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Full text of "Staroslovan; Vierteljahrsschrift zur Pflege der altslavischen Sprache, Geschichte und Kultur"

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UNIVERSITY  OF 


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Heff  1. 


I.  Jahrgang. 


STAROSLOVRN 

Vierteljahrsschrift  zur  Pflege  der  allslavischen 
Sprache,  Geschichte  und  Kultur. 


Beilage:  1.  Bogen  des  Werkes  „Slavische  Runendenkmäler". 


KREMSIER  1913. 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  H.  SLOVAK  IN  KREMS!ER. 

IN  KOMMISSION  BEI  FR.  ^IVNÄC,  PRAG. 

Einzttihttff:  3  K  (2*50  M). 


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Inhalt  des  1.  Heftes. 


0S45Si  — 

„Staroslovan" .  —  Zweck  und  Ziel  der  Gründung Seite  1 

Topische  Namen  der  altslavischen  Wurzel  „cer" „  8 

Slavische  Glossen  in  der  „Lex  Salica" „  16 

Slavische  Geschichtsquellen  I.  (Schluß  folgt.)    .......  ,,  19 

Die  Raffelsiettner  Zollordnung „  42 

Die  Azbuka  in  der  Edda „  46 

„Schwayxtix" .  —  Ein  Schulbeispiel  oberflächlicher  Forschun^s- 

pflege •   .  „  51 

„Jus  primae  noctis"  bei  den  Slaven „  58 

Wissenschaftliches  Allerlei:  Der  Grabstein  der  kroatischen 
Königin  Jelena  (f  976).  —  Jüterbog.  —  Pripegala,  — 
Zur  Körperreinlichkeit    der  Slaven.    —    Die  Entdeckung 

des  Zacherlins „  64 

Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten  (Frage  1—9)  ...  „69 

Bibliographie „  75 

An  unsere  Mitglieder  und  Freunde „  80 

Beilage:  1.  Bogen  des  Werkes  »Slavische  Runendenkmälei« 
und  Tafel  I.  (»Wendisches  Runenalphabet«). 


Mitteilungen  der  Redaktion.  —  Alle  Zuschriften  und  Sendun- 
gen literarischer  Natur  sind  an  die  Redaktion  j^Staroslovan«,  Krem- 
sier  (Mähren)  zu  richten. 

Für  den  Inhalt  eines  jeden  veröffentlichten  Artikels  bleibt -der  Ver- 
fasser selbst  verantwortlich. 

Von  eingesendeten  Manuskripten  empfiehlt  es  sich  für  den  Ver- 
lustfall Abschriften  zurückzubehalten. 

Honoraransprüche  sind  anläßlich  der  Einsendung  des  Manuskriptes 
zu  erheben. 

Heft  2  erscheint  am  15.  Juni. 

(Siehe  auch  Seite  3  des  Umschlages.) 


Revue 
»5TAR0SL0VAN« 

1913. 


STAROSLOVAN 

Vierteljahrsschrift  zur  Pflege  der  altslavischen 
Sprache,  Geschichte  und  Kultur. 


▼T 


I.  JAHRGANG 
1913. 


KREMSIER. 


DRUCK  UND  VERLAG  VON  H.  SLOVÄK  IN  KREMSIER. 


Inhalt  des  I.  Bandes. 


Sprachwissenschaftlicher  Teil: 

Topische  Namen  der  altslavischen  Wurzel  »cer« 
Slavische  Glossen  in  der  »Lex  Salica« 
Die  Azbuka  in  der  Edda 

»Jüterbog 

»Pripegala« 

Numismatische  Etymologie 

»Odrin«  oder  »Adrianopel«? 

»Die  Geschichte  von  Igors  Kriegszuge« 

Ein  kelto-slavischer  Grenzstein  in  England 

»Certüv  kämen«  

»Miroslav« 

»Sokol«  

Zur  Ethnologie  der  Ortsnamen  in  Tirol 

Zur  Schreibweise  der  Ortsnamen 

Ein  Fall  slavischer  Kontrafälschung  eines  Ortsna 

Bedeutung  des  Begriffes   »sip«  in  alten  Urkunden 

Falsche  Auslegung  einer  altslavischen  Glosse 

Die  slavische  Sprache  vor  der  Römerzei^ 

Ortsgeschichtliche   Etymologie 

Die  Ortsnamen  in  Albanien     ... 

Sammelstelle  für  altslavisches  Sprachgut 

Slavische  Sprachbelege  in  »Beovulf« 

Thietmars  slavische  Kenntnisse 


mens 


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8 

262 

46 

66 

67 

81 

88 

112 

131 

134 

135 

138 

198 

201 

202 

203 

204 

225 

229 

237 

276 

280 

283 


Geschichtlicher  Teil: 

Slavische  Geschichtsquellen: 

I.  L,  A,  Gebhardis  Vorrede  zur  »Geschichte  aller 

Wendisch-Slavischen  Staaten«     ....         20,     90 

IL  Urkundliches  über  die  Südgrenzen  Altböhmtns  99 

IIL  Das  Roland-Lied         ....  .164 


VI 


IV,  Die  Evangelienhandschrift  zu  Cividalc      .       .       ,  168 
V,  Eine  kroatische  Chronik  aus  dem  XL  Jahr- 
hunderte          174,  243 

Die  Raffelstettner-ZoUordnung 42 

Der  Grabstein  der  kroatischen  Königin  Jelena     .               ,  64 

Die  Wahrheit  über  die  Völkerwanderung        ,       .       .       .  149 

Alexander  d,  Gr, /       ,       ,  257 

Apostel  Andreas  bei  den  Slaven 273 

Wo  lag  die  Stadt  Vineta? 287 


Kulturgeschichtlicher  Teil: 

»Schwayxtix« 51 

»Jux  primae  noctis«           57 

Zur  Körperreinlichkeit  der  Slaven 68 

Die  Entdeckung  des  Zacherlins      ,       , 69 

Slavische  Mildtätigkeit  in  barbarischen  Zeiten      ,       .       .  133 

Gesetzliche  Bestimmungen  über  Schatzfunde        .       .       ,  136 

Beiträge  zur  altslavischen  Kriegskunst 187 

Das  südslavische  Volkslied  bei  Beethoven  und  Ilaydn     .  194 

Slavische  Handschriften  in  Venedig            ....  205 

Woher  hatten  die  alten  Völker  den  Bernstein?     .               .  205 

Zur  Erfindung  der  Palimpsest- Photographie  .  ,  ,  207 
Ein  vergessenes  dalmatinisches  Arzneimittel  gegen  das 

Hunds  wutgift 211 

Die  Marderfell-Abgaben           ..,,.,..  212 

Vandalische  Vernichtung  von  Pergamenthandschriften  213 

Die  Grenzzeichen  in  den  böhmischen  Ländern  ,  265 
Einiges  über  den  Bergbau  und  die  Metallbearbeitung  der 

alten  Slaven ,               .       .       .  270 

Runensteine  von  Oberhessen ,  284 

Ein  Heilmittel  der  Russen  gegen  das  Hnndsv/utgifi          .  290 

Die  kroatische   Nationaltracht       ,,..,,,  290 


Biographischer  Teil: 

Franko  Vil'azoslav   Sasinek,  Ein   Gedenkblatt   zum 

50jährigen   Schriftstellerjubiläum   des   Nestors   der 


Slavo-Autochthonisten 


145 


Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten 

Frage     1 . 


Mitarbeiterfrage 69 

Echtheit   der   altböhmischen   Handschriften  71 


VII 


Frage 


3. 

Einführung    der    altslavischen    Sprache    als 

diplomatische  Sprache  der  Slaven 

72 

4. 

—  »Trap«          

73 

5. 

—  »Lapak«        

73, 

139 

6. 

—    >Chlipa« 

73 

7. 

—  »Otava«        

74 

8. 

—  »Otrokc 

74 

9. 

-  »Dovina  ^ 

75 

10. 

-  Slovakische  Runeninschriften 

139 

11. 

—  Dramatische   Pflege   des  Altslaventums 

141 

12. 

—  »Venedici«  in  »Igors  Liede« 

216 

13 

—  »Teutsch«  und  »Altslavisch« 

216 

14. 

—  Einheitliches  slavisches  Alphabet 

218 

15. 

—  »Arda  —  Varda« 

219 

16. 

—  »Misisla«             

220 

17. 

—  ->Strava« 

292 

18. 

293 

19. 

»Cyrill« -Kreuze ...... 

295 

20. 

für  slav.  Philolojjie« 

296 

Bibliographischer  Teil: 

Bibliographie 


75,     142,     220,     299 


Redaktioneller  Teil: 


»Staroslovan< .  —  Zweck  und  Ziel  der  Gründung 

Mitteilungen  der  Redaktion  

Ergänzungen  und  Berichtungen     .       .       .       ,       , 
Epilog  und  Prolog 


1 
144 
224 
301 


Verzeichnis  der  Texlillustrationen. 


>Certüv  kämen«  bei  Pfilep  in  Mähren 12 

»Certüv«,  auch  »Buchlov  kämen«  bei  Althütten  in  Mähren  13 

>:Schwayxtix« 55 

Russische   »Kouna« -Münze 62 

»Kunic«-Münze 62 

>  Rurik«-Münze 63 

Mazedonische  Münze 85 


Vlll 


Kelto-slavischer  Grenzstein  in  England      ....  .  132 

>Certüv  kämen«,  Grenzstein  zwischen  Holleschaii  und   üng, 

Brod  in  Mähren 134 

^Lapczyce«,   Kartenskizze  ,        ,        .       .       ,        ,      ..        .  139 

Schriftprobe  aus  Ulfilas  Bibelübersetzung 210 

»Hradisko«  Dobrotice  in  Mähren 223 

Altslavische  Münzen  ,       ,       .       .       , 224 

Salona 244 

Runensteine  aus  Mecklenburg  und  Oberhessen      ,      • ,       ,       .  284 


Sonderbeilagen. 


Altslavische  Münzen,  (Farbige  Tafel) 81 

Franko  Vitazoslav  Sasinek,        (Portrait.) 145 

Die  Handschrift  von  Grünberg.  —  (Faksimile  der  8  Seile.)  210 

Die  Handschrift  »Lex  Salica«  (Faksiinile  der  1.  Seite.)       ,       ,  26.'. 


Berichtigungen. 


S.  9,  26.  Zeile  lies  »deckende«  statt  »denkende«, 

S.  54,  13.  Zeile  lies  »vorzuwerfen«  statt  »abzusprechen«, 

S.  116.  24,  Zeile  lies  »B  j  e  1  a  g  r  a  d  a«  statt  »bjela  grada« 

S,   127,  24,  Zeile  lies  »a  u  s  B  j  e  1  a  g  r  a  d«  statt  »aus  der  weißen  Burg.« 

S.  297,  2C.  Zeile  lies  »s  e  1  i;  e  n«  stall  »selben«. 


STAROSLOVAN 


Heft  1. 

Kremsier,  am  15.  März  1913. 

1.  Jahrgang. 

»Staroslovan.« 

Zweck  und  Ziel  der  Gründung. 

In  einer  unruhigen,  waffendröhnenden  Zeil,  hervorgerufen  durch 
die  strebsamen  Slavenslämme  auf  dem  Balkan,  die  um  ihre  kulturelle 
und  wirtschaftliche  Zukunftssicherung  zur  Selbsthilfe  geschritten  sind, 
reifte  die  Idee  zur  Gründung  der  Zeitschrift  und  Bibliothek  „Staro- 
slovan"  (      „Altslave"). 

Auch  wir  treten  hier  in  einen  Kampf  der  Selbsthilfe,  jedoch 
nicht  mit  Blut  und  Eisen,  sondern  mit  den  Waffen  des  Geistes,  um 
den  Widerstreit  der  Meinungen  zu  nivellieren  und  der  Erkenntnis 
jener  aus  dem  inneren,  naturgesetzlichen  Werden  hervorgegangenen 
weltgeschichtlichen  Tatsachen  eine  Auferstehung  zu  erkämpfen,  die 
sich  aus  eigener  Kraft  nicht  zur  universellen  Geltung  emporzunngen 
vermag. 

Das  Kampfobjekt  ist  hier  die  Frage:  sind  die  Slaven  Stamm- 
bewohner in  Europa  oder  nur  Einwanderer,  d.  h.  wie  soll  man  sich 
die  schwere  Menge  slavisch-sprachlicher  Belege  in  Europa  aus  dem 
Altertume  erklären,  wenn  die  Slaven  erst  im  5.  Jahrhunderte  n.  Chr. 
dahin  eingewandert  wären?  —  Und  mag  auch  die  Antwort  darauf 
im  Prinzipe  sowie  an  der  Hand  der  Geschichte  und  Logik  naheliegen, 
so  ist  sie  trotzdem  und  dadurch  schwierig  geworden,  dass  man 
geschickt  die  offene  Beantwortung  derselben  unmöglich  macht  und 
der  lauten  Wahrheil  das  Gehör  versagt. 

Die  Berufswissenschafl  dilettierl  leider  viel  zu  viel  mit  unge- 
prüften Traditionen;  das  selbständige,  systematische  Nachdenken 
bildet  selten  mehr  die  Grundlage  für  den  Aufbau  streng  wissenschaft- 
licher Führungsaufgaben,  daher  es  kommt,  dass  ein  voreingenom- 
menes, schulmechanisch  fortwirkendes  Urteil  oft  und  umso  tollkühner 
verteidigt  wird,  je  haltloser  sich  dasselbe  gestaltet,  nur  um  sich  das 
Umlernen  zu  ersparen. 


Die  Irrlichter  dieser  geistigen  Desorientierung  entwickeln  sicti 
aber  organisch!  aus  Bequemlichikeils-Konstruktionen,  um  sich  auch  das 
Selbstdenken,  Selbstforschen  und  Selbstschaffen  zu  erleichtern,  wie 
auch  das  Selbstverteidigen  der  eigenen  Thesen  zu  ersparen.  Man 
gründet  einfach  „Schulen"  und  beruft  sich  bequem  als  Anhänger  der- 
selben auf  diese  oder  jene  Autorität,  welche  der  „Schule"  vorsteht 
oder  ihr  die  Lichtquelle  leiht.  So  kommt  es  dann,  dass  heute  inner- 
halb derselben  Wissenschaft  durchaus  entgegengesetzte  Ansichten 
fortbestehen  können,  ohne  dass  man  sich  gegenseitig  um  einander 
kümmert,  ja  ohne  sich  selbst  um  die  eigene  tiefere  Begründung  zu 
bemühen.  Die  Stärke  der  Partei  ersetzt  zugleich  die  Stärke  der  Gründe, 
und  man  rechnet  dort  gar  nicht  weiter  mit  einer  wissenschaftlichen 
Beweisführung  oder  Aufklärungsnotwendigkeit,  wo  nur  auf  das  Urteil 
derer  Wert  gelegt  wird,  welche,  durch  die  Übereinstimmung  in  den 
Hauptpunkten  unter  sich  verbunden,  mit  der  instinktiven  Kraft  des 
Gemeingeistes  einander  nach  aussen  vertreten.  Hiemit  ist  aber  bereits 
die  strenge  Objektivität  des  Wissens  und  die  Freiheit  der  Forschung 
automatisch  kartelliert  und  irrt  der  Führer,  so  irrt  die  „Schule" ;  der 
gläubige  Schüler  wird  dabei  zum  Statisten  des  Lehrers  und  zur  stillen, 
dekorativen  Zähleinheit,  die  damit  schon  organisationsgemäss  zur 
dauernden  Sterilität  verurteilt  und  in  der  freien  Selbsttätigkeit  lahm- 
gelegt erscheint. 

Und  doch  gibt  es  keine  Kunst,  die  schwieriger  ist  und  strenger 
den  Einsatz  der  Individualität  erfordert,  als  jene  der  freien  Forschung 
und  der  unbeeinflussten  Erkenntnis  durch  Selbstübung,  denn  die  Gabe 
des  unabhängigen  Beobachtens  ist  eine  äusserst  seltene.  Mancher 
übersieht  die  Hälfte  aus  Unachtsamkeit  oder  vorgefasstem  Schulurteile ; 
ein  anderer  gibt  mehr  als  er  sieht,  weil  er  es  mit  dem,  was  er  sehen 
will,  verwechselt;  ein  dritter  sieht  die  Teile  des  Ganzen,  aber  er 
wirft  Dinge  zusammen,  die  getrennt  werden  müssen  usw. 

Bei  der  vorangestellten  Hauptfrage,  die  nur  dahin  beantwortet 
■werden  kann,  dai.>  die  Slaven  Stammbewohner  in  Europa  sind,  handelt 
es  sich  aber  durchaus  um  keinen  krankhaften  Ehrgeiz  oder  eine 
papierene  Priorität,  sondern  darum,  hiefür  positive,  überzeugende 
Beweise  zu  erbringen,  und  diese  ernste  Aufgabe  hat  sich  unsere 
Gründung  gestellt,  wenn  es  auch  bekannt  ist,  dass  sie  mit  dieser 
apodiktischen  Behauptung  durchaus  nichts  völlig  Neues  bringt.  Dass 
die  Slaven  als  europäische  Urbewohner  anzusehen  sind,  sprachen 
nämlich  schon  viele  namhafte  Forscher  und  Gelehrte  aus,  und  ausser 
den  Slaven  M.  v.  Kaiina,  Johann  Kollär,  Alois  Sembera,  Dr.  H.  Wan- 
ket, P.  Karl  Sicha,  H.  Schulz,   Alfons  Müllner,  Bfetislav  Jelinek,   Dr. 


3.  Woldfich  u.  a.  auch  viele  Deutsche  von  bestem  Klange  in  der 
Wissenschaft,  wie:  August  Schlözer  (1771),  Dav.  Popp  (1820),  August 
Wersebe  (1826),  Heinrich  Schulz  (1826),  3.  H.  Müller  (18W),  G.  A. 
Slenzel  (1853),  Viktor  Jacobi  (1856),  J.  Landau  (18o2)  u.  a. 

Es  ist  doch  für  niemand  ein  Geheimnis,  dass  die  Slaven  trotz 
Dahrhunderte,  wahrscheinlich  aber  Gahrtausende  währender  Drang- 
sale, Kriegsgräuel,  gegenseitiger  Verfolgungen,  Assimilierungen,  fal- 
scher Statistik  und  ausgiebigen  Renegatentums  heute  doch  noch  immer 
das  weitaus  zahlreichste  Volk  in  Europa  sind ;  sie  müssen  daher 
schon  einst  und  bisher  konstant  derart  zahlreich  gewesen  sein,  dass 
aus  dem  mächtigen  Populationsreservoire  alle  Nachbarvölker  ständig 
schöpfen  konnten,  ohne  dass  deshalb  die  Slaven  nummerisch  jemals 
zur  Minorität  geworden  wären,  denn  sie  hätten  sich  aus  einer  inferio- 
ren Situation  unter  diesen  dekadenten  Prämissen  überhaupt  nie  zu 
einer  Majorität  emporgearbeitet. 

Die  Wissenschaft  hat  aber  einmal  ihre  sonderbaren  Maximen : 
weiss  sie  einen  Knoten  nicht  zu  lösen,  so  durchhaut  sie  ihn ;  weiss 
sie  sich  gelegentlich  eine  sprachliche,  kulturelle  oder  ethnographische 
Veränderung  nicht  auszulegen,  so  konstruiert  sie  eine  Völkerwan- 
derungsmythe ;  man  führt  kurzweg  einen  Völkerwechsel  ein  und  fragt 
weiter  nicht  nach,  ob  dieses  Zauberstück  überhaupt  praktisch  durch- 
führbar sei,  und  wie  man  es  anstellt,  um  einen  Domizilwechsel  von 
Millionen  von  Menschen  in  der  Wirklichkeil  zu  lösen ;  ja,  man  legt 
sich  nicht  einmal  die  naheliegendste  Frage  vor,  wieso  es  denkbar 
ist,  dass  z.  B.  dieselben  topischen  Namen  des  Altertums,  trotz  der 
Unterbrechung  der  Tradition,  intakt  geblieben  sind  und  woher  man 
sie  trotzdem  wusste. 

Es  handelt  sich  daher  hier  durchaus  nicht  um  einzelne  inferiore 
Irrtümer,  die  jederzeit  möglich  und  zugleich  verzeihlich  sind,  sondern 
um  zusammenhängende,  methodisch  falsche  wissenschaftliche  Bestre- 
bungen, die  mit  vornehm  tuender  Nebensächlichkeit  Quellen  ignorie- 
ren, Denkmäler  willkürlich  deuten,  Unerwiesenes  und  Unerweisliches 
täuschend  als  Tatsache  hinstellen,  Unmögliches  durch  ein  Zauberwort 
möglich  machen  und  so  alle  jene  irreleiten,  welche  die  Untersuchung 
nicht  selbst  führen  können,  jene  aber,  die  dies  unternehmen,  hin- 
gegen nicht  zu  Worte  kommen  lassen,  unbekümmert  darum,  dass 
sich  neue  geistige  Strömungen  wohl  drosseln,  aber  nicht  erdrosseln 
lassen. 

Die  Wurzeln  solcher  Vorkommnisse  liegen  zum  Teile  auch  in 
menschlichen  Schwächen,  denn  zum  Ausrufen  einer  unangenehmen 
Erkenntnis  genügt  nicht  die  persönliche  Überzeugung  allein,  sondern 


hiezu  gehört   auch  ein  eiserner  Wille  und  stählerner  Charakter,   der 
für  seine  offene  Überzeugung  nötigenfalls  auch  die  schwersten  Opfer 
bringt.   So  manche  klare  Wahrheit  muss  aber   beim  Mangel   solcher 
Voraussetzungen   lange  im  dunkeln  Winkel  stehen,  weil  man  öffent- 
liche Rücksichten  auf  Kompromittierte  und  auf  persönliche  Eitelkeiten 
nimmt,  es   daher   auch  vorzieht,   eine   moische  Festung   lieber  von 
selbst  zusammenfallen  zu  lassen,  als  sie  unter  Opfern  anzugreifen.  — 
So  ist   z.  B.  die  Völkerwanderungstheorie   heute   doch   gewiss   nicht 
mehr   haltbar,   aber  sie  wird   doch  weitergehalten,    damit   der   durch 
Jahrhunderte  bewirkte  Aufbau  vieler  innig  zusammenhängender  Wis- 
senszweige auf  einer  falschen  Basis  nicht  über  Nacht  zur  Makulatur 
werde ;   es  müssen  daher  allerlei  Verlegenheitsmittel   und  Mittelchen 
herbeigeholt  werden,   um   die   gähnenden    Risse  zu   vergipsen.   Wie 
kann  man  z.  B.  einen  Stein   mit  Runeninschrift,   der  seit  der  Vesuv- 
Katastrophe  im  Jahre  79  n.  Chr.  in  Pompeji  verschüttet  lag  und  jetzt 
ausgegraben  wurde,  trotz  des  slavischen  Textes  als  slavisch  erklären, 
wenn  die  Slaven  erst  400  Jahre  später  in  Mitteleuropa  einwanderten 
und  in  Italien  überhaupt  nie  wohnten?  —  Es  bliebe  da  nichts  übrig, 
als  die  Völkerwanderung   für  einen   geschichtlichen  Missgriff  zu  er- 
klären und   zu  löschen !    Nein,   da  sagt  man,   es  war  dies  irgendein 
sprachlich  ähnliches,  aber  näher  nicht  bekanntes  Volk  von  rätselhafter 
Herkunft  und  unbekanntem  Ende.   —   Ibrahim  ibn  Jakub,   ein  spani- 
scher Reisender  um  das  Jahr  %0  n.  Chr.,   erzählt,   dass  beide  Ufer 
Italiens  bis   zum  Syrischen  Meere  Slaven  bewohnen.   Die  Gelehrten- 
welt  schüttelt   diesen  Beleg   ab   mit  der  Weisung,   dieser  Mann  war 
ein  Phantast.  —  In  einer  Provinz  Südilaiiens  gibt  es  noch  heute  einige 
Dörfer,  die  eine  Art  Kroatisch  sprechen ;  die  Wissenschaft  sagt  dazu, 
es  seien  vor  400  Jahren  Dalmatiner  dahin  ausgewandert ;  sie  schlössen 
sich  ganz  ab  und  erhielten  sich  auf  diese  Art  ihre  Sprache.         Und 
wenn  dies   alles  noch  nicht  halten  will,   so  macht  man   kurzen  Pro- 
zess  und  erklärt  jenen  Stein  für  gefälscht  und  unterschoben,  und  mit 
diesem  Momente  steht  das  Streitobjekt  auf  dem  Index. 

Die  Entwicklungsgeschichte  menschlicher  Erkenntnisse  zeigt 
daher,  dass  immer  zuerst  der  Starrsinn  gelehrter  Zöpfe  sowie  die 
Denkfaulheit  der  Massen  niedergerungen  werden  müssen,  ehe 
die  Wahrheit  einen  Sieg  verzeichnen  kann,  daher  auch  die  ersten 
Apostel  immer  Märtyrer  und  Promethyden  waren.  Es  muss  da  erst 
in  die  träge  Masse  eine  Gährung,  eine  Art  geistiger  Revolution,  ge- 
tragen werden;  der  hitzige  Paroxismus,  welcher  der  langen  Unem- 
pfindlichkeit  und  Gedankenruhe  folgt,  muss  nun  bis  zur  heilsamen 
Krisis  austoben  ;   und  erst  jetzt  findet   die  geistige  Macht,   die  prak- 


Üsch-lheorelische  Überlegenheit  ein  williges  Ohr  für  die  Anhörung 
der  falschen  Schulsätze  und  die  anschliessende  Berichtigung  ver- 
jährter Irrtümer;  so  lange  dieser  Weg  nicht  betreten  wird,  sind  die 
Stärksten  des  Geistes  nicht  imstande,  den  loten  Trägheitspunkt  zu 
überwinden  oder  die  Versinterung  von  der  Wahrheit  zu  entfernen. 

Allerdings  lässt  es  sich  auch  nicht  ableugnen,  dass  wir  bereits 
in  ein  Zeitalter  von  krassestem  Induslrialismus  hineingedrängt  sind. 
Wir  sehen  es  doch  mit  an,  wie  das  Geislesleben  langsam  aber  stetig 
verfällt;  die  reine  Forschung  und  Beobachtung,  der  wissenschaftliche 
Positivismus,  ja,  die  Wissenschaft  selbst  wird  erstickt  infolge  des 
unbezähmbaren  Dranges  nach  praktischen  Applikationen;  sie  sinkt 
immer  mehr  zur  gewöhnlichen  Marktware  herab  und  ändert  die 
Preise  je  nach  Nachfrage  und  Angebot.  Die  Vorbilder  der  Erziehung 
verschwinden  immer  mehr  unter  der  politischen  Verrohung  und  der 
fortschreitenden  Dekadenz  aller  Ideale,  daher  alles  sich  im  Sumpfe 
des  ethischen  Nichts  zu  verlieren  droht. 

Sonderbarerweise  ist  es  aber  gerade  die  Berufswissenschaft,  die 
sich  dabei  umso  scheuer  zurückzieht,  je  höher  die  Wogen  der  Zeit 
gehen,  je  ungestümer  sich  die  Anforderungen  des  modernen  öffent- 
lichen Lebens  vordrängen  und  je  lauter  und  unabweislicher  die  Tages- 
fragen die  allgemeine  Aufmerksamkeit  absorbieren.  Statt  den  Weg 
zum  Volke  zu  suchen,  mit  demselben  im  innigen,  belehrenden  Kon- 
iakte zu  stehen,  wird  jedoch  unter  der  Annahme,  man  werde  unver- 
standen bleiben,  derselbe  gleich  gar  nicht  betreten.  Was  Wunder, 
wenn  grosse,  Bildungszwecken  zugedachte,  oft  von  edeldenkenden 
Männern  hochdotierte  Institute,  die  für  die  allgemeine  Aufklärung 
Grosses  leisten  könnten  und  sollten,  völlig  unbekannt  und  steril  da- 
stehen, weil  sie  sich  damit  begnügen,  innerhalb  der  Grenzen  einer 
selbsteingeengten  Umhegung  ihre  Geistesprodukte  ohne  jedes  Zins- 
erträgnis zu  thesaurieren. 

Die  Gründung  des  „Staroslovan"  verfolgt  aber  gerade  das  Gegen- 
feil von  dem,  was  man  unter  wissenschaftlicher  oder  gar  nationaler 
Exklusivität  zu  verstehen  pflegt :  sie  will  geradezu  jene  Geistesbrücken 
schlagen,  die  unbedingt  da  sein  müssen,  wenn  man  je  die  primitiv- 
sten Ursprungsfragen  ernstlich  beantworten  will.  Ihre  Publikationen 
sollen  umgekehrt  möglichst  jedermann  zugänglich  und  in  der  Haupt- 
sache verständlich  sein ;  sie  sollen  den  weitesten  Kreisen  Belehrung 
und  Aufklärung  bringen  und  zugleich  Anregung  zur  allgemeinen  Mit- 
tätigkeit und  zum  universellen  Gedankenaustausche  bieten.  Wir  unter- 
schätzen daher  selbst  eine  scheinbar  nichtige  Bemerkung  oder  Be- 
richtigung in  keiner  Weise,  wohl  wissend,  dass  ein  ganz  unauffälliger 


Wink  oder  Hinweis  mitunter  eine  wirksame  Handliabe  für  erfolgreictie 
Forscliungsresultate  bedeuten  kann,  denn  erst  viele  Menschen  wissen 
viel.  — 

Wir  wollen  daher  sowohl  mit  den  Gelehrtengesellschaften  einer- 
seits, wie  mit  den  breitesten  Bildungsschichten  des  Volkes  anderer- 
seits in  steter,  inniger  Fühlung  bleiben,  und,  unentwegt  und  unbe- 
kümmert um  Sympathie  oder  Hass,  nur  zum  Besten  der  guten  Sache 
arbeiten.  Wenn  wir  hiemit  zugleich  so  manche  Barriere  niederwerfen, 
die  zwischen  der  Berufswissenschaft  und  dem  Volkswissen  künstlich 
und  unbedacht  aufgerichtet  wurde,  so  vergessen  wir  durchaus  nicht 
als  Ersatz  hiefür  neue,  solide  Brücken  zu  bauen,  denn  nicht  zerstören, 
sondern  aufbauen  ist  unsere  ehrlich  gemeinte  Devise/  —  Unser  Plan  ist 
daher  auch  kein  Gährungsprodukt  eines  krankhaften  Ehrgeizes  und 
ebensowenig  eine  verhüllte  Popularitätshascherei ;  wir  haben  in  keiner 
Richtung  die  Hände  gebunden,  brauchen  daher  gegen  niemand  unver- 
diente Rücksichten  zu  üben  und  stehen  auch  unter  keinem  „Schul"- 
Kuratel,  können  daher  am  richtigen  Platze  auch  mit  dem  richtigen, 
freien  Worte  auftreten. 

Ergeben  sich  jedoch  gelegentlich  Meinungsverschiedenheiten,  so 
werden  diese  angehört,  überprüft  und  das  Fehlerhafte  nötigenfalls 
berichtigt.  Wir  können  auch  offenen  Widerspruch  in  einer  so  rein 
wissenschaftlichen  Angelegenheit  ohne  leidenschaftliche  Regung  oder 
persönliche  Empfindlichkeiten  ruhig  ertragen,  denn  nicht  jener,  in 
dessen  Diamantenschmucke  man  etliche  falsche  Steine  entdeckt,  wird 
dabei  nervös  und  unsicher,  sondern  nur  derjenige,  dessen  ganze 
Barschaft  aus  Similisteinen  besteht. 

Jede  sachliche  Anregung,  jeder  wissenschaftliche  Beitrag,  die 
etwas  Überzeugendes  bringen,  sind  uns  willkommen,  unbekümmert 
darum,  ob  sie  eine  vorausgehende  Meinung  bestärken  oder  ent- 
werten, denn  das  Bessere  ist  ewig  der  Feind  des  Guten ! 

In  dieser  Weise  wollen  wir  durch  vorsichtiges  Vorwärtstasten 
Erfahrung  um  Erfahrung,  Beweis  um  Beweis  sammeln,  sie  in  unse- 
rem Organe  veröffentlichen  und  später,  nach  erfolgter  Abklärung, 
dieses  in  synthetischer  Weise  aufgelaufene  Material  noch  nötigenfalls 
zu  einem  Sammelwerke  vereinigen,  sowie  zugleich  auch  fertige  Werke 
ausgeben,  sofern  deren  Materie  eine  reife  Übersicht  oder  sichtbare 
Reife  bietet. 

Die  völlige  Unkenntnis  der  altslavischen  Vergangenheit  deutscher- 
seits, die  mindestens  ein  dahrtausend  intensiver  sprachlicher  wie 
kultureller  Relationen  mit  den  Slaven  heute  kurzweg  ignoriert  und 
fast  ausnahmslos  nur  den  willkommeneren,  d.  i.  negativen  Schilderer 


oder  Kritiker  anhört,  fühirte  zugleich)  zu  dem  Entschilusse,  diese  Pu- 
blikation in  dciiischcr  Sprache  zu  veröffentlichen,  denn  erst  dadurch 
ist  es  unseren  Nachbarn  möglich,  die  lautere  Wahrheit  über  die  sla- 
vische  Vergangenheit  zu  erfahren.  Nebstbei  war  dabei  auch  die 
Rücksicht  auf  die  einzelnen  slavischen  Sprachgruppen  entscheidend, 
denn  hiemil  ist  in  Ermangelung  einer  gemeinsamen  diplomatischen 
Sprache  niemand  bevorzugt  und  "niemandem  vorgegriffen ;  hingegen 
bleibt  es  jeder  Nation  frei,  für  ihre  Sprachsphäre  eine  analoge  wissen- 
schaftliche Zentrale  zu  gründen  und  alles  jene  in  ihre  Sprache  zu  über- 
nehmen, was  ihr  von  dem  Gebotenen  gut  und  nutzbringend  dünkt. 

Möge  diese  neue  Gründung  bei  allen  unseren  Zeitgenossen  und 
Brüdern  jene  Begeisterung  und  Arbeitsfreude  zur  Erforschung  und 
Erkenntnis  der  grossen,  bereits  vielfach  entstellten  oder  gar  schon 
unkenntlich  gewordenen  slavischen  Vergangenheit  auslösen,  die  ihr 
von  einer  kleinen  Gemeinde  von  Mentoren  in  ihrem  schöpferischen 
Wahrheitsdrange  hiemit  auf  den  Weg  gegeben  wird ;  möge  diese 
durch  den  Zeitgeist  selbst  aktuell  gewordene  grosszügige  Organisa- 
tion und  zugleich  Revision  alles  menschengeschichtlichen  Wissens 
über  die  Slaven  endlich  der  Wahrheit  zum  Siege  verhelfen ! 

Die  Qründer  der  Zeitschrift  und  Bibliothek 
;,5TRR0SL0VRn''. 


"'i'^  ii'.ui'<'il! ' 


mm/M^m^mMy(^MMi^:MA 


M.  Zunkovic : 


Topische  Namen  der  altslavischen  Sprach- 
wurzel »cer«. 

Die  Original-Orlsnamen  oder  lopischen  Benennungen  überhaupt 
gehören,  mit  verhältnismässig  sehr  geringen  Ausnahmen,  schon  dem 
grauen  Alter  an,  und  sind  zugleich  noch  die  letzten  lebenden  und 
sprechenden  Zeugen  jener  Bewohner,  die  einst  das  praktische  Be- 
dürfnis hatten  sie  mit  ihren  verfügbaren  Sprachmitteln  bestimmten 
Lokalitäten  beizulegen.  Diese  Namen  bieten  daher  zugleich  die  Ur- 
geschichte eines  jeden  Ortes,  denn  sie  erzählen  die  ersten  Schick- 
sale desselben,  und  finden  wir,  sofern  wir  die  reelle  Etymologie  des 
Namens  beachten  und  in  der  Natur  nachprüfen,  in  den  meisten  Fällen 
noch  heute  die  Bestätigung  für  deren  Richtigkeit. 

Allerdings  darf  man  bei  derlei  Nachforschungen  nicht  gleich  zu  Be- 
ginn den  ausschweifendsten  Wünschen  und  Autosuggestionen  unterlie- 
gen, denn  es  ist  kaum  irgendwo  in  der  Wissenschaft  unbewusst  so  leicht 
eine  falsche  Fährte  zu  betreten,  wie  hier,  weil  schon  der  äussere 
Eindruck  der  Sprache  selbst  gleich  zum  erstbesten  Irrlichte  führen 
kann. 

Die  Literatur  über  die  Entstehung  und  Bildung  von  topischen 
Namen  ist  zwar  bereits  eine  unabsehbare,  da  sich  an  jedermann  ge- 
legentlich die  Frage  drängt,  was  der  Name  dieses  oder  jenes  ihn 
interessierenden  Ortes  bedeuten  mag,  aber  diese  Literatur  ist  zugleich 
auch  fast  in  allen  Teilen  nahezu  wertlos,  weil  man  weniger  darnach 
forschte,  was  der  Name  eigentlich  besagt  oder  worauf  er  hinweist, 
sondern  lediglich,  was  er  heute  zu  bedeuten  scheint. 

Es  gibt  daher  kaum  ein  Forschungsgebiet,  welchem  konsequent 
und  durch  alle  Zeiten  so  irrige  Antizipationen  zugrunde  gelegt  worden 
wären,  wie  gerade  der  Toponomie.    In  keiner  anderen  Wissenschaft 


ist  aber  auch  die  nüchterne  Beobachtung,  Erfahrung  und  Vergleichung 
so  notwendig,  wie  hier,  denn  nur  diese  befruchtende  Wechselwirl^ung, 
tatsächlich  wirkliche  Dinge  sehen  und  erklären  zu  wollen,  und 
sich  weiter  von  den  durch  Jahrhunderte  erstarrten  Irrtümern  bewussl 
fernzuhalten,  führt  erst  zu  einer  natürlichen  Klärung  und  zur  Über- 
zeugung, dass  auch  hier  durchwegs  einfache,  ja  sogar  sehr  eng 
gezogene  Kausalitäts-Gesetze  mitgewirkt  haben. 

Der  Prozess,  dass  durch  öahrhunderte  unbestrittene  Dogmen  plötz- 
lich einer  erneuten  oder  schärferen  Kritik  nicht  mehr  standhalten 
können,  befindet  sich  in  der  Wissenschaft  in  steter  Aktion,  weil  die 
geistige  Entwicklung  aus  den  fortschreitenden  Erkenntnissen  immer 
neue  Stufen  baut,  daher  die  Duldung  kritisch  unhaltbarer  Anschau- 
ungen unter  allen  Umständen  eine  logische  wie  moralische  Schwäche 
bedeutet.  Leider  kommt  es  aber  sogar  alltäglich  vor,  dass  man  einen 
erkannten  Fehler  aus  persönlichen  wie  öffentlichen  Rücksichten  nicht 
bekennen  will  oder  bekannt  werden  lässt,  daher  sodann  der  unfrucht- 
bare Irrtum  ein  gleich  langes  Leben  hat  wie  die  fruchtbare  Wahrheil ! 

Oener  Wissenschaft,  die  kein  originelles  oder  systematisches 
Nachdenken  kennt  oder  pflegt,  muss  aber  die  grosse  Gegenkraft  des 
höchsten  Forschungsernstes  und  handgreiflicher  Überzeugung  ent- 
gegengesetzt werden,  denn  gerade  die  Ouerschranken  an  der  äusser- 
sten  Grenze  der  Wissenschaft,  wo  die  Spannung  zwischen  der  Tra- 
dition, Vermutung  und  Tatsache  am  straffsten  wird,  können  nur 
durch  frisch  erwachte,  elementare  Kräfte  des  Geistes  niedergerungen 
werden,  denn  die  Gelehrsamkeit  und  das  Wissen  sind  bekanntlich 
keine  unbedingt  sich  denkende  Begriffe. 

Wie  bekannt,  ist  aber  das  Einfachste  zu  erkennen  zumeist  das 
Schwierigste;  und  so  war  es  auch  hier,  denn  die  Genesis  der  Orts- 
namenbildung erkannte  und  beachtete  niemand,  obschon  wenigstens 
957o  der  Ortsnamen  nach  ein  und  demselben  Gesetze  gebildet  sind, 
welches  lautet:  der  Hauptteil  aller  topischen  Namen  be- 
zeichnet sprachlich  Grenzpunkte,  Grenzlinien  oder 
Sicherung  s  vorsorg  en    an   solchen. 

Die  Begründung  dieses  Fundamentalsatzes  ist  äusserst  einfach: 
mein  Nachbar  ist  ein  jeder,  der  unmittelbar  an  meinen 
Besitz  grenzt;  aber  diesem  gegenüber  bin  auch  ich 
Nachbar,  weil  ich  jenseits  seines  Besitzes  wohne.  Es 
gib!  daher  auf  der  ganzen  Erdoberfläche  nur  Gebiete 
mit  Grenzcharakter  und  nur  Bewohner  im  Grenzver- 
hältnisse. Nun  gilt  aber  schon  in  der  primitiven  Geschlechts- 
genossenschafl  alles,  was  durch  das  gemeinsame  Blutband,  also  die 


10 

gleiche  Abstammung  verbunden  ist,  als  Freund,  und  als  sozialer 
Grundsatz:  jeder,  der  nicht  zur  Genossenschaft  gehört,  ist  ein  Frem- 
der, und  jeder  Fremde  ist  ein  Feind;  und  gegen  diesen  schliesst 
man  sich  nach  aussen  ab,  je  nach  der  Zahl  und  Qualität  des  Gegners 
durch  Gräben,  Zäune,  Wälle,  Schanzen,  Mauern,  Burgen,  Forts, 
Festungen.  —  So  entwickelte  sich  die  Ethik,  die  bei  allen  wilden 
Stämmen  noch  heute  fortbesteht:  jeder  Fremde  wird  vernichtet;  jeder 
Mord  eines  Fremden  ist  eine  Ruhmestat,  daher  die  Moral  auf  diesem 
Prinzipe  völlig  ethnisch  bedingt  ist.  Nicht  wesentlich  anders  ist  es 
bei  den  Kulturvölkern :  schon  jeder,  der  eine  andere  Sprache  spricht, 
ist  ein  Fremder,  und  gewissermassen  Feind ;  diesen  im  Kriege  nieder- 
zuschlagen, gilt  noch  immor  als  eine  Ruhmestat ;  die  Moral  ist  daher 
hier  im  Prinzipe  dieselba,  nur  ist  sie  schon  sichtbarer  auf  die  sprach- 
lichen Gegensätze  aufgebaut.  Dieses  instinktive  Bestreben  einer 
äusseren  Abgeschlossenheit  hatte  nun  zur  Folge,  dass  man  die 
Grenze  genau  kennzeichnete,  sie  gegenseitig  respektierte,  und  um 
dies  zu  gewährleisten,  zugleich  beobachtete,  befestigte  und  gegebenen- 
falls verteidigte.  —  So  kommt  es  nun,  dass  alles,  was  mit  der  Grenze 
in  irgendeinem  organischen  Zusammenhange  steht,  auch  sprachlich 
derselben  Wurzel  angehört,  wie:  die  Grenzbezeichnung,  die  Siche- 
rungsvorsorgen daselbst,  der  Funktionsname  des  Grenzverteidigers, 
wie  oft  auch  die  Münze,  die  als  Grenzabgabe  gilt.  — 

Zur  praktischen  Erklärung  dieses  überraschend  einfachen  Prin- 
zipes  der  toponomischen  Begriffsbildung  sei  nachstehend  die,  nament- 
lich für  die  Slaven  interessante  ursprachliche  Wurzel  „cer"  näher 
besprochen. 

Aus  verschiedenen,  der  Bedeutung  nach  organisch  verwandten 
Begriffen  geht  hervor,  dass  „cer"  ursprünglich  eine  Abschliessung, 
Umgrenzung  oder  Absperrung  bezeichnete,  denn  im  Slovenischen 
bedeutet  „crta"  die  Grundlinie,  „crt"  die  Raingrenze  zwischen 
zwei  Äckern,  aber  zugleich  auch  Feindschaft;  „crtalo"  Pflugmesser, 
das  die  Grenze  für  die  Pflugschar  vorzeichnet;  böhm.  „cert"  Feind, 
Teufel;  slov.  „cerkev"  Kirche,  eigentlich  Ringmauer;  tat.  „certo" 
kämpfen,  „certamen"  Kampf;  griech.  „kirkos"  Ring,  Kreis;  tat. 
„circus,  circulus"  Kreis,  Ringmauer ;  böhm.  „cerklif"  Nachtwächter ; 
span.  „cerda"  Häuptling,  Grenzwachkommandant;  „certak,  cardak" 
bei  den  Südslaven  Grenzwachhaus;  „serdar"  (richtiger  „cerdar")  am 
Balkan  und  bei  allen  mittelasiatischen  Völkern  Häuptling,  Befehls- 
haber ;  „cerkes,  cerkas"  Grenzwächter,  Grenzsicherungskommandant; 
„Serezaner"  früher  kroatische  Grenzgendarmerie  ;  „Sergeant"  Feld- 
webel;  tat.  „sera"      Absperrung,  Türriegel;  arab.  „seriba"      Einfrie- 


11 

düng;  span.  „cerra",  portug.  „serra"  Pass,  Gebirgsrücken,  da  auf 
diesem  meist  die  Grenze  läuft  u.  a.  m.  In  Indien  heissen  „corti"  die 
verstorbenen  Heiligen,  die  einstigen  Schirmer;  bei  den  Römern  „dii 
certi"  Sctiutzg Otter.  Eine  Weilerbildung  bei  gleicher  Bedeutung  ist 
in  dem  Begriffe  „crn",  d.  i.  das  Schwarze,  Dunkle,  Unbekannte,  ent- 
halten ;  im  Polnischen  versteht  man  unter  „czern"  noch  immer  jene 
bewaffneten  Bauern,  also  Irregutären,  die  nötigenfalls  die  Kazaken 
zu  verstärken  hatten ;  im  Slovenischen  heisst  der  Landsturm  "crna 
vojska",  da  er  nur  die  heimischen  Grenzen  verteidigt;  im  Russischen 
bedeutet  „cornij"  noch  Grenze,  denn  „cornaja  dan"  ist  die  Grenz- 
sicherungssteuer,  die  Abgabe  für  die  Landesverteidigung  usw.  — 

Dass  aber  „cer,  cern  (crn),  cert  (crt)"  wirklich  mit  der  Grenze 
in  direkter  Relation  stehen,  ersieht  man  am  besten  aus  der  Lage  der 
Lokalitäten,  welche  einen  Namen  dieser  Wurzel  führen.  Man  ver- 
gleiche z.  B.  den  Namen  „Cerchov" ;  so  heisst  ein  Grenzberg  zwi- 
schen Böhmen  und  Bayern ;  „Gerne  hory"  bilden  gleichfalls  die  Grenze 
zwischen  Böhmen  und  Bayern,  heissen  aber  auch  „Semihradska" 
(  Grenzbefestigungen) ;  „Czervorogrod"  heisst  eine  allseits  vom  Dnjestr 
umflossene  Burg  und  war  einst  Sitz  der  ruthenischen  Knesen  ;  „Tschirn" 
und  „Tschirnhausen"  bilden  die  Grenze  zwischen  Böhmen  und  Sach- 
sen. Der  Fluss  „Cerna"  (colonia  Zernensium)  in  Rumänien  wird  schon 
von  Herodot  erwähnt  und  verstand  man  schon  damals  die  ursprach- 
liche Etymologie  nicht  mehr,  kannte  aber  gut  die  rezente  slavische 
Bedeutung,  da  die  Römer  den  Namen  in  „Aqua  nigra"  übersetzten. 
Der  „Crnbog"  der  nordischen  Wenden,  ist  daher  kein  Gott  des  bösen 
Prinzips,  sondern  bedeutet  eben :  Grenzbeschützer,  Schirmherr,  denn 
schliesslich  ist  auch  „Schirm"  aus  „cer"  bezw.  „cir",  welch  letztere 
Form  ebenso  oft  vorkommt,  hervorgegangen.  Die  mit  „crn,  crny" 
zusammengesetzten  Ortsnamen,  wie :  Crnec  (oft  als  Zsörnetz,  Tscher- 
netz u.  ä.  geschrieben),  Cernovice,  Cernä  hora,  Cerny  kämen,  Cerny 
val,  Cerno  morje  u.  ä.  liegen  alle  an  Grenzpunkten,  Grenzlinien,  oder 
lagen  doch  einst  an  solchen.  — 

Besonders  erwähnenswert  sind  aber  noch  die  ungemein  zahl- 
reichen Namen,  wie:  Certüv  kämen,  Certüv  mlyn,  Certüv  val,  Certova 
zed,  Certova  bräna,  Certova  brazda,  Certova  skäla,  Certovo  üdoli 
u.  ä.,  die  alle  in  den  verschiedensten  Sprachen  in :  Teufelsstein,  Teu- 
felsmühle, Teufelswall,  Teufelsmauer,  Teufelslor,  Teufelsfurche,  Teu- 
felfels, Teufelstal  übersetzt  wurden  und  bot  die  Volksphantasie  dazu 
noch  die  entsprechende  Aufklärung,  indem  sie  solche  Punkte  in  irgend- 
einer Weise  mit  dem  Teufel   in  Zusammenhang  brachte.    Tatsächlich 


12 


sind  aber  dies  nur  Grenzpunkle  oder  doch  Vorsorgen  für  die  Grenz- 
verleidigung  daselbsl. 

Nachstehend  folgen  zwei  bildliche  Darslellungen  von  solchen 
Teufelssteinen  (Certüv  kämen).  Der  erslere  bildet  die  Reviergrenzen 
der  Herrschaften  Pfilep  und  Holleschau  (Mähren),  und  da  man  knapp 


„Certuv  kamer."   bei    l'filep  in   Mähren  (4fj0  in   hoch). 


daneben  den  modernen  Grenzstein  eingesetzt  hat,  überzeugt  dies 
jedermann,  dass  hier  tatsächlich  die  Grenze  führt ;  man  weiss  auch, 
dass  sie  genau  über  den  Felskopf  geht,  aber  daran,  dass  dies  auch 
ein  Grenzstein  u.  zw.  ein  weit  imponierenderer  ist,  dachte  niemand. 
Nahe  daneben  befindet  sich  noch  ein  solcher  „Teufelsstein",  ebenfalls 
in  der  Grenzlinie. 


13 


Ein  zweiler  „Cerlüv",  auch  „Buchlov  kämen"  genannt,  bildet  die 
Grenze  der  Gemeinden  Althütten  und  Bfeslek ;  er  ist  an  12///  hoch 
und  besonders  massiv. 

An  dieser  Stelle  kann  auch  die  Frage,  wie  solche  Felskolosse 
hergeschafft  wurden,  ihre  Beantwortung  finden.  Die  Antwort  ist  sehr 
einfach :  die  Erde  wurde  so  weit  abgegraben,  bis  der  Felskern  ent- 
sprechend hervortrat.  So  sind  z.  B.  im  Bezirke  Holleschau  (Mähren) 
drei  „Hrady",  die  der  Verfasser  kennt  und  wiederholt  angesehen  hat, 


,,Certüv"  auch  ,, Buchlov  kamen"  bei   Althütten  in  Mähren. 


welche  dadurch  sturmsicherer  gemacht  wurden,  dass  man  sie  an  drei 
Seiten  steil  abgrub,  so  dass  .sie  die  Form  eines  steilspitzen  Kegels 
aufweisen ;  auf  der  Spitze  befinden  sich  auch  noch  überall  Mauer- 
reste. Man  sieht  bei  näherer  Suche  auch  die  Stellen,  wo  das  ab- 
gegrabene Material  liegt;  in  einem  Falle  („Hrad"  Kfidlo)  wurde  die- 
ses zugleich  zu  einem  Walle  verwendet. 

Wie  weit  sich  nun  die  Ortsnamen  mit  der  Wurzel  „cer"  zeitlich 
und  räumlich  ausdehnen,   ist  heute  noch  schwer  zu  sagen,   da  hiezu 


14 

noch  vielseitige  Nachforschungen  nötig  sind.*)  Überdies  müssen  ver- 
schiedene Schreibweisen  berücksichtigt  werden,  denn  wir  kennen 
topische  Namen,  wie:  Ceret,  Ceri  (etruskische  Stadt),  Cerignola,  Cer- 
taldo,  Certosa,  Cervera,  Cervi,  Mons  Cervin  (Grenzberg  zwischen 
Piemont  und  der  Schweiz),  Cervanj  planina  (römisch  „cerauni  montes", 
Herzegowina)  u.  ä.,  aber  auch  ebensoviele,  die  mit  dem  „S"  im 
Anlaute  geschrieben  sind,  wie:  Servia  (Serbien;  vermutlich  dadurch 
gebildet,  weil  das  zyrillische  C  als  S  ausgesprochen  wird),  Serena, 
Seres,  Seret,  Seriana,  Serica,  Servola  u.  a.  — 

Eine  empfindliche  Störung  in  die  reelle  Forschung  nach  der 
topischen  Etymologie  brachten  leider  die  fortgesetzten  Anpassungen 
der  vorhandenen  Originalnamen  an  die  Eigenart  einer  anderen  Sprache, 
namentlich  aber  die  gewissenlose,  oft  geradezu  läppische  Sucht 
solche  unbedingt  zu  ändern,  zu  verballhornen,  zu  verstümmeln  oder 
gar  zu  übersetzen,  ohne  vorerst  die  Bedeutung  selbst  zu  kennen. 
Dieses  führte  naturgemäss  dazu,  dass  der  historisch  begründete 
Originalname  nun  eine  Menge  Varianten  und  Parallelformen  erhielt, 
was  nicht  nur  das  Studium  und  die  allgemeine  Orientierung  erschwert, 
dann  in  den  Verkehr  bei  der  Post,  Bahn  und  sonstigen  Ämtern  eine 
Menge  Konfusionen  bringt,  ohne  dass  dabei  jemand  einen  Nutzen 
hätte,  und  überdies  oft  noch  den  wahren  Namen  solcherart  verschleiert 
oder  unkenntlich  macht,  dass  er  daraufhin  etymologisch  überhaupt 
nicht  mehr  erkannt  werden  kann.  —  Es  ist  doch  gewiss  ein  Stumpf- 
sinn, z.  B.  aus  „Balvan"  (  grosser  Grenzstein)  ein  „Fallbaum"  zu 
machen,  oder  aus  „Hranice"  ein  „Kranzberg",  aus  „Hranicar"  ein 
„Rantscher",  aus  „Stip"  oder  „Zdib"  ein  „Diebstein",  aus  „Strazno" 
(  Wachberg)  ein  „Strassenberg",  aus  „Vidov"  ein  „Viehdorf"  usw., 
denn  keine  moderne  Sprache  ist  heute  mehr  in  der  unbeholfenen 
Verfassung,  dass  sie  welchen  Ortsnamen  immer  mit  ihren  verfüg- 
baren Lauten  und  Zeichen  nicht  nahezu  gleichklingend  wiedergeben 
könnte. 

Sehr  am  Platze  wäre  es  daher,  wenn  die  offizielle  Wissenschaft 
energisch  gegen  solche  Barbareien  arbeiten  würde,  wenn  schon  klein- 
liche politische  Schwächen  auf  eine  solche  infantille  Errungenschaft 
nicht  von  selbst  verzichten  wollen,  denn  damit  schadet  sich  gerade 
die  Wissenschaft  selbst  am  empfindlichsten,  nachdem  der  Original- 
name doch  in  verschiedener  Hinsicht  einen  orientierenden  wie  auch 
praktischen  Wert  hat. 

*)  Im  verwichencn  Jahre  hat  der  Verfasser  in  der  böhnuschen  Jagdzeitung  „Haj"  eine 
öffentliche  Anfrage  gestellt,  nachzuforschen,  wo  überall  sich  »Certuv  kamen,  Certova  skäla-  u.  ä. 
vorfinden.  Es  liefen  nun  zahlreiche  interessante  Berichte  von  verschiedensten  Gegenden  ein, 
die  alle  die  gegebene  Etymologie  bestätigten.  Sollte  einmal  eine  ausführliche  Monographie  über 
dieses  Thema  geschrieben  werden,  so  könnten  darin  alle  diese  Daten  verwertet  werden. 


15 

Die  Kenntnis  der  Etymologie  eines  wiclitigen  Terrainpunktes 
kann  z.  B.  dem  Soldaten  im  Kriege  taktisch  sehr  gelegen  kommen, 
denn  wer  vor  sich  eine  Höhe,  namens  „Straza"  (  Wachpunktl  und 
eine  zweite  namens  „Brana"  (  Verteidigungspunkt)  hat,  kann  be- 
stimmt annehmen,  dass  erstere  eine  günstige  Beobachtungsstelle 
bietet,  die  sich  aber  vielleicht  für  die  Verteidigung  nicht  eignet ;  dafür 
ist  aber  offenkundig  die  zweite  Höhe  für  die  Defensive  gut,  hingegen 
voraussichtlich  für  die  Beobachtung  minder  günstig,  denn  sonst  hätte 
sie  in  seinem  kriegerischen  Natursinne  der  Urslave  nicht  so  genau 
unterschieden. 

Der  grössere  Effekt  der  Naturtaktik  im  Vergleiche  zur  papiere- 
nen rührt  daher  zum  Teile  davon,  dass  z.  B.  der  Bulgare,  Crnogorze, 
Albanese  schon  aus  der  Benennung  einer  Höhe  zugleich  deren  tak- 
tischen Wert  oder  Unwert  sprachinstinktiv  erkennt,  und  darnach  seine 
Massnahmen  einrichtet ;  derjenige  aber,  der  diesen  sprachgeistigen 
Vorteil  nicht  kennt,  muss  oft  erst  an  Ort  und  Stelle  konstatieren,  dass 
ein  zuvor  etwa  mit  schweren  Opfern  erkämpfter  Punkt  für  seine 
Zwecke  sogar  nachteilig  ist,  was  der  kundige  Gegner  umso  sicherer 
wieder  zu  seinem  Vorteile  ausnützt.  —  Haben  sonach  die  Naturvöl- 
ker ihren  für  die  Sicherung  und  Verteidigung  gewählten  Plätzen 
durchwegs  je  nach  der  Qualität  des  taktischen  Wertes  das  sprachliche 
Stigma  aufgedrückt,  weshalb  sollen  nun  die  Kulturvölker  schwerfäl- 
liger sein  und  nicht  dasjenige  auch  für  sich  verwerten,  was  den  Ein- 
heimischen zweckdienlich  ist,  sobald  man  einmal  mühsam  hinter 
deren  offene  Geheimnisse  gekommen  ist.  Das  Unkenntlichmachen  der 
Original-Ortsnamen  deutet  sonach  klar  dahin,  dass  der  Namen  s- 
änderer  eigentlich  sein  eigener  Feind  ist. 

Ähnliche  Vorteile  geniesst  gelegentlich  auch  der  Tourist.  Liest 
er  auf  der  Karte  den  Namen  „Lokva"  im  unbewohnten,  wasserarmen 
Gebiete  (Karst),  so  kann  er  sicher  sein,  dass  er  dort  bei  quälendem 
Durste  ein  an  den  Tag  tretendes  Grundwasser  finden  werde,  das 
hygienisch  zumeist  nicht  einwandfrei,  aber  in  der  Not  doch  willkom- 
men ist. 

Überdies  sind  solche  Kenntnisse  auch  bei  Grenzstreitigkeiten 
nicht  unbeachtet  zu  lassen,  denn  man  kann  als  sicher  annehmen, 
dass  alle  jene  Punkte,  die  einst  die  wirkliche  Grenze  bildeten,  auch 
gewiss  entsprechende  sprachtechnische  Namen  tragen. 

Besonders  willkommen  muss  aber  die  toponomische  Etymologie 
dem  Archäologen  sein,  —  Findet  er  z.  B.  auf  einem  Punkte,  der 
sprachlich  einen  Wach-,  Verteidigungs-  oder  Kampfplatz  kennzeichnet. 


16 

latsächlich  Waffen  oder  sonstige  einschlägige  Kullurresiduen,  so  kann 
er  überzeugt  sein,  dass  hiöchstwatirsclieinlichi  diese  nur  von  jenem 
tierrühiren  können,  der  jene  Stelle  zum  genannten  Zwecke  benützte, 
daher  auch  dementsprechend  benannte.  —  Bei  den  häufigen  Flur- 
namen, wie  z.  B.  „u  mrtvych,  u  groblju,  u  zabiteho"  (bei  den  Toten, 
bei  den  Gräbern,  beim  Erschlagenen),  „Trügelberg"  (slov.  „trugla"  = 
Sarg,  Mulde,  böhm.  „truchlivy"  der  Trauernde),  „Totenläger"  u.  dgl. 
kann  man  auch  beim  Mangel  aller  äusseren  Kennzeichen  mit  unfehl- 
barer Sicherheit  annehmen,  dass  dort  tatsächlich  einstens  jemand 
beerdigt  wurde,  und  bringen  Nachgrabungen,  —  wenn  es  sich  nicht 
etwa  schon  um  Raubgräber  handelt,  —  immer  zugleich  den  Beweis 
dafür. 

Der  topische  Name  ist  es  also,  der  dem  Archäologen  sagt,  wo 
er  seinen  Spaten  mit  Erfolg  einsetzen  könne;  er  sagt  ihm  aber  damit 
auch  zugleich,  von  welchem  Volke  der  tiefgelegenste,  also  älteste 
Kulturschichtenfund  herrührt,  denn  dieser  kann  nur  jenem  Volke  ent- 
stammen, das  auch  der  Lokalität  jenen  Namen  gegeben  hat,  welcher 
mit  den  Funden  in  direkter  sprachlicher  Relation  steht. 

Die  Toponomie  hat  daher  einen  ungeheuren  Wert  für  die  Auf- 
deckung der  slavischen  Vergangenheit,  denn  nahezu  alle  Namen 
finden  im  slavischen  Sprachschatze  ihre  Urform  und  Urbedeutung 
wieder,  bilden  daher  auch  den  weitaus  grössten  Teil  des  Beweis- 
materiales  für  die  Erforschung  des  altslavischen  Kulturlebens.  Die 
höhere  Achtung  für  Originalnamen  kann  aber  erst  dann  platzgreifen, 
wenn  einmal  eine  ausführliche  und  populäre  Anleitung  vorhanden 
und  eine  systematische  Basis  hiefür  geschaffen  sein  wird,  wie  man 
die  Ortsnamen  zu  nehmen,  zu  überprüfen  und  zu  deuten  hat;  und 
auch  in  dieser  Richtung  soll  baldigst  Wandel  geschaffen  werden.*) 


M.  Zunkovic: 

Slavische  Glossen  in  der  »Lex  Salica«. 

Das  alte  in  barbarischem  Latein  kodifizierte  Strafgesetzbuch  der 
salischen  Franken,  „Lex  Salica"  genannt,  stammt  einer  Erzählung 
zufolge,  die  selbst  schon  aus  der  Zeit  von  486—496  n.  Chr.  datiert, 
noch  aus  der  heidnischen  Zeit  der  Franken.  Überdies  weiss  man, 
dass   die   Könige    Childebert   und    Clotar   (i.  J.   511    und  558)   noch 

*)  Es  besteht  Aussicht,  daß  ein  in  diesem  Sinne  verfaßtes  »Etymologisches  Ortsnamen- 
lexikon- schon  in  wenigen  Monaten  von  der  Bibliothek  »Staroslovan«  ausgegeben  wird. 


17 

etliche  Änderungen  und  Zusätze  (Capitularien)  verfügten.  Die  latei- 
nisctie  Sprache  mag  damals  vielleicht  auch  die  innere  Gerichtssprache 
gewesen  sein,  aber  der  Richter  mußte  trotzdem,  wie  heule,  im  Par- 
teienverkehre die  Volkssprache  sprechen.  Zu  diesem  Behüte  enthält 
das  Gesetzbuch  die  sogenannten  Malbergschen  Glossen,  d.  i.  die 
volksgebräuchlichen  Sonderbegriffe  für  die  verschiedenen 
Straffälle. 

Die  Gelehrten  streiten  nun  noch  heute  darüber,  welcher  Sprache 
diese  Glossen  angehören,  und  schreiben  sie  teils  der  keltischen,  teils 
der  deutsch-fränkischen  Sprache  zu;  tatsächlich  sind  sie  aber 
slavisch.  Als  typisches  Beispiel  sei  hier  „krevbeba"  erwähnt,  ein 
Ausdruck,  den  bisher  niemand  enträtselte,  obschon  man  weiß,  daß 
er  „Mordverheimlichung"  bedeutet.  Im  Capitulare  II,  Pkt  5  heißt  es: 
„De  crevbeba.  —  Wer  einen  freien  Mann,  sei  es  im  Walde,  sei 
es  an  einem  sonstigen  Orte  tötet  und  ihn,  um  dies  zu  verheimlichen, 
verbrennt,  zahlt  600  Soldi ;  wer  eine  Frauensperson  gleichen  Ranges 
tötet  und  die  Leiche  verbrennt,  zahlt  i800  Soldi  als  Sühne."  —  Nun 
ist  aber  „crevbeba"  weder  deutsch  noch  keltisch  oder  altfränkisch 
nach  den  heute  gangbaren  Ansichten  der  Sprachforscher,  und  wäre 
die  reelle  Etymologie  nicht  unschwer  herauszufinden  gewesen,  wenn 
man  nicht  fortgesetzt  und  geradezu  bewußt  dem  Slavischen  auswei- 
chen sowie  nebstbei  auch  logisch  denken  würde,  denn  auch  die 
geschichtliche  Ethnographie  darf  dabei  nicht  als  Beweis  ausgeschaltet 
werden.  —  Der  Begriff  „krev"  (=^BIut)  ist  jedem  Slaven  bekannt; 
„bebiti"  kennt  wohl  nur  mehr  der  Slovene  in  der  Originalbedeutung : 
übertölpeln,  jemandem  ein  Blendwerk  vormachen  (böhm.  „bibec"  = 
Tölpel) ;  der  Ausdruck  „crevbeba"  sagt  daher  im  Slavischen  genau 
dasselbe  in  einem  treffenden  Schlagworte,  was  das  uralte  Gesetz 
ansonst  beschreibend  darlegt.  Wendete  man  aber  damals  reinslavische 
Rechtsbegriffe  an,  so  müssen  in  jenem  Gebiete  auch  Slaven  gewohnt 
haben,  und  dieses  ist  auch  toponomisch  wie  urkundlich  nachweisbar. 

Im  Saale -Gebiete  war  doch  die  „Windische  Mark"  (als  Grenz- 
land) und  der  „Hassengau"  (d.  i.  „chasa"  Gau,  Bezirk,  der  eine 
Abteilung  Soldaten  stellt),  ist  am  Balkan  noch  immer  im  Gebrauche, 
und  deutet  eine  Stelle  in  der  Königinhofer  Handschrift  auf  die  gleiche 
Organisation  in  Böhmen.  An  der  Saale  sind  auch  Namen  von  Orten 
zu  finden,  die  absolut  keinen  Zweifel  zulassen,  daß  sie  nur  slavisch 
sein  können,  wie:  Borove,  Borlitzken,  Zcörnitz,  Delic,  Horken,  Uava, 
Krikovo,  Lezkove,  Lobic,  Lunove,  Mezoburium  (Mezibor,  Merseburg), 
Trebitz,  Wese  (ves)  u.  v.  a.  — 

In  ethnographischer  Hinsicht  weiß  man  doch  auch,  daß  hier 
tatsächlich   Slaver,   meist    „Sorben"   genannt,    saßen,   weil   dies   alte 


18 

Chronisten  erzählen  und  die  verschiedenen  Urkunden  oft  von  „regione 
Slavorum"  daselbst  sprechen.  —  Etwa  um  die  Mitle  des  VI.  3ahr- 
hunderles  n.  Chr.  saß  nach  Paulus  Diaconus  („De  geslis  Longobar- 
dorum")  die  große  Masse  der  Slaven  noch  jenseits  der  Elbe ;  um 
das  3ahr  561  rechnete  man  das  ganze,  später  sorbische  Land,  zu 
Thüringen.  Ma  hat  allerdings  auch  hier  eine  kleine  Völkerwanderung 
konstruiert  und  gesagt:  die  Deutschen  haben  die  Odergegenden  ver- 
lassen (?)  und  da  seien  die  Slaven  nachgedrungen ;  wir  finden  daher 
letztere  schon  zu  Ende  des  VI.  üahrhundertes  an  der  Elbe  seßhaft. 
Zu  gleicher  Zeit  seien  die  Sorben  bis  an  die  Saale  vorgedrungen, 
denn  letztere  wird  schon  von  Einhard  (Vita  Caroli  Magni)  als  Grenze 
zwischen  den  Thüringern  und  Sorben  erwähnt. 

Die  slavischen  Glossen  in  der  Lex  Salica  machen  aber  alle  diese 
Wanderungs- Kombinationen  zunichte,  denn  sie  sagen  automatisch, 
daß  es  schon  mindestens  um  das  Oahr  400  n.  Chr.  slavische  Bewoh- 
ner in  Unterfranken  gab,  die  nicht  nur  kodifizierte  Strafgesetze  kannten, 
sondern  auch  eine  ganz  bedeutende  Kultur  gehabt  haben  mußten,  da 
sie  mindestens  zweierlei  Münzen  besaßen  („soldi"  und  „dinari").  Ob 
dies  eine  Unkultur  bedeutet,  wenn  man  fast  alle  Verbrechen  mit  Geld 
sühnen  kann,  wie  man  vielleicht  behauptet,  muß  wohl  stark  an- 
gezweifelt werden,  denn  dieses  gilt  doch  auch  noch  heute  bei  Per- 
sonen höheren  Ranges  zum  großen  Teile,  und  wir  wollen  doch  nicht 
in  einer  Zeit  der  Unkultur  leben ! 

Wir  sind  also  durch  die  slavischen  Glossen  der  Lex  Salica  um 
einen  unabweisbaren  Beleg  für  das  Altslaventum  bereichert,  denn  wir 
sehen  daraus,  wie  das  Märchen  von  der  Völkerwanderung  immer 
mehr  verblaßt,  sowie  daß  alle  Belege  gegen  die  Einwanderung  der 
Slaven  doch  nicht  vernichtet  oder  unkenntlich  gemacht  werden  konnten. 

In  der  „Lex  Salica"  sind  aber  noch  mindestens  weitere  hundert 
ähnliche  rechtsterminologische  Begriffe  enthalten ;  überdies  werden 
darin  Ausdrücke  angeführt,  die  namentlich  dem  Böhmen  und  Slovenen 
geläufig  sind  und  überall  auch  dieselbe  Bedeutung  haben,  wie  z.  B. 
„dructe"  (  druh,  drug,  Genosse),  „hallus"  (  haluz,  Gestrüpp),  „kletis" 
(  klet,  Keller),  „schodo"  (  skoda,  Schaden),  „sonnis"  (  zona,  Angst), 
„voronio"  (  vran,  vranec,  Rapp,  schwarzes  Pferd).  —  Es  würde  sich 
daher  empfehlen,  wenn  sich  ein  sprachlich  gebildeter  Jurist  dem  ein- 
gehenden Studium  dieser  alten  Gesetzesquelle  und  der  ziemlich  be- 
deutenden Literatur  über  dieselbe  unterziehen  würde,  was  auf  alle 
vorhandenen  Originalhandschriften  auszudehnen  wäre,  da  die  Glossen 
in  der  Tradition  wie  Transskription  möglicherweise  auch  schon  be- 
denklich entstellt  erscheinen. 


19 

Für  jeden  Fall  zeigt  dies,  daß  die  Altslaven  an  Rechtsdetermi- 
nationen weit  reictier  waren,  als  man  annimmt,  und  ist  es  klar,  daß 
gerade  in  diesen  die  reellsten  Beweise  für  die  Erkenntnis  des  wirk- 
lichen rechtssozialen  Lebens  erhalten  sind.  Der  Impuls  zu  weiteren 
Forschungen  in  dieser  Richtung  ist  hiemit  gegeben  ;  das  Resultat  kann 
schon  mit  Rücksicht  auf  die  wenigen  hier  gebotenen  Beispiele  un- 
möglich ein  negatives  sein. 


Slavische  Geschichtsquellen. 

Vorbemerkung. 

Die  Verfassung  einer  pragmahschen  Urgeschichte  der  Slaven  ist 
heute  im  Prinzipe  unmöglich,  weil  sich  da  immer  die  Völkerwan- 
derungsmythe in  die  Quere  legt,  wodurch  alle  älteren  Existenzbeweise 
der  Slaven  in  Schatten  gestellt  erscheinen ;  überdies  sind  viele  Quellen 
unbekannt,  viele  unbeachtet,  viele  unkritisch  behandelt. 

Um  nun  einen  sicheren  Boden  für  die  Verfassung  eines  solchen 
Geschichtswerkes  vorzubereiten  sowie  auch  zugleich  ein  Vorinteresse 
hiefür  in  weitere  Kreise  zu  tragen,  was  über  die  Urzeit  der  Slaven 
bereits  geschrieben  wurde,  sollen  hier  fortschreitend  die  vornehmsten 
Quellen  angeführt  und  die  wichtigsten  Textstellen  dabei  wörtlich  wieder- 
gegeben werden,  um  die  Originalität  tunlichst  zu  wahren ;  überdies 
sind  Werke  dieser  Art  meist  selten,  daher  auch  für  den  Einzelnen 
schwer  erreichbar. 

Mit  der  Veröffentlichung  wird  hier  von  der  jüngsten  Zeit  be- 
gonnen und  von  da  systematisch  in  der  Wahl  so  vorgegangen,  um 
an  dem  Ariadnefaden  nach  rückwärts  lastend,  reell  festzustellen,  in- 
wieweit die  ältesten  Quellen  an  uns  richtig  gekommen  sind,  wann 
sie  entstellt  wurden  oder  wo  sie  unterbrochen  sind. 

Die  Redahtion. 


2* 


20 

I.  L.  A.  Gebhardis  Vorrede  zur  »Geschichte 
aller  Wendisch-Slavischen  Staaten«.*) 

Erläutert  von  Dr.  A.  Kovacic. 

In  den  Jatirbüchern  der  Welt  findet  sich  keine  Völkerschaft, 
welche  so  sehr  die  Aufmerksamkeit  der  Weltweisen  an  sich  zieht,  als 
diejenige,  die  man  bald  die  wendische,  bald  die  slavische 
Nation  nennt.  Denn  diese  bewohnt  oder  beherrscht  jetzt  die  Hälfte 
von  Europa  und  Asien,  und  schon  im  17.  Jahrhunderte  gab  der  Re- 
gent eines  Teiles  derselben,  Feodor,  Großfürst  der  Russen,  nicht 
durch  ein  fürchterliches  Heer,  sondern  durch  einige  hundert  Abenteu- 
rer seinem  Reiche  eine  solche  Ausdehnung,  daß  es  weit  größer  ward, 
als  irgendeine  der  ältesten  Monarchien,  die  von  unseren  Vorfahren 
Herrschaften  der  ganzen  Welt  genannt,  und  deren  zahlreiche  Eroberer 
fast  als  übernatürliche  Menschen  bewundert  zu  werden  pflegten.  Die 
Urheber  dieser  furchtbaren  Nation  machten  keine  Entwürfe  zur  Er- 
richtung großer  Staaten,  sodern  dachten  nur  auf  Zerstörung  blühender 
Staaten,  oder  auf  Befriedigung  ihrer  Leidenschaften,  vernichteten  ge- 
wöhnlich durch  Eigenwillen  und  fehlerhafte  Regimentsverfassungen 
die  Vorteile,  die  sich  ihnen  ungesucht  darboten,  und  gelangten  den- 
noch zur  der  beträchtlichen  Größe,  die  bei  ihren  Nachkommen  noch 
immer  im  Wachsen  begriffen  ist.  Die  Nachrichten,  die  von  dieser 
Nation  vorhanden  sind,  fangen  mit  ihrer  Kindheit  an  und  werden 
nicht  nur  für  den  Geschichtsschreiber  der  Nation,  sondern  für  jeden, 
der  sich  über  Entstehung  menschlicher  Größe  durch  Tathandlungen 
belehren  will,  so  wichtig,  daß  man  schon  lange  hätte  auf  eine  voll- 
ständige allgemeine  Geschichte  aller  Wenden  denken  müssen,  die 
aber  bis  jetzt  noch  immer  fehlt. 

Unter  einer  vollständigen  Geschichte  muß  man  sich  hier  eine 
solche,  auf  Wahrheit  gegründete  Erzählung  von  Tathandlungen  vor- 
stellen, die  nicht  bloß  einen  oder  den  anderen  Stamm  der  Wenden 
allein   betrifft,   sondern  welche   vielmehr   zeigt,   wie   die  wendischen 


*)  Halle  1700.  —  Diese  »Vorrede-  wird  hier  wörtlich  wiederj^cscbcn,  um  zu  zeigen,  welche 
Ansichten  man  vor  etwa  125  Jahren  in  der  Wissenschaft  noch  über  die  Slaven  hatte,  wie  sich 
da  Wahres  und  Märchenhaftes,  Logisches  und  Unkritisches  bunt  durcheinander  drängt  und 
inwieweit  sich  die  Ansichten  seither  zu  Ungunsten  der  Slaven  ohne  sichtbaren  Grund  ge- 
ändert haben,  wobei  noch  aus  gelegentlichen  Bemerkungen  in  dem  Hauptinhalte  hervorgeht, 
daß  Gebhardi  durchaus  kein  Freund  der  Slaven  war.  Aber  gerade  seine  Natürlichkeit  und  der 
Umstand,  daß  er  fast  alle  Chronisten,  welche  in  den  europäischen  Sprachen  über  die  Slaven 
schrieben,  als  seine  Quellen  anführt,  machen  uns  seine  Darstellungen  doppelt  willkommen.  — 
Bei  der  Wiedergabe  wurde  nur  die  Rechtschreibung  sowie  bisweiKn  eine  veraltete  Redeweise 
modernisiert.  —  Alle  mit  Sternchen  versehenen  Anmerkungen  stammen  vom  Kommentator. 


21 

Leute,  die  bei  dem  Anfange  der  cliristlichen  Zeitrechnung  als  herren- 
lose Hausväter  aus  dem  Acker  und  in  den  Wäldern  ruhig  ihren  not- 
dürftigen Unterhalt  zusammensuchten,  aus  Jägern  Freibeuter,  dann 
eine  kriegerische  Nation,  endlich  Eroberer  und  zuletzt  Stifter  mannig- 
faltiger Staatssysteme  geworden  sind.  Eine  Erzählung,  welche  das 
Auszeichnende  der  Sitten  und  Grundsätze  aller  Wenden,  und  die 
Ökonomie,  das  Steigen  und  Fallen  aller  einzelnen  wendischen  Staaten 
auf  das  genaueste  schildert.  Eine  solche  Geschichte  fehlt  noch,  ob- 
gleich einige  Ausarbeitungen  vorhanden  sind,  die  den  Titel  allgemei- 
ner slavischer  Jahrbücher  führen. 

Zu  diesen  letzleren  sollen  gehören:  M.Jacob  Jacobaei  viva  Genus 
Slavicae  Delincatio.  Lcutichoviac  1642;  Papaneck,  Historia  üentis  Sla- 
vorum  und  Witbii  Antiquitates  Genus  Hcnetae,  von  welchen  Schriften 
ich  keine  gesehen  habe.  Dem  Titel  nach  müßte  auch  Vandalia  Alberti 
Krantz,  Coloniac  impressa  1519,  und  des  Maltheserabtes  Mauro  Orbini 
(eines  Ragusaners)  Werk,  mit  der  Aufschrift :  //  Ref^no  degli  Slavi,  Pe- 
saro  1601.  die  allgemeine  slavische  Geschichte  vortragen.  Allein  jene 
schränkt  sich,  sowie  mehrere  Chronkac  Slavonun  des  Mittelalters, 
nur  auf  das  holsteinische,  mecklenburgische,  pommersche  und  pol- 
nische Reich,  dieses  aber  bloß  auf  Dalmatien  und  Kroatien  ein.  Schurz- 
fleischii  Res  Slavicae  1670  (in  seinen  Operibus  lüstoricis  politicis,  Bero- 
lini  1699.  4.  p.  458~-470]  enthalten  nur  allgemeine  Bemerkungen  über 
Ursprung,  Wachstum  und  Verfassung  der  ältesten  Wenden  und  stehen 
den  weit  vollkommeneren  31  Anmerkungen  hinter  Mascous  II.  Bande 
seiner  „Geschichte  der  Teutschen",  S.  205,  weit  nach.  Im  Hermanno 
Slavico  brevi  delineatione  aciumbrato  a  G.  H.  Ayrcro,  Gottingae  1768 
sind  bloß  Meinungen  verschiedener  Gelehrten  über  Wenden,  wen- 
dische Stämme  und  wendische  Sitten  vorgetragen,  und  Josephi  Sim. 
Assermanni  Kalcndaria  Ecclesiae  universae  enthalten  kurze  Annalen 
der  Sarmaten  und  Slaven  überhaupt  (T.  1.  P.  II.  Romae  1755,  k],  der 
teutschen  und  illyrischen  slavischen  kleineren  Stämme  (T.  11),  der 
Mähren  und  Bulgaren  (T.  111),  und  der  Russen,  Böhmen,  Kroaten, 
Servier  und  Polen  (T.  IV).  Des  Herrn  Justizrat  Gercken  „Versuch  in 
der  ältesten  Geschichte  der  Slaven,  besonders  in  Teutschland,  aus 
den  besten  gleichzeitigen  Schriftstellern  verfasset"  (Leipzig  1771)  er- 
läutert nur  die  ältesten  Begebenheiten  der  Slaven,  und  verbreitet  sich 
insbesonders  über  die  Geschichte  der  östlichen  Wenden.  In  Johann 
Christophori  de  Jordan  zweien  Bänden  „De  Originibus  Slavicis"  (Vin- 
dobona  1745)  ist  nur  einem  künftigen  wendischen  Geschichtsschreiber 
durch  Mitteilung  und  Zusammenstellung  vieler  Materialien  vorgear- 
beitet worden,   obgleich  im   I.  Bande   ein  Versuch   gemacht  ist,   die 


22 

ältesten  wendisctien  Volksgeschichten  aus  diesen  Quellen,  u.  zw.  in 
Beziehung  auf  Böhmen  und  Mähren,  wahrhaft  vorzutragen.  Noch  nutz- 
barer hat  in  dieser  Hinsicht  Herr  Reichsarchivarius  Stritter  für  den 
Geschichtsschreiber  durch  sein  bekanntes  Werk  gesorgt,  dessen  1774 
zu  St.  Petersburg  abgedruckter  und  hierher  gehöriger  11.  Band  diesen 
Titel  hat :  Memohac  Popiilonim  olini  ad  Daimbium,  Pontum  euxinum, 
Paludem  Maeotidcm,  Caucasiim,  Mare  Caspium,  et  inde  magis  ad  Sep- 
tentriones  iiicoleniiiim  e  Scriptorihiis  Historiac  Byzantinae  eriitae  et  diges- 
tae;  Tonnis  IL  Slavica,  Servica,  Chrovatica,  Zachlumica,  Terbiinica,  Paga- 
nica,  Dioclerea,  Moravica,  Bosnica,  Bulgarica,  Valachica,  Russica,  Polo- 
nica,  Lithiianica,  Prussica,  Samotica,  Permica  et  Boemica  complectens  ; 
denn  in  selbigem  ist  nicht  nur  alles,  was  sich  in  den  griechischen 
Schriftstellern  findet,  chronologisch  geordnet,  durch  Anmerkungen 
geprüft  und  kurz  erläutert,  sondern  es  gibt  auch  in  einer  Einleitung 
von  Namen,  von  den  verschiedenen  Stämmen,  Sitzen  und  Wanderun- 
gen, von  den  vornehmsten  Begebenheiten,  von  den  Regenten  und 
berühmten  Männern  eine  kurze  und  sehr  brauchbare  Nachricht. 

Bei  der  Abfassung  einer  wendischen  allgemeinen  Geschichte 
zeigen  sich  viele  Hindernisse,  die  dieses  Geschäft  außerordentlich  er- 
schweren, und  zum  Teil  aus  dem  Mangel  glaubwürdiger  alter  Urkun- 
den, zum  Teil  aber  aus  den  stets  abwechselnden  sehr  großen  Revo- 
lutionen, welchen  diese  Nation  und  jeder  ihrer  Stämme  stets  unter- 
worfen gewesen  ist,  herrühren. 

Die  wendische  oder  slavische  Sprache  war  zwar  ehedem  durch 
halb  Europa  und  einen  großen  Teil  von  Asien  verbreitet,  und  wenn 
man  dem  Latomus,  einem  mecklenburgischen  Chronikenschreiber,  der 
1610  seine  Arbeit  vollendete,  glauben  will  (de  Westphalen  Monum. 
inedita  rcriim  Cimbrkarum  T.  IV.  p.  9)  so  ward  sie  einstens  sogar 
in  Afrika  bei  dem  ägyptischen  Heere  gebraucht.  (Rumclimis  ad  auream 
Bullam,  Tubingae  1702,  p.  840).  Auch  verlangte  Kaiser  Karl  IV.  (Aurea 
Bulla  C.  30),  daß  jeder  Kurfürst  die  wendische  Sprache  fertig  reden 
solle,  in  der  Absicht,  selbige  zu  einer  herrschenden  Sprache  zu  ma- 
chen. Aber  dennoch  ist  diese  Sprache  im  teutschen  Reiche,  Böhmen, 
Mähren,  Kassuben,  Lausnitz  und  Kärnten  ausgenommen,  zeitig  unter- 
drückt und  vertilgt  worden,  und  zugleich  sind  auch  alle  alten  wen- 
dischen Urkunden,  falls  dergleichen  jemals  vorhanden  gewesen  waren, 
verschwunden.  Die  Wenden  gebrauchten  zwar  römische  Schrift,  allein 
nur  in  den  wenigen  Gegenden,  in  welchen  sie  an  Dänen  und  Schwe- 
den grenzten,  und  auch  nur  bloß  zu  Inschriften  auf  Götzenbildern.  (?) 
Bücher  und  Bücherschriften  waren  ihnen  zwar  nicht  unbekannt,  wur- 
den jedoch  nicht  geachtet,    und  selbst  nach  der  Zeit,  da  Cyrillus  und 


Melhodius  ein  den  vielen  Tönen  der  wendischen  Sprache  angemes- 
senes neues  Alphabet  ersonnen  hatten,  gebrauchte  man  diese  Schreib- 
kunst lange  nicht  zur  Aufbewahrung  der  Geschichte,  sondern  zu 
Gesängen  und  Kirchenschriflen,  denn  die  ältesten  Nalionalschriftsteller, 
nämlich  Christannus  in  Böhmen  und  Nestor  in  Rußland,  schrieben 
erst  im  XI.  Jahrhunderte  (Allgem.  Welthisl.,  XXXI.  T.,  S.  255)  und 
ersterer  bediente  sich  der  lateinischen  Sprache.  Ein  anderes  Mittel, 
berühmter  Männer  Andenken  lebhaft  zu  erhalten,  nämlich  das  der 
Volkslieder,  war  zwar  von  einigen  Wenden  zur  Befriedigung  ihrer 
Ruhmesbegierde  verwendet  worden,  allein  abgesehen  davon,  daß  die 
meisten  Volkslieder  vergessen  sind,  sj  können  selbige  überhaupt 
keine  zuverlässige,  vollständige  und  zusammenhängende  Geschichte 
veranlassen,  weil  ein  Lied  in  jedem  Munde  Abänderungen  erleidet, 
vorsätzlich  mit  Erdichtungen  ausgefüllt  und  gewöhnlich  erst  lange 
nach  der  Zeit,  da  die  besungene  Tat  geschah,  aufgesetzt  worden  ist. 
Einige  Geschichtsschreiber  der  Polen,  Böhmen  und  Kroaten,  welche 
von  diesen  Liedern  günstiger  dachten  und  aus  selbigen  den  ersten 
Teil  ihrer  Jahrbücher  verfertigten,  bestätigen  diese  Bemerkung,  denn 
da  ihre  Erzählungen  weder  unter  sich,  noch  mit  der  dokumentierten 
Geschichte  der  Nachbarn  übereinstimmen,  so  verrät  sich  ihre  und  der 
alten  Volkslieder  Unzuverlässigkeit.  Verschiedenen  dieser  Autoren 
lag  auch  die  Wahrheit  so  wenig  am  Herzen,  daß  sie  die  Lücken,  die 
die  Lieder  ließen,  mit  Erdichtungen  ausfüllten,  welche  sie  aber  bei 
dem  Mangel  an  hinreichender  synchronistischer  Weltkenntnis  so  un- 
geschickt einrichteten,  daß  eine  geringe  Prüfung  sie  aufdeckte.  Diese 
Erdichtungen  wurden  vornehmlich  nach  dem  Jahre  i500  in  die  Chro- 
nixen  aufgenommen,  anfangs  unter  dem  Scheine  unbezweifelter  und 
aus  verlorenen  Chroniken  abgeschriebener  Tatsachen,  später  aber 
als  solche  Mutmaßungen,  die  durch  eine  Reihe  von  verwandten  wah- 
ren Begebenheiten  eine  an  die  Wahrheit  nahe  angrenzende  Wahr- 
scheinlichkeit erhalten  hätten.  Aus  Chroniken  dieser  Art  kann  ein 
Geschichtsschreiber,  der  nur  das  melden  will,  was  sich  beweisen 
läßt,  für  ältere  Zeiten  kein  Material  entlehnen,  und  bleibt  ihm  daher 
kein  anderes  Hilfsmittel  bei  seiner  Arbeit  übrig,  als  daß  er  seine 
Zuflucht  zu  fremden  Schriftstellern  nimmt.  Diese  sind  Griechen,  Italie- 
ner und  Teutsche,  überhaupt  aber  Leute,  die  nur  die  auswärtigen 
Taten  der  Wenden  sicher  aufzeichnen  konnten,  die  die  innere  Ver- 
fassung der  Staaten  nicht  hinlänglich  kannten,  die  sich  um  soviel 
weniger  von  einer  schädlichen  Parteilichkeit  lossagen  konnten,  da 
die  unbegrenzte  Mord-  und  Verheerungswut  der  Wenden  sie  gegen 
diese  Völkerschaft  erbittert  hatte,  und  die  außerdem,  wenn  sie,  wie 
es  bei  den  meisten  der  Fall  war,  christliche  Geistliche  waren,  die 
Wenden  als  hartnäckige  Verehrer  der  Götzen  verabscheuten. 


24 

Der  allgemeine  Geis!  der  wendischen  NaMon  stimmte  auf  un- 
begrenzte Freiheit  und  Patriarchalverfassung,  und  nur  die  mächtigeren 
Waffen  einiger  Nachbarn  nötigten  die  unabhängigen  Jäger  und  Ackers- 
leute, sich  einem  Oberhaupte  zu  unterwerfen,  um  unter  dessen  An- 
führung sich  ihrer  Feinde  zu  erwehren.  Ihr  Krieg  brachte  sie  bald 
in  fruchtbare  und  reichl^ultivierte  Staaten,  und  gewöhnte  sie  an  das 
Beutemachen,  Verwüsten  und  Niedermetzeln.  Ihr  Raub  bot  ihnen  Be- 
quemlichkeiten und  Vergnügungen,  die  sie  vor  dem  nicht  gekannt 
hatten  und  wenn  derselbe  aufgezehrt  oder  verbraucht  war,  so  trat  bei 
ihnen  die  Sehnsucht  nach  diesen  Bedürfnissen  bis  zu  einer  solchen 
Stärke  ein,  daß  sie  alles  wagten,  um  diese  wieder  zu  erlangen.  Und 
so  entstanden  daher  mannigfaltige  Streifzüge  gegen  Teutsche,  Ilaliener 
oder  Griechen  unter  der  Anführung  vieler  Heerführer  oder  gewählter 
Woiwoden.  Einige  dieser  Woiwoden  sammelten  Schätze  und  Macht 
genug,  um  nach  Beendigung  des  Zuges  ihre  Macht  zu  behaupten. 
Andere  im  Gegenteil  traten  bald  mit  einander  in  Verbindung  und 
erhielten  sich  durch  vereinte  Kraft  bei  ihrer  Würde,  bald  aber  stellten 
sie  si3h  neben  einander  oder  wanderten  auch  mil  ihren  Anhängern 
in  entvölkerte  Gegenden,  gaben  ihrer  Partei  neue  Namen,  und  stifte- 
ten neue  Staaten,  über  welchen  sie  nicht  als  Vorgesetzte,  sondern 
als  Monarchen  oder  wenigstens  als  Aristokraten  herrschten ;  öfters 
aber  fand  auch  dar  Besitzer  eines  Hains  oder  Tempels  durch  Aber- 
glauben oder  verübte  Scheinwunder  Gelegenheit,  sich  zum  Oberherrn 
verschiedener  kleiner  Monarchen  aufzuwerfen.  Die  Monarchen  und 
Aristokraten  versuchten  ihre  Gewalt  auf  ihre  Kinder  zu  vererben, 
allein  gewöhnlich  behaupteten  die  Völkerschaften,  die  ihnen  gehorchten, 
das  Recht,  ihr  Oberhaupt  zu  wählen,  verstießen  auch  öfters  ihren 
Fürsten  und  gesellten  sich  zu  einem  anderen  Woiwoden,  der  ent- 
weder mehr  Kriegsglück  hatte  oder  auch  Beredsamkeit  genug  besaß, 
um  die  äußerst  leichtsinnigen  wendischen  geringeren  Leute  für  sich 
einzunehmen.  In  jenen  Staaten,  in  welchen  die  Regenten  das  Erb- 
folgerecht ihres  Stammes  gründeten,  verteilte  der  regierende  Vater 
sein  Reich  unter  seine  Söhne,  und  bestimmte  einen  derselben  zum 
Ältesten  oder  Oberfürsten,  mil  der  Macht,  seine  Brüder  als  Statthalter 
zu  behandeln,  und  ihre  Landschaften  gegen  andere  auszutauschen. 
Diese  Einrichtung  veranlaßte  stete  Geschlechtskriege  und  unaufhör- 
liche Errichtungen  neuer  und  Zerteilungen  alter  Staaten,  und  über- 
haupt eine  Verwirrung,  die  in  Verbindung  mit  jenen  Begebenheiten 
das  Geschäft,  die  allgemeine  Geschichte  der  Wenden  in  bequeme 
Perioden  zu  zerteilen,  und  diejenigen  Staaten  auszusondern,  welche 
regierend  gewesen  sind,  und  gewisse  einzelne  berühmte  Völker- 
schaften zu  Untertanen  gehabt  haben,  ungemein  erschwert. 


26 

Zuerst  erscheint  die  slavische  Nation  unter  dem  Namen  der 
Wenden  als  eine  solche  Völl<erschaft,  die  nur  durch  eine  gemein- 
schaftliche Sprache  zusammengehalten  wurde,  und  bloß  auf  Lebens- 
unterhalt, nicht  aber  auf  Ruhm  und  Beute  dachte.  Bei  den  bekannten 
Wanderungen  der  Teulschen  und  Nordleute  nach  den  Provinzen  des 
griechischen  Reiches,  sahen  und  empfanden  diese,  wie  es  scheint, 
zuvor  genügsamen  und  harmlosen  Leute,  was  die  Macht  der  Waffen 
bewerkstelligen  könne,  lernten  Bequemlichkeiten  kennen,  von  welchen 
sie  zuvor  nichts  wußten,  und  versuchten  selbst  das  Kriegsglück. 
Durch  diese  Veranlassung  entstanden  daher  die  Stämme,  von  welchen 
zwei,  die  auswanderten,  sich  Slaven  und  Anten  nannten,  die  zurück- 
bleibenden aber  den  alten  Stammnamen  beibehielten,  obgleich  viele 
schon  damals  getrennte  kleine  Völkerschaften  ihre  besonderen  Namen 
hatten.  Man  findet  von  dieser  Revolution  folgende  Nachricht  des 
Jornandes,  welcher  im  VI.  Jahrhunderte  lebte  (de  rebus  Geticis,  in 
Miiratori  Scr.  rer.  Italic.  T.  II.  p.  194.  ab  ortii  Visiulae  fluminis  — 
Vinidarum  natio  papulosa  consedit.  Quorum  nomina,  licet  nunc  per  vaiias 
familias  et  loca  muteniur,  principaliter  tarnen  Sclavini  et  Antes  nominan- 
tur) :  und  Procopius  hat  davon  in  sein  Werk  „de  bello  Gothico"  (ibid. 
p.  313)  folgende  Stelle  eingerückt,  in  welcher  er  den  Namen  Wende 
durch  die  griechische  Übersetzung  unkenntlich  macht :  nonien  eiiani 
quondam  Sclavenis  Antisquc  ununi  eraf ;  utrosque  enim  appellavit  Sporos 
antiquitas,  ob  id  ut  opinor  quia  „spordden" ,  hoc  est,  sparsim  et  rare 
positis  tabernaculis  regionem  obtinent,  quo  fit,  ut  magnuni  occupent  spa- 
tium.  Auch  führen  diejenigen  Völkerschaften,  die  in  Dalmalien  und 
lllyrien  Slaven  genannt  wurden,  in  den  fränkischen  Annalen  den 
Namen  der  Winidorum,  und  Helmoldus,  der  unter  den  Wagirer-Wenden 
wohnte  und  alle  die  Völker  genau  kannte,  deren  Beherrscher  sich 
in  lateinischen  Urkunden  den  Titel  Reges,  Duces  et  Principes  Slavoium 
beilegten,  meldet  in  der  von  ihm  am  Ende  des  Xll.  Oahrhundertes 
verfaßten  Chronica  Slavorum,  daß  alle  leutschen  Slaven  noch  den 
Namen  Winithi  oder  Winuli  führten,  obgleich  die  Polen,  Russen,  Böh- 
men, welche  Fredegarius  im  Vll.  Jahrhunderte  noch  „Sclavos  cogno- 
mento  linidos"  hieß,  Kärntner  und  Sorben,  und  andere,  die  vom  sla- 
vischen  Hauplstamme  herkamen,  ihn  verworfen,  und  den  besonderen 
Stammnamen  vorgezogen  hätten.  Es  liegt  demnach  in  dem  Wider- 
spruche, den  einige  slavische  Schriftsteller  gegen  den  Satz,  daß  der 
wahre  alte  allgemeine  Stammname  aller  slavischen  Völker  der  Name 
Wende  sei,  in  ihren  Schriften  äußern  (Anzeigen  aus  sämtlichen  k.  k. 
Erbländern,  Wien  1773,  111.  Jahrg.  S.  loh  u.  f.),  nur  ein  Mißverständ- 
nis, welches  gehoben  wird,  sobald  man  zugibt,  daß  die  ungarischen 
Slovaken,   welche  doch  von  den  dortigen  Teutschen  windische  Leute 


26 

genannt  werden,  nicht  unmittelbar  von  den  nördlictien  Wenden,  son- 
dern von  den  griechischen  Slaven  herkommen.  Die  Beschuldigung, 
daß  bei  den  Deutschen  wendisch  und  betrügerisch  gleichbedeu- 
tende Wörter  wären,  bestätigt  sich  nicht  durch  den  Sprachgebrauch, 
und  wenn  auch  dieser  schlimme  Nebenbegriff  wirklich  vorhanden 
wäre,  so  würde  er  doch  der  weit  anstößigeren  Nebenbedeutung  des 
Wortes  „Slav"  und  „Sclav"  so  sehr  im  entehrenden  Werte  nach- 
stehen, daß  auch  in  dieser  Hinsicht  jener  Name  diesem  vorgezogen 
werden  muß.*) 

Man  ist  noch  nicht  einstimmig,  wie  viele  Völkerschaften  zu  den 
Wenden  gerechnet  werden  müssen.  Herr  Haquet  (v.  Born,  Abhandl. 
einer  Privatgesellschaft  in  Böhmen,  II.  Bd.  5.  242)  versichert,  daß  die 
Kirgisen  und  Kroaten  der  Sprache  nach  Stammvetter  sind.  Vermöge 
des  III.  Teiles  der  Oryclographia  Carniolica  oder  „Physikalischen  Erd- 
beschreibung des  Herzogtums  Krain,  Istrien  und  zum  Teil  der  benach- 
barten Länder"  (Vorrede)  findet  man  slavische  Wörter  nicht  nur  in 
helvetischen  Dialekten,  sondern  auch  in  den  östlichen  sibirischen 
Sprachen  und  selbst  auf  den  neuenldeckten  Freundschafts-Inseln.  Allein 
diese  können  durch  Rußland  in  selbige  gebracht  sein,  oder  von  Wur- 
zelwörtern der  alten  verlorenen  Hauptsprache  herstammen,  von  wel- 
chen andere  Nationen  ihre  gleichlautenden  Wörter  abgeleitet  haben.**) 
Herr  P.  Dobner  a  S.  Catharina  (ad  Hajek  a  Liboczan  Annales  Bohe- 
moriun  Part.  IL  Praef.  d.  3)  zählt  zu  den  Slavinen  die  Circassier  auf 
die  unerhebliche  Angabe  des  Henselii  in  Synopsi  universalis  Philoloii^iae 
et  Harmonica  Linguaruni  totius  Orbis.  und  weil  einige  cirkassische 
Wörter  und  Namen  sich  aus  dem  Slavischen  einigermaßen  erklären 
lassen ;  dann  die  Kosaken,  ferner  die  Chasaren,  weil  S.  Cyrillus  (Vita 
S.  Cyrilli  in  Actis  Sanct.  ad  d.  9.  Martii)  bei  ihnen  slavisch  reden 
lernte,  und  die  Avaren,  weil  Kaiser  Konstantin  diese  einmal  im 
29.  Kapitel  de  Administr.  Inip.  Slaven  nennt.  Allein  diese  Nationen, 
die  Kosaken,  welche  eigentlich  Russen  sind,  ausgenommen,  bekamen 
die  angezogenen  Wörter  durch  die  Slaven  an  der  Donau,  über  welche 
sie  herrschten,  und  daß  die  Circassen  so  wenig  als  andere  Nationen 
am  Caucasus  slavisch  reden  oder  verstehen,  bezeugt  Bayer  und  von 
Peysonel.  Da  Nestor,  der  älteste  russische  Geschichtsschreiber,  selbst 
in  Rußland  verschiedene  Völker  von  den  wendischen  Stämmen  ab- 
sondert, nämlich  die  Trisnen,  Kriwiczen,  Radimiezen,  Wa- 
ticzen  und    Sewerier,    so    darf  man   wohl  die  Wenden  östlicher 

')  Der  Name  -Wende«  ist  indessen  etymologisch  geklärt  \\-orden.  denn  •vcn,  \in.  be- 
deutet :  (irenze,  »Wende«  sonach  :  Grenzbewohner,  Nachbar. 

*•)  Die  richtige,  großzügige  Ansicht  des  Verfassers  von  einer  einstigen  Gemeinsprache 
muU  besonders  hevorgehoben  werden. 


27 

nicht    weiter,    als    etwa    die    eigentlichen    russischen    Grenzen    sich 
erstrecl<en,  suchen. 

Nach  den  verschiedenen  Dialekten  teilt  Herr  D.  Anton  in  den 
Ersten  Linien  eines  Versuches  über  der  alten  Slaven 
Ursprung,  Sitten,  Gebräuche,  Meinungen  und  Kennt- 
nisse, 5.  12,  17,  die  Wenden  überhaupt  in  51  o wen  und  Slawen 
ein,  und  versteht  unter  ersterem  Namen  die  Polen,  Serben,  Kassuben 
und  Zilleyer*),  welche  in  ihrer  Sprache  keinen  Conjiinctiviim  haben, 
unter  dem  Namen  der  Slawen  aber  die  Russen,  Böhmen  und  Krainer. 
Außerdem  zertrennt  er  in  der  Vorrede  das  Hauptvolk  in  Halb- 
Slaven,  unter  welchen  er  die  Preußen,  Wlachen,  Letten  und  Lithauer 
versteht,  und  in  Slaven  oder  1.  Russen,  2.  Polen,  3.  Tschechen 
oder  Böhmen  und  Mähren,  k.  Dalmatier,  5.  Chrowalen,  6.  Slowaken, 
7.  Kassuben,  8.  Kassuben  der  Lauenburgischen  Gegend,  9.  Krainer, 
10.  lllyrier,  11.  Lüchower  im  Lüneburgischen,  12.  Serwier,  13.  Lau- 
sitzer um  Bautzen,  deren  Dialekt  in  Schriften  gebraucht  wird,  \k.  Ober- 
lausitzer  um  Löbau,  15.  Niederlausitzer,  16.  Altrussen,  in  deren  Sprache 
die  russischen  Kirchenbücher  verfaßt  sind,  17.  Slavonier,  18.  Wlachen, 
und  19.  Slesier,  welch  letztere  vierfach  sind,  weil  sie  vier  abwei- 
chende Mundarten,  außer  der  allgemeinen  Volkssprache,  in  den  Ge- 
genden von  Kreuzburg,  Rosenberg,  Teschen  und  Pleß  haben.  In  de 
Jordan  Originibus  Slavicis  P.  I\'.  p.  108—128,  findet  man  eine  Zer- 
teilung  der  ganzen  Nation  in  Kroaten,  Glagoliten,  Ungrische  Slaven, 
Böhmen,  Russen,  Polen,  Kärnter  und  Dalmatier,  und  P.  I.  p.  72  wer- 
den die  südlichsten  Slaven  nach  den  verschiedenen  Dialekten  ab- 
gesondert in  Kroaten  zwischen  der  Donau,  Sau  und  Mur,  in  den 
Gespanschaften  Warazdin,  Zagora  und  Zagrab,  in  Winden  in  Kärn- 
ten bis  Klagenfurt,  Cilli  und  bis  Windischgrätz,  in  Karnier  in  Krain, 
Cilli  und  Friaul,  in  Dalmatier  am  Adriatischen  Meere,  und  in  Sla- 
vonier zwischen  der  Drau,  Sau  und  Donau.  Allein  die  ungrisch- 
slavische  Sprache,  welche  böhmisch  ist,  zeigt,  daß  die  Ungrischen 
Slovaken  zu  den  Böhmen  gehören,  und  unter  Glagolitisch  versteht 
man  keinen  Dialekt,  sondern  eine  besondere  Art  von  Schriflzügen, 
in  welchen  die  kroatische  Bibelübersetzung  zu  Papier  gebracht  ist. 
In  der  Walachei  glaubt  man  alle  Slaven  unter  drei  Hauptbenennungen 
bringen  zu  müssen,  (Herr  Sulzer,  Geschichte  des  transalpinischen 
Daciens  II.  B.  S.  125)  nämlich  unter  die  der  Lest  (Polen),  die  der 
Moskali  und  Russi  (Russen),  und  die  der  Sirbi  (Serbier,  Kroa- 
ten, Bosniaken,  Raizen,  Slavonier  und  Bulgaren).  In  dem  neuen 
russischen  großen  Sprachwerke,   welches   den   Titel   hat :   Linguarum 

•)  Bewohner  des  Kreises  Cilli  in  l'ntersteiermark. 


28 

iotius  Orbis  Vocabularia  comparativa  Augustissimae  Cura  collecia,  Sect.  I., 
Pars  I,  Pchopoli  1786  (AUgem.  deutsche  Bibliothek  78.  B.  2  St. 
p.  323)  sind  12  verschiedene  slavische  Dialekte  festgesetzt  und  die 
Wörter  angegeben:  po  slavanski,  slaveno-wengerski  (ungarisch-sla- 
visch),  ilirjiski,  bogemski,  serbski,  vendski,  sorabski,  polabski  (eigent- 
lich lüneburgisch-wendisch,  denn  das  polabingisch-wendische  ist  zu 
früh  vertilgt  und  nicht  bekannt  geworden),  kasubski,  polski,  malo- 
rossijski  und  susdalski.  Bei  der  1548  zu  Wittenberg  gedruckten  slo- 
venskischen  Bibelübersetzung  nahm  man  Rücksicht  auf  Leute,  die 
sechs  verschiedene  Mundarten  redeten,  und  gab  in  einem  Register 
die  vom  Krainischen  abweichenden  Wörter  „po  slovenski"  oder 
„bezjaski,  hervatski,  dalmatinski"  und  „istrianski"  oder  „kraski"  an. 
(Thumman,  Untersuchungen  über  die  alte  Geschichte  einiger  Nordischen 
Völker  p.  219).  Herr  Hofrat  Schlözer  bringt  die  wendischen  Haupt- 
stämme lAllgemeine  Welthistorie  XXXI.  T.  S.  331)  vermöge  der 
Sprachverschiedenheit  unter  sechs  Abteilungen,  nämlich:  1.  die  rus- 
sische, deren  Sprache  mit  griechischen,  tatarischen,  asiatischen, 
deutschen,   holländischen   und   französischen   Wörtern  vermischt  ist ; 

2.  die  polnische,  unter  welche  auch  der  Sprachgleichheit  wegen 
Lithauen,  Polnisch-Preußen,  das  Wasserpolnische  im  preußischen 
Lithauen,  das  Kassubische  und  einige  Gegenden  Schlesiens  gehören ; 

3.  die  böhmische  mit  Einbegriff  von  Mähren,  eines  Teiles  von 
Schlesien  und  des  Slovakischen  in  Ungarn  ;  4.  die  s  or  bi  sehe  in  der 
Neumark,  Ober-  und  Niederlausitz  und  im  Kotbusser  Kreise;  5.  die 
polabingische,  aller  zwischen  der  Oder,  Elbe  und  Elmenau  vor- 
handenen Wenden;  6.  die  wind! sehe,  der  österreichischen,  steier- 
märkischen,  kärntischen  und  krainischen  Wenden;  7.  die  kroatische, 
deren  Sprache  aber  vielleicht  nur  eine  Varietät  der  windischen  ist ; 
8.  die  bosnische,  deren  Sprache  auch  die  Servier,  Dalmaten, 
lllyrier  und  italienischen  Slaven  der  dalmatischen  Seeküste  sprechen, 
und  9.  die  bulgarische. 

Von  dieser  Klassifikation  weicht  Herr  Hofrat  Gatterer  ab,  wel- 
cher in  der  „Einleitung  in  die  synchronistische  Universalhistorie",  Göt- 
tingen 1771,  p.  127  für  die  vornehmsten  Mundarten  der  heutigen 
slavischen  Sprachen  erklärt,  1.  das  Russische  in  Rußland  und 
polnisch  Reußen;  2.  das  Polnische  in  Polen,  in  Preußen,  in  Schle- 
sien jenseits  der  Oder,  und  in  Litauen,  wo  es  die  Sprache  der  vor- 
nehmeren Leute  ist;  3.  das  B  ö  hm  i  sehe  in  Böhmen,  in  Mähren  und 
im  größten  Teile  von  Ungarn,  in  welchem  es  slovakisch  genannt 
wird;  4.  das  Bul  g  a  rische  dar  bulgarischen  Bauern  und  der  Raizen 
oder   Rascier   in   Servien;    5.   das   11  lyrische  oder  Kroatisch- 


29 

Dalmalische,  welches  in  Kroatien,  im  eigentlichen  Bosnisclien  und 
in  Servien  Abänderungen  erleidet,  und  6.  das  Wen  d  i  s  che,  welches 
verteilt  werden  muß  in  das  südliche,  welches  in  Österreich,  Krain, 
der  windischen  Mark,  Steiermark,  Istrien  und  hin  und  wieder  in 
Kärnten  gesprochen  wird,  und  in  das  nördliche  der  Lausitzer,  Meißen, 
Brandenburger,  Pommern,  Mecklenburger,  Lauenburger  und  Lüne- 
burger, welches  aber,  außer  in  der  Lausitz,  dem  Kotbusser  Kreise, 
Kassuben  und  Lüchow  im  Lüneburgischen,  erloschen  ist. 

Diese  so  sehr  abweichenden  Volksverteilungen,  und  der  Um- 
stand, daß  öfters  einerlei  Sprache  in  sehr  weit  von  einander  getrenn- 
ten Ländern,  und  zwar  nur  von  einem  Teile  der  Einwohner  geredet 
wird,  machen  es  unmöglich,  nach  dem  Maßstabe,  den  die  Dialekte 
darbieten,  die  wendische  Geschichte  in  bequeme  Abschnitte  zu  zer- 
teilen. Man  muß  daher  ein  anderes  Hilfsmittel  zu  dieser  Arbeil  auf- 
suchen, indem  man  nachforscht,  ob  nicht  unter  den  verschiedenen 
wendischen  Nationen  eine  selbstgewählte  Absonderung  oder  auch 
Verbindung   in  bestimmten  Staaten   ehedem  vorhanden  gewesen  ist? 

Man  könnte  die  wendischen  oder  slavischen  Völkerschaften 
nach  ihren  Oberherren  abteilen,  und  avarische,  griechische  und  frän- 
kische Untertanen  und  freigebliebene  Wenden  in  besonderen  Büchern 
beschreiben ;  allein  auch  diese  Ordnung  hat  Unbequemlichkeiten,  die 
zu  groß  sind,  um  sie  in  einer  Geschichte,  die  überall  Deutlichkeit  ent- 
halten muß,  zum  Grunde  zu  legen ;  abgesehen  davon,  daß  diese  Ein- 
teilung sich  nur  dann  würde  gebrauchen  lassen,  wenn,  was  jedoch 
nicht  geschah,  alle  wendischen  alten  Staaten  aufgehoben  wären.  Der 
Herr  Hofrat  Schlözer  entwirft  nach  der  Richtschnur  der  Oberherr- 
schaften (Allgemeine  Welthistorie  XXXI.  T.  S.  223)  einen  bequemeren 
Plan  und  teilt  die  Wenden  ein:  1.  in  Russen  (Russen,  Novogoroder 
und  Kosaken);  2.  in  Polen  (Polen  und  Schlesier) ;  3.  in  Böhmen 
(Böhmen,  Mähren  und  Lausitzer);  4.  in  Teutsche  oder  eigentliche 
Wenden,  und  zwar  südliche  (Österreicher,  Krainer,  Kärnter,  Steier- 
märker,  Friauler)  und  nördliche  (Obotriten  mit  Inbegriff  der  Polaben, 
Wagrier  und  Linonen,  Vilzen  in  Pommern  und  Pommerellen,  Ukern 
in  Brandenburg  und  Sorben  in  Obersachsen);  5.  1 11  y  re  r  (Dalmatier, 
Slavonier,  Kroaten,  Bosnier,  Serbier  und  Ragusaner) ;  6.  in  Ungarn 
und  7.  in  Türken  (Bulgaren,  Walachen  und  Moldauer).  Aber  auch 
diese  Abteilungsweise  ist  mit  Schwierigkeiten  verbunden,  die  mich 
abhalten,  sie  bei  meiner  Ausarbeitung  zugrunde  zu  legen.  — 

Einige  ältere  und  neuere  Schriftsteller  wendischer  Begebenheiten 
haben  verschiedene  willkürliche  Einleitungen  gemacht,  die  sich  teils 
auf   die  Lage,   teils   auf   die  Regenten   beziehen.    Der  Name  S 1  a  v  o- 


30 

nien  oder  Sclavinien,  der  ein  Reich  der  Wenden  bezeichnet,  gibt 
selbst  Veranlassung  zu  solchen  Abteilungen  ;  denn  man  findet  wenig- 
stens acht  verschiedene  Staaten,  die  „Sclavinien"  heißen,  nämlich  einen, 
der  das  serbische  Dalmalien  bei  Ragusa  begriff,  einen  im  VI.  Jahr- 
hunderte in  der  Wallachei  und  Moldau,  einen  in  Kärnten  und  einen 
seit  dem  Oahre  803  zwischen  der  Drau  und  Sau,  der  bis  jetzt  allein 
die  Benennung  Slavonien  behalten  hat.  Dann  hieß  auch  in  der 
griechischen  kaiserlichen  Hofsprache  ganz  Dalmatien,  (s.  meine  Hun- 
garische  Geschichte  111.  T.,  5.  409)  und  am  fränkisch  -  kaiserlichen 
Hofe,  Krain,  Kärnten,  die  windische  Mark  ein  Teil  von  Österreich 
und  Slavonien  (im  8.  dahrhunderte)  S lavin ia  und  endlich  war  ein 
anderes  oder  das  kleine  Slavanien,  der  Staat  von  18  wendischen 
Völkerschaften  in  Brandenburg,  Mecklenburg,  Lauenburg,  Holstein 
und  Verpommern,  und  wiederum  ein  anderes  Slavien  das  pommersche 
Gebiet  jenseits  der  Oder  nebst  Kassuben  (Chron.  Gotwicense  P.  II. 
p.  775).  - 

Adam  v.  Bremen  (Hist.  Eccles.  L.  II.  c.  10,  24)  teilt  die  Winulos, 
Wenden  oder  Slaven  l.in  Slaven  der  hamburgischen  Diözese  (Wagrier, 
Obodriten,  Polabingen,  Lingonen  Warnaher,  Chizziner,  Circipaner, 
Tholosanter,  Rhetarier) ;  2.  in  Slaven  zwischen  der  Elbe  und  Oder 
(Hevelder,  Doxaner,  Liubuzzer,  Wiliner,  Stoderener);  3.  in  Slaven  an 
der  Elbe  (Böhmen  und  Soraben).  —  Helmold,  ein  slav.  Schriftsteller 
des  12.  Jahrhundertes,  erweitert  diese  Einteilung  [Chron.  Slavor.  I.  I. 
Cap.  1.)  und  belegt  die  größtenteils  hier  übergangenen  Wenden  mit 
dem  Namen  der  östlichen  Slaven,  die  übrigen  aber  mit  dem  Namen 
der  Wenden  im  genaueren  Verstände  in  folgenden  Worten :  „Slavi 
orientales  ad  littus  australe,  Riizi.  PolonL  Pruzi,  Bujemi,  Morahi  sivi 
Carinthi,  Sorabi:  quodsi  adjeceris  Ungariam  in  partem  Slavoniae,  ut 
quidam  volunt,  quia  nee  habitu  nee  linqua  diserepaf,  eo  usque  Slavieae 
linguae  sueereseit  ut  pene  eareaf  aesiünatione.  —  Provincia  eoriim 
Slavorum,  qui  Winithi  sive  Winuli  appellantiir :  Pomerani,  Sorabi,  Wilzi, 
Heruli  vel  Heveldi,  Lcubuzi,  Wilini,  Sioderani  et  multi  alii  Liguones,  War- 
navi,  Obotriti,  Polabi,  Wagiri,  Veinere,  Rani  sive  Rugiani.  —  Auch  zer- 
trennt er  die  letzteren  an  einem  anderen  Orte  (L.  1.  c.  16.)  in  die 
Slaven  der  östlichen  und  westlichen  Provinz,  ohne  die  Grenzen  dieser 
beiden  Provinzen  genauer  zu  bestimmen,  scheint  aber  unter  der 
westlichen  Provinz,  weil  er  selbige  dem  Herzog  Bernhard  von  Sachsen 
zueignet,  die  in  Herzog  Heinrichs  von  Sachsen  Urkunden  angegebene 
Transalbina  Slavia  (dipl.  1154,  de  Westphalen  M.  ined.  r.  Cimbr.  T.  III. 
p.  1998.)  zu  verstehen,  welche  die  Bischoftümer  Ratzeburg,  Lübeck 
und  Schwerin  begriff.  Der  unbekannte  Verfasser  der  im  dreizehnten 
Jahrhunderte    aufgesetzten    Chronik    der    Slaven    (Lindenbrogii 


31 

Script,  rer.  Germ.  p.  189.)  behält  Helmolds  Völkernamen  bei,  gedenkt 
aber  eines  größeren  Sclaviens  gegen  Dalmalien  zu,  und  eines  kleine- 
ren zwisctien  Sactisen,  Böhmen  und  der  Ostsee.  Otto  von  Kirch- 
berg teilte  1378  (de  Westphalcn  Mon.  inedit.  rer.  Cimbr.  T.  IV.  p.  595.) 
das  ganze  Wendland  in  Ost-  und  Westerwende,  zählte  zu  den  letzteren 
alle   jene   Völker,   die   Helmold   Winither   nennt,  und   sagt   von  den 

übrigen : 

Gen  Osten  wohnt  der  Wende  Heer, 

Russen,  Polen,  Prussen,  Böhmen, 

Sorabia,  Kernthen,  Merhern, 

Ungirn,  ein  Land  heißit  Slevenye.  — 

Hier  nimmt  der  Ostirwende 

Land  Uzrichtunge  ein  Ende. 

Dieser  Begriff  vom  östlichen  Slavien  war  aber  demjenigen,  den  man 
von  diesem  Lande  in  den  älteren  Zeiten  in  der  fränkischen  Reichs- 
kanzlei sich  machte,  nicht  völlig  gemäß ;  denn  die  Annales  Laures- 
hamenses  melden  vom  Kaiser  Ludwig  (ad  An.  822)  omnium  Orientalium 
Slavorum,  hoc  est  Abotriforum,  Soraborum.  Wilsorum,  Behemanorum, 
Maruanorum,  Predeceniorum,  et  in  Pannonia  residentium  Avaruni,  lega- 
tiones  —  excepit,  und  zählen  also  auch  viele  westliche  Slaven  des 
V.  Kirchberg  zu  den  Ostslaven.  Übrigens  wurden  innerhalb  der  näch- 
sten hundert  Jahre  nach  Kaiser  Ludwigs  Tode  alle  Slaven  jenseits 
der  Elbe,  mit  Einschluß  der  Böhmen,  zum  Herzogtume  Sachsen,  die 
übrigen  aber  in  Krain,  Kärnten,  Österreich,  Slavonien  und  Friaul  zum 
Herzogtume  Bayern  gelegt,  und  nach  dieser  Abteilung  auf  den  teut- 
schen  Reichstagen  als  zwei  abgesonderte  Nationen  behandelt. 

In  neueren  Zeiten  gab  Johann  Simonius  eine  besondere 
Einteilung  der  helmoldischen  Wenden  an  (Vandalia  1598  in  de  West- 
phalcn M.  i.  r.  T.  I.  p.  1543),  die  aber  keinen  Beifall  gefunden  hat, 
und  redete  von  einer  vieviachen  Slavo- Vandalia,  nämlich  einer  nörd- 
lichen für  Rügen,  Femern  und  Wismar;  einer  östlichen  für 
Pommern,  Kissin,  Lebus,  Tolenz,  das  Land  an  der  Pene,  und  Neu- 
Brandenburg ;  einer  südlichen  für  die  Heveller,  Brizaner,  Prignitzer, 
Wilinen  und  Stoderanen ;  und  einer  westlichen  für  die  Warner, 
Obotriten,  Polaben  und  Wagrier. 

Herr  P.  Dobner  bringt  alle  Slaven  und  Wenden  unter  drei  Ord- 
nungen, nämlich  1.  unter  die  Klasse  der  Klein-Slavania,  worin  gehören 
die  Wagrier,  Polaben,  Abodriten  nebst  den  Brizanern,  Smeldingern, 
Warnabern  und  Kissinern,  die  Circipaner,  die  Rugier,  die  Tolenzer, 
die  Rhedarier,  die  Wilzen,  nebst  den  Doxanern,  Hevellen  und  Stode- 
ranen, die  Leubusier  und  Pomoranen ;  2.  unter  die  Klasse  der  Pola- 


82 

chen  und  3.  unter  die  Klasse  der  Gross-Sclavanien,  welche  begreift 
die  Lusizer,  die  Zlesaner  (Schlesier),  Gross-Serbien  (Meissen  und 
Lausitz),  Gross-Chrobacia  oder  Böhmen   und  das  Königreich  Mähren. 

Herr  Hofrat  Gatterer,  welcher  in  seiner  „Einleitung  in  die  syn- 
chronistische Universalhistorie",  Göttingen  1771,  den  ersten  Entwurf 
einer  vollständigen  wendischen  Geschichte  geliefert  hat,  handelt  die 
ältere  wendische  oder  slavische  Geschichte  nach  fünf  Perioden  ab, 
nämlich  der  Sarmatischen,  die  bis  zum  Oahre  332,  der  Gotischen,  die 
bis  zum  3ahre  376,  der  Hunnischen,  die  bis  zum  Dahre  453,  der 
Gepidisch-Bulgarischen,  die  bis  zum  Oahre  552,  und  der  Avarischen, 
die  bis  zum  Jahre  827  fortläuft;  dann  aber  teilt  er  die  besondere 
Geschichte  der  teutschen  Slaven  1.  in  die  der  südlichen  Slaven,  die 
aus  der  avarischen  unter  die  fränkische  Hoheit  durch  Karl  des  Gros- 
sen Waffen  kamen ;  2.  in  die  der  nordischen  Slaven  oder  der  Obo- 
triten,  Witzen,  Böhmen,  Linonen,  Sorben,  Siusler,  Moraven,  Heveller, 
Redarier  und  Polen ;  und  3,  in  die  der  Wenden  an  der  Ostsee,  und 
beschreibt  in  abgesonderten  Abschnitten  die  Schicksale  der  Reiche 
Gross-Mähren,   Polen,   Russland,   Böhmen  und  Ungarn  ausführlicher. 

Herr  Hofrat  Schlözer  („Allgemeine  Welthistorie"  31.  T.  S.  220) 
bestimmt,  ausser  der  allgemeinen  wendischen  Geschichte,  die  aus  den 
byzantinischen  Schriftstellern  geschöpft  wird,  vierundzwanzig  beson- 
dere Geschichten  einzelner  Staaten,  als  Teile  einer  ganz  vollständigen 
Nationalgeschichte.  Diese  besonderen  Geschichten  sind :  die  Geschichte 
der  Russen,  Novogoroder,  Kosaken,  Polen,  Schlesier,  Böhmen,  Mähren, 
Lausitzer,  Obodriten,  Wilzen  oder  Pomeraner,  Ukrer,  Sorben,  Kärn- 
ter,  Krainer,  Steiermärker,  Friauler,  Dalmatier,  Slavonier,  Kroaten, 
Bosnier,  Serbier,  Ragusaner,  der  ungarischen  Slaven  und  der  Bulgaren. 

Bei  den  Angaben  der  verschiedenen  wendischen  Stämme,  welche 
besondere  Staaten  ausgemacht  haben,  tritt  die  Frage  ein :  zu  welcher 
Zeit  man  einen  Staat  für  erloschen  halten  müsse?  Diese  beantworte 
ich  mir  auf  folgende  Weise.  Ein  Staat  stirbt,  wenn  er  seine  ganze 
Verfassung  ändert;  desgleichen  wenn  die  Nation,  die  ihn  errichtet 
hat,  einen  fremden  Herrn  erhält,  und  so  sehr  unterdrückt  wird,  dass 
sie  ihre  Unterscheidungszeichen,  nämlich  Sprache,  Gesetze,  Sitten  und 
in  gewisser  Beziehung  auch  die  Religion  verliert.  Ist  die  Beantwortung 
begründet,  so  hört  in  der  wendischen  Geschichte  die  Historie  des 
Rügenischen,  Pommerischen,  Lausitzischen  und  eines  jeden  anderen 
ähnlichen  Staates  mit  dem  Zeitpunkte  auf,  da  selbige  in  eine  Provinz 
anderer  mächtigerer  Staaten  verwandelt  wurde.  Aber  die  böhmische 
und  die  mecklenburgische  Geschichte  dauert  noch  fort,  weil  der 
Landesherr   aus   altem   wendischen    Geschlechte    abstammt  und   die 


33 

Staalsverfassung  forlgeselzt  hat,  obgleich  diese,  besonders  in  Mecklen- 
burg, völlig  nach  teulsclier  Form  abgeändert  und  umgebildet  ist.  Sind 
mehrere  kleine  freie  Staaten  einmal  unter  ein  einiges  Haupt  zusam- 
mengetreten, so  machen  ihre  Geschichten  Teile  der  Geschichte  des 
neuen  Reiches  aus,  und  daher  muss  die  Geschichte  der  Circipaner, 
der  Wagrier  und  der  übrigen  18  nördlichen  Nationen  in  der  Geschichte 
des  obotritischen  oder  wendischen  Reiches  abgehandelt  werden.  Tren- 
nen sich  Stämme  vom  Hauptzweige,  ohne  ein  besonderes  Reich  zu 
bilden,  so  werden  ihre  Begebenheiten  zu  der  Geschichte  des  Haupt- 
zweiges gelegt,  und  gehören  also  die  Taten  der  Lausitzer  und  Dale- 
mincier  in  die  Geschichte  der  Sorben.  Sind  die  Nationalen  mit  frem- 
den Völkerschaften  so  sehr  vermischt,  dass  es  schwer  zu  bestimmen 
ist,  welche  Nation  die  meisten  Bestandteile  zu  dem  neuen  Körper 
hergegeben  hat,  so  kann  der  Staat  nicht  zu  einer  der  Nationen  ge- 
rechnet werden,  und  findet  daher  z.  B.  die  wallachische,  die  mol- 
dauische, die  preussische  und  gewissermassen  auch  die  lithauische 
Geschichte  in  der  wendischen  Geschichte  keinen  Platz.  Die  Kolonien 
der  Wenden  in  solchen  Staaten,  in  welchen  sie  gleich  Untertanen 
aufgenommen  sind,  kommen  in  der  wendischen  Geschichte  in  keinen 
Betracht,  sowie  sie  überhaupt  nicht  viel  Stoff  zu  einer  besonderen 
Geschichte  liefern  können.  Kolonien  dieser  Art  findet  man  im  magde- 
burgischen, sächsischen,  brandenburgischen  und  lüneburgischen  Lande 
am  linken  Ufer  der  Elbe,  in  Fulda,  im  Hochstifte  Würzburg,  in  Hohen- 
lohe,  in  der  Pfalz  am  Rhein,  in  Italien  und  in  Griechenland.  Nach  obi- 
gen Regeln  ordne  ich  die  wendische  Geschichte  unter  diese  Rubriken: 

I.  Geschichte  der  Slaven  und  Wenden  bis  zur  Zerteilung  in  völlig 
abgesonderte  Staaten. 

IL  Geschichte  des  Reiches  der  Wenden  im  nördlichen  Teutschlande. 

III.  Geschichte  des  Reiches  Rügen. 

IV.  Geschichte  des  Pommerischen  Reiches. 
V.  Geschichte  der  Sorben. 

VI.  Geschichte  des  Reiches  Böhmen. 

VII.  Geschichte  des  Reiches  Mähren. 
VIll.  Geschichte  von  Schlesien. 

IX.  Geschichte  von  Polen. 
X.  Geschichte  der  Russen. 

XL  Geschichte  des  Reiches  Servien. 

Xll.  Geschichte  von  Bosnien. 

XllL  Geschichte  des  nördlichen  kroatischen  Reiches. 
XIV.  Geschichte  des  westlichen  kroatischen  Reiches. 

Ehe  ich  mich  zu  diesen  Geschichten  wende,  wird  es  nötig  sein 
die  verschiedenen   Meinungen-  der  Schriftsteller  über   den  Ursprung 


34 

der  Wenden  anzuführen,  u.  zw.  in  dieser  „Vorrede",  weil  deren  Be- 
kanntmachung, die  in  gewisser  Hinsicht  nicht  verabsäumt  werden 
darf,  an  einem  jeden  anderen  Orte  den  Faden  der  Erzählung  zer- 
reisst,  und  Unbequemlichkeiten  veranlasst.  Vermöge  der  mannigfaltigen 
Angaben,  die  öfters  bloss  durch  willkürliche  Erdichtungen,  öfters  aber 
durch  Wahrscheinlichkeiten,  Tonähnlichkeiten,  Besitz  eines  eigenen 
Landes  und  anderer  zufälliger  Umstände  entstanden  sind,  sollen  die 
Wenden  und  Slaven  folgende  Stammväter  haben : 

1.  3aphet,  Noahs  Sohn.  Dieser  zeugte  die  Stammväter  der 
Waräger,  Schweden,  Normänner,  Engländer,  Franzosen,  Teutschen 
(Njemci),  Wenden  (Venedici)  und  anderer  Völkerschaften  durch  seine 
Kinder.  Bei  der  Sprachverwirrung,  die  diese  betraf,  teilte  Gott  alle 
Völker  in  72  Sprachgenossen,  und  auf  diese  Weise  entstand  die  sla- 
vische  Sprache  und  Nation.  Doch  hiessen  die  Slovenen  zuerst  Norici, 
kamen  nach  langer  Zeit  an  die  Donau  in  Ungarn  und  Bulgarien,  und 
gingen  ferner  bis  an  die  Weichsel.  Hier  zerteilten  sie  sich  unter  dem 
Namen  der  Ljachen  in  Poljanen,  Lutitscher,  Mazovssanen,  Pomorjanen 
(Polen  und  Pommern),  Drewitschen,  Novogoroder  und  Sjeverer,  und 
zugleich  mit  den  Slovenen  enstanden  die  Moravinen,  Cechen,  Serben 
und  Chorutanen,  das  ist  Mähren,  Böhmen,  Kroaten,  Serbier  und  Kärn- 
ter.  Dieses  ist  die  Hypothese  des  ältesten  slavischen  Geschichts- 
schreibers, nämlich  das  Kiewer  Mönchs  Nestor.  (Siehe  des  heiligen 
Nestors  und  der  Fortsetzer  desselben  älteste  Jahrbücher  der  russischen 
Geschichte,  übersetzt  von  J.  B.  Scherer,  Leipzig  1774,  S.  40,  41.  Herr 
Hofrat  Gatterer,  Einleitung  in  die  synchronistische  Universalhistorie, 
5.  981.) 

Oaphets  Sohn,  3avan  oder  Janus,  zeugte  Heiisa,  den  Vater  aller 
jener  Slaven,  die  nach  Dalmatien  zogen.  (Mari.  Cromerus  de  Origine 
Polonorum,  Ed.  3.   1568.  L.  I.  c.  2.) 

Von  einem  anderen  Sohne  CJaphets  entsprang  Aeneas,  der  troja- 
nische Held,  dessen  Ururenkel  Alanus  sich  mit  seinen  vier  Söhnen 
nach  Europa  wendete.  Der  älteste  Sohn  dieses  Alanus  hiess  Vandalus, 
gab  seinen  Namen  der  Weichsel  und  dem  polnischen  Lande,  und  ver- 
teilte seine  Eroberungen  unter  seine  vielen  Söhne,  die  die  mannig- 
faltigen wendischen  Staaten  stifteten.  (Cromerus  I.  c.) 

Nach  der  Sprachveränderung  zu  Babel  bekamen  die  Wenden 
den  Namen  Sclavoni  oder  Wortreiche  (von  Slowo  das  Wort),  weil  sie 
gesprächig  waren,  und  rückten  durch  Kleinasien  über  Byzanz  in  die 
Bulgarei,  stifteten  die  illyrischen  Staaten,  und  wanderten  darauf  nach 
Böhmen  und  Polen.  (Aen.  Sylvius  de  Bohemorum  Origine  ac  Gestis 
Historia,  Basil.  1575.  p.  4.) 


Daphels  Enkel,  Riphal,  hinlerliess  eine  Nachkommenschaft,  die 
sich  an  den  riphäischen  Gebirgen  ansiedelte,  und  von  diesen  stam- 
men die  Slaven  ab.  (Sc/iurzflcisc/i  res  Slavicac.) 

2.  Die  Armenier.  Die  Slaven  haben  besondere  Namen  für 
solche  Tiere,  die  in  Europa  nicht  gefunden  werden,  wie  z.  B.  den 
Elephanten,  das  Kameel,  den  Affen  usw.  Sie  müssen  also  aus  einem 
Lande  hergekommen  sein,  wo  sich  diese  Tiere  befinden  oder  aus 
Südasien.  Die  Lieblingsendigung  der  Wörter  bei  den  Armeniern  „mat", 
gleicht  den  slavischen  Endigungen  „ak"  und  „at"  (z.  B.  Slovak  und 
Chravat).  Man  findet  unter  den  slavischen  Wörtern  manche,  die  mit 
den  gleichlautenden  armenischen  Wörtern  gleiche  Bedeutung  haben, 
und  zwar  mehrere,  als  in  der  griechischen,  lateinischen  und  germa- 
nischen Sprache,  in  welchen  auch  armenische  Wörter  angetroffen 
werden.  Es  gab  nie  Völker,  die  die  Namen  Sarmat,  Skyte  und  Kette 
sich  selbst  beilegten,  wohl  aber  unter  den  von  den  Nachbarn  also 
benannten  Völkern  zwei  Nationen,  die  sich  Serben  und  Jazygen 
nannten.  Wahrscheinlich  enstanden  von  den  Persiern  die  Armenier, 
und  von  einer  Kolonie  der  Armenier,  die  frühzeitig  über  den  Kau- 
kasus bis  an  die  Wolga  und  an  den  Don  sich  ausbreitete,  die  an- 
gebliche sarmatische  Nation,  oder  der  Stamm  der  ältesten  Serben  an 
der  Wolga,  am  Azowschen  und  Schwarzen  Meere.  Später  begab  sich 
ein  anderer  Haufen  Armenier  nach  Kappadokien,  und  aus  selbigem 
entsprangen  erst  die  Thrazier,  von  diesen  aber  die  Hellenen  (Griechen) 
und  Germaner.  Von  den  Serben  gingen  ab  die  Budinen,  Roxolanen, 
Udinen  und  Amazonen,  aber  die  übrigen  zerteilten  sich  in  die  neuen 
Serben  und  in  die  3azygen.  Die  alten  Serben,  welche  von  Plinius 
und  Ptolemäus  an  der  Wolga  gefunden  wurden,  verschwanden  nach- 
her und  sind  vielleicht  zu  den  neuen  Serben  gegangen  oder  auch 
von  den  Schriftstellern  mit  den  Skythen  vermischt  worden.  Die  neuen 
Serben  bevölkerten  Polen,  Böhmen  und  andere  westliche  Länder,  und 
müssen  sich  Sporen  genannt  haben.  Von  ihnen  kamen  die  Anten, 
Wenden  oder  Slaven  (ruhmwürdige),  von  den  Jazygen  aber,  welche 
vorzüglich  Sarmaten  bei  den  Griechen  hiessen,  die  Sloven,  denn  da 
„jazik"  in  allen  slavischen  Dialekten  die  Zunge,  und  „slovo"  das 
Wort  andeutet,  so  ist  es  gewiss,  dass  die  Volksnamen  „Slovo"  und 
„3azik"  einerlei  sind.*)  (Erste  Linien  eines  Versuches  über  der  alten 
Slaven  Ursprung,  ausgearbeitet  von  Karl  G.  Anton,  Leipzig  1783.)  — 

3.  Die  Hebräer.  Von  diesen  leitet,  einiger  Sprachähnlich- 
keiten wegen,  Frencelius  Lib.  I.  et  IL  de  Ordinibus  Linguae  Sorabicae 

*)  Diese  Etymologie  ist  ebensowenig  begründet,  wie  »jazik-  oder  -slovo«  als  grund- 
legender Begriff  für  einen  ethnographischen  Namen. 

3» 


36 

(1693,  1696)  die  Wenden  ab.  Die  ältesten  Russen  (s.  Nestor)  behaup- 
teten, dass  der  Apostel  Paulus  und  Andronicus,  ein  Jünger  Christi, 
slavisch  geredet  haben. 

k.  Die  Heniochen  in  Colchis  (Mingrelien  und  Guriel).  Diese 
hält  Pastorius  (Orig.  Sarmat.  p.  25.)  für  Stammvettern  der  Heneter 
(gegen  das  Zeugnis  vom  Gegenteile  in  Strabo  und  Ptolemäus  Erdbe- 
schreibungen) und  zugleich  für  Urheber  der  Slaven. 

5.  Die  Bürger  der  colchischen  Stadt  P  o  1  a.  Diese  verbreiteten 
sich  unter  dem  Namen  der  Polen,  und  ein  Stamm  nannte  sich  vom 
Sclavinis  Rumenensi  Slaven.  (Gundlingiana  XI.  Stück  p.  56.) 

6.  Die  Lazi  oder  heutigen  Lescier  und  die  Zichi  in  Colchis 
und  Dagestan.  (Abels  sächsische  Altertümer  p.  326,  parcrga  historica 
p.  547).  Man  erklärte  diese  Völker  für  uralte  Wenden,  wegen  der 
Ähnlichkeit  des  Namens,  die  zwischen  ihnen  und  den  Lechen  (Polen) 
und  Cechen  (Böhmen)  eintritt.  Auch  die  Avaren,  Circassen  und  Chaza- 
ren,  die  später  aus  der  Kobardei  auswanderten,  sind  vom  Herrn 
Prof.  Dobner  (Com.  ad  Hagecium  P.  II.  pracf.  d.  3.  und  Crumenis  de 
Orig.  Polonor.  L.  I.  C.  I.)  wegen  der  Sprachähnlichkeit,  die  sich  bei 
den  Kobardinern  und  Slaven  finden  soll,  von  den  zuverlässigsten 
Reisebeschreibern  aber  geleugnet  wird,  als  Stammvettern  der  Slaven 
betrachtet  worden. 

7.  Die  Stammväter  der  Kirgisen  (Abhandlungen  einer  Privat- 
gesellschaft in  Böhmen  11.  B.  S.  242)  wegen  Sprachähnlichkeit,  die 
aber  zufällig  entstanden  sein  muss,  da  die  Kirgisen  zu  den  Mongo- 
len oder  Tataren  gehören. 

8.  Die  Phrygier,  von  welchen  der  Argonaul  Fenisius  oder 
Polyphemus  die  jetzige  slavische  Schrift  erfunden,  und  zu  den  Gelen 
gebracht  haben  soll.  (Grubissich  Disquifiiio  in  Origines  et  Historiam 
Alphabethi  Sclavo-Glagoliiani,   Venct  1766.  p.  51.  43.56.) 

9.  Die  Veneti  oderHeneti  in  Paphlagonien,  welche,  vermöge 
des  Herodotus,  aus  lllyrien  nach  Asien  gingen,  vermöge  des 
Homerus  aber  schon  vorher  in  Phrygien  ansässig  waren,  nach 
Trojens  Eroberung  eine  Kolonie  unter  dem  Anführer  Antenor  in  das 
Adriatische  Meer  sandten,  und  den  venetianischen  Staat  bevölkerten. 
(Severini  Commentatio  historica  de  veterilnis  Incolis  hungariae  Cis-Danu- 
bianac,  Sopronii  1767.  Cap.  7.  de  Slavis  et  Chrobatis  p.  86.)  Diese 
Veneter  halten  zwar  die  Sitten,  aber  nicht  die  Sprache  der  Gallier, 
wie  Polibius  B.  11.  Cap.  17.  meldet.  Vielmehr  müssen  sie  slavisch 
geredet  haben,  weil  der  Fluss,  der  slavisch  Dwina  heisst,  von  den 
Griechen  Parthenius  genannt  ward,  welche  Benennung  die  Über- 
setzung   von    Dwina  ist.   (Severini  l.  c.  p.  59.)    Eben    diese  Griechen 


37 

nannten  die  Venelos  auch  Enetos,  oder  die  ruhmwürdigen,  vom 
Worte  „ainos",  das  Lob,  woraus  erhellt,  dass  der  Name  Wende  eine 
blosse  Übersetzung  des  wahren  Volksnamens  Slawni  (die  Löblichen)*) 
ist.  (Hr.  P.  Dobner  /.  c.  P.  I.  p.  117.  de  Jordan  Ori^.  Slav.  p.  706. 
C/iytraci  Windalia  p.  3.  Cruoe/i  Orig.  Liijat.  Fascic.  I.  p.  144.) 
Goropius  Becanus  gibt  an,  dass  von  den  Venetianern  eine 
Kolonie  nach  Gallien,  von  den  gallischen  Venetern  eine  zweite  Kolonie 
nach  Wensyssel  in  Jütland,  und  aus  diesem  Lande  eine  dritte  an  die 
deutsche  Ostseeküste  gesandt,  und  die  letztere  die  Nation  der  Wenden 
und  Slaven  geworden  sei ;  allein  Hr.  P.  Dobner  hält  es  für  wahr- 
scheinlicher, dass  die  venetischen  Kolonien  nach  Venedig,  Gallien  und 
Wendland  zu  gleicher  Zeit  aus  Asien  in  ihre  Länder  gewandert  sind. 
Für  alles  bürgt  bloss  die  Gleichheit  der  Namen.  Aber  verschiedene 
historische  Bemerkungen,  die  Thunmann  (Untersuch,  über  die  alte 
Geschjichte  einiger  nordischen  Völker  p.  141.)  angeführt  hat,  wider- 
streben demselben. 

10.  Die  ältesten  Stammväter  der  Lateiner.  Herr  l'Evesque 
(Effai  für  les  rapports  de  la  Langue  des  Slaves  avec  celle  des  anciens 
Habitans  de  Latiiim)  findet  in  der  slavischen  Sprache  viele  lateinische 
Wörter,  und  vermutet,  weil  diese  fast  alle  einsilbig,  und  von  der  Art 
jener  Benennungen  sind,  die  sich  erst  alsdann  bei  einer  Nation  zeigen, 
wenn  sie  den  Stand  der  Wildheit  verlässt  und  sich  aufzuklären  pflegt, 
dass  die  alten  Lateiner  die  Grundtöne  ihrer  Sprache  den  Wenden 
schuldig  sind,  oder  dass  die  Stammväter  der  Lateiner  und  der  Slaven 
sich  in  den  ältesten  Zeiten,  ehe  noch  die  Trojaner  und  Veneter  von 
den  Slaven  ausgingen,  und  vielleich  nicht  lange  nach  der  Menschen 
Zerstreuung  von  einander  getrennt  haben  müssen.  Den  Einwurf, 
dass  die  Slaven  einige  Jahrhunderte  hindurch  unter  Lateinern  lebten, 
sich  unter  ihnen  völlig  umbildeten,  und  daher  manches  ihnen  fehlende 
Wort  in  ihre  Sprache  werden  aufgenommen  haben,  glaubt  Herr 
l'Evesque  durch  die  Bemerkung  aufzuheben,  dass  die  slavischen  und 
lateinischen  Sprachen  in  Betracht  ihrer  ferneren  Bildungen  weit  von 
einander  abweichen. 

11.  Die  Pannonier.  Weil  einige  alte  pannonische  Namen 
aus  der  slavischen  Sprache  sich  einigermassen  deuten  lassen,  halten 
verschiedene  Gelehrte  (Severini  Commentatio  historia  de  veteribus  incolis 
Hungariae  Cis-Danubianae  a  Morava  Amne  ad  Tibiscum  porrectae, 
Sopronii  1767,  p.  59.  Ejiisd.  Pannonia,  Ups.  1771.  p.  65.)  die  Pan- 
nonier und   ihre   Stammväter,   die   Thracier,  für  die  ältesten  Slaven. 

Einer  der  ältesten  polnischen  Geschichtsschreiber  Boguphalus 
(de  Sommersberg  Silesiacarum  reriim   Script.    T.   II.  p.    19.)  erdichtet 

*)  Diese  Etymologie  ist  falsch. 


3S 

folgende  Stammgeschichte  der  Wenden.  Slavus,  ein  Abkömmling  des 
assyrischen  Monarchen  Nimrod,  vom  Jan,  Oaphets  Enkel,  von  dem 
alle  Slaven  herstammen,  hatte  einen  Sohn,  der  sich  in  lllyrien  nieder- 
liess,  sich  nur  den  Herrn  oder  Pan  hiess,  Pannonien  bevölkerte,  und 
drei  Söhne,  Lech,  Rus  und  Czech  zeugte.  Diese  wurden  die  Stifter 
der  polnischen,  russischen  und  böhmischen  Völkerschaften  zur  Zeit  des 
Königs  Ahasverus.  Nimrod  hatte  scl^jon  einige  slavische  Stämme  als 
Knechte  behandelt,  daher  ihr  Land  von  den  Gallieren  Servia  genannt 
wurde,  obgleich  es  nach  dem  ersten  Könige,  Sarban,  Sorbien  hiess. 
Schon  die  Königin  des  Morgenlandes  zu  Saba  oder  an  der  Sau  ver- 
teilte ihre  europäischen  Länder  unter  ihre  Söhne,  daher  eines  dieser 
Reiche  Dalmatien  oder  Data  macz  (dabat  nuücr)  genannt  ist.  Der  Namen 
eines  anderen  Reiches,  Rama,  kam  vom  Feldgeschrei  Ram !  (Viilncra) 
so  wie  der  Name  Polen  vom  Polo  artico  und  Grenzschlosse  Polan ; 
Cassubien  von  Huba  (eine  Falte),  weil  die  Einwohner  weite  Vyeider 
mit  vielen  Falten  trugen ;  Drewnane  oder  Halczste  (Holstein),  worin 
Lübeck,  Hamburg  und  Bremen  liegt,  von  dicken  Wäldern  und  dem 
Trava-Fluss ;  Kärnten,  dessen  Einwohner  Czernchane  heissen,  von 
Akanita  (Canalia)  und  Wtrane  (Hungern)  vom  Flusse  Wtra  bei  Pfemi- 
slav.  Die  Wtrane  kamen  mit  dem  Hunnenkönige  Atilla  nach  Panno- 
nien, nannten  sich  a  Hinis,  Hungaren,  erhielten  aber,  da  viele  Slaven 
sich  zu  ihnen  gesellten,  den  Namen  Wandalen.*)  —  Der  Römer  Gra- 
chus,  d.  i.  Crak,  ein  lechischer  Wojwode,  hatte  lange  zuvor  Crakow 
erbaut,  und  eine  seiner  Deszendenten,  die  Königin  Wanda,  verschaffte 
der  Weichsel,  weil  sie  in  selbiger  erlrank,  den  Namen  Wanda,  und 
den  daran  wohnenden  Slaven  den  Namen  der  Wandalen.  Lestko,  ein 
König  der  Lechiten  in  Polen,  tötete  den  römischen  Triumvir  Crassus, 
und  besiegte  den  Julius  Caesar.  Caesar  erhielt  nachher  seine  Freund- 
schaft und  gab  ihm  seine  Schwester  Julia  zur  Gemahlin,  welche  in 
ihrem  Landesteile  das  Schloss  Julius  oder  Lebus,  und  Julia  oder 
Wolin  erbaute,  —  Ihr  Gemahl  besass  ganz  Westfalen,  Sachsen,  Bayern 
und  Thüringen,  und  verteilte  diese  Länder  unter  zwanzig  uneheliche 
Söhne.  Dadurch  wird  die  slavische  Macht  geschwächt,  allein  einer 
seiner  Nachfolger,  Semovit,  ein  Sohn  Piasts,  hob  sie  wieder  empor 
und  eroberte  Cassuben,  Pommern,  Ungern,  Sorabien,  Rama,  Drowina, 
Szgorzetcia  (Brandenburg)  und  alle  Länder  an  den  Flüssen  Albea, 
Odra,  Pyana,  Doloza,  Wtra,  Beknicza,  Warna,  Hawla,  Sprowa,  Hyla, 
Suda,  Mecza  und  Trawna  nebst  den  Schlössern  Magdeburg,  Dalen- 
burg,  Lüneburg,  Bardewik,  Lübeck,  Wismar,  Ratibor,  Gylow,  Rostock 
Bela,  Swanowo,  Ostrow,  Thoszin,  Marlow,  Bolck,  Trzebosszow, 
Wlogosch,  Kaszam  und  Walmieg  oder  Julin. 

•)  Alle  diese  etymologischen  Exkurse  sind  wissenschaftlich  wertlos. 


39 

Diese  Erzählung  verdient  bemerkt  zu  werden,  weil  sie  zeigt, 
zu  welchiem  Unsinn  die  auf  blosse  Etymologie  und  Wörterableitung 
gegründeten  Mutmassungen  leiten  können;  denn  dass  hier  eine 
Menge  chronologischer  und  historischer  Schnitzer  aufeinander  ge- 
türmt sind,  ist  keine  Folge  der  Ungeschicklichkeit  des  Verfassers, 
sondern  des  Mangels  der  historischen  Hilfsmittel  und  Verarbeitungen, 
der  im  Xlll.  Jahrhunderte  eintrat.  Neuere  Geschichtsschreiber,  die  diese 
besassen  und  benutzten,  verfuhren  vorsichtiger,  und  leisteten  eben 
das,  was  er  geleistet  hatte,  oder  gaben  ihrem  Leser  eine  mögliche 
für  eine  wahre  Geschichte. 

12.  Die  lllyrier  [Orbini.  Rcgno  dcgli  Slavi  p.  173)  sind  in  die 
Reihe  der  slavischen  Stammväter  gesetzt,  einmal  vermöge  einer 
missdeuteten  Stelle  eines  Aufsalzes  des  hl.  Hieronymus,  den  einige 
(de  Jordan  T.  I.  P.  I.  p.  73)  irrig  für  einen  geborenen  Slaven  halten 
(Hofrat  Gatterer,  Allgemeine  bist.  Bibliothek,  X.  B.  p.  5G)  und  zwei- 
tens aus  etymologischen  Gründen,  welche  Thunmann  (Untersuchungen 
über  die  alte  Geschichte  einiger  nordischer  Völker  p.  \-J  u.  f.)  und 
de  Peyssonel  (Diss.  sur  /'  Origine  de  la  lanqiie  Slavonne  pretendue 
Illiriqiie)  vernichtet  haben. 

13.  Die  Dal  matter  des  1.  üahrhundertes  n.  Chr.  (Reise  in 
Dalmatien  des  Abbate  Alb.  Forlis  I.  7.  p.  65)  waren  die  ersten 
Slaven  vermöge  einer  Tonähnlichkeit  der  wenigen  uns  bekannten 
dalmatischen  Personen-  und  Ortsnamen  mit  slavischen  Wörtern,  die 
aber  schon  Marl.  Cromerus  (de  Origine  Polonoriun  L.  I.  Cap.  4)  für 
ein  unstatthnftes  Beweisstück  erklärt  hat.  Thunmann  gibt  (p.  138)  den 
angeführten  alten  dalmatischen  Namen  keltische  Deutungen  und  Herr 
Salegius  (de  Statu  Eccles.  Pannonicae  Quinqiie-Eccles.  L.  I.  p.  185  u. 
206)  leitet  die  slavonische,  sarmatische,  dalmatische,  japodische, 
mösische  und  teutsche  Sprache  insgesamt  von  der  gallischen  oder 
altkeltischen  Sprache  ab. 

14.  Die  Scythen  (Hartknoch,  Altes  und  neues  Preussen,  p.  39). 
Nach  demjenigen,  was  der  Hofrat  Heyne  von  den  Scythen  oder  Sko- 
lothen  ausfindig  gemacht  hat  (Allgemeine  Weltgeschichte  nach  dem 
Plane  W.  Guthrie  und  F.  Gray,  III.  T.,  p.  1025  und  1041)  ist  es  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  aus  den  skolothischen  Völkern,  die  durch  die 
Cimmerier  zuerst  vom  Borysthenes  nach  dem  Norden  getrieben 
wurden,  dieiFennischen  Nationen,  und  von  den  späteren  skolothischen 
Kolonien,  die  bereits  513  Jahre  v.  Chr.  Polen,  Russland,  die  krimsche 
Tartarei  und  Ungarn  bis  an  die  Donau  besassen,  die  Wenden  ab- 
stammen. Die  skolothische  Monarchie  an  der  Donau  wurde  im  Jahre 
430  V.  Chr.  durch  den  macedonischen  König  Philipp  vertilgt,  und  viel- 


40 


leichl  entstanden  aus  den  Trümmern  dieses  Reiches  bald  hernach 
viele  kleine  Freistaaten,  deren  einer  der  Mutterstaat  aller  wendischen 
Völker  gewesen  sein  kann,  weil  die  in  den  Geschichtsbüchern  er- 
haltenen scythischen  Namen  sich  nur  aus  der  wendischen  oder  sla- 
vischen  Sprache  einigermassen  deuten  lassen  (p.  1043  und  1062). 

15.  Die  Roxolanen.  Dieser,  zu  den  Scythen  gerechneten 
asiatischen  Völkerschaft,  eignete  ein  pragischer  Professor,  Johann 
Mathias  a  Sudetis,  die  Ehre  der  Stiftung  der  böhmischen  Nation  zu, 
sowohl  in  einer  Schrift,  der  er  den  Titel  gab :  Bojenwnim  nationein 
non  ex  Slavis,  iif  Aeneae  Sylvio  et  Joanni  Dubravio  videtur,  sed  ex 
Russia  seu  Roxtüania  origineni  trahcre  vcrins  esse  dejendenms  1614,  als 
auch  in  den  Subcesivis  1615.  Seine  Amtsgenossen,  die  es  nicht  zu- 
geben wollten,  dass  ihre  Vorfahren  ungesittete  Scythen  und  Barbaren 
gewesen  sein  sollten,  widersetzten  sich  seinen  Äusserungen  mit 
grosser  Heftigkeit,  und  einer  derselben,  Troilus,  schrieb  gegen  sie 
eine  Anti-Roxalaniam  1616.  (Jordan,  de  Orig.  Slavieis  T.  I.  p.  696.) 
Vermöge  der  besten  Nachrichten,  die  wir  von  den  Roxolanen  haben, 
gehörte  dieses  Volk  mit  den  Alanen  zu  einer  alten  asiatischen  Nation, 
welche  Siracen  oder  Saracenen  hiess,  kam  im  1.  Jahrhunderte  an 
die  Donau  aus  der  Tartarei,  und  hatte,  wie  es  scheint,  sich  im  VU. 
Jahrhunderte  bis  nach  Kurland  verirrt,  konnte  also  nicht  wohl  wen- 
dischen Ursprunges  sein. 

16.  Die  Finnl  ander.  (Graf  Bonde  Försök  at  igenfinna  den 
Finska  Nationens  och  Sprakets  härkomst,  in  Kongl.  Svenska  Witter- 
hets  Academie  Handlingar  1755,  1.  T.,  S.  78.  Möller  korta  Beskrif- 
ning  öfver  Est  och  Liefland,  Westeras  1756.) 

17.  Die  Stavanen  des  Ptolemäus,  die  am  oberen  Don  nicht 
weit  von  der  Oka,  und  im  VI.  Jahrhunderte  in  einem  Teile  von 
Russland  gewohnt  haben  sollen  (Jo.  Thunnuinni  Diss.  de  Stavanis 
Ptoleniaei  T.  IV.  Act.  Jablonovianonim),  und  von  einigen  Gelehrten  für 
die  Schalauer  in  Preussen  gehalten  werden. 

18.  Eine  unbekannte  Nation,  deren  Stämme  die  Avaren, 
Bulgaren,  Pazzinaciten  und  Chrobaten  waren.  (Hr.  de  Peyssonel  Ob- 
servaf.  bist,  et  geographiques  C.  1.  p.  15.) 

19.  Die  Bulgaren  an  der  Wolga  und  am  caspischen  Meere, 
(Hr.  Hofr.  Gatterer  allgemeine  historische  Bibliothek  X.  Band  p.  56,  Q>k.\ 
werden  für  Slaven  gehalten,  weil  die  heutigen  Bulgaren  slavisch  reden. 
V.Jordan  (1.  c.  P.  1.  p.  90.  P.  IV.  n.  721.)  behauptet,  dass  von  den 
ältesten  Slaven,  die  die  Wolga-Ufer  besessen  hätten,  die  Anten,  die 
Bulgaren  und  die  Slavinen  ausgegangen  wären.    Von  den  Anten  sei 


41 

schon  im  111.  Jahrhunderte  das  Ufer  der  Aliita  in  Besitz  genommen, 
im  VI.  Jahrhunderte  aber  Bosnien,  Servien  und  Slavonien  durch  drei 
abgesonderte  Heere,  und  später  auch  vieles  von  Dalmalien  und 
Kroatien  erobert  worden.  Die  Bulgaren  hätten  sich  von  den  Anten 
getrennt,  und  sich  mit  einem  Teile  von  Servien  begnügt.  Die  Slavinen 
hätten  unter  dem  Namen  Saniuitüc  limigaiites  im  Jahr  334  sich  in 
den  Gegenden  an  dem  Marosch,  an  der  Teis,  und  an  der  Donau  auf- 
gehalten, wären  zum  Teil  im  Jahre  358  nach  Krain  und  Kroatien 
versetzt,  zum  Teil  aber  hätten  sie  im  Jahre  374  unter  Czech  und 
Lechs  Anführung  Böhmen  und  Polen  in  Besitz  genommen.  Diejenigen 
von  ihnen,  die  im  Lande  zurückgeblieben  wären,  hätten  sich,  da  i.  J. 
h2k  Pannonien  von  den  Hunnen  verlassen  worden,  zum  Teil  nach 
Kroatien  und  an  die  Drau  begeben,  endlich  aber  insgesamt,  weil  die 
von  den  Bulgaren  im  Jahre  k2k  vertriebenen  Slavinen  ihnen  das  Land 
entrissen,  sich  nach  Pannonien  gewendet,  und  das  slavisch-mährische 
Reich  gestiftet.  Bei  dieser  Geschichte  wird  vieles  als  erwiesen  vor- 
ausgesetzt, was  nicht  einmal  eine  Wahrscheinlichkeit  vor  sich  hat. 

20.  Die  Sarmater.  Von  den  Sarmatern  weiss  man  zuverlässig 
folgendes.  Schon  im  VI.  Jahrhunderte  vor  Chr.  war  ein  grosses 
Volk  dieses  Namens  am  Don  und  an  dem  Meere  von  Azur  vor- 
handen, welches  innerhalb  der  nächsten  vier  Jahrhunderte  bis  zum 
Dneeper  westlich  vorrückta,  zu  Christi  Zeit  im  nördlichen  Teile  von 
Polen  mit  den  Teutschen  zusammengrenzte,  also  schon  damals  das 
Land  besass,  welches  nach  der  Zerstörung  des  skolothischen  Reiches 
im  Jahre  340  v.  Chr.  öde  geworden  war.  In  diesem  vermischte  es 
sich  mit  den  alten  Einwohnern  so  sehr,  dass  einige  römische  Geo- 
graphen irre  wurden,  und  verschiedene  darin  wohnende  Nationen, 
die  eigentümliche  Namen  hatten,  bald  für  Sarmater,  bald  für  beson- 
dere Völker,  und  bald  für  Teutsche  ausgaben.  Nach  und  nach  zerteilte 
sich  das  sarmatische  Volk  in  so  viele  kleine  Stämme,  dass  der  alte 
Hauptname  verschwand,  und  daraufhin  war  das  sarmatische  National- 
Merkzeichen  nicht  mehr  der  Name,  sondern  eine  gewisse  Trägheit 
vermöge  deren  die  Sarmaten  keine  Häuser  bauten,  niemals  zu  Fuss 
wanderten,  sondern  stets  auf  Wagen  oder  Pferden  sassen,  sich  äus- 
serst schmutzig  hielten  und  sich  in  lange  Kleidern  einhüllten.  (Taci- 
tus  de  Moribus  German.  Cap.  iilt.)  Am  längsten  bewahrten  den  sar- 
matischen  Namen  die  Jazygen;  ein  Stamm,  der  aus  der  nogayschen 
Tartarei  nördlich  dem  azowischen  Meere  kurz  vor  Christi  Geburt 
nach  Europa  kam  und  sich  zwischen  Dacien  und  Pannonien  fest- 
setzte. Dieser  Stamm  hinterliess  Blutsfreunde  desselben  Namens  in 
seiner  Heimat,  und  erhielt  von  den  Römern   den  Beinamen  der  um- 


herslreifenden  Jazygen  (Jazygae  Metanastae).  Ein  Haufe  desselben 
ward  von  den  Gothen  im  Jahre  332  angegriffen,  besiegte  diese  zwar, 
wurde  aber  bei  der  Rückkehr  in  sein  Land  im  Jahre  334  von  seinen 
Knechten,  welche  er  zur  Verteidigung  des  Landes  bewaffnet  hatte 
(Jazy^es  Limi<^antes  Picenscs  et  Amicenses),  zurückgetrieben  und  nahm 
seine  Zuflucht  teils  zu  den  Viktofalen  (Sarmatae  Arcaragantes),  teils  zu 
dem  Kaiser  Konstantin,  der  ihn  unter  sein  Heer  aufnahm,  auch  zur 
Errichtung  neuer  Kolonien  in  Thracien,  Scythien,  Macedonien  und 
Italien  gebrauchte.  (Schiuss  folgt.) 


M.  Zunkovic: 

Die  Raffelstellner  Zollordnung. 

Die  Nachrichten  und  Belege  über  die  Existenz  der  Slaven  im 
Altertume  sowie  noch  zu  Beginn  des  Mittelalters  sind  recht  spärlich, 
weil  der  ethnographische  Begriff  „Slave"  damals  noch  nicht  die 
heutige  sprachlich  konzise  Determination  im  grossen  Stile  in  sich 
vereinigte ;  es  sind  daher  auch  nur  wenig  Fälle  aus  ältester  Zeit  be- 
kannt, in  welchen  schon  das  sprachlich-ethnographische  Kriterium 
konkret  ausgesprochen  wäre.  Eine  der  wichtigsten  Urkunden  dieser 
Art  ist  aber  die  sogenannte  ,, Raffelstellner  Zollordnung'',  deren  Ver- 
fassung in  die  Jahre  903—936  n.  Chr.  verlegt  werden  muss,  obwohl 
sie  eigentlich  handelspolitische  Bestimmungen  enthält,  die  schon  für 
die  Zeit  vor  dem  Jahre  876  Geltung  hatten. 

Die  Ostmark  oder  die  sogenannte  bayerische  Grenzmark 
(terminus  rcgni  Bojarionini  in  oricntc)  ist  bekanntlich  von  Karl  d.  Gr. 
nach  der  Zertrümmerung  des  avarischen  Reiches  gegründet  worden, 
in  welch  letzterem  der  vorwiegende  Teil  aus  slavischen  Untertanen 
bestand,  die  das  Gebiet  des  alten  Pannonien,  Norikum  sowie,  wenig- 
stens zum  Teile,  jenes  des  heutigen  Bayern  inne  hatten.  Aber  unter 
der  Frankenherrschaft  machte  sich  die  Gegenströmung  der  deutschen 
Kolonisation  bemerkbar,  welche  sich  in  Bayern  mit  Hilfe  des  inten- 
siven Aufdrängens  der  deutschen  Sprache  und  der  christlichen  Religion 
geltend  machte,  und  welchem  Drucke  das  Slaventum  umso  fühlbarer 
nachgeben  musste,  als  es  auch  weder  im  mährischen  noch  in  dem 
eben  sich  bildenden  böhmischen  Reiche  eine  wirksame  Stütze  fand. 
Allerdings  wurde  der  deutschen  Vorwärtsbewegung  durch  den  magyari- 
schen Überfall  und  deren  verheerende  Züge  in  der  Folge  eine  starke 
Schranke  entgegengesetzt,  unter  deren  Wucht  der  slavisch-mährische 
Staat  und  für  eine  Zeit  lang  selbst  die  Ostmark  aus  der  Geschichte 
verschwand. 

Unsere  Urkunde  scheint  nun  am  Vorabende  eines  der  un- 
glücklichsten Ereignisse  für  Deutschland  und  die  nordösterreichischen 


4:i 

Slavenländer  entstanden  zu  sein,  denn  an  der  Abfassung  haben  noch 
Personen  teilgenommen,  die  bei  dem  Zusammenbruche  des  gross- 
mährischen Reiches  (um  905)  und  der  schweren  Niederlage  der 
Deutschen  i.  J.  907  durch  die  anstürmenden  tatarischen  Horden  noch 
lebten.  Sie  kann  daher  einerseits  nicht  vor  dem  Jahre  903  verfasst 
worden  sein,  da  der  darin  erwähnte  Bischof  Burcl^ardt  von  Passau 
diese  Würde  erst  seit  dem  genannten  Jahre  bekleidete,  hingegen 
führte  Graf  Aribo  nur  bis  zum  J.  906  den  Titel  eines  Grafen  de; 
Ostmark;  überdies  ist  der  beteiligte  Erzbischof  Thietmar  von  Salzburg 
schon  i.  J.  907  gestorben. 

Der  unmittelbare  Anlass  zur  Verfassung  dieser  „Zollordnung" 
war  folgender.  —  Die  Bevölkerung  Bayerns,  dann  alle  Interessenten, 
welche  zur  Ostmark  (oricns,  oricntalis  pla,^a,  marchia  oricnfalis,  partes 
orientalcs)  Beziehungen  hatten,  klagten  allgemein  über  die  ungerechten 
Zölle  und  Abgaben.  Dies  drang  nun  auch  zum  König  Ludwig  das 
Kind  (900-911),  welcher  diese  Beschwerden  berechtigt  fand  und  an- 
ordnete, dass  der  Markgraf  Aribo  unter  Beiziehung  der  Ortsbehörden 
und  erfahrener  Leute  das  Zoll-  und  Abgabenwesen  gerecht  regele. 
Dies  geschah  auf  einem  in  das  Städtchen  Raffelstetten  im  Traungau 
einberufenen  Landtage,  wo  in  Anwesenheit  der  interessierten  kirch- 
lichen Würdenträger  und  der  sonst  angesehensten  Männer  die  Stellen 
für  die  Zollabgabe  und  die  Höhe  des  Zolles  genau  bestimmt  wurden. 

