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Full text of "Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft in den Grundzügen dargestellt"

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ÄSTHETIK 


UND 


ALLGEMEINE  KUNSTWISSENSCHAFT 


ÄSTHETIK 

UND 

ALLGEMEINE 

KUNSTWISSENSCHAFT 

IN  DEN  ORUNDZÜOEN  DARGESTELLT 

VON 

MAX  DESSOIR 

MIT  16  TEXTABBILDUNGEN    UND   19  TAFELN 


^k 


STUTTGART 

VERLAG  VON    FERDINAND   ENKE 

1906 


Druck  der  Union  Deutsche  VerUgsgesellschaft  in  Stuttgart. 


vv 


John  Newbold  Hazard^ 


ZUM  GEDÄCHTNIS. 


Vorwort. 


Dies  Buch  ist  eigentlich  schon  seit  zwei  Jahren  fertig.  Hem- 
mungen und  Ablenkungen  haben  die  Veröffenth'chung  bis  heute  hint- 
angehalten. Inzwischen  sind  einige  Systeme  der  Ästhetik  und  sehr 
viele  Einzeluntersuchungen  hervorgetreten.  Sie  wurden  mit  dem  leb- 
haftesten Oeffihl  der  Erkenntlichkeit  benutzt ,  soweit  der  schon  ge- 
spannte Rahmen  es  erlaubte;  aber  gemäß  dem  Charakter  dieser  Dar- 
stellung, die  nur  Orundzfige  bietet,  habe  ich  es  vermieden,  mich  des 
näheren  mit  den  zufällig  jüngsten  und  gerade  jetzt  bekanntesten 
Theorien  auseinanderzusetzen.  Für  die  bis  ins  Einzelste  dringende 
Erörterung  scheint  mir  eine  Zeitschrift  geeigneter:  die  soeben  begrün- 
dete > Zeitschrift  ffir  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft«  wird 
sokrhen  Forderungen  des  Tages  besser  dienen  können. 

Femer  habe  ich  mir  im  Hinblick  auf  jene  Bücher  ernstlich  die 
Frage  vorgelegt,  ob  mein  Versuch  überflüssig  geworden  sei.  Aus 
mehreren  Orfinden  glaubte  ich  doch,  verneinend  antworten  zu  dürfen. 
Zunächst  tritt  die  Bemühung  um  das  Ganze  des  Gegenstandes  hier 
offenkundiger  hervor  als  m  den  übrigen  Werken  der  neueren  Literatur. 
Im  vollen  Bewußtsein  der  Tatsaoie,  daß  ^eine  umfassende  Ästhetik  aus 
der  Feder  eines  Mannes  ebenso  lückenhaft  ausfallen  muß  wie  etwa 
die  von  einem  und  demselben  Autor  geschriebene  > Kunstgeschichte«, 
wagte  ich  das  Unternehmen,  weil  der  Vorteil  einheitlicher  Auffassung 
mir  größer  schien  als  die  unvermeidlichen  Schäden.  Jetzt,  wo  ich 
denselben  Gegenstand  in  anderer  Gliederung  vortrage,  sehe  ich,  an 
wie  vielen  Stellen  mir  nicht  alles  nach  Wunsch  geglückt  ist  Man 
vollbringt  eben  selten  die  Bücher,  die  man  will.  Man  denkt  sie  sich 
bergan,  und  nachher  bleiben  sie  unbeweglich  auf  der  Ebene.  Die 
Hauptschuld  trägt  der  Geist  unseres  Zeitalters  der  Mittelbarkeit,  in  dem 
die  Beziehung  zum  Leben  zusammenschrumpft  und  fast  nur  noch 
über  Gelesenes  gelesen,  über  Geschriebenes  geschrieben,  über  Ge- 
sprochenes gesprochen  wird.    Wenngleich  ich  mich  stark  von  dieser 


19866:? 


VIII  VORWORT. 


Last  bedrückt  fühle,  hoffe  ich  dennoch,  daß  eine  persönliche  Anschau- 
ung der  Probleme  spürbar  geblieben  ist  und  als  förderlich  empfunden 
werden  wird. 

Was  die  sachliche  Einheit  des  Versuches  anlangt,  so  liegt  sie  nicht 
darin,  daß  er  als  Stück  eines  philosophischen  Systems  auftritt.  Zwar 
sind  einige  der  Hilfsbegriffe,  die  sich  mir  in  anderen  Untersuchungs- 
gebieten dargeboten  hatten,  von  neuem  verwertet  worden.  Der  Leser 
wird  die  Begriffe  des  Unterbewußtseins,  der  Psychognosis,  des  Leistungs- 
menschen und  andere  mehr  wiederfinden,  obwohl  sie  vielfach  bei  den 
Fachgenossen  auf  ebenso  vornehme  wie  vollständige  Abwesenheit  des 
Verständnisses  gestoßen  sind;  und  die  beiden  ersten  Abschnitte  über 
Geschichte  und  Prinzipien  der  Ästhetik  bleiben  von  der  in  meinem 
geschichtlichen  Werk  durchgeführten  Ansicht  beherrscht,  daß  eigent- 
lich historische  und  doxographische  Behandlung  miteinander  verbunden 
werden  sollen.  Aber  dies  Buch  besteht  nicht  in  schonungsloser  Ver- 
folgung eines  einzigen  Erklärungsgrundsatzes.  Ich  finde  ein  solches 
Verfahren  für  die  Ästhetik  in  ihrer  gegenwärtigen  Verfassung  nicht 
minder  ungeeignet  als  für  die  Psychologie  oder  Ethik.  Die  allumfassen- 
den Theorien  erinnern  mich  immer  an  das  Tote  Meer:  jedes  Lebewesen, 
das  in  die  klar  aussehende  Salzflut  sich  wagt,  schwimmt  an  der  Ober- 
fläche und  muß  sterben;  im  Toten  Meer  des  begrifflichen  Absolutismus 
gelangen  die  lebendigen  Einzelerkenntnisse  niemals  zur  Tiefe,  sondern 
werden  vergiftet.  Forschung  und  Lehre  haben  sich  nach  den  Gesichts- 
punkten zu  richten,  die  jeweilig  vom  Stoff  verlangt  werden,  sie  sollen 
feststellen,  ordnen  und  möglichst  unbefangen  aus  der  Sache  heraus 
erklären. 

Über  das  Äußeriiche  gestatte  ich  mir  zwei  Bemerkungen.  Die  erste 
betrifft  die  Beispiele.  Bei  einem  Unternehmen  wie  dem  voriiegenden 
kann  man  ihrer  kaum  entraten.  Zitate,  kurze  Gedichte  und  Noten- 
beispiele sind  leicht  einzufügen.  Gegenüber  Werken  der  bildenden 
Kunst  besagen  einfache  Hinweise  nicht  viel,  da  der  Leser  selten  Zeit 
und  Gelegenheit  hat,  ihnen  zu  folgen;  ich  habe  daher  mit  freundlicher 
Bewilligung  des  Veriegers  und  der  übrigen  Beteiligten  Tafeln  bei- 
gegeben, die  den  nötigsten  Anschauungsstoff  enthalten  und  mehrere 
allgemeine  Sätze  zu  eriäutern  geeignet  sind.  Zweitens  möchte  ich  den 
Leser  auf  die  Darstellungsweise  vorbereiten,  die  der  Bequemlichkeit 
keine  Zugeständnisse  macht,  vielmehr  auf  den  Beziehungszwang  des 
mit  einer  gewissen  Genauigkeit  Ausgesprochenen  vertraut.  An  Über- 
gangsstellen finden  sich  öfters  Zusammenfassungen;   nützlich  dürfte 


VORWORT.  IX 


auch  das  Verzeichnis  sein,  da  es  statt  einer  vollständigen,  aber  mecha- 
nischen Zusammenstellung  eine  Auswahl  von  Begriffen  und  von  Ver- 
weisungen bietet. 

Schließlich  ein  Wort  ganz  persönlicher  Art.  Sonst  schmückt  man', 
wissenschaftliche  Werke  gern  mit  dem  Namen  eines  berühmten  Ge- 
lehrten. Dies  Buch  ist  dem  Andenken  eines  amerikanischen  Privat- 
manns gewidmet.  Ein  eifriger  Verehrer  deutscher  Wissenschaft  und 
Kunst  wurde  J.  N.  Hazard  am  stärksten,  immer  wieder,  von  der  Philo- 
sophie angezogen.  Kein  Wunder:  Er  selbst  war  ein  Vorbild  echt 
philosophischen  Geistes.  Und  mehr:  Er  war  einer  von  den  so  selte- 
nen wirklich  vornehmen  und  gütigen  Menschen,  die  -  bei  aller 
Leidenschaft  für  Großes  und  Allgemeines  -  -  dem  Kleinen  und  Ein- 
zelnen ein  Herz  bewahren.  Daß  ich  dem  väteriichen  Freunde  über 
das  Grab  hinaus  die  Treue  halte,  dessen  soll  die  Widmung  ein  Zeug- 
nis sein. 

Berlin,  im  November  1905. 

Max  Dessoin 


Inhaltsfibersicht. 


Erster  Haupttetl.    Ästhetik. 

Seite 

Einleitung 3—8 

I.  Die  Geschichte  der  neueren  Ästhetik 9—59 

1.  Grundlegung  im  Altertum 9—12 

2.  Französische  Ästhetik  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 12—15 

3.  Engh'sche  und  schottische  Ästhetik  des  18.  Jahrhunderts    .    .    .  15 — 23 

4.  Die  Ästhetik  der  deutschen  Aufklärung 24—31 

5.  Die  Ästhetik  der  deutschen  Klassiker 31—38 

6.  Romantische  und  spekulative  Ästhetik 38—51 

7.  Formalistische  und  eklektische  Ästhetik 51—58 

Anmerkungen 58—59 

II.  Die  Prinzipien  der  Ästhetik 60—103 

1.  Der  Objektivismus 60—75 

2.  Der  Subjektivismus 75—89 

3.  Das  Problem  der  Methode 89—101 

Anmerkungen 101—103 

III.  Der  ästhetische  Gegenstand 104—153 

1.  Der  Umkreis  ästhetischer  Gegenstände 104—117 

2.  Harmonie  und  Proportion 117—131 

3.  Rhythmus  und  Metrum 131—141 

4.  Größe  und  Grad 141—151 

Anmerkimgen 151—153 

IV.  Der  ästhetische  Eindruck 154—194 

1.  Zeitverlauf  und  Gesamtcharakter 154—166 

2.  Die  Sinnesgefühle 166—172 

3.  Die  Formgefühle 172—183 

4.  Die  Inhaltsgefühle 183—193 

Anmerkungen 193—194 

V.  Die  ästhetischen  Kategorien 195—226 

1.  Das  Schöne 195—204 

2.  Das  Erhabene  und  das  Tragische 204—213 

3.  Das  Häßliche  und  das  Komische 213—225 

Anmerkungen 226 


XI I  INHALTSÜBERSICHT. 


Zweiter  Hauptteil.    Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

Seite 

I.  Das  Schaffen  des  Künstlers 229—275 

1.  Zeitverlauf  und  Oesamtcharakter 229—240 

2.  Die  Unterschiede  der  Anlagen 240—250 

3.  Die  Seelenkenntnis  des  Künstlers 250—262 

4.  Die  Seelenverfassung  des  Künstlers 262 — 273 

Anmerkungen 273—275 

II.  Entstehung  und  Gliederung  der  Kunst 276—311 

1.  Die  Kunst  des  Kindes 276—282 

2.  Die  Kunst  der  Naturvölker 282—294 

3.  Der  Ursprung  der  Kunst 294—301 

4.  Das  System  der  Künste 302—310 

Anmerkungen 310 — 311 

III.  Tonkunst  und  Mimik 312—352 

1.  Die  Mittel  der  Musik 312—322 

2.  Die  Formen  der  Musik 322—328 

3.  Der  Sinn  der  Musik 328—338 

4.  Mimik  und  Bühnenkunst 338—350 

Anmerkungen 350—352 

IV.  Die  Wortkunst 353—388 

1.  Die  Anschaulichkeit  der  Sprache 353—368 

2.  Rede  und  Drama 368—379 

3.  Erzählung  und  Gedicht 379—387 

Anmerkungen 388 

V.  Raumkunst  und  Bildkunst 389—422 

1.  Mittel  und  Arten  der  Raumkunst 389—399 

2.  Die  plastische  Bildkunst 399—405 

3.  Die  malerische  Bildkunst 405—414 

4.  Die  graphische  Bildkunst 414—420 

Anmerkungen 420—422 

VI.  Die  Funktion  der  Kunst 423—465 

1.  Die  geistige  Funktion 423—439 

2.  Die  gesellschaftliche  Funktion 439—452 

3.  Die  sittliche  Funktion 452—463 

Anmerkungen 463—465 

Sachverzeichnis 466—476 


ERSTER  HAUPTTEIL 

ÄSTHETIK. 


Dessoir,  Asflietik  nnd  tilg.  Kanstwissaisdiaft 


Einleitung. 


^n  der  Entwickelung,  die  unsere  Wissenschaft  von  ihrer  Geburt 
an  bis  auf  den  heutigen  Tag  erlebt  hat,  ist  ein  Gedanke  ihr 
treu  geblieben,  nämlich  der,  daß  ästhetisches  Genießen  und 
Schaffen,  Schönheit  und  Kunst  unabtrennbar  zusammengehören.  Der 
Gegenstand  dieser  Wissenschaft  sei  vielgestaltig  zwar,  doch  einheitlich. 
Kunst  gilt  als  die  Darstellung  des  Schönen,  die  aus  einem  ästhetischen 
Zustand  heraus  zu  stände  kommt  und  in  einem  ähnlichen  Verhalten  auf- 
genommen wird;  die  Wissenschaft  von  diesen  beiden  Verfassungen 
der  Seele  sowie  vom  Schönen  nebst  seinen  Modifikationen  und  von 
der  Kunst  nebst  ihren  Arten  wird,  da  sie  eine  Einheit  bildet,  mit 
dem  einen  Namen  Ästhetik  belegt. 

Die  Skepsis  der  Gegenwart  beginnt  daran  zu  zweifeln,  ob  wirklich 
das  Schöne,  das  Ästhetische  und  die  Kunst  in  einem  Verhältnis  zu- 
einander stehen,  das  fast  eine  Identität  genannt  werden  kann.  Schon 
früher  ist  die  Alleinherrschaft  des  Schönen  angegriffen  worden:  da  die 
Kunst  doch  auch  das  Tragische  und  das  Komische,  das  Zieriiche  und 
das  Erhabene,  ja  selbst  das  Häßliche  in  ihren  Kreis  einbezieht,  und 
da  an  alle  diese  Kat^orien  das  ästhetische  Gefallen  anzuknüpfen  ver- 
mag, so  ist  deutlich,  daß  mit  dem  Schönen  etwas  Engeres  gemeint 
sein  muß  als  mit  dem  künstlerisch  und  ästhetisch  Wertvollen.  Immer- 
hin könnte  Schönheit  den  Endzweck  und  Mittelpunkt  der  Kunst  bilden, 
und  es  könnten  die  übrigen  Kategorien  den  Weg  zur  Schönheit  be- 
zeichnen, gleichsam  werdende  Schönheit  sein. 

Selbst  diese  Anschauung,  die  in  der  Schönheit  den  eigentlichen 
Inhalt  der  Kunst  und  den  zentralen  Gegenstand  der  ästhetischen  Vor- 
gänge erblickt,  ist  gewichtigen  Bedenken  ausgesetzt  Vor  allen  Dingen 
steht  ihr  die  Tatsache  entgegen,  daß  die  im  Leben  genossene  Schön- 
heit und  die  in  der  Kunst  genossene  nicht  dasselbe  sind.  Die  künst- 
lerische Nachbildung  des  Naturschönen  gewinnt  einen  ganz  neuen 
Charakter:  Raumobjekte  werden  in  der  Malerei  zu  Flächengebilden, 
Seiendes  verwandelt  sich  in  der  Dichtkunst  zu  Sprachlichem,  und  so 
wird  allerorten  umgeformt  Trotz  der  objektiven  Verschiedenheit  ver- 
möchte ja  der  subjektive  Eindruck  derselbe  zu  bleiben.  Allein  auch 
das  trifft  nicht  zu.  Lebendige  Körperschönheit  —  ein  anerkannter 
Freibrief  für  den  Besitzer  —  spricht  zu  allen  unseren  Sinnen;  sie  ver- 


EINLEITUNG. 


setzt  häufig  das  Geschlechtsgefühl  in  Schwingungen,  wenn  auch  nur 
in  die  zartesten  und  kaum  bemerkten;  sie  beeinflußt  unwillkürlich 
unsere  Handlungen.  Hing^en  liegt  auf  der  Marmorstatue  eines 
nackten  Menschen  jene  gewisse  Kühle,  die  uns  nicht  daran  denken 
läßt,  ob  wir  Mann  oder  Weib  vor  uns  sehen:  selbst  der  schönste 
Leib  wird  hier  als  geschlechtloses  Bild  genossen,  vergleichbar  der 
Schönheit  einer  Landschaft  oder  einer  Melodie.  Zum  ästhetischen 
Eindruck  des  Waldes  gehört  sein  würziger  Duft,  zum  Eindruck  einer 
tropischen  Vegetation  die  glühende  Hitze,  während  aus  dem  künst- 
lerischen Genuß  die  Empfindungen  der  niederen  Sinne  verbannt  sind. 
Gleichsam  zum  Ersatz  für  das  Fehlende  enthält  der  Kunstgenuß  die 
Freude  an  der  Persönlichkeit  des  Künstlers  und  an  seiner  Kraft, 
Schwierigkeiten  zu  überwinden,  und  so  manche  andere  Lustmomente, 
die  niemals  von  der  natürtichen  Schönheit  ausgelöst  werden.  Es 
unterscheidet  sich  demnach,  was  wir  in  der  Kunst  schön  nennen,  von 
dem,  was  im  Leben  so  heißt,  sowohl  dem  G^enstand  als  auch  dem 
Eindruck  nach. 

Aus  unseren  Beispielen  ergibt  sich  aber  noch  etwas  anderes.  Vor- 
ausgesetzt, daß  wir  die  reine,  lustvolle  Betrachtung  wirklicher  Dinge 
und  Vorgänge  ästhetisch  nennen  dürfen  —  und  welcher  Gegengrund 
könnte  aus  dem  gewohnten  Wortgebrauche  abgeleitet  werden?  — ,  so 
erhellt,  daß  der  Kreis  des  Ästhetischen  weiter  reicht  als  der  des  Künst- 
lerischen. Unsere  bewundernde  und  liebende  Hingabe  an  Natur- 
erscheinungen trägt  alle  Merkmale  des  ästhetischen  Verhaltens  und 
braucht  dennoch  von  der  Kunst  nicht  berührt  zu  sein.  Noch  mehr. 
Auf  allen  geistigen  und  sozialen  Gebieten  lebt  sich  ein  Teil  der 
schaffenden  Kraft  in  ästhetischer  Formung  aus;  diese  Erzeugnisse,  die 
keine  Kunstwerke  sind,  werden  ästhetisch  genossen.  Da  ungezählte 
Tatsachen  täglicher  Erfahrung  uns  vor  Augen  stellen,  daß  der  Ge- 
schmack unabhängig  von  der  Kunst  sich  entwickein  und  auswirken 
kann,  so  müssen  wir  der  Sphäre  des  ästhetischen  Seins  einen  weiteren 
Umfang  zuerkennen  als  der  Sphäre  der  Kunst. 

Damit  ist  nicht  behauptet,  daß  der  Kreis  der  Kunst  ein  enger  Aus- 
schnitt sei.  Im  Gegenteil:  das  ästhetische  Moment  erschöpft  nicht  den 
Inhalt  und  Zweck  jenes  Gebietes  menschlicher  Produktion,  das  wir 
zusammenfassend  »die  Kunst«  nennen.  Jedes  wahrhafte  Kunstwerk 
ist  nach  Motiven  und  Wirkungen  außerordentlich  zusammengesetzt, 
es  entspringt  nicht  bloß  aus  ästhetischer  Spielseligkeit  und  dringt 
nicht  nur  auf  ästhetische  Lust,  geschweige  denn  auf  reinen  Schönheits- 
ertrag. Die  Bedürfnisse  und  Kräfte,  in  denen  die  Kunst  ihr  Dasein 
hat,  sind  keineswegs  mit  dem  ruhigen  Wohlgefallen  erschöpft,  das 
nach  der  Überiieferung  den  ästhetischen  Eindruck  sowie  den  ästhe- 


EINLEITITNG. 


tischen  Gegenstand  kennzeichnet  In  Wahrheit  haben  die  Künste  im 
geistigen  und  gesellschaftlichen  Leben  eine  Funktion,  durch  die  sie 
mit  unserem  gesamten  Wissen  und  Wollen  verbunden  sind. 

Es  ist  daher  die  Pflicht  einer  allgemeinen  Kunstwissenschaft,  der 
großen  Tatsache  der  Kunst  in  allen  ihren  Bezügen  gerecht  zu  werden. 
Die  Ästhetik  vermag  diese  Aufgabe  nicht  zu  lösen,  wenn  anders  sie 
einen  bestimmten,  in  sich  geschlossenen  und  deutlich  abgrenzbaren 
Inhalt  besitzen  soll  Wir  dürfen  nicht  mehr  die  Unterschiede  der 
beiden  Disziplinen  wegtäuschen,  sondern  müssen  sie  durch  immer 
feinere  Differenzierung  so  scharf  herausheben,  daß  die  wirklich  vor- 
handenen Zusammenhänge  sichtbar  werden^).  Das  Verhältnis  der 
früher  geübten  zu  der  jetzt  eintretenden  Betrachtungsweise  ist  dem- 
jenigen zwischen  Materialismus  und  Positivismus  zu  vergleichen.  Wäh- 
rend der  Materialismus  eine  reichlich  grobe  Aufhebung  des  Geistigen 
in  das  Körperliche  wagte,  stellte  der  Positivismus  eine  Ordnung  von 
Naturkräften  auf,  in  der  die  Beziehung  der  Abhängigkeit  die  Folge 
bestimmt  Der  Mechanismus,  die  physikalisch-chemischen  Tatsachen, 
die  biologische  und  die  geschichtlich-gesellschaftliche  Gruppe  werden 
nicht  inhaltlich  aufeinander  zurückgeführt,  sondern  derart  verknüpft, 
daß  die  höheren  Ordnungen  als  abhängig  von  den  niederen  erscheinen. 
So  soll  nunmehr  auch  die  Kunst  mit  dem  Ästhetischen  methodologisch 
verkettet  werden.  Und  vielleicht  noch  enger,  denn  vielfach  arbeiten 
schon  jetzt  Ästhetik  und  Kunstwissenschaft  einander  in  die  Hände 
wie  die  Tunnelarbeiter,  die  von  entgegengesetzten  Punkten  aus  in 
einen  Berg  eindringen,  um  in  seiner  Mitte  sich  zu  treffen. 

Vielfach  geschieht  es,  nicht  durch w^.  An  manchen  Stellen  voll- 
zieht sich  die  Forschung  gänzlich  unbekümmert  um  das,  was  an 
anderen  Orten  vor  sich  geht  Das  Gebiet  ist  eben  zu  groß  und  die 
Interessen  sind  zu  verschieden.  Künstler  berichten  von  ihren  Erfah- 
rungen beim  Schaffen,  Kenner  belehren  uns  über  die  Technik  der 
einzelnen  Künste;  Soziologen  untersuchen  die  gesellschaftliche  Funk- 
tion, Ethnologen  den  Ursprung  der  Kunst;  Psychologen  ergründen 
teils  durch  Versuche  teils  durch  begriffliche  Analyse  den  ästhetischen 
Eindruck,  Philosophen  erörtern  die  Methoden  und  Prinzipien;  die  Ge- 
schkhtschreiber  der  Literatur,  Musik  und  bildenden  Kunst  haben  eine 
ungeheure  Stoffmenge  aufgehäuft  —  und  die  Gesamtheit  dieser  wissen- 
schaftlichen Forschungen  bildet  den  festesten,  jedoch  nicht  größten 
Bestandteil  der  öffentlichen  Diskussionen,  die  von  allerhand  Gesichts- 
punkten aus  in  Zeitschriften  und  Zeitungen  von  statten  gehen.  >Da 
bleibt  nun  für  den  ernst  Betrachtenden  nichts  übrig  als  daß  er  sich  ent- 
schließt, irgendwo  den  Mittelpunkt  hinzusetzen  und  alsdann  zu  sehen 
und  zu  suchen,  wie  er  das  übrige  peripherisch  behandle. <    (Goethe.) 


EINLEITUNG. 


Nur  durch  Grenzsetzung  kann  aus  dem  geschäftigen  Durcheinander 
ein  Zusammenwirken  entstehen.  Der  Widersprüche  und  Fremdheiten 
sind  augenblicklich  noch  recht  viele.  Wer  eine  glatte  b^riffliche 
Einheit  herzustellen  unternimmt,  der  tötet  das  Leben,  das  in  B^eg- 
nungen,  Kreuzungen  und  Kämpfen  sich  bekundet,  und  verstümmelt 
die  volle  Erfahrung,  die  in  den  mannigfaltigen  Einzeluntersuchungen 
sich  ausbreitet.  System  und  Methode  bedeuten  für  uns:  frei  sein  von 
einem  System  und  einer  Methode  Es  fragt  sich  jedoch,  ob  ein 
einzelner  so  weit  Herr  der  verschiedentlichen  Verfahrungsweisen 
werden  kann,  um  sie  mit  Nutzen  anzuwenden.  Zwar  scheint  nach 
allgemeiner  Ansicht  der  Philosoph  berechtigt,  Ästhetik  im  engeren 
Sinn  zu  treiben,  aber  seine  Befugnis,  über  allgemeine  Kunstwissen- 
schaft sich  auszusprechen,  dürfte  angefochten  werden.  Der  Philosoph, 
der  über  alles  und  jedes  mitreden  will,  mag  wie  ein  berufsmäßiger 
Dilettant  ausschauen,  wie  ein  Schwätzer  und  Besserwisser,  ohne  rechte 
Vorstellung  und  gründliche  Kenntnis  von  den  Dingen,  über  die  er 
phantasiert.  Sollten  nicht  die  Kunstgelehrten  einerseits,  die  schaffen- 
den Künstler  anderseits  den  Gegenstand  ausschließlich  für  sich  be- 
anspruchen dürfen? 

Die  Theorie  der  einzelnen  Künste  wird  durchschnittlich  in  Ver- 
bindung mit  der  Erforschung  ihrer  Geschichte  gepfl^  An  den  Uni- 
versitäten vertritt  der  Kunsthistoriker  zugleich  die  systematische  Wissen- 
schaft von  den  bildenden  Künsten;  der  Literarhistoriker  in  sozusagen 
offizieller  Form  soll  auch  Sprachforscher  sein;  Musikgeschichte  und 
Musikwissenschaft  werden  d)enfalls  in  Personalunion  betrieben.  Daß 
beide  Arbeitsrichtungen  einander  stützen  können,  daß  namentlich  der 
Historiker  ohne  systematische  Kenntnisse  bis  zur  Bew^ungslosigkeit 
gefesselt  wäre,  ist  ohne  weiteres  zuzugeben.  Aber  die  rein  theore- 
tische Beschäftigung  mit  Formen  und  Gesetzen  jeder  Kunst  kann,  wie 
die  Erfahrung  zeigt,  in  gründlicher  und  förderiicher  Weise  vollzogen 
werden,  obgleich  die  geschichtliche  Entwickelung  nicht  näher  unter- 
sucht wird.  So  entstehen  die  besonderen  systematischen  Wissen- 
schaften, die  man  Poetik,  Musiktheorie  und  Kunstwissenschaft  zu 
nennen  pflegt.  Ihre  Voraussetzungen,  Methoden  und  Ziele  erkenntnis- 
theoretisch zu  prüfen  sowie  ihre  bedeutsamsten  Ergebnisse  zusammen- 
zufassen und  zu  vergleichen,  scheint  mir  die  Aufgabe  einer  allgemeinen 
Kunstwissenschaft  zu  sein;  daneben  besitzt  diese  in  den  Problemen, 
die  das  künstlerische  Schaffen  und  der  Ursprung  der  Kunst,  die  Ein- 
teilung und  die  Funktion  der  Künste  dem  Nachdenken  stellen,  Gebiete, 
die  sonst  keine  Stätte  finden  könnten.  Und  vorläufig  wenigstens  ist 
der  Philosoph  berufen,  sie  zu  verwalten. 

Doch  ein  anderer  Zweifel  muß  noch  behoben  werden.    Sind  nicht 


EINLEITUNG. 


vielleicht  die  schaffenden  Künstler  diejenigen,  die  uns  andere  über  das 
Wesen  der  Kunst  belehren  sollten?  Mit  welchem  Recht  darf  der 
Philosoph,  der  nicht  selber  Kunstler  ist,  über  Kunst  urteilen?  Ist  er 
nicht  den  gleichen  Vorwürfen  ausgesetzt  wie  ein  Nationalökonom,  der 
über  den  Börsenhandel  schreibt,  ohne  jemals  im  Getriebe  der  Börse 
gestanden  zu  haben? 

Gewiß  verdankt  unsere  Wissenschaft  den  Künstlern,  sofern  sie 
Theoretiker  und  Schriftsteller  sind,  manches  Gute.  Zunächst  sind  die 
Selbstzeugnisse  über  ihr  Schaffen  ganz  unentbehriich.  Alsdann  haben 
sie  über  die  Technik  ihrer  Kunst  viel  Schönes  gesagt  Aber  ihre  Teil- 
nahme für  die  Theorie  hat  doch  der  R^el  nach  ein  anderes  Aussehen 
als  unsere  Bemühung.  Künstler  wollen  durch  Nachsinnen  das  eigene 
Schaffen  fördern  oder  wenigstens  dem  natürlichen  Bedürfnis  nach 
Einsicht  in  die  Bedingungen  ihrer  Kunst  genügen.  Ihr  Absehen  ist 
also  entweder  auf  die  künstlerische  Leistung  gerichtet  oder  auf  die 
persönliche  Bildung.  Die  wissenschaftliche  Untersuchung  jedoch  darf 
nicht  Mittel  zu  einem  dieser  beiden  an  sich  berechtigten  Ziele  bleiben, 
sondern  ist  sich  selber  Zweck;  und  für  sie  pfl^  bei  der  schön- 
geistigen Beschäftigung  mit  der  Kunst  wenig  herauszukommen.  Ich 
will  nicht  von  der  Unzulänglichkeit  der  Künstler  sprechen,  die  sich 
zum  Reden  aufgel^  fühlen,  ohne  an  abstraktes  und  systematisches 
Denken  gewöhnt  zu  sein,  ja  ohne  überhaupt  das  Problematische  des 
Selbstverständlichen  zu  ahnen;  sondern  ich  möchte  auch  Kunstbetrach- 
tung*) und  Kunstkritik  von  der  reinen  Wissenschaft  ausgeschlossen 
wissen.  Indem  jene  das  eigentümliche  Leben  einzelner  Kunstwerke 
nachfühlen,  diese  Idee  und  Form  an  der  einzelnen  Schöpfung  trennen 
lehrt,  leisten  sie  etwas  für  die  Bildung  und  Genußfähigkeit  der  Indi- 
viduen. Aber  alle  philosophischen  Ewigkeitswerte  dienen  hier  dem 
Augenblicklichen.  Mit  Sainte-Beuve  sehen  Kenner  und  Kritiker  ihre 
Aufgabe  darin,  »flfe  se  bomer  ä  connaitre  de  pres  les  heiles  choses  et 
ä  s'en  nourrir  en  exquis  amateurSy  en  humanistes  accomplis.^  Dazu 
können  allerdings  Beschreibung  und  Erklärung  einen  Beitrag  liefern, 
und  es  gehört  zu  unseren  Obli^enheiten,  Recht  und  Umfang  dieses 
Anteils  erkenntnistheoretisch  festzulegen;  indessen  mit  Verständnis  und 
Genuß  des  einzelnen  Gebildes  haben  wir  es  nicht  zu  tun. 

Unsere  Wissenschaft  entspringt  wie  jede  andere  dem  Bedürfnis 
nach  klarer  Einsicht  und  der  Notwendigkeit,  eine  Gruppe  von  Tat- 
sachen zu  erklären.  Da  das  Erfahrungsgebiet,  das  sie  erkennbar  zu 
machen  hat,  das  der  Kunst  ist,  so  entsteht  die  besondere  und  ärger- 
liche Schwierigkeit,  die  freiste,  subjektivste,  am  meisten  synthetische 
Betätigung  des  Menschen  in  der  Richtung  der  Notwendigkeit,  Objek- 
tivität, Analysis   umzuformen.     Diese  gewaltsame  Veränderung  muß 


8  EINLEITUNG. 


erfolgen,  oder  es  gibt  keine  Wissenschaft  von  der  Kunst.  Alles  Launen- 
hafte, Unzweckmäßige j  Irrationale  ist  unweigerlich  zu  tilgen.  Denn 
mit  der  oft  geschehenen  bloßen  Anerkennung  seines  Daseins  ist  es 
ja  noch  nicht  begriffen.  Auf  diesem  Wege  entfernt  man  sich  freilich 
oft  von  der  erlebten  Wirklichkeit  und  vom  Bewußtsein  der  Künstler. 
Hört  irgend  ein  Musiker  alles  das,  was  die  Musikwissenschaft  fest- 
stellt? Weiß  der  Leser,  ja  selbst  der  Dichter,  daß  die  besondere 
Stimmung,  die  eine  Strophe  hervorruft,  durch  die  ausnahmslos  dunklen 
Vokale  bedingt  ist?  Indem  die  Wissenschaft  von  solchen  Dingen 
spricht,  stößt  sie  auf  einen  Widerstand  von  selten  der  Künstler:  da 
sie,  die  Schaffenden,  fast  nichts  von  allem  dem  klar  zu  sehen  brauchen, 
so  empfinden  sie  es  als  eine  wunderliche  Entstellung  und  ziehen  sich 
schließlich  ganz  auf  ihr  Gefühl  zurück.  Der  Schaffende  wird  daher 
immer  nur  im  Schaffenden  einen  Ebenbürtigen  anerkennen,  wenn  er 
ihn  auch  meist  als  einen  Nebenbuhler  haßt;  selbst  der  große  Dichter 
wird  dem  ungebildeten  Erfinder  eines  Couplets  sich  ähnlicher  fühlen 
als  dem  gelehrtesten  Denker.  Eben  darin  li^  aber  unser  Recht 
Wir  wollen  die  Vorgänge  erkennen  und  haben  nicht  den  Ehrgeiz,  sie 
herstellen  zu  können.  Folglich  ist  unsere  Absicht  auch  nicht  darauf 
gerichtet,  den  Künstler  zu  beeinflussen.  Wie  man  es  anfängt,  ein 
Kunstwerk  zu  schaffen,  das  vermögen  wir  im  einzelnen  und  mit  Erfolg 
nicht  zu  sagen.  Wissen  und  Können  ist  zweierlei.  Und  die  allge- 
meine Kunstwissenschaft  gehört  zu  der  weiten  Sphäre  des  Wissens. 
Dürfte  ich  ins  Land  der  Wünsche  ausschwärmen,  so  möchte  ich 
wohl  ein  Bild  dessen  entwerfen,  dem  einst  die  Krone  jenes  Reiches 
zufallen  soll.  Zum  König  wäre  geboren,  wer  künstlerisch  zu  empfin- 
den und  wissenschaftlich  zu  denken  in  gleichem  Masse  veranlagt  ist: 
die  Kunst  in  allen  ihren  Erscheinungen  müßte  seine  Leidenschaft,  die 
Wissenschaft  mit  allen  ihren  Methoden  müßte  seine  Fähigkeit  bilden. 
Wir  harren  seiner. 


\.  Die  Geschichte  der  neueren  Ästhetik. 


!•  Grundlegung  im  Altertum. 

Wenn  es  gilt  auszusprechen,  wie  wir  heute  die  Fragen  beantworten, 
die  dem  wissenschaftlichen  Nachdenken  von  den  Tatsachen  des  ästhe- 
tischen Lebens  und  der  Kunst  entg^engeworfen  werden,  so  erwdst 
sich  die  Besinnung  auf  ältere  Theorien  als  nützlich.  Unter  dieser  Zweck- 
bestimmung kann  es  aber  nicht  die  Aufgabe  sein,  eine  Geschichte  des 
Geschmacks  und  des  Kunsturteils  zu  schreiben.  Ebensowenig  wie  die 
Entwickelung  des  Moralismus  zusammenfällt  mit  der  Entwickelung  der 
Ethik  oder  der  Fortschritt  des  Seelenverständnisses  gleichzusetzen  ist 
dem  Fortschritt  der  wissenschaftlichen  Psychologie,  ebensowenig  deckt 
sich  die  Geschichte  der  ästhetischen  Wertungen  Oberhaupt  mit  der 
Geschichte  der  wissenschaftlichen  Ästhetik.  Die  ungezählten,  in  loser 
Form  dargebotenen  Einsichten,  die  unmittelbar  oder  mittelbar  geäußerten 
Kunstanschauungen  haben  zweifellos  eine  starke  Bedeutung:  es  ist  wohl 
wichtig,  zu  erfahren,  worin  ein  Geschlecht  den  Gipfel  der  Kunst  erblickte, 
und  in  welchem  Maße  die  herrschende  Geschmacks-  und  Produktions- 
richtung auch  auf  die  Theorie  Einfluß  gewann.  Indessen  in  einer  vor- 
bereitenden Betrachtung  kann  von  diesem  großen  Kulturzusammenhang 
abgesehen  und  der  Bericht  auf  die  jeweiligen  systematischen  B^^'ffe 
eingeschränkt  werden*). 

Die  Ästhetik  besteht  als  dgenes  Forschungsgebiet  erst  seit  verhält- 
nismäßig kurzer  Zeit,  doch  sind  die  in  ihr  möglichen  Richtungen  schon 
früher  von  Philosophen  festgel^  worden.  Vor  allem  ist  die  Erkenntnis 
eines  Unterschiedes  zwischen  der  Theorie  des  Schönen  und  der  Theorie 
der  Künste  bereits  von  den  Griechen  gefaßt  worden.  Sie  haben  mit 
einer  gewissen  natürlichen  Sicherheit  Philosophie  des  Schönen  und 
Kunstwissenschaft  voneinander  getrennt 

Die  philosophische  Betrachtung  wendet  sich  der  Schönheit  zu,  die 
im  Kosmos,  in  Natur  und  Leben  sich  bekundet  Plato  nennt  die  Har- 
monie der  Klänge  und  die  abgemessene  Ordnung  der  Weltkörper,  um 
den  Charakter  des  Schönen  zu  verdeutlichen;  dieser  li^  im  vollendeten 
Sichselbstgenügen,  in  ruhender  Vollkommenheit,  in  Gleichmäßigkeit  und 
Klarheit,  in  der  das  Vielfältige  verknüpfenden  Einheit  Da  nur  den 
Ideen  d.  h.  den  im  Sollen  gipfelnden  objektivierten  Gattungsb^jiffen 


10  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

wahre  Wesenheit  zukommt,  so  tritt  in  Piatos  Auffassung  der  sinnliche, 
individuelle  Bestandteil  des  Schönen  zurück,  anderseits  wird  derjenigen 
Kunst,  die  das  Soll  oder  das  Oute  darstellt,  der  höchste  Wert  zuge- 
sprochen. Die  innere,  seelische  Schönheit,  die  fast  mit  dem  Guten 
zusammenfällt,  überragt  alle  körperliche  Schönheit 

Nachdem  auf  solche  Art  das  Ästhetische  nicht  nur  zum  Weltall, 
sondern  auch  mit  der  verborgenen  Geistigkeit  und  dem  Sittlichen  in 
Beziehung  gesetzt  war,  nahm  Aristoteles  eine  Verschiebung  vor.  In 
allen  Einzeldingen,  so  lehrte  er,  ist  eine  formende  und  den  Stoff  in 
typischer  Gestalt  zusammenhaltende  Kraft  (Entelechie):  sie  nachzuahmen 
sei  die  eigentliche  Aufgabe  der  Kunst  So  soll  auch  die  Poesie  — 
philosophischer  als  die  Geschichte  —  anstatt  der  zufälligen  Einzel- 
erscheinung das  Allgemeine  und  Notwendige  an  ihr  zur  Darstellung 
bringen,  und  im  ästhetischen  Genuß  müßte  die  Entelechie  eines  Natur- 
gegenstandes oder  ihre  deutlichere  Wiederholung  durch  Kunstmittel 
erfaßt  werden.  Hier  jedoch  drängt  sich  ein  anderes  Moment  der  aristo- 
telischen Philosophie  dazwischen,  nämlich  die  Überzeugung,  daß  jedes 
einzelne  Ding  der  Erfahrung  durchaus  Wirklichkeit  im  gesättigten  Sinne 
des  Wortes  besitze.  Mit  dieser  Oberzeugung  ist  die  Lehre  verwandt, 
daß  das  Wiederfinden  eines  Einzelg^enstandes  in  dem  vom  Künstler 
gebotenen  Nachbilde  eine  ästhetische  Freude  gewähre. 

In  der  soeben  angedeuteten  Theorie  der  Nachahmung  (Mimesis) 
greift  Aristoteles  auf  die  Tatsache  zurück,  daß  Lernen  Freude  macht 
Wer  Kunst  genießt,  erfreut  sich  an  der  Übereinstimmung  zwischen 
Original  und  Nachbild;  auch  die  Dichtung  gilt  der  aristotelischen  Poetik 
als  Nachahmung  und  zwar  von  handelnden  Menschen  im  Darstellungs- 
mittel der  Rede.  Das  Wirkliche  und  seine  Wiederholung  decken  sich 
so  vollständig,  wie  die  den  Dingen  immanente  »Form«  und  der  wissen- 
schaftliche Begriff.  Diese  natüriiche  Auffassung  des  Verhältnisses  von 
Vorbild  und  Abbild  verbindet  sich  mit  der  ebenso  natürlichen  Ansicht, 
daß  ein  solches  Verhältnis  die  Lust  am  Schauen  und  Lernen  wecken 
muß.  Die  Freude  an  der  Kunst  soll  also  darin  bestehen,  daß  unser  Lern- 
bedürfnis befriedigt  wird  durch  die  Beobachtung,  wie  das  Kunstwerk 
seinem  Vorbilde  gleicht  —  Man  könnte  ohne  Beziehung  auf  das  Lernen 
den  Ursprung  des  ästhetischen  Genusses  dann  einfach  in  das  Ver- 
gnügen an  der  Gleichheit  setzen.  Dies  Vergnügen  an  der  Gleichheit 
oder  Ähnlichkeit  führt  zur  Nachahmung.  Schon  Kinder  unterhalten 
sich  mit  Nachahmungsversuchen,  sei  es,  daß  sie  selber  pantomimisch 
nachahmen  oder  in  einem  beliebigen  Material  Naturgegenstände  nach- 
formen. Femer  scheint  die  Tatsache,  daß  häßliche  Objekte  in  künst- 
lerischer Nachbildung  Gefallen  erregen  können,  für  die  Gleichsetzung 
der  ästhetischen  und  der  Erkenntnislust  zu  sprechen.    Denn  welches 


GRUNDLEGUNG  IM  ALTERTUM.  1 1 

andere  Vergnügen  kann  an  die  Darstellung  eines  häßlichen  Objektes 
geknüpft  sein  als  die  Freude  am  Wiedererkennen  oder  auch  am  Kennen- 
lernen? 

Vollständig  verlassen  wurde  die  Theorie  der  Mimesis  von  Plotin. 
Die  Spekulation  Plotins  nimmt  mit  dem  Schönen  eine  Vergeistigung 
vor,  durch  die  das  Stoffliche  fast  jede  selbständige  Bedeutung  vertiert 
Das  Schöne  rückt  in  die  Nähe  der  ausstrahlenden  göttlichen  Kraft,  des 
Einen;  seine  vielfältige  Beschaffenheit  erklärt  sich  daraus,  daß  es  viele 
Ideen  gibt,  die  im  Nus,  in  der  ersten  Ausstrahlung  des  Einen,  ihre 
Stätte  haben.  Mit  dem  lebendigen  göttlichen  Prinzip  in  der  Natur  muß 
die  schaffende  Phantasie  verglichen  werden.  Wie  im  Weltall  Gottes 
Spuren  überall  erkannt  werden  können  und  sollen,  so  lassen  wir  uns 
im  Kunstgenuß  von  der  überströmenden  Kraft  des  Künstlers  ergreifen; 
wie  das  Absolute  nicht  in  B^friffen  und  Sinnesanschauungen  erschöpfend 
aufzunehmen  ist,  so  bedarf  es  einer  Intuition,  einer  Ekstase,  einer 
ahnungserfüllten  Versenkung,  um  den  Reichtum  sich  aufzuschließen, 
den  das  Kunstwerk  in  seinen  einigermaßen  unzulänglichen  Formen 
enthält. 

Auch  für  Augustin  steht  die  überirdische  Abstammung  des  Schönen 
fest:  »die  Schönheit  selbst,  aus  der  alles  was  schön  ist  diese  seine 
Eigenschaft  ableitet,  kann  auf  keine  Weise  sichtbar  werden,  c  Als  äußere 
Anzeichen  der  Schönheit  nennt  er  sowohl  die  Zusammenstimmung  des 
Verschiedenen  als  auch  die  Übereinstimmung  mit  einem  natürlichen 
Vorbild;  doch  scheint  er  dies  letzte  Merkmal  nur  als  ein  relatives  zu 
betrachten.  In  die  Ästhetik  des  kosmisch  Schönen  bringt  er  ein  erbau- 
liches Moment  hinein.  Die  Ordnung  der  Gestirne,  der  Reichtum  der 
Tier-  und  Pflanzenwelt,  die  Gewalt  des  Großen  und  der  Liebreiz  des 
Kleinen  —  dies  alles  soll  unsere  Blicke  und  Gedanken  zu  dem  ewigen 
Schöpfer  lenken.  Insbesondere  sind  es  Maß  und  Proportion,  durch 
die  anbetende  Bewunderung  geweckt  wird. 

Die  griechische  Philosophie  hat  wie  dem  Schönen  so  auch  der 
Kunst  ihr  Nachdenken  zugewandt  Aber  mit  einer  gewissen  Zurück- 
haltung. Die  Kunst  wird  zumeist  nicht  als  etwas  das  Leben  Erfüllen- 
des, als  ein  Höchstes  in  den  geistigen  Bestrebungen  anerkannt,  und 
der  Künstler  erscheint  nicht  als  ein  frei  Schaffender.  Nur  Plotins  Idealis- 
mus erhebt  sich  zu  der  Vorstellung,  daß  des  Künstlers  Phantasie  dem 
Walten  Gottes  in  der  Natur  entspreche.  Plato  läßt  zwar  die  Begeiste- 
rung als  Quelle  der  Produktivität  gelten,  urteilt  aber  im  allgemeinen 
recht  nüchtern  über  die  Stellung  der  Kunst  im  Gemeinschaftsleben. 
Er  verlangt  strenge  Regelung,  da  die  Kunstübung  unter  die  öffentliche 
Erziehung  gehört  und  den  sittlichen  Zwecken  des  Staates  nicht  wider- 
sprechen darf. 


12  L  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Die  Kunstlehren  im  besonderen  sind  Techniken,  analytische  Unter- 
suchungen über  die  vorhandenen  Gattungen  und  Arten.  Sie  werden 
im  großen  Ganzen  nicht  einmal  der  griechischen  Kunst  gerecht,  ge- 
schweige denn,  daß  sie  für  alle  spätere  Entwickelung  ausreichten.  Wir 
denken  etwa  an  die  aristotelische  Poetik.  Sie  scheidet  die  Dichtungen 
—  mit  einer  moralisierenden  Bewertung  ihres  Inhalts  —  in  zwei  Klassen: 
in  solche,  die  Edles  darstellen,  von  den  Dithyramben  bis  zu  den  Tra- 
gödien, und  in  andere,  die  Niedriges  darstellen,  anfangend  mit  phallischen 
Liedern  und  hinaufreichend  bis  zur  Komödie.  Am  höchsten  steht  die 
Tragödie.  Sie  soll  eine  kunstvoll  aufgebaute  Handlung  enthalten  und 
durch  diese  auf  das  Unterhaltungsbedürfnis,  die  sittliche  Bildung  und 
den  intellektuellen  Tätigkeitsdrang  wirken.  Vor  allem  aber  soll  sie  die 
»Katharsis«  herbeiführen,  eine  Befreiung  von  Furcht  und  Mitleid,  dadurch, 
daß  diese  beiden  Affekte  sich  in  gesetzmäßiger  Form  und  im  Hinblick 
auf  das  allgemein  Menschliche  entladen:  ihre  Erregung  wird  zur  Be- 
freiung von  ihnen,  sobald  sie  in  kunstvoller  Art  und  in  der  Richtung 
auf  ewige  Schicksalsbestimmungen  erfolgt. 


2.  Französische  Ästhetik  des  17.  und  18.  Jahrhunderts. 

Wie  bei  ständiger  Anlehnung  an  die  Grundgedanken  griechischer 
Denker  eine  selbständige  und  vorwärts  weisende  Auffassung  sich  bilden 
kann,  das  zeigt  erst  die  in  Frankreich  begründete  rationalistische  Ästhetik. 
Ihre  Höhepunkte  hat  sie  in  Boileaus  Artpoitique  (1674)  und  d'Alemberts 
Discours  prüiminaire  (1751). 

Boileaus  allgemeinstes  ästhetisches  Prinzip  ist  die  Deutlichkeit 
Gleich  Aristoteles  betont  er  das  intellektuelle  Vergnügen,  aber  nicht  mit 
so  nachdrücklichem  Hinweis  auf  den  Gegenstand.  Für  ihn  stellten 
sich  die  antiken  Theorien  von  dem  idealen  Gehalt  des  Schönen,  von 
der  Nachahmung  und  der  Freude  am  Lernen  folgendermaßen  dar.  Alle 
Aufklärung  von  Vorstellungen  gewährt  Lust.  Die  Aufklärung  erfolgt 
nicht  durch  Einfälle  von  unerhörter  Neuheit,  sondern  durch  Einsichten, 
die  in  den  verworrenen  Vorstellungen  des  Belehrten  eigentlich  schon 
vorhanden  waren.  Ein  Meister,  der  Unklares  klärt.  Undeutliches  ver- 
deutlicht, ist  der  Künstler;  von  ihm  und  seinen  Werken  spricht  fast 
ausschließlich  diese  Ästhetik,  die  den  kennzeichnenden  Namen  thiorie 
des  beaux-arts  führt  Der  berühmte  Satz:  T^Rien  n'est  beau  que  le 
vraU  besagt  demnach,  daß  Klarheit  und  Bestimmtheit  —  die  beiden 
Hauptmerkmale  des  Wahren  —  auch  im  Kunstwerk  nicht  fehlen  dürfen. 
Er  hat  außerdem  die  Bedeutung,  daß  im  Inhalt  eines  Kunstwerks  nur 
Wahrheit  sich  verkünden  soll,  und  insofern  drückt  er  das  Bewußtsein 


FRANZÖSISCHE  ÄSTHETIK  DES  17.  UND  18.  JAHRHUNDERTS.  13 

vom  hohen  Wert  der  Kunst  aus.  Damit  Kunst  nicht  für  Kunstfertig- 
keit oder  Handwerk  gehalten  werde,  muß  sie  auf  das  gleiche  Niveau 
mit  der  Wissenschaft  gehoben  werden.  Auch  die  Känstler  studieren 
und  denken,  auch  sie  sind  fähig  und  verpflichtet,  das  Wahre  mitzuteilen 
und  dadurch  den  Geist  des  Hörers  aufzuklären  und  zu  erfreuen. 

Es  ist  lediglich  eine  —  allerdings  folgenschwere  —  Ausfuhrung 
dieser  Grundsätze,  wenn  Crousaz  {Tratte  du  beau  1712)  das  Gesetz 
des  Geschmacks  dahin  formuliert:  die  Gegenstände  so  zu  empfinden, 
daß  die  Vernunft  die  Empfindung  rechtfertigen  würde,  wenn  sie  die 
Dinge  näher  untersuchte.  Daneben  stellt  er  ein  objektives  Prinzip  auf, 
und  zwar  das  uns  schon  bekannte  der  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit 
Sein  Anwendungsbezirk  reicht  über  den  Kreis  der  Künste  hinaus. 
Wissenschaften  sind  schön,  da  sie  eine  Vielheit  von  Objekten  um- 
spannen und  alle  mit  gleicher  Klarheit  durchdringen;  Tugenden  sind 
schön,  da  sie  des  Menschen  Handeln  in  Einhelligkeit  mit  seinem  Wesen 
und  seiner  Zweckbestimmung  zeigen;  Gott  ist  schön,  obwohl  wir  ihn 
nur  dunkel  zu  ahnen  vermögen :  T^Personne  ne  disconviendra,  que  Dieu 
ne  soit  essentiellement  beau€  (S.  125). 

Die  subjektive  Seite  des  Ästhetischen  bildet  den  Gegenstand  für 
die  Reflexions  critiques  von  Dubos  (1719).  Die  Kunst,  so  sagt  er, 
entspringt  aus  dem  Trieb,  die  Seelenkräfte  in  angenehme  Tätigkeit  zu 
setzen.  Aus  der  gleichen  Wurzel  erwächst  der  ästhetische  Genuß. 
Nichts  sei  dem  Menschen  unerträglicher,  als  wenn  seine  geistigen 
Kräfte  brach  liegen.  So  können  selbst  die  unangenehmen  Gefühle,  die 
beim  Eindruck  des  Tragischen  notwendig  sich  einstellen,  willkommen 
sein,  zumal  da  sie  nicht  ununterbrochen  andauern,  sondern  reineren 
Wirkungen  auf  Verstand  und  Sittlichkeit  immer  wieder  weichen.  Dubos 
hat  ähnlich  wie  Batteux  starken  Einfluß  auf  die  deutsche  Ästhetik 
gewonnen. 

Batteux  geht  von  der  aristotelischen  Lehre  der  Mimesis  aus.  Sein 
Hauptwerk,  das  ausschließlich  mit  der  Kunst  sich  beschäftigt  {Les 
beaux  arts  ridults  ä  un  mime  principe  1746),  handelt  vom  Prinzip  der 
Natumachahmung.  Gemeint  ist  freilich  eine  auswählende  und  ver- 
schönernde Wiedergabe  des  Natüriichen  *).  Der  bildende  Kunstler  soll 
die  vollkommensten  Exemplare  einer  Art  sich  vor  Augen  stellen  und 
durch  die  Verknüpfung  solcher  Erscheinungen,  die  der  Natur  sozusagen 
am  besten  gelungen  sind,  ein  vollendetes  Gemälde  zu  stände  bringen. 
Desgleichen  wählt  der  Dichter  die  erlesensten  Charaktere,  die  bedeut- 
samsten Vorgänge,  die  erfreuendsten  Zusammenhänge  und  bildet  daraus 
ein  Ganzes.  Übrigens  ist  die  Poesie  aus  Beredsamkeit,  Musik  und 
Malerei  zusammengesetzt,  sie  verfügt  über  alle  Wissenschaften  und 
die  ganze  Welt    Daher  ist  sie  keine  reine  Kunst,  sondern  eine  »schöne 


14  L  DIE  GESCfflCHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Wissenschaft«.  In  der  Einteilung  der  Künste  und  Kunstfertigkeiten 
stehen  nach  dem  Zeitgebrauch  auf  der  einen  Seite  als  »mechanische 
Künste«:  körperliche  Fertigkeiten,  Handwerk,  Maschinenbau,  überhaupt 
Leistungen,  die  praktischen  Bedürfnissen  dienen.  Davon  werden  ge- 
trennt die  »schönen  Künste«,  deren  Endzweck  im  Vergnügen  liegt, 
und  außerdem  Beredsamkeit  und  Architektur,  die  Nutzen  und  Ergötzen 
zugleich  zur  Absicht  haben. 

Ganz  im  Geiste  Batteux'  hat  (1751)  d'Alembert  im  Discours  pr6- 
liminaire  zur  Enzyklopädie  die  Kunst  behandelt.  Er  weist  auf  die 
Schwierigkeit  hin,  Wissenschaft  und  Kunst  sauber  voneinander  zu 
scheiden.  Schließlich  entscheidet  er  sich  dahin,  daß  die  Wissenschaften 
theoretisch  und  die  Künste  praktisch  seien.  Wenn  man  frage,  ob  die 
Logik  zur  Kunst  oder  zur  Wissenschaft  gehöre,  so  müsse  geantwortet 
werden,  sie  sei  beides  zugleich.  »Im  allgemeinen  kann  man  den  Namen 
Kunst  jedem  System  von  Kenntnissen  beilegen,  das  man  auf  positive, 
unveränderiiche  und  von  Willkür  und  Meinung  unabhängige  Regeln 
zurückführen  kann,  und  in  diesem  Sinne  dürfte  man  mehrere  unserer 
Wissenschaften,  wenn  man  sie  von  ihrer  praktischen  Seite  betrachtet, 
als  Künste  bezeichnen.«  Aus  diesem  allgemeinen  Begriff  von  Kunst 
überhaupt  heben  sich  nun  die  »schönen  Künste«  ab.  Schöne  Künste 
entstehen  dadurch,  daß  die  Phantasie  Dinge  bildet,  die  den  Gegen- 
ständen unserer  unmittelbaren  Vorstellungen  ähnlich  sind.  In  der  Ähn- 
lichkeit der  Phantasievorstellungen  mit  den  Sinneswahrnehmungen  liegt 
beschlossen,  was  man  sonst  Nachahmung  der  Natur  nennt,  und  zwar 
werden  Dinge  nachgeahmt,  die  lebhafte  oder  angenehme  Gefühle  er- 
regen. Handelt  es  sich  um  die  Nachbildung  von  Objekten,  mit  denen 
Lust  verknüpft  ist,  so  kann  zwar  die  Darstellung  hinter  der  Wirklich- 
keit an  Lustwirkungen  zurückbleiben,  aber  dieser  Mangel  wird  aus- 
geglichen durch  den  Genuß,  den  das  hinzukommende  Vergnügen  der 
Nachahmung  gewährt.  Handelt  es  sich  jedoch  um  traurige  Dinge,  so 
ist  ihre  Nachahmung  angenehmer  als  die  Wirklichkeit,  weil  sie  uns  in 
den  richtigen  Abstand  setzt,  wo  wir  den  Genuß  der  Erregung  empfinden, 
ohne  die  Unruhe  davon  zu  verspüren. 

An  die  Spitze  der  Künste,  die  auf  der  Nachahmung  beruhen,  stellt 
d'Alembert  die  Malerei  und  die  Bildhauerkunst.  Dann  folgt  die  Bau- 
kunst, »aus  der  Not  geboren,  durch  die  Prachtliebe  vervollkommnet«, 
die  von  der  Natur  die  ebenmäßige  Anordnung  als  ihr  Prinzip  über- 
nimmt. Es  schließen  sich  an  Dichtkunst  und  Musik.  Hier  gerät 
d'Alembert  in  Verlegenheit  mit  seinem  Grundsatz  der  Nachahmung. 
Bei  der  Poesie  muß  er  zugestehen,  daß  sie  die  Dinge  eher  zu  erschaffen 
als  zu  kopieren  scheint,  und  die  Musik  definiert  er  als  eine  Sprache, 
mittels  deren  man  die  verschiedenen  Empfindungen  der  Seele  und  noch 


ENGLISCHE  UND  SCHOTTISCHE  ÄSTHETIK  DES  i8.  JAHRHUNDERTS.       15 

mehr  ihre  Leidenschaften  ausdruckt.  Aber  er  kehrt  zu  seinem  Thema 
zurück,  indem  er  fragt,  warum  dieser  Ausdruck  von  Gefühlen  nicht 
auch  auf  die  Sinneswahmehmungen  selbst  ausgedehnt  werden  solle. 
Die  Wahrnehmungen  der  verschiedenen  Sinne  besitzen  manches  ge- 
meinsam, insbesondere  das  Vergnügen  oder  die  Unruhe,  die  sie  erzeugen. 
Ein  erschreckender  Gegenstand  und  ein  furchtbares  Geräusch  haben 
fast  die  gleichen  Folgen  für  das  Gemüt.  »Ich  sehe  also  gar  nicht  ein, 
weshalb  ein  Musiker,  der  einen  erschreckenden  Gegenstand  zu  schil- 
dern hätte,  nicht  in  der  Natur  mit  Erfolg  die  Art  von  Geräusch  sollte 
finden  können,  die  in  uns  die  gleiche  Erregung  erzeugt,  wie  sie  der 
erschreckende  Gegenstand  hervorbringt.«  So  kommt  denn  diese  Theorie 
schließlich  zu  dem  Ergebnis,  das  freilich  mehr  Forderung  an  eine  zu- 
künftige Musik  war  als  Abstraktion  aus  den  vorhandenen  Tonwerken: 
jede  Musik  sei  bloß  Geräusch,  wenn  sie  nicht  beschreibe.  — 

Wir  haben  nur  einige  Grundzüge  der  älteren  französischen  Ästhetik 
kennen  gelernt.  Sie  zeigen  zur  Genüge,  wie  stark  griechische  Auf- 
fassungen, namentlich  der  Begriff  der  Mimesis,  nachwirkten.  Auch  die 
Hinwendung  zur  psychologischen  Betrachtung  war  von  alters  her  vor- 
bereitet, wurde  nunmehr  jedoch  mit  größerer  Entschiedenheit  vollzogen. 
Die  kosmische  Schönheit  wurde  aus  der  Untersuchung  ausgeschaltet, 
die  Ästhetik  aber  insofern  über  ihr  »eigentliches  Gebiet«  —  die  Kunst  — 
ausgedehnt,  als  man  das  Schöne  auch  im  sittlichen  Leben  und  in  der 
Wissenschaft  suchte.  So  entstand  als  eine  neue  Aufgabe  die  Ab- 
grenzung und  Einteilung  der  Künste. 


3.  Englische  und  schottische  Ästhetik  des  18.  Jahrhunderts. 

Während  Boileaus  reglementierende  Ästhetik  sich  von  »neuen  Ein- 
fällen« der  Künstler  nichts  verspricht,  hat  der  Führer  der  englischen 
Ästhetik,  Addison  (1711),  die  lebhafteste  Empfänglichkeit  für  den 
ästhetischen  Wert  des  Neuen  und  Unvermuteten.  Er  liebt  nicht  die 
feste  Regel,  sondern  das  Überraschende.  Neben  den  Reiz  der  Neuheit 
stellt  er  die  Gewalt  der  Größe  als  einen  Eindruck,  der  von  bk)ßer 
Verständigkeit  nicht  aufgefaßt  wird ;  daher  kann  Kunst  weder  geschaffen 
noch  genossen  werden  ohne  rege  Tätigkeit  der  gesamten  Seele  und 
zumal  der  Einbildungskraft. 

An  diesem  Gedankenzusammenhang  ist  bedeutsam  und  eigenartig, 
wenngleich  nicht  ohne  Vorgänger,  die  Richtung  ins  Regellose  und  ins 
Gebiet  der  Phantasie.  Sie  verstärkt  sich  bei  Burke  (1756),  dessen  wir 
darum  schon  hier  gedenken.  Originell  scheint  Burkes  Versuch  zu  sein, 
ästhetische  Kategorien  ätiologisch  zu  erklären.    Während  der  Sinn  für 


16  L  DIE  GESCfflCHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

das  Schöne  ihm  zufolge  in  einer  Lust  besteht,  die  mit  unseren  sozialen 
Trieben,  ja  mit  der  Geschlechtsliebe  zusammenhängt,  entspringt  das 
Gefühl  des  Erhabenen  aus  der  Unlust  gegenüber  drohender  Gefahr, 
im  Grunde  also  aus  dem  Selbsterhaltungstrieb,  und  wird  sowohl  ästhe- 
tisch wie  Lust  erst  dadurch,  daß  die  Gefahr  nur  in  der  Vorstellung 
als  Schein  existiert.  In  einem  Einzelfalle  führt  somit  die  psychologische 
Zergliederung  zur  Erkenntnis,  daß  ästhetisch  Wertvolles  den  Schein- 
charakter besitze. 

Umfassender  und  systematischer  gibt  sich  Shaftesburys  Ästhetik 
(1711).  Shaftesbury  erklärt  einmal,  die  Literatur  sei  der  Vorhof  zu 
seiner  Philosophie.  Der  Grund  ist,  daß  die  Literatur  nicht  eine  schöne 
Anordnung  sinnlicher  Gegenstände,  sondern  die  Vereinheitlichung  von 
zerstreuten  Bestandteilen  des  menschlichen  Einzellebens  und  der  mensch- 
lichen Gemeinschaft  darstellt.  Auf  die  Lebensinhalte  kam  es  dem  Ethiker 
an.  Indem  Shaftesbury  —  an  den  echten  Plato  so  weit  sich  erinnernd 
wie  Addison  an  den  plotinisch  umgedeuteten  Plato  —  alle  Schönheit 
als  Ausdruck  einer  inneren  geistigen  Größe  faßte,  vertrat  er  eine  Inhalts- 
ästhetik; da  er  jedoch  den  mind  für  eine  formende  Kraft  erklärte,  so 
näherte  er  sich  auch  dem  Formalismus.  Der  Begriff  der  Schönheit 
wird  nach  antikem  Vorbild  sehr  weit  ausgedehnt:  ihm  sind  unter- 
geordnet die  von  Natur  und  Kunst  gebildeten  »toten  Formen«,  alsdann 
die  in  menschlichen  Gestalten  vorhandenen  »formenden  Formen«,  in 
denen  der  Geist  die  Form  als  seine  Wirkung  emporwachsen  läßt,  und 
schließlich  die  göttliche  Schönheit,  die  als  zwar  höchste,  aber  rein 
geistige  Schönheit  sich  in  Gesinnungen  und  Handlungen  erweist 
»Kunst  und  Tugend  sind  sich  gegenseitig  befreundet,  die  Kenntnis  des 
Kunstkenners  und  die  Kenntnis  der  sittlichen  Vollkommenheit  schmilzt 
in  eine  zusammen«  (Selbstgespräch  III,  2).  Vom  Künstler  und  seinem 
Werk  ist  vor  allem  innere  Harmonie  zu  fordern.  Shaftesbury  hat  keinen 
Sinn  für  die  Entwickelungskräfte,  die  in  der  schaffenden  Persönlichkeit 
und  in  ihrem  Erzeugnis  (wie  etwa  in  der  Tragödie)  der  glatten  Aus- 
geglichenheit im  Wege  stehen.  Auch  den  unbeteiligten  Beobachter 
des  sozialen  Kräftespiels  denkt  er  sich  mit  Freude  an  Symmetrie  und 
Proportion  erfüllt  und  schließt  deshalb  Ethik  und  Ästhetik  fest  zu- 
sammen. Die  ästhetischen  Begriffe  aller  quantitativen  Wohlverhältnisse, 
die  in  der  eingeborenen  Beschaffenheit  des  Geistes  ruhen,  sollen  gerade- 
zu den  moralischen  Sinn  ausmachen. 

Die  schottischen  Ästhetiker  haben  in  dieser  Beziehung  schärfer 
gesehen  und  gesondert  Was  bei  Burke  bereits  hervortrat,  die  Unter- 
scheidung des  beschaulichen  und  des  tätigen  Verhaltens,  wurde 
von  Home  (1762)  zum  Mittelpunkt  einer  psychologischen  Zeri^[ung 
des  ästhetischen  Genießens  gemacht    Die  Emotionen,  in  denen  das 


ENGLISCHE  UND  SCHOTTISCHE  ÄSTHETIK  DES  18.  JAHRHUNDERTS.       17 

ästhetische  Aufnehmen  besteht,  sind  als  interesselos  von  den  Passionen 
zu  trennen,  die  in  Willenshandlungen  übergehen.  Die  Freude  an  der 
Schönheit  ist  ein  ruhiges  Wohlgefallen.  Sonach  gibt  es  zwischen  der 
ästhetischen  und  der  ethischen  Betrachtungsweise  einen  Unterschied. 
Dennoch  nennt  Home  den  guten  ästhetischen  Geschmack  die  beste 
Vorbereitung  für  Moral.  »Einem  Menschen,  der  sich  diesen  zarten 
und  vollkommenen  Geschmack  erworben  hat,  muß  jede  Handlung,  die 
unrecht  oder  unschicklich  ist,  äußerst  unangenehm  sein.«  Hinzu  kommt 
die  von  Home  fein  entwickelte  Erkenntnis,  daß  ästhetische  Gefühle 
sowohl  durch  wirkliche  Gegenstände  als  auch  durch  die  nur  ideale 
Gegenwart  des  Objektes  hervorgerufen  werden  können.  Die  Kunst 
beruht  darauf,  daß  an  die  ideale  Gegenwart  oder,  wie  wir  sagen  würden, 
an  den  ästhetischen  Schein  sich  die  gleichen  Emotionen  anschließen 
wie  an  eine  wirkliche  Anwesenheit. 

Eine  weitere  Errungenschaft  ist  Homes  Lehre,  daß  die  Schönheit, 
d.  h.  ein  sanfter  und  heiterer  Eindruck,  zusammengesetzt  sei.  Es  gibt 
eine  sinnliche  Schönheit  Sie  besteht  aus  Farben,  Formen  und  ihrem 
Zusammenwirken.  Es  gibt  aber  auch  eine  assoziative  Schönheit  Die 
Zweckmäßigkeit  des  Gegenstandes  beispielsweise  gefällt  nicht  unmittel- 
bar, sondern  durch  hinzutretende  Vorstellungen.  Kants  Unterscheidung 
der  freien  und  der  anhängenden  Schönheit,  sowie  Fechners  Sonderung 
des  direkten  und  des  assoziativen  Faktors  gehen  auf  Homes  Fest- 
stellung zurück.  Homes  Worte  sind:  intrinsic  und  relative  beauty.  Die 
dgene  Schönheit  wird  an  einem  einzelnen  Gegenstand  ohne  Beziehung 
auf  anderes  und  durch  die  Sinne  aufgefaßt  Die  Verhältnisschönheit 
setzt  eine  Denkhandlung  voraus  und  beruht  auf  den  Beziehungen  der 
Gegenstände  oder  auf  Übertragung  der  Eigenschaften  von  dem  einen 
auf  das  andere  Objekt  Ein  Hauptbeispiel  der  relativen  Schönheit  ist 
die  Zweckschönheit;  der  schlanke  Wuchs  eines  Rennpferdes  gefällt 
teils  wegen  der  Symmetrie,  teils  wegen  der  Nützlichkeit  Beide  Quali- 
täten stimmen  darin  überein,  daß  sie  als  unmittelbar  und  objektiv  ge- 
geben vom  Betrachter  aufgefaßt  werden. 

Wir  haben  also  folgende  Hauptpunkte  der  Homeschen  Ästhetik 
festzuhalten:  die  Einordnung  der  ästhetischen  Gefühle  unter  die  Emo- 
tionen, die  von  den  Passionen  getrennt  sind;  der  Begriff  der  idealen 
Gegenwart  und  die  Unterscheidung  der  eigentlichen  und  der  relativen 
Schönheit  Dazu  kommen  freilich  noch  ungezählte  Einzelerkenntnisse. 
Sie  sind  stets  auf  analytisch-psychologischem  Wege  gewonnen,  aber 
sie  sollen  doch  letztlich  dazu  dienen,  ästhetische  Normen,  T>the  Standard 
of  taste<ii  (Kap.  25)  festzulegen. 

Auch  Reid  (1785)  geht  von  der  ästhetischen  Rezeptivität  aus  und 
streift  kaum  die  Produktivität    Der  Geschmack  ist  das  Vermögen  des 

Dessoir,  Ästhetik  und  aUg.  Kunstwissenschaft.  2 


18 


L  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 


Geistes,  Schönheiten  der  Natur  und  der  Kunst  zu  bemerken  und  zu 
genießen.  Nicht  ohne  Grund  nennen  die  Sprachen  ihn  mit  demselben 
Wort  wie  den  Geschmackssinn  der  Zunge.  Von  den  Ähnlichkeiten 
des  ästhetischen  Geschmacks  mit  einem  der  fünf  Sinne  ist  folgende  die 
wichtigste:  In  beiden  Sphären  gibt  es  zunächst  nur  subjektive  Emp- 
findungen, aber  in  den  Körpern  ist  eine  wirkliche  Eigenschaft  als  Ur- 
sache dieser  Empfindungen  enthalten.  So  muß  es  in  der  Melodie  eine 
reale  Beschaffenheit  geben,  durch  die  das  freilich  in  sich  selbst  sub- 
jektive Oefühl  der  Schönheit  entsteht. 

Doch  handelt  es  sich  nicht  nur  um  Empfindungen  und  Gefühle, 
sondern  auch  um  ein  Urteil  Denn  die  Behauptung,  dieser  oder  jener 
Gegenstand  sei  schön,  bedeutet  eine  bejahende  Aussage,  die  Zuord- 
nung eines  Prädikates  zu  einem  Subjekte  Wenn  schon  in  jeder  äußeren 
Wahrnehmung  ein  Urteil  eingeschlossen  ist,  so  erst  recht  in  der  ästhe- 
tischen Betrachtung.  Die  Qrundtheorie  der  schottischen  Philosophen, 
in  der  Empfindung  bereits  ein  Urteil  zu  sehen,  führt  also  dahin,  daß 
der  ästhetische  Vorgang  als  ein  ästhetisches  Urteil  verstanden  wird. 
Aber  natürlich  ist  das  ästhetische  Urteil  nicht  rein  intellektuell,  sondern 
von  einer  angenehmen  Erregung  des  Gefühls  begleitet,  und  es  verhält 
sich  zur  bloßen  Wahrnehmung  so,  daß  diese  die  Voraussetzung  bildet: 
erst  muß  das  ästhetische  Objekt  irgendwie  durch  den  Gesichts-  oder 
Oehörssinn  wahrgenommen  werden,  dann  kann  die  Empfänglichkeit 
für  Schönheit  als  ein  sekundärer  Sinn  ihre  Tätigkeit  entfalten. 

Die  Untersuchung  des  ästhetischen  Gegenstandes  beginnt  Reid  mit 
der  Feststellung  p  daß  es  einen  ästhetischen  Objektivismus  und  einen 
ästhetischen  Subjektivismus  gibt  Er  erläutert  den  Unterschied  durch 
den  nützlichen  Hinweis  auf  Plato  und  Aristoteles  einerseits,  Descartes 
und  Locke  anderseits.  Hutcheson  hatte  im  Sinne  der  Subjektivisten 
gesagt:  Es  bedeuten  kalt,  heiß,  süß,  bitter  die  Empfindungen  in  unserem 
Geist,  mit  denen  die  Gegenstände,  die  diese  Ideen  in  uns  hervorrufen, 
vielleicht  in  keinem  Punkte  eine  Ähnlichkeit  haben,  ob  wir  uns  gleich 
die  Sache  gemeiniglich  anders  vorstellen.  Wäre  kein  Geist  da,  ausge- 
stattet mit  dem  Schönheitssinn,  der  die  Gegenstände  betrachtete,  so 
sehe  ich  nicht,  wie  sie  schön  genannt  werden  könnten.«  Eine  solche 
Subjektivierung  steht  nach  Reids  Meinung  nicht  im  Einklang  mit  der 
göttlichen  Weisheit.  Auch  zeige  der  Gebrauch  aller  Sprachen,  daß  der 
Name  Schönheit  sich  nicht  nur  auf  die  Gefühle  des  Betrachters  beziehe, 
sondern  auf  etwas  Reales,  Es  muß  also  fortgeschritten  werden  von 
der  Analyse  des  ästhetischen  Eindrucks  zur  Feststellung  jener  objektiven 
Beschaffenheiten,  die  den  Gegenstand  zum  ästhetisch  wohlgefälligen 
machen. 

Die  Attribute  der  gefallenden  Dinge  sind  für  Reid  dieselben,  die 


i 
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ENGLISCHE  UND  SCHOTTISCHE  ÄSTHETIK  DES  18.  JAHRHUNDERTS.       19 

schon  Addison  genannt  hatte,  nämlich  Neuheit,  Größe  und  Schönheit 
Die  Neuheit  freilich  ist  nicht  schlechtweg  eine  objektive  Qualität.  Aber 
sie  ist  auch  nicht  nur  subjektiv.  Vielmehr  besteht  sie  in  einer  Beziehung 
zwischen  dem  Ding  und  den  Kenntnissen  des  Betrachters.  Was  dem 
Ich  zum  ersten  Male  entg^entritt  und  nicht  gerade  unangenehm  ist, 
gewährt  Vergnügen.  Denn  der  lebhafte  Gebrauch  der  seelischen  Kräfte, 
den  Reid  mit  Dubos  für  sehr  erfreulich  und  begehrenswert  erachtet, 
wird  durch  das  Neue  stark  angeregt  Tätigkeit  und  Freude  gehen 
Hand  in  Hand;  der  Trieb  nach  Abwechslung  gehört  zu  den  Grund-- 
trieben  der  menschlichen  Natur.  Eine  wirkliche  Bedeutung  indessen  ge- 
winnt die  Neuheit  bloß,  wenn  sie  sich  mit  nützlichen  oder  wertvollen 
Eigenschaften  verbindet  Hier  erwartet  man  eine  nähere  Auseinander-^ 
Setzung  Ober  Gewohnheit,  Überraschung,  zufällige  Gedankenverbin- 
dungen und  dergleichen  mehr:  diese  Momente  nämlich  werden  von 
Reid  als  bedeutsam  erwähnt  Aber  er  begnügt  sich  damit,  sie  zu 
nennen,  ohne  sie  im  einzelnen  zu  untersuchen. 

Die  Größe  im  ästhetischen  Sinne,  d.  h.  die  Erhabenheit  ist  ihrer 
objektiven  Beschaffenheit  nach  ein  Grad  der  Vollkommenheit,  der  Be- 
wunderung verdient  Der  Gegenstand  besitzt  diese  Vollkommenheit 
durch  seine  eigene  Verfassung  und  nicht  durch  die  unserige.  Erhaben 
sind  demnach  solche  Vollkommenheiten  des  Geistes,  wie  Macht,  Kennt- 
nis, Weisheit,  Tugend,  Edelmut  oder  ein  Charakter  wie  der  Catos.  Nun 
macht  Reid,  ohne  es  zu  merken,  einen  großen  Sprung,  indem  er  die 
Darstellung  solcher  Vorzüge  in  gleichem  Sinne  für  erhaben  erklärt  Er 
sagt:  »Wie  die  Gottheit  von  allen  Objekten  des  Denkens  das  erhabenste 
ist,  so  gelten  die  Beschreibungen  ihrer  Attribute  und  Werke,  wie  die 
Heilige  Schrift  sie  gibt,  selbst  in  schlichten  Ausdrücken  als  erhaben.« 
Denn  der  Ausdruck  der  Bewunderung  und  Begeisterung,  der  in  solchen 
Schilderungen  liegt,  reißt  den  Leser  mit  fort  Besonders  hebt  Reid  die 
dabei  gebrauchten  Metaphern  hervor,  weil  sie  auch  den  unbeseelten 
Dingen,  den  Werken  Gottes,  eine  Art  Würde  leihen.  Die  beiden  Seiten 
der  Symbolisierung,  die  Möglichkeit,  Seelisches  sinnlich  darzustellen 
und  Sinnliches  zu  beseelen,  werden  richtig  erkannt  und  im  Kapitel 
über  die  Erhabenheit  erwähnt  Gegenüber  Burkes  Behauptung,  daß 
im  Eindruck  des  Erhabenen  ein  Gefühl  von  Schrecklichem  enthalten 
sei,  wendet  Reid  ein,  daß  wir  nur  Objekte  von  ungewöhnlicher  Voll- 
endung bewundem,  während  die  Objekte,  die  wir  fürchten,  nicht  voll- 
kommen zu  sein  brauchen.  »Die  Erhabenheit«,  so  schließt  Reid  seine 
Ausführungen,  ^»findet  sich  ursprünglich  und  eigentlich  in  Eigenschaften 
des  Geistes.  Sie  ist  an  Objekten  der  Sinne  nur  im  Widerschein  zu 
beobachten,  gleichwie  das  Licht,  das  wir  am  Mond  und  an  den  Planeten 
wahrnehmen,  in  Wahrheit  das  Licht  der  Sonne  ist    Diejenigen,  die 


20 


I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 


Erhabenheit  am  bloßen  Stoffe  suchen,  suchen  das  Lebendige  im  Reich 
des  Todes.« 

Erhaben  im  eigentlichen  Sinne  ist  demnach  alles  Geistige,  was  Be- 
wunderung verdient.  Schön  dagegen  heißt,  was  Liebe  weckt.  Auch 
beim  Schönen  handelt  es  sich  um  eine  im  Ding  vorhandene  Voll- 
kommenheit Der  Glaube  an  die  Vollkommenheit  des  Gegenstandes 
macht  also  den  einen  Faktor  im  Gefühl  des  Schönen  aus.  Der  andere 
Faktor  besteht  in  einem  Lustgefühl,  das  als  heiter  und  angenehm,  wie 
bei  Home,  charakterisiert  wird.  Fragt  man  nun^  welche  Dinge  durch 
ihre  Vollkommenheit  ein  solches  Lustgefühl  hervorrufen,  so  nennt  Reid 
in  einem  Atem:  ^die  Schönheit  einer  Beweisführung,  eines  Gedichtes, 
eines  Palastes,  eines  Musikstückes,  eines  schönen  Weibes  ,  und  er  be- 
hauptet, daß  man  die  Verschiedenheit  nur  durch  Beziehung  auf  die 
Objekte  bezeichnen  kann,  zu  denen  diese  Schönheiten  gehören.  Es 
gibt  moralische  Schönheiten  und  solche  der  Natur,  körperliche  und 
geistige,  leblose  und  lebendige  Schönheiten.  Keine  irgendwie  hervor- 
ragende reale  Eigenschaft  wäre  aufzuzeigen,  die  nicht,  vom  richtigen 
Gesichtspunkt  aus  betrachtet,  für  ein  aufmerksames  Auge  ihre  Schön- 
heit hätte.  Aber  auch  unser  Philosoph  muß  gestehen,  daß  zwischen 
der  Schönheit  eines  Theorems  und  der  eines  Musikstückes  keine  Ähn- 
lichkeit vorhanden  zu  sein  scheint.  Und  so  bleibt  ihm  nichts  anderes 
übrig,  als  auf  die  Oleichartigkeit  des  Eindrucks  oder  auf  das  Verhältnis 
von  Objekt  und  Subjekt  zu  verweisen,  um  die  gleichmäßige  Verwen- 
dung des  Wortes  schön  zu  rechtfertigen. 

Wenn  Reid  weiterhin  von  einer  ursprünglichen  und  einer  abge- 
leiteten Schönheit  spricht,  so  fühlt  sich  der  Leser  an  Homes  Aufstellung 
erinnert.  Reid  meint  aber  nicht  genau  das  Gleiche  wie  sein  Vorgänger* 
Abgeleitet  ist  die  Schönheit  dann,  wenn  sie  vom  Dinge  selbst  auf  sein 
Zeichen,  von  der  Ursache  auf  die  Wirkung,  vom  Zweck  aufs  Mittel, 
vom  Handelnden  aufs  Werkzeug  übertragen  wird*  Das  Hauptbeispiel 
ist  sehr  charakteristischerweise  die  Schönheit  der  guten  Erziehung, 
Sie  liege  ursprünglich  nicht  im  äußeren  Benehmen,  sondern  sei  her- 
genommen von  den  Eigenschaften  des  Geistes,  die  sie  ausdrückt.  So 
verhält  es  sich  nun  überhaupt*  Nur  die  Eigenschaften  des  Geistes 
haben  ursprüngliche  Schönheit.  Die  freundlichen  Tugenden  sind  schön^ 
die  Ehrfurcht  gebietenden  Tugenden  sind  erhaben*  In  den  moralischen 
und  intellektuellen  Vollkommenheiten  des  Geistes  und  in  seinen  Kräften 
wohnt  ursprünglich  das  Schöne.  Aus  dieser  Quelle  fließt  alles,  was 
wir  in  der  sichtbaren  Welt  ästhetisch  genießen.  Bei  der  sichtbaren 
Welt  denkt  Reid  zunächst  an  den  Kosmos,  jenes  großartige  Schauspiel, 
mit  dem  die  erhabensten  und  schönsten  Werke  menschlicher  Kunst 
keinen  Vergleich  aushalten.    Hier  finden  sich  Töne,  Farben,  Formen 


ENGUSCHE  UND  SCHOTTISCHE  ÄSTHETIK  DES  18.  JAHRHUNDERTS.      21 

von  erlesenster  Schönheit  Doch  li^  Ihr  Wert  nur  darin,  daß  sie 
Zeichen  von  einer  Vollkommenheit  sind  oder  als  Hinweis  auf  einen 
Zweck  oder  als  Ausdruck  eines  Geistigen  auftreten.  So  sind  die  Farben 
der  Naturdinge  gewöhnlich  Zeichen  irgend  einer  guten  oder  schlechten 
Eigenschaft  des  Gegenstandes.  Schöne  Formen  und  Bewegungen  in 
der  Natur  gefallen  durch  das,  was  sie  ausdrücken;  nicht  anders  kann 
es  in  der  Kunst  sich  verhalten.  Dementsprechend  wird  das  Grund- 
problem der  Musikästhetik  dahin  entschieden,  daß  eine  schöne  Melodie 
eine  Nachahmung  von  Tönen  ist,  die  die  menschliche  Stimme  beim 
Ausdruck  eines  Gefühls  oder  einer  Leidenschaft  verwendet.  Mit  einem 
Wort:  es  gibt  keine  bloß  sinnliche  Schönheit,  sondern  nur  Symbole 
geistiger  Schönheit. 

Reids  Ästhetik  mußte  deshalb  eingehender  betrachtet  werden,  weil 
sie  ein  umfassendes,  gedankenreiches  System  bildet  und  zu  Unrecht 
in  Vergessenheit  geraten  ist  Von  den  übrigen  schottischen  Philosophen 
verdienen  namentlich  Adam  Smith  und  Dugald  Stewart  unsere  Auf- 
merksamkeit 

Unter  den  Versuchen  über  philosophische  G^enstände,  die  Adam 
Smith  im  Manuskript  bewahrt  hatte  und  die  nach  seinem  Tode  ver- 
öffentlicht wurden,  ist  einer  »den  nachahmenden  Künsten«  gewidmet 
Diese  Abhandlung  gleicht  darin  den  meisten  ästhetischen  Untersu- 
chungen der  englischen  und  schottischen  Schule,  daß  sie  alle  meta- 
physischen Fragen  beiseite  läßt  und  in  der  fruchtbaren  Niederung 
erfahrungsmäßiger  Kunstbetrachtung  sich  ansiedelt;  sie  zeichnet  sich 
aber  dadurch  aus,  daß  sie  einige  von  uns  für  modern  gehaltene  Ein- 
sichten vorwegnimmt*). 

Smith  bemerkt  richtig,  daß  getreue  Nachahmung  als  solche  keinen 
ästhetischen  Wert  besitzt  Wir  würden  einen  Architekten,  der  die 
Peterskirche  zum  zweiten  Male  baut,  oder  einen  Techniker,  der  einen 
Naturgegenstand  aus  den  gleichen  Bestandteilen,  die  die  Natur  ver- 
wendet, mühsam  zusammensetzt,  allenfalls  geschickt,  aber  auch  erfin- 
dungsarm und  sicheriich  nicht  einen  »Künstler«  nennen.  Nun  sind 
jedoch  die  meisten  Kunstwerke  Nachahmungen  einer  Wirklichkeit 
Wodurch  also  mögen  sie  ihre  Bedeutung  gewinnen?  Smith  geht  für 
die  Erklärung  nicht  auf  irgendwelche  »Ideen«  zurück,  er  beruft  sich 
nicht  auf  eine  Schöpferkraft  des  Künstlers,  die  der  göttlichen  vergleich- 
bar wäre,  —  vielmehr  stellt  er  einfach  fest,  daß  der  Stoff  oder  das 
Mittel  jeder  Kunst  eine  Eigenart  besitzt  Daß  in  dieser  besonderen 
Materie  z.  B.  im  Marmor  ein  lebender  Körper  abgebildet  wird  oder 
daß  auf  einer  Fläche  räumliche  Gegenstände  sich  darzustellen  scheinen, 
das  macht  die  Nachahmung  zu  einer  künstlerischen.  In  der  Verschieden- 
heit der  Dinge  und  nicht  zum  mindesten   in  der  Überwindung  der 


22  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

dadurch  bedingten  Schwierigkeiten  wurzelt  die  Freude  des  Schaffenden 
und  Genießenden.  —  Über  die  bildenden  Künste  stellt  Smith  die  Musik, 
weil  sie  ein  Reich  für  sich  bildet.  Die  Schönheit  des  gemalten  Sonnen- 
unterganges hat  in  dem  Zauber  des  wirklichen  Sonnenunterganges 
einen  gefährlichen  Nebenbuhler,  aber  die  Melodie  hat  nichts  ihr  Ähn- 
liches in  der  Natur.  Die  Melodie  entspringt  aus  dem  Rhythmus.  Wenn 
sich  ihr  nicht  mehr  gleichgültige  Laute,  sondern  sinnvolle  Worte  an- 
schließen, so  müssen  sie  dem  Rhythmus  folgen,  d.  h.  die  Form  von 
Versen  annehmen.  Und  da  die  Melodie  von  Anfang  an  einen  fröhlichen 
oder  traurigen  Charakter  hatte,  so  müssen  die  Worte  den  entsprechen- 
den Sinn,  die  etwa  mit  der  Musik  verknüpften  mimischen  Bewegungen 
den  entsprechenden  Inhalt  bekommen.  Allmählich  differenzieren  sich 
die  Künste,  mit  Ausnahme  des  Tanzes,  der  stets  auf  eine  zweite  Kunst, 
nämlich  die  Musik,  angewiesen  bleibt,  weil  der  Rhythmus  nur  dem 
Ohre  sich  erschließt.  Hiermit  ist  also  Spencers  Theorie  und  außerdem 
ein  gut  Teil  von  dem  vorweggenommen,  was  heutzutage  als  neue  Er- 
rungenschaft gilt. 

Dugald  Stewart  begründet  seinen  ästhetischen  Skeptizismus  mit 
einer  Assoziationentheorie.  Die  »schön«  genannten  Dinge  haben  nicht 
mit  Notwendigkeit  etwas  Gemeinsames.  Aus  ihrer  gleichartigen  Benen- 
nung läßt  sich  kein  konstitutives  Prinzip  der  Schönheit  ableiten.  Der 
Vorgang,  durch  den  es  möglich  wird,  ganz  verschiedenartige  Dinge 
mit  dem  einen  Worte  »schön«  zu  belegen,  scheint  folgender  zu  sein. 
Wegen  einer  bestimmten  Eigenschaft  nenne  ich  A  schön.  Finde  ich 
dieselbe  Eigenschaft  bei  B,  so  nenne  ich  auch  B  schön.  Jetzt  stoße 
ich  auf  C,  das  eine  andere  Eigenschaft  mit  B  teilt,  und  übertrage  nun- 
mehr das  Epitheton  »schön«  von  A  auf  C,  obgleich  die  gemeinsame 
Eigenschaft  von  B  und  C  nicht  die  gemeinsame  Eigenschaft  von  A 
und  B  ist,  also  zwischen  A  und  C  keine  Ähnlichkeit  besteht.  Da  eine 
solche  Reihe  ins  Unendliche  gehen  kann,  so  wird  ersichtlich,  daß  es 
kein  gleichbleibendes  Merkmal  der  Schönheit  zu  geben  braucht.  Dem- 
nach müssen  wir  die  subjektiven  Gründe  des  Schönen  aufzufinden 
versuchen.  Weshalb  nannte  ich  denn  A  schön?  Hier  hat  noch  keine 
Übertragung  hineinspielen  können.  Der  Grund  der  Schönheit  muß 
also  ein  anderer  als  bloße  Assoziation  sein.  Als  schön  empfinden  wir 
das  Objekt  A,  weil  es  uns  früher  eine  sinnliche  oder  intellektuelle  Lust 
verschafft  hat.  Eine  Frucht  z.  B.,  die  mich  früher  erquickt  hat,  wird 
später,  wenn  es  sich  nicht  um  Essen  und  Trinken  handelt,  durch  die 
Erinnerung  an  jene  Lust  den  Eindruck  des  Schönen  hervorrufen.  Hierin 
steckt  ein  Verständnis  für  die  Ähnlichkeit  der  ästhetischen  Vorstellung  mit 
der  Erinnerungsvorstellung,  und  außerdem  der  Versuch,  wiederum  durch 
Assoziation  das  ästhetische  Gefallen  zu  erklären.    Der  Mondschein  übt 


ENGLISCHE  UND  SCHOTTISCHE  ÄSTHETIK  DES  18.  JAHRHUNDERTS.      23 

eine  schöne  Wirkung  aus,  wenn  er  uns  an  ein  glückliches  Ereignis 
denken  läßt,  das  wir  beim  Mondenschein  hatten.  Er  wird  häßlich  und 
kalt,  wenn  er  uns  an  Unglück  erinnert.  So  können  dieselben  G^en- 
stände  und  Vorgänge  bald  schön,  bald  häßlich  erscheinen,  je  nach  der 
Art  von  Vorstellungen,  die  sie  in  der  Seele  des  Betrachters  wecken. 
Nunmehr  verstehen  wir,  weshalb  unsere  eigenen  Urteile  sich  so  häufig 
widersprechen,  und  wieso  die  verschiedenen  Beobachter  in  ihren  Mei- 
nungen voneinander  abweichen. 

Ähnliche  Gedanken  hat  bald  danach  (1826)  Jouffroy  in  seiner 
Ästhetik  ausgesprochen.  Jouffroy,  einer  der  besten  Kenner  und  Er- 
forscher der  schottischen  Ästhetik,  ist  auch  in  seinen  eigenen  Theorien 
von  ihr  abhängig.  Er  greift  auf  jenen  Begriff  zurück,  der  bei  Hume, 
Adam  Smith  und  überhaupt  in  der  schottischen  Ethik  einen  so  bevor- 
zugten Platz  eingenommen  hatte,  auf  den  Begriff  der  Sympathie.  Interesse, 
so  sagt  er,  empfinden  wir  für  Dinge,  die  uns  nützlich  sind,  Sympathie 
dagegen  für  Dinge,  die  uns  ähnlich  sind.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß 
unsere  Freude  am  Schönen  nicht  auf  Interesse  beruht  Daher  wird 
sie  wohl  auf  Sympathie  ruhen  müssen.  Das  Schöne  ist  dasjenige, 
womit  wir  in  der  menschlichen  Natur  sympathisieren,  sofern  es  durch 
natürliche  Symbole  ausgedrückt  wird,  die  unsere  Sinne  treffen.  (Cours 
(T Esthetique,  3.  Aufl.,  1875,  S.  243.)  In  dieser  grundl^enden  Definition 
tritt  zu  der  Sympathie  oder,  wie  wir  wohl  sagen  dürfen,  zur  Einfühlung 
noch  hinzu  der  Begriff  des  natüriichen  Symbols,  das  sinnlich  aufgefaßt 
wird.  Natürlich  sind  diejenigen  Zeichen,  die  so  mit  den  sie  bedingen- 
den Gefühlen  verknüpft  sind,  daß  die  Assoziation  unmittelbar  und  ohne 
vorausgehende  Erfahrung  eintritt  Jouffroy  meint:  bereits  Kinder  und 
Naturmenschen  assoziieren  richtig  mit  bestimmten  gesehenen  Ausdrucks- 
bewegungen bestimmte  Vorstellungen.  Diese  ohne  Erfahrung  und 
Bildung  auftretenden  Assoziationen  sind  angeboren  oder  a  priori,  und 
die  Zeichen,  durch  die  sie  zu  stände  kommen,  sind  jene  natürlichen 
Symbole,  in  denen  das  Schöne  erscheint  Hier  ist  also  an  einen  be- 
stimmten Vorgang  immer  nur  eine  bestimmte  Vorstellung  geknüpft 
Schreitet  man  nun  mit  Jouffroy  fort  zu  den  allgemeinen,  aber  empirischen 
Assoziationen,  dann  zu  weit  verbreiteten,  weniger  verbreiteten,  und 
schließlich  bis  zu  den  ganz  individuellen,  so  erkennt  man,  daß  die 
künstlerische  Phantasie  sich  keinesfalls  auf  die  natüriichen  Symbole  zu 
beschränken  braucht  Denn  sie  ist  doch  gerade  eine  Einbildungskraft, 
in  der  Sichtbares  sehr  viele  Assoziationen  weckt.  Jouffroy  hat  das 
auch  nicht  verkannt,  vielmehr  hier  wie  in  seiner  interessanten  Kritik 
der  Einheit-Mannigfaltigkeit-Formel  (a.  a.  O.  S.  145)  wertvolle  Einsichten 
gewonnen.  Unser  geschichtlicher  Vorbericht  kann  darauf  leider  nicht 
mehr  eingehen. 


24  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 


4.  Die  Ästhetik  der  deutschen  Aufklärung. 

Der  wesentliche  Vorzug  der  englischen  und  schottischen  Ästhetik 
besteht  darin,  daß  sie  ihre  Sätze  als  Folgerungen  aus  der  Beobachtung 
von  Tatsachen  zu  gewinnen  sucht.  Diese  Tatsachen  sind  zunächst 
die  der  inneren  Erfahrung.  Aber  auf  sie  bleibt  die  Untersuchung  nur 
bei  wenigen  Philosophen  beschränkt,  bei  der  Mehrzahl  setzt  sie  sich 
fort  in  einer  Untersuchung  der  Gegenstände.  Hierbei  tritt  die  Nach- 
ahmungstheorie durchaus  zurück;  wo  sie  sich  jedoch  findet,  wird  sie 
vertieft,  indem  auf  die  Besonderheit  und  Beschränktheit  der  künst- 
lerischen Mittel  aufmerksam  gemacht  wird.  Als  Hauptbegriff  dient  jetzt 
die  Vollkommenheit  des  Objekts.  Da  sie  an  sich  eine  geistige,  ethische 
Eigenschaft  ist,  und  da  alles  Sinnliche  ästhetisch  wertvoll  nur  dadurch 
werden  soll,  daß  es  auf  die  verborgene  Vollkommenheit  hindeutet,  so 
wird  einerseits  eine  innige  Verbindung  zwischen  dem  Ästhetischen 
und  Ethischen  hergestellt,  anderseits  jede  Schönheit  als  Ausdrucks- 
schönheit aufgefaßt.  Diese  Ästhetik  ist  in  ihren  gegenständlichen  Par- 
tien eine  Inhaltsästhetik. 

In  den  ausgedehnteren  Forschungen,  die  dem  Zustand  des  Subjekts 
gewidmet  werden,  verhalten  sich  Engländer  und  Schotten  nicht  rein 
beschreibend  und  analysierend.  Gleich  der  antiken  und  französischen 
Wissenschaft  streben  sie  Normen  zu,  die  in  mustergültigen  Vorbildern 
verkörpert  sind.  Aber  der  Weg,  auf  dem  sie  dies  Ziel  erreichen  wollen, 
ist  ein  neuer  und  schweriich  der  geeignete.  Ein  innerer  Widerstand 
gegen  die  Starrheit  technischer  Regeln,  eine  Neigung  für  die  in  ihrer 
Gesetzmäßigkeit  kaum  faßbare  Phantasie,  eine  Empfänglichkeit  für  die 
Unterschiede  in  den  Eindrücken  wirken  als  stärkste  Hemmnisse.  An 
dem  Eindruck  des  Erhabenen  —  als  von  dem  Schönheitsgefühl  ver- 
schieden —  bemerkt  man  zuerst  den  Scheincharakter  der  ästhetischen 
Welt.  Die  fortschreitende  Analyse  trennt  dann  das  ästhetisch-beschau- 
liche und  das  moralisch-tätige  Verhalten.  Homes  Sonderung  der  sinn- 
lichen (wesentlichen)  Eigenschönheit  und  der  assoziativen  (meist  dem 
Zweckgedanken  untergeordneten)  Beziehungsschönheit  führt  bei  Reid 
zur  Zeri^^ng  des  ästhetischen  Verhaltens  überhaupt,  bei  Stewart  zu 
einer  sinnreichen  Assoziationentheorie. 

Mit  dieser  Mannigfaltigkeit  verglichen  erscheint  die  freilich  ältere 
Ästhetik  unseres  Baumgarten  als  einförmig.  Immerhin  birgt  sie  mehr 
als  gewöhnlich  vermutet  wird.  Beginnen  wir  mit  dem  grundlegenden 
Paragraphen  116  der  ^Meditationes^  (1735).  »Schon  die  griechischen 
Philosophen  und  Kirchenväter  haben  scharf  geschieden  zwischen 
alodr^A  und  voTjxdt.    Es  steht  hinreichend  fest,  daß  bei  ihnen  alaftrjtd 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  AUFKLÄRUNG.  25 

nicht  lediglich  gleichbedeutend  mit  den  Sinnesdingen  ist.  Denn  sie 
begreifen  unter  dieser  Benennung  auch  die  auf  Abwesendes  bezogenen 
Sinnesvorstellungen  (also  Phantasmen).  So  wollen  wir  also  die  voYjTd, 
deren  Erkenntnis  einem  höheren  Seelen  vermögen  verdankt  wird,  als 
den  Gegenstand  der  Logik,  die  alo^Tjtdt  als  den  der  iTctorjJiJLY]  alo^ttxTj, 
d.  h.  der  Ästhetik  betrachten.«  Mit  anderen  Worten :  die  Ästhetik  hat 
es  mit  dem  anschaulichen  —  nicht  etwa  nur  sinnlichen  —  Erkennen 
zu  tun.  Von  ihm  und  seiner  Eigenart  ist  auszugehen.  Worin  li^ 
sie?  Wir  erhalten  nicht  die  erwartete  Analyse  der  Anschauung,  son- 
dem  erfahren  nur:  So  sicher  dies  Erkennen  niedriger  stehe  als  das 
begriffliche  Erkennen,  so  sicher  sei  es  doch  ein  Erkennen.  Demnach 
behandelt  Baumgarten  die  ästhetischen  Vorgänge  ganz  nach  der  Ana- 
logie der  logischen  Prozesse.  Er  nennt  den  ästhetischen  Verstand  ein 
y>analogon  rationis<s^.  Er  spricht  von  einer  ^evidentia  aesthetica^,  sobald 
ein  hoher  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  aufs  anschaulichste  und  leb- 
hafteste erkannt  wird.  Er  läßt  ästhetische  Beweise  gelten.  Nur  sind 
es  eben  ^demonstrationes  ad  oculum<^  oder  ^demonstrationes  palpabUes<^. 
Der  gute  Geschmack,  heißt  es  in  Gottscheds  »Ausführlicher  Rede- 
kunst«, die  ein  Jahr  nach  Baumgartens  ^Meditationes<^  erschien,  ist  »der 
von  der  Schönheit  eines  Dinges  nach  der  bloßen  Empfindung  richtig 
urteilende  Verstand,  in  Sachen,  davon  man  kein  deutliches  und  gründ- 
liches Erkenntnis  hat.«  Mit  einem  Wort:  es  handelt  sich  um  eine 
Erkenntnis,  wo  es  Beweise  und  Evidenz  gibt  Aber  sie  bleibt  im 
Anschaulichen,  d.  h.  unterhalb  der  begrifflichen  Klarheit. 

