei  inhaltlich  äußerst  heterogenen  Verhält- 
len  kann  sich  im  innerstaatlichen  Recht  die  Konstellation 
I  ergeben,  daß  übergewaltig  sich  betätigenden  faktischen 
I  Zuständen   und  Momenten   eine  gewisse  Einflu6nahme   auf 


1  Ganz  mit  dem  Obigen  überctnatimmenil  iit  z.  B.  die  Art,  wie 
i«in,  Souveränctät,  Staat,  Uetneiude,  Selbstverwaltung  (1883),  S.  14, 
to.  3.  „dsa  Wenen  der  strafrechtlichen  Unverletzlichkeit  des  KSnigB 
cbsnkterisiert:  „Die  Norm  ,du  »olUt  nicht  morden'  ^It  auch  für  den 
KBd)^  nicht  bloQ  als  Satz  der  Moral  oder  Religion,  sondern  auch  all 
Bat«  dea  Rechts:  nur  der  im  Falle  der  Verletzung  dieser  Norm  au  den 
8traAicfat«r  gerichtete  Uefphi ,  in  Gemäßheit  den  Gesetaes  zn  strsfen, 
scatiert  dem  Honnrciion  gegonSber."  —  Ans  dem  Gesagten  folgt  flbrigens, 
daB  man  in  unnerem  Falle  richtiger  gnr  nicht  von  einem,  dem  Souverin 
nituektiv  »lateheiiden  „B  e  t  h  t  der  Un  Verantwortlichkeit"  apreclien  sollte, 
aondem  dafi  für  ihn  höchsteon  eine  Art  der  sogen.  Reflexrecht«  aniunehmen 
iit.  Vgl.  hiennit  das.  was  Jellinek,  Bystem  der  aobjektiven  öffent- 
lichen Rechte,  S.  14-S  (verbunden  mit  S.  74  ff.},  aber  den  Gegenstand 
bemerkt. 

^  Weitere  ÜKiapiele   werden   ID   anderem   Zusanunenbange  noch  er- 
Srtert  werden.     Vgl.  unten  S.  SO^ff.  (auch  S.  212,  Anm.  1], 


106 


VIl.^ 


die  vorausschauende  Regulierung  des  gesaraten  Soziallebenv 
unbedingt  zugestanden  werden  muß,  daß  aber  gleichzeitig 
bestimmte  Gründe  es  dringendst  widerraten,  dies  in  Form 
einer  Modifikation  des  prinzipiell  gültigen  Rechtssystems 
selber  zu  tun.  Aus  dieser  Verlegenheit  vermag  sich  der 
ytaat  am  bequemsten  dadurch  zu  helfen,  daß  er  einfach 
seine  mit  der  konkreten  Kealtsierung  des  abstrakten  Rechts 
betrauten  Organe  dahin  instruiert,  sie  sollten  unter  den  und 
den  Umständen  ausnahmsweise  von  jeder  Betätigung  ihrer- 
seits absehen:  auf  diese  Weise  ergibt  sich  ganz  von  seibat 
das  nach  allen  Seiten  befriedigende  Resultat,  daß  das  Recht 
einen  praktisch  eo  ipso  aussichisloaen  Kampf  mit  über- 
mächtigen Tatsachen  von  vornherein  klug  vermeidet,  daS 
es  sieh  damit  die  Unannehmlichkeit  einer  fortgesetztes' 
Reihe  eklatanter  Niederlagen  erspart,  und  dies  doch  nicht) 
um  den  Preis  einer  Verleugnung  anderer  wichtiger  Rück- 
sichten zu  erkaufen  braucht.  Überall  nun,  wo  der  Staat 
von  diesem  Mittel  wirklichen  Gebrauch  gemacht  hat,  stellt 
sieh  fUr  die  Untertanen  der  normalen  und  gewühnlicl 
Rechtsordnung  ein  ganz  eigenartiges  Verhältnis  heraus.  Der 
Staat  hat  ihnen  gegenüber  beispielsweise  die  generelle  Vor*' 
Schrift,  „du  sollst  das  empfangene  Darlehen  zurückzahlen' 
erlassen,  und  nimmt  sie  auch  für  den  Fall  abgelaufen« 
Verjährungszeit  formell  keineswegs  zurück;  darin  ist  ent*' 
halten,  daß  dieselbe  eine  ihr  selbst  wesensgleiche  Ein-^ 
schränkung  nicht  erfahren  hat.  Andrerseits  ist  aber  auci 
stets  von  neuem  die  Erscheinung  zu  beobachten,  daß  dii 
Norm  unter  gewissen  Voraussetzungen  nie  zur  praktischen 
Realisierung  und  Durchführung  gelangt;  d.  h.,  eine  sehr 
weitgehende  und  wichtige  Einengung  derselben  muß  denn 
doch  als  zweifellos  vorhanden  anerkannt  werden,  bloß  daft 
diese  nach  Lage  der  Sache  —  immer  von  den  Unte 
tanen   und   dem    für   sie  gültigen  Recht  aus  gesel 

'  Eintiig  diese  Seite  äea  Verbal  tu  issea  komrat  hier  überhaupt  i 
Frage-  Kfiuh  aoderer  RJchtDDg  hin  von  Wichtigkeit  und  deshalb  C 
eine   erschöpfende   Beurteilung   der    Sache    notwendig    heranzuziehen   : 


1 


'VI  I. 


107 


I 


nicht  als   technisch-juristiBche,    sondern   lediglich   faktisch- 
existente,  qualifiziert  werden  darf'. 

Vielleicht  mag  nun  etwas  Ähnliches  auch  bei  der 
völkerrechtlichen  Lehre  von  der  clausula  rebus  sie  staatibos 
SU  konstatieren  sein. 

i  10. 

Wenn  wir  jetzt  daran  gehen,  den  in  dem  vorigen 
Paragraphen  besprochenen  innerstaatlichen  Phänomenen  ein 
internationales  Änalogon  zur  Seite  zu  stellen ,  so  ist  dabei 
von  Haus  aus  jedenfalls  das  eine  völlig  klar ,  daß  zum 
mindesten  die  Form,  in  welcher  das  zugrunde  liegende 
Prinzip  praktische  Verwirklichung  finden  kann,  hier  eine 
von  jenen  wesentlich  abweichende  sein  muß.  Dort  verlief 
die  Sache  stets  so,  da6  die  herrschende  Staatsgewalt  aelbst 
in  den  Verlauf  der  Dinge  entscheidend  eingriff,  daß  sie  als 
der  oberste  Regulator  des  sozialen  Gesamtlebens  die  richter- 
lichen Behörden  anwies,  in  bestimmten  Fällen  von  sich  aus 
überhaupt  nicht  einzuschreiten,  und  so  dem  offenen  Konflikt 
zwischen  den  Anforderungen  des  praktischen  Lebens  und 
des  abstrakten  Hechts  aus  dem  Wege  zu  geben.  An  etwas 
derartiges  ist  aber  im  Völkerrecht  von  vornherein  nicht  zu 
denken,  denn  nicht  bloß  mangelt  es  hier,  wie  wir  wieder- 
holt schon  zu  konstatieren  Gelegenheit  hatten',  an  jeder, 
unabhängig  von  den  Parteien,  autoritär  durch  sich  Beihst 
fungierenden  Jurisdikttonsgewalt,  sondern  es  gibt  vor  allen 
Dingen  auch  gar  keine  feste,  allgemeine  Verkehrsnormen 
vorschreibende  Legislativpotenz,  Deshalb  bleibt  aber  der 
Einfluß  faktisch  gegebener  Verhältnisse  gerade  so  gut  fühlbar 
und  wirksam,  nur  daß  er  hier  nicht  von  einer  maßgebenden 
Zentralstelle  ausgesprochen  und  sachgemäß  formuliert  werden 
kann,  vielmehr  sich  ohne  solche  ausdrückliche  Anerkennung 

mier  Umntuid,  JaD  iler  »n  die  jur isdiktionelltiii  Orgaue  gerichtet« 
znm  eventuelleo  NichteiaschreiU'U  jedeufslls  auoh  fiir  uunere  Auf- 

j  ein  ipesiSscIi-rechtlii-liBB  Element  in  dvn  gegebenen  üesauittat- 
k'ftestand  hereinbringt.     Vgl.  noeh  S.  20!)  bei  Anin.  'd. 

•  Vgl.  be«-  8.  74. 


108 


Till 


zur  Geltung  bringen  muß'.  Die  Macht  des  Lebens  wirj 
sich  stets  und  überall  real  betätigen,  „wenn  nicht  geregell, 
80  ungeregelt",  um  eine  sehr  richtige,  von  Windscheid' 
bloß  für  den  Spezialfall  der  Verjährung  gemachte  Be- 
merkung hier  ganz  allgemein  aufzunehmen. 

Betrachten  wir  rein  empirisch  das  Nebeneinander- 
bestehen und  den  gegenseitigen  Verkehr  zwischen  der 
Vielheit  koexistentcr  Staaten  ,  wie  es  jetzt  schon  seit  Jahr- 
tausenden  in  der  Geschichte  sich  abspielt,  so  ist  in  der 
Tat  eine  gewisse,  regelmäßig  wiederkehrende  Nichteinhaltung 
internationaler  Verträge  gar  nicht  wegzuleugnen,  ungefähr 
in  dem  Umfange,  wie  dies  die  herrschende  Lehre  der 
clausula  rebus  sie  stantibus  zu  bestimmen  sucht:  sobald 
die  Erfüllung  dea  Traktats  die  verpflichtete  Macht  in  Konflikt 
mit  ihren  eigenen  höchsten  Interessen,  mit  den  vitalsten 
Bedingungen  ihres  gesicherten  Fortbestands  bringen  mUßte, 
wird  sie  immer  und  immer  wieder  strikt  verweigert,  un- 
geachtet der  entgegenstehenden  Norm  Pacta  sunt  servanda 
und  im  Widerstand  gegen  sie.  Es  ist  das  eine  Tatsache 
von  80  allgemeiner  Anerkennung,  daß  auf  die  Anführung 
noch  weiterer  historischer  Belege,  abgesehen  von  denjenigen, 
die  in  dieser  Arbeit  ohnehin  schon  an  den  verschiedensten 
Orten  zu  finden  sind,  wohl  unbedenklich  verzichtet  werden 
darf;  ich  will  mich  daher  an  Stelle  derselben  auch  bloß 
auf  das  bestätigende  Zeugnis  eines  Mannes  beziehen 
weitgehendste  Sachkunde  und  Urteilskompetenz  sicher  nicht 
abzusprechen  ist,  nämlich  auf  die  Worte  Bismarck 
„Die  Haltbarkeit  aller  Verträge  ist  eine  bedingte,  sobald 
sie  ,in  dem  Kampf  ums  Dasein'  auf  die  Probe  gestellt 
wird.  Keine  Nation  wird  je  zu  bewegen  sein,  ihi 
stehen  auf  dem  Altar  der  Vertragstreue  zu  opfern, 
sie  gezwungen  ist,  zwischen  beiden  zu  wählen.  Das  ultra 
posse    nemo    obligatur   kann    durch    keine   Vertragsklausel 


'  Wir  werden  Auf  diesen  Oegeniiatz  später, 
osQ^ebea  hftben. 

1  p, 


I 


I 


^  Pandekten,  g  105,  N.  G. 


'  vr  1. 


109 


außer  Kraft  gesetzt   werden;  —  Selbstaufopferung   für  die 
Vertragstreue  ist  nie  zu  erwarten".' 

Auf  Grund   dieses   konstanten,    in   der  Vergangenheit 
Btets   von   neuem   beobachteten  Sachverhalts   erscheint   nun 

,  aber  die  Wissenschaft  von  den  Regeln  und  Formen  des 
internationalen  Wechsel  Verkehrs  fiwischen  Staaten  vollauf 
dazu  befugt,  von  sich  aus  zur  Aufstellung  eines  ent- 
sprechenden allgemeingültigen,  auch  für  die  Zukunft  Wirk- 
samkeit beanspruchenden  Satzes  zu  schreiten.  Sie  darf 
ihn  allerdings  in  keiner  Weise  für  eine  technisch-juri- 
sche  Norm  ausgeben,  wie  zur  Vermeidung  etwaiger 
Mißverständnisse  hier  nochmals  nachdrücklich  betont  werden 

'  mag^.     Aber   wenn   auch   die  Annahme   einer  aolchen  von 


'  Gedaukeii  und  Eriunoruugen  II,  S.  249/250.    Der  giuiKe  Oedanken- 
I  R>ng   kehrt   übrig^ens  bei  Biaiunrck  auch  aoont  mehrfach  wieder,   irird 
I  liuiMsondiire  in  aeioer  weltgeticiiiuhtlicheu  Keichatagsrede  Tom  6.  Februar 
888  TerBcbiedene  Male  klar  und  deutlich  zum  Ausdruck  gebr.ichL 

'  Die  Gründe,  warum  derartiges  unmCKlich  ist,  aind  bereits  in  den 
I  aiufShrlichen  Erdrlermigen  des  zweiten  Abachnitt«  sur  Oeuä)^  dargelegt; 
icb  will  indea  auf  das  Wiulitignte  davon  liier  wiederholend  kura  Bezug 
aebmea,  und  zwar  deshatb,  weil  der  jetzt  festgeBlellle  Tatbeataiid  in  ge- 
•riiiaer  Hinoicht  für  die  von  nnti  perhorreazierte  Folgerung  gar  nicht  ao 
angeeignet  zu  sein  eclieint.  Man  könnte  nämlich  au  aich,  bei  ober- 
flftcUieher  Betrachtung  der  Dinge,  wohl  leicht  m  dem  ächlnaiie  geneigt 
sein:  „Wenn  denn  praktisch  die  Niehteinhaltnng  der  Vertrage  in  dem 
vorhin  genannten  Umfange  mit  ununterbrochener  KcgelraäÜigkeit  ein- 
getreten ist,  wenn  sugeatBodenermaSeti  die  Staaten  (>elber  einem  Teil  der 
TrfthtAte  die  Erfilllung  konaequeot  und  stetig  veraagt  haben,  nun  so  mulS 
das  eben  »cblieSlich  dahin  ausgelegt  werden,  daU  vou  ihnen  im  Wege 
der  gewohnbeitsmilBigen  Übung  ein  entsprechender  Rechtsiatz.  eine 
juristisch  wirkende  Beschränkung  der  Norm  Pacta  sunt  servanda  geschaffen 
wurde."  Daa  wäre  jedoch  eiu  schlimmer  ParHlogismus,  herbeigeführt  und 
ermSglieht  durch  das  Operieren  mit  dem  doppeldeutig  su  verstehenden 
Begriff  „die  Staaten".  Die  Verwendung  dieses  allgemein  lautenden  Aus- 
drücka  hat  ihre  volle  Berechtigung  in  dem  Sinne,  daß  sicherlich  jeder 
StaAt,  wenn  er  als  Verpflichteier  in  die  Lage  kummt,  auf  Erfüllung 
MDe«  seine  eigene  Eäateni  jetxt  ge^rdenden  Vertrags  in  Anspruch 
genommen  in  werden,  die  Leistung  strikt  verweigert;  sie  wird  aber 
anrolians  irreführend  und  nnzuläasig,  sobald  man  ihm,  daa  bis  dahin  immer 
noch  vorhandene  Uoment  der  Differeniiarung  unvermerkt  fallen- 
iMsend,  die  weaentlieh  weitere  Bedeutung   unterstellt,   aU  sei  von  einem 

ßlktiichen  Verhallen  „der  Staaten"  Tßllig  nnlorschiedsloa  und  schlecht- 
1  die  Kede.  Gerade  daa  letztere  tut  nun  offenbar  deijenige  wirklich, 
r  hier  eine  juristische  Kegel  statuieren  zu  kOnnen  meint;  er  muB, 
■  da  ji  positives  Völkerrecht  ntets  blott  aus  koiniidenler  WiUenafiber- 
~iStimmung    melirerer    Ktaaten    zu    eutapringen   vermag,    notwendig 


no 


VI  1.1 


vornherein  auf  unüberwindliche  Hindernisse  stößt,  so  gilt 
nicht  daa  gleiche  von  der  Postulierung  einer  rein  tatsäch- 
lichen, bloß  faktisch  erfahrun  gemäß  ig  sich  betätigenden 
Regel.  Die  Lehre  von  dem  gesamten  Verkehrsleben  der 
Völker,  überhaupt  allgemein  gesprochen  die  ganze  Soziologie, 
von  der  die  spezifische  Rechtsdisziplin  lediglich  einen, 
zwar  deutlich  sich  abhebenden,  aber  doch  integrierenden 
Bestandteil  bildet,  Ist  eine  streng  empirische  Wissenschaft, 
30  gut  wie  nur  irgend  ein  Zweig  der  mit  den  Vorgängen 
in  der  realen  Außenwelt  sich  beschäftigenden  Naturwiaaen- 
schaft,  und  vermag  daher  prinzipiell  auch  ganz  mit  den 
Mitteln  und  in  der  Art  dieser  ku  arbeiten.  Wenn  z.  B. 
von  der  letzteren  die  Schwerkraft  als  objektiv  und  aua- 
nahmslos  geltend  proklamiert  wird,  so  verfilhrt  sie  dabei 
in  der  Weise,  daß  sie  aus  immer  gleichbleibenden,  exakt 
erfahrungamäßigen  Einzelbcobachtiingen  der  Vergangen-. 
heit  das  Bestehen  eines  überall  und  immerdar  wirk-. 
aamen  Gesetzes  folgert';  ganz  das  nämliche  wird  alaa, 
auch  jener  gestattet  werden  müssen.  Freilich,  wie  die 
Dinge  praktisch  einmal  liegen,  wird  die  Soziologie  im  all- 
gemeinen bloß  unter  äußersten  Schwierigkeiten  zu  solchen 
hinlänglich  gesicherten  Generalschi  üsaen  gelangen  können, 
schwerer  als  ein  beliebiger  Teil  der  Natiirlehre,  schwer« 
selbst  als  die  an  sich  so  heikle  Physiologie,   von  d< 


subintelligieren ,  daß  die  inlemationaku  Verkehrssubjekti?  bo 
der  Kelle  de»  Uerecbtigten.  wie  in  der  des  Verpfl 
eine  entsprecLende  Abniclit  konstant  Iiekundet  haben.  Wie  « 
diese,  nur  durch  Wechael  des  Worlsinnn  erschlichene  Vorstellang  mit  den 
tatsächlich  gegebenen  TerhältDiaBcn  hannouiert,  du  wiBieu  wir  hinUng- 
lich  aus  den,  in  §  S  teils  ein^hend  annljdierteD ,  teils  kurz  erwUioten 
(hierau  vgl.  die  Anmerkani;  1  der  Seite  53)  hisloriscbon  EinzelbeiBpielen; 
wir  habea  diinials  g^esehen,  daß  die  jeweils  berechtigten  Mächte,  wwt 
entfernt,  von  aicb  nun  der  TrakUhkündigunj;  seitens  des  VerpSiditeten 
regelmäßig-  Kuzusüminen,  iimgekelirt  wider  cie,  bald  mehr  bald  miader 
scharf  akzentuiert,  gmiidgätzliche  Verwahrung  einunlegen  pflej^n. 

'  Eine  nähere  KlarlegniiK  des  hier  stattfindenden  pK^chologischoi 
Prozesses  bieten  die  trefflichen  AuHtuhrnngen  Zitclmanns,  Gewohu?' 
heitsrecht  und  Irrtiua  (188aj,  S.  4S0ff.,  bes.  8.  460/461.  Zu  vgl. 
das  Ton  mir  schon  bei  anderer  Gelegenheit  (in  der  Studie  über  den 
ä.  ib  a.  E.  und  im  Oewobnheilareoht  S.  44/45J  bemerkte. 


I 

ber^l 


I 


Mill'  nur  mit  Unrecht  behauptet,  daß  sie  , größeren  natür- 
lichen Schwierigkeiten  begegne  und  wahracheinlich  eines 
geringern  Grades  von  letzter  Vervotl  komm  nun  g  fähig  sei 
wie  die  soziale  Wissenschaft".  Immerhin,  daß  auch  die  auf 
FinduDg  allgemein-empiriacher  Gesetze  gerichtete  Arbeit  der 
letzteren  nicht  als  grundsätzlich  verfehlt  und  hofTnungaloa 
bezeichnet  werden  darf,  das  vermag  gerade  der  uns  liiei 
beschäftigende  Spezialfall  recht  gut  zu  illustrieren;  denn 
wann  »oll  man  überhaupt  zur  Formulierung  eines  ausreichend 
festgestellten  Erfahrungssalzes  gelangen  können,  wenn  nicht 
hier,  wo  der  entsprechende  Tatsachen  verlauf  im  inter- 
nationalen Soziallebeil  immer  und  immer  auf  die  gleiche 
Art  sich  abgespielt  hat,  wo  es  notorisch  „noch  gar  nicht 
dagewesen  ist,  daß  sich  ein  Volk  aus  Liebe  ftlr  das 
andere  geopfert"  hätte,  bloß  weil  „der  Buchstabe  eines 
unter  anderen  Umstanden  unterschriebenen  Vertrags"  *  dies 
eo  verlangte? 

Auf  diese  Weise  sind  wir  nun  wirklich  bezüglich  der 
internationalen  Klausellehre  zu  Resultaten  gelangt,  die  den 
in  der  zweiten  Hälfte  des  §  9  erörterten  innerstaatlichen 
Erecheinungen  dem  Grundgedanken  nach  durchaus  analog 
sind.  Wir  haben  zunächst  die  positiv  geschaffene  und 
gültige  Völkerrechtsnorm  Pacta  sunt  servanda  vor  uns  und 
müssen  konstatieren,  daß  dieselbe  formal-techniech  ganz 
umfassend  und  ausnahmslos  gehalten  ist,  daß  sie  auch  für 
die  Eventualität  der  total  geänderten  Umstände  keine  Ein- 
engung, die  seihst  wieder  juristischer  Art  wäre,  erleidet, 
vielmehr  prinzipiell  rebus  mutatis  genau  dieselbe  Befolgung 
wie  rebus  sie  stantibus  beansprucht.  Auf  der  anderen  Seite 
wieder  läßt  sich  aber  auch  die  erfahrungsmäßig  feststehende 
Tatsache  nicht  von  der  Hand  weisen,  daß  diese  Prätension 


I    of  logic   ratiociDativi 


I   indoetive,  9.   Aufl.,    Bd.  I 


■  Worte  iiisroarcka  &ds  der  vorhin  bereit«  erwÄhntcn  Fohruarredo 
St»  Jshrea    1888;   cf.   btenographiaclie   Berichte   über  die  Keichntagsrer- 
L  SesRion  1887/1888,  8.  T»0. 


der  Allgeraeingültigkeit  unter  gewissen  VornuBsetzunge%. 
dann  nämlich,  wenn  wegen  eines  voll  st  und  igen  Umschwung» 
der  Verhaltnisse  die  Erfüllung  des  betr.  Vertrags  jetzt  den 
verpflichteten  Staat  zu  einer  Gefährdung  seiner  eigenen 
höchsten  Existenzbedingungen  ni3tigen  würde,  in  Wahrheit 
doch  nie  beachtet  zu  werden  pflegt.  Beide  Momente  zu- 
sammengpfaBt  fuhren  zu  der  Schlußformulierung:  Trot» 
allea  scheinbar  dawider  Sprechenden  liegt  auch  hier  das  bo 
vielfach  zu  beobachtende  Phänomen  vor,  daß  die  eine  Regel 
von  einer  zweiten  durchbrochen  und  in  ihrem  Geltunga- 
gebiet weaentlich  beeinträchtigt  wird;  dabei  verhält  sich 
nur  die  Sache  des  näheren  ho,  daß  diese  mit  jener  nach 
Beschaffenheit  und  Charakter  nicht  übereinstimmt,  sondern 
anders  geartet  ist,  daß  ein  spezifisch-juristischer  Sats 
von  einem  bloß  faktisch  sich  betätigenden  Geselz  partiell 
seiner  Kraft  und  Wirksamkeit  beraubt  wird'. 


grolta  Rolle  spielt;  nocli  zahlreiche  andere  Bätze,  die  man  hentzutags 
aU  direkt  vSlkerrechtliche  zu  verstehen  pflegt,  sind  meineB  Eracblen* 
lediglich  in  der  obigen  Weise  aiifreoht  zu  erlialten.  Auf  einisea  davon 
werden  wir  später  noch  zu  sprechen  koinmcn;  vgl.  nimentlioli  §  12,  S.  139ff. 
(internationaler  Notstand!),  daneben  auch  die  in  §  14,  S.  162  ff.  geatreifte 
Frage  nacli  dem  Einflüsse  des  Vertrags bruüba  vou  einer  Seite  auf  den 
Bestand  des  Vertrags  verlialtnisses.  Von  weiterem  hier  in  Betracht 
kommenden  Material  sei  weg«n  seiner  hervorragenden  Wichtigkeit  bloB 
dies  noch  erwähnt,  daB  man  lediglich  mit  Hilfe  jener  Formel  dem  inter- 
nationalen VerjAhrungsproblem  allseitig  ersohQpfend  beiEukommen 
vermag.  Für  eine  wahrhaft  befriedigende  Erfassung  desselben  genügt  es 
nSmlich  keineswegs,  bloQ  die  Frnge,  ob  von  einer  technisch -j  iiristiaohen 
Wirkung  die  Rede  sein  hSnne  oder  nicht,  au  antersnchen  nnd  sieb  mit 
der  heutzutage  weit  überwiegenden  Meinung  im  verneinenden  Sinne  En 
entscheiden;  vielmehr  bedarf  es,  so  ziilreffend  letzteres  an  und  fiir  sieb 
zweifellos  ist,  daneben,  zur  Herstellang  eines  richtigen  Ge  samtbildM, 
auch  noch  der  nachdrüi-klicbeu  Betonung  dessen,  daß  wenigalens  als 
tatsächlich  gegebene  und  sieh  bewährende  Macht  der  Zeitahlauf  fQr 
den  Verkehr  der  Volker  nnd  Staaten  gleichfalls,  trotx  der  hier  mangelnden 
Formal  Sanktionierung,  anerkannt  werden  muli.  Daß  dem  wirklich  so  ist, 
ist  auch  in  der  internationalen  Praxis  oft  genag  zur  unverkeniibareii 
Andeutung  gelangt  (sehr  interessant  ist  z.  B.  die  Weise,  wie  die  beiden 
grundsätilich  verachiedenen  Standpunkte,  der  formsl-recbtliche  nnd  der 
materiell-faktische,  bei  Gelcgeuheit  der  ersten  Teilung  Polens  ein: 
direkt  gegearibereeslellt  worden  sind;  vgl.  das  preußische  Patent 
1».  September  1772  [Ghiltannj.  Diplom Uiaches  Handbuch,  I,  S.  205 ff/ 


I  VI  1. 


113 


Einzig  und  allein  eine  Bolche  Auffassung  des  ProblemB 
bietet  die  Möglichkeit  dar,  dein  richtigen  Kern,   der  in  der 
einen  wie  dar  anderen  hinsichtlich  der  clausula  bisher  ver- 
tretenen Grundmeinung,    d.  h.  sowohl  in  der  herrschenden 
Befürwortung    als    in     der    aus n ahm a weise    vorkommenden 
Bekämpfung   deraelhen,    enthalten   ist,   gleichzeitig  gerecht 
zu  werden  und  beide  sachgemäß  miteinander  zu  versöhnen. 
I  Wie  aus  unserem  ganzen  Abschnitt  IV  hervorgeht,    ist  der 
I  ersten    Richtung    materiell    insofern    nur    durchaus    beizu- 
I  stimmen,    als  sie  mit  vollem  Recht  praktisch  gegebene  und 
I  gar  nicht  wegzuleugnende  Verhältnisse  auch  theoretisch  be- 
I  rUcksichtigen ,   ihnen   zu  entsprechendem  wissenschaftlichen 
I  Ausdruck   verhelfen   will;    sie  vergreift  sich   aber  deshalb 
I  TöUig   in   der  Form,    weil   sie   ohne   alle   ausreichende  Be- 
gründung  positiv-juristische  Kraft  für    die   Klausel   in 
Anspruch   nimmt.     Hieraus  folgt   mit   Notwendigkeit,   daß 
I  die  relativ   wenigen   Autoren,    welche   die  Rechtsgültigkeit 
der    letzteren   —    regelmäßig    freilich    mit    unzulänglicher 
j  Beweisführung  —  in  Abrede   stellen,    rein   negativ-kritisch 
[  genommen  das  richtige  treffen ;  es  ist  aber  wieder  an  ihrer 
I  Lehre  das  zu  tadeln,  daß  sie  lediglich  bei  dieser  Seite  des 
Problems  stehen  bleiben,  daß  sie  sich  damit  begnügen,  ein- 
fach  zu   zerstören   und   so   bloß   eine  klaffende  Lücke  auf- 
eureißen,    ohne    daß    der   Versuch   gemacht  würde,    etwas 
I  neues    an    die    Stelle    des    vernichteten    Alten    zu    setzen. 
rWährend  demgemäß  der  bisherigen  Behandlung  der  Streit- 
I  frage    wohl    hier   wie    dort    immer    entschiedene    Vorzüge 


m  Friedriuli  d«r  GroSe  zur  Befürwortung  Heiuer,  bis  auf  dna 
I  anrückgroireuden  Territorinlannpräche  bemerkt,  diiG  „La  Cau- 
Pologoe,  poBuMant  cea  pHyn  inj astement ,  ne  laurait  faire 
le  pn^scription  paar  s'f  Tnaintenir"  und  die  Antwort  des 
in  17.  September:  Qhillanay,  a.  ii.  O.,  S.  210S.1,  die 
<1  die  Dnhealrellliare  Tatnacbe  einer  Jnnissance  de  plunieurn  stiele«" 
■ebarf  hervorhebt,  daß  solche  anttqaierte  „titres  ne  peuvent  Stre 
sauB  inlirmer  la  sAretä  des  ponsession«  de  toutes  les  aoiiverainet£<t, 
ranler  U  baae  do  tous  les  Irtlnes",  Überhaupt  mit  lauter  Argumenten 
t,  die  man  snnst  Eiir  i<nchli(;heii  Recbtfertignug  i^en  inaer« taat lieben 
rungaiiutitiita  vor»u>iriD)rea  pflegt). 


114 


VI  1. 


eigen,    aber   atetß   auch   mit   wesentlichen  Mängeln  gepaart 
waren,    erscheinen   nach  unserer  Konstruktion  die  ersterea 
vollständig   festgehalten   und   nur   aus   der  Verbindung  mit   ■ 
letzteren  losgelöst.  — 

Es  gilt  nun  hier  noch  einen  Punkt  zu  erörtern.  Wir 
haben  uns  in  dena  Vorhergehenden  immer  bloß  mit  der 
Feststellung  des  Faktums  zufrieden  gegeben,  daß  die 
Internationalnorm  Pacta  sunt  servanda  in  bestimmtem  Um- 
fang praktisch  nie  eingehalten  und  befolgt  wird,  sind  aber 
einstweilen  auf  die  Grtlnde,  warum  dasselbe  regelmäßig 
eintreten  muß,  noch  gar  nicht  eingegangen.  Das  soll  nun, 
jetzt  am  Schlüsse  des  ganzen  Abschnitt  IV,  noch  geschehen; 
wir  wollen  versuchen,  das  zunächst  rein  empirisch  gefundene 
Spezialgesetz  auf  eine  innere  Notwendigkeit  zurtickzuf\lhren 
und  ihm  so  eine  tieferfundierte  Erklärung  zu  verschaflTen, 
Dies  wird  uns  gelingen  in  Form  einer  Spezialan  Wendung 
der  allgemeingültigen  Wahrheit,  daß  überhaupt  jedem  Recht 
vermöge  des  begrifflich  von  ihm  gar  nicht  loszutrennenden 
Zweckgedankens  eine  gewisse,  der  technisch-juristischen 
Sphäre  transzendente  Beschränkung  anhaftet. 

Dabei  zeigt  sich  in  unserem  Falle  sofort,  daß  eben 
dasjenige  Moment,  welches  die  positive  rechtliche  Er- 
fassung der  gesamten  eigenartigen  Völkerverkehrsordnung 
notorisch  am  meisten  erschwert',  d.  h.  die  rein  verein- 
barungsmäßige Form  ihrer  Entstehung,  für  die  klare 
und  durchsichtige  Führung  des  hier  zu  erbringenden  Beweises 
überaus  gUnstig  wirkt.  Wie  wiederholt  schon  erwähnt 
worden  ist,  wird  das  Völkerrecht  den  Staaten  nicht  von 
oben  her,  durch  einen  superordinierten  Sozialwillen,  auf- 
erlegt, sondern  sie  selbst  ziehen,  im  Wege  der  ausdrücklich 
oder  stillschweigend  erklärten  Willenseinigung,  ihrer  aa 
sich  unbeschränkten  Handlungsfreiheit  gewisse  Grenzen. 
Fragen  wir  jetzt  nach  dem  Motiv,  welches  sie  zur  Ein- 
führung der  letzteren,  speziell  zur  Sanktionierung  der  Regel 


'  Vgl.  oben  ä.  3,  Anm.  1 


TI  1. 


115 


I 


Pacta  sunt  servaoda  bewogen  hat,  so  ist  darauf  nur  zu 
antwortet],  daß  es  zweifellos  die  Rücksicht  auf  ihr  eigenes 
wo  hl  verstanden  es  Interesse  war.  Ea  wurde  ihnen  klar,  daß 
der  für  sie  alle  so  vorteilhafte  und  nutzliehe  ständige  Ver- 
kehr zwischen  ihnen  ohne  gegenseitige  Vertragstreue  über- 
haupt nicht  aufrechtzuerhalten  ist;  sie  erkannten,  daS  das 
Opfer,  welches  jedes  Übereinkommen  dem  verpflich- 
teten Partner  auferlegt,  an  Bedeutung  weit  überwogen  wird 
von  dem  Gewinn,  den  die  nur  um  diesen  Preis  mögliche 
Fortsetzung  jenes  Verkehrs  gewährt,  und  so,  „in  kluger 
Voraussicht  künftiger  dauernder  Bedürfnisse  nach  dem  Rufe 
der  Vertrauenswürdigkeit  und  Zuverlässigkeit  strebend"  ', 
gelangten  sie  dazu,  den  Satz  von  der  unbedingten  Verbind- 
lichkeit der  Verträge  als  für  ihren  wechselseitigen  Verkehr 
allgemeingültiges  Rechtsprinzip  zu  statuieren. 

Ans  diesem,  bloB  kurz  angedeuteten  Grundsachverhalt 
geht  hervor,  wie  berechtigt  es  ist,  wenn  J ellin ek^  ftir  inter- 
nationale Traktate  die  These  aufstellt:  „Es  ist  das  Interesse, 
welches  die  Treue,  und  die  Treue,  welche  das  Interesse 
schQtat",  oder  wenn  Bismarck^  mit  einem  anschaulich- 
realistischen  Bild  aus  der  Schneiderwerkstatt  denselben  Ge- 
danken dahin  formuliert:  „Ich  glaube,  daB  das  wandelbare 
Element  des  politischen  Interesses  ein  unentbehrliches  Untcr- 
futter  für  geschriebene  Verträge  ist,  wenn  sie  haltbar  sein 
Bollen."  Indem  nämlich  der  Katz  Pacta  sunt  servanda  durch 
die  Staaten  von  vornherein  offenbar  nicht  um  seiner  selbst 
willen,  sondern  bloß  als  Mittel  zum  Zweck  geschaffen 
wurde,  indem  man  vermöge  desselben  grundsätzlich  stets 
eine  Interessenförderung  zu  erzielen  gedachte,  er- 
scheint das  wirkliche  Vorhandensein  der  letzteren  teleologisch 
gedacht  als  beschränkende  Voraussetzung  für  die  gesamte  An- 
wendbarkeit jenes  Satzes;  anders  ausgedruckt,  die  Aussicht, 
durch  einen   einseitigen  Vertragsbruch   das  Vertrauen,   den 

■  Laiaon.  RcchlsphÜosapbie,  S.  404. 

*  Becbtlirhe  Natur  der  Staate overtrSge.  6.  57, 

*  0«duiheD  uad  Erinnarungen,  II,  S.  850. 


116 


VI  1.  ] 


ganzen  völkerrechtlichen  Kredit  bei  den  übrigen  Mächten 
zu  erschlittern  und  eo  im  letzten  Einsatz  die  Möglichkeit 
eines  geordneten  wechselseitigen  Verkehrs  überhaupt  in  Frage 
zu  stellen,  muß  filr  den  betr.  Staat  bedenklicher  und  ge- 
fUbrlicher  sein  wie  die  Hingabe  oder  Schmälerung  desjenigen 
Einzelrecbtaguts,  auf  das  er  im  Sinne  des  konkreten  Trak- 
tats zu  Gunsten  des  anderen  Kontrahenten  zu  verzichten  hat. 

Das  trifft  ja  nun  sicherlich  auf  die  unendlich  über- 
wiegende Mehrheit  der  FJlllc  im  vollsten  Maße  wirklich  zu, 
nicht  aber  auch  auf  die  ganz  besondere  Eventualität,  die 
eben  hier  für  uns  in  Betracht  kommt.  Denn  sobald  ein 
Staat  von  der  praktischen  Durchführung  eines  antiquierten 
Übereinkommens  direkt  seinen  eigenen  Untergang  zu  be- 
fürchten hat,  sobald  er  voraussieht,  dnß  er  nach  treulicher 
Erfüllung  seiner  Vertragspfliclit  aller  Voraussicht  nach  seine 
fernere  politische  Existenz  nicht  mehr  aufrechtzuerhalten 
fähig  sein  wird,  muß  die  Sorge  um  die  ununterbrochene 
Fortführung  des  internationalen  Staaten  Verkehrs  (der  sich 
doch  naturgemäß  immer  nur  unter  lebendig  bestehenden 
Subjekten  abzuspielen  vermag)  notwendig  zur  cura  posterior 
werden;  d.h.  das  wohlverstandene  und  wahre  Ei  gen  Interesse 
gebietet  hier  ausnahmsweise  einmal  doch  nicht  die  Ein- 
haltung, sondern  die  einseitige  Durchbrechung  des  früher 
abgeschlossenen  Traktats. 

Unter  diesen  Umständen  ergibt  sich  schließlich  folgen- 
der Gesamttatbestand,  Die  Stellungnahme  der  Staaten  zu 
dem  Grundsatz  Pacta  sunt  servanda  ist  verschieden  zu  be- 
stimmen, je  nachdem  man  lediglich  auf  ihren  in  spezitisch- 
rechtlicher  Form  dokumentierten  Willen  Bezug  nimmt  oder 
aber  über  denselben  hinausgeht.  Geschieht  das  eratere,  ao 
haben  sie  die  Regel  ohne  jedwede  Beschränkung  auf- 
gestellt und  mußten  das  auch  notwendig  tun,  wenn  sie 
überhaupt  zu  einer  wahrhaft  brauchbaren,  praktisch  nicht 
mehr  schädlichen  als  nützlichen  (vergl.  die  Ausführungen 
des  Abschnitt  III")  Verkehrsnorm  gelangen  wollten.  Indes 
diese  Art  der  Autfassung,  die  zur  unbedingten  Konsequenz 


I 


VI  1. 


117 


I 

■ 

I 


hat,  daß  auch  unter  den  vorhin  charakterisierten  Verhält- 
niBaen  jede  einen  Vertrag  einseitig  lösende  Macht  eine 
zweitellose  Rechtswidrigkeit  begeht,  ist  um  deswillen 
nicht  die  höchste  und  einzig  mögliche,  weil  der  „ausgedrückte 
und  erklärte  Wille"  sich  durchaus  nicht  Überall  mit  dem 
nach  Lage  der  Sache  zu  vermutenden  „wahren  und  eigent- 
lichen Willen"  zu  decken  braucht  ^  Gerade  für  das  uns 
beschäftigende  Spezialproblera  ist  aber  eine  solche  Inkon- 
gruenz beider  mit  voller  Sicherheit  anzunehmen,  denn 
unmöglich  können  die  Staaten  eine  nur  zur  Interessen- 
förderung bestimmte  Norm  auch  fUr  die  exzeptionellen 
Falle  totaler  Interessen  Vernichtung  bewußt  gewollt  haben. 
So  schwebt  in  der  Tat,  nicht  formal-juristisch,  aber  prä- 
jurislisch- zwecklich,  über  jedem  internationalen  Kinzeltraktat 
eine  essentielle  und  notwendige  Beschränkung;  es  ist, 
in  diesem  Sinne  verstanden,  nur  allzu  richtig,  daß  „die 
clausula  rebus  sie  stantibus  bei  Staatsv  er  trägen,  die 
Leistungen  bedingen,  stillschweigend  angenommen  wird"*. 
Mit  alledem  wäre  jetzt  der  Inbegriff  desjenigen  erschöpft, 
was  meines  Erachteus  den  berechtigten  Kern  der  vielum- 
Btrittenen,  oft  bitter  geschmähten  und  doch  nie  ganz  zu 
entbehrenden,  immer  von  neuem  sich  aufdrängenden  clau- 
sula rebus  sie  stantibus  ausmacht.  Es  wird  nicht  zu  be- 
streiten sein,  daß  dieselbe  in  der  Form,  wie  sie  von  uns 
Terstanden    und  aufrechterhalten  wird,    sehr  wohl  ohne  ge- 


'  E»  ist  doa  eine  Formel  für  den  GegeiiBst»,  deren  sicli  bekauntÜch 
■ben  AndereD  beHondera  Winduchoid    uiehrfuuh  nnd  zu  Terschiedeneu 
Zwecken  (vgl,  z.  B.  Pandekten  g^  22,  97)  bedieut  hat 

*  Biamarck,  Gedanken  und  Erinnerungen,  II,  S.  259.  Es  ist  be- 
greiflich, dnß  die  Anhän^r  der  berrschenden  Klaiuellehre  sich  auf  diesen 
Au3B{iracb  gern  zur  Begründung  ibrer  Auffnsaung  zu  berufen  pSe^n;  es 
üt  jedoch  dagegen  zu  bemerken,  dnä  der  einfncho  äalz  aln  solcher  nicht 
<|ju  HEndeste  darüber  aasaagt,  ob  die  Wirkung  der  clausula  als  spezISacb- 
roebtlicbe  oder  nlchtrechtlicbe  gedacht  sein  aolt,  ja  daß  er,  mit  allem 
ToMOiigegangenen  und  Folgendon  maammengeli alten  (vgl.  x.  B.  den  bc- 
'rtilt«  oben  S.  108  zitierten  Ausspruch,  in  welchem  lediglich  die  tabiächliche 
'Haltbarkeit  der  Verträge,  also  nicht  etwa  ihre  juristische  Gültig- 
"keil,  ala  eine  bediogto  beüeichnet  -Kird),  eigentlich  nur  die  letztere 
iJDentDng  tuUlit. 


118  VI  1. 

fUhrliche  Aushöhlung  des  prinzipiell  geltenden  Satzes  Yon 
der  Vertragstreue  bestehen  bleiben  kann.  Wir  haben 
(S.  78  flF.)  gesehen,  daß  dasjenige  Moment,  welches  die  herr- 
schende Lehre  praktisch  so  überaus  bedenklich  erscheinen 
läßt,  darin  besteht,  daß  sie,  einschließlich  der  Richtung,  die 
eine  spezifische  Befugnis  zur  Kündigung  (cf.  S.  89/90) 
annimmt,  dem  bösen  Willen  die  Möglichkeit  bietet,  die 
Auseinandersetzung  mit  seinem  Partner  formal  stets  auf 
juristischen  Boden  zu  verlegen,  den  frivolsten  Rechts, 
bruch  zu  begehen,  ohne  ihn  doch  brutal  als  solchen  zu- 
geben zu  müssen.  Derartiges  ist  bei  uns  von  Haus  aus 
ausgeschlossen  und  zwar  deshalb,  weil  wir  ja  eine  ohne 
formelle  Rechtswidrigkeit  stattfindende  einseitige  Vertrags- 
lösung gar  nicht  kennen.  Ist  es  nun  wirklich  richtig,  was 
wir  S.  80  festgestellt  haben,  daß  nämlich  die  Staaten  heut- 
zutage eine  weitgehende  Scheu  vor  dem  offenen  und 
zweifellosen  Rechtsbruch  an  den  Tag  legen,  so  wird 
unsere  Auffassung  der  Klausel  notwendig  als  starkes  Gegen- 
motiv wider  leichtfertige  und  materiell  ungerecht- 
fertigte Trak tatsauf hebungen  wirken  müssen;  es  wird 
darauf  zu  rechnen  sein,  daß  man  sich  zu  einseitigen  Los- 
sagungen überhaupt  nur  sehr  schwer  und  selten,  bloß  in 
wirklichen  Notfällen  dringendster  Art  entschließen  wird. 


Fünfter  Abschnitt 

Das  umfassende  Geltungsgebiet  des  (richtig- 
gestellten) Grnndprinzipg  der  Klausel. 


I 
I 


8  11- 

Durch  die  in  den  Abschnitten  II— IV  enthaltenen  D«r- 
legangen  erscheint  jetzt  der  weitaus  wichtigste  Teil  unserer 
kritischen  Prüfung  der  üblichen  Klausdlehre  bereits  aU 
erledigt;  wir  haben  gesehen,  daß  im  vollen  Gegensatz  zu 
dieser,  die  einen  apezitischen  Rechtasatz  als  gegeben 
annimmt,  kein  solcher,  sondern  bloß  eine  ganz  anders- 
geartete Einschrllnkung  der  International  norm  Pacta  sunt 
servanda  in  Betracht  kommen  darf.  Für  alle  nunmehr 
noch  folgenden  Punkte  erweist  sich  eine  derartig  ausfllhr- 
liche  Behandlung,  wie  sie  dem  ersterörterten  nach  Lage 
der  Dinge  zuteil  werden  mußte,  keineswegs  als  erforderlich, 
sodaß  wir  sie  viel  kürzer,  sdmtlich  in  je  einem  Abschnitt, 
erledigen  können. 

An  erster  Stelle  haben  wir  da  die  Frage  aufzuwerfon, 
ob  es  wirklich  in  den  Umständen  begründet  ist,  daß  man 
gerade  den  vorhin  genannten  Völkerrechtssatz  und  nur  ihn 
vermögo  der  clausula  in  seinem  GuUigkeilsbereicho  woHcnt- 
lich  einzuengen  versucht.  Das  ist  auf  das  bestimmtest^.^  eu 
verneinen;  denn  dem  von  uns  richtiggestellten  Grundprinzipo 
nach,  d.  h.  nicht  als  technisch- rechtliche,  sundern  rein 
faktisch-empirische  Beschränkung,    ist  genau  das  nämliche 


120  VI  1. 

Phänomen  wie  bei  jenem  auch  bei  allen  übrigen  juristischen 
Regeln  des  Staatenverkehrs  zu  konstatieren :  nicht  lediglich 
in  Anwendung  auf  das  internationale  Vertragsrecht,  vielmehr 
„überall  bricht  sich  die  volle  Durchführung  der  völker- 
rechtlichen Sätze  an  der  Sorge  des  Staats  für  sein  eigenes 
Wohl"  *).  Damit  entftlllt  aber  jedwede  Berechtigung,  aus- 
schließlich die  eine  Norm  durch  solches  Privilegium  odiosum 
auszuzeichnen. 

Zur  näheren  Begründung  der  von  uns  aufgestellten 
These  bedarf  es  bloß  einer  entsprechend  erweiterten  Fassung 
der  früher  speziell  hinsichtlich  der  clausula  gegebenen  Be- 
weisführung. Demgemäß  läuft  das  jetzt  Folgende  in  der 
Hauptsache  auf  eine  einfache  Wiederholung  bestimmter 
schon  aus  §  10  bekannter  Ideengänge  hinaus ;  das  eine  unter- 
scheidet sich  bloß  äußerlich  insofern  von  dem  anderen,  als 
an  der  ganzen  Gedankenfolge  eine  kleine  Umgestaltung 
vorgenommen  wird.  Während  wir  nämlich  dort  zuvörderst 
(cf.  S.  107  flF.)  bloß  historisch-erfahrungsmäßig  eine  gewisse, 
tatsächlich  vorhandene  Einengung  der  Norm  Facta  sunt 
servanda  statuierten  und  dann  erst  (S.  114  ff.)  dem  empirisch 
gefundenen  Spezialgesetz  noch  eine  tiefere,  auf  die  Eigenart 
der  hier  obwaltenden  Gesamtszustände  gestützte  Erklärung 
zu  geben  suchten,  soll  diesmal  der  umgekehrte  Weg  ein- 
geschlagen werden. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  am  letztgenannten  Orte 
angestellten  Erwägungen  ganz  von  selbst  und  ohne  alle 
Veränderung  der  Übertragung  auf  weitere  Verhältnisse 
filhig  sind.  Denn  offenbar  haben  die  Staaten  nicht  bloß 
die  eine  Regel  von  der  unbedingten  Verbindlichkeit  der 
Verträge,  sondern  allgemein  und  schlechthin  das  gesamte 
Völkerrecht  bloß  in  der  Absicht  einer  für  sie  zu  erzielenden 
Interessen förd er ung  geschaffen.  Sobald  sie  überhaupt 
erkannt  hatten,  daß  ständige  Wechselbeziehungen  zwischen 
ihnen  für  jeden   einzelnen  vorteilhafter  und  nützlicher  wie 


'  Zitelmann,  Internationales  Privatrecht,  I  (1897),  8.  80. 


■ 
■ 


(las  Verharren  in  Isolierung  seien,  und  Bobald  sie  darauf- 
hin die  ungestörte  Unterhaltung  solcher  als  wünschena-  und 
erstrebenawerten  Zustand  betrachten  lernten,  mußten  sie 
auch  zu  der  Einsicht  kommen,  daß  sie  zu  diesem  Zwecke 
ihre  an  Bich  unbegrenzte  Willensfreiheit  einem  ganzen 
Komplex  beschränkender  Bestimmungen  zu  unterwerfen 
hittten.  Bloß  eine  von  den  letzteren,  allerdings  gerade  zu 
den  allerwichtfgsten  zJllilend,  ist  der  Orundsalz,  daß  einmal 
abgeacblossene  Traktate  nicht  ganz  nach  Beliebeu  erfüllt 
oder  nicht  erfüllt  werden  dürfen,  sondern  unbedingt  und 
jederzeit  einzuhalten  sind;  es  gehört  aber  ebensogut  hierher 
die  Norm  von  der  Unverletzlichkeit  der  Gesandten,  von 
der  gegenseitigen  Achtung  der  exklusiven  Territorialhoheit, 
Überhaupt  der  Inbegriff  aller  derjenigen  Regeln,  die  ini 
Laufe  der  Geschichte  allinfthlich  zu  anerkannten  Sfttzen  des 
internationalen  Verkehrsrechts  geworden  sind. 

Diese  grundsätzliche  Übereinstimmung  in  der  prÄsum- 
tiven  Zweckanlflge  hat  nun  zur  notwendigen  Konsequenz, 
dafl  bei  den  letzteren  auch  durchweg  und  unterschiedslos 
genau  die  nämliche,  eigentümlich -teleologische  Beschränkung 
unterstellt  werden  darf,  die  wir  seinerzeit  zunächst  bloß  im 
Hinblick  auf  die  Kegel  Pacta  sunt  servanda  entwickelt 
haben.  Das  will  besagen:  nicht  bloß  bei  jener,  sondern 
schlechterdings  überall,  wo  die  Staaten  irgend  einen  Satz 
als  generell  verbindlich  proklamiert  haben,  nahmen  sie 
sicherlich  zur  stillschweigenden  Voraussetzung  stets  dies, 
daß  die  allgemeine  Durchführung  derselben  sich  für  die 
Interessen  jedes  einzelnen  nur  förderlich  und  vorteil- 
haft erweisen  würde;  sie  haben  an  die  ausnahmsweise 
vorkommenden  Fälle,  bei  denen  das  nicht  zutrifft,  bei  denen 
vielmehr  die  gewissenhafte  Einhaltung  einer  internationalen 
Rechtspäicht  der  betreffenden  Macht  direkt  zur  eigenen 
Seibatvernichtung  ausschlagen  muß,  klarbewußt  kaum  ge- 
dacht und  sie  deshalb  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch 
gar  nicht  mittreffen  wollen.  Daraus  würde  zu  folgern  sein, 
daß  aftnttlichen   internationalen   Verkehrsregeln   unter   Um- 


122  VI  1. 

ständen  die  tiefste  und  letzte  Rechtfertigung  ihrer  Anwend- 
barkeit durchaus  abgehen  kann. 

Freilich  wäre  diese  Zuhilfenahme  eines  supponierten 
wahren  und  eigentlichen  Staatswillens  für  ^ich 
allein  noch  keineswegs  imstande,  als  ausreichendes  Fundament 
für  eine  feste  und  präzise  Einschränkungsformel  zu  dienen. 
Haben  wir  denselben  doch  im  Grunde  bisher  immer  nur 
verstandesmäßig-subjektiV;  aus  Reflexionen  über  die 
mutmaßliche  Zweckbestimmung  des  ganzen  Völkerrechts 
deduziert;  dagegen  mangelt  unserer  Argumentation  noch 
jede  Basierung  auf  objektiv  gegebene,  in  dem  Verhalten 
der  Staaten  selbst  hervortretende  Betätigungsmomente ,  die 
den  Rückschluß  auf  das  wirkliche  Vorhandensein  jenes 
Willens  überhaupt  erst  zu  einem  hinlänglich  gesicherten  zu 
machen  vermag. 

Soll  nun  unsere  Beweisführuiig  nach  der  angedeuteten 
Richtung  hin  noch  vervollständigt  werden,  so  stehen  dafür 
von  Anfang  an  wieder  bloß  die  beiden  Möglichkeiten  zu 
Gebote,  die  wir  in  ihrer  essentiellen  Wesen-  und  Verschieden- 
heit schon  mehrfach  charakterisiert  und  einander  gegen- 
übergestellt haben.  Man  könnte  zunächst  versuchen,  einen 
das  gesamte  Völkerrecht  sachlich  einengenden  Willen  der 
Staaten  in  der  Form  als  realexistent  darzutun,  daß  man 
direkt  eine  neue,  von  ihnen  durch  gegenseitige  Einigung 
geschaffene  Regel  entsprechenden  Inhalts  nachweist.  Im 
Fall  des  Gelingens  würde  das  natürlich  eine  spezifisch- 
juristische Korrektur  und  Fortbildung  des  internationalen 
Verkehrssystems  bedeuten:  man  würde  zu  konstatieren 
haben,  daß  alle  seine  Normen  durch  einen,  ihnen  selbst 
adäquaten  Ausnahmssatz  durchbrochen,  in  ihrem  Gültigkeits- 
bereiche beschränkt  werden.  Dieser  Weg  ist  derjenige, 
welchen  die  Völkerrechtswissenschaft  bisher  mit  Vorliebe 
eingeschlagen  hat;  er  erscheint  jedoch,  wie  wir  unten  ^  noch 
ausführlicher    sehen    werden,    bei    schärferer   Betrachtung 


1  Cf.  S.  134  ff.,  140  ff. 


I 


VI  1.  123 

scblecbterdings  ungangbar  und  darf  daher  auf  keine  Weise 
in  Frage  konnnen, 

unter  solchen  Umstanden  bleibt  von  vornherein  ledig- 
lich die  zweite  Methode  übrig,  die  damit  recht  eigentlich 
zum  entscheidenden  Prüfstein  für  die  objektive  Richtigkeit 
Oller  Unrichtigkeit  des  vorhin  rein  subjektiv  Gefundenen 
wird.  Angenommen  nämlich,  jener  präsumierte  wahre 
Wille  der  Staaten  ist  bei  ihnen  tatsächlich  vorhanden 
und  hat  sich  bloß  aus  bestimmten  Gründen  nicht  zu  einem 
allgemeinen  Rechtssatz  verdichten  können,  so  steht  ihm, 
nachdem  die  generelle  Art  der  Existenzbetätigung  ganz 
ausgeschieden  ist,  überhaupt  nur  noch  diejenige  in  con- 
creto offen;  d,  h.  wir  sind  jetzt  unbedingt  auf  den  Nach- 
w«s  angewiesen,  daß  die  Mächte  im  Einzelfalle  den  völker- 
rechtlichen Imperativen  stets  faktisch  den  Gehoruani  zu 
verweigern  pflegen. 

In  der  Tat  kann  nun  das  letztere  aus  der  erfahrungs- 
mäßigen  Beobachtung  des  ganzen  staatlichen  Verkehrs  jeden 
Augenblick  und  mit  Leichtigkeit  demonstriert  werden:  wo- 
hin wir  nur  blicken  mögen,  stets  von  neuem  sehen  wir  den 
Tatbestand  realisiert,  daß  bei  den  Staaten  sofort  jede  Rück- 
sicht auf  volkerrechtliche  Sätze  schwindet,  sobald  sie  von 
deren  Befolgung  —  mit  Recht  oder  mit  Unrecht '  —  schwerste 
Gefahren  für  ihre  eigene  gesicherte  Fortexislenz  glauben 
fUrchten  zu  müssen.  Wie  konstant  und  gleichmäßig  diese 
Erscheinung  überall  wiederkehrt,  dafür  ist  nunmehr  not- 
wendig eine  Anzahl  historischer  Einzelbelege  beizubringen; 
wir  haben  an  der  Analysierung  praktischer,  den  ver- 
schiedensten Gebieten  der  völkerrechtlichen  Beziehungen 
zu  entnehmender  Fälle  Jetzt  den  Nachweis  zu  führen,  daß 
international  die  Sorge  für  Selbsterhaltung  in  Wirklichkeit 

'  Gelegpentlicb  liiiirt  ilabei  nohl  elDtnol  eine  Bubjaktive  Selbat- 
täascbuQg' ,  eine  objekliv  uDrii'htige  Wertuni;  der  potitischea  Gesnnitlage 
mit  unter,  in  der  Wotae,  daß  du  einseitige  lliDwegxetRen  Hber  du  Vdlker- 
recht  in  Wirklichkeit  gnr  nicht  dit>  Befreiung  aus  bedrohlicher  Sitnaticn 
idialll,  Bondeni  erst  rücht  eine  solche  herbeiiilhrt  (rgl.  unten  S.  127'12d). 
Fflr  die   priaxipielle  Bearteilnng  der  Bache   Ist  dies  natQrlich  belaugloi. 


124 


VI   1. 


jene  EoUe  der  letztentsdieideiiden,  die  Motivatio  na  kraft  des 
speziäachen  Völkerrechts  regelmäßig  ganz  ausacbaltendea 
Willensbestimmung  spielt,  die  wir  früher  aus  allgemeiaen 
Erwägungen  heraus  für  sie  in  Anspruch  genommen  haben. 
Erst  wenn  dies  geschehen,  wenn  in  eingehender  Spezial- 
untersuchung gezeigt  ist,  daß  hier  die  empirisch -induktive 
Forachung  die  zuvor  abstrakt-deduktiv  gewonnenen  Ergeb- 
nisse nun  vollinhaltlich  bestätigt,  darf  unsere  Geaamt- 
arguinentation  als  wahrhaft  abgeschloaaen  gelten.  — 

Als  erstes  Beispiel  diene  uns  die  Aufhebung  der 
politischen  Existenz  der  Republik  Krakau,  die  1846  von 
den  drei  Ostuiächten  Preußen,  Rußland  und  Österreich 
einseitig,  ohne  jeden  vorausgegangenen  Kriegszustand,  voll- 
zogen worden  ist'.  Als  objektiv  feststehend  darf  dabei 
gelten,  daß  dies  auch  im  Verhältnis  zu  ersterer  selbst^ 
einen  schweren  Bruch  internationaler  Rechts  pflichten  in 
sich  schloß;  denn  unmöglich  kann  doeh  Personen,  die 
unter  sich  eine  feste,  viel  geringwertigere  Lehensgüter 
juriatiaeh  achützende  Verkehraordnung  eingeführt  haben, 
gestattet  sein,  sich  gegenseitig  aua  der  Welt  zu  schaffen I^ 

'  Sämtliche  diesen  ^'o^gAng  betreffende  AktenatUcks  aiud  abgedruckt 
bei  Martena,  N.U.G.,  tome  X,  S.  1  ff. 

'  Von  vornherein  aus  dem  Spiele  bleiben  muß  bier  natürlich  die- 
jenige Rechtiwidrigkeil ,  die  gegen  die  Mitiintenieiclmer  eines  völker- 
rechtlichen Vertragn,  das  ist  die  in  ihrem  Art.  6  die  staatliche  Selb- 
ständigkeit Krnkaus  verfügende  Wiener  Eangrelinkle  vom  9.  Juni  1815, 
begnügen  wurde.  Unter  anderen  Oenichtspunkten  |cf.  §  13.  S.  153)  werden 
wir  jedoch  aach  dieser  Seite  der  Angelegenheit  noch  einige  Worte  km 
widmen  haben. 

'  Über  die  richtige  Formulierung,  die  mun  dienern  Gedanken  eu 
geben  hat.  wird  «ich  nllerdingH  atreiten  laBseu.  Ganz  Kweifellos  un- 
genQgond  erscheint  er  namentlich  in  der  Gestalt,  die  er  bei  der  commoniB 
opinio,  durch  die  einfache  llerufiing  nnf  die  »o  unendlich  probtemati scheu 
internationalen  „Grundrechte",  speziell  das  der  Selbsterbaltung,  annitnntt. 
Indes  mag  man  die  Idee  so  oder  anders  fassen,  etwa  sie  mit  Jellinek 
(äjstem  der  subjektiven  Sffentlicben  liechte,  S.  804)  ganz  allgeinein  dabin 
wenden,  daB  „kein  Staat  von  dem  anderen  etwas  fordern  oder  ihn  recht- 
mäßig zu  etwas  zwingen  darf,  als  auf  Grund  eines  Rechtasatxes" ;  Die 
Sache  selber  wird  so  letcbt  von  Niemandem  bestritten  worden,  und  es 
kann  an  diesem  Orte,  wo  ja  schon  die  AnCBhmng  von  mati:riell  an- 
erkannten Völkerrechts  Widrigkeiten  durchaus  genügt,  niclht  unsere  Än^he 
nein,  nüher  xn  nntersnchen,  ob  die  letzteren  von  der  herrachenden  Meinung 
falsch  oder  richtig  famuliert  werden.    iVgl.  8.  130,  Anra.  2J. 


VI  1. 


125 


Auf  der  anderen  Seite  aber  wird  man,  soll  eine  wahrhaft 
gerechte  urd  allumfassende  Beurteilung  des  Falles  eintreten, 
auch  wieder  nicht  verkennen  dürfen,  daß  vom  präjuristischen 
Standpunkte  aus,  im  Hinblick  auf  ihre  eigenen  linchsten 
Staatsinteresscn,  die  Ostmäcbte  sehr  viel  zugunsten  ihrer 
Handlungsweise  anzuführen  vermochten.  Als  das  einzige, 
mit  politischer  Unabhängigkeit  ausgestattete  Überbleibsel 
des  ehemaligen  Königreichs  Polen  war  naturgemÄß  Krakau 
Mittelpunkt  und  Sammelslätte  aller  nationalen  Aspirationen 
geworden,  dergestalt,  daß  es  nach  einem  öaterreichischer- 
seits  gebrauchten  Ausdruck '  „von  1830 — ^1840  geradezu  im 
Zostand  fortwährender  Verschwörung  gegen  die  drei  Mächte 
sich  befand".  Politische  Emissäre  und  Flüchtlinge  hielten 
sich  ständig  und  in  großer  Menge,  manchmal  nach  Tausenden 
zählend,  dort  auf,  fanden  für  ihre  Zwecke  die  offene  Unter- 
Btützung  der  Bevölkerung  und  die  stillschweigende  Duldung 
der  Regierung,  durften  ungehindert  geheime  Gesellschaften 
bilden,  aufreizende  Druckschriften  in  den  Nachbarstaaten 
verbreiten  usw.  Wie  getJlhrlich  das  alles  war,  wie  überaus 
leicht  der  in  Krakau  latent  stets  vorhitndene  Zustand  der 
Feindseligkeit  zu  offenen  gewaltsamen  Ausbrüchen  übergehen 
konnte,  das  zeigte  sich  im  Anfang  des  Jahres  Iä4i3.  Ohne 
jede  Schwierigkeit  bemächtigte  sich  die  revolutinnilre  Partei 
Krakaua,  bildete  h\r:r  eine  Nationalregierung  und  suchte 
dann  mit  deren  Hilfe  die  Stadt  als  natürlich  gegebenen 
Stützpunkt  auszunutzen,  von  dem  aus  das  Innerlich  doch 
80  zerrissene  und  zers  palten  e  Polen  tum  wieder  zu  einer 
einheitlich -politischen  Existenz  gelangen  könnte.  Und 
diesen  brodelnden  Hexenkessel,  iu  dem  republikanische  und 
monarchische,  altfeudalistische  und  modern  kommunistische 
Tendenzen  wüst  gemengt  waren,  in  dem  die  Bestrebungen 
des  hohen  und  niederen  Klerus,  des  Adels  und  der  Bauern- 
schaft und  noch  viele  andere  verwirrend  sich  kreuzten,  dieses 
ordaungsloae  Durcheinander,    in  dem  alles  sich  gegenseitig 


1.  O.,  S.  87. 


befehdete,  das  aollteo  die  Ustmäelite  an  und  in  ihren  Grenzen 
ruhig  fortbestehen  lassen  ?  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  da 
energische  Abhilfeveraui;he  dringend  geboten,  ja  geradezu 
unentbehrlich  waren.  Wenn  irgendeintnal ,  so  war  damals 
ein  Fall  gegeben,  bei  dem  die  Sorge  für  die  eigene  gesicherte 
Existenz '  die  Ergreifung  der  erforderlichen  Qegen maßregeln 
trotz  aller  formell  ihnen  anhaftenden  Völkerrechtswidrigkeit 
sachlich  entschnldigto  und  begründete,  und  der  beste  und 
zu  Verl  Aasigste  Weg  zu  diesem  Zwecke  blieb  eben  unter  allen 
Umständen  die  vollständiga  Aufhebung  des  gesamten,  den 
Frieden  permanent  bedrohenden  Staatswesens, 

Daß  1846  zn  diesem  radikalsten  Abhilfsmittel  gegriffen 
wurde,  war  um  ao  weniger  zu  beanstanden,  als  früher  ge- 
machte Erfahrungen  schon  hinlänglich  bewiesen  hatten,  dafi 
mit  gelinderen  Maßregeln  kein  dauernder  Erfolg  zu  erzielen 
sei.  Zu  wiederholten  Malen  ^  hatten  sich  die  Oatmächte 
bereits  genötigt  gesehen,  zur  Wiederherstellung  der  völlig 
zerrütteten  Ordnung,  den  polnischen  Kleinstaat  militärisch 
vorübergehend  zu  besetzen;  immer  wieder  hatte,  sofort  nach 
dem  Abzug  der  fremden  Truppen,  das  alte  Treiben  von 
neuem  begonnen.  Selbstverständlich  waren  auch  schon  d 
temporären  Okkupationen,  angesichts  des  anerkannt  im 
Volkerrecht  ausgebildeten  Grundsatzes,  daß  kein  Staat  im 
Gebiet  des  anderen  eigenmächtig  Uoheitsbetätigungen  vor- 
nehmen darf",  zweifellose  Rechtswidrigkeiten  gewesen ;  dod 


*  Die   Hücksioht    auf  diene,    meist   freilich    mit   der   grundflätiliDll  ■ 
nnriclitig^n  Wendung  verbunden,  ala  ob  liierdurch  ein  spezi^chea  Sacht 
zum  Einnchreitcn  gegeben  Bei,  wird  auf«  deutlichste  betont  in  ÄttB^magen 
nie  den  folgenden:  „Le  droit  qu'a  chaquo  itU  de  se  garsntir  dn  danger 
qni  le  menuce"  (Härtens,  a.  >.  O  ,  8.  45/46).;  la  premi^re  des.loitqtd, 
a  la  foiii,  conatitue  paur  les  j^auverneinente  le  premier  de*  devoirs,  oelpt  I 
de  Is  propra  conservation''  (Msrtens,  S.  67);  „les  trtiis  Coura  ont  toori 
gult£   la  premi/iro   loi   de  chaque   itat,   le  drntt  de  propre  conaerration'V 
(DepeacliB   Metternichs    vom   4.   Januar   1847,   Harte  "   " 
8.  125). 

»  In  den  Jahren  1831  u.  1837. 

*  Dtuu  kam  in  untrem  Falle  noch  die  anadröckliche  Terfflgui^ 
der  Wiener  Kongreßakle  (Art.  9):  „Aaciiue  force  armSe  ne  poum  junii* 
j  etre  iniroduite  aous  quelque  pr^Iexte  que  ce  aoiL" 


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V 


VI  1. 


127 


I 


liatten  dieselben  Gründe  dringendster  Zwangslage,  die 
nachmals  die  völlige  Vernicbtung  Krakaus  enlachuldbar  er- 
■L-Iieinen  ließen,  jene  Verletzung  des  Prinzips  der  exklusiven 
Territorialhoheit  gleichfalls  wahrlich  ausreichend  genug  ge- 
rechtfertigt. 

Bezüglich  der  letzteren  macht  sich  Übrigens  auch  sonst 
recht  häufig,  mehr  fast  wie  bei  jeder  anderen  I  nter  national - 
norm,  die  Tatsache  bemerklich,  daß  sie  von  den  Staaten 
in  (wirklichen  oder  vermeintlichen)  NotlUUen  keineswegs 
strikt  respektiert  zu  werden  pflegt.  Um  dafür  wenigstens 
ein  Beispiel  noch  anzuführen,  sei  bloß  an  die  Art  erinnert, 
wie  der  große  Kurfürst  gegen  den  Obersten  Christian 
Lndwig  T,  Kalckstein  verfahren  ist.  Bekanntlich  war  der- 
lelbe  in  Ostpreußen  das  Haupt  der  ständischen  Opposition 
Tfider  die  brandenburgiache  Souveränetät  gewesen  und  hatte 
den  Kampf  auch  noch  fortgesetzt,  als  der  Widerstand  der 
übrigen  bereits  gebrochen  war.  Nach  verschiedenen  Wechsel- 
ftlUen  1670  nach  Polen  geflüchtet,  suchte  er  hier  bei  den 
maßgebenden  Personen  in  jeder  Weise  gegen  seinen  Landea- 
herrn  zu  hetzen  und  ein  bewaffnetes  Einachreiten  herbei- 
zuführen. Weil  nun  der  große  Kurfürst  darin  eine  äußerst 
liedenklicbe ,  um  jeden  Preis  zu  beseitigende  Gefahr  für 
Brandenburg-Preußen  erblicken  mußte,  auch  die  Auslieferung 
Kalcksteins  in  Güte  nicht  erlangen  konnte,  so  grifl*  er 
lur  Selbsthilfe;  er  ließ  jenen  auf  polnischem  Territorium, 
in  der  Hauptstadt  W'arachau  selbst,  durch  seinen  Minister- 
residenten  festnehmen  und  zu  harter  Bestrafung  Über  die 
Grenze  schaffen.  Auch  hier  wieder,  wie  man  sieht,  grund- 
sätzlich das  nämliche  Bild,  welches  wir  oben  zu  konstatieren 
hatten:  in  der  Fürsorge  für  das  Wohl  des  eigenen  Staats 
wird  eine  offenkundige  Rechtswidrigkeit  gegen  einen  fremden 
begangen. 

Allerdings  läßt  sich  gerade  in  dem  gegebenen  Falle 
billig  bezweifeln,  ob,  rein  politisch  genommen,  das  an- 
gewandte Mittel  wirklieb  sehr  zweckentsprechend  war; 
mußte     doch    Friedrich    Wilhelm    nach    Lage    der    Dinge 


128 


VI  1.1 


darauf  gefaßt  sein,  daß  es  das,  was  verhindert  werden  aollla, 
nämticli  die  kriegeriüühe  Einmischung  des  Auslands  in  die  ] 
preußischen  Verhältnisse ,  von  sich  aus  erst  herbeiführte '.  1 
Ein  ganz  ähnlicliea  Urteil  wird  auch  tlber  die  jetzt  zu  b&-  J 
trachtende  Angelegenheit  zu  fällen  nein. 

Es  handelt  sich  um  einen  Vorgang  gegen  Ende  desj 
Jahres  18(31,  bald  nach  dem  Ausbruche  des  großen  ameri-a 
kanisclien  Sezeasionskrieges.  Der  bisherige  Verlauf  dea  f 
Kampfes  hatte  bereits  gezeigt,  daß  die  Auflehnung  der  Slid- 
ataaten,  wenn  überhaupt,  so  jedenfalia  bluß  unter  den  größtea  I 
Schwierigkeiten  zu  bezwingen  sein  würde,  und  es  bedeutete  I 
demgemäß  für  die  Union  direkt  eine  Lebensfrage,  den 
letzteren  nicht  auch  noch  den  Beistand  und  die  Bundea- 
genossenschaft  einer  europäischen  Großmacht  zuteil  werden  i 
zu  lassen.  Und  speziell  nach  dieser  Richtung  hin  wurden  J 
in  jener  Zeit  seitens  der  Richraonder  Künftderationsregiermig  I 
ernstliche  Anstrengungen  gemacht;  zwei  Kommissare  dep-1 
selben,  Muson  und  Slidell,  waren  glücklich  durch  die  f 
von  der  nordstaatlichen  Flotte  unterhaltene  Klistenblockade  | 
hindurch  gelangt  und  schifften  sich  nun  in  Havanna  auf! 
dem  englisclien  Postdampfer  Trent  nach  Europa  ein.  um  I 
in  London  und  Paris  kräftig  t'tir  ihre  Sache  zu  wirk« 
Da  indes  in  Washington  das  Vorhaben  derselben  bekannt  | 
geworden  war,  so  vermochten  sie  ihre  Reise  nicht 
vollenden;  ein  amerikanisches  Kriegsschiff,  der  San  Jacinto,  I 
hielt  am  8.  November  18til  den  Trent  im  Bahamakanal  an, 
erzwang  trotz  allen  Protestes  die  Herausgabe  der  beiden  1 
Agenten  und  führte  sie  samt  ihren  zwei  Begleitern  gefangen  I 
nach  Newyork, 

Daß   dieser,   an   Bord   eines   fremden   (noch   dazu  auf  | 
der   Fahrt   von    einem    neutralen    Hafen   zum   andern   be- 
griffenen!) Schiffes  erfolgten  Festnahme  unbewaffneter  Zivil-  1 
personen  von  Anfang  an  jede  völkerrechtliche  Rechtfertigung 

'  TabtiicbltcU  ist  dns  durtli  die  BEtgraote  OebietaverleUung  BchwerJ 
gereiste  Ptdeo  damals  nnr  mühsam  bewogen  worden,  die  t5ai;he  nichfl 
Kiim  casus  belli  au  niaoben. 


VI  1 


129 


durchaus     abging,    darüber   lierrBcht,    abgesehen   von    den 
Amerikanern    seibat,    so    gut    wie   allseitiges    Einveretänd- 
nis ' ;     68     zeigte    sich    aber    bald ,     daß    die    ganz«; ,     auf 
§taatliche  Präventivverteidigung  gerichtete  Aktion  auch  im 
pnlitiaehen  Sinne  schlechterdings  verfehlt  war.     Weil  näm- 
lich   Engtand    „tlie    violation    of   international    law",    „the 
aflFront  to  the  British  flag"    nicht  ruhig  hinnahm,   vielmehr 
in  unverkennbar  drohendem  Tone  die  FreilasBung  der  Ge- 
fangenen forderte,  so  sahen   die   Amerikaner   eben   die   zu 
verhütende    Eventualitüt    plötzlich    in    geiährlichste    Nähe 
gerückt;  sie  mußten  atch  die  Frage  vorlegen,  ob  sie  durch 
eigensinniges   Verharren   auf    dem   einmal  eingeschlageneu 
Wege  den  Rebellenstaaten  selber  die  ersehnte  Unterstützung 
I  durch   eine   auslandische   Großmacht    zuführen    oder   nicht 
I  statt  dessen   lieber   einen  Schritt  ziirllcktun  sollten.     Unter 
I  den  obwaltenden  Umstünden  konnte  die  Wahl  nicht  schwer 
I  werden:  wiewohl  im  Kongreß  manche  Abgeordnete  tatsäch- 
[  lieh  dafUr  eintraten,    man   möge  das  Geschehene  gutheißen 
I  und  es  auf  den  offenen  Konflikt  ankommen  lassen,    wurde 
l-darcb  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen  der  Kapitän  des 
TSan   Jacinlo    desavouiert   und    in    einer    den    prinzipiellen 
FRUckzug   nur  schlecht   maskierenden    Note    das   Verlangen 
^Englands  rUckhaltslos  zugestanden. 

Im  Unterschied  zu  den  beiden  letzterwähnten  Fällen, 
l,4i]f  die  man  mutatis  mutandis  wohl  unbedenklich  den  be- 
I  kannten,  Talleyrand   hinsichtlich  der  Erschießung  des  duc 

■  d'Enghien  zugeschriebenen,  Ausspruch  anwenden  darf,  daß 
Ibier  mehr  wie  ein  Verbrechen,   nämlich  ein  Fehler  vorlag, 

■  bietet  beispielsweise   das  Verhalten,    welches  Friedrich    der 
BfiroBe  unmittelbar  vor   und  bei  Beginn   des  siebenjährigeD 

Lriega  beobachtete,  vom  reinen  Zweckmäßigkeit« Standpunkt 
ms  der  Kritik  nicht  die  geringste  Angriffsfläche  dar.  Nach 
-  formal -juris  tischen  Seite  hin  freilich  gab  es  mindestens 


Abhunill.    VI  ]. 


\m 


VI   1. 


ebensosehr  als  jeue  zu  den  schwerwiegendsten  Ausstellungen 
Anlaß,  In  erster  Linie  gilt  daa  natürlich  von  dem  Schluß- 
und  Endpunkt  seiner  damaligen  Politik,  d.  h.  dem  gegen 
Ende  des  Jahres  1756  plötzlich  und  unerwartet  erfolgten 
Einbruch  in  Sachsen;  denn  dieser  Überfall  mitten  im 
Frieden  war  entschieden  eine  der  gröblichsten  Verletzungen 
des  Völkerrechts',  die  sich  nur  ausdenken  lassen.  Aber 
auch  schon  von  einzelnen  Maßregeln  der  vorausgehenden 
Periode  ist  ahnliches  zu  behaupten.  Wenn  insbesondere 
zu  den  Mitteln,  durch  welche  König  Friedrich  der  sich  all- 
mählich wider  ihn  bildenden  Koalition  entgegenzuwirken 
suchte,  u.  a.  auch  dies  gehörte,  daß  er  durch  seinen  Ge-  " 
sandten  in  Dresden  den  sächsischen  Kanzlisten  Menzel 
bestechen  ließ,  ihm  Abschriften  der  von  dessen  Regierung 
mit  Österreich  und  Rußland  geführten  geheimen  Korre- 
spondenz zu  liefern,  so  kann  ein  derartiges  Unternehmen, 
fremde  Beamte  zu  korrumpieren  und  zur  Untreue  am  eigenen 
Vaterland  zu  verleiten,  nimmermehr  zu  den  völkerrechtlich 
erlaubten  Handlungen  gezählt  werden'.  Indes,  wie  die 
Dinge  damals  für  Friedrich  lagen,  konnte  er  sich  unm^Sglich 
an  Rücksichten  formal-juristischer  Art  kehren.  Nachdem 
er   einmal   erfahren    hatte,    daß   eine   übermächtige   Alliuix 


'  Vnn  dorn  Umstand,  daß  die  buiden  beteiligten  Forsten  nominell 
auch  noch  UDler  EemeinBuneD  itantsroabtlicben  MormeD,  outer  dur 
llerracbiift  des  heiligeD  rSmiBcben  Reiches  deutscher  Nstion  standeti, 
»ehe  ich  mIr  unwuneDtlich  ganz  ab.  Die  liieriiiiii  Biegenden  BBaonderheiten 
bieten  blaS  KariositfttaintereBB«. 

'  Bacblich  in  dieseni  Punkte  nit  der  herrBchendca  Lehre  durcbau» 
übereinstimmeDd,  mScbte  ich  mich  auch  hier  wieder  mit  der  Art,  wi 
den  Gedsuken  techuiacb  meist  konstruiert,  keineswegs  ideatifixieren,  ecbon 
deshalb,  neu  sie  abenuAls  bloB  mit  BioeiD  sogeD.  „Grundrechte",  n&mlich  Aem 
„auf  Achtang "  lu  operieren  pfiegt  fcf,  u.  a.  llivior,  Lehrbucb  des  Völker- 
rechts, 2.  AuS-,  S.  2TT;  Der  Gesandte  „darf  nicht  Mittel  anwenden,  darcb 
die  die  den  Staaten  gescimidete  Achtung  verletzt  würde;  aluo  nnmeutlich 
nicbt  Bestechong  tod  Itenmten ,  Verleitung  za  Dienst-  und  anderen  Ver- 
gehen u.  dei^t."  ;  Gareis,  Institutionen  des  VSIkerreobts,  2.  Aufl.,  S.  1" 
„Der  Gesandte  darf  niemals  la  Mitteln  greifen,  deren  Gebrauch  < 
Verletzung  des  Grandrevhtfl  auf  Arhtnng  im  vSlherrecbllicbeD  Verkehr 
in  «ich  nehlieBen  wflrde:  dem  Gesandten  ist  Spionage  nicht  aiir  Päicbt 
gemacht,  «indem  sogar  TSikerrecbllii'h  verboten").  Vgl.  iilerxu  daa  oben 
8.  124,  N.  3  Bemerkte. 


rvi  1. 


131 


I  wider   ihn   im   Entstehen   begriffen    war,    eine  Alhanz,   der 
I  gegenüber  es  sich  für  Preii6en  von  vornherein  offenbar  um 
ISeia    oder   Nichtsein    handelte,    war   ea    für    ihn    von    der 
'  höchsten   Wichtigkeit,    stets   genau   über   die   Pläne   seiner 
Gegner  unterrichtet  zu  aein,   und  dieses  Ziel  vermochte  er 
voUbetViedigend  nur  durch  die  Verbindung  mit  Menzel  zu  ei-- 
reichen   und   hat   er   so   auch   wirklich   erreicht.     Daa   von 
letzterem  gelieferte  Material,  im  Verein  mit  der  in  Dresden 
selbst  175ö  vorgefundenen  Korrespondena,   gab   später  den 
I    Stoff   ab  für   Hertzbergs  berühmtes     „Memoire    raiaonnd", 
I  welches  jedem  UrteilsiUhigen  in   der  Tat   eine  „gegründete 
I  Anzeige    des    unrechtmäßigen    Betragens    und    der   gefähr- 
lichen   Anschläge     und    Absichten    des    wienerischen    und 
sächsischen   Hofs"  gewährte. 

Das  ftnfte  und  überhaupt  letzte  Beispiel,  welches  hier 
als    konkreter    Beleg    für   die    allgemeine,    im    ersten   Teil 
unseres   Paragraphen    entwickelte  Regel   angeführt   werden 
soll,    mag    wegen    der    besonderen    Wichtigkeit   des    inter- 
nationalen Gesandtschaftsrechts  diesem  entnommen  werden. 
I  Es    bezieht    sich    auf    die    noch    immer    nicht    völlig   auf- 
[  geklärten  Vorgänge,    die  unter  dem  Namen  des  ^Hastatter 
l  Gesandtenmords "  eine  berüchtigte  Rolle  in   der  Geschichte 
I  spielen. 

Um   zunächst  den   äußeren  Tataachenv erlauf  kurz   zu 

Ibericbten,    so    bestand    derselbe    bekanntlich    in  folgendem. 

L'Oemäß  Art.   20   des   zwischen   Frankreich    und   Österreich 

|l797   geschlossenen    Vertrags    von   Oampo   Formio   war   in 

I  dem  badischen  Orte  Rastatt  ein  Gesandtenkongreß  zusammen- 

I  getreten,  der  einen  Frieden  der  französischen  Republik  auch 

Imit  dem  Deutschen  Reich  vermitteln  sollte.     Die  Verband- 

I  luDgen   zogen   sich  jedoch,   ohne  endgültige  Ergebnisse  zu 

I  liefern,   so   sehr   in   die  Länge,    daß   inzwischen   die  zweite 

I  Koalition    gegen   Frankreich   sich    bilden    und    den   Krieg, 

anfangs  mit  entschieden  günstigem  Erfolge,  neu  aufnehmen 

konnte.     Als   die   kaiserlich   österreichischen  Heere  Rastatt 

näher   und   näher    rUckteu,    löste   sich    der   gegenstandslos 


132  VI  1. 

gewordene  FriedenskoDgreß  allmählich  auf;  insbesondere 
reisten  am  Abend  des  28.  April  1799  auch  die  drei  repu- 
blikanischen Delegierten  nach  Frankreich  ab.  Unmittelbar 
vor  den  Toren  der  Stadt  wurden  sie  überfallen,  zwei  von 
ihnen  niedergemacht  und  der  dritte  in  unaufgeklärter 
Weise  gerettet. 

Die  große,  der  unbestrittenen  Lösung  noch  immer 
harrende  Frage  ist  nun,  von  wem  diese  Freveltat  angestiftet 
und  begangen  wurdet  Der  von  Haus  aus  weit  über- 
wiegende Verdacht  richtete  sich  gegen  Angehörige  der 
kaiserlichen  Armee,  speziell  gegen  Szekler  Husaren,  wobei 
die  Ansichten  des  Näheren  wieder  darüber  sehr  auseinander- 
gingen, ob  der  Mord  von  oben  her  angeordnet  war  oder 
nicht,  und  eventuell,  wieweit  hinauf  man  beim  Suchen  nach 
der  den  Befehl  erteilenden  Stelle  zu  greifen  habe.  Dieser 
Verdacht  ist  auch  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der 
Forschung  noch  nicht  als  gänzlich  widerlegt  zu  erachten; 
er  ist  jedoch,  wie  zugegeben  werden  muß,  durch  Publika- 
tionen der  jüngsten  Vergangenheit,  namentlich  durch  das 
umikngliche  Werk  von  Criste,  „Beiträge  zur  Geschichte  des 
Rastatter  Gesandtenmords**  ^,  mindestens  schwer  erschüttert 
worden,  sodaß  das  kaiserliche  Heer  von  der  allerschlimmsten 
Verletzung  des  internationalen  Gesandtschaftsrechts,  von 
der  brutalen  Tötung  der  französischen  Kongreßbevollmäch- 
tigten, möglicher  Weise  gänzlich  wird  freigesprochen  werden 
müssen. 

Indes  auch  angenommen,  daß  das  wirklich  der  Fall 
ist,  so  ist  damit  die  Angelegenheit  für  Österreich  noch  längst 
nicht  völlig  erledigt.  Selbst  eifrigste  Verteidiger  desselben 
wagen  nämlich  nicht  zu  leugnen,  daß  alle  Papiere  der 
Ermordeten  von   österreichischen  Truppen  beschlagnahmt^, 

^  Es  ist  in  dieser  Beziehung  eine  ganze  Anzahl  verschiedener 
Meinungen  angestellt  und  vertreten  worden;  eine  gute  Übersicht  über 
dieselben  findet  man  u.  a.  bei  v.  H eifert,  „Zur  Lösung  der  Rastatter 
Gesandtenmord-Frage^.     Gesammelte  Aufsätze.     Stuttgart  1900. 

2  Wien  1900. 

^  Die  spezielle  Frage,  von  wem  die  ausdrückliche  Weisung  hierzu 


VI  I. 


133 


I 


I 
I 


ins  Hauptquartier  eingeliefert  und  erst  nach  gründlicher 
Durclisicht  den  zuständigen  französiackeii  Behörden  ausge- 
folgt wurden,  Ea  ist  auch  leicht  einzusehen,  was  für  Be- 
weggründe und  Motive  damals  für  dieses  Vorgehen  maBgebend 
gewesen  sind.  Die  republikanischen  Bevollmächtigten  hatten 
notorisch  mit  zahlreichen  deutschen  Reichsständen,  teila 
direkt,  durch  Verbandlungen  mit  den  betreffenden  Kongreß- 
delegierten, teils  indirekt,  durch  Vermittelung  der  an  den 
einzelnen  Höfen  sich  aufhaltenden  französischen  Agenten, 
weitgehende  Beziehungen  angeknüpft,  und  es  mu6te  jetzt 
filr  den  Kaiser  militärisch  wie  politisch  von  größter  Wichtig- 
keit sein,  tlber  Inhalt  und  Umfang  derselben  ins  Reine  zu 
kommen. 

Nun  kann  es  aber  doch,  streng  juristisch  beurteilt,  gar 
keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  aus  dieser  Sachlage  eine 
formelle  Befugnis  zur  Beschlagnahme  der  Papiere  schlechter- 
dings nicht  hergeleitet  werden  durfte;  die  gesamte  ein- 
schlägige Literatur  ist  sich  ja  darüber  völlig  klar,  daß  die 
dem  Gesandten  zugebilligte  Unantastbarkeit  nicht  bloß  für 
seine  Person  unter  allen  Umständen  geachtet  werden  muß, 
sondern  sich  ebenso  auf  die  ihm  gehörenden  Gegenstände, 
in  erster  Linie  sein  Archiv,  mit  bezieht'.  Hieraus  geht 
tervor,  daß  Österreich,  mag  auch  die  Frage  nach  dem  Ur- 
heber und  Vollstrecker  des  eigentlichen  Gesandten  m  o  r  d  a 
■u  beantworten  sein,  wie  sie  will,  sich  doch  auf  jeden  Fall 


«rteilt  norden  war,  kann  dnbei  vullatÄndig  auf  sich  lierubeo  bleiben;  sa 
macht  einen  geringen  Unterschied  aua,  ob  man  (xo  beUpieUweise 
T.  Helfen,  a.  a.  O.,  S.  40 ff.,  130ff.)  den  Oberkommatidioronden,  Ere- 
faercog  Kvl,  aelbst  an  dem  Anschlag  auf  das  Archiv  tailhaben  läßt  oder 
(m>  Cri«t«,  a.  a.  O. ,  S.  43 ff.)  bloU  Keinem  Oeneralslabachef  die  letEl« 
Verantwortung  mschiebeu  will. 

1  Statt  vieler  seien  hier  bloß  die  Worte  von  M  arte  dm- Bergbob  m 
{VSlkerrecht,  Bd.  n,  S.  41)  auadrüuklic-b  angeführt:  „Die  Unverletcbarkeit 
antreckt  lich,  wie  auf  die  Gesandten,  so  auf  alle  Objekte,  welche  mit 
deren  Amt  und  persünliclier  Würde  unmittelbar  insaminenhSngen.     Dem- 


Ucbe    Habe    de»    Gesandten , 


und 


134  VI  1. 

in  der  Kastatter  Angelegenheit  eines  offenkundigen  Bruchs 
positiver  Völkerrechtssatzungen  schuldig  gemacht  hat;  der 
ganze  Vorfall  vermag  uns  als  praktischer  Beleg  dafür  zu 
dienen,  daß  auch  die  den  internationalen  Gesandtschafts- 
verkehr regelnden  Normen,  genau  wie  alle  übrigen,  bloß 
insoweit  auf  reale  Befolgung  rechnen  dürfen,  als  der  in 
concreto  beteiligten  Macht  nicht  die  Übertretung  derselben 
durch  dringendstes  Staatsinteresse  unvermeidlich  geboten 
erscheint. 

§  12. 

In  dem  vorausgehenden  Paragraphen  ist  gezeigt  worden, 
daß  der  üblichen  und  meistvertretenen  Lehre  über  die 
clausula  rebus  sie  stantibus  insofern  ein  schwerer  metho- 
discher Fehler  anhaftet,  als  sie  etwas,  was  in  Wahrheit  für 
alle  internationalen  Verkehrssätze  ohne  Ausnahme  gilt, 
speziell  für  die  eine  Regel  Facta  sunt  servanda  proklamiert: 
wir  haben  gesehen,  daß  keineswegs  bloß  diese,  sondern 
überhaupt  prinzipiell  das  gesamte  Völkerrecht  dort  nie 
stand  hält,  wo  für  die  Staaten  die  Sorge  um  die  eigene 
gesicherte  Existenz  in  Frage  kommt. 

Diese  letztere  Beobachtung  ist  nun  eine  so  naheliegende 
und  selbstverständliche,  daß  es  kaum  zu  begreifen  wäre, 
wenn  sie  noch  niemals  wissenschaftlich  erfaßt  und  in  irgend 
eine  feste  Form  gebracht  worden  sein  sollte.  Tatsächlich 
ist  das  denn  auch,  ganz  unabhängig  und  losgelöst  von  der 
Klausellehre,  schon  längst  geschehen ;  ja  es  lassen  sich  sogar 
in  dieser  Beziehung  zwei  verschiedene  Lösungsversuche 
konstatieren,  die  aber  beide,  wie  jetzt  in  aller  Kürze  gezeigt 
werden  soll,  nicht  zu  sachlich  befriedigenden  Ergebnissen 
geführt  haben. 

Als  Beispiel  für  die  erste  Richtung  können  passend 
die  Worte  verwandt  werden,  die  der  englische  Schriftsteller 
Hall  an  die  Spitze  des  siebenten  Kapitels  im  zweiten  Teil 
seines  International  law^  setzt:    „In  the  last  resort  almost 

'  S.  226. 


VI  1. 


135 


the  whole  of  the  duties  of  states  are  subordinated  to  the 
righl  ofaolf-preaervation". 

Das  in  den  völkerrechtlichen  Lehrayetemen  überhaupt 
8o  viel  heruinspukende  „Recht  der  Öelbaterhaltung"  also 
ist  €8,  dem  hier  die  Rolle  eines  Helfers  aus  der  Not  zuge- 
wiesen wirdf  d.  h,  eine  internationale  Doktrin,  der  wir 
schon  bei  einer  früheren  Gelegenheit  (Seite  124  Note  3) 
einmal  flüchtig  begegnet  sind.  Indes  ist  leicht  zu  bemerken, 
daß  ihm  jetzt  eine  wesentlich  andere  Aufgabe  zugedacht 
wird,  als  es  damals  der  Fall  war;  während  es  dort  nur  in 
negativem  Sinne  verstanden  wurde,  lediglich  den  wider 
alle  übrigen  Mächte  gerichteten  Anspruch  des  Staates  darauf 
zu  technischem  Ausdruck  zu  bringen  hatte,  daß  diese  jede 
Vernichtung  (oder,  allgemeiner  gesprochen,  jede  Verletzung) 
seiner  politischen  Existenz  unterlassen,  erscheint  es  hier, 
wie  'aus  den  unmittelbar  folgenden  Darlegungen  Halls 
deutlich  liervorgeht,  in  positiver  Funktion;  es  soll  eine 
Befugnis  zum  Tun,  „die  Berechtigung  zur  Ergreifung  aller 
Maßregeln,  welche  zur  eigenen  Selbster  halt  ung  notwendig 
sind" ',  gewähren. 

In  der  völlig  verschiedenartigen  Beurteilung  nun,  die 
man  diesen  beiden  heterogenen,  von  der  Theorie  zu  einem 
Begriff  vereinigten  Bestandteilen  nach  der  Lage  der  Dinge 
widerfahren  lassen  muß.  tritt  an  einem  Einzelpunkte  recht 
instruktiv  eine  Eigentümlichkeit  zutage,  die  ganz  generell  für 
die  Kategorie  der  sogenannten  internatiünalen  Grundrechte 
charakteristisch  ist.  Dieselben  sind  nHmlicb  ihrem  materiellen 
Gehalte  nach  keineswegs  vollständig  zu  verwerfen;  vielmehr 
begreifen  sie  unleugbar  zahlreiche  und  wesentliche  Elemente 
der  positiv- gültigen  Internationalordnung  in  sich.  Aber 
freilich,  da  die  letzteren  in  durchaus  unzulässiger  Weise 
mit  fremdartigen  Bestandteilen  vermischt  und  durchsetzt 
sind,  die  innerhalb  des  eigentlichen  Völkerrechts  nicht  das 


136  VI  1. 

mindeste  zu  suchen  haben,  so  vermag  nur  vollständige 
Preisgabe  der  Grundrechtsformel  als  solcher  wenigstens 
sachlich  etwas  von  der  ganzen  Lehre  zu  retten;  es  ist  in 
der  Tat  ganz  richtig,  daß  „der  juristische  Inhalt  dieser 
Materie  unter  anderweite  Kategorien  im  System  des  Völker- 
rechts zu  subsumieren  ist,  der  naturrechtliche  und  politische 
Inhalt  dagegen  ausgeschieden  werden  muß^  ^  Speziell  auf 
unseren  Fall  bezogen,  nimmt  dies  die  Gestalt  an,  daß  in 
jener  negativen  Funktion  des  Selbsterhaltungsrechts, 
ungeachtet  der  auch  hier  recht  unbefriedigenden  Formu- 
lierung, ein  durchaus  berechtigter  Kern  enthalten  ist^, 
daß  jedoch  die  positive  jedweder  Legitimation  und 
Grundlage  entbehrt  und  daher  restlos  zu  eliminieren  ist. 
Um  die  prinzipielle  Verfehltheit  derselben  recht  augen- 
fällig zu  machen,  dazu  genügt  es  eigentlich  schon  vollständig, 
auf  sie  den  bekannten  Spruch  anzuwenden  „An  ihren  Früchten 
sollt  ihr  sie  erkennen" ;  gelangt  doch  mit  ihrer  Hilfe  insbe- 
sondere Hall  dazu,  sogar  die  kaum  noch  zu  überbietende 
Brutalität,  die  England  1807  an  Dänemark  verübte,  ganz 
unbedenklich  und  gerechtfertigt  zu  finden.  Er  deduziert 
nämlich^  in  aller  Harmlosigkeit:  weil  in  diesem  Jahre  die 
nahe  Möglichkeit  bestanden  habe,  daß  sich  Frankreich  der 
großen  dänischen  Flotte  bemächtigte,  so  sei  England  im 
Interesse  seiner  Sicherheit  unbedingt  genötigt  gewesen,  diese 
seinerseits .  in  Besitz  zu  nehmen ;  da  nun  Dänemark  das 
entsprechende  Verlangen  in  Güte  nicht  habe  zugestehn 
wollen,  so  habe  England  zu  seinem  eigenen  großen  Be- 
dauern, keinesfalls  aber  völkerrechtswidrig,  dazu  verschreiten 
müssen,  die  Hauptstadt  eines  neutralen  Staats  drei  Tage 
lang  zu  bombardieren,  und  so  die  gewünschten  Schiffe 
schließlich  durch  sanfte  Gewalt  zu  erhalten!  Und  doch 
lag  damals  die  Sache  offenkundig  so,  daß  eine  bereits  vor- 
handene Gefahr  für  den  Bestand  des  britischen  Staats  noch 


1  Uli  mann,  Völkerrecht,  S.  80. 

^  Das  ist  ja  auch  von  uns  seinerzeit  ausdrücklich  anerkannt  worden. 

8  A.  a.  O.,  S.  229  flf. 


rvi  1. 


137 


gar  nicht  in  Frage  kam;  vielmehr  vei-mochten  die  englischen 
Staatsmftnnei'  mit  einer  bloßen  Hypothese,  mit  dem  kondi- 
tionell  höchst  verklausulierten  Gedankengang  zu  operieren: 
„Wenn   Kaiser  Napoleon    sich   mit   Dänemark   verbündet 

>(oder  auch  es  zwangsweise  seinem  Willen  unterwirft),  wenn 
«r  dadurch  die  gesamte  Flotte  desselben  in  seine  Macht 
bekommt,  w  e  n  n  er  sie  zum  Transport  französischer  Soldaten 
an  die  britische  KUste  benutzt,  wenn  diese  den  langen 
Weg  dorthin  trutz  der  weit  überlegenen  gegnerischen  See- 
macht glücklich  zurücklegen,  und  wenn  es  auch  gelingt, 
eine  beträchtliche,  sofort  gefechtst'ühige,  mit  hinlänglichem 
Kriegsmaterial  und  Proviant  versehene  Streitkraft  wirklich 

»zu  landen,  so  kann  sich  daraus  (ür  unser  Gemeinwesen 
eine  recht  bedrohliche  Situation  ergeben/  Man  darf  wohl 
getrost  behaupten,  daß,  sobald  einmal  eine  derartige  Argu- 
mentation als  ausreichend  ungesehen  wird  für  Fälle,  bei 
denen  „the  right  of  self-preeervation  juatifies  the  commission 
of  acts  of  violence  .igainst  a  friendly  or  neutral  state",  über- 
haupt kein  Völkerrechtssubjekt  nur  einen  Moment  lang 
wider  gewalttätige  Angriffe  aller  übrigen  Juristisch  geschützt 
«rschieue;  denn  die  Möglichkeit,  daß  jeder  Staat  jedem 
Staat  unter  irgendwelchen  Zukunftskombinationen  einmal 
gefährlich  werden  kann,  ist  offenbar  ätets  vorhanden,  und 
es  müßte  daher  den  Mächten  konsequenter  Weise  auch 
gestattet  sein,  zur  präventiven  Selbstverteidigung  einander 
permanent  zu  überfallen  und  unschädlich  zu  machen. 

Aber  auch  bei  vorsichtigster,  unmittelbar  gegen- 
I  WÄrtige  Gefahr  fordernder  Itestriktivfassung  wUrde 
Idie  Sache  kaum  wesentlich  besser  ausfallen.  Wegen  der 
r Öfters  schon'  konstatierten  Tatsache  nämlich,  daß  dem 
I  Völkerrecht  jede  autoritäre  selbständige,  unabhängig  von 
tAtto  Parteien  über  das  konkrete  Zutreffen  oder  Nichtzutreffen 
Ider  abstrakten  Normen  befindende  Jurisdiktionsgcwalt 
Idurcbaus  abgeht,    muß   der  Satz    „Jeder  Staat  darf,    iinbe- 


'  Vgl.  S.  74,  107. 


138 


VI  1. 


kümmert  um  Inleressen  und  Ansprüche  der  übrigen,  kraft 
seines  Selbsterhaltungsrechts  sämtliche  Maßregeln  vornehmen, 
die  zu  seiner  gesicherten  Fortexistena  objektiv  notwendig 
sind,"  praktiseh  sofort  zu  dem  anderen  umschlagen  „die  er 
subjektiv  für  notwendig  hält".  Damit  erscheinen  aber 
alle  jene  achwernten  Unzuträglichkeiten,  die  wir  S,  74  flf. 
speziell  für  die  clausula  rebus  sie  stantibus  entwickelt  haben, 
alsbald  wieder  auf  der  BildüUcbe,  nur  mit  dem  Untere ciiiedof 
daß  sie  hier,  wo  nicht  mehr  bloß  die  eine  Regel  Pacta  sunt 
servanda,  sondern,  entsprechend  der  ungemeinen  Dehnbar- 
keit des  angeblichen  S el  bst er hal tu  ngs rechts,  überhaupt  der 
ganze  internationale  Normenkoniplex  partiell  außer  Funktion 
gesetzt  werden  soll,  geradezu  bis  ins  Ungemesseoe  wachsen, 
Helhst  wenn  stets  auf  vollste  bona  iides  der  Parteien  zu 
rechnen  wäre,  müßte  die  Verwirrung,  die  infolge  der 
Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der  subjektiven  An- 
sichten unbedingt  einreißen  wird,  die  unheilvollsten  Wir- 
kungen äußern;  noch  weit  schlimmere  Befürchtungen  würde 
aber  zweifellos  der  Umstand  rechtfertigen,  daß  jetzt  anch 
dem  bösen  Willen  überall  eine  bequeme  juristische  Mas- 
kierung gesichert  ist,  daß  er  nunmehr  die  schwersten 
Rechtsverletzungen  formell  immer  in  das  Gewand  d< 
eigenen  Rechtabehauptung  einzukleiden  vermag. 

Nach  alledem  würde  die  real-geltende  Völkerrechta- 
ordnung  an  sich  selber  einfach  eine  Art  Harakiri  vollstreckt' 
haben,  wenn  sie  wirklich  die  positive  Seite  des  doktrinXri 
gebildeten  Sei bs terhal tu ngs rechts  hätte  gutheißen  und  in^ 
sich  aufnehmen  wollen.  In  Wahrheit  ist  aber  etwas  d< 
artiges  niemals  und  in  keiner  Weise  geschehen.  Daß  dii 
wichtige,  ja  allea  entscheidende  Tatsache  von  der  Theori* 
80  ganz  ignoriert  werden  konnte,  ist  lediglich  darauf  zurück- 
zuführen, daß  die  letztere,  fußend  auf  früher  ganz  allgemein 
herrschenden  Anschauungen,  die  sogenannten  internationalen 
Grundrechte  überwiegend  noch  heute  als  absolute  sub-' 
jeklive  Rechte,  d,  h,  als  solche  behandelt,  die  den  Staaten  b&-| 
grifflich  und  ganz  von  selbst,  ohne  besondere  Konzeasio 


I 


VI    1. 


139 


seitens  der  übrigen,  zustehen  sollen.  Nun  paßt  aber  doch 
auf  diesen  ganzen  Ideenkreis  sicher  nicht  weniger  die 
Qtialitizierung  als  „Werte  von  geetem",  wie  diese  Bc- 
seichnuDg  auf  veraltete  staatsrechtliche  Gedanken  Systeme 
angewandt  worden  ist ' ;  nach  dem  jetzigen  Stande  wissen- 
schaftlicher Erkenntnis  dürfte  man  eigentlich  nirgendsmehr 
subjektive  Ansprtkhe  anerkennen,  die  nicht  aus  positiv 
fliol3ender  Rechtaquelle,  in  unserem  Fall  aus  der  irgendwie 
zu  erschließenden  Willensübereinstimmung  der  mit 
einander  Verkehr  pflegenden  Staaten,  herstammen.  So- 
bald man  es  jedoch  unternimmt,  in  dieser  allein  zulAssigen 
Weise  den  auf  Grund  des  „Selbsterhaltungsrechts"  erfolgen- 
den Aktiv  eingriffen  in  fremde  Rechtssphären  ein  objektiv 
gültige«  Fundament  zu  verschaffen,  zeigt  sich  sofort  die 
prinzipielle  Haitlnsigkeit  der  ganzen  Lehre;  liefert  doch 
schon  eine  Durchmusterung  der  wenigen,  in  §  U  gegebenen 
Oeschtchtsfälle  Belege  genug  dafür,  daß  die  jeweils  positiv 
betroffenen  Staaten  die  Sache  nicht  bloß  nicht  stillschweigend 
hiozunehmen  pflegen,  aondern  regelmäßig  wider  sie  scharfen 
■Protest  erheben.  — ■ 

Angesichts  der  schweren,  vorstehend  entwickelten 
Schwächen  und  Übelstände  kann  es  nicht  Wunder  nehmen, 
daß  die  hier  bekämpfte  Konstruktion  bald  als  recht  mangelhaft 
«mpfunden  werden  mußte,  und  daß  deshalb  von  manchem 
Schriftsteller  der  Versuch  gemacht  wurde,  sie  durch  eine 
andere  und  bessere  zu  ersetzen.  Nach  welcher  Richtung 
man  die  erforderliche  Abhilfe  zu  gewinnen  strebte,  das 
ergibt  sich  beispielsweise  aus  den  Worten  Heilborns^, 
1a8  in  den  uns  interessierenden  Fällen  von  den  Staaten 
anicht  ein  Sclbsterhaltungsrecht  ausgeübt,  sondern  im  Not- 
tande gehandelt  wird", 

Eb   iet   nicht   zu    bezweifeln,    daß   diese  Formulierung, 


'  VooAnai^iiüIz  in  sein 
I   VeTmCgerubeauliädigun^n 
■  ««ralt*'. 
*  A.  II.  O,  S.  2Ö6. 


140  VI  1. 

verglichen  mit  der  früheren,  einen  wesentlichen  Fortschritt 
bedeutet.  Dann  schließt  sie  auch  ganz  unverkennbar 
eine  gewisse  Annäherung  an  die  von  uns  adoptierte  Auf- 
fassungsart in  sich,  wie  schon  aus  dem  Umstände  sich  ver- 
muten läßt,  daß  wir  seinerzeit^,  bei  der  Vorbereitung  zur 
Entwicklung  der  letzteren,  auf  den  innerstaatlichen  Notstand 
als  eine,  in  bestimmtem  Sinne  verwandte  Erscheinung  bezug 
nehmen  konnten.  Freilich,  da  das  damals  bloß  in  An- 
wendung auf  eine  der  drei  an  sich  hier  gegebenen  und 
vertretenen  Konstruktionsmöglichkeiten  geschah,  und  da 
diese  alle  auch  bei  der  völkerrechtlichen  Notstandslehre  un- 
verändert wiederkehren,  so  kann  jene  Annäherung  nicht  bei 
sämtlichen  in  Betracht  kommenden  Autoren  mit  der  gleichen 
Stärke  zu  konstatieren  sein.  Sie  ist  am  wenigsten  vor- 
handen bei  denjenigen,  die  den  internationalen  Notstand 
als  spezifisches  Not  recht  auffassen^;  sie  beginnt  dort  schon 
etwas  mehr  hervorzutreten,  wo  man  weder  die  Erlaubt- 
heit noch  das  Verboten  bleiben ,  sondern  die  juristische 
Indifferenz  der  in  ihm  vorgenommenen  Handlungen  be- 
hauptet^;  sie   ist   endlich   am   meisten  bemerklich   bei   der 


'  §  9,  S.  98ff. 

^  Konform  der  im  modernen  Kriminalrecht  zu  machenden  Be- 
obachtung, wird  eine  solche  Lehrmeinung  heute  auch  für  das  Völker- 
recht entschieden  am  seltensten  ausgesprochen  und  verteidigt;  daß  sie 
aber  in  diesem  keineswegps  ganz  unvertreten  geblieben  ist,  daför  können 
als  Beleg  die  Worte  Klübers  (Europäisches  Völkerrecht,  2.  Aufl.  1851, 
§  44,  S.  53/54)  dienen:  „Da  die  Pflicht  der  Selbsterhaltung  für  den  Ver- 
pflichteten höher  ist  als  jede  andere,  so  kann  es  nicht  als  Rechtsverletzung 
geahndet  werden,  wenn  bei  evident  dringender  Not  des  Staates,  in  dem 
Fall  unvermeidlicher  Kollision  zwischen  vollkommenen  Pflichten  gegen 
andere  Staaten  und  seiner  Selbsterhaltung,  eine  Staatsregierung  —  die 
letztere  vorzieht  und  so  von  der  Not^nst  Gebrauch  macht,  die  von 
einigen  sogar  Not  recht  genannt  wird. 

'  Zum  Beleg  für  diese,  gegenwärtig  wohl  von  der  überwiegenden 
Mehrheit  der  Schriftsteller  angenommene  Konstruktion  darf  auf  die  Aus- 
fabrungen V.  Liszts  (Völkerrecht,  3.  Aufl.,  S.  191,  verb.  mit  S.  11) 
verwiesen  werden.  Wie  derselbe  nämlich  schon  im  innerstaatlichen  Recht 
für  die  oben  charakterisierte  Anschauung  eingetreten  ist,  so  hat  er  das 
gleiche  auch  für  die  Behandlung  der  Internationalverhältnisse  strikt  durch- 
geführt; eine  scheinbare  Hinneigung  zur  Theorie  des  spezifischen  Not- 
rechts, die  in  der  ersten  Auflage  seines  Völkerrechts  an  einer  bestimmten, 
nicht    ganz    unmißverständlich    formulierten    Stelle    (S.   118)    noch    vor- 


'VI  1. 


141 


durch  Ullmann'  und  andere  bekundeten  Auflassung, 
welche  der  im  innerstaatlichen  Recht  einen  bloßen  Straf- 
auaschlieBungsgrund  statuierenden  Lehrt;  entspricht. 

Bei  alledem  ist  aber  selbst  die  letztgenannte  Richtung 
noch  weit  davon  entfernt,  einen  durchaus  befriedigenden, 
der  Eigenart  des  Völkerrechts  völlig  angemessenen  Ausdruck 
für  den  zur  Erörterung  stehenden  Sachverhalt  zu  bieten; 
im  Gegenteil  läßt  sich  auch  der  völkerrechtlichen  Not- 
Btandsdoktrin  in  allen  ihren  bisherigen  AusprAgungen 
nicht  der  Vorwurf  recht  mangelhafter  Fundierung  ersparen. 
Quell  und  Ursprung  alles  Übels  ist  die  viel  zu  geringe 
Genauigkeit,  mit  der  sie  die  beiden  Bedeutungen  ausein- 
!  anderzuhaiten  pflegt,  in  denen  das  Wort  Notstand  nach 
I  Lage  der  Dinge  gebraucht  werden  kann. 

Dasselbe  vermag  einmal  zur  Bezeichnung  einea  rein  tat- 
[  Bäcblich  vorhandenen  Zustands  zu  dienen'.  Streng  auf 
l  solche  Weise,  ohne  jedes  weitere  Zusatzelement  verstanden, 
I  will  66  lediglich  der  mit  dem  Bestehen  aller  Rechtsordnungen, 
[also  auch  der  internationalen,  ganz  von  selbst  gegebenen 
EUöglichkeit  zum  Ausdruck  verhelfen,  daß  manchmal  Juri- 
Istisch  gleichmäßig  geschützte  Interessen  verschiedener  Per- 
BD  in  KoUision  geraten  können  und  alsdann  eines  immer 
nur  auf  Kosten  des  anderen  ausreichend  zu  wahren  ist. 


bmden  war,  ist  echon  in  der  zweiten  durch  ächärfere  und  prSziserc  FanButig 
fJpC.  8.   1S7'168)  TollBtSndig  vermiedeD. 

■  >  Vgl.  VSlberrecht,   S.  81:    „Beßndpt  «idi  ein  Staat  iu  einer  Lage, 

■in  der  die  Erhaltung  Heiner  BiiBtenz  derart  in  Frng«  gestellt  Ist,  daß  er 
WMk  Qefiibr  nur  dnrch  Übertretung  von  Narmen  des  VBikcrrechls  —  be- 
Mltigen  kann,  so  liegt  ein  Fall  des  NotctandB  vor  ^;  ein  Recht  znr 
Tornshue  betreSeader  Handlungen  wird  nicht  anerkoniiti  die  Handlungen 
find  rechtswidrig,  es  xensieren  nur  die  mit  aolclien  HHiidliuigeu  koubF 
VQTlmfipften  rcohllichen  Folgen." 

*  In  dicHem  t^lnoe  wird  es,  mehr  oder  weniger  deutlich,  bei  allen 
•riSabeaümmungen  angewandt,  die  die  «trafrechtlichen  SjAteme  und 
wrbücfaer  allgomeiu-aprioriach ,  noch  ohne  Rücksicht  auf  die  jeweils 
lorhandeDe  positiv-juriatiBche  AuaprSgung des  Gedankens,  vonNotstand 
B  geben  pfleget).  Beaonderti  klar  tritt  die»  beiJanke  cstage,  da  dieser 
JDer  «cafrecbtliche  Noteland,  1878,  8.  2«/29)  unseren  Fall  als  „daa  Ver- 
«Sl t nis"  deflniert,  .in  welchem  mehrere  aelliatÄndig  nebeneinander 
lebemle,  durch  da«  Recht  gesicherte  Giilerintereasen  tatnichlicb  ncben- 
'     oder  nicht  bestehen  kSnneu". 


142  VI  1. 

Sorgfältig  hiervon  zu  unterscheiden  ist  die  zweite  Be- 
deutung, bei  welcher  Notstand  das  technisch  ausgebildete, 
positiv  sanktionierte  Institut  je  eines  einzelnen  Rechts- 
sjstems  bezeichnen  soll.  Es  liegt  nun  auf  der  Hand^  daß, 
in  diesem  Sinne  gefaßt,  mit  dem  Begriff  keineswegs  so 
voraussetzungs-  und  ausnahmslos  hantiert  werden  darf,  wie 
es  beim  Gebrauch  in  der  ersten  Bedeutung  allerdings  und 
ohne  weiteres  zulässig  erscheint.  Um  ein  praktisches  Einzel- 
beispiel anzuführen,  so  stand  auch  für  die  germanischen 
Stammesrechte  die  Sache  von  Anfang  an  so,  daß  hier  oft 
genug  Lagen  vorkamen,  „worin  man  nur  durch  eine  ver- 
botene Handlung  ein  gefährdetes  Rechtsgut  erretten  konnte"  ^; 
spezifische  juristische  Berücksichtigung  jedoch  haben  die- 
selben lange  Zeit,  teilweise  bis  ins  15.  Jahrhundert^,  nicht 
erfahren;  vielmehr  wurde  damals  die  in  (faktischem)  Not- 
stand begangene  Tat  prinzipiell  genau  so  behandelt  und 
geahndet,  wie  jede  andere  Verletzung  fremder  Rechtsgüter 
auch®.  Darin  konnte,  hier  wie  überall,  eine  Wandlung 
lediglich  auf  dem  Wege  eintreten,  daß  die  betr.  Rechts- 
ordnung selber,  fußend  auf  der  allmählich  gewonnenen  Er- 
kenntnis, daß  jene,  zunächst  rein  tatsächlich  vorhandene 
Konstellation  gerechter  Weise  auch  eine  juristische  Privi- 
legierung verdiene,  ihr  dieselbe  zu  gewähren  beschloß  und 
wirklich  gewährte. 

Gerade  dieser  Umstand  aber,  daß  der  faktische  Not- 
standsbegriff einzig  und  allein  durch  Akte  positiver  Rechts- 
setzung in  den  juristischen  überführt  werden  kann,  wird 
von  der  Lehre  vom  internationalen  Notstand  so  gut  wie 
vollständig  außer  Acht  gelassen ;  sie  operiert  offenkundig  mit 


1  Binding,  Handbuch  des  Strafrechts,  I,  S.  759. 

*  Wie  aus  den  Darlegungen  von  His,  Das  Strafrecht  der  Friesen 
im  Mittelalter  (Leipzig  1901j  deutlich  hervorgeht.  Darüber,  wie  spät  und 
mühsam  auch  sonst  im  deutschen  Recht  der  Notstandsgedanke  praktisch- 
wirksame Anerkennung  gefunden  hat,  vgl.  Schroeder,  Deutsche  Rechts- 
geschichte (4.  Aufl.  1902),  S.  348. 

'  Cf.  u.  a.  Lehmann  in  Birkmejers  Enzyklopädie  der  Rechts- 
wissenschaft, S.  281. 


rvi  1. 


143 


[  letzterem  als  rechtlicb  relevantem  Institut,  ohne  irgend- 
I  welchen  exakten  Nachweis  dafür  zu  liefera,  wann  und  wo- 
I  durch    die    auaschlieBlich    zur   Um-    und    Fortbildung    des 
I  internntionalen   Normenaystema  kompetenten    Subjekte,    die 
I  Staaten,  eine  entsprechende  Regel  sanktioniert  haben  sollen. 
1  Und  doch  waren  derartige  Unterauchungen  für  sie  in  ihren 
sämtlichen    drei  Richtungen   gleich    unentbehrlich  und  not- 
wendig gewesen.     Denn    wenn   ein   spezifisches   Notrecht 
bestellen  aoU.  no  muß  diesea  unbedingt  allen  in  gefährliche 
Lagen  geratenden  Mächten  positiv  zugebilligt  worden  sein; 
Lvenn  die  juristische  Indifferenz,  das  Fehlen  der  He chts- 
liridrtgkeit    fUr   Notstandsfhile    behauptet    wird,    so    ist   die 
I  Schaffung    einer     einschr äu k en d- ii egati v    wirkenden 
[  Korm  des  Inhalts  eingehend  darzutun,  daß  sämtliche  VOlker- 
ichtspflichten  '  auf  gewisse  ExzeptionalverhfiltniBse  keine 
1  £r3treckung  finden,  wenn  die  UllDiann'sche  Auffassung  das 
I  aufinabinsweise  „Zessieren  der  sonst  mit  rechtswidrigen 
[.Bandlungen  verknüpften  rech tliclien  Folgen"  vorsieht, 
hao   hat   sie    den   generell   verfugten   äatz   aufzuzeigen,    auf 
rGrund   dessen   diese    regelmäßig   und   im   allgemeinen   ein- 
I tretenden  Folgen*  unter  bestimmten  Voraussetzungen  nicht 
|Flatz   greifen    sollen.     Solaiige    für    alle    diese   Dinge    der 


'  Einatliließlich   dnr  durcli   aiisdrilckliche  Vereinbarung  völlig  ilü- 
B  Buttert  übemommenen !    Ein  Beispiet  mag  die  Suche  verdeutlichen.    Durch 
"b  St.  Petersburger  Deklaration   vom  11.  UeKetnl>er  IS68  hal>en  die  be- 
a  Michto  ohne  jeden  Vorbehalt  versprochen,  »ich  hui  Krie^n  mit- 

JT   gewiBBer  EiploHivgeschoBne  nicht  xa   bedienen;   trotzdem   wäre 

«  nach  der  durch  v.  Liszl,  Völkerrecht,  6. 19lKattx  all^mein  aufgestelllBii 

rbMe,   nicht  als  formelt  völkerrechtswidriff  zn  Hrachlen,   wenn  aiu  Staat 

llWiin   lebrten  Bingen   um   seine  Existenz   im  Gebrauch  derartiger  Ku«aln 

ll^e   ReHuni;   snchen    wollte.     Das    bastreitu   ich  Jedoch   auf  das   Ent- 

KscUedenste:    ich    vermisse    eben    gAnzUch    die    positiv-juristische 

■SnuuUaee  für  den  abstrak t-snpponierlen  Satz,  daß  „der  Notstand 

K*llen    Afctou   den   Charakter   der   Rechts  Widrigkeit   lu   nebmen   vermag" 

Efv-  Lixt,   a.  a.  O.,   S.  176),   daß   „der  BegrifT  der  vaikerreuhts widrigen 

■  BandluDgen   anter  alten  Umständen   dann  enttSllt,   sobald  das  Vorgehen 

'  le«  Staats  gegen  einen  anderen  im  Interesse  «einar  eigenen  Sichurheit. 

r  Wahrung   seiner  SanveränctAt  erforderlich   wird"  (A.  Zorn,   Qrand- 

ge  de«  VOtkerrechtü,  2.  Aufl..  S.  U6). 

'  Was   als  solche  tut   das   der  speziflschen  Strafeewalt  entbehrende 
UkeiTetht  allenfalls   in  Betracht   komtneu  könnte,   darüber  siehe  Uli' 
i.  O.,  8.  177  f.;  V.  Liszt,  8.  183 f. 


144  VI  1. 

Nachweis  entweder  gar  nicht  angetreten  ^  oder  bestenfalls  in 
unzulänglicher^  Form  geführt  wird,  schwebt  die  Annahme, 
daß  auch  in  die  internationale  Ordnung  das  Notstands- 
institut in  technisch-juristischem  Sinne  Aufnahme  gefunden 
habe,  vollständig  in  der  Luft;  sie  kann  nur  die  Rolle  eines 
naturrechtlichen  „Mädchens  aus  der  Fremde"  spielen  — 
„man  wußte  nicht,  woher  sie  kam!**  ® 

Selbstverständlich  würde  dieses  Urteil  seine  Berech- 
tigung verlieren,  sobald  überzeugend  dargetan  würde,  daß 
die  Staaten  einen  derartigen,  sei  es  nun  ausdrücklich  oder 
stillschweigend-gewohnheitsmäßig   erklärten    Gemeinschafts- 


'  Das  ist  u.  a.  bei  Heilborn  der  Fall,  der  dem  S.  139  von  uns 
zitierten  Satze:  „Es  wird  im  (faktischen  Notstande  gehandelt^  noch  auf 
derselben  Seite  (a.  a.  O.»  S.  296)  ganz  unvermittelt  den  anderen  folgen 
läßt:  »die  Notstandshandlung  ist  nicht  widerrechtlich",  worauf  später 
(S.  858)  von  „der  allgemeinen  Notstandsnorm  des  Völkerrechts*'  wie  von 
etwas  unbestreitbar  Feststehendem  gesprochen  wird. 

"^  Das  g^lt  z.  B.  von  demjenigen,  was  Lunder  in  Holtzendorffs 
Handbuch  des  Volkerrechts  (Bd.  IV,  S.  255),  freilich  nicht  generell, 
sondern  bloß  far  einen  angeblichen  Notstand- Spezialfall  (Verhältnis  der 
sogen.  Kriegsraison  zur  regelmäßig  einzuhaltenden  Kriegsmanier)  bemerkt: 
„Ebensowenig  kann  die  Berechtigung  zur  Kriegsraison  geleugnet  werden 
beim  Eintreten  äußerster  Noträlle.  Ist  schon  bei  Notlagen  einzelner  (!) 
die  Straflosigkeit  von  noch  so  schwer  verletzenden  Notstandshandlungen 
anerkannt  (!!),  so  muß  (?!)  das  in  noch  höherem  Maße  im  Kriege  der 
Fall  sein,  bei  dem  so  viel  mehr  auf  dem  Spiele  steht."  Darauf  ist  zu 
erwidern,  daß,  wenn  auch  in  100  Kechtsordnungen  irgend  ein  Satz  positiv 
eingeführt  ist  und  besteht,  dies  noch  gar  keinen  Rückschluß  auf  die  101. 
erlaubt,  am  wenigsten  dort,  wo  die  letztere  (was  auf  das  Völkerrecht 
notorisch  zutrifft)  weitaus  unentwickelter  und  loser  organisiert  ist  wie 
sämtliche  ersteren. 

'  Übrigens  läßt  sich  ganz  die  nämliche  Kritik  auch  auf  gelegent- 
liche Erscheinungen  aus  anderen  Rechtsgebieten  anwenden.  Wenn  u.  a. 
H.  Schulze  (Preußisches  Staatsrecht,  II,  S.  447)  das  Nichtzustande- 
kommen  des  Etatgesetzes  einen  „abnormen,  verfassungswidrigen  Zustand 
nennt,  in  welchem  die  Regierung  nur  nach  den  Geboten  des  Notstands 
die  Staatswirtschaft  weiter  zu  führen  berechtigt  (!)  und  verpflichtet  ist'', 
so  sieht  man  sich  vergebens  nach  Normen  um,  durch  welche  dieses  Prinzip 
in  das  ^Staatsrecht  positiv  eingeführt  wäre.  Sollte  etwa  eine  Basierung 
auf  solche  überhaupt  für  entbehrlich  und  überflüssig  gehalten  werden, 
dann  könnte  man  natürlich  mit  derselben  Berechtigung  beispielsweise 
auch  behaupten,  in  dringenden  Notfällen  sei  die  Regierung  des  Deutschen 
Reiches  zum  Erlaß  sogen,  provisorischer  Gezetze  formell  befugt,  trotzdem 
die  spezifisch-rechtliche  Regelung  unseres  Verfassungslebens,  insbesondere 
die  Konstitution  vom  16.  April  1871,  von  dieser  Kompetenz  nicht  das 
mindeste  weiß  (vgl.  Lab  and,  Reichsstaatsrecht,  3.  Aufl.,  1,  S.  265,  567). 


'VI  1. 


145 


I 


I 


willen  wirklich  an  den  Tag  gelegt  haben.  In  der  Tat  stößt 
man,  sobald  zunächst  die  erstere  Form  internationaler 
Rechtsbildung,  die  rechtsetzenden  Verträge  daraufhin  durch- 
gesehen werden,  verhältnismäßig  gar  nicht  so  selten  auf 
Bestimmungen,  die  ganz  unverkennbar  eine  gewisse  Regelung 
des  Notstand 8 Problems  bezwecken.  Indes  ist  wobt  zu  be- 
achten, daß  es  sich  dabei  fast  stets  nur  um  völkerrechtliche 
Abmachungen  darüber  handelt,  wie  nach  beatimniten,  auch 
das  Ausland  tangierenden  Richtungen  die  innerstaatliche 
Herracliaftsgewalt  gehandhabt  werden  soll;  mit  anderen 
Worten,  die  betr.  Traktate  geben  weit  überwiegend  nur 
bindende  Anweisungen,  daß  und  wann  einzelne  in  Notstand 
geratene  Menschen  von  letzterer  für  ihre  Handlungen 
nicht  haftbar  zu  machen  sind '.  Dagegen  bieten  sie  im 
allgemeinen  äußerst  wenig,  was  auf  das  hier  allein  in  Frage 
kommende  gegenseitige  Verhältnis  der  Staaten  als 
solcher  Bezug  hätte;  vielmehr  läßt  sich  in  dieser  Hinsicht 
nur  höchst  spärlich  und  ausnahmsweise'  einmal  eine  Fest- 
setzung, daß  die  Mächte  selber  in  außerordentlichen  Fällen 
von  der  Befolgung  normaler  Völ  k errech  tssätze  absehen 
dürfen,  namhaft  machen;  und  selbst  wenn  dies  häufiger,  als 


>  Vgl.  I.  B.  Art.  2  iea  Parieer  Vertrags   (vom  14.  Märe  1884]  zum 

SoblttEe   der   imti^rHeeiaubcn  Tctegraphenkab«!   IMiirteiiN,   N.ILG.,   t,  11, 

t  XI,  8.  283):  „La  riipture  ou  la  d^tärioration  d'iin  cäble  —  »ouamarin  — 

mI  jnitiisMbU.     Cett«   dUposition    nv    a'applique   pas    aux    ruptureB    oq 

ÜtirioratioiiB    do&t   les   ttuteurB   u'auraient   eu   qae    le    bnt    l^itime  de 

proliger  lear  vte  ou  la  a^caritä  de  leur»  bätimeiits,  apr^i  avoir  priii  iDutea 

Im  prfcautioUH  pour  ^viter  ces  ruptiire»  nu  d^teriorations."    Einen  ireitereii 

rechl  iDtereHHNDtüu  Fall  (bei  dem  der  tecbnieche  Notstaadsbegriff  xu  dem 

einer  Art  Notbilfe  erweitert  auftritt  —  bez.  diesen  Begriff«  eu  vgl.  n.  a. 

E&atier,  Ober  den  strafrecbtlicLen  Notstand  und  die  Grenzen  dar  Selbst- 

bille    ameh  UeiuljuU-alrecbt,   1902,   S.   IT)  gewährt  die   BeiidnunujBg  des 

.    dmtMh-tiiederländiaeheD  Vertrag»  vom   11.  DisKember   1873,   daß  Äreten 

Lder  GrenBgenjeiudea  bei  drohender  TodeHgefahr  anuh  im  Nat^hbar- 

EMaat  die  (somit  verbotene)  Verabfulgung  von  Medikamenlen  gestattet  ist. 

■  *  üf.  ArL  23  des  auf  der  Haager  FriedenakonfereaE  angenommenen 

I  K^Bment  ooncemant  les  lois  et  coutiimes  de  la  guerre  lur  terre:  .,t)ul7e 

Im  probibition»  ätalilies  pour  des  conventionn  cpäciales,  il  e 

(Uerdil:  —  g.,   de   d^trulre   ou   de  saiair  des  proprift^i  enu 


3  n^cei 


ildti  de  la 


SluU-  u 


olitl.  , 


■Hin. 


-  SdiDiiJI. 


10 


146 


VI  1.   ' 


es  wirklich  zutrifft,  der  Fall  wäre,  würde  bis  zum  strikten 
Beweise  des  Gegenteils  jedenfalls  immer  noch  die  Regel 
Platz  zu  greifen  haben,  daß  gerade  die  ausdrLickliclie  An- 
erkennung, die  einem  Qrundsatz  für  bestimmte  Spezial- 
beziehungen  beigelegt  wird,  weit  eher  gegen  die  Absicht  J 
seiner  unbeschränkten  und  generellen  Sanktionierung  ( 
spricht  ala  für  sie'. 

Demgemäß  würde  man  von  vornherein  in  der  Haupt-  j 
sache  darauf  angewiesen  sein,  durch  Argumentation  aus  dei 
gewobnheitsreciitlichen  Praxis  den  Nachweis  für  die  positive 
Einführung  eiuer  allgemeinen  internationalen  Notstandsnorm 
zu  versuchen.  Indes,  wer  diesen  Weg  einachlägt,  für  den 
macht  sich  alsbald  wieder  die  schon  oben*,   bei  der  Lehre 


j  AuBBinaiider- 


'  Itei  dieser  ßelegenlicil  wird  jiuMiend  gleich  «ach 
^  i  ätellung  zu  nehmen  sein,  die  v,  Liszt  auf  S.  Wi!  Beioea 
VSIkerreclitB  gibt.  Nachdem  derselbe  nämlicb,  S.  191,  EuuöchBt  bloß  die 
unbewiesene  (vgl.  üben  S.  I42f.]  Behauptung  angestellt  hnt:  „Uer  strnf- 
rechtliuh  und  privatrechtlich  anerkiinnte  Begriff  den  Notattmd« 
BohlieBt  auch  für  dns  Gebiet  de«  VöllterrechtB  die  Bechtawidrigkeit  der 
begangenen  Verletzung  kub*',  xählt  er  weiterhin  nls  „auf  dem  Begriff  de« 
Nutstanda  berDfaend"  nocb  „eine  lleihe  vun  allgctnetn  anerkannten  (?), 
wenn  auch  meiBt  nicht  unter  ihn  gebrachten  (SpeEial-lRechtagrundBätzen"  auf. 
Daraus  h5nnte  man  »lienfalls  schlieBeu  wollen,  daß  indirekt  überhaupt 
das  Prinzip  aU  solcbeiSi  in  und  vermöge  der  Sanktionierung  der  letzteren, 
nach  V.  Liest  ala  positiv  anerkannt  zu  erachten  sei.  Index  würde  gi^en 
eine  solche  Argumentation  bei  der  doch  inunerhin  recht  geringen  Zahl 
(bb  Bind  bloß  vier]  der  von  ihm  namhaft  gemachten  Einzelnomien  vor 
allem  natürlich  der  oben  im  Text  formuliert«  OrundBatz  wieder  mit  Tollei 
ächSrfe  Bprecfaen ;  anHerdem  aber  lieBe  Eich  wider  sie  auch  noch  ver- 
achledenea  andere  ins  Feld  führen.  Namentlich  tväre  darauf  hinzuwüsen, 
daB  die  Bngeiührten  Fälle  —  der  grSQere  Teil  TolUlJlndig,  der  BcBt 
wenigstens  partiell  und  nach  hostimmteD  Richtungen  hin  ~  dem  apesi- 
üscbou  Eriegsrecht  angeli5ren:  ea  maß  aber  nffenbor  als  raethodiBch 
bedenklich  gelten,  aua  einem  anomalen,  bloß  ausnahmaweiEe  unter  den 
Staaten  herrBchendeu  Rechts zuEtande  Schlüsse  iiuf  da»  normale  Verhältnis 
zwischen  ihnen  xu  ziehen.  Dazu  komnil  dann  noch,  daß  der  Euletlt 
gt^ebcnc  Fall,  der  der  aogen.  rel&che  farc^e,  gar  niclit  oder  höchstens 
sekundär,  in  den  gegebenen  Zusammenhang  herein  paßt,  wie  mir  scheint;, 
denn  wenn  ein  (Staala-  oder  Privat-)Schiff  bei  Seenot  einen  freuidan,  kri^»v 
rechtlich  blockierten  oder  aus  sonut  einem  Grunde  ihm  verachloBseiiBlS 
Hafen  anlaufen  darf,  so  handelt  doch  eigentlich  kaum  die  HeimatmaohU 
sondern  bloß  die  Bemannung  des  Fahrzeugs  in  dringender  Zwangalaj 
d.  h.  es  wird  sfstematisch  richtiger  eine  zugunsten  von  Individu 
personell  erlassene  Notstandsbsstimmuug  (und  damit  in  gewissem  Si 
ein  Seitenstück  zu  den  S.  145.  S,  1  genannten  Fällen)  anzunehmen  a 
'  S.   139. 


I 


Vi  1. 


147 


vom  Selbsterlialtungsrecht,  kurz  bertÜarte  Tatsache  eut- 
scheidend  bemerklich,  daS  eigeiitltch  jedesmal,  wenn  eine 
Macdit  in  dringender  Zwangslage  sich  über  irgendwelt;he 
IntemationalpBicht  hinweggeaetzt  bat,  die  Gegenpartei  teb- 
ha.it  dawider  remonstriert,  und  es  folglich  zu  der  für  die 
[Entstehung  praktisch -gültiger  Völkerrechtsnormen  sehleohter- 
dings  unentbehrlichen  staatlichen  Wüleneein  igung  regel- 
mftßig  nicht  kommt.  Damit  iat  nun  auch  die  zweite  und 
letzte  Möglichkeit  geschwunden,  mit  der  überhaupt  die 
Bildung  solcher  Normen  positiv  sich  dartun  läßt,  und  man 
wird  deshalb  notgedrungen  ganz  darauf  verziehten  müssen, 
in  dem  dermaligen  Bestände  rechtlich  gesetzter  und  ge- 
übter Völkerverkehrssätze  etwas  ähnliches  wie  die  vou 
einem  Teil  der  Wissenschaft  theoretisch  gelehrte  Notstands- 
doktrin  wiederzufinden. 

Auch  ist  meines  Erachtens  nicht  darauf  zu  rechnen, 
riUS  hierin  jemals  eine  wesentliche  Änderung  eintreten  wird, 
lenn  im  letzten  Einsatz  und  auf  die  extremste  Möglichkeit 
xogespitzt,  würde  die  positive  Anerkennung  jener  Norm 
notwendig  doch  auch  das  gegenseitige  Zugeständnis  invol- 
vieren müssen,  in  Fällen  dringender  Gefahr  dürfe  der  eine 
Staat  sogar  auf  Kosten  des  gesamten  politischen  Bestands 
des  anderen  sich  helfen.  Tiefer  und  schärfer  erfaßt,  die 
Mächte  müßten  erat  altruistisch  genug  denken,  sich  unter 
Umstanden  zu  Gunsten  eines  Mitstaats  die  eigene  Existenz- 
berechtigung abzusprechen;  sie  müßten  dii;  Erklärung  — 
formell  oder  doch  der  Sache  nach  —  über  sich  gewinnen,  zu 
sagen:  „Ich  gestehe  dir  d^s  ausdrückliche  Kecht  zu,  unter 
Umständen  mich  selber  umzubringen,"  resp.:  „Eine  derartige 
Tat  soll  mir  wenigstens  als  rechtlich  unverboten,  materiell 
verseihlich  und  entschuldbar  (oder  wie  sonst  die  Formel 
gewählt  werden  mag)  gelten,"  Einer  Entwicklung  nach 
dieser  Richtung  hin  steht  aber  ein  für  alb^mal  die  rein 
egoistische  Tendenz  entgegen,  auf  Grund  deren  der  gesamte 
Völkerverkehr  entstanden  ist  und  permanent  sich  abspielt: 
wenn  die  Staaten    innerhalb   desselben   notorisch  stets  bloß 

10* 


148  VI  1. 

Nutzen  und  Vorteil,  Förderung  ihrer  spezifischen  Einzel- 
interessen suchen,  so  wird  nie  daran  zu  denken  sein,  daß 
sie  die  Antastung  ihres  höchsten  Interesses,  des  eigenen 
Lebens  je  in  irgend  einer  Form  für  erlaubt  oder  auch  nur 
diskutabel  erklären  sollten^.  — 

Durch  die  sämtlichen,  vorstehend  entwickelten  Er- 
wägungen kann  jetzt  wohl  soviel  als  ausreichend  festgestellt 
gelten,  dafi  die  Heranziehung  des  technisch-juristisch  geord- 
neten Notstand sinstituts  für  das  Völkerrecht  prinzipiell 
verfehlt  ist  Ja  es  läßt  sich  aus  ihnen  im  Grunde  sogar 
noch  ein  wesentlich  weitergehender  Schluß  ziehen,  nämlich 
ganz  allgemein  folgern,  daß  überhaupt  keine  wie  immer 
geartete  Konstruktion  des  uns  hier  beschäftigenden  Problems 
sich  praktisch  wirksam  zu  bewähren  vermag,  die,  wie 
es  bei  jenen  tatsächlich  zutrifft,  für  den  tiefsten  und  ent- 
scheidenden Nachweis  ihrer  Berechtigung  lediglich  auf  das 
Dartun  einer  seitens  der  Staaten  selbst  gemeinsam 
gesetzten  Regel  angewiesen  ist;  einzig  eine  solche  Theorie 
darf  von  vornherein  auf  befriedigende  Ergebnisse  hoffen, 
die  von  dem  letzteren  Requisit  vollständig  zu  abstrahieren 
in  der  Lage  ist. 

Das  ist  nun  aber  bei  derjenigen  Lehre  wirklich  der 
Fall,  die  von  uns  seinerzeit  aufgestellt  wurde,  und  die  jetzt 


'  Des  Vergleichs  wegen  sei  hier  die  Einflechtong  einer  rechts- 
historischen Reminiszenz  ans  einem  anderen  Gebiet  gestattet.  Als 
Beccaria  sich  1764  entschieden  gegen  die  Zulässigkeit  der  Todesstrafe 
aussprach,  war  einer  der  Hauptgründe  fu%  seine  Stellungnahme  bekanntlich 
der,  „weil  in  dem  Vertrag,  worauf  der  Staat  beruht,  keiner  eine  Macht 
gewollt  haben  kann,  welche  das  Recht,  ihn  zu  töten,  einschlieBt^.  Diese 
Argumentation  war,  von  allem  anderen  abg^ehen,  schon  um  deswillen 
falsch,  weil  der  (auf  realgeg^bene  Naturtriebe  basierte)  Staat  und  mit  ihm 
sein  Recht  in  Wahrheit  gar  nicht  erst  aus  einer  Vereiubarung  von 
Individuen  hervorgegangen  ist  und  also  aus  dieser,  bei  ihm  nur  &tiver 
Weise  angenommenen  Entstehungsart  auch  keine  Folgerungen  bez.  der 
Grenzen  seiner  Betatigungsfahigkeit  gezogen  werden  dürfen.  Dagegen 
paftt  jener  Gedankengang,  sofern  man  ihn  nur  seiner  spezifisch-krimina- 
listischen Gewandung  entkleidet,  nach  der  tatsächlich  gegebenen  Lage 
der  Dinge  recht  gut  auf  das  internationale  Leben  und  das  letzterem 
eigentümliche  Völkerrecht. 


n  1. 


149 


I 


Kontrastierung  nochmals  kurz  und  in  ihren  Hauptzügen 
abersichtlich  zusammengestellt  werden  mag, 

Selbstv  erstand  lieh  ist  auch  sie  nicht  imstande ,  ohne 
jedwede  Bezugnahme  auf  den  real  sich  beffltigenden  Willen 
der  Staaten  auszukommen;  das  erscheint  ja  schon  gegen- 
stSndlich  völlig  ausgeschlossen,  da  doch  die  ganze  Lehre 
vom  Verkehrsleben  der  Völker  grundsätzlich  mit  nichts 
anderem  als  eben  mit  staatlichen  WiUensaktionen  zu  tun 
hat.  Demgemäß  bilden  solche  auch  für  uns  den  ausschlieB- 
lichen  Gegenstand  aller  Ausführungen;  wir  knüpfen  an  die 
historisch  erfahrungsmäßig  festatehende  Tatsache  an,  daß 
jedeatnal,  wenn  die  getreuliche  Erfüllung  einer  Völkerrechta- 
pflicht  den  betreffendne  Staat  mit  schwerer  Gefährdung 
«einer  vitalen  Existenzbedingungen  bedi-oht,  ihre  Einhaltung 
schlechterdings  verweigert  zu  werden  pflegt.  Dabei  handelt 
«8  sich  aber  ftlr  unsere  Auffassung  stets  und  durchweg  bloß 
um  einseitig  vorgenommene  Einzelhandlungen;  wir 
behaupten    nicht,   daß   die   mit   konstanter   Gleichmäßigkeit 

^  verfahrenden  Subjekte  selbst  schon  zur  gemeinsamen  (aus- 
drücklich oder  auch  nur  stillschweigend  erklärten)  Setzung 
einer  derartigen  Regel  gelangt  wären  •,  Diejenige  Ina  tanz, 
welche  zur  Statuierung  dieser  verschreitet,  ist  vielmehr  eine 
total  andere:  lediglich  durch  die  völkersoziale  Wissen- 
schaft als  solche  wird  sie  vollzogen  nach  derselben 
Methode  und  mit  genau  der  nämlichen  Berechtigung,  wie 
die  Naturwissenschaft^  ihre  rein  empirischen  Gedetze  bloß 
aus  der  Fülle  regelmäßig  übereinstimmender  Einzelgescheh- 
nisse  herleitet. 