Von  der  Zollordnungs-Urkunde  werden  aber  nachstehend  nur 
jene  Punkte  angeführt,  die  für  die  Slaven  ein  besonderes  geschicht- 
liches oder  kulturelles  Interesse  haben. 

Punkt  3.  Wenn  ein  freier  die  normierten  Marktplätze  umgeht 
ohne  zu  zahlen  oder  ohne  eine  Meldung  zu  machen,  so  wird  er, 
wenn  es  entdeckt  oder  bewiesen  wird,  bestraft  u.  zw.  wird  ihm  sein 
Schiff  mit  allen  Waren  eingezogen.  Ist  es  aber  ein  Knecht,  so  wird 
er  ausserdem  noch  so  lange  in  Haft  gehalten,  bis  sein  Herr  sich 
meldet  und  ihn  auslöst. 

Punkt  4.  Die  Bayern  und  Slaven,  die  zum  Königreiche  gehören, 
haben  das  Recht  der  freien  Einfuhr  in  die  Ostmark  und  dürfen  dort 
überall  alle  Lebansmittel,  auch  Dienstboten,  Pferde  und  Ochsen  abgaben- 
frei erkaufen.  Im  Falle,  dass  sie  aber  die  obgenannten  Handalsplätze 
(d.  i.  Rossdorf  und  Linz)  passieren,  müssen  sie  in  der  Mitte  des 
Wasserweges  fahren,   ohne  etwas   zu   kaufen   oder    zu    verkaufen ; 

§  3.  Si  autem  liDer  liomo  aliqu's  ipsurn  kk'ittiimini  nicrcatum  traiisicrit  iiichil 
ibi  solvens  vel  loquens.  et  iiide  probatus  fuerit:  tollalur  ab  eo  et  iiavis  et  sub- 
stantia.  Si  autem  servus  alienius  hoc  perpetraverit:  coiistriiijiatur  iiiid'.mi.  doiicc 
donrniis  eius  veniens  dampriuni   persohat  et   postea  ei   exire   1  ceat 


44 

wenn  sie  aber  den  Marktplatz  besuchen  wollen,  um  am  Handel  teil- 
zunehmen, dann  sind  sie  verpflichtet  den  festgestellten  Zoll  zu  zahlen, 
worauf  sie  dann  kaufen  dürfen,  was  ihnen  beliebt. 

Punkt  6.  Was  die  Slaven  anbetrifft,  die  aus  Rugi  oder  aus 
Böhmen  des  Handels  v;egen  kommen,  so  haben  sie  das  Recht, 
überall  an  den  Ufern  der  Donau,  auch  in  der  Rötel  und  in  der 
Riedmarch    zu   handeln,   aber   sie   sind   verpflichtet,   Zoll  zu   zahlen. 

Wenn  sie  Wachs  einführen,  so  haben  sie  von  jeder  Last  zwei 
Mass  Wachs  im  Preise  von  je  einem  Scott  und  von  der  Traglast 
eines  Menschen  —  eine  Mass  im  selben  Werte  zu  zahlen.  Wenn 
sie  aber  Dienstboten  und  Pferde  einführen,  so  haben  sie  von  einer 
Magd  eine  Tremisse  zu  entrichten,  von  einem  Hengste  ebensoviel, 
von  einem  Knechte  eine  Saiga  und  ebensoviel  von  einer  Stute.  — 
Die  Bayern  und  die  Slaven  desselben  Reiches  haben  das  Recht  ab- 
gabenfrei zu  kaufen  und  zu  verkaufen. 

Punkt  8.  Wenn  jemand  nach  Mähren  in  Handelsangelegen- 
heiten geht,  so  hat  er  bei  der  Abreise  dahin  einen  Solidus  zu  ent- 
richten für  ein  Schiff;  bei  der  Rückkehr  hat  er  nichts  zu  zahlen. 

Punkt  9.  Kaufleute  von  Beruf,  d.  i.  die  Juden  und  sonstigen 
Händler  aus  Bayern  oder  sonstigen  Orten  haben  für  die  Dienstboten 
und  sonstigen  Dinge  die  entsprechende  Abgabe  zu  zahlen,  wie  es  in 
früheren  Zeiten  üblich  war. 

Aus  alledem  ist  zweifellos  zu  ersehen,  dass  im  IX.  Jahrhunderte 
in  Bayern   die  Slaven   noch   genau   dieselben  Rechte   halten   wie  die 

>  -t.  Si  auteni  Baw  ari  ve!  Sclavi  ist  iis  patiie  ipsaiii  reRioneni  intraverint 
ad  eiiiciula  viclualia  cum  manicipiis  vel  cavallis  vel  bolnis  vel  ceteris  supellec- 
tibus  suis:  ubiciinque  voluerint  in  ipsa  regione  sine  theloneo  emant  que  necessaria 
sunt.  Si  autem  locum  mercati  ipsius  transire  Nolueriiit,  per  media  plateam  tran- 
seant  sine  ulla  constrictione,  et  in  alliis  locis  ipsius  regionis  emant  sine  theloneo 
que  potuerint.  Si  eis  in  ipso  mercato  magis  conplaceat  mercari,  donent  prescrip- 
tum  tlieioneum  et  emant  quecunque  voluerint  et  quanto  melius  potuerint. 

§  6.  Sclavi  vero,  qui  de  Rugia  vel  de  Boemanis  mercandi  causa  exeunt, 
ibucunque  iuxta  ripam  Üanubii  vel  ubicunquc  in  Rotalariis  vel  in  Reodariis  loca 
mercandi  obtinuerintv  de  sognia  uiia  de  cera  duas  massiolas,  quarum  uterque  scoti 
ununi  valent;  de  onere  unius  hominis  massiola  una  eiusdem  precii.  »Si  vero  man- 
cipia  vel  cavallos  vendere  voluerint,  de  una  ancüla  tremisam  I,  de  cavallo  mascu- 
lino  similiter;  de  servo  saigam  I,  simijis  de  equa.  —  Baw  ari  vel  Sclavi  istius 
patrie  ibi  ementes  vel  vendentcs  iiichil  solvere  cogaiitur. 

§  8.  Si  autem  transire  voluerint  ad  mercatum  Marahorum,  iuxta  estimati- 
nnem  mercationis  tunc  tcmporis  exsolcnt  solidum  unum  de  iia\i  et  liccnter  tran- 
seat;  revertendo  autem  nichil  cogai'tur. 

S  9.  Legittimi  mercatores,  undecunque  venerint  de  ista  patria  vel  de  alliis 
patriis,  justuni  theloneum  solvant  tam  de  manicipiis  quam  de  alliis  rebus,  sicut 
scmper  in  prioribus  teniporilnis  regum  fuit. 


45 

Deutschen,  sie  müssen  sonach  damals  noch  ein  maßgebendes  Konti- 
gent  der  Landesbevölkerung  gebildet  haben. 

Besonders  notwendig  ist  hier  die  Aufklärung  der  Begriffe 
„servus"  und  „mancipium".  Überall  liest  man  diese  als  „Sklave" 
erklärt  und  folgert  daraus  sofort,  dass  in  jener  Zeit  in  Bayern,  der 
Ostmark,  Böhmen,  Mähren  usw.  noch  ein  regelrechter 
Sklavenhandel  betrieben  wurde.  Wie  jedoch  die  Texistellen 
selbst  sowie  deren  Zusammenhang  erweisen,  handelt  es  sich  aber 
hier  nur  um  Bedienstete,  denn  es  wird  doch  von  der  Magd 
und  vom  Knecht  gesprochen,  und  das  „mancipium"  ist  doch  nichts 
weiter  als  der  Lohnvertrag  mit  Dienstboten,  die  durch  ein  Angeld 
(„ara"  bei  den  Slovenen  wie  auch  im  Spätlateinischen  „arrha"  ge- 
nannt) zu  einer  Denstleistung  für  eine  bestimmte  Zeit,  zum  mindesten 
aber  auf  ein  Dahr,  verpflichtet  wurden.  Dass  man  aber  für  die  Dienst- 
boten, die  sich  in  ein  anderes  Land  verdingten,  eine  Steuer  an 
der  Landesgrenze  aussetzte,  ist  sehr  naheliegend,  denn  man  wollte 
bei  der  einstigen  Leutenot  nicht  leichterdings  Arbeitskräfte  verlieren, 
was  man  auch  daraus  ersieht,  dass  hingegen  die  Bayern,  wenn  sie 
Dienstboten  in  die  Ostmark  brachten,  keine  Steuer  zahlten,  um  den 
Import  von  Arbeitskräften  zu  fördern. 

Bei  diesem  Anlasse  kann  auch  der  Zweifel,  wo  das  Gebiet 
„Rugi"  lag,  erledigt  werden.  Die  Geschichte  erzählt  allerlei  Phanta- 
stereien über  dieses  Volk.  Die  Rugier  wohnten  angeblich  zuerst  auf 
Rügen,  zogen  dann  gegen  Süden,  und  fielen  dabei  unter  das  Hunnen- 
joch ;  sie  lebten  dann  an  der  mittleren  Donau  und  im  Norikum ;  von 
dort  vertrieben,  verloren  sie  sich  zum  Schlüsse  gänzlich  unter  den 
Herulern,  Longobarden  und  Byzantinern.  Nun  die  Tatsache  ist  aber 
eine  wesentlich  andere.  Es  gab  „Rugi"  an  den  verschiedensten 
Punkten,  wie  es  ja  auch  Kroaten,  Serben,  Wenden  u.  a.  in  den  diver- 
girendst  gelegenen  Gegenden  gibt,  ohne  dass  sie  deshalb  je  dem- 
selben Volksstamme  im  modernen  Sinne  angehört  hätten.  Nachdem 
aber  diese  Zollordnung  am  linken  Donauufer  ausdrücklich  von  Böh- 
men, dem  böhmischen  Wald  (Sumava)  und  Mähren  spricht,  dürfte  das 
„Rugiland"  am  rechten  Donauufer,  also  im  einstigen  Norikum,  ver- 
mutlich westlich  des  Traungaues  gelegen  sein,  ein  Beweis,  dass  Sla- 
ven  damals  auch  im  Räume  von  Ober-  und  Niederösterreich  wohnten, 
was  ja  auch  durch  andere  Quellen  bestätigt  erscheint.  Übrigens  ist 
der  alte  Name  „Husruke"  noch  im  heutigen  „Hausruck"-Gebirge 
(Oberöslerreich)  erhalten.*) 

*  Paulus  Diakonus  ist  der  einzige  Chronist,  der  von  einem  mährischen 
«Rugilandx  spricht;  wie  aber  da  «mährischM  aufzufassen  ist,  wäre  erst  zu  erfor- 
schen, da  xmarchia,  marca  u.  ä.  auch  Grenze  im  allgemeinen  bedeuten  kann. 


46 

Allen  Ernstes  hat  man  auch  behauptet,  dass  hiemit  die  Handels- 
beziehungen Russlands  mit  Bayern  wie  der  Ostmark  unter  Einbezie- 
hung der  Donau  als  Handelsweg  erwiesen  seien,  namentlich  weil  man 
die  Fürstin  Olga  von  Russland  (t  969)  als  „regina  Rugorum"  bezeich- 
nete. Dies  ist  unbedingt  abzuweisen,  denn,  wie  schon  erwähnt,  wieder- 
holen sich  ethnographische  Namen  ganz  unbeeinflusst  von  einander; 
überdies  handelt  es  sich  hier  fast  ausschliesslich  um  den  Saizhandel, 
und  da  haben  die  Russen,  abgesehen  von  der  geographischen  Des- 
orientierung über  ihre  Handelswege,  weit  nähere  Bezugsquellen  für 
diesen  Artikel  als  etwa  Oberösterreich,  Salzburg  oder  Bayern. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  die  Raffelstettner  Zollordnung 
wohl  nur  die  Interessen  des  lokalen  Handels  in  der  Ostmark  vertrat, 
hingegen  besitzt  sie  textlich  in  kulturgeschichtlicher  wie  ethnographi- 
scher Hinsicht  für  die  altslavische  Kulturgeschichte  einen  hervor- 
ragenden Ouellenwert. 


M.  Zunkovic: 

Die  Azbuka  in  der  Edda. 

Die  nordische  „Sämundar  Edda",  die  übrigens  mit  dem  4.  Teile 
der  indischen  „Veda",  genannt  „Atharvaveda",  auch  einen  inhaltlich 
nicht  ganz  abzuleugnenden  Zusammenhang  aufweist,  ist  von  hervor- 
ragender Bedeutung  für  die  sprachliche  Ursprungsfrage  der  Runen- 
schrift. Aus  dem  Abschnitte  „Runatals  thättr  Odhins",  d.  i.  „Wodans 
Runenkunde",  wo  es  offenkundig  ist,  dass  die  „Edda",  richtiger  „Veda" 
(  Wissen,  nicht  „Grossmutter"  oder  „Poetik",  wie  man  das  Wort 
ansonst  deutet)  einst  tatsächlich  ein  Lehrbuch  war,  geht  der 
didaktisch-pädagogische  Zweck  derselben  in  jeder  Hinsicht  zweifel- 
los hervor. 

Jene  „germanische"  Edda  bringt  aber  sonderbarerweise  dem 
Schüler  Lodfafner  kein  lateinisches,  griechisches  oder  germanisches 
Alphabet,  sondern  das  altslavische  (glagolitische),  d.  i.  die 
„Azbuka"  in  Form  eines  Runennamengedichtes  bei,  denn  die  ein- 
zelnen Runen  werden  in  der  a  1  tsl  a  vi  sehen  Reihen- 
folge angeführt  und  die  Buchstabennamen  selbst 
sind,  wie  sie  in  den  Strophen  umschrieben  werden, 
identisch  mit  den  altslavische  n.  Die  Reihenfolge  ist  aller- 
dings vom  7.  Buchstaben  an  unterbrochen,  weil  das  Edda-Alphabet 
erst  18,  das  glagolitische  aber  schon  40  Lautzeichen  kennt. 


Dieses  Alphabet  muss  aber  schon  zu  einer  Zeit  in  die  germa- 
nische Edda  gelangt  sein,  als  die  Azbuka  noch  nicht  mehr  als  18  Laut- 
zeichen hatte,  denn  im  X.  Jahrhunderte  hatte  sie  schon  k3  Zeichen. 
Allerdings  kann  man  nicht  wissen,  ob  dem  Übernehmer  nicht  schon 
die  18  Buchstaben  für  seine  Zwecke  genügten,  denn  nach  dem,  wie 
wir  heute  die  ältesten  Handschriften  inbezug  auf  ihr  Alter  taxieren, 
besteht  darin  keine  Konsequenz,  da  z.  B.  die  Grünberger  Handschrift 
(Prag),  die  man  in  die  Zeit  des  VI.— IX.  Oahrhundertes  verlegen  muss, 
auch  nur  18  Buchstaben  kennt,  und  nicht  in  Runen  geschrieben  ist, 
aber  die  Schriftzeichen  sind  jenen  der  Bibel  Ulfilas  sehr  ähnlich ; 
diese  letztere  hat  aber,  obschon  sie  dem  V.  Jahrhunderte  angehört, 
hingegen  bereits  2k  Buchstaben  im  Alphabete.  Wahrscheinlich  ist  es 
daher,  dass  man  seinerzeit  genau  so  wie  heute,  zu  gleicher  Zeit  ver- 
schiedene Schriftarten  und  Alphabete  anwendete,  was  übrigens  aus 
einem  Briefe  des  Venantius  Forlunatus,  Bischofs  von  Poitier  (VI.  Jahrh.) 
hervorgeht,  der  einem  gewissen  Flavius  schreibt,  er  möge,  sofern 
er  etwa  nicht  lateinisch  schreiben  wolle,  mit  „barbarischen"  Runen 
schreiben,  worunter  man  einst,  wie  dies  aus  verschiedenen  analogen 
Anwendungen  hervorgeht,  nur  slavisch  gemeint  haben  kann. 

Die  jeden  Laut  mit  seinem  Gattungsnamen  rätselartig  umschrei- 
benden Verse  in  der  „Edda"  müssen  einmal  mnemonischen  Zwecken 
gedient  haben,  und  diese  Schüler  können  nur  Slaven 
gewesen  sein,  denn  sonst  hätte  man  den  Schülern  unverständ- 
liche Begriffsbenennungen  beibringen  müssen.  Und  doch  mussten 
diese  originalslavischen  Lautbezeichnungen  beim  Lese-  und  Schreib- 
unterrichte unverändert  gebraucht  worden  sein,  weil  sich  der  Schreiber 
oder  Lehrer  bei  den  drei  letzten  Runen,  die  mehr  erotischer  Richtung 
sind,  förmlich  damit  entschuldigt,  dass  sie  der  Schüler  ob  seiner  Ju- 
gend noch  nicht  verstehe,  da  er  beifügt: 

Sind  diese  Lieder  auch,  Lodfafner, 
dir  auf  lange  wohl  noch  unerkennbar ; 
jreu  dich,  erfährst  du  sie, 
nutz  es,  vernahmst  du  sie! 

Dass  es  sich  aber  hier  wirklich  um  einen  Lernbehelf  handelte, 
ersieht  man  aus  dem  Schlussverse : 

Heil  ihm,  der  es  lehrt, 
Heil  ihm,  der  es  lernt, 
Das  Heil,  all  ihr  Hörer, 
Nehmt  euch  zu  Nutz! 


48  ■->• 

Die  einzelnen  Memorierslroplien  lauten    (nach  H.  v.  Wolzogen)  i 

1.  HilJ reich  zu  helfen  verheißt  dir  das  Eine 
In  Streit  und  in  Jammer  und  jeglicher  Not. 

Erklärung:  „a",  benannt  „az"      Gott. 

2.  Ein  Anderes  lernt  ich,  das  Leute  gebrauchen, 
Die  Ärzte  zu  werden  wünschen. 

Erklärung:  „b",  benannt  „buki"      Buch. 

3.  Ein  Drittes  kenn    ich,  das  kommt  mir  zu  gut 
Als  Fessel  für  meine  Feinde; 

Dem  Widerstreite  verstumpf  ich  das  Schwert, 
Ihm  hilft  keine  Wehr  und  keine    Waffe. 
Erklärung:  „v"  (und  „u"),  benannt  „vedi"     Wissen,  die  über- 
zeugende rhetorische  Kraft. 

4.  Ein   Viertes  noch  weiß  ich.  wenn  man  mir  wirfl 
Die  Arm  und  die  Beine  in  Bande; 
Alsbald  ich  es  singe,  sobald  kann  ich  fort, 
Vom  Fuße  fällt  mir  die  Fessel, 
Der  Haft  von  den  Händen   herab. 

Erklärung:  „g",  benannt   „glagol"      Gesang. 

5.  „Ein  Fünftes  erfuhr  ich :  wenn  Jröh liehen  Flugs 
Ein  Geschoß  auf  die  Scharen  daherfliegt, 

Wie  stark  es  auch  zuckt,  ich  zwing  es  zu  stehn, 
Ergreif  ich  es  blos  mit  dem  Blicke." 

Erklärung:  „d",  benannt  „dobro"     tapfer,  mutig. 

6.  „Ein  Sechstes  ist  mein,  wenn  ein  Mann  mich  sehrt 
Mit  wilden  Baumes  Wurzel; 

Nicht  mich  versehrt,  den  Mann  verzehrt. 

Das  Verderben,  mit  dem  er  mir  drohte". 
Erklärung:    „e,   je",   benannt   „jet"      Gift.   Es   ist  hier  nicht 
das  einfache  „e"  sondern  „je"  genommen,  da  sonst  im  glagolitischen 
Alphabete  eigene  Zeichen  hiefür  sind. 

7.  Ein  Siebentes  brauch  ich,  seh  ich  den  Brand 
hoch  um  der  Menschen  Behausung; 

wie  breit  es  auch  brenne,  ich  bring  ihn  zur  Ruh 
mit  zähmendem  Zaubergesange. 

Erklärung:  Im  glagolitischen  Alphabete  folgen  nun  drei  „z" 
bezw.  „z"  -  Laute,  die  als  „zivete,  zelo"  und  „zemlja"  benannt  sind. 
Welcher  Begriff  hier  die  Lösung  geben  soll,  ist  nicht  klar. 


49 

8.  Ein  Achfes  dornet  mir,  Allen  gewiß 
am  Nötif^stcn  zu  benutzen  : 

wo  irgend  Hader  l)ei  Helden  erwächst, 
da  weiß  ich  ihn  schnell  zu  schlichten. 

Erklärung:  hier  miissle  der  Laut  „i",  im  Alphabete  als  „ize" 
und  „izica"  benannt,  folgen.  Hierin. scheint  das  Wort  „Joch"  enthalten 
zu  sein  („izes,  igo");  es  passt  für  die  ersten  zwei  Zeilen;  für  die 
zwei  restlichen  aber  nur  im  figürlichen  Sinne  als:  bändigen. 

9.  Ein  Neuntes  versteh  ich.  wenn  Not  mir  entsteht 
mein  Schiff  auf  den  Fluten  zu  schützen ; 

da  still  ich  den  Sturm  auf  der  steigenden  See 
und  beschwichfge  den  Schwall  der  Wogen. 

Erklärung:  hier  muß  der  Laut  „k"  folgen,  im  glagolitischen 
Alphabete  „kako"  (  wie?)  benannt;  offenkundig  ist  dies  gleichbe- 
deutend mit  dem  lateinischen  „Quos  ego!",  womit  die  Wogen  gebannt 
wurden. 

10.  Ein  Zehntes  verwend  ich,  wenn  durch  die  Luft 
spukende  Reitrinnen  sprengen; 

fang  ich  den  Zauber  an,  jähren  verwirrt 
sie  aus  Gestalt  und  Bestreben. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „1",  benannt  „Ijudi"  (oder 
„Ijuti")  ^-  Leute,  Menschen  oder:  Böse,  Furien. 

11.  Ein  Elftes  kann  ich  auch  noch  im  Kampf, 
wenn  ich  den  Liebling  geleite; 

ich  sings  in  den  Schild,  und  er  siegt  in  der  Schlacht, 
zieht  heil  dahin  und  heil  wieder  heim, 
verharrt  im  Heil  allenthalben. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „m",  benannt  „mislite"  er- 
wäget, seid  vorsichtig ! 

12.  Ein  Zwölftes  hab  ich,  hängt  am  Baum 
droben  einer  erdrosselt; 

ritz  ich  es  dann  mit  Runen  ein. 

herab  steigt  der  Mann  und  redet  mit  mir. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „n",  benannt  „nas":  Etymo- 
logie unverständlich,  dürfte  jedoch  ein  Zauberwort  gewesen  sein. 

13.  Ein  Dreizehntes  nenn  ich:  netz  ich  den  Sohn 
eines  Edlen  im  ersten  Bade, 

so  komm  er  in  Kampf,  er  kann  nicht  fallen, 
es  schlägt  kein  Schwert  ihn  zu  Boden. 


50 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „o",  benannt  „on".  Ist  in 
dieser  Form  etymologisch  unverständlich;  slovenisch  bedeutet  „ona- 
diti"  mit  Stahl  belegen;  „on"  muß  also  einst  Stahl  bedeutet 
haben.  Vergl.  auch  das  lat.  „onero"     bewaffnen. 

14.  Ein  Vierzehntes  sing  ich  versammeltem   Voll< 
beim  Nennen  der  göttlichen  Namen, 

denn  aller  der  Äsen  und  Alben  Art 
kenn  ich  so  gut  wie  keiner. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „p",  benannt  „pokoj"{  Ruhe, 
Friede. 

15.  Ein  Fünfzehntes  zähl  ich,  das  Volkrast,  der  Zwerg 
sang  vor  den  Toren  des  Tages 

den  Äsen  zur  Stärkung,  den  Alben  zur  Kraft 
mir  selber  die  Stimme  zu  klären. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „r'\  benannt  „rci" ;  es  dürfte 
dies  ein  Übungswort  zum  Aussprechen  des  „r"  gewesen  sein ;  an- 
sonst  scheint  es  „mit  Worten  bezaubern,  beredt  sein  (russ.  ,rjecitj')'' 
zu  bedeuten ;  in  derKöniginhofer  Handschrift  ,,rci"    beteuern,  versichern. 

J6.  Ein  Sechzehntes  Sprech  ich  bei  spröder  Maid 
mir  Gunst  und  Glück  zu  erlangen; 
das  wandelt  und  wendet  mir  Wunsch  und  Sinn 
der  schwancnarmigen  Schönen. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „s",  benannt  „slovo"  ^^  das 
gegebene  Wort,  das  Heiratsversprechen. 

17.  Ein  Siebzehntes  hilfl  mir  bei  holder  Maid, 
das  nimmer  sie  leicht  mich  verlasse. 

Erklärung:  hier  folgt  der  Laut  „t",  benannt  ,,tvrdi,  tvjordij  = 
hart;  weist  schon  inhaltlich  wie  auch  bildlich  —  mit  Rücksicht  auf  die 
Form  der  Rune  „t"  —  auf  die  Manneskraft. 

76'.  Das  Achtzehnte  werde  ich  ewig  nie 
einem  Weib  oder  Mädchen  melden; 
das  bildet  der  Lieder  besten  Beschluß, 
was  Einer  von  Allen  nur  weiß 
außer  der  Frau,  die  mich  ehelich  umfängt 
oder  auch  Schwester  nur  ist. 

Erklärung.  Dies  müßte  der  Buchstabe  „h"  oder  „ch"  sein, 
benannt  „chjer,  kher",  da  nur  dieser  mehr  dem  vollständigen  alten 
Runenalphabete  fehlt.  Russisch  heißt  „chjerili"  abschließen,  das 
Kreuz  machen,  fertig  sein.  — 


51 

Die  Edda  war  sonach  einst  wohl  nur  ein  slavisches  Schul- 
lesebuch und  deutet  unbedingt  nuf  keine  germanisch-nordische 
Originalität.  —  Die  vielen  krassen  Unnatürlichkeiten,  wie  z.  B.  in 
der  Schöpfungsmythe,  sowie  sonstige  phantastisch-groteske  Stellen 
machen  überdies  den  begründeten  Eindruck,  daß  jemand,  der  nicht 
mehr  gründlich  Slavisch  verstand,  slavische  Volksdichtungen  sowie 
pädagogische  Behelfe  unkritisch  zusammenraffte  und  in  die  eigene 
Sprache  übertrug,  was  später  zum  Verleugnen  oder  zum  unbewußten 
Vergessen  der  sprachlichen  Priorität  führte. 

Die  Edda  ist  aber  auch  sonst  von  hervorragendem  Interesse 
für  die  slavische  Sprache  und  Urgeschichte,  denn  darin  finden  sich 
zahlreiche  reinslavische  Begriffe,  die  schon  deshalb  leicht  zu  erkennen 
sind,  weil  die  Übersetzung  zugleich  die  Erklärung  bietet,  denn  wer 
„Yggdrasil"  als  „Schreckfuß",  „Skogul"  als  „Sprungfertig",  „modhi" 
als  „Mut"  kommentierte,  muss  noch  so  viel  Slavisch  verstanden 
haben,  dass  die  Begriffe  „ustrasil,  skokal,  moc"  nur  so  richtig  zu 
etymologisieren  sind.  Begriffe  wie  „brisin  gamen",  d.  i.  Bernstein, 
womit  sich  Freya  schmückte,  erkannte  er  aber  z.  B.  schon  nicht 
mehr,  dass  er  slavisch  ist  und  Uferstein  bedeute,  nachdem  das 
Mineral  doch  immer  am  U  fer  gefunden  wird,  und  erkannte  auch  das 
alltägliche  Wort  „gamen"  nicht  mehr,  weil  er  es  nicht  mehr  als 
„kamen"  geschrieben  fand,  d.  h.  er  hat  es  unrichtig  gelesen,  da  in 
der  älteren  Runenschrift  für  das  „g"  wie  „k"  das  gleiche  Zeichen  gilt. 

Die  Edda  bildet  daher  ein  sehr  lohnendes  Gebiet  für  eine  Durch- 
forschung der  Provenienz  und  der  sprachlichen  Grundlage  ihrer 
Theogonie,  sowie  der  epischen  und  didaktischen  Dichtungen  im  allge- 
meinen. Ein  Zusammenhang  mit  dem  Slavischen  ist  da  unabweisbar 
und  scheint  es,  dass  hier  so  manches  auf  ein  slavisch  beschriebenes 
Pergamentblatt  verzeichnet  wurde,  ehe  die  primäre  Schrift  gründlich 
unleserlich  gemacht  worden  war.  — 


M.  Zunkovic: 

»Schwayxlix«. 

Ein   Schulbeispiel   oberflächlicher  Forschungspflege. 

Schon  im  böhmischen  Handschriftenstreite  hatte  der  Verfasser 
Gelegenheit  auf  einen  einfachen  Lesefehler  („stojiesi"  statt  „stogesi") 
im  sogenannten  „Vysehrad-Liede"  aufmerksam   zu  machen,    welcher 

4* 


52 

durch  jedermann,  der  den  Originallex!  nur  einmal  normal  liest,  hätte 
berichtigt  werden  können ;  und  doch  geschah  dies  durch  %  Oahre 
nicht,  ja,  im  Gegenteile:  weil  diese  Stelle  als  unsinnig  er- 
schien, erklärte  man  gleich  die  ganze  Handschrift  für 
gefälscht  und  unterschoben,  worauf  sie  im  böhmischen  Lan- 
desmuseum in  die  nun  schon  berüchtigte  Schublade  für  „Falsifikate" 
versenkt  wurde. 

Damals  (1912)  war  nicht  anzunehmen,  daß  sich  ein  ähnlicher 
Lapsus  überhaupt  noch  sonst  wo  bieten  oder  wiederholen  könnte, 
und  doch  ergab  sich  kurz  darauf  ein  noch  krasserer  Fall  mit  gleicher 
Folgewirkung. 

Beim  Studium  der  sogenannten  „Rjetra"-Altertümer,  einem  Funde 
von  eigenartigen  Bronzegegenständen  mit  wendischen  Runenschriften 
traf  der  Verfasser  auf  die  als  „Schwayxtix"  benannte  Statuette  und 
konnte  sich  nicht  zurechtfinden,  wie  man  je  zu  dieser  Lesung  gelan- 
gen konnte,  da  sich  doch  jeder,  der  das  wendische  Runenalphabet 
kennt  oder  dem  man  es  nur  ad  hoc  vorweist,  leicht  überzeugen  kann, 
daß  jenes  Wort  dort  absolut  nicht  steht.  Weil  aber  hier  ein  „seh" 
gelesen  wurde,  also  eine  in  älterer  Zeit  ganz  undenkbare  und  un- 
mögliche Lautkombination,  wurde  sofort  das  Todesurteil  gefällt:  diese 
Altertümer  seien  nicht  alt,  sondern  Fälschungen  der 
Neuzeit  ! 

Man  möchte  nun  als  selbstredend  voraussetzen,  daß  bei  einem 
so  exotischen  Funde  und  der  großen  Zahl  verschiedenster  Objekte 
(66)  doch  gewichtige  Bedenken  aufsteigen  müßten,  ob  das  eingravierte 
Wort  vielleicht  doch  nicht  anders  lautet,  denn  daß  ein  so  genialer 
Künstler,  wozu  gerade  ein  divinatorisches  Wissen  notwendig  war, 
einen  so  läppischen  Fehler  gemacht  hätte,  erscheint  rundweg  aus- 
geschlossen, und  dies  umsomehr,  da  der  „sch"-Laut  bis  zum  XII.  Jahr- 
hunderte gänzlich  unbekannt  war,  sowie  daß  weder  die  Runen-  noch 
die  slavischen  Alphabete  diese  Buchstabenkombination  überhaupt 
kennen.  Diese  Umstände  mußten  unwillkürlich  jedermann  stutzig 
machen  und  zur  Vorsicht  mahnen,  denn  der  Fälscher  konnte  nur  ein 
Slave  gewesen  sein,  der  die  altwendische  Sprache  vorzüglich  be- 
herrschte, und  der  soll  nicht  gewußt  haben,  daß  die  slavischen 
Sprachen  kein  „seh"  kennen!? 

Diese  Altertümer  wurden  in  der  Zeit  von  1687—1697  in  Pril- 
witz  (Mecklenburg)  bei  einer  Grubenaushebung  gefunden ;  doch  erst 
im  Jahre  1768  wurde   ihnen  durch   das  Interesse  des  Herzogs  Carl 


5.1 

von  Mecklenburg  die  erste  wissenschaftliche  Behandlung  zuteil.  Die 
Runeninschriflen  wurden  damals  mit  Hilfe  der  gangbarsten  Alphabete 
(von  Cluver  und  Arnkiel)  transkribiert;  da  aber  den  Text  niemand 
verstand  und  man  vermutete,  daß  er  mit  Rücksicht  auf  die  Sprache 
der  Urbewohner  daselbst  slavisch  sei,  wurde  der  Oberpfarrer  Leto- 
chleb  aus  Peitz,  der  des  Böhmischen  kundig  war,  zu  Rate  gezogen, 
und  bot  dieser  auch  eine  im  großen  zutreffende  Auslegung.  Aber 
schon  bei  dieser  ersten  Transskription  muß  ein  Fehler  gemacht  wor- 
den sein,  und  seither  folgte  jeder  blind,  wie  die  Schildaer  ihrem 
Bürgermeister  in  den  offenen  Brunnen,  derselben  Lesung  nach  und 
sah  hier  immer,  wie  hypnotisiert,  ein  „Schwayxtix".  Freilich  kam 
gerade  diese  Lesung  der  Tendenz,  diese  altehrwür- 
digen Kulturbeleg  e  tunlichst  g  er  äu  seh  lo  s  wegzueska- 
motieren,  sehr  will  kommen  und  siewurde  auchvoll 
ausgenützt. 

Mögen  nun  auch  die  früheren  Ausleger  und  die  später  sich  ein- 
mischenden Neider  dieses  falsch  transskribiert  und  gelesen  haben, 
sie  hätten  es  doch  nicht  berichtigt,  da  es  fast  durchwegs  des  Slavi- 
schen  unkundige  Deutsche  waren  ;  betrübend  ist  es  aber,  wenn  sich 
viel  genannte  Slavisten  mit  der  Kontrolle  dieser  Inschriften  eingehend 
beschäftigen  und  dabei  doch  nicht  den  handgreiflichen  Fehler  sehen 
oder  erkennen,  und  wenn  ja,  nicht  berichtigen  wollen,  denn  sobald 
man  ausdrücklich  von  Fälschungen  spricht,  muß  man 
doch  auch  das  Vorhandensein  eines  Originals  zugeben, 
und  dann  ist  die  Fälschung  keine  Fälschung  mehr, 
sondern  lediglich  eine  Vervielfältigung. 

Ein  solcher  ernster  Vorwurf  muß  in  dieser  oder  jener  Richtung 
hier  dem  bekannten  Slavisten  Prof.  V.  3agic  gemacht  werden,  der 
als  einer  der  letzten  Gegner  in  dem  Aufsatze  „Zur  slavischen  Runen- 
frage" (Archiv  f.  slav.  Philologie,  1881)  alle  seine  Autorität  einsetzte, 
um  [über  die  Rjetra  -  Altertümer  ebenso  autokratisch  den  Stab  zu 
brechen,  wie  später  in  unglaublicher  Verblendung  auch  über  die  alt- 
böhmischen Handschriften. 

Wir  legen  hier  seine  eigenen  Bekenntnisse  zur  Grundlage.  Im 
erwähnten  Aufsatze  erteilt  er  (S.  195)  anderen  die  Lehre :  „Nichts  ist 
gefährlicher  für  die  Erkenntnis  der  Wahrheit,  als  die  urteilslose  Wie- 
derholung fremder  Äußerungen",  und  fügt  zugleich  noch  zu,  er  habe 
sich,  um  sicher  zu  gehen,  sogar  die  Originale  in  Neu-Strelitz  selbst 
angesehen,  wobei  für  ihn  nicht  die  Kunstfertigkeit  des 
Gelbgießers,  sondern  die  darauf  angebrachten  Runen- 
schriften das  Wichtigste  waren. 


54 

Nichlsdesloweniger  isl  dagic  in  den  eben  gerügten  Fehler  selbst 
gefallen,  denn  er  findet  dort  auch  die  Aufschrift  „Schwayxtix".  Hat 
er  nun  diese  Figur  selbst  gesehen  und  gelesen,  was  wir  seinen 
Äußerungen  gemäß  doch  nicht  bestreiten  dürfen,  so  mangelten  ihm 
hiezu  wohl  die  notwendigen  Runenschriftkenntnisse,  was  auch  zu- 
zutreffen scheint,  da  er  nur  die  Alphabete  von  Cluver,  Arnkiel  und 
Masch  anführt.  Nun  schrieb  Masch  jenes  von  Arnkiel  ab,  Arnkiel 
von  Cluver  und  Cluvers  Alphabet  ist  unvollständig  und  dabei  bedenk- 
lich falsch.  Unter  diesen  Prämissen  und  der  Tatsache,  daß  es  doch 
sonst  genug  alte  und  ausführlichere  Runenalphabete  gibt,  war  aber 
Oagic  noch  gar  nicht  berechtigt,  alles  kurz  und  klein  als  eine  Fäl- 
schung zu  verrufen,  den  Brüdern  Grimm  zugleich  den  „Mangel  einer 
festen  wissenschaftlichen  Überzeugung"  abzusprechen,  weil  sie  sag- 
ten, „jeder  der  die  Rjetra- Figuren  mit  eigenen  Augen  sah,  hat  sich 
noch  für  ihre  Echtheit  entschieden",  und  schließlich  pathetisch  zu  er- 
klären (S.  214),  daß  die  Fälschung  selbst  der  ältesten 
Stücke  nicht  vor  das  Oahr  1737  fallen  kann". 

Nun  steht  aber  auf  der  genannten  Statuette  (Rückseite),  wie  die 
beigegebene  Figur  zeigt,*)  durchaus  nicht 

S  C  H  WA  YX  L I C  J  E  V  A  J  A  M 

TIX  sondern  TIM 

BELBOCG  BILBOCG 


'')  Das  OriiLjinal  ist  eine  Handzeichnung  des  Hofmalers  Daniel  Woge  aus 
dem  Jahre  1770,  und  wie  er  selbst  beifügt  xnach  den  Originalien  auf  das  ge- 
naueste gemahlet  und  in  Kupferstichen  ausgegeben)!.  —  Inc  Redaktion  ersuchte 
aber  trotzdem  die  Verwaltung  der  Qroßherzoglichen  Sammlungen  in  Neustrelitz 
um  die  Bewilligung  einer  photographischen  Reproduktion  dieser  Statuette,  um 
sie  der  Handzeichnung  gegenüberstellen  zu  können.  Diese  Bitte  wurde  am  22. 
Februar  1.  .1.  rundweg  abgeschlagen  und  hiezu  noch  der  Satz  beigefügt:  «Im 
übrigen  wird  die  Frage  um  die  Prillwitzer  Idole  als  wissenschaftlich  längst  er- 
ledigt betrachtet. M  —  Dieser  aktuell  doppelt  deplazierte  Beisatz  des  Kustos  Dr. 
V.  Buchw  ald  zeigt,  daß  da  w  o  hl  subtile  O  r  ü  n  d  c  f  ü  r  die  F  e  r  n  h  a  1 
t  u  n  g  der  A  u  f  k  1  ä  r  u  n  g  \  o  ;  h  a  n  d  e  n  sei  ii  m  ü  s  s  c  n,  weil  m  a  n 
d  lese  xF  ä  1  s  c  h  u  n  g  c  n h  s  o  ä  n  g  s  1 1  i  c  h  a  b  s  c  h  1  i  e  ß  t.  welche  die 
Fürsten  von  M  e  c  k  1  e  n  b  u  r  g  -  S  1 1-  c  li  t  z  als  w  a  h  r  e  Freunde  der 
W  i  s  s  e  n  s  'c  h  a  f  t  einst  so  opferfreudig  z  u  s  a  m  m  e  n  g  e  t  r  a  g  e  n 
haben;  überdies  gilt  i  ni  m  e  n  s  c  h  1  i  c  h  e  n  W  i  s  s  e  n  nichts  als 
definitiv  erledigt.  —  Ob  diese  Bronzegegenstände  schon  überhaupt  je 
seit  der  Frfindung  der  [Photographie  reproduziert  wurden,  war  auch  nicht  zu 
erfahren  möglich;  auf  eine  frühere  Bitte  um  Behelfe  in  gleicher  Sache  erhielt  der 
Verfasser  von  derselben  Stelle  nur  eine  kurze,  unhöfliche  Antwort.  —  Vielleicht 
hat  nun  Prof.  .lagic  oder  irgendeine  Akademie  mehr  Qliick  in  dieses  verzopfte 
Geheimnis  einzudringen,  obschon  auch  noch  niemand  behauptet  hat,  daß  die 
Zeichnung  Woges  mit  der  Schrift  auf  der  Figur  selbst  irgendwie  nicht  überein- 
stimmen würde. 


55 


d    h.  „i  c  h  5  1  e  1 1  e  h  i  e  m  i  f  d  e  n  B  i  1  b  0  g  d  a  r",  denn  der  Beariff 
;  .ciovajav-)   bedeutet    Im    Russischen    noch    heute:    darsfellTn 
Umrisse    machen,    modellieren.**)     -    Auf    welche    Funda- 


)  Zitate  aus  Sprachen  mit  besonderer  Schr.ft  (Russiscli.  Griechisch  u  ■•;  1 
uerden  ,m  .btaroslovan,.  ausschließlich  in  lateinischer  Trans- 
skript.on  gegeben,  da  dies  für  die  Wissenschaft  keinerlei  Einbuße  bedeutet 
manchem  Leser  aber  doch  Erleichterungen  bietet. 

"'■)  Der  Fall,  daß  der  Künstler  sein  «fecit,  pinxit.  sculpsit..  seinem  Werke 
beifügt  wiederholt  sich  bei  den  nordeuropaischen  Runendenkmälern  sehr 
häufig,  denn  in  anderen  fällen  he  ßt  es  xMeder:  «vraet  runa.  runoh  varitu  vr^al 
pisar-runar  u.  ä.  '  ' 


66 

mente  oder  Einflüsse  hin  nun  dagic  sein  Anathema  aufbaute,  ist  aus 
nichts  zu  ersehen  und  übrigens  heule  bereits  belanglos;  Tatsache 
ist  aber,  daß  man  sich  seit  jener  Zeit  in  slavenfeindlichen  Kreisen 
trotzdem  stets  mit  großer  Sicherheit  auf  die  Entscheidung  dieser 
„Autorität"  beruft. 

Sieht  man  aber  auch  von  der  mangelnden  Gewissenhaftigkeit 
bei  dieser  wissenschaftlichen  Nachkontrolle  im  allgemeinen  ganz  ab, 
so  ist  es  an  sich  ein  Unsinn  hier  die  Möglichkeit  einer  Fälschung 
nur  zu  vermuten,  denn  wer  da  weiß,  daß  hier  zahlreiche,  mit  ver- 
schiedensten schönen  Reliefs  versehene  vorchristliche  Devotionalien 
modelliert,  gegossen,  beschrieben,  nach  der  großen  künstlerischen 
und  kostspieligen  Arbeit  aber  gleich  wieder  in  ein  starkes  Feuer 
geworfen  wurden,  so  daß  sie  zum  großen  Teile  wieder  bis  zur 
Unkenntlichkeit  abschmelzten,  der  muß  doch  zugeben,  daß  kein 
Vernünftiger  auf  eine  so  pathologische  Art  alt- 
slavische    Kulturbelege   herbeischaffen   wird. 

Ein  höchst  betrübendes  Symptom  für  die  Forscherkreise  ist  es 
nun  auf  jeden  Fall,  wenn  ein  so  einfacher,  geradezu  nach  einer 
Nachprüfung  schreiender  Fehler  durch  145  Jahre  nur  deshalb  nicht 
aufgefunden  und  berichtigt  werden  konnte,  weil  sich  der  Nachfolgende 
immer  bona  fide  darauf  verließ,  daß  dar  Vorgänger  die  Sache  schon 
gründlich  geprüft  habe;  einem  solchen  Bequemlichkeils- Optimismus 
verdankt  daher  ein  gewöhnlicher  Lesefehler  seine  ungetrübte  Existenz 
durch  fünf  Gelehrten-Generationen  !*) 


*)  Etwas  Ähiiliclies  spielte  sich  vor  kiiizeni  in  Prag  ab.  Als  i.  .1.  1911  der 
Streit  um  die  Echtheit  der  böhmischen  Handschriften  von  neuem  heftig  entbrannte 
und  die  philosophische  Fakultät  der  böhm.  Universität  in  Prag,  —  als  historische 
Gegnerin  der  Handschritten  schon  seit  dem  J.  18b;6  —  nach  der  dargelegten  Nich- 
tigkeit aller  Verdächtigungen  in  eine  peinliche  Enge  geriet,  da  erklärten  52  Pro- 
fessoren und  Dozenten  in  einer  öffentlichen  nKundmachuiigx  am  31.  Dezember 
1911  als  MFachmännerx  die  Handschriften  als  zweifellos  gefälscht.  — 
War  nun  schon  die  Form  an  sich  keine  gut  gewählte,  so  stellte  sich  noch  kurz 
darauf  heraus,  dal')  möglicherweise  kein  einziger  dieser  Mani- 
festanten je  im  Leben  die  «gefälschten«  Handschriften 
selbst  näher  gesehen  oder  gar  eingehend  studiert  hat,  denn 
auf  eine  Anfrage  erklärte  der  langjährige  Bibliothekar  des  Landesnuiseums,  Dr. 
Zibrt,  der  die  Handschriften  unter  Sperre  hält,  daß  in  den  letzten  20  J  a  h  r  e  n 
nur  3,  vielleicht  4  Personen  bei  ihm  mit  dem  Wunsche  er- 
schienen, sich  die  H  a  n  d  s  c  li  r  i  f  t  c  n  näher  besehen  zu  wolle  n. 
—  Nun  wissen  wir  aber,  daß  darunter  auch  Interessenten  waren,  die  auf  der 
i'Kundmachung«  nicht  unterzeichnet  sind;  es  können  sonach  bestenfalls  von  allen 
52  KFachmännern«  nur  1 — 2  die  Hatidschriften  näher  gekannt  hal)en;  alle 
ü  b  r  i  g  e  n   gaben    aber   ö  f  f  e  n  t  I  ic  h    ein    Zeugnis    c  a  r  t;i    h  i  a  n  c  a    a  b. 


War  es  daher  nur  ein  bedauerlicher  Irrtum  aus  Nachlässigkeit, 
aus  blindem  Vertrauen  auf  die  Tradition  oder  aus  Unwissenheit,  so 
ist  derselbe  nun  richtiggestellt,  und  sind  hiemit,  umsomehr  als  die 
„Schwayxtix"-Figur  stets  als  das  Hauptargument  gegen  die  Echtheit 
angesehen  wurde,  diese  altslavischen  Kullurdokumente 
zugleich  auch   rehabilitiert.  — 

M.  Zunkovic: 

»Jus  primae  noctis«  bei  den  Slaven. 

Ein  Musterbeispiel  eines  bedenklich  plumpen  wissenschaftlichen 
Irrtums  gibt  die  Forschung  und  Nachprüfung,  ob  bei  den  Slaven  je 
das  „Jus  primae  noctis'',  d.  i.  das  Recht  des  Landes-,  Lehens-  oder 
Grundherrn  auf  den  ersten  Beischlaf  -jeder  neuvermählten  Gungtrau 
bestanden  habe,  denn  es  zeigt  sich  hier  drastisch,  wie  rasch  und 
leicht  ein  logischer  Denkfehler,  oberflächliche  Forschungspflege  und 
ein  infantiles  Sprachwissen  ein  kulturhistorisches  Märchen  aufbauen 
und  einen  Sprung  ins  Extreme  machen  kann,  und  welche  Mühe  hin- 
gegen die  Wissenschaft  aufwenden  muß,  um  zu  überzeugen,  daß  nur 
Vorurteile  und  falsche  Deduktionen  diese  Märchenbildung  ermöglichten. 

Die  außerslavische  Gelehrtenwelt  befaßt  sich  mit  der  Aufklärung 
dieser  Rechtsfrage  seit  Dezennien  in  intensivster  Weise.  Zahlreiche 
Werke,  welche  schon  kleine  Bibliotheken  füllen  könnten,  wurden 
bereits  über  dieses  Thema  geschrieben,  denn  die  einen  halten  fest 
daran,  daß  es  seit  den  ältesten  Zeiten  ein  solches  Recht  gegeben, 
die  anderen  bestreiten  dies  wieder  mehr  oder  weniger  überzeugend.*) 
Wer  jedoch  darüber  nüchtern  denkt,  hält  es  mit  diesem  Streitobjekte 
genau  so  wie  die  Weltgeschichte  mit  allen  ihren  nebelhaften  Vor- 
kommnissen; sie  alle  gleichen  einer  Statue  auf  drehbarem  Sockel 
und  jeder  wendet  sie  nach  Belieben  bald  dem  Lichte  zu,  bald  zur 
Schattenseite  hin,  je  nachdem  der  Einzelne  oder  die  momentane 
Zeitströmung  fallweise  hiebet  Licht  oder  Schatten  vorzieht,  wobei 
allenthalben  und  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  sogar  jeder  im  Rechte 
verbleibt. 

Das  Resultat  aller  dieser  Untersuchungen,  Meinungen  und  Gelehr- 
ten-Katzbalgereien ist  aber  in  Extraktform  folgendes: 

ein  solches  Recht  hat  im  juristischen  Sinne  nicht  bestanden; 
Jus  primae  noctis"  war  lediglich  der  rechtstechnische  Begriff  für  die 

.yEme  übersichtliche  Arbeit  dieser  Art  verfaüte  z.  B.  Dr.  Karl  Schmidt  ..Jus  primae 
noctis".  Freiburg  i.  B.  1881.  Hiezu  Anhang  .Slavische  Geschichtsquellen  zum  J.pr.n.«  —  Posen  188»;. 


58 

formelle  Einwilligung  des  Grundherrn  zu  einer  legalen  Eheschließung, 
wofür  normal  eine  Ehelaxe  eingehoben  wurde; 

das  „JUS  primae  noctis"  war  mitunter  eine  Art  demonstrativen 
Rechtssymboles,  denn  dadurch,  daß  die  Tochter,  die  anläßlich  der 
Heirat  in  die  Zugehörigkeit  eines  anderen  Grundherrn  gelangte,  die 
Brautnacht  in  der  Wohnung  des  Vaters  verbrachte,  wahrte  sie  sich 
auch  das  Erbrecht  auf  das  väterliche  Gut,  da  ihre  Nachkommen  hie- 
mit,  als  in  der  alten  Hofhörigkeit  gezeugt,  angesehen  wurden;  es 
war  dies  also  ein  mit  der  Brautnacht  erworbenes  Recht; 

wo  es  in  unmoralischem  Sinne  ausgeübt  wurde,  war  es  nur  ein 
Recht  des  Stärkeren,  daher  kein  Recht,  sondern  eine  Willkür,  Gewalt 
oder  Übergriff  im  allgemeinen,  der  sich  durch  die  Extreme  der  so- 
zialen Stellung  der  Menschen  von  selbst  ergibt  und  woran  sich,  so 
lange  es  Herrschende  und  Dienende  geben  wird,  kaum  je  etwas 
wesentlich  ändern  kann. 

An  ein  „jus  primae  noctis"  ist  aber  auch  aus  physischen  wie 
moralischen  Gründen  nicht  zu  denken,  denn  die  Grundherrn  waren 
doch  vielfach  nur  juristische  Personen,  dann  Frauen  (z.  B.  Äbtissinen), 
Witwen,  Kinder,  Greise,  charaktervolle  oder  glücklich  verheiratete 
Männer,  welche  von  dem  „Rechte"  im  unmoralischen  Sinne  natur- 
gemäß keinen  Gehrauch  machen  konnten  und  auch  nicht  wollten. 
Nebstbei  konnte  ein  solches  Recht  schon  biologisch  nicht  von  Konti- 
nuität sein,  und  war  doch  auch  die  Qualität  der  Braut,  ihr  Äußeres 
und  ihr  Alter  hiebet  maßgebend,  was  schließlich  auch  den  größten 
Wüstling  beeinflußt.  Übrigens  wird  ein  despotischer  Grundherr  wohl 
nicht  erst  auf  die  Brautnacht  gewartet  haben,  falls  er  einmal  für  die 
Befriedigung  seiner  sexuellen  Gelüste  eine  bestimmte  Wahl  unter 
den  Schönen  seines  Unlertanenbereiches  getroffen,  also  Umstände, 
die  alle  auf  das  Entschiedenste  gegen  eine,  selbst  beschränkte  All- 
gemeinheit eines  solchen  „Rechtes"  sprechen. 

Hingegen  gibt  es  doch  auch  heule  allerlei  gesetzliche  Hinder- 
nisse zur  vollgültigen  Eheschließung,  wie:  Blutsverwandtschaft,  eine 
untere  Altersgrenze,  Militärdienstpflicht,  Aufnahme  in  die  Matriken 
u.  a.,  daher  die  Ehebewerber  immer  zuvor  einige  kirchliche  und 
juristische  Formalitäten  in  verschiedenen  Ämtern  erfüllen  müssen, 
die  ja  auch  an  diverse  Geldleistungen  gebunden  sind.  Genauso  waren 
aber  auch  ehedem  mancherlei  Gründe  vorhanden,  welche  den  Guts- 
herrn bemüßigten,  sich  über  die  Eheschließung  seiner  Hörigen  oder 
Leibeigenen  das  Entscheidungsrecht  vorzubehalten,  da  schon  die 
Heirat  einer  Vasallentochter  auf  die   Rechte   des   Lehensheiren  von 


59 


fühlbarer  Bedeutung  sein  konnte.  So  hiätte  bei  völlig  freier  Wahl  des 
Gatten  ein  Unwürdiger  oder  gar  ein  Todfeind  des  Lehensherrn  durch 
Heirat  in  den  Besitz  des  Lehens  gelangen  können;  es  entsprach  da- 
her schon  der  Pflicht  der  Lehenstreue,  daß  ein  Vasall  seine  Tochter 
nur  mit  Zustimmung  des  Lehensherrn  verheiratete;  der  Grundherr 
durfte  sich  also  schon  aus  Selbsterhaltungsgründen  nicht  seines  un- 
bedingten Einflusses  auf  die  Ehegründungen  begeben. 

Überdies  kam  es  doch  häufig  zu  Eheschließungen  zwischen 
Hörigen  und  Freien,  wobei  sich  der  erstere  loskaufen  mußte ;  des- 
gleichen heirateten  oft  Ungenossen,  also  Hörige  verschiedener  Herr- 
schaften, welche  nun  die  Genehmigung  beider  Grundherrn  einholen 
mußten,  denn  der  Hofbesitzer  galt  schon  an  sich  als  Vormund  eines 
jeden  Hörigen.  Eine  Heirat,  selbst  unter  den  Ärmsten,  konnte  daher 
nicht  so  stillschweigend  vor  sich  gehen,  denn  es  handelte  sich  dabei 
immer  um-  die  Regelung  gewisser  persönlicher  sowie  vermögens- 
rechtlicher Angelegenheiten  der  Brautleute;  desgleichen  hatte  der 
Grundherr  schon  aus  wirtschaftlichen  Gründen  ein  besonderes  Inter- 
esse daran,  daß  namentlich  nicht  zu  viele  aus  seiner  Hörigkeit  aus- 
schieden, weil  er  dadurch  immer  junge  Arbeitskräfte  verlor.  -  Alle 
Heiratsabgaben  erklären  sich  daher  lediglich  als  Gegenleistungen  für 
die  grundherrliche  Ehebewilligung.  Daß  diese  oft  ganz  erlassen  wur- 
den oder  genau  präzisiert  waren,  ist  gewiß  ebenso  wahr,  wie  daß 
habgierige  Beamte  dieselben  willkürlich  erhöhten,  diese  Lage  zu  Er- 
pressungen ausnützten  oder  gar  allerlei  menschlich  unwürdige  Bedin- 
gungen stellten. 

Die  Heiratsabgaben  hatten  örtlich  auch  eigene  typische  Bezeich- 
nungen, die  uns  aber  heute  in  bezug  auf  die  sprachliche  Bedeutung 
zum  Teile  nicht  mehr  verständlich  sind.  Sie  hießen  z.  B.  „bedemund" 
in  Westphalen;  „Brautgeld,  Brautgulden"  in  Bayern;  „Brautlauf"  in 
Schwaben;  „bumeda,  burmede"  bei  den,  Wendinnen ;  „Freudengeld" 
bei  Merseburg;  „Hemdlaken"  in  Niedersachsen;  „Klauentaler"  in 
Mecklenburg;  „Nagelgeld"  in  der  Grafschaft  Ravensburg;  „Schürzen- 
taler" in  der  Rheinpfalz,  „Bunzengeld,  Punzengroschen"  im  ehemaligen 
Fürstentum  Ouerfurt  u.  a.  Letztere  Bezeichnung  ist  für  die  Slaven 
etymologisch  besonders  interessant,  denn  darin  steckt  das  slavische 
Wort  „punca"  Mädchen,  Oungfrau,  wie  es  sich  bei  den  Slo- 
venen  und  Basken  bis  heute  erhalten  hat,  und  auch  im  Deutschen 
als  Vulgärausdruck  und  Schmähwort  in  der  Form  „Funze,  Pfunze" 
(     sprödes  Mädchen)  gebraucht  wird. 

Alles  dies  mußte  vorausgeschickt  werden,  um  nun  auf  dieser 
Basis    darzulegen,   wie   sich  die   Verhältnisse  mit   dem    „jus  primae 


60 

noctis"  bei  den  Slaven  gestaltet  haben.  Doch  bieten  sich  auch  da 
keine  wesentlichen  Unterschiede,  denn  auch  hier  hat  die  Gelehrten- 
welt eine  unglaubliche  Verwirrung  angerichtet,  weil  leider  die  sla- 
vische  Philologie,  welche  es  leichter  hatte  gewisse  fälschlich  kom- 
mentierte Gebrauchsbegriffe  aufzuklären,  Fehler  machte,  die  nicht  nur 
unbegreiflich,  sondern  geradezu  traurigkomisch  erscheinen. 

So  erzählt  die  älteste  russische  Chronik,  die  den  ersten  urkund- 
lichen Beleg  für  eine  Heiratssteuer  bei  den  Russen  bietet,  von  der 
Fürstin  Olga  i.  3.  96^:  Jogdaz  ofriesc  Olga  knjazeje,  i  lüozila  brat 
ot  zeniha  po  cor  nie  knnic,  kak  knjazai  tak  bojarimi  ot  jego  podda- 
nago."  Man  legte  sich  dies  folgend  aus:  „damals  schaffte  Olga  das 
Fürstliche  ab  und  verordnete,  von  dem  Bräutigam  je  einen 
schwarzen  Marder  zu  nehmen,  dem  Knjaz  sowohl  als  dem 
Bojar  von  seinem  Untertane"  und  meinte,  Olga  habe  als  Frau  natur- 
gemäß auf  das  fürstliche  Recht,  daß  die  Braut  die  erste  Nacht  dem 
Fürsten  gehöre,  zugunsten  der  Adeligen  verzichtet,  die  nun  für  die 
Erteilung  der  Ehebewilligung  einen  schwarzen  Marder  nehmen 
durften. 

Die  Auslegung  wäre  ja  nicht  abzuweisen,  denn  es  liegt  doch 
nahe,  daß  eine  Regentin  die  einem  Weibe  ganz  widerstrebende  Sitte 
abschafft;  aber  jener  Satz  hat  den  wesentlich  anderen  Inhalt:  „damals 
schaffte  Olga  das  Fürstliche  (die  Ehetaxe  an  den  Landesfürsten)  ab 
und  verordnete  vom  Bräutigam  eine  gewöhnliche  „kuna"  (  Normal- 
münze) u.  zw.  sowohl  dem  Knjaz  wie  dem  Bojar  von  seinem  Unter- 
tane zu  nehmen". 

Die  Konfusion  rührt  vor  allem  daher,  weil  niemand  beachtete, 
daß  man  die  älteste  russische  Münze  oder  Münzeinheit  „kuna" 
nannte,  sowie  daß  „cerni,  cornij"  nicht  nur  schwarz,  sondern 
auch  Steuer-,  frohn-  oder  abgabepflichtig,  wie  auch  ge- 
wöhnlich bedeutet,  bezw.  einst  bedeutete,  denn  jedes  russische 
Wörterbuch  führt  diese  Bewertungen  als  bekannt,  wenn  auch  zugleich 
als  veraltet  an.  —  Die  Abgabe  selbst  bezeichnete  man  offenkundig 
als  „kunicnoje"  (  Ehetaxe),  weil  dieselbe  eine  „kuna"  (  Geldmünze) 
betrug,  nur  führte  der  Umstand  eine  Verwirrung  herbei,  weil  „kuna", 
richtiger  „kouna"  (oder  „kona"),  zugleich  den  Marder  bezeichnen 
kann  ;  überdies  benennen  alle  Slaven  die  weibliche  Scham  (vuiva) 
auch  so  und  führt  der  älteste  bekannte  Beleg,  d.  i.  die  „Lex  Salica" 
aus  dem  V.  Jahrhunderte  (Handschrift  von  Sens-Fontainbleau-Paris), 
auch  schon  „kuna"  wie  „kunda"  an. 

Diese  Geldsteuer  war  sonach  nichts  weiter,  als  das  amtlich  er- 
worbene Recht   auf   die  Eheschließung,   und  eben   auf  diese  Abgabe, 


(Jl 

die  bis  nun  den  Landesfürsten  zu  zahlen  war,  verzichtete  Olga  zu- 
gunsten der  Grundherrn.  Ob  aber  „kunicnoje,  kuna,  kunica"  an  diese 
oder  jene  der  drei  Bedeutungsmöglichkeiten  gelehnt  ist,  bleibe  hier 
unerörtert,  doch  ist  es  Tatsache,  daß  auch  andere  Slaven  unter 
„kunigovanje"  Hochzeit,  die  Litauer  im  besonderen  aber  den 
Mädchenabend,  Pollerabend  verstehen;  überdies  darf  bei 
einer  Ehebewilligungssteuer  auch  eine  geschlechtliche  Anspielung 
in  etymologischer  Richtung  durchaus  nicht  auffallen  oder  prüde  auf- 
genommen werden. 

Ob  nun  der  Deutungsfehler  „cornaja  kuna"  zu  schwarzer 
Marder  aus  Unwissenheit  oder  böser  Absicht  geschah,  wer  soll 
heute  darüber  zu  Gerichte  sitzen !  Aber  die  Folgewirkungen  dieser 
Entgleisung  müssen  als  eine  bewußte  Fälschung  geschichtlicher  Tat- 
sachen aufgefaßt  werden,  denn  man  schloß  gleich  daraus,  daß 
unter  Olga  (945 -%9)  die  Russen  noch  höchst  unkul- 
tiviert waren,  weil  sie  damals  noch  kein  Geld  kann- 
ten und  ihnen  als  Zahlungsmittel  noch  Häute  oder 
Pelze  von  Mardern,  Eichhörnchen  usw.  dienten.  Um  dies 
glaubwürdiger  zu  machen,  erzählte  man  weiter,  daß  um  das  Jahr 
99S  in  Rußland  noch  bemalte  (!)  Lederstücke  des  Ma  rders 
als  Münzsurrogate  galten,  und  folgerte  dies  aus  einem  Passus  der 
ältesten  russischen,  sogenannten  Nestorschen  Chronik,  wo  es  heißt, 
Fürst  Vladimir  ließ  zum  Andenken  an  den  Sieg  über  die  Pecenegen 
eine  Kirche  erbauen  und  veranstaltete  zugleich  ein  großes  Volksfest, 
wozu  300  Fäßchen  Honig  verwendet  wurden ;  überdies  ließ  er  die 
Armen  zu  Hofe  kommen ;  nebst  Speisen  und  Trank  durfte  sich  ein 
jeder  zum  Schlüsse  auch  ein  Stück  „kuna"  aus  der  Kassa 
nehmen. 

Diesen  haarsträubenden  Stumpfsinn  erzählt  man  aber  ruhig 
weiter,  um  hiemil  darzulegen,  auf  welchem  Tiefstande  die  altslavische 
Kultur  noch  im  X.  Jahrhunderte  war,  da  man  noch  gar  kein  Hartgeld 
kannte.  Alles  dies  ist  jedoch  unmöglich  wahr,  denn,  ganz  abgesehen 
davon,  daß  der  Marder  überhaupt  nicht  schwarz  sondern  braun 
ist,  bleibt 

a)  ein  in  kleine  Stücke  geschnittenes  Marderfell,  selbst  wenn  es 
bemalt  wäre,  da  es  bei  dieser  „Unkultur"  wohl  keine  Kunst- 
miniaturen gewesen  sein  konnten,  an  sich  absolut  wertlos; 
wie  hätte  übrigens  ein  solches  Zahlmittel  nach  einiger  Gebrauchs- 
zeit ausgesehen ! 

b)  Gab  es  damals  viele  Edelmarder,  so  hatten  auch  ganze  Felle 
wenig  Wert ;  gab  es  wenige,  so  wird  sie  niemand  zerschneiden, 


Ü'J 


da  das  Fell  doch  als  Ganzes  am  wertvollsten  ist;  überdies 
konnte  sich  da  jeder  Geld  nach  Belieben  selbst  machen,  denn 
er  brauchte  nur  Marder  zu  fangen ;  und  so  wäre  schließlich 
jedes  Stück  Fell  zur  Münze  geworden  und  wer  soll  dies  dann 
als  Kaufmittel  angesehen  haben? 

c)  Gab  es  auch  „marcas  cunarum".  Herzog  Boleslav  von  Krakau 
entschied  z.B.  im  Oahre  1259  einen  Streit  dahin,  daß  der  Sach- 
fällige „20  marcas  cunarum"  zu  zahlen  habe;  Marderfelle 
waren  dies  also  gewiss  nicht,  und  wenn  die  Strafen  auf  dieser 
Grundlage  bemessen  worden  wären,  so  gäbe  es  schon  seit 
Jahrhunderten  keine  Edelmarder  mehr. 

Nun  gab  es  aber  unter  Olga  schon  Münzen,  wie  die  beigegebene 
Figur  zeigt,  die  bisher  auch  noch  niemand  als  gefälscht  bezeichnet 
hat.  Es  ist  dies  eine  Silbermünze  (Museum  Berlin),  die  auf  der  Avers- 
seite die  Fürstin  mit  ihrem  Sohne  Svjatoslav  darstellt;  auf  der  Re- 
versseite steht  jedoch  der  Gattungsname  der  Münze  selbst,  lautend 
„Rusov  kouna",  d.  i.  russische  Münze,  deutlich  und  für  jeder- 
mann lesbar  geprägt. 


Russische   ,,kouna"-Münze. 


/-ÄT^ 


Eine  weitere,   noch  unvergleichlich  ältere  Münze   ist   die  nach- 
stehend abgebildete  mit  der  Aufschrift  „kunic". 

Die  Wissenschaft  hat  sich  in  diesem  Falle  hinweg- 
geholfen, indem  sie  erklärte,  es  sei  dies  eine  zum 
Andenken  an  die  Vermählung  Gunhildens,  der  Tochter 
des  Polenfürsten  Mscislav  I.  (962—992)  mit  dem  Dä- 
nenkönig Svein  Haraldson  geprägte  Münze.  Tatsäch- 
sächlich  bedeutet  dies  „kunica"  (  kleine  „kuna"), 
woraus  zugleich  zu  ersehen  ist,  dass  es  auch  Münzabstufungen  gab. 

Da  aber  das  Alter  der  letztgenannten  Münze  viele  Jahrhunderte 
höher  sein   kann  als  jene  der  Olga,   die  Zeit  aber  doch  nicht  näher 


Münze  ,,kunic' 


ß3 


bestimmbar  ist,  so  sei  nur  noch  angeführt,  dass  es  doch  schon  min- 
destens 100  Dahre  vor  der  Fürstin  Olga  in  Russland  Münzen  gab, 
wie  die  beigegebene  Figur  mit  der  Runenaufschrift  „Rurik"  zeigt. 

Daß  aber  gerade  diese  erhaltene  auch  zu- 
gleich schon  die  erste  Münze  war,  ist  höchst 
unwahrscheinlich;  überdies  zeigt  die  Prä- 
gung ein«  höhere  künstlerische  Ausführung 
als  so  manche  späteren  Münzen  anderer 
Länder.  So  oder  ähnlich  wird  über 
altslavische  Kultur  verhä  itnis  se 
geschrieben,  trotzdem  greifbare 
Beweise  dagegen  sprechen,  und  sla- 
vische  Schriftsteller  bestätigen 
ruhig  solche  Märchen  oder  ver- 
,.Rurik"-Münze.  breiten  sie  gar  selbst  ungeprüft 

weiter. 

Daß  „knjaznoje"  wirklich  eine  Steuer  kennzeichnete,  ersieht 
man  auch  aus  Analogieformen,  wie  „kunicnoje".  —  Auch  in  Russisch- 
Polen  gab  es  Ehebewilligungssteuern,  wie  „dzevycze"  (virginale, 
3ungfernsteuer),  „wdovyne"  (viduale,  Witwensteuer  —  bei  einer  Wieder- 
verheiratung) und  „pasterne"  (Stieftochtersteuer)*),  doch  wurden  diese 
Taxen  bereits  im  Oahre  1262  für  ganz  Polen  aufgehoben. 

Doch  auch  anderen  rechtsfachlichen  Begriffen  in  dieser  Richtung 
wurde  eine  ähnliche  Tendenz  beigelegt.  —  So  kennen  und  gebrauchen 
alle  Slovenen  den  Ausdruck  „jutrnja"  für  Ehe  vertrag.  Auch  darin 
wollte  man  eine  Anspielung  auf  das  „jus  piimae  noctis"  finden,  mei- 
nend, es  besage  dies,  daß  die  Braut  erst  am  nächsten  Morgen 
(„jutro")  dem  Bräutigam  gehöre;  der  sonderbare  deutsche  Begriff 
„Morgengabe"  ist  daher  nur  eine  falsche  Interpretation  von  „jutrnja" 
(statt  „Lebenssicherungsgabe").  Das  Wort  ist  nämlich  nicht  aus  „jutro" 
sondern  aus  „jutit.i"  gebildet,  das  im  Russischen  noch  immer:  sicher- 
stellen, Zufluchtsstätte  geben,  sich  einni  sten  bedeutet. 
Da  aber  der  notarielle  Ehevertrag  tatsächlich  die  Sicherstellung 
der  Zukunft  der  Braut  und  deren  vermögensrechtliche 
Verhältnisse  regelt,  kann  daher  weiter  über  die  Etymologie 
dieses  originellen  Rechtsbegriffes,  dessen  gemeinsprachliche  Existenz 
sich  doch  auch  im  lateinischen  „jus"  widerspiegelt,  kein  Zweifel  mehr 
obwalten. 


•)  Den  Begriff  »pasterne«  hielt  man  bisher  allgemein  für  einen  Schreibfehler  in  den 
Urkunden,  da  man  keine  sprachliche  Erklärung  für  denselben  finden  konnte;  der  Slovene 
gebraucht  ihn  aber  noch  heute  in  der  Bedeutung  Stieftochter  (auch  Z  i  e  h  t  o  c  h  t  e  r)  in 
der  Form  :  pasterka,  pastorka,  pasterna. 


64 

Einen  ähnlichen  Sinn  legte  man  auch  den  in  allfranzösischen 
Urkunden  wiederholl  erwähnten  Rechtsbegriffen  „droit  de  fougage" 
(Toulouse)  und  jncrdolade"  (Tülle)  bei.  Aber  auch  hier  kann  von 
besonderen  Rechten  auf  die  Brautnacht  keine  Rede  sein,  nachdem 
man  ja  weiß,  daß  das  erstere  in  einer  Steuer  aller  Verheirateten 
(während  des  ehelichen  Geschlechtsverkehres),  das  zweite  in  einer 
Abgabe  nur  im  ersten  Ehejahre  bestand.  —  in  diesen  Begriffen  er- 
kennt man  aber  noch  immer  die  slavischen  Anthropophyteia  „fukati" 
(slovenisch)  und  „mrdati"  (böhmisch),  nur  bleibt  die  Frage  offen,  wie 
sich  diese  heute  nur  obszön  gebrauchten  Ausdrücke  in  Südwestfrank- 
reich einbürgern  konnten,  ein  weites  Feld  der  Erwägungen  über  die 
einstige  Verbreitung  der  slavischen  Sprache.  Doch  ist  auch  dies  kein 
vereinzelter  Fall.  —  Salomo  ben  Isak,  Rabbiner  in  Troyes  (a.  d.  Seine), 
geb.  1040,  gest.  1105,  führt  in  seinen  religiösen  Schriften  eine  Menge 
slavischer  Wörter  an,  die  er  offenkundig  beim  Unterrichte  verwendete, 
wie:  „oplatki"  (  Oblaten;  der  deutsche  Begriff  ist  also  ein  Slavis- 
mus),  „dlota"  (  Meisel),  „sni"  (  Schnee),  „guna"  (  Filzdecke), 
„dohet"  (  Teer),  „krokim"  (  ein  ziemlich  großer  Käfer;  wahr- 
scheinlich Maikäfer,  da  er  slavisch  „hrosc"  heißt),  „pripojiti"  (  an- 
fügen) u.  a.  m.  —  Desgleichen  weisen  die  Schriften  des  Zeitgenossen 
Isaks,  des  Rabbiners  Josef  ben  Simon  Kara  in  Troyes,  slavische 
Glossen  auf,  ein  Beweis,  daß  es  sich  hier  durchaus  um  kein  zufäl- 
liges Eindringen  slavischer  Begriffe  handeln  kann.*) 

Schon  diese  wenigen  Beispiele  zeigen  in  betrübender  Weise 
einerseits,  wie  oberflächlich  bearbeitet  und  gedankenlos  entstellt  die 
altslavischen  Rechtsbegriffe  sind,  andererseits  bieten  sie  zugleich 
einen  kleinen  Einblick  in  die  Qualität  jener  Beweise,  welche  kon- 
struiert wurden,  um  das  Märchen  von  der  Unkultur  und  Minder- 
wertigkeit der  Altslaven  glaubwürdiger  zu  machen. 


Wissenschaftliches  Allerlei. 


Der  Grabstein  der  kroatischen   Königin  Oelena   (t  97G). 

Die  äußerst  rührige  archäologische  Gesellschaft  „Bihac"  in  Spljet 
(Spalato),  welche  sich  die  Erforschung  der  kroatischen  Geschichte  zur 
besonderen  Aufgabe  stellte,  machte  vor  etlichen  Jahren  einen  hoch- 
interessanten Fund  in  Solin  (Salona).  Im  Atrium  der  großen  Basilika 

•)  Mitteilunj;cn  des  Dr.  J.  Freimann,  Rabbiners  in  Holleschau  (Mähren). 


H6 

stieß  man  bei  den  Ausgrabungen  auf  einen  Sarkophag  mil  einem 
umfangreichan  lateinischen  Epitaph.  Obschon  aber  die  Schriflseile  in 
90  Stücke  zertrümmert  war,  gelang  es  den  äußerst  mühsamen  Kom- 
binationen der  heimischen  Archäologen  Don  Bulic,  Prof.  Krzanic  und 
Barac  schließlich  doch  den  Text  verläßlich  zu  entziffern  und  festzu- 
stellen, daß  hier  die  irdischen  Überreste  der  i.  3.  976  verstorbenen 
kroatischen  Königin  3elena  verwahrt  liegen. 

Der  wissenschaftliche  Erfolg  dieser  Inschriftlösung  ist  aber  nicht 
nur  vom  Standpunkte  der  nun  historisch  beglaubigten  Existenz  der 
Königin  Jelena  (Helena)  an  sich  bedeutend,  da  über  diese  bisher  nur 
Sagenhaftes  bekannt  war,  sondern  hiemit  wurde  zugleich  eine  grö- 
ßere, in  der  kroatischen  Geschichtschreibung  unklare  Epoche  auf- 
gehellt. Gelena  war,  der  Inschrift  nach,  die  Gemahlin  des  Königs 
Stjepan  und  die  Mutter  des  Königs  Mihajlo.  Nun  kennt  aber  die 
Geschichte  keine  kroatischen  Könige  dieses  Namens  im  X.  Jahrhun- 
derte. Das  Rätsel  besteht  jedoch  darin,  daß  die  kroatischen  Herr- 
scher nach  der  Christianisierung  zwei  Namen  führten,  u.  zw.  einen 
nationalen  oder  offiziellen  Regenten-  und  einen  Taufnamen.  Im  kirch- 
lichen Gebrauche  und  bei  christlichen  Chronisten  wurde  nur  vorwie- 
gend der  Taufname,  im  äußeren,  sogenannten  diplomatischen  Verkehre 
und  mit  NichtChristen  hingegen  der  nationale  Name  angewendet.  Man 
weiß  aber,  daß  Konst.  Porphyrogenetos,  der  das  Werk  „De  admini- 
strando  imperio"  in  den  öahren  949  952  schrieb,  die  Könige  Kresimir 
und  Miroslav  jener  Zeit  erwähnt,  er  kann  somit  unmöglich  Könige 
gleichen  Namens  vom  XI.  Jahrhunderte  gemeint  haben.  Nachdem 
aber  auch  andere  Chronisten  erwähnen,  daß  Miroslav  der  Sohn  des 
Kresimir  war,  dann  daß  Stjepan  1.  auch  Miroslav  hieß,  ist  es  nun 
erwiesen,  daß  die  Angaben  auf  dem  Epitaph  richtig  sind,  und  war 
Oelena  eben  die  Gemahlin  des  Kresimir-Mihajlo  und  die  Mutter  des 
Miroslav-Stjepan,  womit  der  Zweifel  betreffs  der  Doppelnamen  voll- 
kommen geklärt  und  die  Konfusion  behoben  ist,  die  noch  durch  den 
Zufall  verstärkt  wurde,  daß  die  Gemahlin  des  Königs  Kresimir  II. 
(1018    24)  auch  Jelena  hieß. 

Dieses  Vorkommnis,  daß  durch  Doppelnamen  geschichtliche  Daten 
verwirrt  werden  können,  wird  hier  bewußt  und  zum  didaktischen 
Zwecke  ganz  besonders  hervorgehoben,  weil  es  in  der  Geschichte 
der  anderen  slavischen  Nationen  auch  ähnliche  Situationen  geben 
kann,  daher  bei  der  Entwirrung  eines  Namensknäuels  auch  diese 
Möglichkeit  nicht  unbeachtet  belassen  werden  soll. 

Ein  inferiores  Interesse  hat  aber  die  historische  Beglaubigung 
des  kroatischen  Namens  Miroslav  im  X.  Jahrhunderte  auch  für  die 


66 

Böhmen.  Man  warf  nämlich  Hanka  vor,  er  habe  in  „Mater  verborum" 
(ein  lateinisches  Wörterbuch  aus  dem  XIII.  dahrh.)  die  Notiz  „Miro- 
slav malif"  zu  dem  Zwecke  eingeschmuggelt,  um  den  Böhmen  origi- 
nalslavische  Namen  herbeizuschaffen  oder  aufzudrängen.  Doch  war 
dies  durchaus  nicht  notwendig,  denn  wer  kann  heute  entscheiden, 
ob  der  Name  „Miroslav"  früher  bei  den  Süd-  oder  Nordslaven  ge- 
bräuchlich war,  denn  die  Ortsnamen  „Miroslav"  oder  „Miroslava", 
die  doch  nicht  gar  so  selten  sind,  besagen,  daß  dieser  Name  alt- 
slavisch  ist,  d.  h.  einst  allen  Slaven  gemeinsam  war. 

Den  Besuchern  Dalmatiens  vermag  im  allgemeinen  die  Besich- 
tigung des  instruktiv  geordneten  und  rationell  geführten  Museums  in 
Spljet    auch  verschiedene   neue   Anregungen   in    bezug    auf   die   alt- 

slavische  Archäologie  bieten. 

Dr.  A.  Kova  cic. 

„Jüterbog." 

Ein  typischer  Fall,  wie  gedanken-  und  grundlos  mythologische 
Elemente  konstruiert  und  etymologische  Deutungen  geschaffen  werden, 
zeugt  der  Stadtname  „Jüterbog"  in  der  preußischen  Provinz  Branden- 
burg. Daß  der  Name  slavisch  sei,  darüber  bestand  wohl  niemals  ein 
Zweifel,  da  doch  durchwegs  wendische  Ortsnamen  daselbst  obwalten, 
und  unter  diesem  Eindrucke  übersetzte  man  auch  den  Namen  in 
Morgengott  („jutro"  Morgen,  „bog"  Gott).  Daß  es  sich  hier 
um  einen  mythologischen  Namen  handeln  müsse,  suggerierte  schon 
der  Begriff  „bog"  und  dies  ist  sodann  zum  Ausgangspunkte  aller 
weiteren  Phantastereien  geworden. 

Dr.  Friedrich  Wagner  schreibt  nun  unter  dieser  Prämisse  in  der 
Abhandlung :  „Die  Tempel  und  Pyramiden  der  Urbewohner  auf  dem 
rechten  Eibufer"  (Leipzig,  1828)  S.  45:  „Wenn  man  bedenkt,  daß 
3uetre-Bog  aus  den  beiden  alten,  wendischen  Wörtern  „juetre" 
Morgenröte,  und  „Bog"  Gott,  zusammengesetzt  ist,  man  also  die 
Morgenröte  unter  irgendeinem  Götzenbilde  hier  verehrte,  so  wird 
dies  umso  wahrscheinlicher,  da  der  „Golmberg"  (10  km  östlich  Jüter- 
bog) der  allerhöchste  Punkt  in  einer  viele  Meilen  weiten  Umgebung 
ist,  und  man  also  von  hier  aus  die  Morgenröte  selbst  am  frühesten 
und  herrlichsten  erblicken  konnte,  bei  welchem  Anblick  gar  leicht 
das  Bild  selbst  vergessen  und  die  Morgenröte  unmittelbar  als  Gott- 
heit gedacht  und  verehrt  werden  konnte."  Dann  S.  62:  „Wo  der  Gott 
der  Morgenröte  stand  und  verehrt  wurde,  ist  klar  erwiesen  und  ge- 
sagt, aber  nicht  unter  welchem  Bilde,  wovon  aber  auch  nichts  Be- 
stimmtes nachgewiesen  werden  kann.  Wahrscheinlich  ist  es,  daß  man 


67 

bei  Verehrung  des  Morgengoltes  oder  der  des  Gottes  der  Morgen- 
röte (üulribog)  gar  kein  Bild  vor  Augen  blatte,  sondern  die  erschei- 
nende Morgenröte  selbst  als  solches  betrachtete,  und  darin  das  Höhere, 
verehrbare  Wesen  fand,  denn  der  eine  Punkt,  wo  die  Verehrung  sol- 
cher Götter  stattfand,  war  der  Golmberg,  der  am  höchsten  gelegene 
Ort  in  einer  weiten  Umgebung."  Dann  S.  63:  „Zwar  stand  auch 
in  Jüterbog  selbst,  also  in  einer  liefgelegenen  Gegend,  ein  Tempel 
der  Morgengöttin,  aber  ebenfalls  auf  einem  künstlich  errichteten 
Berge"  u,  s.  w. 

Nun  muß  aber  jeder  alte  Chronist  offen  bekennen,  daß  man  die 
Gestalt  dieses  Gottes  überhaupt  nicht  kennt,  weil  an  keinem  Punkte, 
wo  er  angeblich  verehrt  wurde,  irgendeine  Bildsäule,  eine  Inschrift 
oder  ein  sonstiger  Existenzbeweis  zu  finden  war.  Dies  ist  aber  sehr 
natürlich,  denn  einen  solchen  Gott  gab  es  eben  nie,  sondern  er  wurde 
aus  der  falschen  Etymologie  von  „jutro"  statt  „jut"  (  Recht,  Schutz) 
geschaffen;  „Outerbog"  bedeutet  also:  Schutzherr,  Beschützer. 

Daß  in  jener  Gegend  der  isolierte  „Golmberg"  sowie  der  „Tanz- 
berg" auf  dem  „Neumarkte"  in  Jüterbog,  die  man  beide  als  von 
Menschenhand  errichtet  ansieht  wahrscheinlich  handelt  es  sich  aber 
um  eine  Abgrabung,  um  sie  sturmsicherer  zu  machen  als  Sitz  des 
Schutzherrn  jener  Gegend  diente,  oder  daß  man  sich  bei  feindlicher 
Gefahr  daselbst  zusammenscharte,  ist  doch  naheliegend,  umsomehr  als 
Ausgrabungen  auf  beiden  Punkten  zahlreiche  alte  Kulturresiduen  an 
den  Tag  förderten. 

Daß  „jutitj"  im  Russischen  sichern,  beschützen  bedeutet, 
wurde  schon  beim  Artikel  „Jus  primae  noctis"  erwähnt.  So  sind 
auch  die  „üoten",  die  Riesen  der  germanischen  Mythologie,  nichts 
weiter  als  die  S  c  h  u  t  z  h  e  r  r  e  n  einer  bestimmten  Gegend ;  sie  wohnen 
auf  Höhen  („Ootenheim")  und  bauen  Verschanzungen  gegen  die 
mächtigen  Erdensöhne,  d.  h.  sie  sorgen  für  den  Gegend-  und  Landes- 
schutz, sind  also  die  Grenzbeschützer,  Grenzverteidiger 
der  ältesten  sozialen  Organisation. 

Auf  solche  Art  kommt  allmählig  Licht  in  die  oft  so  groteske 
Genesis  der  Götlerlehren. 

„Pripeg  al  a." 

Noch  sonderbarer  ist  die  Entstehung  des  Gottes  „Pripegala", 
der  bei  den  Elbeslaven  als  Gott  der  Wollust  verehrt  worden  sein  soll. 
Man  erzählt,  daß  ihm  Menschenopfer  dargebracht  wurden,  daß  er 
umso  zufriedener  war,  je  mehr  Christenköpfe  man  ihm  brachte,  weiß 

5* 


68 

aber  nicht  einmal,  wie  er  dargestellt  wurde.  Selbstredend  ist  alles 
ein  leeres  Phantasiegebilde,  denn  die  erste  Erwähnung  dieser  so 
nebelhaften  Gottheit  stammt  erst  aus  dem  12.  Jahrhunderte,  als  alle 
Anhaltspunkte  für  die  sprachliche  Erklärung  des  Namens  bereits  ge- 
schwunden waren.  Das  Grundwort  ist  nämlich  das  slavische  „pribeg" 
(  Schutz,  Zuflucht),  „pribegala"  bedeutet  sonach:  Zufluchtsort, 
Schutzstätte.  In  Jüterbog  selbst  war  angeblich  eine  Höhe  dem 
Gotte  „Pripegala"  geweiht,  d.  h.  eine  solche  Höhe  diente  der  Stadt 
als  Zufluchtsstätte  bei  feindlicher  Gefahr.  M.  Zunkovic. 

Zur  Körperreinlichkeit   der  Slaven. 

Im  Dezember  1910  hielt  ein  Prager  Universitätsprofessor  in 
Olmütz  einen  volksbildenden  Vortrag,  in  welchem  er  allen  Ernstes 
die  alte  Erzählung,  daß  die  Slaven  den  Leibesschmutz  geradezu  als 
Präservativmittel  gegen  Krankheiten  ansehen,  wieder  erneuerte.  Diese 
allgemeine  Behauptung,  die  allerdings  schon  lange  Zeit  von  Geschichts- 
schreibern und  Kulturhistorikern  wiederholt  wird,  ist  durch  nichts 
begründet  und  eine  Einzelerfahrung  berechtigt  noch  niemanden  zu 
generalisieren.  Die  Körperreinlichkeit  ist  bei  allen  Völkern  mehr- 
weniger von  den  lokalen  Wasserverhältnissen  abhängig,  denn  die 
Bewohner  an  Flüssen,  Seen  und  Meeren  baden  bekanntlich  sehr  viel ; 
Orte  mit  heißen  Quellen  werden  allgemein,  und  je  nach  der  Entfer- 
nung mehr  oder  weniger  oft  aufgesucht;  der  Türke  wäscht  sich  vier- 
mal des  Tages;  der  Karstbewohner,  der  im  Hochsommer  oft  stunden- 
weit Wasser  herbeiholen  muß,  erscheint  stets  in  reinlichster  Verfas- 
sung in  der  Kirche,  da  es  als  ein  stilles  Gebot  gilt  vor  Gott  rein  zu 
erscheinen.  Im  Großen  bleibt  es  daher  noch  recht  fraglich,  ob  die 
Kulturvölker  im  allgemeinen  mehr  baden  als  manche  Naturvölker. 

Was  jedoch  die  Slaven  im  besonderen  betrifft,  so  ist  jene  Be- 
hauptung noch  weniger  zutreffend.  Die  Urheimat  des  Dampfbades  ist 
doch  Rußland,  wo  der  Wasserdampf  noch  primitiv  durch  Begießen 
von  Kieselsteinen,  die  auf  glühende  Ofenplatten  gelagert  sind,  erzeugt 
wird.  Diese  Badeanlage  ist  aber  wieder  ähnlich  jener  der  Skythen, 
die  doch  allgemein  als  ein  slavisches  Volk  angesehen  werden;  He- 
rodot  (geb.  um  das  Oahr  500  v.  Chr.)  beschreibt  sie  in  analoger 
Weise.  —  Auch  Ibrahim  ihn  Jakub,  der  um  das  Jahr  %5  n.  Chr. 
Mitteleuropa  bereiste,  schildert  die  Dampfbäder,  wie  er  sie  bei  den 
Nordslaven  selbst  gesehen,  ohne  sich  dabei  auf  Herodot  oder  eine 
sonstige  Quelle  zu  berufen.  Man  soll  daher  nicht  alles  gedanken- 
los nachsprechen,  zumal  wenn,  wie  hier,  geradezu  verschiedene, 
gegenseitig  unbeeinflußte  Beweise  das  reine  Gegenteil  bezeugen. 

V.  Sokol. 


69 

Die  Entdeckung  des  „Zacher  1  i  n  s". 

Der  bekannte  Insektenpulverfabrikant  Zactierl  stand  in  jungen 
Oahren  in  Dalmatien  im  Militärdienste.  Gelegentlich  fragte  er  die 
Einheimischen,  woher  sie  das  so  erfolgreiche  Insektenpulver  gewin- 
nen und  erfuhr,  daß  hiezu  die  Blülenköpfe  einer  vorwiegend  in  Dal- 
matien und  Montenegro  wachsenden  Kamille,  genannt  „hii/iüc" 
(  Flohblume ;  Chrysanthemum  cincrariaefolium),  verwendet  werde.  Er 
griff  diese  Erfahrung  und  Maßregel,  die  bei  den  Dalmatinern 
schon  seit  undenklichen  Zeiten  bekannt  und  erprobt 
war,  auf  und  wurde  auf  diese  Weise  Millionär.  V.  Sokol. 


Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten. 

Hier  werden  ausschließlich  solche  einlaufende  Fragen   veröffentlicht  und  fallweise 
beantwortet,  die  das  Gepräge  eines  breiteren  wissenschaftlichen  Interesses  tragen. 


Frage  1.  In  das  grosse  Programm  der  Bibliothek  „Staroslovan" 
sind  im  allgemeinen  folgende  Werke  aufgenommen : 

Slavische  Runendenkmäler. 

Etymologisches  Ortsnamenlexikon. 

Altslavisch-deutsches  und  deutsch-altslavisches  Wörterbuch. 

Altslavisches  Lehr-   und  Lesebuch. 

Sammlung  von  Sprachidiotikons. 

Slavische  Archäologie. 

Slavische  Urgeschichte. 

Altslavische  Kulturgeschichte. 

Altslavische  Flurverfassung. 

Altslavische  Wehr-  und  Schutzbauten. 

Altslavische  Rechtskunde. 

Altslavische  Münzkunde. 

Altslavische  Geographie. 

Atlas  mit  den  ältesten  slavischen,  also  Original-Ortsnamen. 

Alislavische  Handelswege. 

A  Itslavische   Volks-Pharmakologie. 

A  Itslavische  Geheim  wissenschajten . 

Slavische  Volksgebräuche. 

Die  Volksepik  der  Slaven. 

Die   Volkslieder  der  Slaven   bei  Zurückjührung  der  Varianten  auf 
den  Ursprung. 


70 

Slavische  Mythologie. 
Altslavische  Religionsgeschichte. 
Altslavische  Schriftdenkmäler  : 

a)  profane, 

b)  kirchliche. 

Sammlung  alter  slavisch-diplomatischer  Urkunden. 

Ausgabe  noch  nicht  edierter  oder  vergessener,  für  die  Slaven  wert- 
voller Werke. 

Denkmäler  der  ausgestorbenen  slavischen   Sprachen. 

Altslavische  Ornamentik. 

Geschichte  der  slavischen   Trachten. 

Monographien  verschiedener  sonstiger  Wissenszweige,  soweit  sie 
Altslavisches  tangieren. 

Reallexikon  der  slavischen  volkstümlichen   Terminologie. 

Slavische  Kriegskunst  und  Kriegsgeschichte  u.  a.  m. 

Schon  diese  Reihenfolge  zeigt,  mag  sie  bei  der  Durchführung 
des  Planes  auch  nicht  voll  eingehalten  werden  können,  dass  die 
ersten  zwei  Werke  vornehmlich  bezwecken  den  Glauben  an  die 
grosse  weltgeschichtliche  und  kulturelle  Vergangenheit  der  Slaven  zu 
verkündigen  und  zu  verbreiten,  sowie  ihn  demonstrativ  zu  festigen ; 
die  weiteren  Werke  hingegen  sollen  teils  die  Mittel  zum  Studium 
in  dieser  Richtung  bieten,  teils  aber  zu  weiteren  Detailforschungen 
anregen  oder  zur  Nutzanwendung  der  gemachten  Erfahrungen  dienen.  ~ 

Da  wir  aber  einerseits  als  sicher  annehmen  können,  dass  eine 
deutsche  Akademie  kaum  Werke  dieser  Richtung  ausgeben  wird, 
sowie  dass  andererseits  die  slavischen  Akademien  vor  allem  ihrem 
sprachlichen  Wirkungskreise  Rechnung  tragen  werden,  ist  es  nahe- 
liegend, dass  sonach  niemand  weiter  da  ist,  der  nun  dieses  Wissen 
auch  Nichtslaven  zugänglich  machen  könnte,  daher  die  Mission  des 
„Staroslovan"  gewiss  eine  tiefe,  da  zweifache  bildungsorganische 
Berechtigung  hat. 

Wir  fragen  uns  nun  öffentlich  an,  wer  vor  allem  die  Verfassung 
des  altslavisch-deutschen  Wörterbuches  sowie  eines  solchen  Lehr- 
und  Lesebuches  übernehmen  würde?  (Einige  Mitarbeiter  haben  sich 
für  das  Wörterbuch  bereits  gemeldet.)  Für  beide  Werke  sind  wohl 
schon  wertvolle  Vorarbeiten,  wie :  Miklosich,  Leskien,  Vondräk  vor- 
handen, doch  müssten  die  neuen  Arbeiten  dem  Fortschritte  der 
Wissenschaft  bis  heute  und  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  auch  der 
Aufnahmsfähigkeit  in  den  Volksschichten  mittlerer  Schulbildung  an- 
gepaßt werden.  —  Gleichzeitig   fordern   wir   auch  alle  Forscher  und 


71 

Fachschriflsteller  auf,  die  sich  für  die  Ausarbeitung  des  einen  oder 
anderen  sonstigen  Werkes  berufen  oder  vorbereitet  fülilen,  sicti  schon 
jetzt  zu  melden,  damit  die  bevorstehende  immense  Arbeit  baldigst 
in  eine  gewisse  didaktische  Relation  zu  ihrem  großen  Zvi/ecke  ge- 
bracht werden  könne.  —  Die  gegenseitigen  Bedingungen  werden  dann 
schriftlich  ausgetauscht.  Da  eine  jede  solche  gut  angelegte  Arbeit 
sodann  begründete  Aussicht  hat  auch  in  andere  Sprachen  übernommen 
zu  werden,  hat  der  Verfasser  mehrfache  Möglichkeit  durch  seine 
Arbeit  nutzbringend  zu  wirken  und  die  allgemeine  Bildung  zu  heben. 

F  r  a  g  e  2.  Mehrere  Anfragen  aus  Mitgliederkreisen  lauten  dahin, 
ob  sich  der  „Staroslovan"  auch  mit  der  Echtheitsfrage 
der  böhmischen  Handschriften  befassen  wird. 

Antwort:  Eingehender  nur  in  dam  Falle,  als  etwa  noch  eine 
seriöse  Einwendung  gegen  die  Echtheit  vorgebracht  würde,  denn  wir 
wollen  doch  niemand  zwingen,  daß  er  etwas  glauben  soll,  was  er 
nicht  glauben  will,  und  naive  Zweifler  oder  Uneingeweihte  mögen 
sich  selbst  folgendes  beantworten.  Die  herrlichen  altböhmi- 
schen Dichtungen  sind  unbedingt  da,  es  muß  sie  also 
jemand  u.Z.  ein  hervorragender  Dichter  geschaffen 
haben;  um  1817  gab  es  aber  nicht  einmal  einen  solchen 
von  bescheidener  Mittelmäßigkeit.  Angenommen  jedoch, 
jener  Dichter  hüllte  sich  in  Anonymität;  woher  kannte  er  die 
altböhmische  Sprache  so  vorzüglich,  wie  um  das 
Oahr  1817  niemand;  woher  hatte  er  diese  ohne  Lese- 
buch oder  Lehrer  unmöglichen  Kenntnisse,  denn 
Dobrovsky,  der  im  äußersten  Falle  dabei  in  Kalkül 
gezogen  werden  könnte,  verstand  selbst  viele  Stellen 
der  Dichtungen  nicht  und  erkannte  sie  bis  zum  Jahre 
1911  niemand.  Pergament  und  Schrift  sind  alt  und 
waren  zur  Zeit  der  Auffindung  natürlich  alt;  und  wer 
kann  dem  Zahn  der  Zeit  Konkurenz  machen?!  — 

In  welcher  unwürdigen,  fern  von  Wissenschaft  oder  Wahrheit 
liegenden  Weise  man  überdies  die  Handschriften  zu  diskreditieren 
sucht,  war  erst  kürzlich  in  verschiedenen  deutschen  Tagesblättern 
zu  lesen.  Es  starb  der  pensionierte  Universitätsbibliothekar  Anton 
Zeidler,  bei  welcher  Gelegenheit  erst  des  Geheimnis  gelüftet  wurde, 
daß  dieser  es  war,  der  i.  3.  1858  Hanka  anonym  der  Fälschung 
der  Königinhofer  Handschrift  beschuldigte.  Da  Hanka  nun  den 
Schutz  seiner  Ehre  beim  Gerichte  suchte,  wurde  der  damalige  Redak- 
teur des  „Tagesbote  für  Böhmen",  David  Kuh,  welcher  die  Denun- 
zierungen veröffentlichte,  in  erster  und  zweiter  Instanz   verurteilt,  in 


72 

dritter  jedoch  freigesprochen,  was  nun  dahin  ausgelegt  wurde, 
Hankas  Fälschungen  seien  auch  gerichtlich  bestätigt 
worden.  Hiemit  wurde  jedoch  der  wahre  Sachverhalt  der  Öffentlich- 
keit entstellt  geboten,  denn  der  Oberste  Gerichtshof,  der  zuvor  das 
Gutachten  des  zu  jener  Zeit  bedeutendsten  Slavisten  Franz  Miklosich 
eingeholt  haben  soll,  begründete  damals  (18G0)  seine  Entscheidung 
(dem  Sinne  nach)  folgend :  „es  sei  durchaus  keine  Beleidigung,  wenn 
jemand  Hanka  die  Fähigkeit  zumutet  eine  solche  Geistesarbeit  zuwege- 
zubringen, da  man  ihn  hiemit  nur  ehre".  —  Wer  bei  dieser 
geistreichen  forensischen  Satire  als  sachfällig  an- 
zusehen war,  ist  wohl  kein  Zweifel.  — 

Da  sich  aber  diese  Verdächtigungen  und  inbezug  auf  ihren 
Ursprung  meist  unkontrollierbaren  Angriffe  sonderbarerweise  immer 
auf  deutscher  Seite  erneuern,  wo  jede  sachlich  tiefere  Orientierung 
über  die  Wahrheit  fehlt,  so  wollen  wir  den  Zweiflern  noch  drastischer 
und  verständlicher  kommen,  als  es  die  letzte  Gerichtsinstanz  tat,  indem 
wir  folgendes  zur  genauen  Erwägung  vorschlagen :  wer  da  ernstlich 
glaubt,  daß  man  in  einer  Sprache  dichten  könne,  die  niemandem 
bekannt  ist,  und  wobei  sich  hernach  herausstellt,  daß  sie  einst 
doch  so  aussah  und  lautete ;  —  wer  da  ernstlich  glaubt,  daß  man 
eine  Handlung  poetisch  bearbeiten  könne,  die  man  erdichtet  hat,  die 
sich  aber  100  Oahre  später  doch  als  ein  konkretes  Geschehnis 
herausstellt,  sowie  auch  in  Zeit  und  Raum  genau  übereinstimmt ;  - 
wer  da  ernstlich  glaubt,  daß  jemand  dem  Pergamente,  der  Farbe  oder 
der  Schrift  künstlich  ein  Äußeres  geben  kann,  oder  vor  100  üahren 
geben  konnte,  als  die  Chemie  noch  in  Kinderschuhen  war  und  was 
nur  Jahrhunderte  natürlich  schaffen  können,  dem  muß  man  auch 
zumuten,  daß  er  ebenso  gläubig  noch  an  Hexenkünsten  hängt,  die 
bei  Kühen  rote  Milch  hervorzaubern,  mit  bösen  Blicken  Leibesschäden 
zufügen  oder  einen  Besen  zu  Luftfahrten  benützen  können,  denn  das 
eine  wie  das  andere  sind  Voraussetzungen,  die  jedem  Naturgesetze 
widersprechen.  ~-  Sapienti  saf ! 

Frage  3.  H.  1  n  g.  0  o  h.  Pas..  .  W  i  e  n.  Die  Anregung  nach 
Einführung  einer  diplomatischen  Sprache  für  alle  Slaven  ist  durchaus 
nicht  neu.  Unserer  Ansicht  nach  dürfte  dies  jedoch  keine  Kunstsprache 
sein,  die  ja  geradezu  eine  Verkümmerung  und  Mißhandlung  des 
natürlichen  Sprachgefühles  sowie  die  Ertötung  des  Geistes  der  Sprache 
selbst  bedeutet,  sondern  die  einst  gemeinsame,  ungemein  konzise  ait- 
s  lavische  Sprache.  Dies  erfordert  aber  noch  bedeutende  volks- 
erziehliche Vorbereitungen  für  die  allseitige  Erkenntnis  dieser  Not- 
wendigkeit und  namentlich,  eine  fundamentale  Orientierung 


73 

Über  das  geschichtliche,  kulturelle  wie  soziale  A 1 1- 
slaventum.  -  Daß  die  Gründer  des  „Slaroslovan"  diese  Mission 
als  eines  der  ersten  und  wichtigsten  Postulate  erkannt  haben,  zeigt 
das  bereits  im  ersten  „Aufrufe"  an  den  Tag  gelegte  Streben  vor 
allem  ein  brauchbares  Lehr-,  Lese-  und  Nachschlagebuch  zur  Vor- 
bereitung und  Ermöglichung  des  altslavischen  Sprachstudiums  zu 
beschaffen.  Die  Verwirklichung  der  Idee  selbst  ist  im  Grunde  genom- 
men und  bei  gutem  Willen  eine  leichte,  denn  erwägt  man,  daß  so 
viele  Slaven  doch  eine  geistlose  mechanische  Kunstsprache  (Esperanto, 
Ito)  lernen,  deren  Elemente  ihnen  völlig  fremd  sind,  und  gerade  das 
Slavische  am  wenigsten  beachten,  so  werden  sie  des  Altslavische 
umso  leichter  und  begeisterter  aufnehmen,  nachdem  sie  in  dessen 
Geiste  doch  schon  seit  dem  ersten  Lebenstage  atmeten.  —  Man  darf 
hiebei  auch  nicht  vergessen,  daß  jede  Majorität  mit  einer  Stimme 
beginnt  und  daß  jede  große  Idee  immer  vorerst  als  Utopie  ange- 
sehen wird. 

Frage  4.  „Trap".  Der  Südslave,  namentlich  Slovene,  nennt 
die  trapezförmige  Wagenschere  (Zwiesel)  am  Vorderteile  des  Last- 
wagens „trap".  Kommt  dieser  Begriff  noch  sonst  wo  in  diesem 
oder  verwandten  Gebrauche  vor,  da  darin  die  slavische  Urform  für 
„Trapez"   verborgen   zu   sein    scheint?  Vereinzelt    kommt     auf 

deutschem  Gebiete  auch  die  Bezeichnung  „Trappe"  für  spitzauslaufende 
Besitzgrenzen  vor.  3.  T. 

Frage  5.  „Lapak"  Bei  vielen  Städten  und  Märkten,  die 
ehemals  befestigt  waren,  wiederholt  sich  der  lokale  Name  „lapak", 
der  immer  auf  einen  sich  knapp  außerhalb  der  einstigen  Umfas- 
sungsmauer befindlichen  Punkt  deutet.  Wo  kommt  diese  Benennung 
noch  vor   und   welche    Charakteristik   sowie  Lage  hat  jenes  Gebiet? 

J.  T. 

Frage  6.  „Chlipa".  —  So  lautet  eine  altböhmische  Glosse 
in  „Mater  verborum",  die  auch  erst  Hanka  eingetragen  haben  soll, 
daher  sie  unter  die  850  „falschen"  Glossen  gezählt  wird.  Genau  so 
aber  wie  die  übrigen  nicht  gefälscht  sind,  ist  auch  „chlipa"  echt.  Der 
Verfasser  fügte  erklärend  zu:  „Salacia,  dea  paganonim  maritima."  — 
„Salacia"  galt  den  Römern  als  Meeresgöttin,  d.  i.  als  Göttin  des 
günstigen  Windes. 

Daß  jedoch  das  Wort  slavisch  ist,  war  bis  heute  unbekannt,  und 
noch  Palacky  meinte,  es  decke  sich  dies  mit  dem  deutschen  Begriffe 
„Khppe".  Und  doch  kennt  und  gebraucht  der  Slovene  noch  heute  das 
Wort  „hlip"  (masc.)  für:  ruhiger,  regelmäßiger  Wind.  —  Man 
weiß   bei   jedem  Hause,   wo  der   „hlip"  ist,  und   nennt   einen  Punkf 


74 

mit  einer  konstanten  Luftbewegung  oder  die  günstigste  Stelle  für  eine 
Windmülile  „na  tilipu".  Es  ist  datier  aucti  setir  begründet,  wenn 
Windmütilen  oft  gar  nicht  auf  einer  Hölie,  sondern  geradezu  am 
Hange  oder  in  der  Sattelgegend  stehen,  weil  man  empirisch  heraus- 
gefunden, daß  dort  der  günstigste  „hlip"  ist. 

Dem  Slovenen  ist  also  noch  das  Wort  in  der  Urbedeutung  be- 
kannt, dem  Böhmen  ist  es  aber  schon  eine  weibliche  Personifikation 
des  Windes,  doch  verfiel  bisher  augenscheinlich  niemand  auf  die 
Bedeutung,  und  selbst  Hanka  nicht,  der  vermeintliche  „Fälscher" ! 
Wer  hat  also  diese  Glosse  eingetragen?  Doch  nur  jemand,  der  das 
slavische  Wort  kannte !  —  Kommt  aber  dieser  Begriff  nicht, 
wenigstensimDialekte,  auchirgendwo  anders  vor?  — 

M.  Z. 

Frage  7.  „Otava".  —  3.  Ch.  fragt  an,  ob  „otava"  (  Grum- 
met) mit  dem  böhmischen  „zolavili  se"  (  sich  erholen)  sprachlich 
verwandt  ist.  — 

Antwort.  Gewiß,  denn  „otava"  ist  eben  das  nach  dem  Ab- 
mähen des  ersten  Graswuchses,  des  Heues,  sich  erneuernde,  also 
sich  erholende  Gras,  d.  i.  das  Neugras.  -  Diese  Bildung  setzt 
sich  übrigens  sprachorganisch  auch  noch  konform  weiter  fort,  denn 
der  Kroate  und  Slovene  benennt  das  Neugras,  das  sich  wieder  nach 
der  Grummetmahd  entwickelt  und  auf  guten  Wiesen  abermals  gemäht 
wird,  „otavic"  (  zweites  Grummet).  Es  handelt  sich  also  hier  um 
drei  Generationen  des  Grases,  und  zeigt  dies  eine  bewunderungs- 
würdig natürliche  wie  logische  Gedankenarbeit  im  Aufbaue  der  Volks- 
sprache. 

Frage  8.  „Otrok".  Derselbe  Interessent  wirft  die  Frage 
auf,  weshalb  der  Böhme  unter  „otrok"  den  Sklaven,  der  Russe 
den  Knaben  (von  7  \k  Jahren)  oder  Pagen,  der  Kroate  den 
Diener,  der  Slovene  das  Kind  versteht,  und  welche  Motive  diesen 
Wechsel  in  der  Bedeutung  herbeigeführt  haben  mögen.  — 

Antwort.  Hier  handelt  es  sich  wohl  nur  um  die  sprachliche 
Fixierung  der  sozialen  Stellung,  d.  i.  der  Unmündigkeil  und 
Unselbständigkeit  im  allgemeinen,  die  hier  doch  in  allen  Fällen 
vorwaltet,  denn  die  Bedeutung  bewegt  sich  immer  um  das  Zentrum 
des  fehlenden  persönlichen  Selbstbestimmungsrechtes  im  guten  wie 
bösen  Sinne.  Überdies  scheint  die  Etymologie  des  Begriffes  selbst: 
„ot  rok",  d.  h.  fern  von  Jahren,  also:  fern  von  der  Voll- 
jährigkeit, die  vorausgehende  Erklärung  zu  bestätigen. 


Frage  9.  „Dovina".  Es  wurde  wiederholt  die  Frage  erör- 
tert, westialb  die  Fuldaer  Annalen  die  Burg  „Devin"  als  „Dovina" 
bezeiclinen. 

Antwort.  Der  Ctironist  war  wotil  ein  Wende  oder  Russe,  sah 
„Djevin"  in  Runenschrift  geschrieben  und  sprach  dieses  „je"  in  seiner 
Art  als  „jo"  aus.  Der  Nichtrusse  macht  den  umgekehrten  Fehler; 
er  sagt  immer  „Berezina"  und  „Pötemkin",  da  er  nicht  weiß,  daß 
das  „6"  hier  ein  „e"  also  ein  „jo"  ist,  daher  diese  Namen  richtig 
als  „Berjözina"  und  „Potjömkin"  auszusprechen  sind.  Das  „Wendische 
Runenalphabet"  gibt  übrigens  hiezu  die  weitere  Orientierung  und  zeigt, 
dass  es  sich  bei  „Dovina"  durchaus  um  keinen  Schreibfehler  zu  han- 
deln braucht. 


Bibliographie. 


Alle  einlangenden  Werke  werden  grundsätzlich  mit  Titel,  Verlag  und  Preis  an- 
geführt; jene,  welche  altslavische  Themata  berühren,  auch  kurz  besprochen,  even- 
tuell später  noch    eingehender  gewürdigt.  Unaufgefordert  zugesendete   Werke 

werden  nicht  zurückgestellt. 


^opolovsek  jloh.,  2)ie  sprachliche  llrverwandschaft  der 
Undogermanen,  Semiten  und  [Indianer.  —  Wien  1912,  8",  132  S. 
—  Kommissionsverlag  H.  Kirsch.  —  Preis  ? 

Auf  Grund  der  Vergleichung  der  Sprachwurzeln  der  indogerma- 
nischen, semitischen  und  Indianersprachen  tritt  der  Verfasser  mit  dem 
äußerst  überraschenden  Resultate  auf,  daß  derselbe  Wortstamm  über- 
all dieselbe  oder  doch  eine  organisch  verwandte  Bedeutung  habe, 
und  dabei  nahezu  überall  zur  slavischen  Urform  und  Grundbedeutung 
zurückführe.  Das  Schlußresultat  ist  demnach  klar:  es  gibt  keine 
isolierten  Sprachen.  Die  sprachvergleichende  Wissenschaft  hat 
daher  —  abgesehen  von  ihren  rein  theoretischen  Forschungszielen  — 
auch  ein  eminent  völkerpsychologisches  Problem  zu  lösen.  Ihr  obliegt 
es,  wie  der  Verfasser  im  Vorworte  sagt,  den  Beweis  zu  erbringen, 
daß  alle  Sprachen  auf  einen  Ursprung  zurückgehen ;  ihrer  harrt  die 
schöne,  weltbeglückende  Aufgabe,  der  Menschheit  zum  Bewußtsein 
zu  bringen,  daß  alle  ihre  Mitgheder  von  der  grauen  Vorzeit  bis  zur 
lichten  Gegenwart  ein  brüderliches  Band  umschließt.  — 


76 

Topolovsek  kündigt  unter  Einem  noch  drei  andere  ähnliche 
Werke  an ;  wir  können  sie  alle  nur  begrüßen,  denn  je  mehr  Beweise, 
desle  leichter  und  nachdrücklicher  wird  die  Überzeugung. 

Dr.  J.  Velic. 

^unkovic  M.,  S)ie  ^iandschriften  von  Qrünberg  und 
üiöniginhof,  dann  das  ^ysehrad-Xied.  —  Die  irrtümlich  als  mo- 
derne Fälschungen  geltenden  ältesten  böhmischen  Dichtungen.  —  Origi- 
naltextausgabe verdeutscht  und  erläutert.  —  Kremsicr  1912,  8",  X  und 
146  S.  mit  3  farbigen  Schriftbeilagen  und  7  Textillustrationen.  Verlag 
H.  Sloväk,  Kremsier.  —  Preis  4  K. 

Wie  schon  der  Titel  orientiert,  widerlegt  der  Verfasser  nicht  nur 
die  Behauptungen,  daß  diese  Handschriften  gefälscht  sein  könnten, 
umsomehr,  als  sie  noch  nie  gründlich  studiert  wurden,  sondern  er 
stellt  zugleich  fest,  dass  z.  B.  die  Handschrift  von  Grünberg  geradezu 
das  älteste  bekannte  Schriftdenkmal  aller  Slaven  sei.  —  Ist  schon  die 
wissenschaftlich  vielseitige  Beibringung  des  Echtheitsbeweises  ein 
Ereignis  für  die  Gelehrtenwelt  und  eine  angenehme  Überraschung  für 
die  böhmische  Nation,  so  muss  die  geniale  Übersetzung  noch  ganz 
besonders  hervorgehoben  werden,  denn  dadurch  wurden  die  Dich- 
tungen nicht  nur  dem  Deutchen,  sondern  auch  dem  Slaven  erst  ver- 
ständlich gemacht,  weil  viele  Stellen  des  Originales  erst  durch  die 
Übersetzung  geklärt  wurden.  —  Durch  die  formvollendete  Übersetzung, 
welche  die  Worttreue  aber  zugleich  auch  den  Wohlklang  be- 
rücksichtigt, haben  diese  Dichtungen  ausserordentlich  gewonnen,  da 
ihnen  eine  solche  Pflege  bisher  mangelte.  — 

Das  Dresdener  „Salonblatt"  vom  21.  Dezember  1912  schreibt 
unter  anderem  folgendes  darüber:  „Zs.  Polemik  ist  so  einleuchtend, 
daß  man  ihm  wohl  wird  recht  geben  müssen  und  es  erscheint  hiemit 
der  Streit  um  diese  ältesten  Schriftdenkmäler  slavischer  Kultur  zu- 
gunsten ihrer  Echtheit  entschieden.  Noch  verdienstvoller  scheint  uns 
die  Übersetzung  ins  Deutsche,  die  den  mährischen  (!)  Major  als  einen 
tiefsinnigen  Interpreten  zeigt,  dem  vor  allem  das  sprachliche  Material 
in  einer  Weise  zu  Gebote  steht,  wie  den  wenigsten  selbst  beruflichen 
Slavisten  kaum  vorher.  Diese  große  sprachliche  Sicherheit  ist  ein 
Grund  mehr,  dem  Verfasser  bei  seinen  Gründen  für  die  Echtheit  der 
Handschriften  zu  folgen,  und  sein  Buch  kann  deshalb  für  die  Slavi- 
stik  eine  grundlegende  Bedeutung  gewinnen."  — 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  diese  herrliche  altböhmische  Volks- 
poesie nun  auch  in  andere  Sprachen  übertragen  wird. 

Dr.  E.  W  i  si  n  g  er. 


2>avadil  Dos.  S)r.,  ^elehrady  3)evin  a  ZNitra.  (Die  Groß- 
biirgcn  Devi'n  und  Neutra).  —  Krcmsier  1912,  Lex.  110  S.  mit  3  Skiz- 
zen und  13  Textillustrationen.  —  Verla<r  H.  Slovdk  in  Kremsier.  — 
Preis  1  K  50  h  (mit  der  Post  1  K  70  h). 

Ein  Werk  von  doppeltem  Verdienste!  —  Der  Verfasser  liat 
liiemil  ein  Muslerbild  einer  topisciien  Monographie  geschiaffen  und 
gezeigt,  wie  man  unter  Zuziehung  und  Verwertung  einschlägiger 
Wissenszweige  und  Einhaltung  eines  objektiven  Standpunktes  eine 
historische  Stätte  zu  beschreiben  hat;  er  hofft  aber  auch  hiemit  zu- 
gleich, sozusagen  sprachchirurgisch,  dem  Streite  über  die  wahre  Lage 
des  „Velehrad"  ein  peremptorisches  Ende  gemacht  und  den  ständigen 
Empfindlichkeiten  in  dieser  Sache  in  allseits  befriedigdder  Weise 
den  Stachel  abgebrochen  zu  haben. 

Der  Verfasser  ist  der  Ansicht,  daß  „velehrad"  im  Prinzipe 
kein  Eigen-,  sondern  nur  ein  Gattungsname  ist;  gewöhnliche  Burgen 
nannte  man  „hrad",  festere,  größere,  namentlich  aber  wichtigere 
„velehrad",  ohne  den  eigentlichen  Eigennamen  beizufügen,  sofern 
man  in  der  Gegend  eben  bekannt  war;  traf  letzteres  nicht  zu,  so 
wurde  auch  der  Eigenname  beigefügt.  „Velehrad"  bedeutet  demnach 
soviel  wie  das  lateinische  „urbs,  civitas" ;  die  Römer  nannten  sehr 
oft  ihre  Hauptstadt  nur  „Urbs".  Analog  nannte  der  Umwohner  von 
Preßburg  die  Burg  „Devin"  kaum  anders  als  „Velehrad" ;  die  Fuldaer 
Annalen  hingegen  nennen  Devin :  „Dovina  ineffabilis  Rastizi  munitio" . 
Der  Autor  führt  nun  seine  Gründe  an,  warum  mit  dieser  Benennung 
(„inefabilis  Rastizi  munitio")  nur  Devin  (Dovina)  gemeint  sein  kann. 

—  Ein  Analogon  bietet  doch  auch  das  heutige  Leben ;  geht  der  Bauer 
in  die  ihm  nächste  Stadt,  so  antwortet  er  einem  Bekannten :  „ich 
gehe  in  die  Stadt",  einem  Unbekannten:  „ich  gehe  in  die  Stadt  N". 

—  So  hat  nun  Mähren  seinen  kirchlichen,  und  das  Großmährische 
Reich  seinen  weltlichen  „velehrad",  denn  die  Burg  Rastislavs  an  der 
Donau  kann  unmöglich  140  km  davon  entfernt,  als  „an  der  Donau" 
gelegen  bezeichnet  worden  sein. 

Zavadils  Arbeit  zu  kennen,  kann  jedermann,  der  böhmisch  ver- 
steht, zum  Nutzen  gereichen,  und  demjenigen  geradezu  zur  Vorlage 
dienen,  der  die  Geschichte  eines  Ortes  wissenschaftlich  erschöpfend 
beschreiben  will. 

Für  den  Berufshistoriker  wird  es  auch  vom  Interesse  sein  zu 
erfahren,  in  welcher  Weise  der  Autor  einzelne  in  der  Geschichte  des 
Großmährischen  Reiches  dunkelgebliebene  Probleme  aufzuhellen,  bezw. 
zu  lösen  versucht.   Hervorzuheben  ist   da  vor  allem   die  bisher  von 


78 

von  keinem  Forscher  genügend  aufgeklärte  Ursache  des  unseligen 
blutigen  Zwistes  unter  den  Söhnen  Svatopluks.  Er  stellt  vorerst  fest, 
daß  dieser  nur  zwei  Söhne,  Mojmir  und  Svatopluk  hatte,  von  denen 
letzterer  beim  Tode  des  Vaters  noch  ein  Kind  war,  und  bestätigen 
dies  auch  die  Fuldaer  Annalen.  Diese  Söhne  hatten  jedoch  verschie- 
dene Mütter,  da  Svatopluk  zuerst  mit  einer  böhmischen  Herzogstochter 
—  vermutlich  einer  Schwester  Bofivojs  —  nach  deren  Tode  aber  mit 
einer  deutschen  Prinzessin  vermählt  war.  Mit  der  letzteren  gelangte 
als  deren  Beichtvater  der  deutsche  Priester  Wiching  an  den  mährischen 
Fürstenhof,  woselbst  er  einen  übermächtigen  Einfluß  gewann.  Daß 
nun  nach  Svatopluks  Tode  die  der  Witwe  und  deren  Sohne  ergebene 
deutschfreundliche  Partei  in  schroffen  Gegensatz  zu  der  von  Mojmir 
repräsentierten  slavischen  Richtung  kam  und  dieser  Parteizwist  bald 
in  blutige  Fehde  ausartete,  ergibt  sich  aus  der  damaligen  politischen 
Situation  mit  logischer  Konsequenz. 

Es  fragt  sich  aber  nun  noch,  wie  kommt  der  mährische  „Vele- 
hrad",  der  tief  im  Tale  liegt  und  gewiß  nie  ein  Objekt  von  größerer 
Widerstandskraft  gewesen  sein  konnte,  zu  diesem  unlogischen  Namen? 
—  Der  Verfasser  gibt  hierzu  im  VI.  Abschnitte  die  Erklärung.  Der 
heutige  Ort  Velehrad  war  es  allerdings  nicht,  aber  doch  die  Altstadt 
(Stare  mesto)  in  der  Nähe  von  Ung.-Hradisch  an  der  March.  Seine 
Ansichten  gibt  der  Verfasser  in  bescheidener  Weise  als  seine  Hypo- 
thesen, durch  welche  die  schwierige  Aufgabe  vielleicht  doch  befrie- 
digend gelöst  werden  könne;  er  meint:  Devin  an  der  Donau  war 
Rastislavs  bezw.  Mojmirs  „Velehrad",  Neutra  war  Svatopluks  „Vele- 
hrad". Nachdem  aber  der  östliche  Teil  des  Großmährischen  Reiches 
unter  den  Söhnen  Svatopluks  an  die  Magyaren  verloren  gegangen 
und  Devin  zerstört  war,  mußte  Mojmir  darauf  bedacht  sein,  den 
übrigen  Teil  seines  Reiches  an  der  östlichen  Grenze  zu  schützen, 
und  gründete  eine  befestigte  Stadt  an  der  March.  Wenn  nun  Altstadt 
(bei  Ung.-Hradisch)  etwa  100  Jahre  früher  gegründet  worden  ist,  als 
es  der  Archäolog  Cervinka  angibt,  dann  wäre  alles  erklärt. 

Was  aber  die  dem  heutigen  Wallfahrtsorte  Velehrad  seit  Jahr- 
hunderten zugeschriebene  Cyrillo-Methodische  Tradition  betrifft,  so 
erklärt  der  Verfasser  den  Ursprung  derselben  folgend:  für  eine  er- 
folgreiche Missionsarbeit  der  Slavenapostel  Cyrill  und  Method  eignete 
sich  unter  Rastislav  und  Svatopluk  eine  gegen  feindliche  Überfälle 
mehr  gesicherte  Gegend  in  den  damaligen  Urwäldern  um  das  heutige 
Osvetiman  (zirka  \b  km  westlich  Ung.-Hradisch),  wo  man  noch 
heute  die  Überreste  eines  Klosters  und  einer  Kirche  sehen  kann  und 
wo  Nachgrabungen  ein  sehr  wertvolles  archäologisches  Material  zu- 


tage  fördern  dürften.  Die  Umwohner  nennen  diesen  Ort  „beim  hl. 
Kiemens"  („u  sv.  Klimenla").  Der  Tradition  nach  waren  die  Reliquien 
des  hl.  Kiemens  hier  bis  zu  jener  Zeit  aufbewahrt,  als  sie  von  Cyrill 
und  Method  übernommen  wurden.  Für  die  Umgebung  war  und  ist 
vielfach  dieser  Ort  noch  jetzt  ein  Wallfahrtsort.  So  bleibt  nun  dem 
heutigen  Velehrad  (in  der  Nähe  von  Altstadt,  also  einst  auch  ein 
„velehrad")   und  Osvetiman  seine  Wichtigkeit  und  Ansehen  gewahrt. 

Von  einem  „Velehrad"  als  Festung  an  der  heutigen  Stelle  in 
Mähren  kann  aber  so  lange  nicht  gesprochen  werden,  bis  der  Spaten 
hiefür  keine  sichtbaren  Beweise  an  den  Tag  bringt,  denn  die  Grund- 
mauern einer  großen  Verteidigungsanlage  können  auch  nach  einem 
dahrtausend  nicht  spurlos  aus  der  Erde  verschwinden. 

Möge  das  Werk  Dr.  Zavadils  namentlich  bei  berufenen  Fach- 
männern eine  ihm  gebührende  Beachtung  und  Würdigung  finden ;  es 
ist  geeignet,  den  langwierigen  Streit  um  die  Lage  der  „inefjabilis 
Rastizi  munitio",  des  „velehrad"  des  Großmährischen  Reiches  der 
Lösung  endlich  näher  zu  bringen.  Tolle  lege!  — 

Dr.  Fr.  N  äbelek. 

^ahn  3K^.  G.,  Slavina.  Eine  wendische  Sage.  —  Verlag  R.  Eck- 
steins Nachfolger,  Berlin   W.  37.  —  Preis  1  K  80  h. 

Diese  schöne  epische  Dichtung  schildert  die  Kämpfe  der  Wenden 
(Obotriten)  mit  den  Sachsen  um  das  CJahr  1105.  Die  Hauptperson 
bildet  hiebet  Slavina,  die  jugendliche,  schöngestaltete  aber  liebessüch- 
tige Gattin  des  alternden  Sachsenherzogs  Kruko,  die  diesen  unter 
Mitwirkung  ihres  Liebhabers  ermorden  läßt,  um  dessen  Ehegenossin 
zu  werden.  —  Die  Sprache  ist  äußerst  gewählt,  die  Handlung  von 
tiefer,  bewegt  dramatischer  Wirkung ;  namentlich  fällt  aber  die  ge- 
diegene Kenntnis  der  altslavischen  Geschichte,  Kultur  und  Mythologie 
sowie  die  volle  Objektivität  seitens  des  deutschen  Dichters  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  angenehm  auf.  —  Dieses  Epos  würde  es  ehr- 
lich verdienen  auch  in  die  slavischen  Sprachen  übertragen  zu  werden, 
und  wäre  überdies  ein  dankbarer  Stoff  für  die  Dramatisierung. 

Dr.  E.  Wi  sing  er. 


80 

An  die  Mitglieder  und  Freunde  des 
»Slaroslovan«  ! 

Das  vorliegende  1.  Heft  des  „Staroslovan"  orientiert  nun  jedermann, 
wie  wir  unsere  gestellte  Aufgabe  auffassen  und  im  großen  zu  lösen  ge- 
denken; nebstbei  wurde  diesmal  die  Wahl  der  Artikel  derart  getroffen, 
daß  die  wichtigsten  wissenschaftlichen  Themata  gleich  vom  großzügigen 
Standpunkte  beleuchtet  erscheinen,  um  möglichst  bald  mit  unseren  Lesern 
wie  Mitarbeitern  in  einen  lebhaften  Interessenkontakt  und  in  eine  un- 
gezwungene Aussprache  zu  treten. 

Daß  wir  einer  allgemeinen  fördernden  Unterstützung  seitens  aller 
Mitglieder  und  Freunde  benötigen,  haben  wir  gleich  eingangs  ausge- 
sprochen. Unser  vorläufiges  Anliegen  besteht  in  folgendem: 

a)  wir  bitten  um  Zusendung  von  Werken,  Illustrationen,  Skizzen  u. 
drgl.  von  Runendenkmälern  jeder  Art,  oder  doch  Mitteilungen,  wo 
jemand  etwas  Einschlägiges  gesehen.  Es  liegt  nämlich  noch  viel 
Material  unbeachtet  oder  unerkannt  in  Museen  oder  Bibliotheken, 
dann  in  schon  vergessenen  oder  schwer  zugänglichen  Werken,  die 
dem  Einzelnen  leicht  entgehen ; 

b)  wir  bitten  um  leihweise,  d.  i.  bis  auf  Widerruf  erjolgende  Über- 
lassung von  Lexikons  welcher  Sprache  immer,  namentlich  sind  uns 
die  ältesten  und  ausführlichsten  Ausgaben  erwünscht.  Besonders 
werden  schon  die  Wörterbücher  Miklosichs  benötigt,  um  die  Mit- 
arbeiter am  altslavischen  Wörterbuche  damit  beteilen  zu  können, 
da  diese  Werke  im  Buchhandel  bereits  eine  Seltenheit  geworden  sind; 

c)  wir  bitten  um  die  tunlichste  Verbreitung  unserer  Publikationen,  wo- 
mit vor  allem  ausgedehnte  wissenschaftliche  Verbindungen  ange- 
bahnt werden  sollen,  da  die  eigentliche  Forschungsbasis  vielfach 
kosmopolitische  Vergleiche  erfordert. 


Die  BIBLIOTHEK   „STAROSLOVAN"    will  pro   1913  folgende 

Werke  den  Mitgliedern  bieten : 

I.  BAND:  „SLAVISCHE  RUNENDENKMÄLER";  erscheint  als  Bei- 
lage eines  jeden  Heftes,  1 — 2  Bogen  stark,  ohne  jede  Nachzahlung ; 

IT.  BAND:  „ETYMOLOGISCHES  ORTSNAMENLEXIKON",  das  mit 
1.  Juli  fertiggestellt  sein  diirjte.  —  Regie  preis  für  die  Mitglieder: 
3'20  K  l)ei  persönlicher  Übernahme,  3'50  K  im  Postwege ;  für  Nicht- 
mitglieder  und  den  Buchhandel  7  K.  —  Der  bezügliche  Prospekt, 
welcher  über  das  Werk  selbst  näher  orientieren  soll,  wird  den  Mit- 
gliedern rechtzeitig  zukommen. 

REDAKTION  „STAROSLOVAN". 


TAFKI.  J. 

(zur  Seite  bl). 


Altslavische  Münzen. 


Fig.  1  a)  (»en  cekin«). 


Fig.  1  b)  (-cn  cckin-). 


Fig.  5  (.biai-). 


Fig.  1  c)  (-en  cekin«). 


-'-?>> 


Fig.  6  (»biatec). 


Fig.  3  (»mienok«) 


Fig.  2  (-kunic-). 


Fig.    1  („Rusov  kouna-) 


Fig.  7  (.Uta.). 


Fig.  8  (.litav). 


STAROSLOVAN 


Heft  2. 

Kremsier,  am  15.  3uni   1913. 

1.  Jahrgang. 

M.  Zunkovic: 

Numismatische  Etymologie. 

Ein  Beilrag  zur  altslavischen  Münzkunde. 

L/as  Gebiet  des  altslavischen  Münzwesens  liegt  wissenschaft- 
lich noch  völlig  brach  da,  denn  bis  vor  kurzem  wussle  noch  nie- 
mand etwas  darüber,  dass  es  eine  beträchtliche  Zahl  altslavischer 
Münzen  gebe,  nachdem  diejenigen,  die  den  Schein  von  solchen  boten, 
gleich  als  Falsifikate  erklärt,  diejenigen  aber,  die  man  als  echt  er- 
kannt hat,  nicht  als  slavisch  agnosziert  wurden.  Viele  hievon  hat 
man  nebstbei  von  allem.  Anfange  an  falsch  gelesen  oder  interpretiert, 
und  konnten,  wenn  man  sie  auch  richtig  gedeutet  hätte,  schon  des- 
halb nicht  als  altslavisch  angesehen  werden,  wenn  auch  alles  dafür 
sprach,  weil  dies  bei  den  gangbaren  geschichtlichen  Voraussetzungen, 
namentlich  der  Völkerwanderungshypothese,  die  Überzeugung  nicht 
aufkommen  Hess.  Überdies  half  man  sich  ohne  viele  Skrupel  darüber 
hinweg,  dass  man  Münzen,  die  sich  in  gar  keine  sprachliche  oder 
ethnographische  Gruppe  einfügen  Hessen,  als  „barbarische"  bezeich- 
nete, ohne  weiter  nachzugrübeln,  in  welcher  RelaHon  diese  münz- 
prägenden , .Barbaren"  in  bezug  auf  Sprache  und  Namen  zu  den  be- 
kannten alten  oder  modernen  Völkern  stehen. 

Die  in  der  Schule  anerzogene  allgemeine  Voreingenommenheit, 
als  hätten  die  Slaven  in  der  weltgeschichHichen  BetäHgung  nie  einen 
nennenswerten  Kultureinfluss  geübt,  brachte  es  in  natürlicher  Folge 
mit  sich,  dass  man  daher  auch  bei  diesen  immer  von  neuem  auf- 
tauchenden Kulturbelegen  die  Slaven,  als  dabei  gar  nicht  in  Betracht 
kommend,  gleich  ausser  KalkulaMon  Hess.  Nebstbei  konnte  man  einen 
reellen  Beweis  auch  deshalb  schwer  erbringen,  weil  man  den  Text 
der  Münzaufschriften  gewöhnlich  nicht  verstand,  ihn  zumeist  schon 
fehlerhaft  las  oder  aber  überhaupt  nicht  lesen  konnte,  daher  auch  die 
Etymologie  nicht  orienüerend  und  helfend  einzugreifen  imstande  war. 

Der  Verfasser  befasste  sich  selbst  zwar  nie  mit  der  Numismatik 
als  SpezialWissenschaft,  sHess  aber  auf  den  verschiedenen  Forschungs- 


82 

gebielen  fortgesetzt  auf  Münzen  altslavischier  Provenienz ;  es  kann 
datier  das  Material  für  eine  „Altslavisctie  Münzkunde"  durctiaus  nictit 
so  arm  und  belanglos  ausfallen,  wenn  man  sclion,  nur  so  vorüber- 
getiend,  derart  zatilreictie  und  über  allen  Zweifel  echte,  konkrete  Be- 
weise so  leicht  findet.  Freilich  ist  jetzt,  seit  man  der  Lesemöglichkeit 
der  allen  Schriften  so  nahe  gekommen,  die  elementaren  Hindernisse 
daher  aus  dem  Wege  geräumt  sind,  auch  die  Feststellung  und  Deu- 
tung eine  unvergleichlich  sicherere  geworden. 

,,Encekin"- Münzen.  —  Eine  der  anscheinend  ältesten 
slavischen  Münzen  dürften  jene  mit  der  Aufschrift  „en  cekin" 
{^  ein  Dukaten)  zu  sein.  Der  erste  offiziell  bekannte  Fund  von  Mün- 
zen dieser  Art  stammt  vom  Jahre  17%  von  Bia,  im  ungarischen 
Komitate  Feher;  derselbe  bestand  aus  600  römischen  Denaren  und 
80  , »barbarischen"  Münzen.  Letztere  sind  offenkundig  die  älteren  und 
dürfte  die  ganze  Sammlung  etwa  um  das  Jahr  50  n.  Chr.  vergraben 
worden  sein,  da  die  jüngste  der  römischen  Münzen,  die  übrigens 
nur  in  einem  Exemplare  vorhanden  war,  sich  als  jene  des  Caligula 
(37—41)  erweist. 

Die  Münze  ,.en  cekin"  beschrieb  zuerst  C.  Michael  ä  Wiczai 
i.  3.  1814,  wie  er  sie  im  Museum  ,,Hedervari"  in  Budapest  gesehen. 
Er  selbst  bezeichnete  sie  als  ,, barbarische",  da  ihm  die  Lesung  der 
Aufschrift,  bei  aller  Mühe,  nicht  gelingen  wollte.  —  Im  Jahre  1838 
versuchte  Franz  Boczek  in  der  Zeitschrift  „Moravia"  (Brunn)  eine 
neue  Lösung  derselben  und  kam  zu  dem  Resultate,  dass  dies  ,,sla- 
vische  Goldmünzen,  wahrscheinlich  aus  der  Zeit  des  grossmährischen 
Reiches"  seien.  Er  entdeckte  in  der  Schrift  das  Wort  ,,pegnaze" 
(böhm.  und  poln.  ^  Geld)  und  nahm  an,  nachdem  die  Münzen  den 
mazedonischen  gleichen,  dass  sie  durch  Cyrill  und  Method  nach 
Mähren  gekommen  seien,  oder  von  diesen  hier  nach  jenem  Muster 
weitergeprägt  wurden,  sowie  dass  die  griechischen  Buchstaben 
darauf  einen  slavischen  Text  darstellen.  Boczek  vereinigte  nun  beide 
Schriftteile  und  erhielt  daraus  ,,pegnaze",  wozu  er  allerdings  eine 
Reparatur  vorausgehen  Hess,  indem  er  den  Anlaut  F"  um  90"  nach 
rechts  umlegte  und  so  das  erwünschte  |  |  erhielt.  —  R.  Forrer  (Jahr- 
buch der  Gesell,  für  lothringische  Geschichte  usw.,  1902)  glaubt  hin- 
gegen, es  sei  dies  ein  bedeutungsloses  Monogramm.  Wieder  andere 
schrieben  die  Schrift  dem  rätorömischen  Geschlechte  Caecina  zu,  und 
sei  auf  der  Münze  der  Name  ihres  Oberhauptes  ,,Ciecinnos,  Ciecinus" 
eingeprägt.  Anderseits  stellten  jedoch  Cohen  und  Babylon  fest,  dass 
es  bis  Ende  des  1.  Jahrh.  kein  so  vornehmes,  für  das  römische 
Münzwesen  massgebendes  Geschlecht  „Caecina"  gegeben  habe,  son- 


83 

dem  es  sei  eher  „Caecilia"  zu  lesen,  aus  welchem  Geschlechte  ein 
römischer  Münzmeister,  namens  Aulus  Caecilius  (um  189  v.  Chr.) 
existiert  habe  usw.,  —  durchwegs  bestgemeinte  Vermutungen,  die 
phonetisch  der  Sache  auch  nahe  kamen,  aber  jeder  natürlichen  oder 
motivierten  Basis  ferne  stehen,  denn  die  rätselhafte  Inschrift  ist  kurz 
gesagt  slavisch;  sie  lautet  „en  cekin",  und  ist  bei  Fig.  1  a)  (siehe 
Tafel  1)  etwa  als  „en  cekinj",  bei  Fig.  1  b)  „en  ciekinj",  bei  Fig.  1  c) 
,,en  cekin"  zu  lesen ;  die  Schlusslaute  sind  in  den  dieser  Arbeit  vor- 
liegenden Darstellungen  recht  undeutlich,  daher  entweder  ungenau 
kopiert  oder  aber  schon  im  Originale  schwer  leserlich.*) 

Der  Begriff  „cekin"  wird  bei  den  Südslaven  für  die  Bezeichnung 
einer  Goldmünze  allgemein  gebraucht,  ebenso  nennt  sie  der  Italiener 
„zechino",  sowie  auch  der  Deutsche  früher  häufig  nach  ,, Zechinen" 
rechnete.  —  Geht  man  nun  der  Etymologie  des  ,, cekin"  weiter  nach, 
so  kommt  man  auf  das  slavische  „sekati"  (  schlagen,  hauen,  hak- 
ken),  daher  auch  italienisch  „zecca"  (  Münzpräge),  deutsch  ,, Zeche" 
(=  Bergbaugesellschaft),  und  benannte  man  einst  jene  aus  Gold,  — 
mag  dies  nun  Berg-  oder  Waschgold  gewesen  sein  — ,  zu  Münzen 
geschlagenen  Stücke  (man  sagt  noch  immer :  Münzen  schlagen) 
,,sekin,  cekin" ;  dass  „c"  und  „s"  in  den  slavischen  Schriften  oft 
wechseln,  ist  jedermann,  der  die  slavischen  Alphabete  kennt,  ge- 
nügend bekannt.  —  Es  hat  daher  auch  keines  dieser  alten  Münz- 
exemplare dasselbe  Gewicht,  die  gleiche  Stärke,  noch  auch  äusserlich 
eine  konsequent  gleiche  Aufschrift,  weil  sie  wohl  einzeln  und  fall- 
weise, je  nach  Einlauf  des  Goldmetalls,  erzeugt  wurden.  —  Eine 
solche  Münze  ist  daher  schon  sprachlich  nichts  weiter  als  ein  Stück 
geschlagenes  Gold,  also  ,,ein  Goldstück",  und  gibt  es  irgendwo 
eine  Münze  mit  der  Aufschrift  „en  cekin",  die  nicht  aus  Gold 
ist,  dann  ist  diese  eher  als  Falsifikat  anzusehen. 

Übrigens  musste  bei  der  Entzifferung  gleich  von  vornherein  der 
Umstand  auffallen,  dass  auf  jeder  Münze  das  ,,en"  getrennt  steht 
und  sich  in  einer  anderen  Leselage  präsentiert,  als  das  folgende 
,, cekin". 

Nun  wird  es  auch  leichter,  den  unsinnigen  und  widerlichen  Streit 
beizulegen,  [den  einige  böhmische  Professoren  mit  den  18  Gold- 
münzen des  Böhmischen  Landesmuseums  vom  Zaune  gebrochen  ha- 
ben, wobei  schliesslich  wieder  Wenzel  Hanka  als  Falsifikator  nur 
deshalb  herhalten  musste,  weil  sich  die  Verleumder  weiter  gar  nicht 

*)  Trotz  wiederholter  Bemühungen  konnte  ich  bisher  leider  weder  eine 
solche  Originalmünze  käuflich  erwerben  noch  auch  leihweise  zu  Studienzwecken 
erhalten;  ich  konnte  mich  daher  hiebei  nur  an  vorgefundene  Illustrationen  halten. 

6* 


:84 

umsahen,  ob  es  nicht  doch  auch  sonstwo  oder  gar  viel  früher  be- 
kannte Münzen  dieser  Art  gab. 

Man  weiss  aber,  dass  Hanka  diese  Goldmünzen  von  einem 
Taglöhner  aus  Tfemosna  (bei  Leitomischl),  auf  welche  letzlerer  beim 
Ausheben  eines  Baumstrunkes  gestossen  ist,  für  das  Landesmuseum 
erwarb  und  diesbezüglich  auch  eine  vielseitige  Korrespondenz  führte. 
Trotzdem  warf  man  ihm  vor,  dass  er  mit  dem  Worte  ,,pegnaze" 
einerseits  beweisen  wollte,  dass  die  Böhmen  schon  in  älterer  Zeit 
eigene  Münzen  besassen,  und  dass  er  anderseits  mit  dem  Namen 
,,Rastica"  einen  heimischen  Münzherrn  herbeischaffen  wollte,  denn 
der  grossmährische  Fürst  Rastislav  (8^6—870)  wird  in  den  Fuldaer 
Annalen  in  jener  Namensform  angeführt.  —  Ob  aber  in  den  alten 
Geschichtsquellen  der  Name  ,,Rastica"  auch  vorkommt,  oder  sich  mit 
einem  ähnlich  klingenden  Namen  deckt,  dies  heute  festzustellen  dürfte 
seine  Schwierigkeiten  haben,  weil  die  Namensform  doch  in  Zeit  und 
Gebrauch  grossen  Metamorphosen  unterliegen  kann.  Demnach  kann 
ein  ,,Rastica"  ebenso  viele  Oahrhunderte  v.  Chr.  regiert  haben  und 
hat  sonach  auch  regiert,  und  ein  anderer  gleichen  Namens  ebenso- 
viel Jahrhunderte  n.  Chr.,  denn  es  gibt  doch  auch  Regenten  des 
Namens  ,, Philipp",  die  im  Altertum,  Mittelalter  wie  in  der  Neuzeit 
regierten,  und  die  doch  niemand  für  identisch  oder  verwechselt  hält. 

Nun  steht  aber  das  Wort  ,,pegnaze"  dort  überhaupt  nicht,  denn 
da  müsste  der  Fälscher  auf  allen  Münzen  die  Malritze  \~]  kon- 
sequent verwechselt  oder  aus  Versehen  jedesmal  auf  die  nämliche 
Seite  verdreht  haben,  und  solche  ,, Druckfehler"  wird  auch  ein  prä- 
historischer Münzwardein  nicht  fortgesetzt  gemacht  haben. 

Wir  wissen  aber  eben  auch,  dass  solche  Münzen  bereits  i.  J. 
17%  bekannt  waren;  Hanka  war  damals  5  Jahre  all,  also  gewiss 
nicht  der  Fälscher  dieser  Münzen.  Wir  haben  sonach,  falls  jemand 
diejenigen  des  Landesmuseums  in  Prag  durchaus  nicht  für  echt  hallen 
will,  doch  viel  ältere  echte  gleicher  Art,  und  hiemil  ist  die  moralische 
wie  geschichtliche  Integrität  dieser  Münzen  klargestellt.*) 

Ein  weiterer  Anhaltspunkt  für  das  Alter  der  ,,cekin"-  Münzen 
bietet  auch  die  Figur  neben  der  Inschrift  ,,Rastica".  (S.  Fig.  1  c.)  Es 
gibt  nämlich  mazedonische  Münzen,  welche  dieselbe  Gestalt  dar- 
stellen, aber  in  unvergleichlich  vorgeschrittener  Ausführung  ;  hingegen 

*)  In  jüngster  Zeit  trat  wieder  Josef  Sniolik  mit  der  Broschüre  »Zlate  mince 
s  domnelym  opisem  »Pegnaze«  (»Goldmünzen  mit  der  vermeintlichen  Inschrift 
»Pegnaze«.  —  Prag  1906)  erneuert  mit  dieser  gewissenlosen  Verdächtigung  gegen 
Hanka  auf,  stellte  aber  hiemit  nur  seine  eigene  Unwissenheit  als  Numismatiker 
und  als  Custos  der  Münzsammlungen  des  Böhmischen  Landesmuseums  selbst  ins 
Auslagefenster. 


85 

trägt  die  Schrift   auf  beiderlei  Münzen    denselben  Charakter  und  die- 
selbe Technik  (s.  beigegebene  Figur),  woraus   man  mit    grosser  Be- 
rechtigung folgern  darf,   dass  die   mazedonische  Münze  eine  bereits 
verfeinerte  slavische,  letztere  daher  als  die  ältere 
anzusehen  ist.  Wir  haben  es  demnach  hier  mit  ei- 
ner altslavischen  Münze  zu  tun,  deren  Erzeugung 
allen  ihren  Prämissen  nach  höchstwahrscheinlich 
in  die  Ära  weit  vor  die  christliche  Zeitrechnung 
zu  verlegen  ist,  und  da  die  beiden  mazedonischen 
Könige   des  Namens  Antigonus,   welcher  Name 
doch   auf  dieser  Münze   ersichtlich   ist,   in   der 
zweiten  Hälfte  des   III.  vorchristlichen  Jahrhun-   ''"Kln^irrntilors '" 
dertes  regierten,  kann  die  Prägungszeit  der  sla- 
vischen  Münze  wohl  keine  unter  das  Jahr  300  v.  Chr.  fallende  sein. 

„Kuna"- Münzen.  —  „Kuna,  kouna,  kona,  kunica"  bedeutet 
im  Russischen  eine  Münze  von  grösserer  oder  kleinerer  Werteinheit, 
u.  zw.  stets  eine  Silbermünze,  im  Gegenteile  zur  ,,en  cekin"- 
Goldmünze. 

Münzen  dieser  Art  sind  dem  Verfasser  bisher  folgende  bekannt 
geworden: 

a)  ein  Silber-Brakteat*)  (s.  Fig.  2  der  Tafel  I)  mit  der  Aufschrift 
,,kunic"; 

b)  eine  vermutlich  noch  ältere  Münze  ist  die  in  Fig.  3  abgebil- 
dete. Auf  der  Vorderseite  steht:  „mienok  (oder  ,,minnok")  cunici", 
also  „Wechsel-Kunica",  d.  h.  Geldmünze ;  auf  der  Rückseite  wieder 
,, mienok"  und  ein  weiteres  schwer  leserliches  Wort,  daher  eine 
sichere  Etymologie  darüber  nicht  geboten  werden  kann.**)  —  Man 
glaubt,  es  sei  dies  eine  Münze  des  litauischen  Königs  Mendog  (1242— 
1263),  doch  sprechen  die  Umstände  der  Auffindung  auf  das  Entschie- 
denste dagegen.  Im  3ahre  1826  fand  nämlich  ein  Bauer  nächst  des 
Dorfes  Ogrodniköw,  Kreis  Lida,  russ.  Gouvernement  Vilna,  drei  Arten 
von  Münzen,  u.  zw.  jede  in  grösserer  Zahl  vereinigt,  in  der  Erde. 
Die  eine  Art  hatte  keinerlei  Aufschrift,  scheint  dem  Wappenschilde 
nach  litauisch  zu  sein  und  macht  den  Eindruck  der  ältesten  Prägung 

*)  »Brakteate«  nennt  man  jene  Münzen,  die,  meist  aus  dünnem  Gold-  oder 
Silberblech,  nur  einen  Stempel  tragen;  das  Bild  der  Vorderseite  repräsentiert 
sich  auf  der  Rückseite   daher  nur  als   Negativum.  — 

**)  Da  nicht  zu  erfahren  war,  wo  sich  die  Münze  jetzt  befindet,  konnte  auch 
keine  neue  photographische  Reproduktion  eingeholt  werden.  Sie  ist  in  Th.  Nar- 
butts  Werke  »Dzieje  starozytne  narodu  litewskiego«.  —  Wilna  1835  (Bd,  I.)  ange- 
führt und  so  hier  wiedergegeben. 


86 

von  allen ;  die  zweite  Gruppe  bilden  römische  Münzen  des  Antoninus 
Pius  (138—168  n.  Chr.);  die  drille,  d.  i.  die  zuerst  beschriebene, 
wäre  sonach,  wenn  König  Mendog  als  deren  Münzherr  anzusehen 
wäre,  um  1110  üahre  jünger,  was  höchstunwahrscheinlich  ist,  denn  es 
müssten  da  in  einer  Familie  durch  33  Generationen  nur  Sparmeister 
gewesen  sein,  die  aber  trotzdem  zum  Schatze  keine  einzige  Münze 
aus  der  grossen  Interkalarzeit  zuführten.  Man  kann  daher  mit  grosser 
Berechtigung  annehmen,  dass  jene  Münze  im  II.  oder  111.  Jahrhun- 
derte n.  Chr.  in  Russland  kursierte.*) 

c)  „Rusov  kouna".  (S.  Fig.  k.)  Diese  stamm!  aus  der  Zeit  der 
russischen  Fürstin  Olga  (945— %9)  und  trägt  das  Bild  derselben  so- 
wie jenes  ihres  Sohnes  Svjatoslav.  Die  Münze  befindet  sich  im  Mu- 
seum in  Berlin. 

,,Biat"-Münzen.  —  Münzen  mit  der  Aufschrift  ,,biat"  oder 
,,biatec"  werden  sehr  häufig  gefunden  und  sind  meist  aus  Gold  oder 
doch  vergoldetem  Silber.  Sie  sind,  wie  die  Fig.  5  und  6  zeigen,  meist 
von  unregelmässiger  Form  und  von  plumpem  Aussehen ;  oben  sind  sie 
konkav  und  in  dieser  Mulde  ist  die  erwähnte  Aufschrift  angebracht. 
Der  Name  selbst  (biti,  bijati  schlagen)  sagt,  dass  es  Münzen,  also 
,, Geschlagenes"  sind,  was  nicht  befremdend  sein  kann,  da  man  ja 
heute  noch  immer  vom  , »Schlagen"  der  Münzen  spricht,  und  ist  der 
Begriff  ,, Münze"  selbst  desselben  Ursprunges  (lat.  „munitus  fest, 
und  „moneta,  monetäre"  prägen,  schlagen).  —  Etwas  seltener  sind 
gleiche  Münzen  mit  der  Aufschrift  „biat"  in  runischer  Schrift.  — 

Die  Numismatik  kennt  diese  Münzen,  namentlich  wenn  sie  kei- 
nerlei Aufschrift  oder  dieselbe  unerkannt  in  Runen  tragen,  als  „Regen- 
bogenschüsselchen", denn  einer  skurrilen  Sage  nach  lasse  sie  der 
Regenbogen  fallen.  Die  Slaven  hingegen  bezeichnen  sie  ziemlich  all- 
gemein als  „knofliky"  (Knöpfe),  was  sehr  richtig  ist,  denn  viele 
dieser  Münzen  haben  rückwärts  einen  schiefen  Einschnitt,  in  welchen 
Lederriemchen  eingezogen  und  durch  Rückbiegung  des  Metalles  fi- 
xiert wurden.  Die  Münzen  selbst  sind  seinerzeit  zweifellos  an  Ge- 
wändern, Ledertaschen  („torba"),  an  Zaum-  und  Sattelzeugen  als 
Schmuck  getragen  worden,  und  werden  Riemchenreste  oft  noch  heute 
—  namentlich  in  Russland  —  in  der  Einkerbung  vorgefunden.  Man 
trug  eben  auf  diese  Art  sein  Geld  mit  sich  (,,viaticum"?),  analog  wie 
am  Balkan  und  im  Oriente  auch  das  heiratsfähige  Mädchen  ihre  ganze 
Mitgift  in  Münzen  im  Sonntagsstaate  zur  Schau  trägt.  —  Desgleichen 

*)  Der  Finder  verkaufte  den  Gesamtfund  einem  jüdischen  Goldschmiede; 
zum  Glücke  behielt  sich  dieser  von  jeder  Prägungsgruppe  2  Stück  zum  Andenken; 
alles  übrige  schmolz  er  ein. 


87 

ist  die  bekannte  Redensart,  jemand  habe  alles  bis  auf  den  letzten 
„Knopf"  vertrunken,  noch  bis  vor  kurzem  wörtlich  richtig  gewesen, 
denn  die  Männer  rissen  sich  nötigenfalls  einen  solchen  Edelmetall- 
knopf von  ihrer  Weste  und  warfen  ihn  hin  an  Zahlungs  Statt. 

Die  Bezeichnung  ,,knoflik,  Knopf"  für  eine  solche  Münze  scheint 
aber  aus  dem  Grundworte  „kona,  kouna"  hervorgegangen  zu  sein, 
denn  es  gibt  zahlreiche  burgundische  (z.  B.  jene  des  Theodosius, 
379—395)  und  merowingische  Münzen  (z.  B.  jene  des  Childeberl  II., 
575—596),  welche  neben  dem  Regentennamen  den  Gattungsnamen 
der  Münze  als  ,,conob,  conop"  eingeprägt  zeigen.*)  Die  Wissenschaft 
erklärt  sich  diesen  Satz  dahin,  dass  dies  eine  Abkürzung  sei,  durch 
welchen  die  Ermächtigung  des  byzantinischen  Kaisers  ausgedrückt 
wurde,  Münzen  prägen  zu  dürfen.  Auf  welcher  Quelle  diese  Auslegung 
beruht,  ist  nicht  ersichtlich;  augenscheinlich  hat  sie  aber  nicht  die 
geringste  Berechtigung.  — 

„Lita,  Lita v"-Münzen.  —  Solche  Münzen  wurden  in  ver- 
schiedenen Prägungen  gefunden.  Der  Aufschrift  nach  sind  es  litauische 
Münzen  (Fig.  7  und  8),  denn  die  Darstellung  des  typischen  litauischen 
Reiters,  der  den  Bogen  und  Köcher  führt,  lässt  schon  darauf  schlie- 
sen,  dass  hier  nur  ein  skythischer  Krieger  gemeint  sein  kann,  denn 
die  Griechen,  Römer  oder  Gallier  werden  stets  mit  Schwert,  Schild 
oder  Lanze  bewaffnet  abgebildet.  Überdies  deutet  schon  der  Münzname 
selbst  dies  an,  denn  der  Begriff  „litav"  bezw.  „litun"  diente  im  Litau- 
ischen wie  Russischen  für  die  Bezeichnung  des  Herumstreifenden, 
des  Reiters  der  Grenzbewachung,  sowie  doch  auch  ,,lit" 
selbst  sprachhch  immer  mit  der  Grenze  im  organischen  Zusammen- 
hange steht,  wie  z.  B.  das  lateinische  ,,litus"  =  Ufer,  Küste,  Grenze; 
russ.  „lif"  Taille,  d.  i.  die  Grenze  des  Ober-  und  Unterkörpers ; 
das  deutsche  ,, Leithaus"  (  Grenzwirtshaus)  heisst  im  Slavischen 
,,lituz" ;  „Leitha",  slav.  „Litva"  oder  „Litava"  bildet  doch  die  österr.- 
ung.  Staatengrenze  usw.  —  Die  „Lita"-Münze  war  sonach  wohl  auch 
die  Grundeinheit  für  die  Zollabgabe  an  der  Grenze.  — 

Wie  bereits  angedeutet,  möge  dies  alles  nur  als  ein  Beleg  eines 
Nichtnumismatikers  zur  altslavischen  Münzkunde  angesehen  werden, 
um  hiemit  zu  überzeugen,  dass  es  da  eine  grosse  Menge  Münzen 
slavischer  Provenienz  geben  müsse,  die  noch  unbekannt  oder  un- 
erkannt in  Sammlungen  und  Museen  erliegen.  Dass  aber  gerade  die 
in  den   nördlicheren  Ländern   Europas   gefundenen  Münzen  slavisch 

*)  Solche  »knofliky«  Münzen  werden  auch  noch  heute  häufig  ausgegraben  und 
haben  einen  Goldmetallwert  von  cirka  30  K.  —  In  Mähren  werden  derlei  Münzen 
immer  wieder   am   Hradek   (Wisowitz),   dann   bei   Misliowitz    (Prossnitz)    gefunden. 


88 

sind  und  je  ältere  Funde  gemacht  werden,  umso  slavisctier  sein 
müssen,  gellt  mit  logischer  Konsequenz  schon  daraus  hervor,  dass 
diese  Länder  einst  ausschliesslich  von  Slaven  bewohnt  waren,  es 
können  sonach  die  heimischen  Münzen  nur  von  slavischen  Präge- 
herren stammen.*) 

Für  jeden  Fall  erhält  der  präsumtive  Verfasser  einer  ,, Altslavi- 
schen Münzkunde"  hiemit  sehr  willkommene  Winke  und  dürfte  die 
weitere  Aufklärungsarbeit  auf  diesem  so  arg  vernachlässigten  Ge- 
biete noch  zahlreiche  brauchbare  sowie  die  Überzeugung  bestärkende 
Beiträge  über  die  wirklichen  Kulturverhältnisse  der  Altslaven  zufüh- 
ren. —  Noch  zahlreicher  sind  altslavische  Münzen  mit  Runenaufschrif- 
ten ;  diese  werden  jedoch  im  Werke  ,,51avische  Runendenkmäler" 
näher  beschrieben,  so  weit  sie  eben  schon  sprachlich  verlässiich 
geklärt  sind.  Es  ist  aber  auch  kein  Zweifel,  dass  es  in  den  öffent- 
lichen sowie  privaten  Sammlungen  noch  zahlreiche  Münzen  gibt,  die 
altslavischen  Ursprungs  sind,  aber  als  solche  bis  heute  wissenschaft- 
lich noch  nicht  erkannt  wurden,  weil  die  Existenz  von  solchen  bisher 
überhaupt  nicht  zur  Sprache  kam.  — 


M.  Zunkovic: 

»Odrin«  oder  »Adrianopel«  ? 

In  den  verwichenen  Monaten  hatte  jedermann  Gelegenheit  die 
abermals  eine  besondere  kriegsgeschichtliche  Rolle  spielende  Stadt 
Adrianopel  je  nach  der  angewendeten  Sprache  in  den  verschie- 
densten Namensformen  zu  lesen,  ohne  dass  man  sich  eine  Rechen- 
schaft legte,  welcher  Name  eigentlich  der  berechtigte,  d.  i.  ursprüng- 
liche oder  historische,  daher  auch  zutreffendste  ist.  Nachdem  auch  der 
Verfasser  mehrfach  aufgefordert  wurde,  in  diesen  onomastischen 
Wirrwarr  eine  wissenschaftliche  Klärung  oder  Orientierung  zu  brin- 
gen, soll  dies  nun  auch  nachfolgend  geschehen. 

Es  besteht  nämlich  nicht  der  geringste  Zweifel,  dass  der  einzig 
richtige  und  historische  Name  der  genannten  Stadt  „Odrin"  lautet, 
da  er  auch  der  natürliche  ist,  und  sind  alle  sonstigen  Varianten  nichts 
weiter  als  künstliche  Nachbildungen. 

*)  Die  älteste  bekannte  deutsche  Münzaiifschrift  stammt  erst  ungefähr  aus 
dem  Jahre  1170  vom  Markgrafen  Otto  von  Brandenburg  (»marcgrave  Otto«!. 
Dessen  Zeitgenosse  und  Nachbar,  der  Wendenfürst  Jaksa  von  Köpenik  gab  aber 
zu  jener  Zeit  noch  immer  seinen  Münzen  die  slavische  Aufschrift:  »Jakza  coptnik 
cne^.   (knez).  — 


89 

In  etymologischer  Hinsicht  lässt  sich  folgendes  feststellen :  das 
Grundwort  ist  „drin",  das  im  Altslavischen  Grenze,  wie  heute  noch 
im  Russischen  Schutzdach,  Wachhütte  (an  der  Grenze)  bedeu- 
tet. Die  vielen  „Drin"-Namen  für  Flüsse  (wie  auch  Ortschaften)  auf 
dem  Balkan  besagen  also,  dass  diese  eine  Grenze  bildeten,  die 
bewacht  wurde.  „Odrin"  ist  ein  solcher  Zentralpunkt,  wo  sich  eben 
mehrere  „drin"  vereinigen,  denn  das  Präfix  „o"  deutet  im  Slavischen 
immer  auf  eine  Umschliessung,  kreisförmige  Umgren- 
zung, also  auf  eine  Zentrale  von  Grenzpunkten,  wie  gerade  hier, 
wo  mehrere  Flüsse,  sonach  natürliche  Grenzen,  zusammenstossen. 
Überdies  versteht  der  Slave  unter  „oder"  heute  noch:  Lager,  dann 
Bühne,  d.  i.  der  erhöhte,  nur  gegen  die  eine  Seite  offene  Platz.  — 
Am  Zusammenflusse  der  Marica,  Arda  (richtig  „Varda")  und  Tundza, 
deren  Etymologie  doch  wieder  diese  Ansicht  bestärkt  („mar"  Grenze, 
„var"  Schutzpunkt,  „tun,  tin"  Umzäumung),  war  sonach  schon  in 
den  vorgeschichtlichen  Zeiten  eine  grössere  zentrale  Verteidigungs- 
anlage, umsomehr  als  sich  hier  auch  auf  natürliche  Weise  ein  bedeu- 
tender Strassenknotenpunkt  ergeben  musste. 

Die  Meinung,  dass  die  Stadt  vom  römischen  Kaiser  Hadrian 
(Adrian)  erbaut  wurde,  ist  daher  eine  völlig  irrige,  denn  dieser  Name 
wurde  im  Drange  der  Erklärungssucht  lediglich  an  den  gleichklingen- 
den Namen  „Odrin"  genau  so  angepasst,  wie  die  Osmanen  später 
die  Stadt  als  „Edrene"  und  „Edirne"  unter  dem  Eindrucke  des  vor- 
gefundenen „Cdrin"  benannten.  —  Die  Namen  „Adrianopel"  der 
Deutschen,  „Adrijanopol"  der  Russen,  „Drinopol"  der  Böhmen  haben 
sonach  alle  „Odrin"  zur  Grundlage,  sind  daher  in  dieser  Form  weder 
originell  noch  berechtigt,  und  ist  das  Suffix  „pol"  (griech.  „polis"  = 
Stadt)  wohl  nur  ein  verkehrsgebräuchlicher  Zusatz  aus  der  Zeit  des 
griechischen  Einflusses. 

Der  einzig  richtige  Name  für  „Adrianopel"  ist  daher  „Odrin", 
und  liegt  für  die  Nordslaven  nicht  die  geringste  Berechtigung  vor, 
diesen  bei  allen  Südslaven  gebräuchlichen  Namen  willkürlich  zu  än- 
dern oder  dessen  griechische  Form  vorzuziehen.  Diese  entschiedene 
Behauptung  ist  aber  nicht  nur  sprachlich  sondern  auch  geschichtlich 
begründet,  denn  es  ist  doch  bekannt,  dass  die  alte  thrazische  Völker- 
schaft, die  an  den  Ufern  der  Marica,  Tundza  und  Ergene  wohnte, 
auch  „Odrici"  hiess,  und  vereinigte  deren  König  Teres  doch  schon 
im  V.  Jahrhunderte  v.  Chr.  das  ganze  thrazische  Binnenland  der 
„Odrici"  zu  einem  starken  Reiche,  dessen  Zentrale  eben  „Odrin"  war. 

Es  kann  bei  dieser  Gelegenheit  daher  nur  der  gute  Rat  gegeben 
werden,   es  mögen  wenigstens  die  Slaven  ausschliesslich  und  allge- 


90 


mein  den  historischen  und  aitslavischen  Namen  „Odrin"  anwenden, 
denn  diese  krankhafte  und  auch  schon  die  Slaven  ansteckende  Sucht 
immer  neue  Formen  für  Ortsnamen  zu  konstruieren,  hat  bei  den 
Slaven  schon  gar  keine  Berechtigung,  da  die  Ortsnamen  ohne- 
hin fast  durchwegs  aitslavischen  Ursprunges  sind, 
daher  selbstredend  schon  einmal  allen  in  der  selben 
Form  angehörten.  Es  sollen  daher  Schule,  Forschung  wie  prak- 
tische Vernunft  energisch  dagegen  arbeiten,  dass  diese  Geschmack- 
losigkeiten in  der  Verballhornung  der  topischen  Namen  nicht  auch 
bei  den  Slaven  Eingang  finden,  denn  ganz  abgesehen  von  sonstigen 
Schwerfälligkeiten,  die  sich  daraus  ergeben,  hat  die  slavische  dugend 
heute  doch  viel  Wichtigeres  zu  lernen,  als  ein  Dutzend  läppischer 
Namensvarianten  für  ein  und  denselben  Ort.*) 


Slavische  Geschichtsquellen. 

I.  L.  A.  Qebhardis  Vorrede  zur  »Geschichte 
aller  Wendisch-Slavischen  Staaten«. 

Erläutert  von  Dr.  A.  Kovacic. 

(Schluss.) 

Die  verschiedenen  Oazygen  und  Sarmaten  erloschen  nebst  den 
freien  Sarmaten  am  Berge  Matra,  die  an  dem  gotischen  Kriege  keinen 
Anteil  genommen  hatten,  in  kurzer  Zeit,  und  die  letzten  Sarmaten, 
die  in  zuverlässigen  Annalen  erscheinen,  sind  diejenigen  Sarmaten, 
welchen  der  Kaiser  das  Schloss  Castra  Martis  in  der  Bulgarei  ein- 
geräumt hatte  (s.  meine  „Geschichte  des  Reiches  Hungarn"  I.  T.  S.  231) 
und  die  ihm  im  Jahre  4G5  Singidon  auf  kurze  Zeit  entrissen.  Von 
ihrer  Sprache  weiss  man  nichts,  und  von  auszeichnenden  Sitten  sehr 
wenig. 