An  diesen  ersten  Gedankenzusammenhang  schließt  sich  ein  zweiter, 
der  die  Eigentümlichkeit  der  ästhetischen  Seelenvorgänge  in  ihrer  Be- 
rührung mit  dem  Gefühl  aufsucht.  Da  das  Anschauliche  immer  »ver- 
worren« ist,  d.  h.  keine  Zergliederung  und  Abstraktion  kennt,  so  muß 
es  lebhafter  wirken  als  die  deutliche  Erkenntnis.  Der  Sinn  für  das 
Schöne  wird,  indem  er  von  der  logischen  Erkenntnis  abgelöst  wird, 
dem  Gefühlsmäßigen  genähert.  Bei  einer  solchen  unbestimmten  Ver- 
wandtschaft der  Anschauung  und  des  Gefühls  brauchte  aber  Baum- 
garten nicht  stehen  zu  bleiben,  weil  in  der  zeitgenössischen  Gefühls- 
theorie eine  Hilfe  für  genauere  Bestimmungen  dargeboten  war.  Man 
hatte  nämlich  damals  jede  Freude  für  das  Anschauen  irgend  einer  Voll- 
kommenheit erklärt.  Diese  Erklärung  ließ  sich  am  ehesten  noch  bei 
der  ästhetischen  Lust  rechtfertigen.  Denn  das  Vergnügen  am  Essen 
und  Trinken  dürfte  kaum  durch  die  Vorstellung  irgend  einer  Voll- 
kommenheit eriäutert  werden  können.  Aber  daß  wir  bei  der  ästheti- 
schen Lust  eine  Vollkommenheit  anschaulich  und  gefühlsmäßig  auf- 
fassen, vermöchte  man  schon  zu  begreifen. 

Nur  ergeben  sich  auch  hier  zwei  Schwierigkeiten,  die  Baumgarten 


26         I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

nicht  überwunden  hat.  Er  vermochte  einerseits  nicht  den  ästhetischen 
Wert  des  Häßlichen  zu  erklären,  anderseits  das  Folgeverhältnis  von 
Lust  und  Vollkommenheit  nicht  klarzustellen.  Zu  dem  ersten  Punkt 
vergleiche  man  die  folgende  Stelle:  »Ziel  der  Ästhetik  ist  Vollkommen- 
heit der  anschaulichen  Erkenntnis  als  solcher  (d.  h.  insofern  sie  an- 
schaulich ist).  Diese  Vollkommenheit  heißt  Schönheit.  Zu  meiden  ist 
die  Unvollkommenheit  der  anschaulichen  Erkenntnis  als  solcher.  Diese 
Unvollkommenheit  heißt  Häßlichkeit«  (Aesth.  1750  I,  §  14).  Was  den 
andern  Punkt  betrifft,  so  hat  bereits  der  Dichter  Bürger  in  seinen 
ästhetischen  Vorlesungen  *)  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  es  richtiger 
sei,  die  Vorstellung  der  Vollkommenheit  aus  den  ästhetischen  Lust- 
gefühlen abzuleiten.  Man  strebe  nach  der  Vollkommenheit,  sagt  er, 
weil  man  weiß,  daß  sie  Vergnügen  gewährt.  Gerade  deswegen  werde 
sie  für  ein  Gut  gehalten.  Also  sei  das  Vergnügen  die  Ursache  jener 
Vorstellung,  nicht  aber  die  Vorstellung  die  Quelle  des  Vergnügens. 

Ein  dritter  Gedankenzusammenhang  in  diesem  System  der  Ästhetik 
sucht  dem  Zentralbegriff  der  Vollkommenheit  auf  einem  neuen  Wege 
beizukommen.  Zwischen  niederer  und  höherer  Erkenntnis  gibt  es 
noch  diesen  Unterschied,  daß  wir  bei  der  anschauenden  Erkenntnis 
die  Sache,  dagegen  bei  der  symbolischen  Erkenntnis  des  deutlichen 
Vorstellens  mehr  die  Worte  als  die  Sache  denken.  Baumgarten 
meint,  daß  unsere  begrifflichen  Operationen  immer  in  der  Sphäre  der 
Worte  bleiben  und  selten  auf  Anschauungen  gehen  oder  von  solchen 
begleitet  sind.  Das  eigentliche  Denken  heißt  also  ein  symbolisches 
Erkennen,  weil  es  nur  mit  Begriffsworten  oder  Symbolen  zu  tun  hat. 
Das  ästhetische  oder  anschauliche  Denken,  das  die  Sache  selbst  an- 
schaut und  nicht  nur  mit  Zeichen  operiert,  soll  eine  nähere  Verwandt- 
schaft mit  den  Gefühlen  besitzen.  Denn  die  Gefühle  schließen  sich 
an  Sachvorstellungen  und  nicht  an  symbolische  Vorstellungen  an. 
Anderseits  jedoch  geht  die  Erkenntnis  durch  Begriffe  und  Zeichen  eben 
auf  den  Inhalt  der  Dinge,  während  die  Erkenntnis  durch  Anschauungen 
und  Gefühle  die  »Form«  der  Dinge  zum  Gegenstand  hat.  Die  Form, 
um  die  es  sich  hier  handeh,  heißt  Vollkommenheit  und  wird  näher 
definiert  als  Übereinstimmung  in  der  Verschiedenheit.  Das  Geschmacks- 
urteil bezieht  sich  nicht  wie  das  intellektuelle  Urteil  auf  Wahrheit  und 
Güte,  sondern  auf  Schönheit,  und  Schönheit  oder  anschaulich  auf- 
gefaßte Vollkommenheit  ist  die  Zusammenstimmung  des  Mannigfaltigen 
zu  einer  Einheit  Deshalb  nennt  Baumgarten  die  Schönheit  auch  ^per- 
fecta) phaenomenon<f^  (Metaphysik,  §  662).  Das  Einfache,  z.  B.  eine 
einzelne  Farbe,  ist  nicht  schön.  Auch  die  bloße  Vielheit  gleicher  Teile 
gilt  noch  nicht  als  schön,  sondern  Schönheit  liegt  nur  in  der  Zusam- 
menstimmung zu  einem  Ganzen.    Die  Mannigfaltigkeit  wird  veriangt, 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  AUFKLÄRUNG.  27 

damit  die  Seele  Oberhaupt  err^  werde,  was  eine  der  Grundbedingungen 
für  das  Auftreten  von  Lust  sein  soll.  Die  Zusammenstimmung  ist  ge- 
boten, weil  nur  das  wohl  Geordnete  und  leicht  Übersichtliche  gefällt. 
Die  sinnliche  Erkenntnis  der  beiden  Momente  endlich  erscheint  als 
notwendig,  weil  nur  sie  eindrucksvoll  ist. 

In  seiner  ästhetischen  Heuristik  wendet  sich  Baumgarten  dem  Schaffen 
des  Künstlers  und  den  Kunstwerken  zu.  Er  will  die  »Auffindung, 
Anordnung  und  Bezeichnung  schöner  Gedanken«  lehren  und  beginnt 
mit  der  Aufzählung  der  Bedingungen,  die  zur  Entstehung  eines  schönen 
Kunstwerks  unentbehrlich  sind.  In  sehr  vielen,  meist  zweigliedrigen 
Abteilungen  schildert  er  die  speziellen  Veranlagungen  des  Künstlers, 
die  Übung,  die  theoretische  Bildung,  die  B^eisterung  und  den  Fleiß. 
In  dieser  »Logik  der  schöpferischen  Einbildungskraft«  wird  nach- 
drücklich hervorgehoben,  daß  die  deutliche  Erkenntnis  der  Voll- 
kommenheit, also  eine  Erkenntnis,  die  auf  Bildung  von  B^^ffen  und 
Worten  geht,  für  das  künstlerische  Schaffen  entbehrt  werden  kann. 
Angeschlossen  werden  dann  Untersuchungen  über  die  objektiven  Be- 
dingungen der  Schönheit,  namentlich  über  die  Fülle  und  Größe  beim 
Erhabenen.  Aus  der  T>Aestheticorum  pars  altera<^  (1758)  seien  schließlich 
einige  von  den  Handwerksworten  erwähnt,  mit  denen  Baumgarten  gern 
operiert  Unter  »ästhetischem  Horizont«  versteht  er  die  Grenzen  der 
für  die  Kunst  verwendbaren  Objekte.  Mit  der  ^parsimonia^  oder 
^sobrietas  aesthetica<^  ist  die  Beschränkung  gemeint,  in  der  sich  der 
Meister  zeigt.  Die  Anschaulichkeit  und  Faßlichkeit  des  Kunstwerks 
oder  die  »Lebhaftigkeit  der  Gedanken«,  wie  G.  F.  Meier  zu  sagen 
pflegte,  heißt  hier  »das  ästhetische  Licht«  (§  614).  Wenn  die  sinnliche 
Klarheit  auf  ihren  höchsten  Punkt  gelangt,  so  entsteht  der  »ästhetische 
Glanz«,  der  indessen  nicht  ausschließlich  angestrebt  werden  darf. 

Auf  diesen  Grundlagen  für  eine  Beschreibung  der  allgemeinen 
Kunstformen  hat  Gottfried  August  Bürger  weitergebaut  Als  Beispiel 
sei  die  Abhandlung  über  den  ästhetischen  Reichtum  angezogen.  »Ein 
G^enstand  besitzt  ästhetischen  Reichtum,  wenn  er  sehr  viele  Be- 
stimmungen und  Teile  enthält,  die  sinnlich  gedacht  werden  können 
und  auf  das  Gemüt  zu  wirken  im  stände  sind.  Solche  sind  es  vor- 
nehmlich, die  der  ästhetischen  Darstellung  fähig  erfunden  werden« 
(Schriften  S.  31).  Der  Relativsatz  des  ersten  Satzes  enthält  eine  Ein- 
schränkung, die  Bürger  im  Anschluß  an  Baumgartens  B^jiff  des 
ästhetischen  Horizontes  ausführiich  behandelt.  Unter  dem  ästhetischen 
Horizont  liegen  Gegenstände,  die  uns  täglich  umgeben  und  keine  Ge- 
fühle wecken.  Über  dem  ästhetischen  Horizont  li^en  Objekte,  die 
nicht  mehr  sinnlich  dargestellt  werden  können.  Außerhalb  des  Hori- 
zonts li^en  alle  abstrakten,  vor  allem  die  mathematischen  Wahrheiten. 


28         I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Ein  innerhalb  des  ästhetischen  Gesichtskreises  befindliches  Objekt  ist 
umso  geeigneter  zur  Darstellung,  je  mehr  Sinnen  es  zugänglich  ist 
und  je  lebhafter  es  die  Sinne  beschäftigt.  —  Solche  Sätze  werden, 
nicht  nur  als  beschreibende  Feststellungen,  sondern  auch  als  Vor- 
schriften für  den  Künstler  vorgetragen.  Und  die  gleiche  Absicht  ist 
überall  bemerkbar,  sehr  deutlich  z.  B.  in  Sulz  er  s  Allgemeiner  Theorie 
der  schönen  Künste. 

In  den  Grundbegriffen  der  Baumgartenschen  Ästhetik  vollzog  sich 
allmählich  eine  Umformung  und  zwar  nach  mehreren  Seiten  hin.  In 
die  Vollkommenheitsformel  wurde  der  Zweckbegriff  eingefügt:  schon 
G.  F.  Meier  definierte  (1758)  Vollkommenheit  als  »die  Zusammen- 
stimmung des  Mannigfaltigen  in  einer  Sache  zu  einem  Zwecke«.  Daraus 
erwuchs  die  Notwendigkeit,  das  Schöne  vom  Nützlichen  abzugrenzen. 
Hierum  machte  sich  Karl  Philipp  Moritz  verdient:  das  Schöne,  so  ver- 
kündete er,  ist  das  in  sich  Vollendete,  das  keinem  andern  Zwecke 
nützlich  zu  sein  braucht,  um  seine  Existenz  zu  rechtfertigen;  man  be- 
trachtet das  Schöne  nicht,  insofern  man  es  brauchen  kann,  sondern 
man  braucht  es  nur,  insofern  man  es  betrachten  kann.  —  Auch  nach 
einer  andern  Richtung  hin  wurde  das  Vollkommenheitsprinzip  um- 
gebogen. Es  erhielt  eine  subjektivistische  Fassung:  der  Nachdruck 
wurde  nicht  mehr  auf  die  objektive  Vollkommenheit  gelegt,  die  ja  zu- 
gleich das  Wahre  und  Gute  umspannt,  sondern  auf  den  besonderen 
Zustand  der  undeutlichen  Erkenntnis,  durch  den  das  Vollkommene  erst 
den  ästhetischen  Wert  gewinnt.  Viele  von  den  Popularphilosophen, 
Sulzer  voran,  haben  sich  femer  bemüht,  gegenüber  der  fast  unvermeid- 
lichen »engen«  Fassung  jenes  Begriffs  dem  Häßlichen  zu  seinem  Recht 
zu  verhelfen. 

Die  psychologische  Untersuchung  gelangte  dahin,  die  anschauliche 
Erkenntnis  gänzlich  in  das  Gefühl  aufzuheben.  Nachdem  eine  Zeitlang 
die  Fähigkeiten  des  Schaffens  und  des  Genießens,  Genie  und  Geschmack 
sehr  absichtlich  voneinander  getrennt  worden  waren,  blieb  der  Unter- 
schied nur  noch  als  der  von  Passivität  und  Aktivität  bestehen.  Auch 
er  verschwand  schließlich  in  dem  allumfassenden  Gefühl.  Der  letzte 
Systematiker  dieser  Schule,  Heydenreich,  bezeichnete  als  Wesen  der 
Kunst  Darstellung  eines  bestimmten  Zustandes  der  Empfindsamkeit.  Als 
erkennendes  Wesen  besitze  der  Mensch  den  Trieb,  seine  Kenntnisse 
zu  erweitern,  als  fühlendes  Wesen  den  Trieb,  seine  Gefühle  darzustellen 
und  mitzuteilen;  jenes  Bedürfnis  erzeuge  die  Werke  der  Wissenschaft, 
dieses  die  Werke  der  Kunst  (System  der  Ästh.  I,  150).  In  derselben 
Richtung,  aber  mit  maßloser  Übertreibung  hatten  die  Vertreter  des 
Sturms  und  Dranges  sich  geäußert.  Sie  sehen  in  der  Kunst  die  ur- 
sprüngliche Betätigung  des  Menschen,  betonen  ihre  Bildlichkeit  und 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  AUFKLÄRUNG.  2Q 

Göttlichkeit  und  lehnen  alle  begrifflichen  Untersuchungen  ab.  Ihre 
Ästhetik  ist  daher  in  keinem  Sinne  des  Wortes  eine  Wissenschaft. 
Hatten  ehemals  die  Kunstler,  etwa  Alberti  und  Dürer,  ihre  Kunst  zu 
dem  Range  einer  Wissenschaft  emporheben  wollen,  um  sie  recht 
deutlich  von  bloßer  Fertigkeit  abzusondern,  so  wird  hier  die  Kunst 
ganz  ins  Gefühlsmäßige  gesteigert  und  selbst  der  Ästhetik  nicht  ver- 
stattet, mit  B^jiffen  zu  arbeiten.  In  Klingers  »Leidendem  Weib«  spricht 
die  Hauptperson  gar  verächtlich  von  den  »Keris,  die  sich  da  hinstellen, 
Schönheit  suchen,  Ideal,  was  weiß  ich,  dann  Regeln  schreiben,  definieren 
und  schwatzen,  und  das  all'  ohne  Gefühl.« 

Es  erübrigt  noch,  mit  wenigen  Worten  Winckelmanns  und  Herders 
zu  gedenken.  Winckelmann  hat  durch  kunstgeschichtliche  Unter- 
suchungen die  Ästhetik  und  die  allgemeine  Kunstwissenschaft  beein- 
flußt, und  nicht  nur  das,  er  hat  sie  auch  bewußt  zu  fördern  versucht 
Die  Entwickelung  der  griechischen  Skulptur,  an  der  die  Deutschen 
damals  den  Eigenwert  der  bildenden  Kunst  überhaupt  erst  kennen 
lernten,  ist  Entwickelung  eines  Ideals.  Es  folgen  verschiedene  Stile 
aufeinander,  und  ihre  Entstehung  weist  auf  den  Einfluß  von  Klima, 
Rasse,  Nationalität,  politischen  Einrichtungen  u.  dergl.  zurück.  Aber 
in  diesem  Werd^[ang  wird  auch  ein  absolutes  Ideal  verwirklicht. 
Diese  Tatsache  läßt  sich  induktiv  erweisen  daraus,  daß  fast  alle  Kultur- 
völker in  der  Bevorzugung  der  allgemeinen  Formen  griechischer  Plastik 
übereinstimmen,  und  daß  die  unbegründete  Abweichung  von  der 
Symmetrie  und  ähnliche  Verbildungen  objektiv  häßlich  sind.  Aus 
solchen  Erfahrungstatsachen  gelangt  man  zu  einer  besseren  Einsicht 
in  das  Wesen  des  Schönen,  als  wenn  man  es  mit  der  Vollkommen- 
heit zusammenfallen  läßt,  von  der  wir  doch  kaum  etwas  Näheres 
wissen.  Immerhin  läßt  sich  so  viel  von  der  Vollkommenheit  oder 
idealischen  Schönheit  mit  den  beiden  Merkmalen  der  edlen  Einfalt  und 
stillen  Größe  sagen,  daß  sie  nichts  Verstandesmäßiges  und  kein  meta- 
physischer Begriff  ist  Sie  gleicht  vielmehr  dem  Wasser,  das  aus  dem 
Schoß  der  Quelle  geschöpft  wird;  Unbezeichnung  ist  eine  ihrer  wesent- 
lichen Eigenschaften.  So  zeigt  Winckelmanns  Lehre  manche  Oberein- 
stimmungen mit  der  Kunsttheorie  der  Genieleute,  und  zwar  deshalb, 
weil  Winckelmann  ein  sehr  ursprüngliches  und  leidenschaftliches  Ge- 
fühl für  die  Schönheit  besaß. 

Herder  ist  mit  Winckelmann  darin  einig,  daß  die  Kunst  eine  ge- 
schichtliche Entwickelung  durchlaufe  und  mit  den  allgemeinen  Kultur- 
bedingungen zusammenhange.  Ebenso  wie  Winckelmann  gründet  er 
seine  Theorien  meist  auf  Betrachtung  der  bildenden  Künste.  Doch  ist 
es  ihm  gelungen,  auch  für  die  Poetik  neue  Grundlagen  zu  schaffen. 
Mit  den  Stürmern  und  Drängem  verbindet  ihn  der  Glaube  an  das 


30  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Genie,  mit  den  Aufklärern  die  Berücksichtigung  der  Anschaulichkeit 
und  der  Gefühle,  wobei  er  namentlich  den  Tastsinn  als  bedeutsam 
heraushebt.  Im  Gegensatz  zu  Kant  ist  er  ästhetischer  Objektivist;  er 
bekämpft  femer  die  strenge  Scheidung  zwischen  theoretischer  Vernunft, 
praktischer  Vernunft  und  Urteilskraft,  und  endlich  will  er  von  dem 
Unterschied  einer  freien  und  einer  anhängenden  Schönheit  nichts 
wissen.  Als  wichtig  und  in  ihrer  Art  auch  original  bezeichnet  man 
mit  Recht  Herders  Ableitung  der  ästhetischen  Grundauffassungen  aus 
einer  Weltanschauung  überhaupt.  Diese  Weltanschauung  faßt  das 
Seiende  als  ein  System  lebendiger  Kräfte  auf,  die  von  dem  göttlichen 
Wesen  als  von  der  schaffenden  und  ursprünglichen  Naturkraft  überall 
zusammengehalten  werden.  Gleichfalls  bedeutsam  ist  eine  andere 
(psychogenetische)  Ableitung:  Der  Geschmack  entsteht  allmählich;  nach 
allerhand  Vorstufen  gelangt  der  Mensch  mit  Hilfe  von  Übung  und 
Gewöhnung  zum  Vollkommenheits-  und  Schönheitsbegriff.  Endlich 
hat  Herder  über  die  gesellschaftliche  Stellung  und  Wirksamkeit  der 
Kunst  sich  mit  einer  vorher  noch  nicht  erreichten  Deutlichkeit  ausge- 
sprochen. Sein  Ideal  ist  das  der  Humanität,  der  sympathetischen  Ge- 
meinsamkeit, und  er  faßt  die  Kunst  als  Helferin  zur  Verwirklichung 
dieses  Ideals. 

Von  den  Einzelbestimmungen  der  Herderschen  Ästhetik  seien  nur 
zwei  erwähnt.  Herder  geht  aus  von  der  Lust,  d.  h.  von  der  Empfin- 
dung unseres  Daseins.  Diese  Lust  ist  organisches  Gefühl.  Sonach 
wurzelt  auch  die  Freude  am  Schönen  schließlich  in  körperlichen  Vor- 
gängen oder  im  sinnlich  Angenehmen.  Das  höchste  subjektive  Wohl- 
sein entspricht  einem  Maximum  von  Vollkommenheit  in  der  Natur, 
eben  jener  sinnlichen  Vollkommenheit,  die  wir  Schönheit  nennen. 
(Suphans  Ausgabe  Bd.  XX,  S.  27  ff.)  Also  ist  die  Schönheit  selbst 
durchw^  Ausdrucksschönheit,  d.  h.  Dinge  sind  nicht  schön  durch  ihre 
Form  oder  das  bloß  Sinnliche  ihrer  Erscheinung,  sondern  durch  das, 
woran  sie  mit  Notwendigkeit  erinnern;  beim  Menschen  etwa  ist  die 
Gestalt  im  ganzen  und  im  einzelnen  schön,  insofern  in  ihr  Gesundheit, 
Kraft  und  Wohlsein  sich  ausprägen.  »Schönheit  ist  also  nur  immer 
Durchschein,  Form,  sinnlicher  Ausdruck  der  Vollkommenheit ...  Je 
mehr  ein  Glied  bedeutet,  was  es  bedeuten  soll,  desto  schöner  ist  es.« 
(VIII,  S.  56.)  Die  Ordnung  und  Harmonie  der  Teile,  die  Herder  in 
der  Kalligone  (im  2.  Kapitel  des  ersten  Teils)  als  eine  Bedingung  der 
Schönheit  nennt,  ist  eben  auch  mehr  als  bloße  Form,  ist  ein  Gleich- 
maß der  wirkenden  Kräfte. 

Der  Fortschritt  der  systematischen  Erörterungen  in  diesem  Zeit- 
raum läßt  sich  in  nunmehr  verständlicher  Kürze  folgendermaßen  dar- 
stellen.    Baumgarten   weist  der  Ästhetik   ein   bestimmtes  Gebiet  zu. 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  KLASSIKER.  31 

nämlich  ein  Erkennen,  das  zum  Unterschied  von  dem  in  Worten  und 
B^^ffen  verlaufenden  (symbolischen  oder  logischen)  Erkennen  als  ein 
niederes,  anschauliches  und  dem  Fühlen  verwandtes  gekennzeichnet 
wird.  Das  Gefühl  der  Lust,  zumal  der  ästhetischen,  ist  die  Reaktion 
auf  eine  g^enständliche  Vollkommenheit  Diese  besteht  in  der  Zu- 
sammenstimmung des  Mannigfaltigen  zur  Einheit  —  Von  da  ab  wurde 
das  Vollkommenheitsprinzip  der  Mittelpunkt  unserer  Wissenschaft  Es 
entwickelte  sich  teils  durch  Abgrenzung  g^en  das  Nützliche  und  Er- 
weiterung zu  Gunsten  des  Häßlichen,  teils  durch  eine  Subjektivierung, 
die  der  späteren  spekulativen  Schule  den  Boden  bereitete.  Bei  Winckel- 
mann  bildete  dieser  Zentralb^^ff  ein  G^engewicht  g^en  die  rein  ent- 
wickelungsgeschichtliche  Auffassung,  bei  Herder  den  Stützpunkt  einer 
Inhaltsästhetik.  Gemeinsam  war  allen  so  wirr  durcheinanderlaufenden 
Theorien,  daß  die  anschauliche  Erkenntnis  ins  Gefühlsmäßige  hinüber- 
geleitet wurde 


5.  Die  Ästhetik  der  deutschen  Klassiker. 

Kants  Ästhetik  ist  eine  künstliche  Zusammenfügung  und  Fortbil- 
dung der  uns  bekannt  gewordÄien  Prinzipien.  Ihren  einheitlichen 
Charakter  gewinnt  sie  aus  dem  Zusammenhang  der  kritischen  Philo- 
sophie überhaupt;  nicht  als  einzelne,  selbständige  Wissenschaft,  son- 
dern als  Einordnung  eines  Tatsachengebietes  in  ein  philosophisches 
System  ist  sie  aufzufassen. 

Aus  Gründen  der  Systembildung,  die  hier  nicht  ausgebreitet  werden 
können,  gilt  bei  Kant  als  das  obere  Gefühlsvermögen  die  reflektierende 
Urteilskraft,  die  nach  dem  Zweckb^^ff  das  Dargebotene  bewertet 
Die  Einführung  dieses  B^^ffs  nötigt  nun  zu  einer  Unterscheidung 
zwischen  der  wirklichen  Zweckmäßigkeit  und  der  Schönheit  Diese 
erscheint  als  formale  und  subjektive  Zweckmäßigkeit,  die  nicht  der 
Erkenntnis  des  G^enstandes  dient,  sondern  der  Beschaffenheit  des 
aufnehmenden  Gemütes  entspricht  Auch  die  Erhabenheit  ist  in  keinem 
Dinge  der  Natur,  sondern  nur  in  unserem  Gemüt  enthalten,  »sofern 
wir  der  Natur  in  uns  und  dadurch  auch  der  Natur  (sofern  sie  auf  uns 
dnfließt)  außer  uns  überl^en  zu  sein  uns  bewußt  werden  können.« 
Mit  Rücksicht  darauf,  daß  die  Empfindung  ja  auch  logisch  verwertet 
wird  und  mit  dem  logischen  B^^fif  eines  G^enstandes  seine  objektive 
Natur  und  Bestimmung  erfaßt  wird,  erscheint  das  Ästhetische  als  eine 
Verwendung  der  Empfindung,  die  im  Subjektiven  bleibt  Wenn  die 
Erkenntnis  der  Zweckmäßigkeit  eines  Objekts  als  Ausgangspunkt  ge- 
nommen war,  so  ist  demnach  hinzuzufügen,  daß  nicht  die  objektive 


32  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

oder  wirkliche  Zweckmäßigkeit,  d.  h.  die  Vollkommenheit,  in  Frage 
kommt,  sondern  nur  die  zweckmäßige  Beeinflussung  des  aufnehmenden 
Subjektes,  d.  h.  eine  Beeinflussung,  die  der  Natur  und  Bestimmung 
des  Ich  angemessen  ist.  Genauer  gesprochen  besteht  diese  Einwir- 
kung darin,  daß  Phantasie  und  Verstand  des  Betrachters  in  lustvollen 
Einklang  gesetzt  werden.  So  stellt  sich  die  Schönheit  dar  als  Form 
der  Zweckmäßigkeit  eines  Gegenstandes,  sofern  sie  ohne  Vorstellung 
eines  Zweckes  an  ihm  wahrgenommen  wird.  Eine  dünne,  winzige 
Säule,  die  ein  großes  Dach  trägt,  ist  unschön.  Die  Tulpe  wird  schön 
gefunden,  ohne  daß  wir  den  Begriff  des  Gegenstandes  oder  das 
Logische  uns  vorstellen. 

Es  ist  klar,  wie  durch  solche  Erwägungen  die  Formel  von  der 
Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  in  die  Subjektivität  hineinverlegt,  aber 
allerdings  nicht  exakt  psychologisch  behandelt  wird.  Nach  Kants 
Darstellung  entspricht  die  einheitliche  Verknüpfung  des  Mannigfaltigen 
unserer  allgemeinen  Vorstellung  einer  Zweckmäßigkeit.  Ohne  daß  wir 
den  bestimmten  Zweck  des  Gegenstandes  in  unserem  Bewußtsein 
haben,  fühlen  wir  aus  der  harmonischen  Gliederung  des  Ganzen  eine 
Zweckmäßigkeit  überhaupt  heraus.  Diese  objektive  Gestaltung  kommt 
der  Anlage  unserer  Seele  entgegen:  dadurch  also,  daß  der  G^enstand 
der  Struktur  unserer  Geisteskräfte  und  ihren  Tätigkeitsgesetzen  gemäß 
ist,  soll  das  Lustgefühl  der  Schönheit  entstehen.  Offenbar  steckt  in 
solchen  (heute  wieder  üblichen)  Ausführungen  dasselbe,  was  Dubos 
und  andere  als  lustvolle  Beschäftigung  der  Seele  schon  vorher  zum 
ästhetischen  Prinzip  erhoben  hatten.  Das  Ästhetische  gleicht  dem 
Angenehmen  darin,  subjektiv  und  gefühlsmäßig  zu  sein.  Es  ist  un- 
abhängig von  der  Wahrheit  und  ebenso  unabhängig  vom  Sittlichen*). 
Denn  beide  setzen  Denken  voraus.  Es  ist  ferner  keine  objektive  Be- 
schaffenheit. Müßte  doch  sonst,  da  Schönheit  auf  Zweckmäßigkeit 
zurückführt,  die  Natur  Zwecke  verfolgen  und  durch  die  Verwirklichung 
ihrer  Zwecke  Naturschönes  hervorbringen.  Diese  Annahme  ist  absurd. 
Naturschönes  aber  existiert.  Folglich  kann  die  Schönheit  nur  im  Ich 
liegen,  nämlich  in  der  subjektiven  Auffassung,  als  habe  der  Gegen- 
stand die  Bestimmung,  eine  zweckmäßige  Harmonie  in  unserer  Seele 
zu  erzeugen.  Den  Grund  der  falschen  Objektivierung  des  Schönen 
erblickt  Kant  in  der  Mitteilbarkeit  des  Genusses.  Weil  die  Menschen 
darin  übereinstimmen,  was  schön  ist,  wenigstens  der  Hauptsache  nach, 
so  vermuten  sie  einen  Grund  in  den  Gegenständen;  in  Wahrheit  findet 


*)  Doch  bezeichnet  Kant  in  anderem  Zusammenhang  das  Schöne  als  »Symbol 
des  sittlich  Outen«,  als  »Versinnlichung  sittlicher  Ideen«  und  als  »nur  in  dieser 
Rücksicht  gefallend«. 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  KLASSIKER.  33 

er  sich  in  jenem  harmonischen  Verhältnis  zwischen  Einbildungskraft 
und  Verstand,  das  bei  allen  Menschen  hergestellt  werden  kann. 

Dies  Ergebnis  hat  für  Kant  die  große  Bedeutung,  daß  nunmehr 
eine  Ästhetik  als  Wissenschaft  möglich  wird.  Er  argumentiert  nämlich 
so.  Wäre  die  Schönheit  etwas  Objektives,  so  könnten  wir  sie  nur 
empirisch  bestimmen.  Es  gäbe  also  nur  eine  Erfahrungskenntnis 
davon,  und  diese  ist  nach  den  Lehren  der  kritischen  Philosophie  keine 
wahre  Wissenschaft  Die  Wissenschaft  mit  ihrer  Notwendigkeit  und 
Allgemeingültigkeit  darf  sich  nicht  auf  Erfahrbares  stützen,  das  immer 
wieder  durch  neue  Erfahrung  widert^  werden  kann,  sondern  beruht 
auf  dem  Apriori  in  uns.  So  wie  die  Geometrie  eine  echte  Wissen- 
schaft dadurch  ist,  daß  sie  sich  auf  die  apriorische  Raumanschauung 
stützt,  so  wird  die  Ästhetik  dadurch  zu  einer  echten  Wissenschaft, 
daß  Schönheit  und  Erhabenheit  in  uns  ihren  Ort  haben.  Freilich  ist 
die  Allgemeingültigkeit  des  ästhetischen  Gesetzes  nicht  genau  dieselbe 
wie  die  des  Sittengesetzes.  Wir  sind  zufrieden,  wenn  jemand  sagt: 
Das  wird  gewiß  schön  sein,  aber  ich  verstehe  nichts  davon;  unzu- 
frieden mit  derselben  Antwort  in  Bezug  auf  Sittliches.  Denn  in  die 
Einhelligkeit  von  Einbildungskraft  und  Verstand  dringen  doch  immer 
wieder  die  Verschiedenheiten  der  beiden  Faktoren  ein.  Phantasie  und 
Verstand  sind  bei  den  einzelnen  anders  geartet  Nur  ihre  Proportion 
bleibt  dieselbe,  ist  in  allen  Menschen  gleichmäßig  angelegt  Hiermit 
ist  die  Frage  der  Kritik  der  Urteilskraft  beantwortet:  Wie  sind  synthe- 
tische Urteile  a  priori  möglich  hinsichtlich  unseres  Wohlgefallens  an 
wahrgenommener  Zweckmäßigkeit?  Das  heißt:  Können  wir,  und 
warum  können  wir  hinsichtlich  der  Lust  daran  etwas  unabhängig  von 
aller  Erfahrung  bestimmen? 

Zu  den  beiden  abgrenzenden  Merkmalen,  die  wir  soeben  be- 
sprochen haben,  zur  Begriffslosigkeit  und  der  Allgemeingültigkeit  und 
Notwendigkeit  treten  nun  noch  hinzu  die  Festsetzungen,  daß  das 
Schöne  durch  die  bloße  Form  des  Gegenstandes  und  ohne  Interesse 
gefällt  Der  erste  Punkt  bedarf  keiner  längeren  Erläuterung.  Nach 
den  Grundlehren  des  Kantischen  Systems  bezieht  sich  Apriorisches 
niemals  auf  die  Materie,  sondern  immer  nur  auf  die  Form.  Das  reine 
Geschmacksurteil,  das  unabhängig  von  der  Erfahrung  mit  allgemein- 
gültiger Notwendigkeit  vollzogen  wird,  kann  daher  nicht  den  Stoff, 
sondern  bloß  die  Form  oder  die  formale  Zweckmäßigkeit  oder  die 
Zweckmäßigkeit  der  Form  betreffen.  Wo  in  die  freie  Schönheit,  die 
es  mit  der  reinen  Form  zu  tun  hat.  Materielles  hineintritt,  etwa 
durch  den  Begriff  der  Vollkommenheit  eines  Dinges,  da  entsteht  die 
anhängende  Schönheit,  zu  der  natüriich  fast  die  ganze  Kunstschönheit 
gehören    muß.     Reine   Schönheit   zeigen   einige   Blumen    und   Tiere, 

Dessoir,  Ästhetik  und  al\g.  Kunstwissenschaft.  3 


34  I.  DIE  GESCfflCHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Tapetenmuster,  Arabesken,  thematische  Verarbeitungen  einer  Melodie. 
Im  übrigen  Kunstleben  haben  wir  es  mit  Mischungszuständen  zu  tun. 

Wenn  nun  schon  die  innere  objektive  Zweckmäßigkeit,  d.  h.  die 
Vollkommenheit,  die  ja  vom  Begriff  des  Gegenstandes  abhangt,  aus 
der  reinen  Schönheit  ausgeschlossen  wird,  so  natüriich  um  so  mehr 
die  Nützlichkeit  oder  äußere  Zweckmäßigkeit.  Sie  ist  besonders  des- 
halb zu  verbannen,  weil  sie  ein  wirkliches  Interesse  am  O^enstand 
erweckt  Oeschmack  aber  »ist  das  Beurteilungsvermögen  eines  G^en- 
standes  oder  einer  Vorstellungsart  durch  ein  Wohlgefallen  oder  Miß- 
fallen ohne  alles  Interesse.  Der  Gegenstand  eines  solchen  Wohl- 
gefallens heißt  schön.«  Der  Geschmack  betrachtet  lediglich.  Er  spielt 
mit  dem  Objekt  Sein  Erzeugnis,  das  Kunstprodukt,  ist  nur  Schein. 
Jede  Lust  an  der  Existenz  des  Objektes  und  an  seinem  Besitz,  alles 
Habenwollen  stört  die  kontemplative  Natur  des  ästhetischen  Gefühls. 
Hiermit  ist  nicht  jegliches  Bewerten  ausgeschlossen,  sondern  nur  das 
an  das  Dasein  eines  Gegenstandes  sich  knüpfende  Wohlgefallen  und 
Begehren.  Die  Existenz  des  Gegenstandes  außerhalb  des  Bewußtseins 
soll  gleichgültig  sein. 

Nunmehr  sind  wir  an  dem  Punkt  angelangt,  wo  wir  Schillers 
Formeln  für  das  Schöne  verstehen  können.  Die  erste  These  lautet, 
das  Schöne  sei  Schein,  nicht  Wirklichkeit  Es  ist  unnötig,  daß  der 
Schein  ein  realitätsloser  sei,  um  schön  gefunden  werden  zu  können, 
aber  nötig,  daß  wir  bei  seiner  Beurteilung  von  der  Realität,  an  welcher 
er  haftet,  abstrahieren.  Denn  es  gibt  auch  einen  unreinen  und  falschen 
Schein.  »Nur  soweit  er  aufrichtig  ist  und  nur  soweit  er  selbständig 
ist,  ist  der  Schein  ästhetisch.«  Dem  ästhetischen  Schein  verwandt  ist 
das  Spiel.  Das  Spiel  des  Kindes  formt  Dinge  der  Wirklichkeit,  nicht 
nach  logischer  Notwendigkeit,  sondern  nur  aus  subjektivem  Bedürfnis. 
Und  dies  beseelende  Schauen  des  Kindes  ist  der  Typus  aller  künst- 
lerischen Weltauffassung.  Der  Spieltrieb  (eine  Verbindung  von  Stoff- 
und  Formtrieb)  liegt  auch  der  erhabensten  Kunst  zu  Grunde,  denn 
der  Mensch  »spielt  nur  da,  wo  er  in  der  vollsten  Bedeutung  des 
Wortes  Mensch  ist«.  —  Ein  zweiter  Ausdruck  Schillers  bezeichnet  das 
Schöne  als  Existenz  aus  bloßer  Form.  Form  aber  enthüllt  uns  einen 
Gehalt,  und  Gehalt  entsteht,  wenn  ein  Gemüt  instinktiv  sich  gedrängt 
fühlt,  einen  bestimmten  Eindruck  künstlerisch  darzustellen.  Die  Form 
ist  nichts  Äußeriiches  —  Goethe  verspottet  die  Deutschen,  weil  sich 
ihr  Begriff  von  Form  nicht  über  das  Silbenmaß  hinaus  erstrecke  — , 
sondern  sie  ist  notwendige  Bestimmtheit  An  diesem  mehr  inneriichen 
B^ff  der  Form  hat  übrigens  Schiller  nicht  festgehalten.  Wenn  er 
die  Personen  der  griechischen  Tragödie  als  idealische  Masken  rühmt 
und  die  Grenze  des  Wilhelm  Meister  in  seiner  Prosaform  erblickt,  so 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  KLASSIKER.  35 

denkt  er  an  die  äußere  Form.  Ursprünglich  aber  ist  Form  ein  Inhalt, 
der  frei  ist  von  allen  subjektiven  und  allen  objektiv  zufälligen  Bestim- 
mungen.   (An  Kömer,  III,  117.) 

Ein  drittes  Prinzip  lehrt  die  Zusammenstimmung  des  Mannigfaltigen 
zum  Einen  —  »unbestimmt,  was  es  sein  solle«  —  als  Merkmal  des 
Schönen.  Der  eingeschobene  Satz  ist  das  Wichtige:  Zweckmäßigkeit 
ohne  Zweck;  wie  wenn  ich  mitten  im  Walde  einen  von  gleichmäßigen 
Baumkolonnen  umrahmten  Rasenplatz  bewundere,  ohne  zu  wissen, 
daß  er  zum  Tanze  bestimmt  ist.  Hier  folgt  Schiller  den  Spuren  Kants. 
Originaler  ist  er  in  der  Fassung  desselben  Prinzips,  die  sich  im  fünf- 
zehnten ästhetischen  Brief  findet  Dort  heißt  es  vom  Menschen:  »Nur 
indem  seine  Form  in  unserer  Empfindung  lebt  und  sein  Leben  in 
unserem  Verstände  sich  formt,  ist  er  lebende  Gestalt,  und  dies  wird 
überall  der  Fall  sein,  wo  wir  ihn  als  schön  beurteilen.«  Schön  ist 
alles,  was  gleich  der  Natur  eine  von  Kraft  erfüllte  organische  Einheit 
aufweist 

Das  Gesetz  von  der  lebendigen  Gestalt  ist  aus  zwei  Gründen  sehr 
wichtig.  Einmal,  weil  es  eine  psychologische  Begründung  durch 
Mittel  der  modernen  Wissenschaft  zuläßt,  alsdann,  weil  es  die  ästhe- 
tische Weltanschauung  späterer  Geschlechter  bestimmt  hat  Es  fordert 
Lebendigkeit  der  Anschauung,  eine  Wechselwirkung  im  Schönen, 
welche  von  der  Verschiedenheit  der  G^enstände  (Leben)  zu  einem 
sie  durchdringenden  Prinzip  (Gestalt)  hinüberieiten  soll.  Schon  die 
lebendige  Verknüpfung  des  einzelnen  in  der  Anschauung  ist  eine 
Formgebung  im  Sinne  der  Kantischen  Philosophie.  Wird  nun  in  diese 
Form  noch  ein  Gefühlsinhalt  hineingesehen,  also  das  Äußere  beseelt 
oder  organisch  aufgefaßt,  so  entsteht  jenes  Leben,  das  dem  Schönen 
innewohnt  Hier  verbindet  Schiller  mit  Kantischen  Gedanken  Herders 
Vorstellung  von  dem  Organischen  und  der  lebendigen  Naturkraft  ^). 

Schillers  Ansicht  von  dem  Beruf  des  Künstlers  und  vom  Wesen 
des  Genies  enthält  bloß  die  Nutzanwendung  der  dargelegten  Grund- 
anschauungen. Indem  der  Künstler  die  innere  Natur  oder,  mit  anderen 
Worten,  das  rein  Menschliche  wiedergibt,  idealisiert  er.  Er  hebt  in 
eine  reinere  Potenz,  was  bislang  an  irdische  Unvollkommenheiten  ge- 
bunden war.  Diese  Idealisierung  seines  Gegenstandes  ist  eine  not- 
wendige Operation  des  Dichters,  und  ohne  diese  Veredelung  hört  er 
auf,  seinen  Namen  zu  verdienen.  Denn  nur  die  Empfindungen,  die 
frei  sind  von  jedem  zufälligen  Zusatz  und  gleichsam  aus  dem  Schöße 
veredelter  Menschheit  hervorströmen,  sind  einer  allgemeinen  Mitteilung 
fähig.  Will  daher  der  Künstler,  wie  die  Genieperiode  es  verlangt 
hatte,  seine  eigene  Persönlichkeit  im  Werke  kundgeben,  so  muß  er 
sie  vorher  zu  reinster  Menschlichkeit  hinaufläutern. 


36  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

»Die  Dichter  sind  die  Bewahrer  der  Natur.  Entweder  ist  nun  der 
Dichter  Natur,  oder  er  wird  sie  suchen.  Jenes  macht  den  naiven, 
dieses  den  sentimentalischen  Dichter.«  Der  naive  Dichter  findet 
wenigstens  in  der  Kunst  die  antike  Naivität  wieder  und  vermag,  wie 
Goethe  zeigt,  in  seinen  Bildungen  Natur  und  Sittlichkeit  des  Menschen 
zu  einer  Einheit  zusammenzuschließen,  die  der  des  Naturzustandes 
gleicht  und  ihr  als  eine  bewußte  Schöpfung  dennoch  unendlich  fiber- 
legen ist.  Der  Idealist  dagegen  bleibt  bei  der  Entgegensetzung  beider 
Welten  stehen*).  Aber  die  eigentliche  Vollendung  und  Verrichtung 
der  Kunst,  wodurch  sie  zum  Medium  der  Kunst  wird,  ist  die  Ver- 
söhnung des  Sinnlichen  und  des  Übersinnlichen  im  Menschen.  In 
solchen  Antithesen  lebt  ja  Schillers  Ästhetik.  Körper  und  Geist,  Trieb 
und  Pflicht,  Sinnlichkeit  und  Vernunft  sind  Feinde.  Indem  die  Schön- 
heit beide  Mächte  zu  einem  formalen  Ausgleich  zwingt,  indem  die 
künstlerische  Formengebung  den  Widerstand  des  Geistigen  gegen  die 
Leiblichkeit  überwindet,  —  so  entsteht  jene  wundervolle  Harmonie 
zwischen  den  streitenden  Kräften  des  inneren  Daseins,  auf  der  der 
Wert  der  Schönheit  beruht. 

Was  Schiller  in  den  ästhetischen  Briefen  von  der  inneren  Voll- 
endung des  Menschen  lehrt,  verkünden  Goethes  »Faust«  und  »Meister«. 
Auch  sonst  vereinigen  sich  ihre  Ansichten.  Vorweg  muß  aber  fest- 
gehalten werden:  Goethe  und  Schiller  treiben  Kunsttheorie  sowie 
Ästhetik  nicht  aus  dem  Geist  und  zu  dem  Zweck  reiner  Wissenschaft 
Sondern  sie  wollen  sich  durch  theoretische  Sicherheit  ihr  Schaffen  ver- 
festigen. Sie  hoffen,  daß  ihr  Künstlertum  seiner  selbst  gewisser  und 
seiner  grundsätzlichen  Bedeutsamkeit  bewußter  werde,  sobald  sie  das 
Wesen  der  Kunst  verstanden  und  in  den  Zusammenhang  von  Welt 
und  Leben  eingeordnet  haben.  Deshalb  ist  es  ihr  erstes  Anli^en, 
die  Lehre,  Kunst  sei  dürftige  Nachahmung  des  schon  Bestehenden, 
als  eine  grundfalsche  abzulehnen.  Goethes  »Sammler  und  die  Sei- 
nigen« bringt  das  Problem  zur  Verhandlung.  Der  »Philosoph«,  mit 
dem  Schiller  gemeint  ist,  exemplifiziert  an  dem  Schoßhündchen  der 
Julie  und  schließt:  allenfalls  hätten  wir  bei  völlig  geglückter  Nach- 
ahmung zwei  Beilos  für  einen.  Auch  die  Rede,  der  Künstler  solle 
über  den  einzelnen  Gegenstand  hiqaus  die  Gattung  verkörpern,  genüge 
nicht.  Denn  würde  er  wohl  einen  zoologischen  Musteradler,  der  den 
Gattungsbegriff  vollkommen  ausdrückte,  auf  den  Szepter  Jupiters  setzen? 
Nein,  vielmehr  müsse  die  bildende  Kunst  selbst  diesem  Adler  etwas 


•)  Friedrich  Schlegel  hat  den  Gegensatz,  zum  Teil  schon  vor  Schiller,  dahin 
bestimmt,  daß  der  naive  (klassische)  Dichter  hinter  seinem  Stoff  verschwinde,  und 
der  Sentimentalische  (romantische)  mit  seinem  Ich  das  Feld  beherrsche.  Otto  Lud- 
wig unterscheidet  in  ähnlicher  Absicht  zwischen  Sach-Dichter  und  Ich-Dichter. 


DIE  ÄSTHETIK  DER  DEUTSCHEN  KLASSIKER.  37 

Göttliches,  Bedeutendes,  Geisterhebendes  verleihen.  Übertragen  wir 
das  vom  Einzelnen  aufs  Allgemeine,  vom  Kleinen  aufs  Große,  so 
dürfen  wir  sagen:  in  einem  Kunstwerk  höchsten  Ranges  soll  sich  eine 
Lebens-  und  Weltanschauung  aussprechen.  Die  klassische  Ästhetik 
fordert  danach  ein  inneres  Erlebnis,  das  sie  den  Gehalt  nennt  Der 
Gehalt  muß  sich  an  einem  Stoff,  d.  h.  an  dem  bereits  künstlerisch  be- 
trachteten Gegenstand  versinnlichen.  Wird  der  Gehalt  eines  Stoffes 
Herr,  dann  gibt  er  ihm  Form,  d.  h.  er  macht  aus  ihm  ein  zusammen- 
hangvolles Ganzes,  in  dem  etwas  Umfassendes  und  im  höheren  Sinne 
Wahres  zur  deutlichen  Erscheinung  wird. 

Über  die  Anerkennung  dieser  Prinzipien  herrscht  in  der  Hauptzeit 
zwischen  Goethe  und  Schiller  kein  Zweifel,  wohl  aber  über  den  W^, 
auf  dem  man  zu  ihnen  gelangt.  Denn  hier  tritt  die  Verschiedenheit 
der  Individualitäten  beider  Dichter  in  ihre  Rechte.  Goethe  sieht  bereits 
in  der  Natur  das  Typische  angedeutet,  das  die  Kunst  reiner  herzu- 
stellen versucht.  Er  geht  auf  Urphänomene  zurück,  die  der  Intuition 
das  Gesetz  der  Erscheinungen  enthüllen,  und  er  will  bedeutsame 
Objektivität  der  Kunst.  Schiller  betrachtet  das  Naturschöne  nur  als 
einen  Abglanz  vom  Subjekt  Er  kümmert  sich  nicht  so  sehr  um  die 
Beschaffenheit  des  Objektes.  Er  geht  von  sich,  vom  ästhetischen  Zu- 
stande und  vom  Ideale  aus.  Das  Bestehen  des  Besseren  in  uns  bürgt 
für  die  Ewigkeit  der  Welt.    Goethe  fordert  Stil,  Schiller  Idealität 

Das  Grundthema  der  ganzen  Goetheschen  Ästhetik  lautet  demnach: 
»Das  Schöne  ist  ein  Urphänomen,  das  zwar  nie  selber  zur  Erschei- 
nung kommt,  dessen  Abglanz  aber  in  tausend  verschiedenen  Äuße- 
rungen des  schaffenden  Geistes  sichtbar  wird.«  Die  Schönheit  ist  ein 
Urphänomen,  sie  betätigt  sich  in  einer  Erscheinung,  die  uns  auf  einen 
Blick  eine  große  Geschichte  mitzuteilen  vermag.  »Ich  glaubte,«  sagt 
Goethe,  »der  Natur  abgemerkt  zu  haben,  wie  sie  gesetzlich  zu  Werke 
gehe,  um  lebendiges  Gebild  als  Muster  alles  Künstlichen  hervor- 
zubringen.« Folgt  das  Kunstwerk  diesem  Muster,  ist  es  mit  Gehalt 
gesättigt,  so  besitzt  es  Stil.  »Der  Stil  in  der  Kunst,«  lautet  ein  anderer 
Satz,  »ruht  auf  den  tiefsten  Grundfesten  der  Erkenntnis,  auf  dem 
Wesen  der  Dinge,  insofern  uns  ertaubt  ist,  es  in  sichtbaren  und  greif- 
lichen Gestalten  zu  erkennen.«  Das  Wesen  der  Dinge  fällt  mit  dem 
Gesetzlichen  in  der  Natur  zusammen.  Naturdinge  werden  schön, 
wenn  sie  der  Anschauung  ihre  Gesetze  offenbaren.  Eine  Pflanze,  die 
von  dem  ihre  Bildung  bestimmenden  organisierenden  Gesetz  nichts 
verrät,  ist  unschön.  Deutliche  Begriffsbestimmungen  dieser  Gesetze 
oder  Typen  oder  Urbilder  finden  sich  bei  Goethe  nicht  Unsere  Er- 
fahrungen dessen,  was  schön  sei,  kann  wohl  der  Verstand  zu  einer 
»summa«,  einem  »Begriff«,  zusammenstellen,  nicht  aber  kann  die  Ver- 


38  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

nunft  in  ihnen  ein  gemeinsames  »Resultat«,  die  »Idee«  erfassen.  (Vgl. 
Sprüche  Nr.  336.)  Der  Künstler  steht  vor  der  Aufgabe,  diesen  Sinn 
der  Natur  aufzufassen  und  auszudrücken.  Er  soll  nicht  das  sogenannte 
Natürliche  zu  gemeiner  Täuschung  suchen,  sondern  Werke  schaffen, 
die  die  höchste  Wahrheit,  aber  keine  Spur  von  Wirklichkeit  haben. 
(Vgl.  Eckermann  III,  86.    Zur  Kunst  S.  465.) 

Es  bedarf  nur  weniger  Worte,  um  die  Hauptpunkte  der  geschilderten 
Lehren  nochmals  vor  Augen  zu  stellen.  Kant  muß,  aus  Gründen  der 
Systembildung,  den  Gesichtspunkt  der  Zweckbeurteilung  verwenden, 
will  aber  die  Vollkommenheit,  die  ja  vom  Begriff  des  Gegenstandes 
abhangt,  aus  der  reinen  (nicht  anhangenden)  Schönheit  ausschließen. 
Das  Schöne,  das  durch  die  bloße  Form  des  Gegenstandes  und  ohne 
Interesse  gefällt,  wird  im  allgemeinen  in  die  Subjektivität  hineinverl^ 
und  seine  Allgemeingültigkeit  aus  dem  gleich  bleibenden  Verhältnis 
zwischen  Phantasie  und  Verstand  erklärt.  Hieraus  soll  erhellen,  wieso 
wissenschaftliche  d.  h.  die  Erkenntnis  erweiternde  und  von  der  Erfah- 
rung unabhängige  Urteile  über  das  ästhetische  Fühlen  d.  h.  über  unser 
Wohlgefallen  an  wahrgenommener  Zweckmäßigkeit  möglich  sind.  — 
Während  Kants  Ästhetik  nicht  aus  einer  Ergriffenheit  von  der  Kunst, 
sondern  aus  dem  Zwang  systematischer  Vollständigkeit  hervorgeht,  ist 
die  Ästhetik  bei  Schiller  und  Goethe  eine  Besinnung  über  eigenes 
Schaffen.  Im  Gegensatz  zur  Nachahmungstheorie  wird  die  erste  Be- 
dingung in  einem  Gehalt  oder  inneren  Erlebnis  gesehen.  Goethe  nennt 
Dinge  dann  schön,  wann  sie  der  Anschauung  ihre  Gesetze  offenbaren, 
und  verlangt  vom  Künstler,  daß  er  diesen  Sinn  der  Natur  oder  die 
höchste  Wahrheit  durch  Stilisieren  oder  Idealisieren  zum  Ausdruck 
bringe.  Schiller  erklärt  das  Schöne  für  einen  aufrichtigen  und  selb- 
ständigen Schein,  für  bloße  Form,  für  begriffslose  Vereinheitlichung, 
für  die  lebendige  Verknüpfung  des  Einzelnen  in  der  Anschauung.  Der 
Spieltrieb,  der  die  Dinge  aus  innerem  Bedürfnis  beseelt  und  gestaltet, 
liegt  der  Kunst  zu  Grunde.  Von  Schiller  stammt  die  Unterscheidung 
des  naiven  und  des  sentimentalischen  Dichters,  sowie  die  hohe  Vor- 
stellung von  der  Kunst,  daß  sie  das  Medium  der  Kultur  sei,  indem 
sie  Sinnliches  und  Übersinnliches  im  Menschen  versöhne. 

Hiermit  sind  zugleich  die  Ausgangspunkte  für  eine  neue  Richtung 
in  unserer  Wissenschaft  bezeichnet. 

6.  Romantische  und  spekulative  Ästhetik. 

Nachdem  schon  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  eine  Reihe  von 
Schriften  hervorgebracht  hatte,  in  denen  die  Ästhetik  der  romantischen 
Schule  sich  ankündigte  —  Wackenroders    Herzensergießungen«  (17Q7) 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  39 

sind  die  »Urzelle  der  Romantik«  genannt  worden  — ,  b^[ann  im  No- 
vember 1801  August  Wilhelm  Schlegel  seine  Vorlesungen  über  schöne 
Literatur  und  Kunst,  worin  das  Schöne  als  symbolische  Darstellung 
des  Unendlichen  definiert  wird.  Seine  und  seines  Bruders  gesamte 
Lehre  ruht  auf  dem  G^ensatz  des  Objektiven  und  Subjektiven,  des 
Antiken  und  Romantischen.  Dieser  schon  erwähnte  G^ensatz  empfängt 
von  den  Schlegel  eine  geschichtliche  Begründung  und  etwa  diese  Fas- 
sung: während  die  antike  Kunst  sich  ganz  in  den  G^enstand  als  in 
ein  Fertiges  versenkt  habe,  gehe  die  romantische  Poesie  über  das  Wirk- 
liche hinaus  und  zwar  zu  Ideen  hin,  deren  Leben  nur  in  Beziehungen 
sich  äußert.  Damit  wird  die  Kategorie  der  Dinglichkeit,  die  bislang 
in  der  Ästhetik  herrschte,  einer  sowohl  geschichtlichen  als  auch  meta- 
physischen Aktualitäts-  und  Relativitätsauffassung  geopfert  Zu  dieser 
Auffassung  haben  —  in  verschiedenen  Abschattungen  —  Ludwig  Tieck, 
Novalis,  Jean  Paul  und  Solger  sich  bekannt 

»Alles  ist  in  ewigem  Werden  b^jiffen,  und  dieses  Werden,  diese 
urewige  Schöpfung  muß  der  Mensch  nach  psychologischen  Gesetzen 
zu  einer  einheitlichen  und  systematischen  Idee  zusammenfassen.  Dieses 
lebendige  und  organische  Ganze  der  Natur,  dieses  in  sich  vollendete 
und  sich  selbst  fortwährend  schaffende  Wesen  soll  dem  Kunstler  als 
Vorbild  und  Muster  dienen,  und  in  diesem  Sinne  soll  die  Kunst  die 
Natur  nachahmen,  d.  h.  die  Kunst  soll  die  innere,  tiefere  und  nicht 
die  äußere,  oberflächliche  Beschaffenheit  der  Natur  studieren  und  wieder- 
erzeugen.« Da  die  Kunst  eine  verklärte  und  zusammengedrängte  Natur 
ist,  nämlich  die  durch  das  Medium  eines  vollendeten  Geistes  hindurch- 
gegangene Natur,  so  ist  der  Mensch  in  der  Kunst  Norm  der  Natur. 
(A.  W.  Schl^el,  IX,  305—308.)  Diese  Worte  bedeuten  zunächst  den 
endgültigen  Bruch  mit  der  Nachahmungstheorie.  Köstlich  hat  Jean 
Paul  die  »poetischen  Materialisten,  die  gemeinen  Nachdrucker  der  Wirk- 
lichkeit« verspottet  und  mit  Entschiedenheit  von  der  Kunst  verlangt, 
sie  solle  schöne,  geistige  Nachahmung  der  Wirklichkeit  oder  noch 
besser:  Darstellung  der  Ideen  durch  Natumachahmung  sein.  Ferner 
kommt  in  jenen  Worten  das  spekulative  Prinzip  oder  die  metaphysische 
Uberausdehnung  der  älteren  Lehren  zum  Vorschein.  Bereits  Schellings 
System  der  Philosophie  (1801)  erklärt  die  Welt  wie  ein  Kunstwerk,  als 
das  Erzeugnis  eines  Genius.  Wenn  wir  in  der  Natur  Schönheit  finden 
(meinte  später  Solger),  ohne  dabei  an  unsere  Kunst  zu  denken,  so  be- 
greift es  sich  daraus,  daß  die  Natur  als  das  Produkt  einer  göttlichen 
Kunst  betrachtet  werden  kann.  Hiermit  ist  zugleich  angedeutet,  welcher 
hohe  Wert  der  Kunst  zukommt:  sie  ist  der  Schlüssel  zum  innersten 
Wesen  des  Seienden.  Wie  einst  im  Altertum  die  Mathematik,  so  war 
nunmehr  die  Kunst  der  Vorhof  zum  Tempel  der  Philosophie,  denn 


40  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Mathematik  und  Kunst  haben  das  gemeinsam,  daß  ihre  Erscheinungen 
die  Begriffe  zur  unmittelbaren  Anschauung  darbieten  und  dadurch  das 
philosophische  Nachdenken  in  Bewegung  setzen. 

Über  eine  solche  Auffassung,  die  doch  die  Wirklichkeit  noch  be- 
stehen läßt,  ist  Fichte  hinausgegangen.  Für  ihn  und  die  durch  ihn 
Beeinflußten  können  daher  der  Künstler  und  das  Kunstwerk  nur  die 
Aufgabe  haben,  das  absolute  Ich  zu  verwirklichen.  Man  verlangt  von 
dem  Genie  vor  allem  Universalität,  von  dem  Kunstwerk  vor  allem  kos- 
mische Unerschöpflichkeit®).  Die  schöpferische  Phantasie  soll  so  ge- 
steigert und  geweitet  werden,  daß  sie  dem  Ursubjekt  sich  nähert; 
ihr  Erzeugnis  soll  die  Unendlichkeit  der  ganzen  Welt  erreichen.  Die 
Folgen  daraus  sind  mannigfaltig,  teils  gute,  teils  schädliche.  Es  ver- 
schwinden die  Grenzen  zwischen  den  sozialen  Kräften.  Alle  Sphären 
und  Elemente  der  Bildung  werden  aufgehoben  in  das  künstlerische 
Leben.  Auch  das  Ethische  ist  dem  Ästhetischen  unterzuordnen.  Während 
Frühere,  namentlich  Lessing,  die  Grenzen  der  Künste  erforscht  hatten, 
will  man  nunmehr  das  Gemeinsame  feststellen  und  die  Kunst  mit 
Wissenschaft  und  Weltanschauung  verschmelzen.  Die  Phantasie  gilt 
als  die  oberste  und  notwendigste  Qualität,  als  jenes  Göttliche,  ohne 
das  jedes  Schaffen  und  Genießen  armselig  wird.  Sie  hat  nichts  mehr 
gemein  mit  der  bloßen  Einbildungskraft,  von  der  die  Ästhetik  des 
18.  Jahrhunderts  sprach.  Jene  ist  nur  Prosa  der  Bildungskraft  oder 
Phantasie,  wie  Jean  Paul  bemerkt.  Phantasie  ist  ein  wirkliches  Schaffen, 
ein  Totalisieren,  so  wie  Poesie  Bildung  der  Außenwelt  durch  das 
Individuum  bedeutet:  »Die  Willkür  des  Dichters  findet  kein  Gesetz 
über  sich.« 

Es  ist  klar,  daß  aus  dieser  Ablehnung  aller  Wirklichkeit  und  objek- 
tiven Gebundenheit  die  Auflösung  des  Künstlerischen  in  das  Reich 
subjektivster  Gefühle  sich  ergeben  muß.  Alles  wird  zur  Stimmung 
und  zum  Märchen,  zum  Spiel  und  Traum.  Dunkle  Gefühle  gelten  als 
der  eigentliche  Inhalt  der  Kunst,  nicht  ohne  daß  Auffassungen  des 
katholischen  Mystizismus  hineinspielten.  Allegorie  und  Symbol  sind 
die  allgemeinen  Formen  der  Kunst.  Hier  tritt  uns  zum  ersten  Male 
ein  Verständnis  für  die  große  Tragweite  des  Symbolbegriffes  und  der 
Metapher  entgegen.  Und  zwar  bedeutet  Symbol  nicht  etwa  Bild  oder 
Zeichen,  sondern  die  Daseinsart,  worin  die  Idee  als  erscheinende  und 
wirkliche  erkannt  wird.  Das  Gesetz  der  Einfühlung  wird,  wenn  auch 
nicht  in  exakten  Untersuchungen,  so  doch  in  philosophischer  Ver- 
tiefung ausgesprochen.  Deutlich  genug  sagt  Jean  Paul  von  der  Natur, 
sie  enthalte  nichts,  was  lediglich  Sache  sei,  sondern  jedes  Ding  bedeute 
und  bezeichne:  >wie  im  Menschen  das  göttliche  Ebenbild,  so  in  der 
Natur  das  menschliche«  (Vorsch.  der  Ästh.  §  49);  minder  deutlich  er- 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  41 

klärt  Solger  den  Menschen  für  den  Hauptg^enstand  der  Kunst  und 
die  übrigen  Objekte  teilweise  für  künstlerisch  verwertbar,  »insofern  sie 
sich  auf  das  menschliche  Selbstbewußtsein  beziehen«  (Vorl.  über  Ästh., 
gehalten  181Q,  veröffentl.  182Q,  S.  158).  In  den  Lehriingen  zu  SaTs 
hat  Novalis  die  »Beziehung  der  Natur  auf  das  Gemüt«  geradezu  wissen- 
schaftlich dargestellt;  bei  Tieck  ist  die  Einfühlung  auch  das  Erklärungs- 
prinzip für  die  Schauspielkunst  und  für  die  in  uns  tätige  Lust  zur 
Mimik,  »uns  selbst  ganz  in  ein  anderes  Wesen  hinein  verloren  zu 
geben,  indem  wir  es  mit  aller  Anstrengung  unserer  geistigen  Stimmung 
darzustellen  suchen«.  (Sehr.  1828,  IV,  100.) 

Schon  im  Jahre  1800  hatte  A.  W.  Schl^el  (freilich  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  die  Volksdichtung)  gesagt:  »Unser  Dasein  ruht  auf  dem 
Unbegreiflichen,  und  die  Poesie,  die  aus  dessen  Tiefen  hervorgeht, 
kann  es  nicht  auflösen  wollen.  Alles  zu  verstehen,  alles  dem  Verstände 
b^^eiflich  zu  machen,  wäre  nicht  nur  ein  Widerspruch  gegen  diese 
Hauptbedingung  der  Poesie  überhaupt,  sondern  auch  ein  Herabziehen 
des  Hohen  und  Unzulänglichen  zum  Platten  und  Alltäglichen.«  (VIII, 
78.)  Die  eigentliche  Kunstform  ist  danach  das  Märchen,  weil  in  ihm 
Wirklichkeit  und  Nicht- Wirklichkeit  ineinanderfließen.  Für  einen  anderen 
Gedankenkreis  jedoch,  der  mit  Fichtes  Philosophie  zusammenhangt, 
bei  Tieck  und  Jean  Paul  hervor-,  bei  A.  W.  Schl^el  und  Schelling 
dag^en  zurücktritt,  wäre  die  Komödie  die  höchste  und  bezeichnendste 
Dichtungsart  Denn  die  Komödie  »spieU  gewissermaßen  mit  sich  selber 
Theater  und  hebt  sich  selbst  auf«,  sie  gleicht  einer  »Zirkellinie,  die  zu 
nichts  als  zu  sich  selber  zurückführt«.  (Tiecks  Sehr.  1828  V,  280  ff.) 
Bei  Shakespeare  —  man  denke  an  den  Schluß  des  »Sommemachts- 
traum«!  — ,  Gozzi,  Holberg  ist  vorgebildet,  was  Tieck  in  seinem  »Ge- 
stiefelten Kater«  vollendet  hat.  Eine  solche  Komödie  bleibt  nicht  inner- 
halb einer  Sphäre,  sondern  sie  verläßt  den  Schein,  um  in  die  Wirklich- 
keit überzuspringen,  und  sie  gibt  die  Wirklichkeit  preis,  um  zum  Schein 
zu  gelangen.  Mit  einem  Wort:  sie  ironisiert  sich  selber,  sie  ist  sozu- 
sagen die  künstlerische  Methode,  um  vom  Endlichen  zum  Unendlichen 
zu  gelangen.  Durch  Negation  alles  Bestimmten  gewinnt  sie  das  Un- 
bestimmte. Die  Allmacht  des  Künstlers  zeigt  sich  darin,  daß  er  seine 
eigenen  Erzeugnisse  nach  Belieben  wieder  zerstört  und  so  von  dem 
Stoff  nichts  und  von  dem  Ich  nur  die  Willkür  bestehen  läßt.  Die 
romantische  Ironie  bedeutet  den  schärfsten  G^ensatz  zum  Prinzip  der 
klassischen  Form.  Keine  bestimmte  abgeschlossene  Bildung,  sondern 
ein  endloser  Prozeß  von  Setzung  und  Aufhebung.  Solche  Kunstwerke 
zeigen  die  pragmatisierte  Formlosigkeit,  die  auch  in  Richard  Wagners 
Musikdramen  herrscht,  und  es  ist  merkwürdig  genug,  daß  zwar  das 
18.  Jahrhundert  in   seiner  Ästhetik  vielfach  ein  Musikdrama  verlangt 


42  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

hatte,  die  Romantiker  aber,  die  ein  ähnliches  Verfahren  befolgen  wie 
das  Verfahren  der  unendlichen  Melodie,  theoretisch  sich  wenig  um 
das  Musikdrama  kümmern.  Wenn  Friedrich  Schlegel  sagt,  der  Künstler 
müsse  im  stände  sein,  den  G^enstand,  den  er  sich  zum  Vorwurf  ge- 
nommen habe,  beständig  zu  vernichten  und  neu  zu  schaffen,  so  ist 
diese  beliebige  Verwandlung  des  Stoffes  und  die  damit  verbundene 
Verachtung  jeder  festen  Form  die  Verwirklichung  dessen,  was  Fichte 
gefordert  hatte,  nämlich  eines  »Tun  des  Tuns«. 

Bei  denjenigen  Ästhetikern  indessen,  die  sich  nicht  auf  die  dialek- 
tische Methode  beziehen,  bedeutet  die  Ironie  eine  im  Kunstwerk  sich 
offenbarende  Grundfähigkeit  des  Künstlers,  die  gleichwertig  neben  der 
»Begeisterung«  des  Künstlers  steht.  Der  Schaffende  durchdringt  zwar 
sein  Werk  völlig  mit  Liebe  und  Hingabe,  aber  er  muß  doch  auch 
—  gleich  dem  Genießenden  —  unbefangen  über  dem  Ganzen  schweben. 
Erst  dann  ist  ein  Gebilde  vollendet,  wenn  es  so  von  der  Höhe  her 
geschaffen  worden  ist.  Dies  Darüberstehen  heißt  Ironie.  Damit  es 
möglich  werde,  scheint  den  Romantikern  ein  besonderes  Verhältnis 
zur  Realität  erforderiich.  Wir  müssen  die  Nichtigkeit  der  Welt  erkennen, 
begreifen,  daß  sie  erst  wieder  Wahrheit  wird,  wenn  sie  sich  in  die 
Idee  auflöst;  und  auch  diese  Stimmung,  die  zusammen  mit  der  Be- 
geisterung den  Mittelpunkt  der  künstlerischen  Tätigkeit  ausmacht,  wird 
Ironie  genannt.  Unter  der  Begeisterung  hingegen  ist  jene  Erfülltheit 
des  Gemütes  zu  verstehen,  wodurch  der  Künstler  gezwungen  wird, 
die  Idee  an  die  Stelle  der  Wirklichkeit  zu  setzen.  Dazu  gehört  neue 
Welt-  und  Lebens-Anschauung.  Während  das  Talent  nur  Teile  darzu- 
stellen weiß,  gibt  das  Genie  das  Ganze  des  Lebens:  »eine  Melodie 
geht  durch  alle  Absätze  des  Lebensliedes«.  Aber  auch  das  Genie  be- 
darf der  Besonnenheit,  um  die  Teile  zu  gestalten,  jener  göttlichen, 
philosophischen  Besonnenheit,  die  das  18.  Jahrhundert  verleugnet 
hatte,  wenn  es  die  künstlerische  Beschaffenheit  in  eine  »merkliche 
Stärke  der  unteren  Seelenkräfte«  setzte.  Anderseits  ließ  die  Ästhetik 
der  Aufklärung  noch  zu  viel  begriffliche  Reflexion  bestehen,  indem 
sie  die  Vollkommenheit  als  Wurzel  der  Schönheit  betrachtete.  Denn 
vollkommen  sollte  sein  ein  Ding,  das  seinem  Begriff  entspricht;  die 
Romantiker  jedoch  sind  der  Meinung,  daß  der  Begriff  von  der  Erschei- 
nung ins  Unendliche  geschieden  ist  und  bleibt,  daher  mit  b^fflichen 
Operationen  das  Schöne  weder  geschaffen  noch  restlos  aufgefaßt 
werden  kann. 

Zur  »Intuition«  bekennt  sich  auch  Schelling,  der  das  Kunstwerk 
aus  einem  Ineinanderwirken  von  unbewußter  und  bewußter  geistiger 
Tätigkeit  entstehen  läßt  Seine  Ästhetik  betrachtet  von  innen  her  und 
vom  schaffenden  Künstler  aus.    Daß  die  Seele  eins  werden  kann  mit 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  43 

der  Natur,  daß  unser  Bewußtsein  uns  von  der  Natur  abtrennt,  das 
Unbewußte  in  uns  aber  uns  mit  der  Natur  vereinigt,  diese  Anschauung 
fuhrt  zu  der  Annahme,  daß  in  der  Durchdringung  des  Traumhaften 
und  des  Wachen  in  uns  das  künstlerische  Tun  wurzelt  Das  Genie 
ist  die  bewußtlos  bewußte  Tätigkeit  des  Ich.  Seine  Funktion  ist  ästhe- 
tisch, sein  Produkt  ist  die  Kunst  Während  die  Wissenschaft  auf  die 
theoretische  Reihe  beschränkt  bleibt  und  die  Moral  ein  einseitiges  Er- 
zeugnis der  praktischen  Reihe  ist,  bietet  die  Kunst  eine  Vereinigung 
beider  Tätigkeitsformen.  Das  Theoretische  und  das  Praktische,  die 
Vernunft  und  die  Sittlichkeit,  Natur  und  Geist,  Unbewußtsein  und  Be- 
wußtsein, sie  verlieren  ihren  G^ensatzcharakter  in  der  Kunst  als  in 
der  höchsten  Tätigkeit  des  Ich.  Ober  die  theoretische  Erkenntnis  und 
Ober  die  praktische  Befriedigung  hinaus  geht  der  selige  Genuß  der 
Schönheit  als  über  beide  Formen  der  Endlichkeit  erhaben. 

Man  sieht,  wie  eine  überschwengliche  Anschauung  von  der  Bedeu- 
tung der  Kunst  hier  systematisch  b^ründet  wird.  Diese  Ästhetik  will 
philosophische  Lehre  vom  Schönen,  d.  h.  von  der  Kunst  sein,  da  es 
nichts  vollgültig  Schönes  außerhalb  der  Kunst  gibt  Sie  strebt  danach, 
der  Kunst  ihre  richtige  Stellung  im  System  des  Ganzen  anzuweisen. 
Sie  ist  keine  Analyse  des  ästhetischen  Eindrucks,  keine  technische 
Formenlehre,  auch  keine  eigentlich  psychologische  Untersuchung  der 
künstlerischen  Produktivität,  sondern  sie  ist  eine  aus  starkem  Gefühl 
entstandene  Metaphysik  der  Kunst  So  verkehrt  sich  nun  die  An- 
schauung, die  das  Altertum  hatte,  in  ihr  Gegenteil.  Damals  war  die 
Natur  die  höchste  Schönheit,  jetzt  wird  die  Kunst  zum  Höchsten.  Die 
Natur  wird  ein  Gedicht  genannt,  und  die  intellektuelle  Anschauung, 
die  Kant  nur  für  Gott  gelten  ließ,  wird  allen  genialen  Geistern  beige- 
legt. Durch  die  Kunst  kommt  der  Geist  zur  Natur,  im  Kunstwerk 
offenbart  sich  die  Idee.  Die  Idee,  als  Einheit  des  Allgemeinen  und 
Besonderen,  »hat  ihre  Existenz  in  uns  in  einer  Region,  die  dem  ge- 
meinen Verstände  unzugänglich  ist  und  von  welcher  nur  gewisse  Offen- 
barungen in  unserer  zeitlichen  Existenz  kund  werden;  und  zu  diesen 
Offenbarungen  gehört  auch  das  Schöne«.  (Solger,  Vori.  S.  55.) 

Schleiermacher  hat  1832 — 33  Vorlesungen  über  Ästhetik  gehalten, 
in  denen  sie  als  ein  Teil  der  Ethik  erscheint  Sie  hat  es  mit  Gefühlen 
und  Leistungen  des  Menschen  zu  tun.  Alles  soll  aus  der  produktiven 
Tätigkeit  des  Künstlers  verständlich  werden.  Demnach  wird  das  Natur- 
schöne gar  nicht  beachtet  und  die  ästhetische  Rezeptivität  nur  gestreift 
Das  künstlerische  Schaffen  bedeutet  einen  Fortschritt  vom  individuellen 
Bewußtsein  zum  Gattungsbewußtsein.  Wie  die  Natur  nach  vorbe- 
stimmten Formen  oder  Typen  schafft  und  daher  bei  aller  Vereinzelung 
und  Besonderheit  immer  gesetzmäßig  und  gleichartig  bleibt,  so  ent- 


44  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

faltet  auch  der  Künstler  Urbilder  oder  Schemata  im  Stoff.  Diese  wirk- 
samen Schaffenskräfte  im  künstlerischen  Bewußtsein  sind  die  erste  Be- 
dingung. Nötig  ist  ferner  die  Begeisterung  und  die  abgrenzende  Be- 
sonnenheit. Schließlich  hebt  sich  der  künstlerische  Genius  auch  durch 
seine  Freiheit  von  den  übrigen  Menschen  ab.  »Es  gehört  zur  Natur 
des  Geistes,  daß  wir  diejenigen  Tätigkeiten,  die  durch  die  Affektion 
von  außen  gebunden  werden  und  in  dieser  Bestimmtheit  ein  äußerlich 
Gegebenes  darstellen,  von  dieser  Gebundenheit  befreien  und  sie  zu 
einer  selbständigen  Darstellung  erheben.  Und  dies  ist  die  Kunst« 
(Schleiermachers  Ästhetik,  herausgegeben  von  Lommatzsch,  S.  116.) 

Schopenhauers  Ästhetik  ruht  auf  der  metaphysischen  Grund- 
ansicht: das  Wesen  von  Welt  und  Mensch  sei  der  Wille.  Seine  Objek- 
tivationsstufen  sind  die  Ideen,  die  beharrenden  Gattungen.  Die  reine 
Anschauung  dieser  Ideen  ist  das  ästhetische  Betrachten,  die  Darstellung 
dieser  Ideen  das  künstlerische  Schaffen.  Mit  Kant  lehrt  Schopenhauer, 
daß  Interesse  haben  und  Beziehung  zum  Willen  haben  dasselbe  sei. 
Mit  Kant  meint  er,  daß  im  Ästhetischen  diese  Beziehung  zum  Willen 
fortfalle.  Die  durch  das  Genie  vermittelte  Ideenwelt  schauen  wir  an 
als  etwas,  was  außerhalb  unseres  Begehrens  liegt.  Es  findet  also  eine 
Beziehung  statt  von  der  sinnlichen  Anschauung  auf  die  übersinnliche 
Idee.  Aus  dem  Verhältnis  der  Idee  zur  Wirklichkeit  einerseits  und  der 
Intuition  zum  Willen  anderseits  gehen  die  vier  Grade  der  Schönheit 
hervor,  als  welche  Schopenhauer  bezeichnet  das  Erhabene,  das  Schöne, 
das  Reizende  und  das  Häßliche.  Sie  gelten  von  der  Natur  wie  von  der 
Kunst.  Wie  also  Schopenhauer  dazu  neigt,  das  Naturschöne  und  das 
Künstlerische  in  Einklang  zu  bringen,  so  nähert  er  auch  ästhetische 
Anschauung  und  künstlerisches  Schaffen  aneinander.  In  Wahrheit  aber 
lebt  nicht  nur  die  reine  Anschauung  des  Wesenhaften  in  den  Genies, 
sondern  auch  jene  verzehrende  Gewalt,  die  das  Leben  bis  ins  Mark 
trifft. 

In  diesen  ganzen  Gedankenzusammenhang  gehört  nun  auch  Richard 
Wagners  Ästhetik.  Sie  ist  am  deutlichsten  beeinflußt  von  Schopen- 
hauer; sie  hat  aber  auch  mit  Schelling  und  Schleiermacher  viele  Be- 
rührungspunkte, und  indem  sie  das  Kunstwerk  als  eine  vom  Volk 
ausgehende  und  für  das  Volk  bestimmte  Schöpfung  auffaßt,  nähert  sie 
sich  den  Grundzügen  der  theistischen  Ästhetik  eines  Theodor  Mundt. 

Die  theoretischen  Schriften  Wagners,  dieser  geistig  wachen  und 
stark  treibenden  Künstlerpersönlichkeit,  haben  vor  allem  den  Zweck, 
die  Geheimnisse  des  eigenen  Schaffens  zu  enthüllen.  So  finden  wir 
in  seiner  Lehre  vom  Genie  dieselben  Züge,  wie  sie  das  Leben  des 
Mannes  überhaupt  zeigte.  Eine  unverkennbare  Hinneigung  zur  Sinnes- 
welt wäre  an  erster  Stelle  zu  nennen.     »Das  Erste,  der  Anfang  und 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIIC  45 

Grund  alles  Vorhandenen  und  Denkbaren  ist  das  wirkliche  sinnliche 
Sein.c  »Auch  der  Gedanke  ist  von  der  Empfindung  anger^  und  muß 
sich  notwendig  wieder  in  die  Empfindung  ergießen.«  Wagner  hebt 
femer  den  unbezwinglichen  Schaffensdrang  des  Kunstlers  hervor,  und 
er  gibt  dem  Kunstler  aus  seiner  eigenen  Erfahrung  heraus  als  Merkmal 
ein  glühendes  Mitgefühl  für  die  Leiden  der  Menschheit  In  ihm  selber 
war  stark  vorhanden  das  Gemeinfühl,  das  den  Künstler  sich  als  Teil 
des  Ganzen  auffassen  ließ.  Deshalb  sagt  er,  die  Kunst  bringe  die 
allgemeine  Not  des  Volkes  zum  Ausdruck.  Nicht  der  Dichter  schafft, 
sondern  das  Volk,  und  zum  Volk  gehören  alle  diejenigen,  »welche  Not 
empfinden  und  ihre  eigene  Not  als  die  gemeinsame  Not  erkennen  oder 
sie  in  ihr  einbegriffen  fühlen«.  Nun  aber  fragt  sich  weiter:  Weshalb 
drängt  das  Genie  —  Genie  ist  für  Wagner  stets  künstlerische  Fähig- 
keit —  mit  Gewalt  den  stumpfen  Menschen  ein  unsägliches  Glück 
auf?  Nicht  aus  Pflichtgefühl.  Denn  mehr  als  dem  Mann  die  Ehre, 
dem  Weibe  die  Schamhaftigkeit,  ist  das  Genie  eben  sich  selbst  Aber 
der  Künstler  ist  von  dem  unvertilgbaren  Sehnen  durchdrungen,  die 
Möglichkeit  eines  besseren  Daseins  in  Wirklichkeit  zu  verwandeln  und 
der  Idee  der  reinen  Menschlichkeit,  die  ihn  beherrscht,  zum  Siege  zu 
verhelfen.  Wie  sich  Wagner  hier  auf  Schiller  stützt,  so  nähert  er  sich 
Schleiermacher  mit  der  Behauptung,  daß  der  Künstler  frei  sei.  Freiheit 
ist  befriedigtes  notwendiges  Bedürfnis  und  ein  Hauptmerkmal  der  künst- 
lerischen Veranlagung.  Denn  die  Freiheit,  mit  der  das  Stoffliche  be- 
arbeitet wird,  beruht  gerade  darauf,  daß  aus  dem  Stoffe  nur  das  heraus- 
geholt wird,  wozu  er  seiner  innersten  Empfänglichkeit  nach  gebildet 
werden  kann,  daß  also  etwas  absolut  Notwendiges  geschieht 

An  der  Kunst  kann  man  mit  unseren  klassischen  Dichtem  Gehalt, 
Stoff  und  Form  unterscheiden.  Der  Gehalt,  der  in  der  Kunst  zur 
Aussprache  drängt,  ist  nichts  anderes  als  das  sich  zum  Bewußtsein 
gelangende  unbewußte  Leben  des  Volkes.  Das  Kunstwerk  der  Zu- 
kunft freilich  soll  den  Geist  der  freien  Menschheit  über  alle  Schranken 
der  Nationalitäten  hinaus  umfassen.  Das  nationale  Wesen  in  ihm 
darf  nur  ein  Schmuck,  ein  Reiz  individueller  Mannigfaltigkeit,  nicht 
eine  hemmende  Schranke  sein.  Was  Stoff  und  Form  betrifft,  so  ver- 
weist Wagner  auf  das  Altertum.  Das  griechische  Drama  war  der 
vereinfachte  und  verdichtete  Mythos  des  Volkes.  Der  Mythos  aber 
hat  diese  Vorzüge,  daß  er  den  Hörern  vertraut  ist  und  auf  so  ele- 
mentare Gefühle  zurückgeht,  wie  sie  zu  allen  Zeiten  des  Menschen 
Herz  bew^  haben.  Auch  insofern  war  das  griechische  Drama  vor- 
bildlich, als  zur  Dichtung  Musik  und  Tanz  hinzutraten.  Nun  ist  es 
nach  Richard  Wagner  die  musikalische  Harmonie,  die  den  Tanz  mit 
der  Poesie  verbinden  kann.    Zwischen  den  beiden  Kontinenten  des 


46  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Tanzes  und  der  Wortkunst  li^  der  Ozean  der  Musik.  Beethoven 
war  vom  Festland  des  Tanzes  durch  den  Ozean  der  Harmonie  hin- 
durch nach  dem  gelobten  Lande  des  Wortes  gefahren,  als  er  seine 
neunte  Symphonie  schuf.  :»Die  letzte  Symphonie  Beethovens  ist  die 
Erlösung  der  Musik  aus  ihrem  eigensten  Elemente  heraus  zur  allge- 
meinsamen Kunst.«  Nur  eine  solche  Kunst  kann  eine  große  und  er- 
habene Wirkung  ausüben.  Was  oft  in  dem  ganzen  wirklichen  Leben 
eines  Menschen  nicht  zur  Erfahrung  gelangt,  das  siegesgewisse  Gefühl, 
eins  zu  sein  mit  dem  Ganzen  der  Welt,  und  der  daraus  folgende 
Anreiz  zur  Betätigung  der  edelsten  Kräfte,  das  vermag  uns  die  Kunst 
zu  offenbaren.  Und  sie  leistet  noch  mehr.  Indem  sie  die  Empfäng- 
lichkeit des  Genießenden  auf  die  höchste  Stufe  hebt,  führt  sie  auch 
jenen  vollkommensten  Kulturzustand  herbei:  den  Zustand  künstlerischen 
Menschentums. 

Die  eigentliche  spekulative  Ästhetik  wurzelt  und  gipfelt  in  Hegels 
System.  Hegels  Grundbestimmung  lautet:  Schönheit  ist  das  sinnliche 
Scheinen  der  Idee.  »Idee«  meint  die  Weltvemunft,  aus  deren  Ent- 
wickelung  Natur,  Mensch  und  objektive  Geistigkeit  entstehen.  Sonach 
wäre  die  Schönheit  nur  eine  bestimmte  Form  der  Äußerung  und  Dar- 
stellung des  Logos.  Nicht  dem  subjektiven  Eindruck,  sondern  der 
Wirklichkeit  nach  bedeutet  der  schöne  Gegenstand  die  sinnliche  Ge- 
staltung des  geistigen  Prinzips.  Wenn  ein  Naturgegenstand  die  im 
ganzen  Naturreich  ihm  zukommende  Stellung  und  Bedeutung  mit  Voll- 
kommenheit zum  sichtbaren  Ausdruck  bringt,  so  gewinnt  er  unsere 
ästhetische  Wertschätzung;  seine  Schönheit  beruht  keineswegs  darauf, 
daß  ihm  menschliches  Seelenleben  geliehen  wird,  wie  einige  Romantiker 
behaupteten.  Man  kann  dies  die  metaphysische  Form  des  ästhetischen 
Objektivismus  nennen. 

Mit  solchen  allgemeinen  Aufstellungen  verbindet  nun  Hegels  Ästhe- 
tik eine  Untersuchung  der  besonderen  Kunstformen.  Er  nennt  die 
symbolische,  die  klassische  und  die  romantische  Kunst.  Die  symbo- 
lische Kunst  will  das  Göttliche  durch  Erhabenheit  erreichen,  wie  in 
den  orientalischen  Bauten  sichtbar  wird;  indessen  aller  Kraftaufwand 
und  alle  Überschwenglichkeit  kommen  nicht  bis  an  die  gestaltete 
geistige  Individualität  heran.  Erst  der  Grieche,  dessen  Götter  Personen 
waren,  hat  sie  plastisch  darstellen  können  in  der  ruhigen  Form  der 
Schönheit.  Doch  auch  hier  fehlt  etwas.  Zwar  hat  die  griechische 
Plastik  die  Natur  völlig  bewältigt.  Aber  die  Göttergestalten  enthielten 
nichts  von  der  Tätigkeit  des  Geistes,  nichts  von  der  Subjektivität,  dem 
Fürsichsein,  dem  Wissen  und  Wollen  seiner  selbst.  Das  Christentum 
und  seine  Kunst  haben  diese  Momente  herausgebracht.  Allein  sie 
haben  anderseits  das  Geistige  so  gesteigert,  daß  keine  äußere  Form 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  47 

ihm  mehr  völlig  gerecht  werden  konnte.  Daher  ist  in  der  Malerei,  der 
Hauptkunst  dieser  dritten  Periode,  Gott  der  Vater  nicht  so  dargestellt, 
wie  der  Grieche  den  Zeus  bildete,  sondern  nur  gleichsam  im  Reflex 
auf  gläubige  Herzen.  Übrigens  gehören  zu  den  romantischen  Künsten 
außer  der  Malerei  auch  noch  Musik  und  Poesie.  Denn  die  griechische 
Poesie  war  ihrem  Wesen  nach  mehr  plastisch  als  wirklich  poetisch. 
Wir  haben  also  drei  Arten  von  Schönheit:  die  erhabene  des  Orients, 
die  eigentliche  Schönheit  der  klassischen  Zeit  und  die  geistige  Schön- 
heit des  modernen  oder  romantischen  Wesens. 

Vieles,  was  Hegel  über  die  romantische  Kunst  sagt,  trifft  auf  die 
g^enwärtige  Neuromantik  nicht  zu.  Aber  wie  schön  und  beachtens* 
wert  ist  etwa  folgende  Ausführung:  »Das  äußerlich  Erscheinende  ver- 
mag die  Inneriichkeit  nicht  mehr  auszudrücken,  und  wenn  es  dazu 
doch  noch  berufen  wird,  so  erhält  es  nur  die  Aufgabe,  darzutun,  daß 
das  Äußere  das  nicht  befriedigende  Dasein  sei  und  auf  das  Innere,  auf 
Gemüt  und  Empfindung,  als  auf  das  wesentlichste  Element,  zurück- 
deuten müsse.  Eben  deshalb  aber  läßt  die  romantische  Kunst  die 
Äußeriichkeit  sich  nun  auch  ihrerseits  wieder  frei  für  sich  ergehen  und 
erlaubt  in  dieser  Rücksicht  allem  und  jedem  Stoff,  bis  auf  Blumen, 
Bäume  und  gewöhnlichste  Hausgeräte  herunter,  auch  in  der  natürlichen 
Zufälligkeit  des  Daseins  ungehindert  in  die  Darstellung  einzutreten« 
(Voriesungen  über  die  Ästhetik,  herausgegeben  von  Hotho  1837,  II, 
133/34).  »Fassen  wir  daher  dies  Verhältnis  des  Inhalts  und  der  Form 
im  Romantischen,  wo  es  sich  in  seiner  Eigentümlichkeit  erhält,  zu 
einem  Worte  zusammen,  so  können  wir  sagen,  der  Grundton  des 
Romantischen,  weil  eben  die  immer  vergrößerte  Allgemeinheit  und 
rastlos  arbeitende  Tiefe  des  Gemüts  das  Prinzip  ausmacht,  sei  musi- 
kalisch, und  mit  bestimmtem  Inhalte  der  Vorstellung,  lyrisch«  (S.  134). 

Die  drei  Kunstformen  wiederholen  sich  in  jeder  der  einzelnen  Künste 
und  zwar  so,  daß  zeitliche  Folge  in  der  Geschichte  der  Kunst  und 
begriffliche  Wertigkeit  sich  decken.  In  der  Architektur  ist  die  unterste 
Stufe  die  symbolische  (Monument),  dann  folgt  die  klassische  (Tempel), 
dann  die  romantische  (Dom).  Und  so  in  allen  anderen  Künsten.  Musik 
und  Malerei,  die  beiden  romantischen  Künste,  verhalten  sich  wiederum 
zueinander  wie  Symbolisches  und  Klassisches  oder  wie  Architektur 
und  Plastik.  In  der  Poesie,  in  der  höchsten,  alle  anderen  zusammen- 
fassenden Kunst,  gibt  es  eine  malerische  Richtung,  das  Epos,  eine 
musikalische  Richtung,  die  Lyrik,  und  als  höchste,  vollendetste  Stufe 
das  Drama. 

Es  ist  leicht  zu  sehen,  wie  künstlich  die  begrifflichen  Distinktionen 
und  Verbindungen  sind.  Aber  es  ist  nicht  leicht  zu  sagen,  mit  welcher 
Kraft  des  Denkens  und  mit  welcher  Fülle  von  Wissen  H^el  diese 


48  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

Kombination  durchgeführt  hat.  H^els  Empfänglichkeit  für  Kunst  ist 
eine  sehr  große  und  sicher  urteilende  gewesen,  und  sie  hat  sogleich 
eine  ins  Allgemeine  fließende  Form  erhalten.  Die  künstlerischen  Ein- 
drücke, die  einer  spekulativen  Ästhetik  zu  Grunde  liegen,  können  die- 
selben sein  wie  die,  die  einer  unserer  heutigen  Psychologen  oder  einer 
von  den  schriftstellernden  Künstlern  unserer  Tage  erhält.  Aber  je  nach 
der  Richtung  der  Verwertung  entstehen  ganz  andere  Theorien,  und  es 
gäbe  ein  fast  aussichtsloses  Unternehmen,  wenn  diese  drei  Personen 
sich  miteinander  verständigen  wollten.  Ein  Schüler  Hegels  hat  die 
runde  Körperiichkeit  der  antiken  Statuen  mit  der  Abgeschlossenheit 
des  griechischen  Wesens  in  Beziehung  gebracht.  Ein  anderer  hat  ein- 
mal gesagt,  daß  erst  eine  Weltanschauung,  die  einen  Spinoza  möglich 
machte,  den  Lebenskeim  der  Landschaftsmalerei  in  sich  tragen  könne. 
Beide  Aussprüche  zeigen,  wie  eine  richtige  künstlerische  Beobachtung  — 
in  dem  einen  Fall  das  Verständnis  für  die  körperiiche  Abgeschlossen- 
heit antiker  Statuen,  in  dem  anderen  Fall  das  Wissen  davon,  daß  die 
Landschaftsmalerei  erst  spät  sich  gebildet  hat  —  wie  also  eine  richtige 
Detailbeobachtung  sofort  zu  den  allerweitesten  Spekulationen  Anlaß  gibt 
Das  unmittelbare  Verknüpfen  entlegener  Dinge  gewährt  einen  sehr 
großen  Reiz.  Was  man  im  guten  Sinne  des  Wortes  geistreich  nennt, 
besteht  zumeist  darin.  Überraschende  Ähnlichkeiten,  plötzlich  auf- 
leuchtende und  erieuchtende  Gedanken  stellen  sich  ein.  Auch  heute 
sind  wieder  Erörterungen  beliebt,  in  denen  das  Speziellste  unmittelbar 
mit  dem  Allgemeinsten  verbunden  wird.  Diese  Darstellungen  können 
wahr  sein,  d.  h.  es  mag  der  in  ihnen  behauptete  Zusammenhang  wirklich 
bestehen.  Trotzdem  enthalten  sie  keine  wissenschaftliche  Wahrheit 
Denn  dazu  gehört  die  von  Punkt  zu  Punkt  fortschreitende  Nachweisung 
eines  stetigen  Zusammenhanges.  Alle  Zwischenglieder  müssen  auf- 
gedeckt und  in  ihrer  notwendigen  Zugehörigkeit  gezeigt  werden.  Sonach 
besitzen  wir  auch  kein  Mittel,  um  die  Richtigkeit  oder  die  Unrichtig- 
keit derartiger  Behauptungen  im  Augenblick  zu  erkennen.  Diese  ästhe- 
tischen Reflexionen  blenden,  ohne  zu  wärmen.  Sie  überraschen,  ohne 
zu  beweisen.  Sie  setzen  den  Leser  oder  Hörer  in  einen  Zustand 
unfruchtbarer  Erregtheit,  der  gar  zu  leicht  mit  dem  Zustand  wissen- 
schaftlichen Forschens  und  gründlicher  Überzeugung  verwechselt  wird. 
Hegel  ist  durch  die  außerordentlich  umfangreichen  und  sicher  be- 
herrschten Kenntnisse,  die  er  besaß*),  und  durch  die  geniale  Fein- 
fühligkeit, die  ihm  eigen  war,  vor  groben  Fehlern  im  allgemeinen  ge- 

*)  Man  halte  dagegen,  was  Solger  in  einem  Brief  über  Michel  Angelo  sagt: 
>Das  ist  auch  ein  Gegenstand,  den  ich  mir  eigentlich  nur  konstruiere,  und  den  ich 
doch  gar  zu  gern  aus  eigener  Anschauung  kennen  möchte. c  (Nachgelassene  Sehr. 
I,  494.) 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  4Q 

schätzt  gewesen.  Seine  geringeren  Nachfolger  haben  nur  das  Prinzip 
und  nicht  die  Fähigkeiten  des  Meisters  übernommen.  So  kommt  es, 
daB  sie  sehr  häufig  genial  klingende,  aber  sicher  falsche  Behauptungen 
aufstellen,  und  daB  sie  Geringfügiges  durch  dialektische  Ausdrucks- 
formen zu  Wichtigem  aufbauschen.  Für  den,  der  die  Terminologie 
der  Schule  l>eherrscht,  ist  es  ein  Leichtes,  das  Triviale  zum  Ungemeinen 
zu  steigern.  Blickt  man  scharf  hin,  so  bemerkt  man  hinter  diesen  teils 
erhabenen,  teils  geistreichen  Wendungen  simple  Wahrheiten  oder  un- 
beweisbare Analogien  oder  kühne  Oedankensprünge.  Und  auch  die 
Einheitlichkeit  des  Systems  ist  bei  den  Nachfolgern  des  Meisters  oft 
nur  scheint)ar.  Mancher  unter  ihnen  gleicht  dem  Schneider,  der  ein 
groBes  Kleid  nähte  ohne  Knopf  am  Faden:  zog  man  an  einem  Ende, 
so  zog  man  alles  heraus  und  die  Lappen  fielen  auseinander. 

Von  den  größeren  Werken  Ober  Ästhetik,  die  unter  Hegels  Einfluß 
stehen,  ist  vor  allen  Dingen  Friedrich  Theodor  Vischers  Ästhetik 
(1846—1857)  zu  nennen.  Vischer  hat  sein  Buch  später  selbst  preis- 
gegeben; wir  müssen  uns  daher  an  das  halten,  was  nach  eigenem 
Urteil  wertvoll  und  bleibend  ist.  Dazu  gehört  nun  nicht  die  Metaphysik 
des  Schönen.  Denn  die  Art,  wie  dort  ein  lnb^[riff  des  Schönen  kon- 
struiert wird  aus  der  Gesamtheit  der  Momente,  die  in  jedem  wirklichen 
Schönen  hervortreten,  wie  dieser  Inbegriff  dann  in  Idee  und  Bild  zer- 
legt wird,  diese  Art  ist  überwunden.  Ebenso  verschmähen  wir  die 
dialektischen  Konstruktionen.  Zwar  ist  es  auch  eine  Tatsache  der 
inneren  Erfahrung,  daß  das  Gefühl  der  Schönheit  konfliktlos  oder 
störungsfrei  ist,  während  das  Gefühl  des  Erhabenen  einen  Widerstreit 
in  sich  selber  enthält.  Aber  die  metaphysische  Erklärung  dafür,  die 
Vischer  gibt,  sagt  uns  nichts.  Die  Idee,  so  behauptet  er,  reißt  sich 
aus  der  ruhigen  Einheit,  worin  sie  mit  dem  Gebilde  verschmolzen  war, 
los,  greift  über  das  Bild  hinaus  und  hält  ihm,  dem  Endlichen,  ihre 
Unendlichkeit  gegenüber.  So  soll  der  erste  Widerstreit  im  Schönen 
entstehen,  das  Erhabene.  An  dieser  Dariegung  ist  so  lehrreich,  daß 
sie  zeigt,  wie  eine  ursprüngliche  und  richtige  Empfindung  ins  Meta- 
physische übersetzt  wird. 

Vischers  Verdienste  um  die  Ästhetik  li^en  also  auf  einem  anderen 
Gebiete  Er  hat  eine  Theorie  des  Komischen  geschaffen,  die  ihre  Ent- 
stehung aus  dem  zersetzten  Hegelianismus  ebensowenig  verieugnen 
kann  wie  die  Rosenkranzsche  Theorie  des  Häßlichen,  die  aber  ein  wirk- 
licher Fortschritt  in  der  Ästhetik  war.  Das  gleiche  gilt  von  seinem 
Prinzip  der  direkten  und  der  indirekten  Idealisierung.  Das  Gesetz  der 
direkten  Idealisierung  besagt,  daß  die  einzelne  Gestalt  schön  sein  müsse, 
während  die  indirekte  Idealisierung  das  Schöne  aus  der  Gesamtwirkung 
einer  Vielheit  von  Gestalten  hervorgehen  läßt,  die  im  einzelnen  nicht 

Dcftoir,  Atthcük  ond  aUg.  Kanttwitscmdiaft.  4 


50  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

schön  zu  sein  brauchen.  Der  direkt  idealisierende  Künstler,  vor  allem 
also  der  klassische  Künstler,  gibt  dem  Sinn  nicht  auf,  von  solchem, 
was  unmittelbar  unschön  oder  häßlich  ist,  fortzugehen  zu  einem  wei- 
teren und  schließlich  zu  einer  Gesamtwirkung,  worin  es  sich  zur  Schön- 
heit aufhebt.  Das  Prinzip  der  indirekten  Idealisierung  aber  ist  das  Stil- 
gesetz der  Erzielung  vorherrschender  Tiefe  des  Eindrucks  durch  natura- 
listische und  individualisierende  Behandlung  der  Formen,  demnach  das 
Stilgesetz  der  neueren  Kunst. 