Nach  alledem  ist  als  SchluSergebnIs  jedenfalls  dies  fest- 

■  Hieran  ändort  nichls  dur  Umstand,  daB  wir  die  partielle  Nicht- 
einbaltoDg  aller  VÖlltorreiJitsBätEe  friiher  (vgl.  S.  116f.,  aowie  8.  I20f.) 
knnweg  bIb  dem  „wahren  und  eigentlichen  Willen"  der  Staaten  eiit- 
nrectiimd  bezeichnet  halten  (s.  aucb  noch  ti.  160  f.).  Denn  in  onserem 
Sume  manifeatiert  eich  der  letEtere  eben  ausachließlich  in  aolchen, 
nin  koolcreten  Akten  und  Betätignngen,  hat  es  dagegen  in  keiner  Weise 
Termoclit,  sich  in  eine  allgemeine,  vereint  geachaSeue  und  auage- 
•prochene  Norm  umznaetRen. 

■  C£  oben  S.  Uüf. 


150  VI  1. 

zuhalten,  daß  das  Phänomen  einer  eigenartig- faktischen 
Beschränkung,  welches  wir,  den  Wegen  der  üblichen  Klausel- 
lehre nachgehend,  ursprünglich  bloß  in  Anwendung  auf  die 
eine  Regel  Pacta  sunt  servanda  kennen  gelernt  haben, 
überhaupt  für  das  gesamte  Völkerrecht  unverändert  wieder- 
kehrt und  bemerkbar  ist.  Bei  jeder  positiv  -  allgemein- 
gültigen Norm  des  letzteren  steht  prinzipiell  die  Sache  so, 
daß  eine  wesensgleiche,  d.  h.  selbst  wieder  juristische  Ein- 
engung ihrer  Gültigkeit  schlechterdings  nicht  stattgefunden 
hat;  deshalb  können  und  müssen  vom  einseitigen  Rechts- 
standpunkt aus  alle  Verletzungen  derselben,  gleichviel 
welche  speziellen  Umstände  dabei  vorliegen,  zunächst  nie 
als  etwas  anderes  wie  konkrete  Zuwiderhandlungen 
charakterisiert  werden.  Indem  dann  aber  die  praktische 
Beobachtung  lehrt,  daß  solche  unter  bestimmten  Voraus- 
setzungen sich  unbedingt  und  mit  nie  versagender  Zuver- 
lässigkeit einstellen,  tritt  in  gewisser  Weise,  eben  streng 
tatsächlich  genommen,  dem  ersten  Satze  trotzdem  ein 
zweiter  beschränkend  an  die  Seite:  beide  lassen  sich,  wie- 
wohl nach  Wesen  und  Beschaffenheit  völlig  von  einander 
verschieden,  immerhin  in  dem  Sinne  synthetisch  zu  dem 
Verhältnis  von  Regel-  und  Ausnahmenorm  verknüpft  denken, 
weil  die  eine  der  anderen  offenbar  einen  Teil  ihrer 
faktischen  Wirksamkeit,  ihres  realen  Geltungsbereiches* 
entzieht. 

Zum  Schlüsse  dieses  ganzen  §  12  nur  noch  einige 
wenige  Bemerkungen,  die  einen  Gegenstand  rein  termino- 
logischer Natur  betreffen.  Man  könnte  nämlich  die  Frage 
aufwerfen,  ob  im  Interesse  einer  knappen  Bezeichnung  des 
soeben  skizzierten  Tatbestands,  daß  bei  Konflikten  mit  dem 
höchsten  staatlichen  Interesse,  dem  der  Selbsterhaltung,  kein 
einziger  Völkerrechtssatz  praktische  Befolgung  und  Durch- 
führung zu  finden  pflegt,  nicht  dennoch  Begriff  und  Aus- 
druck eines  internationalen  Notstands  zu  empfehlen  und 


*  Über  die  diesem  beizulegende  Bedeutung  s.  ausfuhrlich  §   17. 


151 

Torteilbat't  anzuwenden  sei.  In  der  Tat  wird  gegen  die 
analogische  Verwertung  desselben  kaum  etwas  Stiel ili altiges 
eingewandt  werden  können;  liegt  es  doch  auf  der  Hand, 
dafi  es  grundsätzlich  gleichartige  SozialzustSnde  und -be- 
dllrfnisse  sind,  die  einerseits  das  juristisch -geordnete  Not- 
stand sine  ti  tut  der  innerstaatlichen  Kechtssyateme,  anderseits 
jene  faktisch  sich  belStigende  Eigentümlichkeit  des  Völker- 
verkehralebens  gezeitigt  haben.  Mit  Rücksicht  hierauf  er- 
scheint es  keineswegs  bedenklich  und  unangemessen,  die 
für  das  eine  Mal  allgemein  gebräuchliche  Benennung  auch 
auf  den  zweiten  Fall  prinzipiell  anzuwenden,  um  so  weniger, 
als  wir  ja  wissen,  daß  in  bestimmt  begrenzter  Weise  für 
das  innerstaatliche  Kriminalreclit  gleichfalls  von  einem  rein 
tatsächlichen  Notstandsbegriff  gesprochen  werden  kann 
und  wirklich  gesprochen  wird '.  Freilich  aber,  aur  Ver- 
meidung weittragender  Irrtümer  und  Mißverstflndnisse,  muß 
dabei  eben  unbedingt  an  dem  von  uns  klar  gelegten  Sach- 
rerhalt  festgehalten  werden,  daß  im  Völkerrecht  die  letztere 
Bedeutung,  ganz  anders  wie  bei  jenem,  die  einzig  mög- 
liche geblieben  ist,  daß,  wtlhrend  dort  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte aus  dem  faktischen  Notstand  allmühlich  auch 
ein  irgendwie  rechtlieh  geordnetes  Verhältnis  heraus- 
wachsen konnte,  dieses  hier  durchaus  und  vollständig 
mangelt;  man  muß  sich  wohl  bewußt  bleiben,  daß,  mit  dem 
innerstaatlich-juristischen  Institut  verglichen  und  in 
Parallele  gebracht,  das  von  uns  beobachtete  Internulional- 
phänomen  —  bei  aller  Übereinstimmung  im  materiellen 
Grundgedanken !  —  formell  doch  eine  ganz  selbatftndig 
geartete,  von  jenem  scharf  differierende  Bitdung  darstellt. 

>  Vgl.  obea  S.  141. 


Sechster  Abschnitt. 

Die  Unznlängliclikeit  des  Moments  der 
„veränderten  Umstände^^ 


§  13. 

Wir  gelangen  nunmehr  zur  Erörterung  und  kritischen 
Prüfung  desjenigen  Elements  der  herrschenden  Klausel- 
theorie, dem  diese  recht  eigentlich  ihren  technischen  Namen 
verdankt.  Indem  sie  das  internationale  Vertragsrecht  dahin 
geordnet  wissen  will,  daß  beim  Fortdauern  von  „rebus  sie 
stantibus^  alle  Traktate  prinzipiell  gültig  bleiben  sollen, 
setzt  sie  ihrer  vertragsaufhebenden  Wirkung  selbst  eine 
festumschriebene  Grenze:  sie  erklärt,  unter  keinen  Um- 
ständen dort  Platz  zu  greifen,  wo  nicht  irgendwelche  Ver- 
änderung der  früheren  Verhältnisse  objektiv  vorhanden 
und  nachweisbar  ist. 

Jedem,  der  eine  etwas  eingehendere  Kenntnis  von  der 
bunten  Mannigfaltigkeit  des  praktischen  Völkerverkehrs- 
lebens besitzt,  werden  von  vornherein  einige  Zweifel  bei- 
kommen müssen,  ob  diese  Formulierung  nicht  auf  ein  viel 
zu  geringes  Erfahrungsmaterial  zugeschnitten  und  deshalb 
die  ganze  Beschränkung  recht  willkürlicher  Art  ist.  Es 
sind  nämlich  offenbar  die  historisch  gegebenen  Tatbestände 
gar  nicht  so  selten,  für  welche  die  Heranziehung  der  clau- 
sula rebus  sie  stantibus  ihrem  innersten  (von  uns  bestimmt- 
artig modifizierten)  Grundgedanken  nach  durchaus  passend 
und  geeignet  erscheinen  würde,  bei  denen  aber  das  Dartun 


-VI  T. 


153 


I 


von  res  mutatae  auf  erheblichste  Schwierigkeiten  stößt,  wo 
nicht  geradezu  anmöglich  ist. 

Um  das  näher  zu  illustrieren,  wollen  wir  zunächst  noch 
einmal  auf  einen  schon  früher  behandelten  Fall,  die  ein- 
seitige Einverleibung  der  Republik  Krakau  in  Österreich, 
EU  rückgreifen.  Wir  haben  seinerzeit'  nur  dasjenige  Rechts- 
Verhältnis  ins  Auge  gefaBt,  welches  zwischen  den  drei 
Oatmfichten  Preußen,  Rußland,  Österreich  einesteils  und 
Krakau  selbst  anderenteils  stattfand,  und  haben  dabei  kon- 
statiert, daß  hier  naturgemäß  nicht  so  sehr  eine  Verletzung 
des  völkerrechtlichen  Satzes  Pacta  sunt  servanda,  als  die 
einer  von  ihm  prinzipiell  verschiedenen  Internationalnorm 
anzunehmen  ist.  Wie  jedoch  damals  bereits  kurz  ange- 
deutet wurde,  hat  man  wohl  zu  beachten,  daß  die  Ange- 
legenheit fttr  die  juristische  Betrachtung  auch  noch  eine 
ganz  andere  Seite  darbietet,  insoweit  nämlich,  als  die  Be- 
ziehungen Englands  und  Frankreichs  zu  der  Sache  in  Frage 
kommen. 

A!s  Mitunterzeichner  der  Wiener  Kongreßakte  waren 
diese  Mächte  rechtlich  zweifellos  befugt,  die  Einhaltung 
aller  in  ihr  festgesetzten  Bestimmungen  und  so  u.  a.  auch 
desjenigen  Artikels  zu  verlangen,  der  die  Bildung  eines 
besonderen  Staates  Krakau  verfügt  hatte.  Zwar  haben  ihre 
Qe^er  den  Versuch  gemacht,  ihnen  die  juristische  Kom- 
petenz hierzu  abzustreiten,  aber  mit  recht  schwächUchen, 
unzureichenden  Grlinden :  sie  stellten  nämlich  fUr  die  Trag- 
weite der  W^iener  Kongreßbeschlüsse  eine  eigenartige  „Ein- 
registrier ung8''-Theorie  '  auf,  derzufolge  Angelegenheiten, 
die  zuvörderst  durch  einen  Sondertraktat  zwischen  einzelnen 
Staaten  °    reguliert    und    erst   nachträglich   der  allgemeinen 


I  '  Vgl.  8.  124,  insbcH.  Anm.  2. 

I  '  Am  deutlichsten   gelangt  diese,   von  RuBland  40  Jabrs  spiter   iu 

I  der  Bstumfrage  unverinderl  wieder  iLn^enommeae  (cf.  oben  8.  52,  N.  2) 
Lehre  Eam  Ausdruck  iu  einer  Metternich'dcben  DepRucba  vum 
9.  JiuUT  1847.     Vgl.  MsrteoB,  N.R.6.,  X,  8.  128tf. 

*  Fflr  den  Krakaner  Fsll  fungiert  aU  solcher  der  riMi»ch-preuBlMh- 
-=-i.._..g  Vertrag  »om  3.  Maij21.  April  1815. 


154 


VI  1. 


Kongreßakte  einverleibt  worden  waren,  in  letztere  gewisser- 
maßen bloß  zur  öffentlichen  Kenntnisnahme,  ohne  öe- 
Währung  eigener  vertragsmäßiger  Rechte  an  die  Mitunter- 
zeichner, autgenommen  sein  sollten,  und  also  auch  jederzeit 
von  den  ursprünglichen  Kontrahenten  einseitig  abgeändert 
werden  durften.  Selbstverständlich  geht  es  an  dieser  Stelle  ' 
nicht  an,  uns  in  eine  ausflibrlicher  gehaltene  Widerlegung' 
der  ostmächtlichen  Argumentation  einzulassen;  es  sei  daher 
bloß  das  Eine  in  aller  Kürze  hervorgehoben,  daß  für  die 
Behauptung  einer  derartig  abgeschwächten  Wirkung  in  der 
Kongreßakte  selber  irgend  ein  Anhaltspunkt  nirgends  zu 
ünden  ist.  Überall  aber,  wo  die  Sache  so  liegt,  wo  in  einem  | 
völkerrechtlichen  Vertrag  nicht  klar  und  deutlich  ges 
wird,  daß  derselbe,  ganz  oder  auch  teilweise,  bloß  in  einem 
besonderen,  von  der  üblichen  Bedeutung  durchaus  al>- 
weichenden  Sinne  gemeint  war,  da  muß  auch  „juaqu'k  preuve 
d'une  Intention  contraire  des  parttes"  *  unbedingt  präsumiert 
werden,  daß  aus  der  Gesamtheit  seiner  Beatimmungen  für 
alle  Signatarmächte  eigene  Ansprüche  und  Rechte  ent- 
springen sollen;  oder,  speziell  auf  den  hier  zur  Erörterung  I 
stehenden  Fall  angewandt,  formal-juristisch  waren  England  I 
wie  Frankreich  nur  zu  sehr  befugt,  in  der  ohne  ihre  Zu- 
stimmung erfolgten  Aufhebung  des  Krakauer  Freistaata 
eine  rechtswidrige  Verletzung  des  1815  mit  ihnen  abge- 
achlosaenen  Vertrags  zu  erblicken. 

Allerdings  aber  auch  nur  formal -juristisch.  Denn  da  | 
die  beiden  Seiten  des  einen  RechtsverhAltniases  doch  un- 
möglich einer  prinzipiell  verschiedenartigen  Beurteilung  I 
unterzogen  werden  dürfen,  so  muß  die  Rechtfertigung  a 
einem  höheren,  der  spezifisch-juristischen  Betrachtungsweise  I 
transzendenten  Standpunkt,  die  wir  frUher  dem  Verfahren  [ 
der  Ostmachte  Krakau  selbst  gegenüber  zuteil  werden  | 
ließen,  im  Verhältnis  zu  den  Kosignataren  der  Wiener  Kon- 

'  Speziell    in    Anwenilung   auf  die    Ualumsffaire    gibt   eine    Bolcha  9 

Ko]iu-Jac([uemyDB  iu  der  Revue  de  droit  inteniBtioniLl,  XIX,  S.  Üff.  f 

*  Boliii-Jauquemyiia,  a.  a.  Ü.,  S.  43. 


'  VI  1.  155 

greßakte  nicht  weniger  eintreten;  sobald  einmal  dort  die 
Verletzung  dea  strengen  Völkerrechts  als  materiell  begründet 
und  zulässig  anerkannt  ist,  kann  das  Gleiche  aucli  der 
Übertretung  der  Regel  Pacta  sunt  servanda  Bclilechterdings 
nicht  mehr  versagt  werden:  d,  h.  wenn  irgendwo,  liegt 
gerade  hier  ein  Fall  vor,  auf  den  man  auch  die  fiir  das 
spezielle  Vertragsrecht  ausgeprägte  clausula  rebus  sie  stan- 
tibus mit  vollstem  Recht  anzuwenden  in  der  Lage  ist'. 

Ein  Anhanger  der  tlhltchen  und  herrschenden  Klausel- 
lehre freilich  müßte,  ehe  er  das  zugestehen  dürfte,  zuvor 
eben  noch  die  zu  Beginn  dieses  Paragraphen  formulierte 
Frage  aufwerfen  und  befriedigend  beantworten  können,  er 
müßte  den  Nachweis  liefern,  daß  in  der  Zeit  von  1815  bis 
184(i  eine  fundamentale  Veränderung  in  der  politischen 
Gesamtlage  vor  sich  gegangen  ist.  Das  ist  aber  eine  Auf- 
gabe, an  der  er,  wenn  er  die  .Sache  logisch  genau  nimmt, 
im  gegebenen  Falle  rettungslos  scheitern  wird.  Der  aach- 
lich entscheidende  Punkt  bestand  ja,  wie  wir  wissen,  einzig 
und  allein  darin,  daß  die  Existenz  des  kleinen  Freistaats 
für  die  Nachbarmllchte  eine  permanente  Bedrohung  invol- 
vierte und  deshalb  von  ihnen  im  Interesse  der  Selbst- 
erhaltung einlach  nicht  länger  geduldet  werden  konnte. 
Dieser  Sachverhalt  ist  nun  aber  keineswegs  uls  das  Resultat 
einer  erst  später  eingetretenen  Entwicklung  der  Dinge 
anzusehen;  vielmehr  stand  die  Sache  gleich  von  Anfang  an 
80,  daß  „eine  Republik  Krakau  unfehlbar  der  Herd  einer 
höchgefUhrlichen  polnischen  Propaganda  werden  mußte" '_ 
Anstatt  also  daß,  wie  die  völkerrechtliche  Doktrin  generell 


'  TktKibhlicIi  tinden  sieb  in  dem  auf  diu  KrHknuer  Angelegen lieit  be- 
■Qfflichen  Akleomsterial  mebrfach  Stellen  vor,  die  eine  gswiise  Bein^ahme 
auf  jenA  dcDtlioh  erkennen  laason  (vgl.  7..  B.  die  Österreichische  Depesche 
vom  \h.  NoTember  1&46,  Martens,  a.  a.  O.,  S.  67:  „Toute  sitnatioa 
peut  Atre  altSräedanasesfondementn.  llenect  ainsi  de  l'exiBteDce 
de  CraooTie'),  wenngleich  dieser  Gesichtspunkt  der  vorhin  zurückgewiesenen 
Einregistrierungstheorie  gegenüber  verhiltnismäBig  viel  lu  wenig  kuj 
lieltung  kotniut. 

'  Treilechke,  Deutsche  Gesthichte  im  19.  Jahrhundert!  (5.  Aufl.J, 
».  651, 


156  VI  1. 

verlangt,  im  Laufe  der  Jahre  eine  wirklich  neue  Konstella- 
tion sich  herausgebildet  hätte,  liegt  in  concreto  die  Sache 
vielmehr  so,  daß  bloß  etwas  Altes,  objektiv  längst  Vor- 
handenes zunächst  latent  geblieben,  subjektiv  übersehen  und 
verkannt  worden  ist  und  erst  hinterher  die  zutreffende 
Beurteilung  fand. 

Bei  alledem  soll  ja  nicht  geleugnet  werden,  daß  die 
Krakauer  Affaire  auch  gewisse  Momente  darbietet,  in  denen 
man  bei  oberflächlicher  Betrachtung  immer  noch  die  von 
der  Theorie  geforderte  objektive  Veränderung  der  Dinge 
zu  erblicken  vermöchte  *.  Es  können  aber  auch  Fälle  vor- 
kommen, bei  denen  von  etwas  derartigem  nicht,  selbst  nicht 
bei  weitherzigster  Auslegung  der  Sachlage,  mehr  die  Rede 
sein  darf.  Das  läßt  sich  sehr  instruktiv  an  einem  Vor- 
kommnis aus  der  deutschen  Kaisergeschichte  demonstrieren, 
welches  auf  Grund  der  üblichen  schablonenhaften,  nicht 
sachgemäß  rektifizierten  Klausellehre  tatsächlich  schon  einer 
recht  schiefen  und  ungerechten  Kritik  unterworfen  worden 
ist,  und  das  ich  deshalb  auch  hier  kurz  mitbesprechen 
möchte,  wiewohl  es  sich  dabei  nach  Lage  der  Dinge  nicht 
eigentlich  um  ein  technisch  -  völkerrechtliches  Geschehnis 
handelt 

Ich  meine  den  Fall,  welchen  Pfaff  auf  S.  28  seiner 
wiederholt  bereits  zitierten  Schrift*  erörtert.  Derselbe  be- 
schäftigt sich  dort  mit  der  Form,  die  die  Klausellehre 
seinerzeit  bei  Leyser  angenommen  hat,  und  führt  als 
dessen  lileinung  u.  a.  folgendes  an:  „Man  habe  mit  ihr 
Mißbrauch  getrieben ;  unverschämt  oft  sei  sie  der  Vorwand 
gewesen,  hinter  dem  sich  Wankelmut  und  Wortbruch  ver- 
bargen. So  hätten  auf  Grund  eines  mit  Heinrich  VI. 
geschlossenen  Paktes   die  Fürsten   seinen  Sohn  zum  König 


^  Z.  B.  in  der  Weise,  daß  man  die  erst  seit  dem  Jahre  1830  ein- 
setzenden offenen  Insur^erongen  der  Nachbarg^biete  nicht  als  bloBe 
Symptome  eines  tieferliegenden  Gmndübels,  sondern  als  wahre,  för  sich 
bestehende  novae  res  aufiaßte. 

«  Vgl.  S.  5,  Anm.  2. 


rvi  1. 


I 

^H  gewAhlt  und  ihm  Treue  geschworeo,  seien  aber  alabald  uach 
^H  Heinriche  Tod  vod  ihm  abgelatlcD,  und  man  habe  dieBen 
^B  Vorgang  durch  die  Berufung  auf  die  Kkuael  rechtfertigen 
^H  wollen.  Nie  aber  sei  diese  Regel  unglücklicher  angewendet 
worden,  Allee,  worauf  sich  die  Füraten  zur  Beschönigung 
ihres  Abfalls  beriefen,  hätten  sie  vorausgewußt,  insbesonders 

•  daß  der  von  ihnen  Gewilhlte  ein  in  der  Wiege  liegendes 
Kind  war,  und  ebenso  seien  ihnen  bekannt  gewesen  jene 
novae  res,  quas  circa  llberam  Germanorum  electionem 
imperatoris  moliebalur  pontifex." 

Gegen  diese  ganze  Art  der  Argumentation  lassen 
sich  gewichtige  Einwände  geltend  machen.  Dabei  mag 
noch  vollständig  von  der  Frage  abgesehen  werden,  ob  eine 
Bezugnahme  auf  das  {technisch  erst  seit  der  späteren 
Cllossatorenzeit  auftauchende)  Institut  der  clausula  nach 
der  Gedankenwelt  jener  Epoche  überhaupt  möglich  war 
und  praktisch  vorkommen  konnte';  es  ist  das  ein  ver- 
hältnismäßig nebensächlicher  Punkt,  der  hier  um  so  eher 
unerörtert  bleiben  darf,  als  aus  den  Leyaer'schen  Worten 
selbst  nicht  mit  voller  Sicherheit  zu  entnehmen  ist,  ob  unter 
denjenigen,  ,die  den  Vorgang  durch  die  Berufung  auf  die 
Klausel  rechtfertigen  wollten",  die  deutschen  Fürsten  in 
Person  oder  nur  spätere  Verteidiger  ihres  Verhaltens  ver- 
standen werden  sollen.  Wogegen  aber  mit  aller  Entschieden- 
heit protestiert  werden  muß,  das  ist  die  Behauptung,  die 
ersteren  hätten  alles  Wesentliche  von  der  nachmals  er- 
tblgenden  geschichtlichen  Entwicklung  „vorausgewußt" : 
woher  sollte  es  ihnen  denn  bekannt  sein,  daß  Heinrich  VI. 
so  unerwartet  früh  sterben  würde?  Gerade  dies  ist 
aber   hier   dasjenige  Moment,   auf   welches   alles  ankommt. 


'  Soviel  mir  t^kHimt  ist,  waren  es,  dem  ganzen  Zeilchnrakter  ent- 
■prechend,  weit  nndere  Gesichtspunkte,  die  fBr  die  Zuliniigkeit  einer  neuen 
W»bl  geltend  gemacht  wurden,  insbe«oiidere  das  Bedenken,  ob  ein  Eid, 
il^r  einem  noch  gar  nicht  gelauften  Kinde  geschworen  Hei  (und 
ein  ■olehcs  war  damaln  der  Bpster«  Kaiser  Friedrich  n.  noch)  über- 
haupt Verbindlichkeit  beaitie. 


158  <         «  VI  1. 

Als  die  Fürsten  Ende  I19l3,  auf  dem  Reichslage  zu  Frank- 
furt, dem  Drängen  des  Kaisers  nachkameu  und  sein  nicht 
lange  vorher  geborenes  Söhni-hen  zum  Nachfolger  wählten, 
da  stand  Jener  in  der  Blüte  seiner  Jahre;  mensehlicher 
Berechnung  nach  war  gewiß  anzunehmen,  daß  ihm  noeh  ein 
langes  Leben  beschieden  suin  wlirde,  und  man  durfte  des- 
halb auch  zuversichtlich  darauf  hoffen,  daß  mit  dem  zum 
König  gewählten  Kinde  vor  der  wirklichen  Thronbesteigung 
noch  eine  wesentliche  Umwandlung,  das  Heranwachsen 
zum  Jünglings- oder  Manneaalter,  vor  sich  gehen  würde.  Statt 
dessen  trat  aber,  schon  ehe  ea  in  dieser  oder  irgendwelcher 
sonstigen  Beziehung  auch  nur  zur  geringsten  Änderung  hatte 
kommen  können,  bereits  wenige  Monate  nach  vollzogener 
Wahl,  der  für  Deutschland  so  verhängnisvolle  Tod  Hein- 
richs VI.  ein,  und  es  hätte  also  nunmehr  eine  langwierige 
Zeit  der  Regentschaft  vergehen  müssen,  bis  endlich  das 
nominelle  Reichsoberhaupt  auch  tatsächlich  die  Funktionen 
seiner  Stellung  wahrnehmen  konnte.  Die  Erfahrungen  jedoch, 
die  man  bei  früheren  Gelegenheilen  (insbes.  Heinrich  IV,) 
mit  einer  auf  viele  Jahre  sich  erstreckenden  Reichsver- 
wesung gemacht  hatte,  erschienen  sicherlich  nicht  gerade 
als  verlockend,  und  ganz  besonders  die  stürmische  Zeit 
gegen  Ausgang  des  12.  Jahrhunderts  mit  ihren  mannig- 
faltigen weltlichen  und  kirchlichen  Wirren  war  wohl  fUr 
die  Wiederholung  eines  derartigen  Experiments  am  aller- 
wenigsten geeignet.  Mit  Hinblick  hierauf  hat  man  im  vollen 
(legensatz  zu  Leyser  auzuerkennen,  daß  die  deutschen 
Fürsten  damals  ihren  formellen  Treubruch  materiell  mit 
guten  Gründen  zu  entschuldigen  vermochten:  die  Wohlfahrt 
des  Reiches,  auf  die  es  vor  allem  ankam,  wurde  tatsächlich 
schwer  gefährdet,  wenn  sein  König  ein  zweijähriges  Kind 
war,  und  vor  dieser  Erwägung  mußte  die  Rücksicht  auf 
frühere,  unter  andereu  Voraussetzungen  undE 
Wartungen  abgegebene  Zusagen  notwendig  zurücktreten. 
Nur  bei  einer  solchen  Auffassung  der  Dinge  läßt  sich  den 
Motiven  der  beteiligten  Personen  vollständig  gerecht  werden, 


1 


VI  1. 


159 


■nd  nur  sie  vermag  es  auch  zu  erklären,  warum  gerade  die 
treuesten  Ghibellinen,  darunter  Heinrich  dem  Sechsten  per- 
Bßnlich  nahestehende  Männer  wie  sein  ehemaliger  Erzieher 
und  Waffenmeister,  der  Reichsmarschall  Heinrich  von  Kalden, 
die  Königswahl  des  persönlich  lange  widerstrebenden  Philipp 
von  Schwaben  entweder  von  sich  aus  direkt  verlangten  oder 
doch  aofiirt  acceptierten.  — 

Ea  versteht  sich  von  selbst,  daß  das  zuletzt  gebrauchte 
Beispiel,  weit  nicht  dem  spezifiadien  Völkerrecht  angehörend, 
für  unsere  Zwecke  keine  unmittelbar  beweisende  Kraft  in 
Anspruch  nehmen  darf.  Um  so  mehr  ist  das  aber  indirekt 
der  Fall;  wird  doch  zum  mindesten  die  Möglichkeit  kaum 
sich  bestreiten  lassen,  daß  auf  diesem  Rechtsgebiet,  bei  den 
internationalen  Verkehrsbeziehungen,  gleichfalls  Konstella- 
tionen eintreten  können,  die  jenem  durchaus  analog  sind 
und  mithin  vollständig  nach  seinem  Vorbild  beurteilt  werden 
müssen'.  In  diesem  Sinne  erscheint  es  nicht  unzulässig, 
auch  aus  dem  zweiten  Falle,  genau  so  gut  wie  aus  der 
früher  erörterten  Krakauer  AfFaire,  Jetzt  die  entsprechenden 
Schlußfolgerungen  zu  ziehen:  beide  zusammen 
lern  Jedenfalls   genügendes   Material,    um   die  Revisions- 


•  Zur  Illustration  diene  ein  mögliehsl  einfitch  iiiid  fiberaiiihtlioh  ge- 
wtUtea  Beispiel.  In  frflhcreii  Zeilen  bildete  elneu  recht  büuügeii  Gegen- 
stand Ton  Traktaten  zwiaohen  HuuverüBDii  Staaten  die  Zuange,  dsQ  einer 
dem  kndern  ein  Ijeatimmtes  Quantum  von  Getrpide  oder  sonstigen  Leliens- 
mitleln  g6gea  Entgelt  tu  l>BseLBffen  habe  (ich  erianere  u.  h.  an  die  von 
der  Repablik  Genua  regelmäßig  abgeguhlosaenen  S8lxliererungsvcrtr£ge ; 
et.  Siereking,  Genueser  Finannweseii,  I,  1898,  S.  94f.).  Wenn  nun 
der Tenprechendo  urgprQnglicb  einen,  seinen  eigenen  Bedarfaberstuigenden 
Torrat  tatiichiich  zur  Verrägung  gebebt,  hinterher  über  den  Cherfluß  durcli 
irgeDdwelcbe  Umetfiude  eingebaut  hatte,  ao  waren  hier  offenbar  wirkliche 
na  mutatae  und  damit  der  typiiche  Sdiulfall  fBr  die  Anwendhnrkeit 
der  daiunlB  rebus  sie  stantibus  gegeben.  Wenn  dngegBn  ein  entsprechender 
Teitrag  von  einem  Stnate  eingegangen  wurde,  der  momentan  gar  kein 
UwrKliQsnges  Getreide  besaß,  wohl  aber  solches  spAter  mit  voller  Sicher- 
bcät  *Q  erlangen  hoffen  durfte,  und  wenn  dann  die  letztere  AoHsicht  wider 
lÜM  Erwarten  fehtgesch lagen  war,  ho  lag  hier,  an  Slelle  der  vorhin  be- 
ohaebteten  mutntio,  nur  ganz  der  gleiche  tataächliche  Zustand  noch  wie 
Mlier  vor,  und  doch  hat  mit  Rücksicht  auf  die  ntaatlicbe  Beibsterholtung 
die  Hichtliererung  in  dem  zweiten  falle  sicherltrh  ^rnde  so  als  ent- 
1  materiell  gerechtfertigt  ru  gelten  wie  in  dem  cnlen. 


160 


VI  1 


bedUrftigkeit  der  bisherigen  Fassung  der  Klausellehre  übei 
zeugend  darziitun. 

Die   Bich    aus    ihnen    ergebenden    Konsequenzen    sindfl 
offenbar  folgende.    Es  bedeutet  eine  viel  zu  enge  Auffassung  < 
des   zur   Behandlung  stehenden    Problems,    wenn   lediglich 
der  Veränderung  der  (zur  Zeit  des  Traktatsabschluaaes 
vorhandenen)   Umstände   eine   vertragsaufhebende  Kraft 
zugeschrieben    wird.      An     und     für     sieh    vermag    über- 
haupt  keine   wie   immer  geartete    objektive   Gestaltung 
der  Dinge    ohne    weiteres    Einfluß    auf   den    Bestand    oder 
Nichtbestand    eines    menschlichen    Willensaktes    zu    üben^J 
vielmehr  wird  das  erst  dadurch  möglich,  daß  sie  subjektirfl 
zur   Voraussetzung   gemacht,    das    Geschäft    von    ihr 
scheidend,  wiewohl  vielleicht  nicht  klar  bewußt,  intern  ab- 
hängig gemacht  ist.     Da  wird  es  nun  zunächst  in  der  T*l 
überaus   häutig  vorkommen,   daß   eine  stillschweigende  Bs-1 
zugnahme   auf  die  Fortexistenz   der   wesentlichen,   dermals 
vorhandenen  äußeren  Verhältnisse  stattfand.     Daneben  aber 
kann  man  auch  auf  Fälle  stoßen,  bei  denen  (vgl.  die  Ange- 
legenheit Krakau)  nicht  so  sehr  auf  die  Dauer  der  letzteren 
wie  darauf  abgestellt  ist,  daß  die  innere  Beurteilung, 
die  man    ihnen   seinerzeit   zuteil    werden  ließ,    unverändert  — 
dieselbe  bleiben  darf.     Und  weiterhin  drängen   sich  wiedefg 
abweichend    gestaltete   Erscheinungen    nach    der   Rieht unf 
hin  auf,  daß  (Königawahl  Friedrichs  II.)  manchmal  das  dei 
Fortbestand  des  rechtsgeschäftlichen  Willensaktes  tangierendu 
Moment   überhaupt   nicht  mehr  in  irgend  einer  {sei  es  nai 
äußeren  oder  inneren)  Veränderung,  sondern  gerade  dari^ 
besteht,   daß  eine  solche  wider  alles  Verhoffen   nicht   eln^] 
getreten   ist,     vielmehr   genau    der    ursprünglich   gegebeof 
Status  auch  jetzt  noch  anhält. 

Diese   sämtlichen   Fälle,   die   auf  den   ersten  Blick   i 
mannigfach  von  einander  differieren,  stimmen  unverkennbi 
in  dem  einen  Punkte  durchaus  liberein,    daß   es   bei 
im  Grunde  darauf  ankommt,  dem  „wahren  und  eigentlichen 
Willen"  der  Parteien  wider  den  ausgesprochenen  zur  Geltung 


'VI  1. 


161 


Bu  verhelfen':    überall  ist  ein  rechtsgeschäftlicher  Akt  zu- 
\  etande   gekommen,   der   nicht  gewollt   worden  wäre,    wenn 
»  der  Betreffende  hätte  vorauasehen  können,   daß  die  in  ihm 
"vorhandene  Vorstellung  vom  Verlauf  der  Dinge  und  die 
nachmalige  wirkliche  Entwicklung  sich  in  wesentlichen 
Elementen  nicht  decken  würden.     Mit  anderen  Worten,   es 
ist    eben   ein    rein    subjektives    Kriterium,    welches    in 
den  von  uns  kurz  skizzierten  FJllIen  g!eichmil6ig  den  Aus- 
uchlag  gibt,  und  auf  das  überhaupt,  Liernneh  zu  schließen, 
Jie  gesamte  Klausellehre  entscheidend  zurückgeführt  werden 
muß.     Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  mit  dieser  Wendung  die 
von   der  völkerrechtlichen  Theorie  regelmRßig  gewandelten 
Bahnen  beträchtlich  und  nach  den  verschiedensten  Richtungen 
hin'  überschritten  werden.     Indes  ein  solches  Hinausgreifen 
über  sie  erscheint  als  gar  nicht  zu  vermeidende  Notwendig- 
keit; denn  nur,  wenn  jenes  subjektive  Moment^  und  zwar 
in  allgemeinster  Fassung*  —  zugrunde   gelegt   wird,    kann 
maa     dem     internationalen    KKiuselproblem     wahrhaft    er- 
.  ichfipfend  und  vollbefriedigend  gerecht  werden;  namentlich 
■iTermag   erst   dann   dem    von  der  herrschenden  Lehre  allzu 
■CJnseltig  bevorzugten  Falle,  dem  Eintritt  nichterwarteter 
'Veränderungen,     ebenbürtig     seine    vollständige    Um- 
kehrung,  d.   h.   der  Nichteintritt   erwarteter   Ver- 
Xnderungen,  an  die  Seite  zu  treten*. 


I  '  Vgl.  hierzu  oben  8.  117,  Anm.   L 

L  *  Die  vorhin  erfolgte  Nennung^  vou  Ein««lJ311en  bcAUBpriic:ht  iturch- 

üi  nicht,  voUstündig  tu  sein. 

*  Etwa  DHch  dem  Muster  der  Formuliening,  die  für  doa  Privatrecht 
wn  Bekker  aufgestellt  worden  ist;  rf.  Pandekten,  II  (1889),  S.  a67; 
„Voraouetiiuigen'  eiuengeeiJiHflIiehen  Willvoa  baiBea  wir  dasjenig«  Denheo 
■Üd  Meinen  des  Wullendon  bezQglieh  auf  das  waa  ist  und  ans  wiu  geschehen 
Jat  (.annebmen'),  sowie  aaf  das  waa  iat  und  du«  waa  eescheheu  wird  (,er>- 
i*n%  ohne  welch««  er  diesen  Willen  nicht  gefaßt  haben  wQrde.  Älao 
ibt  die  falsche  Voraoasetzung  auch  einen  gefSIschtea  Willen." 

'  Speiiell  der  letztere  Fall  würde  eine  belräehtlich  eingehendere 
IJang  verdienen,  ata  sie  ihm  hier  naeh  Lage  der  Dinge  luteil  werden 
Uiuu  BeBDoderi  wichtig  und  deihalb  sueh  an  dieser  Stelle  wenigstens 
kan  SU  erwiUinen  ist  der  Umslaad,  daß  der  Zeitpuekt,  bis  tu  welchem 
■Bf  die  aar  wesentlichen  Vorausietunng  erhobene  Änderung  gewartet 
werden  moB,  durch  die  obwaltenden  UmslAnde  meist  Kiemlicb  strliHrf  be- 
BrrtM.-lii.l.  AbhimU,     VI  I.  —  Schmirit.  11 


^^Ut  (,ani 

^Krurtcn') 

^Rriuuidl 


§  14. 

Im  Anschlufi  an  die  zuletzt  gegebenen  AusfUhrungea 
mag  noch  auf  eine  spezielle  Frago  kurz  eingegangen  werden,  ' 
eine  Frage,  die  nach  der  gewöhnlichen  Formulierung  der 
Klauaellehre  mit  diesor  scheinbar  nichts  zu  schaffen  hat, 
die  sich  aber  für  una,  in  dem  vorstehend  veränderten  und  I 
erweiterten  Sinne  derselben,  aufs  engste  damit  verknüpft 
erweist. 

Zwei  eigentümliche  Endigungsgr linde  sind  es,  die  von  ] 
der  völkerrechtlichen  Doktrin  fast  übereinstimmend  flir  das 
internationale  Vertragarecht  in  Anspruch  genommen  und 
als  besondere  Singularitäten  des  letzteren  ausgegeben  zu 
werden  pflegen:  das  ist  einmal  die  uns  hier  grundsätzlich 
beschättigende  „wesentliche  Veränderung  der  Umstände", 
außerdem  aber  noch  die  „Nichterfüllung  des  Über 
kommens  von  seiten  der  einen  Vertragspartei"  ',  Beide 
werden  regelmäßig  als  völlig  selbständige,  isoÜert  nebt 
einander  stehende  Dinge  behandelt,  dergestalt  daß  zwischen 


stimmt  wird,  dei^est&lt,  daß  jede  frühere  DerufiiDg  auf  den  Nlchteintritt   1 
jener  nls  uDEolHüsig  erscheint.  Wir  geben  auch  dnfilr  wieder  ein  historischBi^  i 
BeiBpiel.    Im  Jahre  172t  wurde,  banptiiächlich  auf  Betreiben  des  Regenten   1 
Philipp   van  Orleans,   ein   apanisch -französischer  Traktat  des  InhAlta  al>-  1 
geschlossen,  daB  König  Ludwig  XV.  die  damals  erat  drei  Jahre  liblenda   f 
luOuitin   Marin  Anna  Viktoria   heiraten  solle.     Indes   bereitn   1725  sagte 
man   sich   in  Frankreich  tou  dem  Vertrage   einseitig   loa,   und  zwar  mit 
der  ausBch  ließ  liehen  Motivierung,  dall  das  Staats  inte  resse  gebieleriach  die 
mSglichat   rasche  FortpQanzung   des   kGuigliclien  Mannsstamins  erheische, 
eine  aolche  aber  noch  in  weite  Feme  rücke,   wenn  man  auf  Kealisiening 
der  apauischeu  Heirat  warten  wolle  {cf.  Gauthier-Villars,  Le  mariave 
de  Louia  X.V   d'apria   des   documentfl   nouveaui   [Paria  1900],   S.  26,  ^, 
SS,  8ä,  93  nnd   Öfter).     Dieser  Versuch   einer   materiellen  Hechtfertigung 
des   formellen  Vertragsbruchs   war  jedoch   insofern   zweifellos   mit  einem 
bedenklichen  Mangel  behaftet,  weil  der  geltend  gemachte  Sachverhalt  doch 
absolut   nichts  Unvorh ergesehen ea   enthielt;   vielmehr  mnßte   man   gleich 
anfangs,   als   die   kleine  Prinzessin   in  Paris   ihren   Eining   hielt  „assiae 
aur   les  genoux   de   «a   gouvemnnte,   en  tenant  sa  poup^e    (Qanthier- 
Villars,  a.a.O..  8.  9),  genau  wissen,  daB  die  „erwartete  Veränderung*, 
d.   i.   das  Heranreifen   sur  wirklichen  Vollzieh  hark  eil  dor   Ehe   erat  be- 
iletltend  npäter  wie  1735  gegeben  «ein  würde. 

■  Vgl.    Ulimann,    Völkerrecht,    8.    175,    Jellinek.    BecbtUchaJ 
N«tur  der  Staatenvertrige,  S.  62'S4  u.  a.  m. 


1  1.  Ili3 

ibnan  venneintlifh  kein  Zusaiiimeuhang;  obwalten  soll.  In 
Wahrheit  ist  aber  ein  solcher  sehr  woIjI  vorhanden;  die 
zwei  Ffille  lassen  sich  recht  gut  untftr  einen  gemeinsamen 
obersten  Gesichtspunkt  bringen,  wobei  die  Art,  wie  das  zu 
geschehen  hat,  nach  dem  vorausgegangenen  kaum  noch 
irgend  welche  Schwierigkeit  bereiten  kann. 

Wir  haben  in  §  13  geseben,  daß  dem  Eintritt  nicht 
•erwarteter  Veränderungen  der  Nichteintritt  erwarteter  Ver- 
Ibiderungen  gleichwertig  ist.  Nun  liegt  es  aber  auf  der 
Hand,  daß  der  Traktatabruch  ungezwungen  als  bloßer 
Spezialfall  der  letzteren  Ocstaltung  aufgefaßt  werden  darf. 
Denn  die  erste  und  nächstliegende  „Veränderung"  gegen 
den  derzeitigen  Stand  der  Dinge,  die  vernünftigerweiae  bei 
em  Vertrag  von  den  Parteien  envartet  werden  muß,  ist 
h  offenbar  die,  daß  der  Gegen kontrahent  die  von  ihm 
ibemommene  Leistung  auch  wii-klioh  ausfuhrt;  der  eine 
ie  der   andere  Teil  hofft,    in   den  wirkliehen  Genuß  eines 

jetzt  entbehrten,  nunmehr  aber  ihm  versprochenen 
Interessenguts  einzutreten,  und  gibt  lediglich  unter  dieser 
•tillschweigenden  Voraussetzung  seine  eigene  Zusage  ab'. 
Danach  liegt,  wenn  von  der  einen  Seite  der  Vertrag  ge- 
brochen, die  Ausführung  der  in  Aussicht  gestellten  Leistung 
verweigert  wird,  für  den  zweiten  Paziszenten,  gana  nach 
dem  iß  §  V-i  allgemein  entwickelten  Schema,  die  Sache  so, 
daß  derjenige  Tatbestand,  den  er  subjektiv  erwartete  und 
nach  Lage  der  Dinge  erwarten  durfte,  objektiv  nicht  ein- 
getreten   ist;    mit    anderen    Worten,    die    Erfüllung   des  an 


'  Znm  minde«teD  gilt  das  Huaiuihinsloa  von  den  (weitaun  die  M«hr- 
uM  Uldenden)  Fällen,  bei  denen  die  gegenseitig«  Verbindlich  keil  auf  eiu 
poritivea  Tun  gerichtet  iai,  Von  den  (viel  neltener  vorkommeuden)  Ver- 
pfliebtuiigen  auf  ein  «pesiliBdieR  Uuterlaseen  ist  balJ,  je  dilcIi  den 
nlhereo  Umaländcn,  dun  nnmliche  lU  behaupten,  bald  kommt  wieder  mehr 
dar  Ouaichtapankt  des  „Einlrilts  nithterwarleter  Veränderungen"  in  Be- 
tracht    Ein  geniioerea  Eingeben  auf  diese  Fragen  int  liier  unmdglich. 

*  Vgl.  die  auf  S.  72  der  Pfaffschen  Schrift  über  die  Klausel  (oben 
H.  6,  Anm.  2)  Eitierte  ÄuBemng  Bchmitthenners:  „Indem  ich  die 
Lelstnng  unternehme,  Ine  ich  dies  natürlich  nur  unter  der  Vorauasetaung. 
daB  die  Oegenleistung  erfolgen  irerde." 

11» 


li>4 


VI  1. 


seinem  Teile  Versprochenen  und  streng  juristisch  auch  jetzt 
noch  Geschuldetoo  steht  unter  den  angenommenen  Verhiilt- 
nissen  abermals  in  Widerspruch  zu  seinem  wahren  und 
eigentlichen  Willen  und  braucht  deshalb  in  Durch- 
brechung des  formellen  Rechts  von  ihm  ebenfalls  nicht  mehr 
präatiert  zu  werden. 

Wäre  dies,  und  nicht  mehr  als  dies,  der  Sinn  der  von 
der  herrschenden  Theorie  behaupteten  vertragsauf  hebenden 
Kraft  des  Traktatebruchs,  so  wUrde  man  sich  mit  ihr, 
wenigstens  im  Resultat,  durchaus  einverstanden  erklären 
dürfen.  In  Wirklichkeit  jedoch  begnUgt  sie  sieb  keineswega 
mit  einem  qualitativ  so  eng  begrenzten  Ergebnis,  sondern 
sucht  weit  mehr  zu  erreichen;  damit  gerät  sie  aber  auf 
einen  Abweg,  wie  jetzt  gezeigt  werden  soll.  Freilich  kann 
das  letztere  an  dieser  Stelle  nicht  mit  der  eigentlich  erfor- 
derlichen Ausführlichkeit  geschehen,  etwa  in  der  Weise, 
wie  solche  bei  den  völlig  analoge  Verhältniese  behandelnden 
Darlegungen  unserer  Abschnitte  II  ff.  zur  Anwendung  gelangt 
ist;  vielmehr  müssen  wir  uns  hier  mit  bloßen  Andeutungen 
zufrieden  geben  und  dürfen  das  auch,  da  ja  das  Ganze  für 
uns  lediglich  die  Bedeutung  eines  Eickurses  hat. 

Es  geht  nämlich  die  Völker  rechts  wissenschaftliche 
communis  opinio '  ohne  Zweifel  dabin ,  daß  die  Regel, 
durch  Bruch  eines  internationalen  Übereinkommens  werde 
auch  der  andere  Vertragspartner  seiner  Obligation  los 
und  ledig^,  selbst  wieder  einen  Teil  des  zwisuhen 
Staaten   gültigen    technischen    Rechts    bilde.     Um    diese' 


'  Eiuzelne  AuBUtlmeii  von  ihr  kommen  ftllerdings  vor.  So  erwfthat 
X.  B.  Martens-Bergbohm  bei  Aolxähluiig  da  juristiBCb  wirkBuaett' 
Endi^nngngrüiide  für  iDteinationato  Vertrüge  unseren  Fell  Qberlmapt  nicht' 
(cf.  seiu  Völkerrecht,  l,  S.  425  ff.)-,  das  gleiche  gilt  auch  von  "  " 
(Grandzüge  des  VSIkerrechts,  2.  Aufl.,  S.  1460. 

'  Uesp,,  mit  einer  kleinen  Variante,  er  aei  »aineraeits  zur  formellen' 
liOBsagung  von  dem  betr.  Traktat  befugt.  Vel.  hierzu  u.  &■  Gari 
Institutionen  des  VSIkerrechts  (2.  Anfi.J,  8.  213:  „Im  GegensatE  i 
Privatrecht  wird  im  velkerrecht  der  Vertragsbruch  «um  Eiidignngsgniud) 
mindestens  wird  durch  ihn  der  nicht  Vertragsbrüchige  Teil  zum  BSoktritt 
berechtigt'',  und  die  oben  S.   19  f.,  89  ff.  benprochenen  Lehre. 


rvi  1. 


IG5 


L Auffassung'    zu   begründen,    wird  indeß    nie  etwas  anderes 
I  iitigefiihrt  wie  allgemeine  philosophisehpolitische  Erwägungen 
I  darüber,  daß  und  warum  im  internationalen  Verkehr  wegen 
der  besonderen  Eigentümlichkeiten  desselben  ohne  eine  der- 
artige Hilfe  einfach  nicht  auszukommen  sei*.    Nun  wird  ja 
sicherlich  die  praktische  Unentbehrlichkeit  der  letzteren  so 
leicht    von    niemandem    verkannt    und   geleugnet    werden; 
I  Anderseits  ist  doch  aber  auch  gar  nicht  in  Abrede  zu  stellen, 
I  da6|    wofern    ihre    Qualität    als    spezifisch  -juristische    Norm 
I  einzig  und   allein   auf  Material  wie  da«  oben  kurz  charak- 
I  terisierte  gestützt  wird,  reinstes  Naturrecht  das  notwendige 
[  Produkt   sein    wird.     Soll   das   vermieden  bleiben,    soll   die 
I  gegebene  Erscheinung  in  dem  einzigen  Sinne,  in  dem  heut- 
L  latage  tiberhaupt  noch   von  Recht  die  Rede   sein  darf,   als 
I  solches   dargetan   werden,    so   muß   man    unbedingt   zeigen 
L  können,  daß  sie  durch  gemeinsamen,  entweder  ausdrück- 
kjiich  oder  stillschweigend  erklärten  Willen  der  Staaten 


Die  wieder  eine  DOtwendige  Einzelbau sequenz  des  (^eDwürtig 
a  weit  Tcrbreiteten  GmndirrlumB  darBteUt,  daß  jedes  ReclitnByslem  eine 
ich  selbBt  ^nügende,  der  Eriränzung  durch  anders  geartete  Normen 
EWeder  fiihige  nach  bedArftigc  Welt  sei.  Wir  bnlien  diesen  Punkt  schon 
ittnlAl.  bei  ErSrtorung  der  dpeKiäsrbcn  Klausellebre,  benlhrt  (cf.  oben 
J.  96)  und  werden  auf  ihn.  wie  dort  (Anm.  5)  bemerkt,  noch  allgemciDer 
■«nräokk  omman. 

Ich  verweise  z.  B.  auf  Nippoid,  Der  TSIkcrrecbtIicbo  Vertrag 
,  S4ä:  „Ein  weiterer  Onind,  der  zum  Rücktritt  vom  Vertrnp;  b(>- 
Vreehti(;t  —  <^iu  Grund,  der  ebenfaHs  dem  VQlkerrecht  eit^ntSmlich 
WSgt  —  ist  Bruch  des  Vertrags  von  selten  eines  der  Kontrabenten.  — 
riüM  Bücktrittarecht  verstebt  sich  velkcrrecbtlich  wohl  (!)  doshnlb  von 
aelbit  (!?].  weil  bis  Jetat  die  Staaten  aaf  rechtlichem  Wege  iu  den 
meiilcn  räleo  keine  Erfiillung  erlangen  kSnnen,  und  ihnen  also  solchen- 
ftlla  neben  dem  Rücktritt  nur  der  Weg  der  Selbslhilfe  bffeu  sl4;ht.''  Vgl. 
ferner  t.  Liast,  VSIkcrrecht  (3.  AuS.).  8.  17t!:  „Nicblerfalluug  des 
Vertrags  durch  den  einen  der  vertragschlieQ enden  Teile  berechtigt 
dm  andern  cum  Uficktritt  von  dem  Vertrage.  Die  Recblfertigung  (aber 
Aueh  die  positiv -juristische  Quelle?)  dieses  von  den  meisten  Privat- 
rechten  abweichenden  Satzes  liegt  darin,  daß  das  Völkerrecht  keinen 
mleren  Erfüllungsxwiuig  als  die  Gewalt,  in  letzter  Linie  deu  Kri^, 
kennt,  dem  gegenüber  der  Rücktritt  vom  Vertrage  für  beide  Teile  das 
kleinere  Übel  darstellt."  Gnnz  ähnlich  auch  Jellinek,  a.  a.  O.,  S-  64, 
aefftor-Oeffcken,  Earopniscbes  Vülkerreeht,  8.  216,  Anm.  8,  und 
nodi  Tiele  andere. 


166 


VI  1. 


selbst  positiv  eingeführt  wurde.  Und  da  nun  die  erste 
Entstehungsart,  die  Statiilerung  durch  generellen  Rechts- 
setzungsvertrag, anerkanntermaßen  nicht  stattgefunden  hat, 
80  kommt  hier  praktisch,  wie  schon  früher  öfters,  alles  auf 
den  (von  der  Doktrin  nicht  einmal  angetretenen)  Nachweis 
an,  ob  hinreichend  zahlreiche  Einzelfillle  auftindbar  sind, 
bei  denen  unsere  Regel  in  concreto  stflndig  zur  Anwendung 
gebracht  und  so  gewohnheitsmHfiig  schließlich  zum  Rechts-  , 
aatz  erlioben  worden  ist. 

Tatsächlich  stoßen  wir  denn  auch  in  der  völkerrecht- 
lichen Praxis  verhUltnismHßig  gar  nicht  so  selten  (jedenfalls 
häufiger  als  dies  zugunsten  der  spezifischen  Klauaellehre 
zutrifft)  auf  Vorkommnisse,  die  daftir  ein  völlig  geeignetes 
Belegniaterial  abzugeben  scheinen'.  Indes  ganz  abgesehen 
davon,  dafi  von  den  Beispielen  dieser  Art  durchaus  nicht 
sftmtliclie  einer  schärferen  und  eingehenderen  Prüfung  stand- 
halten werden*,  ao  ist  wohl  zu  beachten,  daß  in  noch  viel 
zahlreicheren  Fällen  die  (zur  eventuellen  Rechtsnormbildung 
unerläßliche)  Übereinstimmung  beider  Parteien  voll- 
ständig fehlt  und  somit  immer  wieder  dem  (hier  und  da 
vielleicht  wirklieh  voihandenen)  usus  der  contrarius  usus  , 
gegenübersteht.  Ich  darf  für  letzteres  hier  einen  praktische» 
Einzelbeleg  anführen. 

Am     19.    September    1833     Bchloaaen    das    Herzogtum 
Nassau  und  Prankreich   mit  einander  einen  Hnndelstraktat 
ab,  kraft  dessen  jenes  versprach,  für  fünf  Jahre  keine  ZoU- 
erfaöhuog   auf  französische   Weine   und  Seidenstoffe   vorzu-   | 
nehmen,    wogegen    dieses    sich    zu    einer  Begünstigung  der 


I 
I 


*  Ea   int   auuh   leicht   einiuacheit ,   ivRrnni   ea   na   sulchvn  präsumtiT 
nicht   mHtigelii  kann:  jcite  Hiicht,  die  efn«n   als   drückende  Posaol  emp-    I 
fimdenen  Vürtrag  doloacr  Weise  bricht,  wird  Bieherlich  nichla  einwendeii,   i 
wenn   diest-r   daraufhin  von   dem  GogPTik'Hitriihpnten   überhaupt   für   anf- 
|i;ehaben  erklärt  wird,   denn   sie  en-Gieht  damit  im  Grundp  doch  nur  c' 
wan  aip  (\\t  Kiuh  erstrebt  und  gewollt  hat. 

'  Eb  kommen  d«  analoge  Erwägungen  und  Bedenken  in  t'rs^', 
sie  von  uns  in  g  6,  S.  01/62  angedeutet  wt.rden  sind. 


Nassauischen  Mineralwäaser  verpflichtete '.  Wiewohl  nun 
,  der  Vertrag  beatimmungsgeinäß  gleich  in  der  nächsten 
Session  von  den  französischen  Kammern  hätte  genehmigt 
werden  mtlasen,  war  die  Vorlegung  an  diese  im  Drange 
lebhafter  parlanientariöcher  Kampfe  verabsäumt  worden; 
doch  hatte  Frankreich  aachlich  seiner  Verbindlichkeit  da- 
durch völlig  genügt,  daß  es  zugunsten  der  Nassauischen 
Mineralwässer  eine  königliche  Ordonnanz  erließ  und  gleich- 
zeitig versprach,  ftir  diese  Verordnung  nachträglich  die 
(mit  zweifelloser  Sicherheit  zu  erwartende)  Zustimmung  der 
Kammern  einzuholen.  Nichtsdestoweniger  erklärte  das 
Herzogtum,  für  welches  sich  mittlerweile  der  Eintritt  in 
den  preußischen  Zollverein  als  eine  unbedingte  Notwendig- 
I  keit  erwiesen  hatte,  den  Traktat  für  gebrochen  und  folglich 
,  nicht  mehr  rec htabeständig.  Es  fand  aber  flir  diese  Art 
der  Beweisführung  bei  Frankreich  keine  Zustimmung;  im 
Gegenteil  sprach  ihm  letzteres  durch  eine  geharnischte 
Erklärung  im  amtlichen  Moniteur^  jede  Befugnis  zum  Rück- 
tritt ausdrücklich  ab  und  erhob  nunmehr  seinerseits  gegen 
Nassau  die  Anklage  dolos-rechtswidrigen  „Vertragsbruchs", 
der  nur  schlecht  hinter  einer  „Spitzfindigkeit"  versteckt 
worden  sei. 

Eine  derartige  Auffassung  des  Verhältniasea  hätte  nicht 
vertreten  werden  können,  falls  wirklich,  wie  die  Theorie 
gern  glauben  machen  möchte,  der  Satz  von  der  durch  Ver- 
letzung des  Vertrags  erfolgenden  Aufhebung  desselben  in 
Allgemein  anerkannter  und  unangefochtener  Gültigkeit 
sttlnde;  ist  doch  jedenfalls  soviel  sicher  und  wurde  auch 
l'gar  nicht  geleuj^et,  daß  ein  gewisser  Fonnalverstoß  gegen 
Leine  Traktalspflicht  tatsächlich  vorgekommen  war.  Wohl 
^war  es  ein  recht  nebensächlicher  und  materiell  belangloser 

'  Nilherea  iiher  den  Fall  a.  hei  Trc-itachke,   Deutsche  Geschichte 

1  19.  Jsbrhitbriert,  IW.  IV,  S,  3fl8  f.    Den  Vertragstait  aelbst  anaufuhren 

kl  l«ider  nicht  mfiKticfa,  da  en  mir  niclit  gelungen  iat,  eineu  TolUtändigcn 

Äbdriick   de»  (n«ch  TreitBChke   aeincneit  ängstlich   gehcimge halte nea) 

IVaktat«  in  die  Hand  au  bekommen. 

■  Cf.  Treitschkc,  «.  a.  O,.  8.  399. 


168  \ 

Punkt,  um  den  eis  sich  hier  handelte.  Indes  es  liegt  auf 
der  Haod,  daß,  wenn  einmal  jene  Norm  ala  rechtlich  gültig 
angenommen  wird,  jede  Differenzierung  zwischen  den  ver- 
schiedenen Bestandteilen  und  Elementen  eines  International' 
Vertrags  schlechterdings  unzulässig  erscheint:  der  von 
einzelnen  Rechtslehrern  nach  der  Richtung  hin  unternommene 
Versuch,  daß  nur  der  Verletzung  von  wesentlichen,  prin- 
zipiellen, Hauptartikeln  die  traktatauflösende  Kraft  inno- 
wohne,  ist  wegen  der  Vagheit  und  objektiven  Unfaßbarkeit 
dieser  rein  subjektiv- vernunftrechtlich  postulierten  Unter- 
scheidung als  gänzlich  mißlungen  zu  bezeichnen'.  Dem- 
gen^ß  wäre  es  unter  der  gemachten  Voraussetzung  auck 
für  Frankreich  einfach  unmöglich  gewesen,  der  Nassauischi 
Argumentation  mit  solcher  Schroffheit  und  apodiktischen 
Sicherheit  zu  widersprechen;  da  es  aber  in  Wirklichkeit 
doch  in  dieser  Weise  vorgegangen  ist,  so  kommt  darin  eben 
zu  deutlichem  Ausdruck,  daß  jene  angebliche  Rechtsnorm 
keineswegs  von  sämtlichen  Staaten  gleichmäßig  als  gültig 
und  prinzipiell  verbindlich  behandelt  wird, 

Hiermit  übereinstimmende  Betrachtungen  werden  über- 
haupt regelmäßig  dort  zu  machen  sein,  wo  die  ursprüngliche 
Verlragskontravention,  analog  dem  hei  der  französisch- 
nasaauisclien  Angelegenheit  zweifellos  obwaltenden  Tatbe- 
stände, nicht  aus  bösem  Willen,  sondern  aus  bloßer  Fahr- 
lässigkeit hervorgegangen  ist:  jedesmal  wenn  ein  Staat  rein 
versehentlich  wider  eine,  wichtige  oder  unwichtige,  Traktats- 
bestimmung verstoßen  hat,  pSegt  er  sich  begreiÖicher weise; 
energisch  dagegen  zu  sträuben,  daß  dies  gleich  zur  Auf- 
hebung des  ganzen  Vertrags  ausgebeutet  werden  soll.  Alle 
derartigen  Vorkommnisse  sind  nun  aber  offenbar  ebenaa 
viele  Zeugnisse  dafllr,  daß  unser,  von  der  völkerrecbtv<{ 
wissenschaftlichen  communis  opinio  schrankenlos  und  ii 
weitestem    Umfange    behaupteter,    Kechtssatz    einer    koH' 


'  Vgl.   hie 


,   Lehrbuch  des  Völkerrechts,   2.  Aufl^ 


PVI  1. 


169 


I 


Stauten  tatsächlichen  Übung  vollständig  entbehrt  und 
deshalb  gewohnheitsmäßig  entstandene  posttiT-juristische 
Kraft  in  Wahrheit  gar  nicht  besitzt. 

Man  wird  auch  rückhaltlos  zugestehen  mllsaen,  daß 
letzteres  die  den  realen  IJedürfnisaen  des  Völkerrechts  einzig 
entsprechende  Ordnung  des  Verhältnisses  darstellt,  daß  das 
Gegenteil  einen  gesicherten  internationalen  Vertragaverkehr 
aufs  Schwerste  gefährden  würde.  Um  das  darzutun,  braucht 
nur  nochmals  an  die  schon  öfter  erwähnte  Tatsache  er- 
innert zu  werden,  daß  das  Völkerrecht  jeder  autoritär 
fungierenden  Richtergewalt  durchaus  ermangelt'.  Daraus 
folgt,  daß  der  Satz:  „Ein  Traktat  verliert  seine  Rechts^'er- 
bindlichkeit,  sobald  er  von  der  einen  Partei  verletzt  wird" 
praktisch  wieder  mit  Notwendigkeit  auf  die  bedenklich 
subjektive  Lehre  hinauslaufen  muß:  „sobald  er  von  der 
einen  Seite  für  verletzt  gehalten  wird".  Unter  diesen  Um- 
ständen wird  man  aber  bald  von  den  wenigsten  Verträgen 
mit  voller  Gewißheit  sagen  können,  ob  sie  noch  in  Gültig- 
keit sind  oder  nicht.  Denn  die  große  Mehrzahl  derselben 
ist  keineswegs  so  klar  und  unmißverständlich  gehalten,  daß 
;jiie  die  Parteien  absolut  nicht  in  verschiedenem  Sinne  zu 
interpretieren  vermöchten;  vielmehr  werden  die  letzteren 
Auch  bei  vollster  bona  fidea  immer  und  immer  wieder  zu 
Weht  differierenden  Auslegungen  einzelner  Artikel  gelangen 
können  und  so  überaus  häutig  Gelegenheit  haben,  den 
Traktat  als  von  dem  Gegenkontrahenten  verletzt  zu  erachten. 

Ich  will  das  Ganze  durch  AniUhrung  eines  praktischen 
Falles  anschaulicher  zu  machen  suchen  und  wähle  dazu 
I4en  bekannten,  nach  der  Person  der  beiderseitigen  Unter- 
'IiAndler  so  bezeichneten  Clajton  -  Bulwer-  Vertrag  vom 
19.  April  1850*.  In  Art.  I  deaaelben  bestimmten,  veranlaßt 
durch  den  schon  seit  langer  Zeit  bestehenden  Plan,  den 
Mexikanischen  Meerbusen  durch  einen  Schiffahrtakanal  mit 


'  Vel.  8.  74  ff„  87,  107,  137,  auch  unten  8.  186,  Anm-  2, 
*  Abgedruckt  bei  Martc-ns,  N.R.O.  XIT,  8.  187 ff. 


170  VI  1. 

dem  Stillen  Ozean  zu  verbinden,  England  und  die  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  folgendes:  „The  Governments  of 
Great  Britain  and  the  United  States  hereby  declare,  that 
neither  the  one  nor  the  other  will  ever  obtain  or  maintain 
for  itself  any  exclusive  control  ever  the  said  ship-canal; 
agreeing  that  neither  will  over  erect  or  maintain  any  forti- 
fications  commanding  the  same,  or  in  the  vicinity  there  of, 
or  occupy  or  fortify  or  colonize  or  assume  or  exercise  any 
dominion  over  Nicaragua,  Costa  Rica,  the  Mosquito  Coast 
or  any  part  of  Central  America — ".  Bereits  wenige  Jahre 
nach  Unterzeichnung  dieses  Abkommens,  schon  1854,  ent- 
standen tiber  seine  Tragweite  unter  den  beteiligten  Mächten 
wesentliche  Differenzen:  Nordamerika  behauptete,  England 
habe  in  Eonsequenz  desselben  die  Pflicht  gehabt,  das  von 
ihm  über  die  Mosquito-Indianer  *  ausgeübte  Protektorat  auf- 
zugeben^, wogegen  der  andere  Kontrahent  die  Existenz 
einer  solchen  Verbindlichkeit  aufs  entschiedenste  in  Abrede 
stellte. 

Ich  vermag  mich  nun  in  dieser  Streitfrage  keineswegs 
der  mehrfach  geäußerten  Meinung  anzuschließen,  nach 
welcher  von  vornherein  einzig  und  allein  der  letztere 
Standpunkt  haltbar  erscheinen,  dagegen  die  amerikanische 
Deduktion  jedweder  Möglichkeit  der  Rechtfertigung  aus 
dem  Vertrage  entbehren  soll;  umgekehrt  glaube  ich  aner- 
kennen zu  müssen,  daß  der  Wortlaut  desselben  (mag  auch 
vielleicht  die  bri tisch erseits  geäußerte  Auffassung  die  objektiv 
richtigere  und  begründetere  gewesen  sein)  doch  zu  subjek- 
tiven Zweifeln  sehr  gut  Anlaß  geben  konnte.  Sollten  die 
Kontrahenten  nur  keine  neuen  Besitzungen  erwerben 
(occupy,  assume)  oder  überhaupt  in  der  Nähe  des  zu  er- 
bauenden  Kanals   keine  Herrschaft   ausüben   (exercise  any 

^  Das  Territorium  derselben  bildet  jetzt  einen  Bestandteil  des  Staates 
Nicaragua. 

^  Daneben  wurden  auch  noch  einige  weitere  Klagen  erhoben,  die 
ich  hier  übergehe.  Vgl.  zu  der  ganzen  Angelegenheit  Martens,  a.  a.  O., 
t5.  204 — 250,  woselbst  die  zwischen  beiden  Rogiorungon  gewechselten 
Noten  vollinhaltlich  mitgeteilt  sind. 


TU. 


171 


I 


dominion)?  Muß  nicht  der  ausdrückliche  Vorbehalt,  den 
England  zugunsten  eines  bestimmten,  schon  länger  besessenen 
Territoriums'  machte,  die  Frage  in  dem  letzteren  Sinne 
entscheiden,  dergestalt  da6  es  außer  dem  speziell  reservierten 
Gebiet  gar  keine  Hoheit  mehr  behalten  sollte?*  Dieses 
auch  zugestanden,  involviert  ein  bloßes  Protektorat  „any 
dominion"?  Und  wenn  das  wieder  im  allgemeinen  wohl 
Sil  leugnen  sein  dürfte,  muß  ea  nicht  wenigstens  in  An- 
wendung auf  unzivilisierte  Stämme  wie  die  Mosquito-Indianer 
unbedingt  behauptet  werden  ?  Das  alles  sind  Punkte,  über 
die  sich  selbst  unter  Voraussetzung  beiderseitiger  Gut- 
gläubigkeit immerhin  streiten  ließ,  und  die  denn  auch 
wirklich  in  dem  englisch- nordamerikanischen  Schriften- 
wechsel  als  wichtige  AuslegungadifFerenzen  ausgiebig  erörtert 
worden  sind. 

Übrigens  ist  die  Art,  wie  die  Auseinandersetzung  beider 
Parteien  damals  vor  sieh  gegangen  ist,  für  uns  auch  noch 
in  anderer  Hinsicht  wie  als  Einzelbeleg  für  die  ständig 
unter  Staaten  sich  ergebenden  Interpretationsstreitigkeiten 
recht  instruktiv.  Wiewohl  nämlich  die  Vereinigten  Staaten 
den  Traktat  in  einem  einzelnen  Punkte  tatsächlich  als  ver- 
letzt ansahen,  und  wiewohl  diese  behauptete  Verletzung 
ftier  zweifellos  einen  Hauptartikel,  ja  recht  eigentlich  den 
'Kern  des  ganzen  Abkommens  betraf,  so  waren  sie  doch 
weit  entfernt,  ihn  daraufhin  ohne  weiteres  als  hinfällig  zu 
behandeln;  im  Gegenteil  suchten  sie  gerade  auf  Grund 
desselben,  aus  dem  noch  als  bestehend  vorausgesetzten 
Vertrag  heraus  die  Verpflichtung  zur  Aufgabe  des  Mosquito- 
iProtektorats  zu  aemonstrieren  und  so  im  Wege  der  ("reund- 


'  Britisch-HoDdnrBn.  DbU  auf  dipses  der  Clayttm-Biil wer- Vertrug  kninL- 
Lnwendung  xa  finden  Ltitic,  wird  in  itlncr  besonderen  Erhlüriin^  vuni 
1^  Juni  1850  durch  GroQlirilannipn  mit.  NHchdnick  bi'tont  imit  iinlerm 
I^Jnli  auch  von  der  Uoion  amirkanoi.  Cf.  Märten»,  h.  h.  O.,  (>.  192  ff. 
*  Vgl.  die  ArgumentÄtion  der  Vereinigten  Siasteii,  Marlcna,  a.  a. 
i.  232;  die  Engtinder  seien  naeli  dem  Satze  Exprecaio  uilius  i>at 
lia  allf.rius  verpfiiclitet  eowesen,  „to  with  draw  from  all  their  otber 
nilnd  American  posauRBions  . 


172 


VI  lA 


schaftlichen  Verständigung,  durch  Ausführungen  mancherlMl 
Art  den  Mitkontrahenten  von  der  Richtigkeit  dieser  Auf'l 
Fassung  zu  überzeugen'. 

In  dieser  Weise  pflegen  überhaupt  regelmäßig  derartig»  I 
Angelegenheiten    sich    abzuspielen.      Abgesehen    von    demf 


,  oliglpich  mit  dieser  EvenluaÜtäl  an  nicht- 
amtliclien  Stellen  araerikaniHcherseita  oft  genug  gespielt  wurde.  Vielmehr 
ist  dor  Clayton-Bulwer-Vertrag  in  Wirklietkeit  niu  durch  rngelreohten 
nintuug  diasenans,  duri^h  den,  Ende  1901  Kwischcn  England  and  den 
Vereinigten  Staaten  abgescbloasenea,  (Eweiten)  Hay-Paunceforc-Tr«kt«t 
BD^eboben  worden;  erst  seil  diesem  ist  das  eachlich  sehr  begreifliche 
(schon  von  Goethe  einmal  nls  durchaus  gerechtfertigt  bexeicbnele)  Be- 
atreben  der  letzleren,  eich  eine  gewiBne  VorKogskantrole  über  den  pro- 
jektierten Kanal  xn  aichem,  international  voll  diiruli|;edruiignn  und  von 
dem  1850  übemommenen  vertraglicfaen  Hindernis  formell  frei  geworden. 
Ausdrücklich  herrorgehoben  »ei  noch,  daß  Norditnorika  bei  den  spSteren 
Verhandlungen  mit  GroBbrilanuien  das  Moment  der  angeblichen  Traktato- 
verletnung  achlieHüch  ganz  fallen  ließ,  und  dafür  immer  mehr  deu  Oesicfala- 
pnnkt  der  Hpesiflsehen  clausula  rebus  sie  stantibns,  der  „vollständif;  i  _. 
ftndertcD  Umstftude"  in  den  Vordergmnd  rückte.  Zwar  ist  derselbe  aoel 
schon  1854  hier  und  da  gestreift  wurden  {cf.  Härtens,  a.  s.  0>,  8 
20B,  212,  233);  doch  ist  eine  schärfere  Detonutw  e[Bt  nachmals  eu 
atatieren,  besonders  deutlich  im  Anfang  der  80  er  Jahre  des  19.  Jalll 
hundert«,  wo  ein  amerikanischer  Staatsrnnun  in  einer  amtlichen  Note  efM 
ganz  (itfeo  als  Leitgedanken  aussprach:  „The  conditiong  of  1882  are  notl 
those  of  1650"  (s.  Wharton.  International  law  U,  S.  228.  Auch  dl»^ 
eigenen  Bemerknagen  von  Wharton  über  diesen  Ge^nstand  nelunen  ■ 
sehr  entschieden  auf  die  Klausel  Bezug,  wie  n.  a.  aus  der  ÄuBcmng  aof 
S.  238  lierrorgeht^  „Stipulations  in  treaties  based  an  a  particular  ntate 
of  fauts  become  inoperativc,  when  thesc  facta  are  so  Diateriolljr  modiEod 
that  these  stipulations  connot  be  rightfully  onfbrced").  Speziell  fUr  unsere 
Zwecke  recht  beachtenswert  erscheint  bei  diesen  nenerea  Vorgänj^n  noch 
Eweierlei.  Einmal  daß  England  auch  diese  Art  der  amerikanischen  Beweii- 
ßhrung  in  keiner  Weise  als  durchschlagend  anerkannte,  und  damit  einen 
neuen  Beleg  für  den,  von  uns  oben  auf  S.  S4  statuierten  allgemeinen  ESr^ 
fahmngssntz  lieferte,  daß  immer  nur  der  verpflichtete,  keineswegs  aber 
auch  der  berechtigte  Partner  etwas  van  einer  praktischen  Gültigkeit  der 
clausula  rebus  sie  stantibus  wissen  will.  Andererseits  ist  sehr  charakteristisob, 
daß  auch  die  Union,  wie  zu  Eingang  dieser  Note  bereits  kurz  bemerkt, 
dem  britischen  Protest  gegenüber  nie  gewagt  hat,  auf  Grund  der  rer- 
änderten UmStande  ofBziell  die  direkte  Beohtsun Verbindlichkeit  des  Clayton- 
Bulwei^ Vertrags  »n  behaupten,  weshalb  es  z.  B.  auch  aU  irreführend  und 
ungenau  zu  bezeichnen  ist,  da&  Holland  in  seinen  1898  erschieneneil 
„Studies  in  international  law"  (cf.  8.  274}  ohne  jeden  einschränkenden 
Kommentar  sagt:  ,It  will  be  remcmbered  thal  the  United  States  in  IBST  ~ 
gave  notico  that,  owing  the  chango  of  circumstonces ,  and  espeuialty  i 
Oie  development  of  their  trade  on  the  Pacific  coast,  they  could  not  eoll'l 
■ent  to  remain  bonnd  by  the  treaty." 


VI  1. 


173 


großer  Völkerkriseii ',  die  ohnehin  rasuh  zur  Ent- 
.•cheidung  durch  Waffengewalt  hindrängen,  stößt  man  relativ 
nur  buchst  selten  auf  die  Erscheinung,  da6  ein  Staat  die 
(wirkliche  oder  veimeintliche)  Verletzung  eines  Traktats 
Bofort  mit  der  Erklärung  beantwortet,  er  sehe  denselben 
deshalb  für  aufgeiflst  an,  Statt  dessen  zieht  die  betreffende 
Macht  gewöhnlich  es  vor,  bei  der  Gegenpartei  voretelllg  zu 
werden,  ihr  das  Unzulässige  und  Rechtswidrige  ihres  Tuns 
Dacbzu weisen,  auch  wohl  von  sich  aus  die  Geneigtheit  zu 
gewissen  Konzessionen,  zu  einer  Revision  des  bisherigen 
Zustande  durchblicken  zu  lassen;  kurz,  sie  legt  ein  Verhalten 
an  den  Tag,  welches  deutlich  zeigt,  daß  fQr  sie  trotz  des 
Traktatbruchs  der  Vertrag  als  solcher  noch  immer  existent 
geblieben  ist  und  die  Basis  zu  weiteren  Verhandlungen 
bildet.  Es  wird  nun  schwerlich  zu  bestreiten  sein,  daß 
diese  Tatsachen  mit  der  üblichen  kategorischen  Lehre 
, Einseitige  Verletzung  eines  Vertrags  hebt  letzteren  ganz 
auf"  nicht  zum  besten  zusammenstimmen,  sodaß  also  die 
Untersuchung  der  völkerrechtlichen  Praxis,  die  uns  vorbin* 

:Lon  auf  seiten  des  Traktatsbrechers  selbst  wichtiges,  gegen 
'die  Ausbildung  eines  solchen  Satzes  sprechendes  Material 
geliefert  hat,  auch  auf  seiten  der  Gegenpartei  zu  einem 
fthnltchen  Resultat  fuhrt.  — 

Das  Sclil  ußfazit,  welches  man  aus  alledem  zu  ziehen 
hat,  kann  hiemach  nicht  zweifelhaft  sein:  wie  schon  mehr- 
mals im  Verlauf  dieser  Untersuchungen  dUrfen  wir  auch  hier 
den    Tatbestand    konstatieren,    daß    die    Doktrin    vorschnell 

id  ohne  die  unbedingt  nötige  Durchforschung  des  realen 


)  Boi  ibiiBU  kommt  as  naturgcmgU  bi-süuders  leicht  EU  dem  «chon 
r  einmal  beobachteten  (vgl.  ^  5  S.  5»)  Tatboatand,  dall  die  Stub-a 
I,  nolchü  voo  der  Dolitrin  falscblicb  lär  ipezifisch-juri »tische  MormcD 
0  wprdeu ,   gpru  für  politische  Zwecke  als  Argumentationnnittel 

Recht   interL-BHant   ist   in    dieser   Hinxicht   beiapiciswoige   die 

■ohidite  des  läCÖer  preuBisch-österreichiHchea  Kriegs,  insoweit  als 
1l  auf  die  StelluDE;nahmc  beider  Parteien  zur  Gtuteioer  Kouvention, 
tooben    BimdsBakte    u.   dergl.    beliebt.     Cf.    Hahn,    Zwei   Jalire 
h-Deutacber  Politik,  8.  110.   119,  125. 
..  oben  8.  lös  f. 


174 


VI  1/ 


Staaten  Verkehrs  etwas  als  formelle  Reehteregel  proklamiert 
hat,  was  in  Wirklichkeit  diese  Qualität  nicht  besitzt  und 
deshalb  aus  dem  spezifisch -juristischen  internationalen 
Normensy fitem  zu  entfernen  ist. 

Nun  ist  es  allerdings  einleuchtend,  daß  es  bei  diesem 
negativ-kritischen  Ergebnis  allein  unmöglich  sein  Bewenden 
haben  kann.  Wir  haben  selbst  anerkannt',  daß  die  Theorie, 
indem  sie  einen  derartigen  Satz  aufstellte,  nur  einem  gar 
nicht  wegzuleugnenden  praktischen  Bedürfnis  wiasensL-haft- 
lieb  Rechnung  zu  tragen  suchte;  wir  dlirfen  es  daher  auch 
keinesfalls  von  uns  ablehnen,  die  durch  unsere  Darlegungen 
zweifellos  entstandene  Lücke  nach  Müi^lichkeit  wieder  aus- 
zuflillen,  in  anderer  und  besserer  Form  für  das  Aufgegebene 
Ersatz  zu  beschaffen.  Auch  in  dieser  Beziehung  erscheint  i 
der  von  uns  einzuschlagende  Weg  durch  frdheres  bereit!  I 
klar  vorgezeichnet. 

Zunächst  haben   wir,   gleich   bei   Beginn   dieses   Para- 
graphen, schon  dargetan,  daß  es  keineswegs  dem  wahren 
und  eigen  tlichen  Willen  des  Kontrahenten  entsprechen  >J 
kann,   einen   Vertrag   selbst   dann   noch   einzuhalten,   w 
er    von   dem   einen   Partner    unerfüllt  gelassen    wird.     El-1 
liegt    aber    auf  der  Hnnd,    daß   diese    (als    latent  stets  vor-J 
banden   supponiertej   Schranke   des   ausgesprochene 
nach  außen   rechtswirksam   erklärten  Willens  notwendig  I 
^  wofern    sie   objektiv   überhaupt   existiert   und   von   unalJ 
nicht  bloß  irrtümlich  aus  der  „Natur  der  Sache"  subjektiT^B 
deduziert  wurde  —  in  einer  entsprechenden  tatsächlichetfr 
Behandlung  der  praktisch  vorkommenden  Einzelfalle  i 
tage  treten  wird;  anders  ausgedrückt,  die  von  uns  mit  den! 
Mitteln  des  abstrakten  Rechts  vergeblich  gesuchte  Korrektur-J 
und    Hilfsnorm    vermag    sich    noch    ohne    und    gegen    davf 
Recht,    in    Form    eines    rein    faktisch    sich     betät igen d eil' J 
Erfahrungssatzes  als  gegeben  zu  erweisen. 

Demgemäß  würde  es  an  und  für  sich  jetzt   unbedingtj 


■  T^.  oben  S.  1G5, 


VI  1. 

unsere  DäcliBtliegende  Autgabe  ^ein  müssen,  eio  derartiges 
empirisches  Material  wirklich  zu  sammeln  und  sü  das 
Schlußresultat,  welches  wir,  unsßrer  gesamten  Grund- 
anschauung  nach,  hier  wie  überall  von  der  verataiidea- 
mäSigen  Deduklion  allein  nimmermehr  erwarten  dUrfeii, 
auf  das  sichere  Fundament  erfahriiDgsmäßig  gefundener 
[ndoktioDsreihen  unterstützend  aufzubauen.  Indes  mit 
Rücksicht  darauf,  daß  wir  uns  bei  der  ganzen  Frage  doch 
auf  einem  bloßen  Seitengebiet  unseres  Hauptthemas  bewegen, 
mag  die  (praktisch  zwar  unschwer  zu  bewerkstelligende, 
aber  auch  der  Gefahr  ermüdender  Eintönigkeit  leicht  anheim- 
fallende) Durchführung  dieser  Aufgabe  im  einzelnen  hier 
unterbleiben,  und  es  soll  dafür  nur  das  gesamte  Er- 
gebnis, das  auf  solchem  Wege  zu  gewinnen  ist,  in  aller  Kürze 
angegeben  werden.     Dasselbe  lautet: 

Unbekümmert  um  das  formelle  Völkerrecht,  welches  in 
einem  derartigen  Falle  einfach  die  grundlegende  Norm  Pacta, 
sunt  servanda  fortbestehen,  d,  h.  beide  Parteien  gleichmäßig 
Weiler  gebunden  sein  läßt,  pflegen  die  Staaten,  sobald  Be- 
Btimmangen  eines  Vertrags  von  dem  einen  Kontrahenten  ver- 
letzt werden,  das  Übereinkommen  am  letzten  Ende  auch  ihrer- 
Mits  nicht  mehr  zu  beachten  und  zur  Realisierung  zu  bringen. 

labei  sind  und  bleiben  die  näheren  Umstände,  unter  denen 
geauhicht,  regelmäßig  so  ijuaütiziert,  daß  von  dieser  fort- 
Uufeaden  Kette  faktischer  Ereignisse  niemals  eine,  all- 
mähiich  sich  anbahnende  spezifisch -Juristische  Korrektur 
des  bisherigen  internatii.'nalen  Normenbestands  erhofft  werden 
darf';   außerdem  ist  noch  wohl  zu  beachten,   daß  die  eben 

iOostatierte  Erscheinung  durchaus  nicht  unterschiedslos  bei 

iiige  Form,  in  cler  wenigstens  nlwna  ähuliclie»  ertiin&l  a 


Mltl 

^pas 


ertrsgsinnBir 


„  „     iMiKn 

iipcnditrt  wflrdi^,  d.  h.  daß  er,  unbcschBaet 
tati  aU   «olchen,  jurinliüch   bofogt  entthittnc^,   dio 
t  mrflokitihRlbm,  äla  von  der  andpren  Partei  dii^  Ongt^nlcintuiig 
rt  wird.  Ich  will  jedoch  dtTgleichen  in  kt^iner  WcisD  positiv  tK-banptfii, 
m  tcdigtich  nln  nicht  gans  ■ung«scblos)>ene  HSglichheJl  xngeben. 


Vemprochon«  recht- 

ier  FortcxiBteni  des 

LBistung  lo 


176  VI  1. 

sämtlichen  Vertragsbrüchen,  sondern  nur  bei  einer  ganz 
bestimmten  Gruppe  derselben  eintritt.  Welcher  Art  wieder 
die  letztere  ist,  darüber  läßt  sich  an  dieser  Stelle  bloß  so- 
viel sagen,  daß  stets  solche  Punkte  verletzt  sein  müssen, 
um  derentwillen  die  betreffende  Macht  den  ganzen  Traktat 
recht  eigentlich  erst  abgeschlossen  hat,  ohne  die  er  also  für 
sie  jeden  realen  Wert,  jedes  praktische  Interesse  überhaupt 
gänzlich  verliert. 


Siebenter  Abschnitt. 


Bedingter  Wert  des  Moments  der  „staatlichen 

I       "-' 

W  §  15. 

^T  Von    den    einzelnen    Bestandteilen,    die   in   ihrer  Ver- 

einigung das  Gesamtbild  der  üblichen  Theorie  von  der 
völkerrechtlichen  clausitla  rebus  sie  stantibus  ergeben,  ist 
nunmehr  bereits  die  Mehrzahl  kritisch  untersucht  und  als 
irrig  befunden  worden.  Wir  haben  an  erster  Stelle  nach- 
zuweisen vermocht,  daß  die  clausula  durchaus  nicht  einen 
spezifischen  Rechtssatz,  sondern  eine  ganz  andersartige 
Regel  darstellt.  Es  ist  ferner  gezeigt  worden,  daß  das, 
entsprechend  modifizierte,  Grundprinzip  der  Klausel  keines- 
wegs bloß  dem  internationalen  Vertrags  recht  eigentümlich 
ist,  vielmehr  einen  weit  größeren,  überhaupt  das  gesamte 
Völkerrecht  ergreifenden  Herrschaftsbereich  hat.  Wir  haben 
endlich  dargetan,  daß  eine  wahrhaft  erschitpfende  Erfassung 
des  Problems  nicht  im  Siune  der  herrschenden  Lehre  aus- 
schließlich an  das  Moment  der  veränderten  Umstände 
KoIcnUpfen  darf,  sondern  nach  den  verschiedensten  Richtungen 
ber  dasselbe  hinausgehen  muß. 
Wir  schreiten  jetzt  zur  Erörterung  dea  vierten  von 
ns  zu  besprechenden  Punktes.  Derselbe  betrifft,  wie  wir 
wiMen,  die  Frage,  welcher  Art  und  Beschaffenheit  die  Ver- 
Knderung  der  „res  sie  stantee"  dea  näheren  zu  sein  hat,  wenn 


178  VI  1. 

sie  zu  einem  hinlänglichen  Anstofi  für  die  Aufhebung  des 
ganzen  Vertrags  werden  soll. 

In  dieser  Beziehung  haben  wir  (abgesehen  von  dem 
eine  ganz  spezielle  Frage  behandelnden  §  14)  bisher  durch- 
weg an  der  Voraussetzung  festgehalten,  daß  die  Umgestaltung 
der  früheren  Zustände,  bezw.,  genauer  und  allgemeiner  ge- 
sprochen, die  Diskrepanz  zwischen  der  subjektiv  erwarteten 
und  der  objektiv  eintretenden  Entwicklung  der  Dinge  eine 
derartige  ist,  daß  jetzt  eine  treuliche  Erfüllung  des  Traktats 
den  betreffenden  Staat  geradezu  gefährden,  seine  eigene 
gesicherte  Fortexistenz  schwer  bedrohen  würde.  Es  ist  nun 
zu  untersuchen,  ob  diese  Beschränkung  tatsächlich  ganz 
das  richtige  trifft  oder  aber  zugunsten  einer  ausgedehnteren 
Fassung  aufgegeben  werden  muß. 

Getreu  der  von  uns  überall  befolgten  Methode  gehen 
wir  hier  abermals  von  der  Betrachtung  tatsächlich-konkreter 
Verhältnisse  aus;  und  zwar  empfiehlt  sich  in  diesem  Zu- 
sammenhang als  äußerst  charakteristisches  Beispiel  ein  Fall 
aus  der  antiken  Geschichte^. 


^  Die  Heranziehung  auch  dieser  wird  wohl  insofern  grundsatzlichem 
Widerspruch  begegnen,  weil  nach  einer  weit  verbreiteten  Meinung  (zu 
virl.  beispielsweise  die  Ausfuhrungen  von  F.  v.  Märten s,  Völkerrecht  I, 
lo83,  S.  31  ff.)  das  Altertum  ein  eigentliches  jus  inter  gentes  gar  nicht 
gekannt  haben  und  deshalb  auch  för  spezifisch* yölkerr^^tliche  Zwecke 
kein  prinzipiell  brauchbares  Material  darbieten  soll.  Diese  Ansicht  ist 
jedoch  nicht  als  richtig  anzuerkennen.  Selbstverständlich  kann  ich  nicht 
daran  denken,  das  hier  im  Vorbeigehen,  sozusagen  als  Inzidentpunkt,  mit 
darsutun,  und  will  daher  an  dieser  Stelle  bloft  kurz  auf  den  Uanptirrtum 
hinweisen,  der  meines  Erachtens  das  fehlerhafte  Schlußresultat  in  erster 
Linie  verschnldet  hat.  Es  legt  nämlich  die  völkerrechtliche  Doktrin, 
mehr  oder  weniger  bewußt  aiä  der  Grundanschauung  fußend,  die  das 
Recht  nicht  als  etwas  der  objektiv-realen  Außenwelt  Angehörendes,  sondern 
in  letzter  Instanz  als  etwas  Subjektives,  bloß  Vorrostelltes ,  Intern- 
Psychologisches  betrachtet  (vgl.  hierzu  unten  §  17,  S.  ^16  £),  regelmäßig 
viel  zu  viel  Gewicht  darauf^  wie  das  gegenseitige  Verhältnis  versäiedener 
Völker  damals  von  einzelnen  Individuen,  insbesondere  von  den  antiken 
Philosophen  und  anderen  Schriftstellern  in  abstracto  beurteilt  und  auf- 
gefaßt worden  ist  (cf.  Martens,  a.  a.  O.,  S.  32:  Ablehnung  des  antiken 
Völkerrechts  „schon  aus  rein  theoretischen  Erwägungen  —  a  priori" ; 
S.  49,  Anm.  13:  „gesamte  Weltauffassung  der  antiken  Völker''). 
Anstatt  aber  deduktiv  aus  beiläufig  hingeworfenen,  allgemein  lautenden 
Aussprüchen  dieser  (z.  B.  Aristoteles,  Politik  I,  4,  7;  weitere  Angaben 
bei  Martens,  a.  a.  O. ,  S.  33)  prinzipielle  Schluißfolgerungen  zu  ziehen, 


VI  1. 


17fl 


I 


Derselbe  ist  der  so  wichtigen  und  Jnbaltreicben  Periode 
des  dritten  und  vierten  Jahrhunderts  vor  Christi  Geburt 
entnonimpn:  Za  einem  nicht  genau  zu  bestimmenden  Zeit- 
punkte, wahracheinlifh  gegen  350',  hatten  nämlich  Rom 
und  Tarent  miteinander  einen  Vertrag  des  Inhalts  ge- 
schlossen, daß  die  tichiffe  des  ersteren  nicht  ilbi^r  das 
lakinisehe  Vorgebirge  hinaus^  das  Meer  befahren  dürften*. 


bitte  man  nucli  hier  wieder  ulluii  Anlaß  gebebt,  die  »treug  iuduktivi! 
Uethode  ear  Anwondung  xu  brioguD.  Die  begriff]  iclieD  yorHussctzangen 
der  Bntsteliuiig  iuteraatiaiialer  Eeguln  (eine  Vielheit  untibhängi^r  Staaten , 
(Wischen  denen  eine  gewiBse  stiiiidige  Beiiefaung  und  BeFühraug  statt- 
Bndet)  waren  jedenfalls,. schon  im  Vcrhültnis  der  Oriochen  und  Itömer  zu 
d«n  „Barbaren",  ^Bnn  besonders  aber  innerhalb  der  so  reich  entwickelten 
btllenisoben  Staalauwelt.  tatsäclilich  vorhanden  i  wo  aber  dies  der  Knil 
bt,  da  pSegt  aii^h  auch,  unter  dem  Druck  realer  VerhAitniHse,  zwischen 
den  beteiligen  Mächten  objektiv  sehr  rascb  ein  in  wechselseitigem  Bin- 
TBiatindnis  repilnüUig  ^&blei  Normnnujstem  und  damit  eiu  technische» 
TBIkerrecbt  su  entwickeln,  gleichviel  ob  man  nun  subjektiv  die  Sache 
richtig  erkennt  und  formuliert  oder  niclit  Mit  diesem  notwondipen  Vor- 
behalt Tctalandeii,  entbehrt  auuh  das  Altertum  keioe^wegs  einea  spezifischen 
^utes,  ja  dasselbe  muß,  wie  teils  mit  Hilfe  der  alten  Gescbichts- 
Mdireiber,  teils  und  mehr  noch  an  der  Jlaod  des  uns  erhaltenen  Urknaden- 
materiali  siub  Keigeu  laßt,  in  einzelnen  Partien  sogar  eiu  sehr  niugebildetes 
Imd  detailliertes  gewesen  sein.  Eine  sorgfältige  Durchforschung  beider 
IjDelleii  wfirde  alsbald  eil  dem  Ergebnisse  ßhren.  daS  so  maaehes,  schein- 
lur  gaiu  moderne  interoatiooale  Kechtsinstitut  bereits  ia  jener  Zeit  einen 
Torlsafer.  ein  iinverkennbares  Seitenstück  g:ehabt  hat!  ~  Als  für  nns 
esiantes  Kuriosum  mSchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  wenigstens  das 
dne  erwähnen,  daB  selbst  die  Lehre  von  der  eliuiula  rebus  sie  stantibus 
damal«  nicht  ganü  uuvertreten  geblieben  ist;  spricht  sieb  dach  ein  Antiker 
Historiker  (und  zwar  gerade  derjenige,  dem  schon  direkt  nachgesagt 
worden  ist,  er  müsse  theoretisch-vSlherrcchlliche,  apfilcr  leider  verloren 
gegangene,  Schriften  gekaunt  und  benutzt  haben  (cf.  v.  Ijcala,  Bludieti 
das  PolfbioB  I,  S.  I5öf.)  einmal  mit  aller  Klarheit  dahin  an»,  wenn  hei 
einem  Vertrage  (im  gegebenen  Falle  einem  Kriegsblind nis)  die  jetzigen 
VarbklmiMe  genau  die  nämlichen  seien  wie  beim  AbBchlusse  desselben, 
■o  kabe  mau  bei  dem  Traktat  ausinharren,  wenn  sie  sich  aber  vollständig 
IMindert  bitten,  lo  dQrfe  man  sich  die  8ache  noch  einmal  von  frischem 
ll1b«i^«a(Pol7biDs  iX,  H.  87:  Tr.0ra  d'  ijv  tl  fiit  a/ioi  tail  ib 
'■truäyuara  vüv  *iii  xnü'  u!k  xanioÖ!  fnoitiaüt  liiv  avfifiujflar.  ititt 
ttl  /tffftv  Kai  T^f  ifififf/tf  nfQfnr  rwr  vnüxfifx/vmr.  —  li  iT'  ölo- 
•jfl]pi3c  ^Xlniaiai,  4titi  •Slxaiöv  ii>Ji  xot  rüir  v/ing  If  attpatov  flov- 
•  •  —  -  1  räv  Ttit^ttktvoft^m/).  Vgl.  noob  das  Beispiel  oben  8.  44. 
t  er.  Mommscn,  Rflmische  Geschichte  (7.  Aufl.).  I,  ü.  »91  und  4111. 
*  D.  h.  nicht  östlich  *on  dem  jetzigen  Kap  Nao  i[i  Calabrien  (aacli 
L  ySiulenkap",  Capo  Colunne  genannt), 

■  Van  antiken  Kcbriftstellern  erwähnt  den  Traktat  gelegentlieh  (bei 
lernug   der    nHuhmaligdii ,    zum    casus    belli    werdenden    Ehreignisse) 


180 


VI^ 


Dieses  Übercinkonimeii,  das  über  der  großen  mittlerweile^ 
eingetretenen  Umwälzung  der  poÜtiscben  Oesamtlage  viel- 
leiclit  etwas  in  Vergessenheit  geraten  sein  mochte,  sollte 
dann  70  Jahre  später  die  Ursache  zu  ernstesten  Mißhellig- 
keiten, ja  im  weiteren  Verlauf  zum  Ausbruch  des  offenen 
Kriegs  zwischen  den  Kontrahenten  werden.  Denn  als  im 
Jahre  283  eine  kleine  römische  Flotte,  die  sich  auf  der 
Fahrt  nach  den  kurz  vorher  von  ihrem  Staate  erworbenen 
neuen  Besitzungen  am  adriatischen  Meer  befand,  in  den 
Hafen  von  Tarent  eingelaufen  war,  wies  in  der  Stadt  ein 
Demagog  das  leicht  erregbare  Volk  darauf  hin,  daß  dies 
eine  zweifellose  Vertragswidrigkeit  involviere,  und  reizte 
die  Massen  hierdurch  so  sehr  auf,  daß  sie  einen  plötzlichen 
Angriff  auf  die  Römer  machten,  fünf  Schiffe  derselben 
wegnahmen  und  ihre  Bemannung  der  Hinrichtung  oder  d^ 
Sklaverei  überlieferten. 

Will  man  in  dem  hier  gegebenen  Streitfälle  nach  Möglich- 
keit beiden  Parteien  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  sa 
muß  zunächst  rllckhaltslos  anerkannt  werden,  daß  die  Römer; 
da  für  jenen  Vertrag  ein  spezifisch-rechtlich  wirkender  Auf- 
hebungsgrund, insbesondere  mutuus  diasensus,  sicher  nicbl 
vorlag,  formal-juristisch  jedenfalls  im  Unrecht  waren'.  El 
ist  aber  weiterhin  auch  noch  zuzugeben,  daß  für  ihre  Um« 
fahrung  der  ytcm-tvia  aA.qa  ebenso  der  Versuch  einer 
materiellen  Rechtfertigung,   wenigstens   in   der  bis  jeferf 


Appiaa  mit  den  Worten  (Samnit.  7);  "Oii  Ko^v^lioi  iti  xaiaifgäurttr 

itxB  vtmv  tSiäro  xiiii  /tfyalij]r  'EiilniTir  — '  —  '-    '"■-- -* '- 

^iitd^Bpif  —  nalai<öv  än/jf/irijaxe  avt 
ngoau     .luxivlai     äxgnq ,     nopofi 

'  Dnmit  erledigeo  sicli  tür  uns 
(Bamische  Oeachichte,  I,  S.  418,  N.  16)  in  einer  Polemik  wider  iii,  mit 
der  hier  vertretenen  AufT&ssuDg  durchaus  übertinatiiiiinendeii,  Darleganna 
Mommsens  die  entrüstete  if>age  safWirft,  ob  clenii  in  einem  aol^Mi 
Falle  „der  TertriK  sofort  aufhören  aolle  bindend  zn  sein"?  Ein  derr 
artiges  Verlangen  wurde  in  der  ThI  viel  au  weit  gehen,  wird  aber 
aar  von  der  von  una  gerade  alii  irrig  bekämpften  bisherigen  Klani 
lehre  (nnd  selbst  von  dieser,  mindestens  furmell,  nii^ht  durchweg,  cf.  * 
8.  89  ff.)  aufgestellt. 


'VI  1. 


181 


I 
I 


von  uns  geiibtfin  Weise  (cf.  oben  S.  178),  vollständig 
fehlschlägt;  kann  doch  gewiß  nicht  davon  die  Rede  sein, 
daß  eie  zu  ihrem  vertragswidrigen  Verhalten  durch  eine 
dringende  Notlage,  durch  wesentliche  Gefährdung  der 
politischen  Existenzbedingungen  Roms  gezwungen  worden 
wären.  Dagegen  in  anderer  und  neuer,  von  dem  tetzt- 
angedeuteten  Moment  völlig  abstrahierender  Form  läßt  sich 
ein  solcher  Versuch  sehr  wohl  erfolgreich  durchflihrtn, 
woraus  dann  die  Notwendigkeit  einer  entsprechenden  Er- 
weiterung der  nur  jenes  berücksichtigenden  alten  Fassung 
ganz  von  selbst  sich  ergibt. 

Man  darf  nämlich  nicht  außer  acht  lassen,  in  welchem 
Sinne  der  ganze  Vertrag  in  concreto  eigentlich  gemeint 
war.  Die  Absicht,  in  der  er  von  den  Tarentinern  ab- 
geschlossen wurde,  ging  anerkannt  dahin,  der  Gegenpartei 
den  Zutritt  zum  östlichen  Becken  des  Mittelmeers  zu  ver- 
sperren und  sich  seibat  so  von  deren  maritimer  Konkurrenz 
£11  befreien;  unter  Verwendung  eines  neuzeitlichen  terminus 
technicuB  könnte  man  sagen,  sie  wollten  jenes  zur  exklusiven 
, Interessensphäre"  '  machen  mit  der  Wirkung,  daß  sie 
innerhalb  desselben  „das  Recht,  die  Ausübung  fremder 
Staatsgewalt  auszuschließen"^,  erwarben".  Dieses  Ziel  wurde 
auch  ursprünglich  durch  die  von  ihnen  gewählte  Formel 
vollkommen   erreicht.     Denn   da   die  Römer   um   die  Mitte 


'  Die  Puralleliflierang  mit  dicHem  lastitut  des  moderuen  VSIherrechts 
soll  sieb  natQrlicb  nur  auf  die  hier  wie  dort  g-leiclinjäQig  Torbaadene 
Oeaatatteudenz ,  nicht  aber  auub  auf  die,  bcidomal  rocht  vernchiedenen, 
Mittel  lur  Kcalisiemiig  des  angestrebten  Zwecks  belieben.  DaB  in 
letEterer  Hiusicht  die  beutige  Pansung:  wegen  ibrer  grüBeren  Zuverläitsig- 
kcil  weitaus  den  Vonitg  vor  der  ziemlich  {irimitiren  actikea  verdient, 
iat  sicher. 

»  V.  Liszt,  Völkerrecbt,  2.  Aufl.,  ü.  73. 

*  Ähnlicbe  Vertrage  sind  im  Altertum  (Iberaus  häuGg  la  konBlatieren. 
VkI.  e.  B.  den,  binsichtlich  seines  föroilichen  Abschlnssen  allerdlnifg  etwas 
xweiJelhaften,  Kimonisehun  Frieden,  den  römlsch-karthagiachen  Handels- 
ond  [ich iffiüirta vertrag  vom  Jahre  508  (interessant  auch  deshalb,  weil  in 
Um,  vielleicht  Eum  ersten  Haie  in  der  Geschichte,  der  BegrifT  der  sogen. 
reliche  foru^e  aufgestellt  und  völkerrechtlich  fixiert  wurde;  uf.  v.  äcala, 
Staatorertrige  des  Altertums.  I,  S.  29/31X  weiter  den  IQOÜSdpr  Vertrag 
Boms  mit  dem  s}-ris«hen  KOnig  Antiocbos,  a.  m,  dorgl. 


182  y 

des  4.  Jalirliunderta  bloß  Besitzungen  an  der  Küste 
tyrrhenischen  Meeres  hatten ,  so  vermochten  sie  von  dort 
aus  OHr  unter  Passierung  des  lakinischen  Vorgebirges  nach 
dem  Osten  zu  gelangen  und  wurden  folglich  durch  die 
Sperrung  dieser  Route  überhaupt  ganz  von  ihm  abgeschlossen, 
Hierin  war  jedoch  spdterhin  eine  große  Wandlung  ein- 
getreten. Teilweise  schon  vor  der  Vernichtung  des  keltischen 
Stammes  der  Senonen,  in  erster  Linie  aber  durch  diese 
hatten  die  Römer  am  adriatischen  Litoral  gleichfalls  weite 
Landstriche  gewonnen  und  dieselben  auch  schleunigst  durch 
Befestigung  von  Land-  und  Küstenstädten  (Sena  Oallica, 
Castrura  Novum,  Hadria)  gesichert.  Damit  hatten  sie  aber 
offenbar  auch  im  Östlichen  Mittelnieer  wieder  freie  Hand 
erhalten,  insofern  als  keinerlei  Vertrag  ihnen  untersagte, 
dasselbe  von  den  neuen  Kriegahafen  aus,  also  unter  gänz- 
licher Vermeidung  der  uiemtvia  ixu^a,  mit  ihren  Schiffen  zu 
befahren.  Mit  anderen  Worten ,  wegen  inzwischen  eil 
getretener  faktischer  Veränderungen  hatte  ji 
jener  alte  Vertrag  für  die  Tarentiner  seine  eigentliche 
ratio,  seinen  Grund-  und  Hauptwert  vollständig  eingebüßt, 
dergestalt,  daß  er  bloß  die  praktisch  kaum  ins  Gewicht 
fallende,  höchstens  zu  Chikanezwecken  noch  brauchbare 
Bedeutung  behielt,  die  direkte  Seeverbindung  zwischen  deikr 
tyrrhenischen  und  adriatischen  Küstenstrichen  der  Kftmar^ 
zu  sperren.  Unter  diesen  Umständen  hatten  aber  die  letzteren 
gewiß  guten  Grund  zu  der  Annahme,  das  mit  ihnen  bisher 
ständig  befreundete  Tarent  werde  seine  formelle  Weiter- 
beachtung überhaupt  nicht  mehr  verlangen:  schon  du 
natürliche  Gefühl  muß  ja  jedem  unbefangenen  Beobachter 
sagen,  daß  einem  derartig  antiquierten,  in  seinem  innerste». 
Kern  und  Wesen  überlebten  Traktat  jede  materielle  Existeni 
berechtigung  fortan  eigentlich  abgeht. 

Es   gilt  nun  aber,   für  dieses  natürliche  Geflihl,   dii 
vorläufig  mehr  instinktiv  gewonnene  Überzeugung,  noch  dl 
geeignete   wissenschaftliche   Ausdrucks-   und    Begründunj 
formel   zu   finden.     Dabei    wird  gleichzeitig   auch   zu   eol 


\ 


zu  _ 


■Vll. 


183 


I  sufaeiden  sein,  ob  und  in  welcher  Weise  die  hier  erürterten 
I  Falle  mit  der  bisher  (vor  §  15)  ausschlieBlich  behandelten 
I  Gruppe  doch  unter  einen  gemeinsamen  höheren  Gesichta- 
I  punkt  eich  bringen  lassen. 

Die     grundsätzliche     Mögliehkcit     einer    solchen     Ver- 
[  einigung   ergibt  sich   leicht  aus  folgendem  Gedankengange. 
Nach    seinerzeit    erfolgten    Feststeltungen '    erscheint    theo- 
retisch   auch    das    Kriterium    der    staatlichen    Geföhrdung 
keineswegs    schon    als    solches   an    und   ftlr   sich,    sondern 
lediglich    auf  Grund   der  komplizierteren  Erwägung  als  die 
Tertragliche  Gültigkeit   wesentlich    tangierend,  weil  es  prä- 
,  «umtiv  dem  wahren   und  eigentlichen  Willen  der 
'   Parteion  zuwiderläuft,  daß  eine  von    ihnen,  wenn  nötig, 
«elbat     auf    Kosten     der    eigenen     Existenz    den     Traktat 
durchführen  soll.     An  dieses  international-subjektive  Moment 
darf  aber  offenbar  bei  den  uns  jetzt  beschäftigenden  Fällen 
genau   so  gut  angeknüpft  werden,   bloß   mit  einer  kleinen, 
die  volle  Gemeinsamkeit  des  Prinzips  nicht  beeinträchtigenden 
Differenzierung.     Jener  wahre  und  eigentliche  Wille 
'ler   Kontrahenten    kann   nämlich    inhaltlich    entweder 
«0  gestaltet  sein,  daß  er  überall  ohne  weiteres  vorauszusetzen 
I    i«,    bei    sämtlichen    Verträgen    generell    und    unverändert 
I  wiederkehrt;   er  kann  aber  auch  eine  derartige  Beschaffen- 
P  heit  aufweisen ,    daß  er  der  einen   konkreten  Vereinbarung 
und    nur   dieser   eigentümlich   ist.     Das  erste  war  der  Fall 
bei  der  früher  besprochenen  Eventualität:    es  liegt  eben  in 
der    Natur    der   Sache    begründet,    daß    ausnahmslos  jedem 
Vertrag   die   prüjuristisch-zweckliche   Schranke   gesetzt   ist, 
■eine    Erfüllung    dürfe    niemals   auf   eine    Gefährdung    der 
politiBcben  Helbsterhaltung    hinauslaufen.     Mit  dem  zweiten 
haben  wir  es  hier,    in  §  15,  zu  tun:   es  kommen  hier  die- 
ieitigei]  Tatbestände  in  Frage,  bei  denen  ein  Traktat  außerdem 
voa  irgendwelchem  Sondermomente  wesentlich  beherrscht 
,  d.  h,  bei  denen  er  lediglich  um  einer,  nicht  rechts- 


«  Vgl.  8.  116f..  Ifil,  IttOi. 


wirksam  mitatipulierten ' ,  deshalb  aber  nicht  weniger 
existenten,  Spezial vorausaetzung;  willen  überhaupt  ab- 
geschlossen wurde  und  folglich  durch  nachträgliche  Ver- 
eitelung derselben  seine  letzte  Basis,  sein  sachliches 
Fundament  völlig  verliert. 

Das  so  gewonnene  Resultat  ist  Übrigens  auch  noch  in 
anderer  Beziehung,  im  vergleichenden  Hinblick  auf  die 
entsprechenden  Teile  der  üblichen  Klauaclformulierung, 
von  großem  Interesse.  Wir  haben  in  §  3'  gesehen,  daß 
die  letztere  prinzipiell  nach  zwei  verschiedenen  Seiten  aus- 
«.'in  and  ergeht,  daß  die  völkerrechtlichen  Autoren  bald  nach 
generellen,  bald  nach  konkreten  Gesichtspunkten  und  Merk- 
malen die  den  ßechtsbestand  des  International  Vertrags  durch 
ihre  spätere  Änderung  ungünstig  beeinflussenden  Momente 
näher  bestimmt  wissen  wollen.  Zu  dieser  Htreitfrage  haben 
wir  unsrerseits  nunmehr  in  der  Weise  Stellung  zu  nehmen, 
daß  von  den  beiden  Lehren  keine  ganz  recht  und  keine 
ganz  unrecht  hat,  daß  es  sich  hier  in  Wahrheit  nickt  so 
sehr  um  ein  „Entweder  —  oder"  wie  ein  „Sowohl  —  als 
auch"  handelt.  Die  erste,  d.  h.  diejenige  Richtung,  welche 
grundsätzlich  das  öegebensein  eines  „Konflikts  mit  deu 
hltchsten  Staatsinter essen"  verlangt,  in  einzi^lnen  Vertretern 
auch,  formell  noch  besser  und  präziser,  diese  Interessen 
ausdrucklich  mit  der  Rücksicht  auf  Selbsterhaltung  : 
tifiztert^,  bringt  insofern  ein  sehr  richtiges  uud  zutreffendes 
Element  zur  Geltung,  als  das  durch  de  erörterte  Gebiet 
nicht   bloß  das  weitaus  wichtigste*,   sondern  vor  allem  dai 


'  NatBrlich  kann  es   praktisch  auch  vorknmmeii ,  dati  im  Vertrage 
selbst  mit  aller  Btistimmtheit   erkl&rt  ist,   er  werde  nur  ini  Hinblick  i   ' 
gewisao    kunkrete   Verhältnisse    und    für    die   Zeit   ibror   Finrldauer    n 
geschloBseu;   dnch   bedarf  dieser  FaU   hier  keiner  weitereu   llieoretischen 
ErnrtemDg,   denn   es  versteht  sich  ja   von  nelbst,   daß  jedes  unter  eL 
spezifiacheu   Resolutiv- Bedingnu^j^  [(esetite  Übereinkommen   sofort   i 
deren  Eintritt  schon  von  Bechts  wegen   seiner  OQItiEkeit   verlasUe  eehl. 

'  Cf.  8.  20. 

'  Vgl.  §  8,  S,  83  ff. 

*  DaB  dem  wirklich  so  ist,  wird  schon  durch  die,  ron  uns  S.  .  . 
konstatierte  Tatsacbe   aur   Qen&ge   bewiesen ,    daß   regelmfißig   ancb   die  I 


VI  I. 


185 


einzige  allgemein- iheoretiseiier  Betrachtung  überhaupt  fähige 
ist;  sie  irrt  aber  darin,  daß  sie  die  außerdem  noch  vor- 
handenen Müglichkeiten  gänzlich  ignoriert  und  ho  den 
bloßen  Teil  zum  Ganzen  erhebt.  Die  andere  wieder  ver- 
meidet zwar  glücklicli  den  letztgenannten  Fehler;  denn  ihre 
These,  es  komme  stets  auf  das  an,  waa  die  Parteien  bei 
jedem  Einzeltraktat  entscheidend  voraussetzten  und  intima 
in  mente  hatten,  vermag  offenbar  den  ständig  wieder- 
kehrenden Vorbehalt  der  politisühen  Öelbsterhaltung  eben- 
fajis  mit  zu  decken;  hingegen  verurteilt  sie  sich  dadurch, 
daß  sie  mit  dieser  streng  konkreten  FormuliiTung  durchweg 
«nd  schlechthin  sich  zufrieden  gibt,  selbst  zum  hoffnungs- 
'osen  Verzicht  auf  jede  tiefergreifende  Erfassung  des  Problems, 
die  naturgemäß  immer  nur  auf  gener  eil -gültiger  Grundlage 
^'^olgreich  versucht  werden  kanu.  Erst  eine  Verbindung 
''^«  richtigen  Gehalts  beider  Lebrmeinungen  vermag  hier 
***    einem    wahrhaft  und  allseitig  befriedigenden  Ergebnisse 

*«»  ftihren'.  — 

.  Durch  die  zuletzt  gegebenen  Darlegungen  ist  iniplizitL- 

^reits  angedeutet,  daß  und  warum  dem  Wenigen,  was  Über 

£W**hänger   der   gegneriacheu 
^^«irang   ihrer  Aoaicht   melir 

^  '  Eb  ist  nicht  m  verkennoii.  ilnB  eine  derartige  Verachmalzang  liier 

^^^d  du  bereits  angestrebt  worden  iat.  Wena  e.  B.  Roli  n-J  acquemr  ns 
_^S^rQe  de  droit  inlernslional ,  XIX,  S.  46)  fBr  die  Anwendbarkeit  der 
^tcosel  rohns  eic  slantibux  aoluhe  Verfinderungen  verlangt  „(a)  qoi 
^uivAlent  i  nne  impofiBibilitä  materielle  ou  morale  d'ei^cutioD  ou  (b) 
Htti  däsinl^ressent  la  partie  au  prafit  de  Inquelle  rei^catioa  devait  se 
^Ure")  an  paBt  iedenfalla  die  letztere  Hälfte  dieser  Ilegriffgbestimmung 
^rtreffUch  auf  Fälle  nie  die  im  Text  besprochene  rOmiach-tarentiniiche 
itroverse,  während  die  erstere  auf  den  Gesichtspunkt  der  Sorge  für  die 
„sneEKiatenz  sieh  wenigsteuB  mitbeziehen  läßt.  Eine  äbnlichc  TuudeOE 
Fttitt  in  den  Ausfnbningen  zutage,  die  v.  Liszt  in  der  zireiten  Auflage 
•Bioen  VSIkern^cbta ,  S,  lij6— 166  über  die  clausula  gibt;  dabei  zeichnet 
lieh  seine  Durstellung  (die  im  übrigen,  besonders  in  ili^r  spestiSsch- 
jariatisoben  Qualifizierung  der  Elausellehre,  «owia  in  dem  einseitig- 
«iklnsiT^Q  Betonen  das  Moments  der  „veränderten  Verbal tnisae",  durubaus 
an  den  gewOholicben  Fehlern  partizipiert)  nocb  durch  den  weileron  Um- 
itaml  wesentlich  aus,  da^  sie,  ganz  mit  Recht,  die  aus  Rücksichten  der 
Selbsterbaltung  erfolgenden  Traktats  Verletzungen  mit  einem  vic!  umfassen- 
deren Institat,  mit  der  allgomeiiien  internationalen  Nolataudsnorra  in  Ver- 
bindung bringt  ivgl.  ti.  Ö4.  Anm.   Ij. 


186  VI  L 

das  spezifische  Thema  unseres  Paragraphen  bisher  gesagt 
wurde,  kaum  noch  viel  hinzuzuftigen  sein  wird.  Wir  haben 
uns  jetzt,  gewissermaßen  nachtragsweise,  nur  noch  mit 
solchen  Elausel&Uen  näher  zu  beschäftigen,  die  nach  Aus- 
scheidung der  ganzen,  aus  dem  staatlichen  Selbsterhaltungs- 
triebe zu  erklärenden  Teilgruppe  noch  übrig  bleiben;  für 
diese  muß  es  aber  (allein  den  ebenfalls  schon  erledigten 
und  deshalb  jetzt  nicht  mehr  in  Betracht  zu  ziehenden  Gegen- 
stand des  §  14  ausgenommen)  notgedrungen  dabei  sein 
Bewenden  haben,  daß  sie  nur  rein  individuell,  durch  sorg- 
fältigste Analysierung  des  jeweils  gegebenen  Einzelfalls 
richtig  zu  erfassen  sind  —  für  wissenschaftlich  -  allgemein 
gehaltene  Erörterungen  eo  ipso  ein  höchst  sprödes  und  un- 
ergiebiges Arbeitsfeld! 

Die  einzige  Aufgabe,  die  diesen  unter  den  obwaltenden 
Umständen  überhaupt  noch  zufallen  kann,  besteht  darin^ 
kurz  die  Art  und  Weise  zu  schildern,  wie  bei  solchen 
konkreten  Untersuchungen  regelmäßig  zu  verfahren  ist; 
wir  müssen  auf  diejenigen  Momente  hinweisen,  an  denen 
eine  etwa  vorhandene  Differenz  zwischen  dem  in  Traktats- 
form erklärten  und  dem  wahren  Partei  willen  auch  nach 
außen   hin   kenntlich   und    nachweisbar  zu  werden  vermag. 

Am  wenigsten  kompliziert  liegt  die  Sache  überall  dort, 
wo  der  Text  des  Übereinkommens  selbst  eine  mehr  oder 
minder  klare  Hindeutung  darauf  enthält,  daß  die  Parteien, 
ohne  direkt  die  Rechtsbeständigkeit  ihrer  Willenserklärungen 
davon  abhängig  zu  machen^,  doch  jedenfalls  materiell  nur 
unter  der  bestimmten  Voraussetzung  irgendwelchen  Ge- 
schehens, Sobleibens,  Anderswerdens  usw.  gehandelt  haben ; 
hier  ist  nach  Lage  der  Dinge  noch  die  einfache  Vertrags- 
auslegung imstande,  eventuell,  beim  einseitigen  Hinweg- 
setzen über  den  Traktat,  auf  sachlich-metajuristische  Recht- 
fertigung, natürlich  aber  auch  nur  auf  solche*  zu  plaidieren. 

'  Cf.  oben  S.  184,  Adid.  1. 

'  Da  nach  den  gemachten  Annahmen  einerseits  eine  rechtlich-gültige 
Deklaration  des  vertraglichen  Hauptwillens  durchaus  gegeben  ist,  anderer- 


Vi  1. 


187 


Indes   wirfl   man   damit  allein    bloß    in   den   seltensten 
[  Fällen  auskommen,  vielmehr  zu  diesem  Zweck  zumeist  noch 
lodere  und  fernerliegende  UnistSnde  zu  Hilfe  rufen  müsBen, 
f  Da  wSre  zunächst  auf  die  dem  wirklichen  Vertragsabschlüsse 
[  TToraUBgeh enden     Besprechungen      und     Verhandlungen    der 
'  Ireiderseitigen  Unterhändler   hinzuweisen:   schon  aus  diesen 
kann  mit  voller  Deutlichkeit  hervorgehen,  daß  das  von  den 
Kontrahenten  eigentlich  Beabsichtigte  in  der  offiziellen  Ver- 
tragsurkunde    durchaus    keinen    genau    angemesBeni-n    Aus- 
druck  gefunden  hat.     Dann   haben   wir  auch,   noch  weiter 
zurückgreifend,    die   ganze  politische  Entwicklungsreihe  in 
Rechnung   zu   ziehen,    die   unter  den  betreffenden  Mächten 
vor   der  Vereinbarung  selbst  sich  abspielte,    und  als  deren 
ächlußprodukt  die  letztere  erscheint;  es  muß  berücksichtigt 
werden ,    ob   der  Traktat   am  Ende  eines  Krieges  zwischen 
Sieger    und    Besiegten    zustande    kam    oder   nicht,    ob    und 
durch    welche    praktischen    Ein zelvorkonimn lese    er    nach- 
weislich  angeregt   wurde,   und  mehr  dergleichen.     Endlich 
darf  aber  auch  das  gesamte  sonstige  Milieu,   aus  welchem 
derselbe  hervorgewachsen  ist,   keineswegs  völlig  außer  acht 
issen  werden.    In  dieser  Hinsicht  ist  z.  B.  das  Verhältnis 
I  Jes  einen  oder  des  anderen  Kontrahenten  zu  fremden  Staaten 


tdte  der  in  die*äm  hinzutretende  und  ilm  beschrankende  Nebenwille  der 
idiqiuU  wirksamen  (d.  b.  ^radexn  regolntiv  bedingenden)  Erktitruiig  um- 
pkeiut  ermangelt,  ho  muß  aus  diesen  PräntiABen  mit  begrifflicher  Not- 
wendi(;keit  der  SdituB  gezogen  werden,  dnß  die  formal-jurialische 
Kraft  des  ersteren  nuf  nlle  Fälle  gewahrt  bleibt  Wenn  im  Gegeosatz 
'  1  für  daa  innerRtaatlicbe  (Frivat-JHecht  derartigen  Willenserklärungen 
ir  Umständen  direkt  die  jurixtische  WirksHmkeil  abgesprochen  werden 
■o  kommt  dies  nur  dadurch  lualande,  daß  hier  aatoritir  ont- 
Bicbter  auf  Grund  einer  entaprer benden  positiven  Er- 
^^iclltigangsnorm  tätig  xa  werden  vermögen  —  iwei  schlechthin 
Ttnenthehrliche  TatsnclienToraiunetzungeQ,  an  denen  es  je  dem  juH  inter 
»  leider  gänzlich  gebricht.  DemgemäB  haben  wir  ans  für  letzteren 
ait  dem  bekannten,  Kchnn  su  wiederholten  Malen  [a.  B.  169  bei 

...  _.   m.   1|  konfitjitierlen  Sachverhalt  resigniert  absuflnden,  daB   hier 

fc'  4as  Btwht  die  ku  seiner  Bachgemäßen  Uorichtigung  erforderliehen  Mittel 
nicht  aelber  eu  beEchaffen  fähig  ist,  und  daß  deehalb.  genau  wie  bei  den 
IrSber«!!  Fällen,  alle  in  concreto  gebieterisch  sich  aofdräugenden  Korrektaren 
iniDBr  bloB  faktisch,  im  Wege  der  regelmABIgeii  Durch breohung  jenes, 
dntretea  kStmen. 


188  VI  1.  ' 

manchtnal  geeignet,  wichtige  Aufschlüsse  zu  geben;  sogar 
Beziehungen  lediglich  zwischen  dritten  Mächten  können 
unter  Umständen  recht  bedeutungsvoll  werden. 

Für  sämtliche  eben  gouannte  Momente  ist  noch  wohl 
zu  beachten,  daß  bei  ihnen,  genau  genommen,  überhaupt 
nicht  mehr  von  eioer  Auslegung  des  Vertrags  als  solchen, 
sondern  nur  des  letzterem  zugrunde  liegenden  staatlichen 
Willens  die  Rede  sein  darf:  liegt  es  doch  auf  der  Haud, 
daß,  wenn  in  einem  Traktatstexte  irgend  ein  Element, 
hier  der  materiell  als  Willensbeschränkung  wirkende  Be- 
stimm ungsgrund,  von  Allfang  an  nicht  enthalten  gewesen 
ist,  es  niemals  durch  bloße  Interpretation  nachträglich  auB 
ihm  herausgeholt  werden  kann'. 

Zur  Ergänzung  dieser  abstrakten  Ausfdhrungen  sei 
schließlich  noch  eine  historische  Untersuchung  eines  Einzel- 
falls gegeben,  die  die  nicht  leicht  übersehbare  Materie  besaer 
veranschaulichen  wird. 

Am  15.  November  1715  kam  zwischen  jien  nieder- 
ländischen General  Staaten  und  Österreich  der  sogen.  Barrifere- 
Vertrag^  zum  Abschluß,  kraft  dessen  die  erateren  in  zahl- 
reichen genau  angegebenen  belgischen  Festungen,  in  Namur, 
Vpern,  Tournai  usw.,  ein  Besatzungsrecht ^  erhielten.  Nach 
ziemlich  siebzigjährigem  Bestände  wurde  dieses  Überein- 
kommen von  Kaiser  Josef  II.  einseitig  aufgehoben,  als  der^ 
selbe  1781  zwecks  gründlicher  Informierung  über  die  ihm' 
bis  dahin  sehr  wenig  bekannten  Verhältnisse  seiner  nieder- 
ländischen Besitzungen   eine  Reise  durch  letztere  machte*;, 

'  8d  n.  a.  zu  v^ratebeii  die  gnleii  Bemarknii^n  bei  PhllUiu 
Commentaries  upoQ  iiilemationnl  law,  II,  W.  105.  Vgl.  lu  der  gi 
Sache  aucli  die  vom  ^'erfaaaer  an  nnderem  Ort«  (Das  Gawohuheibireclrt  'J 
als  Form  dos  OiiiDoiDwilleiiH,  S.  '^9,  Anm.  1)  über  analoge  inDerataatlich«  J 
Verhältnisse  gemachten  Auarühningeu.  i 

"  Ahgedrucfct  u.   b.   bei   Zioek,   Uahe  de»  jetzt   lebendeii  Eutoptl 
(Cobnrg  17261,  I,  8.  463.  1 

'  Übrigens  traten  zu  der  speEiflscb-militiriachen  StaatsdienatbarkeU-a 
noch   einige   anderBgeartete  Akseasorien,  namentlich   krafl  Artikel  S 
wiiac  kirchlich-koufesnonelle  befiignisse. 

*  Vgl.  faierza  Scblitter,   Die  R^erang  Josefe  ü.   in  c 
reiohlMllen  Niederlanden,  I,  (1900);  S.  U.  148,  N.  11. 


I 


189 

:  ließ  nämlich  unterm  7,  November  des  genannten  Jahres 
der  Qogen parte!  eine  Erklärung  '  zuatellen,  daß  er  sÄmtlrehe 
Barrißre-Pl.ltze  zu  schleifen  beabsichtige  und  aus  diesem 
Grunde  die  ungesäumte^  Zurückberufung  aller  auf  belgischem 
Boden  garniaoniereuden  holländischen  Truppen  erwarte.  Da- 
bei war  er  bestrebt,  sein  eigenmächtiges  Vorgehen  näher  in 
einer  Weise  zu  motivieren,  die,  zwar  nicht  formell  und 
L  expressis  verbia  aber  doch  sachlich,  einer  Bezugnahme  auf 
tdie  clausula  rebus  sie  stantibus  gleichkommt:  denn  indem 
fer  zur  prinzipiellen  Rechtfertigung  desselben  lediglich  an- 
führte, daß  die  Fortexiatenz  einer  so  großen  Menge  von 
Festungen  für  Österreich  „aus  vielen  Gründen  nicht  mehr 
luträglich  sei",  stützte  er  sich  offenkundig  darauf,  daß  ein 
an&oglich  vorhandener  wichtiger  Umstand  hinterher  in 
Wegfall  gekommen  und  insofern  „veränderte  Verhältnisse" 
überhaupt  eingetreten  seien. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  diese  Argumentation, 

Izein  juristisch  beurteilt,  durchaus  ungenügend  ist,  in  keiner 

(Weise    von    der   österreichischen   Aktion    daa    Stigma   des 

^lechthin  rechtswidrigen  Traktatabruchs  ^  zu  nehmen  ver- 


■  Cf.  Martona,  Becueil  des  prlDcipanx  tntiHs,  IV,  S.  433. 

*  BereilH  lua  27.  November  erging  ■□  die  Niederländer  eine  zweite 
reicbinchc  yatu,   in  weicher  von  „nccSIfrstion  pnrtictiliire  qile  l'eni- 

r  däiire  danB  cett«  aSaire"  die  Kede  ist     Man  siebt,   wie  aucb  nof 

I  Gebiet  die  eigeatümliciie  Charaliteraulage  Joiofa  II.  aitb  nicht 
lenenen  konnte! 

'Lediglich  ala  eolcher  ist  sie  auch  von  Beilen  der  gegnerischan 
Tertragapartei  aufgefaßt  und  empfundm  worden.  Diea  geht  iinier  nnderem 
düani  dentlich  bervor,  daß  die  Geiiernlxtajilen  (die  bei  der  großen  llti^leieh- 
hdt  der  beideraeitlgeu  Machtmittel  absolut  nii'bl,  nud  am  wenigsteD  unler 
den  damaligen  poliÜBclien  KonBlellntionen.  an  tätliche  Wideratondslcistung 
denken  konnten)  dem  niederbollen  UrSogen  Jaeeta  nur  rein  foktisih  aich 
filjrira:  sie  haben  zwar  die  Featnn^en  1781  wirklieb  gerinmt,  dabei  aber 
j«de  jnrtaliflche  Anerkennung  der  Aufhebung  ihres  Besnliung^rrchti  aufs 
Sor^^tigate  vermieden,  im  Gegenteil  dRiaelbe  dndurcb  unverkennbar  in 
wahren  geiueht,  dali  aie  in  ihre,  formell  böihst  vorsicbtig  gefaUtr  Gegen* 
eiUIrnng  vom  20,  November  eine  Erinnerung  an  „les  trHitäs  et  lea 
EllgagemeiitB  les  piu»  solennels  qui  ont  subsiali^  jnsqo'ici  entre  8.  M,  et 
la  rApublique,  et  qui  n'ont  jamnia  it6  Tivoqain"  einflieDen  ließen.  Erat 
vier  Jahre  spater  ist  auch  eine  juriBii>ehwirk.''iune  Veraichtleii'tung  ihrei^ 
ttita  aungeaprochen  worden,  und  zwar  durch  den  Österreich ifch-bciliündiarhen 
DefimtiweTtrigzuFontainebleauvom8.NoTemtierlT85(Te»beiHartenfl, 


190  VI  1. 

mag;  ist  es  doch  nach  dem  ganzen  Wortlaut  des  Ant- 
werpener Abkommens  als  vollkommen  ausgeschlossen  zu 
bezeichnen,  daß  in  ihm  dem  Kaiser  unter  irgendwelchen 
Voraussetzungen  die  Befugnis  zur  einseitigen  Kündigung 
reserviert  worden  wäre.  Sonach  würde  die  einzige  Mög- 
lichkeit, wie  der  Beweisführung  Josefs  II.  eine  gewisse 
Legitimation  vielleicht  zukommen  könnte,  von  vornherein 
nur  darin  bestehen,  daß  jener  uns  bekannte  Zwiespalt 
zwischen  dem  rechtsgültig  deklarierten  und  dem  wahren, 
dem  eigentlichen  Parteiwillen  im  gegebenen  Einzelfalle  sich 
aufzeigen  ließe. 

Bei  Untersuchung  dieser  Frage  ist  zunächst  vor- 
behaltlos die  Tatsache  anzuerkennen,  daß  von  Haus  aus 
nicht  bloß  die  Generalstaaten,  sondern  wirklich  auch  der 
Gegenkontrahent  von  dem  Barriere-Traktat  recht  mannig- 
fache Vorteile  hatte.  Beispielsweise  wurde  Österreich, 
sobald  es  seine  belgischen  Territorien  durch  holländische 
Truppen  vor  dem  westlichen  Nachbar,  Frankreich,  ge- 
schützt wußte,  der  Notwendigkeit  enthoben,  selbst  für  deren 
Verteidigung  Sorge  zu  tragen,  und  konnte  also  die  sonst 
hierzu  erforderlichen  Streitkräfte  nach  Bedarf  und  Belieben 
anderweit  verwenden.  Fernerhin  zog  es  von  dem  ganzen 
Arrangement  insofern  auch  finanziellen  Gewinn,  weil  es 
fortan  nicht  mehr  die  gesamte,  zur  Instandhaltung  seiner 
Festungen  nötige  Summe  aus  eigenen  Mitteln  aufbringen 
mußte,  sondern  dazu  bloß  einen,  im  Verhältnis  zu  der 
ziemlich  großen  Zahl  jener  recht  mäßigen,  Jahresbeitrag  zu 
leisten  hatte. 

Gesetzt  nun  den  Fall,  es  wäre  der  Nachweis  zu  führen, 
daß  gerade  Momente   nach  Art  der  letztgenannten   die   im 


t  II,  S.  602  ff.).  Letzterer  erwähnt  freilich  die  Barriere-Frage  nicht  aus- 
drücklich, aber  es  ist  auf  sie  sicher  mit  zu  erstrecken  der  ganz  allgemein 
gehaltene  Art  XX  VII:  ^^Les  deux  Hautes  Parties  Contractantes  r^nonoent 
respectivement ,  sans  aucune  r^serve,  k  toutes  les  pr^tentions  qa^elles 
pourroient  encore  avoir,  Tone  k  la  chaige  de  Tautre,  de  quelque  natnre 
qu'elles  puissent  §tre.^ 


Grunde  beabsichtigte  Hauptwirkung,  die  speziüsche  causa 
tinalis  des  Barriere-Vertrag«  darstellteHj  das  heißt  alao  an- 
genommen, daß  man  ein  Beaatzungsrecht  eigentlich  nicht 
schlechthin,  sondern  nur  damit  und  solange  der  äervituta- 
ochuldner  selbst  Nutzen  davon  hätte,  zu  schaffen  gedachte', 
so  würde  offenbar  ein  späterer  Fortfall  aller  dieser  Momente 
prinzipiell  sehr  wold  geeignet  sein,  den  1781  einiteitig  voll- 
zogenen Rücktritt  sofort  in  völlig  iiDderem  und  weit  milderem 
Licht«  erscheinen  zu  lasaen:  wenn  wirklich  für  Österreich 
dje  Fortsetzung  des  171Ö  konstituierten  Verhältnisses  ijli 
Jahre  darnach  „aus  vielen  ürlioden  nicht  mehr  zuträglich" 
geworden  war,  wenn  es,  im  schneidenden  Gegenajitz  zu  der 
BUpponierten  Grundintention  der  Parteien,  neuerdings  aus 
ihm  absolut  keinen  Vorteil  mehr  zog  und  bloß  diu  mit 
jeder  ständigen  Besetzung  von  Staatsgebiet  durch  fremde 
Trappen  notwendig  verbundenen  Unbequemlichkeiten 
und  Lasten  noch  übrig  waren,  so  dürfte  man,  unbeschadet 
natürlich  der  formal  immer  bestehen  bleibendi^n  Rechts- 
widrigkeit, doch  ganz  gewiß  aachlich  nichts  gegen  ein  Be- 
streben einwenden,  das  die  gänzliche  Beseitigung  eines 
durch  veränderte  Umstände  direkt  ins  zweckliche  Gegenteil 
umgeschlagenen  und  deshalb  jetzt  zweifellos  veralteten 
Traktats  sich  zum  Ziele  setzte.  Um  aber  Über  das  tatsäch- 
liche Zutreffen  oder  Nichlzutreffen  jener,  alles  weitere  über- 
haupt erst  ermöglichenden  Grund-Hypothese  ins  klare  zu 
kommen,   dazu  haben  wir  nichts   anderes  zu  tun,   wie   die 


^  SeßhVieh  würde  iIsb  Gause  einFaeh  diirauf  hiuBiislMufen ,  diB  dem 
■cheinbar  Iterechti|;teD  in  Wahrheit  mehr  eioe  üeitntxnligRpflich  t 
anhrlegt  werden  aollte.  Eioe  derartig  OeHtaltung  kann  pnktiwh  sehr 
«cdil  Torkommeii,  und  es  ist  daher  als  fehlerhaft  la  bexeicIiDeo,  daß  die 
Doktrin,  hier  wie  bei  mancbein  anderen  Völkerrechts vcrhiltois  die  real- 
Torhandancii  Unterschiede  luiBulftssig  nivellierend,  von  dieser  MSelichkeil 
InslwT  regeliD&fiig  keine  Soli*  genooimea  hat.  Mfm  m^  es  e.  B.  nur 
einmal  versunhen,  diu  van  1849 — 1S70  dauernde  Okkupation  RomH,  tenp, 
CiTitaveccbiag  durch  fraDzSsiflche  Truppen  strikt  nnch  dem  gewöhnlichen 
Schema  lU  konstruieren,  daß  Frankreich  gegenüber  dem  KircbeDBtxat  ein 
lechniichea  BesatEuagsrechl  ausübte ,  und  man  wird  uutwendig  tu  einem 
wahren  Zerrbildo  den  iu  Wirklichkeit  (gegebenen  Zuitauds  einer  inter- 
oational  Sbemcimmenen  Hchulzpflicht  gelangen. 


192 


VI  Kl 


S,  180  ff.  abstrakt  bebandelten  Punkte  nunmehr  am  konkratea  \ 
Falle  einer  kurzen   Prüfung  zu  unterwerfen^. 

Beginnen  wir  demgemäß  mit  einem  fluchtigen  Blick  , 
auf  die  das  Barriere  -  Abkommen  hiatoriach  vorbereitenden, 
in  der  Zeit  vor  Abschluß  desselben  unter  den  Kontrabenten 
obwaltenden  Zustände  und  Beziehungen,  so  ergibt  sich 
folgendes.  Gleich  so  vielen  anderen  ein  Einzelglied  des 
großen  Vertragekomplexes  bildend,  der  nach  dem  spanischen  , 
Erbfolgekrieg  die  westeiiropäiaohen  Verhältnisae  international  ■ 
neu  ordnete,  steht  der  Traktat  am  Ende  einer  langjährigen  ' 
Periode,  die  Holland  und  Öaterreich  ständig  als  Alliierte^ 
als  Teilnehmer  an  einem  umfassenden  WaffenbUndnis  gegen 
gemeinaame  Feinde  (Frankreich-Spanien)  gesehen  bat.  Schon 
dieser  Sachverhalt  eröffnet,  wie  gar  nicht  zu  bestreiten  ist, 
recht  wenig  günstige  Aussichten  darauf,  daß  für  die  vorhin 
gemachte  Annahme  die  erforderlichen  tatsächlichen  Unter- 
lagen wirklich  beige  bracht  werden  könnten;  denn  wenn 
Schlüsse  eines  Kriegs  zwei  Verbündete  über  ein  erobertes 
Land  in  der  Weise  disponieren,  daß  dieses  dem  einen  von 
ihnen  gehören,  der  andere  aber  innerhalb  desselben  be- 
stimmte Festungen  besetzen  solle,  so  ist  fLir  die  letztere 
Bestimmung  von  vornherein  sicher  das  weitaus  wahrschein- 
lichere dies,  daß  sie,  auch  dem  zweiten  Staate  einen  posi- 
tiven Anteil  an  dem  gemeinsam  erkämpften  Gewinn  zu- 
weisend, nur  zu  seinem  Nutz  und  Frommen  prinzipiell: 
vereinbart  wurde,  keineswegs  aber  den  konträr  wirkenden 
Hintergedanken  verfolgte,  in  dieser  Form  dem  au  sich  und 
ohnehin  schon  übermäßig  begünstigten  Gegen ko n trabe nten 
materiell  noch  weitere  Vorteile  zu  gewähren. 

In  völliger  Übereinstimmung  hiermit  steht  auch  da»- 
jenige,  was  aus  den  zur  formellen  Verträgst  ex  tierun^, 
zwischen  den  österreichisch- holländischen  Bevollmächtigten! 


'  AllerdingB  kann  diese  UntersucbuD); ,  dn  der  Traktat  als  solcbm. 
für  unsere  Zwecke  nicbt  die  miodeste  Ausbent«  liefert,  hier  nicht  gleich*' 
inäßifr  an  aämlltchen,  sondern  nar  an  den  die  apeiifisclie  „VertragMOt- - 
legang"  überschreitenden  Momenten  praktisch  durcbgefShrt  werden. 


VI  I. 


193 


u 


abgehaltenen  KoDterenzen  und  Besprechungen  zu  entnehmen 
ist:  soweit  dieses  Material  der  Beurteilung  Überhaupt  zu- 
gänglich ist,  läßt  ee  immer  bloß  den  einen  Schluß  zu,  daß 
ein  Besatz urgsr echt  durchaus  in  normalem  Sinne,  unter 
Vermeidung  jeder  fremdartigen  Beigabe  geplant  war,  und 
daß  folglich  der  auch  Österreich  aus  demselben  erwachsende 
Nutzen  als  rein  zufUllige,  unmittelbar  nicht  gewollte  Neben- 
wirkung angesehen  werden  muß. 