*)  Vor  kurzer  Zeit  wurde  z.  B.  offiziell  festgelegt,  daß  ein  Ort  in  Böhmen 
deutsch  »Ossegg«  und  böhmisch  »Osek«  zu  lauten  habe.  Wieso  von  Amts  wegen 
solche  Namens-Monstra  geschaffen  werden  können,  ist  für  jeden  objektiv  Denken- 
den ein  Rätsel,  denn  der  Deutsche  kann  doch  auch  das  slavische  Wort  »Osek« 
gleichlautend  aussprechen,  und  »Osseg«  bedeutet  auch  in  dieser  Form  für  den 
Deutschen  noch  immer  nichts  etymologisch  Orientierendes,  Und  weshalb  soll  der 
Ortsname  nicht  seine  Genesis  und  Urbedeutung  offen  zur  Schau  tragen!  —  In 
Böhmen  heißt  z.  B.  der  Ort  »Nemanice«  deutsch  »Wassersuppen«;  was  ist  nun 
mit  diesem  komischen  Worte  sonst  erreicht,  als  daß  die  Bewohner  von  den 
Nachbarn   deshalb   gehänselt   werden!   Die   deutsche   Form   ist   nämlich   wieder   aus 


91 

Der  Herr  D.  Anton  leugnet,  dass  jemals  eine  Nation  vorhanden 
gewesen  sei,  die  sich  selbst  Sarmaten  genannt  habe  („Erste  Linien 
eines  Versuches  über  der  alten  Slaven  Ursprung"  5.  5)  und  Müller 
behauptet,  dass  es  keine  sarmatische  Sprache  gegeben  haben  könne 
(„Abhandl.  von  den  Völkern,  welche  in  Russland  gewohnt  haben"  in 
H.  Oberkonsist.  Büschings  Magazine  XVI.  B.  S.  289).  Oenem  könnte 
man  entgegensetzen,  dass  die  Römer  einen  Bezirk  Provincia  Sarmaiica, 
und  einen  Ort  Colonia  Sannatica  (Sarmiz  in  Dazien),  nach  dem  Volke, 
aus  welchem  sie  selbige  errichteten,  benannten,  wenn  die  Inschriften, 
in  welchen  diese  Namen  stehen,  nur  allen  Zweifeln  gegen  die  Richtig- 
keit ihrer  Erklärung  und  gegen  ihre  Zuverlässigkeit  (meine  „Geschichte 
des  Reiches  Hungarn",  I.  T.,  S.  101  usw.)  völlig  entrissen  wären. 
Die  meisten  heutigen  Geschichtsschreiber,  und  unter  diesen  Gercken, 
Gatterer,  Dobner  und  Jordan,  vorzüglich  aber  unter  den  älteren  Cro- 
merus  „De  origine  Polonorum  (Edit.  3.  1568.  L.  I.,  c.  7)  und  Cluver 
(Germ,  aniiqua  L.  III.,  p.  188)  halten  die  Sarmaten  für  wahre  Wenden 
und  Slaven,  und  unterstützen  ihre  Mutmassung  mit  folgenden  Grün- 
den: 1.  Paulus  Diaconus,  Svidas,  Adamus  von  Bremen,  Helmoldus 
und  alle  böhmischen  wie  polnischen  Chronikenschreiber  versichern, 
dass  die  Sarmaten  die  neueren  Slaven  sind,  aber  diese  Männer  sind 
viel  zu  neu,  als  dass  sie  in  dieser  Sache  zeugen  könnten ;  2.  die 
Tabula  Peutingeriana.  welche  zwischen  den  Jahren  276  und  282  ver- 
fertigt ist  (de  Jordan  T.  11.,  Pars  IlL,  p.  187)  setzt  in  die  Moldau 
Sarmatas  Venados;  aber  v.  Meermann  hat  im  T.  II  „Anthologiae  veter. 
lat.  epigrammatum  ad  Epigr.  115.  v.  12  Ponticae"  bewiesen,  dass  diese 
Tafel  erst  im  IX.  Jahrhunderte  von  einem  unwissenden  Mönche  ge- 
macht ist,  abgesehen  davon,  dass  in  der  Tafel  Sarmaten  und  Venaden, 
als  zwei  benachbarte  Völker,  nicht  aber  als  ein  zweinamiges  Volk 
verzeichnet  zu  sein  scheinen;  3.  die  alten  Geschichtsschreiber  Jor- 
nandes  und  Procopius  verwechseln  öfters  die  Slaven  und  Sarmaten, 
also  waren  beide  eine  Nation,  aber  Procopius  gibt,  gleich  dem  Jor- 
nandes,  da,  wo  er  absichtlich  von  den  Wenden  und  Slaven  redet,  zu 
verstehen,   dass  diese  ein  ganz  besonders  bisher  unbekannt  geblie- 

dem  lokalen  »vas  zupa«,  d.  i.  »Dorf  Zupa«  entstanden,  da  dort  vermutlich  der 
»zupan«  mehrerer  Gemeinden  einst  seinen  Sitz  hatte.  Der  volle  slavische  Name 
des  Ortes  war  also:  »vas  zupa  Nemanice«,  also  »Nemanice,  der  Zupan-Sitz«,  wo- 
nach die  Slaven  den  tatsächlichen  Eigennamen  behielten,  die  Deutschen  hingegen 
nur  den  Gattungsnamen  ihrer  Sprache  anpaßten,  wei\  wahrscheinlich  zur  Zeit  der 
Germanisierung  die  Bewohner  den  wirklichen  Eigennamen  weniger  gebrauchten. 
—  Da  aber  im  Namen  eines  jeden  Ortes  zugleich  die  älteste  Geschichte  der  An- 
siedlung  geborgen  ist,  sollte  da  schon  die  Wissenschaft  gegen  diese  sprachvanda- 
lische  Entstellung  der  lokalen  Urgeschichte  endlich  ernstlich  entgegenzuarbeiten 
beginnen,  wenn  sich  die  Gemeindevertretungen  selbst  darum  nicht  kümmern. 


92 

benes  Volk  seien,  und  kannte  doch  die  Sarmalen  und  Oazygen  sehr 
wohl,  zum  Beweise,  dass  sie  diesen  an  Sillen,  Sprache  und  anderen 
Merkzeichen  ungleich  gewesen  sein  müssen ;  k.  Plolemäus  {Geogra- 
phia  C.  5.  Tabiile  Sarmatiac)  lehrt,  dass  zu  seiner  Zeil  die  Wenden 
die  grösste  Nation  in  Sarmalia  gewesen  sind ;  allein  abgesehen  da- 
von, dass  die  Römer  alles  ihnen  unbekannte  Land  jenseits  dem 
dezebalischen  Dazien  Sarmalien  nannten,  und  daher  irrig  die  Wenden 
zu  den  Sarmaten  zählen  konnten,  so  sagt  Ptolemäus  nur  dieses,  dass 
die  Wenden  zu  seiner  Zeit  vieles  vom  Lande  der  alten  Sarmater 
besessen  haben,  ohne  dabei  vorauszusetzen,  dass  ein  solcher  Besitz 
sich  nicht  auf  Waffen  oder  andere  zufällige  Ursachen,  sondern  auf 
Erbschaft  gründen  müsse;  5.  Plinius  ordnet  (Mist.  nat.  IV.  13)  die 
Sarmaten  und  Wenden  zusammen,  [Cliiver,  Germ.  ani.  L.  III.  p.  188), 
woraus  die  Folge  gezogen  werden  muss,  dass  sie  Stammvetter 
gewesen  sind.  Aber  diese  Schlussfolge  wird  nicht  jeder  Kritiker  zu- 
geben, auch  zeigt  Plinius  durch  den  Ausdruck :  qiiidam  haec  habitari 
ad  Vistülam  iisqiie  fliiviiim  a  Sannatis,  Vencdis,  Scyris,  Hirns  tradiint,*) 
dass  er  nur  ein  Gerüchte,  nicht  aber  eine  gewisse  Wahrheit  aufge- 
zeichnet habe;  6.  die  Wenden  redeten  nicht  die  teutsche,  sondern  die 
sarmatische  Sprache.  (Cliiver  I.  c.)  Aber  man  kennt  die  sarmatische 
Sprache  nicht  und  findet  auch  nichts  bei  solchen  alten  Schriftstellern, 
die  die  Sarmaten  und  Wenden  persönlich  gekannt  haben,  was  diese 
Annahme  bestätigt;  7.  im  grossen  asiatischen  Sarmatien  waren,  nach 
des  Ptolemäus  Berichte,  die  Serbier  und  die  Modoci.  (Cromenis  C.  7.) 
Oene  sind  aller  Wender,  und  diese  der  Moscowiter  Stammväter  (nach 
Cromers  Hypothese),  folglich  müssen  die  Wenden  und  Slaven  Sar- 
mater sein ;  endlich  8.  die  Anten  waren  Wenden,  und  erscheinen 
nach  dem  Jahre  319  da,  wo  bisher  immer  Sarmaten  sich  aufgehalten 
hatten  (de  Jordan  I.  p.  30);  ebenso  fand  man  zu  des  Gornandes  Zeit 
überall,  wo  Ptolemäus  Sarmaten  antraf,  Slaven  und  Wenden  (de  Jor- 
dan und  Cromerus);  die  Geschichtsbücher  melden  nicht,  dass  die  Wen- 
den die  Sarmater  angegriffen  und  vertrieben  haben,  demnach  müssen 
die  Sarmater  nur  ihren  Namen  geändert,  und  sich  Slaven,  Wenden 
und  Anten  genannt  haben.  Dieser  Hypothese  steht  entgegen,  dass 
erstens  die  römischen  Schriftsteller  nichts  von  den  Begebenheiten  der 
Völker  jenseits  der  Donau  wissen  konnten,  so  lange  diese  nicht  auf 
römische  Untertanen  wirkten,  und  dass  daher  ihr  Stillschweigen  nichts 
für  oder  gegen  den  angeführten  Satz  entscheidet;  zweitens,  dass  die 
Geschichte  von    vielen   solchen    Völkerwanderungen    Nachricht   gibt, 

*)  D.  h,:  Einige  behaupten,  dass  dieses  (bezieht  sich  auf  E  n  i  n  g  i  a,  wel- 
chen Namen  Plinius  für  F  i  n  1  a  n  d  gebraucht)  bis  zum  Weichselflusse  von  Sar- 
maten, Venedern,  Scyren  und  Hirren  bewohnt  wird. 


9a 

welche  Einöden  veranlassten,  die  von  den  Wenden  besetzt  wurden; 
drittens,  dass  es  unbegreiflich  ist,  wie  den  Römern  der  Name  Slave 
hätte  unbekannt  bleiben  können,  wenn  ein  sarmatischer  Stamm  die- 
sen geführt  hätte,  da  sie  nicht  nur  viele  Sarmaten  bekriegt,  auch  sich 
unterwürfig  gemacht  hatten,  sondern  auch  Sarmater  aller  Arten  in 
ihren  Legionen  dienten,  oder  als  Knechte  in  ihren  Häusern  sich  auf- 
hielten;  und  viertens,  dass  keine,  so  sehr  freie,  ausgearbeitete  und 
in  mancherlei  Stämme  geteilte  Nation  den  Gedanken  haben  und  aus- 
führen kann,  plötzlich  alle  seine  Stammnamen  nebst  dem  allgemeinen 
Volksnamen  abzulegen  und  dafür  einen  neuen  anzunehmen.  Müller 
(in  Büschings  Mag.  XVI.  Bd.)  sucht  zwar  diesem  Einwurfe  dadurch 
zu  begegnen,  dass  er  annimmt,  dass  einige  sarmatische  Völker  von 
slavischer  Herkunft  gewesen  wären,  und  nun  die  übrigen  Sarmaten 
überwältigt  und  dadurch  ihren  älteren  Namen  wieder  erweckt  und 
herrschend  gemacht  hätten,  allein  alsdann  konnten  die  Sarmater  nicht 
die  Stammväter  der  Wenden  sein.  Cluver  und  einige  andere,  die  ihm 
folgen,  bedienen  sich  noch  eines  neunten  Grundes,  und  halten  sich 
an  diejenigen  sarmatischen  Merkzeichen,  die  Tacitus,  um  seinem 
Ausspruche,  dass  die  Wenden  keine  Sarmaten  wären,  ein  Gewicht 
zu  geben,  anführt,  nicht  um  ihm  beizutreten,  sondern  um  ihn  zu 
widerlegen.  Denn  wenn  Tacitus  sagt,  die  Wenden  sind  stets  zu  Fusse, 
haben  Häuser  und  kurze  Kleider,  und  gebrauchen  Schilde,  da  im 
Gegenteil  die  Sarmaten  niemals  vom  Pferde  oder  Wagen  kommen, 
sich  in  lange  Kleider  hüllen  und  alle  Verteidigungswaffen  verachten, 
so  versetzen  sie:  aber  die  Polen,  welche  Wenden  sind,  tragen  lange 
Kleider  und  fechten  nur  zu  Pferde,  und  müssen  demnach  Sarmater 
sein,  ohne  zu  erwägen,  dass  die  polnische  lange  Kleidung  dem  sar- 
matischen Gewände  unähnlich,  und  wahrscheinlich  von  den  Polen 
selbst  erfunden  und  neu  ist,  und  dass  die  Vorliebe  der  Polen  für  das 
Reiten  sich  auch  bei  anderen  Nationen  findet,  die  auf  keine  Weise 
mit  den  Sarmaten  in  Verbindung  gebracht  werden  können,  aber,  gleich 
den  Polen,  ein  Land  besitzen,  welches  den  Streifzügen  benachbarter 
räuberischer  Nationen  stets  offen  steht,  und  nur  von  wohlberittenen 
und  leichtbewaffneten  Reitern  geschützt  werden  kann. 

Cromerus  (I.  c.  Kap.  g.  p.  '9  und  2k)  webt  aus  dem,  was  ihm 
als  höchst  wahrscheinlich  vorkam,  nicht  aber  als  wahr  erwiesen 
werden  kann,  nach  der  Weise  seiner  schriftstellerischen  Zeitgenossen, 
folgende  Legende  zusammen:  Sems  Sohn,  Dectan,  zeugte  Asarmot, 
den  Stammvater  der  Sarmaten.  Spätere  Nachkommen  Asarmots,  näm- 
lich die  Wenden,  verbreiteten  sich  von  Asien  aus  über  alle  Gegenden 
des  neueuropäischen  Russland   und  Polens,  wurden  von  ihren  alten 


94 

Nachbarn,  und  durch  deren  Veranlassung  auch  von  den  Griechen, 
die  Kinder  Sarma!  geheissen,  legten  sich  aber  selbst  den  Namen  der 
Wenden  bei,  dessen  Bedeutung  unbekannt  ist.  Ein  Zweig  der  Wenden 
drängte  sich  kurz  vor  des  Tacitus  Zeit  in  Germanien  und  Wandalien 
hinein,  und  behielt  zwar  seinen  Namen,  allein  nicht  seine  Sitten, 
sondern  lebte  und  kleidete  sich  nach  teutscher  Weise.  Viele  Wenden 
hingen  sich  an  die  teutschen  Völker,  die  in  Griechenland  einbrachen, 
und  diese  vertauschten  jenseits  der  Donau  den  wendischen  alten 
Namen  mit  dem  slavischen  neuerfundenen,  der  vielleicht  von  einem 
ihrer  Heerführer  Slavinus  Rumunensis  herrührt.  Hiermit  kann  zwar 
nicht  das  bestehen,  was  die  böhmischen  Chronisten  behaupten,  dass 
nämlich  ihr  Reichsarchiv  eine  Urkunde  des  Weltbezwingers  Alexanders 
des  Grossen  besitze,  wodurch  dieser  den  Slaven  alles  Land  vom 
Norden  bis  an  Italien  schenke;  allein  dieses  Märchen  verdient  keine 
Widerlegung. 

21.  Die  Oazygen  zwischen  der  Teys  und  Donau.  (Herr  Hofr. 
Gatterer,  Einleitung  in  die  synchronistische  Universalhistorie,  S.  954. 
Herr  D.  Anton,  p.  7.  de  Jordan  de  Orig.  Slav.  T.  I.  p.  130.)  Dieser 
sarmatische  Stamm  soll  dasjenige  Volk  sein,  das  den  Römern  unter 
dem  Namen  Slaven  bekannt  war,  weil  die  Slaven  da  zum  Vorschein 
kamen,  wo  bisher  die  Sarmaten  gewesen  waren,  nämlich  nördlich 
an  der  Donau,  und  weil  fast  in  allen  slavischen  Dialekten  „jazyk" 
die  Zunge,  also  auch  die  Sprache  andeutet.  Unter  den  mannigfachen 
Ableitungen  des  Namens  Slav  findet  sich  auch  eine  von  „slovo", 
das  Wort.  Folglich  ist  Slav  und  Jazyge  ein  einiger  Volksname, 
und  bedeutet  ein  redendes  Volk.  Herr  D.  Anton  hält  aus  diesem 
Grunde  auch  die  donischen  3azygen  nebst  den  Budinern,  Udinen  und 
Amazonen  für  Slaven ;  Herr  Hofrat  Gatterer  aber  vermutet,  dass  diese 
asiatischen  3azygen  unter  dem  Namen  der  Anten  verborgen  liegen. 
Gegen  diese  Mutmassungen  spricht  jedoch  alles  das,  was  gegen 
die  Ableitung  der  Wenden  von  den  Sarmaten  angeführt  wurde,  be- 
sonders, dass  die  3azygen  und  Slaven  nebeneinander  an  der  Donau 
wohnten,  und  beide  den  dermaligen  Geschichtsschreibern  zu  Gesichte 
kamen,  die  sie  als  solche  Völker  anführen,  die  nichts  Gemeinsames 
weder  in  Sitten  noch  in  der  Sprache  hatten.  Dann  ist  auch  ein  jeder 
auf  Wortforschung  gegründeter  Beweis  zu  unsicher,  als  dass  man 
darauf  Rücksicht  nehmen  könnte.  Abgesehen  davon,  dass  gerade  im 
Lande  der  ungarischen  Oazygen  lange  nach  ihrer  Vertilgung  ein  neues 
asiatisches  Volk,  nämlich  die  Cumaner,  den  Namen  „jazyg"  zufälliger 
Weise  erlangt  hat,  u.  zw.  ohne  Rücksicht  auf  jene  Oazygen,  bloss 
weil  sie  Bogenschützen  waren  und  „jazyg"  in  der  ungarischen  Sprache 
einen  Bogenschützen  andeutete   (meine  „Geschichte  des  Reiches 


95 

Hungarn,  I.  T.,  S.  ^80  F).  Auch  ist  es  zu  viel  gefordert,  wenn  man 
bei  jener  Abteilung  verlangt,  dass  die  slavische  Sprache  als  eine 
solche  Sprache  betrachtet  werden  sollte,  welche  die  Oazygen  geredet 
haben,  bloss  weil  ein  jazygischer  Name  sich  aus  selbiger  mit  einem 
Begriffe  versehen  lässt,  dessen  Dasein  durch  keine  anderen  Angaben 
erwiesen  werden  kann. 

22.  Die  T  e  u  f  5  c h  e  n.  Da  Tacitus  die  Wenden,  welche  die  Stamm- 
väter der  Slaven  waren,  den  Teutschen  zuzählt,  so  scheint  er  sel- 
bige für  einen  teutschen,  nur  etwas  ausgearteten  Stamm  gehalten  zu 
haben.  Die  heutigen  Ungarn  nennen  ihre  Slaven  und  Wenden  das 
Volk  Tot  (tot  ember),  und  einige  Gelehrte  erklären  das  Wort  Tot 
durch  Teutsch,  und  ziehen  daraus  die  Folge,  dass  die  ältesten  Slaven 
Teutsche  gewesen  sind  (Acta  Societatis,  Jablonovianac,  Lips.  1772, 
p.  197).  Allein  andere  behaupten,  dass  das  Wort  Tod  oder  Tud  in 
alter  ungarischer  Sprache  einen  Hügel  angedeutet  habe,  und  also 
den  Namen  Kroate  übersetze.  Kranz  (Wandalia)  erzählt,  auf  Glauben 
des  unterschobenen  Berosus,  dass  Noas  ältester  Sohn  Tuisco,  von 
dem  die  Teutschen  abstammen  sollen,  einen  Sohn  Vandalus  gezeugt 
habe,  und  dessen  Nachkommenschaft  im  Norden  den  Namen  der 
Wandalen,  und  im  Süden  später  den  Namen  der  Slaven  angenommen 
habe.  Diese  Erdichtung  schmückte  sein  Zeitverwandter,  der  mecklen- 
burgische Kanzler  Nikolaus  Marschalck,  1507  mit  mehreren  Fabeln 
aus  (de  Westphalen  Mon.  inedit.  renim  Cimbricariim  T.  I,  p.  198  und 
T.  II,  p.  1507)  *)  —  Simonius,  ein  jüngerer  Mecklenburger,  veränderte 
sie  ein  wenig,  und  behauptete,  dass  die  mecklenburgischen  Wenden 
erst  i.  3.  500  aus  den  Slaven  und  Wandalen  entstanden  wären  (Van- 
dalia  in:  de  Westphalen  Mon.  T.  1,  p.  1542).  Allein  Bernhard  Latomus 
(Genealochronicon  Megapolitanum  in :  de  Westphalen  Mon.  T.  IV,  p.  9, 1 1  fj), 
welcher  1610  schrieb,  übertraf  alle  seine  Vorgänger  an  Dreistigkeit 
und  dichtete  eine  andere  Geschichte,  die  man  lange  nachher  als  wahr 
ihm  nacherzählte,  obgleich  schon  Micrälius,  der  sein  Zeitgenosse  war, 
(de  Westphalen  III,  p.  1911)  erwies,  dass  selbige  eine  Fabel  sei  und 

*)  Es  ist  auffallend,  daß  die  Traditionen  der  Genesis  der  Slaven  fortgesetzt 
knapp  bis  an  den  Beginn  der  Menschheitgeschichte  —  natürlich  im  Biblischen 
Sinne  genommen  —  führen.  Es  mögen  diese  immerhin  durch  ununterbrochene 
Überlieferungen  in  der  Hauptsache  begründet  sein,  aber  Beweiskräftiges  kann  da 
nur  die  allgemeine  Sprechforschung  bringen,  denn  unsere  Sprache  ist 
auch  unsere  Urgeschichte.  —  Die  volksgeschichtlichen  Ursprungssagen 
hingegen  gehören  schon  einem  reiferen  Völkeralter  an,  also  einer  Zeit,  wo  man 
sich  bereits  von  der  eigenen  verdunkelten  Vergangenheit  Rechenschaft  legen 
wollte,  hiebei  aber  im  Gegenteile,  mangels  der  Fähigkeit  die  Wahrheit  wissen- 
schaftlich zu  erlassen,  den  Wahrheitskern  durch  die  phantastischesten  Speku- 
lationen unbewußt  trübte. 


96 

Helden  und  Tatsachen  anführe,  die  sich  nicht  in  Mecklenburg,  son- 
dern in  Asien  und  lllyrien  gezeigt  und  ereignet  hätten.  Die  Geschichte 
des  Latomus  lautet  also :  Zur  Zeit  der  Zerstörung  Trojas  wanderten 
die  Wandalen  nach  Paphlagonien,  nannten  sich  darauf  Henetos,  und 
sandten  nicht  nur  eine  Kolonie  unter  Antenor  nach  Venedig,  sondern 
auch  einige  andere  Volkshaufen  nach  Griechenland.  Die  griechischen 
Wandalen  entwichen  vor  Xerxes  Waffen  nach  Thrazien,  setzten  sich 
bei  Abdera,  und  wurden  daher  Abderilen  (Obotriten)  genannt.  Anthy- 
rius,  einer  ihrer  späteren  Könige,  war  ein  genauer  Freund  des  maze- 
donischen Königs  Alexander  d.  Gr.  und  des  schwedischen  Kronprin- 
zen Barvan,  den  er  an  Alexanders  Hofe  kennen  lernte.  Da  ihn  nach 
Alexanders  Tode  Cassander  von  Abdera  vertrieb,  so  schiffte  er  mit 
allen  abderischen  Wandalen  unter  einer  Flagge,  auf  welcher  der 
Kopf  Alexanders  Bucephalus  gemalt  war,  und  die  nachher  in  Mek- 
klenburg  zum  Wappen  gebraucht  wurde,  erst  nach  Wallis,  dann  nach 
Mona,  und  endlich  zum  Barvan  nach  Schweden,  nachdem  er  der 
Provinz  Wallis  den  Namen  Venedotia  beigelegt  hatte.  Andere  Wan- 
dalen, die  Cassander  gleichfalls  verscheuchte,  kamen  zu  Lande  nach 
Sarmatien  und  Thule,  und  stiessen  zu  Anthyrius.  Inzwischen  hatte 
Barvan  dem  Anthyrius  seine  Schwester  zur  Gemahlin  und  einige 
wüste  Inseln  zur  Bewohnung  gegeben.  Allein  Anthyrius  konnte  sich 
mit  diesen  nicht  begnügen,  sondern  nahm  Mecklenburg  in  Besitz, 
baute  Städte  nach  griechischer  Weise,  gab  selbigen  griechische  Na- 
men, z.  B.  Megalopolis  (Mecklenburg)  und  Bucephalca  (Bukow),  und 
eroberte  und  stiftete  für  seine  Söhne  13  Königreiche  und  24  Fürsten- 
tümer, Endlich  erbte  er  auch  Schweden,  Finland  und  Sarmatien,  und 
sandte  seinen  Stammvettern,  den  Venetianern,  die  Cimbern  gegen 
Marius  zu  Hilfe.  Seine  Nachfolger  Hessen  die  Heruler,  Wandalen  und 
Burgundionen  nach  Italien  ziehen,  und  da  dadurch  ihr  Land  entvöl- 
kert wurde,  kamen  sarmatische  Wenden  nach  Mecklenburg  und  ver- 
anlassten die  Entstehung  der  Slaven  oder  einer  neuen  deutschsar- 
matischen  Völkerschaft.  —  So  weit  Latomus ! 

Marschalck,  der  den  Anthyrius  zuerst  auf  den  Schauplatz  ge- 
bracht hat,  gab  selbigem  einen  Heruler  zum  Vater,  eine  Amazonin 
zur  Mutter,  und  die  Gegend  zwischen  dem  Don  und  dem  Krim  zum 
Vaterlande.  Auch  behauptete  er,  dass  dieser  Abenteuerer  gleich  in 
die  Eibe  geschifft  sei,  die  Wenden,  Windilos  oder  Wandalen  vertrie- 
ben und  darauf  den  wendisch-teutschen  Staat  Mecklenburg  errichtet 
habe.  Übrigens  hielt  schon  Helmoldus  im  XII.  Jahrhunderte  die  Wen- 
den für  Wandalen,  nicht  nur,  wie  es  scheint,  weil  zwischen  den  zwei 
Wörtern  Wandalus  und  Winulus  eine  Ähnlichkeit  ist,  sondern  auch 
weil  die  Wenden  in  neuerer  Zeit  da  herrschten,  wo  in  älteren  Zeiten 


97 

die  Wandalen  wohnten.  Kranz  glaubte,  dass  das  Teutsche,  was  in 
Polen  und  Böhmen  seinerzeit  stark  geredet  wurde,  aber  erst  in  neu- 
erer Zeit  durch  teutsche  Herren  und  Geistliche  hineingebracht  worden 
war,  unwidersprechlich  beweise,  dass  die  wendische  Nation  teutscher 
Abkunft  sei.  Allein  schon  Cromerus,  der  seine  Nation  für  keine  Wan- 
dalen gehalten  wissen  wollte,  hat  ihn  und  andere,  die  ihm  beistimm- 
ten, sehr  umständlich  widerlegt  (de  Orig.  Polonor.  L.  I.  C.  5.  et  6.). 
Dubravius,  der  1553  starb,  lehrte,  die  Slaven  wären  erst  nach  Be- 
setzung des  von  den  Vandalen  verlassenen  nördlichen  Teutschlands 
mächtig  geworden,  und  hätten  darauf  nicht  nur  den  Namen  der  Wen- 
den oder  Wandalen  angenommen,  sondern  auch  unter  diesem  sich 
in  Spanien  und  Afrika  als  Sieger  gezeigt.  (Hist.  Bojemica  p.  I.  seq.) 
Allein  diese  Wandalen  redeten  und  handelten  überall  als  Teutsche, 
und  waren  demnach  keine  Wenden  oder  Slaven,  sondern  wirkliche 
Teutsche.  (Herr  P.  Dobner  ad  Hagccium  P.  I.  p.  123.)  Schurzfleisch 
(de  rebus  Slavicis  p.  466)  äusserte,  jedoch  nur  als  Mutmassung,  dass 
die  Vandalen  aus  Asien  bis  an  die  Ostsee  vorgedrungen,  darauf  aber 
durch  die  Waffen  der  Wenden,  sowie  diese  von  den  Sarmaten  über- 
wältigt worden  seien.  Diese  drei  Nationen  hätten  später  die  bekannten 
grossen  Unternehmungen  in  Spanien  und  Afrika  ausgeführt,  nach 
ihrem  Unglücke  aber,  welches  des  Belisarius  Siege  veranlassten,  den 
wandalischen  Namen  abgelegt  und  sich  dafür  die  „Berühmten"  (Slaven) 
genannt.  Den  Latomus  würdigte  in  neueren  Zeiten  Popowitsch*)  eines 
so  grossen  Zutrauens,  dass  er  (Vermischte  Untersuchungen  S.  49) 
bloss  auf  sein  Wort,  die  alten  unleugbar  teutschen  Heruler  und  Rugier 
für  die  neueren  slavischen  Werler  und  Rügen  ausgab,  wobei  er  als 
einen  Beweis  seiner  Meinung  die  Bemerkung  anführte,  dass  die 
österreichischen  Wenden  viele  plattdeutsche  Wörter  unter  ihre  sla- 
vischen Reden  mischten,  und  dass  der  Name  „Werli"  im  Slavischen: 
wackere  Leute  andeute,  welche  Benennung  dem  Name  Slav  angemes- 
sen sei.**)  (Chummann,  Untersuchungen  über  die  alte  Geschichte  einiger 
nordischen  Völker,  S.  151.) 

*)  Johann  Popovic,  geb.  1705  in  Arclin  (Untersteiermark),  gest.  1774  in  Perch- 
toldsdorf  bei  Wien,  galt  als  der  bedeutendste  Slavist  seines  Zeitalters.  Er  übte 
auch   einen   bedeutenden   Einfluß   auf   die   Purgierung   der   deutschen   Sprache. 

**)  Die  Slovenen  und  Kroaten  gebrauchen  noch  heute  den  Begriff  »vrl«  in 
der  Bedeutung:  bieder,  wacker,  vortrefflich,  schöngewachsen; 
mit  der  Etymologie  »Slave«  steht  das  Wort  in  keiner  sprachlichen  Relation,  —  Es 
fällt  auch  auf,  daß  »Teutsche«  hier  immer  als  Slaven  gezählt  werden.  Die  Hypo- 
thesen, woher  eigentlich  die  heutigen  Deutschen  kamen,  führen,  da  es  doch 
erwiesen  ist,  daß  die  dermaligen  Sitze  derselben  durchwegs  einst  von  Slaven  be- 
wohnt waren,  meist  zum  hohen  Norden,  trotzdem  auch  dort  keine  Belege  hiefür 
vorliegen.    Diese    Lösungsversuche    scheinen    jedoch    nach    allem    unzutreffend    zu 

7 


98 

Sollten  die  Wenden  des  Tacilus  wirklich  eine  Abart  der  Teut- 
schen  gewesen  sein,  so  könnte  nictits  mit  grösserer  Watirschieinlich- 
keit  über  die  Entstehung  der  slavischen  Wenden  geäussert  werden, 
als  dasjenige,  was  Herr  Hofrat  Gatterer  in  seiner  Einleitung  in  die 
synchronistische  Universalhistorie  S.  825  davon  sagt,  dass  nämlich 
die  Slaven  von  der  Donau  ab  in  das  Land  der  Wandalen  gekommen 
sind,  und  darauf  den  wendischen  Namen  angenommen  haben.  Die 
vom  Herrn  Hofrat  für  diese  Mutmassung  beigebrachten  Gründe  sind 
folgende:  1.  diejenigen  Schriftsteller,  welche  der  Venedorum  qedeukeu, 
(bloss  Ptolemäus,  denn  Tacilus  führt  die  Vandalios  als  eine  schon 
erloschene  Hauptnation  im  Anfange  seiner  Germania  an,)  kennen  keine 
Wandalen,  und  wiederum  die,  die  von  den  Wandalen  etwas  aufzeich- 
nen, gedenken  keiner  Wenden.  [Plinii  Hist.  Nat.  L.  IV.  Allein  in  die- 
sem Buche  setzt  Plinius  C.  13  Venetos  neben  den  Scirren,  Hirren  und 
Sarmaten  an  die  Ostsee,  und  nennt  Cap.  14  die  Vindilos  einen  Haupt- 
stamm, zu  dem  die  Burgundionen  und  Guttonen  gehörten,  die  weit 
von  jenen  Veneten  ansässig  waren.) ;  2.  gerade  so  weit  als  nach 
Plinius'  Berichte  der  Wandalische  Name  sich  erstreckte,  zeigen  sich 
nach  der  Völkerwanderung  die  Wenden.  Allein  die  Guttonen,  welche 
Plinius  als  Wandalen  bezeichnet,  waren  ehedem  Besitzer  von  Schles- 
wig, Holstein,  Mecklenburg  und  Pommern,  und  die  Burgundionen 
fand  Tacilus  in  Obersachsen  und  Franken,  zu  einer  Zeit,  da  die  Ve- 
neden an  die  Fennen  in  Kurland  grenzten,  und  durch  die  Scirren  von 
der  Weichsel  abgesondert  wurden;  3.  Helmold  [Chron.  Slavorum  L.  I. 
c.  2)  gebraucht  den  Ausdruck:  eorum  qid  antiqiulus  Wandali,  nunc 
autem  Winuli  appcllaiur.*)  Nestor,  ein  noch  älterer  slavischer  Schrift- 
steller, weiss  nichts  von  den  Wenden,  versichert  aber,  dass  die  wen- 
dischen kleineren  Stämme  neue  Namen  nach  den  Ländern,  die  sie 
bevölkerten,   angenommen  hätten ;   allein  beide  Schriftsteller   sind  zu 

sein,  sondern  die  deutsche  Sprache  bildete  sich  eher  selbst,  analog  wie  etwa  das 
Schwäbische,  Ladinische,  Friaulische  unter  besonderen  Bedingungen  zu  einer 
prononzierten  Eigensprache  aus  der  altslavischen  heraus,  braucht  sonach  durch- 
aus nicht  durch  fremden  Zuzug  erklärt  zu  werden.  Wer  z.  B.  die  althochdeutsche 
Konjugation  mit  der  altslavischen  vergleicht,  findet  noch  nahezu  keinen  Unter- 
schied; dasselbe  gilt  für  die  konkreten  Begriffe,  wie:  maak  (Mohn),  katele  (kotel, 
Kessel)  u.  ä.  —  Es  handelt  sich  hier  daher  augenscheinlich  um  eine  Sprach- 
sezession in  den  heutigen  Sitzen,  u.  z.  etwa  in  der  Zeit  des  I.  Jahrtausendes 
n.  Chr.,  daher  es  vor  dem  Jahre  1000  n.  Chr.  auch  keine  spezivisch  deutschen 
Ortsnamen,  kein  schriftliches  Denkmal  oder  einen  sonstigen  Beleg  gibt.  —  Die 
Ursprungsforschung  nach  allem,  was  heute  als  »teutsch«  gilt,  dürfte  daher  nur 
auf    altslavischer    Sprachbasis    zu    einem  überzeugenden    Resultate    führen. 

*)  D.   h.   die    vorzeiten    »Wandali«,   jetzt  aber    »Winuli«    genannt    werden. 


99 

neu,  um  von  Gewichte  zu  sein ;  auch  merkt  man  bei  Heimoldus  Be- 
lesenheit in  der  römischen  älteren  Geschichte,  die  er  anzubringen 
sucht  und  hier  unschicklich  wirklich  anbrachte.  Im  Gegenteil  versichern 
Oornandes  und  Procopius,  welche  Wenden  und  Wandalen  sahen  und 
genau  kannten,  dass  die  Wenden  den  älteren  slavischen  Hauptstamm 
ausgemacht  haben,  und  dass  die  ersten  Slaven  nur  ein  abgeleiteter 
Zweig  der  Wenden  gewesen  sind ;  endlich  k.  die  heutigen  Finländer 
belegen  die  Russen  mit  dem  Namen  Wenälainen,  und  nennen  Russ- 
land Wenn  hcnmaa,  folglich  war  der  älteste  Name  dieses  Reiches 
„Wena"  oder  „Wenden".  Aber  wenn  dieser  Name  alt  und  folglich 
von  des  Tacitus'  Wenden  zurückgelassen  ist,  so  zeigt  diese  Bemer- 
kung vielmehr,  dass  die  Wenden  ehedem  in  solchen  Gegenden  an- 
sässig waren,  in  welche  niemals  Wandalen  gekommen  sind.  — 

Dieses  mag  hinreichen,  um  zu  zeigen,  dass  vom  Ursprünge  der 
Wenden  genug  gesagt  sei  und  nichts  Zuverlässigeres  gemeldet  wer- 
den könne.  — 

Lüneburg  im  Mai  1789.  L"  A.  Gebhardi. 


IL  Urkundliches  über  die  Südgrenzen 
All-Böhmens.*) 

Erläutert   von   3UC.  B.  Snejd. 

Insoweit  historische  Berichte  über  Ober-  und  Nieder-Österreich 
erhalten  sind,  ist  es  uns  möglich,  durch  alte  Urkunden  zu  beweisen 
und  zu  belegen,  dass  hierselbst  tatsächlich  Böhmen  nicht  nur  wohn- 
ten, sondern  sogar  dass  die  von  ihnen  besiedelten  Gegenden,  die  an 
der  Grenze  Böhmens  und  Mährens  jenseits  der  Donau  liegen,  gröss- 
tenteils durch  lange  Jahrhunderte  auch  zu  Böhmen  gehörten.  Das 
wird  durch  Urkunden  und  alte  Annalen  ganz  klar  erwiesen,  obwohl 
die  Deutschen,  insbesondere  in  letzter  Zeit,  mit  Eifer  daran  arbeiten, 
dass  jede  Spur  von  Böhmen  und  Slaven  überhaupt  aus  denselben 
verschwinde.   Da  wurden  entweder   mit  Absicht  beim  Kopieren   alter 

*)  Dieser  auf  historische  Belege  aufgebaute  Artikel  wurde  hier,  obschon 
er  teilweise  bereits  in  einem  Tagblatte  erschien,  deshalb  aufgenommen,  weil  er 
mehr  als  eine  ephemere  Beachtung  verdient,  und  würde  sich  sehr  empfehlen, 
auch  andere  historisch  und  sprachlich  strittige  Gebiete  in  analoger  Weise  ur- 
kundlich wie  auch  toponomisch-sprachlich  zu  durchforschen.  —  Damit  manche 
Daten  noch  verständlicher  werden,  umsomehr  als  viele  Leser  des  Lateinischen 
unkundig  sind,  wurden  von  der  Redaktion   einige  Anmerkungen  zugefügt. 


100 

Urkunden  und  bei  deren  Herausgabe  die  auf  Böhmen  bezughabenden 
Bemerkungen  ausgelassen,  oder  die  slavischen  Namen  bald  eliminiert 
und  für  selbe  andere  eingefügt,  oder  aber  wurden  dieselben  aus  Un- 
verständnis bis  zur  Unkenntlichkeit  verunstaltet. 

Oedoch  selbst  das,  was  von  diesen  Urkunden  erhalten  blieb, 
genügt  vollkommen,  um  zu  beweisen,  dass  Böhmen  die  ursprüng- 
lichen Bewohner  dieser  Gegenden  waren.  Eine  der  ältesten  Auf- 
zeichnungen über  die  in  Österreich  siedelnden  Böhmen  enthält  die 
Gründungsurkunde  des  Klosters  Chremisy  (jetzt  Kremsmünster)  aus 
dem  Jahre  777,  in  welcher  der  Bayernherzog  Tassilo  jene  Gegenden 
widmet,  in  denen  Slaven  angesiedelt  wohnen  (zwischen  den  beiden 
Ybbsflüssen  am  Flusse  Todich  und  Sirnich-Saerbling).  Ausserdem  er- 
fahren wir  aus  dieser  Urkunde,  dass  diese  Slaven  unabhängig  waren, 
ihren  eigenen  Zupan  (illejopan)  hatten,  der  unter  dem  Namen  „Physo" 
angeführt  wird,  und  dass  diese  Slaven  die  ersten  waren,  welche 
diese  Gegenden  urbar  und  fruchtbar  gemacht  haben  (ciiltam  fecerant). 
Weiters  wird  hier  der  slavische  Fürst  dieser  Gegend,  namens  Gr un- 
ziuwit,  erwähnt,  u.  zw.  mit  folgenden  Worten:  „  .  .  .  Ego  Tassilo 
vir  iluster  Dax  Bavariorum  anno  ducaiui  mei  tricentesimo  .  .  .  tradimus 
autem  et  decaniam  Sdavonim  cum  opere  fiscali  vel  tributo  justo,  quod 
nobis  antea  persolui  consiieuerant.  Hos  omnes  praedicfos  Sclavos,  quos 
sab  illos  actores  sunt,  qui  vocatur  „taliup"  et  „sparuna",  quos  infra 
terminum  manet,  que  coniuravit  illejopan  (Supan),  qui  vocatur  physo  ..." 
„.  .  .  et  XXX.  slavos  ad  Todicha  cum  iure  fiscali  vel  tributo  Justo.  Tra- 
dimus autem  et  terram,  quam  Uli  Sclavui  cultam  fecerant  ad  Todicha 
et  Sirnicha  .  .  .  et  ad  Grunziuwiten  Sclavum  tributo  justo  ..."  d.  h. : 
„Ich  Tassilo,  der  berühmte  Mann,  Fürst  der  Bayern,  im  30.  Jahre 
der  Herzogswürde  .  .  .  übergeben  hingegen  die  slavische  Dekanei 
mit  der  Lehensarbeit  und  den  bestimmten  Abgaben,  welche  an  uns 
ehedem  zu  leisten  waren.  Alle  diese  vorerwähnten  Slaven,  die  unter 
jenen  Wirtschaft  betreiben,  des  Namens  „Taliup"  und  „Speruna",  die 
tiefer  an  der  Grenze  verbleibt,  was  jener  Älteste,  genannt  Physo,  be- 
schworen hat  .  .  .  und  30  Slaven  zu  Todicha  mit  der  Lehensarbeit 
und  festgesetzten  Abgabe.  Wir  übergeben  dagegen  auch  das  Gebiet, 
das  jene  Slaven  urbar  gemacht  haben  zu  Todicha  und  Sirnicha  .  .  . 
und  jenes  beim  Slaven  Grunzvit  mit  der  festgesetzten  Abgabe."  — 
(Codex  trad.  eccl.  Patav.  II.  Monumenta  Boica  XXVIII.  Pag.  196.) 

Wichtig  für  uns  ist  auch  die  Bestätigung  dieser  Dotation  durch 
Kaiser  Karl  den  Grossen,  in  welcher  besagt  wird,  dass  die  erwähn- 
ten Slaven  fortziehen  können,  wohin  sie  wollen,  falls  sie  nicht  Unter- 
tanen  des  genannten  Klosters   sein  möchten,  was  soviel   heisst,  als 


101 

dass  diese  Slaven  „Freie"  waren  und  keineswegs  „Unfreie",  wie 
nun  deutsche  Forscher  gerne  behaupten,  nachdem  sie  es  nicht  be- 
streiten können,  dass  wir  Slaven  in  Österreich  die  ursprünglichen 
Einwohner  waren,  indem  sie  wohl  anerkennen,  dass  zwar  Slaven 
hier  vorhanden  waren,  aber  eben  als  „Unfreie",  während  die  Deut- 
schen die  „Herren"  waren.  Die  Deutschen  lieben  es  sich  hiebet  auf 
die  lateinische  Bezeichnung  des  Slaven  (Slavus  sclavus  Sklave)  zu 
berufen.*)  Diese  vollständig  unrichtige  Ansicht  können  wir  jedoch 
durch  die  unmittelbar  nachfolgende  Urkunde  widerlegen.  Es  ist  dies 
die  Zollordnung  Kaiser  Ludwigs  aus  dem  Jahre  906,  die  wiederum 
von  Slaven  spricht,  welche  in  jenem  Teile  Österreichs  ansässig  sind, 
der  damals  bis  zur  Enns  zu  Bayern  gehörte,  und  ausserdem  von 
Slaven,  die  jenseits  der  Donau  in  Böhmen  und  anderswo  wohnen. 
Diese  Urkunde  besagt  nun  ganz  bestimmt,  dass  die  Slaven  vollkom- 
men gleichwertig  mit  den  übrigen  Bewohnern  Bayerns  waren, 
denn  in  gleicher  Weise  wie  die  bayrischen  Kaufleute,  durften  auch 
sie  zu  keinem  Zolle  gezwungen  werden,  und  durften,  wie  alle  übrigen, 
wo  immer  Handel  treiben ;  das  galt  von  den  Slaven,  die  in  den  bay- 
rischen Ländern  ansässig  waren  {„isfius  patriae",  d.  i.  desselben 
Vaterlandes  waren),  zum  Unterschiede  von  den  ausländischen  slavi- 
schen  Händlern,  die  aus  Böhmen,  Mähren  und  anderswoher  kamen, 
für  welche  Zölle  vorgeschrieben  waren,  wenn  sie  in  Orte  längs  der 
Donau  handeltreibend  kamen.**) 


*)  Die  Form  »sclavus«  hat  sich  erst  im  mittelalterlichen  Kanzleilatein  ge- 
bildet. —  Gegen  diesen  schriftlichen  Unfug  trat  schon  Aug.  Schlözer,  der  Be- 
gründer der  neueren  deutschen  Geschichtschreibung,  in  seinem  Werke  »Allge- 
meine Nordische  Geschichte«  (Halle  1771,  S.  221)  auf,  der  da  wörtlich  sagt:  »Mit 
Erlaubnis  meiner  Leser  schreibe  ich  »Slavisch«  und  »Slavonisch«,  nicht  »Scla- 
vonisch«,  denn  die  letztere  Schreibart  ist  erweislich  unge- 
reimt. Der  erste,  der  so  schrieb,  war  ein  Hochdeutscher,  der  kein  gelindes  s  vor 
einem  Konsonanten  aussprechen  kann,  und  daher  für  Stein  —  S  c  h  t  e  i  n  liest 
(aber  nicht  schreibt),  und  für  slagen  —  schlagen  sagt  (und  auch  schreibt). 
Das  c  in  Sclavonisch  sollte  ursprünglich  nur  das  grobe  deutsche  seh  andeu- 
ten, und  daher  »Schlavonisch«  gelesen  werden,  gerade  wie  die  Rechtschreibung 
»Schlesien«  für  »Slesien«  üblich  geworden;  aber  in  der  Folge  sah  man  dieses  c  für 
ein  k  an.  —  Man  vergass,  dass  ehedem  die  Deutschen  sc  für  seh  geschrieben  haben; 
man  fand  dabei,  dass  auch  die  Griechen  »Sklaboi«,  nicht  »Slaboi«  schreiben,  denn 
auch  diese  haben  kein  Wort  in  ihrer  Sprache,  das  mit  »sl«  anfing,  aber  wohl 
»skleros«  u.  ä.  —  Man  träumte,  dass  »Slav«  (populus  =  Volk)  und  »Sklav«  (man- 
cipium  =  Knecht)  verwandte  Wörter  wären,  so  wie  einst  ein  Klosterbruder  bei 
den  grimmigen  Tataren  an  die  Hölle  —  den  Tartarus  —  dachte  und  seit 
der  Zeit  »Tartaren«  schrieb.« 

**)  Wurde  schon  S.  44  näher  besprochen.  —  Diese  Urkunde  ist  auch  in  an- 
derer Hinsicht  für  die  Beurteilung  der  damaligen  Grenzen  zwischen  Böhmen  und 
Österreich  wichtig. 


102 

Ausdrücklich  von  Slaven  und  Böhmen  spricht  auch  der  Codex 
des -Passauer  Bischofs  Pilgrim  (983—991),  in  welchem  die  Grenzen 
des  Passauer  Bislums  bezeichne!  sind ;  (;janach  ging  die  Grenze  ent- 
lang des  jetzigen  Fliisschens  Perschling  (damals  Persinicha),  welches 
sich  unweit  Tulln  in  die  Donau  ergiesst,  und  an  diesem  Flüsschen 
und  in  der  Tullner  Niederung  werden  Böhmen  erwähnt,  die  diese 
Gegend  bebauen  und  beackern,  u.  zw.  geschieht  dies  mit  folgenden 
Worten :  „ .  .  .  deinde  Traisimani  civitatem  sancti  Hypoliü  martyris  .  .  . 
postea  Persinicha  sicut  Wilhelmus  in  proprium  possidebat,  qiiod  tempore 
praesenti  böcmani  insidendo  arabant  .  .  .  !*)  (Monumenta  Boica  XXVIII. 
Pag.  87.) 

Wir  haben  also  in  allen  Tälern  an  der  Donau  in  Österreich 
offensichtliche  Spuren  und  historische  Aufzeichnungen  über  Slaven. 
Sehr  interessant  ist  auch  der  Schenkungsbrief  Kaiser  Ottos  11.  aus 
dem  3ahre  979,  welcher  die  Beschreibung  der  dem  Regensburger 
Bischof  Wolfgang  geschenkten  Ländereien  zwischen  den  Flüssen 
Erlaff  und  Ibiss  (Ybbs)  enthält,  mit  der  Bestimmung,  an  dem  Orte, 
der  „Zvisila"  (jetzt  Wieselburg)  genannt  wird,  eine  Befestigung  gegen 
die  Magyaren  zu  erbauen.  Diese  Urkunde  sollten  auch  insbesondere 
jene  Deutschen  beachten,  welche  böhmische  Ortsbezeich- 
nungen in  Österreich  nicht  zul  assen  wollen;  mögen 
sie  sich  dessen  be  wus  st  wer  d  en,  dass  unsere  Orts- 
bezeichnungen die  ursprünglichen  sind  und  die  ihrigen 
eben  verstümmelte  slavische,  und  ferner  mögen  sie 
daran  denken,  dass  noch  zu  Ende  des  X.  Jahrhunder- 
tes  hier  überhaupt  keine  deutschen  Ortsbezeichnun- 
gen existierten,  dass  die  Deutschen  selbst,  wenn  sie  eine  Gegend 
hier  bezeichnen  wollten,  sich  des  sla vischen  Namens  bedienten, 
wie  dies  z.  B.  Kaiser  Otto  11.  tut: 

„ .  .  .  ubi  praenominati  ßuvioli  confluiint  iisqiie  ad  Ibisam,  ubi  ipsum 
flumen  huic  confluvio  Erlafarum  proximum  est  et  sursuni  per  litus  Ibisae 
usque  in  rivum  qui  vocatiir  „Zucha"  (Suchä).  Et  per  hunc  usque  in 
montem,  qui  dicitur  slavonice  „Ruznice"  .  .  .",  d.  h. :  „  ...  wo  die 
erwähnten  Flüsschen  zusammenfliessen  bis  zum  Flusse  Ibis,  wo  ihr 
Lauf  am  nächsten  der  Erlaf  ist  und  oben  entlang  der  Ibis  bis  zu  dem 
Bache,  den  man  „Suchä"  nennt,  und  diesen  entlang  bis  zu  dem  Berge, 
der  den  slavischen  Namen  „Ruznice"  trägt." 

*)  ,  .  .  dann  (passiert  die  Grenze)  das  Traisen-Gebiet  bei  St.  Polten  ,  .  . 
dann  Perschling,  wie  es  Wilhelm  zu  eigen  besass,  das  aber  in  der  gegenwärtigen 
Zeit  die  Böhmen  innehaben  und  bebauen. 


103 

Waren  demnach  die  Täler  südlich  der  Donau  von  Böhmen  be- 
wohnt, wie  dies  die  oberwähnlen  historischen  Belege  erweisen,  so 
ist  umsomehr  anzunehmen,  dass  auch  die  Gegend  an  der  jetzigen 
böhmischen  Grenze  von  ihnen  besiedelt  war,  denn  nur  durch  dieses 
Gebiet  konnten  erst  die  Böhmen  in  die  Täler  südlich  der  Donau  ge- 
langen. Die  Gegend  nördlich  der  Donau  bis  zur  gegenwärtigen  böh- 
mischen Grenze  war  damals  mit  undurchdringlichem  Urwald  bedeckt, 
„Silva  nortica"  genannt,  und  deshalb  war  dieses  ganze  Gebiet  nur 
sehr  dünn  besiedelt.  Jedoch  selbst  diese  spärlichen  ursprünglichen 
Ansiedelungen  haben  uns  sichtbare  Spuren  ihres  slavischen  Ursprun- 
ges hinterlassen,  und  entlang  der  böhmischen  Grenze  hat  sich  sogar 
bis  heute  die  alteingesessene  böhmische  Bevölkerung  erhalten. 

Die  oberwähnte  Gegend  war  jedoch  nicht  allein  von  Böhmen 
besiedelt,  sie  hat  auch  als  ein  Teil  des  Böhmerwaldes  zu  Böhmen 
gehört,  bis  die  Deutschen  kamen,  unsere  entlegenen  Ortschaften  be- 
drängten, sie  germanisierten,  und  als  die  Böhmen  ihre  Ansiedlungen 
weiterhin  nicht  mehr  freiwillig  verlassen  wollten,  zogen  Soldaten 
gegen  sie  aus,  besiegten  sie  und  bemächtigten  sich  des  eroberten 
Gebietes.  Danach  besetzten  die  Deutschen  das  Land  dichter  mit  Kolo- 
nisten. 

Einen  grossen  Teil  des  gegenwärtigen  Österreich  nahm  das 
böhmische  Gebiet  „Vitoraz"  ein,  denn  dieses  reichte  ursprünglich  bis 
über  den  Fluss  Kouba  (Kamp) ;  dieses  gehörte  bis  zum  Ende  des 
Xlll.  Gahrhundertes  zu  Böhmen.  Dass  die  Person  des  Begründers  die- 
ses Gebietes  eine  historische  ist  und  dass  derselbe  ein  böhmischer 
Fürst  war,  das  bezeugen  die  Annalen  von  Fulda,  in  denen  um  das 
Jahr  857  von  Vitoraz  und  seinen  Söhnen  gesprochen  wird : 

„  .  .  .  Olgarius  episcopus  et  Hrnoldus  comes  palatii  et  Ernestus 
Jilius  Ernesti  ducis  cum  hominibus  suis  in  Boemanos  missi,  civitatem 
Wiztrachi,  ducis  ab  annis  multis  re  bei  lern  occupaverunt  expulso  ab  ea 
Slavitago,  filio  Wiiztrachi,  qui  iyrannidem  tunc  in  ea  exercebat.  Quo 
perjuga  lapso  et  ad  Rastizen  se  conferente.  frater  eins  qui  ab  eo  patria 
pulsus  apud  Zistiboron  Sorabum  exulabat,  ad  regem  Jideliter  veniens, 
loco  fratris  dux  constituitur  .  .  .",  d.  h. :  „ . .  .Otokar  der  Bischof,  Arnold 
der  Reichsgraf  und  Ernst,  Sohn  des  Herzogs  Ernst,  die  mit  ihren 
Kriegern  gegen  die  Böhmen  entsandt  wurden,  haben  die  Ansiedlung 
Vitorads,  eines  seit  vielen  Jahren  rebellierenden  Herzogs,  eingenom- 
men und  den  Slavitah,  Sohn  des  Vitorad,  der  in  dieser  Gegend  als 
unabhängiger  Fürst  herrschte,  verjagt.  Als  dieser  sich  durch  die 
Flucht  gerettet  und  bei  Rostislav  verborgen,  weilte  sein  aus  der  Hei- 
mat vertriebener  Bruder  bei  dem  Serbenfürsten  Cestibor  in  der  Ver- 


104 

bannung  und   nahm  sodann   im  Vertrauen   zum  Könige   bei    diesem 
Zuflucht,   der  ihn  neuerlich  mit  seiner  früheren  Herrschaft  belehnte." 

Daraus  ist  auch  ersichtlich,  dass  das  Witorader  Gebiet  ein  g  r  o  s- 
ses  Fürstentum  war  und  keineswegs  nur  das  Gebiet  der  gegenwär- 
tigen Stadt,  da  doch  sonst  der  Kaiser  kaum  ein  grosses  Heer  zu 
deren  Eroberung  ausgesandt  hätte. 

Über  die  Böhmen  im  Vitorazer  Gebiete  erfahren  wir  noch  mehr 
aus  den  „Annales  Claravallenses" ,  welche  mit  dem  Jahre  1083  be- 
ginnen. Diese  erzählen,  wohl  auf  Grundlage  anderer  Quellen,  dass 
die  Böhmen  diese  ganze  Gegend  nach  den  Bojern  bis  zur  Donau 
besetzten  und  sich  deren  Sitze  hauptsächlich  im  Tale  der  Stadt  Rohy 
(Hörn)  und  Bejdov  {Boid/iofiiim,  Baiclhofiiim,  daraus  das  jetzige  Waid- 
hofen),  ausbreiteten.  Eine  der  ältesten  Ansiedlungen  ist  S  v  e  1 1  ä  (Zwettl), 
von  welcher  die  alten  Chroniken  besagen,  dass  sie  bereits  ein  Mittel- 
punkt der  Bojer  gewesen  sei.  Dass  sich  die  Böhmen  nach  ihnen  auch 
hier  niederliessen,  das  beweist  uns  schon  der  Name,  und  wer  es 
nicht  glauben  will,  möge  nur  die  erwähnten  Annalen  zur  Hand  neh- 
men, er  wird  dann  sicherlich  die  Lust  verlieren,  auf  etymologischem 
Wege  beweisen  zu  wollen,  dass  „Zwettl"  nicht  slavischen  Ursprungs 
sei,  wie  dies  die  deutschen  Forscher  getan  haben,  wobei  sie  lieber 
ihre  eigene  Unkenntnis  zugestanden  haben,  da  sie  hiemit  bewiesen, 
nicht  einmal  so  wichtige  Quellen  der  eigenen  Geschichte  ihrer 
Heimat  zu  kennen,  als  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben. 

Im  Jahre  1084  erzählen  die  Zwettelschen  Annalen :  „Nizo  igitiir 
praediuni  sibi  aedijicavit  mit  destmctum  reaedificavit  nomine  „Zweielam" , 
qiiod  ab  origine  bohemicum  est .  .  ."  (Deutsch:  Nizo  baute  sich  eine 
Burg  oder  liess  die  verfallene  wieder  aufrichten,  namens  Zwettl,  wel- 
ches seinem  Ursprünge  nach  böhmisch  ist.)  Ausserdem  sagt  uns  eine 
alte  Mappe,  welche  die  Gründung  des  Zwetteler  Klosters  darstellt, 
dasselbe  nur  noch  deutlicher  in  ihrer  Inschrift,  welche  lautet:  „Mo- 
nasteriiim  Zwetelense  nonien  suiim  accepit a  vocabulo  bofiemico:  Swietlo, 
quod  lumen  significat,  unde  Claravallis  Austriae  vocatur".  (Zu  deutsch : 
„Das  Zwetteler  Kloster  hat  seinen  Namen  von  dem  böhmischen  Worte 
„svetlo"  erhalten,  woher  auch  der  lateinische  Name  Claravallis  stammt.") 

Zu  Beginn  unserer  Darlegung  sagten  wir,  dass  wir  uns  in  Öster- 
reich nicht  nur  zuhause  fühlen  sollen,  da  unsere  Vorfahren  hier  die 
ursprünglichen  Bewohner  waren,  wie  vorstehend  genau  bewiesen 
worden  ist,  sondern  auch  deshalb,  weil  ein  grosser  Teil  von  Öster- 
reich zu  Böhmen  gehörte;  fassen  wir  daher  die  früheren  Grenzen  ins 
Auge.  In  dieser  Angelegenheit  kann  uns  das  merkwürdige  Schweigen 
der  deutschen  Gelehrten  nur  bedeutungsvoll  erscheinen. 


105 

Wenn  wir  deren  Schriften  einsehen,  finden  wir  gar  seilen  eine 
Erwähnung  über  die  alte  Zeit  der  an  Böhmen  grenzenden  Gegend 
jenseits  der  Donau.  Warum  sie  wohl  ihre  Forschung  durch  die  Donau 
begrenzen,  weshalb  tuen  sie  bei  der  Verarbeitung  einer  allgemeinen 
Geschichte  Österreichs  davon,  was  hier  jenseits  der  Donau  vor  Jahr- 
hunderten geschehen  ist,  mit  keinem  Worte  Erwähnung?  Und  die- 
jenigen von  den  späteren,  die  hievon  schreiben  und  der  Wahrheit 
die  Ehre  geben,  dass  sie  nämlich  zum  grössten  Teile  zu  Böhmen 
gehörte,  die  werden  gewöhnlich  von  ihren  eigenen  Stammesgenossen 
angefallen  und  ernten  wenig  Dank  dafür.  (Siehe  Heyrenbach,  Pröckel 
usw.)  Doch  fragen  wir  die  deutschen  Forscher,  wenn  sie  so  gerne 
die  Existenz  der  alten  hiesigen  böhmischen  Ansiedelungen  leugnen, 
auf  welcher  Grundlage  sie  dies  tun.  Wem  von  ihnen  sind  die  wirk- 
lichen nördlichen  Grenzen  ihrer  alten  Mark  bekannt?  Kann  jemand 
behaupten,  dass  schon  zu  Zeiten  Karls  des  Grossen  die  böhmisch- 
mährische Grenze  dieselbe  war  wie  heute? 

Die  schon  erwähnte  Zollordnung  Ludwigs  aus  dem  Jahre  906 
führt  uns  zu  einer  vollständig  anderen  Ansicht.  Schon  in  dieser 
ist  von  Gegenden  die  Rede,  welche  zu  Bayern  gehören,  zum  Unter- 
schiede von  fremden ;  hier  werden  die  heimischen  Slaven  (istius  pa- 
triae) und  andere  Slaven  (de  Boemanis  et  Rugis)  als  fremde  erwähnt 
und  zwischen  diesen  wird  als  Grenze  die  Donau  gesetzt.  Wir  lesen 
da  wörtlich  nachstehendes :  „  .  .  .  Ubiciimque  jiixta  ripam  Danubii  (wo 
immer  längs  des  Ufers  der  Donau).  Sicherlich  hätte  Ludwig  andere 
Orte  genannt,  bei  deren  Überschreitung  die  böhmischen  Kaufleute 
hätten  Zoll  zahlen  müssen,  wenn  er  nicht  als  die  eigentliche  Grenze 
zwischen  seinen  Ländern  und  Böhmen  die  Donau  anerkannt  hätte. 
Es  ist  möglich  zu  verfolgen,  wie  die  Deutschen  nach  und  nach  die 
Grenzen  verschoben:  Im  Jahre  1010,  also  hundert  Jahre  nach  der 
genannten  Zollordnung,  verlautbart  Kaiser  Heinrich  11.  eine  neue  Ver- 
ordnung, in  welcher  als  Grenze  Böhmens  in  Österreich  der  erwähnte 
Nordwald  (Silva  Nortica)  bezeichnet  wird:  „  . . . portionem  silvae,  quae 
vocatur  Nordwald  a  fönte  fluminis  Iltza  sursum  usque  ad  terminum  prae- 
dictae  silvae,  quae  separat  duas  tcrras  Baioariam  videlicet  et  Boemiam." 
(Deutsch:  „...wir  schenken  einen  Teil  des  Waldes,  der  Nordwald 
benannt  wird,  von  den  Quellen  des  Flusses  Iltza  bis  zu  der  bezeich- 
neten Stelle  des  genannten  Waldes,  der  zwei  Länder,  nämlich  Bayern 
und  Böhmen,  teilt."  Momimenta  Boica  Heinrich  II.  1010.)  Dieser  Wald 
ist  allgemein  als  damalige  Grenze  auch  von  den  Deutschen  anerkannt 
worden.  Da  es  aber  damals  nicht  möglich  war,  in  einem  so  ausge- 
gedehnten  Urwalde  eine  strikte  Grenze  zu  bestimmen,  haben  dies  die 
deutschen    Bewohner    der  Mark    (Ostarichi  ^  Österreich)   ausgenützt 


106 

und  später  den  grösseren  Teil  dieses  zu  Böhmen  gehörigen  Waldes 
eingenommen.  In  jüngerer  Zeil  sind  ihnen  auch  die  modernen  öster- 
reichischen Historiker  zu  Hilfe  gekommen.  Diese  konnten  zwar  nicht 
leugnen,  dass  der  Nordwald  die  böhmische  Grenze  war;  damit  sie 
aber  nicht  einzugestehen  brauchen,  dass  die  Deutschen  unser  böh- 
misches Land  zur  Erweiterung  ihrer  Mark  anneklierten,  schufen  sie 
die  Tradition,  es  sei  allerdings  wahr,  dass  der  Nordwald  die  Landes- 
grenze bildete,  aber  dieser  lief  entlang  der  jetzigen  Grenze  Böh- 
mens. Sie  haben  sonach  aus  dem  Nordwald  einen  ganz  unbedeu- 
tenden Wald  gemacht  und  wollten  damit  erklären,  dass  die  Grenze 
Böhmens  nicht  viel  weiter  gehen  konnte,  als  es  jetzt  der  Fall  ist. 
Aber  diese  Tradition  stimmt  mit  der  Wahrheit  nicht  überein.  Dank 
alten  Aufzeichnungen  sind  wir  in  der  Lage  genau  zu  beweisen,  dass 
sich  der  Wald  über  das  ganze  Gebiet  bis  zur  Donau  ausstreckte  und 
dass  die  Österreicher  erst  im  XII.  Jahrhunderte  sich  daselbst  zahl- 
reicher ansässig  machten.  Noch  in  dieser  Zeit  verlegen  ihre  eigenen 
Aufzeichnungen  Krumau  an  der  Kamp  in  den  Nordwald :  „pracdiiim 
in  Chrumpenawe,  qiiod  in  nortica  silva  ad  Canipiuni  jiiiviuni  sitiim  est" 
(Annal.  Clarav.),  d.  h. :  „die  Krumauer  Herrschaft,  welche  im  Nord- 
wald längs  des  Kampflusses  liegt",  was  sonach  sehr  weit  von  den 
heutigen  Grenzen  Böhmens  entfernt  ist.  — 

Auch  Zwetil  wurde  damals  als  in  der  Mitte  des  Nordwaldes 
gelegen  bezeichnet.  Bei  dieser  Gelegenheit  wurde  neuerlich  von  den 
Böhmen  als  den  ursprünglichen  Bewohnern  dieser  Gegend 
gesprochen.  Die  Annalen  von  Zwettl  erzählen  von  Azon,  dem 
Gründer  des  mächtigen  Stammes  der  Kuenringer,  der  die  Böhmen 
bekriegte  und  diese  in  den  genannten  Wald  zurücktrieb,  als  sie  sich 
gegen  die  deutsche  Invasion  wehrten  und  ihre  Niederlassungen  den 
Österreichern  freiwillig  nicht  überlassen  wollten.  Dafür  bekam  er  als 
Lehen  die  ganze  Gegend,  die  er  von  den  Böhmen  erobert  hatte.  Dort 
begann  er  Burgen  zu  bauen  und  die  Deutschen  anzusiedeln.  Seinem 
älteren  Sohne  gab  er  Krumau  und  dem  jüngeren  Zwettl,  wie  aus  den 
Aufzeichnungen  folgenden  Wortlautes  hervorgeht :  „  .  .  .  Deinde  colli- 
giiiiir  Nizonem,  natu  minorem  filiiim  suum,  in  ipsam  silvam  Norticam 
constituisse,  illiqiie  casirum  seil  praedium,  qiiod  aedijicasse  nomine  Zwet- 
tcla,  ubi  forte  antea  Boemi  Slavi  residerunt .  .  ."  *)   (Annales  Claravall.) 

Daraus  ist  also  zu  ersehen,  dass  die  Behauptung  der  Deutschen, 
als  hätte  sich  der  Nordwald  nur  an  den  jetzigen  böhmischen  Gren- 
zen ausgebreitet,  nicht  mit  der  Wahrheit  übereinstimmt. 

*)  D,  h.:  »Dann  veranlasste  er  seinen  jüngeren  Sohn  Nizo  sich  im  Nordwalde 
niederzulassen  und  dort,  wo  ungefähr  früher  die  böhmischen  Slaven  sassen,  eine 
Burg  oder  eine  Ansiedlung  des  Namens  »Zwettela«  zu  erbauen.« 


107 

Richtig  dagegen  ist  die  Anschauung  des  einzigen  deutschen  Pro- 
fessors Pröckel,  welcher  die  südlichen  Grenzen  Böhmens  im  XI.  Jahr- 
hunderte an  den  Kampfluss  verlegt,  und  sicherlich  hatte  auch  er  seinen 
Landsleulen  nicht  weniger  geben  wollen.  Wenn  wir  jedoch  die  alten 
Handschriften  mit  Verständnis  lesen,  so  erkennen  wir,  dass  noch 
im  XII.  Jahrhunderte  die  böhmische  Grenze  tief  in  das  eigentliche 
Österreich  hineinlief.  Im  Jahre  II 10  wurde  die  Pfarre  Grimhartstettin 
(Gramatstetten)  in  Oberösterreich  an  der  Donau  gegründet.  In  dem 
Gründungsbriefe  sind  die  Grenzen  der  Pfarre  genau  bezeichnet,  und 
da  wird  auf  der  einen  Seite  die  böhmische  Landesgrenze  angegeben, 
sonach  diese  Pfarre  unmittelbar  an  das  böhmische  Gebiet  grenzen 
musste.  Heute  ist  sie,  wie  bekannt,  sehr  weit  davon  entfernt. 

Gehen  wir  nun  zu  Niederösterreich  über,  so  finden  wir  hier  in 
dieser  Zeit  noch  das  selbständige  böhmische  Vitorazsko,  an  der 
böhmischen  und  mährischen  Grenze  das  selbständige  Österreich 
(„Rakousy",  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  heutigen  Begriffe  von 
Österreich!).  Es  ist  dies  das  Gebiet,  für  welches  unsere  Benennung 
„Rakousy"  die  ursprüngliche  ist.  Erst  als  die  Herzoge  der  alten  Mark 
sich  dieses  Gebiet  angeeignet  hatten,  ging  unsere  ursprüngliche  Be- 
nennung auf  ihr  ganzes  Land  und  von  hier  auf  die  ganze  Monarchie 
über,  welche  wir  „Rakousko"  nennen. 

Das  Jahr  II31  wird  in  der  Chronik  von  Kosmas  mit  dem  Zuge 
des  Bischofs  von  Münster  nach  Rom  in  Verbindung  gebracht,  welcher 
daselbst  den  Papst  Paul  benachrichtigen  sollte,  dass  die  Hilfstruppen 
des  deutschen  Kaisers  Lothar  im  Anzüge  seien ;  da  dieser  Gesandte 
vor  dem  Rivalen  Lothars,  Konrad,  Furcht  halte,  reiste  er  auf  einem 
Umwege  nach  Böhmen  und  von  hier  über  das  Gebiet  des  österrei- 
chischen Markgrafen,  „marchionis  Racd'sis",  zurück: 

.  .  .  Anno  Dominice  Incarnationis  mtl.  CXXXI.  III.  Calendas  Apri- 
lis  .  .  .  Qui  ob  metiini  jalsi  regis  Conradi  una  ab  recta  via  deviando 
venit  in  Bohemiam  .  .  tandem  a  duce  Sobieslao  decenfer  donalus  per 
regionem  Racd'sis  marchionis  iransüt,  sicque  per  nmltas  provincias  tran- 
siens  rediit  ad  sua.  (Continiiatio  Ctiron.  Bohem.  Cosmae),  d.  h. :  der 
aus  Furcht  vor  dem  Pseudokönig  Konrad  vom  richtigen  Wege  ab- 
weichend nach  Böhmen  kam  .  .  .  Nichtsdestoweniger  wurde  er  vom 
Herzog  Sobeslav  freigebig  beschenkt  und  kehrte  über  das  österrei- 
chische Gebiet  nach  Passierung  einiger  Länder  nachhause  zurück." 

Zuerst  müssen  wir  wissen,  wo  sich  jenes  Gebiet  „marchionis 
Racd'sis"  befand.  Das  Wort  „R  a  c  d"  findet  sich  im  Mittelalter  in  la- 
teinischen Chroniken  und  Dokumenten  in  verschiedenen  Formen,  wie  : 


108 

Racd,  Racz,  Rachz,  Rakz,  Rags,  Ragez,  Rakez,  und  bedeutet  unsere 
alte  Benennung  einer  Burg  „Ragus"  oder  „Rakös"  an  dem  Zusam- 
menflusse der  Taya,  die  wir  heute  richtig  „Rakous"  benennen ;  die 
Deutschen  haben  dieselbe  zu  „Raabs"  verstümmelt.  Also  dieses  Ge- 
biet hiess  ursprünglich  nach  der  dortigen  Burg  „Rakousy",  und  hätte 
dasselbe  zur  Mark  (Ostarichi)  gehört,  so  halte  es  unser  Geschichts- 
schreiber sicherlich  nicht  als  ein  Gebiet  bezeichnet,  das  einen  eigenen 
Herrscher  hat.  Daraus  geht  klar  hervor,  dass  damals  noch  ein  gros- 
ser Teil  des  Landes  Österreich,  wo  die  Deutschen  nicht  einmal  eine 
böhmische  Benennung  zulassen  wollen,  ihnen  gar  nicht  gehört  hat. 
Noch  damals  im  XII.  Jahrhunderte  konnte  anfangs  die  Nordgrenze 
der  Mark  höchstens  der  Kampfluss  bilden,  über  die  Städte  Hörn  und 
Eggenburg  aber  die  Flüsschen  Pulkau  und  Taya. 

Am  längsten  erhielt  sich  uns  das  Weitragebiet  (Vitorazsko), 
welches  im  Jahre  1185  von  dem  böhmischen  Herzog  Friedrich 
Hadamar  II.  von  Kuenring  zum  Lehen  gegeben  wurde  dafür,  dass 
er  diesem  unserem  Herzoge  die  Hilfe  des  österreichischen  Heeres  in 
seinem  Kampfe  um  den  Thron  Böhmens  gebracht  hatte.  Unter  der 
Herrschaft  der  Herren  von  Kuenring  wurde  das  Weitragebiet  rasch 
germanisiert,  gehörte  jedoch  auch  weiterhin  zu  Böhmen,  da  es  ein 
Lehen  des  Landes  Böhmen  blieb.  Erst  im  Jahre  1279  wurde  es  dau- 
ernd an  Österreich  angeschlossen,  und  zwar  unter  folgenden  Umstän- 
den :  Der  Weitraer  Zweig  der  Herren  von  Kuenring  hielt  treu  zum 
König  Ottokar  11.  in  seinen  Kämpfen  um  das  österreichische  Erbe, 
einerseits  gebunden  durch  die  Treue  als  Lehensherr,  hauptsächlich 
jedoch  deshalb,  weil  es  diesen  stolzen  Herren  mehr  gefiel,  dem  be- 
rühmten und  mächtigen  Könige  Ottokar  zu  dienen,  da  er  wohl  ihren 
Bestrebungen  mehr  entgegenkam,  als  der  österreichische  Herzog ; 
ausserdem  waren  die  Kuenringe  auch  mit  ihm  verwandt.  Wie  bekannt, 
schloss  PfemysI  Ottokar  IL  noch  als  Prinz  eine  morganatische  Ehe 
mit  einer  Hofdame,  der  allgemein  bekannten  „Palcafik"  (nach  dem 
Zuschnitt  der  Haare),  welche  mit  ihrem  wahren  Namen  Agnes  von 
Kuenring  hiess.  Aus  dieser  Ehe  stammten  drei  Kinder,  und  zwar 
zwei  Töchter  und  ein  Sohn.  Die  Tochter  Agnes  wurde  von  Ottokar  IL 
Hamadar  V.  von  Kuenring  zur  Frau  gegeben.  Deshalb  sehen  wir  auch 
auf  dem  unglücklichen  Marchfelde  (1278)  die  Kuenringe  an  der  Seite 
unseres  Königs,  durch  dessen  Fall  auch  sie  ihres  Beschützers  beraubt 
waren,  so  dass  das  Heer  Rudolfs  von  Habsburg  zur  Eroberung  von 
Weitra  nicht  vieler  Mühe  bedurfte,  da  es  hier  damals  niemanden  gab, 
der  die  Lehen  des  Landes  Böhmen  beschützt  und  die  Konfiskation 
der  Kuenringschen  Güter  verhindert  hätte.  Die  Kuenringe  mussten 
überdies  landflüchtig  werden.  Das  Weitragebiet  wurde  damit  für  immer 


109 

i.  J.  1279  von  Böhmen  abgetrennt  und  die  Güter  der  Kuenringe  fie- 
len der  Krone  zu,  von  denen  sich  z.  B.  Gmünd  bis  heute  im  Besitze 
eines  Erzherzogs  befindet. 

Wie  wir  sehen,  haben  daher  die  Grenzen  Böhmens  und  der 
Ostmark  erst  i.  3.  1279  ihre  jetzige  Gestalt  bekommen.  Allerdings 
Hess  sich  das  böhmische  Element  nicht  so  leicht  verschieben,  wie 
die  Grenze;  dieses  Element  lebt  hier  auch  naturkräftig  weiterhin, 
und  wo  sich  kein  anderes  Denkmal  nach  unseren  Vorfahren  er- 
halten hat,  dort  sind  wenigstens  die  Namen  geblieben,  welche  de- 
ren Ansiedlung  melden.  Von  diesen  Namen  haben  sich  uns  viele 
durch  mündliche  Überlieferung  erhalten  oder  wir  kennen  sie  aus 
alten  Büchern.  Dass  die  Zahl  solcher  Orte  ungewöhnlich  gross  ist, 
davon  zeugt  die  Abhandlung  von  Prof.  Sembera  (Blätter  für  die  Lan- 
deskunde von  Niederösterreich  1871,  S.  62—69),  welcher  die  Anzahl 
der  Namen  verschiedener  Ortschaften,  aus  denen  ihr  slavischer  Ur- 
sprung erkannt  werden  könne,  allerdings  auf  einfacher  etymologischer 
Grundlage,  auf  ungefähr  tausend  abschätzt. 

Aber  die  Deutschen  kommen  in  dieser  Hinsicht  gleich  mit  Be- 
weisen für  das  direkte  Gegenteil ;  ob  jedoch  ihre  Angaben  nur  einiger- 
massen  wahrscheinlich  sind,  darum  kümmern  sie  sich  allerdings  nicht. 
Sehen  wir  uns  ein  Beispiel  an :  wer  imstande  ist  aus  dem  alten 
Zwettl  den  Ursprung  „Zweiental"  abzuleiten,  trotzdem  der  eigene 
Vater  ihm  zum  ewigen  Gedächtnis  ins  Buch  geschrieben  ha!,  dass 
seine  wahren  Vorfahren  diesen  Namen  von  dem  böhmischen  „swietlo" 
genommen  haben,  oder  wer  in  dem  Namen  „Witoraz"  nach  dei 
deutschen  Benennung  „Weitra"  den  Ursprung  „Veitrache"  (!)  zu  su- 
chen imstande  ist,  obgleich  die  alten  Chroniken  ausdrücklich  von  dem 
Begründer  „Vitorad"  sprechen,  der  ignoriert  einfach  die  Geschichte 
und  wird  zu  einem  willkürlichen  Etymologen,  bei  dem  allerdings  von 
irgendwelchem  Ernste  nicht  die  Rede  sein  kann! 

Die  Deutschen  wollen  uns  die  Richtigkeit  unserer  eigenen  Be- 
nennungen nicht  zulassen,  welche  angeblich  erdichtet  sein  sollen  und 
in  Wirklichkeit  nie  existiert  hätten !  Deshalb  wollen  wir  nur  einige 
von  ihnen  als  Beispiel  bringen  und  zeigen,  welche  Namen  hier 
früher  waren  und  schliesslich  dieselben  mit  unseren  jetzigen  und  den 
deutschen  Namen  vergleichen.  Wir  werden  sofort  sehen,  wer  die 
Namen  gefälscht  hat  und  wem  die  korrumpierten,  daher  unberech- 
tigten Namen  angehören. 

Im  Jahre  859  schenkt  der  deutsche  Kaiser  Ludwig  einen  Teil 
des   Gebietes,   welches  „Tullina"  genannt  wird   (qui  vocatiir  Tullina), 


110 

1283  (Annal.  Claravall.)  Tulna,  1275  Tulnä,  13%  Tulna,  böhmisch 
bisher  auch  Tulnä  (von  „dol,  dül"  Tal) ;  auch  die  Deutschen  haben 
jetzl  „Tulln"  und  wollen  für  sich  den  Ursprung  des  Namens  von 
„Thal"  nachweisen. 

Noch  besser  sehen  wir  dies,  wessen  Namen  erdichtet  sind,  bei 
dem  Orte  „Slunice" ;  es  war  dies  eine  der  ältesten  Burgen  des  Adels 
desselben  Namens  im  3ahre  1160  Pabo  de  Slunize  (Slunice),  1207 
de  Sleynce,  1217  de  Slennize,  1234  Otto  de  Slenitz,  1259  Chrofto  de 
Sleuntz,  1268  Cunradus  de  Slunz.  Hier  ist  gut  zu  sehen,  wie  die 
Deutschen  die  Namen  schrittweise  verstümmelten.  Heule  heisst  der 
Ort  „Schleinitz"  bei  Eggenburg. 

Im  Jahre  1175  Kiow  (Kyjov),  1188  Chiow,  1268  Kyaw,  1282 
Chyaw,  heute  „Kaja",  eine  uralte  Ruine  bei  Retz.  Den  böhmischen 
Ursprung  zeigt  auch  der  Sitz  eines  alten  mächtigen  Geschlechtes  aus 
dem  heutigen  Meissau:  1273  schrieb  und  hiess  dieses  noch  Mischow 
(Misov,  Annal.  Claravall.)  Ursprünglich  ist  auch  unser  Name  Licov : 
lateinische  Annalen  bezeichnen  dasselbe  im  Jahre  1229  Litschow, 
1232  Litschow,  1335  Litschaw,  heute  „Litschau".  (Annal.  Claravall.) 
An  den  böhmischen  Namen  Medlik  wird  noch  1206  erinnert:  de  Me- 
delico,  1228  de  Medlico,  1268  de  Medlico  (Annal.  Claravall.)  1261  de 
Medlico  (Momim.  Boica).  Was  für  einen  Grund  haben  also  die  Deut- 
schen für  die  dermalige  Benennung  „Melk"  statt  „Metlika"  ?  — 

Wachawa :  977  schenkt  Otto  die  Gegend  der  jetzigen  Wachau 
und  beschreibt  dieselbe  u.  a.  mit  den  Worten :  „hoc  est  in  loco,  qui 
dicitur  Wachawa  in  ripa  Damibii"  (deutsch :  d.  i.  in  der  Gegend  wel- 
che „Wachawa"  genannt  wird,  am  Ufer  der  Donau).  Auch  anderswo 
in  alten  Dokumenten  lesen  wir  einzig  „Wachawa"  und  nun  haben 
daraus  die  Deutschen  ihre  „Wachau". 

Von  der  Burg  Raküs  oder  Rakous  war  schon  die  Rede ;  diese 
Burg  war  der  Sitz  des  „zupan"  der  dortigen  Gegend,  deren  Bewohner 
danach  „Rakusy"  hiessen,  und  bereits  bei  dem  griechischen  Ptole- 
mäus  genannt  werden,  welcher  sagt : 

„Luna  Silva,  sub  qua  gens  magna  Boemi  iisque  Damibiuni,  qui- 
bus  continui  snnt  jnxta  flnvium  Teracatriae  et  penes  campo  Racatac  ..." 
(d.  h. :  „Der  Mondwald-Manhart,  unterhalb  dessen  die  grosse  Nation 
der  Boemi  bis  zur  Donau  siedelt  und  bis  zum  Flusse  March  reicht 
und  auf  der  weiteren  Ebene  die  Rakati  .  .  .") 

Im  Mittelalter  taucht  für  diese  Burg  der  Name  Rakez,  Ragez, 
Ragus  auf,  was  mit  unserem  Rakus  vollkommen  übereinstimmt. 
Die  jetzige  deutsche  Bezeichnung  „Raabs"  zu  begründen  ist  allerdings 


111 

unmöglich;  die  Geschichte  bietet  hier  nicht  die  geringste  Stütze  und 
müssen  die  Deutschen  neuerdings  ihre  Zuflucht  ausschliesslich  zur 
willkürlichen  Etymologie  nehmen.  Für  „Svetlä"  und  „Vitoraz"  genügt 
auch  sicherlich  das,  was  darüber  früher  angedeutet  wurde,  und  dies 
sind  durchwegs  Orte,  deren  originale  Bezeichnung  uns  die  Geschichte 
selbst  erhalten  hat.  — 

Aber  die  Deutschen  wollen  auch  nicht  die  Benennungen  von 
anderen  kleineren  Orten  zulassen  und  da  lässt  sich  allerdings  die 
Richtigkeit  unserer  Benennungen  nicht  immer  durch  alte  Urkunden 
belegen,  da  diese  Orte  meist  keine  hervorragende  Rolle  in  der  Ge- 
schichte gespielt  haben.  So  z.  B.  der  Ort  „Rapsach"  im  Weitragebiele, 
welcher  bis  heute  überwiegend  böhmische  Bevölkerung  hat!  Unser 
Volk  hat  ihn  niemals  anders  genannt  —  was  durch  einwandfreie 
Zeugen  bewiesen  werden  kann  —  als  „Rapsach",  und  unweit  davon 
„Hrabanos" ;  erst  unverhältnismässig  später  erscheinen  die  deutschen 
Bezeichnungen  „Rottenschachen"  und  „Zuggers"  (bei  Gmünd).  Wie 
auffällig  muss  es  sein  auf  einmal  die  Behauptung  zu  hören,  dass 
die  jetzigen  Deutschen  diese  Benennungen  nicht  zulassen  wollen,  da 
diese  niemals  existiert  hätten ;  die  lokale  Volksüberlieferung  hat  bei 
ihnen  keinen  Wert.  Aber  auch  hier  war  uns  ein  ganz  besonderer 
Zufall  hold.  Als  wir  unter  anderem  auch  ein  Verzeichnis  der  Pfar- 
reien des  Passauer  Bistums  sorgfältig  durchsahen,  zu  welchem  früher 
auch  die  Pfarre  Rapsach  gehörte,  lasen  wir  den  eigentlichen  Namen 
dieser  Pfarre  „Rapischach".  Aber  noch  auf  eine  andere  Quelle  kann 
hingewiesen  werden.  Wir  bekamen  eine  alte  Mappe  von  Österreich 
aus  dem  XVII.  Jahrhunderte  in  die  Hand,  welche  an  dieser  Stelle 
ausdrücklich  die  Ortschaft  „Rapschachen"  (also  durchaus  kein  „Rotten- 
schachen", wie  es  die  Deutschen  also  erst  nach  dieser  Zeit  umgetauft 
haben)  anführt. 

Weiters  befindet  sich  bei  Gmünd  eine  von  den  Deutschen  „Has- 
lau" genannte  Ortschaft;  die  Böhmen  benennen  diesen  Ort  von  alters- 
her  „Cählava"  (Annal.  ClaravalL),  vom  Jahre  I33G  wurde  diese  Ort- 
schaft „Zaglava"  (Cahlava)  eingetragen.  Richtig  ist,  dass  unser  „Jam- 
nik"  (Annal.  Claravall.)  im  Jahre  1352  Zamnik  (Codex  Patav.)  später 
„Gemnik"  benannt  ist.  Die  Deutschen  nannten  diese  Ortschaft  „Ga- 
ming".  Also  hier  wollten  die  Deutschen  die  Richtigkeit  unserer  Be- 
nennungen bestreiten  und  haben  hiezu  eine  gewiss  zweischneidige 
Waffe  gewählt,  die,  wie  zu  ersehen  ist,  zu  ihrer  eigenen  Enttäuschung 
wurde,  denn  schon  aus  diesen  kleinen  Beispielen  haben  wir  erkannt, 
dass  gerade  die  deutschen  Benennungen  jüngeren 
Datums   sind  und  frühe  r  übe  rhaupt  nicht  exi  stierten, 


112 

und  dass  hingegen  unsere  böhmischen  Benennungen 
die  Originalnamen  sind. 

Betrachten  wir  noch  kurz  die  Originalbenennungen  des  deutschen 
Adels ;  schon  die  Namen  ihrer  Stammsitze  sind  oft  von  einem 
sonderbaren  Deutsch!  —  Im  Jahre  11G8  sind  bei  einer  Dotation  des 
Klosters  Zwettl  folgende  Adelige  dieses  Kreises  unterfertigt:  Mein- 
hardus  de  Radechow,  Wolker  de  Grifza,  Azzo  de  Chocendorf  (Cho- 
cen),  1272  Chozen,  1272  Choscen,  und  heute  ist  daraus  das  deutsche 
Kotzendorf!  .  ..  Pabo  de  Slunic,  das  heutige  deutsche  Schleinitz!  Eu- 
chebertus  de  Gors  (Gorse  Gorice),  das  jetzige  deutsche  Gars.  Dedal- 
rich  de  Borekheim  (Borek),  Ulricus  de  Radune  (Radufi). 

Wir  glauben,  dass  das  wenige,  was  hier  objektiv  aus  der  Ge- 
schichte herausgehoben  wurde,  vollkommen  genügt,  um  uns  und 
unseren  Gegnern  zu  beweisen,  dass  wir  nicht  blosse  Gäste 
oder  Einwanderer  hier  sind,  sondern  eine  altangeses- 
sene Nation,  deren  Väter  als  erste  den  Boden  Öster- 
reichs urbar  machten  und  ihre  Wohnsitze  hier  auf- 
schlugen, deren  Benennungen  ursprünglich  auch  b  öhmisch  waren, 
daher  einzig  und  allein  für  diese  Zeit  berechtigt  sind.  — 


M.  Zunkovic: 

»Die  Geschichte  von  Igors  Kriegszuge.« 

Das  älteste  russische  Heldengedicht. 

Graf  Alexei  Ivanovic  Musin-Puskin  (1774—1817),  ein  unermüd- 
licher Forscher  in  der  Geschichte  und  Literatur  des  russischen  Alter- 
tums, verwendete  seine  reichen  Mittel  dazu,  sich  zu  diesem  Zwecke 
möglichst  viel  Materialien  zu  verschaffen.  So  gelang  es  ihm  auch  alle 
alten  russischen  Bücher  eines  Klosters  zu  erwerben.  In  dieser  Samm- 
lung wurde  nun  im  Jahre  1795  obige  Dichtung,  in  der  Literatur  als 
„Slovo  0  polku  Igorevje"  bekannt,  entdeckt  und  im  Jahre  1800  zum 
erstenmale  veröffentlicht.  Bei  dem  Mangel  an  philologischen  wie  pa- 
läographischen  Kenntnissen  der  damaligen  Kommentatoren  konnte  es 
aber  nicht  anders  kommen,  als  dass  die  Ausgabe  völlig  unkritisch 
und  fehlerhaft  ausfiel. 

Beim  grossen  Brande  von  Moskau  im  Jahre  1812  ging  jedoch 
diese  Handschrift  nebst  anderen  wertvollen  Stücken  der  Sammlungen 
des  genannten  Grafen  zugrunde.  Zum  Glücke  wurden  zwei  Kopien  ver- 
fasst;  i.  J.  1861  fand  man  unter  den  Papieren  der  Kaiserin  Katarina  11. 
(1762  —  1797)  sogar  ein  weiteres  Faksimile. 


Die  auf  Glanzpapier  geschriebene,  zugleich  mit  Handschriften 
anderer  Art  in  einem  Bande  befindliche  Dichtung  kann  nur  in  der 
Zeit  von  118G— 11%  verfassl  worden  sein,  weil  dies  aus  bestimmten 
Stellen  des  Inhaltes  untrüglich  hervorgeht.  Die  gefundene  Handschrift 
ist  selbstredend  eine  Kopie,  welche  einige  Paläographen  dem  XIV., 
andere  dem  XVI.  Dahrhunderte  zuschreiben. 

Wie  bei  jedem  anderen  altslävischen  Kulturdokumente,  ist  auch 
bei  dieser  Dichtung  weder  das  Alter  noch  die  Echtheit  oder  Ursprüng- 
lichkeit von  der  willkürlichsten  Kritik  unbestritten  geblieben.  Vor  allem 
hat  der  Universitätsprofessor  Michael  Kacenovski  in  Moskau  um  das 
3ahr  1840  mit  seiner  Pauschalverdächtigung,  dass  die  ganze  russische 
Kirchen-  und  Profanliteratur  aus  der  vormongolischen  wie  mongo- 
lischen Zeit  (1224— UBO),  sonach  also  auch  das  Igor-Lied,  ein  Mach- 
werk der  Mönche  späterer  Zeit  sei,  eine  vorübergehende  Aufregung 
verursacht ;  doch  nahm  man  die  Sache  sehr  bald  wieder  von  der 
heiteren  Seite,  als  unwiderlegliche  Beweise  von  der  Unhaltbarkeit 
seiner  Behauptungen  erbracht  wurden.^) 

Die  Dichtung  gehört  in  die  Kategorie  der  feierlich  getragenen, 
poetischen  Prosa  und  hat  die  Grundidee  und  Tendenz  auf  die  Nach- 
teile der  unaufhörlichen  Zwiste  unter  den  Teilfürsten  aufmerksam  zu 
machen,  und  die  Vereinigung  des  ganzen  Russenlandes  unter  ei- 
nem Fürsten  als  das  Erspriesslichste  darzustellen.  Der  Inhalt  ist 
kurz  folgender:  Igor,  der  Teilfürst  von  Novgorod-Sjeversk,  unternimmt 
im  Jahre  1185  einen  Kriegszug  gegen  die  heidnischen  Polovzer  und 
schlägt  sie.  Doch  die  nach  diesem  Siege  zur  Schau  getragene  militä- 
rische Sorglosigkeit  der  Russen  benützen  die  Polovzer,  überfallen  mit 
Erfolg  das  Lager  derselben  und  nehmen  Igor  gefangen ;    dieser  ent- 


1)  Es  ist  übrigens  nicht  unbekannt,  dass  bisher  eigentlich  kein  Werk  der 
Weltliteratur  unangefochten  blieb.  Immer  finden  sich  krankhaft  ehrgeizige  Männer 
mit  inferiorem  Gesichtskreise,  die,  sobald  sie  an  eine  unüberwindliche  Wissens- 
oder Ürtcilsgrenze  stossen,  lieber  das  Hindernis  ihrer  vorgefassten  Urteile  be- 
seitigen, statt  offen  zu  bekennen:  »ich  verstehe  es  nicht«.  —  Es  seien  nachstehend 
noch  einige  solche  konkrete  Entgleisungen  pathologischer  tJberkritik 
angeführt.  Der  Typus  eines  solchen  literarischen  Nihilisten  war  z,  B.  Jean  Har- 
douin  (1646 — 1729).  Dieser  erklärte  alle  alten  Kirchenschriftsteller  sowie  die  ge- 
samten altklassischcn  Werke  —  bis  auf  vier  minderwichtige  —  für  gefälscht  und 
unterschoben,  und  wusste  auch  zu  erzählen,  dass  sie  alle  im  13.  Jahrhunderte 
r.ter  der  wissenschaftlichen  Führung  eines  gewissen  Severus  Archontius  von 
.  crschiedenen  Mönchen  verfasst  seien.  Überdies  erklärte  er  alle  alten  Münzen, 
die  wo  ausgegraben  wurden,  für  Nachmachungen.  Die  ungeheure  Aufregung  in  der 
Gelehrtenwelt,  die  sich  daraus  ergab,  legte  sich  aber  bald,  denn  als  Hardouin  als 
angesehener  Jesuitenpater  auch  alle  Konzile  bis  zum  Tridentinischen  (1545 — 1563) 
als    fingiert    erklärte,    somit    auch    jenes    von    Konstanz    (1414 — 1418)    negierte,    wo 


114 

kommt  jedoch  später  mit  knapper  Not  durch  Mithilfe  eines  Getreuen 
aus  der  Gefangenschaft. 

Die  Frage,  ob  hier  nicht  etwa  welches  Versmass  angewendet 
sei,  nachdem  der  Text  doch  fortlaufend  geschrieben  ist  und  auch, 
wie  alle  alten  Handschriften,  keine  Interpunktionen  aufweist,  zog  einen 
langen  Streit  nach  sich,  der  eigentlich  noch  heute  nicht  beendet  ist. 
Es  lässt  sich  aber  darüber  doch  ein  Schlusswort  aussprechen,  denn 
jede  Partei  befindet  sich  von  ihrem  Standpunkte  aus  im  Rechte.  Ein 
bestimmtes  Versmass,  ja  selbst  ein  bewusster  Stabreim  ist  aus  der 
Dichtung  absolut  nicht  herauszufinden ;  ist  jedoch  in  einer  Dichtung 
jeder  Vers  anders,  dann  ist  es  eben  keine  metrische  Dichtung  im 
gangbaren  Sinne,  und  dies  ist  hier  offenkundig  der  Fall.  Es  ist  daher 
eine  volkstümliche  Dichtung,  die  sich  durch  keine  äusseren  Form- 
gesetze drosseln  lässt,  sondern  den  Inhalt  zur  Hauptsache  macht. 
Es  zeigen  daher  auch  Stellen  besonders  poetischen  Inhaltes  einen 
gewissen,  die  Begeisterung  des  Dichters  zur  Schau  tragenden  rhyt- 
mischen  Wohlklang,  den  noch  Tropen  und  Figuren  reichlich  erhöhen ; 
die  prosaischen  Stellen  des  Inhaltes  entbehren  jedoch  derselben.  — 
Das  ist  einmal  bei  der  bodenständigen  und  natürlichen  Volksdichtung 
überall  so  und  obwalten  genau  dieselben  Verhältnisse  auch  bei  den 
altböhmischen  epischen  Dichtungen  der  Grünberger  und  Königinhofer 
Handschrift,  denn  der  Naturdichter  subordiniert  immer  die  Form  dem 
Inhalte.  — 

Wer  jedoch  unter  dem  Einflüsse  unserer  schablonenhaften  Schul- 
erziehung steht  und  eine  Dichtung  in  Prosaform  nicht  für  denkbar 
hält,  der  sehe  sich  die  llias  an.  Diese  ist  bekanntermassen  in  Hexa- 
metern geschrieben,  doch  welche  Gesetze  gelten  da  in  bezug  auf  die 
Metrik?  Nahezu  gar  keine,  und  würde  man  diese  Dichtung  zusammen- 


doch  Hus  nicht  in  effigie  verbrannt  wurde,  erkannte  man  ihn  schliesslich  als 
gelehrten  Querkopf  und  nahm  ihn  weiter  nicht  mehr  ernst.  —  Ähnlich  stand  es 
mit  Dobrovsky  (1817),  der  die  Grünberger  Handschrift  beim  ersten  Anblicke  als 
Fälschung  erklärte,  aber  auch  dann  nicht  seine  Meinung  ändern  wollte,  als  man 
ihn  auf  den  Missgriff  aufmerksam  machte,  dass  er  erst  das  »gemalte«  Faksimile 
gesehen.  —  Ähnlich  war  es  auch  mit  der  Königinhofer  Handschrift  und  sonstigen 
altböhmischen  Literaturdenkmälern,  welche  von  den  Prager  Universitätsprofesso- 
ren  Gebauer  und  Masaryk  (1886)  als  Fälschungen  erklärt  wurden.  Die  Öffentlich- 
keit nahm  dies  zum  Teile  ernst,  doch  hat  die  neuere  Nachprüfung  nachgewiesen, 
dass  jedes  Argument  der  Einv/endung  gegen  die  Echtheit  unbegründet  ist,  denn 
die  Fälschungs-»Beweise«  waren  zum  Teile  höchst  naiv,  ja  mitunter  recht 
läppisch,  zum  Teile  aber  nur  die  Frucht  unglaublicher  Wissens-  und  Forschungs- 
mängel. Man  sucht  zwar  heute  diese  wissenschaftliche  Schande  auf  jede  erdenk- 
liche Art  zu  verhüllen,  aber  die  nüchterne  Intelligenz  hat  sich  über  den  wahren 
Sachverhalt   längst   ihr   richtiges   Urteil    gebildet. 


115 

hängend  und  ohne  Interpunktionen  niederschreiben,  so  wird  sie 
sofort  auch  zur  poetischen  Prosa,  denn  ein  Vers,  der  aus  5  Daktylen 
und  einem  Trocliäus  bestellen  soll,  aber  dabei  ebenso  beliebig  1—5 
Spondeen  anwenden  kann,  ja  sein  metrisches  Paradigma  nahezu  nie 
einhält,  kann  eigentlich  auch  nicht  zur  Kunstmetrik  gezählt  werden ! 
Wenn  aber  jeder  Vers,  wie  in  der  Ilias,  ein  anderes  Bild  bieten  kann, 
dann  lässt  sich  wohl  auch  im  Igor-Liede  irgendeine  Prosodie  heraus- 
konstruieren, denn  wahrscheinlich  hat  die  Ilias  ursprünglich  auch 
nicht  anders  ausgesehen,  und  erhielt  erst  in  den  mittelalterlichen 
Klosterzellen  die  heutige  äussere  Form.  Die  beiden  Dichtungen  ver- 
halten sich  daher  zu  einander  wie  der  englische  Park  zum  franzö- 
sischen ;  der  eine  wächst  frei,  der  andere  wird  fortgesetzt  beschnitten, 
doch  bleibt  jeder  dabei  ein  —  Park. 

Gerade  der  Mangel  der  rhytmischen  Gesetze  und 
der  metrischen  Knebelungen  ist  es  aber,  der  allen 
al  tsl  a  vi  sehen  Dichtungen  denCharakter  und  die  Punze 
jener  alten,  entlegenen  Zeit  gibt,  die  sich  mit  solchen 
Zieraten  noch  nicht  befasste,  daher  auch  bei  keiner 
derselben  schon  deshalb  von  einer  modernen  Fäl- 
schung die  Rede  sein  kann.  Dass  dabei  dem  einen  Dichter 
das  rhytmische  Gefühl  mehr  im  Blute  lag,  wie  dem  anderen,  das  sei 
aber  hier  auch  nicht  bestritten,  denn  z.  B.  der  Text  der  Grünberger 
Handschrift  lässt  sich  zum  grossen  Teile  auf  Verse  von  5  Trochäen 
reduzieren;  hingegen  ist  im  Igor-Liede  oder  in  den  epischen  Gedich- 
ten der  Königinhofer  Handschrift  kaum  eine  partielle  Gesetzmässig- 
keit herauszufinden.  Wer  daher  Sinn  für  Poesie  hat,  der  findet  die- 
selbe auch  in  einem  Opus,  das  keinen  metrischen  Kunstschliff  hat, 
leicht  heraus;  wem  aber  als  Poesie  nur  das  gilt,  was  reine  Vers- 
füsse  und  allerlei  Reime  hat,  der  kann  auch  kein  ernster  Kritiker 
und  Geniesser  einer  volkstümlichen  Dichtung  sein. 

Da  nun  unsere  herrliche,  den  kriegerischen  Geist  so  edel  her- 
vorhebende, ungemein  bilderreiche  geschichtliche  Erzählung,  die  für 
die  Kultur-  und  politischen  Verhältnisse  so  reale  Daten  bietet,  ihrem 
lieferen  Inhalte  nach  bei  den  Nichtrussen  höchst  mangelhaft  bekannt 
ist,  dann  dass  viele  Stellen  auch  im  Russischen  noch  heute  nicht  ge- 
klärt sind  oder  noch  immer  falsch  interpretiert  werden,  dies  gab  den 
Impuls,  dieses  hochpoetische  Denkmal  altslavischer  Epik  von  neuem 
ins  Deutsche  zu  übertragen.  Zugleich  werden  aber  hier  auch  zweifel- 
hafte, unklare  wie  unlogische  Stellen  an  der  Hand  der  neuesten 
sprachwissenschaftlichen  Forschungen  aufgehellt,  sowie  die  zahlrei- 
chen,  durch  die  Mythologie  und  sonstige  phantastische  Wassertriebe 


116 

Überwucherten  Auslegungen  entfernt.  —  Etliclie  Stellen  blieben  auch 
dem  Verfasser  noch  unklar ;  es  ist  aber  zu  hoffen,  dass  auch  diese 
mit  dem  fortschreitenden  Erfolge  der  nun  auf  eine  neue  Basis  ge- 
stellten sprach-  und  kulturgeschichtlichen  Forschungen  endlich  in  den 
Lichtkegel  gelangen. 

Alles  Nähere  bieten  die  Erläuterungen  an  Crt  und  Stelle.  Über- 
dies empfiehlt  es  sich,  um  über  den  geographischen  Raum  des  Kriegs- 
zuges eine  Orientierung  zu  erhalten,  die  Lektüre  unter  Zuhilfenahme 
einer  Karte  des  südwestlichen  Russland  vorzunehmen. 

Der  leichteren  Übersicht  wegen  wird,  obschon  das  Original  keine 
Abschnitte  aufweist,  der  Text,  analog  wie  es  die  bisherigen  Kommen- 
tatoren taten,  in  zwölf  Teile  geteilt.  — 

Zum  Vergleiche  der  Sprache  des  Originales  zur  altslavischen 
oder  zu  den  modernen  slavischen  Sprachen  im  allgemeinen,  werden 
hier  drei  inhaltlich  wesentlich  verschiedene  Stellen  in  der  einfachsten 
phonischen  Transkription,  d.  i.  nach  dem  slovenischen  Alphabete,, 
beigefügt. 

Abschnitt  I  (Einleitung):  Ne  Ijepo  li  ni  bjaset,  braije,  nacjati 
starimi  slovesi  tnidnih  povjestij  o  plku  Igorevjc,  Igorja  Svjaislavlica  ?  Na- 
cati  ze  sja  ti  pjesni  po  bilinam  sevo  vremeni  a  ne  po  zanüslcniju  Bojanjii  I . . . 

Abschnitt  IX  (Mitte):  Na  sedmom  vjecje  Bojani  vrze  Vseslav 
zrebij  o  djevicjii  sebje  Ijubu.  Ti  kljukami  podprsja  o  korii  i  skoci  k  gradu 
Kievu,  i  dotcesja  stniziem  zlata  stola  Kievskavo.  Skoci  od  nih  Ijutini 
zvjerem  k  polnoci  iz  bjela  grada,  objesisja  sinje  mglje,  ufr  ze  vozzni 
strikusi  ottvori  vrata  Noviigradu,  razsibe  slavu  Jaroslavu,  skoci  vlkom 
do  Nemigi  s  Dudutok.  Na  Nemizje  snopi  steljiit  golovami.  molotjat  cepi 
harahiznimi,  na  tocje  zivof  kladut,  vjejiit  dusii  od  tjela  .  .  . 

Abschnitt  X  (Mitte) :  Jaroslavna  rano  placet  v  Piitivlje  na  za- 
bralje,  arkuci:  „0  vjetrje,  vjetrilo !  Cemii,  Gospodine,  nasilno  vjeesi? 
Cemu  micesi  hinovskija  strjelki  na  svoeju  trudnojii  krilcjii,  na  moeja  ladi 
voj?  Mala  li  ti  bjoset  gor  pod  oblaki  vjejati,  Icljejuci  korabli  na  sinje 
morje?  Cemu,  Gospodine,  moe  veselie  po  kobiliju  razvjeja?  .  .  . 


Text  der  Dichtung. 

1. 

Brüder,  wäre  es  für  uns  nicht  geziemend,  mit  ehrwürdigen  Wor- 
ten die  traurige  Geschichte  vom  Kriegszuge  Igors,  des  Igor  Svjatslavlic 
zu  beginnen? 


117 

Doch  dieses  Lied  muss  mit  den  zeitgemässen  Begebnissen  be- 
ginnen und  nicht  nach  Bojans ')  Erdichtungen,  denn  Bojan  war  ein 
Seher,  und  wollte  er  jemand  besingen,  da  verbreitete  er  sich  im 
Gedankenwalde,  gleichend  dem  stichelhaarigen  Wolfe  auf  der  Erde 
oder  dem  grauen  Adler  unter  den  Wolken,  wobei  er  wohl  der  Wett- 
kämpfe früherer  Zeiten  gedachte.  Damals  Hess  man  zehn  Falken  auf 
einen  Schwärm  von  Schwänen  los;  wer  einen  erreichte,  der  sang 
zuerst  ein  Lied  dem  alten  üaroslav,-)  dem  tapfern  Mstislav,')  der 
Rededja  niederstreckte  vor  den  Kasogen-Scharen,')  oder  dem  schönen 
Roman  Svjatslavlic.'j  — 

Brüder!  Bojan  jedoch,  der  Hess  nicht  zehn  Falken  auf  einen 
Schwärm  von  Schwänen  los,  sondern  er  legte  seine  kundigen  Finger 
auf  die  lebendigen  Saiten  ;  diese  verkündeten  dann  selbst  dem  Fürsten 
den  Ruhm. 

Beginnen  wir  also,  o  Brüder,  diese  Erzählung  mit  dem  alten 
Vladimer*^)  bis  zum  jetzigen  Igor,')  der  mit  seiner  Kühnheit  den  Geist 
anspannte  und  mit  dem  Mannesmute  seines  Herzens  verschärfte ; 
beseelt  vom  kriegerischen  Geiste  führte  er  seine  tapferen  Scharen 
bis  ins  Gebiet  der  Polovzer,*)  jenseits  des  Russenlandes. 

11. 

Da  blickt  Igor  zur  hellen  Sonne,  sieht  aber  alle  seine  Scharen 
vom  Schatten  bedeckt.  Igor  spricht  nun  zu  seinen  Gefährten :  „Brüder 
und  Kameraden !  Besser  ists  für  uns  niedergehauen  zu  werden,  als 
gefangen   zu  sein!   Besteigen  wir  unsere  fHnken  Rosse   und   sehen 

^)  Bojan  war  allen  Andeutungen  nach  jedenfalls  ein  allgemein  bekannter 
altrussischer  Barde.  —  Diese  Stelle  zeigt  auch,  dass  es  in  Russland  längst  Dichter- 
wettkämpfe gegeben;  erhalten  hat  sich  jedoch  von  diesen  poetischen  Erzeugnissen 
nichts,  sofern  jene  alten  russischen  Volkslieder,  die  einen  Kunstdichter  verraten, 
nicht   dieser   Provenienz   entstammen. 

-)  Jaroslav  Svjatoslavic   (1019—1054). 

^)  Mstislav,  Fürst  von  Tmutorokan,  tötete  i,  J.  1022  den  Fürsten  der 
Kasogen,  Rededja,   einen   ungewöhnlich  starken  Mann,   im  Zweikampfe. 

*)  Kasogen,   eine  Völkerschaft  am  Azovschen  Meere. 

^)  Roman  Svjatoslavic,  Fürst  von  Tmutorokan,  mit  dem  Beinamen  der 
Schöne. 

ß)  Vladimir  Monomach  (1053—1125),  Fürst  von  Kiev, 

')  Igor  Svjatoslavic,  der  Held  dieser  Dichtung.  Die  Worte  »bis  zum  jetzi- 
gen Igor«  besagen  deutlich,  dass  der  Verfasser  ein  Zeitgenosse  Igors  war,  der 
von  1151 — 1201  lebte;  hingegen  lebte  der  Zeitgenosse  Svjatoslav,  der  1194  ge- 
storben ist,  damals  noch;  das  Gedicht  kann  also  nur  in  der  Zeitspannung  von 
1186 — 1194  entstanden  sein. 

^)  P  o  1  o  V  z  e  r,  ein  mongolischer  Volksstamm,  an  der  unteren  Volga  und 
im  Mündungsgebiete  des  Don  wohnend. 


118 

wir  uns  den  blauen  Don  an !"  —  Befeuert  vom  Talendrang  war  des 
Fürsten  Geist  und  die  Sehnsucht,  sich  mit  dem  grossen  Don  zu  mes- 
sen, trat  an  die  Stelle  des  Omens.'')  „Ich  will  doch,"  spricht  er,  „mit 
euch,  Russen,  eine  Lanze  brechen  an  der  Grenze  des  Polovzer-Fel- 
des;  will  mein  Haupt  dort  niederlegen  oder  aber  mit  dem  Helme  den 
Don  austrinken !" 

0  Bojan,  o  Nachtigall  verwichener  Zeit!  Hättest  doch  du  diese 
Heere  besungen,  mit  deren  Ruhme  durch  den  Gedankenwald  schrei- 
tend, den  Geist  bis  unter  die  Wolken  erhebend,  beide  Pole  dieser 
Zeit  mit  dem  Ruhme  umwindend !  Den  Spuren  Bojans  ^")  folgend  über 
Feld  und  Berg,  geziemt  es  dem  Enkel  nun  Igor  das  Lied  zu  sin- 
gen :  „Nicht  der  Sturmwind  trieb  die  Falken  über  die  weiten  Felder, 
sondern  Dohlenschwärme  flogen  dem  grossen  Don  zu."  Oder  hätte 
man  singen  sollen,  du  Seher  Bojan,  du  Enkel  des  Veles"):  „Die 
Rosse  wiehern  hinter  derSula'-);  es  tönet  der  Ruhm  inKiev;  Trom- 
peten schmettern  in  Novigrad ;  die  Fahnen  in  Putivl  ^'')  stehen." 

Igor  harrt  Vsevolods,^^)  seines  lieben  Bruders.  Und  es  spricht 
zu  ihm  der  kühne  Recke  '^)  Vsevolod :  „Einzger  Bruder,  einzges  Licht, 
du   erleuchteter   Igor;   wir  beide   sind   Söhne   Svjatoslavls '")!   Sattle, 

^)  »Znamenie«  kann  hier  nur  die  Bedeutung  Omen  haben.  Die  Annahme, 
dass  es  sich  hier  um  eine  zufällig  eingetretene  Sonnenfinsternis  handle,  ist  kurz- 
weg abzuweisen,  denn  es  heisst  doch:  »Igor  blickt  in  die  helle  Sonne«.  —  Die 
Situation  ist  wohl  folgend  gewesen:  zwischen  der  Sonne  und  Igors  Scharen  stand 
eine  dunkle  Wolke,  daher  sich  diese  im  Schattenkegel  befanden,  was  man  eben, 
als  eine  schlimme  Vorbedeutung  auslegte;  hingegen  war  der  weiter  davon  ste- 
hende Igor  schon  ausserhalb  des  Bereiches  des  Wolkenschattens. 

*")  In  der  Kopie  steht  hier,  wie  noch  weitere  dreimal,  sonderbarerweise 
»Trojan«.  Obschon  es  auch  dem  Zusammenhange  nach  offenkundig  ist,  dass  hier 
immer  »Bojan«  gemeint  sein  muss,  führte  dies  trotzdem  zu  den  sonderbarsten 
Auslegungen.  Die  Erklärung  ist  jedoch  sehr  einfach;  es  wurde  eben  das  cyrillische 
»B«,  da  die  Handschrift  an  vielen  Stellen  schon  schwer  leserlich  war,  als  »Tr« 
gelesen,  was  die  Form  des  erwähnten  Buchstaben  an  sich  erklärlich  macht. 

")  Trotzdem  es  ausdrücklich  heisst,  dass  der  Grossvater  Bojans  »Veles«  hiess, 
will  man  hier  gegen  alle  Logik,  ja  sogar  gegen  die  Bestrebungen  des  Dichters,  der 
sich  selbst  in  die  Phantastereien  Bojans  zu  begeben  wehrt,  den  slavischcn  H  i  r- 
t  e  n  g  o  1 1  entdeckt  haben. 

^-')  S  u  1  a,  linker  Nebenfluss  des  Dnjepr, 

^■')  Putivl,  Stadt  im  Gouvernement  Kursk. 

'')  Vsevolod,  jüngerer  Bruder  Igors, 

'*)  »Tur«  wurde  bisher  allgemein  als  U  r  oder  Auerochs  ausgelegt.  Diese 
Auffassung  ist  bedingungsweise  richtig,  aber  »tur«  bedeutet  ebenso  auch:  Held, 
Recke,  Mann  von  grosser  Körperstärke,  analog  wie  »turati«  auch 
kämpfen  heisst,  und  ist  im  vorliegenden  Falle  diese  Auslegung  jedenfalls  die 
zutreffendere. 

"')   S  v  j  a  t  o  s  1  a  V,   Fürst  von   Kiev   (gest.    1194). 


119 

Bruder,  deine  flinken  Rosse ;  auch  die  meinen  stehen  bereit,  gesattelt 
schon  vorne  bei  Kursk.'')  Und  meine  Kurjanen  sind  verlässliche 
Krieger,*")  bei  Trompetenschall  geboren,'")  unter  Helmen  gewiegt,  mit 
der  Lanzenspitze  gepäppelt.  Vertraut  sind  sie  mit  den  Wegen,  be- 
kannt sind  ihnen  die  Schluchten ;  die  Bogen  halten  sie  gespannt,  die 
Köcher  geöffnet,  die  Säbel  geschärft,  und  sie  selbst  wetteifern,  wie 
die  grauen  Wölfe  auf  dem  Felde,  suchend  die  Ehre  für  sich  und  den 
Ruhm  für  den  Fürsten." 

Da  steigt  Fürst  Igor  in  den  goldenen  Bügel  und  reitet  über  das 
leere  Gefilde.  Die  Sonne  vertritt  ihm  mit  der  Dämmerung  den  Weg ; 
die  Nacht  ächzt  ihm  mit  Schaudern  entgegen ;  den  Vogel  scheucht 
das  Geheul  der  Tiere  im  Schlupfwinkel  auf;  der  Uhu'")  ruft  im  Baum- 
wipfel und  mahnt  achtzugeben  auf  die  unbekannten  Gebiete  der  Volga, 
des  Meeresstrandes,  der  Sula,  des  Surog^*)  und  Korsun,--)  sowie  auf 
dich,  du  Koloss  von  Tmutorokan.--^) 

Die  Polovzer  rannten  hingegen  auf  ungebahnten  Wegen  zum 
grossen  Don;  es  kreischen  die  Wagen  um  Mitternacht  wie  aufge- 
scheuchte Schwäne. 

Igor  führt  sein  Heer  zum  Don.  Und  schon  weidet  an  dessen 
Unglück  sich  der  Vogel;  die  Wölfe  in  den  Schluchten  deuten  gleich- 
falls Schrecken  an ;  die  Adler  rufen  krächzend  die  Tiere  zum  Knochen- 
frasse ;  die  Füchse  bellen  die  rötlichen  Schilde  an.  0  Russenland,  du 
bist  schon  fern  vom  Schutze ! 


*')  Kursk,  Stadt  im  gieichnamigen  Gouvernement,  Die  Krieger  dieses  Ge- 
bietes  nannte   man   »Kurjani«. 

^*)  »Kmet«  =  waffenfähiger  Bursche,  Wehrmann,  Krieger; 
hat  im  Russischen  noch  heute  nicht  die  Bedeutung  Bauer,  wie  bei  den  anderen 
Slaven.  — 

i'-*)  »Povitia  hat  bei  den  Slaven  allgemein  die  Bedeutung  »gebären«,  nicht 
aber,  wie  deutscherseits  immer  übersetzt  wurde,  »einwindeln«,  obschon  der  Be- 
griff selbst  etymologisch  der  letzteren  Bedeutung  Recht  gibt.  Es  gilt  nämlich  bei 
den  Slaven  als  unfein,  namentlich  in  Frauenkreisen,  von  »poroditi«  (^  gebären) 
zu  sprechen;  man  weicht  daher  auf  diese  Art  der  Anspielung  auf  den  Geburtsakt 
aus.  — 

-")  »Div«  wurde  bisher  immer  zu  einem  mythologischen  Vogel  gemacht.  Es 
ist  aber  hier  eben  nur  der  als  Unglück  bringender  Vogel  bekannte  Uhu  (Kauz, 
Eule)  gemeint,  dessen  Augenbau  derart  ist,  dass  ihm  ein  scharfes  Sehen  im  Dun- 
keln möglich  wird.  Er  gilt  daher  auch  als  Symbol  der  Gelehrsamkeit,  weil  letztere 
in  dunkle  Wissensgebiete  dringt, 

-*)   S  u  r  o  z,  ein  Gebiet  am  Azovschen  Meere, 

-^)  Korsun,  ein  Gebiet  des  alten  thaurischen  Chersones,  jetzt:  der  Krim 
'nicht;  d  i  e  Krim). 

-'■)    Tmutorokan,    Gebiet    und    Stadt    am    Azovschen    Meere. 


120 

Lange  dunkelle  die  Nacht;  die  Morgenröte  zündele  das  Licht  an; 
der  Nebel  bedeckte  die  Ebene ;  das  Lied  der  Nachtigall  verstummt, 
das  Krächzen  der  Dohlen  erhebt  sich.  Die  Russen  schliessen  das 
grosse  Feld  mit  den  rötlichen  Schilden  ab,  suchend  die  Ehre  für  sich 
und  den  Ruhm  für  den  Fürsten.  — 

111. 

Am  Freitag  morgens  schlugen  sie  das  heidnische  Heer  und  brei- 
teten sich  mit  ihren  Geschossen  auf  dem  Felde  aus,  mitschleppend 
schöne  Polovzer  Mädchen,  und  mit  ihnen  Gold,  Teppiche  und  kost- 
bare Samtgewebe.  Mit  Schnüren,  Kleidern  und  Pelzen  begannen  sie 
nun  Übergänge  herzurichten  über  aufgeweichte  und  moorige  Stellen, 
und  allerlei  Polovzer  Musterarbeiten,  wie:  rote  Fahnen,  weisse  Stand- 
arten, rote  Roßschweife  und  silberne  Einlegarbeilen  dem  tapferen 
Svjatslavlic  (bringend).^*) 

Im  Felde  schläft  Olegs  tapferer  Stamm,  weit  umher  zerstreut; 
er  war  nicht  im  Elend  geboren,  weder  vom  Falken,  noch  vom  Geier 
oder  von  dir,  schwarzer  Rabe,  du  heidnischer  Polovzer ! 

Gzak  flüchtet  wie  ein  grauer  Wolf;  Koncak-^)  zeigt  ihm  die 
Spur  zum  grossen  Don. 

Sehr  zeitlich  am  kommenden  Morgen  kündigt  blutige  Morgen- 
röte den  Tag  an ;  schwarze  Wolken  ziehen  vom  Meere  her,  als  woll- 
ten sie  vier  Sonnen  verhüllen,  und  in  ihnen  schwirren  blaue  Blitze. 
Ein  heftiger  Donner  stellte  sich  ein  und  es  regnete  gleich  Pfeilen  vom 
grossen  Don.  Hier  brechen  Lanzen,  dort  am  Kajala-Flusse,-")  beim 
grossen  Don,  schlagen  Säbel  ein  auf  die  Polovzer  Helme.  0  Russen- 
land, du  bist  schon  fern  vom  Schutze !  — 

Sieh,  die  Winde,  Stribogs  Enkel, ^')  wehen  vom  Meere  mit  Ge- 
schossen auf  die  tapferen  Scharen  Igors;  die  Erde  erbebt,  die  Flüsse 
rinnen  trübe,  Staubwolken  bedecken  die  Felder,  die  Fahnen  werden 
zu  Fetzen,  denn  die  Polovzer  rücken  heran  vom  Don  und  vom  Meere 

^*)  Es  handelt  sich  hier  augenscheinlich  darum,  Igor,  ihrem  Führer,  im  Lager 
durch  Belegen  der  Wege  mit  Teppichen  u.   drgl.  zu  ehren. 

'"')  Gzak  und  Koncak  waren  jedenfalls  wohlbekannte  Namen  der  Führer 
der  Polovzer. 

-")  K  a  j  a  1  a,   Nebenfluss     des   Don    im    Polovzer-Gebiete,    jetzt    K  a  g  a  1  n  i  k. 

-")  Die  Bezeichnung  »Stribogs  Enkel«  wurde  bisher  immer  im  mythologischen 
Sinne  aufgefasst.  Viel  wahrscheinlicher  ist  es,  dass  Stribog  der  Grossvater  Gzaks 
oder  Koncaks  war,  denn  die  rasche,  windartige  Bewegung  des  Gzak  wird  kurz 
zuvor  angedeutet,  und  handelt  es  sich  hier  doch  nur  um  Krieger,  die  m.it  dem 
Winde  verglichen  werden. 


121 

und  von  allen  Seiten,  das  russische  Heer  umzingelnd.  Die  Söhne  des 
Teufels-1  schliessen  unler  Geschrei  das  Feld  ab,  aber  die  tapferen 
Russen  umschliessen  jene  mit  den  rötlichen  Schilden. 

Der  kühne  Recke  Vsevolod  stand  da  zur  Wehr,  sprühend  Pfeile 
auf  das  Heer  und  donnernd  um  die  Helme  mit  den  stählernen  Schwer- 
tern. Wohin  der  Recke  zusprang,  hervorleuchtend  mit  seinem  gol- 
denen' Helme,  dort  liegen  Polovzer  Heidenköpfe  und  zusammen- 
geschweisste  ■'")  Helme,  gespalten  mit  gehärteten  Säbeln  von  dir,  du 
grimmiger  Recke  Vsevolod. 

Welch  teure  Wunden,  o  Brüder,  zu  vergessen  Ehre  und  Leben, 
und  die  Stadt  Cernigov,'")  den  väterlichen  goldenen  Thron  und  seine 
geliebte  Gattin,  die  schöne  Gljebovna,  die  Gewohnheilen  und  Gebräuche  ! 

IV. 

Verwichen  sind  die  Zeiten  Bojans,  vorüber  sind  die  3ahre  Jaro- 
slavs;  dies  waren  Olegs  Scharen,  des  Oleg  Svjatoslavlic.  Denn  die- 
ser Oleg  hat  mit  dem  Schwerte  Aufruhr  geschmiedet  und  Pfeile  gesäet 
im  Lande.  Er  bestieg  den  goldenen  Bügel  in  der  Stadt  Tmutorokan ; 
und  dieses  Klingen  hörte  der  selige  grosse  Jaroslav,  der  Sohn  Vse- 
volods,  und  Vladimir  verstopfte  sich  in  Cernigov  jeden  Morgens  die 
Ohren.  Doch  Boris  Vjaceslavlic^^)  führte  die  Ruhmbegierde  vors  Ge- 
richt und  streckte  ihn  aus  auf  den  grünenden  Teppich  Kanins,^-)  für 
die  Beleidigung  Olegs,  des  tapferen,  jugendlichen  Fürsten.  — 

Von  dieser  Kajala  nun  führte  Svjatoplk^')  seinen  Vater  durch 
die  Ugorskische  Reiterei'*)  zur  hl.  Sofija  nach  Kijev.  —  Damals  wurde 
bei  Oleg  Gorislavlic^')  gesäet  und  gezüchtet  der  Familienzwist,  der 
das  Leben   des   Enkels  Dazdbog'^)   vernichtete,   denn   bei  den  Rei- 

-^)  »Bes«  =^  der  Böse,  der  Teufel. 

29>  »Ovarskija«  dürfte  von  »ovariti«  (=  zusainmenschweissen]  stammen,  ist 
demnach   kein   Eigenname   (»avarisch«). 

'"')   Cernigov,   Stadt   und   Gouvernement    in   Russland. 

")    Boris    Vjaceslavic,    Sohn    des    Fürsten    Vjaceslav    von    Smolensk. 

'•-')  Kanin,  scheint  eine  Lokalität  bei  Cernigov  zu  sein,  oder  ist  ein  anderer 
topischer  Name  für  Njezatin,  wo  eben  Boris  i.  J.   1078  fiel, 

^3)  S  V  j  a  t  o  p  o  1  k,  ein  Sohn  Izjaslavs. 

**)  »Ugorskische«  Reiterei,  wie  später  »Ugrische«  Berge,  deuten  auf  das  Ge- 
biet der  ungarischen  Karpaten,  denn  die  Slaven  nennen  die  Ungarn  eben:  Ogri, 
Ugri,  Uhfi.  — 

='3)  Ober  diesen  ist  geschichtlich  nichts  Näheres  bekannt. 

36)  D  a  z  d  b  o  g  wird  allgemein  als  ein  mythologischer  Name  angesehen.  Dies 
trifft  schon  dem  Inhaltszusammenhange  nach  nicht  zu,  sondern  es  handelt  sich 
hier  offenkundig  um  den  gewaltsamen  Tod  eines  jugendlichen  Fürsten,  umsomehr 
als  kurz  nachher  angedeutet  wird,  wie  sich  die  Rache  für  diesen  Mord  einstellte. 


1l^2 

bungen  der  Fürsten  verkürzte  sich  die  Lebensdauer  der  Menschien. 
Damals  jauchzte  im  Russenlande  seilen  der  Landmann,  hingegen 
krächzten  oft  die  Raben,  sich  teilend  in  die  Leichen ;  und  wollten  die 
Dohlen  zum  Frasse  fliegen,  so  besprachen  sie  dies  in  ihrer  Sprache. 
So  sah  es  aus  in  diesem  Kriege  und  bei  diesem  Heere ;  von  einem 
ähnlichen  Kriege  war  noch  nicht  zu  hören. 

V. 

Vom  frühen  Morgen  bis  zum  Abend,  vom  Abend  bis  zur  Mor- 
gendämmerung fliegen  gehärtete  Pfeile,  donnern  die  Schwerter  und 
Helme,  splittern  stählerne  Lanzen  auf  dem  unbekannten  Felde  inmitten 
des  Polovzer  Landes.  Besäet  war  die  schwarze  Erde  unter  den  Hufen 
mit  Knochen,  getränkt  mit  Blut;  mit  dem  Seufzer  nach  dem  Russen- 
lande endeten  sie. 

Was  summt,  was  läutet  mir  (im  Ohr)  früh  lange  vor  der  Morgen- 
röte? —  Igor  wendet  die  Heere,  denn  leid  ists  ihm  um  den  lieben 
Bruder  Vsevolod.  Sie  kämpften  den  Tag  hindurch,  sie  kämpften  den 
zweiten,  und  gegen  Mittag  des  dritten  Tages,  da  sanken  Igors  Fah- 
nen. Hier  trennten  sich  die  Brüder  am  Ufer  der  reissenden  Kajala ; 
hier  war  kein  Blutwein  mehr  zu  haben,  hier  beendeten  die  Russen 
ihre  Hochzeit ;  sie  haben  getränkt  ihre  Gäste  und  sanken  nun  selbst 
hin  fern  vom  Russenlande.  —  Das  Gras  verdorrte  vor  Trauer  und 
den  Baum  beugte  der  Kummer  zur  Erde.  — 

VI. 

Schon  ist,  o  Brüder,  die  freudelose  Zeit  gekommen,  schon  hat 
Grabesstille  die  Macht  verhüllt.  So  stellte  sich  ein  die  Rache  in  der 
Gewalt  des  Enkels  Dazdbog.  Er  betrat  in  Mädchengestalt  Bojans  Land, 
flatternd  wie  mit  Schwanenflügeln  auf  dem  blauen  Meere  am  Don, 
und  weckte  fruchtbarere  Zeiten,  denn  die  Gehässigkeit  gegen  die 
Heiden  legte  sich  nun  bei  den  Fürsten.  Hingegen  sprach  der  Bruder 
zum  Bruder :  „Das  ist  mein  und  das  ist  auch  mein !"  Und  die  Für- 
sten begannen  eine  Kleinigkeit  als  etwas  Grosses  hinzustellen  und 
selbst  untereinander  Ränke  zu  schmieden ;  und  daraufhin  rückten  die 
Heiden  von  allen  Seiten  siegreich  herein  ins  Russenland.'') 

0,  weit  verirrte  sich  der  Falke,  die  Vögel  ans  Meer  verfolgend; 
so  ersteht  auch  Igors  Heer  nicht  wieder.  Ihm  nach  ruft  die  Vergel- 
tung, und  Trauer  beschreitet  das  Russenland,  Brände  schleudernd  in 
die  Familienzwiste. 

^')  Hier  wird  satirisch  auf  die  neue  Situation  angespielt:  früher  befehdeten 
die  Fürsten  die  Nachbarvölker,  nun  aber  sich  selbst  untereinander,  vas  noch  nach- 
teiliger ist. 


12:i 


Die  Russenfrauen  weinten  und  sprachen :  „Schon  können  wir 
uns  unserer  Heben  Gallen  in  Gedanken  nicht  mehr  erinnern,  noch 
derer  im  Geiste  gedenken,  noch  sie  mit  den  Augen  ansehen ;  und 
auch  vom  Golde  und  Silber  fällt  nicht  wenig  ab." 

0  Brüder,  Kiev  seufzt  im  Trübsal  und  Cernigov  im  Unglücke ; 
Schrecken  ergiessl  sich  über  das  Russenland,  schwerer  Kummer 
strömt  durchs  Russenland,  und  trotzdem  schmieden  die  Fürsten  selbst 
Ränke  untereinander,  und  die  Heiden  selbst  sprengen  siegreich  her- 
ein ins  Russenland,  auferlegend  einen  Silberling  von  jedem  Hofe  als 
Steuer. '1 

Diese  beiden  tapferen  Svjatoslavlic,  Igor  und  Vsevolod,  verur- 
sachten schon  Leid,  das  aber  deren  Vater,  der  grimmige,  grosse 
Svjalslav  von  Kiev  abwendete.  Es  war  schrecklich ;  er  kam  heran- 
gerasselt mit  seinen  gewaltigen  Scharen  und  stählernen  Schwertern, 
dringt  ein  in  das  Polovzer  Land,  durchstampft  Höhen  und  Schluchten, 
trübt  Flüsse  und  Seen,  legt  trocken  Bäche  und  Sümpfe,  und  reisst 
aus  den  eisernen  Polovzer  Scharen  den  heidnischen  Kobjak '")  wie 
ein  Sturmwind  von  der  Meeresbucht  heraus ;  und  Kobjak  endete  in 
der  Stadt  Kiev  im  Gewahrsam  Svjatoslavls. 

Da  sangen  die  Deutschen  und  Venetier,  da  die  Griechen  und 
Mährer  dem  Svjatoslavl  Ruhm,  tadelten  hingegen  den  Fürsten  Igor, 
weil  er  das  Beste  versenkt  in  das  Bett  der  Kajala,  des  Polovzer 
Flusses,  und  vollschüttete  mit  russischem  Golde.  Hier  setzte  sich 
Fürst  Igor  aus  seinem  goldenen  Sattel  in  jenen  Koscejs"');  Trauer 
verbreitete  sich  in  den  Städten  und  die  Freude  schwand  dahin. 

VIL 

Und  Svjatoslavl  sah  einen  trüben  Traum  auf  den  Höhen  von 
Kiev ;  er  erzählte :  „Am  Abende  dieser  Nacht  habt  ihr  mich  mit  einer 
schwarzen  Decke  auf  einem  Bette  von  Ebenholz  bekleidet ;  man 
schöpfte  mir  bläulichen  Wein  mit  Bitternissen  gemischt;  man  schüt- 
tele mir  aus  leeren  Köchern  von  heidnischen  Muscheln  eine  grosse 

="*)  Es  ist  völlig  unverständlich,  weshalb  jeder  Ausleger  den  Begriff  »bjel« 
als  »weisses  Eichhörnchenfell«  übersetzt,  da  dies  an  sich  unlogisch  ist,  denn  gab 
es  so  zahlreiche  weisse  Eichhörnchen,  so  hatten  die  Felle  keinen  Wert,  gab  es 
wenige,  so  konnten  die  Hofbesitzer  ihrer  Pflicht  nicht  nachkommen.  »Bjel« 
bedeutet  aber  auch  im  Russischen  Silber,  weisses  Geld,  wie  ebenso  im 
Böhmischen,  Slovenischen  («belic«)  u.  s.  w,  also  eine  Silbermünze  heute 
unbekannten  Wertes. 

")  Kobjak,  ein  Chan  der  Polovzer. 

'")  Koscej,  ein  Chan  der  Polovzer.  Der  Vergleich  will  wohl  besagen:  früher 
war  Koscej  der  Besiegte,  jetzt  ist  es  Igor,  d.  h.   sie  tauschten  die  Rollen. 


124 

Perle  in  den  Schoss  und  pflegte  mich;  die  Dielen  in  meinem  gold- 
gipfligen  Palasle  waren  ohne  Stützen ;  vom  Abend  an  die  ganze  Nacht 
hindurch  krächzten  hungernde^^)  Raben  bei  Pljesensko^");  es  war 
dort  ein  Hain  mit  Aas,")  daher  sie  nicht  zum  blauen  Meere  fortzogen." 

Die  Bojaren  sprachen  nun  zum  Fürsten :  „Schon  hat,  o  Fürst, 
der  Gram  die  Sinne  gefangen  genommen;  ach,  die  zwei  Falken  sind 
vom  goldenen  väterlichen  Throne  ausgeflogen  um  zu  erobern  die 
Stadt  Tmutorokan  oder  lieber  mit  den  Helmen  den  Don  auszutrinken. 
Schon  haben  die  beiden  Falken  durch  die  Heidensäbel  die  beiden 
Flügel  eingebüssl  und  wurden  selbst  gefesselt  in  eiserne  Netze,  denn 
finster  war  es  am  dritten  Tage;  zwei  Sonnen  verfinsterten  sich,  beide 
Feuersäulen  erloschen,  und  mit  diesen  wurden  zwei  junge  Monde, 
Oleg  und  Svjatoslavl,  von  der  Finsternis  umhüllt. 

Am  Flusse  Kajala  hat  Dunkel  das  Licht  bedeckt.  Im  Russen- 
lande verbreiteten  sich  die  Polovzer  wie  eine  Pantherbrut ;  sie  ver- 
senkten alles  ins  Meer,  die  grossen  Schätze  aber  übergaben  sie  den 
Hinen. 

Schon  erhob  sich  Schande  über  Ruhm,  schon  riss  die  Gewalt 
an  der  Freiheit,  schon  wirft  sich  der  Totenvogel  auf  die  Erde.  Und 
die  schönen  gotischen^*)  Mädchen  beginnen  zu  singen  am  Ufer  des 
blauen  Meeres,  klingend  mit  russischem  Golde;  sie  besingen  die 
heiteren  Zeiten  und  feiern  die  Rache  mit  Schellengeläute.^^]  Wir  aber, 
Kameraden,  wir  haben  keine  Freude!" 

Da  warf  der  grosse  Svjatoslavl  das  goldene,  mit  Tränen  ge- 
mischte Wort  ein,  indem  er  sagt:  „0  meine  Söhne,  Igor  und  Vse- 
volod,  früh  begannt  ihr  das  Polovzer  Land  mit  dem  Schwerte  zu 
quälen  und  Ruhm  zu  suchen,  doch  nur  Schande  habt  ihr  errungen 
und  zur  Unehre  vergosst  ihr  Heidenblut.  Eure  tapferen  Herzen  sind 
wohl  aus  gediegenem  Stahl  geschmiedet  und  im  Ungestüm  gehärtet, 
doch  was  tatet  ihr  meinen  silbernen  Haaren?  Denn  schon   sehe  ich 


^*)  »Bosuvi«  dürfte  hungrig  bedeuten;  im  Slovenischen  heisst  »posunjen« 
=   heisshungrig,   gierig. 

''-)  P  1  j  e  s  e  n  s  k,  eine  verschollene,  vermutlich  nächst  Podhorcze  gelegene 
oder  mit   dieser  identische   Stadt. 

''■■]  »Kisanju«  wurde  bisher  verschiedenst  ausgelegt.  Es  kann  aber  hier  der 
Situation  nach  nur  Sauerwerden,  in  Gährung  übergehen,  ve  rw  e  s  e  n, 
d,  i.  »kisati«  bedeuten,  umsomehr  als  die  Raben  des  Aasvorrates  wegen  eben 
nicht  fortziehen  wollen. 

'''')  Die  Goten  sassen  schon  im  3.  Jahrhunderte  auf  Taurien,  Um  das  Jahr 
1050  wurden   sie   von   den    Polovzcrn   unterjocht. 

''"')  »Sarokan«  wurde  bisher  immer  als  ein  Eigenname  aufgcfasst;  »sarok« 
heisst  aber  doch  im  Russischen  noch  heute:  Schellentrommel,  Tamburin. 


126 

nicht  mehr  die  Länder  des  gewaltigen,  tapferen  und  kriegerreichen 
Bruders,  meines  Jarosiav,  mit  den  Haudegen  von  Cernigov,  mit  den 
Moguten,  Tatranen,  Selbiren,  Topcaken,  Revugen  und  Olberen,"')  denn 
diese  siegten  ohne  Schilde  mit  Lederiiberzug,  nur  mit  Feldgeschrei 
über  die  Scharen,  kündend  den  Ruhm  der  Ahnen.  Ihr  aber  sagtet 
nicht:  „Wir  haben  doch  Männer  und  können  den  früheren  Ruhm  selbst 
erringen  und  den  letzten  teilen  wir  allein."  —  Und  wäre  es  ein  Wun- 
der, Brüder,  wenn  sich  das  Alter  verjüngt!  So  lange  der  Falke  mau- 
sert, treibt  er  das  Gevögel  hoch  und  lässt  sein  Nest  nicht  verunglim- 
pfen. Doch  böse  ists,  weil  mir  die  Fürsten  nicht  beistehen ;  die  Zeiten 
haben  sich  zu  nichts  gewendet !  Diese  rufen  aber  erst  unter  den 
Polovzer  Säbeln  zur  Eintracht'")  und  Volodimir  erst  unter  den  Wun- 
den; Kummer  und  Gram  ward  dem  Sohne  Gljebs!' ) 

Vlll. 

Grosser  Fürst  Vsevolod!  Möchtest  du  doch  in  Gedanken  hieher- 
schweben  von  weitem,  um  zu  schützen  den  goldenen  Thron  der 
Väter!  Denn  du  konntest  mit  Rudern  die  Volga  verspritzen  und  den 
Don  mit  dem  Helm  ausschöpfen.  Wenn  du  da  wärest,  dann  gälte  die 
Caga^'')  soviel  wie  eine  Nogata '■)  und  Koscej  einen  Resan,'')  denn 
du  konntest  mit  lebendigen  Wurfgeschossen,  mit  den  ergebenen  Söh- 
nen Gljebs,  auf  dem  Festlande  schiessen ! 

0  du  kühner  Rjurik  und  David !  -)  Sind  eure  goldenen  Helme 
nicht  im  Blute  geschwommen?  Haben  eure  tapferen  Genossen  nicht 
wie  Stiere  gebrüllt,  verwundet  mit  gehärteten  Säbeln  auf  fremder 
Erde?  Tretet  ihr  Herren  in  den  goldenen  Bügel  für  die  Schmach  die- 
ser Zeiten,  für  das  Russenland,  für  Igors  Wunden,  des  kühnen  Svjat- 
slavlic! 

*^)  Krieger  der  Bezirke  gleichen  Namens. 

*')  »Rim«  :=  Ring,  das  Zusammenhalten;  an  »Rom«  ist  hier  nicht 
zu  denken,  wie  viele  Übersetzer  meinten. 

^®)  Hljeb   Jurjevic;   regierte   von    1169 — 1171. 

^■']  »Caga«  hiess  eine  grosse  russische  Goldmünze.  Sie  ist  noch  in  mehreren 
Exemplaren  in  den  Museen  Nordeuropas  vorhanden;  ihre  Aufschrift  »cagk«,  auch 
»cagja«  konnte  aber  bisher  niemand  lesen,  weil  sie  in  nordslavischen  Runen  dar- 
gestellt ist.  Dass  »Caga«,  wie  man  bisher  immer  annahm,  der  Name  eines  Polovzer- 
Chanes  gewesen  wäre,  ist  daher  falsch,  und  soll  hiemit  der  grosse  Wertunterschied 
der  zwei  Münzen  und  demnach  auch  vergleichend  der  Polovzer  Koscej  taxiert 
werden. 

5")   »Nogata«,   eine  kleine  russische  Münze. 

^^)  »Rezan«  eine  kleine,  minderwertige  russische  Münze;  214  davon  geben 
erst  eine   »nogata«. 

^-)  Rjurik  und  David  waren  Enkel  Mstislavs  d.  Gr. 


lue 

Du  achtfach  denkender  Jaroslav  von  Galizien!"^)  Hoch  sitzest 
du  auf  deinem  goldbeschlagenen  Throne,  stütze  die  Ugrischen  Berge 
mit  deinen  eisernen  Scharen,  vertretend  dem  Könige  den  Weg ;  ver- 
schliesse  die  Tore  des  Don,'*)  schleudernd  Lasten  durch  die  Wolken, 
Recht  sprechend  bis  zum  Don !  Deine  Schrecken  verbreiten  sich  über 
die  Lande,  öffnend  die  Tore  von  Kijev,  beschiessend  von  deinem 
goldenen  Throne  Saltan  ")  jenseits  der  Grenze;  schiesse,  Herr  auf 
Koncak  und  auf  den  heidnischen  Koscej  für  das  Russenland  und 
für  Igors  Wunden,  des  kühnen  Svjatslavlic! 

Auch  du  mutiger  Roman''')  und  Mstislav'')!  Heldensinne  trugen 
euren  Geist  zur  Tat ;  hoch  schwebtet  ihr  in  Kühnheit  zum  Tatendrange, 
gleich  einem  Falken  sich  in  den  Winden  ausbreitend,  sobald  er  ver- 
wegen einen  Vogel  überwinden  will ;  denn  ihr  hattet  eiserne  Spangen 
unter  den  lateinischen')  Helmen;  von  diesen  erbebte  die  Erde  und 
viele  hinische,  litauische,  jatvjagische  und  deremelische  Gegenden,  und 
die  Polovzer  warfen  ihre  Lanzen  weg  und  beugten  ihre  Häupter  unter 
deren  stählerne  Schwerter.  Doch  schon  schwand  das  Licht  der  Sonne 
und  der  Baum  warf  unwillig  seine  Blätter  ab.  An  der  Rsa  '')  wie  an 
der  Sula  verteilte  man  die  Städte,  doch  Igors  tapfere  Scharen,  sie 
erstehen  nicht  wieder.  Dieser  Don  aber  ruft  den  Fürsten  zu  und  ruft 
die  Fürsten  auf  zum  Siege:  die  Söhne  Olegs,  tapfere  Fürsten,  sie 
treffen  ein  zur  Wehr. 

Ingvar"")  und  Vsevolod  und  alle  drei  Söhne  Mstislavs,  Sechs- 
flügler")  aus  keinem  niederen  Neste;  habt  Ihr  nicht  durch  ein  sieg- 
reiches Geschick  Länder  erbeutet?  Wie  sehen  eure  goldenen  Helme 
und  Ijazkischen  Lanzen  und  Schilde  aus?  Schliesst  ab  die  Tore  des 
Kampffeldes  mit  euren  scharfen  Pfeilen  für  das  Russenland  und  für 
die  Wunden  Igors,  des  kühnen  Svjatslavlic!  — 

"'■')  Jaroslav  Vladimirovic,  Grossfürst  von  Galizien,  Schwiegervater  Igors, 
des  Helden  der  Dichtung. 

^■')  Im  Texte  »üunaj«.  Hiemit  ist  ausschliesslich  das  Don-Gebiet  gemeint;  mit 
der  Donau  im  heutigen  Sinne  hat  dieser  Name  in  der  Dichtung  nichts  zu 
schaffen. 

'')  »Saltan«  scheint  eine  Veste  oder  ein  Ort  am  Donec  (jetzt  «Saltov«?)  ge- 
wesen zu  sein. 

•'■''')   Roman   Mstislavic,    Grossfürst   von    Galizien    (seit    1197). 

"'")  M  s  t  i  s  1  a  V    .Jaroslavic,   Stiefbruder  Romans. 

•' ')  Unter  lateinisch <-.  verstand  man  Erzeugnisse,  die  aus  Ländern  des  rö- 
misch-katholischen  Glaubensbekenntnisses    kamen. 

•'■■')   Rsa,   rechter  Nebenfluss   des   Dnjepr   (bei   Kiev). 

'■")  Ingvar  und  Vsevolod  waren  Söhne  des  Fürsten  Jaroslav  Izjaslavlic 
von  Luck. 

'•')  j.Sechsflügler«,  also  in  der  Auffassung  als  Vögel  —  jeder  mit  zwei  Flügeln, 


127 
IX. 

Die  Sula  fliessl  nicht  mehr  in  silbernen  Strömen  zur  Stadt  Pere- 
jaslavl"^')  und  die  Dvina"')  fliesst  schmutzig  zu  jenen  furchtbaren 
Polovcanen  mit  dem  heidnischen  Geschrei.  Nur  Izjaslav"')  allein,  der 
Sohn  Vasilkos/'')  dröhnt  mit  seinen  scharfen  Schwertern  an  den  litau- 
ischen Helmen;  er  erringt  Ruhm  seinem  Ahnen  Vseslav,'")  doch  er 
selbst  ward  niedergerungen  unter  den  rötlichen  Schilden  auf  blutigem 
Rasen  durch  litauische  Schwerter.  Und  als  man  ihn  aufs  Bett  legte, 
sagte  er:  „Deine  Genossen,  o  Fürst,  deckten  die  Vogelschwingen  und 
die  Tiere  leckten  das  Blut ;  Bruder  Bracislav  war  aber  nicht  hier  und 
auch  nicht  der  andere  Vsevolod."  —  Allein  verhauchte  er  die  edle 
Seele  aus  dem  tapferen  Leibe  durch  den  goldenen  Halskragen. 

Die  Stimmen  verstummten,  die  Freude  legte  sich. 

Die  Trompeten  von  Grodno'")  schmettern:  „3aroslav  und  ihr 
alle  Enkel  Vseslavs,  senket  schon  eure  Fahnen,  versorget  eure  schar- 
tigen Schwerter,  denn  schon  seid  ihr  vom  Ahnenruhme  ausgesprun- 
gen ;  ihr  habt  doch  mit  euren  Fehden  das  Eindringen  der  Heiden  in 
das  Russenland  verschuldet,  wie  auch  das  Leben  Vseslavs !  Welcher 
Druck  stellt  sich  da  ein  vom  Polovzer-Lande !"  — 

Im  siebenten  Zeitalter'")  Bojans  warf  nämlich  Vseslav  das  Los 
um  das  ihm  teure  Mädchen.-'')  Er  klemmte  sich  mit  den  Hacken  ans 
Pferd,  sprengte  zur  Stadt  Kiev  und  erreichte  durch  das  Flussbett  den 
goldenen  Sitz  von  Kiev.  Von  diesem  springt  er  auf,  wie  ein  wildes 
Tier  um  Mitternacht,  aus  der  weissen  Burg,  sich  in  grauen  Nebel 
hüllend,  und  rennt  am  Morgen  mit  fahrbaren  Mauerböcken  die  Tore 
von  Novigrad'")  ein,  vernichtet  den  Ruhm  Jaroslavs,  und  eilt  wie 
ein  Wolf  zur  Nemiga"')  aus  Dudutki.'-)  An  der  Nemiga  streut  man 
Köpfe   als  Garben   hin   und  drischt  mit   stählernen  Flegeln ;   auf  die 

^^)    P  e  r  e  s  1  a  V  I,    Kreisstadt    im    russ.    Gouvernement  Poltava. 
***)  Der  Fluss  D  v  i  n  a  (Düna)  fliesst  bei  der  Stadt  Polock  vorüber. 
'")  I  z  j  a  s  1  a  V,  Sohn   des  Vasilko,   Enkel  des  Vseslav  (gest.    1183). 
"^j  Vasilko  war  i.   J.   1132  Fürst  von  Polock. 
•"'')   Vseslav,   Fürst   von   Polock   (gest.    1101). 
''^)   Grodno,   Gouvernements-Haupstadt    in   Westrussland. 
®^)  Eine  nicht  näher  bekannte   Zeitrechnung,   anscheinend   ähnlich   den   Olym- 
piaden oder  Lustren, 

'''')  N  o  V  i  g  r  a  d,  d.  i.  Novgorod. 

"")  Darunter  scheint  die  Stadt  Kiev  gemeint  zu  sein. 
'^]   Nemiga,   identisch   mit   dem   N  j  e  ni  e  n-Flusse. 

"-)    Dudutki,    Ortschaft   unweit   Novgorod;    dort    befindet    sich    noch    heute 
ein  Kloster,  genannt  ^>na  Dudutkah«. 


US- 

Tenne  legt  man  das  Leben  und  worfelt'')  die  Seelen  vom  Leibe.  Die 
blutigen  Ufer  der  Nemiga  waren  nictit  mit  Sclilamm  besät,  sie  waren 
besät  mit  den  Gebeinen  der  Russensöhine. 

.  Fürst  Vseslav  spracti  das  Reclit  dem  Volke,  verteilte  an  die 
Fürsten  die  Städte,  selbst  aber  eilte  er  nachts,  wie  ein  Wolf;  er  er- 
reiclite  bis  zum  Hahnenrufe  Tmutorokan  und  überholte  den  grossen 
Chrs'^)  nach  Wolfsart  auf  dem  Wege.  Ihm  läutete  man  bei  der  hei- 
ligen Sofija  in  Polock  zur  Frühmesse  die  Glocke,  aber  er  hörte  noch 
in  Kiev  das  Läuten.'^') 

Mag  nun  auch  in  einem  freundlichen  Körper  eine  kluge  Seele 
wohnen,  so  leidet  sie  doch  oft  an  Gebrechen.  Diesem  hat  der  Seher 
Bojan  daher  schon  früher  in  einem  sinnigen  Liede  gesagt :  „Nicht 
der  Kluge,  nicht  der  Schnelle,  nicht  der  Vogelschnelle  entgeht  dem 
Gerichte  Gottes." 

0  seufzen  muss  das  Russenland,  gedenkt  es  der  ersten  Zeiten 
und  der  ersten  Fürsten.  Jenen  alten  Vladimir  konnte  man  nicht  an- 
nageln an  die  Berge  von  Kiev,  dessen  Fahnen  wurden  zu  jenen 
Rjuriks  und  andere  zu  jenen  Davids,  und  die  Stämme  trugen  deren 
Rüssel  zur  Weide.') 

X. 

Die  Speere  ziehen  gegen  den  Don.  — 

Da  hört  man  üaroslavnas")  Stimme;  sie  ruft  des  morgens,  ver- 
borgen wie  ein  Kuckuck :  „Ich  will  fliegen,"  sagt  sie,  „wie  ein  Kuk- 


'■')  »Worfeln«  bezeichnet  die  Scheidung  des  ausgedroschenen  Kornes  von  der 
Spreu,  Dies  geschieht  durch  Verwerfen  mit  einer  Handschaufel  in  der  Tenne  von 
einer  Ecke  in  die  diagonal  gegenüberliegende;  die  Spreu  fällt  schon  auf  dem  hal- 
ben Wurfwege  ab,  das  Korn  gelangt  ob  seiner  Schwere  hingegen  rein  an  die  Wand. 
Dieser  poetische  Vergleich  eines  blutigen  Kampfes  mit  dem  Dreschprozesse  ist 
geradezu  hervorragend  bilderreich  und  vorbildlich   konsequent  durchgeführt. 

'■')  »Chrs«,  sonst  auch  »Chors«,  wurde  bisher  allgemein  als  ein  mythologischer 
Name  für  die  Sonne  oder  für  den  Sonnengott  angesehen.  Offenkundig  lau- 
tete aber  so  der  Funktionsname  des  Führers  einer  »kora,  horda«  oder  »orda«, 
also  einer  Schar  von  Kriegern  (Chor),  und  bestand  bei  den  Tataren  doch  auch  die 
sogenannte  »goldene  Horde«,  eine  Heeresabteilung  Dzucis,  welche  das  Chanat 
Kipcak  gründete. 

"■')  Damit  deutet  der  Dichter  dessen  Raschheit  in  seinen  Unternehmungen  an, 
d.  h.  begann  man  in  Polock  zur  Frühmesse  zu  läuten,  wenn  er  den  Ort  passierte, 
so  war  er  beim  Schluss  des  Geläutes  schon  nahe  von  Kiev. 

■'■)  Hiemit  will  der  Dichter  unter  Gebrauch  einer  damals  geläufigen  Redensart 
andeuten,   dass   die   Untertanen   den   erwähnten  Fürsten   alles   zuliebe    taten. 

' ■)  J  a  r  o  s  1  a  v  n  a,  die  Gattin  Igor's,  Tochter  des  Fürsten  Jaroslav,  sonst 
auch  Euphrosine  genannt. 


12f> 

kuck  zum  Don,  will  den  Biberärmel  im  Flusse  Kajala  eintauchen  und 
dem  Fürsten  seine  blutenden  Wunden  am  erstarrten  Körper  reinigen." 

Oaroslavna  weint  des  Morgens  auf  dem  Söller  in  Putivl  und 
spricht:  „0  Wind,  o  Segelwind!  Weshalb,  o  Gott,  wehst  du  so  stark? 
Weshalb  wirfst  du  die  hinischen  Pfeile  auf  deinen  leichten  Flügeln 
auf  meines  Liebsten  Krieger?  War  es  dir  zu  wenig  oben  unter  den 
Wolken  zu  wehen,  oder  die  Schiffe  zu  schaukeln  auf  dem  blauen 
Meere?  Weshalb,  o  Herr,  verwehst  du  meine  Freude  über  das  Step- 
pengras?" 

Oaroslavna  weint  des  Morgens  auf  dem  Söller  in  der  Stadt 
Putivl  und  spricht:  „0  Dnjepr,  du  ruhmvoller!  Du  hast  Felsenberge 
durchbrochen  durch  das  Polovzer  Land ;  du  hast  geschaukell  auf  dir 
Svjatoslavls  Schiffe  gegen  Kobjaks  Scharen  '^ ;  schaukle  doch  wieder, 
0  Herr,  meinen  Geliebten  zu  mir,  damit  ich  nicht  Tränen  am  Morgen 
ans  Meer  zu  ihm  senden  muss!" 

Oaroslavna  weint  des  Morgens  auf  dem  Söller  in  Putivl  und 
spricht:  „Helle,  dreifachhelle  Sonne!  Allen  willst  du  warm  und  schön; 
weshalb,  o  Herr,  hast  du  dich  mit  deinem  sengenden  Strahle  auf 
des  Geliebten  Krieger  gelegt?  In  wasserlosen  Gefilden  trocknen  ihnen 
ein  die  Bogen,  und  die  Köcher  sind  ihnen  durch  Entbehrungen  ver- 
schlossen!"— 

XL 

Aufschäumte  das  Meer  um  Mitternacht;  es  ziehen  wie  Wogen 
die  Wolken.  Dem  Fürsten  Igor  zeigt  Gott  den  Weg  aus  den  Polovzer 
Gauen  ins  Russenland  zum  goldenen  väterlichen  Throne. 

Die  Abendröte  erlöschte.  Igor  schläft,  Igor  wacht,  Igor  erwägt. 
Die  Gefilde  vom  grossen  Don  zum  kleinen  Donec"")  misst  ein  Pferd 
um  Mitternacht.  Ovlur"")  pfeift  jenseits  des  Flusses,  gibt  dem  Fürsten 
das  Zeichen. 

Fürst  Igor  war  nicht  da.  —  Es  toste,  es  dröhnte  die  Erde,  es 
knisterte  das  Gras,  die  Polovzer  Zelte  hoben  sich.  Da  springt  Fürst 
Igor  wie  ein  Wiesel  ins  Schilf,  oder  wie  eine  weisse  Ente  auf  dem 
Wasser;  er  wirft  sich  auf  das  schnelle  Ross,  springt  dann  von  ihm 
wie  ein   hungriger  Wolf,  eilt  zur  Donec-Au  und  flieht  dann,  wie  ein 


"'')  Hier  handelt  es  sich  um  einen  siegreichen  Kriegszug  Svjatoslavl's  gegen 
den  Pclovzer-Chan  Kobjak  i.  J.    1184. 

^■•j  D  o  n  e  c,  rechter  Nebenfluss   des   Don. 

^"j  0  V  1  u  r,  V  1  u  r  war  nach  der  Ipat'schen  Chronik,  die  ihn  jedoch  L  a  v  r 
nennt,  zwar  ein  Polovzer,  aber  dessen  Mutter  war  eine  Russin,  daher  sie  ihren 
Sohn  veranlasste   Igor   aus   der   Gefangenschaft   zu   befreien. 

9 


130 

Falke  im  Nebel,  lötend  Gänse  und  Schwäne  zum  Frühmahl,  zum  Mit- 
tag wie  zur  Clause. 

Indess  Igor  wie  ein  Falke  fliegt,  rannte  Vlur  wie  ein  Wolf,  mit 
sich  abstreifend  den  kalten  Tau,  um  die  Fährte  des  schnellen  Pferdes 
zu  unterbrechen."') 

Der  Donec  sagt :  „Fürst  Igor,  nicht  wenig  hast  du  des  Ruhmes, 
Koncak  des  Verdrusses  und  das  Russenland  der  Freude!" 

Igor  erwidert:  „0  Donec,  nicht  wenig  hast  du  des  Ruhmes,  der 
du  den  Fürsten  gewiegt  auf  deinen  Wellen,  der  du  ihm  grünes  Gras 
aufgeschüttet  auf  deinen  silbernen  Ufern,  ihn  umhüllt  mit  warmen 
Lüften  im  Schatten  grüner  Bäume,  ihn  bewachend  durch  den  Tauch- 
vogel auf  dem  Wasser,  die  Möve  über  der  Strömung  und  der  Schwarz- 
ente in  den  Winden.  Nicht  so,"  sagt  er,  „ist  der  Stugna-Fluss^-) ; 
dieser  hat  eine  scharfe  Strömung ;  er  hat  fremde  Bäche  verschlungen 
und  sein  Bett  ausgedehnt  über  das  Ufergestrüppe.  Dem  jungen  Für- 
sten Rostislav"^  verschloss  der  Dnjepr  die  dunklen  Ufer.  Es  weinte 
die  Mutter  Rostislavs  nach  dem  jungen  Fürsten  Rostislav ;  es  ver- 
welkten die  Blumen  vor  Leid  und  der  Baum  neigte  sich  in  Kummer 
zur  Erde,  und  die  Elstern  schwatzten  nicht  mehr." 

Gzak  ritt  mit  Koncak  Igors  Spuren  nach.  Da  krächzten  nicht  die 
Traben,  die  Dohlen  verstummten,  die  Elstern  schwatzten  nicht ;  auf 
den  Ästen  wiegten  sich  nur  die  Spechte,  die  den  Weg  zum  Flusse 
mit  ihrem  Hacken  weisen ;  Nachtigallen  verkünden  das  Licht  mit  fro- 
hen Liedern. 

Da  sprach  Gzak  zu  Koncak:  „Sobald  der  Falke  in  das  Nest 
fliegt,  so  erschiessen  wir  den  jungen  Falken  mit  unseren  goldenen 
Pfeilen!"  —  Koncak  erwidert  zu  Gzak:  „Sobald  der  Falke  zum  Neste 
fliegt,  werden  wir  den  jungen  Falken  durch  eine  schöne  Jungfrau 
fesseln !"  —  Da  bemerkt  Gzak  zu  Koncak :  „Wenn  wir  ihn  fesseln 
durch  eine  herrliche  Jungfrau,  so  bleibt  uns  weder  der  junge  Falke 
noch  das  schöne  Mädchen,  sondern  die  Vögel  werden  uns  auf  dem 
Polovzer  Gefilde  zu  bekämpfen  beginnen.'*) 

**')  Es  waren  dies  Vorkehrungen,  um  den  Verfolgern  Igor's  Fährte  zu  ver- 
wischen und  für  dessen  Flucht  einen  Zeitvorsprung  zu  gewinnen. 

**-]  S  t  u  g  n  a,  linker  Nebenfluss  des  Dnjepr,  südlich  Kiev. 

*^)  Rostislav,  Sohn  des  Grossfürsten  Vsevolod  I.  warf  sich  nach  einem 
Kampfe  mit  den  Polovzern,  um  der  Gefangenschaft  zu  entgehen,  in  die  Stugna, 
und  ertrank  darin,   erst  22  Jahre   alt,   infolge   der  schweren   Leibesrüstung, 

**)  Es  scheint  darin  die  Befürchtung  zu  liegen,  dass  dann  die  Sprossen  hie- 
für an  den  Polovzern  Rache  nehmen  könnten.  —  Vladimir,  der  Sohn  Igor's,  nahm 
später   tatsächlich    die    schöne    Tochter   Koncak's   zur   Gemahlin. 


131 

XII. 

Bojan  sagt,  anspielend  hiebei  an  Svjaloslavl,  den  Dichter  der 
Vorzeit,  Jaroslavl  und  die  Gematilin  des  Olegsctien  Sprossen  '■') : 
„Schlimm  ists  dem  Kopfe  ohne  Schultern,  böse  dem  Körper  ohne 
Kopf,  und  dem  Russenlande  ohne  Igor!" 

Die  Sonne  leuchtet  am  Himmel ;  Fürst  Igor  ist  im  Russenlande ; 
Mädchen  singen  am  Don  ;  deren  Stimmen  verbreiten  sich  übers  Meer 
bis  Kiev.  Igor  geht  über  den  Boricev'")  zur  heiligen  Muttergottes  von 
Pirogosc/")  Die  Gaue  sind  zufrieden,  die  Städte  freuen  sich;  sie  sin- 
gen ein  Lied  den  alten  Fürsten,  um  dann  den  jungen  zu  singen : 
„Ruhm  dem  Igor  Svjatslavlic,  dem  kühnen  Helden  Vsevolod  und  dem 
Vladimer  Igorevic/1  Seid  gegrüsst  ihr  Fürsten  und  eure  Kameraden, 
die  gekämpft  für  die  Christen  gegen  die  heidnischen  Scharen !  Ruhm 
den  Fürsten  und  deren  Mitkämpfern!"  Amin."')  — 


Wissenschaftliches  Allerlei. 


Ein  kelto-s  1  avischer  Grenzstein  in  England. 

Im  Werke  „Runic  Monuments"  des  Professors  George  Stephens 
(London-Kopenhagen,  1866)  ist  eine  Porphyrpyramide  beschrieben, 
die  in  der  Gemeindeflur  von  St.  Dogmaeis,  Bez.  Cardigan  auf  Wales, 
gefunden  wurde.  Dieselbe  zeigt  folgende  Inschrift  im  lateinischen 
Alphabete :  „Zagrani  ßli  Cunotami" ;  derselbe  Text  wiederholt  sich 
überdies  auf  der  linken  Kante  in  der  Ogam  -  Schrift,  und  wurde  bis- 
her allgemein  als  eine  Inschrift  in  lateinischer  Sprache,  „Sagrani, 
Sohn  des  Cunotam"  besagend,  ausgelegt,  der  Stein  also  als  ein  Grab- 
stein angesehen. 

^]  Diese  Stelle  ist  unklar,  denn  es  ist  zweifelhaft,  ob  »kogan«  als  Eigen- 
name oder  als:  Kind,  Sprosse  aufzufassen  ist;  in  letzterem  Falle  ist  unter 
»hoti«   (Gemahlin)  hier  die  Jaroslavna  zu  verstehen. 

^®)  B  o  r  i  c  e  V,  Name  eines  Abhanges  des  Dnjepr-Ufers,  von  welchem  man 
zu  einer  Überfuhr  gelangte. 

*')  P  i  r  o  g  o  s  c  hiess  der  Mann  (Kaufmann),  der  dieses  Bild  von  Konstan- 
tinopel nach  Kiev  brachte,  wo  es  in  der  i.  J.  1131  erbauten  Marienkirche  aufge- 
stellt wurde. 

**)  V  1  a  d  i  mir,  Sohn  Igor's,   des  Helden  der  Dichtung. 

*^)  Der  Schluss  gleicht  den  Ansprachen  in  griechischen  Kirchen  bei  feier- 
lichen Anlässen,  welcher  Umstand  zur  Annahme  führte,  dass  der  Dichter  ein 
Mönch  war,  doch  kann  sich  ebensogut  ein  weltlicher  Dichter  die  oft  gehörte  An- 
sprache zum  Muster  genommen  haben. 