Durch  die  verschiedenen  Künste  hindurch  verfolgt  Vischer  seine 
Unterscheidung  mit  großem  Glück.  Er  hat  ferner  den  B^jiff  des 
ästhetischen  Symbols  im  Zusammenhang  mit  der  Einfühlung  sehr 
schön  dargestellt.  Endlich  ist  in  den  von  dem  Sohn  herausg^ebenen 
Vorträgen  (Das  Schöne  und  die  Kunst,  1898)  neben  vielem  Fremd- 
artigen und  uns  gleichgültig  Gewordenen  doch  auch  vieles  Ausge- 
zeichnete. Wie  vortrefflich  ist,  was  über  das  pure  Stimmungsbild  mit 
wenig  Gegenstand  oder  über  die  notwendige  Kühle  und  Gelassenheit 
im  Kunstwerk  gesagt  wird!  Aber  welche  Begriffsspielerei  mit  aus- 
drucksvoller Form  und  Form  gewordenem  Ausdruck  tritt  da  ein,  wo 
wir  eine  Einzeluntersuchung  erwarten !  Auch  in  diesen  Vortragen  wird 
vorausgesetzt,  daß  die  Ästhetik  nur  inmitten  einer  philosophischen,  und 
zwar  einer  Hegeischen  Weltanschauung  ihre  Aufgabe  lösen  könne, 
>daß  die  Ästhetik  ihre  Stelle  in  der  höchsten  Sphäre  der  wissenschaft- 
lichen Gebiete  hat,  deren  Gegenstand  der  Geist  ist,  wie  er  sich  der 
Wahrheit  versichert,  daß  alle  Gegensätze  und  Widersprüche  sich  in 
Einheit  auflösen«  (S.  152). 

Als  eine  besondere  Abart  der  spekulativen  Richtung  lernen  wir  die 
theistische  Ästhetik  kennen.  Chr.  H.  Weiße  (1830)  kann  als  ihr  Be- 
gründer gelten.  Er  ist  der  Meinung,  daß  die  Wahrheit  als  das  Not- 
wendige der  Schönheit  als  dem  Freien  unterzuordnen  sei.  Doch  fügt 
er  nun  hinzu,  daß  man  noch  über  die  Schönheit  hinausgehen  müsse 
zum  persönlichen  Gott.  Ober  der  Wissenschaft  und  der  Kunst  stehe 
die  Religion.  —  Ähnliche  Gedanken  finden  sich  außer  bei  Carriere, 
Zeising  und  Ulrici  auch  bei  Ludwig  Eckardt  (Vorschule  der  Äs- 
thetik, 1864).  An  die  Stelle  der  spekulativen  Ästhetik  soll  eine  Psycho- 
logie des  schöpferischen  Genius  treten,  der  Versuch  einer  Wissenschaft 
der  Phantasie.  Dabei  muß  der  Ausgangspunkt  li^en  in  dem  höchsten 
schöpferischen  Genius,  in  Gott,  und  in  der  die  Gottheit  beherrschenden 
Urkraft,  nämlich  in  der  Phantasie.  Die  von  der  göttlichen  Phantasie 
geschaffene  Schönheit  ist  ein  Weltgesetz.  So  kann  man  also  von  der 
Schönheit  der  Natur  ausgehen  und  zur  Kunst  fortschreiten. 

In  Theodor  Mundts  Ästhetik  (1845)  sind  zu  diesen  Ansichten 
ethisch-soziologische  Erwägungen   hinzugetreten.    Die  Kunst  gilt  für 


ROMANTISCHE  UND  SPEKULATIVE  ÄSTHETIK.  51 

Mundt  als  ^»das  Zusammentreffen  aller  wesentlichen  Schöpferkräfte  der 
Nation«.  Er  will  nicht  von  einem  philosophischen  System  mit  seinen 
bestimmten  Kategorien  ausgehen,  sondern  von  der  lebendigen  Unmittel- 
barkeit des  Völkerdaseins.  Der  Lebenspunkt  aber,  an  dem  die  Kunst 
wahrhaft  zu  b^^eifen  ist,  soll  in  der  christlichen  Idee  liegen:  die  Kunst 
als  die  Verkündigerin  der  Wahrheit,  daß  die  Wirklichkeit  überall  Gottes 
ist.  Die  Philosophie  verhält  sich  zum  Wissen  immer  nur  n^ativ:  »sie 
hat  niemals  diese  volle,  plastische  Lebenskraft  aufzuweisen  gehabt  wie 
die  Kunst,  in  welcher  dieser  göttliche  Trieb,  sich  selbst  zu  wissen, 
sogleich  als  der  sich  äußert,  sich  selbst  zu  schaffen  und  zu  gestalten« 
(S.  34).  — 

Zu  der  ganzen  Richtung,  mit  der  wir  uns  jetzt  beschäftigen,  und 
zu  vielen  von  ihr  vertretenen  Einzellehren  werden  wir  späterhin  Stellung 
nehmen  müssen.  Es  genügt  jetzt,  einige  Punkte  von  vornehmlich  ge- 
schichtlichem Interesse  nochmals  zu  betonen.  Die  idealistische  Ästhetik 
steht  inmitten  einer  Weltanschauung.  Ihr  eigentlicher  Gegenstand  ist 
die  philosophische  Erklärung  der  Tatsache,  daß  es  eine  Kunst  gibt. 
Daher  nehmen  in  den  Lehrbüchern  die  Reflexion  über  das  Wesen  des 
Genies  und  der  kunstgeschichtliche  Stoff  mehr  Raum  ein  als  je  zuvor; 
der  Ehrenplatz  wird  der  Dichtkunst  zu  teil,  weil  sie  die  geistigste  unter 
den  Künsten  und  von  aller  Naturschönheit  in  der  ganzen  Breite  ab- 
getrennt ist.  Während  vordem  die  Erörterungen  meist  nur  dem  Schönen 
und  Erhabenen  geölten  hatten,  gewinnen  jetzt  das  Tragische  und  das 
Komische,  ja  selbst  das  Häßliche  eine  Anziehungskraft  für  den  Philo- 
sophen. Der  ästhetische  Wert  überhaupt  wird  teils  subjektivistisch 
darein  gesetzt,  daß  der  Mensch  dem  Gegenstand  Beseelung  leihe,  teils 
aus  einer  wirklichen  Verschmelzung  einer  Einzelerscheinung  mit  ihrem 
(konkreten)  B^riff  abgeleitet.  Die  platonische  Idee,  die  unter  dem 
Namen  des  sittlich  Guten  und  der  Vollkommenheit  deutlich  erkennbar 
geblieben  war,  tritt  wieder  offen  hervor.  Aber  auch  in  ihrer  neuen 
Gestalt  ist  sie  kein  Lichtbringer.  Daß  die  zufällige  Einzelheit  in  Ewiges 
und  Notwendiges  sich  wandelt,  daß  ihre  Mannigfaltigkeit  eine  Einheit 
gewinnt,  die  doch  nicht  die  des  Begriffes  ist,  —  das  bleibt  schließlich 
trotz  aller  Spekulation  für  den  wissenschaftlichen  Verstand  ein  Wunder. 


7.  Formah'stische  und  eklektische  Ästhetik. 

Wenn  wir  uns  den  geschichtlichen  Vertretern  des  Formalismus  zu- 
wenden, so  erhält  die  Ästhetik  sogleich  ein  ganz  anderes  Antlitz.  Sie 
ist  nun  nicht  mehr  eine  b^eisterte  Würdigung  der  Kunst,  ein  Ver- 
such, vom  Mittelpunkt  der  Kunst  aus,  nämlich  vom  genialen  Schaffen 


52  r.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

her,  die  ganze  Welt  zu  verstehen.  Während  die  romantische  und 
spekulative  Ästhetik  —  fast  scheut  man  sich,  das  Wort  in  so  ver- 
schiedenen Bedeutungen  immer  wieder  anzuwenden  —  die  höchsten 
Prinzipien  des  Schönen  mit  den  letzten  Prinzipien  der  Welt  überhaupt 
verschmolz  und  die  gewaltige  Bedeutung  der  Kunst  für  das  Leben  der 
Völker  und  für  die  Sittlichkeit  des  Einzelnen  hervorhob,  haben  wir  es 
jetzt  nur  mit  einer  genauen  Untersuchung  ästhetischer  Elementar- 
eindrücke und  ihres  Zusammenhanges  im  Kunstwerk  zu  tun. 

Der  Urheber  der  ganzen  Richtung  ist  Her  bar  t.  Eine  wirklich 
meisterhafte  Darstellung  bietet  Zimmermanns  »Allgemeine  Ästhetik 
als  Formwissenschaft«  (1865).  Aus  gewissen  Gründen  der  Herbartischen 
Metaphysik,  insbesondere  aus  der  Unerkennbarkeit  der  eigentlichen 
Realen,  ergibt  sich,  daß  die  ästhetische  Auffassung  es  nie  mit  einem 
Was,  d.  h.  mit  einem  Inhalt,  sondern  es  immer  nur  mit  einem  Wie, 
d.  h.  mit  der  Form  zu  tun  haben  kann.  Es  handelt  sich  also  darum, 
die  wohlgefälligen  und  mißfälligen  Formen  aufzufinden  und  ihre  An- 
wendung auf  die  Gebiete  der  Natur  und  des  Geistes  zu  untersuchen. 
Während  Schelling  und  Hegel  die  Form  nur  als  symbolisch,  als  Zeichen, 
als  Ausdruck  eines  Inhaltes,  zumal  eines  geistigen,  gelten  lassen,  wird 
hier  alles  Inhaltliche,  die  bloße  Sinnesempfindung  ebensogut  wie  die 
höchste  Weltanschauung,  verworfen.  Die  Schönheit  hat  mit  der  Materie 
nichts  zu  schaffen.  Sie  beruht  lediglich  auf  dem  Ebenmaß  in  Formen 
und  Folgen  und  auf  der  Harmonie  von  Farben  und  Tönen.  Die  Ele- 
mente eines  Gegenstandes  bleiben  stets  gleichgültig  und  ästhetisch 
wertlos.  Erst  ihre  Verbindung  oder  das  Verhältnis  zwischen  ihnen 
läßt  ein  ästhetisches  Werturteil  entstehen.  Bezeichnet  man  die  Ver- 
bindung von  an  sich  gleichgültigen  Gliedern  als  ihre  Form,  so  ergibt 
sich,  daß  die  Ästhetik  Formwissenschaft  ist. 

Diese  Morphologie  des  Schönen  verfährt  demgemäß  nach  folgenden 
Leitsätzen.  Erstens:  Kein  Einfaches  gefällt  oder  mißfällt  ästhetisch. 
Zweitens:  An  dem  Zusammengesetzten  gefällt  und  mißfällt  nur  die 
Form.  Drittens:  Die  Teile  außerhalb  der  Form  (die  Materie)  sind  gleich- 
gültig. Daneben  hat  Zimmermann  noch  einige  allgemeine  Regeln  auf- 
gestellt, von  denen  die  wichtigsten  also  lauten:  »Die  stärkere  gefällt 
neben  der  schwächeren  Vorstellung,  die  schwächere  mißfällt  neben  der 
stärkeren  Vorstellung.«  »Die  überwiegende  Identität  der  Formglieder 
gefällt,  der  überwiegende  Gegensatz  mißfällt  unbedingt.« 

Von  den  Anhängern  des  Formalismus  ist  niemand  erheblich  über 
die  Ansichten  hinausgelangt,  die  Zimmermann  so  scharfsinnig  und  aus- 
führiich  entwickelt  hatte.  Wo  ein  Fortschritt  vorzuliegen  scheint,  be- 
deutet er  entweder  nur  eine  Anwendung  auf  einzelne  Probleme  oder 
eine  Abkehr  von  formalistischer  Strenge.    Der  letzte  Fall  ist  bei  J.  H. 


FORMALISTISCHE  UND  EKLEKTISCHE  ÄSTHETIK.  53 

V.  Kirchmann  zu  beobachten.  Kirchmann  nennt  zwar  seine  Ästhetik 
eine  solche  auf  realistischer,  d.  h.  wohl  Herbartischer  Grundlage,  setzt 
aber  an  Stelle  des  Formalismus  eine  Gefühlsästhetik.  Er  definiert  das 
Schöne  als  das  idealisierte,  sinnlich  angenehme  Bild  eines  von  Gefühlen 
erfüllten  Realen.  Das  Schöne  wie  die  Kunst  können  nur  verstanden 
werden  aus  dem  Seelenvollen,  nämlich  aus  dem  Gefühl  im  Gegensatz 
zu  den  Vorstellungen  und  B^ehrungen.  Denn  gerade  das  Fühlen  ist 
ein  wahrhaft  seiender  Zustand  der  Seele;  aus  Beziehungen  und  Ähnlich- 
keiten mit  ihm  leitet  alles  Natürliche  seine  Schönheit  her.  Im  G^en- 
satz  zur  ästhetischen  Ideenlehre  wäre  also  zu  sagen:  nicht  das  wirkliche, 
sondern  das  geglaubte  Seelische  macht  die  Naturgegenstände  schön. 

Wie  in  Kirchmanns  Werk,  so  zeigt  sich  in  den  meisten  Schriften 
nach  1840  ein  Eklektizismus.  Ihn  in  seinen  Verzweigungen  zu  ver- 
folgen, liegt  für  uns  kein  Anlaß  vor.  Daher  begnügen  wir  uns  mit 
der  Kenntnisnahme  jener  Theorien,  die  als  die  verhältnismäßig  am 
meisten  selbständigen  und  fruchtbaren  bezeichnet  werden  können.  Sie 
stammen  von  Lotze,  Fechner  und  Hartmann. 

Lotze  hat  unserem  Gegenstand  mehrmals  eigene  Erörterungen  ge- 
widmet. Bedeutender  als  seine  Geschichte  der  Ästhetik  und  seine 
Grundzüge  der  Ästhetik  sind  die  frühzeitig  erschienenen  Abhandlungen 
über  den  B^riff  der  Schönheit  und  über  Bedingungen  der  Kunst- 
schönheit (1845  und  1847).  Zum  Ausgangspunkt  wird  hier  wieder 
einmal  der  ästhetische  Eindruck.  Wenn  ein  Gegenstand  uns  mehr  zu 
leisten  scheint,  als  wir  von  ihm  erwarten  dürfen,  und  durch  diesen 
Überschuß  der  Vollkommenheit  Lust  erweckt,  so  nennen  wir  ihn  schön. 
Denn  die  drei  Reiche  oder  Gewalten,  die  es  gibt:  die  wertbestimmenden 
Gesetze,  die  wirklichen  Stoffe  und  Kräfte  und  der  Plan,  durch  den  der 
Mechanismus  mit  der  Norm  zweckmäßig  sich  vereinigt,  diese  drei  Ge- 
walten sind  in  einem  solchen  Gegenstand  in  wundervollem  Ausgleich 
miteinander  vereinigt.  Demnach  ist  es  ein  wirklicher  Wert  der  Objekte, 
den  wir  ästhetisch  genießen.  Mag  auch  das  ästhetische  Wohlgefallen 
das  erste  sein,  —  der  Grund,  der  diese  Tätigkeit  anregt,  liegt  doch  in 
dem  Gegenstand  selbst.  »Schönheit  finden  wir  dann,  wo  eine  Über- 
einstimmung, die  nicht  allgemein  stattzufinden  braucht,  in  einzelnen 
begünstigten  Erscheinungen  zwischen  dem,  was  sie  der  Idee  nach  sein 
sollen,  und  dem  stattfindet,  wozu  die  Notwendigkeit  des  Mechanismus 
sie  macht.«  Die  Bedingungen  nun,  die  erfüllt  sein  müssen,  wenn  die 
Welt  der  Werte  in  die  Welt  der  Formen  aufgeht,  entsprechen  drei  in 
uns  vorhandenen  Maßstäben.  Zunächst  muß  das  Objekt  den  Sinnen 
gefallen.  Dies  ist  die  physiologische  Bedingung.  Dann  muß  es  den 
Gesetzen  unseres  Seelenlebens  genügen.  Dies  ist  die  psychologische 
Bedingung.    Schließlich  aber  muß  es  auch  unsere  Vorstellungen  von 


54  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

dem  Gehalt  und  Zusammenhang  der  Welt  befriedigen.  Dies  ist  die 
metaphysische  Bedingung. 

In  Fechners  Vorschule  der  Ästhetik  lesen  wir,  alle  Ästhetik  habe 
es  nur  mit  rezeptiver  Tätigkeit  zu  tun  (I,  54).  Denn  das  Schaffen  sei 
sekundäre  Reproduktion  der  im  früheren  Oenießen  gewonnenen  Ein- 
drücke. Diese  ästhetische  Rezeptivität  muß  zergliedert  werden.  Dazu 
dient  das  Experiment.  Vorausgesetzt  wird,  daß  der  ästhetische  Ein- 
druck durch  bloßes  Zusammentreten  der  wirkungskräftigen  Elemente 
sich  bilde.  Die  Gesetze,  nach  denen  die  Bestandteile  zusammentreten, 
sind  bei  Fechner  sehr  zahlreich  und  so  schlecht  geordnet  und  ungleich- 
artig, daß  eine  wirkliche  Übersicht  nicht  g^eben  werden  kann.  Man 
könnte  diese  Prinzipien  auf  eine  viel  geringere  Anzahl  einschränken, 
aber  mit  gleichem  Recht  noch  ebensoviel  weitere  Prinzipien  daneben 
setzen.  In  der  Bemühung,  an  Stelle  metaphysischer  Allgemeinheiten 
bestimmte  Erfahrungssätze  aufzufinden,  ist  Fechner  zu  einer  Vielheit 
von  Regeln  gelangt,  von  denen  nur  wenige  auf  die  weitere  Entwicke- 
lung  der  Ästhetik  Einfluß  ausgeübt  haben.  Die  Prinzipien  der  Ueber- 
einstimmung,  der  Abstumpfung,  des  Kontrastes  u.  s.  w.  haben  sich  nicht 
als  durchgreifende  Kennzeichen  des  ästhetischen  Lebens  bewährt,  son- 
dern nur  als  psychologische  Mitbedingungen.  Das  Assoziationenprinzip 
aber,  das  Fechner  oft  neben  diese  Regeln  stellt  und  gleichfalls  psycho- 
logisch und  nicht  nur  auf  ästhetischem  Gebiete  untersucht,  dies  Prinzip 
hat  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen. 

Dort,  wo  Fechner  den  assoziativen  Faktor  als  etwas  Wesentliches 
bezeichnet  und  dem  direkten  Faktor  des  ästhetischen  Eindrucks  gegen- 
überstellt, werden  wir  an  die  englische  und  schottische  Ästhetik  des 
18.  Jahrhunderts  erinnert.  Was  in  dem  Sinneseindruck  selbst  enthalten 
ist,  Farbe,  Ton,  Symmetrie,  Rhythmus  u.  s.  w.,  das  gehört  zum  direkten 
Faktor.  Was  aber  zur  Beseelung  des  sinnlich  Wahrgenommenen  hinzu- 
gedacht werden  muß,  und  wessen  Gefühlstöne  sich  mit  den  Gefühls- 
tönen der  Empfindung  verbinden,  das  gehört  zum  assoziativen  Faktor. 
Die  Wahrnehmung  führt  gewisse  Gefühle  mit  sich.  Aber  die  assoziierten 
Erinnerungsbilder,  die  selber  sogar  im  Bewußtsein  fortfallen  können, 
haben  auch  eine  bestimmte  Gefühlsseite,  und  indem  diese  Gefühle  der 
assoziierten  Erinnerungsbilder  zu  den  direkten  Gefühlstönen  hinzutreten, 
entsteht  erst  das  Ganze  des  ästhetischen  Gefühls.  Fechner  läßt  deshalb 
die  Freude  an  reinen  Formen  nicht  gelten,  weil  ja  immerwährend 
Assoziationen  hineinspielen  und  der  Form  eine  Bedeutung  leihen,  durch 
die  sie  etwas  ausdrückt.  Gewohnheit,  Erinnerung  und  Erwartung  ver- 
anlassen den  Menschen  zu  Deutungen  dessen,  was  er  sieht;  an  solchen 
Deutungen,  wodurch  etwa  die  Orange  von  einer  gelben  Holzkugel 
sich  unterscheidet,  gewinnen  die  Dinge  Leben  und  Schönheit. 


ij-  .^.1  ^^^. 


FORMALISTISCHE  UND  EKLEKTISCHE  ÄSTHETIK.  55 

Mit  den  Einzelheiten  der  experimentellen  Präzisionsästhetik  werden 
wir  später  noch  zu  tun  haben.  Ich  erinnere  nur  daran,  daß  Fechner 
drei  Methoden  aufführt,  die  der  Wahl,  der  Herstellung  und  der  Ver- 
wendung. Nach  der  ersten  sammelt  man  die  Urteile  möglichst  vieler 
Personen  über  diejenigen  Formen,  die  sie  als  die  wohlgefälligsten  aus 
einer  Anzahl  gleichartiger  herausgewählt  haben.  Nach  dem  zweiten 
Verfahren  läßt  man  die  Versuchspersonen  die  ihnen  am  schönsten 
scheinende  Form  selber  herstellen,  und  nach  der  dritten  Methode  unter- 
sucht man  die  am  meisten  verwendeten,  d.  h.  im  täglichen  Leben  und 
im  Gebrauch  vorkommenden  einfachen  Formen. 

Das  abschließende  Lehrbuch  der  Ästhetik  war  zu  seiner  Zeit 
Eduard  v.  Hartmanns  »Philosophie  des  Schönen«  (1887).  Hartmann 
geht  von  Hegel  aus,  überschreitet  aber  dessen  Bestimmungen  an  drei 
Hauptpunkten.  Ihm  gilt  nicht  die  Idee  selber  als  schön.  Vielmehr 
wird  nur  dem  sinnlichen  Scheinen  des  idealen  Gehalts  Schönheit  zu- 
gesprochen. Da  dieser  sinnliche  Schein  völlig  konkret  ist,  so  bezeichnet 
Hartmann  seine  Lehre  als  den  konkreten  Idealismys  und  stellt  ihn 
dem  abstrakten  Idealismus  H^els  gegenüber.  Jedes  Plus  von  idealem 
Gehalt,  das  nicht  völlig  in  Schein  aufgeht,  würde  das  Schöne  ver- 
mindern.   Ein  Gegenstand  ist  umso  schöner,  je  konkreter  er  ist 

Alsdann  wird  von  Hartmann  die  Auffassung  des  idealen  Gehaltes 
als  ein  Akt  des  Gefühls  bezeichnet.  Denn  die  Idee  bleibt  ja  dem  Be- 
trachter oder  Hörer  unbewußt.  Wesentlich  ist  dabei  die  Feststellung, 
daß  sehr  verschiedene  Gefühle  im  ästhetischen  Verhalten  auftreten  und 
zwar  verschieden  teils  durch  ihr  Verhältnis  zum  Gegenstand,  teils  durch 
ihr  Verhältnis  zum  genießenden  Subjekt.  In  den  Gegenstand  gehen 
ein  die  »sympathischen  Gefühle«,  im  Ich  verharren  die  »reaktiven  Ge- 
fühle« und  die  »Lust  am  Schönen«.  Die  beiden  ersten  Arten  gehören 
zu  den  »Scheingefühlen«,  die  Lust  am  Schönen  indessen  ist  ein  »reales 
Gefühl«.  Die  Lehre  von  den  Scheingefühlen  ist  durch  Hartmann  in 
einer  ganz  ausgezeichneten  Weise  durchgeführt  worden,  was  neueste 
Ästhetiker,  die  unter  anderm  Namen  die  gleiche  Lehre  wiederholen, 
nicht  gebührend  gewürdigt  haben.  Das  Grundgesetz  lautet:  Der  ästhe- 
tische Schein  ruft  diejenigen  idealen  oder  Scheingefühle  hervor,  deren 
wirkliches  Analogon  durch  das  dem  Schein  entsprechende  wirkliche 
Objekt  hervorgerufen  wird. 

Endlich  hat  Hartmann  mit  der  Aufstellung  von  Konkretionsstufen 
des  Schönen  eine  begriffliche  Ordnung  des  ästhetischen  Gebietes  vor- 
genommen, die  als  bedeutsam  anerkannt  werden  muß.  Die  Idee  als 
immanentes  Formgesetz  entfaltet  sich  in  sieben  Sphären,  die  vom  Ab- 
strakteren zum  Konkreteren  sich  erheben.  Die  niedrigste  Stufe  ist  die 
des  sinnlich  Angenehmen,  die  höchste  ist  das  konkret  Schöne  oder 


56  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

mikrokosmisch  Individuelle.  Auf  der  obersten  Stufe  muß  die  Idee,  die 
im  Schein  sich  versinnlicht,  konkret-individuell  sein,  und  dadurch  wird 
sie  unserem  abstrakten  und  mit  Gattungsbegriffen  arbeitenden  Denken 
durchaus  unfaßlich.  Das  Ganze  dieser  Ästhetik  ordnet  sich  dem  meta* 
physischen  System  Hartmanns  unter.  Der  ideale  Gehalt  im  Schönen 
ist  nur  ein  Teil  der  absoluten  Weltidee,  und  diese  ist  wiederum  bloß 
die  logische  Seite  des  Absoluten,  das  im  Willen  ein  zweites,  außer« 
logisches  Attribut  besitzt. 

Ich  erwähne  schließlich  noch  einige  ausländische  Ästhetiker  des 
19.  Jahrhunderts,  die  zur  Vergangenheit  unserer  Wissenschaft  gehören; 
für  die  neuesten  Forschungen  und  die  letzte  Gestaltung  der  Ästhetik, 
die  ihr  bisher  zu  teil  wurde,  verweise  ich  auf  die  Ausführungen,  die 
in  dem  systematischen  Teil  dieses  Buches  beiläufig  enthalten  sind.  — 
In  unserer  gegenwärtigen  Ästhetik  lebt  Herbert  Spencers  Name  mit 
der  Theorie  fort,  daß  die  ästhetische  Tätigkeit  auf  den  Spieltrieb  zurück- 
zuführen sei.  Spiel  ist  nach  ihm  das  Entladen  überschüssiger  Nerven- 
kraft. Es  führt  daher  zu  der  Freude  an  der  Betätigung.  Die  gleiche 
Freude,  wenn  auch  in  abgeschwächter  und  anderer  Form,  besitzen  wir 
beim  Kunstgenuß.  Man  müsse  unterscheiden  zwischen  Vorgängen, 
die  dem  Leben  dienen  und  solchen  Tätigkeiten,  die  nur  um  der  Lust 
willen  ausgeübt  werden;  das  ästhetische  Vergnügen  ist  die  subjektive 
Begleiterscheinung  eines  normalen  Aufwandes  von  Aktivität,  die  nicht 
direkt  mit  Lebensfunktionen  verknüpft  ist. 

John  Ruskin  (1843).  Nur  weniges  soll  an  dieser  Stelle  aus  seiner 
Philosophie  und  Pädagogik  der  Kunst  mitgeteilt  werden.  Er  überschätzt 
das  Gedankliche  in  der  Kunst.  Die  Malerei,  der  sein  Herz  gehört, 
will  er  dadurch  erneuern,  daß  er  die  Bilder  den  Büchern  annähert.  Den 
Künstlern  möchte  er  helfen,  indem  er  zeigt,  unter  welcher  sittlichen  Ver- 
fassung allein  die  natürlichen  Gaben  sich  frei  entfalten  können.  Seine 
Grundlehre  ist  echt  englisch,  im  Sinne  des  18.  Jahrhunderts.  Jede  Art 
Schönheit  nämlich  erklärt  Ruskin  für  einen  Reflex  göttlicher  Vollkommen- 
heit, von  der  der  Schöpfer  eine  Spur  in  seinem  Werk  gelassen  hat 
Schön  ist  jedes  Ding,  das  in  seiner  Beschaffenheit  eine  Ähnlichkeit  mit 
einem  Attribute  Gottes  bewahrt  hat  und  das  infolge  hiervon  die  Macht 
besitzt,  den  göttlichen  Teil  unserer  Natur  an  sich  zu  ziehen.  So  ist 
die  Einheit  ein  Bild  der  allumfassenden  Natur  Gottes,  die  Ruhe  ein 
Bild  seiner  Stetigkeit  und  Ewigkeit,  die  Symmetrie  ein  Bild  seiner 
Gerechtigkeit,  die  Reinheit  ein  Bild  seines  Willens.  Wer  diese  gött- 
lichen Vollkommenheiten  ohne  Trübung  aufzufassen  und  wiederzugeben 
vermag,  der  ist  der  große  Künstler.  Sonach  gehört  Gläubigkeit,  lauterste 
Innigkeit  der  religiösen  Überzeugung  zu  den  Grundeigenschaften  des 
Künstlers.    Bete  einen  Pfau  an,  sagt  Ruskin,  und  du  wirst  ihn  malen, 


FORMALISTISCHE  UND  EKLEKTISCHE  ÄSTHETIK.  57 


wie  niemand  ihn  malen  kann,  der  nur  einen  Vogel  darin  sieht  Immer 
wiederholt  er,  die  Künstler  sollten  sich  an  die  Werke  Gottes  und  ihre 
göttlichen  Eigenschaften  halten.  Wo  das  nicht  möglich  scheint,  wie 
in  der  Baukunst,  da  wird  die  Theorie  gewaltsam  zurecht  gebogen.  Wenn 
das  wahre  Schöne  ein  Ergreifen  göttlicher  Vollkommenheiten  ist,  so 
kann  das  Architektonische  an  sich  keine  Schönheit  besitzen,  sondern 
allein  der  den  Naturformen  nachgebildete  und  dem  Gebäude  aufgelegte 
Skulpturenschmuck.  Das  Gebäude  ist  demnach  nur  der  Träger  für 
den  Skulpturenschmuck,  und  wer  es  nach  der  Wirkung  seiner  Massen 
und  seiner  Verhältnisse  betrachtet,  hat  einen  schlechten  Geschmack. 

Von  den  französischen  Ästhetikern,  die  wir  nicht  zur  modernen 
Ästhetik  rechnen  können,  seien  Taine  und  Guyau  genannt.  Taine  ist 
einerseits  Idealist:  die  Kunst  hat  zum  Zweck,  den  Gattungscharakter 
oder  den  herrschenden  Typus  der  Dinge  vollständiger  und  klarer  dar- 
zustellen, als  es  die  Wirklichkeit  vermag.  Anderseits  ist  er  Positivist 
und  zwar  als  der  Begründer  der  Milieulehre.  Er  erklärt  die  Kunst- 
werke wie  alle  anderen  menschlichen  Werke  aus  drei  Faktoren:  der 
Rasse,  dem  eigentlichen  Milieu  und  dem  Zeitmoment.  Am  wertvollsten 
ist  die  kunstgeschichtliche  Durchführung  des  Grundsatzes.  So  be- 
hauptet Taine  etwa:  zwischen  einem  Buchenplatz  im  Versailler  Park, 
einer  philosophischen  Folgerung  Malebranches,  einer  Poetenvorschrift 
Boileaus,  einem  Hy|>othekengesetz  Colberts  und  einer  Sentenz  Bossuets 
über  das  Gottesreich  könne  der  tiefer  dringende  Blick  einen  Zusammen- 
hang spüren,  eine  Kollektivstimmung,  weil  ^les/aits  communiquent  entre 
eux  par  les  d^finitions  des  groupes  ou  Us  sont  compris^.  Aber  der 
positivistische  Geist  hat  bei  Schriftstellern,  die  unter  Taines  Einfluß 
stehen,  zu  einer  Überschätzung  des  Exakten  geführt,  die  am  liebsten 
den  lebendigen  Menschen  ausschalten,  die  Wissenschaft  zu  einem  Tat- 
sachenballen und  die  Kunst  zu  einer  Rechenknechtsübung  herab- 
würdigen möchte. 

Das  Kennzeichen  der  Ästhetik  Guy  aus  ist  der  Widerspruch  gegen 
die  Lehre  vom  interesselosen  Gefallen.  Das  ästhetische  Verhalten  soll 
auf  den  Lebensbedürfnissen  und  der  Lebenslust  ruhen;  die  Freude 
besteht  darin,  daß  der  Schaffende  wie  der  Genießende  sich  in  Ver- 
bindung mit  den  Wesen  und  den  Dingen  wissen;  ^die  ästhetische 
Erregung  ist  das  zum  Bewußtsein  seiner  selbst  und  des  Zusammen- 
hangs mit  dem  Weltall  gelangte  Leben.    — 

Die  Systeme  der  gegenwärtigen  Ästhetik  entziehen  sich  einer  ge- 
schichtlichen Darstellung,  denn  der  Zeitabstand  fehlt  uns,  ohne  den 
eine  Ordnung  und  Heraushebung  des  Wesentlichen  nie  gelingt  Die 
hauptsächlichen  Forschungen  und  Theorien  sollen  jedoch  in  den  nun 
folgenden  Erörterungen  berücksichtigt  werden.   Wenn  es  verstattet  ist. 


58  I.  DIE  GESCHICHTE  DER  NEUEREN  ÄSTHETIK. 

einem  persönlichen  Eindruck  Worte  zu  leihen,  so  möchte  ich  sagen: 
dem  Arbeitsaufwand,  der  jetzt  mit  der  Ästhetik  getrieben  wird,  ent- 
spricht der  innere  Gewinn  nicht  völlig.  Die  einen  stehen  dem  O^en- 
stand  ohne  innere  Anteilnahme  gegenüber,  die  anderen  überlassen  sich 
mit  neidenswerter  Siegesgewißheit  ein  paar  Leitbegriffen  und  Methoden, 
wiederum  andere  glauben  mit  neuen  Benennungen  und  Umschreibungen 
alter  Erkenntnisse  einen  großen  Fortschritt  gemacht  zu  haben.  Trotz- 
dem —  lebendige  Bewegung  ist  da  und  strebt  vorwärts^). 

Anmerkungen. 

*)  Den  ersten  Schritt  dazu  hat  Hugo  Spitzer  getan  in  dem  verdienstvollen 
Buche:  Hermann  Hettners  kunstphilosophische  Anfänge,  1903. 

^)  Lehrreiche  und  durch  viele  Beispiele  belegte  Untersuchungen  enthält  Richard 
M.  Meyers  Aufsatz  »Über  das  Verständnis  von  Kunstwerken«.  (Neue  Jahrbücher 
1901,  Bd.  VII,  S.  362  ff.)  Meyer  unterscheidet  sechs  Methoden  zur  Deutung  und 
Würdigung  der  Kunstwerke.  Drei  davon,  nämlich  die  allegorische,  die  philosophische 
und  die  ästhetische  Methode  gehen  vom  Allgemeinen  aus,  drei  andere  betonen  die 
Individualität  des  einzelnen  Werks  und  erklären  genetisch,  nämlich  die  historisdie, 
die  technische  und  die  psychologische  Methode.  Das  allegorische  Verfahren  sucht 
nach  der  höheren  Bedeutung  des  Kunstwerks  und  glaubt  mit  der  Erkenntnis  dieses 
höheren  Sinns  das  Kunstwerk  erledigt  zu  haben.  Die  philosophische  Methode  faßt 
das  Kunstwerk  symbolisch  auf  und  hat  daher  mehr  Verständnis  für  den  selbstän- 
digen Wert  der  Kunstform.  Die  ästhetische  Interpretation  endlich  fragt  nach  der 
künstlerischen  Art  des  Gegenstandes.  Auf  ihr  ruht  das  Kunstrichtertum,  das,  speku- 
lativ oder  empirisch  verfahrend,  an  allgemeine  Gesetze  und  ebenso  gut  an  geschicht- 
lich wechselnde  Regeln  sich  halten  kann.  »Für  die  wissenschaftliche  Stellung  der 
Ästhetik  sind  das  alles  hochwichtige  Hauptfragen,  für  die  Praxis  der  Kunsterklärung 
sind  es  nur  Nebenfragen.«  Gegenüber  diesen  drei  systematischen  Methoden  gehen 
die  anderen  von  der  Voraussetzung  aus,  daß  das  fertige  Kunstwerk  noch  nicht  das 
ganze  Kunstwerk  sei.  Sie  betrachten  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Werdens  und 
untersuchen  teils  historisch  die  Vorgeschichte  des  Objekts,  teils  psychologisch  seine 
Entstehung  aus  dem  Geist  des  Künstlers,  teils  technisch,  »wie  der  Bildhauer  seinem 
Stein,  der  Maler  seinen  Farben,  der  Dichter  seiner  Sprache  abgewann,  was  vnr  nun 
bewundem«.  Die  Einheit  des  Kunstwerkes  erschließt  sich  nicht  der  Zusammen- 
fassung dieser  sechs  Methoden,  sondern  lediglich  der  Anschauung,  dieser  ältesten, 
einfachsten  und  natürlichsten  Art  der  Kunstbetrachtung. 

Ich  zitiere  femer  noch  ein  recht  charakteristisches  Bekenntnis  aus  der  Vorrede 
zu  Walter  Paters  Buch  The  Renaissance  (6.  Aufl.,  London  1902):  *MiUiy  aäempts 
have  been  made  by  writers  on  art  and  poetry  to  define  beauty  in  the  absfraet,  to 
express  it  in  the  most  genercU  terms,  to  find  a  universal  formiüa  of  it.  The  vaiue 
of  these  attempts  has  most  aßen  been  in  the  suggestive  and  penetrating  things  saiä 
by  the  way.  Such  discussions  help  us  very  little  to  enjoy  what  has  been  wdl  done 
in  art  or  poetry,  to  discriminate,  what  is  more  and  what  is  less  excellent  in  than  or 
to  use  words  like  beauty,  excellence,  art,  poetry  with  a  more  predse  meaning  than 
they  would  otherwise  have,  Beauty,  like  all  other  qualities  presented  to  human  ex» 
perience,  is  relative;  and  the  definition  of  it  becomes  unmeaning  and  useless  in  Pro- 
portion to  its  abstradness.  To  define  beauty,  not  in  the  most  abstract,  bat  in  the 
most  conerete  terms  possible,  to  find,  not  a  universal  formula  for  it,  but  the  formula 


ANMERKUNGEN.  59 


which  expresses  most  adequately  this  or  that  special  manifestation  of  ity  is  the  aim 
qf  the  true  Student  of  aesthetics.^ 

')  Ich  habe  die  Partien,  die  in  den  mir  bekannten  geschichtlichen  Darstellungen 
ausreichend  behandelt  sind,  auf  das  zweifellos  Wesentliche  zusammengedrängt, 
und  auch  dasjenige,  was  ich  selbst  in  der  »Geschichte  der  neueren  deutschen  Psy- 
chologie« (Bd.  I,  2.  Aufl.,  19Q2)  von  der  »Aufklärung«  in  allen  Ländern,  von  Hut- 
cheson,  Alison  u.  a.  mitgeteilt  habe,  nicht  von  neuem  abdrucken  lassen.  Aber 
den  noch  nicht  erforschten  Tatsachen  und  Beziehungen  ist  ein  etwas  breiterer 
Raum  gegönnt  worden;  und  das  gilt  namentlich  von  solchen  Lehren,  die  uns  heute 
interessieren,  weil  sie  unserer  eigenen  Betrachtungsweise  nahestehen.  —  Die  aus- 
gedehnte Literatur  über  geschichtliche  Einzelerscheinungen  kann  hier  nicht  ange- 
geben werden.  Die  letzten  Darstellungen  der  gesamten  geschichtlichen  Entwicke- 
lung  stammen  von  R.  Zimmermann  (1858),  M.  Schasler  (1871)  und  C.  Hermann 
(Die  Ästhetik  in  ihrer  Geschichte  und  als  wissensdiaftliches  System  1876);  in  eng- 
lischer Sprache  liegt  vor:  B.  Bosanquet,  A  history  of  aestßtetic  {London  1892,  2.  Aufl., 
1904).  Von  größeren  Werken  nenne  ich  wenigstens  die  folgenden:  J.Walter,  Die 
Geschichte  der  Ästhetik  im  Altertum,  ihrer  begrifflichen  Entwickelung  nach  (1893); 
H.  Lotze,  Geschichte  der  Ästhetik  in  Deutschland  (1868);  H.  v.  Stein,  Die  Entstehung 
der  neueren  Ästhetik  (1886);  O.  Hamack,  Die  klassische  Ästhetik  der  Deutschen 
(1892);  E.  V.  Hartmann,  Ästhetik  L  Die  deutsche  Ästhetik  seit  Kant  (1886). 

*)  Die  von  Johann  Adolf  Schlegel  bearbeitete  deutsche  Ausgabe  des  Batteuxschen 
Buches  enthält  eine  Erläuterung,  worin  nicht  die  Ausbesserung  der  Natur,  sondern 
der  freie  Ausdruck  inneren  Gefühls  vom  Künstler  verlangt  wird.  Damit  ist  der 
Standpunkt  der  französischen  Ästhetik  überschritten  und  der  unserer  deutschen 
Ästhetik  erreicht 

»)  The  works  of  Adam  Smith  London  1811,  V,  243—318:  Of  the  imitative  arts. 
Ich  gebe  einige  (auf  S.  249  stehende)  Sätze  wieder:  »//z  Painting,  a  piain  surface 
of  one  kind  is  made  to  resemble,  not  only  a  piain  surface  of  another,  but  all  the 
three  dimensions  of  a  solid  substance.  In  Statuary  and  Sculpture^  a  solid  substance 
of  one  kind,  is  made  to  resemble  a  solid  substance  of  another,  The  disparity  bet- 
ween  the  objed  imitating,  and  the  object  imitated,  is  mach  greater  in  the  one  art 
than  in  the  other;  and  the  pleasure  arising  from  the  Imitation  seems  to  be  greater  in 
Proportion  as  this  disparity  is  greater,^ 

*)  Bürgers  Lehrbuch  der  Ästhetik  ist  zwar  erst  1825  von  Karl  v.  Reinhard 
herausgegeben  worden,  besteht  aber  aus  Vorlesungen  der  Jahre  1784  bis  1794. 
Übrigens  sind  einige  der  im  Text  stehenden  Mitteilungen  aus  Bürgers  »Ästhetischen 
Schriften«  (1832)  entnommen. 

^  Näheres  bei  Robert  Sommer,  Grundzüge  einer  Geschichte  der  deutschen 
Psychologie  und  Ästhetik  von  Wolff-Baumgarten  bis  Kant-Schiller,  1892. 

*)  Vgl.  Novalis,  Werke  herausgegeben  von  C.  Meißner  1898,  III,  31  und  auch 
Chr.  H.  Weiße,  System  der  Ästhetik  1830,  I,  97  ff. 

')  Die  widitigsten  selbständig  erschienenen  Schriften,  die  das  Ganze  oder  dodi 
die  Grundlagen  der  Ästhetik  behandeln,  sind  nach  meiner  Kenntnis  die  folgenden: 
J.  Cohn,  Allgemeine  Ästhetik,  1901;  K.  Groos,  Der  ästhetische  Genuß,  1902;  Konrad 
Lange,  Das  Wesen  der  Kunst,  1901;  Th.  Lipps,  Grundlegung  der  Ästhetik,  1903; 
R.  Marshall,  Aesthetic  Prindples^  1895;  Volkelt,  Ästhetische  Zeitfragen,  1895;  Volkelt, 
System  der  Ästhetik  Bd.  I,  1905;  Witasek,  Grundzüge  der  allgemeinen  Ästhetik,  1904. 


II.  Die  Prinzipien  der  Ästhetik. 


1.  Der  Objektivismus. 

Die  allgemeinen  Grundsätze,  die  einer  Ästhetik  ihre  Richtung  zu 
geben  vermögen,  treten  in  den  geschichtlich  vorliegenden  Systemen 
nicht  unzweideutig  zu  Tage,  weil  sie  fast  in  jedem  miteinander  ver- 
mischt sind.  Daher  ist  es  notwendig,  die  Prinzipien  als  solche  zu 
prüfen.  Auch  lohnt  es  erst  hier,  das  Messer  der  Kritik  anzusetzen. 
Denn  welchen  Wert  soll  es  haben,  daß  man  weitschweifig  Lehren 
widerlegt,  die  längst  eines  natürlichen  Todes  gestorben  sind?  Die  be- 
liebten Auseinandersetzungen  mit  dem,  was  X  vor  hundert  oder  Y  vor 
zweihundert  Jahren  gesagt  hat,  sind  ein  leichtes  Spiel  des  Scharfsinns 
und  ohne  dauernden  Nutzen.  Nur  mit  dem  Lebendigen  läßt  sich 
wahrhaft  kämpfen,  und  zum  Lebendigen  gehören  auch  einige  der  in 
der  geschichtlichen  Entwickelung  aufgetauchten  Prinzipien. 

Freilich  zeigen  sie  ihre  Lebenskraft  vor  allem  dort,  wo  sie  sich  auf 
das  Kunstschöne  beziehen.  Zum  mindesten  giU  das  von  dem  ästhe- 
tischen Objektivismus.  Hierunter  verstehen  wir  den  Inbegriff  aller 
Theorien,  die  das  Eigentümliche  des  Untersuchungsgebietes  hauptäch- 
lich  in  der  Beschaffenheit  des  Gegenstandes,  nicht  im  Verhalten  des 
genießenden  Subjekts  finden.  Jene  Beschaffenheit  des  ästhetisch  Wert- 
vollen ist  am  leichtesten  festzustellen,  indem  man  sie  durch  Beziehung 
auf  die  übrige  Wirklichkeit  von  ihr  abhebt.  In  der  geschichtlichen 
Betrachtung  sind  uns  schon  solche  Prinzipien  entgegengetreten,  die 
»das  Schöne«  und  die  Kunst  nach  ihrem  Verhältnis  zur  natürlichen 
Gegebenheit  erklären;  und  zwar  behauptet  der  Naturalismus,  Kunst  sei 
Wirklichkeit,  während  die  verschiedenen  Arten  des  Idealismus  die 
Kunst  für  mehr  als  Wirklichkeit,  und  umgekehrt  Formalismus,  Ilhisio- 
nismus,  Sensualismus  sie  für  weniger  als  Wirklichkeit  ausgeben. 

Mit  der  ehrwürdigen  und  unverwüstlichen  Theorie  der  Nachah- 
mung hangt  jene  andere  zusammen,  die  Naturalismus,  Verismus, 
Akzidentialismus,  Impressionismus  genannt  worden  ist.  Sie  findet  eine 
Stütze  in  den  Bekenntnissen  der  Künstler  selbst.  Denn  diese  werden 
nicht  müde,  zu  versichern,  daß  sie  schlechthin  das  Wahrgenommene 
wiedergeben.  Außerdem  reiht  sie  sich  leicht  in  eine  allgemeine  Rich- 
tung des  Denkens  ein. 


DER  OBJEKTIVISMUS.  61 


Als  philosophische  Voraussetzung  des  Naturalismus  dient  vielfach 
die  Überzeugung:  nur  die  sinnliche  Welt  des  Einzelnen  besitze  Wirk- 
lichkeit und  an  sie  sei  wie  jede  andere  geistige  Bestrebung  auch  die 
Kunst  gebunden.  Der  Positivismus  in  allen  seinen  Spielarten  fuhrt 
demnach  mit  einer  gewissen  Selbstverständlichkeit  zu  der  Lehre,  daß 
die  Kunst  sich  streng  an  das  Gegebene  halten  solle.  Doch  besitzt 
das  jetzt  in  Frage  stehende  Prinzip  auch  in  der  praktischen  Philosophie 
einen  Anhalt  Welcher  Optimist,  der  die  wirkliche  Welt  als  die  beste 
der  möglichen  erklärt,  kann  ein  realitätsfremdes  Spiel  der  Einbildungs- 
kraft billigen,  ohne  von  der  Folgerichtigkeit  abzuweichen?  Ein  zwar 
nicht  notwendiger,  aber  begreiflicher  Zusammenhang  besteht  schließ- 
lich zwischen  Optimismus  und  Naturalismus  einerseits  und  der  from- 
men Olaubensüberzeugung  anderseits.  Denn  wenn  die  Welt  ein  Ab- 
glanz Gottes  ist,  so  kann  es  keine  höhere  Schönheit  als  ihre,  keine 
bessere  Kunst  als  die  treulich  nachahmende  geben.  Naturalistisch 
schaffen  heißt  dann  den  Schöpfer  in  seinen  Werken  ehren.  Bleibt 
man  sich  dieser  Zusammenhänge  bewußt,  so  versteht  man,  weshalb 
die  Anhänger  der  idealistischen  und  die  Vertreter  der  pessimistischen 
Weltanschauung  nicht  anerkennen  dürfen,  daß  eine  Kunst  von  einiger 
Bedeutsamkeit  in  bloßer  Wiedergabe  ihr  Ziel  erblicke. 

Dazu  kommt,  daß  die  Musik  höchstens  auf  sehr  wunderlichen  Um- 
wegen naturalistisch  gedeutet  werden  kann.  Beim  Naturschönen  end- 
lich scheint  das  Prinzip  ganz  zu  versagen.  Ein  älterer  französischer 
Ästhetiker  hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  Übereinstimmung  gleich- 
artiger Naturgegenstände  z.  B.  die  Übereinstimmung  der  Eichen  mit- 
einander, und  ebenso  die  Ähnlichkeit  zwischen  künstlichen  Erzeug- 
nissen der  gleichen  Gattung  z.  B.  die  Ähnlichkeit  der  Tische  unter- 
einander, keinen  Reiz  besitze;  hingegen  gefalle  die  Ähnlichkeit  einer 
gemalten  Eiche  mit  einer  wirklichen,  eines  gemalten  Tisches  mit  einem 
wirklichen.  In  Wahrheit  kann  die  Übereinstimmung  gleichartiger 
Gegenstände  ein  gewisses,  wenngleich  recht  schwaches  Wohlgefallen 
hervorrufen,  aber  es  ist  schwerlich  ein  ästhetisches. 

Wir  sehen  indessen  sowohl  von  der  Begründung  in  einer  Welt- 
anschauung, als  auch  von  Musik  und  natürlicher  Schönheit  ab.  Als- 
dann sprechen  gegen  den  Naturalismus  die  folgenden  Überlegungen. 
Erstens:  Bei  einer  genauen  Wiedergabe  eines  Stückes  Natur  treten 
außerästhetische  und  in  der  Betrachtung  des  Originals  nicht  vorhandene 
Gefühle  auf.  Eine  täuschend  ähnliche  Wachsfigur  flößt  Schrecken  ein, 
also  ein  nicht  ästhetisches  Gefühl,  das  bei  der  Wahrnehmung  des 
wirklichen  Menschen  nicht  aufgetreten  wäre.  Zweitens:  Alles  was 
noch  irgend  Kunstwerk  heißen  kann,  bleibt  hinter  der  Wirklichkeit 
zurück.    Dem  Panorama  fehlt  Sonnenlicht,  Geräusch,  Bewegung,  frische 


62  11-  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Luft,  der  Wachsfigur  der  Flaum  auf  Wange  und  Hand,  dem  Gips- 
abdruck  das  geöffnete  Auge  und  die  unaufhörliche  Veränderung  im 
Volumen  der  Körperteile,  die  mit  seelischen  Vorgängen  zusammen- 
hangt Die  Ruhelosigkeit  des  Sichtbaren  läßt  sich  in  der  Kunst  nicht 
wiedergeben.  Die  Bilder  des  Kinematographen  gelten  uns  als  ein 
Erfolg  der  wissenschaftlichen  Technik  und  nicht  als  Kunstwerk.  Drit- 
tens: Ähnlichkeit  fällt  mit  Naturwahrheit  keineswegs  zusammen.  Die 
Karikatur  und  die  Skizze  eines  Zeichners,  der  zu  treffen  versteht,  zeigen 
vielleicht  eine  überraschende  Ähnlichkeit  mit  dem  Vorbild,  aber  sie 
sind  nicht  naturgetreu.  Die  Karikatur  übertreibt  gewisse  Eigentüm- 
lichkeiten, und  die  Skizze  schweigt  von  vielem,  was  die  Ausführung 
mitteilen  müßte.  Wir  kennen  Bilder,  aus  denen  uns  Gesichter  mit 
vollster  Lebendigkeit  entgegentreten,  obwohl  der  Künstler  Nase  und 
Ohren,  ja  selbst  die  Augen  fortgelassen  und  lediglich  einen  Farben- 
fleck hingesetzt  hat.  Ein  Maler  ^)  erinnert  daran,  daß  man  eine  Por- 
zellanvase mit  Holzkohle  auf  Papier  wiederzugeben  vermag.  Das  ist 
offenbar  eine  Übertragung  und  nicht  eine  Nachahmung.  Viertens  und 
endlich:  Bei  einem  durchgeführten  Kopieren  müßte  der  maßgebende 
Faktor,  nämlich  die  Individualität  des  Künstlers,  ganz  ausgeschaltet 
werden.  Es  hieße  aber  das  Leben  aus  der  Kunst  austreiben,  wollte 
man  die  persönlichen  Unterschiede  der  Künstler  vertilgen. 

Wenn  dennoch  fortgesetzt  naturalistische  Lehren  verkündet  und 
anscheinend  befolgt  werden,  so  müssen  teils  in  der  Theorie,  teils  in 
der  Praxis  Gründe  vorhanden  sein,  die  bisher  noch  nicht  erörtert 
wurden.  Von  den  theoretischen  Gründen  kommt  zunächst  in  Betracht 
die  naheliegende  Verwechslung  anscheinender  Naturtreue  mit  wirk- 
licher Nachahmung.  Schon  Skizze  und  Karikatur  können  klarstellen, 
wie  verschieden  der  Eindruck  der  Natüriichkeit  und  die  wirkliche 
Nachahmung  sind.  Solche  unausgeführten  oder  verzerrenden  Kunst- 
leistungen erweisen  sich  als  Schöpfungen  im  stärksten  Sinne  des 
Wortes,  und  trotzdem  geben  sie  den  lebhaftesten  Eindruck  von  Natur- 
treue. Der  Naturalismus  hat  darin  recht,  daß  er  diesen  Eindruck  ver- 
langt. Aber  er  irrt,  wenn  er  meint,  ein  solcher  Eindruck  sei  nur  durch 
sklavische  Nachahmung  des  Gegebenen  zu  erreichen.  Eindruck  der 
Natur  ist  nicht  gleichzusetzen  mit  Reproduktion  der  Natur.  Die  n^^- 
tive  Fassung  wäre  daher  der  positiven  vorzuziehen.  Man  würde 
richtiger  sagen,  es  müssen  diejenigen  Abweichungen  von  der  Natur 
vermieden  werden,  die  dem  Beschauer  den  Chok  geben,  der  mit  Un- 
wahrheit verbunden  ist  Eine  Formulierung  dieser  Art,  die  nicht  so 
streng  ist  wie  die  positive,  läßt  der  Kunst  den  ihr  nötigen  Spielraum. 
Vielleicht  darf  man  behaupten,  daß  es  hier  ähnlich  liegt  wie  beim  Ver- 
hältnis des  Menschen  zum  Glück.    Alle  Menschen  wollen  glücklich 


DER  OBJEKTIVISMUS.  63 


werden.  Dennoch  würde  ihnen  das  Erreichen  dieses  Zieles  keines- 
w^s  die  erstrebte  Vollkommenheit  sichern.  So  will  alle  Kunst  zur 
Wirklichkeit  hin,  aber  mit  der  gewonnenen  Identität  wäre  niemals  die 
Kunst  vollendet 

Eine  andere  Hilfe  sucht  der  Naturalismus  in  dem  Umstand,  daß 
auch  das  geistig  vertiefteste  Kunstwerk  sich  aus  Lebensmomenten  zu- 
sammensetzt Wo  die  Bestandteile  des  Kunstwerkes  nicht  der  Wirk- 
lichkeit entnommen  worden  sind,  da  fühlen  wir  es  schmerzlich  heraus; 
die  Elemente  des  Künstlerischen  sind  keine  anderen  als  Wirklichkeits- 
elementa  Aus  diesem  Tatbestand  kann  indessen  dem  Naturalismus 
ein  Retter  nicht  erstehen.  Denn  die  Bestandteile  werden  zu  etwas 
Neuem,  zum  gefühlsgesättigten  Bild  verarbeitet,  und  gerade  auf  die 
Verarbeitung  kommt  es  an.  Allerdings  scheint  diese  —  zum  mindesten 
solange  sie  sich  auf  ein  Wählen,  Verstärken  und  Vermindern  be- 
schränkt —  auch  ihrerseits  an  die  Wirklichkeit  gebunden  zu  sein.  Kein 
noch  so  energisches  Vorgehen  darf  zu  Gebilden  führen,  die  als  Er- 
fahrung unmöglich  wären.  Aber  man  verstehe  recht:  Solche  Gebilde 
brauchen  kein  Analogon  in  der  Erfahrung  zu  haben,  nur  müßten  sie, 
wenn  sie  existierten,  für  unsere  Auffassungsfähigkeit  möglich  sein. 
Was  als  Gesichtsempfindung  unmöglich  ist,  etwa  daß  entfernte  G^en- 
stände  dieselbe  Größe  haben  wie  naheliegende  G^enstände  der 
gleichen  Art,  das  darf  als  »unwahr«  in  keinem  noch  so  phantastischen 
Gemälde  sich  finden.  Es  nützt  femer  dem  Naturalismus  nichts,  wenn 
jede  geklärte  Kunsttheorie  verfangt,  daß  die  Verbindung  der  Elemente 
einen  Zusammenhang  aufweise,  durch  den  der  Beschauer  oder  Leser 
oder  Hörer  mit  Notwendigkeit  von  dem  Vorangehenden  zum  Folgen- 
den hingeführt  wird.  Wiederum  ist  ja  nicht  die  empirische  Zusammen- 
gehörigkeit entscheidend,  sondern  eine  innere  Konsequenz.  Unwahr 
nennen  wir  ein  Kunstwerk,  dessen  Teile  auseinanderfallen.  Die  Natur- 
nachahmung kann  dem  Zwecke  der  künstlerfsch-systematischen  Ver- 
einheitlichung wohl  dienen.  Aber  nicht  sie,  sondern  die  Stileinheit  ist 
Wahrheit  im  ästhetischen  Sinne  des  Wortes. 

Wenn  es  hiemach  scheinen  könnte,  als  bestehe  die  Kunst  nur  in 
einer  anderen  Kombination  von  Lebenselementen,  so  wie  das  Flügel- 
roß oder  der  Zentaur  aus  realen  Bestandteilen  zusammengesetzt  sind, 
so  würde  diese,  eine  eigentliche  Schöpferkraft  des  Menschen  leugnende 
Auffassung  dem  Sachverhalt  doch  nicht  gerecht  werden.  Denn  mit 
dem  bloßen  Wählen  und  Verknüpfen  ist  es  nicht  immer  geschehen. 
Es  kann  die  Wirklichkeit  in  einem  Kunstwerk  so  aufgezehrt  oder  ver- 
ändert sein,  daß  sie  nur  für  den  feinsten  Sinn  noch  spürbar  bleibt 
Selbst  überfli^ende,  mystische,  symbolistische  Kunstwerke  mhen 
schließlich  auf  irgend  welchen  Erfahmngen.    Aber  ihr  Haupt  hat  sich 


64  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

SO  hoch  erhoben,  daß  wir  die  Füße  nicht  mehr  gewahren,  mit  denen 
sie  auf  festem  Boden  stehen. 

Wenn  bisher  dem  Naturalismus  eine  immanente  Beziehung  zur  Außen- 
wirklichkeit untergelegt  worden  ist,  so  muß  nun  wenigstens  ergänzend 
bemerkt  werden,  daß  es  auch  ein  getreues  Abschildern  der  seelischen 
Vorgänge  gibt,  das  grundsätzlich  zur  gleichen  Stufe  gehört.  Nament- 
lich GefOhlsvorgänge  werden  gern  in  realistischer  Treue  beschrieben, 
und  es  sind  gerade  die  Gegner  der  naturalistischen  Kunst,  die  an  der 
ungeläuterten  Wiedergabe  von  Affekten  und  Stimmungen  ihre  Freude 
haben.  Der  Lyriker,  der  sein  Gefühl  möglichst  deutlich  und  unverändert 
ausspricht,  ahnt  meist  ebenso  wenig  wie  sein  Bewunderer,  daß  er  dem 
Naturalismus  näher  steht  als  dem  Idealismus.  Nämlich  dem  Naturalis- 
mus als  einem  ästhetischen  Prinzip  im  Gegensatz  zu  dem  Naturalismus 
als  einer  künstlerischen  Richtung.  Dieser  Unterschied  ist  sehr  wichtig. 
Die  kunstgeschichtliche  Erscheinung,  die  wir  naturalistischen 
Stil  nennen,  hangt  nur  lose  mit  den  theoretischen  Oberiegungen  zu- 
sammen. Vielmehr  bedeutet  der  Naturalismus  —  als  eine  zeitweilig 
auftretende  Praxis  —  vornehmlich  Auflehnung  gegen  absterbende  An- 
schauungen und  Formen.  Nicht  um  naturgetreues  Abschildern  von 
Wirklichkeitsausschnitten  handelt  es  sich  also,  sondern  zunächst  um 
eine  neue,  zeitgemäße  Technik.  Die  bisherigen  Formen,  deren  Zeit 
abgelaufen  ist,  erscheinen  als  konventionell,  abstrakt,  unwahr,  und  indem 
an  die  Stelle  dieser  alten  Schönheit  eine  neue  Schönheit  gesetzt  wird, 
entsteht  begreiflicherweise  die  Vorstellung,  daß  ein  idealistischer  Schön- 
heitswahn durch  die  Wahrheit  verdrängt  worden  sei.  Da  die  Menschen 
geschichtliche  Wesen  sind  und  mit  der  wechselnden  Ordnung  der  Dinge 
veränderte  Kulturkreise  und  neue  Anschauungen  von  Wert  und  Sinn 
des  Daseins  sich  schaffen,  so  versuchen  alle  Künste,  diesen  Wandlungen 
zu  folgen.  Jeder  Künstler,  der  die  Dinge  mit  den  Augen  der  Gegen- 
wart anzusehen  und  das  Geschaute  in  der  seiner  Zeit  entsprechenden 
Form  auszudrücken  vermag,  kommt  sich  als  Naturalist  vor.  Naturalis- 
mus in  diesem  Sinne  ist  ein  derber  Protest  gegen  abgestorbene  Ideale. 
Wie  die  Opposition  gegen  herrschende  staatliche  und  kirchliche  Ein- 
richtungen sich  gern  in  materialistischen  und  atheistischen  Lehren  Luft 
macht,  so  bedient  sich  auch  die  künstlerische  Opposition  mit  Vorliebe 
der  naturalistischen  Denk-  und  Formweise. 

In  der  geschichtlichen  Entwickelung  ist  also  das  erste  der  Bruch  mit 
der  Überiieferung.  Daraus  ergibt  sich  dann  an  zweiter  Stelle  die  Rück- 
kehr zur  Natur.  Je  freier  man  sich  nämlich  von  einer  Tradition  macht, 
desto  sicherer  greift  man  auf  die  Natur  zurück;  und  umgekehrt  verliert 
man  desto  schneller  die  Berührung  mit  der  Natur,  je  ausschließlicher 
man  in  den  gewohnten  Formen  fühlt.    Diesem  Gesetze  entsprechend 


DER  OBJEKTIVISMUS.  65 


kommen  die  von  der  alten  Kunst  Unbefriedigten  fast  willenlos  zur 
Nachahmung  der  Natur.  Dabei  ist  es  von  Bedeutung,  daß  die  Träger 
der  Bew^ung  r^elmäßig  der  jungen  Generation  angehören.  Die  Jugend 
hat  das  Vorrecht  ungeschichtlichen  Fühlens.  Sie  besitzt  auch  jenen 
Optimismus,  von  dem  schon  vorher  gezeigt  wurde,  wie  leicht  er  mit 
dem  Naturalismus  Hand  in  Hand  geht  Mit  dem  jugendlichen  Trieb 
nach  Verbesserung  der  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse verbindet  sich  dann  auch  das  Bewußtsein,  in  künstlerischen  Formen 
ein  Lehrmeister  und  Helfer  des  Menschengeschlechtes  werden  zu  können. 
Daher  haben  in  unserer  Zeit  naturalistische  Maler  und  Dichter  sich  ge- 
wöhnlich zu  einer  sozialistischen,  ja  oft  zur  sozialdemokratischen  Ten- 
denz bekannt 

Je  älter  man  wird,  desto  kühler  steht  man  gewaltsamen  Verände- 
rungen g^enOber.  Das  unbesonnene  Wagnis,  sich  ganz  auf  sich 
selber  zu  verfassen  und  alle  erworbene  Weisheit  zu  mißachten,  ist  für 
mein  Gefühl  eine  Verzerrung  des  fortschrittlichen  Geistes,  der  im 
Naturalismus  lebt  Die  g^enwärtige  Kunstkritik  verhätschelt  aussichts- 
lose Schreier,  weil  sie  selber  unsicher  und  ängstlich  in  die  Zukunft 
blickt  Es  gibt  eine  freche  Jugendlichkeit,  deren  absprecherisches  und 
großmäuliges  Wesen  sich  in  Anklagereden  und  Programmentwürfen 
erschöpft:  wie  vielen  Umstürzlern  bin  ich  im  Lauf  meines  Lebens  be- 
g^[net  und  wie  wenige  davon  haben  es  zu  wirklichen  Leistungen 
gebracht!  Solche  vorlauten  Burschen,  die  leider  auch  in  unserem 
wissenschaftlichen  Nachwuchs  nicht  fehlen,  glauben  ihrerseits  sich  der 
Verpflichtung  überhoben,  Talent  und  Fleiß  zu  zeigen.  Die  wahrhaft 
großen  Neuerer  sind  zu  ihrer  Unabhängigkeit  gelangt,  indem  sie  rast- 
los und  mit  Ehrfurcht  die  Meister  der  Vergangenheit  studierten;  manche 
wußten  kaum,  wie  revolutionär  sie  handelten;  alle  waren  mit  der  Be- 
scheidenheit b^[nadet,  die  auch  den  Widerspruch  erfreulich  macht 
Völlig  von  vom  beginnen  ist  seit  Jahrtausenden  eigentlich  nicht  mehr 
möglich  und  ganz  gewiß  kein  fruchtbarer  Anfang.  Unterscheiden  wir 
also  aufs  peinlichste  zwischen  Theorie  und  Praxis  und  suchen  wir 
die  Erklärung  nicht  in  Redensarten,  sondern  in  der  Analyse.  Einige 
Andeutungen  sind  bereits  gegeben. 

Aus  den  erwähnten  Faktoren  wird  femer  verständlich,  weshalb  der 
Naturalist  so  leicht  zur  Wahl  von  häßlichen  und  unanständigen  Vor- 
gängen getrieben  wird.  Der  sachliche  Gmnd  ist  der,  daß  diese  Momente 
in  der  überlieferten  und  schon  erstarrten  Kunstweise  entweder  gar  nicht 
mehr  vorhanden  oder  doch  außerordentlich  umgebildet,  d.  h.  verschönert 
waren.  Das  Kontrast-  und  Selbständigkeitsgefühl  lenkt  die  Aufmerk- 
samkeit gerade  auf  das  Ungewöhnliche  und  Untertypische.  Ein  anderer 
Gmnd  ist  formaler  Art    Er  li^  in  dem  Wunsch  des  jungen  Künstler- 

Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Kanstwisscnschaft.  5 


66  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

geschlechtes,  seine  technische  Geschicklichkeit  zu  zeigen.  Denn  eine 
neu  entwickelte  Technik  läßt  sich  besonders  virtuos  an  entlegenen  und 
gleichsam  widerstrebenden  Stoffen  üben.  Zur  Rechtfertigung  des  Ver- 
fahrens hat  man  außerdem  die  Erkenntnis  angezogen,  daß  der  Inhalt, 
nicht  die  künstlerische  Funktion  berührt.  Ebensowenig  wie  das  Aus- 
sagen einer  Ungewißheit  ein  ungewisses  Aussagen  ist,  bedeutet  die 
Darstellung  des  Abnormen  ein  abnormes  Darstellen.  Es  wird  darauf 
ankommen,  ob  des  Künstlers  Individualität  stark  genug  ist,  um  die 
natürlichen  Unlustgefühle,  die  an  den  Inhalt  sich  knüpfen,  zu  künst- 
lerischen Lustgefühlen  zu  erheben.  Die  Natur  weiß  durch  ihre  Unend- 
lichkeit und  Ewigkeit  alle  Mißklänge  zu  mildem.  Das  Kunstwerk,  das 
nur  einen  Ausschnitt  geben  kann,  muß  eine  ähnliche  kosmische  Weite 
oder  Tiefe  besitzen,  um  das  an  sich  Häßliche  erträglich  zu  machen.  — 
Doch  läßt  sich  auch  eine  abweichende  Auffassung  begründen.  Denn 
es  scheint  nicht  widersinnig,  daß  große  Vorwürfe  und  schöne  Modelle^ 
erhabene  Ereignisse  und  wohltuende  Formen  der  künstlerischen  Phan- 
tasietätigkeit eine  bessere  Unterlage  geben  als  das  Niedrige,  Häßliche, 
Verächtliche  der  Wirklichkeit.  Daher  möchte  wohl  derjenige  Künstler 
am  höchsten  stehen,  der  den  gewaltigsten  und  ergreifendsten  G^en- 
stand  in  gewaltigen  und  ergreifenden  Formen  darzubieten  vermag. 

So  argumentiert  wenigstens  der  Essentialismus  (Idealismus^ 
um  der  Kunst  einen  über  die  gemeine  Wirklichkeit  hinausgehenden 
Inhah  und  Zweck  zu  sichern.  Die  philosophische  Voraussetzung  — 
vom  Relativismus  und  Positivismus  bestritten  —  besagt,  daß  hinter  den 
Dingen  etwas  Übersinnliches  throne:  die  Welt  ist  mit  den  Erscheinungen 
nicht  erschöpft,  sondern  besitzt  einen  idealen  Gehalt,  eine  ^essentia^. 
Will  man  unter  dieser  allgemeinen  Annahme  den  besonderen  ästhetischen 
Standpunkt  festigen,  so  empfiehlt  es  sich,  von  dem  Unterschied  des 
Schönen  und  des  Angenehmen  auszugehen.  Im  Vorgang  der  ästhe- 
tischen Rezeptivität  ist  enthalten  ein  G^enstand,  ein  aufnehmendes 
Subjekt  und  die  zunächst  sinnlich  erfolgende  Berührung  zwischen  beiden. 
Ein  einzelner  Gegenstand  und  ein  einzelner  Mensch  treffen  zusammen; 
hieraus  entsteht  ein  Lustgefühl.  Offenbar  jedoch  gilt  das  Gleiche  von 
jeder  sinnlichen  Lust.  Demnach  muß  in  dem  Schönen  neben  der  durch 
die  Sinne  vermittelten  und  lusterfüHten  Beziehung  noch  etwas  anderes 
enthalten  sein.  Und  dies  ist  eben  das  durchleuchtende  Wesen  des 
Gegenstandes.  Kunst  ist  nicht  Nachahmung  des  Einzelnen,  sondern 
das  Sinnlichmachen  seines  tieferen  Gehaltes;  schön  heißt:  das  Absolute 
in  anschaulicher  Form,  das  Unendliche  im  Endlichen,  die  Idee  in  be- 
grenzter Erscheinung.  Während  die  Dinge  der  Erfahrung  nur  unvoll- 
kommen hindeuten  auf  die  ihnen  zu  Grunde  liegende  Idee,  zeigt  die 
Kunst  unverhüllt  die  Bedeutung  des  Wirklichen.    Sofern  nun  unter  Idee 


DER  OBJEKTIVISMUS.  67 


nichts  anderes  verstanden  wird  als  ein  objektivierter  allgemeiner  B^ff, 
läuft  die  Lehre  darauf  hinaus,  in  der  Veranschaulichung  des  Begriffs 
die  Aufgabe  des  Schönen  zu  erblicken.  Erleichtert  wird  diese  Auf- 
fassung dadurch,  daß  B^ffe  nicht  lediglich  allgemeine  Ausdrucke  oder 
gedankliche  Abkürzungen  sind,  sondern  etwas  vom  Ideal  an  sich  haben. 
Wenn  Shakespeare  sagt:  He  was  a  man,  take  him  for  all  in  all,  so 
ist  mit  »Mann«  etwas  Bedeutungsvolles  gemeint,  was  wir  vielleicht 
einen  »echten  Mann«  nennen  wurden.  Unter  dem  echten  Mann  aber 
b^jeifen  wir  nicht  lediglich  das  logisch  Allgemeine,  das  alle  Männer 
verbindet,  sondern  das  Wort  hat  auch  einen  Forderungscharakter:  der 
echte  Mann  ist  der  Mann,  wie  er  sein  soll,  hinter  dem  die  meisten  wirk- 
lichen zurückstehen.  Gelingt  es  einem  Natur-  oder  Kunstgegenstand, 
diese  Fülle  des  B^^ffs  restlos  auszudrücken,  so  weckt  er  ein  Gefühl 
von  Befriedigung.  Wir  sympathisieren  mit  dem  Einzelg^enstand,  der 
den  Normen  seines  B^rrfffes  so  vollkommen  entspricht.  Hieraus  würde 
sich  verstehen  lassen,  weshalb  die  sinnlich  erscheinende  Idee  gefällt*). 
Noch  durchsichtiger  wird  die  Erklärung  bei  der  subjektivistischen  Wen- 
dung des  Gedankens.  Dann  kommt  das  außermenschliche  Dasein  der 
Idee  nicht  in  Betracht,  sondern  sie  gilt  als  das  höhere  geistige  Leben, 
das  in  bevorzugten  Menschen  waltet.  Die  Freude  daran  ist  ohne  weiteres 
zu  b^^eifen. 

Auf  die  Verzweigungen  des  Essentialismus  können  wir  nicht  noch- 
mals eingehen.  Je  nach  dem  philosophischen  System  erscheint  als  ver- 
borgener Inhalt  eine  außerordentlich  hohe  Idee,  ein  vollkommenes,  die 
Schönheit  in  sich  selbst  tragendes  Sein,  oder  bloß  ein  Gattungswesen, 
ein  dominierender  Charakter,  wie  Taine  gesagt  hat.  Gleichviel,  ob  das 
eine  oder  das  andere,  es  wird  nicht  nur  auf  die  Tatsache  des  Gedanken- 
ausdruckes, sondern  auch  auf  den  Inhalt  des  ausgedrückten  Ge- 
dankens ankommen.  Deshalb  wird  man  immer  auf  Schwierigkeiten 
treffen,  sobald  man  das  übersinnliche  Etwas  oder  die  geniale  Weltan- 
schauung oder  den  vorherrschenden  Gattungscharakter  im  einzelnen 
Kunstwerk  nachzuweisen  unternimmt  Wir  hören  beispielsweise,  daß 
die  Idee  eines  beliebigen  Romans  in  dem  Satz  bestehe:  jede  Freund- 
schaft zwischen  Mann  und  Weib  wird  zur  Liebe.  Aber  dieser  Satz  ist 
einerseits  zu  umfassend;  denn  ihm  lassen  sich  hundert  andere  Romane 
gleichfalls  unterordnen.  Anderseits  ist  er  zu  eng;  denn  er  verrät  nichts 
von  dem  lebendigen  Reichtum  des  Dichtwerkes.  Die  Unterschiede  der 
Interpretation  von  Kunstwerken,  namentlich  von  so  erfüllten  Kunst- 
werken, wie  es  Hamlet  und  Faust  sind,  wurzeln  in  der  Schwierigkeit, 
den  Reichtum  eines  solchen  Gebildes  auf  eine  einzige  Formel,  einen 
einzigen  Gedanken  zu  bringen.  Und  hierbei  kann  die  Theorie  nicht 
einmal  stehen  bleiben.    Sie  muß  doch  wohl  zugeben,  daß  Schillers 


68  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Wallenstein  nicht  nur  typisches  Menschenstreben,  sondern  auch  eine 
geschichtliche  Figur  in  höchster  Wahrheit  darstellen  will.  Delaroche 
hat  sogar  von  seinen  Historienbildern  gerühmt,  daß  ein  einziges  unter 
ihnen  mehr  lehre  als  zehn  Bände  geschichtlicher  Forschung.  Zweifellos 
wird  damit  das  künstlerische  Bedürfnis  als  Unterart  des  allgemeineren 
Bedürfnisses  nach  klarer  Erkenntnis  überhaupt  verstanden  und  durch 
dies  Aufgehenlassen  in  einen  weiteren  Kreis  anscheinend  erklärt.  Oenug 
Philosophen  haben  der  Kunst  ausschließlich  die  Aufgabe  zuerteilt,  das 
Typische  gegenüber  den  zufälligen  und  unregelmäßigen  Naturg^en- 
ständen  oder  -ereignissen  darzustellen,  und  von  ihr  verlangt,  sie  solle 
wie  eine  Sprache  besonderer  Art  Gedanken  vermitteln,  sie  solle  sich 
entleiben,  um  ihre  Innern  Schätze  aufzudecken. 

In  dem  Lehrbuch  eines  idealistischen  Ästhetikers  findet  sich  folgende 
Erörterung  über  die  sogenannten  Stillleben:  »Nehmen  wir  an,  es  sei 
ein  Tisch  mit  Büchern,  Gläsern,  ein  Zigarrenkistchen  u.  s.  w.  dargestellt 
Das  ist,  wenn  das  Buch  zugeschlagen,  die  Kiste  geschlossen  ist,  wenn 
die  Gläser  leer  sind,  ein  totes  Bild  ...  hat  man  das  Buch  aufgeschlagen 
und  gibt  nur  den  Titel  eines  Kapitels,  so  wird  der  Beschauer  unwill- 
küriich  diesen  Titel  lesen,  er  wird  wissen  wollen,  welche  Zeitung  das 
ist.«  Diese  köstliche  Anweisung  zeigt,  wohin  eine  idealistische  Theorie 
führen  kann;  wahrhaft  verhängnisvoll  wird  sie,  wenn  sie  von  den  schaf- 
fenden Künstlern  aufgenommen  wird.  Schließlich  wagen  die  Schwächeren 
unter  ihnen  nicht  mehr  so  zu  bilden,  wie  sie  empfinden,  sondern  streben 
nach  einer  Wahrheit,  die  ihren  Werken  die  innere  Glaubwürdigkeit 
raubt.  Wirkliche  Künstler  jedoch  haben  sich  stets  dahin  ausgesprochen, 
daß  die  Bedeutung  eines  Kunstwerkes  nicht  in  geradem  Verhältnis  steht 
zur  Zahl  und  Bedeutung  der  Lehren,  die  es  uns  über  die  Wirklichkeit 
und  ihre  letzten  Gründe  liefert.  Als  Philipp  Otto  Runge  über  seinen 
Zyklus  der  Tageszeiten  von  den  ratlosen  Beschauern  gefragt  wurde, 
was  diese  Bilder  sagen  wollten,  da  antwortete  er:  »Wenn  ich  es  sagen 
könnte,  brauchte  ich  es  nicht  zu  malen.«  Und  ähnlich  so  hat  Mendels- 
sohn in  einem  seiner  Briefe  geschrieben,  er  würde  keine  Note  mehr 
setzen,  wenn  man  Musik  mit  Worten  schildern  könnte. 

Trotz  allem  dem  sind  bis  heute  literarisch  gebildete  und  interessierte 
Ästhetiker  dabei  geblieben,  die  Kunst  als  Ausdruck  einer  begrifflichen 
Konzeption  und  einer  intellektuellen  Fertigkeit  aufzufassen;  auch  die 
Pädagogen  sehen  leicht  den  Wert  eines  Kunstwerkes  in  seinen  ver- 
nünftigen und  verwendbaren  Inhalten.  Vor  allen  Dingen:  das  Publikum 
kommt  solchen  Lehren  willig  entgegen.  Denn  sein  ästhetisches  Be- 
dürfnis besteht  meist  darin,  daß  es  etwas  in  künstlerischer  Form  mit- 
geteilt erhalten  will.  Ein  solches  Kunstbedürfnis  ist  Gier  nach  flüchtigem 
Wissen,  in  mittlerer  Lage  derselbe  Wissensdrang,  der  in  niederster 


DER  OBJEKTIVISMUS.  6Q 


Form  als  Neugier,  in  höchster  Form  als  Entdeckerlust  sich  äußert.  Zu 
gewissen  Zeiten  hat  daher  die  Volksseele  ihren  erschöpfenden  Aus- 
druck in  der  Schrift  statt  in  Klang  oder  Bild  gefunden,  und  in  den 
Kämpfen  der  Völker  blieben  zumeist  diejenigen  Kunstwerke  vor  der 
Zerstörung  bewahrt,  die  den  Verstand  oder  die  Neugier  fesselten;  außer- 
dem freilich  auch  solche,  die  —  wie  gewisse  Melodien  —  eine  starke 
sozialisierende  Wirkung  ausübten  oder  —  wie  gewisse  Bauten  —  einem 
praktischen  Bedürfnis  entgegenkamen. 

Es  wäre  jedoch  Unrecht,  aus  solchen  Erwägungen  heraus  den  Ra- 
tionalismus, der  sich  gern  mit  dem  Essentialismus  verbrüdert,  verächtlich 
beiseite  zu  werfen.  So  beklagenswert  es  ist,  wenn  die  Gelehrtheit  die 
süßesten  Früchte  der  Kunst  ungenießbar  macht,  so  bleibt  es  doch  zu- 
lässig, das  in  jedem  zusammengesetzten  Werk  enthaltene  intellektuelle 
Moment  als  solches  herauszuheben.  Es  sei  verstattet,  eine  Probe  zu 
machen.    Wir  lesen  folgende  Strophen  von  Stefan  George: 

Schmerzbrüder 

So  zieht  ihr  im  düster  und  euer  geleit 

Ist  lächelnder  strahl  —  ihr  die  sinkende  zeit. 

Da  alles  gesagt  ist  in  stummem  verein 

Ihr  fühlet  gefaßt  die  unwendbare  pein: 

Wer  ganz  sich  verschenkt  wie  er  wenig  empfingt 
Und  blühende  stim  in  die  fernen  nur  drangt 
So  zieht  ihr  im  düster  und  euer  geleit 
Ist  lächelnder  strahl  —  ihr  die  sinkende  zeit 

Und  manchmal  noch  wenn  euch  ein  milderer  ton 
Ein  engeres  schmiegen  wie  rührung  und  lohn 
Und  wenn  euch  ein  deutendes  schweigen  umfließt 
Erscheint  es  daß  leis  eine  hoffnung  euch  sprießt: 

Mit  zitternden  armen  am  busen  gepreßt 
So  haltet  den  ziehenden  abend  ihr  fest 
Ob  er  für  die  einzige  stunde  nun  säumt . . 
Doch  euer  geleit  hat  vom  morgen  geträumt 

Der  Leser  wird  vermutlich  einen  sehr  unbestimmten  Eindruck  emp- 
fangen haben.  Jetzt  dringt  er  in  den  geistigen  Gehalt  ein:  Schmerz- 
brüder sind  die  langsam  alternden  Männer,  deren  Liebe  den  unabwend- 
baren Gegensatz  von  Morgen  und  Abend  erfahren  muß,  deren  leiden- 
schaftlich starke  Umarmung  nicht  mehr  des  Mädchens  bebende  Err^^ung 
weckt,  deren  Kuß  mit  verflattemder  Zärtlichkeit  erwidert  wird.  Ich 
bitte  den  Leser,  nun  nochmals  das  Gedicht  durchzugehen:  er  wird  einen 
Zuwachs  an  Klarheit  und,  was  mehr  gilt,  an  Genuß  empfinden.  — 
Namentlich  die  größeren  Werke  epischer  und  dramatischer  Poesie 
rechnen  auf  die  beziehende  Urteilstätigkeit,  sie  wollen  nicht  nur  ge- 


70  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

fallen,  sondern  auch  die  Einsicht  erhöhen,  nicht  nur  erquicken ,  son- 
dern auch  nähren. 

Man  darf  also  über  die  Lehre:  Im  Kunstwerk  soll  Wesentliches 
sichtbar  werden,  nicht  schlechthin  den  Stab  brechen.  Man  muß  nur 
einsehen,  daß  sie  hinter  dem  Ganzen  des  ästhetischen  Lebens  zurück- 
bleibt. Insbesondere  aus  folgenden  Überlegungen  geht  das  hervor. 
Nach  allen  Zeugnissen  entstehen  echte  Kunstwerke  niemals  aus  ab- 
strakten Gedanken.  Wo  es  anscheinend  der  Fall  ist,  da  gibt  nicht  das 
Logische  des  Gedankens,  sondern  sein  Stimmungswert  den  Anreiz. 
Ideen  sind  meist  unentbehrlich,  aber  sie  stellen  sich  sofort  als  Bild, 
Form,  Farbe,  Klang  dar  und  teilen  sich  dem  am  sichersten  mit,  der 
mit  Versenken  und  nicht  mit  Denken  auffaßt.  Auch  führt  der  Ratio- 
nalismus zu  einer  Oberschätzung  des  Stofflichen  und  geistig  Bedeuten- 
den. Sachliche  Inhalte  sind  mit  Begriffsworten  zu  decken.  Aber  daneben 
gibt  es  in  jedem  wahren  Kunstwerk  noch  etwas  anderes,  was  man,  wie 
gewöhnlich  gesagt  wird,  nur  fühlen  kann.  Vielleicht  sind  die  Probleme 
des  im  Kunstwerk  verarbeiteten  äußeren  und  inneren  Stoffes  überhaupt 
keine  ästhetischen,  sondern  Kulturfragen. 

Solche  Bedenken  hat  der  ästhetische  Formalismus  mit  Recht  ge- 
äußert. Nach  seiner  Behauptung  spricht  der  Künstler  in  und  durch 
Formen  und  genießt  der  Betrachter  eine  Ordnung,  wodurch  die  Vielheit 
von  Stoffen  zur  Einheit  gesammelt  wird.  Form  ist  nach  dieser  Lehre 
ein  lebendiges  Verhältnis  von  Teilen  und  bekundet  sich  beispielsweise 
im  strengen  Maß  des  Rhythmus  oder  in  der  harmonischen  Anordnung 
der  Klänge.  Gegenstand  des  ästhetischen  Genusses  bilden  nicht  die 
stofflichen  Einheiten,  sondern  ihre  Beziehungen,  der  quantitative  oder 
qualitative  Zusammenhang,  der  grundsätzlich  mit  der  inhaltlichen  Be- 
schaffenheit nichts  zu  tun  hat.  Zur  inhaltlichen  Beschaffenheit  gehören 
auch  alle  seelischen  Ereignisse,  die  künstlerisch  ausgedrückt  werden. 
Deshalb  sagte  Hanslick,  daß  Gefühle  weder  Zweck  noch  Inhalt  der 
Musik  sein  können,  daß  vielmehr  ihr  Wesen  in  tönend  bewegten  Formen 
besteht,  die  mit  den  ruhenden  Formen  der  Arabesken  zu  vergleichen  sind. 

Fragt  man  die  Formalisten  nach  dem  Rechtsgrund,  der  gewisse 
Formen  wohlgefällig,  andere  mißfällig  macht,  so  erhält  man  gewöhnlich 
eine  rationalistische  Antwort,  nämlich  den  Hinweis  auf  die  Klarheit  und 
leichte  Auffaßbarkeit  bestimmter  Verhältnisse.  Die  Zahlenverhältnisse 
harmonischer  Klänge,  die  Symmetrie  zwischen  Raumteilen,  der  leichte 
Ablauf  rhythmischer  Gebilde,  dies  alles  gefällt  ohne  Beziehung  auf  einoi 
Inhalt  durch  die  Angemessenheit  an  den  erkennenden  Geist  Jede  War 
erkennbare  Einheit  einer  Mannigfaltigkeit  ist  ästhetisch  wohlgefällig.  Und 
da  sie  nur  einen  Teil  der  Wirklichkeit  darstellt,  so  würde  demnach  das 
Schöne  weniger  sein  als  die  Wirklichkeit. 


DER  OBJEKTIVISMUS.  71 


Wie  sollen  wir  uns  dazu  stellen?  Daß  die  Ästhetik  als  abstrahie- 
rende Wissenschaft  das  Recht  hat,  sich  auf  Formverhältnisse  zu  be- 
schränken, darf  nicht  bestritten  werden.  Aber  allerdings  bietet  die  schroffe 
Scheidung  von  Form  und  Stoff  den  Nachteil,  daß  die  immerfort  tätigen 
Einflüsse,  die  von  dem  einen  Faktor  zum  anderen  hinübergleiten,  in 
einer  strengen  Formwissenschaft  nicht  zu  ihrem  Recht  gelangen.  Die 
Fülle  formaler  Beziehungen  ist  wesentlich  mitbedingt  durch  den  im 
Kunstwerk  dargestellten  Sachverhalt.  Es  fragt  sich,  ob  man  jene  er- 
schöpfend begreifen  kann,  ohne  diesen  zu  berücksichtigen.  Indessen 
auch  wenn  man  sich  auf  die  Formverhältnisse  zurückzieht,  so  bietet 
die  zentrale  Formel  von  der  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  manche  An- 
griffspunkte. Es  gibt  Fälle,  wo  ein  Vielfaches  vereinheitlicht  ist,  ohne 
daß  ästhetische  Freude  eintritt.  Wir  werden  später  davon  reden.  Auch 
ist  erst  klarzulegen,  weshalb  die  synthetische  Tätigkeit  des  Bewußt- 
seins, die  doch  sonst  noch  tausendfach  tätig  ist,  nicht  immer  ästhetische 
Lustgefühle  hervorruft.  Vorläufig  wäre  zu  sagen,  daß  künstlerische 
Gestaltung  dann  voriiegt,  sobald  kein  Teil  ohne  empfindliche  Störung 
des  Ganzen  ausgelassen  werden  kann  und  die  Teile  zugleich  mit  an- 
schaulicher Überzeugungskraft  auf  einander  verweisen. 

Das  formalistische  Prinzip  macht  einen  Teil  der  Realität,  nämlich  die 
Form,  zum  Ganzen  des  ästhetisch  Wertvollen.  Im  Unterschiede  hiervon 
stellt  der  Illusionismus  die  Weh  der  Kunst  als  eine  Welt  des  Scheins 
der  Wirklichkeit  gegenüber.  Die  Kunst,  so  belehrt  man  uns,  bietet 
weder  das  Gegebene  in  neuer  Auflage  noch  verborgene  Wahrheit  noch 
reine  Form;  sie  ist  vielmehr  eine  Welt  des  Scheins  und  als  solche  frei 
von  Not  und  Zwang,  ein  ewiger  Frühling,  unabhängig  von  den  grau- 
samen Gesetzen  der  Natur.  Das  ästhetische  Objekt  soll  ohne  Rücksicht 
auf  Lebenszusammenhänge  und  etwa  eintretende  Folgen  genossen 
werden.  Während  wir  sonst  die  Gegenstände  darauf  hin  betrachten, 
was  sie  unseren  Interessen  bieten  und  welche  Stellung  sie  im  aktiven 
Verbände  aller  Dinge  besitzen,  wird  im  ästhetischen  Leben  von  dieser 
doppelten  Wirkung  abgesehen.  Es  kommt  weder  in  Betracht,  was  die 
Dinge  für  uns,  noch  was  sie  untereinander  erwirken.  Ihre  Wirklichkeit 
verschwindet,  und  der  schöne  Schein  tritt  in  seine  Rechte.  Den  vom 
Scheinhaften  ausgehenden  seelischen  Erregungen  fehlen  Momente,  die 
sonst  im  Bewußtsein  da  sind,  namentlich  die  Beziehungen  auf  Willens- 
handlungen entfallen.  Es  muß  also  in  der  Seele  des  Genießenden  das 
Gefühl  entstehen,  als  habe  er  es  mit  etwas  zu  tun,  was  weniger  ist 
als  die  Wirklichkeit.  Dieses  Unterhalb  der  Realität,  wenn  wir  die  seelische 
Erfahrung  so  bezeichnen  dürfen,  wird  mit  der  Beziehung  auf  eine  Schein- 
welt recht  glücklich  umschrieben;  auch  läßt  sich  allenfalls  begreifen, 
daß  aus  dem  Unterhalb  für  unser  Urteil  ein  Oberhalb  wird,  daß  wir 


72  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

die  durch  Abzug  entstandene  Welt  des  Scheins  als  eine  der  Realität 
überlegene  Welt  des  Idealen  lieben. 

Vielleicht  aber  gestaltet  sich  die  Theorie  noch  einleuchtender,  wenn 
die  Schelnlehre  In  einen  ästhetischen  Sensualismus  übergeführt  wird. 
Die  Vertreter  der  Scheinlehre  pflegen  neben  der  Unabhängigkeit  des 
ästhetischen  Verhaltens  die  Wichtigkeit  der  Wahrnehmung  zu  betonen, 
sie  verlangen  nicht  nur,  daß  die  ästhetische  Tätigkeit  Selbstzweck  sei, 
sondern  auch  daß  der  Gegenstand  durch  sich  selbst  Wohlgefallen  err^e 
und  seine  Bedeutung  In  der  Welse  ausdrücke,  daß  sie  durch  die  Wahr- 
nehmung als  solche  erfaßt  werden  kann.  Von  hier  aus  läßt  sich  eine 
Erklärung  entwickeln,  die  neuerdings  namentlich  durch  den  Kunstkenner 
Fiedler  und  den  Bildhauer  Hlldebrand  gefördert  worden  ist 

Ich  würde  etwa  von  einer  Überlegung  ausgehen,  die  Descartes  in 
seinen  »Betrachtungen«  angestellt  hat.  Ein  Stück  Wachs  ändert  sich 
durch  Erwärmung  In  Form,  Farbe,  Geruch;  dennoch  bleibt  es  dasselbe 
Ding.  Also  kann  seine  Dinglichkeit,  die  das  Bleibende  an  ihm  ausmacht, 
nicht  zu  dem  gehören,  was  mit  den  Sinnen  erfaßt  wird:  die  Realität 
hangt  nicht  vom  Anschaulichen,  sondern  vom  Denken  ab  und  zwar  von 
einem  auf  Grund  der  Sinneseindrücke  gefällten  Urteil.  Wo  wir  lediglich 
die  Sinneswahrnehmungen  walten  lassen,  da  haben  wir  auch  nicht  das 
Gefühl  einer  unabhängigen,  objektiven  Gegebenheit;  dies  ist  der  Fall 
im  Ästhetischen.  —  Eine  andere  Ableitung.  Des  Menschen  äußere 
Welt  kann  als  ein  unbestimmtes  Etwas  angesetzt  werden,  aus  dem  die 
Sinne  und  der  Verstand  Verschiedenartiges  auswählen  oder  das  sie 
unter  dem  Anschein  einer  Auslese  verschiedenartig  gestalten.  Nun 
weiß  jedermann,  daß  die  Wahrnehmungen  immer  in  einer  Unsicherheit 
verharren,  und  noch  mehr  die  hin  und  her  schwankenden,  nie  faßbaren 
Erinnerungsvorstellungen.  Wir  verfestigen  diese  beiden  Arten  der  An- 
schauung, indem  wir  sie  in  den  Aggregatzustand  der  B^ffe  hinüber- 
leiten. Dieser  zuerst  von  Sokrates  aufgezeigte  Weg,  aus  der  Unbe- 
stimmtheit zur  Bestimmtheit  zu  gelangen,  hat  aber  den  Nachteil,  daß 
dabei  alles  Anschauliche  verloren  geht.  Der  Begriff  liegt  nicht  in  der 
Verlängerung  der  Anschauung,  sondern  bedeutet  einen  ganz  anders 
gearteten  Wirklichkeitsbesitz.  Wir  gewinnen  die  Sicherheit  des  B^jiff- 
lichen  bloß  durch  den  Verzicht  auf  das  Anschauliche.  Es  fragt  sich 
also,  ob  nicht  das  Anschauliche  selber  zu  jener  Klarheit  und  Ruhe 
emporgehoben  werden  kann,  die  ihm  im  Leben  abgeht  Der  Sensua- 
lismus bejaht  die  Frage  eben  mit  dem  Hinweis  auf  die  Künste.  Sie 
sind  es,  die  das  Vergängliche  der  Anschauung  befestigen,  halten,  was 
flieht,  unsterblich  machen,  was  vergeht  und  allem  Angenehmen,  was 
mit  der  Anschauung  verknüpft  ist,  Dauerhaftigkeit  verieihen.  Was  leistet 
die  Malerei?   Aus  den  Forderungen  des  Auges  entstanden,  hat  sie  ledig- 


DER  OBJEKTIVISMUS.  73 


lieh  die  Aufgabe,  den  unbestimmten  Formen-  und  Farbeneindrücken 
der  Wirklichkeit  zu  einer  geschlossenen  und  festen  Existenz  zu  ver- 
helfen. Um  Fiedlers  Worte  zu  gebrauchen:  der  bildende  Künstler  hat 
»die  uns  versagte  Fähigkeit,  den  Vorgang  der  Wahrnehmung  durch 
das  Auge  nach  Seite  des  sichtbaren  Ausdrucks  einer  selbständigen  Ent- 
wicklung zuzuführen.«  (Schriften  über  Kunst  1896,  S.  2Q0.)  Wenn  der 
Bildhauer  einen  Menschen  in  Marmor  nachbildet,  so  entnimmt  er  aus 
der  komplexen  Beschaffenheit  seines  Modells  nur  die  Form  und  aus 
dem  Material  nur,  was  für  die  sichere  Entwicklung  des  Oesichtsbildes 
in  Betracht  kommt. 

Mit  einiger  Abweichung  läßt  sich  diese  Theorie  auch  auf  die  Musik 
als  auf  eine  Entfaltung  des  Hörvorganges  übertragen.  Bei  der  Anwen- 
dung auf  die  sehr  zusammengesetzte  Kunst  der  Poesie  ergeben  sich 
freilich  Schwierigkeiten.  Bleiben  wir  daher  mit  unseren  Beispielen  lieber 
im  Gebiet  der  bildenden  Kunst.  Hier  soll  die  vom  Künstler  vollzogene 
selbständige  Entwicklung  der  sichtbaren  Welt  vornehmlich  darin  be- 
stehen, daß  unsere  Raumanschauung  gefördert  wird.  Jedes  Werk  der 
bildenden  Kunst  muß  eine  Raumeinheit  darstellen,  etwa  in  dem  Sinne, 
wie  entfernte  G^enstände  als  Raumeinheiten  wahrgenommen  werden. 
Der  Maler  muß  einen  Ausschnitt  aus  seinem  Sehfeld  gleichsam  mit 
einem  Rahmen  umgeben  und  mit  einem  räumlichen  Mittelpunkt  ver- 
sehen, und  er  darf  femer  die  Farben  darin  nicht  als  getrennte  Flecken, 
sondern  muß  sie  als  zusammenklingende  Werte  schauen.  Eine  Synthese 
des  räumlichen  und  farbigen  Eindrucks,  wie  sie  in  der  Wahrnehmung 
entfernter  G^enstände  und  bei  der  Erinnerungsvorstellung  b^nnt, 
kennzeichnet  das  Gemälde  und  seine  ästhetische  Auffassung.  Wie  der 
begrifflich  Denkende  aus  den  ständig  wechselnden  Daseinsformen  der 
Wirklichkeit  durch  Abstraktion  eine  Denkform  gewinnt,  so  entnimmt 
der  Künstler  das  Anschaulich-allgemeine  als  Kunstform  aus  den  unruhig 
wechselnden  und  weder  in  Wahrnehmung  noch  Erinnerung  festzu- 
haltenden Erscheinungen.  Er  benutzt  die  ihm  von  der  Natur  gelieferten 
Wirkungsakzente,  sofern  sie  nur  das  räumliche  Wesen  einer  Form  ener- 
gisch zum  Ausdruck  bringen.  Anderseits  verwertet  er  auch  die  Be- 
schränktheit seines  Materials,  z.  B.  den  flächenhaften  Charakter  der 
Leinwand  oder  die  tote  Beschaffenheit  des  Marmors,  um  aus  dieser 
b^renzten  Eigentümlichkeit  seines  Mittels  die  Vorstellungen  des  Raumes 
oder  der  Bew^^ung  hervorzuzaubern.  Durch  die  Umbildung  der  Natur 
und  durch  die  scheinbare  Unzulänglichkeit  der  künstlerischen  Technik 
gewährt  er  eine  uns  sonst  versagte  unmittelbare  Erkenntnis  des  Sicht- 
baren*). 

Fragen  wir  nach  der  Berechtigung  dieses  Prinzips,  so  bemerken 
wir  zunächst,  daß  es  sich  leicht  einer  heute  vielfach  anerkannten  er- 


74  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

kenntnistheoretischen  Grundüberzeugung  einfügt  Das  Problem  von 
dem  Verhältnis  des  Ich  zur  Außenwelt  wird  meist  dahin  aufgelöst,  daß 
man  sagt:  wir  erleben  die  Dinge  nicht  als  Objekte,  denen  Vorstellungen 
entsprechen,  sondern  der  gehörte  Ton  beispielsweise  ist  zugleich  phy- 
sisch sowie  psychisch.  Auch  wird  nicht  etwa  der  Bewußtseinsinhalt 
zunächst  als  etwas  Subjektives,  sondern  ununterschieden  hiervon  als 
greifbare  Wirklichkeit  erfahren.  Diese  Identität  im  Vorstellungsobjekt, 
die  ursprüngliche  Einheit  des  Fremden  und  Eigenen  in  der  Wahrneh- 
mung, weist  darauf  hin,  welche  große  Rolle  im  Ästhetischen  der  Sinnes- 
wahmehmung  zufällt  Ein  weiterer  Vorzug  dieser  Theorie  liegt  in  ihrer 
Übereinstimmung  mit  den  Ansichten,  die  die  Künstler  selbst  von  ihrer 
Fähigkeit  und  ihrer  Aufgabe  besitzen.  So  sagte  einmal  Thdophile 
Gautier:  ^Critiques  et  louanges  me  louent  et  nCabiment  sans  comprendre 
un  mot  de  ce  que  je  suis.  Toute  ma  valeur,  äs  n'ont  Jamals  padi  de 
cela,  ifest  que  je  suis  un  homme  pour  qui  le  monde  visible  existe.^ 
Vor  allem  behaupten  alle  Maler,  daß  sie  nur  besser  sehen  als  wir 
übrigen  und  das  mit  den  Augen  Erkannte  in  der  Form  wiedergd)en, 
die  seinem  Wesen  entspricht  Zugleich  gestehen  sie  damit  zu,  wie 
weit  auch  die  beste  Kunstleistung  von  der  Fülle  der  Wirldichkdt  über- 
troffen wird.  Sie  erkennen  die  Richtigkeit  der  Einwände  an,  die  geg^xi 
den  Naturalismus  zu  erheben  sind,  und  übernehmen  doch  vom  Naturalis- 
mus das  intensive  Empfinden  für  den  Wert  der  Realität. 