Schließlich  erfährt  diese  ganze  Auffassung  auch  noch 
dadurch  eine  höchst  wichtige  Bestätigung,  daß  offenbar  sie 
allein  den  von  den  übrigen  Teilnehmern  am  spanischen 
Erbfolgekrieg  unmißverständlich  geäußerten  Absichten  voll- 
kommen sich  anpaßt.  In  dieser  Beziehung  ist  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  der  1715er  Vertrag  inhaltlich 
durchaus  nichts  ganz  Neues  brachte,  sondern  nur  die 
(etwaa  detailliertere,  zum  Teil  freilich  auch  modifizierte) 
Wiederholung  und  Bestätigung  früherer  Festsetzungen  war. 
Bereits  vor  dem  Ende  des  ganzen  Krieges,  im  Jahre  1709, 
War  Holland  von  England,  namentlich  auf  Betreiben  Marl- 
boroughs,  ein  Besatzungsrecht  in  Festungen  der  spanischen 
Niederlande  traktatsmäßig  zugesichert  worden.  Als  dann 
wenige  Jahre  darnach  die  (von  Österreich  zunächst  nicht 
geteilten)  Friedensverhandlungen  mit  Frankreich  begannen, 
verwandte  sich  der  englische  Minister  Bolingbroke  letzterem 
gegenüber  lebhaft  für  die  Anerkennung  dieser  Stipulation, 
was  zur  Folge  hatte,  daß  in  den  holländisch  -  französischen 
Vertrag  vom  11.  April  1713  ebenfalls  eine  entsprechende 
Bestimmung  —  Art.  7  —  Aufnahme  fand'.  Und  wieder 
ein  Jahr  später,  im  Friedensvertrag  mit  Ludwig  XIV.  am 
7.  März  1714  zu  Rastatt,  mußte  sich  auch  Österreich  aus- 
drücklich damit  einverstanden  erklären,  daß  es  die  belgischen 
Territorien  nicht  völlig  frei  und  unbeschwert,  sondern  nur 
mit  der  beschränkenden  Auflage  erhielt,  den  Inhalt  beider 
nigenannten    älteren   Abmachungen   durch   direkte   Ver- 


'  Cf.  Ghillsny,  Diplomatiaehes  HandhucL,  I,  6.  140. 
StuU-  u.  TOllterreebll,  Al.h»ndl.    Vt  1.  -  Sobmldt.  18 


194  V 

ständigUDg  mit  den  Generalstaaten  nunmehr  in  Wirklichkeit 
umzusetzen.  Diese  sämtlichen,  nach  der  Person  der  Trak- 
tatssubjekte mannigfach  variierenden  und  untereinander  sich 
kreuzenden  International  Vereinbarungen  lassen  jedenfalls 
sachlich  nicht  den  mindesten  Zweifel  darüber  aufkommen, 
daß  sie  (in  strengster  Exklusivität!)  dem  holländischen 
Freistaat  und  nur  diesem  ein  politisches  lucrum  zu  ver- 
schaffen bestimmt  sind,  und  es  würde  daher  einen  geradezu 
unbegreiflichen  Bruch  in  die  Kontinuität  der  geschichtlichen 
Entwicklung  hereinbringen ^  wenn  der,  in  unmittelbarem 
Veranlassungsnexus  durch  jene  doch  herbeigeführten,  Schluß- 
regulierung,  d.  h.  dem  österreichisch  -  niederländischen 
Barriöretraktat  vom  Jahre  1715,  urplötzlich  eine  total  ab- 
weichende Grundtendenz  eigentümlich  sein  sollte. 

Nach  alledem,  da  auch  nicht  der  geringste  Anhalts- 
punkt für  das  Vorhandensein  eines,  dem  ausgesprochenen 
zuwiderlaufenden ,  wahren  und  eigentlichen  Parteiwillens 
aus  den  hierzu  eventuell  geeigneten  Umständen  zu  ent- 
nehmen ist,  kann  für  die  uns  beschäftigende  Angelegenheit 
die  endgültige  Entscheidung  nur  dahin  ausfallen,  daß  das 
Verhalten  Kaiser  Josefs  11.  nach  jeder  überhaupt  möglichen 
Auffassungsart  einen  reinen  Gewaltakt  darstellt,  materiell 
genau  so  wenig  wie  formal-juristisch  sich  rechtfertigen  läßt. 


Achter  Abschnitt. 

Völkerrechtliche  Clansola  und  aUgemeine 
Rechtslehre. 


I 


§  16. 

Die  in  den  sieben  ersten  Abschnitten  vun  uns  an- 
gestellten Untersuchungen  sind  vielfach  über  den  Gegen- 
stand unserer  eigentlichen  und  nächstliegenden  Aufgabe, 
die  völkerrechtliche  Einzel  frage  der  Clausula  rebus  sie 
Btantibus,  schon  weit  hinausgegangen.  Auf  der  einen 
Seite  haben  wir  bei  Erörterung  dieser  wiederholt  die  Be- 
merkung machen  können,  daß  die  hier  gegen  die  herrschende 
Meinung  zu  erhebenden  Bedenken  zu  einem  guten  Teile 
nicht  etwa  auf  Mängeln  der  spezifischen  Klausel theorie  be- 
ruhen, sondern  ganz  allgemeiner  Natur  sind,  d.  h.  auf 
ewientielie  Fehler  der  gemeinhin  geübten  Behandlung  des 
jus  inter  gentes  Überhaupt  hindeuten.  In  dieser  Hinsicht 
ist  vor  allen  Dingen  darauf  hinzuweisen,  daß  der  in  Ab- 
schnitt II  wider  die  clausula  geltend  gemachte  Einwand  einer 
völlig  unzulänglichen  positiv-juristischen  Fun- 
dieruDg  genau  so  gut  auch  auf  viele  andere  der  durch  die 
intemationalrechtliche  Wissenschaft  gelehrten  Regeln  zutrifft', 
deutlicher  und  ausführlicher  gesagt,  daß  von  dem  ganzen 
mmat  bloß  aus  apriorischen  Erwägungen  vernunftrechtlich 
deduzierten  und  hinterher  unbefangen  als  „objektives  Völkei"- 


'  Vgl,  hierin  BpeEi?)!  8.  65  ff. 


recht"  etikettierten)  Nonnen  komplex  wahrscheinlich  nur  ein 
geringer  Bruchteil  die  —  für  die  wahre  Rech tsquali tat  als 
condicio  sine  qua  non  erscheinende  —  Probe  praktisch  zu 
bestehen  vermöchte,  daß  die  betreffenden  Sätze  auch  durch 
den  zur  positiven  Rechtssatzung  allein  kompetenten  Faktor 
(d.  i.  durch  den  irgendwie  erklärten  Willen  der  am  Völker- 
verkehr teilnehmenden  Staaten  selber)  wirklich  sanktioniert 
worden  sind;  ebenso  gehört  in  diesen  Zusammenhang  die 
in  §  7'  erfolgte  Feststellung,  daß  (nicht  bloß  bei  der 
Klausel,  sondern  fiir  das  Völkerrecht  schlechthin)  auch 
rein  rechtssetzungspolitisch,  sozusagen  de  lege 
ferenda  genommen,  jede  feinere  Spezialisierung  und 
Detaillierung  der  internationalgültigen  Verkehrsregeln  eo 
ipso  als  verfehlt  und  schädlich  zu  bezeichnen  ist.  Auf 
der  anderen  Seite  sei  dann  in  aller  Kürze  noch  daran  er- 
innert, daß  des  Zusammenhanges  wegen  außer  und  neben 
der  clausula  selbst  auch  schon  einige  sonstige  völkerrecht- 
liche Einzelprobleme  etwas  näher  beleuchtet  worden 
sind:  namentlich  hat  sich  in  diesem  Sinne  §  12  mit  der 
Frage  des  internationalen  Notstands  und  §  14  mit  der  ge- 
wöhnlich in  der  Literatur  vorgetragenen  Lehre  beschäftigt, 
daß  Bruch  des  Vertrags  von  selten  der  einen  Partei  auch 
die  zweite  von  ihrer  Verbindlichkeit  rechtlich  freimachen  soll- 

Immerhin,  so  mannigfach  und  teilweise  auch  weitgehend 
die  bisherigen  Überschreitungen  des  ursprünglichen  Themas 
zweifellos  sind,  jedenfalls  ist  bei  ihnen  regelmä6ig  die  eine 
Schranke  noch  gewahrt  geblieben,  daß  alle  Erörterungen 
dem  Sondergebiete  des  Völkerrechts  und  nur  diesem  an- 
gehörten. Mit  dem  nunmehr  folgenden  achten  und  letzten 
Abschnitt  unserer  Abhandlung  werden  wir  auch  hiertlber 
hinausgehen. 

Das  ist,  wie  wir  wissen,  um  deswillen  unbedingt  nötig, 
weil  nach  den  seinerzeit"  gegebenen  Darlegungen  zu  den 
normalen  Bestandteilen   der  Lehre  von    der  clausula   rebus 


^VI  1. 


197 


!  Stantibus  auch  die  Tliese  zu  zählen  ist,  daß  dieselbe 
'  eine  spezifische  Singularität  dea  Völkerrechts  dar- 
[  stelle. 

Diese  Behauptung   kann  von  Haus   aus  in  zwiefachem 
ne   verstanden   und   dementsprechend  auch  auf  doppelte 
,  Weise  bekämpft  werden. 

Zunächst    empirisch-rechtsvergleichend.      So    gemeint, 
[  bringt  jener  Satz  nur  ein  auf  erfahr unganiäßige  Beobachtung 
j  und  Gegenüberstellung  gegründetes  Urteil  des  Inhalts  zum 
'    Ausdruck,    daß    die  Klausel    allein    im  jus  inter  gentes  ala 
positiv   eingeführtes  Rechtainatitut  wirklich  vorkomme.     Es 
würde   deshalb   auch   der  Gegenbeweis   auf  den  ebenso  er- 
fahrungsmäßig zu  führenden  Nachweis  hinauslaufen  mUasen, 
L  in  Wahrheit  seien  „voränderte  Umstände"  auch  anderwärts 
I  gar    nicht    so    selten    als    in    gleicher    Weise     wirksamer 
.   Vertragsaufhebungsgrund     anerkannt.       Tatsächlich     wäre 
auch    ein    solches   Unternehmen    an    sich   durchaus    erfolg- 
veraprechend :  wie  Pfaff  es  für  die  österreichische  Gesetz- 
gebung  gezeigt   hat',   au   könnte   auch   für  sonstige  inner- 
staatliche Rechtssysteme  dargetan  werden,  daß  in  ihnen  die 
Klausel  —  zwar  wohl  nirgends  mehr  unter  diesem  Namen, 
aber  doch  der  Sache  nach  —  gleichfalls  noch  eine  bedeutende 
Bolle   spielt*.     Mit  RUckaicht  jedoch   auf  die  Grundanlage 
unserer  Arbeit  wird  von  derartigen  Untersuchungen  an  dJeaer 

■  Stelle   besser  ganz   abgesehen    und   sofort   zur  zweiten  Art 

■  der  Betrachtung  übergegangen. 

I  Diese  besteht  in  der  philosophisch-kritischen  Auffassung 
^  Abb  thema  (re-)probandura.  Die  Behauptung,  die  Klausel 
sei  eine  Singularität  des  Völkerrechts,  läßt  sich  nämlich 
auch  so  verstehen,  daß  das  Institut  gerade  für  diese  Rechts- 
ordnung und  nur  für  sie  hervorragend  passe,  ihren  ganz 
besonderen  Bedürfnissen  genüge,  daß  also  eben  nur  bei  ihr 
die   sachlichen    Voraussetzungen    für    die    Ausbildung   des 

1  An  dem  8.  5,  Anm.  2  angeführten  Orte, 

'  Das  erkennt  beispieUweise  auch  Stamnile  r,  Lehre  vom  richtigen 
"    562,  an.     Vgl.  oben  S.  75  f. 


198 


VI  1. 


Satzes  von  der  Aufhebung  der  Vertrage  durch  rea  mutatae 
gegeben  seien.  Und  so  meint  es  vielfach  auch  wirklich  die 
internationale  Doktrin'.  Wenn  dann  im  weiteren  Verlaufe 
diese  Auffassung,  die  Klausel  sei  nur  hier  materiell  an- 
gemeBsenea  Recht,  unmerklich  in  die  erat  erwiUinte  um- 
schlägt', nur  das  jus  inter  gentes  habe  sie  allein  als  positiv 
sanktioniertes  Institut  aufzuweisen,  so  büßt  sie  damit  ihre 
Bedeutung  nicht  ein.  Selbst  wenn  dies  durch  den  oben 
erwähnten  empirischen  Nachweis  widerlegt  würde,  so  wäre 
damit  die  Annahme  immer  noch  verträglich,  daß  die  Klausel 
nur  für  das  Gebiet  des  Völkerrechts  passe,  für  andere  Rechts- 
ordnungen dagegen  nicht.  Indes  ist  auch  sie  nicht  richtig. 
Der  immer  wiederkehrende  Grundgedanke  der  bisherigen, 
auf  das  Völkerrecht  beschränkten,  Untersuchungen  über 
das  Wesen  der  clausula  rebus  sie  stantibus  war  der,  daß, 
und  zwar  nicht  bloß  in  Vertragsverhaltnissen,  sondern  auch 
da,  wo  andere  als  Vertrags  normen  in  Frage  kamen  (vgl, 
^§  12,  14,  15),  das  Recht  unzulänglich  zur  alleinigen 
Regulierung,  daß  es  der  Ergänzung  durch  Normen  anderer 
Art  bedürftig  erschien,  Ist  dieses  Ergebnis  richtig,  so 
handelt  es  sich  aber  um  etwas,  was  dem  gesamten  Rechte 
eigentümlich  ist.  Das  soll  jetzt  noch  in  aller  Kürze  gezeigt 
werden.  Damit  wird  dann  ein  doppeltes  gewonnen:  Ein- 
mal weisen  wir  den  letzten  noch  übrigen  Bestandteil  der 
herrschenden  Klauseltheorie  (wenn  auch  unter  einer  gewisses 
Verschiebung  der  Frage*)  als  ebenso  irrig  wie  die  früher 
behandelten  nach,  und  sodann  geben  wir  zugleich  durch 
die  Art  dieses  Nachweises,  durch  die  Zurückführung  unserer 
Grundgedanken  auf  immanente  Beschränkungen  des  Rechts- 
begriffs überhaupt,  unseren  GesamtauafUhrungen  die  breiteste 
Grundlage. 


'  Cf.  obBH  g  .?,  8.  28. 

*  Manchmal    fiiid«ll   aich    beide   AufTaBsungen   der   Bebflaptung   bd'J 
demBelben  SchriftsleUer  unmittelbar  uebeneinauder.  T 

*  Die  bekämpfe  Thenrie  behauptet  den  $ats  der  ClansoJa  als  Keeblc  J 
Batz;  wir  finden  ja  in  ihm  eine  anduBartige  Konn.     S.  Abadinitt  IV 


»VI  1. 


199 


Wenn  wir  die  Unzulänglichkeit  des  Völkerreohts  für 
die  Herstellung  eines  allseitig  ausreichenden  NormenbestandeB 
feststellen,  so  heißt  das  nichts  anderes  als  wir  finden  beim 
Völkerrechte  , Lücken  im  Recht". 

Zur    vollständigen  Erfassung    der  Sache    ist    aber  noch 
ein   Punkt  hervorzuheben,    auf  den    erst   neuerdings   ganz 
mit  Recht   aufmerksam   gemacht  worden   ist*.     Es   handelt 
sich  in  unserem  Falle  um  eine  „unechte"  Lücke,  eine  Lücke 
im   un eigentlichen  Sinne.     Eine   den  konkreten  Tatbestand 
ergreifende  allgemeine  Rechtsnorm  ist  sehr  wohl  vorhanden, 
nämlich   der  Satz  Pacta   sunt  servanda.     Aber  es  wird  an- 
gesichts besonderer  Umstände  des  Falles,  mit  Rücksicht  auf 
I   inzwischen  eingetretene  ,res  mutatae'  das  unveränderte  Platz- 
greifen jener   Norm   aachlich   beanstandet.     Eine   Lücke 
I   ist  nur   in    dem  Sinne  vorhanden,   dafi  innerhalb  des  juri- 
1  etiechen  Gesamtsystems,    „für  besondere  Tatbestände,    eine 
tbesondere  von  der  allgemeinen  Regel  abweichende  recht- 
I liehe  Behandlung  vermißt  wird"  ',    Gerade  die  Fälle  dieser 
pArt  aber  sind  es,    in  denen  man  gemeinhin  von  „Lücken" 
spricht  ^.    Und  dabei  handelt  ea  sich  um  eine  Erachainung, 
die  schon  längst  auch  innerhalb  der  innerstaatlichen  Rechts- 
aysteme  beobachtet  worden  ist. 

Es  ist  auch  leicht  einzusehen,  warum  derartiges  geradezu 
,  unTermeidlich  ist,  sich  überall  mit  unbedingter  Notwendig 
keit  einstellen  muß*.  Die  Gesetze,  sowie  alle  sonstigen 
generellen  Bechtssatzungen,  in  denen  die  herrschende  Meinung 
80  gut  wie  ausschließlich  das  Recht  der  Neuzeit  sich  ver- 
körpern läßt,  sind  stets  allgemeine  Normen,  die  bestenfalls 
auf  Grund  und  unter  Verwertung  des  gesamten  bisherigen 
Erfahrungsmaterials    erlassen    sind.     Wenn    sie    schon    aus 


I-  snd  23f. 

»  Zitelmann 
'  Über  die  hie: 


.    Rocht   (1903),    S.    17  ff.,    ho8.    8. 


a  dEH  VerfasBers  StsBt,    S.  80  ff.,  Qewohnheita- 


200  VI  Ij 

dem  letzteren  immer  bloß  einen  Teil  der  konkreten  Tat- 
bestandamomente  berücksichtigen  ^,  und  wenn  sie  deshalb 
oft  genug  schon  hier  Zweifeln  über  die  sachliclie  An- 
gemeaaenheit  ihrer  Anwendung  Raum  geben,  so  erweiaen 
sie  sich  gegenllber  den  von  dem  realen  Leben  in  unerschöpf- 
licher Fülle  stets  hervorgebrachten  neuen  Gestaltungen 
erat  recht  ala  nur  bedingt  zutreffend  und  brauchbar.  Daß 
aolche  Erscheinungen  stets  von  neuem  vorgekommen  sind 
und  jeden  Augenblick  noch  vorkommen,  ist  eine  unbeatrittene 
Tatsache.  Dafür  hier  nur  zwei  Beispiele,  Das  noch  geltende 
Deutsche  Strafgesetzbuch  von  1871  konnte  nach  dem  da- 
maligen Stande  der  Erfahrung  unbedenklich  die  Diebstahls- 
strafe  {§  242J  auf  die  Wegnahme  einer  fremden  beweglichen 
Sache  beschränken.  Der  ungeahnte  Aufschwung  der  Ver- 
wendung der  Elektrizität  stellte  gegen  Ausgang  des  19.  Jshr- 
hunderta  die  Richter  vor  die  Frage,  ob  die  Aneignung 
fremder  elektrischer  Kraft  von  dieser  Strafdrohung  (wie 
ea  §  2  StG.E.  fordert)  getroffen  sei,  eine  Frage,  die  an- 
gesichts der  nicht  zu  beseitigenden  Verachiedenheit  des  natUr- 
liehen  Tatbestands  zu  verneinen  war  und  meist  verneint 
worden  ist^.  Und  wie  man  hier  wegen  einer  flagranten 
„Lücke"  im  abstrakten  Rechtasystem  gegen  das  allgemeine 
RechtsgefUhl  zur  Freisprechung  kam,  so  kann  unter  Um- 
ständen auch  das  Umgekehrte  eintreten.  Die  Strufdrohung 
des  §  223  StG.B,  führt  immer  wieder  zur  Bestrafung  in 
Fällen,  in  denen  das  Bechtsgefühl  sich  dagegen  ganz  ent-j 
schieden  sträubt,  so  in  dem  von  Zeit  zu  Zeit  zur  Sprache^ 
kommenden  Falle,  daß  der  Vater  bei  Abwehr  eines  Not- 
zuchtsvers ucha  gegen  seine  unmündige  Tochter  dem  Täter 
zugleich  eine  als  wohlverdient  empfundene  alsbaldige  körper- 
liche Züchtigung  angedeihen  läßt  Im  höchsten  Qrade 
billig  erscheint  das  insbesondere  dann,  wenn  zur  Strafe  not 


I 


,  Zorn  GreQESlreit  ziriBchen  Keiclil-  iind  Lands! 


..  äea  Verfasaors  Oewolmheilarecht  als  Foi 


I 


I 


der  Zwang  zu  einer  SchadloshaltuDg  nach  §  231  St.G.B. 
tritt.  In  allen  Fallen  dieser  Art  glaubt  die  Jurisprudenz 
als  einzige  Abhilfemöglichkeit  immer  nach  einem  ent- 
sprechenden GesetzgebuDgBakte  rufen  zu  müssen.  Aber 
mag  es  nun  zu  einem  aolchen  komnoen  oder  nicht*,  eine 
wahrhaft  dauernde  Heilung  des  Übels  ist  in  dieser  Weise 
nie  zu  erzielen.  Denn  wenn  auch  die  gesetzgebende  Gewalt 
dem  Wunsche  wirklich  genügt,  so  hat  sieh  jetzt  nur  die 
Zahl  der  allgemeinen  Normen  um  eine  neue  vermehrt. 
Diese  aber  nimmt  natürlich  von  vornherein  an  allen  Mängeln 
dieser  Art  Normen  ebenfalls  leil;  sie  muß  alao  auch  über 
kurz  oder  lang  abermals  zu  sozial  widrigen,  materiell  unan- 
gemessenen Entscheidungen  Anlaß  geben.  Soll  dann  wieder 
4uf  gleiche  Weise  abgeholten  werden ,  so  kommt  man  not- 
wendig zur  Schraube  ohne  Ende :  es  ist  das  B  i  s  m  a  r  c  k  sehe 
Wort  nur  zu  wahr,  daß  „Gesetze  wie  Arzneien  sind,  die 
immer  nur  die  eine  Krankheit  durch  die  andere  heilen." 
In  dem  Vorhandensein  dieses  Grundmangels,  daß  ein 
System  abstrakter  Regeln  der  unübersehbaren  Reichhaltig- 
keit des  konkreten  Lebens  nie  restlos  und  vollbefriedigend 
gerecht  werden  kann,  stimmen  innerstaatliches  und  Völker- 
Becht  überein;  es  wird  daher  hier  wie  dort  gleichmäßig 
niemals  an  apeziäschcn  „Lücken  im  Rechte"  fehlen.  Ein 
«nziger  Unterschied  zwischen  beiden  besteht  allerdings.  Und 
Ewar darin,  dafl  dem  ersteren  wenigstens  die  Möglichkeit, 
sich  auf  anderem  Wege  au  helfen,  prinzipiell  gegeben  ist, 
n&mlich  durch  die  Einsetzung  einer  zu  autoritativer  Entschei- 
dung berufenen  Instanz,  zumal  unter  Verwendung  der  „freien 
Becbtsändung"  *,  die  es  seiner  autoritären  Jurisiliktionsgewalt 
!ni  gewähren  jederzeit  in  der  Lage  ist,  während  das  auf 
das  kummerliehe  Surrogat  des  Schiedsgerichts  angewiesene 
Völkerrecht   dem   nichts   an   die  Seite   zu  setzen  hal^   und 

Was  bekanntlich  inzwischen  Im  ersten  der  beiden  BeispieliiAUe 
geMheben  ist  (R.O.  vom  9.  April  1900,  B.0.B1.,  S.  22ä),  im  letzteren  da- 
gegen niciit. 

»  Hierüber  noch  unten  im  §  17,  8.  324  einige  Worte. 

*  Tgl>  obenS.  187  inderAnm.  a.  die  dort  in  Beiag;  genommenen  ßlcllen. 


202  vr  : 

deshalb  auf  ein  ganz  besondere  einfaches,  unzweideutigM' 
Recht  angewiesen  ist'.  Indes  ist  auch  im  innerstaatlichen 
Leben  jener  eigentümliche  Vorzug  noch  längst  nicht  aus- 
genützt, und  insbesondere  ist  von  dem  erwähnten  besonderen 
Auskunftsmittel  tatsächlich  bisher  nur  höchst  vereinzelt 
und  zaghaft  Gebrauch  gemacht  worden.  Das  an  sich  be- 
rechtigte Bestreben,  die  BeamtenwillkUr  auszuschließen, 
erwartet  alles  Heil,  anstatt  von  der  „persönlichen  Ver- 
antwortlichkeit" ^,  von  der  objektiven  Bindung.  Man  türmt 
daher  lieber  Normen  auf  Normen  und  kommt  mil  dieser 
Sisyphusarbeit  niemals  zum  Abschluß  —  gerade  wie  die 
alte  Astronomie,  um  das  im  Prinzip  unhaltbare  ptolemäische 
Weltsystem  aufrecht  zu  erhalten,  immer  neue  Hilfsfiguren 
einführte,  Epizyklen  auf  Epizyklen  konstruierte,  und  dal 
nie  darüber  hinwegkam,  daß  das  immer  kompliziertem] 
werdende  Gebftude  ihrer  Theorie  der  Bewegung  der  Planetea 
um  die  Erde  von  weiteren  empirischen  Beobachtungen  stets 
wieder  als  praktisch  ungenügend  dargetan  wurde.  Die 
Erscheinung,  daß  ein  noch  so  weit  ausgedehnter  Bestand 
von  Rechtsnormen  in  fortwährendem  Kampfe  mit  den  von 
ihnen  ungenügend  beherrschten  und  sich  deshalb  fiberall 
gegen  sie  geltend  machenden  tatsächlichen  Verhältnissen 
liegt,  ist  daher  allen  Rechtsgebieten  gemeinsam. 

Wir  kommen  nun  im  zweiten,  positiven,  Teile  unsei 
§  IG ^  zu  der  Frage,  wie  denn  die  zu  konstatieren  gewesenen 
andersartigen  Normen,  die  faktisch  wirksamen  Erfahrungs- 
sätze, berichtigend  und  beschränkend  in  den  eigentlich  dem 
spezifisch -juristischen  System  vorbehaltenen  Bereich  ein- 
greifen. 

Es   kann   das   an  sich  in  verschiedenen,   mehrfach  a1 
gestuften  Formen  geschehen. 

Die   erste  Gruppe   haben   wir   schon   gelegentlich 


'  Vgl.  B.  74.  87. 

«  Vgl.  Jbering.  Zweck  im 

'  Vgl.  8.  198. 


VI  1.  203 

»weiten  Teile  des  §  9',  zu  erwähnen  gehab^,  ho  daß  sie  hier 
nur  kurz  gestreift  zu  werden  brancht.  Greifen  wir  beispielB- 
weise  noch  einmal  den  Fall  der  zivilistischen  Extinktiv- 
verjahruog^  heraus,  so  liegt  hier,  wie  seinerzeit  bereierkt,  die 
Sache  nach  unserer  Auffassung  so ;  Die  zivilen  Rechtsnormen, 
die  dem  Verpflichteten  ein  bestimmtes  Verhalten  gebieten, 
bleiben  auch  nach  Ablauf  der  Verjährungsfrist  in  Kraft. 
Trotzdem  vermögen  sie  regelmäßig  keine  Befolgung  mehr 
EU  erzielen.  Und  zwar  deshalb,  weil  die  Staatsorgane,  die 
sonst  zur  Verwirklichung  der  zivilen  Rech taansprti che  dienen, 
jetzt  vom  Staate  gerade  umgekehrt  angewiesen  sind,  ihre 
Hilfe  zu  versagen. 

Diese  Fälle  zeigen  also  noch  ein  Doppelgesicht:   Vom 
Standpunkte    des    einfachen    Staatsbürgers    angesehen,    er- 
scheint der   ftir   ihn   gültige  Normenbestand   nur  einer  tat- 
sächlichen Beschränkung    seiner  Wirksamkeit    unterworfen. 
Immerhin  macht  sich  aber  doch  in  dem  an  die  gerichtlichen 
Behörden  sieh  wendenden  Staats ge böte ,  nicht  einzugreifen, 
ein  technisch-rechtliches  Moment  bemerkbar".    Bei  den 
im  folgenden  behandelten  Tatbestilnden   schwächt  sich  dies 
aber  wesentlich   ab,   um  schließlich  ganz  zu  verschwinden. 
Das  Wesen   der  nächsten  Gruppe  ist  am  besten  durch 
das   Beispiel    des    Duells    zu    erläutern.     Dieses    wird    be- 
kanntlich  einerseits   schon   seit  langem  als  Verbrechen  mit 
kriminellen  Strafen  belegt,  anderseits  aber  auch  heute  noch 
in  bestimmten  Gesellschaftsklassen    als  unentbehrliche  Not- 
wendigkeit f[ir  gewisse  Fälle  betrachtet,  dergestalt,  daß  dos 
I  einzelne   Mitglied    einer   solchen    RIasse    unter    Umständen 
lljrich    selbst   widerwillig    dem   Zwange   ihrer   Anschauungen 
Jugt,   anstatt  dem   strafrechtlichen  Verbote   Gehorsam   zu 


'  Vgl-  S.  88  ff. 

»  Vgl.  8.   101  ff. 

•  Vgl.  8.  lOfi  hei  und  in  Anm.  1.  Die  verbreitete  MflinunR,  d»8 
li  Bifehle  nur  an  etoatliuhe  Organe  kein  nhjektiveH  Recht  entstehen 
kSnDe,  beruht  ntif  dem  Mangel  nunrcichender  Featntellung  diene!  Orund- 
b«griK;  doch  kann  das  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden.  (Vgl.  e.  ß. 
Zorn,  BeicliMtaatsrecht,  2.  Aufl.,  I,  6.  405,  Anm.  35). 


204  VI  1 

leisten.  Die  Tatsache  nun,  daß  die  Dämliche  Handlung, 
Ton  Staate  wegen  untersagt  ist,  gleichzeitig  gesellschaftlich 
unbedingt  gefordert  wird,  führt  notgedrungen  auch  zu  Ver- 
suchen innerhalb  des  spezifischen  Rechtsgebiets,  den  Gegen- 
satz zu  vermitteln  und  auszugleichen.  Ist  es  doch  schon 
ein  Kompromiß  zwischen  der  gesellschaftlichen  und  der 
doktrinär-juristischen  Auffassung,  daß  der  Zweikampf  im 
geltenden  Recht  nicht  als  Fall  der  gemeinen  Tötungs-  und 
Körper verletzuDgs- Vergehen,  sondern  als  delictum  sui  generis 
erscheint.  Aber  auch  dieser  milderen  Gesetzgebung  gegen- 
über erscheint  eine  noch  mildere  tatsächliche  Handhabung, 
Schon  die  Gerichte  lassen  bei  der  ihnen  zustehenden  Fesi 
Setzung  des  Strafrnaßes  erfahrungsgemäß  meist  große  Mildi 
walten.  Vor  allem  ist  aber  der  eigentümliche  Einfluß  zu  bi 
achten,  den  das  Institut  der  Begnadigung  für  die  tatslicl 
liehe  Gestaltung  der  Bestrafung  gerade  des  Duells  gewinnt 
Wahrend  die  Begnadigung  in  ihrer  allgemeinen  Anwendung 
auf  alle,  oder  doch  nahezu  alle  Straftaten,  die  nur  im 
einzelnen  Falle  mit  Rücksicht  auf  dessen  Besonderheit  ein- 
tretende Ausnahme  ist,  weil  sie  nach  ihrem  Zwecke  nur  die 
Härte  des  im  allgemeinen  als  gerecht  empfundenen  Gesetzes 
in  dem  besonders  gestalteten  Einzelfalle  mildern  will,  wird 
sie  hier  zur  Regel  und  setzt  an  Stelle  der  gesetzlichen 
Regelung  eine  davon  grundsätzlich  abweichende  tatsächliche 
Behandlung,  bei  der  die  gesetzliche  Straftat  jedenfalls  al»^, 
ein  viel  milder  zu  beurteilendes  Delikt  erscheint. 

Hier  wie  in  den  zuerst  erwähnten  Fällen  sind  es  staal 
liehe  Organe ,    die   von   der  Rechtsordnung  abweichen , 
gegenüber   den   Einfluß   real   gegebener  Lebenamächte 
Geltung   bringen.     Aber   ein   wesentlicher   Unterschied 
steht  doch  auch  hier  schon.     In  jenen  Fällen   keine  fi 
Wahl  des  Organs,  sondern  eine  ausnahmslose  Pflic 
und  in  ihr  eine  rechtliche  Gewähr  für  den  steten  Sieg  je 
Einflusses   über   die   strenge   Rechtsnorm.     Hier   nur   e 
Befugnis   des   Organs   zur  Abweichung  von   der  Recl 
Ordnung,    deren    Ausübung    im    Einzelfalle    rechtlich    v 


in- 

I 


VII. 


205 


Belieben  desselben  abhängt,  also  die  Gewähr  für  ihr  regel- 
mäßiges Eintreten  nur  in  der  gleichmäßigen  Fortdauer  der 
tatsächlichen  Verhältnisse  selbst  findet. 

Nach  diesem  letzteren  Schema  wird  aber  im  modernen 
ßechtsleben  auch  sonst  weit  häufiger  verfahren,  als  im 
großen  und  ganzen  wohl  angenommen  zu  werden  pflegt. 
Und  in  noch  zahlreicheren  Fällen  könnte  dieser  Weg  mit 
Erfolg  dazu  benutst  werden,  um  fiir  allgemein  beklagte 
Übeiatände  ausreichende  Abhilfe  zu  schaffen.  Hierfür  noch 
ein  Beispiel. 

Der  Zeugniszwang,  die  Pflicht  zum  Zeugnisse  vor  den 
Öeriehten,  deren  Erfüllung  durch  Strafen  ihrer  Verweigerung 
und  unmittelbaren  Zwang  gewährleistet  ist,  erscheint  im 
Allgemeinen  unentbehrlich  und  ist  deshalb  wohl  in  allen 
Rechtsordnungen    von    Kulturlandern    vertreten ',      Ebenso 

»gewiß  ist  aber,  daß  er  mit  Rücksicht  auf  besondere  per- 
•Öüliche  Verhältnisse  Ausnahmen  fordert.  Diese  sind  im 
■IJgemeinen  ebenso  gesetzlich  anerkannt,  wie  die  Regel 
•ö'bst'.  Trotzdem  kann  ein  Fall  eintreten,  der  außerhalb 
der  gesetzlichen  Ausnahmen  liegt,  und  in  dem  doch,  ebenso 
^'^  in  den  davon  betrofi'enen  Fällen,  der  Zeugniszwang 
^'Qe  ungerechtfertigte  Härte  enthält.  Das  ist  insbesondere 
'"  neuerer  Zeit,  zumal  angesichts  bestimmter  Vorgänge, 
^•^eenfUllig  geworden  hinsichtlich  des  Zwanges  gegen 
«edakteure  von  Zeitungen  zur  Ermittlung  der  Urheber 
strafbarer  Handlungen,  die  ohne  ihre  Mitschuld  durch  die 
Presse  verübt  worden  sind.  Hier  ergab  sich  für  den  als 
®v»ge  in  Anspruch  genommenen  Redakteur  ein  Konflikt 
•**  einer  offenbaren  sittlichen  Pflicht,  das  ihm  geschenkte 
p^Ptrauen  nicht  zu  täuschen,  der  den  Zwang  nicht  minder 
nesaen  erscheinen  ließ  als  in  den  Fällen  gesetzlich 
"^^rkannter  Verschwiegenheitspflichten. 

Das   nächstliegende,    tatsächlich    auch    vorgeschlagene 


206 


vr  1. ' 


radikale  Mittel,  Anfstellung  einer  neuen  gesetzlichen  Aus- 
nahme zugunsten  der  Redakteure,  erscheint  unannehmbar, 
da  den  bisher  ina  Auge  gefaßten  Fällen  andere  gegenüber- 
stehen, in  denen  der  Zeugoiszwang  auch  gegen  sie  als  un- 
entbehrlich und  nur  berechtigt  empfunden  wird.  Man  würde 
also  zu  einer  Kasuistik  gedrängt,  die  von  vornherein  un- 
gerechte Ergebnisse  für  den  Eiuzelfall  mit  sich  brächte 
und  ein  sehr  treffendes  Beispiel  für  die  oben  geschilderte 
Entwicklung  der  GeselzgebuDg  durch  Einfügung  immer 
neuer  Ausnahmen  abgäbe.  In  Frage  käme  nur  eine  der 
neuerdings  häufiger  werdenden,  aber  auch  vielfach  sehr 
bekämpften  Ermächtigungsnormen,  die  den  Wegfall  des 
Zeugniszwangs  in  diesem  Falle  vom  Ermeesen  des  Gericht» 
abhängig  machen  würde.  Eine  solche  Regelung  würde 
jedenfalls  sehr  bald  zu  einem  entsprechenden  Zustande 
führen,  wie  er  hinsichtlich  des  Zweikampfs  durch  die  aus- 
giebige Anwendung  der  Begnadigung  geschaffen  ist.  Die 
Hache  läge  auch  in  der  Beziehung,  die  uns  hier  interessiert, 
durchaus  gleich. 

Aber  auch  schon  der  unter  der  gegenwärtigen  gesetz- 
lichen Regelung  bestehende  Zustand  gibt  wenigstens  in  ge- 
wissen Grenzen,  nämlich  beim  Haftzwang  im  Straf- 
prozesse' ein  gleiches  Bild.  Das  deutsche  Gesetz  verfügt 
hier  nur,  daß  zur  Erzwingung  dos  Zeugnisses  auch  die  Haft  — 
in  gewissem  Umfange  —  angeordnet  werden  kann.  Die 
damit  an  den  Richter  verliehene  Ermächtigung  enthält  allei^- 
dings  zugleich  auch  ein  Gebot,  von  ihr  nur  nach  sachlichett 
Gründen  Gebrauch  zu  machen.  Dazu  gehört  aber 
beaondere  auch  die  Rücksicht  auf  das  Wohl  des  Staats- 
ganzen im  allgemeinen,  abgesehen  von  dem  durch  daa 
anhängige  Verfahren  zu  erreichenden  Einzel  zwecke.  Und 
gerade  diese  Rücksicht  kann  sogar  zu  einer  allgemeinen 
tatsächliclien  Außerkraftsetzung  des  Zeugniszwanges  gegea 
Redakteure  fUhren,  wenn  die  Annahme  richtig  ist,  daß  seine! 


I 


'  StP.O.  g  69,  Abs.  2. 


VI  1. 


207 


I 


Durchführung  wegen  der  dadurch  ganz  allgemein  heraus- 
geforderten Kritik  und  Mißatinamung  dem  Staate  selbst 
mehr  Schaden  bringt,  als  der  bestimmungsgemäß  dadurch 
zu  erreichende  Zweck  wert  ist. 

Und  so  ist  ja,  nach  den  Darlegungen  von  aeiten  der 
Regierungen  in  der  Sitzung  des  deutschen  Reichtaga  vom 
16.  Januar  \9U4,  der  Zeugniszwang  tatsächlich  seit  dem 
Bestehen  der  Reichsjustizgesetze  gegenüber  Redakteuren 
gebandbabt  worden,  so  daß  es  nur  in  einer  ganz  ver- 
ficbwindenden  Anzahl  von  Fällen  zu  seiner  Durchfilbrung 
gekommen  ist. 

Auch  bei  den  Fällen  der  zuletzt  erörterten  Art  steht 
aber  zwiacben  dem  sieb  durchsetzenden  tatsächlichen  Leben 
and  der  ihm  zunächst  widerstreitenden  staatlichen  Rechts- 
ordnung doch  noch  ein  Satz  derselben  Ordnung,  der  die 
BerUckaicbtigung  des  erste  ren  durch  die  Staatsorgane 
wenigstens  in  gewisser  Richtung  deckt.  Die  an  sich  augen- 
tkllig  gegebene  Machtlosigkeit  der  Rechtsordnung  tritt  zu- 
folge einer  von  ibr  selbst  wenigstens  nachgelassenen  Be- 
schränkung, mindestens  praeter  legem,  ein.  Um  eine 
völlige  Parallele  mit  der  zum  Ausgange  der  Betrachtung 
genommenen  völkerrechtlichen  Erscheinung  zu  gewinnen, 
müßten  wir  aber  eine  Diskrepanz  zwiacben  abstrakter 
Rechts  reg  el  und  faktisch- konkreter  Erfahr  ungsregel  nach- 
weisen können,  die  völlig  contra  legem  besteht;  ca  würen 
Fälle  darzutun,  in  denen  juristisch  völlig  gültige,  inner- 
staatliche Normen  der  praktischen  Befolgung  durchaus  er- 
mangeln, ohne  daß  dies  in  irgendwelcher  Anlehnung  an 
das  Recht  selbst  und  durch  seine  Vermittlung  seine  Er- 
klärung findet.  Indes  gibt  es  tatsächlich  solche  Fälle. 
Dafür  zunächst  einige  historische  Beispiele  ohne  aktuelle 
Bedeutung. 

Als  man  in  Frankreich  1824  nach  dem  Regierungs- 
antritte Karls  S.  die  schon  unter  seinem  Vorgänger  stark 
einsetzende  klerikal- feudale  Restauration  zu  vervollständigen 
antemahm,  wurde  auch  ein  Gesetz  vorgelegt,  und  im  weaent- 


208  VI  ] 

liehen  im  Jahre  1825  durchgesetzt^,  das  mehr  in 
mittelalterlichen,  ala  in  einen  Staat  des  19.  Jahrhunderts 
zu  passen  schien.  In  diesem,  zur  Stärkung  von  Macht  und 
Ansehen  der  Kirche  bestimmten,  „Sakrileggesetz"  sollte 
nach  der  Vorlage  auf  Einbruch  in  katholische  Kirchen  du 
weg  der  Tod  angedroht,  die  gleiche  Strafe  auch  für  Eni 
weihung  der  heiligen  Gefäße  festgesetzt  werden;  unter  be- 
stimmten Voraussetzungen  sollte  sogar  eine  qualifizierte 
Todesstrafe  zur  Anwendung  gelangen.  Und  nur  die  letztere 
Bestimmung  gelang  es  der  Opposition  zu  eliminieren;  im 
übrigen  wurde  die  Vorlage  tatsächlich  Landesgesetz.  Indes 
zu  wirklichem  Leben,  praktischer  Geltung,  kam  sie  doch 
nur  in  ganz  geringem  Umfange,  Es  suchten  nttmlich  die 
zur  Handhabung  berufenen  Staatsorgane,  die  Gerichte, 
jeder  realen  Anwendung  so  viel  wie  irgend  möglich  aus 
dem  Wege  zu  gehen,  so  daß  die  drakonischen  Straf- 
drohungen nur  sehr  wenig  in  konkrete  Urteile  umgesetzt 
worden  sind. 

Ein  anderes  Beispiel  bietet  uns  das  Ende  der  Regierungs- 
zeit Friedrich  Wilhelms  I,  von  Preußen.  Im  Jahre  1739 
erliefi  dieser  in  aller  Form  ein  Edikt',  daß,  „wenn  ein 
Advokat  oder  Prokurator  oder  andrer  dergleichen  Mensch  — 
Leute  aufwiegeln  würde,  um  in  abgetanen  und  abgedroschenen 
Sachen  Sr.  Majestät  immediate  Memorialia  zu  übergeben, 
alsdann  Se.  Majestät  einen  solchen  Advokaten  —  ohne 
alle  Gnade  und  Pardon  aufhängen  und  neben  ihn  einen 
Hund  hängen  lassen  wollen".  Auch  hier  ergab  sich  in  der 
Praxis  ein  ähnliches  Bild,  wie  in  dem  vorigen  Falle:  wenn- 
gleich, nach  der  Darstellung  Adickes',  zu  wiederholten 
Malen  Gelegenheit  gewesen  wäre,  die  menschenfreundliche 
Absicht  des  Edikts  zur  Wirklichkeit  werden  zu  lassen, 
ist  das  tatsächlich  doch  kein  einziges  Mal  geschehen. 

In   diesen  Fällen   finden   wir   einerseits   rein  juristii 

'  Vgl.  Weber,  WelteeBcliiclite,  XIV  (2.  Äufl,  1B88),  8.  770. 
'  Vgl,  Adickes,   Zur  Lehre   von  den   Kechtsquellea ,   iabaio 
Aber  diu  Gewohnheitaracht  (187S),  ä.  77. 


209 

gewisse  Rechtssätze  zweifellos  in  Kraft  und  Gültigkeit^, 
L  «odererBeits  aber  ein  praktiBches  Verhalten  der  Staatsorgane, 
I  die  ee  anging,  das  nacli  empirisch  feststellbarer  Regel' 
durchnuB  nicht  diesen  Normen. gemäß  war,  sondern  völlig 
entgegengesetzt.  Solche  Fälle  sind  aber  durchaus  nicht  so 
selten,  auch  der  Wissenschaft  längst  bekannt,  und  von  ihr  in 
aUgemeinen  Sätzen  erörtert.  Dabei  macht  sich  aber  als  solche 
allgemein  aufgestellte  These  insbesondere  die  bemerklich, 
daä  man  solche  Erscheinungen  durchweg  als  recht  kurzlebig 
betrachtet,  daB  man  behauptet,  der  offene  Kontlikt  zwischen 
den  Anforderungen  der  Rechtsnorm  und  dem  faktischen 
Geschehen  vermöge  sich  nie  auf  längere  Zeit  zu  stabilisieren, 
sondern  finde  immer  bald  wieder  seine  Lösung  dahin,  daß 
L  BDI  weder  das  Recht  über  das  Leben  oder  dieses  über  jenes 
Kaiege,  d.  h.  daß  das  eine  Mal  der  zunächst  blaß  faktisch 
r  geltende  Erfahrungssatz  allmählich  unter  Überwindung  des 
bisherigen  Rechts  selbst  zur  neuen  Rechtsnorm  werde,  das 
andere  Mal  das  alte  Recht  die  Anfechtung  siegreich  über- 
«iode   und  wieder  zur  ausschließlichen  Herrschaft  gelange. 


r  '  Ans   früher   herrscb enden    AnscbaaimgeD    heraos   bätle   msu    dm 

'  tilerdii>e'*  mit  der  Motivierung  bestreiten  kOniieii.  daB  Oeüctse  nicht  der 
Sittlicbkeit,  der  Vernunft,  dem  eanzen  Vulksgeist  widemprechen  dürften. 
Qegenwirtig  wird  aber  eine  Kolch«  unhRltbsre  BeweiHführnng  kaum  noch 
atBfÜioh  nntemommen.  Aucb  Adickc«  a.  a.  O.  erkennt  e.  B.  auB- 
driloUicJi  an,  daß  mit  derartigen  Argumeutatiunen  der  (formalen)  Recht«- 
gUtigkeit  der   betreffenden  Gesetze  nicht   briEukommen  ist.     Vgl,   u.   a. 

a.  3&IL,  Tet 

■  Darüber,  waim  eine  sottlie  R«gel  aununehmea  iat,  kasii  hier  nicht 

im  ZnaammcDtiange  gehandelt  werden.    Es  genügt  bier  der  Hinweis,  daß 

■ritiv    tteU    ein    rt^lmäSigos    Znwiderhüdeln    gegen    formell  -  gültige 

eebtsoornien  stattfindet,  diivh  so,  daß  dabei  negativ  nicht  selbst  wieder 

entsprechend  geänderto  neue  juriatiitehe  Norm  xuiitaade  kommt,  sei  es, 

B  die«  prinsipiell  gar  nicht  mdglich  ist  (wie  im  Falle  der  iDlemationaleD 

lumla  rebuB  sie  stantibus!,  sei  es,   daß  bei  an  sich  gegebener  Höglich- 

t  die  dazu  notwendige   längere  Frist   Doch  nicht  abgelaufen  ist.     Die 

'    "obeZahl  von  KontraventionBfiUeo  lillt  sich  im  altgemeiaen  nicht 

n.     Unter  Umatändca  erncheint   schon  eine  geringe  Anzahl  ans- 

Hclimd.     Nnr  je  geringer  die  Zahl  der  praktiscbou  Fälle  ist,  uuf  Omnd 

Heu  ein  empirisches  Gesetz  au%estellt  nird,  am  so  grüBer  ist  auuh  die 

Oetkhr,   daß  es   auch  wieder  empirisch  widerlegt  werden  kann,   bei  den 

Miialempiriaehen  Gesetzen  so  gut  wie  bei  den  empiriachen  Gesetzen  jeder 

■■tuTwisaenscbaft.     [Vgl.  noob  ä.  232  ff.     O.  H.|. 

StMt*-  n.  TUlkerreohtl.  Ablmnill.    Vi  J.  —  Si'huiidl,  14 


210 


VTI 


Daß  „B.a(  die  Länge  das  menschliche  Bewußtsein 
spalt  zwischen  rechtloser  Macht  und  machtlosem  Recht  nicht 
erträgt"  (Gierke),  dafür  lassen  sich  gerade  die  zwei  er- 
wähnten Fälle  recht  gut  als  Beispiele  anführen.  Denn  im 
eineu  dauerte  die  Diskrepanz  gerade  fünf  Jahre,  1825  bis 
1830,  im  zweiten  noch  bedeutend  kürzere  Zeit.  Es  fragt 
sich  aber,  was  solche  kurzatmige  Fälle  überhaupt  für  die 
uns  obliegende  Darlegung  beweisen. 

Wir  suchen  nach  Analogien  des  innerstaatlichen  Rech) 
für  die  bei  der  internationalen  clausula  rebus  sie  stantibiu 
gefundene  Erscheinung,  daß  sich  der  formell  gültige  Rechts- 
satz  (dort  der  äatz  pacta  sunt  servanda)  und  das  tatsächlich 
abweichende  Verhalten  der  Betroffenen  (dort  der  Bruch 
der  Vertragstreue  bei  eigener  Gefährdung  des  Vertrags- 
Btaats)  ständig ,  auf  die  Dauer ,  als  nebeneinander  be- 
stehende Kräfte  behaupten,  von  denen  keine  die  andere  zu 
verdrängen  vermag.  Dergleichen  ist  nun  hier  freilich  sehr 
selten.  Immerhin  darf  aber  sein  Vorkommen,  im  Gegensatz 
zur  herrschenden  Meinung,  auch  nicht  als  völlig  aus- 
geschlossen bezeichnet  werden. 

Die  deutschen  Verfassungen  pflegen  eine  unterschit 
liehe  Behandlung  der  ätaatsan gehörigen  in  Bezug  auf  di« 
Zulassung  zu  den  Staatsämtern  zu  verbieten.  So  bestimmt 
Art.  4  der  preußischen  Verlas s u ngs u rkund e :  Alle  Preußen 
sind  vor  dem  Gesetze  gleich.  Standes  Vorrechte  finden  nicht 
statt.  Die  öffentlichen  Amter  sind,  unter  Einhaltung  der 
von  den  Gesetzen  festgestellten  Bedingungen,  für  alle  dazu 
Belkhigten  gleich  zugänglich.  Der  Sinn  solcher  Be- 
stimmungen ist  ganz  klar,  insbesondere  wenn  man  berück- 
sichtigt, welche  geschichtlicli  vorhanden  gewesenen  Zustände 
damit  ausgeschlossen  sein  sollen.  Diesen  Rechtsaätzen  ent- 
spricht aber  die  tatsächliche  Übung  keineswegs  durchgängig, 
wie  man  immer  wieder  nachdrücklichst  festgestellt  hören 
kann.  Allerdinge  erledigen  sich  viele  Beschwerden ,  ins- 
besondere die  konfessionellen  Im  pari  täts  klagen,  meist  damit, 
daß  das  Vorhandensein  befähigter  Elemente  in  den  angeblich 


10 


IU8-   _ 

di«! 


"VI  I. 


■211 


mrückgesetzien  Klassen  nicht  nachweisbar  ist  Andere 
dftgegen  sind  gewiB  nicht  unbegründet.  So  ist  nicht  zu 
bezweifeln,  daß  hie  und  da  eine  Bevorzugung  des  ehe- 
maligen Korpsstudenten! ums  bei  der  höheren  Beamten- 
k&rriere  stattfindet.  Ebenso  gilt  es  ziemlich  allgemein  als 
feststehende  Tatsache,  daß  vom  Stabsoffizier  an  eine  nicht 
sachlich  begründete  Zurücksetzung  des  bürgerlichen  Elements 
hinter  dem  adligen  stattfindet.  In  denselben  Zusammenhang  ge- 
hört es,  wenn  in  einzelnen  Staaten  Angehörige  des  mosaischen 
Glaubens  grundsätzlich  nicht  zum  Richteramte  zugelassen 
werden.  In  allen  diesen  FÄllen  liegen  hemmende  Störungen 
vor,  die  den  unzweifelhaften  Bechtssatz  nicht  zur  tatsäcblicben 
Durchführung  gelangen  lassen.  Ihre  Gründe  sind  höchst 
mannigfach,  wenn  sie  auch  meist  auf  eine  Art  sozialer  vis 
inertiae  zurückgehen,  die  geschichtlich  gewesenen  Gestalten 
der  gesellschaftlichen  Verhältnisse  einen  Einfluß  noch  auf 
die  Gestaltung  der  an  sieh  veränderten  Gegenwart  er- 
mllgHcht 

Einfach  ignorieren  lassen  sich  diese  Erscheinungen 
nicht.  Auch  als  vorübergehende  lassen  sie  sich  angesichts 
der  Tatsache  nicht  betrachten,  daß  sie  durch  ihre  Fortdauer 
seit  der  Einführung  der  konstitutionellen  Verfassungen  bis 
auf  die  Gegenwart  doch  eine  ziemliche  Lebenskraft  be- 
wiesen haben.  Auf  der  anderen  Seite  geht  diese  aber  nicht 
weit,  daß  es  ihnen  gelungen  wäre  oder  je  gelingen  wird, 
ie  Hechtsurdnung  ganz  zu  beseitigen.  Die  an  sich  mög- 
;be  Folgerung  aus  den  Tatsachen,  daß  die  letztere  den 
Bedürlnisseu  keineswegs  entspreche,  »vird  von  keiner  Seite 
gezogen,  auch  nicht  von  derjenigen,  die  ihrer  Nichtbeachtung 
du  Wort  zu  reden  geneigt  iat.  liier  bandelt  es  sich  also 
wirklich  um  Fälle,  in  denen  im  innerstaatlichen  Rechlsleben 
Rechtssatz  und  tatsächlich  gefundene  Erfahr ungsnorm  ah 
ebenbllrtige  Milchte  sich  gegenüberstehen.  Hier  darf  also, 
wenn  ein  vollständig  getreues  Abbild  von  dem  wirklich  be- 
stehenden Sachverhalt  gegeben  werden  soll,  auch  wiaaen- 
sohaftlich    nur   von    einem    in    seiner    Geltung    durch    die 


„Uacht    der     Tatsachen"     eigentümlich     beschränkt  «1| 
Recht  gesprochen  werden. 

§n. 

Die  Erscheinung,    die  sich  aus  den  in  §  lö  erörterte 
Beispielen  ergibt['),  zeigt  einen  mehr  oder  minder  gro6eii,n 
nämlich    durch   Beeinflussung   des    erste ren    durch   letztere 
modifizierten,    Widerspruch   zwischen  Recht   und  Tatsache. 
Das    Wesen    dieses    Widerspruchs    zu   erfassen    und    seine 
Lösung   Ton    einem    höheren   Gesichtspunkte   aus    zu   var-J 
suchen,  ist  nun  noch  unsere  Aulgabe.    Diese  Aufgabe  gehl 
über  den  Stoff  der  Rechtswissenschaft   insofern  hinaus, 
es   sich    hier  um  mehr  oder  weniger  rein  tatsächliche  Vor« 
gänge  handelt,  die  der  Herrschaft  der  Rechtssätze  sich  enfe^ 


['  Nor  um  BeiBpiele  handelt  es  aicli.  Ihre  Auswahl  ist  vom  Yee- 
iUBter  ersichtlich  sua  dem  Oesichlapiuilile  getroffcD,  möglichst  allgeiDein 
bekannte  Fälle  zu  trefTen.  Will  man  in  Sp^Kialgebieto  eingehen,  so  lieBen 
lie  sich  leicht  qdi  weitere  Fälle  vermehren,  die  die  OeeAmterscheinnng 
nooh  treffender  veranschs ulichen  würden.  So  ließe  sich  der  Fall  der 
Verjährung  in  der  Bichtung  EinerseitB  auf  die  iogen.  Nalnral- 
obligationcn  im  allgemeinen,  anderseits  auf  die  Einrede  im  Sinne 
dea  Deutschen  B.Q.B.  überhaupt  verallgem einem.  Aber  auch  sonst  hätte 
daa  straf-  and  livilrechtliche  Problem  der  Orensen  der  Rechta- 
widrigkeit  mit  Kückslcbt  auf  tataächtiche  Verhältnisse,  die  die  be- 
treffende Handlung  forderu,  dem  Verfasser  reichen  Stoff  zur  Durchführung 
«einer  AnscJiauuDg  im  einzelnen  geboten.  Man  Tergegenw&rtige  sich  nur 
die  Fälle,  die  Zitelmann  in  seinem  Auisatze  über  den  AnsecblaB  der 
I  Widerrechtlicbkeit  im  Archiv  für  die  liviliatische  Praxis,  Bd.  99,  S.  1  ff., 
knOrtert,  und  die  LSsung,  die  der  VerfasBcr  in  ihnen  von  seinem  8tand- 
Ipnnkle  aus  gefunden  haben  wQrde.  Der  Ijehandlnng  des  Zweikampfs 
f  onrcb  Gerichte  und  Gnfldeninstani  steht  das  VerhSltni»  der  Poliiei  bot 
ppelei  in  den  gewShnliohen  Fällen,  die  «eitweise  gacE  begreuMtc 
Verwendung  des  gesetzlichen  Strafrahmens  dafür  (§  180  des  Oentsuhen 
BtO.B.)  durch  die  Oerichto  und  die  ebenfalls  zeitweise  den  weitesten 
Umfang  annehmende  Begnadigung  in  derartigen  Fällen  sar  Seite.  Für 
den  Fall  des  Bndget-Konflikts  hat  der  Verfasser  die  sieb  ihm 
gehende  ADfrassimg  selbst  wenigstens  angedeutet  (vgl.  oben  S.  144,  Ä) 
Ansfiihrtich  beabsichtigte  er  nach  vorhaiidenon  Aabeichnungen  das  Thi 
des  Widerstreita  zwischen  der  gesetzten  Staats v^rfassnng  i 
den  realen  Staatgbedürfnisson  in  polemischer  AuseinandersetxnaS 
mit  den  Ausführungen  von  Jagemanns  über  die  rechtlichen  Mittel  ntt 
Erhaltung  der  IlfliuUQngsfähigkeit  des  Reichs  gegenüber  Obstruktions- 
beHtrp.bungen,  in  de»i<en  Vorträgen  über  die  Retchaverfassung,  xa  behandeln. 

D.  H.] 


vri. 


213 


gegensteilen,  genauer  gesprochen,  um  die  Wirkung  von 
Ursaclien  anderer  Art,  als  es  die  Rechtsgebote  sind,  auf 
die  Gestaltung  des  tatsächlichen  Lebens,  hior  noch  dahin- 
gestellt, welcher  Art  sie  8ind['],  Andrerseits  gehört  es 
aber  doch  auch  zu  den  Aufgaben  der  Rechtswissenschaft, 
die  Grenzen  der  Herrschaft  der  Rechtsordnung  im  all- 
gemeinen festzustellen,  also  auch  insoweit,  als  diese  Grenzen 
in  rein  tatsächlichen  d.  h.  andersartigen  Umstünden  bestehen, 
nicht  in  dem  Wesen  der  Rechtssatzungen  an  sich  und  ihrem 
eigenen  Willen.  Ebenso  wie  die  Rechtswissenschaft  auch 
da,  wo  es  sich  nur  um  den  Inhalt  der  Rechtsordnung 
handelt,  an  dem  rein  faktischen  Geschehen,  das  für  ihre  Ge- 
staltung wesentlich  ist,  nicht  einfach  vorbeigehen  darf,  sondern 
z.  B.  auch  den  Tod  des  Menachen,  den  Besitz  u.  dergl.  in 
den  Kreis  ihrer  näheren  Betrachtung  ziehen  muß*. 

Die  Frage  nach  der  Begrenzung  der  Rechtsordnung 
durch  tatsächliche  Verhältnisse  gehört  der  Lehre  von  der  so- 
genannten Geltung  des  Rechts  an  ".  Diese  Geltung  wird  heut- 
zutage ganz  allgemein  als  ein  Erfordernis  filr  die  Annahme 


['  Die   weitere  AuEfuhraug  dieses  otfea  gelassenen  Puakt^s,   ist  in 

An&eichnnngen   de«  Verfassers  nicht   entballeu.     Nach  Andeutuu^u 

1    blieb   sie   einer   für   später   in   Aussicht  genommeneD  allgemeineil 

itslehte    Torbehalten.      In    früheren   Teilen   der  Torliegenden   Schrift, 

Inders  8.  109tf.,   aber  aach  S.  96f.  und  184  f.,   wird   auf  die  nähere 

kterisierung   des  Gegensataea   von  Recht  und  Tntsacbe  anacheinetid 

Tereichtet.    IJocb  enthält  ja  schon  die  Eiuordnung  dieses  Rechts  uod 

Tatsache  unter   den  höheren  B^riff  des  J^oiiaUebeua  (oben  &.  96, 

S.  236)  wenigstens  den  Anfang  einer  solchen.    Des  weilereo  bleibt 

inch   die   Frage  oSen,   ob    das   deui    Rechte   in   den   besprochenen 

nUm  BBtgwuDii'esetEte  Tatsäehliche   als  das  Sachgemäße  aiuasehen  iet; 

dsDll   es   wird  von   einer  Kritik,   llilligung  oder  MiSbilligung .  der  einen 

oder  anderen  iSeite  des  Oegensatzfs,  abgesehen  und  auf  die  bluße  MSglich- 

k^t  hingewiesen ,  daC  das  tatsächliche  Nicbtrecht   den  Voraug  vor   dem 

Secbta  verdiene.     Um   so   weniger  läBt  sich  beurteilen,   ab  im  letzteren 

'~  lle   die  Rechtfertigung  des   Nichtrcchts   gegenüber  dum  Rechte   in   der 

tckmltBigkeit ,   oder   in  einer  das  Reolit  überregenden  sittlichen  Norm 

mtobea  ist,   oder   ob  Zweck mäfligfaeLt  und  «ittliche   Berechtigung   au- 

.   fkllen   Süllen.     Hier   bleibt   also   der  Ergänzung  noch   mancher 

Vgl.  aber  doch  oben  S.  209,  Anm.  I  und  unten  S.  225.     D.  H.] 

»  Vgl.  schon  oben  6.  96  ff,  H.  107  f. 

■  Vgl.  oben  S.  150  vor  N.  1  und  auch  schon  des  Vcrfasaers  Ocwohn- 

beitarecht.  8.  23  f.,  S.  48  ff. 


214 


VI  1.1 


von  Recht  ilberliaupt  angesehen'.  Daraus  ergibt  sich 
vornherein  ein  Anstoß  gegen  unsere  AutTaasung.  Denn 
wenn  man  daa  Erfordernis  der  Geltung  zunächst  in  seinem 
Wortainn  nimmt,  so  kann  man  aus  ihm  die  Verneinung 
einer  beachtlichen  Erscheinung  der  hier  behandelten  Art 
überhaupt  herauslesen.  Gibt  es  nur  geltendes  Recht 
läßt  sich  scheinbar  einfach  sagen:  In  unseren  Fällen  handelt 
es  sich,  soweit  die  Tatsachen  wirklich  dem  Rechte  wider- 
sprechen, um  nichtgeltended,  also  überhaupt  nicht  mehr' 
um  Recht;  es  steht  nicht  Recht  im  Widerspruch  zur  tat- 
sächlichen Lebenegestaltung ,  sondern  Recht  ist  überhaupt 
nicht  vorhanden.  Dabei  liegen  aber  Mißverständnisse  nahe, 
die  durch  den  Doppelsinn  teils  des  Ausdrucks  „Geltung", 
teils  der  zur  Feststellung  dieses  Begriffs  gegebenen  Um*« 
Schreibungen  hervorgerufen  werden '. 

Die  Geltung  wird  in  mehr  oder  minder  abweichenden 
Förmelungen  als  die  tatsächliche  Übung  bezeichnet.  Selbst- 
verständlich ist  damit  nicht  die  ausnahmslose  Befolgung  der 
Rechtssätze  in  dem  Sinn  gemeint,  daß  tatsächliche  Voi> 
gänge,  die  damit  im  Widerspruche  standen,  gar  nicht  vor-' 
kämen  [").  Das  Recht  ist  und  bleibt  seinem  Wesen  nadt 
eine  Forderung,  die  von  denjenigen,  an  die  sie  gerichtet 
ist,  befolgt  oder  nicht  befolgt  werden  kann;  ja  es  gehört 
gerade  das  zum  Wesen  der  Forderung  auch  des  Rechts, 
daß  sie  Beweggründen  zum  entgegengesetzten  Handeln  tob 
beachtlicher  Stärke  eben  durch  ihr  Dasein  entgegenzuwirk» 
sucht.  Mit  einem  Worte:  Die  Verletzbarkeit  des  Recht 
liegt  notwendig  im  Begriffe  des  Rechts,  das  Vorhanden! 


I 

t- 

T 

n 

,t  ■ 


I  Tgl.   E.  B.   JeUinek,   ÄII|;cmeiiie    Staatslehre   (1900),    8. 
Nippold,   Der  Telkeirechtliche  Tertrag,  8.  18. 

*  Ähnlich  wie  in  dem  S.  109,   Anm.  2  erörterten  Falle.     VgL  z 
folgenilen:  Bierling,  J uristi sehe  Primi p[eii1  ehre,  Bd.  I,  S.  128,  i 
Bd.  U,  S.  246  tf. 

[*  Vgl.  hierin  Jellineh,  Verfsssungsäudening  und  VorTluBiingi^ 
Wandlung  (ISOli,  fi.  2.  Diese  Schrift  behandelt  nehen  anderem  andi 
einen  Teil  des  Itier  erörterten  Probleme,  die  BeeinflusBuug  des  rechtlichen 
VerfnBBURgsbestsiideB  durch  abweichende  tatsächliche  ZuatAude.    D.  H.] 


VI  1. 


215 


von  Unrecht  ist,  vielleicht  paradox,  aber  durchuus  richtig 
gesagt,  geradezu  Voraussetzung  der  Annahme  von  Recht. 
Wo  das  tatsächliche  Geschehen  ausreichend  den  An- 
forderungen des  Rechts  entspricht,  da  hört  das  Recht  als 
solches  auf  zu  wirken.  So  weit  das  von  vornherein  der 
Fall  ist,  besteht  kein  Bedürfnis  für  die  Aufstellung  von 
Itechtsa ätzen  und  unterbleibt  diese  deshalb '.  Darum  handelt 
es  sich  hier  natürlich  nicht.  Hier  sind  vielmehr  solche 
Fälle  in  Frage,  in  denen  das  Leben  grundsätzlich  die  tat- 
sächliche Herrschaft  des  Rechtssutzea,  ganz  oder  in  gewissen 
Grenzen,  überhaupt  oder  innerhalb  gewisser  Zeit,  nicht 
ftufkommen  läßt.  Es  fragt  sich,  ob  das  möglich  ist,  ohne 
dafi  das  Vorhandensein  von  Recht  entfallt. 

Möglich  ist  es  zunächst  zweifellos  bei  derjenigen  Auf- 
fassung der  Geltung,  die  dazu  nichts  weiter  als  das  formelle 
Bestehen,  genauer  die  Entstehung,  des  Rechtssatzes  erfordert, 
die  Erfüllung  der  Voraussetzungen,  die  fUr  das  Zustande- 
kommen eines  Gesetzes  oder  eines  Gewohnheitsrechtssatzes 
notwendig  sind.  Das  ist  die  Bedeutung  der  Geltung,  wenn 
von  geltendem  Recht  im  Sinne  von  positivem  Hechle  im 
Gegensatz  zu  dem  bloß  aus  der  subjektiven  Vernunft  ab- 
geleiteten, dem  Naturrechte  gesprochen  wird^. 

Aber  darum  handelt  es  sich  wieder  für  uns  nicht. 
Die  Erscheinung,  die  uns  beschäftigt,  ist  —  das  wird 
nach  dem  Gegensätze,  wie  er  bisher  erörtert  ist,  nun  ohne 
weiteres  klar  sein  —  die,  daß  ein  Rechtssatz  nicht  bloß 
formell  gesetzt  ist,  sondern  auch  als  bestehend,  ver- 
I  bindlich,  Forderungen  an  die  der  betreffenden  Rechts- 
I  Ordnung  Unterworfenen  begründend   anerkannt*,   trotzdem 


'  Vgl.  hierau  des  VorfasseTs  OewohnlioitB recht,  8.  42  ff 
*  Vgl.  Bergbohm  iin  dem  Anro,  3  «ngetührteo  Orte,  8,  51,  Anm.  *, 
■  Dieseii  Bugriff  der  Gdtnng  finden  wir  x.  B.  bei  AffoltBr,  Grund- 
tOn  den  Allgemeinen  SMAtsrecbta,  S.  22,  aiK-h  S.  66  (d«r  fteilich  dieie 
GflltuDg  liir  niehu  dem  Rechte  WeHeiitlicheii  »nsieht  —  vgl.  a.  a.  0.  und 
Archiv  fiir  öffenllicheH  Recht,  Bd,  V,  8,  'iOö f.).  "iet  Bergbohm,  Juri«- 
prndenr  und  Kechtipbilosophte,  H.  SO;  ferner  H.  a.  O.,  S.  402,  8.  18, 
ti.  560  in  der  Anm. 


216 


VI  1. 


aber  aua  überwiegenden  anderen  Beweggründen  bei  jeder 
Gelegenheit  dazu  tatsächlich  nicht  befolgt  wird. 

Wie  schon  angedeutet,  ist  daa  auch  dann  der  Fall, 
wenn  dem  anerkannten  Satze  der  Gehorsam  nur  in  gewiaBen 
Grenzen  verweigert  wird.  Und  zwar  ist  daa  die  tatsächlich 
überwiegende  Zahl  der  Erscheinungen :  Dabei  lassen  sich 
nun,  wie  auch  schon  bemerkt,  zwei  Gruppen  von  Fallen 
unterscheiden,  Einmal  handelt  ea  sieh  um  inhaltliche  Aua- 
nahmen,  die  im  Übrigen  Bchleehthin  mit  dem  Bestehen  des 
Rechtssatzes  verknüpft  sind,  aber  es  nicht  zur  sachlich  gleich- 
artigen Einschränkung  desselben  bringen,  wie  im  Falle  der 
Verjährung.  Oder  aber  es  findet  eine  völlige  Nichtbeachtung 
des  Rechtesatzes  statt:  dann  dauert  aber  —  das  soll  einst- 
weilen zugegeben  werden ;  vgl.  aber  unten  S.  223  f.  —  regel- 
mäßig, wie  in  den  geschichtlichen  Fällen,  dieser  Zustand 
nur  begrenzte  Zeit,  weil,  wie  oben  {S.  209 f.)  bemerkt, 
in  aolchen  Fällen  eine  achließlich  siegreiche  Tendenz  der 
Vereinigung  von  Recht  und  Tatsache,  genauer,  der  Wieder- 
vereinigung nach  zeitweiligem  Auseinandergehen,  in  der 
einen  oder  der  anderen  Richtung  besteht.  Auch  solche  vor- 
übergehende Zustände  wollen  aber  —  ganz  abgesehen  von 
ihrer  absolut  vielfach  ganz  erheblichen  Dauer  —  verstanden 
sein;  und  davon  darf  auch  der  Umstand  nicht  abhalten, 
daß  die  tatsächliche  Feststellung,  daß  und  worin  der  be- 
treffende Zustand  wirklich  besteht,  sehr  schwierig  ist  und 
daß  vielfach  über  daa  aubjektive  Meinen  des  einzelnen 
Beobachters  dabei  nicht  hinauszugelangen  sein  wird. 

Wir  kommen  damit  zu  einer  Seite  des  Rechts begriffs, 
die  uns  bisher  noch  gar  nicht'  beschäftigt  hat,  auf  daa  Ver- 
hältnis des  Rechts  zu  dem  subjektiven  Empfinden  der  am 
Rechte  Beteiligten,  seien  dies  die  theoretisch  mit  ihm  Be- 
schäftigten, seien  es  die  praktisch  davon  Betroffenen,  die 
Lebenskreise,  denen  es  gilt,  und  die  möglicherweise  damit  in 


I 


.  nur  die  B«rührui>f  j^legentliuh  einer  beaondereD  Frage  oben 


VI  1. 


217 


Konäikt  kommen.  Die  zur  Erörteruug  stebende  Erscheinung 
bietet  nun  der  Erklärung  ganz  verschiedene  und  verschieden 
große  Schwierigkeiten  dar,  je  nachdem  man  aicli  dieses  Ver- 
hültnis  denkt. 

Beispielsweise  ist  für  den,  der  die  Existenz  des  Rechts 
überhaupt  nur  in  das  subjektive  Empfinden  des  einzelnen 
verlegt,  eine  Schwierigkeit  gar  nicht  vorhanden.  Das 
Kechtsgefiihl ,  Rechtsurteil,  oder  wie  man  sonst  sagen  will, 
steht  dann  neben  anderen  Vorstellungen,  Beweggründen; 
es  wird  fUr  die  Feststellung  dessen,  was  talsächlich  ge- 
schieht, geschehen  soll,  von  den  letzteren  überwunden;  als 
solches  bleibt  es  aber  trotzdem  neben  diesen,  weder  im 
Inhalt  noch  in  der  Geltung  an  sich  beeinträchtigt,  weiter 
bestehen.  Die  Schwierigkeiten  zeigen  eich  erst,  wo  ein 
objektives  Element  im  Rechte  anerkannt  wird.  Deshalb  sind 
die  Tei'schiedenen  Möglichkeiten  der  Auffassung  des  Rechts 
in  dieser  Beziehung  gesondert  zu  betrachten. 

Die  Auffassung,  die  das  Recht  nur  als  Inhalt  mensch- 
licher Vorstellung  denkt,  ist  nicht  bloß  an  sich  möglich, 
sondern  auch,  wenigstens  in  gewissem  Sinne,  richtig  und 
unanfechtbar.  Wir  gehen  aus  davon,  daß  unsere  Erkenntnis 
nicht  über  den  Kreis  unserer  Vorstellungen  in  der  wirk- 
lichen Welt  hinausreicht,  daß  also  alles,  was  wir  von  Er- 
scheinungen in  der  Welt  aussagen,  philosophisch  genau 
genommen,  nur  von  entsprechenden  Vorstellungen  des  Be- 
obachters  gesagt  erscheint.  In  diesem  Sinne  ist  auch  das 
Recht  im  allgemeinen,  wie  jeder  einzelne  Rechtsaatz  nur  der 
Gegenstand  einer,  freilich  ziemlich  verwickelten,  Vorstellung'. 
Folgerichtig  ist  insofern  auch  kein  Unterschied  zwischen 
einem  bloß  vorgestellten,  möglichen  und  einem  wirklichen, 
^tenden  Rechtssatze  zu   machen:   das  Paradoxon  Kants 


'  Die  Fhilosophiö  redet  Eamaiat  nur  von  iler  Erkenuharkeit  der 
Dinge,  des  Seins.  i5eim  Recht  liuidelt  en  aicIi  zweifelloB  um  eine  Un- 
■atDaie  von  Vorgängen.  Indes  er^bt  dM  in  Wirklichkeit  keinen 
tJnterschied.  Auch  das  Sein  ial  in  Walirheit  aai  eine  ZusammenfiiKaung 
rinM  andaaernden  Vorgangs  oder  einer  Menge  von  Vorgäugeu. 


von  den  lUH  wirklichen  und  den  H.H)  bloß  vorgestellten  Talern, 
die  sich  nicht  voneiniinder  iinterscheiden,  Iflßt  sich  genau 
ebenso  fiir  diese  beiden  Arten  von  Recht  aufstellen, 

In  diesem  Sinne  müßte  man  »uch  den  Satz  von  der 
Clausula  rebus  sie  stantibus,  von  dem  wir  bei  allen  unseren 
Betrachtungen  ausgingen,  als  einen  Rechtssatz,  gleichartig 
dem  Satze  Pacta  sunt  servanda,  anerkennen,  obwohl  er 
nachgewiesenermaßen  eben  rein  auf  der  Vorstellung  des  be- 
treffenden Bearbeiters  des  Völkerrechts  von  dem  Zweck- 
und  Rechtmäßigen  beruht.  Und  das  gleiche  gälte  von  den 
anderen  einschränkenden  Normen  der  Art,  wie  wir  sie  in 
§  \6  erörtert  haben.  Von  dieser  Auffassung  aus  käme  man 
aber  zu  einer  höchst  einfachen  Lösung  der  Schwierigkeit 
auch  dann,  wenn  man  diese  einschränkenden  Normen,  wie 
wir  es  tun,  als  solche  tatsächlicher  Art  auffaßte,  hier  also 
die  Rechtsvorstellung  völlig  ausschaltete.  Denn  die  Existens 
der  vorgestellten  Rechtsnorm  würde  durch  die  Anerkennung 
der  Vorstellung  solcher  andersartigen  Normen  in  keiner 
Weise  alteriert.  Diese  Anschauung  laßt  also  die  Möglich- 
keit doppelter  Lösung  der  Frage  zu,  Sie  kann  schon  dee- 
halb  nicht  die  entscheidende  sein.  Überhaupt  ist  aber  in 
dieser  Abstraktion  mit  der  Vorstellung  vom  Rechte  ebenso- 
wenig für  das  praktische  Leben,  wie  für  die  weitere  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  des  Rechts  etwas  anzufangen.  B> 
verhält  sich  hier  nicht  anders  als  mit  anderen  Erscheinungen 
aus  dem  Weltbilde,  für  die  mit  dem  Stehenbleiben  bei  dent 
Satze  von  der  Unerkennbarkeit  der  Dinge  außer  uns  eben 
alles  weitere  Forschen  von  selbst  aufhört. 

Tatsächlich  sind  nun  die  Einzelwissenscbaften.  un- 
bekümmert um  die  philosophische  Erkenntnistheorie,  ruhig 
ihren  Weg  weiter  gegangen,  haben  die  Dinge  der  Welt  aü' 
erkennbar  behandelt  und  sind  so  zu  Ergehnissen  hinsichtlicli 
ihres  Wesens  gelangt,  die,  wenn  auch  nicht  als  erschöpfend, 
so  doch  auch  von  vornherein  nicht  als  praktisch  bedeutungor 
los  gelten  können.  Insbesondere  ist  das  hei  der  Natup- 
wissenechaft  der  Fall,  die  gerade  in  ihrer  Abwendung  toq> 


'  VI  1. 


219 


der  pbiloHophiscIien  Abstraktion  einen  großen  Aufschwung 
genommen  hat.  Ebenso  liegt  die  Sache  aber  auch  für  die 
Rechts  Wissenschaft.  Und  zwar  handelt  es  sich  dabei  nicht 
bloß  um  ein  gleichartiges  Vorgehen  wie  dort,  sondern  nach 
unserer  Auffassung  ist  das  Recht  als  eine  Erscheinung  des 
sozialen  Gescheliena  ebenso  ein  Gegenstand  naturwissen- 
schaftlicher Betrachtung,  wie  es  die  Vorgänge  im  Leben 
des  Einzel  menschen  und  in  der  sonstigen  Natur  sind'.  In 
der  Tat  steht  aber  diese,  kurz  gesagt,  naturwissenschaftliche 
Betrachtungsweise,  insbesondere  des  Rechts,  der  philoso- 
phischen keineswegs  so  fern,  wie  es  auf  den  ersten  Blick 
scheinen  mag. 

Nähere  Betrachtung  findet  ja,  daß  sich  den  Vor- 
Btellungen  von  Vorgängen  der  Welt,  von  denen  der  Philosoph 
allein  redet,  doch  noch  etwas,  was  in  den  rein  abstrakten 
Vorstellungen  nicht  vorhanden  ist,  beimischt,  wenn  sie  die 
wirklichen  Lebens  Vorgänge  ins  Auge  fassen,  nämlich  die 
Berücksichtigung  ihrer  Wirkung  auf  Dinge,  die  außerhalb 
der  Erscheiiiung  selbst  liegen.  Schon  die  Beobachtung  ent- 
sprechender Vorstellungen  bei  anderen  Personen  als  dem 
Beobachter,  genauer  gesprochen,  das  Hinzutreten  der  Vor- 
stellung von  solchen  Vorstellungen  zur  Beobachtung  der 
eigenen,  liefert  für  Jenen  in  den  Fallen,  wo  sie  auftritt, 
den  unmittelbaren  Beweis,  daß  noch  mehr  da  ist,  als  bloß 
seine  Vorstellung.  Auch  wenn  wir  dies  hier  im  aligemeinen 
nicht  weiter  verfolgen',  dürfen  wir,  ohne  auf  Widerspruch 
stoßen  zu  müssen,  für  unsere  besondere  Frage,  die  nach 
der  Geltung  des  Rechts,  den  8atz  aufstellen,  daß  in  unserer 
Vorstellung  das  rein  abstrakte  Recht  von  dem  wirklich 
geltenden  sich  deutlich  dadurch  unterscheidet,  daß  mit 
■  letKtfirem  sich  ohne  weiteres  die  Vorstellung  einer  Ein- 
wirkung  sogar  auf  das  praktische  Verhalten  auch  anderer 


'  Darüber  b.  nooli  unten. 

'  Oher  die  Veracliiebung  des  GegeriHUinda  der  B*obacUtiitig|,  je  nsch- 
1  «um  seine  Eiiiwirkna^;  auf  die  mniRch liehen  Viirslelluogan  in  Betr    ' ' 
p  tieht  oder  nicfat,  vgl.  a.  B.  Wuudt,  Orandriß  der  Psychologie,  8.  2 


220 


VI  1. 


Personen  verbindet.  Selbst  wenn  wir  bei  diesem  Unter- 
schiede des  wirklichen  von  dem  bloB  gedachten  ReL'hte 
stehen  bleiben,  wie  dies  heute  noch  von  einer  verbreiteten 
MeiDung  geschieht,  verschiebt  sich  unsere  Frage  schon 
ganz  erheblich.  Denn  schon  hier  tritt  die  Schwierigkeit 
zutage,  der  die  Anschauung,  die  das  Recht  in  die  bloße 
Vorstellung  verlegt,  nicht  ausgesetzt  ist:  es  handelt  »ich 
alsbald  um  die  Feststellung,  ob  in  den  zur  Erörterung 
stehendeu  Fällen  eine  Beeinflussung  des  praktiseheu  Ver- 
haltens durch  das  Recht  oder  durch  Ursachen  anderer, 
tatsächlicher  Art  erfolgt. 

Noch  augenfiUliger  wird  dies  aber,  wenn  wir  weiter- 
gehend das  Recht  nicht  bloß  als  einen  in  der  Vorstellung 
wurzelnden  und  den  Willen  beeinflussenden  Beweggrund 
des  einzelnen  auffassen,  sondern  diesen  Beweggrund  als  eine 
reale  Macht  denken,  die  von  außen  an  die  dem  Rechte 
Unterworfenen  herantritt,  weil  dies  unseren  Vorstellungen 
vom  Wirken  des  Rechts  am  besten  entspricht.  L>iese  Auf- 
fassung kann  hier  nicht  noch  einmal  eingehend  gerecht- 
fertigt werden.  Dies  ist  vom  Verfasser  in  seinen  früheren 
Schriften  '  geschehen,  soweit  es  in  dem  dortigen  Zusammea- 
bange  geschehen  konnte;  und  eine  weitere  Ausführung, 
insbesondere  von  dera  im  Vorstehenden  berührten  philoso- 
phischen Ausgangspunkte  aus,  könnte  mit  der  nötigen 
Gründlichkeit  nur  in  der  von  ihm  weiter  geplanten  besonderen 
Studie  über  das  Recht^  erfolgen.  Hier  sei  nur  noch  ein- 
mal das  Ergebnis  hervorgehoben.  Recht  ist  nichts  Anderes 
als  der  Wille  der  Gemeinschaft,  die  dazu  berufen  ist,  die 
Verhältnisse  ihrer  Angehörigen  in  irgendwelcher  Hinsiebt 
2u  ordnen,  zumal  des  Staates,  der  diesen  Beruf  im  um- 
fassendsten, grundsätzlich  nicht  beschränkten,  Umfange  hat. 
Der  Gemeinschaftswille  hat  in  seiner  Art  keine  anderen 
Voraussetzungen   seines  Werdens   und  Seins   als   der  Wille 


'  Vgl.  üiübeBondere  die 
(S.  76  S). 

[»  Vgl.  ebenda  im  Vorwort  (S.  V). 


über  den  Staat,  Absi^lmitt  V  iiud  n 
D.  H.] 


VI  1. 


221 


des  Einzelnen.  Auch  eine  besondere  Art  der  Erklärung  ist 
ihm  nicht  wesentlich.  Die  Erklärung  macht  auch  ihn  nur 
nach  auSen  erkennbar.  Das  geschieht  für  den  nach  innen, 
auf  Verhältnisse  im  Innern,  gerichteten  Willen  durch  Gesetz 
und  Gewohnheit',  nach  außen  durch  Übereinkunft  zweier 
oder  mehrerer  Staaten  und  wieder  entsprechende  Gewohn- 
heit [*].  Aber  das  sind,  wie  gesagt,  nur  die  Formen,  in 
denen  das  Recht  erkennbar  wird.  Vorhandensein  kann 
es  auch  ohne  sie;  nur  daß  es  dann  eben  nicht  zu  er- 
kennen ist.  Deshalb  ist  es  im  einzelnen  Falle  sehr  woht 
möglich,  daß  eine  scheinbar  rein  tatsächliche  Hand- 
habung in  Wahrheit  das  geltende  Recht  ist,  das  formell 
erklärte  dagegen  nicht  oder  doch  nicht  mehr,  oder,  wenn 
doch,  so  nur  eingeschränkt  gilt.  Daraus  ergibt  sich 
flir    dieae    Auffassung    des    Rechts    zunächst    eine   große 

'  Über   lelEtera  Tgl.   dee  VerfiWBers  Gewohnlieitareolil. 

['  Über  die  Natur  eleu  VölkerrecbU,  die  er  ebenfBlU  in  pinor  bo- 
gouderen  Studio  «n  behandeln  fachte  (vgl.  die  Vorrede  tum  ,8Ust' 
a.  a.  O.),  insbesondere  ilbar  seine  RechtsquftHtät  and  seine  Einordnung 
in  einen  böbereu  Kecbtabe griff,  der  anch  das  inneretiuillicbe,  allgemeiner 
innergemeinschaflliehe,  Kecht  rnntiiltte,  bat  der  Verfanger  nocb  keine 
Gelegenbeit  gebabt,  sieb  ausEnsprechen.  Soviel  an  eneben,  iat  ihm  auch 
hier  das  Entacbeidende ,  also  beiden  FKUen  Gemein b ame ,  der  Gemein- 
BchaR8-(8taaIs-) Wille,  das  Unterscheidende  hier  die  Einseitigkeit  des  einen 
Willens,  dort  der  Zusammenschluß  mehrerer  solcher  Willen  (vgl.  oben 
S.  2,  3  Amn.  1,  S.  28,  81,  55f.,  109  Ajim.  2,  8.  lU,  165f.).  Daß  so 
der  Wille  der  einzelnen  StaAlen  auch  fQr  das  VSIkerrecht  als  die  einzige 
Quelle  erscbeinti  ist  übrigens  nur  die  formal-jaristischs  Seite  der  gansen 
AofcbannDg,  die  den  Staat  und  sein  Interesse  in  den  Mittelpunkt  der 
fietachtuDg  anch  d^a  Kechtea  stellt,  einer  Anschauung,  die  mehrfach 
(vgl.  8.  95  f.,  IIa  f.,  120 f.)  anch  auf  die  Bestimmung  des  Inhalt«  maß- 
gebenden Einfluß  gehabt  bat ,  notem  dort  auch  die  TSIkerrecbtticben 
Pflichten  des  Staats,  insbesondere  die  der  Vertragstreue,  im  letzten  Grunde 
auf  sein  eigenes  Interesse  zurück geßhrt  werden,  nicht  bei  dem  gemoin- 
■amen  Interesse  aller  am  Völkerrechte  beteiligten  Staaten  stehen  geblieben 
wird.  Diese  Grundanscbauung  des  Verfassers  liefert  auch  den  BchlOaael 
in  seiner  Verneinung  jeden  Rechts  innerhalb  der  Gemeinschaft,  das  nicht 
roii  dieser  ausginge,  insbesondere  eines  Privatrecbts,  welches  dieEi  meinen 
durch  Vertrag  oder  Gewohnheit  schüfeu,  neben  den  slnatlicheo  und  kirch- 
lieben Normen  des  Privallebens,  Aus  der  HÖgliuhkeit  derartigen  Rechts 
fwiicben  Gemeinschaften,  wie  es  das  vnikerrecht  ist.  darf  nicht  auf  jene 
USglichkeit  geschlossen  werden,  weil  ancb  dort  der  Oemeinsohaftawillc 
das  wesentliche  ist.  Man  sieht,  wie  mit  dem  Ausgangspunkte  alles  steht 
tind  filK,  warum  st.  B.  der  Verfasser  zu  ganz  anderen  Ergebnissen  kommen 
BUll  ala  Bierling  in  seiner  jurittischen  Prinxipienlehre.  D.  H.] 


222 


VI  1. 


Schwierigkeit,  festzustellen,  was  Hecht  und  was  rem  tat- 
sächliches Geachehen  iat'. 

Die  Frage  iat  im  Anschluß  an  frühere  A usfiih rangen  ^ 
dahin  zu  lösen,  daß  Recht  erst  dann  anzunehmen  ist,  wenn 
feststeht,  daß  ein  tatsächliches  Verlialten,  welches  im  Wider- 
spruch mit  den  bisherigen  Rechtasätzen  steht  oder  doch  in 
ihnen  keine  ätiltze  tindet,  keine  Rektifikation  durch  irgend- 
ein kompetentes  Staatsorgan  auf  Grund  des  biaherigen  Be- 
standes an  Rechtsnormen  zu  erwarten  hat.  Daraus  ergibt 
sich  für  die  Unterscheidung  zwischen  dem  wirklich  geltenden 
Recht  und  dem  es  wirksam  bekämpfenden  tatsächlicheo 
Verhalten  sowie  für  die  Begrenzung  des  letzteren  im  Gegen- 
satz zur  gewöhnlichen  Rechtsverletzung  folgendes. 

Die  letztere  erkennt  den  Rechtssatz,  zu  dem  sie  in 
Widerspruch  tritt,  als  vollwirksain  und  für  den  Betreffenden 
selbst  in  jeder  Richtung  verbindlich  an;  sie  handelt  ihm 
nur  im  einzelnen  Falle  zuwider.  Das  tatsächliche  Ver- 
halten, das  uns  hier  beschäftigt,  bekämpft  die  Herrschaft 
des  Rechtssatzea  als  solche;  es  will  ihm  nicht  nur  in  jedem 
Einzelfalle  entgegentreten,  sondern  grundsätzlich  den  Gehor- 
sam versagen,  weil  ea  seine  Herrschaft  der  Gemeinschaft 
nicht  für  zuträglich,  nicht  für  sozialgemäß  hält*.  Es  wird 
zum  Recht,  wenn  es  die  Anerkennung  aller  berufenen 
Staatsorgane  und  damit  des  Staates  selber,  bezw.  aller 
beteiligten  Staaten  erhält,  gleichviel  ob  in  Gesetzes-  bezw. 
Vertragsforra  oder  durch  ihr  tataächlichea  Verhalten,  und, 
soweit  als  dies  geschieht.  Bis  dahin  und  soweit  diese  An- 
erkennung nicht  erfolgt,  bleibt  es  Nichtrecht,  auch  wenn 
es  sich  tatsächlich  dem  Rechte  gegenüber  durchsetzt [*]. 

'  V^l.  oben  8.  216  und  Qewohnheita recht,  8.  2Bl'. 

'  BeBODder»  Gewobnheitarecbt,  8.  21  f,  29,  47;  aber  auch  schon 
obea  H.  209. 

*  Darüber  nuuh  imten  ä.  225. 

[*  M&ber  ausgeiübrt  ist  dieaer  Geeensstz  von  Recht  nnd  Nichtrecht 
vom  Verfaaaer  hier  nicht  (vgl.  such  S.  209,  Anm.  2).  Aus  anderen  Teilan 
seines  Werkes  läBt  sich  seiue  Auflossnng  wenigstens  in  iwei  Biohtungen 
ergänsen.  Soviel  scheint  sicher,  daß  er  aur  Annahme  eines  Hechtasaties 
eine  als   allgemeine  gewollte  Beg;el  fordert  und  im  Gegensatae  daau  das 


VI  1. 


223 


I 


Damit  ist  der  Grundsatz  für  die  Beurteilung  der  in 
den  Beispielen  des  §  lö  vorgeführten  Erscheinung  gewonnen. 
Er  deckt  sich  mit  demjenigen,  der  nach  unseren  Aus- 
führungen fttr  die  zutreffende  Auffassung  des  Satzes  von 
der  clausula  rebus  sie  stantibus  und  der  gleichartigen  Er- 
scheinungen des  Völkerverkehrs  aufzustellen  war.  Das 
wird  nach  dem  Gesagten  jetzt  näherer  Ausführung  nicht 
mehr  bedürfer. 

Wie  nur  in  Wiederholung  des  früher*  Gesagten  noch- 
mals hervorgehoben  werden  soll,  mag  faktisch  dieser  ZuEtand 
der  Herrschaft  der  bloßen  Tatsache  über  das  Recht  vielfach 
ein  bloßer  Übergangazustand  sein;  aber  zu  seinem  Wesen 
gehört  das  keineswegs;  vielmehr  spielt  die  Herrschaft  von 
Tatsachen  ohne  rechtliche  Sanktionierung  im  Leben  der 
Staaten,   und  zwar  sowohl  im  inneren  Leben,    wie  im  Ver- 

WeBfiti  dar  hier  beHprochenen  Eracheinuiig  in  Einzelentschi üaaeD  »jebt, 
die  gleichmäßig  mied erkeli reo,  aber  doch  nur  von  FhII  xu  FhU  erfolgen, 
■Jm  aar  erfnhrungimlBigeD  Anhalt  für  die  weitere  GesUiltune:  in  gleichen 
Flllen  liefern  (vgl.  S.  27.  123,  149).  Femer  wird  sich  aus  seinen  Beispieleu 
folgern  lassen,  daß  er  dem  xnr  Annatune  vom  Becht  woaentlichea  Gemein- 
Bouftawillen  (Staats-  und  Staaten- Willen]  den  in  der  tatsäahlichen  Hand- 
habung luni  Ausdrack  hnnimenden  Willen  einzelner  Subjekte,  eincelner 
Staaten  und  einzelner  Leben«kreise  innerhalb  eines  Staats,  insbesondere 
elnaelner  StaatHorgane  entgegensetzt,  die,  wie  die  Gnaden Instani  in  der 
Joitiz,  so  gnt  wie  ausschlieulich  zur  Normierung  der  Eiuzelverhältnisse 
in  gewissen  Richtungün  berufen  sind  und  in  ihren  regelmSBig  befolgten 
Uaximen  leicht  den  Anachein  einer  allgemeinen  ßechtsregel  hervorrufen 
kfinnen,  während  es  sich  immer  nar  nm  eine  bloU  tatsächliche  und  als 
•otche  im  Gegensatz  zn  eiuem  geltenden  Kechtssatze  stehende  Übung 
bandelt  Dem  wird  man  nicht  entgegenhalten  dürfen,  daB  er  vielfach 
den  BichterS[imch  als  dem  Rechtssatze  gleichwertig  behandele,  insbesoDdere 
wo  er  den  Mangel  des  Vöikern-chts  in  dieser  Hinsicht  hervorhebt  (vgl. 
8.  187,  Anm.  2  mit  Anfiihmngen);  vielmehr  erscheint  gerade  hier  der 
Riabterspnich  überall  auf  einer  Stufe  mit  der  tatsächlichen,  nicht 
rochtlichen,  Beeindussung  des  Volk orvorkehrs  durch  die  dafttr  erheblichen 
Umitände  (res  mutatae,  res  nie  stantcs).  Als  Zwischenglied  zwlcchen 
den  beiden  Mächten,  Kecht  und  Tatsachen,  erscheint  allenüngs  äie  lie- 
bfirdliehc  Handhabung  da,  wo  nach  der  Aulfiusung  des  Verßusers  ueb«u 
dem  Bechtasatz  für  die  sämtlichen  btsutaunternorfeneD  eine  besondere 
recbtiiche  Anweisung  zur  Abweiehmig  davon  für  die  Behörden  be- 
sieht, die  den  Tatsachen  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Kechnnng  trägt, 
wie  im  Falle  der  Veijährnng  —  eine  Erscheinung,  die  aber  nstni^miK 
anf  das  innfirstnatlicbe  Lehen  beschränkt  bleibt,  dem  VSlkerreoht  fremd 
iat  (vgl.  a.  106  f.,  2m.  D.  H.) 

'  8.  20a.  216. 


I 


226  VI  1. 

einseitigen  Rechtswissenschaft  verteidigt  werden  muß.  Sie 
ist  die  Grundlage  einer  Rechtslehre,  die  das  Recht  am 
gebührenden  Platze  in  die  Gesamtheit  der  im  mensch- 
lichen Gemeinschaftsleben,  zumal  im  Staatsleben  wirk- 
samen Faktoren  einordnet,  der  empirisch-sozialen,  sozial- 
dynamischen Rechtslehre. 


Piereriohe  Hofbuchdruckerei  Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenburg. 


Staats- 

und 

völkerrechtliche  Abhandlungen. 

Begründet 
Dr.  Georg:  Jelllnek  und  Dr.  Georg  Meyer, 


Dr.  Georg  Jellinek  und  Dr.  Gerhard  Anschütz, 

ProfeiioreD  der  Rechte  in  Htidelbng. 


VI.     2.    Dbb  pari  am  enta  rieche  Interpellation  arecht.     Bechts- 

vergleichende  nnd  politische  Studie  von  Dr.  Hans  Ludwig 

Rosegger. 


Leipzig, 
Verlag  von  Duncker  &  Humblot 

19ü7. 


Das  parlamentarische 

Interpellationsreeht 


Rechtsvergleichende  und  politische  Studie 


Dr.  Hans  Ludwig  Rosegger. 


Leipzig, 

Verlag  von  Duncker  &  Humblot 

1907. 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Pierersche  Hofbuohdruckerei  Stephan  Geibel  &  Co.  in  Altenburg. 


Vorwort. 


Die  Darstellungsart,  die  dieser  Arbeit  zugrunde  liegt, 
setzt  sich  aus  zwei  Elementen  zusammen:  aus  einem  juri- 
dischen und  einem  politischen;  eine  rein  rechtliche,  oder 
eine  rein  politische  Behandlung  des  Themas  wäre  weder 
dem  Geiste  noch  der  theoretischen  und  praktischen  Be- 
deutung des  parlamentarischen  Interpellationsrechtes  gerecht 
geworden,  denn  sein  Wesen  beruht  in  allen  Parlamenten 
nicht  nur  auf  Rechtsnormen,  oder  der  Interpretation  von 
solchen,  und  auf  Geschäftsordnungsbestimmungen,  sondern 
auch  auf  teilweise  ungeschriebenen  Regeln  welche  die  Be- 
dürfnisse der  Praxis  zeitigten.  Die  Notwendigkeit,  alle 
diese  verschiedenen  Quellen  zu  berücksichtigen,  bestimmte 
die  Art  der  Darstellung. 

Die  Abhandlung  zerfällt  in  zwei  Teile-,  der  erste  all- 
gemeine erörtert  den  Charakter  des  Interpellationsrechtes, 
sein  Werden,  seinen  Ausbau  und  seine  zeitlich  und 
örtlich  wandelbaren  Erscheinungsformen  und  streift  den 
„Zweck"  der  Institution;  der  zweite  besondere  Teil  bringt 
das  Interpellationsrecht  einzelner  parlamentarischer  Kammern 
für  sich  abgeschlossen  zur  Darstellung. 

Die  in  konstitutionellen  Staaten  in  Kraft  stehenden 
Normen  und  Gewohnheiten,  die  sich  auf  das  Interpellations- 
wesen beziehen,  fanden  nicht  durchwegs  gleiche  Berück- 
sichtigung ;  die  für  uns  historisch  wichtigeren  und  praktisch 
bedeutsameren  wurden  in  den  Vordergrund  gerückt,  und 
überdies  war  der  Arbeit  durch  das  dem  Autor  zugängliche 


VI  VI  2. 

Material,  wie  es  Theorie  und  Praxis  liefern,  eine  gewisse 
Grenze  gezogen. 

Ohne  daß  diese  Arbeit  daher  auf  Lückenlosigkeit  An- 
spruch erheben  könnte,  dürfte  sie  doch  auch  anderseits 
keine  wichtige  Seite  des  Stoffes  gänzlich  vernachlässigt 
haben. 

Aufrichtigen  und  wärmsten  Dank  für  wertvolle  Rat- 
schläge und  stets  hilfsbereite  Unterstützung  dieser  Arbeit 
schuldet  der  Verfasser  Herrn  Geheimrat  Professor  Georg 
Jellinek,  und  ebenso  fühlt  er  sich  verpflichtet,  Herrn  Pro- 
fessor Franz  Hauke  und  Herrn  Dr.  Karl  Neisser  fUr  die 
liebenswürdige  Förderung  zu  danken,  die  sie  dieser  Studie 
angedeihen  ließen. 

Dr.  H.  L.  üosegger. 

Heidelberg,   im  Frühling  1907. 


Inhaltsverzeichnis. 


A.  AUffemeiner  Teil. 

Seite 

1.  Wesen  und  Zweck  des  Interpellationsrecbts 1 

2.  Gegenstand  der  Interpellationen 15 

8.    Der  rechtliche  Charakter  des  Interpellationsrechts 25 

4.  Erscheinnngsformen  des  Interpellationsrechts 45 

5.  Dem  Interpellationsrecht  ähnliche  Institutionen 64 

B.  Besonderer  Teil. 

1.  PreuBen  und  das  Deutsche  Reich 68 

a)  Der  Landtag  des  Königreichs  Preußen 71 

a)  Das  Abgeordnetenhaus 71 

ß)  Das  Herrenhaus 77 

b)  Der  Reichstag  des  Deutschen  Reiches 78 

Anhang:   Die  Einzelstaaten 81 

2.  Österreich 84 

a)  Das  Interpellationsrecht  der  beiden  Häuser  des  öster- 
reichischen Reichsrates 88 

a)   Das  österreichische  Abgeordnetenhaus 88 

ß)  Das  österreichische  Herrenhaus 95 

b)  Das  Interpellationsrecht  der  Delegationen 96 

Anhang 97 

a)  Ungarn 97 

fi)  Die  Landtage  der  im  Reichsrate  vertretenen  König- 
reiche und  Länder 97 

3.  Frankreich 99 

4.  England 103 

5.  Das  Interpellationsrecht  anderer  Staaten 109 


Abkürzungen. 


Abg^.H.  =  Abg^eordnetenhaus ; 

Bericht  des  Abg^.H.  =  Bericht  des  Geschäftsordnongsausschasses  über  die 
Anträge  . . .  betreffend  die  Änderung  der  G.O.  des  Abg.H. ;  1729 
der  Beilagen  zu  den  stenogr.  Protokollen  des  Abg.H.;  XVII. 
Sess.  1908; 

Bericht  des  H.H.  =  Bericht  der  Spezialkommission  zur  Beratung  des 
Antrages  des  Fürsten  Schönburg,  betreffend  die  Abänderung  des 
Ges.  vom  12.  Mai  1878,  R.Q.B.  94,  über  die  G.O.  des  Reichs- 
rates; 247  der  Beilagen  zu  den  stenogr.  Protokollen  des  H.H. 
XVH.  Sess.  1905; 

G.O.  =  Geschäftsordnung; 

G.  ü.  d.  R.y.  (Gesetz  über  die  Reichsvertretung)  =  Ges.  vom  21.  Dezember 
1867  R.G.B.  141,  wodurch  das  Grundgesetz  über  die  Reichs- 
vertretung vom  26.  Februar  1861  abgeändert  wird; 

H.H.  =  Herrenhaus; 

I.R.  ==  Interpellationsrecht; 

Regierungsvorlage  =  Reg^erung^orlag^ ,  wonach  das  Ges.  vom  12.  Mai 
1878  R.G.B.  94  in  betreff  der  G.O.  des  R.R.  abgeändert  werden 
soll;  2552  der  Beilagen  zu  den  stenogr.  Protokollen  des  Ab- 
geordnetenhauses; XVn.  Sess.  1906; 

R.R.  =  Reichsrat: 

R.T.  =  Reichstag;  daher  z.  B.  D.R.T.  ==  Reichstag  des  Deutschen 
Reiches; 

T.O.  =  Tagesordnung. 


A.   Allgemeiner  Teil. 


I.  Wesen  und  Zweck  des  Interpellattonsreclits, 

L'm  das  Weson  der  Begriffe  „Interpellation"  und 
„Interpellationareclit"  zu  durchdringen,  um  es  von  dem 
ähnlich  gearteter  parlamentarische!-  Einrichtungen  —  der 
Anfragen,  Petitionen,  Resolutionen  —  zu  scheiden,  müssen 
seine  typischen ,  essentiellen  Merkmale  hervorgehoben 
werden. 

Allerdings  darf  die  Erledigung  einer  Vorfrage  nicht 
(Ibergangen  werden ,  von  deren  Beantwortung  es  abhängt, 
ob  es  überhaupt  möglich  ist,  die  in  den  verschiedenen 
Kammern  in  Geltung  stehenden  Interpellationarechte  einer 
vergleichenden  Darstellung  zu  unterziehen;  diese  Vorfrage 
lautet:  Existieren  solche  erwähnte  „typische  und  essentielle 
Merkmale"  ?  Hat  das  Interpellationsrecht  in  allen  den 
parlamentarischen  Kollegien,  in  denen  es  in  Kraft  steht, 
tatsHchlich  eine  im  Kern  gleichartige  Gestaltung  und  einen 
überall  vorhandenen  Grundstock  derselben  charakteristischen 
Eigenschaften  ? 

Es  ist  ja  auch  denkbar  —  auf  manchen  anderen  Ge- 
bieten ist  ein  konformer  Vorgang  zweifellos  zu  konstatieren  — , 
daß  unter  die  Itegriffe  „Interpellation"  und  „Interpellations- 
recht" völlig  von  einander  abweichende  Institutionen  sub- 
sumiert werden,  denen  schließlich  niciils  als  der  Name  und 
nur  dieser  gemeinsam  ist. 

Dagegen  bleibt  es  fUr  diese  Untersuchung  gleichgültig, 
wenn   Einrichtungen,   die   sich   auf  Grund    des   noch    fest- 


2  VI  2. 

zustellenden  Wesens  der  Interpellation  als  solche  charakteri- 
sieren, in  einschlägigen  Gesetzen,  in  sonstigen  Bestimmungen 
oder  im  parlamentarischen  Jargon  mit  einem  individuellen 
Namen  bezeichnet  werden.  Es  kommt  nicht  auf  die  Be- 
nennung, sondern  auf  den  Gehalt  der  Institution  an.  Gleich- 
falls ohne  Bedeutung  wird  es  sein,  wenn  in  manchen 
parlamentarischen  Kollegien  besondere  Gruppen  von  An- 
fragen mit  unter  dem  Titel  „Interpellation"  registriert  sind, 
ohne  daß  diese  Gruppen  alle  deren  typische  Merkmale  an 
sich  tragen;  für  eine  vergleichende  Darstellung  ist  es 
irrelevant,  ob  die  Grenzen  eines  BegriflFes  bald  weiter  bald 
enger  gezogen  sind. 

Tatsächlich  gibt  es  in  jedem  Parlamente  ein  besonders 
qualifiziertes  Fragerecht  von  Mitgliedern  der  Kammer  oder 
von  der  Kammermehrheit  an  einen  genau  bestimmten 
Personenkreis  ^ ,  dem  allgemein  markante  Eigenschaften 
inhärieren,  so  daß  es  sich  namhaft  von  sogenannten  „ein- 
fachen Anfragen^  unterscheidet  und  es  nicht  nur  gerecht- 
fertigt, sondern  geradezu  ein  Gebot  der  klärenden  Not- 
wendigkeit ist,  es  mit  einem  eigenen  Ausdruck  zu  versehen. 

Trotz  der  Gemeinsamkeit  der  Grundelemente,  die  das 
Interpellationsrecht  bilden,  zeigt  dieses  im  übrigen  auf  der 
Verschiedenheit  der  Parlamente  basierende  Eigenheiten,  die 
es  in  jedem  Kollegium  doch  noch  zu  einem  Individualgebilde 
stempeln. 

Somit  sind  die  Voraussetzungen  für  eine  vergleichende 
Untersuchung  gegeben :  Einheit  der  Gattung  und  Spezialität 
des  Individuums^. 


^  So^ar  die  Constitution  ottomane,  promulg^e  le  7.  Zilhidje  1293 
(23.  Dezember  1876)  —  ein  Verfassungsversuch  in  der  Türkei  —  statuierte 
in  Art.  37  u.  38  die  politische  Verantwortlichkeit  der  Minister  und  deren 
Pflicht,  der  Deputiertenkammer  auf  gestellte  Anfragen  Antwort  zu  erteilen. 
Annuaire  de  legislation  ^trang^re,  1877,  S.  707  S. 

^  Über  die  Spezialitat  dpa  1.  R.  in  den  verschiedenen  parlamentarischen 
Kollegien  sagt  Es  mein,  Elements  de  droit  constitutionnel  fran^ais  et 
compar^;  3.  Aufl.,  S.  813:  „.  .  .  le  sjst^me  de  questlons  et  des  inter- 
pellations  est  un  produit  de  Tbistoire  et  de  la  pratique  et,  par  suite, 
chaque  Parlement  Ta  modelt  selon  son  g^nie  et  ses  besoins.'' 


VI  2.  3 

Daß  dieser  allen  In  terpellations  reell  ten  zugesprochene 
gemeinasme  Charakter  auch  wirklich  vorhandün  und  nicht 
nur  die  Ausgeburt  einer  theoretisch  wuchernden,  aystemi- 
aierungsl liste r  11  en  Phantasie,  die  mit  Vorliebe  kategoHsierend 
und  uniformierend  im  Widerspruch  mit  der  Wirklichkeit 
arbeitet,  ist,  läßt  sich  leicht  auch  aus  der  Genesis  des 
Interpellations Verfahrens  nachweisen.  Sein  Typus  verdankt 
zwei  Ursachen,  die  sich  teils  unterstutzten,  teils  ergänzten, 
seine  Entstehung: 

a)  der  Nachahmung  und 

b|  den  gleichen  Bedürfnissen. 

a)  Die  MachahmuDg. 

Wenn  man  bedenkt,  welche  ereignisschwere  und  kata- 
strophenreiche Entwicklung  der  Ausgestaltung  die  Staaten 
auf  dem  Kontinente  durchmachten,  wie  sie  —  allen  voran  das 
zentralgelegene  deutsche  Reich  —  den  weiten  Schauplatz 
für  blutige  Kämpfe  und  Kriege  boten,  landfremde  wUstende 
Heere  gegen  andere  landfremde  sengende  Armeen  streiten 
sahen,  während  England  Über  ein  halbes  Jahrtausend  im 
eigenen  Stammlande  keinen  Feind  —  außer  sich  selbst  — 
EU  bekriegen  hatte,  wenn  man  ferner  bedenkt,  daß  dadurch 
auch  das  englische  Verfassungswesen  eine  zwar  nicht 
knoflikt-  und  sturmlose,  fUr  den  RUckblickendeu  aber  immer- 
hin organische  Entwicklung  hinter  sich  hat,  so  kann  ea 
nicht  wundernehmen,  daß  seit  der  Herrschaft  des  Absolutismus 
in  West-  und  Mitteleuropa  die  Blicke  aller  „liberal" 
Denkenden,  in  der*  Suche  nach  berühmten  Mustern,  un- 
willkürlich über  den  Kanal  schweiften,  und  die  utopistiechen 
Köpfe  der  Reformer  in  Überschätzung  der  Rechtsnormen 
und  deren  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des  TatsSchlicheii 
eine  Nachahmung  englischer  Organisationsformen  forderten 
und  empfahlen. 

England  schien  und  scheint  manchem  heute  noch  das 
Eldorado,  das  strahlende  Vorbild,  das  man  auch  verfassungB- 
rechtlich  nachahmen  mUäse, 


4  VI  2. 

Und  in  der  Tat:  englische  Ideen,  englische  Systeme 
zogen  über  den  Kanal  nach  Osten,  genau  wie  sie  vorher 
über  das  Weltmeer  nach  Westen  gesegelt;  sie  wurden 
akzeptiert  und  imitiert. 

Natürlich  konnte  von  einer  sklavischen  Nachahmung 
keine  Rede  sein,  denn  erstens  kannte  man  das  Urbild  zu 
wenig  und  zweitens  bedurfte  das  Übernommene  gewisser 
durch  die  Verhältnisse  der  Rezipienten  bedingter  Ver- 
änderungen, die  oft  vielleicht  in  zu  geringem  Ausmaße, 
jedenfalls  jedoch  zu  theoretisch-rationalistisch  vorgenommen 
wurden. 

Das  Frankreich  der  Revolution  schritt  mit  der  Rezeption 
an  der  Spitze,  der  übrige  Kontinent,  sowie  und  soweit  er 
konstitutionellen  Einflüssen  zugänglich,  folgte  nach  und 
akzeptierte  das  angelsächsische  Vorbild  in  romanischer  Form, 
die  nun  jeder  Staat  für  sich  abermals,  entsprechend  seiner 
Vergangenheit  und  seiner  Gegenwart,  ummodelte  —  und 
diese  Verfassungsurkunden  und  Verfassungsgesetze ,  die 
zumeist  unter  dem  Dröhnen  revolutionärer  Strömungen  ge- 
boren wurden,  übten  aufeinander  Wechselwirkungen  aus; 
man  kopierte  einander. 

Es  läßt  sich  im  einzelnen  gar  nicht  mehr  oder  nur  in 
groben  Umrissen  konstatieren,  was  in  einer  Verfassung 
„urwüchsig"  das  Produkt  eigener  sozialer  Kräfte  ist,  und 
was  fremden  Organisationen  entliehen  wurde.  Und  nicht 
nur  gewichtige  Organisationsgrundsätze  waren  es,  die 
ein  Staat  von  einem  anderen  Staat,  uneingedenk,  daß  es 
auch  auf  dem  Rechtsgebiete  keine  absoluten  Werte  gibt, 
annahm ,  sondern  auch  Nebenbestimmungen ,  Geschäfts- 
ordnungen^, unter  anderem:  Das  Interpellationsrecht. 

*  So  z.  B.  hat  auch  das  englische  Unterhaas,  als  es  nach  der  ersten 
Reformbill  an  eine  Umgestaltung  seiner  G.O.  ging,  Informationen  über 
das  Verfahren  in  der  franzosischen  Kammer  und  im  Repräsentantenhaus 
der  Union  eingeholt.  (Redlich,  Recht  und  Technik  des  Englischen 
Parlamentarismus,  1905  Seite  106)  vergl.  bezügl.  ähnlicher  Vorgänge 
femer  Plate,  die  Geschäftsordnung  des  preußischen  Abgeordnetenhauses, 
2.  Aufl.  S.  8;  ebenso  die  ^^Regierungsvorlage'^  betreffs  Abänderung  des 
G.O.Ges.  für  den  österr.  R.  R. 


VI  2. 

Dieses  Wandern  doa  Inlerpellationsrechts  von  Parlament 
zu  Parlament,  das  Aufbauen  einer  Kammer  auf  den  Er- 
fahrungen einer  andern  Kammer,  das  Nachahmen  fremder 
Formulierungen  sind  die  eine  Ursache  für  die  Wesens- 
gleifhheit  der  Interpellationsrechte  in  den  parlamentarischen 
Kollegien. 

Tiefer  und  bedeutsamer  liegt  die  zweite  Wurzel  der 
HomogenitSt.  Gleifhea  erzeugt  Gleiches  —  der  Satz  gilt 
auch  fUr  das  Werden  sozialer  Erscheinungen  und  das 
Interpellation  arecht  bedingten  in  den  Kammern  auch 

b)  die  gleichen  Bedörftiisse. 

Rezipieren ,  indem  anderswo  sieh  bewährende  Ein- 
richtungen übernommen  werden ,  d.  h.  daß  etwas  in  Form 
eines  Gesetzes  oder  einer  andern  Vorschrift  als  geltende 
Norm  bezeichnet  wird,  ist  ein  formaler  Vorgang,  der  von 
Einfluß  auf  die  Praxis  sein  kann,  aber  nicht  sein  muß. 
Nur  dort,  wo  die  Verhältnisse,  die  Vorbedingungen  derart 
sind,  daß  die  rezipierten  Regeln  ihnen  entsprechen,  da  geben 
diese  ihr  leeres  Papierdasein  auf  und  werden  lebendes  ge- 
übtes Recht,  sonst  fristen  sie  in  einem  Archiv  ein  Schein- 
dasein ohne  Kraft  und  reale  Bedeutung. 

Ein  derartiges  blutleeres  Jammerdaaein  war  dem 
Interpellationsrecht  nicht  beschieden,  im  Gegenteil:  seine 
Übung  zeigt  sogar  die  unbestrittene  Tendenz,  die  ihm  ge- 
zogenen Schranken  zu  durchbrechen,  seine  Machtsphäre  über 
das  Maß  und  die  Grenzen  hinaus  zu  erweitem,  die  ihm  seine 
Urheber  oder  Rezipient«n  zugedacht  hatten. 

Das  hängt  innig  zusammen  mit  dem  Streben  der 
Parlamente,  ihre  Kompetenz  auszuweiten  und  besonders  die 
ihnen  auf  den  mannigfachsten  Gebieten  zustehenden  Kontroll- 
befugnisse auszudehnen.  Wer  zur  Kontrolle  berufen,  bedarf 
Informationsmittel;  nur  wer  die  besitzt,  kann  Aufsicht, 
Kritik  Üben  und  Interpellationen  sind  geeignet,  Über 
Kegierungsaktc  authentische  Aufklärungen  durch  die  Re- 
gierung selbst  zu  erlangen.    Das  Informationsbedtlrfnis.,  um 


6  VI  2. 

die  Aufgaben  des  parlamentariöcheii  Wirkungskreises  erfllllen 
zu  können,  iat  die  zweite  überall  fließende  Quelle  des 
Interpellationsrechts. 

Naclialiraung  und  gleiebartige  Bedürfnisse  zusammen- 
wirkend, einander  in  Form  und  Inhalt  ergänzend,  waren  e» 
also,  die  fllr  jede  Kammer  ein  Interpellationarecht  schufen 
und  sie  zeugten  Institutionen,  die  allgemein  durch  essentielle 
Merkmale  charakterisiert  sind,  oline  des  individuellen  Aus- 
baues für  die  Anwendung  au  entbehren. 

Betrachtet  man  die  Interpellationen,  wie  sie  in  den 
Parlamenten  gestellt  werden  und  greift  das  in  die  Augen 
Fallende  heraus ,  so  kann  man  sagen :  man  versteht  unter 
ihnen  im  parlamentarischen  Leben  besonderen  Formen 
unterworfene  Anfragen  einer  Kammer  an  die  Regierung, 
Akte  derselben  betreffend,  die  nicht  Gegenstand  der  ge- 
führten Verhandlung  sind  noch  damit  zusammenhangen 
müssen.  Uiese  Anfragen  und  ihre  Erledigung  genießen 
eine  bevorzugte  Behandlung  in  der  Geschäftsführung  de« 
Kollegiums. 

Bisher  wurde  der  Zweck  des  In terpellations rechts  nur 
gestreift. 

Alle  Institutionen  staatlicher  und  nichtstaatlicher  Natur 
dienen  Zwecken;  keine  ist  also  zwecklos  gedacht  und  das 
Zweokstrehen  des  Menschen  geht  sogar  soweit,  daB  er  auch 
allen  natürlichen  Erscheinungen  eine  ihnen  innewohnende 
Zielstrebigkeit  imputiert. 

Wenn  aber  auch  einerseits  anerkannt  werden  muß,  daB 
kein  Ding,  keine  Organisation,  soweit  sie  sich  auf  mensch- 
lichen Willen  ganz  oder  teilweise  zurückführen  lassen,  ein- 
fach geschaffen  wurden,  um  existent  zu  sein,  sondern  mit 
ihnen  immer  Äußere  Erfolge  angestrebt  werden,  so  i&Ut 
doch  anderseits  die  überall  konstatierbare  Tatsache  auf, 
daß  im  Laufe  der  Zeit  die  Zwecke  einer  und  dereelben 
Einrichtung  wechseln,  daß  dieselben  Einrichtungen  von  den 
verschiedenen  Faktoren,  die  sich  ihrer  bedienen,  ver- 
schiedenen Endzwecken  dienstbar  gemacht  werden. 


VI  2.  7 

Nicht  einmal  das  einfachste  und  primiti\~ste  ist,  in  der 
Grundbedeutung  des  Wortes,  so  „einfältig",  daß  es  nur  zu 
einem  Ende  führen  könnte. 

In  diese  Wandelbarkeit  der  Zwecke  unserer  Institutionen 
greift  die  systemisierende  nach  Vereinheitlicbung  und  Ein- 
heit tastende  menschliche  Ratio  ordnend  und  Ändernd  ein 
und  sucht  für  jedes  Ding  einen  spezitisehen  Zweck  zu  er- 
gründen, um  das  Ei^ebnis  dieser  rein  theoretischen  Arbeit 
als  dss  einzig  „richtige'   hinzustellen. 

Der  Vorgang  dieser  spekulativen  Tätigkeit  nimmt  seinen 
Anfang  mit  Vorliebe  bei  der  Entstehung  einer  Tatsache, 
unterlußc  es  zumeist,  zu  untersuchen,  ob  sie  bewußt  oder 
unbewußt  entstand,  nimmt  ersteres  gewöhnlich  kritiklos  an, 
und  aus  den  herausgeklUgehen  Motiven  ihres  wirklichen 
oder  vermeintlichen  Urhebers  wird  ihr  Zweck  abgeleitet. 
Ganz  abgesehen  von  den  Irrtümern  Über  die  Ursachen  vieler 
Ersehe inimgen,  können  solchen  Untersuchungen  besonders 
noch  zwei  Fehler  zu  Orunde  liegen:  erstens  wird  oft  an- 
genommen, der  Zweck  einer  Sache  stehe  unwandelbar  fest 
und  sei  aus  ihrer  Genesis  zu  erkennen,  und  zweitens,  daß 
jedes  Ding  nur  einen  Zweck  habe.  Und  trotzdem  müssen 
wir  mit  unserem  linearen  stets  einseitig  funktionierenden 
Denken,  um  dem  Probleme  näher  zu  treten,  bewußt  in  den 
gleichen  Fehler  verfallen,  indem  wir  flir  Einrichtungen,  dem 
Gebote  der  Praxis  folgend,  einen  Hauptzweck  festzustellen 
trachten  und  daneben  Nebenzwecke  anerkennen,  ohne  uns 
darüber  zu  täuschen,  damit  objektiv  allerdings  unhaltbare, 
doch  subjektiv  zu  rechtfertigende  Werturteile  ausgesprochen 
zu  haben. 

Betrachten  wir  die  parlamentarischen  Interpellationen 
und  fragen  wir  nach  ihrem  Zweck,  so  können  wir  keine 
eindeutige  Antwort  darauf  geben,  sondern  die  Beobachtung 
zeigt  uns,  daß  sie  als  Mittel  zu  verschiedenen  Zielen  benützt 
werden. 

In  die  Augen  springend  ist  ein  Informationszweck;  ja 
auch  rein  togisch  betrachtet  scheint  ea  so  selbstverständlich, 


8  VI  2. 

daß  mit  einer  Frage  eine  aufklärende  Antwort  gefordert 
wird. 

Tatsächlich  ist  dem  nicht  immer  so ;  man  braucht  nur 
z.  B.  einen  Blick  auf  die  Interpellationen  des  öst.  Abg.H. 
im  Verlaufe  des  letzten  Jahrzehntes  zu  werfen,  um  mit 
Deutlichkeit  wahrzunehmen,  daß  diese  vielfach  keine  In- 
formationen anstreben,  sondern  ohne  ernstlich  auf  eine 
Äußerung  des  Interpellierten  zu  reflektieren,  obstruktio- 
nistische  Zwecke  verfolgen.  Anderseits  gibt  es  wieder 
Interpellationen,  die  man  als  „bestellte"  bezeichnen  kann; 
Minister  wünschen  es,  sich  in  einer  Kammer  über  bestimmte 
Angelegenheiten  zu  äußern  und  Anlaß  dazu  sollen  Fragen 
aus  der  Mitte  des  Hauses  selbst  geben.  Der  Bericht  ist  in 
erster  Linie .  vielleicht  nicht  einmal  für  die  Kammer,  noch 
für  die  breite  Öfi'entlichkeit  bestimmt,  sondern  an  gewisse 
Kreise  gerichtet,  ein  Programm,  eine  Mahnung  enthaltend. 
Interpellationsbeantwortungen  über  auswärtige  Angelegen- 
heiten tragen  nicht  selten  die  Adresse  an  das  Ausland,  ihr 
Charakter  ist  ein  diplomatischer.* 

Bei  dem  heutigen  Stande  des  Interpellationswesens  wird 
man  weder  die  Unterstützung  eines  ministeriellen  Äußerungs- 
bedürfnisses noch  viel  weniger  aber  die  Verschleppung  der 
parlamentarischen  Arbeit  praktisch  als  dessen  Hauptzweck 
bezeichnen,  obschon  nicht  geleugnet  werden  kann,  daß  im 
gegebenen  Falle  das  eine  oder  das  andere  allein  angestrebt 
wurde. 

Wir  beschränken  uns  zuvörderst  darauf,  Interpellationen 
als  ein  wichtiges  parlamentarisches  Informationsmittel  zu 
betrachten. 

fX'  Aus  den  einfachen  Anfragen  erwachsen,  haben  sie  mit 
diesen  den  Typus  der  Frage  gemeinsam;  solche  einfache 
Anfragen  werden  im  Laufe  einer  Verhandlung  gestellt, 
nehmen  Bezug  auf  den  gerade  vorliegenden  Gegenstand  der 
T.O.   und   sind  —    Seydel  nennt  sie  ein  natürliches  Recht 


^  S.  aach  Redlich  a.  a.  O.,  S.  513. 


I 


rvi  2.  0 

eines  Parlamentes  —  der  aelbatverständliclie  Ausfluß  geniein- 
aamer  Beratungen,  um  sicti  über  die  Ansichten  anderer, 
nicht  nur  etwa  der  Regierung  zu  orientieren. 

Unbeschadet  der  staatsrechtlichen  Auffassung  der  Volks- 
vertretungen als  Organe  des  Staates,  in  dessen  Interesse  sie 
Aufgaben  im  zugewiesenen  Wirkungskreise  zu  erf'flllen  haben, 
stehen  sie  der  Regierung  wirtschaftlich  doch  immer  als 
Gegenpartei  gegenüber  und  Adolf  Wagner'  bezeichnet  die 
Regierung  bei  der  Budgetfeatstellung  als  Partei  des  An- 
gebotes, das  Parlament  als  die  der  Nachfrage.  Dieses  Ver- 
hultnis,  das  im  ständischen  Staate  zu  direktem  Handel  um 
materielle  und  immaterielle  Werte  zwischen  Staat  und 
Ständen  führte,  ist  auch  heute  trotz  mancherlei  geHnderter 
Auftiassungen  und  Formen  tatsächlich  noch  nicht  geschwunden. 
Bemerkenswert  ist  diesbezüglich  ein  im  englischen  Unter- 
faause'  bis  1857  geübter  Usus,  wonach,  wenn  in  den  Aus- 
BchUssen  in  Fragen  der  Geldbewilligung  insofern  ein  Streit 
herrschte,  als  es  sich  um  eine  größere  oder  kleinere  Summe 
handelte,  zuerst  tlber  die  Gewährung  der  kleineren  Summe 
abgestimmt  wurde,  und  man  den  Zweck  dieser  Regel  damit 
erklärte,  dem  Volke  die  Lasten  so  leicht  als  möglich  zu 
machen.  Auf  das  ätaatsintercsse  scheint  weniger  Rücksicht 
genommen  worden  zu  sein. 

Überall,  wo  es  sich  ura  Verlangende  und  Gewährende 
handelt,  sind  Aussprachen,  Debatten,  Anfragen  und  Ant- 
worten ein  natürliches  Requisit  der  Verhandlungen  und  der 
Verständigung;  parlamentarisclie  Kollegien  nehmen  fUr  sich 
hierin  keine  Ausnahme  in  Anspruch;  die  Aufgaben  ihres 
Wirkungskreises  machen  sie  auch  für  einschlägige  Anfragen 
kompetent.  Diese  Kompetenz  bedarf  weder  einer  Bestätigung 
durch   ein  Gesetz  noch  durch  die  Geschäftsordnung,    eben- 


'  FinstuwUicD^chuft,  3.  Aufl.  läSS,  I.,  B.  70. 

'  Hny,  das  engUeche  Parlameut  uud  aein  Terfabren;  ai 
I  4.  Aoflvffe  des  Origiuals  übersetzt  und  bearbeitet  von  Oppei 
l  1860 1  6.  477. 


10  VI  2. 

sowenig  wie  z.  B.  die  Befugniß  zu  debattieren^.  Anfragen 
im  Laufe  einer  Verhandlung  kamen  und  kommen  überall 
vor  und  unterliegen  zumeist  keiner  besonderen  Form  Vorschrift^. 
Eine  Äußerungspflicht  des  Befragten  korrespondiert  nicht 
mit  ihnen.  Eine  solche  existiert  nur  dort,  wo  die  Anfrage- 
befugnis ausdrücklich  Anerkennung  in  der  G.O.  fand;  so 
ist  es  zum  Beispiel  gemäß  §  67  G.O.  des  Ost.  Abgh.  jedem 
Abgeordneten  gestattet,  „Anfragen**,  die  hier  nicht  gerade 
glücklich  auch  als  „Interpellationen"  bezeichnet  werden,  an 
den  Präsidenten  des  Hauses  und  an  die  Vorsitzenden  der 
Abteilungen  und  Ausschüsse  zu  richten^.  Die  normative 
Anerkennung  eines  formlosen  „Fragerechts"  ist  gleich- 
bedeutend  mit  der  Begründung  einer  Außerungspflicht  für 
den  Befragten. 

Verschieden  davon  sind  Anfragen  zu  behandeln,  die  an 
die  Regierung  gerichtet  sind  und  auf  Angelegenheiten  Bezug 
nehmen,  deren  Behandlung  augenblicklich  nicht  Gegenstand 
einer  parlamentarischen  Durcharbeitung  ist.  Es  liegt  an 
und  für  sich  weder  im  allgemeinen  noch  im  Interesse  der 
Regierung  oder  des  Parlamentes,  es  jedem  Mitgliede 
des  Hauses  anheimzugeben,  vom  Verhandlungsthema  ab- 
irrende Fragen  an  die  Minister  zu  richten.  Ohne  Be- 
schränkung auf  den  Verhandlungsgegenstand  ist  keine 
geordnete  Geschäftsführung  möglich  und  überall  ist  da- 
für gesorgt,  daß  überflüssige  Abschweifungen  vermieden 
werden  *. 

Allmählich    und    nicht   ohne    Widerstreit    wurde   dem 


'  Allerdings  werden  zu  verschiedenen  Zeiten  solche  „Befugnisse*' 
besgl.  ihrer  Tragweite  recht  abweichend  interpretiert;  159B  faßte  der 
Kanzler  die  „Redefreiheit'^  des  englischen  Unterhauses  als  Privileg  Ja" 
oder  .nein''  zu  sagen  auf  (Redlich  a.  a.  O.  S.  54). 

^  Ausnahmen  kommen  vor.  Vgl.  u.a.  Brusa,  Das  »Staatsrecht  des 
Königreichs  Italien,  1892,  S    166  f. 

^  Bezügl.  ähnlicher  Anfragen  in  England  vgl.  Th.  E.  May, 
Parliamentary  Practice,  11.  Ed.  1906,  8.  247  ff. 

*  Vgl.  G.O.  D.R.T.  §  46;  Preuß.  Abgh.  §  48;  Ost.  Abgh.  §  56; 
S.  auch  May,  a.  a.  O.  11.    Ed.  S.  324. 


englischen  Parlamente  tJie  Kompetenz  zuerkannt,  Minister 
auch  über  Angelegenheiten  zu  interpellieren,  die  mit  den 
Materien  der  Verhandlung  keinen  Zusammenhang  aufwiesen. 
Der  erste  Ansatz  zu  einem  solchen  der  Kootrolte  dienenden 
außerordentlichen  Int'ormati  ans  mittel  war  in  dem  Augen- 
blicke gegeben,  als  das  Parlament  sich  für  kompetent  ansah, 
darüber  au  wachen,  daß  die  von  ihm  bewilligten  Gelder 
auch  für  den  von  ihm  anerkannten  Zweck  benutzt  wurden. 
Unter  Riehard  II  (1377— 135i!i)  drang  das  Parlament  mit 
seinem  Anspruch,  Kenntnis  von  der  Verwendung  be- 
willigter Gelder  nehmen  zu  können,  durch,  doch  fand  die 
Forderung  noch  nicht  prinzipielle  Anerkennung'.  In  der 
Folgezeit  wurde  das  System  der  Spezialität  des  Budgets 
mehr  und  mehr  anerkannt,  so  daß  es  heute  als  sine  qua 
non  eines  geordneten  Staatshaushaltes  erscheint.  Um  aber 
festzustellen,  ob  die  Regierung  die  bewilligten  Summen  im 
Sinne  des  Parlament»  verwende,  muBte  die  Möglichkeit  ge- 
geben werden,  sie  zu  kontrollieren.  An  die  Seite  einer 
Oeldmanipulationskontrolle  trat  alloiUhlich  die  zu  einem 
Rechte  sich  verdichtende  Übung,  auch  über  die  gesetzliche 
ZuläsHtgkeit  und  praktische  Zweckmäßigkeit  der  Staats- 
verwaltung überhaupt  zu  wachen.  Ein  hervorragendes 
Mittel  dazu  konnte  durch  direkte  Anfragen  an  die  Regierung 
über  ihre  Akte  geschaffen  werden,  und  zwar  auch  durch  An- 
fragen, die  nicht  auf  einem  inneren  Zusammenhang  mit  den 
Oeschät'ten  der  Tagesordnung  fußen,  sondern  nach  Bedarf 
unabhängig  und  getrennt  von  diesen  gestellt  werden 
können ". 


'  Oneint,  ans  eiigUtchc  Parliinir^Dt  in  taiiBendjnhrigeu  Wiiti<I[uiigt!ii, 
2.  Aua,  S.   157. 

'  Die  „T-O."  bU  ArbritspenHum  de»  Kaueei  mit  dem  A'erbot  der 
Vormisehnng  von  Deballen  vtrschiedener  GegeuständH  entstanil  im  eng- 
Ufchen  PuUmeDt  am  Anfang  des  IT.  Jikhrliunderts.  wtidurch  H«rechtiguDpen, 
in  «iaielnen  F&Ucn  von  ihr  absuweicben ,  erst  die  rechte  Bedeutung-  be- 
kamen,  aber  in  der  Folgezeit  gibt  es  wieder  Epochen,  die  «treng  geregelte 
Tafte**  und  Arbeitaordnun^en  nicht  lienueo  [üedlich  &.  a.  O., 
S.  6.S;  84f.l. 


12  VI  2. 

Daß  das  englische  Parlament  erst  im  Jahre  1721  eine 
offiziös  beglaubigte  Interpellation  im  Oberhause  aufweist 
und  selbst  heute  noch  kein  streng  akzentuiertes  Interpellations- 
recht besitzt,  hat  seinen  Grund  auch  in  den  sonst  ihm  zu 
Gebote  stehenden  Informations-  und  Kontrollbehelfen,  wie 
sie  auf  dem  Kontinente  in  gleich  wirksamer  Weise  nicht 
zur  Ausbildung  gelangten.  Durch  die  Schaffung  mittel- 
alterlicher Schatzkollegien  und  später  der  modernen 
Rechnungshöfe  sind  eigene  Instanzen  in  die  staatliche 
Organisation  eingetreten,  deren  Aufgabe  die  Kontrolle  der 
Ausgaben  war,  bzw.  ist;  seitdem  fJlllt  den  parlamentarischen 
Kollegien  bezüglich  der  übrigen  Verwaltungstätigkeit  zu, 
zu  untersuchen  —  nicht  nur  ob  diese  sich  gesetzmäßig, 
sondern  auch,  ob  sie  sich  zweckentsprechend  abwickelt. 

Die  direkte  parlamentarische  Kontrolle  hat  somit  ihren 
Wirkungskreis  allmählich  verschoben.  Antworten  der 
Regierung  auf  Anfragen  über  von  ihr  vollzogene  Akte 
bieten  nun  allerdings  nicht  das  einzige  Material,  welches 
die  Kontrolle  unterstützt,  denn  daneben  stehen  den  Kammern 
und  ihren  Mitgliedern  noch  zahlreiche  andere  Informations- 
hilfen zu  geböte ;  man  denke  nur  an  die  Presse,  an  Enqueten, 
an  private  Erkundigungen  und  dergl.,  aber  fast  überall 
wird  die  direkte  Zuredestellung  der  Minister  am  kürzesten 
und  klarsten  zum  Ziele  führen  und  es  entbehrt  nicht  eines 
gewissen  Interesses,  zu  sehen,  wie  hoch  von  manchen  das 
Interpellationsrecht  eingeschätzt  wird.  In  Zola's  Roman 
„Das  Geld"*  findet  sich  z.  B.  folgende  Stelle:  „Großen 
Eindruck  hatte  eine  Reihe  von  Aufsätzen  in  betreff  des 
Dekretes  vom  19.  Januar  1867  gemacht,  welches  die  übliche 
Adresse  an  den  Kaiser  durch  das  Recht  der  Interpellation 
ersetzte  —  eine  neue  Konzession  des  der  Freiheit  zu- 
schreitenden Kaisers."  —  Das  englische  Parlament  mit 
seiner  Zuständigkeit,  Zeugen  —  unter  Umständen  sogar 
beeidete  Zeugen  —  vor  die  Schranken  eines  jeden  Hauses 


1  Deutsche  Verlagsanstalt  1891,  II.  Band,  S.  46. 


VI  2. 


13 


I 


ZU  rufen '  oder  eich  aucli  von  Behörden  Urkunden  direkt 
vorlegen  zu  lassen  ^  ist,  ganz  abgesehen  von  der  besonders 
intimen  Stellung,  die  das  Miniaterium  zur  Majorität  ein- 
nimmt, bei  weitem  weniger  bemüßigt,  zu  interpellieren  als 
die  kontinentalen  Kammern,  deren  of'tizieller  Verkehr  nach 
AuBen  zumeist  nuf  ein  gewisses  Minimum  beschränkt  ist^. 
Aber  weder  das  englische  Parlament*  mit  seinem  relativ 
spät  entwickelten  Interpellationsrechte  noch  der  auf  diesem 
Gebiete  staatsrechtlieh  schneller  vorgeschrittene  Kontinent 
konnten  es  ohne  weiteres,  wie  sie  es  bei  einfachen  An- 
fragen tun,  dem  Einzelnen  überlassen,  durch  Interpellationen, 
deren  Gegenstand  nicht  der  Verhandlungsgegenstand  ist, 
den  geordneten  Lauf  der  Geschäftsflihrung,  dar  regelmäßigen 
Arbeit,  zu  unterbrechen  und  damit  zu  verzögern.  Deshalb 
ist  überall  die  Zulässigkeit  von  Interpellationen  an  die 
Einbaltnng  genau  fixiertei-  Form  Vorschriften  gebunden,  die 
bald  in  höherem  bald  in  geringerem  Maße  die  Eignung  be- 
sitzen, ohne  die  Kontrolle  der  Regierungsakte  überhaupt 
zu  verhindern,  doch  den  geordneten  Arbeitegang  eines 
Hauses  zu  gewährleisten. 

Und  dieser  Kon  trolle  Charakter  der  Interpellationen 
überwiegt  an  Bedeutung  derart  alle  anderen  von  einzelnen 
oder  Fraktionen  angestrebte  Zwecke,  daß  die  Kontrolle 
als  Zweck  einer  Interpellation  Katexochen  aufgefaßt  werden 
kann,  dem  erst  an  zweiter  Stelle  das  einfache  Begehren 
nach  Information  an  die  Seite  tritt'. 

Auch  der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  verleiht  schon  dem 
Worte  „interpellieren"  den  bedeutungsvollen  Beigeschmack 
einer  kritischen  Tätigkeit,  ja  vielleicht  sogar  eine  Nuance 


'    Heute    werden   Zeugun    nur    mehr    durch    KoiniteeB 
1  Bedlieb  a.  n.  O.,  ä.  456 f. 

'  BedlUh  n.  a.  O.,  tj.  298 f. 

*  Q.O.  Gbs.  g  8  d.  est  K.R.  (§  30  G.O.  d.  Öat.  Abgli.). 

*  Redlich  H.  3. 0.,  B. 235 f.,  Anm.  2:  W&hrend  des  elidafriksmxehen 
J  Kriege*  wurden   ioi  Jnhre   1901    aber  ieuDoch  7180  InterpellHtionen  eiu- 

gebnicfat  und  benntwortel!    Die  Bedeutung  und  dnn  AusmnB  de»  engliBchen 
\    luterpellatinnsreclitB  -wird  häufig  unterschitvt 

*  Vergl.  S.  Low,  The  goTemuica  or  Bngland.  2,  Auf],  ü.  98 f. 


14  VI  2. 

von  Mißtrauen  und  Unwillen  über  das  Nichtverständigtsein 
in  einer  Angelegenheit  oder  über  die  Angelegenheit  selbst. 
Und  dieser  ünterton  klingt  auch  in  den  Ruf  vieler  parla- 
mentarischer Interpellationen  und  nur  dieser  rechtfertigt  es^ 
wenn  letztere  im  deutschen  Reichstag^  als  „schweres  Ge- 
schütz^ bezeichnet  wurden,  eine  Benennung,  die,  falls 
Interpellationen  zuvörderst  dem  Stillen  eines  anerkennens- 
werten Wissensdurstes  allein  dienen  würden,  gerade  nicht 
sonderlich  glücklich  gewählt  wäre. 

In  Kammern,  wo  die  gesamte  Geschäftsführung  ver- 
wahrlost, verlieren  auch  die  verschiedenen  Einrichtungen 
ihren  eigentlichen  Charakter ;  Interpellationen  beginnen 
außerparlamentarische  Ziele  zu  verfolgen,  ihre  große  Zahl 
und  der  Inhalt  zeigen,  daß  ernstlich  auf  eine  Erledigung 
nicht  reflektiert  wird  und  mit  der  Einbringung  der  ge- 
wünschte Erfolg  schon  erzielt  ist,  nämlich  Zeitgewinnung 
oder  Zeit  Verschwendung,  Immunisierung  der  dem  objektiven 
Verfahren  zum  Opfer  gefallenen  Drucksachen  oder  lokal- 
patriotischer Wählerfang.  Andere  parlamentarische  Kollegien 
dagegen,  die  konsequent  daran  arbeiten,  die  Grundvesten 
ihres  Bestandes  zu  verstärken,  ihren  Einfluß  auf  die  Ge- 
staltung des  Staatswillens  zu  heben  oder  ihren  Wirkungs- 
kreis zu  erweitern,  erblicken  in  den  Interpellationen  ein 
mächtiges  Kontrollmittel,  dessen  Abschwächung  durch  über- 
triebene Anwendung  vermieden  werden  muß.  Auch  Staaten 
mit  parlamentarischem  Regime  betrachten  das  Interpellations- 
recht mit  großer  Wertschätzung,  obschon  die  Mehrheit  den 
Ministertl  politisch  verwandt  und  daher  durch  die  Bande 
des  Vertrauens  mit  ihnen  verbunden  ist ;  natürlich  legt  hier 
ebenfalls  die  Minderheit  mit  ihrem  immanenten  oppositionellen 
Mißtrauen  auf  die  Kontrollbefugnisse  den  entschiedensten 
Wert  2. 


I  Session  90/92  Stzg.  135.    Steno^.  Prot.  3254  C. 

*  Vergl.  Redlich  a.  a.  O.  S.  236,  wo  eine  diesbezügl.  Äußerung 
des  1902  in  der  Opposition  stehenden  CampbeU'Bannermann  an- 
geführt ist;    (ferner  S.  513.)  aber   die  Regierung  hat  eine  solche  Macht 


VI  2. 


15 


I 
I 


Auä  dem  hier  gelten  nzeiclmeten  Kontrollzweckc  der 
lolerpellationen  geht  theoretisch  die  Sclieidung  zwischen 
ÜiDea  und  den  Anfra^n,  den  Petitionen  und  Kesolutionen 
klar  hervor, 

Anfragen  entbehren  des  kritischen  Charakters;  Petitionen 
sind  Bitten  oder  Beschwerden  des  Parlamentes  oder  an  das 
Parlament,  die  von  diesem  an  die  Regierung  allenfalls 
weitergeleitet  werden ' ;  Resolutionen  stellen  sich  entweder 
als  Beschlüsse  dar,  welche  die  Regierung  beeinflussen  sollen, 
oder   sind   das   Resultat   von   Beratungen   in  Beschlußform. 