9* 


132 

Diese  Deutung  muss  aber  in  jeder  Hinsicht  bezweifelt  werden, 
denn  der  Text  selbst  enthält  nicht  nur  derbe  grammatische  Fehler, 
sondern  auch  sonstige  wichtige  Bedenken  in  bezug  auf  die  Eigennamen. 
Augenscheinlich  ist  die  Inschrift  kelto-slavisch  und  besagt  die- 
selbe: „Grenzstein  der  Gemeinde  (oder  Herrschaft)  Cunotam",  und 

ist  der  Begriff  „zagrani"  (     sagrani)  doch  das 
slavische  Wort  für  die  Grenze,  Grenzlinie 
,  ^'   .  oder  den  Grenzstein,   denn  das  russische 

„zagranicnij"  kennzeichnet  noch  immer  hiemit 
jenen,  der  jenseits  oder  an  der  Grenze 
wohnt;  „fili"  kann  aber  in  dieser  Form  ebenso 
als  „vili"  gelesen  werden,  denn  zwischen  „f" 
und  „V"  wurde  früher  in  der  schriftlichen  Dar- 
stellung vielfach  kein  Unterschied  gemacht,  und 
„vila"  bedeutet  in  den  meisten  Sprachen  et- 
was Analoges,  wie  bei  den  Römern  ein  L  a  n  d- 
haus  oder  ein  Landgut,  bei  den  Griechen 
als  „phile"  die  Sippe,  Gemeinde  oder  das 
Aufgebot  (eines  Volksstammes);  bei  den 
Südslaven  hat  „vilajet"  die  Bedeutung  von 
Bezirk,  Kreis,  und  im  Deutschen  ist  der- 
selbe Wortstamm  zu  „Weiler"  geworden;  im 
Französischen  ist  „ville"  die  offene  Stadt, 
der  nicht  mit  Mauern  umgebene  Ort.  —  Aber 
auch  das  Wort  „Cunedda"  kommt  in  der  äl- 
testen Geschichte  Cardigans  als  der  Name 
eines  Adelsgeschlechtes  (oder  Adelssitzes) 
vor,  daher  diese  Lesung  in  allen  Teilen  sprach- 
geschichtlich begründet  ist.  Hingegen  ist  die 
Annahme  der  Gelehrten,  dass  „Sagranus"  soviel 
als  „grosser  Angreifer"  bedeute,  auch  nur  im 
slavischen    Sinne    richtig,    denn    die   Grenze 

Kelto-slavischcr  Grenzstein  ....  ,  j  c-    i      i         j  11 

in  England.  sowie   derjenige,   dem   der  Schutz   derselben 

obliegt,   tragen   nahezu  grundsätzlich  Namen 
derselben  Sprachwurzel. 

Dieser  Stein  diente,  soweit  bekannt,  zuerst  als  Türslock,  dann  als 
Auftritt  bei  einer  Wasserschöpfstelle;  jezt  befindet  er  sich  in  der  Vi- 
karie  von  St.  Dogmaeis.  War  er  aber  je  ein  Grabstein,  so  hätte  ihn 
niemand  als  Türstock  benützt,  denn  der  Glaube,  dass  man  das,  was 
auf  den  Friedhof  gehört,  nicht  ins  Haus  nimmt,  ist  doch  ein  allge- 
meiner, und  wurde  früher  wohl  noch  genauer  eingehalten,  wie  viel- 
leicht heute.   Wahrscheinlich  ist  es   aber,    dass  der  Stein  einmal  bei 


133 

einer  Grenzregulierung  oder  Besilzarrondierung  entbehrlich  wurde  und 
sodann  die  erwähnte  profane  Verwendung  erhielt. 

Die  Og  am- Schrift  besieht  aus  einem  primitiven  Strichsystem, 
d.  h.  jeder  Buchstabe  ist  aus  15  parallelen  Strichen  ober,  unter 
oder  auf  der  Zeile  (hier  Kante)  gebildet,  und  wurde  das  Alphabet  von 
einem  Bischof  von  Limerick  (Irland)  eben  nach  diesem  Steine  kon- 
struiert. Ob  aber  dieser  Schlüssel  zutreffend  ist,  müsste  erst  an  den 
zahlreichen  sonstigen  Schriftdenkmälern  dieser  Art  nachgewiesen  wer- 
den, denn  man  hält  auch  die  sonstigen  Inschriften  für  lateinisch 
und  schreibt  sie  dem  IV.  Jahrhunderte  zu;  wurden  aber  auch  die 
übrigen  so  falsch  gelesen  wie  dieser  Grenzstein,  dann  ist  anzunehmen, 
dass  sie  alle  k  elto-sl  a  vische  Aufschriften  haben.  Vielleicht  findet 
sich  auf  dieses  hin  jemand  in  England  oder  Frankreich,  der  diese 
Überprüfung  oder  Vergleichung  an  den  Originalen  neuerdings  vor- 
nimmt; im  Jahre  18G5  waren  angeblich  schon  56  solcher  Steine  be- 
kannt. —  M.  Z. 

Slavische  Mildtätigkeit  in  barbarischen  Zeiten. 

Paul  Warnefried,  Diakonus  von  Forum  Tulii  (Aquileja),  in  der 
zweiten  Hälfte  des  VIII.  öahrhundertes  lebend,  Notar  des  letzten  Königs 
der  Longobarden,  gibt  in  der  von  ihm  verfassten  Geschichte  dieses 
Volkes  ein  erschütterndes  Bild  der  damaligen  Kulturzustände,  der  Feind- 
seligkeiten gegen  die  Grenznachbaren,  der  unaufhörlichen  Kämpfe,  ver- 
übten Gewalttaten  und  der  grausamen  Behandlung  der  Kriegsgefan- 
genen, welche  stets  das  Los  der  Sklaverei  traf.  Umsomehr  sticht  hie- 
von  die  liebevolle  Behandlung  ab,  welche  sein  Vorfahre  als 
Fremdling  im  slavischen  Lande  erfuhr.  Über  seine  Vor- 
eltern Kunde  gebend,  schreibt  Paul  Diakonus :  „Zur  Zeit,  als  das  Volk 
der  Longobarden  aus  Pannonien  zog,  kam  auch  Leochis,  mein  Ahn- 
herr, der  Vater  meines  Urgrossvaters,  ein  geborener  Longobarde, 
mit  nach  Italien.  Er  lebte  einige  Dahre  daselbst,  starb  darauf  und 
hinterliess  fünf  kleine  Söhne.  Diese  wurden  beim  Einfall  der  Avaren 
gefangen  genommen  und  ins  Land  der  Hunnen  abgeführt,  woselbst 
sie  das  Doch  der  Knechtschaft  trugen.  Zum  Mannesalter  gekommen, 
verblieben  vier  in  der  Gefangenschaft,  der  fünfte  aber,  mit  Namen 
Leupechis,  der  nachher  mein  Urgrossvater  wurde,  entfloh  und  wollte 
wieder  nach  Italien  gelangen,  wo  das  Volk  der  Longobarden  wohnte. 
Er  trug  nichts  bei  sich  als  einen  Köcher,  einen  Bogen  und  etwas 
Lebensmittel.  Diese  gingen  bald  aus,  der  Hunger  machte  ihn  kraftlos 
und  schon  verzweifelte  er  am  Leben.  Endlich  fand  er  menschliche 
Wohnungen;  Slaven  nämlich  hielten  sich  daselbst  auf. 
Da  fiel  er  einer  alten  Frau  auf;   aus   Mitleid  ward   er   aufge- 


134 


nommen  und  im  Hause  geborgen.  Die  Frau  gab  ihm 
von  Stunde  zu  Stunde  zu  essen,  damit  er  sich  erholen 
könne.  Sobald  dies  geschehen,  reichte  sie  ihm  Lebens- 
mittel auf  den  Weg  und  sagte  ihm,  wohin  er  sich  wen- 
den müsse.  Nach  einigen  Tagen  langte  er  in  Italien  an  und  kam 
wieder  zu  seinem  Geburtshause."  3.  v.  M. 

„Certüv   kämen". 

Als  ergänzenden  Beleg  zur  Richtigkeit  der  Etymologie  in  „Cer- 
tüv kämen"  (s.  S.  11)  sandte  der  Oberlehrer  R.  Indra  aus  Bfezüvky 
(Bez.  Ung.-Brod)  das  Bild  eines  solchen  Felskolosses  ein,  über  dessen 


,. Certüv  kamen",  Grenzstein  zwischen   Holleschau  und  Ung.-Brod  (Mähren). 

höchsten  Punkt  die  Grenzen  der  Bezirkshauptmannschaften  Ung.-Brod 
und  Holleschau  laufen  und  in  dessen  nächster  Nähe  die  Grenzen  von 
von  k  Gemeindefluren  zusammenstossen. 


Eine  weitere  Bestätigung  für  diese  zutreffende  Etymologie  der 
altslavischen  Sprachwurzel  „cer"  sandte  auch  der  Inspektor  Fr.  Eberle 
aus  Wildenschwert  zu.  In  jenem  Gebiete  finden  sich  die  topischen 
Namen:  Cernovir,  Certova  bräzda,  Cermnä  und  Cernä 
stezka  vor. 

Der  Name  „Cernovir"  (  Grenzwach-,  Grenzschutzpunkt)  wieder- 
holt sich  mehrmals  (z.  B.  so  hiess  auch  ein  altes  Fort  der  äussersten 


135 

Umfassung  der  Festung  Olmütz).  Bei  Cernovir  fällt  aber  diese  Ety- 
mologie besonders  auf,  weil  sich  hinter  dem  Dorfe  auch  ein  tiefer 
Graben  von  bedeutender  Länge  zieht,  der  nahezu  den  Eindruck  eines 
engen  Tales  macht,  aber  doch  offenkundig  von  Menschenhand  herrührt ; 
er  ist  allgemein  als  „Teufelsfurche"  |     Certova  bräzda)  bekannt. 

In  der  Nähe  befindet  sich  auch  das  Dorf  „Cermnä",  das  als 
„Rotwasser"  ins  Deutsche  übertragen  wurde.  Ein  Dorf  gleichen  Na- 
mens liegt  auch  in  der  Nähe  von  Boruhrädek  (vergl.  „bor"  und  „hrä- 
dek",  also:  Verteidigungsschutzpunkt,  vorbereiteter  Kampfplatz) ;  es 
muss  also  da  auch  der  Einfluss  irgendeiner  Grenze  zu  besonderen 
Verteidigungsvorsorgen  Anlass  gegeben  haben.  Überdies  wiederholt 
sich  der  Name  „Cermnä"  in  Österreich  wie  auch  sonstwo  ungemein 
oft,  deutet  aber  weder  auf  „schwarz"  noch  auf  „rot",  sondern  eben 
auf  eine  Grenzrelation.  —  „Cernä  stezka"  war  ein  Nebensteig, 
welcher  aus  Mähren  über  Leitomischl  und  Hohenmaut  nach  Böhmen 
(Königgrätz)  führte.  Dieser  Weg  bildete  tatsächlich  noch  im  3ahre  1248 
die  Grenze  gegen  das  Gebiet  von  Leitomischl,  und  wird  derselbe  auch 
im  Oahre  1292  als  Grenzlinie  zwischen  dem  Klosterbesitze  Zbras- 
lav  und  dem  „Klostergrund"  von  Leitomischl  erwähnt.  Er  führte  durch 
den  „Markwald",  welcher  Name  noch  ergänzend  besagt,  dass  dies 
ein  Wald  an  der  Grenze  („Mark")  war.  —  In  deutschen  Kanzleien 
übersetzte  man  diesen  Namen  in  Unkenntnis  der  wahren  Etymologie 
modern  wörtlich  in  „Schwarzer  Steg",  und  ergänzte  dies  dahin,  es 
sei  dies  der  Weg,  den  die  Schwärzer  zwischen  Sachsen,  Böhmen 
und  Mähren  benützten,  was  aber  selbstredend  eine  Kontradiktion  ist, 
denn  das  gefährliche  Gewerbe  des  Grenzschmuggels  setzt  gerade  das 
Ausweichen  von  gebahnten  Wegen  voraus,  und  müssten  die  einstigen 
Grenzzollwachen  geradezu  blind  gewesen  sein,  wenn  sie  nicht  wuss- 
ten,  welchen  Weg  der  Schmuggel  nimmt.  Für  die  Wissenschaft  ist 
aber  dabei  die  Hauptsache,  dass  hiemit  das  tatsächlicheBe- 
stehen  eines  längs  der  Grenze  führenden  Weges un- 
bewusst  zugegeben  wird. 


Ein  weiterer  Interessent  teilt  das  Vorkommnis  mit,  dass  am 
„Scharmützelsee"  in  Brandenburg  vor  kurzem  ein  grosses  Urnenfeld 
entdeckt  wurde.  Dass  in  Brandenburg  einst  Slaven  sassen,  ist  zwei- 
fellos und  muss  demnach  die  Originalform  jenes  Namens  ursprüng- 
lich entweder  „Carnica,  Cernica"  (Grenzgebiet)  oder  aber  „Zarnica" 
(^  Urnenfeld)  gelautet  haben.  — 

„M  i  r  0  s  1  a  v". 

In  dem  Artikel  „Der  Grabstein  der  kroatischen  Königin  Oelena", 
im  I.  Hefte   des  „Staroslovan"   (S.  64)   bietet  3oh,   Ev.  Chadt,   heute 


136 

wohl  der  bedeutendste  slavisctie  Faclischriftsteller  für  die  Geschiclite 
des  Forst-  und  Jagdwesens,  folgende  Ergänzung : 

„Der  Personenname  „Miroslav"  stand  einst  auch  bei  den  böh- 
misch-slavischen  Stämmen  im  allgemeinen  Gebrauche.  Derselbe  findet 
sich  in  den  ältesten  Urkunden  wiederholt  vor,  wie  z.  B.  im  Jahre 
1049  als  „Mirzlau,  lionw  eccl.  Olomiic" ;  1142  als  „Mirzlau,  ////;. 
Boh.  fundator  monastirü  Sedlec" ;  1144  als  „Mirozlav,  testis".  (Reg. 
I.  669.  Codex  dipl.  Bohemiae  /.,  505.)  —  Es  wäre  daher  angezeigt, 
wenn  der  „Staroslovan"  auch  die  Verfassung  und  Ausgabe  eines 
Verzeichnisses  aller  notorisch  slavischen  Vornamen  in  sein  grosses 
Programm  aufnehmen  würde."  — 

Anmerkung  d.  Red.  Diese  Anregung  ist  nur  zu  begrüssen 
und  wird  derselben  möglichst  Rechnung  getragen,  umsomehr,  als  es 
immer  klarer  wird,  dass  auch  die  slavischen  Vornamen  heute  viel- 
fach übersetzt  erscheinen,  und  ist  die  slavische  Originalität  eben  aus 
der  falschen  Auslegung  erkennbar,  denn  „Miroslav"  wurde  wohl  nur 
deshalb  im  Deutschen  zu  „Friedrich",  weil  der  Translator  „mir"  für 
Friede  nahm  und  nicht  für  Grenze  oder  Gemeinde,  da  ihm 
diese  letztere  Etymologie  schon  zu  ferne  lag.  —  Für  jeden  Fall  muss 
aber  zuvor  eben  die  Entstehung,  Verbreitung,  sowie  der  wirkliche, 
allgemeine  Gebrauch  solcher  Namen  bei  den  Slaven  in  ähnlicher 
Weise,  wie  bei  „Miroslav",  nach  jeder  Richtung  hin  einwandfrei  ge- 
klärt sein.  —  Nachdem  aber  der  Anreger  selbst  im  weiteren  mitteilt, 
dass  er  Tausende  solcher  historisch  beglaubigter  Namen  schon  ex- 
zerpiert bereit  habe,  so  erscheint  er  wohl  heute  als  der  berufenste 
diesem  Vorschlage  selbst  die  Tat  folgen  zu  lassen.  — 

Gesetzliche  Bestimmungen  über  Schatzfunde. 

Fast  tagtäglich  ist  zu  lesen,  dass  irgendwo  bei  einer  Erdarbeit 
Schmucksachen,  Münzen  oder  sonstige  antiquarische  Gegenstände 
ausgegraben  wurden,  und  ist  es  zweifellos,  dass  heute  erst  ein  sehr 
geringer  Teil  jener  Objekte  entdeckt  und  gehoben  ist,  die  man  seit 
den  ältesten  Zeiten  in  der  Erde,  als  dem  sichersten  Versteck,  zu  the- 
saurieren  pflegte.  Leider  sind  die  Finder  der  Natur  der  Sache  nach 
fast  immer  Arbeiter,  welche  den  Fundwert  selten  richtig  taxieren 
können,  daher  Geld  und  Geldeswert  rasch  und  heimlich  verschleu- 
dern, für  sie  wertlos  scheinende  Dinge  wie  Urnen,  Knochen,  zerfal- 
lene Bronzegegenstände,  gravierte  Steine  u.  dgl.  aber  zertrümmern, 
unbeachtet  lassen  oder  wieder  vergraben,  also  im  ersteren  Falle 
nicht  wissen,  dass  sie  hiemit  eine  strafbare  Handlung  begehen,  im 
letzteren  aber  sich  selbst  schädigen,   denn  solche  Funde   haben  bis 


137 

ZU  einer  gewissen  Grenze  auch  immer  einen  materiellen  Werl,  und 
wenn  schon  nicht  immer  für  die  allgemeine  Wissenschaft,  so  doch 
zum  mindesten  für  die  Lokalgeschichte. 

Es  täte  daher  im  Interesse  der  Wissenschaft  wie  der  persön- 
lichen Vorteile  des  Finders  dringend  not,  schon  die  Ougend  in  der 
Schule,  das  Volk  aber  bei  jeder  passenden  Gelegenheit,  wie  bei  Vor- 
trägen, Versammlungen,  ja  selbst  -von  der  Kanzel  herab,  zu  belehren, 
dass  das  österreichische  Gesetz  über  Schatz-  und  archäologische 
Funde  folgendes  sagt:  Der  Schatz,  worunter  man  Geld,  Schmuck 
oder  andere  Kostbarkeiten  versteht,  die  so  lange  im  Verborgenen 
lagen,  dass  man  ihren  einstigen  Eigentümer  nicht  mehr  feststellen 
kann,  gehört  zur  Hälfte  dem  Finder,  zur  Hälfte  dem  Be- 
sitzer des  Grunde  s.*) 

Es  hat  sich  nämlich  infolge  Unkenntnis  des  Gesetzes,  d.  h.  der 
Unterlassung  jeder  Belehrung,  allgemein  die  Ansicht  eingebürgert, 
dass  solche  Funde  ohneweiters  vom  Fiskus  eingezogen  werden,  was 
jedoch,  wie  das  „Allgemeine  bürgerliche  Gesetzbuch"  für  Österreich 
(§  398—401)  bezeugt,  vollkommen  unzutreffend  ist.  —  Allerdings  fügt 
das  Gesetz  auch  zu,  dass  die  Entdeckung  eines  Schatzes, 
dann  numismatische  und  antiquarische  Funde  der 
politischen  Behörde  angezeigt  werden  sollen,  was 
aber  doch  wieder  nur  dem  Finder  zum  Vorteile  gereich!,  denn  hat  das 
Fundobjekt  ausser  dem  Edelmetallwerte  auch  eine  grössere  wissen- 
schaftliche Bedeutung,  so  wird  dem  Finder  eben  auch  eine  höhere 
Ablösung  zuteil,  als  sie  jemand  bieten  kann,  der  den  archäologischen 
Wert  weder  kennt  noch  richtig  einschätzt.  Es  ist  daher  selbstredend, 
dass  der  Finder  bei  der  Geheimtuerei  vor  allem  sich  selbst  schädigt. 

Desgleichen  ist  es  notwendig,  volkstümliche  Belehrungen  auch 
dahin  zu  erweitern,  dass  archäologische  Funde  ohne  effektiven 
Geldwert,  wie  Urnen,  Grabbeigaben  aus  Stein,  Ton,  Hörn  oder 
Bronze,  ungewöhnliche  Skelette  (z.  B.  solche  von  prähistorischen 
Tieren)  u.  dgl.  für  den  Finder  durchaus  nicht  wertlos  sind,  denn  es 
ist  immer  ein  Museum  oder  ein  Liebhaber  hiefür  zu  finden,  der  ihm 
diese  Objekte  gern  und  gut  abkauft. 

Durch  dieses  Geheimtun  sowie  die  Unterlassung  der  Anzeige 
erleidet  aber  namentlich  bei  numismatischen  oder  sonstigen  Schatz- 
funden die  Wissenschaft  fast  immer  eine  Einbusse,  weil  solche  Edel- 
metallfunde meist  von  Goldarbeitern  gewonnen   und  eingeschmolzen 


*)  Im   Grossen  gelten   auch   in   anderen   Staaten   ähnliche   Bestimmungen,   da 
sie  alle  auf  das  gleichlautende  römische  Recht  aufgebaut  sind. 


138 

werden,   obschon  darunler   in  ihrer  Art  einzige   Exemplare  gewesen 
sein  konnten. 

Es  soll  daher  hiemit  der  Impuls  zu  einer  allgemeinen  Aufklä- 
rung in  dieser  Richtung  gegeben  werden,  denn  es  ist  kein  Zweifel, 
dass  auf  diese  Art  viele  und  dabei  fast  ausschliesslich  sla- 
vische  Kulturbelege  für  alle  Zeiten  verloren  gehen.  Am  wirk- 
samsten kann  in  diesem  Sinne  die  Volksschule,  als  die  Grundlage 
aller  Volksbildung  und  Aufklärung,  eingreifen,  und  können  mangels 
eigener  Erfahrungen  z.  B.  nachstehende  zwei  typische  Vorkommnisse 
angeführt  werden. 

Vor  etlichen  Jahren  fand  in  Untersteiermark  ein  Winzer  beim 
Rigolen  seines  Weingartens  eine  Reihe  von  Gräbern  mit  guterhaltenen 
Urnen  und  allerlei  Grabbeigaben ;  da  aber  dabei  kein  Geld  oder  et- 
was von  Geldeswert  war,  zertrümmerte  er  alles  in  seiner  Enttäu- 
schung. Archäologen  jedoch,  die  davon  erfuhren,  stellten  die  ver- 
streuten Trümmer  wieder  mühevoll  zusammen,  und  der  Mann,  der 
für  die  intakten  Urnen  gewiss  eine  vornehme  Arbeitszulage  erhalten 
hätte,  ging  dabei  leer  aus.  —  Ein  Anderer  stiess  beim  Ackern  seines 
Feldes  auf  einen  Topf,  der  600  alte,  zum  Teile  sehr  seltene  Silber- 
münzen enthielt.  Er  verkaufte  dieselben  heimlich  einem  Trödler,  das 
Stück  um  G  Kreuzer;  der  Käufer,  der  über  den  Wert  besser  orien- 
tiert war,  soll  über  1000  Gulden  dafür  eingelöst  haben,  welchen  Be- 
trag der  Finder  ebensogut  hätte  erhalten  können,  wenn  er  damit 
offen  aufgetreten  wäre.  —  Dr.  R.  B. 

„S  0  k  0  1". 

Man  glaubt  allgemein,  dass  die  Bezeichnung  „sokol"  für  die- 
jenigen, welche  den  Turnsport  gesellig  betreiben,  von  „sokol"  (Falke) 
herrühre,  daher  auch  die  äusseren  Merkmale  jenes  Vogels  als  Ab- 
zeichen eingeführt  wurden.  Tatsächlich  ist  aber  „sokol"  die  altslavi- 
sche,  daher  einst  allgemeine  Bezeichnung  für  einen  jungen,  kräf- 
tigen, kampffähigen  Mann,  wie  oft  auch  für  einen  befes- 
tigten  Punkt,  eine  Wallburg,  eine  Schanze,  eine  Feste  u.  ä. 

Der  älteste  klare  Beleg  für  diese  Etymologie  ist  in  russischen 
Volksdichtungen  zu  finden,  wo  es  z.  B.  heisst: 

„Uz  kako  io  mnje  vsjo  mutno  ne  bii  — 

razpustil  ja  svojih  jasnih  sokolov, 

jüsnih  sokolov,  donskih  kazakov  .  .  ." 

(d.  h.:  „Wie  soll  ich  nicht  betrübt  sein,  habe  ich  doch  entlassen  meine 
herrlichen  Krieger,  die  herrlichen  Krieger,  die  Don'schen  Kasaken  . . ."). 


13» 

In  gleicher  Bedeutung  gebrauchen  aber  den  Begriff  „sokol"  auch 
die  alleren  südslavischen  Volkslieder,  ein  weiterer  Beleg,  dass  diese 
Etymologie  die  einzig  richtige  ist.  Wenn  sich  hingegen  die  bulgari- 
schen „sokoli"  als  „junaci"  (  junge  Krieger)  benennen,  so  bestätigen 
sie  hiemit,  dass  sie  die  Bedeutung  von  „sokol"  richtig  erfasst,  jedoch 
ihrer  Sprache  angepassl  haben. 

Ob  nun  Tyrs,  Fügner  oder  sonst  jemandem  bei  der  Wahl  und 
Festlegung  des  Namens  „sokol"  für  den  ersten  böhmischen  Turn- 
verein die  Urbedeutung  dieses  Wortes  vorschwebte,  ist  vielleicht  heute 
nicht  mehr  verlässlich  festzustellen ;  Tatsache  ist  es  aber,  dass  die 
Benennung  „sokol"  in  diesem  Falle  auch  sprachgeschichtlich 
vollkommen  zutreffend  ist,  daher  bezeichnender  überhaupt  nicht  hätte 
gewählt  werden  können.  M.  Z. 

Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten. 

Hier  werden  ausschliesslich  solche  einlaufende  Fragen   veröffentlicht  und  fallweise 
beantwortet,  die  das  Gepräge  eines  breiteren  wissenschaftlichen  Interesses  tragen. 


Zur  Frage  5.  (S.  73.)  —  Als  Ergänzung  zur  Etymologie  des 
Begriffes  „lapak"  teilt  V.  Sokol  (Wien)  mit,  dass  sich  im  Bezirke 
Bochnia  (Galizien)  zwei  Orte  namens  „Lapczyce"  befinden,  die  gleich- 
falls an  der  Peripherie  von  auffallenden,  zum  Teile  durch  den  Raba- 
Fluss  verstärkten  alten,  zweifellos  prähistorischen  Befestigungen  lie- 
gen. —  Die  Situation  ist  aus  der  umstehenden  Karte  zu  ersehen, 
und  befindet  sich  bei  A  (Chetm-Berg)  eine  grosse  Wallburg,  die  mit 
Ausnahme  von  Osten,  d.  i.  dem  Zugange  vom  Orte,  überall  steil  ab- 
fällt ;  die  spiralförmig  gewundenen  Ringwälle  sind  noch  ziemlich  deut- 
lich sichtbar.  Südöstlich  hievon  ist  eine  kleinere  Wallanlage,  noch 
heute  als  „Waiek"  gekennzeichnet.  —  Bei  C  ist  ein  gut  erhaltener 
Tumulus.  —  Auf  der  Höhe  B  (Cote  2%)  sind  gleichfalls  kleine  Wall- 
anlagen ;  jetzt  befinden  sich  auf  diesem  hervorragenden  Aussichts- 
punkte, —  die  Kuppe  selbst  scheint  durch  Abgrabungen  künstlich 
steil  gemacht,  —  der  Ortsfriedhof  und  die  Kirche.  —  Diese  sowie 
noch  weitere  Schutzbauten  machen  den  Eindruck  einer  systematisch 
angelegten  Beobachtungs-  und  Verteidigungsanlage,  deren  Zentrum 
der  Chetm-Berg  war. 

Frage  10.  —  Slovakische  Runeninschriften.  —  In  der 
Slovakei  wurden  etliche  Felsinschriflen  in  Runen  gefunden,  die  nun 
schon  zum  grössten  Teile  entziffert  sind.  Die  belletristische  Zeitung 
„Sokol"  von  Turcansky-Sv.  Martin  (Turocz-Szt.  Marlon)  vom  Oahre 


140 


18G1    führt   aber   an,   dass   auf  den   nachbezeichnelen  Punkten 
weitere  Felsinschriften  sein  sollen : 


noch 


14t 

ü)  bei  Li  p  tau  auf  der  „Havranna  skala" ; 

/;;  an  der  Grenze  des  Zvolensko-Novohradsl^o-Malohonter  Komi- 
lales,   etwa  k  Stunden  Getiweges   südlicti  von   Hronec  entfernt; 

c)  in  Mi  ttel -Te  ko  V,  nördlicti  von  Inovec; 

d)  im  Bezirke  Handl  gegen  Nova  Ltiota; 

c)  im  Bezirke  Boglar  bei  Bardijov   befinden  sicli  angeblichi  „na 
Banisku"  auf  einer  Waldlictitüng  ungedeutete  Felsinschriften; 

f)  in  der  Umgebung  von  S  a  b  i  n  o  v  sollen  auf  einem  Felsen  Runen- 
inschriffen  sein ; 

g)  unter  dem  Kr i van,   genannt  „na  zopole",   also  an   der  Komi- 
tatsgrenze, befinden  sich  auch  Runeninschriften ; 

h)  eine  solche  befindet  sich  auf  „na  holach"  von  Rosenberg. 

Es  wurden  zwar  in  den  letzten  3ahren  slovakische  Literaten 
wie  Archäologen  wiederholt  animiert  diese  Angaben  zu  überprüfen 
und  gegebenenfalls  Zeichnungen  oder  Gipsabklatsche  zu  besorgen, 
aber  es  fand  sich  leider  niemand,  der  sich  hiefür  interessiert  hätte.  — 
Vielleicht  findet  sich  aber  auf  dieses  hin  sonst  jemand,  der  im  Laufe 
des  heurigen  Sommers  dieser  Nachforschung  mit  Ausdauer  und  Erfolg 
nachgeht.  M.  Z. 

Frage  11.  —  Dramatische  Pflege  des  Altslaven- 
tums.  —  V.  St.  (Prag)  schlägt  vor,  es  möge  der  „Staroslovan"  auch 
die  Pflege  von  dramatischen  Themen  aus  der  altslavischen  Geschichte, 
Sage,  Volkskunde  u.  dgl.  in  sein  Programm  aufnehmen,  damit  solche 
historische  Unwahrheiten  nicht  auf  unsere  Bühne  geraten,  wie  jüngst 
der  notorisch  kroatische  Held  Nikola  Zrinski  in  der  gleichnamigen,  sogar 
von  einem  Kroaten  komponierten  Oper,  als  magyarisierter  Kroate. 

Antwort.  Das  Angebot  richtet  sich  immer  nach  der  Nachfrage, 
und  wäre  das  Publikum  kritischer,  würden  die  Theaterdirektoren  der- 
lei auch  nicht  bieten ;  es  muss  daher  vor  allem  das  Publikum  zum 
Geschmacke  erzogen  werden.  —  Zur  Freude  des  Anregers  können 
wir  aber  eröffnen,  dass  dessen  Vorschlag  zum  Teile  schon  realisiert 
wurde,  denn  die  Aufführung  des  romantischen  Ballettes  „Zlatoiog", 
dieser  vielleicht  schönsten  unter  allen  Sagen,  am  23.  April  1.  J.  im 
Nationaltheater  in  Prag,  bedeutet  wohl  schon  den  hoffnungsvollen 
Beginn  der  Dramatisierung  schöner  slavischer  Sujets  und  Verwertung 
der  immensen  Volksliederschätze  für  die  Bühne.  Es  wurde  uns  auch 
schon  ein  fertiges  Werk  eingesendet,  das  Szenen  aus  der  mythischen 
Zeit  der  Altslaven  mit  oratoriumartiger  Musik  bietet.  Überdies  wur- 
den bereits  Paradigmata  für  eine  ernste  und  eine  komische  Oper, 
dann  ein  Musikdrama  zur  Vertonung  übergeben,  die  zum  Teile  noch 
in  diesem  Sommer  fertiggestellt  werden  dürften,  um  darzulegen,  dass 


142 


unsere   Theaterzellel    künftighin   durchaus   nicht   fast   ausschliesslich 
fremde  Stücke  anzuzeigen  brauchen.  — 


Bibliographie. 


Alle  einlangenden  Werke  werden  grundsätzlich  mit  Titel,  Verlag  und  Preis  an- 
geführt ;  jene,  welche  altslavische  Themata  berühren,  auch  kurz  besprochen,  even- 
tuell noch  später    eingehender  gewürdigt.     —    Unaufgefordert  zugesendete  Werke 

werden  nicht  zurückgestellt 


Jß'  Gtendard  Celtique.  („Die  keltische  Standarte.")  —  Monats- 
schrijt  der  kelto-französischen  Liga.  —  Paris,  39,  rue  d'  Artois.  —Jahres- 
abonnement: 5  K. 

Zu  gleicher  Zeit,  als  sich  bei  uns  das  Bedürfnis  zu  einer  syste- 
matischen wissenschaftlichen  Pflege  der  altslavischen  Sprache,  Ge- 
schichte und  Kultur  einstellte,  was  eben  zur  Gründung  der  Revue 
„Staroslovan"  führte,  bildete  sich,  gegenseitig  völlig  unbeeinflusst, 
auch  in  Frankreich  eine  mit  reichen  Mitteln  ausgestattete  Liga  („Ligue 
Celtique  Frangaise"),  die  es  sich  zur  Aufgabe  machte,  die  Ursprungs- 
tradition des  französischen  Volkes  wieder  unmittelbar  an  die  keltische 
Grundlage  zu  knüpfen,  da  endlich  erkannt  wurde,  dass  die  Fran- 
zosen durchaus  keine  Romanen,  sondern  direkte  Nach- 
kommen der  Kel  ten,  daher  echte  Stamm  esbrüder  der 
Siaven  sind.  —  Hat  nun  die  Ratlosigkeit,  wer  eigentlich  die  Kel- 
ten waren,  in  der  Wissenschaft  so  lange  angehalten,  so  ist  es  umso 
erfreulicher  zu  hören,  dass  sich  gerade  jetzt,  namentlich  unter  dem 
Eindrucke  der  jüngsten  weltgeschichtlichen  Ereignisse  auf  dem  Balkan, 
das  alte  hereditäre  Gefühl  der  sprachlichen  Zusammengehörigkeit  der 
Kelten   und  Siaven   so  kraftvoll   und  überzeugend   zu  regen  begann. 

Hiemit  bricht  aber  zugleich  wieder  ein  grosser  Teil  jener  Völker- 
wanderungshypothese, die  auch  die  Keltenvölker  wie  eine  verlorene 
Herde  durch  ein  üahrtausend  in  der  Geschichte  heimatlos  herumtrieb, 
zu  einem  Phantom  zusammen.  Diese  Hypothesen  waren  eben  nichts 
weiter  als  ein  Verlegenheitskniff,  der  stets  in  jenem  Momente  wie 
ein  dcüs  ex  machina  wirken  musste,  wenn  das  logische  Schliessen 
versagte,  oder,  um  noch  deutlicher  zu  sein,  wenn  die  Beweise 
für  den  Aut  o  chthon  i  smu  s  der  Siaven  allzu  greifbar 
zu  werden  begannen. 

Wir  dürfen  es  aber  auch  nicht  verschweigen,  dass  die  neuen, 
so  akut  auftretenden  wissenschaftlichen  Enuntiationen  über  den  Kern 
der  Völkerwanderung,  die  Keltenfrage,  die  geschichtliche  Soziologie, 
die  Runenprovenienz,   die  Unhaltbarkeit   der   dermaligen   Grundsätze 


143 

der  Archäologie  u.  a.  durch  Zunkovics  epochales  Werk:  „Die 
Slaven,  ein  Urvolk  Europas",  das  ganz  unerwartelerweise  in 
wenigen  Dahren  sechs  Auflagen  erlebte,  systematisch  vorbereitet  wur- 
den, es  daher  nur  mehr  eines  äusseren  effektvollen  Impulses  bedurfte, 
um  offen  anerkannt  zu  werden.  Wir  gehen  daher  im  Sturmschritte 
einer  völligen  Umwertung  alles  menschengeschichtlichen  Wissens  ent- 
gegen, und  wer  sich  diesem  elementaren  Durchbruche  des  fortschrei- 
tenden Zeitgeistes  mit  dessen  nüchternen  Kausalitäten  entgegenstellt, 
wird  durch  die  Zahl  wie  Kraft  der  Beweise  schonungslos  niedergerannt. 

Dr.  E.  Wisinger. 

^chleitner  ^rt.,  ,, Reisen  im  slavischen  Süden".  —Berlin 
1913,  8\  310  S.  —  Verlag  Gebrüder  Paetel.  —  Preis  brosch.  K  6-—, 
geb.  K  7-20. 

Der  bekannte  Glorifikator  der  österreichischen  Alpenwelt  führt 
uns  diesmal,  nachdem  er  uns  durch  seinen  hervorragenden  Roman 
„Der  Waldkönig"  sozusagen  als  Zwischenstation  noch  das  Kulturleben 
des  verwichenen  Oahrhundertes  im  steirisch-slovenischen  Bacher- 
gebirge gezeigt,  nach  Dalmatien  und  Montenegro.  Bei  der  so  über- 
raschend zunehmenden  Erstarkung  des  Slaventums,  das  sich  seit  den 
glänzenden  Waffenerfolgen  der  Balkanvölker  allerorts  festlich  rührt, 
kann  auch  eine  genauere  Kenntnis  jener  Völkerschaften,  die  nicht 
lediglich  angrenzen,  sondern  auch  ethnographisch  dazugehören,  nur 
jedermann  von  Nutzen  sein.  —  Die  Art  und  Weise  aber,  wie  Ach- 
leitner  hier  seine  Mentorschaft  erfasst,  kann  als  vorbildlich  angesehen 
werden,  denn  er  stellt  sich  dem  Leser  vor  allem  als  Freund  vor, 
der  ihm  die  kaleidoskopartig  wechselnden  Landschaftsbilder,  das  Volk 
und  den  Boden,  Natur  und  Kultur,  Geschichte  und  Kunst  stets  in  ob- 
jektiver Fassung  und  überdies  mit  ungezwungenem  Humor  gewürzt, 
darlegt.  —  Angenehm  fällt  auch  der  würdige  Ton  auf,  den  der  Autor 
über  Montenegro  anschlägt,  im  Vergleiche  zu  jenen,  oft  mit  Unflat 
durchsetzten  Schilderungen  solcher  Verfasser,  die  das  Land  nie  be- 
treten haben,  und  nur  einem  gewissen  Publikum  gegenüber  jene 
Glocken  läuten,  die  es  zu  hören  wünscht. 

Wir  können  daher  nur  jedermann  ernstlich  raten,  mit  Achleitners 
Buche  vertraut,  und  zugleich  Goethes  Rate  folgend,  wonach  man  ein 
Land  erst  verstehen  kann,  wenn  man  es  selbst  kennen  gelernt,  jene 
für  den  Uneingeweihten  geradezu  unverständlichen  und  ohne  Autopsie 
märchenhaft  bleibenden  Gebiete  selbst  aufzusuchen  und  erst  dann  ein 
offenes  Urteil  zu  fällen.  —  Dr.  A.  Kovacic. 


144 


Mitteilungen  der  Redaktion. 


Widmungen,  Auf  unsere  Bitte  um  Überlassung  von  selten 
gewordenen  Werken  für  die  Mitarbeiter  sind  uns  etliche  wertvolle  Bücher 
zugekommen,  die  wir  ihrer  Bestimmung  gemäss  nutzbringend  verwerten 
wollen. 

Ausserdem  kamen  uns  in  richtiger  Würdigung  dessen,  dass  unsere 
Veröjfentlichungen  zum  grossen  Teile  kostspielige  Vorarbeiten  und  Rei- 
sen, dann  vieljach  ad  hoc  anzuschaffende,  mitunter  seltene  Studien-  und 
Illustrationsbehelfe  erfordern,  folgende  Geldspenden  zu: 

1.  400  SK  vom  Herrn  Landesgerichtsrat  Franz  Brdek  in  Novo- 
sady  (bei  Olmütz)  mit  der  Bestimmung,  den  bisher  eingehaltenen  Weg 
in  der  Ortsnamenforschung  kräftigst  fortzusetzen  und  die  Fertigstellung 
des  angekündigten  „Etymologischen  Ortsnamenlexikons''  zu  beschleunigen, 
„da  in  den  Ortsnamen  zweifellos  die  sprechendsten  Beweise  jür  den  Au- 
tochthonismus  der  Slaven  ruhen" .  —  Der  hochherzige  Spender  verspricht 
dieses  Forschungsgebiet  tunlichst  noch  in  Hinkunft  weiter  zu  fördern, 
und  „hojjt  hiemit  den  Impuls  gegeben  zu  haben,  dass  auch  von  anderer 
Seite  das  Möglichste  beigetragen  werde,  um  diese  überraschend  und  zu- 
gleich überzeugend  an  den  Tag  gelegte  Wahrheit  über  den  Altslavismus, 
die  der  „Staroslovan"  so  sachgemäss  und  wohldurchdacht  zu  heben  be- 
gonnen, fortgesetzt  und  dessen  zielbewusstes  Programm  in  positive  Tat 
umgesetzt  werden  könne".  — 

2.  30  di  von  einem  unbenannt  bleiben  wollenden  slov akischen 
Oberlehrer  mit  folgender  Zuschrift  (auszugsweise) :  „Ich  las  im  1.  Hejte 
des  „Staroslovan",  dass  es  auch  slovakische  Runendenkmäler  gebe. 
Ich  übersende,  darüber  erfreut,  hier  einen  kleinen,  meinen  sehr  beschei- 
denen Verhältnissen  entsprechenden  Betrag  behufs  Forderung  der  slo- 
vakischen  Runenforschung."  —  Da  die  bis  heute  bekannt  gewordenen 
slovakischen  Runeninschriften  bereits  geklärt  vorliegen,  glauben  wir  dem 
edlen  Zwecke  des  Spenders  am  besten  zu  entsprechen,  wenn  wir  diesen 
Betrag  jenem  zuweisen,  der  eine  oder  mehrere  der  auf  Seite  141  ange- 
führten Runeninschriften  auffindet  und  uns  hievon  einen  Gipsabklatsch, 
eine  Photographie  oder  doch  eine  verlässliche  Skizze  einsendet. 

Wir  sprechen  zugleich  den  beiden  Spendern  unseren  tiefgefühlten 
Dank  aus  und  wollen  wir  alle  Widmungen  dieser  Art  im  Sinne  und 
Geiste  der  gewünschten   Verwendung  rationellst  verwerten. 


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STAROSLOVRN 


Heft  3. 

Kremsier,  am  15.  Seplember  1913. 

1.  Jahrgang. 

A.  Barlos 


Franko  Vifazoslav  Sasinek. 


Ein  Gedenkblalt  zum  50jährigen  Schrifislellerjubiläum  des  Nestors 
der  Slavo-Aulochlhonisten. 

(Mit  dem  Bildnisse   des  Jubilars.) 

Von  der  allen  Garde  der  Gläubigen  und  Überzeugten,  die  im 
XIX.  Jahrhunderte  in  den  schrillen  Missklang  der  historischen  Wis- 
senschaft, betreffend  den  Autochthonismus  der  Slaven,  eine  harmo- 
nische Stimmung  brachten,  ruhen  Kollär,  Safafik  wie  Fallmereyer 
längst  in  der  kühlen  Erde;  nur  Sasinek  gönnte  ein  gütiges  Schicksal 
die  Freude,  seine  Saat,  den  goldigen  Ähren  entgegenreifend,  noch 
anblicken  zu  können. 

Sasinek  stellt  die  Verkörperung  der  Grundidee  dar,  dass  die 
Slaven  keine  Einwanderer  sondern  Urbewohner  in  ihren  heutigen 
Sitzen  sind,  und  seine  Persönlichkeit  ist  es,  die  jene  wichtige  Brücke 
baute,  welche  die  Verbindung  zwischen  der  unterbrochenen  Kontinui- 
tät der  Wirklichkeit  sowie  reallen  Wahrheit  einerseits,  und  dem  Irr- 
garten einer  verblendeten  Wissenschaft  andererseits  glücklich  her- 
stellte. 3e  tiefer  wir  aber  den  Effekt  dieser  Arbeit  ergründen,  umso 
höher  quillt  das  wirkliche  Verdienst  Sasineks  hervor  und  umso  dank- 
barer wünschen  wir  unserem  Nestor,  er  möge  sich  der  Früchte  sei- 
ner so  herrlich  keimfähig  gewesenen  Grundideen  noch  viele  Jahre 
ungetrübt  erfreuen,  denn  nicht  vielen  ist  es  gegönnt  ihren  Lebens- 
abend durch  die  v^achsende  Zunahme  des  Glanzes  ihrer  schöpferischen 
Tätigkeit  so  verklärt  zu  sehen.  — 

Franz  Viktor  Sasinek  wurde  am  11.  Dezember  1830  in  Skalice 
als  Sohn  slovakischer  Eltern  geboren.  Er  studierte  in  Skalice  und 
Solnok  das  Gymnasium;  im  16.  Lebensjahre  trat  er  in  den  Orden 
der  Kapuziner,  vollendete  die  Theologiestudien  teils  in  Pressburg, 
teils  in  Prag,  und  fungierte  dann  als  Lektor  für  Philosophie  und  all- 
gemeine Geschichte;  im  Jahre  18S4  wurde  er  Professor  in  Banja- 
Bistrica.  Ein  Jahr  darauf  berief  ihn  die  „Maiica  Slovenska"  daselbst 
als  Kustos  ihrer  Sammlungen;  im  Jahre  18S9  ernannte  sie  ihn  zum 

10 


146 

Sekretär,  welche  Funktion  nun  Sasinek  bis  zur  offiziellen  Aufhebung 
der  „Maiica"  im  Jahre  i875  bekleidete.  —  Er  ist  auch  der  Gründer 
des  Vereines  des  hl.  Adalberl  in  Trnava,  der  „Matica  Slovenska"  in 
Turcansky  5v.  Marlin,  sowie  des  slovakischen  Gymnasiums  in  Kläster.  — 
Bis  zum  Jahre  1882  lebte  er  in  Skalice,  übersiedelte  dann  nach  Prag, 
wo  er  die  Redakleurstelle  bei  einem  böhmischen  Tagblatte  annahm. 
Die  zehn  Jahre  seines  Aufenthaltes  in  Prag  waren  von  entscheiden- 
dem Einflüsse  für  seine  Überzeugung  vom  Autochthonismus  der  Sla- 
ven  und  die  literarische  Betätigung  für  den  Durchbruch  dieser  Er- 
kenntnis. Im  Jahre  1901  übersiedelte  er  in  das  Kloster  der  Barm- 
herzigen Brüder  in  Alqersdorf  bei  Graz  und  versieht  seither  daselbst 
die  geistliche  Führung  des  Konvents. 

Sasinek  beherrscht  sechs  Sprachen  in  Wort  und  Schrift,  was  er 
auch  durch  seine  verschiedensprachlichen  Werke  bewies.  Einen  Teil 
seiner  Haupttätigkeit  widmete  er  auch  der  Durchforschung  der  Ge- 
schichte Ungarns,  nachdem  er  bald  erkannt,  dass  der  magyarische 
Chauvinismus  einer  verlässlichen  Geschichtsschreibung  überall  im 
Wege  stehe.  — 

Seine  wichtigsten  Werke  historischer  Richtung  sind: 

„De/iny  dricvnych  miroduv  na  üzemi  terajsieho  Uhorska."  —  („Ge- 
schichte der  alten  Völker  auf  dem  Gebiete  des  jetzigen  Ungarn.")  — 
Skalice  1868.  (2.  Auflage  erschien  in  Turcansky  Sv.  Martin.) 

„Dejiny  pociatkov  terajsieho  Uhorska."  („Geschichte  des  heutigen 
Ungarn.")  -  Skalice  1868. 

„Dejiny  krdl'ovstva  Uhorskeho."  —  („Geschichte  des  Königreiches 
Ungarn.")  -  1.  Teil  1870,  II.  Teil  1871. 

„Archiv  starych  cesko-slovenskych  listin,  piseninosti  a  dcjepisnych 
pövodin  pre  dejepis  a  literatiirii  Slovdkov."  —  („Archiv  aller  böhmisch- 
slovakischer  Urkunden,  der  Literatur  und  geschichtlichen  Belege  für 
die  Geschichte  und  Literatur  der  Slovaken.")  —  1.  u.  II.  Teil  1872. 

„Dejepis  krdl'ovstva  Uhorskeho  pre  pociatocne  skoly."  —  („Ge- 
schichte des  Königreiches  Ungarn  für  die  Elementarschulen.")  —  Ska- 
lice 1871.  (Dieses  Buch  wurde  später  durch  einen  Ministerialerlass 
für  den  Schulgebrauch  verboten.) 

„Slovensky  Lctopis  pre  historin,  iopografiii,  archaeologiii  a  etlmo- 
grafiu."  —  („Slovakisches  Jahrbuch  für  die  Geschichte,  Topographie, 
Archäologie  und  Ethnographie.")  -  Jahrgang  1— VI.  --  Skalice  1876 
bis  1882. 

„Sv.  Method  a  Uhorsko."  —  („Der  hl.  Method  und  Ungarn.")  — 
Turcansky  Sv.  Martin  1884. 


147 

,,Arpüd  a  Ulwrsko."  —  („Arpäd  und  Ungarn.")  —  Turcansky 
5v.  Martin   188^4;  2.  Aufl.  1885. 

„Zivot  SV.  Cyrilla  a  Metlwda."  —  („Das  Leben  des  hl.  Cyrill  und 
Melhod.")  —  Trnava  1885. 

.Jako  povstala  slovanskd  bohosluzba?"  —  („Wie  entstand  die 
slavische  Lithurgie?")  —  Pitlsburg  1892. 

„Obrana  sv.  Meihoda."  —  („Die  Verteidigung  des  hl.  Method.") 
—  Turcansky  5v.  Martin  1907. 

„Zühady  dcjepisne."  -  („Geschichtliche  Probleme.")  —  1— IV.  — 
Prag   188Ö-1888. 

„Cechy  v  X.  stoleti."  —  („Böhmen  im  X.  Jahrhunderte.")  —  Prag 
1886. 

„Zalozaü  biskupstvi  latinskeho."  —  („Gründung  des  lateinischen 
Bistums.")  —  Prag  1886. 

„0  kHü  Jagello  Viadislava."  —  („Über  die  Taufe  des  üagello 
Vladislav.")  —  Prag  1886. 

„O  cirkevnim  dcjepise  Slovanü."  —  („Zur  slavischen  Kirchen- 
geschichle.")  —  Prag  1887. 

„Ulfilas  a  glagolicke  pi'smo."  —  („Ulfilas  und  die  glagolitische 
Schrift.")  —  Prag  1887. 

„Die  Slovaken."  —  Eine  ethnographische  Skizze.  —  Turocz  Szt.- 
Marton  1875;  2.  Aufl.  in  Prag  1876.  - 

Wenn  auch  aus  allen  den  angeführten  Schriften  Sasineks  Streben 
nach  der  Aufklärung  der  Geschichte  der  Altslaven  klar  hervorgeht, 
so  ist  dessen  organisatorische  Tätigkeit  in  dieser  Richtung  doch  in 
der  deutschen  Zeitschrift  ,.Der  Parlamentär"  (Wien),  dessen  Jahrgänge 
1887—1891  zahlreiche,  kritisch  durchgeistigte  Artikel  aufweisen,  ver- 
streut niedergelegt,  denn  sein  hervorragendstes  Verdienst  ist  es,  dass 
er  gerade  in  der  kritischesten  Zeit  seinen  Geist,  seine  Feder  und 
seine  Persönlichkeit  voll  einsetzte.  Es  war  dies  in  jener  unseligen 
Ära,  die  wohl  für  immer  die  dunkelsten  Blätter  der  wissenschaftlichen 
Bewegung  in  Böhmen  bilden  wird,  als  im  Oahre  1886  einige  Hoch- 
schulprofessoren  den  ganzen  Patriotismus  für  eine  Chimäre  und  den 
Glauben  an  eine  grosse  slavische  Vergangenheit  für  eine  Phantasterei 
erklärten,  was  das  Selbstbewusstsein  und  Vertrauen  der  Slaven  auf 
sich  mächtig  erschütterte.  Von  Prag  wurden  fortgesetzt  neue  alarmie- 
rende Nachrichten  in  die  Welt  geschickt,  dass  sich  alle  Belege  einer 
allböhmischen  Kultur  als  Fälschungen  erwiesen  haben.  Der  damaligen 
Regierung  sprach  dies  zu  und  die  Ougend  glaubte  ischliesslich  resi- 
gniert daran,   weil  es   die  Alten  sagten.   Auch  Sasineks  Gesinnungs- 

10* 


148 

genösse,  Sembera,  war  indessen  gestorben.  Es  bedurfte  daher  eines 
eisernen  Willens,  einer  liefen  Überzeugung  und  eines  unerschrockenen 
Charakters,  in  dieser  bedrohten  Situation  die  Fahne  der  Wahrheit 
nicht  sinken  zu  lassen.  Und  ein  Mann  mit  solchen  Eigenschaften  war 
Sasinek ;  er  trat  trotzdem  gegen  alle  diese  Feinde  auf,  —  Sasinek 
allein  gegen  Alle  — ,  denn  sein  einziger  Bundesgenosse  war 
das  Bewusstsein,  dass  er  im  Rechte  sei,  und  dass  die  Wahrheit  ein 
ewiges  Leben  habe.  — 

Wissenschaftlich  war  Sasinek  überhaupt  nicht  beizukommen.  Wie 
weit  erhob  sich  dieser  als  Geschichtskundiger  über  alle  die  Zunft- 
historiker  jener  Zeit!  Die  beliebte  Phrase  der  Gegner,  die  Verteidiger 
der  Sesshaftigkeit  der  Slaven  seien  keine  Fachleute,  prallte  hier  sicht- 
lich ab.  Sasinek  kämpfte  immer  homöopathisch,  d.  h.  er  benützte  die- 
selbe Waffe,  die  gegen  ihn  geworfen  wurde,  zum.  Gegenangriffe.  So 
wurde  z.  B.  gegen  seine  autochthonistischen  Grundsätze  Theophylakt, 
ein  byzantinischer  Schrifterklärer,  angeführt;  Sasinek  bewies  aber 
den  Gegnern,  die  überhaupt  mehr  durch  ihre  Masse  und  Rücksichts- 
losigkeit in  der  Wahl  der  Kampfmittel  imponierten  als  durch  Geistes- 
schärfe, dass  jene  Stelle  gerade  den  Autochthonismus  bestätige  und 
dass  man  dieselbe  völlig  unrichtig  erfassl  habe. 

Für  seine  Unerschrockenheit  im  offenen  Kampfe  und  seine  glü- 
hende Begeisterung  für  den  Fortschritt  der  Slaven  in  ihrer  Kultur, 
gibt  folgendes  Begebnis  eine  klassische  Bestätigung.  Sasinek  vertrat 
als  Sekretär  die  ,,Mütica  Slovenska"  bei  der  Eröffnung  der  kroatischen 
Universität  in  Agram,  bai  welcher  Gelegenheit  er  unter  anderem  in 
seinem  Trinkspruche  beim  Festbankette  sagte :  „Konstantin  Porphyro- 
genetes  erwähnt,  dass  die  Slovaken  das  Königreich  Kroatien  gegrün- 
det haben.  Nun  ist  die  Zeil  gekommen,  dass  die  Kroaten  dies  den 
Slovaken  rückzahlen.  Datc  nobis  de  oleo  iwstro,  quin  lampades  nostrae 
extingiintur I'*  —  („Gebt  uns  von  unserem  Öle,  denn  unsere  Lampen 
beginnen  zu  erlöschen!")  -—  Diese  Worte  wurden  begeistert  aufgenom- 
men ;  dass  Sasinek  deshalb  verfolgt  werde,  weil  er  die  Wahrheit 
allzu  unverhüllt  ausgesprochen,  darüber  war  er  sich  nicht  im  Unklaren. 

Im  kommenden  Oktober  feiert  Sasinek  das  diamantene  Jubiläum 
seines  Prieslerberufes,  aber  zugleich  auch  das  goldene  seiner  frucht- 
baren schriftstellerischen  Tätigkeit,  nachdem  er  im  Oahre  1863  als 
Milredakleur  der  in  diesem  Oahre  in  Skalice  gegründeten  Zeitschrift 
,,Slovesiwst"  seinen  Geist  und  seine  Feder  das  erstemal  für  die  all- 
slavische  Geschichtsforschung  in  den  Dienst  stellte. 

Wir  sind  ansonst  gewohnt,  einen  Mann  von  83  Jahren  nur  als 
gebrechlichen  Greis   zu  sehen;    das  ist   aber   bei    Sasinek    nicht   der 


149 

Fall.  Ein  gütiges  Geschick,  eine  kerngesunde  Natur,  eine  vernünftige 
Lebensweise  und  ein  Lebensgang,  erfüllt  mit  idealer,  durchgeistigter 
Kampfarbeit,  Hessen  es  niclil  zu,  dass  die  hohe  Zahl  der  Jahre  dem 
Körper  fühlbare  Wunden  schlage  und  noch  weniger  dem  Geiste.  Unser 
beneidenswerter  Jubilar  hat  daher  volle  Aussicht  noch  die  Schluss- 
szene in  unserem  wissenschaftlichen  Waffengange,  den  er  selbst  so 
mulig  und  erfolgreich  eingeleitet,  zu  sehen.  Zugleich  möge  ihm  aber 
auch  die  vollendete  Tatsache  den  glücklichen  Lebensabend  erhellen, 
wie  jeder  Platz  der  altgewordenen  Waffengefährten  sofort  und  dop- 
pelt durch  neue,  jugendfrische  Kräfte  besetzt  wird.  Die  Jugend,  sie 
beginnt  bereits  ernstlich  zu  unterscheiden  zwischen  den  echten  Pro- 
pheten und  falschen  ;  sie  beginnt  zu  erkennen,  dass  ein  Volk  ohne 
Patriotismus  und  Hochachtung  der  Traditionen  keine  Zukunft  habe ; 
die  Jugend,  sie  ist  es,  die  nun  die  Arbeit  des  Alters  übernimmt  und 
fortführt ;  und  so  lebt  und  erneut  sich  unser  alter  Stamm  und  unsere 
glänzende  Tradition  in  der  eiganen  Jugend  ewig  weiter  fort.-)  — 

M.  Zunkovic: 

Die  Wahrheit  über  die  Völkerwanderung. 

Die  beliebten  Hypothesen  von  der  Völkerwanderung,  die  be- 
kanntermassen  immer  in  jenem  Augenblicke  der  Wissenschaft  als 
eine  Hilfslruppe  beispringen,  wenn  der  traditionelle,  geschichtliche 
Faden  abreisst,  sollen  hier  einmal  ihrer  Genesis  und  Berechhgung 
nach  überprüft  werden,  und  sei  das  Resultat  dieser  Nachkontrolle 
gleich  hier  offen  ausgesprochen:  sie  sind  haltlose  Phantaste- 
reien, d.  h.  lediglich  die  Resultate  des  unlogischen 
Denkens  und  Schliessens. 

Vor  allem  ist  es  nötig  hervorzuheben,  dass  kein  alter  Schrift- 
steller noch  etwas  von  einer  Völkerwanderung  weiss.  Äneas  Silvius 
(1405  —  1464),  der  spätere  Papst  Pius  IL,  war  der  erste,  der  die  Mut- 

*)  Dem  Verfasser  dieser  kurzen  Würdigung  der  vielseitigen  Lebenstätigkeit 
unseres  Jubilars  gelang  es  ihn  zu  bestimmen,  eine  übersichtliche  Darstellung  seiner 
Gesamtarbeit  auf  dem  slavo-autochthonistischen  Gebiete  zu  verfassen  und  diese 
mit  seinen  Beobachtungen  der  heute  neubelebten  Bew^egung  zu  ergänzen,  was 
er  auch  auszuführen  versprach.  Wir  bedürfen  heute  bereits  einer  solchen  rück- 
schauenden Orientierung,  um  der  Mitwelt  darzulegen,  dass  sich  der  eben  voll- 
ziehende Zusammenbruch  der  antiautochthonistischen  »Schule«,  die  ihr  morsches 
Lehrgebäude  teils  aus  Unkenntnis  der  wirklichen  Situation,  teils  aus  persönlichen 
Utilitätsgründen  tollkühn  weiter  verteidigte,  schon  durch  ihre  Unnatürlichkeit 
aliein  unabwendbar  einstellen  musste.  — 


150 

massung  aussprach,  es  müssen  im  IV. — VI.  Oahrhunderle  unter 
den  damaligen  Völkerschaflen  Europas  grosse  Unruhen  und  Bewe- 
gungen geherrscht  haben,  und  nachdem  in  dieser  Zeit  neue  ethno- 
logische Namen  auftauchten,  mussten  einzelne  Völker  als  solche  aus 
ihren  Wohnsitzen  aufgebrochen  sein  und  sich  in  der  Welt  ein  neues 
Heim  gesucht  haben.  Und  mit  diesem  falschen  Universalheilmittel 
arbeitet  die  Geschichtsschreibung  bis  heute  fort,  ohne  zu  erwägen, 
dass  ein  ganzes  Volk  gar  nicht  wandern  kann,  oder  doch  den  Ver- 
such zu  machen,  sich  solche  Situationen  natürlich  zu  erklären,  zumal 
sich  ethnographische  Veränderungen  dieser  Art  aus  Analogien  leicht 
erklären  lassen.  — 

Die  Naturgesetze  bleiben  immer  dieselben ;  alle  natürlichen  Ak- 
tionen in  der  Welt  wiederholen  sich  konstant  unter  gleichen  Kausali- 
täten und  Begleiterscheinungen.  In  analoger  Weise  gehen  auch  die 
intellektuellen  Bestrebungen  des  Menschen  ständig  dahin,  sich  seine 
Lage  zu  verbessern,  was  zur  Folge  hat,  dass  sich  das  Völkerleben, 
alternierend  wie  zwei  Brunneneimer,  zur  Höhe  wie  zur  Tiefe,  also 
heute  zum  Herrschen,  morgen  zum  Beherrschtsein  bewegt,  welches 
Verhältnis  sich  denn  auch  in  der  Wandlung  des  Volksnamens  geltend 
m.acht.  In  dem  Auftauchen  und  Wiederverschwinden  eines  ethno- 
graphischen Namens  liegt  daher  die  ausschliessliche  Fehlerquelle  für 
alle  unsere  völkergeschichtlichen  Irrtümer,  und  namentlich  für  jene 
der  Völkerwanderung. 

Den  überzeugendsten  Beweis,  wie  wir  uns  eine  Völkerwande- 
rung in  der  Wirklichkeit  vorzustellen  haben,  bietet  uns  gerade  die 
prosaische  Gegenwart.  —  Auf  dem  Balkan  herrschte  bis  vor  kurzem 
die  Türkei,  Die  Bewohner  dieses  Staates  hiessen  demnach  Türken 
oder  Osmanen,  weil  die  Türken  (Osmanen)  die  Herrschenden 
waren.  Diese  Türken  sprachen  aber  zum  grossen  Teile  überhaupt 
nicht  türkisch,  sondern  slavisch,  griechisch  oder  albanesisch.  Diese 
regierende  Macht  ist  aber  heute  zertrümmert ;  in  die  eroberten  Pro- 
vinzen teilen  sich  die  Bulgaren,  Serben  und  Griechen,  was  umso 
leichter  ist,  da  der  Länderteilung  unter  den  Eroberern  die  sprachliche 
Grundlage  der  Bewohner  zur  Leitlinie  dienen  soll.  Die  ausschliesslich 
türkisch  Sprechenden  dieser  Gebiete  werden  die  Sprache  des  neuen 
Herrschers  annehmen,  und  schon  in  zwei  Generationen  gibt  es  in 
den  neuen  Reichen  keine  Türken  mehr.  Es  werden  auch  vielleicht 
welche  Familien,  um  dieser  Wandlung  auszuweichen,  in  die  asiatische 
Türkei  auswandern,  aber  das  gibt  noch  lange  keine  Völkerwanderung.— 
Ebenso  werden  die  geographischen  Namen:  Macedonien,  Thracien^ 
Epirus  u.  a.  vielleicht   mit   der   Zeit  aus    dem    modernen   Gebrauche 


151 

verschwinden,  wenn  die  neuen  Staaten  eine  andere  politische  Ein- 
teilung einführen.  Die  alten  topischen  Namen,  die  durch  die  türkische 
Verwaltung  ihrer  Sprache  angepasst  wurden,  erhallen  wieder  ihre 
allen  Formen  oder  verschwinden  ganz.  Nur  so  ist  es  erklärlich,  dass 
gewisse  Namen  immer  wieder  von  neuem  auftauchen,  und  ebenso 
einmal  bekannte  Völker  verschwinden  und  wieder  zum  Vorschein 
kommen,   wie  es   eben  der  politische  Wellenschlag   mit  sich   bringt. 

An  dieser  Stelle  sei  aber  auch  noch  angeführt,  dass  der  Name 
Türke  mit  dem  Erscheinen  der  Osmanen  in  Europa  gar  nicht  zusam- 
menhängt, sondern  der  Name  war  hier  schon  im  Allerlume  gang  und 
gäbe.  Der  römische  Geograph  Mela  (lebte  um  das  3ahr  50  n.  Ch.), 
der  aber  wieder  nur  ältere  Quellen  zitiert,  schreibt  (1,  116),  dass  jen- 
seits der  Budiner  die  Thyssageten  und  Türken  die  weiten  Wald- 
gebiele  bewohnen  („Budini  Gelonion  urbem  ligneam  habitant ;  iiixta 
Tliyssagdae  Tiircaeqiie  vastas  Silvas  occupant  .  .  .").  —  Die  Ge- 
schichte sagt  weiter,  dass  die  ersten  Angriffe  der  Türken  von  Klein- 
asien aus  gegen  Europa  im  Jahre  1357  erfolgten,  und  dass  die 
Eroberer  zuerst  in  Gallipoli  festen  Fuss  fassten.  Das  ist  aber  nach 
den  gangbaren  ethnographischen  Axiomen  auch  nicht  richtig,  denn  in 
einer  alten  Quelle  (Viia  s.  Liicae)  heisst  es  wieder,  dass  der  byzan- 
tinische Kaiser  Leo  der  Weise  (88G— 9i2)  die  Türken  gegen  die 
Bulgaren  zu  Hilfe  rief,  die  sodann  auch  weiter  bis  Attica  eindrangen 
und  das  Gebiet  verwüsteten  (,,Turcae,  quos  Leo  sapiens  quondam  con- 
tra Bulgaros  evocaverat,  iisqiie  in  Atticam  provinciam  vasfitatem  tulerunt"). 

Die  alten  Volksnamen  sind  daher  sowohl  in  Zeit  und  Raum 
äusserst  vage  und  dehnbare  Begriffe,  die  immer  nur  eine  bedingungs- 
weise Richtigkeit  haben  und  nicht  anders  zu  nehmen  sind,  wie  die 
modernen,  denn  wir  wissen  heule  z.  B.  unter  welchem  Gesichtspunkte 
fallweise  jemand  zu  nehmen  ist,  dar  da  abwechselnd  sagt,  er  ist  ein 
Böhme,  ein  Ceche,  ein  Österreicher,  ein  Slave,  ein  Deutscher ;  hin- 
gegen fehlen  uns  aber  die  subtilen  Kenntnisse,  welche  Auffassung 
hiabei  bei  den  alten  Schriftstellern  obwaltete,  wenn  sie  auf  demselben 
Gebiete  verschiedene  Volksnamen  anführen,  womit  zugleich  die  Schlüsse 
auf  die  Sprache  jener  Völker  auf  dieser  Grundlage  jeder  Verlässlich- 
keit  entbehren. 

In  das  gleiche  Netz  des  Irrtums  verfing  sich  auch  die  Archäo- 
logie, die  gewisse  ethnologische  Merkmale  aus  den  Brand-  und  Ske- 
lellgräbern  konstruieren  will,  und  da  einen  Völkerwechsel  heraus- 
deduziert, als  ob  sich  z.  B.  die  verschiedene  Begräbnismethode  bei 
demselben  Volke  nicht  gleichzeitig  oder  schichlenweise  hätte  ablösen 
oder  die  Art  derselben  vom  Wunsche  des  Verstorbenen  hätte  abhän- 


152 

gig  gemacht  werden  können ;  und  da  sich  in  der  Well  alles  wieder- 
holt, kann  sich  heute  wieder  jedermann  je  nach  persönlichem  Geschmacke 
begraben  aber  auch  verbrennen  lassen.  Dieser  Umstand  lässt  daher 
nicht  einmal  den  Gedanken  für  einen  Kulturwechsel  zu,  daher  noch 
viel  weniger  für  eine  gründliche  sprachliche,  religiöse  oder  nationale 
Veränderung. 

Der  heute  die  Osmanen  spezialisierende  Begriff  „Türke"  (früher 
auch  „Tork,  Torke",  slav.  „Turk,  Turek")  ist  sonach  nicht  erst  mit 
ihnen  in  Europa  aufgetaucht.  Die  Geographie  weiss  doch  auch,  dass 
sich  „türkische"  Völker  von  Ostsibirien  und  anschliessend  an  China 
bis  gegen  die  Balkanhalbinsel  ausdehnen.  Die  Geschichte  hingegen 
erzählt,  dass  „Türk"  ursprünglich  der  Name  eines  grossen  Nomaden- 
reiches war,  das  sich  im  V.  nachchristlichen  Jahrhunderte  zwischen 
dem  Irtis  und  üenisej  erstreckte.  In  weiterer  Folge  dehnte  sich  jenes 
Reich  über  alles  Gebiet  bis  zum  Kaspischen  See  aus ;  durch  die  Tun- 
gusen  gedrängt,  zogen  sie  dann  über  Nordpersien  nach  Kleinasien 
und  nahmen,  die  Meerengen  übersetzend,  dann  Thrazien  ein.  —  Doch 
dies  alles  ist  noch  immer  keine  Völkerwanderung,  denn  der  Haupt- 
stamm blieb  in  Asien  und  sitzt  noch  heute  dort,  sondern  lediglich 
die  naturgemässe  Populationsexpansion,  die  neue  Quellen  und  Gebiete 
für  das  Plus  des  Ernährungsmaximums  im  eigenen  Lande  auswärts 
suchen  geht,  was  allerdings  einst,  bei  der  grösseren  Abgeschlossen- 
heit der  Völker,  auch  nur  möglich  war,  wenn  man  über  genügende 
kriegerische  Machtmittel  verfügte,  um  zugleich  das  in  Aussicht  ge- 
nommene Gebiet  unterjochen  zu  können. 

Der  Populationsüberschuss,  dem  die  Heimat  keinen  gesicherten 
Lebensunterhalt  gewährleistet,  gravitiert  naturgemäss  seit  jeher  nach 
auswärts,  und  spielt  sich  in  der  Jetztzeit  die  grösste  Völkerwanderung 
ab,  ohne  dass  die  Geschichte  dieselbe  verzeichnet,  denn  die  Aus- 
v/anderungen  aus  Europa  und  Asien  nach  Amerika  berechtigen  voll- 
kommen zum  Gebrauche  dieses  Begriffes,  und  gibt  es  in  Amerika 
bereits  geschlossene  Provinzen,  die  von  Deutschen,  Cechen,  Kroaten, 
Slovenen  u.  a.  bewohnt  werden ;  und  auch  diese  Völkerwanderung 
geschieht  nur  einzeln  oder  familienweise,  aber  doch  nicht  nach  Art 
der  Heuschreckenschwärme,  denn  der  Stammsitz  bleibt  bei  .''lledem 
doch  immer  weiter  besetzt.  — 

Einen  Impuls  für  eine  grosszügigere  Auswanderung  können 
auch  Missjahre  und  die  daraus  resultierende  Nahrungsnot  bieten, 
und  wissen  wir  doch  sehr  gut,  dass  die  statistische  Kurve  der  Aus- 
wanderer aus  Österreich  immer  nach  einem  Missjahre  oder  bei  miss- 
lichen Industriekonjunkturen   erheblich  grösser  ist ;   im   umgekehrten 


In3 

Falle  stell!  sich  aber  hingegen  ein3  ZurücKflutung  ein.  Die  latenle 
Ursache  einer  jeden  Völkerwanderung  isf  daher  die  vitale  Not  oder 
das  Beslreben,  sich  seine  gegebene  Lebenslage  zu  verbessern. 

Das  Eindringen  in  ein  anderes  Gebiet  hat  allerdings  heute  an- 
dere Formen  angenommen,  als  einst.  Während  dies  heute  ein  ein- 
facher Auslandspass  ermöglicht,  konnte  es  früher,  als  jeder  Mann 
in  erster  Linie  ein  Krieger  war,  nur  durch  ein  kraftvolles  Auftreten 
mit  Waffengewalt  geschehen.  Und  mit  Waffengewalt  ermöglichten  sich 
auch  die  Türken  den  Eintritt  in  Europa.  Sie  beuteten  dann  die  eroberten 
Gebiete  gründlich  aus  und  handhabten  die  politische  Macht.  Um  eine 
strenge  sprachliche  Assimilierung  handelte  es  sich  ihnen  gar  nicht; 
sie  hielten  die  Annahme  der  mohammedanischen  Religion  für  einen 
weit  wichtigeren  Grundstein  zur  Festigung  ihrer  politischen  Macht, 
als  die  der  Sprache.  So  kam  es,  dass  es  jetzt  beim  Konkurse  der 
Türkei,  die  nahezu  500  Oahre  in  Europa  bestand,  nur  ungefähr  zwei 
Millionen  Einwohner  gibt,  die  wirklich  türkisch  sprechen ;  die  bestan- 
dene europäische  Türkei  war  sonach  der  drittgrösste  slavische  Staat 
in  Europa,  und  sind  im  ersten  Gahrhunderte  der  Gründung  des  os- 
manischen  Reiches  von  Stambul  aus  auch  diplomatische  Urkunden, 
z.  B.  den  Ragusanern,  in  slavischer  Sprache  ausgefertigt  worden. 

Welchen  ungeheuren  Einfjuss  auf  die  Geschicke  des  osmanischen 
Reiches  übrigens  die  Slaven  hatten,  ersieht  man  aus  einer  Reihe  der 
glänzendsten  Männer  der  türkischen  Geschichte,  wie  diese  Iv.  v.  Ku- 
kuljevic  in  der  Zeitschrift  „Lima"  (Agram  \8kk]  hervorhebt,  die  ins- 
gesamt slavischer  Abstammung  waren,  und  woraus  hervorgeht,  dass 
das  Csmanenreich  den  grössten  Teil  seines  Ruhmes  der  geistigen 
und  kriegerischen  Kraft  der  Slaven  verdankt,  sowie  dass  der  Nieder- 
gang mit  jenem  Momente  ansetzt,  als  man  die  slavischen  Untertanen 
zu  bedrücken  begonnen. 

Der  Kern  der  vermeintlichen  Völkerwanderungen  besieht  aber 
absolut  nicht  in  dem  mechanischen  Wechsel  eines  Volkes  durch  ein 
anderes  zur  förmlichen  Ablösung  eintreffende  Volk,  sondern  ledig- 
lich in  der  Änderung  der  Herrschaft  in  sprachlicher  oder  religiöser 
Hinsicht;  die  Stammbewohner  bleiben,  wie  sie  waren;  sie  behalten 
ihre  Sprache,  Religion  oder  Sitten,  wenn  die  neue  Regierung  darin 
ihren  Vorteil  sieht;  oder  es  treten  Verhältnisse  ein,  dass  es  politisch 
klug  erscheint,  sich  der  neuen  Situation  anzupassen.  Die  Osmanen 
gingen  daher,  wie  erwähnt,  nur  auf  die  Anerkennung  ihrer  Religion 
bei  den  neuen  Untertanen  aus;  andere  Eroberer  legten  wieder  mehr 
Gewicht  auf  die  Annahme  der  Sprache  der  neuen  Regierung.  So  haben 
der  Kalif  Valid  I.  und  der  geisteskranke  Hakem  mit  der  griechischen, 


154 

koptischen  und  nabaläischen  Sprache  in  Ägypten,  Syrien  und  Baby- 
lonien  auf  die  grausamste  Weise  aufgeräumt.  Man  weiss  doch  auch, 
dass  es  brandenburgische  Fürsten  gegeben,  die  den  Gebrauch  der 
wendischen  Sprache  in  ihrem  Staate  bei  Todesstrafe  verboten,  daher 
auch  in  Norddeutschland  die  Sprache  der  slavischen  Slammbewohner 
so  rapid  erlöschte.  Diese  Art  der  Völkerwanderung  bestand  daher 
nur  im  Wechsel  der  Landes-Umgangssprache. 

Eine  andere  beliebte  Methode  der  Konstruktion  einer  Völker- 
wanderung ist  das  Eskamolieren  oder  Verschicken  eines  Volkes  in 
ein  Gebiet  mit  grossem  Auslauf.  So  erzählt  die  Geschichte,  Irnak,  der 
jüngste  Sohn  Attilas,  habe  gegen  das  Ende  des  V.  Jahrhundertes  die 
hunnischen  Horden  nach  den  Volga-Steppen  geführt,  wo  sie  unter 
anderen  Nomaden  Völkern  aufgingen.  Wenn  dies  auch  nicht 
geschichtlich  als  unlogisch  widerlegt  wäre,  so  ist  eine  solche  Ver- 
schickung auch  praktisch  ganz  ausgeschlossen,  denn  ein  Volk,  das 
auf  seinem  Boden  doch  nur  ein  bestimmtes  Maximum  von  Individuen 
ernähren  kann,  vermag  nicht  noch  ein  weiteres  Volk  in  Kost  zu 
übernehmen.  Wäre  jedoch  der  Fall  eingetreten,  dass  die  Hunnen, 
nachdem  sie  kurz  zuvor  auf  den  Catalaunischen  Feldern  angeblich 
nahezu  vernichtet  wurden,  plötzlich  wieder  erobernd  auflraten,  so 
mussten  sie  alle  Gebiete,  die  sie  passierten,  doch  zuerst  besiegt 
haben,  und  dies  war  einst  bei  der  allgemeinen  Kriegsbereitschaft  und 
den  allseitigen  technisch  mehr  oder  weniger  hervorragenden  Vertei- 
digungsvorsorgen nicht  so  einfach.  Nebstbei  fehlt  hiezu  jede  vernünf- 
tige Erklärung,  weshalb  sie  bei  solchen  günstigen  Prämissen  den 
nationalen  Selbstmord  durchaus  in  den  Volga-Steppen  zu  begehen 
anstrebten.  Waren  überdies  hiebe!  die  Hunnen  siegreich,  so  gingen 
doch  eher  die  Stammbevjohner  zugrunde,  nicht  aber  die  Hunnen ; 
war  es  umgekehrt,  so  kamen  sie  durch  die  Durchzugsländer  überhaupt 
nicht  hinaus  und  erreichten  nie  jenes  Kanaan,  das  ihnen  gewisse 
Taschenspieler  in  der  Geschichtsschreibung  im  Erklärungsdilemma 
vorgaukeln. 

Wir  kennen  aber  doch  auch  heute  viele  und  verschiedene  Quel- 
len, die  über  die  Existenz  der  Hunnen  in  Mitteleuropa  noch  in  spä- 
teren Jahrhunderten  Aufschluss  geben.  Vor  allem  ist  dies  der  im 
Jahre  735  verstorbene  englische  Kirchenschriftsteller  Beda,  welcher 
(Hist.  Eccl.  /.)  schreibt,  dass  die  erste  Spur  von  den  Slaven  im  nörd- 
lichen Deutschland  anzutreffen  ist;  er  nennt  sie  Hunnen  und 
lässt  sie  in  der  Nachbarschaft  der  Dänen,  Sachsen  und  Rugier  woh- 
nen. —  Dieses  ist  weit  glaubwürdiger  und  ist  die  ganze  Geschichte 
über  die  Hunnen  dahin  zu  präzisieren,  —  wenn  dies  überhaupt  nicht 


« 


155 

eine  ganz  andere  Völkergruppe  war,  wie  es  ja  zugleich  viele  von 
einander  ganz  unabhängige  Volksstämme  von  Wenden,  Kroaten,  Ser- 
ben u.  a.  gab  und  gibt  —  dass  diese  mit  bewaffneter  Alacht  lediglich 
von  ihren  Sitzen  aus  Raubzüge  gegen  Südosten  (ByzanzI,  Süden 
(Österreich  und  Italien)  sowie  gegen  Westen  (Gallien)  unternahmen, 
ähnlich  wie  die  Osmanen  durch  Jahrhunderte  gegen  Westen  und 
Nordwesten  zu  häufige  Einfälle  ausführten,  wobei  es  sich  im  Prinzipe 
weniger  um  Ländererwerb  als  vielmehr  um  Raub  von  beweglichem 
Gute  handelte.  —  Übrigens  erfahren  wir  noch  Positiveres  durch  den 
Geschichtsschreiber  Widukind  (X.  Jahrb.),  welcher  erzählt,  dass  König 
Heinrich  1.  an  die  Unterjochung  der  Sorben  schreiten  musste,  weil 
sie  ihm  als  ständige  Verbündele  der  Hunnen  gefährlich  zu  werden 
begannen.  Nachdem  er  vorher  die  Unruhen  in  Deutschland  gestillt, 
schloss  er  mit  den  Hunnen  einen  neunjährigen  Waffenstillstand,  griff 
dann  di3  Heveler  (an  der  Havel)  an  und  nahm  dann  deren  Haupt- 
sladt  Brsnnabor  (Brandenburg)  ein  usf.  Es  gab  also  im  X.  Jahrhun- 
derte im  nördlichen  Europa  noch  immer  „Hunnen",  mit  denen  Bünd- 
nisse zu  schliessen  es  deutsche  Könige  nicht  unter  ihrer  Würde 
hielten !  —  Der  kärntische  Chronist  Unrest  erzählt  unter  anderem 
auch,  dass  es  in  Kärnten  um  das  Jahr  820,  d.  i.  nach  dam  Einfalle 
der  Hewn  (Hunnen,  worunter  er  aber  heidnische  Kroaten  versteht) 
keinen  Herrn  und  keinen  Herzog  gab,  daher  sie  ,.üinen  gemainen 
man  von  paiirn  geschlackt  zum  hcrtzoge  im  lande  Quarantano  machten".— 
Im  Igor-Liede  wurden  die  „hinischen"  Pfeile  als  besonders  gefürchtet 
angeführt,  und  diese  „Hinen"  wohnten  demnach,  da  die  Dichtung  nur 
in  der  Zeit  von  1186—1194  entstanden  sein  kann,  damals  im  Polovzer- 
Gebiete,  also  an  der  unteren  Volga  und  am  Don,  sind  demnach  auch 
seinerzeit  nicht  spurlos  „in  den  Volga-Steppen  unter  anderen  No- 
madenvölkern aufgegangen." 

Alle  Erzählungen  über  Völkerwanderungen  sind,  wie  sie  eben 
heute  interpretiert  werden,  eine  völlig  kritik-  und  gedankenlose,  ein- 
seitige Schilderung  von  geschichtlichen  Vorgängen,  die  es  in  Wirk- 
lichkeit in  dieser  Art  nie  gab  noch  gegeber.  haben  konnte.  Wirft 
man  aber  alles  Geschwätz,  das  man  aus  alten  Quellen  herausgelesen 
haben  will,  weg,  so  bleibt  nur  mehr  dar  nachfolgende  Kern:  die 
Völkerwanderungen  sind  lediglich  Kriegszüge;  sol- 
che Kriegs-  oder  Abenteurerscharen,  die  sich  auch 
jenem  verdingten,  der  sie  entsprechend  honorierte, 
legten  mitunter  auch  weite  Strecken  zurück;  sie  führ- 
ten den  Namen  jenes  Volkes,  dem  sie  entstammten; 
sie  hatten  im  Trosse  ihre  Frauen  wie  die  während 
des  Kriegszuges  geborenen  Kinder  mit,  aber  deshalb 


156 

blieb  ihr  Ursprungsland  genau  so  weiter  besetzt  und 
bevölkert,  wie  vorher,  und  änderte  sich  deshalb  auch 
nicht  der  eigentliche  Volks-  oder  Gebietsname.  —  Der 
einzig  richtige  Weg,  wie  sonach  das  Völkerwanderungsrätsel  zu  lösen 
sei,  ist  daher  der  induktive:  die  Folgerung  von  einem  konkreten 
Falle  auf  den  allgemeinen,  vom  Lebenden  auf  das  Abgestorbene,  vom 
Bekannten  auf  das  Unbekannte. 

Ein  weiterer  organischer  Fehler  in  der  Geschichtsschreibung 
ist  die  kritiklose  Verwertung  der  Quellen,  sowie  die  einseitige  Her- 
vorhebung dessen,  was  der  Augenblick  heischt;  von  Objektivität  oder 
V\/ahrheitsenergie  ist  da  oft  gar  keine  Spur  zu  finden.  Hiefür  mögen 
folgende  Beispiele  dienen,  wie  die  ungereimtesten  Dinge  zu  geschicht- 
lichen Satzungen  werden  können,  je  nachdem  man  fallweise  Licht 
oder  Schatten  bedarf.  Der  im  3ahre  i525  verstorbene  Nikolaus  Mar- 
schalk (Mareschalcus)  schrieb  eine  Geschichte  der  Heruler  und  Van- 
dalen.  Im  7.  Kapitel  sagt  er  betreffs  der  Heruler:  „Sie  haben  voralters 
ohne  Zvjeifel  dem  Teuton  viel  grössere  Ehre  erwiesen,  als  die  übri- 
gen Teutschen,  da  sie  ihn  mit  Menschenblut  zu  versöhnen  pflegten."  — 
Im  darauffolgenden  8.  Kapitel  sagt  er  hingegen :  „Zu  Kriegszeiten 
droschen  die  Heruler  das  Korn  aus  und  vergruben  es  in  die  Erde; 
das  sonstige  Hausgerät  versteckten  sie  in  den  Wäldern,  Gruben  und 
Seen,  was  alle  Vandalen  vorzeiten  in  ähnlicher  Weise  taten."  — 
Westphalen,  der  die  Annalen  Marschalks  im  Jahre  1739  veröffent- 
licht, schreibt  hier  statt  „Vandalen"  bereits  „Wenden" ;  demnach  sind 
die  Heruler  bei  demselben  Schriftsteller  einmal  „Teutsche",  einmal 
„Wenden",  denn  die  Vandalen  galten  auch  Marschalk  als  Slaven  — 
Wenden.  —  Letzterer  schreibt  im  8.  Kapitel  auch  noch  folgendes  in 
einem  Atem:  „Mit  Unrecht  glaubten  die  Heruler  an  viele  Götter.  Sie 
kamen  an  Festtagen  über  Befehl  des  Priesters  mit  Weibern  und  Kin- 
dern zusammen.  Dort  befand  sich  ein  grosser  Altar,  worauf  ein 
jeder  seinen  Gott,*)  so  gut  er  vermochte,  mit  Ochsen,  Schafen 
und  Federvieh  versöhnte.  Bei  diesen  Opfern  musste  auch  immer 
Christenblut  herhalten,  denn  ihrer  Gewohnheit  gemäss  schlachteten 
sie  Männer  und  Weiber  für  den  Altar  ab,  rissen  ihnen  das  Einge- 
weide heraus  und  hängten  es  auf  die  Pfähle.  Nach  diesem  Götzen- 
dienste schmausten  sie,  tranken  lustig  herum  und  beendeten  den 
Tag  mit  Spielen  und  Tänzen.  Einen  guten  Freund  Hessen  sie  nicht 
gar  zu  alt  werden,  da  sie  sich  einbildeten,  es  wäre  besser  zu  ster- 
ben, als  den  Lebensrest  träge  zuzubringen;  sie  hielten  es  daher  für 

*)  Diese  Erwähnung,  wonach  jeder  s  e  i  r,  e  m  Gott  opfert,  klärt  auch  den 
Umstand  näher  auf,  weshalb  sich  in  den  allen  Gräbern  Mecklenburgs  immer 
Orabbeigaben   vorfinden,   die   den   verschiedensten   Gottheiten   gewidmet  sind. 


157. 

gut  Alte  zu  töten,  und  als  eine  besondere  Gunstbezeugung  die  abge- 
lebten, arbeitsunfähigen  Eltern  in  kleine  Stücke  zu  zertiacken,  zu 
Speisen  vorzubereiten,  was  auch  Prokopius  in  der  Geschichte  der 
Goten  von  den  auswärtigen  (Herulern)  erzählt.  Gegen  einander  waren 
sie  gastfrei  und  gotlesfürchtig,  ehrten  und  liebten  die  Eltern  gar  hoch; 
den  Fremden,  welche  sie  gerne  beherbergten,  erwiesen  sie  Liebes 
und  Gutes,  und  wer  solchen  sein  Haus  versagte,  dem  wurde  dieses 
niedergebrannt.  Sie  unterhielten  mit  dem  gemeinsamen  Gelde  Hospi- 
täler, Waisen-  und  Armenhäuser,  und  kamen  so  den  Notleidenden 
und  Gebrechlichen  zu  Hilfe."  — 

Was  ist  da  nun  wahr?  Wer  seine  Eltern  hoch  ehrt,  den  Gebrech- 
lichen Kranken-  und  Versorgungshäuser  erbaut,  tötet  und  verzehrt 
sonach  nicht  seine  Eltern  „aus  besonderer  Gunstbezeugung" !  —  Der 
subjektive  Geschichtsschreiber  macht  es  nun  folgend :  will  er  die 
Heruler  herausstreichen,  so  hebt  er  itiren  Humanismus  hervor;  will 
er  sie  herabsetzen,  so  macht  er  sie,  sich  auf  die  Beweise  alter  Schrift- 
steller stützend,  zu  Menschenfressern ;  der  objektive  Kritizismus,  der 
da  sagen  müsste,  dass  da  eitel  Widersprüche  sind,  kommt  dabei  gar 
nicht  zu  Worte.  Von  der  national  gefärbten  Wissenschaft,  welche  die 
Herjler  zj  Slaven  macht,  wenn  man  sie  als  Anthropophagen,  und  zu 
Deutschen,  wenn  man  sie  als  ein  Volk  von  hoher  Kultur  hinstellt,— 
und  natürlich  umgekehrt  — ,  sei  aber  hier  überhaupt  weiter  nicht 
gesprochen.  Und  so  etwas  nennt  man  dann :  Völkergeschichte ! 

Es  handelt  sich  aber  hier  nicht  nur  um  falsche  Vorstellungs- 
künste,  um  eine  Völkerwanderung  glaubhaft  zu  machen,  sondern  über- 
haupt um  ein  Gebäude,  das  auf  einem  Moorgrunde  aufgeführt  wurde. 
In  dieser  Hinsicht  rechnete  die  Geschichtsschreibung  lediglich  mit 
ungeprüften  Suggestionen.  Sehen  wir  davon  ganz  ab,  dass  man  z.  B.. 
die  Hunnen  als  die  ärgsten  Barbaren  ansieht,  die  sich  ihr  Genuss- 
fleisch auf  dem  Sattel  mürbe  ritten  —  möge  es  jemand  versuchen, 
ein  Stück  Fleisch,  vielleicht  auch  mit  unausgelöstem  Knochen,  auf  dem 
Sattel  mürbe  zu  reiten,  oder  lasse  sich  erzählen,  was  dem  Reiter 
geschieht,  wenn  sich  nur  die  geringste  Falle  im  Sitze  bildet  -, 
die  klein  von  Gestalt,  hässlich  u.  dgl.  waren,  die  Deutschen  aber 
als  Hünen  oder  Riesen,  was  doch  synonyme  Begriffe  sind,  be- 
zeichnet wurden,  so  widerlegt  die  Geschichte  auch  die  Hauptpunkte 
selbst.  Es  fällt  schon  auf,  dass  unsere  Geschichtslehrbücher  ihre 
Daten  über  die  Hunnen  lediglich  jenen  schriftstellernden  Zeitgenossen 
entnehmen,  die  über  dieselben  das  Gräulichste  zu  erzählen  wissen, 
während  andere,  wie  Priscus,  der  die  wirklichen  Verhältnisse  wesent- 
lich lichtvoller  schildert,  unbeachtet  bleiben.  Aber  auch  die  anderen' 
schildern   da   Vorgänge,   die   sich  weder  mit  der  Kritik  noch  Logik. 


In8 

vereinbaren  lassen.  Wie  ist  es  z.  B.  erklärlich,  dass  ein  solcher  Bar- 
bar par  excellence,  wie  Allila,  die  Burgunderfürstin  Kriemhilde  zur 
Gallin  erhall,  dass  das  Hochzeilsfesl  in  Wien  durch  17  Tage  gefeierl 
wird,  dass  die  Burgunder  den  Hof  Allilas  besuchen,  dessen  Residenz 
grosse  Paläsle  bildelen,  dass  er  um  Honoria,  die  byzantinische  Kaiser- 
tochter werben  lässt,  trotzdem  die  Geschichte  erzählt,  Allila  habe 
wenig  Kriegsglück  gehabt,  sei  aus  Italien  unverrichleter  Dinge  zurück- 
gekehrt, sei  im  Oahre  451  auf  den  Catalaunischen  Feldern  fast  ver- 
nichtet worden,  indess  er  allgemein  gefürchtet  war,  ihm  der  Kaiser 
von  Byzanz  den  jährlichen  Geldlribut  namhaft  erhöhen  mussle  u.  a.  — 
alles  ein  Beweis,  dass  man  es  hier  mit  einem  Geschichtsirrtum  oder 
einer  Geschichtsfälschung  plumpsler  Art  zu  tun  hat.  Überdies  hat  es 
stets  Standesunterschiede  gegeben,  und  doch  kann  sich  niemand  bei 
den  modernen  sozialen  Ansichten  etwa  eine  ernste  Brautwerbung  eines 
besiegten  Indianerhäuptlings  bei  einer  europäischen  Herrscherfamilie 
vorstellen.  War  aber  Atlila  ein  solcher  Wüstling,  wie  ihn  die  Geschichte 
hinsleilt,  so  hätte  er  sich  eine  ausgewählte  Braut  wohl  mit  Gewall 
geholl  oder  hätte  selbe  rauben  lassen ;  etikeltmässige  Brautwerbungen 
sind  aber  in  diesem  Milieu  ganz  undenkbar. 

Solcher  Art  sind  also  die  Quellen,  aus  denen  wir  unsere  Ge- 
schichtsdogmen schöpfen  und  konstruieren ;  solche  Kannegiessereien 
und  gehässige  Willkürlichkeilen  werden  dann  zum  Evangelium,  zu 
Marksteinen  der  Wissenschaft  und  zu  den  wichtigsten  Wendepunkten 
der  Wellgeschichte.  Erlernt  oder  begreift  aber  ein  Schüler  diese  ver- 
worrenen Geschichtslügen  nicht,  so  erhält  er  sein  „nichlgenügend" 
und  kann  dafür  repetieren  oder  im  Studium  verunglücken,  denn  es 
wird  doch  bis  heute  niemanden  geben,  der  zustimmen  könnte,  dass 
er  die  Schul-Völkerwanderung  je  verslanden  habe. 

Logisch  noch  trostloser  wirkt  hiebet  die  geschichtliche  Rand- 
bemerkung, es  hätten  die  Hunnen  ihr  Dienslvolk,  die  Slaven,  so  als 
eine  Art  Kofferträger,  auf  ihrem  Heereszuge  aus  Asien  nach  Mittel- 
europa mitgenommen,  aber  dann  hier  zurückgelassen,  als  sie  sich 
selbst  in  die  Volga-Steppen,  sozusagen  zum  geschichtlichen  Ausleben, 
in  den  Ruhesland  zurückzogen.  Dieser  blühende  Unsinn  ist  in  deut- 
schen, aber  ebenso  auch  in  slavischen  Lehrbüchern  zu  lesen ;  es  gibt 
Universitätsprofessoren,  die  nur  über  die  Völkerwanderung  lesen, 
aber  niemandem  fällt  es  ein,  da  berichtigend  aufzutreten.  Will  man 
dieses  vertrackte  Kapitel  der  Geschichte  noch  in  satirisch-logischer 
Weise  fortsetzen,  so  wären  die  Slaven  demnach  eigentlich  mit  einem 
Ehrenkonvoi  der  Hunnen  nach  Westeuropa  gebracht  und  hier,  nach- 
dem ihnen  die  geographische  Situation  behagte,  nach  entsprechender 
Einführung  zurückgelassen  worden.  —  Difficile  est  satiram  non  scribere ! 


Iö9 

Betrachten  wir  aber  noch  einige  Völkerschaften,  die  ihre  Exi- 
stenz oder  ihren  Heimfall  der  Völkerwanderung  zuschreiben,  und 
seien  hiezu  die  Vandalen,  Longobarden,  Rhälier  und  Kel- 
ten erwählt. 

Die  Geschichte  sagt,  die  Vandalen  waren  ein  ostgermanisches 
Volk,  das  dann  verschiedenste  Kriegszüge  unternahm,  und  sich  schliess- 
lich um  das  Jahr  534  in  Afrika  verlor.  Wie  reimt  sich  dies  aber, 
da  wir  wissen,  dass  der  hl.  Ruppert  noch  im  Jahre  705  den  „Van- 
dalen" predigte,  denn  es  heisst:  Jranscenosqiie  monte  altissimo,  mons 
Dunis  (  -  slav.  Turi)  appclato,  pracdicavii  Wandalis"  („nach  Passieren 
--  vom  Norden  her  —  der  Hohen  Tauern  predigte  er  den  Vandalen"), 
worunter  man  die  heutigen  Slovenen,  als  die  Bewohner  südwärts 
jenes  Gebirges,  verstehen  muss,  was  auch  richtig  ist,  den  in  einer 
böhmischen  Glosse  in  Mater  vcrbomm  aus  dem  Xll.  Jahrhunderte 
werden  die  Slovenen  („Zlouenin")  auch  „Vandalus"  (und  „Wint")  ge- 
nannt. —  Helmold  erzählt  in  der  „Chronica  Slavorum"  (1172),  dass 
an  der  Grenze  Polens  ein  ausgedehntes  slavisches  Land  liegt;  die 
Bewohner  desselben  nannte  man  voralters  „Vandalen",  jetzt  aber 
„Winithen"  oder  „Winuler".  —  Der  bereits  erwähnte  Nikolaus  Mar- 
schalk schrieb  eine  Geschichte  der  Heruler  und  Vandalen,  und  wid- 
mete das  Werk  dem  Herzog  Heinrich  von  Mecklenburg,  dem  Fürsten 
der  Vandalen  („princeps  Vandaloriim").  —  Welche  Geschichte  sagt 
uns  nun  heute,  dass  es  im  XVI.  Jahrhunderte  in  Europa  noch  Van- 
dalen gab,  und  welches  sind  nun  jene  Vandalen,  die  man  als 
Paradigma  der  Zerstörungswut  in  der  heutigen  Redensart  zu  ver- 
stehen hat  ? 

Ähnlich  steht  es  mit  den  Longobarden.  Sie  waren  etwa  ein 
westgermanisches  Volk,  das  zu  Beginn  unserer  Zeitrechnung  an  der 
Niederelbe  wohnte,  nacndem  die  Namen  „Bardengau"  wie  „Bardo- 
wiek"  ihnen  zugeschrieben  werden  (!).  Später  gelangten  sie  elbeauf- 
wärts  bis  ins  Waagtal,  wo  ihr  Hauptort  „Langricio"  (jetzt  Trencin) 
war.  Sie  machten  sich  nun  durch  Zertrümmerung  des  Heruler-  und 
Gepidenreiches  zu  Herren  Pannoniens.  Ihr  König  Alboin  zog  5G8 
gegen  Italien,  und  seine  Scharen  überfluteten  bald  den  nördlichen  Teil 
davon,  der  nun  nach  ihnen  „Lombardei"  benannt  wurde.  Später  ge- 
hen sie  ganz  in  den  Romanen  auf.  —  Es  ist  nun  selbstredend,  dass 
es  sich  hier  nicht  um  ein  und  dieselbe  Völkerschaft,  und  noch  weni- 
ger um  den  Zug  eines  ganzes  Volkes,  sondern  nur  um  Kriegszüge 
handelt.  Die  Etymologie  „lombarda",  d.  i.  „lomvarda",  bedeutet:  Grenz- 
wache; „lombardi"  hiessen  demnach  im  Slavischen  die  Grenzwäch- 
ter („lom"      Grenze,    „varda"     Wache,   Schutzpunkt),   und  mag  sich 


160 

dieser  Name  an  der  Unterelbe,   in  der  heutigen  Slovakei,   in  Ungarn 
wie  in  Oberilalien,   analog  wie  sich   andere  Völkernamen  fortgesetzt 
wiederholen,   gleichfalls  wiederholt  haben.   Es  sind   dies   daher  auch 
nicht  dieselben  Volksstämme,  sondern  nur  so  benannte  Kriegsscharen 
verschiedener   Zeit   und   verschiedenen  Ursprungs,   analog  wie   man 
vielerlei  Kazakenvölker  kennt,  d.  h.  es  waren  dies  die  Krieger  einer 
„kaza",   eines  Stammes   oder  Bezirkes   (böhm.  „chasa"),  welche  Or- 
ganisation auf  dem  Balkan  zum  Teile  noch  heute  fortbesteht.  -     Die 
hautige  Schreibweise  „Langobarden"  und  die  Etymologie  „Langbärle" 
kann   demnach   auch  ruhig   und   schadlos   in  Vergessenheit   geraten, 
denn  die  Begriffe  „lumbati"  (kroat.  Schutzdämme  machen),  „lumbarda" 
(Schutzdamm,  auch :  schweres  Geschütz,  Geschützposition)  u.  ä.,  sowie 
topische  Namen  heben  diese  unnatürliche  Erklärung  von  selbst  auf.  — 
Man  sucht  eben  dort  seine  Ahnen,  wo  gleiche  Namen  auftreten;  dass 
aber  diese   eine  völlig  getrennte,   von  einander  unabhängige  Entste- 
hung haben  können,  daran  wird  hingegen  gar  nicht  gedacht,  und  da- 
bei  auch  zumeist  vergessen,   dass  man  von   einem  Volke  für   sich 
immer  erst   dann   sprechen   kann,   wenn  es   eben  ein  Volk  für  sich 
selbst  ist,  was  erst  mit  der  Geschichte,  d.  i.  mit  dem  Erwachen  des 
Bawusstseins  eines  Volkes  von  sich  selbst,  eintritt. 

Der  Ursitz  der  Longobarden  zur  Völkerwanderungszeit  ist  zwei- 
fellos die  heutige  Lombardei ;  der  Name  hat  sich  daher  ebensowenig 
verloren,  wie  jener  des  alten  Volkes  der  Rhätier,  bei  denen  man 
im  Zweifel  ist,  ob  sie  Illyrer,  Kelten  oder  Veneter  waren,  obschon 
sie  noch  heute  als  „Rezijani"  existieren.  Sie  wohnen  noch  immer  an 
den  Südhängen  der  Alpen  und  sind  identisch  mit  den  slovenischen, 
allerdings  heute  schon  bis  auf  etwa  30.000  Seelen  völlig  romanisier- 
ten  Bewohnern  der  italienischen  Provinz  Venetien.  Man  sagt  auch, 
die  Rhätier  bildeten  geographisch  und  sprachlich  den  Übergang  zu 
den  Etruskern  oder  Tosken  ;  auch  das  ist  richtig,  denn  die  etrurischen 
Sprachreste,  wie  sie  in  den  zahlreichen  Inschriften  vorkommen,  sind 
eben  ein  schon  ziemlich  romanisiertes  Slavisch. 

Es  haben  daher  alle  streitenden  Parteien  im  Prinzipe  recht:  die 
Rhätier  sind  Veneter,  weil  sie  in  der  Provinz  VeneÜen  wohnten;  sie 
sind  Illyrer,  weil  dieses  Gebiet  im  geographisch-politischen  Sinne  zu 
einer  Zeit  zu  Illyrien  gehörte;  sie  sind  auch  Kelten,  weil  sie  mili- 
tärisch-sozial, wie  dies  nachstehend  erörtert  wird,  im  „celedi"  orga- 
nisiert waren;  die  langwierigen  Gelehrten -Katzbalgereien  in  dieser 
Richtung  haben  daher  nicht  den  geringsten  Beweiseffekt,  da  eben 
jede  Behauptung  oder  Ansicht  diskutabel  ist. 

Eine  besondere  Rolle  spielen  die  „Celti",  —  „Kelten"  ist  schon 
die   präzisierte  Form   —  in  der  Völkerwanderung.   Man   nimmt  an. 


161 

dass  sie  sich  zum  mindesten  schon  im  ersten  Jahrtausend  vor  der 
christlichen  Zeitrechnung  von  Österreich  und  Siiddeutschland  aus  über 
den  Rhein,  dann  Frankreich  bis  England  ausdehnten.  Gegen  Ende 
des  VI.  Jahrhundertes  v.  Chr.  besetzten  sie  Spanien  (Keitoiberer); 
zu  Anfang  des  IV.  Jahrhundertes  v.  Chr.  verbreiteten  sie  sich  auch 
schon  über  das  etruskische  Norditalien ;  in  den  Jahren  284—278 
zogen  sie  als  „Galater"  nach  der  Balkanhalbinsel,  und  dehnten  sich 
dann  noch  bis  zur  Mitte  von  Kleinasien  aus.  Wer  war  nun  dieses 
grosse  und  rätselhafte  Volk?  Die  Erkläiung  liegt  in  dessen  nationa- 
lem Namen,  denn  „celed"  bedeutet  im  Slavischen  noch  heute  eine 
Sippe  oder  einen  Volksstamm,  und  verstand  man  darunter  vor 
allem  die  militärische  Organisation  eines  Stammes;  jene  Völker 
oder  Stämme,  die  sich  in  „celedi"  gruppierten,  und  wo  der  kampf- 
fähige Mann  „celedin"  (althochdeutsch  „heied,  cheied"  Mann)  hiess, 
waren  die  „Celti",  analog  wie  dies  bei  den  Bojern  war,  die  ihre 
militärische  Stammeskraft  als  „boj"  oder  „voj",  oder  die  Franken 
als  „bran",  die  Spanier  als  „span"  (Kameradschaft,  Gespanschaft), 
die  Kazaken  als  „kaza",  die  Böhmen  als  „chasa"  benannten,  und 
gilt  die  militärisch-soziale  Benennung  einer  Volksgruppe  nahezu  aus- 
nahmslos als  die  Grundlage  der  ethnographischen  Namen.  Da  aber 
diese  Grundbegriffe  eben  im  Slavischen  noch  heule  die  zutreffende 
Bedeutung  haben,  muss  die  Sprache  der  Vandalen,  Longobarden, 
Rhätier,  Etrusker  und  Gelten  eben  eine  solche  gewesen  sein,  die 
von  den  heutigen  slavischen  Sprachen  noch  nicht  wesentlich  verschie- 
den war. 

Aus  alledem  geht  überzeugend  folgende  Erkenntnis  über  die 
sprachliche  Zugehörigkeit  jener  alten  Völker  hervor:  die  slavischen 
Sprachen  haben  die  Originalität  der  Ursprache  am 
reinsten  erhallen;  die  anderen  Spr  ach  g  r  uppen  sind 
davon  schon  weiter  entfernt;  alle  Sprachen  haben 
daher  dieselbe  Grundsprache  zur  Basis;  diejenige 
aber,  welche  die  Kontinuität  mit  dieser  Grund-  oder 
Ursprache  noch  am  wenigsten  verloren  hat,  muss  die 
ältere,  d.  h.  der  Ursprache  die  nähere  sein,  und  dies 
sind,  in  mo  dern  er  Benennung  ausgedrückt,  eben  die 
slavischen  Sprachen.  —  Diese  Erkenntnis  auszusprechen  dik- 
tiert die  wissenschaftliche  Ehrlichkeit,  und  zu  diesem  Schlüsse  kommt 
jeder,  der  den  Mut  besitzt,  seine  Erfahrungen  frei  und  offen  zu  be- 
kennen. 

Behaupten  nun  z.  B.  die  Franzosen  heute,  dass  sie  keine  Ro- 
manen, sondern  Nachkommen  der  Gelten  sind,  so  ist  dies  organisch 
vollkommen  zutreffend,  denn  die  Sezession  ihrer  Sprache  entwickelte 

11 


162 

sich  auf  jenem  Boden,  auf  dem  sie  heule  sitzen,  und  nicht  etwa  auf 
Umwegen  über  Italien,  daher  auch  deren  Sprache  umso  „keltischer" 
erscheint,  je  weiter  man  sie  bis  zur  fühlbaren  Abschwenkung  verfolgt. 

Die  Slavizität  jener  Grundsprache  ist  aber  auch  leicht  zu  be- 
gründen, denn  jede  Sprache  durchläuft  einen  Lebenskreis,  dessen 
Stationen  immer  durch  äussere  wie  innere  Veränderungen  gekenn- 
zeichnet sind.  Hiebet  begegnen  wir  aber  der  sonderbaren  Erschei- 
nung, dass  die  Fortentwicklung  einer  Sprache  zugleich  ihre  Originali- 
tät, d.  i.  deren  Formen  und  Flexion  immer  weiter  verkümmert;  dabei 
erhalten  sich  jedoch  die  Sprachen  im  Gebirge  viel  origineller,  als  in 
der  Ebene,  wo  der  Verkehr  und  der  Einfluss  des  grösseren  Verkeh- 
res einen  in  dieser  Hinsicht  schädlichen  Einfluss  üben.  Und  diesen 
konservierenden  Einfluss  merken  wir  doch  vielen  slavischen  Spra- 
chen, die  sich  noch  den  reinsten  Formenschatz  erhalten  haben,  leicht 
an.  Und  wenn  wir  noch  erwähnen,  dass  dies  auch  die  topischen 
Namen  bestätigen,  die  sich  doch  am  konservativsten  erhalten,  so  ist 
der  Beweis  vom  sprachlichen  Standpunkte  aus  erbracht,  dass  die 
Völkerwanderungshypothese  unhaltbar  ist  und  weiter- 
hin bestenfalls  in  ein  Märchenbuch  gehört,  denn  es 
kann  unbedingt  niemand  dort  Terrainteile  zu  einer  Zeit  nach  seiner 
Sprache  benannt  haben,  zu  welcher  er  dort  gar  nicht  war. 

Sollte  übrigens  je  eine  so  grossartige  Umwälzung  wirklich  statt- 
gefunden haben,  dass  plötzlich  Millionen  bodenständiger  Menschen 
durch  ebensoviel  zugewanderte  Slaven  abgelöst  worden  wären,  so 
konnte  sich,  abgesehen  davon,  dass  dadurch  ein  halber  Weltteil 
irgendwo  menschenleer  geworden  wäre,  der  Wechsel  doch  nicht  so 
unbemerkt  abwickeln,  dass  ihn  die  römischen,  griechischen,  byzan- 
tinischen und  arabischen  Schriftsteller,  die  doch  sonst  ganz  belang- 
lose Vorgänge  verzeichneten,  gar  nicht  wahrgenommen  hätten,  denn 
unter  den  Völkern,  welche  da  als  ablösende  genannt  werden,  findet 
man,  wie  die  dermalige  Geschichte  behauptet,  noch  immer  sehr  wenig 
Slaven.  Trotzdem  hören  wir  aber  andererseits  immer  wieder,  dass 
die  Römer  überall  auf  ihren  Eroberungszügen  auf  Bewohner  stiessen, 
die  starke  Burgen,  Ringwälle  oder  Grenzschutzvorsorgen  hatten,  und 
die  ihnen  sehr  energisch,  und  vielfach  auch  mit  grossem  Erfolge,  mit 
den  Waffen  entgegentraten.  Ein  Volk  aber,  das  sich  Festungen  baut, 
beteiligt  sich  an  keiner  Völkerwanderung,  sondern  es  siegt  oder 
unterliegt.  — 

Der  Kern  dieses  geschichtlichen  Irrtums  liegt  überdies  in  der 
gewohnten  Annahme,  dass  ein  Volk  immer  erst  dann  auf  der  Welt- 
bühne gesichtet  wird,  sobald  dessen  erste  Erwähnung  in  der  geschrie- 


163 

benen  Geschichte  wahrgenommen  wird,  ein  Denkfehler,  vergleichbar 
mit  dem,  wie  wir  auch  alle  einst  im  naiven  Kindersinne  glaubten, 
dass  die  Sonne  unmittelbar  hinter  dem  nächsten  Gebirge  unseres 
Horizontes  aus  dem  Ozean  steige.  In  der  Entwicklung  eines  Volkes, 
welches  plötzlich  unter  einem  bestimmten  Namen  geschichtlich  inven- 
tarisiert auftritt,  ist  aber  doch  eine,  nicht  einmal  approximativ  in 
Zahlen  ausdrückbare  Werdezeit  vorangegangen,  worauf  man  eben 
fast  ausnahmslos  vergisst. 

Die  heute  landläufigen  Erzählungen  über  die  Vergangenheit  der 
Slaven  kann  daher  einer  logisch  geführten  Nachprüfung  unmöglich 
weiter  standhalten,  und  gehört  die  Negation  desAutoch- 
thonismus  der  Slaven  wohl  zu  den  grössten  Irrtümern 
oder  wissenschaftlichen  Fälschungen  aller  Zeiten. 

Diese  falschen  Fundamente  der  wissenschaftlichen  Ordnung  müs- 
sen daher  endlich  der  Auswechslung  teilhaftig  werden,  was  freilich 
tiefeinschneidende  Konsequenzen  haben  wird,  denn  nur  mit  bangem 
Schrecken  wird  man  endlich  zur  Revision  der  Ur-  und  Kulturgeschichte 
schreiten  müssen,  da  das  Räderwerk  dieser  Maschinerie  nicht  mehr 
funktioniert;  die  Archäologie  wird  endlich  erkennen  und  zugeben 
müssen,  dass  die  Kulturresidien  der  alten  europäischen  Stammvölker 
auch  einen  gemeinsamen  Grundzug  haben ;  die  Rassenlehre  miit  ihrer 
Dezentralisierungstendenz  verliert  immer  weiter  ihren  realen  Halt; 
die  Sprachwissenschaft,  die  sich  eine  Unzahl  von  isolierten  Sprachen 
zurechtlegte,  büsst  eine  Position  um  die  andere  ein,  und  nimmt  immer 
mehr  die  monistische  Richtung  an ;  die  Götter-  und  Geisterwelt  un- 
serer Mythologien  nähert  sich  wieder  mehr  und  mehr  der  irdischen 
Welt,  von  welcher  eben  erst  deren  Transsubstantiation  ausging  usw., 
was  die  sozialen,  kulturellen  wie  auch  politischen  Ansichten  gewiss 
mächtig  beeinflussen  muss. 

Wir  leben  daher  heute  am  Abende,  dem  ein  Tag  mit  der  Um- 
wertung oder  Berichtigung  eines  grossen  Teiles  des  menschenge- 
schichtlichen Wissens  folgen  wird,  denn  fällt  nur  einmal  die  Barri- 
kade der  Völkerwanderungshypothese,  die  sich  die  Wissenschaft  selbst 
über  den  Weg  erbaut  hat,  dann  erst  wird  die  Bahn  frei  für  alle  wei- 
tere Forschung  nach  unseren  Ursprungs-  und  Entwicklungsfragen ; 
unter  den  bisherigen  Prämissen  war  dies  schon  mechanisch  ausge- 
schlossen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  eines  nicht  unwichtigen  Umstandes  Er- 
wähnung getan,  der  bisher  ganz  unbeachtet  blieb  und  doch  eine  sehr 
fühlbare  Rolle  im  Völkerleben  spielt.  Die  irrtümliche  Konstruktion 
einer  Völkerwanderung  ist  es  nämlich,  die  zu  dem  tiefen,  nationalen 

11- 


164 

Unfrieden,  namentlich  zwischen  den  Slaven  und  Deutschen,  den  ver- 
derblichen Keim  legte,  denn  ohne  gegenseitige  Achtung  und  billig  s 
Anerkennung  der  gegebenen  gleichen  Imponderabilien  kam  es  kei- 
nen Völkerfrieden  geben,  weil  der  Mangel  der  Parität  das  Neben- 
und  Mitwohnen  der  Völker  vielfach  unleidlich  macht,  und  nichts  wirkt 
verletzender,  als  eine  unberechtigte  sowie  den  Mass  absichtlich  näh- 
rende Zurücksetzung. 

Will  man  daher  ehrlich  Frieden  haben,  so  setze  sich  vor  allem 
die  Wissenschaft  ein  und  mache  ihre  handgreiflichen  Fehler  der  künst- 
lichen Verhetzung  gut;  eine  einseitige  Herrenmoral  aber,  die  sich  auf 
gewalttätige  Geschichtsfälschungen  und  Verschwindenlassen  von  Ge- 
genbeweisen stützt,  ist  ein  weit  verderblicherer  Bazillus  für  das  Fort- 
bestehen der  geschichtlichen,  kulturellen  wie  sozialen  Völkerdishar- 
monie, als  jedes  andere  der  vielen  wurmstichigen  Molive,  die  da  als 
Hindernisse  phrasenmässig  angeführt  werden.  Nichts  kränkt  mehr 
den  Einzelnen  wie  eine  ganze  Nation,  als  das  ewige  Hänseln  mit 
der  Minderwertigkeit,  namentlich  wenn  hiezu  nicht  die  geringste  Be- 
gründung vorgebracht  werden,  oder  der  Anteil  an  der  allgemeinen 
Kultur  nicht  überzeugend  klargelegt  werden  kann,  denn  das,  was 
man  heute  darüber  zu  wissen  vermein!,  vei  schiebt  si.h  durch  die 
fortschreitende  Forschung  sogar  immer  sichtlicher  zur  Negierung  der 
heutigen  Voraussetzungen.  — 


Slavische  Geschichtsquellen. 

III.  Das  Roland-Lied. 

Mitgeteilt  von  J.  Kuffner. 

Im  Vorjahre  erschien  eine  interessante  Studie  des  Professors 
F.  E.  Mann  über  „Das  Roland-Lied  als  Geschichtsquelle  und  die  Ent- 
stehung der  Roland-Säulen"  (Dieterichs  Verlag,  Leipzig),  welche  nicht 
nur  literaturgeschichtlich  von  grösserem  Interesse  ist,  sondern  für  die 
altslavische  Geschichte  geradezu  eine  hervorragende  Enthüllung  und 
eine  neue  Quelle  bedeutet. 

Von  der  Geschichte  des  Mittelalters,  wie  man  sie  in  der  Schule 
zu  hören  und  in  der  Literatur  zu  lesen  bekommt,  kann  man  füglich 
sagen,  sie  bedeute  eine  Erzählung  von  Ereignissen,  die  niemals  statt- 
gefunden  oder  zum  mindesten  nicht  derart  vor   sich  gegangen  sind. 


lf)5 

wie  und  was  darüber  berichte!  wird.  Mit  der  grossen  Phantasmagorie 
der  sogenannten  Völkerwanderung  verziehit  ein  grosser  Nebelvorhang 
das  Proscenium  und  der  Hokuspokus  dahinter  nimmt  seinen  Anfang. 
Eine  Flucht  von  Erscheinungen  wunderbarster  Gestalt  und  Form  drängt 
sich  da  in-  und  übereinander ;  Vorkommnisse  und  Taten  werden  ge- 
meldet, die  jedem  Zusammenhang  mit  Naturgesetz  und  Vernunft  hohn- 
sprechen, Aktionen  und  Variationen,  die  alle  Beziehung  zum  Grund 
und  Boden  des  wirklichen  Lebens  verloren  haben.  Die  gestrenge 
Wissenschaft  versucht  zwar  aus  allen  Kräften  an  dem  unentwirrbaren 
Knäuel  zu  zerren  und  zu  schlichten,  doch  scheint  der  Liebe  Müh', 
mag  sie  noch  so  sehr  in  Widerspruch  mit  dem  gesunden  Menschen- 
verstand sich  befinden,  vergeblich.  Nebel  bleibt  Nebel;  die  Überlie- 
ferung im  Grossen  und  Ganzen,  gebunden  an  den  Buchstaben  der 
ehrwürdigen  Quellen,  ist  nicht  zu  verscheuchen ;  was  geschrieben 
steht,  ist  geschrieben. 

Je  mehr  in  allen  Zweigen  des  menschlichen  V7issens  das  Prin- 
zip der  exakten  Auffassung  platzgreift,  desto  fühlbarer  wird  das  Be- 
dürfnis auch  für  den  Blick  in  längst  vergangene  Zeiten  eine  verläss- 
lichere Basis  zu  finden,  als  es  jene  ist,  die  in  den  Berichten  unwis- 
sender Chronisten  und  treuherziger  Wiedergeber  von  Gehörtem  als 
gegeben  zu  betrachten  hat.  In  erfreulicher  Weise  mehren  sich  in  neu- 
ester Zeil  Versuche,  diesem  Bedürfnisse  nahezutreten,  um  möglichst 
Licht  zu  bringen  in  das  Dunkel  der  überlieierten  Materie.  Zu  diesen 
Aufklärungsarbeiten  gehört  auch  die  oben  angeführte  Studie. 

Das  Roland-Lied  wird  bekanntlich  mit  einer  Legende  in  Zusam- 
menhang gebracht,  die  über  einen  Kriegszug  Karls  d.  Gr.  nach  Spa- 
nien gegen  die  Sarazenen  zu  berichten  weiss.  Karls  Heer  soll  dabei 
auf  dem  Rückzuge  über  die  Pyrenäen  eine  Schlappe  erlitten  haben. 
So  erzählt  unter  Anderen  auch  Eginhard,  der  Biograph  des  grossen 
Kaisers.  Seit  langem  wird  nun  schon  um  die  Frage  gestritten,  wie 
viel  an  der  Erzählung  wahr  sei  ?  Aus  den  Darlegungen  des  Verfas- 
sers kommt  nun  mit  ziemli:her  Evidenz  zum  Vorschein,  dass  es  mit 
der  Heldengeschishte  vom  Tale  Roncevals  seine  guten  Wege  hat. 
Auf  Grund  einer  sehr  eingehenden  Untersuchung  des  Tatbestandes 
und  aller  einschlagenden  Dokumente,  stellt  der  Autor  fest,  dass  die 
im  Roland-Liede  besungenen  Helden  und  Taten  mit  Spanien  eigentlich 
gar  nichts  zu  tun  haben,  sondern  dass  im  Gegenteile  Karl  zu  jener 
Zeit  gar  nicht  über  das  grosse  Gebirge  gezogen  ist,  dass  sein  Kriegs- 
zug zwar  den  Sarazenen  gegolten,  mit  diesen  „Sarazenen"  jedoch 
nicht  die  Araber  in  Spanien,  sondern  ein  ganz  anderes  Volk  im  Nor- 
den des  Reiches  gemeint  ist,  u.  zw.  jenes  slavische  Volk,  das 
zwischen  der  Oder  und  Elbe  längs  der  Meeresküste  angesiedelt  war, 


166 

und  das  der  Verfasser  als  den  Stamm  der  „Slettiner"  bezeichne!. 
Unter  Roland  (Hruotlandus,  Rutland,  Rudlan  u.  ä.)  ist  nach  seiner  Dar- 
stellung „das  Vorbild  aller  späteren  Heidenbekämpfer  im  Osten"  zu 
verstehen,  ein  Markgraf  des  wendischen  Grenzlandes,  ein  Grosser 
aus  dem  Gefolge  Karls,  der  sich  auf  dem  eben  nicht  glücklich  verlaufenen 
Kriegszuge  für  seinen  Herrn  im  Kampfe  aufgeopfert  und  dabei  den  Hel- 
dentod gefunden  hat.  Es  bleibt  daher  nur  zu  berichtigen,  dass  sich  die 
Geschichte  nicht  bei  Roncevals  in  den  Pyrenäen,  sondern  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  beiPrenzlau,  unweit  Stettin,  in  der  Uckermark, 
zugetragen  hat.  Der  Verfasser  sagt:  „Prenzlau  ist  slavisch  Premi- 
slav  (ältere  Formen:  Prinslauw  1253,  Prenslauve  u.a.m.)  Der  Schlacht- 
ort heisst  nach  der  Oxforder  Handschrift  „Rencesvals",  das  wie  ein 
Kompromiss  erscheint  zwischen  dem  überlieferten  Namen  „Prenslav" 
oder  „Prenseslav"  und  dem  später  herangeholten  „Roncevals".  Die 
Ortschaft  Prenzlau  ist  uralt,  wir  kennen  ihren  Ursprung  nicht,  und 
sie  k  a  n  n  sehr  wohl  schon  im  VIII.  Jahrhunderte  bestanden  haben  . . ." 
Damit  hat  der  Verfasser  nicht  nur  vollkommen  recht,  sondern  ist 
obendrauf  anzunehmen,  dass  der  Ursprung  des  Ortes  noch  viel,  sehr 
viel  weiter  zurück  liegt.  Der  Name  „Prenzlau"  ist  seinem  Ur- 
sprünge nach  identisch  mit  jenen  von :  Breslau,  Bi^eclava,  Bfetislava, 
Vratislava,  Bracislava,  Brjaslava,  Perejaslava,  Zbraslava  und  noch 
einer  Unzahl  von  Variationen  desselben  Namens,  die  in  slavischen 
oder  ehemals  slavischen  Gegenden  sich  von  der  Ostsee  bis  zum 
Schwarzen  Meere  hinziehen  und  sämtlich  zu  Lokalitäten  gehören,  die 
ihrer  Lage  nach  ziemlich  übereinstimmen.  Sie  liegen  nämlich  an 
grösseren  oder  kleineren  Gewässern,  meist  an  Mündungen,  die  eine 
starke  Verwässerung  des  Terrains  zur  Folge  haben,  und  zu  ihrer 
Zeit  sicherlich  eine  besondere  Rolle  im  Lande  gespielt  haben,  daher 
auch  durchwegs  befestigt  waren.  Zu  welcher  Zeit  nun  mögen  wich- 
tige Punkte  im  Terrain  in  dieser  Weise  gleichmässig,  sozusagen 
gattungsweise  benannt  worden  sein?  Zu  welcher  Zeit  gab  es 
eine  derart  in  die  Augen  springende,  in  den  entlegensten  Gegenden 
miteinander  übereinstimmende  technische  Terminologie  für 
topographische  Vorstellungen?  Welche  Zeit  war  es,  über  die  alle,  auch 
die  ältesten  Quellen  —  schweigen? 

Die  Details  der  sehr  komplizierten  Beweisführung  sind  freilich 
im  Buche  selbst  nachzulesen.  Die  Lektüre  ist  überaus  dankbar  und 
anregend,  so  mühselig  sie  auch  erscheint  gegenüber  der  Unmasse 
von  gelehrtem  Krimskrams  das  aus  dem  Wege  zu  räumen  ist,  und 
der  unterschiedlichsten  kleinen  Fragen  und  Zweifel,  die  ihre  Klar- 
stellung erheischen.  Der  Beweis  ist  im  grossen  und  ganzen  als  er- 
bracht anzusehen ;    direkt  erbracht  durch  fleissig  dokumentierte  Aus- 


Iö7 

legung  und  überzeugende  Placierung  der  vielen  im  Texte  des  Liedes 
vorkommenden  Namen,  sowohl  Namen  topographischen  Charakters, 
als  auch  Namen  von  Völkern,  Stämmen  und  Scharen,  nicht  nur  von 
einzelnen  lebenden  und  handelnden  Personen  sondern  auch  von  blos- 
sen Gegenständen  und  Requisiten.  Das  ganze  ausführliche  Verzeichnis 
von  Namen  und  Umständen  wird  recht  überzeugend  auf  seine  nörd- 
liche Abkunft  zurückgeführt  und  mit  viel  Glück  in  das  Gebiet  zwischen 
der  Elbe  und  Oder  zurückorientiert.  Indirekt  war  ein  starker  Zweifel 
über  die  Legende  einer  spanischen  Heerfahrt  Karls  ohnehin  schon 
durch  den  auffallenden  Umstand  bekräftigt,  dass  die  zeitgenössischen 
arabischen  Quellen  von  einer  solchen  gar  nichts  wissen,  und  es 
sehr  einleuchtend  ist,  dass  sie  einen  über  den  Erzfeind  errungenen 
Vorteil  ihrerseits  gewiss  nicht  verschwiegen  hätten. 

Der  heimliche  Szeneriewechsel,  den  im  Laufe  von  Jahrhunderten 
die  Ereignisse  der  Legende  erfahren  haben,  ist  auf  ein  simples  qui 
pro  quo  in  der  Namensdeutung  zurückzuführen.  In  ethnographischen 
sowie  in  den  anders  verwandten  Benennungen  waren  die  Alten  nie- 
mals besonders  skrupulös.  Geographie  und  Topographie  gaben  da- 
mals noch  keine  Wissenschaft  ab.  Die  Begriffe  waren  weder  geklärt 
noch  feststehend,  und  so  kam  es,  dass  man  ein  und  dasselbe  Volk 
mit  den  unterschiedlichsten  Namen  belegt  hat  und  umgekehrt  wieder 
andere  vollkommen  fremde  Völker  und  Stämme  ohne  viel  Umstände 
unter  demselben  Namen  notiert  hat.  Daher  das  jämmerliche  Drunter 
und  Drüber  von  Namen  und  Ereignissen,  das  für  die  Periode  des 
Überganges  vom  Altertum  ins  Mittelalter  so  bezeichnend  ist.  So  wurde 
zu  Karls  Zeit  unter  „Sarazenen"  überhaupt  ein  fremdes,  feindliches 
Volk,  von  welcher  Provenienz  immer,  verstanden.  Einmal  sind  es  die 
Araber,  ein  andermal  die  Slaven,  ebenso  wie  es  „Sarazenen"  auch  in 
den  Tälern  der  Schweiz  wie  Südfrankreichs  gab,  weil  sich  dieser 
topische   Name  daselbst  oft  wiederholt.  — 

Über  die  etymologische  Auslegung  einiger  slavischer  Orts-  und 
Personennamen  Hesse  sich  mit  dem  Verfasser  wohl  streiten,  doch 
fallen  dergleichen  kleine  Beweissplitter  nicht  in  die  Wagschale  gegen- 
über der  grossen  leitenden  Hauplidee  der  Arbeit,  die  klar  zu  Tage  tritt. 
Auch  darf  man  es  dem  Autor  nicht  verübeln,  dass  er  als  Vorkämpfer 
und  Aufräumer  in  einer  Partie  des  derart  verworrenen  und  ins  Dunkel 
gehüllten  Stoffes,  in  anderen  parallelen  Fragen  fast  gänzlich  den  land- 
läufig überlieferten  Begriffen  huldigt,  über  die  wir  schon  geläutertere 
Meinungen  haben.  Den  grossen  Vandalenzug  quer  über  Mitteleuropa 
hält  er  vollkommen  im  Sinne  der  üblichen  Lehrbücheranschauung  für 
den  „Raubzug  eines  wilden  Barbarenvolkes"  usw.  Freilich  sind  für 
derlei  Urteile  sichere  Ouellenzilate  zur  Verfügung,  doch  wird  die  Ge- 


168 

schichte  dadurch  noch  nicht  glaubwürdiger.  Seil  Menschengedenken 
werden  feindliche  Scharen  im  Lande  von  den  Einwohnern  nicht  anders 
als  „Räuber"  und  „Barbaren"  benamset,  und  werden  ihnen  die  ärgsten 
Schändlichkeiten  zugeschrieben.  Nach  französischen  Zeitungsstimmen 
wäre  auch  der  deutsche  Feldzug  1870-71  von  den  Nackommen  für 
nichts  anderes,  als  für  einen  schändlichen  Einfall  eines  räuberischen 
Barbarenvolkes  zu  halten.  Die  alt3n  Chronisten  sind  aber  die  Zeitungs- 
schreiber ihrer  Zeit.  In  ihren  Schriften  spiegell  sich  lediglich  die  mo- 
mentane Anschauung  ihrer  Umgebung  wieder,  und  das  Urteil  des 
Augenblicks  ist  immer  von  Nebenumständen  beeinflusst,  daher  natur- 
gemäss  und  notwendig  parteiisch.  Erst  die  ferne,  nachkommende  Zeit 
soll  und  kann  aufklärend  wirken  und  ein  objektives  Urteil  fällen,  d.  h. 
die  Aussage  beider  Teile  anhören  und  prüfen.  Krieg  ist  Krieg.  Warum 
soll  das  feindliche  Unlernehmen  des  römischen  Kaisers  ein  „Kriegs- 
zug", das  seines  Gegners  aber  ein  „Raubzug"  genannt  werden?  Höch- 
stens vielleicht  vom  patriotischen  Standpunkte.  Ein  solcher  müsste 
aber  dann  eine  allseitige  Geltung  haben !  Doch  da  setzen  erst  die 
Schwierigkeiten  voll  ein.  Die  „Barbaren"  des  Altertums  wie  des  Mittel- 
alters haben  nichts  Schriltliches  hinterlassen,  daher  die  Berichterstat- 
tung immer  durchwegs  einseitig,  somit  gefärbt  oder  gefälscht  ist. 

Die  Aufgabe  der  ernsten  Forschung  liegt  nun  darin,  Mittel  und 
Wege  zu  suchen,  trotz  der  einseiligen  Beleuchtung  den  wahren  Sach- 
verhalt ans  Licht  zu  bringen.  Wie  da  beiläufig  vorzugehen  ist,  hiefür 
bietet  uns  der  Autor  in  der  vorliegenden  Arbeit  eine  vorbildliche 
Probe.  Dass  dabei  links  und  rechts  noch  eine  Menge  anderer  Fragen 
und  Zweifel  noch  ungelöst  bleiben,  ist  natürlich;  man  kann  eben  nichi 
an  allen  Punkten  zugleich  Vor-  und  Mitkämpfer  sein.  — 


IV.  Die  Evangelienhandschrift  zu  Cividale 
(Cedad,  Italien). 

Mitgeteilt  von  F.  V.  Sasinek. 

C.  L.  Bethmann  beschrieb  im  „Neuen  Archiv  der  Gesellschaft 
für  ältere  deutsche  Geschichtskunde"  (187G,  11.  113//)  eine  hochwich- 
tige lateinische  Evangelienhandschrift,  die  gegenwärtig  im  Archiv  des 
Kapitels  von  Cividale  verwahrt  wird.  Dieser  Pergamentkodex  wurde 
im  V.  oder  VI.  Jahrhunderte  irgendwo  in  Oberitalien  geschrieben, 
kam  bald  nach  dem  Tode  des  Patriarchen  Paulinus  (t  80^)  nach  Aqui- 
leja  und  blieb  in  einem  dortigen  Kloster  bis  ins  XVL  Jahrhundert,  wo 
die   Kanoniker  von   Aquileja   ihre   Schätze   wegen    der   beständigen 


Iti9 

Kriegsgefahr  dar  Stadt  Cividale  zur  Aufbewalirung  übergaben.')  Der 
Glaube,  die  sieben  Ouaternionen  des  Evangeliums  Marci  seien  des 
Evangelisten  Autograph,  war  Ursache,  dass  zwei  derselben  1354  dem 
Kaiser  Carl  IV.,  der  Rest  1420  der  Republik  Venedig  geschenkt  wur- 
den; die  ersleren  befinden  sich  noch  jetzt  in  gutem  Zustande  im 
Prager  Metropolitanarchiv,  die  letzteren  aber  wurden  im  Schatz  von 
San  Marco  durch  den  Einfluss  von  Feuchtigkeit  zu  einem  unförm- 
lichen Pergamentklumpen. 

Den  Hauptwort  der  Handschrift  bilden  zahlreiche  longobardische 
und  slavische  Namen,  welche  von  verschiedenen  Händen  am  Rande 
eingeschrieben  sind.  Es  sind  Namen  von  Pilgern  und  Reisenden,  „qui 
vencmnt  in  isto  monastcrio"  und  auch  anderer  Personen,  welche  teils 
von  den  Pilgern  selbst,  teils  auf  deren  Wunsch  von  den  Mönchen 
aufgezeichnet  wurden. 

Bethmann  bemerkt,  der  Schrift  nach  sei  kein  Name  älter  als 
das  Ende  des  VIIl.  Oahrhundertes,  keiner  jünger  als  das  Ende  des 
X.  Jahrhundertes.  Historische  Personen  fand  er  darunter  nur  wenige ; 
so  Kaiser  Ludwig  II.  und  Ingelberga  (nach  850),  Bischof  Dominik  von 
Olivolo  (um  86S),  Kaiser  Carl  den  Dicken  (880-888J,  und  den  Bul- 
garenfürsten Michael  (t  89S). 

Unter  den  slavischen  Namen,  für  deren  vollständige  Publizierung 
die  slavische  Geschichtsforschung  Herrn  Bethmann  zu  grossem  Danke 
verpflichtet  ist,  lässt  sich  aber  ausser  dem  Bulgarenfürsten  Michael 
(Boris)  eine  viel  bedeutendere  Anzahl  von  historischen  Personen 
sicherstellen.  Wh"  wollen  auf  die  wichtigsten  derselben  aufmerksam 
machen. 

Sehr  wertvoll  ist  die  Notiz  /,  3  und  4: 

„De  Bolgaria,  qui  primus  venit  in  isto  monasterio,  nomen  eius 
Sondoke  et  uxor  eins  Anna,  et  pater  Johannes  et  niater  eius  Maria,  et 
fiiius  .  .  Mihael  et  alius  filius  eius  Uuelecneo  (wohl  Velegnev),  et  filia 
eius  Bogomilla  et  alia  Kalia  et  tercia  Mar(tha  et  quarta)  Elena  et  quinta 
Maria.  Et  alia  uxor  eius  Sogesclaua  (Sobeslava?).  Et  alius  homo  bonus 
Petrus  .  .  .  et  Georius  .  ." 

„Petrus  et  uxor  eius  Sofia." 

„Hie  sunt  nomina  de  Bolgaria.   Inprimus  rex  illorum  Michahel  et 

f rater  eius  Dox  et  alius  f rater  eius  Gabriel,  et  uxor  eius  Maria  et  jilius 

eius  Rasdte  (Chrisata  ?)  et  alius  Gabriel  et  tercius  filius  Sinieon  et  quar- 

his  Jilias  Jacob,   et  Jilia  eius  dei  ancella  Praxi  (Eupraxia  ?)   ei  alia  j'ilio 

eius  Anna." 

„Zergobula  f .  .  ■  las." 

^)  Cuf.  Migne:  Patrol.  lat.  tomo  99.  pag.  537,  Cividale,  Civitas  Austriac, 
Forumjulii. 


170 

Dass  in  dem  Evangelium  von  Cividale  der  Name  eines  Bulgaren- 
königs verzeichnet  ist,  wusste  man  schon  aus  della  Torres  Beschrei- 
bung dieses  Kodex  (Bianchini,  Evangelium  qiiadruplex  1749),  aber  della 
Torre  las  denselben  Georg,  wodurch  man  in  grosse  Schwierigkeiten 
geriet,  da  die  altbulgarische  Geschichte  einen  König  dieses  Namens 
nicht  kennt.  Bethmann  klärte  diesen  Widerspruch  auf:  „der  Name 
Georg,"  bemerkte  er,  „stand  schon  früher  da,  und  der  diese  Notiz 
und  die  auf  der  folgenden  Seite  aufzeichnete,  schrieb  um  diesen 
Namen  herum."  Der  Name  Michael  steht  liefer  unten  und  ein  Zeichen 
deutet  an,  wohin  er  gehört. 

Auf  den  hohen  Wert  dieser  Notiz  für  die  Genealogie  der  ältesten 
bulgarischen  Dynastie  hat  bereits  Professor  Jagic  in  seinem  Archiv 
für  slavische  Philologie  II.  1.  Berlin  1876,  S.  171  u.  172  aufmerksam 
gemacht.  Bemerkenswert  ist  der  Umstand,  dass  unter  den  Söhnen 
Michaels  wohl  der  nachmalige  Cesar  Simeon  (t  927),  aber  keines- 
wegs dessen  Bruder,  Fürst  Vladimir  genannt  wird. 

Die  ganze  Aufzeichnung  möchte  ich  in  das  3ahr  869  versetzen. 
In  diesem  Jahre  nämlich  reiste  der  Boljare  Peter  als  Gesandter  des 
Fürsten  Michael  zum  Papste  nach  Rom.  Die  Notiz  im  Evangelium 
nennt  nicht  nur  Peter  selbst,  sondern  auch  noch  die  Namen  Sondoke 
und  Zergobula.  Nach  Bulgarien  zurückgekehrt,  wurde  Peter  mit  den 
beiden'  genannten  Boljaren  sogleich  nach  Kontantinopel  zum  Konzil 
gesandt,  welches  daselbst  am  3.  März  870  zusammentrat.  Einige  Jahre 
später  (879)  schrieb  Papst  Johannes  VIll.  an  Petrus  und  die  mäch- 
tigen Boljaren  Cerbula  und  Sundicus,  um  dieselben  für  die  Vereini- 
gung Bulgariens  mit  Rom  geneigt  zu  machen.-) 

Bisher  war  bekannt,  dass  die  beiden  im  Briefe  des  Papstes 
Johannes  Vlll.  genannten  Vornehmen  mit  jenen  identisch  seien,  die 
Peter  nach  Konstantinopel  begleiteten.  Die  Marginalnote  des  Evan- 
geliums von  Cividale  zeigt  nun,  dass  sie  auch  an  der  Gesandtschafts- 
reise Peters  nach  Rom  teilgenommen  haben.  Wir  kennen  nun  die 
ständigen  Diplomaten  des  Fürsten  Michael:  Petrus,  Sondoke,  Zergo- 
bula. 

Wahrscheinlich  Hess  Sondoke  sich  und  die  übrigen  einzeichnen, 
da  die  Notiz  über  seine  Familie  die  ausgiebigste  ist. 

F.  4'  liest  man :  „sziienticpiilc.  szuentczizna.  prcdezlaus."  Es  ist 
dies  der  bekannte  Fürst  von  Grossmähren,  Svatopluk  oder  Svetepik. 
Den  Namen  seiner  Gemahlin  kannten  wir  bisher  nur  aus  einer  schad- 
haften Stelle  des  Salzburger  Verbrüderungsbuches  \im  .  .  iiizna  Cf.  Dr. 

-)  Cuf.  Assemani  Calendaria  eccl.  univ.  II.,  270,  Slovensky  Letopis  V,,  32. 


171 


Herrn.  Direcek,  Slovanske  pravo  I.  58  nach  Karajans  Edition.)  In  der 
Cividaler  Handschrift  tritt  derselbe  in  seiner  vollständigen  Gestalt  an 
den  Tag :  Svetezizna,^]  Der  mit  gleicher  Hand  verzeichnete  Predeslav 
lässt  sich  nicht  näher  sicherstellen. 

Die  Bemerkung,  welche  Girecek  über  den  Predeslav  macht,  ist 
zwar  korrekt,  allein  in  einer  dunklen  Geschichte,  wo  keinesfalls  feste 
Wahrheit  erreicht  werden  kann,  ist  eine  weitere  Kombination  gestattet, 
um  wenigstens  Wahrscheinlichkeit  aufzustellen. 

Es  scheint  ganz  analogisch  und  natürlich  zu  sein,  dass  nach 
dem  Namen  des  Vaters  und  der  Mutter  der  Name  des  Sohnes  folge: 
ist  es  daher  nicht  möglich,  dass  wir  hier  im  Predeslav  den  Sohn  des 
Svatopluk  I.  haben?  Da  Kaiser  Konslanlinos  Porphyrogenetes  so  deut- 
lich von  dessen  drei  Söhnen  spricht,  und  wir  bis  jetzt  nur  dessen  zwei 
Söhne,  Mojmir  II.  und  Svatopluk  11.  kennen,  so  ist  es  ganz  wahr- 
scheinlich, dass  Predeslav  sein  dritter,  ohne  Zweifel  der  älteste  Sohn 
Svatopluks  I.  war. 

Die  Annales  Fuldenses  erwähnen  zwar  nur  die  zwei  Söhne  Moj- 
mir II.  und  Svatopluk,  sagen  aber  nirgends,  dass  er  nur  diese  zwei 
Söhne  hatte ;  sie  nennen  diese  zwei  Söhne  nur  gelegentlich,  indem 
sie  die  Zwistigkeiten  zwischen  diesen  zweien  beschreiben :  ist  es 
nicht  möglich  zu  denken,  dass  gerade  der  Tod  des  ältesten  Sohnes 
den  Zankapfel  unter  die  jüngeren  Söhne  geworfen  hat?  Svatopluk  hat, 
wie  uns  Kaiser  Konslanlinos  Porph.  versichert,  sein  Reich  unter  seine 
drei  Söhne  verteilt,  den  ältesten  zum  Grossfürsten  ernannt,  so  dass 
ihm  die  zwei  jüngeren  gehorchen  sollten.  Nach  dem  Tode  des  Vaters 
(894)  herrschte  einjährige  Eintracht  unter  ihnen,  es  muss  folglich  im 
3ahre  895  der  älteste  Sohn  noch  am  Leben  gewesen  sein.  Die  Zwie- 
tracht zwischen  Mojmir  II.  und  Svatopluk  II.  brach  im  folgenden  jähre 
(896)  aus ;  folglich  starb  der  älteste  Sohn  in  diesem  nun  angegebenen 
jähre,  so  dass  die  am  Leben  gebliebenen  jüngeren  Brüder,  Mojmir  II. 
und  Svatopluk  II.  von  seiner  Oberherrschaft  befreit  wurden.  War  Moj- 
mir II.  älter  als  Svatopluk  IL,  so  meinte  er  ganz  recht,  dass  nach 
dem  Tode  des  ältesten  Bruders  (Predeslav)  ihm  die  Oberherrschaft 
zukomme;  aber  Svatopluk  IL  wollte  sich  dazu  nicht  verstehen. 

Die  zweite  Ursache  des  Zwistes  kann  das  posthume  Teilfürsten- 
tum Predeslavs  gewesen  sein.  Svatopluk  IL  dachte,  dass  das  posthume 
Teilfürstentum  zwischen  ihm  und  Mojmir  IL  geteilt  werde;  aber  die- 
ser behauptete,  dass  nach  dem  Tode  des  Grossherzogs  (Predeslav) 
ihm  sein  Teilfürstentum  samt  der  Oberherrschaft  zugefallen  ist,  Sva- 
topluk aber  mit  seinem  Teilfürstentum  zufrieden  sein  solle. 

^)  »Svetozizna«  kann  aber  auch  »frommlebend«  bedeuten  und  ein  Attribut 
im  Accusativ  zu   »szventiepulc«   sein. 


172 

Wo  das  Teilfürslenlum  des  Grossfürsten  (Predeslav)  gelegen  war, 
das  ist  schwer  zu  ahnen.  Meiner  Meinung  nach  war  es  die  Siovakei, 
um  welche  zwischen  Mojmir  11.  (in  Pannonien)  und  Svalopluk  11.  (in 
Mähren  und  Schlesien)  gestritten  wurde:  aber  inter  duos  litigantes  ter- 
tiiis  gaiidct.  Die  Polen  rissen  die  Siovakei  an  sich.*) 

In  derselben  jMeinung  werde  ich  bekräftigt,  da  ich  in  einem 
ungarischen  Diplome  des  XIII.  üahrhundertes  statt  Pressburg  Porozlo 
finde.  Wer  die  magyarische  Verunglimpfung  der  Eigennamen  kennt, 
wird  wohl  wissen,  dass  das  Poroslo  oder  Porosz!J  aus  Pcrcslava  oder 
Prcdslava  entstanden  sei.  Kann  also  nicht  angenommen  werden,  dass 
Pressburg  oder  Prcslava  und  Predslava  ihre  Entstehung  und  Benen- 
nung dem  Prcdslüv,  der  hier  seinen  oberfürstlichen  Sitz  halte,  zu  ver- 
danken habe? 

Die  zweite  Bemerkung  auf  die  oben  angeführte  Marginalnote 
drängt  uns  zu  der  Frage:  Ob  Svatopluk  mit  seiner  Gemahlin  und  sei- 
nem Sohne  Predeslav  in  Aquileja  gewesen?  Ist  es  der  Fall,  so  ent- 
steht daraus  die  weitere  Frage :  Wann  ?  und  die  dritte :  Ob  Svatopluk 
auf  der  Durchreise  nach  Rom  die  Stadt  Aquileja  besuchte? 

Die  erste  Frage  ist  leicht  zu  bejahen,  da  es  in  dem  genannten 
Kodex  steht,  dass  die  dort  angegebenen  Namen  derjenigen  sind,  qui 
venerunt  in  isfo  monasierio. 

Schwieriger  ist  die  Beantwortung  der  zweiten  Frage.  Die  Reise 
Svatopluks  1.  nach  Aquileja  muss  dem  Jahre  885  nachgesetzt  werden, 
in  welchem  er  Pannonien  eroberte,  und  so  in  die  Nachbarschaft  des 
Aquileja-Patriarchates  kam.  Es  muss  dies  jedoch  vor  dem  Gahre  393 
geschehen  sein,  da  Wiching  in  diesem  Jahre  schon  Kanzler  Arnulfs 
geworden  ist.  Fragt  man  m.ich:  Wie  komme  hier  Wiching  in  eine 
Kombination?  Darauf  antworte  ich,  dass  man  die  Geschichte  jener 
Zeit  ohne  kirchliche  Geschichte  nicht  lösen,  und  sich  diese  ohne 
Wiching  kaum  denken  kann. 

Als  Svatopluk  Pamonien  erobert  hatte,  wollte  er  die  Jurisdiktion 
des  Salzburger  Erzbischofes  und  des  Passauer  Bischofes,  sowie  auch 
ihre  Klerisei  daselbst  nicht  dulden ;  die  von  denselben  verfolgte  gla- 
golitische Liturgie  lebte  wieder  auf  und  Wiching  gab  dem  König  Svato- 
pluk 1.  den  Rat,  ein  Erzbistum  im  Slavenland,  d.  i.  in  Pannonien,  )  zu 
errichten,-)  eigentlich  das  ehemalige  glagolitische  Erzbistum  Lorch  zu 

')  Cuius  rcgnum  filii  eins  parvo  tempore,  sed  minus  felicit^r  tcnueiunt, 
partim  Ungaris  illud  diripientibus,  partim  Teutonicis  orientalibus,  partim  Polo- 
niensibus   ■^clotsniis   host'litRr   depopulantibus.    Cosmas    ad    an.    894, 

"*)  In  den  damaligen  Quellen  wird  Pannonien  auch  Sclavia  und  Magna  Mo- 
ravia  genannt. 

'')  Hie  (Wichingus)  Laureacensem  Ecclesiam  pressit,  volens  provinciam  divi- 
dcre  et  auxilio  Suentibaldi  Regis  Moravarum  in  Sclavia  melropolim  suscitare. 
Catalogus  Cremifan. 


erneuern.  Es  ist  also  ganz  wahrscheinlich,  dass  Svatopiuk  I.  nicht 
nur  eine  Reise  nach  Aquileja,  sondern  auch  nach  Rom,  von  V>/iching 
begleitet,  unternommen  hat. 

Warum  hätte  er  nach  Aquileja  reisen  müssen?  Die  untere  Pan- 
nonia  gehörte  vormals  zum  aquilejischen  Patriarchate  und  wurde  dann 
vom  Kaiser  Karl  von  demselben  gelrennt  und  dem  neuerrichteten 
Salzburger  lateinischen  Erzbistume  unlerstellt.  Papst  Adrian  II.  hat 
sie  dann  vom  Salzburger  Erzbistume  getrennt,  für  dieselbe  ein  Erz- 
bistum zu  Gran  (?)  errichtet  und  dieses  dem  hl.  Methodios  übergeben. 
Nach  dem  Tode  Kocels  |874)  wurde  der  Graner  erzbischöfliche  Stuhl 
des  hl.  Methodios  nach  Velehrad  verlegt.  Als  Svatopiuk  I.  Pannonien 
eroberte  und  in  demselben  die  slavische  (glagolihsche)  Liturgie  und 
Hierarchie  belebei  wollte,  da  stand  zu  erwarten,  dass  der  Patriarch 
zu  Aquileja  sein  ursprüngliches  Recht  auf  das  untere  Pannonien  be- 
anspruchen könnte,')  darum  reiste  Svatopiuk  I.  zuerst  nach  Aquileja, 
um  dessen  Zustimmung  zur  Erneuerung  des  pannonischen  Erzbistums 
zj  gewinnen  und  sich  mit  demselben  über  die  beiderseitigen  Grenzen 
zu  besprechen ;  dann  nach  Rom,  um  vom  Papste  die  Errichtung  eines 
pannonischen  Erzbistums  oder  die  Erneuerung  der  zwei  glagolitischen 
Erzbistümer,  Lorch  und  Gran,  zu  erbitten. 

Wann  Svatopiuk  I.  in  Aquileja  gewesen  sei,  lässt  sich  vermuten, 
dass  es  im  Jahre  888  gewesen  ist,  denn  eben  die  Verhandlung 
mit  dem  aquilejischen  Patriarchen  gab  dem  Salzburger  Erzbischof  die 
Veranlassung,  den  König  Arnulf  zu  bitten,  dass  er  ihm  die  Besitzun- 
gen im  unteren  Pannonien  privilegialisch  bestätige,-)  um  gegen  Schmä- 
lerung seiner  Diözese  protestieren  zu  können. 

Ob  Svatopiuk  I.  von  Aquileja  eine  Reise  nach  Rom  unternommen, 
kann  nicht  festgestellt  werden,  obwohl  die  Ruhe,  die  er  in  seinem 
Reiche  während  dieser  Zeit  genossen,  dazu  günstig,  und  die  Wichtig- 
keit der  kirchlichen  Angelegenheit,  die  in  Rom  entschieden  werden 
sollte,  dazu  ratsam  gewesen  ist.  War  er  jedoch  persönlich  nicht  in 
Rom,  so  hatte  er  seine  Vertreter  dorthin  abgeschickt,  um  die  Erneu- 
erung der  slavischen  Hierarchie  durchzuführen.  Haben  die  Verhand- 
lungen unter  dem  Papste  Stephan  V.  (t  889)  keinen  günstigen  Erfolg 
erzielt,  so  haben  sie  gewiss  bei  seinem  Nachfolger  Formosus  Gehör 
gefunden;  denn  es  heisst:  eine  Hand  wäscht  die  andere.  Formosus 
bat  Svatopiuk  I.,   dass   er  den  König  Arnulf  zum   Einmärsche  nach 


')  Das  aquilejische  Patriarchat   hatte   eine   nichtrömische   (j^lhgoHsche)   Litur- 
gie. Migne:   PatroL  lat.  tomo  99,   pag.  679—682. 
-)  Slovensky  Letopis,  V.,  290. 


174 

Rom  berede;  und  eben  dieses  deutet  genug  an,  dass  Svatopluk  I. 
bei  dem  Papste  in  Gunst  stand.  Italienische  Unrulien  und  dann  der 
Tod  Svatopluks  1.  (8%)  verhinderten  die  Ausführung  der  Verhand- 
lungen. Erst  unter  Mojmir  II.,  und  das  nur  in  Ober-Pannonien,  wurde 
die  slavische  (glagolitische)  Hierarchie  erneuert. 


V.  Eine  kroatische  Chronik  aus  dem  XI.  Jahr- 
hunderte. 

Mitgeteilt  von  Dr.  Fr.  Pfikryl. 

Der  Richter  (knez)  Papalic  von  Poljice  fand  um  die  Wende  des 
XV.  Oahrhundertes  im  Dorfe  Markovic,  das  man  in  die  Umgebung 
von  Bar  (Antivari)  verlegt,  eine  alte  kroatische  Chronik,  und  fertigte 
für  den  damals  berühmten  Schriftsteller  Marko  Marulic  Splitjanin  (von 
Spalato)  eine  Abschrift  an ;  dieser  hingegen  übertrug  die  Chronik  im 
Jahre  1510  in  die  lateinische  Sprache,  die  im  Jahre  16G6  in  Frank- 
furt a  M.  abgedruckt  wurde. 

Später  schrieb  den  kroatischen  Originaltext  auch  noch  Jerolim 
Kaletic  —  augenscheinlich  ein  Priester  —  ab.  Wir  erfahren  dies  aus 
dem  von  ihm  der  Chronik  beigefügten  Schlusspassus,  wo  er  sagt: 
„Herr  Papalic  fand  diese  Schrift  im  Gebiete  von  Markovic  in  einem 
alten,  mit  kroatischen  Buchstaben  geschriebenen  Buche,  welche 
der  genannte  Herr  Wort  für  Wort  abschrieb.  Ich,  Jerolim  Kaletic, 
habe  dies  auch  aus  dem  erwähnten  Buche  am  7.  Oktober  1546  in 
Omis  (Almissa)  abgeschrieben.  Gott  sei  Dank!"  — 

Kaletic  übergab  nun  diese  Abschrift  dem  Ivan  Lucic,  dem  wir 
es  zu  danken  haben,  dass  dieses  wertvolle  Zeugnis  der  altkroatischen 
Sprache  überhaupt  erhalten  blieb,  denn  er  nahm  diese  Kopie  zugleich 
mit  einer  lateinischen  Übersetzung  sowie  anderen  alten  historischen 
Schriften  anlässlich  einer  Reise  nach  Rom  mit,  wo  er  auch  später 
starb.  Die  Chronik  befindet  sich  nämlich  seither  in  der  vatikanischen 
Bibliothek  (unter  Nr.  7019);  wie  sie  dahin  gelangte,  ist  unbekannt, 
vermutlich  aber  als  Lucic'  Vermächtnis. 

Die  Criginalchronik,  die  also  in  kroatischer  (illyrischer),  daher 
glagolitischer,  nicht  aber  etwa  in  serbischer  also  cyrilli- 
scher Schrift  verfasst  war,  denn  diesen  Unterschied  wird  Kaletic 
(um  die  Mitte  des  XVI.  Jahrhundertes)  wohl  gekannt  haben,  wird 
allgemein  dem  Popen  Dukljanin  (Presbyter  Diokleas  aus  Dioklea, 


17; 


d.  i.  Duklja  bei  Podgorica,  Montenegro)  zugeschrieben,  der  daselbst 
in  der  Zeit  von  1150-1200  im  Kloster  lebte.  Von  ihm  stammt  näm- 
lich eine  Chronik,  die  bis  auf  Kleinigkeiten  dem  Inhalte  der  unseren 
ähnlich  ist,  und  die  Dukljanin  selbst  über  Anregung  einiger  geist- 
licher Würdenträger  und  Bürger  aus  der  kroatischen  Sprache  („ex 
sclavonica  littcni)  übertragen  haben  soll.  Wahrscheinlich  ist  es  daher, 
dass  die  Originalchronik  gar  nicht  "von  Dukljanin  herrührt,  sondern 
dass  auch  ihm  schon  eine  ältere  Chronik  vorlag.  Diese  Annahme 
lässt  sich  damit  begründen,  dass  die  alte  Chronik  schon  mit  dem 
Könige  Zvonimir  (t  1095)  abschliesst,  während  die  Übersetzung  oder 
die  lateinische  Chronik  Dukljanins  noch  weitere  Könige  bis  zum  Oahre 
1180  anführt;  derselbe  Verfasser  wird  daher  kaum  solche  Inhalts- 
differenzen schaffen.  Dass  aber  die  lateinische  Chronik  in  Kleinig- 
keiten vielfach  abweicht,  rührt  daher,  weil  Dukljanin  eben  bei  der 
Transkription  hinzu  gab,  was  er  abweichend  erzählen  hörte,  denn 
er  fügt  dies  auch  mit  dem  Zusätze  bei :  „qiiae  a  Patribus  nostris  ei 
antiqiiis  senioribiis  veridica  narratione  referre  aiidivi." 

Die  Altersechtheit  dieser  Chronik  wurde  bisher  von  niemandem 
angezweifelt.  Sie  stammt  zweifellos  aus  jener  Zeit,  mit  der  sie 
historisch  abschliesst,  also  kurz  nach  dem  Tode  des  Königs 
Zvonimir  (1095),  welches  Ereignis  der  Chronist  sogar  schon  in  das 
Gahr  1079  verlegt.  Wäre  diese  Chronik  jünger,  so  hätte  sie  der  Ver- 
fasser, wie  es  allgemein  Gebrauch  war,  auch  mit  der  Anführung  der 
weiteren  Regenten  abgeschlossen ;  etwas  anderes  wäre  es  freilich, 
wenn  der  Chronist  durch  eine  vis  major  unterbrochen  worden  wäre, 
was  aber  aus  allem  nicht  hervorgehl. 

Die  Handschrift  wurde  erst  wieder  von  Palacky  (183G)  in  Rom 
entdeckt  und  in  der  Abschrift  nach  Prag  gebracht ;  Stanko  Vraz  ver- 
mittelte hingegen  wieder  eine  Kopie  hievon  von  Prag  nach  Agram. 
Vor  dem  ersten  Abdrucke  im  „Arkiv  za  povjestnicu  jugoslavensku" 
(„Archiv  für  südslavische  Geschichte"),  Agram  1851,  wurde  sie  noch- 
mals verglichen,  so  dass  diese  erste  kroatische  Veröffentlichung  als 
mit  dem  Urtexte,  aus  dem  Dukljanin  auch  die  lateinische  Übersetzung 
schuf,  identisch  angesehen  werden  kann. 

Man  hat  nun  allgemein  dieser  Chronik  eine  sehr  oberflächliche 
geschichtliche  Akribie,  viele  Fehler  und  Verwechslungen  von  Namen, 
Begebnissen  und  Zeitangaben,  lächerliche  Anachronismen  u.  ä.  vor- 
geworfen. Wer  sie  nicht  cum  grano  salis  nimmt,  kommt  allerdings 
leicht  zu  solchem  Urleile ;  wer  sich  aber  in  die  Situation  und  Tendenz 
des  Verfassers  hineinzudenken  vermag  und  für  modifizierende  Um- 
stände aufnahmsfähig  ist,  wird  sie  wohl  höher  bewerten,  denn  unsere 


176 

voreiligen  Urleile  üoer  die  Oberflächlichkeit  und  Unverlässlichkeit  des 
Inhaltes  der  alten  Chroniken  werden  in  demselben  Verhältnisse  un- 
haltbarer, je  tiefer  sie  durchforscht  werden,  denn  ihr  Wert  ruht  oft 
mehr  zwischen,  als  in  der  Zeile. 

Der  Ausgangspunkt  der  Chronik  ist  hier  das  Jahr  357  n.  Chr., 
die  Zeit  des  Erscheinens  der  Goten  auf  dem  Balkan.  Dass  nun  der 
Chronist  nach  Aufzählung  einiger  Könige  und  nebelhafter  Ereignisse 
gleich  auf  den  Slavenapostel  „Koslanc"  (Cyrill)  kommt,  ist  doch  nahe- 
liegend, denn  er  wusste  einmal  über  dieses  Zeitinterkaiare  Weiteres 
nicht  zu  erzählen,  und  seine  Tendenz  war  doch  vor  allem,  die  da- 
maligen kirchlichen  Verhältnisse  zu  schildern ;  und  diese  Details  sind 
sicher  aufrichtig  erzählt  und  geschichtlich  unanfechtbar;  ja  man  erfährt 
darin  so  manches,  was  bisher  noch  nicht  bekannt  war. 

Für  uns  sind  aber  gerade  jene  Details  besonders  wertvoll,  die 
der  Chronist  unbewusst  hineinlegte,  denn  die  allgemeine  Geschichte 
jener  Zeit  ist  uns  tatsächlich  aus  anderen  Quellen  weit  verlässlicher 
bekannt.  Hiezu  gehört,  nebst  den  vielen  sprachlichen  Bereicherungen, 
die  Schilderung  der  Völkerwanderung,  d.  h.  er  fasst  diese  genau  so 
auf,  wie  sie  natürlich  aufzufassen  ist,  wonach  es  sich  dabei  tatsäch- 
lich nur  um  Kriegszüge  mit  einem  grossen  Tross  handelt,  und  nie- 
mals um  den  vollen  Domizilwechsel  eines  ganzen  Volkes. 

Diese  stets  so  stiefmütterlich  behandelte  und  wissenschaftlich 
als  belanglos  angesehene  Chronik  verdiente  es  daher  längst  gründ- 
lich durchstudiert  zu  werden,  und  sei  hiemit  von  dem  Versäumten 
etwas  nachgeholt.  —  Viele  bisher  unverstandene  Stellen  erhallen  hier 
eine  auf  die  neue  Sprachforschung  aufgebaute  Deutung ;  etliche  Punkte 
bleiben  jedoch  noch  weiterhin  unklar  oder  zweifelhaft.  —  Eine  Über- 
tragung dieser  Chronik  ins  Deutsche  ist  unseres  Wissens  bisher  über- 
haupt nicht  erfolgt. 

Anschliessend  wird  eine  kurze  Textprobe  geboten,  welche  zeigt, 
wie  die  kroatische  Sprache  vor  etwa  700  800  Jahren  aussah,  und 
darlegt,  dass  sich  da  noch  fast  gar  keine  fremdsprachigen  Einflüsse 
geltend  machten.  —  Die  Chronik  beginnt  folgend : 

„  Vime  boga  sfemaguchiega  tvorca  ncha  i  zemglic  Chmgliuiuchi 
cesar  vgradi  basiligi  Cesarstva  viirime  v  c/iosc  bilui  prosfitlilij  b/axeni  miixP) 
jerman  Biskup :  J  pristoglia  chapitulschoga :  i  pristoglia  chamixie  scilii 
bischup  i  tolikogic  poctuanj  i  blazeni  miix  bencdijch  Blixu  göre  cicilian- 
sche  pribivasse  Na  lit  gospodignich  trist a  i  pedeset  i  sedam."  — 

')  Das  »X«  (muzi)  bedeutet  schon  im  Oskischen  ein  »2«  (mitunter  »c«)  und  hat 
in  lateinischen,  dem  Slavischen  entstammenden  Begriffen  a.uch  immer  diese  Be- 
wertung. 


177 

Verdeutschung  der  ChroniK. 

„Im  Namen  des  allmächtigen  Golles,  des  Schöpfers  des  Himmels 
und  der  Erde  ! 

Als  in  der  Stadt  Basilea-)  ein  Kaiser  regierte,  zur  Zeit  des  Kai- 
sertums, da  erglänzten  die  seligen  Männer  üerman,  Bischof,  Kapitel- 
beisitzer und  Thronassistent  in  Kamizija  auf  Sizilien,  und  der  hoch- 
verehrte selige  Mann  Benedik,  welcher  unweit  des  sizilianischen 
Berges")  lebte.  Es  war  im  Oahre  des  Herrn  357.  Damals  erschien 
irgendein  Volk,  das  sich  „Goti"  nannte,  mit  einer  Menge  von  Leuten 
von  Osten  her,  hart  und  furchtbar,  ohne  Gesetze,  beinahe  wild. 

Diesen  Leuten  standen  drei  Brüder  als  Herren  vor,  die  Söhne 
des  Königs  Sviholad  waren.  Diese  Brüder  hiessen:  der  erste  Bris,') 
der  zweite  Totila,  der  dritte  Stroil.  Als  deren  Vater  starb,  nahm  Bris 
als  der  älteste  den  Thron  und  des  Vaters  Stelle  ein  und  begann  zu 
regieren.  Totila  und  Stroil  beratschlagten  daraufhin  folgendes :  denken 
wir  daran,  wie  wir  mit  des  Bruders  Hilfe,  des  Königs  Bris,  auch  zur 
Herrschaft  und  hohem  Namen  gelangen  könnten.  Und  so  sammelten 
sie  mit  Rat  und  Willen  ihres  königlichen  Bruders  Bris  ein  grosses 
Heer  und  zogen  aus  ihrer  Heimat  aus.) 

Sie  gelangten  vorerst  in  das  Königreich  Ugarsko,')  schlugen  den 
König  und  übernahmen  das  Königreich.  Hierauf  zogen  sie  weiter  und 
gelangten  mit  einer  grossen  Heeresmacht  in  das  Gebiet  Tarnovina.") 

-J  Der  Schreiber  stand  wohl  unter  dem  griechisch-religiösen  Einflüsse,  als 
er  für  Konstantinopel  »Basilea«  also  Königsstadt  {»basileus«)  schrieb,  denn 
später  schreibt   er  wieder   »Cesargrad«,   also   Kaiserstadt. 