Unzweifelhaft  besitzt  der  künstlerische  Mensch  ein  leidenschaftliches 
Streben  zur  Wirklichkeit  hin.  Anderseits  jedoch  lebt  in  ihm  auch  eine 
Sehnsucht  nach  dem  Unwirklichen.  Ein  neuerer  französischer  Mala* 
hat  einmal  gesagt:  ^Mon  idial  est  de  poetiser  la  nature  en  nCen  rap- 
prochant  le  plus  possible< ,  und  ein  französischer  Dichter  erklärt  als  den 
kennzeichnenden  Zug  des  Künstlers  ^de  joindre  ä  radoration  de  la 
nature,  source intarissable d" Images,  un  secretmepris  deFetre^*).  Logisch 
genommen  scheint  die  Forderung  unerfüllbar,  daß  der  Künstler  der 
Wirklichkeit  treu  und  zugleich  untreu  sein  solL  Er  soll  dienen  und 
herrschen,  sich  hingeben  und  sich  loslösen.  Aber  dieser  logische  Wider- 
spruch ist  dennoch  der  genaueste  in  B^riffen  mögliche  Ausdruck  für 
den  verwickelten  Sachverhalt  Wie  in  jedem  i>ersönlichen  LAea  die 
beiden  Tendenzen,  sich  an  die  Gesellschaft  anzuschließen  und  sich  von 
ihr  zu  befreien,  Hand  in  Hand  gehen,  so  kann  auch  das  Wesen  der 
Kunst  nicht  damit  erschöpfend  bezeichnet  werden,  daß  man  es  natura- 
listisch deutet,  sondern  man  muß  die  Oberwindung  der  Wirklichkeit  als 
einen  Orundzug  der  Kunst  anerkennen.  Diese  Überwindung  aber  be- 
wegt sich  nach  zwei  Richtungen:  sie  macht  die  Kunst  zu  einem  Mehr 
und  gleichzeitig  zu  einem  Weniger  als  die  Natur.  Indem  die  Kunst 
zum  wahrhaft  Wahren  vordringt  und  dabei  von  allem  absieht,  was  nicht 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  75 


scheinhaft  oder  anschaulich  ist,  erhalten  wir  durch  sie  Vorstellungen, 
deren  Beschaffenheit  uns  ganz  unabhängig  von  ihrer  sonstigen  Bedeu- 
tung gefangen  nimmt  und  erquickt  Kunst  zeigt  uns  das  verborgene 
Wesen  von  Welt  und  Leben  und  zugleich  die  zum  Genuß  zubereitete 
Oberfläche  der  Dinge,  den  auf  Grund  des  Sinnlichen  zu  gewinnenden 
rein  seelischen  Genußwert  der  Objekte.  Sie  bedeutet  eine  Erhebung 
über  die  Natur  und  zugleich  die  Erziehung  und  Vollendung  der  Sinn- 
lichkeit. Durch  Verbildlichung  befreit  sie  uns  von  der  Umgebung  und 
beläßt  uns  dennoch  in  ihr. 

Sonach  ist  die  Kunst  etwas  qualitativ  ganz  Eigenartiges.  Dennoch 
läßt  sie  sich,  da  sie  zur  Wirklichkeit  in  einem  Plus-  und  in  einem  Minus- 
verhältnis steht,  von  dieser  Seite  her  als  ein  Intensitätsphänomen  auf- 
fassen. Einerseits  nämlich  besagt  sie  die  Schaffung  bloßer  Möglich- 
keiten, die  hinter  der  gegebenen  Erfahrungswirklichkeit  zurückbleiben, 
anderseits  enthält  sie  eine  anschauliche  Notwendigkeit,  die  über  alle 
Realität  hinausgeht.  Sie  bietet  Möglichkeit  und  Notwendigkeit  in  wun- 
dervollem Ausgleich.  Bei  einem  Landschaftsgemälde  fragen  wir  nicht, 
ob  es  einem  Naturvorbild  treulich  entspricht,  ja  wir  lassen  uns  Formen 
und  Farben  gefallen,  die  in  der  Natur  ganz  sicher  niemals  vorkommen. 
Dafür  verlangen  wir  aber,  daß  im  Gemälde  eine  Notwendigkeit  sich 
ausdrückt,  die  mit  solcher  Deutlichkeit  in  den  zufälligen  Erscheinungen 
der  Erfahrungswelt  nicht  vorkommt.  Künstlerische  Idealisierung  besteht 
sowohl  im  Hinabtauchen  zum  Möglichen  als  auch  im  Hinaufsteigen 
zum  Unbedingten.  Nun  ist  jedes  bloß  Mögliche  im  Verhältnis  zum 
Seienden  eine  Intensitätsherabsetzung,  jedes  Notwendige  eine  Intensitäts- 
steigerung. Die  Möglichkeit  ist  schwächer,  die  Notwendigkeit  stärker 
als  die  Wirklichkeit.  Indem  die  Kunst  nach  beiden  Modalitätsrichtungen 
hin  sich  vom  schlechthin  Seienden  abhebt,  kann  sie  als  ein  Intensitäts- 
phänomen betrachtet  werden. 


2.  Der  Subjektivismus. 

Unter  ästhetischem  Subjektivismus  verstehen  wir  den  Inb^^ff  der- 
jenigen Prinzipien,  die  mit  einer  allgemeinen  Charakteristik  des  ästhe- 
tischen Verhaltens  das  Rätsel  des  Schönen  zu  lösen  streben.  Viele 
davon  sind  den  objektivistischen  Theorien  aufs  engste  verwandt,  einige 
—  wie  die  Einfühlungslehre  —  stehen  selbständig  da;  hat  ja  auch  der 
Naturalismus  kein  Gegenstück  auf  der  anderen  Seite.  Immerhin:  was 
wir  bisher  besprochen  haben,  muß  als  bekannt  vorausgesetzt  werden, 
da  der  zurückgelegte  Teil  und  der  vor  uns  li^ende  Teil  des  W^es 
in  den  Hauptpartien  zusammengehören. 


76  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Das  Prinzip  des  »Scheins«  nimmt  sehr  leicht  eine  subjektivistische 
Wendung.  Die  Frage  lautet  alsdann:  Worin  besteht  die  Eigentümlich- 
keit der  Bewußtseinsprozesse,  die  durch  den  Schein  ausgelöst  werden? 
Offenbar  in  dem  Freisein  von  allen  heftigen  Willenserregungen.  Man 
hat  deshalb  von  interesselosem  Wohlgefallen  und  von  willensfreier  Be- 
trachtung gesprochen  und  hiermit  das  Verhältnis  des  ästhetischen  Zu- 
standes  zu  anderen  Seelenverfassungen  angedeutet  Die  Bezeichnung 
des  interesselosen  Wohlgefallens  dient  in  einer  Beziehung  dazu,  den 
ästhetischen  Genuß  von  dem  sinnlichen  zu  trennen.  Die  Gegenstände 
des  sinnlichen  Genusses,  so  lehrt  man,  erwecken  die  Begierde  nach 
ihrem  Besitz,  während  ästhetische  Gegenstände  ohne  einen  solchen 
Wunsch  betrachtet  werden.  Das  ist  im  großen  ganzen  richtig,  aber 
vielleicht  einfacher  zu  deuten  als  gemeinhin  geschieht.  Der  Grund 
dürfte  doch  wohl  der  sein,  daß  die  bloß  angenehmen  Objekte  eben 
nicht  anders  als  durch  Besitzergreifung  genossen  werden  können.  Bei 
dem  oft  gebrauchten  Beispiel  der  wohlschmeckenden  Speise  überblickt 
es  jeder  sofort.  Indessen  es  gilt  auch  von  einem  der  Haut  wohltuenden 
Kleidungsstoff  und  von  den  Annehmlichkeiten  eines  Landhauses,  die 
ich  nur  als  Besitzer  wirklich  auskosten  kann.  Demnach  würde  die 
Interesselosigkeit  sich  nicht  auf  das  Spezifische  des  ästhetischen  Ge- 
nusses beziehen,  sondern  auf  die  Bedingung  seines  Auftretens,  nämlich 
darauf,  daß  er  auch  ohne  Besitz  des  Objektes  in  voller  Stärke  sich  ein- 
stellen kann. 

In  einem  anderen  Sinne  wird  »Interesse  haben«  gleichgesetzt  mit 
»Beziehung  auf  den  Willen  haben«.  Alsdann  lassen  sich  die  ästhetischen 
Gefühle  dahin  kennzeichnen:  sie  stören  nicht  im  geringsten  die  Freiheit 
des  Subjektes  und  beeinflussen  sein  Handeln  wenigstens  unmittelbar 
niemals.  Da  sie  fernerhin  jenes  Zusammenhangs  mit  ihren  Objekten 
entbehren,  der  beim  »realen«  Genüsse  vorliegt,  so  sind  sie  gleichsam 
auf  sich  selbst  beschränkt.  Die  ätiologische  Erklärung  billigt  daher  den 
ästhetischen  Gefühlen  eine  gewisse  Unabhängigkeit  gegenüber  der 
Außenwelt  zu.  So  verwies  Dubos  auf  das  Beschäftigungsbedfirfnis 
des  Menschen;  und  im  Grunde  hat  bereits  Aristoteles,  als  er  von  der 
Betätigung  einer  Anlage  sprach  und  das  Ausklingenlassen  der  Affekte 
ohne  böse  Folgen  von  der  Tragödie  verlangte,  den  ästhetischen  Seelen- 
vorgang als  die  Freude  an  der  Funktion  selber  bezeichnet  Denn  dies 
würde  sich  doch  wohl  aus  dem  Freisein  von  Willensvorgängen  einer- 
seits, von  der  Bindung  an  Wirklichkeit  anderseits  als  gemeinsames  Er- 
gebnis herausstellen:  Im  ästhetischen  Genießen  freut  sich  die  Seele  an 
dem  Ablauf  ihrer  Prozesse.  Die  Scheinwelt  hat  nur  die  Bedeutung, 
seelisches  Funktionieren  auszulösen,  und  sie  ist  um  so  schöner,  je  ener- 
gischer sie  dies  zu  leisten  vermag. 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  ^^ 


In  dem,  was  wir  eben  erörtert  haben,  ist  eine  größere  Anzahl 
von  Theorien  zusammengefaßt*).  Die  nun  folgende  Lehre  von  den 
Scheingefühlen  verdanken  wir  in  der  Hauptsache  J.  v.  Kirchmann  und 
E.  V.  Hartmann.  Ausgehend  von  der  Tatsache,  daß  ästhetische  Eindrucke 
sehr  schnell  verdrängt  werden  können,  haben  diese  Forscher  den  in 
ihnen  enthaltenen  Gefühlen  eine  geringere  Intensität  als  den  realen  Ge- 
fühlen zugesprochen.  Das  geringe  Beharrungsvermögen  der  idealen 
Gefühle  läßt  sie  als  schwächer  erscheinen  als  die  entsprechenden  realen 
Gefühle.  Somit  wäre  der  Unterschied  der  ästhetischen  und  der  übrigen 
Gefühle  hauptsächlich  ein  quantitativer.  Andere  Denker  haben  das  be- 
zweifelt. Denn  daß  ästhetische  Erregungen,  die  den  ganzen  Menschen 
aufs  tiefste  erschüttern,  eine  geringe  Intensität  besitzen  sollen,  wäre  nur 
dann  zuzugeben,  wenn  jede  andere  Erklärungsmöglichkeit  für  die  zum 
Ausgang  genommene  Tatsache  fehlen  sollte.  Es  ist  freilich  bequem, 
einen  nicht  leicht  definierbaren  Unterschied  der  Qualität  als  einen  Unter- 
schied der  Quantität  auszugeben.  Hat  man  es  so  doch  auch  mit  den 
Wahrnehmungen  und  den  Erinnerungsbildern  gemacht,  indem  man 
annahm,  diese  seien  Reproduktionen  von  jenen,  nur  außerordentlich 
viel  schwächer.  Die  unleugbare  Flüchtigkeit  der  ästhetischen  Gefühle 
kann  aber  auch  darin  zu  suchen  sein,  daß  sie  wesentlich  an  Eindrücke 
der  höheren  Sinne  gebunden  und  an  deren  Beweglichkeit  angenähert 
sind.  Femer  mögen  die  zu  Grunde  liegenden  Vorstellungen  ihren  Anteil 
an  der  schnellen  Vergänglichkeit  und  leichten  Wiederholbarkeit  besitzen: 
sie  sind  ja  eine  Einheit  in  sich  und  der  sofortigen  Vernichtung  durch 
neu  einstürmende  Lebenseindrücke  ausgesetzt  Die  »realenc  Gefühle 
entstehen  nämlich  aus  Vorgängen,  die  im  Ganzen  des  Lebenszusammen- 
hangs sich  ereignen,  während  die  »idealen«  eine  Welt  für  sich  bilden; 
der  Unterschied  in  der  Dauerhaftigkeit  erklärt  sich  demnach  nicht  aus 
einer  besonderen  Beschaffenheit  der  Gefühle,  sondern  aus  dem  Zwang 
der  Lebensbedingungen,  also  aus  begleitenden  Umständen.  Gewiß  ist 
es  auffällig,  wie  nach  den  letzten  Worten  einer  Tragödie  oder  nach 
den  letzten  Klängen  einer  Symphonie  alle  Welt  zur  Garderobe  drängt 
und  miteinander  schwatzt  und  streitet  Darin  sehen  wir  jedoch  keinen 
Grund  zu  der  Annahme  von  Scheingefühlen,  sondern  lediglich  den  Aus- 
druck dafür,  daß  jene  Gefühle  aus  besonderem  Anlaß  und  losgelöst 
aus  der  Kontinuität  unseres  Eriebens  aufgetreten  sind. 

Eine  weitere  übliche  Bestimmung  der  subjektiven  Vorgänge,  die  dem 
objektiven  Schein  entsprechen,  mündet  in  die  Behauptung:  jedes  Schein- 
gefühl sei  ein  Gegenstück  zu  einem  realen  Gefühl.  Schon  ältere  Ästhe- 
tiker meinten,  daß  in  der  Seele  zwei  Reihen  parallel  laufen,  vergleichbar 
der  primären  und  sekundären  Reihe,  die  Fichtes  Wissenschaftslehre 
der  Erfahrung  zu  Grunde  1^.    In  unseren  Tagen  ist  eine  ähnliche 


78  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Ansicht  wieder  aufgetaucht:  Meinong  hat  sie  ausführlich  begründet. 
Sie  geht  —  nach  Witaseks  Darstellung  —  davon  aus,  daß  die  Gesamt- 
heit der  psychischen  Tatsachen  in  zwei  Hälften  zerfalle.  Jeder  Vorgang 
in  der  einen  Hälfte  besitzt  sein  Spiegelbild  in  der  anderen  Hälfte.  Der 
Wahrnehmung  entspricht  die  Phantasievorstellung,  dem  Urteil  die  An- 
nahme, dem  realen  Gefühl  das  ideale  Gefühl,  dem  ernsthaften  Begehren 
ein  Phantasiebegehren.  Von  allen  diesen  sekundären  seelischen  Tat- 
beständen ist  die  Phantasievorstellung  am  besten  bekannt.  Behauptet 
wird  nun,  daß  ähnlich  so  wie  sie  auch  die  Annahme  aufzufassen  sei, 
d.  h.  als  etwas  dem  Urteil  Gegenüberstehendes,  das  den  gleichen  In- 
halt mit  dem  Urteil  haben  kann.  »Die  Annahme  ist  ein  psychischer 
Tatbestand,  der  in  allem  Wesentlichen  dem  Urteil  gleicht,  nur  daß  er 
die  Überzeugung  des  Subjekts  gänzlich  unberührt  läßt  und  außerhalb 
des  Gebietes  von  allem  Glauben  und  Wissen  liegt,  also  kein  wirkliches, 
sondern  nur  ein  gleichsam  phantasiertes  Urteil  darstellt.«  (Witasek,  All- 
gemeine Ästhetik,  S.  111/2.)  Die  an  Annahmen  angeschlossenen  ästhe- 
tischen Gefühle,  d.  h.  Scheingefühle,  sollen  sich,  was  das  Fühlen  be- 
trifft, von  den  übrigen  Gefühlen  kaum  unterscheiden,  höchstens  vielleicht 
durch  geringe  Stärke.  Die  Hauptdifferenz  liegt  vielmehr  in  der  Voraus- 
setzung; und  diese  ist  eben  eine  bloße  Annahme  oder  Fiktion.  Nur 
insoweit  das  Fühlen  von  seinem  Antezedens  den  Unterschied  des  Pri- 
mären und  Sekundären  übernimmt,  kann  man  von  Wirklichkeitsgefühlen 
und  Scheingefühlen  oder  von  Ernst-  und  Phantasiegefühlen  sprechen. 
Übrigens  sind  sich  die  Vertreter  dieser  Modifikation  der  Scheinlehre 
nicht  ganz  einig.  Die  einen  lassen  die  Scheingefühle  nur  durch  die 
Art  der  Voraussetzung  zu  Scheingefühlen  werden,  die  anderen  glauben 
auch  in  dem  emotionalen  Faktor  eine  Differenz  annehmen  zu  dürfen. 
Ich  würde  der  letzteren  Theorie  den  Vorzug  geben,  wenn  ich  mich 
überhaupt  zur  Anerkennung  der  ganzen  Konstruktion  entschließen 
könnte.  Denn  sicherlich  reihen  sich  auch  an  Urteile  Phantasiegefühle 
an  und  nicht  nur  an  Annahmen.  Wenn  es  also  eine  besondere  Gruppe 
von  Phantasiegefühlen  gibt,  die  die  wirklichen  mit  leiserem  Nachklange 
wiederholen,  so  sind  sie  wohl  in  sich  schon  etwas  Besonderes  und 
nicht  lediglich  durch  den  intellektuellen  Tatbestand,  der  ihnen  voraus- 
geht. Auch  der  Fall  ist  nicht  selten,  daß  auf  Annahmen  wirkliche 
Gefühle  von  größter  Intensität  gestützt  werden.  Die  Lust  oder  Unlust, 
die  auf  einer  bloßen  Fiktion  beruht,  kann  den  ganzen  Menschen  mit- 
reißen und  braucht  nicht  in  der  Sphäre  des  Phantastischen,  Vergäng- 
lichen, Flüchtigen  zu  verbleiben.  Dafür,  daß  im  rein  emotionalen  Moment 
Unterschiede  vorliegen,  spricht  die  von  anderer  Seite  mit  Recht  ange- 
zogene Tatsache,  daß  wir  in  einem  gewissen  Gefühlszustand  nur  sehr 
schwer  ein  entgegengesetztes  Phantasiegefühl  aktualisieren,  während 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  79 


wir  bei  einem  Urteile  die  entgegengesetzte  Annahme  sehr  leicht  zu  stände 
bringen.  Es  ist  das  Phantasiegefühl  doch  soweit  echtes  Gefühl,  daß  es 
sich  mit  einem  entgegenstehenden  anderen  Gefühl  bei  Gleichzeitigkeit 
oder  sehr  schneller  Aufeinanderfolge  nicht  verträgt.  Aber  ob  der  Unter- 
bau der  ganzen  Theorie  ganz  fest  steht?  Für  die  Selbstbeobachtung 
zeigt  sich  zwischen  Urteil  und  Annahme  keine  so  deutliche  Differenz, 
wie  zwischen  Wahmehmungs-  und  Phantasievorstellungen.  In  einer 
bestimmten  erkenntnistheoretischen  Überzeugung  kann  man  zwar  von 
Urteilen  und  Annahmen  als  von  Gegensätzen  sprechen,  aber  schweriich, 
sobald  man  in  den  Grenzen  der  inneren  Erfahrung  bleibt.  Das  Urteil 
»dieser  Gegenstand  ist  grün«  und  die  Annahme  »gesetzt  dieser  Gegen- 
stand sei  grün«  bieten  für  den  psychologischen  Befund  keinen  nach- 
weisbaren Unterschied.  Für  das  Verhältnis  des  Denkens  zur  Außenwelt 
ist  freilich  das  erste  etwas  anderes  als  das  zweite,  für  die  Beschaffenheit 
des  Bewußtseinsvorganges  aber  gibt  es  hier  keine  scharfe  Grenze. 

Mir  scheint,  daß  vom  Prinzip  des  Sensualismus  aus  der  Schein- 
theorie eine  bessere,  weil  mit  dem  inneren  Befund  übereinstimmende 
Begründung  gegeben  werden  kann.  Erinnern  wir  uns  daran,  daß  die 
Kunstwerke  fast  immer  nur  für  einen  Sinn,  selten  für  mehrere  bestimmt 
sind.  Wirklich  hingegen  heißt,  was  wirkt,  und  das  Wirken  geht  auf 
die  ganze  Empfänglichkeit  des  Menschen.  Die  Rose  ist  wirklich,  weil 
sie  einer  Vielheit  von  Sinnen  zugänglich  ist,  weil  sie  gesehen,  getastet, 
gerochen  und  geschmeckt  werden  kann.  Eine  gemalte  Rose  hingegen 
existiert  nur  für  den  Gesichtssinn.  Eben  dadurch  verliert  sie  den 
Wirklichkeitscharakter.  Schein  nennen  wir  alles,  was  durch  andere 
Sinne  nicht  nachzuprüfen  ist.  Schein  ist  die  plötzlich  auftauchende 
Gestalt  eines  Gespenstes;  denn  wir  sehen  sie  nur  und  fühlen  sie  nicht; 
wir  erblicken  ihren  gleitenden  Schritt  und  hören  ihn  nicht;  wir  schauen 
die  Bewegung  und  spüren  nicht  den  leisesten  Windhauch.  Es  hat 
demnach  einen  psychologisch  begreiflichen  Sinn,  die  Musik  eine  Schein- 
kunst zu  nennen,  denn  sie  ist  nur  für  das  Hören  und  allenfalls  für 
die  Mitbewegung  da.  —  Kurz  zusammengefaßt:  die  Einsinnigkeit  jeder 
Kunstart  sichert  ihr  den  Scheincharakter.  Ähnlich  so  wie  die  Funktion 
eines  gesonderten  Sinnes  sich  zum  Zusammenwirken  mehrerer  Sinne 
verhält,  so  wie  Schein  zur  Wirklichkeit  steht,  so  wie  das  Spiegelbild 
dem  gespiegelten  Gegenstande  gleicht,  ähnlich  so,  sage  ich,  verhält  sich 
die  Phantasievorstellung  zu  der  ihr  entsprechenden  Wahrnehmung.  Die 
Wahrnehmung  besitzt  eine  Fülle,  die  der  Phantasievorstellung  abgeht. 
Wenn  ich  an  einen  Menschen  denke,  sehe  ich  etwa  einen  Teil  seines 
Gesichtes  oder  im  nächsten  Augenblick  eine  ihn  charakterisierende 
Körperbewegung.  Aber  ich  erblicke  innerlich  nichts  von  seiner  Um- 
gebung, die  in  der  Wirklichkeit  doch  stets  zugleich  mit  dem  Menschen 


80  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

wahrgenommen  wird,  und  ich  höre  nicht  den  Klang  seiner  Stimme. 
Auch  eine  Phantasievorstellung  von  nicht  mißzudeutender  Schärfe 
bleibt  doch  viel  einseitiger,  beschränkter,  ärmer  als  eine  verhältnismäßig 
undeutliche  Wahrnehmung.  Gesetzt,  ich  beabsichtigte,  etwas  vregzu- 
legen,  so  stelle  ich  mir  nur  die  Armbewegung  vor,  aber  nicht  die  kleinen 
Unterstützungsbewegungen,  die  bei  wirklicher  Ausführung  im  ganzen 
Leibe  vor  sich  gehen.  Nicht  selten  bildet  man  sich  früh  im  Halbschlaf 
ein,  daß  man  nach  der  Uhr  gesehen  habe.  Tut  man  es  nun  beim  Er- 
wachen wirklich,  so  bemerkt  man,  daß  man  vorher  die  Zeiger  zu  sehen 
vermeint  hatte,  ohne  das  Ticken  der  Uhr  zu  hören,  daß  man  nach  der 
Uhr  zu  greifen  glaubte,  ohne  den  Oberkörper  zu  erheben,  mit  einem 
Wort,  daß  die  bloße  Vorstellung  wenn  nicht  schwächer,  so  doch 
sicherlich  unvollständiger  gewesen  war  als  die  Wahrnehmung.  Daher 
besitzen  Phantasiebilder  in  vielen  Fällen  mehr  Reiz  und  Verführungs- 
kraft. Denn  in  ihnen  fallen  alle  Unbequemlichkeiten  der  Realität  fort. 
Diese  eigentümliche  Lustqualität  macht  die  Wohlgefälligkeit  des  Schein- 
haften zum  großen  Teil  verständlich. 

Wir  haben  schließlich  noch  jener  neuerdings  durchgeführten  Modifi- 
kation der  Scheinlehre  zu  gedenken,  die  sich  selbst  als  Illusions- 
ästhetik bezeichnet.  Ihr  zufolge  kommt  alles  auf  den  seelischen  Zu- 
stand bei  der  Aufnahme  an,  und  zwar  bestehe  dieser  in  einer  bewußten 
Selbsttäuschung,  in  einer  fortgesetzten  und  absichtlichen  Vertauschung 
von  Wirklichkeit  und  Schein.  Der  ästhetische  Genuß  soll  ein  freies 
und  bewußtes  Schweben  zwischen  Realität  und  Irrealität  sein,  oder  auch 
anders  ausgedrückt:  der  nie  gelingende  Versuch  der  Verschmelzung 
von  Original  und  Kopie.  Das  Vergnügen  an  einer  guten  graphischen 
Darstellung  einer  Kugel  würde  darauf  beruhen,  daß  der  Betrachter  bald 
eine  wirkliche  Kugel  zu  sehen  meint,  bald  darüber  sich  klar  ist,  daß 
er  nur  eine  Flächenzeichnung  betrachtet.  Das  Schaukelspiel  geht  also 
zwischen  Urteilen  hin  und  her,  zwischen  zwei  gleich  echten  Ober- 
zeugungen, nicht  etwa  zwischen  einem  Urteil  und  einer  bloßen  Annahme. 

Was  nun  das  Oszillieren  anlangt,  so  scheint  mir,  daß  der  Genießende 
von  einem  solchen  Hin-  und  Herpendeln  nichts  bemerkt  und  daß,  wo 
es  wirklich  als  Bewußtseinsinhalt  nachweisbar  ist  —  wie  bei  der  Un- 
entschlossenheit  — ,  es  nicht  angenehm  zu  sein  pflegt.  Tatsächlich 
glaubt  der  Betrachter  eines  Porträts  auch  nicht  für  einen  Augenblick, 
daß  er  den  lebendigen  Menschen  vor  sich  sehe.  Soll  dennoch  von 
einer  Illusion  gesprochen  werden  können,  so  wäre  sie  keine  andere 
als  die  so  häufige,  mit  der  wir  unter  etwas  Uneigentlichem  etwas 
Eigentliches  verstehen.  Wenn  man  gesagt  hat,  ein  Bild  bestehe  eigentlich 
nur  aus  Ölflecken,  und  diese  Wirklichkeit  werde  durch  bewußte  Selbst- 
täuschung zu  der  Illusion  einer  Landschaft  umgewandelt,  so  kann  man 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  81 


doch  auch  mit  gleichem  Recht  behaupten,  daß  der  Leser  jetzt  nur  ge- 
druckte Buchstaben  sehe,  aber  sich  der  Täuschung  hingebe,  Worte 
und  Gedanken  zu  bemerken.  Der  Hauptvertreter  dieser  Theorie  meint, 
im  Theater  wüßten  wir  wohl,  daß  der  Schauspieler  N.  N.  auf  der  Buhne 
spräche,  aber  wir  vergäßen  es  absichtlich,  um  an  seine  Stelle  eine 
dichterische  Figur  zu  setzen.  Verhält  es  sich  nicht  ähnlich  so,  wenn 
der  Student  vergißt,  daß  der  Professor  N.  N.  zu  ihm  spricht,  und  die 
Gedanken  rein  als  solche  aufnimmt?  So  gut,  wie  wir  manchmal  aus 
der  ästhetischen  Illusion  heraustreten  können,  treten  wir  überhaupt  aus 
Illusionen  heraus.  In  der  Ermüdung  beim  Lesen  apperzipieren  wir 
schließlich  nur  Worte,  beim  Korrigieren  sogar  nur  Lettern.  Es  fragt 
sich  also,  ob  nicht  das  Verhältnis  des  Eigentlichen  zum  Uneigentlichen, 
des  Repräsentierenden  und  des  Repräsentierten  auch  den  Sonderfall 
der  ästhetischen  Illusion  einschließt. 

Eine  Entscheidung  hierüber  drängt  nicht  Denn  vielleicht  sind  wir 
selbst  bei  jener  allgemeinsten  und  farblosesten  Sonderung  des  Schein- 
haften vom  Wirklichen  noch  immer  auf  falscher  Fährte.  Die  Trennung 
zwischen  Sein  und  Schein  ist  möglicherweise  gerade  bei  unserem 
Gegenstand  nicht  berechtigt;  gerade  das  ästhetische  Leben  mag  sich 
in  einer  Sphäre  abspielen,  die  diesen  Dualismus  nicht  kennt  Der 
Gegensatz  von  Ja  und  Nein,  von  Wahrheit  und  Unwahrheit,  von  Wirklich- 
keit und  NichtWirklichkeit  gehört  in  die  Urteilssphäre,  aber  nicht  in 
den  logisch  indifferenten  Zustand  des  ästhetischen  Genusses.  Dieser 
Auffassung  gemäß  ist  eben  das  Schöne  fähig,  einen  Zusammenklang 
der  seelischen  Kräfte  untereinander  und  mit  der  Außenwelt  herzustellen. 
Erst  wenn  der  Mensch  vom  Baum  der  Erkenntnis  gekostet  hat,  dann 
tritt  der  Zwiespalt  ein  zwischen  Innen  und  Außen.  Das  künstlerische 
Genie  aber  ist  gleich  dem  Kinde  noch  im  Stande  der  Unschuld:  es 
führt  uns  wieder  zu  der  Einheit,  die  wir  verloren  haben,  und  läßt  uns 
mit  Goethe  bekennen: 

»Nichts  ist  drinnen,  nichts  ist  draußen; 
Denn  was  innen,  das  ist  außen.c 

(Epirrhema,  in  »Gott  und  Welt«.) 

Indem  das  »Außen«  mit  der  Natur,  das  »Innen«  mit  dem  Geiste 
gleichgesetzt  wird,  leuchtet  nunmehr  Fichtes  Satz  ein:  »Die  Kunst 
macht  den  transzendentalen  Standpunkt  zum  gemeinen.«  Deutlicher 
nämlich  läßt  er  sich  dahin  aussprechen,  daß  das  Identitätsbewußtsein 
der  Metaphysik  unwillkürlich  und  anschaulich  im  Künstlerischen  sich 
darstelle.  In  der  Tat  stimmen  Künstler  und  idealistische  Metaphysiker 
in  dem  Gefühl  überein,  daß  Geist  und  Natur  eins  ist  Die  spekulative 
Philosophie  stellt  über  allen  Teilbetätigungen  des  Menschen  eine  Ein- 

Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Kunstwissenschaft.  6 


82  II-  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

heit  her,  die  der  Kunstler  gleich  dem  Kind  und  dem  Naturmenschen 
von  vornherein  hat,  da  er  noch  nicht  differenziert  ist  Durch  das 
gleiche  Identitätsstreben  sind  Kunst  und  Metaphysik  formal  miteinander 
verwandt  Aber  indem  man  den  Künstler  zum  Metaphysiker  machte, 
b^ng  man  denselben  Fehler  wie  Friedrich  Schlegel,  der  den  Tiefsinn 
der  Sprachwurzeln  und  primitiven  Gebräuche  durch  ein  Wunder  er- 
klären wollte.  Weder  hat  die  Menschheit  mit  einem  Zustand  der  Voll- 
kommenheit ihr  Dasein  begonnen,  noch  ist  der  Künstler  vom  Onaden- 
schein  offenbarter  Weisheit  becf^^ahlt  Vielmehr  ist  bei  beiden  noch 
nicht  jene  Zeriegung  eingetreten,  deren  Zusammenschluß  späterhin  als 
neue  Aufgabe  auftritt. 

Auch  die  sogenannte  Gefühlsästhetik  läßt  sich  von  hier  aus 
verstehen  und  vertiefen.  Man  muß  sich  freilich  den  folgenden  Tat- 
bestand vergegenwärtigen.  So  oft  Gefühle  als  das  Zentrum  des  ästhe- 
tischen Lebens  behauptet  werden,  handelt  es  sich  nicht  nur  um  den 
G^ensatz  von  Lust  und  Unlust,  sondern  darum,  daß  das  Gefühl  als 
die  fruchtbare  Anlage  erscheint,  aus  der  sich  die  übrigen  Äußerungen 
unseres  seelischen  Wesens  erheben.  Es  scheint  keine  seelische  Fähig- 
keit zu  geben,  die  nicht  ins  Gefühlsmäßige  ausstrahlen,  und  keine,  die 
nicht  vom  Gefühlsmäßigen  ausgehen  kann.  Zwischen  dem  zentripetalen 
Erkennen  und  dem  zentrifugalen  Wollen  steht  das  zentrale  Fühlen  in 
der  beherrschenden  Mitte.  Daher  soll  die  ganze  Summe  unseres 
geistigen  Wesens  im  Gefühl,  also  auch  nach  dieser  Theorie  im  Ästhe^ 
tischen  befaßt  sein.  Der  ungeheure  Gegensatz,  in  dem  das  ästhetische 
Dasein  zum  wissenschaftlichen  und  praktischen  Dasein  sich  befindet, 
wird  ausgedrückt  durch  den  Versuch,  die  Gesamtheit  der  ästhetischen 
Vorgänge  auf  Gefühlen  aufzubauen.  Wie  das  Urteil  —  nach  alter  Lehre 
ein  Mittleres  zwischen  Begriff  und  Schluß  und  zugleich  eine  vis  aesti- 
mativa  —  den  Herzpunkt  der  Logik  bildet,  so  das  Gefühl  —  nach 
alter  Lehre  ein  Mittleres  zwischen  Verstand  und  Wille  und  zugleich 
eine  vis  aestimativa  —  den  Herzpunkt  der  Ästhetik. 

Doch  würde  dies  alles  zur  Rechtfertigung  einer  Gefühlsästhetik 
kaum  ausreichen,  wenn  das  Gefühl  bloß  subjektiver  Zustand  wäre. 
Das  Gefühl  hat  aber  seinen  Gegenstand  in  sich,  allerdings  in  anderer 
Weise,  als  die  Wahrnehmung  ihren  Gegenstand  in  sich  hat  Für  das 
unmittelbare  Erieben  gilt  das  Gefühl  nicht  als  die  innere  Wahrneh- 
mung eines  nur  persönlichen  Befindens,  sondern  es  wird  so  lebhaft 
und  sicher  auf  Objekte  bezogen,  daß  in  einer  unbefangenen  Philo- 
sophie regelmäßig  Gefühlsqualitäten  den  Gegenständen,  ja  sogar  den 
Dingen  an  sich  beigel^  werden.  So  geschah  es  selbst  bei  den 
griechischen  Skeptikern.  Mit  dem  Gefühl  ist  fürs  Erleben  das  Be- 
wußtsein verbunden,  daß  hier  die  Seele  völlig  sich  verschmilzt  mit 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  83 


einem  äußeren  Objekt;  und  gerade  dies  Verschmolzensein  hatten  wir 
vorher  als  ein  Kennzeichen  des  ästhetischen  Zustandes  herausgefunden. 
Vorausgesetzt,  daß  künstlerisches  Leben  in  der  Vereinheitlichung  wur- 
zelt, so  li^  es  auch  im  Gefühl  beschlossen,  da  dieses  sowohl  eine 
Vereinheitlichung  aller  sonst  in  der  Auffassung  getrennten  seelischen 
Erscheinungen  als  auch  des  Subjektes  mit  dem  Objekt  bedeutet 

Von  der  ästhetischen  Identitätstheorie  ist  nur  noch  ein  Schritt  zum 
Prinzip  der  Einfühlung.  Wir  wollen  versuchen,  ihn  mit  Hilfe 
spekulativer  Philosopheme  zu  vollziehen.  Die  Urtatsache  unseres 
Wesens,  die  immer  ein  Rätsel  bleiben  wird,  ist  das  Selbstbewußtsein. 
Indem  wir  uns  beobachten,  spalten  wir  unsere  Ich-Einheit  in  Subjekt 
und  Objekt.  Wir  stellen,  wie  Fichte  sagt,  zwei  Reihen  in  uns  her, 
von  denen  die  eine  die  Inhalte  unseres  Bewußtseins,  die  andere  das 
Wissen  von  diesen  Inhalten  bezeichnet  Nehmen  wir  mit  dem  deut- 
schen Idealismus  an,  daß  die  Welt  Vernunft  ist  gleich  der  in  uns,  so 
kann  auch  das  Erfahrungsding,  ja  sogar  das  Ding  an  sich  als  zur 
primären  Reihe  gehörig  betrachtet  werden.  Alles,  was  wir  Objekt 
nennen,  ist  aus  der  ursprünglichen  Teilbarkeit  des  Ich  entstanden:  es 
ist  durch  jene  Urfähigkeit  des  Ich  vom  Subjekt  abgespalten.  Sofern 
sich  nun  der  Geist  des  subjektiven  Ursprungs  auch  der  Objekte  be- 
wußt bleibt,  sie  als  geistbeseelt  und  lebendig  weiß  und  sich  selber  in 
ihnen  wiederfindet,  entsteht  das  Gefühl  des  Schönen.  Wir  genießen 
ästhetisch  durch  Einfühlung,  d.  h.  also  nach  dieser  hier  nur  um- 
schatteten metaphysischen  Theorie:  wir  werden  uns  bewußt,  daß  auch 
die  Gegenstände  Vorstellungen  des  Ich  sind,  von  denen  das  Ich  weiß, 
weil  es  Subjekt  und  Objekt  zugleich  ist  —  Diese  etwas  komplizierte 
Rückführung  kann  indessen  durch  eine  einfachere  Oberi^ung  ersetzt 
werden.  Wir  brauchen,  um  der  Einfühlungslehre  philosophischen  Halt 
zu  geben,  uns  nur  der  Weltanschauung  des  Anthropomorphismus  zu 
erinnern.  Die  Welt  kann  b^^ffen  werden,  indem  wir  sie  nach  uns 
selbst  deuten,  und  ihre  Schönheit  sowie  die  Schöpfung  der  Kunst 
sind  dann  der  prägnanteste  Ausdruck  dieser  Weltinterpretation.  Wie 
Narkissos  sich  im  Quell  bespiegelt  und  liebt,  so  bespiegelt  sich  das 
anthropomorphe  Denken  in  der  ganzen  Natur.  Dieser  Narkissos  ist 
das  Vorbild  und  das  Symbol  des  Künstlers.  Denn  wo  an  der  äußeren 
Welt  die  menschliche  Persönlichkeit  zur  Selbstempfindung  gelangt,  da 
tritt  sie  ein  in  den  ästhetischen  Zustand.  Die  Schönheit  kommt  mehr 
von  innen  heraus  als  von  außen  hinein.  Wir  ergreifen  das  Schöne 
von  den  Formen  unserer  Seele  aus,  durch  ihr  Leben,  Wachsen,  Ver- 
gehen. 

Unabhängig  von  Identitätsphilosophie  und  Anthropomorphismus 
hat  die  Einfühlungstheorie  sich  während  der  letzten  Jahrzehnte  ent- 


84  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

wickelt  Doch  der  Grundgedanke  ist  derselbe  geblieben:  der  ästhe- 
tische Genuß  wird  nach  wie  vor  in  dem  Einklang  des  Eigenen  und 
des  Fremden  gefunden.  Sobald  ein  objektiv  Gegebenes  uns  die  Mög- 
lichkeit gewährt,  uns  frei  an  ihm  auszuleben,  empfinden  wir  eine  be- 
sondere Freude.  Wie  aber  kann  uns  ein  Gegenstand  diese  Möglich- 
keit darbieten?  Ältere  Ästhetiker  antworteten  mit  bloßen  Beschrei- 
bungen. Robert  Vischer  z.  B.  schildert,  wie  der  Blick  mit  einer 
betrachteten  Windung  vorwärts  gleitet,  bald  träumerisch  zögernd,  bald 
hastig  fortschießend.  »Die  mit  der  angeschauten  Form  zusammen- 
hängende Richtung  und  das  Zeitmaß  dieser  Bewegung  bekommen  so 
den  Charakter  von  menschlichen  Intentionen  und  Wallungen.c  (Das 
optische  Formgefühl,  S.  24.)  »Die  Symbolisierungskraft  der  Phantasie 
braucht  nicht  einmal  durch  die  äußere  Form  der  Gegenstände  sich  an 
menschliche  Gestaltung  gemahnen  zu  lassen.  Bloße  Töne  und  Farben 
genügen  oft,  daß  eine  Stimmung  aus  ihnen  uns  entgegenspricht« 
»Des  Dichters  Feinfühligkeit  beseelt  ein  Objekt,  wo  es  auch  nur  von 
fern  an  Menschliches  gemahnt«  (Carl  du  Prel,  Psychologie  der  Lyrik, 
1887,  S.  88.)  Zu  einer  Erklärung  ist,  wenigstens  in  Bezug  auf  die 
Musik,  Hermann  Lotze  fortgeschritten.  Die  Übertragung  seelischer 
Vorgänge  auf  die  Klanggebilde  wird,  wie  er  richtig  bemerkt,  durch 
mancherlei  Eigentümlichkeiten  des  Klanges  erleichtert.  Das  organische 
Wachsen  und  Vergehen  in  uns  wiederholt  sich  in  den  unzähligen 
Abstufungen  der  Intensität,  die  mit  Tönen  herzustellen  sind.  Alle  die 
Arten  des  Übergangs  von  einem  Bewußtseinsinhalt  zum  anderen,  alle 
Nuancen  vom  allmählichen  Hinübergleiten  bis  zum  Sprung  finden  sich 
in  den  musikalischen  Formen  wieder.  Der  Zeitcharakter  des  Seelischen 
haftet  auch  den  Tönen  an.  Beiden  gemeinsam  ist  schließlich  der  Er- 
eignischarakter. Wenn  demnach  Bestimmtheiten  des  Ich  leicht  als  Be- 
stimmtheiten der  musikalischen  Wirklichkeit  auftreten  können,  so  soll 
der  Genuß  eben  in  dieser  Gleichartigkeit  und  Gleichstimmigkeit  zu 
finden  sein.  Die  Musik  gefällt,  weil  sie  eine  Art  seelischer  Bewe- 
gung ist. 

Der  bedeutendste  unter  den  neueren  Vertretern  des  Einfühlungs- 
prinzips, Theodor  Lipps,  glaubt  sogar  den  aus  der  Einfühlung  stam- 
menden Genuß  am  Rhythmus  auf  Assoziation  der  Ähnlichkeit  zurQck- 
führen  zu  können.  Da  im  Rhythmus  die  Gleichartigkeit  der  Elemente 
und  der  Gruppen  den  Hörer  vorwärtsdrängt,  so  entspricht  der  objektive 
Verlauf  der  jedem  psychischen  Geschehen  zukommenden  Tendenz,  in 
gleichartiger  Weise  fortzugehen.  Diese  Tendenz,  das  Gesetz  der 
Ähnlichkeitsassoziation,  wird  zu  einem  Gesetz  der  psychischen  Reso- 
nanz des  Ähnlichen  erweitert.  Jede  besondere  Rhythmik  einer  psychi- 
schen Bewegung  sucht  die  Gesamtheit  der  Bewußtseinsvorgänge  sich 


.  J 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  85 


ZU  unterwerfen.  Der  Charakter  des  Rhythmus  liegt  in  einer  allge- 
meinen Freiheit  oder  Leichtigkeit  oder  Schwere  oder  Gebundenheit, 
so  daß  seelische  Vorgänge  von  beliebigem  Inhalt,  ja  alle  möglichen 
Inhalte  zum  Mitschwingen  gebracht  werden  können.  Indem  auf  solche 
Weise  eine  Oesamtstimmung  der  Persönlichkeit  entsteht,  wird  sie  doch 
auch  dem  Objekt  zugesprochen,  weil  sie  durch  den  gehörten  Rhythmus 
aufgenötigt  und  unmittelbar  an  ihn  gebunden  ist*).  Die  Voraus- 
setzung bildet  Lippsens  Meinung,  daß  die  Aufgabe  der  Psychologie 
darin  bestehe,  »aus  den  Bewußtseinsinhalten  die  [unbewußten]  psy- 
chischen Vorgänge  und  ihre  Wechselwirkung  zu  erschließen  und  so 
die  Bewußtseinsinhalte  verständlich  zu  machen.« 

Die  ausführlichsten  Untersuchungen  besitzen  wir  Ober  das  Ver- 
hältnis der  Einfühlung  zu  den  räumlichen  Formen.  An  dem  Beispiel 
der  für  die  Betrachtung  sich  aufrichtenden  und  zusammenfassenden 
dorischen  Säule  hat  Lipps  klarzustellen  versucht,  wie  gegebene  Raum- 
formen zunächst  dynamisch,  alsdann  anthropomorphistisch  gedeutet 
werden.  Wir  legen  in  das  geometrische  Gebilde  nicht  nur  Kraft- 
entwickelung hinein,  sondern  auch  freie  Zwecktätigkeit.  Indem  wir  es 
im  Licht  des  eigenen  Tuns  betrachten  und  demgemäß  mit  ihm  sympa- 
thisieren, empfinden  wir  es  als  schön.  Und  genauer:  in  den  bestimm- 
ten räumlichen  Formen  entfalten  sich  für  ein  nachfühlendes  Verständnis 
bestimmte  Wirkungsmöglichkeiten.  Sobald  diese  Wirkungsmöglich- 
keiten Ideen  genannt  werden,  wird  von  neuem  ersichtlich,  daß  die 
Einfühlungstheorie  nicht  allzu  weit  abliegt  von  den  Erklärungsprin- 
zipien der  metaphysischen  Ästhetik.  Der  Hauptunterschied  wäre 
schließlich  der,  daß  der  empirische  Ursprung  und  die  reflexionslose 
Beschaffenheit  solcher  Ideen  behauptet  wird.  Aber  ob  nun  die  Ideen, 
die  z.  B.  innerhalb  der  Architektur  den  Kampf  von  Kraft  und  Last, 
von  Druck  und  Gegendruck  im  einzelnen  bedeuten,  bei  Schopenhauer 
als  platonisch  gefaßte  Objektivationsstufen  des  Willens  behandelt 
werden  oder  in  der  gegenwärtigen  Ästhetik  als  Erfahrungen  auftreten, 
die  jedermann  besitzt  und  durch  die  ihm  die  Formen  sinnvoll  er- 
scheinen, —  in  den  Grundzügen  bleibt  doch  eine  unverkennbare  Ver- 
wandtschaft. 

Noch  durch  ein  anderes  Moment  wird  der  Grundsatz  der  Einfüh- 
lung einer  früher  besprochenen  anderen  Hypothese  angenähert.  Die 
sympathische  Einfühlung,  so  hören  wir,  gefällt  als  ein  Akt  der  Frei- 
heit, d.  h.  als  ein  sich  Entgegenkommen  von  Subjekt  und  Objekt. 
Objektivität  und  Aktivität,  erfahrenes  und  eigenes  Tun  schließen  sich 
zusammen.  In  den  gegebenen  Formen  der  Architektur  eriebe  ich  mich 
als  einen  leicht  Spielenden  oder  Hemmungen  kraftvoll  Überwindenden 
und  hierdurch  fühle  ich  mich  beglückt.     Dies  Glücksgefühl   besteht 


86  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

also  letzten  Endes  in  der  Freude  an  einer  seelischen  Tätigkeit  als 
solcher.  Das  Entgegenkommen  des  ästhetischen  Objekts  erleichtert 
mir  ein  befreites  und  ins  Größere  gehobenes  Seelenleben,  Offenbar 
ist  diese  Erklärung  jener  bereits  erörterten  verwandt,  nach  der  der 
ästhetische  Genuß  in  der  Funktionslust  zu  finden  ist.  Um  einer  solchen, 
sehr  entschiedenen  Subjektivierung  nicht  anheimzufallen,  läßt  Volkelts 
Ästhetik  der  Einfühlung,  die  in  der  Verschmelzung  von  Gefühl  und 
Anschauung  bestehen  soll,  auf  der  gegenständlichen  Seite  etwas  ent- 
sprechen, nämlich  die  Einheit  von  Gehalt  und  Form. 

War  bisher  angenommen  worden,  daß  wirkliche  Gefühle  eingefühlt 
werden,  so  darf  nicht  verschwiegen  werden,  daß  andere  Forscher  nur 
die  anschaulichen  Vorstellungen  der  Gefühle  zur  Einschmelzung  in 
das  Objekt  gelangen  lassen').  Der  Inhalt  einer  anschaulichen  Vor- 
stellung ist  ebenso  reich  an  Bestimmungen  wie  das  Gefühl  selbst, 
dessen  Abbild  sie  ist;  aber  der  Akt  des  Gefühls  geht  verloren.  Wenn 
z.  B.  die  in  den  ästhetisch  erfreuenden  Gegenstand  eingeschmolzene 
Trauer  nicht  wirkliche  Trauer,  sondern  nur  die  anschauliche  Vorstel- 
lung davon  ist,  so  unterscheidet  sich  ästhetisches  Mitfühlen  von  der 
gewöhnlichen  Sympathie  wie  anschauliches  vom  unanschaulichen  Vor- 
stellen. Unter  der  Voraussetzung,  daß  ästhetisches  Verhalten  in  einem 
wirklichen  Fühlen  besteht,  folgt  allerdings  daraus,  daß  die  Einfühlung 
—  als  bloße  Vorstellung  von  Gefühlen  —  nicht  den  Kern  des  ästhe- 
tischen Verhaltens  ausmachen  kann.  Diese  Folgerung  ergibt  sich,  wie 
wir  bald  sehen  werden,  auch  aus  anderen  kritischen  Überlegungen. 
Die  soeben  wiedergegebene  Begründung  unterliegt  indessen  dem 
Zweifel,  ob  überhaupt  anschauliche  Vorstellungen  von  Gefühlen  exi- 
stieren. Bei  den  Versuchen,  solche  Vorstellungen  zu  beobachten  oder 
gar  zu  erzeugen,  hat  sich  mir  wenigstens  ergeben,  daß  entweder  ein 
wirkliches  Gefühl  wieder  eintritt,  oder  doch  etwas,  was  ich  nicht 
anders  zu  bezeichnen  wüßte,  oder  daß  es  sich  um  vorgestellte  Aus- 
drucksformen der  Gefühle  handelt,  oder  schließlich  um  bloße  Wort- 
vorstellungen. Man  kann,  wie  mir  scheint,  von  der  Vorstellung  eines 
Gefühls  nur  in  dem  Sinne  sprechen,  daß  man  entweder  darunter  ver- 
steht anschauliche  Vorstellungen  von  Gefühlsäußerungen  aller  Art  oder 
begriffliche  Umschreibungen  der  Gefühle  selbst.  In  beiden  Fällen  wäre 
es  irreleitend,  von  einem  Vorstellen  des  Gefühlsmäßigen  zu  sprechen, 
da  der  eigentliche  Inhalt  des  Gefühls  und  nicht  nur  sein  Akt  dem 
Bewußtsein  fern  bleibt.  Alle  die  Gemeinempfindungen,  namentlich 
auch  die  Spannungsempfindungen,  die  beim  Einfühlen  auftreten,  sind 
sehr  real  und  nicht  bloß  vorgestellt. 

Nun  zu  den  anderen  Gegengründen.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel, 
daß  die  Einfühlung  für  weite  Gebiete  des  Ästhetischen  eine  entschei- 


DER  SUBJEKTIVISMUS.  87 


dende  Rolle  spielt,  und  daß  überall  an  die  anthropomorphisierende 
Betrachtung  sich  künstlerisches  Interesse  anschließen  kann.  Aber  es 
fragt  sich,  ob  jeglicher  ästhetischer  Genuß  im  beglückenden  Sympathie- 
gefühl besteht.  Einfache  Muster  und  Ornamente  erregen  ästhetisches 
Gefallen,  ohne  daß  man  die  wohlgefällige  Regelmäßigkeit  auf  eine  von 
uns  ausgehende  Beseelung  zurückzuführen  brauchte.  Von  den  archi- 
tektonischen Formen  sind  die  gleichsam  organischen  Bindeglieder 
gewiß  in  der  Hauptsache  durch  personifizierende  Auffassung  ein 
Gegenstand  ästhetischer  Freude^).  Das  spezifisch  Architektonische 
jedoch,  die  starre  Gesetzlichkeit  der  monumentalen  Formen,  steht 
unserem  Anempfinden  ganz  fremd  gegenüber.  Was  an  solchen  Ge- 
bilden den  Erfahrungen  des  Ich  analog  und  daher  auch  allen  wechseln- 
den individuellen  Dispositionen  unterworfen  ist,  wird  mit  dem  Worte 
Stimmung  am  treffendsten  bezeichnet.  Gotische  Dome,  Rokokosalons 
u.  dergl.  sind  stimmungsvoll,  weil  eine  gewisse  Totalität  des  Seelen- 
lebens in  ihnen  zum  Ausdruck  gelangt  Es  ist  in  dem  Objekt  alles 
Einzelne  zu  einem  harmonischen  Ganzen  von  der  Art  zusammengefaßt, 
wie  auch  unsere  Seele  manchmal  alles  Einzelne  zu  einer  ungestörten 
Bewegung  vereinigt  Stimmung  legen  wir  in  solchen  Fällen  dem  Sub- 
jekt und  dem  Objekt  bei.  Indessen  Stimmung  fällt  ebenso  wenig  wie 
etwa  das  Malerische  mit  dem  weiten  Begriff  des  Ästhetischen  zusam- 
men. Ja  man  möchte  die  Behauptung  wagen,  daß  die  Gleichnissprache 
des  Schönen  ihren  unerschöpflichen  Reiz  dadurch  gewinnt,  daß  sie 
ähnlich  und  doch  andersartig  wie  unser  Gemüt  spricht  Der  unauf- 
höriiche  Kampf  zwischen  der  Einheit  mit  uns  und  dem  G^ensatz  zu 
uns  gibt  der  Kunst  ihre  Lebendigkeit  und  Macht 

In  der  Wurzel  wird  das  ganze  Einfühlungsprinzip  angegriffen,  wenn 
man  sowohl  Gefühlsübertragung  als  auch  das  Auftreten  anschaulicher 
Gefühlsvorstellungen  leugnet  Skeptische  Gemüter  könnten  zu  der 
Meinung  gelangen,  daß  der  wirkliche  innere  Vorgang  ganz  anders  ver- 
läuft und  der  Anschein  einer  anthropomorphisierenden  Beseelung,  eines 
Leihens  und  Sichhineinfühlens  aus  der  Verwendung  von  Worten  ent- 
steht, mit  denen  wir  das  ästhetische  Objekt  und  unseren  Zustand 
bezeichnen.  Der  Einwand  ist  beachtenswert,  daß  wir  der  Sprach- 
verführung zum  Opfer  fallen,  wenn  wir  uns  einbilden,  den  Genuß 
einer  Beseelung  des  Gegenstandes  zu  verdanken.  Denn  wir  beschrei- 
ben wohl  ein  eindrucksvolles  Objekt  mit  solchen  lebendigen  Worten, 
aber  nur  deshalb,  weil  diese  Worte  uns  zunächst  liegen  und  die 
größte  Bedeutung  besitzen.  Wäre  es  möglich,  den  beim  ästhetischen 
Genuß  vorhandenen  Seelenzustand  anders  als  in  den  Sprachformen 
wiederzugeben,  so  würden  wir  erkennen,  daß  er  seinem  Wesen  nach 
nichts  mit  einer  Verschmelzung  oder  gar  mit  einer  Vertauschung  zu 


88  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

tun  hat.  Die  Metaphern,  mit  denen  die  Ästhetiker  arbeiten,  sind  nicht 
der  unverfälschte  Abdruck  des  wahrhaften  Vorganges,  sondern  ihr 
sprachliches  Rüstzeug*).  In  einer  gewissen  Weise  gehen  solche  Ana- 
lysen auf  den  Urzustand  zurück.  Indem  sie  hinter  der  Außenseite  des 
Dinges  Bewegung  und  Kräftespiel  suchen,  stellen  sie  die  primitive 
Vorherrschaft  des  Tätigkeitswortes  wieder  her,  drücken  sich  so  aus 
wie  es  vermutlich  in  vorgeschichtlichen  Zeiten  überall  geschah.  Sie 
ziehen  Nutzen  aus  der  Armut  der  Sprache.  Es  wird  erzählt,  daß  ein 
Negerkind,  das  zum  ersten  Male  Schneeflocken  sah,  entzückt  ausrief: 
»Ach,  die  vielen  weißen  Schmetterlinge,  die  dort  miteinander  spielen!« 
Das  ist  kein  Bild,  sondern  entspringt  einer  Beschränktheit  im  Erfah- 
rungs-  und  Sprachstoff;  man  darf  von  der  anscheinend  so  liebens- 
würdigen und  poetischen  Redewendung  nicht  auf  eine  ihr  wahrhaft 
gemäße  Auffassung  schließen.  Alle  Mythen  schildern  Naturvorgänge 
wie  menschliche  Handlungen,  aber  sie  bezeichnen  damit  lediglich  das 
Gegebene  auf  die  ihnen  ausschließlich  zu  Gebote  stehende  Art.  Wenn 
ich  keine  deutliche  Vorstellung  von  tektonischen  Verhältnissen  habe, 
so  fehlen  mir  auch  die  entsprechenden  Worte  und  ich  kann  die  Ver- 
richtung der  Teile  nicht  anders  bezeichnen  als  mit  den  mir  geläufigen 
Worten  für  das  Leben  in  seinen  wohlbekannten  Tätigkeitsformen. 
Dadurch  nun  scheint  der  wirkliche  Vorgang  der  ästhetischen  Bewer- 
tung getroffen  zu  sein,  weil  das  Fremde  in  den  Kreis  des  Vertrauten 
übergeführt  worden  ist;  diese  Behandlungsart  wirkt  umso  bestechender, 
je  ausgedehnter  und  feiner  zerlegt  der  Wortschatz  ist,  der  das  Bew^- 
liche.  Dynamische,  Lebendige,  Organische  umfaßt.  Die  neuere  Lite- 
ratur über  Einfühlung  hat  uns  mit  einer  Fülle  von  Redewendungen 
überschüttet  und  in  ihnen  unverkennbar  das  Verhalten  der  Seele  ge- 
kennzeichnet, wie  es  in  manchen  Fällen  dunkel  gefühlt  und  instinktiv 
erfahren  wird.  Aber  die  Theorie  droht  zu  einer  schablonenhaften 
Versprachlichung  sich  auszuwachsen  und  namentlich  in  den  Händen 
von  Nachahmern  zu  einer  Terminologie  zu  werden,  von  der  fast  das 
nämliche  gilt,  was  oben  (S.  48/9)  von  der  Hegeischen  Schule  und  von 
den  modernen  Stilkünstlern  geistreicher  Verallgemeinerung  bemerkt 
wurde. 

Somit  zeigt  sich  auch  bei  dem  Einfühlungsprinzip,  daß  es  gleich 
seinen  Genossen  berechtigten  Angriffen  ausgesetzt  ist.  Der  Glaube 
an  eine  alles  erklärende  Formel  ist  ein  Irrwahn.  In  Wahrheit  hat  jeder 
der  aufgezählten  Grundsätze  seine  relative  Berechtigung.  Und  da  sie 
alle  untereinander  Ähnlichkeitspunkte  besitzen,  so  fällt  es  den  Virtuosen 
der  Begriffstechnik  und  der  Sprachgestaltung  nicht  schwer,  das  Ge- 
meinsame in  einen  einzigen  Satz  zusammenzupressen.  Doch  ist  mit 
einer  so  allgemeinen  Formel  gegenüber  der  Fülle  des  Tatsächlichen 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  8Q 

nichts  gewonnen;  ebensowenig  —  wie  wir  nunmehr  nachweisen 
müssen  —  mit  der  bündigen  Aufstellung  einer  einzigen  Methode  für 
unsere  Wissenschaft. 


3.  Das  Problem  der  Methode, 

Eine  Ästhetik,  die  ihre  Prinzipien  auf  irgendwelche  Beschaffenheiten 
des  Gegenstandes  begründet,  wird  leicht  zu  der  methodologischen 
Folgerung  fortgetrieben,  daß  die  Reaktion  des  Ich  etwas  verhältnismäßig 
Gleichgültiges  ist.  In  ihrem  Sinne  könnte  man  die  folgende  Erwägung 
anstellen.  Bei  den  Empfänglichen  tritt  der  R^el  nach  Genuß  ein;  aber 
würde  er  ausbleiben,  so  verlöre  darum  der  Gegenstand  noch  nicht 
seinen  ästhetischen  Wert.  Ein  farbenglühender  Sonnenuntergang  ist 
schön  —  mögen  Menschen  davon  ergriffen  werden  oder  nicht;  der 
»Faust«  oder  Beethovens  Heroische  Sinfonie  sind  unvergängliche  Kunst- 
werke, und  es  tut  ihnen  keinen  Abbruch,  daß  so  viele  ihnen  stumpf 
gegenüberstehen.  Wie  will  sich  eine  subjektivistische  Ästhetik  vor 
vollkommener  Zersplitterung  bewahren?  Die  Unterschiede  der  Indivi- 
duen in  der  Beurteilung  des  ästhetischen  Gegenstandes,  die  Unter- 
schiede der  Zeit  und  der  nationalen  Geschmacksrichtung  entziehen  ihr 
schließlich  den  festen  Boden.  Also  muß  auch  das  Verfahren  der  Äs- 
thetik ein  gegenständliches  sein. 

Die  Partei  der  Subjektivisten  jedoch  fühlt  sich  nicht  geschlagen, 
da  sie  mehrere  Auswege  aus  ihrer  anscheinend  bedenklichen  Lage  sieht. 
Sie  gewinnt  sogleich  dadurch  einen  sicheren  Standpunkt,  daß  sie  dem 
gefühlsmäßig  wertenden  Individuum  das  Recht  zugesteht,  in  ästhetischen 
Dingen  ganz  nach  Belieben  zu  urteilen.  Solange  jemand  behauptet: 
das  dort  gefällt  mir  oder  mißfällt  mir,  ist  er  weder  einem  Angriff  noch 
einer  Belehrung  ausgesetzt  Erst  wenn  er  eine  Begründung  geben 
oder  andere  zu  seinem  Eindruck  bekehren  will,  beginnt  die  Diskussion. 
Freilich  entsteht  nun  Willkür  und  Zügellosigkeit  Aber  sie  bezieht  sich 
doch  bloß  auf  die  Gegenstände  der  ästhetischen  Lust  und  nicht  auf 
diese  selbst;  denn  ihre  eigentümliche  Beschaffenheit  und  innere  Gesetz- 
mäßigkeit bleibt  dieselbe.  Das  richtige  Verfahren  bestünde  daher  in 
der  psychologischen  Zergliederung  des  Genusses,  gleichgültig  wodurch 
er  hervorgerufen  wird.  Das  Objekt  des  Genusses  fällt  gar  nicht  in 
die  Wagschale,  da  alles  auf  die  Neigung  des  Individuums  ankommt, 
einen  ästhetischen  Zustand  herzustellen.  Niemand  vermöchte  mit  Sicher- 
heit zu  sagen,  ob  ein  bestimmter  natürlicher  oder  künstlich  hergestellter 
Gegenstand  ästhetischen  Wert  besitzt:  es  gibt  —  so  lesen  wir  in  einem 
jüngst  erschienenen  Buch  —  kein  objektives  Merkmal,  das,  in  jeder 


90  II.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Dichtung  auftretend,  mir  immer  mit  Sicherheit  ermöglichte,  sie  als 
Dichtung  zu  erkennen;  vielmehr  ist  jedes  sprachliche  Werk  für  mich 
eine  Dichtung,  sobald  und  solange  ich  mich  ihm  gegenüber  in  dem 
eigentümlichen,  mir  wohlbekannten  Zustand  der  ästhetischen  An- 
schauung befinde^®).  Die  psychologische  Wissenschaft  von  diesem 
Zustand  heißt  Ästhetik. 

Wer  vor  der  Atomisierung  des  ästhetischen  Lebens  zurückschreckt 
und  dennoch  im  Subjektiven  verharren  will,  kann  eine  Wertreihe  der 
Empfänglichkeiten  aufstellen.  Sie  dürfte  etwa  so  aussehen:  Zu  unterst 
steht  diejenige  Seelenverfassung,  in  der  ein  Sinn  für  das  Schöne  völlig 
fehlt.  Eine  solche  Oeisteskonstitution  muß  krankhaft  oder  abnorm 
genannt  werden.  Wie  es  einen  moralischen  Irrsinn  gibt,  nämlich  Un- 
fähigkeit, zwischen  gut  und  böse  zu  unterscheiden,  so  gibt  es  auch 
einen  ästhetischen  Irrsinn.  Häufiger  ist  die  Unempfindlichkeit  gegen- 
über einem  Gebiet,  z.  B.  dem  der  Musik.  —  Dann  folgt  die  große 
Anzahl  derer,  die  einen  groben  und  durchschnittlichen  Geschmack  be- 
sitzen. Wenigstens  würden  wir  es  so  ausdrücken.  Aber  mehrere 
Umstände  lassen  diese  Ausdrucksweise  als  eine  immerhin  einseitige 
erscheinen.  Der  naive  Geschmack  kann  ebenso  starke  (wenn  auch 
anders  geartete)  Freuden  erleben  wie  die  verfeinerte  Empfänglichkeit; 
ja,  für  die  nicht  ästhetischen  Bestandteile  des  Kunstwerks  hat  er  sogar 
meist  das  frischere  Verständnis.  Deshalb  bevorzugen  Künstler,  die 
nach  breiter  und  unmittelbarer  Wirkung  streben,  die  ästhetisch  weniger 
Gebildeten.  Nur  für  eine  bestimmte  aristokratische  Anschauung  tritt 
das  Urteil  der  Masse  zurück  hinter  das  Urteil  der  Kenner.  Die  Ent- 
scheidung derer,  die  in  eine  solche  Idealgruppe  gehören,  würde  dem- 
gemäß das  Richtmaß  bilden,  obgleich  auch  von  ihr  im  Sinne  des 
Subjektivismus  anerkannt  werden  mag,  daß  sie  sich  nicht  auf  nach- 
weisbare objektive  Verhältnisse  stützt. 

Die  Einfühlungstheorie  gibt  dem  gleichen  Gedanken  eine  neue 
Wendung.  Der  Mensch,  der  durch  Beseelung  den  Gegenstand  zu 
einem  ästhetischen  gestaltet,  soll  ihn  nicht  mit  seinem  augenblicklichen 
und  zufälligen  seelischen  Leben  anfüllen,  sondern  mit  einem  idealen 
Ich.  Diese  Anteilnahme  des  idealen  Ich  erhebt  die  ästhetische  Sym- 
pathie über  jedwede  beliebige.  Oder  um  mit  Hegel  zu  sprechen:  die 
Forderung  läuft  darauf  hinaus,  das  Subjektive  zu  objektivieren,  und 
zwar  das  allgemein  Subjektive,  nicht  das  beschränkt  Persönliche.  »In 
allen  Sphären  des  absoluten  Geistes  enthebt  der  Geist  sich  den  be- 
engenden Schranken  seines  Daseins,  indem  er  sich  aus  den  zufälligen 
Verhältnissen  seiner  Weltlichkeit  und  dem  endlichen  Gehalte  seiner 
Zwecke  und  Interessen  zu  der  Betrachtung  seines  An-  und  FOrsich- 
seins  erschließt«  (Vories.  über  die  Ästh.  1835  I,  123).   Mit  dieser  Voraus- 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  91 

Setzung  ist  die  Gefahr  eines  unwissenschaftlichen  Individualismus  ein 
für  allemal  zurückgeschlagen,  anderseits  aber  auch  der  Subjektivismus 
für  die  innigste  Verbindung  mit  dem  Objektivismus  vorbereitet. 

Die  Hauptsache  bleibt,  daß  wir  einsehen :  eine  streng  objektivistische 
Ästhetik  braucht  sich  um  den  Eindruck  des  Schönen  nicht  zu  kümmern, 
während  die  subjektivistische  Richtung  zum  Verfahren  der  Psychologie 
hinstrebt.  Es  scheint  so  natürlich,  in  seelischen  Vorgängen  den  eigent- 
lichen Gegenstand  der  Ästhetik  zu  sehen,  daß  man  unsere  Wissen- 
schaft neuerdings  geradezu  als  Psychologie  des  ästhetischen  Genusses 
und  des  künstlerischen  Schaffens  bestimmt  hat.  Sicherlich  gibt  es  eine 
Beschreibung  und  Erklärung  derjenigen  seelischen  Verrichtungen,  mit 
denen  ästhetisch  aufgefaßt  wird,  und  derjenigen  seelischen  Energien, 
durch  die  Kunst  geschaffen  wird.  So  haben  wir  ja  auch  eine  Psycho- 
logie des  Erkennens,  d.  h.  derjenigen  Vorgänge,  die  zum  Wissen  führen. 
Aber  wir  dürfen  das  Erkennen  sowie  das  Betrachten  und  Gestalten 
auch  noch  anders  als  psychologisch  behandeln,  wenn  in  seinem  Tat- 
bestand die  Aufforderung  dazu  liegt;  und  diese  Aufforderung  wird 
von  den  Kritizisten  in  dem  Unterschied  von  wahr  und  falsch,  schön 
und  häßlich  gefunden.  Die  Ästhetik  hat  die  einander  widersprechenden 
Geschmacksurteile  und  Kunstgebilde  auf  die  Berechtigung  ihres  An- 
spruchs hin^^)  zu  prüfen;  hiermit  verläßt  sie  den  Machtbereich  der 
Psychologie  und  wird  zu  einer  Wertwissenschaft  Diese  will  nicht  die 
tatsächlichen  Bedingungen  darl^en,  unter  denen  ästhetische  Seelen- 
prozesse entspringen,  verlaufen  und  wirken,  sondern  die  Frage  be- 
antworten: wie  beschaffen  sollen  die  Akte  des  Aufnehmens  und  Er- 
zeugens sein,  damit  ihre  Aussagen  und  Leistungen  wertvoll  oder 
allgemeingültig  werden.  Vor  den  Augen  des  Psychologen  sind  alle 
inneren  Tatsachen  gleich  bedeutsam,  die  kritische  Ästhetik  jedoch  hat 
es  nur  mit  solchen  zu  tun,  die  Wert  oder  Gültigkeit  besitzen. 

Eine  besondere  Schwierigkeit  erwächst  der  psychologischen  Be- 
handlung ästhetischer  Fragen  aus  dem  Widerspruch  zwischen  der 
wirklich  vorhandenen  und  der  theoretisch  vorauszusetzenden  Bewußt- 
seinsbeschaffenheit. Da  sie  an  logischen  Verhältnissen  am  deutlichsten 
wird,  will  ich  sie  an  ihnen  erläutern.  Es  ist  neuerdings  mit  einem 
gewissen  Erstaunen  berichtet  und  vernommen  worden,  daß  experi- 
mentell hervorgerufene  Urteilsäußerungen  (Worte,  Sätze,  Gebärden)  von 
gesetzlos  wechselnden  und  zusammenhangslosen  inneren  Erlebnissen 
begleitet  werden.  Spezifische  Bewußtseinsvorgänge,  die  den  Urteils- 
charakter eines  Urteils  bedingen,  konnten  durch  den  Versuch  nicht 
entdeckt  werden.  Etwas  Ähnliches  findet  sich  im  Gebiet  der  Begriffe. 
Man  sagt,  daß  Eigenschafts-  und  Zustandsbegriffe  durch  Abstraktion 
aus  dem  Gegenstandsbegriff  gewonnen  werden.    Aber  wer  hat  jemals 


g2  IL  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

diesen  Vorgang  des  Abstrahierens  in  sich  wahrgenommen,  als  Bewußt- 
seinsfatsache  beobachten  und  nachher  beschreiben  können?  Dennoch 
bleibt  die  genannte  »Abstraktion«  ein  notwendiger  wissenschaftlicher 
Hilfsbegriff.  Desgleichen  ist  es  eine  für  die  Logik  unentbehrliche  For- 
derung, daß  dem  Urteil  seine  Eigenart  belassen  wird,  selbst  wenn  sie 
mit  unseren  mangelhaften  psychologischen  Bemühungen  und  innerhalb 
der  schnell  und  durcheinander  spielenden  Seelentätigkeiten  als  Bewußt- 
seinstatsache nicht  zu  entdecken  ist  Eine  brauchbare  Urteilstheorie 
darf  nicht  nur  die  Bewußtseinsbeschaffenheit  zu  Grunde  l^[en.  Sollte 
es  sich  mit  der  ästhetischen  Theorie  nicht  ähnlich  verhalten? 

Wenn  man  sich  und  andere  beim  Betrachten  komischer  Zeichnungen 
beobachtet,  so  nimmt  man  öfters  wahr,  daß  Teile  des  Bildes  ein  Lächeln 
hervorrufen,  die  mit  dem  eigentlich  Komischen  darin  gar  nichts  zu  tun 
haben:  es  genügt,  daß  ein  lachendes  Gesicht  oder  ein  Affe  auf  der 
Zeichnung  apperzipiert  werden,  damit  der  Eindruck  des  Komischen 
entsteht,  zumal  wenn  man  voraussetzen  kann,  daß  es  sich  um  eine 
lustige  Illustration  handelt  Dies  geschieht,  bevor  die  wirkliche  Komik 
des  G^enstandes,  die  anderwärts  liegt,  aufgefaßt  wird.  Menschen, 
denen  lachend  ein  Scherz  erzählt  wird,  lachen  mit,  noch  ehe  sie  wissen, 
warum.  Die  Theorie  des  Komischen  scheint  sich  doch  um  diese  realen 
Bewußtseinszustände  nicht  kümmern  zu  sollen,  während  sie  für  die 
streng  und  richtig  verstandene  Psychologie  ihren  Wert  haben;  die 
ästhetische  Theorie  scheint  vielmehr  der  Annahme  zu  benötigen,  daß 
der  den  Reiz  des  Komischen  enthaltende  Eindruck  dem  komischen 
Gegenstand  aufs  genaueste  entspricht  —  Ein  anderes  Beispiel.  Wir 
werden  späterhin  erfahren,  daß  poetische  Beschreibungen  sichtbarer 
G^enstände  oder  Vorgänge  keineswegs  die  ihnen  gemäßen  inneren 
Gesichtsbilder  mit  Notwendigkeit  und  Klarheit  hervorrufen.  Soll  nun 
diese  Unzulänglichkeit  des  wirklichen  Bewußtseinszustandes  zu  Grunde 
gel^  werden?  In  solchem  Falle  könnte  man  doch  auch  sagen:  die 
Schwäche  des  sinnlichen  Vorstellens  und  die  Schnelligkeit  der  Auf- 
nahme verhindere  beim  Kulturmenschen  der  G^;enwart  das  Entstehen 
vieler  und  deutlicher  Gesichtsbilder ;  in  der  Theorie  jedoch  dürften  alle 
Bilder,  die  überhaupt  entstehen  können,  auch  als  vorhanden  angesetzt 
werden.  Ästhetik  als  Wissenschaft  brauchte  sich  nicht  auf  den  durch- 
schnittlichen Tatbestand  zu  stützen,  sondern  könnte,  um  zu  festen 
Ergebnissen  zu  gelangen,  ohne  Bedenken  voraussetzen,  daß  alles  Vor- 
stelll)are  wirklich  vorgestellt  würde. 

Allein  damit  wäre  dem  Problem  ausgewichen.  Denn  die  Theorie 
ist  vielmehr  davon  abhängig,  ob  und  inwieweit  sinnlich  vorgestellt 
wird.  Man  kann  nicht  einfach  das  annehmen,  was  entschieden  werden 
soll.   In  der  Logik  liegt  es  anders.   Hier  aber  könnte  man  doch  ebenso 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  93 

gut  behaupten:  die  anschaulichen  Bilder,  die  beim  Lesen  oder  Hören 
von  Dichtwerken  auftauchen,  sind  Rudimente  oder  außerästhetische 
Bestandteile  des  Genusses.  Es  ließe  sich  der  Satz  b^[ründen,  daß  bei 
steigender  Verfeinerung  des  poetischen  Empfindens  das  wesentliche 
Vorstellungssubstrat  das  Wort  an  sich  sei  und  diesem  eine  völlig  ent- 
sprechende Repräsentation  in  sinnlicher  Form  fehle.  Wie  die  allgemein- 
sten Beziehungsb^^ffe,  mit  denen  strenge  Wissenschaft  arbeitet,  dem 
Inhalte  nach  nicht  adäquat  vorgestellt  werden  können,  so  können  die 
höchsten  Gebilde  der  Poesie  nur  durch  Minderung  ins  Sinnliche  über- 
setzt werden.  Ich  sage  nicht,  daß  es  so  sei,  aber  ich  entnehme  daraus 
die  Nötigung,  an  einer  späteren  Stelle  den  Tatbestand  genau  zu  prüfen. 
Und  vorläufig  möchte  ich  bemerken:  es  kommt  schließlich  auf  den 
B^^riff  an,  den  man  sich  von  der  Psychologie  gemacht  hat  Wer  unter 
Psychologie  ein  wahlloses  Registrieren  der  Bewußtseinsvorgänge  ver- 
steht, muß  freilich  eine  sichtende,  bewertende,  auslesende  und  ver- 
werfende Behandlung  einer  anderen  Wissenschaft  zuschreiben.  Indessen, 
eine  solche  Behandlung  kann  wohl  auch  mit  dem  Namen  einer  psycho- 
logischen gedeckt  werden. 

Mir  scheint  demnach  ein  wohl  verstandener  Psychologismus  nicht 
aussichtslos  zu  sein.  Darüber  kann  kaum  ein  Zweifel  bestehen,  daß 
die  streng  durchgeführte  Scheidung  einer  kritischen  Ästhetik  und  einer 
Psychologie  des  Genießens  und  Schaffens  für  die  Praxis  unserer  Wissen- 
schaft unzweckmäßig  wäre.  Ebenso  sicher  ist,  daß  die  allgemeine 
Kunstwissenschaft  niemals  in  bloße  Psychologie  aufgelöst  werden  kann. 
Auch  für  die  Ästhetik  im  engeren  Sinn  werden,  wie  sich  bald  zeigen 
soll,  gelegentlich  andere  als  psychologische  Gesichtspunkte  verwertet 
werden  müssen.  Immerhin  —  die  grundsätzlichen  Fragen,  um  die  es 
sich  hier  dreht,  lassen  sich  ausreichend  mit  Hilfe  der  Psychologie  er- 
örtern, solange  jeder  Ausflug  in  die  Höhen  der  Metaphysik  vermieden 
werden  solL  Schon  der  Grundbegriff  des  Wertes  erlaubt  eine  psycho- 
logische Erklärung,  etwa  dahin,  daß  darunter  die  Bedeutung  zu  ver- 
stehen sei,  die  ein  Bewußtseinsinhalt  durch  die  irgendwie  mit  ihm 
verbundenen  Gefühle  für  das  Ich  erhält  Insbesondere  ist  es  das  Gefühl 
der  Überzeugung,  das  schließlich  als  einziges  Merkmal  für  die  Gültig- 
keit übrig  bleibt:  das  Bewußtsein  der  Evidenz  muß  eben  als  Kennzeichen 
der  Richtigkeit  hingenommen  werden. 

Wenn  wir  hierg^en  von  neuem  uns  in  die  Erinnerung  rufen,  daß 
solche  Wertüberzeugungen  sich  mit  allen  nur  denkbaren  Eindrücken 
verbinden  können,  so  vermögen  wir  sie  doch  auch  daraufhin  zu  prüfen, 
was  sie  enthalten.  Jemand  findet  die  Sixtinische  Madonna  abscheulich. 
Es  stellt  sich  heraus,  daß  er  vielerlei  in  das  Bild  hineingesehen  hat, 
was  nicht  darin  ist,  und  unzähliges  andere  einfach  nicht  bemerkt  hat 


94  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

In  solchen  Fällen  hat  auch  der  Psycholog  das  Recht,  von  »verkehrten« 
Urteilen  zu  sprechen.  Wenn  nun  aber  aus  genauester  Auffassung  des- 
selben Gegenstandes  bei  zwei  Betrachtern  Anerkennung  und  Verwer- 
fung entstehen?  Dieses  recht  seltene  Vorkommnis  zwingt  dann  zur 
Untersuchung  des  individuellen  Seelenzustandes.  Das  Ergebnis  zeigt, 
daß  der  eine  die  inhaltlichen,  der  andere  die  formalen  Bestandteile  als 
die  Hauptsache  angesehen  hat;  infolge  dieser  verschiedenen  Akzen- 
tuierung sind  verschiedene  Bewertungen  des  gleichmäßig  aufgefaßten 
Tatbestandes  herausgekommen.  Gesetzt,  die  psychologische  Ästhetik 
nähme  im  Sinn  einer  Hypothese  an,  daß  die  von  der  Form  ausgehenden 
Eindrücke  die  entscheidenden  sein  sollen,  so  hat  sie  einen  Maßstab, 
um  den  Streit  der  Meinungen  zu  schlichten.  Die  Berechtigung  aber 
zu  jener  Hypothese  liegt  in  der  Folgerichtigkeit,  mit  der  aus  ihr  eine 
zusammenhangende  Ansicht  über  das  Schöne,  Ästhetische  und  Künst- 
lerische entwickelt  werden  kann.  — 

Eine  andere  Seite  des  bisher  behandelten  Problems  offenbart  sich 
in  dem  Gegensatz  zwischen  der  beschreibenden  und  der  gesetzgebenden 
Ästhetik.  Die  Psychologisten  wollen  die  Erfahrungstatsachen  beschreiben 
und  das  Normative  nur  als  einen  Bewußtseinsinhalt  bestehen  lassen; 
sie  verzichten  auf  den  Anspruch,  daß  die  ästhetische  Wirklichkeit  sich 
ihren  Forderungen  unterwerfe.  Andere  —  nicht  bloß  die  Kritizisten  — 
stellen  Gesetze  auf,  von  denen  die  Fürsorglichen  übrigens  bemerken, 
daß  sie  »für  das  hochentwickelte  Gefühl  der  Gegenwart«,  also  in  zwie- 
facher Weise  beschränkt,  gelten  und  nicht  eher  wirksam  sind,  als  bis 
sie  sich  in  lebendiges  Fühlen  und  Schaffen  umgesetzt  haben.  Diese 
Normen  gehören  nach  der  herrschenden  Überzeugung  insofern  zur 
Wissenschaft,  als  sie  auf  wissenschaftlich  festgestellten  Theorien  ruhen. 
Nicht  alle  Theorien  führen  zu  exakten  Forderungen,  beispielsweise  nicht 
die  Einfühlungslehre,  aber  die  meisten  der  besprochenen  Prinzipien  und 
der  später  zu  erörternden  allgemeinen  Beschaffenheiten  des  ästhetischen 
Gegenstandes  lassen  sich  in  die  Sprache  von  Geboten  und  Verboten 
übersetzen. 

Die  Frage  betrifft  nicht  allein  die  Ästhetik,  sondern  ist  eine  allge- 
meinere. Häufig  genug  werden  von  den  reinen  oder  theoretischen 
Wissenschaften  die  praktischen  Wissenschaften  abgetrennt,  die  statt 
bloßer  Erkenntnisse  eine  Anwendung  der  Erkenntnis  auf  die  Gestal- 
tung der  Lebensverhältnisse  bieten,  die  mehr  in  einem  Können  als 
in  logischer  Überiegung  wurzeln  sollen.  Man  spricht  in  diesem  Sinne 
von  »Kunst< ,  nennt  also  beispielsweise  die  Erziehungslehre  und  die 
Therapie  Künste,  und  behauptet,  daß  sie  auf  den  eigentlichen  Wissen- 
schaften ruhen:  die  Kunst  des  Erziehers  auf  der  Psychologie,  die  ärzt- 
liche Kunst  auf  der  Pathologie,  die  Kunst  des  Gärtners  auf  der  Botanik, 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  95 

die  Kriegskunst  auf  der  Militärwissenschaft  —  Das  Wort  Kunst  ist 
nicht  sinnlos.  Denn  die  praktischen  Disziplinen  stehen  wie  die  schönen 
Künste  dem  Leben  näher  als  die  Wissenschaften,  und  zu  ihrer  Hand- 
habung sind  gewisse  künstlerische  Fähigkeiten  erforderiich.  An  dem 
Beispiel  der  »Seelenkunst«  ist  das  anderwärts  gezeigt,  die  Notwendig- 
keit des  Hinausgehens  über  wissenschaftliche  Sicherheit  begründet  und 
die  Beziehung  zur  schönen  Kunst  erörtert  worden.  Aber  bereits  in 
jenem  Zusammenhang  habe  ich  vorgeschlagen,  für  die  systematische 
Betrachtung  die  Verwendung  des  doppeldeutigen  und  schließlich  für 
jedes  Können  verwertbaren  Wortes  »Kunst«  zu  meiden.  Der  Ausdruck 
bezeichnet  doch  in  einer  recht  unzureichenden  Art,  daß  die  betreffende 
Disziplin  auf  andere  als  bloß  intellektuelle  Momente  Rücksicht  zu  nehmen 
hat.  Mehr  empfiehlt  sich  zur  Oruppenbenennung  das  Wort  Techne. 
Ganz  zu  verwerfen  ist  der  Gebrauch  des  Beiwortes  »angewandt«.  Nur 
eine  gelehrtenhafte  Überschätzung  der  Wissenschaft  kann  zu  der  An- 
nahme verleiten,  daß  die  Technen  angewandte  Wissenschaften  seien. 
Offenbar  ist  der  wirkliche  Verlauf  umgekehrt:  erst  bestanden  Technen, 
ehe  aus  ihren  Zufallsentdeckungen  und  Überlieferungen  die  theore- 
tischen Verhaltungsweisen  sich  entwickelten.  Lange  vor  aller  wissen- 
schaftlichen Didaktik  gab  es  eine  Techne  der  Erziehung,  vor  dem  Beginn 
der  Chemie  wurden  Scheidekunst  und  Mischkunst  getrieben,  und  die 
Geologie  hat  ursprünglich  vom  Bergmann  gelernt.  Daß  in  einem  späteren 
Stadium  die  Praxis  von  der  Theorie  befruchtet  werden  kann,  ohne 
deshalb  ihre  Selbständigkeit  zu  verlieren,  soll  gewiß  nicht  bestritten 
werden. 

Zu  Unrecht  also  wird  die  Techne  in  unbedingte  Abhängigkeit  von 
der  Wissenschaft  gesetzt.  Den  entgegengesetzten  Fehler  einer  allzu 
schroffen  Trennung  begeht  anderseits  unsere  Methodologie,  indem  sie 
das  Wesen  der  Techne  darin  findet,  zu  leiten  anstatt  zu  erklären. 
Während  die  Wissenschaft  das  Tatsächliche  herauszufinden  und  zu 
verstehen  suche,  gebe  die  Techne  Anweisungen  zu  einem  Eingreifen 
in  die  Verhältnisse;  dieses  Vorschreiben  sei  aber  keine  Aufgabe  der 
Wissenschaft,  denn  man  könne  —  im  eigentlichen  Sinn  des  Worts  — 
nicht  wissen,  was  nur  sein  soll.  —  Indessen,  selbst  wenn  der  Unter- 
schied richtig  getroffen  sein  sollte,  ist  er  bei  weitem  nicht  so  wesent- 
lich wie  er  nach  der  wiederg^ebenen  Auffassung  neuerer  Pädagogen 
und  Ethiker  zu  sein  scheint.  Es  spielt  die  falsche  Vorstellung  einer 
Wirkliches  beschreibenden  Wissenschaft  hinein.  Wissenschaft  aber 
kann  nicht  beschreiben,  sondern  will  den  Dingen  ihre  Vernunft  vor- 
schreiben; sie  kann  die  Eriebnisse  nicht  nachbilden,  sondern  muß  sie 
umbilden;  jede  Erkenntnis  der  Welt  gestaltet  diese  auch  zugleich.  Der 
Unterschied  zur  Techne  liegt  also  nur  im  Zwecke,  der  dort  in  der 


96  II.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

logischen  Durchsichtigkeit,  hier  in  der  praktischen  Beherrschung  besteht 
Wissenschaft  und  Techne  sind  gleichermaßen  normativ:  sie  stellen  Ideale 
auf  und  suchen  die  Erlebnisse  ihnen  entsprechend  einzurichten.  Ob 
die  von  ihnen  erlassenen  Anweisungen  auf  den  Verstand  oder  auf  den 
Willen  gehen,  ob  die  sogenannten  theoretischen  Wissenschaften  vor- 
schreiben, in  einer  gewissen  Weise  zu  denken,  oder  ob  die  praktischen 
Disziplinen  lehren:  so  sollst  du  handeln  —  das  macht  methodologisch 
keinen  grundsätzlichen  Unterschied.  Das  Ziel  ist  für  die  Orundl^ung 
sowohl  der  Naturwissenschaft  als  auch  der  Lebenshaltung  dasselbe: 
ein  lückenloser  Zusammenhang.  Wir  denken  und  wir  handeln  richtig 
in  dem  Maße  als  wir  vollkommen  konsequent  denken  und  handeln; 
in  dem  einen  Fall  entsteht  Wahrheit,  im  anderen  entsteht  Sittlichkeit; 
in  beiden  Fällen  werden  einzelne  Akte,  die  des  Denkens  und  die  des 
Wollens,  zu  einer  Ordnung  zusammengefaßt.  Infolge  dieser  Verwandt- 
schaft zwischen  Theorie  und  Praxis  läßt  sich  die  Summe  b^^iffener 
Tatsachen  nicht  von  der  Norm,  das  rationalisierte  Sein  nicht  vom  Sollen 
loslösen.  Das  Seinsollende  ist  eben  das  Seiende,  insofern  es  einem 
Zweck  vollkommen  angepaßt  ist.  In  die  Aufnahme  und  Rationalisierung 
von  Tatbeständen  mischen  sich  ständig  Vollkommenheitsvorstellungen, 
und  umgekehrt  verwandelt  sich  sehr  oft  das  Durchschnittliche  in  das 
Erstrebenswerte.  Demnach  verwischt  sich  die  Grenze  zwischen  fak- 
tischen Urteilen  und  Werturteilen.  Wenn  wir  z.  B.  vieleriei  Merkmale 
eines  Objektes  wesentlich  nennen,  so  stützen  wir  uns  (abgesehen  von 
der  metaphysischen  Vorstellung  eines  verborgenen  Wesens)  teils  auf 
ideale  teils  auf  durchschnittliche  Beschaffenheiten  des  Gegenstandes; 
ferner:  Die  Gattungsbegriffe  sind  nicht  nur  mittlere  Zahlen  im  Denken 
als  Rechnen,  sondern  auch  Werte  in  der  persönlichen  Schätzung  des 
Gegebenen.  Überall  in  den  Geisteswissenschaften  spielen  Beziehungen 
zwischen  Tatsachen,  Gesetzen,  Werten,  Zwecken  und  drängen  zur 
Regelgebung. 

Es  ergibt  sich  also,  daß  zwischen  reinen  und  angewandten, 
beschreibenden  und  normativen  Wissenschaften  theoretisch 
nicht  sicher  zu  scheiden  ist.  Auch  verteilen  sich  die  Technen, 
z.  B.  Therapie  und  Pädagogik,  inhaltlich  auf  die  Gebiete  der  Natur- 
wissenschaften und  der  Geisteswissenschaften.  Wir  folgern  hieraus, 
daß  die  Geisteswissenschaften  unmöglich  als  Technen  den  exakten 
Wissenschaften  zur  Seite  gestellt  werden  können,  etwa  die  Geschichte 
als  eine  praktische  Anwendung  der  Psychologie  zu  verstehen  wäre. 
Die  Geschichte  ist  zwar  ein  taugliches  Rüstzeug  für  die  Kunst  der 
Diplomaten,  aber  nicht  selber  eine  Kunst,  Lebensverhältnisse  zu  ge- 
stalten und  Handlungen  zu  vollführen.  Höchst  selten  hat  die  blasse 
Erinnerung  an  vergangene  Ereignisse  Völker  oder  führende  Männer  zu 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  97 

ihren  Taten  bestimmt  Die  Ergebnisse  geschichtlicher  Forschung  ent- 
halten keine  unmittelbare  Lehre  für  die  Zukunft,  da  das  Neue  niemals 
eine  Wiederholung  des  Alten  ist;  möchten  doch  namentlich  die  Kunst- 
historiker sich  davor  hüten,  alte  Erfahrungen  leichthin  auf  werdende 
Kunstwerke  zu  übertragen. 

Wir  kehren  zum  Verfahren  der  Ästhetik  zurück.  Auch  für  die 
Ästhetik  gilt  und  ist  später  noch  des  näheren  zu  erörtern,  daß  jede  Be- 
schreibung eine  Normengebung  und  jede  normative  Wissenschaft  eine 
beschreibende  ist  Deshalb  braucht  der  manchmal  so  herausgetriebene 
Gegensatz  uns  nicht  weiter  zu  ängstigen.  Doch  sei  hinzugefügt,  daß 
die  Tendenz  einer  Ästhetik  freilich  mehr  nach  der  einen  oder  nach 
der  anderen  Seite  gehen  kann.  Es  gibt  ästhetische  Lehrzusammen- 
hänge, die  wirklich  nur  klarstellen  wollen,  was  schönes,  ästhetisches 
und  künstlerisches  Sein  bedeuten;  und  es  gibt  andere,  die  die  Ent- 
wickelung  des  ästhetischen  Urteils  und  des  Kunstschaffens  beeinflussen 
möchten.  Aber  die  eine  Richtung  kann  nicht  ohne  die  andere  leben. 
Erst  muß  man  begreifen,  ehe  man  eingreifen  kann,  und  jedes  Erklären 
ist  zugleich  Abschätzen,  Bewerten,  Befehlen.  — 

Unter  einem  dritten  Gesichtspunkt  erscheint  das  methodologische 
Grundproblem  in  der  Frage:  herrscht  auf  unserem  Gebiete  Allgemein- 
gültigkeit oder  geschichtlicher  Wechsel?  Für  viele  ist  die  Frage  damit 
erledigt,  daß  sie  von  den  so  großen  Unterschieden  der  zeitlich  ge- 
trennten Kunstwerke  einen  lebhaften  Eindruck  empfangen.  Indessen 
auch  die  tiefer  dringende  Forschung  kann  bei  dem  Ergebnis  stehen 
bleiben,  daß  die  ungeheuren  Veränderungen  und  Gegensätze  nur  der 
historischen  Darstellung,  nicht  der  systematischen,  namentlich  nicht 
der  normativen  Wissenschaft  ein  Feld  eröffnen.  Die  Geschichte  jeder 
Kunst  zeigt  ein  Vergehen  und  Werden;  Ausdrucksformen,  ja  ganze 
Kunstarten  gehen  zu  Grunde,  und  andere  entstehen.  Wie  verschieden- 
artig ist  der  menschliche  Körper,  der  sich  doch  seit  dem  Beginn  der 
geschichtlichen  Zeit  kaum  verändert  hat,  und  dessen  natürliche  Unter- 
schiede verhältnismäßig  gering  sind,  von  der  bildenden  Kunst  darge- 
stellt worden!  Die  ersten  drei  Tafeln,  die  unserem  Buche  beigegeben 
sind,  enthalten  ein  paar  Beispiele  dafür.  Gewöhnlich  erklärt  man 
diese  Stilunterschiede  aus  allgemeinen  Kulturfaktoren  oder  auch  aus 
soziologischen  Verhältnissen  ^2).  Für  uns  haben  sie  nur  den  Wert, 
daß  sie  die  außerordentliche  Wandelbarkeit  der  Kunstmittel  und  des 
Geschmacks  an  sichtbaren  Beispielen  zeigen.  Selbst  ein  und  dieselbe 
Art  künstlerischen  Gestaltens  ist  der  historischen  Veränderlichkeit 
unterworfen.  —  Nehmen  wir  der  Einfachheit  halber  ein  einzelnes 
Kunstwerk  als  Beispiel.  Scheinbar  ist  es  fertig  und  steht  dem  fluten- 
den Leben  wie  etwas  Vollendetes  oder  Totes  g^[enuber.    Aber  seine 

Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Kmistwissenschaft.  7 


98  II.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

Wirkung  ist  nicht  eindeutig  noch  unveränderlich.  Die  Vorstellungen 
und  Gefühle,  die  es  im  Geist  der  Genießenden  weckt,  sind  gar  ver- 
schiedenartig. So  durchlebt  jedes  Kunstwerk  unzählige  Gestalten;  es 
verwandelt  sich  unablässig,  entfaltet  sich  oder  verkümmert  Der  Faust 
oder  die  Sixtinische  Madonna  sind  nichts  Bleibendes  und  Gleichartiges, 
sondern  sie  sind  der  Ausgangspunkt  für  zahllose  lebendige  Vorgänge, 
die  so  voneinander  differieren,  daß  Ästhetik  und  Kritik  immer  nur  mit 
Schrecken  daran  gedacht  haben.  Wünscht  der  Leser  einen  Beleg? 
Raffaels  »Transfiguration«  gilt  als  ein  Meisterwerk.  Die  Goncourts 
gehören  sicherlich  nicht  zur  Masse  der  kunstfremden  Individuen.  Was 
schreiben  sie  von  der  Transfiguration?  »Es  ist  unmöglich,  sofern  man 
überhaupt  Augen  hat,  eine  schreiendere  Farbendisharmonie  zu  sehen 
als  dies  Nebeneinander  von  häßlich  blauen,  gelben,  roten  und  grünen 
Tönen,  ein  Grün  vor  allem,  ein  gräuliches  Sergegrün,  das  nicht  zum 
Ansehen  ist.  Und  alle  diese  Farbentöne  sind  so  nebeneinandergesetzt, 
daß  sie  sich  geradezu  anheulen,  dazu  durch  zinkartig  glänzende  Lichter 
hervorgehoben,  die  niemals  mit  der  Tonalität  des  Stoffes  harmo- 
nieren . . .  Aber  sehen  wir  von  der  Erbärmlichkeit  des  Kolorits  ab 
und  studieren  wir  dies  »Meisterwerk  der  Zeichnung  und  der  Kompo- 
sition«. Christus  erscheint  als  ein  gewöhnlicher  Frater  mit  rosiger 
Fleischfarbe,  gemalt,  wie  die  Scholiasten  des  Bildes  sagen,  mit  den 
Farben  eines  anderen  Lebens.  Er  steigt  schwerfällig  gen  Himmel,  seine 
Füße  mahnen  an  das  Modell,  wonach  sie  gemalt  sind.  Mit  ihm  erheben 
sich  Moses  und  Elias,  sie  halten  nach  der  Art  der  Tänzer  ihre  Hände 
gegen  die  Hüften.  Und  bei  alledem  nichts  von  dem  Glanz  und  der 
Herrlichkeit,  womit  selbst  die  phantasielosesten  Maler  den  Himmel  der 
Seligen  zu  erfüllen  wissen.  Auf  dem  Tabor  darunter,  einem  runden, 
dem  Deckel  einer  Pastete  ähnelnden  Hügel,  liegen,  als  wären  ihnen 
alle  Knochen  aus  dem  Leibe  genommen,  drei  Marionetten  von  Aposteln, 
wahre  Karikaturen  der  Verblüfftheit.  Weiter  unten  dann  eine  Menge 
von  Akademiestudien,  von  ausdruckslosen  Köpfen,  wie  man  sie  den 
Schülern  zum  Kopieren  gibt,  dazu  Arme  in  Haltungen  aus  der  Tra- 
gödie und  Augen,  in  die  der  Professor  den  letzten  Pinselstrich  getan 
zu  haben  scheint  ...  Bei  Raffael  erscheint  die  Verklärung  vollständig 
akademisch  und  durch  und  durch  heidnisch.  So  z.  B.  diese  knieende 
Frau,  sie  scheint  nach  einer  antiken  Statue  gemalt  zu  sein,  sie  ist  eine 
Heidin,  zu  der  das  Evangelium  nie  gesprochen  hat  ...  Dies  Bild  christ- 
lich! Ich  kenne  kein  Bild,  welches  das  Christentum  materieller  dar- 
stellte als  dies,  kein  Bild,  in  dem  es  in  einer  so  gewöhnlichen  Prosa 
und  in  einer  so  vulgären  Schönheit  zum  Ausdruck  käme«  ").  (Tafel  IV.) 
Machen  wir  die  phantastische  Annahme,  daß  in  hundert  Jahren  alle 
Welt  jener  Verurteilung  sich  angeschlossen  hätte,  so  würde  also  das 


DAS  PROBLEM  DER  METHODE.  gg 

Gemälde  vernichtet  sein;  zwar  nicht  in  seiner  äußeren  Erscheinung, 
wohl  aber  in  seiner  lebendigen  Wirksamkeit.  Alle  Regeln,  die  eine 
frühere  Ästhetik  aus  diesem  Bild  abgelesen  oder  doch  an  ihm  be- 
währt gefunden  hätte,  wären  durch  die  geschichtliche  Entwickelung 
überwunden,  die  keinen  dauernden  Zwang  erträgt.  Es  gäbe  mithin 
keine  allgemeingültige  Ästhetik. 