In  der  Praxis  fließen  die  Zwecke  mancher  dieser  Ein- 
richtungen hie  und  da  vielleicht  ineinander,  zum  njindesten 
aber  bleiben  ihnen  die  verschiedenen  Süßeren  Formen  als 
trennendes  formalem  Kennzeichen  inhärent, 

2.  Gegenstand  der  Interpellationen. 

Die  Betrachtung  des  Wesens  und  des  Zweckes  des 
Interpellationsrechtes  berührte  schon  mehrmals  das  Problem 
des  Interpellationsinhaltes;  aber  es  restiert  noch  eine  spe- 
zielle Untersuchung,  welche  Fakten,  Tatbestttnde,  Aktionen 
und  Verbältnisse,  Anfragen  zugrunde  gelegt  werden  können, 
80   daß   diese   als  gesetzmäßige  luterpellalionen  erscheinen. 

Eine  Umgrenzung  des  Gebietes,  worüber  die  Regierung 
interpelliert  werden  kann,  ist  nicht  nur  für  jene  Parlamente 
wichtig,  deren  Vorsitzender,  oder  deren  Plenum  jene  Inter- 
pellationen zurückzuweisen  vermag,  die  den  gestellten  An- 
forderungen nicht  entspreolien,  sondern  eiue  Umgrenzung 
ist  für  jede  Kammer  Von  großem  Werte,  da  Anfragen  zu 
denen  sie  oder  ihre  Mitglieder  als  nicht  kompetent  angesehen 
werden,  unbedingt  vom  Interpellierten  ad  acta  gelegt  werden 
dürfen,  da  sie  als  gesetzwidrig  gelten  mllssen. 

ethlilteD,  iIaA  aie  sognr  die  ilir  der  Gesinnung  nncb  nahestehende  Mnjoriläl 
behorracht,  wodurch  aucb  diene  geewongen  ist,  an  ihren  Kontroltnütteln 
Btrikt«  festziiLaltfU. 

'  Das  das  laterpellatioiurecht  vi«l&cb  berilhreude  Petition»-  und 
Beachwerdereubt  iil  »In  Gegenstand  für  eine  weitere  Arbeit  in  Auasicht 
p^Deninieti. 


16  VI  2. 

Jene  Verfassungen,  die  das  Interpellationsrecht  selbst 
nicht  erwähnen,  enthalten  erklärlicher  Weise  auch  keine 
Bestimmungen  über  dessen  Grundlagen  * ;  manche  enthalten 
Normen  über  beides,  Normen,  die  aber  einer  gründlichen 
Interpretation  bedürfen.  Für  das  österreichische  Parlament 
sagt  §  21  G.  ü.  d.  R.-V. ;  „Jedes  der  beiden  Häuser  des 
Reichsrates  ist  berechtigt,  die  Minister  zu  interpellieren,  in 
allem,  was  sein  Wirkungskreis^  erfordert,  die  Verwaltungs- 
akte der  Regierung  der  Prüfung  zu  unterziehen  ..."  Dem 
Sinne  nach  muß  der  Ausdruck  „in  allem  was  sein  Wirk- 
ungskreis erfordert"  nicht  allein  auf  den  Folgesatz  bezogen 
werden,  sondern  auch  auf  den  einleitenden,  denn  Interpel- 
lationen sind  eben  eins  von  den  Mitteln,  welche  die  Prüfung 
von  Regierungsakten  ermöglichen.  Damit  scheint  der  Gegen- 
stand der  Interpellation  fest  umrissen :  er  muß  in  den  Wir- 
kungskreis der  interpellierenden  Kammer  fallen;  doch 
türmen  sich  da  neuerlich  Schwierigkeiten  auf  —  der  „Wir- 
kungskreis" eines  Hauses  ist  in  der  Praxis  nie  so  klar, 
wie  Gesetz  und  zuweilen  auch  Theorie  anzunehmen  pflegen. 
Ferner  zeigt  das  Interpellationsrecht  die  sichtbare  Tendenz, 
auf  den  buchstäblich  festgesetzten  Wirkungskreis  eines  par- 
lamentarischen Kollegiums  ausweitend  zu  wirken,  dessen 
Zuständigkeit  auszudehnen®. 

Die  Verfassungen  von  Hamburg  (Art.  65),  Lübeck 
(Art.  45)  und  Oldenburg  (Art.  128  §  2)  lassen  Interpella- 
tionen in  „Staats- Angelegenheiten"  zu. 

Werfen  wir  einen  Blick  auf  die  Litteratur,  so  fällt  es 
auf,  daß  sie  zwar  in  der  Behandlung  des  Interpellations- 
rechts  recht   stiefmütterlich   zu  Werke   geht,    dafür  jedoch 


^  Geschäftsordnungsgesetze  und  selbständige  Geschäftsordnungen  be- 
rühren den  Punkt  nicht. 

*  Daß  der  Gegenstand  der  Interpellation  in  den  Wirkungskreis  der 
Kammer  zu  fallen  hat,  sagt  ausdrücklich  auch  §  56  des  Landesgrundgesetzes 
für  Schwarzburg-Sondershausen. 

^  Bezügl.  des  „Wirkungskreises"  vergl.  u.  a.  Hauke,  Grundriß  des 
Verfassungsrechtes,  S.  53 ff;  femer  Ulbrich  im  österr.  Staatswörterbuch 
von  Mischler-Ulbrich  II.  Band  2.  Hälfte  1897,  S.  920  ff. 


VI  3. 


17 


I 


^"  fcftn 


umso  großmütiger  den  Kreis  um  die  Gegenatünde  zieht, 
welche  Interpellationen  zugrunde  gelegt  werden  können. 
Ülbrich  erklärt  die  gesamte  Regierungstäligkeit  ale  Gegen- 
stand der  Kontrolle,  aoroit  als  Gegenstand  von  Interpella- 
tionen;  Eyscben  '  und  Torres  Campoa'  lassen  die  von  ihnen 
eLarakterisiertcn  Kammern  über  alle  Angelegenheiten  von 
jjjjßentlicbem  Interesse"  interpellieren.  Der  Begriff,  „öffent- 
liches Interesae"  ist  ziemlieh  vieldeutig;  man  kann  sich  vor- 
stellen, daß  gewiß  Äußerst  sonderbare  Dinge  —  nehmen  wir 
B.  die  , Verkündigung"  eines  erd zerstörenden  Kometen 
—  breite  Schichten  der  Bevölkerung  zu  , interessieren"  im 
Stande  sind;  diese-s  Interesse  an  oben  angeführten  Kometen, 
ist  sogar  nicht  einmal  ein  private»,  und  doch  dürfte  es 
kaum  die  Eignung  haben,  in  einer  Interpellation  an  die 
Regierung  Ausdruck  zu  linden,  es  müßte  denn  sein,  etwa 
Form :  „Welche  Maßregeln  gedenkt  der  Herr  Minister 
;en  allfällige  Ruhestörungen  oder  Paniken  zu  ergreifen, 
,ie  eich  aus  Anlaß  der  Furcht  vor  dem  Kometen  ereignen 
konnten  ....?"  So  kann  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
allerdings  jede  Tatsache  zu  gerechtfertigten  Interpellationen 
Anlaß  geben,  aber  nicht  nur  deshalb,  weil  sie  das  „öffentliche 
Interesse"  in  Anspruch  nimmt,  sondern  weil  sie  auch  eine 
.rechtlich  relevante  Seite  aufweist. 

I  Redlich^  spricht  dem  englischen  Unterhause  die  Kom- 
petenz zu,  die  Regierung  über  die  innere  und  äußere  Politik, 
über  die  Landes-,  Reichs-,  und  Kolonialverwaltung,  über 
ihre  Absichten  und  Pläne  zu  interpellieren,  woraus  hervor- 
geht, daß  das  [nterpellations-Material  im  [JnterhauBe  seit 
dem  Jahre  1859*  eine  beträchtliche  Erweiterung  erfahren 
hat,  ohne  daß  ein  förmliches  Gesetz  dies  dekretierte. 

Von    der    französischen   Deputiertenkammer    und   dem 

'    BTRcben,     das    St&atsrecht    des    UroQherEogtiuna    Luieinbiir|r, 
D  S.  97. 

*  Torre»    Campoa,    da<i    Stanlsrechl    des  Küiiigreiche   Spanien, 
B89  S.  37. 

■  Redlicb  a.n.O.  S.  51».    S.  aucb  May,  a.a.O.,  11.  Bd.  H.  248. 

*  Vorgl.  Mjiy-Oppeiiüeiin  a.  «.  0.  ti.  26Ö. 

atuU-  ".  »olfce[T«<^litl.  Al.linn.ll.    VI  a.  -  Rosugger,  2 


18  VI  2. 

Senate  sagt  Pierre  ^,  daß  alle  Interpellationen,  welche  keinen 
unkonstitutionellen  Charakter  tragen,  zulässig  seien  und 
behandelt  an  verschiedenen  Einzelfällen  in  Bezug  darauf 
das  Problem  der  Verfassungsmäßigkeit  und  Verfassungs- 
widrigkeit. Zorn*  stellt  fest,  daß  der  deutsche  Reichstag 
seine  kontrollierende  Tätigkeit  auf  alle  und  jede  Sphäre  des 
öflfentlichen  Lebens  erstrecken  könne  und  Laband^  nimmt 
an,  daß  „keine  Aufgabe,  welche  das  Reich  als  der  souveräne 
deutsche  Staat  zu  erfüllen  hat,  kein  Gebiet  des  nationalen 
Gesamtlebens,  auf  welche  die  Fürsorge  des  Reichs  sich  er- 
streckt" von  „der  Teilnahme  und  Mitwirkung  des  Reichstages 
ausgenommen **  sei. 

Die  wenigen  hier  skizzierten  Ansichten  in  der  Litteratur 
können  leicht  zum  Glauben  verleiten,  die  Gegenstände  der 
Interpellationen  ließen  sich  überhaupt  gar  nicht  allgemein 
für  alle  Parlamente  bestimmen,  sondern  sie  müßten  für  jedes 
einzelne  speziell  auf  Grund  der  Verfassung  herausgearbeitet 
werden ;  das  entspricht  jedoch  nicht  ganz  den  Tatsachen : 
es  ist  möglich,  prinzipiell  jene  Gebiete  zu  charakterisieren, 
die  Interpellationen  behandeln  können,  aber  zugleich  muß 
für  die  einzelnen  Kammern  darauf  hingewiesen  werden,  daß 
besondere  Gesetze  besondere  Schranken  ziehen  können. 
Die  Grenze  zwischen  verfassungsmäßigen  und  verfassungs- 
widrigen Anfragen  läßt  sich  allerdings  nicht  streng  und 
dezidiert  feststellen;  sie  ist  wandelbar,  von  den  Ansichten 
der  politischen  Strömungen  und  von  der  Interpretation  der 
Gesetze  durch  die  verschiedenen  Staatsorgane  abhängig; 
gleichwohl  liegt  jenseits  aller  Wandelbarkeit  ein  fester  kon- 
stanter Kern,  auf  dem  die  Interpellationen  fußen. 

Um  den  gesetzlich  zulässigen  Inhalt  der  Interpellationen 
zu  erkennen,  muß  von  dem  Wirkungskreis  der  parlamen- 
tarischen Kollegien  ausgegangen  werden :  Diese  sind  durch- 


^  Trait^  de  droit  politique  61ectoral  et  parlamentaire  par  Eugene 
Pierre  2©  ed.  1902  S.  793. 

2  Zorn,  Das  Staatsrecht  des  Deutschen  Reiches,  2.  Aufl.  1895,  I. 
S.  241. 

^  Lab  and,  Das  Staatsrecht  des  Deutschen  Reiches,  4.  Aufl.  I.  S.  275. 


VI  2. 


19 


I 


wegs  für  Akte  der  Geaelzgebung.  Verwaltung  und  Kontrolle 
Euständig,  doch  ist  der  Umfang  dieser  Kompetenz  verschieden 
ausgebreitet;  es  ist  auch  kein  Gebiet,  auf  dem  sich  der 
Staat  betätigt,  prinzipiell  dem  direkten  oder  indirekten 
Eindusse  eines  Hauses  vollständig  entzogen,  aber  ihm  auch 
kaum  eines  auaschließlich  vorbehalten. 

Wenn  nun  aber  auch  im  Laufe  der  modernen  Ent- 
wicklung die  gesetzgebende  und  verwaltende  Tätigkeit  der 
Parlamente  gesetzlich  kaum  eine  Änderung  nennenswerter 
Art  erfahren  haben  dürften,  so  nahm  doch  die  Praxis  eine 
tatsächliche  Beschränkung  der  parlamentarischen  Arbeiten 
insofern  vor,  als  sie  wohl  ziemlich  überall  den  Willen  der 
Regierung  gegenüber  den  Parlamenten  stärkte  und  dieser 
„Wille"  die  Tendenz  hat,  bei  der  Bildung  des  „Staata- 
willena"  ein  maßgebenderer  Faktor  zu  werden,  als  der  Buch- 
stabe der  Verfassung  dies  vorzuzeichnen  glaubte  und  es 
vermuten  ließe.  Vor  allem  ist  es  das  Plenum  der  parlamen- 
tarischen Kollegien,  dessen  Bedeutung  in  Rückbildung  be- 
griffen ist,  während  die  Ausschüsse  und  Kommissionen  mehr 
und  positive  Arbeit  leisten,  doch  auch  sie  unter  der  Führung 
der  Regierung.  Symptomatisch  dafiir  ist  die  Schaffung  der 
neuen  Zivilprozessordming  in  Österreich  und  das  Anwachsen 
des  RegterungaeinSusses  auf  das  Budgetrecht  in  England, 
Diesem  Zurückdrängen  der  parlamentarischen  Betätigung  — 
eine  Betätigung,  die  manche  Enthusiasten  oft  als  „souveräne" 
bezeichneten,  —  folgte  jedoch  anderseits  eine  Korrektur  zu 
Ounsten  des  Parlamentes;  diese  ist  durch  die  allmähliche 
Attsweilfung  der  Kontrollrechte  gegeben. 

Die  Sta^ttsmascliine  wird  immer  komplizierter,  die 
Leitung  und  Förderung  der  ganzen  btaatlicheu  Organisation 
erfordern  gebieterisch  größere  und  grOßere  Sachkenntnis 
und  Konzentration  der  an  ihr  beteiligten  Faktoren  in  Bezug 
ftuf  die  inner-  und  au ßer-poli tischen,  sozialen,  ökonomischen 
und  technischen  Fragen,  die  als  Ergebnis  der  rasenden  kuU 
turellen  Evolution  wie  Pilze  aus  dem  Boden  schießen  und 
anwachsen.      Die    vielköpfige    Versammlung     eines     meist 


•20 


VI  2.1 


ziemlich  wahllos  zusammengesetzten  Parlamentes  kann  in 
ihrer  Gänze  Löchetens  koursbeatimmend  und  anregend, 
nicht  aber  positiv  arbeitend  wirken.  Die  dem  Parlamente 
zustehende  Initiative  zur  Schaffung  materieller  und  immi^ 
terieller  Mittel,  die  ausersehen  sind,  staatliche  und  sosials 
BedUrfniase  zu  befriedigen,  schrumpft  in  praxi  mehr  und 
mehr  ssusammen  und  konsequenter  Weise  nimmt  die  Ini- 
tiative der  Regierung  dadurch  unaufhaltsam  zu.  Die  Re- 
gierung, ein  Fachkollegium,  beschilfligt  sich  berufamääig; 
gestutzt  auf  einen  großzügigen  Apparat  von  Beamten,  In- 
f'ormationa-  und  Instruktions-Mitteln  mit  den  Aufgaben,  die 
dem  Staate  gestellt  werden.  Die  Spezialisierung  aller  Pro- 
bleme und  das  lawinengleiche  Anwachsen  der  gesetzlich  in 
den  Wirkungskreis  der  Parlamente  fallenden  Geschäfte 
machen  diese  zur  Bearbeitung  von  Fachfragen,  Ubei'haupt 
für  jede  eingehende  Arbeit  von  Tag   zu  Tag  ungeeigneter. 

Gemahnend  an  die  alten  ständischen  Versammlungen 
beginnen  die  „zweiten  Kammern"  die  Interessen  Währung 
der  von  ihnen  Vertretenen  in  den  Vordergrund  ihrer  Tätig- 
keit zu  stellen  und  der  Regierung  die  Sorge  für  die  „Staats" 
Wohlfahrt"  zu  überlassen.  Die  „ersten  Kammern"  hingegen 
wirken  als  retardierendes  Moment  auf  die  Aktionen  jener 
Staatsorgane  efu,  die  wenig  konservativ  oder  direkt  radikal 
Änderungen   in   der   staatlichen    Organisation  inaugurieren^ 

Mit  diesen  Ausführungen  wurde  der  historischen  Ent- 
wicklung entschieden  vorgegriffen;  keineswegs  in  allen 
Staaten,  kaum  in  einem  einzigen  ist  der  p'ditisch  parlamen- 
tarische Zustand  auegesprochen  ein  solcher,  daß  die  Regie- 
rungen gegenüber  den  Parlamenten  entschieden  in  den 
Vordergrund  geschoben  werden.  Gewiß  ist  zum  mindesten 
noch  Überall  ein  starker  tauschender  Schein  gewahrt,  und 
nur  die  Litteratur  berührt  hie  und  da  das  hier  Gesagte^ 
wenn  sie  z.  B.  erklärt,  daß  das  englische  Kabinett  de  fact» 
ein  AuaschuBs  des  Parlamentes  sei,  der  für  dieses  fast  un- 
bedingt den  Ton  angiebt;  sicher  sind  in  allen  modernea 
Staaten  Ansätze  zur  wachsenden  Macht  der  Regierung  vor- 


I 


rn  2. 


21 


I 


banden,  die  ala  positiv  schaffendes  Organ  an  Bedeutung 
gewinnt;  hingegen  wachen  die  Kammern  über  die  Gesetz- 
mäßigkeit der  Regierungshandlungen  —  die  parlamentarische 
Kontrolle  und  die  durch  die  breite  Öffentlichkeit  nimmt  an 
Aiiadehuung  zu.  Dieae  Kontrolle  erstreckt  sich  auf  den 
ganzen,  sowohl  dem  parlamentarischen  Kollegium,  als  der 
Verwaltung  zugewiesenen  Wirkungskreis  und  da  die  in  den 
der  erateren  fallenden  Aufgaben  tatsächlich  mehr  und  mehr 
von  der  Regierung  geleitet  werden  und  die  Parlamente 
durch  das  Budgetrecht  nur  mehr  oder  minder  beschränkend  und 
richtunggebend  agieren,  so  lenken  sie  ihr  Augenmerk  zu- 
vörderst auf  die  Beaufsichtigung  und  Kritik-  Darin  liegt 
auch  eine  Hauptursache  für  den  stets  wachsenden  Wert 
des  In terpellations rechts.  Wenn  die  volkavertretenden  Staats- 
organe ihre  Kontrolle  langsam  und  tastend  auch  auf  jene 
Gebiete,  die  vielleicht  nur  lose  und  nicht  unbestritten  mit 
ihrem  Wirkungskreis  zusammenhängen,  auszudehnen  suchen, 
80  nehmen  sie  sich  gewissermaßen  eine  Kompensation  für 
die  Verluste,  welche  ihr  Einfluß  aU  schöpferischer  Faktor 
im  staatlichen  Organismus  erfuhr.  Und  da  ist  es  das  Inter- 
pellation srecht  mit  seinen  Anfragen,  das  Materien  berührt, 
für  deren  Beurteilung  und  Behandlung  die  Kammern  nach 
dem  Buchstaben  des  Gesetzes  nicht  fraglos  kompetent  sind 
und  Interpellationen  sind  es,  die  aufklärungs bedürftige  Akte 
und  Ereignisse  durch  Aufdeckung  und  Besprechung  im 
Parlamente  der  öffentlichen  Aufmerksamkeit  zuführen,  was 
um  80  bedeutungsvoller  ist,  da  die  sogenannte  „öffentliche 
Meinung"  sogar  mit  Umgehung  der  repräsentativen  Institu- 
tionen eine  auf  die  Regierung  unmittelbar  und  konstant 
einwirkende  politiache  Macht  zu  werden  beginnt,  in  einer 
Form,  der  die  Verfassung  keine  gefestigte  Grundlage  bietet'. 

'    H.   Jellineh,    VerfMsUQgsälidenuig   und    VerfasRuugvwaDdliing. 

|490e,  H.  71  ff. 

Ein  nami Etil I barer  recbtlicber  Einöoit  des  Volken  vit  die  Regierung 
n unmittelbaren  Ucmokrntien"  gegeben;  wo  die«eB  Verisss ungnygtem 

[.,ai«ht  hemoht,  bleibt  nur  du  Waljlrecbt  aar  rcpräseutatiTen  Kammer  und 
I   ■chwäcbliche   PetitiooBreclit;   der   oben  etwäbute   constaut  wirkeude 


22  VI  2. 

Zwei  Hauptrichtiingen  fallen  besonders  auf,  nach  denen 
die  Vorstöße  der  Parlamente,  zumal  in  monarchisch  regierten 
Staaten  mit  ihren  Prärogativen  der  Krone,  verlaufen :  die 
militärische  und  die  diplomatische.  Zumeist  ermangelt  es 
auch  flir  die  Praxis  der  nötigen  scharfen  Grenzlinie,  die 
zwischen  den  Machtsphären  der  Regierungstätigkeit  einer- 
seits und  der  parlamentarischen  Machtsphäre  anderseits 
gezogen  ist,  und  die  Repräsentationsinstitutionen  des  Volkes 
streben  konsequent  nach  Erweiterung  ihrer  Aufsichtskom- 
petenz. Den  Ausgangspunkt  des  Weitergreifens  bieten 
ihnen  die  Befugnisse,  Geldmittel  für  den  Staatshaushalt  zu 
gewähren  oder  zu  versagen;  der  Zweck  des  Übergreifens 
ist,  das  Gebiet  der  Kontrolle  zu  erweitem;  die  Mittel 
dazu  liefern  vielfach  die  Interpellationen  an  die  Regierung 
über  kompetenzstrittige  Angelegenheiten,  wodurch  die  Zu- 
ständigkeit der  Kammern  zu  solchen  Einflußnahmen  be- 
hauptet und  dokumentiert  werden  soll. 

Nochmals  muß  erklärt  werden,  daß,  um  so  recht  klar 
und  deutlich  die  Hauptursachen  für  die  Erweiterung  der 
kontrollierenden  Tätigkeit  eines  Parlaments  zu  veranschau- 
lichen, das  Zurückdrängen  selbständiger  positiver  Arbeit 
desselben  und  das  damit  verbundene  Vordringen  der  Re- 
gierung auf  diesem  Gebiete  dezidierter  dargestellt  wurden, 
als  die  Tatsachen  des  parlamentarischen  Lebens  es  gestatten, 
aber  dem  objektiven  Beobachter  werden  die  zu  einer  solchen 
Wandlung  vorhandenen  Tendenzen  kaum  entgehend 

Der  Wirkungskreis  der  Parlamente  wird 
allmählich  sachlich  tatsächlich  erweitert,  zu- 
vörderst ihre  Zuständigkeit  zu  Kontrollakten 
ausgedehnt,  zugleich  aber  ist  die  Intensität 
ihrer  Anteilnahme   an   den  Arbeiten,   für  deren 


Einfluß  der  politisch  agierenden  „Volksmacht"  ist  streng  zu  scheiden  von 
revolutionären  Vorstößen,  denen  zwar  die  Unmittelbarkeit  der  Wirkung, 
doch  auch  Unstetigkeit  und  Rechtswidrigkeit  zukommen. 

^  Vergl.  J  e  1 1  i  n  e  k ,  Verfassungsänderung  und  Verfassungswandlung, 
8.  46 ff.;  71  ff. 


IVornahme  sie  kompetent  sind,   in  Abnalime  be- 
iffeu  *. 
Ob   die  Zukunft   ein  Weiterachreiten,  Stagnieren  oder 

■  «ogar  ein  Zurückgehen  dieses  Prozesses,  der  nicht  Überall 
Igleichmäßig  vor  sich  ging,  bringen  wird,  litßt  sich  kaum 
i  sagen  ^  man  wird  annehmen  dürfen,  daß  eine  Rückbildung 
l'ltller  Wahrecheinlichkeit  nach  nicht  zu  erwarten  steht,  doch 
I  keineswegs  als  aufgeschlossen  gelten  darf. 

Kehren  wir  zurück  zu  der  mit  diesem  Problem  in  Zu- 
r  sammenhang  stehenden  Frage  nach  dem  Gegenstände  der 
Interpellationen,  so  ist  rebus  sie  atantibu»  zu  konstatieren: 
alle  jene  Sphären  des  öffentlichen  Lebens,  auf 
die  der  Wirkungskreis  einer  Kammer  Bezug 
nimmt',  und  soweit  sie  auch  nicht  dem  Ein- 
flüsse der  Regierung  entzogen  sind,  können 
denStoff  für  quäl  ifi  zierte  An  fragen  an  letztere 
abgeben.  Dieser  Wirkungskreis  ist  jedoch  nicht  der  in 
der  geschriebenen  Verfassung  generell,  taxativ  oder  exempli- 
,  kativ  bezeichnete  und  von  der  Theorie  abstrakt  interpretierte, 

■  fondern  der  im  Verlaufe  der  parlamentarischen  Tätigkeit 
§aurch  die  Praxis   sich   bildende  gewohnheitlich  gefestigte". 

Da  die  kontinentalen  Kulturataaten  eine  ihrem  Wohl- 
B&hrtssysteme  entsprechende  Vielseitigkeit  besitzen,  die  bald 
Kala  polizeiliche  Bevormundung  bekämpft,    bald  als  humane 


'  Die  hier  angedeutet«  io  4cn  partanicntfiriHohen  Koilegiea  wahr- 
shmtiare  Tondeni  iet  eine,  die  in  erster  Linie  den  Ze  ntralparlnmenton 
rmkanunt,  bh  welchen  hier  nllerdinga  aacb  der  Ssterr.  K.R.  eiiurhUeBlich 
■einer  Delegation  gerechoet  wird.  Den  Kamraem  der  OlieditaaleD  eines 
Bandenataatea ,  den  Landtagen  der  im  R.R.  vertrcteuen  KCnigreiche  und 
Lünder  und  ähnlich  gearteten  Organ inationen  iet  eine  derartige  Ent- 
wicklung, wenn  auch  nicht  fremd,  so  doch  in  einer  anderen  auf  partikula- 
ittiBchen  Beatrebungen  beruhenden  Form  eigentümlich. 

■  Dagegen  Soydel,  Jlajeriuches  fitaataraoht,  S.  Aufi.  1896  I.,  S.  48ä: 
I  Interpellati  OD  «recht  ist  nicht  auf  die  Qe^eost&nde  de»  Wirkonga- 
I  dei  Landtages  beflchräukt"  —  eine  KoDstatierutig ,  die  in  ihrer 
üven    BcBtimmtheit   nicht    unbedenklich   erscheint,     t^.   auch   ebda. 

.  1.  wo  äejdel  Beine  Theorie  beernudet. 
*  Siehe  n.  a.  Seydel,  n.  a.  O.,  S.  Sö&ff.  u.  S.  375  IT.  über  die  den 
gekreia   dei   Bayrischen   Landlages   ausweitenden  Petitionen    und 
inigibeBchwerden. 


24  VI  2. 

Sozialpolitik  gepriesen  wird,  und  diese  Vielseitigkeit  auch 
den  Wirkungskreis  der  staaüichen  Organe  sehr  weit  zieht, 
so  gilt  für  die  Parlamente  des  Kontinentes  cum  grano  salis 
der  Satz:  Interpellationen  sind  über  alle  Fragen  zulässig, 
die  rechtliehen,  politischen  und  sozialen  Inhaltes  sind  und 
die  nicht  in  die  Prärogativen  des  Staatsoberhauptes  noch 
in  die  Unabhängigkeit  des  richterlichen  Amtes  ^  ein- 
greifen. 

Und  damit  ist  der  Kreis,  der  das  Interpellationsmaterial 
umschreibt,  charakterisiert,  zwar  nicht  mit  jener  Schärfe, 
die  für  jeden  Einzelfall  alle  Zweifel  darüber  ausschließt,  ob 
er  zu  den  abgezirkelten  Tatsachen  gehört  oder  nicht,  aber 
immerhin  prinzipiell ;  jeder  Aufstellung  eines  Prinzipes  haftet 
eben  die  Notwendigkeit  an,  es  in  der  Praxis  und  für  die 
Praxis  zu  interpretieren. 

Dem  hier  anerkannten  Prinzipe  mit  seinem  festen  Kern 
und  seinen  fluktuierenden  Grenzen  widerspricht  nicht  die 
Individualität  aller  staatlichen  Organisationen,  denen  die 
Gemeinsamkeit  gewisser  Strukturen  typisch  ist,  ohne  daß 
der  Typus  es  hinderte,  daß  die  abweichenden  äußeren  Er- 
scheinungsformen, die  oft  sehr  wesentlich  sein  können,  ihnen 
einen  individuellen  Stempel  aufdrücken.  Dem  gleichartigen 
Aufbau  des  Staates  als  Gattungsbegriff  und  dem  Mangel 
eines  Prinzipes,  das  etwa  lückenlos  und  konsequent  in  seinen 
Gesetzen  verwirklicht  wäre,  ist  es  zuzuschreiben,  daß  in 
den  einzelnen  Parlamenten  die  zur  Interpellation  führenden 
Akte  bald  engherziger,  bald  weitherziger  anerkannt  werden. 
Das  erstere  wird  zumeist  in  Monarchien,  das  letztere  in 
RepuUiken  der  Fall  sein;  so  ergehen  in  Frankreich  zum 
Teil  nicht  widerspruchslos  auch  Anfragen  über  die  praktische 
Rechtsprechung,    was   deshalb   begreiflich    ist,    weil    diese 


^  Selbstverständlich  können  aber  Fakten,  welche  die  administra- 
tive Seite  der  Justiz  betreffen,  zum  Gegenstand  von  Interpellationen  ge- 
macht werden. 


25 

Tdort    mehr     aU    anderswo    politischen    ElnäUsaen    zugäng- 
lich ist*. 

Wie  aber  die  Verhältniäae  heute  liegen ,  bann  die 
Praxis  die  Interpellationen  nicht  sehr  weit  von  dem  gesetü- 
lichoD  und  tatsächlichen  Felde,  zu  dessen  Bearbeitung  ein 
Haus   zuständig  ist,    abirren  lassen,  ohne  dadurch   —   eine 

»Duldung  von  Seite  der  Regierung  überdies  vorausgesetzt  — 
die  Kompetenz  der  parlamentarischen  Kollegien  zu  erweitern. 
Diese  rechtliche  Konaequenz  eines  politischen  Vor- 
Ipinges  darf  nicht  zu  gering  angeschlagen  werden, 
Zusammenfassend  lautet  das  Ergebnis  der  Spezial- 
hntersuchung  über  die  als  Grundlagen  für  Interpellationen 
«ulftesigen  Gegenstände:  Alle  Tatsachen  und  Aktionen,  die 
in  den  durch  das  Gesetz  und  die  Praxis  sich 
fixierenden  Wirkungskreis  einer  Kammer  fallen, 
können  Material  parlamentarischer  Kontrolle  werden  und 
Interpellationen  begründen.  Anderseits  sind  es  auch  Inter- 
pellationen, die  ausweitend  auf  die  Kompetenz  eines  Parla- 
mentes wirken. 

X  Der  rechtliche  Gbarakter  des  Interpellatlonsrecbts. 

Da»  Interpellationsrecht  als  Inbegriff  von  Bestimmungen, 
siehe  die  qualifizierten  Anfragen  an  die  Regierung  regeln, 
organisatorischer  Natur   und   zerfällt   in  ein  materielles 
md  in  ein  formelles. 

Das  materielle  Interpellationsrecht  setzt  die  Kompetenz 
Mner  Kammer  zu  Interpellationen  fest,  es  schafft  damit  kein 
labjektives  Recht  des  Hauses  oder  seiner  Mitglieder,  sondern 
pklärt  sie  nur  für  zuständig,    Interpellationen  zu  stellen'. 

'  Bill  Gegenstflck  da2u  Iktert  Kußland,  iro  nnr  Ober  gewisie 
'ungflakte,  die  „Dicht  gcaetzmäßig;  ncheinen",  InterpellatioDen  der 
«  BnUBaig  aind.  Ü  bei.  Teil,  Abach.:  Da,t  Interpellationsrecht  anderer 

Eng  ist  scheinbar  auch  der  Kreis  der  Objekte  fflr  da«  italienisabs 
PBrlkmeot  geiogeii  —  ver^I,  Briisn  a.  a.  O.  S.  166. 

■  Dngegen  d.  a.  Seydel  n.  a.  O.,  S.  494",  der  die  „InterpellatJon" 
als  eia  „ppreanlichea  gesetiliche^  Recht  des  Kammennitgliedas"  nur  be- 
Rcbrinlct  dnreh  die  Nntwesdigkeit  einer  „ Unter* lütitui^  auffallt. 


26  VI  2. 

Der  Mangel  eines  subjektiven  Interpellationsrechts  folgt 
aus  der  Stellung,  welche  parlamentarische  Kollegien  in  der 
staatlichen  Organisation  als  Organe  des  Staates  einnehmen ; 
demnach  sind  sie  keine  Korporationen,  keine  juristischen 
Personen,  nicht  Träger  von  subjektiven  Rechten,  die  ihnen 
etwa  zur  Wahrung  eigener  Interessen  und  zu  deren  Geltend- 
machung tibertragen  wurden,  sondern  diese  Organe  üben 
staatliche  Funktionen  aus,  woran  auch  der  Umstand  nichts 
ändert,  daß  die  Parlamente  zugleich  Organe  des  in  Ge- 
sellschaftskreise, Gruppen  und  Parteien  gegliederten 
Volkes  sind  ^. 

Wenn  nun  die  Verfassung  eine  Kammer  fUr  kompetent 

erklärt,   die  Minister  zu  interpellieren,   so  bleibt  nur  noch 

die  Frage  offen,  ob  damit  auch  eine  Pflicht  des  Interpellierten 

zur  „Antwort"  begründet  ist^ 

Gehen  jedoch  die  Gesetze  über  die  „Interpellationen" 

völlig  mit  Stillschweigen  hinweg,  so  tauchen  eine  Reihe 
komplizierter  Probleme  auf:  ob  etwa  ein  Parlament  nur 
auf  Grund  seines  Wirkungskreises,  auch  ohne  weitere  aus- 
drückliche Zuständigkeitserklärung  dazu,  berechtigt  sei, 
Interpellationen  einzubringen  —  ob  es  sich  vielleicht  durch 
die  G.O.  dafür  selbst  kompetent  erklären  könne  —  ob 
daraus  dem  Interpellierten  eine  Äußerungspflicht  erwachse 
und  dergleichen  mehr. 

Mit  der  Durcharbeitung  dieser  Fragen  wird  das  so 
überaus  strittige  Gebiet  des  Gewohnheitsrechtes  und  sein 
Verhältnis  zum  Gesetzesrecht  berührt  werden  müssen,  ohne 
daß   es  der  Zweck  dieser  Monographie  sein  kann,   an  eine 


'  Bezügl.  der  Organstellung  des  Parlamentes  vergl.  Jellinek, 
System  der  subjektiven  Rechte,  2.  Aufl.,  S.  228  ff.;  ders.,  Allgemeine  Staats- 
lehre, 2.  Aufl.,  S.  546 ff.;  568 ff. 

*  Unter  „Beantwortung"  wird  in  der  Literatur  bald  nur  eine 
materielle  Antwort  auf  die  Interpellation  verstanden,  bald  jede 
Äußerung  des  Interpellierten  auf  eine  Anfrage,  mag  sie  auch  nur  ent- 
halten, daß  das  Thema  für  weitere  Erörterungen  ungeeignet  sei.  EUn- 
deutiger  wäre  es,  ganz  allgemein  von  „Äußerung"  zu  sprechen,  wenn  eine 
negativ  formelle  Antwort  mit  inbegriffen  sein  soll,  dagegen  von  „Be- 
antwortung", sobald  es  sich  um  eine  materielle  Erledigung  handelt. 


pVI  2.  27 

prinzipielle  Lösung  der  in  der  Litteratiir  hör  räch  enden 
Ueinungsdifferenzen  heranzutreten. 

Für  das  In terpell.it ionsrecht  kommt,  und  diese  Tat- 
sache darf  vor  Allem  nicht  übersehen  werden,  das  maß- 
gebende Faktum  in  Betracht,  daÖ  in  allen  europäischen 
Kammern,  mag  das  Gesetz  dafür  Vorsorge  treffen,  oder 
nicht,  interpelliert  wird  und  die  Praxis  keinen  namhaften 
Unterschied  zwischen  gesetzlich  ausdrücklich  begründeten 
und  gesetzlieh  nicht  ausdrücklich  begründeten  Interpella- 
tionen kennt.  Zur  juridischen  Durchleuchtung  der  Er- 
scheinungen auf  dem  Gebiete  des  Interpellationaverfahrens 
werden  wir  zu  trennen  haben  das  Interpellationsrecht  ohne 
ausdrückliche  gesetzliche  Grundlage  von  dem  ni  i  t  ausdrück- 
licher gesetzlicher  Grundlage '. 

Dem  wird  sich  schließlich  eine  Besprechung  des  for- 
mellen Interpc-Ilationsrechtä  anschließen,  das  die  Art  und 
Weise  bestimmt,  in  der  Interpellationen  in  Erscheinung 
treten. 

A.    Das  InterpellatiOQsrecht  ohue  ausdrückliche 

gesetzliche  Grniidlage. 

In  manchen  Htaaten  schweigen  die  Verfassungsgesetze 
darüber,  ob  ein  parlamentarisches  Kollegium  zuständig  sei, 
Jlinister  zu  interpellieren.  Solche  und  ähnliche  „LUcken" 
in  Verfassungen  sind  nichts  seltenes,  und  nicht  gerade  die 
flir  die  Praxis  ungeeignetsten  Konstitutionen  zeichnen  oft  nur 
in  großen  Umrissen  die  staatliche  Organisation  und  über- 
lassen es  Ergänzungsgesetzen  oder  der  stillschweigenden 
Übung,  alles  das  zu  regeln,  was  durch  sie  selbst  unerledigt 
blieb. 

Mit  Recht  vermeidet  man  es,  durch  schwerfällige,  he- 
^nders  komplizierte  Bedingungen  in  Bezug  auf  Abänderung 


'  WeuD  nicht,  wtw  siDn^mäBer  schiene,  an  «roter  Bt«11e  das  „im 
GwetzB  ausdrücklich  bekundete  InteriiellalioniTecht"  zur  (Sprache  kommt. 
■o  lind  fllr  den  Autor  teuhnicche  Gründe  inaBgehend  gewesen :  er  hofft  so 
Wiederliolungen  tunlichst  zu  vermvideti. 


28  VI  2. 

unterworfene  Normen  die  staatlichen  Grundprinzipien  bis 
in  alle  feinsten  Details  festzulegen,  denn  dadurch  würde 
man  der  Praxis,  die  sich  dem  un vorherzusehenden  Wechsel 
anzupassen  hat,  unleidlichen  Zwang  anlegen  und  der  wün- 
schenswerten staatsrechtlichen  Entwicklung  überhaupt  Hem- 
mungen bereiten. 

Gewisse  Materi^a  scheut  man  sich  wegen  der  ihnen 
anhaftenden  politischen  Delikatesse  normativ  zu  fixieren; 
die  Gesetzgeber  begnügen  sich  mit  der  Schaffung  von 
„Verheißungsgesetzen,"  die  einerseits  gewiesen  Forderungen 
entgegenkommen,  anderseits  aber  der  Anwendbarkeit  ent- 
behren, so  lange  nicht  Durchführungsvorschriften,  an  deren 
Erlassung  nicht  einmal  gedacht  wird,  praktisches  Recht  ^^ 
zeugen.  In  solchen  Fällen  wurde  dem  Verlangen  nach 
rechtlicher  Erfassung  dieser  oder  jener  öffentlichen  Tatsache 
theoretisch  Rechnung  getragen,  ohne  sich  hierbei  der  Täu- 
schung hinzugeben,  daß  praktisch  eine  klaglose  Ordnung 
dieser  Angelegenheiten,  vorderhand  wenigstens,  ins  Gebiet 
der  Möglichkeit  oder  Wahrscheinlichkeit  gehört^. 

Derartige  Lücken  ^,  falls  keine  Ergänzung  durch  Nach- 
tragsgesetze erfolgt,  soweit  als  möglich  zu  beseitigen,  ebenso 
wie  am  geschriebenen  Rechte  die  sich  als  notwendig  heraus- 
stellenden Korrektionen  vorzunehmen,  muß  der  rechtsbil- 
denden Kraft  des  Tatsächlichen  vorbehalten  bleiben.  Man 
könnte  nun  zur  Annahme  verleitet  werden,  daß  die  sich 
zu  Rechten  und  Pflichten  verdichtenden  Übungen  der 
Praxis,   wenn  einmal  genügend  befestigt  und  bewährt,    for- 

^  Es  sei  nur  auf  Art.  19  des  österr.  StG.G.  über  die  allgemeinen 
Rechte  der  Staatsbürger  mit  seiner  Unrealisierbarkeit  hingewiesen. 

'^  „Lücken  in  der  Verfassung^  sind  entweder  von  allem  Anfange  an 
vorhanden  oder  entstehen  erst  später  dadurch,  daß  die  wirtschaftliche, 
soziale  und  politische  Entwicklung  neuartige  Verhältnisse  schafft,  die  einer 
prinzipiellen  rechtlichen  Regelung  bedürfen.  Von  nur  „scheinbaren  Ver- 
fassungslücken'' kann  man  dann  sprechen,  wenn  sie  durch  eine  reguläre 
Interpretation  des  Gesetzes  zu  beheben  sind,  doch  werden  widerstreitende 
Auslegungen  bei  wichtigen  Problemen  den  Mangel  einer  ausdrücklichen 
Bestimmung  fühlen  lassen.  Dem  kann  abgeholfen  werden  durch  eüun 
Formalakt  der  Legislative  oder  durch  Bildung  eines  Gewohnheits- 
rechtes. 


VI  2. 

mell  auch  in  der  VerfaaeuDg  Aufnahme  und  wichtige  Fragen 
:*o  authentische  Löaung  finden  würden,  aber  diesem  selten 
zu  beo bat; blenden  Vorgehen  widerspricht  eine  beinahe 
wunderliche  Abneigung  gegen  VertasaungeänderuDgen. 
Typisch  dafür  ist  die  nordamerikanische  Union,  doch  auch 
die  D.R.V,  bietet  aehfttzbares  Untersnchungsraaterial. 

Wie  in  den  schweren  Kämpfen,  die  den  Tod  des  Ab- 
eolutiamus  besiegelter,  das  leidenschaftliche  Begehren  nach 
einer  Konstitution,  nach  einer  Verfassung,  ertönte,  und  eine 
ideale  Anschauung  in  der  Erfüllung  dieses  politischen 
Sehnens  die  Eröffnung  kaum  geahnter  Perspektiven  für 
das  Volkswohl  erblickte,  da  entstand  oder  festigte  sich  die 
fixe  Idee,  die  Verfassung  sei  der  Bauplan  des  neuorgani- 
sierten Staates;  an  ihr  dürfte  man  möglichst  wenig  rühren, 
sie  müsse  über  dem  Wandel  der  Augen  bllcksvariatio neu 
unversehrt  und  erhaben  thronen.  Das  war  ein  arges  Ver- 
kennen des  gesellschaftlichen  Lebens;  die  Verfassung,  im 
materiellen  Sinne  nichts  anderes,  als  die  organisierende 
Hachtsphttrenabgrenzung  zwischen  den  sozialen  Bestandteilen 
des  Staates,  muß  auth  den  sozialen  Machtverschiebungen 
nachrücken,  soll  sie  nicht  Gefahr  laufen,  mit  der  Zeit  za 
einem  bedruckten  oder  beschriebenen  Stück  Papier  degra- 
diert zu  werden,  so  daß  nicht  sie,  sondern  nur  die  Be- 
obachtung der  Tatsaühen  ein  wirkliches  und  wahres  Bild 
der  staatlichen  Organisation  gibt  Tatsächlich  ist  die 
Theorie  von  der  Heiligkeit  fundamentaler  Gruudgesolze  noch 
nicht  verschwunden  und  daher  müssen  wir,  um  die  faktische 
Organisation  eines  Staates  mit  allen  ihren  reichen  Hilfs- 
mitteln kennen  zu  lernen,  neben  der  formellen  Verfassung 
echeinbar  oft  nebensilchliche  Gesetze,  Verordnungen  und  das 

raktische  Schalten  und  Walten  auf  staatsrechtlichen  Terri- 

H-ien  ine  Auge  fassen'. 


'  Ver([l.  OuinplowicK,  <!m  Meir,  StK.  1902,  8.  20:  „,  .  .  sie 
(eine  VOTTHSBun^urkunil?!  kann  allen&llii  als  Oruiidia^  uad  AiisgaogH- 
pDDkt  weiterer  Entwioklung  dienen:  um  aber  Utsichlich  die  VeräuiRUiig 
QM  Stuti»  m  werden  and  eine  aoldie  in  der  WirkJicbkeit  sa  sein,  muK  sie 


30  VI  2. 

Und  wenn  wir  nun  die  Frage  nach  dem  Interpellations- 
rechte für  jene  Parlamente,  denen  es  das  Gesetz  nicht  aus- 
drücklich zugesprochen  hat,  beantworten  wollen,  so  dürfen 
wir  nicht  bei  dem,  was  staatsrechtlich  sein  soll,  Halt  machen, 
sondern  müssen  auch  noch  das,  was  ist,  in  den  Kreis  der 
Untersuchung  ziehen.  Ein  Teil  des  Problems  läßt  sich, 
entsprechend  der  Theorie  von  der  Organstellung  des  Par- 
lamentes, folgendermaßen  formulieren: 

Ist  eine  Kammer  zufolge  der  Aufgaben 
ihres  Wirkungskreises  ohne  weiteres  für  die 
Stellung  von  Interpellationen  an  die  Regierung 
kompetent  oder  nicht?*. 

Den  Wirkungskreis  eines  parlamentarischen  Kollegiums, 
das  nicht  auf  eine  organische  Entwicklung  zurückschauen 
kann,  zu  bestimmen,  stößt  nicht  nur  in  der  Theorie,  sondern 
kuch  in  der  Praxis  häufig  auf  große  Schwierigkeiten ;  er 
ist  abzugrenzen  gegen  den  Wirkungskreis  der  Verwaltung 
und  der  Justiz  einerseits,  gegen  den  anderer  zur  Gesetzgebung 


jene  notwendige  Entwicklung  behufs  Anpassung  an  die  wirklichen 
Machtverhältnisse  erst  durchmachen  und  die  zu  diesem  Zwecke  nötigen 
Korrekturen  hinterdrein  erhalten;  sie  muß  den  Ausgleich  mit  der 
Wirklichkeit  durchmachen,  bevor  sie  als  tatsächliche  Verfassung  aus 
dem  Kampfe  der  sozialen  Bestandteile  nach  ihren  gegenseitigen  Macht- 
verhältnissen modifiziert  und  approbiert  hervorgeht,  um  sodann  wieder 
in  den  Strom  der  staatsrechtlichen  Entwicklung  gestellt  zu  werden. '^ 

Jellinek,  Verfassungsänderung  und  Verfassungswandlung ,  1906, 
8.  2.  ,,Wir  wissen  heute,  daß  Gesetze  viel  weniger  vermögen,  als  man 
noch  vor  einem  Jahrhundert  glaubte,  daß  sie  stets  nur  ein  Sollen  be- 
deuten, dessen  Umsetzung  in  Sein  niemals  in  vollem  Umfange  stattfindet,  da£ 
das  reale  Loben  daher  stets  Tatsachen  erzeugt,  welche  dem  vernünftigen 
Bilde,  das  der  Gesetzgeber  zeichnet,  nicht  entsprechen.  .  .  .  Die  Grund- 
gesetze, wie  alle  anderen,  sind  mit  unentrinnbarer  Notwendigkeit  ...  in 
den  Fluß  des  historischen  Geschehens  gestellt" 

La  band,  die  Wandlungen  der  D.R.V.,  im  Jahrbuche  der  Gehe- 
Stiftung,  Bd.  L  1896,  S.  2:  „Zwischen  dem  wirklichen  Verfassungszustand 
eines  Staates  und  den  in  der  Verfassungsurkunde  formulierten  Regeln  be- 
steht oft  ein  so  großer  Unterschied,  daß  die  erstere  die  größten  Um- 
wandlungen erfahren  kann,  ohne  daß  der  Wortlaut  des  Verfassungsgesetzes 
abgeändert  zu  werden  braucht." 

^  Es  sei  hier  gleich  erwähnt,  daß  für  das  englische  Unterhaus 
Palmerstone  1861  diese  Frage  wenn  auch  indirekt,  so  dennoch  unzweifelhaft 
bejaht  hat.     Vergl.  Redlich,  a.  a.  O.,  S.  141. 


iiri  2. 

Mithilfe    zur    Gesetzgebung    berufener    Staatsorgane 
PttDderseits. 

Id  dieser  Darstellung  muß  das  Problem  des  „Wirkungs- 
liaea"    jener    Eammern    gestreift    werden,     um    daraus 
■  Folgerungen    zu    zielien,     für    die    der    Gesetzesbuchstabe 
B.daa  luterpellationsrecbt   ignoriert.      Dies    ist   in    der    Ver- 
fassung    des    Deutschen     Reiches     bezüglich    des     Reichs- 
tages  der  Fall;   sie  schweigt  über  dessen  Zuständigkeit  zu 
Interpellationen,    aber    sie    beruft    ihn    zur    Kontrolle    der 
Regierung  innerhalb  gewisser  Grenzen  und  statuiert  die  Ver- 
Lwitwortlichkeit  des  Reichskanzlers'.  Diese  Verantwortlichkeit 
l^rd  durch  politische  Mittel  geltend  gemacht;  die  Möglichkeit 
flines  Anklageverfahrens  besteht  nicht,  da  es  dafür  an  den 
nötigen  gesetzlichen  Bestimmungen  fehlt,  aber  der  Reichstag 
vermag  auch  gegen  Gesetzwidrigkeiten  mit  seinen  politischen 
Machtmitteln  vorzugehen ;  auch  mufi  betont  werden,  daß  dem 
allgemeinen  Interesse  oft  weniger  damit  gedient  wird,  daß  alle 
Aktionen  sich  streng  im  Rahmen  des  Gesetzes  vollziehen,  als 
damit,   daß   sie-   zweckentsprechend    und  nützlich  sind  und 
Zweckmäßigkeit  wird  sogar  das  Manko  der  Geaete Widrigkeit 
in  praxi  unter  Umstünden  beheben  können. 

Das  sind  Fragen  der  Politik,  zumeist  der  praktischen 
Politik  im  Einzelfalle,  aber  unsere  Beobachtungen  der 
Bosialen  Gestaltungen  führten  uns  zur  Erkenntnis,  daä  es 
weite  und  wichtige  Grenzgebiete  giebt,  von  denen  man 
nicht  mit  Bestimmtheit  sagen  kann,  oh  sie  nicht  auch 
rechtlicher  Natur,  von  denen  es  jedoch  gewiß  ist,  daß  sie 
dtirch  die  streng  juridische,  alle  gesetzliche  und  rechtliche 
Irrelevanz  absorbierende  Brille  betrachtet,  die  ganze  staat- 
liche Organisation  nur  als  Fragment,  nur  alt  ein  Bruchatlick 
zum  Bewußtsein  kommen  lassen. 

So  geht  es  auch  nicht  an,  die  tatsAchliche  politisch 
parlamentarische  Verantwortlichkeit  der  Minister  als  jenseits 
jeder  rechtlichen   Sphäre   liegend,   zu   betrachten.     Sie   ist 


'  D.ß.V.  Art.  4,  17,  72. 


32  VI  2. 

der  Ausfluß  der  Kontrollbefugnis,  die  in  den  Wirkutigskreis 
eines  Parlamentes  fkllt  —  und  mit  ihr  fallen  auch  Mittel 
hinein,  sie  zu  üben  ^. 

Welche  Mittel  sind  nun  einem  Hause  für  die  Kontrolle 
gegeben?  Abgesehen  von  dem  rein  etatrechtlichen  der 
Rechnungsprüfung  und  abgesehen  von  mehr  minder  privaten 
Erkundigungen  kommen  neben  Adressen,  Resolutionen, 
Petitionen,  Kommissionen,  die  direkten  Anfragen  an  die 
Minister  in  Betracht  2. 

Sowie  ein  Parlament  für  die  Kontrolle  zuständig  ist,  muß 
es  auch  für  competent  erachtet  werden,  den  Kontrollierten 


^  Fortlaufend  praktisch  gestaltet  sich  nur  die  Verantwortlichkeit  der 
Minister  für  die  Zweckmäßigkeit  ihrer  flandlungen  vor  dem  Parlament«, 
das  allerdings  —  was  eine  Folge  der  scheinbaren  Lebensunfahigkeit  eines 
formellen  Anklageverfahrens  in  den  meisten  Staaten  —  auch  die  Gesetz- 
widrigkeit ministerieller  Akte  durch  Ausspruch  eines  Mißtrauensvotums, 
dessen  schärfste  Form  die  Budgetverweigerung  ist,  zu  richten  pflegt  Und 
so  lange  eine  Kammer  imstande  ist,  im  Etat  Striche  vorzunehmen,  sowie 
überhaupt  Pläne  der  Regierung  zu  vereiteln,  so  lange  ist  sie  auch  im- 
stande, deren  Vertreter  wegen  Rechtsbruches  oder  Interessenverletzungen 
insofern  zur  Verantwortung  zu  ziehen,  als  sie  ihnen  Schwierigkeiten  durch 
eine  Durchkreuzung  ihrer  Bestrebungen  bereitet 

In  diesem  Sinne  stehen  „Kontrolle"  und  „Ministerverantwortlichkeit" 
im  engsten  Zusammenhang. 

Ob  die  politische  und  eben  angedeutete  staatsrechtliche  Ver- 
antwortlichkeit der  Minister  vor  dem  Parlamente  im  herrschenden  Zuge 
der  Demokratisierung  einer  Art  „sozialen"  vor  der  Öffentlichkeit  weichen 
wird,  ist  eine  Frage,  deren  Beantwortung  in  der  Zukunft  liegt;  Anzeichen 
scheinen  für  eine  Holche  bedeutsame  Wandlung  zu  sprechen  und  „Inter- 
pellationen" tragen  auch  die  Fähigkeit  in  sich,  schnell  und  prägnant  auf- 
klärungsbedürftige Regierungsakte  in  den  Kreis  der  allgemeinen  Auf- 
merksamkeit zu  schieben. 

Vergl.  Jellinek,  Verfassungsänderung  und  Verfassun^swandlung, 
8.  41  f.;  S.  74;  Low,  The  governance  of  England,  2.  Aufl.  1906,  S.  91  ff.; 
Bezügl.  der  Arten  der  Miuiste^erantwortlichkeit  s.  Hauke,  Die  Lehre 
von  der  Ministerverantwortlichkeit,  1880,  S.  8  f.;  12ff. ;  Frisch,  Die 
Verantwortlichkeit  der  Monarchen  und  höchsten  Magistrate,  1904,  S.  48, 
147  ff.;  8.  auch  S.  372  f. 

*  Vergl.  Ul brich,  österr.  Staatswörterbucb ,  B.  II,  zweite  Hälfte, 
S.  924;  derselbe,  das  österr.  StR.,  1904,  S.  105 f. 

Redlich,  a.  a.  O. ,  S.  294,  sagt  betreffs  der  Informationsmittel, 
die  zumeist  auch  Kontrollmittel  sind  „.  .  .  (es)  darf  wohl  vorübergehend 
bemerkt  werden,  daß  nicht  nur  die  ältere  konstitutionelle  Theorie  des 
Festlandes  wie  auch  die  neuere  deutsche  Staatsrechtslehre  die  außer- 
ordentliche politische  und  rechtliche  Bedeutung  dieses  Grundrechtes  auf 
Information  keineswegs  genügend  erkannt  und  gewürdigt  hat." 


ryi  2, 


33 


I 


über     gewiaae    Akte    zu     befragen;      es     ist     eine    interne 

igelegenheit  einer  Kammer,  zu  beatimmen,  welche  beson- 

Formen    sie   für    vom    Verhandlungsthema    abirrende 

terpellationen    fordert,     aber    daß    dolcbe    gemäß    ihrer 

Stellung  verfassungsmäßig  sind,    geht  aus  der  sinngemitßen 

Grenzbestimmung    des    parlamentarischen    Wirkungskreises 

hervor.     Natürlich  kann  ein  Gesetz  durch  ein  akzentuiertes 

Verbot'  Interpellationen  kurzweg  ausschließen;  sowie  aber 

Gesetze  darüber  nur  einfach  mit  Htitlschweigen  hinweggehen, 

mögen  sie  auch  die  staatsrechtliche  Verantwortlichkeit 

der  Regierung  negieren  —  eine  Negation  der  politischen 

ist  m.  E.  ausgeschlossen  — ,  müssen  Interpellationen  als  in 

dea  Wirkungskreis  einer  Kammer  fallend  angesehen  werden. 

Daß  diese  Auslegung  so  ziemlich  allgemein  anerkannt 
it,  beweisen  die  Tatsachen  der  Praxis. 

Die  Regierungen  hatten  ja  immerhin,  wenn  sie  die 
Interpellationen  eines  Parlamentes  als  ungehörigen  Übergriff 
betrachtet  hätten,  die  Möglichkeit,  deren  Einbürgerung 
durch  Ignorierung  der  Anfragen  zu  verhindern;  taten  sie 
das  nicht  von  allem  Anfange,  gaben  sie  dadurch  nicht  ihre  An- 
sicht über  die  von  ihnen  behauptete  Kompetenzüberschreitung 
kund,  80  halfen  sie  durch  ihre  Duldung  die  parlamentarische 
Konipetenzsphäre  dahin  zu  interpretieren,  daß  auch  Inter- 
pellationen in  sie  fallen. 

Auch  der  Umfang  des  Wirkungskreises  ist  der  Er- 
scheinung der  Verfassungswandlung  unterworfen ;  tatsächliche 
Vornahme  von  Akten  durch  ein  Staatsorgan  und  rUckhalta- 
lose  Duldung  derselben  dui'ch  andere  Staatsorgane  können 
sie  zu  von  berufener  Seite  vorgenommenen  Rechtsakten 
stempeln. 
I         Die  Ergebnisse  theoretischer  Erwägung  und  praktischer 


B  '  Einem  solchen  Verbote  kontnit  in  den  Kon9ei|ueDieii  der  geseCttiche 

AnBichluB  der  Regieruiigsmitgüeder  von  den  Sitzungen  eüiei)  tlAUsei 
);leich;  damit  i«t  praktiach  die  Möglichkeit  nti  Interpellationen  (nfttltrliob 
nicht  die  snr  Kontroll«  ülierhaupt  und  die  MiuiBterverantwortlielikeil]  gt- 


34  VI  2. 

Folgerungen  zusammenfassend,  kann  somit  die  Behauptung 
dezidiert  aufgestellt  werden,  daß  einem  Parlamente,  dem 
Kontrollrechte  zustehen,  auch  das  Interpellationsrecht  ge- 
bührt; und  die  G.O.  welche  ein  solches  annimmt  und  be- 
hauptet, nimmt  eine  Interpretation  der  Verfassung  vor*. 

Fraglich  mag  es  für  die  Theorie  sein,  wie  groß  der 
staatsrechtliche  Gehalt  eines  solchen  Interpellationsrechtes 
ist,  sein  politischer  ist  jedenfalls  anerkannt^.  Es  muß  aber 
nochmals  wiederholt  werden,  daß  wenn  wir  in  den  staat- 
lichen Einrichtungen  alle  Institutionen,  die  nicht  der  for^ 
mulierte  Ausdruck  eines  Gesetzes  sind,  als  rechtlich  bedeu- 
tungslos bezeichnen,  schließlich  theoretisch  nur  eine  ganz 
unvollständige  staatliche  Rumpforganisation  zurückbleibt. 
Der  durch  die  Praxis  gelieferte  Kitt  ist  durch  die  Dauer 
seines  Bestandes  so  hart  und  uuausscheidbar  geworden,  daß 
die  aus  den  Tatsachen  abgeleiteten  abstrakten  Regeln  Form 
und  Bedeutung  von  Rechtssätzen  annahmen. 

Diese  nun  als  Gewohnheitsrecht  zu  bezeichnen,  oder 
sie  unter  einem  andern  Begriff  zu  subsumieren,  ist  eine 
Frage  der  juridischen  Technik.  Solche  Regeln  sind  eben 
da  und  Staatsorgane  handeln  nach  ihnen. 

Wie  es  sich  nun  mit  der  Außerungapflicht  des  Inter- 
pellierten auf  im  Gesetze  nicht  ausdrücklich  anerkannte 
Anfragen  verhält,  ist  eine  weitere  Frage.  Ganz  allgemein 
wird  man  sagen  müssen,  daß  eine  solche  besteht. 

Das  Vorhandensein  einer  solchen  Außerungspflicht  ist 
zu  bejahen,  mag  sie  nun  eine  rechtliche,  politische  oder 
moralische   sein;  auf  die  Bezeichnung  kommt  es  nicht  an. 


*  Für  Norwegen  leitet  Aschehoufi",  das  Staatsrecht  der  vereinigten 
Königreiche  Schweden  und  Norwegen,  I086,  S.  144,  das  Interpellations- 
recht  aus  der  Befugnis  des  Storthings  ab,  jedermann  vor  seine  Schranken 
zu  laden,  um  ihn  über  Staatsangelegenheiten  zu  vernehmen. 

^  Die  politische  Durchschlagskraft  von  Interpellationen  hängt  von 
mancherlei  Faktoren  ab ,  die  juridisch  nicht  erfaßbar  sind ,  so  von  der 
Farteistellung,  dem  persönlichen  Ansehen  des  Interpellanten  u.  dergl. 
mehr.  Siehe  Low,  a.  a.  O.,  S.  92;  vergl.  auch  La  band,  Staatsrecht, 
I,  S.  283  f. 


VI  2. 


a5 


Und   aljermals   ist   ea   die  Praxis,   die   zu   dieser  Bejahung 

■  berechtigt. 

I  Die  Äußerung  kann  sein  eine  materielle  Antwort  oder 

I  die  Verweigerung  einer  aolchen  mit  oder  ohne  Angabe  von 
Gründen.  Als  Regel  wird  man  als  Mindestpflicht  eine  mit 
Gründen  versehene  Antwortsablehnung  durch  den  Inter- 
pellierten annehmen  müaaen.  Wenn  gesagt  wird,  daß  die 
englischen  Minister  ohne  Angabe  von  Gründen  die  Antwort 
verweigern  können,  was  sich  in  einem  Nichtreagieren  auf 
Anfragen  äußert,  so  bezieht  aich  das  nur  auf  „inquiry  in- 
oonvenient",  wie  Low  eine  gewisse  Kategorie  von  Inter- 
pellationen nennt,  die  man  also  als  „ungehörige"  bezeichnen 
I  kann'. 

■  Die  „ÄuQerungspflicht"  kUhl  erwägend  muß  man  sagen, 

■  daß  ihre  Anerkennung  wenig  bedeutet,  während  das  Nicht- 
beachten  ordnungsmäßiger  Interpellationen  deren  politisches 
Gewicht  über  Gebühr  steigern  kann  und  oft  zur  Schluß- 
folgerung verleiten  wird,  die  Regierung  habe  alle  Ursache, 

r  aich  der  Kontrolle  zu  entziehen.  Natürlich  gilt  das  nicht 
I  iftlr  obstruierende  Anfragen,  die  überhaupt  auf  keine  Ant- 
Iwort  reflektieren^. 

Es   giebt    auch   kaum   eine   so  starke  und   so  undiplo- 
tinatische    Regierung,    welche    ea    auf   eine   Kraftprobe   mit 
|«inem  Hause   nur   deshalb   ankommen   läßt,   nur   um  nicht 
Igen    zu   müssen,    sie    lehne    eine    materielle   Antwort   aus 
oder  Jenem  Grunde   ab.     Sollte   aich  aber  dennoch 
F«n  solcher  Konflikt  im  Zusammenhang  mit  anderen  Streit- 
fragen entspinnen,  dann  wird,  wie  ao  hituHg  bei  Verfaasunge- 
problemen,  weder  das  Gesetzes- Recht,  noch  das  Gewohnheits- 
recht, sondern  die  Macht  entscheiden. 
I  In  Erwägung   aller   dieser  Gründe   hat   das  Verlangen 


■  D»li  eine  AuaernngapHicht  im  o.  S, ,  dd»  bo[at  eine  Pflidjt  lar 
Antwort,  die  eine  materielle  Ertedi^np  der  Frage  entbHIt,  nicht  exintiert, 
ttacb  nicht  in  jenen  ParlaiDenten,  für  die  das  Interpellatiousreclil  aiu- 
drttdclieli  dnrah  daa  Oesetx  fixiert  ist,  wird  unter  B.  erGrtert  werden. 


36  VI  2. 

nach  einer  Äußerung  des  Interpellierten  mit  dessen  Willen 
sie  nicht  zu  versagen,  unter  normalen  Umständen  stets 
harmoniert. 

Der  Kampf  drehte  sich  nur  um  die  Pflicht,  eine  mate- 
rielle Antwort  zu  erteilen.  So  ist  auch  des  Bundeskanzlers 
Grafen  von  Bismarcks  Erklärung  zu  verstehen,  die  er  an- 
läßlich einer  einschlägigen  Debatte  im  verfassungsberatenden 

Reichstag  abgab;   sie  lautet:    „ (ich)  weiß 

nicht welche  Gewalt,   welche  parlamentarische 

wenigstens,  mich  zwingen  könnte,  zu  reden,  wenn  ich 
schweigen  wilP,"  ....  doch  werde  die  Bundesregierung 
sich  der  Beantwortung  etwaiger  Interpellationen  nicht  ent- 
ziehen ^.  Mit  anderen  Worten  bedeutet  das :  die  Regierung 
wird  eine  materielle  Antwort  nicht  verweigern,  wenn  sie 
sich  mit  dem  Staatswohl  vereinbaren  läßt;  nicht  jedoch  darf 
aus  der  materiellen  Antwort  ein  Präcedenzfall  geschmiedet 
werden,  daß  sie  unbedingt  zu  ihrer  Erteilung  verpflichtet 
wäre.  Mit  keinem  Worte  wehrt  sich  der  Kanzler  gegen 
eine  bloße  Außerungspflicht. 

Der  unter  normalen  Verhältnissen  allgemein  übliche 
Modus,  eine  Interpellation  zu  beantworten  oder  die  Antwort 
aus  anzuführenden  Gründen  abzulehnen,  ist  eine  feststehende 
Institution  geworden,  die  alle  Anzeichen  des  Gewohnheits- 
rechtes an  sich  trägt. 

Selbstverständlich  und  kaum  zu  erwähnen  nötig  ist  es, 
daß,  wenn  ein  parlamentarisches  Kollegium  es  seinen  Mit- 
gliedern gestattet,  die  Regierung  zu  interpellieren,  ohne  auf 
ein  damit  korrespondierendes  Gesetz  hinweisen  zu  können, 
daraus  nicht  ohne  weiteres  eine  Außerungspflicht  des  Be- 
fragten konstruiert  werden  kann.  Die  selbständigen  Ge- 
schäftsordnungen vermögen  nur  fUr  die  Mitglieder  des 
Hauses  eine  Art  Recht  und  Pflicht  zu  konstituiren,  für  die 
Regierung  aber  nur  insofern,  als  diese  gehalten  ist,  den  so 


^   Thudichum,    Verfassungsrecht  des  norddeutschen  Bundes  und 
des  Deutschen  Zollvereins,  1870,  S.  213  f. 

^  Rönne,  d.  StR.  des  Deutschen  Reiches,  2.  Aufl.,  I.  S.  268Anm.3. 


VI  2. 


37 


I 


geregelten  interncTi  Geschäftsgang  der  Kammer  zu  reapek- 
tiereu.  Erst  die  tatsÄehliclie  Auätibung  von  Interpellationen 
and  tatsÄchliche  Äußerungen  des  Befragten  darauf,  die 
durch  geraume  Zeit  anstandslos  erfolgen,  schaffen  eine 
Äußerungapflicht,  so  daß  die  „Äußerungen"  nicht  mehr  als 
inhaltsleere  Akte  der  Kourtoisie  erscheinen;  auf  diesem 
Punkte  der  Entwicklung  sieht  diesbezüglich  das  Parlaments, 
recht  aller  Kulturataaten. 

B.   Das  Interpellatlonsrecht  mit  ansdrQckliehei- 

geHetzIicfaer  Ornndlage. 

Georg   Meyer'   sagt:    „wo das   Interpella- 

tionsrecht  in  der  Verfassung  förmlich  anerkannt  ist,  hat 
der  interpellierte  Regierungs Vertreter  stets  eine  Antwort 
auf  die  Anfrage  zu  geben.  Nur  braucht  diese  nicht  not- 
wendig eine  materielle  Auskunft  zu  enthalten,  es  steht  ihm 
frei,  eine  solche  zu  verweigern,  wenn  eine  öffentliche  Be- 
handlung der  fraglichen  Angelegenheit  mit  dem  Staatswohl 
nicht  vereinbar  erscheint" '. 

Diese  richtige  Auflassung,  daß  Interpellationen,  die  ihre 
Zulässigkeit  auf  den  Wortlaut  des  Gesetzes  gründen,  eo 
ipso  mit  einer  Äußemngspflicht  des  Interpellierten  kor- 
respondieren, findet  in  den  verschiedenen  Verfassungen  und 
in  der  Litteratur  bald  klaren,  bald  minder  klaren  Ausdruck. 
Die  Unklarheiten,  besonders  in  der  Litteratur,  resultieren 
u.  A.  auch  daraus,  daß  das  Wort  „Antwort"  bald  in  der 
ideutung     „materielle   Beantwortung"    bald    auch    in    der 


<  Mever-A.asohtilz.  LclirbuL^b  d.  Ueuteclien  SlR.,  190Ö,  B.  299f. 

'  Üau  eine  nittcrielte  Autwort  hei  bestehender  ÄuBemu^pflicht  mit 

lia   auf  d«»  flffeutliohe   Interease   oder  unter   Angabe   von  OrSnden 

gelehnt  werden   kiinn,    sprechen   raanclie   Oesetie    siiidrflcklicb   iuh, 

"     Art.  IX   der  ZuMtiartikel   «ur  L.O.    (Ür  du   Königreich   Böhmen, 

;  Oe<i   V.  T.  Mni  1877  Tür  latrien,  L.O.  B.  S ;  Art  1 1   Os>.  v.  2.  Febr. 

»77  für  Steiermsrk,    L.G.  B.  6:    Siohi.  L.O.    g  31;    Verf.  v.  Hamburg 

L,  65;  V.  Lilbeek  Art.  45. 


38  VI  2. 

Bedeutung  einer  mit  Gründen  versehenen  Ablehnung  der- 
selben gebraucht  wird^. 

Wenn,  wie  schon  ausgeführt,  selbst  für  jene  Parlamente, 
die  ein  Gesetz  zur  Einbringung  von  Interpellationen  nicht 
ausdrücklich  kompetent  erklärt,  dennoch  mit  Hinblick  auf 
ihren  ganzen  Wirkungskreis  die  Zuständigkeit  dazu  an- 
genommen werden  mufi,  und  es  zumeist  auch  nicht  an  einer 
nachfolgenden  Außerungspflicht  (mag  man  diese  nun  als 
gewohnheitsrechtliche  auffassen  oder  nicht)  fehlen  wird,  so 
muß  unbedingt  die  Konsequenz  aus  der  gesetzlichen  Fest- 
legung der  Interpellations-Zuständigkeit  gezogen  werden, 
daß  die  Regierung  auf  jede  Anfrage  zu  reagieren  hat^. 

Interpretiert  man  z.  B.  nur  rein  juridisch  §  21  Ges. 
ü.    d.    R.V.    (Österreich):     „Jedes   der    beiden   Häuser    des 

R.  R.  ist  berechtigt,   die  Minister  zu  interpellieren '^ 

und  §  12  Abs.  2  des  G.O.Ges.,  (gleichlautend  mit  §  08^ 
G.O.  Abg.H.):  „Der  Interpellierte  kann  sogleich  Antwort 
geben,  diese  für  eine  spätere  Sitzung  zusichern,  oder  mit  An- 
gabe der  Gründe  die  Beantwortung  ablehnen",  dann  kann  man 
diese  Bestimmungen  doch  nicht  so  auslegen,  daß  ihr  Sinn 
schließlich  höchst  nichtssagend  lautet:  Jede  Kammer  kann 
die  Minister  interpellieren,  diese  können  sofort  oder  spätei 
Antwort  geben  oder  eine  solche  mit  Angabe  von  Gründen 
ablehnen,  oder  vollständig  schweigen.  Das  Letztere 
widerspricht  durchaus  einer  gesunden,  ungekünstelten  Auf- 
fassung, auf  welche  doch  auch  Gesetze  in  ihrer  Auslegung  An- 
spruch erheben  können.  Nur  der  absolutistische  Niederschlag 
vergangener  Epochen,  der  noch  tief  in  den  Gliedern  steckt, 
mag  die  Ursache  sein,  daß  eine  solche  Interpretation  ernst- 

1  Vergl.  österr.  Ges.  ü.  d.  R.V.  §  21 ;  Ungarn,  Ges.  Art.  m,  1847/48, 
§  29;  Sachs.  L.O.  §  31  u.  a.;  Ulbrich  im  österr.  Staatsworterbuch  II, 
2.  Hälfte,  1897,  S.  924,  wo  ohne  Interpretation  §  12  G.O.  Ges.  zum  Ab- 
druck gelangt;  Manuel  Torr  es  Campos,  das  Staatsrecht  des  König- 
reichs Spanien,  S.  37;  u.  a. 

*^  Über  „Pflichten"  als  „logische  Korrelate"  von  „ausdrücklich  an- 
erkannten Rechten",  vergl.  Lab  and,  Staatsrecht,  I.  S.  285  Anm.  2;  daft 
einer  „Kompetenz"  keine  „Pflicht"  zu  entsprechen  braucht,  s.  Jellinek, 
Verfassungsänderung  und  Verfassungswandlung,  S.  25 f.  Anm.  1. 


vr  2. 


3!) 


lieh  diskutiert  wurde.  Ein  merkwHrdigeH  f/iefnhl  der 
SchwOohe,  der  Unsicherheit,  und  ein  JingstUcheB  Hangen 
an  dem  rein  Formalen  spricht  aus  dem  Zweifel,  der  sich  im 
Berichte  des  G.O. Ausschusses '  findet,  wonach  aus  dem 
Gesetze  nicht  „zum  klaren  Ausdrucke"  komme,  ob  dem 
Interpellierten  überhaupt  die  Verpflichtung  obliege,  auf  eine 
Anfrage  „irgendwie  zu  "reagieren".  Der  politische  Kampf 
bis  aufs  Messer,  der  im  österr.  Abg.H,  entbrannt  war,  die 
obstruierenden  Interpellationen,  sowie  die  Verwahrlosung 
der  gesamten  Geschäftsführung  lassen  ja  solche  Bedenken 
über  die  selbstverständlichsten  parlamentarischen  Institu- 
tionen verstündlich  erscheinen  —  für  den  objektiven,  außer 
dem  Kriegsrayon  stehenden  Beobachter  bestehen  sie  nicht. 
Und  faßt  man  die  „Äufierungspflicht"  vom  politischen 
Standpunkt  ins  Auge,  so  ist  sie  ebenso  unbedingt  zu  be- 
jahen; der  zitierte  §  21  des  St.  G.G.  gehört  nicht  zu 
jenen,  die  praktisch  zwecklose  Sclieinhefugnisse  formulieren, 
«ondern  er  betont  die  Kontrollkompetenz  des  Rcichsratea, 
I  die  sich  gewiß  nicht  in  Fragen  einerseits  und  im  Schweigen 
■  anderseits  erschöpft 

Keineswegs  freilich  braucht  die  Äußerung  des  Inter- 
pellierten eine  materielle  Antwort  auf  die  Interpellation  zu 
enthalten;  eine  mit  Gründen  versehene  Ablehnung  der 
Antwort  genügt,  und  mehr  will  auch  diesbezüglich  der  oben- 
genannte, bewußt  bescheidene  G.O.Ausschuß ,  wie  aus  der 
I  von  ihm  vorgeschlagenen  Ntuformulierung  des  §  C8C  G.O.  ^ 
[■  manifestiert,  gar  nicht  anerkannt  wissen. 

Die  Staatsraison,  verschleiernd  oft  auch  als  „öffentliche 
Wohlfahrt"  bezeichnet,  kann  sehr  wohl  einer  materiellen 
I.  Antwort  unbedingt  entgegenstehen.  Ist  die  Kegierung  der 
^Ansicht,  cB  sei  dies  bei  einer  eingebrachten  Interpellation 
Ider  Fall,  dann  hat  sie  sogar  die  Pflicht,  ihre  materielle 
I  Erledigung  zu  versagen,  damit  aber  auch  die  Folgen  davon 


40  VI  2. 

auf  sich  zu  nehmen.  Besonders  häufig  treten  solche  Fälle 
bei  diplomatischen  Angelegenheiten  auf;  sehr  richtig  sagt 
Redlich  * :  „In  betreßt  der  Mitteilung  diplomatischer  Akte 
muß  .  .  jede  Regierung  die  Kompetenz  besitzen,  rein  dis- 
kretionär zu  beurteilen,  was  veröffentlicht  werden  kann, 
und  was  nicht".  Oft  werden  über  eine  Angelegenheit  Er- 
kundigungen eingezogen,  die  entweder  noch  nicht  spruch- 
reif ist,  oder  erst  dann  wird,  wenn  sie  bereits  der  Geschichte 
angehört,  in  die  Domäne  des  Historikers  und  nicht  mehr 
in  die  des  praktischen  Politikers  fkllt.  Aus  dem  Aufsehen 
und  den  schweren  Verstimmungen,  die  häufig  selbst  mit 
der  Veröffentlichung  von  sogenannten  Memoiren  einst  füh- 
render Staatsmänner  Hand  in  Hand  gehen,  kann  die  Rich- 
tigkeit dieser  Deduktionen  ersehen  werden. 

Aber  nicht  nur  ausschließlich  auswärtige  Angelegen- 
heiten sind  es,  für  die  „Schweigen"  —  „Gold"  zu  bedeuten 
vermag,  sondern  auch  innerpolitische",  ebensowenig  wie  ein 
ängstliches  Vertuschungssystem  läßt  sich  auch  die  regellose 
Flucht  in  die  Öffentlichkeit  jederzeit  rechtfertigen.  Die 
„öffentliche  Meinung"  beeilt  sich  gar  zu  oft,  jedes  beklagens- 
werte Ereignis  sofort  als  ein  Symptom  unter  Vielen  für  die 
Verrottung  der  Verwaltung,  zuweilen  sogar  des  gesamten 
Kulturzustandes  auszuposaunen ;  vorschnelle  (oder  aus  Partei- 
taktik absichtlich  irreführende)  Schlußfolgerungen  schaden 
oft  nicht  nur  dem  Prestige  der  Exekutive  überhaupt,  son- 
dern speziell  auch  der  Sache  selbst,  der  sie  vielleicht 
dienen  sollen. 

Natürlich  darf  hier  nicht  generalisiert,  sondern  es  muß 
spezialisiert  werden ;  es  wäre  ganz  verfehlt,  angelsächsische 
Verhältnisse  etwa  zum  Beweis  für  die  Stichhaltigkeit  kon- 
tinentaler Forderungen  heranzuziehen;  und  auch  die  staat- 
lichen, politischen  und  sozialen  Zustände  auf  dem  Festlande 
differieren  abermals  in  den  verschiedenen  Staaten,  ja  sogar 

^  Redlich,  a.  a.  O.,  S.  296. 


VI  2. 


41 


N 


Staatsteilen,  derart  untemnander,  daß  das,  was  bier  für  die 
Öffentlichkeit  geeignet  ist,  dort  ungeeignet  ist. 

Ganz  allgemein  und  für  die  verschiedensten  Verhültnisac 
passend,  ist  deshalb  jene  Ausgestnllung  des  Interpellationg- 
rechts,  die  es  der  Regierung  überläßt,  zu  antworten,  oder 
die  Antwort  mit  Gründen  versehen,  abzulehnen.  Diese  Auf- 
fassung des  Interpellatron&reclita  für  die  Kammern  und  in 
den  Kammern  ist  auch  praktisch  die  herrschende.  Die 
Größe  des  Vertrauens  eines  Hauses  zum  guten  Willen,  zuv 
Ehrlichkeit  und  zu  den  Fähigkeiten  eines  Kabinettes  ent- 
scheidet dann  darüber,  ob  das  gemeinsame  Zusammen- 
arbeiten zwischen  Regierung  und  Parlament  bald  mehr  bald 
weniger  differenzen reich  lat, 

und  selbst  wenn  eine  Verfassung  wie  z.  B.  die  dos 
.Königreichs  Ungarn'  bestimmt:  „Die  Minister  sind  ver- 
lichtet, in  jedem  Hause  des  Reichstages,  welches  es  wünscht, 
zu  erscheinen  und  die  erforderlichen  Aufklärungen  zu  geben," 
so  darf  das  nicht  etwa  so  verstanden  werden,  daß  die  Mi- 
nister unter  allen  Umständen  materielle  Äufklftrungen 
anf  Interpellationen  zu  leisten  haben^;  eine  solche  Auffassung 
eotsprSche  zwar  den  Intorpretationsregeln,  die  bezüglich  der 
Privat-Rechte  Anerkennung  fände»,  nicht  aber  jenen,  die 
für  Verfassungsbestimniungen  gelten  müssen.  Verfassungen 
können  nie  rein  theoretisch  ihrem  Buchstaben  nach  ausgelegt 
werden,  immer  hat  die  Auslegung  auf  die  Staatsraiaon  Rück- 
eicht  zu  nehmen,  besonders  dann,  wenn  sie  in  Einzelfällen 
keine  subjektiven  Rechte  schufen. 

Es  kann  Staatsorganen  nicht  zugemutet  werden,  die 
Verfassung  so  zu  interpretieren,  daß  das  Staatäwesen  ge- 
fÜthrdet  würde,  statt  gefördert.  Das  übersehen  alle  atomi- 
stischen  Theorien,  die  als  letzte  Konsequenz  für  alte  staat- 
liclie  Aktionen   den   ungeschriebenen    und  gleichwohl  allen 


'  G«.,  Art.  11[  g  ai,  V.  .1.  1847/48, 

'  Siehe  «nch  Art,  50  dor  rumäniBohen  Terfasaung:  «Lei  miniatreH 
sant  tenna  de  donner  de«  expliculinna  aur  leiir  tcneur  tontea  le»  foii  i^ 
iwChMnbrealeademsndenl,"  Da  rede,  Leaeanitinodemei^.Ed.  II,  S.220. 


42  VI  2. 

Konstitutionen  inhärenten  Satz  negieren:  rem  publicam 
vivere  necesse  est,  te  vivere  non  est. 

Daher  kann  auch  §  29  für  den  ungarischen  R.T.  nur 
eine  Äußerungspflicht  des  Interpellierten,  nicht  eine  Ant- 
wortspflicht i.  e.  S.  involvieren  und  dasselbe  gilt  für  alle 
Verfassungen,  die  das  Interpellationsrecht  objektiv  dem  Par- 
lamente zusprechen. 

Neben  jenen  Verfassungen,  die  das  Interpellationsrecht 
ausdrücklich  behandeln,  und  jenen,  in  denen  es  keine  Er- 
wähnung findet,  steht  noch  eine  dritte  Gruppe,  für  die,  so 
merkwürdig  es  klingen  mag,  Zweifel  obwalten,  ob  sie  das 
Interpellationsrecht  regeln  oder  nicht.  Hierher  gehört  die 
Verfassungs-Urkunde  des  preußischen  Staates;  die  hier 
auftauchende  Frage  wird  im  besonderen  Teile  untersucht 
werden. 

Wie  wenig  es  übrigens  praktisch  von  Bedeutung  ist, 
ob  das  Gesetz  die  Materie  der  qualifizierten  Anfragen  be- 
handelt, beweist  ein  kurzer  Blick  auf  statistische  Angaben. 
Im  englischen  Unterhause,  wo  nicht  einmal  die  Parteisitte 
vom  Minister  eine  Antwort  fordert  und  das  nachdrückliche 
Bestehen  des  Interpellanten  darauf  als  geschäftsordnungs- 
widrig angesehen  wird,  wurden  im  Jahre  1901  während 
der  Wirren  des  südafrikanischen  Krieges  7180  Interpella- 
tionen gestellt  undbeantwortetM  das  preußische  Abg.H., 
dessen  gesetzliches  Interpellationsrecht  bestritten  ist,  erlebte 
in  der  Zeit  von  1887 — 1906  (abzüglich  der  zurückgezogenen) 
92  Interpellationen^,  von  denen  8  unerledigt  blieben;  ein 
trauriges  Resultat  zeigt  das  österr.  Abg.H.,  in  dem  z.  B. 
in  der  13.  Sess.  1897  von  336  Interpellationen  nur  4,  d.  i. 
1,19  ^/o  beantwortet  wurden^,  —  und  von  allen  drei  er- 
wähnten Kammern  ist  es  gerade  diese,  welche  durch  die 
Verfassung  und  das  G.O.Ges.  am  besten  mit  Bestimmungen 
für  das  Interpellationsrecht  bedacht  wurde. 

1  Redlich,  a.  a.  O.,  S.  2:35 f.  Anm.  2. 

2  Siehe  bes.  Teil. 

^  Siehe  Regierungsvorlage  S.  31  u.  bes.  Teil. 


rVI  2.  43 

Nicht  deraiiagespi'oohene  Kothtsstandpunkt 
und  nicht   die  mehr   oder  minder   klare  Rechte- 
lage     sind     maßgebend     für     die     den      Inter- 
pellationen    entsprechende    Außerungspflicht, 
ndern    in  erster  Linie  das  tadellose  Funktio- 
Knieren    der    parlamentarischen    Einrichtiingen 
L'in  einem  Staate. 

Parlamentarisches  Regime  oder  mchtparlamenlarisches 
J  Regime  —  keine  Regierung  schlechtweg  wird  einem  Parla- 
l^nent,  das  die  Aufgaben  seines  Wirkungskreises  erfaßt  und 
1  Tollzieht,  heute  die  Zuständigkeit  zur  Kontrolle  durch 
F  prinzipielle  Nichteried  igungder  Anfragen  erschweren,  sondern 
t«D  dem  eingebürgerten  Usus  der  Äußerungspflicht  womöglich 
Inrch  Erteilung   einer   materiellen  Antwort  festhalten;    wo 

■  dagegen  Interpellationen  di>n  typischen  Charakter  politischer 
'  Hachenechat't     an    faich    tragen     oder    übertriebenen    lokal- 
patriotischen  Neigungen    entspringen ,    dort   wird    auch    die 
Regierung   es   mit   ihrer  Außerungspäicht   nicht  sehr  ernst 

■■  nehmen  können '. 

■  Im  Zustande  des  Kampfes  weichen  die  Rechtaf ragen 
llonsequcnt  gogeuUber  dem  Bedürfnisse  nach  politischer 
'  Zweckmäßigkeit  zurück  ', 

Ein  Unterschied   ist   gleichwohl  vom  Standpunkte   der 
rechtlichen  Theorie   aus   zwischen  dem  Interpellationsrecht, 
I  das   sich   auf  den  Wortlaut   des  Gesetzes   stützt   und  dem, 
sich    nur    aus    dem  Wirkungskreis    einer   Kammer   ab- 
leiten läßt,  festzustellen.    Die  Nichtanerkennung  des  ersteren 
^urch  die  Regierung,  die  auch  aus  der  konsequenten  Nicht- 
BtSrledigung  der  Anfragen  manifestiert,  ist  eine  Verfassungs- 


I  In  den  niliigen  Jahren  1861—1885  wnrde  ii 
BiBig  über  die  HUfte,   in  einer  SesBion  vmrdeii 
teilten  luterpelUlionen  beintnortet. 

*  \etgl    Redlich,    a.  h.  O.,    S.  If32ff.,    Aber   das  Vorgehen   vou 

iemng,  Speaker  nnd  Unterhausmehrheil  gegen  die  obatruiereoden  irischen 

ionalisten.  Plate,  die  (i.O.  den  prenB  Abg.H.,  ».  124:  Ini  Jahre  1SII$ 

neigerte  lich  das  Ministeriuiq,  an  den  Verhau dloDgen  des  preuß,  AI'g.H 

-     ■  -    ÖO  Ab».  2  V.U.  toilKinehmen. 


44  VI  2. 

Verletzung,  welche  unter  Umständen  mit  der  Ministerankläge 
beantwortet  werden  könnte;  eine  Nichtanerkennung  des 
letzteren  bedeutet  rechtlich  nur  einen  Interpretationszwiespalt 
zwischen  Parlament  und  Regierung. 

Eine  eingehende  juridische  Untersuchung  über  die 
Möglichkeit,  ein  Ministerium  oder  einzelne  seiner  Mitglieder 
wegen  Verletzung  eines  gefestigten  Gewohnheitsrechtes 
staatsrechtlich  zur  Verantwortung  zu  ziehen,  würde  interessant 
und  anregend  sein,  wäre  nicht  die  Ministeranklage  als  solche 
auf  dem  Kontinente  eine  Totgeburt^  gewesen  —  ein  „toter 
Buchstabe"  geblieben.  Und  noch  aus  einem  zweiten  Grunde 
wäre  in  praxi  eine  Ministeranklage  wegen  Verletzung  des 
Interpellationsrechts  kaum  oder  gar  nicht  in  jenen  Staaten 
möglich,  wo  keine  Frist  gestellt  ist,  innerhalb  welcher  eine 
Äußerung  des  Interpellierten  zu  erfolgen  habe. 

So  bleibt  schließlich  nur  die  politische  Verantwortlichkeit 
auch  in  staatsrechtlichen  Fragen  nach  der  Gesetzmäßigkeit 
eines  Aktes  über  —  aber  diese  geltend  zu  machen,  falls 
Interpellationen  durch  Nichterledigung  von  Seite  der  Re- 
gierung ihren  Zweck  als  Kontrollmittel  zu  verlieren  drohen, 
steht  jeder  Kammer  zu. 

Wenn  das  materielle  Interpellationsrecht  die  Zuständig- 
keit eines  Hauses  zur  Stellung  von  Interpellationen  an 
Mitglieder  der  Regierung  ausspricht,  so  bestimmt  das 
formelle  dagegen  die  Art  und  Weise,  w  i  e  qualifizierte  An- 
fragen eingebracht  und  erledigt  werden.  Die  Bedeutung 
des  formellen  geht  aber  weit  —  ähnlich  der  des  Straf- 
prozesses —  über  die  Bedeutung  rein  formaler  Form- 
vorschriften hinaus;  es  bestimmt  z.  B.,  ob  nur  das  Parlament 
durch  seine  Mehrheit  oder  ob  auch  eine  Minderheit,  vielleicht 


^  Jellinek,  Verfassungsänderung  und  Verfassungswandlang,  S.  41  ff. 

Allerdings  wird  es  oft  großer  Schwierigkeiten  nicht  entbehren,  in 
praxi  ein  „Gewohnheitsrecht"  von  einem  einfachen  „Usus"  za  scheiden; 
so  findet  z.  B.  Redlich  (a.  a.  O.  S.  657),  wenn  er  die  Verweigerung 
der  Sanktion  für  eine  Bill  durch  die  Krone  Großbritanniens  als  „Brach 
des  positiven  Rechtes"  auffaßt,  von  manchen  Seiten  Widersprach  and  die 
„Theorie"  macht  ebenso  viel  dafür  wie  dagegen  geltend. 


"VI  2.  45 

Eir  schon  ein  Mitglied  des  Haueea  deu  Informatioue-  und 
Kontrolleapparat  in  Bewegung  setzen  kann,  Daa  ist  von 
nachhaltigstem  Einfluß  besonders  dort,  wo  das  Wahlsysteni 
den  in  den  breitesten  Schichten  der  Bevölkerung  basierenden 
Parteien  eine  der  Zahl  nach  nur  geringe  Vertretung  er- 
möglicht, eine  Vertretung,  der  für  sich  allein  durch  rigorose 
Bestimmungen  über  die  Anzahl  von  Mitgliedernj  welche  eine 
Interpellation  unterstützen  müssen,  um  sie  relevant  zu 
machen,    die    Fähigkeit   genommen    ist,  .Äußerungen    der 

,  Minister  zu  veranlassen. 

Überdies    regelt    das   formale   Interpellationareeht    die 

Iform  der  Antwort,  daß  sie  schriftlich  oder  mündlich  erteilt 

rwird,   setzt  deren  Behandlung  im  Plenum  fest,  indem  bald 

P]Debatten   und  Anträge   im  Anschluß   daran  gestattet,  bald 

l'Tersagt  werden  und  dergleichen  mehr. 

Eine   Erörterung    dieser    wichtigen   Fragen    und   ihrer 

ili&sung  in  einzelnen  parlamentarischen  Kollegien  erfolgt  im 

■  aSchsten  Abschnitte. 


4.  Erscheinungsformen  des  Interpellatlonsrechtes. 

Nach  der  Darlegung  des  Wesens  und  der  Erkenntnis 
der  Ursachen,  die  zu  Interpellationen  und  zur  Ausbildung 
eines  Interpellationsrechta  führten,  mllssen  nun  die  Erschei- 
nungsformen, unter  welchen  das  Informations-  und  Kontroll- 
recht in  die  Wirklichkeit  umgesetzt  wird,  einer  Untersuchung 
unterzogen   werden.     So   allgemein   und  konform   die  Vor- 

Iftuflsetzungen  sind,  auf  denen  das  Interpellationarecht  beruht, 
io  allgemein  die  Ziele  sind,  denen  es  dient,  ebenso  mannig- 
Bch  und  verschieden  sind  die  Bestimmungen  über  eine 
Geltendmachung  in  den  einzelnen  Kammern.  Als  Form- 
Vorschriften,  die  den  Geschäftsgang  regeln,  stärken 
bder  schwächen  sie  seine  Potenz,  machen  es  zu  einer 
scharfen  Waffe  selbst  kleiner  Minoritäten  oder  behalten 
seine  Realisierung  der  überwiegenden  Kammer- Mehrheit 
vor.     Über  die   Äußerungspflicht,   die   der  Kompetenz   zur 


46  VI  2. 

Anfrage  entspricht,  wurde  bereits  gesprochen;  sie  ist  ein 
generelles  Merkmal  des  Interpellationswesens ;  dagegen  sind 
noch  die  wichtigsten  speziellen  oft  nur  in  diesem  oder 
jenem  Parlamente  zur  Ausbildung  gelangten  Momente  zu 
erörtern.  Auf  kleine  Abweichungen  im  Einzelnen  kann 
nicht  eingegangen  werden  und  es  muß  diesbezüglich  auf 
den  besonderen  Teil  dieser  Abhandlung  verwiesen  werden. 

Fristbestimmimgen  bezüglich  Interpellationen. 

Eioe  Bestimmung^  daß  der  Interpellierte  innerhalb 
einer  gewissen  Frist  zu  antworten  habe,  findet  sich  kaum 
in  einer  Verfassung  und  ist  nur  in  wenigen  Parlamenten 
durch  die  G.O.  oder  einen  Brauch  festgelegt. 

Präsident  Grövy  erklärte  1874^  in  der  französischen 
Deputiertenkammer,  es  sei  „une  v^ritable  confiscation  du 
droit  d'interpellation",  wenn  eine  solche  Frist  nicht  gesetzt 
sei.  Dieser  Ausspruch  hat  allerdings  in  Frankreich  eine 
besondere  Bedeutung,  denn  das  einzelne  Mitglied  gibt 
gewissermaßen  nur  die  Anregung  zur  Interpellation  und 
die  Kammer  selbst  ist  es,  die  interpelliert,  indem  sie  inner- 
halb einer  Frist  von  vier  Wochen  eingebrachte  Interpella- 
tionen über  die  innere  Politik  (für  solche  der  äußeren  exi- 
stiert keine  Begrenzung)  zur  Behandlung  bringt;  bei  der 
Fixierung  des  Datums  hat  die  Regierung  nur  eine  beratende 
Stimme.  Diese  Frist  von  vier  Wochen  macht  es  der 
Kammer  unmöglich,  Anfragen  dadurch,  daß  sie  sie  nicht 
auf  die  T.O.  setzt,  in  praxi  zu  unterdrücken^,  aber  auch 
die  Regierung,  beziehungsweise  der  Interpellierte,  sind  da- 
durch wirksam  gehindert,  durch  Zögern  und  Hinausschieben 
des  Antworttermines,  ohne  die  Antwort  direkt  zu  verweigern, 
den    loterpellanten    solange    hinzuhalten    bis    die    Anfrage 


1  S.  Pierre,  a.  a.  O.,  S.  798. 

2  In  Belgien  darf  nur,  falls  der  Interpellant  zustimmt,  die  Inter- 
pellationshandlung länger  als  acht  Ta^e  verschoben  werden.  Manuel  i^ 
Tusage  des  membres  du  senat  et  de  la  chambre  des  representants. 
1897,  S.  82. 


VI  2. 


47 


nicht  mehr  akut,  interesselos  oder  durch  Tataachen  über- 
holt ist'. 

Viel  einschneidender  wäre  die  Einführung  einer  Frist 
zur  Äußerung  des  Befragten  fUr  jene  KaDunern,  in  denen 
die  Unterzeichnung  einer  Interpellation  durch  relativ  wenige 
Mitglieder  des  Hauses  genügt,  um  den  Informalions-  und 
Kontrollapparat  automatisch  spielen  zu  lassen.  Ein  der- 
artiger Vorschlag  ist  im  Berichte  des  G.O.Ausschusaea  des 
österreiohiachen  Abg.H.^  enthalten;  er  will  der  Regierung 
zur  Erfüllung  ihrer  ÄußerungspfÜcht  eine  , angemessene 
Frist"  setzen  und  sagt,  in  den  meisten  Fällen  dürfte  ein 
„Zeitraum  von  sechs  Wochen"  genügen.  Dieser  Antrag 
bedeutet  einen  gewaltigen  Vorstoß  des  Parlamentes,  der 
besonders  für  das  österreichische  Ahg.H.  ein  wenig  ver- 
wunderlich ist,  da  die  bei  ihm  zu  konstatierende  Entartung 
des  J.  K.  eher  eine  Beschränkung  und  Abschwäcimng  dea- 

twlben  erwarten  ließe;  diese  waren  allerdings  auch  von  der 
^nrch  das  Herrenhaus  unterstützten  Itegierung  geplant  und 
ÜB  scheint  nicht  ganz  unwahrscheinlich,  daß  die  Xeuforderung 
^es  Abg.H.  nur  als  Kompensationsobjekt  für  das  Fallen- 
loBeen  beengender,  von  anderen  Staatsorganen  befürworteter 
Regeln  gedacht  war,  demnach  der  Vorschlag  nur  als  poli- 
tischer Trick  aufgefaßt  werden  müßte. 

In  England  bestimmt  einseitig  der  Interpellant,  an 
welchem  Tag  er  die  Antwort  der  Regierung  auf  seine  An- 
frage wUnscht,  aber  dort  ist  dem  J.  R.  seine  Spitze  durch 
mancherlei  Verklausulierungen  —  Beschränkung  des  ganzen 
Verfahrens  auf  eine  kurze  Spanne  Zeit,  Häufigkeit  der 
^K^hriftlicheu   Antwort   u.   dgl.    —    genommen,   so   daß  der 

'  NatJi  g  74  iler  G.I1.  des  preuB.  Abg'h.  und  §  70  der  0.0.  d«i 
D.E.T.  sind  auch  Interpellationen  mit  dem  Ablnuf  der  Sitzungsperiode, 
in  welahcT  «ie  eingebracht  und  in  welcher  sie  oiclit  belinndelt  wurden, 
für  Hrledig:t  in  orschteo.  Ähnlich  verfithrt  auch  die  Fraiin  anderer 
KKmmeru,  jedoch  nicht  die  des  francSsiechen  ParUment«.  Über  das 
'"         p     der     KoDtäDuitit     und     Diskontinuität    der     parlameDtari  schon 

iiKtioo  UDdOsHchSftsfiihruag  des  Ssterr.  R.R.  vergl.  Harike,   Orund- 

I»  TuriaasTiugB rechtes,  ld05,  S.  70. 

'  lieri«bt  dos  Abg.O.  S.  24;  30, 


48  VI  2. 

„Befristung"  durch  das  fragende  Mitglied  keine  sonderliche 
Bedeutung  zugesprochen  werden  kann. 

Jedenfalls  liegt  in  dem  Mangel  einer  zeitlichen  Grenze, 
innerhalb  welcher  die  Äußerung  fallen  mufi,  eine  Abschwä- 
chung  der  Bedeutung  des  J.  R.,  aber  sein  politischer  Wert 
wird  dadurch  nicht  sehr  stark  tangiert  und  in  regelmäßig 
funktionierenden  Kammern  dürfte  nicht  häufig  ein  Grund 
vorliegen,  diesen  Mangel  zu  beklagen. 

Keineswegs  scheint  es  den  Bedürfnissen  der  Praxis  an- 
gemessen, in  Bezug  auf  die  Beantwortungsfrist  für  Inter- 
pellationen der  inneren  und  der  äußeren  Politik  gleiche  Be- 
stimmungen zu  treffen,  und  Pierre  ^  äußert  sich  darüber  fol- 
gendermaßen :  Les  auteurs  des  r^glements  n'ont  pas  entourä 
des  memes  garanties  le  droit  d'interpellation  sur  la  politique 
extörieure,  parce  qu'  ils  ont  voulu  röserver  ä  la  Chambre 
pleine  libertö  d'ajourner  des  däbats  qui  pourraient  compro- 
mettre  nos  relations  d'amiti^  avec  les  puissances  ^trang^res. 
Im  allgemeinen  wird  sich  korrigierend  hinzufügen  lassen, 
daß  die  Entscheidung,  wann  auswärtige  Angelegenheiten 
spruchreif  seien,  wohl  am  besten  in  die  Hand  der  Regierung 
zu  legen  ist,  denn  ihr  muß  man  zuerst  die  Fähigkeit  zu- 
sprechen, die  internationale  Lage  zu  überblicken  und  daher 
ein  Urteil  zu  fallen. 

Auch  was  die  internen  Angelegenheiten  eines  Staates 
anlangt,  wird  es  nicht  jederzeit  wünschenswert  sein,  sie 
vor  der  Öffentlichkeit  zu  besprechen  und  zu  glossieren ;  ein 
Mittelweg  zwischen  den  parlamentarischen  Ansprüchen  auf 
Kontrolle  und  den  praktischen  Bedenken,  diese  immer  rück- 
haltslos zu  gewähren,  läge  in  der  Ausgestaltung  des  Frage- 
rechtes von  Kommissionen,  deren  Mitgliederzahl  enger  be- 
grenzt und  deren  allenfalls  wünschenswerte  Diskretion  nicht 
allzuschwer  zu  erzielen  ist ;  davon  wird  noch  die  Rede  sein. 

Bei  diesen  Erörterungen  handelt  es  sich  zuvörderst  um 
eine  Frist  zur  Erteilung  materieller  Antworten  und  die 


^  Pierre,  a.  a.  O.,  S.  801. 


VI  2.  49 

bloäe  Äußerung,  eine  Angelegenheit  eigne  eich  noch  nicht 
L  zur  offiziellen  Diskussion,  wird  auch  bei  kritischen  Fragen 
ftschwerlich  die  Lage  verwirren. 

r  In  jenen  Parlamenten  allerdings,  welche  auch  Debatten 

über  negative  Antworten   des  Interpellierten  kennen,    kann 
durch   unzeitgemäße   Besprechungen   immerhin    Unheil    ge- 

^ stiftet  werden. 
Es  hängt  eben  immer  und  jederzeit  von  der  Einsicht, 
dem  Takte  und  dem  guten  Willen  einer  Kammer  ab,  ob 
sie  die  ihr  zugewiesenen  Aufgaben  zum  staatlichen  und 
politischen  Nutzen  auszuführen  bestrebt  ist  oder  nicht. 
Eine  Befristung  der  Außorungapflicht  wird  dort  erklärlich 
sein,  wo  ein  chronisches  Mißtrauen  zwischen  Regierung  und 
Parlament  Platz  gegriffen  hat,  wo  eine  Regierung  sich  ihrer 
Stellung  im  konstitutionellen  Staate  wenig  bewußt  ist,  oder 
wo  die  Rammern  auf  Kosten  der  Staatsraiaon  die  eigene 
Machtspbäre  zu  erweitern  suchen;  die  Befristung  wird  dort 
zur  Notwendigkeit,  wo  sie  eJn  Zwangsmittel  für  das  Haus 
lelbst  enthält,  Interpellationen  verhandeln  zu  müssen,  die 
.  sonst  durch  Hinausschieben  der  Diskussion  begraben 
Btönnte,  und  die  Befristung  wird  schließlich  unbedenklich 
ind  einwandfrei  sein,  falls  sie  in  einem  Parlamente  geltende 
Horm  ist,  dessen  politische  Einsicht  durch  Beachtung  der 
<ehren  der  Vergangenheit  und  Jahrhunderte  langer  Erfah- 
■Tongen  vertieft  wurde. 

Wenn  wir  historisch  das  iDterpellationsrecht  überblicken, 
F&Ut  es  auf,  daß  es  im  englischen  Parlamente  aus  einfachen 
Anfragen  der  Mitglieder  an  die  Regierung  entstand.  Auf 
dem  Kontinente  begann  es  in  Frankreich  mit  dem  Dekret 
der  Constituante'  vom  21.  Juli  1701,  das  den  Ministem 
die  Pflicht  auferlegte,  der  Deputierten  kämm  er  Auskunft  zu 
erteilen.  Seine  Ausbildung  und  Verallgemeinerung  in  und 
fllr  die  verschiedenen  parlamentarischen  Kollegien  vollzog 
Mch  allmählich,  erlitt  mancherlei  Hemmungen  und  so  folgte 


50  Via 

z.  B.  in  Frankreich  auf  eine  Biüteperiode  der  Interpellationen 
im  Jahre  1848  ihr  vollständiges  Verschwinden  vier  Jahre 
später  und  über  ein  Jahrzehnt  währte  diese  interpellations- 
lose  Epoche;  inzwischen  bildeten  sich  allerdings  Informations- 
aushilfsmittel als  Surrogate,  doch  eigentliche  Interpellationen 
waren  unstatthaft,  gesetzwidrig.  Interessant  sind  die  Äuße- 
rungen MohTs  und  Mittermaiers  aus  den  Jahren  1829 
bezw.  1838  über  das  Interpellationsrecht;  sie  beweisen  dessen 
embryonales  Dasein  in  den  Ständekammem  der  deutschen 
Staaten.  MohP  schreibt:  „Mit  den  einzelnen  Ministerien 
kommunizieren  die  Kammern  durch  ihre  Präsidenten. 
Dasselbe  ist  der  Fall  bei  den  landständischen  Kommissionen, 
welche  ebenfalls  das  Recht  haben,  mit  den  betreffenden 
Ministerien  Rücksprache  zu  nehmen.  ...  Es  handelt  sich  hier 
um  bloße  Geschäftskommunikationen,  in  welchen  kein 
definitiver  Beschluß  der  Ständeversammlung  oder  der  Re- 
gierung mitgeteilt,  sondern  z.  B.  nur  die  Mitteilung  von 
Urkunden  oder  von  faktischen  Verhältnissen  verlangt  werden 
soll  ..."  Und  Mittermaier^:  „Über  das  Recht  der  Mit- 
glieder durch  Fragen  an  die  Minister  .  .  .  irgend  einen  be- 
liebigen Gegenstand,  der  nicht  auf  der  T.O.  steht,  zur 
Sprache  zu  bringen,  erklären  sich  die  Geschäftsordnungen 
nicht  oder  nur  sehr  ungenügend."  Es  folgt  nun  ein  Hin- 
weis auf  England  und  Frankreich,  die  zur  Zeit  hierin 
weiter   vorgeschritten   waren,    dann   filhrt   der  Autor  fort: 

„Daß  der  gefragte  Minister  nicht  genötigt  werden  kann, 
eine  Frage  zu  beantworten,  versteht  sich ;  eigenes  Interesse 
wird  ihn  oft  antreiben,  zu  antworten,  damit  nicht  sein 
Schweigen  als  Zugeständnis  oder  als  Schwäche  ausgelegt 
werde.  Solche  improvisierte  Fragen  und  Äußerungen  .  .  , 
haben  für  sich,  daß  dadurch  oft  andere,  sonst  durch  eigent- 
liche   Motionen    weitläufige    ftSrmliche   Verhandlungen    ab- 


*  Mohl,  Das  Staatsrecht  des  Königreichs  Württemberg,  I,  8.  579 
und  585. 

■  Mittermaier,  in  Welker 's  Staatslexikon,  S.  629,  im  Abschnitte 
,)Ge8chäftsordnung" . 


mitten  werden,  und  daß  oft  momentane  EreigiiisHe  An- 
fragen und  Bemerkungen  im  Interesse  des  Volkes  fordern 
können." 

Die  Entwicklung  der  Parlamente  machte  zwar  solche 
primitive  und  uns  selbstverständliche  Begründungen  des 
Interpellationsrechts  überflüssig ,  brachte  es  jedoch  auch 
mit  sich,  daß  der  Ausübung  des  Rechtes  gewisse  Schranken 
gesetzt  werden  mußten,  wenn  nicht  durch  überflüssige  An- 
fragen Zeit  und  Geduld  der  Kummermitglieder  über  das 
nötige  Maß  hinaus  in  Anspruch  genommen  und  der  normale 
Geschäftsgang  nicht  fortwährend  gestört  werden  sollte.  Die 
verschiedeneu  Kollegien  schützten  sich  nun  auf  verschiedene 
Art  und  Weise  gegen  einen  Mißbrauch  des  Interpellationa- 
rechts  und  alle  waren  bestrebt,  neben  der  theoretischen  und 
praktischen  Anerkennung  der  Interpellationen  doch  auch 
hemmende  Regeln  zu  schaffen,  die  eine  rücksichtslose  oder 
die  parlamentarischen  Arbeiten  gefUhrdende  Ausnützung  des 
Rechts  zu  verhindern  geeignet  schienen.  Dafür  gab  es 
mancherlei  Mittel,  die  zum  Teil  historisch  zu  erklären  sind. 

Fürs  erste  kommen  in  Betracht  die  Bestimmuugen 
über  den  Interpellanten.  Sie  enthalten  folgende  drei 
■uppeo : 

a)  ein  einzelnes  Mitglied  interpelliert; 

b)  eine  gewisse  Anzahl  von  Mitgliedern  ist  zuständig, 
Interpellationen  einzubringen; 

c)  die  Kammer,  bezw.  die  Kammormehrlieit,  inter- 
pelliert. 

a)  Dies  tinden  wir  klar  in  England  verwirklicht.  Das 
Interpeilationsrecht  ist  hier  am  individuellsten,  doch  werden 
wir  auf  seine  Beschränkungen,  die  es  durch  die  Fixierung 
der  Ausübung  auf  eine  gewisse  kurzbemessene  Zeit  und 
durch  die  Einbürgerung  der  schriftlichen  Antwort  erfährt, 
erat  im  folgenden  zu  sprechen  kommen  und  hier  nur  darauf 
hinweisen,  daß  Mißstände,  die  durch  die  liberale  Einführung, 
jedem   Einzelnen    die    Interpellationsmöglichkeit   zu   ge- 


■«ri 


52  VI  2. 

währen,  aufkeimen  könnten,  durch  verschiedene  Präventiv- 
maßregeln verhindert  werden  sollen  ^. 

b)  Auch  im  D,R.T.  dem  österr.  R.R.  und  dem  preußischen 
Landtage  ist  anscheinend  ein  einziges  Mitglied  allein  der 
Interpellant,  aber  es  bedarf  der  schriftlichen  Unterstützung 
einer  gewissen  Anzahl  von  Kollegen  (9 — 29),  wodurch  tat- 
sächlich erst  beim  Vorhandensein  von  lOr— 30  Interessenten 
dieser  Minderheit  die  Möglichkeit  zu  interpellieren  ge- 
geben ist^ 

Daß  in  der  Theorie  nur  e  i  n  Interpellant  vorhanden  ist, 
dem  eine  Gruppe  anderer  Mitglieder  nur  ihre  Unterstützung 
verleiht,  äußert  sich  in  der  Praxis  darin,  daß  er  —  ein 
primus  inter  pares  —  bei  der  Behandlung  der  Interpellation 
im  Hause   eine   bevorzugte  Stellung   als  Redner   einnimmt 

Was  diese  Interpellation  durch  Gruppen  anlangt,  so 
erzielt  sie  den  angestrebten  Erfolg  einer  wünschenswerten 
Beschränkung  der  Anfragen  auf  wichtige  Angelegenheiten  — 
da  man  nur  für  solche  die  genügende  Anzahl  unterstützender 
Interessenten  erwarten  zu  können  glaubte  —  tatsächlich  nicht 
inmier.  Der  Parteiverband  und  die  kollegiale  Kourtoisie 
versagten,  wo  das  Interpellationsrecht  im  Vereine  mit  anderen 
parlamentarischen  Institutionen  verwahrloste,  wohl  selten 
einem  unterstützungsuchenden  Interpellanten  ihre  Mithilfe; 
wo  aber  Interpellationen  von  sich  ihrer  Stellung  bewußten 
Mitgliedern  streng  technisch  gehandhabt  werden,  scheint 
eine  derartige  Beschränkung  überflüssig,  da  im  allgemeinen 
eine  Selbstbeschränkung  des  Einzelnen  zu  erwarten  ist. 


^  Zwischen  den  „einfachen  Anfragen"  und  den  eigentlichen  Inter- 
pellationen kommen  in  Frankreich  die  auch  dem  einzelnen  Mitgliede  zu- 
stehenden questions  adress^es  aux  ministres  in  Betracht,  doch  werden  sie 
aus  bestimmten  später  näher  zu  erörternden  Gründen  nicht  hier,  sondern 
im  nächsten  Abschnitte  besprochen.  Yergl.  auch  SchoUeuberger, 
Grundriß  des  Staats-  und  Verwaltungsrechtes  der  schweizerischen  Kantone 
1900;  I.  Bd.  S.  205,  wonach  in  den  meisten  Kantonen  ein  einzelnes  Mit- 
glied  interpellieren  kann;    eine  Interpellationsdebatte  ist  nicht  zulässig. 

''^  Im  osterr.  Abgh.  schwankte  die  zu  einer  Interpellation  notwendige 
Anzahl  unterstützender  Abgeordneter  seit  dem  Jahre  1861  zwischen  15 
und  20;  ein  neuerlicher  Vorschlag  wollte  sie  auf  80  erhöhen. 


rvi  2. 


53 


c)  Von  dem  Gesichtspunkte  ausgehend,  daß  die  einer 
Kammer  zustehenden  Rechte  durch  die  Kamraermehrheit 
als  Verkörijerung  des  Willens  der  Kammer  ausgeübt  werden 
sollen,  gelangte  man  in  Frankreich  von  der  Interpellation 
Einzelner  dahin,  daß  heute  der  Einzelne  nur  mehr  gewisaer- 
maSen  den  Vorschlag  macht,  das  Haus  möge  interpellieren 
und  dieses  setzt  den  Tag  für  die  Erledigung  der  Anfrage 
fest^.  In  der  preußischen  zweiten  Kammer*  stand  eine 
ähnliche  Regel  —  über  die  Zulassung  der  von  31  Mit- 
gliedern unterzeichneten  Interpellation  entschied  das  Haue 
ohne  Debatte  ~  im  Jahre  1849  einige  Monate  in  Kraft; 
in  Dänemark  kann  jedes  Reichs tagsmitglied  mit  Ge- 
nehmigung des  Thinges,  dem  es  angehört,  jede 
öffentliche  Angelegenheit  zur  Verhandlung  bringen  und 
eine  Erklärung  darüber  von  Seite  des  Ministers  verlangen. 
Ebenso  muß  in  Holland*  jedes  Mitglied,  das  zu  interpellieren 
wünscht,  die  Erlaubnis  der  Kammer  dazu  einholen.  Eine 
strenge  Interpretation  des  §  21  Ges.  ü.  d.  R.V.  mlißte  auch 
in  Osterreich  dazu  führen ,  daß  nur  ein  Haus  als  solches 
interpelliert,  aber  das  G.O.  Gesetz  nahm  eine  andere  Aus- 
legung der  Verfassungsbestimmung  vor. 

Entschieden  ist  durch  eine  Interpellationsmöglichkeit, 
die  nur  der  jeweiligen  Mehrheit  sicher  gewährleistet, 
qualifizierte  Anfragen  an  die  Minister  zu  stellen,  die 
Minorität  stark  beeinträchtigt  und  ihr  ein  wichtiger  KontroU- 
behclf  nur  unter  der  Bevormundung  der  Majorität  zu- 
gestanden.    Wie   sich  diese  zu  ihr  unangenehmen  oder  fUr 

'  OhichoD  die  Kammer  alle  Antrageu  über  die  innere  Pnlilik  binnen 
vier  Wochen  aacli  ihrer  Einbringang  Huf  die  T.O.  stellen  niuB,  so  hat 
sie  eleichwoh]  die  Möglichkeit,  ihr  genehme  Interpellationen  za  bevonngeo, 
da  die  Keilionfulge  der  Behandlung  von  dem  Ennesnen  des  Hauses  abhängt 
und  die  neit.  einiger  Zeit  eingeführte  BeachrAnkiing  der  den  Interpollationen 
ppwidmeten  Tage  an  ungünstiger  Stelle  angesetatt  Anfragen  nicht  oder 
erst  verepÄtet  lur  Erledigiuig  kommen  läßt    S.  a.  bes.  Teil:   Frankreich. 

"  PUlB,  a.  a.  O.,  8.  118 f. 

'  Goos  and  Hansen,  das  Stsattrecht  des  Königreichs  DAnemarh 
1889,  S.  70. 

'  Hart  OS,  das  Staatsrecht  des  KBnigreichs  der  Niederlajide, 
1686.  S.  88. 


54  VI  2. 

sie  interesselosen  Fragen  stellt,  hängt  sehr  von  der  parlamen- 
tarischen Sitte  und  Eourtoisie  ab. 

Vorschriften,  wonach  Interpellationen  schriftlich  ein- 
gebracht werden  müssen,  um  dann  verlesen  oder  in  Druck 
gegeben  und  an  die  Mitglieder  verteilt  zu  werden,  bezwecken 
erst  in  zweiter  Linie  den  Schutz  des  Hauses  gegen  Miß- 
bräuche und  fbrdern  vor  allem  die  Beschleunigung  und 
Vereinfachung  des  Verfahrens.  Der  Interpellierte  bekommt 
dadurch  die  Anfrage  in  authentischer  Fassung  in  die  Hand 
und  kann  die  Antwort,  gestützt  auf  sein  Material,  durch- 
arbeiten oder  durcharbeiten  lassen,  während  rein  mündliche 
Anfragen  Mißverständnisse  mancher  Art  nach  sich  ziehen 
können,  die  weder  wünschenswert  sind,  noch  einem  regel- 
mäßigen Geschäftsgange  zuträglich.  Ferner  hat  die  Schrift- 
lichkeit der  Interpellationseinleitung  für  jene  Kammern  noch 
eine  besondere  Bedeutung,  wo  dem  Präsidenten  das  Recht 
zusteht,  Interpellationen,  die  dem  Gesetze  oder  der  Sitte 
widersprechen,  zurückzuweisen.  Widerspruchslos  gilt  dieser 
Usus  in  Frankreich  und  England  und  galt  im  Jahre  1849 
für  die  zweite  preußische  Kammer. 

Die  Kritik  des  Präsidenten  erstreckt  sich  zuerst 
auf  die  Verfassungsmäßigkeit  der  Anfragen ;  es  handelt  sich 
darum,  ob  durch  sie  nicht  der  Wirkungskreis  des  Hauses 
überschritten  wird.  Aber  selbst  wenn  sie  in  diesem  Sinne 
verfassungsmäßig,  wenn  die  Grundlage  der  Interpellation 
die  Eignung  hat,  im  Parlamente  zur  Sprache  zu  kommen, 
kann  es  noch  immer  möglich  sein,  daß  ihre  Form  den  ge- 
stellten Ansprüchen  nicht  entspricht.  Wie  weit  solche 
Formvorschriften  gehen  können,  ist  z.  B.  in  England  zu 
ersehen  und  wird  im  besonderen  Teile  zur  Darstellung 
gelangen. 

Es  versteht  sich  eigentlich  von  selbst,  daß,  da  Ver- 
letzungen des  An  Standes  und  der  Sitte  durch  Verlesung, 
Niederschrift  oder  Drucklegung  nicht  entschuldbarer  werden, 
als  wenn  sie  nur  improvisierte  Ausflüsse  einer  plötzlichen 
Erregung    sind,    derartige   Unziemlichkeiten    ebenso    unter 


"     i.      *-  *      *,      fc  \      .- 


I  VI  2. 


55 


die  Disziplinargewalt  des  Vorsitzenden  eines  parlamen- 
tarischen Kollegiums  zu  fallen  hätten,  wie  Ungehörigkeitea 
in  einer  Rede  oder  bei  Zwischenrufen, 

Gleichwohl  beziehen  sich  die  Bestimmungen  über  eine 
„gröbliche  Verletzung  der  Ordnung"  im  D.R.T.  (G.O., 
§  ttOff.)  ihrer  ganzen  Fassung  nach  nur  auf  tätliche  und 
verbale;  aber  aus  der  Stellung,  die  der  Präsident  gemäß 
§  13  G.O.  einnimmt  („Dem  Präsidenten  liegt  ,  .  .  die  Hand- 
,  habung  der  Ordnung  .  .  .  ob")  wird  mit  Recht  gefolgert 
werden  können,  daß  er  auch  aoleiie  Verletzungen  der 
Ordnung,  die  durch  SchriftatÜcke  erfolgten,  diszipllnariter 
zensurieren  kann. 

Mit    bezug    auf   die    mangelnde   Disziplinargewalt   der 
Vorsitzenden  der  beiden  Häuser  des  iisterr.  R.R.  über  den 
Inhalt    von    Interpellationen    sagt    der   Bericht   der  Spezial- 
kommission   des  Herrenhauses ' :     „Als   eine  Anomalie   und 
als   eine  Lücke  der  geltenden  Geschäftsordnungen  stellt  es 
I  sich  dar,   daß  der  Präsident    .  .  ,   zwar  mit  bezug  auf  die 
Reden   der  Mitglieder  das  Recht   des  Ordnungsrufes   und 
der  Entziehung  des  Wortes  besitzt  (G.O.  des  Abgh.,  §  57, 
vergl.    G.O.   des  H.H.,    §  40),    hingegen    nach    der    derzeit 
herrschendenAuffassung  mancher  Faktoren  jeder  disziplinaren 
,  Gewalt   gegenüber    dem   Inhalt    und    dem   Wortlaut   selbst 
solcher  Interpellationen  entbehren  soll,  welche  den  Tatbestand 
I  strafbarer   Angriffe   gegen  Personen  oder  strafrechtlich  ge- 
schlitzte Institutionen  begründen  oder  gröbliche  Verletzungen 
des    Anatandes    und    der    Sitte    enthalten."      Anschließend 
daran   wird   empfohlen,   dem    Präsidenten   ein   Zenaurrecht 
tlber     den    Inhalt    von    Interpellationen    ausdrücklich    zu- 
I  cuaprecben  und  dabei  auf  Art.  43  der  0.0.  des  belgischen 
i  Repräsentantenhauses  hingewiesen,  wo  es  ohne  Unterscheidung 
l  von    Reden    und    Interpellationen    seit    18i'7    heißt:     „Le 
k  pr^ident  peut  faire  supprimer  des  ,AnnAles  parle mentai  res' 
du    ,Compte    rendu    analytlque'    les    paroles    confraires 


'  Bericht  dei  H.H.,  S 


56  •  VI  2. 

ä  Tordre  ou  Celles  qui  auraient  iiA  prononcies  par  un 
membre  qui  n'avait  pas  la  parole."  Nach  dem  Vorschlage 
der  Spezialkommission  wäre  §  12  des  G.O.  Gesetzes  unter 
anderem  folgendermaßen  abzuändern:  „Enthält  eine  Inter- 
pellation nach  dem  Urteile  des  Präsidenten  entweder  eine 
gröbliche  Verletzung  des  Anstandes  oder  der  Sitte  oder  eine 
Äußerung,  welche  den  Charakter  der  Strafwürdigkeit  an- 
nimmt, so  hat  er  den  betreflfenden  Teil  der  Interpellation 
sowohl  von  der  Eintragung  in  das  Buch  und  der  Druck- 
legung, als  von  der  Verlesung  im  Hause  auszuschließen **  *. 

Übrigens  machten  schon  bisher  mehrere  Vorsitzende 
des  österr.  Abgh.  in  Anwendung  ihrer  Disziplinargewalt 
das  Recht  auf  Zensur  auch  bezüglich  Interpellationen 
geltend  ^. 

Jedenfalls  ist  mit  einer  Ausdehnung  der  präsidialen 
Ordnungsgewalt  auch  auf  schriftliche  Eingaben  gewiß  die 
Möglichkeit  gegeben,  einer  gewissen  Kategorie  von  Aus- 
wüchsen des  Interpellationsrechts  wirksam  entgegenzutreten, 
doch  —  ohne  einem  übertriebenen  Minoritätenschutz  das 
Wort  zu  reden  und  die  Majorität  kann  sich  immer  selbst 
helfen  —  setzen  derartige  Bestimmungen  einen  taktvollen 
und  einsichtigen  Präsidenten  voraus,  der  unparteiisch  von 
seinen  Rechten  Gebrauch  macht.  Dem  „Speaker"  wird 
dies  fast  allgemein  und  jederzeit  nachgerühmt,  doch  selbst 
hier  macht  vorher  der  Clerk  des  Hauses,  ohne  selbst  eine  Ent- 
scheidung zu  fällen,  auf  Unzulässigkeiten  in  der  ein- 
gebrachten Interpellation  aufmerksam.  Es  ist  nicht  immer 
leicht,  zwischen  einer  „berechtigten  Kritik"  und  dem,  was 
in  Geschäftsordnungen  ein  wenig  verschwommen  „gröbliche 
Verletzung  des  Anstandes  und  der  Sitte"  genannt  zu  werden 
pflegt,  zu  scheiden,  und  zu  Zeiten  großer  Parteikämpfe  und 
in  Tagen  entfesselter  politischer  Leidenschaften  mag  der 
Präsident  —  ungewollt  —  in  den  Wirbel  des  Streites 
gerissen    werden,    was    gerade    für    die    Zensur    an    Inter- 

^  Vergl.  Regierungsvorlage,  S.  5,  §  12  a. 
^  Regierungsvorlage,  S.  23  f. 


VI  2, 


57 


I 


pellationen  um  so  unerwünschter  eracheintj  da  ja  die  Inter- 
pellationen ein  hervorragendes  Mittel  der  Kontrolle  sind, 
dessen  eminente  Bedeutung  in  mancher  Verfassung  und  in 
allen  parlamentarischen  Kollegien  anerkannt  wird.  Zum 
mindesten  müßte  der  Entscheidung  des  Präsidenten  in  der 
G.O.  ein  klareres  Prinzip  der  „Ungehörigkeit"  zugrunde 
gelegt  werden  und  gegen  das  präsidiale  Urteil  ein  Appell 
an  das  Plenum  offenstehen. 

Die  Epoche  des  rapid  zunehmenden  Verkehres,  von 
der  wir  nicht  wissen,  ob  wir  uns  in  ihrem  Anfangs  Stadium 
befinden,  oder  vorderhand  wenigstens,  schon  nuf  jener 
Entwicklungsstufe,  die  mit  den  heute  gegebenen  Mitteln 
keine  erhebliche  Beschleunigung  des  Verkehre  mehr  erzielen 
kann,  brachte  es  im  Verein  mit  den  mannigfachen  ge- 
steigerten technischen  Möglichkeiten  dazu,  daß  gewisse 
Arbeiten  mit  einer  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  kaum 
geahnten  Raschhoit  geleistet  werden  können;  aber  ander- 
seits gibt  es  auch  Tätigkeitsgebiete,  deren  Inhalt  in  fort- 
währendem Anwachsen  begriffen  ist,  ohne  daß  die  Ent- 
deckungen und  Erfindungen  der  Moderne  im  gleichen  Maße 
in  der  Darbietung  beschleunigender  Hilfsmittel  zur  Be- 
wältigung Schritt  gehalten  hätten. 

So  wächst  das  Arbeitsfeld  und  die  nötige  Arbeits- 
intensität der  staatlichen  Aktionen  und  gerade  was  den 
auf  die  Parlamente  entfallenden  Teil  derselben  betrifft, 
bietet  die  ausgebaute  Technik  hier  nur  wenige  Neuerungen, 
die  eine  schnellere  Erledigung  des  zunehmenden  Arbeits- 
pensuma  ohne  Beeinträchtigung  der  Genauigkeit  und 
Präzision  der  Tätigkeit  und  ohne  BeeintrJtchtigung  der  Güte 
des  Resultats  gestatten.  Einerseits  folgt  daraus  die  ao- 
iichwellende  Bedeutung  der  Regierung  mit  ihrem  stets 
Steige  rungs  fähigen  Beam  tenap  parat ,  anderseits  das  ent- 
^hiedene  Begehren  der  Kammern,  die  Zeit  überall  dort  zu 
'Sparen,  wo  sie  bisher  anscheinend  oder  tatsächlich  Überreich 
-ingem essen  war. 

Zahlreiche   Bestimmungen    legen   für  dieses  Bestrebsn 


58  VI  2 

Zeugnis  ab ;  auch  dem  Interpellatibnsrecht  sucht  man  Zügel 
anzulegen )  um  Zeit  für  andere  parlamentarische  Geschäfte 
zu  sparen.  Solchen  Zügelungen  dienen  mancherlei  Regeln, 
die  auch  andere  Zwecke  verfolgen,  aber  als  diesbezüglich 
typische  Institutionen  sind  zwei  zu  nennen :  zur  Entwicklung 
der  Interpellationen  wird  nur  an  einem  bestimmten  Termin 
oder  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  Gelegenheit  gegeben 
und  die  mündliche  Antwort  wird  durch  eine  schriftliche 
Erledigung  ersetzt. 

Die  zeitliche  Begrenzung  der  Interpellationsbehandlung 
wird  nicht  in  allen  parlamentarischen  Kollegien  angestrebt, 
sondern  nur  in  jenen,  die  durch  eine  zunehmende  Anfragen- 
zahl ein  Verkümmern  der  andern  ihnen  obliegenden  Arbeiten 
zu  befürchten  haben. 

Im  englischen  Unterhause  gelangen  Interpellationen 
nur  am  Montag,  Dienstag,  Mittwoch  und  Donnerstag  zur 
Entwicklung,  und  zwar  ist  ihnen  jedesmal  bloß  eine  Zeit 
von  45  Minuten  reserviert^;  provisorische  Bestimmungen 
in  der  französischen  Deputiertenkammer  und  Art.  33  der 
im  Jahre  1901  revidierten  G.O.  des  belgischen  Repräsentanten- 
hauses lassen  ihre  Behandlung  in  der  Regel  nur  an  einem 
Tage  der  Woche  zu^  und  schon  seit  1890  sind  in  der 
II.  Kammer  des  italienischen  Parlamentes  ebenfalls  nur 
40  Minuten  an  jedem  Sitzungstage  den  Interpellationen  und 
Anfragen  und  überdies  5  Minuten  für  die  Replik  auf  die 
Antwort  des  Ministers  zugesprochen^.  Wenn  bisher  weder 
der  D.R.T.  noch  das  preußische  Abgh.  solche  Beschränkungen 
für  sich  vornahm,  so  kommt  dies  daher,  daß  beide  Kollegien 
noch  keinen  Grund  fanden,  die  den  Interpellationen  ge- 
widmete Zeit  mit  Beunruhigung  wahrzunehmen.  Für  das 
österr.  Abgh.  mit  seiner  chronischen  Obstruktion,  von  der 
es  fraglich  ist,  ob  sie  auch  noch  nach  Einführung  des  all- 
gemeinen Wahlrechts   fortdauern  wird,   brachte   zwar  kein 


^  Stjyiding  Order  IX;  vergl.  auch  besonderen  Teil:  England. 
^  Pierre,  a.  a.  O.,  Supplement  1906,  S.  337  ff.;  341. 
'  Brusa,  a.  a.  O.,  S.  491,  Anm.  2. 


VI  2. 


59 


GeBchfiftsiininiingsvorstjhlag  eine  hier  charakterisierte  Zeil- 
beschränkung ,  doch  finden  sich  in  den  verschiedenen  Ab- 
änderungaent würfen  Hinweise  auf  derartige  in  andern  Parla- 
menten übliche  Regeln,  die  beweisen,  daß  der  Gedanke 
einer  zeitlichen  Grenze  für  die  Behandlung  qualifizierter 
Anfragen   wenigstens  in  Erwägung  kam  '. 

Gegen  eine  klug  berechnete  und  nicht  zu  engherzige 
Termiuiaierung  läßt  sich  Erhebliches,  das  mit  Hinblick  auf 
die  große  Zeitersparuia  in  Betracht  körne,  kaum  einwenden, 
aber  immerhin  kann  sie  dazu  führen,  daß,  falls  die  fest- 
gesetzte Zeit  zur  Erledigung  der  Interpellationen  nicht  aus- 
reicht, ein  Großteil  derselben  unbeantwortet  bleiben  mUßte, 
der  gewöhnlich  mit  dem  Schluß  der  Seasion  begraben 
wtirde^,  Dem  abzuhelfen  sind  schriftliehe  Antworten  in 
Anwendung  gekommen,  um  das  mUndlich  nicht  Erledigte 
luf  diese  Weise  aufzuarbeiten. 

Mit  der  Schriftlichkeit  der  InterpeUationsbeaatwortung 
ist  ein  neues  Problem  aufgestellt. 

Noch    im    Jahre    1677   konnte   im   preußischen  Abg.H. 

>  auf  die  obligate  Mündlichkeit  der  Interpellationsbehandlung 
i  englischen  Parlamente  hingewiesen  und  erklärt  werdeu, 
Interpellationen  stellen  eich  dar  —  im  Gegensatz  zu  dem  in 
der  Budget-  und  Rechnungakommiasion  üblichen  schriftlichen 
Auskunft  verfahren  —  als  mündliche  Verhandlung  zwischen 
dem  Interpellanten  und  der  Regierung^,  In  diesem  Punkte 
änderte  sich  verschiedenes.  Das  englische  Unterhaus  er- 
lebte  in    einer  Session   über   7tJ00  Interpellationen  und  da- 

^  durch  acquiricrte   die  mündliche  Prozedur  den  Todeskeim; 

k  ihre  Nachfolgerin    war  die   Schriftlichkeit.     Die   mlindliche 

I  Erledigung  gilt  nur  mehr  als  Ausnahmsfall,  wenn  der  Inter- 


'  Vergl.  Berielit  d.  H.H.,  S,  '. 
r  etwas  unklnrea  Vi-rbindmiK  v 
I  tag'^  bvEügliuli  des  D.R.T. 

*  Ober  eiiwchllgige  Schwierigkeit«!]  in  der  frMueeiachcn  Deputierteu- 
mer,  «.  Pierre,  Hupplement  ISO«,  fi-  Xnß. 

•  8«8.  1877/78,  Siteg.  18,  8.  Ml.  i-iUsg.  Ü8.  S.  709f.;  verj^LPUle, 


60  VI  2. 

pellant  sie  fordert,  die  Antwort  noch  innerhalb  der  £tir  In- 
terpellationen zugemessenen  Zeit  fällt,  oder  sonst  beach- 
tenswerte Umstände  in  Betracht  kommen.  Auch  in  Dänemark 
können  die  Minister  schriftlich  antwortend 

Die  Regierungsvorlage*  wollte  für  den  österr.  R.R. 
ebenfalls  die  Schriftlichkeit  der  Beantwortung  als  das  nor- 
male fixieren,  doch  sollte  es  den  Mitgliedern  der  Regie- 
rung (nicht  den  Mitgliedern  der  Kammer!)  vorbehalten 
bleiben,  auch  den  Weg  der  mündlichen  Erledigung  zu 
wählen®.  Der  Bericht  der  Spezialkommission  des  H.H.*, 
schlug  flir  das  Interpellationsverfahren,  sowohl  für  die  Ein- 
bringung der  Anfragen,  wie  für  den  weiteren  Prozeß  einen 
schriftlichen  Gang  vor,  aber  immerhin  könnten  25  Mit- 
glieder im  Herrenhause,  beziehungsweise  50  im  Abgeord- 
netenhause eine  Verlesung  der  Interpellation  und  eine  ver- 
bale Beantwortung  durchsetzen. 

Schwere  Bedenken  lassen  sich  gegen  das  schriftliche 
Verfahren,  dem  auf  andern  Gebieten  mit  Recht  energisch 
entgegengearbeitet  wird,  erheben.  Natürlich  werden  sie 
nicht  in  allen  Kammern  gleich  gewichtig  sein,  sondern  sehr 
von  deren  sonstigen  Institutionen,  Sitten  und  Gebräuchen 
abhängen.  Gewiß  ist  nur,  daß  das  Kontrollmittel  der  Inter- 
pellationen dadurch  aus  dem  Kreis  der  Öffentlichkeit  ge- 
rückt wird  und  eine  Abschwächung  erfährt,  die  besonders 
in  der  Erschwerung  einer  folgenden  Interpellationsdebatte 
zutage  tritt,  wie  auch  im  englischen  Parlamente  eine  Dis- 
kussion  über  die  ministerielle  Äußerung  ausgeschloßen  ist 

Wenn  die  Zukunft  die  Tätigkeit  der  parlamentarischen 
Kollegien  noch  weiterschreitend  zu  einer  überwiegend  kon- 
trollierenden ausgestaltet,  dann  wird  möglicherweise  die 
Mündlichkeit  im  Interpellationsverfahren  wieder  zurückkehren, 

^  Goos  und  Hansen,  a.  a.  O.,  S.  48. 

*  Regierungsvorlage,  S.  5;  23. 

^  Mündliche  oder  schriftliche  Antworten  je  nach  Belieben  des  inter* 
pellicrten  Ministers,  läßt  Art.  22  des  Ges.  vom  17.  Juni  1874,  die  Und- 
standische  Geschäftsordnung  betreffend,  in  Hessen  zu. 

*  Bericht  des  H.H.,  S.  4;  16. 


beziehungsweise  erhalten  bleiben,  wenn  die  Zukunft  dagegen 

nicht  mehr  die  Tendenz  zeigt,  die  wir  heute  auf  parlaDujn- 

tariächem  Gebiete  wahrzunehmen  glauben,   so  wird  es  von 

der   weisen  Selbstbese Kränkung  der  Parlamente   und   ihrer 

Mitglieder   abhängen,    ob   sie   durch   eine   kluge   Mäßigung 

nur    wenige    und    wichtige    Angelegenheiten    zur    Sprache 

bringen    und    diesen    das    gesprochene    Wort   vorbehalten, 

■  oder  üb  sie  durch  ein  Überschwemmen  mit  nebensächlichen 

lAnfragen  die  Notwendigkeit  beweisen,    die  Zeit  für  andere 

■Arbeiten  durch  eine  schriftliche  Behandlung  der  Interpella- 

ftionen  freizumachen. 

Eine  weitere  bereits  angedeutete  Folge  mu6  die  Öchrift- 
Sichkeit  der  Autwort  unbedingt  nach  sich  ziehen:  Sie  schließt 
^tdoe  weitere  Debatte  so  gut  wie  aus. 

Würden  die  Interpellationen  reine  Inf ormations Instru- 
mente sein,  so  wären  sie  mit  der  Äußerung  der  Regierung 
beendet,  und  nur  falls  diese  keine  genügende  Aufklärung 
gäbe,  wäre  Anlaß  fltr  weitere  Fragen  vorhanden,  um  eine 
befriedigende  Auskunft  zu  erhalten.  Da  jedoch  die  quali- 
fizierten Anfragen  in  erster  Reihe  ein  Kontrollmittel  sind, 
das  einen  kritischen  Charakter  trägt,  so  werden  die  Kammern 
danach  streben,  zur  Behandlung  der  Interpellation  durch 
den  Minister  Stellung  nehmen  zu  können,  über  dessen 
Handlungen  und  Hallung  zu  diskutieren  und  allenfalls 
durch  Einbringung,  Annahme  oder  Ablehnung  von  Anträgen 
auszusprechen  suchen,  ob  sie  der  Interpellierte  durch  seine 
Äußerung  befriedigte  oder  nicht.  Wo  die  G.O,  die  Mög- 
lichkeit giebt,  der  ministeriellen  Antwort  eine  Debatte 
folgen  zu  lassen,  kann  sie  nicht  der  Einzelne  nach  seinem 
individuellen  Belieben  inaugurieren,  sondern  sie  ist  von 
einem  dahingehenden  Antrag  einer  größeren  Anzahl  von 
Mitgliedern,  allenfalls  von  einem  Mehrheitsbeschluß  des 
Hauses  abhängig  gemacht'. 


'  G.O.  D.R.T.,    g  33,    dei   preoM.  Aligh.,    ü  'Ai.    des    Raten.   Abgh. 
9  l}9i  Tugl.  auch  Bma«,  «.  s.  O.,  8.  16(!  u.  a. 


62  VI  2. 

Im  englischen  Unterhause  war  eine  Interpellationsdebatte 
sei^  jeher  geschäftsordnungsmäßig  ansgeschlossen,  im  Ober- 
haase  ist  eine  solche  nicht  durchweg  untersagt  Vom  Jahre 
1849 — 1862  entbehrte  auch  die  preußische  zweite  Kammer 
der  Möglichkeit  einer  Besprechung  der  ministeriellen  Ant- 
wort. Selbstverständlich  kann  der  Interpellationsg^;enstand, 
wie  dies  manche  Geschäftsordnungen^  ausdrücklich  be- 
merken, in  Form  eines  selbständigen  Antrages  weiter 
verfolgt  werden,  was  von  besonderer  Bedeutung  auch  dort 
ist,  wo  zwar  eine  Interpellationsdebatte  gestattet,  aber  es 
unzuläßig  ist,  diese  mit  einem  darauf  bezüglichen  Antrag 
und  einem  Beschlüsse  zu  beenden.  Eine  solche  Motion 
unterliegt  der  gewöhnlichen  geschäftsmäßigen  Behandlung, 
die  gegebenenfalls  als  „dringliche*'  beschleunigt  zu  werd&k 
vermag^.  Eine  Diskussion  auch  ohne  folgenden  Beschluß 
ist  geeignet,  Unklarheiten  zu  beseitigen,  politische  Wirkungen 
zu  erzielen,  aber  auch  eine  beklagenswerte  Zeitverschwen- 
dung zu  begünstigen. 

Wie  schon  erwähnt,  untersagen  es  manche  Geschäfts- 
ordnungen ausdrücklich  und  bestimmt,  die  Besprechung 
einer  Interpellation  durch  Stellung  und  Erledigung  eines 
Antrages  abzuschließen^. 

Manche  Parlamente  dagegen  gestatten  eine  Beselilii&« 
fassung  am  Ende  der  Besprechung.  In  der  französischen 
Deputiertenkammer  können  Interpellationen  durch  die  An- 
nahme einer  Tagesordnung  beendet  werden*;  ähnlich  ist  das 
für  Holland  geregelt*^. 

Damit  hat  jederzeit  das  parlamentarische  Kollegium  die 
Macht,  dem  Ministerium  oder  Einzelnen  seiner  Mitglieder 
bezugnehmend  auf  eine  rechtlich,  politisch  oder  sozial  rele- 


^  G.O.  D.RT.,  §  33,  G.O.  preuß.  Abgh.,  §  34. 

*  Vergl.  u.  a.  auch  Scholle nberger,  a.  a.  O.,  I.  Bd.,  S.  205. 

^  Vergl.  u.  a.  im  besonderen  Teile  das  über  den  D.R.T.,  den  preoft. 
Landtag  und  den  österr.  R.R.  Gesagte:  desgl.  s.  Aschehoug,  jl  jl  O., 
S.  62  für  Schweden. 