'■')  Kloster  Monte  Cassino  (Unteritalien)  auf  einem  519  m  hohen,  stei- 
len Berge, 

■)  Im  lat.  Texte:  Brus;  der  eine  las  das  »y&  glagolitisch,  also  als  »i«,  der 
andere  Translator  cyrillisch,  daher  als  »u«, 

^)  Aus  dieser  Stelle  geht  klar  hervor,  dass  es  sich  um  keine  Wanderung  der 
Goten  als  Volk  handelt,  sondern  nur  um  die  Krieger  mit  ihrem  üblichen  Tross. 
Wäre  das  Volk  ausgewandert,  so  blieb  Bris  ohne  Untertanen;  die  Brüder 
wollten  aber  in  ihrem  Ehrgeize  eben  auch  irgendwo  zu  einer  Herrsoherwürde  kom- 
men. —  Der  aufmerksame  Leser  wird  in  der  Folge  konsequent  finden,  dass  von 
einer  »Völkerwanderung«  hier  keine  Rede  sein  kann.  Überdies  erwähnt  »Igors 
Lied«  die  Goten  noch  immer  als  die  Bewohner  am  Schwarzen  Meere  zu  Ende  des 
12.  Jahrhundertes, 

*^)  »Ugarsko«   ^  Ungarn, 

')  »Tarnovina«  (in  der  lat.  Handschrift  »Tempiana«]  dürfte  in  Kroatien  oder 
im  heutigen  slovenischen  Gebiete  (»Trnowaner  Wald«?)  zu  suchen  sein.  Im  mo- 
aernen  Sinne  gesprochen  zogen  die  Goten  daher  vom  Schwarzen  Meere  längs  der 
Donau  durch  das  südliche  Ungarn,  dann  Kroatien  gegen  Istrien  oder  Dalmatien,  — 
Dass  diese  »Goten«  übrigens  Slaven  waren,  bemerkt  schon  Duklianin,  denn  in  der 
lateinischen  Chronik  sagt  er  ausdrücklich:  »libeilus  Gotorum,  id  est  Slavo- 
r  u  m.«  — 

12 


178 

Als  dies  der  dalmaMnische  König,  der  im  glänzenden  und  grossen 
Solin -)  sass,  vernommen,  sandle  er  Bolen  und  Schreiben  an  den 
König  von  Islrien,  er  möge  rasch  alle  seine  Macht  sammeln,  damit 
sie  gemeinsam  gegen  die  oben  Erwähnten  ziehen  und  sie  mit  ihren 
Streitkräften  vereinigt  zurückweisen.  Die  beiden  zogen  nun  grosse 
Heeresmassen  zusammen.  Schon  standen  beide  zusammen  mit  ihren 
Heeren  und  rückten  gegen  die  zahlreichen  Streitkräfte  der  Goten  vor, 
nächst  und  ihnen  gegenüberstehend.  Durch  acht  Tage  scharmützelten") 
sie  täglich  untereinander  im  Grossen  auf  der  einen,  und  nur  mit  ei- 
nem kleinen  Teile  der  Ritter  und  tapfersten  Männer  auf  der  anderen 
Seite;  sie  schlugen  sich  jedoch  sehr  grimmig  und  unbarmherzig,  weil 
sie  zunächst  der  beiderseitigen  Lager  standen.  —  Erst  am  achten 
Tage  griffen  die  Christen  wie  die  Heiden  zu  den  Waffen,  machten 
sich  auf  zum  Kampfe  und  begannen  an  diesem  achten  Tage  die  (ei- 
gentliche) Schlacht  untereinander.  Seit  dem  Morgenanbruche  dauerte 
der  Kampf  und  noch  über  den  Abend  hinaus ;  man  schlug  sich  im 
grimmigen  und  rücksichtslosen  Streite  in  gleichem  Kampfe  unter  sich, 
mit  einer  Menge  von  Gefallenen  auf  beiden  Seiten,  ohne  bis  zu  die- 
sem Augenblicke  zu  erkennen,  wer  erfolgreicher  kämpft ;  niemand 
wich  mehr  von  seiner  Seite,  und  es  war  wahrzunehmen,  dass  der 
Hauptkampf  begonnen,  nachdem  auf  der  einen  wie  anderen  Seite  die 
Stellen  der  Toten  stets  Lebende  ersetzten.  —  Doch  zu  einer  Zeit,  die 
niemand  ahnte,  wurde  nach  dem  Willen  desjenigen,  dem  niemand 
seine  Handlungsweise  vorhalten  kann,  u.  zw.  einer  Sünde  wegen, 
die  damals  auf  den  Christen  lastete,  ohne  Ausnahme  die  christliche 
Partei  geschlagen ;  der  König  von  Istrien  fiel ;  viele  Tausende  von 
Christen  wurden  nach  der  Gefangennahme  durch  das  Schwert  hin- 
gerichtet; viele  Kroaten^")  wurden  erschlagen;  nur  der  König  von 
Dalmatien,  mit  etlichen  Rittern  tötlich  verwundet,  wurde  in  die  berühmte 
und  prächtige  Stadt  Solin  gebracht,  in  welcher  durch  viele  Tage  all- 
gemeine Klage  und  unaussprechlicher  Kummer  war. 

Daraufhin  wuchs  die  Macht  und  das  Heer  Totilas  sowie  dessen 
Bruders  Stroil  mit  jedem  Tage;  mit  jedem  Tage  wuchs  infolge  ihrer 
wunderbaren  Gesetze  die  Macht  und  das  Heer.   Als  sie  sahen,  dass 

*]  »Solin«,  heute  eine  Marklgemeinde  näciist  Spalato,  ist  der  slavischc  Name 
für  S  a  1  o  n  a. 

")  Wir  erfahren  hier  zum  erstenmale,  dass  das  deutsche  Wort  »Scharmützeln« 
ein  slavisches  ist,  das  in  der  Chronik  »skaramucati«  lautet;  die  richtige  Etymo- 
logie ist  wohl  »skoramucati«,  aus  »skorati«  und  »mucati«  d,  h.  bedrängen  und 
quälen,  welche  militärische  Handlung  doch  darin  besteht,  den  Gegner  durch 
fortgesetztes  Beunruhigen  zu  quälen,  müde  oder  apathisch  zu  machen. 

*")  Die  Unterscheidung  zwischen  Christen  und  Kroaten  fällt  hier  auf; 
es  werden  da  ethnographische   Begriffe   mit   den   Religionsbekenntnissen   vermengt. 


174 

durch  die  Ordnung  die  Heeresmachl  zunimmt,  riefen  sie  die  Anführer") 
und  Vorsieher  zusammen,  hielten  eine  Beratung  und  einigten  sich  zu 
dem  Entschlüsse,  die  beiden  Heere  zu  teilen.  Sie  vereinbarten  darauf 
alles,  was  die  Heiden  einnehmen  sollten,  um  es  zu  zerstören  und  zu 
verbrennen,  damit  die  Leute  keine  Ursache  hatten,  zu  den  ihrigen 
heimzukehren. 

Totila  nahm  nun  sein  Heer,  ging  und  zerstörte  Istrien  und  Aqui- 
leja,  zog  wie  ein  Blitz,  die  Städte  sengend  und  vernichtend,  und  er- 
reichte Italien  im  Jahre  des  Herrn  378,  sich  in  schwere  und  harte 
Kämpfe  mit  den  Latinern  einlassend.  Niemand  und  nirgends  stellte 
sich  jemand  entgegen,  da  es  einmal  Gottes  Wille  war.  Er  wandte  sich 
nun  nach  Sizilien,  nachdem  er  in  Italien  viele  Städte  eingenommen, 
niedergebrannt  und  verwüstet  hatte,  und  zog  auf  die  Insel  Sizilien. 
Von  da  an  lebte  er  nur  mehr  eine  kurze  Zeit  und  fand  dort  sein 
Ende,  wie  es  ihm  der  Diener  Gottes,  Benedik,  voraussagte/-) 

")  »Baruni«,  richtiger  »varuni«  sind  die  Führer,  Beschützer  des  Vol- 
kes; im  Mittellateinischen  »baro«,  im  Deutschen  »Baron«.  —  Der  Originaltext 
hat  viel  unnütze  Wiederholungen,  die  jedoch  in  der  Obersetztmg  beibehalten  wer- 
den mußten, 

'-)  Hier  ergeben  sich  im  Vergleiche  zur  gangbaren  Geschichte  bedeutende 
Widersprüche,  denn  die  Hauptperson  heißt  hier  »Totila«  statt  »Alaric«,  und  die 
Zeitdifferenz  weicht  um  32  Jahre  ab,  da  letzterer  nicht  i.  J.  378  sondern  410  ge- 
storben sein  soll.  —  Dies  läßt  sich  folgend  aufklären:  Kann  Alaric  nicht  unter,  an- 
derem Gesichtspunkte  auch  »Totila«  geheißen  haben "^  Lasen  wir  doch  (S,  65), 
daß  König  S  t  j  e  p  a  n  auch  Miroslav,  und  K  r  e  s  i  m  i  r  auch  M  i  h  a  j  1  o  hieß, 
je  nachdem  man  den  Familien-  oder  aber  den  Regentennamen  anwendete.  — 
Hier  muss  auch  die  Aussprache  Alarich  statt  Alaric  berichtigt  werden,  und 
gilt  dasselbe  für  alle  älteren  Namen  auf  — ch,  da  dies  die  Analogien  in  der 
Schreibweise  der  alten  Chroniken  bestätigen;  überdies  war  Alaric  ein  Skythe,  also 
Slave,  —  Der  bekannte  Slavist  Miklosic  änderte  dementsprechend  später  seinen 
Namen  auch  in  »Miklosich«,  vermutlich  um  ihm  eine  größere  Altersehrwürdigkeit 
beizulegen.  —  Überdies  hieß  ein  Nachfolger  Alaric's  in  der  Lombardei  auch:  Totila. 
—  Was  die  Jahreszahl  betrifft,  führt  Dukljanin  in  der  lateinischen  Handschrift  das 
Jahr  378  überhaupt  nicht  an;  der  Grund  ist  unbekannt.  Hat  aber  erst  Papalic 
dieses  Jahr  berechnet,  so  machte  er  denselben  Fehler  —  falls  das  Jahr  410  ab- 
solut richtig  ist,  was  auch  noch  nicht  feststeht,  weil  der  Beginn  der  nachchristlichen 
Ära  kein  einheitlicher  ist  — ,  wie  er  sich  später  bei  Zvonimir  wiederholt,  dessen 
Tod  in  das  Jahr  1079  (statt  1095)  verlegt  wird.  Es  wurden  nämlich  früher  die  Ka- 
lenderjahre nach  den  Regierungsjahren  und  mitunter  auch  Monaten  berechnet. 
So  kommt  es,  daß  dem  einen  Herrscher  das  Jahr  seines  Todes  (z.  B.  im  Juni)  nicht 
mehr  zugerechnet  wird,  dem  Nachfolger  aber  auch  nicht,  auf  welche  Art  die  all- 
gemeine Zeitrechnung  gleich  um  ein  ganzes  Jahr  im  Rückstande  bleibt.  Dasselbe 
gilt  für  die  Monatsberechnung,  was  bei  stetigem  Ausfalle  durch  Jahrhunderte 
auch  eine  grössere  Zahl  von  Jahren  ergeben  kann.  Die  Begebenheiten  sind  also 
in  beiden  Fällen  historisch  richtig,  nur  die  Methode  der  absoluten  Zeitfixierung 
ist  eine  verschiedene. 

]2* 


180 

Indessen  nahm  dessen  Bruder  Stroil  mit  seinem  Heere  das 
Königreich  lllyrien,  d.  i.  das  ganze  Gebiet  von  Valdamia^'^)  bis  Polo- 
nia  ein'^);  unter  harten  Gefechten  und  rücksichtslosen  Kämpfen  be- 
siegte er  alles,  so  dass  sich  auch  niemand  mehr  entgegenstellen 
konnte.  Er  kam  dann  nach  Bosnien,  zog  nach  Dalmatien  und  zer- 
störte die  Küstenstädte:  Dalma/')  Narun/')  das  reiche  und  schöne 
Solin,  sowie  die  Stadt  Skardun.^')  Auch  viele  andere  berühmte  Städte 
machte  er  dem  Erdboden  gleich  ;  und  da  ihm  dies  noch  nicht  genügte, 
sandte  er  seinen  Sohn,  den  er  früher  hatte,  damit  er  unter  ihm  auch 
ein  Heer  habe,  um  das  Unterland^')  und  Zagorsko'")  einzunehmen. 
Dieser  Sohn  hiess :  Sviolad.-")  Er  fertigte  diesen  mit  einem  starken 
Heere  ab. 

Der  Kaiser  in  der  Hauptstadt  legte  sich  aber  dies  dahin  aus,  dass 
Stroil  seinen  Sohn  mit  einem  starken  Heere  in  das  Unter-  und  Ober- 
land ^^)  sandte,  er  selbst  aber  auf  bosnischem  Gebiete  in  Prilinit^^) 
bleibt.  Da  zog  der  Kaiser  Erkundigungen  ein,  worauf  Stroil  sein  Heer 
zu  teilen  aufgab.  Als  man  nämlich  die  Tatsache  erfuhr,  erzählte  man 
dies  dem  Kaiser.  Dieser  sammelte  sein  Heer  und  zog  gegen  Stroil.  Als 
letzterer  dies  wahrnahm,  zog  er  die  Seinigen  zusammen  und  setzte 
zum  Kampfe  an,  da  er  mutigen  Herzens,  harten  Nackens  und  ein 
feuriger  Held  war,  der  sich  wie  ein  gereizter  Löwe  benahm.  Er  trug 
schon  mehrere  Wunden,  bis  er  verblutend  und  von  den  Wunden  er- 
schöpft, vom  Pferde  fiel,  daher  zur  Flucht  nicht  mehr  fähig  war.  Als 
die  Seinigen  dies  bemerkten,  wandten  sie  sich  zur  Flucht,  doch  viele 
von  ihnen  vereinigten  sich,  begannen  sich  zu  verschanzen  und  ret- 
teten sich  auf  diese  Weise.  Doch  das  Heer  des  Kaisers  plünderte 
das  Land  und  kehrte  reichbeladen  nach  Cesargrad,'-)  stolz  auf  den 
grossen  Ruhm. 


")  V  a  1  d  a  m  i  a,   das   Gebiet   an   der  Una, 

*'')  P  o  1  o  n  i  a,   vermutlich   das   Save-Gebiet. 

^■^)  D  a  1  m  a,   grosse   Ruinen   an   der   Cetina   in    Dalmatien. 

'")  N  a  r  u  n,  Ruinen  an  der  Narenta  nächst  Metkovic   (Dalmatien). 

'^)  S  k  a  r  d  u  n,    heute    §  k  r  a  d  i  n    (Scardona)    bei    Sibenik    (Sebenico). 

"")  Unterland  (Donja  zemlja),  d.  i.  vermutlich  das  ebene  Gebiet  bei 
Skadar  (Skutari). 

* ')  Zagorsko,   vermutlich    Altserbien. 

"")  In    der    lat.    Handschrift:    Senudilaus, 

-')  P  r  i  1  i  n  i  t,  in  der  lat.  Handschrift  »Praevalitana  regio«,  d.  i.  das  Ge- 
biet von  der  Narenta  bis  Albanien.  »Praevalitana  urbs«  war  D  u  k  1  i  a  (bei  Pod- 
gorica). 

-'^)  Konstantinopel  nannten  sonach  die  Westslaven,  die  »cesar«  (statt  >car«) 
sagen:  Cesargrad,  die  Ostslaven:  C  a  r  i  g  r  a  d.  Der  türkische  Name  »Stambul« 
ist   augenscheinlich   nur   eine   Kontraktion    des   Namens    »Konstantinopol«. 


181 

Als  dies  Sviolad,  der  Sohn  Slroils,  erfuhr,  rrtachle  er  sich  mit 
seinem  Heere  so  rasch  als  möglich  auf,  um  den  Tod  seines  Vaters 
zu  rächen,  obschon  dies  der  Kaiser,  wie  er  es  war,  veranlasste,  und 
zog  weiter.  Als  er  aber  einsah,  dass  er  das  Geschehene  nicht  mehr 
gutmachen  könne,  besetzte  er  sein  Land  und  begann  an  Vaters  Statt 
zu  herrschen.  Dieser  Regent  hatte  einen  Sohn,  dem  er  den  Namen 
Silimir  gab.  Sein  Königreich  bestand  aus  Bosnien,  Valdemia  bis  Po- 
lonia,  dann  dem  Küstenlande,  wie  auch  das  Königreich  Zagorje.-') 
Der  hier  Regierende  beging  an  den  Christen  grosse  Verbrechen, 
Ärgernisse  und  Ungerechtigkeiten,  namentlich  an  jenen  im  Küsten- 
lande. 

Im  zwölften  öahre  seiner  Regierung  starb  er  und  an  dessen 
Stelle  begann  sein  Sohn  Silimir  zu  regieren,  der,  obschon  Heide,-*) 
mit  allen  in  Frieden  und  Eintracht  lebte  und  gleiches  Recht  übte.  Er 
achtete  auch  die  Christen  hoch,  Hess  sie  nicht  verfolgen  und  verein- 
barte mit  ihnen  die  Abgaben.  So  wurde  das  Land  Kroatien  wieder 
bedeutend;  unter  ihm  ruhte  das  Land  aus  und  unter  seiner  Regierung 
lebten  auch  die  Christen  in  Ruhe.  —  Er  hatte  einen  Sohn  namens 
Bladin.-')  Silimir  starb  nach  einer  Regierung  von  21  Gahren.  Sein 
Sohn  Bladin  übernahm  die  Regierung  und  begann  an  Vaters  Stelle 
so  in  Ordnung  und  in  der  Weise,  wie  sein  Vater  Silimir,  zu  regieren. 
Bladin  hatte  auch  einen  Sohn  namens  Ratimir.  Dieser  zeigte  sich,  wie 
es  schon  aus  seinem  Gesichte  zu  entnehmen  war,  bald  als  hochmütig 
und  ungewöhnlich  rauh  gegen  jedermann. 

Noch  als  dessen  Vater  regierte,  tauchte  irgendein  Volk  in  einer 
Menge  ohne  Zahl  auf,  wälzte  sich  über  einen  grossen  Fluss,  den 
man  Velija-'^)  nennt.  Dieses  Volk  führte  auch  Frauen  und  Kinder  mit 
wie  auch  die  Kriegsscharen ;  sie  führten  auch  alle  ihre  Habe  mit  und 
standen  unter  wunderlichen  Gesetzen.  Diese  besetzten  das  Königreich 
Senobuja,'')  aber  sie  umgingen  allen  Kampf.  Ihr  Oberhaupt  war  ein 
hochbetagter  Mann,  den  sie  ihrer  Sprache  nach  „bare"-")  nannten,  was 
nach  unsrigem  „cesar"  (Kaiser)  gleichkommt.  Unter  ihm  standen  neun 


-•')  Zagorje  heisst  auch  West-Kroatien,  doch  dürfte  dieses  hier  nicht  ge- 
meint sein. 

■-')  Heide,  d.  i.  Anhänger  der  Arianischen  Sekte,  die  später  den  Namen 
>'Bogumilen«  führte. 

'^)  Bladin,   richtiger:   V  1  a  d  i  n. 

-")  V  e  1  j  a,   identisch  mit  V  o  1  g  a  (nach   der  lat,   Handschrift). 

--)  S  e  n  o  b  u  j  a,  Gebiete  in  den  Volga-Steppen;  in  der  lat.  Handschrift: 
provincia  »Sylloduxia«,  also  am  Flusse  Sula  (linker  Nebenfluss  des  Dnjepr). 

-*)  Im  Russischen   »barin«,  d.  i.  Herr,   Gebieter. 


182 

„duzi",^")  welche  die  ungeheuren  Volksmassen  leiteten  und  im  Zaume 
hielten.  Sie  besetzten  dann  Sledusia'''')  und  zogen  gegen  Macedonien, 
nahmen  es  ein,  sowie  das  ganze  latinische  Land,  da  sich  dort  die 
Römer  aufhielten,  die  man  jetzt  „schwarze  Latiner"  ^^)  nennt,  mit  de- 
nen der  Kaiser  grosse  Streitigkeiten  hat,  daher  mit  ihnen,  als  er  sah, 
dass  er  gegen  sie  nicht  sein  könne,  Frieden  schloss.  Oenes  Volk 
hält  treu  an  dem  Gelöbnis,  und  so  beliessen  sie  die  Latiner  in  Frieden. 

Als  König  Bladin  das  Bewunderungswürdige  dieses  Volkes  und 
dessen  grosse  Menge  sah,  wie  auch  fesstellte,  dass  es  die  gleiche 
Sprache  spreche,  freute  er  sich  darüber  sehr ;  er  suchte  eine  Gesandt- 
schaft heraus  und  sandte  sie  zu  ihnen.  Diese  empfingen  die  fremde 
Mission  sehr  gnädig  und  achtungsvoll.  Es  blieb  beim  Frieden,  da 
ihnen  Bladin  Abgaben  versprach,  wie  es  auch  der  Kaiser  getan  hätte, 
und  fügte  sich  freiwillig  zur  Steuerleistung.  Sie  lebten  nun  freundlich 
zusammen,  und  dies  umsomehr,  als  sie  gleichen  Glauben  und  gleiche 
Sprache  hatten.'-) 

Sie  lehrten  nicht  zerstören,  sondern  begannen  Dörfer  und  Wohn- 
sitze zu  bauen  und  das  Zerstörte  herzustellen,  sowie  sie  das  Land 
festzuhalten  lehrten,  das  sie  besetzt  hatten. 

Indessen  starb  der  König  Bladin ;  an  seine  Stelle  trat  sein  Sohn 
Ratimir   und  begann   zu   regieren.    Er  war   ein   grosser    Feind   der 

^^)  »Duz«,  d.  i,  Führer,  Befehlshaber  eines  Kreises,  Kreisvor- 
sieh e  r.  Wir  erfahren  hier  zum  erstenmale,  daß  die  Begriffe  »dux,  doge,  duc, 
duca«  slavischen  Ursprungs  sind,  denn  das  russische  »dugä«  ist  eben  die  Be- 
zeichnung für  einen  Kreis,   eine   Umkreisung, 

•'")  Nach  Herodot  ein  Volk  Großskythiens  im  Räume  dei  Trajan-Walles 
und  Cerna  voda  gegen  Constanza  am   Schwarzen  Meere. 

•'*)  Die  Römerreste,  also  die  Rumänen,  obschon  diese  der  sprachlichen 
Morphologie  auch  nur  latinisierte  Slaven  sein  können.  Ob  »carni.<  hier  schwarz 
bedeutet,  ist  unklar;  es  kann  ursprünglich  auch  »Nachbar,  nachbarlich«  bedeutet 
haben.  — • 

•'-']  Man  wäre  hier  geneigt  an  eine  buchstäbliche  Völkerwanderung  zu  denken, 
so  lange  man  nicht  erwägt,  dass  es  eine  mächtige  kleinrussische  Kriegcrtruppe 
war,  die  derart  imponierend  auftrat,  dass  es  weder  der  Kaiser  in  Konstantinopcl, 
noch  Bladin  wagte,  ihnen  entgegenzutreten  und  sich  sofort  auch  zur  Tributleistung 
bereit  erklärten.  Es  fiel  ihnen  auch  die  treffliche  Organisation  aui;  ein  Volk,  das 
sich  voll  auf  der  Wanderung  befindet,  hätten  sie  schon,  da  es  sich  obendrauf 
zwischen  die  beiden  Herrscher  einkeilte,  gewiss  und  mit  voraussichtlichem  Erfolge- 
angegriffen.  Dukljanin  nennt  sie  in  der  lat.  Handschrift;  Goftii  qui  et  Sclavi  et 
Vulgari.  —  Da  diese  »Bulgaren«  von  den  Kroaten  gut  verstanden  wurden,  d.  n. 
die  gleiche  Sprache  sprachen,  ist  sonach  die  noch  nicht  ganz  geschwundene  Hy- 
pothese, sie  seien  finnischen  Ursprungs,  völlig  haltlos.  Die  ganze  Operation  be- 
steht in  diesem  Falle  darin,  dass  die  Bulgaren  nördlich  der  Donau  lediglich  auf 
Eroberung  von  Gebieten  südlich  der  Donau  auszogen;  ob  sie  Ländeigicr  oder  Über- 
population  dazu   zwang,   entzieht   sich   der  heutigen   Beurteilung. 


183 

Christen;  er  begann  ungewöhnlich  gegen  die  Christen  zu  arbeiten 
und  suchte  in  seinem  ganzen  Königreiche  den  christlichen  Namen  zu 
unterdrücken.  Desgleichen  zerstörte  er  viele  christliche  Städte  und 
Ansiedlungen  und  machte  die  Christen  zu  Knechten.  Ebenso  Hess  er 
die  oben  erwähnten  küstenländischen  Städte,  in  denen  sich  die  Land- 
und  Stadtbewohner  unter  dessen  Vater,  dem  König  Bladin,  gehoben 
haben,  zerstören  und  in  die  Knechtschaft  zu  verkehren.  Damals  be- 
gannen die  Christen,  sich  in  solcher  Not  und  Bedrängnis  sehend, 
auf  den  Höhen  und  Schutzpunkten,  die  fern  von  Höhen  lagen,  Asyle 
herzurichten,  um  sich  auf  diese  Art  zu  erhalten,  bis  Gott  verzeiht,  die 
heidnische  Peitsche  aufhebt  und  so  vielem  Ungemache  gnädig  ein 
Ende  macht. 

Da  starb  Ratimir  ohne  einen  Sohn  zu  hinterlassen.  An  dessen 
Stelle  wurde  jemand  aus  seiner  Verwandtschaft  gesetzt.  Auch  dieser 
starb,  und  seither  gab  es  keine  Könige  mehr  aus  dieser  Familie, 
welche  beide  unbarmherzig  die  Christen  verfolgten. 

Nach  diesen  zweien  regierten  nacheinander  zwei  andere,  doch 
sie  lebten  nicht  lange  nach  dem  Willen  desjenigen,  der  alles  vermag. 
Alle  vier  waren  sehr  ungerecht,  den  Christen  feindlich  gesinnt  und 
hartherzig  gegen  sie.  Sie  setzten  mit  Verfolgungen  ein,  über  die  man 
nicht  sprechen  kann ;  sie  drangsalierten  die  Christen,  die  im  Küsten- 
lande wie  in  Zagorje  wohnten ;  und  da  viele  Christen  dies  nicht  aus- 
halten konnten  und  viele  vom  Ungemach  gedrückt  waren,  traten  sie 
zum  Heidentume  über  und  nahmen  dessen  Satzungen  an ;  jene  aber, 
die  in  Asylen  und  befestigten  Punkten  weilten  und  jenes  Elend  und 
Ungemach  wählten,  nahmen  die  Verfolgungen  auf  sich,  wie  es  die 
Zeit  bringt,  statt  auf  ewig  die  Seele  zu  verlieren. 

Aber  auch  diese  erwähnten  ungerechten  Könige  endeten.  Es 
blieb  zuletzt  nur  ein  Sohn,  namens  Satimir,^')  zurück.  Als  dieser  die 
Regierung  antrat,  begann  er  die  Christen  zu  achten ;  er  Hess  sie  nicht 
verfolgen,  und  unter  ihm  begann  der  Glaube  aufzublühen,  die  Christen 
traten  wieder  öffentlich  auf  und  verbargen  die  fremde  Furcht. 

In  jener  Zeit  lebte  in  der  Stadt,  namens  Tesalonika,  ein  sehr 
gelehrtei  Mann,  der  Philosoph  des  Namens  Kostanc.^1  Dieser  Mann 
war  durchaus  edel  und  von  gottesfürchHgem  Leben;  er  gaU  in  jener 
Stadt  als  ein  grosser  Meister  und  als  sehr  klug ;  schon  von  Kindheit 
an  war  der  Mann  heilig  und  durchdrungen  vom  Geiste  der  Welt.  Er 

**)  Dukljanin  nennt  ihn  in  der  lat.  Handschrift  fälschlich:   Zvanimirus. 

^^)  In  der  lat.  Handschrift:  philosophus  Constantinus  nomine.  iKonstanc«  oder 
noch  richtiger  »Kostac«,  wie  ihn  die  Chronik  benennt,  ist  sonrich  die  primäre 
Form,  denn  erst  aus  dem  südslavischen  Vornamen  »Kosta«  wurde  »Konstantin«. 
Auch   die   Stadt   Konstanz    hiess   ursprünglich    »Kostnica«, 


184 

verliess  Tesalonika  und  ging  nach  Kazarika,'")  wo  er  den  Christen- 
glauben predigte  und  jene,  die  sich  bekehrten,  im  Namen  des  Vaters, 
des  Sohnes  und  des  hl.  Geistes  taufte.  So  bekehrte  er  ganz  Bulgarien 
zum  christlichen  Glauben. 

Da  starb  König  Satamir.  ')  Das  Königreich  übernahm  und  begann 
zu  regieren  ein  guter,  gerechter  Mann,  namens  Budimir,  ')  den  unter 
anderen  der  genannte  heilige  Diener  und  Mann  auch  bekehrte.  Dieser 
König  war  sehr  gebildet;  er  disputierte  so  manchen  Tag  mit  Philo- 
sophen, mit  deren  Kenntnissen  er  die  seinigen  vermehrte.  Später 
ging  er  selbst  nach  Kazarika,  wo  man  ihn  freundlich  empfing  und 
wo  man  sich  seiner  Herrschaft  freute.  Dort  wohnte  das  herrschende 
heilige  Volk,  das  Kostanc  bekehrte. 

Der  damalige  Papst  Stipan  ■")  sandte  nun  mehrere  Schreiben  an 
den  heiligen  Mann  Kostanc,  rief  ihn  zu  sich,  um  zu  hören,  wie  er  den 
Glauben  Christi  predige,  wie  er  so  viel  Volk  zum  Glauben  Christi 
bekehre,  und  ihn  deshalb  zu  sehen  wünschte.  — 

Dann  sorgte  der  heilige  Mann  Kostanc  für  Priester  und  kroati- 
sche ■")  Bücher;  er  verdolmetschte  aus  dem  Griechischen  die  kroati- 
schen Bücher;  er  verdolmetschte  kroatisch  die  Evangelien  sowie  alle 
Kirchenepisteln  sowohl  des  alten  wie  des  neuen  Testaments.  Mit 
päpstlicher  Approbation  verfasste  er  Bücher,  regelte  die  Messe  und 
befestigte  das  Land  im  Glauben  Jesu  Christi.  Nun  befolgt  er  die  Bitte 
und  begibt  sich  nach  Rom,  wohin  er  unter  heiligem  Gehorsam  be- 
rufen wurde.  Der  Reisende  kehrte  dann  in  das  Reich  des  heiligen 
Volkes,  das  er  zum  Glauben  bekehrt  und  das  der  von  Kostanc^")  im 
Glauben  belehrte  weise  und  gute  König  Budimir  regierte,  zurück.  Als 
der  König  von  der  Rückkehr  Kostanc'  erfuhr,  war  er  sehr  erfreut  und 
empfing  ihn  ehrenvoll. 

Darauf  begann  Kostanc  das  Leben  und  die  Wunder  Christi  zu 
predigen,  und  überzeugte  und  festigte  den  König  in  der  Einheit  des 
Glaubens  und  der  göttlichen  Dreifaltigkeit.  Der  König  glaubte  alles, 
und  Hess  sich   mit  allen  im  Königreiche  noch  nicht  Getauften  taufen. 

Als  der  Papst  um  den  seligen  Mann  Kostanc  schickte  und  als 

^^)  In  der  lal.  Handschrift:  venit  in  Caesaream  provinciam.  Oemeint  ist  wohl 
ein  Caesarea  in  Bulgarien,  denn  Städte  dieses  Namens  gab  es  mehrere. 

•"')    In   der   lat,   Handschrift:    Saramirus. 

•'')  In  der  lat.  Handschrift  steht  fälschlich  »Svetopolcus«  statt  »Budinnr«  : 
es    scheint  sich  hier  wieder  um   einen  Doppelnamen   zu   handeln. 

-**)  D.  i.   Stephan. 

^**)   In   der  lat,   Handschrift:   lingua   Sclavonica. 

*")  In  der  lal.  Handschrift  fügt  Dukljanin  hier  bei:  Constanunus,  cui  nomen 
postea  K  y  r  i  1  1  u  s. 


IHÖ 


derselbe  mit  päpstlicher  Genehmigung  zu  ihm  kam,  weihte  er  ihn 
zum  Priester.") 

Der  selige  Mann  brachte  nun  mit  dem  Könige,  der  nun  im 
Glauben  und  in  den  Geboten  Christi  genügend  befestigt  war,  etliche 
Tage  zu,  nahm  dann  vom  königlichen  Antlitz  und  jenem  heiligen 
Volke  Abschied  und  zog  nach  Rom/-) 

In  dieser  Zeil  wurde  den  Cliristen  eine  grosse  Freude  zu  teil. 
Alle  jene  die  in  Wallburgen  und  Schlupfwinkeln  im  Gebirge  wohnten, 
sich  verleugneten  und  verborgen  hielten,  oder  sich  nicht  als  Christen 
bekannten,  traten  öffentlich  auf,  die  Furcht  abwerfend ;  alle,  die  ver- 
folgt waren,  kehrten  zurück,  und  begannen  den  Namen  des  gekreu- 
zigten 3esus  zu  rühmen.  Auch  der  König  des  heiligen  Volkes  befahl 
nun  allen,  die  lateinisch^)  sprachen,  es  mögen  alle  zurückkehren, 
um  wieder  die  Städte  instandzusetzen,  die  von  den  Heiden  zerstört 
oder  eingeäschert  wurden.  Budimir,  der  König  des  heiligen  Volkes, 
sann  nun  darüber  nach,  wie  er  die  zerstörten  Städte  aufbauen  und 
bevölkern  könnte,  und  beschäftigte  sich  auch  mit  dem  Gedanken,  wie  er 
in  seiner  Regierungszeit  das  Land  in  die  frühere  Verfassung  bringen 
könnte.  Er  hatte  wohl  eine  Menge  Leute,  aber  alles  war  zerstreut; 
er  befahl  daher  das  Land  zu  verteilen,  die  Leute  wieder  unter  rich- 
tige Gesetze  zu  stellen  und  forschte  nach,  wie  dies  am  besten  durch- 
führbar wäre.  Er  versammelte  daher  alle  Ältesten  und  Weisen  seines 
Reiches,  teille  ihnen  seine  Absicht  und  seine  Entschlüsse  mit,  und 
bat  sie  über  eine  bessere  Organisation  nachzudenken,  wie  auch  da- 
rüber, wie  der  Wille  und  die  Absicht  des  Königs  realisiert  werden 
könnten.  So  standen  sie  etliche  Tage,  ohne  dass  jemand  in  der  Lage 
war  einen  Vorschlag  zu  finden,  noch  dem  Könige  einen  Weg  zeigen 
konnte  für  seine  Bestrebungen.  Doch  er  war  erfüllt  von  der  Weisheit 
Gottes,  daher  ihm  der  Gedanke  kam,  zum  heil.  Vater,  dem  Papste 
Stipan,  und  zum  Kaiser  Konstantin")  zu  senden,  damit  ihm  diese  in 

")  Im  Originale  »koludar«.  heute  »kaludjer«,  bedeutet  dermalen:  Mönch,  Ko- 
operator,  muss  aber  zu  jener  Zeit   einen  höheren   geistlichen   Ran-j   gehabt   haben. 

'-)  Es  handelt  sich  da  wohl  immer  um  dieselbe  eine  Reise  nach  Rom. 

*•')   Also   die   Gebildeten;   vermutlich    die   Geistlichkeit. 

")  Hier  liegt  wieder  ein  bedeutender  Anachronismus  vor.  Cyrill  soll  schoa 
869  gestorben  sein;  Papst  Stephan  V.  regierte  von  885 — 891;  einen  anderen  Papst 
dieses  Namens  gab  es  in  der  Zeit  von  817 — 885  nicht;  Konstantin  [Porphyrogenetes) 
regierte  von  912 — 953;  von  797 — 912  kennt  die  Geschichte  keinen  byzantinischen 
/Caiser  dieses  Namens;  doch  befasste  sich  dieser  tatsächlich  mit  der  Ethnographie 
und  der  Staatsverwaltungsgeschichte;  wann  und  wie  lange  Budimir  regierte,  weiss 
man  auch  nicht.  Der  Chronist  war  da  gewiss  stark  desorientiert  und  er  irrt  gröb- 
lich; irrt  er  aber  in  jeder  Hinsicht?  Sind  alle  die  obigen  Jahreszahlen  schon  wirk- 
^ch  als  absolut  verlässlich  zu  nehmen?  Diese  Fragen  müssten  a-ich  noch  beant- 
wortet werden. 


186 

seiner  Angelegenheit  beistehen  und  ihm  alte  Behelfe,^')  in  denen 
Königreiche  und  Länder  beschrieben  sind,  zusenden.  Der  erwähnte 
König  bat  zugleich  den  hl.  Vater,  den  Papst,  dass  er  ihm  mit  diesen 
einige  Gelehrte  mitsenden  möge. 

Als  die  Gesandten  des  Königs  und  heiligen  Volkes  zum  Papste 
Stipan  kamen,  war  der  hl.  Vater  höchst  erfreut  und  entgegenkommend 
betreffs  dieser  neuartigen  Frage  eines  hochgestellten  Christen,  der 
den  hl.  Vater,  den  Papst,  durch  Gesandte  bitten  lässt,  ihn  mit  der 
Himmelskost  zu  sättigen,  und  ihn  mit  dem  Worte  Gottes  zu  erfreuen, 
worüber  er  Herzenslust  empfand.  Der  hl.  Vater  stimmte  dem  wohl- 
wollend zu  und  sandte  einen  gelehrten  Mann,  seinen  Vikar  im  Namen 
seiner  und  der  heiligen  christlichen  Kirche,  u.  zw.  einen  Kardinal,*') 
dem  er  alle  seine  Gewall  übertrug,  wonach  er  geben  und  nehmen, 
binden  und  lösen  könne.  Überdies  sandte  er  einen  zweiten  Kardinal 
und  mit  ihm  zwei  Bischöfe,  welche  das  begnadete  Volk  stärken  und 
im  Glauben  belehren  sollen ;  sie  müssen  sich  der  guten  Taten  der- 
selben freuen,  sie  müssen  Pfarrkirchen  errichten,  Kirchen  weihen 
und  alles  sonst  für  die  Christen  Notwendige  schaffen. 

Als  die  genannten  Kardinäle  und  Bischöfe  kamen,  trafen  sie 
den  König  auf  der  Höhe,*")  die  man  Hlivaj ")  nennt.  —  Ihnen  ent- 
gegen kam  der  König  mit  einer  Menge  Volkes,  weil  er  sie  erwartete, 
und  von  dieser  Stelle  aus  deren  Ankunft  beobachtete. 

Er  versammelte  nun  von  allen  Gegenden  jene,*')  die  unter  ihm 
standen,  worauf  die  Christen  von  überall  herkamen.  So  empfing  sie 
der  König  mit  einer  grossen  Volksmenge  um  ihn,  unter  grossen 
Ehren;  auch  befahl  der  König,  dass  sich  das  ganze  Volk  des  ihm 
untergebenen  Landes  auf  dieser  Ebene  versammle.'") 

fSchluss  folgt.) 

•^)  Im  Originale  heisst  es  »barvoleze«;  die  Etymologie  dieses  Wortes  ist 
einstweilen  unbekannt  (Farbenpläne?).  Später  heisst  es  wieder  »privileze«;  ein 
Schreibfehler  dürfte  es  nicht  sein,  da  der  erstgenannte  Begriff  zweimal  vorkommt. 

'"')  Es  war  dies  H  o  n  o  r  i  u  s,  der  spätere  Papst  Stephan  V.  (885 — 891).  Da- 
raus geht  hervor,  dass  jener  Papst,  der  Honorius  entsandte,  nicht  Stephan  der  V. 
gewesen  sein  konnte,   sondern  wahrscheinlich  Nikolaus  I.   (858 — 867). 

'''']  »Planina«  bedeutet  im  Südslavischen  nicht  Ebene,  sondern  Höhe, 
Alpe. 

'"^)  H 1  i  V  a  j  muss  eine  Höhe  im  Gebiete  von  Solin  gewesen  sein,  von  der 
es  gut  möglich  war,  auf  eine  weite  Strecke  das  Ankommen  der  Mission  aus  Rom, 
die  jedenfalls  den  Landweg  nahm,  zu  beobachten. 

'"')  Im  Originale  »rusag«.  In  dieser  Form  ist  das  Wort  nicht  mehr  im  Ge- 
brauche; hingegen  bedeutet  »rusa«:  Rasen,  dann   Grenze,   Grenzgegend. 

'"')  Dass  der  König  die  Aussichtshöhe  (planina)  nach  dem  Sichten  der  Ge- 
sandtschaft verliess,  und  diese  in  der  Ebene  (polje)  erwartete,  ist  wohl  selbstver- 
ständlich. —  Nachdem  es  sich  um  die  Höhe  »Hlivaj«  handelt,  muss  in  der  Nähe 
auch  das  »polje«  sein;  man  nimmt  allgemein  an,  da-is  dieses  Volksmceting  am 
»Livanjsko  polje«  (bei  Livno)  in  Bosnien  stattfand. 


187 


M.  Zunkovic: 

Beiträge  zur  altslavischen  Kriegskunst. 

über  die  Kriegskunst  der  Allslaven  war  bisher  überhaupt  nichts 
zu  vernehmen,  da  die  Herkunft  der  Slaven  sowie  deren  Autochtho- 
nismus  in  Europa  noch  nicht  beglaubigt  war;  überdies  lag  dieses 
Gebiet  den  meisten  Forschern  beruflich  ferne.  Wir  erfahren  daher 
eigentlich  bis  zur  Hussitenzeit  (1420—1427),  welche  sich  in  bezug 
auf  die  Kriegstechnik  und  Kampfform  vielfach  neue  und  eigene  An- 
schauungen zugrunde  legte,  umsomehr  als  die  alte  Geschichtsschrei- 
bung den  Namen  „Slave"  nicht  ausdrücklich  hervorhebt,  darüber  gar 
nichts.  Doch  bieten  uns  die  erhaltenen  altslavischen  Dichtungen  ge- 
legentlich und  nahezu  unbewusst  sehr  willkommene  kriegswissen- 
schaftliche Details,  womit  dargelegt  erscheint,  dass  die  Alt- 
slaven auch  in  dieser  Hinsicht  den  sonstigen  Völkern  nicht  nach- 
standen, nur  wurden  diese  Quellen  bisher  nicht  beachtet,  weil  man 
sie  eben  als  echt  anzweifelte;  nebstbei  vergass  man  auch,  dass  die 
Geschichte  der  alten  Völker  ohnehin  nichts  weiter 
ist,  als  eine  ununterbrochene  Reihe  von  Kriegsbege- 
benheiten. 

Da  fällt  es  vor  allem  auf,  dass  im  russischen  Igor-Liede  die 
fahrbaren  Mauerbrecher  („vozzni  strikusi")  erwähn!  werden, 
mit  denen  der  bis  zum  Jahre  1101  herrschende  Fürst  von  Polock, 
Vseslav,  die  Tore  von  Novgorod  einrennt.  —  Diese  flüchtige  Erwäh- 
nung bietet  jedoch  in  mehrfacher  Hinsicht  eine  sehr  reelle  Orientie- 
rung über  die  damaligen  Kulturverhältnisse,  denn  war  es  zu  jener 
Zeit  möglich  mit  der  geschilderten  Raschheit  von  Kiev  nach  Novgorod 
mit  solchen  schweren  und  breiten  Kriegsmaschinen  zu  fahren,  so 
musste  zum  mindesten  zwischen  diesen  beiden  Städten,  deren  Luft- 
linienentfernung über  Bjelgorod  allein  über  1300  km  beträgt,  eine 
breite  Strasse  mit  festem  Unterbau  vorhanden  gewesen  sein.  Des- 
gleichen ist  die  Fahrbarkeit  solcher  Behelfe  für  den  Festungskrieg 
auf  so  langen  Strecken  ein  bedeutender  Fortschritt  im  Vergleiche  zu 
den  griechischen  und  römischen  Sturmböcken  („krios,  aries"),  die 
zerlegt  und  mitgeführt,  an  Ort  und  Stelle  zusammengestellt  und  nur 
auf  sehr  kurze  Strecken  mit  Windenkraft  an  jene  Stelle  geschoben 
wurden,  wo  man  eben  eine  Bresche  legen  wollte. 

Ein  solcher  Mauerbrecher,  Widder  oder  Sturmbock  bestand  aus 
einem  starken,  am  dickeren  Ende  massiv  mit  Eisen  beschlagenen 
Mastbaume  von  20—30  m  Länge.  Dieser  Baum  wurde  nun  am  Dach- 


188. 

walm  einer  festen  Schulzhülle  auf  Kellen  wagrechl  aufgehängt  und 
im  Gebrauchsfalle  von  20—50  Mann  forlgeselzl  mil  grosser  Schwung- 
kraft gegen  die  Mauer  geslossen.  Der  Effekt  dieser  Maschine  bestand 
darin,  dass  man  die  Mauer  sukzessive  abnahm  oder  abscherte, 
d.  h.  man  begann  von  der  Krele  aus  jede  Ziegelschichte  oder  Slein- 
lage  für  sich  abzuslossen,  und  „rasierte"  auf  diese  Art  die  Mauer 
ganz  ab  oder  aber  doch  bis  zur  Übersleigbarkeil.  Der  Begriff  „slri- 
kus"  ist  daher  sehr  typisch  gewählt,  denn  das  Zeilwort  „slrici,  stri- 
gali"  bedeutet  eben  im  Slavischen :  scheren,  abnehmen;  aber 
auch  im  deutschen  abstreichen,  strichweise  abnehmen  ist 
dieselbe  Wurzel  vorhanden.  —  Ansonst  war  dieser  Belagerungsbehelf 
schon  seit  den  ältesten  Zeiten  nahezu  allen  Völkern  bekannt. 

Etwas  in  der  Kriegsgeschichte  bisher  nicht  Analoges  findet  Er- 
wähnung in  der  Königinhofer  Handschrift,  u.  zw.  im  epischen  Ge- 
dichte: Kriegszug  der  Böhmen  gegen  Vlaslav.  —  Diese  Begebenheit 
spielt  sich  um  die  Mille  des  IX.  CJahrhunderles  ab;  die  Episode  der 
Erstürmung  der  Burg  Kruvojs  wird  nachstehend  geschildert: 

„Da  befiehlt  Cmir  von  rückwärts  die  Vesie  zu  stürmen. 

und  befiehlt  von  vorne  die  Ringmauer  zu  ülier springen. 

Da  beugen  sie  die  hochgewachsnen  Bäume 

des  Dickichts  unterm  Felsen  zur  starken  Ringmauer, 

damit  auf  den  Stämmen  hinabrollen  die  Balken 

ober  den  Köpfen  der  Krieger. 

Doch  darunter  stellte  sich  nach  vorne 

ein  starker  Mann  zum  andern ; 

sie  berühren  einander  mit  den  breiten  Schultern. 

Bäume  legen  sie  nun  auf  die  'Achseln, 

befestigen  sie  kreuz  und  quer  mit  Wieden 

und  pflanzen  neben  sich  ihre  Lanzen  auf 

Nun  springen  Männer  auf  diese  Hölzer, 

legen  Lanzen  auf  die  Achseln 

und  verbinden  sie  mit  Wieden. 

Da  springt  eine  dritte  Reihe  auf  die  zweite, 

die  vierte  auf  die  dritte, 

und  die  fünfte  erreicht  schon  die  Mauerkrone. 

von  wo  die  Schwerter  zucken, 

von  wo  es  Pfeile  regnet. 

von  wo  Balken  donnernd  herabrollen. 

Sieh,  da  springt  ein  Strom  von  Pragern  ungestüm  über  die  Mauer 

und  setzt  sich  mit  aller  Kraft  in  der  starken  Burg  fest."  — 

Mit  Mauerbrechern  war  da  nichts  anzufangen,  da  die  Burg  auf 
einem  Naturfelsen  stand,  man  musste  daher  zu  einer  anderen  Methode 


189 

der  Erstürmung  schreiten.  —  Der  Bau  einer  solchen  Menschenpyramide 
scheint  für  den  ersten  Augenblick  nicht  möglich,  doch  ist  dies  bei 
dem  Umstände,  dass  die  Männer  der  n^hslhöheren  Etage  doch  die 
inneren  Äste  der  gefällten  Bäume  zum  Hinaufklettern  benützten,  wie 
zugleich  durch  das  Anhalten  an  den  Ästen  die  Stabilität  der  Pyramide 
selbst  erhöhen  konnten,  natürlich  erklärbar.  Die  Unterlassung  der 
rechtzeitigen  Entfernung  der  Bäume  im  Sturmbereiche  der  Burg  sei- 
tens des  Verteidigers  wurde  daher  hier  von  den  Belagerern  vorteil- 
haft ausgenüzt. 

Eine  eigenartige  und  in  diesem  Falle  einzig  richtige  Kampf- 
formation wird  auch  im  Gedichte:  Einfall  der  Tataren  in  Mähren  i.  3. 
\2k\  der   Königinhofer  Handschrift   in  folgender  Weise  beschrieben: 

„Alles  ermannt  sich,  alles  erstarkt  gegen  die  Tataren. 

In  einen  kräjtigen  Klumpen  zusammengedrängt 

brachen  sie  hervor  wie  Feuer  aus  der  Erde 

zur  Höhe  hin  gegen  die  Unzahl  der  Tataren, 

rücklings  schreitend  zur  Höhe  hinan. 

Am  Berghang  beziehen  sie  eine  breite  Stellung, 

die  sie  gegen  abwärts  zu  einem  spitzen  Keile  verengten, 

rechts  und  links  mit  Schilden  sich  bedeckend; 

legen  auf  die  Schultern  scharfe  Speere, 

der  zweite  dem  ersten,  der  dritte  dem  zweiten, 

wie  ein  Pfeilgewölk  von  der  Höhe  bis  zu  den  Tataren." 

Diese  keilförmige  Verteidigungsstellung  (der  „taktische  Keil"), 
welche  schon  die  Römer  anwendeten  und  als  „cuneus"  (  Keil)  be- 
zeichneten, konnte  allerdings  durch  den  „hohlen  Keil"  (lat.  „forfex"), 
also  eine  gabel-  oder  V-förmige  Gegenstellung  in  der  Ebene  vorteil- 
haft paralisiert  werden,  hier  jedoch  nicht,  da  die  Konfiguration  des 
Kampfplatzes  am  steilen  und  gebogenen  Abhänge  des  Berges  Hostyn 
die  beiden  Flügel  immer  weit  unter  dem  Niveau  des  Keiles  belassen 
hätte. 

Als  weiteres  Hilfsmittel  behufs  Herbeiführung  des  Sieges  wur- 
de auch  von  den  Slaven  die  Kriegslist  in  ihren  verschiedenartig- 
sten Formen  angewendet,  denn  seit  den  ältesten  Zeiten  gilt  es  als 
eine  hervorragende  Feldherrnklugheit  den  Sieg  tunlichst  ohne  Kampf 
und  ohne  empfindliche  Verluste  zu  gewinnen,  daher  die  Tapferkeit 
mit  Klugheit  zu  vereinigen.  Die  altslavischen  Dichtungen  bieten  uns 
auch  hiefür  einige  Belege. 

Im  „Igor-Liede"  spielt  sich  alles  mehr  oder  weniger  im  offenen 
Kampfe  ab;  überdies  werden  darin  keine  Kampfdetails  geschildert; 
anders  ist  es  jedoch  in  der  Königinhofer  Handschrift.  Schon  im  ersten 


190 

Gedichte  („Verlreibung  der  Polen  aus  Prag"),  das  den  nächtlichen 
Überfall  des  Fürsten  Oldfich  vom  „Gern  les"  aus  gegen  Prag  schil- 
dert, spielt  die  Kriegslist  die  entscheidende  Rolle.  Einer  der  Führer 
täuschte  die  Brückenwache  dadurch,  dass  er  als  Hirte  verkleidet  die 
Öffnung  des  Moldautores  begehrte,  um  seine  Herde  auf  die  Weide 
treiben  zu  können;  der  Wachkommandant  entsprach  vertrauensselig 
diesem  Wunsche;  die  betreffende  Stelle  sagt  darüber: 

„Im  stillen  Prag  bergen  sie  mit  Vorsicht  sich, 

die  Waffen  in  Mänteln  verhüllen  sie.  — 

Nach  des  Morgens  Grauen  kommt  ein  Hirte 

und  ruft  hinauf  zu  offnen  ihm  das  Tor. 

Die  Wache  vernimmt  den  Ruf  des  Hirten 

und  öffnet  ihm  das  Moldautor. 

Auf  die  Brücke  tretend,  laut  bläst  der  Hirte. 

Auf  die  Brücke  sprengt  der  Fürst  mit  sieben   Vladikas, 

Jeder  drängt  mit  allen  seinen  Kriegern  nach. 

Und  dröhnend  schlagen  die  Trommeln  ein, 

und  die  Trompeten  schmettern  drein; 

aufpflanzt  die  Fahne  auf  der  Brücke  Jede  Schar; 

die  Brücke  bebt  unterm  hastigen  Gedränge.  — 

Schrecken  fährt  in  die  Polen  alle. 

Ei,  die  Polen  greifen  zu  den  Waffen, 

ei,  die  Vladikas  führen  scharfe  Hiebe. 

Die  Polen  sprengen  her  und  hin, 

rennen  in  Haufen  zum  Tore,  zum  Graben. 

weif  er,  weiter  vor  den  grimmigen  Hieben." 

Eine  eigenartige,  wenn  auch  überaus  plumpe  List  wendet  auch 
der  schon  erwähnte  Cmir  im  Kriegszuge  gegen  Vlaslav  an.  Um  sei- 
nen nummerisch  weit  stärkeren  Gegner  über  die  eigenen  inferioren 
Kräfteverhältnisse  zu  täuschen,  nützte  er  im  Anmärsche  eine  Höhe 
derart  aus,  dass  dieselben  Truppenteile  wiederholt  dieselbe  Stelle 
passierten ;  die  Dichtung  sagt  diesbezüglich : 

„Schwer  wirds  mit  diesem  Feinde  zu  kämpfen, 

selten  widersteht  der  Stock  der  Keule!" 

So  spricht  Vojmir. 

Darauf  erwiderte  Cmir: 

„„Klug  ist's  hier  leise  zu  sprechen. 

klug  ist's  gefasst  zu  sein  auf  alles.' 

Wozu  mit  der  Stirne  an  den  Felsen  rennen  ? 

Überlistet  doch  der  Fuchs  den  hartköpfigen  Ui ! 

Hier  vom  Berge  kann  uns   Vlaslav  sehen; 


191 


rasch  hinab  um  diesen  Berg  herum, 

damit  rückwärts  sei,  was  bisher  vorne  war; 

wiederhole  so  den  Zug  vom  Tale  zum  Berge!"" 

Also  tat  es  Vojmir,  tat  es  Cmir. 

Und  so  zieht  das  Meer  ringsum  um  den  Berg. 

und  so  zieht  neunmal  das  Heer. 

So  vermehrten  sie  ihre  Zahl  gegenüber  den  Feinden, 

so  vermehrten  sie  die  Furcht  bei  den  Feinden. 

Sie  traten  in  die  Bieite  im  nieder n  Eichenjorste, 

doch  so,  dass  ihre  Waffen  in  des  Feindes  Augen  blinken; 

den  ganzen  Berg  bedeckt  dieser  Glanz. 

Plötzlich  bricht  Cmir  hervor  mit  seiner  Macht; 

doch  diese  Macht  zählte  nur  vier  Haufen. 

Mit  diesen  erweckt  er  Schrecken  aus  dem  Waldesdunkel ; 

Schrecken  befällt  die  vielen  Scharen  der  Feinde. 

„Zurück,  zurück!"  Furcht  kam  über  sie  aus  dem  ganzen  Walde; 

dahin,  dorthin  zerstreuen  sich  ihre  Reihen." 

Wieder  in  anderer  Weise  täuscht  Zaboj  im  Gediclite:  „Befreiung 
Bölimens  von  der  Fremdherrschaft"  seinen  Gegner  über  die  Wahl 
des  Kampfplatzes  dadurch,  dass  er  sich  in  kleinen  Gruppen  und  auf 
Umwegen,  wobei  nur  Waldzonen  benützt  werden,  schon  an  der  Grenze 
des  feindlichen  Gebietes  sammelt  und  den  Gegner  überraschend  von 
zwei  Seiten  zugleich  überfällt. 

Diese  Beispiele  gehören  alle  ungefähr  der  Zeit  des  IX.  bis  Xlll. 
Dahrhundertes  an.  Es  gibt  aber  für  die  slavische  Kriegskunst  auch 
weit  ältere  Belege.  So  führt  Polyänus,  der  macedonischer  Abstammung 
war,  und  um  die  Mitte  des  II.  Jahrhundertes  n.  Chr.  lebte,  in  seinem 
Werke  über  „Kriegslisten"  einige  Beispiele  an,  in  denen  zweifellos 
Slaven  eine  Rolle  spielen.  Diese  Begebenheiten  werden  aber  noch 
dadurch  besonders  wertvoll,  dass  sie  zum  Teile  alten  Schriften  ent- 
nommen sind,  die  in  der  Folge  verloren  gingen,  und  können  seine 
Beispiele  zum  Teile  auch  alten  slavischen  Quellen  entnommen  sein, 
von  deren  Existenz  wir  sonst  keine  Belege  mehr  haben.  Polyänus 
erzählt  z.  B.  von  den  Autariaten  (Kotaraci,  Cattarer?),  einem  illyri- 
schen Volke  in  Dalmatien,  folgendes  Begebnis.  Die  Kelten  führten 
gegen  diese  Krieg,  jedoch  lange  ohne  Erfolg.  Da  versuchten  sie  fol- 
gende List.  Sie  ergriffen  eines  Nachts  scheinbar  die  Flucht,  mischten 
aber  zuvor  schädliche  Kräutersäfte  in  die  zurückgelassenen  Getränke. 
Die  Autariaten  glaubten,  die  Gegner  seien  abgezogen  und  Hessen 
sich  nun  die  vorgefundenen  Lebensmittel  gut  schmecken.  Doch  sie 
alle  wurden  von  einem  heftigen  Durchfalle  ergriffen  und  während  sie 


192 

krank  darniederlagen,  kehrten  die  Kelten  zurück  und  machten  sie 
nieder.  —  Hiebet  wurde  zweifellos  ein  drastisches  Purgiermittel  dem 
Weine  beigemischt.  Wahrscheinlich  bediente  man  sich  hiezu  des  in 
Dalmatien  bekannten  Heilmittels  gegen  den  Bandwurm,  eines  Absu- 
des der  Wurzelrinde  des  Granatapfels,  der  schon  in  geringer  Quan- 
tität genossen,  einen  starken  Durchfall  mit  schmerzlichen  Krämpfen 
verursacht.  —  Eine  solche  ungewollte  Bandwurmkur  wäre  noch  heute 
bei  kleineren  Heeresabteilungen,  die  lange  an  Entbehrungen  litten, 
recht  gut  und  mit  Erfolg  durchführbar. 

Eine  Täuschung  anderer  Art  erzählt  Polyänus  von  den  Tribal- 
lern,  den  Bewohnern  des  heutigen  Serbien  und  Bulgarien.*)  Diese 
wurden  dadurch  von  den  Skythen  in  die  Flucht  geschlagen,  dass 
letztere  beim  Beginne  der  Schlacht  von  allen  Seiten  eine  Menge  von 
Pferden  und  Weidevieh  unter  grossen  Staubwolken  und  Geschrei  kon- 
zentrisch zusammentreiben  Hessen.  Die  Triballer  glaubten,  dass  noch 
weitere  skythische  Reiterei  heranrücke  und  ergriffen  die  Flucht. 

Diese  wenigen  Beispiele  zeigen,  dass  die  Beweise  für  die  all- 
slavische  Kriegstüchtigkeit  sehr  zahlreich  sind  und  sein  müssen,  nur 
sind  oder  waren  die  bezüglichen  Quellen  bisher  noch  nicht  geistig 
erschlossen  und  logisch  verarbeitet,  ja,  im  Gegenteile,  es  wurde  den 
Slaven  bisher  immer  die  kriegerische  Eignung  abgesprochen.  So 
erzählt  Universitätsprofessor  3.  Peisker  (Graz)  in  dem  Vorberichte 
zum  Werke  „Neue  Grundlagen  der  slavischen  Altertumskunde"  (1910) 
allen  Ernstes  die  groteske  Neuigkeit :  „DerSumpf  bildet  keinen 
Kriegsschauplatz,  daher  die  slavischeKriegsuntüch- 
tigkeit  und  keine  Schlachtordnung!"  Zu  diesem  Schlüsse, 
in  dem  er  obendrauf  den  Slaven  zu  einem  „elenden  Amphibium" 
stempelt,  kommt  Peisker  offenkundig  durch  jene  Stelle  des  Pseudo- 
Marikios,  eine  Art  arabischen  Münchhausens,  welcher  berichtet,  dass 
bei  den  entsetzlichen  Oagden  auf  die  Slaven  diese  schliesslich  auf 
die  Idee  kamen,  sich  bei  urplötzlichen  Überfällen  ins  Wasser  zu 
stürzen,  und  viele  Stunden  lang,  aus  Schilfrohren  atmend^ 
die  Räuber  zu  täuschen.  —  Mit  solchen  Unkenntnissen  in  der  Zoolo- 
gie tritt  also  hier  ein  Universitätsprofessor  auf,  wofür  ein  Sekun- 
daner einwandfrei  die  schlechteste  Klassifikationsnote  erhalten  müsste. 
Allerdings  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  es  sich  dem  genannten 
Professor  hier  mehr  darum  handelt,  für  die  Herabsetzung  der  Kultur 
der  Allslaven   neue  Motive   der  Gehässigkeil   in  Aktion  zu   bringen^ 

*)  Dass  die  Triballer  Slaven  waren,  ersieht  man  auch  aus  der  Stelle 
Seite  182,  wo  es  heisst,  dass  die  eindringenden  Bulgaren  dieselbe  Sprache  spre- 
chen als  die  Stammbewohner  südlich  der  Donau,  Die  Slavizität  dieser  Bewohner 
erhält  also  von  allen  Seiten  ihre  natürliche  Bestätigung.  Anm.   d.  Red. 


193 

was  man  freilich  umso  sicherer  wagen  kann,  weil  der  Verbreiter 
solcher  „Beweise"  leider  in  der  slavischen  Gelehrlenwelt  nicht  die 
gebührende  „Belehrung",  ja  eher  noch  eine  gedankenlose  Billigung 
findet.  —  Kann  sich  aber  Universilätsprofessor  Peisker  die  Situation 
vorstellen,  dass  ein  Mann  viele  Stunden  lang  unter  Wasser  liegt 
und  nur  aus  Schilfrohren  atmet?  Der  Amphibien-Slave  wird  urplötz- 
lich überfallen,  wirft  sich  platt  auf  den  Rücken  in  den  Sumpf,  schnei- 
det oder  bricht  sich  ein  Schilfrohr  ab,  bohrt  sich  das  Diaphragma  an 
den  Knotenpunkten  sauber  aus,  —  natürlich  alles  unter  Wasser!  — 
sucht  sich  beim  Überfalle  nur  jene  Sumpfstelle  aus,  die  eine  bestimmte 
Tiefe  hat,  sinkt  im  Sumpfe  nicht  weiter  ein,  als  das  Schilfrohr  lang 
ist  und  atmet  so  —  stundenlang!  Bei  alledem  sind  aber  die 
Räuber  so  einfältig,  dass  sie  nicht  wissen,  wo  er  liegt,  zumal  das 
Schilfrohr  heraussteckt,  oder  sind  plötzlich  so  human,  ihn  weiter 
nicht  in  seinem  Elemente  zu  belästigen.  —  Jeder,  der  etwas  gelesen 
oder  mit  offenen  Augen  durch  die  Welt  gegangen  ist,  weiss  aber  im 
Gegenteile,  dass  gerade  Sümpfe  die  wichtigsten  Annäherungshinder- 
nisse für  eine  Festungsanlage  bilden,  und  Ibrahim  ibn  üakub  (%5) 
schreibt  gerade  umgekehrt,  dass  die  Slaven  zurVerstärkung 
von  Festungsanlagen  tunlichst  Sümpfe  ausnützen, 
was  eben  sehr  klug  ist,  denn  fliessende  Gewässer  kann  man  nöti- 
genfalls ableiten,  hingegen  ist  es  ziemlich  aussichtslos  Sümpfe  in 
entsprechender  Zeit  zu  enttrocknen,  da  man  über  das  Grundwasser 
nicht  Herr  wird.  Der  Vorwurf  würde  sonach  gerade  im  entgegen- 
gesetzten Falle  berechtigt  sein,  daher:  ne  sutor  super  crepidam  judicaret! 
Die  Hauptmission  des  Mannes  ist  seit  der  ältesten  Zeit  jene  des 
Kriegers  und  diese  Behauptung  ist  inbezug  auf  die  Slaven  am  aller- 
wenigsten eine  dilatorische,  denn  der  Beweis,  dass  bei  den  Slaven 
dieselben  Verhältnisse  herrschten,  wie  sie  Tacitus  bei  den  damaligen 
Völkern  Germaniens  schildert,  ist  bei  ihnen  umso  handgreiflicher  zu 
erbringen,  weil  sie  noch  heute  bei  den  Balkanslaven  obwalten.  Über- 
dies ist  es  selbstverständlich,  dass  derjenige,  welcher  stets  im  Frie- 
den auch  unter  Waffen  steht,  sich  auch  in  der  Führung  derselben  für 
den  ernsten  Kampf  vorüben  muss,  denn  eine  übungslose  Kriegs- 
kunst ist  das  Grab  der  Kriegstüchtigkeit.  Wenn  es  daher 
in  der  Grünberger  Handschrift  heisst:  miizie  pazü,  zeny  ruby  strojd, 
d.  i.  „die  Männer  stählen  sich,  die  Frauen  besorgen  die  Wirt- 
schaft", so  entspricht  dies  der  wirklichen  Situation  jener  Zeit  in  Böh- 
men genau  so,  wie  jener  von  heute  in  Albanien  und  Montenegro, 
und  wäre  die  Handschrift  gerade  dann  falsch  und  anachronistisch,  wenn 
darin  das  Gegenteil  behauptet  würde.  Dasselbe  bestätigt  auch  die 
Königinhofer  Handschrift,  wo   im  „Kampfspiele"  der  Fürst  Zälabsky 

13 


194 


seine  Edlen  offen  in  der  Kampftüchtigkeit  prüft,  um  zu  wissen,   wer 
ihm  im  Ernstfalle  der  „Nützlichste"  sei,  denn  er  fügt  bei : 
„Weise  ists  im  Frieden  des  Kriegs  gewärtig  zu  sein, 
Denn  ringsum  sind  die  Nacfibarn  uns  feindlicfi  gesinnt." 
Wann    sich   aber   dieser  Vorfall   abspielte,   hiefür  steht   das  weiteste 
Gebiet  der  Phantasie  offen.  — 

Von  einer  slavischen  Inferiorität  in  der  Kriegskunst  oder  Kriegs- 
tüchtigkeit zu  sprechen,  ist  daher  in  keiner  Weise  begründet ;  ja  man 
weiss  vielmehr  allgemein,  dass  die  Slaven  noch  heute  in  jeder  Armee 
als  die  besten  Repräsentanten  soldatischer  Tugenden  gelten,  weil 
ihnen  noch  ein  besonderer  kriegerischer  Geist  hereditär  wie  traditio- 
nell innewohnt. 


S.  Gruden : 

Das  südslavische  Volkslied  bei  Beethoven 

und  Haydn. 

„Die  Musi/<  der  Südslaven  ist  unbedingt 
dazu  prädestiniert  den  vielleiclit  etwas 
ersc/iöpften  Born  europäisefier  Melodik 
aufzujrischen." 

Diesen  Ausspruch  tat  Professor  3.  Major  in  einem  als  „Die 
Volksmusik  der  Südslaven"  benannten  Artikel  im  „Merker"  (2.  3uni- 
heft  1912),  dem  wir,  bis  auf  den  als  tröstende  Konzession  einge- 
schalteten Begriff  „vielleicht",  auch  voll  beipflichten. 

Wer  mit  der  südslavischen  Volkspoesie  und  Volksmusik  einiger- 
massen  vertraut  ist,  aber  auch  die  internationale  Musik  tiefer  kennt, 
muss  jedoch  billig  zugeben,  dass  der  Einfluss  der  südslavischen 
Volkslieder  auf  die  Musik  anderer  Nationen  nicht  erst  eine  Zukunfts- 
hoffnung bedeutet,  sondern  dass  er  schon  heute  und  seit 
langem  auf  sie  wirkt,  nur  kommt  erst  gelegentlich  jemand  mit 
der  nackten  Wahrheit  heraus.  Überdies  hat  der  Diebstahl  des  geisti- 
gen Eigentums  in  keiner  Kunstrichtung  eine  solche  Abolition  des 
Odiums  erfahren,  wie  gerade  in  der  Musik,  denn  man  sieht  es  gar 
nicht  der  Mühe  wert,  ein  Liederthema  oder  gar  nur  ein  Liedmotiv 
von  etlichen  Takten  als  solches  einer  fremden  Provenienz  ersichtlich 
zu  machen,  mag  sich  darauf  auch  ein  grösseres  Tonstück  aufbauen. 
Wir  wollen  hier  durchaus  nicht  die  Lebenden  einer  solchen  Revision 
unterziehen,  hingegen  aber  zeigen,  dass  von  diesem  überreichen 
Melodienquell  auch  die  alten  Besten  der  Besten  gelegentlich  zu  schöp- 
fen pflegten,  ohne  dies  weiter  offen  zu  bekennen. 


195 

Professor  Major  scheint  aber  im  Gegenteile  einen  Augenblick  zu 
glauben,  dass  die  südslavische  Volksmusik  manche  Melodien  aus 
klassischen  Werken  unsterblicher  Komponisten  unverändert  über- 
nommen hat.  So  fand  er  das  Hauptthema  aus  Beethovens  VI.  Sym- 
phonie (1808)  in  dem  serbischen  Liede  „Sirvonja  do  sirvonja"  und  in 
dem  kroatischen  „Kisa  pada,  trava  raste" ;  des  weiteren  die  Haupt- 
themen von  Haydns  E-diir-  und  D-ofür-Symphonien  in  den  Liedern 
„Divojcica  potok  gazi"  und  „Dalcki  putevi".  Alle  diese  Themen  finden 
sich  in  den  genannten  Liedern  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  von  acht 
Takten  vor.  —  Major  sagt  weiter:  „Diese  Lieder  werden  in  Kroatien 
und  in  Serbien  mit  von  einander  abweichenden  Texten  gesungen. 
Spätere  Forschungen  sollten  es  einmal  aufklären,  wieso  diese  The- 
men in  die  Volkslieder  gelangten.  Oder  hätten  diese  die  Themen 
vielleicht  der  südslavischen  Musik  entlehnt?  Das  lässt  sich  kaum 
annehmen,  denn  es  ist  nichts  darüber  bekannt,  dass  Beethoven  oder 
Haydn  je  die  Südslavenländer  bereist  —  oder  sich  dem  Studium  ihrer 
Musik  gewidmet  hätten." 

Nun,  wir  können  auf  diese,  im  Grunde  genommen  recht  naiven 
Zweifel,  schon  jetzt  eine  entschiedene  Antwort  geben,  denn  vor  allem 
ist  es  geradezu  grotesk  auch  nur  einen  Augenblick  daran  zu  glauben, 
dass  sich  ein  südslavischer  Bauernbursche  seine  Liedermotive  etwa 
aus  Symphoniekonzerten  holt.  Man  weiss  auch  nicht,  wo  er  diese 
gehört  haben  könnte,  denn  Symphonien  spielt  man  im  Dorfe  nicht 
und  in  der  Stadt  besucht  er  derartige  Musikproduktionen  auch  gewiss 
nicht ;  desgleichen  wird  in  seinem  Verkehrskreise  in  der  Stadt  kaum 
Kammermusik  betrieben.  Sagen  wir  es  daher  direkte  und  frei  heraus : 
Beethoven  und  Haydn  haben  diese  Motive  den  alten 
südsl  a  vi  sehen  Vo  Iksl  iedern  entnommenund  durchaus 
nicht  umgekehrt.  Es  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  dass  dieser 
Beweis  noch  chronologisch  erbracht  werden  kann,  denn  die  Südslaven 
besitzen  noch  massenhaft  handschriftliche  Liederbücher,  die  weit  älter 
sind  als  die  Entstehungszeit  jener  Symphonien ;  vielleicht  findet  sich 
eines  dieser  Lieder  auch  darunter. 

Im  besonderen  lässt  sich  aber  der  Beweis  beim  Liede  „Sirvonja" 
erbringen.  Der  Text  lautet: 

„Sirvonja  do  sirvonja,  bozurja, 

Bozur  ti,  bozurica  skojla, 

Lepa  Jula,  lepa  Jula. 

Bozurica  skojla, 

Lepa  Jula  iz  kola."  — 
Dieser  Text  ist  derart  alt,  dass  ihn  der  Südslave  überhaupt  nicht  mehr 
versteht,   denn   die  Begriffe   „sirvonja,  bozura,   bozurica,  skojla"   sind 

13* 


196 

auch  der  Volkssprache  unbekannt ;  man  vermutet  nur  noch,  dass  es 
Blumennamen  seien.  —  Vielleicht  ist  aber  der  eine  oder  andere  Be- 
griff doch  noch  irgendwo  im  Dialekte  oder  als  seltenes  Gebrauchs- 
wort bekannt.  Einige  glauben,  dass  mit  „boziirica"  einst  die  Pf  ing  Si- 
ros e  (paconia  officinalis,  Gichtrosej  bezeichnet  wurde ;  im  Sloveni- 
schen  heisst  sie  tatsächlich  „bozur" ;  für  „sirvon/a"  und  „skojkv  ist 
jedoch  einstweilen  kein  sprachlicher  Beleg  zu  finden. 

Dieses  Volkslied  gehört  unter  die  sogenannten  „sigrc"  (  Zu- 
sammenspiele, Tanzspiele  der  erwachsenen  Jugend),  welche  in  zahl- 
reichen Formen  vertreten  sind;  ein  Fremder  kann  jedoch  solche  ihres 
internen  Charakters  wegen,  da  es  sich  dabei  vornehmlich  um  Liebes- 
erklärungen, Schäkereien  oder  Brautwerbungen  handelt,  schwer  be- 
obachten; sind  nämlich  unberufene  Zuschauer  da,  so  werden  die 
„sigre"  eben  nicht  ausgeführt  oder  aber  unterbrochen.  —  Desgleichen 
kann  das  Lied  auch  kein  Spiel-Auszählvers  sein,  da  der  Text  selbst 
aus  mehreren  Strophen  besteht.  —  Alle  Lieder  dieser  Art  sind  aber 
ausserordentlich  alt,  denn  sie  zeigen  fast  durchwegs  auch  noch  Spu- 
ren von  heidnischen  Gebräuchen;  dass  aber  gerade  dieses,  wie  man 
annimmt,  älteste  Lied  solcher  Art  erst  nach  Beethoven  entstanden 
wäre,  ist  daher  absolut  ausgeschlossen. 

Beethoven  hat  zur  VI.  Symphonie  (Symphonia  pasturalcj  ausser 
dieser  sowie  anderer  kroatischer  Volksweisen  auch  z.  B.  die  Melodie 
des  Volksliedes  „Kad  sam  v  Sopron  v  solu  Iiodil"  verwendet,  das  in 
Veliki  Boristof  (Komitat  Ödenburg)  seit  undenklichen  Zeilen  bekannt 
war,  wie  dies  der  Lehrer  Michael  Nakovic  schon  vor  etwa  kO  Oahren 
feststellte. 

Ebenso  leicht  ist  die  Bemerkung  Majors  zurückzuweisen,  dass 
die  beiden  Meister  der  Töne  nie  die  Südslavenländer  bereisten.  Ist 
aber  dies  überhaupt  notwendig,  um  eine  südslavische  Melodie  zu 
erfahren?  Kann  man  eine  kroatische  Volksweise  nicht  ebensogut 
gelegentlich  oder  zufällig  in  Wien,  Berlin  oder  Paris  hören  und  sie 
dann  verwerten  ?  Namentlich  ist  dies  bei  Kroaten  und  Slovenen  leicht 
der  Fall,  die  doch  überall  gleich  singen,  sobald  3—4  Mann  bei  einem 
Glase  Weines  beisammen  sind.  Oder  sind  geschriebene  Liederiexte 
mit  beigesetzter  Melodie  so  schwer  zu  finden,  wenn  man  selbst,  wie 
es  bei  Beethoven  in  späteren  Jahren  zutrifft,  schwerhörig  ist? 

Wer  aber  die  Biographie  Beethovens  von  Ludwig  Nohl  („Beet- 
hovens Leben")  liest,  erfährt  darin,  dass  dieser  doch  den  Kroaten 
Zupancic  („Schuppanzigh"),  einen  hervorragenden  Musiker  und  Violi- 
nisten, zum  Musiklehrer  hatte,  sowie  dass  sich  zwischen  Lehrer  und 
Schüler  im  späteren  Leben  sogar  ein  sehr  intimes  Freundschaftsver- 


197 

hällnis  herausbildele.  —  Auch  hielt  sich  Beethoven  längere  Zeit  in 
Eisenstadt  auf,  welche  Gegend  doch  Kroaten  bewohnen.  Dass  Beet- 
hoven sonach  reichlich  Gelegenheit  hatte  in  die  Sphäre  der  südslavi- 
schen  Volksmusik  einzudringen,  ist  hiemit  dargelegt,  und  fällt  dieser 
Einfluss  noch  besonders  dadurch  auf,  dass  Beethovens  erstes  Opus, 
nachdem  er  selbständig  wurde,  eben  jene  Symphonie  war,  welcher 
er  die  meisten  kroatischen  Liedermotive  unterlegte.  — 

Noch  klarer  liegen  die  Lebensverhältnisse  bei  Haydn,  der  doch 
in  Rohrau  (bei  Brück  a  L.)  geboren  war,  wo  sich  anschliessend  eine 
lange  Reihe  von  kroatischen  Dörfern  gegen  südwärts  zieht,  und 
der  überdies  an  30  Jahre  als  Kapellmeister  beim  Fürsten  Esterhäzy 
im  Ödenburger  Komitate  lebte,  in  dem  sich  noch  heute  vorwiegend 
kroatische  Dörfer  befinden,  die  aber  vor  mehr  als  100  Jahren  noch 
ausgesprochener  kroatisch  waren.  Eines  der  verwendeten  Lieder 
(„Djevojcica  potok  gazi")  wurde  aber  im  genannten  Komitate  aufge- 
zeichnet, d.  h.  es  wurde  dort  vorwiegend  gesungen.  Aus  derselben 
Umgebung  stammt  auch  das  Lied  „Oj  Jelena,  jabuka  zelena",  das  meist 
unter  dem  Titel  „Daleki  piitevi"  bekannt  ist,  welches  Haydn  im  Finale 
der  Z)-£//ir-Symphonie  verwertete. 

Südslavische  Volksliedermotive  haben  übrigens  die  meisten  be- 
kannten Musikgrössen  gelegentlich  thematisch  verwendet;  am  weit- 
gehendsten benützte  aber  dieselben  gerade  Haydn,  was  den  Südslaven 
seit  langem  bekannt  ist.  (Vergl.  z.  B.  ü.  Kuhac'  Artikel  „Josip  Haydn 
i  hrvatske  narodne  popievke"  in  „Vienac"   1880.) 

Nicht  unbekannt  ist  es  auch,  dass  der  österreichischen  Volks- 
hymne, die  von  Haydn  stammt,  das  kroatische  Volkslied,  benannt  als 
„Die  traurige  Verlobte"  („Vjutro  ratio  se  ja  vstanem  malo  pred  zorom"), 
das  auch  prosodisch  mit  dem  Rhytmus  des  Hymnentextes  harmoniert, 
zum  Hauptlhema  diente. 

Dies  alles  kann  nun  wohl  kein  blinder  Zufall  sein,  obschon  es 
im  Prinzipe  eine  vollkommen  richtige  Auffassung  zeigt,  wenn  die 
Volkshymne  eines  Staates,  in  welchem  die  Slaven  die  überwiegende 
Majorität  als  Bewohner  bilden,  gerade  auf  slavische  Volksliedermotive 
aufgebaut  ist,  was  möglicherweise  auch  Haydn  vorgeschwebt  haben 
mag.  —  Dass  er  aber  diese  Anleihe  nicht  öffentlich  einbekannte,  ist 
verzeihlich  und  naheliegend,  denn  man  wollte  vor  allem  etwas  Schö- 
nes, Melodiöses  haben,  und  solches  findet  sich  in  erster  Linie  nur 
in  Volksliedern;  hätte  man  jedoch  gewusst,  dass  diese  Weisen  sla- 
vischer  Provenienz  seien,  so  wäre  wahrscheinlich  bei  unserem  krank- 
haften nationalen  Antagonismus  damit  doch  die  reine  Freude  an  der 
musikalisch  hochwertigen  Hymne  so  manchem  Engherzigen  empfind- 
lich getrübt  worden. 


198 

Wir  wollen  jedoch  hiemit  den  beiden  unsterblichen  Grössen  der 
Töne  durchaus  vom  verdienten  Lorbeer  kein  einzig  Blatt  entreissen; 
im  Gegenteile,  wir  freuen  uns  des  reinen  Besitzes  so  herrlicher  und 
edler  Lieder  unseres  einfachen  Volkes,  welche  Motive  und  Inspira- 
tionen zu  vielen  unvergänglichen  Musikschöpfungen  geboten  haben, 
womit  freilich  auch  alle  geistigen  Anleihen  dieser  Art  noch  lange 
nicht  hervorgehoben  erscheinen ;  einem  so  lieder-  und  melodien- 
reichen Volke,  wie  es  die  Südslaven  sind,  kann  aber  dies  auch  nicht 
die  geringste  Einbusse  tun,  da  es  den  Abgang  solcher  nicht  so  leicht 
wahrnimmt. 

Betrübend  hingegen  ist  es,  dass  gerade  die  Slaven  diesen  un- 
erschöpflichen Reichtum  wahrhaftig  einzig  dastehender  Erfindungen, 
wie  die  breite  und  tiefe  Entwicklung  ihrer  Schöpferkraft  in  bezug  auf 
die  Originalität  der  Form  und  des  Inhaltes  ihrer  Volkslieder,  viel 
zu  wenig  kennen  und  hochachten,  so  dass  ihnen  oft  erst  der  Fremde 
zeigen  muss,  welche  klangvollen  Schätze  in  dieser  altslavischen 
Volkskunst  verborgen  liegen.  —  Möge  daher  dieser  wohlgemeinte 
Vorwurf  in  der  Zukunft  eine  ernstere  Beachtung  finden,  nachdem  ein- 
mal in  dieser  Richtung  die  schweren  Versäumnisse  nicht  mehr  nach- 
zuholen sind.  Die  traditionelle  Minderbewertung  der 
slavischen  Geistes-  und  Kulturarbeiten  seitens  der 
Slaven  selbst  muss  doch  endlich  auch  eine  sichtbare, 
entschiedene  Grenze  finden.  — 


i 


Wissenschaftliches  Allerlei. 

Zur  Ethnologie  der  Ortsnamen  in  Tirol. 

In  Tirol  hat  sich  zwischen  mehreren  Etymologen  ein  Streit  ent- 
sponnen, ob  die  Ortsnamen  daselbst  von  Kelten,  Rh  ä  fern,  Illy- 
rern oder  Venetern  stammen.  —  Diese  Meinungsdivergenz  wäre 
schliesslich  beachtenswert,  wenn  man  vor  allem  wüsste,  welcher 
Sprache  sich  die  genannten  Völker  bedienten,  bezw.  welche  generelle 
Unterschiede  in  der  genannten  Sprache  obwalteten,  doch  diese  Vor- 
aussetzung fehlt  noch,  daher  der  Streit  auch  keine  Aussicht  auf  eine 
seriöse  Beilegung  hat. 

Um  aber  doch  zu  zeigen,  um  welche  Rückständigkeit  es  sich 
hier  noch  handelt,  sei  nachstehend  die  Erklärung  des  Ortsnamens 
„Imst",  wie  sie  Prof.  3.  Zösmair  bietet,  gegeben.  Diese  lautet: 


199 

„Imsl.  Die  älteslen  Formen  dieser  heuligen  Sladl  lauten  urkund- 
lich: 7G3  oppidum  Humisle,  1112  oder  1120  Uemesle,  1182Umsle, 
1201  Umersle,  wobei  ich  zwischen  U  und  V  nicht  unterscheide,  1167 
Umst,  1274  Unst,  1282  Uemst,  1289Llmbst,  12%  Umbst,  imXlV.üahr- 
hunderle  Umste,  Uembst  usw.,  endlich  Imst. 

Die  Anhänger  illyrischer  Abstammung  stellen  Humiste  mit  den 
für  illyrisch  gehaltenen  Ortsnamen  Ateste,  heute  Este  im  Venetiani- 
schen,  mit  Tergeste,  heute  Triest  und  anderen  Namen  mit  der  Nach- 
silbe oder  dem  Suffix  — este,  — ste  und  —st  zusammen.  Allein  diese 
Zusammenstellung  ist  ganz  unberechtigt,  und  zwar  erstens,  weil  die- 
ses Suffix  auch  weit  ausserhalb  der  Wohnsitze  der  Illyrer  vorkommt, 
zweitens  weil  es  in  verschiedenen  anderen  Sprachen,  besonders  ger- 
manischen, ebenfalls  vorhanden,  und  drittens  weil  die  Betonung 
in  letzteren  eine  ganz  andere  ist,  was  man  sehr  zu  beachten  hat. 
Die  erwähnten  illyrischen  Namen  haben  den  Hauptton  auf  der  vor- 
letzten oder  letzten,  die  germanischen  oder  deutschen  aber  auf  der 
ersten,  der  Wurzel-  oder  Stammsilbe.  Es  ist  Hümiste  zu  sprechen, 
weil  aus  dem  dreisilbigen  Worte  das  einsilbige  Umst -Imst  wurde. 
Sowohl  das  H,  welches  abgefallen,  das  u,  welches  in  ü  und  i  umlau- 
tete, wie  der  Einschub  von  b  (Umbst),  sind  unwesentlich  und  eine 
häufige  Erscheinung.  Dass  ursprünglich  Humiste  betont  worden 
und  der  Ton  erst  durch  den  Einfluss  des  Deutschen  verlegt  worden 
sei,  was  anderwärts  vorkommt,  ist  hier  nicht  anzunehmen. 

Im  Alt-  und  Neudeutschen  haben  wir  die  Nachsilbe  —ist,  —ste, 
—st  nicht  nur  beim  dritten  Grade  der  Steigerung :  Oberiste-Obrist, 
Niederiste-Niedrist  usw.,  die  auch  zu  Familiennamen  geworden  sind, 
sondern  besonders  in  alten  Personennamen,  wie:  Ariovist,  Ernest, 
— ost  und  — ust,  heute  Ernst,  Godesti  aus  Qotesdiu,  Herisi  und  Heristi; 
sondern  ebenso  in  Ortsnamen,  wie:  Castellum  Trebista,  heute  Dreb- 
nitz  im  Königreich  Sachsen,  urbs  Grodisti,  jetzt  Graditz  in  Sachsen, 
und  Cierwisti-Gau  oder  der  Zerbstgau  im  Herzogtume  Anhalt.  Aus 
diesen  Beispielen  ist  auch  ersichtlich,  dass  s  zu  st,  st  zu  tz— z,  — sdie 
zu  — esti  usw.  werden  kann.  Alle  diese  Namen  haben  wie  „Hümiste" 
als  deutsche  den  Ton  auf  der  ersten  Silbe. 

Es  bleibt  noch  der  Stamm  Hum—  oder  Humi  zu  erörtern 
übrig.  Im  Jahre  1013  kommt  ein  Dorf  Humi  im  Hessengau  vor, 
heute  Hümme,  im  preussischen  Regierungsbezirk  Kassel.  Hier  ist 
u  also  auch  zu  ü  geworden.  983  heisst  ein  Grenzpunkt  der  Grafschaft 
Kempten  im  Allgäu  die  Huminfurt.  1266  begegnen  wir  in  einer 
Urkunde  des  Kl.  Frauen-Chiemsee  einen  Zeugen  Dietrich  Humme. 
Allen  dreien  liegt  wohl  der  altdeutsche  Personenname  Hummo^ 


200 

(Hymmo,  Himmo,  Ummo,  Umi  usw.)  zugrunde,  von  welchem  schon  seil 
dem  VIII.  Jahrhunderte  die  Kose-  und  Verkleinerungsformen  Humezo, 
Umizi  und  Imizo  sich  bildeten.  Da  Iz  oder  z  sl  sein  kann,  so  kann 
sich  für  H u m e z  0 - U m  i z  i  auch  Humeslo-Umisti  gebildet  haben. 

Der  Name  Imst  stammt  daher  von  einer  urdeutschen,  wahr- 
scheinlich gotischen  Persönlichkeit  aus  der  Zeit  des  Königs  Theo- 
dorich d.  Gr.  (493—526),  welcher  an  den  nördlichen  Alpenpässen 
befestigte  Plätze,  oppida,  gegen  Bajuwaren  und  Alamanen  anlegte."  — 

Dieser  Auslegung  sei  gleich  ergänzend  angefügt: 

a)  die  Ortsnamen  Humista,  Trebista,  Drebnitz,  Cierviste,  Grodisti, 
Graditz  waren  nie  „urdeutsch"  oder  „gotisch",  sondern  s lavisch 
im  heutigen  Sinne,  nachdem  wir  deren  natürliche  Etymologie 
noch  kennen  bezw.  erkennen ;  sind  aber  dem  Ausleger  die  Be- 
griffe „urdeutsch"  oder  „gotisch"  mit  „slavisch"  synonym  für 
die  Zeit  der  Entstehung  dieser  Namen,  so  war  dies  der  Erklä- 
rung beizufügen ; 

b)  ist  bei  jeder  toponomischen  Etymologie  das  Suffix  wertlos  oder 
doch  inferior,  da  es  immer  eine  spätere  Zutat  ist,  die  leicht  den 
Forscher  von  der  Hauptsache  bringt.  Der  Begriff  „Hum"  kommt 
aber  als  topischer  Name  oft  in  einem  kleinen  Umikreise,  wie 
z.  B.  am  Balkan,  in  allen  erdenklichen  Formen  vor,  wie:  Hum, 
Humi,  Humac,  Humno,  Humic,  Humisce,  Um,  Umac  u.  ä.  vor ; 
auch  sie  haben  alle,  wie  „als  deutsche",  den  Ton  auf  der  er- 
sten Silbe.  Aber  das  Suffix  bildet  dabei  gar  keinen  ethnologi- 
schen Regulator,  sondern  kennzeichnet  in  derselben  Sprache  nur 
gewisse  Relationen;  so  gilt  z.  B.  „Hum"  als  ein  relativ  hoher 
Berg;  „Humac,  Humic"  deutet  nur  auf  eine  massige  Bodenerhe- 
bung ;  „Hümisce"  (also  „Humiste")  bezeichnet  einen  „Hum"  samt 
der  nächsten  Umgebung  oder  Ansiedlung  auf,  an  oder  am 
Fusse  desselben,  welchen  Unterschied  der  Slave  sofort  er- 
kennt, weil  er  diese  Suffixe  auch  sonst  analog  anwendet.  — 

Oene  alten  Namensformen  können  daher  zu  gleicher  Zeit  als 
keltisch,  rhälisch,  illyrisch  oder  venetisch  angesehen  werden,  aber 
niemals  als  „deutsch"  im  modernen  Sinne.  Die  einzige  Konzession, 
die  man  den  streitenden  Parteien  einräumen  muss,  ist  die,  dass  die 
heutige,  auf  „Imst"  verballhornte  Namensform  tatsächlich  eine  deut- 
sche ist,  falls  jemandem  die  Verunstaltung  eines  Namens  bis  zur 
Unkenntlichkeil   seiner  Originalität  ein  kulturelles  Verdienst  bedeutet. 

M.  Z. 


I 


Zur  Schreibweise  der  Ortsnamen. 

In  der  deutschen  Schreibweise  der  Ortsnamen  haben  sich  ge- 
wisse, schon  stereotype  Kontradiktionen  derart  eingebürgert,  dass 
sie  bereits  niemandem  mehr  besonders  abnorm  erscheinen ;  ja,  man 
muss  zugeben,  dass  wir  im  Millelalter  in  dieser  Hinsicht  noch  weit 
besser  daran  waren.  Allerdings  ist  es  richtig,  dass  der  Deutsche 
wenig  Sinn  und  Verständnis  für  das  Slavische  hat,  was  namentlich 
in  Österreich,  wo  man  nahezu  überall  nachbarlich  oder  doch  gemischt 
mit  den  Slaven  verbunden  ist,  höchst  sonderbar  klingt,  aber  daran 
ist  einstweilen  bei  dem  geringen  Anpassungsvermögen  für  kosmo- 
politischere Anschauungen  nichts  zu  ändern. 

Doch  besteht  dabei  auch  keine  Logik,  denn  der  Deutsche  schreibt 
französische,  englische,  italienische,  ja  selbst  türkische  Namen  und 
Wörter  durchwags  so,  wie  sie  in  der  Originalsprache  dargestellt 
werden,  die  slavischen  aber  sonderbarerweise  nicht.  Er  schreibt  das 
slavische  „Straza"  schon  als  „Strascha",  und  sagt,  er  habe  keinen 
„z"-Laut;  weshalb  hat  er  aber  bei  „Dijon"  einen  solchen,  ohne  dabei 
„Dischon"  zu  schreiben !  Weshalb  schreibt  er  statt  „Shakespeare"  nicht 
„Schäcksbier"  ?  —  Schreibt  er  „Strascha"  (oder  gar  „Strass"),  so  än- 
dert er  aber  damit  zugleich  die  Etymologie  des  Namens,  denn  „stra- 
ziti"  bedeutet:  bewachen,  „strasiti"  hingegen:  erschrecken, 
geistern.  —  Der  Ortsname  „Makow"  wurde  im  Oahre  1233  in  die- 
ser Form  geschrieben;  heute  schreibt  ihn  der  Deutsche  als  „Mackow"  ; 
der  uneingeweihte  Slave  muss  aber  daraufhin  den  Namen  „Mazkow" 
lesen.  Wozu  wird  „Gorica",  der  urslavische  Begriff  für  Anhöhe, 
im  Deutschen  zu  „Görz",  im  Italienischen  zu  „Gorizia"?  Weshalb  die- 
ser Luxus  von  etymologisch  verdorbenen  Namensformen !  —  Trotz- 
dem herrscht  aber  dabei  doch  keine  Konsequenz,  denn  andererseits 
schreibt  man  wieder  „Caslau"  (nicht  „Tschaslau")  sowie  „Zötkiew"  und 
durchaus  nicht  etwa  „Scholkieff"  usw. ;  wozu  also  zweierlei  Mass 
ä  conto  der  Originalität!? 

Vorbildlich  gehen  in  dieser  Hinsicht  die  Italiener  vor,  trotzdem 
sie  einen  sprachlich  nahezu  homogenen  Staat  bilden.  In  ihrer  Militär- 
karte wird  jeder  Name  so  geschrieben,  wie  er  lokal  lautet;  um  je- 
doch zu  wissen,  welcher  Sprache  er  angehört,  erhält  er  vorne  einen 
konventionellen  Weiser,  damit  dessen  Etymologie  und  Aussprache 
nicht  getrübt  werde.  In  Österreich  hingegen  wird  der  falsche  Name 
als  Hauptname  hingestellt;  bestenfalls  erfolgt  in  der  Klammer  erst 
die  Verbuchung  des  wirklichen ;  ja,  in  rein  slavischen  Gegenden  wird 
fast  jeder  Nam.e  irgendwie  deutsch  montiert,  obschon  ihn  so  niemand 
gebraucht,   wie  z.  B.  „Borovec"  wird   regelmässig   zu   einem  „Boro- 


1)02 

wetz",  „Laznik"  zu  „Lassnigg",  „Toplice"  zu  „Töplitz"  u.  a.  m.  — 
Der  sprach-  und  kullurgeschichllicheWert  eines  Orts- 
namens rutit  aber  immer  in  dessen  primärer  Form, 
daher  diese  bis  zur  äussersten  Akribie  gehegt  werden 
soll.  —  Hauptmann  A.  3. 

Ein  Fall  slavischer  Kontrafälschung  eines  Ortsnamens. 

Man  beschuldigt  in  neuerer  Zeit  sehr  gerne  die  Slaven,  dass 
sie  Ortsnamen  fälschen,  wenn  sie  die  allurkundlichen  topischen  Na- 
men wieder  in  der  Urform  im  praktischen  Sprachgebrauche  auferste- 
hen lassen.  Dieses  ist  jedoch  in  der  Hauptsache  unrichtig.  Es  ist  doch 
vollkommen  korrekt,  wenn  man  2.  3.  den  Ortsnamen  „Krondorf" 
(Cberösterreich)  heute  im  slavischen  Verkehre  so  benennt,  wie  er 
zur  Zeit  der  slavischen  Bewohner  daselbst  wirklich  lautete.  Der  Name 
hiess  aber  im  Jahre  834  noch  „Granesdori"  und  lag  an  der  Enns  „in 
parte  Sclavanonim"  {  im  Gebiete  der  Slovenen).  Nun  haben  die  Slo- 
venen  den  Gattungsbegriff  „Dorf"  gewiss  nicht  zugefügt,  der  Original- 
name kann  sonach  nur  „Gran"  (oder  „Granec"),  d.  i.  Grenzdorf 
gelautet  haben,  was  umso  einleuchtender  ist,  da  er  an  der  die  Lan- 
desgrenze bildenden  Enns  liegt.  Würden  die  Slaven  den  Ort  heute 
als  „Krona"  benennen,  so  wäre  dies  sprachgeschichtlich  falsch,  weil 
dieser  Name  demnach  nicht  mehr  auf  die  Urform,  sondern  auf  die 
deutsche  Anpassung  aufgebaut  wäre. 

Leider  kommen  aber  in  neuester  Zeit  auch  solche  Missgriffe 
vereinzelt  vor,  denn  es  wird  in  dem  Bestreben,  den  Ortsnamen  eine 
slavische  Form  zu  geben,  nicht  immer  der  Weg  zum  Originalnamen 
betreten.  So  befindet  sich  auf  einer  Kartenskizze  in  Prof.  Niederles 
Werke  „Slovariske  sfarozitnosti"  („Slavische  Altertümer"),  T.  II,  Heft  2, 
der  Name  „Velky  zvon"  für  den  Grossglockner,  was  von  einer 
bedauerlichen  Oberflächlichkeit  oder  Eigenmächtigkeit  eines  Schrift- 
stellers zeugt,  und  damit  zugleich  auch  einen  bedenklichen  Schluss 
auf  die  Verlässlichkeit  der  sonstigen  Daten  im  Werke  suggeriert.  Die 
bekannte  Grenzhöhe  zwischen  Kärnten  und  Tirol  heisst  bei  den  Slo- 
venen seit  jeher  „  Veliki  Kick" ;  die  Deutschen  schrieben  es  früher 
„Kleck,  Grosskleckner,  Klöck",  und  daraus  wurde  mit  der  Zeil  ein 
„Grossglockner".  Aus  dieser  neueren,  also  sprachlich  schon  verdor- 
benen deutschen  Form  konstruierte  nun  Niederle,  —  oder  wurde  er 
selbst  durch  jemand  bewusst  irregeführt  — ,  da  Gl  ecke  im  Slavischen 
„zvon"  lautet,  einen  nicht  existierenden  und  nirgends  bekannten  neuen 
Namen,  wobei  ihm  noch  der  Fehlgriff  passierte,  dass  er  den  Begriff 
„Glockner"-nicht  als  „zvonar,  zvonikar"  übersetzte.  [„Vclky  zvon"  heisst 


203 

doch  erst  „Grosse  Glocke" !)  Der  eigentliche  sprachgeschichlliche  Name 
lautet  jedoch  „Kiek",  d.  i.  Felsklippe  (im  Slovenischen),  hat  daher 
mit  der  Glocke  weder  etymologisch  noch  auch  figürlich  etwas  gemein. 

Wenn  sich  daher  die  Deutschen  gelegentlich  über  unsere  Wieder- 
erwe:kung  der  alten  topischen  Namen  sehr  mit  Unrecht  belustigen 
wollen,  so  haben  sie  in  diesem  Falle  einmal  recht,  denn  hier 
wurde  tatsächlich  ein  neuer  Name  einem  falschen  se- 
kundären Namen  nachgebildet.*) 

Es  ist  wohl  gar  kein  Zweifel,  dass  die  Wissenschaft  mit  der 
Zeit  den  meisten  Ortsnamen  die  alle,  sprachgeschichtlich  zukommende 
Form  wiedergeben  wird,  aber  solche  Willkürlichkeiten  und  nebel- 
hafte Neubildungen  m.üssen  auf  das  Entschiedenste  zurückgewiesen 
werden,  denn  sie  erhöhen  nur  noch  den  ohnehin  bestehenden  heil- 
losen Wirrwar  in  der  Toponomie.  Wer  über  slavische  Altertümer 
schreibt,  halte  sich  an  die  alten  Quellen  oder  schütze  uns  wenigstens 
vor  Vorwürfen,  die  nach  einem  Einzelfalle  leicht  zum  Generalisieren 
führen.  —  M.  Z. 

Bedeutung  des  Begriffes  „sip"  in  alten  Urkunden. 

In  Sachsen  heisst  der  vierte  Teil  eines  Scheffels  das  Sippmas s 
(10  Mass  14  Liter),  welcher  Ausdruck  aber  sprachlich  daselbst  schon 
unverständlich  ist;  in  Deutschland  muss  aber  der  Begriff  „sip,  zip" 
einst  in  vollem  Gebrauche  gewesen  sein,  da  er  sich  in  ungezählten 
alten  Urkunden  wiederholt.  Unter  „sip"  verstand  man  früher  die 
Abgabe  von  Getreide  an  die  Gutsherrschaft  im  allgemeinen.  Bei 
den  Slovenen  war  es  bis  zum  Jahre  1848,  der  endgültigen  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft,  allgemein  im  Gebrauche,  von  „sip"  und  „sipati" 
zu  sprechen.  Der  Verfasser  hörte  in  seinen  Knabenjahren  oft  noch, 
dass  die  Leute  im  Gespräche  bemerkten:  „ku  smo  imeli  sip",  d.  h. 
der  Tag  der  Getreideabgabe  an  die  Gutsherrschaft,  oder:  „koliko  je 
vasa  hisa  sipala,"  d.  h.  wieviel  hatte  Ihr  Haus  (an  Getreide)  geschüt- 
tet? Ältere  Leute  werden  darüber  vielleicht  noch  Ausführlicheres 
wissen.  —  Der  Begriff  „Getreide"  wurde  dabei  gar  nicht  erwähnt, 
denn  im  Worte  „sip,  sipati"  (  schütten)  war  dieser  schon  inbegriffen; 
ja  noch  mehr:  das  „Sippmass"  setzte  immer  die  „gegupfte"  Messung 

*)  Niederle  schreibt  an  derselben  Stelle  auch  fälschlich  »Belak«  statt  »Bei- 
jak« (für  »Villach«),  denn  das  Grundwort  ist  nicht  »bei«  (=^  weiss)  sondern  »vel« 
(^=  gross,  fest).  —  In  letzterer  Zeit  ist  vielfach  beachtet  worden,  dass  böhmischer- 
seits  südslavische  Ortsnamen  der  böhmischen  Sprache  angepasst  werden;  wozu 
ein  »Lublan«  für  »Ljubljana«,  oder  gar  ein  »Zahfeb«  für  »Zagreb«!  —  Diese 
zwei  Beispiele  mögen  weiterhin  als  Warnung  dienen,  denn  für  die  Konfusion  in 
dieser  Richtung  wird  doch  schon  von  anderer  Seite  reichlich  vorgesorgt. 


204 

voraus,  d.  h.  es  wurde  solange  gemessen,  bis  sich  das  Korn  nicht 
mehr  auf  der  Schütlung  hielt.  Jenes  Dominium,  bei  dem  „sip"  ein- 
geführt war,  war  sonach  besser  daran,  als  jenes,  wo  man  von  „mira, 
mera"  sprach,  denn  hier  wurde  das  Aufgeschüttete  mit  einem  Bretl- 
chen,  dem  „Strichmasse"  (slav.  „.v//7>  striguii"  abnehmen,  stutzen) 
über  dem  Rande  des  Getreidehohlmasses  abgestreift.  Dieses  Mass 
war  aber  eben  auch  ein  Scheffel  oder  Metz en,  schon  vier  Sipp- 
masse enthaltend.  In  den  Begriffen  „sipati"  und  „meriti"  war  daher 
schon  die  Art,  wie  das  Deputat  zu  messen  sei,  organisch  enthalten. 
In  einer  jüngeren  Urkunde  vom  Jahre  1282  heissl  es  aber  z.  B.  schon : 
„et  tres  modios  triüci  et  avenac,  qiiae  vocaiur  cipkorn",  d.  i.  „und 
drei  Mass  Weizen  und  Hafer,  die  man  „Sip"-Korn  nennt" ;  es  muss 
daher  zu  dieser  Zeit  der  Begriff  „sip"  schon  nicht  mehr  so  versländ- 
lich gewesen  sein,  v;eil  man  noch  „Korn"  zufügen  musste.  —  Die 
sprachliche  wie  kulturelle  Kongruenz  dieses  altslavischen  Wortes  in 
Sachsen,  Steiermark,  Krain  usw.  zeigt  daher,  dass  es  einst  allgemein 
im  Gange  war,  und  dass  sich  die  Deutschen  in  der  Zeit  ^^ex  Unter- 
brechung des  slavischen  Spracheinflusses  noch  immer  weiter  der  all- 
gemeinen und  lief  eingelebten  Gebrauchsbegriffe  aus  älterer  Zeit  im 
praktischen  Leben  bedienten,  weil  diese  wohl  zugleich  die  präg- 
nantesten waren. 

Zugefügt  sei  hier  noch,  dass  der  Begriff  „gegupfl"  auch  das  sla- 
vische  „kup"  (     Haufen)  zur  Grundlage  hat.  — 

Die  Sichtung  und  Sammlung  der  technischen  Begriffe  in  der  al- 
len Volkswirtschaft,  im  Volksrechle,  im  Geld-  und  Handelswesen  u. 
dgl.  verspricht  daher  noch  sehr  lohnende  Erfolge  für  die  Klärung  der 
tatsächlichen  Kulturverhältnisse  der  Altsiaven.  Dr.  A.  K. 

Falsche  Auslegung  einer  altslavischen  Glosse. 

Die  Handschrill:  „Wilde 'i  tractatus  metaphisici  per  maniis  Mag.Joh. 
Mus  de  anno  1389".  die  sich  seit  dem  Jahre  i648  in  Stockholm  be- 
findet, enthält  unter  anderen  böhmischen  Glossen  auch  folgende: 
„prdnii  druzy  v  roh".  —  Allgemein  staunte  man  bisher,  wie  Hus  das 
Wort  „prdniii"  gebrauchen  oder  sonst  jemand  in  ein  solches  seriöse 
Werk  einfügen  konnte,  da  es  doch  in  gebildeten  Kreisen  gebrauchs- 
verpönt ist.  Doch  gerade  dieser  Umstand  musste  zur  Umschau  an- 
regen, ob  der  Ausdruck  nicht  doch  eine  andere,  salonfähigere  Bedeu- 
tung habe,  und  trotzdem  nahm  sich  niemand  diese  Mühe.  Im  Slove- 
nischen  heisst  nämlich  „prda"  die  Schalmei,  „prdnitr  blasen! 
die  Stelle  lautet  daher:  die  Kameraden  bliesen  ins  Hörn. 


205- 

Ich  hörte  daheim  (Untersleiermark)  wiederholt  die  Aufforderung 
an  den  Gemeindehirten,  der  immer  mit  einem  Hörne  ausgerüstet  sein 
musste:  „cas  Je,  prdni  v  rogJ",  d.  h.  „es  ist  Zeit,  das  Hornsignal  zu 
geben",  denn  auf  dieses  hin  liess  man  aus  jedem  Hofe  das  Weidevieh 
gleichzeitig  auf  die  Ortsgasse  hinaus,  und  der  Hirte  trieb  nun  alles 
vereinigt  auf  die  Weide.  —  Man  darf  daher,  wie  dieses  Beispiel  zeigt, 
nicht  gleich  die  Forschung  abschliessen  und  ein  positives  Schluss- 
urteil abgeben,  wenn  sich  im  Dorfe  des  Auslegers  selbst  noch  keine 
Lösung  findet,  da  jeder  Begriff  lokal  gewisse  Bedeutungs-  und  Auf- 
fassungsmetamorphosen annehmen  kann.  —  M.  Z. 

Slavische  Handschriften  in  Venedig. 

3.  Kukuljevic,  Landesarchivar  in  Agram,  suchte  in  den  Jahren 
1851  und  1853  die  Archive  in  Venedig  auf,  da  er  damals  Materialien 
für  die  Geschichte  der  Südslaven  snmmelte.  Ausser  den  verschiedenen 
anderen  öffentlichen  wie  privaten  Sammlungen  schildert  er  als  die 
imponierendste  jene  des  gewesenen  Klosters  „dei  Frari",  die  in  mehr 
als  300  Zimmern  ungefähr  13  Millionen  alter  Handschriften  enthält. 
Es  gibt  darunter  eine  Unzahl  von  Originalhandschriften  der  russischen, 
böhmischen,  polnischen,  südsiavischen  wie  ungarischen  Könige,  der 
Republik  Ragusa,  Berichte  über  Dalmatien,  Istrien,  die  Uskoken  u.  a.  m. 

Man  vermag  sich  da  gar  keine  Vorstellung  zu  machen,  wie  viel 
Quellen  und  Belege  es  da  noch  für  die  slavische  Geschichtsschreibung 
gibt,  die  noch  heute  ungekannt  oder  doch  unverwertet  erliegen,  denn 
eine  wirklich  wissenschaftliche  oder  gewissenhafte  Durchforschung 
eines  so  riesenhaften  Archivs  könnte  auch  in  einer  Richtung  allein,  d.  i. 
in  diesem  Falle  der  historischen,  erst  in  Dezennien  absolviert  wer- 
den; wie  viel  Anhaltspunkte  bieten  sie  aber  noch  dem  Sprachforscher, 
Kulturhistoriker,  Paläographen  u.  ä.  —  Es  wäre  daher  wohl  an  der 
Zeit  auch  hier  endlich  einmal  einen  Anfang  zu  machen,  womit  sich 
auch  das  ewige  Wittern  von  Fälschungen  altslavischer  Handschriften 
von  selbst  legen  würde.  —  Prof.  3.  H. 

Woher  hatten  die  alten  Völker  den  Bernstein? 

Die  Geschichte  sagt  konsequent,  dass  der  Bernstein  nur  im  Ge- 
biete der  Ostsee  und  deren  Küstenprovinzen  zu  finden  sei,  und  von 
dort  holten  sich  ihren  Bedarf  auch  die  Phönizier,  Semiten,  Etrusker, 
Römer  u.  a.  —  Ob  aber  dies  in  allen  Teilen  richtig  ist,  muss  sehr 
bezweifelt  werden,  u.  zw.  nicht  deshalb,  weil  die  prähistorischen 
Gräber  Südeuropas  viel  reicher  an  Bernsteinbeigaben  sind,  als  die 
des  Nordens,   sondern  weil  man  um  das  Oahr   1843  neuerlich   am 


206 

Dnjepr  sowie  am  Ufer  des  Schwarzen  Meeres  bedeutende  Lager  von 
Bernstein  gefunden.  Sonderbarer  Weise  blieb  aber  diese  Entdeckung 
in  der  wissenschaftlichen  Welt  nahezu  unbeachtet,  obschon  sich  da- 
raus neue  Fragepunkte  und  äusserst  wichtige  Folgerungen  ergeben, 
denn  hiedurch  ist  nicht  nur  die  Hypothese  der  speziellen  Bernslein- 
bildung im  Oslseegebiete  erschüttert,  sondern  der  Zweifel  wachgerufen, 
ob  die  Phönizier,  Philister,  Semiten,  Etrusker  u.  a.  ihren  Bernstein 
überhaupt  von  der  Ostsee  holten ;  von  den  Römern  fehlt  aber  ohne- 
hin jede  Spur,  dass  sie  je  bis  zur  Ostsee  gelangten.  Am  Schwarzen 
Meere  hingegen  hatten  die  Phönizier  Kolonien ;  ist  es  da  nicht  nahe- 
liegender, dass  sie  ihren  Bernsteinbedarf  viel  müheloser  hier  erhalten 
konnten,  als  im  Kurischen  Haff,  dem  rätselhaften  Lande  der  noch 
rätselhafteren  Hyperboräer?  —  Vielleicht  wird  sich  auf  dieses  hin 
über  die  Völker  Herodots  in  Skythien  auch  eine  ganz  andere  Lösung 
finden  lassen;  wer  weiss  ob  diese  hohen  Gebirge,  des  Namens 
„Hripai"  und  „Hyperborei"  nicht  im  Kaukasus  zu  suchen  sind,  da  es 
im  Norden  Russlands  doch  keine  hohen  Gebirge  gibt,  und  sind  die 
„Hripai"  eben  die  slavischen  „hribi"  (  Gebirge),  welcher  Name  sich 
auch  als  Gebirgsbezeichnung  anderswo  oft  wiederholt.  Auch  sonst 
muss  Herodot  die  russischen  Namen  gut  verstanden  haben,  da  er 
sie  zum  Teile  wörtlich  übersetzte,  wie  „Melanchleni"  (vermutlich  die 
Bewohner  des  Gebietes  der  Schwarzen  Erde  („Cernozjom"),  „An- 
drophagi"  (für  Samojeden),  „musos"  (  muzi),  worunter  er  jene  Sol- 
daten im  Heere  des  Xerxes  versteht,  die  vom  Schwarzen  Meere 
stammten  u.  a. 

Ein  besonderes  Interesse  hat  aber  die  Tatsache,  dass  sich  alle 
diese  Bernsteinlager  seit  der  ältesten  Zeit  auf  slavischem  Gebiete 
befanden,  daher  wohl  auch  die  slavische  Bezeichnung  „jantar"  oder 
„jandar"  für  den  Bernstein  die  ursprünglichste  ist,  und  aus  dieser 
Etymologie  entwickelten  sich  erst  alle  weiteren  Begriffsvariationen. 
„Oantar"  ist  gleichbedeutend  mit  Grenz-  oder  Uferstein  („jan"  Grenz- 
scheide, Grenzfurche).  Die  Art  der  Auffindung  des  Bernsteines  recht- 
fertigt dies,  denn  er  wird  nach  jedem  Nordsturme  gegen  die  Küste 
geschvyemmt,  dort  ausgeworfen  und  aufgelesen.  —  Dieselbe  Etymolo- 
gie hat  aber  auch  der  „brisingamen"  (  brizni  kamen,  d.  i.  „brig, 
breg"  Ufer,  Strand,  „kamen"  Stein),  mit  dem  sich,  wie  dies  die 
Edda  erzählt,  Freya  zu  schmücken  pflegte.  Hat  nun  der  Kompilator 
der  Edda  den  Begriff  nicht  mehr  verstanden,  so  beweist  dies  klar, 
dass  er  dabei  slavische  Volkspoesie  zusammengerafft  haben  muss; 
hat  er  ihn  verstanden,  so  ist  es  umso  verwunderlicher,  dass  er  ihn 
nicht  übersetzt  hat,  denn  schliesslich  ist  „Bernstein"  (als  „Bergenstein", 
Berg-breg     Ufer)   doch  nur  eine  Übersetzung   des  Begriffes  „jantar" 


207 

und  „brisingamen",  daher  beide  Wortformen  bewussl  oder  unbewussl 
verunslallet  wurden. 

Diese  Begriffsspaltung  setzt  sicti  aber  spractiorganisch  noch  wei- 
ter fort.  Als  im  XII.  Jahrhunderte  der  Deutsche  Ritterorden  die  Ost- 
seeprovinzen eroberte,  nahm  er  den  besiegten  pommerschen  Herzogen 
auch  das  Bernsteinregal  ab.  Von  nun  an  hiess  der  Bernstein  „Strand- 
segen", wobei  jedoch  offenkundig  der  Begriff  „jantar"  als  „jan-dar" 
(„dar"  Gabe,  Spende)  mechanisch  übersetzt  wurde,  falls  er  je  im 
Originale  ein  zusammengesetztes  Wort  war,  denn  in  jener  Zeit  wurde 
die  Umformung  alles  vorgefundenen  Slavischen  ins  Deutsche  geradezu 
mit  Hochdruck  betrieben. 

Man  kommt  nun  auf  diese  Weise  zu  immer  kurioseren  Ent- 
deckungen über  die  alten  Kulturverhällnisse,  die  Bildung  von  Stoff- 
und  Gattungsnamen,  die  wahre  Provenienz  der  Edda,  die  Unhaltbar- 
keit  so  vieler  wissenschaftlicher  Hypothesen  u.  dgl.,  d.  h.  die  gang- 
bare Behauptung,  dass  die  Slaven  alle  Kultur  von  den  Deutschen 
haben,  stellt  sich  immer  mehr  als  eine  hohle,  windige  Phrase  heraus, 
trotzdem  wir  uns  heute  doch  erst  im  Anfangsstadium  dieser  wissen- 
schaftlichen Nachkontrolle  befinden.  Dr.  K.  H. 

Zur  Erfindung  der  Palimpsest-Photographie. 

In  der  Zeit  vom  VII.— XII.  Jahrhunderte  herrschte  allgemein  die 
Sitte  —  eigentlich  Unsitte  —  beschriebene  Pergamente  zu  reskribie- 
ren, d.  h.  von  neuem  zu  beschreiben,  was  wohl  durch  die  Seltenheit 
und  Kostbarkeit  des  Maleriales  bedingt  war.  Namentlich  war  dies  in 
jenen  Zeiten  der  Fall,  als  noch  vorwiegend  das  feine,  graue  Perga- 
ment angewendet  wurde,  das  vielfach  von  Schafen  (oder  Ziegen) 
stammte,  die  man  kurz  vor  dem  Wurfe  dem  Mutterleibe  entnahm ; 
später  jedoch,  als  man  auch  Kalb-,  Ziegen-  oder  Eselsfelle  dazu  ver- 
wendete, hörte  dieses  kulturwidrige  Sparsystem  auf. 

Mangelte  es  nun  an  Pergament,  so  wurde  ein  schon  beschrie- 
benes, dessen  Text  man  entbehrlich  fand,  hiezu  gewählt.  Man  kratzte 
die  Schrift  mit  einem  Schabmesser  ab,  glättete  die  nun  rauhe  Fläche 
mit  einem  Bimssteine  und  legte  überdies  meist  das  Pergament  um, 
damit  die  neue  Schrift  die  alte  nur  kreuze  und  auf  diese  Art  deut- 
licher erscheine.  Catullus  (gest.  um  d.  J.  54  v.  Chr.)  beschreibt  schon 
diese  Prozedur  in  ganz  gleicher  Weise,  und  hiess  eine  solche  Schrift 
bei  den  Römern  „codex  rcscripfus",  bei  den  Griechen  „Palimpsest".  — 
Vereinzelt  hat  man  auch  Palimpseste  gefunden,  die  schon  zweimal 
reskribiert  waren. 


208 

Da  aber  die  Schriften  fast  durchgehends  mit  eisenliältiger  Tinte 
geschrieben  waren,  drang  der  Schreibstoff  tief  in  die  tierische  Faser 
ein,  konnte  daher  nicht  mehr  spurlos  entfernt  werden.  So  kommt  es 
nun,  dass  man  die  erste  Schrift  bisweilen  noch  mit  unbewaffnetem 
Auge  wahrnimmt,  zumeist  aber  erst  nach  Anwendung  von  optischen 
oder  chemischen  Hilfsmitteln.  So  wurde  z.  B.  Ciceros  Schrift  ,.De 
repiiblica"  erst  um  das  Jahr  1820  als  Palimpsest  unter  einem  bibli- 
schen Texte  in  der  Vatikanischen  Bibliothek  entdeckt. 

Begreiflicherweise  können  aber  die  meisten  Palimpseste  auf  diese 
Art  noch  nicht  gelesen  werden.  Doch  hat  nun  der  Benediktiner  P. 
Raphael  Kögel  des  Klosters  Wessobrunn  im  üahre  1912  ein  chemi- 
sches Mittel  gefunden,  durch  welches  man  solche  Handschriften  der- 
art photographieren  kann,  dass  das  Palimpsest  in  einer  bisher  nicht 
bekannten  Stärke  wieder  erweckt  wird,  wodurch  die  Entzifferung  dem 
Forscher  oft  verhältnismässig  sehr  leicht  gemacht,  zum  mindesten 
aber  doch  dem  Erkennen  näher  gebracht  wird.  Die  jüngere  Schrift 
kann  dabei  ganz  zurückgedrängt  oder  aber  derart  geschwächt  wer- 
den, dass  sie  wenigstens  das  Lesen  an  den  sich  deckenden  Stellen 
nicht  stört. 

Auf  diese  bedeutungsvolle  Erfindung  hin  errichtete  die  Erzabtei 
Beuron  (Deutschland)  das  Palimpsest-lnstitut,  welches  nun  von  derlei 
Schriften  jeglicher  Literaturrichtung  die  Photographie  des  Palimpsestes 
erzeugt,  wodurch  nicht  nur  verlorene  Literaturdenkmäler  wieder  zum 
Vorscheine  kommen,  sondern  dieses  ist  besonders  in  paläographi- 
scher  Hinsicht  von  hervorragendem  Werte,  denn  wir  wissen  dadurch 
sicher,  wenn  z.  B.  die  Zeit  der  jüngeren  Schrift  irgendwie  fixiert  ist, 
dass  die  untere  unbedingt  noch  älter  ist.  Es  lässt  sich  vielleicht  auf 
diese  Weise  auch  mit  der  Zeit  eine  systematische  Klassifikation  der 
Handschriften  nach  ihrer  geographischen  Provenienz  aufstellen,  sowie 
nach  den  charakteristischesten  Merkmalen  mitunter  auch  die  Schrift- 
zeit annähernd  bestimmen. 

Für  Besitzer  von  Palimpsesten  ist  die  neue  Erfindung  von  mehr- 
fachem Vorteile,  denn  jede  solche  Handschrift  kann  hiemit  einen  viel- 
fach erhöhten  Wert  erhalten,  da  die  verborgene  Schrift  eine  wichtige 
Bereicherung  der  Literatur,  oder  doch  eine  überraschende  Ergänzung 
zu  unserer  Geschichte,  Sprache  oder  Kultur  bringen- kann.  Es  werden 
nun  auch  von  der  ganzen  Welt  die  Palimpseste  nach  Beuron  zur 
Feststellung  der  primären  Schrift  zugesendet. 

Die  meisten,  ältesten  und  wertvollsten  Palimpseste  (an  700) 
wurden  im  Benediktinerkloster  zu  Bobbio  (Lombardei),  das  im  Jahre 
612  vom  Irländer  Columban  gegründet  wurde,  gefunden,  und  befinden 
sich  jetzt  in  der  Vatikanischen  Bibliothek. 


209 

Von  den  slavischen  Handschriften  sind  einstweilen  die  Grün- 
berger  Handsclirift,  das  Vysetirad-Lied  und  das  sogenannte  „Minnelied", 
alle  im  Landesmuseum  zu  Prag,  als  Palimpseste  bekannt.  Von  allen 
dreien,  die  bekanntermassen  frühier  als  unecht  verdächtigt  wurden, 
bietet  das  meiste  Interesse  die  erstgenannte.  Ihre  obere  Schrift  kann 
schon  dem  VI.  Jahrhunderte  angehören,  da  sie  der  Bibelschrift  Ulfilas 
(V.  Jahrh.)  stark  ähnelt.  Es  muss  nun  die  höchste  Neugierde  hervor- 
rufen zu  erfahren,  welchen  Inhalt  wohl  die  untere  Schrift  hat,  und 
welcher  Zeit  diese  angehören  mag.  Dass  aber  Hanka,  der  doch  be- 
kannt ein  unermüdlicher  Sammler  und  gewissenhafter  Konservator 
war,  eine  so  alle  Schrift  abkratzen  würde,  nur  um  sich  Pergament- 
material zu  Fälschungen  zu  verschaffen,  ist  eine  derart  boshafte  Ver- 
mutung, dass  darüber  wohl  für  alle  Zeiten  wortlos  hinweggegangen 
werden  kann. 

Wieder  in  anderer  Hinsicht  ist  das  „Minnelied"  erwähnenswert. 
Dieses  wird  nur  deshalb  als  gefälscht  angesehen,  weil  es  als  echt 
dem  XIII.  Jahrhunderte  angehören  würde,  aber  im  Palimpseste  will 
man  eine  Schrift  des  XV.  3ahrhundertes  entdeckt  haben,  was  selbst- 
redend nur  ein  kräftiger  Ausweg  war,  die  Handschrift,  weil  sie 
slavischist,  zu  kompromittieren.  —  Ähnlich  steht  es  mit  dem 
„Vysehrad-Liede". 

Die  Verwaltung  des  Böhmischen  Landesmuseums  wurde  angeb- 
lich von  mehreren  Seiten  aufgefordert,  diese  Zweifel  durch  die  Ein- 
holung von  Palimpsest-Photographien  aufzuheben.  Dieser  Beseitigung 
des  Zankapfels,  um  welche  sich  schon  die  wüstesten  und  unwürdigsten 
nationalen  wie  wissenschaftlichen  Streitigkeiten  abspielten,  weicht  sie 
aber  aus,  um  ihre  passive  Mitschuld  an  dieser  slavischen  Kultur- 
schände  noch  so  lange,  als  nur  möglich,  verdeckt  zu  halten. 

Da  jedoch  keineswegs  ausgeschlossen  ist,  dass  diese  Hand- 
schriften einmal  spurlos  verschwinden,  ehe  deren  Palimpseste  fest- 
gestellt sind,  wäre  es  ein  dringendes  Postulat,  schon  aus  Vorsichts- 
gründen, die  Palimpsestierung  derselben  zu  bewirken,  denn  es  ist  ja 
wahrscheinlich,  dass  sich  darunter  auch  weitere  slavische  oder  sonst 
hochwichtige  Texte  befinden,  die  uns  neue  Literatur-  oder  Kultur- 
denkmäler erschliessen ;  namentlich  ist  dies  bei  der  Grünberger  Hand- 
schrift bestimmt  der  Fall,  die  doch  das  weitälteste  Schrift- 
denkmal aller  Slaven  repräsentiert,  daher  die  Kenntnis 
ihres  radierten  Textes  eine  besondere  Neugierde  der  Gelehrtenwelt 
hervorrufen  muss.*)  —  Dieses  ängstliche  Versleckthalten  kompromit- 

*)  Diese  wertvollste  aller  bekannten  slavischen  Handschriften  war  bereits 
ganz  vergessen  und  kümmerte  man  sich  seit  dem  Jahre  1840  nur  mehr  insoweit 
darum,    dass    man    sie    im    Verruie    des    Falsifikates    evident    hielt.    Erst    i.    J.    1911 

14 


210 

Üerl  selbstredend  in  erster  Linie  die  böhmische  Wissenschaft  auf  das 
empfindlichste ;  es  schädigt  aber  auch  in  hohem  Masse  das  Vertrauen 
zum  Landesmuseum,  denn  wer  wird  einer  Anstalt,  die  eine  allgemeine 
Bildungsstätte  sein  und  bleiben  soll,  noch  weiterhin  etwas  übergeben 
oder  widmen,  wenn  sie  mit  hochbewerteten  Spenden  derart  idolent 
oder  unwissend  umgeht.  ^  Dr.  0.  P. 

Zusatz  d.  Red.  Damit  die  Leser  des  „Slaroslovan"  einen  Ein- 
blick in  das  Aussehen  der  ausserordentlich  wertvollen  Grünberger 
Handschrift  erhalten,  deren  Echtheitsverdächligungen  bekanntermassen 
der  Prager  Universitätsprofessor  Dr.  Thomas  Masaryk  im  Jahre  1886 
arrangierte,  die  jedoch  mit  der  Wissenschaft  absolut  nichts  zu  schaffen 
hatten,  wird  in  der  Tafel  II  ein  Faksimile  der  8.  (letzten)  Seite  geboten. 

Überdies  wird  anschliessend  eine  kleine  Probe  der  Schrift  aus 
Ulfilas  Bibel  zum  Vergleiche  der  auffallenden  Ähnlichkeit  beigefügt, 
was  annehmen  lässt,  dass  in  der  Zeit  der  Verfassung  beider  Hand- 
schriften keine  grosse  Spannung  sein  könne.  — 

Die  Palimpsest- Photographie  würde  höchstwahrscheinlich  alle 
diese  Rätsel  klären,  doch  ist  damit  bei  der  heutigen  tiefbedauerlichen 
Verquickung  der  Wissenschaft  in  Böhmen  durch  die  Politik,  wie  die 
Tatsachen  schon  bewiesen  haben,  nicht  zu  rechnen,  es  wäre  denn, 
dass  die  infolge  der  Suspendierung  der  Landesautonomie  eingesetzte 
Verwaltungskommission,  dieser  frivolen  Verhetzung  und  unverdienten 
Verhöhnung  der  böhmischen  Nation,  die  hiefür  die  kräftigsten  Verbal- 
kam ein  Slovene,  Major  M.  Zunkovic,  gelegentlich  von  Forschungsarbeiten  im 
Landesmuseum  darauf,  dass  diese  Handschrift  keine  Fälschung  sei,  sondern  dass 
der  Text,  der  den  heutigen  Slovenen  noch  nahezu  vollkommen  verständlich  ist, 
unrichtig  kommentiert  v/erde,  sowie  dass  unterhalb  noch  eine  ältere  Schrift 
sei,  die  mit  unbewaffnetem  Auge  erkennbar  ist,  von  der  aber  nur  eine  Stelle  im 
Wege  der  modernsten  photographischen  Reproduktion  näher  lesbar  erscheint. 
Diese  Stelle  wurde  vom  Professor  Dolansky  als  ein  Kryptogramm  Hankas,  lautend 
»V,  Hanka  fecil«  gelesen;  llniversitätsprofessor  Dr.  Ernst  Kraus  (Prag)  las  sie 
als  »lump«  (!?;  soll  angeblich  gar  nicht  als  banaler  Witz  aufzufassen  sein!)  und 
2unkovic  als  »u  niei  ste«.  —  Letzterer  bat  in  seinem  Werke:  »Die  Handschriften 
von  Grünberg  und  Königinhof,  dann  das  Vysehrad-Lied«  (»Die  irrtümlich  als 
moderne  Fälschungen  geltenden  ältesten  böhmischen  Dichtungen«.  Kremsier  1912) 
nach  allen  Seiten  hin  die  Echtheit  nachgewiesen  sowie  auch  eine  sprachlich 
richtige  deutsche  Übersetzung  geboten,  die  nun  die  bestehenden  Differenzen 
darüber  in   der  Gelehrtenwclt   zum   Schweigen   gebracht   hat.   — 


I 


211 


injurien  ruhig  hinnehmen  musste,  ein  rasches  Ende  machen  würde. 
Die  rechtliche  Handhabe  ist  hiezu  zweifellos  vorhanden,  da  das  Landes- 
museum vom  Staate  35.000,  vom  Lande  sogar  107.000  K  jährlich  aus 
Steuergeldern  Subvention  erhält,  und  sind  die  Handschriften  auch 
durchaus  kein  privates  sondern  ein  öffentliches  Gut. 

Man  sagt  auch,  dass  man  diese  Handschrift  des  möglichen  Ver- 
lustes wegen  nicht  der  Post  anvertrauen  könne.  Sonderbar:  täglich 
werden  viele  Millionen  von  Wert  der  Post  anvertraut!  Übrigens  ist 
die  Grünberger  Handschrift  doch  ein  „Falsifikat",  also  wertlos,  oder 
höchstens  ein  Objekt  für  ein  Polizeimuseum ;  überdies  wird  sie  seit 
Dahrzehnten  auch  in  Prag  in  keinem  diebs-  oder  feuersicheren  Schrank, 
sondern  in  der  untersten  Schublade  eines  primitiven  Holzkastens  (!) 
verwahrt;  es  steht  daher  diese  plötzliche  Fürsorge  in  keiner  Relation 
zu  ihrer  dermaligen  höchst  unsicheren  Aufbewahrungsmethode.  — 
Ist  jedoch  dies  das  einzige  Hindernis,  so  werden  sich  gewiss  auch 
vertrauenswürdige  Männer  finden,  welche  auf  eigene  Kosten  damit 
nach  Beuron  fahren,  und  umgekehrt,  kann  der  betreffende  Apparat 
von  dort  auch  nach  Prag  gebracht  werden.  Man  versuche  es  nur,  es 
wird  schon  gehen!  — 

Der  Text  der  Handschrift,  wie  er  sich  auf  der  Tafel  II  bietet, 
lautet  in  getreuer  Überschreibung :  „zapodobno  prevencu  dedinii  dati 
pravda.  —  Vsta  lubusa  s  otna  zlata  stola,  vece  kmeie  lesi  i  vladiki: 
sliseste  zde  poganenie  moje;  sudie  sami  po  zakonu  pravdu,  u  nebudii 
vom  suditi  svadi;  volte  muza  mezi  sobu  rovna,  Ki  bi  vladl  vam  po  zele, 
SU  divcie  ruka  na  vi  k  vlade  slaba.  —  Vsta  ratibor  od  gor  krekonosi, 
je  se  tako  slovo  govoriti:  nechvalno  nam  v  nemceh  iskafi  pravdu,  u  nas 
pravda  po  zakonu  svatu,  juze  prinesehu  otci  nasi  v  sez  ..."  — 

Ein  vergessenes  dalmatinisches  Arzneimittel  gegen 

das  Hundswutgift. 

Die  heutige  ärztliche  Wissenschaft  spricht  es  unverhohlen  aus, 
dass  alle  die  Geheimmittel  als  Massnahmen  gegen  das  Hundswutgift, 
wie  Abführ-,  Brech-  oder  schweisstreibende  Mittel  wert-  oder  in  ihrer 
Wirkung  aussichtslos  seien.  —  Nun  dem  scheint  aber  folgende  Tat- 
sache entgegenzustehen.  Der  kroatische  Lehrer  Oosef  Lalic  im  Städt- 
chen Vrbovsko  (Insel  Lesina)  war  um  das  Dahr  1840  weit  und  breit 
bekannt,  dass  er  eine  Arznei  zu  bereiten  wisse,  die  gegen  die  nach- 
teiligen Folgen  des  Bisses  eines  tollwütigen  Hundes  sicher  schütze. 
Er  wendete  hiezu  einen  Absud  der  in  Dalmatien  wachsenden  Enzian- 
art, Gentiana  cruciaia  (kroat.  „gorcica",  slov.  „gorecica",  böhm.  „hofec", 
poln.  „gorycz",  russ.  „gorcanka")  an.  Der  Erkrankte  musste  von  die- 

14* 


212 

ser  Flüssigkeit  nehmen,  worauf  er  zuerst  in  starken  Sctiweiss  geriet 
und  dann  in  längeren  Sclilaf  verfiel ;  nach  dem  Erwachen  war  die 
Gefahr  beseitigt. 

Lalic  wurde  zu  diesem  Zwecke  wiederholt  ins  Ausland  berufen, 
und  erhielt  für  die  Veröffentlichung  des  Heilmittels  nach  der  Fest- 
stellung, dass  seine  Kur  überall  mit  positivem  Erfolge  endete,  von 
der  österreichischen  Regierung  10.000  fl.  als  Belohnung  und  eine 
Lebensrente  von  800  fl. 

Es  ist  kein  Zweifel,  dass  dieses  Heilmittel  geheim  bei  den  Be- 
wohnern des  dalmatinischen  Küstengebietes  längst  bekannt  war;  ver- 
wunderlich ist  es  aber,  dass  es  später  wieder  in  Vergessenheil 
geriet,  denn  es  ist  sicher,  dass  da  viele  seriöse  Beweise  vorgelegen 
sein  müssen,  ehe  man  das  Geheimnis  um  eine  verhältnismässig  so 
hohe  Summe  erkaufte. 

Ein  ganz  ähnliches  Schicksal  hatle  bei  den  Dalmatinern  das 
Heilmittel  gegen  den  Bandwurm.  Dasselbe,  aus  einem  Dekokte  der 
Granatapfelrinde  bestehend,  kannten  die  Bewohner  seit  unkontrollier- 
baren Zeiten  und  wendeten  es  mit  vollem  Erfolge  an.  Doch  erst  ein 
österreichischer  Mediziner,  der  in  Dalmatien  im  Heeresdienste  stand, 
kam  hinter  das  offene  Geheimnis,  und  führte  dieses  Volksmittel,  da 
es  talsächlich  die  wesentlichsten  Bestandteile  aller  der  zahlreichen 
pharmakopöischen  wie  Geheimmillel  vereinigt  enthält,  zur  Abtreibung 
des  Bandwurmes  allgemein  in  die  moderne  Medizin  ein. 

Es  müsste  sich  daher  der  Mühe  lohnen,  wenn  man  einerseits 
die  bekannten  Volksarzneimittel,  wie  sie  in  allen  slavischen  Kräuler- 
büchern  noch  enthalten  sind,  andererseits  aber  auch  die  geheime^ 
nur  traditionell  sich  fortpflanzende  Volks-Pharmakologie,  nochmals  in 
bezug  auf  ihren  wahren  Effekt  nachprüfen  würde,  wobei  noch  man- 
ches wertvolle  Mittel  zum  Wohle  der  leidenden  Menschheit  seine 
Rehabilitation  erfahren  dürfte.  Die  moderne  medizinische  Wissenschaft 
setzt  sich  zwar  gerne  souverän  über  solche  Zumutungen  hinweg, 
aber  die  Umstände,  dass  der  Naturmensch  selbst  am  misstrauischeslen 
gegen  Heilmittel  ist,  die  er  empirisch  nicht  als  wirksam  kennt,  dann 
dass  die  Natur  selbst  gegen  die  eigenen  Krankheitserscheinungen 
Gegenmittel  bergen  muss  und  talsächlich  birgt,  rechtfertigt  diese  An- 
regung, ohne  dass  man  deshalb  oder  hiemil  noch  für  die  alle  „Bader"- 
Kunst  eine  Lanze  brechen  will.  Dr.  R.  B. 

Die  Marderfell-Abgaben. 

Fr.  Sasinak  (Eggenberg  b.  Graz)  teilt  in  Ergänzung  zum  Artikel 
„Jus  primae  noctis  bei  den  Slaven"  (Seile  57)  mit,  wonach  die  Abgabe 


213 

von  Marderfellen  in  Kroatien  und  Slavonien  seinerzeit  tatsächlich  ein- 
geführt war;  allerdings  hatte  diese  Steuer  mit  „Jus  primae  noctis" 
absolut  nichts  zu  tun.  Eine  Stelle  in  den  „Statuta  Capit.  Zagrabiensis" 
sagt:  „Coloni  vocantiir  marturiarii  ex  co,  qiiia  olim  tales  singiili  ob- 
tigabantiir  pellcm  martiirinac  annuatim"  (d.  h.  jene  Bauern  nannte  man 
die  Marderpflichligen,  deren  einzelne  verpflichtet  waren  jähr- 
lich Marderfelle  als  Abgabe  zu  leisten.) 

Es  ist  ja  natürlich,  dass  sich  der  Gutsherr  so  einrichtete,  dass 
alle  seine  Oahresbedürfnisse  durch  die  Abgabepflichtigen  gedeckt 
wurden,  die  wohl  auch  derart  zugewiesen  waren,  wie  es  die  örtlichen 
und  gewerblichen  Verhältnisse  praktisch  erscheinen  Hessen.  Der  Gutsherr 
bedurfte  selbstredend  jährlich  auch  einiges  Pelzwerk,  doch  sieht  man 
daraus,  dass  die  vorgeschriebene  Abgabe  nur  für  Einzelne  galt. 

Wie  weitgehend  solche  „Vorsorgen"  mitunter  waren,  ersieht 
man  aus  den  alten,  böhmisch  geschriebenen  Urbarien  der  Herrschaft 
Kfivoklat  (Pürglitz,  Böhmen).  Da  hatte  ein  Haus,  —  vermutlich  das 
eines  Vogelstellers  von  Beruf  — ,  sogar  die  sonderbare  Pflicht,  Nach- 
tigallen unter  das  Fenster  der  Gutsherrin  zuzutreiben,  so  oft  diese  im 
Wochenbette  lag  ;  die  bezügliche  Stelle  lautet :  „kdyz  krälovna  v  sesti- 
neielich  s  mladym  lezi,  pod  vokna  md  slaviky  honiti  k  zpiväni."  — 

Vandalische  Vernichtung  von  Pergamentschriften. 

Es  kommen  gelegentlich  neue  Daten  an  den  Tag,  auf  welche 
vandalische,  ja,  oft  boshafte  Art  unzählige  alte  Pergamente  mit  wert- 
vollen kulturgeschichtlichen  und  literarischen  Texten  in  den  letzten 
Jahrhunderten  vernichtet  wurden  und  für  immer  verloren  gingen ;  bei 
99"  0  solcher  haben  sich  aber  überhaupt  keine  Daten  darüber  erhalten. 
Selbst  Palacky  erwähnt  dessen,  wie  noch  zu  seiner  Zeit  (1798—1876) 
alte  Handschriften,  namentlich  solche  slavischen  Inhaltes,  teilsaus 
Mulwillen,  teils  aus  nationalem  Antagonismus  für  immer  beseitigt 
wurden. 

Doch  weit  mehr  als  aus  politischen  Gründen  ging  von  derlei 
Handschriften  aus  reiner  Unwissenheit  zugrunde,  wobei,  so  paradox 
es  auch  klingt,  die  sogenannte  Intelligenz  selbst  die  Hauptrolle  spielte, 
und  seien  hievon  nachstehend  nur  einige  Fälle  angeführt.  — 

Um  das  Jahr  1850  bemerkte  das  französische  Kriegsministerium, 
dass  im  Arsenale  zu  Paris  seit  langem  die  Hülsen  für  die  Artillerie- 
geschosse aus  beschriebenen  Pergamenten  unter  Leitung  von  tech- 
nischen Offizieren  erzeugt  werden.  Dem  Verbote  der  Weitererzeugung 
folgte  die  Untersuchung  dieser  Pergamente  durch  Gelehrte,  wobei  es 


214 

es  sich  herausslellle,  dass  darunter  bisher  ganz  unbekannte  sehr 
wertvolle  Schriften  seien.  Durch  Demontierung  gelang  es  noch  an  300 
Urkunden  aus  der  Zeit  des  XIV.  und  XV.  Oahrhundertes  zu  retten ; 
welche  Mengen  aber  schon  im  Laufe  der  früheren  Jahre  auf  diese 
Art  verloren  gingen,  darüber  fehlt  natürlich  jeder  Anhaltspunkt.  — 
In  Böhmen  und  Mähren,  wo  sich  im  Vergleiche  zum  slavischen  Süden, 
bekanntlich  besonders  viel  Pergamenthandschriften  erhallen  haben, 
wurde  das  meiste  vandalisch  vernichtet,  denn  ganz  abgesehen  von 
den  Verwüstungen  der  Archive  in  Klöstern,  Burgen  und  Städten  durch 
die  Hussiten  und  Schweden,  dann  die  gelegentlichen  „feierlichen"  Ver- 
brennungen nebst  den  normalen  Elementarbränden,  erzählt  z.  B.  der 
gelehrte  üesuite  Baibin  (1620— Ib88)  auch  noch  folgendes  Erlebnis. 
Er  erfuhr,  dass  sich  auf  dem  Dachboden  eines  reichen  Herrschafts- 
besitzers viele  Handschriften  befinden  und  bat  nun  diesen  persönlich, 
ihm  einige,  die  er  als  besonders  wertvoll  fand,  zu  überlassen.  Dieser, 
den  gebildeten  Kreisen  angehörende  Aristokrat,  sagte  ihm  darauf  unge- 
fähr folgendes :  „Wenn  Sie  dies  überhaupt  interessiert,  so  können  Sie 
es  Ohneweilers  haben.  Schade,  dass  Sie  nicht  vor  etwa  30  Jahren 
gekommen  sind;  damals  lagen  noch  Schriften  da  wie  die  Garben  in 
der  Scheune ;  Sie  konnten  ganze  Wagen  wegführen.  Seilher  ver- 
brauchten wir  täglich  etwas  davon  in  der  Wirtschaft.  Im  Vorjahre 
konstruierten  wir  einen  grossen  Drachen ;  hiezu  verbrauchten  wir 
allein  an  dreissig  Faszikel  von  diesen  Hadern.  Und  was  hätten  wir 
schliesslich  damit  machen  sollen,  nachdem  das  Geschriebene  niemand 
mehr  lesen  konnte!"*)  —  Was  den  erwähnten  täglichen  Verbrauch 
in  der  Wirtschaft  betrifft,  weiss  man  allgemein,  dass  solche  Perga- 
mente besonders  den  Hausfrauen  willkommen  waren ;  sie  unterlegten 
damit  das  Brot  im  Backofen,  damit  sich  keine  Asche  einhacke.  — 
Das  berühmte  Archiv  der  Burg  Pernstein  wurde  sogar  zu  Beginn  des 
XIX.  Jahrhundertes,  also  nicht  etwa  im  „finstern"  Mittelalter,  von 
den  eigenen  Beamten  zu  Feuerwerkskörpern  verbraucht.  —  Dobrovsky 
(1753—1829)  war  Augenzeuge,  wie  bei  den  Exzessen  gegen  die  Juden 
in  Prag  aus  einer  Schule  ein  wertvolles,  in  schöner  hebräischer  Schrift 
verfasstes  Altes  Testament  mutwillig  auf  die  Strasse  geworfen  wurde; 
einige  Tage  darauf  konnte  man  in  den  Strassen  einen  Vagabunden 
sehen,  der  eine  aus  diesen  Pergamenten  erzeugte  Hose  trug.  — 

Ein  Todesurteil  wurde  auch  schon  um  das  Jahr  1835  der  Grün- 
berg'er  Handschrift  zugedacht.  Die  damaligen  „Gelehrten"  wussten 
sich  mit  dieser  Handschrift  keinen  Rat,  denn  an  eine  so  alte  slavische 

*J  Wahrscheinlich  waren  in  der  Hauptsache  slavische  Schriften  darunter, 
denn  zum  Lesen  lateinischer  Manuskripte  gab  es  damals  mehr  und  tiefer 
gebildetere   Vertreter   wie    heute. 


215 

Kultur  glaubte  damals  noch  niemand;  nebslbei  verstand  man  einzelne 
Stellen  überhaupt  nicht.  Man  enlschloss  sich  daher,  um  dieses  Streit- 
objekt aus  der  Welt  zu  schaffen,  zu  der  radikalsten  Lösung:  die 
Handschrift  zu  verbrennen!  —  Der  Einfluss  Palackys  rettete 
wohl  die  Handschrift,  doch  wird  sie  wie  ein  Aschenbrödel  noch  heute 
versteckt  gehalten,  statt  sie  als  das  wertvollste  Literaturdenkmal  aller 
Slaven  öffentlich  auszustellen.  Es  muss  also  da  erst  die  Zeit  abge- 
wartet werden,  bis  die  geistige  Führung  im  Böhmischen  Landes- 
museum wieder  in  die  Hände  von  wissenschaftlich  seriösen  Männern 
kommt,  oder  bis  dies  die  böhmische  Nation  oder  alle  Slaven  zusam- 
men selbst  gebieterisch  fordern.  — 

Im  Jahre  1858  wurde  in  Wien  ein  kleines  Handschriftfragment 
gefunden  und  der  Akademie  der  Wissenschaften  daselbst  vorgelegt. 
Diese  stellte  fest,  dass  der  Text  ein  gefälschtes  (?)  althochdeutsches 
Schlummerlied  enthalte.  Im  „Athenäum"  (1886)  wurde  die  Handschrift 
auch  vom  Prager  Universitätsprofessor  Dr.  Ernst  Kraus,  der  hiemit 
einen  neuen  Beleg  bringen  wollte,  dass  man  nicht  nur  böhmische 
sondern  auch  deutsche  Handschriften  fälschte,  besprochen  und  als 
unterschoben  erklärt.  Eine  Nachprüfung  dieses  Urteiles  ist  aber  nicht 
möglich,  denn  der  Text  ist  nach  allem  gar  nicht  deutsch  sondern 
slavisch,  da  bisher  nicht  zu  erfragen  war,  wo  sich  jene  Handschrit 
heute  befindet,  denn  Dr.  Kraus  musste  sie  auf  jeden  Fall  noch  in 
Wien  studiert  und  in  der  Hand  gehabt  haben,  da  er  doch  nicht,  ohne 
dieselbe  genau  zu  kennen,  sein  vernichtendes  Urteil  abgegeben  haben 
konnte.  —  Es  scheint  also,  dass  der  Fortschritt  der  Wissenschaft 
auch  noch  heute  nicht  über  jene  Situation  ganz  hinaus  ist,  die  wir  im 
Titel  als  „vandalisch"  bezeichneten,  nur  verleiht  der  moderne  Beisatz 
„Fälschung"  der  Sache  den  Nimbus  der  moralischen  Berechtigung.  — 

Noch  sonderbarer  ist  es,  dass  alle  Schriften,  die  irgendwo  in 
der  Erde  vergraben  oder  verschüttet  gefunden  werden,  immer  gleich 
spurlos  verschwinden.  So  wurde  z.  B.  im  Vorjahre  eine  Menge  von 
Schriftrollen  in  einem  verschütteten  Hause  in  Unteritalien  gefunden. 
Als  sich  betreffs  des  Textes  verschiedene  Gerüchte  bildeten,  beschlag- 
nahmte die  Regierung  den  Fund,  und  seither  trat  volles  Stillschweigen 
darüber  ein.  —  Überdies  mag  noch  vieles  unbeachtet  und  unverstan- 
den in  Archiven,  Bibliotheken  und  Museen  liegen;  an  den  Neustre- 
litzer  Funden  zeigten  wir  bereits,  wie  so  äusserst  wichtige  Funde 
gleich  über  140  Oahre  unbeachtet  bleiben  können,  wenn  Unwissen- 
heit, Gehässigkeit  oder  Apathie  daselbst  regieren.  Vielleicht  rütteln 
wir  hiemit  wenigstens  die  solideren  Gelehrtenkreise  auf,  sich  solche 
Objekte  doch  noch  einmal  näher  zu  besehen.  M.  Z. 


216 

Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten. 

Hier  werden  ausschliesslich  solche  einlaufende  Fragen  veröffentlicht  und  fallweise 
beantwortet,  die  das  Gepräge  eines  breiteren  wissenschaftlichen  Interesses  tragen. 

Frage  12.  —  M.  de  Ch.  (Paris)  fragt  an,  wie  man  sich  dies 
erklären  soll,  dass  im  Artikel  „Die  Geschichte  von  Igors  Kriegszuge" 
(Seile  123)  auch  die  „Venetier"  („Venedici")  angeführt  werden,  trotz- 
dem dies  weder  geschichtlich  noch  geographisch  glaubwürdig  erscheint. 

Antwort.  Dieser  Zweifel  ist  berechtigt  und  hätte  der  Verfasser 
dort  als  Anmerkung  beifügen  sollen :  „Die  nordöstlichen  Karpathen 
hiessen  im  Altertume  „Venedische  Berge" ;  es  handelt  sich  daher  hier 
nicht  etwa  um  die  Bewohner  von  Venedig  oder  Venetien  (in 
Italien),  sondern  um  die  Slovaken  bezw.  Russinen,  die  jene 
Grenzgebiete  bewohnen."  —  Claudius  Ptolemäus  (lebte  im  II.  Jahr- 
hunderte n.  Chr.)  erwähnt  in  dieser  Gegend  die  „Venedikä  öre".  Es 
war  lange  darüber  ein  Zweifel,  welches  Gebirge  dies  sein  soll,  denn 
im  Räume  von  den  Karpathen  bis  zur  „Venetischen  Bucht"  (Ostsee) 
gibt  es  kein  Gebirge.  Prof.  Niederle  bringt  unseres  Wissens  als  der 
erste  in  seinem  grossen  Werke  „Slovanske  starozitnosti"  (I.  Teil,  I.Heft 
S.  184)  Klarheit  in  die  Lage  dieses  Gebirges.  —  Auch  ein  sonstiger, 
wenn  auch  inferiorer  Umstand  bestätigt  diese  Annahme.  In  Deutsch- 
land, namentlich  im  Altenburgischen,  nennt  man  die  Drahtbinder  oder 
Mäusefallenhändler  nicht  etwa  Slovaken,  wie  sonst  allgemein, 
sondern  „Venediger" ;  und  diejenigen,  die  glauben,  es  seien  dies 
Italiener,  beachten  oder  kennen  eben  nicht  die  Trachtenunterschiede 
und  unterscheiden  nicht  die  Sprache.  —  Es  würde  sich  daher  empfehlen, 
jene  Aufklärung  auf  Seite  123  des  „Staroslovan"  als  Anmerkung  39a) 
zuzufügen.  —  Diese  Entdeckung  ist  aber  auch  sehr  bedeutungsvoll 
für  die  Echtheit  jener  Handschrift,  denn  da  ist  wieder  ein  Beweis 
erbracht,  dass  der  Verfasser  mit  den  „Venedikern"  nicht  phantasiert 
hat,  sondern  dass  umgekehrt  die  Kenntnisse  der  Feinde  des  „Igor- 
Liedes"  für  die  richtige  Auslegung  so  vieler  Stellen  eben  nicht  aus- 
reichten. 

Frage  13.  —  „Teutsch"  und  „Altslavisch".  —  E.  3.  (Posen) 
wünscht  eine  nähere  Aufklärung  über  den  Satz:  „Die  Ursprungsfor- 
schung nach  allem,  was  heute  als  „teutsch"  gilt,  dürfte  daher  auf  alt- 
slavischer  Sprachbasis  zu  einem  überzeugenden  Resultate  führen." 
(Seite  98,  A.) 

Antwort.  -  Die  neueste  Forschung  führt  zu  folgender  Er- 
kenntnis: Es  gibt  nur  eine  —  vorläufig  —  europäische  Ur-  oder 
Grundsprache.  Alle  heutigen  europäischen  Sprachen  entwickelten  sich 


217 

aus  dieser.  3e  später  sie  abschwenkten,  desto  weniger  älineln  sie 
aber  der  Urspractie,  weil  sicli  diese  selbst  mit  der  Zeit  im  praktischen 
Gebrauche  änderte.  Oener  Ursprache  am  ähnlichsten  ist  aber  heute 
nur  noch  die  slavische,  und  darunter  wieder  die  slovenische,  weil 
sie  die  Urformen  wie  die  Urbedeutungen  der  Grundbegriffe  am  origi- 
nellsten erhalten  hat.  In  diesem  Sinne  ist  also  „altslavisch"  und 
„ursprachlich"  bis  zu  jener  Grenze,  an  welche  wir  die  Ursprache 
noch  verfolgen  können,  identisch.  Trotzdem  können  wir  von  „ur- 
sprachlich" da  noch  nicht  sprechen,  weil  die  Ursprache  in  jenem  Mo- 
mente, als  sie  noch  die  Kriterien  des  „Altslavischen"  aufweist,  auch 
nicht  mehr  die  Urformen  gehabt  haben  dürfte.  Wenn  wir  aber 
trotzdem  den  Begriff  „altslavisch"  für  die  älteste 
Form  der  historischen  AI  1  g  em  einspräche  gebrauchen, 
so  ist  dies  durchaus  als  keine  Konzession  an  die 
Slaven  im  modernen  Sinne  anzusehen,  sondern  als 
der  relativ  prägnanteste  Terminus.  Macht  aber  dieser 
Terminus  jemanden  nervös,  so  möge  er  sich  gleich  des  Begriffes 
„ursprachlich"  bedienen,  da  er  hiemit  auch  schon  über  die  beiläufige 
Konsistenz  jener  Ursprache  orientiert  ist,  aber  wissenschaftlich  kann 
die  Tautologie  aus  den  oben  erwähnten  Gründen  eben  heute  noch 
nicht  ausgesprochen  werden,  da  auch  die  erziehlichen  Bedingungen 
für  dieses  Verständnis  noch  mangeln.  —  Zum  demonstrativen  Beweise 
diene  nur  folgendes.  Auf  der  nordfriesischen  Insel  Sylt  wohnten  an- 
geblich immer  nordische  und  deutsche  Völker.  Nun  erzählt  aber  die 
Sprache  der  Sagen,  Mythen  und  Ortsnamen  daselbst  das  reine  Gegen- 
teil. Ein  gewaltiger  Meeresriese,  der  als  Gottheit  und  namentlich  als 
Rächer  alles  Unrechtes  in  hohem  Ansehen  stand,  hiess  „Boh"  (slav. 
=  Gott).  „Weda"  hiess  der  oberste  Kriegsgott;  er  brachte  den  Käm- 
pfern nicht  nur  das  Glück  in  der  Schlacht,  sondern  verlieh  ihren  Fahr- 
ten auch  einen  günstigen  Wind.  Dass  das  Wort  „veda"  und  „voda" 
in  der  Etymologie  identisch  sind  („vesti"  und  „voditi"  führen)  und 
Führer  bedeuten,  weiss  jeder  Slave;  überdies  nannte  man  den 
ältesten  Herrscher  Dänemarks  „Voda,  Vodan".  —  Ein  Wiesenteil 
heisst  dort  „laagh",  im  Slavischen  „loka,  louka".  Floh  der  Totschläger 
nach  der  Tat,  so  rief  man  am  Grabe  des  Erschlagenen  dreimal  laut 
„wraek",  um  ihn  der  Rache  Gottes  zu  überantworten;  und  „vrah, 
vrag"  heisst  doch  im  Slavischen:  Mörder,  Bösewicht.  Im  Gotischen 
und  Altsächsischen  hiess  es  auch  „vracja"  und  „vrage" ;  das  anglo- 
sächsische  „vragk"  oder  „vrage"  wollte  man  auch  schon  aus  dem 
neuhochdeutschen  „Rache"  deduzieren.  Bei  den  Nordfriesen  hiess 
ein  solches  Malefizgericht:  Wrage  -  Gericht.  —  Dasselbe  gilt  für  die 
topischen  Namen.   Ein   verschwundener  Wachtturm  bei  Keitum  hiess 


218 

„Tipka",  d.  i.  „divka"  Ausblick;  ein  Wachthaus  des  Namens  „War- 
dyn,  Wardum"  ist  voralters  vom  Dünensande  vernichtet  worden ;  und 
das  slavischie  „varda,  varla"  bezeiclinet  doch  ein  Wachthaus,  einen 
Wachtposten.  Die  künstlich  aufgeworfenen  Hügel,  die  man  als 
Schutz-  oder  Verteidigungspunkte  errichtete,  heissen  noch  heute  „Boj- 
ken"-  („boj"  Kampf)  oder  „Tinghügel"  („tin"  Umzäumung,  Umfas- 
sung) usw.  —  Der  Beweis,  dass  ein  Wort  oder  ein  Name 
einer  bestimmten  Sprache  angehört,  muss  aber  in  je- 
nemMomente  aiserbracht  angesehen  werden,  als  die 
Etymologie  auch  der  Eigenschaft  des  damit  belegten 
Gegenstandes  entspricht. 

Frage  14.  —  Einheitliches  slavisches  Alphabet.  — 
Mehrfach  wurde  angeregt,  es  möge  der  „Staroslovan"  auf  die  Ein- 
führung eines  gemeinsamen  Alphabetes  für  alle  Slaven  arbeiten. 

Antwort.  —  Das  Streben  nach  einem  gemeinsamen  Alphabete 
aller  Slaven  ist  schon  etwa  150  Oahre  alt,  führte  aber  bisher  zu  kei- 
nem Erfolge.  Der  erste,  der  hiezu  die  Anregung  gab,  war  unseres 
Wissens  der  als  bedeutendster  Slavist  des  XVlll.  üahrhundertes  gel- 
tende Slovene  Ivan  Popovic  (1705  —  1774).  Mit  der  gleichen  Idee  be- 
schäftigten sich  weiter  auch  die  Böhmen  Pölzt  und  Dobrovsky,  dann 
der  Slovene  Kopitar.  Um  das  3ahr  1844  arbeiteten  im  gleichen  Sinne 
auch  Jordans  „Slavische  Jahrbücher"  (Leipzig). 

Erwähnenswert  ist  folgende  Stelle  in  einem  Briefe  Dobrovskys 
an  Kopitar  (März  1810):  „Es  beginne  also  eine  neue  slavische  Aka- 
demie, wie  Sie  es  wünschen.  Es  versammeln  sich  in  Wien,  mit  oder 
ohne  Präsidenten,  die  slavischen  Männer  und  heben  ihr  Werk  gleich 
damit  an,  dass  sie  ein  ABC  aufstellen.  Herr  Kopitar  besteige  die 
Tribüne  und  rede  von  der  Notwendigkeit  einer  gleichförmigen  Schreib- 
art. Er  schlage  die  lateinischen  Lettern  vor.  Berühre  zugleich,  wie 
der  Sache  schon  Popovic  habe  abhelfen  wollen.  Die  Russen  und  Ser- 
ben eifern  für  die  Beibehaltung  der  cyrillischen  Lettern ;  die  Glago- 
liten  lassen  sich  eher  bereden  ihr  Alphabet  aufzugeben.  Endlich 
werden  doch  die  Cyrillianer  überstimmt  und  die  lateinischen  Schrift- 
züge beliebt  usw."  —  Es  sei  hier  nur  noch  das  Ende  dieser  Aka- 
demie angeführt,  das  bei  dem  gegenseitigen  Mangel  an  Einsicht  und 
Solidarität,  dann  dem  Misslrauen  und  der  Besorgnis  durch  die  gegen- 
seitige Annäherung  an  der  eigenen  Individualität  einzubüssen,  nur 
negativ  sein  konnte.  Dobrovsky  schreibt  im  gleichen  Briefe  darüber: 
„Die  erste  Sitzung  hat  ein  Ende  und  es  wird  nichts  ausgemacht,  als 
dieses :  man  soll  mit  lateinischen  Lettern  schreiben,  indes  aber  be- 
helfe  man  sich  wie  man  kann.  —  Zweite  Sitzung  :  Bilz'  Projekt  wird 


21» 

vorgelegt.  Man  lacht,  einige  zürnen  und  lassen  es  gar  nicht  zu 
Protokoll  bringen.  Nach  einigen  Sitzungen,  worin  man  immer  noch 
nicht  einig  wird  über  die  nötigen  Zeichen  zum  Schreiben,  bleiben 
mehrere  Mitglieder  aus  und  die  Akademie  wird  aufgelöst,  d.  h.  sie 
hört  von  selbst  auf."  — 

Das  Streben  nach  einer  einheitlichen  Schrift  oder  doch  nach  ei- 
nem gemeinsamen  Alphabete  für,  alle  Slaven  ist  daher  seit  langem 
ein  latentes,  und  wäre  gewiss  bei  einigem  Entgegenkommen  und 
ohne  tiefer  fühlbare  Verkehrs-  oder  Unterrichtsstörung  leicht  in  offene 
Tat  umzusetzen,  denn  es  ist  doch  ein  bedenkliches  Versäumnis,  dass 
wir  heute  gegenseitig  ohne  Vorstudien  unsere  Schriften  nicht  einmal 
lesen  können.  Welchen  Zweck  hat  die  komplizierte  Schreibweise  des 
Polen,  der  doch  alle  seine  Begriffe  genau  und  gerade  so  einfach  dar- 
stellen könnte,  wie  etwa  der  Slovene,  der  unter  allen  Slaven  die  ein- 
fachste Schreibweise  besitzt?  Weshalb  schreibt  der  Pole  ein  „ö",  das 
er  als  „u"  ausspricht?  Schreibe  er  da  gleich  ein  „u" !  —  Die  Böh- 
men haben  sich  in  jüngerer  Zeit  eine  Menge  Dehnungszeichen  zurecht- 
gelegt; doch  auch  die  anderen  Slaven  sprechen  die  Vokale  hart  oder 
weich,  kurz  oder  lang  aus,  bedürfen  aber  keiner  solchen  Zeichen, 
denn  jeder  fühlt  in  seiner  Muttersprache  die  Modulation  ohnehin 
automatisch  richtig  heraus,  ein  Fremder  eignet  sich  hingegen  trotz 
aller  diakritischen  Zeichen  hiezu  selten  das  richtige  Gehör  an.  —  Der 
Leidende  dabei  ist  aber  der  Schüler,  denn  wie  viel  unnötige  Zeit  ver- 
trödelt z.  B.  der  russische,  polnische  oder  böhmische  Studierende, 
ehe  er  über  die  richtige  Schriflkanntnis  hinauskommt! 

Hoffentlich  erreicht  das  Bewusstsein,  dass  sich  die  Slaven  unter- 
einander weit  besser  verstehen  würden,  wenn  Alphabet  und  Schrift 
überall  dieselben  wären  und  derartige  Bretterwände  die  gegenseitige 
Annäherung  nicht  so  erschweren  würden,  in  absehbarer  Zeit  seine 
Edelreife,  doch  müsste  an  der  Erziehung  dieses  Notwendigkeitsver- 
ständnisses alle  Intelligenz  kräftigst  mitarbeiten,  nicht  aber  im  Gegen- 
teile stets  kleinlichen  Sonderinteressen  selbst  unterliegen.        3.  T. 

Frage  15.  —  Arda  —  Varda.  —  A.  S.  (Breslau)  fragt,  wie 
man  die  Behauptung,  dass  „Arda"  aus  „Varda"  (Seite  89)  hervor- 
gegangen sei,  begründen  könne. 

Antwort.  —  Aus  Analogien.  Die  am  Vardar- Flusse  (Mace- 
donien)  Wohnenden  hiessen  z.  B.  bei  Livius  noch  „Vardaei".  Strabo 
hingegen  nennt  sie  schon,  da  das  Griechische  kein  „v"  hat,  als  Ar- 
daeer;  ihm  folgt  der  Lateiner  Appianus  (Mitte  des  11.  3arhundertes 
n.  Chr.),  der  sie  demnach  auch  schon  nur  mehr  „Ardaei"  nennt.  — 
Es  ist  dies  ein  deutlicher  Fingerzeig,  dass  der  heutige  slavische  Name 


520 

„Vardar"  auch  schon  bei  den  illyrischen  Slaven  der  vorrömischen 
Zeit  so  lautete,  und  nur  bei  der  Übernahme  in  andere  Sprachen  ver- 
slümmelt wurde.  Bekanntermassen  wurde  das  anlautende  „v"  auch 
sonst  vielfach  zu  „u",  oder  schliff  sich  überhaupt  im  Gebrauche  ganz  ab. 

Frage  16.  —  Der  3ubelpriester  Ivan  Zan  (Laibach),  der  im 
Jahre  1851  die  Vorlesungen  Jan  Kollärs  auf  der  Universität  Wien 
besuchte,  sandte  uns  seine  Notizen  aus  jener  Zeit  zu.  Darunter  be- 
findet sich  auch  die  Erklärung  des  Begriffes  „misisla".  Dieses  Wort 
steht  nämlich  auf  einer  Statuette  der  wendisch -heidnischen  Devotio- 
nalien, die  aber  im  Werke  „Slavische  Runendenkmäler"  deshalb  nicht 
aufgenommen  wurde,  weil  dem  Verfasser  die  Inschrift  sprachlich  nicht 
verständlich  war.  „Misisla"  soll  aber  (nach  Kollär)  eine  altslavische 
Bezeichnung  für  den  Dudelsackpfeifer  sein;  das  Grundwort  ist 
„meh,  meh,  miech"  windische  Pfeife,  Dudelsack,  Bock- 
pfeife. —  Jene  Bronzefigur  ist  tatsächlich  in  wendischer  Kleidung 
(kurzer  Rock,  Ärmelaufschlag,  pelzverbrämte  Mütze)  dargestellt,  die 
eine  Sackpfeife  bläst.  —  Ist  der  Begriff  „misisla,  misislja",  oder  doch 
in  ähnlicher  Form,  noch  irgendwo  im  Gebrauche,  kommt  er  wo  in 
der  slavischen  Literatur  vor  oder  ist  er  etwa  nur  als  eine  auf  die 
Bronzefigur  von  Kollär  selbst  festgelegte  sprachliche  Erklärung  anzu- 
sehen ?  — 


Bibliographie. 