Dieser  Schluß  ist  voreilig,  weil  die  ästhetischen  Normen  beweglich 
genug  sein  können,  um  jeden  Inhalt  in  sich  aufzunehmen.  Wenn  die 
normative  Ästhetik  vom  Kunstwerk  fordert,  daß  es  den  Eindruck  der 
Wahrhaftigkeit  machen  solle,  so  schreibt  sie  doch  nicht  alle  einzelnen 
Mittel  zur  Erreichung  dieses  Eindrucks  vor.  Sie  verlangt  nichts  anderes 
als  was  sie  auch  als  regelmäßige  Wirkung  zu  schildern  das  Recht  hat. 
Auch  kann  durch  keinerlei  methodologische  Bedenken  die  Tatsache 
aus  der  Welt  geschafft  werden,  daß  unsere  Wissenschaft  über  Be- 
standteile von  allgemeiner  Gültigkeit  verfügt.  Dazu  kommen  noch 
zwei  andere  Erwägungen.  Wir  müssen  uns  gegenwärtig  halten,  daß 
man  von  dem  jeweihgen  Zustand  einer  Kunst  nicht  unmittelbar  und 
mit  Sicherheit  auf  die  vorwaltenden  Neigungen  schließen  darf.  Es  mag 
sein,  daß  eine  unentwickelte  Technik  die  vorhandenen  Ideale  zu  kei- 
nem deutlichen  und  reinen  Ausdruck  gelangen  läßt.  Ja,  von  gewissen 
Künsten  und  Zeiten  vermögen  wir  es  sogar  mit  Sicherheit  nachzu- 
weisen. Der  Geschmack  des  Publikums  und  die  Leistungsfähigkeit 
des  Künstlers  müssen  sich  nach  der  Decke  strecken,  beide  müssen 
mit  dem  vorlieb  nehmen,  was  eine  mangelhafte  Technik  in  einem  un- 
vollkommenen Material  herstellen  kann.  Würde  man  einen  Menschen 
des  16.  Jahrhunderts  plötzlich  in  unsere  Zeit  versetzen,  so  möchte  er 
vielleicht  sofort  den  überlegenen  Wert  unserer  Kunstwerke  empfinden. 
Dennoch  —  obwohl  wir  nur  zaghaft  aus  Mitteilungen  von  Zeitgenossen 
uns  konstruieren  können,  wie  die  Werke  einer  Kunst  zu  ihrer  Zeit 
gewirkt  haben,  —  dürfen  wir  vermuten,  daß  die  tüchtigen  Leistungen 
in  einem  zu  einer  bestimmten  Zeit  herrschenden  Stil  die  damals  Leben- 
den genau  so  stark  ergriffen  und  erfreut  haben,  wie  die  guten  Werke 
der  gegenwärtigen  Kunstweise  uns  beeinflussen.  Unser  Empfinden 
ist  nicht  maßgebend.  Indem  wir  alte  Kunst  zu  genießen  versuchen, 
beschwören  wir  in  den  meisten  Fällen  nur  Larven  der  Vergangenheit 
herauf.  Gewisse  Reize  des  Altertümlichen  ^^)  oder  auch  die  Sehnsucht 
nach  entschwundenen  Verhältnissen  mag  in  den  Genuß  eingehen.  Der 
Kenner  kann  geschichtliche  Freuden  empfinden;  indessen  echt  künst- 
lerisch fassen  wir  nur  lebendige  Kunst  auf  und  die  seltenen  Werke, 
die  etwa  über  der  Geschichtlichkeit  stehen.  Denn  es  scheint,  als  ob 
einige  wenige  Kunstleistungen  innerhalb  unserer  Kultur  bisher  den 
zeitlichen  Schwankungen  der  Beurteilung  nicht  erlegen  sind^*).    Viel- 


100  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

leicht  gibt  es  eine  Schwelle  des  objektiv  Schönen,  die  von  auserlese- 
nen Leistungen  überschritten  wird,  während  das  meiste  im  geschicht- 
lich begrenzten  und  subjektiv  begründeten  Gefallen  verharrt. 

Den  Fatalitäten,  die  sich  aus  dem  Wirrsal  der  geschichtlichen  und 
persönlichen  Geschmacksverschiedenheiten  ergeben,  kann  die  Wissen- 
schaft doch  wohl  erfolgreich  begegnen.  Zunächst  muß  man  einsehen, 
worin  diese  Verschiedenheiten  begründet  sind.  Ich  habe  versucht,  es 
anzudeuten.  Einmal  ist  wichtig  der  Stand  der  Technik  in  jeder  Zeit, 
alsdann  die  ganze  Kulturlage.  Bei  den  individuellen  Unterschieden 
sind  Höhe  der  Vorbildung  und  Weite  der  Erfahrung  die  wesentlichen 
Momente.  Es  sei  nochmals  daran  erinnert,  daß  die  Stärke  und  Leb- 
haftigkeit des  Genusses  nicht  für  das  Wesen  der  Sache  gehalten 
werden  darf.  Denn  Werke,  die  uns  unerträglich  sind,  haben  in  ihrer 
Zeit  selbst  die  Besten  begeistert,  und  bildungslose  Geschöpfe  der 
Gegenwart  können  an  den  erbärmlichsten  Werken  ein  aufrichtiges  und 
tiefgehendes  Gefallen  empfinden.  —  Wie  in  einer  früheren  Phase  der 
Überlegung,  so  helfen  wir  uns  auch  jetzt  mit  einer  Voraussetzung. 
Wir  nehmen  an,  daß  in  der  Entwickelung  der  geschichtlichen  Welt 
die  Vorstellungs-  und  Gefühlselemente  zusammengesetzter  und  feiner 
geworden  sind.  Wir  erklären  das  für  einen  Fortschritt  und  folgern: 
Je  mannigfaltiger  das  Kunstwerk  und  das  von  ihm  ausgelöste  Gefühl 
ist,  und  je  feiner  die  Bestandteile  sind,  desto  höher  stehen  Werk  und 
Wirkung.  Hiermit  ist  gegen  die  anprallende  Masse  der  geschichtlichen 
Tatsachen  ein  Halt  von  ähnlicher  Beschaffenheit  und  relativer  Festig- 
keit gefunden  wie  gegen  die  Flut  der  persönlichen  Unterschiede.  Ver- 
steht man  das  ästhetische  Leben  als  in  einer  aufsteigenden  Entwicke- 
lung begriffen,  so  lassen  sich  seine  Prinzipien  festhalten,  da  die  ge- 
schichtliche Änderung  nur  die  Entfaltung  des  Inhalts  treffen  würde.  — 

Ich  bekenne,  daß  Fragen  der  Methodenlehre  in  besonderer  Anwen- 
dung auf  ein  einzelnes  Wissensgebiet  mir  nicht  übermäßig  wichtig 
scheinen.  Die  Grundprobleme,  die  aus  der  Unterscheidung  von  Natur- 
und  Geisteswissenschaft  hervorgehen,  sind  deshalb  von  äußerster  Be- 
deutung, weil  der  Sinn  von  Wissenschaft  überhaupt  in  der  Methode 
der  Wirklichkeitsbearbeitung  liegt.  Bei  einer  einzelnen  Disziplin  jedoch 
genügt  ein  Hinweis  auf  die  Gesichtspunkte.  Wer  sich  tiefer  einläßt, 
der  kommt  aus  den  voriäufigen  Erwägungen  nicht  heraus  und  an  die 
Sache  nicht  heran.  Die  Abgrenzung  des  Stoffes  und  die  Auswahl 
der  Methoden  bleibt  unvermeidlich  von  praktischen  Rücksichten  mit- 
bedingt, es  sei  denn,  daß  der  Forscher  auch  alle  benachbarten  Gebiete 
allmählich  zur  Darstellung  bringe  und  dabei  zeige,  daß  er  in  Ausdeh- 
nung und  Beschränkung  jedesmal  das  Richtige  getroffen  habe  So- 
lange ein  solches  System  nicht  voriiegt,  fehlt  die  letzte  Rechtfertigung 


ANMERKUNGEN.  IQl 


für  die  Zuteilung  des  Stoffes  und  des  Verfahrens  an  das  einzelne 
Wissensgebiet.  Im  Grunde  genommen  stehen  sich  in  der  Ästhetik, 
da  sie  nur  noch  selten  als  Teil  eines  philosophischen  Systems  auf- 
tritt, zwei  Verfahrungsweisen  gegenüber,  die  beide  nicht  bloß  aus 
methodologischen  Grübeleien  emporwachsen  und  auch  anderen  Wissen- 
schaften an  einem  bestimmten  Punkt  ihrer  Entwicklung  zu  dienen 
pflegen.  Auf  der  einen  Seite  absichtliche  Herstellung  einer  Einheit, 
die  Durchführung  eines  einzigen  (inhaltlichen  oder  methodologischen) 
Gedankens;  auf  der  anderen  Seite  Anpassung  an  die  Vielfältigkeit  der 
Tatsachen  und  ihrer  Beziehungen  und  das  Zutrauen,  daß  die  einheit- 
liche Persönlichkeit  des  Denkers  den  Bau  vorm  Auseinanderfallen  be- 
wahren werde.  Zwischen  diesen  beiden  Richtungen  kann  niemals 
sicher  und  endgültig  entschieden  werden. 

Anmerkungen. 

*)  N.  M.  Hunt,  Kurze  Gespräche  über  Kunst  Deutsche  Übersetzung.  2.  Aufl. 
1900,  S.  84.    Vgl.  S.  131. 

')  Vgl.  Simmel,  Einleitung  in  die  Moralwissenschaft.    Bd.  II,  S.  90  ff. 

*)  Vgl.  A.  Hildebrand,  Das  Problem  der  Form  in  der  bildenden  Kunst.  3.  Aufl. 
1901. 

*)  Victor  Cherbuliez,  Uart  ä  la  nature  1892,  S.  16.  —  Viel  Schönes  dazu  in 
Kurt  Breysigs  Kulturgeschichte  der  Neuzeit  Bd.  I,  1900. 

*)  Dazu  gehören  J.  Cohns  Ausführungen  über  den  rein  intensiven  (nicht  konse- 
kutiven) Wert  des  Schönen  und  O.  Külpes  Bezeichnung  des  ästhetischen  Wertes 
als  eines  Kontemplationswertes  (in  der  Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Philos.  1899). 

*)  Diese  Ausführungen  sind  einem  Aufsatz  von  Theodor  Lipps  entnommen,  der 
in  der  Zeitschr.  f.  Psychologie  Bd.  XXII,  S.  415  ff.  erschienen  ist  Das  im  Text 
folgende  Zitat  auf  S.  448. 

^)  Witasek,  Zeitschr.  f.  Psychologie  Bd.  XXV,  S.  1—49.  Derselbe,  Grundzüge 
der  allg.  Ästhetik,  S.  133.  Die  Einfühlung  »besteht  darin,  daß  das  Subjekt  die  im 
Gegenstande  ausgedrückten  psychischen  Tatsachen  durch  —  meist  phantasiemäßiges  — 
Nacherleben  und  innere  Wahrnehmung  anschaulich  vorstellt  und  den  Gegenstand 
dieser  anschaulichen  Vorstellung  mit  dem  der  äußeren  Wahrnehmung  vom  aus- 
drucksvollen Objekte  durch  Annahme  oder  Urteil  in  der  Art  verbindet,  daß  daraus 
ein  im  ganzen  anschaulich  vorgestellter,  mit  körperlichen  und  seelischen  Eigen- 
schaften zugleich  begabter  komplexer  Gegenstand  entsteht«  Was  das  Fühlen  in 
dem  Vorgang  der  Einfühlung  betrifft,  »so  erlebt  das  Subjekt  tatsächlich  in  sich  den 
vom  Objekt  zum  Ausdruck  gebrachten  psychischen  Zustand  (der  übrigens  keines- 
wegs nur  in  Gefühlen  zu  bestehen  braucht),  wenn  auch  zumeist  nur  in  der  Phan- 
tasie, also  nicht  als  wirkliche  Gefühle,  sondern  als  Phantasiegefühle.« 

®)  Vgl.  Heymans  in  der  Zeitschr.  f.  Psychol.  Bd.  XI  und  die  später,  im  Ab- 
schnitt über  die  Baukunst,  zu  nennende  Literatur. 

»)  Vgl.  R.  Hamann,  Das  Symbol.    Beriiner  Diss.  1902. 

»•)  Hubert  Rötteken,  Poetik  I,  1902. 

*')  Vgl.  J.  Cohn  im  Arch.  f.  System.  Philos.  1904,  S.  136  und  die  vortreffliche 
Übersicht  von  Karl  Groos  in  der  Sammelschrift  »Die  Philosophie  im  Beginn  des 
20.  Jahrhunderts«  (1905,  II,  135—174).    Ich  habe  mich  z.  T.  an  Groos  angeschlossen. 


102  n.  DIE  PRINZIPIEN  DER  ÄSTHETIK. 

*')  Diesem  historisch-soziologischen  Verfahren  hat  Friedrich  Carstanjen  eine 
bio-psychologische  Betrachtungsweise  gegenübergestellt  Er  zeigt ,  daß  ein  Über- 
schuß an  Kraft,  der  in  den  überlieferten  Formen  nicht  genügend  sich  betätigen 
kann  und  demnach  zur  Unlust  führt,  Änderungen  hervorrufen  muß,  und  behauptet, 
daß  diese  Änderung  in  der  reicheren  Ausschmückung  bestehe.  »Jeder  ursprung- 
liche Kunstfortschritt  geht  von  der  Ausschmückung  aus.«  Diese  Vermehrung  des 
Details  führt  zu  einer  Annäherung  an  die  Natur  und  zugleich  zur  stärkeren  Indi- 
vidualisierung. Vgl.  F.  Carstanjen,  Entwickelungsfaktoren  der  niederländischen  Fröh- 
renaissance.  Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie,  1896,  Bd.  XX, 
S.  1—44,  143—190. 

")  Für  Leser,  die  einen  Seitensprung  nicht  scheuen,  möchte  ich  notieren,  daß 
eine  merkwürdige,  als  Parodie  teils  unterhaltende  teils  abstoßende  Nachbildung  der 
Raffaelschen  Transfiguration  sich  in  Karl  Vogts  Reisebriefen  »Ozean  und  Mittel- 
meer« 1848,  II,  112  ff.  findet.  Viele  wunderiiche  Urteile  in  dem  einst  gelesenen 
Buch  der  Gräfin  Ida  Hahn-Hahn  »Jenseits  der  Berge«,  namentlich  über  Midiel 
Angelo  (1840,  I,  137).  Was  Raffaels  Gemälde  anlangt  (dessen  größerer  unterer 
Teil  nach  des  Meisters  Tod  von  einem  unfeinen  und  farbenblinden  Schuler  ausge- 
führt wurde),  so  sei  daran  erinnert,  daß  es  bereits  1808  von  Friedrich  Schlegel  sehr 
heftig  getadelt  wurde.    Eine  Beschreibung  und  Würdigung  gab  Karl  Justi  (1870). 

")  Essays  towards  a  critical  method,  By  John  M.  Robertson.  London  1889, 
S.  74:  ». . .  we  have  coUedively  abandoned  wigs  and  powder  and  swords,  tfioagk 
mostly  holding  piously  to  stiff  coUars.  Yet  we  can  recognize  in  the  wigs  and  friüs 
and  swords  a  certain  grace  and  decorum,  not  witkout  fascination;  just  as,  whäe  we 
prefer  waltzing,  we  discover  that  the  minuet  was  in  its  way  a  diffiailt  dance  enough, 
caliing  for  physical  poise  and  command  of  carriage;  and  thus  add  critical  applause 
to  our  pleased  sense  of  its  careful  grace . . .  Indeed,  in  our  Classification  of  aspeds 
of  literature,  we  should  keep  room  for  the  strictly  historic  or  technic-historie  interest 
of  every  past  art  form  to  those  interested  in  art.  Liking  or  disliking  a  given  style, 
we  stUl  read  to  see  how  they  wrote  in  those  days,* 

^^)  Aus  der  Idealvorstellung  der  griechischen  Kunst  ist  uns  die  Betraditungs- 
weise  geläufig,  daß  vollendete  Kunstwerke  möglich  sind,  die  eine  solche  zeitlose 
Schönheit  enthalten,  wie  etwa  die  Sätze  der  Euklidischen  Mathematik  eine  zeitlose 
Wahrheit  in  sich  bergen.  Doch  berührt  es  recht  eigentümlich,  daß  Plato  von  der 
Kunstweise,  die  lange  vor  seiner  Zeit  herrschte,  behauptet,  sie  sei  sdion  das  un- 
übertroffene und  nur  geduldig  nachzuahmende  Vorbild.    Man  lese  selbst: 

Der  Athener:  Wir  sprechen  von  einem  Lande,  wo  vernünftige  Gesetze 
herrschen  oder  auch  in  Zukunft  einmal  herrschen  werden.  Meinen  wir  wohl,  daß 
es  da,  wenn  es  sich  um  die  Ausbildung  in  den  schönen  Künsten  und  um  die 
Freude  daran  handelt,  den  schaffenden  Künstlern  freistehen  kann,  diejenigen  rfaytfa- 
mischen,  melodischen  oder  sprachlichen  Gebilde,  an  denen  jeweilig  der  Künstler 
beim  Schaffen  sein  Gefallen  findet,  auch  den  Knaben  und  Jünglingen  im  wohl- 
geordneten Gemeinwesen  für  chorische  Aufführungen  beizubringen  und  sie  damit, 
wie  es  sich  eben  trifft,  zu  löblichen  oder  verwerflichen  Manieren  anzuhalten? 

Kleinias:  Nein,  das  hätte  keinen  Sinn;  wie  sollte  es  auch? 

Der.  Athener:  Heutzutage  ist  aber  eben  dieses  Treiben  man  darf  wohl  sagen 
in  allen  Staaten  erlaubt,  ausgenommen  in  Ägypten. 

Kleinias:  Wie  erklärst  du  nun,  daß  in  Ägypten  gesetzliche  Bestimmungen  ge- 
troffen worden  sind? 

Der  Athener:  Das  ist  wunderiich  anzuhören.  Der  Satz,  den  wir  gegenwirtig 
behandeln,  ist  ihnen,  so  scheint  es,  von  alter  Zeit  her  geläufig,  nämlich  daß  die 


ANMERKUNGEN.  103 


jungen  Leute  in  den  Staaten  an  schöne  Bewegungen  und  schöne  Tonreihen  in 
ihren  geselligen  Vereinigungen  zu  gewöhnen  sind.  Muster  dieses  Schönen  hat  man 
dort  in  den  Tempeln  und  bei  religiösen  Feierlichkeiten  zur  Schau  gebracht,  und  es 
war  weder  den  Malern  noch  sonst  einem  unter  denen,  die  Gestalten  und  dergleichen 
herstellen,  gestattet,  Neuerungen  vorzunehmen  oder  sich  sonst  etwas  vom  Her- 
kömmlichen Abweichendes  auszudenken;  auch  heute  noch  ist  es  weder  in  diesem 
noch  in  irgend  einem  anderen  Gebiete  der  schönen  Künste  gestattet  Und  siehst 
du  genauer  zu,  so  wirst  du  finden,  daß  dort  was  vor  zehntausend  Jahren  gemalt 
oder  gemeißelt  worden  ist  —  und  zehntausend  Jahre  meine  ich  nicht  im  sprich- 
wörtlichen, sondern  im  eigentlichen  Sinne  — ,  weder  höher  noch  niedriger  steht  als 
das  was  man  jetzt  macht,  sondern  ganz  in  derselben  Kunstform  gearbeitet  ist. 

Kleinias:  Höchst  merkwürdig,  was  du  sagst 

Der  Athener:  Jedenfalls  eine  gesetzliche  staatserhaltende  Anordnung  von  höch- 
stem Werte.  Du  kannst  eben  dort  manches  andere  finden,  was  recht  bedenklich  ist 
Diese  Bestimmung  aber,  die  schöne  Kunst  betreffend,  ist  vernünftig,  und  es  ist  wohl 
der  Beachtung  wert,  daß  es  möglich  war  über  diese  Dinge  feste  Anordnungen  mit 
Entschiedenheit  zu  treffen  und  Singweisen  vorzuschreiben,  die  das  Gepräge  der 
Angemessenheit  von  Natur  an  sidi  tragen.  Allerdings  dürfte  es  das  Werk  eines 
Gottes  oder  eines  göttlichen  Mannes  sein,  und  wirklich  erzählt  man  dort,  die  von 
so  langer  Zeit  her  überlieferten  Tonweisen  seien  als  Schöpfung  der  Isis  entstanden. 
Darum  dürfte  man  wohl,  wie  gesagt,  unter  der  Voraussetzung  allerdings,  daß 
jemand  im  stände  wäre  das  Angemessene  darin  festzuhalten,  es  kühnlich  in  Gesetzes- 
form bringen  und  feste  Ordnungen  darüber  vorschreiben.  Denn  die  Jagd  nach 
frohen  und  schmerzlichen  Erregungen,  die  immer  neue  Kunstformen  zu  ersinnen 
antreibt,  hat  doch  eigentlidi  keine  besondere  Macht,  die  geheUigten  Weisen  durch 
den  Vorwurf,  sie  seien  veraltet,  zu  beseitigen.  Jedenfalls  dort,  scheint  es,  hat  sie 
sie  keineswegs  zu  beseitigen  vermocht,  sondern  gerade  das  Gegenteil  ist  eingetreten. 
(Gesetze  II,  S.  656  D/E.) 


ilL  Der  ästhetische  Gegenstand. 


1.  Der  Umkreis  ästhetischer  Gegenstände, 

Ob  es  erlaubt  ist,  zwischen  ästhetischem  G^enstand  und  ästheti- 
schem Eindruck  zu  unterscheiden?  Wir  wissen  bereits,  daß  nach  einer 
lebhaft  verteidigten  Ansicht  gerade  in  dieser  Sphäre  die  sonst  fiberall 
herrschende  Sonderung  des  Subjektiven  und  Objektiven  fortfallen  soll. 
Beim  ästhetischen  Genuß  empfinde  der  Mensch  das  Ding  oder  den 
Vorgang  nicht  mehr  als  etwas  Äußeres  und  seine  Gefühle  nicht  als 
etwas  rein  Subjektives ;  sondern  in  einer  unbegreiflichen  Mitte,  in  einem 
gar  nicht  beschreibbaren  Zusammenfließen  bestehe  die  Bildhaftigkeit 
oder  die  besondere  Daseinsart  des  Schönen.  Daß  hierin  etwas  Richtiges 
liegt,  kommt  namentlich  beim  Hören  von  Musik  zum  Bewußtsein:  wir 
vermögen  kaum  zu  sagen,  was  außen  und  was  innen  ist,  und  wir 
haben  während  des  Erlebnisses  keinen  Anlaß,  eine  solche  Trennung 
vorzunehmen. 

Dennoch  kann  die  Ästhetik  als  Sonderwissenschaft  und  als  philo- 
sophische Betrachtung  den  im  tiefsten  der  Seele  verankerten  Dualismus 
von  Subjekt  und  Objekt  nicht  fortspulen.  Sie  hat  sich  vielmehr  zu 
entscheiden,  ob  sie  die  Beschaffenheit  von  Gegenständen  für  wesent- 
lich oder  gleichgültig  zur  Entstehung  des  ästhetischen  Genusses  er- 
achtet. Und  dies  umsomehr,  als  die  Grundfrage  nach  dem  Verhältnis 
des  Schönen,  Ästhetischen  und  Künstlerischen  zueinander  mit  der  An- 
erkennung oder  Verwerfung  objektiver  Merkmale  zusammenhangt.  Hier- 
von sei  zunächst  die  Rede. 

Tatsache  ist,  daß  ein  gewisser  Kreis  von  Gegenständen,  dessen 
Inhalt  auch  mit  leidlicher  Sicherheit  angegeben  werden  kann,  den 
Umfang  des  »Schönen«  abgrenzt.  Über  das,  was  —  außerhalb  der 
Kunst  und  oft  unbeeinflußt  von  ihr  —  schön  genannt  wird,  gehen 
die  Meinungen  nicht  erheblich  auseinander,  wie  denn  überhaupt  der 
Einzelne  in  seinen  natüriichen  Lustgefühlen  durchaus  Gattungsexem- 
plar ist.  Ästhetischer  Individualismus  und  Skeptizismus  haben  in  dieser 
Rücksicht  weit  geringere  Macht  als  man  glauben  sollte:  Das  be- 
trachtende Wohlbehagen,  das  einige  Erscheinungen  der  Natur  und 
des   Lebens   hervorrufen,    wird  Gerechten   wie  Ungerechten   zu  teil. 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  105 

Die  eine  Körperform  gilt  allgemein  als  häBlichy  eine  zweite  als  gleich- 
gültig, eine  dritte  als  schön.  Übertragen  wir  diese  uns  so  geläufige 
Vorstellung  auf  die  Wirklichkeit  insgesamt,  so  entsteht  ein  Stufenbau: 
Auf  der  untersten  Stufe  befindet  sich  das  Häßliche,  dann  folgt  die  weite 
Sphäre  des  Gleichgültigen  und  schließlich  das  Gebiet  des  Schönen. 
Um  eine  kurze  Bezeichnung  zur  Hand  zu  haben,  sei  es  gestattet,  eine 
solche  Auffassung,  die  der  theokratischen  verwandt  ist,  Kallikratie 
zu  nennen.  Der  Kallikratie  zufolge  hätte  die  Kunst  eine  Aufgabe  von 
entzückender  Einfachheit,  nämlich  die,  das  überhaupt  Schöne  oder  an 
sich  Wohlgefällige  durch  Wiederholung  eindringlicher  und  zugänglicher 
zu  machen.  Naive  Gemüter  pflegen  die  Kunst  so  anzusehen.  Sie 
haben  im  Leben  Dinge  angetroffen,  die  (hauptsächlich  auf  Grund  von 
Gesichts-  und  Gehörseindrücken)  ein  störungsfreies  Genießen  hervor- 
rufen, und  sie  verlangen  nun  von  der  Kunst,  daß  sie  solche  Annehm- 
lichkeiten gesammeh  und  gereinigt  darbiete.  Wie  im  Leben,  so  suchen 
sie  auch  in  der  Kunst  das  Schöne  und  fliehen  alles  Häßliche.  »Schön- 
heit ist  der  höchste  Endzweck  und  der  Mittelpunkt  der  Kunst«  ^). 

Zwei  Vorzüge  dieser  Betrachtungsweise  sind  unverkennbar.  Sie 
zeichnet  sich  dadurch  aus,  daß  sie  Abstände,  Ober-  und  Unterordnung 
zugesteht,  und  sie  erleichtert  die  Führung  der  Theorie,  indem  sie 
Natur-  und  Kunstschönes  zu  einer  Einheit  zusammenschließt.  Aber 
die  Nachteile  überwiegen.  Wie  würden  Umfang  und  Bedeutung  der 
Kunst  zusammenschrumpfen,  wenn  wir  sie  auf  eine  höhere  Annehm- 
lichkeit einschränken  wollten!  Überhaupt  darf  die  Kunst  nicht  mit 
einem  bestimmten  Inhalt  in  eins  gesetzt  werden.  Einer  der  ersten 
Schritte  zum  Kunstverständnis  besteht  ja  darin,  daß  man  lernt.  Gleich- 
gültiges zu  genießen,  weil  es  in  künstlerischer  Darstellung  auftritt,  sich 
weder  durch  die  im  Kunstwerk  enthaltenen  sachlichen  Schönheiten 
verleiten  noch  durch  die  Häßlichkeiten  abstoßen  zu  lassen.  Kunst  hat 
nicht  das  Schöne,  sondern  höchstens  schön  darzustellen ;  die  Ästhetik 
ist  nicht  ein  Verzeichnis  aller  schönen  Gegenstände,  sondern  die 
Wissenschaft  von  den  äußeren  und  inneren  Bedingungen  gewisser 
Wertvorgänge.  Femer  scheint  der  stetige  Fortschritt  von  dem  leib- 
haftig Schönen  zur  Kunst  im  Grunde  nur  einer  idealistischen  Meta- 
physik zu  gelingen.  Der  Zusammenhang  nämlich,  der  vom  ästhetischen 
Stufenbau  der  Welt  ohne  Sprung  zur  Kunst  hinüberführt,  erhält  seine 
größte  Festigkeit  durch  die  Annahme,  daß  Ideen  sowohl  erzeugende 
Ursachen  von  Naturobjekten  als  auch  von  Kunstwerken  sind.  Wenn 
ein  Ding  derart  von  Idee  erfüllt  ist,  daß  es  bloß  als  Symbol  oder 
bildhafte  Äußerung  dieser  Idee  gefällt,  dann  ist  allerdings  seine  Schön- 
heit in  ihrem  Kern  gleichzusetzen  mit  dem,  was  man  gemeinhin  auch 
in  der  Kunst  unter  Schönheit  versteht. 


106  m.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

Man  wage  folgende,  dem  Plotinismus  abgelauschte  Spekulation. 
Gottes  Wesen  verkündet  sich  am  freiesten  in  den  Schönheiten  der 
Natur.  Mit  der  weiteren  Entfernung  vom  Absoluten  nimmt  auch  die 
Schönheit  ab;  an  der  letzten,  dunkeln  Grenze  wohnt  der  Dämon  des 
Häßlichen.  Die  bevorzugten  Punkte  des  Kosmos  zeigen  eine  Schön- 
heit, an  die  keine  Kunst  heranreicht.  Plotin  bleibt  dabei  freilich  nicht 
stehen:  seine  Philosophie  ist  ebensosehr  ein  dynamischer  Pantheismus 
wie  eine  Emanationenlehre;  neben  der  Unnahbarkeit  des  göttlichen 
Einen  wird  auch  die  Erfüllung  der  ganzen  Welt  durch  den  höchsten 
Geist  verkündet.  Wir  hatten  vorhin  ein  Weltbild  entworfen,  das  einen 
Stufenaufbau  ästhetischer  Werte  darstellt.  Es  drängen  jedoch  starke 
Motive  zu  einer  Betrachtungsweise  nach  der  Art  des  Pantheismus  und 
Panlogismus.  Wie  es  nichts  gibt,  was  ganz  von  Gott  losgelöst  ist, 
nichts,  was  völlig  geistfrei  ist,  so  läßt  sich  nichts  aufweisen,  was  der 
ästhetischen  Bedeutung  gänzlich  entbehrte.  In  diesen  drei  Sphären 
vermag  der  Geist  sich  zu  dem  Gedanken  zu  erheben,  daß  der  Wert, 
der  nur  vereinzelt  vorzukommen  scheint,  in  Wahrheit  allen  Dingen 
gebührt.  Daher  kann  der  empfängliche  Sinn  an  dem  Niedrigsten  und 
Dürftigsten  nicht  geringere  Schönheit  entdecken  als  an  jenen  glänzenden 
Erscheinungen,  die  mit  der  Marke  »Schönheit«  versehen  sind:  der  Be- 
trachter muß  nur  sorgsam  nachspüren  und  andächtig  sich  versenken. 
Die  Kunst  ist  dazu  da,  daß  dieser  Charakter  der  Welt  ebenso  deut- 
lich zum  Ausdruck  gelange,  wie  der  Logos  der  Wirklichkeit  durch  die 
geläuterte  Religion  und  die  spekulative  Philosophie  ans  Licht  gezogen 
wird.  Den  so  gewonnenen  Standpunkt  wollen  wir  gleichfalls  mit 
einem  besonderen  Wort  benennen:  er  heiße  von  jetzt  ab  Pa nästheti- 
z  i  s  m  u  s. 

Der  Panästhetizismus  besitzt  die  verführerische  Kraft  des  Panthe- 
ismus. Doch  treibt  er  zu  einer  Herabwürdigung  der  Kunst.  Jedes 
vom  Künstler  vollzogene  Auswählen  erscheint  als  dreiste  Anmaßung, 
jedes  Idealisieren  als  Gotteslästerung.  Ein  Herumbessern  an  der  Natur 
steht  auf  gleicher  Höhe  mit  jener  kümmerlichen  Malerei,  die  in  die 
Photographien  toter  Kinder  farbige  Engelsflügel  einfügt.  Daher  be- 
hauptet Ruskin:  »Keine  griechische  Göttin  ist  jemals  halb  so  schön 
gewesen  wie  eine  junge  Engländerin  von  reinem  Blut.«  In  der  Tat 
ist  für  Menschen  mit  Beobachtungssinn  und  dem  angeborenen  Ge- 
mütsverhältnis zur  Natur  das  Naturschöne  nicht  mehr  ein  Äquivalent 
der  Kunst,  sondern  ihr  völliger,  vielleicht  die  Kunst  übertreffender  Er- 
satz. Wilhelm  Heinse  schildert  den  Rheinfall  und  fügt  hinzu:  »daß 
alle  Tiziane,  Rubens'  und  Vemets  vor  der  Natur  müssen  zu  kleinen 
Kindern  und  lächeriichen  Affen  werden.«  »Kommt  und  laßt  euch  die 
Natur  eine  andere  Oper  vorstellen,  mit  anderer  Architektur  und  anderer 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  107 

Feenmalerei  und  anderer  Harmonie  und  Melodie,  als  die  von  jämmer- 
licher Verschneidung  mit  einem  winzigen  Messer  euch  entzückt«  *). 
Der  begeisterte  Verfasser  einer  Forstästhetik')  hat  herausgerechnet,  »daß 
die  Naturschätze,  welche  unsere  Forsten  bergen,  allein  schon  durch 
ihren  Schönheitswert  den  Wert  aller  Kunstsammlungen  unermeßlich 
übersteigen,  und  in  den  ersteren  sind  wir  die  Museumsdirektoren.« 
Für  diese  etwas  naive  Denkweise  ist  es  allerdings  eine  notwendige 
Folgerung,  daß  Farben  und  Formen  der  Außenwelt  an  ästhetischem 
Wert  jeden  künstlerischen  Versuch  überstrahlen.  Im  Walde  mischen, 
verbinden  und  trennen  sich  die  Farben  mit  einer  unnachahmlichen 
Zartheit.  Durch  die  nie  fehlende  Bewegung  entstehen  fortgesetzt  neue 
und  reizvolle  Harmonien;  das  Licht,  das  auf  den  Gegenständen  spielt, 
und  die  Luft,  die  zwischen  ihnen  und  dem  Betrachter  liegt,  geben 
ihren  Beitrag.  Das  Ganze  erscheint  als  unbegrenzt  oder  in  jedem 
Augenblick  beliebig  begrenzbar.  Es  ist  aber  nicht  nur  räumlich  größer, 
sondern  auch  inhaltlich  reicher  als  jegliches  Gebilde  von  Künstlerhand, 
denn  es  erfreut  die  niederen  Sinne  durch  Wärme  und  Duft.  Damit 
leistet  es  möglicherweise  etwas  Bedeutsames;  wenigstens  behauptet  ein 
älterer  Ästhetiker  vom  Geruch,  er  gewähre  »gleichsam  aus  dem  innersten 
Herzen  der  Pflanze  heraus  von  ihrer  Art  eine  einfachere,  schnellere, 
schärfere  Erkenntnis  als  ihre  Gestalten  und  alle  Versuche  einer  künst- 
lichen Beschreibung«  *). 

Indessen  selbst  wer  die  Akzentverschiebung  von  der  Kunst  auf  die 
Natur  billigt,  kann  im  Panästhetizismus  kaum  die  unbedingte  Sicherheit 
und  Ruhe  finden,  die  dem  Erklärungsbedürfnis  vorschweben.  Sowohl 
der  Anblick  der  Welt  als  auch  der  Anblick  der  Kunst  erhält  unter 
diesem  Gesichtspunkte  etwas  Zerfließendes  und  Verschwimmendes. 
Wenn  alles  gleichwertig  wird,  so  bleibt  keine  Möglichkeit  fester  Ord- 
nung, entfällt  jede  Gliederung  des  Weltbildes.  Wir  kommen  dahin, 
die  Schönheit  eines  dürren  Grashalmes  ebenso  laut  zu  preisen  wie  die 
Schönheit  des  Weibes.  Und  nicht  genug  damit,  nein,  wir  müssen 
schließlich  auf  jede  objektive  Nachweisung  verzichten  und  alles  dem 
subjektiven  Belieben  überlassen.  Nirgends  zeigt  sich  eine  sichere 
Grenze  zwischen  dem,  was  objektiv  schön  ist,  und  dem,  was  mich 
persönlich  interessiert:  wenn  ich  empfänglich  gestimmt  bin,  dann  finde 
ich  überall  die  erlesensten  Reize  heraus,  und  es  liegt  an  meiner  Stumpf- 
heit, daß  ich  gewöhnlich  nur  die  eine  oder  andere  auffallende  Schön- 
heit bemerke. 

Die  Wahl  zwischen  Kallikratie  und  Panästhetizismus  ist  nicht  auf 
Ja  oder  Nein  gestellt.  Man  muß  nur  auseinanderhalten  das  ästhetische 
Weltbild  einerseits  und  das  Verhältnis  von  Natur  und  Kunst  ander- 
seits; außerdem  muß  auf  beiden  Seiten  die  Zeri^^ng  rücksichtslos  bis 


108  in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

ZU  Ende  geführt  werden.  Innerhalb  des  Weltbildes  unterscheiden  wir 
das  Schöne  und  das  Ästhetische:  jenes  als  einen  wichtigen  Einzelfall 
von  diesem.  Unleugbar  die  Err^ungskraft  einer  jeden,  auch  der  an- 
scheinend gleichgültigen,  ja  häßlichen  Erscheinung,  unleugbar  die  be- 
sondere Stellung  schöner  Gebilde  und  Geschehnisse.  Eine  ästhetische 
Wertauffassung  sieht  ihr  Ziel  darin,  nach  festen  Maßen  eine  Rang- 
ordnung herzustellen  und  auch  auf  ihrem  Gebiet  ein  inhaltlich  be- 
stimmtes »höchstes  Gut«,  das  Schöne,  nachzuweisen.  Allein,  hiermit 
darf  nicht  die  engherzige  Forderung  verknüpft  werden,  daß  die  Kunst 
—  eine  Schöpfung  des  menschlichen  Geistes  —  lediglich  vom  Schönen 
sich  nähre.  Überhaupt  ist  die  Vergleichung  des  Schönen  und  des 
künstlerisch  Wertvollen  unerlaubt,  da  sie  sozusagen  auf  verschiedenen 
Ebenen  liegen.  Im  tiefsten  Grunde  hangt  freilich  alles  zusammen, 
vollends  dasjenige,  was  in  der  Entwicklung  der  Kultur  und  des  Denkens 
stets  als  einheitlich  betrachtet  worden  ist.  Für  die  Zwecke  der  zer- 
legenden und  sichtenden  Erkenntnis  jedoch  und  für  den  von  dieser 
Erkenntnis  mitbedingten  Fortschritt  wird  nunmehr  notwendig,  die  Ver- 
schiedenheit mit  aller  verfügbaren  Kraft  herauszuheben.  Und  zwar 
kann  das  auf  doppelte  Weise  geschehen:  einmal  durch  die  Einsicht, 
daß  Kunst  weder  aus  der  Nachahmung  des  Schönen  entstanden  ist 
noch  in  ihren  Leistungen  und  Wirkungen  ausschließlich  von  ihr  be- 
dingt wird,  und  alsdann  durch  den  Nachweis,  daß  es  ästhetische 
Gegenstände  und  Eindrücke  gibt,  die  mit  der  Kunst  schlechterdings 
nichts  zu  tun  haben.  Der  zweite  Punkt  steht  hier  zur  Verhandlung, 
wo  wir  vom  Umkreis  der  ästhetischen  Gegenstände  sprechen. 

Gönnen  wir  nochmals  dem  Naturschönen,  der  crux  der  Ästhetiker, 
ein  wenig  Aufmerksamkeit.  In  der  Gegenwart  leben  viele,  denen  die 
naturwüchsige  Freude  am  lebendig  Schönen  ebenso  fehlt  wie  die 
Kenntnis  seiner  Beschaffenheit.  Wenn  sie  trotzdem  genießen,  so  ge- 
schieht es,  weil  sie  aus  dem  Natürlichen  einen  Nachhall  der  Kunst 
heraushören.  Sie  freuen  sich  an  Farbenstimmungen,  die  sie  von  Ge- 
mälden her  kennen,  sie  bewundern  die  Maßverhältnisse,  die  durch 
Bildner  aus  der  Fülle  der  wirklichen  Formen  herausgehoben  sind  — 
mit  einem  Wort,  sie  verdanken  den  Künstlern  ihre  Freude  an  der 
Natur.  Ihre  Sympathien  und  Antipathien  sind  ihnen  von  Malern  und 
Dichtem  eingegeben,  ihre  Netzhaut  und  ihr  Trommelfell  ist  von  Bild- 
hauern und  Musikern  zu  ästhetischen  Verrichtungen  erzogen.  Andere 
dagegen  haben  ein  ursprüngliches,  von  der  Kunst  nicht  berührtes  Ge- 
mütsverhältnis zur  Natur;  zumeist  finden  sie  die  Schönheit  in  ihren 
natürlichen  Gestalten  herrlicher  als  die  Schönheit,  die  in  einen  Rahmen 
gespannt  oder  zwischen  Buchdeckel  gepreßt  wurde.  Zu  den  bedeut- 
samen Ereignissen  ihres  Lebens  gehören  die  unbeeinflußten  B^eg- 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  lOg 

nungen  mit  der  Natur,  jene  Stunden,  Tage,  Wochen,  in  denen  nicht 
Erholungsbedürfnis,  sondern  aufgespeicherte  seelische  Energie  den  Ge- 
nuß herbeiführte. 

Beide  Beziehungen  werden  gar  leicht  mit  der  Lebensauffassung  an 
sich  verquickt  und  einer  moralischen  Wertung  unterworfen.  Einer  von 
den  Ooncourts  notiert  gelegentlich:  »Wenn  am  Morgen,  wo  du  noch 
in  deinem  Halbschlummer  liegst,  Heuwagen  an  die  Mauern  streifen, 
bekommst  du  den  Eindruck,  als  hörtest  du  eine  Frau,  die,  zu  Füssen 
deines  Bettes  sitzend,  seidene  Strümpfe  anzieht.«  In  solchen  Assozia- 
tionen stellt  die  Kultur,  und  nicht  nur  die  künstlerische,  der  natür- 
lichen Empfindungsweise  den  Totenschein  aus.  Klagen  darüber  sind 
ebenso  alt  wie  zwecklos.  Bereits  im  Jahre  1770  schreibt  Oarve  die 
Worte,  die  in  unserer  Zeit  Tolstoi  hätte  äußern  können:  »Wir  werden 
von  Kindheit  an  erst  durch  unsere  Erziehung,  dann  durch  unsere 
Lebensart  und  Geschäfte  von  dem  Anblicke  der  Natur  abgehalten  . . . 
Nur  gelegentlich,  nur  auf  Augenblicke  werden  unsere  Menschen  in 
das  freie  Feld  hinausgeführt . . .  Viele  Dinge  geschehen  täglich  vor 
unseren  Augen  oder  sind  nur  wenig  Schritte  von  uns,  die  wir  doch 
kaum  eher  bemerken,  als  bis  wir  sie  in  Büchern  gefunden  haben.  Die 
Dichter  müssen  uns  erst  sagen,  was  eine  schöne  Gegend  sei  und  wie 
die  Sonne  auf-  und  untergeht.«  Selbst  diese  Art  der  Anschauung 
wird  getrübt,  weil  unsere  Seele  der  völligen  Sammlung  entbehrt,  ohne 
die  weder  eine  große  Leistung  noch  ein  großer  Eindruck  entstehen, 
weil  wir  ablenkbar  und  aufs  Vergängliche  gestimmt,  Liebhaber  der 
Anekdote  und  nicht  Bewunderer  des  Heldenepos  sind.  Inmitten  der 
zauberhaftesten  Aussicht  klammert  sich  das  Interesse  des  Durchschnitts- 
menschen an  irgendwelche  Auffälligkeiten  seines  Nachbarn,  gleichwie 
die  Besucher  einer  Künstlerwerkstatt  gewöhnlich  nicht  von  den  Bildern, 
die  die  Wand  schmücken,  angezogen  werden,  sondern  sich  gierig  auf 
das  Photographienalbum  stürzen. 

Die  in  der  Wirklichkeit  enthaltenen  ästhetischen  Gegenstände  bieten 
sich  einer  Mehrheit  von  Auffassungen  dar.  Wo  sie  mit  echter  Naivi- 
tät genossen  werden,  da  fehlt  selten  eine  inneriich  tätige  Abneigung 
gegen  wissenschaftliche  Naturerklärung.  Dem  so  Gestimmten  scheint 
es,  als  ob  der  herumstreifende  Botaniker,  indem  er  die  Blume  zerpflückt, 
zugleich  ihren  Zauber  zerstört.  Die  Wissenschaft  schweigt  nicht  nur 
von  allen  den  Tröstungen  und  Verheißungen,  die  der  abendlich  ge- 
färbte Himmel  uns  zuflüstert  —  nein,  sie  mordet,  was  für  den  Menschen 
und  sein  Leben  von  äußerster  Bedeutung  ist.  Oder  bedeutet  es  etwa 
nichts,  wenn  die  Erinnerung  an  deutsche  Wälder  dem  in  die  Ferne 
Verschlagenen  immer  von  neuem  die  Anhänglichkeit  an  das  Vaterland 
stärkt?  Ästhetische  Eindrücke  sind  es,  an  welche  die  Liebe  zur  heimi- 


110  in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

sehen  Erde  sich  heftet.  In  dies  rein  menschliche  Gefühl  darf  kein 
wissenschaftlicher  Gedanke  sich  eindrängen.  Gleichwie  die  Schönheit 
einer  Bewegung  oder  eines  Sprachklangs  sicherer  aufgenommen  und 
voller  genossen  wird,  solange  ihr  Sinn  verborgen  bleibt,  so  werden 
die  Reize  der  Natur  und  des  Lebens  von  der  Unkenntnis  am  eindring- 
lichsten empfunden. 

Fast  unmerklich  vollzieht  sich  der  Übergang  zu  einer  hiervon  ab- 
weichenden Schätzung.  Während  jener  Standpunkt  den  Grundsatz 
Vart  pour  Vart  in  seiner  Weise  vertritt,  zeigt  sich  eine  andere  ästhe- 
tische Auffassung  der  Naturerscheinungen  mit  Nützlichkeitserwägungen 
vermischt.  Das  Naturgefühl  dürfe  nicht  spielerisch  und  ein  Luxus  der 
Bevorzugten  sein,  sondern  die  Quellen  des  Schönen  in  der  Natur 
müssten  jedermann  fließen,  daher  zugänglich  gemacht  und  rein  ge- 
halten werden.  Wird  ein  unveräußerliches  Menschenrecht  auf  Natur- 
genuß behauptet,  so  wird  dieser  selbst  in  seinem  Charakter  umgedeutet 
Allerhand  soziale  Maßnahmen  gehen  von  hier  aus;  die  Annäherung 
des  Ästhetischen  an  die  Kunst  wird  im  Hinblick  auf  die  gesellschaft- 
liche Verrichtung  vollzogen.  Dazu  kommt  nun,  daß  das  Verhalten  des 
Aufnehmenden  das  nämliche  —  mit  den  alten  Ausdrücken:  ein  kon- 
templatives und  interesseloses  Wohlgefallen  —  zu  sein  scheint.  Um 
so  ernstlicher  ist  vor  einer  Gleichsetzung  der  in  Natur  und  Kunst  ent- 
haltenen Bedingungen  des  ästhetischen  Genusses  zu  warnen.  Ich  er- 
innere voriäufig  an  die  rastlose  Unruhe  und  an  die  Grenzenlosigkeit 
des  Wirklichen,  sowie  an  die  Mitwirkung  der  niederen  Sinne  In 
diesen  drei  Beziehungen  ist  die  Kunst  ärmer.  Aber  eben  in  der  Be- 
schränkung liegt  ihre  Stärke.  Die  Poesie  bietet  stets  nur  Worte  und 
die  Malerei  stets  nur  Bilder,  und  das  macht  ihren  Sinn  aus. 

Bewußtheit  und  Reflexion  dringen  noch  von  einer  anderen  Seite 
in  die  von  der  Kunst  unabhängigen  ästhetischen  Gegenstände  ein. 
Zeugnis  dafür  sind  die  Reisebeschreibungen:  auch  die  unbefangensten 
prunken  mit  Namen,  Zahlen  und  Tatsachen.  Femer  gehören  hierher 
die  Schilderungen  der  Naturkundigen.  Manchmal  verdichten  sie  sich 
zu  ästhetischen  Untersuchungen.  So  besitzen  wir  z.  B.  mehrere  Ab- 
handlungen eines  vortrefflichen  Zoologen  über  die  Schönheit  der  Tiere. 
Für  die  Schönheit  der  Säugetiere  soll  die  Gliederung  des  Körpers  ent- 
scheidend sein;  diese  entspricht  jedoch  weder  einem  mathematischen 
Gesetz  noch  dem  erhaltungsmäßigen  Bau,  sondern  bedeutet  einen  Si^ 
der  Kraft  über  die  Schwere  der  Körpermasse.  Daneben  betont  der 
Zoolog  den  Einfluß,  der  von  dem  gewohnten  Anblick  der  mensch- 
lichen Gestalt  und  der  Haustiere  unwillküriich  ausgeht,  der  den  Mandrill 
als  Karikatur  des  Menschen,  die  Giraffe  als  ein  mißratenes  Pferd  er- 
scheinen läßt    Bei  den  Vögeln  liegen  die  ästhetischen  Eigenschaften 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  m 

in  der  Form,  der  Farbe  und  in  den  Bew^ungsweisen.  Namentlich 
die  Zusammenstellung  und  der  Olanz  der  Farben  erzeugen  starke  und 
in  Regeln  zu  fassende  ästhetische  Gefühle.  Dasselbe  gilt  von  den 
Schmetterlingen  *). 

Die  innige  Beziehung  zur  Natur,  von  Wissen  durchzogen  und  für 
die  Wissenschaft  fruchtbar  gemacht,  führt  zu  Betätigungen,  die  trotz 
ihres  Zusammenhangs  mit  dem  ästhetischen  Leben  nicht  eigentlich  zum 
Kunstschaffen  gerechnet  werden.  Die  Topographie  gibt  die  leblose 
Natur  wieder  und  zwar  mit  den  Hilfsmitteln  des  Zeichners:  Papier, 
Blei,  Tusche,  Farben.  Von  dem  mechanischen  Teil  der  Arbeit  kann 
hier  abgesehen  werden.  Aber  nachdem  die  Koten  gelegt  sind,  muß 
jeder  zwischen  den  gemessenen  Punkten  befindliche  Gegenstand  in 
seinen  Raumbeziehungen  sorgsam  aufgefaßt  und  nach  Form  und  Größe 
richtig  eingezeichnet  werden;  die  ganze  Karte  endlich  soll  nicht  nur 
leicht  lesbar  und  getreu,  sondern  auch  anschaulich  und  wohlgefällig 
werden.  Moltke  nannte  das:  »dem  Boden  das  Geheimnis  seiner 
Szenenkunst  ablauschen«.  Für  diese  Tätigkeit  ist  also  zunächst  eine 
Vertrautheit  mit  allen  Einzelheiten  der  Bodengestaltung,  mit  Feld,  Wald, 
Fluß,  Berg  erforderlich,  und  alsdann  muß  die  Technik  des  Zeichners 
in  einem  gewissen  Umfang  beherrscht  werden.  Dennoch  bezeichnet 
niemand  die  Ortsbeschreibung  als  Kunst  im  gleichen  Sinne  wie  Malerei 
und  Plastik. 

Fragt  man  nach  dem  Grunde,  so  wird  kaum  ein  Zweifel  darüber 
herrschen,  daß  er  in  dem  Mangel  freier  Gestaltung  zu  suchen  ist. 
Das  erste  Gebot  der  Topographie:  Genauigkeit  schließt  die  Betätigung 
schöpferischer  Einbildungskraft  aus,  die  mit  unserem  Begriff  von  Kunst 
und  Künstler  unlöslich  verschmolzen  ist  Anders  verhält  es  sich  mit 
dem  zweiten  Beispiel,  das  wir  betrachten  wollen.  Die  Ziergärtnerei 
nämlich,  von  der  gesprochen  werden  soll,  läßt  dem  Schaffensdrang 
einen  Spielraum.  Um  sie  aus  dem  geheiligten  Kreise  der  Künste  zu 
verbannen,  hat  man  daher  andere  Erwägungen  herangezogen.  Man 
hat  geltend  gemacht,  daß  der  Gartenkünstler  keine  solche  Hindernisse 
zu  bekämpfen  brauche  wie  der  bildende  Künstler.  Doch  trifft  das  kaum 
zu.  Die  Schwierigkeit,  aus  einem  öden  Gefild  oder  aus  einem  wirren 
Wald  ein  wohlgegliedertes  Ganzes  zu  gestalten,  wo  jede  Farbe  und 
Form  für  jede  Stellung  des  Betrachters  und  jede  Jahreszeit  am  rich- 
tigen Fleck  sich  befindet,  wo  die  Übersicht  des  Ganzen  und  die  Freude 
am  Einzelnen  sich  nicht  stören,  diese  Schwierigkeit  ist  wohl  anders 
geartet,  aber  nicht  geringer  als  der  Durchschnitt  dessen,  was  ein 
Künstler  zu  überwinden  hat.  Vielleicht  liegt  in  der  Beschränktheit 
auf  das  natürliche  Material  ein  Moment,  das  den  weitabgewandten 
Charakter  reiner  Kunst  nicht  aufkommen  läßt;  vielleicht  fühlen  wir 


112  m.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

instinktiv,  daß  die  Besonderheit  und  Fremdheit  des  Künstlerischen  in 
der  Hortikultur  unmöglich  ist.  So  möchten  wir  wohl  einen  Grund 
dafür  haben,  die  Gartenkunst  aus  der  Reihe  der  Künste  zu  streichen. 
Sie  ist  eine  ästhetische  Fertigkeit,  wenn  man  so  will,  aber  deshalb 
noch  nicht  Kunst.  Das  unwillkürliche  Empfinden  des  Sprachgebrauchs 
hat  sicherer  geleitet  als  die  Theorie  der  Ästhetiker^). 

Übrigens  sind  bei  allen  solchen  Abgrenzungen  und  Titelverleihungen 
soziale  Vorgänge  maßgebend,  die  in  der  reinen  Theorie  nicht  genügend 
berücksichtigt  werden.  Wie  hoch  man  den  Künstler  in  der  gesell- 
schaftlichen Stufenordnung  stellt,  welche  Künste  in  einer  Zeit  am 
meisten  begehrt  werden,  welchem  Gebiet  die  größte  Anzahl  der  her- 
vorragenden Talente  sich  zuwendet'),  solche  Vorgänge  bestimmen 
ganz  wesentlich  die  Bewertung  eines  besonderen  Tätigkeitsgebietes 
als  einer  Kunst.  Die  Grenzen  zwischen  Gewerbe  und  Kunst  sind 
fließend  und  unterliegen  dem  geschichtlichen  Wechsel.  Da  keine  be- 
griffliche Bestimmung  der  Vielfältigkeit  des  Inhaltes  und  der  Anwen- 
dung gerecht  werden  kann,  so  muß  auch  die  Theorie  die  Verschieb- 
barkeit der  Grenze  zugeben.  Offenbar  stehen  wir  jetzt  wieder  vor 
einer  Zeit,  in  der  es  der  Architekt  nicht  verschmähen  wird,  seine  Kraft 
der  Anlage  eines  Parks  zu  widmen,  und  wo  die  Künstler  ebenso  leb- 
haft für  den  Blumenschmuck  des  Balkons  sich  interessieren  werden, 
wie  sie  jetzt  schon  für  die  Herstellung  von  Tapeten  sich  einsetzen. 
Wir  können  beobachten,  daß  die  Wandlung  des  Geschmackes  von 
der  Substanzialität  zur  Aktualität,  vom  räumlich  Ruhigen  zum  zeitlich 
Bewegten  bereits  in  die  Gartenbaukunst  eingedrungen  ist.  Früher  hat 
man  Pflanzen  wie  z.  B.  die  Taxushecken  nach  festen  Formtypen  zu- 
geschnitten und  in  den  Sträußen  die  Blumen  zu  einem  bestimmten 
Schema  zusammengepreßt;  jetzt  behandelt  der  Gärtner  im  großen  wie 
im  kleinen  alle  Pflanzen  als  zeitliche  Gebilde,  als  wachsende  und 
lebendige  Einzelwesen.  Einst  schuf  der  Architekt  des  Gartenbaues 
Wasserterrassen,  die  wie  eine  Raumform  wirkten;  jetzt  sucht  er  in 
der  Bewegung  des  Wassers  den  Reiz.  Also  Wandlungen  der  künst- 
lerischen Produktion  spielen  auch  in  die  Betätigungen  des  Geschmacks 
hinein. 

Schon  in  der  Einleitung  ist  angedeutet  worden,  daß  der  Drang 
nach  Schönheit  nicht  die  spezifische  Form  der  Kunst  zu  gewinnen 
braucht.  Im  Gegenteil,  das  ästhetische  Bedürfnis  ist  so  mächtig,  daß 
es  auf  nahezu  alle  Leistungen  des  Menschen  sich  ausdehnt  Der 
Mensch  strebt  nicht  ausschließlich  nach  einem  in  der  Kunst  etwa 
vorhandenen  Intensitätsmaximum  ästhetischer  Lust,  vielmehr  treibt  er 
auch  sozusagen  extensive  Wirtschaft  mit  dem  Ästhetischen.  Auf  sämt- 
lichen geistigen  und  wirtschaftlichen  Gebieten  setzt  sich  die  Lebens- 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  II3 

energie  teilweise  in  ästhetische  Formung  um.  Wenn  wir  eine  Ma- 
schine, die  Lösung  einer  mathematischen  Aufgabe,  die  Organisation 
irgend  einer  sozialen  Gruppe  schön  nennen,  so  ist  das  mehr  als  eine 
Redensart.  Denn  in  der  unbedingten  Zweckmäßigkeit  des  Ganzen 
und  der  hiernach  zu  bemessenden  Übereinstimmung  der  Bestandteile 
finden  wir  den  rationalen  Faktor  der  Kunst  wieder.  Die  Geschlossen- 
heit des  Kunstwerkes  und  die  in  ihm  herrschende  Vereinheitlichung 
des  Mannigfaltigen  werden  zum  Vorbild  für  die  Einrichtung  von  Dingen 
und  Vorgängen.  Indem  wir  das  von  uns  Gestaltete  derart  geistig 
durchdringen,  daß  es  durch  seine  wohltuende  Ordnung  sich  von  der 
unberechenbaren  Mannigfaltigkeit  des  natürlichen  Seins  abhebt,  machen 
wir  unser  Erzeugnis  erst  zu  einem  voll  befriedigenden.  Daher  konnte 
Dugald  Stewart  die  Grundzüge  einer  Ästhetik  entwerfen,  fast  ohne 
sich  um  die  Kunst  zu  kümmern.  Unserer  wissenschaftlichen  Gewöh- 
nung scheint  das  widersinnig.  Vollends  glauben  wir  den  Boden  unter 
den  Füßen  zu  vertieren,  wenn  wir  bei  Alexander  Bain  lesen,  daß  die 
Freude  an  der  Machtstellung  des  eigenen  Volkes,  das  Standesbewußt- 
sein und  der  Familienstolz  zu  den  ästhetischen  Gefühlen  gehören 
sollen.  Nachträglich  aber  erkennen  wir  in  dieser  paradoxen  Ansicht 
eine  gewisse  Berechtigung.  Denn  das  Aktivitätsgefühl,  das  den  künst- 
lerisch Genießenden  mit  dem  künstlerisch  Schaffenden  verbindet,  ver- 
mag sich  auch  in  jenen  Emotionen  auszuleben.  Ferner  wird  durch 
die  Überordnung,  nämlich  des  Volkes,  Standes  und  der  Familie,  denen 
der  Denker  angehört,  eine  leichte  Übersicht  erzeugt  und  eine  sym- 
metrische Anordnung  getroffen,  die  dem  geistigen  Auge  Befriedigung 
gewährt.  Da  in  diesem  Falle  das  Ich  im  Mittelpunkt  steht,  so  ist  die 
erfreuende  Regelmäßigkeit  offenbar  auch  stofflich  bedingt.  Unter 
solchen  Umständen  kommt  der  Inhalt  der  Teile  und  ihre  Teilbeschaffen- 
heit überhaupt  zu  größerem  Recht  Wertsteigerungen  und  Verschie- 
bungen treten  ein,  die  schließlich  den  Einheitsbezug  sprengen  und 
zur  Asymmetrie  führen  können.  In  der  Entwickelung  der  Völker  und 
der  Einzelnen  gibt  es  Zeiten,  wo  diese  Befreiung  von  einem  Zwang 
den  so  gewonnenen  asymmetrischen  Formen  einen  starken  Reiz  verleiht. 
Soziale  Ordnungen  und  Lebensformen  gehören  zweifellos  in  den 
Umkreis  ästhetischer  Gegenstände.  Jede  Regelung  der  gesellschaft- 
lichen Beziehungen,  alle  Sitten  und  Bräuche  sind  auch  dieser  Be- 
dingung unterworfen,  daß  sie  den  Geschmack  nicht  verletzen  dürfen, 
ja  sogar  ästhetische  Gefühle  auslösen  sollen.  Leider  zeigt  die  ästhe- 
tische Gestaltung  unseres  Lebens  einen  erschreckenden  Tiefstand.  Im 
geselligen  Verkehr  herrscht  Formlosigkeit,  die  man  mit  dem  bezeich- 
nenden Worte  »Gemütlichkeit«  verhüllt,  wird  immer  noch  geschrieen 
statt  gesprochen  und  ohne  den  gedeckten  Tisch  oder  einen  bestimmten 

Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Kunstvrissenschaft.  8 


114  in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

Vereinszweck  keine  Zusammenkunft  veranstaltet.  Man  hält  es  für  eine 
Forderung  guter  Sitte,  sich  im  Salon  gegenseitig  vorzustellen  und  mit 
dem  Gebrauch  der  Titel  sogar  die  dritte  Person  zur  Anrede  zu  ver- 
wenden; man  setzt  Verlobungen  und  Entlobungen  d.  h.  Verkündi- 
gungen und  Nichtigkeitserklärungen  ausgetauschter  Küsse  in  die  Zei- 
tung. Wer  recht  deutlich  sehen  will,  wie  arg  der  Formensinn  selbst 
bei  den  geistig  Hochstehenden  verkümmert  ist,  der  höre  den  Vorträgen 
oder  Gesprächen  berühmter  Männer  zu:  er  wird  dann  zugeben  müssen, 
daß  die  ästhetische  Vollendung  auf  diesen  Gebieten  nicht  angestrebt, 
geschweige  denn  erreicht  wird.  Wenn  wir  Konversation  machen, 
sind  wir  teils  langweilig  teils  gemein.  Die  Kunst  des  anr^enden 
Gesprächs,  das  weder  in  eisige  Höhen  hinaufreicht  noch  in  schmutzige 
Niederungen  versinkt,  liegt  schmählich  darnieder.  — 

Nachdem  wir  uns  jetzt  im  weiten  Felde  der  ästhetischen  Objekte 
einigermaßen  zurechtgefunden  haben,  wird  die  Behauptung  nicht  mehr 
allzu  gewagt  klingen:  es  könnte  jemand  ein  vollständiges  System  der 
Ästhetik  aufstellen,  ohne  von  der  Existenz  einer  Dichtkunst,  einer 
Musik,  einer  Malerei  zu  wissen.  Er  würde  den  ästhetischen  Eindruck 
erschöpfend  beschreiben  und  zergliedern,  da  dieser  Eindruck  durch 
Gegenstände  unserer  Umgebung  in  aller  Intensität  hervorgerufen  wird, 
und  er  vermöchte  das  Schöne  wie  das  Erhabene,  das  Komische  wie 
das  Tragische,  das  Liebliche  wie  das  Häßliche  den  äußeren  Be- 
dingungen nach  an  Objekten  und  Geschehnissen  des  täglichen  Lebens 
hinreichend  zu  erklären.  Und  nicht  genug  damit.  Auch  für  die  ästhe- 
tische Umbildung  und  Gestaltung  des  natürlichen  Seins  hätte  er  in 
allerhand  Fertigkeiten  und  Organisationen  die  lehrreichsten  Beispiele. 
Der  Satz  mag  folglich  als  bewiesen  gelten,  daß  der  Geschmack 
sich  unabhängig  von  der  Kunst  entwickeln  und  auswirken 
kann. 

Wir  lassen  nunmehr  das  Verhältnis  des  Schönen  und  Ästhetischen 
zum  Künstlerischen  beiseite  und  kehren  zu  der  jetzt  einfacher  ge- 
wordenen Frage  zurück:  Mit  welchem  Recht  behandelt  die  (dem 
Sprachgebrauch  frei  gegenüberstehende)  Wissenschaft  die  objektive 
Seite  des  ästhetischen  Erlebens  als  etwas  Gesondertes?  Ästhetisches 
Erleben  trägt  eine  doppelte  Notwendigkeit  in  sich:  eine  innere,  die 
Selbstgewißheit  des  Nichtandersseinkönnens,  und  eine  nach  außen 
gerichtete:  die  Gebundenheit  an  das  Objekt  oder  das  Bewußtsein,  daß 
eine  gegenständliche  Wirklichkeit  restlos  aufgenommen  ist  in  das  Er- 
lebnis. Dies  Bewußtsein  erweist  sich  als  abhängig  von  der  Beschaffen- 
heit des  Dinges  und  führt  daher  zu  einer  selbständigen  Untersuchung 
desselben.  Zwar  scheint  es  so  als  werde  in  jeder  Wahrnehmung 
das  Objekt  ohne  Abzug  dem  Subjekt  übermittelt.     Aber  die  nähere 


DER  UMKREIS  ÄSTHETISCHER  GEGENSTÄNDE.  II5 

Überlegung,  wie  sie  Theodor  Lipps  angeregt  hat,  deckt  einen  Mangel 
auf.  In  solchem  Falle  nämlich  sind  die  Teile  oder  Beschaffenheiten 
nur  tatsächlich  miteinander  da;  wenn  ich  an  der  als  Einheit  sich  dar- 
bietenden Zitrone  unterscheide:  Farbe,  Form,  Gewicht,  Säure,  so  habe 
ich  dabei  das  Gefühl,  es  könnte  jede  dieser  Eigenschaften  auch  anders 
sein,  ohne  die  Verbindung  mit  den  übrigen  zu  stören.  Wäre  die  Zi- 
trone zufällig  eine  rote  Frucht,  so  würde  sie  gleichfalls  ohne  Abzug 
und  Widerstreben  wahrgenommen  werden.  Im  ästhetischen  Gegen- 
stand hingegen  fordern  und  fördern  sich  die  Teile  gegenseitig  und 
ebenso  die  Qualitäten;  dadurch  entsprechen  die  von  ihm  gesetzten 
seelischen  Inhalte  dem  Gesamtzustand  des  Bewußtseins  in  besonders 
hohem  Maße.  Unter  der  Voraussetzung,  daß  Lust  im  allgemeinen 
begründet  ist  in  einer  mit  lebhafter  Betätigung  einhergehenden  Leichtig- 
keit des  seelischen  Ablaufs,  versteht  man,  daß  ein  Ding,  dessen  Be- 
standstucke und  Eigenschaften  trotz  aller  Verschiedenheit  sichtlich 
aufeinander  angewiesen  sind,  eine  lebhafte  Funktionslust  hervorrufen 
muß.  Denn  diese  notwendige  Zusammengehörigkeit  des  Unterscheid- 
baren gibt  der  seelischen  Tätigkeit  Schwungkraft  und  erzeugt  im 
weiteren  Verlauf  das  Gefühl,  daß  die  Seele  des  Objekts  gänzlich  inne 
werde. 

Der  ästhetische  Eindruck  ist  demnach  —  theoretisch  angesehen  — 
der  notwendige  Erfolg  eines  objektiven  Tatbestandes.  Diesen  be- 
zeichnen wir  dem  entscheidenden  Merkmale  nach  als  eine  anschau- 
liche Notwendigkeit.  Eine  Figur,  deren  Einzelheiten  sich  gegen- 
seitig unterstützen,  ein  Akkord,  dessen  Klänge  aus  innerer  Verwandt- 
schaft sich  entgegenkommen,  besitzen  anschauliche  Notwendigkeit. 
Wenn  Kinder  und  Ungebildete,  die  nichts  vom  Versmaß  wissen,  das 
Metrum  richtig  auffassen  und  mit  Entzücken  genießen,  so  liegt  es 
daran,  daß  dem  Vers  eben  nicht  nach  Belieben  ein  Fuß  zugesetzt  oder 
abgezogen  werden  kann.  Warum  gefällt  die  Rundung  einer  vollen 
Baumkrone  oder  die  Silhouette  einer  lagernden  Kuh?  Weil  sie  »bien 
enveloppi^  sind,  d.  h.  durch  die  Gesetzmäßigkeit  der  Einschließung 
der  in  Fluß  gebrachten  psychischen  Energie  eine  sichere  Richtung 
anweisen.  Aus  Klängen,  die  sich  folgen,  entsteht  ein  ästhetisches 
Gebilde  erst  dann,  wann  sie  der  unmittelbaren  Auffassung  als  not- 
wendig zueinander  gehörend  sich  darstellen;  bei  ungewohnten  Arten 
der  Führung  vernehmen  wir  anfänglich  noch  keine  Melodie,  sondern 
nur  Töne:  die  Einheit  wird  durch  die  Vordringlichkeit  oder  übermäßige 
Beachtung  der  Elemente  am  Aufkommen  verhindert  —  man  sieht  den 
Wald  vor  Bäumen  nicht. 

Der  ästhetische  G^enstand  zeigt  also  ausnahmslos  eine  Gemein- 
samkeit in  den  wirkenden  Reizen,  wodurch  ihm  die  —  späterhin  noch 


^.- 


116  m.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

einmal  zu  erörternde  —  anschauliche  Notwendigkeit  zu  teil  wird.  Über 
dies  Zugeständnis  an  die  Überlieferung  darf  aber  nicht  hinausg^[angen 
werden.  Es  wäre  schon  bedenklich,  von  jedem  Objekt  eine  Gliederung 
zu  verlangen.  Ein  künstlerisches  Ganzes  freilich  muß  Anfang,  Mitte 
und  Ende  haben.  Das  Naturschöne  indessen  kann  gelegentlich  auch 
ohne  Brennpunkt  sein.  Desgleichen  würden  wir  voreilig  urteilen,  wenn 
wir  die  erwähnte  Bedingung  zur  einzigen  oder  auch  nur  zur  zentralen 
stempelten.  Sie  ist  nichts  als  die  Voraussetzung  für  jede  das  Seelen- 
leben ästhetisch  berührende  Gegenstands  Wirkung.  Mit  einer  Formel 
ist  dem  Ästhetischen  nicht  beizukommen,  auch  nicht  mit  der  scheinbar 
umfassendsten.  Denn  wird  sie  so  weit,  daß  sie  alles  deckt,  so  ver- 
flüchtigt sie  sich  ins  Inhaltslose. 

Die  Aufgabe  besteht  darin,  den  Gegenstand  und  alsdann  den  Ein- 
druck in  ihren  Hauptmomenten  zu  beschreiben.    Das  ist  durch  Zer- 
legung  möglich.     Obgleich   gerade  der  ästhetische   Gegenstand   ein 
Ganzes  ist,  in  dem  jeder  Teil  auf  den  anderen  verweist,  kann  er  doch 
nur  durch  Analyse  wissenschaftlich  dargestellt  werden.    Im  tierischen 
Organismus  vollziehen  sich  Verdauung,  Bewegung,  Kreislauf,  Atmung, 
Sinneswahrnehmung  im  engsten  Zusammenhang  miteinander,  aber  der 
Physiolog  muß  diese  Verrichtungen  nacheinander  behandeln.    So  ver- 
fahren auch  wir.   Zur  Verfügung  stehen  uns  einerseits  die  ästhetischen 
Eindrücke,  anderseits  als  objektive  Gegebenheiten  die  Eigenschaften 
der  Gegenstände  und  die  fest  gewordenen  Bezeichnungen  der  Sprache. 
Indem  Art  und  Recht  der  ästhetischen  Wertschätzung  untersucht  werden 
soll,  darf  die  in  den  allmählich  geschaffenen  sprachlichen  Kategorien, 
in  den  lobenden  und  tadelnden  Beiwörtern  enthaltene  Weisheit  sicher 
nicht  mißachtet  werden.    Der  Besitzstand  unserer  Fachausdrücke  ent- 
hält Hinweise  darauf,  welche  Qualitäten,  von  den  einfachen  bis  zu  den 
zusammengesetzten,  und  welche  Intensitäten,  von  den  schwächsten  bis 
zu  den  stärksten,  im  ästhetischen  Leben  eine  Rolle  spielen.   Daß  ganz 
geringe  und  sehr  hohe  Stärkegrade  ausgeschlossen  sind,  bemerkt  man 
sogleich  an  den  Benennungen  solcher  Begriffspaare  wie:  eisig-brennend, 
un wahrnehmbar-betäubend,  fade-ätzend;  ebenso  deutlich  sieht  man  am 
Wortgebrauch,  wie  sinnliche  Erfahrungen  in  eine  andere  Tonart  ver- 
setzt werden  (ein  Kolorit  heißt  beispielsweise  »warm«)  und  Feststel- 
lungen sich  mit  Bewertungen  verschmelzen®).    Bei  allen  diesen  Vor- 
gängen übt   der  Geist   der  Sprache  eine  Herrschaft  aus,  deren  wir 
bereits  bei  Gelegenheit  des  Einfühlungsproblems  gedacht  haben  und 
uns  weiterhin  stets  erinnern  werden.   Aber  sobald  die  naive  Sicherheit 
dessen,  der  in  den  Worten  den  unverfälschten  Abdruck  des  inneren  oder 
gar  des  äußeren  Befundes  zu  besitzen  wähnt,  grundsätzlich  überwun- 
den ist,  kann  auch  die  Hilfe  der  Sprache  dankbar  angenommen  werden. 


HARMONIE  UND  PROPORTION.  1 1 7 

Aus  dem  ästhetischen  G^enstand  lösen  wir  bloß  die  wichtigsten 
und  allgemeinsten  Bestimmungen  heraus.  Die  Kunstarten  sind  mit  viel 
weiter  gehender  Vereinzelung  zu  zergliedern.  Dazu  haben  die  be- 
sonderen Kunstwissenschaften  Veranlassung  genug,  denn  sie  wollen 
den  Aufbau  der  von  ihnen  erforschten  Werke  kenntlich  machen  und 
damit  die  geschichtliche  Untersuchung  erleichtem*).  Das  Werden  einer 
musikalischen  Formengattung  läßt  sich  mit  der  wünschenswerten  Ge- 
nauigkeit erst  dann  darstellen,  wenn  ihre  Elemente  voneinander  ge- 
sondert und  nun  in  ihrer  teils  unabhängigen,  teils  zusammenwirkenden 
Entwickelung  geprüft  worden  sind.  Die  Geschichte  der  Ballade  ist  des- 
halb noch  nicht  geschrieben,  weil  die  Literarhistoriker  die  Form  als 
Einheit  zurückverfolgen  und  darum  nicht  bis  auf  die  Wurzeln  dringen. 
Die  speziellen  Theorien  der  Künste,  die  in  fruchtbarer  Wechselwirkung 
mit  der  Geschichtswissenschaft  stehen,  bedürfen  der  detaillierten  Zer- 
l^^ng.  Aber  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft  können  viel 
früher  Halt  machen. 


2.  Harmonie  und  Proportion. 

Zu  den  r^elmäßigsten  Eigenschaften  ästhetischer  G^enstände  ge- 
hört ein  mit  anschaulicher  Notwendigkeit  sich  darbietendes  und  Lust 
weckendes  Zusammenwirken  von  Faktoren,  die  derselben  Ordnungs- 
reihe angehören  und  gleichzeitig  aufgefaßt  werden.  Diese  Verknüpfung 
wird,  wenn  es  sich  um  Qualitäten  handelt,  Harmonie  genannt;  bei 
Quantitäten  und  Maßen  spricht  man  von  Proportion.  Eine  Harmonie 
kann  zwischen  Klängen  und  zwischen  Farben  bestehen;  aber  von  der 
Klangharmonie,  die  nur  der  einen  Kunst  Musik  und  den  von  ihr  ab- 
hängigen Teilen  der  Poesie  zukommt,  wird  ein  weniges  späterhin  zu 
sagen  sein*). 

Zwischen  Klang-  und  Farbenharmonie  waltet  ein  wesentlicher  Unter- 
schied. Jene  findet  sich  in  der  Natur  äußerst  selten,  diese  hing^en 
recht  häufig.  Daher  leidet  die  ästhetische  Beurteilung  der  Farben- 
zusammenstellungen unter  zwei  Einflüssen:  unter  Abstumpfung  und 
Assoziation.  Während  wir  auf  dem  Gebiet  der  Klangharmonie  freie 
Herren  sind,  müssen  wir  bei  der  Farbenkombination  immer  daran 
denken,  daß  naturwirkliche  Verbindungen,  obgleich  ohne  Rücksicht  auf 
die  ästhetische  Empfänglichkeit  entstanden,  an  dieser  doch  nicht  wir- 
kungslos abgleiten.  An  sich  mißfällige  Zusammenhänge  können  also, 
wenn  sie  in  der  Natur  oft  vorkommen,  gleichgültig  oder  selbst  an- 

*)  Die  umgekehrte  Reiheiifolge  scheint  mir  nicht  das  natürliche  Verhältnis  zu 
sein.    Vgl  S.  6. 


118  m.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

genehm  werden;  und  es  kann  zweitens  die  assoziierte  Vorstellung  des 
Gegenstandes,  an  dem  jener  Zusammenhang  regelmäßig  bemerkt  wird, 
in  den  Eindruck  Oberhaupt  eingehen.  Gesetzt,  es  paßten  das  Rot 
dunkler  Rosen  und  das  Blattgrün  nicht  zueinander,  so  wurde  doch 
durch  die  häufige  Wiederkehr  dieser  Zusammenstellung  das  Gefühl  für 
die  Mißfälligkeit  sich  abstumpfen;  femer  würde  dort,  wo  die  beiden 
Farben  in  ganz  anderer  inhaltlicher  Beziehung  auftreten,  die  Erinnerung 
an  den  bekanntesten  Träger  der  Kombination  unwillkürlich  hinein- 
spielen. Die  zweite  Gefahr  ist,  wenn  ich  es  richtig  überblicke,  mehr 
ersonnen  als  in  der  Erfahrung  nachzuweisen:  der  Unterschied  der 
Gegenstände  verhindert  fast  stets  das  Auftauchen  oder  auch  nur  ge- 
fühlsmäßige Nachschwingen  der  Assoziation.  Und  der  Macht  der  Ge- 
wohnheit erliegen  wir  gleichfalls  bloß  bei  der  künstlerischen  Darstel- 
lung der  aus  der  Wirklichkeit  vertrauten  Objekte,  also  etwa  der  von 
Blättern  umgebenen  Rosen. 

Selbst  in  solchen  Fällen  darf  nicht  ohne  weiteres  verglichen  werden, 
weil  die  in  der  Natur  gegebenen  und  die  von  der  Kunst  verwendeten 
Farben  erheblich  voneinander  abweichen.  Die  Beschaffenheit  der  ein- 
zelnen Farbe  hat  aber  große  Bedeutung.  Aus  psychologischen  Unter- 
suchungen wissen  wir,  daß  gesättigte  Farben  anders  wirken  als  die 
mit  neutralem  Grau  stark  versetzten  Farben,  daß  glänzende,  leuchtende 
Kolorite  den  stumpfen,  schmutzigen  Tönen  vorgezogen,  den  diskreten, 
feinen  Färbungen  jedoch  nachgesetzt  werden.  Das  letzte  Moment,  das 
meist  vernachlässigt  wird,  scheint  mir  wichtig  zu  sein.  Buntheit  ist 
barbarisch,  nicht  harmonisch,  zumal  wenn  sie  sich,  wie  beim  Farben- 
spiel blitzender  Diamanten,  regellos  verändert.  Oder  vorsichtiger  aus- 
gedrückt: das  Gefieder  eines  Pfauen,  der  Glanz  des  Email,  das  Funkeln 
der  irisierenden  Kunstgläser,  die  Pracht  des  Feuerwerks  —  sie  wirken 
nur  auf  das  lichtdurstige  Auge  und  nicht  auf  den  Sinn  für  Harmonie. 
All  dies  blendende  Durcheinander  darf  wohl  zum  Ästhetischen  ge- 
rechnet, muß  jedoch  vom  Harmoniegefühl  abgesondert  werden.  Aus 
seiner  unleugbaren  Wirksamkeit  entnehmen  wir,  daß,  je  größer  die 
Leuchtkraft  der  Farben  ist,  umso  willküriicher  und  wechselnder  die 
Zusammenstellung  sein  kann,  weil  der  Betrachter  dem  Reiz  der  bunten 
Pracht  sich  hingibt  und  auf  Harmonie  geringen  Anspruch  macht.  Das 
sind  Eindrücke,  die  auch  von  Kindern  und  Naturmenschen  in  voller 
Stärke  genossen  werden  können,  Eindrücke  ungezügelter,  rücksichts- 
loser Lebendigkeit. 

Die  Harmonie  der  Farben  wird  zum  entscheidenden  Gesichtspunkt, 
wenn  die  Pigmente  nicht  zu  glänzend  und  die  von  ihnen  bedeckten 
Flächen  nicht  zu  klein  sind.  Gewiß  darf  die  räumliche  Ausdehnung 
auch  nicht  zu  groß  sein,  denn  gleichmäßig  gefärbte  Flächen  erheb- 


HARMONIE  UND  PROPORTION.  HQ 

liehen  Formats  ermüden  das  Auge  und  lassen  die  benachbarten  Stellen 
leicht  in  der  Komplementärfarbe  erscheinen.  Aber  an  farbigen  Punkten 
entwickelt  sich  kein  Harmoniegefühl.  Die  in  der  üblichen  Maltechnik 
gegebenen  Bedingungen,  nämlich  eine  gewisse  Stumpfheit  der  meist 
durch  Mischung  gewonnenen  Farben  und  eine  gewisse  räumliche  Aus- 
dehnung jeder  einzelnen  von  ihnen,  sind  daher  die  für  das  Entstehen 
von  Harmoniegefühlen  günstigsten.  Nur  lassen  Bilder  sich  nicht  an 
einem  Platze  beurteilen,  wo  helles  Tageslicht  ungehindert  flutet.  Aber 
daß  ein  von  diesen  störenden  Einflüssen  befreites,  auf  sich  selbst  be- 
schränktes Bild  von  der  lichtdurchströmten  und  funkelnden  Wirklich- 
keit nicht  zu  weit  abzuliegen  scheint,  verdankt  es  einigen  wohl  be- 
kannten Kunstmitteln.  Das  erste  ist  die  Verwendung  des  Helligkeits- 
kontrastes. Das  einfache  Experiment,  das  man  immer  wählt,  um  ihn 
deutlich  zu  machen,  besteht  darin,  daß  ein  kleines  weißes  Viereck  auf 
ein  ähnlich  geformtes,  aber  größeres  Papier  aufgeklebt  wird,  und  zwar 
dreimal:  das  eine  Mal  auf  Papier  von  der  gleichen  weißen  Farbe,  das 

Fig.  1. 


andere  Mal  auf  ein  graues  Quadrat,  und  das  dritte  Mal  auf  ein  schwarzes 
Quadrat. 

Es  ist  sofort  zu  beobachten,  wie  die  Helligkeit  des  Papiers  durch 
den  Gegensatz  zur  Umrandung  wächst;  daher  werden  Umrahmungen 
oder  wenigstens  Randlinien  von  den  Malern  zur  Darstellung  weit  aus- 
einander liegender  Lichtintensitäten  benutzt  werden  dürfen,  unbekümmert 
um  die  »Erkenntnis«,  daß  in  der  Natur  nirgends  Konturen  vorkommen. 
Wo  der  Helligkeitskontrast  unverwertbar  erscheint,  kann  der  Maler 
mittels  der  Farbe  Lichtstärkenunterschiede  gleich  den  natürlichen  vor- 
täuschen. Über  diesen  zweiten  Kunstgriff  geben  alle  Lehrbücher  ge- 
nauere Auskunft. 

In  der  freien  Natur,  unter  Umständen  aber  auch  in  geschlossenen 
Räumen,  wirkt  das  flutende  Licht  als  eine  ästhetische  Eigenschaft  des 
Objektes.  Große  Maler  haben  es  durch  Unterschiede  in  den  Hellig- 
keitsverhältnissen der  Farbenqualitäten  wiederzugeben  verstanden,  in- 
dem sie  als  Einheitfaktor  den  sogenannten  »Ton«  schufen;  ihre  Technik 
der  ^valeurs^  leidet  jedoch  darunter,  daß  der  Eindruck  des  Lichtes  so- 
gleich verschwunden  ist,  wenn  die  Farben  brüchig  und  glanzlos  werden, 
ja  schon,  wenn  der  Betrachter  im  größeren  Abstände  sich  befindet. 
Das  ist  —  wie  man  an  Gemälden   Claude  Lorrains  sehen  kann  — 


120  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

deshalb  so  bedenklich,  weil  die  geforderte  zu  geringe  Entfernung  des 
Auges  von  der  Bildfläche  die  richtig  ausgeführte  Perspektive  als  Ver- 
zerrung erscheinen  läßt.  Tritt  der  Betrachter  weiter  zurück,  so  ordnet 
sich  wohl  die  Raumverteilung,  aber  das  Leben  des  Lichtes  wird  er- 
tötet. Deshalb  ist  seit  alters  ein  anderes  Verfahren  geübt  worden,  das 
die  Lichtfülle  gerade  bei  weiter  Entfernung  vom  Bilde  hervorzaubert 
Man  analysiert  gleichsam  auf  der  Leinwand  die  Farben  und  überläßt 
es  dem  Auge,  sie  zu  einer  Einheit  zu  verschmelzen.  Mit  gewissen 
Abänderungen  haben  Jan  van  Eyck  und  Constable,  Watteau  und  Turner, 
schließlich  die  Impressionisten  so  gearbeitet  und  lebhafte  Helligkeits- 
eindrücke erzielt;  doch  kommt  für  den  Erfolg  viel  darauf  an,  daß  keine 
neutralen,  sondern  möglichst  lebhafte,  glänzende,  reine,  den  Spektral- 
farben nacheifernde  Pigmente  gewählt  werden.  Wir  müssen  uns  dar- 
über noch  einmal  (im  Kapitel  von  der  Malerei)  unterhalten.  Immerhin 
läßt  sich  schon  bei  der  Erörterung  der  elementaren  Fragen  eine  lehr- 
reiche Anwendung  auf  das  Allgemeine  machen.  Es  kann  ebensowenig 
der  Erfolg  dieser  wie  jener  anderen  Technik  sein,  daß  die  farbige 
Wirklichkeit  getreu  wiedergegeben  wird.  Was  man  erreicht,  ist  eine 
neue  Umformung  der  Natur  in  eine  Gesetzmäßigkeit  von  Farben.  In 
gewissen  Schulen,  beispielsweise  im  niederiändischen  Quattrocento  und 
bei  denen  um  Böcklin,  haben  die  Einzelfarben  und  allenfalls  die  Zu- 
sammenklänge auf  kleineren  Gebieten  der  Bildfläche  so  sehr  die  Kraft 
des  Künstlers  in  Anspruch  genommen,  daß  die  höchste  Vereinheit- 
lichung nicht  entsteht.  Wo  jedoch  eine  Ganzheit  erzielt  wird  —  ob 
bei  Rembrandt  oder  bei  Monet  — ,  da  muß  die  Farbe  irgendwie  stili- 
siert werden.  Selbst  der  einzelnen  Farbe  kann  nicht  auf  dem  W^e 
der  Natur,  sondern  nur  durch  eine  Vielzahl  von  Abschattungen  ein 
höherer  Grad  der  Leuchtkraft  gesichert  werden:  Glanz  und  Lebens- 
kraft werden  künstlich  gewonnen. 

Aus  allen  diesen  Gründen  ist  es  schlechterdings  unmöglich  zu 
sagen:  zwei  Farben  —  Rot  und  Grün,  Gelb  und  Blau,  Rot  und  Blau 
—  passen  zusammen  oder  passen  nicht  zusammen.  Auch  die  übliche 
Beschränkung  auf  den  Farbenzweiklang  ist  eine  überstarke  Verein- 
fachung des  Problems,  da  der  Dreiklang  in  Natur  und  Kunst  die 
Grunderscheinung  zu  sein  pflegt.  Die  Versuche,  die  neuerdings  In 
psychologischen  Arbeitsstätten  vorgenommen  worden  sind,  können  also 
nur  einen  voriäufigen  Anhalt  für  weitere  Forschung  geben.  So  viel 
scheint  immerhin  festzustehen,  daß  reine  Komplementärfarben  im  Neben- 
einander selten  gefallen.  Wir  ziehen  ihnen  Farbenpaare  von  geringerem 
Qualitätsunterschied  vor^®).  Komplementärfarben,  nebeneinander  ge- 
setzt, erhalten  leicht  (jedoch  nicht  immer,  wie  ein  Blick  in  unsere  Um- 
gebung und  auf  gute  Bilder  lehrt!)  den  Charakter  des  Nüchternen  und 


i^j 


HARMONIE  UND  PROPORTION.  121 

Grellen,  denn  Nachbild-  und  Kontrastwirkungen  können  schädigend 
sich  einstellen.  Der  tiefere  Grund  der  so  häufigen  Mißfälligkeit  liegt 
wohl  darin,  daß  die  Komplementärfarbe  einerseits  nicht  unabhängig 
genug  von  der  ersten  Farbe,  anderseits  durch  keinen  Einheitbezug  mit 
ihr  verbunden  ist  Daher  harmoniert  mit  einer  gegebenen  Farbe  eine 
weit  abstehende,  aber  nicht  komplementäre  Farbe  als  selbständige  Größe, 
und  die  benachbarten  Farben  harmonieren,  weil  sie  eine  Auflichtung 
oder  Abschattung  jener  ersten,  also  mit  ihr  im  Grunde  einheitlich  zu 
sein  scheinen.  Gewöhnliches  Rot,  Hellrot  und  Dunkelrot  sind  angenehm 
als  Differenzierungen  der  gleichen  Farbe;  gewöhnliches  Rot  und 
Dunkelblau  verdanken  ihre  durchschnittliche  Wohlgefälligkeit  bei  räum- 
licher Berührung  dem  Umstände,  daß  ihr  Gegensatz  kein  physiologisch 
erzwungener  ist  wie  in  dem  Fall,  wo  das  von  einer  Farbe  ermüdete 
Auge  die  Umgebung  mit  der  Komplementärfarbe  überzieht.  Nebenbei 
bemerkt,  liegt  in  dem  ersten  Verhältnis  die  Erkenntnis  von  der  Farbig- 
keit der  Schatten  eingeschlossen:  wirkt  doch  Dunkelrot  neben  dem 
Normalrot  meist  wie  ein  beschatteter  Teil  von  diesem. 

Wir  wenden  uns  jetzt  der  Proportionenlehre  zu.  Proportion  heiße 
ein  mit  anschaulicher  Notwendigkeit  sich  darstellendes  und  Lust 
weckendes  Verhältnis  zwischen  einem  Ganzen  und  seinen  Teilen  oder 
zwischen  den  Teilen,  und  zwar  in  Bezug  auf  ihre  Quanta.  Man  spricht 
sowohlbei  Raumformen  wie  bei  Zeitverläufen,  beim  Sichtbaren  wie 
beim  Hörbaren  von  Proportion.  Auf  beiden  Gebieten  handelt  es  sich 
um  Beziehungen  innerhalb  eines  gegenständlichen  Ganzen;  diese  Be- 
ziehungen treten  bei  Raumgestalten  entweder  in  der  Gliederung  oder 
in  der  Begrenzung  zu  Tage. 

Wenn  wir  altem  Brauche  folgend  die  Symmetrie  als  einfachste 
Gliederung  bezeichnen,  so  müssen  wir  hinzufügen,  daß  die  Gleichheit 
der  beiden  Teile  in  Rücksicht  auf  eine  senkrechte  Mittellinie  verstanden 
werden  soll.  Im  engsten  Sinne  symmetrisch  heißt  ein  Gebilde,  das 
durch  senkrechte  Zweiteilung  in  Hälften  zerfällt,  die,  aufeinander  gelegt, 
sich  völlig  decken:  Zahl,  Lage,  Form  und  Größe  der  Teile  sind  auf 
beiden  Seiten  der  Achse  gleich.  Von  dem  Vorhandensein  dieser  Teile 
ist  aber  die  Wohlgefälligkeit  der  Figur  bedingt,  denn  z.  B.  ein  durch 
einen  vertikalen  Durchmesser  symmetrisch  zerlegter  Kreis  macht  wegen 
seiner  inhaltlichen  Armut  fast  gar  keinen  Eindruck.  Überhaupt  ist  die 
Wirkung  der  Ebenmäßigkeit  als  solcher  ziemlich  schwach;  deshalb 
liest  man  meist  nicht  von  ihrer  Schönheit,  sondern  bloß  von  einer 
»Wohlgefälligkeit«.  Der  ästhetische  Wert  einer  Kongruenz  haftet  an 
einer  Mehrheit  von  Gliedern,  wobei  es  zunächst  auf  ihre  formale  Voll- 
endung und  sachliche  Bedeutung  nicht  ankommt  Wenn  ich  an  der 
Teilungslinie  eines  Blattes  Papier  meinen  Namenszug  mit  Tinte  schreibe 


122  HL  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

und  dann  das  Blatt  zusammenfalte,  so  verwischt  er  sich  und  liefert 
auf  der  anderen  Seite  einen  entsprechenden  Abdruck.  Es  entsteht  an 
symmetrisches  Gebilde,  in  dem  die  Schriftzüge  sozusagen  das  Knochen- 
gerüst bilden;  betrachtet  man  es  so,  daß  der  Schriftzug  oder  sein 
Spiegelbild  oben  ist,  dann  bleibt  man  gleichgültig,  während  die  Be- 
trachtung in  der  anderen  Richtung  ein  schwaches  Lustgefühl  hervorruft 
Dies  Gefühl  kann  verschieden  getönt  sein,  weil  Assoziationen  gar  leicht 
sich  einmischen  (bei  manchen  Schriften  bilden  sich  Formen,  die  so 
gesetzmäßig  und  zugleich  grotesk  sind  wie  etwa  die  von  der  »F-Sprachec 
unserer  Kinder  gelegentlich  erzeugten  komischen  Mißbildungen  der 
Wörter),  immer  jedoch  ist  es  ein  ästhetisches  Behagen,  das  die  Hälfte 
für  sich  niemals  hervorrufen  wird.  Demnach  bleibt  zweierlei  zu  er- 
klären, nämlich,  weshalb  die  Kongruenz  nur  in  wagerechter  Anordnung 
gefällt  und  femer  welchen  Wert  die  Verdoppelung  einem  ästhetisch 
unwirksamen  Gegenstand  hinzuzufügen  vermag. 

Zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  dient  einmal  die  Tatsache,  daß 
die  meisten  der  uns  ästhetisch  interessierenden  Naturgebilde  die  seit- 
liche Symmetrie  zeigen.  An  sie  sind  wir  gewöhnt,  ihre  Übertragung 
auf  Kunsterzeugnisse  gewährt  den  Genuß,  eine  vertraute  Gesetzmäßigkeit 
wiederzufinden.  Doch  wurde  der  bilateral  symmetrische  Bau  von  Mensch 
und  Tier  nicht  zur  Erklärung  dafür  ausreichen,  daß  beim  Schaffen  und 
Genießen  von  Kunstwerken  diese  Ordnung  offensichtlich  bevorzugt 
wird;  denn  die  bei  der  Farbenharmonie  aufgestellten  Gesichtspunkte 
gelten  auch  hier.  Zur  Unterstützung  dient  ein  zweiter  Umstand.  Tech- 
nische Notwendigkeiten  sind  es,  die  häufiger  zur  Herstellung  zweier 
kongruenten  Teile  in  wagerechter  als  in  senkrechter  Richtung  führen« 
Bei  einfachen  Bauten  und  Gebrauchsobjekten  zwingt  die  Logik  des 
Gegenstandes  zu  dieser  Übung.  Wo  ein  Material  sich  selbst  bekennt 
und  ein  der  Verwendung  unterworfenes  Kunstwerk  seine  Bestimmung 
zeigt  —  hierin  werden  wir  eine  der  Wurzeln  für  die  ästhetische 
Wertigkeit  erkennen  — ,  da  stellt  sich  von  selbst  die  geometrische 
Ebenmäßigkeit  ein.  Ein  Speer,  der  sich  gut  werfen  lassen  soll,  darf 
nur  nach  rechts  und  links  gleich  gestaltet  sein,  erhält  aber  eben  da- 
durch einen  Teil  seiner  Formenschönheit.  Endlich  gibt  es  einen  der 
Psychologie  entnommenen  Grund.  Wir  wissen,  daß  die  Gleichhdt 
zweier  senkrecht  abzumessenden  Teile  infolge  von  Augentäuschungen 
nicht  richtig  als  solche  aufgefaßt  wird.  Wenn  wir  eine  Senkrechte  im 
Verhältnis  von  1:1  teilen  sollen,  so  werden  wir  regelmäßig  die  obere 
Hälfte  etwas  zu  klein  machen  d.  h.  wir  überschätzen  die  oberhalb  des 
Mittelpunktes  liegenden  Strecken;  ein  S  und  eine  8  erscheinen  uns 
fast  als  symmetrisch,  obwohl  sie,  wie  die  Umkehrung  (§  g)  zeigt,  in 
ihrem  unteren  Teil  viel  größer  sind;  versuchen  wir  nach  dem  Augen- 


HARMONIE  UND  PROPORTION.  123 

maß  ein  Quadrat  oder  ein  rechtschenkliges  Kreuz  zu  zeichnen,  so  be- 
gehen wir  fast  stets  den  entsprechenden  Fehler.  Eine  wirkliche  Kon- 
gruenz, die  in  der  anderen  Richtung  als  solche  empfunden  wird,  kann 
demnach  hier  kein  Lustgefühl  hervorrufen. 

Mit  dieser  Erkenntnis  ist  der  Obergang  zu  unserem  zweiten  Problem 
hergestellt.  Aus  ihr  nämlich  ergibt  sich,  daß  wir  den  Begriff  der 
Symmetrie  nicht  mit  demjenigen  einer  mathematisch  genauen  Deckung 
gleichsetzen  dürfen.  In  der  Kongruenz  kann  demnach  der  Grund  für 
die  Wohlgefälligkeit  nicht  gesucht  werden;  unsere  Frage  war  zu  eng 
gefaßt,  als  wir  von  einer  Verdoppelung  der  Hälfte  sprachen.  Auch 
wäre  ja  unverständlich,  wie  asymmetrische  Bildungen  so  häufig  die 
ästhetische  Befriedigung  hervorrufen  können.  Die  Uebereinstimmung 
in  allen  Maß-  und  Formverhältnissen  ist  doch  tatsächlich  nicht  nötig, 
um  den  Eindruck  einer  ebenmäßigen  Gestaltung  zu  gewähren.  Viel- 
mehr läßt  sich  die  ästhetische  Gleichwertigkeit  zweier  Hälften  noch 
auf  andere  Weise  erzielen.  Ein  Gemälde,  auf  dessen  linker  Seite  zwei 
Menschen  abgebildet  sind,  während  rechts  nur  einer  steht,  oder  wo 
eine  Figur  von  links  ziemlich  dicht  an  den  Mittelpunkt  heranrückt, 
während  eine  Figur  rechts  sich  weiter  vom  Zentrum  fernhält,  vermag 
als  eine  symmetrische  Komposition  zu  wirken.  Oder  besser  gesagt: 
es  herrscht  in  einem  solchen  Bild  ein  Gleichgewicht  der  beiden  Hälften. 
Wir  werden  bei  der  Theorie  des  ästhetischen  Eindrucks  diese  Be- 
nennung zu  rechtfertigen  haben.  Entweder  müssen  wir  daher  den 
Begriff  der  ästhetischen  Symmetrie  weiter  fassen  als  es  bisher  geschah, 
oder  wir  müssen,  wenn  wir  ihn  lediglich  für  die  vollständige  Kongruenz 
brauchen  wollen,  von  einer  Isodynamie  sprechen.  Die  Symmetrie  ist 
das  einfachste,  aber  keineswegs  einzige  Verfahren,  um  eine  ästhetische 
Isodynamie  zu  stände  zu  bringen:  das  auf  Taf el  V  wiedergegebene 
Bild  diene  als  Beispiel  für  die  anderen  Möglichkeiten,  deren  Einzelheiten 
auseinander  zu  legen  hier  zu  weit  führen  würde.  Von  den  Haltungen 
des  menschlichen  Körpers,  wie  sie  im  Leben  und  in  der  Kunst  sich 
finden,  sind  nicht  nur  diejenigen  ästhetisch  wertvoll,  die  eine  wirkliche 
Symmetrie  aufweisen  und  von  der  frühen  Kunst  bevorzugt  werden. 
Sondern  uns  gefallen  mindestens  ebensosehr  jene  Stellungen,  bei 
denen  ein  Mehr  auf  der  einen  Seite  durch  ein  Weniger  auf  der  anderen 
Seite  ausgeglichen  wird.  Das  zur  formalen  Wohlgefälligkeit  nötige 
Gleichgewicht  wird  erzielt,  indem  die  Belastung  bestimmter  Muskel- 
gruppen durch  Entlastung  anderer  entsprechender  Muskelgruppen  ge- 
rechtfertigt scheint 

Die  hier  vorliegende  Isodynamie  bewährt  sich  auch  noch  in  zwei 
anderen  Beziehungen.  Eine  Haltung,  die  die  Körperhälften  in  sehr  ver- 
schiedene Tätigkeiten  zwingt,  hat  die  Neigung,  entweder  den  Körper 


124  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

in  die  Primärstellung  (das  ist  eine  Stellung  vorherrschender  leichter 
Beugungen)  zurücktreten  zu  lassen  oder  in  die  entgegengesetzte  Haltung 
überzugehen,  wie  es  bei  Freiübungen  und  beim  Tanz  zu  geschehen 
pflegt.  In  diesem  zweiten  Fall  stellt  also  die  Bewegung  durch  Ab- 
wechselung ein  erneutes  Oleichgewicht  her,  das  allerdings  bloß  im 
Zeitverlauf  sich  geltend  machen  kann.  Ein  anderer  Ausgleich  vollzieht 
sich,  wie  mir  scheint,  nicht  selten  zwischen  der  im  Kunstwerk  dar- 
gestellten und  der  vom  Betrachter  in  leichten  Andeutungen  ein- 
genommenen Haltung.  Wenn  ich  mich  richtig  beobachtet  habe,  so 
wird  der  Oenuß  manchmal  durch  einen  Gegensatz  zwischen  Objekt 
und  Subjekt  erhöht:  man  empfindet  eine  bildlich  dargestellte  sehr 
energische  Haltung  besonders  lebhaft,  indem  man  selbst  lässig  steht 
oder  sitzt,  und  man  richtet  sich  unwillkürlich  auf,  wenn  man  die  Statue 
eines  gebückten  Menschen  sieht.  Natürlich  handelt  es  sich  um  ganz 
feine  motorische  Einstellungen  und  deshalb  ist  ein  Irrtum  nicht  aus- 
geschlossen. Doch  glaube  ich  bemerkt  zu  haben,  daß  das  Mitfühlen 
gelegentlich  nicht  durch  Nachahmung,  sondern  durch  unwillkürliche 
Herstellung  des  Ausgleichs  bedingt  wird. 