*  Lebon,   das  Staatsrecht  der  Bepublik  Frankreich,   1886,   S.  72 
^  Hartog,  a.  a.  O.,  S.  41. 


VI  2. 


63 


vante  Frage  und  Antwort,  sein  Vertrauen  oder  Mißtrauen 
unzweideutig  auezuap rechen.  Einerseits  wilclist  dadurch 
der  kontrollierende  Einfluß  des  Parlamentes,  anderseits 
können  kleine  Augenblicksdifferenzen  und  momentane  Ver- 
stimmungen unsinnig  weite  Kreise  ziehen. 

Der  Bericht  des  Geechäftaordnungsausschusses,  der  fUr 

das  österr.  Abgeordnetenhaus  die  Zuläßigkeit  eines  Antrages 

im    Anschluß    an    die    Interpellation sdebatte    in    Vorschlag 

brachte,   äußerte   sich   u.   a.   folgendermaßen":    „Nach    der 

1  geltenden  Vorschrift  durfte  auch  dann,  wenn  das  Haus  die 

rDebatte  Über  eine  Interpellationsbeantwortung  beschloß,  bei 

•4'^^^''   Besprechung    kein    Antrag    gestellt   werden.     Somit 

men  innerhalb   der  Debatte  wohl  die  Anschauungen  ein- 

nlner   Mitglieder,   aber   nicht   die  Auffassung   des   Hauses 

Ausdruck.     Und    doch    kann    es   bei   Interpellationen 

Hber   wichtige   politische  Vorgänge   von   grußer  Bedeutung 

ein,  zu  erfahren,  ob  die  Mehrheit  des  Hauses  mit  dem  von 

Ider  Regierung  vertretenen  Standpunkte  übereinstimmt  oder 

Idiesen    Standpunkt   mißbilligt      In    dieser    Erwftgung   em- 

1  plieliU    der    Ausschuß,    bei    dem    erwähnten    Anlasse    die 

['Stellung   des  Antrages   zu  gestatten:  ,Das  Haus  nehme  die 

■Beantwortung   der   Interpeltation   sur   Kenntnis,',   «der   des 

KAntrages,   das  Haus   nehme  diese  Beantwortung  nicht  zur 

Kenntnis. " 

Mit  der  Darlegung  der  wichtigsten  Ausschmückungen 
ftdie  das  materielle  Interpellationsrecht  formell  in  den  ein- 
Fzelncn  Kammern  erfahrt,  kann  hiermit  geschlossen  werden. 
Unbeachtet  blieben  nebensächliche  formale  Bestimmungen, 
die  zum  Teil  aus  dem  „besonderen  Teile"  zu  entnehmen 
sind,  der  auch  mancherlei  Wiederholungen  bringen  muß, 
um  die  monogratische  Darstellung  des  Interpellationarechta 
in  speziellen  parlamontariaohcn  Kollegien  ohne  stOrende 
Lücken  geben  zu  können. 

Damit  die  Institutionen,  die  darauf  abzielen,  durch  Ver- 


■  Bericht  des  Ab^h.,  S.  24,  s.  auch  S.  1 


64  VI  2. 

klausulierung  des  qualifizierten  Anfragerechtes  Zeit  zu  ge- 
winnen und  Störungen  der  regelmäßigen  Arbeiten  zu  ver- 
meiden, für  die  Praxis  richtig  gewürdigt  werden,  möge 
daran  erinnert  werden,  daß  bisher  außer  den  drakonischen 
Bestimmungen,  obstruierende  oder  sonst  störende  Abgeordnete 
aus  dem  Hause  zu  entfernen,  kaum  eine  gegen  zeitvergeu- 
dende  Bestrebungen  gerichtete  Regel  einer  entschlossenen, 
skrupellosen  auch  kleinen  Minorität  gegenüber,  die  um 
jeden  Preis  den  Lauf  der  Verhandlungen  ernstlich  hemmen 
wollte,  den  gewünschten  Erfolg  erzielte.  Nur  der  mehr 
gedankenlosen  menschlichen  Schwäche,  in  Über- 
schätzung der  eigenen  oder  vertretenen  Angelegenheiten 
weitschweifig  die  Geduld  und  die  Zeit  anderer  in  Anspruch 
zu  nehmen,  wird  durch*  einschränkende  Geschäftsordnungs- 
regeln ein  wirksamer  Riegel  vorgeschoben. 

5.  Dem  Interpellationsrecbt  Sbnlicbe  Institutionen. 

Wenn  im  Abschnitte  „Wesen  und  Zweck  des  Interpel- 
lationsrechtes" gesagt  wurde:  „Es  gibt  in  jedem  Parlamente 
ein  besonders  qualifiziertes  Frageverfahren  von  Mitgliedern 
der  Kammer  oder  von  der  Kammermehrheit  an  einen  genau 
bestimmten  Personenkreis"  und  dieser  später  zusammen- 
fassend als  „Regierung"  bezeichnet  wurde,  so  darf  das 
nicht  etwa  so  verstanden  werden,  daß  überall  Interpel- 
lation s  institutionen  vorhanden  sind.  Solche,  im  kontinen- 
talen Sinne,  fehlen  dort,  wo  eine  strengere  Durchführung 
des  Prinzips  der  „Gewaltentrennung"  den  Vertretern  der 
Executive  untersagt,  in  den  parlamentarischen  Kollegien  zu 
erscheinen.  Das  war  in  manchen  Stadien  der  französischen 
Verfassungsentwicklung  der  Fall  und  gilt  heute  noch  für 
die  Union  *.    Hier  finden  zwischen  dem  Repräsentantenhaase 


'  Vereinzelt,  doch  chronologisch  weit  zurückliegend,  sind  allerdings 
Fälle  verzeichnet,  daß  sich  Minister  im  Senate  eingefunden  hatten,  sowie, 
daß  an  sie  Vorladungen  zu  mündlichen  Verhandlungen  ergingen.  YergL 
Holst,  das  Staatsrecht  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  If 
8.  50  ff. 


VI  2. 


05 


und  den  Staate  Sekretären,  die  den  Exekutiv- Departemente 
voratehen,  achriftliche  Verhandlungen  statt,  woran  grund- 
aätalich  der  Umstand  nichts  ändert,  daß  an  Stelle  des  Ple- 
nums seine  Komitees  mit  ihren  Vorsitzenden  den  Verkehr 
mit  der  Exekutive  fast  ausachließlich  zu  besorgen  beginnen*. 
Ob  sich  Interpellationen  an  diese  „Vorsitzende"  (als  „Mi- 
nister zweiten  Grades")  einbürgern  werden,  muß  dahin  ge- 
stellt bleiben.  Den  Übergang  von  dem  auf  französischem 
Vorbilde  fußenden  Interpellationsverfahren  mit  seiner  flüs- 
sigen Handhabung  zum  schwerfälligen  Systeme  der  Union 
bilden  die  Questions  im  englischen  Parlamente'. 

Neben  den  eigentlichen  Interpellationen  kommen  in 
den  verschiedenen  Kammern  noch  „einfache  Anfragen"  vor. 
Auf  sie,  die  im  Laufe  der  Verhandlung,  bezugnehmend 
auf  den  Verhandlungsgegenstand,  an  die  Regierung  gestellt 
werden,  wurde  bereits  verschiedentlieh  hingewiesen;  zumeist 
bedürfen  sie  keiner  besonderen  Vorbereitung  und  keiner 
bestimmten  Form,  doch  giebt  es  auch  hierin  Abweichungen. 
In  Italien  sind  Anfragen,  auch  mehrere  Einzelfragen  ent- 
haltend, schriftlich  abzufassen ,  wenn  sie  mit  ,ja  oder  „nein" 
zu  beantworten  sind,  also  etwa  über  die  Wahrheit  oder 
Unwahrheit  einer  Tatsache  Erkundigungen  einziehen  *. 

Eine  besondere  IVIiitelstelhing  zwischen  den  , einfachen" 
und  den  „qualifizierten"  Anfragen  (Interpellationen)  an  die 
Minister  nehmen  in  Frankreich  die  sogen.  Questions  adres- 


'  Vergl.  Jellio  ek,  VerbssnngÜDdenuig  nnil  VerfagmmgswandlDiig, 

ö.  46  f- 

'  Der  republikanische  BandeButaat  aaf  demokratischer  Qriuidliige  iu 
Europ*  —  die  t5thwcizerische  EidgenoaaeDBchaft  —  folgte  in  seiner  Vei^ 
faSHiin^  beiQ^^I.  der  InformntioiiB-  imd  Kantrollmitl«]  nicht  dem  fieispiele 
den  DurdunierikatiischpD  SohweBteratJuitea,  sondern  spricht  im  Vetf.  Ari  85, 
Abs.  II  der  BnndeaTersBDiiDlDng  die  Aufsicht  über  die  eidgenSsBioche 
Verwütlung  (u.  Rechtspflege)  lu  und  regelt,  soweit  das  vorliegende 
Problem  dadurch  lietroffen  wird,  die  Form  der  AuftichtadurehfÜbrung  in 
Art  102,  Ab«.  1».  letztem  Sntxe.  fblgendennoBen:  „Er  (der  Bundesrat)  hat 
Hiich  besondere  Kerii'.hle  zn  erstatten,  wenn  die  Bundes vertamminng  oder 
eine  Abteilung  derselben  ea  verliingt."  Dadurch  wird  eine  Interpell&tioni- 
berechti^unff  beer  findet. 

'  Vergl.  Brusa,  n.  a,  O.,  8.  lÖßf. 


66  VI2. 

s^es  aux  ministres  ein;  ihr  Gegenstand  ist  nicht  auf  die 
augenblickliche  Verhandlungsmaterie  beschränkt,  aber  sie 
müssen  vom  Minister  genehmigt  sein,  werden  am  Beginn 
oder  am  Ende  einer  Sitzung  verhandelt,  und  zu  ihnen 
haben  nur  der.  Fragesteller  und  der  Befragte  das  Wort 
Die  Umwandlung  solcher  Questions  in  Interpellationen  ist 
durch  den  Usus  genau  geregelt*. 

Neben  den  dieser  Arbeit  zu  Grunde  gelegten  Inter- 
pellationen an  die  Regierung  oder  an  die  R^gierungsmit- 
glieder  existiert  in  manchen  parlamentarischen  Kollegien 
noch  ein  Frageverfahren,  das  in  der  G.O.  (österr.  R.R.), 
oder  in  der  deutschen  Literatur  (f)ir  das  englische  Par- 
lament) unpräzis  ebenfalls  als  Interpellationsverfahren  be- 
zeichnet wird.  §  67  G.O.  des  österr.  Äbg.H.  sagt:  „Jedem 
Abgeordneten  steht  das  Recht  zu,  an  den  Präsidenten  des 
Hauses,  an  die  Vorsitzenden  der  Abteilungen  und  Aus- 
schüsse Interpellationen  zu  richten  ..." 

Ebenso  können  im  englischen  Unterhause  an  den  Speaker, 
den  Leader  der  Opposition  und  solche  Mitglieder  des  Hauses, 
die  sonst  an  einem  seiner  Geschäfte  beteiligt  sind,  An- 
fragen gestellt  werden,  aber  nur  in  Betreff  einzelner 
Geschäftsstücke  oder  der  Geschäftsbehandlung'. 

Bei  dieser  Art  Anfragen  tritt  der  Charakter  der  Kon- 
trolle hinter  dem  der  bloßen  Information  zurück. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  das  „Kommisaionen* 
oder  „Ausschüssen*'  zustehende  „Fragerecht" ;  es  ist  geeignet, 
solche  Angelegenheiten,  die  im  Plenum  des  Hauses,  in  An- 
wesenheit einer  großen  Anzahl  von  Abgeordneten  —  wenn 


1  Vergl.  Pierre,  a.  a.  O.,  S.  783 ff;  Lebon,  das  Stamtsreeht  der 
Republik  Frankreicb,  S.  72  f. 

^  Die  vom  Beriebt  des  Abgb.  vorgeschlagene  „Schrifilichkeit*  der- 
artiger „Interpellationen''  sollte  nur  auf  Grund  der  „mangelhafteu  Akustik 
des  Beratungssaales*'  und  der  dort^meist  berrscbenden  Unruhe*'  eingeführt 
werden,    (i^richt  des  Abgb..  S.  23.) 

*  Vergl.  M  &j,  a.  a.  O.,  11.  Ed.  S.  247  ff;  —  Bezüglich  der  „InterpeUatioii* 
von  Deputierten  der  H.  Kammer  Frankreichs,  wenn  es  sich  am  An- 
gelegenheiten bandelt,  die  etwa  in  ihrer  Stellung  als  ,3^amte  in  ihr 
Ressort  fallen"    vergl.  Pierre,  a.  a.  O.,  S.  804  f. 


I 


fXl  2.  67 

auch  mit  „Ausschluß  der  Öffentlichkeit"  —  nicht  ohne 
schwere  Bedenken  besprochen  werden  können ,  in  dem 
engen  Kreis  eines  Auäsclmsses,  dessen  Verschwiegenheit  und 
Diskretion  alleiifall»  noch  zu  erzielen  wäre,  zu  befriedi- 
gender Erledigung  zu  bringen.  Materielle  Antworten, 
welche  die  Regierung  aus  ganz  beatimmten  Gründen  vor 
der  breiten  Öffentlichkeit  zu  geben  sich  acheut,  können  in 
Komitees  erteilt  werden. 

Manche  Gesetze  oder  Geschäftsordnungen  sahen  einem 
Fragerechte   der  Ausschüsse   vor.     Üo  §  21  G.  ü.  d,  R.V. : 

„Jedes  der  beiden  Häuser  des  R.R.  ist   berechtigt 

Kommissionen  zu  ernennen,  welchen  von  Seiten  der  Mini- 
sterien die  erforderliche  Information  zu  geben  ist  .  .  ."  ' 

Ein  weiteres  Informationa mittel  mit  inhärentem  Eon- 
troll charakt  er  schuf  z.  B.  Art.  81  Aba.  3  der  preußischen 
Verfassung  dadurch,  daß  Jede  Kammer  die  an  sie  gerich- 
teten Schriften  an  die  Minister  überweisen  und  von  den- 
selben Auskunft  über  eingehende  Beschwerden  verlangen 
liann;  und  §  ^5  G.O.  des  preuS.  Abg.H.  regelt  das  nähere 
Verfahren*. 

Auf  alle  mögliche  Art  und  Weise  suchten  gesetzliche 
und  0,0.  Bestimmungen  das  In terpcllations verfahren  za 
ergänzen  und  dort,  wo  Interpellationen  im  eigentlichen  Sinn 
des  Wortes  ausgeschlossen,  untunlich  oder  zu  schwerfällig 
sind,  Surrogate  zu  linden,  um  vorhandenen  Mängeln  ahr-ii- 
belfen,  aber  sie  entbehren  meist  einer  akzentuierten  Prä- 
sision  und  Schärfe  —  und  diesbezüglich  nähern  sich  ihnen 
die  „Interpellationen"  jener  Parlamente,  in  denen  die 
^Schriftlichkeit  der  Prozedur  an  Boden  gewinnt. 

'  Verg-I.  nach  §  28  Satz  8  des  Gesetzes  über  die  Üsterreich-UngHrn 
Dsimen  Angetegenbeitenj  bezahl,  eines  schrifUichen  FrageTerf&hroiiB 
T  KoromiasioneD  im  preaB.  Abcb.:  Plate,  die  G.O.  des  preiiB,  Abgh.. 
119. 

Ein    Fragerecht    des    „ Bfirgeraunchusses    sieht   Art.  60'   der  Ver- 
lang  voD  HambuTB  vor  oud  Art.  63'  der  VerffiHSiing  von  Lftbeck, 
•^Veifl.  «nch  § -34  G.O.  de«  D.R.T. 


B.  Besonderer  Teil. 


1.  Preafien  and  das  Deatsßhe  Reich. 

Die  historische  Erörterung  irgend  einer  Geschäftsord- 
nungsmaterie des  Deutschen  R.T.  oder  eines  Problems, 
das  auch  nur  teilweise  seine  G.O.  streift,  läfit  sich  nicht 
von  der  Einsichtnahme  in  den  geschichtlichen  Entwicklungs- 
gang der  Geschäftsfuhrungsbestimmungen  für  das  preufi. 
Abg.H.  trennen,  denn  dessen  selbständige  G.O.  ist  es,  die, 
wenn  auch  zum  Teil  abgeändert,  doch  in  den  Grundprinzi- 
pien gleich,  über  den  verfassungsberatenden  (24.  Februar 
bis  17.  April  1867)  und  den  Reichstag  des  norddeutschen 
Bundes  (getagt  innerhalb  des  10.  September  1867  und  des 
10.  Dezember  1870)  auf  den  deutschen  R.T.  überging. 

Erst  vom  25.  Februar  1867  an,  dem  Tage  des  Zu- 
sammentrittes des  konstituierenden  R.T.  gehen  die  Aus- 
gestaltung, die  Entwicklung  und  Weiterbildung  der  G.O. 
des  preuß.  Abg.H.  und  der  des  späteren  Deutschen  R.T. 
getrennte  Wege,  doch  wirkten  die  Gemeinsamkeit  der  Ab- 
stammung, gleichartige  Bedürfnisse  und  Bedürfnisse  nach 
Gleichartigkeit  auf  die  Ähnlichkeit  dieser  Wege  ein. 

Was  aber  die  voneinander  dennoch  abweichende  Ent- 
wicklung der  G.O.  in  den  zwei  parlamentar.  Kollegien 
anlangt,  so  ist  zu  konstatieren,  dafi,  trotz  der  vielfach  diffe- 
rierenden Form  der  Änderungen,  Neuerungen  und  Ergän- 
zungen, die  tatsächliche  Übung  innerhalb,  neben  und  auch 
gegen  das  geschriebene  Wort  die  unverkennbare  Tendenz 
aufweist,     über    den    trennenden    Buchstaben    hinweg    die 


VI  2. 


m 


faktische  Gleidiheit  oder  ALnlichkeit  der  BestininiuDgen  in 
ihrer  Handhabung  zu  vermitteln. 

Ein  solcher  „Ausgleich"  kann  bisher  nicht  beobachtet 
werden  bezüglich  der  Regeln  über  die  Anzweifelung  der 
Beschlußfähigkeit  eines  Haueee,  über  die  namentliche  Ab- 
stimmung bei  Schluß-  und  Verl agiingsan trägen,  die  Dis- 
ziplinarvorschriften ,  die  Damentlichen  Zettelabstimmungen 
und  die  G.O.-Bemerkungen '. 

SelbatTerstündlich  war  es  der  Deutsche  R.T.  mehr, 
denn  das  preuß.  Abg.H.,  der  an  seiner  G.O,  herummodelte, 
denn  es  galt  bei  ihm  die  filr  ein  anderes  Kollegium  ge- 
schaffenea  und  aus  diesem  herausgewachsenen  Regeln  den 
eigenen,  und,  wie  tn  jeder  neuen  Organisation,  schwankenden 
Ve  rhu  Uni  säen  anzupasBen. 

Dagegen  nahm  das  Abg.H.  des  preufi.  Landtages  seit 
über  einem  Vierteljahrhundert  keine  nennenswerten  Ver- 
änderungen vor  ■ —  das  Haus  und  seine  G.O.  traten,  vorder- 
hand  wenigstens,    in   das  Stadium   innerer  Konsolidierung. 

Was  nun  speziell  das  Interpellation  Brecht  betrifft,  so 
stimmen  die  darauf  bezugnehmenden  gg  32,  3'j  G.O. 
des  D.R.T.  und  die  §§  33,  34  G.O.  des  preuß.  Abg.H. 
sinngemäß,  und  sieht  man  von  den  Bezeichnungen, 
die  aus  der  Verschiedenartigkeit  des  Interpellierten  resul- 
tieren, ab,  auch  beinahe  wörtlich  Uberein.  Hinter  dieser 
*  Formenähnlichkeit  verbirgt  sich  jedoch  in  der  Litteratur 
ein  Dissens;  daB  das  Interpellationarecht  des  D.R.T, 
nicht  ausdrücklich  in  der  Verfassung  ausgesprochen  ist, 
steht  fest;  üb  das  Gleiche  für  den  Preußischen  Landtag 
gilt,  oder  ob  Art.  (j<l"  und  81  "^  V.U.  es  unmittelbar  dekre- 
tieren, ist  in  der  Theorie  strittig,  Obschon  m.  E,  ^  es 
Bei  auf  den  Absch.  ,der  rechtliche  Charakter  des  Interpel- 
tat ionsrechtes'  im  allgem.  Teile  verwiesen  —  das  Problem 
nicht  die  ihm  zum  Teil  zugesprochene  Bedeutung  besitzt, 
wird  dennoch  darauf  kurz  einzugehen  sein  und  aus 
diesem  Grunde  soll   zwar   die  historische  Entwicklung  des 

'  S.  Piste,  die  G.O.  des  preuß.  Al.gh-,  1904,  8.  vm. 


70  VI  2. 

InterpellatioDsweseiis  im  D.R.T.  und  im  preufi.  Abg.H. 
gemeinsam,  aber  die  Erläaterang  der  heute  geltenden  Be- 
stimmungen getrennt  dargestellt  werden. 

Gemäß  der  sogen.  „Viebahnschen,  vorläufigen  G.O." 
fiir  die  11.  Kammer  des  preuß.  Landtages  vom  28.  Feb- 
ruar 1849  entschied  über  die  Zulässigkeit  der  vom  Inter- 
pellanten und  außerdem  von  30  Mitgliedern  (in  Summa 
also  von  31  Abgeordneten)  unterzeichneten  Interpellation 
der  Gesamtvorstand  der  Kammer;  im  Falle  sich  dieser  für 
die  Zuläßigkeit  aussprach,  wurde  sie  dem  Ministerpräsi- 
denten zugestellt,  unter  die  Mitglieder  verteilt  und  in  der 
Kammer  zur  Lesung  gebracht;  wenn  auch  diese  ohne  Be- 
sprechung die  Zulassung  der  Interpellation  beschlossen 
hatte,  erhielt  der  Interpellant  das  Wort  zur  näheren  Aus- 
führung und  hierauf  bestimmte  die  Staatsregierung  den  Zeit- 
punkt der  Beantwortung. 

Die  gegenwärtige  Fassung  des  das  Interpellationsrecht 
betreffenden  §  33  G.O.  stammt  aus  der  sogenannten  „end- 
giltigen  G.O."  vom  28.  März  1849. 

Die  „vorläufige"  hatte  abweichend  von  jener  der  preuß. 
Nationalversammlung  keine  Besprechung  der  Interpellations- 
antwort vorgesehen  ^. 

Diesen  Mangel  beseitigte  die  Simson-Forckenbecksche 
G.O.  vom  6.  Juni  1862;  ihr  entstammt  §  34  Abs.  1;  einer- 
seits machte  die  Regierung  dagegen  Bedenken  geltend, 
anderseits  erachtete  ein  Teil  des  Hauses  eine  „Besprechung*' 
ohne  die  Möglichkeit,  sie  durch  einen  Beschluß  zu  krönen, 
für  zwecklos.  Mit  Recht  wurde  dieser  skeptischen  Wertung, 
die  nur  rein  formal  folgerte,  die  politische  Bedeutung  einer 
Diskussion  entgegengehalten. 

Abs.  2  des  §  34  G.O.  verdankt  seine  Entstehung  einem 


^  Die  Dauer  der  Nationalversammlnng  währte  vom  22.  Mai  1848  — 
mit  einer  Vertagnng  —  bis  1.  Dezember  1848;  ihre  G.O.  basierte  am 
firanz.  o.  belgischen  Reglements,  diese  ihrerseits  auf  engl,  von  Bentham 
rationalisiertem  von  M  o  h  1  in  Deutschland  empfohlenen  Vorbilde.  VergL 
Hatschek,  a.  a.  O.,  S.  426 ffl 


rvi  2. 


71 


I 
I 


Antrage  des  Abg.  Virchow  und  wurde  am  5.  Dezbr.  1B77 
lieechlosseD.  Er  eDlhJtlt  die  Anwendung  von  Art.  60  Abs.  2 
V.U.  auf  eiuen  speziellen  Fall  und  stellt  nur  fest,  da6  die 
Stellung  von  solchen  Antrügen  bei  der  Besprechung  zu- 
lllasig  sei,  welche  die  Verfassung  generaliter  gestattet'. 

Dieser  rückbliek enden  Erörterung  hat  nun  getrennt  die 
Behandlung  der  beute  geltenden  Interpellationsnormen  für 
den  preaS.  Landt.ig  und  den  D.R.T.  zu  folgen. 

a)   Der  Landtag  des  Eönigreiehs  Preofien. 

Gemeinsam  sind  beiden  HSusem  die  Bestimmungen  der 
Verfassungsurkunde  für  den  preußischen  Staat  vom 
31.  JÄnner  1850  Art.  ti'i".  61  und  ArL  Sl'".  Art.  6U" 
lautet:  „Jede  Kammer  kann  die  Gegenwart  der  Minister 
verlangen',  Art.  61  spricht  die  Verantwortlichkeit  der  Mi- 
nister den  Kammern  gegenüber  aus;  Art,  Sl^^  sagt:  ,Jede 
Kammer  kann  die  an  sie  gerichteten  Schriften  an  die  Minister 
überweisen  und  von  deoselben  Auskunft  über  eingehende 
Beschwerden  verlangen." 

a)  Das  Abgeordnetenhaai. 

Die  Verfassung  ergänzend  und  auslegend  sagen  §§  33, 
S4  G.O.;  und  zwar: 

§  33:  H Interpellationen  an  die  Minister  müesen  bestimmt 
formuliert  und  von  3i'  Mitgliedern  unterzeichnet  dem  PrS- 
üdenlen  des  Uause«  überreicht  werden,  welcher  dieaelben 
dem  Staataministenum  abschriftlich  mitteilt,  und  dasselbe 
in  der  nSchsten  Sitzung  des  Hauses  zur  Erklärung  darüber 
auffordert,  ob  und  wann  es  die  Interpellation  beantworten 
«erde.  Erklärt  das  Ministerium  sich  zur  Beantwortung 
bereit,  so  wird  an  dem  von  ihm  bestimmten  Tage  der  Inter- 
pellant zu  deren  näheren  Ausführung  verstattet." 

'  Dieser  korae  Überblick  über  den  Entwicklungsgui^  de«  loter- 
pdlBNoDArechta  iu  der  0.0.  des  preaB.  Abgh.  ist  ein  Remniäe  kos  der 
Uareo  und  übenichtlicfaea  DarsteUuns'  hui  Pl*le,  die  0.0.  de«  preuS. 
Afagb-,  1904,  S.  118  f.  nnd  B.  121  f. 


72  VI  2. 

§  34:  „An  die  Beantwortung  der  Interpellationen  od^ 
deren  Ablehnung  darf  sich  eine  sofortige  Besprechung  des 
Gegenstandes  derselben  anschließen,  wenn  mindestens 
50  Mitglieder  darauf  antragen.  Die  Stellung  eines  Antrages 
bei  dieser  Besprechung  ist  unzulässig.  E^  bleibt  aber 
jedem  Mitgliede  des  Hauses  überlassen,  den  G^enstand  in 
Form  eines  Antrages  weiter  zu  verfolgen. 

Anträge  im  Sinne  des  Art.  60  der  Verfassungsurkunde 
Abs.  2  sind  jederzeit  zulässig. ** 

Ean  recht  beträchtlicher  unterschied  liegt  zwischen  der 
,,  vorläufigen*'  und  der  heute  in  Kraft  stehenden  G.O.;  das 
Interpellationsrecht  wurde  gewissermafien  „demokratisiert*, 
modernisiert  —  aus  dem  schwerfälligen  .Mörser''  ist  ein 
akkurates  „Schnellfeuergeschütz''  geworden  und,  um  im 
Bilde  zu  bleiben,  die  neue  Konstruktion  hat,  wie  die  geringe 
Zahl  der  eingebrachten  Interpellationen  beweist,  zu  keiner 
Munitionsverschwendung  geführt 

Die  eine  Minorität  strangulierende  Verfügung,  daß 
Kammervorstand  und  Kammer  über  die  Zuläßigkeit  und 
Zulassung  einer  Interpellation  zu  entscheiden  hätten,  blieb 
nur  kurze  Zeit  in  Kraft;  sie  bedeutet  ja  die  von  der  Mehr- 
heit absolut  abhängige  Stellung  der  Minorität,  welche  keine 
der  ersteren  unangenehme  oder  von  ihr  nicht  gebilligte 
Anfrage  an  das  Staatsministerium  ^  stellen  konnte. 

Dem  Minoritätenschutze  wurde  durch  die  Beseitigung 
des  Kammerkriteriums  Rechnung  getragen ;  belanglos,  wohl 
nur  der  Ausfluß  menschlichen  Strebens  nach  „abgerundet^i 
Zahlen",  ist  die  Herabsetzung  der  31  unterstützenden 
Unterschriften  auf  30. 

Dreizehn  Jahre  nach  dieser  ersten  Reform  folgte  die 
zweite  ergänzende  und  brachte  die  Diskussionsmöglichkeit 
über  die  vom  Interpellierten  erteilte  oder  verweigerte  Ant- 
wort; sie  ist  an  den  Antrag  von  mindestens  50  Mitgliedern 

^  Die  Interpelbition  wird  trotz  der  Einleitnngsworte  des  §  33  G.O. 
nicht  an  den  Fachminiffter^  sondern  entsprechend  des  weiteren  Satxinhaltes 
an  das  Staatsministeriom  gestellt    YergL  Plate,  a.  a.  O^  S.  119*. 


VI2.  T3 

gebunden:  dieae  Zahl  anf  30  zu  beaclirgnken,  fand  nicht 
Anerkennung.  D&&  die  Äußerung  des  Ministers  besprochen 
werden  dürfe,  lag  Dicht  im  Interesse  der  Regierung,  deren 
Opposition  gegen  die  Neuerung  bereits  Erw&hnung  fand, 
ebenso  wie  das  Verkennen  des  politischen  Wertes  einer 
Interpellationsdebatte  durch  einen  Teil  des  Hauses.  Eine 
.Besprechung"  hat  aber  abgesehen  von  ihrer  kritischen 
auch  noch  d  i  e  Bedeutung.  daÖ  sie  wertrolles  Material  zu 
Tage  fördern  und  einen  Einblick  in  die  Stimmung  des 
Hauses  gewähren  kann ,  wodurch  ein  Mitglied,  das  den 
Gcf:enatand  der  luterpellation  in  Form  eines  selbständigen 
Antrages  weiter  verfolgen  will  (g  34  Abs.  2  G.O.).  beber- 
ligenswerte  Fingerzeige  erhKlt 

So  lange  das  preußische  Abgeordnetenhaus  auf  Grand 
des  Dreiklassen  Wahlsystems  zusammengesetzt  wird,  dürfte 
das  Interpellationsrecht  kaum  eine  Erhöhung  seiner  Durch- 
schlagskraft dadurch  erbalten,  dafi  derÄu&erungsbesprechung 
ein  materieller  Antrag  angeftigt  werden  dtirfe,  um  Frage 
und  Antwort  harmonisch  mit  einer  .Abstimmung'',  einem 
Beecbluä,  abzuschließen.  Es  ist  eher  aus  der  ganzen  Ten- 
denz, die  die  GeschSftsordnungen  heute  durchsetzt,  zu  er- 
warten, daß  die  „  Mändlichkeit"  des  Verfahrens,  die  1877 
noch  ein  Vorbild  im  englischen  Uuterbause  fand,  ganz  oder 
teilweise  einer  zeitsparenden  Seh rtftl ichkeil  weichen  werden 
müsse,  —  doch  das  auch  erst  dann,  wenn  eine  andere  so- 
xiale  und  politische  Strömung  in  der  II.  Kanuner  Ober- 
wasser bekommt,  die  von  dem  Interpellationsrecht  nicht 
mehr  so  selbstbescheiden  Gebrauch  macht,  wie  das  Haas 
in  den  verHossenen  Jahrzehnten  es  tat. 

In  manchen  Fällen  (z.  B.  Session  1875  Stzg.  80  S. 
2257)  wurde  vom  Interpellierten  eine  Antwort  ohne  Angabe 
von  Gründen  verweigert,  doch  ist  dieser  Umstand  deshalb 
Ton  verschwindender  Bedeutung,  da  in  den  letzten  zwanzig 
Jahren  überhaupt  nur  8  Interpellationen  unerledigt  blieben, 
also  nicht  10"  o- 

Dem  Hinister  ist  keine  Frist  gesteckt,  innerhalb  welcher 


74  VI  2. 

er  sich  zu  äußern  habe;  tatsächlich  läßt  die  Antwort  oft 
sehr  lange  auf  sich  warten  ^.  Von  den  sonst  bei  Interpel- 
lationen üblichen  Formalien  sei  nur  erwähnt,  daß  eine 
Drucklegung  der  Interpellationen  und  ihre  Verteilung  an 
die  Mitglieder  des  Hauses  durch  die  G.O.  zwar  nicht 
vorgeschrieben,  aber  tatsächlich  geübt  wird;  femer  wird 
die  Interpellation  gewöhnlich  nicht  fär  die  nächste  Sitzung 
auf  die  Tagesordnung  gesetzt,  sondern  nach  Verständigung 
mit  dem  Staatsministerium  spielt  sich  der  Gesamtkomplex 
ihrer  Abwickelung  in  einer  und  derselben  Sitzung  ab  und 
zwar  in  jener,  welche  für  die  Beantwortung  vom  Minister 
ausersehen  wurde;  die  nicht  vorgeschriebene  Verlesung  der 
Interpellation  findet  bald  statt,  bald  nicht;  die  Verbindung 
der  Behandlung  zweier  Interpellationen  oder  die  Besprechung 
einer  Anfrage  mit  der  Beratung  eines  Urantrages  wird  in 
der  Regel,  wenn  kein  Widerspruch  erhoben,  ftir  zulässig 
erachtet  *. 

Interpellationen  können  zurückgezogen  werden;  ob  von 
demselben  Interpellanten  auch  wieder  aufgenommen,  ist 
strittig;  nach  §  24,  Satz  1  6.0.  scheint  jene  Ansicht  die 
begründete,  die  nur  anderen  Mitgliedern  der  Kammer  die 
Berechtigung  zur  Wiederaufnahme  zuspricht,  doch  scheint  eine 
neuerliche  Unterstützung  durch  30  Unterschriften  nötig. 

Strittig  ist  die  rechtliche  Frage,  ob  das  Interpellations- 
recht ausdrücklich  in  der  V.U.  festgelegt  ist,  oder  nicht. 
In  der  Litteratur  herrscht  diesbezüglich  ziemlich  bedeutende 
Wirrnis.  Georg  Meyer*  erklärt  z.  B.,  daß  viele  Ver- 
fassungen der  deutschen  Gliedstaaten  den  Mitgliedern  des 
Landtages  das  luterpellationsrecht  einräumen  und  zählt  zu 
diesen  Verfassungen  auch  die  preußische;  Schulze^  sagt: 
„Jede  Kammer  kann  die  Gegenwart  der  Minister  verlangen. 
Darnach   sind   die   Kammern   selbstverständlich    berechtigt^ 


»  Ver^l.  Plate,  a.  a.  O.,  S.  121  « 

2  Vergl.  Plate,  a.  a.  O ,  S.  121  «>;  124'«. 

'  Mejer- Anschütz,  Deutsches  Staatsrecht,  S.  299. 

^  Schulze,  das  preußische  Staatsrecht,  188d,  I.,  S.  628. 


VI  2. 


75 


voD  den  Minietern  Aufklärungen  über  die  bu  ihrem  Wirkungs- 
kreise geböngen  GegeDsUlnde  zu  verlangen,  wobei  es  in 
der  Regel  indessen  den  Ministem  vorbehalten  bleibt,  in- 
wieweit sie  eine  solche  Auskunft  erteilen  wollen."  Auch 
jedem  einzelnen  Mitgliede  stehe  nach  der  G.O.  daa  Recht 
zu,  Anfragen,  Interpellationen,  an  den  Minister  zu  stellen  .  .  . ' 
Thudichum'  äußert  sich:  „Auch  die  preafiiscbe  Ver- 
fassung garantiert  ein  Interpellationeredtt  nicht,  während 
die  Geschäftsordnungen  beider  Häuser  sie  zulassen." 

Wenn  die  Frage  nach  dem  rechtlichen  Wesen  des 
Interpellationsrechtes  im  preußischen  Landtage  nicht  so 
formuliert  wird,  ob  eine  Kammer,  die  Kammermehrheit 
oder  einzelne  Mitglieder  ein  subjektives  Recht  zur  Stellung 
von  qualifizierten  Anfragen  hätten,  sondern:  ob  Inter- 
pellationen an  das  Staauminisierium  in  den  Wirkungskreia 
der  Kammern  fallen,  dann  entbehrt  die  LOsung  des  Problems 
jeder  Schwierigkeit. 

Art  61  V.U.  macht  jedes  der  beiden  Häuser  zu  Minister- 
anklagen und  damit  (ür  die  Kontrolle  der  Minister  tiber- 
haupt  kompetent.  Daraus  ist  auch  die  Zuständigkeit  zur 
Einleitung  von  Interpellationen  abzuleiten ',  deren  Form  die 
selbständigen  Geschäftsordnungen  bestimmen. 

Nach  ArL  IJ<J"  kann  jede  Kammer  die  Anwesenheit 
der  Minister  fordern;  dadurch  vermag  sie  auf  die  Vertreter 
der  Regierung  einerseil«  einzuwirken,  bei  den  Beratungen 
anwesend  zu  sein  —  allerdings  liegt  es  außer  ihrer  Macht- 
sphäre^   sie  zur   aufmerksamen   Anteilnahme   an   den    Ver- 


'  HarkwQrdi^r  erich«ii)t  e«  bier,  dafl  dip  Amnitbmea  von  der 
.Begel"  keine  Beeprecbnn^  finden,  um  klanalec^en,  in  welchen  Fitlen 
vom  Autor  für  den  luterpellierten  eine  Anfklärungapflicbt  Bncenommea  icird. 

etengel.  DudStMtorechtdesKBni^reiehsPranBen,  1^8.71, ■prichl 
jeder  Kammer  das  „Roebt"  lur  fitellung  Ton  iDterpellatioDeu  m:  ver^ 
auch  LiiliaDd,  Stubrecht,  I..  8.  284,  Anm.  I. 

*ThndicbDm,  VeiÜascungsivcfal  de«  norddentachen  Bundes  und  dM 
denuchen  ZollvereiBe«,   1870,  S.  213,  Anw.  2. 

'  S.  im  >llg«m.  Teil  den  Abarh.  „Der  rechtliche  Chanbter  dei  Inter- 
«lUtioiunoht«''. 


76  VI  2. 

handlangen  zu  zwingen^  —  anderseits  unterstützt  die  Be- 
fugnis, auf  ihrer  Gegenwart  bestehen  zu  können,  die  Durch- 
führung des  Interpellationsprozesses,  dem  die  Interpellierten 
ansonsten  durch  beliebiges  Absentieren  arge  Hemmungen 
zu  bereiten  vermöchten.  Art.  81  ^°  V.U.  nimmt  Bezug  auf 
Bitten  und  Beschwerden,  welche  an  die  Kammer  gerichtet 
durch  diese  an  die  Minister  weitergeleitet  werden  können; 
anknüpfend  daran  regelt  §  35  G.O.  des  Abgh.  (bezw.  §  52 
G.O.  des  H.H.)  das  einschlägige  Verfahren.  Ein  direkter 
Zusammenhang  des  angezogenen  Artikels  mit  dem  Inter- 
pellationswesen kann  nicht  behauptet  werden  —  aus  seinem 
Inhalte  läßt  sich  unmittelbar  nur  schließen,  daß  jede  Kammer 
Petitionen  auch  aus  ihrer  eigenen  Mitte  zu  erheben  befugt 
sei  — ,  aber  gleichwohl  ist  daraus  indirekt  eine  Auskunfts- 
pflicht der  Regierung  auf  Anfragen  noch  besonders  ab- 
zuleiten, denn  wenn  diese  die  an  sie  über  eingegangene 
Beschwerden  gerichteten  Schriften  durch  Auskunfterteilung 
zu  erledigen  hat,  so  kann  logischerweise  eine  Art  Ver- 
bindlichkeit, sich  auf  gestellte  Interpellationen  zu  äußern, 
denen  zumeist  ein  kritischer,  oft  ein  beschwerender  Charakter 
anhaftet,  kaum  geleugnet  werden ;  faßt  man  demnach  Art  61 
und  die  darauf  fußende  Kontrollkompetenz  der  Kammern, 
Art.  60^^  mit  der  dafür  geschaflfenen  Erleichterung  und 
Art.  81^^^  mit  seiner  Auskunftspflicht  der  Regierung  auf 
qualifizierte  Petitionen,  sowie  die  durch  die  selbständigen 
Geschäftsordnungen  interpretierend  geregelten  und  danach 
tatsächlich  geübten  Interpellationen  ins  Auge,  so  ist  die 
Frage  nach  der  Kompetenz  der  beiden  Kammern  des 
preußischen  Landtages  zur  Stellung  von  Interpellationen  an 
das  Staatsministerium  zu  bejahen  und  mit  Recht  eine  damit 
korrespondierende  Außerungspflicht  zu  behaupten'. 

Unabhängig  vom   formalen  Interpellationsrecht  ist  die 
Befugnis    der    einzelnen    Mitglieder    der   Kammer    an    die 


1  Plate,  a.  a.  O.,  8.  124 1». 

3  Yergl.  auch  Rehm,  aUgemeine  Staatslehre,  1899,  S.  850  £ 


VI  2. 


77 


Minister   im  Zusammenhang  mit   dem   Gegenstande    einer 
Verhandlung  Fragen  zu  stellen*. 

Folgende  Statistik  gibt  ein  übersichtliches  Bild  über 
die  Übung  des  Interpellationsrechtes  im  preußischen  Ab- 
geordnetenhause ^. 

Session      Zahl  d.  Interpell.      zurückgez.      beantwortet 

1887  , 


1888  . 

1889  . 

1890  . 
1890/91 
1892  . 
1892/93 

1894  . 

1895  . 

1896  . 
1896/97 

1898  . 

1899  . 

1900  . 
i901  . 

1902  . 

1903  . 
1904/05 
1905/06 


1 
2 
2 
4 
8 
5 
4 
6 
8 
4 
7 
4 
6 
10 
11 
10 


1 
2 
2 
4 
6 
5 
4 
5 
6 
4 
6 
3 
6 
8 
11 
10 


ß)  Das  Herrenhaas. 

§  51  G.O.  des  Herrenhauses"  weist  nur  unbedeutende 
Abweichungen  von  den  §§  33,  34  Q.O.  des  Abgeordneten- 
hauses auf,  die  zum  Teil  in  der  verschiedenen  Struktur  der 

*  Über  ein  in  der  G.O.  nicht  TOrj^ehenes,  doch  tatstchlich  aus- 
gebildetes schriftliches  Frageverfabren  in  den  Kommissionen  vergl.  Plate, 
a.  a.  O.,  S.  119«. 

'  IKese  Zosammenstellnng  verdanke  ich  dem  Entgegenkommen  Herrn 
A.  Plates,  Boreandirektors  des  PrenBischen  Abgeonlnetenhanses. 

*  Die  G.O.  des  preoBischen  Herrenhauses  bembt  anf  einem  Be- 
sohlasse vom  15,  Jnni  1892. 


78  VI  2. 

beiden  Häuser  begründet  sind  —  so  beträgt  hier  die  ZM 
der  eine  Interpellation  unterstützenden  Mitglieder  nur  20  — ; 
teilweise  glich  die  Praxis  formell  bestehende  Differenzen 
aus.  Die  Drucklegung  und  Verteilung  der  Interpellationen, 
die  für  das  Herrenhaus  vorgeschrieben  sind,  werden  der 
Sitte  gemäß  auch  in  der  IL  Kammer  geübt. 

Über  die  verfassungsmäßigen  Grundlagen  des  Inter- 
pellationsrechts gilt  das  bei  der  Behandlung  bezüglich  des 
Abgeordnetenhauses  Gesagte. 

b)  Der  Reichstag  des  Deutschen  Reiches  K 

Obschon  die  das  Interpellationsrecht  regelnden  §§  32, 
33  G.O.  des  D.R.T.  fast  wörtlich  mit  den  bereits  ange- 
führten §§  33,  34  G.O.  des  preußischen  Abgeordnetenhauses 
übereinstimmen,  sollen  sie  dennoch  der  klaren  Übersicht 
wegen  wörtlich  zitiert  werden;  sie  lauten: 

§  32:  „Interpellationen  an  den  Bundesrat  müssen,  be- 
stimmt formuliert  und  von  30  Mitgliedern  unterzeichnet, 
dem  Präsidenten  des  Reichstages  überreicht  werden,  welcher 
dieselben  dem  Reichskanzler  ^  abschriftlich  mitteilt  und  diesen 
in  der  nächsten  Sitzung  des  Reichstages  zur  Erklärung 
darüber  auflFordert,  ob  und  wann  er  die  Interpellation  beant- 
worten werde.  Erklärt  der  Reichskanzler  sich  zur  Beant- 
wortung bereit,  so  wird  an  dem  von  ihm  bestimmten  Tage 
der  Interpellant  zu   deren  näheren  Ausführung  verstattet." 

§  33 :  „An  die  Beantwortung  der  Interpellationen  oder 
deren  Ablehnung  darf  sich  eine  sofortige  Besprechung  des 
Gegenstandes  derselben  anschließen,  wenn  mindestens  50  Mit- 
glieder darauf  antragen.  Die  Stellung  eines  Antrages  bei 
dieser  Besprechung  ist  unzulässig.  Es  bleibt  aber  jedem 
Mitgliede  des  Reichstages  überlassen,  den  Gegenstand  in 
Form  eines  Antrages  weiter  zu  verfolgen". 

^  Verel.  Pereis,  das  autonome  Reichstafifsrecht ,  1903,  8.  42  ff: 
67,  65  f. 

^  Während  des  Bestandes  des  Norddeutschen  Bundes  stand  sinn- 
gemäß an  Stelle  des  Wortes  „Reichskanzler"  die  Bezeichnung  „Bundes- 
kanzler". 


^"VI  2. 


79 


Das  Interpellation  arecht  des  Deutschen  Reichstages  ist 
nicht  ausdrücklich  in  der  Verfassung  ausgesprocheri  ^,  den- 
noch ergiebt  sich  die  Rechtlichkeit  seines  Bestandes  aus 
der  Kontrollbefugnis  des  Hauses  und  der  Verantwortlichkeit 
des  Kanzlers  (Art.  4;  17;  72  der  Verfassung  des  deutschen 
Reiches).  Von  diesem  Standpunkte  aua,  der  den  R.T.  zur 
Stellung  von  Interpellationen  kompetent  ansieht,  und  mit 
Hinblifk  auf  die  Praxis,  die  tatsächliche  Übung,  wird  auch 
eine  Außerungspflicht  des  Intorpellierten  —  welcLo  wohl 
zu  scheiden  ist,  von  einer  Pflicht  zu  materiellen  Antworten  — 
I  Angenommen ". 

Die  Reichs  Verfassung  berechtigt  den  Reichskanzler  als 
[  aolchen  nicht  zur  offiziellen  Anwesenheit  im  Reichstage; 
r  nach  Art.  fl  R.V.  kann  er  nur  als  preußischer  Bevollmüch- 
f  tigler  zum  Bundesrat  den  Sitzungen  beiwohnen,  um  die 
[  Ansichten  seiner  Regierung  zu  vertreten;  tatsächlich  nimmt 
als  Vorsitzender  des  Bundesrates  und  als  verantwort- 
[  lieber  Minister  daran  teil,  als  dieser  wird  seine  Anwesen- 
(  lieit  gefordert  und  als  dieser  wird  er  interpelliert^.  Mit 
f  dieser  Wandlung  der  Verfassung  ging  Hand  in  Hand  eine 
'  Wandlung  der  G.O. ;  diese  spricht  von  Interpellationen  an 
Eden  „Bundesrat" ;  der  Bundesrat  ist  aber  unverantwortlich 
rund  seine  Tätigkeit  der  Kontrolle  des  R.T.  entzogen;  daher 


*    Ein    darauf  zielender    Aotrng    Lnskers    und    ABinsaaB    im    kon- 

■'■(itiiierenden  R.T.  wurde   als  nicht  erforderlich  ab^lehnt,   da  auch  ohne 

1  mudrückltche  VerfansuiigHbestiinmnngen  der  R.T.  vermüge  seiner  ät«ltaD|; 

f  Äu  Becbt  KU  InterpeliHtionen  (u.  Adressen)  besitze.    Vergl.  KBnne,  das 

StMbirecbt  des  Deatscben  Reiches,  2.  Aafl,,  I.,  S.  26ä,  Anm.  3,  4,  6. 

"  Laband,  .Staatsrecht,  1.,  S.  283,  nennt  du«  Interpellation! recht 
ein  .Paendorecht" ;  Zorn,  das  St.R.  des  D.R-,  1895,  I.,  8.  240f.,  ein 
.moraliaohes",  während  Sloerti,  zur  Metliodik  des  Sifentlicheu  Hechtes, 
1S85,  6.  63  f.  es  als  ein  „verCnssungsrnftBiges  Recht"  bezeichnet,  wogegen 
Seydel,  EommnnUr  zur  Verfassimgs Urkunde  für  das  Doiibiche  Reich, 
2.  Aofl.,  1897,  8.  203,  sagt:  „Ein  ,Becht-  ...  der  InterpellatiDuen  hat  der 
E.T.  nicht.  ...  Da  ein  Kocht  der  Interpellationen  nicht  besteht,  gibt  es 
ffir  den  Bundesrat  und  den  Beichakanzler  sueh  keine  Pflicht  der  Be- 
antwortung." Vergl.  damit  da»  im  allffemeinsn  Teil  iui  Abschnitte  „der 
rechtliche  Charakter  des  Inlerpellationsrechts''  Oesngtc. 

'  Vergl.  Jetlinek,  VerfnisongaHndarung  und  Terfasaungawandlimi;, 
S.  24  ff. 


80  VI  2. 

können  Interpellationen  nur  an  den  Kanzler  als  verantwort- 
lichen, der  Eontrolle  unterliegenden  Minister  ergehen,  was 
auch  der  tatsächliche  Zustand  anerkennt.  Dem  Kanzler 
gleich  stehen  seine  „Stellvertreter"^  und  die  Anfragen,  ob 
der  Reichskanzler  zur  Beantwortung  einer  Interpellation 
bereit  sei,  werden  in  praxi  an  den  „Herrn  Vertreter  der 
verbündeten  Regierung"  gerichtet  —  eine  Form  die  nicht 
ganz  entsprechend  ist,  da  die  verbündeten  Regierungen 
einer  Kontrolle  nicht  unterliegen ;  soweit  dieser  „Vertreter" 
aber  zugleich  ein  Vertreter  des  Reichskanzlers  ist,  scheint 
diese  Formulierung  gleichwohl  zulässig'.  Überhaupt  ist 
die  faktische  Übung  des  Interpellationsrechts  recht  liberal 
und  es  kommen  sogar  Anfragen  an  Unterstaatssekretäre 
vor^.  Jedenfalls  hängen  die  Schwankungen  des  Interpel- 
lationsrechtes im  D.R.T.  eng  mit  den  Verfassungswand- 
lungen zusammen  und  werden  erst  zur  Ruhe  kommen, 
wenn  diese  stabiler  geworden  sind. 

Was  die  Behandlung  der  Interpellationen  betrifft,  so 
wurden  sie  bis  zum  Jahre  1874  nicht  auf  die  T.O.  gesetzt, 
was  seit  1879  jedoch  Regel  ist.  Jetzt  ist  die  Feststellung 
der  T.O.  durch  die  Interpellationen  gebunden,  welche  auf 
der  T.O.  jener  Sitzung  erscheinen  müssen,  die  ihrer  Ein- 
bringung folgt.  Sind  es  mehrere  Interpellationen,  so  steht 
von  ihnen  keiner  der  Anspruch  auf  Priorität  zu,  sondern 
über  die  Reihenfolge  ihrer  Verhandlung  entscheidet  das 
Haus  durch  Mehrheitsbeschlufi.  Ebenso  können  die  Inter- 
pellanten nicht  verlangen,  daß  ihre  Anfragen  als  erster 
Gegenstand  angesetzt  werden.  Liegen  tatsächliche  oder 
rechtliche  Gründe  vor,  welche  verhindern,  die  Interpella- 
tionen auf  die  T.O.  der  ihrer  Einbringung  folgenden  Sitz- 
ung zu  bringen,  so  werden  sie  auf  die  der  nächstfolgenden 
gesetzt. 

^  Yergl.  das  Reichsgesetz  betreffend  die  Stellvertretang  des  Beichs- 
kanzlers  vom  17.  März  1878. 

*  Vergl.  PerelSf  a.  a.  O.,  S.  65,  Anm. 

'  Z.  B.  am  1.  Mai  1880,  Leg.  Per.  IV:  3.  Sess.  Stenograph.  Protok. 
S.  1071. 


2,  81 

EinBtimmtgkeit  des  R.T.  kann  eie  auch  auf  einen  spä- 
teren Termin  verschieben. 

Vor  der   Beantwortung  gebührt  dem  Fragesteller  du 

frt  zur  Begründung;  durch  die  Verweigerung  einer  mate- 
len    Antwort    ist    auch    eine    formelle   Interpellationshe- 
ndung  in  der  Interpellationsdebatte  ausgeschlossen. 
i 


Anfaaug:   Die  Einzelstaateo. 


Die  parlamentarischen  Organisationen  der  Gliedetaatett 

3eB  Deutschen  Reiches  bieten  zum  Teil  ein  buntes  Gemisch 

ständischer  Einrichtungen    mit  modernen  Institutionen  und 

an    diesem    Gemenge    mit    seinen    interessanten    etaatarecht- 

liehen  Gegensiltzen  zwischen  der  Struktur  des  Reiches  und 

per  Einzelstaatea  partizipiert  auch  das  Interpellationsrecht. 

ald   hat   es  eine  Regelung   in  den  Verfassungen  erfahren, 

nie  teilweise  eingehender',  teilweise  nur  grundsätzlich- Be- 

itimmungen   festlegten,    bald   ordnen    es  einfache  Gesetze*, 

kld   bauen   die   selbständigen  Geschäftsordnungen   —   wie 

,   B.   in   Baden    nnd   Württemberg   —  auf  der  Baeia   der 

■en    Kammern   zustehenden   Kontrollrechte   das   Interpella- 

|Ions Wesen  auf. 

Preußen    mag    vielfach    vorbildlich    gewesen    sein;    so 


1  Lübeck:  Verfassung  vom  b.  April  1875,  Art.  4ö;  Hamburg 
Ferfaisimg  der  freien  und  Haiifei>Udt  Hambarg',  pabliiiert  am  18.  Oktober 
"^"    in  Kraft  getreten  am  4.  Man  1880,  Art  60»;  65. 

■  Sachsen-Weimar-EiBenacb:  Raridiertes  GrundgesetE  Tom 
rW.  Oktober  1850  Aber  die  Verfassung  dea  Großlierzogttuna  Ssvhsen- 
Weimai^EiBenach,  g  29,  Abs.  2;  Oldenburg:  Reridierle»  Staats- 
grundgefleti  vom  22.  November  1852  tiir  das  GroBherzogtum  Oldenburg, 
Art  128,  §  2  and  Art  12,  §4;  Schnanburg-Sonderabansen: 
Lanitesgrundgeseti  vom  8.  Juli  1857  für  daa  F'ürstentnm  Schwanbnrg- 
Sondershauiea,  §  66  n.  a. 

'  ilsyern:  Qes.  vom  IS.  Januar  1872  den  Geschäflsgang  des  Land' 
Uges  belreflend,  Art  18—21,  83,  Abs,  1,  abgeändert  durch  Laiidtn^- 
aböcbied  vom  I.  Juli  1868,  §  26;  äachaen:  LandtagsardnuDg  vorn 
12.  Oktober  1874,  §  31;  Hessen:  Gesetz  vom  17.  Juni  1874,  die  land- 
ständiaclie  Geachäftsordnung  betreffend,  Art.  22;  Sachaen-Heiningen: 
Ges.  vom  23.  April  1868,  die  Binführang  einer  neuen  Qeachäftsordnuag 
für  d«n  Landtag  betrcOend,  g  28. 

auala-  D.  valkarrechtl.  Abhandl.    VI  t.  —  Buegg«'.  6 


82  VI  2. 

auch  für  Bayern*,  wo  die  Interpellation  von  einem  Ein- 
zelnen kurz  begründet  und  schriftlich  eingebracht  wird  und 
dann  in  der  Kammer  zur  Verlesung  kommt,  worauf  die 
Unterstützungsfrage  zu  stellen  ist;  im  Übrigen  lehnt  sich 
das  Verfahren  an  das  preußische  an. 

Ähnlich  ist  das  Verfahren  inSa'chsen^;  in  Hessen' 
kann  der  Minister  die  Antwort  mündlich  oder  schriftlich 
geben  und  in  Schwarzburg-Sondershausen*  soll  die 
Antwort  auf  die  Interpellation  „nur  dann  verweigert  werden, 
wenn  sie  schwebenden  Verhandlungen  nachteilig  sein  würde." 

Für  Baden  besagen  §§  45;  46;  47;  48  der  G.O. 

§  45:  „Motionen,  Anträge,  Interpellationen  müssen 
schriftlich  angezeigt  und  von  mindestens^drei  Abgeordneten 
unterzeichnet  sein." 

§  46.  „Interpellationen  an  die  Regierung  werden  von 
dem  Präsidenten  dem  betreffenden  Minister  oder  Regier- 
ungskommissär in  Abschrift  und  mit  der  Anfrage  mitgeteilt, 
ob  und  wann  er  die  Interpellation  in  einer  öffentlichen 
Sitzung  beantworten  werde.** 

§  47.  „An  einem  bestimmten  Tage  findet  dann  die 
Begründung  der  Interpellation  durch  einen  der  Interpellanten 
statt." 

§  48.  „An  die  Beantwortung  der  Interpellation  kann 
sich  eine  sofortige  Besprechung  anschliefien;  dabei  ist  jedoch 
die  Stellung  eines  Antrages  unzulässig.  Es  bleibt  jedem 
Abgeordneten  überlassen,  den  Gegenstand  später  in  Form 
eines  Antrages  weiter  zu  verfolgen." 

In  Württemberg*^  fehlt  den  Interpellationen,  da  die 
Anwesenheit    der    Minister    verfassungsgesetzlich   von    den 

^  S.  auch  Sejdel,  das  Bayerische  Staatsrecht,  2.  Aufl.,  1896,  I., 
S.  354ff.,  488f. 

^  S.  auch  Leuthold,  das  Staatsrecht  des  Königreichs  Sachsen, 
1884,  S.  238 f;  Opitz,  das  Staatsrecht  des  Königreichs  Sachsen,  1887, 
II.,  S.  195  f;  203  f. 

'  a.  a.  O. 

*  a.  a.  O. 

^  Siehe  Gaupp-Göz,  das  Staatsrecht  des  Königreichs  Württemberg, 
1904,  3.  Aufl.,  S.  119. 


83 

KEsrnmern  nicht  getordert  werden  kann,  die  durchdringende 
Icharfe. 

So  verschieden  präsentieren  sich  das  Interpellationsrecht 
*and   seine  Ausgestaltung  in  den  verschiedenen  parlamenta- 
rischen  Kollegien  der  Gliedstaaten    entsprechend    den  Ver- 
fassungen und  den  selbständigen  Geschäftsordnungen,  welch 
letztere   —   eine  merkwürdige  Erscheinung  —  in  dem  den 
i  beiden  Großherzogtüraern  Mecklenburg- Schwerin  und  Meck- 
I  ienburg-Strelitz  gemeinaanien  Landtage  überhaupt  fehlt*. 

In    der  Stadtrepublik  Hamburg  stellt  das  Interpella- 

J-tionsrecht  eine  kunstvolle  Kombination  von  besonderer  Ver- 

klauBulierung  unterworfenen  einfachen  Anfragen,   formellen 

»Anträgen   und  eigentlichen  Interpellationen   dar*.     Ob   der 

■rfienat  eine  von  fünfzehn  Mitgliedern  der  Bürgerschaft  unter- 

Bitützte    Interpellation    beantworten    will    oder    nie  ht ,    liegt 

■T&llig  in  seinem  Belieben.     Entscheidet  eich  der  Senat  für 

■  die   Nichtbeantworlung ,    so    kann    die    Interpellation    zum 

Qegenstand   eines   selbständigen  Antrages   gemaeht  werden 

«nd,    wenn   die  Bürgerschaft  diesem  zustimmt,    so   hat   der 

Senat   die  Pflicht,    sich   über  die  Anfrage  zu  äußern.     Die 

Äußerung  muß  in  einer  materiellen  Antwort  bestehen,  falls 

es  sich  nicht  um  Angelegenheiten  handelt,  die  obschwebende 

Verhandlungen   des  Reiches   oder   auswärtige  Agenden   be- 

rUiiren.     Wird   das  Interpellationsverfahren   als  „dringlieh" 

bezeichnet,   dann    hat   der   Senat    bereits    in    der   nächsten 

Sitzung  zur  Anfrage  in  oben  erwähnter  Weise  Stellung  zu 

nehmen. 

Eine  Antwortablehnung  ist  mit  Gründen  zu  versehen. 
Älinlicli  wie  Verf.-Art.  liS  für  Hamburg  regelt  das  Inter- 
pol alionsr  echt  für  Lübeck  Verf.  Art.  45. 


<  Siehe  BriHing,  das  Staatsrecht  der  GroBheran^fimer  Mecklpuburg- 
Schwerin  und  Mecklünburg-StrelilE.  1888,  8    91  f. 

*  Ü.  auch  Wolffson,  das  Staatsrecht  der  frcicit  und  Hansostad. 
Iliimhiirs.  1888.  S.  19 


2.  Österreich. 

Die  Pillersdorf'Bche  Verfassung  für  Österreich  vom 
25.  April  1848  —  die  sogenannte  oktroierte  April- 
verfassung — ,  welche  die  weatlicben  Länder  zum  erstenmal 
zu  einem  Staate  vereinigte^,  enthielt  zwar  keine  Be- 
Btimmungen  über  das  Interpellationsrecht,  doch  statuiert 
einerseits  §  32  die  Verantwortlichkeit  der  Minister  für  alte 
Handlungen  und  Antrftge  in  ihrer  Amtsführung,  anderseits 
wurde  die  Initiative  jeder  der  beiden  Kammern  und  ihre 
Kompetenz,  Über  eingehende  Petitionen  zu  verhandeln,  in 
§  48  anerkannt;  somit  war,  ähnlich  wie  durch  Art.  81  der 
preuß.  Verf.  Urkunde  von  185t),  für  die  Entwicklung 
des  Interpellationsrechta  die  Grundlage  gegeben,  aber  die 
Folgezeit  hat  eine  ununterbrochene  Entwicklung  nicht  ge- 
bracht; die  inner-  und  auöerpolitischen  Vorgänge  der 
nächsten  Jahrzehnte  zeugten  Verfassungen,  vernichteten 
Verfassungen  und  die  Materie  des  Interpellationsrechta  stand 
mitten  in  dem  Wirbel  der  wechselnden  Konstitutionen.  Der 
nie  realisierte  „Kremsierer  Entwurf'"'  sagte  in  §  67,  Abs.  2; 
„die  Kammern  können  die  Anwesenheit  der  Minister 
fordern  ..."  in  §  91 :  „Jede  Kammer  hat  das  Recht,  von 
den  Ministern  Auskünfte  zu  verlangen,  Erhebungen  durch 
dieselben  zu  veranlassen,  und  ihnen  Petitionen  zur  Erledigung 
zu  überweisen  oder  zur  Beachtung  zu  empfehlen"  und  in 
§  92:  „Jedem  Mitgliede  des  Reichstages  steht  das  Recht 
zu,  die  Minister  zu  interpellieren'".  Dieser  Entwurf,  der, 
wie  erwähnt,  nie  in  Kraft  trat,  wollte  das  I.R.  atomisieren, 
indem  er  es  jedem  einzelnen  Abgeordneten  gewiBsermafien 
als  „Individualrecht"   —   eine  Auffassung  des  Rechtes,   wio 


4 


4 


'  S.  BerofttKik,  die  Ssterr.  Verfassimgsgesetie  1906,  8.  73L 

'  Bermtaib,  a.  a.  0-,  S.  85 ff. 

*  Dieser  Paragraph  fehlte  in  dem  Verfassungavorachlagp ,  den  ( 
FünferkoDiitee  dem  VerfaBaaugsausscbusse  des  B.T.  vorlegte,  warde  «1 
dem  Antrag«  des  Abg.  Scholl  entaprechend  autgencimmcii.  Protokolle  d_ 
VerfansiingaauBsehusBea  im  Bsterr.  Rfichi^tage,  1848 — 1849.  heraiug«rebe 
und  eingaleitet  von  Antou  Spring-       '^"'^    "    ""    "•" 


S.  ni,  334. 


VI  2.  85 

«ie  heute  noch  in  Frankreich  lebt  —  zusprach.  Die  Reichs- 
verfaasung  vom  4.  März  1849  („MärzverfaBsung")  führte 
die  Interpellationen  auf  jenem  rechtlichen  Wege  weiter,  den 
ihnen  die  oktroierte  Aprüverfaaaung  angewiesen  hatte,  doch 
•  das  Jahr  1851  brachte  einen  absolutistischen  Rückschlag, 
der  dem  Reichstag  mit  allen  seinen  Rechten  und  Pflichten 
ein  jfthes  Ende  bereitete;  §  22  des  Kaiser],  Patentes  vom 
13.  April  1851  R.G.B.  Nr.  i)2  hatte  dagegen  dem  Reichs- 
mit  seiner  rein  beratenden  Stellung  eine  wenig 
akzentuierte  formale  Informationamöglichkeit  dadurch  ver- 
' liehen,  daß  dieser  den  „Wunsch"  aussprechen  konnte,  Mit- 
glieder des  Ministerrates  zwecks  Aufklärungen  über  Vorlagen 
leinen  Beratungen  beizuziehen. 

Das  A.H,  Kabinetteschreiben  vom  20.  August  1851 
IB.O.B.  196  griff  hierin  noch  beschränkend  ein  und  das 
'Patent  vom  5.  März  1800  R.G.B.  56  mit  der  Schaffung  des 
'^verstärkten  Reichsrates"  änderte  für  das  Interpellations- 
M;ht  nichts  zum  Besseren.  Die  prinzipiellen  Bestimmungen 
aes  Oktoberdiploms  (20.  Oktober  1860,  R.G.B.  226)  und 
das  Februar-Patent  (26.  Februar  1861,  B.G.B.  20)  gaben 
«war  dem  Interpellationsrecht  einen  neuen  Inhalt,  aber  ohne 
^tlafUr  ausdrückliche  Normen  zu  enthalten;  §  21  des  Patentes 
sjedoch  lautete:  „Die  näheren  Bestimmungen  über  den  Ge- 
-«chäftsgang,  den  wechselseitigen  und  den  Außenverkehr 
beider  Häuser  werden  durch  die  G.O.  geregelt."  Obsehon, 
vie  Bernatzik'  liervorbebt,  darin  nicht  gesagt  wird,  wer 
[iese  G.O,  zu  erlassen  habe,  so  löste  sich  docli  die  Frage 
n  der  Praxis  durcli  das  Gesetz  vom  31.  Juli  1861,  in 
IwtrefF  der  G.O.  des  Reichsrates  R.G.B.  Nr.  37  und  dessen 
)  12  besagte:  „Interpellationen,  welche  ein  Mitglied  an  einen 
^  Minister,  Hofkanzler  oder  den  Chef  einer  Zentralstelle 
richten  will,  sind  dem  Präsidenten  schriftiich,  und  zwar  im 
H.H.  mit  wenigstens  zehn,  und  in  dem  Hause  der  Ab- 
^ordneten  mit  wenigstens  zwanzig  Unterschriften  verseben 


I  Bernatzik, 


1.  O.,  a,  227,  Anm 


86  VI  2. 

zu  übergeben,  werden  sofort  dem  Interpellierten  mitgeteilt 
und  in  der  Sitzung  vorgelesen.  Der  Interpellierte  kann 
sogleich  Antwort  geben,  diese  für  eine  spätere  Sitzung  zu- 
sichern oder  mit  Angabe  der  Qründe  die  Beantwortung 
ablehnen/  Durch  dieses  Qesetz  ist  das  Interpellationsrecht 
jeder  Kammer  ausdrücidich  und  bestimmt  anerkannt. 

Die  Sistierungsperiode  von  1865  bis  1867  bedeutete  aber- 
mals einen  Einschnitt  in  das  Verfassungsleben.  Und  das 
Jahr  1867  stellte  die  Organisation  der  österreichisch- 
ungarischen Monarchie ,  den  tatsächlichen  Verhältnissen 
besser  Rechnung  tragend,  auf  neue  Grundlagen;  §  29  des 
Ges.  —  Art.  XII  („über  die  zwischen  den  Ländern  der 
ungarischen  Krone  und  den  übrigen  unter  der  Regierung 
Sr.  Maj.  stehenden  Ländern  obschwebenden  gemeinsamen 
Angelegenheiten  und  über  den  Modus  ihrer  Behandlung"; 
sanktioniert  und  kundgemacht  in  beiden  Häusern  des 
Reichstages  am  12.  Juni  1867)  sieht  „Delegationen^,  sowohl 
des  R.T.  als  des  R.R.,  zur  Behandlung  der  dem  Gesamt- 
reiche gemeinsamen  Angelegenheiten  vor,  und  §  39  Satz  2  f. 
des  oben  zitierten  Gesetzartikels,  auf  den  wir  noch  zurück- 
kommen müssen,  spricht  den  Delegationen  das  Interpellations- 
recht zu.  Dadurch,  femer  durch  das  Gesetz  vom  21.  Dezember 
1867,  über  die  Reichsvertretung  R.G.B.  141,  und  das  Gesetz 
vom  selben  Datum  R.G.B.  146,  über  die  allen  Ländern  der 
österreichischen  Monarchie  gemeinsamen  Angelegenheiten, 
wird  das  Interpellationsrecht  des  österr.  R.R.  bezw.  des 
ungarischen  R.T.  sachlich  in  zwei  Teile  gespalten,  in  einen, 
der  jeder  Kammer  für  sich  innerhalb  ihres  Wirkungskreises 
zustellt,  und  in  einen,  zu  dem  jede  Delegation  zuständig  ist. 

Mit  den  Verfassungsgesetzen  vom  Jahre  1867  ist  die 
Frage  nach  der  rechtlichen  Natur  der  Staaten  Verbindung 
Österreich- Ungarn  aufs  neue  akut  geworden,  die  hier  jedoch 
nur  soweit  zu  streifen  ist,  als  es  die  Besprechung  des 
Interpellationsrechts  bedingt  ^. 

'  Vergl.  Hauke,  Grundriß  des  Verfassungsrechtes  1905,  S.  141  ff. 
auch  bezgl.  der  dort  angeftlhrten  Litteratur. 


VI  2. 

Die  zwei  extremen  Anschauungen  bezüglich  der 
Delegationen  lassen  sich  kurz  dahin  charakterieieren ,  daß 
diese  einerseiU  als  Reichsparlament,  andereeits  als  qualifizierte 
Auaachüsae  des  öaterr.  und  des  ungar,  Parlaments  angesehen 
werden'.  Keine  Theorie  wird  vollkommen  den  Tatsachen 
des  praktisch -politischen  Lebens  gerecht;  ftlr  die  erstere 
ließe  sich  manches  vom  Standpunkte  der  Gesetzesbuchstaben 
und  der  Interpretation  des  ideologischen  österr.  „Staats- 
gedankens" gelten  dmachen,  für  die  letztere  liefert  die  Ent- 
wicklung der  Praxis  mehr  und  mehr  Grundlagen.  Sie  ist 
es  auch,  die  der  ungarische  Reichstag  in  seiner  Majorität 
propagiert  und  sie  ist  es,  die  durch  einen  Beschluß  der 
Delegation  des  österr.  R.K.  vom  7.  Januar  1907  dadurch 
eine  neue  Stärkung  erfuhr,  daß  von  nun  an  auch  die  speziell 
österreichischen  Minister  in  der  Delegation  des  österr.  R.K. 
erscheinen  dürfen,  befragt,  und  um  Antwort  und  Auskunft 

Lgebeten  werden  können '. 

m        Was   das   Interpellationsrecht  anlangt,    so   werden   im 

tusterr.  Abgh.  und  im  österr.  H.H.  die  Minister  interpelliert, 
und  zwar  tatsAchlich  auch  oft  über  Angelegenheiten  des 
Heeres  und  der  auswärtigen  Politik,  die  streng  genommen 
in  den  Bereich  der  Delegationen  fallen.  Da  diese  jedoch 
relativ  selten  versammelt  sind  und  außerdem  ihre  „Ausschuß- 
stellung"  politisch  behauptet  wird,  so  scheint  der  Usus  den 
Wirkungskreis  des  R.R.  bezw.  des  R.T,  ausweitender  Inter- 
pellationen immer  markantt^re  Formen  anzunehmen*. 

Anderseits  hat  jetzt  auch  die  Delegation  des  Ost.   R.R. 

■nne   Art   Fragerecht  durch   ihre  G.O.   an  die    österr,  Re- 


L.  a.  O.,  S.  160  ff. 

'  DiesbeKüglich  kano  ich  mich  r 
freien  Presie"  bexw.  des  „Neuen  Wiene 
stBtxen. 

*  Wenn  sicli  diu)  Mitglied  den  österr,  U.H.  Hofral  Czilarc«  am 
7.  Januar  1907  in  der  aaleir.  Delegation  gegen  die  AufiksBimg  der 
gDeleeation"  als  „AuBschnB"  verwahrte  und  sie  aU  „Organ  des  R.R," 
beMichnet« ,  ho  durfte  damit  von  dem  herrorragenden  juriet«u  douh  nur 
eine     praktücb     wenig    bedeutsame    NamcndiflerenzremDg    rorgenommen 


88  VI  2. 

gieruDg  zu  statuieren  gesucht  und  damit  ihr  bisheriges 
Interpellationsrecht  (an  die  gemeinsamen  Minister)  aus- 
gedehnt; die  weitere  Entwicklung  ist  allerdings  der  Zukunft 
vorbehalten. 

Im  folgenden  wird  das  Interpellationsrecht  der  beiden 
Häuser  des  österr.  R.R.  und  das  seiner  Delegation  getrennt 
behandelt,  obschon  sie  kaum  etwas  anderes,  als  zwei  Stämme 
aus  einer  Wurzel  sind. 

a)  Das  Interpellationsrecht  der  beiden  Häuser  des 

österr.  B.B. 

Der  aus  dem  G.  0.  Gesetz  vom  Jahre  1861  angeführte 
§  12  regelte  das  Interpellationsrecht  des  Parlamentes;  er 
findet  sich  in  §  12  des  G.  O.  Gesetzes  vom  12.  Mai  1868 
R.  G.  B.  Nr.  17  wieder,  nur  daß  er  in  Berücksichtigung 
der  staatlichen  Neuorganisation  Anfragen  an  den  Hof-Kanzler 
ausschaltet  und  überdies  die  Zahl  der  unterstützenden  Mit- 
glieder im  Abg.H.  auf  15  herabsetzt.  Inzwischen  hatte 
das  Ges.  ü.  d.  R.V.  §  21  auch  in  der  Verfassung  folgendes 
ausgesprochen :  „Jedes  der  beiden  Häuser  des  R.R.  ist  be- 
rechtigt, die  Minister  zu  interpellieren  .  .  ."  Diese  Be- 
stimmung, ferner  §  12  des  heute  geltenden  G.  O.  Gesetzes 
vom  12.  Mai  1873  R.  G.  B.  Nr.  94,  die  §§  68,  69  der  selb- 
ständigen G.O.  für  das  Abg.H.  (beschlossen  am  2.  März  1875) 
bzw.  §  57  der  selbständigen  G.O.  für  das  H.H.  (beschlossen 
am  25.  Jan.  1875)  enthalten  die  in  Kraft  stehenden  Inter- 
pellationsnormen für  die  beiden  Kammern  des  Ost.  Parlamentes. 

a)  Das  österreichische  Abgeordnetenhaus. 

§  21  Ges.  ü.  d.  R.  V.  wurde  bereits  zitiert;  §  12 
des  G.  0.  Ges.  vom  Jahre  1873  ist  gleichlautend  mit  §  12 
G.  O.  Ges.  vom  Jahre  1868  und  fand  mit  Weglassung  der 
speziell  auf  das  H.  H.  bezugnehmenden  Bestimmungen  — 
gemäß  §  17  G.O.Gesetz  —  in  den  korrespondierenden  Para- 
graphen der  selbständigen  G.  O.Aufnahme,  die  sagen : 

§  68:    „Interpellationen,    welche  ein  Mitglied  an  mnen 


VI  2. 


89 


I;" 

I 


Itnist«r  oder  den  Chef  einer  Zentral  stelle  richten  will,  sind 
dem  Präsidenten  schriftlich   und  mit  wenigstens    15  Unter- 
ichriften  versehen,  zu  übergeben,  werden  sofort  dem  Inter- 
pellierten  mitgeteilt  und   in   der  Sitzung   vorgelesen.     Der 
r Interpellierte   kann    sogleich  Antwort  geben,    diese  für  eine 
r«patere  Sitzung  zusichern  oder  mit  Angabe  der  Gründe  die 
f  Antwort  ablehnen  (Ges.  §  12)." 

^  Ö9:  „Ob  infolge  der  Beantwortung  einer  Interpellation 
fl-odei'  deren  Ablehnung  sofort  oder  in  der  nächsten  Sitzung 
eine  Besprechung  des  Gegenstandes  slatifinden  soll,  ent- 
scheidet das  Haus  ohne  Debatte,  Ein  darauf  zielender  An- 
trag muß  in  der  Sitzung,  in  welcher  die  Beantwortung  der 
I Interpellation  erfolgte,  oder  in  der  nächsten  Sitzung  ein- 
gebracht werden.  Die  Stellung  eines  Antrages  bei  dieser 
Besprechung  ist  unzulässig" ', 
Zwischen  den  Bestimmungen  des  Interpellationsrechta 
in  §  21  Ges.  ü.  d.  R.V.  und  §  12  G.O.Gea.  (1873)  besteht 
«in  kleiner  Unterschied  auch  darin,  daß  letzterer  die  „In- 
terpellationen an  den  Chef  von  Zentralstellen"  aus  dem 
G.O.Ges.  vom  Jahre  18t}8  mitübernahm.  Ferner  enthält 
§  12  eine  Art  Interpretation  der  Verfassung;   diese  spricht 

»das  Interpellation  Brecht  jedem  Ilau^e  des  R.U,  zu;  das 
O.O.Ges.  legt  das  so  aus,  daß  bereits  eine  gewisse  Anzahl 
▼on  Kammermitgliedern  zuständig  sei,  die  Minister  zu  inter- 
pellieren. Nach  dem  Wortlaute  der  Verfassung  müßte  die 
„Kammer"  bezw.  die  Kammermehrheit,  interpellieren 
und   diese  Auffassung  ist   z.  B.   in  Holland,    wo  die  Ver- 

thältnisse  diesbezüglich  ähnlich  liegen,  so  maßgebend  ge- 
wesen, daß  jedes  Mitglied,  welches  die  ülinister  zu  inter- 
pellieren wünscht,  die  Erlaubnis  des  Hauses  dazu  einholen 
>  Nicht  hierhar  guMtt  g  67  aber  die  „  Interpol lationen"  an  den 
FriHidenleo  und  die  VarsitKeoäen  der  Abteilungen  und  Auaschftuse.  Vergl, 
AbKi^hnitt  über  die  dem  InteqiellatiODareuhl  ihnlichen  Inttitutirinen, 

*    Hartog,     du    Stastsrecht     des    Klinigreiohit     der    Niedertatide, 


90 


VI  2. 


1   als 

huDg 
maß 
Pra- 


ß.O.Gea.     keine    Bedenken     lier vorgerufen    und    wird   «1» 
völlig  korrekt  angesehen. 

Die  Beatimmungen  der  §§  68,  69  G.O.  bedürfen, 
dem  sebon    im  allgemeinen  Teile  Geaagten,    hier   nur  nochl 
einer  geringen  Erläuterung.    Der  „Autrag"  auf  Besprechung 
einer  Interpellation  ist  nach  §  18   G.O.  zu  bebandeln,  muß 
also  von    20  Abgeordneten  unterstützt  acbriftlich  dem  Prä- 
sidenten überreicht  werden ',   Das  Verbot,  einen  Antrag  b 
der  BesprecLuQg    selbüt    zu    stellen,    bezieht  sieb 
materielle,  nicht  aucb  auf  formale. 

Ein  interessantes  Licht  einerseits  auf  die  praktische 
Unzulänglicbkeit  der  Beatimmungen  über  das  Interpellati- 
onareeht,  anderseits  auf  die  verschiedenen  Bestrebungen  der 
an  der  parlamentarischen  Arbeit  beteiligten  Faktoren  werfe» 
drei  auf  eine  Abänderung  der  G.O.  hinzielende  Vorschlägeu 
die  sich  alle  drei  auch  mit  den  Interpellationen  befasaen  u 
vom  Abg.H.,  dem  H.H.  und  der  Regierung  stammen. 

K!ie  an  die  Besprechung  dieaer  Vorlagen,  denen 
rigena  es  bisher  an  praktischen  Konsequenzen  fehlte,  herai 
getreten  werden  kann,  muß  ein  Blick  auf  die  Übung  dM 
Interpellationarecbts  im  Abg.H.  geworfen  werden ,  dem 
diese  Übung,  d.  h.  die  Art  derselben,  wie  sie  Regel  wurd«^^ 
bedingte  die  auf  eine  Reform  bedachten  Pläne,  Die  Inter- 
pellationen bewahrten  hier  aus  verschiedenen  an  dieaer  i 
Stelle  nicht  näher  zu  erörternden  Gründen  ihren  Informar 
tions-  und  Kontrollcharakter  nicht,  sondern  in  Epochen 
parlamentarischer  Kämpfe  verfolgten  sie  zum  Teil  Zwecke, 
die  nicht  als  „staatliche"  bezeichnet  werden  können;  lokale 
Interessen,  das  Bedürfnis  den  dem  objektiven  Verfaliren 
zum  Opfer  gefallenen  Zeitungsartikeln  und  Broschüren  das 
Immunitätsprivileg  zu  verschaffen  oder  der  Drang,  die  regel- 
mäßige Arbeit  zu  obstruieren,  traten  in  den  Vordei^rund. 
Die  große  Zahl   der  Anfragen  in  manchen  Sessionen  allein 

'  Die  Untttrstützung  kann  ancb  nach  Bekanntgabe  de»  Antragei  in 
Hause  auf  Grund  der  vom  Präsidenten  geelellten  UnterstüUiungtfrag«  er- 
{o]gea  —  g  läE  O.O. 


VI  2. 


91 


» 


war  es  nicht,  daß  ein  ungeheurer  Perzentsatz  davon  ohne 
Antwort  blieb,  sondern  andere  Umstände  spielten  da  herein: 
rasch  aufeinander  folgende  Wechsel  der  Minister  und  jene 
Obstruktionsinterpellationen ,  die  auf  gar  keine  Antwort 
reflektierten,  sondern  mit  ihrer  Einbringung  schon  ihr  Ziel 
erreichten  ^  nämlich  Verzögerung  der  Geschäftsbehandlung 
anderer  Gegensüinde. 

Schon  lange  vor  dieser  Kontliktszeit  hatte  ein  durch 
die  Q.O.  nicht  begründeter  modus  procedendi  Zeilgewinnnng 
bei  der  Interpellationa- Behandlung  angestrebt;  nur  jene 
wurden  naralich  ira  Hause  wörtlich  verlesen,  von  denen 
dies  ausdrücklich  begehrt  wurde;  zur  Regel  wurde  es, 
nur  den  Titel,  allenfalls  noch  die  eigentliche  Anfrage  ohne 
Begründung,  mündlich  vorzubringen^. 

Mancher  Vorsitzende  nahm  auch  das  Recht  in  Anspruch, 
die  Zensur  Über  den  Interpellationsinhalt  zu  üben,  beriet 
sich  dabei  auf  die  §§  G,  57  G.O,,  und  binderte  die  Vor- 
lesung der  Anfragen  so  weit,  als  sie  Anstand  und  Sitte 
verletzten  oder  gar  den  Charakter  der  Strafwürdigkeit  an- 
nahmen*. 

Soviel  über  die  Praxis. 

Die  anfangs  angedeuteten  Mißstände,  die  Entartung  des 
Rechtes,  brachten  es  dazu,  daß  Rufe  nach  Reformen  laut 
wurden.  Um  den  Rufen  nachzukommen,  schlug  der 
Geschaftsordnungsauaschuß  des  Abg.H.^  gerade  nicht  den 
glücklichsten  Weg  ein,  da  er  eine  Umbildung  der  selbstfin- 
digen G.O.  plante,  statt  des  G.O. Gesetzes  —  nur  dieses 
könnte  eine  rechtliche  Bindung  der  Regierung  bewerkstel- 
ligen. 

§  68  6.0.  lautet  mit  den  vom  Ausschüsse  angeregten 
Änderungen  * : 


'  Etieieo  Vorgang  beieichnetenTenchiedenePriUidenteii  — Clumeckj, 
Smolka,  Kathrein  —  als  „Usas*.     S.  B^ieruu^vorlafrv,  S.  23. 

*  Vergl.  die  AaBerungen  des  Präaidenlen  Ur.  Smolka  in  der  142. 
Sitzutig  vom  IT.  Juni  1^92;  XI.  8ms.  6.  6502. 

■  Siehe  Bericbl  äex  Abgli. 

'  Bericht  d«a  Abgh.,  S.  86. 


92  VI  2. 

„Interpellationen,  welche  ein  Mitglied  an  einen  Minister 
oder  den  Chef  einer  Zentralstelle  richten  will,  sind  dem 
Präsidenten  schriftlich  und  mit  wenigstens  15  Unterschriften 
versehen  zu  tibergeben,  werden  dem  Interpellierten 
mitgeteilt,  in  Druck  gelegt  und  im  Hause  ver- 
teilt. Falls  50  Mitglieder  es  verlangen,  mufi 
die  Interpellation  im  Laufe  der  Sitzung  ver- 
lesen werden.  Der  Interpellierte  ist  verpflich- 
tet, binnen  6  Wochen  Antwort  zu  geben  oder 
mit  Angabe  der  Gründe  die  Beantwortung  ab- 
zulehnen" *. 

In  §  69  G.  O.  sollte  nur  der  letzte  Absatz  neu  redigiert 
werden  und  zwar*: 

„Bei  dieser  Besprechung  kann  der  einfache 
oder  begründete  Antrag,  das  Haus  nehme  die 
Beantwortung  der  Interpellation  zurKenntnis, 
oder  ein  solcher  Antrag,  das  Haus  nehme  die 
Beantwortu-ng  der  Interpellation  nicht  zur 
Kenntnis,  gestellt  werden." 

Von  wenig  einschneidender  Bedeutung  ist  der  Vor- 
schlag, an  Stelle  der  zum  Teil  auch  heute  schon  nicht  mehr 
geübten  „Verlesung  der  Interpellation"  deren  Drucklegung 
und  Verteilung  an  die  Mitglieder  einzuführen  und  eine  Ver- 
lesung nur  auf  einen  besonderen  Antrag  hin  vorzunehmen. 
Groß  wäre  dagegen  die  politische  Tragweite  der  Einrichtung, 
die  Diskussion  mit  einem  Vertrauens-  oder  Mißtrauens- 
votum für  den  Interpellierten  beschließen  zu  können,  es 
wäre  dies  gleichbedeutend  mit  einem  Versuch  die  parla- 
mentarische Regierungsform  zu  inaugurieren.  Die  „Äußer- 
ungspflicht" des  Ministers  besonders  zu  betonen,  scheint 
infolge  §  21  Ges.  ü.  d.  R.V.  einerseits  überflüssig,  anderseits, 
falls  man  annimmt,  sie  sei  dort  nicht  begründet,  ist  die 
selbständige  G.O.  nicht  geeignet,  sie  zu  fixieren. 


'  Hier,  wie   im  folgenden,  ist  das  neufonnalierte  dnrch  gesperrten 
Druck  hervorgehoben. 

^  Siehe  Bericht  des  Abgh.,  S.  36  f. 


VI  2. 


93 


Wahrend  das  Abg.H.  auf  den  kräftigeoden  Ausbau 
dea  Interpellationsrechts  hinarbeitete  und  die  Besserung  der 
lierrscheaden  Zustände  von  einer  Einkelir  aller  Abgeord- 
neten in  aiL'h  erwartete,  betrachtete  das  H.H.  in  seinem 
Berichte  der  Spezialkommission  '  das  Interpellations  prob  lern 
ausschltcfilicb  von  der  technischen  Seite  und  glaubte  schein- 
bar nicht  dem  Satze,  der  in  dem  Berichte  der  H.  Kammer 
steht^:  „Im  Übrigen  kann,  wenn  sich  nicht  die  Mitglieder 
freiwillig  zu  einer  liöheren  Auffassung  des  Interpella- 
tionsrechts aufschwingen,  keine  Änderung  der  Vorschrift 
wirkliche  Besserung  schaffen." 

Aus  der  Mitte  des  H.H.  wird  folgende  Änderung  des 
§  12  G.O.Gesetzes  in  Vorschlag  gebracht^:  „Interpel- 
lationen, welche  ein  Mitglied  an  einen  Minister  oder  den 
Chef  einer  Zentralstelle  richten  will,  sind  dem  Präsidenten 
schriftlich  zu  übergeben.  Sind  dieselben  im  Herrenhause 
mit  wenigstens  10,  im  Abg.H.  mit  wenigstens  15  Unter- 
schriften versehen ,  so  werden  sie  in  ein  besonderes  im 
Hause  aufliegendes  Buch  eingetragen.  In  eben  dieses  Buch 
erfolgt  die  Eintragung  der  Antwort  oder  der  Erklitrung. 
daß  der  Interpellierte  aus  bestimmten,  von  ihm  anzugebenden 
QrUnden  die  Antwort  ablehne.  Die  in  das  luterpellations- 
buch  eingetragenen  Anfragen  und  deren  Beantwortungen 
werden  in  Druck  gelegt  und  dem  Sitzungsprotokoll  als 
Beilagen  angei^lgt.  Wenn  der  Interpellierende  es  verlangt 
und  dieses  Verlangen  im  H.H-  von  25,  im  Abg.H.  von 
50  Mitgliedern  durch  deren  Unterschrift  unterstützt  wird, 
so  ist  die  Interpellation  im  Hause  vorzulesen  und  erfolgt 
auch  deren  Beantwortung  bezw.  die  die  Beantwortung  aus 
bestimmten  Gründen  ablehnende  Erklärung  in  der  Sitzung 
des  Hauses.  Enthält  eine  Interpellation  nach  dem  Urteile 
dea  PrAsidenten  entweder  eine  gröbliche  Verletzung  des 
Anstandes  oder  der  Sitte  oder  eine  Äußerung,   welche  den 


94  VI  2. 

Charakter  der  Strafwürdigkeit  annimmt,  so  hat  er  den  be- 
treffenden Teil  der  Interpellation  sowohl  von  der  Eintragung 
in  das  Buch  und  der  Drucklegung  als  von  der  Verlesung 
im  Hause  auszuschließen." 

Der  hier  zur  Anregung  gebrachte  schriftliche  Interpel- 
lationsprozeß sollte  die  mündliche  Erledigung  nicht  voll- 
kommen ausschließen,  aber  der  Typus  des  Verfahrens  würde 
dennoch  ein  anderer  werden  und  die  Kontrolle  —  auch 
von  Seite  der  Öffentlichkeit  —  eine  Abschwächung  er- 
fahren. 

Bisher  waren  die  Parteigegensätze  im  R.R.  so  bedeu- 
tend, die  Gegensätze,  zuvörderst  in  der  großen  Krisenzeit 
so  schroff,  daß  die  präsidiale  Zensur  unter  Umständen  grö- 
ßerer Unordnung  statt  gesteigerter  Regelmäßigkeit  Vorschub 
leisten  könnte.  Der  bisher  übliche  Usus  sah  nur  von  der 
Verlesung  beanstandeter  Stellen  ab,  der  neue  Vorschlag 
wollte  solche  als  null  und  nichtig  erklären.  Verfehlt  ist 
der  etwas  verschämte  Hinweis  des  Berichtes  *  auf  England, 
dessen  parlamentarische  Verhältnisse  wegen  ihrer  vom  Kon- 
tinente verschiedenen  Grundlagen  keine  kritiklose  Nach- 
ahmung von  Institutionen  gestatten. 

Noch  weiter  geht  in  mancher  Beziehung  die  Regierungs- 
vorlage^. Der  reformierte  §  12  G.O.Gesetz  sollte  lauten: 
§  12:  „Interpellationen,  die  ein  Mitglied  an  einen  Minister 
richten  will,  sind  dem  Präsidenten  schriftlich,  und  zwar  im 
H.H.  mit  wenigstens  10  und  im  Hause  der  Abg.  mit  wenig- 
stens 30  Unterschriften  versehen,  zu  übergeben,  werden 
sofort  dem  Interpellierten  mitgeteilt  und  ohne  Verlesung 
ins  stenographische  Protokoll  aufgenommen.  Der  Interpel- 
lierte kann  mündlich  oder  schriftlich  Antwort  geben  oder 
mit  Angabe  der  Gründe  die  Beantwortung  ablehnen. 
Schriftlich  erteilte  Antworten  werden  ohne  Verlesung  so- 
gleich ins  stenographische  Protokoll  aufgenommen. ** 


'  Bericht  des  H.H.,  S.  4. 
^  Regierungsvorlage,  S.  5. 


;  „Der  Präsident  ist  berechtigt,  Interpellationen, 
sowie  sonstige,  von  Mitgliedern  überreichte  Schriftstücke 
zurückzuweisen,  wenn  sie  Stellen  enthalten,  die  atrafgeaetz- 
■widrigen  Inhaltes  sind,  oder  den  Anatand  oder  die  Sitte 
blich  verletzen." 

Die  Mündlichkeit  oder  Schriftlichkeit  der  Antworten 
,rde  demnach  völlig  in  das  Belieben  des  Interpellierten 
leBtellt,  dem  Fragesteller  und  dem  ganzen  Hause  keinerlei 
linfluß  auf  den  Modus  der  ministeriellen  Äußerung  ein- 
geräumt! Die  Beseitigung  der  „Chefs  der  Zentralstellen" 
als  durch  Interpellationen  kontrollierbare  Personen  steht  im 
Einklang  mit  §  21  Ges.  ü.  d.  R.V.  und  die  Hinaufsetzung 
der  Zahl  der  eine  Anfrage  unterstützenden  Mitglieder  von 
15  auf  30  wäre  nur  eine  Konsequenz  der  seit  18ö7  fort- 
dauernd steigenden  Anzahl  der  Mitglieder  des  Abgh. 

Die  Abänderungsvorschläge  der  Regierung  und  die  aus 
Mitte  der  I.  und  der  II.  Kammer  des  iisterr.  R.R. 
'urden,  obschon  sie  bisher  keine  Reform  des  Interpellations- 
rechts  herbeifüTirten,  hier  genau  registriert  —  wobei  ihre 
Besprechung  mit  Rücksicht  auf  das  im  Abschnitte; 
^Erscheinungsformen  des  Interpellationsrechta"  gesagte  starke 
Beschrünkung  erfuhr  — ,  weil  sie  dem  Gedankengang  nach, 
kommenden  auf  Grund  des  allgemeinen  Wahlrechts  ge- 
TTfihlten  Abgh,  eine  große  Rolle  spielen  dürften  und  Über- 
dies klar  und  deutlich  die  Tendenzen  zeigen,  die  der  Re- 
gierung, den  konservativ  staatlichen  und  den  aggressiv 
politischen  Elementen  bei  der  Behandlung  dieses  Problema 
1er  parlamentarisch  an  Kontrolle  innewohnen. 

ji)   Das  österreichische  H.H. 

Der   §  21    Gea.   ü.   d.   R.V.    und   §  12   G.O.Ges.    von 

1873  geben  auch  dem  H.H.  fUr  sein  Interpellationsrecht  die 

Metzlichen  Grundlagen,    dessen   genauere  Regelung   §  57 

der  aelbstAndigen  G.O.   enthält.     Dieser   unterscheidet  sich 

»inahe   nicht   von   den   §§  (i8,   69,   G.O.  dos  Abgh.,   nur 


rei 
B 
,E 

Km 


96  VI  2. 

braucht  eine  Interpellation  von  blofi  10  Mitgliedern  unter* 
stützt  zu  werden  und  der  Antrag,  eine  Debatte  anzugliedern^ 
kann  nur  in  derselben  Sitzung ,  da  die  Äufierung  der  Re- 
gierung  erfolgte,  eingebracht  werden  —  nicht,   wie  in  der 

11.  Kammer,  auch  noch  in  der  nächsten  Sitzung.  Die 
Reformanträge  der  Regierung  und  der  Spezialkommission 
des  H.H.  tangieren  auch  dessen  Interpellationsrecht,  doch 
ist  die  ganze  politische  Stellung  des  Oberhauses  eine  solche, 
daß  die  Einschränkung  dieser  Kontrollmittel  und  seine 
Umsetzung  in  ein  schriftliches  Verfahren  weniger  in  die 
Wagschale  fielen,  als  dieselbe  Änderung  es  im  Abgh.  täte» 

b)  Das  Interpellationsrecht  der  Delegationen. 

§  39,    Satz  2f  des   ungarischen   Ges.    Art.  XII  vom 

12.  Juni  1867^  besagt  allgemein:  „Jede  Delegation  wird 
das  Recht  haben ,  an  das  gemeinsame  Ministerium  oder  je 
nach  dem  Ressort  an  das  betreffende  Mitglied  desselben 
Fragen  zu  richten ,  und  von  demselben  Antwort  und  Auf- 
klärung zu  verlangen.  Eben  darum  wird  das  gemeinsame 
Ministerium  das  Recht  und  —  wenn  es  hiezu  aufgefordert 
wird  —  die  Pflicht  haben,  bei  der  einen  Del^ation,  sowie 
bei  der  andern  zu  erscheinen,  zu  antworten  oder  mündliche 
oder  schriftliche  Aufklärungen  zu  geben,  oder,  wenn  es 
ohne  Nachteil  geschehen  kann,  auch  die  nötigen  Dokumente 
vorzulegen,** 

Diese  bestimmte  Formulierung  hat  in  §  28  Abs.  3  des 
Ges.  vom  21.  Dez.  1867  R.G.B.  146  (betreffend  die  allen 
Ländern  der  österreichischen  Monarchie  gemeinsamen  An- 
gelegenheiten und  die  Art  ihrer  Behandlung)  für  die 
Delegation  des  österr.  R.R.  eine  Abschwächung  erfahren: 
„Die  Delegation  hat  das  Recht,  an  das  gemeinsame  Ministerium 
oder  an  ein  einzelnes  Mitglied  desselben  Fragen  zu  richten 
und  von  demselben  Antwort  und  Aufklärung  zu  verlangen^ 


1  Bernatzik,  a.  a.  O.,  S.  289 ff. 


rvi  2. 


97 


femer  Kommissiooen  zu  ernennen,  welchen  von  Seiten  der 
Miniflterien  die  erforderliche  Information  zu  geben  ist," 

Erst  eine  sinngemäße  Auslegung  des  „Anfragerechtes" 
zeitigt  hier  dieselben  Ergebnisse,  die  oben  zitierter  §  39 
klar  und  deutlich  auch  ausspricht. 

Ein  G.O.Beachluß  der  Delegation  dea  österr.  R.R.  vom 
7.  Januar  1907'  enthält  eine  Weiterung  der  authentischen 
Informationamöglichkeit  der  Delegation  insofern,  als  von  nun 
an  auch  die  Mitglieder  dea  österr.  Ministerrates  den  Sitzungea 
beiwohnen  können  und  von  ihnen  Antwort  und  Aufklärungen 

Iftuf  Anfragen  gefordert  werden  dürfen. 
Mi] 


Anhang:   «)  Ungarn. 

Daa  Interpellationsrecht  des  ungarischen  R.T.  behandelt 


i  29  Ges.  Art.  III  vom  Jahre  1847/48*;  er  lautet:  „Die 
'  Minister  sind  verpflichtet,  in  jedem  Hause  des  R.T.  welches 
ea  wünscht,  zu  erscheinen  und  die  erforderlichen  Auf- 
klärungen zu  geben." 

u)  Die  Landtage  der  im  R.R.  vertretenen  Königreiche 
■  and  Länder. 

Der  nicht  realisierte,  nicht  einmal  zur  ersten  Lesung 
gelangte  „Kremsierer  Entwurf"  vom  Jahre  1849*  enthielt 
in  §  118:  „Der  Landtag  ist  berechtigt,  von  der  Regierung 
Aufschlüsse  über  alle  Zweige  der  Landes  Verwaltung  zu  ver- 
liingen,  Petitionen  an  und  in  Verhandlung  zu  nehmen, 
Unterauchungskomniiasionen  anzuordnen  .  .  ," 

Die  Landesordnungen  (Beilagen  II  a — p  zum  „Februar- 
patent")  vom  2tj.  Februar  18(il*  bestimmen  in  §  M  Satz  2 
(bezw.   §  36   Satz  2*):    „Wenn    die   Absendung    von   Mit- 


'  Der  Verfnsc^r   stiitzt   sich   auf  die  bereits  erwähntou  Berichte  der 

n  8.  Jnnuar  1907. 
'  Abgedruckt  bei  Mani,  die  StaatugrundgieaetEe. 

•  8,  Bernatzik.  «.  ».  O.,  8.  85 ff. 

*  AbKedi'uckt  bei  Msnz,  a.  a.  O. 
'  §  36*    der   L.O,    iUr    die   Bukoiriua,    Dalnuitieii,    Salabarg    und 

Rbiarlber^. 


Btnits-  I 


•Dlk^ri 


lOhll,   AbhRIKl 


VI  ■;. 


7 


98  VI  2. 

gliedern  der  Regierungsbehörden  wegen  Erteilung  von  Aus- 
künften und  Aufklärungen  bei  einzelnen  Verhandlungen 
notwendig  oder  wünschenswert  erscheint,  hat  sich  der  Land- 
marschall ^  an  die  Vorstände  der  betreffenden  Behörden  zu 
wenden". 

Daran  anknüpfend  können  die  selbständigen  Geschäfts- 
ordnungen der  Landtage  die  Formalien  der  Interpellationen 
regeln  *. 

Übersicht  fiber  die  Interpellationspraxis  im 
österreichischen  Abgh.  1861—1907.« 


Session 

Zahl  der  Interpell. 

beantwortet 

I. 

85 

83 

1 1. 

22 

13 

ITT. 

27 

14 

IV. 

68 

51 

V. 

15 

8 

VI. 

26 

15 

VII. 

25 

16 

VIII. 

249 

152 

IX. 

227 

120 

X. 

524 

257 

XI. 

2063 

770 

XII. 

294 

7 

XIII. 

336 

4 

XIV. 

452 

96 

XV. 

749 

110 

XVI. 

1167 

125 

XVII. 

11520* 

2946  kii  Mt  1905 

^  Bezw.  Oberstlandmarschall,  Landeshauptmann. 

'  Ein  förmliches  gesetzliches  I.R.  jedoch  mit  Ausschloß  einer  Debatte 
über  die  Äußerung  des  Interpellierten  fand  Anerkennung  für  Böhmen  (laut 
Kundmachung  der  K.  K.  Statthalterei  vom  1.  Dez.  1863,  L.O.B.  56)| 
Steiermark  (Ges.  vom  2.  Februar  1877,  L.G.B.  6)  und  Istrien  (G^.  vom 
7.  Mai  1877,  L.G.B.  8). 

^  S.  Regierungsvorlage,  a.  a.  O.,  S.  30  f. 

^  Letztangefnhrte  Zahl,  sowie  die  Daten  bezägl.  des  H.H.  stammen 
aus  dem  „Neuen  Wiener  Tagblatt"  vom  28.  Januar  1907. 


I 


In   der   XVII.  Session  tH)01— 1907)   wurden   im  H.H. 
r    Interpellationen     eingebracht     und     eine     davon    be- 
antwortet. 

3.  Frankreich'. 

AU  Bentham  auf  Betreiben  des  Grafen  Mirabeau  aua 
der  Geschäft sordnnng  des  englischen  Unterhauses  gewisse 
Prinzipien  herausarbeitete,  welche  von  nachhaltigem  Einfluß 
auf  das  Reglement  der  französischen  Constituante  wurden, 
hatte  England  seibat  noch  kein  ausgebildetes  Interpellations- 
recht und  Frankreich  schuf  sich  ein  aolchea  aus  Eigenem', 

Das  Dekret  der  Constituante  vom  21.  Juni  1791  be- 
stimmte, daß  die  Minister  der  Nationalversammlung  Auskunft 
auf  Anfragen  zu  erteilen  hätten  und  diese  machte  von 
ihrer  Fragebefugnia  auagiebigen  Gebrauch,  Darin  liegt  die 
Wurzel  des  ganzen  Interpellationsrechtes'. 


F  '  DlMem  AbachnUte  siDd  zugrunde  gele^;  Pierre,  Trsile  de  droit 

politiqDe  61ectoral  et  parlementaire ,  1903,  S.  T83tf.  u.  T90ff;  äxsa 
Sapptlment  1906,  ä.  'iS5B;  EBmein,  ^UmeDts  de  droit  coiutituttoniiBl 
franfiiis  et  campsrf,  S.  Aufl.,  S.  809  ff;  Leben,  das  Stoatarecbt  der 
franzSaiacheD  Kepublik,  lä86,  S.  17,  73. 

'  Vergl.  über  dieae  G.O.  Hatschek,  daa  englisclie  Stastsreoht, 
1905,  1.  ä.  426ff.  u.  Rcdlicb,  Becht  u.  Technik  des  oaglischea  ParU- 
raeuUriamuB.  1905,  S.  777  ff. 

'  Uie  AaskunlterleilunK  der  Minister  aaf  Aatrieb  der  Kamtnem  ge- 
schieht beute  auf  dreierlei  Weise ; 

a)  auf  Qrtind  von  Antragen  einzelner  Mitglieder  im  Verlaafe  der 
Budgetdebatte,  wobei  auBer  dem  Fragealeller  sich  auch  noch  andere  Mit- 
glieder der  Kammer  an  der  Debatte  beteiligen  kOnnen ; 

b)  auf  Qnmd  von  besonderen  „Queetiona  adreaa^es  aox  ministrea", 
die  EU  Beginn  nder  am  Ende  einer  Sitzung  gestellt  werden  kSnnen,  falls 
der  zu  befragende  Minister  die  question  vorher  genehmigt  hat,  und  wozu 
nur  dem  Frageatoller  und  dem  Minister  das  Wort  zukommt.  Die  „Ge- 
nehmigung" ist  im  Art.  HO  des  Reglements  fBr  den  Senat  ausdrilcklieh 
gefordert,  in  der  DepDtierteakammer  zwar  nicht  durch  die  G.O.  wohl  aber 
rturch  das  Herkommoii  verlangt.  Bsmein,  n.  a.  O.,  S.  MWf.,  der, 
nebenbei  bemerkt,  daa  „Interpellationsrecbt"  mit  dem  parlamentariaciien 
Regime  in  eugsle  Verbindung  bringt  und  es  als  «.laeatiellea  Merkmal  der 
Interpellationen,  sie  durch  ein  Vertrauens-  oder  HiBtrauenavotam  au  be- 
enden, betrachtet,  «teilt  die  Qitestions  der  Kammern  des  franilsiachen 
Pnrtameutes  den  Queationa  der  beiden  Häuser  dea  englischen  gleich,  ohne 
den  tiefen  Unterschied  zu  beohnchten.  der  dadurch  zwischen  ihnen  liegt, 
daä    der    Kontrollcharakter    der    englischen    questiona    durch    die     Un- 


100  VI  2. 

Die  Verfassungen  zwischen  den  Jahren  1795  bis 
1814  schlössen  mit  den  Vertretern  der  Exekutive  zugleich 
ihre  Interpellation  aus  den  Kammern  aus  und  erst  die 
Charte  von  1814  brachte  mit  dem  Zutritt  der  Minister  zu 
den  Sitzungen  auch  die  Möglichkeit  wieder,  von  ihnen 
mündlich  Auskunft  zu  fordern.  Die  Geschäftsordnungen 
regelten  bis  1849  das  Interpellationsrecht  nicht,  obschon 
Interpellationen  tatsächlich  vorkamen. 

Auch  die  Epoche  der  Restauration  beschränkte  die 
Initiative  des  Parlamentes  und  ebenso  auch  die  direkte 
Übung  der  Interpellationen,  so  daß  Anfragen  über  die  innere 
und  äußere  Politik  vor  Allem  im  Anschlüsse  an  Finanz- 
gesetze, Petitionen  und  dergl.  erfolgten.  Seit  der  Juli- 
monarchie, genau:  seit  dem  5.  November  1830  setzten 
wieder  ausgesprochene  Interpellationen  mit  Diskussionen 
ein  und  fanden  zuweilen  ihren  Abschluß  durch  Annahme 
einer  einfachen,   seltener  einer  motivierten  Tagesordnung*. 

Dieser  Usus  weckte  manchen  Widerstand  —  und  das 
Reglement  ordnete  das  Interpellationsrecht  noch  immer 
nicht.  Es  wurde  allmählich  üblich,  den  Gegenstand  und 
den  Tag  der  Anfrage  vorher  mitzuteilen,  und  am  5.  März 
1834  nahm  von  diesem  Formalismus  ausgehend  die  Depu- 
tiertenkammer die  Befugnis  für  sich  in  Anspruch,  über  die 
Zulässigkeit  einer  Interpellation  zu  bestimmen  und  den 
Tag  ihrer  Behandlung  festzusetzen. 

Das  Jahr  1848  mit  seinen  Verfassungsbestimmungen 
brachte  den  Interpellationen  eine  Blütezeit,  das  Reglement 
vom  8.  Juli  1849  regelte  sie*.  Aber  die  Konstitution  des 
zweiten  Kaiserreiches  beseitigte  das  Interpellationsrecht  im 
Jahre    1852.     An   seine  Stelle   trat   seit  dem   Dekret   vom 


abhängigkeit  ihrer  Einbringung  vom  Willen  des  Interpellierten  absolut 
gewahrt  ist; 

c)  endlich  als  Äußerung  auf  die  eigentlichen  Interpellationen,  von 
denen  im  folgenden  allein  die  Rede  sein  soll. 

*  „Motivierte  Tagesordnung",  wenn  die  Kammer  ihr  Vertrauen  oder 
Mißtrauen  ausdrucken  will,  „eiiufache"  dagegen,  wenn  dies  nicht  der  Fall. 

>  Art.  79,  80,  81,  82  des  Reglements  der  „Assembl^  l^slative**. 


_  wie 


!.  101 

24.  November  IßÖO  die  „Adresse"  ala  Antwort  auf  die 
Thronrede,  und  neugescliaffene  Minister  ohne  Portefeuille,  die 
durch  das  Dekret  vom  23.  Juni  1863  dem  ,Miniatre  d'Etat" 
den  Platz  räumten,  vermittelten  den  direkten  Verkehr 
zwischen  der  Regierung  und  den  Kammern.  Das  Dekret 
vom  19.  Januar  1867  ersetzte  die  Adresse  an  den  Kaiser 
durch  ein  allerdings  verklausuliertes  1  u te rpe IIa tionsr echt, 
das  durch  Zugeständnisse  der  in  den  Grundvesten  wan- 
kenden Monarchie  allmählich  erstarkte,  um  endlich  im 
Gesetze  der  Repuhlik  vom  31.  August  1871  sogar  ein  Frage- 
recht  an  den  Präsidenten  zu  erhalten,  das  jedoch  apater 
wieder  beseitigt  wurde.  Die  für  Frankreich  pvaktiüch- 
wicbtige  Scheidung  von  Interpellationen  über  Akte  der  aus- 
irtigen  und  Über  solche  der  inneren  Politik  vollzog  sich 
Tch  das  Gesetz  vom  13.  März  1373. 

Die  Verfassung  von  1875  enthält  nichts  über  das  droit 
d'interpellation,  das  jedoch  aus  dem  Prinzipe  der  Minister- 
verantwortlichkeit resultiert  und  in  der  Geschäftsordnung 
normiert  ist*. 

Einer  besonderen  Unterstützung  bedürfen  die  Anfragen 
nicht;  sie  werden  vom  Interpellanten  oder  dessen  Stellver- 
treter dem  Präsidenten  überreicht  und  von  diesem  der 
Kammer  vorgelegt.  Da  über  den  Gegenstand  der  Inter- 
pellation keine  näheren  Bestimmungen  bestehen,  so  fUllt  daa 
Zensurrecht  des  Präsidenten  schwer  in  die  Wagschale;  er 
weist  konstitutionswidrige  Anfragen  zurück  und  läßt 
beleidigende  Stellen  und  dergleichen  nicht  zur  Verlesung 
kommen.  Was  der  Verfassung  entspricht  und  was  nicht, 
ist  oft  eine  Frage  des  Einzelfalles,  welche  nicht  immer  im 
selben  Sinne  beantwortet  wird.  Vor  Allem  wichtig  ist,  daß 
die  Regierung  nur  darüber  interpelliert  werden  kann,  wofür 
sie    verantwortlich    ist.      Dem    älteren    Reglement    war    ea 


'  B^glemcDt  de  chambre  des  dipatSR,  Art.  40;  Reglement  da  Benat^ 
Art.  61 ;  inliBltlidi  Btimmen  in  lieiug  aaf  dn»  Interpellitionsrecbt  die  Oo* 
Msb&ftaordDiuigen  der  beiden  Kammem  Sberein. 


102  VI  2. 

fremd,  daß  Interpellationen  über  die  „innere  Politik"  nicht 
auf  länger  als  einen  Monat  zurückgestellt  werden  dürfen; 
heute  ist  das  Vorschrift;  eine  Vorschrift,  die  sich  aber 
nicht  auf  Anfragen  bezüglich  der  äußeren  Politik  erstreckt  ^ 
Interpellationen  können  auch  sofort  nach  ihrer  Einbringung 
in  Behandlung  genommen  werden,  doch  geschieht  dies  nur 
im  Einverständnis  mit  dem  Interpellierten,  während  sonst 
die  Kammer  nicht  an  den  Tag  gebunden  ist,  den  dieser 
vorschlägt,  und  ihn  ohne  Debatte  festsetzt.  Eine  Debatte 
im  formellen  Sinne,  nämlich  soweit  es  sich  um  die  Be- 
stimmung des  Termines  handelt,  ohne  auf  das  Tatsächliche 
der  Anfrage  einzugehen,  ist  dabei  nicht  ausgeschlossen. 

Der  Minister  kann  die  Beantwortung  einer 
Interpellation  ablehnen. 

Die  G.O.  untersagt  es,  ein  anderes  Mitglied  des  Hauses 
zu  interpellieren,  doch  wird  solches  in  praxi  ausnahmsweise 
gestattet,  wenn  es  ein  Beamter  ist  und  die  fragliche  Ange- 
legenheit in  sein  Ressort  feilt.  Zwei  oder  mehr  Interpel- 
lationen können,  wenn  die  Kammer  es  beschließt,  gemeinsam 
unter  gewissen  Klauseln  zur  Behandlung  gelangen. 

Die  Zurückziehbarkeit  von  Anfragen  —  übrigens  darf  der 
Minister  auch  solche  zurückgezogene  beantworten  —  und 
die  Möglichkeit,  daß  sie  unter  Umständen  von  Anderen 
wieder  aufgenommen  werden  dürfen,  ist  deshalb  von  Be- 
deutung, weil  sie  wieder  eingebracht  ihren  Lauf  dort  be- 
ginnen, wo  dieser  sich  befand ,  als  sie  fallen  gelassen 
wurden. 

Der  Sessionsschluß  erledigt  die  Interpellationen  nicht 
eo  ipso.  Daß  die  Interpellationsdebatte  durch  Annahme 
einer  einfachen  oder  motivierten  Tagesordnung  abgeschlossen 
zu  werden  vermag,  wurde  bereits  erwähnt  und  ist  deshalb 
von  Bedeutung,    weil  die  usuelle  politische  Empfindlichkeit 

^  Der  Bestimmung  ist  jedoch  Genüge  getan,  wenn  die  Interpellation 
vier  Wochen  von  ihrer  Einbringung  an  gerechnet,  auf  die  T.O.  gesetzt 
wird;  daß  sie  dann  aus  irgendwelchen  Gründen  nicht  zur  Verhandlung 
kommt,  wird  als  rechtlich  irrelevant  angesehen. 


VI  2. 


103 


der  Regierung  sie  aus  jeder  Mißtrauenskundgebung  die 
weitestgehenden  Konsequenzen  ziehen  läßt'. 

Die  lange  Praxis  unter  den  wechselnden  Systemen  hat 
sowohl  im  Senate  wie  in  der  Deputierten  kämm  er  manchen 
Usus  erzeugt ;  hier  griff  eine  Beschränkung  auf  die  wesent- 
lichsten Prinzipien  des  Interpeliationswesens  Platz. 

Zu  erwähnen  bleibt  nur  noch,  daß  die  zweite  Kammer, 
ohne  die  Textierung  des  Art.  40  G.  O.  einer  Revision  zu 
unterziehen,  zu  verschiedenen  Malen  (u.  A.  1897,  1900,  1901, 
1902  .  .  .)  Beechiüsae  mit  provisorischer  Kraft  faßte,  wonach 
—  für  Einzelfalle  einen  entgegengesetzten  Beschluß  offen 
lassend  —  die  Freitagssitzungen  für  die  Diskussion  von 
Interpellationen  bentimrat  wurden.  Diese  Zeitbeschränkung 
macht  es  faktisch  unmöglich,  alle  Anfragen,  bezugnehmend 
auf  die  innere  Politik  innerhalb  eines  Monates  nach  ihrer 
Einbringung  zu  erledigen. 

4.  England'. 

Einfache  Anfragen  ira  Laufe  der  Verhandlung  und 
bezugnehmend  auf  ihren  Inhalt  gehen  im  englischen  Par- 
lamente weit  zurück,  aber  erst  das  XIX.  Jahrhundert  schuf 
ein  eigentliches  Recht  der  Interpellationen  —  die  hier  „que- 
Btions   to   members"   genannt   — ^,   das   aber  von  der  kon- 


'  Die  übertriebene  politiicbe  Nervosität  der  Kabinette  ]fi£t  sich  aug 
der  Inatilatioii  des  parlamentariBcUen  Regimea  aar  teilweise  erklären; 
vielleicht  spielt  noch  dae  psfcbolof^nche  Momeiit  aus  der  Zeil  des  NatioDal- 
honventes  herein,  daß  Jedes  J'accuse'  aus  der  Mitte  der  Versammlung  ge- 
schlendert den  „  Verdächtigten "  zittern  machte. 

■  Tb.  B.  IStkj,  Parliamentary  Practice,  II-  Ed.  1906,  S.  210f: 
246ff;  dasselbe  10.  Ed.  1893,  S.  205f;  336ff.i  femer  Maj,  da«  en^ 
liache  Parlament  und  sein  Verfahren,  aus  der  1659  orschieneaen  4.  Aofl. 
des  englischen  Oripnala  flhersetzt  und  bearbeitet  von  Oppenheini  18130, 
S.268f;  Todd,  über  die  parlamentariHCbe  Regierung  in  England,  deutsah 
von  Ast  mann.  II.  S.  286  ff;  S.  Low.  The  governanceof  England,  2.  Aufl. 
1906,  S.  91  f;  Bodlich,  Recht  und  Technik  des  englischen  Parlamen- 
tariamuB,  1905,  8.  144ff;  ÄMff;  301;  51.3ff;  52:1;  570;  572ff;  596; 
Hatschek,  Englisches  Staatsrecht,  1905,  I.  S.  375  IT.,  395  f;  II.  S,  220. 

*  Formell  sind  demnach  die  Interpetlati''iien  an  die  Uinlster  in  ihrer 
Eigeniolufl  als  Mitglieder  des  Hauses  gerichtet. 


104  VI  2. 

tinentalen  Gestaltung  namhaft  abweicht  und  keinen  fran- 
zösischen Einschlag  aufweist. 

Die  früheste  Aufzeichnung  einer  formellen  Interpellation 
an  einen  Minister  datiert  vom  9.  Februar  1721,  als  Lord 
Cowper  den  Premier  Earl  of  Sunderland  fragte,  ob  eine 
Person,  gegen  die  das  Oberhaus  ein  Strafverfahren  ein- 
zuleiten gedachte,  tatsächlich  im  Auslande,  wie  ein  Gerücht 
besagte ,  verhaftet  worden  sei.  Im  U  n  t  e  r  h  a  u  s  e  finden 
sich  Interpellationen  zur  Zeit  des  jüngeren  Pitt,  doch  erst 
zu  Beginn  der  dreißiger  Jahre  des  verflossenen  Jahrhunderts 
begannen  sie  jenen  eigenartigen  Charakter  anzunehmen, 
der  sie  typisch  von  den  einfachen  Anfragen  unterscheidet; 
die  Parteicourtoisie  gewährte  ihnen  eine  besondere  Stellung 
in  der  Geschäftsbehandlung  und  seit  dem  27.  Februar  1835 
erscheinen  Interpellationen  gedruckt  im  Notice  Paper,  ein 
Verfahren,  das  allmählich  konstant  wird,  wobei  sie  über- 
dies noch  bis  zum  Beschlüsse  vom  7.  März  1888  im  Hause 
zur  Verlesung  gelangen.  Dennoch  ist  der  Usus  ihrer  An- 
erkennung nur  langsam  gefestigt  worden ;  noch  1859  schreibt 
May^:  „Dergleichen  Fragen  (d.  s.  Interpellationen)  sind 
aber  möglichst  auf  solche  Gegenstände  zu  beschränken, 
welche  zu  den  Parlamentsgeschäften  in  unmittelbarer  Be- 
ziehung stehen  ..." 

Nachhaltigen  Einfluß  auf  die  Institution  nahm  eine 
Bestimmung  des  Jahres  1861,  da  die  T.  O.  zu  Gunsten 
der  Regierung  insofern  gebunden  wurde,  dafi  diese  ein 
Anordnungsrecht  der  Beratungsgegenstände  an  gewissen 
Tagen  —  den  „Order- Days"  —  zugestanden  erhielt.  Durch 
diesen  Einflußzuwachs  des  Kabinetts  gewannen  die  Inter- 
pellationen als  Eontrollmittel  für  das  Parlament  an  Wert 
und  allmählich,  nicht  ohne  Widerspruch,  erstarkte  die  In- 
stitution. Gleichwohl  bestand  seit  je  das  Verbot,  an- 
schließend an  sie  eine  Debatte  über  die  Antwort  zu  führen ; 
dieses   wurde  zeitweise  durch  einen  Antrag  auf  Vertagung 


^  May-Oppenheim,  a.  a.  O. 


lYI  2. 


105 


[  des  Hauses  zum  Zweck  der  Diskussion  zu  miigehen  gesucht, 
etn  Vorgang,  der  Bchließlich  keine  Duldung  mehr  fand, 
Die  Interpellationen  selbst,  als  parlamentariscIiGs  Inrorma- 
tions-  und  KontroUmittel,   waren  aber  durch  Geschäftaord- 

I  nungsvorschriften  anerkannt  und  geregelt  und  die  Sitte  er- 
gänzte nur  mehr  die  Bestimmungen  fllr  die  Praxis. 

Die  geltende  Gestalt  des  Interpellationswesens  setzt  sich 

[  ftu3    Beschlüssen    des    Unterhauses    vom    7.    März    1888', 

\  29,  April  1902^  und  S.April  liMlÜ^  zusammen  und  ist  mit 
Berückaiehtigung  des  Usus  folgende:  Der  Inlerpellatit  über- 
reicht die  an  den  Ressortminister  gerichtete  und  schriftlich 
formulierte  Anfrage  dem  Clerk  des  Hauses  und  sie  wird  im 
Notice  Paper  dor  belreffeuden  Sitzung,  für  die  sie  bestimmt 
,  abgedruckt.  Die  Interpellation  hat  den  Naraou  des 
Fragenden  zu  enthalten,  ferner  die  Angabe  des  Tages,  an 
dem  er  die  Antwort  wünscht  ^  soll  diese  eine  mündliche 
iein.   so    ist   dies   durch  ein  „.StcrnchcD"  anzudeuten,    doch 

I  iteht   dem  Minister,    falls  er  die  Angelegenheit  für  wichtig 

.  tält,  auch  sonst  der  Weg  einer  mündlichen  Erledigung  frei. 

I  Der  Clerk  prüft,  ob  die  Anfrage  jenen  Anforderungen  ent- 
spricht, welche  an  sie  gestellt  werden.    Der  Koiivenienz  nach 

I  soll  sie  nur  jene  Dinge  enthalten,  die  zu  ihrem  Verstund- 
nisse  unbedingt  notwendig  sind;  für  die  Korrektheit  der 
ihr  enthaltenen  Behauptungen  ist  der  Interpellant  ver- 
antwortlich; sie  darf  keine  Argumente,  Folgerungen,  Epi- 
theta, ironische  Satzwendungen  in  sich  schließen  und  nicht 
auf  Debatten,  die  in  der  laufenden  Session  stattgefunden, 
oder  auf  einen  späteren  Punkt  der  T.O,,  noch  auf  Vor- 
gänge in  einem  Komitee,  das  seinen  Beriebt  dem  Hause 
noch   nicht   vorlegte,    bezugnehmen.     Auch   sind  Questions 


>  SUnditif  l'rder  XX,  abgedruckt  büi  Mny,  lu  >i.  O.,  10.  Ed. 
B.  820  F. 

*  KeueSI.O,  IX,  abgedrackt  bü  Redlich,  n.  n  0.,  K.8Wf;  ilb«r 
d«a  nicht  re&lisierteu  Entwurf  Balfoors  vom  Juble  1902,  der  auf  Wider- 
■tand  itieß,  liobe  sbendn,  S.  ZUB.  u.  839. 

*  tu  Kraft  stehende  StO.  IX  mit  ihrer  Umaestalliuig  vom  A.  April 
1906,  abgedruckt  bei  Maj,  a.  a.  Ü-,  11.  Ed.  S.  91df. 


106  VI  2. 

bezüglich  abstrakter  Rechtsfragen,  sowie  solche,  die  mög- 
licherweise eintretende  Eventualitäten  ins  Auge  fassen,  un- 
zulässig. 

Persönliche  Ausfälle  sind  zu  vermeiden. 

Interpellationen  dürfen  nicht  als  Vorwand  [für  eine 
Debatte  dienen  und,  ist  eine  Frage  einmal  genügend  beant- 
wortet, dann  ist  ihre  wiederholte  Stellung  ausgeschlossen, 
doch  kann  eine  erteilte  Antwort  zum  Gegenstand  weiterer 
der  Aufklärung  einzelner  Punkte  dienenden  Anfragen  ge- 
nommen werden. 

Finden  sich  in  einer  Interpellation  Unzulässigkeiten,  so 
hat  der  Clerk  den  Interpellanten  darauf  aufmerksam  zu 
machen,  jedoch  das  eigentliche  Zensurrecht  steht  nur  dem 
Speaker  selbst  zu,  in  dessen  Macht  es  auch  liegt,  die  Ver- 
lesung einzelner  Fragen  im  Hause  zu  gestatten.  Ebenso 
scheidet  der  Sprecher  Interpellationen  aus,  welche  die 
Krone  oder  deren  Einfluß  auf  irgend  eine  RegierungsmaB- 
regel  in  Frage  stellen,  auch  kürzt  er  unter  Umständen,  wie 
es  besonders  1887  anläßlich  der  irischen  Obstruktionsinter- 
pellationen geschah,  langathmige  oder  sich  häufende  Que- 
stions.  Die  Zeit  zur  Stellung  von  Interpellationen  ist 
erstens  auf  Montag,  Dienstag,  Mittwoch  und  Donnerstag 
beschränkt  und  zweitens  hier  wiederum  auf  46  Minuten, 
nämlich  auf  die  Frist  von  3.0®  h.  bis  3.*»  h. 

Wenn  auf  eine  mündliche  Antwort  reflektiert  wird,  so 
muß  die  Interpellation  —  durch  das  „Sternchen"  gekenn- 
zeichnet —  auf  die  T.O.  spätestens  des  Tages  gesetzt 
werden,  der  dem  Tag  vorangeht,  an  dem  die  Erledigung 
gewünscht  ist. 

Zur  üblichen  bereits  erwähnten  Zeit  —  der  „Question 
time"  —  ruft  der  Sprecher  jene  Interpellanten,  die  eine 
mündliche  Antwort  verlangten,  der  Reihe  nach  auf,  sie  oder 
ihre  Stellvertreter  melden  sich  und  stellen  durch  die  Angabe 
der  Zahl,  die  ihre  Frage  im  Notice  Paper  erhalten  hat,  die 
Interpellation  an  den  Minister.    Solche  „Stellvertreter"  sind 


VI  2. 


107 


zulässig,  soweit  es  sich  nicht  um  persönliche  Beschwerden 
gegen  den  Interpellierten  handelt. 

Interpelliert  können  werden :  Minister  (bezüglich  jener 
Angelegenheiten,  die  in  ihr  Ressort  fallen).  Exminister, 
Mitglieder  des  Hauses,  welche  der  Regierung  sonstwie  an- 
gehören, jedoch  nur,  wenn  der  Kabinettschef  nicht  anwesend 
ist,  ferner  der  Speaker,  der  Leader  der  Opposition  und 
solche  Mitglieder,  die  mit  einer  Bill  zu  tun  haben,  Antrüge 
anmeldeten  oder  sonst  an  einem  Geschäfte  des  Hauses  be- 
teiligt sind;  der  Sprecher,  der  Leiter  der  Opposition  und 
die  letztgenannte  Kategorie  nur  betreffs  der  Geschfifta- 
behandlung  oder  einzelner  in  ibre  Tätigkeit  einschlagender 
Gescbfiftsstücke,  was  übrigens  relativ  selten  vorkommt. 

Sonst  gelten  als  Interpellationsgegenstäude  alle  Vor- 
gänge der  inneren  und  äußeren  Politik,  der  Landes-,  Reichs- 
und Koloniat-Verwaltung;  man  fragt  auch  die  Regierung 
über  ihre  Absichten  in  einem  konkreten  Fall  und  von  ihr 
selbst  werden  selbstverständlich  im  Bedarfsfälle  Interpella- 
tionen inauguriert. 

Nicht  einmal  die  Parteisitte  erfordert  es,  daß  der  inter- 
pellierte Minister  eine  Antwort  zu  erteilen  habe;  es  steht 
ihm  immer  zu,  eine  solche  mit  Berufung  auf  das  öffentliche 
Interesse  abzulehnen.  Das  Bestehen  eines  Mitgliedes  auf 
Beantwortung  gilt  als  geschäftsordnungswidrig,  doch  ist  es 
möglich  eine  unerledigt  gebliebene  Angelegenheit  in  Form 
eines  Antrages  vor  das  Haus  zu  bringen.  Eine  von  einem 
Minister  zurückgewiesene  Interpellation  darf  nicht  an  einen 
ideren  neuerdings  gestellt  werden. 

Der  Minister,  der  sich  in  seiner  Äußerung  kurz  und 
indig  fassen  soll,  kann  im  Notice  Paper  enthaltene  Inter- 
pellationen auch  dann  beantworten,  wenn  sich  weder  der 
Interpellant  noch  ein  Stellvertreter  zur  Ausübung  des 
Rechtes  meldeten,  auch  darf  er  sich  durch  einen  anderen 
Minister  vertreten  lassen.  Wurden  bei  der  Beantwortung 
Schriftstücke  verlesen  und  sind  diese  öffentliche  Dokumente, 
so  müssen  sie,  wenn  es  ohne  GelUhrdung  öffentlicher  Inter- 


108  VI  2. 

essen  angängig  ist,  auf  den  Tisch  des  Hauses  niedergelegt 
werden. 

Eine  Beantwortung  von  Questions  nach  Ablauf  der 
question  time,  erscheint  nur  dann  zulässig,  wenn  ihre  Er- 
ledigung in  Folge  der  Abwesenheit  des  Ministers  unterblieb 
oder  wenn  es  sich  um  Fragen  handelt,  die  nicht  im  Notice 
Paper  erschienen,  aber  einen  dringlichen  für  die  Öffent- 
lichkeit wichtigen  Charakter  tragen,  oder  die  Feststellung 
der  künftigen  Tagesordnung  betreffen.  Seit  1902  wird  die 
mündliche  Antwort  —  maßgebend  wirkt  das  Bedürfnis  nach 
Zeitersparnis  —  mehr  und  mehr  durch  die  schriftliche  Er- 
ledigung  der  Interpellationen   ersetzt  und  zwar  regelmäßig 

1)  wenn  der  Interpellant  nicht  auf  „Mündlichkeit"  besteht, 

2)  wenn  weder  das  interpellierende  Mitglied  noch  dessen 
Stellvertreter  beim  Namensaufruf  im  Beratungssaale  an- 
wesend ist  und  der  Minister  sich  nicht  aus  Eigenem  zu 
einer  verbalen  Antwort  entschließt,  3)  nach  Ablauf  der  In- 
terpellationszeit, falls  bis  dahin  eine  Interpellation  nicht  er- 
ledigt werden  konnte  und  der  Interpellant  auch  nicht  das 
Begehren  aussprach,  die  Frage  zurückzustellen.  Eine  schrift- 
liche Antwort  wird  in  Druck  gelegt  und  am  nächsten  Tag  mit 
den  Notes  und  Proceedings  (Verhandlungs berichten) publiziert. 

Wie  schon  erwähnt,  ist  eine  Debatte  anläßlich  der  An- 
fragen ausgeschlossen ;  im  englischen  Unterhause  der  Gegen- 
wart gibt  es  keine  Möglichkeit  für  ein  von  der  Antwort 
des  Ministers  unbefriedigtes  Mitglied,  eine  solche  zu  provo- 
zieren; das  Äußerste  ist,  daß  es  beschränkte  „Supplemen- 
tary  questions"  zur  Aufklärung  einzelner  Punkte  in  der 
Beantwortung  stellt  und  dies  darf  nicht  in  ein  „Kreuz- 
verhör" ausarten. 

Im  Oberhause  ist  die  Interpellation  vorher  bekannt 
zu  geben  und  auf  die  gedruckte  T.O.  zu  stellen ;  die  Form- 
vorschriften werden  hier  nicht  sehr  streng  beachtet  und  es 
ist  die  Möglichkeit  gegeben,  eine  unformale  Debatte  zu 
führen. 


VI  2. 


109 


—    Interpellationen 


Folgende  Übersicht '  Aber  die  Praxis  der  Interpellationen 
an  die  B^erong  seigt  von  dem  erstaunlichen  Anwachsen 
der  Anfragen  im  ünterhause: 

1800  gab  es  

1847  .     , 129 

1848  „     , 222 

1850     ,.   , 212 

1860      „ 099 

1870     .     , 1203 

1880     , 1546 

1885      „     , 3354 

1890      , 4407 

1894      ,     , 3567 

1897      ,     „ 4824 

1899  „     „ 4521 

1900  ,     „ 5106 

1901  ,     „ 6448 

1902  bis  5.  Mai 2917 

von  da  ab  nach  Änderung  der  standing 

Order  gab  es  mündl.  beantwortete    .  2415 

schriftl.  beantwortete 1836 


115  ( 


Summa    7168 


1903  mündlich  beantwortet 
schriftlich 


25541 
1992  I 


Summa    4546 


5.  Das  Interpellationsrecbt  anderer  Staaten. 

Aus  den  Ausführungen  über  das  Interpellationsrecht 
der  wichtigsten  West-  und  Zentralstaatcn  Europas  und  den 
kurzen  Erörterungen  der  Materie  für  die  Deutschen  Bundes- 
staaten und  die  österreichischen  Provinzen  kann  man  cr- 
sehen,  wie  überall  sein  Kern  in  einer  gesetzlich  ausdrücklich 
ausgesprochenen  oder  aus  der  Kompetenz  eines  parlamen- 
tarischen Kollegiums  indirekt  hervorgehenden  Fragebefugnis 


^  Siehe  Redlich,  a.  a.  O.,  S.  235,  Anm.  2  u,  516. 


110  VI  2. 

besteht,  welche  an  Aufgaben  der  Minister  oder  ihrer  Unter- 
gebenen anknüpft,  gewissen  Formalismen  unterworfen  ist, 
nicht  auf  den  augenblicklichen  Verhandlungsgegenstand 
beschränkt  bleiben  muß  und  mit  einer  Äußerungspflicht  des 
Interpellierten  korrespondiert.  Daneben  zeigt  das  Inter- 
pellationsrecht in  den  einzelnen  Parlamenten  und  Kammern 
eine  individuelle  Ausgestaltung,  die  durch  die  verschieden- 
artige, wechselvolle  Verbindung  jener  Einrichtungen,  die 
im  Abschnitt  „Erscheinungsformen  des  Interpellationsrechts'' 
besprochen  wurden,  zustande  kommt. 

Ganz  derselbe  Typus:  Gleichartigkeit  des  Grundcha- 
rakters, des  Prinzips,  und  individueller  Ausbau  im  Spezi- 
ellen —  eine  Folge  konformer  Bedürfnisse,  rechtlicher  und 
politischer  Nachahmung,  angepaßt  an  die  Eigenart  der  ein- 
zelnen konstitutionell-parlamentarischen  Organisationsformen 
—  ganz  derselbe  Typus  ist  auch  in  den  verschiedenen  an- 
deren Staaten,  die  ein  modernes  Parlament  haben,  zu  beob- 
achten. 

Wenn  die  Union  dabei  eine  Ausnahme  macht,  so  ist 
das  darauf  zurückzuführen,  daß  sie  streng  konservativ  an 
dem  System  der  „Gewaltentrennung"  festhält,  das  einen 
offiziellen  mündlichen  Verkehr  zwischen  Legislative  und 
Exekutive  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika 
ausschließt.  Der  „Kongreß' '  ohne  Interpellationsrecht  ist 
eine  exzeptionelle  Erscheinung  unter  den  parlamentarischen 
Kollegien. 

Die  markantesten  Organisationsformen,  die  sich  um  die 
Interpellationen  in  den  Parlamenten  am  Kontinent  weben, 
fanden  bereits  im  allgemeinen  Teile  an  den  entsprechenden 
Stellen  Erwähnung ;  schon  ein  oberflächlicher  Vergleich  der 
geltenden  Normen  und  Gewohnheiten  scheint  zu  dem  Ur- 
teile zu  berechtigen,  daß  es  dem  Interpellationsrecht  in  den 
germanischen,  besonders  in  den  angelsächsischen  Staats- 
wesen nicht  bestimmt  ist,  eine  so  bedeutende  Rolle  zu 
spielen,  wie  in  den  romanischen,  vor  Allem  in  Frankreich. 

Nur  von    dem  Interpellationsrecht   eines   der  jüngsten 


VI  2. 


111 


koQsti tut! on eilen  Staaten  —  nämlicli  Rußlands  —  soll  noch 
die  Rede  sein  >. 

AIb  Japan  mit  der  Verfaasnngaurkunde  am  11,  Februar 
1889  auch  das  Gesetz  betreffend  den  R.T,  verkündet  wurde, 
euthielton  die  g§  48,  49  dieses  Gesetzes  die  Formulierung 
des  Interpellationsrechts,  das  dem  des  preußischen  Abg.H. 
nachgebildet  ist*.  Nicht  so  einfach  rezipierend  ging  Ruß- 
land im  Jahre  1900  zu  Werke.  Dieses  verband  Einrich- 
tungen verschiedener  westeuropäi scher  Staaten  und  krönte 
sie  durch  einen  Schlußstein,  der  spezifisch  den  russischen 
Verhältnissen  entsprechen  mag,  aber  ein  absolutistischer 
Block  im  konstitutionellen  Interpellatio  na  recht  ist,  das  hier 
Übrigens  nicht  mit  einer  staatsrechtlichen  Minis terverantwort- 
lichkeil  Hand  in  Hand  gebt. 

Es  ist  bei  den  verwirrten  politischen  Verhältnissen  im 

russischen  Reiche   noch  nicht  klar,    ob  und  wie  die  Praxis 

auf  den  Buchstaben  und  die  Auffassung  der  Bestimmungen 

korrigierend    einwirken,    wie    die   tatsächliche   t!lbung    das 

■  Interpellationsrecht  gestalten  wird. 

Der  A.H.Ukas  vom  30.  Februar  1906  (russischen 
Datums)  über  die  Reichsduma'  sagt  in  den  §§  58,  69:  eine 
von  30  Mitgliedern  der  Duma  unterzeichnete  Interpellation 
ist  dem  Präsidenten  schriftlich  zu  übergeben  und  dieser 
legt  sie  dem  Hause  zur  Beratung  vor;  sie  kann  eine  An- 
trage enthalten,  die  Aufklarung  und  Auskunft  über  solche 
Akte  der  Minister,  der  Chefs  von  Zentralstellen  oder  der 
ihnen    unterstellten    Personen    und    Amter    fordert,    welche 


'  RuQlaiid»  Zustlireiton  auf  eine  KonntituKun  fand  Nachahmung  in 
Peraien  unJ  Moutenegra;  ilie  Verfassung  lieiiter  Staaten,  soweit  Tages- 
blätter  darüber  bericliten,  regeln  aurh  das  Interpellationsrechl,  das  in 
Persien  sogar  zu  einem  VerfasfluiiKskonflikt  »wischen  Parlamont  und  ße- 
giemog  AnlaS  (;ogeben  haben  fioU. 

'  Vergl.  Reklam  Nr.  :^7%,  „die  japanische  Verfassungsurkunde", 
S.  25. 

"  Abgedruckt  in  dem  Werke  „die  geaetslichen  Akte  der  Übergangs- 
epocbe  1904/1806",  Petersburg  1906.  Die  hier  augrunde  gelegten  gosetz- 
lichen  Besümmungen  wurden  mir  liebenswürdig  von  Dr.  MarkeU  aus 
dem  Bnasiscben  übersetzt  Vergl,  iiuob  Pierre,  Suppl.^menl,  8.  S3I;  :it3, 
der  den  Ukas  vom  19.  August  1905  datiert. 


112  VI  2. 

nicht  gesetzmäßig  scheinen.  Stimmt  die  Mehrheit  der 
Duma  der  Interpellation  zu,  dann  wird  sie  dem  betr.  Mi- 
nister bezw.  dem  Chef  der  Zentralstelle  mitgeteilt  und  diese 
müssen  innerhalb  eines  Monats  entweder  die  nötigen  Auf- 
klärungen und  Auskünfte  erteilen,  oder  die  Gründe  an- 
geben, warum  sie  eine  materielle  Antwort  verweigern. 

Doppelt  hat  sich  die  Regierung  gegen  Interpellationen 
gewappnet:  1)  sind  sie  an  die  Zustimmung  der  Duma- 
mehrheit gebunden  und  die  Minderheit  ist  so  dem  „guten 
Willen"  der  Majorität  ausgeliefert;  2)  sollen  nur  Akte,  die 
nicht  gesetzmäßig  scheinen,  Gegenstand   der  Anfrage   sein. 

Aber  entschieden  die  eigentümlichste  Einrichtung  blieb 
dem  §  60  vorbehalten :  falls  sich  nämlich  die  Reichs- 
duma mit  den  Auskünften  und  Aufklärungen 
der  Interpellierten  nicht  zufrieden  gibt  und 
dies  durch  einen  mit  Zweidrittel-Mehrheit  ge- 
faßten Beschluß  deklariert,  so  wird  die  Ange- 
legenheit durch  den  Vorsitzenden  des  Staats- 
rates zur  A.H.Entscheidung  gebracht. 

Dieser  Passus  muß  in  praxi  entweder  ein  „Begraben" 
der  ungenügenden  Interpellationserledigung  zur  Folge  haben, 
oder,  falls  die  Krone  sich  der  Angelegenheit  annimmt, 
wird  der  Monarch  leicht  in  den  politischen  Kampf  gezogen. 
Keineswegs  scheint  die  Formulierung  politisch  klug  oder 
glücklich. 