Alle  einlangenden  Werke  werden  grundsätzlich  mit  Titel,  Verlag  und  Preis  an- 
geführt ;  jene,  welche  altslavische  Themata  berühren,  auch  kurz  besprochen,  even- 
tuell noch  später    eingehender  gewürdigt.     —    Unaufgefordert  zugesendete  Werke 

werden  nicht  zurückgestellt. 


Mann  9-.  G.,  2)as  Roland -Xied  als  Qeschichtsquelle 
und  die  Entstehung  der  Roland -Säulen.  —  Leipzig  1912.  — 
Verlag  Dieierich.  (8",  173  S.)  —  Preis  4  M  50  P/.  (5  K  40  li). 

Eine  allgemeine  Besprechung  dieser  interessanten  neuerschlos- 
senen altslavischen  Geschichtsquelle  erfolgte  bereits  auf  Seite  164-168. 


^ziha  '^.  ^.,  Sozidanie  Skadra.  Srbskaja  bilina.  („Die  Er- 
bauung Skutaris" .  —  Eine  serbische  Sage.)  —  Niznij-Novgorod  1913. 
—  15  S.  —   Bibliothek  „Slavjanskoe  cfenie".  —   Preis  25  h  (10  kop.). 


'221 


Ein  in  der  Idee  und  Wahl  allgemein  zu  begrüssender  Anfang, 
die  Kenntnisse  schöner  altslavischer  Volksdichtungen  den  Russen 
einzeln  und  billig  zugänglich  zu  machen.  —  J.  H. 


3)oIl  üoh.  S)r.,  Seeon,  ein  bayerisches  Inselkloster.  —  Mün- 
chen 1912.  —   Verlag  Herder.  —  Preis  2  K  40  h. 

Unsere  Leser  dürfte  in  dieser  Monographie  besonders  die  Er- 
wähnung interessieren,  dass  der  Einfluss  Böhmens  im  späteren  Mit- 
telaller auf  die  Literatur  des  Klosters  eine  auffallende  Erscheinung 
bildete,  die  wohl  auf  die  im  Oahre  1348  gegründete  Universität  Prag 
zurückzuführen  ist.  Schon  im  XIV.  Jahrhunderte  wird  der  Mönch 
Friedrich  Holzner  aus  Prag  (t  1393)  als  „scriptor  opfimus"  gerühmt; 
desgleichen  ist  ein  A  1  g  o  ri  thmus,  ein  Lehrbuch  der  Rechenkunst, 
aus  derselben  Zeit  zum  grössten  Teile  böhmischen  Ursprungs,  wie 
auch  das  Buch  des  Neumarkter  Malers  Hans  „Beemsch"  in  dessen 
Mutlersprache  verfasst.  Bei  der  Visitation  vom  Jahre  1600  wird  ein 
Andreas  Lohner  als  „artium  magister  Bohemus"  erwähnt.      Dr.  E.  W. 


Witte  G.  de,  S)jejstvitelnost.  ( „Die  Wirklichkeit" .)  Teil XV.— 
Selbstverlag.  Podborki  (Kazan-Qoiivernemeni)  1913.  —  (8\  152  S.)  — 

Die  auf  slavisch- kulturgeschichtlichem  Gebiete  rühmlichst  be- 
kannte Schriftstellerin  de  Wille  behandelt  in  diesem  Hefte  die  natio- 
nalen Hegemonie-Kämpfe  der  Deutschen  und  Böhmen,  nachdem  sie 
früher  auch  schon  alle  sonstigen  Gebiete  der  Slaven  Österreich-Ungarns 
bereist,  die  Verhältnisse  an  Ort  und  Stelle  unvoreingenommen  ange- 
sehen und  dann  ihre  Eindrücke  niedergeschrieben  hat.  —  Diese  um- 
fassenden ethnographischen  Aufklärungen  sollen  vor  allem  die  Russen 
über  die  wirklichen  Verhältnisse  der  öslerr.-ungarischen  Slaven  näher 
orientieren.  J.  H. 

^idensky  ^^ranz  ^.,  Svaty  ^iostyn,  ve  svem  piivodu 
a  svych  osudech.  („Der  hl.  Hostein,  dessen  Gründung  und  Schick- 
sale".) —  Prag  1913,  8",  160  S.  —  Verlag  der  „Nachfolge  des  heil. 
Johannes  Nep." 

Der  Verfasser  trug  hier  mühevoll  und  sachlich  erschöpfend  alles 
zusammen,  was  seit  den  ältesten  Zeiten  über  diese  denkwürdige 
Lokalität  bekannt  ist,  und  schuf  so  einen  mustergültigen  Weiser  für 
jede  Kategorie  der  Besucher  des  Hostyn. 


•222 

Von  unserem  rein  wissenschaftlichen  Standpunkte  würden  wir 
jedoch  wünschen,  wenn  bei  einer  Neuauflage  die  militärgeschichtliche 
Würdigung  des  Hostyn  noch  eine  Weiterung  erfahren  würde,  denn 
der  reale  Ursprung  dieses  nun  so  berühmt  gewordenen  Wallfahrts- 
ortes ist  derselbe  wie  überall :  der  Hostyn  war  eine  durch  die  Natur 
wie  Kunst  gut  vorbereitete  Zufluchtsstätte  der  Bewohner  der  nordöst- 
lichen Hana  bei  feindlicher  Gefahr  schon  in  der  prähistorischen  Zeit. 
Nachdem  bei  solchen  Anlässen  viele  Bewohner  im  Kampfe  fielen 
und  an  Ort  und  Stelle  begraben  wurden,  feierte  man  das  Andenken 
derselben  an  gewissen  Jahres-  und  Gedächtnistagen  durch  Besuch 
dieser  Stätten,  was  sich  sodann  weitervererbte  und  schliesslich  all- 
gemein wurde.  Es  war  also  eine  Art  Gräberbesuch,  wie  er  jetzt  am 
1.  November  im  kleinen  stattfindet,  im  grossen  Stile,  weil  es  sich 
da  um  verdiente  Personen  handelte,  die  im  Kampfe  für  die  Freiheit, 
das  Vaterland,  die  Religion  u.  dgl.  daselbst  als  Opfer  fielen.  —  Es 
kann  hier  auch  nicht  unerwähnt  gelassen  werden,  dass  alle  bedeu- 
tenden Wallfahrtsorte  Europas  toponomische  oder  historische  Remi- 
niszenzen slavischer  Provenienz  aufweisen,  also  samt  und  sonders 
einer  Zeit  entstammen,  als  noch  die  Slaven  das  Hauptkontingent  der 
Bewohner  in  Europa  bildeten.  —  So  hielten  sich  z.  B.  die  Slovenen 
im  XV.  Jahrh.  in  Aachen  noch  einen  ständigen  slovenischen  Prediger 
und  unternahmen  jährlich  dahin  Wallfahrten,  weil  dieser  Ort  jeden- 
falls durch  ununterbrochene  Traditionen  seit  der  Zeit,  als  sie  noch 
dort  wohnten,  einen  besonderen  Pietätscharakter  behielt. 

Ein  wertvolles  Bild  des  Werkes  ist  jenes  auf  Seite  33,  das  wir 
hier  auch  wiedergeben.  Dasselbe  ist  mit  der  Jahreszahl  1723  signiert, 
was  jedoch  eine  Berichtigung  erfordert,  denn  dieses  Datum  kann 
jenes  der  Kopie  sein,  niemals  aber  das  des  Originales.  Im  Vorder- 
grunde sieht  man  nämlich  noch  die  Burg  „Chum"  (heute  „Chlum"). 
Diese  wurde  jedoch  bereits  um  das  Jahr  1425  von  den  Hussiten  zer- 
stört und  ist  auch  später  nicht  mehr  aufgebaut  worden.  Das  Original- 
bild muss  also  schon  vor  der  Zerstörung  dieser  Burg  entstanden 
sein,  denn  im  Jahre  1723  hätte  kaum  jemand  eine  Burg  auf  das  Bild 
aufgenommen,  deren  Äusseres  schon  seit  300  Jahren  aus  dem  Volks- 
gedächtnisse entschwunden  ist,  oder  hätte  sie  im  Geiste  derart  richtig 
rekonstruiert,  wie  dies  die  heutigen  Umwallungsreste  noch  rechtfer- 
tigen. 

Für  das  höhere  Alter  des  Bildes  spricht  auch  die  Örtlichkeit  des 
Tatarenlagers.  Die  Volkstradition  verlegt  dasselbe  überallhin,  nur  nicht 
hierher,  und  doch  konnte  dasselbe  nicht  allein  der  Wasserfrage  we- 
gen,  sondern  vor  allem   aus  taktischen  Gründen   nur  hier  gewesen 


22H 


sein,  denn  den  Hostyn  wird  niemand  von  einer  anderen  Seile  an- 
greifen, als  von  der  westlichen  (über  das  Dort  Slavkov),  weil  diese 
die  schwächste  in  der  Stellung  des  Verteidigers  ist,  da  sie  dem  Gegner 
l^napp  bis  an  den  Wall  tote  Räume  bietet.  Die  übrigen  drei  Seiten 
sind  hingegen  auch  für  einen  Teilerfolg  eines  Angriffes  aussichtslos, 
und  paralysierte  man  die  Versuche  hier  vorzudringen,  die  lediglich 
die   Absicht  haben   konnten,   den   Verleidiger  zu   zersplittern,   durch 


das  auch  in  der  Königinhofer  Handschrift  erwähnte  Herabkollern- 
lassen  der  20  gefällten  Bäume.  Der  Berghang  muss  demnach  damals 
sehr  spärlich  bewaldet  gewesen  sein,  was  auch  das  Bild  bestätigt, 
indes  spätere  Bilder  schon  ringsherum  den  Wald  andeuten.  — 

Die  vorliegende  Illustration  muss  daher  bereits  aus  den  Jahren 
1241  —  1425  stammen,  ist  daher  schon  deshalb  wertvoll,  weil  sie  das 
sonst  äusserst  seltene  Bild  einer  slavischen  Burg  aus  dem  XIII.— XIV. 
Jahrhunderte  bietet.  (Die  Richtung  der  Pfeile  zeigt  die  Burg  an.) 

M.  Z. 


224 


Ergänzungen  und  Berichtigungen. 

/.  In  der  Tafel  I.  (zur  Seite  81)  sind  die  Schriften  einiger  Münzabbil- 
dungen nicht  genügend  hervorgetreten,  da  sich  die  Druckerschwärze 
mit  der  Bronzefarbe  ungern  bindet.  Die  Figuren  la),  b)  und  c),  dann 
3,  5  und  8,  welche  die  Schrijtprägungen  schwer  nachprüfen  lassen, 
werden  daher  nachstehend  noch  in  schwarzer  Manier  beigefügt. 


Fig.   la) 


Fig  Ib) 


Fig.   Ic) 


Fig.  8 


//.  „huna"  bedeutet  in  Dalmatien  auch  Mädchen,  namentlich  jenes, 
das  sich  beim  Kolo-Tanze  in  der  Mitte  befindet.  Jenes  Kolo  heisst 
daher  auch  „huna" -Kolo.  Das  auf  Seite  61  erwähnte  „kunigovanje"  ist 
sonach  auch  sprachlich  nichts  weiter,  als  der  Abend  vor  der  Trau- 
ung, also  Mädche  n-  oder  Jun  gfr  au  abend.  —  Überdies  ge- 
brauchte man  im  Lateinischen  auch  denselben  Begriff  als  Jus  cunni, 
jus  cunnagü,  connagium" . 

III.  Im  Aufsatze  „Die  Geschichte  von  Igors  Kriegszuge"  handelt  es  sich 
doch  um  den  Eigennamen  der  heutigen  Stadt  „Bjelgorod"  (am  Donec) 
und  nicht  um  einen  Gattungsnamen.  Es  ist  daher  auj  Seite  1 16,  Zeile  14 
von  unten  statt  „bjela  grada"  —  „Bjelagrada",  und  demnach  auf  Seite 
127,  Zeile  18  von  unten  auch  statt  „aus  der  weissen  Burg"  —  „aus 
Bjelagrad"  zu  lesen. 


i 


zur  Seite  210). 


UA 


Die  Handschrift  von  Grünberg. 

(Das  älteste  bisher  bekannte  slavische  Schriftdenkmal.) 


Faksimile  der  S.    (letzten)  Seite   in   Oriy.iiü.yrOioe, 


'••»! 


STRROSLOVAN 


Hefl  k. 

Kremsier,  am   15.  Dezember  1913. 

1.  Jahrgang. 

M.  Zunkovic: 

Die  slavische  Sprache  vor  der  Römerzeit. 

Je  weiter  die  Klärung  forlschreilet,  wo  die  Anfänge  der  sla- 
vischen  Sprache  zu  suchen  seien,  umso  liefer  gelangen  wir  durch 
den  schwindenden  Nebel  in  die  vorgeschichtliche  Zeit.  Die  Annahme 
der  bisherigen  Geschichtsschreiber  und  Sprachforscher,  die  den  Ursitz 
der  Slaven  an  der  Donau,  am  Dnjepr,  in  Asien  u.  dgl.  suchen,  ist 
durch  die  neuere  Forschungsmethode  und  die  aufgewühlten  Belege 
bereits  gründlich  unhaltbar  geworden,  und  spielt  die  Völkerwan- 
derung als  conditio  sine  qua  non,  wie  als  Ausgangspunkt  oder  Relais- 
station für  diese  Festlegung  gar  keine  ernste  Rolle  mehr. 

Hat  schon  die  Erkenntnis,  dass  die  alten  topischen  Namen  nur 
in  der  slavischen  Sprache  eine  natürlich-sachliche  Erklärung  finden, 
alle  jene  Hypothesen  wie  die  Frühlingssonne  den  letzten  Winter- 
schnee in  Wasser  verwandelt,  so  tritt  dies  bei  der  Etymologie  und 
dem  Studium  des  psychomechanischen  Wortaufbaues  der  verschieden- 
artigsten, namentlich  praktisch -konkreten  Begriffe  noch  weit  deut- 
licher und  überzeugender  hervor.  —  Nachstehend  soll  nun  an  einigen 
typischen  Beispielen  dargelegt  werden,  dass  die  slavische  Sprache 
lange  vor  der  Römerzeit  in  Italien  schon  im  Gebrauche  gewesen  sein 
muss,  denn  ohne  diese  Voraussetzung  fehlt  jede  natürliche  Erklärung 
hiefür,  wie  die  lateinische  Sprache  zu  reinslavischen  Begriffen  gelangt 
wäre,  oder  umgekehrt,  wie  die  Slaven  in  einem  nichtlateinischen 
Territorium  solchen  fühlbaren  Einfluss  auf  die  lateinische  Sprache  in 
Italien  hätten  üben  können.  Noch  viel  weniger  fassbar  ist  es  aber, 
wie  die  Slaven,  falls  sie  im  Laufe  des  IV.— VI.  Jahrhundertes  in 
Europa  eingewandert  wären,  so  viel  lateinische  Begriffe  angenommen 
oder  gar  auch  an  jene  Slaven,  wie  z.  B.  die  Sarmaten,  Skythen,  Rus- 
sen, Bulgaren  vermittelt  hätten,  die  ihre  Wohnsitze  augenscheinlich 
nie  verliessen.  Aus  den  nachfolgenden  Beispielen  geht  aber  klar 
hervor,  dass  die  wnhre  Situation  eben  den  bisherigen  Annahmen  und 
Vorstellungen  diametral  entgegensteht. 

15 


226 

„Chalybs".  —  Die  Römer,  wie  auch  die  Griechen,  verstanden 
unter  „chalybs",  griechisch  ..xälvip'%  den  Stahl.  Nun  ist  aber  aus 
allem  zu  entnehmen,  dass  damit  eigentlich  nur  der  slavische  Begriff 
„kalup",  der  aber  lediglich  Gussform,  Gussmodell,  Gusstie- 
gel bedeutet,  übernommen  wurde.*)  Beide  Sprachen  besassen  daher 
ursprünglich  überhaupt  keinen  spezifischen  Ausdruck  für  den  Stahl, 
sondern  behalfen  sich  damit,  nur  jenes  Eisen  so  zu  benennen,  das 
in  Gussformen  gehärtet  wurde.  Nun  besitzen  aber  die  Sla- 
ven  nicht  allein  den  erweiterten  Begriff  „kalup"  noch  heute,  sondern 
auch  die  einfachsten  Formen  jener  Wurzel,  wie  „kal"  (  Härtung) 
und  „kaliti"  (  härten,  stählen),  welche  Begriffe  in  altslavischen 
Handschriften,  wie  z.  B.  im  „Igor"-Epos,  in  der  Königinhofer  Hand- 
schrift u,  a.,  wiederholt  in  dieser  Bedeutung  vorkommen. 

Die  einfachere  Form  eines  Begriffes  ist  aber 
grundsätzlich  die  ältere,  denn  erfahrungsgemäss  werden  die 
Sprachen  in  der  Forlentwicklung  niemals  kompendiöser  sondern 
immer  breiter. 

Bei  diesem  Worte  tritt  aber  auch  eine  sehr  beachtenswerte 
Kulturwandlung  und  Bedeutungsmetamorphose  an  den  Tag.  Die 
Griechen  kennen  nämlich  in  der  ältesten,  literarisch  belegten  Zeit, 
also  bei  Homer,  den  Begriff  „halkös"  {ysdy.ög],  dem  zweifellos  die 
Wurzel  „kal"  zugrunde  liegt,  nur  erst  für  Erz,  Bronze,  Kupfer, 
wofür  aber  der  Altslave  schon  die  Ausdrücke  „ruda,  bron,  med" 
besitzt.  In  der  nachhomerischen  Zeit  bezeichnete  man  aber  mit 
„halkös"  auch  Eisen,  namentlich  Waffen,  die  sonach  ein  ge- 
stähltes Eisen  voraussetzen.  Die  Begriffsarmut  der  Griechen  wie 
Römer,  die  sonach  für:  Erz,  Kupfer,  Bronze,  Eisen,  Stahl, 
Kupfergeld  nur  ein  bis  zwei  Begriffe  besassen  (lateinisch  auch 
„aes"),  deutet  recht  überzeugend  dahin,  dass  sich  die  ganze  metall- 
lurgische  Technik  nicht  bei  ihnen  selbst  entwickelt  haben  konnte ; 
ja,  sie  merkten  gar  nicht,  wie  langsam  die  Bronzewaffen  in  jene  aus 
Eisen  und  Stahl  übergingen,  nachdem  sie  den  geänderten  Verhält- 
nissen ihre  Begriffe  gar  nicht  anpassten ;  der  Erzeuger  hingegen 
fühlte  sehr  gut  die  Änderung  und  den  Wechsel,  daher  er  auch  fall- 
weise neue  Benennungen  schuf.  Die  Römer  und  Griechen  fühlten 
vielleicht  auch  nicht  weiter  die  Material-   und   Mischungsänderungen, 

*)  Miklosich  irrte  sich  bedenklich,  als  er  in  seinem  »Etym.  Wörterbuche« 
(1886)  dieses  slavische  Wort,  als  der  türkischen  Sprache  entnommen,  erklärte, 
nachdem  es  doch  schon  Vergil,  Propertius,  Aeschylos,  Sophokles  u.  a.  gebrauchen. 
Miklosich  hatte  überhaupt  die  sondcr[)are  Neigung,  solche  slavische  Begriffe,  die 
er  auch  in  einer  anderen  Sprache  antraf,  gleich  als  slavische  Fremd-  oder  Lehn- 
v^örter  anzusehen  und  zu  erklären. 


227 

denn  man  erzeugte  in  einer  gewissen  Zeit,  wie  aus  dem  folgenden 
Funde  hervorgeht,  auch  eine  Art  Stahlbronze,  die  sich  im 
Kampfwerte  vom  Stahle  selbst  nicht  wesentlich  abhob. 

Eine  vermutlich  mehrere  tausend  Jahre  alte,  im  Gräberfelde  zu 
Watsch  (Krain)  gefundene  Schussverletzung  zeigt  nämlich  die  einstige 
geniale  Erfindungsgabe  in  der  Konstruktion  wirksamer  und  gefähr- 
licher Waffen.  Dort  wurde  ein  Oberschenkelknochen  ausgegraben,  in 
welchem  auf  2*5  cm  eine  dreikantige,  mit  grüner  Patina  bedeckte 
Bronzepfeilspitze  eingekeilt  war.  Das  Projektil,  rückwärts  mit  einer 
runden  Öse,  anscheinend  zum  Hineinstecken  des  Pfeilschaftes  ver- 
sehen, durchschlug  glatt  die  Knochenrinde  und  ragt  in  die  Markhöhle 
hinein.  Das  glatte,  nicht  splitternde  Durchschneiden  des  Knochens 
zeigt  einerseits  von  der  grossen  Durchschlagskraft  und  der  enormen 
Anfangsgeschwindigkeit,  andererseits  aber  auch  von  einer  der  mo- 
dernen Präzisionsarbeit  ebenbürtigen  Ausführung,  denn  die  Spitze  ist 
haarscharf  und  trotzdem  nirgends  deformiert  oder  schartig,  weil  das 
Geschoss  schon  nach  Art  unserer  Stahlbronze  ge- 
härtet war. 

Es  ist  auch  überflüssig  weiter  zu  erörtern,  dass  der  Reichtum 
wie  die  Armut  an  Fachausdrücken  auf  einem  bestimmten  Gebiete 
immer  ein  Regulator  dafür  ist,  inwieweit  sich  die  Träger  der  be- 
treffenden Sprache  an  der  Entwicklung  der  realen  Entstehungsnot- 
wendigkeit von  solchen  beteiligt  haben,  und  wird  diesbezüglich  noch 
an  anderer  Stelle  eingehender  gesprochen.  (Siehe  Artikel:  „Einiges 
über  den  Bergbau  und  die  Metallbearbeitung  der  alten  Slaven",) 

„Poeta."  —  Es  ist  sonderbar,  dass  der  Sänger,  Dichter, 
Poet  im  Lateinischen  wohl  „poeta"  heisst,  aber  das  jene  Tätigkeit 
anzeigende  Zeitwort  der  gleichen  Sprachwurzel  fehlt  der  lateinischen 
Sprache.  Es  ist  aber  kein  Zweifel,  dass  derjenige,  der  zuerst  den 
Sänger  „poela"  nannte,  diesen  Begriff  nur  auf  eine  Tätigkeit  auf- 
gebaut haben  konnte,  die  „pojem"  (=  ich  singe)  oder  „pjeti"  (=  singen) 
gelautet  haben  muss,  und  das  ist  nur  in  den  slavischen  Sprachen 
der  Fall.  Das  Griechische  kennt  wohl  den  Begriff  „poieo"  [Tioiko], 
aber  dieser  bezeichnet  nicht  das  Singen  selbst,  sondern  nur  das 
Schaffen,  Hervorbringen.  Auffallend  ist  es  auch,  dass  im 
Lateinischen  das  ausgefallene  slavische  „j"  nicht  einmal  ganz  ver- 
schwunden ist,  sondern  im  Aussprache-Trennungszeichen  erhalten 
blieb.  Der  Römer  hörte  immer  sagen  „on  pojet"  ( ^  er  singt,  oder : 
er  ist  ein  Sänger)  und  übernahm  den  Begriff  unverändert,  wie  ihn 
sein  Ohr  eben  vernommen. 

„Oct."  —  Schon  die  ältesten  lateinischen  Schriftsteller  führen 
den  Begriff  „acetum"  (^  Essig)  an;  bekanntlich  hat  Hannibal  anläss- 

15* 


228 

lieh  seines  Überganges  über  die  Alpen  schon  mittels  Feuer  und 
Essig  Felsen  beseitigt.  Nun  kennen  aber  alle  Slaven  den  Begriff 
„ocet"  (altslavisch  „oct" ;  in  dieser  Form  bei  den  mährischen  Wal- 
lachen noch  heute  gebräuchlich)  für  die  Bezeichnung  von  Essig. 

Die  Sprachforscher  sagen  nun  bei  dieser  auffallenden  Überein- 
stimmung kurzweg :  diesen  lateinischen  Begriff  haben  die  Slaven  bei 
den  Römern  irgendwo  gehört  und  nahmen  ihn  dann  allgemein  an. 
Diese  allerdings  sehr  bequeme  Lösung  des  Rätsels  ist  aber  nicht 
nur  an  sich  unnatürlich,  denn  jene,  die  solches  behaupten,  glauben 
doch  auch  an  die  Völkerwanderung,  sondern  auch  sprachgeschichllich 
wie  sprachmorphologisch  unhaltbar,  denn  gerade  in  diesem  Falle  ist 
die  slavische  Originalität  so  leicht  nachzuweisen,  wie  vielleicht  heute 
in  wenigen  anderen  mehr. 

„Oct"  ist,  obschon  in  dieser  Form  äusserlich  als  nacktes  Wurzel- 
wort erscheinend,  dem  Slaven  noch  immer  kein  auf  die  einfachste 
Stammsilbe  reduzierter  Wurzelbegriff,  sondern  ist  noch  aus  den  zwei 
Sprachelementen  „o"  und  „et"  (d.  i.  „cet,  cit"  ^  Geschmack)  zu- 
sammengesetzt; seiner  letzten,  sozusagen  sprachchemischen  Morpho- 
logie nach  bedeutet  „oct"  eine  Flüssigkeit,  die  mit  einem  Ge- 
schmacke  durchsetzt  ist.  Diese  bis  auf  den  letzten  Laut  genau 
durchgeführte  Sprachkonsequenz,  die  auch  figürlich  wie  onomatopöisch 
ein  bewunderungswürdiges  Zeugnis  der  natürlichen  Sprachbildung 
bietet,  ist  ein  derartig  greifbarer  Beweis  der  urslavischen  Originalität 
des  Begriffes  „oct",  dass  es  wohl  überflüssig  ist,  die  schwindsüch- 
tigen Hypothesen,  als  wäre  es  um.gekehrt  aus  dem  lateinischen 
„acetum"  oder  dem  gotisch-griechischen  „akeit"  gebildet,  nur  mit 
einem  Worte  weiter  widerlegen  zu  wollen. 

Das  Präfix  „o"  verleiht  nämlich,  wie  auch  schon  dessen  graphi- 
sche, in  sich  geschlossene  Darstellung  andeutet,  im  Alt-  wie  Neu- 
slavischen  stets  einem  Zustande  den  Charakter  der  Umschliessung 
oder  Durchsetzung.  So  besagt  z.  B.:  „oceniti"  abschätzen, 
durchprüfen;  „oprati"  etwas  durchreinigen;  „osoliti"  ein-,  durch- 
salzen usw.  —  Dasselbe  gilt  onomatopöisch  betreffs  der  Laute  in  der 
Wurzel  „et"  (oder  „cit,  cet"),  denn  jedermann  empfindet  das  Gefühl, 
so  oft  ihm  die  Zähne  durch  den  Genuss  quitschsaurer  Flüssigkeiten 
(Essig,  saurer  Wein,  Holzapfel-  oder  Holzbirnensaft  u.  dgl.)  förmlich 
abgestumpft  sind,  als  ob  sich  dieser  Zustand  durch  die  Laute  „c  -t" 
am  besten  ausdrücken  Hesse;  die  Wortbildung  „oct"  ist  daher  auch 
sprachlich  eine  natursuggestive,  analog  wie  sich  auch  der  Essig  durch 
das  Sauerwerden  des  Weines  in  der  Natur  selbst  bildet. 

Schon  aus  diesen  wenigen  Beispielen  geht  klar  hervor,  dass 
das  Altslavische  lange  vor  dem  Lateinischen  in  Italien  gangbar  war, 


229 

daher  letzteres  aucti  aus  dem  Borne  des  ersteren  schiöpfle,  denn 
liätte  der  Lateiner  die  Gelegenheit  gehabt,  das  Wort  selbst  natur- 
sprachlich zu  bilden,  so  wäre  wohl  daraus  auch  ein  „oct"  und  kein 
„acetum"  geworden ! 

Hiemit  sind  wir  in  der  praktischen  Beweisführung,  dass  das 
Slavische  eine  uralte  europäische  Sprache  war,  mit 
einem  Rucke  viele  Jahrhunderte  vor  unserer  Zeil- 
rechnung angelangt,  womit  jedoch  dieses  Weitertragen  des 
Lichtes  noch  keineswegs  abgeschlossen  ist,  nachdem  noch  genug 
weit  älteres  Material  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung  harrt.  Nun 
ist  es  aber  auch  klar,  warum  die  topischen  Namen  überall  dieselbe 
Form  und  dieselbe  Etymologie  aufweisen  und  warum  Natur  und 
Kultur  diese  Etymologie  an  Ort  und  Stelle  immer  auch  bestätigen : 
weil  sie  eben  alle  eines  und  desselben  Ursprunges 
sind,  d.  h.  weil  es  einst  eine  A  1 1  gem  ei  nspr  ache  g  a  b, 
die  sich  im  grossen  mit  der  altsla vischen  deckte. 


Orlsgeschichtliche  Etymologie. 

Unter  diesem  Titel  sollen  nun  Ansiedlungen  dahin  besprochen 
werden,  inwieweit  deren  Name  mit  der  Sprache  sowie  der  einstigen 
militärisch-sozialen  Organisation  in  Relationen  steht,  da  es  doch 
naheliegend  ist,  dass  die  Genesis  eines  jeden  topischen  Namens 
eine  reale,  für  jedermann  überzeugende  Begründung  haben  mussle, 
weil  er  sonst  überhaupt  nicht  in  allgemeinen  Kurs  getreten  wäre  ; 
ja,  es  zeigt  sich  täglich  klarer,  dass  dieser  Name  zugleich  seiner 
Bedeutung  nach  eine  Art  Orientierungsbehelf  in  sich  barg,  wo  man 
bei  feindlicher  Gefahr  mehr  oder  weniger  ausgiebigen  Schutz  finden 
konnte,  daher  eigentlich  nicht  direkte  den  Wohnort  selbst  damit  kennzei- 
chnete. Wir  werden  nun  trachten,  um  dieser  Behauptung  überzeugenden 
Nachdruck  zu  geben,  aus  den  verschiedensten  Gegenden  solche 
konkrete  und  typische  Belege  herbeizuschaffen.  Freilich  kann  solche 
in  verlässlicher  Weise  meist  nur  derjenige  bringen,  welcher  mit 
der  Lokalität  in  jeder  Hinsicht  gut  vertraut  ist,  was  sich  namentlich 
auf  solche  Punkte  bezieht,  die  bisher  von  der  Beachtung  oder  lokalen 
Aufzeichnung  nicht  berührt  wurden,  oder  bei  denen  erst  Grabungen 
den  Beweis  erbringen  müssen,  dass  der  Lokalname  tatsächlich  etwas 
bezeichnet,  wofür  der  greifbare  Beleg  erst  aus  der  Erde  zu  holen  ist, 
denn  ein  grosser  Teil  der  Dokumente  für  die  Er- 
kenntnis der  slavischen  Vergangenheit  liegt  un- 
trüglich noch  in  der  Erde  vergraben. 


230 

Wir  wollen  hiemit,  nachdem  wir  nun  schon  den  Weg  hiezu 
einigermassen  vorbereitet  finden,  das  Interesse  für  die  tiefere  Be- 
achtung der  Ortsnamen  wecken  und  den  Ansporn  geben,  dass  man 
allerorts  der  Kausalität  des  gegebenen  Ortsnamens  nachgehe  und 
für  die  Etymologie  desselben  in  der  Natur  die  Stütze  suche.  Soweit 
bisher  bekannt,  hatte  nämlich  jede  Ansiedlung  einen  gewissen  Schutz- 
punkt oder  eine  vorbestimmte  und  entsprechend  vorbereitete  Zufluchts- 
stätte für  den  Fall  der  feindlichen  Gefahr,  und  war  diese  Stelle  auch 
demnach  orientierend  benannt;  in  den  allermeisten  Fällen  identifi- 
zierte sich  allerdings  diese  Benennung  auch  zugleich  mit  dem  Namen 
der  Ansiedlung  selbst. 

Freilich  sind  die  sichtbaren  Belege  von  Einst,  da  es  oft  nur 
Gräben,  Wälle  mit  Palisaden,  Schanzen,  Wallburgen  u.  ä.  waren,  längst 
der  Bodenausnützung  verfallen,  daher  eingeebnet,  ebenso  wie  auch 
massive  Burgen,  die  man  nach  ihrem  Zerfalle  allgemein  als  bequeme 
Steinbrüche  benützte,  oft  völlig  spurlos  verschwunden  sind,  aber  der 
Name  ist  doch  weitergeblieben,  und  das  geübte  Forscherauge  sieht 
die  Bestätigung  für  die  Namensrichtigkeit  oft  in  der  Terrainkonfigu- 
ration ;  bisweilen  weiss  man,  dass  an  der  Stelle  verschiedene  Kultur- 
residuen gefunden  wurden,  noch  öfters  ist  es  aber  eben  notwendig, 
mit  dem  Spaten  selbst  in  die  Erde  zu  dringen,  um  den  Beweis  her- 
beizuführen, dass  an  dieser  Stätte  einst  aus  natürlichen  Selbsterhal- 
tungstrieben Menschengeist  und  Menschenhand  waltete  und  schuf. 

Überzeugende  Beiträge  dieser  Art,  wenn  möglich  mit  typischen 
illustrativen  Zeugnissen  belegt,  werden  in  unserer  Revue,  soweit  es 
der  Raum  für  diese  eine  Forschungsrichtung  gestattet,  veröffentlicht. 
Als  eine  Art  Orientierungsbehelf  werden  nachstehend  zwei  solche 
Beispiele  mit  wechselnder  Grundform  geboten.  Weitere  lokalgeschicht- 
liche Begebenheiten  bieten  aber  meistens  keine  brauchbaren  Belege 
mehr  für  die  Geschichte  der  Entstehung  eines  Ortes  oder  Ortsnamens, 
denn  die  Urkundendaten  dürfen  uns  ebensowenig  in  den  alten  Glau- 
bensfehler verführen,  dass  so  eine  Wallburg  oder  alte  Schanze  erst 
am  Vorabende  eines  dokumentarisch  belegten  Ereignisses  hergestellt 
worden  sei,  wie  wir  auch  niemals  den  Gedanken  aufkommen  lassen 
sollen,  dass  ein  Volk  gerade  damals  zu  einem  solchen  wurde,  als 
es  das  erstemal  erwähnt  erscheint. 

DIE  REDAKTION. 


231 

I.  Landsberg. 

(Bezirk  Wildenschwert,  Böhmen.) 

Die  zur  Nachforschung  anregende  Lektüre  des  epochalen  Werkes 
Zunkovic'  „Die  Siaven  ein  Urvolk  Europas"  hat  mich  bewogen,  auf 
Grund  topischer  Namen  die  Umgegend  meines  Domizils  darnach  zu 
studieren  und  wählte  ich  zu  diesem  Zwecke  die  altersgrauen  Frag- 
mente der  Burg  Landsberg  und  deren  nächste  Umgebung. 

Die  Kampagne  begann  ich  mit  dem  Studium  der  Plastik  des 
Geländes  und  der  Eruierung  von  topischen  Namen  der  Wälder,  Lehnen, 
Berge,  Furchen,  Dörfer,  Quellen  u.  dgl.  daselbst. 

Der  Name  Landsberg  (Landesberg,  Landesperch,  böhm:  Lansperk) 
kommt  in  Mitteleuropa  oftmals  vor.  Mir  selbst  ist  es  gelungen  zehn 
Landsberge  aufzubringen  u.zw.:  Landsberg  bei  Wildenschwert 
in  Böhmen,  Deutsch-  und  Windisch-  Landsberg  in  Steiermark,  Lands- 
berg an  der  Warta,  Landsberg  an  der  Ruhr,  Landsberg  in  Bayern, 
Landsberg  in  Sachsen,  Landsberg  unweit  von  Berlin  an  einem  kleinen 
See,  Landsberg  zwischen  Königsburg  und  Heilsberg  in  Preussen  und 
Hohen-Landsberg  im  Elsass. 

Wie  zu  ersehen,  war  dieser  Name  im  XllL  und  XIV.  Jahrhun- 
derte ziemlich  populär  und  bedeutete  im  Böhmischen  soviel  wie  „zemsky 
bfeh"  (breg,  bfeh  Grenze),  also  einen  Landes-Grenzberg, 
beziehungsweise  eine  Landes-Grenzburg,  denn  ein  „bfeh"  (ge- 
genwärtig im  Deutschen  Ufer  oder  Strand  bedeutend)  bildete  in 
vielen  Fällen  eine  Grenze  und  zwar  im  engeren  oder  weiteren 
Sinne.*) 

Die  Burg  Landsberg  in  Böhmen  wurde  wahrscheinlich  zu  Ende 
des  XIll.  Oahrhundertes  erbaut  und  zwar  auf  einem  steilen,  kegel- 
förmigen, kbk  m  hohen  Berge,  der  mit  einer  Hochebene  durch  einen 
schmalen  Bergrücken  verbunden  ist. 

Am  nördlichen  Rande  dieses  Bergrückens  befindet  sich  eine 
aufgeschüttete  Bastion  (basta),  welche  einst  mit  Palisaden  besetzt  war, 
und  die  vermutlich  einer  älteren  Zeit  angehört,  als  die  Burg  selbst. 
Beim  Burgbau  wurde  sie  aber  als  brauchbares  Vorwerk  in  die  Forti- 
fikation  miteinbezogen. 

*)  Die  Wurzel  ist  augenscheinlich  das  slavische  »lan,  Ion«  d.  i.  ein  a  b  g  e- 
grenztes  Grundstück,  das  sich  nicht  nui  vielfach  in  den  topischen  Namen,  wie: 
Lan,  Lana,  Lanisce,  Lany,  Landau,  Landeck,  Landegg  u.  ä.  sondern  auch  in  der 
Wirtschaftsterminologie  erhalten  hat.  Immerhin  ist  es  erwähnenswert,  dass  der 
Deutsche  sagt:  ich  gehe  aufs  Land,  sobald  er  seine  Wohnbezirks  g  r  e  n  z  e 
überschreitet. 


232 

Knapp  bei  der  Burg  befand  sich  seinerzeit  eine  aus  acht  Wohn- 
hütlen  besiehende  Ansiediung,  die  man  „Budy"  nannte.  Es  wird 
allgemein  angenommen,  dass  diese  Wohnhülten  während  des  Burg- 
baues dort  entstanden  seien,  doch  dürfte  dies  nicht  richtig  sein ;  viel 
wahrscheinlicher  ist  es,  dass  dieselben  schon  in  bukolischen  Zeiten 
dortselbst  als  Hirtenhütten  gestanden  und  dass  der  Name  „Budy" 
sich  von  jener  Zeit  her  erhalten  hat. 

Es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  die  mutmasslichen  Erbauer 
der  Burg  —  Hermann  und  Ulrich  von  Dürenholz  (Hefman  a  Oldfich 
z  Drinolce)  —  diese  sehr  geeignete  Stelle  zu  diesem  Zwecke  wählten, 
denn  schon  die  hier  einst  wohnenden  Urvölker  müssen  die  Festig- 
keit und  Sicherheit  dieser  Lokalität  erkannt  haben,  denn  alles  deutet 
darauf,  dass  hier  schon  in  grauer  Vorzeit  eine  grosse  Beobachtungs- 
und Verteidigungsanlage  bestand. 

Alte  Überlieferungen  und  Sagen  sind  zwar  nicht  verlässlich,  da 
sie  verschiedenen  Auslegungen  unterliegen,  die  im  Laufe  der  Zeit  in 
die  unglaubwürdigsten  Fabeln  ausarten,  doch  kann  man  in  ihnen 
eine  reelle  Spur  von  Wahrscheinlichkeit  entdecken,  wenn  die  Topo- 
nomie  zu  Hilfe  genommen  wird. 

Eine  Sage  erzählt  uns,  wonach  Panilus,  ein  König  der  Hermun- 
duren, im  11.  Jahrhunderte  der  christlichen  Zeitrechnung  seinen  Sitz 
in  Grulich  (Kräliky)  hatte.  Er  liess  zwei  Burgen  bauen,  Landsberg 
und  Landskron ;  in  Landsberg  verwahrte  er  sein  Gesetzbuch  und  in 
Landskron  seine  Krone.  —  Ob  nun  ein  König  Panilus  je  existierte, 
ist  heute  schwer  zu  sagen,  da  bisher  nur  eine,  noch  dazu  sagen- 
hafte Quelle  den  Namen  kennt,  der  aber  auch  nur  ein  Diminutivum 
von  „pan"  (=  Herr)  sein  kann.  Hingegen  hat  Landskron  gewiss  nie 
seinen  Namen  von  der  Kronenverwahrung  daselbst  erhalten,  denn 
der  Name  selbst  sagt  doch,  dass  es  eine  Landesgrenzstadt  ist,  wie 
alle  Orte  dieser  Sprachwurzel  (gran,  gron,  krön)  und  bildet  der 
Bezirk  Landskron  doch  auch  die  böhmische  Grenze  gegen  Mähren. 
Desgleichen  war  die  Verwahrung  des  Gesetzbuches  sicherlich  nicht 
bestimmend  für  den  Namen  Landsberg,  wohl  aber  der  Umstand,  dass 
in  altslavischer,  oder  wenn  man  will,  in  keltischer  Zeit  daselbst  eine, 
Verteidigungsanlage  grösseren  Stiles  war,  da  auf  eine  solche  alle  hier 
vorkommenden  topischen  Namen,  wie  auch  die  Bodenplastik  der 
nächsten  Umgebung  deuten. 

Gleich  von  der  Bastei  zieht  sich  gegen  Osten  das  grosse  Hoch- 
plateau „Kopanina",  ein  Name,  der  auch  in  der  Zeit  der  deutschen 
Sprachvorherrschaft  in  diesem  Gebiete  nicht  geändert  wurde,  da  hiefür 
wohl    das    sprachliche   Verständnis  fehlte.    Doch   erkennt   man  hier 


233 

auf  den  ersten  Blick,  dass  sich  in  diesem  Räume  einst  Aufwürfe, 
Wälle  oder  Schanzen,  also  Aufgegrabenes  (kopati  graben) 
befunden  haben  muss,  als  die  grosse  Verteidigungsanlage  noch  ernsten 
Sicherungsfunktionen  diente.  Freilich  hat  die  fleissige  Feldwirtschaft 
schon  alle  Spuren  der  den  Gang  des  Pfluges  störenden  Hindernisse 
möglichst  eingeebnet;  nur  dort  am  nördlichen  Rande  der  „Kopanina" 
wo  die  Abhänge  der  Waldparzellen  „Predni  a  Zadni  Kamenä"  steil 
in  das  breite  Tal  von  Dobrouc  abfallen,  sind  noch  tiefe  Mulden  und 
aus  der  Erde  ragende  Sandsteinblöcke  übrig  geblieben,  die  heute  den 
Aufstieg  auf  das  Plateau  noch  fühlbar  erschweren. 

Dominierend  war  aber  immer  der  Bergkegel,  auf  dem  später  die 
Burg  erbaut  wurde.  Dort  war  der  Sitz  des  Befehlshabers  und  dort 
fand  auch  wohl  die  letzte  Verteidigung  in  verhängnisvollen  Stunden  slatt. 

Fast  am  Fusse  der  „Kamenä"  liegt  zersprengt  eine  Häusergruppe, 
die  den  Namen  „Koctina"  (Katzendorf)  führt,  also  unbedingt  ein  Ort  ist, 
wo  in  den  ältesten  Zeiten  Hirtenhütten  standen,  (Koc,  koca,  kuca.)  Viel- 
leicht spielten  einst  die  Bewohner  dieser  Ansiedlung  zugleich  die 
Rolle  eines  vorgeschobenen  Beobachtungspostens,  was  auch  der  deut- 
sche Name  „Katzendorf"  zu  bestätigen  scheint,  da  bei  alten  Festungs- 
anlagen immer  noch  oft  eine  vorgeschobene  Bastei  „Katze"  genannt 
wird.  Von  da  übersieht  man  noch  ganz  gut  das  Tal. 

An  die  Abhänge  der  „Kamenä",  und  zwar  in  der  östlichen  Ecke 
der  „Kopanina",  schliessen  sich  die  steilen  Lehnen  der  „Riva"  (fälschlich 
„Hfiva")  an  und  ziehen  sich  in  südöstlicher  Richtung  weiter.  Der  Name 
Riva  wird  von  „riv"  abgeleitet  und  bedeutet  Grenzsicherung  eines 
Ortes  oder  Gebietes,  in  unserem  Falle  der  Verteidigungsanlage. 

An  der  südlichen  Seite  der  „Kopanina"  zieht  sich  ein  Graben, 
anfänglich  breit  und  massig  gesenkt,  der  aber  dann  immer  tiefer 
wird,  bis  er  endlich  als  enge  Talfurche  mit  steilen  Hängen  in  das 
Adlertal  einmündet. 

Auf  dem  Wege  dahin  passiert  er  zuerst  den  Wald  „Zämeckä", 
welcher  einen  Teil  der  südlichen  Lehne  der  „Kopanina"  bildet.  Der 
Name  „Zämeckä"  ist  nicht  von  Wohnschloss  (pansky  zämek)  abge- 
leitet, denn  Landsberg  wurde  stets  als  „hrad"  (Burg)  deklariert.  Das 
Wurzelwort  „zam"  bedeutet  eine  Absperrung  behufs  Verteidigung,  also 
einen  geschlossenen  Eingang.  In  unserem  Falle  ist  es  der  gesperrte 
Zugang  zur  „Kopanina". 

Weiter  erhebt  sich  am  südlichen  Rande  der  „Kopanina"  die  so- 
genannte „Rovina".  Es  ist  dies  ein  Berg,  dessen  oberes  Plateau  in  die 
Kopanina  übergeht  und  gegen  die  Talfurche  mit  sehr  steilen  Abhän- 
gen abfällt.  Da  er  hier  so  exponiert  bei  dem  vorüberführenden  Graben 


234 

sieh!,  so  erhielt  er  wahrscheinlich  deshalb  seinen  Namen.  Zur  Vertei- 
digung eignet  er  sich  vorzüglich.  Die  meisten  Namen  dieser  Richtung 
sind  aber  durchaus  nicht  von  „rovina"  (Ebene)  sondern  von  „rov" 
(Graben)  abzuleiten.  Ein  Beispiel  haben  wir  an  Rovensl^o  (Stadt  bei 
Turnau  in  Böhmen).  In  uralten  Zeiten  soll  die  Iser  (Oizera)  bei  Klein- 
skal  (Mala  Sl^äla)  eine  grosse  Stromschnelle  gebildet  haben,  infolge- 
dessen dort  das  gestaute,  überschüssige  Wasser  zwischen  den  Bergen 
Hamstejn  und  Koberov  durch  einen  „rov"  (Graben,  Flussbett)  gegen 
Rovensko  strömte,  was  die  damalige  slavische  Urbevölkerung  ver- 
anlasst haben  mochte,  der  Ansiedlung  den  Namen  „Rovensko"  zu 
geben. 

Die  weitere  Begrenzung  der  „Kopanina"  gegen  Süden  bildet  die 
Waldparlie  mit  Namen  „Siiiddnka  u  stareho  domii"  (Brunnen  beim  alten 
Hause). 

An  der  Westseite  wird  die  „Kopanina"  von  schroffen  Abhängen 
begrenzt,  die  sich  bis  zur  sogenannten  „Havlickova  studdnka"  (Ha- 
vlicek- Brunnen)  hinziehen.  Dieser  Brunnen  bildet  die  Wasserstation 
von  Landsberg,  denn  die  „Budy"  wurden  später  zu  Landsberg  einbe- 
zogen ;  er  liegt  ziemlich  hoch  und  konnte  während  des  Bestandes  der 
Verteidigungsanlage  in  dieselbe  miteinbezogen  werden.  Auch  in  der 
Burgruine  von  Landsberg  finden  wir  bis  heute  noch  Spuren  eines 
verschütteten  Brunnens,  der  die  Burgbewohner  inbezug  auf  den  Wasser- 
bedarf von  aussen  unabhängig  machte. 

An  und  für  sich  würde  dieser  hier  beschriebene  Bodenkomplex 
hingereicht  haben  eine  Verteidigungsanlage  zu  bilden,  umsomehr  als 
auch  die  vitale  Wasserfrage  hier  keine  Schwierigkeiten  machte ;  da 
aber  der  Ausblick  von  der  „Kopanina"  gegen  Süden  durch  eine  höhere 
Bergmasse  verlegt  ist,  erweiterte  man  wahrscheinlich  die  Verleidi- 
gungssphäre  bis  zur   sogenannten    „Certova  brdzda"    (Teufelsfurche). 

Es  würde  zu  weit  führen  auch  dieses  Terrain  eingehend  zu  be- 
handeln, aber  es  müssen  hier  doch  die  wichtigsten  grenzbestimmenden 
topischen  Namen,  die  überzeugend  für  die  Qualifizierung  der  Vertei- 
digungskapazität der  Schutzwehren  der  Urzeit  sprechen,  angeführt 
werden. 

Wie  schon  angedeutet,  zieht  sich  von  der  „Kamenä"  in  süd- 
östlicher Richtung  die  „Riva"  (Hfiva)  bis  zum  529 //?  hohen  „Hültungs- 
berge",  einem  wichtigen  Aussichtspunkte.  Die  „Riva"  schützt  die  Ost- 
seite des  Terrains.  Gegen  Süden  bildet  „Certova  brdzdü"  die  ver- 
teidigungsfähige Grenze.  In  den  ältesten  Zeiten  hiess  sie  wohl  „Crta" 
oder  „Cernd  brdzda"  (Grenzlinie,  Grenzfurche).  Gleich  beim  Eingang 
in  dieselbe  steht  der  Berg  „Geierkopf",  von  „gaj",   „häj"   abgeleitet, 


286 

und  bedeutet  Scliutzpunkt.  An  die  Lehne  „Certova  hrazda,,  schliesst 
sicti  die  Bergmasse  der  „Koppe"  an,  welche  sich  bis  zur  Stillen 
Adler  hinzieht.  In  der  oberen  Partie  der  „Koppe"  starrt  ein  kolossaler 
Fels  aus  der  Lehne,  „Kilei"  oder  „Kiklei"  genannt,  der  aber  eigentlich 
von  „Kukla"  (     Aussichtspunkt)  abgeleitet  ist. 

Da  „Koppe"  (Kupa)  auch  von  „kopa"  (Gegrabenes)  abgeleitet 
wird,  50  dürfte  wahrscheinlich  der  Fels  (kukla)  durch  Abgrabung 
blossgelegt  worden  sein,  denn  hier  bestand  ein  „vir",  (Wachstelle, 
Sicherheitsvorsorge),  was  aus  dem  Namen  des  unterhalb  der  „Koppe" 
liegenden  Dorfes    „Cernovir"  (Grenzwache)  hervorgeht. 

Die  westliche,  sehr  steil  abfallende  Lehne  der  „Koppe"  heisst 
„Mednä"  (Honiglahn).  Med,  Meda,  Medky  u.  a.,  folglich  auch  „Mednä", 
bezeichnen  sprachlich  Ufer  oder  Grenze.  Knapp  an  der  Mednä 
fliesst  die  Stille  Adler  vorüber,  welche  zwei  Nachbargebiete  einst 
trennte.  Drüben  am  jenseitigen  Ufer  liegt  „3ankovic",  einen  Grenz- 
streifen bedeutend  (also  nicht  von  „3an"  abgeleiteti  und  der  Berg 
„Vadetin"  (vad,  vod)  mit  der  Waldblösse  „Scheibe"  (böhm :  Sejb). 
Eine  zweite  „Scheibe"  liegt  bei  Dobrouc*)  nahe  an  der  Stillen  Adler. 
Hier  steht  ein  Meierhof  (Scheibenhof,  sejbsky  dvür)  auf  einer  massi- 
gen Anhöhe  und  weist  das  Terrain  gegen  den  Fluss  zu  einen  terras- 
senförmigen Charakter  auf,  der  auf  einen  Aufwurf  deutet.  Es  scheint, 
als  wäre  hier  einstens  eine  Sicherheitsvorsorge  gewesen,  denn 
„Scheibe"  ist  fast  überall  die  Korrumpierung  des  altslavischen  „sip" 
(^Aufwurf;  böhm:  näsyp,  syp,  sejp,  sejb  -  Scheibe). 

Die  Mednä  biegt  in  die  Furche  ein,  wo  sich  die  „Studdnka  u 
stareho  domu"  befindet  und  schliesst  somit  die  Peripherie  der  ganzen 
Befestigungsanlage  von  Landsberg  verteidigungstechnisch  ab.  —  Regel- 
recht reihen  sich  also  die  einzelnen  Grenzsicherungen  aneinander; 
kein  Zufall  ist  es,  sondern  der  menschliche  Selbsterhaltungstrieb  fügte 
sie  zu  einem  Ganzen  zusammen,  was  auch  die  Physiognomie  bestätigt. 

Und  so  schliessen  wir  mit  der  festen  Überzeugung,  dass  hier 
in  diesem  Gelände,  wo  jetzt  zumeist  nur  düsterer  Wald  den  Boden 
beschattet,  in  uralten  Zeiten  ein  Kampfplatz  gewesen,  ein  sicherer 
Hort  der  daselbst  wohnenden   Völker.    Längst  sind  zwar  die  Wälle, 

*)  Der  Zufall  brachte  es  mit  sich,  dass  der  Name  »Dobrouc«,  den  der  Ver- 
fasser hier  nicht  etymologisch  behandelt,  im  nachfolgenden  Artikel  sprachlich  ge- 
deutet wird.  Bemerkenswert  ist  es  aber  hiebei,  dass  der  Verfasser  ohne  Kenntnis 
dieser  Etymologie  anführt,  dort  einen  »Aufwurf«  oder  eine  »Sicherheitsvorsorge« 
zu  sehen;  dieses  »Sehen«  hat  ihm  also  nicht  die  Etymologie  des  Begriffes  »Do- 
brouc« suggeriert,  sondern  er  sah  dies  eben  unbeeinflusst  in  der  Natur;  dass  er 
aber  nicht  schlecht  gesehen,  das  beweist  erst  nachträglich  die  Etymologie  des  Na- 
mens »Dobrotice«.  A.  d.  Red. 


236 

Pfahlzäune  und  Bollwerke  im  Flusse  der  Zeit  verschwunden,  aber 
lopische  Namen  mit  slavischen  Sprachwurzeln  und  die  hiemit  über- 
einstimmende Physiognomie  der  Gegend  sind  geblieben  und  verkünden 
der  Nachwelt,  dass  die  Urvölker,  die  hier  einst  hausten,  Slaven 
waren. 

Sollte  der  Verfasser  hiemiet  überdies  einen  weiteren  Impuls 
gegeben  haben  in  anderen  Gegenden  in  ähnlicher  Weise  das  nun 
offene  Geheimnis  der  Ortsnamenentstehung  zu  überprüfen  und  zu 
verwerten,  so  werden  die  Forscher  hiebet  dieselbe  innige  Freude 
empfinden,  wie  der  Anreger,  denn  der  Eindruck,  dass  wir  hiemit 
wieder  um  einen  Riesenschritt  in  das  Dunkel  der  slavischen  Vergan- 
genheil vorgedrungen  sind,  wird  in  jenen  Momente  zur  Überzeugung, 
als  man  für  einen  topischen  Namen  zugleich  den  konkreten  Beleg 
in  der  Natur  vorfindet;  einen  solchen,  so  harmonisch  stimmenden 
Namen  kann  aber  doch  nur  jener  gegeben  haben,  in  dessen  Sprache 
dieses  alte  Objekt  in  der  Natur  genau  so  lautet,  wie  er  es  auch  heute 
bei  gleichen  Prämissen  benennen  würde. 

Fr.  Eger le. 
* 

II,  Dobrotice. 

(Bezirk  Holleschau,  Mähren.) 

Etymologie.  Im  Altslavischen  bedeutet  „dober,  dabr"  noch: 
tapfer,  stark,  fest,  und  ist  der  deutsche  Begriff  „tapfer"  sonach 
aus  der  nordslavischen  Form  „dabr"  gebildet;  Dobrotice  deutet  sonach 
auf  einen  festen  Punkt,  wo  man  sich  dem  Feinde  mit  Erfolg  ent- 
gegenstellen kann. 

Belege  für  diese  Etymologie.  Die  Ansiedlung  liegt  zwar 
im  Rusava-Tale,  aber  am  rechten,  steil  abfallenden  Ufer  befindet  sich, 
wie  die  beigegebene  Illustration  zeigt,  eine  noch  heute  im.ponierende 
Wallburg.  Die  Stelle  heisst  auch  tatsächlich  „Hradisko".  Von  der 
Mühle,  „Vantrocky  mlyn"  genannt,  führte,  der  Volkstradition  nach, 
ein  unterirdischer  Gang  zum  „Hradisko".  Ein  Feld  zunächst  dieser 
heisst  heute  „Nad  hroby",  also  „Ober  den  Gräbern".  —  Diese  Ety- 
mologie bestätigt  und  rechtfertigt  sonach  den  Ortsnamen,  da  die 
Prämissen  eben  in  der  Natur  noch  offen  sichtbar  sind.  Ob  ein  unter- 
irdischer Zugang  zur  Wallburg  führte,  wäre  durch  systematische 
Grabungen  leicht  festzustellen ;  das  Vorhandensein  eines  solchen  ist 
aber  nahezu  zweifellos,  denn  man  musste  sich  doch  den  Wasser- 
bezug irgendwie  sichern,  da  in  der  Wallburg  keine  Zisterne  zu  be- 
merken und  noch  weniger  eine  Quelle  vorhanden  ist ;  überdies  war 


237 


es  nolwendig.im  Falle  der  Erstürmung  der  Wallburg  für  eine  sichere 
Rückzugslinie  vorzusorgen.  —  Für  das  Aller  des  Dorfes  Dobrolice 
würde  aber  namenllich  die  weniger  umständliche  Öffnung  jener 
erwähnten  Begräbnislokalität  einen  ergänzenden  Beleg  bieten,  denn 
sind  die  Grabbeigaben  prähistorischer  Natur,  so  kann  die  Wallburg, 
wie  man  jetzt  annimmt,  auch  nicht  erst  dem  Xlll.  Jahrhunderte  an- 
gehören, und  noch  weniger  zutreffend  ist  die  landläufige  Etymologie, 
der  Ort  habe  von  einem  Herrn,  der  „Dobrota"  (  Güte)  hiess,  den 
Namen. 


Hradisko  Dobrotice. 


Alle  lopischen  Namen  des  Grundwortes  „dobr"  müssen  sonach 
überrall  die  Anregung  geben,  die  Belege  für  diese  Namengabe  nun 
ernstlich  in  der  Dorfflur  zu  suchen. 

A.  N  0  V  0 1  ny. 

M.  Zunkovic: 

Die  Ortsnamen  in  Albanien. 

Eine  gewisse  Gilde  von  Journalisten  und  Sprachforschern  ad 
hoc  bemüht  sich  dermalen  ostentativ  dem  präsumtiven  Albanien  einen 
uralbanischen  Alterscharakter  aufzudrücken,  was  allerdings  nur  jene 
faszinieren  kann,  die  von  Geschichte  nichts  wissen  oder  wissen 
wollen,  namentlich  aber  von  der  Sprache  der  lopischen  Begriffe  da- 
selbst keine  Ahnung  haben.  Die  älteste  Namenskunde  wie  die  Sprache 
und  Bedeutung  der  topischen  Begriffe  daselbst  sagt  aber  das  gerade 
Gegenteil,  und  beweisen  dies  auch  die  Vorgänge  der  jüngsten  Zeil- 
epoche. 


238 

Da  ist  vor  allem  der  einstige  österreichische  Generalkonsul  von 
Skutari,  Theodor  Ippen,  der  in  den  „Mitteilungen  der  Geographischen 
Gesellschaft"  (Dahrgang  1904)  das  k.  u.  k.  Militärgeographische  In- 
stitut (Wien)  deshalb  besonders  hervorhebt,  weil  es  die  slavischen 
Ortsnamen  Albaniens  in  der  Generalkarte  1  :  300.000,  in  der  jüngeren 
Ausgabe  1  :  200.000  schon  eliminiert  und  überall  durch  die  landes- 
übliche albanische  Bezeichnung  in  richtiger  Form  ersetzt  hat.  Das- 
selbe geschah  mit  den  griechischen  Namen.  Ippen  ist  auch  mit  der 
weiteren  Anführung  der  türkischen  Namen  nicht  zufrieden,  denn  er 
meint,  dass  solche  in  Albanien  gar  nicht  vorkommen,  und  wenn  ja, 
50  seien  es  nur  irrige  Übersetzungen,  welchen  echte  albanische 
Namen  durch  türkische  Behörden  unterlagen.  Eine  analoge  Entstehung 
haben  angeblich  die  italienischen  Ortsnamen  daselbst. 

Einige  Berechtigung  hat  diese  Behauptung  allerdings:  man  ging 
nämlich  mit  den  altherkömmlichen  Ortsnamen  hier  genau  so  vor,  wie 
ansonsten  deutscherseits :  man  übersetzte  sie  gelegentlich,  wenn  man 
sie  verstand  oder  zu  verstehen  glaubte,  oder  man  verstümmelte  sie 
durch  Anpassung  an  die  eigene  Sprache  oder  Sprechweise,  ansonst 
blieb  aber  alles  in  der  alten  Verfassung,  denn  dass  der  Grundstock 
aller  topischen  Begriffe  Albaniens  von  den  illyrischen  Slaven  des 
Altertums  herrührt,  steht  über  allem  Zweifel,  und  mögen  diese  posi- 
tive Behauptung  nachstehende  typische  Beispiele  erhärten. 

So  gibt  es  z.  B.  um  das  heissumstrittene  „albanische"  Skutari 
(Skadar,  Skodra)  nur  fortifikatorische  Vorwerke  mit  Namen  rein- 
slavischer  Genesis,  denn  „Tarabos"  bedeutet:  Einfriedung  („tarabe" 
Zaun,  Palisaden);  „Bardanjol" :  Schutzpunkt  („varda"  Wache, 
Wachthaus);  „Brdica"  Umzäunung  (vrl  ^  Zaun,  umzäunter  Raum); 
„Obora"  Umwallung  (oboriti  ringsum  befestigen)  usw.  Ein  über- 
eifriger Enthusiast  für  das  „albanische"  Skutari  fand  sogar  heraus, 
dass  „Mali  Bardanjol"  sprachlich  albanisch  sei,  denn  „mali"  sei  hier 
nicht  identisch  mit  dem  slavischen  klein,  sondern  habe  im  Alba- 
nischen die  Bedeutung:  Berg.  Nun,  dem  steht  gegenüber  die  Tat- 
sache, dass  sich  dort  auch  der  „Grosse  Bardanjol"  befindet;  das 
Attribut  „Gross"  und  „Klein"  kann  sich  daher  hier  wohl  nur  auf  die 
Höhenrelationen  oder  auf  den  taktischen  Wert  der  beiden  Höhen  be- 
ziehen. In  der  Ursprache  bedeutet  aber  „mal"  auch  nicht  „klein", 
auch  nicht  „Berg",  sondern  Grenze  oder  Grenzgebiet. 

In  weiterer  Nähe  von  Skutari  finden  sich  gleichfalls  nur  rein- 
slavische  Ortsnamen  vor,  wie  :  Stitar  (  Schulzpunkt ;  eine  Burgruine), 
Spasari  (  Zufluchtsort,  d.  i.  „spas"),  Gredistar,  Crveni  kamen,  Drac 
(wiederholt),  Mali  barz  (Mali  var),  Gorica  (oftmals),  Spasit,  Vranci 
(Branci),  Velja,  Drin,  Drinaca,  Varos  u.  ä. 


239 

Dies  alles  sind  jedoch  Namen  aus  dem  nördlichen  Albanien, 
die  man  allenlhalben  als  von  den  Serben  beeinflussl  ansehen  könnte. 
Doch  auch  die  neuen  Generalkarlen  von  Durazzo  und  Elbassan  weisen 
noch  immer  zahlreiche  slavische  Ortsnamen  auf;  woher  sind  denn 
diese  gekommen  oder  weshalb  haben  sie  sich  nach  der  Berichtigung 
noch  weiter  erhalten,  wenn  daselbst  von  altersher  alles  so  ausge- 
sprochen „albanisch"  ist?  Sind  nachstehende  topische  Namen,  die 
man  ansonst  gleichfalls  überall  findet,  auch  albanisch,  wie:  Gabrova 
Kamnica,  Cerveni,  Goricanu,  Gurza,  Boka,  Kosovo,  Cirma,  Kazi, 
2abjak,  Zarnec,  Kula,  Siraz,  Vojvodani,  Zelenik,  Duza,  Grazdani, 
Lozani,  Banja  (Schwefelquelle),  Gorica,  Vodica,  Vojan,  Gradista,  Berat 
(slavisch  Beligrad  mit  der  Umgebung :  Gorica,  Dusnika,  Bragas,  Sta- 
rovo,  Velebiste,  Brestjani,  Gorjan,  Bistrovica,  Morava),  Mali  Cernika, 
Borova,  Bregu,  Livadi  und  hunderte  anderer,  die  alle  nur  jenen  Ge- 
bieten entnommen  sind,  welche  heute  als  rein  und  ungemischt  al- 
banisch angesehen  werden?  Anerkannt  slavische  Gebiete  Albaniens 
wurden  aber  hier  überhaupt  nicht  einbezogen.  Will  man  daher  alle 
diese  Namen  ,, albanisch"  machen,  so  wird  man  die  Karten  noch 
etliche  Male  ändern  müssen,  und  nehme  man  sich  hiezu  vielleicht 
die  Magyaren  zum  Muster,  die  gewiss  die  Nostrifizierung  von  Orts- 
namen verstehen,  wie  sonst  niemand !  Vielleicht  täuscht  man  sich 
aut  diese  Art  doch  noch  leidlich  hinweg,  dass  jene  Gegenden  einst 
von  Originalslaven  bewohnt  waren,  da  dies  einstweilen  so  sicrend 
wirkt. 

Übrigens  hat  das  albanische  Idiom,  trotz  der  geringen  Ver- 
breitung, eine  Menge  durch  das  Slavische,  Italienische  und  Griechische 
beeinflusster  Dialekte,  daher  man  eigentlich  gar  nicht  weiss,  welcher 
der  albanische  par  excellence  ist;  und  diese  haben  auch  schon  die 
vorgefundenen  slavischen  Namen  genügend  korrumpiert  oder  ihrer 
Eigenart  angepasst;  so  spricht  der  Albaner  z.  B.  das  slavische 
„Crmljan"  als  ,,Semian",  „Ratkovce"  als  ,,Ratkoc"  aus. 

Es  wäre  daher  sehr  angezeigt,  die  heutigen  reinen  oder  noch 
nicht  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellten  Ortsnamen  auf  dem  alba- 
nischen Territorium  wissenschaftlich  noch  in  genaue  Evidenz  zu 
nehmen,  denn  die  Zukunft  dürfte  da  in  rücksichtslosester  Weise  die 
Originalität  der  topischen  Namen  daselbst  mit  Vorbedacht  weiter  un- 
kenntlich machen  und  auf  diese  Weise  die  etymologische  Entkernung 
derselben  für  die  Zukunft  noch  schwieriger  gestalten,  Dass  sich  die 
massgebenden  Kreise  weiter  um  die  Erhaltung  der  sprachlichen 
Kulturdenkmäler  oder  gar  um  die  Konservierung  der  historischen 
Namensformen  daselbst  kümmern  könnten,  wird  wohl  nach  den  ge- 
gebenen Erfahrungen  niemand  erwarten  oder  voraussetzen,  da  hiezu 


240 

nicht  nur  der  Wille,  sondern  auch  das  Verständnis  fehlt.  Zu  einer 
Akademie  aber,  die  eine  Art  slavisches  Sprachmuseum  wäre,  haben 
es  die  Slaven  leider  noch  immer  nicht  gebracht,  da  bisher  die  Er- 
kenntnis für  die  giosszügige  Auffassung  der  slavischen  Sprache,  Ge- 
schichte und  Kultur  vollends  mangelte. 

Um  unseren  Behauptungen  nur  einen  kleinen  Beweis  der  vollen 
Berechtigung  anzufügen,  seien  hier  einige  abenteuerliche  Blüten  der 
,,Albanesenkunde"  erwähnt,  wie  solche  z.  B.  Robert  Müller  (,, Wiener 
Mittags-Zeitung"  vom  2G.  September  1.  ü.)  in  einer  Form  bietet,  als 
würde  sich  ihm  tatsächlich  um  eine  ernste  Wissenschaft  handeln; 
hiebet  muss  er  aber  gar  nicht  gefühlt  haben,  dass  er  mit  seiner 
verworrenen  Logik  dem  logisch  Denkenden  gerade  das  sagt,  was  er 
mühevoll  verhüllen  will,  d.  h.  er  fand  in  den  Albanern  die 
Nachkommen  der  alten  Illyrer,  er  verschweigt  aber 
weislich,  dass  die  alten  Illyrer  Slaven  waren.  Er 
setzt  die  Slaven  nach  Kräften  herab  und  wirft  hiemit,  nachdem  er 
den  Albanern  tüchtig  Weihrauch  streut,  zum  Schlüsse  diesen  unbe- 
wusst  selbst  das  Rauchfass   an   den   Kopf.   Er   sagt  unter  anderem : 

,,Es  hat  lange  gebraucht,  bis  man  zu  der  Erkenntnis  eines 
illyrischen  Urvolkes  durchdrang.  Heute  liegt  die  Vermutung  nahe, 
dass  die  Illyrer  bei  der  Blulbildung  aller  historisch  wichtigen  Rassen 
zur  Synthese  der  kulturtragenden  Typen  beigetragen  haben.  Es  gibt 
und  gab  eine  Menge  merkwürdiger  Völker  in  Europa,  die  einesteils 
numerisch-  sehr  unansehnlich,  kulturell  andererseits  hervorragend 
keimtragend  gewesen  sind,  über  deren  letzte  ethnographische  Zuge- 
hörigkeit aber  die  Gelehrten  sich  nicht  einigen  können.  Der  intuitive 
Gedankensprung  einer  Zusammenfassung  auf  die  illyrische  Grund- 
einheit liegt  nahe  und  wird  vorläufig  von  keiner  Tatsache  weder 
bestätigt  noch  geleugnet.  In  dem  Hinterlande  nordöstlich  der  Adria 
lebt  noch  heute  der  Stamm  der  Rhäten  und  Furlaner.  Von  diesen  ist 
es  sicher,  dass  sie  physiologisch  ein  keltisch-illyrisches  Grenz-  und 
Übergangsvolk  sind  und  waren.  Ein  anderes  Problem  geben  die 
Etrusker  auf,  die  Stammväter  der  Römer,  die  alten  Tusker  im  heuti- 
gen Toskana.  Sie  hatten  eine  Schrift  und  Sprache,  die  nicht  die 
später  römische  war.  Eine  zweisichtige  Auffassung  leitet  sie,  die  sich 
auch  Raseni  hiessen,  einmal  von  den  Rhäten,  also  Illyrern  ab,  ein 
andermal  von  den  Tyrrhenern,  d.  i.  den  Pelasgern  des  alten  Hellas, 
die  vor  und  neben  eigentlichen  Hellenen  beglaubigt  sind.  Die  Rasener 
müssten  über  Land,  die  Tyrrhener  als  Piraten  eingewandert  sein, 
eine  Funktion,  die  ihrem  Wesen  als  illyrisches  Volk  entsprochen 
hätte.  Denn  die  Annahme,    dass  der  Stamm  der  Pelagesier  oder  Pe- 


241 

lasger,  d.  h.  der  Meerbefahrer,  nichts  anderes  denn  das  europäische 
Grundvolk  der  Illyrer  gewesen  sei,  gewinnt  nach  den  neuesten  For- 
schungen immer  mehr  an  Raum.  Zieht  man  als  letzte  Linie  in  dieser 
Berechnung  die  jüngste  Anschauung  von  Wilamowitz-Möllendorf  hinzu, 
so  ergibt  sich  ein  überraschend  einfaches  Resultat.  Nach  Wilamowitz- 
Möllendorf  sind  auch  die  alten  Dorer  nur  ein  hellenisiertes  Illyrer- 
mischvolk  gewesen,  die  Synthese  eines  ausserordentlich  kriegerischen 
und  eines  im  wesentlichen  künstlerischen  Volkes.  Die  harte  und 
kriegerische  Gesittung  der  Dorer,  deren  Kultur  nichts  als  ein  grosses 
System  des  Kriegsspiels  war,  findet  hier  eine  zufriedenstellende  Er- 
klärung. Weitaus  wahrscheinlicher  aber  ist  die  Annahme,  dass  auch 
die  pelasgische  Urbevölkerung  Griechenlands  aus  Illyrern  bestand. 
Da  ausser  den  Illyrern  keine  andere  zusammenhängende  Rasse  am 
Balkan  nachgewiesen  werden  kann,  die  Lebensfähigkeit  aber,  wenn 
man  sie  als  autogen  annimmt,  numerisch  so  schwacher  Rassen  den 
damaligen  Verhältnissen  entsprechend  unfassbar  ist,  so  liegt  der  ge- 
rade Schluss  vor,  dass  alle  die  undefinierbaren  Rassen  im  Süden 
Europas,  so  weit  sie  nicht  Hellenen  und  Italer  waren,  nur  Stämme 
einer  einheitlichen  illyrischen  Rasse  gewesen  sind.  In  den  Tugenden 
der  etruskischen  Römer  und  Dorer,  die  einander  ähnlicher  sind  als 
Dorer  und  Oonier  im  engeren  Kreise,  ist  also  vielleicht  die  spezifisch 
kriegerische  Initiative  des  alten  Illyrers  zu  erkennen." 

Zum  Schlüsse  stellt  Müller  noch  den  überraschenden  Satz  auf, 
die  Albanasen  seien  die  überlebenden  Ureuropäer,  was  nach 
der  allgemeinen  Hypothese  allerdings  stimmt,  denn  die  Illyrer  kön- 
nen füglich  in  erster  Linie  als  ein  Urvolk  angesehen  werden,  da  ihr 
Volksname  schon  an  1100  üahre  v.  Chr.  festgelegt  ist.  Desgleichen 
ist  Miüllers  Behauptung,  die  alten  Griechen  seien  auch  Illyrer  gewe- 
sen, begründet,  denn  jenes  Volk,  das  einst  seinen  Gebirgen,  Flüssen, 
Ansiedlungen  u.  dgl.  auf  dem  Peloponnes  slavische  Namen  gab,  wie: 
Zavica  (Savica),  Opsina  (Opcina),  Cerniza,  Grebeno,  Chelm,  Dragalibo, 
Ezero,  Vardunia,  Vardonica,  Sela,  Selica,  Brinda,  Varsova,  Chlumuca, 
Kosovo,  Polovica,  Gorica,  Krivica  (Grivica),  Kaminica,  Straz  (Straza) 
u.  ä.,  war  jedenfalls  kein  exotisches  oder  albanesisches  im  heutigen 
Sinne,  sondern  tatsächlich  ein  illyrisches,  d.  i.  mit  den  Slaven  iden- 
tisches Volk,  was  nur  besagt,  dass  die  Albaner,  Illyrer,  Kelten,  Etrus- 
ker  usw.  dasselbe  europäische  Urvolk  mit  diesen  Untertiteln  wa- 
ren, die  man  aber  heute  eben  kollektiv  als  Slaven  benennt. 

Müller  weiss  aber  noch  mehr;  er  sagt  auch:  „Die  Sprache  der 
Albaner  gehört,  wie  jene  der  Kelten,  Italer,  Hellenen  und  Germanen 
zu  den  voka lisch  wohllautenden;  weitaus  fremder  wirkt  der  sla- 
vische Konsonant."  Dies  Urteil  bezog  Müller  zum  Teile  wohl  aus 

16 


242 

dem  3enseits,  denn  wir  haben  doch  keine  Phonogramme  aus  der 
allen  Zeit;  überdies  ist  es  höchst  widersinnig,  bei  der  Beurteilung 
mehrerer  Sprachen  hier  die  Vokale,  dort  die  Konsonanten  als  Mass- 
stab anzusehen ;  nebstbei  muss  der  Verfasser  überhaupt  keine  sla- 
vische  Sprache  kennen,  wenn  er  so  urteilt,  sowie  auch  kein  Gehör 
für  die  deutsche  Sprache  haben,  sofern  er  z.  B.  in  den  deutschen 
Wörtern:  nichts,  stracks,  Strunk,  stampfst,  strotzst  u.  ä.  etwa  voka- 
lischen Wohllaut  empfindet. 

Es  ist  auch  nichts  leichter,  als  den  deutschen  Lesern  über  die 
Slaven  jedes  beliebige  Märchen  zu  erzählen,  weil  sie  von  der  sla- 
vischen  Wissenschaft  nichts  wissen  und  sich  hierüber  auch  nicht  be- 
lehren lassen  wollen ;  und  doch  wäre  gerade  die  gründliche  Kennt- 
nis der  geistigen  Relationen  der  Völker  eines  Staates  die  festeste 
Brücke  zur  gegenseitigen  Achtung,  daher  auch  zum  Völkerfrieden; 
mit  der  Fabrikation  wissenschaftlicher  Lügen  wird  hingegen  die  Sache 
nur  noch  trostloser.  — 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  die  Etymologie  der  Bezeichnung 
„Albaner"  und  des  Namens  „Skutari"  dargelegt. 

Die  Albanesen  belegen  sich  selbst  durchaus  nicht  mit  diesem 
Namen,  sondern  sie  sagen  immer:  ich  bin  ein  „arbanas" ;  und  die- 
ses Wort  ist  selbst  aus  dem  slavischen  „arvati,  rvati"  hervorgegan- 
gen, das  kämpfen,  raufen  bedeutet;  der  „arbanas"  ist  sprachlich 
daher  dasselbe  wie  „Hrvat",  d.  i.  Krieger,  Kämpfer. 

Dasselbe  gilt  betreffs  der  Stadt  Skutari,  welche  die  Slaven 
als  S  k  a  d  a  r  (früher  S  k  o  d  r  a)  bezeichnen.  Das  Grundwort  ist  „kotar" 
(auch  ,,kotor"),  d.i.  Kreis,  Bezirk,  Umgrenzung,  wie  der  B e- 
zirk  im  Serbo-kroatischen  eben  im  allgemeinen  heisst,  und  wieder- 
holt sich  dieselbe  Regel  gleich  wieder  beim  benachbarten  Caltaro, 
slov.  Kotor;  das  Präfix  „s",  womit  der  Slave  immer  eine  gewisse 
Abgeschlossenheit  hervorheben  will,  bildete  sich  jedoch  allem  An- 
scheine nach,  als  Skutari  zu  einer  zentralen  Festung  wurde,  daher 
von  da  an  ,,Skotar"  lautete.  Im  allgemeinen  bezeichnet  das  slavische 
,,kot"  den  Winkel,  die  Grenzecke;  im  Französischen  ist  ,,cote"  Küste, 
Ufer,  im  Italienischen  „coda"  Ende ;  der  Begriff  , .Hotterhaufen"  be- 
zeichnet im  Deutschen  das  meist  aus  Klaubsteinen  errichtete  Grenz- 
zeichen.  Im  Albanischen  bedeutet  jedoch  „kodra"  Hügel  im  allge- 
meinen ;  betrachtet  man  aber  die  Karte,  so  fällt  es  auf,  dass  so  be- 
zeichnete Höhen  immer  an  Grenzen  politischer  Richtung  liegen.  Ein 
Vorwerk  der  alten  Festung  Alessio  (Ljes)  heisst  der  geschilderten 
Sprachgenesis  nach  daher  auch  nicht  ,,Skodra",  sondern  nur  „Kodra". 
Den   Grenzcharakter    dieses   Begriffes   bestätigt    auch   die   russische 


243 

kleine  Münze  ,,kodrant",  d.  i.  die  Zolltaxe  bei  der  Grenzpassierung, 
welche  sprachliche  Bildung  doch  die  meisten  Münzen  niederer  Werte 
aufweisen. 

Die  Slavizität  Skutaris  bezeugt  auch  der  Umstand,  dass  sich  dort 
schon  im  Jahre  1560  eine  glagolitische  Buchdruckerei  befand,  die 
allerdings  sehr  bald  durch  die  türkische  Roheit  und  Bildungsfeindlich- 
keit vernichtet  wurde.  Von  den  daselbst  gedruckten  Werken  haben 
sich  eine  Faslenhomilie  und  ein  Pentekostar  noch  als  Inkunabeln 
(Wiegen-,  Erstlingsdrucke)  erhalten. 

Spricht  daher  heute  jemand  davon,  dass  die  Serben  in  Albanien 
die  Ortsnamen  slavisieren,  so  weiss  er  eben  nicht,  dass  diese  Namen 
an  sich  fast  durchwegs  slavisch  sind,  und  dass  die  Serben  eben  nur 
die  Originalnamen  gebrauchen;  drängt  aber  jemand  dahin,  dass  die 
Kartenerzeugung  die  Originalnamen  albanisiere,  so  mag  dies  vom 
politischen  Standpunkte  hingenommen  werden,  denn  Ähnliches  wie- 
derholt sich  anderswo  auch,  aber  vom  Standpunkte  der  Geschichte 
und  Sprache  als  Wissenschaft  ist  dies  eine  offene  —  Barbarei.  — 


Slavische  Qeschichtsquellen. 


V.  Eine  kroatische  Chronik  aus  dem  XL  Jahr- 
hunderle. 

Mitgeteilt  von  Dr.  Fr.  Pfikryl. 

(Schluss.) 

In  dieser  Zeit  kamen  auch  Gesandte  vom  Kaiser  Michael,''^) 
welche  mit  grossen  Ehren  empfangen  wurden.  Unter  den  Versammelten 
waren  verschiedene  Völkerschaften'-)  vertreten.  Mit  ihnen  begann 
der  gute  König  nun  den  heiligen  Unterricht,  und  widmete  den  Sat- 
zungen zwanzig  Tage,  von  denen  er  durch  acht  Tage  nichts  als 
den  kirchlichen  Standpukt,  das  zur  Kirche  Gehörige,  die  bezügliche 
Ordnung  Schaffende  und  den  Weg  zur  Erlösung  Vorbereitende  besprach. 

•''')  Michael  III.,  mit  dem  Beinamen  der  Trunkenbold,  regierte  von  842 — 867 
in  Konstantinopel.  Diese  Angabe  stimmt  wieder  vollkommen  zu  den  sonstigen 
Zeitdaten.  Es  scheint  daher,  dass  Dukljanin  doch  eine  ältere  Vorloge  hatte,  die 
entweder  er  selbst  falsch  interpretierte  oder  irrtümlich  berichtigte,  oder  aber  ent- 
hielt diese  selbst  geschichtlich  falsche  Angaben. 

''■]  »Jazik«  bedeutet  in  der  altslavischen  Kirchensprache  so  viel  als  »narod«, 
d.  i  Volk,  womit  nur  festgelegt  wird,  dass  man  damals  alle,  die  dieselbe  Sprache 
sprachen,  als  e  i  n  Volk  ansah. 

16* 


244 


Vier  folgende  Tage  las  er  die  allen  Privilegien,  die  aus  Rom  gebracht 
wurden,  u.  zw.  sowohl  die  griechischen,  sowie  jene  aller  Königreiche 
und  Herrschergebiete  der  kroatischen,  küstenländischen  und  zagorski- 
schen  Sprache.  Da  hörte  nun  einmal  das  Volk,  wie  die  alten  vom  Papste 
und  Kaiser  gesendeten  Privilegien  aller  Länder  lauten,  wie  ein  Land 
vom  anderen  abgetrennt  ist,  wie  ein  Land  im  Vergleiche  zum  anderen, 
ein  Volk  vom  anderen  und  ein  Königreich  vom  zweiten  geehrt  wird. 
Nachdem  sie  dies  alles  verstanden,  war  der  König  darüber  sehr 
erfreut,  sowie  auch  alle,  die  dort  vereinigt  waren.  Die  Kardinäle  und 
Bischöfe  weihten-'^)  nun  mit  Willen  des  Volkes  den  König,  bestätigten 


Au-^gc!;iarL'nL'    altchristli che    Dcnlv niälcr   in   Salona. 

ihn  in  der  Königswürde  und  befahlen  allen  ihm  unterstellten  Ländern 
dem  Willen  des  Königs  und  seinen  Nachfolgern  gehorsam  zu  sein. 
Hierauf  wurden  Erzbischöfe  und  Bischöfe  ernannt,  geweiht  und 
in  die  Städte  verteil},  ähnlich  wie  es  vor  dem  Zerfalle  war,  und  in 
Zukunft  sein  solle.  So  sandten  sie  zwei  Erzbischöfe  ab,  u.  zw.  den 
einen  in  die  schöne  aber  unglückliche  Stadt  Solin,  von  der  wenig 
oder  nichts  übrig  geblieben  war,  da  sie  durch  die  unbarmherzigen 
Goten  niedergebrannt  und  zerstört  wurde,  ')    den  zweiten    aber  nach 

^■*)  In  der  lat.  Handschrift:  »coronatus  more  Romanorum  Kegum  <,  d.  h.  er 
wurde   nach  Art   der   römischen    Könige    gekrönt. 

■''')  In  der  lat.  Handschrift  erwähnt  Dukljanin  zwar  über  derartig.;  Schicksale 
Solins  nichts,   obschon   es  naheliegend    ist,   dass   diese   Stadt   nichl   verschont   blieb, 


245 

Duklja.  Mehrere  Bischöfe  wurden  in  die  Ortschaften  verteilt  und  den 
erwähnten  Erzbischöfen  untergeordnet  u.  zw.  soviel  unter  jeden,  so- 
viel als  Kirchen  gesperrt  und  wieder  geöffnet  wurden,  indem  den 
Erzbischöfen  und  Bischöfen  aufgetragen  wurde,  die  Kirchen  neu  zu 
weihen. 

Auch  erliess  der  König  einen  strengen  Befehl  an  alle  Ortsge- 
meinden, die  Kirche  und  die  kirchliche  Sache  zu  schützen,  sowie  dass 
niemand  Gewall  übe  weder  an  der  Kirche,  noch  irgendwie  an  den 
Mönchen ;  desgleichen  dass  niemand  eine  Gewalt  gegen  sie  habe 
oder  welche  Freiheiten,  ausgenommen  deren  Häupter,  die  Erzbischöfe 
und  Bischöfe.  Wer  etwas  dagegen  unternimmt,  unternimmt  dies  gegen 
den  König  und  die  Krone,  daher  gegen  das  Königreich.  So  ordnete 
er  die  kirchlichen  und  geistlichen  Angelegenheiten  in  gerechter  Weise; 
daraufhin  verteilte  er  das  Land  im  Sinne  der  zwei  erwähnten  Privi- 
legien, ')  setzte  die  Grenzen  fest,  sowohl  zwischen  den  Städten  und 
Gemeinden.  Er  schafft  den  Städten  und  Gemeinden  Statuten  und 
Gebräuche,  verteilt  die  Wasserbezüge  ")  und  ordnet  die  Einkünfte. 
Allen  Gebieten  setzt  er  die  Grenze  fest  und  benannte  alles,  was  von 
jener  Gebirgsseite  zum  Meere  liegt  als  das  „Küstenland",  und  alle 
Flüsse,  die  von  den  Bergen  des  Westens  entspringen  und  zum  grossen 
Flusse  Dunaj  (Donau)  zustreben,  bildeten  das  Gebiet  „Surbia".'")  Des- 
gleichen teilte  er  das  Küstenland  in  zwei  Teile :  er  begann  bei  der 
Stelle  der  Stadt  Dalma,  die  von  den  Heiden  zerstört  wurde,  und  im 
Westen  lag,  bis  zum  Orte  Valdemin  '^) ;  von  Dalma  bis  Valdemin 
nennt  er  es  Weiss-Kroatien,' ')  d.  i.  das  liefere  Dalmatien.  Das 
Gebiet  von  Dalma  bis  zur  Stadt  Bandalona,*^*^)  die  jetzt  Drac")  heisst, 


denn  wie   die   beigeschlossene   Illustration,   die   einen   Teil   des   ausgegrabenen   alt 
christlichen   Friedhofes    und    der    ersten    Basilika    zeigt,    liegt    da    ofienkundig    eine 
gewaltsame  Zerstörung  vor. 

"*■']   Hier   werden    ausdrücklich    zwei    Privilegien    genannt. 

''■]  Es  zeigt  von  grosser  organisatorischer  Klugheit  die  verfügbaren  geringen 
Wasserresourcen,  die  im  Karstgebiete  stets  eine  vitale  Frage  bedeuten,  von  vorn- 
herein zuzuweisen,  weil  sonst  Unfrieden  und  Kämpfe   unvermeidlich   sind. 

°^)  In  der  lat.   Handschrift:  Sumbra. 

'")  In  der  lat.  Handschrift:  Valdevin.  Vermutlich  zu  beziehen  auf  »Zavalja« 
;  n  der  Una  (nächst  Bihac). 

■"]  »Weiss-Krcatien«  ist  jedoch  eine  falsche  Etymologie,  denn  das  Bestim- 
mungswort ist  nicht  »bela«  (weiss]  sondern  »vela«,  also:  Gross-Kroatien  in 
richtiger,  sprachlogischer  Auffassung.  Ein  Teil  von  Dalmatien  hiess  auch  »Crvena 
Horvatska«,  d.  i.  Grenz-Kroatien  (nicht  -Rot-Kroatien«),  also  die  Gebiete  längs 
der  Meeresküste. 

8")  Bandalona   dürfte   eher   mit  Valona   identisch   sein. 

«1)  D  r  a  c  gehörte  sonach  einst  zu  Dalmatien.  Der  alte  römische  Name  war 
»Dyrrachium«   (it.   Durazzo);    »Drac«   selbst   bedeutet   etymologisch:    Kampfplatz. 


246 

nennt  er  das  untere  Dalmatien,"-)  auch  Durbija,  was  nebstbei  mit 
Zagorje'")  idenliscli  ist.  Aber  auch  dieses  teilt  er  in  zwei  Teile,  be- 
ginnend an  der  nördlichen  Seite  des  Drin,")  der  gegen  Westen  fliesst, 
bis  zum  Morava-Gebirge,  und  nennt  sie:  Bosnien;  was  zwischen  dem 
Drin  und  der  Lipa"')  liegt,  nennt  er:  Raska  zemlja.'"^)  Bei  jedem 
Gebiete  bestimmt  er  die  Grenzen  und  in  jeder  Stadt  daselbst  setzt  er 
einen  „ban","')  in  mancher  einen  „duz"  ein.  Jeder  dieser  ,,bani"  wie 
,,duzi"  musste  von  vornehmer  Geburt  sein ;  diese  wählen  sich  hin- 
gegen wieder  ,,knezi""")  aus  ihrer  Familie.  Sie  ernennen  weiter  die 
,,satniki",'^')  welche  100  Wehrfähigen  vorstehen ;  diese  ,,satniki"  sind 
Krieger  aus  der  betreffenden  Provinz.  Jeder  ,,ban"  erhält  sieben 
,,satniki",  welche  gemeinschaftlich  mit  dem  ,,ban"  dem  Volke  Recht 
sprechen;  den  ,,duzi"  wie  ,,hercezi"'")  sind  für  die  Rechtsprechung 
im  Volke  fünf  ,,knezi"  beigegeben. 

Ebenso  wurden  zugleich  die  Ehren  und  Einkünfte  den  Banen, 
Herzegen,  Knezen  und  Hauptleuten  vorgeschrieben,  sowie  bestimmt, 
dass  jeder  Knez  einen  Hauptmann  heranziehe,  denn  ohne  die  Einhal- 
tung der  erwähnten  Vorschrift  ist  kein  Urleil  rechtsgültig. 

Weiters  wurde  festgesetzt,  dass  jeder  Richter  dem  Könige  ein 
Dritteil  der  Einkünfte  abzuführen  habe,  um  ihn  als  Herrn  anzuerkennen 
und  dass  er  König  aller  sei,  jene   aber  jeder  für   sich;    dann   dass 

*'2)  Die  genauen  Unterschiede  zwischen  »niz)a«  und  «donja  Dalmatia«  sind 
sprachlich    schwer    hervorzuheben,    da    es    eben    Eigennamen    sind. 

^'■']  Zagorje  war  ungefähr  das  Gebiet  von  Per  (Ipek),  Djakova,  Prizren, 
Verisovic   und  Pristina,   also   etwa  von   der  Sar-   bis   zur   Kosnica   planina. 

"■')  Drin  (es  gibt  am  Balkan  eine  Unmenge  von  Flussnamen  dieser  Wurzel) 
entspringt  eben  nördlich  Pec,  fliesst  gegen  Prizren  imm.er  südlich  und  wt;ndet  sich 
erst   dann   gegen   Westen. 

"■'■)  Lipa  (in  der  lat.  Handschrift  »Lapia«)  ist  identisch  mit  dem  heutigen 
Lab,  der  das  Kosovo  polje  durchfliesst. 

''')  Raska  zemlja  war  das  Gebiet  im  heutigen  VilajeL  INovi  pazar,  sonst 
in  der  Geschichte   als   »Rascia«   (mit   der  alten  Burg  Ras)   bekannt. 

"')  »Ban«  hatte  damals  die  Bedeutung,  wie  heute  Kreisvorsteher,  da  tr 
sieben   »satniki«  mit   etwa  7C0  Waffenfähigen   unter  sich   hatte. 

'"'*)  »Knez«  ist  gleichbedeutend  mit  Richter  oder  Ortsvorslehor;  in  der  lat. 
Handschrift   heisst    er    »jupanus«,    also    xzupau'/. 

"")  >.Satnik«,  d.  i.  Befehlshaber  von  100  Mann,  also  gleichbedeutend  mit  dem 
heutigen  Hauptmann,  der  im  Slavischen  noch  immer  als  »setnik,  stotnik«  be- 
zeichnet wird. 

'"]  »Herceg«,  gewöhnlich  »erceg«  geschrieben  oder  genannt,  entspricht  etwa 
dem  heutigen  Bezirksvorsteher,  avancierte  daher  erst  im  Deutschen  zu  »Herzoge. 
Die  Sitze  solcher  heissen  heute  noch  häufig  »Erceg«  und  kssen  sich  diese  ebenso 
nach  den  Ortsnamen  festlegen,  wie  die  mit  »ban«  gebildeten  Ortsnamen:  Banja 
Bistrica,  Banjdol,  Banjkovac  u.  ä.,  daher  man  aus  den  Ortsnamen  die  einstigen 
Kreis-    und    Bezirksorganisationen    noch    vielfach    ruckkonsli  uieren    kann. 


247 

der  König  das  Haupt  und  Ältester  über  alle    ist,   und  [dass   alle   die 
Gebote  des  Königs  anerkennen. 

Überdies  schuf  er  eine  Menge  guter  Gesetze,  ohne  dass  man 
darüber  weiter  spricht;  denn  wenn  einer  durchaus  wissen  will,  wer 
alles  ausführte,  wer  die  Grenzen  bestimmte,  wer  den  Ländern  die 
Namen  gegeben,  die  Bücher  beschafft,  die  den  Kroaten  geblieben 
und  bei  ihnen  zu  finden  sind;  er  nennt  sich:  Methodios.") 

Als  nach  diesen  Einrichtungen  die  Kardinäle,  Bischöfe  und  kai- 
serlichen Gesandten  sahen,  dass  sie  alle  vom  wohlwollenden  Könige 
und  dem  heiligen  Volke  stammen,  nahmen  sie  Abschied  und  zogen 
unter  grossen  Ehren  und  beschenkt  ab. 

Später  gingen  auch  die  eingesetzten  Hercegs,  Bani,  Knezi  und 
Hauptleute,  die  hiezu  auserwählt  wurden,  wie  auch  das  ganze  Volk 
mit  Willen  des  Königs  auseinander  und  begaben  sich  nach  Hause  in 
ihre  Heimat. 

Der  gute  König  regierte  dann  noch  kO  Oahre  und  3  Monate  mit 
Willen  jenes,  der  alles  vermag.  Er  bekam  in  seinem  Alter  einen 
Sohn,  und  starb  am  siebzehnten  Tage  darauf,  am  9.  des  Monates 
März,  und  wurde  in  der  Kirche  der  gebenedeiten  heiligen  Maria  in 
der  Stadt  Duklja  mit  grossen  Ehren  und  unter  Tränen  des  ganzen 
Volkes  begraben.  Seit  jener  Zeit  kommen  noch  an  vielen  Tagen  um 
ihren  guten  Herrn  Weinende  zur  Kirche. 

Das  Kindlein,  dem  der  Name  Svetolik  beigelegt  wurde,  ward 
zum  Könige  und  Herrn  ausgerufen,  gekrönt  und  gesalbt  von  den 
Erzbischöfen  in  jener  Kirche  der  hl.  Oungfrau,  wo  der  Vater  begraben 
liegt.  Das  wachsende  Kind  folgte  den  Gesetzen  des  Reiches  seines 
Vaters;  es  zeigte  ebenso  wie  der  Vater,  Gottesfurcht,  und  hielt  die 
Gesetze  Gottes  ein. 

Er  hatte  mit  17  Jahren  und  7  Monaten  einen  Sohn,  dem  er  den 
Namen  Stipan  Vladislav  gab.  Nach  Ablauf  eines  Jahres  starb  der 
König.  An  Vaters  Stelle  trat  nun  sein  Sohn  Vladislav  die  Regierung 
an.  Er  war  sehr  tapfer  und  von  kräftigem  Körperbau,  doch  folgte  er 
seinem  Vater  weder  in  der  Regierung,  noch  in  den  Gesetzen  Gottes 
auf  gleichem  Wege.  Er  hatte  auch  einen  Sohn.  Der  so  ungerecht  wie 
auch  gegen  die  Gebote  Gottes  Regierende  ging  eines  Tages  auf  die 
Jagd,  da  er  leidenschaftlich  jagte.  So  geschah  es  mit  Willen  Gottes, 
dass  der  Jagende  ein  Wild  auftrieb  und  es  verfolgte.  Doch  das  Pferd 

'1]  Hier  wird  plötzlich  Methodius  (t  885).  der  Bruder  Cyrills,  genannt,  weil 
er  die  Arbeit  seines  16  Jahre  früher  verstorbenen  Bruders  fortsetzte  und  der 
Inspirator  des  Königs   gewesen   zu   sein   scheint. 


248 


trug  ihn  über  eine  Grube ;  er  fiel  in  dieselbe,  erschlug  sich  und  wurde 
toi  herausgezogen. 

An  dessen  Stelle  begann  nun  sein  Sohn,  namens  Polislav/-)  zu 
regieren.  In  der  Zeit,  als  Polislav  regierte,  herrschte  im  Königreiche 
Ungarn  ein  König,  namens  Atlila.' )  Dieser  sammelte  ein  Heer  und 
zog  mit  diesem  gegen  den  König  Polislav.  Dieser  war  jung  und 
kampfgeübt.  Die  beiden  kämpften  oft  untereinander,  wobei  jedesmal 
Attila  unterlag,  daher  er  floh,  als  er  sich  nicht  mehr  entgegenstellen 
konnte. 

Polislav  hatte  eine  Tochter,  die  zwei  Söhne  hatte.  Er  herrschte 
17  üahre.  Im  17.  Jahre  starb  er  in  grossem  Ruhme,  worauf  der  äl- 
tere Sohn  (der  Tochter)  an  Stelle  seines  Vaters  die  Regierung  über- 
nahm. Dieser  hiess  Sebislav.  Zur  Zeit  seiner  Regierung  trat  gegen 
ihn  wieder  jenes  Gotenvolk")  auf,  das  die  Stadt  Skadar  besetzte. 
Als  Sebislav  dies  vernommen,  sammelte  er  eine  grosse  Zahl  von 
Kriegern  und  zog  in  die  Stadt  auf  ihr  Lager  los.  Er  vernichtete  da 
eine  grosse  Zahl  der  Goten  mit  dem  Schwerte;  viele  wurden  gefan- 
gen, viele  erschlagen  und  das  Heer  insgesamt  zerstreut. 

Als  der  ungarische  König  Attila  hörte,  dass  die  Goten  gegen 
Sebislav  aufgetreten  seien,  zog  er  in  dessen  Hauptstadt,  beutete  sie 
voll  aus,  brannte  sie  nieder,  zerstörte  den  grössten  Teil  davon  und 
kehrte  rasch  wieder  in  sein  Königreich  zurück.  Als  zu  Sebislav  die 
Kunde  gelangte,  dass  Atlila  vor  seiner  Hauptstadt  sei,  machte  er 
sich  rasch  auf  und  zog  gegen  ihn.  Hier  sah  er,  dass  jener  nach  dem 
Beulemachen  und  Niederbrennen  schon  abzog,  denn  sobald  Attila 
vernahm,  dass  Sebislav  die  Goten  schlug,  musste  er  annehmen,  dass 
auch  ihm  dasselbe  zuteil  werde,  daher  er  floh,  die  Ankunft  Sebislavs 
nicht  wagend  und  nicht  vjarlend,  bis  sich  die  Stadt  wieder  aufrichte 
und  fülle. 

Sebislav  erhielt  später  zwei  Söhne,  namens  Razbivoj  und  Vla- 
dimir. Er  regierte  2k  üahre  und  starb.  Es  blieben  für  sein  König- 
reich die  zwei  Söhne  Razbivoj  und  Vladimir  zurück.  Der  ältere,  Raz- 
bivoj, wollte  nun  das  Königreich  teilen  und  gab  dem  Bruder  den 
oberen  Teil,  d.  i.  Zagorje,  auch  Dubria  genannt,  das  gegen  den  Dunaj 
zu  liegende  Land,  dann  Bugare,  wie  man  es  jetzt  nennt,  bis  zum 
Pounje  polje.' ■)  Sich  selbst  nahm  sich  Razbivoj  das  küstenländische 
Königreich. 

"-)   In   der   lat.   Handschrift:    Thornislaus. 

'•■')   »Attila«   war   vermutlich   nur   ein   Funkticnsname. 

'"')    In    der   lat.    Handschrift    heisscn    sie    »Graeci«.    nlso    Griechen. 

'•'')  P  o-U  n  j  e,  d.   i.   das  Gebiet   an   der  Una. 


249 

Vladimir  heiratete  die  Tochter  des  ungarischen  Königs/'')  worauf 
ein  fester  Friede  entstand.  Vladimir  hatte  Söhne  und  Töchter;  hin- 
gegen starb  Razbivoj,  12  Jahre  regierend,  ohne  einen  Sohn  zu  hinter- 
lassen. Da  kam  Vladimir,  übernahm  das  Königreich  und  herrschte 
im  Königreiche  Zagorsko  20  Oahre  und  im  Küstenlande  8  Jahre, 
worauf  er  starb. 

An  des  Vaters  Stelle  trat  die  Regierung  sein  Sohn  an  und  ver- 
einigte wieder  die  Königreiche,  wie  es  ehedem  der  Fall  war.  Seine 
Herrschaft  behagle  aber  den  unteren  Kroaten  nicht,  daher  sie  sich 
von  ihm  lossagten.  Der  König  sammelte  nun  ein  Heer,  hauptsächlich 
aus  Istrien  und  dem  oberen  Bosnien,  und  zog  gegen  sie.  Aber  auch 
die  anderen  zogen  aus  und  erwarteten  ihn  am  Hlivanjsko  polje"),  wo 
es  zwischen  ihnen  zu  harten  Zusammenstössen  und  Kämpfen  kam. 
Nach  mehrfachem  Kampfe  wurde  zuletzt  der  König  Kanimir  "^l  er- 
schlagen. 

An  dessen  Stelle  trat  nun  sein  Neffe,  namens  Kristivoj." 'j  Dieser 
regierte  nun  in  seinem  Königreiche;  er  hatte  Söhne  und  Töchter  und 
starb  im  noch  nicht  vollendeten  23.  Jahre  seiner  Regierung.  An 
seine  Stelle  trat  sein  Sohn  Tolimir."')  Während  seiner  Regierung  blieb 
das  ganze  Land  in  Freuden.  Er  halle  Söhne  und  starb  im  17.  Jahre 
seiner  Regierung.  An  dessen  Stelle  trat  sein  Sohn  Pribislav,^')  der 
S3inerzeil  viel  Böses  beging.  Bei  seinen  Lebzeiten  empörte  sich  das 
Land^-),  denn  es  konnte  dessen  Frevel  und  Schändlichkeilen  nicht 
vertragen.  Der  König  Pribislav  wurde  erschlagen  und  dessen  Körper 
in  den  Fluss  geworfen.  An  dessen  Stelle  wurde  sein  Sohn  Cepimir 
gesetzt. 

Nach  Übernahme  der  Regierung,  sandte  er  nun  seinen  „ban" 
und  nahm  viele  Bosnier,  die  Schuld  trugen  an  dem  Tode  des  Königs, 
seines  Vaters,  gefangen,  und  liess  sie  durch  einen  schlimmen  Tod 
hinrichten. 


"")  Vladimir  heiratete  die  schöne  Kocarovna,  die  Tochter  des  bulgarischen 
Zaren  Simeon,  der  in  Ochrida  sass;  es  rnuss  rlso  hier  ein  Schreib-  oder  Lese- 
fehler vorliegen.  Der  Umstand  aber,  dass  er  mit  den  Ungarn  im  Felde  stand  und 
hierauf  Ruhe   eintrat,   lässt   erw^ägen,    ob   er   nicht   zweimal   heiratete. 

'")  Nordöstlich  von  Salcna. 

'^**]  Kanimer,  in  der  lat.  Handschrift  »Charanimir«,  war  eben  der  Sohn 
Vladimirs. 

"**)   In   der   lat.    Handschrift:    Tvrdoslav. 

*")   In   der  lat.   Handschrift:   Ostrivoj. 

**)   In   der  lat.   Handschrift:   Predislaus. 

"*-)   In  der  lat.   Handschrift:  Magnatcs   Bosnae,   also   die   bosnischen   Edelleut.i. 


250 

Zur  selben  Zeit,  als  Cepimir"'')  regierte,  erschienen  Leute,  Nimci®*) 
mit  Namen,  von  der  Zvizda")  her,  nahmen  Islrien  ein  und  began- 
nen in  Kroatien  einzudringen.  Als  König  Cepimir  dies  vernommen, 
sammelte  er  ein  grosses  Heer,  suchte  aus  demselben  die  tapfersten 
Leute  heraus,  und  machte  Kriegsabteilungen  daraus.  Nun  bereiteten  sich 
beide  Teile  zum  Gefechte  und  Kampfe  vor  und  schlugen  sich  viel. 
Zulezt  brachte  Cepimir  die  Nimce  und  deren  Scharen  unter  das 
Schwert,  vertrieb  sie  und  vernichtete  sie  im  ganzen  Lande. 

Hierauf  sandte  der  „duz"  des  Nimci-Gebietes  Gesandte  ^um 
König  Cepimir,  er  möge  seine  Tochter  dessen  Sohne,  namens  Staozar"') 
geben.  Dies  sagte  dem  Könige  zu,  denn  der  „duz"  war  zugleich  der 
Herrscher  jenes  Landes.  Die  Hochzeit  wurde  nun  vorbereitet,  worauf 
sie  in  Frieden  und  Eintracht  blieben. 

Cepimir  regierte  25  Jahre  und  7  Monate.  Als  Nachfolger  hinter- 
liess  er  einen  Sohn,  namens  Svetozak.  Er  begann  nun  an  Vaters 
Stelle  zu  regieren  und  war  ein  edler  und  sanfter  Herr,  ein  guter 
König.  Er  hatte  einen  Sohn,  namens  Radoslav,  den  er  schon  zu 
Lebzeiten  zum  Könige  machte.  Er  lebte  nicht  lange,  hinterliess  Ra- 
doslav, der  in  die  Fußstapfen  seines  Vaters  trat  und  gleiche  Güte 
zeigte;  er  war  für  jedes  Gute  eingenommen. 

Dieser  hatte  den  Sohn  Sejslav,"^')  welcher  der  Abtrünnige  genannt 
wurde,  weil  er  der  Kirche  den  Gehorsam  verweigerte,  seinem  Vater 
die  Herrschaft  abzunehmen  trachtete  und  eine  Menge  Unheil  stiftete. 
Der  gute  König  beabsichtigte  nun  den  Sohn  zu  vertreiben  und  alle 
jene,  die  diesem  beistanden.  Er  sammelte  ein  Herr,  zog  und  trat 
gegen  die  Abtrünnigen  auf  und  vernichtete  sie,  denn  das  Land  wollte 
nicht,  dass  man  gegen  dessen  alten  Herrn  untreu  vorgehe.  Der  gute 
König  gab  nun  vielen  die  Freiheit  und  verzieh  ihnen  alles,  was  sie 
da  verschuldet;  etliche,  die  gefangen  genommen  wurden,  übergab  er 
seinen  Rittern  zur  Dienstleistung.  Deshalb  zürnte  Sejslav  seinem  Vater, 
versagte  ihm  den  Gehorsam  und  zeigte  wenig  Achtung  gegen  ihn. 
Sejslav  wendete  nun  von  dem  guten  Könige  ab  den  „ban",  viele 
„knezi",  Hauptleute  und  Ritter,  welche  aus  Furcht  vor  ihm  und  wegen 

*"*)   In   der   lat.    Handschrift:   Crepirnirus. 

'''')  »Nimci«,  kroat.  Deutsche,  müssen  jedoch  nicht  Deutsche  im  heutigen 
Sinne  sein;   z.   B.   im   Friaulischen  ist  ein  »Njemacko   polje«. 

'*•')  Ein  heute  unverständlicher  Orientierungsbegriff  cdcr  Eigenname;  mög- 
licherweise bedeutet  es  »von  Norden  her«,  d.  i.  die  Bewohner  unter  dem  Polar- 
stern,  der  immer  im  Norden   steht. 

^'')  In  der  lat.  Handschrift:  Suechozor;  ist  also  in  keiner  Form  ein  annähernd 
deutsches  Wort. 

**^)   In  der  lat.   Handschrift:   Ciaslaus, 


251 


der  Gulmütigkeit  des  Königs  zu  ihm  überlraten.  Als  er  wahrnahm, 
dass  sich  alles  fürchtet  und  dass  sie  ihm  gehorchen,  empörte  er 
sich,  riss  die  väterliche  Herrschaft  an  sich,  vertrieb  den  guten  König, 
seinen  Vater  mit  Hilfe  der  unruhigen  Kroaten,  welche  stets  besser 
waren  in  der  Furcht  und  sanfter  unter  der  Gewalt,  als  wenn  sie 
einen  gutmütigen  Herrscher  hatten. 

König  Radoslav  flüchtete  vor  dem  Sohne,  da  ihn  dieser  verfolgte, 
und  kam  so  ans  Meer.")  Dort  nahm  er  wahr,  dass  der  Sohn  nahe 
hinler  ihm  ist.  Als  er  nun  einsah,  er  könne  dem  Arme  seines  Sohnes 
nicht  mehr  entgehen,  bedauerte  er  alle  jene,  die  ihn  liebten,  denn 
viele  „knezi"  und  Hauptleute  Hessen  die  ihrigen  und  alles,  was  sie 
auf  Erden  hatten,  flüchteten  mit  ihm  und  kümmerten  sich  mehr  um 
ihn  als  um  sich  selbst.  Als  sie  nun  sahen,  dass  keine  andere  Rettung 
mehr  sei,  stiessen  sie  schwimmend  ins  Meer.  So  kämmen  sie  auf 
Pferden  zu  einem  Felsen  im  Meere,  der  jedoch  nicht  weit  vom  Ufer 
entfernt  war.  So  retteten  sich  der  König  und  die  Seinigen  vor  dem 
Arme  des  unbarmherzigen  Sejslav. 

Kurz  darauf  geht  mit  Gottes  Erbarmen  ein  Schiff,  das  aus  Pulj"') 
übers  Meer,  u.  zw.  am  kroatischen  Ufer  fuhr,  vorüber.  Alle  begannen 
nun  gegen  das  Schiff  hin  zu  schreien  und  zu  rufen.  Als  die  Seeleute 
das  Geschrei  hörten,  sandten  sie  hin,  um  festzustellen,  was  das  Rufen 
bedeute.  Als  sie  auf  ihr  Befragen  erfuhren,  was  geschehen  ist, 
empfanden  sie  Mitleid,  und  nahmen  den  König  sowie  alle,  die  mit 
ihm  waren,  auf  ihr  Fahrzeug,  bezeugten  ihnen  alle  Ehre  und  kehrten 
mit  ihnen  zurück  na  Pulj.'"')  —  Seither  heisst  jener  Fels,  auf  den 
sich  jene  flüchteten,  der  „Radosalj-Stein". 

In  Pulj  angekommen  machte  sich  der  genannte  König  Radoslav 
mit  Allen  auf  den  Weg  nach  Rom.  Sejslav  jedoch,  von  Gott  verflucht, 
kehrte,  als  er  die  Flucht  seines  Vaters  übers  Meer  vernommen, 
zurück,  übernahm  das  Reich  und  begann  an  Vaters  Stelle  zu  regieren. 

In  jener  Zeit  lebte  ein  Jüngling,  namens  Tehomil,  der  Sohn  eines 
Popen.'")  Dieser  weidete  und  beaufsichtigte  die  Schafe  irgendeines 
„knez"  oder  „herceg"  in  Ungarn."-) 


***)  In  der  lat.  Handschrift:  in  locum,  qui  dicitur,  L  a  s  t  a;  vermutiich  L  a  s  t  a  a 
bei  Cattaro. 

"'')   Slavischer  Name   für:   Pola. 

*"')   In   der  lat.   Handschrift:   Syponlina. 

^*)  Im   Originale   »popovic«,  also  der  Sohn  eines  Popen. 

"-)  Nach  Dukljanin  hiess  dieser  Vorname:  Budislaus;  doch  dass  er  selbst  ein 
Ungar  wäre,   dies  deutet  er  nicht  an,   sondern   er  lebte   in   Ungarn. 


252 

Tehomil  war  bei  seinem  Herrn  sehr  beliebt,  denn  er  war  sehr 
schön  gestaltet,  gut  zu  Fusse  und  sehr  flink.  Wann  immer  nun  sein 
Herr  auf  die  Jagd  ging,  jedesmal  rief  er  Tehomil  mitzugehen.  Eines 
Tages  schlug  Tehomil  eine  Wachtelhündin,  namens  Palusa,  und 
obschon  er  sie  nicht  so  stark  schlagen  wollte,  geschah  es,  dass  er 
sie  an  einem  solchen  Punkte  am  Kopfe  traf,  dass  er  sie  an 
Stelle  erschlug.  Tehomil  flüchtete  sich  deshalb  aus  Furcht  vor  seinem 
Herrn,  denn  derselbe  liebte  unter  allen  seinen  Hunden  jene  Wachtel- 
hündin, ihrer  Verwendbarkeit  wegen,  am  meisten.  Tehomil  flüchtete 
zum  Könige  Sejslav,  der  ihn  freundlich  empfing. 

Zu  jener  Zeit  sammelte  dieser  „herceg""')  ein  Heer  in  Ungarn, 
rückte  in  Bosnien  ein,  und  plünderte  und  verwüstete  das  Land.  Als 
Sejslav  dies  vernommen,  zog  er  mit  grossem  Heere  gegen  ihn  und 
traf  ihn  in  der  Zupanie  Drin,  nahe  des  Flusses  Drin.  Als  sie  sich 
stellten,  gab  es  viele  Kämpfe,  und  der  erwähnte  Tehomil,  der  sich 
wie  ein  Löwe  benahm,  ja,  sich  tapferer  als  die  Übrigen  verhielt, 
schlug  unbarmherzig  drein.  Da  traf  er  auf  den  „herceg",  denn  die 
Ungarn  wurden  durch  einen  Sturm  zurückgedrängt,  hau!  ihn  zusam- 
men, worauf  jener  vom  Pferde  fällt.  TehomJl  springt  hinzu,  schlägt  ihm 
den  Kopf  ab,  hebt  ihn  auf  und  trägt  ihn  dem  Könige  Sejslav  zeigen. 
Auch  dieser  hat  eine  Menge  da  und  dort  durch  das  Schwert  nieder- 
geschlagen, so  dass  die  Ungarn  wehklagten.'") 

Damals  gab  es  viel  Jammern  seitens  der  Ungarn,  die  gefangen 
waren  oder  verwundet,  brüllend  wie  Schweine,''')  lagen.  Und  der  sie- 
gende Sejslav  blieb  da  in  grosser  Freude  und  verlieh  Tehomil  die 
sogenannte  „zupanija  Drin" ;  auch  gab  er  ihm  die  Tochter  des  „ban" 
von  Raska  zur  Frau  und  ehrte  ihn  vielfach. 

Als  die  Frau  jenes  „herceg"  ihres  Mannes  Tod  erfuhr,  begab 
sie  sich  zum  König  von  Ungarn  und  erzählte  ihm  unter  Tränen  vom 
Tode  des  „herceg",  seines  Heerführers  und  ihres  Mannes.  Sie  bat 
den  König  um  ein  Heer,  um  die  vielen  Ungarn  und  den  Gatten  zu 
rächen.  Der  König  sammelte  wieder  ein  grosses  Heer,  von  denen 
alle  gerne  auf  einen  solchen  Rachezug  gingen,  um  jener  Frau  ihren 
Mann  und  die  vielen  erschlagenen  ungarischen  Ritter  zu  rächen.  Sie 
übernahm  das  Heer  und  führte  es  in  Sejslavs  Land;  hier  fand  sie 
alles  in  Unordnung,  denn  niemand  wusste  von  ihr,  und  als  sie  zum 

■'')  Dieser  »herceg«  war  zweifellos  jener,  den  Dukljanin  »Bucli<-laus<.  nenn'. 
In   der  lat.  Handschrift  nennt   er  ihn   jedoch:   K  i  i  s,   princeps   Ungariccram. 

"'■)  In  der  lat.  Handschrift  wird  der  Ort  des  Kampfes  als  »Civedino«  benannt: 
man    glaubt,    dass    dies    S  v  i  n  j  a  r    in    Slavcnien    war. 

'•'■'')  Im   Originale   j.'prasove«   oder  »prazove«. 


2ö3 

Lager  kam,  war  noch  alles  auf  der  Gagd ;  die  Ungarn  schlugen  nun 
los  auf  das  Lager  und  den  König  ;  doch  eher  als  er  Gelegenheit  hatte 
auf  das  Pferd  zu  springen,  nahmen  sie  ihn  mit  einem  bedeutenden 
Teil  seiner  Umgebung,  da  eben  alles  um  ihn  herum  war,  lebend  ge- 
fangen. Die  Frau  des  „herceg"  befahl  ihren  Rittern,  Sejslav  Hände 
und  Füsse  zu  binden.  Den  so  Gebundenen  entstellten  sie  und  boten 
ihn  den  ganzen  Tag  bis  zum  Abend,  auf  diese  Art  schimpflich  behan- 
delt, jedem  Auge  frei.  Als  es  im  Osten  Tag  ward,  befahl  sie  ihn  in 
die  Save  zu  werfen.'") 

So  vollzog  und  erfüllte  sich  an  seinem  eigenen  Haupte  der 
Fluch,  begangen  an  dem  guten  König,  seinem  Vater,  denn  er  wie 
seine  ganze  Familie  ging  eines  schlimmen  Todes  zugrunde  und  nahm 
ein  Ende.  So  ging  Sejslav  ins  Verderben,  er  wie  seine  Seele. 

Als  der  gute  und  rechtschaffene  König  Radoslav  dieses  Gescheh- 
nis und  den  Tod  seines  nichtrechtschaffenen  Sohnes  Sejslav  und  aller 
Nachkommen  erfuhr,  dankte  er  Gott,  der  gerecht  entscheidet,  worauf 
der  König  unter  Segnungen  des  hl.  Vaters,  des  Papstes,  auf  seinen 
Platz  zurückkehrte. 

Als  er  wieder  unter  seine  unwürdigen  Kroaten  als  guter  Herr- 
scher trat,  vergass  er  alle  Vorkommnisse,  die  sie  gegen  ihn  unter- 
nommen, und  herrschte  so  rechtlich,  als  wäre  nie  etwas  geschehen. 
Der  so  Regierende  hatte  einen  Sohn,  namens  Koloman.  Als  er  starb, 
übernahm  dieser  an  Vaters  Stelle  die  Regierung  in  der  Weise,  wie 
er  es  von  seinem  guten  Vater,  dem  König  Radoslav,  lernte.'')  Über- 
dies war  er  selbst  ungewöhnlich  gutmütig  und  so  regierte  er  in  der 
Liebe  zum  Volke  und  mit  grosser  Gerechtigkeit.  Er  hatte  einen  Sohn, 
Krisimir.  Nach  einigen  Jahren  starb  er. 

Ihm  folgte  sein  Sohn  Krisimir,  den  Güte  jeder  Art  zierte  und 
Gottesfurcht  erfüllte.  Der  Regierende  hatte  einen  Sohn,  namens  Zvoni- 
mir.  So  lebte  er  31  üahre  und  starb.  König  ward  nun  Zvonimir,  wel- 
cher achtbare  König,  ein  Sohn  guter  Einflüsse,  nun  die  Kirche  sehr 
zu  achten  und  zu  lieben,  den  Guten  zu  helfen  und  die  Bösen  zu  ver- 
folgen begann.  Er  war  bei  allen  Gutgesinnten  beliebt  und  von  allen 
Bösen  gehasst,  denn  er  konnte  nichts  Böses  sehen.  Er  passte  daher 
nicht  für  die  Kroaten,  denn  sie  wollen  nicht  durch  Güte  gewonnen 
sein,  sondern  sie  sind  befriedigter  in  der  Furcht. 

^^    Diese    Szene    muss    sich    also    nahe    an    der    Nordgrenze    Bosniens,    soweit 
diese   die  Save   bildet,   abgespielt   haben. 

^")  Von  hier  an  weicht  unsere  Chronik  von  jener  Dukljanins  ab,  denn  letzterer 
kümmert  sich  nun  wenig  mehr  um  Kroatien,  sondern  vorwiegend  um  die  nähere 
Heimat,   vor   allem   die   Duklja. 


254 


Zu  Zvonimirs  Zeit  war  das  ganze  Land  fröhlich,  denn  es  war 
üppig  und  mit  allem  Wohle  bedacht;  alle  Städte  waren  reich  an  Sil- 
ber und  Gold.  Nicht  fürchteten  die  Armen,  dass  sie  von  den  Reichen 
verkürzt  werden,  oder  dass  ihnen  jemand,  wenn  er  auch  nur  ein 
Knecht  ist,  etwas  wegnimmt,  oder  dass  ihnen  ein  Hoher  Unrecht 
zufügt.  Da  der  König  alle  beschützte  und  selbst  nichts  Ungebührliches 
besass,  Hess  er  es  auch  bei  anderen  nicht  zu.  Damals,  unter  dem 
rechtliebenden  König  Zvonimir,  gab  es  grossen  Reichtum  sowohl  in 
Zagorje  wie  im  Küstenlande  (Primorsko) ;  das  Land  hatte  Überfluss 
an  Gut  jeder  Art ;  wie  der  Schmuck  der  Frauen  oder  jungen  Leute 
so  auch  jener  der  Pferde  war  allein  mehr  wert,  als  zu  anderer  Zeit 
das  ganze  Vermögen.  Das  Reich  Zvonimirs  war  voll  von  Freuden 
jeder  Art;  es  fürchtete  niemanden  und  konnte  ihm  auch  niemand 
Schaden  zufügen,  es  wäre  denn  der  Zorn  Gottes,  der  von  oben  auf 
ihre  Nachkommen  gelangen  könnte,  wie  die  Schrift  sagt :  „Die  Väter 
verzehrten  saure  Trauben,  aber  erst  den  Söhnen  zog  es  die  Zähne 
zusammen." 

Aber  dieser  Vergleich  traf  auch  zu  jener  Zeit  zu.  Es  geschah 
nämlich,  dass  der  römische  Kaiser  mit  Willen  des  hl.  Vaters,  des 
Papstes,  Boten  und  Briefe  auch  an  den  ehrenwerten  und  unter  den 
christlichen  Königen  sehr  geachteten  König  Zvonimir  sandte,  ihn  fol- 
gend, wie  einen  lieben  Bruder  flehend  und  bittend : 

„Von  hier  bitten  und  flehen  wir,  dass  Du  bei  Dir  alle  Dir  unter- 
gebenen Herren  des  Landes  und  alles,  was  Ansehen  hat,  versam- 
melst. Lies  nun  in  der  Versammlung  Allen  diesen  zweiten,  Deinem 
Schreiben  von  unserer  Seite  für  Eure  Adeligen  beigelegten  Brief  vor, 
indem  wir  bitten,  dass  sie  uns  nach  dem  Vorlesen  eine  Antwort 
geben,  und  dass  sie  uns  ihren  Willen  und  ihren  Entschluss  zur  Kennt- 
nis bringen,  was  die  Ritter  und  Barone  mit  Willen  Deiner  Oberhoheit 
beabsichtigen." 

Als  nun  der  gute,  edle  Zvonimir  die  Briefe  des  Papstes  und 
Kaisers  erhalten,  ordnet  er  für  sein  ganzes  Königreich  gesetzlich 
eine  Volksversammlung  an,  wonach  jeder  binnen  25  Tagen  daselbst 
einzutreffen  habe.  Es  kam  die  Zeit,  dass  eine  grosse  Volksmenge 
kam ;  das  Heer  lagerte  sich  und  stellte  Wachen  aus.  Als  der  fest- 
gesetzte Tag  anbrach,  Hess  der  berühmte  und  gute  König  die  Briefe 
des  Papstes  und  des  Kaisers  der  grossen  Stadt  Rom,  mit  Willen  des 
hl.  Vaters,  des  Papstes,  öffnen,  welche  besagten : 

„Wir  bitten  unseren  Bruder  Zvonimir  samt  dem  Adel  und  dem 
Volke  seines  Landes  und  Königreiches,  er  möge  sich  entscheiden  und 


I 


2ÖÖ 

zugleich  mit  Hilfe  anderer  chrisllicher  Herrscher,  die  gleiche  Briefe 
von  uns  erhielten,  mit  uns  zu  sein.  Sie  mögen  sich  ihrem  Willen 
nach  enlschliessen  und  uns  benachrichtigen,  ob  sie  mit  unserer  Ab- 
sicht einverstanden  sind,  so  weit  dies  mit  Willen  Gottes,  seines 
Sohnes,  der  geboren  von  der  Jungfrau  Maria,  der  Qualen  litt  und 
Blut  vergoss  am  hölzernen  Kreuze,  und  an  demselben  ermordet 
wurde,  geschehen  kann;  dessen,  Tod  die  Befreiung  des  Lichtes  und 
die  Erlösung  der  Väter  aus  der  reinigenden  Finsternis  bedeutet.  Und 
mit  dessen  Willen  sowie  mit  Hilfe  der  an  ihn  Glaubenden  haben  wir 
uns  entschlossen  jene  Stätten  zu  befreien,  in  denen  er  aus  Liebe  zu 
uns  geblutet  hat  und  wo  er  seinen  Geist  dem  Vater  aushauchte  durch 
die  Marter,  die  Pein  und  das  Grab,  in  das  sein  geheiligter  Leib  ge- 
legt wurde." 

Als  dies  die  von  Gott  verfluchten  ungläubigen  Kroaten  hörten, 
die  seinerzeit  dem  bösartigen  Sohne  behilflich  waren  ihren  guten 
Herrn,  den  König  Radoslav  aus  seinem  Reiche  zu  verjagen  und  mit 
bewaffneter  Hand  mit  seinem  undankbaren  Sohne  aus  dem  Lande 
vertrieben,  also  als  dies  die  Ungläubigen  hörten,  da  Hessen  sie  die 
Briefe  gar  nicht  zu  Ende  lesen  und  sprangen  auf.  Statt  nun  auf  die 
höfliche  Bitte  des  hl.  Vaters,  des  Papstes,  und  des  römischen  Kaisers 
die  heiligen  Stätten  den  Heiden  zu  entreissen  und  zu  befreien,  da 
begannen  jene  von  Gott  Verfluchten  zu  schreien  und  zu  raisonieren 
gegen  den  erlauchten  König,  ihn  einstimmig  anklagend  und  heraus- 
fordernd, wie  die  CJuden  Desum  Christum,  wonach  er  sie  aus  ihrer 
Heimat  herausbringen  wolle,  sowie  ihre  Frauen  und  Kinder,  um  mit 
dem  Papste  und  dem  Kaiser  jene  Stätten  wegzunehmen,  wo  Gott  ge- 
kreuzigt wurde  und  wo  sich  sein  Grab  befindet.  „Was  kümmert  das 
uns!"  riefen  sie. 

Die  ungläubigen  Kroaten  fassten  nun  einen  bösen  Gedanken 
und  einen  ungerechten  Entschluss,  indem  sie  ein  hässliches  Geschrei 
begannen  und  unter  sich  und  den  Übrigen  revolutionäre  und  laute 
Schmähungen  verbreiteten.  Sie  begannen  ähnlich  zu  rufen,  wie  die 
Juden  gegen  Jesus  Christus  ausriefen,  als  ihr  Oberhaupt'"")  erklärte: 
„Besser,  es  stirbt  einer,  als  dass  das  ganze  Volk  zugrundegehe!" 

Nun  begannen  die  verruchten  und  ungläubigen  Kroaten  laut  wie 
Hunde  oder  Wölfe  zu  schmähen:  „Besser,  dass  er  selbst  zugrunde- 
geht, statt  dass  er  uns  aus  unserem  Erblande  hinausführt  von  Gottes 
wegen,  um  Anderen  so  weit  Entfernten  ein  Land  wegzunehmen  oder 
andere  Städte!"  —  So  begannen  sie  nun,  ähnlich  wie  die  bellenden 
Hunde,   die  gegen   die  Wölfe  losgehen,   den   guten  König    Zvonimir, 

"'*)   Kaiphas,   laut   Evangelium   Johannis   (11,   50).  ; 


256 

ohne  ihn  zu  Worte  kommen  zu  lassen,  unter  Tumult  mit  Waffen 
niederzuschlagen,  seinen  Körper  zu  verwunden,  und  des  guten  Königs 
und  Herrn  Blut  zu  vergiessen. 

Als  er  nun  so  verblutend  in  grossen  Schmerzen  lag,  da  ver- 
wünschte er  die  ungläubigen  Kroaten  und  ihre  Nachkommen,  im 
Namen  Gottes  und  dessen  Heiligen,  sowie  in  seinem  und  seines  un- 
würdigen Todes  Namen,  es  mögen  die  Kroaten  niemals  wieder  einen 
König  ihres  eigenen  Volkes  haben,  sondern  stets  einem  fremden 
Volke  untergeordnet  sein.  ")  So  hauchte  er,  noch  todeswund  die  Kroaten 
verwünschend,  seine  Seele  aus.  Sein  Geist  ging  nun  unter  der  Gnade 
desjenigen,  der  alles  vermag,  dahin,  um  sich  mit  den  Engeln  zu 
freuen  in  Ewigkeit. 

Als  nun  König  Beta  I.  von  Ungarn  vernommen,  was  in  Kroatien 
geschehen,  rückte  er  eiligst  mit  einem  grossen  Heere  heran,  eroberte 
das  Königreich  Kroatien,  rächte  den  Tod  des  berühmten  Königs 
Zvonimir,  und  unterjochte  die  Kroaten,  sowie  die  Königreiche  Zagorje, 
das  Küstenland  und  Bosnien.  Sie  hatten  nun  den  König  Bela  zum 
Herrscher,  nachdem  sie  ihren  eigenen  ohne  Anlass  erschlagen  hatten. 
Vom  genannten  ungarischen  Könige  wurden  nun  die  Kroaten  auf 
Gnade  und  Ungnade  unterworfen,  der  auch  die  Freien  zu  Knechten 
machte.  Es  wurde  wahr,  wie  die  Schrift  sagt:  eine  böse  Arbeit  trägt 
bösen  Lohn.  So  wurden  für  ihre  Arbeit  auch  die  verwünschten  und 
ungläubigen  Kroaten  infolge  der  Sünde,  weil  sie  ihren  guten  Herrn, 
den  König  Zvonimii,  ähnlich  wie  die  Ouden  den  Herrn  Jesus  Chri- 
stus, vernichtet  haben,  bezahlt.  Und  so  dienen  auch  die  verwünsch- 
ten Ouden  anderen,  denn  auch  sie  haben  keinei  König  mehr  aus 
ihrem  Volke. 

"")  Dieser  Fluch  ging  zum  grössten  Teile  in  Erfüllung.  —  Der  Chronist,  der 
die  Situation  lediglich  von  seinem  religiösen  Standpunkte  erfasst,  wird  aber  in 
dieser  Darstellung  stark  einseitig,  denn  die  Aufforderung  allein,  sich  an  dern 
Kreuzzuge  zu  beteiligen,  hätte  ebenso  auch  ruhig  abgewiesen  werden  können. 
Es  wird  da  wohl  der  langgenährte  Hass  des  Adels  (vlastelin)  zum  Ausbräche  ge- 
kommen sein,  der  durch  die  unparteiische  Regierung  Zvonimirs  an  Vorrechten  und 
Einfluss  einzubüssen  drohte.  Ebenso  mögen  religiöse  Disharmonien  wie  auch  der 
Umstand  massgebend  gewesen  sein,  dass  der  Adel  sah,  wie  das  Volk  im  Wohl- 
leben, Reichtum  und  ausschliesslicher  Friedensbetätigung  an  Kriegstüchtigkeit  ein- 
büsse;  dieser  latente  Hass  gegen  den  König  mag  nun  zu  der  für  die  Zukunft  der 
kroatischen  Nation  so  verhängnisvollen  Katastrophe  geführt  haben  —  Ueberdies 
stellt  der  kroatische  Chronist  Ivan  Tomasic  (1561)  jene  Vorgänge  wesentlich 
anders   u.    z.    der   Wirklichkeit    weit    ähnlicher   aussehend    dar. 


i 


257 

Der  gu!e  König  Zvonimir  leble  bis  zu  seiner  Tötung  35  3ahre 
im  Königreiche;  erschlagen  wurde  er  im  Oahre  Jesu  Christi  1080 
weniger  ein  dahr.^"") 

F.  V.  Sasinek  : 

Alexander  der  Grosse. 

Der  berühnilesle  Eroberer  und  Herrscher  der  alten  Welt  ist  ohne 
Zweifel  Alexander  der  Grosse. 

Meine  Aufgabe  ist  es  nun  nicht  seine  Kriegszüge  zu  schildern, 
sondern  nur  seine  Nationalität  zu  überprüfen.  Da  er  nämlich  in  der 
Geschichtsschreibung  Alexander  Macedo  oder  König  der  Macedonen 
genannt  wird,  und  die  Macedonen  doch  bis  zum  heutigen  Tage  Slaven 
sind,  kann  er  nur  ein  Slave  oder  ein  König  der  Slaven  gewesen 
sein.  Man  wird  allenthalben  diese  bisher  ungehörte  Behauptung  be- 
lächeln, aber  alle  Umstände  geben  bei  näherer,  vorurteilsloser  Über- 
prüfung dieser  Auffassung  recht. 

Die  Nationalität  Alexanders  und  seiner  Macedonier  darf  freilich 
nicht  unmittelbar  unter  dem  Namen  „Sclaveni"  oder  „Sclavi"  gesucht 
werden,  da  diese  ethnographische  Bezeichnung  zum  ersten  Male  erst 
im  V!.  Jahrhunderte  n.  Chr.  auftaucht.  Die  objektiven  Geschichts- 
forscher können  es  aber  nicht  leugnen,  dass  die  Slaven  vor  dem 
genannten  Jahre  schon  existierten,  wenn  auch  unter  anderen  Namen, 
daher  wir  für  die  slavischen  Macedonier  eben  einen  zweifellos  sla- 
vischen  Namen  erbringen  müssen,  sofern  dieser  Name  selbst  nicht 
slavisch  sein  sollte. 

Titus  Livius  erzählt  gleich  anfangs  seiner  Geschichte  die  uralte 
Sage,  Äneas  sei  nach  dem  Falle  Trojas  mit  seinen  Trojanern,  die  den 
Namen  „Veneti"  führten,  nach  Macedonien  ausgewandert,  und  habe 
sich  dort  neue  Wohnsitze  gegründet.  In  Herodots  noch  älterer  Ge- 
schichte lesen  v;ir,  dass  die  Bewohner  Trojas  nach  dem  Falle  der 
Stadt  durch  Äneas  bis  zum  Adriatischen  Meere  geführt  und  dort 
unter  dem  Namen  „Eneti"  (Veneli)  angesiedelt  wurden. 

Da  die  „Veneti"  in  der  historischen  Zeit  ausschliesslich  als 
Slaven  bewertet   wurden,   so  ist  der  Ursprung   jener  Sagen   augen- 

looj  \(/iQ  bereits  erwähnt,  starb  Zvonimir  nicht  i.  J.  1079  sondern  1095.  Hi- 
storische Tatsache  ist  aber,  dass  es  i.  J.  1079  in  Kroatien  eine  revolutionäre  Be- 
wegung gab,  deren  Anführer  der  zupan  Veselin  war,  da  ihn  Papst  Gregor  VII. 
(1073 — 1085)  selbst  zur  Einstellung  der  Feindseligkeiten  aufforderte.  —  Der  Chro- 
nist Tomasic  führt  sogar  das  Jahr  1057  als  das  Todesjahr  Zvonimirs  an;  welcher 
Zeitrechnung  dieser  anhing,   ist  unklar, 

17 


258 

scheinlich  ein  solcher,  wie  er  sich  bei  allen  Völkern  wiederholt:  man 
sah  die  Veneier,  die  in  Macedonien  und  Italien  sassen,  nicht  als 
Stammvolk  an,  sondern  als  Einwanderer,  denn  es  liegt  einmal  im 
Wesen  des  Menschen,  alles  Unerklärliche  in  weite  Fernen  zu  ver- 
legen. Dass  aber  Macedonien  mit  seinen  Venetern  ein  urslavisches 
Land  war,  dies  erhärtet  auch  folgende  geschichtliche  Tatsache.  Pom- 
ponius  Mela  (40  n.  Chr.),  der  Herodot  {kkk  v.  Chr.)  fast  wörtlich 
folgt,  schreibt,  dass  die  Thraker  zwischen  dem  Balkan  und  der 
Adria,  die  sich  aber  eigentlich  vom  Schwarzen  Meere  bis  zu  den 
Illyrern  erstrecken,  eine  einzige,  jedoch  in  verschieden  benannte 
Stämme  zerfallende  Nation  sind,  und  hebt  namentlich  die  Macedonier 
hervor,  die  von  ihren  eigenen  Königen  Philipp  (t  350)  und  Alexander 
It  324  V.  Chr.)  regiert  wurden.  ^)  Philipp  war  der  Überwinder  der 
Griechen,  Alexander  jener  der  Asiaten ;  deren  Feldzüge  hat  Curtius 
Rufus  ausführlich  beschrieben. 

Nachdem  Philipp  die  Athener,  Illyrer  und  Lacedämonier  besiegte, 
unterwarf  er  sich  auch  die  Thraker,  seine  Nachbarn,  bis  zum 
Schwarzen  Meere,  überschritt  dann  den  Balkan  und  die  Donau  und 
unternahm  einen  Raubzug  nach  Scythien  (Westrussland  und  Slovakei), 
von  v;o  er  an  20.000  Knaben  und  Mädchen,  eine  Menge  Hornvieh, 
dann  Gold  und  Silber  wegführte.  Mit  dieser  Beute  an  der  Donau  an- 
gelangt, wurde  er  von  den  Triballen  (Serben)  angehalten,  die  ihm 
den  Durchzug  nur  bei  Beuteteilung  zugestehen  wollten.  Im  darauf 
entstandenen  Kampfe  wurde  Philipp  schwer  verwundet.  Die  Soldaten, 
ihren  König  tot  vermutend,  überliessen  die  Beute  den  Angreifern  und 
kehrten  leer  nach  Macedonien  zurück. 

Nachdem  Philipp  gesundete,  zog  er  abermals  mit  seinem  Sohne 
gegen  die  Athener  und  die  mit  diesen  verbündeten  Städte;  der  sieg- 
reiche Feldzug  machte  ihn  nun  zum  Herrn  von  Griechenland,  woraus 
hervorgeht,  dass  er  selbst  kein  Grieche  oder  früherer  Beherrscher 
von  Griechen  war;  überdies  bestellte  er  Aristoteles,  einen  Macedo- 
nier aus  :>tagira,  der  jedoch  griechische  Bildung  hatte,  als  Lehrer  für 
seinen  Sohn. 

Nach  des  Vaters  Tode  bereitete  sich  Alexander  zum  Kriege 
gegen  Darius,  den  mächtigen  König  der  Perser,  vor.  Um  im  Rücken 
gesichert  zu  sein,  unterwarf  er  zuvor  noch  die  Triballen  und  Thraken, 
sowie   die   Geten   zwischen   der   Donau   und  den  Karpaten,  und  zog 

^)  Una  gens  Traces  habitant,  aliis  aliisque  praediti  et  nominibus  et  moribus. 
Quidam  feri  sunt  et  ad  mortem  paratissimi  Getae  utique.  Tum  Macedonum  po- 
puli  CL  urbes  habitant.  Alumni  efficiunt,  Philippus  Graeciae  domitor,  Alexander 
cliam  Asiae.  (Pomp.  Mela,  I.  41,  45). 


269 

dann  gegen  Darius.  Sein  Heer  bestand  hauptsächlich  aus  den  öst- 
lichen, d.  i.  macedonischen  Thraken,  da  die  wortbrüchigen  Griechen 
zu  unverlässlich  waren.  Die  Macedonier  aber,  denen  er  —  bis  auf 
die  Militärpflicht  —  volle  Freiheit  geschenkt  hat,  waren  seine  treuesten 
Krieger. 

Alexander  der  Grosse  war  sonach  offenkundig  kein  Grieche, 
um  so  mehr  als  er  die  wortbrüchigen  Griechen  doch  hasste  und  auch 
bekämpfte;  ein  Römer  war  er  gleichfalls  nicht,  da  die  Balkanhalb- 
insel damals  mit  den  Römern  noch  in  keinerlei  Berührung  stand; 
er  war  also  ein  Thrake  und  als  solcher  daher  zweifellos  ein  Slave. ') 
Der  Name  „Alexander"  ist  freilich  griechisch  im  heuhgen  Sinne,  denn 
hochgestellte  Personen  haben  seit  jeher  ein  gewisses  exzeptionelles 
Sprachverhältnis  zur  Landessprache  an  den  Tag  gelegt  und  sei  hier 
nur  an   die  Bevorzugung   des   Französischen   in   den   letzten    üahr- 


-)  Die  Albanerenthusiasten  haben  sogar  herausgefunden,  dass  Alexander  d. 
Gr.  ein  Skipetare  war.  —  Nachdem  sich  heute  die  Wissenschaft  in  die  Tages- 
blätter geflüchtet  hat,  da  die  Fachzeitschriften  kaum  jemand  mehr  liest,  ist  es 
notwendig  auch  solchen  Publikationen  eine  gewisse  Beachtung  beizulegen.  A. 
Eder  schreibt  in  der  Wiener  Mittags-Zeitung  v.  6.   Oktober  1.   J.    folgendes: 

»Es  gibt  merkwürdige  Parallelen  in  der  Völkergeschichte.  Robert  Müller 
hat  unlängst  in  der  »Mittags-Zeitung«  einen  hochinteressanten  Artikel  ver- 
öffentlicht, der  auf  die  Verwandtschaft  und  Wesensähnlichkeit  zweier  Urvölker, 
der  Kelten  und  der  Illyrier  (der  modernen  Albanesen)  aufmerksam  macht.  Dieser 
Hinweis  beleuchtet  jäh  wie  ein  Blitzschein  tragisches  Völkergeschick.  In  dem  un- 
wirtlichen und  öden  Westen  Frankreichs  (Bretagne),  Englands  (Wales),  Schottlands 
(Highland)  und  in  die  ärmlichsten  Gegenden  Irlands  zurückgedrängt,  sehen  wir 
die  hochbegabte  und  ritterliche  Nation  der  Kelten.  Ganz  West-  und  Zentraleuropa 
war  einstmals  von  ihr  erfüllt,  die  älteste  Eigenkultur  Europas,  die  hallstättische 
Bronzekultur,  war  ihr  Werk,  und  heute  noch  ist  ihr  Geist  der  moussierende 
Champagner  in  der  Eigenart  der  Franzosen,  Auch  der  witzigste  Kopf  des  moder- 
nen Grossbritannien,  Bernard  Shaw,  ist  keltischen  Blutes,  ein  Ire  Und  klingen 
nicht  bei  der  Nennung  der  Kelten  schwermütigbestrickende  Melodien  auf:  »Tri- 
stan und  Isolde«,  Ossians  Gesänge,  Moores     Lieder?« 

Und  nun  ein  anderes  Volk,  ebenso  hochbegabt,  ebenso  ritterlich,  ebenso 
unglücklich:  das  Volk  der  Illyrier,  der  modernen  Albanesen,  Die  ganze  nichthelle- 
nische Balkanhalbinsel  bis  hinauf  zur  Drau  und  zur  Donau  hatten  sie  einst  inne, 
der  griechischen  Kultur  schenkten  sie  ihre  tatkräftigsten  Verbreiter;  Alexander 
der  Grosse  und  seine  Feldherren,  die  ganz  Vorderasien  mit  Griechentum  durch- 
tränkten, waren  Mazedonier,  ergo  thrako-illyrischen  Stammes,  Es  ist  historische 
Tatsache:  Alexander  der  Grosse  war  ein  Skipetare!  Nur  ein  Skipelare  war  eines 
solchen  phänomenalen  Elans  fähig,  nur  Skipetare  konnten,  eine  Handvoll  Aben- 
teurer, im.  ersten  Ansturm  die  halbe  Welt  vor  sich  niederwerfen.  Zur  römischen 
Kaiserzeit  waren  die  Illyrier  die  besten  Soldaten  des  Weltreiches,  ein  Illyrier, 
Diokletian,  taucht  auf  als  einer  der  markantesten  Herrschernamen  Roms«  usw, 
—  Im  Grossen  stimmen  demnach  unsere  Ansichten  über  die  Kelten  und  Illyrer  ganz 
überein,  nur  in  der  Sprachenfrage  dürften  wir  noch  einiges  einzuebnen  haben.   — 

17» 


hundeHen  kurz  hingewiesen ;  überdies  haben  wir  über  Alexander 
überhaupt  nur  griechische  Ouellendaten,  die  hiebei  doch  den  Namen 
ihrer  Sprache  anpasslen ;  der  landesübliche  Name  kann  dabei  auch 
Ales,  wie  die  Slaven  Alexander  nennen,  Oleg,  Sasa  und  ähnlich 
gelautet  haben.  Hingegen  weiss  man,  dass  Alexander  seiner  Nation  treu 
geblieben  ist  und  die  Renegaten  geradezu  verachtete.  Zum  Beweise 
diene  nur  der  Prozess  gegen  Philotas,  dem  er  vorwarf,  dass  er  die 
macedonische  Sitte  und  Sprache  vernachlässige.  ^) 

Es  ist  schade,  dass  die  alten  Schriftsteller  keine  ausgesprochene 
Tendenz  hatten  slavische  Namen  und  Begriffe  im  Originale  anzu- 
führen, wir  wissen  daher  heute  nicht,  was  darunter  eigenes  und  was 
fremdes  Sprachgut  ist.  Ein  Führer  hiess  z.  B.  „Belon";  durch  seine 
Tapferkeit  erreichte  er,  trotz  seiner  niederen  Abstammung,  eine  hohe 
militärische  Stellung.  Dieser  charaktervolle  Macedonier  war  es  auch, 
der  Philotas  anklagte,  er  möge  sich  als  Macedonier  schämen,  mit 
seinen  eigenen  Landsleuten  durch  einen  Dolmetsch  zu  sprechen.  "*) 
Alexander  mag  dies  als  Macedo-Slaven,  der  sich  sonach  mit  seinen 
Leuten  immer  persönlich  verständigte,  besonders  unangenehm  aufge- 
fallen sein. 

Nun  muss  auch  noch  die  Frage,  ob  die  Thraker  Slaven  waren, 
einer  näheren  Klärung  zugeführt  werden. 

VJie  bereits  angedeutet,  taucht  der  Nam.e  „Sclavini"  (bei  3or- 
nandes)  und  „Sclaveni"  (bei  Procopius)  im  Oahre  552  n.  Chr.  das 
erstemal  in  der  Geschichtsschreibung  auf;  bis  dahin  gebraucht  kein 
Schriftsteller  diesen  Koileklivnamen,  weil  da  eine  Unmenge  von 
Detailnarren  die  grosszügige  Auffassung  trübte,  Und  doch  schreibt 
schon  Herodot  {kkh  v.  Chr.) :  „Die  Thraken  sind  nach  den  Inden  (in 
Asien)  die  grösste  unter  den  Nationen.  Würden  sie  von  Einem  be- 
herrscht oder  würden  sie  einig  sein,  so  wären  sie  unüberwindlich 
und  die  mächtigsten  unter  den  Nationen;  dies  ist  jedoch  nicht  der 
Fall  und  eben  deshalb  sind  sie  schwach.  Jeder  Teil  von  ihnen  hat 
einen  eigenen  Namen,  je  nach  dem  Gebiete,  das  sie  bewohnen.  In 
ihren  Gebräuchen  sind  sie  sich  jedoch  ähnlich."  —  Dem  ist  beizu- 
fügen, dass  Herodot  zu  diesen  auch  die  Geten,  Scythen  und  Sarmaten 
zählt.  Der  Name  „Thrak"  war  also  ein  allgemeiner  für  alle  diese 
Völkerschaften ;  erst  als  die  Griechen  einen  Teil  derselben  unterwar- 
fen,  nannte  man   vor  allem  jenes  Gebiet  „Thracia",   wo  Bysanz  mit 

•')    »Illum    a   nostro    more    et    sermone    abhorrere.^;.    (Curtii    Rufi:    Historia    Ale- 
xandri  Magni,  Norimberiiae,    1804,  p.  254.) 

')  »Qui  non  erubesceret,  Macedo  natus,  homines  linguae  suae  per  inter- 
rretern   audire«:,   (Curt.   Ruf.   p.   277.) 


2H1 

seinem  Verwaltungsgebiele  lag.  —  Elymologisch  ist  „Irak",  richtiger 
„drak",  die  altslavische  Bezeictinung  für  Krieger,  Panzerträger 
(lat.  Jliorax"]]  „Thiraker"  nannte  man  also  alle  jene  Völker,  die  ihre 
waffenfähigen  Männer  als  „traci,  draci"  bezeichneten,  und  bestehen 
dieselben  Analogien  auch  fast  bei  allen  sonstigen  Volksnamen.) 

Dass  unter  „Thrax"  ein  Nichtgrieche,  daher  Slave  zu  verstehen 
ist,  ersieht  man  auch  aus  dem  Beinamen  des  griechischen  Kaisers 
Maximinus  Thrax  (236  238|,  der,  obschon  von  niederem  Stande, 
von  den  Soldaten  zum  Kaiser  ausgerufen  wurde. 

Hält  nun  Herodot  alle  diese  Völker  als  zusammengehörig,  wofür 
doch  vor  allem  die  gleiche  Sprache  eine  Vorbedingung  ist,  so  bestä- 
tigt di35  weiter  noch  Ovid,  der  doch  als  Verbannter  in  Klein-Scythien 
(Dobrudza),  dem  Knotenpunkte  der  thrakischen,  getischen,  scythischen 
und  sarmatischen  Völker  lebte,  der  da  schreibt,  er  müsse  durch  Mi- 
mik jenes  bezeichnen,  was  die  Bewohner  durch  Worte  ausdrücken. 
Er  sagt :  „Um  mich  schallt  der  thrakische  und  scythische  Mund  ;  es 
scheint,  dass  ich  das  Latein  vergessen  habe;  erlernt  habeich  gelisch 
und  sannatisch  zu  sprechen."")  ~  Sind  nun  die  dortigen  Verkehrs- 
sprachen Ovid  fremd  gewesen,  so  waren  sie  zum  mindesten  nicht 
romanisch,  und  können  überhaupt  nur  slavisch  gewesen  sein,  was 
aus  allen  bekannten  Daten  logisch  hervorgeht. 

Von  einem  mechanischen  Völkeraustausch  weiss  die  Geschichte 
im  grossen  absolut  nichts ;  die  Provinz  Thracien  existiert  bis  heute 
als  eine  solche  mit  überwiegend  slavischer  Bevölkerung ;  die  Grie- 
chen selbst  sahen  die  Thraker,  wie  Theophylactus  (629)  berichtet, 
als  ein  autochthones  Volk  an;  wir  hörten  (Seile  182),  dass  sich 
im  IV.  oder  V.  Jahrhunderle  ein  fremdes  Volk  in  dieser  Gegend 
niederliess,  doch  sprach  dieses  wieder  die  gleiche,  also  slavische 
Sprache ;  aber  auch  die  Osmanen  änderten  sprachlich  nichts ;  ja,  im 
Gegenteil,  sie  akkomodierten  sich  überall  an  die  Sprache  der  unter- 
jochten Völker.  Wanri  sollen  demnach  alle  diese  viele  Millionen  zäh- 
lenden Völker  in  Europa  eingerückt  sein?  Wie  können  diese  nur 
dem  Slaven  verständliche  topische  Namen,  die  doch  schon  von 
den  ältesten  römischen  wie  griechischen  Schriftstellern  vorgefunden 
wurden,  den  Bergen,  Gewässern  und  Ansiedlungen  daselbst  gegeben 
worden  sein,  wenn  Vertreter  der  slavischen  Sprache  gar  nicht  da 
waren?  Weshalb  sollen  gerade  die  slavischen  Völker  nie  eigene 
Herrscher  besessen  haben?  — 


^)  Desselben  Stammes  ist  auch  »draga,  draha«  (=  Kampfplatz]  »Diagoner^< 
[  —  bewaffneter  Reiter),  »drakonisches«  Gesetz,  d.  i.  ein  militärisch  strenges; 
'«Trakehner«  (=  Militärpferd)  u.  ä.  m. 

^   Ovidius,   Hb   »Tristium.«,   5,   eleg.   14   und   --De   Ponton,   liber  3,   Sieg.   2.   — 


262 

Mit  diesen  höchst  wurmstichigen  Prämissen  sowie  dem  naiven 
Unwissendtun,  woher  die  Slaven  kamen,  ob  sie  eine  Kultur  hatten, 
ob  ihre  Organisation  eine  brauchbare  war,  wird  sich  weiter  absolut 
nicht  arbeiten  lassen,  denn  haben  die  Slaven  auch  als  Unterjochte 
ihre  nationale  Integrität  erhalten,  so  werden  sie  dieselbe  als  Freie 
umsomehr  hochgehalten  haben,  und  bietet  Alexander  d.  Gr.  hiebe! 
nur  einen  der  glänzendsten  Vertreter  ihrer  hervorragenden  staat- 
lichen wie  militärischen  Potenzen.  — 

M.  2unkovic : 

Slavische  Glossen  in  der  „Lex  Salica". 

Schon  auf  Seite  16  wurde  die  Öffentlichkeit  auf  die  bisher  ganz 
unbeachtete  Tatsache  aufmerksam  gemacht,  dass  sich  in  dem  uralten 
Strafkodex  der  salischen  Franken  zahlreiche  slavische  Rechtsbegriffe 
in  den  lateinischen  Text  eingemengt  befinden,  und  ist,  soweit  be- 
kannt, bisher  auch  niemand  dieser  Behauptung  entgegengetreten. 

Im  Weiterstudium  kamen  aber  noch  andere  wichtige  Momente 
an  den  Tag,  die  es  verdienen,  der  öffentlichen  Diskussion  unterzogen 
zu  werden.  Das  in  der  beiliegenden  Tafel  III  ersichtliche  Faksimile 
stellt  die  erste  Seite  des  in  der  Stiftsbibliothek  zu  St.  Gallen  (Schweiz) 
befindlichen  Exemplares  der  „Lex  Salica"  dar.  Die  Handschrift  stammt 
aus  dem  Gahre  794  von  einem  „Wandalgarius"  sich  nennenden  Manne, 
dürfte,  der  longobardischen  Buchstabenform  nach,  aus  dem  Küsten- 
lande oder  aus  Oberitalien  stammen,   und  ist  sonach  eine  Abschrift. 

Von  diesem  Geselzbuche  sind  sechs  Handschriftenexemplare 
vorhanden,  deren  Texte  aber  nicht  einheitlich  sind,  da  in  manchen 
Kopien  minder  wichtige  Paragraphe  ausgelassen  sowie  auch  dio  Glos- 
sen nicht  einheitlich  dargestellt  sind.  Der  Text  unseres  Faksimiles 
lautet : 

„Un  nomine  3)omini  nostri  Jesu  Christi  incipiiint  iitiiliis  legis  salice : 

I.  2)e  mannire. 

Si  quis  ad  mallum  legibus  dominicis  mannitus  juerii,  et  non  venu- 
erii,  se  cum  sunnis  ne  detenuerit,  sol.  XV.  culpabilis  judicetur. 

Uli  vero,  qui  alio  manit  et  ipso  non  vcnerit,  se  cum  sunnis  non 
detenuerit,  sol.  XV.  et  cui  manuit.  conponat. 

II.  2)e  furtis  porcorum. 

Si  quis  purcellum  lactantem  de  cranne  furaverit  et  ei  fuerit  adpro- 
batum,  mal  cli ranne  chalti,  rechalti,  sol.  IIL  culpabilis  judicetur. 


I 


263 

Si  ijiiis  piirccllum  jnravcrit,  qiii  sine  matcre  vivcrc  possit  et  ei  fucrit 
adprobatiim,  mal  lümnes  tlicca,  sol.  I.  culpabilis  judicctiir,  cxccpto 
capitale  et  dilatura.  Si  quis  binuitn  porcum  /uravcrit  mal  in  z  imis  sviani, 
sol.  XV.  culpabilis  judicctiir  cxccpto  capitale  et  dilatura." 

Die  hier  im  Drucke  hervorgehobenen,  im  Originale  jedoch  gra- 
phisch nicht  abweichenden  Glossen  befinden  sich  im  II.  Abschnitte, 
der  „VoVi  den  Schweinediebslählen"  handelt.  Der  erste  Strafsatz  lau- 
tet: „Wenn  jemand  ein  saugendes  Ferkel  von  der  Ernährung  weg 
gestohlen  und  es  ihm  bewiesen  wurde,  qQvaQ'mhmcliranncchalti, 
rcchalti  genannt,  soll  zu  XV  Soldi  verurteilt  werden."  —  „Cbranne 
clhilti"  bedeutet  anscheinend:  von  der  Ernährung  abschnei- 
den, denn  „hrana"  bedeutet  im  Slavischen :  Ernährung,  Futter; 
„kalciti"  muss  einst  schneiden,  abschneiden,  ausschneiden 
bedeutet  haben,  da  sich  der  Begriff  „kalcmar"  für  Schweine- 
schneider (Kastrierer)  im  Slovenischen  bis  heute  erhalten  hat. 
„Rechalti"  ist  dermalen  auch  nicht  näher  verständlich.*) 

Im  zweiten  Strafsatze  ist  für  die  Glosse  „himnes  theca"  einst- 
weilsn  auch  keine  seriöse  Erklärung  zu  finden ;  es  handelt  sich  hie- 
be! um  den  Diebstahl  eines  schon  abgespenlen  Ferkels.  — 

Im  dritten  Strafsatze  wird  der  Diebstahl  eines  zweijährigen 
Schweines  erörtert.  Die  Glosse  „in  zimis  sviani"  spricht  aber  durchaus 
von  keinem  zweijährigen,  sondern  von  einem  „einen  Winter  alten 
Schweine",  stellt  sich  sonach  in  einen  scheinbaren  Widerspruch  zur 
Strafbemessung.  Doch  entspricht  dies  vollkommen  der  landläufigen 
Aüersberechnung,  denn  vor  mehreren  Dezennien  konnte  man  in 
Untersteiermark  noch  immer  hören,  dass  die  Bauern  bei  den  Schwei- 
nen nicht  nach  den  Kalenderjahren  das  Alter  taxierten,  sondern  nach 
den  zurückgelegten  Wintern,  öener  Winter,  in  welchem  das  Schwein 
seiner  nahrhaften  Bestimmung  zugeführt  wird,  zählte  z.  B.  schon 
nicht  mehr  zur  Altersberechnung.  Ein  junges  Schwein,  das  dem  nor- 
malen Frühjahrs  würfe  entstammt,  ist  im  zweiten  Winter  darauf  wohl 
ein  zweijähriges,  aber  nur  ein  einwintriges,  d.  h.  es  ist  nahezu  zwei 
Jahre  alt,  hat  aber  erst  einen  vollen  Winter  hinter  sich.  So  erklärt 
sich  wohl  die  Zeitdifferenz  des  lateinischen  Textes  und  der  slavischen 
Glosse  am  natürlichsten. 

Dass  diese  Glosse  zweifellos  slavisch  ist,  ist  leicht  zu  erweisen, 
denn  wenn  auch  der  Begriff  „svin"  für  Schwein  im  Althochdeutschen 

*)  Im  Texte  der  Handschrift  von  Sens-Fontaincbieau-Paris  steht  wieder  statt 
»chranne  chalti<i;  ein  »chrinne  chulti«.  Man  weiss  nun  nicht,  welcher  Text  richtig 
ist;  es  wäre  daher  notwendig,  alle  Handschriften  eir.mal  phototypisch  zu  verviel- 
fältigen, da  die  Originale  zu  zerstreut  sind.  »Cula«  heisst  übrigens  im  Slove- 
nischen:  weibl.   Schwein;    >^culek«:   Eber. 


264 

(„swina")  wie  im  Slavischen  noch  gleichlaulet,  so  ist  hingegen  „zima, 
zimni"  (  Winter,  wintrig)  gewiss  kein  deutscher,  daher  darin  auch 
der  sprachentscheidende  Beweis  liegt. 

Die  Erl^lärer  der  „Lex  Salica"  benennen  diese  fremdsprachigen 
Einschiibe  durchwegs  als  „malbergische"  Glossen.  Dr.  Henne  am 
Rhyn  schreibt  in  der  „Kulturgeschichte  des  deutschen  Volkes"  {5.  80/1), 
es  seien  dies  in  den  lateinischen  Text  eingeschobene  altdeutsche 
Rechtsausdrücke,  wie  sie  bei  den  alten  Germanen  auf  dem  „Malberg", 
d.  i.  der  Gerichtsslätte  unter  freiem  Himmel,  üblich  waren.  —  Die 
Sache  stimmt  aber  nicht,  denn  diese  Ausdrücke  bilden  durchaus  kein 
altdeutsches  Sprachgut,  da  sie  überhaupt  nicht  deutsch  sind,  und  wur- 
den nur  so  originell,  wie  sie  den  slavischen  Bewohnern  daselbst 
eigentümlich  waren,  in  das  Gesetzbuch  eingestellt.  Dass  man  aber 
volksgeläufige  Begriffe  einst  ebenso  wie  heute,  im  Originale  anwen- 
dete, ist  doch  nur  natürlich  und  auch  geschichtlich  festgelegt,  denn 
zahlreiche  Urkunden  Deutschlands  führen  noch  viele  Jahrhunderte 
später  slavische  Original-Rechtsbegriffe  an,  sobald  die  eigene  Sprache 
über  keinen  prägnanteren  Ausdruck  verfügte;  dass  aber  dies  umso 
häufiger  der  Fall  war,  je  weiter  wir  in  der  Zeit  zurückgehen,  ist  ge- 
radezu selbstverständlich,  nachdem  die  Germanisierung  der  boden- 
ständigen Slaven  erst  sukzessive  fortschritl,  und  erhielt  die  deutsche 
Umgangssprache  in  Deutschland  vielleicht  erst  im  XL— XII.  Jahrhun- 
derte die  absolute  Majorität. 

Weshalb  jedoch  die  Kommentatoren  der  „Lex  Salica"  jenan  den 
Glossen  vorgesetzten  Begriff  „mal"  als  ,,Malberg"  deuten,  is!  so 
lange  nicht  erklärlich,  bis  es  nicht  feststeht,  ob  in  irgendwelcher 
Handschrift  ein  Beleg  hiefür  ist ;  ansonst  kann  das  spätlateinische 
„mal"  nur  das  normallateinische  „male"  sein,  das  als:  schlec;it- 
hin,  gemeinhin,  gewöhnlich,  volkstümlich  aufzufassen  ist. 

Die  „Lex  Salica"  muss,  wie  aus  bestimmten  Angaben  in  der- 
selben hervorgeht,  schon  mindestens  in  den  Jahren  486—^%  kodi- 
fiziert worden  sein ;  sie  enthält  eine  Sammlung  von  Gewohnheits- 
rechten und  Strafsatzungen,  wie  sich  solche  wohl  durch  viele  Jahr- 
hunderte hindurch  bei  den  salischen  Franken  herausbildeten  und 
festigten.  Nehmen  wir  nun  an,  dass  diese  Rechtsbestimmungen  mit 
ihrer  slavischen  Terminologie  nur  hundert  Jahre  vor  ihrer  Kodifizie- 
rung schon  im  Volksgebrauche  auftauchten,  was  aber  ebensogut  tau- 
send Jahre  früher  der  Fall  gewesen  sein  konnte,  so  erhalten  vnr 
hiemit  doch  schon  slavische  Schriftbelege  ungefähr  aus  der  Zeit  um 
390  n.  Chr.    - 


TAFEL  111. 

(zur  Seite  262.) 


Die  Handschrift  der  »Lex  Salica«  in  Sl.  Gallen. 

Die  älteste  bisher  bekannte  datierte  Handsctirift  mit  slavisctien  Glossen. 


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-öc^    cäJT   Äi^T/ ^iq^'^^muo^yr^ 


Faksimile  der  1.  Seite  in  Originalgrösse.  —  Titel  und  Zahlen  sind  im  Originale  rot 

ausgeführt. 


f 


26Ö 

Die  Glossen  in  der  „LexSalica"  bilden  daherheule 
und  einstweilen  das  älteste  bisher  datierte  siavi- 
sche  Handschriftdenkmal,  und  wird  mit  diesem  Doku- 
mente zugleich  auch  die  Völkerwanderungshypothese, 
weil  anachronistisch,   völlig  unhaltbar  und  wertlo  s.-) 


3.  E.  Chadt: 

Die  Qrenzzeichen  in  den  böhmischen  Ländern. 

Das  Studium  der  Geschich!e  der  Grenzzeichen,  der  Gewohnheits- 
rechte und  Formalitäten  in  Grenzfragen  sowie  der  einschlägigen 
Nomenklaturen  gibt  wohl  überall  annähernd  dieselben  Schlussergeb- 
nisse; nachstehend  soll  aber  dieses  Thema  doch,  soweit  es  die 
Länder  der  böhmischen  Krone  betrifft,  näher  erörtert  werden. 