Wir  wenden  uns  jetzt  den  Verhältnissen  zu,  die  der  vertikalen 
Oliederung  die  ästhetische  Wertigkeit  verleihen.  Aus  vielfachen  Unter- 
suchungen hat  sich  ergeben,  daß  die  Einteilung  einer  senkrechten  Linie, 
die  den  einen  Teil  kleiner  als  ein  Zehntel  des  Oanzen  macht,  höchstens 
durch  assoziative  Einflüsse  irgend  eine  Wohlgefälligkeit  gewinnen  kann. 
Die  Zweiteilung,  selbst  wenn  sie  nach  unserer  optischen  Auffassung, 
also  mit  Verkürzung  der  oberen  Strecke,  vorgenommen  wird,  ruft  keine 
günstige  Wirkung  hervor,  solange  der  Teilungsstrich  nur  die  Funktion 
erfüllt,  die  vertikale  Oliederung  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Dag^en 
erweist  sich  das  Verhältnis  1 : 2  an  der  einfachen  Oeraden  für  fast 
alle  Versuchspersonen  als  wohlgefällig;  immerhin  gehen  auch  hier  die 
Meinungen  auseinander,  indem  die  einen  den  längeren  Teil  oben,  die 
anderen  ihn  unten  wünschen.  Endlich  soll  die  Proportion  nach  dem 
goldenen  Schnitt  a  :  b  =  b  :  (a  +  b)  eine  unbedingt  schöne  sein. 

Hier  müssen  wir  etwas  länger  verweilen.  Seit  Oiotto  haben  die 
Künstler  nach  einem  Proportionenschlüssel  gesucht.  Ihre  unablässigen 
Bemühungen  sind  wohl  verständlich.  Wundervoll  wäre  es,  wenn  man 
Zeichnern  und  Malern,  Bildhauern  und  Baumeistern  einen  Maßstab  in 
die  Hand  geben  und  zu  ihnen  sprechen  könnte:  Ordne  alles  nach 
diesem  geometrischen  Verhältnis  und  du  darfst  mindestens  dessen 
gewiß  sein,  daß  keine  Form  in  deiner  Schöpfung  das  Auge  beleidigen 
wird.  Noch  berauschender  ist  der  Oedanke,  daß  alle  Formenschönheit 
in  der  Natur  und  in  den  Künsten,  auch  in  Poesie  und  Musik,  auf  der 
gleichen  Zahlenharmonie  beruhe,  daß  dem  nämlichen  großen  Oesetze 


HARMONIE  UND  PROPORTION. 


125 


Flg.  2. 


untergeordnet  seien:  die  Zentralabstände  der  Planeten,  die  Verhältnisse 
der  Atomgewichte,  die  Schwingungszahlen  des  Durakkords,  die  Normal- 
formen des  menschlichen  Körpers.  Auch  recht  besonnene  Forscher 
glauben  in  dem  goldenen  Schnitt  die  Hauptproportion  für  Menschen, 
Tiere  und  Pflanzen  einerseits,  Gebrauchsgegenstände,  Bauten  und 
Kunstwerke  anderseits  zu  besitzen.  Sie  erklären  jede  Form  für  schön, 
die  so  gegliedert  ist,  daß  der  kleinere  Teil  zum  größeren  sich  verhält 
wie  der  größere  Teil  zum  Ganzen,  also  in  den  einfachsten  Maßen 
3  :  5  =  5  :  (3  +  5).  (Die  beistehende  Figur  zeigt,  wie  man  von  einer 
so  geteilten  Grundlinie  aus  sich  leicht  andere  ebenso  geteilte  Linien 
konstruieren  kann.)  Allerdings  hat 
Fechner  schon  vor  vierzig  Jahren 
zu  finden  g^laubt,  daß  die  Ver- 
hältnisse einer  so  g^liederten  Ge- 
stalt keineswegs  überall  und  jeder- 
mann gefallen.  Er  ließ  den  Quer- 
balken eines  Kreuzes  so  lange  hin 
und  her  schieben,  bis  die  gefälligste 
Stellung  erreicht  war;  diese  war 
nicht  durchweg  die  dem  Prinzip  des 
goldenen  Schnittes  entsprechende. 
Er  konstruierte  zwei  Rechtecke,  die 
nicht  nur  beide  selbst  nach  jenem 

Maßverhältnis  hergestellt  waren, 
sondern  auch  ihm  gemäß  ineinander 
geschachtelt  wurden;  anstatt  den 
Gipfel  formaler  Schönheit  zu  bilden, 
sind  sie  den  meisten  Versuchsper- 
sonen gleichgültig,  andern  geradezu 

mißfällig.  Bei  der  Ausmessung  von  Grab-  und  Schmuckkreuzen,  Kästen 
u.  s.  w.,  denen  der  Verfertiger  doch  gewiß  unwillküriich  die  angenehm- 
ste Form  gibt,  entdeckte  Fechner  zahlreiche  Abweichungen  vom  Prin- 
zip des  goldenen  Schnittes.  Mit  Fechners  Ergebnissen  stimmen  in- 
dessen neuere  Versuche,  die  an  einer  vollständigen  d.  h.  möglichst 
stetig  verlaufenden  Reihe  von  Größenverhältnissen  vorgenommen  wur- 
den, nicht  völlig  überein:  sie  taten  dar,  daß  eine  vom  goldenen  Schnitt 
nicht  erheblich  abweichende  Proportion  Wohlgefallen  hervorruft  Aber 
mit  der  Berechnung  solcher  Mittelwerte  ist  nur  gezeigt,  daß  die  ästhe- 
tisch wertvollen  Formen  innerhalb  gewisser  Zahlengrenzen  li^en^^). 
Wäre  das  mathematische  Verhältnis  der  Grund  unserer  Freude  an  den 
Formen,  so  müßte  es  mit  aller  Strenge  gelten:  es  müßten  die  ihm 
genau  nachgebildeten  Gliederungen  die  wohlgefälligsten  sein  und  die 


126  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

anderen  Gliederungen  umsomehr  an  Schönheit  einbüßen,  je  weiter  sie 
sich  von  der  genannten  Gleichung  entfernen.  In  Wahrheit  werden 
Verhältnisse  gebilligt,  die  in  einiger  Entfernung  um  das  Maßsystem 
des  goldenen  Schnittes  herumliegen.  Einer  der  besten  Kenner  dieser 
Fragen  ist  schließlich  zu  der  recht  unbestimmten  Ansicht  gelangt,  daß 
die  Bevorzugung  solcher  Formen  nicht  auf  die  mathematische  Pro- 
portion, sondern  auf  den  Wunsch  nach  einer  gewissen  Unterschieden- 
heit  der  Teile  zurückgeht  und  daß  »die  Höhe  der  Ungleichheit  oder 
Mannigfaltigkeit,  die  gefällt,  abhangen  wird  von  dem  allgemeinen  Cha- 
rakter des  Gegenstandes  und  von  dem  Grade  der  persönlichen  Intel- 
ligenz und  des  Geschmacks.«  (Witmer,  Analyt  Psych)  Damit  sind 
wir  rettungslos  in  jene  Unsicherheit  zurückgefallen,  aus  der  wir  uns 
mittels  des  Satzes  vom  goldenen  Schnitt  erheben  wollten. 

Von  den  übrigen  Bedenken,  die  neuerdings  geäußert  worden  sind, 
kommen  hauptsächlich  zwei  in  Betracht.  Die  Auffassung  der  Maß- 
verhältnisse ist  eine  verschiedene,  je  nachdem  das  Gebilde  in  gleich 
bleibender  Richtung  geteilt  ist  oder  der  kleinere  Teil,  der  Minor,  in 
einer  anderen  Richtung  liegt  als  der  größere  Teil,  der  Maior.  In  jenem 
Fall,  also  etwa  bei  einer  Wagerechten,  kann  unschwer  der  linke  Ab- 
schnitt mit  dem  rechten  und  im  gleichen  Sinne  der  rechte,  größere 
Abschnitt  mit  der  ganzen  Linie  verglichen  werden.  Aber  bei  einem 
Rechteck  sind  nur  die  beiden  Seiten  sofort  von  der  Wahrnehmung 
in  ihrem  Größenunterschied  aufzufassen,  während  die  Summe  der 
Seiten  nicht  in  dieser  Weise  eine  gegebene  Größe  darstellt  —  Eine 
zweite  Schwierigkeit  erwächst  aus  der  Aufgabe,  bei  Teilgliedern  den 
Maßstab  von  einem  bestimmten  Punkt  aus  anzulegen.  Wenn  man 
behauptet  hat,  am  menschlichen  Kopf  reiche  der  Maior  von  der  Mitte 
des  Halses  bis  zu  den  Augenbrauen  und  von  da  ab  der  Minor  bis 
zum  Scheitel,  so  muß  doch  gefragt  werden:  mit  welchem  Recht  be- 
ginnt die  Messung  in  der  Mitte  des  Halses?  Und  wie  steht  es  mit 
bärtigen  Gesichtern? 

Allen  diesen  Einwendungen  entzieht  sich  Bocheneks  neues  System^*). 
Hier  wird  versucht,  aus  einem  besonders  konstruierten  Rechteck  durch 
Eintragung  der  Maße  des  goldenen  Schnitts  in  die  vier  Seiten  des 
Rechtecks  und  durch  die  lineare  Verbindung  der  so  entstandenen 
Punkte  ein  Liniennetz  zu  schaffen,  das  die  Umrisse  der  Gestalt  ge- 
wissermaßen von  selbst  entstehen  läßt.  Neben  den  Maßen  des  goldenen 
Schnittes  werden  Halbteilung,  Verdoppelung  und  quadratische  Ein- 
ordnung ausgiebig  benutzt,  und  die  Unterschiede  der  männlichen  und 
weiblichen  Gestalt,  der  Ruhe  und  der  Bewegung,  des  Skelettes  und 
des  Leibes,  der  kindlichen  und  der  reifen  Formen  —  um  nur  ein  paar 
Beispiele  zu  nennen  —  erfahren  volle  Berücksichtigung.    Die  so  ge- 


HARMONIE  UND  PROPORTION. 


127 


wonnenen  und  Regeln  gebenden  Konstruktionen  mögen  für  den  Ge- 
brauch des  Künstlers  nützlich,  für  die  naturwissenschaftliche  Erkenntnis 
lehrreich  sein,  aber  sie  lösen  das  ästhetische  Problem  nicht  Denn 
niemand  kann  nachweisen,  welcher  Zusammenhang  zwischen  den 
außerordentlich  wechselnden  und  zusammengesetzten  Maßverhältnissen 


Fig.  3. 


ng.4. 


und  unserer  Formenfreude  besteht,  niemand 
vermag  diese  aus  jenen  wahrhaft  zu  er- 
klären. 

Es  muß  endlich  noch  von  einer  Eigen- 
schaft des  ästhetischen  Gegenstandes  ge- 
sprochen werden,  die  seine  Gliederung  nach 
beiden  Raumdimensionen  zu  bestimmen  ver- 
mag: das  ist  die  Wiederholung.  Welchen 
Anteil  sie  an  dem  Aufbau  von  Kunstwerken 
aller  Gattungen  hat,  werden  wir  späterhin 
untersuchen;  augenblicklich  handelt  es  sich 
um  die  elementaren  Bedingungen  räumlicher 
Formen.  Das  Prinzip  der  Wiederholung  ist 
uns  bereits  in  der  Symmetrie  entgegengetreten.  Über  die  Vervielfälti- 
gung des  Gleichen  hinaus  erstreckt  es  aber  seine  Wirksamkeit,  indem 
es  durch  eine  gesetzmäßig  abstufende  Wiederholung  von  nur  ähn- 
lichen Teilgebilden  das  ästhetische  Wohlgefallen  hervorruft  Die  oben- 
stehende Zeichnung  3,  die  auch  als  horizontal  verlaufend  zu  betrach- 
ten sich  empfiehlt,  macht  das  Gesetz  an  einem  einfachen  Beispiele 
deutlich.  Der  stetige  Vorgang  des  Sichausbreitens  oder  Sichverjüngens, 
das   durch   die  Schenkel   des   Winkels    festgelegte  Anwachsen   oder 


128 


in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 


Abnehmen  der  Teilgrößen  führt  zu  einer  Wiederholung,  die  keine 
wörtliche  sein  kann.  Sobald  nun  eine  Grundform  des  Gegenstandes 
in  solcher  freieren  Art  sich  wiederholt,  entsteht  eine  ästhetisch  wert- 
volle Gliederung:  ich  erinnere  an  Wirbelsäule  und  Rippen  (Fig.  4  u.  5), 
Fluge!  und  Tannenzapfen,  an  die  Struktur  eines  Baumblattes  und  die 
zahllosen  Anwendungen  in  der  Bildkunst.  Überall  ist  damit  noch 
etwas  weiteres  gewonnen,  nämlich  eine  gefallende  Begrenzungslinie. 
Der  Rahmen  für  jede  nach  unserem  Prinzip  gestaltete  Figur  wird,  auch 


wenn  der  Inhalt  daraus  entfernt  ist,  niemals  mißfällig  und  oft  wohl- 
gefällig werden.  Die  Hilfeleistung  der  sich  wiederholenden  Teile  kommt 
auch  dem  Umriß  zu  gute. 

Begrenzungslinien  besitzen  eine  Bürgschaft  der  ästhetischen 
Wertigkeit,  indem  sie  einer  wohlgegliederten  Gestalt  den  festen  Halt 
verieihen.  Ein  Kontur  gewinnt  Folgerichtigkeit  und  Wohlgefälligkdt 
durch  das,  was  er  umschließt,  durch  die  von  Punkt  zu  Punkt  fort- 
leitende und  von  der  Struktur  des  Inhalts  bedingte  Gesetzmäßigkeit 
Die  innere  Gliederung  erwirkt  die  äußere  Form.  Hiermit  erwdst  sich 
die  von  innen  her  bestimmte  Einschlußlinie  als  Sonderfall  der  allge- 


iä.:.  jtM 


HARMONIE  UND  PROPORTION.  129 

meinen  Abhängigkeit  der  Form  von  der  Funktion.  Eine  kurze  Ab- 
schweifung auf  andere  Gebiete  wird  den  Gedanken  verständlich 
machen.  Wenn  die  Extremitäten  der  Tiere  sich  in  den  drei  Formen 
der  Flosse,  des  Fußes  und  des  Flugeis  entwickeln,  je  nachdem  die 
Tiere  im  Wasser,  auf  dem  Boden  oder  in  der  Luft  leben,  so  sind 
diese  Formen  ein  Erzeugnis  der  Funktion.  Da  nun  manche  Teile 
unseres  Körpers  genau  die  gleiche  Aufgabe  erfüllen  wie  gewisse  mecha- 
nische Gebilde,  so  müssen  sie  mit  diesen  in  der  durch  die  Verrichtung 
geforderten  Form  übereinstimmen.  Der  Oberschenkelknochen,  der 
stärkste  und  längste  Röhrenknochen  des  menschlichen  Skeletts,  hat 
für  seine  Hauptbeanspruchung,  diejenige  beim  Stehen  und  Gehen,  die 
Architektur  eines  kranartig  tragenden  Balkens.  Die  Knochenbälkchen 
in  seiner  schwammigen  Substanz  stimmen  der  Richtung  nach  genau 
überein  mit  den  Zug-  und  Drucklinien  im  belasteten  Kran.  Dasselbe 
Gesetz  bewährt  sich  hier  wie  bei  den  Bauwerken  der  Ingenieure,  bei 
der  St.  Peters-Kuppel  in  Rom  (nach  der  Berechnung  eines  französischen 
Mathematikers  aus  dem  18.  Jahrhundert)  und  bei  den  (mit  Bewußtsein 
zuerst  von  Georg  von  Reichenbach  so  konstruierten)  physikalischen 
und  Meßinstrumenten:  es  wird  durch  den  Bau  des  Knochens  die 
zweckmäßigste  Form  mit  dem  geringsten  Materialaufwand  erreicht; 
und  da  auch  das  letzte  Bälkchen,  die  Abgrenzung  des  ganzen  Bälkchen- 
systems,  d.  h.  die  äußere  Gestalt  des  Knochens,  der  Funktion  dient, 
so  hat  der  Knochen  eine  funktionelle  Gestalt ").  Ähnlich  so  sind  alle 
ästhetisch  zulässigen  Einschlußlinien  von  der  Wirksamkeit  des  Einge- 
schlossenen abhängig  und  zwar  von  dessen  Aufbau,  sei  er  nun 
mechanisch  bedingt  oder  bloß  von  anderen  Formgesetzen  beherrscht. 
Die  Bedeutsamkeit,  die  der  eingeschlossene  Raumteil  überhaupt  für 
die  lineare  Abgrenzung  besitzt,  ergibt  sich  aus  folgendem  kleinen  Ver- 
such. Man  zeichne  zweimal  die  Umrisse  einer  menschlichen  Gestalt 
auf  Papier  und  schneide  das  eine  Mal  die  Figur  sorgfältig  aus:  in 
diesem  Falle  wird  sie  nicht  aufgefaßt.  Die  Konturen  sind  die  gleichen, 
aber  wo  wir  eine  Lücke  vor  uns  haben,  da  erkennen  wir  sie  nicht; 
erst  wenn  die  Lücke  mit  schwarzem  Papier  ausgefüllt,  zu  einer  Sil- 
houette verwandelt,  also  für  den  Blick  ein  Halt  geschaffen  wird,  dann 
tritt  die  ästhetische  Apperzeption  wieder  ein.  Daraus  scheint  doch 
hervorzugehen,  daß  der  Rauminhalt  mindestens  als  eine  irgendwie  be- 
schaffene Masse  uns  entgegentreten  muß,  um  den  Begrenzungslinien 
eine  Wirksamkeit  zu  sichern.  Aus  dem  gleichen  Grunde  macht  die 
Hälfte  eines  Achtecks  einen  unvollständigen  und  mißfälligen  Ein- 
druck, obwohl  die  Linien  in  guter  Ordnung  zueinander  stehen. 
Das  zentrale  Sehen  ist  in  dem  Maße  ausgebildet,  daß  wir  an 
Stelle  der  Umrißlinien  (etwa   von  Auge,   Nase  und  Mund)  unwirk- 

Dessoir,  Asflietik  und  allg.  Kunstwissenschaft  9 


n  \_ 


130 


in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 


liehe,  höchst  stilisierende  Mittellinien  setzen  und  damit  den  lebhaftesten 
Eindruck  erzielen  können.  Man  betrachte  die  drei  Figuren  des 
Humbert  de  Superville,  die  Ruhe,  Traurigkeit  und  Freude  ausdrucken. 


Fig.  6. 


Fig.  7. 


Wir  ziehen  jetzt  die  Folgerung  aus  dem,  was  wir  ermittelt  haben. 
Da  die  Begrenzungslinien  objektiv  bestimmt  sind  durch  Inhalt,  Funk- 
tion und  Gliederung  des  Eingeschlossenen  und  da  jede  Gestalt  zentral 
betrachtet  wird,  so  ist  der  ästhetische  Wert  des  Umrisses  aus  diesem 
selbst  und  ausschließlich  nicht  abzuleiten.  Die  übliche  Theorie,  die 
es  trotzdem  versucht,  scheint  aber  nicht  nur  unvollständig,  sondern 
auch  für  sich  beurteilt  anfechtbar  zu  sein.  Sie  geht  aus  von  der  Ab- 
messung eines  durch  keine  Linie  verbundenen  Punktabstandes.  Wenn 
das  Auge  die  Strecke  zwischen  zwei  Punkten  durchlaufen  soll,  so 
wählt  es  nicht  den  kürzesten  Weg  der  Geraden,  sondern  beschreibt 
eine  schwach  gekrümmte  Bogenlinie.  Demgemäß  sind  solche  Bogen- 
linien,  wo  auch  immer  sie  in  Kunst  und  Natur  auftreten,  die  wohl- 
gefälligsten, denn  sie  entsprechen  der  natürlichen,  ungezwungenen 
Bewegung  des  Auges.  Aus  demselben  Grunde  erklärt  sich,  daß  wir 
lange,  namentlich  horizontale  Linien  nicht  als  völlig  gerade  sehen. 
Eine  Wagerechte  z.  B.,  die  über  dem  Blickpunkt  liegt,  erscheint  an  den 
Enden  als  leicht  nach  unten  gebogen;  wenn  sie  unter  dem  Blickpunkt 
liegt,  scheint  sie  an  den  Enden  ein  wenig  aufzusteigen.  Am  deut- 
lichsten bemerkt  man  es,  wenn  die  Linien  an  den  Häuserfassaden 
durch  Beleuchtung  hervorgehoben  sind:  hier  wird  der  optische  Ein- 
druck der  Krümmung  so  stark,  daß  selbst  das  Wissen  von  der  Oerad- 
linigkeit  und  Gleichläufigkeit  dagegen  nicht  aufzukommen  vermag^*). 

Zugegeben,  alles  dies  verhalte  sich  so.  Unter  der  Annahme,  daß 
es  den  ästhetischen  Wert  bedinge  oder  wenigstens  berühre,  müßten 
dann  bei  großen  Gegenständen  die  geraden  Linien  vermieden  und  nur 
bei  kleinen  verwendet  werden.  In  Wahrheit  benutzt  die  Baukunst  mit 
Vorliebe  lange  gerade  Linien  und  die  Keramik  benutzt  Kurven.    Also 


RHYTHMUS  UND  METRUM.  131 

können  jene  optischen  Täuschungen  von  keinem  Einfluß  auf  die  Wohl- 
gefälligkeit sein;  aus  der  naturlichen  Bewegung  des  Auges  läßt  sich 
die  formale  Schönheit  von  Umrissen  nicht  begreifen.  Rechtwinklige 
Verbindungen,  die  der  spontanen  Blickwanderung  so  völlig  entgegen 
sein  sollen,  haben  im  großen  wie  im  kleinen  Maßstab  die  Fähigkeit, 
ästhetische  Lust  frei  zu  machen.  Kurz,  diese  Theorie  ist  nicht  bloß 
durch  die  früher  vollzogenen  Überlegungen  zu  ergänzen,  sondern 
überhaupt  zu  verwerfen. 


3.  Rhythmus  und  Metrum. 

Rhythmus  und  Metrum  sind  zwei  objektive  Eigenschaften  eines 
ästhetisch  wertvollen  Vorgangs.  Als  solche,  und  nur  als  solche, 
werden  sie  in  diesem  Abschnitt  behandelt.  Auszugehen  ist  vom 
Rhythmus,  als  von  dem  umfassenderen  Begriff;  und  zwar  von  der  nur 
scheinbar  einen  Umweg  bedeutenden  Frage:  unter  welcher  Bedingung 
sicher  kein  Gefühl  des  Rhythmus  entsteht. 

Ein  gleichmäßig  fortdauernder  Ton  führt  nicht  zu  rhythmischer 
Auffassung.  Das  kann  einen  doppelten  Grund  haben.  Entweder  ver- 
missen wir  die  Zeiteinteilung  oder  es  fehlt  uns  der  Betonungsunter- 
schied, denn  diese  beiden  Merkmale  sind  uns  von  den  rhythmischen 
Gebilden  her  bekannt.  In  der  Tat,  ein  unveränderlich  li^ender  Klang 
nötigt  uns  ebensowenig  zu  einer  Zeitvorstellung  wie  das  Papier,  das 
wir  vor  uns  sehen.  Er  muß  in  Stücke  zerbrochen,  seine  Linie  muß 
in  Punkte  aufgelöst  werden,  so  daß  leere  Momente  oder  Pausen  ent- 
stehen: alsdann  tritt  das  Zeitbewußtsein  in  seine  Rechte  und  nun  ent- 
wickelt sich  auch  ein  Rhythmus.  Obwohl  nämlich  die  einzelnen 
Stücke  des  Klanges  keinerlei  Unterschied  in  der  Betonung  zeigen, 
werden  sie  subjektiv,  vom  Hörer  aus  mit  Akzenten  versehen.  Der 
Versuch  kann  jeden  Augenblick  darüber  belehren,  daß  gleichmäßig 
starke  Schalleindrücke  auf  die  Dauer  nicht  als  solche  gehört,  vielmehr 
in  eine  regelmäßige  Folge  von  stärkeren  und  schwächeren  Lauten 
umgewandelt  werden.  Voraussetzung  ist  nur,  daß  die  Pausen  eine 
gewisse  Zeitlänge  haben,  die  sie  weder  nach  oben  noch  nach  unten 
überschreiten  dürfen:  sind  sie  zu  lang,  so  versagt  sich  uns  die  Zu- 
sammenfassung der  Töne,  sind  sie  zu  kurz,  so  wird  die  gesetzmäßige 
Folge  subjektiver  Betonungen  unmöglich.  Es  scheinen  demnach  zeit- 
liche Verhältnisse  im  Gegenstand  die  unerläßliche  Vorbedingung  für 
den  Rhythmus  zu  sein. 

Wenn  wir  in  den  konstanten  Ton  Intensitätsunterschiede  einschalten, 
so  kann  es  auf  zweifache  Weise  geschehen.    Die  eine  Art  liefert  uns 


132  HL  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

kdn  Ergd>nis:  Ein  stetig  erfolgoides  Anwachsen  und  Abndimen,  das 
für  seinen  Rundlauf  geraume  Zeit  braucht,  fuhrt  nicht  zu  einer  rhyth- 
mischen Gliederung.  Der  Ton  wird  durch  Steigerung  und  Rud^ang 
zwar  objektiv  und  in  seiner  ästhetischen  Bedeutung  erhd>lich  ver- 
ändert, aber  kdnesw^^s  zu  einem  rhythmischen  Gd)ilde  gemacht 
Verfahren  wir  also  auf  andere  Art  Wir  lassen  die  Stärkeunterschiede 
ohne  ausgldchenden  Übergang  aufeinander  folgen,  wie  Gdger  bd 
dner  bestimmten  Vorübung  zum  Staccato  zu  tun  pfl^en.  Durch  den 
G^ensatz  dieser  unvermittelten  Betonungsverschiedenhdten  dessdben 
Klanges  entsteht  Rhythmus.  Obwohl  nämlich  der  Klang  ununter- 
brochen fortdauert,  glauben  wir  doch  Pausen  zu  hören  —  wie  oft 
und  an  welcher  Stelle  ist  nebensächlich,  genug,  wir  machen  subjektive 
Einschnitte  und  gewinnen  auf  diese  Art  die  rhythmische  Gliederung. 
Es  scheinen  demnach  dynamische  Verhältnisse  die  notwendige  Unter- 
lage zu  bilden. 

Nach  den  Erfahrungen  der  ersten  Gruppe  wäre  Rhythmus  zu  be- 
stimmen als  eine  Folge  von  Zeitabschnitten,  die  aus  psychologischen 
Gründen  zu  einem  Betonungssystem  wird;  nach  den  anderen  Beob* 
achtungen  als  eine  Folge  von  Gewichtsverschiedenheiten,  die  aus  sich 
selber  heraus  das  Bewußtsein  einer  zeitlichen  Bew^^ng  g^ensdtiga" 
Ergänzung  zu  stände  bringt  In  unserem  Verhältnis  zur  Musik  gibt 
es  Augenblicke,  wo  dieser  G^ensatz  dne  mehr  als  theoretische  Be- 
deutung eriangt  Der  Orgelspieler  hat  keine  Möglichkeit,  die  Intensität 
der  Töne  (etwa  durch  den  Anschlag)  abzustufen,  sondern  kann  dne 
solche  Abstufung  lediglich  durch  Wechsel  von  Tonqualität  und  Klang- 
farbe vortäuschen.  Trotzdem  fügen  wir  auch  hier  die  Betonungen  zur 
zeitlichen  Ordnung  hinzu.  Anderseits  ist  —  wenigstens  für  mich  — 
Palästrinas  vielstimmige  Gesangsmusik  ein  so  zeitloses,  von  jeder  Bin- 
dung an  Takt  und  Metrum  freies  Gebilde,  daß  der  ger^dte  Zeitverlauf 
erst  aus  den  Betonungen,  namentlich  aus  dem  Eintreten  neuer  Stim- 
men sich  erschließen  läßt.  Im  allgemeinen  indessen  hangen  Zdt- 
Rhythmus  und  Betonungs-Rhythmus  eng  zusammen;  wdcher  von 
beiden  als  der  ursprüngliche  anzusehen  ist,  läßt  sich  durch  die  syste- 
matische Betrachtung  mit  unbedingter  Sicherheit  nicht  ausmachen. 
Wenn  die  Theoretiker  sich  gewöhnlich  zu  Gunsten  des  Zdtmomoits 
entscheiden,  so  tun  sie  es  unwillküriich  deshalb,  weil  die  rdative 
Zeitdauer  wenigstens  in  der  Tonschrift  genau  bestimmbar  ist,  wäh- 
rend das  Stärkeverhältnis  weder  in  Musik  noch  in  Poesie  mit  ent- 
sprechender Schärfe  festgelegt  werden  kann.  Zweckmäßiger  schdnt 
es,  die  zeitliche  Ordnung  und  die  Akzentuierung  als  gleichwertig  zu 
behandeln. 

B^enzte  Zeitteile  samt  verschiedenen  Betonungsgraden  sind  auf 


RHYTHMUS  UND  METRUM.  133 

unserem  Gebiet  mit  demjenigen  Faktor  der  Raumgegenstände  ästhe- 
tischer Beschaffenheit  zu  vergleichen,  den  wir  als  die  Einschlußlinie 
bezeichnet  haben.  Die  rhythmische  Einschlußlinie  besteht  in  einfachen 
Geräuschen;  sie  gewinnt  eine  körperhafte  und  im  höheren  Sinn  pro- 
portionierte Form  erst  durch  Ausfüllung  mit  Klängen  oder  Worten, 
d.  h.  mit  Elementen  der  Musik  und  der  Sprache.  Wir  nennen  diesen 
Rahmen,  in  den  das  doppelte  Material  eingepaßt  werden  kann,  das 
Metrum. 

Das  Metrum  ist  nach  zwei  Richtungen  veränderlich.  Denken  wir 
es  uns  durch  Schläge  angegeben.  Offenbar  entsteht  dann  durch  Ab- 
wechslung von  starken  und  schwachen  Schlägen  eine  Mannigfaltigkeit 
Im  weiteren  Sinne  des  Wortes  kann  freilich  schon  die  einfache  Wieder- 
holung desselben  Stärk^^ades  als  eine  extensive  Mannigfaltigkeit 
gelten,  und  da  wir  wissen,  daß  die  bloße  Wiederholung  ästhetisch 
wirksam  zu  werden  vermag,  so  muß  sie  hier  ausdrücklich  ausge- 
schlossen werden.  Eine  andere  Richtungsmöglichkeit  liegt  vor,  sobald 
in  gleicher  erheblicher  Abstufung  die  Stärkegrade  vom  schwächsten 
bis  zum  stärksten  empor-  oder  umgekehrt  hinabschreiten.  Auch  dies 
gesetzmäßige  An-  und  Absteigen  über  eine  von  der  Unterschieds- 
empfindlichkeit bestimmte  Anzahl  von  Stufen  hinweg  (symbolisiert 
durch  die  Reihe  a  b  c  d  e  f  . . .),  entspricht  nicht  der  metrisch-dyna- 
mischen Veränderlichkeit  Vielmehr  handelt  es  sich  nur  um  folgende 
R^elmäßigkeit:  Starke  und  schwache  Schläge  wechseln  ab  und  dieser 
Wechsel  wiederholt  sich  (ab  ab  ab  . . .  oder  abb  abb  abb  . . .  oder 
aab  aab  aab  ...  bis  zu  einer  uns  noch  unbekannten  Grenze  der 
Zusammensetzung).  Die  einfachsten  Formen  dieser  dynamischen 
Regelmäßigkeit  sind  ohne  Zweifel  die  folgenden:  fj  ff  oder  anders 
geschrieben  j,  ^  ^  j,.  Darf  man  den  Beobachtungen  an  Kindern 
trauen,  so  ist  der  Mensch  für  die  erste  Form,  den  Trochäus*),  am 
frühesten  und  sichersten  empfänglich.  Jedenfalls  haben  die  beiden 
entgegengesetzt  geschwungenen  metrischen  Linien  des  Trochäus  und 
Jambus  schon  vor  ihrer  Ausfüllung  mit  Klängen  oder  Worten  einen 
Gefühlscharakter,  der  zu  Kunstzwecken  ausgenutzt  werden  kann.  Das 
fallende  Metrum,  das  von  der  Betonung  zur  Nichtbetonung  übergeht, 
macht  den  Eindruck  einer  straffen  Ordnung,  während  das  steigende 
Metrum  etwas  Err^endes  an  sich  hat  Durch  Verdoppelung  der  un- 
betonten Schläge  (f  f  f  ClP  verstärkt  sich  diese  Eigenschaft  Na- 
mentlich der  Anapäst  w  w  vL  wirkt  in  unverkennbarer  Art,  gleichsam 


•)  Von  der  Kürze  und  Länge  der  Silben  im  antiken  Versmaß  wird  bei  der  Ver- 
wendung dieser  Bezeidinungen  abgesehen. 


134  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

wie  ein  Angriff.  Wo  in  altdeutschen  Versen  noch  mehr  als  zwei 
tonfreie  Silben  dem  Akzent  vorausgehen,  da  ist  es  als  ob  jemand  vor 
dem  entscheidenden  Sprung  einen  Anlauf  nimmt  oder  als  ob  aus  einem 
Wettergrollen  ein  Donnerschlag  hervorgeht.  Indessen  schon  bei  dem 
dreischlägigen  Schallmetrum  wirkt  der  dritte  Schlag,  wenn  auf  ihm  der 
Ton  liegt,  wie  die  Vollendung  eines  Beginnens  oder  wie  die  Erlösung 
aus  einer  Ungewißheit. 

Die  andere  Veränderlichkeitstendenz  des  Metrums  ist  die  zeitliche. 
Denkerr  wir  uns  die  Teile  des  Metrums  durch  gleich  starke  und  gleich 
beschaffene  Töne  angedeutet,  so  kommt  eine  Unterscheidung  in  sie 
hinein,  indem  sie  eine  verschiedene  Dauer  erhalten.  Ein  solcher 
Quantitätswechsel  mag  ohne  jede  Betonung  stattfinden.  Natürlicher 
jedoch  ist  die  Vereinigung  beider  Belebungen,  so  daß  die  Indifferenz- 
lage zugleich  in  der  Richtung  der  Betonung  und  der  Verlängerung 

verlassen  wird.  Aus  */0  J  Q  J  Ij  I  ^'^^  '^'^'^*  '/*  J  J  I  J  J  i  J^l 
In  diesem  Beispiel  sind  wohl  die  Zeitmaße  verschoben,  aber  die  Ikten 
geblieben.  Wir  entnehmen  daraus,  daß  die  Taktänderung  (von  */*  zu  ^ji) 
wenig  besagt,  solange  die  metrischen  Akzente  nicht  geändert  sind. 
Ein  dritter  möglicher  Fall  besteht  in  dem  Widerstreit  zwischen  Dauer 

und  Betonung,  etwa  folgendermaßen:  J  ^1  oder  J  J.     In  allen  drei 

r  p  Pf 

Fällen  kommt  es  auf  die  absolute  Zeitdauer  des  metrischen  Gebildes 
gar  nicht  an;  die  verwendeten  Notenzeichen  mag  man  sich  in  so  lang- 
samem oder  so  schnellem  Tempo  denken,  daß  gerade  noch  die  Be- 
ziehungen untereinander  deutlich  bleiben.  Aber  die  Frage,  wieviele 
solcher  relativen  Beziehungen  ästhetisch  erfreulich  sind,  muß  aufge- 
worfen werden.  In  den  Notenbildem  der  Musik  haben  wir  die  Ant- 
wort für  die  Zeitwerte.  Für  die  Betonungsverhältnisse  indessen  geben 
uns  weder  Musik  noch  Poesie  eine  in  festen  Symbolen  unzweideutig 
niedergel^e  Auskunft.  Nach  der  üblichen  Theorie  sind  die  verwert- 
baren Beziehungen  der  Akzentstärke  viel  geringer  an  Zahl  als  die  Zeit- 
maßbeziehungen —  sofern  diese  gleichgesetzt  werden  dürfen  mit  allen 
in  der  Musik  vorkommenden  Zerl^ungen  einer  ganzen  Note  — ,  denn 
sie  sollen  nur  die  Abstufung  von  nichtbetonten,  schwach,  mittelstark 
und  sehr  stark  betonten  Werten  zulassen.  Femer  wird  angenommen, 
daß  die  Metrik  zwischen  zwei  Betonungen  höchstens  zwei  unbetonte 
Schläge,  niemals   mehr  verstattet,  folglich  ist  die  erreichbare  obere 

Grenze  dieses  Gebilde:  i£f  i±J  i±J  tlS*  Beide  Behauptungen 
scheinen  jedoch  mit  der  lebendigen  Musik  nicht  in  Übereinstimmung. 
In  der  einfachen  .Folge 


RHYTHMUS  UND  METRUM. 


135 


^ — ^/^ 

o 

^       ^      m 

m      ^ 

ß   ^ 

ß  ^ 

•      a 

P       A 

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fi       \         ^ 

r  .• 

r    f 

-F       t-H 

-....4       1       - 

-4- 

1 . 

1 

1             1 

VPP      — 

m 

kommen  mehr  als  die  üblichen  vier  Stärk^^ade  zur  Verwendung, 
wobei  das  zweite  Viertel  jedes  Taktes  deutlich  schwächer  bleibt  als 
das  erste  und  die  ganze  Phrase  als  eine  Einheit  aufgefaßt  wird. 
Ebenso  widerspricht  es  den  Erfahrungen  der  Tonkunst  sowie  der 
Verskunst,  daß  nur  zwei  schlechte  Teile  zwischen  zwei  guten  Teilen 
stehen  könnten.  Im  Auftakt  altdeutscher  Verse  finden  sich,  wie  er- 
wähnt wurde,  viele  unbetonte  Silben  nacheinander  und  in  der  musi- 
kalischen Figur 


J  i 


spielt  und  hört  man  die  Sechzehntel  als  gleichmäßig  unbetonte  oder 
schwach  betonte  Werte. 

Die  rhythmische  Einschlußlinie  oder  das  Metrum,  d.  h.  eine  Anzahl 
begrenzter  und  verschieden  betonter  Zeitteile  wird  in  der  Tonschrift 
unserer  Musik  durch  Takte  dargestellt.  Diese  Darstellung  (die  schon 
oben  einmal  leicht  eingeschränkt  wurde)  ist  nicht  vollkommen  zuver- 
lässig, weil  nach  der  uns  geläufigen  Übung  der  volle  Takt  stets  mit 
der  stärksten  Betonung  beginnt  Damach  würde  es  so  aussehen, 
als  ob  es  nur  fallende  Metra  gäbe,  denen  unter  Umständen  ein  Auf- 
takt vorausgeschickt  ist  In  Wahrheit  muß,  wer  nicht  vom  konventio- 
nellen Schriftbild,  sondern  vom  hörbaren  Vorgang  ausgeht,  ohne 
Zaudern  feststellen,  daß  auch  in  der  Musik  ganz  echte  steigende 
Metra  zu  finden  sind.  Ja,  es  ist  keine  Frage:  die  vom  leichten  zum 
schweren  Schlag  aufsteigende  metrische  Gruppe  ^J*  oder  in  Takt- 
form */8  7  j^lj"  7)  ist  die  bei  weitem  wirksamere,  weil  die  Bewegung 
darin  schnell  ihren  Höhepunkt  erreicht  und  mit  ihm  abschließt  Der 
Charakter  einer  Einheit  kommt  dieser  Form  im  höheren  Grade  zu  als 
der  anderen.  Wenn  die  Notierung  in  Takten  bloß  fallende  Metra 
kennt,  so  erklärt  es  sich  daraus,  daß  bei  jeder  Verlangsamung  der 
Zeitteile  —  es  werden  z.  B.  aus  den  Achteln  Viertel  oder  eine  zweite 
langsamer  schreitende  Stimme  tritt  hinzu  —  die  Veränderung  bei  dem 
guten  Taktteil  einsetzen  muß.  Die  Takte  sind  aber  im  Grunde  nichts 
als  ein  Hilfsmittel  für  die  Niederschrift  Freilich,  die  musikalische  Er- 
ziehung und  gewisse  Notwendigkeiten  des  Zusammenspiels  machen 
mehr  daraus.  Für  uns  stehen  die  Takte  doch  nicht  bloß  auf  dem 
Papier:  wir  hören,  wann  das  erste  und  wann  das  dritte  Viertel  im 
Viervierteltakt  erklingt,  wir  empfinden  eine  gewisse  Unruhe,  so  oft  ein 


136  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

unbekanntes  Musikstück  seine  Taktgliederung  nicht  gleich  zu  erkennen 
gibt,  sei  es  weil  es  in  einer  nicht  gewohnten  Taktart  geschrieben  ist 
oder  weil  rhythmische  Komplikationen  anfänglich  den  Takt  verdecken. 
Ist  aber  der  Takt  erfaßt,  so  wird  er  auch  bald  automatisiert  und  das 
Bewußtsein  von  der  Aufmerksamkeit  auf  ihn  befreit  Eine  mecha- 
nische Fußbewegung  und  ein  lautloses  Zählen  sind  die  gebräuch- 
lichen und  selbst  von  Musikern  nicht  verschmähten  Mittel;  Dirigenten, 
die  mit  der  einen  Hand  die  rhythmische  Kurve  beschreiben,  schlagen 
manchmal  zu  gleicher  Zeit  mit  der  anderen  Hand  oder  dem  Fuß 
den  Takt. 

Die  Verskunst  benutzt  keine  Taktstriche  und  folgt  nicht  der  durch 
Taktzeichen  veranlaßten  Einschränkung  des  Metrums  auf  den  fallenden 
Typus.  Hat  sie  nun  wenigstens  überall  ein  Metrum?  Für  den  deut- 
schen Vers  hat  man  eine  Unterscheidung  einzuführen  versucht.  Solche 
Verse  —  so  heißt  es  — ,  die  mit  der  Musik  im  Bunde  sind,  nament- 
lich die  gesungenen  oder  geträllerten  Kinderverse,  nehmen  an  der  me- 
trischen Bestimmtheit  der  Schwesterkunst  teil;  sie  werden  skandiert 
Von  diesen  kleinen  und  vulgären  Gebilden  weicht  die  Kunstpoesie 
jedoch  ab:  die  Kunstpoesie  kennt  nicht  Glieder  von  zahlenmäßig  be- 
stimmbarer Zeitdauer  und  einer  fast  berechenbaren  Druckabstufung, 
sondern  sie  rezitiert  ihre  Verse  anstatt  zu  skandieren,  sie  enthält  Sprech- 
verse an  Stelle  der  Gesangverse.  Es  gibt  wohl  Größenunterschiede, 
aber  sie  sind  so  verfließender  Art,  daß  sie  lediglich  durch  die  folgen- 
den beiden  Symbole  sich  andeuten  lassen :  ^  Viertelnote,  vermehrt  um 

ein  Unbestimmtes;  ^  Viertelnote,  vermindert  um  ein  Unbestimmtes. 
Die  entgegenstehende  Theorie  betrachtet  den  Unterschied  des  Skan- 
dierens  und  Rezitierens  als  eine  Angelegenheit  des  Vortrags,  die  als 
solche  mit  der  objektiven  metrischen  Form  nichts  zu  tun  hat  Tausend 
Möglichkeiten  gibt  es,  angefangen  von  dem  einfältigen  Taktsprechen 
des  Schülers  bis  hinauf  zu  der  ganz  freien  Deklamation  des  »modernen« 
Schauspielers.  Aber  sie  bestehen  eben  überall,  sowohl  gegenüber  dem 
Abzählverschen  der  Kinder  als  auch  gegenüber  »Wanderers  Nachtlied«. 
Diese  Vortragsverschiedenheiten  ändern  nichts  an  der  wirklichen  Be- 
schaffenheit der  poetischen  Form,  sie  sind  vielmehr  ihre  subjektiven 
Deutungen.  Ich  kann  ein  Gedicht  so  sprechen,  daß  jede  Länge  und 
jede  Betonung  scharf  herausgehoben  wird,  und  anderseits  auch  so, 
daß  diese  Werte  vollständig  verschwinden  —  deshalb  gehört  doch 
das  Gedicht  nicht  gleichzeitig  zum  Gesangvers  und  zum  Sprechvers! 
Die  Gründe  vermögen  wohl  zu  überzeugen,  und  sie  l^en  die  Auf- 
fassung nahe,  daß  jedes  poetische  Erzeugnis  im  Gegensatz  zur  Prosa 
sein  Metrum  besitze    Wie  sollte  sonst  die  reimlose  Poesie  g^en  die 


RHYTHMUS  UND  METRUM.  137 

Prosa  abgegrenzt  werden  können?  Ist  ferner  nicht  alle  Poesie  ur- 
sprünglich ein  streng  metrischer  Chorgesang  einer  Horde  von  Natur- 
menschen gewesen?  Sollte  schon  vor  den  Zeiten  der  ältesten  uns  auf- 
bewahrten germanischen  Dichtkunst  jede  Erinnerung  an  die  Nahrung 
spendende  Wurzel  der  Poesie  verschwunden  gewesen  sein?  Selbst 
wenn  wir  uns  auf  eigene  Erfahrungen  beschränken  wollen,  so  tritt 
uns  als  ein  Beweis  die  Tatsache  entgegen,  daß  gerade  die  besten 
Sprecher  bei  aller  sinngemäßen  Freibeweglichkeit  des  Vortrags  den 
metrischen  Aufbau  der  Verse  durchklingen  lassen.  Und  auch  aus 
einer  ganz  willküriichen  Deklamation  hören  wir  das  objektiv  vor- 
handene Metrum  heraus,  gleichwie  das  geübte  Ohr  den  Takt  eines 
Ton  Werks  sich  herzustellen  weiß,  obwohl  der  Spieler  die  Zeitmaße 
bald  dehnt,  bald  verkürzt,  die  Betonungen  bald  hervortreibt,  bald  fallen 
läßt  Gerade  dieser  Widerstreit  zwischen  der  festen  rhythmischen  Ein- 
schlußlinie und  der  unabhängig  wechselnden  Vortragsbewegung  gibt 
der  musikalischen  und  der  poetischen  Strophe  den  Reiz  höchster 
Lebendigkeit  Jede  Tempoverschiebung  ändert  die  Zeitwerte,  aber  sie 
läßt  die  metrische  Struktur  unberührt:  sie  macht  den  Viervierteltakt  so 
schnell  wie  den  Zweivierteltakt,  ohne  daß  der  eine  mit  dem  anderen 
verwechselt  würde,  sie  läßt  den  einen  Vers  doppelt  so  rasch  sprechen 
als  den  anderen,  ohne  daß  aus  Anapästen  Jamben,  aus  steigenden  Metren 
fallende  entstünden. 

Jetzt  endlich  sind  wir  zur  Prüfung  der  Frage  berechtigt,  was  da 
wird,  wenn  musikalische  Klänge  oder  Worte  in  die  metrische  Außen- 
form eingesenkt  werden.  In  beiden  Fällen  tritt  zu  den  zeitlichen  und 
dynamischen  Verhältnissen  eine  Mannigfaltigkeit  von  Klängen  ver- 
schiedener Höhe  und  Färbung.  Die  Klangfarbe,  die  zur  sinnlichen 
Schönheit  des  ästhetischen  Gegenstandes  so  erheblich  beiträgt,  hat  für 
den  Rhythmus  keine  Bedeutung.  Die  Tonhöhe  kommt  für  den  rhyth- 
mischen Aufbau  im  kleinen  wie  im  großen  ganz  wesentlich  in  Be- 
tracht, doch  nur  in  der  Musik.  Denn  die  philologische  Unart,  immer- 
fort von  Hochton  und  Tiefton  zu  sprechen,  darf  nicht  zu  der  Ansicht 
verieiten,  als  ob  in  unserer  gegenwärtigen  Verskunst  die  wechselnde 
Stimmlage  einen  gesetzmäßig  auftretenden  Anteil  am  rhythmischen  Ein- 
druck hätte;  ihre  Bedeutung  ruht  vielmehr  im  Ausdruck  der  Affekte 
Allein  der  Hauptunterschied  des  musikalischen  und  des  sprachlichen 
Stoffs  wurde  noch  nicht  berührt:  die  Tatsache,  daß  Klänge  sich  j^- 
licher  metrischen  Verwendung  willig  fügen,  während  einsilbige  Wörter 
durch  die  Länge  ihrer  Vokale,  mehrsilbige  außerdem  durch  ihre  Be- 
tonung in  sich  selber  schon  die  Elemente  eines  rhythmischen  Gefüges 
tragen.  Der  Dichter  steht  daher  vor  der  Aufgabe,  zwischen  dem  Wort- 
rhythmus und  dem  Rhythmus  des  Versschemas   die  wohlgefälligste 


138  in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

Verbindung  herzustellen.  Ein  ausnahmsloses  Zusammenfallen  von 
Wort-  und  Versfuß  wirkt  eintönig  und  beschränkt  den  Dichter  nutzlos 
in  der  Wahl  der  Worte;  wie  nun  aber  im  einzelnen  verfahren  wird, 
um  diesen  Bedenken  zu  entgehen,  der  Sprache  nicht  Gewalt  anzutun 
und  dem  Metrum  genügenden  Einfluß  zu  belassen,  das  haben  Literatur- 
geschichte und  spezielle  Poetik  zu  zeigen.  Eine  letzte  Schwierigkeit 
entwickelt  sich  aus  der  gedanklichen  Zusammengehörigkeit  mehrerer 
Worte,  die  jedes  Zerrissenwerden  verbietet,  Unterordnung  unter  eine 
Atemeinheit  fordert  und  merkliche  Abtrennung  von  dem  nächsten  Sach- 
und  Satzzusammenhang  verlangt.  Die  Lösung  des  Problems  erfolgt 
durch  die  Cäsur.  Wo  das  Versgefüge  bestimmte  Cäsurstellen  hat,  da 
muß  der  Dichter  seine  Sätze  und  Satzteile  nach  ihnen  richten;  in  den 
meisten  Versen  bleibt  glücklicherweise  die  Wahl  der  Stelle  offen.  Der 
volle  Eindruck  des  Gedichtes  rührt  davon  her,  daß  alle  kleinen  und 
großen,  äußeren  und  inneren  Synthesen  zu  einer  umfassenden  Einheit 
verschmelzen. 

Wir  nennen  die  soeben  berührten  Zeit-  und  Betonungsverhältnisse 
von  Worten  und  Sätzen  den  sprachlichen  Rhythmus  (im  engeren  Sinne). 
Dieser  Rhythmus  hat  sich  also  mit  dem  metrischen  Schema  ausein- 
anderzusetzen. Oder  anders  ausgedrückt:  der  metrische  Rahmen  wird 
mit  einem  bereits  rhythmischen  Material  ausgefüllt.  Oder  in  der  bei 
den  Raumgestalten  verwendeten  Redeweise,  aber  mit  Umkehrung  des 
Folgeverhältnisses:  in  die  Begrenzungslinie  treten  proportionierte  In- 
halte ein. 

Sind  nun  vielleicht  auch  die  von  der  Musik  dem  Metrum  ein- 
zupassenden Klangfolgen  bereits  rhythmisiert?  Besteht  wenigstens 
ein  vom  Metrum  unabhängiger  Rhythmus?  Die  Antwort  kann  nicht 
zweifelhaft  sein.  Jede  in  synkopierten  und  ähnlichen  Bildungen  ver- 
verlaufende Melodie  spricht  ein  lautes  Ja,  denn  sie  zeigt  einen  ihr 
innewohnenden  Rhythmus,  der  an  sich  gar  nichts  mit  dem  Metrum 
zu  schaffen  hat.  Der  Kern  eines  musikalischen  Gedankens  ist  ein 
rhythmisches  Motiv;  dieses  Motiv,  dem  natüriich  die  Gestaltqualität 
durch  verschiedene  Tonschritte  alsbald  veriiehen  wird,  hat  Anfang, 
Mitte  und  Ende  ohne  jede  Rücksicht  auf  die  metrischen  Einheiten. 
In  unserer  Notenschrift  wird  es  höchst  unzulänglich  angedeutet, 
da  der  Tonsetzer  sich  darauf  verläßt,  daß  die  innere  Logik  des  Motivs 
dem  Vortragenden  und  dem  Genießenden  von  selbst  zum  Bewußtsein 
kommt.     Das  kleinste  rhythmische  Motiv  entspricht  dem  Rhythmus 

eines    Wortes,    etwa  JJ^  J   dem    Worte    »Metaphysik«.     Größere 

musikalische  Phrasen  haben  in  sich  einen  Zusammenhang,  der  dem 
eines  Satzes  in  der  Sprache  zu  vergleichen  ist.    In  Liszts  sinfonischer 


RHYTHMUS  UND  METRUM. 


139 


Dichtung  »Hunnenschlacht«  werden  die  zu  Pferde  heranstürmenden 
und  dann  blitzartig  in  die  feindliche  Masse  hineinfahrenden  Hunnen 
durch  folgende,  rhythmisch  scharf  ausgeprägte  Figur  gemalt: 


^ 


'Sm>  .t 


^^ 


lU^   ^ 


±1 


§ 


n 


± 


sr^ 


Dieser  Rhythmus  lebt  sich  aus  in  Freiheit  von  Takt  und  Metrum,  so 
wie  der  lyrische  Geföhlszusammenhang  nicht  Sklave  der  Verszeile  ist 
Alle  bisher  einzeln  besprochenen  Faktoren  verknüpfen  sich  mitein- 
ander in  Arie  und  Lied.  Musikalisches  und  sprachliches  Metrum, 
Motivrhythmus  und  Satzrhythmus  gehen  die  verwickeltsten  Verbin- 
dungen ein.  Am  einfachsten  liegt  es  beim  Reigen  und  dem  davon 
abstammenden  Kinderiied,  beim  Gesang  der  Naturmenschen  und  beim 
Volkslied.  Hier  nämlich  tritt  uns  der  Regel  nach  eine  metrische  Ge- 
sangsmusik entgegen.  Weiterhin  überblickt  man  leicht,  daß  die  Vers- 
zeilen, so  oft  sie  sich  mit  einer  inhaltlichen  Einheit  des  Gedichtes 
decken,  ihren  natürlichen  Ausdruck  in  einem  rhythmischen  Motiv 
finden,  das  aber  seinerseits  von  Takt  und  Metrum  abweicht.  So  ver- 
hält es  sich  beispielsweise  mit  den  beiden  Arien  »Keine  Ruh'  bei  Tag 
und  Nacht«  und  »In  diesen  heil'gen  Hallen«.  Wollte  man  sie  takt- 
mäßig singen,  so  würde  der  Text  folgendermaßen  sich  darbieten: 

Keine  Ruh'  bei  Tag  und 
Nacht,  nichts  was  mir  Vergnügen 
Macht,  schmale  Kost  und  wenig 
Geld,  das  ertrage,  wem's  ge^lt 

In  diesen  heil'gen  Hallen  kennt 
Man  die  Rache  nicht,  und 
Ist  der  Mensch  gefallen,  führt 
Tugend  ihn  zur  Pflicht 

Ein  weiteres  Beispiel: 


k 


P 


^  P 


P=^ 


g 


-^ 


-^ 


u.  s.  w. 


Wir     win-     den    dir    den      Jung-    fem-  kränz 

Das  rhythmische  Motiv  deckt  sich  nicht  mit  dem  Metrum;  die  Vers- 
metrik zeigt  zwei  jambische  Dipodien.  H.  Rietsch  bemerkt  dazu: 
»Wort-  und  Versfüße  verhalten  sich  wie  folgt:  Wir  win— den  dir— 


140  in.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

den  Jung — femkranz.  Die  Dipodie  fällt  also  je  mit  dem  rhythmischen 
Motiv  zusammen,  im  großen  ganzen  auch  der  Wortfuß.«  Übrigens 
ist  gerade  die  Tatsache,  daß  die  Silben  in  »winden«  und  »Jungffem« 
auf  je  zwei  Noten  verteilt  werden,  ein  Hinweis  auf  eine  Fülle  von 
Ausgleichsmöglichkeiten.  So  erklären  sich  die  sogenannten  ungleichen 
Strophen  im  Ludwigslied  und  in  den  Leichen  unschwer  daraus,  daß 
etwa  die  erste  Zeile  der  kürzeren  Strophe  zweimal  gesungen  und  auf 
solche  Art  die  Gleichheit  der  Strophen  im  musikalischen  Vortrag  her- 
gestellt wurde. 

Die  ausgedehnteren  rhythmischen  Einheiten  erhalten  ihre  Wirksam- 
keit, indem  alle  in  ihnen  unterscheidbaren  Glieder  aufeinander  bezogen 
und  von  der  Erinnerung  festgehalten  werden.  Dasselbe  gilt  von  den 
Metren.  Metren  wie  Rhythmen  werden,  wenn  sie  noch  nicht  bekannt 
sind,  erst  durch  Wiederholung  in  ihrer  Ganzheit  verständlich.  Sie  ent- 
stehen nicht  durch  Zusammensetzung,  sondern  ergehen  sich  in  Aus- 
einandersetzung, sie  bilden  sich  nicht  durch  Gruppierung  von  Atomen, 
sondern  differenzieren  sich  in  Einzelmomente.  Wenn  wir  die  gebräuch- 
liche Theorie  ernsthaft  bis  zum  Äußersten  treiben  wollten,  so  würde 
des  Dichters  Tätigkeit  der  eines  Maurers  gleichen,  der  Stein  auf  Stein 
setzt  Der  Dichter  begänne  sein  Werk  mit  den  Elementen,  nämlich 
mit  den  Lautgruppen,  die  unmittelbar  als  Einheiten  empfunden  werden, 
d.  h.  mit  den  Silben.  Aus  Silben  setze  er  Versfüße  (und  Worte)  zu- 
sammen. Sie  nun  würden  als  das  Mannigfaltige  zu  dem  Einheitsbezug 
der  Verse,  die  Verse  zur  Strophe,  die  Strophen  zum  Gedicht  vereinigt 
Diese  Konstruktion  entspricht  jedoch  in  der  Hauptsache  weder  dem 
Vorgehen  des  Künstlers  noch  dem  Gefühl  des  Genießenden.  Die 
Individualität  oder  Unteilbarkeit  des  Ganzen  kommt  nicht  genügend 
zu  ihrem  Recht  Was  der  Wissenschaft  als  ästhetischer  G^enstand 
gegeben  ist,  das  ist  die  Totalität  Wir  müssen  sie  freilich  zergliedern, 
dürfen  aber  nicht  aus  dem  Auge  vertieren,  daß  wir  mit  der  Zerlegung 
immer  weiter  vom  Konkreten  ins  Abstrakte,  vom  Wirklichen  ins  Er- 
schlossene geraten.  Die  Erkenntnistheorie  hat  längst  eingesehen,  daß 
nicht  die  Eigenschaften  des  Dinges  die  Wirklichkeiten  sind,  aus  denen 
es  sich  zusammensetzt,  sondern  daß  vom  Dinge  ausgegangen  werden 
muß;  die  logische  Elementariehre  beginnt  nicht  mehr  mit  den  B^[riffen, 
sondern  mit  dem  Urteil.  Demgemäß  könnte  eine  ausgeführte  Lehre 
von  der  Rhythmik  bei  der  Periode  (Strophe  oder  musiktheoretisch 
Phrase)  einsetzen,  dann  zu  der  tieferstehenden  Einheit  der  Reihe  (Vers 
oder  Absatz)  fortschreiten  und  beim  »Fuß«  enden.  Bei  solcher  Be- 
handlung würde  dem  Umstand  besser  als  bisher  Rechnung  getragen 
werden,  daß  wir  über  ein  metrisches  Gebilde  immer  erst  nach  seiner 
Vollendung  im  klaren  sind.    Beginnt  ein  jambischer  Vers,  so  können 


GRÖSSE  UND  GRAD.  Hl 

wir  nicht  wissen,  ob  er  ein  Drei-  oder  Vierfüßler  oder  ob  er  ein 
Senarius  oder  ein  Octonarius  werden  wird;  vorzeitiges  Abbrechen  der 
ttngeren  Reihe  ergibt  —  vorausgesetzt,  daß  diese  Reihe  die  erste  ist 
—  kdne  Verstflmmelung,  sondern  eben  nur  die  kürzere  Fona  Wenn 
der  Restbetrag  sich  nicht  einstellt,  so  wird  anders  vereinheitlicht  Des- 
halb hat  der  Reim  seinen  Platz  am  Ende,  denn  er  betont  aufs  Olflck- 
lichste  die  Schlußkraft  dieser  Stelle. 

Aber  diese  Dinge  im  einzelnen  zu  verfolgen  scheint  nicht  nötig, 
da  uns  hier  nur  die  allgemeine  rhythmische  Beschaffenheit  des  Ssthe- 
tischen  O^enstandes  kümmert.  Ergänzungen  werden  sich  bei  der 
Behandlung  der  rhythmischen  Gefühle  und  später  an  verschiedenen 
Punkten  der  allgemeinen  Kunstwissenschaft  einstellend^). 

4.  Größe  und  Grad 

Wie  alle  Wirklichkeit,  so  ist  auch  die  ästhetische  ein  undefinier- 
bares Zusammen  von  qualitativen  und  quantitativen  Bestimmtheiten. 
Keine  Eigenschaft  an  einem  Kunstwerke  entbehrt  einer  Größe  oder 
Stärke,  und  diese  wiederum  sind  unter  allen  Umständen  an  Qualitäten 
gebunden.  Dennoch  vermag  die  wissenschaftliche  Abstraktion  zu 
trennen,  was  tatsächlich  für-  und  miteinander  da  ist  Der  Formalismus 
hat  daher  seit  langer  Zeit  die  Größe-  und  Stärkeverhältnisse  innerhalb 
von  Kunstwerken  untersucht  FQr  diesen  Standpunkt  liegt  die  Schön- 
heit im  Verhältnis  von  Teilen  oder  Formgliedem.  Wenn  alles  Schöne 
in  Form  besteht  und  Form  eine  zur  Einheit  irgendwie  gesammelte 
Mannigfaltigkeit  bedeutet,  so  kommt  es  bloß  darauf  an,  daß  die  Glieder 
zueinander  in  quantitative  Beziehung  gesetzt  sind.  Aber  das  absolute 
Quantum  sowohl  der  Teile  als  auch  des  Ganzen  gilt  als  ästhetisch 
bedeutungslos.  Für  diese  Auffassung  ist,  kurz  gesagt,  10:20  dasselbe 
wie  1 : 2.  Und  da  wir  auch  von  der  Psychologie  belehrt  werden,  daß 
im  Seelenleben  Oberhaupt  die  Verhältnisse  eine  entscheidende,  die 
Größen  an  sich  eine  geringe  Rolle  spielen,  so  neigen  wir  von  vorn- 
herein zur  entsprechenden  ästhetischen  Ansicht 

Zum  gleichen  Urteil  drängt  die  Theorie  des  schönen  Scheins. 
Gesetzt,  wir  hätten  es  in  der  Kunst  mit  bloßem  Schein  zu  tun.  Dann 
ist  es  offenbar  gleichgültig,  inwiefern  die  Maße  der  Wirklichkeit  bd- 
behalten  oder  abgeändert  werden :  ob  ein  Mensch  in  Naturgröße  oder 
um  ein  beliebiges  kleiner  abgebildet,  ob  ein  dramatischer  Vorgang  in 
der  wirklichen  oder  in  einer  verkürzten  Zeit  vollzogen  wird  In  jener 
hohen  Lage  des  Seelischen,  in  der  die  Kunst  sich  bewegt,  scheint  es 
schließlich  gar  nicht  mehr  auf  quantitative  Bestimmtheit,  sondern  nur 
noch  auf  Qualität  und  Wertcharakter  anzukommen. 


142  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

In  Wahrheit  li^  es  nicht  so.  Schon  die  Naturg^enstände,  die 
wir  als  schöne  auffassen,  sind  nach  ihrer  absoluten  Größe  und  In- 
tensität festgel^  Und  zwar  gilt  im  Ld)en  das  Gattungsmäßige  als 
die  Norm:  alles,  was  allzu  stark  nach  oben  oder  unten  davon  abweicht, 
pfl^  zu  mißfjdlen.  Wenn  minder  empfindliche  Betrachter  an  Riesen 
und  Zwergen  eine  gewisse  Freude  haben,  so  mag  es  mehr  die  Lust 
an  der  Seltenheit  als  an  der  Länge  oder  Kleinheit  sein.  Dabei  kann 
außer  acht  bleiben,  ob  die  herrschende  Vorstellung  von  der  gattungs- 
mäßigen quantitativen  Beschaffenheit  dem  statistischen  Durchschnitt 
gemäß  ist  oder  nicht.  Der  Schwerpunkt  liegt  darin,  daß  ein  Quantum 
als  solches  für  das  Eintreten  des  ästhetischen  Genusses  erforderlich  ist 

Wichtiger  und  schwieriger  scheint  mir  die  Frage:  Inwiefern  kommt 
bei  der  künstlerischen  Umformung  der  Wirklichkeit  das  vom  Künstler 
gewählte  Maß  oder  die  von  ihm  hergestellte  Intensität  in  Betracht? 
Der  Durchschnitt  unserer  Lebenserfahrungen,  der  dem  Naturschönen 
zur  Stütze  dient,  versagt  hier  seinen  Dienst  Denn  das  Bild  eines 
Menschen  kann  ebensoviele  Zentimeter  wie  Meter  g^roß  sein.  Daß 
trotzdem  diese  absolute  Größe  des  Bildes  ihre  ästhetische  Bedeutung 
besitzt,  wird  schon  durch  die  eine  Tatsache  nahegel^  daß  die  Ver- 
größerung oder  Verkleinerung  eines  Formates  bei  vollkommen  erhaltener 
Formgleichheit  einen  verschiedenen  ästhetischen  Eindruck  hervorrufen 
kann.  Man  vergleiche  ein  Kartonbild  mit  seiner  um  vieles  kleineren 
Photographie:  der  Abstand  ist  erstaunlich.  Das  Originalbild  hat  durch 
seine  tatsächlichen  Maße  eine  Wertnüance,  die  der  verkleinernden 
Wiedergabe  —  auch  der  vollkommensten  —  fehlt  Es  gibt  ja  genug 
Gemälde,  die  beliebig  gereckt  oder  beliebig  verkürzt  werden  können. 
Was  aber  als  Monumentalbild  gedacht  ist,  kann  nicht  zusammen- 
schrumpfen, was  als  Miniaturbild  geplant  ist,  nicht  ins  Große  gedehnt 
werden,  ohne  die  wesentlichen  Momente  seines  Reizes  einzubüßen. 
In  berühmten  Domen  sind  nicht  selten  Modelle  ausgestellt,  die  zum 
näheren  Studium  der  Einzelheiten  dienen.  Der  Betrachter  empfindet 
sofort,  daß  z.  B.  der  Kölner  Dom  ganz  anders  wirkt  als  sein  Modell 

Sobald  man  auf  die  Bedeutsamkeit  solcher  allbekannten  Erfahrungen 
aufmerksam  geworden  ist,  bemerkt  man  auch,  daß  das  Raumverhältnis 
eines  Kunstwerkes  zur  Umgebung  seinen  ästhetischen  Wert  nicht  nur 
aus  der  Beziehung,  sondern  auch  aus  der  für  sich  betrachteten  Eigen- 
größe erhält  Freilich  erscheint  eine  Kirche  zwischen  großen  Bau- 
werken nicht  so  stattlich  wie  zwischen  niedrigen  Häusern;  aber  auch 
bei  den  günstigsten  Bedingungen  darf  sie  hinter  einem  gewissen  Maß 
nicht  zurückbleiben,  um  imponierend  zu  wirken,  und  sie  darf  ander- 
seits —  unbeschadet  des  Umgebungseinflusses  —  eine  obere  Grenze 
nicht  überschreiten,   damit  sie  als  künstlerische  Einheit  apperzipier- 


GRÖSSE  UND  GRAD.  143 

bar  bleibt.  Wenn  ein  Bild  aus  einem  kleinen  Wohnraum  in  einen 
Museumssaal  versetzt  wird,  so  kann  dieser  Wechsel  der  Umgebung 
(beispielsweise  bei  sehr  großen  Formaten)  gflnstig  einwirken.  Den- 
noch ist  der  objektive  Raumverbrauch,  der  sich  ja  nicht  geändert  hat, 
die  Grundlage  fflr  den  Anteil  des  Quantums  an  der  ästhetischen 
Wirkung. 

Ähnlich  steht  es  mit  einem  Bedenken,  das  sich  der  Oberl^[ung 
sehr  bald  aufdrängt,  nämlich,  daß  wir  ja  vielfach  von  der  absoluten 
Größe  des  Kunstwerkes  nichts  wissen.  Ich  meine  natürlich  nicht,  daß 
uns  die  bestimmten  Zahlenwerte  unbekannt  bleiben,  sondern  nur,  daß 
wir  die  Quantität  des  Ganzen  und  seiner  Teile  Oberhaupt  nicht  mit 
Bewußtsein  auffassen.  Selbst  in  diesen  Fällen  braucht  sie  nicht  un- 
wirksam zu  sein,  was  schon  daraus  hervorgeht,  daß  sie  in  der  Er- 
innerung annähernd  reproduziert  werden  kann,  obgleich  sie  bei  der 
Wahrnehmung  nicht  beachtet  worden  war.  Wenn  nun  gar  die  Raum- 
größe von  den  gewohnten  Mittelwerten  abweicht,  Qbt  sie  eine  deutlich 
zu  sparende  Wirkung  aus.  So  ist  bei  Bildern  ein  allzu  kleines  Format 
der  Vertiefung  meistens  hinderlich,  vor  allem,  wenn  viele  Bilder  dieser 
Art  nebeneinander  hangen.  Noch  ehe  wir  das  Bild  selber  betrachtet 
haben,  erhalten  wir  durch  das  Format  den  Eindruck:  es  lohne  nicht 
recht  Wir  sehen  eine  ganze  Anzahl  vor  uns  und  verlieren  von  vorn- 
herein den  Mut  Dieses  Vorurteil  beeinflußt  dann  den  Genuß,  sei  es 
im  Sinne  der  Bestätigung,  sei  es  im  Sinne  einer  erfreulichen  Wider- 
legung, durch  die  dem  Kunstwerk  mehr  zugeschrieben  wird  als  es 
durch  Inhalt  und  Ausführung  verdient  Eine  andere  Disposition  ent- 
steht aus  der  Wahrnehmung  beträchtlicher  Größe,  die  der  Wahrneh- 
mung des  Bildinhaltes  vorauszugehen  pflegt.  Eine  solche  Größe  ist 
wie  ein  Alarm :  ihm  muß  das  Gemälde  durch  bedeutsamen  Inhalt  und 
großzügige  Technik,  durch  Vermeidung  des  Kleinlichen,  durch  derbe 
Linien  und  wuchtige  Farben  entsprechen^^). 

Es  ist  von  Kunstkennern  darauf  hingewiesen  worden,  daß  Ver- 
fehlungen in  der  Wahl  des  absoluten  Quantums  innerhalb  der  ver- 
schiedenen Künste  eine  verschiedene  Richtung  zeigen.  Von  Malern 
wird  eher  ein  zu  kleines  als  ein  zu  großes  Format  gewählt,  sofern  sie 
das  Richtige  nicht  treffen.  Das  mag  darin  seinen  Grund  haben,  daß 
der  Maler  der  Phantasie  des  Betrachters  zutraut,  auch  über  das  ge- 
gebene Adaß  die  Bestandteile  des  Bildes  zu  dehnen,  während  er  im 
entgegengesetzten  Falle  fürchtet,  es  werde  der  richtige  Abstand  ver- 
fehlt und  daher  die  Einheit  des  Kunstwerkes  nicht  aufgefaßt  werden. 
Wenigstens  wäre  eine  solche  Erwägung  im  durchschnittlichen  Ver- 
halten des  Publikums  hinreichend  begründet  Hingegen  pflegen  Dichter 
und  Musiker  sich  eher  durch  Überausdehnung  zu  versündigen.   Selten 


144  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

bleibt  ihr  Werk  hinter  dem  erforderlichen  Maße  zurück,  oft  genug 
fiberschreitet  es  dasselbe  und  wird  dadurch  ermüdend. 

Diese  Beobachtung  führt  nun  bereits  zur  zweiten  Kkisse  des  ex- 
tensiven Quantums,  zur  ZeitgröBe,  hinüba*.  Auch  in  Rücksicht  auf 
sie  muB  zunächst  einmal  der  ästhetische  Tatbestand,  waingldch  nur 
in  einigen  Grundzügen,  aufgenommen  werden. 

Ich  rede  jetzt  wieder  nicht  von  dem  Verhältnis  der  ZdtgröÜen^ 
sondern  ich  spreche  lediglich  von  der  objektiv  zu  messenden  Zeit- 
spanne. Da  sei  vorerst  an  die  Bedeutung  der  objektiven  Zeit  für 
menschliche  Verhältnisse  erinnert  In  Fontanes  »Effi  Briest«  entdeckt 
der  Baron  Instetten  nach  mehr  als  sechs  Jahren  eine  Untreue  sdner 
Gattin.  Er  gesteht  sich,  daß  er  weder  Haß  noch  Rachedurst  empfinde. 
->Und  wenn  ich  mich  frage,  warum  nicht?,  so  kann  ich  zunächst 
nichts  anderes  finden  als  die  Jahre.  Man  spricht  immer  von  unsühn- 
barer  Schuld;  vor  Gott  ist  es  gewiß  falsch,  aber  vor  den  Menschen 
auch.  Ich  hätte  nie  gedacht,  daß  die  Zeit  rein  als  Zeit  so  wirken 
könne«  (9.  Aufl.,  1900,  S.  411).  Nach  dem  Duell:  »Schuld,  wenn  sie 
überhaupt  'was  ist,  ist  nicht  an  Ort  und  Stunde  gebunden  und  kann 
nicht  hinfällig  werden  von  heute  auf  morgen.  Schuld  verlangt  Sühne, 
das  hat  einen  Sinn.  Aber  Verzeihung  ist  etwas  Halbes,  etwas  Schwäch- 
liches, zum  mindesten  etwas  Prosaisches«  (425).  Ich  würde  sagen, 
es  widerstrebt  uns  anfänglich,  daß  sittliche  Eigenschaften  durch  bloBe 
Zeitgrößen  verändert  werden  können.  Das  hat  etwas  Prosaisches,  ja 
etwas  Brutales.  Es  dürfte  an  die  Qualität  einer  Handlung  gar  nicht 
heranreichen,  ob  sie  vor  zehn  Minuten  geschehen  ist  oder  vor  zehn 
Jahren.  Aber  tritt  aus  der  Wiederholung,  die  an  sich  doch  nur  zahlen- 
mäßig vermehrt,  nicht  eine  ähnliche  Wirkung  hervor?  Der  rein  ästhe- 
tische Erfolg  pflegt  allerdings  in  ziemlich  engen  Grenzen  zu  bleiben. 
Wiederholungen  stehen  in  der  Mitte  zwischen  dem  extensiven  Quantum, 
das  wir  bisher  besprochen  haben,  und  einer  anderen  Art  des  exten- 
siven Quantums,  nämlich  der  Zeitgröße.  Werke  der  Raumkunst 
können  dies  Moment  enthalten.  Die  einfache  Wiederholung  findet 
sich  bei  allen  Mustern,  in  den  meisten  dekorativen  Gebilden,  an  Häuser- 
fassaden und  Säulenbauten  und  zwar  im  Sinne  einer  quantitativen  Ver- 
stärkung. An  sich  wäre  die  zahlenmäßige  Mehrheit  des  Gleichen  für 
den  entwickelten  Geschmack  ebenso  unerträglich  wie  die  plumpen 
Mittel,  die  man  zur  Hervorhebung  und  Kennzeichnung  in  Schrift  und 
Druck  verwendet,  wie  das  Unterstreichen,  Sperren  oder  gar  das  ein- 
geklammerte Ausrufungszeichen  am  Schluß  von  Zitaten.  Indessen  da- 
durch, daß  in  dem  »oft«  eine  neue  ästhetische  Qualität  sich  andeutet, 
wird  es  erträglich.  Der  Säulenwald  ist  von  der  einzelnen  Säule  eben 
nicht  nur  so  unterschieden  wie  n:  1.    Er  hat  in  seiner  gleichförmigen 


GRÖSSE  UND  GRAD.  I45 


Vielheit  etwas  Überwältigendes,  das  der  fOr  sich  stehenden  Säule  ab- 
geht. Wenn  der  Künstler  die  allgemeine  Beschaffenhat  eines  Gebildes 
verdeutlichen  will,  so  kann  er  kein  einfacheres  Mittel  wählen. 

Noch  deutlicher  wird  die  gleiche  didaktische  Absicht  in  der  zeit- 
lichen Verwendung  der  Wiederholung.  Uns  allen  ist  der  Vorgang  aus 
der  Redekunst  am  vertrautesten.  Obwohl  ein  Redner  meist  verschiedene 
Formen  wählen  dürfte,  um  den  Hörern  mehrere  Zugangswege  zum 
Verständnis  zu  öffnen,  so  kann  er  doch  auch  bei  besonders  gut  ge- 
troffenen Formulierungen  der  direkten  Wiederholung  nicht  entraten. 
Die  eindimensionale  Beschaffenheit  des  Zeitverlaufes  gibt  kein  besseres 
Mittel  der  Betonung  an  die  Hand  als  die  Wiederholung.  Gleichsam 
auf  der  Mitte  zwischen  Raumkunst  und  Zeitkunst  steht  das  Ballett  mit 
seinen  Reihen  von  gleichen  Bewegungen :  indem  viele  dasselbe  machen, 
verliert  es  zwar  an  individuellem  Reiz,  prägt  sich  aber  in  seinen  großen 
ZQgen  dem  Auge  und  dem  Gedächtnis  besser  ein.  Die  Poesie  hat  in 
ringförmigen  Gedichten,  wo  die  Schlußworte  den  Anfang  wiederholen, 
im  Refrain  und  dergleichen  eine  Technik  der  Wiederholung  ausgebildet; 
die  ältere  Musik  rechnet  ganz  wesentlich  auf  die  Freude  an  der  Wieder- 
holung, sowohl  wenn  sie  schulgerechte  Durchführungen  als  auch 
wenn  sie  Variationen  bietet. 

Femer  herrscht  darüber  seit  alters  Einigkeit,  daß  quantitative 
Momente  zur  Unterscheidung  von  Kunstformen  gebraucht  werden 
können.  Innerhalb  der  kleinsten  musikalischen  Organismen  sondern 
skrh  Motiv  und  Thema  hauptsächlich  durch  die  Länge;  beim  Thema 
weiterhin  Fugenthema  und  Sonatenthema:  das  Fugenthema  zwei  bis 
vier  Takte  lang,  das  Sonatenthema  in  der  Regel  eine  achttaktige  Periode. 
Die  Sonatine  zeigt  geringere  Gesamtdauer  als  die  Sonate^  und  daher 
in  ihren  Teilen  ein  verkürztes  Maß.  Alsdann  in  der  Dichtkunst.  Die 
Lyrik,  die  überhaupt  auf  kleinere  Formen  beschränkt  ist,  gestattet  dem 
Herkommen  gemäß  der  Romanze  größere  Ausführiichkeit  als  der  Ballade; 
die  Novelle  sondert  sich  u.  a.  auch  durch  stärkere  Beschränkung  von 
dem  Roman.  Epigramm  und  Aphorismus,  Skizze  und  Fragment  ver- 
danken ihrer  Kürze  jene  Besonderheit,  die  mit  weiterer  Ausdehnung 
und  Vervollständigung  schwinden  würde.  Mit  einem  Wort:  der  Ein- 
fluß des  Quantitätsprinzipes  ist  unverkennbar. 

Wir  wenden  uns  jetzt  dem  intensiven  Quantum  zu.  Jeder  prak- 
tische Musiker  macht  die  Erfahrung,  daß  für  gewisse  künstlerische 
Wirkungen  eine  Macht,  sei  es  des  Instrumentes,  sei  es  der  Behand- 
hing, notwendig  ist.  Man  denke  sich  Liszts  E-Dur-Polonaise  auf  dem 
Spinett  gespielt !  Auch  bei  sorgsamster  Abstufung  im  Spiel  kommt  kein 
Fortissimo  heraus,  wie  es  dem  Wesen  des  Stückes  gemäß  ist:  es  ge- 
nfigt d>en  nicht,  daß  der  höchste  Grad  erreicht  werde,  der  auf  einem 

Dcttoir,  Attbetik  und  allg.  Kunttwitsciucluft.  10 


146  HL  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

Spinett  zu  erzielen  ist,  sondern  eine  gewisse  absolute  Stärke.  Wir  ur- 
teilen nicht  ausschließlich  nach  der  Proportion.  Es  gibt  Klavierspieler^ 
deren  Anschlag  eines  klingenden  Pianissimo  unfähig  ist  Wenngleich 
sie  nun  ihre  Wiedergabe  eines  Stückes  so  anl^en  können,  daß  alles 
sorgsam  abschattiert  wird  bis  hinunter  zu  der  geringsten  ihnen  mög- 
lichen Intensität,  so  bleibt  diese  doch  noch  zu  groß.  Ausgezeichnete 
Sänger  sind  in  der  Wahl  ihrer  Lieder  beschränkt,  weil  ihnen  gewisse 
Akzente  fehlen.  Könnte  man  das  Requiem  von  Beriioz  auf  einer  Mund- 
harmonika nachblasen,  und  zwar  so,  daß  die  ganze  musikalische  Struktur 
erhalten  bliebe,  so  wäre  der  Eindruck  dennoch  ein  ganz  anderer.  Im 
vierten  Satz  dieser  Grande  Messe  des  Morts  sind  neben  dem  Haupt- 
orchester noch  vier  kleine  Bläserorchester  verzeichnet;  für  jenes  ver- 
langt der  Komponist  zwölf  Pauken  und  außerdem  noch  allerhand 
Schlaginstrumente;  er  schreibt  für  das  Streichquartett  eine  Besetzung 
von  108  Mann  vor,  für  den  Chor  verlangt  er  70  Soprane,  60  Tenöre, 
70  Bässe  Dieser  ganze  Aufwand  an  Intensität  wird  nicht  umsonst 
getrieben.  Denn  die  Reduktion  auf  ein  Zehntel  der  Besetzung  würde 
zwar  die  Verhältnisse  unberührt  lassen,  aber  das  absolute  (intensive) 
Quantum  so  herabsetzen,  daß  das  Werk  unkenntlich  würde. 

Ähnliches  beobachten  wir  im  Gebiet  der  bildenden  Künste.  Es  ist 
neuerdings  gegen  die  Scheintheorie  eingewendet  worden,  daß  in  der 
Architektur  und  im  Kunsthandwerk  die  realen  Eigenschaften  des  ver- 
wendeten Materials  eine  Bedeutung  haben.  Das  feste,  massige  Holz 
der  Eiche  bestimmt  es  für  schwere  Kunstgegenstände;  ein  Palast  muß 
aus  massivem  Stoffe,  darf  nicht  aus  Pappe  hergestellt  werden.  Also 
handelt  es  sich  auch  hier  um  ästhetische  Quantitäten.  Denn  die  Eigen- 
tümlichkeiten von  Schwere  und  Festigkeit  sind  ja  wohl  solche  des 
Grades,  des  intensiven  Quantums.  Die  angezogene  Erkenntnis  bildet 
demnach  nicht  nur  einen  Einwand  gegen  den  ästhetischen  Fliäno- 
menalismus,  sondern  zugleich  eine  Stütze  für  die  hier  vertretene  An- 
sicht. Ferner  gehört  hierher  die  Erscheinung  der  Anmut  Spencer 
hat  sie  auf  das  Gesetz  des  kleinsten  Kraftmaßes  zurückgeführt:  Be- 
wegungen sollen  dann  anmutig  sein,  wenn  sie  ihr  Ziel  mit  dem  ge- 
ringsten Kraftaufwand  erreichen.  Doch  unterii^  diese  Bestimmung 
einigen  Zweifeln.  Denn  der  Morsetelegraphist  löst  seine  Aufgabe  mit 
solchen  Bewegungen,  ohne  daß  sie  deshalb  graziös  zu  sein  brauchten. 
Die  kleinen,  schnellen,  leichten  Bewegungen  erfüllen  offenbar  noch 
nicht  alle  Anforderungen.  Anderseits  sind  manche  unzweifelhaft  an- 
mutige Bewegungen  mühevoll,  wie  von  Berufstänzem  und  Akrobaten 
bezeugt  wird.  Nicht  auf  die  objektive  Leichtigkeit  und  Kraftersparung; 
sondern  auf  den  Eindruck  der  Ungezwungenheit  kommt  es  an.  Die 
Anstrengung   darf   weder   sichtbar   noch   hörbar   werden:    von   dem 


GRÖSSE  UND  GRAD.  147 


Spielen  der  Sonnenstrahlen  auf  dem  Wasser  werden  wir  bezaubert,  weil 
der  Vorgang  sich  lautlos  und  ohne  sichtbare  Bemühung  vollzieht  Dazu 
kommt,  daß  die  Bewegung  gleichsam  mit  aller  Freiheit  von  statten  geht 
Ihr  Rhythmus  ist  ungeordnet  und  unberechenbar.  Ein  Stein,  der  gerades- 
w^s  hinabfällt,  entschlossen  nach  dem  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes 
zur  Erde  strebt,  entbehrt  der  Anmut;  wie  anders  das  Blatt,  das  vom 
Winde  gewiegt  launisch  hin  und  her  geht,  bis  es  den  Boden  erreicht^')! 

Freilich  können  Vertreter  einer  relativistischen  Weltanschauung  dabei 
beharren,  daß  alle  unsere  Beispiele  schließlich  doch  auf  g^enseitige 
Beziehungen,  mindestens  auf  eine  Beziehung  zu  den  anschaulichen 
Grenzwerten  zurückzuführen  sind.  Wer  überhaupt  nichts  Absolutes 
als  erfahrbar  anerkennt,  wird  auch  das,  was  wir  absolutes  Quantum 
nannten,  in  bloße  Relativität  auflösen.  Allein  diese  Grundauffassung 
steht  nicht  zur  Diskussion.  Nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  der 
übliche  Unterschied  beibehalten  wird,  sprechen  wir  von  einem  abso- 
luten Quantum  und  seiner  ästhetischen  Bedeutung.  — 

Indem  wir  von  der  Aufnahme  des  Tatbestandes  zu  seiner  Erklärung 
übergehen,  entwickeln  wir  zunächst  einen  Gesichtspunkt,  den  Fechners 
»Vorschule  der  Ästhetik«  aufgebracht  hat  Die  inhaltliche  Ästhetik 
bemißt  den  Rang  eines  Kunstwerkes  vornehmlich  nach  der  Bedeutsam- 
keit des  darin  ausgesprochenen  Inhaltes.  Vielleicht  darf  man  dieser 
Auffassung  so  weit  nachgeben,  daß  man  die  Beschaffenheit  des  mit- 
geteilten G^enstandes  als  nicht  gleichgültig  für  die  Gesamtwirkung 
bezeichnet  Alsdann  wird  die  Forderung  aufgesteUt  werden  können, 
daß  die  äußere  Größe  des  Kunstwerks  seiner  »inneren  Größe«  pro- 
portional sein  müsse  in  dem  Sinne,  wie  eben  etwas  Äußeres  einem 
Inneren  entsprechen  kann.  Wir  haben,  wie  Fechner  sagt,  keinen  eigent- 
lichen Maßstab,  aber  ein  sehr  sicheres  durchschnittliches  Gefühl  dafür, 
daß  bestimmte  Vorgänge,  Tatsachen,  Handlungen  eine  größere  Ge- 
wichtigkeit und  Mächtigkeit  besitzen  als  andere.  Und  auf  Grund  da- 
von erwarten  wir  bei  Kunstwerken,  die  gewichtige  Gegenstände  be- 
handeln, eine  andere  Raum-  oder  Zeitgröße  als  bei  Werken,  die  mit 
minderwertigen  und  nebensächlichen  Gegenständen  angefüllt  sind. 

So  beurteilen  wir  es  als  angemessen,  daß  der  Maler  für  die  Auf- 
erstehung oder  für  die  Orsblegütig  ein  großes,  für  eine  Genreszene 
aber  ein  kleines  Format  wählt  Es  ist,  als  ob  wir  eine  notwendige 
Proportionalität  empfänden  zwischen  der  sachlichen  Bedeutung  und 
der  Erscheinungsform.  Aus  diesem  instinktiven  Takt  erwächst  der 
religiösen  Malerei  ein  schweres  Problem.  Wie  kann  das  Christuskind 
als  Träger  des  Heils  dargestellt  werden,  eine  kleine  Figur  den  geistigen 
Mittelpunkt  des  Gemäldes  bilden?  Viele  Bilder  ersten  Ranges  versagen 
hier.    Ich  finde,  daß  z.  B.  die  »Anbetung  der  Hirten«  von  Hugo  van 


148  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

der  Goes  (Portinarialtar  in  den  Uffizien  zu  Florenz)  jener  Schwierig- 
keit unteri^en  ist.  Dagegen  wird  sie  in  der  »Sixtinischen  Madonna« 
glänzend  überwunden.  Der  Aufbau  des  Bildes,  die  Kraftverteilung, 
Haltung  und  Blick  des  Kindes,  das  mit  seinen  wirren  Haaren  einem 
Propheten,  mit  seinem  ruhigen  Sitz  einem  Fürsten  gleicht  —  das  alles 
trägt  dazu  bei;  entscheidend  jedoch  ist,  daß  die  Größe  des  Kindes 
über  die  Wirklichkeit  hinaus  ins  Heldenhafte  gesteigert  ist  Raffael 
konnte  eine  unrealistische  Vergrößerung  vornehmen,  weil  sie  bei  dem 
natüriichen  Wunsch  des  Betrachters,  den  Eriöser  der  Menschheit  trotz 
der  Kindesgestalt  adäquat  verkörpert  zu  sehen,  durchaus  nicht  auffällt 
Ich  bitte  die  beigefügte  Abbildung  der  Madonna  Raffaels  mit  der  in 
der  Haltung  ähnlichen  Maria  eines  Meisters  der  Schwäbischen  Schule 
in  Bezug  auf  die  Größe  des  Kindes  zu  vergleichen.    (Tafeln  VI  u.  VII.) 

Überhaupt  sollte  kirchliche  Kunst  immer  monumental  sein.  Vom 
Einzelnen  abgesehen:  Kleines  Format  ziemt  sich  eben  nicht  für  welt- 
bewegende Ereignisse.  Anderseits  wäre  es  über  alle  Maßen  geschmack- 
los, wollte  jemand  einem  Stillleben  den  gleichen  Raumverbrauch  zu- 
billigen. Eine  Zitrone  in  der  Größe  eines  mäßigen  Bierfasses  ist 
absurd.  Nicht  deshalb,  weil  sie  in  Wirklichkeit  kleiner  ist,  sondern 
weil  ihre  Bedeutungslosigkeit  ein  solches  Steigern  nicht  verstattet  Bei 
plastischen  Bildwerken  größeren  Formates  muß  daher  totes  Nebengerät 
sehr  vorsichtig  behandelt  werden,  namentlich  wenn  die  Gefahr  vorli^ 
daß  die  gesehene  Größe  in  der  Auffassung  noch  übertrieben  werden 
könnte.  An  den  Tafelaufsätzen  und  Ehrengaben,  die  unter  der  Flagge 
von  Kunstwerken  segeln,  prangen  oft  Silberpüppchen  von  wenigen 
Zentimetern  Höhe,  die  das  Vaterland  oder  die  Treue  darstellen  sollen, 
schließlich  aber  neben  Süßigkeiten  und  Studentenfutter  stehen.  Das 
ist  unschicklich. 

Der  Parallelismus  von  äußerer  und  innerer  Größe  ist  durch  Fechner 
weiterhin  aber  eingeschränkt  worden.  In  der  Tat  muß  man  ihm  zu- 
geben, daß  die  äußere  Größe  eines  Kunstwerkes  langsamer  wächst 
als  die  innere  —  insoweit  beides  in  Bezug  auf  fortschreitende  Ver- 
änderung zu  vergleichen  ist  Gemeint  ist  folgendes.  Wenn  man  einen 
glaubensgeschichtlichen  Vorgang  größter  Wucht  neben  eine  beliebige 
Schenkszene  hält,  so  ist  der  Abstand  ein  unendlicher.  Das  Format 
der  beiden  Bilder  aber  ist  nicht  unendlich  verschieden.  Das  eine  mag 
um  sehr  vieles  größer  sein  als  das  andere;  auf  keinen  Fall  aber  ist 
es  in  dem  Maße  größer,  wie  die  innere  Bedeutung  des  ersten  Bildes 
die  des  zweiten  übertrifft.  Einen  Grund  dieser  Diskrepanz  erblicke 
ich  in  der  Zusammengesetztheit  des  ästhetischen  Objektes,  also  in 
dem  Umstand,  daß  die  Tragweite  des  dargestellten  Vorwurfes  ja  nicht 
lediglich  durch  den  Umfang  ausgedrückt  wird.    Da  dem  Künstler  noch 


GRÖSSE  UND  GRAD.  UQ 


andere  Mittel  zur  Verfügung  stehen,  durch  die  er  die  innere  OröBe 
verdeutlicht,  so  braucht  die  Veränderung  der  Quantität  mit  der  Ver- 
änderung des  Oehaltes  nicht  gleichen  Schritt  zu  halten.  Einen  zweiten 
Orund  liefert  das  Prinzip  des  kleinsten  KraftmaBes:  innerhalb  jedes 
Kunstwerkes  soll  nicht  mehr  Kraft  aufgewendet  werden,  als  zur  Er- 
reichung des  gesetzten  Ziels  eben  notwendig  ist  Die  geringsten 
Quanta,  die  gerade  noch  zureichen,  sind  die  besten;  sie  li^en,  gemäß 
der  ersten  Erklärung,  unter  der  Linie  der  inneren  OröBe. 

Von  hier  aus  hilft  nun  die  Theorie  der  Einfühlung  weiter.  Wenn 
ich  selbst  eine  Bew^[ung  gern  ausführe  und  als  erfreulich  empfinde, 
die  ihren  Zweck  mit  dem  geringsten  Kraftaufwand  erreicht,  so  be- 
urteile ich  auch  assoziativ  eine  künstlerisch  dargestellte  Bew^[ung  als 
schön,  sofern  sie  der  gleichen  ökonomischen  Bedingung  genügt 
Damit  ist  schon  ausgesprochen,  daB  das  Kunstwerk  durch  seine  MaBe 
eine  Nachbildung  unsererseits  nicht  unmöglich  machen  darf.  Gesetzt, 
ich  versuche  mich  in  eine  Statue  hineinzufühlen.  Dann  lassen  sich 
Figuren  von  so  riesenhafter  Ausdehnung  denken,  daB  ich  mit  ihnen 
mich  innerlich  zu  verschmelzen  nicht  mehr  im  stände  bin.  Ich  erinnere 
an  die  Freiheitsstatue,  die  man  erblickt,  wenn  das  Schiff  in  den  Hafen 
von  New  York  einläuft  Dabei  kann  man  beobachten,  an  welchem 
Zeitpunkt  die  Einfühlungsmöglichkeit  aufhört  Zuerst  sieht  die  Statue 
klein  und  unbestimmt  aus.  Indem  man  sich  nähert,  kommt  ein  Augen- 
blick, wo  man  den  emporgereckten  Arm  mitfühlt,  das  stolze  Sichauf- 
richten nachempfindet,  und  wenige  Minuten  später  schwindet  das 
OefflhL  Dann  wächst  die  Statue  durch  die  weitere  Annäherung  des 
Schiffes  so  ins  UnermeBliche,  daB  wir  nicht  mehr  mitmachen.  Ander- 
seits gibt  es  so  kleine  Püppchen,  daB  ein  Mitempfinden  und  ül>erhaupt 
ein  reiner  künstlerischer  OenuB  ausgeschlossen  ist  Die  innere  Nach- 
ahmung, wie  man  es  genannt  hat,  kann  bei  zu  groBen  und  bei  zu 
kleinen  MaBen  nicht  ins  Spiel  treten.  Die  vermenschlichende  Auf- 
fassung ist  kraft  unserer  Organisation  an  gewisse  Orenzwerte  ge- 
bunden. Obwohl  diese  Grenzwerte  normativ  nicht  bestimmt  werden 
können,  so  sind  sie  doch  für  die  einzelnen  Völker  und  Zeiten  mit 
leidlicher  Genauigkeit  festgel^  Auch  in  Musik  und  Poesie,  natüriich 
hier  als  ZeitgröBen.  Während  Bachs  Variationen  uns  oft  zu  lang  er- 
scheinen, vertragen  wir  Wagners  Tonwortdramen  und  Mahlersche 
Sinfonien;  unsere  Väter  lasen  Gutzkows  und  Sues  vielbändige  Romane, 
wir  besitzen  jetzt  eine  Depeschenlyrik.  Aus  dem  ZusammenfluB  vieler 
Momente  ergibt  sich  ein  geschichtlich  wechselndes  MaB,  innerhalb 
dessen  die  Einfühlung  am  sichersten  von  statten  geht  Die  genauere 
Umgrenzung  und  Erklärung  muB  die  Ästhetik  also  der  Kunstgeschichte 
(im  weitesten  Sinn)  überlassen. 


150  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

Wir  blicken  noch  einmal  zurück.  Es  war  zunächst  festgestellt 
worden,  daß  extensives  und  intensives  Quantum  eine  künstlerische 
Bedeutung  besitzen.  Als  einen  Grund  dafür  fanden  wir,  daß  der 
ästhetisch  Genießende  ein  immanentes  Verhältnis  von  innerer  und 
äußerer  Größe  verfangt.  Die  Grenzen  sind  tatsächlich  (wenn  auch 
nicht  logisch)  festgelegt  durch  die  Beschränktheit  der  Einfühlung  auf 
gewisse  Maße. 

Nun  ist  aber  hinzuzufügen ,  daß  auch  die  künstlerische  Formen- 
gebung  eine  Beziehung  zur  Größe  enthält.  Beispielsweise  ist  der  vom 
Zeichner  gewählte  Grad  der  Linie  nichts  Zufälliges.  Wenn  wir  Laien 
auf  einem  Oktavblatt  einen  Kopf  zu  zeichnen  versuchen,  so  probieren 
wir  verschiedene  Strichstärken,  bis  wir  bei  zwei  oder  drei  stehen 
bleiben.  Diese  Stärken  sind  natüriich  nicht  unabhängig  von  dem 
Papier,  von  dem  Material,  mit  dem  wir  zeichnen,  von  dem  Winkel, 
den  die  Hand  bildet  u.  s.  w.  Aber  sie  sind  doch  wesentlich  bedingt 
vom  Format  und  von  der  künstlerischen  Aufgabe.  Große  Gegen- 
stände und  große  Flächen  erheischen  eine  eigene  Technik.  Und  zwar 
ist  die  Beziehung  eine  so  innige,  daß  von  jedem  der  drei  Faktoren 
ausgegangen  werden  kann:  es  mag  die  Fläche  g^eben  sein,  etwa 
wenn  es  sich  um  bildliche  Ausfüllung  von  Wänden  handelt,  es  mag 
der  Gegenstand  den  Künstler  bestimmen  oder  es  kann  schließlich  ein 
technisches  Problem  zur  Wahl  des  Sujets  und  des  Formates  führen. 
Diese  Gegenseitigkeit  braucht  sich  indessen  nicht  auf  die  bisher  vor- 
ausgesetzte einfachste  Form  zu  beschränken.  Es  findet  sich  auch  das 
wunderliche  Verhältnis,  daß  absichtliche  Verkleinerung  den  Effdct 
einer  Vergrößerung  erzielt.  Ein  Inserat,  das  in  kleiner  Schrift  inmitten 
einer  sonst  ganz  leeren  Seite  steht,  wirkt  auffälliger  als  wenn  die  ganze 
Seite  zur  Anzeige  verwendet  wird.  Man  hat  die  Empfindung  von 
etwas  besonders  Wichtigem  und  Kostbarem.  Der  gleiche  Erfolg  tritt 
ein,  sobald  eine  kleine  Zeichnung  auf  ein  großes  weißes  Blatt  auf- 
geklebt oder  durch  einen  übermäßig  breiten  Rand  vom  Rahmen  ge- 
trennt ist  Der  Größeneindruck  des  Bildchens  wird  mit  Absicht  ver- 
ringert und  eben  dadurch  seine  Bedeutung  für  unser  Gefühl  gesteigert 
Offenbar  deshalb,  weil  wir  den  Raumverbrauch  des  Ganzen  als  Maß- 
stab für  den  Wert  des  allein  künstlerischen  Mittelteils  unwillkürlich 
ansetzen.  Eine  Parallele  zu  diesem  ästhetischen  Verfahren  bietet  auf 
logischem  Gebiet  das  sogenannte  hypothetische  (besser  konsekutive) 
Urteil.  Indem  es  die  unentwickelte  Aussage  des  Vordersatzes  ins 
bloß  Mögliche  hinabdrückt,  erhebt  es  sich  in  der  Verbindung  von 
Vordersatz  und  Nachsatz  zu  einer  Notwendigkeit  strengster  Art:  der 
Verzicht  auf  die  Realität  der  mit  »wenn«  eingeleiteten  Unbestimmtheit 
wird  durch  den  Gewinn  einer  notwendigen  Folge  belohnt 


ANMERKUNGEN.  151 


Endlich  fragen  wir,  von  welcher  Art  denn  die  Gefühle  sind,  die 
lurch  bestimmte  Größen  innerhalb  einer  ästhetischen  Empfänglichkeit 
lervorgerufen  werden.  Die  Objekte  können  bekanntlich  so  groß,  so 
eitlich  ausgedehnt,  so  stark  sein,  oder  auch  in  ihrer  Quantität  so 
;eringfügig  sein,  daß  ein  ästhetischer  Genuß  nicht  eintritt.  Aus  Fällen 
ler  ersten  Art  schöpft  die  Theorie  von  den  irrealen  oder  Schein- 
;efühlen  ihre  Berechtigung,  auf  Fälle  der  zweiten  Gruppe  stützt  sich 
ie  Behauptung,  daß  ein  Reiz  eine  gewisse  Schwelle  übersteigen 
lüsse,  um  aus  der  bloßen  Merklichkeit  in  die  ästhetische  Wertigkeit 
u  gelangen.  Aber  Genaues  läßt  sich  nur  bei  Einzeluntersuchungen 
ind  nicht  in  der  Form  einer  allgemeinen  Regel  sagen.  Denn  die 
Quantität  jeder  neu  eintretenden  Vorstellung  hangt  ja  ganz  wesentlich 
b  von  der  Disposition  des  Aufnehmenden  und  von  der  Vorbereitung, 
lie  ihr  vorausg^angen  ist.  Diese  beiden  Momente  kommen  auch 
Qr  diejenigen  Quantitätsunterschiede  in  Betracht,  die  noch  innerhalb 
[es  Feldes  der  ästhetischen  Rezeptivität  liegen  und  mit  denen  allein 
rfr  es  hier  zu  tun  haben.  Vielleicht  aber  läßt  sich  ermitteln,  welchen 
lesonderen  Charakter  ein  erhebliches,  welchen  anderen  Charakter  ein 
inerhebliches  Quantum  dem  ästhetischen  Gefühl  aufzuprägen  pflegt, 
i^obei  die  Erheblichkeit  von  subjektiver  Disposition  und  von  der  Vor- 
bereitung im  Kunstwerke  mit  abhängig  gedacht  wird.  Davon  wird 
>ei  Gelegenheit  der  ästhetischen  Kategorien  gesprochen  werden. 