Allgemein  sind  die  Bestimmungen  über  das  Interpel- 
lationsrecht in  §  66,  Kap.  IV  der  Staatsgrundgesetze  vom 
24.  April  1906  (russischen  Datums)  gehalten*.  Sie  regeln 
die  Materie  auch  für  den  Staatsrat.  Soweit  sie  hier  nieder- 
gelegt sind,  können  sie  nur  auf  Initiative  des  Zaren  abge- 
ändert werden,  da  bezüglich  Verfassungsgesetzen  nur  ihm 
die  Initiative  zusteht. 


^  Abgedruckt  (russisch)   in    der  Sammlung   der  Gesetze    und  Ver- 
ordnungen der  Regierung;  herausgegeben  vom  Regierungssenat. 


Staats- 

und 

völkerrechtliche  Abhandlungen. 

Begründet 
Dr.  Oeorg  JelUnek  und  Dr.  Oeoi«  Heyer, 

herausgegeben 


Dr.  Georg  Jellinek  und  Dr.  Gerhard  Änschütz, 

PrDfessoiCD  der  B«chle  in  Haidalb«g. 


VI.    8.    Die  GsBellttchafta-  und  Staatslehre  der  Physiokraten. 
Von  Benedikt  GHntzberg. 


sm, 


Leipzig, 

Verlag  von  Duncker  &  Humblot. 

1907. 


Die 


Gesellschafts-  und  Staatslehre 
der  Physiokraten. 


Benedikt  GOntzberg;. 


Verlag  von  Duncker  &  Humblot 
1907. 


Alle  Reehte  yorbehalteB. 


Pierersche  Hofbuchdmekerei  Stephan  Geibel  k  Co.,  Altenbnrg. 


Meinen  Eltern. 


Vorwort. 


Die  vorliegende  Schrift  behandelt  den  Physiokratismus 
von  einem  bis  jetzt  noch  wenig  beachteten  Standpunkt  und 
beansprucht  somit,  eine  der  noch  zahlreichen  Lücken  aus- 
zufüllen,  die  die  Geschichte  der  politischen  und  sozialen 
Ideen  aufzuweisen  hat 

Die  Arbeit  ist  im  Seminar  des  Herrn  Geheimen  Hof- 
rats Georg  Jellinek  entstanden,  dessen  mannigfachen  geistigen 
Anregungen  der  Verfasser  als  Hörer  und  Schüler  in  seinem 
Wissen  und  Auffassen  vieles  zu  verdanken  hat. 

Besondem  Dank  schuldet  Verfasser  Herrn  Prof.  Jellinek 
für  die  Aufnahme  dieser  Arbeit  in  seine  Staats-  und  völker- 
rechtlichen Abhandlungen. 


Inhalt. 


S«it« 
Einleitung.    Die  bisherige   literarische  Behandlung  der  sozialen 

und  politischen  Ideen  der  Phjiiokraten  und  der  Pkn  der  vor- 

liegeadea  Arbeit | 

Erstes    KapiteL     Die   philot<^pbischen  Gmndlagem  des  Phjsio- 

kratismiis 7 

I.   Die  Gmndsüge  der  theoretischen  Philosophie  Qnesnaj^s« 

seine  Erkenntnislehre 9 

U.   Die  Moralphilosophie  Quesnay^s  und  seiner  Schule     .   .       16 
ni.    Die  Quelle  der  Quesnay 'sehen  Moralphilosophie  —  Male- 
branche         24 

Zweites  Kapitel.     Die  Sozialphiloiophie  der  Physiokraten  und 

die  Methode  ihrer  „neuen  Wissenschaft'' 32 

Drittes  Kapitel.    Die  Lehre  von  der  Gesellschaft  bei  den  Physio- 
kraten       41 

I.   Die  Gesellschaft  als  natumotwendige  Erscheinung.    Staat 

und  Gesellschaft 41 

II.    Der  Entwicklungsgedanke  im   Physiokratismus  und  die 

soziale  Struktur  der  „soci^t^  r^guliire'' 49 

Viertes  Kapitel.    Die  Lehre  vom  Rechte  bei  den  Physiokraten.      57 
Fünftes  Kapitel.    Der  Staat  und  seine  Au%abe  in  der  physio- 

kratischen  Lehre 66 

I.   Der  Staat    Die  Vertragsidee  bei  den  Physiokraten    .   .      66 
II.    Die    Staatsgewalt,    ihre   Funktionen,    ihre    „physische^ 

Unterlage 70 

III.   Die  Au%abe  des  Staates :  die  Sicherheit  und  die  ilerbei- 

führung  des  „ordre  naturel'' 75 

Sechstes  Kapitel.     Die  Politik  der  Physiokraten  in  der  ersten 

Periode  ihrer  Entwicklung 89 

I.    Die  Ausgangspunkte  der  physiokratischen  Politik  und  ihr 
revolutionärer  Charakter 89 


XII  VI  3 

Seite 
IL    Die  Kritik  der  verschiedenen  Staatsformen  und  die  Lehre 

von  dem  „despotisme  l^gal"  und  der   „monarchie  6cono- 

mique" 95 

III.    Fortsetzung    der  Lehre   von   der  monarchischen   Crewalt 

und  der  sie  einschränkenden  Momente:  die  Hervorhebung 

der   öffentlichen  Meinung  und  der  Übergang  der  phjsio- 

kratischen  Politik  in  die  zweite  Periode  ihrer  Entwicklung     107 

Siebentes  Kapitel.    Die  zweite  radikalere  Periode  in  der  Politik 

der  Physiokraten 113 

I.    Die  inneren,  in  der  Lehre  beruhenden,  und  die  äußeren 

Gründe  des  Umschwungs 113 

II.  Der  Munizipalitätenentwurf  als  das  Dokument  dieser 
Periode:  sein  Inhalt  und  die  in  ihm  enthaltenen  Ten- 
denzen      118 

III.    Turgot's  Sonderstellung.    Der  Marquis  Mirabeau.    Schluß     127 
Achtes  Kapitel.    Die  historische  Bedeutung  der  behandelten  Seite 
des  Physiokratismus  für  die  Geschichte  der  sozialen  und  poli- 
tischen Ideen  und  für  die  vorrevolutionäre  politische  Bewegung 
in  Frankreich 185 


Yerzeichnis 
der  benatzten  physiokratischen  Literatur. 


Fr.   Quesnay,   Oeuvres  6conomiques  et  philosophiques  de  F.  Qaesnaj, 

fondateur  du  Systeme  physiocratique,   publikes  avec  une  introdaction 

et  des  uotes  par  Auguste  Oncken,  Francfort  s/M.  et  Paris,  1888; 
derselbe,  Fragmente  aus  der  Abhandlung  ,,Hommes'',    mitgeteilt  von  St. 

Bauer  in  Conrads  Jahrbüchern   für  Nationalökonomie  und  Statistik, 

N.  F.,  Bd.  II,  Zur  Entstehung  der  Physiokratie; 
derselbe,   Brief  an  den  Intendanten  von  Soisson,   mitgeteilt  von  Ottomar 

Thiele  in  der  Vierteljahrschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte, 

1906,  Bd.  IV,  S.  644—652. 
Marquis  de  Mirabeau^    Theorie  de  l'impdt,  1760. 
derselbe,  Philosophie  rurale,  1763,  3  Bde.; 
derselbe,  Lettres  sur  la  l^gislation  ou  Pordre  social,  d^prav6,  r^tabli  et 

perp^tu6  par  L.  D.  M.,  Beme  1775,  3  Bde; 
derselbe,  Les  ^conomiques,  Amsterdam,  1769,  4  Bde.; 
derselbe,  La  science  ou  les  droits  et  les  devoirs  de  Thomme,  1774; 
derselbe,   Education  civile  d^un   prince  par  L.  D.  M.,  k  Durlach  chez 

.    Müller,  1788; 
derselbe,  Briefvrechsel: 

a)  an  seinen  Bruder,  den  bailli,  mitgeteilt  (in  Auszügen)  von  L.  de 
Lom^nie,  Les  Mirabeau,  t.  II; 

b)  an  den  Marquis  Longo  —  im  Anhang  des  dritten  Bandes  der 
„M^moires  biographiques ,  litt^raires  et  politiques  de  Mirabeau 
^rits  par  lui-m6me,  par  son  p^re,  son  oncle  et  son  filH 
adoptif; 


1  In  das  Verzeichnis  sind  die  Torphysiokratischen  Sohriften  Mirabeau's 
—  der  nAmi  des  hommes"  und  der  „Preciii  de  rorffanisation  ou  memoire  tor 
les  Etat«  provinciauz**  —  nicht  aufgenommen,  wenn  me  auch  in  der  vorliegenden 
Arbeit  in  Betracht  gezogen  werden  mUssen,  besonders  die  zweite  der  genannten 
Schriften. 


XIV  VI  3 

c)  an  Charles  de  Butr6,  mitgeteilt  (in  Auszügen)  von  Rodolphe  Beuss, 
Un  physiocrate  tourang^au  en  Alsace  et  dans  le  Margraviat  de 
Bade,   1887; 

d)  an  Karl  Friedrich  von  Baden  —  in  dessen  Briefw^echsel  mit 
Mirabeau  und  Dupont,  herausg.  von  Karl  Knies,  1892,  Bd.  I. 

Le-Mercier  de  la  Rivi^re.    LWdre  naturel  et  essentiel  des  soci^t^s 
politiques,  1767; 

derselbe,  L^int^ret  g^n^ral  de  T^tat  ou  la  libert^  du  commerce  des  bl6s 
(eine  Streitschrift  geg^n  Galiani),  1770; 

derselbe,  Memoire  sur  rinstraotkn  publique,  in  den  Nouvelles  Eph^m^rides 
Economiques  vom  Jahre  1775,  Heft  IX  und  X. 

Dupont  de  Nemours.   Discours  de  l'^diteur  im  Sammelwerk  —  Phjsio- 
cratie  ou  Constitution  naturelle  du  gouvemement  le  plus  avantageux- 
au  genre  humain ,  publik  par  Du  Pont,  Tverdon  1768 ,  t.  I ;  daselbst 
t.  ÜI  —  De  l'origine  et  des  progr^s  d'une  science  nouvelle; 

derselbe,  Table  raisomi^  des  principee  de  T^conomie  politique«  1773; 

derselbe,   sahireiche   Abhandluiigen   in   der    Zeitschrift   EphSm^rides   du 
cito^ren. 

derselbe,  Briefwechsel: 

a)  an  L.  B.  Say  —  in  E.  Daire's  Ausgabe  der  Phjsiokraten ,  1846, 
t.  I; 

b)  an  Turgot  (in  Auszügen),  mitgeteilt  von  Schelle,  Dupont  de  Ne- 
mours et  r^cole  physiocratique,  1888  (daselbst  auch  Auszüge  aus 
Dupont^s  Reden  während  seiner  parlamentarischen  Tätigkeit); 

c)  an  Karl  Friedrich  von  Baden  und  an  den  Erbprinzen  Karl  Ludwig 
in  der  schon  genannten  Knies^schen  Ausgabe  des  Briefwechsels 
des  Markgrafen  Karl  Friedrich,  Bd.  I  und  II. 

d)  an  den  Baron  Edelsheim,  in  der  Politischen  Korrespondenz  Carl 
Friedrichs  von  Baden,  bearbeitet  von  B.  Erdmannsdörffer ,  1888, 
Bd.  I. 

Abb^    Baudeau.      Introduction    k   la    philosophie    ^onomique    in    der 
Daire^schen  Ausgabe  der  Physiokraten,  t.  II; 

derselbe,  verschiedene  Abhandtungen  in  den  Eph^m^rides  du  citoyen; 

derselbe,  Nouveauz  ^Uments  du  commerce,  Discours  pr^liminaire  zu  Bd.  I 
der  Abteilung  „Commerce^  in  der  Encyclop^die  m^thodique,  Bd.  78. 

Turgot.     Oeuvres,  nouvelle  Edition  par  Eugene  Daire,  1844,  t.  I — II; 

derselbe,  Briefwechsel  mit  Condorcet: 

a)  Charles  Henry,  Correspondanee  in^dite  de  Condorcet  et  de  Turgot; 

b)  in  Dupont's,  an  den  Erbprinzen  Karl  Ludwig  gerichteten  Abschrift, 
in  der  E[nies' sehen  Ausgabe  des  Briefwechsels  des  Markgrafen  Karl 
Friedrich,  Bd.  II,  S.  282—261 ; 


VI  3  XV 

c)   in  den  Letters  of  eminent  persona  addressed  to  D.  Home,  Edin- 
burgh and  London,  1894^. 
Le-Trosne.    Recueil  de  plasieurs  morceaux  ^conomiques,  1788; 
derselbe.  De  Tordre  social,  1777. 
derselbe,  De  Tadministration  provinciale  et  de  la  röfonne  de  Timpdt  t.  1, 

livre  V;  t.  II,     Dissertation  sur  la  feadalit^. 
Die  Zeitschrift  Ephem^rides  du  citoyen,  Jahrgänge  1767 — 1770. 

>  Der  Briefwechsel  der  Physiokraten ,  besonders  Turgot's,  Mirabeau's  und 
Diipont's,  ist  in  verschiedenen  Werken  und  Zeitschriften  zerstreut  abgedruckt. 
Wir  haben  in  das  Verzeichnis  nur  dasjenige  aufgenommen,  was  uns  ftlr  unser 
Thema  von  Wert  erschien. 


Einleitung. 


I 


Das  Interesse  für  die  phjaiokratische  Doktrin  ist  erst 
vor  verhältnismäßig  wenigen  Jahren  wach  geworden. 

Ein  ganzes  Jahrhundert  lang  wurde  sie  geringschätzig 
behandelt,  und  wenn  man  es  für  geboten  hielt,  bei  einer 
kritischen  Übersicht  der  nationalökonomischen  Lehren,  zwar 
wohlwollend,  aber  doch  herablassend,  über  die  Phantasien 
der  „Sekte"  kurz  hinwegzugehen,  so  war  von  ihrer  Sozial- 
lehre, mit  wenigen  Ausnahmen,  oder  gar  von  ihrer  Politik, 
fast  überhaupt  nicht  die  Rede.  Auch  die  Neuausgabe  ihrer 
Hauptwerke  in  den  vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts von  Engine  Daire  und  dessen  Schrift'  über  die 
Physiokraten  haben  wenig  zur  Hebung  des  Ansehens  ihrer 
politischen  und  sozialen  Lehren  bi.' iget  ragen. 

Bekanntlich  hat  sich  mit  den  Physiokraten  besonders 
liebevoll  Karl  Marx^  beschäftigt;  er  bat  auch  die  beste 
Erklärung  des  Tableau  ^onomique  gegeben  und  nicht  nur 
die  Genialität  seines  Autors  gepriesen,  sondern  sich  auch 
nicht  gescheut,  ein  anerkennendes  Verständnis  fUr  die  über- 
triebenen   LobsprUche    des   älteren    Mirabeau    zu   zeigend 

'  Zuerät  im  Joamal  des  läcouomistes  Dd.  X.VII  encbienen  und 
dann,  mit  wenigun  Abäuderungen,  als  Jutroductiun  tni  ersten  Baude  der 
im  Texte  an^liihrten  Ausgabe  wieder  abt^edruckt. 

'  Wozu  nähere  Beweise  der  erste  Band  der  von  Kauti)k}>  aus 
ManeuB  NaeLlsB  herauBgegebeuen  Tbuorion  über  den  Mehrwert,  1905, 
iJBd.  I  lieFem.  ^  Außerdem  das  von  Man  herrührende  10.  Kapitel  im 
L  IL  Abschnitt  des  Engels'aclien  An(i-DQhring. 

■■  8.  Karl  Marx,  Theorien  Qber  den  Mehrwert,  S.  92. 


«Olkan 


ichtl.  J 


.  Via. 


-  rjnni 


1 


2  VI  3 

Das  alles  galt  aber  nur  für  die  nationalökonomische  Theorie 
(speziell  für  die  Lehre  vom  produit  net  als  Mehrwert) ;  von 
der  Sozial-  und  Staatslehre  der  Physiokraten  war  aber  bei 
Marx  kaum  die  Rede. 

Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  hat,  Hand  in  Hand 
mit  den  erweiterten  Untersuchungen  zur  Geschichte  der 
Nationalökonomie,  auch  die  uns  hier  interessierende  Seite  des 
Physiokratismus  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gelenkt. 
Neben  August  Onckens  zahlreichen  Schriften  *  ist  die  Arbeit 
Hasbachs  *^  hervorzuheben,  die  die  allgemeinen  Grundlagen 
der  physiokratischen  Lehre  im  Zusammenhang  mit  der  Ge- 
schichte der  Naturrechtstheorien  in  ihrer  Bedeutung  für 
die  Entstehung  der  Nationalökonomie  behandelt.  Eine 
zusammenfassende  Darstellung  seiner  Soziallehre  hat  dann 
der  Physiokratismus  in  neuerer  Zeit  in  der  französischen 
Literatur  in  allgemeinen  Werken  und  in  speziellen  Mono- 
graphien über  einzelne  Physiokraten  gefunden*. 


*  Die  Kapitel  über  die  Physiokraten  in  den  zahlreichen  deutschen 
Qeschichteu  der  Nationalökonomie  und  der  Staatswissenschaften  treten 
ihrer  Bedeutung  nach  hinter  Onckens  Schriften  zurück.  Von  den  älteren 
französischen  Werken  ist  besonders  Blancqui's  Geschichte  der  National- 
ökonomie zu  nennen. 

^  W.  Hasbach.  Die  allgemeinen  philosophischen  Grundlagen  der 
von  Fran^ois  Quesnay  und  Adam  Smith  begründeten  politischen  Ökonomie, 
Schmollers  Forschungen,  Bd.  X  2  (im  folgenden  kurz  —  Hasbach  — 
zitiert). 

**  Besonders  hervorzuheben  sind  folgende  Werke :  Espinas,  Histoire 
des  doctrines  ^conomiques,  1902.  (Das  ebenso  betitelte  Buch  «von 
R  am  band  ist  von  geringer  Bedeutung).  H.  D^nis.  Histoire  des 
syst^mes  ^conomiques  et  socialistes,  1904.  B  o  n  a  r ,  Philosophy  and  political 
Economy,  1896.  M.  Kowalewski  (aus  dem  Russischen  übersetzt^  Les 
origines  de  la  d^mocratie  contemporaine,  Bd.  I,  Abt.  EL.  A.  Lichten- 
berger, Le  socialisme  au  18  i^me  si^cle,  Ch.  X.  Schelle,  Dupont  de 
Nemours  et  T^cole  physiocratique ,  Paris  1888.  Henri  Ripert,  Le 
Marquis  de  Mirabeau  (L'Ami  des  hommes).  Ses  th^ories  politiques  et 
sociales.  Th^se.  Paris  1901.  —  Versuche  über  die  Sozial philosophie  der 
Physiokraten  enthalten  neben  der  Daire'schen  Schrift  auch  zwei  ältere 
französiche  Abhandlungen  im  Journal  des  Economistes:  Passy,  De  T^cole 
des  physiocrates  (Bd.  XVII)  und  Baudrillart,  La  philosophie  des 
physiocrates  (Bd.  XXIX);  s.  auch  des  letzteren  Abhandlung  „Quesnay, 
du  droit  naturel'^  im  I.  Bd.  seiner  Etudes  de  philosophie  morale  et 
d'dconomie  politique.  —  Von  den  älteren  französischen  Werken  über  die 
Geschichte  der  sozialen  Theorien  war  mir  das  Werk  von  Bar ni,  ebenso 


I 


[VI  3  3 

Weniger  wurde  die  Politik  der  Phyaiokrateii  beliandelt; 
meistena  beachät'tigen  sich  mit  ihr  nur  allgemeine  historische 
Werke:  so,  um  die  bedeutendaten  zu  nennen,  schon  Louis 
Blanc  in  der  Geschichte  der  französischen  Revolution,  dann 
besonders  Tocqueville ' ;  zuletzt  auch  Adalbert  Wahl  in  eeiuen 
verschiedenen  Schriften.  Schließlich  ist  der  Physiokratis- 
mus  neuerdings  auch  in  den  Streit  über  den  Ursprung  der 
Erklärung  der  Menschenrechte  hineingezogen  worden". 

Im  allgemeinen  hat  sich  das  Interesse  für  die  sozialen 
und  politischen  Ideen  der  Physiokralen  derart  gesteigert, 
daB  vor  kurzem  eine  Stimme  laut  werden  konnte,  die  den 
Mangel  der  Behandlung  dos  Phjsiokratismus  in  einer  all- 
gemeinen Geschichte  der  Staats  theo  rien  für  eine  nicht  un- 
wesentliche Lücke  erklärte".  Dieser  Mangel  mag  nun  den 
in  der  vorliegenden  Arbeit  enthaltenen  Versuch  rechtfertigen. 

Unsere  Darstellung  wird  mit  den  allgemeinen  philo- 
'Aopbiachen  Grundlagen  des  Physiokratismus  und  den  Grund- 
seiner Sozialphilosophie  beginnen,  um  nach  Fest- 
itlung  der  philosophischen  Tendenzen,  in  deren  Rahmen 
sich  bewegt,  an  die  Lehre  von  der  Gesellschaft  und  vom 
ichte  anzuknüpfen.  Darauf  wird  dann  die  Lehre  vom 
Staate  und  der  Politik  folgen.  Aufgrund  dieser  Erörterungen 
wird  es  am  Schlüsse  auch  möglich  sein,  ein  Urteil  Über  die 
historische  Bedeutung  der  in  dieser  Arbeit  behandelten 
Seite  des  Physiokratismus  zu  gewinnen. 

)   dns  Hiitii  dos  zum  PhjBiokralismuB  »ich  bekeiiDuudeu  DutcDs,  La 
Ulosuphie  de  l'eooiioinie  politique  1837  aiizugäiig:liah. 

^  Im  „Ancien  regime'',  im  Kapitel:  Comment  lea  ITrsnvais  ont  voulu 
..  B  riformes  avitnt  de  vouloir  des  libert^s;  dnoD  Bpoziell  über  den  Turgot' 
^^npont'when  HuniEipalititenentwurf  in  dea  MMHnges  et  fragmentB 
plüitoriqne».  Taine  bebandelt  die  Phjsiokrnteti  nirhl  besondera,  —  er 
itBt  tie  im  all^mi^lneu  „■'sprit  claisique"  anfgeheu;  vgl.  Bein  „Ancien 
rfiKime".  livre  trniiiime.  —  Kura  bebandelt,  vom  Standpnnlite  der  Oe- 
•obiokle  der  politiBvbtiii  Ideen,  iit  auch  das  Hauptwerk  des  Ph/iiolcralan 
Iie-Mercier  hei  Jauel.  Ilistoire  de  ta  science  politique,  1.  U.  Ob.  XI. 
*  Mareseei,  Les  originixi  de  la  d^claration  dea  droits  de  rhotume 
i9.     Paris  l'.m. 

'  Biermann  —  gelegeatlich  einer  Besprechung  der  , Geschichte 
Ir  Staatstheoriea"  ron  Qumploivics  in  der  MQncheDer  Allgemeinen  Zeitung, 
"',  Beilage  vom  SQ.  Mai. 

!• 


4  VIS 

Bei  den  folgenden  Ausführungen  wird  uns  der  Physio- 
kratismus  nur  in  seiner  französischen  Erscheinungsform 
interessieren  und  die  Darstellung  wird  sich  hauptsächlich 
auf  die  ihn  als  Ganzes  charakterisierenden  allgemeinen 
Gedankengänge  beziehen,  so  daß  nur  hier  und  da  auf  die 
wichtigsten  Abweichungen  einzelner  Physiokraten  hingewiesen 
werden  soll.  Diese  Einheitlichkeit  wird  aber  bei  der  Be- 
handlung der  eigentlich  politischen  Ideen  nicht  gewahrt 
werden  können :  hier  ist  vielmehr  der  Physiokratismus,  gemäß 
der  Entwicklung,  die  er  durchgemacht  hat,  in  zwei  Perio- 
den einzuteilen. 

In  der  ersten  Periode,  zu  der  die  Werke  von  Quesnay, 
Le-Mercier,  Mirabeau  des  Alteren  und  teilweise  von  Baudeau, 
sowie  die  ersten  Schriftenvon  Dupont  (später  de  Nemours)  ge- 
hören, ist  das  Hauptgewicht  auf  die  rein  ökonomischen,  wirt- 
schaftspolitischen und  naturrechtlichen  Fragen  gelegt  (die 
Lehre  vom  „ordre  naturel" !),  wobei  das  praktisch-politische 
Problem  kaum  gestreift  und  nur  als  nebensächlich  betrachtet 
wird.  Wohl  beschäftigen  sich  die  Physiokraten  schon  hier  mit 
der  besten  Form  der  Regierung,  wofür  ja  ihr  in  dieser  Hin- 
sicht bedeutendstes  Werk,  das  Buch  von  Le-Mercier  ^^,  ge- 
nügenden Beweis  liefert  Nur  schweben  die  hier  vor- 
getragenen Ideen  noch  in  den  fernsten  Gebieten  des  „ordre 
naturel";  die  Physiokraten  suchen  die  allgemeinsten  Prin- 
zipien festzustellen,  ohne  sich  über  die  Einzelheiten  und  die 
praktische  Durchführung  zu  kümmern.  Von  den  Höhen 
rein  naturrechtlicher  Postulate  haben  sie  sich  zu  den 
niederen  Regionen  praktisch-politischer  Sätze  noch  nicht 
herablassen  können.  So  ist,  im  Zusammenhang  mit  den 
legitimistischen  Tendenzen  der  ersten  Physiokraten,  die 
von  den  Zeitgenossen  so  sehr  mißverstandene  und  viel  ver^ 
höhnte  Lehre  vom  „despotisme  l^gaP  entstanden,   die  den 


*^  Le-Mercier  de  la  Rivi^re.  L'ordre  natarel  et  essentiel  des 
soci^t^s  politiqaes.  —  Im  folgenden  kurz  —  Le-Mercier  —  zitiert  (nach 
der  in  4"  Ausgabe  vom  Jahre  1767). 


Ü 


VI  3  5 

«igentlich    revolutionären    Keru,   der   dem  Fliysiokratiämus 
BU  Grunde  lag,  fast  vollständig  verhüllte. 

Diese  Periode   hat  aber   nicht  lange  anhalten  können; 
schon   am   Ende   der   Regierung  Ludwigs  XV,   Ist   ein   ge- 
wisser Umschwung  eingetreten.    Unter  dem  Einfluß  Turgot's 
und     hauptaäclilich     unter     dem     Drucke     der     damaligen 
politischen  Verhältnisse,  die  eine  Stimmung  erzeugten,  welcher 
sich  auch  die  Geraäßigsten  nicht  entziehen  konnten,  haben 
sich   auch   die  Physiokraten   mehr   der   praktischen  Politik 
augewendet:    da    galt    es    unter   Festhaltung   der   früheren 
[«Ugemeinen  Prinzipien ,    besonders   der   der   monarchischen 
taatsform .    aber   unter   allmählichem    Verlassen   der    Idee 
despotisme  lögal",    aus  den   natu r rechtlichen   Grund- 
radikalere   Konsequenzen    zu   ziehen.     Dies    ist    nun 
iurch  Turgot,  Dupont  und  Le-Trosne  geschehen.    Aus  be- 
facheidenen  Anfängen  entwickelt  sich  hier  der  Pliysiokratis- 
us   zu   einem    immer   entschiedeneren ,   wenn   auch  etwas 
[verhüllten  Radikalismus,   der   schließlich  über  den  Physio- 
selbst    hinausführt,    was    schon,    wie    wir    sehen 
erden,  bei  Turgot,  der  immer  als  strenger  Monarchist  ge- 
ilten  hat,   deutlich  hervortritt.     Diese  Entwicklung  greift 
iber   noch    über  Turgot   hinaus   und   zieht  in  ihren  Strom 
luch  Condorcet  bis  zum  Jahre  89  hinein". 

Das  ist  die  zweite  Periode  in  der  Entwicklung  des 
'hysiokratismus,  wo  die  politische  Doktrin  nicht  melir 
ipezitisch  physiok ratischen  Charakters  bleibt,  wie  am  An- 
"mg,  aber  doch  noch  von  phyaiokratischen  Gedanken  durch- 
drungen ist.  Sie  gehört  aber  auch  in  unsere  Darstellung 
hinein,  weil  die  immer  radikaler  werdenden  politischen  An- 
schauungen der  physiokratisch  gesinnten  Schriftsteller  als 
Konsequenzen  der  im  Physiokratismus  selbst  niedergelegten 
ivolutionftren    naturrechtlichen    Gedanken    zu    betrachten 


"  Übur  die  nicht  unweBButlicben  physiokratisclien  Elemente  in  den 
palitiichen  Anscbaaungen  Condorcet'a  vgl,  beaonder«  L.  Cahen,  Condorcet 
et  Ir  rovolutioQ  franfaiie,  erster  Teil,  Thise.     Paris  1W4. 


6  VI  3 

sind,  denen  nur  das  persönlich  revolutionäre  Temperament 
ihrer  Träger  gefehlt  hat. 

Dieses  alles  berechtigt  uns  auch  Turgot,  der  nicht 
nur  Physiokrat  war,  vollständig  in  unsere  Darstellung 
hineinzuziehen.  Nicht  als  Schüler,  als  treuer  Adept,  was 
er  durchaus  nicht  war,  sondern  grundsätzlich  und  ur- 
sprünglich hat  er  mit  dem  Physiokratismus  viel  Gemein- 
sames; daher  werden  auch  seine  Jugendschriften  in  Betracht 
gezogen  werden  müssen.  Besonders  deutlich  tritt  seine 
geistige  und  weltanschauungsmäßige  Verwandtschaft  mit 
dem  Gründer  der  „neuen  Wissenschaft**,  mit  Quesnay  selbst 
hervor,  und  zwar  speziell  in  bezug  auf  die  Stellung  zur 
Enzyklopädie  und  zum  Condillacismus.  Näheres  darüber 
soll  uns  die  Darstellung  der  allgemeinen  Grundlagen  des 
Physiokratismus  bieten. 


Erstes  Kapitel- 


Die  philosophischen  Ausgangspunkte  des  Pfaysiokratis- 
mus,  die  in  den  geistigen  Strömungen  des  Zeitalters  liegen, 
haben  wir  hauptsächlich  in  den  Schriften  des  Gründers  der 
Schule  zu  suchen. 

Fran9ois  Quesnay  hat,  wie  uus  seine  Biographen  be- 
richten ,  ^  noch  als  Student  in  Paris ,  neben  den  medizini- 
schen eifrig  philosophische  Studien  betrieben.  Zu  jener 
Zeit  —  und  noch  tief  bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein  — 
galt  als  offizielle  akademische  Doktrin  die  kartesische,  deren 
Vertreter  an  den  französischen  Hochschulen  mit  allen 
Kräften  für  ihre  Alleinherrschaft  kämpften.  Dieser  Kampf 
wurde  durch  die  im  18.  Jahrhundert  beginnende  starke 
Einwirkung  der  englischen  Denker  verschärft,  die  ihre 
Philosophie  mit  den  das  Zeitalter  besonders  interessierenden 
Erörterungen  über  soziale  und  politische  Fragen  zu  ver- 
einigen wußten^. 

Der  englische  Einfluß  zeigte  sich  vor  allen  Dingen  in 
den  Naturwissenschaften.  Es  war  hauptsächlich  Newton, 
dessen  Lehre,  dank  der  popularisierenden  Tätigkeit  Voltaire's 
siegreich   durch   das  Land   zog,   um  die  Unhaltbarkeit  der 


^  Physiocrates ,  6d.  Eugene  Daire,  Bd.  I,  Notice  sur  la  vie  et  les 
travauz  de  Fr.  Quesnay,  p.  6.  —  A.  Oncken,  Zur  Bio^aphie  des 
Stifters  der  Physiokratie ,  in  Kuno  Frankensteins  Vierteljahrschrift  fQr 
Staats-  und  Volkswirtschaft,  1894,  S.  409. 

^  Vgl.  Bouiller,  Histoire  de  la  philosophie  cart^sienne,  8  6d.| 
1868,  Bd.  n,  Ch.  XXIX— XXXI. 


8  VI  3 

Prinzipien  der  kartesischen  Naturwissenschaft  allen  einsichts- 
vollen Geistern  klar  zu  machen. 

Auf  dem  Gebiete  der  reinen  Philosophie  dagegen  war 
der  Siegeszug  der  englischen  Denker  nicht  von  gleichem 
Erfolg.  Trotz  eines  Condillac,  war  es  auch  in  der  zweiten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  der  alte  kartesische  Geist,  der 
in  mancher  Hinsicht  noch  das  Feld  behauptete,  auch  bei 
solchen  Denkern,  die  sich  von  ihm  befreit  zu  haben 
glaubten^.  Das  gilt  auch  für  die  Moralphilosophie,  in  der 
ja  gerade  die  Engländer  zu  jener  Zeit  viel  Anregendes  ge- 
leistet haben. 

Was  die  eigentlich  theoretischen  Probleme  betriflFt,  so 
begegnen  wir  bei  der  Behandlung  derselben  überall  den 
Locke'schen  Prinzipien  in  Verbindung  mit  einer  starken  An- 
feindung der  kartesischen  Überlieferungen,  die  sich  zu  einer 
allmählichen  Verwerfung  der  Metaphysik  und  zu  den  An- 
fängen einer  positivistischen  Philosophie  zuspitzt*,  ohne  in 
allen  Fällen  die  materialistische  Einseitigkeit  eines  Holbach 
anzunehmen.  Doch  ist  die  lange  kartesische  Schulung  nicht 
ohne  Wirkung  geblieben,  und  in  dieser  Periode  sind  Ver- 
suche gemacht  worden,  den  alten  Standpunkt  mit  neueren, 
auf  den  Resultaten  der  Naturkenntnis  und  der  eng- 
lischen Philosophie  beruhenden,  zu  vereinigen.  Zu  diesen  Ver- 
suchen die  Locke'sche  Sensationstheorie  mit  dem  karte- 
sischen Spiritualismus  in  Einklang  zu  bringen,  gehören  auch 
die  Versuche  Quesnay's  ^  und  Turgot's,  von  denen  der  erstere, 
wie  wir  sehen  werden,  dem  Alten  näher  steht,  weil  er  trotz 
seines  vom  exaktwissenschaftlichen  Geiste  gegen  die  Meta- 
physik genährten  Sträubens  sich  der  kartesischen  Frage 
und  Antwort  nach  dem  Rapport  zwischen  Seele  und  Körper 


8  Vgl.  Henri  Michel,  Vidie  de  l'^tat,  pp.  64-68. 

*  Vgl.  Georg  Misch  im  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 
Bd.  XIV,  Zur  Entstehung  des  französischen  Positi7i8mas,  besonders 
SS.  18-39. 

^  Vgl.  A.  Oncken  im  Handwörterbuch  der  Staats  Wissenschaften, 
2.  Auflage,  Bd.  VI,  S.  281;  Derselbe,  Geschichte  der  Nationalökonomie, 
1902,  SS.  Ui/by  397/8. 


I 


Vr3  9 

nicht  entziehen  konnte.  So  steht  Quesiiay,  noch  viel  mehr 
als  Turgot,  in  gescbichuphilosophiseher  Hinsicht  an  der 
Grenze  zwischen  der  traditionellen  französischen  Philosophie 
und  dem  neuen  philosophischen  Geist. 

Diese  philosophische  Stellung  ist  auch  für  das  uns 
speziell  interessierende  Thema  von  Bedeutung:  je  mehr  wir 
uns  im  folgenden  in  den  Gedankengängen  Quesnay's  orien- 
tieren, desto  klarer  wird  sie  zu  Tage  treten  und  desto  ver- 
ständlicher wird  uns  dadurch  die  Eigenart  seiner  sozialen 
und  politischen  Anschauungen  erscheinen ,  die  mit  ihm 
Tui^ot  geteilt  hat, 

Es  scheint  daher  geboten,  zum  Verständnis  der 
geistigen  Verwandtschaft  Quesnay's  und  Turgot's  womöglich 
auf  die  Übereinstimmung  der  beiden  Denker  hinzuweisen. 
Diese  Übereinstimmung  war  in  zwei  wichtigen  Fragen  vor- 
handen, die  auf  ihre  Stellung  in  der  Geschichte  der  franzü- 
sischen  Philosophie  hinweisen:  erstens,  in  der  Verwerfung 
der  metaphysischen  Konstruktionen  der  Kartesianer  und  in 
der  Annahme  der  Sensationstheorie ;  zweitens,  in  der  Er- 
kenntnis der  Einseitigkeit  der  von  Locke  ausgehenden 
Lehren, 

I. 
Der  Ausgangspunkt  der  Quesnay 'sehen  Betrachtungen 
ist  der  kartesische  Dualismus  zwischen  Materie  und  Geist, 
deren  unmittelbares  Aufeinander  wirken  für  uns  unbegreif- 
lich sei".  Die  Vereinigung  dieser  beiden  Substanzen  bildet 
daher  ein  Problem,  dessen  Lösung  mit  den  Mitteln  der 
natUrIluben  menschlichen  Erkenntnis  unmöglich  ist  Die 
Lösung,  die  Malebranche,  der  „große  Mann",  in  seiner 
Lebre  vom  „Schauen  in  Gott"  zu  geben  versucht  hat,  ist 
I  fruchtloses  Unternehmen,  denn  das  Prinzip  von  dem  er 
I  ausgeht,  meint  Quesnay,  ist  falsch:  die  Idee  der  unendlichen 


"  Oeuvre*    äcnnorniqueti    et    philosophique^    de    Fr.    Qnesnaj,    ii. 
l  A.  OncksD,   Ig88  (im   folgenden   kunc   —  Quexiui.T   —   Bitiert),   p.   791t; 
en  SpinoHu  McmiBinns  Innil^  de  substanoe),  daselbit  p.  T9T. 


10  VI  3 

Ausdehnung,  auf  der  er  das  ganze  System  aufbaut,  ist  eine 
intelligible,  also  eine  willkürliche,  weil  sie  auf  keine  wahre 
Ausdehnung  hinweist  und  daher  unfafibar,  unerkennbar 
(ineoneevable)  bleibt  ^. 

In  diesen  Auseinandersetzungen  tritt  schon  die  Ab- 
lehnung der  angeborenen  Ideen  hervor,  die  Quesnay  mit 
Nachdruck  in  seinem  späteren  Enzyklopädieartikel  „Eyi- 
dence''  mehrmals  wiederholt  hat 

Die  eben  genannte  und  wichtigste  philosophische  Schrift 
des  Vaters  der  Physiokratie  enthält  auch  die  Grundlagen 
seiner  eigenen  Erkenntnislehre,  die  völlig  an  die  Sensations- 
theorie Locke's  sich  anschließt  und  inhaltlich  an  die  analogen 
Ausführungen  Turgot's  erinnert®. 

Quesnay  löst  alle  psychischen  Zustände  in  Sensationen 
auf,  in  denen  er  die  Grundlage  (fondement)  aller  unserer 
Kenntnisse  und  das  Prinzip  ihrer  Gewißheit  (certitude)  er- 
blickt. Nicht  nur  die  angeborenen  und  allgemeinen  Ideen, 
sondern  auch  die  Urteile  führt  er  auf  Sensationen  zurück,  auf 
die  „radikale**  Eigenschaft  des  Menschen  als  eines  „Stre  passif" 
Eindrücke  zu  empfinden.  Dieselben  Eigenschaften  schreibt 
er  auch  den  Tieren  zu  und  entzieht  sich  konsequenter  Weise 
nicht  dem  Schlüsse,  daß  auch  Tiere  abstrakte  Ideen 
haben.  Schließlich  führt  er  aus,  daß  der  Mensch  nicht 
nur  in  seinen  Urteilen,  sondern  auch  in  seinem  von  Schmerz- 
und  Lustgefühlen  bestimmten  Wollen  von  den  Sensationen 
geleitet  wird.  — 

Verfolgen  wir  jedoch  weiter  die  theoretischen  Aus- 
führungen Quesnay 's,  so  ergibt  sich,  daß  er  in  derselben 
Abhandlung  „Evidence"  die  früher  (im  Essay  physique)  um- 
gangene Frage   nach   der  Einwirkung  der  Materie  auf  den 


"^  Quesnay,  Auszug  aus  dem  III.  Bande  des  „Essai  phjsiqae  sur 
r^conomie  animale",  p.  745/6,  Note,  Abs.  4. 

^  Für  das  im  Texte  folgende  s.  Quesnay,  Art.  Evidence,  besonders: 
p.  765  und  §§  1—3,  15  (p.  769),  26,  'M,  38  (p.  780),  39  (p.  782).  Dann 
Turgot,  Oeuvres,  6d.  E.  Daire  (im  folgenden  kurz  —  Turgot  —  zitiertX 
Bd.  II,  Enzyclopädieartikel  „Existence  ,  pp.  756—770.  Vgl.  über  Turgot 
auch  die  erwähnte  Abhandlung  von  G.  Misch,  S.  25/6. 


VI  3 


11 


Geeist,  oder  nauh  der  ersten  Ursache  unserer  Em  ptin düngen, 
dennoch  aufwirft.  Er  kommt  also  auf  den  scheinbar  (il)er- 
wundenen  kartesischen  Standpunkt  zurück,  und  auch  seine 
Antwort  auf  die  traditionelle  Frage  lautet,  daß  diese  , erste 
Ursache"  —  und  zugleich  das  aktive  Prinzip  in  uns  — 
Gott  sei".  Eine  nähere  Erklärung  dieser  ^Aktion"  Gottes 
muß  er  sich  freilich  versagen. 

Durch  die  Rückkehr  in  verlaBsene  Bahnen  wird  die 
Körperwelt  in  ihrem  Rapport  zu  den  seelischen  Zustünden 
zu  einer  Ursache  anderer  Art,  als  es  nach  der  öenaations- 
theorie  anzunehmen  war,  herabgedriiekt:  sie  bildet  von  nun 
ab,  im  Gegensatz  zur  „cause  primitive"  —  der  Gottheit, 
bloß  die  „cause  conditionelle"  oder  „instrumentale"  '".  So  ent- 
halten die  Gedankengänge  Quesnay's  im  Keime  die  Annahme 
zweier  Kausalreihen  in  unserer  Erkenntnistätigkeit:  die 
Quelle  der  einen  ist  die  Außenwelt,  der  anderen  —  die 
Innenwelt,  die  Vereinigung  unserer  Seele  mit  Gotl. 

Mit  diesen  Anschauungen  konnte  Quesnay  nicht  lange 
im  Fahrwasser  der  englischen  Philosophie  verbleiben  und 
erschöpft  er  daher  die  geistige  Tätigkeit  des  Menschen, 
weder  als  eines  erkennenden,  noch  als  eines  handelnden 
Wesens,  mit  dem,  was  er  von  Locke  gelernt  hat.  Der 
Mensch  ist  nicht  nur,  wie  alle  Tiere,  ein  passives  Wesen, 
denn  Gott  macht  ihn,  wie  schon  oben  angedeutet,  durch 
die  ihm  verliehene  Vernunft  auch  seiner  Aktivität  teil- 
haftig. Wohl  bleibt  der  Salz  besteben,  daß  ea  keine  Ideen 
gibt,  die  unabhilngig  von  den  von  der  Außenwelt  hervor- 
gerufenen Reizen  wären;  aber  durch  die  dem  Intellekt 
eigentümliche  Aktivität,  die  sich  in  der  Aufmerksam- 
keit äußert,  vermag  der  Mensch  in  den  Sensationen  vieles 


"  QnBsiiay,  Art.  Eviileace,  S§  50— .^3.  Tiirgot  umgeht  die  direkte 
Ffiaantwortuiig  diaaer  Frage.  G.  Miacb  fShrt  in  seiner  Untersuchung  aus, 
PfdaB  sie  tod  d'Alembert,  den  er  mit  Titrgot  als  Begränder  des  fmnxfisischcin 
IrVllSnonienaliBmus  hinstellt,  ausffihrlicher  berOhrt  and  in  konsequenter 
■'WeilereDtwicklnng  seines  Standpunktes  mit  einem  ignonunun  beantwortet 
*    •  •;  ».  Misch,  a.  ■.  O.  SB.  25—29. 

">  Qaemay,  Art.  Evidence,  §  50. 


12  vr3 

zu  entdecken,  was  ihm  sonst  unmöglich  wäre:  „c'est  par 
ces  exercises  qu'elle  se  procure  des  idäes  ou  des  pereeptions 
intellectuelles  et  qu^elle  n'est  pas  born^e  comme  Päme  sensitive 
des  betes"  ^^ 

Nähere  Ausführungen  darüber,  worin  die  Aktivität  des 
menschlichen  Geistes  bei  der  reinen  Erkenntnis  sich  äußert, 
finden  wir  bei  Quesnay  nicht.  Es  ist  aber  wohl  anzunehmen, 
daß  er  nicht  nur  etwa  die  Bildung  der  „v6rit6s  id^Ies^ 
(über  die  Beziehungen  der  Sensationen  untereinander)  im 
Auge  hat,  sondern  auch  die  der  „värit^s  räelles*^,  die  die 
Beziehungen  zwischen  den  Dingen  und  den  Sensationen 
betrefFen  und  deren  Inhalt  imser  eigentliches  Wissen  von 
der  Außenwelt  ausmacht*^.  Mit  Hilfe  der  formalen  Logik 
und  des  Syllogismus,  meint  Quesnay,  kann  man  die  Welt 
nicht  erkennen  lernen.  „Die  Kunst  der  wahren  Logik  besteht 
darin,  an  die  notwendigen  Sensationen  zu  erinnern,  die 
Aufmerksamkeit  zu  wecken  und  sie  zu  leiten,  um  in  den 
Sensationen  das  entdecken  zu  können,  was  man  darin  be- 
greifen will"^^.  Also  auch  hier,  bei  den  „vörit^s  reelles", 
ist  es  die  Aufmerksamkeit,  das  aktive  Prinzip,  das  die 
Erkenntnis  erst  möglich  macht. 


"  Quesnay,  p.  745,  Note,  auch  Art.  Evidence,  §  52.  —  Dieselbe 
Wendung  nehmen  auch  Turgot's  Ansichten  an;  vgl.  besonders  die  ein- 
leitenden Bemerkungen  zum  Art.  Existence,  Turgot,  II,  p.  757:  das,  was 
Quesnay  das  „aktive  Prinzip^  nennt,  heißt  bei  Turgot  das  Bewußtsein 
des  ..jlch"  (moij.  —  Dieser  Punkt  ist  von  G.  Misch  nicht  hervorgehoben, 
dagegen  ist  er  ausführlich,  aber  einseitig,  in  den  älteren  französischen 
Schriften  über  Turgot  von  Batbie,  Tissot  und  Mastrier  erörtert 
worden ;  ähnlich  auch  Baudrillart  in  der  ersten  Abhandlung  seiner  ,,£todes 
de  Philosophie  morale  et  d'^conomie  politique",  Bd.  I,  p.  10/11.  —  Wir 
betonen  an  dieser  Stelle  diese  Seite  in  den  philosophischen  Anschauungen 
Turgot's,  um  das  früher  Gesagte  über  seine  geistige  Verwandtschaft  mit 
Quesnay  und  beider  analoge  Stellung  in  der  Geschichte  der  fran- 
zösischen Philosophie  zu  rechtfertigen.  Die  Tatsache,  daß  Turgot  von 
metaphysischen  Erörtenmgen  im  kartesischen  Geiste  sich  fern  g^alten 
hat  und  daß  er  die  Locke'schen  Prinzipien  ausgeprägter  vertreten  und 
weitergebildet,  berechtigt  also  nicht  zu  der  oft  vorkommenden  Annahme, 
daß  er  in  seinen  philosophischen  Ausgangspunkten  von  Quesnay  voll- 
ständig divergiert. 

^'^  Quesnay,  Art.  Evidence,  §  87. 

13  Ibidem,  §§  20—22. 


VI  3 


13 


Das  Ergpbois  des  bisher  Gesagten  kann  nun  derart 
aufgefaßt  werden,  daß  die  Erkenntnietätigkeit  nach  Quesnay 
sowohl  durch  die  Sensationen  des  passiven  ,ctre  aensitif". 
wie  durch  dos  dem  Menschen  innewohnende  Prinzip  der 
Vernunft,  bedingt  ist.  Dementsprechend  kann  die  Richtig- 
keit unserer  Ideen  vor  allen  Dingen  nur  durch  ihre  Zer- 
legung und  ZurUckflihrung  auf  ursprüngliche  Sensationen 
bewiesen  werden.  Danach  lautet  auch  die  Ueünition 
des  Quesnay'schen  Kriteriums  der  Wahrheit  —  der  Evi- 
dence:  „Evidence,  une  certitude  k  laquelle  il  nous  est  ausai 
impossible  de  nous  refuser  qu'il  nou8  est  impossible 
d'ignorer  nos  aensationa  ac tuellea" '*. 

Es  ist  aber  daraus  nicht  zu  schließen,  daß  die  Wahr- 
heit sich  mit  derselben  physischen  Notwendigkeit  aufdrängt 
wie  die  Sensationen:  dieser  Annahme  widerspricht  ja  das 
aktive  Prinzip  unseres  Wesens,  die  freie  Intelligenz,  die  in 
une  tätig  ist,  die  „cause  puissante  et  directrice"  unseres 
ganzen  vernünftigen  Oedankenlebens.  Die  Sensationen 
bilden  daher  nur  die  physisch  notwendigen  Elemente  unserer 
Denk  tätigkeil,  und  nur  in  diesem  Sinne  sind  die  Ausdrücke 
der  Physiokraten  „övidemment  nÄcesBaire"  oder  „physi- 
quement  n^cessaire"  zu  verstehen  Oberall,  wo  sie  von 
menschlichen  Dingen  sprechen:  also  eine  pbysisch-de- 
terminierte,  eine  „passive"  Notwendigkeit  ist  trotz  des  so 
oft  gebrauchten  Wortes„  physiquement"  keinesfalls  gemeint. 
Wenn  von  einer  Notwendigkeit  hier  die  Rede  sein  soll,  so 
kann  das  nur  die  Notwendigkeit  der  Vernunft,  eine  logische 
Notwendigkeit  sein.  Die  Sensationen  als  solche,  sagt 
Quesnay,  sind  nur  die  Motive  der  Vernunfttätigkeit '*. 
Daher  aber  auch,  wo  sie  als  Grundlage  dienen,  und  nur 
,  da,  haben  wir  die  natürliche  Erkenntnis,  die  natürliche 
Evidenz;  wo  sie  fehlen,  da  herrscht  entweder  bloße  Will- 


'   [bidem,  pp.  7M,  780. 

1*  Ibidem,   p.  793  (Art.  Evidenoe,  §  56):   , 

itifs    QU  \ea   caiuea   dStermiiiaiitea  de   la  i 


t   de   1a  Yolonti 


14  VI  3 

kür,  oder  es  kommen  andere  Mittel  hinzu  —  der  Glaube 
(foi)  und  die  Offenbarung  (secours  surnaturel).  —  So 
mündet  aber  die  Erkenntnislehre  Quesnay's  in  ein  neues 
Gebiet  ein.  — 

Die  Vereinigung  mit  Gott,  der  „sagesse  supreme",  voll- 
zieht sich  nicht  nur  auf  dem  Wege  der  Vermittlung  durch  die 
Sinne,  sondern  auch  unmittelbar  durch  den  Glauben  (foi)^®.  — 
Das,  was  wir  mit  Hilfe  der  Sinneseindrticke  erkennen  und 
dessen  Kriterium  die  unmittelbare  Sicherheit  einer  aktuellen 
Sensation  bildet,  ist,  wie  schon  erörtert,  die  natürliche 
Evidenz.  Ihr  Bereich  ist  aber  beschränkt,  und  sie  ist  da- 
her ungenügend,  weil  unser  physisches  Wesen,  von  dem 
sie  abhängt,  beschränkt  ist.  Hier  setzt  eben  ergänzend  der 
Glaube  ein,  da  er  uns  das  erschließt,  was  für  die  natürliche 
Evidenz  unerklärlich,  unerkennbar  bleibt,  —  nämlich  die 
ethischen  Werte,  den  Unterschied  zwischen  dem  „bien 
moral"  und  dem  „mal  moral".  EJs  ist  dieselbe  „erste  Ur- 
sache" —  die  Gottheit,  die  bei  der  natürlichen  Erkenntnis 
wirkt,  welche  uns  auch  die  ethischen  Wahrheiten  offenbart. 
Sie  ist  hier  nur  auf  eine  andere  Weise  tätig:  „C'est  moins 
une  facult^  active  qu'une  lumifere  qui  4claire  la  voie  que 
nous  devons  suivre"  ^'. 

Doch  muß  dabei  bemerkt  werden,  daß  mit  der  Vor- 
stellung von  der  „foi"  als  einer  Erkenntnisquelle  nicht  die  gött- 
liche Offenbarung,  die  in  den  religiösen  Dogmen  ihren 
Ausdruck  gefunden  hat,  gemeint  ist,  denn  für  das  Religiöse 
hat  Quesnay  eine  andere  Bezeichnung:  er  nennt  es  die 
„lumieres  de  la  röv61ation"  im  Unterschiede  von  den  „lumi^res 
de  la  raison  ^^.  Bei  der  Frage  nach  der  Quelle  der  ethischen 
Werte  heißt  es  daher  nicht,  daß  Gott  uns  direkt  dieselben 
offenbart,  sondern  nur,  daß  dasjenige  geistige  Vermögen, 
welches  die  Erkenntnis  dieser  Werte  ermöglicht,  ein  Teil  der 


»6  Ibidem,  p.  764/5. 
**^  Ibidem,  Art.  Evidence,  §  56. 

*^  Vgl.   darüber  einen  Auszug  aus  dem  ^^Essai  physique**  über  die 
Unsterblichkeit  der  Seele,  Quesnay,  pp.  759—763. 


[  3 


15 


^'Weisheit  des  höchsten  Wesens  ist.  Man  ist  daher  zur  An- 
nahme berechtigt,  daß  es  Quesnay  mit  dem  Begriffe  der 
„foi"  hauptsachlich  darauf  ankam  zu  zeigen,  daß  die 
ethischen  Werte  eigentlich  nichts  anderes,  als  a  priori  uns 
zukommende,  aber  nicht  demonatri erbare  Maximen  sind, 
daß  ihre  Quelle  in  der  von  jeder  empirischen  Gegebenheit 
befreiten  Vernunft  zu  suchen  ist'*.  Hierdurch  wird  der 
Weg  zur  Kechtfertigung  des  deduktiven  Verfahrens  offen- 
gelegt und  ihm  eine  gleiche  Stellung  neben  der  Induktion, 
I  als  der  Grundlage  des  „natürlichen"  Erkennens,  eingeräumt. 
Fassen  wir  nun  das  bisher  Gesagte  zusammen,  ao  ergibt 
»ich  überall  bei  Quesnay  als  letztes  erklärendes  Prinzip 
Wäie  Gottheit,  die  im  Menschen  in  dreifacher  Weise  tätig  ist: 
psle  erste  Ursaclie  der  Empfindungen  (der  passiven  Sen- 
Mtionen^,  als  aktives  Prinzip  unseres  natürlichen  Erkennens 
B^nd  als  unmittelbare  auf  dem  Wege  des  Glaubens  wirkende 
Cinaicbt'".  So  steckt  im  Grunde  genommen  der  Vater  der 
'hysiokratie ,  trotz  seiner  positiv  -  wiBsenachaftlicheu  Ge- 
Bdnnung  und  trotz  der  Aufnahme  der  wichtigsten  den 
jsianlsmuH  bekämpfenden  Lehren,  mit  seinen  letzten 
Hieoretischen  Prinzipien  noch  tief  in  den  Schuhen  der  von 
Descartea  ausgehenden  philosophischen  Richtung.  Quesnay 
war  ein  metaphysisch  veranlagter,  nacli  den  letzten  Gründen 
grübelnder  Geist,  der  weder  mit  der  Oberflöchlichkeit  seines 
Zeitalters,  noch  mit  dem  zu  früh  einsetzenden  „ignoramua" 
eines  d'Alembert  siclj  befriedigen  konnte.  Wohl  wuSte 
auch  er  der  menschlichen  Vernunft  Grenzen  zu  ziehen;  er 

KBgt  es   aber  dennoch,   wenn   nicht  zu  erklären,   so  doch 
enigstens  anzudeuten,  wo  die  „letzte  Ursache"  zu  suchen 


DHgo^^ii  iist  X.  B-,  Locke  keiuu  Belbstevidente  ethiBclie  HaiimBIl 
lerkaunt,  sondern  sie  bloß  au»  der  Erfkhrung  oder  der  Offenbarung  ab- 
Kollen.  Vgl.  JodI,  Oefrliichte  der  Ethik,  ßd.  I.  S.  15!^. 
'"  Eine  «jntematitiche  Darstellung  der  dreifachen  Art,  in  der  die 
Gottheit  aU  .cause  primitive"  in  der  Itetäti^ung  der  raenschliohBH  Vbt' 
ntinft  erscheint,  ist  bei  Que«na7  nicht  vorhanden;  der  darauf  geriditats 
Oedankengang  Iftltt  sich  aber  ans  seinen  philosophischen  Sehriften,  trotx 
'  Widerspräche,  ermitl«l]i. 


manoher  Ünklarheilen  und  s 


16  VI  3 

ist.  Und  das  tut  er  in  einer  Weise  ^  die  in  ihm  einen 
Schüler  der  Kartesianer  erkennen  läßt.  Noch  deutlicher 
und  verständlicher  wird  das  uns  werden,  wenn  wir  die 
Prinzipien  seiner  praktischen  Philosophie  erörtern.  Dort 
sollen  wir  in  Quesnay  einen  Schüler  Malebranche's  kennen 
lernen. 

II. 

Die  Entwicklung  der  theoretischen  Probleme  führt 
Quesnay,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  zur  Erörterung  der 
Frage  nach  dem  Ursprung  der  ethischen  Werte  —  des 
„bien  moral^  und  des  „mal  moral".  Es  ist  uns  dabei  klar 
geworden,  daß  ihre  Quelle  im  Glauben,  einem  der  Evidenz 
beigeordneten  Kriterium  der  Gewißheit  zu  suchen  ist.  Was 
ethisch  gut  oder  böse  sei,  ist  daher  empirisch  nicht  ab- 
zuleiten; denn  es  ist  rein  induktiver  Natur  und  hat  seinen 
letzten  Grund  in  der  Vernunft  (intelligence). 

Nun  wissen  wir  aber  auch,  daß  unser  Willen  und 
unsere  Werturteile  von  Lust-  und  Schmerzgefühlen  bestimmt 
sind,  die  in  uns  die  Sensationen  auf  empirischen  Wege  her- 
vorrufen^^. So  entstehen  die  natürlichen  unser  Leben  ent- 
haltenden Triebe,  die  uns  das  „bien  physique"  vom  „mal 
physique"  zu  unterscheiden  lehren.  Diese  „physischen" 
unsere  Handlungen  bestimmenden  Werte  sind  also  in  ihrer 
Quelle  von  den  ethischen  verschieden.  Natur  und  Morali- 
tät  stehen  sich  auf  diese  Weise  ihrem  Ursprung  nach  in 
der  Quesnay'schen  Philosophie  gegenüber. 

Derselbe  Dualismus,  dem  wir  bei  den  erkenntnis- 
theoretischen Erörterungen  begegneten,  zieht  sich  also  auch 
durch  die  moralphilosophischen  Ansichten  Quesnay 's  hin- 
durch ^^.  Wie  bei  der  Erkenntnistätigkeit  von  zwei  Kausal- 
reihen, so  sind  wir  auch  in  unserem  Handeln  von  zwei 
Motivenreihen  bestimmt.  Erstens  sind  es  die  auf  empirischem 


"*  Quesnay,  Art.  Evidence,  §§  55—56. 

«2  S.   für  das  im  Text  folgende  Quesnay,  pp.  794—797,   747—758 
und  Note  auf  SS.  369/70. 


VI  3 


17 


Wege  entstandenen  Affekte  und  L^idenscliaften  {motifs 
senaitifs  et  affectifa),  die  unsere  Taten  stimulieren ;  zweitens 
sind  es  die  auf  Grund  freier  Überlegung  nufgestellten  Sätze 
(motifs  instruetifs),  die  entweder  als  objektive  Maximen  oder 
als  durch  die  Erziehung  gewonnene  subjektive  Zustände  in 
uns  tätig  sind  und  in  das  Walten  der  ^physischen"  Motive, 
wie  Quesnay  die  ersten  nennt,  mächtig  hineingreifen  und 
ihnen  Richtung  geben.  Der  „mechaniache"  Vorgang  in  der 
menachiichen  Seele  besteht  im  Kampfe  dieser  Motive,  wo- 
bei es  bei  den  erateren  —  den  „physischen"  —  die  Stärke 
dieses  oder  jenen  Motivs  iat,  die  über  den  Sieg  entscheidet.  — 
Quesnay  bezeichnet  diesen  Kampf  der  Affekte  ala  ,libertö 
animale"  oder  „libertd  physique". 

Aber    außerdem    steht   noch    dem    Menschen    als    ver- 

[  nünftigem  Wesen  die  andere  oben  gekennzeichnete  Motiven- 

I  reihe   zu   —   die   „motifa   instructifa".     Sie   bildet  die  freie 

Motivation    —    die    „libertö    raorale"**.     Und    hier   iat  es 

wiederum  die  Aufmerksamkeit,  die  die  Tätigkeit  der  Seele 

[  leitet,  und  die  Willensfreiheit  besteht  in  nichts  anderem,  als  in 

r  der   Macht    dieses    unseres   Vermögens  **.     Was    sie   kenn- 

(asichnet  iat  nicht  die  Freiheit  von  der  Motivation,  sondern 

!  Freiheit  in  der  Motivation,  in  der  Möglichkeit,  die  uns 

^Urch   die  Sinne  sich  aufdrängenden  Motive  durch  anders- 

rtige,  weil  frei  gewonnene,  durchbrechen  zu  lassen. 

Wir  sehen  nun,  daß  das  Gebiet  der  menschlichen  Tätig- 
Kkeit  durch  die  „libertä  morale"  in  dem  Gefltge  dea  Weltalls 
laich  besonders  hervorhebt.  Was  überall  nach  notwendigen 
[ehernen  Gesetzen  geschieht  und  was  nueh  den  Menschen 
eilweise  umgarnt,  das  hat  in  seinem  vorausbestimmten  un- 
L«blenkbaren  Ablauf  für  ihn  doch  keine  unbedingte  Geltung, 


j8i   l'etro   «uprgroe   n'flvait   pafi   eii  cette  inteation  ixtun  ein  Feld 

__r  freie»  TltiglieH  la  gawährenj,  il  dous  Hurnit  iissujet«  Dfcessairement 

I  i'eiäcutidii  du   scs   volont^a,   ü   mpiiü  aurait  fuil  Bgir  sans  inteliigenae, 

■  libertj  conune  des  bSleR,  c'est  k  dire  par  den  impulaiona  domiDantea 

jl  puremeul  phyBique»".     Queanay,  p.  761. 

"  „Ve   pouvuir   de   la   libertd  coaaiBie   diii;i;   rndicalement   dsos   Ib 

.     ••- -  "     Qnesnay,  p.  751. 

Abli«nJl.  VI  ».  -  OQnWbBrg.  2 


18  VI  3 

Das  vernünftige  Wesen  schaltet  frei  in  seinem  Bereich  und 
wird  selbst  maßgebend  für  seine  Stellung»  inmitten  von 
gleichgültigen  Dingen  und  Vorgängen  der  Außenwelt.  Neben 
der  „Ordnung"  im  Weltganzen  —  im  kosmologischen  Sinne  — 
erhebt  sich  eine  spezitische  Ordnung  der  menschlichen  Dinge 
für  sich,  eine  neue,  eigenartige  ethische  Welt***.  Die  eine 
unterliegt  der  Notwendigkeit  der  Natur,  die  andere  der 
Notwendigkeit  der  Vernunft. 

Dadurch  ist  auch  die  Stellung  dieser  beiden  Welten 
zueinander  bestimmt.  Alles  was  einer  naturnotwendigen 
Gesetzmäßigkeit  unterliegt  und  dem  menschlichen  Willen 
entrückt  ist,  kann  an  und  für  sich  weder  als  gut,  noch  als 
schlecht  bezeichnet  werden.  Von  diesem  Standpunkte  ge- 
sehen, stellt  sich  uns  die  Natur  als  indifferent  dar,  denn  sie 
ist  die  gleiche  Ursache  (cause  physique)  des  Guten  und  des 
Bösen  2«. 


^^  Diese  Gegenüberstellung  zweier  Welten,  zweier  Ordnungen 
(„ordres"),  tritt  besonders  klar  in  Quesnay's  Erörterungen  über  die  Willens- 
freiheit und  in  der  Abhandlung  über  das  Naturrecht  hervor,  wo  die 
Scheidung  des  „ordre  de  la  nature"  (oder  „de  pure  nature")  vom  „ordre 
naturel"  durchgeführt  ist.  Übrigens  ist  terminologisch  diese  Scheidung 
nicht  überall  gewahrt,  was  aus  der  Zweideutigkeit  des  Wortes  „nature^ 
sich  erklären  läßt,  das  sowohl  als  naturwissenschaftliche,  wie  auch  als  norma- 
tive Kategorie  im  stoischen  Sinne  gebraucht  wird.  —  Auf  der  Trennung 
der  beiden  „ordres"  begründet  dann  Quesnay  die  Scheidung  des  Tat-  * 
sächlichen  vom  Rechtlichen  (Quesnay,  p.  756/7). 

^®  Belege  für  diese  Auffassimg  finden  wir  hauptsächlich  an  den- 
jenigen Stellen,  wo  vom  „bien  physique"  nicht  im  Sinne  einer  bloft 
tierischen  Genugtuung,  sondern  im  Sinne  eines  befriedigten  vernünftigen 
Interesses  die  Rede  ist,  was  unter  allen  lebenden  Wesen  sich  nur  auf  den 
Menschen  beziehen  kann,  dank  der  bloß  ihm  zustehenden  vernünftigen 
Beherrschung  der  indifferenten  Naturkräfte.  Es  wird  daher  von  Quesnay 
hervorgehoben,  daß  das  von  der  Natur  Gegebene  —  „ne  sont,  dans  Tordre 
naturel  relatif  aux  hommes,  des  lois  obligatoires  que  pour  le  bien".  Denn 
dieser  „ordre  naturel  relatif  aux  hommes**  ist  nicht  gegeben,  sondern  wird 
erst  von  den  Menschen  herbeigeführt,  daher  heißt  es  auch:  „II  faut  donc  bien 
se  garder  d'attribuer  aux  lois  physiques  les  maux  qui  sont  la  juste  et  in^vi- 
table  punition  de  la  violation  de  Tordre  meme  des  lois  physiques,  institn^ 
pour  op^rer  le  bien.  Si  un  gouvemement  s'^cartait  des  lois  naturelles 
qui  assurent  le  succ^s  de  Tagriculture ,  oserait  on  s'en  prendre  k  l'agri- 
culture  eile  meme  de  ce  que  Ton  manquerait  de  pain  ?"  —  Quesnay,  eh.  III 
der  Abhandlung  Le  droit  naturel  (vgl.  Text  SS.  33/84  über  den  Begriff 
der  „loi  physique"  in  Quesnay's  Sozialphilosophie).  —  Ähnliche  Gedanken 

bei   Le-Trosne,  De   l'ordre    social,    Paris,    1777    (im   folgenden    kurz  

Le-Trosne  —  zitiert),  pp.  206  et  suiv. 


VI  3 


19 


Zu  diesem  Bereich  der  Natur  geliört  auch  der  Mensch 
aU  SinnesweBcii ,  als  passives  Snbjekt.  Wir  werden  daher 
die  Erhebung  eines  Naturtriebes  oder  eines  Gefühls  zur 
Höhe  eines  ethischen  Motivs  bei  Quesnay  oder  bei  seinen 
Schülern  vergebens  suchen.  Die  menschlichen  Triebe  sind, 
solange  sie  nicht  von  der  Vernunft  geleitet  werden,  für  die 
Phjsiokraten  ethisch  gleichwertig.  Es  gibt  von  Natur 
aus  keine  unmoralischen  Triebe,  denn  alle  können  gleich- 
zeitig als  „Motive",  sowohl  des  Guten,  wie  des  Bösen, 
dienen.  Daher  wendet  sich  auch  Mirabeau  gegen  diejenigen 
Moralisten,  die  entdeckt  zu  haben  glauben,  daß  es  „deux 
etres  taoraux  oppos^s"  als  Verkürperungen  des  „guten  und 
des  bösen  Prinzips"  gebe  —  „landis  qu'ils  ne  aont  que  deux 
effets  divers  d'un  seiil  et  meme  ressort  de  notre  action,  ressort 
util  dans  l'ordre,  inutile  dans  le  dör^glement"  *',  Aus  den- 
selben Gründen  wendet  sieb  auch  der  Phyaiokrat  Baudeau 
gegen  die  Gef'ühlsmoral  der  „Shaftesburysten",  die  die  Prin- 
zipien der  Vernunft  mit  den  natürlichen  Trieben  vermengen 
und  zu  einem  „rein  passiven  Instinkt"  herabsetzen  wollen  ". 

Denn  jenes  Prinzip,  das  die  sittliche  Welt  schafft  und 
den  „physischen"  Vorgängen  ihren  ethischen  Wert  verleiht, 
kann  nur  von  der  Vernunft  ausgehen.  Mögen  die  mensoh- 
lichen  Handlungen  gut  oder  schlecht  sein:  die  Natur  als 
solche  geht  das  nicht  an.  Die  guten  oder  schlechten  Folgen 
der  natürlichen  Vorgänge  sind  daher  im  Menschen  selbst 
begründet,  je  nach  dem  er  sich  durch  freie  und  vernünftige 
Überlegung  oder  durch  die  Macht  seiner  Triebe  hat  lenken 
lassen.    In  letzterem  Falle  sind  es  die  Leidenschaften,  nicht 


"  Mirsbeau,  Lettre»  tut  is  I^Ulation  oii  t'oMrc  tociai  däpravi, 
rJtabli  et  perp^tu«  par  L.  D.  H.,  Beme,  1775.  Bd.  II,  p.  299'^WO;  äbnUch 
derselbe,  La  science  ou  los  draits  et  les  devoir«  de  riiomnie,  1774,  p,  117. 

"  „.  .  .  11  ne  nufSt  pHH  de  dire,  l'inRtiiict  nmn  doane  de  la  ripa- 
gnance  pour  ce  qui  out  vice,  de  l'attrait  pour  ee  qni  est  vertu,  il  tallait 
«ipliquer  coinmeDt  et  paurqDoi.  La  raisoo  i|ai  cotuuiit  l'onlre  iage 
d'npi^a  »et  principes,  et  c'e«t  en  coM^quenoe  ijirelle  riproiive  le  vice, 
üU  qu'elle  Charit  la  vertu.  Appelez  cette  facultä  de  jiigcr  aens  monJi 
mal*  ne  la  qualiäec  pa»  d'iDBtinct,  et  ne  la  confoudei  pas  avec  la  doolenr 
et  1«  plaiilr  .  .  ."     Ephim^ridwi  da  citoyen,  1767,  Befl  II,  pp.  IS?«. 


20  VI  3 

die  Vernunft,  die  über  ihn  geherrscht  haben;  oder  es  ist 
der  Mangel  an  Einsicht,  die  unvollkommene  Erkenntnis,  die 
auch  die  gut  gesinnten  zu  falschen  Schlüssen  und  Taten 
führen  kann.  So  werden  die  Ursachen  der  Störungen  in  der 
ethischen  Welt  dem  Bereiche  der  Natur  entzogen  und  in 
unsere  Vernunft,  vielmehr  in  unser  Wissen,  in  unser  Er- 
kennen verlegt.  „Le  d^r^glement  moral  est  toujours 
accompagn^  du  d^rfeglement  d'intelligence".*® 

Es  wäre  daher  unrichtig,  wenn  man  behaupten  wollte, 
daß  flir  die  Physiokraten  die  ethische  Welt  und  die  phy- 
sische, das  Sein  und  das  Sollen,  zusammenfallen^^.  Es  ist 
nicht  in  ihrem  Sinne  anzunehmen,  dafi  die  ethische 
Ordnung  die  ganze  Natur  durchdringt,  oder  dafi  sie  nichts 
anderes  als  das  Natürliche  selbst,  das  mit  „physischer" 
Notwendigkeit  aus  dem  Walten  der  Naturkräfte  Entstandene 
bedeute.  Denn  das  Ethische  bleibt  für  Quesnay  und  seine 
Schule  immer  in  der  Vernunft,  als  der  „cause  primitive", 
begründet. 

Anlafi  zur  falschen  Beurteilung  der  Physiokraten  hat 
ihre  metaphysische  Grundtendenz  gegeben,  die  in  einer 
geschlossenen  optimistischen  Weltanschauung  Natur  und 
Moralität,  durch  einen  einheitlichen  göttlichen  Zweck  ver- 
eint, zusammenfassen  will.  Es  war  also  wiederum  der 
Gottesgedanke,  in  dem  das  Band  zwischen  Natur  und  Moral 
gefunden  werden  sollte. 

Da  Gott  der  Schöpfer  der  Natur  und  die  Quelle  der 
ethischen  Werte  ist,  so  mufi  zwischen  diesen  eine  Harmonie 
bestehen,  die  wir  nicht  ergründen  können,  zu  deren  An- 
nahme uns  aber  die  Idee  Gottes,  als  des  Allgütigen  [und 
Allweisen  zwingt.  Diese  Harmonie  beruht  auf  dem  das 
Weltganze    durchdringenden   einheitlichen   Zweck,    der    im 


29  Quesnay,  Art.  Evidence  §  29  (p.  776). 

^^  Wie  es  zum  Beispiel  Kaut z  annimmt,  Die  geschichtliche  Entwick- 
lung der  Nationalökonomie  in  ihrer  Literatur,  S.  374;  ähnlich  H.  D6nis. 
Histoire  des  syst^mes  ^conomiques  et  socialistes,  1904,  pp.  68.  —  Auf 
dasselbe  läuft  auch  die  Marxen'sche  Auffassung  hinaus:  s.  Text  8.  45. 


rvi  3 ' 


21 


I 


t 
* 


Plane  Gottes  nur  in  der  Vollkommenheit  seiner  St'höpfniig 
bestehen  kann;  —  in  hezug  aber  auf  den  Menschen,  der 
wertvollsten,  weil  allein  unter  allen  lebenden  Wesen  mit 
Vernunft  begabten  Schöpfung^',  ist  dieaer  Zweck  die 
Glückseligkeit. 

tio  gesehen,  bekommt  auch  die  Natur  und  mit  ihr  die 
natürlichen  Triebe,  wie  Überhaupt  die  ganze  menschliehe 
Sinnenwelt,  ihren  ethischen  Werl  als  Mittet,  die  zu  dem 
von  Gott  gesetzten  Zwecke  führen.  Nur  müsäen  diese 
Mittel  in  ihrer  unabänderlichen  Wesenheit  {esseoce  immuable) 
und  ihren  untrennbaren  Eigenschaften  (propri^tös  ins4- 
parables)  erkannt  und  ihrer  Beatiraraung  nach  vernünftig 
angewendet  werden.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  bo  geht  doch 
die  Natur  unbeschadet  ihren  Weg,  aber  zum  Unheil  der 
Menschen.  Nur  die  Rückkehr  zur  wahren  Erkenntnis  und 
vernünftigen  Einsicht  gibt  der  Natur  wieder  ihre  heil- 
bringende Bedeutung,  die  Quesnay  und  seine  Schüler  vom 
Standpunkte  ihres  eben  geschilderten  weltanscbauungs- 
mUBigen  Optimismus  als  die  „hygi^ne  de  la  nature"  be- 
«eichnet  haben**.  — 

Diese  Gedankengänge  in  ihrer  optimis tischen  Be- 
leuchtung geben  der  physiokratischen  Ethik  die  dem  ganzen 
Zeilalter  gemeinsame  utilitaristische  Färbung. 


Quesnay,  p.  375,  Note. 

Diuse  Gedanken  lie^^en  ullen  Kuliriftea  Quesiiaj''»  zugrunde.  Es 
bt  bemi'rkenBWL'rt,  daß  das  Motiv  der  .Ujgi^ne  de  U  natare",  das  die 
'ifiebülur  Quesnay'«  und  viele  seiner  Kritiker  (nicht  im  Sinne  der  Aa*- 
ftbrunguii  im  Text»,  sondern  im  ZusainniuDliaog  luil  dem  Laiisen  fü>e- 
Prinxip),  betonen,  von  Adam  Smith  dem  Orfinder  der  Phifsiokratie  votl- 
stSndig, abgesprochen  wird,  Für  Smith  ist  QuoKuay  einer  jener  „speknlB- 
liv«n  Ärzte"  für  diu  „the  health  of  the  human  bod;  could  be  preeerved 
only  by  a  cerlaln  previae  regimen  of  diet  and  exercise,  of  which  every, 
the  Bmallest,  violation  necessarily  occasioned  Bome  degree  of  dissens  or 
iliflorder  pro|>iirtinned  to  the  durree  of  the  viotation".  ^  A.  Smith, 
Wealth  of  nalions,  ed.  1791,  vol.  Ül.  p.  286/7.  —  Das  ist  ein  sehr  lehr- 
reiches Beispiel  für  die  Art.  wie  der  Physiokralismiu  beurteUt  wurde,  in- 
dem die  einen  —  um  phyat akratisch  xn  sprechen  —  in  ihm  nnr  den 
lOTdrc  nalurel",  die  anderen  dat^esen  bli>B  den  „ordre  de  la  nature"  betont  m 
'en  glaubten.  Indexseu  liestand  gerade  die  Eigentflmlicbkeit  der  Physio- 
itie  darin,  daß  sie  diese  beiden  Momente  vereinigen  wollte,  wie  ea  JD 
irilegendeu  Schrift  m  zeigea  versucht  werden  toll. 


22  VI  S 

Ist  der  Zweck  des  Menschen  als  des  vollkommensten 
Geschöpfes  seine  Glückseligkeit,  so  muß  diese  auch  da» 
leitende  Prinzip  seiner  Tätigkeit  werden  und  mit  dem 
ethisch  Guten  (bien  moral)  in  Einklang  stehen.  Auch  das 
Irdische  und  das  Sinnliche,  soweit  es  diesem  Zwecke  dient^ 
bekommt  seine  ethische  Sanktion,  wird  in  das  „Reich  Gottes" 
hineingezogen.  Daher  ist  auch  das  Nützliche  als  das,  was 
unsere  Selbsterhaltung  fördert,  zu  gleicher  Zeit  das  ethisch 
zu  Bejahende  und  das  Gerechte.  Diese  Kongruenz  ist  aber 
nur  in  der  höheren  Einheit  des  Weltganzen  aufzufassen 
und  nicht  etwa  so,  als  ob  das  Gute  und  Gerechte  aus  dem 
Sinnlich-Nützlichen  abzuleiten  wäre.  Denn  die  Quelle  der 
ethischen  Wertung  ist  in  der  Vernunft,  und,  sobald  wir  den 
metaphysisch- religiösen  Standpunkt  verlassen ,  bleibt  die 
Natur  für  Quesnay  außerhalb  der  Sphäre  des  Ethischen.  — 
In  diesem  Sinne  entwickeln  die  Physiokraten  auch  die 
utilitaristische  Tendenz  ihrer  Morallehre. 

Als  Prinzip  gilt  ihnen  nicht  das  eigennützige,  sondern 
das  wohlverstandene  Interesse,  welches  aus  der  Wertung 
des  Ganzen,  nicht  des  Einzelnen  fließt.  Das  egoistische 
Interesse,  der  tierische  Trieb  zur  Selbsterhaltung  ist  nur 
ein  psychologisches  Motiv  und  gehört  zum  Bereiche  der 
Natur.  Es  wird  aber  in  den  Bereich  der  Moralität  durch 
das  höhere,  das  Ganze  umfassende  Prinzip  des  wohlver- 
standenen Interesses  hinübergeleitet,  das  nicht  mehr  als 
Motiv,  sondern  als  Regulativ,  als  eine  in  unserem  freien 
Wesen  und  seinem  „principe  actif"  begründete  Norm  der 
Vernunft  aufzufassen  ist.  War  nun  die  ganze  Propaganda 
der  physiokratischen  Schule  darauf  gerichtet,  die  Moral  aus 
der  rein  intellektuellen  Predigt  in  die  Willenssphäre  hin- 
überzuführen ^^ ,  um  sie  im  Leben  wirksam  zu  machen,  so 
bleibt  ihnen  doch  das  egoistisch-persönliche  Interesse  als 
das  „physische"  Moment  nur  die  „cause  conditionnelle  ou  in- 

^^  „II  fallait  donc  prendre  Thomme  par  ses  d^airs,  par  son  int^ret, 
et  se  servir  de  ces  motifs  pour  le  conduire  ä  la  verhi  morale  et  civile". 
Le-Trosne,  p.  79. 


*VI  3 


23 


Btrumentale''   der  ethischen  Betätigung,  deren  letzte  Quelle 
in  den  „lumieres  de  la  raison"  zu  suchen  ist. 

Bezeichnend  fiir  diese  Auffassung  des  ethischen 
Problems  bei  den  Phjsiokraten  sind  die  Ausführungen  Le- 
Mercier's,  dessen  Ausdrucksweise—  oft  nicht  ohne  Grund  — 
zu  ganz  anderer  Beurteilung  ihrer  Moralphilosophie  Anlaß 
gegeben  haben.  Indessen  stimmen  sie  völlig  mit  der  im 
Kartesianismus  wurzelnden  Gesam  tan  sc  hauung  Quesnay's 
überein  **. 

Die  Quelle  der  Wertachätzung  ist  auch  für  Le-Mercier 
ein  „principe  actif ;  er  nennt  dieses  Prinzip  ,aniour  propre" 
und  erhebt  es  gleichzeitig  zum  selbattosen  Regulativ  unserer 
Handlungen,  weil  es,  wie  er  in  origineller  Weise  sich. aus- 
druckt,  in    uns   die  geistige  Macht  erweckt  —  «ii  compter 
8on  int^ret  pnur  tntit,  el  celui  de  notre  existence  pi>ur  rien." 
Dieses  Prinzip  ist  ihm  etwas,   was  von  unseren  Sinnen  unter- 
i  schieden  werden  soll,   „quoiqu'il  ait  besoin  de  nos  aena  qui 
I  ne   sont  que  paasifs".     Er  bemüht  sich  zu  zeigen,   daß  die 
I  Wirkungen   der  Sinne   und  des  „amour  propre"  ganz  ver- 
p schieden   sind:    während    die    ersteren    uns    nur    dasjenige 
L geben,   was  uns  gefftlll  („ce  qui  nous  plait")  —  also  einen 
Itnomentanen,    vergänglichen    und  trügerischen  Zustand  der 
I  Befriedigung"^  — ,  bewirkt  das  letztere  in  uns  „une  sensibi- 
1  lH&  qui  fait  naitre  en  nous  l'amnur  de  la  gloire,  la  crainte 
[  de  l'humiliation,   tous  les  autres  sentiments  qui  tiennent  de 
I  ces   deux   premiers,   en   un   mot   un   besoin  tr^a  reel,   trös 
lliressant,    de   l'estime   de   soi   m§me   et  de  celui  d'autrui''. 
I  Dnd  hier  ist  der  Grund,  daß  „wir  freie  Wesen  sind,  deren 
[  GlUck  und  Unglück  in  ihrer  eigenen  Macht  und  in  der  Art 
tder  Ausnutzung  ihrer  Eigenschaften  liegt"*.  — 


;  1775 


'*  Drs  im  Teile  folgenile  Ut  nach  eintr  Schrift  L«-Meri'ie 
l^Htullt,  diti  unter  dem  Titel  Memoire  lur  l'inatriiction  [)ubli<iue 
■  ''Ulli  X,  tiefte  der  Noiivellee  Ejjb^märidex  ^unoiniqiiea  vnm  Jkh 
f  HbK^dniekt  isL 

«n  Vgl   d^j,,  giieKnaj'H  Aiwdi'ucks weine,  Oeuvre«,  p.  750,  I.  Absatii. 

**  Pitjehologiatische  Tendenieu  Rind  kber  bei  Le-Merrier  keiiiexwegs 
l)|n  verkennen:  nennt  er  dueb  8uch  den  niuuour  propre"  eiuf  Leidenauhäft 


24  VI  3 

So  wird  es  klar,  wie  tiefgehend  im  letzten  Grunde  der 
Unterschied  der  physiokratischen  Moralphilosophie  von  der 
zeitgenössischen  von  Shaftesbury  beeinflußten  englischen  ist, 
die  das  Ethische  direkt  in  das  Natürliche  hineinlegen 
wollte  ^^.  Wohl  haben  beide  die  Bedeutung  der  natürlichen 
Triebe  und  Leidenschaften  hervorgehoben;  nur  sind  diese 
für  die  an  den  Kartesianismus  sich  anlehnenden  Physiokraten 
bloß  notwendige  Mittel,  unabwendbare  „Motive"  —  um  mit 
Quesnay  zu  sprechen  — ,  die  bei  ihrer  vollständigen  ethischen 
Indifferenz  erst  durch  die  Vernunft  zu  Trägern  ethischer 
Werte  erhoben  werden ;  dagegen  werden  bei  den  Engländern 
die  „passions"  schon  als  solche  gewertet.  Die  Rehabilitation 
des  Sinnlichen,  die  wir  also  in  der  französischen,  wie  in 
der  englischen  Moralphilosophie  vorfinden,  geschieht  in 
beiden  auf  verschiedenen  Wegen,  trotz  der  sie  bedingenden 
gemeinsamen  optimistischen  Weltanschauung.  Denn  der  an 
Shaftesbury  anknüpfende  Optimismus  ist  ein  empirischer: 
die  emotionellen  Regungen  sind  gut,  wie  sie  gegeben 
sind.  Dagegen  ist  der  Optimismus  bei  den  Physiokraten 
in  seiner  letzten  Grundlage  ein  transzendentaler:  die  emotio- 
nellen Regungen  sind  gut  —  nur  im  letzten  Plane 
Gottes^s. 

III. 

Die  bisherigen  Erörterungen  haben  den  Zweck  gehabt, 
die  philosophischen  Ausgangspunkte  der  Physiokraten,  trotz 
der  positivistischen  Elemente,  die  sie  in  sich  aufgenommen 

(„nous  avons  deux  sortes  de  passions  tr^s  distinctes  .  .  .  Celles  des  sens 
et  Celles  de  Tamour  propre").  Dieser  Tendenz  hat  schon  Descartes  in 
der  französischen  Philosophie  den  Anfang  gegeben,  indem  er  als  Tagend 
den  „Affekt"  der  Bewundening  („admiration")  hingestellt  hat  —  Der 
prinzipielle  Unterschied  von  der  englischen  Ethik  (s.  weiter  u.  im  Text) 
bleibt  doch  bestehen,  wenn  auch  in  der  Lehre  von  den  Affekten  Be- 
rührungspunkte, die  für  die  spätere  Entwicklung  von  großer  Bedeutung 
wurden,  festzustellen  sind. 

"  Vgl.  Jodl,  a.  a.  O.  SS.  170—173. 

'*  Die  im  Texte  vertretene  Auffassung  weicht  völlig  von  derjenigen 
Hasbachs  ab,  der  die  physiokratische  Moral  so  interpretiert,  dafi  das 
Gerechte  aus  dem  Sinnlich-Nützlichen  abzuleiten  sei.    Dies  geschieht  bei 


I 


"VT  3  25 

haben  und  trotz  des  inodem-wissenscbaftlichen  Geiates,  von 
dem  das  ökonomische  System  Quesnay's  durchdrungen  ist, 
in  der  Beleuchtung  ihrer  Abhängigkeit  von  der  karteaiachen 
Philosophie  darzustellen.  Bei  der  schon  früher  hervor- 
gehobenen philosophischen  Stellung  des  Physiokratisraus 
verdient  diese  Abhängigkeit,  die  für  ihn  von  entscheidender 
Bedeutung  geworden  ist,  ganz  besondere  Betonung,  was 
bis  jetzt  in  der  Literatur  nur  wenig  geschehen  ist. 

Da  man  mit  Recht  gewohnt  war,  die  einzelnen  Elemente 
der. nationalökonomischen  Doktrin  Quesnay'a  in  England  zu 
suchen,  so  hat  sich  auch  Hasbach  bei  seinem  Versuch, 
die  philosophischen  Ausgangspunkte  des  Phyaiokratiamus 
zu  erläutern,  dorthin  gewendet,  wobei  die  traditionelle 
französische  Philosophie  von  ihm  fast  ganz  außer  acht 
gelaasen  wurde.  Die  Resultate,  zu  denen  Hasbach  gelangt 
ist,  und  an  denen  er  in  einer  späteren  die  LUcke  aus- 
flillenden  und  talsäcblich,  u.  E.,  die  Darstellung  prinzipiell 
verändernden  Abhandlung"",  doch  festhält,  —  weichen  von 
der  hier  vertretenen  Ansicht  ab.     (Vgl.  Anui.  38). 

Im  Vorlauf  dea  Bisherigen  haben  wir  schon  auf  den 
prinzipiellen  Unterschied  zwischen  den  Grundlagen  der  an 
die  karteaisclie  Philosophie  anknüpfenden  Pliysiokraten  und 
der  englischen  Gefuhlsmoral  hingewiesen.    Es  sei  nun  noch 

■«iniges  über  die  ebenfalla  von  Hasbacb  stark  betonte  Be- 
deutung dea  Cumberland 'sehen  Buches  „Dtsquiaitio  de 
legibus     naturae     philosopliica"     ftir    die    Entstehung    der 

,  Quesnay'schen  Anschauungen  erwähnt*". 


ub&oh  aus  dem  Gründe  ,  weil  ^r  den  FLysiokratismiis  tu  euge  Vur- 
bodang  mit  der  englischeu  MoMlphilonophic  nml  ipeEioll  mit  Slittftesl>ury 
bringen  vill.  8.  da^  in  der  Einleitung  ^nannte  Werk  von  Hnsbnch, 
hkuplaSchlich  88.  88  -BO  und  Knp,  V. 

**  Hflsbnch    in   der   RevQe  d'Economio   poliliqae    Ud.    VII,    Le« 

fbndementa    pbiloaophiquea    de   l'^ouomie    polilique   de    Qaeauay    et   de 

r  Ad.  Smith.    Vgl.   auch  8L  l)sH«r,  eiue  BeBprechaoK  de«  Hnabauh'sclieu 

L  Verkai  in  Cnnrad»  Jahrbüchern,  J&hrganir  1891:  Derselbe,  im  Economic 

■<}oumBl,  1895.  p.  9.  Note  I. 

■"  Hasbftch.  SS.  149-152. 


26  VI  3 

Das  genannte  Buch,  ein  seinerzeit  sehr  bedeutsames 
Werk,  hat  sicherlich,  dem  Inhalte  nach  zu  urteilen,  zur 
Herausbildung  der  philosophischen  Ansichten  Quesnaj's 
manches  beigetragen.  Man  könnte  noch  auf  viele  von 
Hasbach  nicht  betonte  übereinstimmende  Momente  hin- 
weisen, die  aber  trotzdem  Quesnay  nicht  aus  Cumberland, 
sondern  aus  der  beiden  Denkern  gemeinsamen  Quelle  — 
der  kartesischen  Philosophie  —  zu  schöpfen  brauchte:  ge- 
hört doch  noch  Cumberland  einer  Periode  an,  die  der- 
jenigen, die  mit  Locke  beginnt,  vorangeht. 

E^  ist  aber  überhaupt  nicht  einzusehen,  warum  man 
in  der  Frage  nach  dem  Ursprung  der  grundlegenden 
Quesnay'schen  Ideen  sich  nur  auf  Cumberland  beschränken 
soll.  War  doch  der  Optimismus  jener  Tage,  sowie  das 
In-eins-setzen  von  gerecht  und  nützlich  und  die  Lehre  vom 
Zusammenhang  zwischen  der  ethischen  und  physischen  Welt 
schon  zum  Gemeingut  aller  Denkenden  geworden,  als 
Quesnay  seine  philosophischen  Anschauungen  herausgebildet 
hat.  Es  waren  alles  Glaubenssätze  der  damaligen  Welt  — 
und  Lebensanschauung,  sie  galten  als  feste  communis  opinio 
und  man  ist  nicht  mehr  berechtigt  in  diesen  Punkten  fUr 
Quesnay  diesen  oder  jenen  bestimmten  Schrfftsteller  als 
Quelle  anzugeben. 

Der  Optimismus  als  Rehabilitation  der  Sinne  und  des 
Sinnlichen  und  der  eudämonistische  Gedanke,  erweitert 
auch  auf  das  irdische  Leben  —  früher  bezog  es  sich  nur 
auf  das  Jenseits  —  war  ja  überhaupt  jener  mächtige  ge- 
dankliche Zug,  der  nach  Abschüttlung  der  mittelalterlichen 
Dogmen  seit  der  Reformation  die  ganze  Philosophie  be- 
herrschte. Die  Fortschritte  der  Naturwissenschaften  und 
—  auf  politischem  Gebiete  —  die  Vorzüge  des  im  steten 
Wachsen  begriffenen  mächtigen  weltlichen  Staates,  haben 
diese  Gedankengänge  noch  bestärkt.  Auf  welchem  Wege 
diese  Rehabilitierung  des  Sinnlichen  auch  geschehen  sein 
mag,  wir  begegnen  ihr  überall,  auch  bei  Malebranche,  wie 
wir  zu  zeigen  haben  werden. 


VI  3 


27 


Kehren  wir  aber  üii  Cumberland  zurfifk,  so  tinden  wir 
gerade  in  dem  Punkte,  den  Hasbacli  als  den  für  seine  An- 
nahme entscheidenden  hervorhebt,  auch  die  Grllnde  des 
wichtigen  Unteracbieda  von  Quesnay's  Gedankengängen. 
Denn  die  vom  engliachen  Theologen  betonte  „aanction 
physitjue"  des  Ethischen  hat,  bei  dem  mit  Queanay  gemein- 
samen optimistischen  Hintergrund,  im  spezielleren  doch  eine 
wesentlich  andere  Bedeutung  als  dieselbe  Vorstellung  in  der 
Dupont 'sehen  Interpretation  des  phjsiokratischen  Systems*': 
bei  Cumberland  dient  diese  Vorstellung  zur  Verschärfung 
der  eudftmonistiachen  Tendenz  seiner  Moral,  bei  Quesnay 
dagegen  tritt  dieser  Gedanke  zurUck,  um  das  moralische 
Handeln  mehr  in  seiner  Abhängigkeit  von  der  äußeren  Natur 
zu  erklfiren,  als  es  nach  seinen  Folgen  zu  recht- 
fertigen. Auf  dieses  Moment  der  „Erklärung"  haben  aber 
die  Physiokraten  ein  besonderes  Gewicht  gelegt ;  darin  haben 
sie  ihr  Haiiptverdienst,  das  „Neue"  in  der  Wissenschaft  er- 
blickt". 

äind  sie  dazu  durch  den  spezielleren  Gegenstand  ihres 
^Nachdenkens  und  durch  den  herrschenden  Zeitgeint,  den 
wohl  zum  größten  Teil  die  englische  Philosophie  geachaflFen 
hat,  getrieben  worden,  so  hatten  sie  die  weltanschauungs- 
mäßige Rechtfertigung  dieses  ihres  Versuchs,  dieser  fast 
ausschließlichen  Zuwendung  zum  Irdischen,  nicht  jenseits 
des  Kanals  zu  suchen:  sie  konnten  sie  in  der  heimatlichen 
Philosophie  finden,  und  zwar  bei  Malebranche,  den  uns  die 
Biographen  Quesnay's  als  seinen  Lieblingsphilosophen  an- 
geben, und  den  auch  Le-Mercier  und  Mirabeau  als  hohe 
philosophische  Autorität  gepriesen  haben,  was  jedenfalls  auf 
das  hohe  Ansehen  hinweist,  dessen  der  genannte  Philosoph 

"  Queenay.  p.  1-V2  (Aunzug  aus  eiDer  Dupont'sdieii  Schrift). 
"  Auch    ist   bei   CDinberlniid    ätia    wohlTcrstiindeiie    Interenne   kein 
1   VeraiuittaprinKip,  mmdern  einGefQhl  der  Gottes-  und  (W  NächBtonliebe, 
im   menschlilJiun   Wptien   al*  «in    „pencbant  nnturel"   BiwgeprAgt  i«t 
I  Eomit  Eur  ^nalure  btlinsine"  ^hSrt.    Darin  lieifen  die  ertten  AnaiUe 

späteren  englischen  Gefilhi*nioral,     Vg\.  Ciimberlanil  in  der  fraiiEÖHi- 

■chen  (ybemetEung  von   BnrbcjTHC,    Les  Tniii  de  In  unture  einliqaün  pNr 
[  le  DoeteuT  Hiehard  Cumberland,  cb.  V,  g  4Ti  aiieh  eh.  U,  §§  »-4. 


28  VI  3 

noch  in  manchen  Kreisen  und  speziell  bei  den  Physiokraten 
sich  erfreuen  konnte,  wenn  auch  im  allgemeinen  seine  Lehren 
schon  längst  keinen  Einfluß  mehr  ausgeübt  haben. 

Die  physiokratische  Scheidung  der  physischen  und  der 
ethischen  Welt  und  die  Auffassung  von  ihrer  gegenseitigen 
Beziehung  geht  ganz  in  der  Malebranche'schen  Teilung  aller 
„Wahrheiten"  in  Größenverhältnisse  und  Vollkommenheits- 
verhältnisse auf  (rapports  de  grandeur  und  i^apports  de 
perfection)  *®.  Die  ersteren  bilden  die  Erkenntnis  der  Natur, 
der  ^puisaance  de  Dieu",  die  von  den  „d^crets  divins**  be- 
herrscht wird,  —  die  letzteren  beziehen  sich  auf  die  sittliche 
Welt  der  menschlichen  Handlungen  (den  „ordre  immuable'), 
wo  unabänderliche  und  unverletzbare  Regeln  „de  tous  les 
mouvements  d'esprits",  denen  Gott  selbst  folgt,  maß- 
gebend sind.  Die  Natur  und  die  ethische  Ordnung  fallen 
nicht  zusammen,  sie  durchkreuzen  sich;  daher  heißt  es 
auch  der  Natur  nur  dann  folgen ,  wenn  die  Gesetze  der 
Ethik  es  gebieten,  denn  die  Natur  für  sich  „est  plutfit 
nöcessit^  que  vertu**. 

Das  sind  Grundgedanken  der  Malebranche'schen  prak- 
tischen Philosophie,  in  denen  die  Lehre  Quesnay'a  am 
nächsten  zu  suchen  ist,  daß  die  Natur  gleichgültig  und 
unbiegsam  der  ethischen  Ordnung  gegenübersteht,  daß  wir 
in  der  Natur  den  Unterschied  von  gut  und  böse  nicht  finden 
können.  Regen  und  Wind  sind  Naturerscheinungen,  die 
mit  dem  Verdienst  und  dem  Vergehen  nichts  zu  tun  haben, 
sagt  Malebranche  gerade  so,  wie  es  später  Quesnay  wieder- 
holt hat*^ 

Neben  dem  Dualismus  zwischen  dem  „ordre  immuable*' 
und  dem  „ordre  de  la  nature"  verschwindet  aber  hier  bei 
dem  Philosophen  des  Oratoriums  die  Gegenüberstellung  des 

■*'  Darüber  und  über  das  folgende  s.  Malebranche,  Oeuvres, 
4d.  J.  Simon,  1871,  Bd.  IL  M^ditations  chretiennes,  eh.  III,  §§  21 
(pp.  83/4),  23,  34;  eh.  IV,  §§  7—8:  Trait^  de  la  morale,  Rotterdam  1684, 
eh.  I,  §§  4—6,  18—19,  21,  23.  Vgl.  auch  ßouiller,  a.  a.  O.,  Bd.  IT. 
pp.  89-91. 

**  Trait6  de  la  morale,  eh.  I,  §  21;  Quesnay  p.  368. 


VI  3 


29 


I 


Körperlich-Sinnlichen  und  des  Geistigen,  weil  auuh  für  ihn 
alles  Natürliche  im  Plane  Gottes,  alao  vom  Standpunkte 
eines  sich  überhebenden  metaphysischen  Optimismus,  gut 
ist  nnd  in  seinen  Best  im  mutigen  nur  durch  den  mensch- 
lichen Willen  entartet  und  vereitelt  wird**,  Denn  die 
Sinne  und  die  Leidenschaften  sind  nicht  nur  als  Vermittler 
zwischen  der  Seele  und  dem  Körper  bei  der  Erkenntnis 
der  Außenwelt,  sondern  aue  als  Mittel  zur  Förderung 
unserer  Selbaterhaltung  zu  bejahen:  daher  sind  sie  auch 
von  Natur  aus  keinesfalls  schlecht  und  man  soll  ihren  Ur- 
sprung nicht  in  dem  Sündenfall  suchen:  „pas  tout  un  d^s- 
ordre  du  cötä  des  sens,  <jue  de  celui  de  l'esprit  et  de  la 
volonte  des  hommes".  —  Malebranche  wird  nicht  müde, 
auf  die  Bedeutung  des  Sinnlichen,  der  Lust-  und  Schmerz- 
gefühle, als  unserer  „radikalen"  Eigenschaften,  hinzuweisen. 
„Du  liebst  deinen  Leib",  sagt  er  „du  willst  und  sollst  ihn 
erhalten  (conserver),  —  du  sollst  daher  auch  in  zwei 
Richtungen  arbeiten,  für  das  Wohl  deines  Körpers  und  dein 
eigenes  (d.  h.  deine  Seele)" ",  So  haben  wir  es  hier  klar 
mit  einer  anderen  Rehabilitation  der  Sinne  zu  tun,  als  es 
in  der  englischen  Gefühlsmoral  der  Fall  war,  und  auch 
hier  liegt  es  am  nächsten,  die  Quelle  der  weltanschauungs- 
mfißigen  Grundlage  des  Physiokratismus  in  diesen  Gedanken- 
gängen zu  suchen. 

Es  darf  nicht  befremden,  daß  wir  einen  mystischen 
Theologen,  wie  Malebranche  es  war,  in  eine  Untersuchung 
über  die  Entstehung  moderner,  weltlicher  Ansehauungeu 
hineinziehen.  Malebranche  war  nicht  nur  Mystiker,  sondern 
auch  Rationalist  (man  erinnere  sieh  seiner  Ausführungen 
über  die  Religion ,  wonach  diese  der  Philosophie  als  dem 
Böheren  unterstellt  werden  soll!)  —  und  oft  ein  radikaler: 


'  Darüber    uud    über   das   fulgende   ».   Ualebranche,    Oeuvres, 

I.  n,  Hiditationg  chr^ticnnea,  eh.  X,  gS  2—4;  Kd.  Hl  und  IT,  BecbercJie 

Wae  la  firM,   Uvre  1,   ek.  V,   up.  35—40,  livre  IV,   cb.  X,   pp.  73—77; 

Traiti  de  la  morale,  eh.  XI,  ^§9  et  «uiv,,  eh.  XUI,  g  7,  ch,  XXIV,  g  10. 

«MMitaUoiut  chritieniiei,  XX,  gg  15. 


30  VI  3 

wurde  er  doch  wegen  seiner  Rechtfertigung  der  Sinne 
von  den  Kartesianern  Arnauld  und  R^gis  bekämpft 
und  sogar  Epikureer  genannt*^!  Freilich  ist  bei  ihm  alles 
Sinnliche  dem  „ordre  immuable"  dienstlich  unterstellt,  und 
wo  es  in  selbstgenügsame  Leidenschaften  umschlägt,  da  soll 
es  bekämpft  und  unterdrückt  werden  bis  aufs  Äußerste. 
Das  aber  haben  auch  Quesnay  und  seine  Schüler  gepredigt 
mit  dem  Unterschiede,  daß  Malebranche  sofort  vom  Rationalis- 
mus in  einen  radikalen  Mystizismus  und  Asketismus  ver- 
fällt, der  ihn  fast  bis  zur  Verneinung  alles  Sinnlichen  führt 
Damit  ist  aber  eine  Tendenz  von  bleibender  Bedeutung  nicht 
aufgehoben  worden,  nämlich,  daß  alles  Sinnliche  ein  not- 
wendiges Mittel  zur  Erreichung  höherer  Zwecke  ist 
„L'homme  renvers^  par  terre,  s'appuie  sur  la  terre,  mais 
c'est  pour  se  relever"*®,  sagt  Malebranche  an  einer  Stelle. 
Dieser  Satz  könnte  als  Motto  an  die  Spitze  des  physio- 
kratischen  Systems  gestellt  werden**. 

*''  Vgl.  Bouiller,  a.  a.  O.,  Bd.  11,  p.  98;  Windelband,  Geschichte 
<ier  neueren  Philosophie,  8.  Aufl.,  Bd.  I,  §  27. 

*8  Trait^  de  la  morale,  V,  §  18. 

*^  Die  von  Hasbach  in  seiner  Abhandlung  in  der  Revue  d'Economie 
politique  gegen  die  Abhängigkeit  der  Moralphilosophie  Quesnay^s  von 
Malebranche  dargebrachten  Argumente  erscheinen  uns  wenig  stichhaltig. 
Z.  B. ,  daß  Malebranche  vom  „ordre''  spricht,  Quesnay  dagegen  vom 
„ordre  naturel"  :  wichtig  ist  aber  für  uns,  daß  beide  vom  „ordre  immuahle^ 
sprechen ;  oder ,  daß  die  Geschichtsschreiber  des  Naturrechts  sich  nie  auf 
Malebranche  berufen:  das  ist  selbstverständlich,  da  Malebranche  sich  mit 
dem  Naturrecht  nicht  beschäftigt,  und  uns  kommt  es  nur  darauf  an,  die 
allgemeine  philosophische  Stellungnahme  zu  ergründen.  Auch,  daß  Male- 
branche unter  dem  „ordre  immuable"  Vollkommenheitsverhältnisse  versteht, 
wird  wenig  gegen  die  im  Text  vertretene  Auffassung  zu  besagen  haben, 
da  wir  uns  ja  nur  mit  der  Feststellung  begnügen,  daß  M.  die  ethische 
und  physische  Ordnung  gegenüberstellt  Diese  Gegenüberstellung  schließt 
aber  trotz  Hasbachs  Behauptung  die  Annahme  ihrer  Verneinung  in  einer 
höheren  Harmonie  vom  Standpunkte  eines  transzendentalen  Optimismas 
gar  nicht  aus,  wie  das  auch  bei  Malebranche  wirklich  geschehen  ist.  Und 
wenn  das  bei  den  Physiokraten  in  einer  empirischen  Bejahung  des  Sinnlichen 
sich  äußert,  so  ist  es,  wie  wir  gezeigt  haben,  auch  bei  Malebranche  nach 
der  Abschüttlung  der  mystisch-theologischen  Zutat  nicht  anders  der  Fall.  — 
Bei  dem  allen  dürfen  die  mannigfachen  Anregungen,  die  Quesnay  von 
England  aus  bekommen  hat,  durchaus  nicht  geleugnet  werden.  Uns 
kommt  es  aber  nicht  darauf  an,  den  einzelnen  auf  ihn  ausgeübten  Ein- 
flüssen nachzugehen,  sondern  auf  die  Feststellung  dessen,  wes  Geisteskind 
er  doch  im  letzten  Grunde  war. 


VI  3 


31 


I 


EIh  darf  wohl  nur  angedeutet  werden,  daß  auch  die  Konse- 
quenzen, die  die  Physiokraten,  wie  die  ganze  Literatur  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts,  aus  der  karteaiachen 
Philosophie  gezogen  haben ,  nämlich  der  Glaube  an  die 
Möglichkeit,  die  Menachen  zum  vemlinftigen  Dasein  zu  er- 
ziehen, schon  bei  Malebranche  zu  finden  ist. 

Die  Erziehung  muß  danach  nicht  nur  auf  die  Aus- 
bildung der  Vernunft  gerichtet  sein,  sondern  auch  auf  eine 
derartige  Lenkung  der  Sinne,  daß  ihre  Forderungen  den- 
jenigen des  ^ordre  immuable"  entsprechen,  mit  anderen 
Worten,  in  jedem  Menachen  muß,  wie  Malebranche  es 
mehrmals  ausdrückt,  ein  „amour  propre  öclairö"  er- 
zogen werden^". 

Es  ist  daher  auch  hier  anzunehmen,  daß  die  phyaio- 
kratiachen  Erörterungen  über  die  Eigenliebe  (vgl.  oben 
Le-Mercier's  Lehre)  im  Prinzip  näher  den  analogen  An- 
sichten Malebranche's  als  irgend  welchen  anderen  Aus- 
führungen über  denselben  Gegenstand  stehen,  wenn  auch 
andersartige  Beeinflusaungen  im  einzelnen  nicht  zu  ver- 
kennen sind.  Einer  der  letzten  „reinen"  Kartesianer,  der 
17ö9  voratorbene  Chancolier  d'Arguesseau,  hat  ebenfalls  in 
seinem  rechtsphilosophischen  Werke  die  Lehre  vom  „amour 
propre"  zu  vertreten  gewußt,  ohne  dabei  an  seinen  philo- 
sophischen Ausgangspunkten  7,u  rütteln*'.  Es  ist  also  klar, 
daß  eine  gewisse  Auffassung  von  der  Eigenliebe  mit  den 
moratphiloaophischen  Grundlagen  dea  Kartesianismus  nicht 
Im  Widerspruch  steht.  An  diesen  Punkt  konnten  also  die 
Physiokraten  anknüpfen. 

So  stehen  wir  auch  im  Rahmen  der  Malebranche'schen 
Philosophie  auf  dem  Boden  einer  ideellen  Harmonie  zwischen 
der  sinnlichen  und  der  sittlichen  Welt  und  kommen  genau 
zu  demselben  Schluß  über  ihre  gegenseitige  Beziehung,  wie 
wir  es  bei  den  Physiokraten  gefunden  haben 


'"  Trfti«  de  U  morale,  ch,  IV,  gg  13-19,  cb.  V.  Sg  16,  22,  eh.  Via 
■<  UonilUr,  A.  n.  0„  Bd.  II,  ch.  XXX,  p.  605/6. 


Zweites  Kapitel. 


Auf  den  philosophischen  Voraussetzungen,  wie  wir  sie 
bisher  dargestellt  haben,  beruhen  die  Ausgangspunkte  der 
Sozialphilosophie  der  Physiokraten. 

Die  Gesellschaft  ist  die  Sphäre,  in  der  der  Mensch 
sich  betätigt  als  zugleich  passiv-sinnliches  und  aktiv-ethisches 
Wesen;  in  ihr  durchkreuzen  sich  zwei  verschiedenartige 
Elemente  und  schmelzen  zu  einem  neuen  Ganzen  zusammen : 
das  physisch  Determinierte  mit  der  freien  Tat  und  der  ireien 
Wertschätzung.  Das  erstere  bildet  die  unabwendbaren,  vom 
menschlichen  Willen  unabhängigen,  ihren  eigenen  Gesetzen 
folgenden  Gegebenheiten  des  gesellschaftlichen  Daseins.  Die 
Abhängigkeit  von  diesen  dem  Willen  entrückten  Daten, 
hauptsächlich  in  der  Gestalt  der  Bedingungen  der  An- 
häufung materieller  Güter,  ist  der  leitende  Gedanke  der  physio- 
kratischen  Sozialphilosophie. 

Nur  diese  Abhängigkeit,  nicht  das  Aufgehen  der  Welt 
der  menschlichen  Betätigung  in  dem  „Physischen"  ist  ge- 
meint, wenn  die  Physiokraten  vom  „ordre  physique"  in 
der  Gesellschaft  sprechen,  oder  wenn  ihnen  die  daraus  sich 
ergebenden  Konsequenzen  „physiquement  nicessaires"  er- 
scheinen, oder  wenn  sie  die  von  den  Daseinsbedingungen 
und  den  natürlichen  Trieben  abhängigen  ethischen,  recht- 
lichen und  politischen  Maximen,  als  „morale  physique"  be- 
zeichnen. Das,  worauf  es  ihnen  ankommt,  besteht  darin, 
die  Motive  der  menschlichen  Tätigkeit,  die  Elemente  seiner 
Bewußtseinsinhalte  in  der  „physischen",  seinem  Willen  ent- 


VI3 


33 


I 


rückten  Welt  zu  auchen,  zu  der  auch  seine  eigenen  natür- 
liclieD  Triebe  gehören.  —  Auf  Grund  dieser  Erkenntnis 
soll  das  Gerechte  von  nun  ab  auch  den  nicht  Aufgeklärten 
in  der  faßbaren  Gestalt  ihrer  eigenen  Bedürfnisse  und  in 
der  erkennbaren  Gesetzmäßigkeit  der  Jtußeren  Natnr  ein- 
leuchtend gemacht  werden:  „La  justice  doit  avoir  un  point 
d'appui  sensible  pour  devenir  manifeste  dans  toutes  sea 
cons^quencea  aus  faommes  ignorants",  heißt  es  bei  Le-Trosne  ^. 

So  soll  auch  der  normale,  zu  verwirklichende  gesell- 
schaftliche Zustand  —  der  ordre  naturel  —  wie  das 
Weltganze  im  Plane  Gottes,  eine  harmonische  Einheit  der 
Natur  und  der  Moralität  darstellen.  Auf  dieser  Doppel- 
seitigkeit des  „ordre  naturel"  bei  der  gewaltigen  Betonung 
der  ^physischen"  Abhängigkeit  einerseits,  und  der  schließ- 
lichen weltanschauungsmäßigen  Anerkennung  des  Primats 
der  freien  Vernunfttätigkeit  —  die  sowohl  im  Einzel- 
dasein und  in  der  unorganisierten  Existenz  der  Menschen- 
menge, als  auch  ganz  besonders  in  dem  organisierten  staat- 
lichen Leben  zum  Ausdruck  kommt  —  andererseits,  beruht 
das  ganze  physiokratisehc  System.  Es  ist  notwendig  dies 
hervorzuheben,  um  sich  klar  zu  machen,  daß  für  die  Physio- 
kraten  die  „loi  physique"  in  ihrer  Gesellschaftslehre  nicht 
identisch  ist  mit  dem  Naturgesetz,  weil  sie  das  Eingreifen 
der  überlegten  Tat  in  die  natürlichen  Vorgänge  voraussetzt, 
was  beim  Naturgesetz  ganz  ausgeschlossen  ist'.  Doch  dies 
bedarf  noch  näherer  Ausführungen, 

Da  die  ethischen  Werte  den  „ordre  de  la  nature"  niclit 
berühren,  so  kann  der  menschliche  Bewertungsmafistab  der 
Natur  nur  insofern  angelegt  werden,  als  diese  in  den  Bereich 
der  menschlichen  Betätigung  hineingezogen  und  die  ethische 


'  Ls-Tfosne,  p.  84. 

'  Es  ist  muerefl  Ernchl«Ds  nicht  genügend  darauf  liiiig(iwie)i«ii 
I  worden,  daB  Quemuiy  in  aeinen  soziiilphilosopliiBcbeD  AuKtiitinmgeu  unter 
1  «loi  pbysique"  durcbauB  kein  Naturgesetz  ini  Sinne  der  Nulurwisitea- 
I  «ohaften  meint;    er  hesieht  «ie  nur  auf  die  GeaetUuhaft  nnil  den  soziiilen 

SU&t«-  u.  vOlkuriDobtl.  Abhundl.  Vt  s.  -  oantiherg.  g 


34  VIS 

Welt  somit  in  realen  Vorgängen  konkretisiert  wird.  Die 
Beziehung  der  moralischen  Ordnung  zur  nattlrlichen  ge- 
staltet sich  dann  derart,  dafi  die  erstere  nur  einen  durch 
die  freie  menschliche  Betätigung  erzeugten  und  kraft  der 
ethischen  Sanktion  hervorgehobenen  Ausschnitt  der  letzteren 
bildet^.  Jede  Erscheinung,  die  wir  als  gut  oder  schlecht 
bezeichnen,  ist  aufierdem  auch  natürlich,  aber  nicht  um- 
gekehrt: nicht  alles,  was  in  der  Natur  ist  und  vorgeht,  wird 
von  der  menschlichen  Vernunft  gut  oder  böse  geheißen; 
denn  nur  die  vom  Menschen  geregelte  Natur,  deren 
Gesetze  aber  dabei  unveränderlich  bleiben,  kommt  hier  in 
Betracht.  Daher  gehören  nur  diejenigen  Vorgänge,  die 
von  menschlichen  Zwecken  geregelt  sind,  in  den  Geltungs- 
bereich der  „loi  physique^  hinein,  und  so  heißt  es  auch 
bei  Quesnay:  „On  entend  ici  par  loi  physique  le  cours 
r^gl^  de  tout^v^nement  physique  de  Tordre  naturel 
le  plus  avantageux  au  genre  humain^. 

Nur  so  wird  der  Sinn  der  theoretischen  Sätze  der 
Nationalökonomie  verständlich,  wie  sie  sich  aus  dem  Tableau 
^onomique  ergeben,  und  wie  sie  die  Physiokraten  in  den 
„lois  physiques"  aufgestellt  haben.  Sie  sind  unabhängig 
vom  menschlichen  Willen,  weil  sie  den  Gesetzen  der  Natur 
unterworfen  sind,  sie  unterscheiden  sich  aber  von  den 
letzteren,  weil  sie  tibertreten  werden  können  —  und  tat- 
sächlich übertreten  werden.  Daher  ist  im  letzten  Grunde 
die    physiokratische    Auffassung    von    einem    in    sich    ge- 


^  Das  erkennt  am  besten  E.  Daire,  wenn  er  sagt  (Physiokrates 
hd.  I,  Introduction,  p.  XI,  Note  2) :  „Par  lois  physiques,  on  n'entend  pas 
pr^cis^ment  les  lois  de  la  mati^re,  mais  bien  plutdt  la  direction  utile 
que  Tintelligence  humaine  peut  donner  k  ces  lois.  Que  l*on  cultive  oa 
ne  cultive  pas  le  sol,  il  est  certain  que  Tune  ou  Tantre  hypoth^e  ne 
ühangera  rien  aux  lois  physiques  de  la  v6g^tation*^. 

*■  Quesnay,  p.  375.  —  liebt  die  Definition  der  „loi  physique"  die 
Zweckbestimmung  för  den  Menschen  hervor,  so  betont  dagegen  die 
Definition  der  „loi  morale"  die  andere  Seite  des  physiokratischen  Grand- 
gedankens,  nämlich  die  Abhängigkeit  von  den  physisch-determinierten 
Voraussetzungen  —  und  so  lautet  sie:  „.  .  .  une  r6gle  de  toute  action 
humaine  de  1  ordre  moral  con forme  a  Tordre  physique  6videmment 
le  plus  avantageux  au  genre  humain". 


VI  3  35 

Bublosaenen  Ganzen,  das  von  den  „lois  physiquea"  beherrscht 
wird,  keine  „organische"  Lehre  von  der  Gesellschaft,  aondarn 
eine  Lehre  vom  „richtigen"  geseltschaftlicheD  OrganiamuB, 
wie  er  sein  soll".  So  fehlt  von  vornherein  jedem  Ver- 
suche, in  der  physiokratiachen  Gesell  sc  ha  ftsi  ehre  eine  posi- 
tivistische Auffassung  im  Sinne  einer  Lehre  von  der 
„sozialen  Statik"  zu  erblicken,  jede  Berechtigung".  Unter 
diesen  Voraussetzungen  tritt  in  der  ersten  wissenschaftlichen 
Soziallebre,  als  welche  zu  gelten  der  Physiokratismua  das 
Recht  hat,  die  „Wirtschaft"  nicht  als  Naturprodukt,  sondern 
als  Kulturprodukt  auf,  denn  die  ^lois  physiques",  die 
den  wirtschaftlichen  Organismus  schaffen,  kommen  erst 
durch  die  freie  menschliche  Tat  und  die  menschliche  Be- 
wertung zur  Geltung,  — 

Daraus  ergeben  sich  auch  die  methodischen  Grund- 
lagen der  phygiok  rauschen  Gesellschaftslehre.  Ist  der 
Gegenstand  ihrer  Betrachtungen  in  seinen  Erscheinungs- 
formen von  der  vernünftigen  menschlichen  Tat  bedingt,  so 
muß  er  auch  seine  letzte  Erklärung  in  einem  Vernunft- 
prinzip finden,  das  gegeben,  das  aber  nicht  abzuleiten  ist. 
Dieses  Prinzip  ist  das  durch  richtige  Einsteht  erkannte, 
wohlverstandene  eigene  Interesse.  So  bildet  die  deduktive  Me- 
thode den  eigentlichen  Weg,  den  die  Fhysiokraten  beschreiten. 

Erwfigt  man  aber  daneben  die  Bedeutung,  welche  die 
Physiokraten  der  äußeren  Natur  und  ihren  Gesetzen  für 
den  Abiaul  des  menschlichen  Lebens  beimessen,  so  ergibt 
sich  von  vornherein  die  Notwendigkeit  einer  exakten  Er- 
kenntnis dieser  Außenwelt.  Das  ist  aber  nur  auf  induktivem 
Wege  möglich,  wie  es  die  Sensationstheorie,  die  Verwerfung 
der  angeborenen  und  die  Lehre  von  den  allgemeinen  Ideen 


'^  Vgl.   A.  Oncketie  Ausführungen   über  da»  Tfthloau  äcouomique, 
2  Owaliichte  der  NAlional Ökonomie,  Sä.  S44,  386 — 102. 

'  Ähnliche  VcrsuuliB  Hiud   aueb   yoa   solchen  gemacht  wonlen,   die 

t4i«  »toiadie  Orunillni^  das  PhysiokratiRniiu  erkannt  haben:   H.  Deuia, 

La.  a.  O.,   [ntrodaküon  §  2,  H.  Bipert,  Le  Marquie  de  Mirabean.     get 

[-fUoricB  politiquM  et  sociale»,  p,  320     ähnlich  Juhn  Morley,  Critioal 

"boeUanie*,  L  aerie,  pp.  ^9,  81. 


36  VI  i 

in  der  Quesnay'schen  Auffassung  zur  Gentige  bewiesen 
haben.  Übertragen  auf  die  Wissenschaft  von  der  mensch- 
lichen Gesellschaft,  ergibt  sich  daraus  die  Forderung  der 
Beobachtung  von  Tatsachen  („donnäes^  oder  „conditions 
donn^es"  nach  Dupont^),  die  als  Material  Air  die  Kon- 
struktion des  normalen  gesellschaftlichen  Organismus  dienen 
sollen.  So  ist  auch  für  die  induktive  Methode  der  Boden 
geebnet. 

Doch  bleibt  die  Bedeutung  der  Beobachtung  und  der 
Ableitung  aus  induktiv  erworbenen  Daten  nur  im  Rahmen 
der  endgültigen  Deduktion  aus  dem  Vernunftsprinzip  be- 
stehen. Die  Induktion  ist  nur  ein  Hilfsmittel  ohne  selbst- 
ständigen Wert  fUr  die  Wissenschaft  von  Moral  und  Politik, 
die  den  Physiokraten  mit  der  Lehre  von  der  Gesellschaft 
identisch  war.  Das  wohlverstandene  Interesse  bleibt  ihnen 
stets  als  Regulativ  der  Obersatz,  der  es  erst  möglich  macht, 
die  auf  dem  Wege  der  Induktion  errungenen  Tatsachen  zu 
theoretischen  Sätzen  zu  erheben. 

Trotzdem  sprechen  die  Physiokraten  im  Geiste  des  von 
den  Naturwissenschaften  getränkten  Jahrhunderts  in  ihrer 
Gesellschaftslehre  immer  von  Naturgesetzen.  Abgesehen  also 
von  der  Art,  wie  wir  diese  „Gesetze"  erkennen  und  von 
der  Überzeugung,  daß  der  „ordre  naturel"  und  der  „ordre 
de  la  nature"  zwei  verschiedene  Welten  bilden,  haben  sie 
den  formalen  Begriff  des  Gesetzes  auf  die  soziale  Ordnung 
übertragen,  ohne  daran  Anstoß  zu  nehmen,  daß  das  Gesetz- 
mäßige sich  hier  bei  ihnen  auf  das  Gewünschte,  nicht  auf 
das  Seiende  bezieht.  Diese  Übertragung  war  um  so  nahe- 
liegender, als  die  Vorstellung  des  Gesetzmäßigen  haupt- 
sächlich auf  dem  Boden  der  Mechanik  ihre  herrschende  Be- 
deutung gewonnen  hat,  so  daß  unter  dem  Naturnotwendigen 
nicht  die  kausale,  sondern  die  mathematische  Notwendigkeit 
verstanden   wurde.     Daher   liegt   auch  die  Beweiskraft  der 

^  S.  A.  Oncken,  Geschichte  .  .  .,  S.  390. 


VIS 


37 


I 


Physiokraten  im  Kalkül,  und  ihre  „Notwendigkeit" 
sie  seibat  überall  die  „geometrische  ^ 

So  haben  die  Physiokraten  einerseits  die  Bedeutung 
und  das  Wesen  des  sozialen  Ideals  verstanden,  anderer- 
seits es  aber  naeh  der  Formel  des  Naturgesetzes  erfüllt  sehen 
wollen.  Daher  haben  sie  auch  keine  Ausnahmen  in  der 
zu  konstruierenden  Wirklichkeit  und  folglich  keinen  Gegen- 
satz zwischen  allgemeinen  und  individuellen  Interessen  zu- 
lassen können.  In  dieser  Forderung  einer  sozialen  Lücken- 
losigkeit  lagen  schon  die  Keime  einer  Knechtung  des  Indi- 
viduums verborgen. 

Neben  dem  Zeitgeist  mag  aber  auch  das  besondere  Be- 
Btreben,  das  Neue  in  ihrer  Doktrin  hervorzuheben,  maß- 
gebend gewesen  sein ,  wenn  sie  vom  Naturgesetz  in  der 
Lehre  von  der  Gesellschaft  sprechen.  Denn  hieß  es  früher 
die  Menschen  sollen  nach  den  Kegeln  der  abstrakten  Moral 
handeln,  so  blieb  doch  die  Erfüllung  dieser  Hegeln  den 
Meisten  tatsächlich  versagt;  jetzt  soll  aber  den  ethischen 
Maximen  in  der  menschlichen  Tätigkeit  ein  fester  Boden 
gegeben  werden,  sie  sollen  in  eine  vom  jeweiligen  Willen 
unabhängige  Motivenreihe  hineingezogen  werden  und  als 
konstant  wirkender  Beweggrund  in  gleichen  Fällen  bei 
gleichen  Voraussetzungen  die  gleichen  Folgen  hervorrufen  — 
mit  derselben  mathematischen  Notwendigkeit,  wie  es  in 
der  Natur  vorgeht.  Dieser  feste  Boden  sind  die  natürlichen 
Triebe  des  Menschen,  sein  Streben  zur  .Selbsterhaltung. 

Steht  also  das  Naturgesetz  in  seiner  außerzeitlich  an 
Abstraktheit  im  Mittelpunkt  der  methodischen  Prinzipien 
des  Phyaiokratismus,  so  wird  damit  dennoch  nichts  an  der  An- 
nahme geändert,  daß  der  „ordre  naturel"  und  seine  Gesetze 
etwas  von  der  naturnotwendigen  Ordnung  ganz  Ver- 
«chiedenes  ist. 

,  Den  eigentlichen  Gegenstand  der  Lehre  von  der  Ge- 
lUscbaft  soll  aber  nur  der  „ordre  immuable"  bilden.  Da- 
it  liegt  die  Erklärung  für  die  Methode,  der  die  Physio- 
Juesn«)-.  p.  645,  §  (* 


38  VIS 

kraten  folgten,  klar  auf  der  Hand.  Der  Physiokrat  Dupont, 
dem  manchmal  das  für  den  modernen  Beurteiler  so  ver- 
führerische Wort  von  einer  „exakten''  Wissenschaft  ent- 
schlüpft, hat  diesen  Standpunkt  der  Schule  unzweideutig 
hervorgehoben. 

In  kritischen  Bemerkungen  über  eine  Rede  Beccaria's* 
tritt  er  dessen  Behauptungen  entgegen,  dafi  man  auch  in 
den  Sciences  morales  et  politiques  nicht  von  allgemeinen 
Wahrheiten,  sondern  von  den  „värit^  particuliöres''  ausgehen 
müsse.  Wer  so  denkt,  meint  Dupont,  der  glaubt  in  diesen 
Wissenschaften  ein  nur  für  Botanik,  Physik  und  Chemie 
taugliches,  ja  ausschliefilich  notwendiges  Verfahren  an- 
wenden zu  können.  Das  ist  aber  falsch,  denn  die  volle 
Wahrheit  bei  der  Erkenntnis  der  äußeren  Natur  ist  dem 
Menschen,  wegen  der  Beschränktheit  seines  Geistes  und 
seiner  Sinnesorgane  und  wegen  der  Unermefilichkeit  des 
zu  erkennenden  Gebiets,  für  immer  versagt.  Daher 
können  die  „physiciens"^  die  Natur  nur  hier  und  da  in 
Bruchstücken  erfassen  („Obligos  de  prendre  par  les  rampeaux 
quelques  portions  de  connaissances""),  ohne  imstande  zu 
sein  je  die  wahre  nur  der  Gottheit  erschlossene  Ursache 
zu  ergründen.  Anders  aber  verhält  es  sich  mit  den  Wissen- 
schaften der  Ethik  und  der  Politik,  weil  ihre  Regeln  uns 
betreffen,  nicht  die  äußeren  Vorgänge  „qui  n'ont  aucun 
rapport  ä  nous",  weil  sie  von  der  Vorsehung  für  uns 
„sous  nos  yeux  et  dans  nos  coeurs''  als  Regeln  unseres 
Handelns  bestimmt  und  daher  mit  voller  Einsicht  von  uns 
erfaßbar  sind :  so  ist  es  mit  der  Idee  des  Rechts,  der  Pflicht, 
der  Gerechtigkeit,  des  gegenseitigen  Interesses  usw.  Hier 
haben  wir  also  die  Prinzipien,  von  denen  wir  ausgehen 
müssen,  vor  uns,  ohne  sie  erst  auf  Grund  einzelner  Tat- 
sachen aufstellen  zu  müssen. 

So  gesehen  wird  es  klar,  daß  für  die  Physiokraten 
die     Gesellschaftslehre     nicht     eine    Lehre    von     den    Er- 

«  Ephem^rides  du  citoyen,  1769,  Heft  V,  pp.  63-  66,  Note. 


schemuDgen    des   aozinlen  Lebens   ist,    wie   sie  sich  natur- 

I  notwendig  entwickeln;  sondern  sie  ist  ihnen  eine  Lehre  von 
der  Einmischung  der  vernünftigen  menschlichen  Tat  in  die 

I  Gestaltiing  der  Gesellsehnft,  wie  sie  nach  den  Forderungen 
■  Vernunft  werden  soll.  Die  physiokratiache  Gesetl- 
ecbafts-  und  Staatslehre  läuft  somit  auf  die  ökonomische 
und  rechtlich-politische  Konstruktion  eines  Idealstaates  hinaus. 
Daher  hat  sich  Quesnay  direkt  die  Aufgiibc  gestellt,  nur 
den  bestmöglichen  (einen  „archiä-type  des  gouvernements", 
wie  es  bei  ihm  an  einer  Stelle  hei0t),  nicht  den  wirklichen 
Staat  zu  schildern '<*.  ^Die  Theorie  hat  sich  nur  mit  dem 
Besten  zu  beschäftigen",  sagt  mit  ihm  sein  großer  Schüler 
Turgot "  und  wiederholt  es  bei  jeder  Gelegenheit.  — 
Der  bisherige  Erfolg  der  naturwissenschaftlichen  Methode, 
heißt  es  bei  Dupont  au  der  schon  angeführten  Stelle,  sei 
nur  durch  den  Schutz  zu  erklären,  den  sie  bei  den  Macht- 
habenden in  der  bestehenden  Ordnung  gefunden  hat:  diesen 
war  ea  bequem  die  Völker  in  Ungewißheit  über  ihre  Rechte 
und  Pflichten  verharren  zu  lassen,  um  den  „despotisme 
arbitraire",  der  ja  gegeben  ist,  den  wir  Überall  wahrnehmen, 
in  seinem  Bestände  zu  rechtfertigen  ". 

Wohl  sei  BS  notwendig  und  wichtig,  ergänzt  Mirabeau 
Beine  GesinnungagenoBsen'",  auch  über  die  bestehenden 
Staaten  zu  belehren,  doch  soll  man  sich  weder  mit  dieser  Auf- 

I  ^abe  allein  begnügen,  noch  diese  Aufgabe  gar  mit  der  Lehre 
1  „ordre  naturel"  vermengen.    Das  aber  sei  der  Fehler  des 

■  „genialen"    Montesquieu   gewesen,   der   im   Geiste   der  Ge- 
e  den  Geist  der  Gesetzgebung   zu  finden  geglaubt  bat, 

t  ohne   einzusehen,   daß  „l'esprit   des   lois    ou   l'esprit   de  la 


1»  que»ui<y.  1».  -Mi. 

"  Tiireot,  tl,  p.  ^iK\i  ähnlich  Le-Meraier,  p.  117;  «iich  Bsadeau, 
i  IntrcHlnctioii  n  la  jihilusophle  economiqae  in  der  Daire 'scheu  Aus^Hbe  der 
I  PhTBJokritten,  Ud.  11  (im  folgonden  kurz  —  B&udena  —  litiert),  pp  691 
^  "  ■  I  1,  G92. 

■■  .  hnlicb  Turgot  in  einem  Briefe  an  M-elle  de  l'GspinSHs«,  Oourren 
..  BOl. 

■■  Mirabeau,  Lettrea  nur  U  ligislaüon    Bd.  II,  pp.  tiSh'i. 


40  VIS 

lägislation  ne  sont  pas  la  m§me  chose''.  Man  muß  aber 
stets  der  Verschiedenheit  dieser  beiden  Aufgaben  eingedenk 
sein.  „Nos  deux  objets",  sagt  Mirabeau  weiter  sich  gegen 
Montesquieu  wendend,  „n'ont  rien  de  commun;  le  g6nie 
et  r^rudition  ätaient  ses  guides  et  Tordre  naturel  est 
le  mien". 


Drittes  Kapitel. 


Die  am  Schluß  des  vorigen  Kapitels  angeführten 
ÄuöeruiJgen  Mirabeau's  legen  uns  die  Aufgabe  der  „neuen 
Wiflaensehaft",  wie  aie  sich  die  Physiokraten  aeibst  (lachten, 
klar  vor  Augen.  Methodisch  haben  wir  ea  hier  mit  einer 
uralten,  aber  ewig  sich  verjüngenden  und  dem  Geiste  der 
Aufklärung  so  sehr  entsprechenden  Form  des  politischen 
Raisonneinents  zu  tun:  nicht  die  verwerfliche  Wirklichkeit, 
sondern  die  vollkommene  soziale  Ordnung,  den  Idealstaat, 
soll  die  Wissenschaft  schildern.  Das  Neue  aber,  was  hinzu- 
kommt, ist  der  Versuch,  die  Konstruktion  nicht  aus  der 
Luft  zu  greifen,  sondern  sie  ans  den  zu  einem  System  zu- 
sammengefaßten notwendigen  Bedingungen  abzuleiten,  von 
denen  die  im  gesellschaftlichen  Zustande  lebenden  Menschen 
in  ihrem  Streben  zur  Selbsterhaltung  abhängig  sind.  So  wird 
von  den  Physiokraten  der  Staat,  wie  er  sein  soll,  auf  der 
Grundlage  der  Tatsachen  des  sozialen  Lebens  aufgebaut, 
die  vor-  und  außerstaatlicher  Natur  sind,  insofern  sie  zur 
Staatenbildung  führen  oder  neben  dem  Staate  von  setbst- 
stSndiger  Bedeutung  und  Wirksamkeit  bleiben.  Auf  diese 
Weise  wird  es  notwendig,  in  der  physiok rat! sehen  Doktrin 
diejenigen  Ideen  besonders  auszuscheiden,  die  sich  nicht 
das  Seinsollende,  sondern  auf  die  soziale  Wirklichkeit 
[  In  ihrem  Sein  und  Werden  beziehen. 


Die   erste  und  wichtigste  Tatsache,   die  an  der  Spitse 
■■  physiokratischen  Systems   steht,   ist   die  des  geselligen 


42  VI  3 

Zusammenlebens  der  Menschen,  die  Tatsache  der  Oesell- 
Schaft.  —  Dieser  Gedanke,  den  Quesnay  schon  im  vierten 
Kapitel  seiner  Abhandlung  über  das  Naturrecht  andeutet, 
wird  nachher  von  seinen  Schülern  besonders  scharf  hervor- 
gehoben. Die  Gesellschaft  ist  ihnen  eine  „physische"  Not- 
wendigkeit, der  eigentliche  „natürliche  Zustand"  des 
Menschen  \  Le-Trosne  betont  dies  direkt  im  Gegensatz  eq 
der  Theorie,  die  den  Ursprung  des  sozialen  Daseins  in 
einem  Gesellschaftsvertrage  erblickt^.  Der  junge  Graf 
Mirabeau  rühmt  in  einer  polemischen  Wendung  gegen 
Rousseau's  Contrat  social  diese  Lehre  „des  klaren  und 
methodischen  Entdeckers  (auteur)  der  wahren  Grundlagen 
des  Naturrechts"  ®.  Und  wirklich  ist  in  der  ganzen  physio- 
kratischen  Literatur  nur  an  einer  Stelle,  in  einem  unter- 
geordneten Artikel  Baudeau's  in  den  Ephemeriden  vom 
Jahre  1768*,  vom  „pacte  social"  die  Rede. 

Die  Gesellschaft  ist  also  keine  freie  Schöpfung,  sondern 


*  Le-Mercier,  eh.  I  und  Anfang  des  eh.  III;  Dupout,  Physiocratie 
ou  eonstitution  naturelle  du  gouvemement  le  plus  avantagetix  au  genre 
humain,  Reeueil  publi6  par  Du  Pont,  Yverdon,  1768  (im  folgenden  knn 
—  Physioeratie  —  zitiert)  Bd.  III,  De  Torigine  et  des  progr^  d*Qne 
seienee  nouvelle,  p.  15;  Mirabeau  hat  ähnliche  Gedanken  schon  in  seiner 
vorphysiokratisehen  Periode  im  Ami  des  hommes,  eh.  I,  geäußert. 

^  „.  .  .  que  la  soei^^  n'est  pas  un  ^tat  de  ehoix  et  de  Convention  . . .' 
„L'^tat  de  la  nature  que  tant  de  philosophes  opposent  continuellement 
k  r^tat  social,  est  une  pure  imagination,  et  une  supposition  absolument 
gratuite,  qui  ne  peut  donner  aueune  Inmi^re,  ni  conduire  k  la  connaiuance 
de  Thomme  puisqu'elle  met  k  la  place  de  Thomme  tel  que  Dieu  Ta  (bü, 
un  etre  faetice  et  id^al".     (Le-Trosne  pp.  13/14  und  Anmerkung.) 

^  ComtedeMirabeau,  Essai  sur  le  despotisme,  2-i^me  ^d.,  Londret 
1776,  pp.  86—39.  Das  war  die  erste  bekannt  gewordene,  ganz  physio- 
kratisch  gehaltene  Schrift  des  großen  Volkstribunen,  vgl.  A.  Stern ,  Das 
Leben  Mirabeau  s,  1889,  Bd.  I,  SS.  84/5. 

*  Im  VI.  Heft  des  im  Texte  genannten  Jahrganges  in  der  Abhand- 
lung „Vrais  prineipes  du  droit  naturel".  —  An  einer  anderen  Stelle 
äußert  sich  jedoch  Baudeau  gegen  den  Gesellschaftsvertrag  noch  schärfer 
als  die  anderen  Physiokraten,  indem  er  sagt:  „Nous  aimons  k  croire  que' 
l'homme  est  le  fruit  de  la  soci^t^  qui  pr^c^a  sa  naissance  .  .  .  Cette 
phrase  banale  si  souvent  r^p^t^c  par  la  tourbe  de  nos  ^erivains  „quand 
les  hommes  se  r^unissent  en  soci^t^s*^  n'exprime  qu^lne  chim^re  absurde, 
tout  mortcl  de  uotre  esp^ee  ^tant  n4  dans  une  soci^te  dont  il  etait  l*ef  fet 
et  non  la  cause.^  S.  Baudeau,  Nouveaux  Clements  du  commerce, 
Discours  pr^liminaire  zu  Bd.  78  der  Encyclop^die  m^thodique,  pp.  VII 
und  XII. 


eine   auf   notwendigen    , pliysiauhen "    Voraussetzungen    be- 
ruhende natürliche  Ordnung  des  menschlichen  Daseins. 

Die  Phyaiokraten  begniigen  sich  im  allgemeiuen  mit 
dem  Hinweiö  auf  die  Notwendigkeil  des  geselligen  Zusammen- 
lebens, die  in  der  Natur  des  Menschen  und  seinen  Lebens- 
bedingungen begründet  ist,  ohne  näher  auf  die  hier  in  Be- 
tracht kommenden  psychischen  Voraussetzungen  einzugehen, 
wie  das  vor  und  nach  ihnen  in  den  meisten  Theorien  der 
Fall  ist.  —  Le-Mercier,  der  im  ersten  Kapitel  seines  großen 
Werkes  den  Versuch  einer  psychologischen  Erklärung  unter- 
nommen hat,  beschrankt  sich  nicht  auf  die  Betonung  einer 
bestimmten  psychischen  Eigenschaft;  ftir  die  Erklärung  des 
sozialen  Daseins  sind  ihm  die  emotionnelle  Seite  der  mensch- 
lichen Natur  und  die  Vernunft,  rein  „natürliche"  Beweg- 
gründe „dans  l'ordre  phyaique"  und  ideale  Zwecke  „dans 
['ordre  m^ta phyaique"  gleichbedeutend.  Man  könnte  daher 
im  Sinne  der  Physiokratcn  die  psychischen  Motive  mir  all- 
gemein aU  das  Streben  zur  Selbsterhaltung  auffassen,  das 
psychisch  von  der  ganzen  Fülle  des  menschlichen  Seelen- 
lebens bedingt  ist.  Diese  atigemein  gehaltene  Erklärung 
hat  oft  die  Schüler  Quesnay's  veranlaßt,  die  psychischen 
Beweggründe  des  gesellBchaftlicben  Zustandes  in  der  bloßen 
Vorstellung  vom  persönlichen  Interesse  zusammenschrumpfen 
zu  lassen,  wogegen  sie  aber  an  anderen  Stellen  durch  den 
Hinweis  auf  die  selbstlose  Seite  der  menschlichen  Natur 
selbst  Einspruch  erheben''. 

Diese  Lehre  von  der  Oeaellschaft  als  einer  dem  mensch- 
lichen   Willen   entzogenen   Daeeinsbildung ,    knüpft   an   die 
'  Altere,   den   Gesellschaft  »vertrag   bekämpfende   französische 


^  Dics^  beldun  Beliaiiptim^ii  ßadeu  wir  besundera  olt  bti  Mirabeau; 

Tgl.  ilbar  das  Gute  in  der  meoschlithen  Nntur  in  der  Philosophie  rurale, 

I7K8,   l,   III,   p.    14;   ähnlich   in   den   hettra»   mr   1«  l^alstion,   Bd.  I. 

ATertiBiemunl.  —  Ini   nllgemeincD    wird   sbcr  ron  den  Pliysiokreten  die 

tute  Beile  der  men^chlirheu  Natur  Dur  bei  der  bekünipliiijf  der  Vertra^- 

Jienri«  lierror^hobeu.  dn  diese  Theorie  von  der  Annahme  ausgeht,  daB 

I   die   Menschen    den    „pacle    Kodfti"    erhtießen,    am    ihreii    „ natu r liehen' 

I   FeiDdielittkeiten   nnd   (^treilJKkeiten   ein   Ende   kq  mochen:   ».   besonders 

I  Baudeau'i  NouTeanx  £lämenta  d 


44 

Literatur  an,  etwa  an  F^nelon  und  Bossuet*.  Zweifa 
log  haben  auch  bei  Quesuay  metaphysisch-religiöse  Motiv« 
insoweit  mitgewirkt,  als  er  die  Gesellschaft  als  eine  gott- 
gewollte, der  menschlichen  Willkür  entrückte  Institution 
auffaßte.  Die  göttliche  Sanktion  bezog  sich  aber  bei  ihm 
auf  die  Gesellschaft  nur  als  Naturerscheinung  im  Gefilge 
des  Weltgauzen,  nicht  auf  irgend  eine  bestehende  staatlich 
organisierte  Form  der  Sozietät.  Wenn  die  Pbysiokratäii 
aber  von  einer  „Theokratie"  sprechen^,  so  verstehen  sie 
darunter  den  „ordre  naturel"  als  ein  Ideal,  welches  fem  ist 
von  jeder  Wirklichkeit  und  dessen  vollständiger  praktischen 
Undurchführbarkeit  sie  eich  wohl  bewußt  sind'*;  dagegen 
war  das  Bestreben  ihrer  Vorganger  ausgesprochen  auf  die 
Rechtfertigung  des  französischen  Königtums  gerichtet. 