Was  sich  überall  in  den  mittelalterlichen  Urkunden  wiederholt, 
macht  auch  hier  keine  Ausnahme:  wusste  man  kein  präzises  Wort 
für  eine  Grenzrelation  im  Lateinischen  oder  Deutschen,  so  setzte  man 
das  gebräuchliche  böhmische  Wort  ein,  ein  Beweis,  dass  der  sla- 
vische  Begriff  nicht  nur  altbekannt,  sondern  ausschliesslich  im  Ge- 
brauche war.  So  sagt  eine  Urkunde  vom  Jahre  1165:  „ambitum, 
quod  sclavonice  vgezd  (iijezd)  dicitiir ;  vom  3ahre  1210:  „mefae  quae 
signantur  ghraniz";  vom  Oahre  121^:  „quam  circumciindo  positis 
acervis,  qui  kopzi  vel  granicie  dicuntur";  vom  Oahre  1215:  „ad 
montem,  qui  dicitur  hranicza  Nora";  „per  certas  metas,  quae  vulgo 
hranicie  vel  kopci  sive  vrociscie  dicuntur";  vom  3ahre  1228: 
„ad  occidentem  lapis,  qui  dicitur  Ära  low  stol";  vom  Oahre  1249: 
„Signa,  quae  meze  dicuntur";  „quae  meze  vel  kopci  in  vulgo  dicun- 
tur": „usque  ad  Seal  kam";  vom  dahre  1437:  Jria  ncmora  vulga- 
riter  tri  ochozi"  u.  v.  a.  — 

Alle  diese  Volksbezeichnungen,  die  man  daher  immer  bringen 
musste,  sobald  man  sich  verständlich  ausdrücken  wollte,  zeigen  un- 
trüglich an,  dass  es  eben  und  nur  die  Slaven  waren,  welche  hier 
zuerst  das  praktische  Bedürfnis  halten,  Grund  und  Boden  unterei- 
nander zu  verteilen,  sowie  diese  Verteilung  äusserlich  rechtsgültig  er- 
sichtlich zu  machen ;  über  die  Zeit  jedoch,  wann  dies  geschehen,  fehlt 

*)  Einige  moderne  Historiker  haben,  gedrängt  durch  die  Unhaltbarlieit  der 
bisherigen  Hypothesen,  die  Völkerwanderung  bereits  in  das  II.  Jahrhundert,  einige 
sogar  schon  in  die  vorchristliche  Zeit  verlegt.  Wem  es  mit  der  Wahiheit  ernst 
ist,  der  leitet  kein  solches  licitando-Verfahren  ein,  sondern  macht  gleich  radikale 
Crdnung;  eine  auf  persönliche  Kenzessionen  aufgebaute  Wissenschaft  ist  eine  Ko- 
mödie. — 


266 

einstweilen  jeder  konkrete  Anhialtspunkt ;  dass  es  viele  Jatirhunderte 
zuvor  war,  ist  sicher;  dass  es  Jahrtausende  vor  dem  ersten  erhal- 
tenen schriftlichen  Belege  war,  ist  hingegen  wahrscheinlich.  Für  diese 
Annahme  spricht  z.  B.  der  Umstand,  dass  schon  die  Römer  den 
Begriff  „ad cervos,  acervus"  für  Grenzhügel  gebrauchten,  in  welchem 
sich  das  altslavische  Wurzelwort  „cer"  (  Grenze)  vorfindet,  und 
dass  ein  etrurischer  Grenzstein,  der  mindestens  schon  500  Oahre 
V.  Chr.  als  solcher  erzeugt  worden  sein  muss,  die  slavische  Auf- 
schrift in  Runen  enthält:  „mcze  ne  munjus",  d.  i.  verrücke  nicht 
die  Grenze,  woraus  sich  auch  noch  der  kulturell  bedeutungsvolle 
RücksChluss  ergibt,  dass  man  einen  Grenzstein  m.it  einer  solchen 
Warnung  kaum  wird  eingesetzt  haben,  wenn  das  Lesen  damals  nur 
eine  besondere  Kunst  für  Auserwählte  gewesen  wäre. 

Als  Grenzzeichen  galten  in  der  Hauptsache  grössere  mit  der 
Spitze  nach  aufwärts  sichtbar  gestellte  Steine.  Seltener  wurden  hiezu 
aus  der  Erde  hervorragende  oder  durch  Abgrabungen  der  Erde 
blossgelegte  gewachsene  Felsköpfe  verwertet.  In  letzterem  Falle  er- 
gab es  sich  oft,  dass  man  einen  Felsblock  antraf,  der  nun  nach  dem 
Wegräumen  der  Erde  auf  seiner  natürlichen  Unterlage  labil  lag,  und 
so  zu  einem  Wag-  („vag,  vaha"  =  Grenze)  oder,  wie  er  im  Deutschen 
genannt  zu  werden  pflegte,  zu  einem  Wackelsteine  wurde.  Die 
Böhmen  gebrauchen  hiefür  die  Bezeichnung  „viklan",  Mehrzahl 
„viklani",  die  Slovenen  „gingac,  gingec",  die  Engländer  „rocking 
stones",  die  Franzosen  „pierres  broulantes"  usw.  3e  nach  der  Ver- 
teilung der  Schwerpunktlage  kann  solche  Steine  selbst  ein  starker 
Wind  in  Bewegung  bringen ;  meist  gehört  aber  hiezu  eine  grössere 
mechanische  Kraftanwendung. 

Wagsteine  sind,  wie  schon  die  Spezialnamen  besagen,  nahezu 
überall  anzutreffen,  und  werden  solche  bereits  in  den  ältesten  geo- 
graphischen Schriften  erwähnt.  In  Böhmen  weist  Vocel  („Pravek  zeme 
ceske")  solche  Steine  bei  Krt  (unweit  Jesenice),  bei  Kadov  (nächst 
Horazdbvice),  bei  Zdeslav  (bei  Rakovnik,  als  „Kacena"  oder  „Husova 
kazatelna"  bekannt),  bei  Vysoky  Chlumec  (Bezirk  Sedletz)  u.  a.  — 
In  einigen  Fällen  scheint  es,  als  wäre  der  Stein  derart  verwittert, 
dass  er  schliesslich  nur  auf  einer  massigen  Basisfläche  zu  ruhen 
kam.  Für  jeden  Fall  wäre  es  aber  notwendig  überall  zu  überprüfen. 
ob  solche  Steine  tatsächlich  heute  an  einer  Grenze  oder  doch  an 
einer  solchen  Stelle  hegen,  die  früher  als  Grenzlinie  galt,  denn  in 
diesem  Falle  ist  es  höchstwahrscheinlich,  dass  der  Wagstein  bewusst 
zu  solchem  gemacht  wurde. 

Als  Grenzzeichen  dienten  sehr  oft  auch  eigens  hiezu  gesetzte, 
ein   hohes   Alter   erreichende,  vom  Baumwuchs   der  Umgebung   als 


267 

Spezies  sich  abhebende  Bäume,  die  dadurch  noch  auffälliger  gekenn- 
zeichnet wurden,  dass  man  an  ihnen  Bilder,  Kreuze,  Schlag-  und 
Wegzeichen  u.  ä.  anbrachte.  Bisweilen  waren  es,  namentlich  in  der 
Ebene,  künstliche  Erd-  und  Steinhügel ;  im  hügeligen  Terrain  grub 
man  bisweilen  eine  Erhebung  so  ab,  dass  sie  einen  auffallenden 
Eindruck  machte,  ja,  oft  einen  regelrechten  Kegel  bildete.  Solche 
Grenzhügel  tragen  im  Slavischen  sehr  oft  den  Namen  (besonders  in 
Ostmährenl  „Vinohrad,  Vinohrädek,  Vinohrädky",  was  eben  Grenz- 
hügel, Grenzwerke  bedeutet.  Diese  Etymologie  hat  mit  einem 
Weingarten  nichts  zu  schaffen,  namentlich  da  sich  solche  Grenz- 
zeichen oft  in  Gegenden  befinden,  die  in  der  jetzigen  klimatischen 
Zeitepoche  einen  Weinbau  daselbst  ausschliessen ;  überdies  sind 
solche  Punkte  meist  noch  heute  an  Grenzen  gelegen,  wovon  sich 
jedermann  überzeugen  kann.  So  bildet  z.  B.  der  ob  seiner  kegel- 
förmigen Form  auffallende  Hügel  „Vinohrädek"  im  Bezirke  Holleschau 
(Mähren)  die  Grenzecke  der  Gemeinden  Bystritz  a.  H.  und 
Chvalcov. 

Ein  besonders  kunstvolles  Grenzzeichen  bilden  die  Dreh-  oder 
Schwungsteine,  böhmisch  „tocnik"  genannt;  diese  bestehen  aus 
zwei  korrespondierenden,  mit  halbkugelförmigen  Ausnehmungen  ver- 
sehenen Steinblöcken,  deren  einer  natürlich  in  der  Erde  fixiert  ist; 
der  obere  Teil  liegt  auf  einer  Kugellagerung  und  kann  auf  diese 
Weise  um  die  eigene  Achse  —  natürlich  mit  der  nötigen  Kraftauf- 
wendung —  gedreht  werden.  Ob  sich  solche  noch  wo  in  den  böh- 
mischen Ländern  intakt  befinden,  ist  nicht  bekannt,  da  sie  aus  Neu- 
gierde, ob  nicht  im  Hohlräume  etwas  besonderes  zu  finden  sei,  zer- 
legt oder  zertrümmert  wurden ;  sie  seien  aber  des  Interesses  wegen 
hier  erwähnt,  da  es  möglich  ist,  dass  sich  irgendwo  ein  solcher 
kelchförmiger  Stein  noch  erhalten  hat,  obschon  er  in  diesem  Falle 
auch  durch  die  Eisbildung  gesprengt  sein  dürfte. 

Das  Setzen  von  Grenzsteinen  (böhmisch  „saditi" ;  der  Setzer: 
„sadek,  sadovec",  daher  auch  die  vielen  Ortsnamen:  „Sad,  Sady, 
Sadskä"  u.  ä.)  oder  Erneuern  derselben  (Ortsnamen:  Novosad, 
Novosady"  u.  ä.l  geschah  durch  Amtspersonen  oder  durch  hiezu 
sozial  berufene  Organe.  Anwesend  waren  hiebet  immer  die  beiden 
interessierten  Grenzparteien  sowie  die  Bevölkerung  der  weiteren 
Umgebung.  Handelte  es  sich  um  eine  neue  Abgrenzung,  so  wurden 
die  Grenzzeichen  feierlich  eingesetzt,  die  Punkte  in  Urkunden  ver- 
zeichnet, sowie  in  bezug  auf  Lage  und  volkstümliche  Benennung 
genau  beschrieben;  überdies  wurden  die  Namen  jener  Personen  ein- 
getragen, die  als  Hauptzeugen  hiebet  fungierten.  Eine  Grenzzeichen- 
kotrolle  fand  überdies  bei  jedem  Besitzwechsel  statt. 


268 

Die  so  festgelegten  Grenzen  blatten  eine  öffentlictie  Wiclitigkeit 
und  standen  unter  allgemeiner  Kontrolle.  Um  festzustellen,  ob  nicht 
welche  Grenzzeichen  versetzt  wurden,  fand  eine  solche  Grenz- 
begehung jährlich  statt,  und  nahm  diese  ursprünglich  profane  Kon- 
trolle später  sogar  einen  kirchlichen  Charakter  an.  In  den  böhmischen 
Ländern  wurden  die  Grenzzeichen  entweder  am  Pfingstsonntage  oder 
Ostermontage  von  Priestern,  denen  die  ganze  Gemeinde  folgte,  be- 
gangen und  mit  Weihwasser  besprengt.  Die  Bittgänge  auf  die  Felder 
im  April  dürften  dieses  Ursprungs  sein,  da  es  einige  Urkunden 
zu  bestätigen  scheinen.  Auf  der  Herrschaft  Vlasim  mussten  im  Früh- 
jahre, ehe  andere  Arbeiten  beginnen  und  der  Boden  mit  Gras  und 
die  Wälder  mit  Laub  bedeckt  sind,  die  Grenzen  begangen  und  die 
Grenzzeichen,  namentlich,  wenn  sie  durch  Gräben  markiert  waren, 
instand  gesetzt  werden.  — -  Auf  der  Gutsherrschaft  Gross-Meseritsch 
musste  jährlich  zu  Ostern  oder  zu  Pfingsten  unmittelbar  nach  dem 
Gottesdienste  Alt  und  Jung  hinaus,  soweit  die  Besitzgrenzen  reichten, 
wo  dann  die  Alten  den  Jungen  die  Grenzen  zeigten,  damit  die 
Jungen  nach  dem.  Tode  der  Alten  die  Grenzen  im  Gedächtnisse  be- 
halten. 

Die  Grenzzeichen  wurden  immer  an  gebrochenen  Linien  der 
Gebietsgrenze  angebracht ;  verliefen  die  Grenzen  gerade,  so  waren 
weniger  Zeichen  notwendig ;  bildete  aber  der  Besitz  ein  unregelmäs- 
siges Vieleck  so  kam  an  jede  Ecke  ein  solches  Grenzzeichen.  Eine 
Urkunde  der  Herrschaft  Kfivoklat  (Pürglitz,  Böhmen)  erzählt  z.  B., 
dass  im  Jahre  1615  die  königlichen  (d.  i.  herrschaftlichen)  Besitzungen 
von  jenen  der  Bauern  in  Rakovnik  durch  sieben  Grenzzeichen  geschie- 
den wurden.  Damit  aber  ein  solches  Grenzzeichen  bei  einer  eigenmäch- 
tigen Umsetzung  leicht  wieder  berichtigt  werde,  wurden  unter  jeden 
Grenzstein  eine  halbe  Messingschnalle,  ein  Hufnagel,  zwei  Glasknöpfe 
und  zwei  kleine  Münzen  gelegt  und  ringsum  mit  Kohlenstücken 
bestreut.  Überdies  wurden  hiebet  drei  Bauern  von  Rakovnik,  der 
Förster  von  Luzice  und  ein  Heger  gründlich  verprügelt,  damit  sich 
diese  Grenzzeichensetzung  den  Anwesenden  dauernder  ins  Gedächtnis 
einpräge.  —  Als  offizielles  „Andenken"  an  eine  solche  Grenzregulie- 
rungszeremonie  war  letzleres  einst  allgemein.  Um  namentlich  jün- 
geren Personen  das  Gedächtnis  daran  besser  einzuprägen,  erhielten 
etliche  dabei  amtlich  eine  Tracht  Prügel,  „pardus"  genannt;  ja,  um 
dieses  Schauspiel  besonders  abnorm  zu  gestalten,  erhielten  dabei 
oft  auch  angesehene  Personen,  wie  der  Richter,  Gemeindevorsteher, 
Förster,  sowie  eigens  berufene  Zeugen  den  „pardus". 

Ansonsten  war  es  auch  allgemein  Gebrauch  in  die  Grube,  in  wel- 
che der  Grenzstein  eingelagert  wird,  verschiedene  tote  Zeugen  zu  geben, 


269 

wie:  Glasscherben,  Ziegel-  oder  Kohlenslücke,  Hufnägel,  Eisenfeil- 
späne, Messingabfälle,  Münzen,  Tonscherben,  dann  ganze  Töpfe, 
angefüllt  mit  andersfarbiger  Erde,  mit  Kohlen,  Hirse  u.  dgl.  Hai  nun 
jemand  den  Grenzstein  verrückt,  so  konnte  er  doch  alle  diese  Kenn- 
zeichen nicht  sammeln  und  übertragen ;  man  grub  nun  an  der  alten 
Stelle  nach,  und  restituierte  den  Grenzstein,  falls  man  dort  eben  un- 
trügliche Zeichen  der  wirklichen  Grenzstelle  vorfand. 

Über  Grenzverletzungen  oder  Grenzstreitigkeiten,  die  trotzalle- 
dem  nicht  unhäufig  vorkamen,  entschied  das  Grenzgericht 
unter  verschiedenen  Formalitäten  am  strittigen  Orte  selbst.  Vor  allem 
wurden  hiezu  die  ältesten  Leute  berufen,  die  sich  noch  erinnerten, 
wo  die  wirkliche  Grenze  lief  oder  die  bei  der  Grenzzeichensetzung 
noch  selbst  anwesend  waren.  An  der  fraglichen  Stelle  wurde  nun 
eine  grabähnliche  Grube  ausgehoben,  in  welcher  die  Zeugen  barfuß, 
knieend  und  mit  unbedecktem  Haupte  den  Eid  schwören  mußten,  dass 
hier  die  wirkliche  Grenze  war.  Den  Ernst  der  Sache  erhöhten  noch 
die  Sagen  über  furchtbare  Strafgerichte,  die  Gott  an  den  falschen 
Schwur  in  einer  solchen  Sache  schon  knüpfte ;  so  z.  B.,  dass  der 
Meineidige  an  Ort  und  Stelle  vom  Schlage  getroffen,  gleich  in  dieser 
Grube  auch  begraben  wird  und  nun  selbst  einen  loten  Grenzzeugen 
abgibt,  oder  dass  er  dann  als  Grenzsteinrücker  in  mondhellen  Nächten 
auf  dem  Orte  seiner  Frevellat  herumspuken  muss.  Die  vielen  loka- 
len Sagen,  dass  an  der  Grenze,  d.  h.  unter  dem  Grenzsleine  jemand 
begraben  liegt,  mögen  auch  vielfach  wirklichen  Vorkommnissen  ent- 
sprechen, wobei  es  sich  doch  ereignet  haben  konnte,  dass  jemand 
hiebet  vom  Schlage  getroffen  wurde,  dass  man  einen  überwiesenen 
Meineidigen  an  Ort  und  Stelle  zum  Tode  verurteilte  oder  gar  erschlug 
und  gleich  daselbst  auch  bestattete.  —  Aus  dem  Jahre  1613  wird  ein 
Vorfall  erzählt,  wie  zwei  Meineidige  dem  Gottesgerichte  verfielen. 
Es  wurden  fünf  Gräber  ausgehoben  und  in  jedem  hatte  ein  Zeuge  den 
Eid  zu  leisten.  Da  fiel  einer  nach  dem  Eide  sofort  tot  zusammen, 
ein  zweiter  sah  in  seiner  Grube  plötzlich  nur  Würmer,  und  wurde 
darob  von  einem  derartigen  Zittern  befallen,  dass  er  fortan  nur  mehr 
schwer  selbst  essen  konnte,  und  verlor  sich  dieser  Zustand  bis  zu 
dessen  Tode  nicht  mehr;  sie  beide  haben  nämlich  in  der  Grenzsache 
falsche  Aussagen  gemacht. 

Dass  oft  auch  hiebet  listige  Vorspiegelungen  angewendet  wurden, 
um  dem  falschen  Eide  eine  Abolition  zu  geben,  beweist  die  Tatsache, 
dass  sich  bei  einem  Grenzslreite  an  der  österreichisch-bayrischen 
Grenze  die  wissentlich  Meineidigen  in  die  Stiefel  bayrische  Erde 
schütteten,  und  so  beruhigt  schwuren,  „dass  die  Erde,  auf  der  sie 
stehen,  bayrisch  sei". 


270 


Jede  Grenzverletzung  wurde  strenge  bestraft.  Der  Scliuldige 
hatte  normal  als  Strafe  einen  Ochsen  abzugeben,  der  als  „mezni  vül" 
in  allen  lateinischen  Urkunden  seit  der  ältesten  Zeit  angeführt  erscheint. 
Ansonst  bestand  die  Strafe  für  das  Ausgraben  eines  Grenzsteines 
oder  das  Niederbrennen  eines  Grenzbaumes  auch  aus  20  Schocl^  böh- 
mischer Groschen,  die  derjenige,  der  sie  nicht  besass,  sodann  dem 
dadurch  Beschädigten  mit  der  Handarbeit  abdienen  musste.  — 

Diese  l^urze  Schilderung  der  geschichtlichen  wie  rechtssozialen 
Verhältnisse  in  Grenzfragen  in  den  Gebieten  der  böhmischen  Sprache 
möge  nun  das  Interesse  auslösen  auch  in  anderssprachigen  Ländern 
der  gleichen  Forschung  nachzugehen  und  namentlich  das  Augenmerk 
dahin  zu  richten,  wie  weit  die  Slavizität  dabei  auch  anderswo  eine 
begriffstechnische  Rolle  spielt.  — 


M.  Zunkovic: 

Einiges  über  den  Bergbau  und  die  Metall- 
bearbeitung der  alten  Slaven. 

Viele  ältere,  vor  allem  deutsche  Schriftsteller  bezeichnen  offen 
die  Slaven  als  die  ältesten  Bergleute  Europas,  und  kann  diese  Tat- 
sache schon  deshalb  nicht  abgeleugnet  werden,  weil  dies  auch  die 
Etymologie  der  montantechnischen  Begriffe  bestätigt.  — 

So  sagt  z.  B.  Henze  (Geschichte  des  Fränkischen  Kreises,  p.  %j : 
„Frühzeitig  legten  sich  die  Slaven  auf  den  Bergbau.  Die  ergiebigen 
ungarischen  Bergwerke  wurden  von  ihnen  erfunden,  die  böhm.ischen 
erhoben  sich  jedenfalls  sehr  bald,  und  unsere  voralters  in  ausneh- 
mender Blüte  gestandenen  Bergwerke  stammen  wahrscheinlich  von 
ihnen  her.  Weil  die  Slaven  die  ersten  waren,  weiche  sich  mit  dem 
Bergbau  vorzüglich  beschäftigten,  sind  noch  so  viele  slavische  Wörter 
im  Bergbau  gebräuchlich,  als :  Flöz,  Kuks,  Kies,  Kipricht,  Schacht, 
Schwaden,  Kobalt,  Schicht,  Seifen,  Spat,  Stollen,  Meiler  usw."  — 
Herder  (Ideen,  T.  IV.,  1792,  p.  37)  sagt:  „In  Deutschland  betrieben 
die  Slaven  den  Bergbau,  verstanden  das  Schmelzen  und  Giessen  der 
Metalle."  —  Adelung  (Vorw.  zu  Thams  böhm.  Lex.,  Prag  1788,  p.  5) 
schreibt:  „Wir  finden  den  Bergbau,  die  Handlung  und  manche  me- 
chanische Arbeiten  bei  den  Slaven  sehr  frühe  im  Gange  und  zwar 
früher  als  in  dem  mittleren  und  nördlichen  Deutschland,  welches  sich 
nicht  schämen  darf,  manches  in  diesem  Stücke  von  den  Böhmen  er- 
lernt zu  haben.  In  dem  südlichen  Deutschland  ist  der  Bergbau  unstrei- 
tig   ein  Überbleibsel   der  römischen  Kultur;   allein   in  dem   mittleren 


271 

und  nördlichen  ist  er  allem  Ansehen  nach  ein  Abkömmling  der  sla- 
vischen."  Isis  (1882,  Heft  5,  p.  1)  führt  an:  „Die  Slaven  taten  sich 
sehr  frühzeitig  im  Berg-  und  Hüttenwesen  hervor." 

Einen  ergänzenden  Beleg,  ob  die  montantechnischen  Begriffe, 
wie  sie  vorerst  "angeführt  wurden,  tatsächlich  slavischer  Genesis  sind, 
bietet  schon  der  Umstand,  dass  der  Slave  hiefür  immer  den  weit 
kürzeren,  daher  offenkundig  primäreren  Ausdruck  besitzt,  als  etwa 
der  Römer  oder  Deutsche,  dessen  Wortformen  bei  der  Übernahme 
oder  auf  dem  Wege  der  Anpassung  durchwegs  länger  geworden  sind, 
und  meist  durch  den  ungewöhnlichen  Klang  das  Kennzeichen  der 
fremden  Provenienz  an  sich  tragen.  So  wurde  aus  dem  slavischen 
„cad"  (  verdorbene  Luft)  das  schon  von  Plinius  II.  (Historia  natura- 
lis /.,  XXXIV)  erwähnte  „cadmium"  im  Deutschen  zu  „Schwaden" ; 
der  scharlachfarbene  Traubenkobalt  heisst  bei  Plinius  „broirytis" ;  der 
Slave  nennt  den  roten  Farbstoff  „broc" ;  „Scharsach"  ist  dem  Deut- 
schen der  weiche  Stahl,  dem  Slaven  „zarica",  d.  i.  das  Eisen  aus 
der  Rotglühhitze,  aber  auch  „Scharlach" ;  das  „cassifcron"  gilt  schon 
Homer  als  Helmmetall ;  der  Kroate  nennt  aber  den  Helm  „kacida" ; 
auch  die  Käferfamilie  „Cassidae"  hat  diesen  Ursprung,  nachdem  sie 
sich  mit  ihrem  unverhältnismässig  grossen  Halsschilde  den  Kopf 
vollkommen  deckt;  „kok,  kolk"  (sprich  „kuk")  bedeutet  dem  Slaven 
ein  Teil  des  erzhaltigen  Berges,  d.  i.  der  ideelle  Anteil  an  einem 
Bergwerke,  im  Deutschen  als  „Kuks"  benannt;  „zik",  deutsch  „Schicht", 
zeigt  eine  schwache  Erz-  oder  Kohlenmächtigkeit  an ;  „scoria"  (bei 
Plinius)  bedeutet  „Schlacke" ;  im  Slavischen  bezeichnet  dies  die  Kruste, 
welche  sich  ander  erstarrenden  Schlacke  bildet;  „sip"  (=  Geschiebe) 
dann  „Seifen"  usw.,  alles  Begriffe,  denen  besonders  ein  sprach- 
lich gebildeter  Bergtechniker  nähere  Beachtung  wid- 
men könnte. 

Die  ausserordentlich  reichen  Funde  an  Gold-,  Bronze-  und  Eisen- 
gegenständen aus  der  prähistorischen  Zeit  bestätigen  aber  auch,  dass 
der  Bergbau  einst  ganz  bedeutend  gewesen  sein  muss,  dass  die 
Kenntnisse  der  Metallmischungen  (Bronze),  die  Zubereitung  der  Roh- 
stoffe, die  technische  Gewandtheit  und  Vielseitigkeit  in  den  Mustern, 
die  Modellierkunst  (z.  B.  Strettweger  Opferwagen,  Nordendorfer 
Schmuck)  auf  einer  hohen  Stufe  standen. 

Desgleichen  sind  die  Mischungen  verschiedener  Metalle,  die 
wieder  oft  erst  mühsam  und  einzeln  aus  Mineralien  ausgeschieden 
werden  müssen,  wie  z.  B.  bei  der  Bronze,  die  Gewinnung  des  Ei- 
sens, das  ja  rein  —  ausgenommen  Meteoreisen  —  in  der  Natur 
gar  nicht   vorkommt,   die  Glaserzeugung   u.  a.,   der  klarste  Beweis, 


272 

dass  jene  Kultur  eine  bedeutende  Höhe  gehabt  haben  muss,  und  dass 
da  wohl  Epochen  vorausgegangen  sein  müssen,  ehe  man  diese  em- 
pirischen Entdeckungen  so  weit  vollendet  hatte,  um  sie  für  den  Kampf 
wie  Schmuck  verwerten  zu  können. 

Namentlich  gilt  als  Inbegriff  des  Schmuckes  alles  jene,  was  sel- 
ten und  schwer  erreichbar  ist.  Daher  kommt  es  nun,  dass  der  Bronze- 
schmuck seinerzeit  so  hochgehalten  wurde ;  nebstbei  war  aber  auch 
schon  Gold  als  solches  bekannt.  Und  gerade  die  Goldgewinnung  selbst 
ist  ja  auch  eine  äusserst  umständliche,  namentlich  die  Gewinnung  des 
Berggoldes,  und  doch  wissen  wir,  dass  in  den  Ländern  alter  Kultur 
die  Lagerstätten  schon  nahezu  vollkommen  erschöpft  sind.  Wo  solche 
waren,  ersieht  man  noch  aus  gelegentlichen  Anspielungen  in  der 
Volkspoesie  oder  aus  den  topischen  Namen.  So  prahlt  z.  B.  der 
Geliebte  im  serbischen  Volksliede : 

„Dok  Sil  incnc  dva  majdana  zlatna, 

jedan  majdan  u  Kopanikii, 

dnigi  Rudnicka  planina  .  .  .".  d.  i. : 

So  lange  zwei  Goldbergwerke  mein  sind, 

eines  in  der  Kopanik  planina, 

das  zweite  im  Riidnik-Gebirge  .  .  . 

Dass  daran  etwas  Wahres  sein  muss,  darüber  kann  kein  Zwei- 
fel sein,  sowie  dass  in  jenen  Gebirgen  tatsächlich  einstens  Gold  ge- 
wonnen wurde,  denn  sonst  hätte  die  Geliebie  seine  Werbungen  nicht 
ernst  genommen.  Jene  Erwähnung  ist  daher  im  Prinzipe  keine  leere 
Bestechungsphrase,  sondern  die  beiden  Gebirge  Serbiens  waren  offen- 
kundig zur  Zeit,  als  dies  gesprochen  wurde,  wofür  allerdings  alle 
Anhaltspunkte  fehlen,  sicherlich  aber  doch  lange  vor  der  türkischen 
Invasion,  noch  allgemein  bekannte  Goldbergwerke.  ^  Ob  sie  fertig 
abgebaut  wurden,  wissen  wir  heute  freilich  nicht;  eine  erneuerte 
Nachforschung  auf  dieser  Basis  dürfte  aber  möglicherweise  Serbien 
eine  angenehme  staatsökonomische  Bestätigung  bringen. 

Inwieweit  nun  bei  dieser  metallurgischen  Technik  die  Slaven 
selbst  eine  führende  Rolle  spielen,  hiefür  haben  wir  wohl  keine 
direkten  Anhaltspunkte,  aber  wir  müssen  vor  allem  die  natürliche 
Ungerechtigkeit  in  dem  gedankenlosen  Bezweifeln,  als  ob  die  allen 
Bewohner  Europas  —  ausgenommen  die  Griechen  oder  Römer  - 
nie  eine  rechtschaffene  bodenständige  Kultur  besessen  hätten,  ener- 
gisch abweisen,  da  diese  Prämisse  unhaltbar  ist.  Der  Beweis,  dass 
die  alten  Slaven  in  der  Kultur  sehr  hoch  gestanden  sein  müssen, 
ergibt  sich  aber  indirekte,  denn  stereotyp  heisst  es,  dass  die  Kel- 


273 

ten  in  allem  zum  Vorbilde  dienten,  und  Kellisch  wie 
Slavisch  sind  doch  sich  sprachlich  deckende  Begriffe,  d.i.  „celedi" 
(  Sippen,  Stämme),  daher  wir  endlich  auch  schon  im  Klaren  sein  kön- 
nen, was  wir  unter  dem  ewigen  Rätsel  „keltisch"  in  Wirklichkeit  zu 
verstehen  haben.  *— 

F.  V.  Sasinek: 

Apostel  Andreas  bei  den  Slaven. 

Es  ist  leider  zur  Mode  —  allerdings  schlechten  —  bei  den 
Geschichtsschreibern  geworden,  den  verhassten  Slaven  nicht  nur  die 
Autochthonie,  sondern  auch  die  Anfänge  des  Christentums  abzuspre- 
chen. Freilich  muss,  wenn  man  sich  einmal  gedankenlos  einbildet, 
dass  die  Slaven  erst  seit  dem  Aufkommen  ihres  Namens  (552)  exi- 
stierten, oder  dass  sie  erst  im  IV.,  V.  oder  gar  VI.  Oahrhunderte  in 
Europa  eingewandert  seien,  einer  falschen  Prämisse  auch  eine  falsche 
Konsequenz  folgen.  Wir  sind  aber  überzeugt,  dass  die  Slaven  seit 
der  Urzeit  unter  den  verschiedensten  Namen  wie:  Thraker,  Goten, 
Scythen,  Sarmaten,  Veneter,  Kelten  u.  a.  in  Europa  lebten,  womit  wir 
nicht  nur  deren  Autochthonie,  sondern  auch  ihre  apostolische  Chris- 
tianisierung festlegen;  das  eine  bestätigt  das  andere. 

Christus  befahl  den  Aposteln :  „Gehet  in  die  ganze  Welt  und 
prediget  das  Evangelium  allen  Kreaturen !"  —  Wer  will  es  nun  ab- 
leugnen, dass  die  Apostel  den  autochthonen  Slaven  in  Europa  das 
Evangelium  nicht  gepredigt  haben? 

Nachstehend  soll  nur  die  Frage  erörtert  werden,  ob  der  Apostel 
Andreas  seine  Tätigkeit  auch  auf  die  Slaven  ausgedehnt  hat.  Mit  die- 
sem Thema  beschäftigte  sich  auch  schon  Dr.  dulius  Pelecz,^)  doch 
beschränkte  sich  dieser  nur  auf  Details,  denn  statt  Andreas  einen 
Apostel  der  Slaven  zu  nennen,  bezeichnet  er  ihn  lediglich  als  einen 
Apostel  der  Russen.  Nestor  (t  HOS)  ist  übrigens  der  einzige,  der 
vom  Apostolate  Andreas'  bei  den  Slaven  spricht,  doch  Pelecz  glaubt 
dessen  anachronistische  Erzählung  auch  verwerfen  zu  müssen,  wozu 
einige  Berechtigung  vorliegt,  denn  bei  jeder  dunklen  Tradition  oder 
Sage  ergibt  sich  erst  der  wahre  Kern,  nachdem  man  die  Schale  ent- 
fernt hat,  aber  diese  ist  eben  hier  nicht  entfernt  worden. 

Tatsächlich  muss  Andreas  den  Slaven  zwischen  der  Volga  und 
den  Karpaten  das  Evangelium  gepredigt  haben,  denn  Nestor  lässt 
ihn  nach  Rom  kommen,  wo  er  dessen  Erfahrungen  nachstehend 
schildert:   „Wunderliche  Dinge  habe  ich   auf  meiner  Hierherreise   in 

^)  Geschichte   der  Union  der  ruthenischen  Kirche.   —  Wien   1878,   I.,   36. 

IS 


274 

den  slovenischen  Ländern  gesehen ;  ich  sah  hölzerne  Wannen,  diese 
machen  sie  glühend  (das  Wasser  darin),  ziehen  sich  aus  und  sind 
nackt,  und  begiessen  sich  mit  Gerberlauge,  und  nehmen  junges  Rei- 
sig und  schlagen  sich  selbst  und  begiessen  sich  mit  kaltem  Wasser 
und  erfrischen  sich  so."  —  Pelecz  merkte  aber  gar  nicht,  dass  solche 
Dampfbäder  bei  den  Slaven  (Scythen  zwischen  den  Karpaten  und  der 
Volga)  schon  von  Herodot  {kkk  v.  Chr.)  ähnlich  beschrieben  sind.  — 
Herodot  (IV,  73,  75)  erzählt  nämlich,  dass  die  Scythen  drei  Pfähle  in 
die  Erde  schlagen,  sie  oben  verbinden  und  herum  mit  wollenen 
Oberkleidern  (haleny)  abschliessen.  Sie  werfen  dann  glühend  ge- 
machte Steine  in  den  zwischen  den  Pfählen  aufgestellten  Waschtrog 
und  streuen  Hanfsamen  auf  die  glühenden  Steine;  darauf  entstehen 
solche  Dämpfe,   dass  sie   selbst  griechische  Dampfbäder  übertreffen. 

Ähnliche  Dampfbäder  fand  bei  den  Slaven  auch  der  Araber  Ma- 
sudi,  der  sie  folgend  beschreibt :  „Die  Slaven  errichten  eine  hölzerne 
Bude;  die  Spalte  derselben  verstopfen  sie  mit  etwas,  was  bei  ihnen 
„moch"  (  Moos)  heisst.  In  einer  Ecke  der  Bude  errichten  sie  einen 
Ofen,  mit  einer  Öffnung  am  oberen  Teile,  um  den  Rauch  auszulassen. 
Ist  einmal  der  Ofen  glühend,  so  verstopfen  sie  jene  Öffnung  und 
giessen  auf  den  glühendgemachten  Ofen  Wasser,  wodurch  sich  Dämpfe 
entwickeln.  Eine  solche  Bude  nennen  sie  „itba"  (     izba,  d.  i.  Stube).-) 

Diese  Digression  ist  gewiss  sehr  wichtig  für  die  Geschichte  der 
Altslaven  dies-  und  jenseits  der  Karpaten,  .wo  eben  der  Apostel 
Andreas  wirkte,  wie  dies  Nestor  sowie  Eusebius  (IV.  Jahrh.)  bezeugen. 

Oft  werden  die  Worte  des  Papstes  Oohann  X.  angeführt,  die  er 
an  den  kroatischen  König  Tomislav  im  Oahre  925  geschrieben:  „Qiiis 
enim  ambigit  Sclavinorum  regna  in  primitiae  Apostoloriim  et  universalis 
ecclesiac  esse  comniemorata,  cum  cunabulis  escam  praedicaüonis  aposio- 
licae  ecclesiae  perceperunf?"^)  —  Beziehen  sich  diese  Worte  nicht  auf 
den  Apostel  Andreas,  so  besitzen  wir  darüber  ein  Zeugnis  bei  Ter- 
tulian  (um  das  Oahr  200),  der  in  der  Apologie  gegen  die  3uden 
schrieb :  „lam  Getulorum  variefates  et  Mauroruni  nuilti  fines,  ei  Hispa- 

-]  Aenliches  findet  man  noch  heute  bei  den  konservativen  Slovaken.  I,  J. 
1867  ging  ich  aus  Tekovsky  Svety  Kriz,  der  Residenz  des  Neusohler  Bischofs,  über 
den  Fluss  Hron  nach  dem  Dorfe  Vieska,  Am  Flussufer  bemerkte  ich  ein  Feuer, 
das  den  Zweck  hatte  Feldsteine  glühend  zu  machen.  Daneben  stand  ein  Fass, 
angefüllt  mit  schmutziger  Wäsche  und  Wasser.  Die  glühend  gemachten  Steine 
wari  man  nun  in  das  Fass,  um  die  Wäsche  abzubrühen.  Diese  Reinigungsart  nennt 
man  dort   »svärenie«   (^   Abbrühen).   — 

•'')  D.  i.:  »Wer  zweifelt  daran,  dass  Reiche  der  Slaven  in  den  ersten  Zeiten 
der  Apostel  und  der  allgemeinen  Kirche  erwähnt  werden,  da  sie  schon  von  der 
Wiege   an   die   Speise   der  Predigt   der   apostolischen   Kirche   empfangen   haben? 


276 


nonim  onincs  tcrmini.  ei  Galliarum  divcrsac  nafiones,  et  Biitanonim  in- 
acccssa  Romanis,  loca,  Christo  vcro  deo  subdita.  et  Sarmatorum  et 
Dücoruni  et  Gennanonim  et  Scytharum  et  abditaniin  multarum 
gentium  .  .  .  Christi  aiitem  regmim  ubiqiie  porrigitur."^]  —  Ist  nun  das 
Evangelium  im  II.  Jahrhunderte  den  Scythen  und  Sarmalen  zwischen 
der  Volga  und  den  Karpaten  gepredigt  worden,  so  ist  es  dabei  aus- 
geschlossen, dass  diese  Mission'  nicht  der  Apostel  Andreas  be- 
sorgte.') 

Es  ist  allerdings  Tatsache,  dass  öohann  Chrisostomus  Missio- 
näre ausKonslanlinopel  zu  Bekehrungszwecken  zu  den  Scythen  sandle, 
nicht  erst  um  ihnen  das  Evangelium  zu  predigen,  sondern  um  sie 
zum  Katholizismus  zurückzuführen,  in  den  sie  vom  Apostel  Andreas 
eingeführt  wurden,  weil  sie  inzwischen  zum  Arianismus  übergegan- 
gen waren.  Wir  wissen  es  nämlich  aus  Traditionen  bis  zu  Nestor 
(1106),  dass  die  aulochthonen  Scythen  schon  vor  Oohann  Chrisoslo- 
mus in  den  christlichen  Glauben  eingeführt  waren,  denn  diese  Tra- 
ditionen sind  es,  welche  die  Anfänge  des  Christentums  bei  den  Völ- 
kern zwischen  der  Volga  und  den  Karpaten  nicht  Chrisostomus, 
sondern  Andreas  zuschreiben. 

Zur  Zeil  des  Johann  Chrisostomus  gingen  in  jenem  Gebiete 
grosse  Umwälzungen  vor.  Hermanric,  König  der  Gelen  an  der  Visla 
(Weichsel),  errichtete  eine  mächtige  Monarchie,  die  sich  nicht  nur  von 
den  Karpaten  bis  zum  Don,  sondern  auch  diesseits  jenes  Gebirges 
bis  zu  den  Venetern  erstreckte.  Hiezu  gehörten  die  Bewohner  an  der 
Visla,  die  Vislavini  und  die  Anten  (Antae);  anschliessend  an  letztere 
wohnten  im  Räume  zwischen  der  Volga,  dem  Don  und  dem  Kaukasus 
die  allslavischen  Sarmalen,  welche  Herodot  „Melanchleni"  benennt, 
welches  Volk  man  aber  zu  Hermanric'  Zeiten  auch  mit  dem  Namen 
„Hunnen"  identifizierte. 

Dies  vorauszusenden  erschien  notwendig,  um  die  dunkle  Ge- 
schichte der  Hunnenzeit  zu  verstehen,  denn  die  Anten  waren  es,  die 

*)  D.  i.:  »Schon  die  verschiedenen  Stämme  der  Getuler  sowie  die  vielen 
Grenzen  der  Mauren,  dann  alle  Grenzen  der  Hispanier,  die  verschiedenen  Na- 
tionen der  Gallier,  die  den  Römern  unzugänglichen  Orte  der  Britaner  sii.d  Christo, 
dem  wahren  Gott,  untergeben,  ebenso  wie  die  vielen  versteckten  Völker  der 
Sarmaten,  Daker,  Germanen  und  Scythen  .  ,  .  das  Reich  Christi  war  eben  über- 
all verbreitet«. 

■')  Radagais  wird  »Vandalus«  und  »Scytha«  genannt,  da  er  ein  Slave  aus 
der  Gegend  zwischen  der  Elbe  und  Weichsel  (Vandalia),  also  ein  »Vandalus«  war. 
Jemandes  hält  die  Namen  Scythia,  Samaria  und  S  c  1  a  v  i  n  i  a  für  iden- 
tisch. Wo  Herodot  Scythen  und  Sarmaten  festgestellt  hat,  dort  finden  wir  später 
überall  slavisch   sprechende   Völker. 

18» 


276 

sich  vor  allem  von  Hermanne  frei  machen  wollten,  und  zu  diesem 
Zwecke  die  Hunnen  herbeiriefen,  welche  Intervention  aber  die  Anten 
teuer  bezahlten.  Die  Hunnen  haben  nämlich  nicht  nur  das  Reich  Her- 
manric'  (t  375)  zerstört,  sondern  auch  die  Anten  unterworfen  und 
weiterhin  Mitteleuropa  mit  Schrecken  erfüllt. 

In  diese  Hunnenzeit  fallen  auch  die  Worte  des  hl.  Hieronimus 
(t  421):  „Hiini  discimi  psaltcrium,  Scythiae  frigora  fervent  calorc  fidci, 
Getorum  nitiliis  et  flaviis  cxercitus  ecclesiarum  circumfert  tentoria  et 
ideo  forsitan  contra  nos  aequa  pugnant  acte,  quici  pari  religionc  confi- 
diint.^)  Zu  unserer  Erwägung  gehören  vorerst  die  Worte :  „Die  Kälte 
Scythiens  wird  durch  die  christliche  Religion  erwärmt."  Gemeint  sind 
hier  die  nördlichen  Scythen  zwischen  der  Volga  und  den  Karpaten. 
Da  aber  die  Volga  in  alten  Geschichtsquellen  auch  „Rha"  genannt 
wird,  bezeichnete  man  die  Scythen,  welcher  Begriff  lediglich  einen 
Krieger  im  allgemeinen,  d.  h.  einen  mit  dem  Schilde  (skytos, 
sciitum,  seil,  stit)  Bewaffneten  kennzeichnet,  nebstbei  auch  „Rhosoi, 
Rossia,  Russi".')  —  Ist  es  nun  so,  dass  „Rossia"  identisch  ist  mit 
„Scythia",  und  daher  Scythen  und  Russen  dasselbe  Volk  sind,-)  so 
ist  es  auch  einleuchtend,  dass  sich  die  Tradition  vom  Apostolate  des 
hl.  Andreas  in  Scythien,  d.  i.  Russland,  ununterbrochen  erhalten  hat, 
nicht  aber  bei  ihren  Nachbarn,  bei  den  Volgaren  (Bulgaren),  die  doch 
bald  vom  Christenlume  zum  Mohammedanismus  abgefallen  sind,  wie 
dies  Gregorius  (apud  Migne:  Patrologia  LXXl,  Seite  647)  erwähnt. 


Sammelstelle  für  altslavisches  Sprachgut. 

Dem  Sprachinteressenten  stossen  im  Leben  wie  in  der  Lektüre 
oft  alte  Ausdrücke  auf,  die  trot^;  allgemeinen  Gebrauches  etymologisch 
nicht  geklärt  sind,  oder  aber  in  verdorbener  Form  in  der  Rede  wie 
Schrift  gebraucht  werden.  Überdies  gibt  es  eine  Unmasse  von  VJörtern, 
die  man  unter  dem  Eindrucke  des  Vorurteiles  anzuwenden  meidet, 
weil  man  sie  für  fremdes  Sprachgut  hält. 

")  D,  h.:  »Die  Hünen  lernen  den  Psalter,  die  Kälten  Scythiens  werden  erhitzt 
durch  die  Wärme  der  Religion,  die  glänzende,  gelbe  (blonde?)  Armee  der  Geten 
trägt  Kirchenzelte  herum,  und  vielleicht  kämpfen  sie  gegen  uns  deshalb  mit  der 
gleichen  Waffe,  weil  sie  gleicher  Religion  angehören«. 

')  Et  illud,  quod  vocalur  Rhos,  apud  illos  ita  obtinuerit,  ut  Romani  imperio 
subditos  sibi,  quaquae  versum  proxinos  in  servitutem  redegerint,  (Fpistola  Photii 
apud  Migne:  Patrologiae  series  graeco-latina  LIIL,  S,  376.  —  Siehe  auch  meinen: 
Slovansky  Letopis.  Skalice,  1881,  S.  272.  —  Constantinus  Porphirogenetes  ap. 
Migne  CXIIL,  58  in  nota.) 

'*)   Bikowski:   Mcr.  Pol.   I.   S.   848.   — 


277 

Alles  altslavische  Sprachgut  dieser  Art  soll  hier, 
wie  es  fallweise  aufgelesen  wird,  in  Form  von  kurzen 
Monographien,  gesammelt  werden,  um  einerseits  sol- 
che Begriffe  sprachlich  aufzuklären,  daher  wissen- 
schaftlich zu  rehabi  litie  ren,  andererseits  aber  auch, 
um  den  präsumtiven  Verfassern  eines  „Altslavischen 
Sprachlexikons"  die  Arbeit  zu  erleichtern.  Die  öffentliche 
Behandlung  dieser  Sammelarbeit  bezweckt  zugleich  jedermann  Ge- 
legenheit zur  Berichtigung  oder  Ergänzung  zu  bieten,  sofern  der 
erste  Anzeiger  den  Begriff  unrichtig,  nicht  erschöpfend  oder  über- 
zeugend behandelte. 

Im  allgemeinen  wird  jener  Beg  rif  f  al  s  „altslavisch" 
angesehen,  der  schon  wenigstens  im  Mittelalter  ur- 
kundlich belegt  ist,  oder  der  in  zwei  oder  mehreren 
räumlich  entfernten  slavischen  Sprachgruppen  bereits 
längere  Zeit  bekannt  ist,  daher  schon  vor  der  einstigen, 
zeitlich  nicht  mehr  kontrollierbaren  Sprachsezession 
denselben  angehört  haben  muss. 

Liegt  aber  einmal  dieses  grundlegende  V7erk  fertig  vor,  dann 
kann  vielleicht  auch  schon  ein  „Lexikon  des  Ursprachschatzes"  in 
Erwägung  gezogen  werden,  denn  es  wird  täglich  klarer,  dass  wir 
mit  der  slavischen  Sprache  als  Leitfossil  immer  überzeugender  in 
jene  Vorzeit  dringen,  als  zum  mindesten  das  Germanische,  Roma- 
nische und  das  Sanskrit  noch  eine  gemeinsame,  einheitliche 
Sprache  waren,  weil  sich  gerade  im  Slavischen  die  einfachsten 
Formen  der  Begriffe,  die  von  den  primären  nicht  mehr  wesentlich 
differieren  können,  noch  zum  grossen  Teile  erhalten  haben. 

^  DIE  REDAKTION. 

»Pluti«.  —  Dieser  Begriff,  der  bei  den  Slovenen  noch  heute 
für:  schwimmen,  flössen  allgemein  gebräuchlich  ist,  kommt 
aber  auch  schon  i,  J,  1347  in  einem  böhmischen  Glossarium  in  gleicher 
Bedeutung  vor;  dort  heißt  es,  daß  das  gefällte  Holz  mittels  Wasser  g  e- 
schwemmt  wird,  was  man  »pluti'<  nennt  (»quac  pluthi  vulga- 
riter  dicitur«),  —  Ch. 

»Pram«.  —  Darunter  verstand  man  ein  Floß.  Der  Begriff 
kommt  schon  in  einer  böhmischen  Handschrift  (»Hrady  a  zämky«, 
VIIL,  51),  die  dem  XIV.  oder  höchstens  XV.  Jahrhunderte  angehört, 
vor,    ~  Ch. 

Prcscstovati.  —  Nachdem  das  sechste  der  auf  Sinai  gegebenen 
Gebote  Jehovas  gegen  die  Unkeuschheit  gerichtet  ist,  muß  sich  be- 


278 

reits  in  alter  Zeit  der  Ausweg  gefunden  haben  ein  Vergehen  dieser 
Richtung,  um  sich  über  das  Wesen  und  die  Einzelheiten  nicht  weiter 
verbreiten  zu  müssen,  im  Slavischen  kurzweg  mit  »übersechsten«,  d. 
i,  gegen  das  sechste  Gebot  sündigen,  zu  kennzeichnen 
(slav.  »sest«  =  sechs).  —  Der  älteste  schriftliche  Beleg  hiefür  findet 
sich  in  Primus  Trubars  slovenischem  Katechismus  aus  dem  Jahre 
1550.  —  Wir  hörten  in  der  Volksschule  im  Religionsunterrichte  auch 
nie  eine  weitere  Definition  und  fühlten  nur  heraus,  daß  es  sich  dabei 
um  etwas  besonders  Sündhaftes  handeln  müsse.  —  Diese  Methode 
der  Ueberbrückung  von  Begriffsdefinitionen,  die  man  ihres  Cha- 
rakters wegen  aus  natürlichem  Takte  nicht  weiter  auseinandersetzen 
kann  oder  will,  zeigt  von  sehr  feinem  moralischen  Zartgefühle  von 
Einst.  —  Z. 

»Skaramucati«.  -  Dieser  Begriff  kommt  in  der  dem  XI,  Jahr- 
hunderte angehörenden  kroatischen  Handschrift,  die  dem  Popen  von 
Dioklea  (Duklja)  zugeschrieben  wird,  in  der  Bedeutung:  durch  Be- 
unruhigungquälen oder  müde  machen  vor.  Das  Wort  ist 
entweder  aus  »skorati«  (=  bedrängen)  und  »mucati«  (~  quälen),  oder 
aus  »skoro  mucati«  (~  beinahe,  nahezu  quälen)  böhm,  »zkormoutiti« 
(=  betrüben)  gebildet  und  sonderbarerweise  fast  unverändert  in  andere 
Sprachen  übergegangen,  wie  altfranz.  »escarmouche«,  altital.  »scara- 
mucio«,  deutsch  »Scharmützeln«.  Im  Waltariliede  kommt  auch  der 
verwandte  Personenname  »Skaramund«  vor.  Das  Wort  ist  daher  ein 
originalslavisches,  da  hier  die  Etymologie  noch  heute  ver- 
ständlich ist,  für  alle  anderen  Sprachen  aber  bereits  ein  Lehnwort, 

K. 

»Soloh«,  —  Im  laufenden  Jahre  machte  der  russische  Ar- 
chäolog  J.  Veselovskij  einen  sensationellen  Fund  in  einem  Kurgan 
(Grabhügel)  Südrußlands.  Die  Skelette  wie  die  verschiedenartigsten 
wert-  und  kunstvollen  Grabbeigaben  berechtigen  zur  Annahme,  daß 
hier  ein  besonders  hervorragender  scythischer  Car  begraben  liege. 
Sie  ist  auch  ansonst  natürlich  berechtigt,  denn  der  Grabhügel  ist 
eigentlich  ein  Grabberg  in  den  Dimensionen  einer  ägyptischen  Pyra- 
mide, die  auf  etwa  20  Vjorst  im  Umkreise  der  Steppe  sichtbar  ist. 
Dieser  Riesentumulus  heißt  bei  den  Anwohnern  »Soloh«.  Man  weiß 
nun  nicht,  was  die  Benennung  anzeigen  soll  und  nimmt  zumeist  an, 
daß  der  dort  begrabene  Car  so  geheißen  habe.  —  Diese  Annahme 
scheint  aber  zu  trügen,  wahrscheinlicher  ist  es,  daß  der  Begriff  über- 
haupt nicht  »Soloh«  sondern  »Zoloh«  auszusprechen  sei,  und  in  dieser 
Form,  da  das  russische  »zola«  —  Asche,  Reste,  Lauge  bc 
zeichnet,  eben  nur  der  Gattungsname  für  einen  Tumulus  im  allgemei- 
nen ist,  der  Asche  bezw.  Reste  und  Auflösungsprodukte  eines  Hohen 


279 

enthalte,  daher  sprachÜch  lediglich  Leichen  hügcl,  Crabberg 
besage.  —  Im  natürlich  verwandten  Gebrauche  steht  auch  der  deut- 
sche Begriff  »Sole,  Soole«,  d.  i.  das  vom  festen  Aggregatzustand  in 
den  flüssigen  umgewandelte  Steinsalz.  -  Der  Begriff  »Sole«  ist 
demnach  schon  altslavischer  oder  gar  ursprachlicher  Provenienz. 

Dieser  Riesentumulus  dürfte  schon  mehrere  Jahrhunderte  v, 
Chr.  gestanden  sein,  was  aus  einer  Stelle  Herodots  geschlossen  wer- 
den kann.  Als  Darius  gegen  die  Skythen  zog,  befolgten  dieselben  eine 
ähnliche  Taktik,  wie  bei  Napoleon  i.  J,  1812:  sie  zogen  sich  ohne 
Kampf  immer  weiter  ins  Innenland  zurück.  Auf  das  Befragen,  wes- 
halb sie  nicht  gegen  Darius  kämpfend  auftreten,  ließen  sie  ihm  sagen, 
»er  möge  nur  einmal  das  Gebiet  Gerros,  wo  die  Grabhügel  ihrer 
Ahnen  stehen,  betreten,  dann  werden  sie  ihm  schon  mit  Waffen  ent- 
gegentreten«. Und  diese  Grabhügel  können  nur  jene  sein,  die  noch 
heute  so  zahlreich  und  imponierend  in  den  Dnjepr-Steppen  stehen; 
ob  gerade  der  »Soloh«  schon  damals  stand,  ist  freilich  nicht  sicher, 
aber  die   Grabbeigaben   sprechen   entschieden  dafür,    —  Z, 

»Svor,  svora«.  —  So  nennt  der  Slovene  heute  den  Langbaum, 
der  den  Vorderteil  eines  Wirtschaftswagens  mit  dem  ^Iinterteile  ver- 
bindet, also:  Verbindungsholz,  Die  Böhmen  gebrauchen 
heute  dieses  Wurzelwort  nur  mehr  abstrakt  als  »svornost,  svorny'< 
{—  Eintracht,  zusammenhaltend],  doch  wendeten  sie  es  früher  auch  in 
ersterem  Sinne  an,  denn  im  Kodex  Pernstein  v.  J,  1^90  kojnmt  die 
Stelle  vor:  »z  kazdeho  pluhu  neb  svora  4  grose«,  d,  i,:  von  jedem  Pflu- 
ge oder  Wirtschaftswagen  4  Groschen  (Steuer),  —  Laut  »Slovanske 
prävo«  V.  J,  1353  hatten  die  Moldauflößer  die  Pflicht  ein  Floß  aus 
60  Langbäumen  (»svorüv«)  herzustellen,  —  Das  Floß  selbst  heißt 
»vor«,  —  Ch. 

»Trut«.  —  Eine  Stelle  in  der  Grünberger  Handschrift  lautet 
»ide-ze  trut  pogubi  san  liutü  (-  wo  der  Recke  den  grimmen  Dra- 
chen erschlug).  Die  Ausleger  des  Textes  wußten  sich  mit  dem  Be- 
griffe »trut«  nun  gar  keinen  Bescheid,  sie  kannten  keine  Analogien, 
und  kamen  daher  zu  folgendem  sonderbaren  Schlüsse:  der  Fälscher 
habe  den  sonst  nirgends  vorkommenden  Ausdruck  »trut«  aus  dem 
Namen  »Trutnov«  (Trautenau)  frei  konstruiert,  weil  die  Stadt  zu- 
gleich einen  Drachen  zum  Wappen  hat.  Ist  es  nun  an  sich  verwunder- 
lich, daß  jemand  eine  derartig  unsinnige  Kombination  überhaupt  aus- 
spricht, so  ist  es  noch  betrübender,  daß  niemand  auf  einen  wirklich 
vorhandenen  Beleg  stieß,  nachdem  solche  massenhaft  sczvisogen 
auf  dem.  Wege  liegen.  Bezeichnet  doch  im  AJtslavischen  »trot«  einen 
Riesen,  starken  Mann;  die  Slovenen  kennen  eine  Sage  vom  Riesen 
»Trot«;  im  Altnordischen  bedeutet  »trutan«:  Herr,  Gebieter;  Drui- 


280 

den  (irisch  »druid«)  hießen  die  Priester  und  Erzieher  des  Volkes  bei 
den  Kelten;  im  Etriirischen  kommt  auf  der  doppelsprachigen  Inschrift 
von  Pisaurum  schon  ein  »trutnovt«  vor,  welcher  Begriff  ins  Latei- 
nische als  »haruspex«,  d.  i,  Weissager,  Opferpriester  übertragen  er- 
scheint, Hiezu  kommt  noch  eine  ungewöhnliche  Quelle,  Die  alten 
Geschichten  erzählen,  der  erste  König  der  Wenden  und  Obotritcn 
hieß  Anthyrus,  der  als  Feldherr  im  Heere  Alexanders  d,  Gr.  nach 
dessen  Tode  König  der  pommerschen  Wenden  wurde-  Um  das  Jahr 
1730  fanden  Soldaten  im  Kloster  Doberan  (Mecklenburg)  in  einem 
vermauerten  heimlichen  Schranke  ein  in  gotischer  Schrift  beschrie- 
benes Pergament  mit  einem  Lobgedichte  an  Anthyrus,  welches  auch 
den  Begriff  »Drud«  in  der  Bedeutung  Sänger,  Priester  ent- 
hält. Die  betreffende  Strophe  lautet,  wie  sie  J.  de  V<''estphalen  in 
>-Monumenta  inedita«  (Leipzig,  1739,  S,  1506]  bietet: 

»Ein  edler  König  rike,  in  diesem  Lande  war. 

Das  Wenden  Land  genant. 

Du  mer  behalten  ist,  so  lange  viele  Jahre 

Gar  manchem  Drud  bekannt, 

Sen  Name  heißet  sonst  Anthyre, 

Er  war  gar   ein  getreuer  Mann, 

Er  führt  mit  Ruhm  sein  Ritter  Ziere, 

Als  ihm  solt  wohl  anstahn«,  — 
In  dem  Begriffe  »trut«  steckt  daher  ein  harter,  solider  Kern  der 
Ursprünglichkeit  und  des  hohen  Alters,  daher  es  unverständlich 
bleibt,  wie  man  so  alte,  (reelle  Belage  als  Fälschungsdokumente 
neuester  Zeit  jemandem  vorspiegeln  und  wie  sich  die  gebildete 
Oeffentlichkeit  so  lange  von  den  »Gelehrten-^  nasführen  lassen 
konnte,  — '  Z, 

Wissenschaftliches  Allerlei. 

Slavische  Sprachbelege  in  „Beovulf". 

Das  dem  Ende  des  X.  Oahrhunderles  zugeschriebene  älteste 
deutsche  Heldenepos  „Beovulf"  ist  in  angelsächsischer  Sprache  ge- 
schrieben, und  bewegt  sich  dessen  Handlung  zwischen  dem  Gebiete 
der  Dänen,  Goten  und  Angelsachsen.  Ein  Teil  spielt  sich  sogar  aut 
einer  Insel  jener  Friesen  ab,  wo  man  auffallende  slavische  Sprach- 
reste, wie  diese  schon  auf  Seite  217  zum  Teile  angeführt  wurden, 
vorfand.  Nun  enthält  aber  dieses  Epos  auch  eine  Alenge  von  Namen 
und  Begriffen,  welche  dem  Slaven  besonders  auffallen  müssen,  und 
zeigt   das   unlogische  Durcheinander   der  Handlung,   dass   hier  eine 


281 

massig  geniale  Kompilation  verschiedene  epische  Stoffe  zu  einem 
Ganzen  verschmelzen  wollte,  wobei  sich  besonders  ein  gewisses 
Streben,  die  heidnischen  Verhältnisse  in  die  christlichen  umzuformen, 
geltend  macht. 

Im  allgemeinen  hat  es  den  Anschein,  als  ob  allslavische  Volks- 
dichtungen epischer  Richtung  dem  Verfasser  die  Führung  der  Han- 
dlung geboten  hätten,  wobei  er  Treilich  viele  Namen  und  Begriffe 
sprachlich  verwechselt  haben  mag,  oder  sie  aber,,  wie  wir  das  schon 
beim  Roiand-Liede  gesehen  haben,  absichtlich  verschleierte.  Dieser 
Gedanke  beschäftigte  die  Gelehrtenwelt  seit  langem,  und  gab  Rob. 
Schweichel  schon  im  Oahre  1868  in  seiner  Schrift  „Über  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  Sprach-  und  Naturforschung"  dem  Zweifel  Aus- 
druck, „ob  sich  nicht  ebenso,  wie  manche  Mythe  der  Götterlehre, 
auch  manche  jener  Heldensagen  und  Lieder,  welche  uns  die  islän- 
dische Edda  aufbewahrt  hat,  aus  keltischen  Aniautungen  und  Ur- 
sprüngen entwickelt  haben ;  manche  Bezeichnungen  und  Personen- 
namen dieser  Dichtungen  lassen  es  wenigstens  vermuten.  Vielleicht 
lässt  uns  das  Studium  der  keltischen  Sprachen  eines  Tages  vollends 
das  Geheimnis  durchdringen,  welches  den  „Beovulf"  der  Angelsachsen 
noch  immer  zum  grossen  Teile  verhüllt.  Schon  die  Art  der  Leichen- 
feier des  Helden  bestärkt  uns,  gleich  der  des  Siegfried  und  Brun- 
hildens  in  der  Nibelungensage,  in  dieser  Vermutung.  Sie  werden  ver- 
brannt, wie  dies  noch  bei  den  heidnischen  Preussen  der  Fall  war, 
als  der  deutsche  Orden  das  Land  eroberte.  Mit  der  Einwanderung 
der  deutschen  Stämme  in  Mitteleuropa  hörte  aber  das  Verbrennen 
der  Toten  auf"  usw. 

Ein  tüchtiger  Slavist  müsste  im  Vereine  mit  einem  ebenso  ver- 
sierten Germanisten  hier  ein  äusserst  interessantes  Forschungsfeld 
finden,  denn  etliche  Namen,  Begriffe,  Redev;endungen  und  Kultur- 
details bieten  sich  derartig  handgreiflich  als  slavisch  dar,  dass  sich 
der  objektivste  Leser  dieses  Eindruckes  nicht  erwehren  kann. 

Es  mögen  hier  nur  einige  typische  Beispiele  folgen,  wobei  bei- 
gefügt werden  muss,  dass  die  Übersetzer  und  Kommentatoren  des 
Beovulf  offenkundig  viele  Stellen  und  Begriffe  auch  unzutreffend  er- 
fassten.  Z.  B. :  in  der  Dichtung  steht  m.ehrmals  „gehärtet  im  Feuer" 
für  die  Kennzeichnung  der  Güte  der  Waffen.  Dieses  Epitheton  findet 
man  in  slavischen  Dichtungen  fortgesetzt  und  am  richtigen  Platze ;  in 
„Beovulf"  bezieh!  sich  aber  dies  in  einem  Falle  auf  die  Vergoldung 
der  Waffen ; 

„holm"  heisst  auch  im  Slovenischen  noch  heute:  massige  Anhöhe, 
Hügel ; 


282 

der  edelste  Krieger  wird  im  Epos  „Asker"  genannt;  dies  ist 
aber  im  Südslavischen  tatsächlich  die  Bezeichnung  für  den  Krieger 
im  allgemeinen; 

„hrunting"  hiess  das  Schwert  Beovulfs  ;  im  Sla vischen  bezeichnet 
man  mit  „hrot,  hrotnik"  die  Lanze,  den  Spiess : 

„Hadukin",  Name  eines  tapferen  Kriegers,  scheint  nur  der  Be- 
griff „hajduk"  (     Beschützer,  Wächter)  zu  sein  ; 

der  hohe  Grabhügel,  der  über  der  Asche  Beovulfs  errichtet 
V7ird,  heisst  „hrones  näs" ;  das  heisst  aber  nicht  „Wallfischberg", 
sondern  „Grenznase",  und  ist  tatsächlich  ein  scharf  vortretendes  Vor- 
gebirge auf  der  Insel  Sylt  so  benannt; 

„das  Schiff  ist  am  Berge  geborgen",  also  am  Ufer;  das  Ufer 
heisst  aber  nur  im  Slavischen  „Berg",  d.  i.  „breg",  wobei  die  Meta- 
thesis  ebenso  eingetreten  ist,  wie  beim  Begriffe  „gard"  (statt  „grad"), 
denn  auch  das  deutsche  „Garten"  ist  nur  das  slavische  „grad,  graditi", 
also  das  Umzäunte,  da  die  Vorbedingung  für  den  Garten  unter 
allen  Umständen  die  Umzäunung  ist,  usw. 

Weitere  Parallelen  bilden  die  Kulturverhältnisse,  die  in  „Beo- 
vulf"  geschildert  werden,  und  stehen  diese  Tatsachen  im  scharfen 
Gegensatze  zu  der  allgemeinen  Ansicht  von  der  einstigen,  als  völlig 
unkultiviert  verschrienen  Zeit.*)  Es  wird  da  von  einem  Schwerte  ge- 
sprochen, in  welches  die  Geschichte  desselben  in  goldausgelegten 
Runen  eingraviert  ist.  Goldhörner  werden  angeführt,  und  man  grub 
schon  tatsächlich  mehrere  solcher  mit  schönen  Reliefarbeiten  aus ; 
die  häufige  Aufzählung  von  kostbarem  „gewundenem"  Frauengold- 
schmucke  ist  durchaus  keine  Phantasterei,   denn   es  wurden  doch  in 

)  Wie  weit  dieses  Vorurteil  von  der  Unkultur  der  älteren  Zeit  gehen  kann, 
dafür  liegen  geradezu  erheiternde  Belege  bei  der  Fälschungserklärung  der  böh- 
mischen Handschriften  vor.  Man  sagte  z.  B.:  Lubusa,  die  Fürstin  Böhmens,  hatte 
unmöglich  einen  goldenen  Thron;  dieser  kann  in  jener  Zeit  nur  aus  rohen  Steinen 
zusammengefügt  gewesen  sein,  ergo  ist  die  Handschrift  eine  Fälschung;  dass  aber 
die  ältesten  Völker  schon  goldene  Throne  hatten,  davon  v/ussten  die  Sammler 
von  Fälschungsmotiven  anscheinend  nichts.  —  Ein  Mädchen  spricht  nur  den 
Wunsch  aus,  dass  sie  dem  Geliebten  einen  Brief  schreiben  möchte,  und  schon 
war  die  wissenschaftliche  Hermandad  hinterher  und  sagte:  ein  Mädchen,  das  im 
XIII.  Jahrhunderte  schreiben  konnte,  gibt  es  nicht,  ergo  ist  die  Handschrift  ge- 
fälscht. —  Ein  Gedicht  erwähnt  die  Wa  1  d  h  ö  r  n  e  r;  da  kamen  die  Gegner  und 
sagten:  historisch  festgestellt  existieren  solche  erst  seit  dem  J.  1680,  ergo  ist  die 
Erwähnung  von  solchen  i,  J,  1241  ein  Beweis  der  Fälschung.  Davon,  dass  die 
Skythen,  Kelten,  Israeliten,  Griechen,  Römer  solche  hatten  und  diesbezüglich 
genug  Abbildungen  vorhanden  sind,  ja  dass  Rubens,  der  bereits  i.  J.  1640  starb, 
schon  den  Jagdzug  der  Diana  mit  Waldhörnern  malte,  hatte  die  Gelehrtenwelt  in 
Frag  um  das  Jahr   1886  keine  Ahnung,  u.  ä.  — 


283 

nordischen  Ländern  prächlige,  ja  emaillierte,  auf  hochenlwickelte 
Goldschmiedekunsl  schliessende  Spangen  verschiedenster  Form  ge- 
funden, die  auch  in  Runenschrift  gravierte  Widmungen  wie  Firma- 
kennzeichen aufweisen;  und  diese  Inschriften  versteht  gerade  der 
Siave  noch  immer,  so  weit  sie  eben  verlässlich  entziffert  sind. 

Es  muss  sonach  etwas  Reales  in  allen  diesen  Vermutungen 
wie  Kennzeichen  sein,  nur  hat  der  bedauerliche  Umstand,  dass  sich 
die  deutsche  Wissenschaft  später  vollkommen  gegen  die  slavische 
abgeschlossen,  jeden  Erfolg  in  der  Weiterforschung  verlegt.  Freilich 
ging  letztere  dann  auch  ihre  eigenen,  genau  so  falschen  \A/ege,  und 
seit  jener  Zeit,  als  das  Mit-  und  Zusammenforschen  unterbrochen 
wurde,  trat  in  der  Sprachforschung  nicht  nur  ein  Stillstand,  sondern 
der  fühlbare  Verfall  an  den  Tag,  denn  eine  solche  Arbeit  ohne  gross- 
zügige Grundlage   und   universelle  Zusammenfassung  des  Materiales 

muss  immer  eine  chaotische  Stückarbeit  bleiben. 

M.  Zunkovic. 

Thietmars  slavische  Kenntnisse. 

Es  ist  sonderbar,  dass  sich  viele  Geschichtsforscher  auf  den 
gewiss  in  vieler  Hinsicht  brauchbaren  Chronisten  Thietmar  von 
Merseburg  (975—1018)  berufen,  aber  dabei  ungeprüft  auch  das  Fehler- 
hafte übernehmen,  wozu  vor  allem  dessen  grundfalsche  slavische 
Etymologie  gehört;  zum  Beweise  mögen  nachstehend  einige  solche 
Beispiele  folgen. 

Thietmar  schreibt  über  den  Grossherzog  Gejsa  (t  997),  den 
Vater  des  hl.  Stephan,  den  König  von  Ungarn:  „uxor  aiitcm  eins 
Beleknegini,  i.  e.  pulchra  domina  sdavonice  dicta"})  Diese 
„beleknegina"  ist  aber  sprachlich  die  „velekneginja" ,  d.  i.  Gross- 
fürstin ihrem. Geburts-  oder  Würdetitel  nach. 

Einen  analogen  Fehler,  beging  er  im  Satze:  „///  conventus  in 
Belegori,  quod  pule  her  motis  dicitur".-)  Es  ist  dies  natürlich  kein 
„pulcher  mons" ,  sondern  „Velegora"    (oder  „Belagora")   an  der  Elbe. 

Weiter  schreibt  Thietmar :  „Hie  (Boso),  ut  sibi  commissos  jaci- 
lius  insfrueret,  sclavoniea  scripserat  verba  et  eos  Kirieeleison  cantare  ro- 
gavit.  Qui  vecordes  hoc  in  nialum  irrisorie  mutabant  „ukrivolsa" ,  quod 
nostra  saxonica  lingua   dicitur  „Aderi  stat  in  frutectum"  diccntes :  „Sic 

^)  Bielowski,  Monumenta  Poloniae  historica.  Lwöw,  1861,  S.  313. —  D.  h.: 
»Dessen  Gattin  war  die   »beleknegina«,  was   slovenisch   »schöne  Frau«   bedeutet«. 

-)  Bielowski,  S.  284.  —  D.  h.:  »es  fand  eine  Zusammenkunft  in  »Belagora« 
statt,  was  »schöner  Berg«  bedeutet«,  —  Thietmar  hält  also  konsequent  »bei« 
(^  weiss)   als  gleichbedeutend  für  schön. 


284 

lociitus  est  Boso",  cum  ille  aliter  dixerit" ^]  —  Die  Verwechslung  des 
Kirieeleison  mit  „ukryval  sa"  (  er  verbarg  sich)  ist  leicht  heraus- 
zufinden, aber  das  weitere  ist  rätselhaft. 

Eine  gleichfalls  verunglückte  Etymologie  ist  in  der  Erklärung 
des  Namens  „Dobrava"  enthalten,  denn  Thietmar  sagt:  „Dobrava 
enim  sclavonicc  diccbatiir,  qiiod  teutonico  sermonc  „Bona"  intcrprdatiir" }] 
Tatsächlich  bedeutet  es  in  der  modernen  Auffassung  einen  Eichen- 
hain, in  älterer  Zeit  einen  für  die  Verteidigung  hergerichteten  Platz, 
eine  Zufluchtsstätte  bei  feindlicher  Gefahr. 

F.  V.  Sasinek. 

Die  Runensteine  von  Oberhessen. 

In  Zunkovic'  Werke  „Slavische  Runendenkmäler",  das  derzeit 
in  Lieferungen  erscheint,  fand  der  Verfasser  auf  Seite  53— oO  die 
„Urnensteine  in  Mecklenburg"  beschrieben  und  abgebildet,  und  war 
nicht  wenig  erstaunt,  hiedurch  eigentlich  auch  das  Rätsel  mit  den 
Runensteinen  von  Oberhessen  gelöst  zu  sehen. 

Auf  der  Höhe  „Trieb"  (östlich  Giessen)  wurde  im  Jahre  1908  ein 
ausgedehntes  Gräberfeld  der  Latene-Zeit  aufgeschürft.  Das  Bemerkens- 
werteste dabei  war  die  Entdeckung,  dass  die  Steine  (Basalt),  die  als 
Packungen  der  Skelettgräber  dienten,  sonderbare  Gravierungen 
hatten,  welche  die  einen,  wie  der  Museumsdireklor  Hauptmann  a.  D. 
Dr.  Kramer  und  Prof.  Bartholomae  für  Runen,  andere  für  zufällige 
Pflugschrammen  hielten.  Der  Vergleich  dieser  Steinschriften  mit  jenen 
in  Mecklenburg  (siehe  Illustrationen)  zeigt  aber  klar,  dass  dies  Ru- 
nen sind;  auch  hatten  beide  Gruppen  dieselbe  Totenkultusbeslimmung. 
Fertige  Worte  sind  hier  nicht  feststellbar,  da  die  Runen  nicht  so  deut- 
lich geschrieben  sind,  wie  die  mecklenburgischen,  und  namentlich  viel 
Ligaturen  aufweisen ;  es  ist  daher  zur  Lösung  noch  mehr  Vergleichs- 
material nötig ;  immerhin  sind  aber  z.  B.  die  Buchstaben  a,  i,  1,  g,  k 
gut  erkennbar  und  gehören  —  nach  Zunkovic'  Runenklassifikation  — 
dem  wendischen  Runenalphabete  an. 

")  Bielowski,  S.  249.  —  D.  h.:  »Dieser  schrieb,  um  seine  Schutzbefohlenen 
leichter  zu  unterrichten,  die  Worte  slovenisch  nieder  und  schlug  ihnen  vor  die- 
selben in  der  Form  des  Kirieeleison  zu  singen.  Diese  verwandelten  sie  aber 
unsinnig  ins  Lächerliche«.  —  Das  weitere  ist  für  die  Ueberselzung  unverständlich. 
Man  sieht  aber  daraus,  dass  damals  in  Norddeulschland  slavisch  noch  allge- 
mein  die   Umgangssprache   war.   -      Boso   hiess   der   erste   Bischof   von   Merseburg. 

')  Bielowski,  S.  261,  ■ —  D,  h.:  »Dobrava  heisst  im  Slovenischen,  was  im 
Deutschen  »Gut«  bedeutet.  —  Konst.  Porphyrogenetus  hingegen  hält  »Dubrava« 
für  gleichbedeutend  mit  »silva«  (=^  Wald)  und  bezieht  sich  dabei  auf  Dubrovnik 
(Ragusa);  den  primären  Sinn  des  Begriffes  hat  sonach  keiner  der  beiden  erfasst. 
(Vergleiche   auch   den  Artikel  »Dobrotice«   S,   236.  —  A.   d.   Red.) 


286 


Runensteine 


aus  Mcchlenburg. 


aus  Oberhessen. 


Der  wissenschaftliche  Erfolg  dieser  gegenseitig  sich  aufklärenden 
Runensteine    ist  ein    ausserordentlich  wertvoller.    Wir   wissen  nun 


286 

vorerst,  dass  die  Runenschrift  talsächlich  in  Nordeuropa  allgemein 
gebräuchlich  war,  denn  die  vielen  hunderte  von  Inschriften  auf  Stein 
und  Erz,  die  man  schon  in  den  verschiedensten  Gegenden  gefunden, 
weisen  alle  das  Runenalphabet  auf.  Vor  dem  Einzüge  der  lateinischen 
Schrift  —  vermutlich  in  Verbindung  mit  der  lateinischen  Sprache  — 
muss  sonach  die  Runenschrift  in  unseren  Gegenden  allein  angewen- 
det worden  sein. 

Über  die  Zeit,  wann  diese  Runensteine  beschrieben  wurden, 
fehlt  jeder  Anhaltspunkt.  Zunkovic  verlegt  die  mecklenburgischen  kurz 
vor  den  Beginn  unserer  Zeitrechnung ;  unsere  scheinen  jedoch  noch 
älter  zu  sein  und  können  etwa  der  Mitte  des  1.  Jahrtausends  v.  Chr. 
angehören. 

Die  hier  Bestatteten  müssen  Slaven  gewesen  sein,  denn  unser 
Gebiet  war  einst  gleichfalls  von  Slaven  besiedelt;  ebenso  scheint  der 
Name  des  Fundortes  „Trieb"  slavisch  zu  sein. 

Diese  überraschende  Aufdeckung  hat  aber  auch  wissenschaftlich- 
erziehlich einen  besonderen  Wert.  Vor  allem  drängt  sich  uns  die 
begründete  Vermutung  auf,  dass  vielleicht  schon  Tausende  solcher 
Steine  in  alten  Gräbern  gefunden  aber  unbeachtet  weggeworfen  oder 
wieder  vergraben  wurden,  da  die  darauf  eingravierten  Runen  jeder 
als  zufällige  Ritzungen  ansah;  die  Museen  und  Archäologen 
werden  daher  künftighin  diesem  Umstände  erhöhte 
Aufmerksamkeit  widmen  müssen;  es  wäre  deshalb  die  wei- 
teste Verbreitung  dieser  Aufdeckung  am  Platze. 

Überdies  wird  hiemit  die  Runenkunda  za  einer  soliden,  in  sprach- 
licher wie  ethnographischer  Richtung  nicht  mehr  rätselhaften  Wissen- 
schaft, und  werden  Erfahrungen  dieser  Art  in  Hinkunft  wohl  die 
Archäologen,  Runenforscher  wie  Kulturhistoriker  vor  übereilten  Schlüs- 
sen und  apodiktischeil  Entscheidungen  ernstlich  warnen.  Erregt  doch 
eben  die  Tatsache  ein  peinliches  Aufsehen  in  der  wissenschaftlichen 
Welt,  wie  unvorsichtig  und  unmotiviert  Universitätsprofessor  Dr.  Jagic 
im  Oahre  1880  (damals  in  Berlin)  handelte,  als  er  die  mecklenburger 
Runenaltertümer  samt  und  sonders  als  Falsifikate  erklärte,  indes 
sich  jetzt  herausstellt,  dass  er  überhaupt  die  Runeninschriften  zu  le- 
sen nicht  verstand,  sowie  dass  anderswo  auch  ähnliche,  absolut 
nicht  unterschobene  Objekte  in  prähistorischen  Gräbern  gefunden 
wurden. 

Die  Archäologie  ist  eine  ausgesprochen  applikatorische  Wissen- 
schaft; sie  verträgt  nur  greifbare  Beweismittel;  jedes  Irrlichtern  mit 
Autoritätsdiktaten  muss  daher  hier  grundsätzlich  mit  einem  Fiasko 
enden.  Dr.  0.  Oahn  (Berlin). 


287 

Wo  lag  die  Stadt  Vineta  ? 

Während  sich  die  geisterhafte  Vineta-Sage  wie  ein  Rätsel  der 
fernen  Romantik  hinzieht  und  immer  geheimnisvoller  wurde,  schwand 
auch  immer  mehr  das  Bewusstsein  dahin,  dass  die  graue  Feste  auf 
dem  Meeresgrunde  sich  einst  in  einer  vielfarbigen  und  denkwürdigen 
geschichtlichen  Wirklichkeit  erhob,  die  wohl  noch  eigenartiger,  als 
die  Sage  selbst,  ergreift,  weil  man  die  wahre  Lage  der  Stadt  lange 
nicht  feststellen  konnte.  Den  Bemühungen  des  Dr.  Conrad  Müller  is! 
es  nun  gelungen,  in  seinem  grossen  Werke  „Altgermanische  Meeres- 
herrschaft" (Verlag  Perthes,  Gotha)  den  historischen  Kern  der  Sage 
glaubwürdig  aufzuklären. 

Seit  langem  ist  es  bekannt,  dass  Vineta  nicht  allein  mit  ihrem 
tragischen  Schicksale  dasteht;  sie  hat  Geschwister  auch  in  der  Nord- 
see, wo  furchtbare  Sturmfluten  gleichfalls  blühende  Städte  verschlan- 
gen. Aber  unter  allen  diesen  war  Vineta  die  grössij  und  bedeu- 
tendste. Müller  glaubt,  dass  diese  Namensform  nur  eine  falsche  Les- 
art von  „Oumneta"  ist,  denn  die  Slavenstadt  CJumne  am  Ausflüsse 
der  Oder  in  die  Ostsee  war  den  mittelalterlichen  Chronisten  wohl- 
bekannt. Ausführlicho  Kunde  von  dieser  Niederlassung  gibl  der 
Historiker  Adam  von  Bremen  um  das  Jahr  1075.  „Über  aie  Leutizen 
hinaus",  schreibt  er,  „die  mit  anderem  Namen  Witzen  genannt  werden, 
tritt  uns  der  Oddarafluss  entgegen,  der  reichste  Strom  d33  5:awan- 
landes.  An  der  Mündung  desselben,  da  wo  er  die  scythischen  Ge- 
wässer bespült,  bietet  die  sehr  angesehene  Stadt  Dumne  den  Bar- 
baren und  Griechen,  die  ringsum  wohnen,  einen  vielbesuchten  Stand- 
ort dar.  Weil  nun  zum  Preise  dieser  Stadt  grosse  und  fast  unglaub- 
liche Dinge  vorgebracht  werden,  so  halte  ich  es  für  anziehend,  hier 
einiges,  das  Erwähnung  verdient,  einzuschalten.  Es  ist  vjirklich  die 
grösste  von  allen  Städten,  die  Europa  einschliesst.  In  ihr  wohnen 
Slawen  und  andere  Nationen,  Griechen  und  Barbaren  .  .  .  Alle  sind 
noch  im  Irrwahne  heidnischer  Abgötterei  befangen.  Übrigens  wird, 
was  Sitte  und  Gastfreiheit  anlangt,  kein  Volk  zu  finden  sein,  das 
sich  ehrenwerter  und  dienstfertiger  bewiese.  Jene  Stadt,  welche  reich 
ist  durch  die  Waren  aller  Nationen  des  Nordens,  besitzt  alle  mög- 
lichen Annehmlichkeiten  und  Seltenheiten."  —  Dies  Jumne,  das  noch 
mehrfach  bei  Adam  von  Bremen  auftaucht,  lag  nach  seinen  Angaben 
unzweifelhaft  unmittelbar  an  der  Ostseeküste,  und  die  frühere  An- 
sicht der  Gelehrten,  die  das  alte  Vineta  mit  dem  späteren  Julin,  dem 
heutigen  Wollin,  an  der  niemals  recht  schiffbaren  Dievenow  gleich- 
stellen wollte,  muss  als  irrig  aufgegeben  werden.  An  der  Odermün- 
dung  kennt   die  Stadt   auch   ein   Jahrhundert   später,   um  1170,   der 


288 

Slawenchronisl  Helmold,  der  sie  aber  bereits  als  verschwunden  be- 
handelt. „An  der  Mündung  der  Oder,  -uvo  sie  das  Baltische  Meer 
berühr!/'  berichtet  er,  „lag  einst  die  sehr  berühmte  Stadt  Oumneta," 
und  er  meldet  weiter :  „Diese  reichbegüterte  Stadt  soll  ein  Dänen- 
könig, mit  sehr  grosser  Flotte  heransegelnd,  von  Grund  aus  zerstört 
haben;  noch  sind  von  jener  alten  Stadt  Überreste  vorhanden."  —  Diese 
„Austilgung"  CJumnes,  die  für  Helmold  bereits  längere  Zeit  zurück- 
liegt, muss  zu  Beginn  des  XII.  dahrhunderts  erfolgt  sein,  und  zwar 
kann  als  Zerstörer  nur  König  Niels  in  Betracht  kommen,  der  zwischen 
1115  und  1119  eine  Kriegsfahrt  unternahm  und  die  letzte  Selbstän- 
digkeit der  Landschaft  Dum,  deren  Hauptstadt  Dumne  war,  zerbrach. 
V\/ahrscheinlich  ist  es,  dass  nach  der  Vernichtung  der  Stadt  dann 
eine  gewaltige  Naturkatastrophe  ihre  Trümmer  verschlang  und  so 
ihr  Bild  für  immer  von  der  Erde  weglöschte,  wodurch  die  uralte 
Sage  ihre  eigentliche  Nahrung  erhielt.  Der  berühmte  Chronist  Saxo 
Grammaticus,  der  gegen  Ende  des  XII.  Oahrhundertes  schrieb,  be- 
richtet nämlich  ausdrücklich:  „Nachdem  der  befestigte  Ort,  den  die 
Slaven  an  der  Mündung  der  Swine  gegründet  hatten,  in  einer  winter- 
lichen Sturmflut  zugrunde  gegangen  war,  gründeten  sie  in  derselben 
Gegend  zwei  andere  Plätze."  —  Als  die  historische  Stätte  des  alten 
Vineta  kann  mit  ziemlicher  Sicherheit  das  Dorf  Loddin  bei  Koserow 
in  Anspruch  genommen  werden,  denn  alle  Vorbedingungen  treffen 
hier  in  vollendeter  'JJeise  zusammen :  die  Erhebung  der  Feste  auf 
einem  hohen  meerbeherrschenden  Punkt,  und  zwar  an  der  alten 
Odermündung,  die  Nähe  der  Insel  Rügen  und  die  uralte  Volksüber- 
lieferung, die  an  diesen  sagenumwobenen  Ort  geknüpft  ist.  Auch  die 
Funde  arabischer  Münzen  sprechen  dafür,  denn  diese  alte  Ostsee- 
kultur war  vom  Orient  aus  stark  beeinflusst,  und  öumne  ist  eine 
bedeutende  Station  auf  der  grossen  Handelsstrasse  gewesen,  die  die 
Araber  zum  Lande  des  Bernsteins  und  weiter  bis  nach  Kiew,  der 
Hauptstadt  des  Russenlandes,  führten.  Wie  eng  diese  Beziehung 
zwischen  Ostsee  und  Orient  damals  war,  geht  aus  der  Tatsache  her- 
vor, dass  eine  Kunde  von  dem  Untergang  3umnes  sich  sogar  in 
dem.  grossen  geographischen  Werke  des  Arabers  El-Edrisi  erhalten 
hat.  So  erfährt  das  Vineta-Rätsel  durch  das  alte  Kulturzentrum  von 
Jumiue  seine  geschichtliche  Lösung,  und  die  Sage  leuchtet  nun  in 
einem  noch  ehrwürdigeren  Lichte.  — 

Diese  Entscheidung  Dr.  Müllers  lässt  sich  aber  auch  noch  weiter 
als  berechtigt  ergänzen.  Da  ist  vor  allem  die  Etymologie,  welche  auch 
in  gleichem  Sinne  eingreift.  Vineta  lag  als  so  bedeutende  Handelsstadt 
gewiss  auch  an  dem  wichtigsten  und  für  die  Schiffahrt  günstigsten 
Arme  der  Oder,  und  dies  ist  die  Swine.    Dieser  Hauptarm   bildete 


289 

demnach  hier  eine  wichtige  Grenze,  denn  Adam  von  Bremen  sagt 
doch,  dass  die  Stadt  dort  lag,  wo  die  Oder  dio  skythischen  Gewässer 
berührt,  also  am  linken  Ufer,  denn  das  rechte  gehörte  schon  zu 
Skythien.  Nun  bedeutet  aber  „vin"  im  Altslavischen:  Grenze,  „Vi- 
neta"  sonach:  Grenzstadt.  „Swine"  bildet  jedoch  zwei  Grenzen, 
daher  es  durch  das  Präfix  „s"  zu  einem  Kollektivum  wurde.  Der 
Name  „üumne,  üumneta"  ist  sonach  eher  der  falsche,  und  vermutlich 
durch  eine  flüchtige  Leseart  entstanden,  der  dann  fortgesetzt  falsch 
weiter  abgeschrieben  wurde. 

Es  ist  immerhin  auch  zu  bezweifeln,  ab  Adam  von  Bremen  in 
allem  recht  hat,  denn  es  ist  doch  etwas  unwahrscheinlich,  dass  der 
Vineta-Untergang  für  Helmold,  der  95  üahre  nach  Adam  starb,  schon  so 
sagenhaft  gewesen  sein  konnte,  wenn  die  Stadt  bei  Lebzeiten  Adams 
noch  bestand.  Ebenso  hat  Müller  hier  bedingungsweise  unrecht,  wenn 
er  die  Lage  der  Stadt  in  die  heulige  Dorfflur  Loddin  verlegt,  denn 
ist  Vineta  dort  gestanden  und  durch  Waffengewalt  zerstört  worden, 
so  lässt  sich  dies  durch  einfache  Grabungen  feststellen ;  ist  dies 
nicht  der  Fall,  dann  ist  sie  ins  Meer  gesunken,  und  damit  erhält  die 
Sage  den  Geschichtswert.  Eine  im  Kriege  zerstörte  Stadt  aber,  die 
an  einem  so  günstigen  Handelszentrum  liegt,  baut  man  ansonst 
wieder  rasch  auf,  und  dies  geschah  bis  heute  nicht,  weil  eben  die 
sagenhaften  wie  geschichtlichen  Erfahrungen  in  geotektonischer  Hin- 
sicht davor  warnten.  Deshalb  kann  aber  auf  der  dortigen  Terrain- 
erhebung mit  dem  günstigen  Ausblicke  auf  das  Meer  noch  immer 
ein  Wachthaus  oder  eine  Feste  gestanden  haben,  und  ist  dies  sogar 
natürlich,  denn  man  musste  sich  doch  auch  irgendwie  gegen  Feinde 
von  landeinwärts  sichern. 

So  muss  nun  die  Sage  die  Hälfte  ihres  Inhaltes  über  Vineta  an 
die  Geschichte  abgeben,  denn  dem  friedelosen  Spuk  und  dem  dräu- 
enden Gottesgerichte  für  schwere  Sünde  steht  entgegen  die  stolze 
Erinnerung  an  den  Glanz  und  die  Herrlichkeil  einer  wirklichen  Stadt, 
die  nach  allem  nur  jener  Elementarkatastrophe  zum  Opfer  fiel,  welche 
seit  Urzeiten  die  südlichen  Gestade  der  Nord-  und  Ostsee  ständig 
bedroht. 

Der  Forschung  über  die  alten  Ostseeslaven  steht  dort  am 
Meeresgrunde  noch  ein  reiches  Museum  zur  Verfügung ;  so  manche 
Schrift  auf  Erz  und  Stein  dürfte  dort  zu  lesen  sein,  die  unser  be- 
scheidenes oder  angezweifeltes  Wissen  über  jene  Völker  ergänzen 
könnte;  aber  wo  ist  jener  slavische  oder  wirkliche  Carnegie,  der 
dieses  einzigartige  Museum  suchen  oder  heben  Hesse! 

M.  Zun  ko  vic. 

19 


290 

Ein   Heilmütel    der   Russen    gegen    das   Hundswutgift. 

Auf  Seite  211  des  „Staroslovan"  wurde  ein  dalmatinisches 
Arzneimittel  gegen  das  Hundswutgift  in  Erinnerung  gebracht.  Diese 
Erwähnung  rief  in  mir  die  Tatsache  wach,  dass  mir  einst  ein  deut- 
scher Garteningenieur  in  Russisch-Podolien  eine  Distelart  zeigte,  die 
man  in  Süd-Russland  als  häusliches  Heilmittel  gegen  das  Hundswut- 
gift anwendet.  Es  ist  dies  die  Komposite  Xanthium  spinosum, 
ansonst  Choleradistel  genannt,  die  besonders  in  subtropischen 
Gegenden  gedeiht.  Sie  soll  erst  im  Dahre  1830  durch  Kasakenpferde 
zugleich  mit  der  Cholera  in  die  Bukowina  gebracht  worden  sein  und 
sich  von  hier  aus  bis  auf  den  Balkan  verbreitet  haben.  Diese  Ver- 
mutung scheint  recht  unglaubwürdig  zu  sein,  denn  den  Samen  kann 
auch  ebensogut  der  Wind  weiter  befördern.  Ob  aber  die  Pflanze  tat- 
sächlich irgendeine  heilsame  Wirkung  gegen  das  Hundswutgift  her- 
vorruft, weiss  ich  nicht  und  kann  auch  nicht  angeben,  welcher 
Pflanzenfeil  diese  Wirkung  birgt  oder  in  welcher  Form  das  Heil- 
mittel angewendet  werden  soll.  Immerhin  wäre  es  aber  angezeigt 
zu  überprüfen,  ob  oder  inwieweit  der  russische  Volksglaube  begrün- 
det ist,  umsomehr  als  ja  schon  die  Bezeichnung  „Choleradistel"  auf 
eine  Verwertung  als  Hausarznei  deutet. 

Ing.  W.  Steinz. 


Die  kroatische  Nationaltracht. 

Es  ist  an  der  Zeit  wieder  einmal  den  ziemlich  weit  verbreiteten 
Irrtum  zu  berichtigen,  als  ob  die  kroatische  Nationaltracht  ihrem  Ur- 
sprünge nach  eine  magyarische  wäre,  denn  tatsächlich  ist  sie  nur 
eine  jedem  Kenner  der  slavischen  Volkstrachten  durch  Klima,  ver- 
fügbare Rohstoffe  und  subjektiven  Schönheitssinn  bewirkte  Modifika- 
tion der  allgemeinen  altslavischen  Trachten. 

Über  die  Bedeutung  der  Volkstrachten  ist  bereits  sehr  viel  dia- 
metral geschrieben  worden,  denn  während  ihnen  die  einen  (wie  z.  B. 
Rousseau)  einen  hohen  volkspädagogischen  Wert  zusprachen,  wollten 
andere  in  dem  Festhalten,  an  der  vererbten  Nationaltracht  ein  be- 
wusstes  Verharren  in  der  Barbarei,  ein  Widerstreben  gegen  die 
gangbare  Zivilisationsströmung  bemerkt  haben.  Diesbezüglich  ge- 
ben „Slavische  Blätter"  (1865,  S.  35)  folgende,  gewiss  allgemein  über- 
zeugende Ansicht  kund :  „Eine  solche  Ansicht  involviert  ein  Verken- 
nen des  individuellen  Volksgeistes,  der  ja  der  Schöpfer  dieser  Trachten 
ist,   und  den   bedeutende  Kulturhistoriker   als   ein  wichtiges  Moment 


291 

zur  originellen  Entwicklung  eines  Volkes  erkannten.  Man  kann  das 
Nalionalkostüm  einen  mächtigen  Wecker  und  Walirer  des  nationalen 
Bewusstseins,  ja  des  Patriotismus  selbst  nennen.  Und  was  noch  be- 
deutender ist:  die  gemeinsame  Nationaltracht  schliesst  ein  einigendes 
Band  um  sämtliche  Angehe rge  eines  Volkes,  welches  auch,  nebst 
anderen  Ursachen,  namentlich  in  Kroatien,  jene  Leichtigkeit  des  Um- 
ganges zwischen  den  höheren  und  niederen  Klassen  ermöglichte,  die 
gar  sehr  die  natürliche  Härte  der  Leibeigenschaft  minderte.  In  dieser 
treuen  Bewahrung  der  ursprünglichen  Volkstracht  glauben  wir  auch 
den  Grund  dazu  zu  finden,  dass  in  Kroatien  und  Slavonien  niemals 
Kleiderordnungen,  wie  im  westlichen  Europa,  die  so  auch  äusserlich 
den  Unterschied  der  Stände  kennzeichnen  sollten,  erlassen  werden 
m.ussten.  Während  anderwärts  die  schwere  Ritterrüstung  den  Gebrauch 
der  Volkstracht  fast  völlig  verdrängle,  war  dies  bei  den  Kroaten  nie 
in  ausgedehntem  Masse  der  Fall.  Auch  ist  es  bekannt,  dass  der  ge- 
feierte kroatische  Held  Nikolaus  Subic-Zrinjski,  als  er  in  den  ent- 
scheidenden Kampf  zog,  in  weihevoller  Stimmung,  den  Harnisch  ver- 
schmähend, sich  mit  dem  reichsten  Nationalgewande  schmückte,  als 
ginge  es  zu  einem  Feste.  Während  im  Mittelalter  das  spanische  Ge- 
wand als  Hoftracht  die  altdeutsche  Kleidung  verdrängte,  bewahrten 
auch  hierin  die  Kroaten  ihre  Eigentümlichkeit.  3a  selbst  die  katho- 
lische Geistlichkeit,  sonst  der  uniformste  Stand  der  Welt,  bediente 
sich  in  alter  wie  in  neuer  Zeit  stets  der  Nationaltracht,  und  es  mögen 
die  Besucher  der  im  Herbste  1864  in  Agram  abgehaltenen  Industrie- 
ausstellung, unter  denen  sich  Angehörige  aller  Nationen  befanden, 
nicht  wenig  erstaunt  gewesen  sein,  die  ehrwürdigen  Domherren  des 
reichen  Agramer  Kapitels  im  Schnürrock  und  dem  niedrigen  landes- 
üblichen Hute  einherschreiten  zu  sehen.  -  So  also  beurkunden  in 
Kroatien  und  Slavonien  Mann  und  Weib,  Grundherr  und  Bauer,  Staats- 
beamter und  Geistlicher,  Bürger  und  Gelehrter  auch  in  ihrer  äusseren 
Erscheinung  jenes  Gemeinschaftliche,  das  sie  zu  einem  höheren  Gan- 
zen, zur  Nation  verbindet."  — 

Die  Volkstrachten  haben  zweifellos  auch  sonstige  Wertigkeiten. 
Vor  allem  zeigen  sie  meist  einen  sehr  hohen  kunstästhetischen  Sinn, 
und  können  niemals  zu  der  Superlativen  Geschmacklosigkeit  der 
modernen  Mode  führen,  da  sich  bei  der  Tracht  jede  prinzipielle  Ab- 
weichung unangenehm  abhebt,  d.  h.  jede  Übertreibung  in  dieser  oder 
jener  Richtung  stört  empfindlich  den  Gesamteindruck,  was  eben  der 
Volksgeschmack  sehr  gut  weiss  und  fühlt;  die  Tracht  bildet  nur  als 
harmonisches  Ganzes  den  Schönheitseffekt. 

Weiters  ist  die  Volkstracht  zugleich  ein  sehr  gewichtiges  Mittel 
für  die  Charakterbildung    eines  Volkes,   denn  der  in  der  Volkstracht 

19* 


292 

Umhergehende  kann  unmöglich  ein  Renegal  oder  Volksfeind  sein; 
verachlei  er  aber  seine  Nation,  so  wird  er  die  Tracht  überhaupt  nicht 
anlegen.  Das  Volkstum  hat  sich  daher  durch  die  Trachten  eine  ge- 
wisse äussere  Exklusivität  geschaffen,  die  trotz  etlicher  Nachteile 
doch  den  grossen  Vorzug  des  innigen  automalischen  Zusammen- 
gehörigkeitsgefühles in  bezug  auf  Sprache,  Heimat  und  Nation  in  sich 
birgt;  jeder  der  nicht  so  gekleidet  ist,  gilt  hingegen  als  Fremder. 
Dass  der  Niedergang  der  Trachten  auch  zugleich  das  patriotische 
Fühlen  und  das  Gefühl  der  Volkseinheit  zugleich  herabgedrückt  und 
einer  sehr  nachteiligen  politischen  Uferlosigkeit  Platz  gemacht  hat, 
wird  gewiss  jedermann  zugeben,  der  Gelegenheit  hatte  die  sozialen 
wie  patriotischen  Anschauungen  eines  Gebietes  noch  in  beiden  Pha- 
sen zu  beobachten.  Das  allgemeine  Hinarbeiten  auf  die  Rehabilitierung 
der  schönen,  so  erhebenden  Volkstrachten  wäre  daher  gerade  heute, 
wo  sich  die  Völkergruppen  wieder  sprachlich  zu  ralliieren  beginnen, 
eine  sehr  dankbare  volkserziehliche  wie   auch   patriotische  Aufgabe. 

Dr.  A.  Kovacic. 


Wissenschaftliche  Fragen  und  Antworten. 

Hier  werden  ausschliesslich  solche    einlaufende  Fragen  veröffentlicht  und  fallweise 
beantwortet,  die  das  Gepräge  eines  breiteren  wissenschaftlichen  Interesses  tragen. 


Frage  17.  —  „Strava".  —  F.  Z,  (Laibach)  fragt,  welche  Ety- 
mologie dem  altslavischen  Worte  „strava",  worunter  man  die  Toten- 
feier,  auch  das  Totenmahl   zu  verstehen  pflegt,   zugrunde  liegt. 

Antwort.  —  Das  Grundwort  ist  offenkundig  „traviti",  das  im 
Russischen  heute  abweiden,  fertigweiden,  zu  Ende  gehen, 
abschliessen  bedeutet.  Das  „s"  ist  das  im  Slavischen  allgemeine 
Präfix  für  die  Kennzeichnung  einer  länger  währenden  aber  nun 
abgeschlossenen  Handlung,  wozu  es  Hunderle  von  sprach- 
lichen Belegen  gibt,  wie  z.  B. :  „mluva"  ( ^-  das  Gespräch)  und  „smlouva" 
(  Vertrag,  der  Schlusserfolg  der  Besprechung);  „mir"  (  der  Friede) 
und  „smir"  (  der  Friedensschluss) ;  „mreti"  (  im  Sterben  liegen) 
und  „smrl"  (  der  Lebensschluss,  der  Tod);  „kryli"  (  decken)  und 
„skryli"  (  verstecken,  sich  ganz  unsichtbar  machen)  u.  a.  m.  „Strava" 
ist  daher  ein  urslavischer  Begriff,  der  alle  jene  Handlungen  abschlies- 
send zusammenfasst,  die  sich  nach  dem  Tode  einer  Person  in  so- 
zialer, pietätlicher  und  materieller  Richtung  ergeben,  also:  Leichen- 
feier, Würdigung  der  persönlichen  Verdienste,  Erhaltung  des  Anden- 
kens, Testamentsvollstreckung,  Erbfolge  u.  ä.  — 


293 

Man  nahm  bisher  allgemein  an,  dass  „strava"  lediglich  das 
Toten  mahl  bedeutet,  zumal  es  heute  nurmehr  die  Bedeutung  von 
Nahrung,  Verpflegung  hat,  doch  entspricht  dies  nicht  der  pri- 
mären Auffassung.  In  einer  aus  dem  XIV.  Jahrhunderte  stammenden 
böhmischen  Handschrift  von  Königgrätz  heisst  es  bei  der  Schilderung 
der  Kreuzigung  Christi:  „zvlckii  s  nclw  vsc  rucho  na  ziravu",  d.  h. 
sie  zogen  ihm  alle  Kleider  aus  als  Nachlas  s,  denn  es  wird  dann 
doch  weiter  erzählt,  dass  die  Schergen  nach  dem  Tode  um  diesen 
Nachlass  würfelten.  —  Eine  weitere  Quelle  (Skolien  des  Lactantius 
Placidus)  führt  aber  auch  noch  die  Form  „traba",  also  ohne  das  Prä- 
fix (der  vollendeten  Handlung)  an,  ein  Beweis,  dass  das  Grundwort 
„traviti"  eben  richtig,  die  eigentliche  Wurzel  daher  „trav"  (nicht  „strav") 
ist.  Lactantius  fungierte  im  Jahre  308  als  Lehrer  des  Sohnes  Kon- 
stantins d.  Gr.;  erst  der  im  VI.  Jahrhunderte  lebende  Geschichts- 
schreiber Jordanes  (fälschlich  „Jornandes")  schreibt  im  Werke  ,,De 
origine  actibiisquc  GetorunV-  schon  „slrava",  womit  jedoch  nicht  ge- 
sagt sein  will,  dass  diese  Wortform  nicht  früher  auch  schon  im  Ge- 
brauche war. 

Die  Slaven  gebrauchten  sonst  auch  die  Begriffe  ,.pir,  triziia,  sed- 
mina'\  welche  allerdings  die  Gedächtnismahlzeit  nach  der  Beerdigung 
eines  Toten  speziell  hervorheben,  doch  ist  diese  nur  als  ein  Teil  der 
„strava"  anzusehen,  denn  jene  Bewirtung  gilt  zugleich  als  Bezahlung 
für  die  verschiedenen  dem  Toten  zuteil  gewordenen  Dienste  (Kranken- 
pflege, Tragen  der  Leiche,  Grabaushebung,  Grabgesang  u.  ä.),  für 
welche  man  auf  dem  Lande  (z.  B.  bei  den  Slovenen)  noch  heute  kein 
Geld  annimmt. 

Wir  Slaven  nennen  gerne  den  Nachruf  nach  einem  Toten  mit 
dem  Fremdworte  „Nekrolog" ;  dieses  ist  aber  ganz  unnötig,  da  wir 
selbst  im  Begriffe  „strava"  eine  eigene  originelle  und  prägnantere 
Bezeichnung  besitzen.  Es  wäre  daher  empfehlenswert  sich  fortan 
dieses  altbekannten  Ausdruckes  zu  bedienen,  damit  die  eigenen  Fach- 
ausdrücke zur  Geltung  kommen  und  nicht  durch  die  Ignorierung  in 
der  Bedeutung  abirren  oder  ganz  in  Vergessenheit  geraten.  — 

Frage  18.  —  Österreichische  Forschung.  —  E.E. (Pa- 
ris) wünscht  eine  Aufklärung,  weshalb  heute  in  Österreich  fast  durch- 
wegs Private  die  wissenschaftliche,  namentlich  die  den  Altslavismus 
tangierende  Forschung  führen  und  aufrechthalten  müssen ;  wieso  es 
kommt,  dass  nicht  Akademien,  die  über  reiche  Studien-  und  Geld- 
mittel verfügen,  die  so  interessante  Runenforschung  in  die  Hand 
nehmen ;  dass  es  einen  endlosen  hundertjährigen  Streit  über  den 
böhmischen  Handschriftenwert  geben  könne  usw.,  was  in  Frankreich 
undenkbar  wäre. 


294 

Anfwor!.  —  Da  wir  als  direkt  Beleiligte  vielleicht  darauf  doch 
keine  objektive  Antwort  geben  könnten,  die  Frage  selbst  aber  auch 
sonst  aktuell  ist,  legten  wir  die  Beantwortung  derselben  einem  Hoch- 
schulprofessor vor,  und  erhielten  folgende  Aufklärung :  „Die  Erschei- 
nung des  Verfalles  der  wissenschaftlichen  Vertiefung  und  des  For- 
schungsernstes ist  heute  eine  allgemeine,  und  macht  Frankreich 
dabei  kaum  eine  Ausnahme;  dass  aber  dies  gerade  in  Österreich 
fühlbar  hervortritt,  daran  tragen  unsere  eigenartigen  dissoziierenden 
Verhältnisse  Schuld.  Vor  etwa  30  Oahren  gehörten  wir  noch  zu  den 
führenden  Mächten  für  Sprachen-  und  Völkerkunde ;  unsere  Gelehrten 
waren  es,  die  in  der  Slavistik  das  entscheidende  Wort  sprachen; 
wir  waren  es,  die  weltumspannende  geographische  Forschung  be- 
trieben. Seither  haben  wir  selbst  abdiziert.  Die  politischen  Strömungen 
beeinflussen  bereits  seit  langem  die  Wahl  der  Professoren;  Nation 
und  Parteistandpunkt  gilt  mehr,  als  Wissen  und  Können.  Es  sei  hier 
nur  jenes  typische  Beispiel  angeführt,  das  vor  kurzem  infolge  seiner 
Widrigkeit  uns  alle  lähmte,  als  ein  dreimal  und  allein  vorgeschlagener 
Fachmann  von  Ruf  als  Professor  für  die  Akademie  der  bildenden 
Künste  in  Wien  nicht  als  geeignet  anerkannt  wurde,  weil  er  in 
Laibach  geboren  ist  und  in  Prag  wirkt.  Die  besten  Kräfte 
verlassen  daher  die  so  kleinlich  gewordene  Heimat,  weil  sie  eine 
politisch  infizierte  Wissenschaft  nicht  billigen.  Die  Abschaffung  der 
Kollegiengelder  erstickte  den  restlichen  Ehrgeiz  in  der  wissenschaft- 
lichen Konkurrenz;  die  Unterrichtsverwaltung  ist  selbst  ein  Politikum, 
gelenkt  von  Parteileuten  und  Tagesströmungen ;  auf  die  Lehrkanzeln 
werden  selten  mehr  führende  Geister  berufen,  die  etwa  schon  durch 
glänzende  Schriften  oder  erfolgreiche  Privattätigkeit  ihre  Befähigung 
erbracht  haben,  sondern  normale  Mittelmässigkeiten,  oft  von  Krethi 
und  Plethi  geschoben,  und  jederzeit  bereit  ihre  Individualität  dem 
persönlichen  oder  aktuellen  Opportunismus  zu  opfern.  Seit  Dezennien 
sind  auch  alle  Slavistenkanzeln  ausschliesslich  aus  einer  „Schule"  be- 
setzt; das  Monopol  führt  die  Firma  3agic  und  hat  diese  ausschliess- 
liche Inzucht  die  hereditäre  Folge,  dass  ein  Neuerer  oder  Eklektiker 
überhaupt  nicht  mehr  zu  freiem  Worte  kommt,  daher  Wahres  wie 
Falsches  von  Einst  nur  mehr  grammophonartig  mechanisch  weiter 
abgeleiert  wird.  Um  aber  doch  für  alle  Fälle  Störefriede  hintanzu- 
halten, sitzt  in  jeder  Zeitungsredaktion  ein  Filialist  dieser  Firma,  der 
dafür  sorgt,  dass  neue  Forschungsergebnisse,  welche  diese  erstarrten 
Hypothesen  aus  dem  Gleichgewichte  bringen  könnten,  durch  die  Presse 
nicht  in  die  Öffentlichkeit  gelangen.  So  ist  es  auch  erklärlich,  wie 
die  Gedankenträgheit  der  Menschen  klug  ausnützend  —  der  finsterste 
Aberglauben  mit  polizeilicher  Sicherheit  und  behaglicher   Ruhe   durch 


295 

ein  Menschenalter  als  Wissenschaft  ausgeschrotet  werden  konnte. 
Einen  besonders  fühlbaren  Nachteil  brachte  der  Slavistik  auch 
die  Gründung  der  böhmischen  Universität  im  Jahre  1882  in  Prag. 
Das  Angebot  der  Lehrkräfte  war  damals  gering,  die  Wahl  dabei 
überdies  vielfach  eine  unglückliche.  Die  in  Böhmen  doppelt  akzen- 
tuierte Politik  bekam  rasch  Eintritt  in  die  Universität.  Die  Professoren 
der  philosophischen  Fakultät  gründeten  bald  ein  politisches  Tagblatt 
(„Gas")  für  sich,  ein  Fall,  der  in  Hochschulkreisen  wohl  einzig  da- 
steht. Fast  jeder  Professor  stand  in  irgendeinem  politischen  Lager; 
für  wirkliche  Wissenschaft  oder  tiefere  Forschung  blieb  da  wenig 
Zeit  übrig,  daher  sich  dort  bisher  auch  nahezu  keine  hervorragende 
Fachspezialität  entwickeln  konnte.  Eine  solidere  fachliche  Durch- 
bildung fehlte  oft  noch ;  die  Politik  verdarb  Charakter  wie  Individua- 
lität. Um  sich  massgebendenorls  beliebt  und  äusserlich  bemerkbar 
zu  machen,  wurde  das  Tollste  unternommen,  was  öffentlich  zu 
sprechen  gibt.  Da  wurden  zuerst  die  ehrwürdigen  böhmischen  Hand- 
schriften als  echt  abgeschworen,  die  Vergangenheit  der  Slaven  tun- 
lichst gelöscht;  jeder  wurde  bis  ins  letzte  Dorf  verfolgt,  ja  zum 
Selbstmord  gebracht  (Dr.  Pic),  der  zu  widersprechen  wagte;  das  Tag- 
blatt „Gas"  unterstützte  dabei  die  wissenschaftlichen  Oustifizierungen ; 
die  Jugend,  die  immer  dem  Radikalismus  huldigt,  rannte  allem  blind 
nach,  ohne  der  Nachteile  zu  gedenken,  die  ihr  beim  Einzug  soliderer 
Verhältnisse  erwachsen  müssen.  Die  Slavistik  ward  dabei  zu  einem 
regelrechten,  wenn  auch  klug  verschleierten  —  Aschenbrödel.  Die 
Professoren  traten  gelegentlich  auch  in  ein  Wettrennen  um  Abgeord- 
netenmandate, um  zwei  Sinekuren  zu  geniessen;  die  Wissenschaft 
war  ihnen  somit  niemals  die  Hauptsache.  —  Es  ist  daher  nur  ein 
Glück,  dass  die  impulsive  wie  intuitive  Geisteswissenschaft  nun 
durch  die  Privatforschung  auf  einem  neutralen  und  jungfräulichen 
Boden  aus  reinster  Liebe  zur  Sache  weitergeführt  wird;  böse  wäre 
es,  wenn  alles  untätig  dastehen  würde.  —  Diese  Eindrücke  muss 
jeder  gewonnen  haben,  der  in  den  letzten  20  bis  30  Jahren  mitten 
in  diesem  chaotischen  Milieu  stand  und  seine  Ansicht  überhaupt  frei 
aussprechen  will;  ich  habe  sie  hiemit  ausgesprochen." 

Wir  haben  dem  nichts  beizufügen  als  den  ehrlichen  Wunsch, 
man  möge  aus  den  bedenklich  aufgehäuften  Entgleisungen  in  der 
Pflege  der  Wissenschaft  in  Österreich  endlich  eine  heilsame  Lehre 
ziehen. 

Frage  19.  —  „Gy  rill -Kreuze."  —  J.  H.  (Brunn)  wirft  die 
Frage  auf,  wieso  es  so  viel  „Gyrill-Kreuze"  geben  könne,  denn  sie 
können  doch  unmöglich  alle  mit  dem  Slavenapostel  Gyrill  im  Zu- 
sammenhange stehen. 


296 

Antwort.  —  Dies  ist  aucli  nicht  der  Fall.  Es  liegt  liier  eine 
falsche  Volksetymologie  vor.  Das  Wurzelwort  ist  „cer,  cir",  das  be- 
reits Seite  8-  16  eingehend  aufgeklärt  wurde.  Die  „Cyrill-Kreuze" 
sind  gleichfalls  nichts  weiter  als  Grenzsteine,  nur  hat  das  Volk 
nach  Verlust  des  sprachlichen  Verständnisses  für  den  Wurzelbegriff 
eine  posthume  Erklärung  gesucht  und  hiebet  herausgefunden,  hier 
habe  vielleicht  der  hl.  Cyrill  auf  seinen  Missionsreisen  gerastet  oder 
gepredigt.  Sie  finden  sich  meist  in  Mähren,  Schlesien  und  Süddeutsch- 
land vor.  —  Wer  sich  die  Lokalität  solcher  Steine,  die  meist  in 
Kreuzform  zugehauen  oder  aber  mit  einem  ausgemeisselten  Kreuze 
versehen  sind,  näher  besieht,  wird  immer  finden,  dass  sie  durch- 
wegs an  Besitz-,  namentlich  Gemeindegrenzen,  an  Weggabelungen 
oder  Kreuzwegen  angebracht  sind.  Sollte  dies  heute  irgendwo  nicht 
zutreffen,  so  wäre  weiter  nachzuforschen,  ob  hier  nicht  in  älterer 
Zeit  die  Grenze  lief,  da  ja  bei  Kommassationen  oder  Parzellierungen 
von  Gütern  oft  die  Grenzen  geändert  wurden ;  überdies  hat  sich  bei 
wichtigeren  Grenzverlegungen  meist  noch  die  lokale  Bezeichnung 
„Alte  Grenze,  stare  myto,  starä  meza"  u.  ä.  erhalten.  —  Unsere 
Leser  werden  hiemit  ersucht,  die  ihnen  bekannten  „Cyrill-Steine"  in 
dieser  Richtung  zu  überprüfen  und  uns  mitzuteilen,  ob  oder  inwie- 
weit unsere  Etymologie  irgendwo  nicht  zutrifft. 

Frage  20.  —  Von  mehreren  Seiten  wurde  angefragt,  wie  wir 
uns  zu  den  höchst  unwissenschaftlichen  und  persönlichen  Ausfällen 
in  Jagic'  „Archiv  für  slavische  Philologie"  (Heft  1  und  2,  Seite  300— 
302,  1913)  gegen  den  „Staroslovan"  verhalten. 

Antwort.  —  Wir  haben  ohnehin  zu  wenig  Raum  für  ernste 
Aufsätze,  können  uns  daher  umso  weniger  mit  Antworten  auf  derlei 
sophistische  Ausfälle  befassen.  Damit  aber  unsere  Leser  doch  etwas 
darüber  wissen,  sei  das  Wichtigste  hervorgehoben.  —  Ein  gewisser 
Erdmann  Hanisch  aus  Beuthen  zog  mit  einem  Kübel  Schmutzwasser 
aus,  um  den  Mohren  3agic  reinzuwaschen.  Es  handelt  sich  da  um 
die  „Schwayxtix"-Angelegenheit  (siehe  „Staroslovan"  Seite  51—57) 
und  die  böhmischen  Handschriften.  Bekanntlich  hat  Professor  Jagic 
im  dahre  1880  eigens  eine  Reise  nach  Neu-Strelitz  unternommen  und 
„festgestellt",  dass  eine  Statuette  daselbst  wirklich  jene  Aufschrift 
trage,  auf  welcher  Basis  er  sodann  die  Rhetra-Altertümer  (siehe  „Sla- 
vische Runendenkmäler")  gleich  summarisch  als  unterschoben  er- 
klärte und  noch  zufügte,  die  Fälschungen  können  nicht  vor  dem  Jahre 
1737  geschehen  sein.  Ebenso  beteiligte  er  sich  seit  dem  Jahre  188G 
lebhaft  an  der  Grablegung  der  genannten  Handschriften.  Es  hat  sich 
aber   nun   bei   der  wissenschaftlichen   Revision   herausgestellt,  dass 


297 

auf  jener  Slaluelle  nicht  „Schwayxlix"  sondern  Jicjevajam  tim"  steht, 
und  dass  die  als  Fälschungen  verdächtigten  Handschriften  echt  sind. 
Statt  dass  nun  Professor  Dagic  als  Herausgeber  und  Redakteur  des 
„Archiv"  selbst  mit  der  Erklärung  herausgetreten  wäre,  er  habe  sich 
in  beiden  Fällen  geirrt,  er  habe  die  Inschrift  etwa  bei  schlechter  Be- 
leuchtung gelesen,  die  Runen  nicht  genau  gekannt,  die  Handschriften 
nie  gesehen,  erteilt  er  dem  Herrn  Hanisch  die  Vollmacht  gegen  uns 
gleich  mit  dem  mobilen  üalgen  zu  ziehen,  weil  wir  so  wenig 
Rücksicht  und  Takt  besassen,  die  Wahrheit  in  dieser 
Sache  offen  auszusprechen.  Er  spricht  da  von:  „Bedeutungs- 
losigkeit, wissenschaftlicher  Naivität,  ungezogener  (!),  törichter  Über- 
hebung" u.  ä.,  vergisst  aber  in  der  Eile  vollkommen  zu  sagen,  dass 
wir  doch  recht  haben,  und  „überhebt"  sich  davon  auch  nur  ein 
Argument  gegen  unsere  Feststellungen  anzuführen.  Nach  den  Rechts- 
begriffen Hanisch'  ist  die  Wissenschaft  sonach  kein  Freigut  mehr, 
und  wenn  Dagic  einen  Irrtum  begeht,  so  haben  darüber  „bedeutungs- 
lose" Leute  zu  schweigen,  oder  aber,  so  wie  er,  dies  durch  qual- 
menden Weihrauch  zu  verhüllen. 

Die  Wahrheit  ist  ein  starker  Trank, 
Und  wer  ihn  braut,  hat  selben  Dank! 

Die  Angelegenheit  mit  den  böhmischen  Handschriften  wird  dahin 
zu  beschönigen  oder  zu  rechtfertigen  versucht,  dass  Hanisch  die 
rhetorische  Frage  aufwirft:  „Sollte  wirklich  Herr  Zunkovic  wissen- 
schaftlich so  harmlos  sein,  dass  er  glaubt,  zur  Untersuchung  der 
Echtheitsfrage  einer  Urkunde  (!)  bedürfe  es  unbedingt  des  persön- 
lichen Augenscheins?"  —  Wir  können  diesem  beneidenswert  naiven 
„Archiv"-6elehrten  nur  offen  bestätigen,  dass  wir,  und  wahrschein- 
lich die  ganze  Welt  mi!  uns,  wirkhch  so  harmlos  sind,  dies  zu  glau- 
ben, und  die  persönliche  paläographische  Untersuchung  des  ange- 
zweifelten Objektes  für  das  Wichtigste  halten;  ja,  wir  gehen  noch 
weiter:  wir  erklären  nach  den  gemachten  Erfahrungen 
jeden  für  einen  Charlatan,  wer  eine  alte  Handschrift 
als  falsch  erklärt,  ohne  sie  je  gesehen  zu  haben,  denn 
seriöseLeute  geben  über  etwas,  was  ihnen  unbekannt 
ist,  überhaupt  kein  Urteil  ab. 

Es  ist  ein  furchtbar  lähmendes  Gefühl  sehen  zu  müssen,  wie 
hier  der  Kritiker  für  die  Gewissenlosigkeit  in  der  Forschung  offen 
und  skrupellos  eine  Lanze  bricht,  und  wie  Professor  Jagic  einer 
solchen  Frivolität  obendrauf  noch  den  Tugendmantel  umhängt.  —  Die 
Grünberger  wie  Königinhofer  Handschrift  sind  zweifellos  echt,  und 
wer  sie   gut  angesehen   oder  gar   studiert   hat,  wird  sie  auch  nicht 


298 

anders  als  echt  gefunden  haben.  Hai  jedoch  Professor  3agic  (und 
sein  Anhang)  die  Überzeugung  von  der  Unechtheil,  so  beweise  er 
dies,  denn  die  bisher  bekannten  Bedenken  sind  bereits 
alle  aufgeklärt  und  haben  sich  als  hallloses  Geschwätz 
oder  als  Produkt  mangelhafter  Forschungspflege  er- 
wiesen. Wir  fordern  hiemit  Professor  üagic  auf,  seine  Argumente 
darüber,  dass  jene  Figur  in  Neu-Strelitz  die  Aufschrift  „Schwayxtix" 
trägt,  sowie  namentlich  für  die  Unechtheit  der  böhmischen  Hand- 
schriften offen  darzulegen;  die  Ansicht,  dass  wir  zu  „bedeutungslos" 
sind,  genügt  uns  absolut  nicht  als  „Beweis".  Übrigens  hatte  die  böh- 
mische Nation  der  Handschriften  wegen  durch  Jahrzehnte  fortgesetzt 
die  Verbalinjurien:  Fälscher,  Schwindler,  Diebe  u.  dgl.  zu  hören;  es 
steht  daher  schon  dafür,  sichderMühezuunterziehen, 
dies  überzeugend  zu  begründen,  oder  aber  den  ge- 
machten Fehler  zu  widerrufen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  eine  bedenkliche  moralische  Entgleisung 
des  Kritikers  hervorgehoben,  um  die  Kampfesweise  und  wissen- 
schaftliche Akribie  des  Herrn  Hanisch  gegen  uns  nur  flüchtig  zu 
skizzieren.  Er  will  die  prinzipielle  Gegnerschaft  gegen  die 
„Berufswissenschaft"  in  unserem  Arbeitsprogramme  entdeckt  haben. 
Diese  niedrige  Verhetzungstaktik  unter  Zulegung  einor  handgreiflichen 
Unwahrheit  desavouiert  sich  selbst.  Hanisch  hat  zwar  fleissig  Stellen 
aus  unserem  Programmartikel  (Seite  1 — 7)  zitiert,  kennt  also  den 
Inhalt  zweifellos,  hat  aber  folgenden  Passus  darin  „übersehen" : 
„Wir  wollen  daher  sowohl  mit  den  Gelehrlengeseilschaften  einerseits, 
wie  mit  den  breitesten  Bildungsschichlen  des  Volkes  andererseits  in 
steter,  inniger  Fühlung  bleiben  und,  unentwegt  und  unbekümmert  um 
Sympathie  oder  Hass,  nur  zum  besten  der  guten  Sache  arbeiten."  — 
Relativ  hat  Herr  Hanisch  allerdings  recht:  eine  solche,  aber  nur 
solche  „Berufswissenschaft",  die  nur  ehrlich  arbeitende  Leute  ver- 
leumdat,  sich  aber  in  jenem  Momente,  als  Beweise  vorzubringen  oder 
gemachte  Fehler  einzubekennen  sind,  mit  souveränem  PatentdünkeJ 
schimpfend  seitwärts  in  die  Büsche  schlägt,  werden  wir  bekämpfen, 
so  oft  sie  uns  in  die  Quere  kommt. 

Wir  verkehren  aber  tatsächlich  mit  vielen  Forschern  von  Beruf 
und  Gelehrtengesellschaften  der  Welt;  die  Qualität  des  Inhaltes  unserer 
Revue  wird  wahrscheinlich  auch  niemandem  den  Gedanken  einflössen, 
als  würde  uns  gelegentlich  der  berüchtigte  „Septimaner"  beispringen; 
eine  wissenschaftliche  Verbindung  mit  Herrn  „Erdmann  Hanisch  aus 
Beuthen"  lehnen  wir  freilich  für  alle  Zeiten  dankend  ab. 


299 


Bibliographie. 


Alle    einlangenden    Werke    werden     grundsätzlich    mit   Titel,    Verlag    und    Preis    an- 
geführt; jene,  welche  altslavische  Themata   berühren,   auch   kurz  besprochen,   even- 
tuell  noch   später   eingehender   gewürdigt.   —   Unaufgefordert    zugesendete    Werke 
werden    nicht    zurückgestellt. 


Qriiden    ö.    3)r.,     2>godovina    slovenskega    naroda.    — 

( „Geschichte   des   slovenischen   Volkes.")   --  Klagenjurt.   Herausgegeben 
vom  St.  Hermagoras- Vereine.    —  (Im  Erscheinen./ 

Die  „Druzba  sv.  Mohora"  (St.  Hermagoras-Verein)  hat  sich  im 
Interesse  ihrer  Mitglieder  zur  Herausgabe  des  obigen  Werkes  ent- 
schlossen und  erschien  hievon  heuer  schon  das  3.  Heft  (Beginn  der 
Neuzeit).  Da  bisher  keine  zusammenfassende  und  übersichtliche  Ge- 
schichte des  slovenischen  Volkes  existierte,  war  der  Verfasser  vor  ein 
besonders  schwieriges  Problem  gestellt,  zumal  die  Slovenen  in  histo- 
rischer Zeit  eigentlich  nie  —  es  wäre  denn,  dass  man  die  kurze 
Zeit  des  napoleonischen  lllyrien  dazu  rechnen  würde  —  staatlich  ge- 
einigt waren.  Trotzdem  hat  der  Verfasser  seine  Aufgabe  muster- 
gültig gelöst.  Die  volkstümlich  gehaltene,  daher  sprachlich  so  an- 
heimelnde Darstellung,  sowie  die  reiche  Illustrierung  reihen  sich 
würdig  an  die  wissenschaftlich  hochwertige  Sammlung  und  Behand- 
lung des  ungewöhnlich  zerstreuten  Stoffes  an.  Dem  Verfasser  ge- 
bührt ein  rückhaltsloses  Lob  hiefür,  wie  er  das  widerspenstige 
Ouellenmaterial  behandelte  und  an  die  Volkspsyche  so  meisterhaft 
anpasste,  denn  es  ist  sehr  zu  bezweifeln,  ob  diese  beiden  Stand- 
punkte ein  Zweiter  in  so  harmonische  Relation  gebracht  hätte. 

Wir  müssen  aber  auch  ernstlich  eine  Unzukömmlichkeit  hervor- 
heben, welche  allerdings  die  heutigen  verworrenen  Verhältnisse  in 
der  Geschichtsforschung  verschuldet  haben,  die  aber  durch  die  Aus- 
gabe eines  Ersatzbogens  wieder  leicht  beseitigt  werden  kann.  Der 
Verfasser  schreibt  nämlich  Seite  9,  dass  wohl  schon  der  Dichter 
Vodnik  überzeugt  war,  die  Slovenen  seien  durchaus  keine  Einwan- 
derer, sondern  ein  Urvolk  in  ihren  heutigen  Gebieten,  „nichtsdesto- 
weniger bezeugen  die  Geschichtsquellen  in  unzweifelhafter  (!)  Weise, 
dass  die  Einwanderung  der  Slovenen  in  die  heutigen  Gebiete  erst 
mit  dem  VI.  nachchristlichen  Oahrhunderte  begonnen  habe,  dass  die 
früher  Ansässigen  besiegt  wurden,  die  sodann  teils  auswanderten, 
teils  sich  mit  den  Slovenen  assimilierten."  —  Wir  wissen  wohl,  dass 
dieser  Satz  mindestens  schon  vor  fünf  Oahren  niedergeschrieben  war, 
also   zu  einer  Zeit,   als  die  Flamme  der   revolutionären  Bewegung 


300 

vom  Aufochlhonismus  der  Slaven  noch  nicht  so  offen  züngelte ;  heute 
würde  der  Verfasser  diesen  Satz,  der  nur  mechanisch  die  angelernten 
Schulhypothesen  wiedergibt,  sicher  nicht  mehr  geschrieben  haben,  da 
es  tatsächlich  „unzweifelhafte"  Beweise  nicht  gibt. 

Sehr  am  Platze  ist  auch  die  Verwahrung  der  Vereinsleitung 
(Seite  211  im  „Koledar")  gegen  die  Vorwürfe,  dass  das  Volk  eine 
solche  Geschichte  nicht  erfassen  könne,  indem  sie  offen  erklärt: 
„Man  halte  das  Volk  nicht  forlgesetzt  für  so  verschlagen  und  begriffs- 
stutzig, als  ob  ihm  die  Aufnahmsfähigkeit  für  historische  Begeben- 
heiten gänzlich  mangeln  würde!"  —  Alles,  was  verständlich  ge- 
schrieben ist,  versteht  der  natürlich  denkende  Mensch  auch;  unver- 
ständlich sind  jene  Bücher,  die  unverständlich  geschrieben  sind,  und 
dieses  ist  hier  absolut  nicht  der  Fall.  Wäre  man  aber  dies  irgendwo 
zu  behaupten  berechtigt,  so  kann  hiebet  das  slovenische  Volk  gar 
nicht  einbezogen  werden,  denn  gerade  hier  muss  selbst  der  Feind 
neidlos  zugeben,  dass  es  die  „Druzba  sv.  Mohora"  selbst  war,  die 
das  Volk  für  diese  geistige  Kapazität  systematisch  vorerzog,  und 
wer  den  Sinn  für  Objektivität  nicht  völlig  eingebüsst  hat,  der  muss 
zugeben,  dass  sich  ähnlicher  kulturpädagogischer  Segnungen  durch 
einen  Verein  kein  Volk  der  Welt  rühmen  kann,  wie  gerade  das 
slovenische. 

Der  Verein,  im  3ahre  1852  vom  Fürstbischof  Slomsek  gegründet, 
hat  sich  nämlich  ungeheure  Verdienste  für  den  Fortschritt  des  slo- 
venischen  Volkes  erworben,  denn  er  arbeitete  schon  auf  breiter 
Basis  an  der  Hebung  des  Bildungsniveaus  des  Landvolkes,  als  sich 
andere  grosse  Nationen  um  die  geistige  Weckung  des  Gros  kaum 
noch  rührten,  oder  sich  diesen  Verein  erst  zum  Vorbilde  nahmen. 
Eine  Nation  von  1*3  Millionen  Köpfen  aber,  die  seit  61  Oahren  einen 
Verein  besitzt,  welcher  nahezu  buchstäblich  jedes  slovenische  Haus 
zum  Mitgliede  zählt,  und  seinen  80.00  Mitgliedern  jährlich  ^  o  Million 
populär  geschriebener  Bücher  einhändigt,  steht  heute  einzig  da.  — 
In  letzter  Zeit  haben  sich  allerdings  gewisse  Elemente  gefunden,  die 
alles  gute  Alte  zertrümmern  wollen,  ohne  auch  nur  einen  brauch- 
baren Stein  zum  Neubaue  zuzutragen,  daher  auch  gegen  diesen  Ver- 
ein unberechtigte  Ausfälle  unternommen  haben.  Ob  ihnen  dies  die 
pathologische  Nörgelei,  das  mangelnde  patriotische  Gefühl  oder  die 
versteckte  Tendenz,  sich  auf  diese  Weise  den  Jahresbeitrag  (2  K) 
zu  ersparen,  diktiert,  ist  nebensächlich,  denn  dieser  Verein  ist  be- 
reits mit  dem  slovenischen  Volke  so  organisch  verwachsen,  dass 
man  sich  letzteres  ohne  diesen  Verein  heute  nicht  recht  vorstellen 
kann.  Der  Verein  stehe  fest,  wie  der  Fels  im  Meere,  wie  bisher, 
und  biete,  a  II  e  rdin  g  s   den  Wandlungen    des   Zeitgeistes 


301 

voll  Rechnung  tragend,  unentwegt  und  weiterhin  dem  Volke 
jene  geistige  Nahrung,  die  dasselbe  kulturell  und  wirtschaftlich  höher- 
bringt. Der  Abfall  der  Volksfeinde  bedeutet  abar  gerade  eine  Reini- 
gung, denn  in  jedem  Volke  fällt,  um  das  fremde  Feld  zu  düngen, 
nur  ab  der  nationale  —  Mist. 

0.  Simonie. 

Epilog  und  Prolog. 

Der  I.  Jahrgang  des  „Staroslovan"  ist  nun  geschlossen.  Wir 
haben  hiemit  unser  eingangs  dargelegtes  Versprechen  —  sei  dies 
hier  freudig  und  stolz  hervorgehoben  —  sogar  mit  einem  ungeahnten 
Kraftüberschusse  an  originellem  Wissen  und  unbeeinflusster  Beobach- 
tung, daher  zum  grossen  Teile  völlig  neuem  Forschungsmateriale 
eingelöst  und  hiebet,  wenn  oft  auch  nur  flüchtig,  gezeigt,  dass  es  auf 
jedem  Gebiete  des  menschengeschichtlichen  Wissens  Stationen  gibt, 
die  der  Slave  nicht  weiter  teilnahmslos  passieren  darf. 

Wie  notwendig  unsere  Revue  war,  hat  sich  im  Laufe  des  Oahres 
mit  steigender  Drastik  gezeigt.  Die  grosse  Slavenwelt  weiss 
von  ihrer  wahren  Vergangenheit  im  grossen  so  gut 
wie  nichts,  und  jenen  Kreisen,  die  sievorallem  kennen 
sollen,  fehlt  als  Vorbedingung  zu  dieser  Kenntnis  die 
natürliche  Klarheit  über  die  elementarsten  Grund- 
sätze. 

An  dieser  Wahrnehmung  lässt  sich  leider  nicht  ein  Wort  än- 
dern. Der  Vorwurf  gilt  übrigens  nicht  dem  Einzelnen,  sondern  der 
Gesamtheit,  denn  die  kleinliche  sprachliche  Eifersucht,  dann  die  gei- 
stige, politische  wie  soziale  Geschiedenheit  der  einzelnen  Slaven- 
völker,  die  aus  der  Parabel  von  den  zerbrochenen  Stäben  Svatopluks 
niemals  eine  Lehre  ziehen  wollten,  haben  den  slavischen  Völker- 
gruppen bisher  kein  zusammenhängendes  Bild  der  gemeinsamen 
grossen  Vergangenheit  zu  geben  vermocht. 

Welche  wunderbaren  Kraftquellen  des  latenten  Selbstbewusst- 
seins,  des  berechtigten  Stolzes  und  erhöhten  Kulturstrebens  wurden 
aber  damit  den  slavischen  Völkern  durch  so  lange  Zeit  vorenthalten! 
Und  trotzdem  wir  von  diesen  bewusst  wie  unbewusst  verstopften 
Quellen  in  der  kurzen  Spanne  Zeit  erst  etliche  Tropfen  ans  Licht  ge- 
bracht, so  geht  doch  schon  ein  staunendes  Aufhorchen,  ein  fort- 
schreitender Meinungswechsel,  eine  tiefgehende  Wandlung  fühlbar 
vor  sich ;  und  was  bringt  erst  die  Zukunft  an  den  Tag,  denn  ein 
gutes  Drittel  unserer  Geschichte  ruht  noch  nahezu  unberührt  oder  un- 


302 

erkannt  in  der  Erde,  ein  Drittel  verbirgt  sicli  unverstanden  in  den 
Getieimnissen  der  Spraclie,  und  jenes  Dritlei,  das  wir  bei  natürlicher 
Gedankenfolge  leicht  verstehen  könnten,  hat  eine  verblendete  Wissen- 
schaft gewaltsam  unserer  Betrachtung  entrückt  oder  von  oben  nach 
unten  gekehrt. 

Nur  so  konnte  es  kommen,  dass  schliesslich  alles  auf  einem 
toten  Punkte  erstarrte,  statt  sich  an  dem  allgemeinen  Fackellaufe  im 
grossen  Kulturwettstreite  zu  beteiligen.  Wir  arbeiteten  zwar  genau 
so  mit,  wie  andere,  aber  unsere  Werke  erhielten  eine  fremde  Marke 
und  unsere  grossen  Männer  einen  gefälschten  Taufschein ;  steht  doch 
des  grossen  Polen  Kopernik  Büste  heute  in  der  deutschen  Wallhalla ; 
Komensky  wurde  zu  einem  Deutschen,  Vega  zu  einem  Spanier  zu 
machen  versucht;  Held  Zrinjski  wurde  von  den  Magyaren  nostri- 
fiziert usw.  Statt  daher  unseren  reellen  Anteil  an  der  Kultur  und  dem 
Gange  der  Geschichte  energisch  die  billige  Anerkennung  im  offenen 
Kampfe  zu  erzwingen,  warfen  wir  die  Flinte  ins  Korn  und  zogen 
uns  schmollend  in  die  stille  Ecke  zurück,  in  der  Hoffnung  auf  ein 
Wunder  oder  auf  selbsteinkehrende  bessere  Zeiten. 

Wir  Hessen  es  auch  apathisch  dazu  kommen,  dass  so  viele 
irrtümliche  Antizipationen  aus  den  Frühstadien  der  Forschung  in  das 
Volksbewusstsein  übergingen  und  geradezu  zu  verwirrenden  Axiomen 
wurden,  weil  wir  uns  dagegen  nicht  mit  Geisteswaffen  stellten. 
Würden  wir  zeitgerecht  aufgetreten  sein,  so  wären  nicht  so  viele 
Männer  von  reiner  wissenschaftlicher  Ehrlichkeit  auf  Abwege  ge- 
raten ;  noch  weniger  wäre  das  furchtbare  Überwuchern  jenes  wissen- 
schaftlichen Charlatanismus  möglich  gewesen,  welcher  die  herrschende 
Apathie  voll  auszumünzen  verstand,  und  dem  heutigen  nationalen 
Antagonismus  fortgesetzt  neue  vergiftende  Nahrung  zuführte. 

Doch  auch  alle  reelle  Wissenschaft  bewegt  sich  normal  im 
Schlepptau  des  Gewohnten;  sie  wird  erst  aktiv,  wenn  das  Gewohnte 
ausbleibt,  und  zugleich  die  Anpassungsfähigkeit  vorhanden  ist,  neue 
Reflexe  aufzunehmen.  Solche  uralte,  fest  verankerte  Irrtümer  aus  der 
bedenklichen  Erbschaft  des  Gewohnten  haben  wir  hier  zu  beseitigen 
begonnen;  das  beste  Mass  für  den  Wert  und  Erfolg  dieser  tief- 
gründigen Überprüfung  ist  die  Menge  und  Bedeutung  der  dadurch 
verzehrten  Irrtümer;  und  diese  ist  schon  heute  eine  impo- 
nierende. 

Das  neue  Jahr  soll  daher  an  unserem  Revue -Programme 
nichfs  Wesentliches  ändern,  umsomehr,  als  das  Räderwerk  der  in 
Gang  gesetzten  Maschine  erstaunlich  tadellos  funktioniert. 


303 

Betreffs  des  Erscheinens  der  Bibliothek  „Staroslovan"  lassen 
sich  hingegen  Termine  schwer  voransagen,  da  konstant  neue  Impulse 
einwirken  und  neue  Forschungserscheinungen  das  Einbeziehen  heischen. 
Zur  allgemeinen  Orientierung  unserer  Mitglieder  diene  jedoch  fol- 
gendes: ■•'  ■■ 

BAND  I:  „5 lavische  Runendenkmäler"  erscheint  weiter 
als  Beilage  zu  den  einzelnen  Heften  und  dürfte  im  Jahre  1914  bereits 
seinen  Abschluss  finden ; 

BAND  II :  „Etyniolo  gisches  Ortsnamen  lex  ik  on"  liegt 
bereits  im  Manuskripte  druckreif  vor; 

BAND  III:  „Altslavische  Handschriften".—  Dies  soll 
eine  literatur-  wie  sprachgeschichtlich  hochstehende  Gesamtausgabe 
der  ältesten  handschriftlichen  Denkmäler  aller  Slaven  werden,  die 
doch  bis  heute  fehlt.  Von  jeder  Handschrift  wird  das  Faksimile,  die 
moderne  Transkription,  die  Kommentierung  und  Verdeutschung  nebst 
der  geschichtlichen  wie  literarischen  Würdigung  geboten.  Ist  sie  ein 
Palimpsest,  so  wird  der  gelöschte  Text,  so  weit  er  lesbar  oder  in- 
haltlich bemerkenswert  ist,  gleichfalls  in  Wort  und  Bild  beigegeben. 
Jede  Handschrift  soll  zwar  für  sich  als  Monographie  abgeschlossen, 
jedoch  buchmässig  so  gestaltet  erscheinen,  dass  sie  sich  nach  einem 
bestimmten  Plane  seinerzeit  auf  ihren  zukommenden  Platz  einreihen 
lässt.  Das  projektierte  Werk,  das  selbstredend  mehrere  Bänue  mit 
kostspieligen  Illustrationen  enthalten  wird,  teilt  sich  in  grossem  in 
die  schöngeistige,  religiöse,  geschichtliche,  juridische  und  in  die 
Glossenliteraturgruppe.  Die  Reihenfolge  der  Ausgabe  erfolgt  selbst- 
redend nach  der  failweisen  Erreichbarkeit  der  Originalhandschrift 
sowie  nach  der  wissenschaftlich  allseiligen  Aufarbeitung;  mehrere 
Besitzer  von  derlei  Manuskripten  haben  bereits  die  Bewilligung  für 
das  Studium  und  die  künstliche  Vervielfältigung  derselben  erteilt. 

BAND  IV:  „A 1 1 s  1  a vi s ch e  Ornamentik"  liegt  in  der 
Hauptsache  fertig  vor.  Dieses  Werk  soll  die  Entwicklung  der  Linien- 
führung, wie  sie  an  den  keramischen  Objekten  slavischer  Prove- 
nienz aus  der  Vorzeit  in  der  Erde  vorgefunden  wurde,  vom  Urzu- 
stände des  ornamentalen  Schmuckes  bis  zur  höchsten  figuralen  Voll- 
endung systematisch  darlegen  und  demnach  eine  Art  Urgeschichte 
der  Zeichenkunst  bieten.  Diese  Publikation  dürfte  nicht  nur  für  die 
vergleichende  Archäologie  zu  einer  willkommenen  Materialübersicht 
nach  Kulturforlschritt  und  Fundort  werden,  sondern  auch  für  die 
niederen  Schulen  einen  natürlich  methodischen  Unterrichlsbehelf  ab- 
geben. 


804 

BAND  V:  „Alt  5 1  a  v  i  5  ch  e  s  Sprachlexikon".  —  Hiezu 
wird  das  Materiale  bereits  gesammell;  mit  der  Ausgabe  kann  jedoch 
erst  dann  begonnen  werden,  bis  alle  alten  Sprachquellen  in  dieser 
Richtung  durchforscht  sind,  was  allerdings  nicht  so  leicht  ist,  da  eine 
Hauptquelle  hiefür,  die  Etymologie  der  Wurzelbegriffe  der  topischen 
Namen,  bisher  als  slavisches  Sprachgut  zu  v/enig  beachtet  wurde, 
jedoch  durch  die  Herausgabe  des  als  Band  II  bezeichneten  Lexikons 
teilweise  behoben  zu  werden  verspricht. 

Unvergleichlich  leichter  als  die  Privatforschunq  könnten  allerdings 
die  Akademien  solche  für  den  Fortschritt  in  der  Sprachwissenschaft, 
Geschichte,  Archäologie  und  Kulturgeschichte  grundlegende  Werke 
zustande  bringen,  doch  ist  bei  den  heutigen  Verhältnissen  im  öffent- 
lichen Forschungsbetriebe,  wo  sich  die  slavische  Berufswissenschaft 
selbst  in  erster  Linie  gegen  unsere  edlen  und  opferreichen  Bestre- 
bungen gestellt  hat,  nicht  daran  zu  denken.  Doch  trifft  dies,  wenn 
auch  bei  erhöhtem  Reibungskoeffizienten,  die  private  Forschung  ge- 
nau so,  nur  setzt  die  kostspielige  Herstellung  solcher  monumentaler 
Werke  ohne  Staats-  oder  Fondsmittel  zugleich  die  Erledigung  der 
Verbreitungsfrage  voraus,  denn  alle  Arbeit,  Mühe  und  Opfer  ver- 
fehlen ihren  idealen  Zweck  wie  ihre  hohe  Kulturmission,  wenn  die 
Saat  nur  auf  ein  kleines  Feld  ausgestreut  werden  kann.  Sache  aller 
Gebildeten,  die  das  Gefühl  für  echten  Fortschritt  in  der  Wissenschaft 
und  den  Durchbruch  der  reinen  Wahrheit  in  der  Forschung  im  Herzen 
tragen,  ist  es  daher,  diese  volksaufklärende  wie  auch  die  nationalen 
Gegensätze  nivellierende  Lehre  in  jeder  Art  zu  fördern,  denn  so- 
lange nicht  die  erfo  rderl  iche  Minimalzahl  von  stän- 
digen Mitgliedern  und  Interessenten  sichergestellt 
ist,  kann  von  einer  erfolgreichen  Umsetzung  unserer 
realen  Pläne  in  die  kulturelle  Tat  keine  ernste  Rede 
sein,  da  unsere  Bibliothekswerke  bei  einer  kleinen 
Auflage,  obschon  niemand  dabei  einen  Gewinn  sucht, 
für  die  Minderbemittelten,  d.  i.  das  H  auptkon  tigent 
der  Intelligenz,  noch  immer  zu  kostspielig,  daher 
schwer  erreichbar  sind. 

Möge  diese  Einsicht  in  Bälde  eine  allgemeine  werden ! 

»Slaroslovan.« 


PROVISORISCHES  TITELBLATT. 

BIBLIOTHEK  »STAROSLOVAN« 

BAND  I. 


SLAVISCHE 
RUNENDENKMÄLER 


VON 


MARTIN  ZUNKOVIC. 


MIT  ZAHLREICHEN  TAFELN  UND  TEXTILLUSTRATIONEN. 


KREM5IER,  1913. 

DRUCK  U\D   VKRLAG  VON  H.   SLOVAK  IX  KREMSIER. 


Nachdruck  und  Übersetzungsrecht  vorbehalten. 


BIBLIOTHEK  »5TAR05L0VAN« 


I.  BAND. 


Slauische 
Runen-Denkmäler. 


KREMSIER  1915. 

DRUCK   U\D  VERLAG   VOX  HEINRICH  SLOVÄK  IN'   KRP:MSIER. 
IN  KOMMISSION   HEI  OSWALD  WEIGEL,   LEIPZIG,  KÖNIGSTRASSE   h 


SLAVISCHE 
RUNEN-DENKMÄLER 


VON 


MARTIN  ZUNKOVIC, 

k.  u.  k.  Major  d.  R. 


MIT  3  5CHRIFTTAFELN  UND  102  TEXTILLUSTRATIONEN. 


▼T 

▼ 


KREMSIER   1915. 

DRUCK  UXD  VERLAG  VO\   HEINRICH  SLOVÄK  IN  KRKMSIER. 
IN  KOMMISSION  IJKI  OSWALD  WEIGEL,  LEIPZIG,  KÖNIGSTRASSE  1, 


Nachdruck  und  Überselzungsrechl  vorbehalten. 


INHALT. 

Seite 

Vorwort VII 

Einführung  in  die   Runenkundc          1 

1.  Wendische  Runendenkmäler 13 

Allgemeines 15 

a)  Die  vvendisch-hcidnischen  Devotionalien        ...  17 

b)  Die   wendisch-heidnischen   Grab-Amulette            .       ,  46 

c)  Die  Urnensteine  von  Mecklenburg         53 

Die  Wegweiser  von  Mikorzyn          60 

Der  Tonkopf  von  Pommern        ...             ....  63 

Münzen 64 

Schmuckobjekte           72 

II.  Slovakische  Runendenkmäler 77 

Allgemeines             79 

Die  Felsinschrift  auf  dem  Velestur 79 

Die  Steininschrift  auf  dem  Smrcnik                         ...  82 

Ein  gefälschtes  Runendenkmal         84 

ni.  Etrurischc   Runendenkmäler 87 

Allgemeines 89 

Der  Sarkophag  von  Perugia 97 

Der  Grenzstein  von  Rocchetta         98 

»Muzina«-Spiegel         98 

»Muzina« -Figur 100 

»Losna«       .             101 

Urne  mit  der  Aufschrift  »Lacnemi'^< 101 

Melali  schalen  mit  Inschriften 101 

Kameen              107 

Der  Grenzstein  von  Monte  Pore 107 

Das  Mumienband  in  Zagreb ,      ,  109 


\ll 


Vorwort. 


Das  vorliegende  Werk,  das  als  heftweise  Beilage  der  wissen- 
schaftlichen Revue  „Staroslovan"  in  den  Jahrgängen  1913  und  19U 
erschien,  ist  hiemit  abgeschlossen.  Die  ernste  Absicht  des  Verfassers, 
noch  den  etrurischen  Runendenkmälern  eine  breitere  Behandlung  zu- 
teilwerden zu  lassen,  wurde  durch  den  Kriegsausbruch  unmöglich 
gemacht,  daher  auch  schon  das  letzte  Forschungsobjekt  des  Buches, 
das  „Mumienband  in  Zagreb"  nicht  mehr  erschöpfend  behandelt  wer- 
den konnte. 

Nichtsdestoweniger  zeigt  aber  das  Gebotene,  dass  hier  sozu- 
sagen mit  dem  Dampfpfluge  ein  grosses,  die  Sprach-  und  Kulturver- 
hältnisse geschichtlich  dunkler  Zeiten  ausserordentlich  klärendes  Wis- 
sensgebiet, das  bisher  als  ein  vollkommen  steriles  Phantasieland 
galt,  plötzlich  tief  aufgeackert  und  dessen  enorme  Fruchtbarkeit  er- 
wiesen wurde. 

Das  Thema  „Slavische  Runendenkmäler"  bedeutet  daher  das 
plötzliche  Aufkeimen  eines  völlig  neuen  Wissenszweiges,  denn  dass 
es  konkrete  Belege  für  eine  slavische  Literatur  in  Runenschrift,  und 
noch  dazu  in  so  überwältigender  Vielseitigkeit  gibt,  damit  wollte  sich 
bisher  schon  deshalb  niemand  befassen,  weil  allzuviel  Schlagbäume 
davor  niedergelassen  waren.  Der  Verfasser  mussle  daher  vor  allem 
auch  beweiskräftig  die  irrlichternde  Völkerwanderungshypothese  ver- 
nichten, um  den  Auslauf  für  die  Forschungstätigkeit  auf  diesem  Ge- 
biete bis  in  die  graue  Unendlichkeit  unserer  Vorgeschichte  bahnfrei 
zu  gestalten.  Mit  dem  landläufigen  und  gedankenlos  nachgesproche- 
nen Hinweise,  es  seien  dies  alles  gutgelungene  Falsa,  lässt  sich  da- 
her nicht  weiter  spiegelfechten,  denn  jede  Fälschung  setzt  ein  Origi- 
nal voraus,  und  wir  sind  zweifellos  und  nicht  vereinzelt  auch  schon 
in  jene  Zonen  gedrungen,  wo  die  echten  Vorlagen  offen  aufliegen. 


\'lll 


Sollten  es  die  Lebensschicksale  dem  Verfasser  möglich  machen, 
sich  in  dieses  Forschungsgebiet  späterhin  nochmals  verhefen  zu 
können  so  dürfte  dieses  Werk  noch  eine  wesentliche  Inhaltsberei- 
cherung  erfahren ;  treten  jedoch  dies  ausscWiessende  Verhältmsse 
ein  so  mögen  andere  an  dem  abgerissenen  Faden  weiterspmnen ; 
der  schwierigste  Teil  der  Arbeit  liegt  aber  für  jeden  Fall  hier  schon 
bewältigt  vor.  — 

Sfandorf  der  3.  opcr.  Armee  im  tebruar  1915. 


Der  Verfasser. 


Einführung  in  die  Runenkunde. 

Es  hat  bis  nun  selten  etwas  darüber  verlautet,  daß  es  über- 
haupt slavische  Runendenkmäler  gäbe,  denn  Kollär  wurde  mit 
seinen  Entdeckungen  slavisch-italischer  Runenschriften  allgemein  ab- 
gewiesen und  verlacht,  und  die  wendischen  wie  slovakischen  Zeug- 
nisse dieser  Richtung  wurden,  um  mit  diesem  Thema  die  bereits 
festgelegten  wissenschaftlichen  Hypothesen  nicht  zu  belasten  oder 
gar  zu  irritieren,  nach  alter  Gewohnheit  kurzweg  als  gefälscht  und 
unterschoben  erklärt,  umsomehr,  als  man  dazu  nie  eingeführt  wurde, 
den  Slaven  eine  besondere  Kultur  in  älterer  Zeit  zuzubilligen.  Schrieb 
man  doch  ständig  die  Phrase  weiter  ab,  als  ob  die  Slaven  „vom 
Eichelnfraß  und  tierischen  Gehaben"  erst  in  der  historischen  Kultur- 
zeit in  gesittete  Verhältnisse  übergegangen  wären!  Daß  aber  dem 
durchaus  nicht  so  ist  und  so  nicht  gewesen  sein  konnte,  läßt  sich 
aus  zahlreichen  Umständen,  namentlich  aber  aus  alten  Schriftdenk- 
mälern logisch  wie  demonstrativ  nachweisen. 

Man  beachte  vor  allem  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  die  Slaven 
einer  fremden  Sprache  unterliegen,  v/eil  sie  sich  sprachlich  leicht 
akkomodieren.  So  ist  es  wohl  verständlich,  wieso  unter  den  ver- 
schiedenen slavischen  Gruppen  die  Deutschen,  Magyaren,  Italiener, 
Osmanen  dort  die  Hegemonie  an  sich  gerissen  haben  konnten,  wo 
sie  selbst  noch  heute  in  Minorität  sind.  Aber  so  muß  es  da  oder 
dort  schon  im  Altertume  gewesen  sein,  denn  die  Gemeinsprache  der 
Völker  in  Mitteleuropa  vor  einer  höheren,  sprachlich,  staatlich  und 
sozial  differenzierten  Kulturstufe  war  wohl  die  slavische,  denn  es 
ist  unter  der  unleugbaren  Weichheit  und  Anpassungsfähigkeit  der 
Slaven  geradezu  undenkbar,  daß  sie  Europa  je  bevölkert  hätten, 
wenn  sie  sich  erst  von  einem  kleinen  Kerne  im  fremdsprachigen 
Milieu  aus  entwickelt  hätten ;  ja,  im  Gegenteile,  wir  können  doch  der 
Geschichte  wie  auch   den  täglichen  Vorgängen  untrüglich  entnehmen, 

1- 


I 


daß  aus  dem  unerschöpflichen  slavischen  Popula- 
tionsüberschusse alle  benachbarten  Völker  in  Eu- 
ropa sei  t  0  ahrhun  derten  ihre  B  e  vö  1  kerung  szi  ff  er  un- 
unterbrochen ergänzen  und  —  nie  umgekehrt. 

Es  kann  daher  nicht  anders  sein,  als  daß  einst  ein  großer 
slavischer  Block  den  massiven  Grundstock  an  landessichernder,  land- 
wirtschaftlicher, gewerblicher  und  industrieller  Bevölkerung  bildete, 
der  aber  oft  das  Selbstbewußtsein  und  das  Vertrauen  in  die  eigene 
Kraft  fehlte,  sie  sich  daher,  genau  so  wie  mitunter  noch  heute,  infolge 
steler  kleinlicher  Eifersüchteleien  und  mangelhaften  Gefühles  der 
Zusammengehörigkeit,  vom  Diener  zum  Herrn  nicht  überall  empor- 
schwingen oder  als  Herr  nicht  dauernd  behaupten  konnte.  Soziale 
Ober-  und  Unterströmungen,  Mangel  an  politischer  Klugheit  und  Einig- 
keit, wirtschaftliche  wie  kulturelle  Zurücksetzungen,  falsche  Statistik 
u,  drgl.  sind  es  daher,  welche  heute  das  Mißverhältnis  zwischen 
Zahl  und  Macht  begründen,  und  kann  dies  bei  dem  gewiß  berech- 
tigten Schlüsse  die  Gegenwart  der  Verg?mgenheit  zu  applizieren,  auch 
einst  nicht  anders  gewesen  sein.  —  Aus  mehr  oder  minder  verläß- 
lichen Quellen  weiß  man  sogar,  daß  schon  die  Römer,  Griechen, 
Perser,  Spanier  aus  der  vorgefundenen  einheimischen  Bevölkerung 
ihre  Heeresmacht  ergänzten ;  so  hatte  z.  B.  Xerxes  die  „mozi"  vom 
Pontus  Euxinus,  also  Russen  in  seinem  Heere. 

Da  aber  der  Name  „Slave"  in  der  ältesten  Geschichte  oder 
Geographie  nicht  vorkommt,  schließt  die  Wissenschaft  die  Existenz 
der  Slaven  in  jener  Zeit  a  priori  aus.  Dabei  ist  immer  der  grundfalsche 
Schluß  maßgebend:  der  Schriftsteller  A  sagt,  hier  wohnte  dieses  Volk, 
der  B  nennt  an  derselben  Stelle  ein  anderes;  der  C  bringt  einen 
dritten  Namen  und  darauf  wird  der  eitle  Trugschluß  und  verschobene 
Plan  einer  Phantasievölkerwanderung  aufgebaut,  ohne  zu  bedenken, 
daß  die  Verhältnisse  dermalen  die  gleichen  sind,  denn  wenn  ver- 
schiedene Schriftsteller  heute :  Böhme,  Ceche,  Mährer,  Hanake,  Slo- 
vake  und  ähnlich  schreiben,  so  können  dies  ethnographisch  immer 
die  gleichen  Begriffe  sein.  In  dieser  Außerachtlassung  des  Verglei- 
ches liegt  die  Wurzel  aller  Unstimmigkeiten  und  Unverständlichkeiten 
der  älteren  Phase  der  Völkergeschichte :  dieVolksnamen  wech- 
seln, die  Sprache  wechselt,  aber  das  Volk  bleibt  in 
Hinsicht  auf  die  Rasse  im  großen  dasselbe. 

Es  ist  daher  ganz  falsch  heute  z.  B.  von  Germanen  als  einer 
eigenen  Rasse  oder  spezifischer  Sprache  zu  sprechen,  wo  doch  nur 
von  einer  sprachlichen  Umwertung  derselben  die  Rede  sein  kann. 
Weiß  man  z.  B.,  daß  die  heutigen  Preußen  nur  germanisierte  Wendo- 


Slaven  sind,  da  die  Diffusion  erst  vor  wenigen  Jahrhunderten  endete, 
so  ist  es  folgerichtig  und  selbstverständlich,  daß  auch  die  ältesten 
Kullur-  und  Schriftfunde  daselbst  von  Slaven  stammen  und  den.  Cha- 
rakter der  Sprache  und  Eigenart  derselben  tragen  müssen;  ja,  sie 
wären  gerade  dann  verdächtig,  wenn  dies  nicht  der  Fall  wäre.  — 
Es  fiel  bisher  auch  noch  niemandem  ein  babylonische,  hebräische 
oder  chinesische  Kulturfunde  nicht  den  Babyloniern,  Hebräern  oder 
Chinesen  zuzuschreiben,  nur  bei  den  Slaven  wird  sonderbarerweise 
immer  eine  Ausnahme  gemacht,  weil  der  überzeugende  Nachdruck 
seitens  der  Wissenschaft  hiebet  normal  versagt. 

Einen  rein  pathologischen  Charakter  hat  daher  auch  die  em- 
pirische Feststellung,  daß  in  der  Regel  keine  Runenschrift  so  lange 
als  verdächtig  angesehen  wird,  als  sie  nicht  sprachlich  gedeutet  er- 
scheint; erst  in  jenem  Momente,  als  das  dunkle  Mysterium  fällt  und 
deren  slavisch  -  sprachliche  Provenienz  erkannt  wird,  beginnt  man 
grundsätzlich  die  natürliche  Herkunft  derselben  anzuzweifeln  oder 
sie  gleich  als  Fälschung  zu  proskribieren. 

Einer  ähnlichen  Auffassung  oder  Fehlerquelle  entspringt  auch 
unsere  Verwunderung,  daß  unter  der  Unzahl  von  Schriftdenkmälern 
allitalischer  Heimat  an  7009  solcher  anzutreffen  sind,  die  keine  latei- 
nischen Schriftzeichen  aufweisen,  oder  wenn  ja,  keine  lateinische 
Interpretation  zulassen.  Es  sind  dies  die  Münzen,  Grabsteine,  die 
Kultus-  und  Gebrauchsgegenstände  der  Bauern,  Gewerbetreibenden, 
Industriellen  u.  ä.  an  den  verschiedensten  Orten  aus  einer  Zeit,  als 
die  Stammbewohner  selbst  wohl  in  Majorität,  aber  nicht  zugleich  die 
Regierenden  waren.  Ähnliche  Verhältnisse  finden  wir  ebenso  noch 
heute  genug.  In  Österreich-Ungarn  ist  die  Regierungssprache  deutsch 
bezw.  magyarisch,  obschon  die  Slaven  nummerisch  in  Majorität  sind, 
ja  die  militärische  Dienstsprache  ist  in  beiden  Gebieten  die  deutsche ; 
nichtsdestoweniger  sind  aber  z.  B.  die 'Grabschriften  in  allen  gang- 
baren Sprachen  des  Reiches  gehalten  und  wird  es  einer,  selbstredend 
humanen  Behörde  nicht  beifallen,  dies  etwa  zu  verbieten.  —  Es 
scheint  daher,  daß  die  Römer  alle  Stammbewohner  Italiens  niemals 
zur  Gänze  latinisiert  haben  konnten,  was  sehr  wahrscheinlich  klingt, 
da  sich  bekanntermaßen  die  Römer  das  gewaltsame  Aufdrängen  ihrer 
Sprache  niemals  besonders  angelegen  sein  ließen. 

Es  ist  daher  heute,  nachdem  sich  die  mit  der  Urgeschichte  der 
Sprache  und  Kultur  der  Altslaven  beschäftigende  Literatur  sehr  er- 
freulich hebt,  ganz  sinnlos  geworden,  die  gangbare  Mähre  zu  ver- 
teidigen, daß  die  alten  Slaven  keine  Schrift  gekannt  oder  gebraucht 
und     deshalb    auch     keine    schriftlichen     Denkmäler    aus 


ihrer  Urzeil  zurückgelassen  halten.  Die  Gegenbeweise 
sind  entschieden  da,  und  wenn  darunter  Steine  sind,  die  seit  dem 
CJahre  79  n.  Chr.  unter  harter  Lavadecl^e  in  Herculanum  und  Pompeji 
ruhten,  so  war  es  wenigstens  durch  ungefähr  1900  3ahre  nicht  mög- 
glich, sie  etwa  zu  fälschen,  denn  die  Geschichte  von  heute  sagt,  daß 
die  Slaven  vierCJahrhunderte  späterkamen,  und  über- 
dies in  Süditalien  nie  waren.  Hoffentlich  werden  die  folgen- 
den Beweise  die  Klärung  dieses  Geschichts-  und  Gelehrtenirrtums 
besiegeln. 

Es  ist  auch  nicht  verständlich,  weshalb  gerade  die  Slaven  keine 
eigene  Schrift  besessen  hätten,  da  es  in  der  Natur  eines  jeden  Vol- 
kes, zumal  mit  einer  solchen  Kultur,  wie  man  sie  gerade  an  den 
Gegenständen  der  Grabstätten  vorfindet,  liegt,  allgemein  oder  relativ 
Wichtiges  in  irgendeiner  Weise  festzuhalten,  umsomehr  als  doch 
einzelne  Indianerstämme,  die  Urbewohner  von  Celebes,  Java,  Äthio- 
pien, der  Philippinen  u.  a.  ihre  eigene  Schrift  besitzen,  ohne  in  kul- 
tureller Hinsicht  je  eine  nennenswerte  Rolle  gespielt  zu  haben.  — 
Die  Slaven  hatten  in  alter  Zeit  eine,  heute  als  „Runen"  benannte 
Schrift,  welche  derart  eingebürgert  gewesen  sein  muß,  daß  selbst  die 
christlichen  Missionäre,  um  Lehrbüchern  bei  den  Slaven  Eingang  zu 
verschaffen,  ohne  weiters  auch  deren  Schriftzeichen  annahmen.  Am 
treuesten  scheint  dies  durch  den  dalmatinischen  Priester  Hieronymus 
im  111.  üahrhundarte  geschehen  zu  sein,  vom  dem  das  glagolitische 
oder  hieronymische  Alphabet  (Bukvica)  der  slavischen  Kirchenbücher 
herrühren  soll,  während  sich  Cyrill  und  Method  im  IX.  Jahrhunderte 
mehr  an  die  griechische  Schrift  lehnten,  wenn  dies  nicht  um- 
gekehrt der  Fall  war,  d.  h.  diese  längst  vorhandene 
Schrift  von  den  Griechen  selbst  weitergebildet  wor- 
den ist,  denn  die  ältesten  griechischen  Schrifttexte,  wie  sie  z.  B.  auf 
Melos,  in  Korinth  u.  a.  vorgefunden  wurden,  sind  den  primiiiven 
Runen   weit  ähnlicher,   als  dem    heutigen    griechischen  Alphabete.  — 

Man  muß  da  auch  wieder  einmal  gewisse,  in  der  Praxis  er- 
starrte schultechnische  Begriffe  überprüfen.  —  So  lesen  wir  bei 
Strabo,  daß  die  Bewohner  Massilias  mit  „griechischen"  Zeichen 
schreiben.  Desgleichen  erzählt  Caesar  (De  bcllo  gallico),  daß  im  Lager 
der  Helvetier  mit  griechischen  Lettern  geschriebene  Tafeln  vorgelun- 
den  wurden.  Wären  nun  diese  Texte  tatsächlich  griechisch  gewesen, 
so  hätte  sie  Caesar  oder  jemand  aus  seiner  Umgebung,  die  doch 
griechische  Bildung  genossen,  lesen  können,  so  war  ihnen  aber  die 
Schrift  ihrer  Form  nach  äußerlich  allerdings  nicht  ganz  fremd,  wohl 
aber  der  Inhalt,  welcher  augenscheinlich  der  den  Römern  unverständ- 
lichen „keltischen"    oder  „gallischen"    Sprache  angehört   haben  mag. 