Anmerkungen. 

*)  Zu  diesem  bekannten  Worte  Winckelmanns  vgl.  Friedrich  Koppen,  Darstel- 
ing  des  Wesens  der  Philosophie,  1810,  S.  262:  »Was  in  der  Ethik  der  tugendhafte 
Iharakter  ist,  das  ist  in  der  Ästhetik  das  Genie.  Gleichwie  der  tugendhafte  Cha- 
ikter  die  Idee  des  Guten  in  den  Lebensverhältnissen  darstellt,  so  das  Genie  die 
lee  des  Schönen  in  den  Werken  der  Kunst  Ästhetik  wäre  sonach  die  Wissen- 
diaft  der  Prinzipien  der  genialen  Produktion  des  Schönen ...  Es  findet  vielleicht 
renig  Widerspruch,  wenn  wir  die  Ästhetik  in  diesem  Sinne  als  Wissenschaft  un- 
löglich  nennen.« 

*)  Heinses  Werke,  herausg.  von  Laube  1838,  IX,  43. 

»)  Heinrich  v.  Salisch,  Forstästhetik,  2.  Aufl.,  1902,  S.  38. 

*)  Aus  Schelvers  Lebens-  und  Formgeschichte  der  Pflanze,  zitiert  von  Franz 
homas  Bratranek,  Beiträge  zu  einer  Ästhetik  der  Pflanzenwelt,  1853,  S.  154. 

*)  K.  Möbius,  Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften, 
5.  März  1900,  18.  Februar  1904,  9.  Februar  1905.  Daß  die  Wohlgefälligkeit  der 
ögel  in  Eigenschaften  ruht,  die  zum  Teil  überhaupt  nicht,  zum  Teil  wenigstens 
icht  in  dieser  Verbindung  von  der  Kunst  geschaffen  werden  können,  erhellt  auch 
US  der  folgenden  Zusammenfassung:  »Die  Anmut  ihrer  Gestalt,  die  Schönheit  der 
arben,  die  Schnelligkeit  und  Behendigkeit  ihrer  Bewegungen,  der  Wohllaut  ihrer 
timme,  die  Liebenswürdigkeit  ihres  Wesens  ziehen  uns  unwiderstehlich  an.« 
V.  Brehm,  Die  Vögel,  3.  Aufl.,  1891,  I,  33.) 

*)  Näheres  in  dem  schon  genannten  Buch  von  Spitzer  über  Hermann  Hettner. 


152  ni.  DER  ÄSTHETISCHE  GEGENSTAND. 

')  Genaue  Angaben  vermag  ich  nicht  zu  machen,  da  die  vorhandenen  Unter- 
suchungen über  die  im  Text  erwähnten  Probleme  spärlich  und  unzuverlässig  sind. 
Ich  hoffe,  daß  einige  im  Gange  befindliche  Arbeiten  zum  Ziele  führen  werden. 
Vielleicht  interessiert  eine  statistische  Feststellung,  die  ich  selber  vorgenommen 
habe.  Während  mehrerer  Jahre  ließ  ich  die  Hörer  meiner  ästhetischen  Vorlesungen 
den  Grad  ihrer  Teilnahme  für  die  verschiedenen  Künste  zum  Ausdruck  bringen  und 
bezeichnete  ein  starkes  Interesse  mit  1,  ein  mittleres  mit  2,  ein  geringes  mit  3. 
Mit  diesem  recht  groben  Verfahren  wurde  immerhin  deutlich  nachweisbar,  daß  die 
Gebildeten  der  Gegenwart  am  meisten  für  die  Poesie,  am  wenigsten  für  das  Kunst- 
gewerbe übrig  haben.  Das  arithmetische  Mittel  aus  fünfhundert  Angaben  zeigt 
folgende  Zahlen:  Dichtkunst  1,5;  Malerei  1,7;  Schauspielkunst  1,75;  Musik  1,8; 
Plastik  2;  Architektur  2;  Kunstgewerbe  2,2. 

^)  Man  vergleiche  das  krause,  aber  nicht  wertlose  Buch  von  Maurice  Griveau, 
Les  iUments  du  Beau.  Analyse  et  synthhe  des  faits  esth^ues  d'apris  les  damments 
du  langage . . .  1892. 

*)  Eine  gute  Übersicht  über  die  elementaren  Verhältnisse  in  Wundts  Orund- 
zügen  der  physiologischen  Psychologie.  In  diesem  Buch  findet  der  Leser  auch 
andere  Literatur  aufgeführt 

*^)  Gegen  die  anregenden  Untersudiungen  von  Jonas  Cohn  (Philos.  Stud.  1894, 
X,  562—603)  sprechen  ältere  Erfahrungen  von  Helmholtz  und  neuere  Experimente 
von  Wundt  und  Emma  S.  Baker  (University  of  Toronto  Studles,  PsychoL  Series  1903). 

»»)  Witmer  in  Wundts  Philos.  Studien  1893,  IX,  76—114  u.  207—263.  —  Witmer, 
Analytlcal  Psychology  1902,  S.  74.  —  Konrad  Lange  in  der  Zeitschr.  f.  Psych.  1898, 
XVI,  409-417. 

>^)  Johannes  Bochenek,  Das  Gesetz  der  Formenschönheit,  1903.  Ich  zitiere  als 
einfachstes  Beispiel  die  »Konstruktion  der  Vomansicht  der  männlichen  Gestalt« • 
»Die  Länge  der  Gestalt  bezeichnen  wir  mit  der  Zahl  89.  Teilt  man  diese  nadi  dem 
goldenen  Schnitt,  so  ist  der  Minor  34.  Teilt  man  34  in  gleicher  Weise,  so  ist  der 
Minor  13.  Zweimal  das  Maß  13  genommen  ergibt  die  Breite  des  Rechtecks 
der  aus  zwei  gleichen  Hälften  bestehenden  Vomansicht.  (Der  Körper  ist  bilateral 
symmetrisch.)  Teilt  man  alle  Seiten  des  Rechtecks  von  den  Ecken  des  Einschlusses 
aus  in  gleicher  Weise,  so  entstehen  zuerst  die  Maße  34  und  55.  Verbindet  man 
diese  Maße  durch  Linien  miteinander,  so  kreuzen  sich  diese  an  denjenigen  Punkten 
der  Gestalt,  wo  die  Trennpunkte,  die  Ausladungen  und  die  Einschnitte  der  Glieder 
sich  befinden.«  Über  andere  Arten,  einen  Kanon  der  menschlichen  Gestalt  zu 
finden,  vgl.  C.  H.  Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers,  16.  Aufl.,  1904. 

'•)  Diese  Ausführungen  folgen  mehr  oder  weniger  genau  der  Schrift  von  Julius 
Wolff,  Über  die  Wechselbeziehungen  zwischen  der  Form  und  der  Funktion  der 
einzelnen  Gebilde  des  Organismus,  1901. 

>^)  Über  diesen  Widerspruch  zwischen  dem  Kollinearitäts*  und  dem  Konformi- 
tätsprinzip vgl.  Guido  Hauck,  EHe  subjektive  Perspektive  und  die  horizontalen  Kur- 
vaturen des  dorischen  Stils,  1879.  Vortrefflich  ist  auch  die  kürzere  Darstellung  in 
Wundts  Grundzügen  der  physiologischen  Psychologie.  Die  Gegengründe  sind  von 
Lipps  entwickelt  worden. 

")  Für  ein  genaueres  Studium  verweise  ich  auf  das  Buch  von  Heinrich  Rietsdi, 
Die  deutsche  Lied  weise  1904  und  die  darin  aufgeführte  Literatur.  Femer:  H.  Rie- 
mann,  Die  Elemente  der  musikalischen  Ästhetik  (1900);  R.  Mac-Dougall,  TheStmC' 
tun  of  simple  Rhythm  Forms  u.  R  H.  Stetson,  Rhythm  and  Rhyme^  beide  Aufsatze 
in  den  Harvard  Psychological  Studies,  Bd.  I,  1903;  C.  R.  Squire,  A  genetic  study  of 
rhythm.   Amerie.  fourn.  of  Psych.  1901,  XII,  493—589;  E.  Sievers,  Altgermanisdie 


ANMERKUNGEN.  153 


Metrik  1893  und  in  den  »Beitragen  zur  Oesdi.  der  deutschen  Sprache  u.  Liter.« 
XIII,  121;  Saran  in  diesen  »Beitragen«  XXIV,  72;  J.  Minor,  Neuhochdeutsche  Metrik, 
2.  Aufl.,  1902;  A.  Heusler,  Über  germanischen  Versbau,  1894  und  im  Anzeiger  für 
deutsches  Altertum,  XXI,  169  ff.  —  In  dem  Wunsch,  die  Darstellung  möglichst  knapp 
zu  halten,  habe  ich  drei  Behauptungen  so  ausgesprochen,  daß  sie  zu  MiBverstind- 
nissen  führen  könnten.  Ich  möchte  mich  daher  zunächst  Qber  das  Beispiel  »Keine 
Ruh'  bei  Tag  und  Nacht«  deutlicher  iuBem.  Die  Melodie  beginnt  mit  dem  dritten 
Viertel  eines  Taktes;  bei  »und«  ist  der  zweite  Takt  zu  Ende.  Wollte  man  also 
nach  den  Taktstrichen  phrasieren,  so  käme  ein  Unsinn  heraus.  Dies  ist  gemeint 
und  mit  den  Worten  »taktmißig  singen«  etwas  unklar  ausgedruckt  Auf  S.  137 
steht,  daß  die  Klangfarbe  ffir  den  Rhythmus  keine  Bedeutung  habe.  In  der  Regel 
verhilt  es  sich  so,  doch  kann  ausnahmsweise  eine  Abinderung  der  Klangfarbe  als 
ein  so  empfindliches  Heraustreten  aus  der  Indifferenzlage  wirken,  daß  rhythmische 
Gliederung  die  Folge  ist  Mit  dem  auf  S.  138  erwähnten  »Zusammenfallen  von 
Wort*  und  Versfuß«  habe  ich  mich  zu  eng  an  die  Oberiieferung  angeschlossen; 
richtiger  sollte  von  der  Wiederholung  lauter  gleicher  Wortffiße  gesprochen  werden. 
Darüber  näheres  im  Abschnitt  über  Lyrik,  der  ebenso  wie  die  spezielle  Darstellung 
der  musikalischen  Rhythmik  die  allgemeinen  Theorien  ergänzt 

'*)  Ich  stütze  mich  hier  auf  Untersuchungen,  die  Herr  stud.  phil.  Everth  in  den 
von  mir  geleiteten  ästhetischen  Übungen  angestellt  hat  Übrigens  sagt  schon 
Th.  Couture  in  seinen  Entreiiens  (Taiilier  (1867,  I,  271):  *Le  grand  cadn  demamde 
ks  gramds  senUments  desquds  dieoule  une  fafon  iarge,  ile^fit  ä  des  colorations 
kiniqais.* 

■^  Diese  Gesichtspunkte  sind  zum  Teil  entnommen  dem  Buche  von  Paul  Sou- 
fian,  UisthAiqae  du  mouvement,  1889. 


IV.  Der  ästhetische  Eindrack. 


1.  Zeitverlauf  und  Gesamtcharakter. 

Untersuchungen  wie  die  augenblicklich  von  uns  verfolgten  er- 
scheinen Künstlern  und  Schöngeistern  meist  als  überflüssig:  sie  emp- 
finden nicht  das  Bedürfnis  nach  langatmigen  Aufklarungen  fiber  cÜe 
einfachsten  Verhältnisse.  Die  Wissenschaft  kann  nicht  umhin,  gerade 
bei  ihnen  länger  zu  verweilen.  Sie  wird  auch,  soweit  es  irgend  an- 
geht, die  auf  Genauigkeit  gerichtete  Beobachtung  und  den  kunstlichen 
Versuch  zu  Hilfe  nehmen,  und  das  mit  gutem  Recht,  da  das  Wohl- 
gefallen und  Mißfallen  bei  ästhetischen  Elementarvorgangen  viel  sicherer 
eintritt  als  bei  allen  anderen  auf  das  Gefühl  wirkenden  Geschehnissen. 
Ganz  zutreffend  ist  gesagt  worden:  Wir  können  in  Arbeitszimmern 
und  Versuchsstätten  zwar  nicht  auf  Befehl  vergnügt  oder  traurig 
sein,  aber  die  schwache,  ruhige  Lust  an  Proportion  und  Rhythmus 
willküriich  erzeugen,  außerdem  die  an  ihr  bemerkbaren  Veränderungen 
auf  Einflüsse  der  Ermüdung,  Aufmerksamkeit,  Übung  und  ähnlicher 
Bedingungen  gesetzmäßig  zurückführen.  Allein,  was  darüber  hinaus 
von  der  experimentellen  Erforschung  der  einfachsten  ästhetischen  Vor- 
gänge gerühmt  wird,  das  trifft  nicht  zu.  Sie  leistet  uns  nicht  dasselt)e 
wie  dem  Physiker.  Dieser  kann  die  Ergebnisse  seiner  Versuche  mit 
schwachen  elektrischen  Entladungen  auf  das  Gewitter  übertragen,  er 
kann  die  Bewegung  des  Ozeans  an  der  Wellenbewegung  in  einem 
Waschbecken  erforschen.  Den  ästhetischen  Eindruck  des  Gewitters 
und  des  starken  Seeganges  hingegen  erhalten  wir  eben  nicht  von  der 
Influenzmaschine  und  dem  i^Sturm  im  Glase  Wasser«.  Dort  ist  nur 
ein  Unterschied  der  Stärke,  hier  ein  solcher  der  Art  Wir  müssen 
daher,  je  näher  wir  an  die  wirklichen  ästhetischen  Erlebnisse  heran- 
treten, desto  vorsichtiger  in  der  Anwendung  der  beim  Experimentieren 
gewonnenen  Resultate  sein;  wir  dürfen  die  reine  Selbstbeobachtung 
und  die  Vergleichung  vieler  Selbstbeobachtungen  nicht  als  Nebensache 
behandeln. 

Der  ästhetische  Eindruck  erfordert  eine  zweifache  Betrachtung.  Die 
eine,  schon  seit  Jahrhunderten  ausgeübt,  sucht  die  in  ihm  enthaltenen 
Bestandteile  nachzuweisen;  die  andere  knüpft  an  die  Tatsache  an,  daß 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  155 

jeder  einigermaßen  bedeutungsvolle  Eindruck  sich  in  einem  Zeitverlauf 
entfaltet  Wenn  der  ästhetische  Gegenstand  selber  ein  zeitlicher  Vor- 
gang ist,  so  wird  einerseits  seine  Aufnahme  in  allen  Phasen  von  dem 
objektiven  Geschehen  bestimmt,  anderseits  der  freien  Auswahl,  der 
Erinnerung  und  Voraussicht,  Oberhaupt  der  beziehenden  Tätigkeit  ein 
weites  Feld  eröffnet«  Wir  folgen  ja  nicht  ganz  getreu  allen  Einzel- 
heiten, sondern  schaffen  uns  auf  Grund  des  objektiven  Zeitverlaufs 
einen  subjektiven.  Femer  werden  die  reicheren  Raumgebilde  ästheti- 
schen Werts  in  einem  Nacheinander  aufgefaßt,  in  dem  vielleicht  Regeln 
sich  entdecken  lassen.  Sonach  stehen  wir  vor  der  Aufgabe,  uns  über 
die  Sukzession  der  Bewußtseinstätigkeiten  in  diesen  verschiedenen 
Fällen  klar  zu  werden.  Ich  habe  versucht,  durch  Einzeluntersuchungen, 
von  denen  erst  einige  veröffentlicht  sind>),  die  Frage  der  Beantwortung 
nahe  zu  bringen.  Das  Verfahren  bestand  in  der  Hauptsache  darin, 
daß  die  gleichen  Gegenstände  den  Versuchspersonen  in  verschiedener 
Zettdauer  dargeboten  wurden  und  daß  bei  den  Werken  der  Zeitkunst 
durch  alleriei  Hilfsmittel  die  Beobachtung  des  inneren  Verlaufs  er- 
leichtert wurde.  Die  kürzeste  Zeit,  die  verwendet  wurde,  betrug  zehn 
Sekunden;  die  Anordnung  im  übrigen  braucht  hier  nicht  mitgeteilt  zu 
werden. 

Um  den  Zeitveriauf  beim  Genuß  eines  Bildwerkes  (oder  eines  ein- 
drucksvollen Naturobjektes)  zu  erforschen,  tut  man  also  gut,  die  Be- 
trachtung an  verschiedenen  Zeitpunkten  abzubrechen  und  festzustellen, 
was  nach  zehn  oder  zwanzig  oder  dreißig  Sekunden  im  Bewußtsein 
vorhanden  war.  Es  zeigt  sich,  daß  gleich  zu  Anfang  ein  gewisser 
Oesamteindruck  da  ist,  daß  der  Reiz  sofort  mit  einem  bestimmt  ge- 
firt>ten  Wohlgefallen  oder  Mißfallen  beantwortet  wird.  Wir  nehmen 
ohne  Zaudern  Stellung  zu  dem  Dargebotenen.  So  viel  auch  die  Vor- 
bereitung der  Versuchsperson  und  die  Beschaffenheit  des  Gegenstandes 
an  dem  Inhalt  des  Eriebnisses  ändern  mögen,  stets  zeigt  das  Eriebnis 
Totalität  und  Bestimmtheit  Der  erste  Eindruck  hat  im  ästhetischen 
wie  in  allem  übrigen  Sein  eine  spezifische  Wertigkeit:  er  bedeutet  etwas 
ganz  Eigenartiges,  Unwiederholbares,  etwas,  das  unwiederbringlich  nur 
einmal  vorkommt,  das  in  der  weiteren  Folge  aufgehoben  oder  vertieft, 
berichtigt  oder  ergänzt,  aber  nimmermehr  ersetzt  werden  kann.  Wenn 
es  so  scheint,  als  ob  die  ästhetische  Lust  dem  Zwange  der  Zeit  über- 
hoben sei  —  denn  sie  stumpft  sich  nur  langsam  ab  und  kann  von 
denselben  Gegenständen  oft  erneuert  werden  — ,  so  herrscht  in  Wahr- 
heit auch  über  sie  die  unerbittliche  Grausamkeit  der  rastlos  und  nur 
nach  vorwärts  eilenden  Zeit.  Jede  Wiederholung  des  Genusses,  jeder 
weitere  Zeitpunkt  in  der  Entwicklung  entbehrt  der  köstlichen  Frische 
des  ersten  Augenblicks.    Wir  alle  haben  erfahren,  was  es  bedeutet, 


156  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

einem  Menschen  zum  ersten  Male  zu  beg^^en,  wir  alle  kennen  Orte, 
bei  deren  erstem  Anblick  wir  zu  uns  sprachen:  Hierhin  will  ich  zurück- 
kehren, wenn  ich  des  Friedens  bedarf  —  vorbei!  nie  wieder  verspfiren 
wir  jenen  Zauber  der  allerersten  B^egnung,  nie  finden  wir  das  ge- 
lobte Land. 

Das  Besondere,  wodurch  der  Beginn  der  Freude  am  ruhenden 
Schönen  sich  auszeichnet,  liegt  in  einer  unmittelbaren  Oefuhlsreaktion. 
Ohne  Besinnen  sagen  wir  Ja  oder  Nein  —  wie  den  Menschen  g^[en- 
über,  die  uns  sofort  sympathisch  oder  antipathisch  sind.  Prüfen  wir 
nun  durch  vorbedachte  Abkürzungen  des  Zeitverlaufs,  was  in  diesem 
Augenblick  von  dem  Gegebenen  aufgenommen  ist  und  was  an  rein 
subjektiven  Zuständen  vorliegt,  so  ergibt  sich:  Entscheidend  wirken 
die  sinnlichen  Eigenschaften  des  Dinges  und  die  organischen  Empfin- 
dungen im  Betrachter,  und  daraus  erklärt  sich  auch  die  instinktive 
Sicherheit  und  Stärke  des  ersten  Eindrucks.  Zunächst  nämlich  sieht 
und  genießt  der  unbefangene  Betrachter  nur  Räumliches  und  Farbiges; 
der  Eindruck  der  Bedeutung  der  dunklen  und  lichten  Flecken,  bei 
manchen  Personen  mit  der  Einfühlung  verbunden,  kommt  der  Regel 
nach  später.  Ob  die  Formen  oder  die  Farben  eher  ins  Bewußtsein 
treten,  hangt  vom  Gegenstande  ab,  immerhin  lassen  verhältnismäßig 
viele  Naturobjekte  und  Kunstwerke  sofort  die  HarmoniegefOhle  auf- 
leuchten. Mit  ihnen  scheint  die  Stimmung  verknüpft,  die  sich  über- 
raschend schnell  einstellt,  übrigens  meist  ohne  Bedenken  auf  den 
Gegenstand  übertragen  wird.  Hernach  geht  die  Beobachtung  auf  das 
Sachliche  ein.  Dabei  kommt  dann  in  Betracht,  ob  der  Inhalt  leicht 
oder  schwer  zu  erkennen  und  ob  er  Ausdruck  einer  die  Anteilnahme 
heischenden  Idee  ist.  Assoziationen  aus  der  individuellen  Erfahrung 
pflegen  sich  wiederum  später  hinzuzugesellen.  Diese  Reihenfolge,  die 
an  vielen  Versuchspersonen  und  an  recht  verschiedenen  Gegenständen 
als  der  durchschnittliche  Verlauf  festgestellt  wurde,  gilt  dennoch  ver- 
mutlich bloß  für  besonders  geschulte  —  oder  wenn  man  will  beein- 
flußte —  Beobachter  und  für  farbige  Objekte.  Das  Hauptergebnis 
allerdings  dürfte  feststehen:  Ehe  deutlich  gesehen  wird,  was  alles  da 
ist,  ja  ehe  überhaupt  ein  Wissen  möglich  wird,  bilden  sich  Stimmung 
und  Urteil  auf  Grund  wahrgenommener  sinnlicher  Eigenschaften.  Fast 
möchte  ich  diese  Tatsache  als  einen  ästhetischen  Reflex  bezeichnen. 
Eine  beinahe  physiologische  Reaktion  findet  statt,  deren  höherer  Grad 
ganz  deutlich  in  organischen  Empfindungen  sich  äußert:  im  Be- 
schleunigtwerden oder  Stocken  des  Atmens,  oder  in  einem  Schauer, 
der  über  den  Rücken  läuft,  oder  im  Gefühl,  daß  man  rot  und  blaß 
wird.  Bei  größter  Steigerung  kann  das  erste  Erblicken  eines  schönen 
Gegenstandes  Krampf  oder  Ohnmacht  hervorrufen.    Wenn  eine  Stimme 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  157 

ZU  singen  anhebt,  fühlen  wir  uns  wohl  im  Innersten  getroffen,  lange 
bevor  wir  Wort  und  Weise  verstehen.  Klangfarben  gibt  es,  die  un- 
mittelbar erregen  oder  unmittelbar  beruhigen,  die  uns  aufpeitschen  oder 
gleich  einem  sanften  Wind  umspielen.  So  wirken  sie  vielleicht  nur 
fär  wenige  Sekunden,  ein  sinnlicher  Reiz  für  das  LebensgefQhl.  Aber 
gerade  diese  anfängliche  Wirkung  kümmert  uns  hier. 

Über  den  Eindruck  poetischer  Werke  läßt  sich  bei  den  Unter- 
schieden der  Arten  nicht  viel  Allgemeines  aussagen.  Heinzeis  »Be- 
schreibung des  geistlichen  Schauspiels  im  deutschen  Mittelalter«  be- 
rücksichtigt den  Zeitverlauf  und  geht  von  der  Annahme  aus,  daß  »dem 
ersten  ästhetischen  Genuß,  der  wesentlich  in  einer  Befriedigung  der 
Schau-  und  Höriust  bestand,  ein  anderer  folge(n),  der  das  volle  Ver- 
ständnis vor  allem  der  Zusammenhänge  zur  Voraussetzung  hat«.  In 
dieser  Weise,  nämlich  wie  ein  Gemälde,  wirkt  der  Bühnenvorgang, 
meiner  Erfahrung  und  meinen  Umfragen  gemäß,  höchstens  in  den 
ersten  fünf  Minuten;  man  muß  daher  in  der  Theorie  der  Künste  die 
Entscheidung  suchen,  ob  jene  Befriedigung  der  Schau-  und  Höriust 
dem  Drama  zugerechnet  oder  in  Abzug  gebracht  werden  soll.  Denn 
sonst  wird  Poesie  im  Durchschnitt  so  aufgenommen,  daß  anfänglich 
intellektuelle  Gefühle  entstehen;  der  Genuß  der  Form  und  die  Versinn- 
Ikhung  des  Gelesenen  oder  Gehörten  —  sofern  sie  überhaupt  eintritt  — 
bikien  der  Regel  nach  den  zeitlichen  Abschluß.  Ich  besitze  g^en 
hundert  Aufzeichnungen  über  den  frischen  Eindruck  kleiner  Gedichte: 
sie  stimmen  darin  überein,  daß  sie  die  Bemühung  um  das  Verständnis 
des  Inhalts  als  den  Ausgangspunkt  hinstellen.  Vielleicht  sollte  es 
anders  sein,  müßte  auch  hier  aus  der  Wurzel  sinnlicher  Ergriffenheit 
die  Blume  innerlichen  Begreifens  emporwachsen  ^  an  der  Tatsache, 
daß  gewöhnlich  anders  reagiert  wird,  kann  nicht  gerüttelt  werden.  Für 
alles  übrige  bleiben  wir  auf  Vermutungen  angewiesen,  weil  die  Aus- 
sagen erheblich  schwanken.  Und  wir  können  voraussehen,  daß  gerade 
das  künstlerische  Genießen  keine  bleibende  Spur  zurückläßt,  daß  auch 
bei  einer  möglichst  naturgetreuen  Beschreibung,  die  dem  Erklärenden 
das  Eriebnis  vermitteln  und  seiner  wissenschaftlichen  Arl>eit  als  Unter- 
lage dienen  soll,  eine  Zerstücklung  der  Kontinuität,  eine  ungerechte 
Bevorzugung  der  Eindrucksgipfel  und  ähnliches  kaum  zu  vermeiden 
sein  wird.  Vom  ästhetischen  Eindruck  gilt,  daß  er  umso  schwerer 
zu  fassen  ist,  je  länger  er  dauert.  Wenn  man  eine  Minute  lang  sich 
beobachtet  hat,  glaubt  man  klar  zu  sehen;  nach  zwei  Minuten  zögert 
man;  nach  drei  Minuten  verzweifelt  man.  Der  innere  Vorgang  ist  wie 
eine  Flamme:  er  bleibt  sich  niemals  gleich,  er  erneuert  sich  unaufhör- 
lich, und  er  ist  immer  derselbe.  Die  ganze  Zusammenhanglosigkeit 
des  Wirklichen  scheint  sich  an  diesem  einen  Punkt  zu  sammeln.   Auch 


158  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

fühlt  jeder  die  hoffnungslose  Vereinzelung,  in  der  er  sich  befindet, 
sobald  er  die  aufspritzenden  Wassertropfen  der  inneren  Flut  an  das 
Ohr  eines  anderen  klingen  läßt 

G^enOber  größeren  Werken  der  Dichtkunst  sowie  gel^entlich  bei 
Musikstucken  stellt  sich  im  Zeitverlauf  des  Eindrucks  die  sogenannte 
Spannung  ein.  Ober  sie  ist  einiges  zu  bemerken.  Zusammen  mit  der 
Lösung  bezeichnet  sie  eine  der  zeitlich  bedingten  Richtungen  des  Ge- 
fühls: Physiologen  behaupten,  daß  der  Spannung  eine  Verkürzung,  der 
Lösung  eine  Verlängerung  des  Pulses  entspricht,  wozu  noch  gegen- 
sätzliche Veränderungen  in  der  Dikrotie  treten.  Dieser  stärkste  Grad 
der  Erwartung  —  es  gibt  auch  eine  schlummernde  Erwartung,  der  wir 
uns  erst  bei  ihrer  nachträglichen  Befriedigung  bewußt  werden!  — 
knüpft  an  die  Beziehungen  an,  die  dem  ästhetischen  Vorgang  die  Viel- 
seitigkeit des  Lebendigen  und  den  Zusammenhang  des  logisch  Ver- 
bundenen sichern.  Ober  Dicht-  und  Tonwerke  ist  ein  Netz  von  Be- 
ziehungen ausgebreitet,  in  welchem  uns  die  Spannung  weiterführt  Wir 
ahnen  ungewiß  das  Kommende  und  drängen  nach  ihm  hin,  und  hier- 
durch schließen  wir  das  Einzelne  aufs  festeste  zusammen.  Unsere  Er- 
wartung kann  derart  zunehmen,  daß  wir  wie  in  niederen  Arten  des 
Genusses  gierig  zum  Ende  eilen,  obwohl  wir  wissen,  es  ist  das  Ende. 
Wenn  der  Tonsetzer  sein  Thema  durch  abweichende  Tonarten  leitet 
oder  in  scheinbar  unlösliche  Akkorde  verstrickt,  so  entzückt  und  quält 
er  uns  zu  gleicher  Zeit  Oft  gönnen  wir  uns  nicht  mehr  die  ruhige 
Freude  an  der  Führung  dessen,  was  geschieht,  sondern  jagen  vorwärts, 
nur  immer  vorwärts;  wir  verwechseln  ästhetisches  und  wirkliches  Sein; 
wir  überschlagen  ganze  Kapitel  oder  klappen  das  Buch  zu,  weil  die  Err^rung 
nicht  länger  zu  ertragen  ist  Nichtsdestoweniger:  diese  Intensität  be- 
rauscht Der  Dichter  rechnet  mit  ihr,  wenn  er  mit  der  Schilderung  unklarer 
Lagen  beginnt  oder  die  Aufhebung  einer  Schwierigkeit  künstlich  ver- 
zögert. Vor  allem  auch  da,  wo  die  Bereitwilligkeit  des  Mitfühlens  aufs 
äußerste  gesteigert  werden  soll.  Die  Anteilnahme  am  Schicksal  einer 
Romanfigur  wächst  sich  zu  einem  menschlichen  Interesse  aus,  das  Ver- 
langen nach  Befreiung  führt  dazu,  daß  der  Leser  absichtlich  die  Dauer 
der  Aufnahme  verkürzt  oder  durch  Vorwegnehmen  des  Schlusses  die 
Pein  beseitigt,  die  von  dem  noch  Unbekannten  und  Neuen  hervor- 
gerufen wird.  Darüber  schweben  nun  zahllose  Hoffnungen  und  Be- 
fürchtungen, Wünsche  und  Vermutungen.  Alles  dies  li^  an  sich 
außerhalb  der  ästhetischen  Sphäre.  Aber  an  die  Einfühlung  kann, 
sofern  sie  unter  einer  gewissen  Grenzlinie  der  Leidenschaftlichkeit 
bleibt,  die  ästhetische  Funktionslust  sich  anschließen.  Wäre  undiffe- 
renzierte Einfühlung  ohne  weiteres  das  Wesen  des  ästhetischen  Ge- 
nusses, so  müßte  ihre  lebhafteste  Intensität  mit  dem  reinsten  Kunst- 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  I59 

genuB  sich  decken;  aus  der  bei  den  Spannungsvorgängen  ersichtlichen 
Abweichung  ergibt  sich,  daß  die  Dinge  anders  liegen.  Wir  können 
der  Spannung  nicht  entraten,  denn  einerseits  verkittet  sie  die  Teile  des 
Oanzen,  anderseits  hält  sie  unser  Interesse  an  den  geschilderten  Per- 
sonen wach;  gefährlich  jedoch  scheint  es,  sie  zum  Ziel  und  Maßstab 
zu  erheben.  Immerhin  erinnern  wir  uns  daran,  daß  die  Mehrzahl  nichts 
anderes  von  dem  ästhetischen  Gegenstand  erwartet  als  stoffliche  Reizung 
(vcrgl.  &  90). 

Abgesehen  von  der  Spannung  bekunden  sich  im  zeitlichen  Verlauf 
des  Eindrucks  nur  wenige  Gesetzmäßigkeiten.  Was  zuerst  ins  Auge 
fällt,  ist  die  Unstetigkeit,  die  nicht  als  Schwanken  der  Aufmerksamkeit, 
sondern  als  ein  Hin-  und  Herwogen  des  gesamten  Bewußtseins  zu 
bezeichnen  ist  Einige  Genießende  erblicken  in  dem  AktivitätsgefQhl, 
in  der  Erhöhung  der  seelischen  Kräfte,  in  dem,  was  das  Kunstwerk 
uns  gibt,  sobald  wir  mit  Bewußtsein  uns  seiner  bemächtigen,  sie  er- 
blicken darin  das  Kennzeichnende  des  Vorgangs;  andere  halten  für 
wesentlich  jenen  träumerischen  Zustand,  während  dessen  wir  allen  mög- 
lichen anderen  Vorstellungen  nachhangen  und  gel^entlich  einen  Schauer 
verspüren,  wie  wenn  das  Kunstwerk  ein  Stück  von  uns  w^^reiße. 
Gleichviel  welche  der  beiden  Stimmungen  die  Hauptsache  ist  — 
zwischen  beiden  schwankt  die  Seele.  —  Zweitens  scheint  sicher, 
daß  Vorstellungen  und  Gefühlsrichtungen  die  Tendenz  haben,  sich  bis 
zum  Intensitätsgipfel  fortzusetzen.  Eine  vorher  eintretende  Hemmung 
steigert  ihre  Energie,  sofern  es  gelingt,  die  Hemmung  zu  überwinden; 
andernfalls  wendet  sich  die  Aufmerksamkeit  zum  eigenen  Ich  und  es 
entstehen  autopathische  Gefühle,  die  die  Einheit  des  Kunstwerks  zer- 
stören und  aus  dem  ästhetischen  Genuß  herausbrechen.  Wird  das 
Intensitätsmaximum  erreicht,  so  schlägt  das  Gefühl  leicht  in  sein  Kon- 
trastgefühl um.  —  Zu  der  ersten  allgemeinen  Feststellung  ist  als 
wichtige  Einzeleriahrung  hinzuzufügen,  daß  sich  zwischen  den  aktiven 
und  den  passiven  Seelenzustand  öfters  eine  Pause  einschiebt,  gewisser- 
maßen ein  Atemholen  der  Seele,  eine  tatsächliche,  wenngleich  kurze 
Unterbrechung.  Ist  das  passive  Stadium  vorausgegangen,  so  rafft  sich 
die  Aufmerksamkeit  sozusagen  mit  einem  Ruck  zusammen  und  die 
Sinnesvorstellungen  setzen  mit  großer  Stärke  ein.  Ist  das  aktive  Stadium 
abgelaufen,  so  tritt  entweder  Ermüdung  oder  eine  Art  schamhafter  Be- 
freiung ein;  meist  geht  dann  die  seelische  Bewegung  in  die  intellektuelle 
Sphäre  über.  —  In  der  zweiten  allgemeinen  Feststellung  ist  die  Anteil- 
nahme des  individuellen  Faktors  berührt  und  gezeigt  worden,  daß  sie 
eher  zur  Zerbröckelung  als  zur  Vertiefung  des  Eindrucks  dient.  Dies 
ist  aber  nur  dann  der  Fall,  wenn  die  persönlichen  Vorstellungen  lust- 
oder  unlustbetont  sind  und  außerhalb  der  Sphäre  des  individuell  ge- 


160  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

färbten  Mitfühlens  verharren;  wird  hingegen  bloß  die  vorstellende 
Erinnerung  an  eigene  frühere  Erfahrungen  miterregt,  so  kann  das  Be- 
wußtsein in  der  ästhetischen  Anschauung  bleiben. 

Die  Hauptzüge  des  Eindrucksveriaufes  decken  sich  nicht  mit  den 
Regeln,  die  man  für  die  Abfolge  der  Teile  in  Werken  der  Dicht-  und 
Tonkunst  aufgestellt  hat.  Nicht  nur  weil  diese  Regeln  für  die  ver- 
schiedenen Arten  jedesmal  andere  und  auch  dann  noch  von  Ausnahmen 
durchlöchert  sind,  sondern  weil  der  Zeitverlauf  in  uns  von  der  Ord- 
nung in  den  Erzeugnissen  der  sogenannten  Zeitkünste  erheblich  ab- 
weicht. Die  innere  Bewegung  verhält  sich  zur  objektiv  gegebenen 
keineswegs  wie  das  Spiegelbild  zum  Gegenstand.  Immerhin  fehlt  es 
nicht  an  sich  entsprechenden  Punkten.  Wir  sahen,  daß  Tätigkeit  und 
angespannte  Aufmerksamkeit  nicht  ununterbrochen  auf  gleicher  Höhe 
bleiben  können;  die  Technik  der  Dichter  und  Musiker  kommt  dem 
entgegen,  indem  sie  den  ausgedehnten  Gebilden  manche  weniger 
wichtige  oder  dem  freien  Phantasiespiel  entgegenkommende  Stellen 
beläßt.  Auf  dargestellte  Handlungen  oder  auf  musikalische  Ausdrucks- 
formen, die  uns  im  Innersten  aufwühlen,  gewissermaßen  das  ästhetische 
Feld  in  der  Tiefe  bearbeiten,  folgen  andere,  die  eine  Sonntagstille  des 
Gemütes  hervorzaubern,  das  ästhetische  Feld  weiten  und  die  Seele  auch 
wohl  über  seine  Grenze  hinaus  schweifen  lassen.  Dem  Streben  zum 
Intensitätsgipfel  entspricht  die  Steigerung,  der  glücklich  überwundenen 
Hemmung  das  »retardierende  Moment«.  Ähnliche  Übereinstimmungen 
dürfen  aber,  um  es  nochmals  zu  sagen,  nicht  zu  der  Meinung  verleiten, 
daß  der  subjektive  und  der  objektive  Ablauf  überall  und  aufs  genaueste 
zusammenfallen.  — 

Was  die  Struktur  des  ästhetischen  Eindrucks  betrifft,  so  können 
wir  bereits  aus  dem  Umstand,  daß  es  mehrere  gleichberechtigte  Prin- 
zipien gibt,  die  Zusammengesetztheit  des  seelischen  Vorgangs  ableiten. 
Zum  Erstaunen  verschieden  und  mannigfaltig  sind  die  Kräfte,  die  hier 
zusammentreffen;  Formeln,  die  mit  einem  Begriff  das  Ganze  in  sich 
aufnehmen  wollen,  verfehlen  es  gründlich  von  Anfang  an.  Ich  bekenne 
mich  also  zu  einer  Vielheitslehre.  Aber  ich  wage  nicht  zu  hoffen,  daß 
es  gelingt,  allen  Verknüpfungen  und  Verschmelzungen  nachzugehen, 
die  durch  Schönes,  Ästhetisches  und  Künstlerisches  hervorgerufen 
werden,  ja,  ich  fürchte,  daß  zwischen  den  philosophischen  Normen, 
den  Beschaffenheiten  des  ästhetischen  Gegenstandes  und  des  Kunst- 
werks, den  Bestandteilen  des  ästhetischen  und  künstlerischen  Genießens 
wie  Schaffens  Abstände  bestehen  bleiben. 

Um  deutlich  zu  machen,  weshalb  weder  die  strenge  Einheitslehre 
der  ersten  Art  noch  die  freiere  Einheitslehre  der  zweiten  Art  den  Er- 
fordernissen einer  Ästhetik  genügen,  die  sich  möglichst  nahe  an  die 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  161 

Tatsachen  hält,  sei  zunächst  eine  Probe  mit  einem  formalen  Orundsatz 
vorgenommen.  Die  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  bildet,  wie  mehr- 
mals gezeigt  wurde,  eine  der  am  längsten  und  allgemeinsten  anerkannten 
Bestimmungen  Ober  das  Wesen  des  Ästhetischen.  Aus  ihr  scheint 
der  formale  Aufbau  des  Gegenstandes  ganz  verständlich,  zumal  wenn 
der  erschlossene  Charakter  der  Seele  als  der  gleiche  behauptet  und 
aus  der  Obereinstimmung  von  Subjekt  und  Objekt  die  Lust  erklärt 
wird.  Was  liegt  nun  vor?  Die  Teile,  z.  B.  die  Versfüße,  Verse, 
Strophen,  sind  so  weit  verschieden,  daß  sie  eine  Mannigfaltigkeit  er- 
geben, und  so  weit  ähnlich,  daß  sie  zu  einer  Einheit  verwachsen  können. 
Dasselbe  Doppelverhältnis  besteht  zwischen  einem  Kunstwerk  und  dem 
natOrlichen  Vorbild:  sie  sind  einhellig,  aber  weichen  auch  voneinander 
ab.  Der  Stein,  in  dem  ein  menschlicher  Körper  nachgeahmt  wird,  ist 
eben  nicht  der  lebendige  und  warme  Leib;  trotzdem  besteht  zwischen 
Mensch  und  Statue  eine  Einheit  Also  paßt  auch  hier  unsere  Formel. 
Sie  umfaßt  femer  die  Beziehung  zwischen  Inhalt  und  Form.  Denn 
die  äußere  Gestaltung,  in  der  Lebensgefühl,  Idee  oder  irgend  ein  anderer 
innerer  Wert  sich  ausdrücken,  muß  mit  dem  in  ihr  Verborgenen 
gleich  und  dennoch  von  ihm  verschieden  sein.  Wo  ein  ästhetischer 
Gegenstand  als  Symbol  aufgefaßt  wird,  da  wird  zwischen  dem  Sicht- 
baren und  dem  Unsichtbaren  das  Verhältnis  der  Einheit  in  der  Mannig- 
faltigkeit aufgerichtet. 

Wir  können  hier  abbrechen.  Die  Anwendbarkeit  der  Formel  kennt 
keine  Grenze.  Al)er  die  psychologische  Analyse  vollzieht  sich  un- 
abhängig davon,  ob  schließlich  das  Ergebnis  noch  einem  so  allgemeinen 
Grundsatz  untergeordnet  wird  oder  nicht  Und  ebenso  steht  es  mit 
der  Oberführung  der  Normengebung  in  die  Beschreibung  oder  dieser 
in  jene.  Denn  der  Zusammenhang  zwischen  ihnen  erweist  sich  nirgends 
als  ein  unbedingter  und  unvermeidlicher.  In  der  gegenwärtigen  Lage 
unserer  Wissenschaft  scheint  es  zum  mindesten  noch  erlaubt,  die  Ana- 
lyse des  Genießens  und  Schaffens  für  sich  vorzunehmen.  Die  zer- 
gKedemde  Einzeluntersuchung  gewinnt  vielleicht  sogar  an  Durch- 
schlagskraft, wenn  sie  von  den  allgemeinen  philosophischen  Grund- 
oischauungen  abgesondert  wird;  sie  verträgt  sich  dann  mit  mehreren 
Auffassungen  Ober  das,  was  als  das  Eigentümliche  des  ästhetischen 
Lebens  und  der  Kunst  anzusehen  sei.  Ober  die  Gültigkeit  der  Prin- 
zipien entscheiden  ganz  andere  Gesichtspunkte  als  über  die  Richtigkeit 
der  psychologischen  Zerlegung. 

Wenn  man  ohne  Rücksicht  auf  die  zeitliche  Abwickelung  typische 
Eindrücke  prüft,  so  findet  man  mit  seltenen  Ausnahmen  drei  Gruppen 
von  Bedingungen.  Schon  Kari  von  Rumohr')  unterscheidet  erstens 
>die  Veranlassungen  eines  bloß  sinnlichen  Wohlgefallens  am  Schauenc, 

Dcttoir,  AstiMtik  trad  allg.  Kiufitwifsciitchift.  11 


162  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

zweitens  »die  bestimmten  Verhältnisse  und  Fügungen  von  Formen  und 
Linien«,  drittens  eine  Klasse  von  Vorgängen,  die  er  folgendermaßen 
beschreibt:  »Die  wichtigste  Schönheit  beruht  aber  auf  jener  gegebenen, 
in  der  Natur,  nicht  in  menschlicher  Willkür  gegründeten  Symbolik  der 
Formen,  durch  welche  diese  in  bestimmten  Verbindungen  zu  Merk- 
malen und  Zeichnungen  gedeihen,  bei  deren  Anblick  wir  uns  not- 
wendig teils  bestimmter  Vorstellungen  und  Begriffe  erinnern,  tdls  auch 
bestimmter  in  uns  schlummernder  Gefühle  bewußt  werden.«  Wenn 
diese  Einteilung  etwas  erweitert  und  abgeändert  wird,  so  entspricht 
sie  dem  inneren  Befunde.  Tatsächlich  haben  wir  mit  und  in  dem 
ästhetischen  Genießen  sinnliche  Gefühle,  die  sowohl  mit  Gemein- 
empfindungen als  auch  mit  den  Empfindungen  aller  spezifischen  Sinne 
verwachsen  sind.  Daneben  bemerken  wir  Gefühle,  die  an  Raum-  und 
Zeitverhältnisse  geknüpft,  von  Ähnlichkeiten  oder  Berührungen  inner- 
halb beider  Anschauungsformen  bedingt  sind.  Endlich  reiht  sich  an 
alle  diese  Vorstellungen  und  die  unmittelbar  damit  gegebenen  Gefühle 
die  große  Schar  deutender  Auffassungen,  assoziierter  Vorstellungen  und 
beziehender  Urteile.  Nicht  durch  Zufall,  sondern  weil  sie  halb  sinn- 
lich, halb  logisch-affektiv  sind,  stehen  in  der  Mitte  die  meist  elementar 
genannten  ästhetischen  Formengefühle;  genauer  gesprochen:  die  Ge- 
fühle, die  da  ausgelöst  werden  von  der  Verwandtschaft  oder  von  der 
Ordnung  der  Inhalte,  außerdem  natüriich  auch  von  der  Verbindung  des 
inneriich  und  äußeriich  aufeinander  Bezogenen.  Das  qualitative  Ver- 
hältnis von  Klängen  und  Farben  erzeugt  Harmoniegefühle;  die  Ord- 
nung in  Raum  und  Zeit  weckt  Proportionalgefühle;  aus  dem  Zusammen 
dieser  beiden  Richtungen  erwachsen  die  ästhetischen  Komplikations- 
gefühle. Die  letzte  fiauptklasse  bezeichnen  wir  als  die  der  Inhalts- 
gefühle. 

Indem  wir  die  nähere  Ausführung  dieser  Angaben  auf  die  nächsten 
Kapitel  verschieben,  fragen  wir  jetzt  nur  noch:  was  entsteht  aus  dem 
Zusammenfließen  aller  dieser  Quellen  des  ästhetischen  Genusses? 

Es  bildet  sich  ein  Strom,  der  nur  durch  die  Verschiedenheit  von 
Färbungen  dem  schärfer  blickenden  Auge  die  Mehrheit  der  Ursprünge 
verrät.  Oft  verschmelzen  alle  jene  seelischen  Vorgänge  bis  zur  völligen 
Unterschiedslosigkeit.  Dabei  ist,  wie  man  seit  langer  Zeit  bemerkt  hat, 
die  Gesamtwirkung  in  ihrer  Stärke  und  Beschaffenheit  durch  bloßes 
Zusammenlegen  der  einzelnen  Kreise  nicht  zu  erklären.  Die  Auf- 
zählung der  Teilvorgänge  und  die  Herstellung  logischer  Beziehungen 
zwischen  ihnen  erfüllt  den  wissenschaftlichen  Zweck  nur  dadurch,  daß 
in  die  besonderen  seelischen  Inhalte  mehr  hineingelegt  wird,  als  ihnen 
nach  allen  psychologischen  Möglichkeiten  zukommt  Das  besagt: 
Wenn   den   genannten   Klassen   stillschweigend   ein   Überschuß   von 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER,  163 

Wirkungsfähigkeit  zugemessen  wird,  der  ihnen  sonst  nicht  gebührt, 
so  schanen  sie  allerdings  in  ihrer  Verbindung  das  Lebensgefühl  ästhe- 
tischen Aufnehmens  durchsichtig  zu  machen.  Vermeidet  man  jedoch 
die  Überlastung  der  Elemente,  weil  sie  mit  den  übrigen  Lehren  der 
Psychologie  nicht  übereinstimmt,  so  kommt  auch  das  Ganze  nicht 
heraus.  Hiemit  ist  ein  allgemeiner  Mißstand  der  konstruierenden 
Psychologie  berührt.  Doch  die  Gerechtigkeit  erfordert,  auch  die  andere 
Seite  des  Sachverhaltes  zu  zeigen.  Die  Unfähigkeit,  das  lebendige 
Ganze  aus  den  unterscheidbaren  Gliedern  hervorgehen  zu  lassen,  trifft 
alle  Geisteswissenschaften;  daß  sie  auf  unserem  Gebiet  und  für  dieses 
Problem  so  besonders  empfindlich  ist,  darf  der  Behandlung  des  ästhe- 
tischen Eindrucks  nicht  vorgeworfen  werden.  Außerdem  behält  die 
Untersuchung  der  Bedingungsgruppen  jedenfalls  einen  Sonderwert 

Da  es  sich  hier  um  den  Gesamtcharakter  des  ästhetischen  Genusses 
handelt,  muß  zunächst  gefragt  werden,  ob  er  der  Uberiieferung  gemäß 
als  eine  ^Lust<  zu  bezeichnen  ist  Im  Hinblick  auf  das  Häßliche  und 
die  Tragödie  hat  man  häufig  daran  gezweifelt,  denn  ihre  Wirkung 
scheint  mehr  Schmerz  als  Freude  zu  enthalten.  Das  ist  ein  Streit  um 
Worte.  Gewiß  wäre  es  vollendete  Torheit,  wollte  jemand  die  tragische 
Ergriffenheit  mit  der  kleinen  Lust  an  einer  süßen  Speise  gleichsetzen; 
selbst  das  Wohlgefallen  an  einfacher  Symmetrie  und  der  ekstatische 
Genuß  des  Tristanvorspiels  sind  durch  Welten  voneinander  getrennt 
Möge  man  also  den  Gebrauch  des  Wortes  Lust  auf  die  schwächeren 
und  kleineren  Eindrücke  beschränken,  im  übrigen  aber  von  einer  Er- 
höhung des  Lebensgefühls  sprechen  —  wie  ich  selbst  vor  Jahren  vor- 
geschlagen habe.  Doch  ist  auch  eine  andere  Bezeichnungsweise  zu- 
lässig. Wenn  man  nämlich  den  Begriff  Lust  so  erweitert,  daß  er  Stufen 
und  Arten  umfaßt,  dann  darf  ihm  der  uns  interessierende  Gefühls- 
zustand gleichfalls  untergeordnet  werden.  Das  Erieben  einer  inner- 
lichen Bereicherung  und  das  erhöhte  Bewußtsein  des  eigenen  Seins  — 
obgleich  keine  abgezirkelte  und  abgestempelte  Lust  —  bleibt  schließ- 
lich in  höherem  Sinne  lustvoll.  Sowohl  das  mehr  passive  als  auch 
das  mehr  aktive  Genießen,  das  wir  bei  der  Erörterung  des  Zeitverlaufs 
unterschieden,  verdient  dieses  Prädikat  Wir  rechtfertigen  es  natüriich 
nkht  durch  den  aussichtslosen  Versuch,  die  vorhandenen  Lust-  und 
Unlustbeträge  gegeneinander  aufzurechnen.  Vielmehr  suchen  wir  durch 
mittelbare  Uberiegung  Klarheit  zu  gewinnen.  Anzuknüpfen  ist  an  die 
Tatsache,  daß  Lust  mit  Unlust  verwachsen  ist  Schon  die  Psycho- 
gnostiker  ältester  Zeit  und  später  die  wissenschaftlichen  Psychologen 
haben  bemerkt,  wie  in  Kummer  und  Leid  ein  Tropfen  Lust  enthalten 
ist  Wer  kennt  nicht  die  Wonne  des  Schmerzes,  des  körperiichen  und 
des  seelischen?    Ein  Lebensgefühl  niederster  Art  pfl^  sich  darin  zu 


164  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

betätigen,  daß  einem  anderen  Schmerz  zugefügt  wird;  doch  bloß  des- 
halb, weil  er  nachgefühlt  d.  h.  gefühlt  wird.  Das  in  einem  anderen 
erlebte  Leid  besitzt  ohne  Frage  in  vielen  Fällen  und  für  die  meisten 
Menschen  Lustqualität,  denn  es  spendet  die  Freude  der  Uberl€^[enheiL 
Der  Mensch  wird  sich  seines  Daseins  gleichsam  erst  bewußt,  indem 
er  schmäht,  beleidigt,  verwundet  Und  so  wendet  er  sich  auch  g^en 
den  eigenen  Leib  und  die  eigene  Seele  Wer  körperliche  Unempfind- 
lichkeit  fürchtet,  der  schlägt  sich  einen  Pflock  ins  Fleisch,  wer  unter 
der  Leere  des  Gemütes  leidet,  der  zerquält  sich  mit  Ängsten  und  Vor- 
würfen. Durch  nichts  wird  die  Lebenslaaft  so  stark  gerdzt  wie  durch 
die  Unlust.  Der  Erfolg,  die  lebhafte  innere  Aktivität,  kann  nun  nach 
Sprachgebrauch  und  Psychologie  eine  Lust  heißen,  da  ja  nichts  im 
W^e  steht,  mehrere  Grade  und  Beschaffenheiten  von  Lust  anzunehmen. 

Wollen  wir  dies  vorläufige  Ergebnis,  daß  der  konkrete  sedische 
Zustand  des  ästhetischen  Genießens  ebensogut  Lust  wie  erhöhtes 
Lebensgefühl  genannt  werden  darf,  noch  vertiefen,  so  bieten  sich  zwei 
Wege  dar.  Der  eine  ist  der  einer  Zusammensetzung  aus  Vorstellungen 
oder  Empfindungen.  Er  hat  die  meisten  Ästhetiker  gdührt  und  wir 
sprachen  bereits  davon.  Anderseits  greift  die  psychologische  Ästhetik 
unserer  Tage  auf  Fichte  zurück;  Fichtes  Wissenschaftslehre  nämlich 
beruht  auf  dem  »Ingrediens  der  reellen  Wirksamkeit  meines  Selbst 
in  einem  Bewußtsein,  das  außerdem  nur  das  Bewußtsein  einer  Folge 
meiner  Vorstdlungen  sein  würdet.  Unter  Seele  ist  nicht  ein  Bfindd 
von  Vorstdlungen,  auch  nicht  dn  Tummelplatz  für  selbstand^ 
Vermögen  zu  verstehen,  sondern  dne  Krafttätigkdt,  genauer  ein  In- 
b^riff  von  Tätigkdtsrichtungen.  Sicherlich  bleibt  die  Psychologie 
näher  bei  dem  unmittdbar  Erfahrenen  und  wird  dem,  was  wir  efld>en 
oder  wie  wir  uns  erleben,  mehr  ga^cht,  wenn  sie  von  dnem  schöpfe- 
rischen Subjdct  ausgeht  als  wenn  sie  aus  Vorstdlungen  aufbaut  Das 
alldn  aber  würde  nicht  entschdden.  Vidmehr  kommt  es  darauf  an, 
ob  aus  dem  sdbsttätigen  Urheber  der  Vorstdlungen  jede  Art  von  Lust 
und  Unlust  (sowie  jede  übrige  Grui>pe  sedischer  Zustände)  als  seine 
besondere  Bestimmthdt  verständlich  zu  machen  ist  Darüber  jedodi 
kann  die  Ästhetik  nicht  urtdlen.  Ihr  steht  lediglkh  der  Versuch  zu, 
sokhe  Grundsätze  auf  ihrem  Gd>iete  anzuwenden;  und  dieser  Versuch 
ist  vor  kurzem  gemacht  worden').  Auch  wir  wollen  das  Wesentliche 
der  Betrachtungswdse  uns  andgnai,  sofern  sie  die  Zusammei^nesetzt- 
hdt  des  ästhetischen  Eindrucks  durchleuchtet 

Das  Ich  gldcht  dem  Herzen.  Großer  und  kidner  Krdslauf  strömen 
von  ihm  aus;  der  dne  belebt  den  ganzen  Umfong  des  Bewußtsdns, 
der  andere  krdst  im  Mittdpunkte.  Ohne  BiM  gesprochen:  die  Tit^- 
kdt  des  Ich,  die  von  jener  Psychok)gie  mit  dem  Seelenleben  gleich- 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  165 

gesetzt  wird,  erstreckt  sich  einerseits  auf  die  an  der  Peripherie  ein- 
setzenden Beziehungen  zur  Außenwelt,  anderseits  auf  die  inneren  Be- 
ziehungen. Diese  haben  die  auszeichnende  Eigentflmlichkeit,  daß  der 
zwischen  ihnen  waltende  Zusammenhang  für  die  unmittelbare  Selbst- 
auffaissung  g^eben  ist:  in  welchem  Verhältnis  die  Lösung  eines  Rätsels 
und  die  Freude  darüber  oder  die  Angst  und  die  daraus  fließende  Tat 
zueinander  stehen,  das  braucht  man  nicht  zu  konstruieren,  weil  es  da 
ist  In  solchen  notwendigen  Zugehörigkeiten  erweist  sich  die  Spon- 
taneität des  Ich;  Hegel  hat  von  Notwendigkeit  und  Freiheit  als  von 
den  Bestimmungen  des  konkreten  Geistes  gesprochen.  Sieht  man  hier 
den  Kern  des  Seelischen  und  nennt  ihn  »Gefühl <  —  worüber  schon 
(auf  S.  82)  einiges  gesagt  ist  — ,  so  erübrigt  noch  die  Frage,  auf  welche 
Art  das  Gefühl  sich  äußerer  Objekte  bemächtige.  Für  gewöhnlich 
dringen  Gegenstände  in  beliebigem  Wechsel,  zufälliger  Beschaffenheit 
und  mit  äußerem  Zwange  in  uns  ein.  Wir  nehmen  sie  mit  Lust  oder 
Unlust  hin.  Und  ähnlich  so  in  der  Burg  unseres  Selbst:  für  gewöhn- 
lich sind  wir  bloß  in  inneren  Beziehungen  tätig  und  fühlen  Lust  oder 
Unlust,  je  nachdem  sie  frei,  sicher  und  vielseitig  sich  vollziehen  lassen 
oder  dürftig  und  widerspruchsvoll  sind.  Die  im  günstigen  Falle  auf- 
tretende Funktionslust  kann  nun  aber  eine  eigentümliche  Verbindung 
mit  einem  Gegenstande  eingehen.  Im  Grunde  genommen  bedeuten 
die  früher  beschriebenen  und  beurteilten  Prinzipien  verschiedene  Aus- 
drucksformen für  ein  solches  ganz  eigenartiges  Verhältnis  zwischen 
Subjekt  und  Objekt.  Es  ist  ein  Ineinander.  Mit  welchen  Worten  man 
es  schildern  will  und  welche  Darstellung  die  Wißb^erigen  am  ehesten 
befriedigt,  das  hangt  von  der  allgemeinen  Richtung  des  wissenschaft- 
lichen Geistes  ab.  Eine  bindende  Vorschrift  läßt  sich  nicht  geben. 
Wohl  aber  kann  behauptet  werden,  daß  die  Funktionslust  ein  nie 
fehlendes  Merkmal  ist^).  Und  nicht  minder  sicher  ist,  daß  im  eriebten 
ästhetischen  Glück  rein  subjektive  Momente  eine  wichtige  Rolle  spielen. 
Gegenstand  und  Eindruck  decken  sich  niemals.  Gerade  deshalb  sind 
sie  gesondert  zu  behandeln.  Es  empfiehlt  sich  kaum,  die  Beschreibung 
der  Rezeptivität  dadurch  zu  verstümmeln,  daß  alle  aus  der  Gegenstands- 
l)eziehung  nicht  unmittelbar  zu  erklärenden  Seelenvorgänge  ausgeschaltet 
werden. 

Der  ästhetische  Eindruck  kann  also  in  zweifacher  Perspektive  be- 
trachtet werden.  Entweder  als  ein  konkreter  Seelenzustand,  dessen 
durch  Abstraktion  herauszulösende  Bestandteile  von  unten  her  gesehen 
werden,  oder  als  eine  Tätigkeit  des  Ich,  die  von  oben  her  angeschaut 
und  in  ihren  einzelnen  Richtungen  verfolgt  werden  muß.  Das  erste 
Verfahren  scheint  im  großen  und  ganzen  zweckmäßiger  zu  sein;  wir 
bedienen  uns  seiner  und  verwenden  die  andere  psychologische  Methode 


166  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

zur  Ergänzung  dort,  wo  sie  von  der  Struktur  des  innerlichen  Befundes 
gefordert  wird* 

2.  Die  Sinnesgefühle. 

Ein  hell  erleuchteter  Konzertsaal.  Die  meisten  Hörer  gleichgültig, 
gelangweilt  oder  durch  irgendwelche  Dummheiten  abgelenkt  —  ein 
widerwärtiger  Anblick.  Aber  dazwischen  Menschen  mit  allen  Merk- 
malen der  Inbrunst  und  Verzückung.  Sie  schließen  die  Augen  oder 
starren  ins  Weite,  lassen  die  Muskeln  err^  spielen  oder  fallen  in  sich 
zusammen.  Von  Zeit  zu  Zeit  greift  diese  nervöse  Verfassung  auf  die 
anderen  über:  es  ist  als  ob  an  elektrischer  Schlag  Seele  und  Lab 
durchzuckt 

Der  ästhetische  Reflex  besteht  aus  Gemeinempfindungen;  der  Name 
meint  nicht  eine  Bew^[ung,  sondern  ist  gewählt  worden,  um  den  An- 
tal  des  körperlichen  Gemeingefühls  hervorzuheben.  Hie  und  da  freilich 
treten  Muskelkontraktionen  in  den  Vordergrund.  Wenn  wir  einen  eüig 
Schreitenden  plötzlich  hinfallen  sehen,  beantworten  wir  den  Gesichts- 
eindruck  reflexmäBig  mit  Lachen;  überhaupt  reagieren  wir  auf  das 
Komische  der  Anschauung  gern  mit  Lachen  oder  anderen  plötzlichen 
Bew^[ungen.  Die  ganze  Dumpfheit  und  Instinktmäßigkat  des  Mai- 
schen lebt  in  diesen  ursprünglichsten  Wirkungen.  Aus  der  Tiefe  steigt 
alles  übrige  allmählich  hervor,  vom  Tierischen  bis  zum  Göttlichen  rach^ 
was  wir  ästhetisch  erld>en.  So  wurzelt  das  künstlerische  Schaffen  in 
leiblichen  Zuständen,  Vorahnungen,  Err^^ungen,  unklaren  Stimmen  und 
Bildern;  langsam  erhebt  es  sich  über  den  Untergrund  zu  Reinheit  und 
Klarheit  Was  bedeutet  jene  physische  Resonanz  für  dai  Genuß?  Zu- 
vörderst ist  vemanend  festzustellen,  daß  sie  in  das  Tätigkeitsgefuhl 
des  Genießenden  nicht  eingeht  Der  Schauer,  der  übar  den  Rüdcen 
rieselt,  der  Lachreiz,  das  Feuchtwerdai  der  Augen,  der  Zwang  zum 
Schlucken,  Beklemmung  oder  Ausweitung  der  Brust,  Kalt-  und  Heißer- 
werden —  wir  empfinden  es  als  an  Vorkommnis  in  unserem  Körper. 
Das  bewußte  Selbst  ist  nicht  der  Urheber.  Alsdann  gibt  jeder  zu,  daß 
wir  die  so  gearteten  Empfindungen  nicht  über  die  Grenze  unseres 
Leibes  hinaustreten  lassen,  d.  h.  sie  nicht  unmittelbar  zu  den  Eigen- 
schaften des  Außendinges  rechnen.  Kurzum,  die  Erfahrung  kennt  sie 
als  psychophysische  Vorgänge,  die  in  dem  Grenzland  zwischen  Ich  und 
Welt  ihre  Stätte  haben. 

Die  Theorie  indessen  hat  die  Organempfindungen  sowohl  dem 
Subjekt  als  auch  dem  Objekt  genähert  Das  erste  geschidit  im  Ver- 
folg einer  viel  besprochenen  Auffassung  der  Gemütsbewegungen^. 
Früher  war  der  Zusammenhang  zwischen  Organempfindungen  und 


DIE  SINNESGEFOHLEL  167 

Affekten  dahin  verstanden  worden,  daß  jene  B^leiterscheinungen  von 
diesen  seien;  die  Objektvorstellung  dessen,  worüber  der  Mensch  sich 
freut  oder  wovor  er  sich  fürchtet,  galt  als  die  Hauptsache  und  die 
Änderung  in  der  Pulsation,  Atmung,  Körpertemperatur  u.  s.  w.  als  Neben- 
erfolg. Da  kam  vor  nicht  allzu  langer  Zeit  die  Meinung  auf,  es  be- 
stünden die  Gemütsbewegungen  in  den  genannten  Oemeinempfindungen. 
Der  verhältnismäBig  beste  Beweis  dafür  liegt  in  einem  Abzugsverfahren, 
ähnlich  dem,  das  einst  englische  und  schottische  Philosophen  anwandten, 
um  den  Begriff  der  Substanz  zu  zerstören.  Denken  wir  uns  nSmlich 
aus  einem  Affektzustand  alle  Organempfindungen  weg,  so  bleibt  nur 
eine  gleichgültige  Vorstellung  übrig;  die  Oemütserr^^ung  verflüchtigt 
sich  ohne  die  Gefühle  körperiicher  Symptome.  Dennoch  ist  diese  Be- 
weisführung brüchig.  Aus  den  Organempfindungen  allein  wird  kein 
Affekt,  geschweige  der  ästhetische.  Es  muB,  wie  sich  im  folgenden 
näher  zeigen  wird,  noch  sehr  viel  anderes  hinzutreten.  Zwar  vermag 
eine  physiologische  Bedrückung  sich  beispielsweise  zur  Angst  zu  ent- 
falten, aber  das  entwickelte  Gebilde  besteht  dann  nicht  mehr  aus- 
schließlich in  ihr.  Vollends  der  ästhetische  GenuB  ist  so  weit  über 
die  bloBe  Passivität  hinausgehoben,  daB  die  Theorie  für  ihn  nicht  fest- 
gehalten werden  kann. 

Andere  Forscher*)  haben  die  allgemeinen  Körpergefühle  gewisser- 
maßen nach  außen  versetzt,  indem  sie  zu  zeigen  unternahmen,  daß 
sie  nicht  etwa  die  Grundlage  des  ästhetischen  Urteils  bilden,  sondern 
es  ohne  Rest  ausmachen.  Wenn  wir  uns  einer  Raumform  lebhaft  er- 
freuen, so  sollen  namentlich  Veränderungen  in  Atmung  und  Gleich- 
gewichtsgefühl spürbar  sein.  Ein  symmetrisch  gebauter  Krug  weckt 
das  wohltuende  Gefühl  sicheren  Gleichgewichts,  die  Kuppelform  be- 
wirkt Muskelkontraktionen  im  Kopfe  —  ich  will  nicht  alles  aufzählen, 
weil  nach  meiner  Erfahrung  solche  Empfindungen  wohl  vorhanden, 
jedoch  ganz  regellos  sind.  Die  gesetzmäßige  Wirkung  der  bestimmten 
Gestalten  läßt  sich  nicht  aus  launisch  wechselnden  Symptomen  er- 
klären. Ja,  wenn  sie  dauerhaft  und  stets  dieselben  wären!  Dann 
könnten  wir  wohl  b^jeifen,  daß  sie  wegen  ihrer  großen  Häufigkeit 
objektiviert  werden,  während  die  in  anderen  Affekten  tätigen  Organ- 
empfindungen infolge  der  Seltenheit  ihres  Auftretens  subjektiv  bleiben. 
Aber  sie  sind  nun  einmal  nicht  konstant.  Schließlich  verirrt  sich  die 
Theorie  vollständig,  indem  sie  der  Kunst  eine  biologische  B^[ründung 
unterschiebt  Da  das  Kunstwerk  unsere  ursprünglichsten  Empfindungen 
in  einen  wohltätigen  Zusammenhang  bringe,  erhöhe  es  unser  Lebens- 
gefuhl  und  erweise  sich  als  biologisch  nützlich.  Mir  scheint,  daß  die 
Kunst  hierdurch  auf  gleiche  Stufe  mit  Nahrungs-  und  Arzneimitteln 
gestellt  wird. 


168  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

Es  wird  also  bei  der  Auffassung  sein  Bewenden  haben  müssen, 
die  wir  zuvor  besprachen.  Ein  neuer  Gesichtspunkt  eröffnet  sich, 
wenn  wir  die  spezifischen  Empfindungen  der  niederen  Sinne  auf  ihren 
ästhetischen  Wert  hin  prüfen.  Während  ehedem  das  OenieBen  ganz 
auf  die  Wahrnehmungen  der  höheren  Sinne  beschränkt  wurde,  neigt 
man  jetzt  zu  einer  Überschätzung  der  Empfindungen  aus  dem  Gebiete 
des  Geruchs,  Geschmacks,  Temperatur-  und  Muskelsinns.  Den  Vor- 
stellungen der  ersten  drei  Sinne  vermag  ich  Bedeutung  nur  für  das 
Aufnehmen  des  Naturschönen  beizumessen  —  worüber  bereits  an 
mehreren  Orten  das  Nötige  gesagt  worden  ist.  Ich  kann  nicht  zu- 
geben, daß  beim  Anblick  eines  Bildes,  das  eine  tropische  Landschaft 
darstellt,  oder  beim  Anhören  einer  »warmen«  Melodie  eine  Tempe- 
raturerhöhung gefühh  wird;  wenn  ich  von  einer  poetischen  Schilde- 
rung frisch  gemachten  Heus  den  lebendigsten  Eindruck  habe,  so  ver- 
spüre ich  trotzdem  keine  Geruchshalluzination.  Anders  verhält  es  sich 
mit  dem  Muskelsinn.  Leicht  nachzuprüfen  ist  die  Beobachtung,  daß, 
sobald  wir  die  Augen  schließen  und  an  einen  fügenden  Vogel  denken, 
unser  Körper  sich  sacht  und  unbemerkt  in  die  vorgestellte  Flugrich- 
tung wendet,  und  daß,  sobald  wir  an  einem  reißenden  Strom  stehen, 
wir  den  nicht  bewußt  werdenden  Antrieb  empfinden,  uns  in  der  Rich- 
tung seines  Laufes  zu  bewegen.  Doch  kommt  bei  ästhetischen  Ein- 
drücken noch  etwas  anderes  in  Betracht.  Eine  ziemlich  große  Gruppe 
von  Menschen  begleitet  alle  ästhetischen  Erfahrungen  mit  Bew^^ngs- 
andeutungen.  Ansätze  zu  Muskeleinstellungen  und  Nachahmungs- 
bewegungen sind  so  häufig  und  wichtig,  daß  wir  ihrer  schon  oft 
gedenken  mußten.  Der  Hauptgrund  dafür  liegt  in  der  ihnen  Inne- 
wohnenden stellvertretenden  Kraft.  Ein  Zusammenballen  der  Faust 
genügt,  um  zahllose  körperiiche  und  geistige  Tätigkeiten  zu  ersetzen, 
in  denen  eine  Zusammengefaßtheit  oder  Gespanntheit  irgendwelches 
Inhaltes  sich  bekundet;  wo  also  der  Genuß  an  das  Auftreten  oder 
Vorstellen  eines  solchen  Seelenzustandes  geknüpft  scheint,  wird  er  in 
jenem  unscheinbaren  Körpervorgang  eine  vielen  Menschen  genügende 
Handhabe  finden.  Es  ist  über  alle  Maßen  erstaunlich,  welchen  Ersatz- 
wert  die  kleinsten  Bewegungen  des  Kehlkopfes  gewinnen  können, 
doch  ebenso  über  alle  Maßen  nutzlos,  sie  weitschweifig  zu  schildern. 

Der  Muskelsinn  ist  demgemäß  den  sogenannten  höheren  Sinnen 
verwandter  als  den  niederen  Modalitäten.  Gesicht  und  Gehör  gelten 
deshalb  als  festeste  Träger  des  ästhetischen  Lebens,  weil  sie  im  stände 
sind,  einheitliche  Gebilde  größerer  Ausdehnung  zu  schaffen.  Denn 
weder  Geruchs-  noch  Geschmacksarten  bilden  in  dem  Sinne  ein  un- 
abhängiges und  bleibendes  Ganzes  wie  es  Melodie  oder  Form  sind, 
ihre  Leistungen  werden  für  sich  allein  nie  zu  objektiven  Beschaffen- 


D!E  SINNESGEFÜIILE.  169 


heiten  ästhetischen  Wertes,  sondern  helfen  nur  bei  Naturdingen  zur 
ästhetischen  Bedeutung  mit.  Gesichts-  und  Oehörsvorstellungen  haben 
femer  den  Vorzug  leichter  Reproduzierbarkeit.  Sie  zeichnen  sich  end- 
lich dadurch  aus,  daß  sie  sich  frei  halten  können  von  den  unmittel- 
baren Lebensbedürfnissen  und  den  Beziehungen  zur  persönlichen 
Wohlfahrt;  ihre  Lust-  und  Unlusttöne  sind  weniger  aufdringlich  als 
die  des  Oeruchs  und  Geschmacks.  Übrigens  haben  diese  Gefflhls- 
ftrbungen  bloß  eine  beschränkte  Bedeutung.  Wenn  auch  jeder,  der 
sie  nicht  voll  aufnimmt,  Einbuße  an  seinem  ästhetischen  Eindruck  er- 
leidet, so  entsteht  doch  keineswegs  aus  ihnen  das  Ganze:  die  Freude 
an  einer  r^elmäßigen  Figur  ist  durch  keine  Analyse  aus  den  Lust- 
qualitäten der  einzelnen  Lichtempfmdungen  herauszuholen,  die  Freude 
am  Rhythmus  nicht  aus  den  einzelnen  Klängen. 

Ein  Problem,  das  mit  den  Sinnesgefflhien  zusammenhangt  und 
schon  gestreift  wurde,  verdient  noch  eine  besondere  Erörterung.  Die 
Frage  ist  nämlich,  inwieweit  durch  Worte  und  zumal  durch  dichte- 
rische Beschreibungen  reproduzierte  Vorstellungen  der  verschiedenen 
Sinne  geweckt  werden.  Bedenkt  man,  wie  Zola  in  der  Schilderung  von 
Oerflchen  schwelgt,  oder  wie  Hauff  erzählt,  der  arme  Feinschmecker 
würze  sein  kärgliches  Mahl  durch  Lesen  Claurenscher  Tafeleischilde» 
rungen,  so  möchte  man  annehmen,  daß  auf  diese  Art  sinnliche  Vor- 
stellungen des  Riechens  und  Schmeckens  entstehen.  Bei  genauer 
Prüfung  indessen  bemerkt  man  teils  nur  Muskeleinstellungen  des 
Mundes  und  der  Nase,  teils  Wortbilder,  die  im  Bewußtsein  umher- 
schwirren. Zum  eigenen  Versuch  biete  ich  dem  Leser  die  Beschrei- 
bung, die  in  Jacobsens  ^Niels  Lyhne«  von  dem  Vorderhaus  eines 
Landgutes  g^eben  wird  und  die  —  wenn  irgend  eine  —  zu  Geruchs- 
vorstellungen veranlassen  müßte.  >ln  dem  dunklen  Winkel  l>efand 
sich  die  Hintertür  zum  Laden,  der  zugleich  mit  der  Bauernstube,  dem 
Kontor  und  der  Leutestube  eine  kleine,  dunkle  Welt  für  sich  bildete, 
wo  ein  gemischter  Geruch  von  billigem  Tabak,  stockfleckigen  Fuß- 
böden, von  Spezereien  und  herben,  getrockneten  Fischen  und  feuchtem 
Fries  die  Luft  so  dick  machte,  daß  man  sie  fast  schmeckte.  Aber 
wenn  man  dann  durch  das  Kontor  mit  seinem  durchdringenden  Qualm 
von  Siegellack  gelangt  und  in  den  Gang  gekommen  war,  der  die 
Grenze  zwischen  Geschäft  und  Familie  bildete,  so  wurde  man  durch 
den  hier  herrschenden  Duft  von  neuem  Damenputz  auf  die  milde 
Bhimenluft  der  Zimmer  vorbereitet.  Es  war  nicht  der  Duft  eines  Bu- 
ketts, nicht  einer  wirklichen  Blume,  es  war  die  erinnerungweckende, 
mystische  Atmosphäre,  die  auf  jedem  Heim  lagert,  von  der  niemand 
btttimmt  sagen  kann,  woher  sie  kommt.  Jedes  Heim  hat  seine  eigene, 
sie  erinnert  an  tausend  Dinge,  an  den  Geruch  alter  Handschuhe,  an 


170  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

neue  Spielkarten  oder  offenstehende  Klaviere,  aber  stets  ist  sie  anders; 
sie  kann  mit  Räucherwerk,  Parfüm  und  Zigarren  fibertäubt  werden, 
aber  sie  kann  nicht  getötet  werden,  sie  kommt  immer  wieder  und  ist 
wieder  da,  unverändert  wie  sie  war.  Hier  herrschte  sie  wie  Blumen, 
nicht  Levkojen  oder  Rosen,  keine  Blüte,  die  existiert,  aber  so  wie  man 
sich  den  Duft  dieser  phantastischen,  saphirmatten  Lilienranken  denkt, 
die  sich  auf  Vasen  aus  altem  Porzellan  entlang  schlängeln.«  Selbst 
beim  ersten  Teil  der  so  eindringlichen  Schilderung  versagt  die  sinn- 
liche Phantasie.  Besser  arbeitet  sie  auf  akustischem  Gebiet.  Knarren, 
Zischen,  Rauschen,  Poltern  kann  schattenhaft  vor  das  innere  Ohr 
treten;  Klänge  werden  nach  Höhe,  Stärke  und  Färbung  wenigstens 
von  einigen  Menschen  auf  Grund  der  Worte  anschaulich  verg^en- 
wärtigt. 

In  Bezug  auf  den  Gesichtssinn  muß  man  die  Beschreibung  ruhen- 
der Gegenstände  und  zeitlicher  Vorgänge  sondern.  Von  unveränder- 
lich gedachten  Dingen  (Landschaften,  Interieurs,  Aussehen  eines  Men- 
schen) wird  ein  klares  und  umfassendes  Bild  bei  einmaligem  Anhören 
fast  nie  gewonnen.  Selbst  bei  einfachen  Dingen  entstehen  zureichende 
optische  Bilder  —  unwillkfirlich  —  nur  selten.  Zu  einer  deutlichen 
Vorstellung  des  Beschriebenen  mit  allen  Einzelheiten  muß  man  sich 
zwingen  und  erreicht  das  Ziel  gelegentlich,  soweit  eben  überhaupt 
Phantasievorstellungen  klar  genannt  werden  können.  Dagegen  treten 
vielfach  schwebende,  lückenhafte  und  schnell  verschwindende  Bilder 
auf;  oft  sind  die  von  einzelnen  Wortzusammenhängen  geweckten  Vor- 
stellungen überraschend  deutlich.  Wie  ich  neulich  las:  »Draußen 
dehnte  sich  ein  wunderbares  Schneegefild  vor  unseren  Augen.  Alles 
weiß,  blendend,  groß  und  erhaben«,  da  war  der  Eindruck  der  Farbe, 
wohl  durch  den  optischen  Reiz  der  Buchseite  unterstützt,  so  stark, 
daß  ich  fast  wie  geblendet  den  Kopf  etwas  mehr  vom  weißen  Papier 
weghob.  Fontane  sagt  in  »Effi  Briest«  von  den  Giraffen:  sie  sähen 
aus  wie  adlige  alte  Jungfern.  Ich  glaube,  man  bemerkt  die  Treffsicher- 
heit und  den  Humor  dieser  Äußerung  nicht,  es  sei  denn,  daß  ein 
flüchtiges  optisches  Bild  der  Giraffe  auftaucht,  mit  dem  vornehm  ge- 
reckten langen  Hals  und  dem  gleichgültigen  Blick  der  stupiden  Augen. 
Nun  gibt  es  jedoch  viele  scheinbar  anschauliche  Beschreibungen,  die 
in  Wahrheit  dem  Visualisieren  widerstreben.  Wenn  ich  bei  Jean  Paul 
lese:  »Der  Rittmeister,  dessen  Gesicht  eine  Ätzplatte  des  Schmerzes 
war«,  so  werde  ich  mir  gewiß  keine  Ätzplatte  vorstellen.  Vielmehr 
sage  ich  mir  im  Geiste:  tief  und  unverlierbar  ist  der  Schmerz  auf  die 
Fläche  des  Antlitzes  eingegraben,  wie  mit  einer  scharfen  Flüssigkeit 
auf  die  eisenharte  Platte.  Also  ich  umschreibe  mit  Worten  und  genieße 
die  Prägnanz  des  Jean  Panischen  Ausdruckes.    Der  Vorgang  spielt  sich 


DIE  SINNESGEFÜHLE.  171 


durchweg  im  Sprachlichen  ab.  Ich  wandre  nicht  von  Bildern  zu  Bil- 
dern, sondern  von  Worten  zu  Worten,  und  werde  dabei  gefflhIsmäBig 
bewegt  Daher  verwenden  Dichter  auch  Sätze,  die  einen  Anschauungs- 
wert gar  nicht  besitzen  können,  mit  Erfolg  zum  Ausdruck  von  Stim- 
mungen. 

Etwas  Ahnliches  ist  es,  wenn  die  Anschaulichkeit  zu  Gunsten  einer 
adlgemdnen  Einsicht  aufgehoben  und  trotzdem  den  Worten  ihre  ästhe- 
tische Bedeutung  nicht  geraubt  wird.  FQr  die  Art,  wie  ein  konkreter 
Kern  von  allerhand  abstrakten  Umhüllungen  umgeben,  ja  von  Re- 
flexionen durchsetzt  wird,  bietet  wiederum  Jean  Paul  die  besten  Bei- 
spiele. Seine  Beschreibungen  beginnen  gern  mit  allgemeinen  Er- 
wägungen und  enden  wieder  in  solchen,  wie  es  z.  B.  (im  6.  Sektor 
der  Unsichtbaren  Loge)  von  Oustavs  Schönheit  zum  Schlüsse  heißt: 
>Alles  Schöne  aber  ist  sanft;  daher  sind  die  schönsten  Völker  die 
ruhigsten;  daher  verzerret  heftige  Arbeit  arme  Kinder  und  arme  Völker.« 
Doch  auch  in  ihrem  Verlauf  spielen  die  Beschreibungen  leicht  ins 
Nachdenkliche  hinüber;  dazu  gehört  an  gleicher  Stelle  die  Wendung: 
>Sein  Auge  war  der  offene  Himmel,  den  ihr  in  tausend  fünfjährigen 
und  nur  in  zehn  fünfzigjährigen  Augen  antrefft . . .«  Wer  diese  wenigen 
Worte  mit  empfänglichem  Sinn  liest,  dem  weitet  sich  dabei  das  Herz, 
gidch  als  ob  eine  einstimmige  Melodie  plötzlich  zur  Harmonie  sich 
ausdehnt,  als  ob  das  Einzelne  eriöst  und  an  seinen  Platz  geführt  wird. 
Aber  eine  zureichende  Anschauung  ist  ihm  schweriich  zu  teil  geworden. 

Wir  kommen  nunmehr  zum  zweiten  Punkt,  zu  der  Schilderung 
eines  sichtbaren  Geschehens.  Es  ist  eine  alte  Lehre,  daß  die  Schil- 
derung des  Aufeinanderfolgenden  dem  Veriauf  der  Bewußtseinsvor- 
gänge besser  entspricht  als  die  eines  Zusammen.  Der  Grund  liegt 
nicht  in  der  zeitlichen  Beschaffenheit  der  Sprech-,  Schreib-  und  Lese- 
tätigkeit, sondern  in  dem  Vorgangscharakter  des  Bewußtseins  über- 
haupt und  in  der  Nötigung,  bei  der  Apperzeption  größerer  Gebilde 
dnen  Teil  nach  dem  anderen  in  den  Blickpunkt  zu  rücken,  da  das 
Ganze  nicht  zugleich  aufgefaßt  werden  kann.  Wenn  aber  das  Spezi- 
fische der  Poesie  im  Sprachlichen  zu  finden  ist  —  was  im  zweiten 
Hauptteil  dieses  Buches  zu  beweisen  sein  wird  — ,  so  kann  die  Eigenart 
des  Bewußtseins  im  ganzen,  das  zeitliche  Abrollen  sämtlicher  Seelen- 
vorgänge nicht  als  entscheidend  betrachtet  werden.  Indem  ich  mit 
dem  Blick  über  die  Einzelheiten  eines  größeren  Gemäldes  wandere, 
mache  ich  das  Simultane  gleichfalls  zum  Sukzessiven,  genau  so,  wie 
wenn  ich  es  mit  Worten  schildere.  Doch  zur  Sache.  Bei  der  dichte- 
rischen Beschreibung  von  Geschehnissen  pflegen  Gesichtsbilder  seltener 
aufzutreten  als  bei  der  Beschreibung  des  Ruhenden.  Der  Drang,  den 
Ere^issen  schnell  zu  folgen,  scheint  zu  stark  zu  sein,  als  daß  viele 


172  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK, 

sinnliche  Bedeutungen  aufgebracht  werden  könnten.  Besonders  deut- 
lich wird  das,  wenn  der  Dichter  oder  seine  Person  in  lebhafter  Er- 
regung zu  uns  sprechen.  Gerade  bei  packenden  Stellen,  in  den  Augen- 
blicken größter  Spannung,  verschlingen  wir  die  Worte,  ohne  uns  Zeit 
zu  optischen  Vorstellungen  zu  lassen.  Dennoch  ist  die  Reaktion  des 
gesamten  seelischen  und  körperlichen  Zustandes  so  stark,  als  ob  man 
alles  aufs  schärfste  sähe.  Dieser  Aufwand  von  Worten  —  und  man 
liest  darüber  hin  und  hat  den  richtigen  Eindruck  und  die  richtige 
Stimmung.  Es  ist  wie  mit  der  Musik.  Alles  mögliche  steckt  in  der 
Partitur,  aber  wir  hören  nur  ungefähr  ein  Ergebnis  heraus  und  werden 
im  allgemeinen  davon  berührt. 

Die  meisten  Personen  geben  an,  daß  die  Beschreibung  sichtbarer 
Handlungen  weit  häufiger  als  zu  Gesichtsbildem  vielmehr  zu  moto- 
rischen Empfindungen  und  Empfindungsreproduktionen  führe.  Beides, 
eine  wirkliche,  wenngleich  unbedeutende  Bewegung  sowie  ihre  bloße 
Vorstellung,  kann  entweder  die  geschilderte  Handlung  nachahmen 
oder  ihrer  Rückwirkung  auf  das  Subjekt  entsprechen.  Wenn  wir  eine 
eindrucksvolle  Beschreibung  gewaltig  anstürmender  Wogen  lesen,  so 
machen  wir  (tatsächlich  oder  reproduzierend)  entweder  die  Bew^[ung 
mit,  oder  prallen  zurück,  als  ob  die  Wogen  auf  uns  eindrängen.  In 
keinem  dieser  vier  Fälle  braucht  ein  Gesichtsbild  entstanden  zu  sein. 
Und  noch  darüber  hinaus  reicht  der  Wirkungskreis  von  motorischen 
Einstellungen  und  Anpassungen,  wie  vorhin  gezeigt  wurde.  Trotzdem 
darf  man  nicht  behaupten,  daß  voller  künstlerischer  Genuß  nur  durch 
das  Zwischenglied  wirklicher  oder  reproduzierter  Bewegungsempfin- 
dungen zu  Stande  komme ').  Wenn  ich  von  den  Ausdrucksbewegungen 
eines  Gefühls  lese,  so  braucht  sich  keine  nachahmende  Bew^^ng, 
selbst  nicht  im  leisesten  Ansatz,  bei  mir  zu  regen.  Ich  weiß  ja  aus 
vielfacher  Erfahrung,  was  der  beschriebene  Muskelvorgang  seelisch 
bedeutet,  und  fühle  daher  mit  hinreichender  Lebendigkeit  den  Seelen- 
zustand  nach.  Das  allgemeine  Wissen  um  diese  Dinge  bringt  ohne 
kinästhetisches  Mittelglied  die  Assoziation  zwischen  den  Worten  und 
der  gemeinten  seelischen  Tatsache  zuwege.  Es  ist  also  kein  unerbitt- 
liches Gesetz,  daß  eine  sichtbare  Aufeinanderfolge  innerhalb  dichte- 
rischer Beschreibung  an  die  Mithilfe  unseres  Muskelsinns  appelliert 


3.  Die  Formgefühle. 

Wir  haben  früher  mehrere  Eigenschaften  ästhetischer  Gegenstände 
kennen  gelernt  Die  einen  bestehen  in  den  Verhältnissen  der  Har- 
monie, der  Proportion  und  des  Rhythmus,  die  anderen  in  dem  abso- 


DIE  FORMGEFOHLE.  173 


hiten  Quantum  der  Raum-  und  ZeitgröBe  sowie  des  Grades.  Wenn 
wir  die  Gesamtheit  dieser  Erscheinungen  unter  die  Bezeichnung  »Forme 
unterordnen  dürfen,  so  sind  die  von  ihnen  ausgelösten  GefOhle  Form- 
gefOhle  zu  nennen.  Jedenfalls  meinen  wir  mit  Formgeffihlen  solche 
Gefühle  und  außerdem  ihre  Verbindungen,  sofern  sie  als  von  inhalt- 
lichen Einflüssen  frei  gedacht  werden  können. 

An  den  Harmoni^efühlen  sind  die  einzelnen  Tatbestände  genau 
untersucht  worden.  Namentlich  die  Tonpsychologie  kämpft  wacker 
mit  den  Schwierigkeiten,  die  aus  den  Harmonien  und  Disharmonien 
der  Klänge  der  Erklärung  entg^entreten.  Für  uns  ist  die  Hauptfrage 
jetzt  nur  diese:  ob  die  Harmoniegeffihle  aus  der  Verknüpfung  der 
sinnlichen  Einzelgefühle  oder  unabhängig  von  ihnen  sich  bilden.  Da 
die  Wahrnehmung  einer  schmutzigen  Farbe  durchschnittlich  unlustvoll, 
diejenige  einer  leuchtenden  Farbe  lustvoll  zu  sein  pflegt,  so  könnte 
aus  der  Gleichzeitigkeit  beider  Gefühle  ein  drittes  Gefühl,  nämlich  das 
der  Dissonanz,  sich  entwickeln.  Oder  es  entstünde  das  Harmonie- 
gefflhl,  indem  die  Lustqualitäten  zweier  leuchtenden  Farben  sich  ver- 
einigten. An  diesem  Beispiel  wird  klar,  daß  es  sich  nicht  so  verhalten 
kann.  Denn  nicht  beliebige  zwei  Farben,  auch  wenn  sie  noch  so 
gesättigt  und  strahlend  sind,  wecken  durch  ihr  räumliches  Neben- 
einander das  Harmoniegefühl,  sondern  nur  bestimmte  Farben  (s.  S.  121). 
Es  haftet  also  das  Harmoniegefühl  an  der  bloßen  Wahrnehmung,  ge- 
nauer gesagt,  an  einer  Verwandtschaft  der  Teilfaktoren,  die  mit  ihnen 
selbst  zugleich  aufgefaßt  wird.  Und  nur  weil  es  so  ist,  haben  wir 
das  Recht,  die  Harmoni^efühle  theoretisch  von  den  Sinnesgefühlen 
ateulösen;  im  anderen  Fall  wären  sie  komplizierte  Sinnesgefühle.  Das- 
selbe gilt  von  den  Verhältnissen  bei  Klängen.  Leider  sind  sie  im 
Qbr^n  so  verwickelt  und  umstritten,  daß  eine  ausreichende  Darstel- 
lung einen  ungebühriich  großen  Raum  beanspruchen  müßte.  So  ge- 
nüge der  Hinweis  darauf,  daß  die  besonderen  Gesetze  der  sichtbaren 
und  der  höri>aren  Harmonie  recht  verschiedene  sind.  Zwei  Klänge 
etwa,  die  nur  wenig  voneinander  abstechen,  ergeben  bei  gleichzeitiger 
Auffassung  eine  Dissonanz,  während  zwei  nahe  verwandte  Farben 
zueinander  passen.  Linien  hingegen  verhalten  sich  wieder  wie  Klänge: 
die  geringfügige  Verschiebung  einer  Seite  eines  Quadrats  wirkt  miß- 
fällig, die  erhebliche  macht  eine  neue  Form  aus  der  alten  und  läßt  das 
Unlustgefühl  einer  nicht  erreichten  Gleichläufigkeit  dieser  Gegenseiten 
nicht  aufkommen. 

Bei  den  Proportiongefühlen  interessiert  vornehmlich  der  Umstand, 
daß  die  Hälften  einer  Raumgestalt  trotz  sehr  verschiedenartiger  Aus- 
füllung als  symmetrisch  empfunden  werden  können*).  Man  hat  das 
Problem  in  die  Sprache  des  psychologischen  Versuchs  übersetzt  und 


174  rV'.  DER  JVSTHETISCHE  EINDRUCK. 

folgende  Fragen  aufgeworfen:  Wenn  in  einer  beliebigen  Entfemung 
vom  Mitteipunkt  eines  Quadrats  auf  der  einen  Seite  eine  Linie  von 
bestimmter  Lange  sich  befindet,  wohin  muß  eine  doppelt  so  lange 
Linie  auf  der  anderen  Seite  gestellt  werden,  damit  die  Anordnung 
wohlgefällig  wird?  Wenn  links  eine  Linie  ist,  wohin  kommen  dann 
rechts  zwei  oder  mehr  Linien?  Wie  verteilen  sich  am  besten  UmeOy 
die  verschiedene  Richtung  haben?  Wie  die  Farben  ihrer  Leucfaflcraft 
nach,  ganz  abgesehen  von  qualitativer  Übereinstimmung  und  quali- 
tativem Widerspruch?  —  Die  Fragen  lassen  sich  ins  Unendliche  ver- 
mehren. Für  die  Beantwortung  kommt  es  darauf  an,  was  man  vom 
ästhetischen  Gegenstand  verlangt  Will  man,  daß  er  recht  bequeme 
Augenbewegungen  hervorruft,  so  urteilt  man  anders,  als  wenn  man 
dauernde  Anziehungskraft  wünscht  Deshalb  sei  ausdrücklich  betont: 
im  Augenblick  kümmert  uns  nur  die  psychologische  Seite  der  früher 
geschilderten  Isodynamie,  d.  h.  wir  nehmen  an,  daß  die  rechte  und 
linke  Hälfte  eines  Bildes  ungeachtet  mangelnder  Kongruenz  als  gleicb- 
wertig  empfunden  werden  und  fragen  nach  der  Erklärung.  Ob  das 
Bild  auch  ohne  diese  Gleichwertigkeit  der  Hälften  schön  bliebe,  geht 
uns  hier  nichts  an.  Die  ausführlichste  Theorie,  die  wir  besitzen,  be- 
ruft sich  auf  die  zum  Betrachten  nötigen  Augenbew^;ui^;en,  deren 
Stärke  wir  unwillkürlich  auf  die  Linien  und  Flächelformen  als  ihr  Ge- 
wicht übertragen  sollen.  Ein  Beispiel  Nahe  dem  Mittelpunkt,  auf 
den  unser  Auge  eingestellt  ist,  sehen  wir  eine  lange  Linie,  machen 
also  eine  ziemlich  ausgiebige  Augenbewegung.  Dadurch  balanciert 
diese  Linie  eine  andere,  weit  entfernte,  aber  kleine  Linie,  denn  um  sie 
mit  dem  Blick  zu  erreichen  ist  eine  ebenso  ausgiebige  Augenbew^^ung 
erforderlich  und  nicht  die  Richtung,  sondern  bloß  die  Stärke  der 
Augenbewegungen  wird  verglichen.  Die  Anordnung  ist  demnach 
wohlgefällig,  weil  auf  beiden  Seiten  die  gleichen  Bew^^ungsanreize 
hervorgerufen  werden. 

So  sollen  nun  überhaupt  alle  Inhalte  sich  kompensieren,  da  auch 
andere  Spannungsempfindungen,  zumal  die  mit  der  Aufmerksamkdt 
zusammenhangenden,  in  Rechnung  zu  seteen  sind.  Je  weiter  etwa 
eine  Farbe  vom  Mittelpunkt  entfernt  ist,  desto  heller  muß  sie  sein,  um 
die  Aufmerksamkeit  zu  fesseln  und  dadurch  den  Formen  und  Farben 
des  anderen  Raumteils  das  Gleichgewicht  zu  halten.  Selbst  das  sach- 
liche Interesse,  das  eine  dargesteUte  Szene  weckt,  kann  sie  ausgleichen, 
denn  jede  die  Aufmerksamkeit  erregende  inhaltliche  Beschaffenheit  hat 
in  Muskelsinnvorgängen  ihre  physiologische  Unterlage.  Wir  haben 
uns  die  Bildfläche  einer  Zielscheibe  ähnlich  zu  denken,  auf  der  jeder 
Fleck  einen  Zählwert  hat,  aber  nicht  nur  entsprechend  der  Entfernung 
vom  Zentrum,  sondern  auch  entsprechend  der  Ausfüllung.    Diese  Vor- 


DIE  FORMGEFÜHLE.  175 


'  Stellung  stimmt  trefflich  zu  einer  später  zu  entwickelnden  Theorie,  der- 

•  zufolge  die  Wohlgefälligkeit  eines  Bildes  an  ein  ihm  zu  Grunde  li^en- 

•  des  formal  schönes  Muster  geknüpft  ist    Schade  nur,  daß  über  die 

•  Zählweise  feste  Vorschriften  nicht  bestehen.    Man  kann  sowohl  den 

•  mittleren  Partien  als  auch  den  Außenteilen  der  Fläche  den  größeren 
^  Wert  beilegen.  Denn  wenn  man  vom  Bild  erwartet,  daß  es  von  einem 
f  Brennpunkt  aus  scheinbar  ins  Grenzenlose  verfließe,  so  wird  der 
I  Künstler  alle  starken  Linien  und  leuchtenden  Farben  sowie  alles  sach- 
I  lieh  Wichtige  in  der  Mitte  zusammenfassen  und  nach  den  Rändern 
I  zu  immer  schwächere  Farben  und  unbedeutendere  Gestalten  anordnen 
f  müssen.  Verlangt  man  hingegen,  daß  der  Blick  mit  gleicher  Stärke 
I  nach  jedem  Punkt  der  Fläche  gezogen  werde,  so  muß  als  Anreiz  dieser 
i  Blickwanderung  gerade  in  den  Außenteilen  der  scharf  begrenzten 
t    Fläche  die  leuchtende  Farbe  und  die  gewichtige  Form  stehen.    Tat- 

•  sächlich  gibt  es  in  Meisterwerken  der  Malerei  Beispiele  für  das  eine 
r  und  für  das  andere  Verfahren;  zur  Entscheidung  der  Frage,  sofern  sie 
I  überhaupt  möglich  ist,  sind  also  noch  andere  Gesichtspunkte  nötig 
i    als  die  uns  hier  zur  Verfügung  stehenden. 

Jedenfalls  sollte  unterschieden  werden  zwischen  der  Leichtigkeit 
der  Augenbewegungen  und  dem  Gleichgewicht  der  Komposition.  Zum 
ästhetischen  Wert  gehört  eine  (zufällig  vorhandene  oder  künstlich  her- 
gestellte) Raumanordnung,  in  der  das  Auge  leicht  und  sicher  sich 
zurechtfindet.  Aber  diese  Orientierungsarbeit  des  Auges  fällt  nicht  in 
vollem  Umfang  mit  der  mehr  oder  weniger  großen  Bequemlichkeit  der 
Augenbewegungen  zusammen.  Sonst  müßte  ja  jede  Senkrechte  häß- 
licher sein  als  jede  Wagerechte;  der  uns  vom  Schreiben  her  geläufige 
Bewegungszug  von  links  nach  rechts  müßte  wohlgefälliger  sein  als 
die  umgekehrte  Richtung;  ein  rechtwinkeliger  Mäander  müßte  hinter 
der  Wellenlinie  erheblich  an  ästhetischem  Wert  zurückbleiben.  Dies 
alles  ist  nicht  der  Fall,  und  so  scheint  Lotze  im  Recht  zu  sein,  wenn 
er  behauptet,  wir  brächten  die  Mühe  der  Augenbewegungen  von  vorn- 
herein in  Abzug.  Ein  weiterer,  übrigens  schon  geltend  gemachter 
Grund  liegt  darin,  daß  der  Betrachter  nur  selten  mit  dem  Blick  Punkt 
für  Punkt  den  Linien  folgt.  Es  dürfte  also  höchstens  der  Ansatz  zu 
solchen  abtastenden  Augenbew^ungen  in  die  elementarästhetische 
Rechnung  eingestellt  werden,  und  das  würde  die  Frage  vom  physio- 
logischen aufs  psychologische  Gebiet  verschieben.  Alsdann  nämlich 
handelt  es  sich  nicht  um  ausgeführte  Augenbewegungen,  sondern  um 
Richtungen  der  Aufmerksamkeit  oder  allgemeiner:  der  auffassenden 
Tätigkeit    Und  darum  dreht  es  sich  wohl  wirklich  letzten  Endes. 