Auch  die  Ähnlichkeit  zwischen  dieser  physiokrattscboj 
Lehre  und  der  späteren  katholischen  Staatstheorie  ist  noi 
eine  scheinbare,  weil  für  diese  die  göttliebe  Sanktion  dem 
historisch  Gewordenen  galt,  wodurch  das  Bestehen  einer  un- 
erschütterlichen und  greifbaren  Autorität  über  den  einzelnoBn 
gerechtfertigt  werden  sollte.  Eine  ähnliche  Autorität  i 
Gegensata  zur  „Anarchie  der  Meinungen"  haben  aucb  ( 
Physiokraten  gesucht;  nur  sollte  sie  nicht  außerhalb  dw" 
Menschen,  sondern  in  ihm,  ebenfalls  in  einer  „Meinung", 
die  sich  aber  zur  „Evidenz"  erhoben  hat,  gefunden  werden: 
denn  das  gesellschaftliche  Dasein  wird  nicht  nur  durch  das 
Naturnotwendige " ,  sondern  auch  durch  den  freien  menacb- 
lichen  Willen  bewirkt,  der  sowohl  die  „Depravation"  wie  den 


di«^^ 

dem 
nn- 

t  is^M 
idiM 


*  V^l.  Oierke,  Joliannes  Altosiua.  S.  82,  Anm.  22,  S.  100,  Anm.  OB 
'  QueRnny,  ]>.  642:  handeau,  799.  V 

•  Darüber  Bandeaii,  p.  792i  Le-Trosne,  p.  265.  ■ 
'  Der  charKkleriüCiiiclie   Zug   der  kathnlischen  StnatHlehre.   der  ikr 

das  realiatisoh-liistaTiHtiscbe  Oepräge  verleibt,  ist  siien  die  IdentifiEi«ran|{ 
de«  Gotteowillens  mit  der  rohen,  den  menaublichen  Willen  brei^hendca 
„gBKetini&liigfjt"  Natiimotwendi^keit;  nie  kannten  in  Gott  keinen  Unter- 
tdiied,  wie  Halebranohe  es  tit,  twisohen  den  ,.däcreta  divini''  oder  der  „puii 
sance  de  Dien"  (dem  „Nstii notwendigen")  einerBeita  und  der  „Tolonti  d 
Diou"  (dem  frei  vom  Mensohen  eu  verwirklichenden  „ordre  immiuibW 
Aadererseita. 


VI  3 


45 


I 


„ordre  naturel"  herbeiführen  kann.  Darin  äußert  sicli  der 
individualtstisch-aufklareriBche  Zug  des  Physiokratismue  im 
Gegensatz  zur  späteren  legitimistischen  Staatstheorie.  Es  ist 
daher  schwer,  einen  Zu.*ammenhang  zwischen  den  Lehren 
des  Physiokratisinus  und  des  späteren  Legitismus  zu 
finden,  weil  sie  aul'  Verschiedenee  gerichtet  sind  und  in 
entgegengesetzten  Weltanschauungen  wurzeln :  jene  in  der 
Aufklärung,  diese  in  der  Romantik '", 

Gehen  wir  nun  den  grundlegenden  Ideen  der  Physio- 
kraten  weiter  nach,  so  ist  an  dieser  Stelle  noch  einmal 
hervorzuheben,  daß  sie  in  ihrer  Gesellachaftslehre  den  Ge- 
danken der  Notwendigkeit  mit  demjenigen  der  freien  mensch- 
lichen Handlung  in  eine  Einheit  zu  bringen  wußten.  Den 
Schwerpunkt  der  zwingenden  Ursache  bei  der  Erklärung 
des  sozialen  Daseins  haben  sie  aus  dem  güttlichen  Willen, 
wie  es  sonst  die  den  Sozialvertrag  verwerfenden  Theorien 
taten,  oder  aus  einem  unbewußten  sozialen  Trieb  in  die 
auf  den  Menschen  einwirkende  äußere  Natur,  in  die  Be- 
dingungen und  Mittel  der  Herstellung  materieller  Güter 
verlegt.  Im  Prinzip  hat  das  schon  eigentlich  Montesquieu 
getan ,  nur  haben  es  die  Physiokraten  auf  Grund  ihrer 
nationalökonom lachen  Theorie  versucht  —  um  mit  Baudeau 
zu  sprechen  —  „d'expliquer  par  l'ordre  physique,  comment 
fl'opere  lo  bien  commun  de  tous".  Dadurch  haben  sie  die 
Möglichkeit  gewonnen,  den  Grundstein  zu  einer  wissenschaft- 
lichen Gesell  Schafts  lehre  zu  legen  und,  wie  Karl  MarxQuesnay 
nachrühmte,  „materielle"  Gesetze  der  Gesellschaft,  die  „von 
Willen,  Politik  usw.  unabhängig  sind" ,  aufzustellen ". 
I  Diese  Äußerung  Marxens    entspricht  aber   nicht  ganz  dem 

"^  Diesen  ZuBitmmeDhaii|;  liat  indessea  Henry  Michol  a.  a.  O.  p.  20 
EU  Gilden  (^egUnbl.  —  DA^eeen  ist  intorexsAnt  ku  sehen,  diiB  äe  Bonftld 
(Ebsm/  Bnn1;li<|Ue  aiir  les  loin  nsturelJes  de  l'ordre  socIaI,  Oeavreii, 
Bd-  1,  p.  'iÖHIl)  dum  (iliiloRophisulien  hebier  der  Pbyaiokrateii  Malebrauche 
den  Vorwurf  matüit,  daft  er  eine  von  Gott  BHnktionierle  GeaetEmiBigkeit 
nur  in  der  phjaiachvn  und  in  der  ilbernatürUi^en  W«lt  —  dem  „ordre 
imnua.lile''  — ,  nickt  aber  in  der  hiitoriscb  ^nardenen  Oesellschaft  feHl- 
genellt  hal. 

■<  K.  Uarx,  a.  ».  U.  S.  U. 


46  VIS 

Sinn  des  physiokratischen  Systems,  weil  sie  die  Vorstellung 
hervorruft,  als  ob  in  der  Organisation  der  Gesellschaft  der 
menschliche  Wille  bedeutungslos  wäre.  Das  war  aber  nicht 
die  Anschauung  der  Physiokrateh ;  denn  für  sie  war  wohl 
der  Mensch  ganz  von  „physischen"  Voraussetzungen  ab- 
hängig, seine  Vernunft  wurde  aber  dadurch  keinesfalls  ge- 
bunden oder  in  ihrer  realen  Bedeutung  beeinträchtigt.  Denn 
die  Vernunft  ist  es,  welche  es  dem  Menschen  möglich 
macht,  im  Rahmen  der  Notwendigkeit  sich  zu  orientieren  *', 
das  „Physische"  bewertend,  ordnend,  ja  sogar  in  das  Zu- 
sammenwirken der  natürlichen  Erscheinungen  gebieterisch 
eingreifend. 

Die  Vereinigung  dieser  beiden  Gedanken,  die  sich 
scheinbar  bekämpfen,  und  der  Versuch,  darauf  ein  neues 
systematisches  Gebäude  zu  errichten,  bildet  die  Eigenart  des 
Physiokratismus  und  bedingt  seine  eigentümliche  Stellung 
in  den  naturrechtlichen  Gesellschaftstheorien.  Aber  angesichts 
dieses  scheinbaren  Widerspruchs  zwischen  der  Determiniert- 
heit des  sozialen  Lebens  und  der  alles  beherrschenden  Ver- 
nunft, ist  die  literarische  Beurteilung  der  Physiokratie 
verschieden  ausgefallen,  je  nachdem  man  auf  die  eine  oder 
die  andere  Seite  die  Aufmerksamkeit  gelenkt  hat. 

So  haben  die  einen  betont,  daß  die  Physiokraten  gegen 
den  Sozialvertrag  waren  und  die  Gesellschaft  aus  ihrer 
„physischen"  Notwendigkeit  erklärt  haben,  die  anderen, 
unter  ihnen  Oncken  und  Hasbach,  sprechen  unumwunden 
vom  Sozialvertrage  bei  den  Physiokraten,  ohne  überhaupt 
näher  auf  diese  Frage  einzugehen.  Hasbach  scheint  bei  der 
Analyse  des  Le-Mercier'schen  Werkes  doch  daran  Anstofi 
zu  nehmen  und  macht  schließlich  diesem  Physiokraten  den 
Vorwurf  des  Widerspruchs  und  der  inneren  Inkonsequenz  ^^ 

^*  „Se  conduire  avec  sagesse,  autant  que  le  lui  permet  Tordre  des 
lois  ))hy8iques  qui  constituent  rimivers",  Quesnay,  p.  370. 

^^  Hasbach,  S.  60;  ähnlich  Espinas,  Histoire  des  doctrines 
^conomiqueSf  p.  217.  —  Hasbuch  sieht  in  den  Ausführungen  Le^MercierV 
ein  Salto  -  mortale ,  weil  er  dessen  Grundidee  durchaus  auf  Lockens 
Lehre  vom  Staatsvertrag  zurückfuhren  will.    Indessen  muß  dieses  Unter- 


VI  3. 


47 


t 


Indessen  läßt  sii-h  dieser  Vorwurf  vermeiden,  wenn  man 
den  phyiiiokratischen  Gedanken  so  auffaßt,  daß  die  Ge- 
bundenheit an  die  äußere  Natur  in  voller  Übereinatimniiing 
Diit  der  freien  VernunfttÄtigkeit  bestehen  kann,  die  in  den 
Grenzen  ihrer  Macht  die  Natur  zu  überwältigen  und  unter 
ihre  Zwecke  zu  beugen  sucht. 

Kb  darf  daher  nicht  wundernehmen,  wenn  wir  nun 
behaupten ,  daß  diejenigen  Publizisten ,  die  Montesquieu 
immer  vorgeworfen  haben,  daß  er  das  Wesen  der  staat- 
lichen Ordnung  auf  die  Einwirkung  der  äußeren  Natur, 
wie  Klima,  geographische  Lage  usw.  zurückfiihren  wollte  ", 
selbst  die  Determiniertheit  der  menschliehen  Gesellschaft 
scharf  betont  haben.  Der  Unterschied  bestand  aber  darin, 
daß  Montesquieu  nach  der  Auffassung  der  Phyaiokrateo 
auch  die  Prinzipien  der  vernünftigen  Organisation  des  ge- 
sellschaftlichen Lebens  von  den  Bedingungen  abhängig 
machen  wollte,  die  sie  nur  fllr  den  Unterbau  des  Staates, 
fUr   die  „physische"   Basis    der  Gesellschaft  gelten  ließen'". 

Die  wichtige  Konsequenz,  die  sich  aus  alledem  er- 
gibt, ist.  daß  wir  es  bei  den  Physiokrateti  mit  einer  deut- 
lich hervortretenden  Unterscheidung  von  Staat  und  Gesell- 


Mhmeu  miBlingen,  weil  bei  Locke  das  Indiriiluiini  staatai^Tideiid  ist 
{vgl.  JcllUek,  Allgomeine  (ttaatslehre ,  1.  Aufl.,  BS.  ISö.T),  bei 
Le-Mercier  iagegen,  wie  bei  allen  Plij-Bio c raten ,  i«t  es,  wie  wir  iiuch 
Mben  werden,  nur  ein  rational istiBchea  Prinzip. 

'*  QneaDsj,  p.  578;  Dupout,  Physiocralie,  Bd.  III,  p.  T/S. 

"  In  vüllem  MnBe  liBt  sich  dies  aach  kuf  Tnr^ot  beaieben,  der 
in  Beinen  berdhmlen  Jugendscbriften ,  anter  dem  EiiiSuH  Monteaqaieu's, 
die  Bedeutung  des  Klimas  nnd  der  geographiHclien  La|i^  für  di«  t^taalen- 
bildnoRen  hetont  (Oeuvres.  II,  p.  611  et  sniv.  und  an  vielen  nnderen 
BMllen).  Er  hebt  dabei  aber  auch  den  anderen  ätaudpunkt  hervor,  und 
awar  ausdrQoklich  ge^u  Montesquieu  |pp,  646/7),  wenn  er  HHgt,  daS  so- 
bald ea  unx  auf  das  bewußt  organisierie  soziale  Leben  ankommt,  wir 
dann  den  Uripning  in  den  leitenden  PrtnEtpieii  der  organiiatorischen 
TStii;keit  —  in  der  Vernunft,  in  den  „caugex  morales"  —  »uclien 
inOasen.  Erst  wenn  diese  Quelle  emi'hBpft  ist.  wenn  wir  Eur  O renne  des 
Bereiches  des  dem  Menschen  offen  stehenden  freien  Tittigkeittgebietes  an- 
gelangt sind,  dtinn  i^t  es  erlaubt  auf  die  natürlichen  Ursachen  au 
kommen.  Also  aucib  nach  Turgut,  wie  hei  den  nudereu  Ptysiokratea, 
ist  im  gesellschaftlichen  Lebeu  das  frei  Erworbene  und  frei  KoDftruierte 
von  dem  tatsäoLlieb  Gegebenen  und  Naturnot wendigen  ta  n 


48  VIS 

Schaft  zu  tun  haben .  Diese  ist  eine  in  allen  Stücken  von 
der  Natur  abhängige  „physische"  Erscheinung ,  jener  da- 
gegen eine  bewußt  vollzogene,  vernünftige  und  vereinheit- 
lichende Organisation  der  ausgereiften  sozialen  Beziehungen 
auf  einer  bestimmten  Stufe  ihrer  Entwicklung. 

Diese  staatliche  Organisation  soll  sich  nach  Prinzipien 
vollziehen,  die  als  allgemeingültige,  aufierzeitliche  und  un- 
veränderliche Maximen  des  Handelns  freier  Wesen  in  ihrem 
gesellschaftlichen  Leben  gelten  müssen.  Die  staatliche 
Ordnung,  die  auf  diesen  Prinzipien  aufgebaut  ist,  bildet 
das  für  alle  Zeiten  und  alle  Länder  gültige  Vorbild  eines 
„ordre  naturel  et  essentiel  des  hommes  räunis  en  soci^t^'^. 
Das  ist  der  eine  rein  naturrechtliche  Standpunkt  der 
Physiokratie  in  ihrer  Auffassung  der  Gesellschaft. 

Daneben  wird  aber  von  den  Physiokraten  der  zweite 
an  dieser  Stelle  uns  speziell  interessierende  Standpunkt  ver- 
treten, von  dem  aus  die  sozialen  Beziehungen  in  ihrem  Sein  und 
Werden  einer  Betrachtung  unterzogen  werden  sollen.  Hier 
wird  das  Veränderliche,  vom  Menschen  Unabhängige,  nach 
den  Gesetzen  der  Natur  sich  Vollziehende  zum  Gegenstand 
der  Erörterung  gemacht.  Das  ist  das  „Relative"  bei  Ques- 
nay",  das  ist  die  Veränderlichkeit  „selon  les  lieux  et  les 
circonstances" ,  die  auch  seine  Schüler  trotz  der  Angaben 
der  Gegner  hervorgehoben  haben  ^'. 


^^  Vgl.  darüber  Oncken,  Zur  Biographie  des  Stifters  der  Physio- 
kratie ,  in  Kuno  Frankensteins  Vierteljahresschrift  für  Staats-  und 
Volkswirtschaft,  1895,  S.  154. 

^"^  Diesen  Vorwurf  hat  den  Physiokraten  Rousseau  in  einem  Briefe 
an  Mirabeau  gemacht;  vgl.  A.  Oncken  in  der  oben  (Anmerkung  16)  g^ 
nannten  Zeitschrift,  Jahrg.  1896.  S.  277.  Dagegen  ließen  sich  aber 
manche  Stellen  aus  den  physiokratischen  Schriften  anfuhren,  die  die  Not- 
wendigkeit der  Anpassung  „selon  les  lieux,  les  temps  et  les  circonstances** 
betonen.  So  Baudeau  in  seiner  Hauptschrift,  p.  688  und  in  den  Epheme- 
riden,  1767,  Heft  I,  p.  5/6,  Heft  II,  p.  93.  Ähnlich  Mirabeau  über  die 
Variabilität  der  „lois  constitutives**  eines  Staates  nach  der  Beschaffenheit 
des  Klimas  und  des  Bodens,  Lettre»  sur  la  l^gislation,  II,  p.  688.  — 
Baudeau  bezeichnet  an  einer  der  angeführten  Stellen  (in  den  Ephemeriden 
1767,  II)  den  Inbegriff  der  relativen  Kegel  für  einen  gegebenen  Staat 
als  den  „ordre  national  de  chaque  empire*^  im  Unterschiede  vom  „ordre 
social '^  im  allgemeinen. 


VIE 


49 


I 
I 


Hier  stehen  wiederum  Turgot  und  die  anderen  Physio-' 
kraten  auf  ein  und  demselben  Boden,  und  daher  wird  der 
Versuch  sie  scharf  gegenüberzustellen ,  weil  Turgot  in 
seinen  Jugendschriften  den  Entwicklungsgedanken  ver- 
treten hat,  nicht  ganz  der  wahren  Sachlage  gerecht. 
Der  Vorwurf  der  prinzipiellen  Einseitigkeit  gegen  die 
Physiokraten  tat  ebensowenig  berechtigt,  wie  derjenige,  der 
gegen  Turgot  gerichtet  worden  ist,  daß  er  allmählich  seinen 
Jugendgedanken  untreu  geworden  sei,  um  schließlich  in 
einen  engherzigen  Dogmatismus  zu  verfallen. 

Das  Mißverständnis  beruht  darauf,  daß  raan  sowohl  hei 
Turgot,  als  bei  den  übrigen  Physiokraten  entweder  den 
einen  oder  den  anderen  der  von  ihnen  vertretenen  Gesichts- 
punkte in  der  Gesellschaftslehre  außer  acht  läßt.  Bei  den 
Physiokraten  wird  vergessen,  daß  sie  neben  dem  Unver- 
änderlichen, ewig  sich  gleich  bleibenden  „ordre  naturel" 
auch  das  Veränderliche,  von  der  Natur  im  steten  Wechsel 
Gegebene,  das  sich  Entwickelnde,  wie  wir  gleich  sehen 
werden,  hervorgehoben  haben'*.  Turgot  wiederum  wird  es 
als  Widerspruch  angerechnet,  wenn  er  neben  seiner 
Evolutionstheorie  hartnäckig  an  dem  Gedanken  festhält, 
daß  die  Wahrheit  unabhängig  bleibt  von  ihrem  Entstehen 
im  menschlichen  Geiste,  unabhängig  von  all  den  Stadien, 
die  der  Geist  durchzumachen  hat.   um  zu  ihr  zu  gelangen. 

II. 
Den  Enlwicklungsgedanken  im  Zusammenhang  mit  der 
Perfektibilitätaidee  hat,  wie  schon  erwähni,  zuerst  Turgot 
als  befruchtenden  Samen  auf  den  Boden  der  französischen 
Philosophie  gestreut.  Von  ihrem  mehr  positivistisch  ge- 
färbten Standpunkt  aus  (im  Gegensatz  zum  naturrechtlichen) 
wußten  die  Physiokraten  diesen  Gedanken  nicht  nur  anzu- 
erkennen, sondern  auch  in  dem  systematischen  Aufbau  ihrer 
liChre  zu  verwerten. 


"*  In  hexug  aar  Quesosy  wird  dji*  von  Oncken  in  vollem  MnBc  nn- 
Kukannti   da   er  durauf  nein  ganxe«  ijyatein  der  Dartitt>llnBg  bnal,   iiidem 
r  flbersll  den  „ordre  naturel"  vom  „ordre  positif  unterncheidet. 
StiioK-  11.  v.iIkDirechtL.  Abhudl.  VI  3.  —  GfliKiber«.  4 


50  VI  3 

Die  Entwicklungsidee  äußert  sich  in  der  physio- 
kratischen  Schule  in  der  Lehre  vom  allmählichen  Entstehen 
der  Bedingungen,  die  die  Verwirklichung  der  „natürlichen 
Ordnung"  in  den  „ötats  policös"  ermöglichen,  dann  in  der 
Lehre  von  den  Entwicklungsformen  der  staatlichen  Oi^ni- 
sation  und  schließlich  in  dem  allgemeinen  Glauben  an  den 
Fortschritt  des  menschlichen  Geistes. 

Was  diesen  letzten  Punkt  anbetrifft,  so  ist  er  schon  in 
der  sokratischen  Lehre  Quesnay's  von  dem  Zusammenhang 
der  Erkenntnis  und  der  Tugend  enthalten.  E^  ist  ja  ein 
Grundgedanke  der  ganzen  Doktrin  —  und  zwar  im  rein 
Quesnay 'sehen  Sinne  — ,  daß  die  Erkenntnis  zur  Tugend 
und  Glückseligkeit  führt,  und  daß  die  wahre  Einsicht  nach 
Überwindung  der  im  Laufe  der  Geschichte  begangenen 
Irrtümer  zum  Wohle  der  Menschheit  schließlich  doch  ein- 
treten wird.  Die  Menschheit  entwickelt  sich  also  in  der 
Richtung  immer  besser  werdender  Daseinsbedingungen,  je 
weiter  die  fortschreitende  vernünftige  Erkenntnis  gelangt 
Mit  Recht  nennt  daher  auch  Espinas  die  Physiokraten  die 
Schule  der  Progressisten  ^®.  Der  Unterschied  von  Turgot 
besteht  hier  nur  darin,  daß  die  Physiokraten  den  Fortschritt 
mehr  in  der  Zukunft  betonen,  während  Turgot  auch  in  der 
Vergangenheit  den  allmählichen  Progreß  konstatieren  wollte, 
um  darin  die  Bürgschaft  für  das  Kommende  zu  erblicken. 

Doch  liat  auch  Mirabeau,  trotz  seines  Sträubens  gegen 
den  allzu  „philosophischen"  Turgot,  auch  diesen  Gedanken 
von  ihm  übernommen,  indem  er  vom  „principe  präpara- 
toire"  spricht,  das  auch  den  Erscheinungen  der  Depravation 
eigentümlich  ist.  Das  ist  derselbe  Gedankengang,  den  wir 
in  Turgot's  „ Disco urs  sur  l'histoire  universelle"  finden,  nur 
weist  die  Mirabeau'sche  Formulierung  („il  n'est  point  de  mal 
qui  n'ait  son  bien  ä  port^e")  auf  die  innere  Verwandtschaft  mit 
Quesnay's  Lehre  von  der  „hygiene  de  la  nature"  deutlich  hin**^ 

^^  E  s  p  i  n  a  s ,  La  philosophie  sociale  du  18-i6me  si^le  et  la  r^volution, 
p.  94. 

^^  Turgot,  II,  682  et  suiv. ,  Mirabeau,  Lettres  sur  la  l^g^slation, 
Bd.  I,  Avertissement  und  pp.  125  6;  Quesnay,  p.  868. 


VI  3 


51 


Überlassen  wir  nun  die  Lehre  von  den  Entwicklunga- 
formen  der  staatlichen  Organiaation  dem  später  Folgenden, 
und  wenden  wir  uns  dem  ersten  der  oben  erwähnten 
Punkte  —  über  die  Entwicklung  der  sozialen  Bedingungen, 
die  zum  Staate  ftthren   —  zu. 

Es  ist  hier  vor  allen  Dingen  zu  bemerken,  daß  wir 
diese  Lehre  fast  in  allen  pliysiokratischen  Schriften  tinden 
können,  ausgenommen  denen  Quesnay'a,  bei  dem  sie  nur 
flüchtig  gestreift  wird  ^^  Dieser  Umstand  beeinträchtigt 
aber  imsore  Auffassung  wenig,  denn  auch  Quesnay  hat  — 
neben  Turgot  —  Diipont's  „Table  raiaonn^e  des  principes  de 
l'öconomie  politique",  in  der  diese  Lehre  systematisch  aus- 
geführt wird,  gutgeheißen ''. 

Zuerst  sind  die  Gedanken,  die  wir  hier  darzulegen 
baben,  in  der  Gestalt  einer  Auffassung  von  der  stufenweisen 
Entwicklung  der  menschlichen  GeselUchaft  in  den  Jugend- 
scbriften  Turgofs  zu  finden".  Als  Gemeingut  aller  zur 
Physiokratie-  sich  bekennenden  Publizisten  sind  sie  dann 
in  der  eben  genannten  Schritt  Dupont's,  an  die  auch  wir 
uns  halten  werden,  behandelt  worden. 

Den  Ausgangspunkt  bildet  die  Vorstellung  von  einem 
ungordneten  sozialen  Dasein  der  Menschen,  vod  einem 
Nebeneinander  Violer  („4tat  de  multitude"),  die  jedem  Blut- 
vergießen fremd,  in  ihren  Bedürfnissen  und  Beziehungen 
Äußerst  primitiv,  friedlich  leben,  alle  von  demselben  Bestreben 


I 


*'  Quesna; ,  Am  EingRngr  des  in.  Kh|i.  der  Abbtindluot;  Qber  dns 
NAtnrrecht,  dium  noch  ji.  6-16  §  11. 

"  Schelle,  Dupont  de  Nemours  et  l'^cole  phyiiocratique,  p.  163: 
vgl.  DaponfB  Schreiben  an  den  Markgrafen  Karl  Friedrich  von  Baden 
in  dem  von  K.  Knii»  herHusgegebonen  IJriefwechsel  de»  Mark^afen  mit 
Uirabeaa  und  DnponI,  1892,  Bd.  I,  S.  IM6.  (Im  folgenden  —  Briefwechsel 
4m  Markgrafen  Karl  Friedrich  —  citiert) 

"  Turgot,  JI,  p.  629—6^1;  auch  Miraboaa,  Pliiloiophie  riirale. 
Bd.  II,  p,  17—20.  Mastrier  —  Turgot,  sa  vie  et  sa  doctrine,  p.  410  — 
weist  daranf  hin,  daB  diese  Gedanken  dberhaupt  luerst  von  Turgot  aui- 
ftCHprodien  waren-,  das  ist  aber  nielit  ganz  riubtig,  denn  der  vemieiutlicli 
originelle  Turgot'sche  Qedanke  int  uralt  —  wir  finden  ilin  solion  bei 
Ariatgtelaa,  vgl.  Handwörterbuch  der  Staats wissonachnfleni  Jl.  Aoftage,  Art. 
Aristoteles,  Bd.  I.  ß.  1051. 


52  VI 

zur  Selbsterhaltung  geleitet,  das  durch  aufgefundene  Bode 
fruchte,  durch  „spontane  Erzeugnisse",  befriedigt  wird.  D 
war  das  Stadium  „de  la  recher  che  des  productions  v^ 
tales  spontan^es".  In  dieser  kurzen  Periode  gab  es  tum 
fast  keine  Ungleichheit;  alle  Menschen  bildeten  eil 
Klassn;  nur  die  vliterliche  Gewalt  war  das  Brzeugn 
dieser  Periode.  Die  Familie,  „les  liens  du  sang'^y  ist  al 
der  Anfang  jedes  sozialen  Zusammenschlusses. 

Als  der  natürliche  Ertrag  der  Erde  sich  dann  allnifthlic 
als  ungenügend  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse  erwiese 
hatte,  da  mußten  neue  Wege  gesucht  werden ,  und  es  h 
gann  das  zweite  Stadium  in  der  Entwicklung  des  soziale 
Daseins.  Nicht  mehr  durch  Sammlung  verschiedem 
Pflanzen,  sondern  durch  das  Töten  anderer  lebender  Wese 
konnten  die  Menschen  jetzt  ihr  Leben  und  ihre  Gattun 
erhalten.  Hier  entsteht  das  Verderben  im  menschliche 
Geschlecht,  meint  Mirabeau'*:  mit  dem  Blutvergießen  b< 
ginnt  die  Geschichte  der  Gewalttaten,  die  Menschen  werde 
blutgierig,  kampfeslustig,  rachsüchtig.  Das  ist  die  Jägei 
und  Fischerperiode.  Auch  hier  gibt  es  noch  keine  Klassei 
aber  die  gemeinschaftliche  Jagd  macht  eine  obere  Leitun 
notwendig  und  so  entsteht  die  Gewalt. 

Mit  dem  dritten  Stadium  tritt  eine  Milderung  der  Sitte 
ein:  es  entsteht  die  Viehzucht  und  mit  ihr  die  Hirtei 
periode.  Gesellschaftlich  ist  diese  Zeit  dadurch  bemerken« 
wert,  daß  neben  der  schon  früher  erfolgten  Ausscheidun 
gewalthabender  einzelner  Personen  jetzt  eine  weitei 
Difl^erenzierung  sich  vollzieht:  die  Eigentümer  wirtschaf 
lieber  Güter  —  naturgemäß  beweglicher  Güter  —  trenne 
sich  von  den  Nichteigentümern,  die  ihre  Ernährung  vo 
den  ersteren  erhalten;  neben  der  Klasse  der  „propri^taires 
entsteht  die  Klasse  der  „salari^s". 

Je    weiter    aber    die    Menschheit    fortschreitet,     desi 


"^  Mirabeau,     Lettres    sur    la    16g^islation,    Bd.    I.    Avertissemeii 
pp.  XVI— XIX. 


VI  3 


53 


dürftiger  werden  die  natürlichen  Mittel  zur  Befriedigung 
ihrer  Bedürfnisse.  Hier  kommt  dem  Menachen  seine  Intelli- 
genz, die  Möglichkeit  durch  seine  „Kunst"  („art")  die  Natur 
zu  beherrschen,  zu  Hilfe,  und  es  beginnt  die  Behauung  der 
Scholle.  So  entsteht  die  Ackerbau-  und  Ansäasigkeits- 
periode,  das  letzte  und  höchste  Stadium  der  Entwicklung. 

Hier  beginnt  die  eigentliche  Gesellachiift  („ötat  de  so- 
ciöt^").  Die  menachÜcheo  Beziehungen  entfalten  und  ver- 
vielfältigen sich.  Die  Mittel,  die  zur  Selbsterhaltung,  zur 
Vermehrung  und  Anhäufung  materieller  Güter  dienen, 
können  nicht  mehr  von  den  nebeneinander  stehenden,  lose 
zusammeiigeechloasenen  Einzelnen  erreicht  werden.  Die 
Aufgaben  müssen  geteilt  werden,  und  diese  Teilung  bedingt 
die  Struktur  der  Gesellacliaft.  Was  Queanay  hier  im  Quer- 
schnitt der  Geaellachaft  darstellt  —  die  Lehre  von  den  drei 
Bevölkerungsklassen  — ,  das  hat  schon  Le-Mercier  in  den 
«raten  Kapiteln  seines  Werkes  in  dem  Übergang  von  der 
^soci^t^  universelle"  zu  den  „aoei^tös  particuliörea"  (a,  unten 
S,  67)  in  aeinem  Werden  geschildert.  Noch  deutlicher  mit 
direkter  Betonung  der  Bedeutung  der  Arbeitsteilung  fltr 
die  gesellschaftliche  Differenzierung  ist  das  bei  Turgot  ge- 
Bchehen"'.  —  Auf  dem  Boden  dieser  neuen  mit  dem 
Ackerbau  entstehenden  Bedingungen  bildet  sich  nun  die 
„aoci^tö  r^guliöre"  heraus,  der  Staat,  der  „corpa  poli- 
tique". 

Wir  sehen  also,  wie  in  der  Phyaiokratie  die  Voratellung 
von  einem  vorstaatlichen  sozialen  Zustand  entsteht,  die  von 
der  Locke'schen  und  Hulcheson 'sehen  Lehre  von  der  „natür- 
lichen Geaellachaft"  aich  unterscheidet,  weil  durch  den  Ent- 
wicklungsgedanken  neue  Perapektiven  in  die  bisherige  Be- 
handlung dea  Gegenstandes  hineingetragen  werden.  Wir 
haben  es  hier  mit  einer  Fülle  von  Tatsachen  zu  tun,  die 
ihrem  Bestände  und  in  ihrem  Werden  unabhängig  vom 


'  Turgot,  IMfleiions  s 


ributioa  des  richesBas, 


54  VI  3 

menschlichen  Willen  sind  und  erst  auf  einer  bestimmten 
Stufe  der  Entwicklung  die  Notwendigkeit  und  die  Möglich- 
keit des  Staates  als  einer  durch  freie  Bestimmung  gelenkten 
sozialen  Ordnung  schaffen. 

Betrachten  wir  nun  näher  die  Struktur  der  Gesellschaft 
in  der  Periode,  wo  das  soziale  Leben  sich  zum  staatlichen 
organisiert  ^®. 

Die  Grundtatsache,  die  hier  die  Gestaltung  der  sozialen 
Verhältnisse  verursacht,  ist  das  Entstehen  des  Privateigen- 
tums auf  Grund  und  Boden.  —  Die  Grundeigentümer  als 
diejenige  Bevölkerungsschicht,  die  zuerst  durch  ihre  Arbeit 
dem  Boden  seine  Erträge  abgezwungen  hat,  stehen  der 
Natur  der  Sache  gemäß  („physiquement",  wie  es  die  Physio- 
kraten  ausdrücken)  an  der  Spitze  der  Gesellschaf);.  Auch  nach- 
dem die  unmittelbare  Bearbeitung  der  Erde  auf  die  „salari^^ 
übertragen  worden  war,  haben  sie  wegen  der  einst  ver- 
wendeten und  in  die  Scholle  hineingelegten  Arbeit  das  Recht 
auf  das  Grundeigentum  nicht  verloren.  Sie  bilden  nun  die 
„classe  des  propri^taires**,  deren  soziale  Bedeutung  einer- 
seits in  der  indirekten  Erhaltung  und  Vermehrung  der 
Fruchtbarkeit  des  Bodens,  andererseits  in  der  Handhabung 
der  verschiedenen  Funktionen  der  öffentlichen  Gewalt  be- 
steht. Durch  diese  zweite  Seite  ihrer  sozialen  Tätigkeit, 
für  die  sie  durch  einen  Teil  der  Bodenerträge  entschädigt 
werden,  geraten  sie  in  die  Klasse  der  „salari^s**.  Daher  be- 
zeichnet sie  auch  Quesnay  als  die  „classe  mixte^  ^^. 

Die  Landbebauer  bilden  die  zweite,  die  eigentlich  pro- 
duktive Klasse  der  Bevölkerung.  Innerhalb  dieser  Klasse 
sind  aber  die  kapitalkräftigen  Leiter  der  landwirtschaft- 
lichen Unternehmen,  die  Pächter  (fermiers),  von  den  eigent- 
lichen Arbeitern  —  den  „salari^s"  —  zu  unterscheiden. 
Zur  produktiven  Klasse  im  eigentlichen  Sinne  haben  die 
Physiokraten   nur   die   erste  Kategorie  gezählt.     Hier   tritt 

^^  S.  hauptsächlich  die  Analyse  du  Tableau  6coiiomiqae ,  Quesnay, 
p.  805  et  suiv. 

»•^  Quesnay,  pp.  318,  529. 


VI  3  55 

die  Besonderheit  zu  Tage,  daß  die  pliysiokratische  Snzrallehre 
nur  die  in  ihrem  Sinne  für  den  „ordre  naturel"  bedeutsamen 
Klassen  hervorhebt,  ohne  den  tatsäehlicben  Bestand  der 
Gesellschaft  restlos  zu  erschöpfen.  So  bleibt  fast  die  Mehr- 
heit der  Bevölkerung,  die  landwirtschafthchen  und  in- 
dustriellen Arbeiter,  ohne  Beaclitung.  Nur  in  dem  nn- 
gedruckten  für  die  Enzyklopädie  bestimmten  Artikel 
„HomraeB"  ^*  erwähnt  sie  Quesnaj  unter  dem  Sammel- 
namen „menu  peuple"  oder  „bas  peuple".  Charakterisiert 
werden  sie  nicht  durch  ihre  produktive  Kraft,  sondern 
durch  ihren  Verbrauch,  durch  die  Kosten,  die  sie  dem 
eigentlich  produktiven  Leiter  eines  Unternehmens  ver- 
schaffen ". 

Neben  den  Eigentümern  und  den  im  Ackerbau  Be- 
schäftigten steht  die  dritte  gesellschaftlich  bedeutsame  Be- 
Tölkerungsschicht,  die  mit  der  Nutzbarmachung  der  Er- 
zeugnisse der  Erde  Ijeschäftigt  ist,  entweder  durch  Ver- 
teilung der  Guter  auf  dem  ganzen  Gebiete  der  menschlichen 
Gemeinschaft  (traticants)  oder  durch  ihre  Umformung  (arti- 
sans).  Auch  hier,  wie  schon  erwähnt,  sind  die  Unternehmer 
von  den  eigentlichen  Arbeitern  in  derselben  Weise  zu 
unterscheiden,  wie  bei  den  Ackerbautreibenden.  Die  soziale 
Leistung  dieser  Klasse  besteht  nicht  in  ihrer  Produktivität, 
sondern  in  ihrer  Nützlichkeit^"^'. 

Die   Gütererzeugung,    ihre  Verteilung  und  Erhaltung, 

die  die  eben  genannten  drei   Klassen  bewirken,    bildet  den 

eigentlichen  Inhalt  des   sozialen  Lebens.     Diesen  Inhalt  in 

L winer   Vielfältigkeit   einem    obersten  /wecke  zuzuwenden, 


^  Aoatüge    im   Uriginal    und   iu   ÜlHirsetxuiig   in   St.   Jiaaen  Ab- 
'    handlung'  in  CoorailB   Jahrbüi'hem ,   N.   F. ,  Itd.  II,   Zur  Entstehung  dei 
Fhyriohrfttie. 

■*  Hirabenu,  Philosophie  rurale.  Bd.  I,  eh.  V.  p.  152  et  »uir. 
'"  Itkudcnu,   p.   ti60;   Je   le  r^p^te  .  •  .  gtSril««  pur  Opposition  Ji 
,    l'art  fäoond,  mais  iion  par  Opposition  k  utilea  .  .  ." 

Im   Art.  „HommeB"   spricht  Quesuay   noch   nicht  von  einer  pro- 

I  und  sterilen  Kinase,  Bondem  von  direkt  und  indirekt  prodoktiven 

__  8.  St.  Bauer,  a.  a.  O.,  8.  127/20;  Mirabenti.  Tli^rie  de  l'impat, 

Sm,  p.  166. 


56  VIS 

ist  die  Aufgabe  der  staatlichen  Organisation.  Der  Staat 
ist  also  nur  ein  Mittel^  und  neben  ihm  bleibt  das  eigentlich 
Soziale  als  das  Primäre,  als  der  Inhalt  des  LebeDs,  in  seiner 
Bedeutsamkeit  und  Wirksamkeit  bestehen.  Die  speziellen 
Aufgaben  des  Staates,  die  „besoins  politiques'',  müssen  da- 
her stets  den  sozialen,  den  „besoins  physiques"  —  in  der 
Terminologie  der  Physiokraten  —  unterstellt  sein.  Das 
Ideal  des  „ordre  natureP  ist,  daß  zwischen  diesen  beiden 
Arten  der  „besoins",  zwischen  dem  Staatlichen  und  dem 
Sozialen  kein  Qegensatz  bestehe,  und  so  wird,  als  Konse- 
quenz der  durchgeführten  Scheidung,  die  Frage  nach  den 
Beziehungen  zwischen  Staat  und  Gesellschaft  zum  Zentral- 
punkt der  physiokratischen  Politik.  Doch  bevor  wir  an 
diese  Frage  herantreten,  soll  uns  noch  die  Rechtslehre  der 
Physiokraten  beschäftigen. 


Viertes  Kapitel. 


Das  Recht  wird  von  Queanay  als  soziale  Erscheinung 
und  als  ethischer  WertbegrifF  einer  doppelten  Betrachtung 
unterzogen.  In  dem  einen  Falle  Bpricht  er  und  mit  ihm  sein 
Schüler  Le-Mereier  von  der  „idöe  relative"  des  Rechts, 
im  anderen  —  vom  Juate  abaolu"  im  Rechte', 

Als  soziale  Erscheinung  bedeutet  das  Hecht  eine 
zwischenmenachliche  Beziehung  (relation),  und  es  ist  nur 
da  zu  finden,  wo  ein  Zusammenleben  der  Menschen  vor- 
handen ist.  Willst  du  den  Menschen  als  isoliertes  Weaen 
betrachten,  sagt  Quesnay,  so  wirst  du  auch  vergebens  den 
Unterschied  zwischen  gerecht  und  ungerecht  suchen*.  Da- 
her ist  es  auch  unmöglich,  eine  inhaltlich  allgemeingültige 
Definition  dea  Rechtes  zu  geben,  wie  das  die  meisten  Philo- 
sophen tun,  denn  es  ist  den  jeweiligen  Zuständen  der 
Menschen  entaprechend  verschieden.  Da  aber  diese  Zu- 
stände von  den  Bedingungen  abhängig  sind,  in  die  der 
Mensi'h  von  der  äußeren  Natur  gestellt  wird,  so  wird  auch 
das  Recht  von  vornherein  in  das  Naturnotwendige,  vom 
menachlichen  Willen  Unabhängige  hineingezogen. 

Je  komplizierter  daa  soziale  Leben  dui-ch  die  Stellung 


'  Der  im  Texte  durchgefübrteu  Aosicbt  von  der  dopiielten  Uehsud- 
lung  des  Hechts  bei  den  Phyninkratea  liegen  baupbrSchlich  dns  1,  und 
U.  Kap.  der  Q Des uay 'neben  Abliaiidluiig  über  das  Naturrecht  oud  der  An- 
fang dos  II.  Kap.  in  Le-Mercier's  groäem  Werke  lugrunde.  Vgl.  aueb 
Itaudrillart,  La  philoBD|jhie  des  Pbjliocrates  im  Jonrnat  des  fconomiates, 
Bd.  29,  p.  «. 

■  Queinaj'.  364,  Note  8,  p.  »71. 


58  VI  3 

zur  äußeren  Natur  wird,  desto  komplizierter  und  vielseitiger 
wird    auch    das    Recht.     Das    Recht    entwickelt    sich  mit 
der  Qesellschaft  und  ist  überall,  je  nach  den  sozialen  Be- 
dingungen,   verschieden.     Das   ist   ein    sich    stets    wiede^ 
holender    Gedanke    bei    den    Physiokraten.      Es    ist   eine 
Illusion ,   meint  Baudeau ,   zu  glauben  y    dafi  es  ein  einheit- 
liches natürliches  Recht  für  „alle  Menschen,  Air  alle  Staaten, 
für  alle  Verhältnisse''  gebe^    Daher  ist  auch  in  den  ersten 
Zeiten   des   menschlichen   Zusammenlebens ,    in    den  primi- 
tiven Zuständen,  das  Recht  primitiv :  es  entspricht  dann  voll- 
ständig  dem  Wesen   und   der  „Natur"    der   einfachen  Vei^ 
hältnisse,    die    allen    gleich    klar    und    verständlich    sind. 
Zwischen    dem  Natürlichen    und    dem   Gerechten    herrscht 
auf  diesen  ersten  Stufen  der  Entwicklung  volle   Harmonie. 
Zwischen   dem  Rechte   und   der  Wirklichkeit    besteht  noch 
kein  Konflikt,    so   wenig    wie   zwischen  dem    persönlichen 
Interesse   und   dem   Interesse  des   Ganzen.     Das    primitive 
natürliche  Recht  ergibt  sich  aus  den  primitiven  natürlichen 
Beziehungen  *, 

Aber  mit  der  Entwicklung  der  Lebensverhältnisse  er- 
weitert  und  entfaltet  sich  das  natürliche  Recht ,  und  im 
Einzelbewußtsein  wird  dann  sein  letzter  Zweck  durch  das 
Vorwalten  der  Triebe  und  durch  das  egoistisch- persönliche 
Interesse  verdunkelt.  Dann  entsteht  die  Notwendigkeit, 
daß  die  Menschen  sich  über  ihr  natürliches  Recht  ver- 
ständigen. So  beginnen  die  „Conventions"  —  das  eigentlich 
positive  Recht  — ,  die  ihrem  Sinne*  nach  eine  allgemein- 
gültige Formulierung  der  vernunftsgemäß  entwirrten  natür- 
lichen Rechtsverhältnisse  bedeuten.  Daher  ist  auch  das 
positive  Recht  kein  neugeschaffenes  Recht,  denn  seine  Auf- 
gabe ist  nur  eine  „deklaratorische"  in  bezug  auf  das  natür- 
liche Recht*.  — 

Gehen  wir  nun  zur  Betrachtung  des  Rechts  nach  seinem 

«  EphÄm^rides  du  citoyen,  1768,  Heft  VI,  p.  188  9. 
*  Le-Mercier,  p.  121. 
^  Quesnay,  p.  648. 


I  V13 


59 


jrfinderlichen  und  , absoluten"'  Wesen  über,  ao  ist  zu- 
vörderst festzustellen,  daß  das  Eingeliea  auf  diese  Frage 
durcliaiis  nicht  mit  der  tatsächlichen  Veränderlichkeit  des 
Rechts  im  Widerspruch  steht,  denn  das  absolut  Gerechte 
verwirklicht  sich  im  Relativen ,  in  zwischenmenschlichen 
Beziehungen,  die  immer  wechseln".  So  kann  sich  der  In- 
halt des  Rechts  verändern,  ohne  dadurch  etwas  an  seiner 
Bedeutung  einzubüßen,  gerade  so  wie  ein  und  dieselbe 
Materie  verschiedene  einander  aiiBschtießende  Formen,  an- 
nehmen kann'. 

Dieses  Wesen  des  Rechts  erschließE  sich  uns  nicht  auf 
empirischem  Wege,  sondern  durch  die  Einsicht  der  Ver- 
nunft, daher  gipfelt  auch  von  diesem  Standpunkte  aus  die 
Definition  des  Rechts  als  des  Gerechten  in  den  Worten  — 
„regle  naturelle  et  souveraine  reconnue  par  les  lumiöres  de 
la  raison". 

Die  Vernunft  deckt  uns  unsere  Pflichten  Gott  und  deu 
Mitmenschen  gegenüber  auf:  die  Pflicht  der  Selbe terhaltung, 
der  ein  natürlicher  „unersättlicher"  Trieb  entspricht,  und 
die  Pflicht,  den  Mitmenschen  in  ihrer  Erfüllung  der  gleichen 
Aufgabe  nicht  zu  schaden.  Auf  diesen  Pflichten  und  den 
aus  ihnen  folgenden  Rechten  mit  allen  daraus  für  die  je- 
weiligen Zustände  sich  ergebenden  Konsequenzen  beruht 
der  zu  erstrebende  „ordre  naturel"  ;  durch  das  Bewußtsein 
dieser  Pflichten  wird  der  soziale  Zustand  in  die  ethische 
Welt  hinübergeleitet  und  gestaltet  sich  zum  „ordre  de  la 
justice"  im  Unterschied  vom  , ordre  de  la  nature":  denn 
ist  auch  der  letztere  ein  Kampf  um  die  Daseinsmittel  und  die 
Daseinsbediogungen ,    so    steckt    darin    noch   kein    Recht^. 

'  „hv  tenae  d'abi>olii  n'cnt  point  ici  (^mpto;^  pur  D|>|)oiiitioD  rd 
';  CHT  ce  n'est  qua  Jan»  le  relstif  que  le  Juate  et  rinjuil«  pouvent 
lieai  miis  ce  <|ui ,  rigourfeiuemeDt  parlant,  a'est  qu'un  ju*te  relatif 
i«jit  FependsDt  un  jiiate  absolu  par  rApport  A  U  aicBisili  abHoIue  oh 
de  vivte  ta  aoeiiti."  L6-M*rciar  p.  11. 
ine  verit^  «D  eiclut  nne  aittre  daoB  on  meme  etre  krequ'il 
cluuii^  d'AlJit,  comme  nne  forme  e»t  U  privsüon  actaelle  d'one  autre  forme 
daiui  nn  mSme  crirps."     Qii«siiay,  p.  -{68. 

"  QneniBj,  pp.  366'7  iPulemik  gegen  Hobbea):  vgl.  auch  Minbeau, 
Lettrea  »ar  Im  l^gislatiun,   Bd.  II,  p|).  471—473. 


fiO 


VIS 


Ein  Recht  kann  man  nur  auf  etwas  Bestimmtes  httben,  ab« 
nicht  auf  alle  Möglichkeiten:  „die  Schwalbe  besitzt  kets 
Recht  auf  alle  Mücken,  die  in  der  Luft  schweben'^.  Recht 
iat  eine  Beziehung,  die  auch  effektiv  da  vorhanden  iat, 
sie  in  aktuellen  Handlungen  im  gegebenen  Moment  oichl 
hervortritt".  Und  im  Gegenteil,  nicht  jeder  faktische  Za- 
stand  ist  ein  Rech tazus tan d ;  daher  bekämpfen  auch  die 
Phyaiokraten ,  besonders  Queanay  und  Turgot,  die  Macht- 
theorie. Die  Gewalt  der  Tatsache,  führt  der  erstere  auM, 
erstickt  in  uns  nicht  das  Streben  zum  Besseren,  zur  freies 
gegenseitigen  Selbsteinschränkung'",  Auch  der  Sieger  unct 
der  Tyrann,  meint  Mirabeau  ",  bedarf  des  Rechtes,  um  dia 
Früchte  seiner  Eroberungen  zu  genießen.  Wenn  das  Rech^ 
nichts  anderes  wäre  als  die  Macht,  heißt  es  bei  Turgo^ 
so  könnte  ja  der  Herrscher  nur  das  unternehmen,  was  ihi 
seine  Untertanen  gestatten   würden  '^ 

So  bleibt  das  Recht  seinem  Wesen  nach  etwas  von 
dem  Tatsächlichen  ganz  Verschiedenes,  in  seiner  Bedeutung 
nie  dadurch  beeinträchtigt,  daß  die  Wirklichkeit  von  ihm  ■ 
abweicht.  Daher  ist  auch  das  Wesen  des  Rechts  unabhängig 
von  seinen  jeweiligen  Erscheinungsformen,  und  will  i 
es  erfassen,  so  muß  man  sich  das  Recht  vor  jedem  tat- 
sächlichen Zustand  denken,  wenn  es  auch  in  der  Wirklich- 
keit nur  mit  diesem  erscheint.  Niemand  hat  dies  unter  den 
Physiokraten  scharfer  hervorgehoben  als  Le-Mercier,  wenn  er 
sagt,  daß  das  Recht  nur  gleichzeitig  mit  der  Gesellschaft  ent- 
steht, weil  die  Gesellschaft  die  naturliche  Form  des  menscli- 
lichen  Daseins  ist,  daß  aber  seiner  Bedeutung  nach  als  Vor- 
stellung von  den  Rechten  und  Pflichten  der  Menscheo  das 


*  „,  .  .  son  droit  (des  Menachen)  ■  . .  doli  etre  cnnsidärä  daus  rordr» 
de  1»  natura  et  dans  Tordre  de  la  jaetice;  car  danH  l'ordre  de  la  nBtora 
i!  est  iiidäterminä  tant  qu'il  ti'eit  piu  asatu^  par  la  poHsesaion  actudlttj' 
et  dans  l'ordre  de  la  justice  il  est  dätermioä  par  une  poeseaBiun  MBenS'n- 
de  droit  naturel  .  .  ."     Quesnay,  p.  :i67. 

'"  Qaesnay,  pp,  7.W7. 

"  Mirnbvau,  Lettre»  aar  U  l^alation,  Bd.  1.  p,  13,  Bd.  tl,  p. 

■-  Turgot,  II,  pp.  C80/1,  Lettre»  aar  la  tolfrauce,  2.  Brief. 


VIS 


61 


I 


Recht  —  „dans  l'ordre  des  id^es"  —  als  vor  der  Ge- 
sellschaft bestehend  gedacht  werden  muß  '^. 

So  wird  das  Absolute  im  Recht  zum  festen  Kern  des 
phyeiokratiachen  Systems,  dem  es  sein  besonderes  Gepräge 
verleiht,  ao  daß  es  sein  Licht  —  oder  vielmehr  seinen 
.Schatten  —  auch  auf  alle  anderen  .Seiten  der  Lehre  wirft  und 
ihnen  eine  eintönige  Färbung  gibt  oder  sie  gar  völlig  im 
Duükel  läßt.  — 

Verfolgen  wir  nun  weiter  mit  den  Physiokraten  —  und 
hauptsächlich  mit  Quesnay  —  ihre  Ausfuhrungen  über  das 
Wesen  des  Rechts,  so  ist  vor  allen  Dingen  festzustellen, 
daß  der  rechtliche  Zustand,  wie  schon  aus  dem  Obigen 
folgt,  eine  Einschränkung  des  natürlichen  Zustandes  darstellt. 
Diese  Einschränkung  ist  wiederum  doppelter  Natur;  denn 
sie  hängt  von  der  physischen  und  moralischen  Beschaffen- 
heit des  Menschen  ab. 

In  erster  Hinsicht  ist  das  Recht  durch  die  Bedürfnisse 
des  Menschen  und  durch  das  Maß  der  ihm  zustehenden 
Herrschaft  über  die  äußere  Natur  bedingt;  durch  die  Be- 
dürfnisse aber  wird  das  Recht  nur  ungenau  (vaguement) 
bestimmt,  dagegen  werden  ihm  durch  das  Maß  der  Herrschaft 
über  die  äußere  Natur  feste  Grenzen  gesetzt.  Dieses  Maß 
wird  durch  die  Arbeit  bestimmt,  und  es  gibt  also  nur  ein 
Recht  auf  diejenigen  Güter,  die  wir  uns  durch  unsere  Arbeit 
erworben  haben.  Je  größer  das  Quantum  und  das  Resultat 
unserer  Arbeit,  desto  umfangreicher  unser  Recht.  „C'eat  le 
travail  des  homraes  .  ,  .  qui  6tend  l'exerciee  de  leur  droit"  '*. 

In   zweiter  Hinsicht   —   dans   l'ordre  moral  —  beruht 

"  nQuoi  qii'ü  iioit  vrsi  de  dir«  ((ue  chiique  homme  aaisse  en  Bovi^tö, 
cepeudant  dann  l'urdre  des  idto,  le  besoin  qua  tea  bommM  nnt  de  la 
■oci£l^,  doit  HO  pinuer  ikvant  l'exifitetice  de  In  socift^.  Ce  n'est  parce  qae 
las  hommea  »e  aont  r^unis  en  Hociätia,  qu'ila  out  entre  enx  dea  devoiri  et 
dea  droit«  r£cipru(|uea;  mui  c'iMt  parc«  qu'ila  aTaieat  naturelleiDeal  et 
näceaaairement  entre  eux  dea  dovoira  et  dee  droits  r^cipraqilea  qu'ila 
TiTent  natnrellement  et  n^eaasiremetit  en  fiociätä."  Le-Uercier,  p.  11 — 13. 
Da«  ist  die  Stelle,  die  Hnabach  ala  äallo-mortale  in  den  GedonkeugBngen 
Le-Mercior'a  betraubtet  (Vgl.  IIl.  Kap.  dieser  Sehrlft,  Note  13} 

'*  Bandeau,   Tg;!,   die   in  Note  ^  dieae*  Kapitels  angegebene  Stelle. 


62  .  VI 

das  Recht  auf  der  moralischen  Beschaffenheit  des  Menschei 
Da  der  Zweck  des  Daseins  eines  jeden  gleich  ist  den 
jenigen  seines  Nächsten,  so  wird  dieses  letzteren  Wohl  zu 
Orenze  der  rechimäßigen  Betätigung:  man  darf  daher  nu 
das  unternehmen,  was  in  die  Sphäre  des  Nächsten  nie! 
hinübergreift. 

Die  eben  geschilderten  einschränkenden  Momente  sin 
aber  von  den  jeweiligen  realen  Verhältnissen  abhängig/  an 
daher  ist  die  endgültige  Definition  des  Rechtes  oder  der  G< 
rechtigkeit  nur  formell  bei  Quesnay  gehalten  und  lautt 
wie  folgt:  „Une  regle  naturelle  et  souveraine,  reconnu 
par  les  lumieres  de  la  raison  qui  dätermine  ävidemment  c 
qui  appartient  ä  soi-meme  et  k  un  autrui*'. 

Aus  diesem  grundlegenden  Gedanken  folgen  die  weitere 
Sätze  des  physiokratischen  Naturrechts.  —  Da  die  £ii 
schränkung  der  Tätigkeit  des  Individuums  durch  den  ebei 
hurtigen  Zweck  des  Nächsten  eine  Pflicht  diesem  Nächste 
gegenüber  ausmacht,  so  entspricht  ihr  bei  diesem  letztere 
ein  Recl)t,  dem  aber  durch  dessen  Pflicht  dem  erstere 
gegenüber  wiederum  feste  Schranken  gezogen  sind.  S 
steht  an  der  Spitze  der  Lehre  der  Satz  —  ,,point  de  droit 
sans  devoirs,  et  point  de  devoirs  sans  droits"  ^^. 

Das  ist  die  Maxime,  deren  praktische  Anwendung  vo; 
Turgot  in  seiner  sozialpolitischen  Tätigkeit  manchem  spätere) 
liberalen  französischen  Nationalökonomen  Anlafi  gegeben  hai 
den  großen  Minister  Ludwigs  XVI.  als  halben  Sozialiste 
zu  betrachten.  Ja  sogar  Louis  Blanc  hat  geglaubt  in  Tui 
got's  Tätigkeit,  auf  der  „wohl  sein  Ruhmestitel  beruht' 
eine  Inkonsequenz  seinen  Prinzipien  gegenüber  erblicke 
zu  können  ^^. 

Indessen  verkennen  diese  Urteile  den  eigentliche 
Charakter  des  Physiokratismus.  Denn  überall,  wo  di 
Physiokraten    von    der  bezeichneten  Maxime  ausgehen  un 


^'^  Le-Mercier,  p.  16. 

*®  L.  Blanc,  Histoire  de  la  r^volution  fraii^aise,  t.  I,  p.  533. 


VI  3  63 

vom  Rechte  auf  Existenz  oder  vom  Rechte  der  Armen  auf 
den  Überfluß  der  Reichen  und  dergleichen  (Turgot)  sprechen, 
da  bedeutet  „Recht**  nur  einen  objektiven  vom  „ordre 
naturel"  geforderten  Zustand,  aber  keinen  8ubjekti>ren 
Rechtsanspruch.  Freilich  muß  für  die  Verwirklichung 
dieses  objektiven  Rechts,  dessen  Wirkungen  als  „Reflex", 
um  einen  modernen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  den  einzelnen 
zu  gute  kommen ,  die  Oesamtheit,  der  Staat  Sorge  tragen. 
Der  Staat  muß  auch  Hilfe  leisten,  wo  die  objektive  Ordnung 
(aber  nicht  ein  subjektiver  Rechtsanspruch!)  verletzt  wird. 
Das  ist  aber  die  Fürsorge,  die  von  oben  kommt,  von  einer 
aufgeklärten  Regierung,  nicht  von  unten,  aus  dem  eigen- 
mächtigen Recht  der  Regierten.  Doch  kehren  wir  zur 
Naturrechtstheorie  der  Physiokraten  zurück. 

Die  Pflicht  zur  Selbsterhaltung  und  das  Recht  auf 
Selbsterhaltung,  die  in  dem  Mittelpunkt  der  Lehre  stehen,, 
ist  von  den  Physiokraten  den  landläufigen  naturrecht- 
lichen Theorien  entlehnt  und  nur  durch  die  Betonung 
der  Oesetzmäßigkeit  der  Ökonomik  zur  besonderen  Be- 
deutung erhoben.  Unter  dem  deutlich  hervortretenden  Ein- 
fluß Locke's "  hat  sich  die  Vorstellung  von  dem  Rechte 
auf  Selbsterhaltung  zu  dem  Rechte  auf  die  freie  Entfaltung 
der  Persönlichkeit  entwickelt.  Das  ist  in  der  Weltanschauung 
Quesnay's  eine  logische  Folgerung  aus  dem  ethisch-religiös 
begründeten  Zweck  des  menschlichen*  Daseins,  dessen  Er- 
füllung durch  den  Selbsterhaltungstrieb  bedingt  ist,  der 
also  zur  Pflicht  gegenüber  dem  Schöpfer  der  Natur  erhoben 
wird.  Damit  ist  das  erste  Grundrecht,  das  Recht  auf 
Freiheit  gegeben. 

Frei  zu  sein  —  oder  das  Recht  auf  Freiheit  ist  aber 
das  persönliche  Gut  des  Menschen,  sein  persönliches  Eigen- 
tum. So  ergibt  sich  zu  gleicher  Zeit  mit  Notwendigkeit 
aus  dem  Rechte  auf  Freiheit  das  Eigentumsrecht,  zuerst  in 
der  allgemeinsten  Form   des  Eigentums   an   seiner  eigenen 


"  Vgl.  Hasbach,  S.  47  ff. 


64  VIS 

Person.  Daher  sind  eigentlich  Freiheit  und  Eigentum 
Wechselbegriife,  und  sie  können  sich  gegenseitig  als  Mafi 
dienen  ^®. 

Nun  bedarf  aber  der  Mensch  zur  Erhaltung  seiner 
Persönlichkeit  materieller  Güter,  die  er  durch  seine  Arbeit 
erwirbt,  d.  h.  in  den  Bereich  seiner  Person  hineinzieht.  So 
wird  auch  das  Recht  des  Eigentums  auf  materielle  Güter, 
zuerst  auf  bewegliche  Güter  und  dann  im  Laufe  der  Ent- 
wicklung auch  auf  Grund  und  Boden,  abgeleitet  und 
gerechtfertigt  ^®. 

Da  aber  dieses  Eigentumsrecht  aus  den  natürlichen 
Rechten  der  Menschen  und  aus  der  Idee  der  Gerechtigkeit 
deduziert  wird,  so  ist  auch  in  der  Gerechtigkeit  die  wirk- 
samste Einschränkung  des  Eigentums  zu  erblicken.  Daher 
haben  die  Physiokraten  das  ungerechte  Eigentum  verworfen, 
so  vor  allem  die  Feudalrechte.  Hier  sind  besonders  Turgot 
und  seine  Schüler  Boncerf  und  Le-Trosne  hervorgetreten  *®. 
Diese  physiokratische  Einteilung  des  Eigentums  in  gerechtes 
und  ungerechtes  mag  auch  für  den  Beschluß  des  französischen 
Adels  in  der  Nacht  des  4.  August  nicht  ohne  Bedeutung 
gewesen  sein^^ — 

Fassen  wir  nun  unsere  Betrachtungen  über  die 
physiokratische  Rechtslehre  zusammen ,  so  ergibt  sich  für 
uns  an  dieser  Stella  als  Hauptresultat,  daß  das  Recht  so- 
wohl  als  soziale  Erscheinung,   als  auch  seiner  inneren  Be- 


^^  Le-Mercier,  p.  46. 

'^  Das  ist  die  in  allen  physiokratiscben  Schriften  vorzufindende 
Lehre  von  den  drei  Arten  des  Eigentums:  dem  persönlichen  und  dem- 
jenigen auf  bewegliche  und  unbewegliche  Guter. 

^^  Le-Trosne,  Dissertation  sur  la  fSodalit^,  im  U.  Bande  seines 
Werkes  De  Tadministration  provinciale  et  de  la  r^forme  de  l*impdt,  1788. 
Boncerf,  Les  inconv^nients  des  droits  f<6odaux.  Paris  et  Londres,  1776. 
Ähnlich  auch  Mirabeau,  Les  Economiques,  Amsterdam,  1769,  Bd.  II, 
p.  73  imd  Le-Mercier,  L'int6ret  de  letat,  1770,  p.  70. 

*^  Es  ist  interessant,  daß  Le-Mercier  im  Namen  der  Gerechtigkeit 
sich  überhaupt  gegen  allzu  großen  Besitz  ausspricht,  weil  solcher  meistens 
nur  aus  einer  Verletzung  des  Eigentumsrechts  entsteht.  Nouvelles 
Eph^m^rides  Economiques,  1775,  Heft  IX,  p.  172,  Note. 


VI  3  65 

deutung   nach,   nicht  vom  Staate  geschaffen  wird,   sondern 
schon  als  vorstaatliche  Tatsache  besteht. 

Somit  ist  der  Inhalt  des  sozialen  Lebens  nicht  nur 
seiner  materiellen,  sondern  auch  seiner  rechtlichen  Seite 
nach  schon  vor  dem  Staate  gegeben.  In  diesem  Sinne  ent- 
wickeln auch  die  Physiokraten  ihre  Lehre  vom  Staate  und 
seiner  Aufgabe. 


Staats-  u.  TOUcerreohtl.  Abhandl.  VI  8.  —  Gflntzb«rg. 


Fünftes  Kapitel 


I. 

Bei  der  Gegenüberstellung  von  Staat  und  Oesellschaft 
ist  uns  schon  in  allgemeinen  Zügen  klar  geworden ,  worin 
die  Physiokraten  das  Wesen  des  Staates  gesehen  haben. 
Um  das  kurz  zusammenzufassen,  war  ihnen  der  Staat 
eine  bewußte  vernunftgemäße  Organisation  der  von  Natur 
aus  gegebenen  menschlichen  Gemeinschaft.  Diese  Auffassung 
ist  als  Folgerung  der  schon  im  zweiten  Kapitel  dargestellten 
Lehre  von  der  Gesellschaft  und  dem  „ordre  naturel"  als 
einer  Verschmelzung  der  physischen  und  der  ethischen 
Ordnung  zu  betrachten:  das  „Physische"  bezieht  sich  da- 
nach auf  die  Abhängigkeit  von  der  äußeren  Natur  und 
ihren  Gesetzen  und  bildet  die  Elemente  des  naturnotwendigen 
sozialen  Daseins  ;  das  „Ethische"  dagegen  ist  die  Organisation 
der  zwischenmenschlichen  Beziehungen  nach  den  durch  die 
Einsicht  der  Vernunft  den  Menschen  sich  erschließenden 
ethischen  Maximen  auf  der  Grundlage  der  physischen  Not- 
wendigkeit. Diese  Organisation  ist  der  Staat:  insofern  er 
sich  diesen  „physischen"  und  „ethischen"  Anforderungen 
anpaßt,  bildet  er  den  „ordre  naturel" ;  im  entgegengesetzten 
Falle  —  den  „ordre  de  döpravation" ,  wie  er  in  der  Ge- 
schichte und  in  der  Gegenwart  überall  zu  konstatieren  ist 

Als  Form  des  sozialen  Daseins  ist  der  Staat  auf  einer 
bestimmten  Stufe  der  Entwicklung  entstanden:  mit  dem 
Beginn  der  Ansässigkeit  und  des  Ackerbaues  hat  er  sich 
mit  Notwendigkeit   („physiquement")   herausgebildet.     Ent- 


VI  3 


67 


sprechend  dem  Fortachritte  in  der  Bewältigung  der  äußeren 
Natur  hatten  sich  dann  die  Aufgaben  der  menschlichen  Ttltig- 
keit  vermehrt  und  verwickelt,  so  daß  die  einem  jeden  wegen 
seiner  Selbaterhaltung  obliegenden  Pflichten  von  ihm  allein 
nicht  mehr  erfüllt  werden  konnten:  das  Objekt  der  Be- 
arbeitung, der  Grund  und  Boden,  ja  die  Arbeit  selbst, 
mußte  daher  zwischen  den  Menschen  geteilt  werden,  „Les 
hommes  se  sont  trouv^s  dans  la  n^cessit^  ph^sique  de  se 
■diviser  comnie  lea  terrea  memes"  ', 

Damit  aber  alle  einen  und  denselben  gemeinsamen 
Zweck  verfolgten,  der  diese  Teilung  hervorgerufen  hatte, 
■war  es  notwendig,  daß  man  Bestimmungen  traf,  die  die 
Menschen  gegenseitig  verpflichteten.  So  sind  an  Stelle  der 
einfachen  Beziehungen,  wonach  jeder  nur  für  seine  eigene 
Unabhängigkeit  zu  sorgen  hatte,  jetzt  kompliziertere,  die 
einzelnen  in  ein  höheres  Ganze  verflechtende,  eingetreten. 
Diese  Bestimmungen  über  die  gegenseitigen  Beziehungen  sind 
die  Bedingungen  der  neuen  Gemeinschaft,  ihre  eigentlichen 
Gesetze,  ihre  „conventionB".  Le-Mercier  schildert  dieae 
Entatehung  der  „aoci^t^  r^guliÄre"  als  den  Übergang  der 
„Eoci^tt^  universelle  et  tacite"  in  die  eigentlich  staatlichen 
Formen  der  „aociöids  particuliörea  et  conventionelles"  ^ 

Die  erste  Aufgabe,  die  dieae  „Conventions "  zu  lösen 
haben,  ist  die  Schaflfung  einea  Zentrums,  von  dem  aus  die 
geteilte  gesellschaftliche  Arbeit  zu  dem  einen  gemeinsamen 
Ziele  geführt  werden  soll.  Dieses  Zentrum  ist  die  Staats- 
gewalt, die  „autoritö  tutölaire".  So  beginnt  der  Staat  mit 
dem  Moment,  wo  die  ansBsaigen  und  ackerbautreibenden 
Menschen  eine  Macht  schafi'en,  die,  wie  wir  nachher  aehen 
werden,  unparteiisch  über  die  Einaelinteressen  »ich  erhebt 
und  Eigentum  und  Arbeit  der  Glieder  der  Gemeinschaft 
nach  innen  und  nach  außen  zu  schützen  hat.  So  knUpfen 
die  Phyaiokratcn   das  Zustandekommen   der  „Conventions", 


'  Le-Mereier,  p.  19/20. 
»  Ibidem,  pp.  18—20.  31 
1768,  Heft  VI,  p.  134^. 


;  Utindeau  ia  deu  Ephtn 


68  VI» 

das  Eingreifen  der  vernünftigen  organisatorischen  Tätig- 
keit in  das  soziale  Dasein,  an  das  Einsetzen  der  Staats- 
gewalt an^ 

Die  Unterwerfung  unter  eine  alles  befehligende  Macht 
setzt   aber    die  Annahme    voraus,    dafi    die    verschiedenen 
Klassen,   in  die   die  Gesellschaft  auf  dieser  Entwicklung»* 
stufe    gespalten    ist,    zu    einer   neuen    Einheit    zusammen- 
geschlossen   werden.     Die    „Conventions"   fuhren  also  nicht 
nur   die   Unterwerfung   unter  eine   Gewalt,    sondern,  auch 
eine  neue  Vereinigung  herbei.    Der  Staat,  sagt  LiC-Mercier, 
ist  eine  durch  das  gemeinsame  Interesse,  durch  den  „accord 
parfait"  der  diesem  Interesse  dienenden  sozialen  Institutionen 
geschaffene   Einheit^.     In    dieser  Einheit,    die    durch  die 
Herausbildung   eines  leitenden  vernünftigen  Willens,  einer 
Zentralgewalt   (un   centre   commun,   une   intelligence,   une 
volonte    premi&re)    verwirklicht    wird,    hat    Baudeau   den 
eigentlichen   Kern   eines    „ätat  polic^**    zu  sehen    g^laubt 
C'est  ce  qu*on  appelle  souverainetö,  fügt  er  hinzu  ^. 

Wollte  man  nun  diese  physiokratischen  Erörterungen  im 
Sinne  einer  Vertragstheorie  auffassen,  so  ist  festzustellen, 
daß  die  Physiokraten  im  Anschluß  an  Hobbes^  die  her- 
kömmlicheTheorie  vom  Gesellschafts-  und  Herrschaftsvertrage 
zu  Gunsten  eines  einzigen  Vertrages,  der  die  beiden  ge- 
nannten in  sich  enthält,  verlassen  haben  —  mit  besonderer 
Betonung  des  Herrschaftsvertrages  als  des  eigentlich  staats- 
bildenden. 


^  Quesnaj,  p.  378;  Le-Mercier,  20;  Dupont,  Physiocratie,  Bd.  I, 
Pr^face,  p.  XIV;  auch  in  der  schon  erwähnten  Table  raisonn^  aar  les 
principes  d'^onomie  politique. 

*  Le-Mercier,  pp.  25,  369. 

^  Baudeau,  p.  797,  —  Vereinheitlichend  und  zentralisierend  war 
auch  die  nationalökonomische  Lehre  der  Phjsiokraten,  da  sie  die  Ab- 
schaffung aller  „binnenländischen  Verselbständigungen"  verlangte.  VgL 
Knies,  Einleitung  zu  Karl  Friedrichs  von  Baden  brieflichen  Verkehr  mit 
Mirabeau  und  Dupont,  Bd.  I,  SS.  88/9.  Über  die  Bedeutung  des  Physio- 
kratismus  in  dieser  Hinsicht  vgl.  auch  J.  S.  Drojsen,  Vorlesungen 
über  die  Freiheitskriege,  Bd.  I,  Kiel,  1846,  S.  97. 

«  Über  Hobbes  vgl.  Gierke,  a.  a.  O.,  SS.  86,  101/2. 


l  VI3 


1)9 


Die  Hobbes'sche  Theorie  war  flir  die  Phyaiokraten 
eine  passende  Auslegung  des  Naturrechts ,  an  die  sie  am 
besten  mit  ihrer  Lehre  von  der  Gesetlschaft  als  einer  natur- 
ootwendigen,  „physischen",  von  dem  Willen  und  der  Über- 
einkunft der  Menschen  unabhängigen  Erscheinung  anknüpfen 
konnten.  Denn  dank  dieser  Auslegung  war  das  Eingreifen 
das  freien  menschlichen  Willens  nicht  etwa  schon  bei  dem 
Entstehen  der  Gesellschaft  betont,  sondern  erst  bei  der  be- 
wußten Einsetzung  einer  zentralen  G-awalt,  mit  a.  \\'.,  bei 
der  vernünftigen  und  vereinheitlichenden  Regulierung  der 
sozialen  Beziehungen  und  der  „natürlichen"  KechtsverhSlt- 
niese,  die  als  Tatsachen  von  vornherein  gegeben  sind. 

Dadurch  erhält  aber  der  Gedanke  des  Staats  Vertrages 
eine  besondere  Beleuchtung;  denn  die  schöpferische  Kraft 
des  Individuums,  die  der  Vertragsidee  zu  Grunde  liegt, 
betätigt  sich  danach  nur  im  Bereiche  der  Vernunft,  neben 
der  die  sozialen  Beziehungen  als  naturnotwendige  Er- 
scheinungen unberührt  bestehen  bleiben,  der  freien  Vemunft- 
tätigkeit  feste  Grenzen  setzend  und  sie  nach  einer  be- 
stimmten Richtung  hin  zwingend.  So  spielt  der  Vertrags- 
gedanke im  Physiokratismus  nur  die  Rolle  eines  Vernunft- 


Von  einer  zeitlichen  oder  örtlichen  Angabe  des  Zu- 
standekommens eines  „Vertrags"  kann  dalier  gar  nicht  die 
Rede  sein,  wenn  auch  „dans  l'ordre  des  id^es"  angenommen 
werden  muß,  daß  die  Rechte  und  Pflichten  der  Menschen 
vor  der  Gesellschaft  feststehen  und  zur  Ausgestaltung  des 
liemeinwesena  führen;  in  der  Wirklichkeit  ist  es  aber  ein- 
fach so,  daß  die  Gesetze  „naissent  avec  la  soci^t^" ',  wie 
«8  bei  Le-Mercier  heißt.  Wollte  man  sich  daher  fragen, 
sagt  Baudeau  an  der  schon  erwähnten  Stelle,  wo  er  vom 
„pacte  social"  spricht,  „corament  ont-ils  formö  le  premier 
^acte  social",  so  wird  man  durch  diese  Frage  die  „Lehre  der 
^Philosophen"    (vom   Staatsvertrage)   gar   nicht   erschüttern: 


*  Le-Hercier,  pp,  71/2. 


7U 


vu 


„coiDtne  si  la  lai  pliysiqtie,  <^vidente,  äternelle,  immu&ble 
pourrail  etre  detruite  par  un  erreur  de  fait  sur  \es  temps  ti 
lee  lieiix  oü  les  homraes  l'auront  connue,  l'auront  suivie"?  — 

So  wenig  nun  die  Phyaiokraten  die  Gesellschaft  in 
allgemeinen  als  menaciilicbe  Schöpfung  betrac:btet  itatieJi. 
so  vtcnig  ist  ihnen  aber  auch  der  Staat  in  seiner  tvirk- 
lichen  Gestaltung  das  Resultat  der  freien  Ubereiiikimti 
gewesen.  Auch  die  Staatsgewalt  ist  nicht  ao  sehr  eine  ht> 
wußte  Institution ,  als  eine  aus  der  Natur  der  Oesellsclistt 
sich  notwendig  ergebende  Erscheinung;  dem  meaechlicheu 
Willen  bleibt  auch  hier  nur  die  nähere  Bestimmung  und 
FesisetBung  der  Aufgaben  frei. 

Im  Anschluß  an  diese  Ausführungen  haben  Turgot, 
Mirabeau  und  Le-Troane  auch  hier  den  Entwicklungsgedanken 
eingeüochten  und  das  zeitlich  erste  Staatswesen,  ohne  {rg«nd> 
wo  auf  einen  Vertrag  hinzuweisen,  aus  der  Natur  de«  sozialen 
Daseins  erklärt^.  So  haben  sie  ein  Schema  der  Entwicklung; 
des  Staates  aufgeätellt:  die  zeitlich  vorangebende  Despotie, 
die  auf  ihren  Zerfall  folgenden  kleinen  Kepubliken,  dann  der 
neue  Zusammenschluß  unter  einem  despotischen  Herrscher, 
und  schließlich  der  allmähliche  Übergang  zur  aufgeklärten 
Monarchie. 

II. 
Bedeutet   nun   die   Einsetzung   einer   zentralen    Macb| 

eines  „centre  comraun'",  einer  „volonte  premiöre",  den  Anfall 
des  Staates,  so  fragt  sich  jetzt,  wie  das  Wesen  der  so  ent^ 
standenen  Staatsgewalt  aufzufassen  ist, 

Der   prinzipiellen  Stellungnahme  der  Physiokraten 
niäß,   soll   es   uns   hier  nur  auf  die  Idee  der  Staatsgewät 
nicht  aber  auf  die  wirklichen  Verhältnisse  ankommen. 


*  Toroot  —  üa  iweilvii  an  der  äurboiinc  gehallenen  Diccoors.   i 

Esquiise  d  uu  plan  de  geographie  politit|UB  lud  im  eratvn  Diacoun  am 
liistoire  oniverielle;  Mirahsaa,  Lettrea  aur  U  l^islalion,  Bd.  I  Aver1i«#- 
ineot  und  Ud,  II  Sur  In  d^pravation  du  l'ordre  soaJal,  pBasim;  Le-Tronw. 
hnupteäcblich  der  dritte  und  vierte  Dioeoim  MJnea  Uauptwerkea. 


VI  3 


71 


I 
I 


Wir  wenden  uns  daher  QueBTiay'ä  „Maxi'mes  g^nörales 
d'un  gouTernement  economique"  zu,  in  denen  der  Gründer 
der  Physiokratie  den  von  allen  seinen  Hchülern  in  ver- 
echiedenen  Variationen  wiederholten  Satz  aufgestellt  hat: 
„Que  l'autoritö  aouveraine  aoit  unique  et  supörieure  4  toua 
lea  individus  de  la  sociöl^  et  k  toules  lea  entreprises  injustes 
de»  inidrßta  parti c ulier s"  ",  Die  Staatsgewalt  ist  also  eine 
Macht,  die  sich  Über  alle  partikulären  Interessen  erhebt  und 
sie  zu  einer  dem  Wohle  dea  Ganzen  dienenden  Kinheit  zu- 
sammenschließt. 

Da  aber  das  Wohl  der  Menaeben  durch  ihre  natlir- 
lieben  Rechte  und  Pflichten  bestimmt  ist,  die  in  den  „natllr- 
lichen"  von  Gott  gegebenen  Gesetzen  (die  ^'"'^  naturelles" 
des  „ordre  immuable")  verkündet  sind,  so  wird  die  Staats- 
gewalt zum  Depositar  und  Hüter  dieser  Gesetze*".  Daher 
ist  auch  das  erste  Attribut  der  Staatsgewalt  die  Gesetz- 
gebung: freilich,  nicht  die  Schaffung  der  Gesetze,  denn 
diese  bestehen  nach  der  „natürlichen  Ordnung"  für  immer 
fest  und  sind  der  vernünftigen  Einsiclit  zugänglich,  sondern 
ihre  Anwendung,  ihre  Auslegung  und  Anpassung  an  die 
(gegebenen  Verhältnisse".  Die  positive  Gesetzgebung  ist 
daher  nur  ein    „recueil  de  calcule  touts  faits." 

Um  aber  die  Gesetze  wirksam  zu  machen,  muß  die 
Staatsgewalt  die  Macht  haben,  ihre  Erfüllung  zu  erzwingen. 
lo  der  Macht  besteht  daher  ihr  eigentlicher  Kern,  denn  sie 
soll  als  Mittel  zum  Zweck  dienen  diese  Gesetze  Überall  da 
durchzufuhren,  wo  das  durch  menschliche  Unvernunft  und 
Leidenschaften  verhindert  wird.  Die  Staatsgewalt  befiehlt 
daher  über  die  Macht  der  geordneten  Gesellacbaft,  und  ihre 
gesetzgebende  Funktion  geht  in  Anbetracht  der  Tatsache, 
cUß  die  Gesetze  unabhängig  von  ihr  bestehen,   im  Grunde 

•  Auch  an  einer  anderen  Stelle  bei  Qucsna^  —  p.  651  —  heißt  w: 
.   une   autorite  nuiqite,   Rup^rieare   aui   clitferenta   int^rtla  eiclutiis 
[n'elle  doit  riprimer."     Vgl.  snch  Le-Mercier,  pp.  122,  140/1. 
'0  Le-Uercier,  pp.  9%  102,  112,  120. 

'  „Le   pnQToir   ligislatif  consiite  dooc   h  d^daire,   h  Mppliqaer.  k 

ir"  Le-Tro«ne,  p.  53,  'Note. 


72  VI  3 

genommen  fast  völlig  in  der  vollziehenden  auf:  „dicterdes 
lois  positives  c'est  Commander".  Aus  diesem  Grunde  be- 
zeichnet auch  Le-Mercier  die  Staatsgewalt  end^ltig  als  die 
„administration  de  la  force  publique"  ^*.  Die  Verwaltung 
wird  somit  von  den  Physiokraten  in  den  Mittelpunkt  ihrer 
Erörterungen  gestellt,  die  gesetzgebende  Tfttigkeit  aber  in 
den  Hintergrund  geschoben.  Alle  ihre  Reformvorschlfige, 
einschließlich  des  Turgot'schen  Muniztpalitätenentwurfs,  be- 
ziehen sich  daher  nur  auf  die  „Administration''. 

Durch  diese  einseitige  Betonung  der  Verwaltungs- 
funktion,  die,  wie  wir  sehen,  aus  der  rigorosen,  rein  natur- 
rechtlichen Auffassung  des  Gesetzes  folgt,  wird  auch  der 
Begriff  der   Souveränität   bei  den  Physiokraten   beeinflufit 

„La  souverainetä  est  dans  la  justice'',  formuliert 
Mirabeau  die  Ansicht  aller  Anhänger  der  Schule.  In  dieser 
Beziehung  ist  also  die  Staatsgewalt  nicht  irei,  nicht  souverän, 
denn  die  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  stehen  schon  vor  ihr 
unerschütterlich  fest.  „Oü  s'arrete  la  justice,  Ik  se  bome 
Tautoritä'*  ^^.  Die  Souveränität  kann  sich  aus  diesem  Grunde 
nur  bei  der  verwaltenden  Tätigkeit  der  Staatsgewalt  geltend 
machen,  und  sie  besteht  daher  in  der  Handhabung  der 
organisierten  gesellschaftlichen  Macht,  um  die  Ausübung 
der  Gesetze  zu  überwachen.  Die  Souveränität  als  Merk- 
mal des  Staates  und  Attribut  der  Staatsgewalt  bedeutet  so- 
mit die  höchsteMacht  der  geordneten  Gesellschaft:  „la 
souverainetä  vue  en  eile  m6me  n'est  autre  chose  que  la 
force  publique  formte  par  le  concours  et  la  räunion  de  toutes 
les  forces  particuH^res"  ^*. 

Diese  Definition  weist  auch  auf  die  eigentliche  Quelle 
der  Macht  der  Staatsgewalt  hin,  nämlich  auf  die  Macht  der 
vereinigten    Staatsuntertanen.     Damit    wird    aber 


'2  Le*Mercier,  eh.  XIV. 

1»  Mirabeau,  Lettres  sur  la  l^gislation,  Bd.  n,  pp.  542,  634,  648. 

^*  Le-Mercier,  201:  ähnlich  Mirabeau,  La  science  ou  les  droits  et 
les  devoirs  de  Thomme,  p.  121,  Dapont,  Phjsiocratie,  Bd.  I,  p.  92, 
Bd.  UI,  p.  26. 


VIS 


73 


I  die   Basis    der  Staatsgewalt  berührt,    und  Le-Mercier  stellt 

.   fest,   daß  die  Vereinigung  der  „forces  physiques"  der  Ge- 

Bellscliafl  nur  durch  die  Vereinigung  der  Willen  der  einzelnen 

I  („reunion  des  volontis")  möglich  ist.    Daher  bildet  der  Wille 

I  der   Staatsglieder   die   eigentliche  Grundlage,   auf  der  die 

Herrschaft  der  Staatsgewalt  beruht,  denn  „la  force  n'existe 

qu'apres  la  räunion  et  par  la  reunion"  '^ 

Le-Mercier  kommt  wiederholt  in  seinem  Werke  auf 
diese  Gedankengänge  zurllck  und  hebt  sie  mit  Kachdruck 
hervor,  um  eine  psychologische  —  eine  „physische"  würde 
er  sagen  —  Erklärung  des  Wesens  der  Staatsgewalt  zu 
geben. 

Die  Art  und  Weise,  wie  das  bei  ihm  geschieht,  gibt 
den  besten  Beweis  dafür,  wie  er  seine  Staatslehre  auf  der 
doppelten  Beschaffenheit  des  Menschen  als  eines  nach  natur- 
notwendigen Trieben  und  freien  Vernunftschlüseen  handeln- 
den Wesens  begründen  wollte.  Dies  tritt  deutlich  in  dem 
Beatreben  hervor,  die  zum  „ordre  naturel"  führende  Staats- 
maschine  so  aufzubauen,  daS  das  egoistisch-persönliche 
Interesse  nur  als  Naturtrieb  genommen  und  als  mechaniache 
Größe  behandelt  wird,  während  als  Regulativ  und  Vemunfts- 
prinzip  —  im  Sinne  der  eudämoniatiachen  Ethik  —  das 
wohlverstandene,  also  auch  auf  die  Gesamtheit  sich  be- 
ziehende Interesse  dienen  soll.  Darin  besteht  die  ganze 
, Magie"  einer  wohlgeordneten  Gesellschaft,  heißt  es  bei 
Mirabeau'".  Daher  muß  in  der  Leitung  des  Staates  jedes 
partikularistische  und  persönliche  Interesse  ausgeschlossen 
sein,  in  ihrer  psychologischen  Basis  dagegen  soll  sie 
eben  auf  diesen  Interessen  beruhen.  Die  Gesellschaft  soll  da- 
durch geheilt  werden,  schreibt  Mirabeau  an  seinen  Bruder 
(den  bailll),  daß  man  einen  jeden  „im  Lazarett  seines  persön- 
lichen Interesses  isoliert"  ".  Daher  soll  auch  die  Interessen- 
loaigkeit    des    Herrschers,    die   ja    nach    dem    Wesen    der 

"  Ibidom,  p|..  43,  57.  105— lOÖ. 

>■  PbiloBophie  rurale,  Bd.  I.  p.  1.18. 

"  8.  L.  de  Lom^nie,  Lm  Hirnbeau,  L  II,  p.  392. 


74 

Staatsgewalt  notwendig  ertbrderlicb  ist,  auf  seinem  persOa 
liehen  Interesse  begründet  werden  '*. 

Das    „physische"    Molekül,    aua    der   die    StaatsgewaM 
herauswächst,   ist  also  das  Einzelinteresse,  der  Einzelwilld 
Wir   können   schon   hier   die   weiteren  Gedankengänge  c 
Physiokraten   andeuten,   um   die  Tragweite  dieses  Punkte 
ihrer  Lehre  ilir  ihre  Politik  zu  bemesseu. 

Die  Macht  der  Staatsgewalt  beruht  auf  der  Vereinigung 
der  Willen,  der  „röunion  des  volont^s" :  diese  aber  ist 
nichts  anderes,  als  die  Trägerin  dessen,  was  roan  die 
„Meinung",  die  „opinion"  nennt.  Die  „Meinung"  ist  aber 
die  Herrscherin  der  Welt'".  Dank  ihr,  solange  sie  auf 
falschem  Pfade  sich  befindet,  können  Despoten  ihre  Willkür 
über  die  Völker  ausüben;  denn  sie  ist  es,  die  eini 
einzelnen  die  Macht  über  viele  verleiht:  „ils  ob^tasent  J 
un  chef,  parce  qu'ils  sont  d ans  l'opin ion  qu'ila  lui  doiventH 
ob^ir".  Die  „Meinung"  regiert  über  die  Menschen,  mn^ 
ihr  Inhalt  auch  noch  so  absurd  sein.  Unsere  physist 
Kraft  ist  ihre  gehorsame  Dienerin:  will  man  über  jene 
verfügen,  so  muß  man  die  „Meinung"  zu  leiten  verstehen. 
ist  die  „opinion",  mit  anderen  Worten  die  OffentlicbM) 
Meinung,  die  notwendige  Grundlage  jeder  bestehenden.  I 
Staatsgewalt.  —  Wir  haben  es  in  diesen  Erörterungen  der 
Physiokraten  wohl  zum  erstenmal  mit  einer  so  aachdrucke- 
voUen  Betonung  der  Bedeutung  der  öffentlichen  Meinung 
und  ihrer  Einfügung  in  eine  systematische  Lehre  vom  Staatu 
zu  tun.  I 

Es  ist  nun  klar,  daß  diese  „physische"  Grundlage  der  ' 
Staatsgewalt,  die  ,röunion  des  volontös",  eben  dieser  ihrer 
Eigenschaft  wegen,  zum  „physisch"  notwendigen  und  un- 
fehlbaren Mittel  werden  muß,  den  „ordre  naturel"  herb«- 
zufUhren.  Es  ist  nur  notwendig,  die  öffentliche  Meinung 
bis  zur  „Evidenz"  aufzuklären  um  dieses  Ziel  zu  erreichen. 


i3/4;  Le-Trosne,  pp.  294/5. 


VI  3  75 

Die   „Evidenz"    wird   dann  jeder  Willkür  entgegensteuern 
und  zur  Garantie  rechtmäßiger  Zustände  werden*''. 

Le-Mercier  war  noch  aber  zu  zaghaft,  um  die  daraus 
mit  vollster  Deutlichkeit  aich  ergebenden  Konsequenzen  zu 
ziehen  und  die  öffentliche  Meinung  nicht  nur  als  einen  die 
Macht  gewahrenden,  »ondern  auch  als  einen  sie  ein- 
schränkenden Faktor  zu  erklären. 


UI. 

Die  nächste  an  dieser  Stelle  zu  berührende  Frage  ist 
die  nach  der  Aufgabe  des  Staates  in  der  physiokrati sehen 
Auffassung;  ihre  Beantwortung  ergibt  sich  schon  teilweise 
aus  dem  bisher  ' 


l 


Der  Zweck  des  menschlichen  Daseins  ist  die  Glück- 
seligkeit. Die  Gesellschaft  ist  die  natumot wendige  Be- 
dingung zur  Erreichung  dieses  Zweckes.  Daher  hat  auch 
der  Staat  als  die  bewußte  und  vernünftige  Organisation 
der  Gesellschaft  zu  einem  Endzweck  das  Wohl  und  die 
Glückseligkeit  der  Menschen. 

Die  Bedingungen  des  glücklichen  sozialen  Daseins 
sind  aber  die  Freiheit  der  Betätigung  und  die  Möglichkeit, 
die  Früchte  seiner  Arbeit  sich  aneignen  zu  können.  Frei- 
heit und  Eigentum  mu6  also  auf  dem  Banner  des  Staates 
geschrieben  stehen.  Der  Staat  hat  diese  höchsten  Güter 
zu  fördern  und  zu  schützen:  „protection"  und  „süretö"  sind 
daher  die  Aufgaben  des  Staates,  Zweck  und  Aufgabe 
werden  dann  von  den  Physiokraten  in  einer  Formel  zu- 
sammengefaßt, die  die  Losung  ihres  Zeitalters  war:  libert^, 
propri^lä,  siiret^"'. 

In  dieser  allgemeinen  Formulierung  wiederholen  die 
Physiokraten    die    hergebrachten    Resultate    der    zur   Zeit 


'  La-Mercier,  pp.  51 — 53. 
■'  Ibidem,  p.  445;   der  SIcbei hei Ui weck   wird  besonders  betont  bei 
QueNiay,  pp.  329— 38'^,  650  (§  18);  veI.  auch  Dnpont,  PhjiiacTatis,  t.  I, 
p.  U,  t  m,  p.  24. 


76  VI  3 

herrschenden  naturrechtlichen  Staatstheorie,  wie  sie  auch 
von  den  Theoretikern  des  vernünftigen  Polizeistaates  prokla- 
miert wurden.  Bei  näherer  Einsicht  in  ihre  Ausführungen 
erweist  sich  jedoch  der  Unterschied  und  die  Eigenart  ihrer 
Lehre.  Das  tritt  schon  vor  allem  bei  der  Rechtfertigung 
des  Staates  als  einer  die  Freiheit  einschränkenden  Zwangs- 
institution hervor. 

Das  Naturrecht  hat  die  Freiheit  als  die  Ureigenschaft  des 
Menschen  im  Naturzustande  betrachtet.  Der  Gesellschafts- 
vertrag hat  nach  dieser  Auffassung  den  Menschen  eines  Teiles 
seiner  Freiheit  beraubt,  um  ihm  den  Genuß  des  anderen  Teiles 
in  Sicherheit  und  Ruhe  zu  gewähren.  Das  praktische  Resultat 
war,  trotz  des  beständigen  Hervorhebens  der  Freiheitsidee, 
die  völlige  Unterwerfung  des  Individuums  unter  die  leitende 
vernünftige  Obrigkeit  Nicht  nur  in  seiner  politischen 
Stellung,  sondern  auch  in  seiner  ökonomischen  Tätigkeit 
(von  den  Franzosen  oft  als  „libert^  materielle"  bezeichnet) 
war  der  einzelne  bevormundet.  Der  Merkantilismus  und 
der  Protektionismus,  wenn  sie  auch  zeitlich  vor  der  litera- 
rischen Ausbildung  des  vernünftigen  Polizeistaates  geherrscht 
haben,  ist  die  eigentliche  Konsequenz  dieser  Theorie. 

Die  Lehre  der  Physiokraten  bietet  uns  hier  ein  ganz 
anderes  Bild.  Indem  sie  die  Idee  des  Gesellschaftsvertrags 
in  der  üblichen  Formulierung  ihrer  Zeitgenossen  verworfen 
haben,  ist  ihnen  auch  der  Gedanke  fremd  gewesen,  daB  der 
Mensch  in  der  geordneten  Gesellschaft,  im  Staate,  einen 
Teil  seiner  Freiheit  einbüßt.  Ihre  Auffassung  in  diesem 
Punkte  war  die  direkt  entgegengesetzte.  Die  geordnete 
Gesellschaft  ist  es,  lehrten  die  Physiokraten  mit  Quesnay 
an  der  Spitze,  die  erst  den  Menschen  frei  macht,  weil  er 
im  Naturzustande  unfrei  ist*^.  Denn  Freiheit  ist  nicht  nur 
ein  abstraktes  Reclit,  sondern  vor  allen  Dingen  die  kon- 
krete  Möglichkeit  des   Könnens ,   die   wirkliche  Äußerung 


*^  Quesnajf   pp.  373,  377;  Le-Mercier,  p.  20  et  suiv.;   Le-Trosne, 
Discours  II,   Note  8;  Mirabeau,  Lettres  sur  la  l^slation,  Bd.  II,  p.  520. 


I 


VIS  77 

der  iDdividuellen  Energie  in  ihrer  Tätigkeit  ^^.  Im  un- 
geordneten Zustand,  wie  er  bei  kompliziertet!  sozialen  Ver- 
hältnissen vor  dem  Staate  zu  denken  ist,  besitzt  der  Mensch 
dieae  Freiheit  nicht.  Nur  der  Staat  als  eine  auf  der  An- 
erkennung von  gegenseitigen  Rechten  und  Pflichten  be- 
ruhende Ordnung  kann  hier  Abhilfe  leisten  und  der  Tätig- 
keit des  einzelnen  wahrhaft  frei  machen.  Entstehen  für 
das  Individuum  dadurch  neue  Pflichten,  so  eröffnen  sich 
ihm  aber  auch  neue  geschützte  Rechte,  die  ihm  erst 
die  eigentliche  Freiheit  gewähren  (^point  de  droits  sans 
'  devoirs,   et   point  de  devoira  sans  droits"). 

Es  kann  wohl  erscheinen,  daß  dieses  nur  eine  andere 
I  Wendung  der  älteren  Lehre  ist  von  der  Aufopferung  eines 
(  Teiles  der  Freiheit-zur  Wahrung  des  anderen  Teiles ;  dennoch 
I  bleibt  der  Ausgangspunkt  bei  den  Phyaiokraten  ein  gänzlich 
verschiedener,  nfimlich:  die  Unfreiheit  des  Menschen  im 
KatuFEUstande  (ötat  de  pure  nalure).  Die  wirkliche  Frei- 
heit besteht  also  nur  im  Staate,  und  dieser  bedarf  daher 
keiner   weiteren   Rechtfertigung.  — 

Mit  der  Freiheitaidee  hängt  dann  die  nähere  Be- 
stimmung der  Aufgabe  des  Staates  zusammen ,  denn  die 
I Frage  nach  dem  gegenseitigen  Verhältnis  des  Wirkiings- 
Icreises  des  Staates  und  der  Freiheit  der  Staatsbürger  wird 
▼erachieden  beantwortet,  je  nachdem  es  auf  die  wirtschaft- 
liche Freiheit  ankommt  oder  auf  die  politische  Tätigkeit, 
auf  die  Handhingen  des  Individuums  als  eines  Gliedes 
einer  organisierten  Gemeinschaft.  So  erwachsen  innerhalb 
der  Frage  von  den  Aufgaben  des  Staates  zwei  Probleme: 
das  von  den  Beziehungen  zwischen  Staat  und  Wirtschaft 
einerseits,  und  denjenigen  zwischen  Staat  und  Indivi- 
duum andererseits.  Wenden  wir  uns  zum  ersten  dieser 
beiden  Probleme. 

Dem  Menschen    als   wirtschaftlichem  Subjekt  steht  die 
_ökonomische   Freiheit  zu,   die  Freiheit   der  Tätigkeit,   die 


*  Le-Heroier,  p.  %. 


7)^ 

sich  auf  die  Selbaterhaltung  richtet,  die  den  eigentlichen 
Inhalt  des  socialen  Daseins  ausmacht  und  in  strikter  Ab 
hangigkeit  von  den  sozialen  ,loiB  physiques"  sich  befindet. 
Diese  „lois  physiques"  sind,  wie  wir  schon  an  anderer 
Stelle  erörtert  haben,  im  Quesnay'auhen  Sinne  die  Gesetze 
der  sozialen  Ökonomie,  die  durch  das  Eingreifen  der 
freien  VernunfttStigkeit  tn  das  Wallen  der  Natur  zur 
Geltung  gelangen  und  in  ihrer  objektiven  Bescbaffenh^'l 
dem  mathematischen  Kalkül  unterliegen.  Den  von  iliesen 
Gesetzen  beherrschten  natllrlichen  Erscheinungen  ninß  ihr 
freier  Lauf  gelassen  werden,  damit  der  Gang  dieser  Er- 
scheinungen seiner  Bestimmung  nach  „le  plus  avantAgeux 
au  genre  huraain"  werde.  Hier  ist  jede  Beeinflussung,  jede 
von  außen  kommende  Regelung  unstatthaft.  Die  wirt- 
schaftlichen Subjekte  dürfen  in  ihren  Bestrebungea  und 
Unternehmungen  nichl  gestört  werden.  Ihrem  Tun  und 
Treiben  muß  der  freie  Wettbewerb  offen  stehen ,  denn  auch 
die  freie  Konkurrenz  hat  nur  den  Sinn,  im  sozialen  Leben 
den  „lois  physiques-  freie  Entwicklung  zu  gewahren  und 
so  die  normale  Preisbildung  herbeizuführen ,  die  dem  ge- 
gebenen Zustande  des  Ackerbaus  ohne  störende  Beein- 
äussung  der  produktiven  Arbeil  entspricht". 

Das  ist  der  Kornpunkt  der  physiokratlschen  Wirtschaft»- 
piilitik,  die  in  der  berühmten  Formel  „laissez  faire-Iaisses 
aller"  ihren  Ausdruck  gefunden  hat.  Somit  hat  sich  t 
Frage  von  der  Beziehung  zwischen  Staat  und  Wirtschi 
zu  der  sogenannten  negativen  Interventionstheorie  gestalte 
die  vom  Staate  nur  die  Abschaffung  der  Hindernisse  vei 
langt,  die  der  freien  wirtschaftlichen  Tätigkeit  im  We^ 
stehen  '*. 

Man  könnte  annehmen,  daß  diese  Ansicht  der  Allmat 
des  Staates,  wie  es  der  aufgeklarte  Absolutismus  —   dio  t 


"  Le-M6rci«r,  L'int^ret  gAaiia\  de  l'Etat,  pp,  122,  396.    Vgl.  i 
H.  DbhU  fl.  11.  O.,  pp.  117—119. 

^  Vgl.  Hlertnann,  SWial  uud  Wirtsdiaft.    Ud.  I.  Die 
den  Öhonomiiclieii  IndivEdualieinnB,  1904,  cli.  IIL 


jener  Zeit  herrachende  Staatstlieurie  —  lehrte,  einen  starken 
Schlag  versetzte,  denn  uuu  wui-de  ein  konkret  abgegrenztes 
Gebiet  entdeckt,  wo  dem  Staate  keine  Rechte  zustehen.  Doch 
sehen  wir  näher  zu,  ho  ergibt  sich,  daß  in  der  Frage  nach 
den  Beziehungen  zwischen  Staat  und  Individuum  dieses 
neue  Moment  innerhalb  der  physiok ratischen  Lehre  zu 
keiner  wesentlich  anderen  Stellungnahme  geführt  hat,  aU 
das  in  der  Theorie  des  aufgeklarten  Ahsolutismus  der  Fall 
war;  denn  in  bezug  auf  die  politische  Stellung  des  einzelnen 
■in  der  Gesellschaft  ist  der  PhyBiokratisinus  in  den  Bahnen 
der  herkömmlichen  Theurie  und  der  Praxis  des  französischen 
Königtums  geblieben**. 

Der   Hauptzug    dieser   Slaatsauffaasung    im    18.   Jahr- 
hundert besteht  darin,  daß  im  Staate,  der  die  verschieden- 
artigen    Tätigkeiten      und     Interessen     zu     einer     Cinheit 
zusammenschließt,    keine    andere    neben    ihm    organisierte 
partikuläre   Interesseneinheit   bestehen   darf,    weil  dadurch 
der  Staat  in  seinem  Wesen  beeinträchtigt  wird;  alles  Soziale 
wird   aus   diesem  Grunde   vom  Staate   absorbiert  und  kein 
,nderes    selbständige    soziale  Gebilde    neben    ihm    geduldet. 
Das   ist   die   im    18.  Jahrhundort  herrscheode  Gegner- 
baft  gegen  jeden  „eaprit  de  corps"  innerhalb  des  Stnates. 
Es   ist   nun    interessant   zu    sehen,    wie   auch  bei  den 
'hysiokraten   die  in  ihren  Ausgangspunkten  durchgeführte 
egenüberstellung  von  Staat  und  Gesellschaft  verschwindet, 
iobald    sie    auf   das    Gebiet    der    Politik    gelangen.     Hier 
'erschlingt     der     Staat     alles     Gesellschaftliche,     und     so 
iht    ihm,    gerade    wie    in    der    herkömmlichen   Theorie, 


"  Uit  Beeilt  glaubt  dalier  II.  Micbel  a.  a.  0.,  pp.  11  et  aaiv,.  die 
Phyiiokrat^u  EUBanimeii  mit  Voltaire  iincl  den  EnityklopitdiHten  unter  ?.jne 
politische  Qrupp?,  dio  dem  aufgeklärteii  AbsolutiamaH  hnldigle,  iiuterbrinveii 
lu  kBnnen.  Ein  ist  inttreaaant,  daß  die  Politik  der  PbyAiakritten  mit  der 
JBDigsn  Holbitcb's,  eiues  euageBprodieiiBn  Vertraters  des  anfj^  kl  Arten 
Alisolutismna,  stihr  viel  Oemeinnames  hat  (H.  Micliel  a.  a.  O ,  pp.  15  -17). 
Hulbach  war  es  auch,  der  zu^aninien  mit  Diderot  Tdr  das  f^roBe  Werk 
Le  Mercler'g  tieb  besoadera  begeiatort  hat,  (vgl.  Schelle  ini  NouTeaii 
DictioDnaire  d'Eeonomie  pnlitiqae,  11,  p.  114). 


80  VI  3 

nur  das  „schwache''  ^'^  Individuum  gegenüber,  und  nur  fiir 
dieses  gilt  auch  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  die  Maxime 
des  „laissez  faire''.  Nur  die  Einzelpersönlichkeit  wird  frei 
gemacht;  sobald  man  aber  aus  diesem  Rahmen  hinau^geht^ 
sobald  die  Persönlichkeit  ihre  Freiheit  bis  zur  Erweiterung 
ihrer  Macht  durch  Zusammenschluß  mit  anderen  Individuen 
ausdehnt,  da  legt  der  Staat  sein  veto  ein ;  denn  solche  Er- 
scheinungen enthalten  die  Keime  einer  politischen  Oegen- 
macht,  die  den  Staat  in  seiner  Bedeutung  und  Aufgabe 
aufheben  könnten. 

Die  Vorstellung  von  einer  Assoziation  innerhalb  des 
Staates  war  noch  speziell  für  die  Physiokraten  eng  mit  der 
Vorstellung  einer  die  Harmonie  des  „ordre  naturel*'  aus- 
schließenden und  die  Hemmung  der  „lois  physiques"  herbei- 
führenden Interessengemeinschaft  verbunden.  Daher  sind 
auch  im  Interesse  der  sozialen  Ökonomie  keine  Assoziationen 
zu  gestatten.  Das  ist  auch  die  Grundlage  der  berühmten 
Turgot'schen  Zunftpolitik,  die  freiheitlich  erscheint,  wenn  sie 
die  Rechtsbanden  des  alten  Zunftwesens  auflöst,  und  aufklärt 
—  despotisch,   wo  sie  jede  Arbeitervereinigung  verhindert*®. 

Mag  also  in  wirtschaftspolitischer  Hinsicht  in  der 
physiokratischen  Lehre  ein  großer  Fortschritt  liegen, 
rein  politisch  betrachtet,  tritt  hier  die  alte  Weisheit  des 
Polizeistaates  hervor,  die  den  einzelnen  seiner  Freiheit  und 
seines  Glückes  halber  in  seiner  Freiheit  beschränken  will, 
um  ihn  zu  verhindern,  ein  starkes,  dem  Staate  trotzendes 
Individuum  zu  werden. 

Allen  diesen  Gedankengängen  liegt  der  Fetisch  des 
Staates  zu  Grunde,  der  das  18.  Jahrhundert  beherrscht 
hat.  War  auch  der  Staat,  den  man  kannte,  der  schlechte 
und  verwerfliche,  so  ist  er  doch  zu  dem,  was  er  ist,  erst 
durch  die  depravierte  Menschheit  geworden :  nicht  also,  weil 

^'^  Dieser  Ausdruck  ist  von  Faguet  geprägt;  s.  seine  Abhandlung 
„Sur  les  id^es  maitresses  de  la  r^volution"  im  Sammelwerk  L^Oeuvre  sociale 
de  la  r^volution  fran^aise,  p.  24  et  suiv. 

28  Turgotf  Pr^ambule  zum  Edikt  über  die  Abschaffung  der  Zünfte 
und  §  14  des  betreffenden  Gesetzes,  Oeuvres,  U,  p.  802  et  suiv. 


» 


er  Bchon  an  und  für  siuh  eine  zu  bekämpfende  Institution 
ist.  Bis  spät  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  war  der  Staat 
in  der  Idee  für  die  meisten  auf  dem  Kontinent  ein  Zauber- 
wort geblieben.  Er  war  das  einzige  und  höchste  Mitte], 
das  Individuum  nicht  nur  glücklich,  sondern  auch  sittlich 
zu  machen.  Keine  höheren  Zwecke  konnten  danach  ohne 
den  Staat  erreicht  werden.  Alle  Neuerungen,  alle  Um- 
wälzungen sollten  fUr  den  kStaat,  durch  ihn  und  in  seinem 
Namen,  aber  nicht  gegen  ihn  geschehen.  Dem  un- 
bistoriacheu  Geiste  jener  Zeit  fehlte  jedea  Verständnis  dafür, 
daß  der  historische  Staat  sich  so  gestaltet  hat,  daß  jeder  Ver- 
such, ihn  neu  aufzubauen,  um  den  individualiatischen  frei- 
heitlichen Tendenzen  einen  Weg  zu  bahnen  —  wozu  ja  das 
Zeitalter  strebte  — ,  die  konkrete  Form  einer  Bekämpfung 
des  Staates  annehmen  und  zu  der  Herausbildung  eines 
Rechtes  gegen  ihn  fuhren  muß.  Daher  auch  die  schon 
früher  hervorgehobene  Anfeindung  jedea  „eaprit  de  corps" 
und,  wie  manche  vielleiclit  mit  Recht  betonen,  das  Fehlen 
der  Idee  der  politischen  Freiheit  im  modernen  Sinne  auf 
dem  Kontinent  im  18.  Jahrhundert'^;  allerdings  bilden 
hierbei  Montesquieu,  der  das  Wesen  des  politischen  Lebens ' 
Englands  erkannt  hat,  und  Blackstone,  dem  die  politische 
Freiheit  nicht  bloß  Lelire,  sondern  greifbare  Wirklichkeit 
war,  eine  wohl  zu  beachtende  Ausnahme. 

Diese  Betrachtungen  gelten  in  vollem  Maße  fUr  die 
Beurteilung  des  Physiokratismus.  Wollten  die  Physiokraten 
einerseits  der  vom  Naturrecht  ererbten  abstrakten  Freiheits- 
idee eine  konkrete  und  wirksame  Gestaltung  in  ihrem  öko- 
nomischen Laisseji  faire-Prinzip  geben,  so  haben  sie  doch 
andererseits  an  einer  diese  Intention  untergrabenden  Idee 
vom  Staate  festgehalten.  Denn  kann  das  Individuum  seine 
natDrlichen  Rechte  nur  durch  die  Gesellschaft  verwirklichen, 
4ie  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  politisch  ganz  im  Staate 
iofgeht,  so  gewinnt  der  Staat  Über  das  Individuum  diejenige 


■  Vgl.  Fsquat,  Le  IS-iime  si^te,  | 
1  Bay,  Torgot,  p.  159. 


393:  in  benig  »ufTurgot - 


1.  VI  3.  —  GlinWb«g- 


82  VI  3 

Macht,  die  in  anderem  Falle,  wenn  auch  unter  ihm,  so  doch 
neben  ihm  bestehende  gesellschaftliche  Bildungen  ausgeübt 
hätten. 

Von  einer  „Selbsthilfe^  etwa  in  einer  staatsfeindlichen 
Zuspitzung,  wie  es  in  folgerichtiger  Weiterentwicklung  des 
Laissez  faire-Prinzips  das  Manchestertum  im  nächsten  vor 
dem  „esprit  de  corps"  nicht  zurückscheuenden  Jahrhundert 
herausgebildet  hat  (die  Anfänge  der  englischen  Trade- 
Unions!),  kann  daher  beim  Physiokratismus  gar  nicht  die 
Rede  sein^  denn  die  in  seiner  Wirtschaftspolitik  verborgene 
liberale  Absicht  wird  durch  andere  Gesichtspunkte 
vereitelt. 

Ein  sozial  befreites  (die  „libert^  materielle'' !)  und  po- 
litisch bevormundetes  Individuum  —  das  war  der  Gedanke 
der  Physiokraten.  Was  sich  aber  gedanklich  trennen  läfit, 
das  bildet  tatsächlich  ein  untrennbares  Ganzes.  Eine  ab- 
solutistische Staatsgewalt  muß  auch  da  eingreifen,  wo  es 
ihr  theoretisch  die  Idee  der  „materiellen  Freiheit"  verbietet 
Das  sieht  man  am  besten  an  Turgot's  sozialpolitischer 
Tätigkeit,  die,  trotz  ihres  überwiegend  philantropischen 
'  Charakters,  mit  einer  folgerichtigen  Durchführung  der  im 
Physiokratismus  festgelegten  wirtschaftspolitischen  Prin- 
zipien nicht  völlig  übereinstimmt**^. 

An  diesem  Festhalten  am  Prinzip  der  politischen 
Bevormundung  hat  auch  die  Tatsache  nichts  geändert,  daß 
die  „soziale"  oder  „materielle"  Freiheit  sich  aus  den  Engen 
der  rein  ökonomischen  Tätigkeit  auch  auf  das  weite  Reich  der 
Entfaltung  der  Persönlichkeit  auf  kulturellem  und  geistigem 
Gebiet  ausgedehnt  hat,  wie  es  bei  den  Physiokraten  der 
Fall  war. 

Denn  auch  die  ethisch-liberale  Idee  der  freien  Persönlich- 


^®  Vergl.  Neymark,  Turgot  et  ses  doctrines,  Bd.  I,  pp.  407  et  suiv., 
wo  die  entsprechenden  Maßnahmen  Turgot's  hervorgehoben  sind ;  ähnlich 
Tocqueville,  Oeuvres,  Bd.  VIII,  p.  158.  —  Am  besten  erscheint  uns  doch 
Mastrier's  Formulierung  —  Turgot,  sa  vie  et  ses  doctrines,  p.  261  — 
wenn  er  sagt:  „Turgot  regardait  donc  la  charit^  comme  un  devoir  de 
droit,  c'est  k  dire  comme  pouvant  etre  impos6e  par  la  force  sociale''.  — 


VI  3 


83 


I 
I 


keit  ist  von  den  Physiokraten  dem  vernllnt'tigen,  den  „ordre 
naturcl"  herbeiführenden  ötaale  zum  Opfer  gebracht.  Auch 
in  dieser  Hinsicht  hat  der  Phyaiokratistnua  .den  alten  Stand- 
punkt nicht  verlasaen;  und  nur  die  AViederbelebung  der 
naturrechtlichen  Postulate  am  Vorabend  der  Revolution, 
wo  die  alten  Formeln  einen  ganz  anderen  Sinn  gewinnen 
konnten,  suwie  die  ethische  Emphase  und  Überzeugungs- 
kraft, mit  der  sie  ein  Turgot  gepredigt  hat,  können  hier  zu 
anrichtigen  Annahmen  verführen*'. 

Bei  diesem  Sachverhalt  ist  mit  der  Feststellung  des 
äicherheitszwecks  („de  sonner  l'alarme  daus  la  com- 
munant^",  wie  das  der  junge  Gral"  Wirabeau'''^  formuliert) 
die  Frage  nach  der  Aufgabe  des  Staates  in  der  physio- 
kratischen  Auffassung  durchaus  nicht  abgetan.  Denn  ist 
auch  die  Sicherheit  des  Staates  vornehmste  Aufgabe,  so 
ist  er  daneben  noch  berufen,  die  Tätigkeit  der  einzelnen 
auf  verschiedenen  Gebieten  zu  fördern,  weil  er  ja  die 
Macht  des  Ganzen,  die  dem  einzelnen  dienlich  ist,  allein 
und  ausschließlich  in  sich  aulnimmt. 

Neben  dem  Sicherheitszweck  entsteht  daher  ein  im 
weitesten  Umfange  gedac^htor  Wohlfahrtazweck ,  neben  der 
„süretö"  die  „protection".  Der  radikalste  Vertreter  des 
Laissez  faire-Frinzips,  Mirabeau,  der  oft  betont,  daß  des 
Staates  „action"  nur  in  der  „Jurisdiction"  "^  besteht,  hat  auch 


"  Tnrgol  wußte  ea,  die  Hecht«  den  ludiTidnuini  nichi  nur  iu  der 
vag^n  Formel  einer  Harmonie  iwisehen  dem  allgameinen  und  dem  iudiri- 
duellen  InteresBe  im  „ordre  nntiirel",  loadem  auch  in  viel  intuüt^ reicheren 
Siltaei]   auuudrQcken.    und    ho    nn)it    nr    unter   anderem:     „Ce    principe 

3ne  rien  me  doit  bomer  \ea  droils  ds  la  sociätä,  me  pnrait  faux  et 
■Dürens.  Toat  honime  eat  u&  libre,  et  il  u'est  jamais  permis  de  gener 
cette  litwrtä,  ji  moins  qu'elle  ne  dig^äre  en  licence"  (Lettres  sur  la 
tolirftuce,  1753,  Oeavrei,  II,  p,  G9Ö).  ^  Gans  beaonderB  ener^ich  iat 
Turgot  fSr  die  Gewisaensfreiheit  eingetreten,  wenn  er  auch  der  Ansieht 
war,  dsB  die  Kirche  dem  Staate  in  der  Krnillung  seiner  Au^be  Hilfe 
leisten  soll,  worin  mit  ihm  auch  alle  anderen  PhvHiokraten  üherein' 
stiBiniten:  so  Queau^.  pp.  573,  506,  Le-Troane,  p.  284,  Mirabeau,  Ami 
dei  Hommea  (öd.  1883),  p.  '241. 

'*  Comte  de  Mirabean,  Snr  le  deapotisme,  p.   IOC. 
'*  Theorie  de  rimpfit,  piuilm, 


84  •  VI  3 

diese  andere  Seite  hervorgehoben,  wenn  er  sagt,  daS  der 
Staat  zur  Aufgabe  habe  nicht  nur  „de  r^primer  le  brigan- 
dage" ,  sondern  auch  „de  protäger  et  diriger  raction  de  la 
soci^t^,  de  pourvoir  ä  Tabondance  qui  comprend  la  sub- 
sistance  et  la  commodit^"  ^*. 

Dieser  allgemeinen  Formel  des  Wohlfahrtszwecks  haben 
die  Physiokraten  auch  einen  Inhalt  zu  geben  gewufit.  So 
obliegt  dem  Staate  vor  allen  Dingen  die  Förderung  des 
Ackerbaues.  Alle  Maximen,  die  Quesnay  für  einen  „gouveme- 
ment  ^onomique"  aufgestellt  hat,  sind  von  diesem  Gedanken 
durchdrungen®^.  Daneben  erhebt  sich  zur  Pflicht  für  den 
Staat,  die  von  der  Gemeinschaft  zu  Gunsten  des  Ackerbaues 
auszuführenden  öffentlichen  Arbeiten  zu  übernehmen.  Diese 
„travaux  publics",  besonders  den  Wegebau  und  das  Ver- 
kehrswesen, haben  die  Physiokraten  immer  als  eine  der 
wichtigsten  Aufgaben  des  Staates  betrachtet**. 

Aber  in  noch  viel  höherem  Mafie  wurde  von  ihnen  die 
Sorge  für  die  Volksauf klärung ,  für  den  allgemeinen 
obligatorischen  Unterricht  hervorgehoben,  mit  der  aus- 
gesprochenen Absicht  auf  diesem  Wege  eine  staatserhaltende 
öffentliche   Meinung   zu   schaffen  °''.     Das  ganze   politische 


^^  Lettres  sur  la  l^gislation ,  Bd.  U,  p.  875;  Theorie  de  Timpot, 
p.  17.  —  Wenn  Biermann,  a.  a.  O.  S.  40,  meint,  daß  der  „Wohl£siirt8- 
zweck  mit  dem  Physiokratismus  unvereinbar  ist",  so  können  wir  das  jet£t 
dahingestellt  sein  lassen,  denn  wir  haben  nur  festzustellen,  dafi  die 
Physiokraten  den  Wohlfahrtszweck  dennoch  anerkannt  haben. 

^^  Quesnay  verlangt  vom  Staate  für  die  Landwirtschaft  „une  protection 
d^cid^e",  Quesnay,  p.  183.  —  Wie  Quesnay  sich  diese  y,protection*'  im 
Unterschiede  von  der  üblichen  Auffassung  des  Polizeistaates  gedacht  hat, 
beweist  folgende  Stelle  aus  seinem  Briefe  an  den  Intendanten  von  Soisson 
(mitgeteilt  von  Ottomar  Thiele  in  der  Vierte\jahrschrift  für  Sozial- 
und  Wirtschaftsgeschichte,  1906,  S.  644):  „.  .  .  c'est  du  gouvemement 
seul  que  dopend  la  prosp^rit^  ou  la  d^gradation  de  l'agricaltore  et  non 
des  instructions  que  l*on  prätend  donner  aux  cultivateurs^ 
(gesperrt  von  uns.  B.  G.). 

"•  Quesnay,  pp.  333  (VIII  Maxime),  553;  Mirabeau,  Philosophie 
rurale,  Bd.  I,  pp.  185—192. 

^^  Quesnay,  pp.  375—377,  594—598,  641,  645—646.  Auch  bei  allen 
anderen  Physiokraten  bildet  die  „instruction  publique**  den  wichtigsten 
Teil   ihrer  Lehre.    (Vgl.  auch   den  Munizipalitätenentwurf,    Turgot,    U, 


VI  3 


ä5 


System  der  Pliysiok  raten  war  auf  dieser  Seite  der  Tätig- 
keit des  Staates  aufgebaut,  wie  wir  schon  oben  angedeutet 
haben,  und  wie  es  uns  im  Verlaufe  der  weiteren  Aus- 
führungen noch  klarer  werden  wird.  Eb  kann  oiuht  genug 
hervorgehoben  werden,  welche  Macht  über  das  Individuum 
durch  die  Leitung  der  Volksaufklärung,  dieses  „Palladiums" 
Jedes  Staatswesens,  wie  Mirabeau  sieb  ausdrückt,  dem  Staate 
gegeben  werden  sollte.  So  haben  einige  Phyaiokraten  auch 
die  Forderung  gestellt,  daß  im  wohlgeordneten  Staate  die 
Vollberechtignng  der  Bürger  von  einer  staatlichen  Prüfung 
abhängig  gemacht  werden  soll"".  Auf  denselben  Punkt 
der  Wirksamkeit  des  Staates  sich  stützend,  hat  Baudeau 
die  Frage  nach  der  Beziehung  zwischen  Staat  und  Individuum 
in  einer  Weise  entschieden,  die  am  besten  die  Aufgabe 
des  Staates  ini  Sinne  der  Physiokratie  charakterisiert: 
„L'^tat   fait   des  homnies  tout  ce  qu'il  veut",  faßt  er  kurz 

Das  alles  ist  nur  daraus  zu  erklKrea,  daß  die  Physio- 
kraten  im  letzten  Gründe  dem  Staate  die  Aufgabe  auferlegt 
haben,  die  Gesellschaft  aus  dem  „ordre  de  döprava- 
tion"  in  den  „ordre  naturel"  hinllberzuführen. 
Diese  Auffassung  schließt  aber  die  Idee  vom  Staate  als 
«inem  bloßen  „Nachtwächter"  gänzlich  aus.    Daher  hat  auch 


[  B.  506  et  auiv.).  Sie  bsbeu  sfieziolle  Sohrifteo  über  die  Orgauifiittioii  der 
L  VolkiaofkläriiDg  verTaßt  (ao  L,a-Meruier,  Mlmbeau,  Dupoat)  und  mit  be- 
r  londerer  Energie  filr  dieaeu  ihreu  LteblingHgedAiikeD  ia  der  Oeaellacbaft 
I  Btiraumiig  in  machen  gesucht,  ('ondorcet  hat  ipSter  in  »einer  literariaeben 
!  nnd  politischen  Tütigkdt  (aU  Vorsitiender  der  Kommiasion  für  die 
[  Organisation   der  Volkfanfklänrng   im    EooTent)  in   dieser   Hinsicht  nur 

'  I  Erbe  der  Physiokraten  Obemommeu. 

'*  Mirabeau  in  einer  uugedruukteu,  an  den  Kfinig  von  Schweden 
I  MTichteten  Denkacbrift  über  die  Volksaufklilrung;  aitiert  bei  J.  Edel- 
I  Seim,  Beiträge  zur  Geachicbta  der  SnzialpSdagogik  mit  besonderer  Bh- 
1  (fiajuicbtiguag   der  frantfiitiscbeu  KevolaÜon,   1902,   »K.   106'7;   ibnlicb, 

Le-Trosne,  p.  2&S. 

"  Zit.  bei   Tocqueville,   Anoien  nigime,  7-i4äie   id.  (OeavreB,   IV), 

p.  240;  vgl.  auch  Queaiuij  fibar  die  Aufgabe  der  Staatsgewalt  —  p.  688: 

„.  .  .  maintenir  el   r^farmer  les   cautumes   et   les  usng^s  introduits  dan» 

Ia  natiDn''. 


86  VI  3 

die  „destruction  des  obstacles"  —  eine  Bezeichnung,  mit  der 
Turgot  die  Aufgabe  des  Staates  charakterisieren  will  —  nicht 
den  Sinn,  daß  der  Staat  bloß  eine  „polizeiliche",  sondern 
auch  eine  schöpferische  und  umgestaltende  Tätigkeit  ent- 
falten soll.  Die  Hindernisse  sind  die  bestehenden  Zustände: 
diese  sollen  zerstört  und  abgeschafft  werden;  die  negative 
Bezeichnung  enthält  nur  den  Hinweis  auf  die  der  Willkür 
entzogenen ,  jeder  von  außen  kommenden  Einmischung 
widerstrebenden  sozialen  „lois  physiques". 

Es  ist  also  aus  dem  bisher  Gesagten  zu  schließen,  daß 
die  Physiokratie  mit  dem  Manchestertum  (nicht  als  bloß 
ökonomische  Theorie,  sondern  als  Staatstheorie  gedacht)  nur 
die  negative  Seite,  die  Bekämpfung  des  Merkantilismus 
und  Protektionismus  gemeinsam  hat.  Bei  der  positiven 
Auffassung  von  der  Aufgabe  des  Staates  ist  aber  die  Ver- 
wandtschaft der  Gedankengänge  durchaus  nicht  so  ein- 
leuchtend ;  denn  die  weltanschauungsmäßige  Grundlage  von 
der  Harmonie  der  Interessen  hat  in  den  beiden  Theorien 
eine  verschiedene  Bedeutung. 

Das  Manchestertum  bezieht  die  Harmonie  der  Interessen 
auf  das  wirklich  Bestehende  und  historisch  Hergebrachte, 
und  es  hat  daher  etwas  Gemeinsames  mit  der  Bestaurations- 
politik,  mit  der  es  auch  zeitlich  zusammenftlllt  Die  Physio- 
kratie dagegen  hat  den  hartnäckig  vertretenen  Gedanken 
von  der  Harmonie  zwischen  dem  Einzelinteresse  und  dem 
Gesamtinteresse  nur  auf  den  „ordre  naturel",  auf  die  ideale, 
zu  verwirklichende  Zukunft  und  nicht  auf  die  schlechte, 
unvernünftige,  depravierte  Gegenwart  bezogen.  Um  diesen 
idealen  Zustand  herbeizuführen  und  aufrecht  zu  erhalten, 
bedarf  es  aber  eines  starken  Staates,  der  die  Geister  zum 
„ordre  naturel"  erzieht  und  formt. 

Hier  teilt  die  Physiokratie  ihre  Auffassung  mit  dem 
ebenfalls  aus  dem  18.  Jahrhundert  herrührenden  „rationalen 
Sozialismus"^,  und  die  Berührungspunkte  sind  aus  der 
gemeinsamen  Quelle,  aus  der  sie  fließen,  zu  erklären:  den 


rvi3 


87 


} 


kartesischen  Tendenzen  der  tVanzösisthen  Philosopliie*". 
Es  ist  einerseits  der  Glaube  an  die  Macht  des  vernünftigen 
Willens,  der  die  Welt  umzugestalten  berufen  ist,  der  sie 
vereint,  ebenso  wie  andererseits  der  Glaube  an  das  All- 
gemeingültige, Vernünftige,  „Natürliche",  an  jenen  „urdre 
innDuable"  Malebranche's,  der  das  Reich  der  Ethik  und  der 
menschlichen  Tat  im  Gegensatz  zum  Reiche  der  physischen 
[otwendigkeit  darstellt,  und  den  die  Menseben  auf  Erden 
zu  verwirklichen  haben. 

So  beruht  die  Lehre  von  der  Nichteinmischung  und 
der  Harmonie  der  Interessen  bei  den  Physiokraten  auf 
einer  ganz  anderen  weltanscbauungsmäßigen  Grundlage,  als 
die  spätere  dieselben  Maximen  vertretende  Mancheater- 
theorie,  wenn  das  auch  oft  verkannt  wird.  Zu  Miß- 
verständnissen hat  die  dem  18.  Jahrhundert  geläufige  Ver- 
mengung von  Erkennen  und  Künnen  geführt;  denn,  glaubte 
man,  ist  die  natürliche  Ordnung  mit  ihrer  Harmonie  der 
Ijiteressen  erkannt,  dann  ist  sie  schon  herbeigeführt,  und 
das  Ziel  ist  erreicht;  jeder  muß  sich  nur  von  dem  Gedanken 
ihres  Vorhandenseins  durchdringen  lassen,  um  sie  verwirk- 
lichen zu  können. 

Es  war  nun  ein  leichtes,  von  hier  aus  auf  den  Stand- 
punkt hinüberzugleiten,  der  die  Harmonie  der  Intereasen  aucb 
auf  die  bestehenden  Verhältnisse  bezieht,  wie  es  im 
Physiokratismus  in  ökonomischen  Dingen  wirklich  oft  ge- 
schehen ist.  Gerieten  die  Physiokraten  dadurch  auf  eine 
ihreraufkläreriachenWeltanschauung  fremde  Bahn,  so  beweist 
schon  die  Mj5glichkeit  dieser  Entgleisung,  daß  ihr  wirtschafts- 
politisches  Prinzip,  sobald  man  es  in  der  Praxis  folgerichtig 
anwenden  wollte,  nicht  ganz  —  wenn  auch  nicht  subjektiv  — 
mit  ihren  anderen  Ansichten  über  die  Aufgabe  des  Staates 
und  überhaupt  mit  der  aufklärerischen  Beurteilung  der 
Wirklichkeil  barmonierte.  Daher  haftet  auch  an  der  ganzen 
Lehre  das  Gepräge  eines  Widerspruchs  zwischen  der  alten 
.,  SuEiHliBTRii8  und  BOEialc  Bewegtmf^,  ö.  Anfl. 


88  VI  3 

Staatsphilosophie  und  einer  modernen  dem  Geiste  des  auf- 
strebenden Kapitalismus  entstammenden  Tendenz.  Wir 
werden  im  folgenden  sehen,  wie  sich  dieser  Widerspruch  mit 
der  Zeit  auch  in  ihrer  Politik  wiedergespiegelt  hat.  Doch 
soll  vorher  diejenige  Periode  geschildert  werden,  in  der  die 
älteren  Tendenzen  im  Physiokratismus  noch  die  vorherrschen- 
den waren. 


Sechstes  Kapitel 


I. 

Der  Staat,  für  den  die  Physiokraten  die  politischen 
Prinzipien  festlegen  wollten,  ist  der  landwirtschaftliche 
Staat.  Die  Geschichte  und  die  Gegenwart,  lehrten  sie, 
kennt  aber  noch  barbarische  Staatswesen  und  industrielle 
Staaten:  den  ersteren  fehlt  überhaupt  jede  Ordnung,  die 
letzteren  unterliegen  in  ihrer  Organisation  ganz  anderen 
Prinzipien. 

Gegenstand  theoretischer  Erörterungen  kann  daher  nur 
der  „6tat  agricole"  werden  *,  weil  er  das  Staatswesen  einer 
auf  produktiver  Arbeit  beruhenden  Gemeinschaft  darstellt. 
Die  industriellen  Staaten  dagegen  sind  schon  aus  dem 
Grunde  für  die  theoretische  Betrachtung  minder  geeignet, 
weil  sie  ein  kleines,  für  die  Ernährung  der  Einwohnerschaft 
ungenügendes  Territorium  besitzen  und  daher  immer  vom 
landwirtschaftlichen  Staate  abhängig  sind  ^.  Sie  spielen  nur 
die  Rolle  großer  Warendepots  und  Vermittler  im  Verkehr 
(commerce)  —  besonders  im  maritimen  —  zwischen  den 
großen  Staaten.  Als  solche  stehen  sie  in  engen  Beziehungen 
zu  den  Handeltreibenden  aller  Staaten  und  bilden  mit  ihnen 
eine  universelle,  kosmopolitische  Republik,  den  ersten  An- 


*  Quesnay,  p.  647. 

*  Die  Physiokraten  hatten  dabei  ihre  zeitgenössischen  Verhältnisse 
vor  Augen:  das  kleine  Holland  und  die  handeltreibenden  Städterepubliken ; 
Vgl.  Mirabeau,  Lettres  sur  la  l^gislation,  Bd.  II,  p.  647,  Theorie  de 
rimpöt,  p.  297/8. 


90  VI  3 

satz  und  die  beste  Bürgschaft  für  die  künftige  Brüder- 
schaft der  Völker  ^ 

Aus  diesen  Gründen  ist  auch  die  Verfassung  der 
industriellen  Kleinstaaten  ganz  anderer  Art.  Wir  haben 
uns  aber  jetzt  dem  wahren  Staate,  dem  „^tat  agricole", 
zuzuwenden. 

Der  Staat  ist,  wie  wir  schon  früher  gesehen  haben, 
kein  Selbstzweck,  sondern  ein  Mittel  zur  Sicherung  und 
Förderung  der  sozialen  Güter:  er  wird  daher  von  der 
Gesellschaft  geschaffen,  und  das  geschieht  auf  jener  Stufe 
der  Entwicklung,  auf  der  von  den* produktiven  Arbeitern 
die  beiden  Funktionen  der  Erzeugung  und  Erhaltung  der 
Güter  nicht  mehr  ungetrennt  ausgeführt  werden  können. 
Die  „avances",  die  aufgewendet  werden  müssen,  um  die 
Ertragsfähigkeit  der  Scholle  zu  heben,  werden  nun  in  die 
„avances  fonciferes"  (für  die  Produktion)  und  in  die 
„avances  sociales"  (zur  Aufbewahrung  der  angehäuften 
Güter)  eingeteilt,  und  diese  letzteren  werden  dem  Repräsen- 
tanten der  neu  eingesetzten  Ordnung,  dem  Souverän,  über- 
tragen. Die  „avances  sociales^'  gestalten  sich  auf  diese 
Weise  zu  den  „avances  souveraines" ,  dem  eigentlichen 
Mittel  der  Ausübung  der  Staatsgewalt,  die  also  wie  aus 
dem  Gesagten  folgt,  keine  ursprüngliche,  sondern  eine  er- 
teilte Macht  ist  —  „instituöe  dans  la  soci^t^  et  par  la  soci^t^"  *. 

Es  ergibt  sich  daraus,  daß,  wenn  bei  den  Mitgliedern 
der  staatlichen  Gemeinschaft  die  Rechte  den  Pflichten 
vorangehen,  weil  diese  nur  die  Bedingungen  der  Ausübung 
jener  sind,  so  ist  für  den  Staat,  bezw.  den  Träger  der 
Staatsgewalt,  dagegen  das  Verhältnis  ein  umgekehrtes.  Für 
den  Souverän  sind  seine  Rechte  nur  eine  Bedingung  zur 
Ausführung  seiner  Pflichten,  die  vorangehen.  Denn  nur 
die  Eigentümer  haben  ihre  Rechte  von  der  Natur,  der 
Souverän   bekommt   sie   erst  von   der   Gesellschaft*.     Wir 


^  Quesnay,  p.  520,  Note  (ein  Auszug  aus  einer  Dupout^schen  Schrift). 

*  Quesnay,  p.  687;  Le-Mercier,  154. 

^  Vgl.  Dupont,  Table  raisonn^  des  principes  de  l'^conomie  politique. 


VIS 


;i| 


i 


haben  ea  hier  also  mii  OcilankeD  r.u  tun.  <lie  von  vorii- 
berein  auf  eine  Einschränkung  der  Sbwt^g««-»!!  Biclen.  8iA 
knUpten  im  Kerne  ao  ia&  ftitere  NaliirnH'Ut  an.  aber,  wio 
wir  seheD,  keinestallä  an  die  absolutistUchpu  StAMblhrorU'ii. 
wie  man  es  vielleicht  nach  dem  ersten  Eindruck  vun 
der  physiokra tischen  Suatslehre  anttohmcn  kaniUe.  B»- 
merkeDsweri  ist  im  Qegeateil,  daS  di«  Physiokrxtun  K*>K*>n 
die  sLaatsabeolutisti sehen  Tendenzen  Rouaaean's  und  Muntctt- 
qaieu'a,  die  in  der  Betonung  des  tbrmcUen  OetteUcHtiogritls 
■um  Ausdruck  kommen  (Rousseau'ä  „volenti^  ){ifn*'rnlu" 
«inea  souveränen  Volkes  und  Montesqiiimi's  berlllimto 
Deünitton  der  politischen  Freiheit!),  gelegentlieh  Eins)iruch 
erheben.  So  hat  Dupont  bei  einer  Bospreohung  der  Gonfnr 
Angelegenheiten  in  einigen  gegen  Rousseau  gorichttflen 
Ausführungen  darauf  hingewiesen,  daß  »b  hucIi  ia  oiuur 
Republik  nicht  genüge,  wenn  das  Volk  soiiTerlln  svt,  denn 
auch  das  souveräne  Volk  müsse  gerecht  «ein  und  seinoii 
Pflichten  nachgehen  °.  Daneben  polemisiert  auch  BftudeHU 
gegen  Montesquieu's  DeHiiitlou  der  politiaihoii  Freihält,  di« 
nach  den  phyaiokratischen  Vorstellungi»)  dazu  fuhren  nuißtn, 
dnä  die  Gerechtigkeit,  die  ju,  uur  mw:  soi,  in  den  vsr- 
flchiedenen  Staaten  eine  verschiedene  wenin'. 

Bestimmend  ist  auch  hier  ftlr  die  Ilaltunff  dtiT  Fliysio- 
Lten  dasAblehnen  jedesKomprnmtM«"«gewe«<m,  der  irgend- 
oberste Gesetz  der  Gerechtigkeit  iMioinlrtiebtlgen 
Auf  diesen  Grundsatz  ist  ihre  ganz«!  Politik 
itten,  der  dadurch  nicht  zum  mindesten  ninn  gut« 
Dosis  .rerolationären  Temiferameiit»"  h»ig(tbracht  wurd«. 
Daneben  kommen  aber  schon  in  den  politisclHMi  Aruganga- 
pnnkten  der  Pbysiokraten  auch  andere  fUr  diu  ahsolril« 
Ksnigtam  geftfarlicbe  Momente  hinzu,  di«  io  jenen  h^wtffUra 


•  tfätmiriin    da    ciU.ytN.    I7?0.    D*»Mf'i 


M,    HIV,    u«paa>>    Mutmm^uatg   tta    1« 


92  VI  3 

Zeiten  nicht  lange  verborgen  bleiben  konnten  und  gar  bald 
reife  Früchte  tragen  mußten. 

Wir  haben  schon  betont,  daß  der  Staat  den  Physiokraten 
nur  ein  Mittel  zum  Zweck  war,  eine  von  der  Oesellschaft 
für  ihre  Interessen  geschaffene  Institution.  Als  Folge  daraus 
mußte  sich  ergeben,  daß  der  Träger  der  Souveränität  eben- 
falls die  Gesellschaft,  das  Volk  ist.  So  haben  es  auch  die 
Physiokraten  gelehrt. 

Le-Mercier  knüpft  hier  an  den  Begriff  der  Souveränität 
als  den  der  höchsten  Macht  an.  Der  eigentliche  Depositar 
und  Hüter  der  Gesetze,  führt  er  aus,  ist  das  Volk,  nicht 
weil  es  allein  die  Wahrheit  besitzt,  —  diese  ist  nur  da 
vorhanden,  wo  die  Evidenz  herrscht  —  sondern  weil  das 
Volk  als  die  Summe  der  physischen  Kräfte,  dazu 
von  der  Natur  aus  bestimmt  ist®.  Es  ergibt  sich  dann 
daraus  mit  Notwendigkeit,  daß  Souveränität  und  Souverän 
nicht  dasselbe  ist.  Das  hat  mit  besonderer  Deutlichkeit 
Mirabeau  hervorzuheben  gewußt.  Es  ist  falsch,  meint  er, 
wenn  der  König  sagt  —  „la  souverainetÄ  est  k  moi":  der 
Souverän  ist  nur  der  Repräsentant  der  Souveränität  und 
dieser,  nicht  jenem  gehören  die  „avances  souveraines". 
Es  war  nur  ein  Schritt  von  diesen  Ausführungen  zu  dem 
kühnen,  wenn  auch  nicht  mehr  neuen,  von  Mirabeau 
Ludwig  XV.  gegenüber  hingeworfenen  Satze,  daß  er  nur 
der  erste  Staatsbeamte  sei^,  ein  Satz,  den  der  berühmtere 
Sohn  später  seinem  Vater  entlehnt  hat. 

Diese  Gedanken,  besonders  in  den  Erörterungen  der 
Mirabeau'schen  „Theorie  de  Timpot"^,  stehen  im  inneren 
Zusammenhang   mit   dem  ganzen  physiokratischen  System, 

^  Le-Mercier,  p.  92. 

*  Mirabeau,  Theorie  de  l'impöt,  pp.  48 — 50;  La  science  ou  des 
droits  et  des  devoirs  de  rhomrae,  p.  260.  —  Mirabeau  erkennt  dann 
weiter,  daß  man  dieses  Prinzip  mit  der  Forderung  einer  erblichen 
Monarchie  vielleicht  unvereinbar  finden  würde,  weil  die  Souveränität  kein 
Eigentum  des  Monarchen  ist.  Er  kommt  aber  diesem  Einwurf  in 
folgenden  bemerkenswerten  Worten  zuvor:  ,,lor8  de  la  vacanoe  da 
trdne  la  loi  saisit  le  roi,  d^s  lors  il  fait  partie  lui-mSme  de  la 
propri^t^  publique'^.     Lettres  sur  la  l^gislation,  Bd.  I,  p.  197. 


PI  3 


93 


de 

mfü» 


mit  dem  VerBuuh,  die  Entatebung  des  Staates  und  wo- 
möglich auch  seine  Organisation  auf  der  OkonomiBchen 
Basis  der  Geaellachaft  zu  begründen.  Denn  wird  diese 
ökonomische  Grundlage  durch  die  Tätigkeit  der  Individuen 
geschaffen,  so  folgt  daraus  mit  Notwendigkeit  die  ent- 
scheidende Bedeutung  dieser  letzteren  für  die  Gestaltung 
des  Staates  und  fUr  den  Gang  der  Dinge  in  ihm.  Es  liegt 
lar  auf  der  Hand,  daß  dies  vor  allen  Dingen  in  derjenigen 
'atigkeit  des  Staates  zum  Ausdruck  kommen  muß,  die 
seine  materielle  Existenz  bedingt,  also  in  der  Finanz-  und 
Steuerpolitik.  Das  war  aber  für  jene  Zeit  von  größter 
politischer  Wichtigkeit. 