Es  ist  aber  sicherlich  nicht  leichl  heule  den  Schriflexl  auch  einer 
bekannten  Sprache  zu  entziffern,  wie  sie  vor  zweilausend  und  mehr 
Jahren  gesprochen  und  geschrieben  wurde,  da  man  nicht  mehr  den 
Artikuiationsmodus  und  die  schrifthche  Darstellungsmethode  der  Aus- 
sprache von  Einst  nachprüfen  kann,  und  bilden  namentlich  die  Zisch- 
laute oder  die  Sibilanten  dabei  die  größten  Lösungsschwierigkeiten. 
Wir  müssen  uns  daher  bei  den  Entzifferungen  an  die,  wenn  auch 
nicht  ganz  klare  Buchstabierung  der  Lautfolge  im  kleinen  einerseits, 
andererseits  aber  an  den  logischen  Inhalt  im  großen  anlehnen,  denn 
auch  unsere  ältesten  Vorfahren  werden  auf  einem  bestimmten  Objekte 
nur  das  aufgeschrieben  haben,  was  mit  diesem  organisch  zusammen- 
hängt, denn  das  entscheidende  Machtwort  spricht  dabei  doch  immer 
die  Impression.  Wir  müssen  daher  vor  allem  die  Bedei.tung  unserer 
primären  Wortformen  kennen,  denn  erst  dann  kann  das  Verstehen 
der  alten  Schriften  eine  wissenschaftliche  Bereicherung  bedeuten. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  ergibt  sich  auch  daraus,  daß  man 
nicht  weiß,  wie  weit  verschiedene  Völker  dieselben  Alphabete  und 
die  gleichen  Runenzeichen  gebrauchten,  denn  es  sind  Beweise  da, 
daß  ein  und  dasselbe  Volk  in  verschiedenen  Zeiten  und  Gegenden,  aber 
ebenso  auch  gleichzeitig  verschiedene  Schriften  gebrauchte,  sowie 
daß  die  Lesung  einmal  von  rechts  nach  links,  ein  anderesmal  von 
links  nach  rechts  wie  auch  ackerlinienartig  (bustrophedontisch)  ge- 
schah, also  demselben  Zeitgeschmacke  unterlag,  wie  wir  ja  auch 
heute  diesen  oder  jenen  Schrifttypus  bevorzu  genoder  vernachlässigen, 
sowie  in  demselben  Schriftstücke  lateinische,  kurrente,  griechische, 
hebräische  u.  a.  Schriften  anwenden  können. 

Man  behauptet  überdies  ziemlich  allgemein,  das  die  Runenschrift 
eine  Geheimschrift  war,  weil  „runo"  gleichbedeutend  sei  mit 
Geheimnis,  denn  das  deutsche  „raunen"  bedeute:  Geheimnisse 
zuflüstern,  welche  Ansicht  allerdings  nur  richtig  wäre,  wenn 
„raunen"  Geheimnisse  verhüllen  bezeichnen  würde.  Diese 
Etymologie  ist  aber  hier  zweifach  widerlegbar.  —  Als  Geheimnisse 
können  die  Runen  allerdings  auch  angesehen  werden  u.  zw.  vor 
allem  für  den  Analphabeten,  genau  so  wie  die  heutige  Schrift  einem 
solchen  ein  Geheimnis  ist ;  überdies  bildeten  die  Runen  wohl  auch 
seit  jener  Zeit,  als  man  sie  nicht  mehr  zu  lesen  verstand,  und  dieses 
währt  bis  heute,  ein  allgemeines  Geheimnis.  —  In  ganz 
analoger  Weise  entwickelte  sich  im  Slavischen  der  Begriff:  carodej, 
carodelnik,  carodelec,  carovnik,  d.  i.  derjenige,  der  „care" 
(  Striche)  macht,  mithin  schreiben  kann,  was  aber  heute  schon  der 
Bedeutung:    Zauberer,   Zauberkünstler   gleichkommt.   Was  er 


I 


schrieb,  verstand  der  des  Lesens  Unkundige  eins!  natürlich  nicht, 
daher  solche  Zeichengruppen  für  den  Analphabeten  eine  geheime  oder 
apokryphe  Bewertung  annehmen  mußten. 

Andererseits  aber  kann  eine  öffentlich  verwertete  Schrift  keine 
Geheimnisse  enthalten,  die  man  in  Bronze,  Eisen,  Stein  und  Holz 
mühsam  einmeißelt  oder  in  gebrannten  Ton  eingräbt,  und  so  der 
Welt  offen  darbietet,  wie  z.  B.  auf  Waffen,  Schmuckstücken,  Weih- 
objekten und  sogar  Naturfelsblöcken  längs  einer  für  den  allgemeinen 
Verkehr  bestimmten  Kommunikation.—  Die  sogenannten  „Buchen- 
stäbe" waren  sonach  auch  keine  geschnitzten  Einzelrunen  oder 
Typen,  sondern  enthielten  einen  gedankengemäß  geordneten  Text 
größeren  oder  kleineren  Umfanges,  also  zwecks  Fixierung  von  Gedan- 
ken, die  man  erhalten  oder  jemand  anderem  mitteilen  wollte,  waren 
also  eine  primitive  Form  von  Briefen. 

Es  ist  daher  schon  im  Prinzipe  nicht  ernst  zu  nehmen,  daß 
man  je  solche  beschriebene  „Buchenstäbe"  wahllos  hingeworfen  und 
daraus  geweissagt  hätte,  weil  man  ja  daraus  gleich  fertige,  inhuHiich 
geschlossene  Texte  erhalten  mußte,  daher  nichts  zu  deuten  übrig 
blieb.  Es  ist  daher  das  deutsche  Wort  „Buchstabe",  analog  wie  das 
slavische  „buki,  bukva,  bukvica"  (  Buchstabe,  bildlich  dargestellter 
Laut)  nicht  von  „Buche"  (botanisch),  sondern  von  „Buch",  d.  i.  Laute, 
die  zusammengesetzt  ein  Buch,  eine  Rolle,  also  einen  zusammen- 
hängenden Text  geben,  abzuleiten. 

Hingegen  mag  es  vollkommen  richtig  sein,  daß  man  im  Ur- 
anfange Wichtiges  als  Einschnitte  lEinkerbungen),  die  gewisse  Natiir- 
formen  des  darzustellenden  Objektes  nachahmten  und  zugleich  als 
mnemotechnische  Hilfsmittel  dienten,  im  Holze  einkerbte,  denn  auch 
in  der  Edda  wird  wiederholt  darauf  angespielt,  wie :  „Urgötter  gruben, 
Urredner  ritzte,  Asenhaupt  schnitt  sie  ein,  weißt  du  zu  ritzen  u.  ä., 
wodurch  eine  Art  Bilderschrift  entstand,  die  erst  dadurch  zu  einer 
Lautschrift  wurde,  daß  sich  der  phonische  Begriff  für  ein  Objekt  mit 
dessen  graphischer  Darstellung  identifizierte  und  konventionelle  Werte 
annahm. 

Die  Bildung  der  Runen  ging  aber  genau  so  vor  sich,  wie  jede 
Original-Schriftbildung  vor  sich  geht,  d.  i.  durch  Analphabeten. 
Haben  sich  solche  etwas  vorzumerken,  so  wenden  sie  hiefür  nahe- 
liegende Zeichen  an,  und  diese  sind  bis  zu  einer  gewissen  Grenze 
immer  dieselben  und  sozusagen  dem  äußeren  Eindrucke  angepaßt, 
denn  das  „o"  ist  z.  B.  in  fast  allen  Sprachen  durch  eine  Einkreisung 
dargestellt,  weil  der  Mund  bei  der  Aussprache  eine  ähnliche  Form, 
wie  das  „o"  einnimmt;    „i"    ist   immer  das   einfachste  Zeichen,  weil 


der  Laul  sozusagen  durch  die  Zähne  gepreßt  wird  u.  ä.  —  So  paradox 
nun  auch  die  Erklärung  khngt,  so  klar  isl  es,  daß  an  verschiedenen 
Punkten  und  zu  verschiedenen  Zeiten  durch  Analphabeten  die  Grund- 
züge einer  Schrift  entstehen,  wobei  die  Grundformen  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  die  gleiche  äußere  Beeinflussung  zur  Schau  tragen. 
Die  Schriftvarianten  hingegen  sind  Folgerungen  persönlicher  Auf- 
fassungen und  manualler  Fertigkeiten,  die  daher  immer  eine  Art 
Individualitätscharakter  annehmen. 

Über  den  Ursprung  der  Runen  wurden  seit  jeher  die  abenteuer- 
lichsten Ansichten  verbreitet,  die  nur  den  einen  Kern  haben,  daß  die 
Runenschrift  eben  sehr  alt  ist.  Nebstbei  hielten  sie  die  einen  für  eine 
Art  Bilderschrift  oder  Hieroglyphen,  die  anderen  für  eine  magische 
Schrift.  Die  einen,  wie  Ooh.  Magnus  (Histoiia  de  omniöus  Gotlionim 
Sveoiuimqiic  regibiis.  Romac  1554).  Olaus  Magnus  (Histüha  de  gentibus 
septentriotialibus.  Romae  1555)  und  Olaf  Rudbeck  (Atlanüca.  Upsalae  1689) 
sehen  in  den  Runen  Denkmäler  aus  der  Sintflutepoche ;  3oh.  Perinskiöld 
(Vda  Theodorici  etc.,  Stoekholiiüac  1699)  glaubt,  daß  Magog,  ein  Sohn 
üaphets,  die  Runen  nach  Schweden  gebracht  habe ;  Ole  Worm  [Danica 
literaiura  antiquissima.  Hafnieae  1651)  meint  hingegen,  sie  sei  in  Asien 
entstanden  und  mit  den  ersten  Besiedlern  Europas  mitgebracht  worden. 
Jan  Ihre  (um  1770)  schreibt  die  Erfindung  der  Runenschrift  den 
Skythen,  Sjöborg  (1835)  hingegen  den  Phöniziern  zu,  kurzum  es 
spinnen  sich  da  die  phantastischesten  Kombinationen  über  die  Runen- 
genesis durch  alle  Zeiten  bis  heute  fort.  Nach  Skandinavien  brachte 
angeblich  der  Fürst  Odin  im  111.  Jahrhunderte  n.  Chr.  den  Gebrauch 
zum  Andenken  an  tapfere  und  verdiente  Männer  große  Steine  auf- 
zurichten und  sie  mit  Runeninschnften  zu  versehen ;  so  erklärt  es 
sich  auch,  daß  man  in  der  schwedischen  Provinz  Upland  an  700 
Runensteine  fand,  weil  dort  augenscheinlich  diese  Sitte  allgemeiner 
war  als  wo  anders;  man  weiß  aber  überdies  auch,  daß  es  früher  v;eit 
mehr  solcher  Steine  gab,  aber  sie  wurden  mit  der  Zeit  bei  allerlei 
Bauten  verwertet. 

Die  Summe  aller  bezüglichen  Erfahrungen  führt  aber  zu  folgen- 
dem begründeten  Schlüsse: 

a)  die  Runenschrift  ist  die  älteste  erhaltene  Schrift- 
form  phonetischer  Richtung;  sie  ist  daher  weder  eine 
exotische  noch  eine  geheime  Schrift ; 

b)  ^\q  meisten  bekannten  und  gangbaren  Schrift- 
arten entwickelten  sich  aus  den  runischen  Vor- 
bildern; 


c)  scheint  es,  daß  die  Runen  die  Urschrifi  der  Slaven 
bildeten,  weil  die  Etymologie  des  Begriffes  „Rune" 
die  Selbstdefinition  bietet,  denn  im  Slavischen  bedeutet 
„ruti"  ausreißen,  Vertiefungen  machen,  und  „riti" 
eingraben,  ritzen,  was  auch  natürlich  erscheint,  denn  die 
Buchstaben  wurden  in  harte  Gegenstände,  wie:  Stein,  Metall, 
Knochen,  Holz,  Baumrinde,  Wachs  u.  drgl.  eingegraben. 

Solche  Schriften  finden  sich  vor  auf:  Speerblättern,  Lanzenschäften, 
Schwertern,  Messern,  Scheidenbeschlägen,  Schildbuckeln,  Helmen, 
Glocken,  Vasen,  Tellern,  Diademen,  Spangen,  Kämmen,  Ringen,  Gold- 
hörnern, Münzen,  Brakteaten,  Urnen,  Grabsteinen,  Grenzzeichen,  Weg- 
weisern, dann  Naturfelsen  und  Steinblöcken. 

Es  sei  aber  hiemit  auch  keineswegs  behauptet,  daß  alle  vor- 
handenen Runendenkmäier  sl  av  i  sehe  Texte  aufweisen,  denn  ebenso 
wie  man  z.  B.  mit  lateinischer  Schrift  Slavisch,  Deutsch,  Lateinisch, 
Französisch,  Magyarisch  u.  s.  w.  wiedergeben  kann,  können  auch 
die  Runen  verschiedenen  Sprachen  zugleich  als  Schriftbehelf  gedient 
haben,  und  ist  dies  ja  auch  festgestellt,  wie  es  später  an  einem 
lateinischen  Beispiele  gezeigt  wird.  -  Wir  kennen  doch  epigraphische 
Runendenkmäler  von  Skandinavien,  England,  Rhätien,  Etrurien, 
Griechenland,  Phrygien,  Äthiopien,  Amerika  (Mississippi-Tal)  u.  a., 
nur  wissen  wir  heute  noch  gar  nicht,  welcher  Sprache  sie  zuzu- 
schreiben seien,  so  lange  uns  die  sprachliche  Deutung  des  Geschrie- 
benen ein  Rätsel  bleibt.*) 

Was  die  Schrift-  und  Buchslabenform  selbst  betrifft,  läßt  sich 
im  allgemeinen  nur  sagen,  daß  jenes  Runendenkmal  umso  älter  ist, 
je  einfachere  Buchstaben  es  aufweist  und  je  ärmer  das  Lautinventar 
ist.  Unterschiede  zwischen  Majuskeln  und  Minuskeln  wurden  bishei 
an  keiner  Runenschrift  festgeslelit ;  nur  das  slovakische  Runenalphabet 
fällt  insofern  von  den  übrigen  auf,  daß  es  die  Vokale  zumeist  ver- 
kleinert darstellt.  Ligaturen  (Euchstabenverbindungen)  weisen  im 
allgemeinen  auf  eine  jüngere  Entstehungszeit  des   Runendenkmals. 

Es  ist  nun  auch  die  nicht  unwichtige  Frage  zu  beantworten,  in 
welcher  Zeit  die  Runenschrift  in  Verwendung  war,  doch  besitzen  wir 

*)  Sven  Hedin  fand  bei  den  Ausgrabungen  in  der  Wüste  (jobi  (/Jentralasien ) 
ein  beschriebenes  längliches  IJrettchen,  dessen  Schrift  keiner  asiatischen  oder 
sonst  bekannten  Sprache  entspricht  und  bis  heute  auch  nicht  gelöst  wurde.  An 
der  Fundstelle  stand  einst  ein  groties  Geschäftshaus,  denn  an  gleicher  Stelle  wurden 
auch  viele  hunderte  Papierfetzen  mit  kommerzieller  Korrespondenz  in  chinesischer 
Sprache  vorgefunden.  Augenscheinlich  stammt  dieser  runenartig  beschriebene 
»Brief-    aus   einer   \-ollkommen    fremdsprachigen   (»egend. 


für  die  Beanlworlung  nur  allgemeine  Zeilgrenzen.  Das  Hindernis  für 
konkretere  Angaben  besteht  vor  allem  darin,  daß  wir  schon  über- 
haupt nicht  wissen,  wann  die  Runen  bei  ihrer  großen  Verschiedenheit 
und  Gebrauchsverbreitung  auf  diesem  oder  jenem  Gebiete  verwendet 
wurden.  Es  kann  nur  als  bekannt  angenommen  werden,  daß  die 
Runenschrift  in  Italien  älter  ist,  als  die  lateinische ;  die  etruskischen 
Runendenkmäler  können  daher  ein  oder  mehrere  Jahrtausende  vor 
der  christlichen  Zeitrechnung  schon  dort  im  Gebrauche  gewesen  sein ; 
sie  müssen  aber  auch  später  nach  Einführung  der  lateinischen  Schrift 
in  Verwendung  gestanden  sein,  da  auch  bilinguische  Denkmäler  ge- 
funden wurden,  auf  denen  der  Runentext  durch  die  lateinische  Sprache 
und  Schrift  kommentiert  wird.  Auf  jeden  Fall  verliert  sich  aber  schon 
in  der  römischen  Kaiserzeit  die  Runenschrift  auf  italischem  Gebiete 
nahezu  spurlos.  — 

Die  jüngsten  russischen  Münzen  mil  der  Aufschrift  „Rurik"  in 
Runen  gehören  augenscheinlich  in  die  zwei  ersten  üahrhunderle  des 
Mittelalters.  -  In  Schweden  und  Norwegen 
wurden  Glocken  mit  nordischen  Runen- 
inschriften gefunden,  die  man  der  Zeit  von 
1150—1250  zuschreibt;  sie  können  aber 
ebensogut  5—6  Oahrhunderte  älter  sein, 
nachdem  der  Glockengebrauch  in  den  nor- 
dischen Ländern  schon  im  VI.  Jahrhunderte 
n.  Chr.  festgestellt  erscheint.  Eine  solche, 
in  Schweden  gefundene  Glocke  (Museum 
Kopenhagen)  hat  sogar  den  lateinischen 
Text  „yesiiz  krisl(2s  a/e  maria  grasia"  —  in 
Runen  eingraviert.  Allerdings  kann  die 
Inschrift,  die  noch  von  rechts  nach  links 
zu  lesen  ist,  auch  erst  später  angebracht 
worden  sein. 


Glocke   von   Smaland 
(Museum   Kopenhagen). 


Eine  Mystifikation  in  einwandfreier  slovakischer  Runenschrift 
leistete  sich  noch  i.  3.  1872  ein  intelligenter  Waldheger  in  Kremnitz, 
der  die  Sache  wohl  sehr  anachronistisch  ausführte,  aber  damit  mittelbar 
bewies,  daß  er  zum  mindesten  einen  reellen  Behelf,  also  ein  altes 
Runenalphabet,  hiebet  benutz!  haben  mußte ;  er  täuschte  auch  die 
Gelehrlenwelt  damit,  trotz  der  urplumpen  Weise,  durch  volle  40  Jahre, 
nachdem  den  Text  bis  zum  Jahre  1912  doch  niemand  entziffern  konnte. 

Bedauerlich  ist  es  auch,  daß  unter  den  Tausenden  der  bekannten 
Runendenkmäler  bisher  kein  einziges  entziffertes  eine  positive 
Zeitrechnungsangabe   bietet,   und   ist  dies,  obschon  die  Texte  erst  in 


10 

geringer  Zahl  geklärt  sind,  aus  bekannten  Gründen  aucti  für  die  Zukunft 
nicht  zu  erwarten.  —  Die  christliche  Zeitrechnung  hat  erst  der  Abt 
Dyonisius  Exiguus  um  die  Mitte  des  VI.  üahrhundertes  angeregt. 
Verbreitet  wurde  diese  Ära  erst  im  Vlll.  Jahrhunderte,  und  Karl 
d.  Gr.  war  angeblich  der  erste  Fürst,  der  sich  in  Urkunden  schon 
gelegentlich  dieser  Zeitrechnung  bediente;  doch  erst  im  X.  Jahrhunderte 
war  sie  im  Abendlande  allgemeiner  geworden.  Alle  wichtigen  Ge- 
schichtsdaten stützen  sich  daher  bis  zu  dieser  Zeit  auf  Regenten- 
namen ;  dadurch  aber,  daß  wir  dabei  oft  auch  erfahren,  wie  viel 
Jahre  einer  regierte,  sind  uns  weitere  Kombinationen  erst  ermöglicht 
worden.  -  In  kleineren  Verhältnissen  dienen  aber  oft  nur  Elementar- 
ereignisse, Mißjahre,  Heuschreckenplagen,  große  Brände  u.  ä.  als 
Fixierung  einer  bestimmten  Zeit,  wovon  wir  aber  wieder  nichts  haben. 
Wenn  daher  z.  B.  eine  ziemlich  umfangreiche  slovakische  Felsinschrift 
angibt,  daß  damals  der  Herr  von  Silian  das  ganze  Turocz-Szt.- 
Martoner  Gebiet  verwüstete,  so  wissen  wir  dabei  noch  gar  nicht 
annähernd,  ob  dies  etwa  tausend  Jahre  vor  oder  nach  Chr. 
geschehen  ist,  umsomehr  als  die  jetzige  Inschrift  doch  schon  seit 
dem  Geschehnis  eine  nachgetragene  und  ebenso  eine  schon  ein-  oder 
mehreremale  übertragene  sein  kann. 

Ebensowenig  bieten  die  Alterseindrücke  irgendeine  annähernde 
Orientierung,  denn  der  Grad  der  Verwitterung  eines  solchen  beschrie- 
benen Steines,  die  Oxydierung  einer  Münze,  Waffe  oder  eines  Schmuck- 
gegenstandes hängt  wieder  von  dem  Einwirken  der  V^/itterungsein- 
flüsse  und  der  unmittelbaren  Umgebung  ab,  deren  lokale  Intensität 
man  doch  nicht  skalamäßig  ablesen  kann ;  kurzum  es  ist  äußerste 
Vorsicht  geboten,  sich  in  dieser  Richtung  in  konkrete  Zeitangaben 
einzulassen. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  ergibt  sich  bei  der  Klassifikation  der 
Sprache  einer  Inschrift,  da  die  ethnographischen  Verhältnisse  keines 
einzigen  Gebietes  bis  ins  graue  Alter  als  geklärt  angesehen  werden 
können ;  es  kann  daher  nur  die  Sprache  des  Textes  maßgebend  sein. 
Doch  da  handelt  es  sich  wieder  darum,  ob  diese  Sprache  konse- 
quent eingehalten  wurde,  denn  wir  haben  genug  Inschriften,  die  zum 
Teile  gut  verständlich  sind,  oder  einzelne  bekannte  und  richtig  ge- 
deutete Begriffe  aufweisen,  der  Rest  ist  jedoch  wieder  ein  Sprach- 
rätsel. Es  gibt  Runendenkmäler  von  Schweden,  Norwegen,  Dänemark, 
Jütland  und  England,  die  rein  slavische  Begriffe  im  modernen  Sprach- 
sinne enthalten,  also  auf  einen  slavisch-sprachgenetischen  Zusammen- 
hang die  Impression  üben,  aber  doch  nicht  voll  verständlich  sind.  — 
So  stehen  z.  B.  auf   einer  prächtigen  Kleiderspange,   die   in  Etelhem 


11 


(Schweden)  gefunden  wurde,  zwei  Worte;  das  letztere  lautet  zweifel- 
los „vrtal" ;  das  erstere  ist  aber  augensclieinlicti  der  Name  des  Er- 
zeugers ;  „vrlal"  bedeutet  jedoch  im  Slavischen :  gebohrt,  gedrechselt, 
ziseliert;  es  ist  dies  also  eine  Art  Firmadrucl<  des  Meisters.  Aller- 
dings kann  die  Spange  ja  auch  aus  anderer  Gegend  hierher  gebracht 
worden  sein.  —  Die  Erklärung  kann  wissenschaftlich  nur  dahin  ge- 
lenkt werden,  nachdem  wie  schon, W.  Grimm  („Über  deutsche  Runen", 
Göttingen  1821)  aussprach,  bisher  kein  unbezweifelt  deutsches  Runen- 


^^  i-'-V; 


^\ 


Spange   von  Etelhem 
(Museum  Stockholm). 


denkmal  entdeckt  wurde,  daß  diese  slavischen  Begriffe  noch 
als  Urbestandteile  der  allgemeinen  Sprachverwand- 
schaft anzusehen  seien,  daher  bei  dieser  Forschung  gerade 
die  slavischen  Sprachen  als  die  originelleren  am 
allerwenigsten  ausgeschlossen  werden  dürfen,  wenn 
man  der  Sache  überhaupt  einen  Ernst  entgegenbringen  will. 

Nachstehend  werden  nun  alle  bekannten  Denkmäler,  welche 
slavische  Texte  in  Runenschrift  aufweisen  und  menschlich  verläßlich 
als  solche  angesehen  werden  können,  beschrieben  und  bildlich  dar- 
gestellt. Dieselben  wurden  gebietsweise  nach  ihrer  spezifischen  Eigen- 
art und  äußeren  Form  gruppiert,  wobei  nicht  außer  Acht  gelassen 
werden  darf,  daß  sich  bei  einem  mobilen  Objekte  heute  der  Fundort 
mit  dem  Ursprungslande  durchaus  nicht  mehr  zu  decken  braucht, 
sowie  es  andererseits  auch  kein  Zweifel  ist,  dass  die  Ähnlichkeit 
der  pelasgischen,  altgriechischen,  lateinischen,  etrurischen,  iberischen, 
keltischen,  ägyptischen,  phönikischen,  samarischen  und  sonstigen 
morgenländischen  Runen   mit   den   slavischen   ebenso  auf   einen  ge- 


12 


meinsamen  Ursprung  deutet,  wie  alle  die  genannten  Sprachen  selbst. 
—  Es  wäre  sonach  im  Prinzipe  garnicht  nötig  von  Runendenkmälern 
als  einer  Spezialität  von  Schrifturkunden  zu  sprechen,  weil  sie  doch 
nur  die  archaische  Form  unserer  heutigen  Schriften 
bilden;  aber  die  Wissenschaft  und  Kulturgeschichte  haben  ihnen 
eine  Sonderstellung  gegeben,  welchem  Ausnahmsverhältnisse  wir  nun 
gezwungen  sind  auch  weiter  Rechnung  zu  tragen.  — 

Es  ist  jedoch  auch  schwer  und  unsicher  die  Runenschriften  der 
Slaven  selbst  nach  den  einzelnen  Völkerschaften  oder  Sprachnuanzen 
zu  gruppieren,  weil  sich  die  politischen  wie  ethnographischen  Über- 
gänge mit  jenen  der  Sprache  nicht  immer  decken,  daher  die  Merk- 
male keine  genauen  Umrisse  zurücklassen.  Aus  diesem  Grunde  wer- 
den hier  alle  jene  Runendenkmäler,  die  sprachlich  ein  ziem- 
lich homogenes  Alphabet  mit  slavischem  Texte  auf- 
weisen, in  drei  grosse  Gruppen  vereinigt,  u.  zw.  in 

a)  die  wendischen,  d.  i.  nordeuropäischen; 

b)  die  sl  ov  a  ki  sehen,  d.  i.  die  mitteleuropäischen,  und 

c)  die  etruri  sehen,  d.  i.  die  südeuropäischen.  — 


I. 

Wendische  Runendenkmäler. 


TAFEI.  1. 

(zur  Seite   15). 


Wendisches  Runenalphabet. 


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Anmerkung.  Der  Laut  >h«  scheint  zm  fehlen.  —  In  älteren  Denkmälern 
gilt  »u«  zugleich  als  >v«.  —  Mitunter  sind  die  Laute  verkehrt  dargestellt, 
ohne  daß  sich  deshalb  der  Leseanfang  dem  akkomodiert. 


fr 


Allgemeines. 

Die  nordslavischen  Runendenkmäler   können  unter  Beiziehung 
der   beigegebenen  Tabelle    „Wendisches  Runenalphabet",   in  welcher    Tafei  i. 
die    hauptsächlichsten    Buchstabenformen    und    Schriftvarianten    auf- 
genommen sind,  von  jedermann  selbst  gelesen  und  verlässlich  über- 
prüft werden.  — 

Das  Lesen  dieser  Schriften  ist  im  allgemeinen  nicht  erheblich 
schwer,  da  sich  aus  mehreren  Jahrhunderten  genug  wendische  Runen- 
alphabele  erhalten  haben ;  hingegen  ist  aber  die  Deutung  der  Texte 
oft  eine  äusserst  mühsame,  weil  die  originalslavischen  Begriffe  in 
Bezug  auf  ihre  primäre  Form  schwer  sicher  erkennbar  und  nament- 
lich betreffs  ihrer  Bedeutung  recht  schwankend  geworden  sind,  zumal 
doch  jede  Wortform  in  Raum  und  Zeit  bedeutende,  ja  oft  radikale 
Änderungen  erfahren  kann.  So  haben  wir  es  gerade  bei  den  wen- 
dischen Runen  vorwiegend  mit  der  altpreussischen  und  slo- 
vinzischen  Sprache  zu  tun,  die  eine  um  die  andere  ausgestorben 
sind.  Oede  absterbende  Sprache  ist  aber  schon  vor  ihrem  Kollaps 
durch  die  vorausgehende,  meist  jahrhundertelange  Diffusion  der 
ablösenden  Sprache  gründlich  verballhornt.  Es  stellen  sich  daher 
oft  hartnäckige  sprachgenetische  Schwierigkeiten  in  die  Quere,  die 
Proportionen  mit  dem  Schwinden  der  Originalität  einer  Sprache  wach- 
sen, daher  auch  die  älteren  Denkmäler  leichter  zu  ag- 
noszieren und  zu  deuten  sind  als  die  jüngeren.  Und 
auch  dies  ist  historisch  begründet,  denn  ganz  Deutschland  ist  in 
Wirklichkeit  doch  nur  ein  grosses  slavisches  Gräberfeld  und  sind  hie- 
bei  die  Preussen  (Prusi,  Borussi)  die  jüngsten  germanisierten  Slaven. 

So  sind  z.  B.  die  altpreussischen  Totenklagetexte,  die  auch  dem 
Polnischen  sprachlich  am  nächsten  kommen,  noch  heute  dem  Nord- 
slaven vollkommen  verständlich,  wie :  „Halele,  lele,  y  procz  ty  mene 
umral?  Y  za  ty  nie  miel  szto  iesty  albo  pity,  y  procz  ty  umarl?  Y  za 
iy  nie  miel  krasi  mlodzice.  y  procz  ty  umarl"  usw.  —  Hingegen  Hess 
Herzog  Albert  von  Preussen  um  das  Oahr  1550  die  lithurgischen 
Gebete   der    preussischen   Slaven    gleichzeitig   in   zwei   Redaktionen 

Zunkovic  :  „Slavische  Runendenkmäler".  2 


16 

niederschreiben.  Diese  Texte,  die  schon  jeder  für  sich  starke  Unter- 
schiede aufweisen  und  zur  berechtigten  Ansicht  führen,  dass  die  beiden 
Verfasser  die  eigentliche  Volkssprache  gar  nicht  oder  in  recht  un- 
zulänglicher Weise  verstanden  haben  konnten,  kann  ein  Slave  von 
heute  kaum  mehr  auch  nur  als  entfernt  verwandt  ansehen,  denn  das 
Vaterunser  lautet,  wie  es  Hartknoch  (Chronicon  Priissiae,  1679)  wieder- 
gibt, folgendermassen :  Thavve  nouson  kas  thou  aesse  aendengon. 
Svvyntits  vvirse  tvvais  emmens.  Pareysey  noumans  tvvayia  vieky.  Tvvais 
qiiaits  audascysin  na  zcmmiey  usw.  Allerdings  müssen  sich  die  beiden 
Redakteure  dabei  auch  eine  Schwerfälligkeit  in  der  Transskription 
zurechtgelegt  haben,  die  den  Originaltext  jedermann  als  fremdsprachig 
suggerieren  musste.  Überdies  sind  die  Vergleiche  und  Nachprüfungen 
selbst  umso  schwieriger,  weil  die  Literatur  dieser  abgestorbenen 
Sprachen  über  einen  äusserst  dürftigen  Nachlass  verfügt.  — 

Ein  kleines  Wörterbuch  der  wendisch-preussischen  Sprache  hat 
sich  von  Plato  erhalten,  welcher  im  Kreise  Lüchow  lebte  und  dort 
einige  sprachliche  Aufzeichnungen  machte.  Das  Vaterunser,  wie  es 
sich  ansonst  in  der  Tradition  bis  vor  etwa  120  Jahren  im  Lüchower 
Kreise  erhalten,  lautete  nach  den  phonischen  Aufzeichnungen  des 
Grafen  Johann  Potocki  (17%)  folgend: 

„Messe  wader,  fo  ioy  Jiss,  wa  nebiss  hay,  siiingia  Woarda  Tygi 
Cheyma  tujae  Rick  kommae. 

Tia  wiliac  szymweh  Rok  wa  nebiss  hay,  kak  no  zimie. 

Un  Wy  by  doy  nani  nesse  chrech  kak  nioy  Wy  by  dayne  nessen 
Chresmarym. 

Ni  bringwa  nass  na  Wasskonie  day  lizway  nes  Wit  Wyskak  chan- 
dak.  Amen."  — 

Die  zahlreichsten,  ältesten  und  kulturgeschichtlich  wertvollsten 
wendischen  Runendenkmäler  sind  in  Mecklenburg  u.  zw.  im  Gebieta 
nächst  des  Tollensees  gefunden  worden  ;  in  der  Wissenschaft  sind 
sie  allgemein  als  „Rhetra"-Altertümer  benannt  und  bekannt.  Sie  bilden 
drei  Gruppen  u.  zw. : 

a)  die  wendisch-heidnischen  Devotionalien  (Sammlung  des  A.  Masch); 

b)  die  wendisch-heidnischen  Grab-Amulelte  (Sammlung  Sponholtz) ; 

c)  die  wendisch-heidnischen  Urnensteine  (Sammlung  Sponholtz). 


17 

a)  Die  wendisch -heidnischen  Devotionalien. 

Name.  Im  Museum  zu  Neuslrelitz  (Mecklenburg)  befinden  sich 
66  eigenartige  Bronze-Statuetten  und  sonstige  zugehörige  Nippes,  die 
man  bisher  meist  unter  der  Bezeichnung  „Die  gottesdienstlichen  Alter- 
tümer der  Obotriten  von  Rhetra"  kennt.  Dieser  Titel  muss  aber  hier 
in  allen  Teilen  umgangen  werderh,  weil  ein  begründeter  Zweifel  be- 
steht, ob  es  eine  Stadt  oder  Ansiedlung  des  Namens  „Rhetra"  je 
gegeben,  denn  die  Annahme  einer  solchen  baute  sich  augenschein- 
lich auf  die  falsche  Übertragung  und  Auslegung  der  so  lautenden 
Runeninschriften  auf,  und  ob  sie  gerade  von  den  Cbotriten  stammen, 
kann  auch  niemand  behaupten,  denn  es  steht  nur  fest,  dass  die  In- 
schriften auf  diesen  Fundobjekten  slavisch  sind,  daher  sicherlich  von 
den  Wenden  näherer  oder  weiterer  Umgebung  herrühren.  Überdies 
werden  sie  hier  als  Devotionalien,  also  Weihobjekte  bezeichnet,  weil 
deren  augenscheinliche  Bestimmung  dadurch  prägnanter  ausgesprochen 
erscheint. 

Geschicke  der  Devotionalien.  Sie  wurden  in  den  Oahren 
1687—16%  beim  Ausheben  einer  Grube  im  Pfarrhofgarten  in  Prilwitz 
(Mecklenburg)  gefunden.  In  diesem  Dorfe  befand  sich  vordem  ein 
grosser  Hügel  und  an  dessen  Hange  lag  jener  Garten.  Über  die 
nähere  Situation  weiss  man,  dass  sich  alle  Fundobjekte  in  einem 
Kessel  befanden,  der  wieder,  vermutlich  zum  Schutze  des  Eindringens 
von  Erde  und  Wasser,  mit  einem  gleichartigen  zweiten  Kessel  zu- 
gedeckt war.  Um  die  Kessellage  herum  fand  man  überdies  an  zwei 
Zoll^entner  altes  Eisengerät,  ein  Hinweis,  dass  die  ganze  Sammlung 
mit  Vorbedacht  hier  vergraben  wurde.  —  Als  der  damalige  Pastor 
Friedrich  Sponholtz  im  Oahre  1697  starb,  übergab  dessen  Witwe  die 
beiden  Kessel,  die  überdies  reiche  Runeninschriften  aufgewiesen  haben 
sollen,  die  Eisengeräte  sowie  alle  Bronzegegenstände  einem  Ver- 
wandten in  Neubrandenburg,  der  das  Eisen  im  Haushalte  verbrauchte, 
die  beiden  Kessel  aber  einem  Glockengiesser  verkaufte.  In  dieser 
Familie,  namens  Palcken,  verblieben  nun  die  Devotionalien ;  nur  einige 
Stücke  wurden  eingeschmolzen,  um  sich  zu  überzeugen,  ob  sie  kein 
Edelmetall  enthalten,  welche  Probe  aber  negativ  ausfiel.  —  Später 
erfuhr  der  Medikus  Hempel  davon  und  erwarb  kG  Stück ;  etliche  wur- 
den ihm  verschwiegen,  doch  diese  brachte  später  der  Superintendent 
A.  Masch  in  seinen  Besitz.  —  Dieser  interessante  Fund  wurde  nun 
im  Oahre  1768  im  „Altonaer  Mercurius"  und  ein  Oahr  darauf  im 
„Rostocker  Wochenblatt"  veröffentlicht.  Die  Runeninschriften,  welche 
die   meisten  Objekte   aufweisen,   wurden   nach   den  Runenalphabeten 


18 

von  Cluver  („Beschreibung  des  Herzogtumes  Mecklenburg"  1757)  und 
Westphals  („Monumenta  inedifa")  lateinisch  transskribierl  und  vom 
Oberpfarrer  Letochleb  in  Peitz,  der  die  böhmische  Sprache  vollkom- 
men beherrschte,  ins  Deutsche  übersetzt,  da  sonst  niemand  den  Text 
verstand. 

Man  bewunderte  nun  allgemein  diese  eigenartigen  und  doch 
unerklärlichen  Denkmäler  aus  altwendischer  Zeit.  Aber  bald  fand 
sich  in  Pastor  Lense  aus  Warlin  ein  Mann,  der  diesen  Altertümern 
allen  Wert  absprach  und  sie  als  Fälschungen  eines  Gelbgiessers  be- 
zeichnete („Nützliche  Beiträge  zu  den  Intelligenzen."  Neustrelitz  1763). 
D.  Taddel  in  Rostock  setzte  sich  jedoch  für  die  Ehrenrettung  des 
Pastors  Sponholtz  wie  der  Altertümer  selbst  beweiskräftig  ein  (17G9), 
worauf  im  Jahre  1770  der  Präpositus  Genzmer  die  Echtheit  dieses 
Fundes  noch  weiter  überzeugend  nachwies,  was  umso  leichter  war, 
da  man  doch  wusste,  dass  weder  der  Gelbgiesser  noch  sonst  jemand 
altwendisch  kannte,  sowie  auch  von  der  Runenschrift  keine  Ahnung 
hatte. 

Da  diese  Altertümer  im  Pfarrhofgarten  vergraben  gefunden  wur- 
den, lässt  annehmen,  dass  sie  der  Priester  des  dortigen  Tempels  in  ei- 
ner gefahrdrohenden  Zeit,  um  sie  zu  retten,  selbst  hier  vergraben  habe. 
Die  meisten  dieser  Objekte  waren  einmal  einem  starken  Feuer  aus- 
gesetzt, wobei  viele  durchbrannten  oder  abtropften ;  am  wahrschein- 
lichsten dünkt  es,  dass  sie  jemand  nach  dem  Tempelbrande  aus  der 
Asche  hob  und  sicherheitshalber  vergrub.  Es  dürfte  dies  vermutlich 
zur  Zeit  der  Einführung  des  Christentums  gewesen  sein,  denn  die 
Chronisten  wissen,  dass  der  Tempel  schon  einmal  aus  diesem  Grunde 
niedergebrannt  wurde;  doch  kurz  nach  dem  Jahre  1131  Hessen  Fürst 
Niklot  und  Graf  Adolf  von  Holstein  den  neu  aufgebauten  Tempel 
abermals  in  Feuer  aufgehen,  weil  die  Wenden  sehr  bald  rückfällig 
wurden. 

Geschichtliches  über  „Rhetra".  Der  älteste  Chronist, 
der  über  „Rhetra"  schrieb,  war  Thietmar,  Bischof  von  Merseburg 
(t  1018).  Dieser  hat  „Rhetra"  selbst  nicht  gesehen,  sondern  wusste 
vom  Hörensagen,  dass  im  Gau  der  Redarier  eine  Burg  mit  drei  Toren 
sei,  die  man  „Riedegast"  nenne.  Beim  dritten  Tore  befinde  sich  ein 
Heiligtum  mit  vielen  Gölzenstandbildern ;  die  Namen  derselben  stehen 
auf  den  Fussgestellen  aufgeschrieben.  Der  vornehmste  Gott  heisse 
„Zuarasici".  —  Adam  von  Bremen  (t  1076)  hingegen  erzählt,  dass 
in  der  alten  Burg  „Rhetre"  der  Sitz  der  Abgötterei  war;  der  Haupt- 
gölze  hiess  „Radegast" ;  sein  Bild  war  von  Gold,  sein  Lager  mit 
Purpur  belegt.  Die  Burg  hatte  neun  Tore  und  war  allseits  von  einem 
tiefen  See  umgeben ;  zum  Tempel  führte  eine  hölzerne  Brücke.  — 


19 

Diese  sich  zum  Teile  widersprechenden  Daten  besagen,  in  die 
Wirklichkeil  übersetzt,  folgendes:  der  Tollensee  bildet  die  Grenze 
gegen  Alecklenburg- Schwerin.  Prilwitz,  der  Fundort  der  Altertümer, 
liegt  an  dem  genannten  See;  auf  einem  Hügel  daselbst,  dem  ver- 
meintlichen Tempelberge,  stand  zum  Grenzschutze  von  altersher  eine 
Burg,  denn  man  weiss,  dass  noch  im  Mittelalter  daselbst  ein  ge- 
mauerter Wartturm,  doppelte  Wälle,  tiefe  Gräben,  dann  allerlei  Mauer- 
werk zu  sehen  waren.  Der  Punkt  war  für  die  Verteidigung  auch  schon 
von  Natur  aus  begünstigt,  denn  er  war  ringsum  teils  vom  See,  teils 
von  tiefen  Sümpfen  umschlossen.  Alles  weitere  ergänzt  die  Etymo- 
logie. Der  Ortsname  „Prilwitz"  ist  gleichbedeutend  mit  befestigter 
Berg.  Helmberg,  denn  „prilbica"  heisst  im  Russischen  noch  heute 
Helm,  also  ein  Schutzmittel.  Der  bei  den  Wenden  als  „Prilbica"  be- 
nannte Burgberg  diente  sonach  der  Ansiedlung  daselbst  als  Schutz- 
punkt bei  feindlicher  Gefahr.  — 

Desgleichen  wussten  alle  Chronisten  nicht  mehr,  dass  „Rhetra", 
richtig  „Rjetra",  kein  Ortsname  ist,  sondern  eine  Hoheitsbezeichnung, 
wie  etwa  Beschützer,  Retter  (slov.  „redar"  ^  Wächter,  Aufseher) 
bedeute.  Die  Namen  „Riedegast"  (Thietmar)  und  „Rhetra"  (Adam  von 
Bremen,  Helmold)  sind  daher  im  Prinzipe  keine  topischen  Namen, 
können  aber  die  Bedeutung  von  solchen  erlangen,  analog  wie  eine 
Höhe,  auf  welcher  „Maria"  eine  Kirche  geweiht  ist,  schliesslich  den 
Namen  „Marienberg"  annehmen  kann.  —  Aus  dem  Ganzen  geht  aber 
unbedingt  hervor,  dass  schon  zu  Thietmars  Lebenszeit  (975 — ^018) 
über  die  Prilwitzer  Burganlage  sehr  verworrene  Ansichten  herrschten, 
d.  h.  der  Ortsname  war  kein  einheitlicher  mehr. 

Beschreibung  der  Altertümer.  Diese  bestehen  teils  aus 
Figuren,  teils  aus  Waffen,  Geräten  sowie  sonstigen  Nachbildungen. 
Alle  sind  aus  Bronze,  mitunter  mit  etwas  Silberzugabe  hergestellt;  die 
metallische  Zusammenseizung  ist  fast  überall  eine  andere  ;  desgleichen 
ist  die  Technik  der  Ausführung  sehr  verschieden.  Die  Figuren  er- 
reichen im  Maximum  die  Höhe  von  20  cm ;  ebenso  sind  alle  übrigen 
Objekte  nur  Miniaturen.  Die  angesetzte  Patina  lässt  auf  ein  hohes 
Alter  rückschliessen ;  sie  trägt  aber  nicht  dieselbe  blaugrüne  Farbe 
zur  Schau,  wie  bei  G3g9nständen,  die  mit  der  Erde  in  direkter  Be- 
rührung standen,  weil  die  Oxidierung  im  Kesselhohlraume  vor  sich 
ging.  Die  Figuren  sind  fast  durchwegs  bekleidet,  oft  auch  mit  Sturm- 
haube, Panzer  und  Waffen  versehen.  Die  meisten  Figuren  sind  hohl 
gegossen,  woraus  man  deduzierte,  die  kugelförmige  Höhlung  an  der 
Basis  hatte  den  Zweck,  dass  sie  analog  wie  die  römischen  Legions- 
adler, als  Feldzeichen  dienten  und  im  Kriege,  auf  Stangen  aufgesteckt, 


20 

vorangelragen  wurden.  Die  Unscheinbarkeit  der  Figuren  sprich!  jedoch 
entschieden  dagegen  und  lässt  vermuten,  dass  man  vor  oder  nach 
wichtigen  Ereignissen  einer  bestimmten  Gottheit  eine  solche  Statuette 
widmete,  die  man  im  Tempel  selbst  auf  einen  Dorn  aufsetzte. 

Bestimmung  als  Devotionalien.  Dass  dies  Weihobjekte 
waren,  ersieht  man  nicht  nur  aus  den  Dimensionen  sondern  auch 
aus  den  Inschriften.  In  dieser  Hinsicht  haben  sich  die  Verhältnisse 
auch  bis  heute  nicht  geändert.  Man  widmet  ja  doch  noch  immer  einer 
Kirche  aus  bestimmten  Anlässen  eine  Christus-  oder  Marienstatuette, 
eine  Hand,  ein  Herz  u.  drgl.  aus  Edelmetall ;  der  gewesene  Lahme 
hängt  seine  Krücken  in  der  Kirche  zum  Danke  für  seine  Genesung 
auf;  auf  dem  Balkan  lässt  man  die  Waffen  kirchlich  weihen;  nach 
einem  glücklichen  Waffengange  widmet  man  sie  oft  selbt  der  Kirche. 
Hervorragende  Gnadenorte  besitzen  doch  ganze  Schatzkammern  und 
Museen  solcher  Provenienz.  —  Andererseits  schaffen  wir  uns  doch 
auch  heute  Miniaturbüsten  von  Herrschern,  berühmten  Feldherren, 
Dichtern,  Musikern  u.  ä.  an ;  es  ist  da  somit  absolut  nichts  Verwun- 
derliches daran,  sondern  nur  ein  Zeichen,  dass  man  einst  hohen, 
verdienstvollen  Personen  in  ganz  analoger  Weise  seine  Verehrung 
zum  sichtbaren  Ausdruck  brachte,  wie  heute. 

Diese  Bestimmung  ist  auch  aus  den  darauf  angebrachten  schrift- 
lichen Widmungen  zu  ersehen,  denn  die  meisten  Weihobjekte  haben 
teils  eingravierte,  teils  schon  mitgegossene  Inschriften.  Die  Schriften, 
die  sämtlich  von  links  nach  rechts  zu  lesen  sind,  stammen  von  ver- 
schiedener Hand,  aus  verschiedener  Zeit  sowie  auch  aus  verschie- 
denen Gegenden,  nachdem  dieselbe  Wortform  mitunter  stark  variiert; 
überdies  wurden  dabei  drei  Alphabetarten  angewendet. 

Alters-  und  Echtheitsbeweise.  Obschon  natürliche  Ver- 
nunftsgründe für  die  Unmöglichkeit  einer  solchen  Fälschung  sprechen 
und  in  archäologischen  Dingen  höchst  erfahrene  und  äusserst  gewis- 
senhafte Gelehrte  (wie  z.  B.  die  Brüder  Grimm)  jeden  Zweifel  in  die- 
ser Hinsicht  zerstreuten,  fanden  sich  doch  immer  Männer,  welche 
diese  ehrwürdigen  Altertümer  ohne  allen  Grund  weiter  verdächtigten. 
Wie  unbegründet,  ja  für  die  Wissenschaft  höchst  beschämend  und 
kompromittierend  diese  fortgesetzte  krankhafte  Hetze  gegen  jene 
altslavischen  Kulturbelege  ist,  wird  später  beim  Namen  „beibog"  des 
Näheren  erörtert. 

Was  das  Alter  betrifft,  so  kann  mit  berechtigter  Sicherheit  aus- 
gesprochen werden,  dass  der  Götzendienst  von  „Rhetra"  sowie  die 
Erzeugung  dieser  Götzenminialuren  eine  geraume  Zeit,  also  wohl 
etliche  Jahrhunderte  vor  Thietmar  zurückzuverlegen  sei,  denn  dieser. 


21 

der  doch  v.  3.  975—1018  lebte,  erzählt  als  der  älteste  Chronist,  dass 
die  Götzenbilder  in  „Rhetra"  auf  der  Basis  Runeninschriften  hatten; 
was  dieselben  besagen,  wusste  er  nur  vom  Hörensagen,  denn  er 
selbst  hat  die  Figuren  nie  gesehen.  Aus  dem  ganzen  geht  aber  her- 
vor, dass  man  zu  seiner  Zeil,  also  schon  zu  Beginn  des  XI.  Jahr- 
hundertes  sehr  nebelhafte  Umrisse  über  den  Götzendienst  in  „Rhetra" 
haben  musste,  sowie  dass  man  schon  damals  die  wendische  Runen- 
schrift nicht  mehr  verlässlich  zu  lesen  verstand,  sie  nicht  mehr  an- 
wendete, oder  dass  doch  schon  die  Tradition  darüber  empfindlich 
getrübt  war.  Überdies  ist  auch  schon  hier  die  sprachliche  Originalität 
gestört,  denn  z.  B.  der  Name  „beibog",  wie  er  auf  diesen  Statuetten 
wiederholt  zu  lesen  ist,  kann  ursprünglich  nur  „velbog"  loder  „vilbog") 
gelautet  haben,  worin  uns  der  Umstand  bestärkt,  dass  das  lateinische 
„b"  im  Altslavischen  immer  als  „v"  bewertet  ist,  und  heisst  es  in 
einer  uralten  rhätischen  Schrift  noch  immer  „velpan"  und  nicht  „bel- 
pan".  Die  wendischen  Bronzefiguren  gehören  sonach  schon  in  die 
Zeit  des  Verfalles  der  wendischen  Sprache,  d.  h.  in  jene  Zeit,  als 
man  nicht  mehr  das  Sprachgefühl  hatte,  dass  man  richtiger  „velbog", 
statt  „beibog"  sagen  müsse. 

Obschon  nun  für  den  logisch  Denkenden  jede  Verteidigung  der 
Echtheit  dieser  Fundobjekle  überflüssig  ist,  so  muss  hier  doch  für 
alle  Fälle  auf  folgendes  hingewiesen  werden: 

a)  es  ist  vor  allem  nicht  einzusehen,  weshalb  Deutsche,  die 
kaum  irgendein  slavisches  Wort  verstanden,  Kulturzeugnisse  für  die 
Slaven  durch  Fälschungen  vermehrt  hätten ;  überdies  war  die  wen- 
dische Sprache,  wie  anfangs  Beispiele  geboten  wurden,  schon  im 
XVI.  Jahrhunderte  derart  entstellt  und  verballhornt,  dass  auch  ein 
Slave  da  nichts  mehr  derartig  Sprachreines  hätte  schaffen  können; 

b)  haben  die  Gegner  der  Echtheit  selbst  ihre  Unwissenheit  in 
dieser  Richtung  damit  dokumentiert,  dass  sie  gerade  jene  Inschriften 
als  Fälschungsbelege  anführten,  die  sie  bis  heute  falsch  gelesen  haben, 
also  die  Fälschungssubstrate  selbst  konstruierten ; 

c)  Herzog  Carl  von  Mecklenburg  war  es,  der  sich  selbst  dieser 
Streitsache  um  das  3ahr  1769  annahm  und  die  wissenschaftliche  Be- 
handlung dieser  Altertümer  anregle ;  es  ist  da  wohl  anzunehmen, 
dass  man  damals  über  die  allenthalben  auftauchenden  Echtheitszweifel 
beruhigt  hinwegging  und  dass  der  Landesfürst  gewiss  nicht  seine 
Autorität  dafür  einsetzte,  einem  Schwindel  Vorschub  zu  leisten.  Das 
erste  diesbezügliche  Werk  wurde  sogar  der  Königin  von  England, 
Charlotte  Sophie,  einer  Prinzessin  von  Mecklenburg-Strelitz,  mit  fol- 
genden Versen  gewidmet: 


22 


„Monarchin,  die  mit  scharfen  Blicken 

Die  Dunkelheit  des  Altertums  erhellt, 

Und  die  von  überbliebnen  Stücken 

Der  alten  Kunst  ein  richtig  Urteil  fällt; 

Hier  naht  ein  Buch  sich  Deinen  Augen, 

Das  Überbleibsel  alter  Welt 

In  richtgen  Bildern  dargestellt; 

0  möcht'  es  Dir  doch  zu  gefallen  taugen !"  — 

Eine  Mystifikation  oder  ein  Pasquill  ist  daher  bei  einer  derartig  ern- 
sten und  dabei  auch  kostspieligen  Behandlung  geradezu  ausgeschlossen ; 

d)  handelt  es  sich  bei  jeder  Fälschung  doch  um  die  Frage,  wer 
dabei  ein  positives  Interesse  oder  einen  persönlichen  Vorteil  hat. 
Wollte  aber  jemand  vor  etwa  180  Jahren  die  Kenntnis  von  der  hohen 
alten  Kultur  der  Slaven  auf  diese  unredliche  Art  verbreiten  und  hie- 
mit  zugleich  beweisen,  dass  die  Slaven  die  Runenschrift  gebrauchten, 
so  mussten  doch  zum  mindesten  echte  Vorbilder  dagewesen  sein ; 
doch  auch  dieses  war  überflüssig,  da  man  ja  hiefür  andere  Beweise 
wie  z.  B.  die  Chronisten  Thietmar,  Adam  von  Bremen,  Helmold  u.  a., 
dann  Münzen  hatte ;  übrigens  hatte  man  zu  jener  Zeit  noch  eine  so 
hohe  Meinung  von  der  altslavischen  Kultur,  dass  man  diesen  Nim- 
bus durch  fragliche  Fälschungen  schwerlich  erhöht,  sondern  eher 
herabgesetzt  hätte; 

e)  ist  jede  weitere  Erörterung  an  sich  hinfällig,  wenn  man  er- 
wägt, dass  der  Gelbgiesser  alle  diese  verschiedenartigsten  Objekte 
modelliert,  mit  prächtigen  Reliefs  schmückt,  giesst,  in  einer  unbe- 
kannten Sprache  richtig  beschreibt,  nach  der  kostspieligen  und  zeit- 
raubenden künstlerischen  Leistung  aber  ins  Feuer  wirft,  wo  sie  wie- 
der zu  unförmlichen  Metallklumpen  schmelzen,  denn  auf  eine  so 
pathologische  Art  wird  niemand  die  alte  slavische  Kultur  nachweisen 
wollen. 

Für  die  Anzweiflung  der  Echtheit  liegt  daher  nichts  als  Miss- 
gunst, Bosheit  oder  Unverstand  vor,  und  der  Moment  allein,  dass 
etwas,  was  man  nicht  versteht,  falsch  sein  müsse,  ist  das  bedauer- 
lichste Argument  für  die  Wissenschaft,  die  auf  diese  gewalttätige  Art 
einen  Knoten  zerhaut,  statt  ihn  durch  Weiterforschung  natürlich  zu 
lösen.  — 

Nachstehend  werden  nun,  da  es  sich  hier  lediglich  um  die  Runen- 
schrifttexte handelt,  jene  Objekte  angeführt  und  bildlich  dargestellt, 
die  eine  besondere  Aufschrift  aufweisen;  Wiederholungen  nur  dann, 
wenn   sie   orthographisch  variieren ;    Objekte,   die  infolge  Abschmel- 


23 

zung  nur  mehr  für  die  Lesung  unsichere  Schrififragmenle  bieten, 
wurden  nicht  aufgenommen,  da  sie  keinen  reellen  sprachlichen  Bei- 
trag geben.  —  Die  Figuren  sind  durchschnittlich  um  ungefähr  Va 
verkleinert  dargestellt. 

A.  STATUETTEN. 

„Rjetra".  Mitunter  als  „rietra,  rijetra"  (nicht  aber  „rhetra") 
geschrieben,  kommt  hier  zehnmal  vor.  Es  scheint,  dass  der  Name 
als:  Beschützer,  Retter  aufzufassen  ist,  aber  keinesfalls  als 
Ortsname,  wie  dies  sonst  allgemein  angenommen  wird.  Da  diese 
Inschrift  auf  verschiedenen  später  dargestellten  Figuren  miterscheint, 
wird  dieselbe  hier  nicht  separat  illustrativ  angeführt. 

„Radegast."  —  Kommt  auch  in  der  Form:  „Radegost,  Ride- 
gast,  Rjadegast"  vor.  —  Etymologie:  „rat"  Krieg,  Kampf;  „rada" 
Rat,  Ratgeber;  „gost"  Gast,  d.  i.  der  zu  Beschützende;  „gosudar, 
gospod,  gospodar"  Herr,  daher  etwa  :  Kriegsherr,  Schutzherr, 
Feldherr  bezeichnend.  Dieser  Name  kommt  hier  zehnmal  vor.  — 
Bei  allen  Statuetten  mit  dieser  Inschrift  fällt  es  auf,  dass  jede  solche 
Figur  auf  dem  Kopfe  eine  Gans  („gos"  Gans)  und  einen  Ochsenkopf 
als  Brustschild  zu  Symbolen  hat;  der  Kopf  selbst  aber  ist  trotz  der 
sonst  menschlichen  Gestalt  jener  eines  Löwen.  Diese  Attribute  zeigen 
die  Eigenschaften  der  Wachsamkeit,  da  die  Gans  als  äusserst  emp- 
findlich für  nächtliche  Geräusche  gilt,*)  der  Ochsen-  oder  Stierkopf 
die  physische  Stärke  und  der  Löwenkopf  den  Mut  an. 

Fig.  1  hat  folgende  Inschriften  (Vorderseite) :  „z"  auf  dem  Gans- 
flügel, „bei"  auf  dem  linken  Arme,  „beibog"  auf  dem  linken  Ober- 
schenkel; Rückseite:  „ridegast"  und  „rjetra".  (Abbildung  siehe  Seite 
24  und  25). 

Fig.  2  (Vorderseite):  „cern  .  .  .  ."  und  ein  Schriftfragment  an 
Kleiderrändern;  Rückseite  von  oben  nach  unten:  „radegast,  beibog, 
rjetra".  (Abbildung  siehe  Seite  26.) 

Fig.  3  hat  vorne  die  Aufschrift  „rjeam"  (anscheinend  „ich  ritze"  ; 
riti  ritzen,  einmeisseln)  und  rückwärts  „ridegast".  (Abbildung  siehe 
Seite  27.) 

Diese  drei  Statuetten  scheinen  in  erster  Linie  „Radegast"  ge- 
widmet zu  sein,  da  dieser  Name  bei  gleichen  Attributen,  namentlich 
jenem  der  Gans,  immer  auf  der  Rückseite  eingraviert  ist.  Die  kräftige 
Mannesgestalt   lässl   überdies   vermuten,    dass    der   Urtypus   dieses 

*)  Die  Gänse  auf  dem  Kapitolium  in  Rom  dürften  wohl  auch  nur  zur  Er- 
gänzung des  nächtlichen  Wachdien-^tes  gehalten  worden  sein. 


24 


Götzenbildes  ein  vorsichtiger,  starker  und  tapferer  Fütirer  des  Volkes 
war,  dessen  vornehmste  Eigenschaften  aber  hier  schon  durchwegs 
symbolisiert  erscheinen.  Es  zeigt  dies  zugleich,  dass  zwischen  der 
Zeit   des   irdischen  Wandels   des  Originales  und   dessen   biirgerlich- 


Fig.   1.   (Vorderseite.) 


kriegerischer  Funktion  als  Regent  oder  Feldherr  bis  zur  Gottwerdung, 
ja  bis  zur  völligen  Transsubstantalion  in  attributive  Symbole  eine  be- 
deutende Epoche  liegen  müsse.  —  Die  Beisetzung  anderer  Funktions- 
namen, wie  „beibog,  rjetra"  haben  überdies  auch  ihre  Analogien, 
denn  Zeus,  öupiter,  Wodan  u.  a.  haben  doch  auch  Attribute  für  Spe- 


25 


zialfunklionen,  ja  selbst  die  laurelanische  Litanei  ist  niclits  weiter, 
als  eine  Ergänzung  von  ätiniicli  symbolisierten  Eigenscliaften  und 
Tugenden.  — 


P~ii.V.KKA'-^ 


Fig.   1.   (Rückseite.) 


„Bei bog,  Bilbog."  —  Etymologie:  grosser,  lioher  Gott. 
Sprachlich  richtig  müsste  der  Name  jedoch  „velbog"  („vel,  vele"  = 
gross,  hoch)  lauten,  analog  wie  man  auch  „velehrad,  velmoz,  velpan 
u.  ä.  spricht  und  schreibt.  —  Die  moderne  Auslegung  von  „beibog" 
als  weisse^r  Gott  („bei"  slav.  weiss)   ist  falsch  und  wohl   dadurch 


26 


entstanden,  dass  das  alfslavische  „b",  das  als  „v"  ausgesprochen 
wird,  später  den  Wert  von  „b"  erliielt.  Die  Burg  „Viligrad"  in  Mek- 
klenburg  wurde  folgerichtig  auch  nicht,  wie  anderswo  zu  „Belgrad" 
oder  „Weissenburg",  sondern  zu  „Megalopolis",  also  zu  grosse, 
feste  Burg.        Die  Schreibweise  „bocg",  die  sich  öfters  wiederholt, 


(Vorderseite.) 


(Rückseite.) 


ist  nichts  Ungewöhnliches,  denn  ein  hartes  „g"  wurde  am  Schlüsse 
eines  Wortes  von  altersher  vielfach  mit  „cg"  verstärkt  geschrieben, 
wie  z.  B.  „rinnewecg"  {  Rennweg)  i.  0.  1259.  —  Der  Name  „beibog, 
belbocg,  bilbog"  kommt  in  dieser  Sammlung  fünfmal  vor.  — 

Bei  der  Entzifferung  dieser  Inschrift  ist  jedoch  der  Gelehrten- 
welt ein  sehr  bedenkliches  und  folgenschweres  Versehen  passiert. 
Die  Aufschrift  auf  der  Rückseite  —  auf  der  Vorderseite  steht  nur 
„rjetra"  —  las  man  schon  i.  3.  1768  „schwayxtix  belbocg",  und  seit 


27 


dieser  Zeit  ist  niemand  mehr  daraufgekommen,  dass  das  exotische 
Wort  „schwayxtix"  dort  absolut  nicht  steht,  sondern  „licjevajam  tim 
bilbocg"  (kann  auch  „licjovajam"  gelesen  werden),  d.  h.  ich  stelle 
hiemit  den  bilbocg  dar,  denn  „licjovajati"  bedeutet  im  Russischen 
noch  heute:  modellieren,  Umrisse  machen,  darstellen. 
Bei  den  nordischen  Runendenkmälern  wurde  bei  etwa  IS"/,,  fest- 
gestellt, dass  der  Verfertiger  eines  Grabsteines,  eines  Schmuckgegen- 
standes u.  drgl.  in  dieser  oder  jener  Weise  sein  „fecit"  anfügte,  die- 
ser Fall  also  durchaus  nicht  vereinzelt  dasteht.    -  Da  aber  das  Wort 


^ 


(Vorderseite.) 


Fig.  3. 


(Rückseite.) 


„schwayxtix"  ein  „seh"  enthält,  also  einen  in  alten,  namentlich  aber 
in  slavischen  Schriften  ganz  unmöglichen  Laut,  wurde  dies  sofort 
zum  Kronzeugen  der  Unechtheit  aller  dieser  Bronzeobjekte  gestem- 
pelt. Der  Siavist  Dr.  Oagic  fuhr  sogar  eigens  nach  Neustrelitz,  über- 
prüfte an  Ort  und  Stelle  die  Inschriften  und  fand  daselbst,  wie  er 
dies  im  Artikel  „Zur  slavischen  Runenfrage"  (Archiv  für  slav.  Philo- 
logie, 1881)  darlegt,  wirklich  auch  ein  „schwayxtix".  Er  erklärte 
daraufhin  dieses  Objekt  wie  die  ganze  Sammlung  für  eine  Fälschung 
der  Neuzeit  und  fügte  sogar  noch  bei,  dass  die  Erzeugung 
selbst  der  ältesten  Stücke  nicht  vor  das  Oahr  1737 
fallen  kann. 


28 

Wie  man  da  nun  so  konsequent  ein  „seh"  lesen  konnte,  wo 
deutlicli  ein  „lic"  stehlt,  ist  ebenso  ein  Rätsel,  wie  die  Tatsache,  dass 
man  den  Laut  „m"  stets  für  ein  nicht  existierendes  „x"  las.  Man 
scheint  eben  in  der  krankhaften  Sucht  alle  auftauchenden  altslavischen 
Kulturbelege  möglichst  rasch  zu  beseitigen,  damit  sich  niemand  wei- 
ter um  eine  Nachprüfung  bemühe,  bewusst  tunlichst  viel  Einwände 
erhoben  und  gesucht  zu  haben,  oder  fehlten  aber  Allen,  die  diese 
Funde  zu  beurteilen  hatten,  die  primitivsten  Runenkenntnisse,  daher 
nicht  blinde  Vorurteile,  sondern  geradezu  eine  doppelte  Zurückhaltung 
in  der  Schlussentscheidung  geboten  waren. 

Der  alten  Überlieferung  nach  stellte  diese  Figur  einen  Hauptgott 
dar,  was  auch  richtig  ist,  weil  es  die  Etymologie  gleichfalls  bestätigt. 
Es  darf  daher  auch  nicht  auffallen,  dass  gerade  diese  Statuette  eine 
sehr  grosse  Kunstfertigkeit  zeigt;  sie  ist  überdies  stark  silberhaltig, 
und  trägt  auf  dem  Kopfe  Goldspuren,  ein  Hinweis,  dass  sie  einst 
eine  Krone  oder  etwas  Ähnliches  aus  Gold  aufgesetzt  gehabt  haben 
dürfte.  Desgleichen  scheint  dar  Verferliger  dieser  Figur  nicht  identisch 
zu  sein  mit  jenem  der  übrigen  Objekte ;  die  Sprache  der  Inschrift 
selbst  weist  mehr  gegen  Osten,  also  auf  eine  Provenienz  von  Russ- 
land. —  Erwähnenswert  ist  es  auch,  dass  von  der  Verehrung  einer 
Gottheit  des  Namens  „Schwayxtix"  in  der  ganzen  Geschichte  Mek- 
klenburgs  keine  Spur  zu  finden  ist,  weil  dieser  Name  eben  nur  einem 
Lesefehler  der  jüngeren  Zeit  seine  Existenz  verdankt.  (Fig.  s.  S.  29.) 

„Cislbog".  —  Etymologie:  Grenzschutzherr  oder  ver- 
ehrungswürdiger Gott.  Der  Slovene  versteht  noch  heute  unter 
„cislo"  —  den  Grenzstreifen,  unter  „cislati"  —  verehren,  respektieren 
(die  Grenze).  Grenzhöhen  führen  mitunter  den  Namen  „Cislova  skala", 
deutsch  „Zeiselberg".  —  Im  primären  Sinne  war  dies  also  der  Schutz- 
herr, dem  ein  Gebiet  zur  Sicherung  gegen  äussere  Feinde  anvertraut 
war,  im  erweiterten  ein  Schutzgott  überhaupt,  dem  man  hohe  Ver- 
ehrung zollte.  —  Nebst  diesem  Namen  ist  auf  der  Rückseite  noch 
,,rjetra"  eingraviert.  Die  Vorderseite  trägt  nur  die  Aufschrift  ,,gricci" 
oder  „kricci",  also  „krici".  Unter  ,,grid"  verstand  man  früher  im 
Russischen  den  Leibwächter,  unter  „gridba"  die  Leibwache; 
es  war  sonach  „grici"  (oder  „krici*')  der  Funktionsname  irgendeines 
Grenzgebietskommandanten,  eines  Warners  oder  Beschützers,  denn 
„kric"  bedeutet  im  Slavischen  :  Ausruf,  Schreckruf,  ,,kricati"  (griechisch 
,,krico")  rufen,  warnen,  und  sind  vermutlich  auch  im  Deutschen  die 
sogenannten  ,,grit-,  krit-,  kred-  und  kreid-Feuer"  etymologisch  nur 
die  Fanale,  welche  bei  Feindesgefahr  an  den  Grenzpunkten  angezün- 
bel  wurden.  — 


29 


id>^■y^,B^r  /,', 


Transskription 
der  Inschrift: 


LICJEVRJRM 
TIM 

BILBOCG. 


Statuette  „Bilbog',  fälschlich  „Schwavxtix'  genannt. 


30 


,,1  p  a  b  0  g".  Diese  Statuette  hat  auf  der  Vorderseite  keine  sicht- 
bare Aufschrift,  auf  der-Rückseite  hingegen  „rjetra"  und  „ipabocg".  — 
,,lpa"  muss  ursprünglich  etwa  Rache,  Vergeltung,  Schutz   be- 


Statucttc  „Cislbog"  (Vorderseite). 


deutet  haben,  in  der  Personifikation  somit  einen  Hohen,  der  die 
Unbill  bestraft.  Im  Slovenischen  versteht  man  unter  ,,ipiti"  noch 
heute:  jähzornig,  rachsüchtig  sein,  während  das  russische  „ipat"  der 
Bedeutung  Statthalter  gleichkommt,  das  auch  sprachorganisch  mit 
dem  griechischen  „hypalos"   (     der  Oberste,   der^Höchste)  und  ,,hy- 


31 


pateia"  (  Würde,  Amt,  Konsulat)  eng  verwandt  ist.  Dass  aber 
dieser  Begriff  urslavischi  ist,  ersieht  man  sowohl  daraus,  weil  er  sich 
hier  in  Verbindung  mit  „bog"  befindet,  als  auch  aus  einer  alten  etru- 


Statuetle     ,(.'islbog"   (Rückseite.) 


rischen  Grabinschrift,  wo  ,,ipa?in  a  krul"  ( --  Statthalter  und  König) 
auch  unmittelbar  verbunden  sind.  —  Die  beigegebene  Figur  zeigt  auch 
zv;ei  schöne  Reliefs,  von  denen  das  obere  einen  von  einem  Hunde 
verfolgten  Hirsch,  das  unlera  eine  Wildschwein-Jagd  und  eine  nackte 
Frauengestalt  (Diana  ?)  dars'ellt. 

Zunkovic  :  „Slavisclie  Runendenkmäler".  3 


32 


„Nemisa."  —-  Etymologie:  SchutzgoH,  Grenzbeschülzer 
(kelt.  ,,nem" '' Einfriedung,  gesicherter  Platz ;  „nemet"      ein  mit  Pali- 


Statuette  ,,Ipabos;"  (Rückseite). 


saden  gesicherter  Bau).  Dieser  Name  kommt  zweimal  vor.  —  Ausser 
dieser  Inschrift  ist  noch  zu  lesen  ,,rab"  (anscheinend  ein  Wortfrag- 
ment), dann  ,,arkon"  (=  Ältester)  und  „spa  .  ."  vermutlich  ,,span" 
{=  Führer,  Kreisvorsteher,  deutsch:  Gespan). 


33 


„Podaka,  Po  da  g  a."  —  Diese  Slatuelle  trägt  mehrere  Inschrif- 
ten, doch  ist  ausser  ,,rjetra"  und  ,,podaka",  welcher  Name  sich  vier- 
mal wiederholt,  keine  vollständig.  Ob  letzteres  nun  als  „Geber  alles 


Statuette  ,,Nemisa"  (Vorderseite). 


Guten"  (vergl.  das  slavische  „podatelj"  Geber)  zu  deuten,  oder  als 
„vodak,  vodaka"  (  Führer),  zu  lesen  ist,  kann  nicht  entschieden 
werden,  bis  nicht  ein  Vergleichsmaterial  anderer  Provenienz  vorliegt. 
Die  Figur  trägt  auf  beiden  Seiten  einen  Löwenkopf,  den  einst  eine 
.Strahlenkrone  geziert  zu  haben  scheint. 

3* 


34 


„Prizri".  Diese  Statuette  ist  ein  Kniestücl^;  der  Kopf  ist  wieder 
der  eines  Löwen  (oder  Hundes?).  Inscliriften  (Vorderseite):  „belbocg", 
„prizri"  (  Beobactiler;  prezreti  überblicl^en) ;  (Rückseite)  am  Halse 
„rinn  .  .",  dann  „rjetra"  und  „cern  .  .  ." ;  tiefer  unten  ist  das  Relief 


Statuette  „Podaka"  (Vorderseite). 


einer  nacktan  Mädchengestalt  mit  der  Beischrift  „eci  .  ." ;  an  der 
Basis,  neben  der  Figur  eines  kämpfenden  Kriegers,  steht  „as  .  .  ri", 
vermutlich,  da  nur  zwei  Buchstaben  dazwischen  Raum  haben,  „askari" 
(  Krieger,  Kämpfer) ;  „asker"  heisst  bei  den  Balkanslaven,'Osmanen, 
Arabern  noch  heute:  Soldat. 


35 


3ö 


„Perkun".  —  Die  Vorderseile,  die  einen  freundlichen  bärtigen 
Männerkopf  darstellt,  hat  die  unterbrochene  Inschrift  „sa  .  .  ."  und 
dann  am  unteren  Teile:   „Perkun,   devvei   ne   duse  .  u   neman  .  .", 


Statuette  „Perkun"  (Vorderseite). 


doch  ist  diese  Transkription  bei  mehreren  Lauten  unsicher,  weil  sie 
infolge  des  Feuers  auch  verstümmelt  sein  können ;  aus  demselben 
Grunde  ist  daher  auch  der  Text  nicht  verlässlich  lesbar.  Möglicher- 
weise ist  hier  jenes  wendische  Gebet  verzeichnet,  das  Masch  (1771) 


37 


folgend  anführt:  „Percune,  dcvaitc  nicmiiski,  ma  na  dicwu  melsu,  ta 
vipal  ti  miessu",  was  er  nachstehend  übersetzt:  „Halte  ein,  Perun,  und 
beschädige  meinen  Acker  nicht,  ich  will  dir  auch  dieses  Fleisch  opjern." 


Statuette   „reikun"   ( RückS(.i.c,. 


Diese  Übersetzung  ist  aber  sowohl  inhaltlich  unnatürlich  als  auch 
sprachlich  unzutreffend,  denn  der  Salz  besagt  eher:  „Perun,  gib  acht 
auf  den  Nachbar  (Feind),  er  hat  die  Gräber  im  Auge,  [der  brennt  dir 
die  Grenze  nieder."    Die  „Lotwacy"  (Litauer)  nennen  die  Hünengräber 


38 


(Grenzhügel)  „milsu  kappi" ;  „niemuski"  unmännlich,  feindlich ; 
„meza"  Grenze.  Auf  dar  Riickseüe  steht  „perkunust"  Grenz- 
beschützer („pera",  slav.  Grenze,  das  Gegenüber)  und  „en  romau" 


(Vorderseite.)  Statuette   ,,Sieba,  Siva".  (Rückseite.) 


ein  Krieger,  Grenzwächter  („roma,  rama",  slav.  Grenze.)  Überdies  kann 
,,melsu"  auch  Rache  bedeuten. 

„Sieba,  Siva".  —  Die  Inschrift  „Sieba"  kommt  fünfmal,  „Siva" 
einmal  vor.  —   Inschriften  (Vorderseite):  „Sieba",  (Rückseite)  „Sieba, 
razivia,  istia".    Es  scheint,   dass    „razivia"(m)     geritzt   („raziti" 
schlagen,  einmeissaln)  und  „istie"     wahr,  echt  bedeutet,  was  also 


39 


besagen  würde:  „Sieba,  dargestellt  als  wahr",  d.  h.  „ein  wahres 
Bild  der  Sieba",  was  umso  glaubwürdiger  erscheint,  da  dies  alles 
auf  der  Rückseite  steht,  wo  sich  der  Künstler  normal  zu  verewigen 
pflegte.  —  Man  nimmt  allgemein  an,  dass  dies  eine  weibliche  Gott- 
heil u.  zw.  die  Beschützerin  der  Liebe  und  Ehe  sei,  worauf  die  fe- 
minine Form  deutet,  doch  kann  dies  nur  eine  spätere  Auslegung 
oder  Anpassung  sein,  denn  in  der  indischen  Mythologie  ist  „Ziva" 
doch  noch  eine  männliche  Gottheit.  Ob  daher  die  landläufige  Ety- 
mologie von  „Ziva"  (  Leben)  zutreffend  ist,  ist  daher  sehr  zu  be- 
zweifeln. 

„Roste".  —  Diese  vom  Feuer  besonders  stark  beschädigte 
Statuette  wird  nur  deshalb  angeführt,  weil  sie  die  kunstvollste  der 
ganzen  Sammlung  zu  sein  scheint,  denn  sie  weist  eine  Menge  Attri- 
bute und  Reliefs  auf,  die  sich  sonst  nur  einzeln  wiederholen.  Lesbar 
sind  nur  mehr  die  Schriftfragmente  „  .  .  tbas"  .  ."  und  „  .  .  .  roste" 
(oder  „rosta");  es  ist  möglich,  dass  letzteres  einst  „starosta"  (  Äl- 
tester) lautete.  —  (Eine  Illustration  wurde  nicht  beigegeben,  da  sich 
die  Relieffeinheiten  mangels  einer  guten  Photographie  nicht  hervor- 
heben Hessen.) 

B.  TIERFIGUREN. 

„Cernebocg."  —  Auf  einer  Löwenfigur  ist  nebst  sonstigen 
Schriftfragmenlen  „cernebocg"  eingraviert.    Schon   auf   den  Statuetten 


Fig.  ,, Cernebocg". 

kommen  wiederholt  Teile  dieses  Wortes,  wie  „cern  .  .  .,  cir  .  .  ." 
vor,  aber  der  volle  Name  ist  —  nebst  einigen  später  angeführten 
Grabamuletten  —  nur  hier  zu  lesen.  Da  „cer,  cir"  im  Altslavischen 
Grenze  bedeutet,  kann  sich  diese  Bezeichnung  sonach  nur  auf  einen 
Grenzbeschützer,    also   einen   Schutzgott   beziehen.   —   Die 


40 


bisherige  allgemeine  Annahme,  dass  dies  ein  Gott  des  bösen  „schwar- 
zen" Prinzips  sei,  ist  schon  deshalb  unhaltbar,  weil  er  sich  immer  in 
Begleitung  von  Götzennamen  des  guten  Prinzips  findet. 

„Siegs  a."  Auf  einer  Tierfigur  steht  auf  der  linken  Seite  „sicgsa", 
auf  der  rechten  „barstu" ;  die  Etymologie  beider  Begriffe  ist  dermalen 
noch  nicht  verlässlich  bekannt. 


(Linke  Seite.)       Fig.   „Sicgsa".     (Rechte  Seite.) 

„V  ei  devot".  —  Eine  satyrartige  Ge- 
stalt mit  einem  hundeähnlichen  Kopf  und 
Pferdefüssen  trägt  links  die  Aufschrift  „vei- 
devot"  (  vojevod,  d.i.  F e  1  d h e r r,  H  e e r- 
führer)  und  „krivol",  falls  die  Lesung  in- 
folge Brandeinflusses  so  richtig  ist.  Dieser 
letzlere  Begriff  sowie  „berstuk"  auf  der 
rechten  Seite  sind  dermalen  sprachlich  noch 
nicht  verlässlich  gedeutet. 


„Mita". 

Ein 

buldoggar- 

tiger  Hund 

auf  einem 
Postamente 

trägt  die 

Aufschrift 
„mita", 

was  ety- 
mologisch 

Grenze, 

hier   also 
Wachhun  d, 


Fig.  „Veidevot". 

Grenzwächter, 


Beschü- 


Fig.   „Mita". 


tzer  zu  bedeuten  scheint. 


41 


C.   WAFFEN. 

„S vante vil j."  —  Ein  elwa  13cm  langes,  gebogenes  Messer 
trägt  die  Gravierung  „svantevitj",  -  „Zvan,  svan"  bedeutet  etwa  der 
Auserwählte,  Hohe,  Stolze  und  galt  „svante"  einst  in  Schwe- 


Fig.  „Svantevitj". 

den  auch  als  Funktionsname ;  „vid"  (  das  Sehen,  das  Gesicht)  ist 
der  zur  Beobachtung  Berufene,  also  der  Alle  s überblickend e. — 
Aus  diesem  Grunde  wurde  Svantevitj  oft  auch  mit  2  oder  4  Köpfen 
dargestellt.  (Vergl.  auch  die  Sammlung  Sponholtz.) 


„Vodja". 
Inschrift  „vodja" 


Fig.  ,, Vodja" 


Ein  dreiflächiges,   7  cm  langes  Messer    trägt  die 
Führer). 


E>si^ 


„Siva".   —    Eine  etwa    \k  cm   lange   Lanzenspitze   trägt   diese 
Inschrift.  Auf  einer  Seite  ist  ein  Affe,  wie  er  auch  sonst  beim  Namen 


42 


„Sieba"  vorkommt,  und  unter  diesem  ein  Käfer  in  Relief  zu  sehen; 
lefzleres  Atlribul  ist  jedoch  ansonst  nur  dem  „beibog"  beigegeben.— 
Andere  Waffen  tragen  Namen,  wie:  radegast,  podaga,  sieba. 


Stange   ,,opora' 


Fig.   ,,Piove". 

„Prove".  —  Dieser  Name  kommt 
in  dieser  Sammlung  zweimal  vor  u.  zw. 
auf  dem  hier  dargestellten,  etwa  \0  cm 
langen  Messer,  dann  auf  einem  Teller, 
auf  dem  sich  alle  bisher  bekannten  Götzen- 
namen zusammen  eingraviert  befinden.  - 
„Prove"  galt  den  Wenden  als  der  Gott 
des  Rechtes  und  der  Ordnung  ;  nach  Hel- 
mold  fand  man  sich  in  einem  Haine  bei 
Stargard  (Pommern)  jeden  Dienstag  zu 
einer  Gerichtssitzung  bei  ihm  ein.  —  Der 
Begriff  ist  sprachlich  gleichen  Stammes, 
wie  das  slavische  „pravo"  (  Recht),  das 
lateinische  „probus"  (  rechtschaffen), 
das  deutsche  „brav"  und  das  französische 
,, brave"  (     tapfer).  — 

D.  SONSTIGE  GERÄTE. 

Stange  mit  der  Inschrift  „opora". 
Obschon  ein  slavisches  Wort  (  Stütze, 
Krücke,  Funktionsstab),  ist  „opora"  hier 
mit  griechisch-russischen  Buchstaben  ge- 
schrieben. Man  muss  daraus  schliessen, 
dass  diese  Weihobjekte  zu  verschiedenen 
Zeilen,  namentlich  aber  von  verschie- 
denen Seiten  hier  zusammengetragen 
wurden.  Es  mag  dies  eine  Art  Ehrenstab, 
wie  wir  sie  noch  jetzt  als  Bischofsstab, 
Marschallstab  u.  ä.  kennen,  dargestellt 
haben,  doch  konnte  er  keine  praktische 


Bewertung  gehabt  haben,  da  er  nur  ein 
lang        darstellt. 


e  Miniatur       ist  kaum  26 


43 


cm 


i-.^i^»  rÄ;,f:£  r",;rrrr  ,s: 


'^'i       ''■% 

''V     .r^^^ 


Schale  mit  allerlei  Reliefs. 

.radegast";  oberhalb  ein  gekrönter  Vogel;  rechls  davon  ein  "ir^ds 
köpf  mit  der  Beischrift  „zobok"  ,  Hund,  russ.  „sobaka"  di  s  m 
gegenüber  .st  e,ne  nackte  Mädchengestalt  mit  der  ßeischr  ft  nem  s- 
unten  m  der  Mitla  ist  eine  Traube  zu  sehen;  links  davon  e'iXfe; 
m.t  der  Be.schrift  „beibog"  und  rechts  davon  ein  Ammon,"  (Musche 


44 


Versteinerung)  mit  der  bisher  noch  nicht  bekannten  Bezeichnung 
„Japan"  d.  i.  Väterchen  (slov.  „japa"  Vater).  —  Die  übrigen  Zwi- 
schenschriften sind  bis  auf  „  .  .  .  ga"  („podaga")  durch  Feuer  bis 
zur  Unkenntlichkeit  zerstört  worden.  —  !Die  Schale  ist  \S  cm  lang 
und  13  cm  breit.  — 


Teller,  mit  den  Inschriften  „sieba,  rjetra"  usw.  (Oberseite.) 


Teller  mit  den  Inschriften:  ,, sieba,  rjetra,  podaga,  radegas*, 
prove"  und  einigen  sonstigen  abgeschmolzenen  Schriftfragmenten 
auf  der  Oberseite.  Auf  der  Unterseite  sind  Schriftreste  ,, . . .  belmt . . ., 
.  .  .  zigjo  .  .  ."  zu  lesen,  deren  sprachliche  Klärung  unter  diesen  Ver- 
hältnissen nicht  möglich  ist.  —  Der  Teller  misst  16  cm  im  Durch- 
messer. 

Es  sind  weiter  noch  Geräte  da  mit  den  Inschriften  ,,jint,  tsibaz, 
beimok",  wobei  jedoch  nicht  erkennbar  ist,  ob  und  welche  Teile  der 


45 


Schrift  fehlen ;  sie  werden  hier  auch  -nur  deshalb  angeführt,  weil  es 
möglich  ist,  dass  sich  noch^Objekte  finden,  auf  denen  diese  Namen 
deutlicher  geschrieben  erscheinen,  um«j|Zu  einer  verlässlichen  Ety- 
mologisierung schreiten  zu  können.*) 


Teller,  mit  den  Inschriften  ,,sieba,  rjetra"  usw.  (Unterseite.) 


*)  Die  Redaktion  bedauert  es,  daß  hier  keine  modernen  Reproduktionen  der 
Originale  geboten  werden  konnten,  weil  ihr  dies,  trotz  Bemühungen,  von  der 
Leitung  des  Großherzoglichen  Museums  in  Neustrelitz  verweigert  wurde;  die  ge- 
botenen Illustrationen  sind  daher  nur  photographische  Vervielfältigungen  der  Hand- 
zeichnung des  Hofmalers  Daniel  Woge,  aus  dem  J.  1770,  der  sie  allerdings,  wie 
er  selbst  beifügt,  »nach  den  Originalen  auf  das  genaueste  gcmahlet  und  in  Kupfer- 
stichen ausgegeben«.  Es  muß  daher  abgewartet  werden,  bis  am  genannten  Museum 
ein  wissenschaftlich  objektiveres  Regime  durchgreift,  obschon  die  Schrifttexte 
selbst  bisher  stets,   als  von  Woge  richtig  wiedergegeben,   angesehen  wurden. 


46 

b)  Die  wendisch-heidnischen  Grab-Amulelte. 

(Sammlung  Sponholtz.) 

Gideon  Sponholtz,  der  kurz  nach  dem  Jahre  17%  gestorben  sein 
muss,  war  ein  namhafter  Archäologe  in  Mecklenburg  und  von  Jugend 
auf  ein  ileissiger  Sammler  von  Altertümern  Und  Sehenswürdigkeiten, 
wozu  ihn  wohl  auch  der  Umstand  animiert  haben  mag,  dass  ihm  als 
Verwandten  des  schon  bekannten  Pastors  Friedrich  Sponholtz  die 
Devolionalien  von  „Rhetra"  durch  Erbschaft  zufielen;  im  Volksmunde 
war  er  seiner  Grabungen  wegen  allgemein  als  „Schatzgräber"  be- 
kannt. Bei  seiner  jahrelangen  archäologischen  Tätigkeit  machte  er 
nun  auch  selbst  sehr  zahlreiche  Funde  von  Bronzegegenständen  so- 
wie Münzen,  Waffen,  beschriebenen  Steinen  u.  dgl.  Seine  Sammlung 
von  Bronzen,  die  Masch  wohl  noch  nicht  bekannt  war,  bestand  aus 
118  verschiedenen  Stücken.  Als  nun  i.  3.  1794  Graf  Johann  Potocki 
auf  einer  Reise  nach  Neu-Brandenburg,  den  Wohnort  Sponholtz'  kam, 
erfuhr  er  von  diesen  Altertümern,  zeichnete  dieselben  ab  und  ver- 
öffentlichte sie  nach  den  gemachten  Skizzen  in  einem  eigenen  Werke.*) 

Auch  diese  Funde  wurden  gleich  ob  ihrer  Echtheit  angezweifelt 
und  aus  diesem  Grunde  in  den  Jahren  1827  bis  1829  —  angeblich 
gründlich  —  untersucht  und  schliesslich  als  gefälscht  erklärt.  Die 
Belastungsgründe  waren  etwa  folgende: 

a)  Ein  Töpfer  in  Neu-Brandenburg,  namens  Pohl,  habe  Spon- 
holtz für  jede  Figur  die  tönerne  Gussform  erzeugt;  letzterer  war  je- 
doch so  vorsichtig  und  vernichtete  die  Formen  sofort  nach  dem 
Gebrauche,  so  dass  man  keinen  konkreten  Beweis  hiefür  finden 
konnte  (?) ; 

h)  die  Runeninschriften  auf  den  Bronzen  besorgte  etwa  der 
Goldarbeitergehilfe  Neumann  daselbst,  dem  Maschs  Werk  zur  Vor- 
lage diente. 

Dem  sei  folgendes  entgegengestellt: 

ad  a)  dass  ein  Archäologe,  der  diese  Wissenschaft  nebstbei  aus 
Liebhaberei  und  nicht  aus  Geschäftsgründen  betreibt,  falsche  Anti- 
quitäten für  seine  Sammlung  erzeugen  und  dazu  einen  Töpfer  ein- 
weihen wird,  ist  an  sich  eine  derart  skurrile  Behauptung,  dass  man 
ihr  von  vorneherein  den  Ste:Tipel  der  Erfindung  ansieht,  da  jeder- 
mann weiss,  dass  man  schon  bei  Ab-  oder  Umgrabungen  von  prä- 
historischen Gräbern   immer  allerlei   und  zahlreiche  Beigaben  findet, 

*)   ^>Vovage   dans   quelques   parties   de   la    Basse-Saxe    pour   la    recherche    de 
r   antiquites  Slaves   ou   V'endes<^.  —  Hambourg    1795.   — 


Mli 


47 

es  also  durchaus  nicht  notwendig  ist,  den  so  ungemein  umständ- 
licheren und  aussichtsloseren  Weg  des  Fälschens  zu  betreten.  Ar- 
chäologen, die  sich  nur  kurze  Zeit  mit  Ausgrabungen  beschäftigen, 
bringen  auf  diese  Art  bekanntermassen  sehr  bald  ein  kleines  Museum 
zusammen. 

ad  b)  Nun  soll  Sponholtz  noch  einen  zweiten  Mitwisser  und 
Helfer  in  dem  Goldarbeitergehilfen  gehabt  haben,  der  dessen  Mentor 
im  Runenfache  war.  Man  hat  aber  bei  diesem  Verleumdungsfeldzuge 
ganz  übersehen,  dass  Maschs  Werk  dazu  bei  weitem  nicht  genügte, 
denn  diese  Bronzen  haben  zum  Teile  wohl  die  gleichen  Buchstaben 
und  bieten  gleiche  oder  sehr  ähnliche  Namen,  zum  Teile  aber  auch 
ganz  verschiedene  Alphabete  und  bisher  unbekannte  Texte.  Diese 
Behauptung  schliessl  daher  eine  aufgelegte  Unwahrheit  in  sich,  und 
wurde  wohl  nur  unter  der  optimistischen  Voraussetzung  aufgestellt, 
dass  daraufhin  niemand  mehr  eine  Nachkontrolle  üben  wird,  was 
auch  beinahe  zugetroffen  wäre. 

Da  aber  schon  seinerzeit  festgestellt  wurde,  dass  der  erwähnte 
Gehilfe  weder  die  Runenschrift  kannte  noch  etwas  vom  Slavischen,  — 
vom  Altslavischen  ist  ja  schon  gar  keine  Rede  — ,  verstand,  so 
müsste  er  demnach  mehrere  Vorlagen  gehabt  haben.  Hiemit  kommen 
aber  die  Fälschungsenthusiasten  in  ein  noch  peinlicheres  Gedränge : 
woher  kamen  nun  diese  Vorlagen?!  Und  waren  auch  diese 
gefälscht,  so  müssen  wir  zum  Schlüsse  doch  zur  echten  Vorlage 
kommen,  dah9r  der  Streit  in  dem  Momente  endet,  als  man  das 
Vorhandensein  einer  echten  Vorlage  zugeben  muss. 
Und  solche  waren  einmal  bestimmt  da,  und  können  nur  von  jeman- 
dem stammen,  der  die  altslavische  Sprache  vollkommen  beherrschte 
sowie  die  slavische  Runenschrift  in  allen  ihren  Varianten  kannte. 
Hingegen  ist  es  für  unsere  Kulturbeweise  ganz  gleichgültig,  ob  die 
vorliegenden  Bronzen  noch  Originale  oder  aber  schon  Duplikate  sind; 
wir  können  daraus  lediglich  folgern,  dass  die  Erzeugniszeit 
der  Originale  umso  älter  ist,  je  zahlreicher  die  Ver- 
vielfältigungen an  den  Tag  treten. 

Was  aber  auf  diese,  nach  Ablauf  von  40  Jahren  nach  dem 
Funde  und  33  Jahre  nach  dem  Tode  Sponholtz'  geführte  Nachfor- 
schung überhaupt  zu  geben  ist,  in  der  nahezu  eine  ganze  Generation 
abstirb!,  und  die  ausschweifendsten  Märchenbildungen,  vage  Vermu- 
tungen und  die  geschwätzige  Fama  die  Wahrheü  leicht  überwuchern, 
ersieht  man  am  besten  daraus,  dass  die  nüchterne  Aussage  des  bei 
Sponholtz  durch  sieben  Jahre  bediensteten  archäologischen  Gräbers 
Daniel  Boye  dabei  ganz  überhört,  hingegen  alles  Sonstige  ernst  auf- 

Zunkovic  :  „Slavische  Runendenkmäler".  4 


48 


genommen  wuide,  weil  man  es  eben  so  haben  wollte  und  brauchte. 
Zum  mindesten  ist  es  wahr,  dass  Sponholtz  jahrelang  und  sehr  fleissig 
Nachgrabungen  vornahm,  da  er  sich  einen  eigenen  archäologischen 
Gräber  hielt;  gegraben  wurde  somit  auf  jeden  Fall,  denn  sonst  hätte 
man  Sponholtz  auch  nicht  bei  Lebzeiten  den  Namen  „Schatzgräber" 
beigelegt,  und  dass  dabei  interessante  Funde  gemacht  worden  sein 
müssen,  kann  man  schon  daraus  folgern,  dass  eben  viele  Jahre  hin- 
durch fortgegraben  wurde.  —  Nebstbei  war  es  bekannt,  dass  der 
Herzog  Adolf  von  Mecklenburg  die  unumschränkte  Erlaubnis  gegeben, 
Sponholtz  dürfe  auf  den  Staats-  und  Hofdomänen  nachgraben,  wo  es 
ihm   beliebt,   und  wurden   ihm   sogar   die  Arbeitskräfte   unentgeltlich 


'AT^HTh^ 


■'%'■ 


Karte  der  Umgebung  von  PriUwitz.   -  Maßstab:   1  cm        1   km. 


beigestellt.  Die  Motive  der  Verdächtigung  bezw.  Fälschungserklärung 
beruhen  daher,  wie  bei  allen  analogen  Fällen,  entweder  auf  histori- 
schen Wissensmängeln  oder  krankhafter  Sucht,  altslavische  Kultur- 
beweise nicht  aufkommen  zu  lassen. 

Nun  haben  aber  die  Verleumder  noch  etwas  sehr  Wichtiges  über- 
sehen ;  es  gibt  nämlich  in  keiner  Gegend  Deutschlands  so  viel  Hünen- 
Gräber,  wie  gerade  hier  an  der  Landesgrenze  um  den  Tollense-See. 
Die  beigegebene  Militärkarte  weist  in  dem  verhältnismässig  kleinen 
Territorium  allein  schon  vier  Lokalitäten  als  „Hünen-Gräber"  auf, 
trotzdem  solche  Terrainobjekte,  da  sie  militärisch  keine  besondere 
Bedeutung  haben,  nur  dann  aufgenommien  werden,  wenn  sie  beson- 


49 


ders  auffallen.  —  Es  isl  daher  durchaus  kein  Zufall,  dass  hier  so 
lange  gegraben  und  so  viel  gefunden  wurde,  und  wäre  wohl  noch 
heute  eine  Menge  Gleiches  oder  Ähnliches  zu  finden,  wenn  man  die 
Nachgrabungen  rationell  fortsetzen  würde,  was  wohl  den  schlagend- 
sten Beweis  bringen  müssle,  dass  es  sich  hier  absolut  um  keine 
Schwindeleien  handle. 

Diese  Bronzen,  die  alle  als  Beigaben  in  allen  Gräbern  gefunden 
wurden,  daher  hier  auch  als  „Grab-Amulette"  gekennzeichnet  werden, 
machen  den  Eindruck  eines  höheren  Alters  als  die  Devotionalien  und 
stützen  die  Schrifttexte  mit  ihren  originellen  Sprachformen  sowie  die 
im  allgemeinen  weniger  kunstvolle  Ausführung  diese  Annahme. 

Als  Beispiele,  wie  die  Bronzen  dieser  Sammlung  aussehen, 
werden  nachfolgend  nur  acht   derselben   dargestellt,   umsomehr   als 


(Vorderseite.) 


Flg.   1. 


Rückseite.) 


die  Zeichnungen  Polockis  nur  einen  flüchtigen  Charakter  haben,  so- 
nach nicht  in  allen  Teilen  als  unbedingt  getreu  angesehen  werden 
können.  Diese  Objekte  könnten  daher  erst  dann  einer  genauen  wis- 
senschaftlichen Behandlung  unterzogen  werden,  bis  sie  an  Ort  und 
Stelle  studiert  oder  doch  photographisch  reproduziert  werden  können, 
was  einstweilen  unmöglich  ist,  weil  die  dermalige  Leitung  des  Gross- 
herzoglichen Museums  in  Neustrelitz  diese  Nachkontrolle  der  fixen 
und  traditionellen  Idee  wegen,  diese  Objekte  seien  gefälscht,  verwei- 
gert, d.  h.  in  die  Wirklichkeit  umgesetzt,  der  beschämenden  wissen- 
schaftlichen Entgleisung  in  dieser  Sache  die  Mauer  macht,  denn  wäre 

4* 


50 


man  überzeugt,  dass  es  Fälschungen  sind,  so  würde  es  gewiss  nie- 
mandem einfallen,  einer  Überprüfung  hinderlich  zu  sein ;  nur  die 
Falschmünzer  arbeiten  bei  verschlossenen  Läden  und  stemmen  sich 
gegen  die  Türe,  wenn  die  Polizei  Einlass  heischt ;  eine  ehrliche  Sache 
verträgt  hingegen  jede  Kontrolle. 

Fig.  1.  —  Bronzestatuette  mit  der  Inschrift  „rjetra"  auf  der  Vor- 
der- und  „romavo"  und  „eljei  .  .  n"  auf  der  Rückseite;  zwischen 
dem  „i"  und  „n"  scheinen  2—3  Laute  durch  die  Oxidierung  ver- 
schwunden zu  sein.   Der  Laut  „v"  ist  hier  wesentlich  anders  als  in 


(Vorderseite.) 


Vis.  2, 


(Rückseite.) 


Masch  dargestellt,  ist  aber  auch  keine  Erfindung  cjd  hoc,  denn  die- 
selbe Darstellungsweise  hat  auch  ihre  Analogien  bei  den  Steinen  von 
Mikorzyn,  die  später  besprochen  werden. 

Fig.  2.  —  Bronzestatuette;  hat  auf  der  Rückseite  die  Inschriften: 
„bjelbog,  svantevitj,  remtra",  wobei  namentlich  das  „b"  und  „v"  wie- 
der von  jenen  des  Masch  stark  differieren. 

Fig.  3.  Bronzestatuette  mit  der  bisher  noch  unbekannten 
Inschrift  „balduri".  Die  Vorderseite  zeigt  zwei  Köpfe,  deren  unterer 
sich  später  bei  den  Urnensteinen  in  ähnlichen  Konturen  vorfindet. 


51 


Fig;.  3  a. 


Fig.  ^.  -  Bronzestatuelle 
vorne  mit  der  Insclirift  „rag.it", 
rücl^wärls  mit  „rjetra"  und  „kare- 
vjit",  also  zwei  Namen,  die  sonst 
nicht  vorkommen. 

Fig.  5.  —  Bronzestatuelte; 
zeigt  auf  der  Rückseite  eine  ver- 
zierte und  von  jener  des  Masch 
stark  abweichende  Schrift ;  das 
Alphabet  scheint  jünger  zu  sein  ; 
das  Lesen  ist  unsicher,  weil  die 
Buchstaben  vielfach  verzerrt  sind 
und  nicht   in  einer  Linie   liegen. 


Fig.  3  b. 

(Dürfte  die  Rückseite 

sein.) 


(Vorderseite.)       Fig.  4.       (Rückseite.)  Fig.  5.  (Rückseite.) 

Fig.  6.  —  Bronzeslatuette  mit  der  Inschrift  „rjetra"  und  „voda" 
auf  der  Vorder-,  und  „kodebu"  auf  der  Rückseite. 

Fig.  7.  —  Bronzestatuette  mit  der  Inschrift  „tsiba"  und  „rjetra" 
(„rjeetra").  --   Dass  die  „Göttin"  Ziva  sonach  eine  schöne  Mädchen- 


52 


gestaU  oder  überhaupt  ein  weibliches  Wesen  bezeichnen  müsste,  gehl 
daraus  wohl  nicht  hervor,  denn  hier  zeigt  die  Figur  einen  Hundekopf; 


Fig.  6  a. 

dass  aber  derselbe  Fäl- 
scher eine  Personifika- 
tion derart  variieren  wür- 
de, ist  geradezu  ausge- 
schlossen, sofern  er  hie- 
mit  wirklich  die  Göttin 
der  Liebe  oder  Ehe  dar- 
stellen wollte. 

Fig.  8.  —  Kleines, 
mondsichelartiges 
Bronzeamuletl.  Die  Rück- 
seitelrechtejzeigtin  sonst 

abweichender  Schrift 
einen  Text,  dessen  Le- 
sung unverlässlich  ist, 
da  man  nicht  weiss,  wo- 
hin der  isolierte  Buch- 
stabe einzureihen  ist ;  die 
Vorderseite  Hinke)  stellt 
jedoch   das   Profil  eines 


Fig.  6  b. 


(Vorderseite.)         Fig.  7, 


Rückseite. 


Kopfes  mit  ehrwürdigem  Aussehen  dar;  die  Umschrift  „bogotec"  oder 


53 

„bogotce"  (  Gottvater)  klärt  aber  die  beigegebene  Figur  näher  auf. 
Dieser  Begriff  wird  bei  den  Slaven  noch  heute  als  „bog  oce"  oder 
„bog  otec"  allgemein  gebraucht.  Welche  Lesung  die  richtigere  ist,  das 
ist  noch  nicht  klar,  da  man  in  der 
Schlussligatur  sowohl  das  „c"  als 
in  das  „e"  eingelegt,  wie  auch  um- 
gekehrt, lesen  kann;  wie  erwähnt, 
sind  aber  beide  Formen  zugleich 
noch  heute  sprachgebräuchiich.  — 
Es  scheint,  dass  dieses  Stück  bezw. 
die  Darstellung  der  obersten  Gott- 
heit in  dieser  Art  uralt  ist,  denn 
nicht  nur   die   christliche,   sondern  Pi„  3 

auch    die    heidnischen    Religionen 

stellten  den  „Gottvater"  stets  mit  einem  ernsten  und  ehrwürdigen 
Gesichte  dar,  wie  z.  B.  die  Griechen  den  Zeus,  die  Römer  den  Jupi- 
ter, die  Ägypter  den  Serapis,  die  Wenden  den  Perun  u.  a. 


c)  Die  Urnensleine  von  Mecklenburg. 

(Sammlung  Sponholtz.) 

Auf  den  Dorffiuren  von  Prillwitz,  Neubrandenburg,  Berenstorf, 
und  Trollenhag  (Mecklenburg -Strelitz)  fand  der  Altertumsforscher 
Gideon  Sponholtz,  der  kurz  nach  dem  3ahre  17%  gestorben  sein 
muss,  verschiedene  mit  Runen  und  primitiven  Figuren  gezeichnete 
Steine.  Er  nannte  sie  Famili  en  steine,  in  der  Meinung,  dass  die 
Mitglieder  einer  Familie  stets  an  derselben  Stelle  beigesetzt  wurden, 
wo  ihr  Runenstein  lag.  Dies  scheint  jedoch  nicht  zuzutreffen,  denn 
die  Steine  lagen  entweder  auf  den  Urnen  selbst,  vermutlich  zu  dem 
Zwecke,  um  das  Eindringen  von  Erde  zu  verhindern,  oder  aber  da- 
neben, wenn  die  Urne  schon  zusammengebrochen  war. 

Die  Steine  sind  dem  Gerolle,  wie  es  um  den  Tollense-See  all- 
gemein vorkommt,  entnommen  und  gehören  Urgesleinsgattungen  an. 
Der  grösste  Stein  wiegt  fast  \0  kg,  der  kleinste  nur  \  kg.  Sie  haben 
alle  ihre  natürliche  rohe  Gestalt  behalten  ;  nur  einige  sind  an  jener 
Stelle  geebnet,  welche  nun  die  Schrift  oder  Figur  aufweist. 

Die  Runenschriften  weichen  bis  auf  einen  Fall  von  den  rwr- 
malen  nicht  ab;  die  Texte  sind  jedoch,  —  ausgenommen  die  Namen 
„Mitra"  und  „Sieba"  — ,   nur  als   Initialen  oder   höchstens  Anfangs- 


54 

Silben  ausgeführt.  Die  Figuren  sind  ausschliesslich  in  Silhoueltemanier 
dargestellt ;  wahrscheinlich  war  die  Härte  des  Gesteins  ein  Hindernis 
für  ausführlichere  Darstellungen.  Ansonst  stehen  diese  Inschriften  und 
Figuren  mit  jenen  der  Bronzefunde  im  innigen  mythologischen  Zu- 
sammenhange, da  sich  hier  dieselben  Namen  (bis  auf  „Mitra")  und 
figürlich  auch  dieselben  Attribute  wiederholen ;  die  sprachliche  wie 
religiöse  Provenienz  ist  daher  bei  allen  drei  Sammlungen  dieselbe 
oder  doch  eine  organisch  verwandte. 

Masch,  der  die  Rjetra-Statuetten  beschrieb,  kannte  diesen  Fund 
noch  nicht,  da  er  eben  nach  ihm,  etwa  in  der  Zeit  von  1785—1793 
gemacht  wurde.  Der  erste,  welcher  diese  Steine  eingehend  beschrieb, 
war  Friedrich  v.  Hagenow,*)  dem  es  auch  gelang,  da  auch  diese 
Steine  sofort  als  Fälschungen  erklärt  wurden,  jenen 
archäologischen  Gräber  Boye  ausfindig  zu  machen,  der  bei  Sponholtz 
durch  7  Oahre  in  diesem  Dienste  stand,  zu  gerichtlichen  Aussagen  zu 
bringen.  Boye  hat  nun  ungefähr  30  3ahre  später  glaubwürdig  die 
natürliche  Herkunft  dieser  Runensteine  aufgeklärt  und  konnte  sich 
bei  den  interessanteren  noch  erinnern,  auf  welcher  Flur  sie  gefunden 
wurden.  Er  erzählte  weiter,  dass  sie  am  Wasser  nächst  Prillwitz  10 
Bronzefiguren  ausgegraben  haben,  die  wie  kleine  Vögel  (vgl.  Fig.  6 
Seile  52)  aussahen.  Ausserdem  wurden  sonstige  verschieden  geformte 
Erzstücke  sowie  auch  etliche  alte  Münzen  in  Urnen  gefunden ;  er 
besass  auch  selbst  einiges  hievon,  verlor  aber  bei  einem  feindlichen 
Überfall  (180S— 1807)  alle  seine  Habe  und  darunter  auch  diese  Alter- 
tümer. Einige  Erzstücke,  die  seinerzeit  als  wertlos  zurückgelassen 
wurden,  holte  Boye  noch  und  übergab  sie  Hagenow  im  Jahre  1826 
als  Beweis,  dass  er  wahr  gesprochen.  Ebenso  seien  damals  kleine 
und  grosse  Dolche  mit  Griffen  aus  feinem  Dukatengold  sowie  auch 
andere  Metallgegenstände  gefunden  worden,  wie:  Armgeschmeide, 
Ringe,  Sporen,  mehrere  Ochsenfiguren,  Tränentöpfe  u.  ä. 

Herzog  Adolf  von  Mecklenburg,  der  von  der  Sammlung  wusste, 
erwarb  sie  später  von  Sponholtz  um  eine  Jahresrente  von  300  Talern 
und  6  Faden  Holz.  —  Es  sollen  sich  auch  weit  mehr  Urnensteine  in 
der  Sammlung  befunden  haben,  doch  gingen  später  im  Museum  zu 
Neustrelitz,  wo  sie  frei  umherlagen,  ja  bis  heute  unbewacht  liegen, 
bis  auf  ik  alle  verloren. 

Fig.  1  stellt  den  „Radegast"  dar,  was  nicht  nur  das  typische 
Attribut  —  die  Gans  —  auf  dem  Kopfe,  sondern  auch  die  beigesetz- 

*)  Hagenow  F,  v.,  Beschreibung  der  auf  der  grossherzoglichen  Bibliothek 
zu    Neu-Strelitz    befindlichen    Runensteine    usw.    —   Loitz    1826. 


ten  Runen  RAD  bestätigen.  Bei  diesem  Urnensteine  felilt  augenscliein- 
licli  ein  Stück,  da  die  Zeictinung  wie  die  Sctiiiff  bis  an  den  Rand  gehit. 

Fig.  2.  Bei  der  Mittelfigur  ist  näher  nicht 
erkennbar,  was  sie  darstellen  soll,  umsomehr 
als  die  sechs  Runenzeichen  um  dieselbe  bis 
auf  das  R  und  A  nicht  verlässlich  lesbar  sind, 


Fig.   1. 


Fis  2. 


und  diese  Runenformen  sonst  nicht  vorkommen. 

Fig.  3.   Hier  findet   sich  wieder   dieselbe  Mittelfigur   und   ober 

derselben  eine  Tierfigur.  Am  unteren 
Rande  steht  wieder  „RAD"  (Radegast) ; 
oben  ist  unter  einem  horizontalen  Striche 
ein  5  (oder  /und  A],  in  der  Mitte  ein  M, 


Fig.  3. 


und  links  ein  /  und  N,  deren  Bedeutung  einzeln  wie  zusammenhän- 
gend unbekannt  ist,  oder  nicht  verlässlich  gedeutet  werden  kann. 


56 


Fig.  4   stellt  augenscheinlich  eine  Schlange   (oder  Fisch?)  dar; 
um  die  Figur  sind  4  Buchstaben  angebracht,  von  denen  nur  A  und  M 
sicher  lesbar  sind.  Bei  diesem  Steine  ist  auch  die  Rückseite  beschrie- 
ben ;   um   einen  Kreis   in  der 
Mitte,  stehen  die  Buchstaben  : 
/?,  G,L,A,E(N?)  und  M,  die 
jedoch,  wie  und  wo  man  sie 
zu  lesen  beginnt,  keinen  orien- 
tierenden Text  bieten. 

Fi  g.  5  trägt  die  klare  In- 
schrift „cirn",  deutet  also  auf 
den  „cirnbog". 

Fi  g.  6.  Die  Figur  mit  ei- 
nem Strahlenkranzkopfe  und 
einem  Stabe  in  der  linken  Hand, 
trägt  die  Aufschrift  „mitra".  Der  Name  ist  schon  aus  anderen  Mytho- 
logien bekannt  und  deutet  auf  einen  hohen  Würdenträger  oder  eine 
besondere    Gottheit,    denn    die  „mitra"   ist   noch   heule    das   Symbol 

hoher  kirchlicher  Würde.  — 
An  der  Seite  hat  dieser  Stein 
auch  noch  2  Zeichnungen  und 
den  Buchstaben  A  eingra- 
viert. 


Fi<r.  5. 


Fis.  <5. 


Fi"-. 


Fig.  7.  —  Zwei  Gesichtsmasken  mit  den  Buchstaben  M,  /und  A. 

Fig.  8  zeigt  eine  derbe  Figur,  welcher  der  schon  bekannte  Name 
„Sieba"  beigesetzt  ist.  Sollte  dies  wirklich  Ziva  heissen,  so  ist  dies 
ein  Rätsel,  weshalb  der  Name  nicht  entsprechend  geschrieben  ist. 
Das  A  am  Schlüsse  ist  auch  nicht  so  dargestellt  wie  sonst. 


57 


Fig.  9  stellt  nur   einen  Kreis 
umgedretit  Z/K\  einschliesst. 


dar,    der  die   Sclirift   A/M  (oder 


Fig.  10  zeigt  dieselbe  Aufschirift 
„MM"  (oder  Z/A\,  wie  Fig.  9.  Die 
Schrift  ist  an  der  Sclimalseite  des 
Steines  angebracht. 


Fig.  9. 

Fig.  11.  Hier  ist  der  Stein  eben- 
^'S-  ^-  falls  nur   an   der  Schmalseite   be- 

schrieben und  trägt  die  deutliche  Schrift  „BIL".  also  vermutlich  „Bilbog". 
Fig.  12   zeigt   ein    grosses 
mit  5  Strahlen  versehenes  /?,  und 
überdies  die  Schrift  G(K)  und  R; 
in  der  Mitte  zwischen 
beiden  ist  eine  Ligatur, 
deren     Grundbuchsta- 
ben  man   gewöhnlich 
als  fallest;  der  hinein- 
gelegte Laut  ist  /. 

Fig.  13  zeigt  wie- 
derein/?; für  die  übri- 
gen Striche 
fehlt    jeder 
Anhalts- 
punkt für 

eine 
Erklärung. 


ff^ 


Fig.   10. 


Fig.  \h  zeigt  zwei  gekreuzte  Vo- 
gelköpfe ;  vermutlich  sind  es  Tauben, 
und  gab  man  dieses  Symbol  wohl  ei- 
nem verstorbenen  Liebes-  oder  jungem 


Fig.    12. 


58 


Ehepaare  ins  Grab.   —   Man  behauptet  allgemein,  dass  dies  Falken- 
oder Sperberköpfe  seien,   doch  ist  dies  schon   deshalb   abzuweisen, 


Fig.    13. 


Fig.   14. 


weil  der  Runenschneider  da  wohl  auch  leicht  den  Typus  der  Falken- 
schnäbel zum  Ausdrucke  gebracht  hätte,  was  aber  hier  nicht  zutrifft. 


Betreffs  aller  dieser  drei  Sammlungen  kann  zum  Schlüsse  die 
sprachgeschichtlich  gestützte  Vermutung  ausgesprochen  werden,  dass 
die  Urnensteine  wahrscheinlich  die  ältesten,  die  Devotionalien  hinge- 
gen als  die  jüngsten  unter  diesen  Runendenkmälern  anzusehen  sind. 
Die  Handhabe  für  diese  Ansicht  bieten  namentlich  die  Namensformen 
mancher  Gottheiten,  die  z.  B.  bei  Masch  schon  „beibog,  cernbog" 
lauten,  also  schon  von  der  primären  Etymologie  sichtbar  abweichen, 
während  sie  auf  den  Runensteinen  noch  als  „bil,  cirn"  verzeichnet 
sind;  „beibog"  konnte  sonach  nur  mehr  jemand  schreiben,  der  „bei" 
schon  für  weiss  hielt  und  nicht  mehr  für  hoch  („vel,  vil").  — 

Noch  weniger  lässt  sich  eine  konkrete  Altersangabe  ansetzen, 
denn  man  weiss  nur,  wie  bereits  erwähnt,  dass  schon  zu  Thietmars 
Zeit  (t  1018)  über  den  Götterkult,  die  Götzennamen  und  die  altwen- 
dischen Begräbnisgebräuche  die  Traditionen  sehr  verworren  waren ; 
überdies  hingen  die  Wenden  zu  jener  Zeit  nur  mehr  geheim  am 
Heidentume  und  ist  es  offenkundig,  dass  die  wendische  Sprache  da- 
mals auch  schon  nicht  mehr  so  rein  war,  wie  sie  sich  hier  darbietet. 
Chronologisch  approximativ  kann  man  daher  kaum  viel  fehlen,  wenn 
man  die  älteren  Funde  vor,  die  jüngeren  nach  dem  Beginne  der 
christlichen  Zeitrechnung  einreiht. 

Desgleichen  bildet  die  Qualität  der  Grabbeigaben  keinerlei  Orien- 
tierungsmittel, denn  solche  waren  bei  den  Reichen  wie  bei  den  Armen 


69 

jederzeit  verschieden,  wobei  stets  die  Vermögensverliältnisse  des 
Begrabenen  entscheidend  sind.  Der  Reiche  erhielt  daher  z.  B.  eine 
Radegast -Figur  aus  Bronze  oder  gar  Gold  ins  Grab  mit,  der  Arme 
nur  einen  Stein,  der  einen  derben  Umriss  oder  nur  das  Monogramm 
desselben  Gottes  aufwies.  Ansonst  weichen  aber  jene  vorgeschicht- 
lichen Begräbnisgebräuche  doch  von  den  heutigen  in  nichts  ab.  Auch 
heute  wird  dem  Verstorbenen  ein  Bild,  ein  Kreuz,  ein  Paternoster, 
eine  Devotionalie  mitgegeben ;  auf  dem  Sarge  werden  Kreuze,  Engels- 
köpfe, Allegorien  angebracht;  auf  dem  Grabe  werden  Gedenksteine 
mit  Figuren  aufgestellt,  wie  jene  des  Christus,  Marias,  eines  Engels, 
eines  Genius,  eines  Totenkopfes  oder  überhaupt  Darstellungen,  die 
der  persönlichen  Verehrungsrichtung  des  Toten  am  nächsten  standen. 
Wie  aber  nun  der  Serbe,  Bulgare  seinen  Hauspatron  verehrt,  so  war 
es  wohl  auch  hier  in  Mecklenburg ;  der  eine  verehrte  den  Radegast, 
der  andere  den  Bilbog,  der  dritte  den  Cernbog  usw. ;  er  erhielt  daher 
nach  dem  Tode  auch  ein  dementsprechendes  Andenken  mit  ins  Grab. 

Sehr  wahrscheinlich  ist  es  auch,  dass  die  alten  Gräber  der  wei- 
teren Umgebung  ähnliche  Beigaben  enthalten,  nur  sind  die  Stellen 
noch  nicht  aufgegraben,  oder  fehlte  aber  den  Umgräbern  die  Auf- 
merksamkeit sowie  das  Verständnis  hiefür,  wozu  eben,  wie  bei  Spon- 
holtz,  die  Vorbedingung  einer  gewissen  Erfahrung  sowie  des  wissen- 
schaftlichen Interesses  gehört.  Ein  praktischer  und  ernster  Archäologe 
wird  diese  Funde  daher  auch  nie  als  Fälschungen  erklären,  ganz 
abgesehen  davon,  dass  z.  B.  ähnliche  Urnensteine  auch  in  Schweden, 
England  usw.  gefunden  wurden,  ohne  dass  sie  bisher  jemand  als 
verdächtig  oder  gefälscht  angesehen  hätte. 

Dass  sich  aber  gerade  hier  um  den  Tollense-See  und  an  der 
Landesgrenze  von  Mecklenburg  -  Strelitz  und  Schwerin  eine  solche 
Menge  von  altslavischen  Gräbern  mit  derart  reichen  Beigaben  findet, 
kann  auch  dahin  erklärt  werden,  dass  hier  aus  irgendeinem  Grunde 
ein  bedeutender  Wallfahrts-  oder  Gnadenort,  ja  vielleicht  oder  wahr- 
scheinlich hier  eine  wichtige,  entscheidende  Schlacht  ausgekämpft 
wurde,  daher  hier  zugleich  ein  bedeutender  Begräbnisplatz  war,  den 
man  auch  später  bevorzugte.  Es  herrschen  doch  ähnliche  Verhältnisse 
vielfach  noch  heute  bei  den  asiatischen  Völkern,  wenn  man  schon 
davon  absieht,  dass  es  auch  in  Europa  vieler  Menschen  letzter  Wunsch 
ist,  an  einer  besonderen  Stelle  bestaile!  zu  werden.  Vielleicht  bringt 
uns  die  Geschichtsforschung  oder  der  Zufall  eines  Tages  noch  darauf, 
welche  tieferen  Motive  für  die  Bevorzugung  dieses  Gebietes  für  den 
aliwendischen  Kultus  massgebend  waren.  Ein  ganz  besonderes  Hei- 
ligtum muss  sich  aber  hier  befunden  haben,  da  auch  Adam  v.  Bremen 


60 

„Rhetre"  als  „sedes  ydolatriae",    also  als  den  Sitz  des  Göllerdiensles 
oder  der  Gölzenanbelung  besonders  hervorhebt. 

Wie  sich  aber  an  Wallfahrls-  oder  sonst  vielfach  besuchten  Gna- 
denorten oft  eine  eigene  Industrie  bildet,  welche  den  Besuchern  ge- 
wisse Erinnerungsgegenstände  feilbietet,  so  mag  es  auch  hier  mit 
den  Grabbeigaben  gewesen  sein,  denn  die  Bronzeobjekte  erforderten, 
nebst  der  Rohmaterialbeschaffung  doch  alle  einen  Künstler  im  Formen, 
Erzgiessen  und  Schreiben,  ja,  selbst  der  primitivst  gezeichnete  und 
beschriebene  Feldstein,  zumeist  Granit  oder  Syenit,  kann  ohne  scharfe 
Stahlwerkzeuge  und  Kenntnis  der  Runenschrift  zu  keiner  Devotionalie 
werden.  — 

Der  logische  Beweis,  dass  diese  wendischen  Altertümer  echt 
sind  und  nur  echt  sein  können,  ist  hiemit  zweifellos  erbracht.  Über- 
dies Hesse  sich  auch  der  direkte  Beweis  hiefür  leicht  herbeiführen, 
wenn  man  die  noch  intakten  „Hünengräber",  die  namentlich  im 
benachbarten  Mecklenburg-Schwerin  zum  grossen  Teile  noch  nicht 
geöffnet  zu  sein  scheinen,  rationell  durchforschen  würde.  — 


Die  Wegweiser  von  Mikorzyn. 

Im  Gemeindegebiete  von  Mikorzyn  in  Posen  wurden  in  den 
Gahren  1855  und  1856  nachstehend  abgebildete  zwei  Steine  ausge- 
graben. Im  Einzelnen  ist  darüber  bekannt: 

Der  Stein  mit  der  Menschenfigur  wurde  im  Herbste 
1855  auf  einem  kleinen  Hügel  des  Dominialgrundes  von  Mikorzyn 
bei  einer  Grabung  gefunden.  Er  ist  72  cm  hoch,  48  cm  breit  und  8  cm 
stark.  Derselbe  lag  etwa  GO  cm  tief;  unter  ihm  befand  sich  angeblich 
eine  Urne  mit  Ascheresten  und  einigen  Silber-  und  Bronzeringen.  — 
Eine  zweite  Schilderung  sagt,  dass  er  in  der  Grenzfurche  gefunden 
wurde,  was  richtiger  sein  dürfte,  da  es  auch  die  Aufschrift  rechtfer- 
tigt. —  Es  machten  sich  nun  Runenschriftkundige  an  die  Lösung  und 
fanden  zunächst,  dass  es  sich  hier  um  den  altslavischen  Gott  des 
Rechtes  „Prove"  handle,  und  besage  die  Inschrift  etwa :  „prove,  sbir, 
kbcl".  —  Universitätsprofessor  Dr.  3oh.  Leciejewski  legt  in  seiner 
Schrift  „f^iiny  i  ninicznc  pomniki  slowianskic"  („Die  slavischen  Runen 
und  Runendenkmäler",  Lemberg  1906)  den  Text  als  „Smir  zirctvan 
ledzit"  aus,  d.  i.  „Smir  liegt  da  als  Opfer." 

Die  Bestimmung  sowie  der  Schrifttext  sind  jedoch  wesentlich 
andere.  Der  Stein  diente  ursprünglich  wohl  als  Wegweiser,  daher 


Hl 


er  auch  an  der  Grenze  oder  Weggabelung  gefunden  wurde;  lag  er 
aber  auf  einer  Grabsfelle,  so  mag  an  jener  SIelle  eben  auch  ein  Grab 
gewesen  sein,  da  man  seinerzeit  doch  die  Toten  mit  Vorliebe  längs 
der  Weglinien  begrub.  — 

Die  Schrift  zeigt  schon  eine  Vermengung  von  wendischen  und 
slovakischen  Runenformen,  und  wendet  auch  einige  Ligaturen  an; 
sie  sagt;  „smir  priavki  alict  .  '■  ." ,  d.  i.  dem  Sinne  nach:  „Wegweiser- 
Richtung  Halicz."  — 
„Smir"  —  sonst  „smer, 
smjer"  (  Richtung)  — 
ist  im  Slavischen  all- 
gemein bekannt,  dürfte 
aber  hier  in  der  Be- 
deutung Wegweiser 
aufzufassen  sein,  da 
das  folgende  „pravka" 
wieder  Richtung,  Di- 
rektion bedeutet.*) 
Die  nicht  aspirierte 
Form  „alic"  deutet  auf 
Halicz,  Galicz,  also 
Galizien.  Ob  „t"  zu 
„c"  gehört,  oder  ob 
es  eine  Abkürzung 
für  ein  W  e  g  m  a  s  s, 
also  ein  Zahlwort  ist, 
kann  ohne  Analogien 
nicht  näher  ausgespro- 
chen werden ;  die  vier 
Punkte  geben  anschei- 
nend eine  Orientierung 
über    die    Entfernung 

bis  zum  Ziele,  d.  i.  Galizien  (Krakau)  an,  und  mag  dies  k  Tage- 
reisen bedeuten,  was  einem  täglichen  Marsche  von  32—35  km  entspre- 
chen würde.**)  Es  kann  daher  nahezu  kein  Zweifel  mehr  darüber 
obwalten,  dass  es  sich  hier  um  einen  Wegweiser,  eine  Strassenhand 

*)  In  Prag  steht  z.  B.  auf  jedem  Wegweiser  der  Strassenbahn  als  erstes 
Schlagwort:   »smer«. 

**)  Solche  Angaben  in  Punkten  sind  z.  B.  in  den  Alpengegenden,  dann  in 
Frankreich  sehr  häufig  längs  alter  Gebirgspfade  auf  Natursteinblöcken  zu  fin- 
den, und  benennt  sie  die  Wissenschaft  fäl  schlich  als  Rinnen-,  Schale  n-, 
Opfer-,    hingegen    richtig    als    Zeichensteine. 


62 


oder  um  eine  Orientierung  im  allgemeinen  handelt,  nur  war  die  Ent- 
zifferung bisher  dadurch  erschwert,  dass  man  die  slovakischen  Runen, 
deren  Denkmäler  man  gleich  vorweg  als  Fälschungen  bezeichnete, 
nicht  kannte  oder  beachtete,  sowie  dass  man  die  verschiedenen  Li- 
gaturen für  einfache  Laute  hielt. 

Der  Stein  mit  der  Pferdefigur  wurde  im  Jahre  1856 
gleichfalls  an  der  Gemeindegrenze,  etwa  200  Schritte  vom  erstbeschrie- 
benen entfernt,  gefunden.  Er  ist  62  cm  hoch,  5Scm  breit  und  16  cm 
stark ;   das  Material   ist  in   beiden  Fällen   Syenit.   —   Die  Schrift  las 

man  als :  „sbir,  voin,  bog- 
dan,  inawoi  s" ;  sie  be- 
sagt jedoch  etwa :  „sniir 
bojvaii  voin  liitvi  s".  — 
Der  Begriff  „smir"  ist  be- 
reits erklärt ;  die  weite- 
ren zwei  Ausdrücke  deu- 
ten vielleicht  Örtlichkeiten 
an,  welche  die  Kommu- 
nikation berührt ;  ,Jutvi" 
ist  gleichbedeutend  mit 
„Lotwa" ,  d.  i.  Litauen,  es 
war  dies  sonach  der  Weg- 
weiser nachLitauen,  denn 
Mikorzyn  liegt  heute 
knapp  an  der  deutsch- 
russischen Grenze,  und 
begann  doch  dort  das 
litauische  Gebiet.  Das 
vereinzelt  stehende  „s" 
kann  eine  Zahlenangabe 
sein,  nachdem  die  Buchstaben  einst  zugleich  bestimmte  Zahlenwerte 
hatten.  — 

Es  wäre  erwünscht  nachzuforschen,  ob  sich  nicht  unter  den  äl- 
testen urkundlich  bekannten  Ortsnamen  solche  befinden,  wie  sie  hier 
genannt  sind,  da  man  demnach  die  nähere  Trace  der  Strasse  nach 
Litauen  feststellen  könnte. 

Wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  wurden  auch  diese  zwei 
Steine  gleichfalls  als  Falsifikate  verdächtigt;  da  sie  aber  weder  der 
vermutliche  Mistifikator  noch  die  Wissenschaft  bisher  glaubwürdig 
deuten  konnten,  ist  jeder  weitere  Verdacht  kurzweg  abzuweisen  und 
dies  umso  berechtigter,  wenn  man  weiss,   dass  Steine  mit  ähnlichen 


63 


Figuren  auch  weit  entfernt  davon,  wie  in  Scliweden  und  Norwegen, 
gefunden  wurden,  es  sichi  daher  um  keine  Unica  und  noch  weniger 
um  einen  Fälscher  handelt,  der  solche  Steine  mit  verschiedener  Schrift 
erzeugte  und  die  Steinbiöcke  ungesehen  in  der  Welt  zerstreut  vergrub, 
nur  um  etwa  die  Gelehrten  zum  besten  zu  halten.  Die  Einreihung  sol- 
cher Denkmäler  unter  Fälschungen  ist  daher  nur  ein  groteskes  Zeugnis 
der  Ratlosigkeit  jener  Deuterkreise,  die  in  solchen  Dingen  alles  eher 
sehen  wollen,  als  rein  natürliche,  im  Kulturleben  sich  immer  weiter 
fortspinnende  oder  wiederholende  Vorgänge. 

Zum  Vergleiche   sei  hier  ein   ähnlicher  Stein  vorgeführt,   der  in 
Krogstadt  (Schweden)  gefunden  wurde.  Er  bildet  ein  dreiseitiges  Prisma, 


Der  Wegweiser  (?)  von  Krogstadt  (Schweden). 


wovon  zwei  Seiten  beschrieben  sind ;  der  Text  ist  jedoch  einstweilen 
nicht  versländlich.  Seinem  ganzen  Äusseren  nach  war  er  aber  wahr- 
scheinlich auch  nur  ein  Wegweiser  (oder  Grenzstein)  und  dürfte  die 
nähere  Beachtung  der  Fundslelle  vielleicht  diese  Vermutung  bestätigen. 

Der  Tonkopf  von  Pommern. 

In  Pommern  wurde  ein  kleiner  Tonkopf  (jetzt  im  Museum  zu 
Berlin)  gefunden,  der  unten  mit  einem  fünfseitigen  Prisma  endet;  auf 
jeder  Prismafläche  ist  ein  Buchstabe  eingraviert,  überdies  ist  ein 
Buchslabe  |u)   auf  dem  Scheitel.   Man  weiss   nun  nicht,   wo  man  zu 

Zunkovic :  ,,Slavisclie  Runendenkmäler".  .  «^ 


64 


lesen  beginnen  soll;  fängt  man  aber  bei  „g"  an  und  lies!  herum,  so 
erhall   man    „glavnu"    (oder  „glavny"),   d.  i. :   Oberhaupt,   Höch- 


ster, Führer  oder  doch  irgendeine  hochstehende  Person  andeutend. 
Die  Buchstaben  „g,  1,  a"  sind  verkehrt  gestellt;  das  Alphabet  weicht 
von  dem  normalen  wendischen  nur  unwesentlich  ab. 


Münzen. 

„B  i  a  t"-  und  „B  i  a  t  e  c"  -  Mü  n  z  e  n. 

Es  wurde  bereits  eine  grosse  Menge  von  Münzen  (z.  B.  bei 
Bodenbach  ein  Fund  im  Werte  von  120.000  K)  gefunden,  die  man 
bisher  im  Deutschen  meist  als  „Regenbogenschüsselchen"  bezeichnete, 
da  sie  einer  Sage  nach  beim  Regenbogen  herabfallen;  die  Slaven 
nennen  sie  „knofliky",  was  weit  berechtigter  ist,  denn  solche  Mün- 
zen wurden  früher  als  Westenknöpfe,  dann  als  Schmuck  auf  Leder- 
taschen („torba"),  Zaum-  und  Sattelzeugen  angebracht,  und  zeigen 
einzelne  oft  noch  auf  der  Rückseite  Lederriemenreste. 

Viele  dieser  Münzen  haben  die  Aufschrift  „biat"  oder  „biatec" 
in  lateinischem  Alphabete,  bezeichnen  sich  sonach  selbst  als  Münzen 
oder  als  das  Geschlagene  (biti  schlagen).  Andere  hingegen  haben 
jedoch  keine  Aufschrift,  wie  man  bisher  behauptete;  es  scheint  aber 
dies  nicht  zuzutreffen,  denn  der  Verfasser  hat  selbst  eine  solche 
Münze  zur  Besichtigung  erhalten,  die  das  Wort  „biat"  in  Runen- 
schrift eingestanzt  hat.  Es  ist  daher  wahrscheinlich,  dass  man  dies 
bisher  nicht  beachtet  hat,  umsomehr  als  die  Schrift  durch  die  Falten- 
bildung in   der  oberen  Muldenfläche   entstellt  sein  kann,  daher  nicht 


65 


leicht  auffält.  Sie  wurde  hier  auch  illustrativ  nicht  beigefügt,  da  sie  nicht 
entsprechend  hervortritt.  -  Man  schreibt  diese  Münzen  den  Kelten 
und  „Barbaren"  zu.  Möglicherweise  sind  die  Münzen  mit  lateinischer 
Schrift  die  jüngeren,  obgleich  sich  auch  beide  Arten  zugleich  im  Um- 
laufe befunden  haben  konnten,  wenn  sich  die  Ansprüche  im  Verkehre 
darnach  stellten.  — 

„Rurik"  -Münze. 

Ein  Goldbrakteat  des  Münzkabinettes  in  Kopenhagen  trägt  die 
Aufschrift  „rurik"  in  wendischen  Runen.  Der  älteste  geschichtlich  be- 
kannte Herrscher  dieses  Namens  in  Russland  regierte  von  862—879 
n.  Chr.,  doch  dürfte  die  Münze  weit  älter  sein  und  mit  dem  historischen 
Namen  nichts  weiter  gemein  haben,  als  dass  „rurik,  rjurik"  einst 
kein  Eigen-,  sondern  nur  der  Funktionsname  des  Regenten  war.  — 
Auffallend  sind  alle  Münzen  altrussischer  Provenienz  dadurch,  dass 
sie  ein  eigenartig  stilisiertes  Wappenschild  zur  Schau  tragen.  Der 
Kopf  der  Hauptfigur  ist  immer  mit  einem  breiten,  helmartigen  Stirn- 
diadem, ähnlich  dem  altrussischen  Frauenschmucke,  gekrönt;  überdies 
ist  eine  Pferdefigur  entweder  in  den  Kon- 
turen ersichtlich  oder  doch  durch  den  Pferde- 
kopf angedeutet.  Bemerkenswert  ist  auch 
der  meist  besonders  hervortretende  Hals- 
schmuck, russisch  „ozerelje"  (=  stehender 
Kragen)  genannt.  Es  muss  dies  einst  ein 
besonderes  äusseres  Zeichen  der  Würde 
bei  den  Russen  gewesen  sein,  was  auch 
die  Beigaben  des  Skelettes  bestätigen,  die 
im  Juli  1913  durch  Professor  Veselovskij 
im  „Soloh"-Kurgan  [Südrussland]  gefunden 
wurden.  Der  dort  bestattete  scythische  Car 

hatte  einen  ausserordentlich  kunstvollen  und  schweren  Goldschmuck 
um  den  Hals.  Nebst  anderen  Attributen  der  militärischen  und  sozialen 
Würde  befanden  sich  auch  zwei  Stallungen  mit  Reitpferden  in  dem 
Riesentumulus,  ein  Beweis,  dass  das  Bild  der  Münze  eine  Art  Rela- 
tion zu  den  Hoheitsattributen  des  Herrschers  und  den  Grabbeigaben 
nach  dessen  Tode  bildete. 


,,Rurik"-Münze. 


„0  ta"  -Münze. 

Zwei  Goldbrakteate  der  Universitätssammlungen  in  Lund  [Schwe- 
den] tragen  die  graphisch  minimal  von  einander  abweichende  Auf- 
schrift „ota"  mit  einem  der  „Rurik"-Münze  ähNlichen  Wappenschilde. 
Man  glaubt  es  seien  dies  Prägungen  des  wendischen  Fürsten  „Uta", 

5* 


66 


auch  „Uda",  des  Vaters  Gottschalks,  der  um  das  dahr  1029  n.  Chr. 
von  den  Sachsen  erschlagen  wurde.  Vermutlich  ist  aber  „ota"  nichts 
weiter,   als  die  allgemeine  Volksbezeichnung   für  den  Herrscher   als 

„Vater,  Väterchen",  wie  er 
in  Russland  noch  heute  über- 
all gebräuchlich  ist.  Im  Alt- 
slavischen hiess  aber  „ot" 
der  Vater,  der  Familienälte- 
ste, der  militärische  Führer 
[z.  B.  in  der  Grünberger 
Handschrift],  und  da  sich 
bei  allen  Slaven  in  der  Be- 
„ota"-Münzen.  zoichnung  „oce  nas"  [-Va- 

ter unser,  wobei  „oce"  der  Vokativ  ist]  dieselbe  Form  wie  Aus- 
sprache erhalten  hat,  ist  es  möglich,  dass  man  „ota"  in  der  Wirk- 
lichkeit auch  als  „oca"  aussprach,  was  jedoch  ansonst  belanglos  ist. 

„Otuz"-Münze. 

Ein  in  Stockholm  befindliches  Goldbrak- 
teat  trägt  die  Aufschrift  „otuz  [oder  „otuc"|. 
Ist  das  „u"  hier  als  „y"  zu  lesen,  wie  dies 
auch  anderswo  zutrifft,  so  bedeutet  es  even- 
tuell den  Sohn  des  „ot",  also  „otic".  —  Das 
Wappenschild  ist  nahezu  dasselbe  wie  bei  den 
„ota"-Brakteaten.  — 


,,Otuz"-Münze. 


Die  „Beibog" -Münze  von  Krakau. 

Im  Besitze  der  Familie  Friedlein  in  Krakau  befindet  sich  eine 
Silbermünze,  die  man  gewöhnlich  unter  dem  Namen  „die  Medaille 
von  Krakau"  angeführt  findet. 

Wie  die  beigegebenen  Illustrationen  zeigen,  sind  die  beiden 
Köpfe,  die  schon  zum  Teile  bis  zur  Unleserlichkeit  abgewetzt  sind, 
mit  Runeninschriften  umgeben.  Auf  der  Figur  a)  ist  links  „caston" 
]oder  „baston"),  rechts  ]von  rechts  nach  links  und  von  innen  aus 
gelesen]  anscheinend  „tcakr"  zu  lesen.  „Kasta"  bezeichnet  Stamm, 
Stand;  steht  oder  stand  dort  „baston"  so  kann  es  als:  der  An- 
gesehene, das  Oberhaupt  ausgelegt  werden,  denn  der  Russe 
gebraucht  noch  heute  „basij,  basistij"  für  ansehnlich,  schön  ge- 
schmückt, vortrefflich,  und  kennt  doch  der  Balkanslave  wie 
Osmane  den  verwandten  Begriff  „basa"  für  Feldherr,  Führer; 
„dzakr"   hingegen  dürfte   als:   Priester,   Stammesoberhaupt, 


67 


Herrschjer  aufzufassen  sein,  denn  das  Grundwort  „dzak"  kommt 
in  der  Bedeutung  Priester  [oder  einer  tiiemit  zusammenhängenden 
Relation]  namentlicti  in  der  indischien  Mytliologie  oft  vor;  der  Gott 
Krisna  fülirl  den  Titel  „Dzagarnat",  d.  i.  Herr  der  Welt,  „dzaga" 
lieisst  das  Sonnenopfer  der  Braminen,  „dzagna"  Opfer,  „dzagnaman" 
~  Opferpriester  usw.  —  Aber  auch  die  Slaven  kennen  dieses  Grund- 
wort als  „djak,  zak,  dijak,  Diakon"  in  der  Bedeutung  der  Studie- 
rende, im   Allrussischen   schon   als  Staatssekretär!;   in   Igors 


Die  „Belbog"-Münze.  (Doppelte  Originalgrösse.) 

Lied  kommt  „Gzak"  auch  als  Eigen-  oder  Funktionsname  vor.  Die 
Slavizität  dieser  Aufschrift  lässt  sich  aber  erst  aus  der  Aufschrift  auf 
der  zweiten  Seite  begründen,  denn  dort  steht  „beibog",  wobei  nur 
das  zweite  „b"  nicht  mehr  prägnant  hervortritt.  Die  weitere  Schrift 
ist  bis  auf  „z,  d"  und  „m"  auf  der  rechten  Seite  nicht  mehr  lesbar. 
Es  scheint  also,  dass  diese  Münze  auf  der  einen  Seite  die  höchste 
Gottheit,  auf  der  anderen  Seite  den  Führer  des  Volkes  darstellte. 

Goldbrakteate   mit  der  Aufschrift  „zacg"  oder  „cagk". 

In  nördlichen  Gebieten  Europas  wurden  mehrere  Brakteate  aus 
Gold  gefunden,  welche  ein  ähnliches  Wappenschild  wie  das  „Rurik"- 
Brakteat  tragen,  denen  aber  die  Aufschrift  „zacg,  cagk"  oder  „zagk" 
beigefügt  ist.  „Zak,  dzak"  ist  sonach  zweifellos  ein  Hoheitsname,  und 
weist  hier   auf  den  Prägeherrn,   also  Herrscher  hin.   Im  Slovaki- 


sehen  und  Magyarischen  bedeutet  „caga"  —  Hirt,  Herr,  „nadcaga" 
—  Ober  her  r.  Die  Münze  selbst  muss  demnach  „caga"  geheissen 
haben,  und  bestätigt  dies  auch  das  „Igor-Lied".  Die  Schreibweise 
„cg"  bietet  zugleich  einen  ergänzenden  Beweis,  dass  die  Einwendung 
bei  den  mecl<lenburgischen  Runendenl^mälern,  sie  seien  deshalb  ge- 
fälscht, weil  dort  „belbocg"  geschrieben  stehe,  schon  gar  nicht  mehr 


Goldbrakteate  „zacg". 

haltbar  ist.  Die  erste  Münze  wurde  in  Schweden,  die  zweite  und 
dritte  in  Dänemark,  die  vierte  in  Norwegen  gefunden.  Ob  sich  wei- 
tere Exemplare  in  Museen,  namentlich  in  russischen,  befinden,  war 
bisher  nicht  festzustellen. 

Das   Goldbrakteat   ,,daiga"   oder„daija". 

Das  abgebildete  Goldbrakteat  wurde  im  3ahre  1839  in  Köslin 
|Pommern|  gefunden.  Die  Aufschrift  ,,daija"  ist  wahrscheinlich  als 
,,cajga"  auszusprechen.  In  den  Runenalphabeten  fehlen  uns  die  Zisch- 
laute; diese  müssen  in  der  Aussprache  nun  selbst  moduliert  werden, 
denn  man  sieht  dies  am  klarsten  in  der  Grünber- 
ger  Handschrift,  wo  z.  B.  der  Laut  ,,c"  zugleich 
auch,  je  nach  dem  Worte,  in  welchem  er  vorkommt, 
als  „c"  oder  ,,k"  auftritt;  das  ,,s"  kann  auch  als 
,,s"  wie  ,,z"  gebraucht  werden  u.  ä.  —  Der  Münz- 
name „cajga"  war  aber  schon  [als  ,,sajga"|  im 
IX.  dahrhunderte  in  Bayern  und  Oberösterreich  be- 
kannt, und  muss  die  Münze  einen  verhältnismäs- 
sig hohen  Wert  besessen  haben,  denn  sie  bildet 
in  der  Raffelstettner  Zollordnung  vom  Oahre  904 
I90G?|  die  höchste  Zolltaxe  |für  die  Einfuhr  eines  Knechtes  oder  ei- 
ner Stute|.  Naheliegend  ist  es,  dass  ein  Münzname  eine  grosse  geo- 
graphische Verbreitung  findet;  dass  aber  dabei  auch  der  Name  selbst 
in  Form  und  Sprache  Veränderungen  erfährt,  ist  gleichfalls  selbst- 
verständlich, denn  ,,cajga"  wäre  sonach  nur  die  diphtongierte  Form 
von  ,,caga". 


Das  Goldbrakteat 
,,daiga". 


1 


69 


Die  Goldbrakteate  „voslau". 

Im  Museum  zu  Kopenhagen  befinden  sich  auf  einem  kunstvoll 
ziselierten  Goldsfabe  o  gleiche  Goldbrakteate,  die  paarweise  mit  der 
Reversseite  aneinandergefügt  sind.  Das  Wappenschild  weicht  nur  zum 
Teile  von  den  bisher  bekannten  ab.  Die  Aufschrift  ist  überall  „voslau", 
also  „Voslav",  was  sonach  auf  einen  einstigen  Regentennamen  deu- 
tet. Der  Name  ist  rein  slavisch  und  zeigt  schon  auf  eine  Kontraktion 
von  „Vodslav",  woraus  sich  der  heutige  Vorname  „Väcslav",  auch 
meist  als  „Vaclav"  geschrieben  und  ausgesprochen,  gebildet  haben 
dürfte.  —   Da  es  dänische  Fürsten        dieser  Münzenschmuck  wurde 


Das  Goldbrakteat',, Voslav". 


nämlich  in  Faxö  in  Dänemark  gefunden  —  mit  slavischen  Namen,  wie 
z.  B.  „Vodan"  gab,  in  Dänemark  selbst  slavische  Ortsnamen  sehr 
zahlreich  sind,  ist  es  wohl  naheliegend,  dass  eine  daselbst  geprägte 
Münze  den  slavischen  Namen  eines  Landesfürsten  tragen  konnte, 
sie  kann  aber  ebensogut  auch  von  anderswo  ins  Land  gekommen 
sein.  Geschichtlich  belegt  ist  unseres  Wissens  ein  Regentenname 
„Voslav"  in  Dänemark  nicht;  hingegen  wird  der  Name  „Vojslav", 
der  einem  serbischen  Gross-Zupan  beigelegt  war,  schon  urkundlich 
im  VIL  Jahrhunderte  angeführt. 

Das  Goldbrakteal  „cun  da  sc". 

Im  Landesmuseum  zu  Prag  befindet  sich  ein  Goldbrakteat,  über 
dessen  Herkunft  bisher  nur  bekannt  ist,  dass  es  in  Böhmen  gefunden 
wurde.  Es  trägt  die  Umschrift  „cun  dasc"  [lies:  kun  dask],  die  bisher 
allgemein  als  „König  Tusko"  gedeutet  wurde,  jedoch  näher  in  keiner 
Weise  beglaubigt  erscheint.  Ich  halte  folgende  Lösung  für  weit  glaub- 
würdiger und  zutreffender:  „cun"  steht  hier  für  „cuna" ;  das  Schluss-a 
ist  augenscheinlich  durch  die  Figur  im  Mittelschilde  gedeckt.  Die  älteste 
bekannte  Bezeichnung  für  eine  Münze  war  aber  z.  B.  in  Russland 
„kuna",   bezw.    „kunic,   kunica".   |Vergl.   die   beigegebenen  Figuren.] 


70 


Dass  dieser  Münzlerminus   einst  gebräuchlich  war,   ist  sonach  zwei- 
fellos. Der  Begriff  „dask"  bedeutet  aber  gleichfalls  im  Russischen  das 


Russische   ,,kouna"-Münze. 


Münze   ,,kunic' 


Herum  wandernde,  was  logisch  mit  Geld  identifizierbar  ist,  daher 
die  ganze  Aufschrift  etwa  als  „Kuna-Münze"  oder  „Kuna-Geld"  sprach- 
lich aufzufassen  ist.  —  Die  Schrift  ist  hier  gemischt,  d.  h.  sie  besteht 
teils  aus  Runen,  teils  aus  lateinischen  Unzialen,  ein  Fin- 
gerzeig, dass  die  Runen  in  späterer  Zeit  schon  keine 
exzeptionelle  Schrift  waren.  Überdies  glaubte  man  bisher, 
die  Münze  sei  byzantinischen  Ursprungs;  hiefür  spricht 
nichts,  dagegen  aber  die  Schrift  selbst,  denn  es  würden 
^*^?un'*dIsc't*^''*  ^^  w°h'  ^^^^  griechische  als  lateinische  Älphabeteinflüsse 
zu  merken  sein.  —  Über  das  Alter  kann  mit  ziemlicher 
Wahrscheinlichkeit  angenommen  werden,  dass  diese  Münze  jünger 
ist  als  alle  die  vorangeführten  mit  reiner  Runenschrift. 


Hiemit  schliesst  —  wenigstens  vorläufig  —  die  Reihe  der  Mün- 
zen mit  mehrweniger  verlässlich  gelösten  Runeninschriften  ab,  ob- 
schon  es  noch  an  hundert  weitere  gibt,  die  ähnliche  Schriften  tragen, 
deren  Deutung  aber  sprachlich  noch  zu  wenig  geklärt  ist.  Der  Um- 
stand, dass  die  Wappenschilder  aller  dieser  Münzen,  die  zugleich 
fast  durchwegs  Goldbrakteate  sind,  sich  ähneln,  sowie  dass  sich  die 
Inschriften  von  den  sonstigen  wendischen  Runen  nicht  wesentlich 
unterscheiden  oder  diese  gar  noch  alphabetisch  ergänzen,  dann  dass 
die  Texte  entschieden  slavisch  sind,  lässt  berechtigt  folgern,  dass  sie 
alle  von  slavischen  Regenten  stammen,  die  im  Gebiete  von  Nord-  und 
Westrussland,  Norddeutschland,  Dänemark  oder  Skandinavien  ge- 
herrscht haben. 

Die  Zeit  selbst  zu  taxieren  ist  unmöglich,  da  uns  die  Geschichte 
über  jene  Epoche  viel  zu  wenig  Daten  bietet:  mit  einiger  Berechtigung 
darf  man  jedoch   annehmen,   dass  die   Prägung   der  meisten   dieser 


71 

Brakleate  aus  der  Zeit  der  ersten  acht  Jahrhunderte  n.  Chr.  stammt; 
dass  welche  davon  auch  vor  den  Beginn  unserer  Zeitrechnung  ein- 
zureihen sind,  kann  aber  gleichfalls  nicht,  da  gut  möglich,  abgewiesen 
werden.  Ebenso  kann  die  lange  Dauer  des  Gebrauches  desselben 
Wappenschildes  hier  durchaus  nicht  dagegen  sprechen,  denn  auch 
die  altslavischen  „en  cekin"-Münzen  haben  dasselbe  Wappenschild 
wie  die  späteren  macedonischen  mit  griechischer  Aufschrift,  obschon 
möglicherweise  etliche  Jahrhunderte  dazwischen  lagen.  Übrigens  wie- 
derholt sich  doch  auch  heute  dasselbe,  denn  das  Staatswappen  bleibt 
auf  den  Münzen  fortgesetzt  dasselbe,  nur  ändert  es  seine  Ausfüh- 
rung je  nach  der  herrschenden  Kunst-  oder  Geschmacksrichtung. 

Weiters  ist  eine  Münze  mit  der  Aufschrift  in  einer  bestimmten 
Sprache  auch  noch  kein  positiver  Beleg,  dass  dies  zugleich  die  Staats- 
sprache daselbst  war,  denn  z.  B.  in  Österreich  sind  die  Münzen 
höherer  \Ä/erte  noch  heute  durchwegs  lateinisch  beschrieben,  und  war 
dies  doch  seit  der  Römerzeit  in  Europa  fast  allgemeiner  Gebrauch. 
Überdies  erfreuen  -sich  bestimmte  Münzen  besonderer  Vorliebe ;  so 
kursieren  z.  B.  auf  dem  Balkan  seit  langem  vorwiegend  französische 
Goldmünzen,  in  der  Levante  die  Maria  Theresien-Taler  u.  ä.  — 

Ebenso  ist  der  Fundort  selbst  kein  Regulativ  für  staatliche  Zu- 
erkennung  der  Provenienz  einer  Münze,  da  doch  kein  Objekt  geo- 
graphisch sein  Domizil  bei  unveränderter  Wertigkeit  so  wechselt,  wie 
gerade  das  Geld,  und  zugleich  geht  kein  Gegenstand  von  Wert  so 
leicht  verloren  oder  gerät  so  leicht  in  die  Erde,  wie  das  Geld,  da  es 
eben  numerisch  der  häufigste  Wertgegenstand  ist. 

Die  meisten  alten  Gold-  und  Silbermünzen  sind  mit  Ösen  der- 
selben Metallgattung  versehen,  weil  sie  nach  altslavischer  [wie  orien- 
talischer] Sitte  zum  Schlüsse  meist  als  Frauenschmuck  Verwendung 
fanden,  und,  auf  Schnüre  gereiht,  am  Kopfe,  um  den  Hals  oder  auf 
der  Brust  sichtbar  als  Aussteuer  getragen  wurden.  Die  Öse  wurde 
aber  wieder  entfernt,  wenn  die  Notwendigkeit  eintrat,  die  Münze 
erneuert  in  Kurs  zu  bringen. 

Dem  Verfasser  handelte  es  sich  hier  auch  nicht  um  das  Nach- 
forschen, ob  und  wo  sich  etwa  noch  weitere  Exemplare  gleicher  oder 
ähnlicher  Münzen  befinden ;  dies  bleibt  nun  nach  der  Erledigung  der 
Hauptfragen,  d.  i.  der  Lösung  der  Schrift  und  Klärung  der  sprach- 
lichen Zugehörigkeit  eine  wissenschaftliche  Detailarbeit. 


72 


Schmuckobjekle. 


Die  Spange  von  Etelhem  |5chweden|. 

Auf  einem  Felde  in  der  Gemeinde  Elelhem  auf  der  Insel  Got- 
land  wurde  im  3ahre  1846  eine  schön  ziselierte,  mehrfach  durch- 
brochene Goldspange  mit  Silberplallierung  und  farbigem  |karminrolem 
und   graubraunem]   Email  »getunden,    die   sich  jetzt  im   Museum  zu 


Stockholm  befindet.  Die  auf  der  Rückseile  angebrachte  Runeninschrift 
lautet  „ekernavrtal",  was  entweder  als  „eker  navrtal"  |  Eker  fertig 
ziselierti  oder  „ekerna  vrtal"  ]  Ekerna  ziseliert]  zu  lesen  ist.  Das 
erste  Wort  ist  offenkundig  ein  Eigenname  u.  zw.  wohl  der  Name 
des  Goldschmiedes ;  der  slavische  Ursprung  der  Erzeugung  der  Spange 
ist  aber  zweifellos  aus  dem  Worte  ,,vrtal"  \  gebohrt]  oder  „navrtal" 
]  angebohrt]  zu  entnehmen,  da  doch  sonst  keine  andere  Sprache 
diesen  Begriff  überhaupt  und  noch   dazu  in   dem  hier   natürlich  ent- 


i 


73 

sprechenden  Sinne  kennt,  denn  die  Spange  ist  tatsächlich  14  mal  sy- 
metrisch  durchbohrt.  Das  beigegebene  Bild  zeigt  die  Rückseite  der 
Spange  in  Originalgrösse;  die  Vorderseite  wurde  bereits  auf  Seite  11 
[um  Vs  verkleinert]  dargestell. 

Es  sei  hier  auch  gleich  erwähnt,  dass  man  ähnliche  Hinweise, 
wie  hier,  auf  den  Erzeuger  des  Schmuckobjektes  oder  den  Inschrift- 
schneider oder  Meissler  sehr  häufig  auf  dem  Objekte  selbst  verzeich- 
net findet;  es  war  dies  sonach  eine  Art  Meister-  oder  Firmaverewi- 
gung, ähnlich  wie  auch  der  Maler,  Bildhauer  oder  Erzgiesser  zu 
seinem  Namen  an  irgendeiner  Schlußstelle  noch  sein  ,,prinxit,  sculpsil" 
oder  ,,fecit"  am  fertigen  Werke  anbringt.  So  hat  z.  B.  der  Stein  von 
Varnum  den  Vermerk:  ,,runoh  varitu"  j  .  .  .  hat  die  Runen  geritzt|; 
auf  dem  Steine  [Grabsteine ?|  von  Tune  steht  auf  der  einen  Seite: 
,,vorah  to  runotc"  |  Vorah  hat  dies  geritzt|,  auf  der  anderen :  ,,vo- 
duride"  [  Meisterritzer,  Obersteinschneiderl ;  die  Maeshover  Inschrif- 
ten enden  mit  der  Bemerkung:  „pisar-  [  Schreiber]  oder  ,,tisar- 
[  Meissler;  tesati  meisselnj  -runar",  also:  Runenschreiber,  Runen- 
meissler  u.  a.  m. 

Die  Spange  von  Freilaubersheim. 

Im  Jahre  1873  wurde  in  einem  alten  Grabe  bei  Freilaubersheim 
in  Rheinhessen  eine  Silberspange  gefunden,  die  jetzt  im  Romanisch- 
Germanischen  Museum  zu  Mainz  verwahrt  wird.  Dieses  Objekt  ist  in 
verschiedener  Hinsicht  interessant.  Vor  allem  fällt  die  grosse  Form- 
ähnlichkeit dieser  Spange  mit  den  zwei  gleichen,  nur  verschieden  be- 
schriebenen Silberspangen  auf,  die  im  Oahre  1894  im  Dorfe  Bezenye 
bei  Pressburg  gefunden  wurden.  Noch  wichtiger  ist  aber  die  zwei- 
reihige  Runeninschrift  auf  der  Rückseite.   Dieselbe  lese  ich  folgend  : 

„Bozo  vraet  riina  i 
vlie  a  vsjaijo." 

Gegen  die  Spitze  zu  sind  in  jeder  Zeile  noch  zwei  Striche  und 
zwei  Kreuze  zu  sehen ;  ob  sie  nur  Verzierungen  sind  oder  aber  auch 
welche  Bedeutung  als  Schrift  haben,  ist  zweifelhaft.  Obige  Schrift 
sagt:  Bozo  ritzte  die  Runen,  goss  ]die  Spange]  und  setzte 
sie  ein  [die  Sicherheitsnadel].  —  Diese  Lösung  ist  in  bezug  auf  die 
erste  Zeile  unbedingt  richtig,  und  hat  die  Schrift  bisher  auch  niemand 
anders  gelesen  wie  auch  als  slavisch  bezweifelt,  denn  die  Präpo- 
sition „V"  in  „vraet"  ist  einmal  schon  ein  positiver  Beleg  für  die 
Slavizität.  Im  weiteren  Texte  stören  vielleicht  einen  anderen  Leser 
die  kurzen  Striche,  die  ich  aber  als  „i"  gelesen,  da  sich  diese  Form 
auch  bei  den  slovakischen  Runen  vorfindet.  Und  zu  dieser  Annahme 


74 


ist  man  hier  umsomehr  berechtigt,  als  doch  auch  zwei  äusserlich 
gleich  aussehende  Spangen  auf  slovakischem  Gebiete  gefunden  wurden. 
„Bozo"  ist  bei  den  Südslaven  ein  ziemlich  häufiger  Vorname,  der 
aber  ebenso  im  Norden  vorkam,  da  er  auch  geschichtlich  erwiesen 
ist.  „Bozo"  hiess  z.  B.  der  Begründer  des  Königreiches  Burgund 
[879— 887|  sowie  auch  der  erste  Bischof  von  Merseburg,  von  dem 
Thietmar  ausdrücklich  bemerkt,  dass  er  slavisch  schrieb  [„slavo- 
nica   scripserat  verba"].    „Bozo"    hiess    sonach    der    Verfertiger    der 


^/^y 


w*j?ö?s>.'n> 


oßi '  ^. 


Spange.  Da  nun  „vraet  runa"  früher  steht  als  „vlie",  ist  anzunehmen, 
dass  man  unter  „vraet  runa"  modellieren,  die  Verzierungen 
im  Modell  eingraben  versteht,  worauf  eben  erst  die  Spange  ge- 
gossen und  zum  Schlüsse  mit  der  Sicherheitsnadel  versehen  wurde. 
In  der  Inschrift  sind  demnach  die  drei  Hauptarbeiten  dabei,  d.  i.  das 
Herstellen  des  Gussmodells,  das  Giessen  und  das  Anbringen  der  Be- 
festigungsnadel, womit  die  Spange  erst  praktisch  verwendbar  wird, 
hervorgehoben.  Ist  die  Spange  tatsächlich  gegossen  und  nicht  ge- 
hämmert,  so  ist   auch    „vlie"    richtig   gelesen.    Es   ist   dies    sonach 


76 


wieder  der  Firmadruck  des  Erzeugers,  analog  wie  docli  auch  der 
Glockengiesser  oftmals  die  verschiedenen  Phasen  seiner  Täligkeil  in 
einer  Inschrift  auf  der  Glocke  anbringt. 


ScKiussb«m«rkur\g.  Hiemit  schliesst  die  Reihe  der  gelösten 
wendischen  Runendenkmäler  ab;  es  bleiben  daher  noch  einige 
Hunderte  übrig,  deren  Texte  weiter  unverständlich  sind  oder  doch 
keine  seriöse  oder  genügend  überzeugende  Deutung  zulassen.  Sollten 
in  der  Folge  noch  verlässliche  Lösungen  gelingen,  so  werden  sie 
als  „Nachträge"  erläutert.  —  In  der  Tafel  I  sind  noch  nicht  jene 
Buchstabenformen,  die  erst  in  späteren  Lösungen  auftauchten,  auf- 
genommen ;  der  interessierte  Leser  möge  sie  nun,  wie  sie  sich  auf 
den  Illustrationen  präsentieren,  in  der  genannten  Tafel  selbst  ergänzen. 

Nach  allem,  was  bisher  geklärt  erscheint,  waren  die  nordischen 
Runen  sonach  nicht  die  ältesten  Schriftzeichen  der  Germanen  allein, 
wie  es  allgemein  heisst,  sofern  man  eben  unter  „germanisch"  zu- 
gleich „deutsch"  versteht,  sondern  überhaupt  die  allgemeine  Schrift 
der  wendischen  wie  nordischen  Völker  Europas  in  der  vorchrist- 
lichen Zeitepoche.  Mit  dem  Vordringen  der  lateinischen  Sprache  in 
den  Kultus-,  dann  diplomatischen  und  wissenschaftlichen  Verkehr  in 
das  nördliche  Europa,  verlor  die  Runenschrift  erst  allmählich  ihre  Po- 
sition. Sie  muss  sich  aber  trotzdem  noch  etliche  Jahrhunderte  nach 
Christi  im  Gebrauche  erhalten  haben,  denn  dies  geht  aus  folgender 
Tatsache  hervor.  Venantius  Fortunatus,  Bischof  von  Poitiers  fVl.  Jahr- 
hundert], schreibt  an  einen  gewissen  Flavius  einen  Brief,  in  welchem 
er  letzterem  ratet,  die  Antwort  in  barbarischen  Runen  zu  schrei- 
ben, falls  er  lateinisch  nicht  könne  oder  wolle.  Es  waren  dem- 
nach zu  jener  Zeit  sowohl  die  Runen  wie  die  lateinische  Schrift  zu- 
gleich gangbar.  Dass  aber  schon  im  V.  Jahrhunderte  die  Runen 
durch  das  lateinische  Alphabet  im  Konkurrenzkampfe  standen,  er- 
sieht man  aus  Ulfilas  Bibel,  denn  darin  werden  nur  mehr  wenig 
Runen  gebraucht,  aber  unter  dem  Eindrucke  der  Runen  befand  sich 
der  Verfasser  noch  auf  jeden  Fall. 

Was  die  Erzählungen  betrifft,  dass  man  bei  den  alten  Germanen 
die  Runen  als  Geheimzeichen,  dann  mit  verschiedenen  Zeichen  ein- 
geritzte Buchenstäbe  zu  Prophezeiungen,  Geisterbeschwörungen  und 
Zaubereien  verwendete,  so  gehört  dies  alles  zum  allergrössten  Teile 
zu  den  Märchen.  Zu  lesen  waren  die  Runen  freilich  schwer,  weil  es 
ein  allgemein  gültiges  Musteralphabet  nicht  gab,  daher  jeder  dieselben 


76 

nach  Kenntnis,  Geschmack  und  Handfertigkeit  anwendete.  So  kommt 
es  eben,  dass  die  Runendenkmäler  so  schwer  zu  lesen  sind,  weil 
weder  Form  noch  Orthographie  beachtet  wurden,  man  daher  schon 
im  Prinzipe  als  gelehrt  galt,  falls  man  eine  solche  Schrift  lesen 
konnte.  In  der  nordischen  Mythologie  wird  daher  auch  Kostbera,  die 
Gattin  Högnis,  besonders  hervorgehoben,  weil  sie  die  in  Runenschrift 
verfasste  Einladung  an  den  Hof  Atlis  zu  entziffern  vermochte. 

Eine  allgemeine  Verwirrung  brachten  in  die  Wahrheit  über  die 
Runen  auch  die  sogenannten  Runen-  oder  Urnensteine  [siehe 
Seite  53—581,  welche  man  vielfach  als  Urnendeckel  oder  als  Packun- 
gen bei  Skelettgräbern  vorfand,  da  man  die  Zeichen  darauf  stets  in 
das  Gebiet  der  Mystik  verlegte.  Die  mecklenburgischen  Urnensleine 
zeigen  jedoch  deutlich,  dass  es  nur  Steine  waren,  auf  welche  man 
Monogramme  bestimmter  Gollheiten  eingravierte  und  dann  dem  Toten 
beigab.  Die  vielen  Hunderte  solcher  prähistorischen  Runensteine 
hatten  wohl  alle  dieselbe  Bestimmung,  und  vergleicht  man  solche  aus 
den  verschiedensten  Gegenden,  so  ist  eine  gewisse  Homogenität  bei 
allen  nicht  unschwer  festzustellen. 

Die  bisherigen  sagenhaften  Anschauungen  über  das  Wesen  und 
den  Charakter  der  wendischen  wie  nordeuropäischen  Runen  werden 
daher  mit  jedem  Tage  klarer  und  konkreter,  was  auch  naheliegend 
ist,  denn  die  ganze  reale  Wirklichkeit  von  einst  muss  sich  doch  bis 
zu  einer  gewissen  Grenze  unbedingt  in  die  Gegenwart  einspannen 
lassen. 


n 


PQ  Staroslovan 

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37 


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