Im  Laufe  des  ganzen  18.  Jahrhunderte  bildeten  die 
Finanzen  in  Frankreich  den  Brennpunkt  aller  politischen 
Erörterungen,  weil  am  Finanzwesen  der  französische  Staiits- 
körper  am  meisten  gekrankt  hat,  und  weil  jedenfalls  in 
seiner  Unzulänglichkeit  die  Zeitgenossen  den  Grund  der 
kritischen  Lage  des  Staates  zu  sehen  geglaubt  haben.  Nun 
sollen  nach  der  physiokratischen  Lehre  die  Steuern,  auf 
die  es  hauptsächlich  damals  ankam,  jeder  Willkür  entzogen 
werden,  und  nicht  von  den  Staatsgliedem,  als  solchen, 
sondern  aus  der  Quelle  des  Reichtums  selbst,  und  zwar 
aus  seinem  , disponiblen"  Teil,  dem  Reinertrag,  gewonnen 
werden.  Da  aber  die  Herstellung  dieses  Reinertrages  aus- 
schließlich von  der  Tätigkeit  der  einzelnen  abhängt,  in  der 
sie  durch  keine  Rticksichten  gestört  werden  dürfen,  so  wird 
der  Staat  in  seiner  eigentlichen  „physischen"  Grundlage  in 
direkte  Abhängigkeit  von  den  Staatsuntertanen  gebracht, 
denn  die  Maxime,  daß  die  „besoins  politiques"  den  „besoins 
physiques"  unterstellt  werden  sollen,  verleibt  denjenigen, 
die  für  die  letzteren  zu  sorgen  haben,  das  entscheidende 
Wort  in  Finanz-  und  Steuerfragen ,  d.  h.  in  den  Fragen, 
die  den  damaligen  Politikern  in  jeder  Beziehung  die  auS' 
echlaggebenden  waren. 

Freilich  ist  diese  politische  Rolle  nicht  dem  ganzen 
Volke  sondern  einem  kleinen  Bruchteil  zugedacht,  oämlicb 


1 


94  VIS 

demjenigen,  der  nach  der  Auffassung  der  Physiokraten  die 
ökonomische  Grundlage  des  Staates  schafft,  also  der  pro- 
duktiven Bevölkerungsschicht,  als  welche  ihnen  nur  die 
Grundeigentümer  '  und  die  Ackerbautreibenden  (vielmehr 
die  in  der  Landwirtschaft  Beschäftigten)  erschienen  sind. 
Diese  sind  also  die  eigentlichen  Gründer  und  Erhalter  des 
Staates;  bei  ihnen  ruht  die  Souveränität,  von  ihnen  geht 
sie  aus  und  wird  auf  die  Staatsgewalt  übertragen.  Sie 
bilden  daher  die  politisch  bevorzugte  Klasse,  die  von  Natur 
aus  zu  herrschen  berufen  ist*®. 

Diese  Tendenz,  deren  Nachklänge  wir  nicht  nur  bei 
Turgot  **,  sondern  auch  bei  Condorcet  finden,  hebt  aber  den 
Grundgedanken  nicht  auf,  den  wir  aus  dieser  Stelle  zu  be- 
tonen haben,  und  zwar,  daß  die  Physiokraten  schon  in 
ihren  Ausgangspunkten  dem  Gedanken  einer  unbeschränkten, 
jede  Volksanteilnahme  ausschließenden  Herrschergewalt 
fremd  waren.  Wir  werden  im  nächsten  Kapitel  der  Weiter- 
entwicklung dieser  Keime  innerhalb  des  Physiokratismus 
nachgehen;  hier  sei  nur  bemerkt,  daß  sie  für  die  physio- 
kratische  Lehre  von  der  Staatsform  nicht  von  entscheiden- 
der Bedeutung  geworden  sind.  Denn  in  diesem  Punkte 
haben  sich  die  Physiokraten  von  andersartigen,  mehr 
historisch  zu  erklärenden  Erwägungen  leiten  lassen. 

Prinzipiell   war   ihnen   die  Frage  nach  der  Staatsform 


^®  Mirabeau  hat  diese  politische  (und  staatsrechtliche)  Unterscheidung 
auch  terminalogisch  durchgeführt:  die  Grundeigentümer  bezeichnet  er  als 
„r^gnicoles",  die  übrige  Bevölkerung  als  „sajets"  oder  „habitants*^. 
S.  Mirabeau,  La  science  ou  les  droits  et  les  devoirs  de  Thomme,  p.  168; 
älmlich  in  einem  Briefe  an  den  schweizerischen  Physiokraten  de  Butre, 
mitgeteilt  von  R.  Reuß,  Charles  de  Butr6,  un  Physiocrat  tourenguau 
p.  95/6;  vgl.  auch  Lettres  sur  la  l^gislation,  Bd.  II,  p.  675.  —  Louis 
Blanc,  a,  a.  O. ,  p.  521,  will  die  Nachwirkung  dieser  Unterscheidimg  in 
der  später  durchgeführten  Teilung  aller  Bürger  in  aktive  und  inaktive 
sehen. 

^^  „Dans  la  Constitution  naturelle  des  soci^t^s  il  n'y  a  que  deox 
ordres  reellement  distingu^s,  c'est-ä-dire,  dont  la  distinction  soit  nette, 
tranch^e  et  donne  Heu  k  des  droits  diffi6rents,  Tordre  des  propri^taires 
de  biensfonds  et  le  reste  des  citoyens  non  propri^taires."  Turgot  in 
einem  Briefe  an  Condorcet,  in  der  Knies^schen  Ausgabe  des  Briefwechsels 
des  Markgrafen  Carl  Friedrich,  Bd.  II,  s.  243. 


ri! 


95 


I 


glt^ichgUltig,  weil  es  ihueii  bloß  darauf  ankam,  daS 
im  Staate  des  „ordre  natiirel"  die  Evidenz  sonverän  walte, 
wer  auch  der  konkrete  Träger  der  Souveränität  sein  mag: 
einer,  mehrere  uder  gar  alle.  Das  hat  schon  voa  Anfang 
an  Quesnay  eelbst  betont'*,  und  der  Phyaiokrat  Baudeau, 
den  Dupont  gelegentlieh  als  einen  eifrigen  Verfechter  der 
absoluten  Monarchie  hinstellt,  ist  noch  viel  weiter  gegangen, 
indem  er  es  sich  Überhaupt  versagt  zu  entscheiden,  welche 
fitaatsform  für  den  „ordre  naturel"  die  beste  ist,  und  die 
liöBung  diese«  Problems  der  Anschauung  seiner  Leser 
Überläßt  '*. 

Es  ist  nun  klar,  dafi  bei  einer  ähnlichen  Auffassung 
die  Physiokraten  die  oben  beaprochenen  Tendenzen  ihrer 
Lehre  zu  einer  Politik,  wie  es  ihre  Zeit  verlangte,  nicht 
ausbilden  konnten,  weil  ihnen  wenig  daran  gelegen  war.  — 
Die  physiok ratische  Doktrin  ist  daher  in  der  ersten  Periode 
ihrer  Entwicklung  weniger  Politik,  als  ausgesprochene 
Äaturrechtslehre.  Zur  Politik  ist  sie  allmählich  eher  unter 
dem  Drucke  der  politischen  Verhältnisse,  als  aus  inneren 
Gründen  geworden.  Und  nicht  diese,  sondern  jene  haben 
.in  Ihr  mehr  und  mehr  den  „esprit  rövolutionnaire"  genährt, 
der  eigentlich  jeder  Naturrechts  lehre  innewohnt. 


IL 
Wofern  die  Physiokraten,  besonders  Quesnay  und  Le- 

tfercier,  die  Präge  nach  der  Staataform  näher  berühren, 
P  legen  sie  doch  großes  Gewicht  darauf  zu  beweisen,  daß  die 

Monarchie    dem    „ordre    naturel"    am    meisten    entspreche. 

Bei   der  grundsätzlichen  Anerkennung  der  untergeordneten 

Bedeutung  der  Staatstbrm  ist  diese  politische  Tendenz  nur 
IrBua  pereönlicber  legitimistischer  Gesinnung  und  Königstreue 
IjSU  erklären,  die  die  meisten  Franzosen  des  IS.  Jahrhunderts, 
ibeeonders    dem    „roi    bien-aimö",    Ludwig  XV.   gegenüber. 


96  VI  3 

ausgezeichnet  hat.  Eine  nicht  unerhebliche  Rolle  mag 
auch  der  Gedanke  gespielt  haben  —  wenigstens  nach  den 
Angaben  Dupont's  **  — ,  daß  es  mit  Hilfe  eines  aufgeklärten 
Prinzen  leichter  sei  den  Staat  zu  reformieren.  Diese  Ver- 
mutung Dupont's  beruht  hauptsächlich  auf  den  mißlungenen 
Versuchen  Quesnay's,  den  König  fiir  die  Doktrin  zu 
gewinnen. 

Hat  diese  Gesinnung  den  Physiokraten  Le-Mercier  nicht 
verhindert,  in  privaten  Gesprächen  sehr  radikale  Gedanken 
über  die  französischen  Verhältnisse  auszusprechen  ^^,  so  war 
er  es  doch  hauptsächlich,  der  die  Monarchie  als  „physique- 
ment  nöcessaire"  für  den  Staat  im  „ordre  naturel"  hin- 
gestellt hat.  An  seine  Ausführungen,  die  die  politischen 
Tendenzen  des  Physiokratismus  in  seiner  ersten  Periode 
illustrieren,  soll  auch  hauptsächlich  die  folgende  Darstellung 
anknüpfen. 

Ausgehend  von  dem  Gedanken  der  Einheitlichkeit  und 
Unteilbarkeit  der  Staatsgewalt,  haben  die  Physiokraten  zu- 
vörderst mit  allem  Nachdruck  sich  gegen  diejenige  Staats- 
form ausgesprochen,  die  schon  dem  älteren  Naturrecht  unter 
dem  Namen  des  „Ätat  mixte"  bekannt  war  und  als  dessen 
Vorbild  vielen  seit  dem  „Esprit  des  lois"  die  englische  Ver- 
fassung in  der  Montesquieu 'sehen  Darstellung  gegolten 
hat^®.  Das  Hauptargument,  das  gegen  diese  Verfassung, 
das  sogenannte  „Systeme  des  contrepoids"  oder  „systfeme 
des  contreforces",  von  den  Physiokraten  ins  Feld  geführt 
wurde,  war  der  Hinweis  auf  die  der  Staatsidee  wider- 
sprechende Einführung  der  sozialen  Gegensätze  in  die 
oberste  Leitung  des  Staates,  die  dem  allgemeinen  Interesse 


'^  Quesnaj,  p.  125,  Note;  vgl.  Blanqui,  Geschichte  der  National- 
ökonomie (in  deutscher  Übersetzung ,  1S40),  Bd.  II,  S.  70;  Condorcet 
ähnlich  über  Turgot's  Überzeugungen,  Vie  de  Turgot  (Oeuvres,  t.  V), 
p.  119/20. 

^^  M^moires  de  Mme.  du  Hausset,  Collection  des  M^moires 
relatifis  k  la  Revolution  fran^ise,  p.  185/6. 

^*  Vgl.  darüber  Tchernoff,  Montesquieu  et  J.  J.  Rousseau  in  der 
Revue  du  droit  public,  Bd.  XX,  p.  61  et  suiv. 


zu  dieuen  berufen  ist  und  die  nicht  auf  den  jeweiligea 
MachtTerhältDiBseD,  sondern  auf  den  unerachütter liehen  und 
allgemeingültigen  Prinzipien  der  Gerechtigkeit  beruhen  aolP'. 
Die  Gesellschaft  ist  wohl  auch  in  der  physiokratist-hen  Auf- 
fassung sozial  geschichtet,  aber  im  Staate  sollen  sich  alle 
Klassen  zu  einem  gemeinsamen  Zwecke  vereinigen.  Danach 
Boll  sieh  auch  die  Leitung  des  Staates  richten,  und  daher  muß 
jede  parteiische  Regierung  oder  auf  immer  wechselnden 
Kompromiaaen  beruhende  Staatsordnung  im  „ordre  naturel 
lea   plus   avantageux   aux   horames   rt^unis  en  soci(5t^"  aua- 

» {geschlossen  sein'*.  — 
t  Es  ist  interessant  zu  sehen,  daß  Quesnay  in  der  ersten 
teiner  Maximen  die  Verurteilung  des  „Systeme  des  contre- 
poids"  in  einem  Satze  mit  der  Verurteilung  des  Stände- 
staates zusammenfaßt  („la  diviaion  des  sociöl^a  en  differents 
ordres  de  citoyens").  Diese  Gleichstellung  des  „^tat  mixte" 
und  des  Ständestaates  lüßt  erkennen,  daß  der  erstere  seinen 
phy  sink  ratischen  Gegnern  nicht  als  eine  Teilung  der  ver- 
schiedenen Funktionen  vorkam,  sondern  die  Gestalt  einer 
jeden  Einheit  baren  Staatsgewalt  angenommen  hat,  bei  der 
die  Ordnung  auf  bestfindigen  zu  Recht  gewordeneu  Kämpfen 
beruht.  Nur  so  wird  es  verständlich,  daß  alle  physiokra tisch 
gesinnten  Publizisten,  einschließlich  Turgot's  und  Con- 
dorcet's'",  immer  ihre  feindliche  Stellung  der  englischen 
Verfassung  gegenüber  bewahrt  haben*".    Dupont  hat  noch 

KifÜr  im  Jahre  1818  dieselben  Argumente  angeführt,  wie 
"  QufWDay,  pp.  329 — 331,  624  et  suiv.;  besoniien  Le-Morcicr,  eh. 
U;  Dupant,  Physiot^rMtie,  Bd.  1,  p.  51/2;  Bsudenu,  p.  783  et  boIv. 
I'  Le-Uercier  p.  lb!i  hetunt  besonders,  daß  dna  alles  nur  (tt  den  „ordre 
tarer  gilt;  in  einem  depravierton  Staate  kann  dagegen  such  du 
„afittme  dea  contreforcea"  nütilich  sein;  „.  .  .  la  mauvaiea  volontd  pont 
trouver  des  oppositions  pour  faire  le  mal,  Eomme  In  bonne  voloutÄ  ]>eiit 
en  troiiier  pour  faire  le  bieii". 

"  Turgot,  II.  p.  807  (Brief  an  Price);  über  Condoroet  vgl.  L.  Cahen 
a.  a.  O.,  p.  ■477,  Note  5. 

**  Von  allen  physiokralisdien  PnblisiBten  hat  nur  der  für  den  Physio- 
kralismns  wenig  bedeutende  Abb£  Morellet  die  englituhe Verfasini^  ver- 
teidigt.   Vgl.  desacn  .MSlanges  de  lilt^rnlure  et  de  philoaophie  du  Id-iAme 
Staala-  a.  vOlkBiroehtl.  Abhan.n.  Vis.  —  Oanttbsrg.  7 


98  VI  3 

seine  Gesinnungsgenossen  vierzig  Jahre  vor  der  Revolution*'. 
In  den  Ausführungen  Le-Trosne's  wird  es  uns  auch  besonders 
klar,  wie  in  den  Augen  der  Physiokraten  das  „Systeme  des 
contreforces"  auf  der  Voraussetzung  beruhte,  daß  die  Staats- 
gewalt dazu  da  sei,  von  anderen  Mächten  im  Volke,  denen 
sie  feindlich  gegenübersteht,  bekämpfit  zu  werden**.  Wir 
haben  schon  an  einer  anderen  Stelle  gesehen,  dafi  eine  der- 
artige Auffassung  mit  der  Staatsidee  im  18.  Jahrhundert 
völlig  unvereinbar  war. 

Daher  haben  die  Physiokraten  mit  ihrer  ablehnenden 
Haltung  gegen  das  „systfeme  des  contreforces"  nicht  gegen 
die  Teilung  der  Funktionen  innerhalb  einer  einheitlichen 
Staatsgewalt  Einspruch  erhoben,  sondern  gegen  eine  Ze^ 
splitterung  der  Staatsgewalt  überhaupt,  als  welche  ihnen 
die  englische  Verfassung  vorkam.  Sie  haben  ja  selbst  in 
ihrer  eigenen  Lehre  die  vollständige  Abteilung  der  richter- 
lichen Gewalt  verlangt  und  sind,  an  französische  Verhält- 
nisse anlehnend,  sogar  bis  zur  Forderung  gegangen,  daB 
diese  zwischen  Souverän  und  Nation  über  die  Verfassungs- 
mäßigkeit der  Gesetze  zu  entscheiden  habe  (vgl.  unten 
S.  109).  Und  dann  haben  sie  auch  die  Vereinigung  der 
gesetzgebenden  und  vollziehenden  Gewalt  in  einer  Hand 
nicht  so  sehr  im  Zusammenhang  mit  der  Polemik  gegen 
den  „ötat  mixte"  als  mit  der  Auffassung  von  der  bloß  ver- 
waltenden Aufgabe  der  Staatsgewalt  befürwortet,  worauf 
wir  noch  näher  zurückkommen  werden*®. 


si^cle,  t.  III.,  Lettre  ecrite  k  roccasiou  de  rouvrage  intital^  —  Examen 
du  gouvernement  de  TAngleterre  (besonders  p.  177). 

«'  Phvf'iocrates,  ^d.  E.  Daire,  Bd.  I,  p.  413. 

22  Le-Trosne,  pp.  249/51. 

*^  Die  im  Text  vertretene  Ansicht  wird  auch  dadurch  bestätigt, 
daß  zwei  während  der  Revolution  tatige  Schüler  der  Physiokraten,  Con- 
dorcet  und  Dupont,  bei  der  fortgesetzten  Bekämpfung  der  englischen  Ver- 
fassung oder  des  „Systeme  des  balances",  wie  man  es  damals  nannte, 
dennoch  nichts gegendieTeilungder  Funktionen derStaatsgewalteingewendet 
haben;  daß  sie  sogar  bei  der  Forderung  einer  einheitlichen  Volksvertretung 
die  Teilung  der  letzteren  in  zwei  Kammern  vorgeschlagen  haben.  L.  Cahen 
a.  a.  O.,  pp.  477 — 479,  511/2  berichtet,  daß  die  diesbezüglichen  Vorschläge 
Condorcet's  von  den  Jakobinern  sogar  direkt  als  ein  Zweikam mersyatem 


99 

B  Staatsgewalt,  die  von  den  Datürlichen  Gesetzen  ein- 
geschränkt ist,  darf  also  in  der  AuaUbung  ihrer  Pflichten 
auf  keioe  Hemmungen  stoßen,  wie  es  in  den  „4tat8  mixtes" 

tder  Fall  ist.  Welche  Staats  form  bürgt  aber  am  besten 
fcr  die  Erfüllung  dieser  Forderung? 
'  Das  erste,  worauf  man  bei  einem  Versuche  diese  Frage 
au  beantworten  kommt,  bezieht  sich  darauf,  wem  eigentlich 
im  Staate  die  gesetzgebende  Gewalt  gehöre.  Hier  treten 
bei  den  Physiokraten  gleich  diejenigen  Erwägungen  auf, 
mach  denen  es  ein  Problem  der  Gesetzgebung  im  eigent- 
pchen  Sinne  des  Wortes  gar  nicht  gibt.  Die  Gesetzgebung 
[ehöre  „primitivement"  weder  dem  Volke,  noch  dem 
marcheo,  denn  die  Gesetze  sind  von  Gott  für  immer  in 
Ben  „lois  physiquea  et  morales"  niedergelegt.  Die  Staats- 
[ewalt  ist,  wie  wir  schon  mehrmals  hervorgehoben  haben, 
nur  eine  vollstreckende  Gewalt.  Als  zweckmäßigster  Voll- 
Btrecker  erscheint  ihnen  aber  nur  ein  mit  voller  Macht  aus- 
gestatteter Monarch. 

ILe-Mercier  versucht  ea  dennoch  naher  auf  eine  Kritik 
■er  Staatsform  einzugehen,  bei  der  die  gesetzgebende  Ge- 
Pralt  der  „nation  en  corps"  übertragen  wird".  Die  Vcr- 
Kidigung  einer  derartigen  Verfassung,  meint  er,  beruht 
ftuf  dem  Wahn,  daß  die  primitiven  Menschen  von  Natur 
Aus  gleich  seien.  Das  ist  aber  falsch,  weil  es  dem  in  der 
menschlichen  Natur  begründeten  Prinzip  des  Eigentums, 
das  die  Ungleichheit  voraussetzt,  widerspricht.  Und  wenn 
diese  Annahme  auch  richtig  wäre,  konnten  doch  nicht  alle 
ICitglieder  der  Nation  an  der  Gesetzgebung  teilnehmen, 
Ireil   die  Gesetze  ihrem  Inhalte  nach  keine  Gleichheit  her- 


^  trarden.    Belege  dafür  lu  bezog  fLaf  Dupont  b.  bei  Schalle  a.  a.  O., 

.  271—276.  —  Auch  der  Graf  Mirabeau  ist  ala  Verteidiger  der  Ge- 
altanteilang  (s^paratiaD  des  ponvoire,  besonders  der  Selbstündtg-keit  der 
erichte)  and,  in  AnlchnuDg  na  »eine  ph/siokratiacheD  Lehrer,  gE){«n 
doü    „sjBtime   deo    balances"    aiifgetret«n ;    vgl.   F.  Deerne,    Lh   id^a 

Slitiquea   de  Miraheati   in  der  KeTDO  historiane,   1883,  t.  KXIl,  pp.  43, 
6  et  auiv. 

•♦  Lfl-Mercicr,  oh.  XVI. 


100  VI  3 

stellen,  sondern  im  Gegenteil  die  Ungleichheit  konsolidieren. 
Auch  ist  es  verfehlt,  lehrt  er  weiter,  wenn  man  die  Demo- 
kratie auf  dem  Begriff  der  „nation  en  corps^  begründen 
will,  weil  dieser  Begriff  das  Vorhandensein  eines  gemein- 
samen Interesses  schon  voraussetzt,  das  durch  einen  ein- 
heitlichen Willen  repräsentiert  wird.  Dieser  einheitliche 
Wille  muß  aber  ein  Zentrum,  einen  Sitz  haben,  der  nichts 
anderes  als  die  Staatsgewalt  selbst  sein  kann.  Daher  wird 
die  Nation  zu  einem  „corps"  erst,  wenn  eine  Staatsgewalt 
vorhanden  ist;  denn  ohne  diese  bildet  sie  nur  eine  Vielheit 
verschiedener  ^ordres  des  citoyens" ,  die  ihre  besonderen 
Interessen  vertreten  und  zwischen  denen  Einheit  eigentlich 
nur  durch  Stimmabgabe  zu  erreichen  wäre.  Da  stellt  sich 
aber  gleich  heraus,  daß  Einstimmigkeit  zu  erreichen  tat- 
sächlich unmöglich  ist,  während  das  Mehrheitsprinzip  jeder 
vernünftigen  Unterlage  bar  ist,  denn  es  setzt  an  Stelle  des 
monarchischen  Despotismus  die  Tyrannei  der  Mehrheit 
(der  „Demokratie")  und  gewährt  somit  einem  Teile  des 
Volkes  die  Herrschermacht  über  den  anderen.  Le-Mercier 
fürchtet  dann  auch  die  Allmacht,  die  sich  die  Volksversamm- 
lung, wenn  sie  gesetzgebend  wirkt,  zu  eigen  machen  könnte, 
weil  sie  sich  dann  über  alle  Gesetze  erhaben  fühlen  würde. 
Da  die  Beschlußfassungen  auf  Machtverhältnissen  beruhen 
(das  Mehrheitsprinzip!),  so,  glaubt  er,  wird  die  Volksversamm- 
lung stets  bemüht  sein,  die  richterliche  und  vollziehende 
Gewalt  in  ihre  Hand  zu  nehmen,  was  ihr  aber  nur  zur  Zeit 
ihres  Funktionierens  gelingen  wird;  sobald  sie  aber  aufgelöst 
ist,  verliert  sie  ihre  Macht  und  mit  ihr  der  Staat  jede  autora- 
tive  Gewalt^*. 

So  ist  die  Kritik  der  „nation  en  corps"  als  eines  Gesetz- 
gebers  allseitig   begründet.     Diese  Kritik   läuft   schließlieh 

^^  „.  .  .  par  ce  moycn  tout  serait  confondu:  lors  qa'eUe  serait 
asserabl^e,  eUe  forraerait  une  puissance  absolument  et  nScessairement 
ind^peudante  des  lois  d6j4  faites,  mais  d^s  qu'eUe  serait  dispersa,  ii  ne 
resterait  plus  apr^s  la  dissolution  de  cette  puissance  arbitraire,  que  des 
lois  Sans  autorit^,  et  un  4tat  gouvem^  sans  6tat  gouvemant  .  .  .^  (Le- 
Mercier). 


ii 

6 


101 

wiederum  auf  die  Behauptung   hinaus,   daß   man   bei   der 

Entscheidung  der  Frage  nach  der  Staataform  hauptsächlich 

im   Auge   haben    muß,    daß    die    eigentliche  Aufgabe   der 

Staatsgewalt  die  Verwaltung  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 

Ea  bleibt  aber  doch  noch  die  Frage  bestehen,  ob  nun 

I  die  verwaltende  Funktion  vom  Volke  als  Ganzem  ausgeübt 

I  werden   kann.     Naher  sind   die  Phyaiokraten  darauf  nicht 

I  eingegangen.    Es  leuchtet  aber  aus  allen  ihren  Ausfllhrungen 

daß   sie   diese   Frage   entschieden   verneinen  mußten. 

I  Begieren  heißt  nicht  Gesetze  machen,  sagt  Le-Trosne,  und 

lea  wäre  daher  etwas  „Monströses",  wenn  man  die  Regierten 

I  mit  den  Regierenden  vermengen  wollte  *". 

Le-Mercier  geht  noch  dann  kurz  auf  die  ariatokratiscbe 
Regierungsform  ein*'.  Er  lehnt  sie  ebenfalls  ab,  weil  sie  zu 
Interessen  kämpfen  innerhalb  des  „corps  desadministrateura'' 
und  zu  Spaltungen  der  oberaten  Gewalt  führt  und  dadurch 
die  Tätigkeit  hemmt.  Der  Glaube,  daß  die  aufgeklärte 
öffentliche  Meinung  hier  die  Mißbräuche  entfernen  könnte, 

»fährt  er  fort,  beruht  auf  einer  falschen  Annahme,  daß  die 
Begierten  aufgeklärter  sein  könnten  als  die  Regierenden, 
einer  Annahme,  die  die  Physiokraten  Überhaupt  gar  nicht 
ßmsen  konnten.  Dann  werden  auch  bei  einer  aristokratischen 
Begierung  die  Beschlüsse  nicht  auf  Grund  vernünftiger  Ein- 
sicht, sondern  nach  der  Meinung  der  Mehrheit  gefaßt. 
Alle  diese  Mängel  besitzt  sowohl  eine  „natürliche"  Aristo- 
kratie, wie  auch  Kollegien  gewählter  Administratoren,  mögen 
sie  auch  aus  Vertretern  der  oberen  und  unteren  Volksschichten 
zugleich  bestehen.  Die  einzige  rationale  Staataform  bleibt 
also  nur  die  monarchische,  deren  allseitige  positive  Ver- 
teidigung Le-Mercier  nun  unternimmt. 

Der  Monarch  soll  als  Träger  der  Souveränität  nur 
iTerwalten  und  zu  diesem  Zwecke  über  die  „force  publique" 
»Verfügen.    Da  der  Hauptinhalt  seiner  Tätigkeit  in  der  ein- 


102 


VlSi 


walt       ' 
lan- 


heitlicben  Leitung  der  Gesellschaft  in  dar  Richtung  eines  | 
all  gemeinen  Zweckes  über  alle  Einzelinteressen  hinweg 
bestehen  soll,  und  da  bei  den  anderen  Staatafornien  sowohl 
die  Einheit  als  die  Möglichkeit,  Über  partikulare  Interessen 
sich  zu  erheben  nicht  vorhanden  ist,  so  muß  nun  bewiese! 
werden ,  daß  diese  Bedingungen  bei  der  monarchisch« 
Staatsform  zutreffen. 

Was  vor  allen  Dingen  die  Einheit  der  Staatsgewalt 
betrifft,  80  ist  sie  durch  den  einen  physischen  Träger  gaian- 
tiert  —  „par  rapport  a  l'action  et  par  rapport  au  principe", 
wie  sich  Le-Mercier  auadrückt^".  In  erster  Hinsicht  (.pai 
rapport  ä  l'action"),  weil  nur  einer  die  Unteilbarkeit  dei 
Staatsgewalt  repräsentieren  kann,  und  weil  die  Ausübung 
der  Gewalt  in  der  Gesellschaft  nur  durch  einen  hüchstei 
Willen  vollzogen  werden  muß,  widrigenfalls  wir  nicht  einoj 
sondern  zwei  und  mehrere  Staaten  und  Staatsgewalten^ 
hätten.  In  zweiter  Hinsicht  („par  rapport  au  principe'), 
weil  die  soziale  Gerechtigkeit,  oder  die  Evidenz  der  natür- 
lichen Gesetze  der  Gesellschaft,  auch  nur  eine  ist  und  daher 
ebenfalls  nur  von  einem  vertreten  werden  kann;  denn  wollte 
man  glauben,  daß  dazu  mehrere  notwendig  sind,  so  mUßto 
man  annehmen,  daß  die  Wahrheit  nicht  aus  der  EinsicbftH 
der  Vernunft,  sondern  aus  dem  Kampfe  der  Meinungen  her« 
rUhre  und  auf  dem  mechanischen  Majori  tlUsprinzipe  berubafl 

Dann  ist  es  zweitens  ersichtlich,  daß  nur  ein  Monarch 
allen  EinzelinteresEen  gleichgültig  gegenüberstehen  kann, 
um  das  Interesse  des  Ganzen  zu  verfolgen '",  Der  Beweis 
dafür  beruht  darauf,  daß  nur  bei  einem  Monareben  daa 
nilgemeine  Interesse  zu  seinem  persönlichen  Interesse  werden 
kann ,  so  daß  es  „physisch"  unmöglich  ist,  daß  er  zum 
Nachteil  des  Staates  handle,  weil  man  nicht  annehmen 
kann,  daß  man  sich  selbst  schaden  wird,  sobald  man  dio 
richtige  Einsicht  darüber,  was  schädlich  und  was  nUtzlidi 
ist,  gewonnen  hat. 


Vi  3 


103 


Nun  besteht  aber  das  atigemeine  Interesse  der  Gesell- 
schaft in  der  Vermehrung  der  materiellen  Güter  durch  den 
Äckerbau,  d.  b.  in  der  Vergrößerung  des  disponiblen  Teiles 
der  Ertrage.  An  diesem  disponiblen  Ertrag  hat  auch  der 
Monarch  einen  rechtlichen  Anspruch  zur  Bestreitung  seiner 
Ausgaben.  Dieses  Recht  stützt  sich  darauf,  daß  der 
Souverän  auf  seinen  Anteil  an  Grund  und  Boden  und 
dessen  unmittelbare  Ausnutzung  (aU  ^propriölaire"  und 
„cultivateur")  naeh  der  vollzogenen  sozialen  Differenzierung 
verzichtet  hat,  um  sieh  vollstilndig  der  Aufgabe  der  öffent- 
lichen k)icherheit  zu  widmen.  Das  so  entstandene  ^Mit- 
eigentum"  ^",  welches  nun  das  Recht  der  Besteuerung  be- 
gründet, Süll  auch  den  Beweis  der  „physischen  Notwendig- 
keit" einer  monarcliischen ,  durch  Erblichkeit  in  ihrer 
Wesenheit  bekräftigten  Gewalt  liefern  :  denn  nur  ein  Monari.-h 

Ikann  durch  das  Miteigentumsrecht  an  den  Interessen  aller 
von  dem  disponiblen  Teile  der  Erträge  Lebenden  gleich- 
inBßig  gebunden  werden.  Wo  die  Hlaatsgewalt  mehreri.n 
^hört,  die  nicht  nur  Über  der  Geseilsehaft,  sondern  auch 
iin  ihr  stehen,  die  nicht  nur  Eigentümer  der  öffentlichen 
Qewolt,  sondern  auch  Vertreter  partikulärer  Interessen  sind, 
dort  wird  es  stets  Konflikte  geben,  die  gewöhnlich  zu  Gunsten 
4ieser  Interessen  entschieden  worden. 
Diese  Begründung  der  monarchischen  Slaatsform  spitzea 
die  Physiokraten  noch  durch  folgende  Ausführungen  zu. 
Da  der  Souverän  für  die  Verwirklichung  der  sozialen  Ge- 
rechtigkeit zu  sorgen  hat,  die  im  , ordre  naturel",  so  wie 
die  Theoreme  in  der  euklidischen  'leoraetrie,  despotisch 
herrschen  sollen,  so  ist  auch  die  wahre  Monarchie  nach  der 
physiokratischen Terminologie  als  ein  „deapotisme  l^gal" 
L»u  bezeichnen^'. 

Le-Mercier  ist  noch  einen  Schritt  weiter  gegangen 
Lcd  hat  im  Hinblick  auf  die  „physische"  Eigenschaft  dieser 

im,  pp.  146'9;  Queanay,  p.  517. 
'  Dero  „deapotianio  l^gul"  wird  der  „despotigme  arbitraire"  gegen* 
hergestellt;  Le-Hercier,  .cb.  XXU  und  XXIV. 


10(! 


VI  3l 


keine  „loie  fondaraentalea"  Laben,  sondern  nur  „reglemenU  ] 
de  detail  et  de  police"  bedürfen*^.  Dort  gibt  es  keine 
Richtscbnur  für  einen  Monarchen,  wie  im  agrarischen 
Staate,  dort  muß  in  jedem  Falle  besonders  entschieden 
werden,  damit  man  sich  an  die  jeweiligen  Umstände  anpassen 
kann.  Darüber  soll  aber  nur  das  ganze  Volk  Entschlüsse 
fassen;  daher  bedürfen  die  nichtagrarischen  Staaten  keines 
Oberhauptes,  und  sie  bilden  eine  Republik,  für  die  auch 
der  kleine  Umfang  des  „dtat  marchand"  günstig  ist^' 

So  verstehen  die  Physiokraten  auch  die  republikanische 
Staatsform  zu  rechtfertigen,  und  zwar  wiederum  von 
ökonomischen  Voraussetzungen  ausgehend:  wo  die  Steuern 
den  „lois  physiquea"  nicht  unterworfen  werden  können,  da 
muß  das  ganze  Volk  dem  jeweiligen  Souverän  entgegen- 
treten und  über  sie  entscheiden;  da  haben  wir  es  mit  einer 
republikanischen    „Constitution  orageuse"   zu  tun. 

Wird   aber   die   Republik   im   industriellen   Staate  sur 
Notwendigkeit,  so  ist  sie  dagegen  in  einem  Staate  wie  Eng- 
tand nur  als  das  Resultat  der  Unkenntnis  des  „ordre  naturel' 
zu  betrachten,  wenn  auch  die  dadurch  hervorgerufenen  Miß- 
stände  durch  andere  gute  Gesetze  gemildert  werden.     Man   , 
sieht  nun,  wie  den  Physiokrateu  nach  ihrer  eigenartigen  Ter- 
minologie auch  eine  Monarchie  wie  England  als  ein  seinem  I 
Wesen  nach  republikanischer  Staat  gelten  konnte,  wenn  die  ■ 
Steuergesetzgebung  nicht  auf  den  „lois  phyetques",  sondern 
auf  einem  Kompromiß  zwischen  Volk  und  Herrscher  beruhL 
Unter  diesem  Gesichtspunkte  sind  auch  die  Physiokraten  ii 
ihrer   Zeitschrift,   den   Ephemeriden,    bei   den  bestehendei 
steuerpolitischen  Verhältnissen  sowohl  für  die  englische  Ver-  I 
fassung  überhaupt,  wie  auch  für  die  Forderung  der  nord- 
amerikanischen  Kolonien,  nicht  ohne  Bewilligung  besteuert  | 
zu  werden,  eingetreten, 

"  Darilber  Miraheau  in  der  Philoaophio  rurale,    U  I,  jip.  24'5  uud    j 
Dupont  in  den  sohon  erwÄbuten  Abhandluagen  über  dio  Genfer  Bepublik 
in  den  Ephemeriden  vom  Jahre  1710,  Beli  XII. 

"  EphimitiduÄ  du  eitoyen,  1768,  Heft  VH,  p,  31;  1770,  Heft  SIL   I 
pp.  186/18Ö.  '  V       ^  '  "*  j 


r  VI  3 


107 


I 

I 


Wie  tief  diese  Anschauung  im  PhyBiokratisrnua  gesteckt 
hat,  bfiwetst  ein  Brief  Dupont's  an  den  badischen  Minister 

Edetsheim  am  Vorabend  der  Revolution,  in  dem  der 
Beschluß  vom  9.  Mai  1787  über  die  Einführung  eines 
port  de  repartition"  an  Stelle  eines  „import  de  quo- 
It^"^'  als  ein  Moment  von  größter  historischer  Bedeutung 
bezeichnet  wird,  weil  dadurch  Frankreich  von  einem  monarchi- 
schen zu  einem  republikanischen  Staatswesen  geworden 
sei ;  denn  von  nun  ab  soll  die  Höhe  der  Steuer  nicht  von  der 
Höhe  des  disponiblen  Teiles  des  Nationaleinkommensabhängen, 
sondern  von  der  Summe  der  Ausgaben,  die  von  der  Re- 
gierung bestimmt  wird,  und  gegen  die  die  Eigentümer  im 
Interesse  des  nationalen  Reichtums  stets  das  Recht  haben 
werden  Einspruch  zu  erheben*'. 

Immer  wieder  kommen  also  die  Fhjsiokraten  auf  die 
„natürlichen"  Gesetze  der  Steuerverfassung  im  landwirt- 
Bchaftlichen  Staate  zurück  und  geraten  somit  allmählich  auf 
umstürzlerische,  anfänglich  nicht  beabsichtigte  politische 
Bahnen.  Doch  treten  sie  mit  den  eben  geschilderten  Er- 
örterungen schon  in  die  zweite  Periode  der  Entwicklung 
ihrer  Politik  ein, 

UI. 

Kehren  wir  nun  zu  den  Ausführungen  über  die 
monarchische  Staatsgewalt  zurück,  so  sind  ihre  Haupt- 
bedingungen  die  Vereinigung  der  Legislative  und  der  Exe- 
kutive in  einer  Hand  und  die  vollkommene  Selbständigkeit 
der  Gerichte.  —  Die  erste  dieser  Bedingungen  folgt  wieder- 
um  aus   der  Grundauffassung  von   dem  Wesen  der  Staats- 

la  bezieht  sii^h  withrsclieialich  nuf  die  von  Briemie  nficli  dt 
FAUr(|Deai'B  Kiichtritt  (dessen  erster  MiUrboiter  Dupont  war)  bestimiiit 
tetgewtete  Summe,  die  durch  die  der  NotRbcliiTerBftniiDlaDgTorgeschlH^eiio 
Stenerrefonii  erzielt  werden  soll.  V);l.  A.  Wahl.  Die  NotsbelnreTBainm- 
limg  von  1787,  8.  72,  Anm.  1. 

"*  PolitiBcho  Korrespondenz  von  Kiirl  Friedrich  von  Boden,  hernusg. 
von  B.  EMmonnsdörfer,  tb68,  Bd.  I;  Briefe  vom  U.  Juli  und  21.  Aagatt 
1887  (8.  27»  ff);  vgl.  des>elben  Krilik  der  ent^litchen  Verfassung  im  Aii- 
schluB  Hn  eiue  Aualjse  des  bekanntea  Buches  von  de  l'Olme  in  einem 
Schreiben  an  den  Erbprinien  Karl  Ludwig  von  Baden,  a.  Briefwei^el 
Markgrafen  Karl  Ir^iedrich,  II,  SS.  216—234. 


108 


VIS 


gewalt,  wonach  ibre  eigentliche  Funktion  die  Verwaltung 
iat.  Die  Gesetze,  die  der  Souverän  verkündet,  sind 
Veroi-dnungen,  die  im  Rahmen  der  „lois  naturelles"  gehalten  j 
werden  müssen.  Wer  Verordnungen  erläßt,  muß  aber  auch  | 
die  Macht  haben,  sie  auafuhren  zu  können;  daher, 
schließen  die  PJiysiokraten,  ist  im  „ordre  naturel"  die  Exe-  1 
kntive  „physiquement"  an  die  Legislative  gebunden,  weil  J 
im  entgegengesetzten  Fall  die  Slaategewalt  die  Macht  nicht  J 
ausüben  könnte,  die  sie  de  jure  besitzt^*. 

Mit  großem  Nachdruck   wird   dann  die  Notwendigkeit^ 
der   Trennung    der    richterlichen    Gewalt   von    der   gesell-  f 
gebenden    betont.      Die    Richter    sind    in    der    geordnetea  I 
Gesellschaft  berufen  „gardiens  et  d^positairea"  der  Gesetss  ' 
zu  sein  *".    Ihnen  muß  die  Evidenz  der  natürlichen  Gesetze 
erschlossen   sein.     Der   Kichterstand   ist  der   „corps   moral 
de   la   natioE,   c'est   k   dire   la   partie  pensante  du  peuple* 
(Quesnay);  er  bildet  daher  durch  die  Anwendung  und  Aus- 
führung   der   Gesetze    den    „Heu    commun    de   la   soci^t^'. 

Dem  Souverän  muß  die  richterliche  Gewalt  entzogen 
bleiben,  weil  ihre  Hauptaufgabe  auf  die  Feststellung  der 
Tatbestände  sich  bezieht,  welche  Tätigkeit  bei  den  hier 
leicht  vorkommenden  Irrtümern  die  Autorität  des  Souveräns 
beeinträchtigen  könnte.  Außerdem,  wenn  der  äouverän 
Richter  wäre,  wüßte  man  nicht,  wann  er  als  Gesetzgeber 
und  wann  er  als  Richter  aussagt,  und  bei  einem  möglieben 
Irrtum  wäre  keine  höchste  Gewalt  vorhanden,  an  die  man 
appellieren  könnte.  Sprechen  diese  Gründe  für  die  Unab- 
hängigkeit und  Selbständigkeit  der  Gerichte,  so  sind  aber 
die  Formen  der  richterlichen  Tätigkeit,  die  für  die  Objek- 
tivität bei  der  Feststellung  des  Tatbestandes  bürgen  sollen, 
von  dem  Souverän  zu  bestimmen,  der  auch  in  Fällen  der 
Verletzung  dieser  Formen  als  Appellationsins  tanz  gelten  soll*'. 


s»  Le-Mercier,  pp.  101—103,  181/2;  Dupont,  Phj-Biocralie,  tin,p.2 
*"  Le-Marcier,  eh.  Xm. 

*'  Ibidem,   cb.    XU,   pp.    82—85;    Dupont,    Physiooralie ,    I 
p.  27— -Ä. 


VI  3 


109 


Doch    steht    den   Gerichten    not'h    eine   weitere,    viel 

wichtigere  Aufgabe   zu,     AU   „d^positaires  et  gardiena  des 

vollziehen  sie  nicht  nur  den  Willen  des  Gesetzgebers, 

mdern    sie    prüfen    auch    dessen    Verordnungen    auf   ihre 

Verfasaungsmäßigkeit,    ob   sie    nicht    etwa   mit   den    ,lois 

I  naturelles  et  easentielles"  im  Widerspruch  stehen  —  ,dans 

lea     caa    oü    on    serait    parvenu    k    ögarer    son    (des 

(Herrschers)    opinion."'^      Ist    nach    den    phyaiokratischen 

Y  Anschauungen  die  „Evidenz"  die  einzige  natürliche  „contre- 

I  force"  gegen  die  möglichen  Ausschreitungen  des  Herrschers, 

\  so    bekommt    sie    nun   im   Richterstande   einen   konkreten 

Darin   liegt   die   Einschränkung,   die  Mäßigung  der 

lanonarchiachen  Gewalt. 

Unzweifelhaft  stand  hier  dem  Physrokraten  Le  Mercier, 
Ksinem  Parlamentsherm ,  das  parlamentariache  Recht  der 
l^remontrances"  vor  Äugen;  man  erkennt  in  der  ganzen 
Darstellung  den  warmen  Verteidiger  dieses  in  der  zweiten 
iHfilfte  des  18.  Jahrhunderts  politisch  ao  hoi'hbedeutenden, 
I  bis  torisch  hergebrachten  Instituts*';  ja  sogar  die  Termino- 
Klogie  (z,  B.  die  Bezeichnung  „gardiena  et  d^positaires  dea 
tlois")  erinnert  an  die  Sprache  der  Parlamente.  Ea  war 
■den    Phjeiokraten   um   so   leichter,   dieses   Inatitut   in   den 

■  „ordre  natural"  zu  übertragen,  als  Quesnay  es  auch  im 
I  Ifl US ter lande  China  entdeckt  zu  haben  glaubte.  Daß  da- 
I  mit  gerade  ein  einschränkender  Faktor  gemeint  war,  beweist 

■  auch  der  Umstand,  daß  in  bezug  auf  die  „  rem  on  trän  ces", 
'  die   die  monarchische  Gewalt  mäßigen  aollen ,  Quesnay  es 

fbr  notwendig  hielt  hinzuzufügen,  daß  sie  die  Staatsgewalt 
nicht  untergraben,   sondern   im  Gegenteil   stutzen   und  be- 
festigen.    Dennoch  warnt  er  den  Herrscher  vor  den  Folgen, 
I  wenn  er  die  „reraontrances"  nicht  beachten  sollte". 


'  Iie-MoreiBr,  p,   IlO/li. 
■"■■■■  E.  etwa 

B  pUyaioi 


s  gewagt 
l'StellQiig  der  GerEchte 
■  'i   ce   qui   devait   fttni    in  Uour   siipnli 
■■Ii'tdäe   de  la  SouverainutiS  d'npri»   li 
|:«i«cle.    ThAse.  Paris.  1904,  p.  281. 
*  QueanBr,  p.  60a/7. 


nun ,  daß  duruli  dioae 
prupoaent  uno  Institution  analogue 
1  dea  EtatH-Unis".  L.  Amiline. 
iurivains  fransaia  do  XVIII-iAroo 


111) 


VI  3 


In  (lieBör  Lehre  von  der  Stellung  der  Gerichte  tritt  der 
Zusammenhang  deutlich  vor  Augen,  in  dem  die  politische 
Doktrin  der  Physiokraten  in  der  ersten  bis  jetzt  geschilderten 
Periode  ihrer  Entwicklung  mit  den  zu  ihrer  Zeit  herrschenden 
Anschauungen  von  den  Grundgesetzen  des  frauKösischen 
Staates  steht. 

Schon  KU  Zeiten  Ludwig  XIV,  und  dann  besonders 
im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  sind  die  Überreste  der 
von  altersher  der  königlichen  Gewalt  widerstreitenden 
Machte  zu  einer  Theorie  der  „monarchie  tompöröe"  zu- 
sammengefaßt worden,  als  welche  auch  nach  seinen  Grund- 
gesetzen das  französische  Königtum  gelten  sDlIte**,  Die 
Phjsiokraten,  die  auf  möglichst  friedlicliom  Wege  die 
Reformierung  des  französischen  Staates  erreichen  wollten, 
haben  immer  ihre  Plane  und  Ansichten  an  bestehende 
Verhältnisse  anzuknüpfen  gesucht,  und  sieht  man  nun 
nilher  zu,  so  erscheint  auch  wirklich  ihre  Lehre  vom 
^despotisrae  I4ga!"  nur  als  eine  neue  Begründung  der  Lehre 
von  der  „raonarchie  tempöröe"  *^.  Neben  der  mäßigenden 
Wirkung  der  Gerichte  und  der  unverletzbaren  „natürlichen" 
Gesetze,  die  die  Physiokraten  mit  den  historisch  her- 
gebrachten Grundgesetzen  des  französischen  Königtums  oft 
zusammenfassen,  ist  hier  auch  die  Stellung  hervorzuheben, 
die  sie  den  Grundeigentümern  in  ihrem  Staate  zuschreiben 
als  denjenigen,  die  von  Natur  aus  berufen  sind,  die 
herrschende  Volksschicht  zu  bilden.  Diese  Auffassung  war 
sehr  günstig  für  den  Adel,  und  die  Physiokraten  haben 
eich  dadurch  trotz  der  Bekämpfung  der  Standeprivilegien 
wiederum  an  einen  Faktor  aus  der  ,monarchie  temp^r^e- 
angelehnt,  der  den  Monarchen,  wenn  nicht  einzuschräDken. 
so  doch  zu  mäßigen  berufen  ist.  Und  wirklieb  soll  die 
ganze  Verwaltung  nach  der  physiok  ratischen  Lehre  in  den 


*  Vgl.  A,  Wühl,  Nota  bei  nvernammlnng,  8.  5, 


s  V,  Note  15  —  hervor 


Hunden  dieser  bevorzugten  Klasse  sich  befinden,  die  Bau- 
deau  ausdrücklich  die  „classe  des  propriitaires"  oder 
es  nobles"  nennt,  wobei  er  gerade  im  Hin- 
blick auf  ihre  poÜtische  Stellung  auf  die  zweite  Beziehung 
besonderen  Nachdruck  legt*'. 

Waren  schon  in  dieser  Theorie  von  der  „monarchie 
terapör^e"  einige  einschränkende  Elemente  vorhanden,  so 
kommt  aber  nun  bei  den  Physiokraten  noch  ein  neues  Moment 
hinzu,  nämlich:  der  Staatsgewalt  soll  als  „contreforce"  auch 
noch  das  gesamte  aufgeklärte  Volk  gegenübergestellt 
werden  **.  Wohl  sind  sie  noch  vorsichtig  genug  zu  behaupten, 
daß  die  eigentliche  „contreforce"  die  Evidenz  der  natürlichen 
Ordnung  ist.  Gar  bald  kommen  sie  aber  darauf  zu  sprechen, 
i6  der  Träger  dieser  Evidenz  die  Gesellschaft,  das 
olk  ist. 

Das  war  ein  Gedanke,  der  in  den  Anfängen  noch  in 
sehr  bescheidener  Formulierung  in  die  Lehre  von  der 
gemäßigten  Monarchie  unter  der  Bezeiclinung  „publicit^", 
„4vidence  publique",  „opinion  gönörale",  „opinion  pub- 
lique"*^ eingeführt  wurde.  Aber  schon  Baudeau's  Er- 
örterungen in  seiner  „Introduction  k  la  philosophie  (5cono- 
mique",  wo  von  einer  Organisation  der  öffentlichen  Meinung 
noch  gar  nicht  die  Rede  ist,  laufen  vom  6.  Kapitel  ab  auf 
den  Beweis  hinaus,  daß  die  „monarehie  iSconornique"  nicht 
die  Herrschaft  eines  einzelnen,  sondern  die  Einheitlichkeit 
1er  Staatsleitung  und  die  Mäßigung  der  Staatsgewalt  durch 
lie  Öffentliche  Meinung  bedeute. 

Wie  gesagt,  haben  wir  es  anfänglich  nur  mit  Ansätzen, 
lie  Bedeutung   dieses   neuen  Momentes   hervorzuheben,  zu 


> 


uri 

i 


'  Biudeau,  p.  669.  —  Es  iat  «elbBtrerständlicti ,  daß  dar  MNrquis 
■irabean  an  dieser  ADfTasBiing  Hieb  beiondcrn  fealhiolt,  vgl.  seinen  Brief 
T  Longo  Tom  3,  Nov.  1778  im  Appfindice  dos  III.  Bandes  der  MÄmoirea 
'     raphinues,  litt£raires  ot  politiquca  de  Hirabean  Berits  jiar  lui  mfime. 

n  pere,  sod  oncle  et  «on  fils  adoptif. 

"  Qaemar,    pp.  831   (II  Maxime),    584  et  Buiv.,   641;   Le-Trosne, 

m. 

*  Le-Mercier,  pp.  110,  155  et  miy.,  169,  198-200,  212. 


112  VI  3 

tun.  Es  wird  daher  im  Anschluß  au  Quesnay's  „Despo- 
tisme  de  la  Chine"  mehr  die  Bedeutung  der  „instruction 
publique"  als  der  „opinion  publique"  betont.  Die  Auf- 
klärung (instruction)  soll  eben  die  öffentliche  Meinung  im 
Sinne  der  Forderungen  des  ^ ordre  naturel"  gestalten,  zu 
welchen  Zwecken  die  nötigen  Bücher,  die  Katechismen  der 
Volksautklärung,  wie  in  China,  allen  zugänglich  gemacht 
werden  müssen.  Im  Anschluß  daran  haben  auch  die  Physio- 
kraten  die  Bedeutung  der  freien  Presse  anerkannt,  wenn 
sie  auch  manchmal  die  Meinung  aussprechen,  daß  schlechte 
Gedanken  und  verführerische  Bücher  unterdrückt  werden 
sollen  *®. 

Diese  ersten  Äußerungen  über  die  Bedeutung  der 
öffentlichen  Meinung  haben  den  Boden  geschaffen,  auf  dem 
der  anfänglich  von  Quesnay  und  Le-Mercier  so  stark 
legitimistisch  gefärbte  Physiokratismus  allmählich  in  das 
Fahrwasser  der  damaligen  staatserschütternden  Theorien 
geriet.  Diese  revolutionäre  Wendung  war  aber  schon  in  den 
naturrechtlichen  Ausgangspunkten  der  Lehre  begründet. 

Erinnern  wir  uns,  daß  die  Staatsgewalt  für  die  Physio- 
kraten  nur  eine  dienende  Rolle  spielt,  daß  sie  von  der 
Gesellschaft  bzw.  den  Eigentümern  eingesetzt  ist,  daß  ihre 
Grundlage  die  „röunion  des  volontös"  bildet,  so  wird  es 
verständlich,  wie  leicht  sehr  weitgehende  Konsequenzen 
aus  der  Betonung  der  öffentlichen  Meinung  gezogen  werden 
konnten,  sobald  der  Gedanke  einer  faßbaren  Organisation 
des  „voeu  public"  aufgetaucht  war.  Das  ist  auch  bald 
geschehen. 


^®  Mirabeau,  Ami  des  Hommes  (^d.  Eoozel),  p.  240;  Dupont,  Physio- 
cratie,  t.  I,  p.  52/3. 


Siebentes  Kapitel. 


I. 

Einer  der  unversöhnlichsten  Gegner  der  physio- 
kratischen  Doktrin,  der  Abbö  Mably,  hat  dem  Physiokraten 
Le-Mercier  vorgeworfen,  daß  er  im  Widerspruch  mit  der 
Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  des  Monarchen  ein  Gegen- 
gewicht in  der  kontrollierenden  Tätigkeit  der  Gerichte  ein- 
gesetzt habe  ^.  Mag  dieser  Vorwurf  auch  den  Kernpunkt 
der  Theorie  vom  „despotisme  16gal"  nicht  treffen,  jedenfalls 
weist  er  richtig  darauf  hin,  daß  die  Physiokraten,  nachdem 
was  wir  bis  jetzt  von  ihnen  geschildert  haben,  zwischen 
Monarch  und  Volk  keine  Zwischenstufen,  keine  „corps  inter- 
mödiaires"  dulden  konnten,  weil  das  nach  ihrer  Meinung 
zur  Spaltung  der  Staatseinheit  führen  muß.  Diesen  starren 
Standpunkt  hat  aber  der  Physiokratismus ,  als  Ganzes  be- 
trachtet, im  Laufe  der  Zeit  verlassen  müssen,  als  er  in 
der  praktischen  Politik,  vertreten  von  Turgot  und  Dupont, 
in  der  Gestalt  eines  Systems  von  Reformplänen  zur  Rettung 
Frankreichs  auftrat  ^.  Die  Gründe  für  den  Umschwung  sind 
ebenso  sehr  innerhalb,  wie  außerhalb  der  Doktrin  zu  suchen. 

Was  die  inneren  Gründe  betrifft,  so  haben  wir  darauf 
schon  in  der  früheren  Darstellung,  bei  der  Hervorhebung 
der   oppositionellen  Momente   in  den  Ausgangspunkten  der 


^  Mably,  Doutes  propros^s  auz  philosophes  ^conomistes  sur  Tordre 
natarel  et  essentiel  des  soci^t^s  politiques,  eh.  III. 

'  Über  die  allmähliche  Radikalisierung  der  Physiokraten  vgl. 
A.  Jobez,  La  France  sous  Louis  XVI,  p.  341/2. 

Staats-  u.  Völkerrecht!.  Abhandl.  VI  3.  —  Qflntzberg.  8 


114  VI  3 

physiokratischen  Politik  hingewiesen.  Von  praktischer  Be- 
deutung sind  dabei  die  Grundsätze  der  Steuerpolitik 
geworden.  Mit  der  Steuerlehre  —  also  von  den  die  Zeit 
am  meisten  bewegenden  finanzpolitischen  Problemen  aus- 
gehend® —  sind  daher  auch  die  Physiokraten  zuerst  hervor- 
getreten, um  die  Umbildung  der  sozialen  und  politischen 
Struktur  des  französischen  Staates  anzubahnen.  Was  wir 
aus  dieser  Lehre  hier  hervorzuheben  haben,  ist  die  mit 
Notwendigkeit  aus  ihr  sich  ergebende  Forderung,  bei  einem 
Versuche,  die  Reform  ins  Leben  zu  rufen,  das  Volk  bzw. 
die  Grundeigentümer,  zur  Finanz-  und  Steuerverwaltung 
heranzuziehen.  Denn  hängt  die  Steuerquote,  also  die 
materielle  Grundlage  des  Staates  (man  beachte,  daß  die 
indirekten  Steuern  von  den  Physiokraten  aufs  Schärfste 
verdammt  und  zur  vollständigen  Abschaffung  verurteilt 
waren)  von  der  Höhe  des  Reinertrags  ab,  an  den  sie 
sich  anzupassen  hat,  so  müssen  die  „rägnicoles"  nicht  nur 
über  die  Höhe  ihrer  Erträge  befragt  werden*,  sondern 
auch  das  Recht  haben,  sich  regelmäßig  zu  versammeln,  um 
über  die  Steuerveranlagung  und  Erhebung  zwecks  gleich- 
mäßiger und  gerechter  Belastung  zu  beraten  und  zu  be- 
schließen. Die  Verwaltung  des  Steuerwesens  und  alle  anderen 
damit  zusammenhängenden  Verwaltungszweige  müssen  also 
von  den  königlichen  Beamten  auf  die  Steuerzahler  selbst 
übertragen  werden. 

Mag  dadurch  nur  eine  tiefgehende  Verwaltungs reform 
angebahnt  worden  sein,  so  enthält  dies  doch  schon  im 
Keime  den  Gedanken  der  Notwendigkeit  einer  gewissen 
Organisation  der  Staatsuntertanen  dem  Monarchen  gegen- 
über, eine  klare  Absicht  diesen,  wenn  nicht  in  seinen  Rechten 
einzuschränken,  so  doch,  um  mit  Mirabeau  zu  reden, 
„Ätablir  un  compte  ouvert  entre  le  Souverain  et  la  nation"*. 
Nun    kann    aber    diese    Berufung    des   Volkes   zur    Anteil- 


«  Vgl.  St.  Bauer,  a.  a.  O.  S.  153/4. 

*  Durch   die  Forderung  der  Selbstanzeige;   vgl.  Qaesnaj,   p.  191 '2. 

^  Theorie  de  l'impot,  p.  473. 


115 

BSahme  an  der  Regierung  nur  unter  der  Bedingung  zu 
ersprießlichen  Resultaton  fiihren,  daß  daa  Volk,  wie  die 
Physiokraten  lehrten,  über  die  Grundsätze  der  Politik 
unterrichtet  wird  und  eine  aufgeklärte  öffentliche  Meinung 
herauBbUdet ;  nur  dann  werden  auch  eeine  RepräHentanlen 
die  Volksmeinung  tiber  die  Zustände  im  Lande,  über  die 
allgemeinen  Bedürfnisse  und  die  geeignetesten  Maßnahmen 
dem  Herrscher  gegenüber  vertreten  können.  Dieses  Ver- 
langen eines  „compte  ouvert"  zwischen  Volk  und  Monarch 
Iund  die  Forderung  einer  aufgeklärten,  das  Volksintereeae 
wahrenden  öffentlichen  Meinung  vereinigen  sich  aber  mit 
Kotwendigkcit  zu  der  Erkenntnis,  daß  der  ^voeu  public" 
gewisse  greifbare  Formen  annehmen  muß  und  daß  schließ- 
lich die  Bildung  der  anfänglich  so  energisch  abgelehnten 
,corp9  intermödiaires"  zwischen  dem  Souverän  und  dem 
Volke  doch  unumgänglich  ist. 


Zu  diesen  Konsequenzen,  die  die  politisch  zaghaften 
■Physiokraten  aus  ihrer  eignen  Lehre  unter  anderen  Um- 
ntflnden  vielleicht  nicht  gezogen  hätten,  haben  sie  auch 
■feoch  Süßere  Gründe  bewogen. 

Schon  seit  dem  Ende  der  Regierung  Ludwig  XIV.,  als 
die  ersten  Symptome  des  allmählichen  Verfalls  der  alten 
französischen  Monarchie  zum  Vorschein  kamen,  hat  sich 
die  öffentliche  Meinung  in  der  Person  einiger  hervorragender 
Geister  mit  Plänen  zur  Rettung  des  Staates  von  den  ihm 
drohenden  Gefahren  zu  beschäftigen  begonnen.  Wie  es  in 
solchen  Fällen  oft  vorkommt,  hat  man  zuerst  die  Mittel 
zur  Genesung  bei  den  alteu,  zur  Zeit  besiegten  Mächten  zu 
finden  geglaubt.  FUr  Frankreich  waren  es  diejenigen 
Mächte,  die  einst  der  emporsteigenden,  starken,  zentra- 
lisierenden Köuigsgewalt  langen  und  hartnäckigen  Wider- 
stand geleistet  haben,  also  vor  allem  der  feudale  Adel, 
P  So  sind  auch  zuerst  am  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  die 
ffeudalistiscb-aeparatisti sehen  Pläne  der  Herzöge  von  Burgund 
mnd  St.-Simon  sowie  Fönelon's   aufgetaucht,   denen  sich  in 


116  VI  3 

ihrer  Jugend  die  Brüder  Mirabeau,  der  Marquis  und  der 
bailii,  angeschlossen  haben®. 

Bald  darauf  ist  die  Erinnerung  an  die  Reichs-  und 
Provinzialstände  wach  geworden,  besonders  an  die  letzteren, 
seit  den  von  Marquis  Mirabeau  in  seiner  vorphysiokratischen 
Periode  (1750)  geschriebenen  „Mömoires  sur  les  ötats  pro- 
vinciaux",  in  denen  die  Aufmerksamkeit  auf  die  besseren 
Verhältnisse  in  den  noch  bestehenden  vier  „pays  d'^tats" 
gelenkt  wurde.  Das  Buch  hat  großes  Aufsehen  erregt  und 
Gärung  hervorgerufen';  es  wurde  mehrmals  aufgelegt  und 
hat  die  in  ihm  enthaltenen  Gedanken  zum  bleibenden 
Besitztum  der  öffentlichen  Meinung  gemacht. 

Im  Zusammenhang  mit  den  Mirabeau'schen  Vorschlägen 
ist  auch  das  Beispiel  der  benachbarten,  republikanisch 
regierten  niederländischen  und  schweizerischen  Staaten, 
besonders  dank  der  schriftstellerischen  Tätigkeit  eines  der 
merkwürdigsten  Publizisten  des  18.  Jahrhunderts,  des  Mar- 
quis d'  Argenson®,  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Gemüter 
gewesen. 

Seit  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  ist  schließlich 
auch  die  Forderung  der  Reichsstände  lauter  geworden,  die 
dann  dem  jungen  Ludwig  XIV.  von  Malesherbes,  dem  da- 
maligen Präsidenten  der  Chambres  des  Aides  und  späteren 
Mitarbeiter  Turgot's,  offiziell  überbracht  wurde  •. 

Alle  diese  Forderungen  sind  aus  monarchisch  gesinnten 
Kreisen  hervorgegangen  und  haben  in  der  öffentlichen 
Meinung  das  immer  reger  werdende  Verlangen  einer  posi- 
tiven Anteilnahme   des  Volkes   an   der  Regierung   erzeugt, 


*  Vfifl.  L.  de  Lom^nie,  a.  a.  O.,  pp.  3 — 5,  116,  351  et  saiv; 
W.  Oncken,  Das  Zeitalter  Friedrich  des  Großen,  Bd.  I,  18 ff.;  H.  Ripert, 
a.  a.  O.,  p.  68;  de  Lu^ay,  Les  assembl^es  provinciales  sous  Lrouis  XVI, 
2-ifeme  ^d.  1871,  eh.  VI. 

"^  Vgl.  Lom^nie,  a.  a.  O.,  p.  125;  Eocquain,  LWprit  r^volation- 
uaire  avant  la  revolution,  p.  285. 

^  Besonders  seine  Considerations  sur  le  gouvernement  ancien  et 
präsent  de  la  Franke. 

^  A.  Wahl.  Zur  Vorgeschichte  der  französischen  Revolution,  1905, 
Bd.  I,  p.  255. 


Vi  'i 


117 


toiclit  zum  wenigsten  unter  Berufung  auf  die  Verhältnisae 
^m  alten  Frankreich.  In  diese  Bewegung  ist  nun  aucli 
Däer  PhysiokratisniuB  hineingezogen  worden. 

Schon  die  phys!okr;itisehen  Pläne  Mirabeau's  sind 
"  später  in  die  von  ihm  gemeinschaftlich  mit  Quesnay  ge- 
schriebene „Theorie  de  PimpSt" ,  allerdings  in  physlo- 
kratischer  Modifizierung,  aufgenommen  worden.  Freilich 
sind  die  Ständeversammlungen,  wie  sie  Mirabeau  in  den 
fünfziger  Jahren  verlangt  hatte,  und  die  nach  den  physio- 
kratischen  Prinzipien  folgerichtig  konstruierten  „assembl^es 

Provinciales''  Turgot's  —  zwei  ganz  verschiedene  Dinge. 
Nichtig  ist  aber  featzu 8 teilen,  daß  in  der  allgemeinen  Frage 
ach  der  Anteilnahme  des  Volkes  an  der  Regierung  die 
leibenden  Mäuhte  der  Zeit  mit  den  konsequent  aus  dem 
'hjsiokratismus  gezogenen  Sätzen  zusammenfallen^". 
Das  eigentliche  Dokument  der  jetzt  von  uns  zu 
schildernden  zweiten  Periode  in  der  politischen  Entwicklung 
der  Physiokraten ,  ist  der  berühmte  Turgot-Dupont'sche 
Munizipali  täten entwurf,  der  von  praktisch-politischer  Be- 
deutung fllr  die  Zukunft  auch  außerhalb  Frankreichs  ge- 
worden ist".  Eine  theoretische  Rechtfertigung  der  in 
diesem  Entwurf  enihnitenen  Gedanken  in  dem  oben  von 
>  angedeuteten,  als  Konsequenz  aus  den  physiokra tischen 
Ausgangspunkten  sich  ergebenden  Sinne  rinden  wir  bei 
Uem  Freunde  Turgot's,  dem  Parlamentsherrn  von  OrMans, 
e-Trosne*'. 

Dieser  Physiokrat  verteidigt  schon  ausdrücklich  den 
l^edanken  der  aus  den  Grundeigentümern  gebildeten  „corps 
btermädtaires",  die,  ebenfalls  ohne  die  Macht  des  Monarchen 


"  Aach   der    doktrinärste   und  am  meisten   vera|iotlele   Phjaiokrtit 

A-Hercier  konnte   dem    Andrang   der    Zeit    nicht    nidereteben,    und   so 

"*  '  '   ihn  in  don   Nouvcllc   EphämSrideB  ^conomiqoeB   vom   JAhra 

foß.  X<   pp.  114—124  —  davon  sprechen,  daß   die   Legi.ilative 

„Corps  politique"  aelbut  gehöre,  wenn  auch  die  best«  H^ierongsform 

r  die  monarchische  bleibe. 

"  Darüber  A.  Wahl   in  den  Aniuilen  dts  Deububen  Beiclis,   1903, 
r  Geschichta  von  TurgolV  Muniiipalitätenenlwurf,  S,  876. 

"  Hauptsächlicb  im  VI.  Discoura  »eine»  Werkes  „De  l'ordre  social". 


118  VI  3 

rechtlich  einzuschränken,  als  Träger  der  öffeDtlichen  Meinung 
die    Garantien    eines    rechtmäßigen    Staates    bilden    sollen. 
In  einer  derartigen  Organisation  der  öffentlichen  Meinung, 
sagt  er,  besteht  eben  die  „Constitution''  eines  Staates,  auf- 
deren  Notwendigkeit  er  im  Anschluß  an  Turgot  hinweist  ^*. 

Le-Trosne  geht  nicht  mehr,  wie  Le-Mercier,  von  dem 
Gedanken  der  Unfehlbarkeit  des  Monarchen  aus;  er  setzt 
gerade  das  Gegenteil  voraus  und  sieht  das  Gegengewicht 
gegen  dessen  Willkür  nicht  mehr  ausschließlich  in  den 
Gerichten ,  sondern  eben  in  den  „corps  interm^diaires''. 
Nur  Tyrannen,  meint  er,  versagen  dem  Volke  „tout  con- 
cours  ä  la  chose  commune'';  sie  betrachten  die  Gewalt 
als  ihr  persönliches  Eigentum:  „ils  n'ont  garde  de  la 
communiquer  k  des  corps  permanents,  encore  moins  de 
consulter  la  nation  par  des  repr^sentants  et  de  Tintäresser 
k  la  chose  commune" ;  sie  verzichten  auf  den  glorreichen 
Titel  des  ersten  Bürgers  im  Staate. 

Aber  eine  Nation,  die  ihren  Wünschen  und  Bedürf- 
nissen keinen  Ausdruck  geben  kann,  fährt  er  fort,  ähnelt 
einem  Menschen,  dem  man  das  Sprechen  verbietet  und  dem 
nichts  mehr  als  seine  Arme  übrig  bleiben,  um  das  zu  be- 
kunden und  zu  fordern,  was  er  wünscht**. 

Doch  wollen  wir  uns  die  Grundzüge  des  Munizipalitäten- 
entwurfs näher  vergegenwärtigen  ^. 

n. 

Die  einleitenden  Ausftihrungen  beginnen  zuerst  mit 
der  Feststellung  des  Zwecks  der  vorgeschlagenen  Reform. 
Dieser  Zweck  ist  ein  doppelter  und  ist  durch  die  Miß- 
stände im  französischen  Staate  gegeben,  die  ebenfalls  auf 
zwei  Grundübel  zurückgeführt  werden  können  und  zwar: 
erstens,  auf  die  durch  den  Mangel  an  „öffentlichem  Geist" 
(„esprit    public")    bedingte    ständische    Zerrissenheit    und 


>8  Le-Trosne,  pp.  260/1,  276—278. 

1*  Ibidem,  pp.  279—281. 

"  Turgot,  Oeuvres,  II,  pp.  502—551. 


VI  3 


119 


Spaltung,  die  den  Staat  seiner  Einheitlichlieit  beraubt  und 
eine  vom  Zentrum  herrührende  allgemeine  Leitung  ver- 
eitelt; zweitens,  auf  das  Beatreben  der  Regierung  vom 
Zentrum  aus  alle  ^dfStaita"  der  Verwaltung  zu  bestimmen, 
ein  Mißstand,  der  in  seinen  schlechten  Wirkungen  durch 
die  Unkenntnis  der  Lage  mangels  eines  „voeu  public"  noch 
verstärkt  wird.  Es  muß  nun  zur  Gesundung  dieser  Ver- 
hältnisse, besonders  des  zweiten  der  angeführten  Mißstände, 
eine  Selbstverwaltung  geschaffen  werden,  die  in  den  Händen 
der  „magiatrata  naturels"  (Mirabeau)  sich  befindet  —  „afin 
que  la  plupart  des  choaes  se  fassent  d'ellea  memea". 

Es  ist  hier  gleich  zu  bemerken,  daß  diese  Worte  im  Munde 
Turgot's  politisch  keine  Einschränkung  der  Prärogativeo 
der  Staatsgewalt  bedeuten;  denn  sie  beziehen  sich  nur  auf 
das  Gebiet  der  Herrschaft  der  „loia  physiques"  in  den 
Steuersachen,  welche  im  Zusammenhang  mit  den  öffentlichen 
Arbeiten,  die  Im  Dienste  der  Landwirtschaft  stehen,  den 
eigentlichen  Gegenstand  der  Lokal  Verwaltung  ausmachen 
aollen,  also  auf  solche  Dinge,  die  der  Willkür  der  Staats- 
gewalt so  wie  so  entzogen  sind,  und  llber  welche  diese  bei 
den  Staatsuntertanen  Auskunft  suchen  muß,  um  nach  den 
„natürlichen  Gesetzen"  den  Staat  zu  verwalten.  Wie  diese 
letzte  Begründung  deutlich  zeigt,  läuft  die  Rechtfertigung  der 
Selbstverwaltung  darauf  hinaus,  die  Regierung  im  laufenden 
über  die  allgemeine  Lage  zu  halten,  denn  um  die  Nation 
gut  zu  regieren  ,il  faudrart  connaitro  sa  Situation,  aes 
besoins,  acs  facultöa,  et  memo  dans  un  assez  grand  detail' 

So  gehen  wir  unmittelbar  zum  anderen  Zwecke  des 
Turgot'achen  Planes  über,  zur  Stärkung  der  Regierung, 
zur  Hebung  ihrer  Macht  mit  Hilfe  der  durch  die  organisierte 
Öffentliche     Meinung     geschaffenen     Auakunfts  Instanzen 


"  Dupont  bnt  Aber  deu  Zweck  der  Refnrm  in  seiner  Ansgtibe  dai 
Werke  Turgot's  noch  liiusugefii^ :  „donner  nu  chef  äo  la  social^  um 
aatariti  d'autaot  plaa  grande,  i)Ub  n'dWnl,  ne  pouvant  etre  qae  bien- 
fniisate,  il  D'atirait  jnmitis,  oi  motif,  a\  int^rpt  du  U  coDlestur" ;  s.  Turf^t, 
Oenvrei,  id.  Daire,  U,  p.  550. 


120  VI  3 

Denn  die  Aufgabe  der  geplanten  assemblöes  besteht  nur 
darin,  über  die  Zustände  aufzuklären,  und  bei  einem  etwaigen 
Widerstand  ihrerseits  entscheidet  der  König  eigenmächtig: 
„ces  assembl^es  municipales,  depuis  la  premiere  jusqu'ä  la 
dernifere,  ne  seraient  que  des  assemblöes  municipales,  et 
non  point  des  Etats**  —  fügt  dabei  Turgot  hinzu. 

Diesen  Grundsätzen  gemäß  soll  auch  eine  Hierarchie  der 
Selbstverwaltungskörper  geschaffen  werden.  —  Die  niedrigste 
Einheit  soll  danach  auf  dem  platten  Lande  die  „assembl^e 
de  village",  in  den  Städten  die  „municipalitö"  bilden.  Aus 
den  Deputierten,  je  einer  von  jeder  assembl^e,  wird  die 
municipalit^  der  nächsten  Stufe,  in  den  „arrondissements" 
(^lections,  districts)  zusammengesetzt.  Aus  diesen  wieder 
kommen  auf  dieselbe  Weise  die  „assemblöes  provinciales*" 
zustande,  und  aus  den  letzteren  schließlich  die  „grande 
municipalitö" ,  die  „municipalit^  g^nörale  du  royaume^'*. 
So  soll  eine  Stufenleiter  von  Verwaltungskörpern  nach  dem 
Vorbilde  administrativer  Instanzen  entstehen,  wo  jedes  Mit- 
glied nach  den  Instruktionen  der  Wähler  vorzugehen  hat. 
Es  ist  aber  auch  gestattet,  die  Deputierten  einer  höheren 
assemblöe  (in  den  Distrikten  und  Provinzen)  nicht  bloß 
aus  den  Mitgliedern  der  niederen  zu  wählen,  um  somit 
auch  außerhalb  stehenden  befähigten  Männern  Zutritt  zu 
geben. 

Als  Organe  der  „assembl^es  de  village"  und  der 
Munizipalitäten  in  den  Distrikten  und  Provinzen  sind  ein 
Präsident  und  ein  Greffier  angegeben,  wobei  in  den  größeren 
Städten  dem  Monarchen  die  Mitwirkung  bei  der  Ernennung 
der  „officiers  municipaux"  vorbehalten  wird.  Diese  Organe 
bilden  mit  dem  aus  der  betreffenden  assembl^e  gewählten 
Deputierten    einen    beständigen   Ausschuß,    um   die  Korre- 


17  Turgot  behält,  wegen  der  noch  bestehenden  Verschiedenheit  der 
Stäudeverhältnisse ,  die  Standeunterschiede  in  seinem  Entwurf  bei;  da- 
nach soll  es  dreierlei  Gemeindeversammlungen  geben:  eine  kleine  nur 
für  den  dritten  Stand,  eine  mittlere  —  für  Entscheidungen  in  Steuer- 
sachen, die  auch  den  Adel  betreffen  und  eine  große  für  Fälle,  in  denen 
alle  Stände  besteuert  werden. 


i'VI  3 


121 


[' Bpondeuz  zu  führen,   —  „compulaer  les  registres  et  veiller 
leur  conservation". 

Difiten  erhalten  die  Deputierten  nur  für  eine  ganz 
L  kurze  Zeit,  Ihre  Wahl  soll  jährlich  erneuert  werden.  Die 
E  Sessionen  der  assembl^es  sind  ebenfalls  auf  kurze  Zeit 
,  berechnet. 

Was  die  ZusainmeDsetzung  anbetrifft,  bo  haben  in  rein 
I  physiokratischem    Sinne    nur    diejenigen    das    aktive    und 
I  passive    Wahlrecht,    denen    „phjsiquenient"    die   politische 
\  Vollberechtigung   gebührt  —   also   nur  die   Grundbesitzer. 
I.  Damit  aber  die  Versammlungen  nicht  zu  groß  werden,  soll 
paur   derjenige   eine   ganze   Stimme   erhalten,   der   ein  Ein- 
kommen   von   GOO   Livree    aus    dem   Grundbesitz   bezieht. 
Die   kleineren    Einkommen   dürfen   aich   behufs  Erlangung 
einer  Stimme    zusammentun    und   einen   in   der  aaaemblöe 
Stimmberechtigten  aus  ihrer  Mitte  withleu.    In  den  Städten 
j  werden  den  Grundbesitzern  die  Haushesitzer  gleichgestellt, 
I  aber  nur  nach  Maßgabe  des  Kapitalwertes  des  Bodens,  auf 
[dem  das  Haus  gebaut   ist,   und  zwar  ist  der  Besitzer  eines 
I  Grundstückes  im  Werte  von  15000  Li vres  stimmberechtigt. 
L Bezieher  größerer  Einkommen  haben  auch  mehr  Stimmen; 
sind   aber   einige  Maßnahmen  gegen  Majorisierung  vor- 
^esehen. 

Die  Befugnisse  der  assembläes  beziehen  sieb: 

1.  auf  die  Steuerveranlagung:  in  den  niedrigsten 
Stufen  auf  die  Verteilung  der  aufzubringenden  Steuern 
auf  die  Individuen,  in  den  höheren  —  auf  die  unter- 
geordneten Verwaltungscinheiten '"; 

2.  auf  die  öffentlichen  Arbeiten  und  das  kommunale 
Verkehrswesen ; 

3.  auf  die  Armenpolizei; 

4.  auf  die  Beziehungen  zu  den  gleichen  und  höheren 
Verwaltungseinheiten ; 

^  Den  nssemlileea  ist  es  ancli  gestattet  für  koiumnaale  Zwecke  Oeld 
(«nfxiibringen:  »ie  mQaaen  aber  dnrOber  den  hSheren  HMemblfe»  Rechon- 
"  "laft  «bl^eii. 


122 


VIS 


5.  auf  die  all mäli liehe  Aufatellung  eines  Kataalers 
(terrier  g^iiöral). 

Von  dem  dritten  Punkte  ist  bei  den  höheren  assembl^ea 
nicht  die  Hede.  Im  Hinblick  auf  den  zweiten  Punkt  haben  die 
höheren  Braunicipalitös"  die  von  den  unteren  angenommenen 
und  den  ganzen  Distrikt  betreffenden  Vorschlilge  zu  prüfen 
und  darüber  zu  entscheiden,  sowie  Raklaraationen  entgegen- 
zunehmen und  Beiträge  bei  etwaigen  „granda  accidents 
physiques"  oder  größeren  öffentlichen  Arbeiten  zu  leisten. 
Schließlieh  ist  die  Aufgabe  der  „grande  muuicipalitä",  den 
vom  König  verlangten  SteiieraoU  unter  den  Provinzen  zu 
verteilen  und  über  die  von  der  Regierung  vorgeschlagenen 
„travaux  publics"  zu  beraten  und  BoschlUase  zu  fassen.  Ein- 
tritt und  Recht  zur  Teilnahme  an  den  Debatten  in  der  „muni- 
cipalitä   du  royaume"  haben  auch  die  Minister  des  Königs. 

Wenn  wir  nun  die  im  Munizipali tätenentwurf  nieder- 
gelegten Ideen  unter  einem  Gesichtspunkt  zusammenfassen 
wollen,  so  tritt  uns  hier  hauptsächlich  der  Gedanke  der 
Notwendigkeit  einer  starken  Staatsgewalt  vor  Augen,  die, 
ganz  im  physiok ratischen  Sinne,  kraft  ihrer  Autorität  die 
Gesellschaft  aus  dem  „ordre  de  d^pravation"  in  den  ^ordre 
naturel"  hinüberzufuhren  berufen  sein  soll.  Von  diesem  Ge- 
danken war  sowohl  der  Gründer  der  Physiokratie  Quesnay,  wi« 
sein  genialer  Schüler  und  praktischer  Befürworter  der  Doktrin, 
Turgot,  beseelt;  wir  finden  ihn  also  In  den  eben  skizzierten 
Reformplänen  wieder.  Die  Volksvertreter  bekunden  nur 
die  Meinung  des  Volkes  und  klären  die  Regierung  über  den 
Zustand  der  Dinge  auf;  das  Entscheiden  und  Handeln  im 
Namen  des  Staates  gehört  aber  nur  der  letzteren.  Ist  jetzt 
die  Regierung  ohnmächtig,  weil  sie  die  Verhältnisse  im 
Lande  nicht  kennt,  und  weil  sie  in  der  „räunion  des 
volont^s"  keine  genügende  Stütze  finden  kann,  so  muß  sie 
nun  mit  Hilfe  der  Volksvertreter  als  Organen  der  öffent- 
lichen Meinung  gestärkt  werden,  um  die  Macht  in  ihren 
Händen  zu  konzentrieren.  Der  „r^union  des  volontäs"  soll 
durch  die  politische  Erziehung  der  Bürger  eine  bestimmte 


h 


Richtung  gegeben  werden,  um  die  Bürger  an  politischen 
Dingen  zu  interessieren  und  in  ihnen  das  Bewußtsein  der 
Wohltätigkeit  einer  aufgeklärten  Regierung  zu  erwecken, 
damit  aie  diese  in  ihrem  reformatorischen  Vorhaben  unter- 
stützen. Zu  diesem  Zweck  wird  die  Organisation  der 
„Instruction  nationale"  vorgeschlagen,  die  unter  der  obersten 
Leitung  eines  ^conseil"'  sich  befinden  soll.  Dazu  soll  auch 
die  geplante  Verwaltungare  form  dienen,  um  bei  den  Bürgern 
das  Bewußtsein  einer  Harmonie  zwischen  den  privaten  und 
öffentlichen  Interessen  zu  schaffen,  und  aus  ihnen  die 
Staatsgewalt  unterstützende,  nicht  dieser  feindlich  gesinnte 
Elemente  zu  bilden '". 

Wie  wenig  es  Turgot  daran  lag,  aus  den  Volks- 
'ertretern  eine  die  Staatsgewalt  einschränkende  und  etwa 
lie  gesetzgebende  Gewalt  handhabende  Macht  zu  schaffen, 
möge  auch  das  beweisen,  daß  er  die  zur  Anteilnahme  an 
der  Regierung  berufenen  Bürger  als  bloße  Teile  einer 
großen  Verwaltungamaschine  betrachtete;  denn  sie  sollten 
sich  nicht  mit  allgemeinen  politischen  Fragen  beschäftigen, 
sondern  nur  für  die  enge  Sphäre  ihrer  eigenen  lokalen 
Bedürfnisse ,  die  sie  öffentlich  zu  vertreten  haben,  Sorge 
tragen,  damit  ihre  partikularen  Interessen  ein  Teil  dea 
allgenieinen  Interesses  werden ,  weil  dieses  nach  der 
mechanistiscEien  Auffassung  nur  die  Summe  jener  darstellt: 
„Le  premier  principe  de  la  mnnicipalitd  pour  les  villoa 
est  le  meme  que  pour  les  campagnes.  C'est  que  personne 
ne  ae  mele  que  de  ce  qui  l'intt^resse  et  de  t'administration 
de  sa  propriet^  *"■'.  Daher  haben  auch  die  vorgeschlagenen 
indirekten  Wahlen  nur  den  Sinn,  daß  die  Deputierten  in 
jeder  assembläe  bis  zur  „municipnlitö  g^näralc"  hinauf  nicht 
das  ganze  Volk,  sondern  bloß  jeder  seine  lokalen  Interessen 
zu   vertreten   hat     Daher  sind  auch   die  Mandate  weaent- 


»  Tnrgot.  U,  pp.  506  -50tt,  549. 


124  VI  3 

lieh  imperativen  Charakters*^.  Die  ganze  Vertretung  war 
also  nur  als  eine  Interessenvertretung  geplant. 

So  ist  der  Physiokratismus  im  Munizipalitätenentwurf 
sich  selbst  treu  geblieben  :  die  zentrale  Gewalt  teilt  nicht  mit 
dem  Volke  ihre  Befugnisse;  die  Volksvertreter  sind  bloße 
Organe  der  Selbstverwaltung,  die  ihrerseits  die  zentrale 
Gewalt  noch  stärken  sollen. 

Und  doch  enthält  der  Turgot'sche  Plan  ein  gutes  Stück 
revolutionärer  Gedanken,  und  das  war  im  letzten  Grunde, 
sowohl  der  Gedanke  der  Berufung  der  Volksvertreter  zur 
Anteilnahme  an  der  Regierung,  als  ganz  besonders  die  Art, 
in  der  das  geschehen  sollte.  Mag  auch  der  König  ein 
Jahrzehnt  später  sich  gezwungen  gesehen  haben,  vieles 
aus  dem  Plane  Turgot's  zu  verwirklichen,  so  mußte  in 
der  Mitte  der  siebziger  Jahre  dieser  Plan  noch  als  ganz 
unannehmbar  erscheinen**.  Und  gerade  der  Mangel  näherer 
Bestimmungen  über  die  neu  zu  schaflFenden  Institutionen 
und  über  ihre  Beziehungen  zu  den  bestehenden  Staats- 
einrichtungen, sowie  die  ganze  Art  des  Vortrags  in  der 
berühmten  Denkschrift  heben  deutlich  hervor,  daß  es  dem 
Verfasser  nicht  auf  eine  bloße  Reform  der  Verwaltung, 
sondern  auf  eine,  wenn  auch  nur  allmählich  durchgeführte 
Umwälzung   der  Staatsverfassung  im  demokratischen  Sinne 


^^  Sehr  deutlich  spricht  sich  für  imperative  Mandate  und  gegen  das 
englische  System  Dupont  aus,  s.  Briefwechsel  des  Markgrafen  Karl 
Friedrich,  II,  S.  226,  229/30. 

22  Ob  Ludwig  XVI.  den  Munizipalitätenentwurf  je  gelesen  hat,  ist 
noch  nicht  entschieden;  zurzeit  bleibt  nur  mit  Dupont  anzunehmen,  dafi 
das  nicht  der  Fall  war.  Die  ganze  Frage  ist  wegen  der  von  Soulavie 
(Mömoires  historiques  et  politiques  du  rfegne  de  Louis  XVI,  t.  III)  mit- 
geteilten ßandberaerkungen  des  Königs  zur  Denkschrift  angeworfen 
worden.  Die  Brüder  Oncken  haben  trotz  des  von  Soulavie  angegebenen 
Datums  (das  Jahr  1788)  angenommen,  daß  Ludwig  XVI.  die  Denkschrift 
schon  in  den  70-er  Jahren  gelesen  hat  und  deswegen  gegen  Turgot  ver- 
stimmt wurde,  was  zur  Demission  des  Ministers  führte.  A.  Wahl  hat  da- 
gegen zu  beweisen  versucht  (in  den  Annalen  des  Deutschen  Reichs,  1903), 
daß  der  König  die  Denkschrift  erst  in  einer  Ausgabe  des  Qrafen  Mirabean 
vom  Jahre  1787  gelesen  und  darauf  seine  Anmerkungen  gemacht  hat. 
Neuerdings  wird  aber  in  der  Historischen  Zeitschrift  (Bd.  9o,  Ologan, 
Turgot's  Sturz)  ausgeführt,  daß  die  Randbemerkungen  überhaupt  eine 
Fälschung  sind. 


VI  3 


125 


l«iikaiti.      Denn    bestand    auch    die    Absicht,    die    zentrale 
I  Staatsgewalt  durch  die  Reform  zu  stJlrkeii,  ao  wurde  dennocli 
ftdem    absoluten    Monarchen    als    solchen    durch    die 
r  "Vorschläge   ein  starker  Schlag   versetzt^".     Bleibt  also  der 
Munizipalitätenentwurf     von     dem     ursprünglich     physio- 
kratischen  Gedanken    durchdrungen,    daß  eine  starke,    po- 
litisch  alles    beherrschende  Staatsgewalt   notwendig  ist,    so 
tritt  jetzt  noch  ein  zweiter  Gedanke  hervor,  der  zwar  eben- 
falls   in   der  'Jihysiokra tischen   Lehre   begründet   ist,    aber 
erst    in    der    zweiten    Periode    ihrer   Entwicklung  zu   ent- 
scheidender Bedeutung  gelangt:  der  Gedanke  von  der  Not- 
wendigkeit, Volksvertreter  zur  Anteilnahme  an  der  Regierung 
,   SU   berufen.     Die   vom   aufgeklärten   Absolutismus   ererbte 
I  Idee    einer    starken    Staatsgewalt    wird    hierdurch    d  e  m  o  ■ 
rfcratisiert.     Eine    sehr    bezeichnende    Erscheinung    zur 
■'Charakteristik  der  politischen  Geschichte  Frankreichs,  wie 
sie  sich  auch  nach  der  Revolution  entwickelt  hat! 

Betrachten    wir    aber    den   Munizipali tiltenentwurf  als 

öanzes,  so  bleibt  doch  in  uns  das  Gefühl  zurück,  daß  die  beiden 

I  ihm  enthaltenen  Hauptgedanken  in  Wirklichkeit  zu  einer 

inneren  Einheit  sich  doch  nicht  zusammengeschlossen  haben. 

Das,   was  wir  uns  jetzt  dank  unserer  größeren  politischen 


"  Einen  gsni  aoJerBn  Chamkler  tragt  der  dein  Turgot'arliea  Plnno 
oschgaLildete  Versuch  Le-Trnsne'a  —  De  l'iuiiiiinistratiun  provinoialii  et 
ds  la  ritbrme  de  Tirapöt,  t  I,  livra  V  — .  wenn  auiih  bei  diesem  den  neu 
■u  ichaffendea  Institutionen  weitgehende  ßefugnisae  einer  ausfübreiiden 
und  baapbäcblicb  kontrollierendon  Gewalt  genäbrt  sind.  Denn  tritt  in 
Tnrgot's  Entwurf,  dnuk  den  knappen  und  unbestinioiten  Aiulülirnngen 
Aber  die  Angaben  der  asiembläci)  nnd  ihre  EinfOgung  in  die  besteheade 
VerwaltangBrnascIiine,  haaplaäcblich  der  Gedanke  der  Notwendigkeit  ainer 
Organiaation  des  „vueu  public"  hervor,  eo  zielen  Le-Trosne'B  Pläne  aas- 
gIMproohen  auf  eine  bloße  Reform  der  Verwaltung,  man  kQnnte  lagen  — 
■nf  die  Schaffung:  einus  au<i  Valkswahlen  herrorgeh enden  Beamtenstaudes 
hin.  Dieaen  Charakter  verleiht  dem  Plane  LiB-Tronue's  neben  einer 
Bcbärieren  Betonung  des  „bon  plaisir  du  roi"  und  einer  sehr  undcmukra- 
tiicheu  Einengung  dea  Kreises  der  pasair  Wahlberechtigten  in  ileu  höheren 
Terwaltuagseinheiten  (durch  einen  immer  steigenden  Zensut)  hauptsncb- 
lich  der  Umstand,  daß  er  den  Schwerpunkt  der  gaiuien  Koform  von  den 
Provinzial-  nnd  DistriktaverBammliiogen  auf  die  «üb  lebenslänglich 
gewAhlten  Mitgliedern  bcEtebondcn  „conseils"  überträgt,  denen  fast  die 
ganie  Verwaltung  lugsteUt  weiden  «oll, 


126  VI  3 

Erfahrung  leicht  denken  können:  eine  starke  Regierangs- 
gewalt einerseits  und  eine  weitgehende  Liberalität  in  bezug 
auf  die  politische  Betätigung  der  Staatsuntertanen  anderer- 
seits, —  dafür  mangelte  es  dem  18.  Jahrhundert  an  Ver- 
ständnis. Versuche  einer  ähnlichen  Vereinigung  mußten 
in  praxi  zu  Kollisionen  führen,  und  auch  im  Geiste  der  sie 
vertretenden  Politiker  konnte  sie  sich  nicht  zu  einer  wahren 
Einheit  gestalten.  Denn  die  „starke  Regierung"  trug  in  ]enen 
Tagen  noch  den  Abglanz  und  lebte  noch  zu  sehr  von  den 
Traditionen  der  absoluten  Monarchie,  —  und  was  man  sich 
dabei  vom  „freien  Individuum"  dachte,  das  triflFt  nicht  ganz 
mit  der  modernen  Idee  der  politischen  Freiheit  zusammen, 
wie  wir  es  schon  früher  erörtert  haben.  Gerade  in  bezug  auf 
diesen  letzten  Punkt  war  das  18.  Jahrhundert  noch  politisch 
unreif  genug,  um  den  Gedanken  einer  freien  eigenmächtigen 
Persönlichkeit,  die  zu  gleicher  Zeit  politisch  gebunden  ist, 
vertreten  zu  können :  denn  für  dieses  so  stark  politisierende 
Zeitalter  blieb  die  Freiheitsidee  im  letzten  Grunde  vielleicht 
doch  eine  außerpolitische,  und  die  Bedeutung  der  Frei- 
heit vom  Staate  konnte  daher  wegen  Mangel  an  politischer 
Erfahrung,  in  ihrer  ganzen  Tragweite  noch  gar  nicht  ge- 
würdigt werden  **.  Sobald  aber  das  Bestreben  wach  wurde 
die  Freiheit  nicht  nur  in  der  Idee  zu  vertreten,  sondern 
sie  auch  zu  verwirklichen  —  mag  es  auch  anfänglich  nur 
in  der  Form  der  ökonomischen  Freiheit  mit  allen  daraus 
sich  ergebenden  Konsequenzen  geschehen  sein  — ,  so  mußte 
die  anfänglich  einheitliche  Auffassung  des  18.  Jahrhunderts 
sich  zersetzen. 


^  Wenn  Locke  als  der  erste  Theoretiker  des  modernen  Liberalis- 
mus betrachtet  wird,  so  geschieht  das  mit  Recht  nur  aus  dem  Grunde, 
weil  er  ein  Interpret  von  politischen  Verhältnissen  in  seinem  Lande  war, 
die  sich  historisch  ganz  anders  entwickelt  haben  als  auf  dem  Kontinente, 
und  weil  er  den  Liberalismus  nach  einer  glücklich  durchgeführten  Revolu- 
tion zu  vertreten  hatte.  Mag  auch  die  naturrechtliche  Begründung  der 
Freiheit  bei  den  kontinentalen  Schriftstellern  keine  andere  gewesen  sein,  als 
bei  Locke,  so  mangelte  ihnen  dennoch  jener  Sinn  für  die  politische  Frei- 
heit, die  der  Engländer  schon  besaß:  erst  während  und  nach  der  großen 
Revolution  ist  auch  auf  dem  Kontinent  in  diesen  Vorstellungen  ein  Um- 
schwung eingetreten. 


127 

Daher  fehlt  auch  dem  Munizipali tätenentwurf  die 
innere,  organische  Vereinigung  zwischen  den  beiden  in  ihm 
enthaltenen  Gedanken  —  dem  einer  starken  Regierungs- 
gewalt und  demjenigen  der  politischen  Freiheit  im  Sinne 
■  Abachüttelung  der  gouvernementalen  Bevormundung. 
j5o  ist  Turgot,  im  Herzen  der  glühendste  Befürworter  der 
IVeiheit  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  zu  gleicher  Zeit 
mn  ausgesprochener  Vertreter  einer  im  Namen  des  Volks- 
pückfi  absolutistisch  regierenden  Staatsgewalt  gewesen^". 
Beim  näheren  Zusehen  werden  wir  hier  wieder  die  Folgen 
jener  Kollision  zwischen  der  alten  Staatsidee  und  den  nach 
Verwirklichung  ringenden  freiheitlichen  Bestrebungen  er- 
kennen, die  wir  schon  einmal  festzustellen  hatten,  als  wir 
[bei  den  Physiok raten  die  Frage  nach  dem  Verhältnis 
wischen  Staat  und  Individuum  anders  beantwortet  vor- 
jefunden  haben,  als  diejenige  nach  dem  Verhältnis  zwischen 
ptaat  und  Wirtschaft. 

III. 

Es  ist  in  der  Literatur  darauf  hingewiesen  worden, 
IaQ  es  auch  Quesnay  und  sogar  Mirabeau  hauptsächlich 
tar  auf  eine  starke  Regierungsgewalt  ankam,  und  daß 
3tnen  an  der  monarchischen  Form  wenig  lag^^.  Wenn 
Biese  Annahme  vom  Standpunkte  der  naturrechtlichen 
Brundlagen  des  PhysiokratismuB  eich  auch  rei-htfertigen 
lät,  so  muß  doch  dem  gegentiher  entschieden  hervorgehoben 
Irerden,  daß  alle  Phjsiokraten  monarchisch  gesinnt  waren; 
EVm  Quesnay  und  Mirabeau  anbetrifft,  jeder  verschieden, 
nach  der  Art  seines  Temperaments  und  seiner  sozialen 
Stellung. 

Die  rein  politische  Abachwächung  des  monarchischen 
ßedankens  ist  aber  nur  bei  Turgot  zu  konstatieren,  wenn 


Bemerkiingen,   Oeuvres,  VIH, 


•  Vgl,    über    Turgot   Tocqi 
pp.  152—168. 

"  Kellner,   Studien    Kur   Gesehichte  der    Ph^siokrntii 
8.  60;  H.  Ripert,  o.  a.  O.,  p.  S95. 


128  VI  3 

auch  er  in  seiner  Jugend  ähnlicher  Gesinnung,  wie  die 
übrigen  Physiokraten  gewesen  sein  mag*"^.  Wegen  der 
späteren  Wandlung  dieser  Gesinnung  nimmt  er  aber  inner- 
halb der  Physiokratie  eine  besondere  Stellung  ein,  die  ihn 
schließlich  über  die  Grenzen  des  eigentlichen  Physio- 
kratismus  hinausführt. 

Daß  Turgot  für  Frankreich  unter  den  bestehenden 
Verhältnissen  einen  glücklichen  Ausweg  nur  von  der 
Stärkung  des  Königtums  erwartet  hat,  dürfte  wohl  keinem 
Zweifel  unterliegen.  Eine  prinzipielle,  allgemeine  Recht- 
fertigung der  Monarchie  werden  wir  aber  bei  ihm  dennoch  ver- 
gebens suchen.  Dagegen  weisen  manche  seiner  Äußerungen 
auf  die  Anerkennung   der  Idee   einer  Volksregierung  hin. 

So  ist  vor  allem  das  Interesse  und  das  Wohlwollen 
hervorzuheben,  das  er  für  die  neuentstehenden  amerikanischen 
Demokratien  zeigte,  wenn  er  auch  die  Rezeption  der  eng- 
lischen Verfassung,  die  ihm,  wie  allen  Physiokraten  eine 
„Constitution  orageuse"  war,  getadelt  hat.  In  seinem  Briefe 
an  Price  vom  Jahre  1778  lernen  wir  Turgot  als  aus- 
gesprochenen Anhänger  der  freien  Demokratien  kennen. 
Er  fühlt,  daß  diese  seine  Anschauungen  mit  denen,  die  er 
als  Minister  für  Frankreich  vertreten  hat,  nicht  harmonieren 
und  bittet  deshalb  seinen  englischen  Freund  den  Inhalt  des 
Briefes  nicht  bekannt  zu  geben  ^®.  In  einem  anderen  Briefe, 
an  Dupont,  hat  er  noch  schärfer  seiner  Anschauung  Aus- 
druck gegeben,  indem  er  gelegentlich  sagt:  „je  ne  suis 
pas  ^conomiste,  parce  que  je  ne  veux  pas  un  roi"  ^®. 

Aber  noch  wichtiger  erscheint  uns  zur  Charakterisierung 
der  politischen  Überzeugungen  Turgot's  die  Tatsache  der 
Einführung  einer  „municipalit^  g^n^rale  du  royaume"  in 
seinen  Reformplan.  Darin  kommt  das  verhüllte  Verlangen 
eines    Mannes    zum    Ausdruck,    der    sich    für    die    neuen 


'"^  Vgl.  M^moires  de  Mme.  du  Hausset,   p.  163  (enthält  einen  Aus- 
zug aus  einer  Rede  Turgot's). 

'^8  Turgot,  ir,  pp.  805—811. 

*®  Mitgeteilt  von  L.  de  Lomänie,  a.  a.  O.  p.  416. 


rvi  3 


129 


I 


amerikaDi'sclien  Demokratien  zu  begeistern  wußte,  —  das 
Verlangen,  durch  die  Konzentrieninyder  Volksinteresaen  in 
einer  aus  Wahlen  hervorgegangenen  Institution,  auch  in 
seinem  Vaterlande  die  künftige  Volkaregierung  vorzu- 
bereiten. Das  war  ein  neuer,  wahrhaft  revolutionärer 
Gedanke. 

Denn  die  Publizisten,  die  in  dem  öffentlichen  Bewußt- 
sein die  Erinnerung  an  die  allen  Provinziabtände  er- 
weckten und  durch  deren  Umgestaltung  in  Provinzial- 
versammlungen  der  alten  Monarchie  neues  „republikanisches" 
Blut^"  zuführen  wollten,  wie  Mirabeau  und  d'Argenaon, 
haben  sich  deutlich  gegen  alles  ausgesprochen,  was  an  eine 
derartige  ,municipaht6  gön^rale"  erinnern  könnte,  weil  sie 
nicht  ohne  Grund  fürchteten,  daß  eben  dadurch  die  monarchi- 
sche Gewalt  beeintrUchtigt  werden  müßte*';  Turgot  dagegen, 
wie  wir  sehen ,  hat  die  Einführung  einer  „municipalit«^ 
g^n^rale"  direkt  befürwortet. 

Wenn  er  auch  vieles  fVlr  seinen  Plan,  wie  Adalbert 
Wahl  nachzuweisen  gesucht  hat,  d'Argenson  entlehnt 
liat^',   so   war   doch   der  Gedanke  einer  zentralen  Munizi- 


'*  Die  AuBdrBoke  —  republikaniacli,  Republik,  Demukrstie  und  der- 
gleichen  wurden   im  Sinne  von  Selbstvarwnltung  gebrancht.     So  epriclit 
"Argenson,   ».  a.  O, ,  p.  133,  von  ainor  „viriuble  dämocrfttie  au  milieu 
I   I&  monkrchie".     Und   Mirabeau  schreibt  in   einem   Briefe   an  Longo 
'   vom  5.  Sept.  1775  (in  den  schon  i^tierten  Memoiren);    „11  est  impoB.iible 

^tie   In   r^publiqiie  gouverne  jamaiB  bien mais  eile  consulte  tr^s 

bien  pour  un  chef  abtolu". 

''  D'Ai^eDijon,  a.  n.  O.  pp.  24/5;  Mirabeau,  Lettrea  sur  la  Ifgislatioti, 
im  Briefe  vom  29.  Nov.  1767. 

"  A.  Wahl  in  den  Annalen  des  Deutschen  Reichs,  S.  S70/I.  —  Dali 
der  d'Ar^nson'ache  Flau  in  seiner  ersten  F'nsaung  (nach  der  Niederschrifl 
vom  Jahre  17^7  und  nach  der  gedrackten  Auflag  vom  Jahre  1767)  von 
besonderer  Bedeutung  fftr  Turgot  s  Denkschrift  war,  ist  nicht  anzunehmen ; 
denn  vraa  d'Argengon  bicr  vorschlägt,  sind  keins  Oemeindeversammlangen. 
«oodem  nur  ein  neuer  Modus  der  Beaetzung  der  GemKindeämter  dnrcli 
Mitwirkung  der  Gemeindemitglieder,  die  Eaudldnltm  zu  wählen  haben, 
KUB  deren  Mitte  der  KOnigliche  Beamte  nach  eigenem  Ermeaaen  die  Er- 
nennnng  vollzieht;  vgl.  d'Arganaon's  Plan  a.  a.  O.,  p.  17(1  et  »uiv.,  passim, 
besonders  Art.  1,  37  tmd  39,  —  Anders  scbciul  ea  mit  der  zweiten  Auf- 
iMge  bestellt  zu  lein  (una  liegt  die  vom  Jahr«  1787  vor).  Hier  haben 
wir  es  achon  mit  dem  Qedanhen  der  eigentlichen  asaemUlfea  zu  tun. 
Hauptsächlich  kommt  es  dem  Verfasser  auf  eine  Btofenartig  durchgeführte 
vnlkBrrBcbtl.  Abhaodi.  VI  H.  -  aantibtrs.  9 


130 


VI  a1 


palität  ein  vüUig  selbständiger,  Mirabeau,  der  im  Jahre  1787 
die  EinfttliruDg  der  „assembl^es  provinciales'"  begrüßt  und 
sich  sogar  als  ihren  geistigen  Vater  bezeichnet  hat,  ist  in 
den  siebziger  Jahren  Turgot  gegenüber  feindlich  aufgetreten, 
weil  er  ihm  zu  republikanisch  war*'*.  Dieser  Republikanismus 
Turgot's,  der  in  verhüllter  Form  in  dem  Vorschlag  einer 
„municipalitd  gön^rale"  zum  Ausdruck  kommt,  war  in  den 
eingeweihten  gesellachaftlichen  Kreisen  wohl  bekannt,  und 
der  königstreue  Mirabeau  hat  sich  nicht  ohne  Grund  gegen 
diese   „republikanischen"  Tendenzen  gestrHubt^'. 

Es  ist  daher  anzunehmen,  daß  Turgot  trotz  seiner 
Versicherungen  über  die  Untastbarkeit  der  monarchischen 
Gewalt,  wie  er  ea  auch  in  einer  oftizielleu  Denkschrift 
nicht  anders  tun  konnte,  bei  seinem  Verlangen  nach  einer 
starken  Regierung  den  Monareben  dennoch  allmählich  ein- 
schränken wollte,  um  den  Boden  für  eine  Staatsfonn  zu 
schaffen,  die  ihm  vielleicht  auch  prinzipiell  als  die  beste 
erschien  —  und  diese  konnte  die  nubeschränkte  monarchische 
nicht  sein**. 


noi  mit  oniüprecheDiIcii  gewählten  Beamten  versehene  DeEOnb'BliMfion 
au,  tlber  den  Modus  der  Beamtenwnbl,  der  jn  den  Schweq>iuikt  der 
ersten  Auflage  bildet,  Enden  wir  in  der  zweiten  nielit«  mehr-  Die  M- 
sembläes  Hotlea  aus  Beamten.  Vertretern  des  OroBgrundbecitzes  und 
vfi-nigcQ  Vertretern  der  Bärgerachsfl  ansammengeBetzt  werden.  Die  »d- 
miniBtratiTen  Funktionen  sind  den  BeNmten  iiigedacht.  Die  usemblfiM 
sind  nur  SteaerveranUgungskommisaionen,  die  in  bestimmten  Fälleii  fdl 
stAsdige  Vorschläge  machen  und  die  motivierten,  die  Prorinz  betreffe 
Beform  vorschlage  der  Regi  eräug  anhSren  Itönnen.  ~  Im  allgein 
unterscheiden  sich  die  Plfine  d'Argenson's  von  demjenigen  Mirabeau' 
durch,  daß  sie  „modemeT"  und  durch  Rezeptionen  aus  der  hoUSndil 
Verfassang,  die  für  viele  freie  Geister  jener  Tage  mustei^ltift 
fruchlel  sind.  Was  die  Beziehung  der  d'Argpusou'schen  Pläne  KU  dwl- 
jptiigen  Turgot'a  betrifft,  so  ist  eine  lieeinSussung  hier  keinetMll  n 
leugnen,  wenn  auch  bemerkt  werden  mall,  daß  den  ersleien  der  demckni- 
tiscbe  Zag  und  der  umwälzende  Geist  des  Munizipalitätenentwnrb  fei' 

•»  Vgl.  L.  de  LomÄQie,  pp.  laO,  412/3. 

'*  Üo  schreibt  Turcot  an  Hume  über  Gonssean's  Coutrat  Hocia]: 
1a  värit^,  ce  livre  se  reduit  ii  In  distinction  pi'^clse  du  souveraia  et 
gouventenient ;  mais  cette  distiuction  präsente  une  v^ril^  bien  lumini 
et  qui  me  parait  fiier  i  janiaU  Ics  idiSes  sur  l'iualiioabilite  de  ta 
veraiuetS  du  peuple  dans  queli]Ue  gonveruement  que  ce  sait." 
of  eminent  persons  addrcssed  to  D,  Hume,  p.  152. 

^'  A.  Wahl,  der  besonders  stark  die  monarchischen  uod  seatrali 


Von  diesem  Standpunkt  aus  stellt  sich  auch  Con- 
dorcet's  Darstellung  der  politischen  Ansichten  Turgot's, 
die  man  gewöhnlich  mehr  als  den  Ausdruck  der  persön- 
lichen Gesinnung  des  Autors  auffaßt,  in  ganz  anderem 
Lichte  dar.  Die  oben  angeführten,  nicht  von  Condorcet 
herrührenden  Argumente  berechtigen  also  vielleicht  zur 
Annahme,  daßTurgot's  pri  n  zi  p  i  eile  politische  Ansichten, 
auf  die  es  uns  ja  hier  hauptsächlich  ankommt,  und  über  die 
er,  der  praktische  Politiker,  der  sich  den  Verhältnissen 
doch  anzupassen  wußte,  fast  gar  nicht  oder  nur  gelegent- 
lich sehr  knapp  sich  ge&ußert  hat,  —  daß  diese  seine 
Ansichten  vom  Verfasser  der  „Vie  de  Turgot" ,  seinem 
intimsten  Freunde,  treu  wiedergegeben  worden  sind^". 
Und  dae  um  so  mehr,   als  zu  Beginn  der  achtziger  Jahre, 


(ibidem ,   pp. 

de   droit   de   pntem 


Beben  Teadeazen  TorROt'«  im  MunicipMlitStenentwarf  betont,  weist  im 
Gegensatz  dazu  auf  Mirsbeau  hin,  der  für  seine  Etats  prorinciaux  di» 
Steuerbewilligiingsrecbl  verlangte,  was  natb  Taryot's  Plan  nicht  der  Fall 
sein  snilte.  Dennoi^b  ist  es  u.  E.  Mirabcnu,  der  in  den  alten  Vorstellnngen 
einer  unbescii rankten  Monarchie  sich  bewe^  nicht  Turgot. 

Wenn  Mirabeau  aucb  ausdrücklich  vom  „conaentement  dn  peuple' 
•pricht  (Tli^orie  de  l'impat,  pp.  157/3),  an  will  er  damit  nur  auf  die  ob- 
jektiv-ron  den  „natörliehen"  Gesetoen  der  lienteuBTUng  gegebenen  Grenien 
der  KdnigBgewalt  hiowciaen,  aber  keine  Reclitsanaprücbe  des  Volkes  gegen 
''  B  bEgründen,  was  gegen  alle  Gesetze  „der  Menscbheit  und  des  Staats" 
.  173/4)  wäre ;  „Quand  je  parle  ici  da  droit  vis-A-»is  roon 
'  s'agit  pna  de  droit  jiiridique,  de  droit  t^gsl,  mais 
,  de  droit  uui  n'impüqae  pas  ooutradiction  avec 
1  de  la  äouverainel^"  (ibidem,  p.  41S).  —  Daß  Turgot's 
verhallte  Absichten  andere  waren,  haben  wir  schon  im  Text  lu  zeigen 
versucht,  aber  eine  leise  Andeutung  Snden  wir  in  bezog  anf  das  Ile- 
■teneningsrecht  auch  im  Munizipalitätenentwnrf:  da  haiBt  es  nämlich 
(Turgot,  II,  p.  54ß),  daß,  wenn  der  jetzige  Plan  gelingen  sollte,  auch  das 
möglieh  iein  wird  „qui  a  pani  chimärique  jusqu'  i  prSsent" ,  und  Kwar 
„qne  le  revenu  public  urdinaire,  ätant  une  portion  d^terniinfe  des  rcvenns 
particuliera ,  s'accrüt  avec  cux  pur  lee  goins  d'une  bouno  admiiiistratiou, 
on  diminoSt  avec  eni  si  le  royaome  devenail  mal  goavem^".  Zar  Ans- 
fQbmng  der  hier  gemeinten  rein  pbfsiok ratischen  Forderui^  wird  es 
natürlich  nicht  mehr  genflgen,  wenn  die  Itegierang  „ferait  declarer  par 
Bon  miniatr«  des  Gnanccs,  lea  aommea  dont  celle  nvait  besoin".  wie  es 
nach  den  vorläufigen  Vorschlägen  des  Entwurfes  sein  aoll.  Vgl.  auch 
P,  Foncin,  Bssaj  sur  le  minintire  de  Turgot,  Parin,  1677,  über  Turgot's 
politische  Ansichton,  p.  551. 

"  Condorcet.  Vie  de  Turgot  (Oeuvres,  V),  pp.  120  et  suiv.  j  vgl.  Ober 
Turgot  und  Condorcet  die  Bemerkungen  St.  Ueuve's,  Caaseriea  du  tundi, 
S-iAme  iA^  t  Ul,  pp.  340-344. 


13: 


VI  i 


wo  das  Buch  geschrieben  wurde,  ihr  Autor  noch  nicht 
extrem  republikanisch  gesinnt  war,  als  die  im  Buche  ent- 
haltenen Gedanken  von  einem  sehr  mäßigen  Geiste  ge- 
tragen sind,  ala  ea  noch  ein  starkes  Gepräge  des  Physio- 
kratiamus  sogar  in  politischer  Hinsicht  zum  Vorschein 
kommen  läBt,  und  als  ea  schließlich  in  bezug  auf  Frank- 
reich ausgesprochen  königstreu  ist*'. 

Ist  nun  also  anzunehmen ,  daß  Targot  mit  seinen 
endgültigen  politischen  Überzeugungen  aus  dem  Rahmen 
der  Phjsiokratie  heraustritt,  so  kann  doch  andererseits 
nicht  stark  genug  betont  werden,  daß  seine  Anschauungen 
eine  Weiterentwicklung  der  Ausgangspunkte  des  Physio- 
kratismua  waren,  eine  Weiterentwicklung,  die  aus  ihrer 
ursprünglichen  Quelle  die  wichtigsten  £leniente  beibehalteD 
hat,  und  zwar:  die  Forderung  einer  starken,  die  Gesell- 
schaft zum  „ordre  naturel"  führenden  Staatsgewalt,  die  Ab- 
neigung gegen  die  englische  konstitutionelle  Eompromißform 
unter  dem  Zeichen  eines  unbiegaamen  natorrechtlicben 
Rationalismus,  die  Hervorhebung  der  politischen  Bedeutung 
einer  aufgeklärten  öffentlichen  Meinung  und  die  Be- 
schränkung der  politischen  Rechte  auf  die  Eigentümer 
(Grundbesitzer).  — 

Finden  wir  nun,  daß  die  Sonderstellung  Turgot's  darin 
besteht,  daß  seine  politischen  Anaichten  über  diejenigen  der 
anderen  Pbysiokraten  hinausgreifen,  so  können  wir  noch 
die  Frage  aufwerfen,  ob  ein  anderer  aus  dem  Chorus 
der  Ökonomisten,  der  Marquis  Mirabeau,  politisch  auch 
wirklich  bis  zu  jenen  von  Quesnay  und  Turgot  vertretenen 
Anaichten  emporgewachsen  ist,  wonach  vor  allen  Dingen 
eine  starke  zentrale  Gewalt  notwendig  ist.  Zweifel  über 
den  „Ami  des  honunes"  könnten  wegen  seiner  in  der  Jugend 
gehegten  separat! etischen  Hoffnungen  und  seiner  in  den 
ersten  Schriften  (im  „Memoire  sur  las  ötata  provinciaux" 
und   im  „Ami   des  hommes")   auch   noch  später  zum  Vor- 


133 

lebein  kommenden  Bekämpfung  einer  ailzu  zentralisierenden 
Und  nivellierenden  Staatsgewalt  bestehen,  Eb  ließen  sich 
Tielleicht  auch  in  der  Verteidigung  der  ^  Etats  prorinciaux' 
Nachklänge  dieser  Stimmung  vernehmen.  Etwas  Positives 
dafür  oder  dagegen  läßt  sich  aber  doch  aus  seinen  schwülstigen 
Schriftbn  nicht  anführen.  Das  Überall  durchbrechende 
Temperament  macht  es  unmöglich,  die  politischen  An- 
schauungen Mirabeau's  in  klaren  Umrissen  zu  kennzeichnen. 
Die  beste  Charakteristik  bleibt  daher  auch  hier  das  Wort 
Tocqueville's :  ^un  esprit  Ködal  envahi  des  id^es 
■^imocfatiquea"  ",  Dennoch  kann  man  sich  dem  Eindrucke 
Weht  entziehen,  daß  die  extreme  Propagierung  des  Laissez 
feire-Prinzips  bei  Mirabeau  eine  innere  Genugtuung  zum 
Vorschein  kommen  läßt  über  die  Möglichkeit,  auf  Grund 
der  „neuen  Wissenschaft"  alten  Gedanken  nachgehen  zu 
können  und  der  zentralen  Staatsgewalt  womöglich  viel  zu 
entreiäen.  Was  uns  aber  trotzdem  berechtigt,  ohne  Rilck- 
«icht  auf  die  persönliche  Stimmung  Mirabeau's,  ihn  auch 
politisch  unter  die  Physiokraten  einzureihen ,  ist  einer- 
;aeits  die  konsequente  Verteidigung  der  Monarchie,  die  oft 
die  Form  der  rücksichtslosen  Übergewalt  des  Staates  über 
das  Individuum ,  das  diesem  gegenüber  keine  Rechts- 
ansprüche hat,  annimmt  ^  und  andererseits  die  durch 
Unabliängigkeitsreminiszenzen  gestärkte  Forderung  eines 
„compte  ouvert"  zwischen  Volk  und  König,  die  den  demo- 
kratischen Einschlag  der  feudalen  Gesinnung  dieses  jeden- 
falls ungewöhnlichen  Mannes  bildet. 


Fassen   wir   alles  bisher  Gesagte  zusammen ,  so  ergibt 
Knch   uns   als   Schlußfolgerung   vor   allen   Dingen,    daß  die 
Physiokratie    kein    stabiles   politisches   System   ausgebildet 
nicht    wegen     der    Verschiedenheit     der    Gesinnung 


"  Tocquorille,  OeuvrM,  VIII,  p.  IM. 


134  VI  3 

einzelner  Physiokraten,  sondern  wegen  der  Wandlungen,  die 
sie  im  Laufe  ihrer  Blütezeit  mit  der  rasch  dahinflutenden 
revolutionären  geistigen  Bewegung  durchgemacht  hat 
Stabil  war  sie  nur  bei  ihrem  ersten  Auftreten ;  hier  hat  sie 
sich  aber  auf  rein  naturrechtliche  Sätze  beschränkt,  die 
eine  faßbare  politische  Gestalt  erst  mit  der  allmählichen 
Radikalisierung  angenommen  hat. 

Doch  ist  der  feste  Kern,  den  der  Physiokratismus  von 
Anfang  an  bis  zu  den  ihn  überragenden  Anschauungen 
Turgot's  behält,  die  Forderung  einer  starken  Staats- 
gewalt unter  dem  Zeichen  eines  sehr  ideal  aufgefaßten 
Staatszwecks  mit  zweifellosen,  anfänglich  verhüllten,  aber 
allmählich   sich   offenbarenden   demokratischen   Tendenzen. 


Achtes  Kapitel. 


» 


Überblicken  wir  die  Gesamtheit  der  Bozialen  und  poli- 
^chen  Ideen  der  Physiokraten,  um  über  ihre  Bedeutung 
■ein  historischoa  Urteil  zu  gewinnen,  so  wird  sich  die  Not- 
wendigkeit ergeben  hierbei  zweierlei  zu  unterscheiden.  — 
Es  wird  das  Urteil  über  die  Bedeutung  der  Physiokraten 
für  die  Wissenschaft  von  der  Gesellschaft  und  der  Stellung 
des  Menschen  in  ihr  von  einer  anderen  Frage  geschieden 
werden  müssen  —  und  zwar:  von  der  Frage  nach  ihrer 
Stellung  zu  den  politischen  Ström ungen  ihrer  Tage  und 
nach  ihrem  Zusammenhang  mit  den  späteren  großen  poli 
tischen  Ereignissen.  Die  Beantwortung  der  ersten  dieser 
■Fragen  steht  in  enger  Verbindung  mit  den  Erörterungen 
ttber  die  Grundlagen  des  Pliysiokratiamus. 

Wir  haben  rn  den  ersten  Kapiteln  zu  beweisen  ver- 
sucht, daß  die  vermittelnde  Stellung,  die  Quesnay  in  seinen 
philosophischen  Grundlagen  zwischen  Malebranche  und 
Locke  einnimmt,  und  die  im  wesentlichen  auch  Turgot 
kennzeichnet,  ihren  Stempel  der  ganzen  physlokratischen 
Doktrin  aufdruckt.  Wir  wollen  nun  einiges  aus  dem 
schon  Behandelten  rekapitulieren. 

Fern  von  der  alten  kartcstschen  Metaphysik,  hat  sich 
der  Physiokratismua,  wie  wir  gesehen  haben,  die  englische 
empirisliache  Philosophie  zu  eigen  gemacht,  ist  aber  bis  zu 
den  Konsec^uenzen  des  Condillacismus  nicht  gelangt;  er  hat 
diesen  im  Gegenteil  sogar  bekämpft.  Daher  steht  er  auch 
lern  G^ei8te  der  EnzykiopHdisten  feindlich  gegenüber.  Er 
it  in  der  Enzykioptldie  die  materialistische  Zuspitzung,  den 


136  VI  3 

Atheismus  und  die  egoistische  Moral  bekämpft.  Mag  auch 
das,  was  er  dem  entgegengestellt  hat,  nicht  völlig  klar  ge- 
wesen sein,  jedenfalls  ist  ein  innerer  Protest  festzustellen, 
ein  Protest,  der  nur  durch  die  philosophische  Schulung  im 
kartesischen  Geiste  zu  erklären  ist,  durch  die  unaustilgbare 
Wirkung,  die  dieser  Geist,  angesichts  der  Einseitigkeiten 
des  englischen  Empirismus  und  seiner  materialistisch  ge- 
färbten Moral-  und  Sozialphilosophie,  auch  auf  kritisch  ge- 
stimmte Denker,  wie  es  Quesnay  und  Turgot  waren,  aus- 
geübt iiat.  Besonders  deutlich  ist  dieser  Zusammenhang 
mit  der  älteren  Weltanschauung  in  Quesnay's  philosophi- 
schen Schriften  zu  erkennen.  Im  allgemeinen  läßt  sich 
aber  das  Charakteristische  in  der  philosophischen  Position 
der  Physiokratie  nur  niehr  negativ,  mehr  als  Gegensatz  zur 
Enzyklopädie,  als  positiv  kennzeichnen.  Man  könnte  daher 
auf  den  ganzen  Physiokratismus  ein  Wort  anwenden,  das 
Turgot  in  einem  Briefe  an  Öuponi  —  im  Zusammenhang 
mit  einem  schon  erwähnten  ähnlich  klingenden  Satze*  — 
auf  sich  bezogen  hat;  „Je  ne  suis  pas  encyclop^diste,  parce 
que  je  crois  ä  Dieü".  In  diesen  Worten  lag  fiir  jene  Zeit 
ein  ganzes  Programm. 

Bei  der  Darstellung  der  Grundlagen  der  physiokrati- 
schen  Sozialphilosophie  haben  wir  dann  zu  zeigen  versucht, 
wie  diese  ihre  Stellungnahme  deutlich  in  dem  Bemühen  zum 
Ausdruck  kommt  in  menschlichen  t)ingen  das  notwendig 
sich  Vollziehende  und  vom  Willen  Unabhängige  mit  der 
freien  vernünftigen  Tat  zu  vereinigen.  So  konnten  die 
Physiokraten  von  der  Naturnotwendigkeit  der  iGiesellschaft 
einerseits  und  von  der  freien  vernünftigen  Regulierung  des 
sozialen  Lebens  andererseits  sprechen;  so  haben  sie  den 
BegriflF  der  sozialen  „loi  pliysique"  atifgestellt,  die  weder 
mit  aem  reinen  Naturgesetz  noch  mit  dem  Begriff  der 
Norm  im  Sinne  eines  naturrecnÜichen  Gesetzes  völlig  zu- 
sammenfällt; so  haben   sie  die    „idie   absolue"    des  Rechts 


'  Kapitel  VII  dieser  Schrift,  Anmerkung  29. 


von  der  „idi5e  relative"  untorscliiedeii ,  und  achließlicli  in 
der  Methode  Beobachtung  und  Tatsachen  verlangt,  und 
doch  hervorgehoben,  daß  man  in  den  „sciences  socialea  et 
politiquea"  nicht  von  einzelnen  Tatsachen,  wie  in  den  Natur- 
wisaenachaften ,  sondern  von  allgemeinen  Prinzipien  auszu- 
gehen hat.  Mag  auch  der  Versuch,  diese  beiden  ver- 
schiedenen Elemente  zu  vereinigen,  dem  Physiokratismus 
nicht  gelungen  sein,  mögen  sie  sich  einmal  völlig  nach  der 
einen,  das  andere  Mai  gänzlich  nach  der  anderen  Seite  ge- 
neigt haben,  er  bleibt  als  solcher  in  aeiner  ganzen  Eigen- 
art doch  bestehen. 

In  den  späteren  Lehren  hat  das  naturwissenschaftliche 
Prinzip  in  der  Gesell  seh  aftswissenachaft  den  Sieg  davon- 
getragen, und  die  Geaetze  der  Gesellschaft  sind  zu  Gesetzen 
im  naturwiasenschaftlichen  Sinne  erhoben  worden:  dem 
Physiokratismus  war  diese  Einseitigkeit  fremd,  wenn  er 
auch  den  formellen  Bogriff  des  Gesetzes  beibehalten  hat, 
weil  er  an  die  Möglichkeit  glaubte,  eine  soziale  Maschine, 
wie  irgend  einen  anderen  Mechanismus,  aufbauen  zu  können. 
Jedoch  soll  nicht  behauptet  werden,  daß  dieses  Vermeiden 
einer  einseitig  naturwissenachaftlichen  Auffassung  und  der 
Versuch,  diese  mit  einer  entgegengesetzten  Anschauung  zu 
vereinigen,  aiia  kritischer  Weitsichtigkeit  und  Überlegenheit 
geschehen  ist.  Die  Eigentltütltchkeiten  der  Physiokratie 
sind  vielmehr  aua  ihrer  oben  geschilderten  Stellung  zu  den 
Philoaophemen  ilirer  Zeit  zu  erklären.  Eb  war  kein  Vor- 
Sprung  in  ihren  Lehren  vor  dem,  was  nach  ihnen  kam, 
sondern  vielmehr  eine  Rückständigkeit  in  bezug  auf  die- 
jenige Stellungnahme  in  der  Gesellschaftswissenschaft,  die 
schob  damals  die  Oberhand  zu  gewinnen  begann.  Daher 
konnte  in  dieser  Hinsicht  ihr  Versuch  auf  die  sjjäteren 
Lehren  keinen  Einfluß  ausübet),  weil  man  geriLde  in  setner 
eben  aufgedeckten  Besonderheit  eine  unersprießliche  Ver- 
qiiTckung  der  zur  Wissenschaft  werdenden  Nationalökonomie 
iiiil  dem  alten  Naturrecht  zu  sehen  glaubt»;.  In  Aet  rein 
naturwissenschaftlichen  Richtung  sind  aber  die  Physiokraten 


138 


VI3 


von  den  späteren  völlig  verdrängt  und  in  deo  Hintergrund 
geschoben  worden.  —  So  stellt  sich  uns  der  Phyaiokratis- 
mus,  vom  Standpunkte  der  Geschichte  der  sozialen  Theorien 
betrachtet,  als  eine  bloße  Illustration  der  nach  beiden 
Seiten  hin  wirkenden  Periode  des  Übergangs  von  der  alten 
wissenschaftlichen  Auffassung  zur  neuen. 

Was  aber,  u.  E.,  im  Phyaiokratismua  von  Bedeutung 
geworden  ist,  ist  die  Art  der  evolutioniatiachen  Auffassung  der 
Gesellschaft,  die  man  ihm  dem  ersten  Anblick  nach  gar 
nicht  zutrauen  müchte.  Wir  haben  wohl  gesehen,  daß  zuerst 
von  Turgot  in  einer  Jugendschrift  der  Gedanke  von  den 
drei  Stadien  der  Entwicklung  der  Gesellschaft  ausgesprochen 
worden  ist.  Diesen  Gedanken  haben  aber  nachher  alle 
Phjsiokraten  aufgenommen,  ihn  zum  Gemeingut  ihrer  Lehre 
gemacht  und  in  ihren  zahlreichen  Schriften  popularisiert. 
Mag  diese  Auffassung  auch  aus  einer  abseits  liegenden 
Quelle  herstammen,  sie  hat  aber  vollständig  in  die  grund- 
legenden Anschauungen  der  Physiokraten  von  der  Gesell- 
schaft und  dem  Rechte  als  natürlichen,  sich  entwickelnden 
Erscheinungen  hineingepaßt.  Damit  hat  der  Phydiokratis- 
mus  zweifellos  jener  Auffassung  den  Weg  gehahnt,  die  dann 
durch  Condorcet's  Esquisse  d'un  tableau  historique  auf  die 
spätere  Geseüachaftslehre  bis  Comte  hinaus  eingewirkt  hat. 
Aus  den  positivistischen  Elementen  der  physiokrati sehen 
Lehre  von  der  Gesellschaft  ist  dieser  Punkt,  u,  E.,  der 
einzige,  der  von  historisch  weiterwirkender  Bedeutsamkeit  , 
geworden  ist. 

Völlig  fremd  war  dagegen  dem  Physiokratismus  dieser 
evolutionistische  Gedanke  bei  der  Beurteilung  der  politischen 
Gebilde  seiner  Zeit  und  der  Aufstellung  seiner  reformatori- 
schen Pläne.  —  Nicht  durch  den  Grad  des  historisch  be- 
dingten menschlichen  Könnens  im  gegebenen  Zeitpunkt 
der  Geschichte,  sondern  durch  das  bloße  Wissen,  durch 
die  unsere  Vernunft  erhellende  Erkenntnis  des  sozialen 
Ideals  soll  nicht  nur  die  Gegenwart  beurteilt,  sondern  auch 
das  Handeln   bestimmt  werden.     Es  war  jenes  verh&ognis- 


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f 


ToUe,  utopische  Vermengen  von  Können  und  Wissen,  das 
dem  ao  klugen,  geistreichen  und  skeptischen  18.  Jahrhundert 
den  Stempel  einer  kindlich-naiven  Weltfremdheit  aufdruckt. 

Wir  haben  aber  gesehen,  daß,  sobald  der  Physiokratis- 
mus  in  die  praktische  Politik  eingetreten  ist,  die  Verhält- 
nisse  ihn  mit  sich  gerissen  haben.  Er  mußte  mit  seinem 
Ideal,  dem  souveränen  Vernunftprinzip,  den  treibenden 
historischen  Machten  dienen,  und  sich  zu  einer  immer  radi- 
kaler werdenden  politischen  Doktrin  umbilden.  Es  ist  eine 
interessante  Erscheinung,  daß  der  auf  der  Geschichte  be- 
ruhende spätere  Legitimismus,  mit  dem  man  die  physio- 
kmtiscbe  Politik  in  Zusammenhang  bringen  wollte,  trotz 
der  Geschichte,  in  deren  Schofle  er  geboren,  unbeweglich 
stehen  blieb,  während  die  souveräne  Vernunft  der  Physio- 
kraten,  die  über  die  Geschichte  erhaben  ist,  in  ihren 
Strom  hineingezogen  und  zu  ihrer  Dienerin  gemacht  woi-den 
ist  Aus  diesem  Grunde  hat  auch  der  Physiokratisnius  kein 
geschlossenes  politisches  System  aufzustellen  vermocht,  das 
iUr  die  spätere  Geschichte  der  politischen  Ideen  von  Be- 
deutung hätte  werden  können. 

Freilich  war  der  Physiokratismus  grundlegend  und 
von  weitgehender  historischer  Bedeutung  für  die  wirt- 
schaftspolitischen Grundsätze,  die  die  Revolution  und  die 
vorrevolutionäre  reformatorische  Periode  bei  ihren  zer- 
störenden und  aufbauenden  Versuchen  beherrscht  haben. 
Diese  Bedeutung  ist  schon  längst  anerkannt  und  ist  neuer- 
dings von  einem  der  letzten  Historiker  der  französischen 
Revolution,  Adalbert  Wahl,  ins  volle  Licht  gerUckt.  — 
Wir  haben  indessen  nicht  darauf  unser  Augenmerk  zu 
richten,  sondern  vielmehr  auf  die  historische  Bedeutung 
ihrer  rein  politischen  Lehren  und  Bestrebungen.  Diese 
aber  haben  keine  positive  Wirkung  auf  ihr  Zeitalter  aus- 
geübt, denn  sie  sind  mit  ihm  gegangen. 

Entstanden  in  einer  Zeit  der  keimenden  Revolution, 
liat  der  Physiokratismus  geglaubt,  mit  Hilfe  der  alten  Mo- 
narchie auf  friedlichem  Wege  in  Frankreichs  alterskranken 


140 


VI  3' 


Ötaatakörper  neue  Lebenssäfte  hineinbringen  zu  känaen. 
Zu  diesem  Zwecke  war  es  nötig,  die  königliche  AutoriUt 
in  dem  skeptisch-kritischen  GemUte  der  Zeitgenossen  wieder 
zu  heben.  Persönliche  Stimmung,  Nachklänge  der  Theorie 
der  „monarchie  teinpöröö''j  ein  aristokratisch-autklärerischer 
Geist,  starker  Idealismus  und  politische  Weltfremdheit,  die 
jede  Kompromißform  prinzipiell  von  sich  abweist:  das 
alles  im  Zusammenhang  mit  der  starken  Einwirkung  der 
hergebrachten  jannsköpfigen  n a tu r rechtlichen  Qesellschafts- 
und  Staats  theo  rien  hat  ihnen  ihre  Aufgabe  erleichtert  und 
den  Boden  für  den  „despotisme  lögal"  geschaffen. 

Wir  haben  aber  gezeigt,  wie  in  dieser  Lehre  viele 
Elemente  verborgen  waren,  die  mit  Leichtigkeit  «u  gaiu 
anderen  Konsequenzen  führen  konnten.  Wir  habeu  auch 
gesehen,  wie  das  wirklich  geschehen  ist,  und  wie  die  politische 
Doktrin  über  die  Kilpfe  der  Physiokraten  selbst  hinaus- 
gewachsen ist  und  schließlich  zu  einer  politischen  Außassung 
sich  gestaltet  hat,  die  in  sich  wohl  auch  physiok ratische 
Elemente  enthält,  aber  selbst  nicht  mehr  physiokratisch  ist. 
Diese  Elemente,  die  zu  solchen  Folgen  geführt  haben,  ver- 
leiben dem  Physiokratismua  von  Anfang  an  den  schon 
früher  besprochenen  Charakter  einer  von  Wideraprfichen 
nicht  freien  Lehre.  Sehen  wir  aber  näher  zu,  so  war  dieser 
M'iderspruch  in  der  Politik  des  „ancien  rögime"  in  den  letKten 
Jahrzehnten  seiner  Existenz  begründet ,  Wo  es  mit  einer 
Hand  an  seiner  alten  Macht  festhalten,  mit  der  anderen, 
dem  „esprit  r^volutionnaire"  nachgebend,  seinem  alfcn 
Wesen  widersprechende  Reformen  einführen  wollte.  So 
sind  jene  Schwankungen  in  der  Politik  entstanden,  die 
schließlich,  wie  schon  Tocqueville  bemerkt  hat',  zur  Kata- 
strophe flihrten.  Hätte  Turgot  durch  sein  energisches  Vor- 
gehfen  auch  noch  so  viel  erreichen  können,  wenn  er  Minister 
geblieben  wäre,  dieser  innere  Widerspruch  charakterisiert 
auch    ihn    als    Politiker,    weil    er    überhaupt    da*    gan/e 


I 

( 


1  i^^ma,  Iiitre  III,  eh.  V  und  VI. 


rvi  3 


141 


politisch  taumelnde  Zeitalter  kennzeichnet.  Ein  Abbild  solcher 
politischen  Zustände  bietet  uns  die  Politik  der  Phyaiokraten, 
—  ihr  Versuch  das  Alle  mit  dem  Neuen  auf  irgend  einer 
theoretischen  Grundlage  zu  vereinigen.  So  ist  der  Phyaio- 
kratisinus  in  politischer  Hinsicht,  um  es  nochmals  zu  wieder- 
holen, nur  ein  Abbild  der  kritischen  Überzeug ungsperiode 
gewesen.  Seine  historische  Bedeutung  beruht  also  auch 
hier,  gerade  so  wie  in  seiner  Gesellschaftslehre  und  seinen 
theoretischen  Ausführungen  über  die  Politik  darauf,  daB 
«r  seine  Gegenwart  illustriert;  dariiher  hinaus  ist  sie  kaum 
anzuschlagen.  — 

Man  bat  versucht,  dem  Physiokratismus  ftir  die  Egt- 
Btehung  der  Erklärung  der  Menschenrechte  eine  besondere 
iBedeutung  zuzuschreiben.  Ein  t'ranzö Bischer  Autor  Mar- 
^ggi  (vgl.  Einleitung,  Anm.  8)  ist  fdr  diesen  Gedanken 
jn  einer  besonderen  Schrift  eingetreten.  —  Es  mag  nun 
sitvörderst  auf  den  in  der  Polemik  über  den  Ursprung  der 
^anzösischen  ,Döclaration"  hervorgehobenen  entscheidenden 
Uoment  hingewiesen  werden,  daß  in  der  umstrittenen  Frage 
die  verfftssungsgeschichtliche  Seite  von  der  ideen geschicht- 
lichen zu  trennen  ist:  die  Präge  nach  dem  Ursprung  der 
Erklärung  der  Menschenrechte  als  einer  Tatsache  aus  der 
Verfaasungsgeschichte  Frankreichs,  und  die  Frage  nach 
dem  Ursprung  der  in  der  Erklärung  enthaltenen  Ideen  — 
sind  zwei  verschiedene  Dinge*.  Mit  dieser  Scheidung  ist 
die  Streitfrage  prinzipiell  entschieden,  indem  sie  sich  in 
die  Frage  von  dem  Einfluß  der  Ideen  und  Theorien  auf  die 
Ereignisse  der  Geschichte  umwandelt. 

Vertritt  man  nun  den  Standpunkt,  daß  Ideen  —  nicht 
als  psychologischer  Faktor,  sondern  als  Theorien,  als  Systeme 
von  Erkenntniswerten  —  keine  Geschichte  im  wirklichen 
Sinne  des  Wortes  machen,  so  ist  es  ebenso  verfehlt,  den 
Ursprung    („les    origincs")    der   verfassungsgeachichtHchen 


°  Tgl.  .Tellinck,  Erkläraiig  der  Mtoscheui echte,  Vorrede  nur  zneiten 


142 


VI  3 


Tatsache  der  Erklärung  der  Menschenrechte  in  irgend  einer 
„Schule"  zu  suchen,  wie  es  unangemeasen  wäre,  den  Ur- 
sprung der  französischen  Revolution,  etwa  in  den  Schriften 
Rousseau's  aufdecken  zu  wollen.  Damit  ist  aber  nattirlicb 
der  Zusammenhang  zwischen  der  Ideengeschichte  einerseits 
und  der  sozialen  und  politischen  Geschichte  andererseits, 
sowie  die  Einwirkung  jener  auf  diese  durchaus  nicht  ge- 
leugnet. Auch  in  der  uns  hier  interessierenden  Frage  gebührt 
eine  nicht  hoch  genug  zu  bewertende  Bedeutung  der  seil 
dem  Beginn  der  neueren  Geschichte  aufgebauten  indivi- 
dualistischen Ideenwelt,  auf  deren  Ursprung  wir  hier  nicht 
näher  einzugehen  haben,  und  die  unter  anderem  in  den 
Naturrechtslehren  systematisch  zur  Geltung  kam. 

Hier  darf  aber  diese  Ideenwelt  nur  als  Ganzes,  mit 
ihren  wenigen  allgemeinen  im  Resultate  gewonnenen  festen 
SStzen  in  Betracht  gezogen  werden.  Von  den  einzelnen 
Lehren  und  ihren  einzelnen  Vertretern  in  der  zweiten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts  verdienen  nur  diejenigen  hervorgehoben 
zu  werden,  die  aus  irgend  welchen  Gründen  von  der  Sffent- 
lichen  Meinung  als  Trftger  der  schon  längst  in  ihrer  Be- 
deutung für  die  Geschichte  vorbereiteten  und  reif  gewordenen 
Ideen  betrachtet  wurden.  So  sind  von  besonderer  historischer 
Bedeutung  die  zdndenden  Schriften  Rousseau'»  geworden*, 
die  während  der  Revolution  in  aller  Munde  waren.  Von 
den  Physiokraten  kann  das  aber  nicht  behauptet  werden, 
wenn  auch  ihre  Lehre  zum  Beetandteil  des  geistigen  Eigen- 
tums mancher  hervorragenden  Männer  während  der  Re- 
volution, vor  allem  des  Grafen  Mirabeau,  geworden  ist. 


i 


*  NGUerdinga  wird  die  Bedeutung  RoUiMeüu'a  für  die  Rerolation  he-  1 
iitritten  (Jellinek,  F&gnet).  Qegen  diese  Meinung  ließe  sich  kiHin  etma  I 
einwenden,  inaofem  sie  sich  nur  auf  die  Terfaniungsrechtlichen  Ermngen-  1 
Schäften  der  Berolntion  bezieht.  Anders  verbält  es  sich  aber  in  facaof  J 
nuf  die  allgemeine  Stimmung,  für  deren  HerBusbildong  die  t^chrinaD  J 
Kousseau'e  von  großer  Bedeutung  waren ,  und  vou  der  aDch  di^enigiea  I 
Hänner  dev  Kevolution  beseelt  und  in  ihrer  politischen  Tntigksit  bectitnml  I 
waren,  die  darxus  — -  aus  Gründen,  die  anch  auQerhnlb  der  Ideenf;«achicbM'l 
ticken  —  Konsequenzen  gezogen  haben,  die  mit  den  politischea  AnaicbM 
ihrei  Urhebers  nicht  übereiustimmeii.