Wir  gehen  weiter.  Von  der  Symmetrie  war  schon  gesagt  worden, 
daß  sie  infolge  unvermeidlicher  Augentäuschung  für  senkrechte  Linien 


176 


IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 


keine  gefallende  Einteilung  bildet  Jetzt  fugen  wir  ergänzend  hmzu, 
daß  auch  bei  einem  ungenauen  mathematischen  Verhältnis,  das  aber 
uns  als  das  Verhältnis  1:1  erscheint,  an  starker  Dndruck  nidit  sidi 
einstellt  Vielmehr  werden  das  Verhältnis  1:2  und  die  GBedenii^ 
nach  dem  goldenen  Schnitt  vorgezogen.  Wir  Oberzeugen  uns  an  den 
folgenden  vier  Linien,  von  denen  a  nach  der  mathematischen  Mitten 
b  nach  dem  Augenmaß  halb  geteilt  ist,  während  c  das  Verhältnis  des 
goldenen  Schnittes,  d  das  von  1 :2  aufweist 

Hg.  9. 


a 


Warum  behagt  uns  die  subjektiv  richtige  Halbteilung  hier  nicht? 
Sie  ist  bei  einfachen  Linien  langweilig,  bei  reicheren  ästhetischen 
Gegenständen  geradezu  unschön.  Nach  den  früheren  Darlegungen 
dürfen  wir  die  Erklärung  darin  vermuten,  daß  die  Teile  in  senkrechter 
Richtung  nie  den  Charakter  des  Gleichgewichts  empfangen;  dar  Ein- 
fluß der  Erfahrung,  daß  nur  nebeneinander  wirkende  Kräfte  sich  die 
Wage  halten,  verrät  sich  in  der  ästhetischen  Beurteilung  des  überein- 
ander Stehenden.  Warum  gefallen  die  anderen  Proportionen?  Nicht 
durch  Gleichgewicht,  sondern  durch  eine  Gliederung,  die  beide  Teile 
deutlich  abtrennt  und  mit  dem  größeren  Teil  den  Grundcharakter  des 
Gebildes  bestimmt     Neuere  Analysen*)  legen  die  Auffassung  nahe, 


Flg.  10. 


daß,  wenn  in  einem  nach  dem  goldenen  Schnitt  konstruierten  Recht- 
eck die  wagerechten  Seiten  den  Maior  bilden,  der  Eindruck  einer 
ruhenden  Gestalt  entsteht,  in  der  indessen  die  anderen  Seiten  als  kon- 
trastierende Gegenglieder  mit  einer  gewissen  Selbständigkeit  auftreten. 


DIE  FORMGEFÜHLE. 


177 


Verkürzt  man  sie,  so  entsteht  eine  Schmächtigkeit,  die  anscheinend  fOr 
vfde  Beobachter  mißfällig,  für  mich  persönlich  nicht  ohne  formalen 
Reiz  ist  Das  Rechteck,  dessen  Maior  die  Senkrechte  ist,  erhebt  oder 
streckt  sich;  nur  steht  es  nicht  so  dünn  und  verlassen  da  wie  eine 
schmale  Doppellinie  (die  übrigens  auch  ihren  ästhetischen  Wert  hat), 


Flg.  11. 


sondern  gewinnt  durch  die  unverkennbare  Kraft  der  breiten  Seite  eine 
gewisse  Fülle  oder  Körpertichkeit 

Nach  allem  dem  wird  die  Wissenschaft  recht  behutsam  in  ihren 
theoretischen  Feststellungen  sein  müssen.  Es  ist  wohl  nicht  mehr  zu 
sagen  als  was  gesagt  worden  ist:  Wenn  Rechtecke  der  ästhetischen 
DoppeKorderung,  einen  bestimmten  Typus  und  eine  Mannigfaltigkeit 
zu  haben,  nachkommen  sollen,  so  können  sie  nicht  anders,  als  sich 
dem  goldenen  Schnitt  nähern.  Dies  bedeutet  wiederum,  daß  nicht  das 
mathematische  Verhältnis,  sondern  ein  allgemeineres  ästhetisches  Oesetz 
dk  Oestaltform  bestimmt.  Da  aber,  wie  früher  gezeigt  wurde,  die 
Summe  der  zwei  verschiedenen  Rechteckseiten  nicht  ebenso  unmittel- 
\m  dem  Bewußtsein  gegeben  ist  wie  jede  einzelne  von  ihnen,  so  nähert 
sich  der  gesamte  Formeneindruck  solchen  Gestalten,  die  man  kom- 
binierte nennt  Das  einfachste  und  bekannteste  Beispiel  für  den  Ein- 
floß der  Kombination  ist  die  Zusammenstellung  eines  Kreises  mit  einem 


Hg.  12. 


QitadraL  Steht  der  Kreis  im  Quadrat,  so  gefällt  die  Figur  sehr  viel 
whr,  als  wenn  das  Quadrat  dem  Kreise  eingeschrieben  wird.  Das 
cingdchriebene  Quadrat  nämlich  wirkt  steif  w^en  der  aufdringlich 

Dtstoir,  AflClMtik  oad  tilg.  KaMtwiuensduft.  12 


l 


178  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

hervortretenden  geraden  Linien  und  weil  der  umschließende  Kreis  als 
zu  wenig  fest  empfunden  wird;  im  anderen  Fall  dagegen  werden  die 
scharfen  Ecken  des  Quadrates  für  die  Auffassung  gewissermaßen  ab- 
gestumpft. Unter  allen  Umständen  wirkt  jeder  der  beiden  Teile  auf 
den  anderen  ein  und  erzeugt  durch  die  verschiedene  Raumanordnung 
ein  besonderes  ästhetisches  Gefühl.  Das  gilt  auch  von  den  in  Zeichnung 
beigefügten  Kombinationen  zwischen  Kreis  und  Dreieck. 

Fig.  13. 


Wir  müssen  nunmehr  die  Formgefühle  kennen  lernen,  die  von 
Rhythmus  und  Metrum  hervorgerufen  werden.  Sie  werden  meist  mit 
der  Freude  an  der  Bewegung  in  einen  Zusammenhang  gebracht 

Bewegungen  in  den  Sinnesorganen  sowie  im  übrigen  Körper  können 
leicht  einen  Lustwert  erhalten;  doch  hat  er  nichts  mit  dem  ästhetischen 
zu  tun.  Nach  langer  Ruhe  ist  jede  Bewegung  lustvoll;  im  körperlichen 
und  im  seelischen  Schmerz  erweist  sich  heftige  Körperbewegung  als 
brauchbares  Anästhetikum:  Byron  betäubte  den  Schmerz  um  den  Tod 
seiner  Mutter,  indem  er  boxte  —  echt  englisch  und  doch  zugleich  echt 
menschlich.  Bewegung,  die  schnell  und  sicher  auf  ein  Ziel  hinfuhrt, 
ja  selbst  das  passive  Bewegtwerden  in  einem  dahinsausenden  Oefährt 
wird  lebhaft  genossen.  Weil  wir  uns  vom  Gesetz  der  Trägheit  be- 
freit fühlen  und  über  die  Schwere  triumphieren,  deshalb  erfreuen  wir 
uns  an  solchen  Bewegungen  und  ebenso  an  den  Träumen,  worin  wir 
die  Kunst  des  Fliegens  üben.  Aber  alle  diese  Gefühle  sind  keine 
ästhetischen  Formgefühle.  Das  Formgefühl  bezieht  sich  ausschließlich 
auf  die  rhythmische  Bewegung.  Es  gibt  genug  rhythmische  Be- 
wegungen außerhalb  der  Kunst,  vor  allem  beim  Arbeiten  und  beim 
Sprechen.  Ihr  Rhythmus  wird  als  eine  das  Objekt  ordnende  und  die 
Seelentätigkeit  erieichtemde  Formung  genossen  und  kann  in  Kunst- 
rhythmus übergeführt  werden.  Haben  wir  nun  in  ihm  den  ursprüng- 
lichen Rhythmus  zu  erblicken?  Ich  frage  nicht  nach  jenen  periodisch 
ablaufenden  Bewegungen  des  tierischen  Organismus,  aus  denen  man 
früher  den  Rhythmus  ableiten  wollte.  Denn  von  der  Periodizität  in 
Atmung  und  Pulsschlag  weiß  der  natüriiche  Mensch  so  wenig,  daß 
er  sie  schweriich  zur  Grundlage  seiner  rhythmischen   Schöpfungen 


DIE  FORMGEFÜHLE.  HQ 


machen  kann.  Aber  wie  steht  es  mit  den  unwillkürlich  im  Rhythmus 
verlaufenden  und  bewußt  aufgefaßten  Bewegungen  bei  Arbeit  und 
Spiel?  Liegt  in  ihnen  der  Ursprung  des  akustischen  Rhythmus?  Ist 
der  eigentliche  Ort  des  Rhythmus  innerhalb  des  Bewegungssinnes  zu 
suchen?  Wir  besitzen  darüber  zwar  Theorien,  aber  keine  wirklich 
entscheidenden  Untersuchungen.  Wir  wissen  also  nicht,  ob  der  Be- 
wegungsrhythmus die  Ursache  und  der  Tonrhythmus  seine  Wirkung 
ist  Nur  das  eine  steht  fest,  daß  beide  Reihen  teils  parallel  nebeneinander 
laufen,  teils  miteinander  verschmelzen.  Und  ebenso  sicher  ist,  daß  es 
unzweckmäßig  wäre,  von  dem  Bewegungsrhythmus  auszugehen,  da  er 
nur  in  der  eigenen  Körperbewegung  voll  empfunden  wird  und  diese 
Identität  eines  genießenden  und  schaffenden  Ich  unsere  Betrachtung 
aus  ihrem  gewohnten  Lauf  ablenken  würde.  Wir  sprechen  also  zu- 
nächst und  vornehmlich  vom  Tonrhythmus. 

Es  ist  gefragt  worden,  ob  der  akustische  Rhythmus  am  deutlichsten 
aufgefaßt  werde  in  den  elementaren  Formen  des  psychologischen  Ver- 
suchs oder  in  den  von  der  Kunst  geschaffenen  Gebilden.  Anscheinend 
müßte  der  Rhythmus  an  Eindringlichkeit  vertieren,  sobald  neue  Momente 
zu  ihm  hinzutreten,  wie  etwa  in  der  Musik  die  gleichzeitige  und  auf- 
einander folgende  Harmonie.  In  Wahrheit  genießt  man  gerade  an  musi- 
kalischen und  poetischen  Formen  den  Rhythmus  am  sichersten  und 
längsten,  denn  gegenüber  einer  Folge  von  bloßen  Schalleindrücken  ver- 
sagen sehr  bald  Aufmerksamkeit  und  Genuß.  Prüfen  wir  uns  also 
beim  Hören  von  Musik  und  Poesie 

Als  das  Wesentliche  des  rhythmischen  Eindrucks  hat  man  den  zeit- 
lichen Ablauf  in  Spannung  und  Lösung  bezeichnet  Doch  ist  diese 
Behauptung  nur  bedingt  richtig.  Der  Regel  nach  wird  die  nächste 
Betonung  nicht  mit  vollem  Bewußtsein  erwartet  und  als  eine  Lösung 
der  Spannung  empfunden,  sondern  man  findet  in  sich  nur  eine  an- 
schwellende und  nachlassende  allgemeine  Tätigkeit  Die  innere  Akti- 
vität kennt  Höhe-  und  Tiefpunkte  —  bei  weitergehender  Zeriegung 
würde  sich  das  rhythmische  Gebilde  auflösen  und  in  zusammenhang- 
k>$e  Teile  zerfallen.  Dieses  Auf  und  Nieder  des  rhythmischen  Verlaufs 
verführt  zu  einer  Vergleichung  mit  der  Wellenbewegung  im  Ablauf 
mancher  Affekte,  zu  einer  Vergleichung,  die  aus  der  formalen  Ähnlich- 
keit im  zeitlichen  Abrollen  von  Rhythmus  und  Affekt  den  ästhetischen 
Erregungswert  der  rhythmischen  Formen  unschwer  verständlich  macht 
Trotzdem  muß  sie  beanstandet  werden  und  zwar  erstens  deshalb,  weil 
Rhythmus  ohne  jede  stärkere  Gemütserregung  genossen  werden  kann, 
zweitens,  weil  die  strenge  Ordnung  dieses  Ablaufs  mit  dem  B^[riff 
des  Affektes  schwer  vereinbar  ist 

Ein  weiteres,  ebenfalls  strittiges  Problem  berühren  wir  t>ei  der  Frage 


180  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINE«UCK. 

nach  dem  Eindrucks  wert ,  den  die  Geschwindigkeit  der  rhythmischen 
Form  haben  mag.  Jedermann  weiß,  daß  eine  natürliche  Neigung  be- 
steht, das  Tempo  beim  Vortrag  musikalischer  und  poetischer  Werke 
zu  beschleunigen.  Natur-  und  Kulturmenschen  pfl^en  beim  Tanzen 
in  immer  größere  Geschwindigkeit  überzugehen.  Die  Musik  wird 
diesem  Bedürfnis  nach  wachsender  Schnelligkeit  dadurch  gerecht,  daß 
sie  an  den  Schluß  mehrsitziger  Gebilde  fast  stets  einen  raschen  Satz 
stellt.  Solche  Tempoänderungen  beeinflussen  außerordentlich  stark  den 
ästhetischen  Charakter,  stärker  als  jede  Veränderung  in  der  Intensität 
der  Töne.  Man  spiele  ein  Musikstück  erst  leise  und  dann  laut;  der 
Abstand  ist  erheblich.  Aber  er  erweitert  sich  noch  viel  mehr,  sobald 
eine  Änderung  im  Tempo  vorgenommen  wird:  das  Stück  ist  nicht 
wieder  zu  erkennen,  wenn  es  um  sehr  viel  schneller  oder  langsamer 
vorgetragen  wird.  Nicht  anders  beim  Sprechen.  Auf  der  Bühne  ent- 
scheidet durchaus  das  Tempo  der  Rede,  und  jedem  Schauspieler  der 
älteren  sowie  der  allemeusten  Richtung  dürfte  b^reiflich  sein,  weshalb 
vor  hundert  Jahren  Theaterleiter  die  Aufführungen  von  Versdramen  mit 
dem  Taktstock  in  der  Hand  dirigierten.  Für  die  Musik  kommt  nun 
allerdings  noch  ein  Zusammenhang  zwischen  Tempo  und  Tonstärke 
in  Betracht.  Namhafte  Theoretiker  sind  der  Ansicht,  »daß  sich  der 
Tonstärkesteigerung,  der  positiven  Entwickelung  der  Dynamik  die  zu- 
nehmende Verkürzung  der  Werte,  die  Beschleunigung  geselle,  der 
Gipfelung  der  Dynamik  eine  plötzliche  Hemmung  und  dem  Rückgange 
der  Dynamik  das  Wiedereinlenken  von  der  Dehnung  zur  normalen 
Geltung  der  Werte ^®).«  Doch  ist  nachdrücklich  darauf  hinzuweisen, 
daß  dieser  eintönige  Verlauf  sowohl  vom  vorschreibenden  Tonsetzer 
als  auch  vom  ausführenden  Künstler  oft  genug  durchbrochen  wird. 
Wir  kehren  nun  wieder  zum  eigentlichen  Rhythmus  zurück.  Die 
synthetische  Kraft  des  Rhythmus,  von  der  oben  bereits  die  Rede  war, 
macht  ihn  zu  einem  Mittel,  wodurch  eine  Anzahl  von  Eindrücken  zu 
einer  Einheit  zusammengefaßt  und  die  Folge  in  der  Zeit  richtig  wahr- 
genommen wird,  ohne  daß  doch  jedem  einzelnen  Taktschlag  die  gleiche 
Bedeutung  veriiehen,  d.  h.  die  gleiche  Aufmerksamkeit  zugewendet 
würde.  Zweifellos  ist  für  das  rhythmische  Gefühl  sehr  wesentlich  der 
Umstand,  daß  die  Ordnung  sicher  aufgefaßt  wird  trotz  ungleicher  Ver- 
teilung der  Aufmerksamkeit;  die  unbetonten  Klänge  oder  Silben  ver- 
langen keine  Anstrengung  von  uns,  und  dennoch  bleibt  der  Zusammen- 
hang der  Gruppe  in  sich  und  mit  anderen  Gruppen  vollkommen 
übersichtlich.  In  der  täglichen  Erfahrung  fassen  wir  wohl  auch  zu- 
sammen, was  objektiv  ganz  ungleichartig  und  lediglich  durch  die  Ein- 
heit des  Bewußtseinsaktes  zusammengehalten  ist  Bei  rhythmischen  Ge- 
bilden  fühlen    wir   uns   nicht   von   der  Zufälligkeit  beliebiger  Erdg- 


DIE  FORMGEFOliLE.  181 


nisse  beherrscht,  da  der  Ablauf  unseren  natürlichen  Erwartungen  ent- 
spricht Im  Hinblick  hierauf  und  unter  Benutzung  einer  bestimmten 
Theorie  der  Aufmerksamkeit  kann  jedes  rhythmische  Olied  als  eine 
Spannung  und  Entspannung  der  Aufmerksamkeit  gelten.  Wenn  die 
Psychologen  recht  haben,  die  der  durchschnittlichen  Aufmerksamkeits- 
periode eine  Dauer  von  einer  Sekunde  beimessen,  und  wenn  die  ex- 
perimentelle Ästhetik  mit  Recht  dem  rhythmischen  Oliede  gleichfalls 
eine  Dauer  von  einer  Sekunde  zuschreibt,  so  würden  beide  Tatsachen 
aufs  glücklichste  übereinstimmen.  Aber  es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß 
alle  diese  Aufstellungen  erheblich  von  theoretischen  Voraussetzungen 
beeinflußt  sind:  sowohl  über  die  Perioden  der  Aufmerksamkeit  als  auch 
über  die  Länge  rhythmischer  Glieder  sind  die  Untersuchungen  nicht 
ganz  einhellig.  Zu  der  Bewegung  der  Aufmerksamkeit  gesellt  sich  femer 
das  Verhältnis  des  Rhythmus  zum  Gedächtnis.  Schon  aus  unserer  täg- 
lichen Erfahrung  wissen  wir,  daß  Poesie  leichter  und  schneller  gelernt 
sowie  treuer  und  dauerhafter  behalten  wird  als  ein  in  Prosa  geschrie- 
benes Stück.  Außerdem  aber  hat  auch  die  experimentelle  Psychologie 
den  Beweis  geliefert,  indem  sie  feststellte,  daß  wir  beim  Lernen  sinn- 
k>ser  Silben  unwillküriich  ein  (trochäisches)  Metrum  uns  bilden  und 
durch  diesen  subjektiv-rhythmischen  Zusammenhang  eine  Ersparnis  an 
Wiederholungen  erzielen,  die  zur  Einprägung  der  Sill>en  notwendig 
sind.  Der  Wortrhythmus  besitzt  also  einen  gedächtnistechnischen 
Wert  Das  Gleiche  kann  ohne  weiteren  Beweis  vom  Klangrhythmus 
angenommen  werden.  — 

Ober  die  besonderen  Gefühle,  die  sich  an  das  absolute  Quantum 
anschließen,  ist  das  meiste  bereits  im  Abschnitt  über  den  ästhetischen 
Gegenstand  gesagt  worden.  Raumverbrauch,  zeitliche  Ausdehnung  und 
Intensität  werden  mit  besonderen  Gefühlen  beantwortet,  die  sich  schließ- 
lich zu  dauernden  ästhetischen  Stimmungen  auswachsen  können.  Je 
beträchtlicher  die  Quanta  sind,  desto  heftiger  arbeitet  der  Regel  nach 
unsere  Auffassungstätigkeit,  weil  es  ihr  nur  mit  Mühe  gelingt,  das  Ob- 
jekt zu  einem  Ganzen  abzuschließen.  Immerhin  nehmen  auch  kleine, 
kurz  dauernde,  wenig  intensive  Dinge  oder  Vorgänge  die  den  Genuß 
bedingende  Hinwendung  der  Seele  in  bestimmter  Weise  in  Anspruch, 
wenn  sie  üt>erhaupt  als  frisch  sprudelnde  Quellen  ästhetischer  Freude 
gelten  können.  Nun  ist  aber  femer  zu  untersuchen,  soweit  es  in  ele- 
mentarer Weise  hier  geschehen  kann,  welcher  Eindruck  aus  dem  Zu- 
sammen von  Harmonie-  und  Gestaltgefühlen  sich  ergibt  Die  Harmonie 
der  Klänge  vermählt  sich  mit  dem  Rhythmus,  die  Harmonie  der  Farben 
mit  der  Proportion.  Wir  nennen  diesen  Verknüpfungsvorgang  eine 
Komplikation  und  das  daraus  entstehende  Gefühl  ein  Komplikations- 
geffihl.    Wo  jene  zwei  Faktoren  sich  zusammenfinden,  da  pflegt  der 


182  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

qualitative  Bestandteil  die  Mannigfaltigkeit,  der  Rhythmus  aber  und  die 
Gestalt  die  Einheit  zu  liefern.  Während  die  Töne  wechsdn,  bleibt  der 
Rhythmus  derselbe,  und  in  der  Vielheit  der  Fsshen  ist  Aen  die  Raum- 
anordnung das  Mittel  der  Verbindung.  Nd>en  den  aus  MusQc  und 
Malerei  bekannten  Verknüpfungen  steht  die  Verknüpfung  zwisdiai 
Rhythmus  und  Proportion,  die  den  Eindruck  der  schönen  Bew^[ung 
hervorbringt  Überall  dort,  wo  Körperstellungai  geBlliger  Art  in 
deutlich  rhythmischer  Weise  aufeinander  folgen,  arhaltai  sie  einen 
starken  ästhetischen  Wert,  der  dem  Wert  des  Omamaites  oder  der 
abstrakteren  Musikformen  nahesteht  Ein  solcher  Reigen  oder  Tanz 
gefällt,  auch  ohne  daß  er  Seelenvorgänge,  zumal  Affekte  zum  Ausdruck 
bringt  In  den  genannten  drei  Komplikationen  bewahren  die  Bestand- 
teile im  allgemeinen  ihre  selbständige  Wirkungskraft  und  gewinnen 
durch  ihre  Vereinigung  den  schon  häufig  erwähnten  OberschuB  an 
ästhetischer  Wertigkeit  Das  ist  das  dürftige,  doch  wenigstens  sichere 
Ergebnis.  Wir  haben  freilich  weiter  spannende  Theorien,  aber  sie 
gelten  nur  unter  der  Voraussetzung  einer  bestimmten  Gefuhlspsycho- 
logie.  So  wird  beispielsweise  angenommen,  daß  das  Gefühl  nach  drei 
Dimensionen  hin  sich  in  G^ensäteen  bew^e:  als  Lust  —  Unlust,  Er- 
regüng  —  Beruhigung  und  Spannung  —  Lösung.  Nun  sollen  die  Ab- 
stufungen von  Lust  —  Unlust  sich  durch  die  Klangharmonien  und  -dis- 
harmonien  herstellen,  während  vom  Rhythmus  Err^[ung  —  Beruhigung 
ausgehen  und  Spannung— Lösung  sowohl  durch  rhythmische  wie  durch 
harmonische  Vorgänge  zu  stände  kommen,  im  letzten  Fall  nämlich 
durch  die  Aufhebung  von  Dissonanzen.  So  sinnreich  diese  Zeri^[ung 
auch  ist,  sie  wird  bei  der  Durchführung  zu  einem  hinderiichen  Schema 
und  verfährt  gewaltsam  mit  den  Tatsachen  der  Musik.  Vor  allem  jedoch: 
die  Mannigfaltigkeit  unterscheidbarer  Gefühle  läßt  sich  nicht  unter  das 
dreigeteilte  Joch  beugen.  Wir  werden  uns  davon  überführen,  wenn 
wir  uns  späterhin  mit  der  Musik  beschäftigen. 

Hier  nur  noch  eine  nötige  Ergänzung.  Die  Töne  in  einer  Melodie, 
die  Linien  in  einer  Figur,  kurz  die  Teile  des  ästhetischen  Gegenstandes, 
soweit  er  lediglich  Form  ist,  stehen  in  gewissen  Verhältnissen  zu- 
einander: der  soeben  gehörte  Ton  ist  höher  als  der  voraufgehende  und 
tiefer  als  der  nachfolgende,  der  obere  Abschnitt  einer  Senkrechten  ist 
gleich  ihrem  unteren  Abschnitt  (nicht  für  die  Messung,  sondern  für 
den  Eindruck)  und  so  fort.  Ist  nun  in  den  einzelnen  Vorstellungen 
selber  schon  das  Verhältnis  zu  den  Mitinhalten  g^^eben  oder  bedarf 
es  eines  Vergleichungsurteils,  um  seiner  habhaft  zu  werden?  Mir 
scheint,  daß  Erfahrung  und  wissenschaftliche  Notwendigkeit  gleicher- 
maßen zur  zweiten  Deutung  drängen.  In  einem  gehörten  Klange  a^ 
li^  vieleriei,  aber  nicht,  daß  er  höher  ist  als  as  \   Niemand  kann  der 


DIE  INHALTSGEFÜHLE.  183 


Farbe  Grün  ansehen,  daß  sie  nicht  rot  ist  (wie  ihre  Nachbarfarbe), 
sondern  sie  ist  und  bleibt  ausschließlich  grün,  und  durch  einen  Denk- 
akt  wird  die  Abweichung  innerlich  festgestellt  Die  Gleichheit  oder 
Ungleichheit  von  Größen  und  Stärken  erschließt  sich  erst  einem  Ver- 
gleichungsurteil. Auf  absoluten  Inhalten  bauen  sich  die  Beziehungen 
als  davon  unterscheidbare  Tatsachen  anderer  Ordnung  auf.  Wahr- 
nehmungs-  und  Vergleichungsurteile,  oft  von  sehr  zarter  und  schwe- 
bender Beschaffenheit,  ziehen  sich  durch  alle  Teile  des  ästhetischen 
Eindrucks  hindurch;  oft  werden  sie  erlebt,  oft  freilich  nur  erschlossen. 
Jedenfalls  sind  diese  intellektuellen  Vorgänge  unentbehrlich  für  die 
Formgefühle. 

Blicken  wir  zurück,  so  bemerken  wir,  daß  sich  das  magnetische 
Feld  der  Formgefühle  weithin  ausdehnt  In  den  einzelnen  Künsten 
kann  es  eine  Kraft  gewinnen,  von  der  nachdenkliche  Künstler  ebenso 
wie  philosophische  Ästhetiker  hingerissen  werden.  Flaubert  schrieb 
einmal:  ^Je  me  souviens  (Tavoir  eu  des  battements  de  coeur,  d*avoir 
ressenti  an  plaisir  violent  en  contemplant  an  mar  de  racropole,  an 
mar  tout  na  (celui  qai  est  ä  gauche  quand  on  monte  aux  Propylees). 
Eh  bien,  je  me  demande,  si  un  livre  independamment  de  ce  qa'il  dit, 
ne  peut  pas  produire  le  mime  effet?  Dans  la  pridsion  des  assem- 
blages,  la  rarete  des  elements,  le  poU  de  la  sarface,  Vharmonie  de 
Censemble,  n'y  a-t-U  pas  ane  verta  üitrinseqae,  ane  esphce  de  force 
divine,  qaelqae  chose  d^iternel  comme  an  principe  ?<^  (Lettres  ä  Oeorge 
Sand  p.  274.)  Unter  den  Ästhetikern  von  Fach  haben  wir  manche  an- 
getroffen, die  den  ästhetischen  Genuß  völlig  oder  doch  in  der  Haupt- 
sache an  die  Formen  binden.  Wenn  nun  ihre  Gegner  auch  alles  auf 
eine  Karte  setzen  und  behaupten,  daß  Formen  bloß  durch  den  Inhalt 
gefallen,  der  sich  in  ihnen  ausdrückt,  oder  durch  die  Bedeutung,  die 
sie  haben,  so  sind  sie  gleich  den  Formalisten  von  der  jetzt  vorwalten- 
den Ansicht  überwunden  worden,  und  diese  geht  dahin,  daß  eine 
mehrfache  ästhetische  Wirkung  besteht 


4.  Die  Inhaltsgefühle. 

Goethe  spricht  im  Spinozaaufsatz  vom  Jahre  1785  beiläufig  und 
abschätzig  über  die  Messung  der  Körperproportionen.  Der  bloß  räum- 
liche und  von  außen  stammende  Maßstab  lasse  das  Verhältnis  des 
Kopfes  zum  ganzen  Leib  zu  einem  simplen  Zahlenverhältnis  verküm- 
mern. Einen  ähnlichen  Vorwurf  erhebt  auch  Friedrich  Theodor  Vischer 
gegen  die  Anwendung  des  goldenen  Schnittes:  der  Kopf  falle  in  den 
Minor,  und  das  sei  widersinnig.    Ich  ziehe  diese  Beispiele  heran,  um 


184  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

ZU  zeigen,  wie  das  Gefühl  für  Inhalt  und  Sinn  von  Gd>ilden  sich 
g^en  die  genaueste,  das  ist  die  mathematische  Art  formaler  Betrach- 
tung empört 

Sehen  wir  uns  einmal  unter  dem  neuen  Gesichtspunkt  die  Teile 
des  menschlichen  Körpers  an.  Eine  kleine  Hand  geßllL  Sie  gefallt 
aber  nicht  als  schmale,  gestreckte  Form,  sondern  wdl  sie  vornehm 
erscheint,  unfähig  zu  Gewaltakten,  durchgebildet  von  einem  mit  höha-em 
Leben  vertrauten  Geist  Sie  umspannt  nichts  Plumpes  und  tragt  keine 
schweren  Lasten.  Der  leichte,  zierlich  gebaute  Fuß  gefallt,  weil  er 
nicht  mehr  als  ein  Stützpunkt  ist,  eher  zum  Schwd>en  geeignet  als 
zum  Stampfen.  Große  und  abstehende  Ohren  sind  häßlich,  denn  sie 
beanspruchen  gewissermaßen  eine  Bedeutung,  die  ihnen  nicht  zu- 
kommt, sie  laden  dazu  ein,  den  Kopf  wie  einen  Krug  an  den  Henkeln 
anzupacken.  Die  Nase  bildet  den  Obergang  von  Stirn  zu  Mund. 
Springt  sie  dreist  und  klobig  hervor,  so  schiebt  sie  sich  nicht  nur  aus 
der  ganzen  Linienführung  heraus,  sondern  scheint  einen  ihr  nicht  ge- 
bührenden Rang  zu  fordern.  Es  gefallen  uns  Formen  am  männlichen 
Körper,  die  am  weiblichen  häßlich  sind,  und  umgekehrt  Der  Grund 
ist  vielleicht  der,  daß  unsere  Auffassung  von  der  Natur  des  Mannes 
gewisse  eckige,  harte,  stark  betonte  Formen  erlaubt,  die  mit  unserer 
Vorstellung  vom  weiblichen  Charakter  nicht  übereinstimmen.  Aus 
solchen  Inhaltsgefühlen  heraus  reden  wir  von  der  kühn  geschwungenen 
Nase,  der  stolzen  Stirn,  dem  melancholischen  Auge  (dem  >Spi^[el  der 
Seele«),  indem  viele  sachliche  Erfahrungen  sich  zu  einer  im  einzelnen 
Fall  anwendbaren  Gesetzmäßigkeit  verdichtet  haben.  Diese  instinktive 
Beurteilung  der  Formen,  dem  Sprachgefühl  vergleichbar,  geht  immer 
auf  den  Sinn  der  Formen  und  wird  sehr  schnell  und  sicher  vollzogen« 
Sobald  sie  sich  aber  verlangsamt  und  mit  bewußtem  Nachdenken 
füllt,  verliert  die  Form  ihren  Charakter  als  natürliches  Zeichen  eines 
seelischen  Gehaltes  und  wird  —  wie  einige  Philosophen  sagen  — 
symbolisch  oder  —  wie  andere  sich  ausdrücken  —  all^orisch.  Das 
zweite  Wort  ist  wohl  geeigneter  als  das  erste.  Was  gemeint  ist, 
zeigen  alle  Personifikationen  von  Begriffen  z.  B.  die  der  Verleumdung 
durch  Apelles,  zeigt  noch  klarer  die  Analyse  eines  Falles,  wo  ndben 
natüriicher  Symbolik  künstliche  Allegorie  ^^)  sich  findet  Carriere  hat 
einmal  die  Attribute  zergliedert,  die  Lysipp  dem  Kairos,  der  Darstel- 
lung des  günstigen  Augenblicks,  gegeben  hat  Die  Statue  hat  fHügd 
und  ist  in  eiligem  Laufe  begriffen,  vom  an  der  Stirn  ist  das  Haupt- 
haar voll,  hinten  dagegen  kurz  geschoren.  Daß  das  Glück  vorüber 
eilt  und  beim  Schopf  ergriffen  werden  muß,  mag  vielleicht  griechischen 
Betrachtern  gegenwärtig  gewesen  und  daher  als  etwas  objektiv  in  dem 
Kunstwerk  Liegendes  erschienen   sein  —  obgleich    auch   dies    recht 


DIE  INHALTSGEFÜHLE.  185 

zweifelhaft  ist  Ganz  gewiß  aber  haben  selbst  hellenische  Kenner 
darüber  nachdenken  müssen,  was  Rasiermesser  und  Wage  in  der  Hand 
des  Jünglings  bedeuten.  Denn  sie  sollen  ihn  ja  nicht  als  Barbier 
oder  Krämer  kennzeichnen,  sondern  an  das  Sprichwort  erinnern,  daß 
das  Glück  auf  des  Messers  Schneide  steht  und  seine  Wage  selten  im 
Gleichgewicht  schwebt. 

im  ästhetischen  Eindruck  sind  also  Sachvorstellungen  und  inhalt- 
liche Gefühle  tätig,  und  zwar  entweder  in  inniger  Verschmelzung  mit 
der  Form  des  Gegenstandes  oder  in  loser  Verknüpfung.  Zur  Sicher- 
heit sei  aber  nochmals  darauf  hingewiesen,  daß  mit  dieser  Erkenntnis 
die  Sinnes-  und  Formgefühle  nicht  abgedankt  werden  sollen.  Die 
Farbe  eines  Haars  und  seine  Harmonie  mit  Teint  und  Auge  entzücken 
uns,  ohne  daß  wir  darin  ein  Zeichen  der  Gesundheit  oder  Treue  er- 
blicken; Ohr  und  Nase  sind  abgesehen  von  ihrer  Größe  gut  oder 
schlecht  geformt,  und  dabei  wird  kein  seelischer  Inhalt  in  sie  hinein- 
versetzt Nun  ergibt  sich  aber  nach  dieser  flüchtigen  Vorschau  die 
Aufgabe,  tiefer  in  das  Geheimnis  dieser  Seelenvorgänge  einzudringen 
und  namentlich  Einfühlung  sowie  Assoziation  als  psychologische  Er- 
klärungsmittel eines  bestimmt  umgrenzten  Tatsachenkreises  näher  zu 
betrachten.  Von  beiden  Begriffen  ist  übrigens  schon  im  geschicht- 
lichen Teil  und  bei  Behandlung  der  Prinzipien  vieles  mitgeteilt  worden, 
was  jetzt  nicht  wiederholt  werden  soll. 

Ein  Rechteck  mit  verhältnismäßig  langen  wagerechten  Seiten  fliegt«. 
Betrachten  wir  das  daneben  stehende  anders  geartete  Rechteck,  so  ist 
es,  als  ob  jenes  liegende  sich  aufgerichtet  hat.  Ein  weiter,  nach  unten 
offener  Winkel  wird  nicht  nur  in  seiner  Größe  und  nach  der  Länge 
der  Schenkel  ästhetisch  aufgefaßt,  sondern  die  beiden  Linien  drängen 
zueinander  hin  oder  halten  sich  als  zwei  Pfosten  das  Gleichgewicht. 
Wie  eine  Linie  aus  Bewegung  entsteht,  so  bleibt  sie  auch  Bewegung 
und  fortgesetzte  Kräfteentfaltung.  Das  in  ihr  enthaltene  Ausdehnungs- 
bedürfnis hat  jedoch  bald  ein  Ende  erreicht,  sei  es  durch  Überführung 
in  andere  Linienzüge  oder  durch  die  Gegentendenz  einer  Begrenzung. 
In  beiden  Fällen  und  in  allen  den  Gelegenheiten,  wo  wir  Linien, 
Flächen,  Räume  nicht  mechanisch,  sondern  dynamisch  ansehen,  da 
sind  die  Formen  Willenstätigkeiten.  Wir  werden  unwillküriich  zu  An- 
hängern Schopenhauers.  Selbst  zu  Fichte  bekennen  wir  uns,  denn 
wir  fühlen  außer  der  die  Raumwirkung  erzeugenden  expansiven^ 
Tätigkeit  bei  allem,  was  Gleichgewicht  hat,  eine  kontrahierende 
oder  Schranken  setzende  Tätigkeit.  Dieses  ganze  Kräftespiel  bleibt 
sozusagen  abstrakt,  es  bietet  immer  nur  verschiedene  Formen  von 
Willensstrebung  und  Willenshemmung,  nicht  konkrete  Vorgänge.  Daher 
hat  neuerdings  ein  hervorragender  Künstler^')  einen  Feldzug  gegen 


186  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

die  naturalistische  Ausfüllung  von  Ornamenten  eröffnet  Ornamente 
sind  eben  Zusammenhänge  von  Linien  d.  h.  von  Kraftrichtungen ,  sie 
haben  die  wesentlichen  Eigenschaften  des  Lebens  in  sich  und  ver- 
schmähen die  Berührung  mit  einer  zufälligen  Tier-  oder  Pflanzenform. 
Die  Tätigkeiten,  von  denen  wir  sprechen,  sind  in  die  objektiven 
Gebilde  eingeschmolzen,  keineswegs  als  Vorstellungen  neben  ihnen 
vorhanden.  Freude  wecken  sie  aber,  weil  die  in  den  Formen  liegende 
Tätigkeit  von  uns  vollzogen  und  dadurch  zur  ästhetischen  Funktions- 
lust wird.  Und  die  in  uns  wirkende  Aktivität  ist  eine  doppelte:  eines- 
teils die  Aktivität  von  Bewegungen  der  Aufmerksamkeit  und  Apper- 
zeption nebst  Organ-  und  Muskelempfindungen,  andemteils  die  seelische 
Arbeit  metaphorischer  Benennungen.  Die  dadurch  entstehenden  Ge- 
fühle sind  schwach  und  von  sehr  allgemeiner  Natur.  Beim  Rhythmus 
etwa  haben  sie  das  Gepräge  erregten  Vorwärtsdringens  oder  der  Be- 
ruhigung. Allein,  sie  können  weit  tiefer  ins  Besondere  tauchen,  etwa 
zum  Gefühl  feindselig -ärgerlichen  oder  siegreich -kühnen  Angriffs 
werden.  Ebenso  bei  linearen  Formen.  Wenn  ich  in  der  Mitte  einer 
Wagerechten  eine  Senkrechte  errichte,  so  erhält  diese  einfache  mathe- 
matische Form  den  Gefühlston  der  nicht  wankenden  Beständigkeit; 
die  umgekehrte  Figur  ist  schon  von  den  alten  Ägyptern  verwendet 
worden,  um  die  Herrschaft  über  Leben  und  Tod  anzudeuten:  die  Ge- 
rade nämlich,  die  hier  aufstrebt,  wird  mit  einem  Male  abgeschnitten, 
und  zwar  mit  einer  ruhigen  Sicherheit,  gegen  die  es  gar  keinen  Wider- 
stand gibt.  Auch  in  solchen  Fällen  stärkerer  Besonderung  meint  das 
Inhaltsgefühl  nicht,  daß  neben  der  Wahrnehmung  der  rhythmischen 
oder  linearen  Form  die  Sachvorstellung  einer  wilden  Reiterattacke  oder 
eines  Gerichtssaales  im  Bewußtsein  auftauche;  ebensowenig  wie  wir 
beim  Betrachten  des  sich  aufrichtenden  Rechtecks  innerlich  die  Gestalt 
eines  sich  aufrichtenden  Mannes  oder  Hundes  erblicken.  Vielmehr  ist 
nur  der  gleiche  Antrieb  des  Bewußtseinsvorgangs  und  die  aus  der 
Natur  der  Sprache  verständliche  Neigung  zu  den  oben  gebrauchten 
Worten  vorhanden.  Von  dem  Mittellot  auf  der  Basis  kann  ich  be- 
einflußt werden  wie  von  einem  im  weiten  Felde  einsam  stehenden 
Baum,  nämlich  in  dem  Sinne,  daß  die  aus  dem  Boden  aufwachsende 
Linie  als  ein  stolz  sich  emporrichtendes  Einzelwesen  gefühlt  wird. 
Jedesmal  ist  das  gleiche  Verhältnis  zwischen  einem  Untergrund  und 
einem  davon  Abgehobenen  da;  die  eine  Konkretion  dieses  Verhältnisses 
klingt  an,  sobald  die  andere  gegeben  ist;  man  erinnert  sich  nicht  etwa 
ihrer,  sondern  man  besitzt  sie  mit  und  in  dem  anderen.  Weil  nun 
die  Sprache  alles  aus  den  Erfahrungen  unseres  körperlich-seelischen 
Ich  zu  benennen  und  zu  verdeutlichen  liebt,  weil  sie  zur  Verlebendi- 
gung einer  Sache  vermenschlichen  muß,  deshalb  drückt  sie  Äußeres 


DIE  INHALTSGEFÜHLE.  187 


durch  Inneres  aus.  Goethe  sagt,  der  Mensch  begreife  nie,  wie  anthropo 
morphisch  er  ist  Richtiger  muß  es  heißen:  wie  anthropomorphisch 
er  redet  Man  gibt  dem  von  uns  Erlebten  nicht  die  genaueste  wissen- 
schaftliche Beschreibung,  indem  man  eine  tatsächliche  Einfühlung 
schildert  Jene  Linie  wächst  nicht,  hebt  sich  nicht  stolz  empor.  Sie 
ist  und  bleibt  lineare  Form.  Aber  die  Beziehung  zwischen  ihr  und 
der  unter  ihr  befindlichen  Wagerechten  entspricht  anderen  uns  vertrauten 
Beziehungen.  So  holt  sie,  wenn  sie  wahrgenommen  wird,  gewisser- 
maßen alles  ihr  Ahnliche  aus  dem  gesamten  Schatz  der  Erfahrungen 
heran,  oder  sie  klingt  in  den  ihr  verwandten  Vorstellungen  aus.  In 
dem  Kampf  ums  Dasein,  den  auch  die  Bewußtseinsvorgänge  führen, 
sucht  jeder  Vorgang  nach  Hilfe;  er  ergänzt  und  verfestigt  sich  durch 
das  ihm  Ähnliche.  Und  durch  nichts  wird  ein  bestimmter  Seelen- 
vorgang erfolgreicher  gesichert  und  lebhafter  betont  als  durch  ein 
Wort,  das  inneriichstes  Leben  bezeichnet 

Wenn  wirklich  die  ästhetisch  betrachteten  Raumformen  gewissen 
Zielen  zustrebten,  sich  lagerten,  sich  emporrichteten,  sich  zusammen- 
faßten, so  würden  wir  anstatt  zu  genießen  von  Illusionen  gefoppt 
werden.  Das  kann  nicht  der  Sinn  der  Einfühlung,  nicht  die  Ansicht 
der  Einfühlungstheoretiker  sein.  Wir  verwandeln  kein  ruhendes  Ding 
in  eine  Bewegung  und  wir  machen  keine  mechanische  Bewegung  zu 
einem  Zweckgeschehen.  Dennoch  liegt  im  Ganzen  des  ästhetischen 
Verhaltens  ein  Zug,  der  jener  Art  der  Beschreibung  einen  Rückhalt 
gibt  Ich  meine  das  Gefühlsmäßige  überhaupt  und  die  Beziehung  des 
Gefühls  auf  einen  Gegenstand  (s.  S.  82  u.  165).  Bei  Schleiermacher 
steht  ungefähr  folgendes  zu  lesen:  :>Das  gleichzeitige  Sichhingeben 
und  Sichfinden  ist  das  Wesen  der  Frömmigkeit,  in  welcher  der  sich 
an  das  All  Hingebende  zugleich  den  Genuß  dieser  Hingabe  hat 
Darum  ist  die  Religion  weder  ein  Wissen  noch  ein  Tun,  sondern  ein 
Fühlen,  ist  Gefühl  des  gemeinschaftlichen  Lebens  von  All  und  Ich.« 
Gottesdienst  und  reinstes  Gefühl  kann  in  diesem  Sinne  auch  das 
ästhetische  Auffassen  genannt  werden;  hierin  liegt  ein  gut  Teil  seiner 
Würde.  Wie  von  allen  höheren  geistigen  Bestrebungen,  so  gilt  auch 
vom  Dienst  der  Schönheit  und  der  Kunst,  daß  die  Hingabe  an  den 
G^enstand  zugleich  eine  Erhöhung  des  Ich  bedeutet.  Das  Wunder 
der  Liebe  verwirklicht  sich  auch  hier:  wer  sich  an  Liebenswertes  an- 
schließt, gewinnt  sich  doppelt  wieder.  In  diesem  Sinne  läßt  sich  bei 
den  höchsten  ästhetischen  und  künstlerischen  Werten  von  Einfühlung 
sprechen. 

Doch  bleiben  wir  jetzt  bei  der  Betrachtung  einzelner  Tatsachen. 
Um  den  Sinn  der  Einfühlung  schärfer  zu  fassen,  hat  man  sie  mit  den 
Vorgängen  verglichen,  die  als  »Bedeutung«  und  »Ausdruck«  bekannt 


188  rv.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

sind.  Ober  den  ersten  B^^riff,  wenigstens  über  eine  bestimmte  Ver- 
wendung seiner,  genügen  ein  paar  Worte.  Die  perspektivische  Zeich- 
nung eines  Hauses  »bedeutet<i:  ein  um  vieles  größa-es  und  dreidimen- 
sionales Haus,  aber  es  drückt  das  Gebäude  nicht  aus  und  das  Ge- 
bäude wird  in  die  Zeichnung  nicht  eingefühlt  Der  Unterschied  ist 
klar.  Bei  jener  Zeichnung  handelt  es  sich  um  die  sichtbare  Wieder- 
gabe eines  sichtbaren  Gegenstandes,  bei  Ausdruck  und  Einfühlung 
hing^en  um  die  Verschmelzung  eines  Sichtbaren  mit  einem  Unsicht- 
baren. Verwickelter  sind  die  Verhältnisse  dort,  wo  Seelisches  in 
Worten  zu  Tage  tritt;  davon  wurde  schon  gesprochen  und  wird 
fernerhin  zu  reden  sein. 

Nun  zum  Ausdruck.  Das  beste  Beispiel  haben  wir  in  den  wohl- 
bekannten Ausdrucksbew^^ngen  der  Verwunderung,  des  Zorns,  der 
Freude  u.  s.  w.  Denken  wir  sie  uns  so  verlaufend,  daß  dadurch  weder 
ein  praktisches  Ziel  erreicht  noch  irgend  etwas  absichtlich  mitgeteilt 
werden  soll.  Als  unwillküriiche  Entladungen  einer  Gemütserr^^ung 
haben  sie  sowohl  den  Erfolg  diese  zu  steigern  als  auch  sie  zu 
schwächen.  Wenn  ich  von  Wut  übermannt  meinem  G^^er  an  die 
Kehle  springe  oder  einen  Brief  in  tausend  Fetzen  zerreiße,  so  soll 
damit  der  Feind  bestraft  oder  die  unpersönliche  Ursache  des  Zorns 
vernichtet  werden  —  solche  Ausdrucksbewegungen  gehen  uns  nichts 
an.  Aber  wenn  ich  in  rasender  Wut  um  mich  schlage  und  alles,  was 
in  der  Nähe  ist,  zertrümmere,  wenn  ich  laut  schreie,  ohne  daß  es 
jemand  hören  kann  und  soll,  dann  wird  der  Affekt  durch  eine  solche 
Nachgiebigkeit  ebenso  leicht  zur  höchsten  Stärke  aufgepeitscht  wie 
er  abgeschwächt  und  vernichtet  werden  mag.  Beides  verstehen 
wir  psychognostisch  aus  der  eigenen  Erfahrung  und  psychologisch 
durch  Analyse.  Immerhin  besitzen  diese  äußeren  Zeichen  noch  keinen 
ästhetischen  Wert  Sie  erhalten  ihn  erst,  indem  der  Ausdruck  um 
seiner  selbst  willen  gesucht  und  dargeboten  wird.  Das  Äußere  darf 
nicht  Nebenerscheinung  bleiben,  sondern  muß  die  Hauptsache  werden. 
So  fordert  es  die  sinnliche  Natur  der  Ästhetischen.  Es  muß  vom 
inneren  Vorgang  abzulösen  sein,  wie  das  Wort  vom  Gedanken;  es 
muß  zum  Bewußtsein  kommen,  daß  die  beiden  Seiten  des  Geschehens 
zwei  verschiedenen  Kreisen  oder  Ordnungsreihen  angehören.  Ein 
wütender  Mensch  ist  durch  und  durch  Einheit  und  als  solche  ver- 
ächtlich, furchtbar,  komisch  —  je  nachdem.  Der  ästhetische  Genuß 
aber  haftet  an  der  Trennbarkeit  dessen,  was  wir  erblicken,  und  dessen, 
was  wir  dahinter  wissen.  Verwechseln  wir  beides,  so  b^ehen  wir 
eine  naturalistische  Mißdeutung  des  ästhetischen  Ausdrucks:  aus  dem 
Symbol  wird  rohe  Wirklichkeit  (oder  auch  magische  Vertauschung). 

Jetzt  prüfen  wir  genauer,  wie  wir  uns  beim  lebendigen  Auffassen 


DIE  INHALTSGEFÜHLE.  189 


der  Ausdrucksbewegungen  verhalten,  freilich  ohne  die  von  anderen 
Ästhetikern^')  entdeckten  Unterarten  im  einzelnen  zu  scheiden.  Kein 
Zweifel  kann  darüber  herrschen,  daß  wir  meist  den  Affektausdruck 
wie  eine  Frage  empfinden  und  mit  echter  GefQhlsreaktion  beantworten, 
beispielsweise  die  äußerlich  hervortretende  Trauer  eines  anderen  mit 
Mitleid.  Solche  Anteilnahme  braucht  aber  nicht  etwas  in  der  Seelen- 
verfassung des  anderen  Vorhandenes  zu  wiederholen,  d.  h.  jenes  Mit- 
leid braucht  der  andere  nicht  mit  sich  selber  zu  fflhien.  Insofern  wir 
ihn  bedauern  —  ein  OefflhI,  das  er  sowohl  haben  wie  nicht  haben 
kann  — ,  bleiben  wir  Zuschauer  oder  werden  Helfer.  Außerdem,  ja 
vermutlich  vorher  machen  wir  seine  in  Bewegungen  ausgedrückte 
Trauer  zur  unsrigen.  Der  eigentliche  Vorgang  hierbei  wird  folgender- 
maßen beschrieben:  »Ich  sehe  die  Gebärde  und  erlebe  in  der  Wahr- 
nehmung derselben  eine  Tendenz  oder  einen  Antrieb  zu  einer  be- 
stimmten Art  des  inneren  Verhaltens  oder  der  psychischen  Einstellung, 
nämlich  derjenigen,  die  jedermann  mit  dem  Namen  Trauer  bezeichnet.^ 
Das  bekannte,  triviale,  doch  lehrreiche  Beispiel  des  ansteckenden 
Gähnens  in  der  gleichen  Beleuchtung:  ^Der  körperliche  Vorgang  des 
Gähnens  vollzieht  sich  bei  mir,  weil  die  innere  Zuständlichkeit,  Ver- 
fassung, Einstellung,  Verhaltungs weise  in  mir  da  ist,  aus  welcher 
dieser  körperiiche  Vorgang,  die  äußeriich  sichtbare  Gähnbewegung 
naturgemäß  hervorgeht.  Dieser  innere  Zustand  wird  in  mir  durch  die 
optische  Wahrnehmung  des  Gähnens  eines  anderen  ins  Dasein  ge- 
rufen. Ich  stelle  diesen  inneren  Zustand  nicht  vor,  sondern  ich  erlebe 
ihn  *  0.«  Das  trifft  schwerlich  zu.  Genaueste  Selbstbeobachtung  findet 
kein  Eriebnis  von  Langweile  oder  Ermüdung,  wenn  das  Gähnen  eines 
gegenüber  Sitzenden  nachgeahmt  wird.  Man  gähnt  reflexmäßig  mit 
und  sagt  sich  bestenfalls  nachher:  es  ist  doch  verzweifelt  langweilig. 
Reflex  und  Worte  sind  nachzuweisen,  aber  eriebte  innere  Zustände 
nkrht.  Ist  dieser  Sachverhalt  dem  Leser  durch  eigene  Nachprüfung 
deutlich  geworden,  so  wird  er  auch  dem  ersten  Beispiel  Zweifel  ent- 
gegenbringen. Ich  sehe  Mienen  und  Bewegungen  tiefsten  Kummers. 
Bei  eigener  Benommenheit,  ebenso  bei  absichtlich  festgehaltener  eigener 
Objektivität  sind  jene  Ausdrucksformen  nur  Formen,  gleichwie  das  vor 
mir  Stehende,  träumerisch  oder  lediglich  auf  den  Sichtbarkeitswert  hin 
betrachtet,  etwas  Helles,  teils  Gelbes,  teils  Grünes  ist  -  ich  meine  die 
Schreibtischlampe.  Bei  lebhafter  und  natüriicher  Auffassung  indessen 
deuten  sich  Nachbildungen  der  Gesten  an,  in  leisesten,  oft  noch  nicht 
körperlichen  Strebungen,  es  treten  reflexmäßig  hinzu  innerleibliche 
Vorgänge,  und  eine  Schar  von  Vorstellungen  wirbelt  durchs  Bewußt*^ 
sein.  Ob  es  eine  glückliche  Wendung  ist,  daß  dies  Miterleben,  das 
weder  die  ganze  Persönlichkeit  noch  ihren  gegenwärtigen  Zustand  wahr- 


190  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK, 

haft  packt,  ein  Einfühlen  genannt  wird?  Die  sympathetische  Gemein- 
samkeit zwischen  Menschen  ist  in  ihrer  Grundlage  durchaus  nur 
organischer  Vorgang  —  eine  Reflexverbindung  zwischen  tierischen 
Wesen  der  gleichen  Gattung:  eins  erregt  sich,  schreit,  lacht,  gähnt, 
wenn  es  ein  anderes  das  gleiche  tun  sieht,  und  zwar  ohne  Dazwischen- 
treten der  vorauszusetzenden  Gefühlszustände.  Dieselbe  Unmittelbar- 
keit findet  sich  noch  im  ästhetischen  Genuß:  deshalb  sprachen  wir 
vom  ästhetischen  Reflex  (s.  S.  156  u.  166). 

Allerdings  vermag  das  Wissen  um  den  äußeriich  sich  bekundenden 
Gemütszustand  zu  einem  Miterleben  im  Nebenmenschen  zu  werden, 
wobei  das  Miterleben  im  anderen  zeitlich  später  einzutreten  pflegt  als 
der  Reflex.  Denn  alles  Wissen  hat  die  natüriiche  Neigung,  ein  volles 
Erleben  zu  werden  ^^).  Unsere  ursprüngliche  seelische  Anlage  geht 
dahin,  jede  Behauptung  zu  glauben  und  jedem  Befehl  zu  gehorchen; 
sie  ist  von  der  Art,  daß  alles  bloß  Vorgestellte  die  Tendenz  besitzt, 
sich  zu  einer  kräftigen  Nachbildung  des  in  ihm  gegebenen  sinnlichen 
und  namentlich  seelischen  Inhalts  zu  entfalten.  Aber  dies  lebendige 
Streben  des  Bewußtseins  setzt  sich  doch  nur  in  Kindern,  Naturmen- 
schen und  abnormen  Zuständen  des  Kulturmenschen  durch.  Für  ge- 
wöhnlich sind  so  viele  und  starke  Hemmungen  vorhanden,  daß  Vor- 
stellung eben  Vorstellung  bleibt.  Die  Einfühlung  im  Sinne  ungehemmten 
Mitlebens  des  Affektes,  den  ich  im  Schauspieler  oder  in  der  Statue 
weiß,  findet  ausschließlich  dann  statt,  wann  ich  selber  in  höchst  ge- 
steigerter, ekstatischer  Stimmung  bin.  Es  hangt  von  der  allgemeinen 
Auffassung  ab,  ob  diese  Stimmung  als  Ziel  oder  als  Vergröberung  des 
ästhetischen  Verhaltens  bewertet  wird.  Ich  sehe  darin  einen  Abfall,  da 
die  Rückkehr  zu  primitiven  Seelenverfassungen  und  das  schrankenlose 
Aufgehen  in  einen  anderen  die  eigene  Persönlichkeit  empfindlich  ver- 
letzt. Auch  die  ästhetische  Einfühlung  muß  die  feine  Grenzlinie  inne- 
halten, die  zwischen  fördernder  Hingabe  und  Verlust  der  Persönlich- 
keit läuft.  — 

Während  wir  beim  Einfühlen  in  das  Innenleben  eines  Gegenstandes 
oder  Menschen  hineingezogen  werden,  spielen  die  vom  ästhetischen 
Objekt  hervorgerufenen  Assoziationen  gleichsam  neben  dem  Objekt 
Der  Dualismus,  der  uns  überall  b^egnete,  wird  hier  offenkundig: 
jedermann  spürt,  daß  wir  bei  assoziativen  Zusätzen  aus  dem  Eigenen 
ergänzen.  Deshalb  ist  seit  dem  18.  Jahrhundert  von  »relativere  oder 
»anhängender«  Schönheit  so  oft  die  Rede.  Fechner  unterscheidet, 
woran  erinnert  sei,  einen  direkten  und  einen  assoziativen  Faktor.  Der 
direkte  Faktor  umfaßt  außer  den  wohlgefälligen  Formverhältnissen 
sowohl  die  sinnlich  angenehmen  Eindrücke  als  auch  die  inhaltlich  be- 
gründeten Lustgefühle,  sofern  sie  nicht  mehr  als  ein  instinktives  Ver- 


DIE  inhaltsgefChle.  \g\ 


ständnis  zu  ihrem  Auftreten  voraussetzen.  Der  assoziative  Faktor 
gründet  sich  auf  Beobachtung  und  Erfahrung.  Alle  Empfindungen, 
Gedanken,  GefOhle,  die  von  einem  Stoffbestandteil  oder  vom  inhalt- 
lichen Ganzen  eines  schönen  Objektes  aufgerufen  werden,  erneuern 
in  uns  GefOhle,  die  den  ästhetischen  Eindruck  mit  bedingen.  Gegen 
diese  psychologische  Unterscheidung  hat  man  mit  Recht  eingewendet, 
daß  die  beiden  Faktoren  allzu  eng  miteinander  zusammenhangen,  um 
ihre  theoretische  Trennung  fruchtbar  erscheinen  zu  lassen.  Der  Ein- 
druck der  Musik  z.  B.  soll  nach  Fechner  ganz  wesentlich  dem  direkten 
Faktor  zu  danken  sein.  Ohne  jede  Assoziation  stimme  uns  die  traurige 
Musik  traurig,  die  lustige  heiter.  Aber  da  zu  manchen  Zeiten  und  bei 
manchen  Völkern  eine  uns  traurig  scheinende  Melodie  als  Kampf-  oder 
Tanzlied  galt,  so  handelt  es  sich  wohl  auch  hier  um  Assoziationen, 
die  durch  Gewohnheit  und  Vererbung  besonders  fest  geworden  sind. 
Jedenfalls  dürfte  es  hier  wie  überhaupt  sehr  schwer  sein,  den  Anteil 
des  assoziativen  von  dem  des  direkten  Faktors  sicher  zu  trennen. 
Abgesehen  von  diesem  methodologischen  Bedenken  sind  aber  auch 
zwei  andere  Vorwürfe  erhoben  worden.  Unter  den  von  Fechner  ge- 
machten Voraussetzungen  müßten  alle  an  reproduzierten  Vorstellungen 
haftenden  Gefühle,  insbesondere  die  Lustgefühle,  ästhetischer  Natur 
sein.  Der  assoziative  Anschluß  bedeutsamer  Vorstellungen  kann  jedoch 
lehrreich  oder  sogar  lustvoll  sein,  ohne  auch  nur  im  geringsten  ästhe- 
tischen Charakter  anzunehmen.  Beim  Anblick  eines  lange  nicht  ge- 
sehenen wichtigen  Briefes  steigen  tausend  Erinnerungen  auf,  aber  sie 
vermögen  nicht  den  Brief  in  ein  malerisches  oder  plastisches  Kunst- 
werk umzuwandeln.  Alsdann  müßten  Vorgänge  wie  der  eben  er- 
wähnte mit  ähnlichen  Vorgängen  beim  ästhetischen  Genuß  nähere 
Verwandtschaft  haben,  als  die  verschiedenartigen  ästhetischen  Erre- 
gungen sie  untereinander  besitzen.  Diese  unvermeidliche  Konsequenz 
entspricht  nicht  dem  Sachverhalt.  Denn  tatsächlich  sind  die  ästheti- 
schen Eindrücke  einander  ähnlicher  als  die  bedeutsamen  Erinnerungs- 
vorstellungen im  allgemeinen  und  der  assoziative  Faktor  innerhalb  des 
ästhetischen  Eindrucks. 

Die  anderen  Probleme,  die  gewöhnlich  in  der  Assoziationenästhetik 
behandelt  werden,  sind  rein  psychologischer  Art  und  können  deshalb 
zur  Seite  bleiben.  Für  unsere  Zwecke  ist  die  Hauptsache,  daß  der 
Unterschied  zwischen  der  festen  Einfühlung  und  der  freien  Assoziation 
zum  Bewußtsein  gelangt.  Zweifelhaft  wird  er  nur,  wenn  die  soge- 
nannten unvermeidlichen  Assoziationen  in  Betracht  gezogen  werden. 
Die  grüne  Farbe,  so  scheint  es,  weckt  unvermeidlich  die  Assoziation 
an  Frühling  und  beginnendes  Leben.  Dennoch  ist  es  nicht  der  Fall. 
Es  braucht  gar  keine  Vorstellung  aus  diesem  Gebiet  reproduziert  zu 


192  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

werden.  Wird  aber  etwas  Derartiges  hinzugedacht,  so  kann  es  auch 
das  entgegenstehende  assoziative  Gefühl  sein:  nach  Oskar  Wilde  ist 
Grün  ein  Zeichen  des  Verfalls  für  jene,  die  es  lieben.  Rot  gilt  als  die 
Farbe  des  Bluts  und  der  glühenden  Daseinsfreude;  wer  an  die  roten 
Blätter  des  Herbstwaldes  denkt,  muß  anders  empfinden.  Beim  Be- 
trachten eines  Bildes,  das  eine  in  tiefer  Nacht  liegende  Landschaft 
darstellt,  mögen  die  von  schwerem  Gefühl  durchzogenen  Vorstellungen 
an  Tod  und  Schrecken  auftauchen  oder  die  behaglichen  Vorstellungen 
friedlicher  Ruhe.  Kurzum,  es  dürfte  schwer  halten,  irgendwelche  ein- 
deutige und  notwendige  Assoziationen  innerhalb  des  ästhetischen  Ein- 
drucks nachzuweisen.  Wenigstens  kennen  wir  kein  Prinzip,  nach  dem 
aus  den  möglichen  Assoziationen  die  für  ästhetische  Zwecke  unent- 
behrliche Assoziation  ausgelesen  werden  könnte.  Um  die  entscheidende 
Szene  eines  Bühnenstücks  beim  Anhören  vollauf  zu  würdigen,  muß 
freilich  das  Bühnenbild  durch  Assoziationen  aus  dem  Vorveriauf  des 
Dramas  ergänzt  werden.  Nur  läßt  sich  nicht  sagen,  welche  von  den 
vielen  zweckdienlichen  Vorstellungen  zu  reproduzieren  seien.  Am  auf- 
fälligsten ist  es  bei  der  Musik.  Wäre  die  Musik  Ausdruck  in  dem 
Sinne,  wie  die  Mimik  Ausdruck  ist,  so  würde  sie  den  Schrei  des 
Menschen  und  den  Naturiaut  des  tierischen  Geschöpfes  nachahmen. 
Ihre  Ausdruckskraft  ist  also  eine  andere.  Nicht  wenig  trägt  dazu 
bei,  daß  Musik  unsere  Einbildungskraft  beflügelt  und  jenen  wunder- 
lich-wundervollen Zustand  hervorruft,  in  dem  die  buntesten  Assozia- 
tionen durchs  Bewußtsein  flattern. 

Wir  folgern  aus  allem  dem,  daß  für  den  ästhetischen  Genuß 
Assoziationen  sehr  viel  bedeuten.  Gerade  die  persönlichsten  Asso- 
ziationen, als  deren  einzige  Besitzer  wir  uns  fühlen,  gerade  sie  erhöhen 
den  Reiz  des  Eindrucks.  Es  verhält  sich  damit,  wie  mit  der  Wirkung 
der  Serenaden  in  Venedig:  nicht  die  triviale  Musik  ergreift  uns,  son- 
dern der  Zauber  der  Umgebung.  So  wirkt  bei  den  individuellen  Auf- 
fassungen (und  was  sonst  aus  dem  Vorrat  eigener  Erfahrungen  und 
Kunsteindrücke  lebendig  wird)  nicht  der  ästhetische  Gegenstand,  son- 
4  dem  die  freie  Assoziationentätigkeit  des  Ich.  Die  Assoziationen  sind 
demnach  wesentlich  für  Eindruck  und  Genuß,  nicht  für  G^[enstand 
und  sachliches  Urteil.  Weil  wir  bei  einiger  Ausbildung  des  Ge- 
schmacks zu  trennen  vermögen,  was  im  Objekt  liegt,  und  was  unser 
persönlicher  Faktor  leistet,  deshalb  haben  wir  neben  dem  Bericht  des 
subjektiv  Empfundenen  auch  ein  Urteil  über  das  objektiv  Vorhandene. 
Der  ästhetische  Eindruck  ist  in  seinem  allgemeinen  Gefühlscharakter 
wohl  einheitlich,  und  zwar  einheitlich  in  sich  und  in  der  innigen  Ver- 
bindung mit  dem  G^enstand,  aber  er  behält  in  den  Hauptteilen  eine 
Doppelheit,  und  zwar  die  Trennbarkeit  von  Objekt  und  Subjekt,  die 


ANMERKUNGEN.  193 


in  der  Unta^cheidung  des  von  der  Kritik  dem  Gegenstand  zuzurech- 
nenden Wertes  und  der  eigenen  Reaktion  gipfelt  Einer  ähnlichen 
Zwiespältigkeit  werden  wir  beim  künstlerischen  Schaffen  b^[^[nen. 

Anmerkungen« 

>)  In  den  »Beitrigen  zur  Ästhetik«  (Archiv  för  tyttenutitche  Philosophie  1809 
bU  1902). 

*)  Karl  von  Rumohr,  Ittlienische  Forschungen  1S27,  I,  138  ff. 

')  In  den  t>ereits  genannten  Schriften  von  Theodor  Upps.  Die  Darstellung  im 
Text  ist  allerdings  keine  genaue  Wiedergabe»  sondern  freie  Umschreibung,  gelegent* 
lieh  wohl  selbst  im  Widerspruch  mit  den  Anschauungen,  die  dieser  bewegliche  und 
schnell  fortschreitende  Geist  geäußert  hat.  Sie  verdankt  femer  gar  vieles  den 
neueren  Untersuchungen  Wilhelm  Diltheys  (zu  finden  in  den  Sitzungsberichten  der 
Beniner  Akademie  der  Wissenschaften). 

*)  Richtig  gesehen  von  A.  Döring,  Zeitschr.  für  Psychol.  Bd.  I. 

*)  Die  beste  Darstellung  und  Kritik  in  der  Abhandlung  von  Kari  Stumpf,  Ober 
den  Begriff  der  Gemütsbewegung,  Zeitschr.  für  Psychol.  Bd.  XXI. 

*)  Vemon  Lee  und  Anstruther  Thomas,  Beaufy  and  UgUness,  in  Coniemporary 
Rßfiew  1897,  Bd.  72. 

')  So  sagt  Volkelt  (Zeitschr.  für  Psychol.  Bd.  32)  mit  Recht  gegen  Groos,  dem 
das  Verdienst  zukommt,  diese  Verhiltnisse  sorgsam  untersucht  zu  haben. 

*)  Untersuchungen  darüber  sind  im  Psychologischen  Institut  der  Harvard-Uni- 
vereltit  angestellt  worden.  Die  Ergebnisse  entnimmt  man  am  bequemsten  aus  den 
folgenden  zwei  Büchern:  Hugo  Münsterberg,  PrindpUs  of  Ärt-idacation,  Boston 
1905  und  Ethel  D.  Puffer,  Psyehology  of  Beaufy,  Boston  1905. 

*)  Theodor  Upps,  Raumlsthetik  und  geometrisch-optische  Täuschungen,  1897, 
sowie  Ästhetik,  Bd.  I  (Gnindlegung  der  Ästhetik),  1903. 

>*)  H.  Riemann,  Die  Elemente  der  musikalischen  Ästhetik,  1900,  S.  76. 

**)  Eine  Zeitlang  ist  es  Mode  gewesen,  alles  Künstlerische  allegorisch  zu  deuten, 
hinter  jedem,  was  sich  unmittelbar  dart>ot,  einen  verborgenen  Inhalt  zu  suchen, 
und  zwar  einen  solchen,  der  nur  durch  Nachdenken  oder  besondere,  höchst  künst- 
Kcfae  Methoden  herausgefunden  werden  kann.  In  Dantes  Briefen  findet  sich  eine 
charakteristische  Ausführung;  es  handelt  sich  um  die  »Göttliche  Komödie«.  7.  »Ad 
mdentiam  Uaque  dicendorum,  sciendam  est  quod  istius  (der  Göttlichen  Komödie) 
wm  est  Simplex  senssis,  immo  did  potest  polysemum,  hoc  est  plurium  sensaum;  nam 
alias  sensus  est  qui  habetur  per  Uteram,  aiius  est  qui  habetur  per  significata  per 
liUram,  Et  primus  dicitur  literaiis,  seatndus  wero  aUegpricus,  sire  mystieus.  Qui 
modus  tradandi,  ut  melius  pateat,  potest  considerari  in  his  versibus:  »In  exitu  Israel 
de  Ae$ypto,  domus  Jacob  de  populo  barbaro,  facta  est  Judaea  saneUficatio  eins, 
israei  potestas  eins*.  Nam  si  literam  solam  inspiciamus,  signißeatur  nobis  exitus 
ßUorum  Israel  de  Aegypto,  tempore  Moysis;  si  allegoriam,  nobis  signifleatur  nostra 
redemptio  facta  per  Christum;  si  moraiem  sensum,  significaiur  nobis  conrersio  animae 
de  luctu  et  miseria  peccati  ad  statum  gratiae;  si  anagogicum,  significatur  exitus 
animae  sanctae  ab  huius  corruptionis  Servitute  ad  aetemae  gloriae  libertatem,^ 
{Epistola  Domino  Kani  Qrandi  de  Scala,  in  der  Ausgabe  Tutte  le  opere  di  Dante 
Aleghieri,  Oxford  1897,  Nr.  X  der  Episteln  und  S.  414  ff.)  Dann  folgt  noch  die 
Bemerkung,  daß  man  alle  diese  Sinnbedeutungen  allegorisch  nennen  könne  von 
aüegorein  »anders  sagen«.  (*Et  quamquam  isti  sensus  mystid  rarUs  appellentur 
nominibus,  generaiiter  omnes  did  possunt  aUegprid,  quum  sint  a  liierali  sive  kisto^ 
Dettoir,  Attiictik  md  allf.  KuntwittCBSchaft.  13 


194  IV.  DER  ÄSTHETISCHE  EINDRUCK. 

riali  diversL  Nam  allegoria  dieitur  ab  aUeon  graece^  quod  in  latintun  dicUur  alie- 
num  sive  diversum^  a.  a.  O.)    Vgl.  S.  58,  Anm.  2. 

^')  Henry  van  de  Velde,  Kunstgewerbliche  Laienpredigten,  1904.  Die  im  Text 
wiedergegebene  Meinung  schießt  über  das  Ziel  hinaus.  Selbstverständlich  ist  es 
lunkünstlerisch ,  in  dekorative  Unienzusammenhänge  unsere  üblichen  Schriftzeichen 
einzufügen,  denn  diese  sind  nicht  lebendig;  die  Verknüpfung  aber  mit  der  Lebendig- 
keit der  Tier-  und  Fflanzenfiguren  ist  umsoweniger  verwerflich  als  wir  die  köst- 
lichsten Muster  solcher  Art  bereits  besitzen  und  gegen  die  Verbindung  des  Kon- 
kreten mit  dem  Abstrakten  keinen  berechtigten  Einwand  haben. 

1*)  Volkelt,  System  der  Ästhetik  I,  282:  >Das  ästhetische  Einfühlen  kann  ... 
nicht  auf  dieselbe  Orundformel  gebracht  werden.  Das  Ziel  ist  überall  das  £^eiche: 
Verschmelzung  der  sinnlichen  Anschauung  mit  Stimmung,  Strebung,  Affekt,  Leiden- 
schaft Die  Wege  dahin  aber  sind  verschiedenartig.  Das  menschliche  Seelenleben 
bietet  für  das  Zustandekommen  dieser  Verschmelzung  mehrere  wesentlich  verschie- 
dene Möglichkeiten  dar.  Diese  verschiedenen  Wege  habe  ich  als  leiblich  vermittelte, 
als  assoziative  und  als  unmittelbare  Einfühlung  bezeichnet  Auch  in  der  Ästhetik 
von  Lipps  (I,  150  ff.)  finde  ich,  wenn  auch  unter  anderen  Ausdrücken,  diese  Drei- 
teilung.« 

»*)  Th.  Lipps  im  Archiv  für  Psychol.  1905,  IV,  467  u.  482/3. 

")  Das  im  Text  kurz  angedeutete  »Grundgesetz«  des  Seelenlebens  hat  zuletzt 
Th.  Lipps  in  seinem  »Leitfaden  der  Psychologie«  und  anderwärts  erörtert  Der 
erste,  der  diese  Vermutung  durchführte,  war  wohl  H.  Taine;  bei  ihm  erscheint  es 
geradezu  als  die  natürliche  Verfassung  der  Seele,  daß  jedes  Wort  und  jede  Erinne- 
rung zu  einer  Halluzination  wird.  Alsdann  habe  ich  selber  im  Jahre  1889  eine 
ähnliche  Ansicht  ausgesprochen.  Sie  war  mir  entstanden  als  ich  beobachtete,  mit 
welcher  Regelmäßigkeit  gegenüber  Taschenspieler-  und  Spiritistenkunststückdien 
das  bloß  Behauptete  in  Erlebtes  sich  umwandelt  Solche  Erfahrungen  sdiärften 
den  Blick  für  bekanntere  Tatsachen  des  Seelenlebens  und  begründeten  schließlich 
eine  Theorie  der  seelischen  Struktur,  die  sich  an  der  Hypnose  erprobte.  Ich  gebe 
sie  wieder,  wie  sie  damals  zusammengefaßt  wurde:  »Der  Normalmensch  ist  aktuell 
ein  Einfaches,  potentiell  ein  Mehrfaches,  da  er  in  sich  die  Möglichkeit  einer  ver- 
schiedenen Gruppierung  von  Persönlichkeitselementen  birgt.  Diese  Elemente  lassen 
sich  in  zwei  große  Klassen  scheiden.  Den  triebkräftigen  Mutterboden  unseres 
Innenlebens  bildet  eine  Seelenregion,  die  uns  dem  Naturmenschen  und  dem  Kinde 
mit  ihrer  Beeinflußbarkeit  und  instinktmäßigen  Gefühlsart  nähert;  über  ihr  erhebt 
sich  der  erworbene  Zusammenhang  der  Hemmungszentren  als  regulierender  Apparat, 
dessen  Wirksamkeit  in  allen  jenen  Zuständen  versagt,  die  von  der  Norm  des  wachen 
Lebens  abweichen.«  »Hebt  man  die  positive  Seite  hervor,  so  bemerkt  man  bei 
den  Somnambulen  Unversehrtheit  der  meisten  seelischen  Fähigkeiten,  kindliche 
Gläubigkeit  und  die  Neigung,  alles  ins  Sinnliche  zu  wandeln;  rückt 
man  die  negative  Seite  in  den  Vordergrund,  so  erscheint  die  aktive  Aufmerksamkeit 
verändert  und  die  willkürliche  Erzeugung  von  Hemmungsvorstellungen  erschwert« 
(Das  Doppel-Ich,  2.  Aufl.,  1896,  S.  34  u.  33.) 


V.  Die  ästhetischen  Kategorien. 


1.  Das  Schöne. 

Die  qualitativen  Unterschiede  zusammengesetzter  ästhetischer  Oe- 
fühle  sind  sachlich  und  sprachlich  in  gewissen  Kationen  festgelegt. 
Es  kann  das  ganze  von  uns  betrachtete  Oewebe  sozusagen  mehrere 
Färbungen  erhalten:  wir  nennen  sie  die  ästhetischen  Stimmungen  oder 
—  mit  minder  psychologischem  Namen  ~  die  Kategorien;  sie  ließen 
sich  auch  als  Kardinalschönheiten  bezeichnen.  Darunter  verstehen 
wir  die  möglichen  Formen  der  ästhetischen  Apperzeption  im  allge- 
meinen oder  die  umfassendsten  Prädikate,  die  von  einem  ästhetischen 
Gegenstand  ausgesagt  werden.  Sie  bieten  sich  dar  als  kennzeichnende 
seelische  Verhaltungsweisen,  zu  deren  Auftreten  der  Gegenstand  nur 
die  Bedingung  oder  Anweisung  liefert  Doch  sind  sie  keinesfalls  un- 
abhängig von  aller  Erfahrung,  sondern  aus  ihr  und  aus  der  Stetigkeit 
künstlerischer  Technik  hervorgegangen,  durch  die  gewisse  Auffassungs- 
arten von  besonderer  Energie  bevorzugt  werden. 

Für  Einteilung  und  Anordnung  der  Kategorien  kann  man  (mit  Dil- 
theys  Poetik)  ausgehen  vom  Schönen  als  von  dem  Zustand,  in  dem 
das  Objekt  in  völliger  Angemessenheit  an  die  innere  Tätigkeit  die 
Seele  ganz  befriedigt,  und  nun  nach  der  einen  Seite  Gefühlsaggregate 
anschließen,  >die  durch  die  fiberragende  Größe  des  Gegenstandes  ihr 
Gepräge  erhalten,  während  in  den  Seelenzuständen  der  anderen  Seite 
das  Subjekt  sich  fiber  dem  Gegenstande  fühlt«.  Die  beiden  Hälften 
der  Linie,  deren  Mitte  das  Idealschöne  bildet,  weisen  einen  Beisatz 
von  Unlust  auf.  Die  ältere  Ästhetik  hat  gewöhnlich  das  Schöne  und 
Erhabene  an  die  Spitze  gestellt  und  das  Komische  aus  dem  Erhabenen 
durch  Umschlagen  abgeleitet;  nebenbei  bemerkt  eine  Anwendung  dia- 
lektischer Technik,  die  nach  dem  Muster  des  Umschlagens  des  reinen 
Seins  in  das  Nichts  auch  noch  in  modernen  Theorien  den  Satz  aus- 
nutzt, daß  vom  Erhabenen  zum  Lächeriichen  nur  ein  Schritt  sei.  Ebenso 
gut  mag  man  das  Erhabene  und  Komische  ffir  die  Grundkategorien 
erklären  und  das  Schöne  als  den  Übergang  von  der  einen  zur  anderen 
Kategorie  ansehen.    Am  zweckmäßigsten  dürfte  es  sein,  die  Kardinal- 


196  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Schönheiten  so  anzuordnen,  daß  von  jeder  einzelnen  der  Übergang  zu 
den  beiden  benachbarten  begrifflich  leicht  von  statten  geht  und  die 
inhaltlich  entgegengesetzten  sich  gegenüberstehen.  Diesen  Anforde- 
rungen entspricht  vielleicht  das  folgende  Schema. 

Schön 

Erhaben  /  \  Niedlidi 


Tragisch  \  J  Komisch 

Häßlich 

Das  Schöne  soll  zunächst  mit  Rucksicht  auf  seine  Leistung  für 
den  Genießenden  bestimmt  werden.  Obgleich  die  Freude  am  Ideal- 
schönen durchaus  an  die  Beschaffenheit  des  Gegenstandes  gebunden 
ist,  wüßten  wir  doch  von  keiner  objektiven  Beschaffenheit,  daß  sie 
den  eigentümlichen  Eindruck  reiner  Schönheit  hervorrufe,  bevor  nicht 
einmal  der  Eindruck  stattgefunden  hat.  Ich  sage,  es  sei  ein  eigentüm- 
licher Eindruck.  Die  Besonderheit  besteht  darin,  daß  das  auffassende 
Ich  ohne  Störung  und  Unlust  genießt.  Wenn  man  die  b^eisterte 
Schilderung,  die  Aristoteles  der  reinen  Betrachtung  widmet^),  auf  das 
Gefühlsleben  anwendete,  so  würde  sich  ein  leidlich  zutreffendes  Bild 
dieses  inneren  Verhaltens  ergeben.  Denn  der  von  Aristoteles  hervor- 
gehobene Gegensatz  zu  allen  praktischen  Tätigkeiten,  das  Freisein  von 
allen  schmerzenden  Lasten  und  Wünschen,  die  Loslösung  aus  den 
Fesseln  einer  widerspruchsvollen  Wirklichkeit  —  das  sind  Merkzeichen 
des  Schönheitsgenusses.  Das  Schöne  erweitert  sich  fast  unwidersteh- 
lich zum  Begriff  des  Ästhetischen,  weil  es  von  allen  Kat^orien  am 
wenigsten  mit  dem  realen  Sinn  der  Dinge  zu  schaffen  hat;  ebenso 
kräftig  strebt  es  zur  Einheit  mit  der  Kunst  hin,  weil  es  im  höchsten 
Maße  die  anschauliche  Notwendigkeit  besitzt,  in  der  die  Kunst  als 
Form  sich  auslebt.  Dies  Gefühl  atmet  freudige  Selbstgewißheit,  innere 
Geschlossenheit,  frei  schwebende,  wunschlose  Übereinstimmung  mit 
sich  selbst.  Vortrefflich  schildert  ein  älterer  Ästhetiker*)  das  ruhig 
Faßliche  und  belebend  Anziehende  des  Schönen:  »Was  auf  uns  mit 
Vollbefriedigung  wirken,  uns  unbedingtes  Wohlgefallen  einflößen  soll, 
das  muß  unsere  Vermögen  und  Kräfte  erstens  nicht  stören  und  zwei- 
tens sie  lebendig  in  Tätigkeit  setzen.€  Das  Gleiche  meint  Börne, 
wenn  er  in  der  Denkrede  auf  Jean  Paul  von  der  Dichtkunst  rühmt, 
was  in  Wahrheit  nur  vom  Idealschönen  gilt,  sie  biete  »eine  goldene 
Zeit,  die  nicht  rostet,  einen  Frühling,  der  nicht  abblüht,  wolkenloses 
Glück  und  ewige  Jugend«. 


DAS  SCHÖNE.  197 


Leider  gebrauchen  wir  das  Wort  > schönt  nicht  ausschließlich  fflr 
diesen  ganz  bestimmten  Oefflhistypus  und  die  ihr  entsprechende  Be- 
schaffenheit des  Gegenstandes.  Wir  nennen  ein  Porträt  schön,  ob- 
gleich wir  das  lebendige  Urbild  nie  so  bezeichnen  würden.  Hier 
meinen  wir  augenscheinlich  den  Kunstwert  Allein  auch  in  dem  Urteil 
über  den  Kunstwert,  das  wir  gern  in  das  eine  Wort  »schön«  zu- 
sammenfassen, lassen  sich  mehrere  Nuancen  bemerken.  Erstaunlich 
oft  bezieht  sich  das  lobende  Prädikat  nur  auf  einen  Teil  oder  eine 
Rkrhtung  des  Werkes,  wird  aber  unwillkürlich  auf  das  Ganze  ausge- 
dehnt Dies  entspricht  einem  der  freundlichen  Züge  unseres  Wesens, 
daß  wir  —  wie  man  in  der  Rhetorik  sagt  —  den  Teil  für  das  Ganze 
nehmen,  etwa  über  der  Pracht  der  Farben  die  Mängel  der  Zeichnung, 
über  dem  Schwung  der  Melodie  die  Dürftigkeit  der  Instrumentierung 
vergessen,  oder  daß  wir  eine  glänzend  geglückte  Episode  in  Erinne- 
rung behalten  und  dem  Ganzen  anrechnen.  Starke  Einzeleindrücke 
kommen  ihrer  Umgebung  zu  gute,  so  wie  einige  eingetroffene  Weis- 
sagungen allen  Fehlsprüchen  zum  Trotz  den  Propheten  mit  Ruhm 
krönea  Sind  zu  viel  Einzelschönheiten  angehäuft,  so  büßt  das  Ganze 
meist  an  Wirkung  ein,  weil  es  die  Ruhe  und  Einheitlichkeit  vertiert. 

Zweitens  bedeutet  »schön«,  daß  ein  Werk  unter  den  Werken 
gleicher  Art  das  relativ  beste  sei.  Erfolgt  dies  beziehende  Urteil  auf 
Grund  geschichtlichen  Wissens,  so  trifft  es  auch  solche  Werke,  die 
dem  gegenwärtigen  Geschmack  gleichgültig  oder  sogar  unangenehm 
sind  Wir  erleben  täglich  Beispiele  dafür,  daß  die  Historiker  jeder 
Kunst  oder  auch  die  Sammler  von  Werken  der  bildenden  Kunst 
ärmlichste  und  gleichgültigste  Produkte  mit  Begeisterung  als  schön 
rühmen.  In  derselben  Richtung  wirken  technische  Kenntnisse,  indem 
sie  die  Grenzen  einer  besonderen  Kunst  kennen  lehren.  Gewisse 
Klangfärbungen,  die  von  der  Geige  ausgehen,  sind  schön,  während 
sie  bei  der  menschlichen  Stimme  nicht  schön  wären.  Gewisse  Effekte 
werden  beim  Steinschnitt  bewundert,  bei  der  Radierung  verworfen. 
Kurz,  »schön«  ist  in  diesem  Falle  ein  zusammengefaßtes  Vergleichungs- 
urteiL  Und  endlich  kann  dem  Worte  »schön«  die  Vorstellung  einer 
Norm  zu  Grunde  liegen,  eines  absoluten  Maßstabes,  der  überhaupt 
noch  nicht  verwirklicht  worden  ist  Schön  würde  dann  eine  starke 
Annäherung  an  das  Ideal,  im  besten  Falle  seine  Erfüllung  meinen. 
Wir  verweisen  hierüber  auf  spätere  Auseinandersetzungen  (S.  199). 
Da  also  »schön«  als  unklarer  und  verschwimmender  Ausdruck  für 
verschiedene  Arten  ästhetischer  Wertschätzung  dient,  so  ist  es  kein 
Wunder,  daß  dies  vielsagende  Wort  auch  für  andere  Bewertungen  ver- 
wendet wird.  Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  übertragen  wir  es  auf 
das,  was  wir  schmecken,  riechen ,  tasten,  während  die  Ausdehnung 


198  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

auf  ethische  Eigenschaften  unserer  Sprache  nicht  mehr  so  geläufig  ist 
wie  früher. 

Fragen  wir  nunmehr,  ob  das  Wort  »schön«  für  bestimmte  Natur- 
gegenstände und  ihre  Nachbildung  vorbehaUen  ist  und  ob  ein  Inventar 
der  Schönheit  aufgenommen  werden  kann,  so  müssen  wir  —  mit  ge- 
ringen, durch  geschichtlichen  Wandel  bedingten  Einschränkungen  — 
die  Frage  bejahen.  G^rard  de  Lairesse  hat  sich  offenherzig  darüber 
ausgesprochen.  Auch  er  enthüllt  (wie  Helvetius,  der  Ethiker  des 
Egoismus,  nach  der  Behauptung  der  geistreichen  Frau  von  Defferand 
getan  hat)  »fe  secret  de  tout  le  monde<i.  Was  ist  schön?  »Eine  Land- 
schaft mit  geraden  Bäumen,  hübschen  Durchsichten,  azurblauer  Luft, 
zierlichen  Fontänen,  stattlichen  Palästen  in  wissenschaftlichem  Baustil, 
mit  wohlgebauten  Menschen  und  wohlgefütterten  Kühen  und  Schafen.« 
Was  ist  häßlich?  »Mißgestaltete  Bäume,  die  Stämme  krumm,  alt  und 
geborsten,  unebener  Boden,  ohne  Wege,  scharfkantige  Hügel  und  zu 
hohe  Berge,  rohe  Gebäude  oder  verfallene,  deren  Ruinen  über  Häuf 
li^en,  morastige  Wässer,  eine  Luft  voll  schwerer  Wolken,  auf  dem 
Felde  mageres  Vieh  und  ungeschickte  Landstreicher  —  das  kann  un- 
möglich für  eine  schöne  Landschaft  gelten«  %  Für  den  Durchschnitts- 
geschmack hat  Lairesse  zweifellos  recht.  Denn  an  die  aufgezählten 
und  an  ähnliche  Wirklichkeiten  schließt  sich  der  R^el  nach  ein  stö- 
rungsfreier ästhetischer  Genuß  an.  —  Geht  man  von  der  bloßen  Be- 
schreibung zur  Zergliederung  über,  so  findet  man  durchw^  Bestand- 
teile, die  an  sich  und  in  Verknüpfung  ohne  Widerstreit  sind.  Eine 
leuchtende  Farbe,  ein  gesättigter  Klang,  eine  reizvolle  Kurve  wecken 
konfliktlose  Lust.  Harmonische  Raum-  und  Tongestalten  besitzen  in 
sich  eine  als  schön  zu  bezeichnende  Selbstverständlichkeit,  einen  natür- 
lichen Fluß,  der  keine  Hemmungen,  keine  Kämpfe,  keine  rauhen  Unter- 
brechungen, keine  Unsicherheit  kennt  Eingefühlt  werden  nur  lustvolle 
Inhalte,  assoziiert  nur  angenehme  Vorstellungen;  gerade  wegen  dieses 
Mangels  an  j^licher  Störung  bleibt  der  Wert  bloßer  Schönheit  durch- 
aus ein  Oberflächenwert  Dazu  kommt  —  doch  nicht  als  tadelnswerte 
Eigenschaft  — ,  daß  er  im  schönen  G^enstand  beschlossen  ist,  wäh- 
rend die  Werte  der  Wahrheit  und  des  Guten  über  sich  selbst  hinaus 
in  einen  Zusammenhang  (von  Erkenntnis  und  von  sittlichem  Handein) 
weisen. 

Immerhin  zeigt  sich  zwischen  dem  Schönen  und  dem  Wahren  dne 
Ähnlichkeit  methodologischer  Art.  Beide  B^ffe  nämlich  lassen  sich 
einer  mehrfachen  Betrachtungsweise  unterordnen.  Wahr,  so  hat  man 
gemeint,  ist  jeder  Gedanke,  der  mit  dem  wirklichen  Ding,  oder  jede 
Gedankenverkettung,  die  mit  dem  wirklichen  Zusammenhang  überein- 
stimmt   Diese  realistische  Theorie,  unhaltbar  schon  für  eine  kritische 


DAS  SCHÖNE.  199 


Auffassung  der  Erkenntnis,  versagt  t>eim  Schönen  völlig.  Wir  dürfen 
allerdings  das  Schöne  als  etwas  Objektives  t>ehandeln,  weil  wir  sicher 
sind»  M  erneuter  Wahrnehmung  des  Gegenstandes  den  gleichen  Oe- 
mQtszustand  zu  erleben.  Aber  die  sachliche  Zugehörigkeit  bidbt 
grundverschieden  von  der  Annahme,  daß  die  Stimmung  den  Gegen- 
stand genauestens  wiederhole.  Auch  zwischen  Naturvorbild  und  künst- 
lerischer Nachahmung  besteht  inhaltliche  Verwandtschaft,  jedoch  kein 
Verhältnis  der  Abspiegelung.  Und  sollte  es  selbst  vorhanden  sein, 
so  sind  wir  Genießenden  ja  weder  befähigt  noch  geneigt,  Bild  oder 
poetische  Beschreibung  Zug  um  Zug  mit  dem  Original  zu  vergleichen. 
Wer  bekommt  das  Modell  je  zu  Gesicht?  Oder  wer  außer  den  Fach- 
gelehrten kümmert  sich  um  die  literarischen  Modelle?  Die  Berufung 
auf  typische  Vorstellungen  nützt  gleichfalls  nichts,  da  sie  der  An- 
schaulichkeit und  einer  im  einzelnen  klaren  Bestimmbarkeit  entt>ehren. 
So  selbstverständlich  es  klingt,  daß  nur  aus  der  Vergleichung  zweier 
aktuellen  Vorstellungen  ein  Urteil  über  das  Verhältnis  beider  sich  er- 
geben könne,  so  sicher  ist,  daß  die  Wahrnehmung  eine  deutlich  ge- 
sonderte, scharfe  Erinnerungs-  und  Phantasievorstellung  nicht  auf- 
kommen läßt    Umsoweniger  die  des  Typus. 

Mit  dem  Hilfsbegriff  des  Typus  ist  eine  zweite  Auffassung  der 
Schönheit  verbunden,  nämlich  die  idealistische.  Gleichwie  Wahrheit 
im  begrifflichen  Erfassen  der  Weltideen  sich  entschleiert,  so  wird  im 
Anschauen  Schönheit  als  Sinn  einer  Erscheinung  offenbar.  Alles 
Schöne  muß  daher  typisch  sein,  denn  typisch  nennen  wir  einen 
Gegenstand,  in  dem  die  Gattung  und  der  Gattungszweck  deutlich 
hervortreten.  Wir  haben,  so  sagt  man,  von  jedem  Objekt  eine  Gattungs- 
vorstellung; die  vollkommene  Ol>ereinstimmung  des  angeschauten 
Objekts  mit  dieser  Vorstellung  erziele  die  ästhetische  Befriedigung. 
Es  wäre  daher  das  Typische  ein  Gattungsmäßig-Charakteristisches.  - 
Diese  Auffassung  begegnet  einigen  Schwierigkeiten.  Die  Natur  enthält 
Erscheinungen,  die  trotz  der  vollendetsten  Ausprägung  ihrer  Gattungs- 
merkmale häßlich  bleit>en,  ja  sogar  dem  ästhetischen  Genießen,  das 
auch  l>eim  Häßlichen  möglich  ist,  Widerstand  leisten.  Femer  bedeutet 
die  Theorie  nahezu  eine  Aufhebung  der  Individualität:  je  weniger 
Persönlichkeit  und  je  mehr  Artcharakter,  desto  größer  der  Wert  Ist 
nun  wirklich  das  Durchschnittliche  jenes  Gesteigerte,  das  wir  Schön- 
heit nennen?  Sind  Michel  Angelos  potenzierte  Menschen  arithmetische 
Mittelwerte?  Können  der  konstruierte  Begriff  von  Art  und  Gattung 
und  die  verbrauchte  Vorstellung  des  Mittleren  starke  ästhetische  Ein- 
drücke hervorrufen?  Solche  Bedenken  ruhen  auf  einem  Mißverständ- 
nis. Unter  Typen  begreift  die  Ästhetik  keineswegs  leere  Gattungs- 
formen.   Vielmehr  sind  sie  das  Ergebnis  ausgedehntester  Erfahrung 


200  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

und  bis  an  den  Rand  gefüllt  Schönheit  wurde  im  18.  Jahrhundert 
gel^entlich  als  ein  äußerer  Vorgang  bestimmt,  der  größte  Ideenzahl 
in  kleinster  Zeit  gewähre;  Typus  ist  in  der  Tat  dne  jede  Gestalt,  die 
außerordentlich  viele  Vorstellungen  derselben  Art  voraussetzt  und  be- 
wirkt Freilich  müssen  die  zusammen  schwingenden  Einzelheiten  alle 
zu  einer  bestimmten  Gruppe  von  Merkmalen  gehören.  Es  sind  ent- 
weder sichtbare  oder  hörbare  oder  Merkmale  sprachlicher  Natur,  die 
sich  zu  einem  Vorstellungskomplex  verfestigen.  Aber  gerade  durch 
diese  Besonderheiten  bleibt  der  ästhetische  Typus  vom  logischen  Be- 
griff unterschieden.  Wenn  wir  urteilen:  dieser  Zug  an  einer  Statue 
widerspreche  dem  Typus  etwa  eines  Ringkämpfers,  so  vergleichen  wir 
nicht  mit  dem  Gattungsb^ff  des  Ringkämpfers  was  wir  sehen, 
sondern  wir  nehmen  Anstoß  am  Widerspruch  dieses  Zuges  zu  allen 
übrigen  Einzelheiten  der  Figur.  Verletzt  wird  der  typische  Zusammen- 
hang sichtbarer  Formen  oder  das  Einheitsstrdjen  der  Gesichtsvor- 
stellungen. 

Das  Normgemäße  ist  aufs  engste  verknüpft  mit  dem  Zweckgemäßen. 
Die  eben  erwähnten  Einzelheiten  sind  jedesmal  zur  Erreichung  des 
Eindruckszweckes  ausgewählt  Vergleichen  wir  wiederum  mit  dem 
Logischen.  Verkehrssprache  und  Wissenschaft  vermöchten  Tausende 
von  logisch  unanfechtbaren  Gattungsbegriffen  zu  schaffen,  wenn  sie 
nur  nicht  den  Nachteil  hätten  —  sinn-  und  zwecklos  zu  sein.  Aus 
dem  Spiel  der  Möglichkeiten  das  Wesentiiche  herausgreifen  heißt 
das  Zweckvolle  hervorheben.  Dieser  Satz  gilt  auch  vom  ästhetischen 
Typus.  Wenn  in  der  Philosophie  des  Schönen  vor  und  besonders 
seit  Kant  der  Zweckbegriff  gelegentiich  eine  erste  Rolle  zugewiesen 
erhielt,  so  verstehen  wir  das  unter  dem  eben  aufgestellten  Gesichts- 
punkt Die  Verkoppelung  der  beiden  B^jiffe  Schönheit  und  Zweck- 
mäßigkeit hat  einen  wissenschaftlichen  Nutzen,  der  über  den  Wert 
einer  Bequemlichkeitsauskunft  hinausgeht  Denn  aus  anderen  Gedanken- 
kreisen heraus  wissen  wir,  daß  die  Zweckbetrachtung  erlaubt,  das  Soll 
mit  dem  Sein,  das  Ideal  mit  der  Wirklichkeit  zu  verknüpfen  und  diese 
zwei  Welten,  die  ohne  einander  bedeutungslos  wären,  entweder  in 
dauerndem  Zusammenhang  zu  zeigen  oder  die  eine  als  Entwickelung 
zu  den  in  der  anderen  enthaltenen  Zielen  zu  erklären.  Eigentlich  ästhe- 
tisch aber  wird  der  Zweck,  sobald  er  —  ohne  selbst  sich  vorzu- 
drängen — ;  den  Teilen  des  von  ihm  beherrschten  Ganzen  einen 
organischen  Zusammenhang  verleiht  Wie  der  Mensch  liebt,  obgleich 
er  keinen  Rechtsgrund  an  der  geliebten  Person  nachzuweisen  vermag, 
so  bewundert  er  die  Einstimmigkeit  des  Schönen,  obgleich  ihm  die 
Ursache  entgeht,  nämlich  die  Unterordnung  unter  einen  Zweck.  Das 
ist  Kants  »Zweckmäßigkeit  ohne  Zweck«. 


DAS  SaiÖNE  201 


Treten  wir  nun  aus  dem  Reich  der  Philosophie  in  den  Kreis  des 
täglichen  Lebens,  so  stoßen  wir  auf  eine  Beziehung  des  Schönen  zum 
Nützlichen.  Wir  werden  sie  in  der  allgemeinen  Kunstwissenschaft 
niher  kennen  lernen.  Vorläufig  nur  die  Bemerkung,  daß  in  vielen 
Fällen  das  Schöne  aus  dem  Nützlichen  hervorgegangen  ist  Man  hat 
aber  auch  umgekehrt  argumentiert  *).  Da  die  Entwickelung  des  Seelen- 
lebens in  einer  ständigen  Ausbildung  von  Bedürfnissen  besteht  --  was 
freilich  dem  ärmlichen  Sittenideal  des  Bedürfnislosen  widerspricht  — , 
so  kann  als  eine  Seite  dieser  Entwickelung  die  Umbildung  von  ästhe- 
tischen Trieben  in  praktische  Triebe  vorkommen.  Wünschen  wir  etwas 
Neues  zum  ersten  Male,  so  erscheint  es  uns  als  schön,  als  ein  Ideal; 
nach  wiederholtem  Auftreten  des  Impulses  und  nach  seiner  mehr- 
fachen Erfüllung  tritt  das  Objekt  in  die  Gruppe  der  notwendigen 
Lebensbedingungen.  In  dem  Maße,  wie  ein  Ding  den  Charakter  des 
unerreichten  Ziels  hat,  besitzt  es  auch  Schönheitswert;  sobald  es  aber 
das  Merkmal  der  Interesselosigkeit  einbüßt,  weil  es  in  das  System 
der  praktischen  Bedürfnisse  übergeht,  verliert  es  auch  das  Spielartige, 
Freie,  Feiertägliche,  Subjektive,  Illusionshafte,  also  die  übrigen  Merk- 
male, die  dem  Ästhetischen  nach  allgemeiner  Meinung  zukommen. 
Gleichgültig,  ob  es  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  sich  so  verhält,  oder  ob 
umgekehrt  das  Schöne  aus  dem  Nützlichen  geworden  ist,  jedenfalls 
liegt  in  dem  fertigen  Erzeugnis  der  Zweckgedanke,  sei  es  als  die  Ver- 
gangenheit des  Gegenwärtigen  oder  als  seine  Zukunft  oder  als  beides 
zugleich.  Das  gilt  ersichtlich  von  allen  künstlerisch  gestalteten  Ge- 
brauchsgegenständen. Der  Künstler  muß  bei  ihrer  Erzeugung  sich 
nach  den  Forderungen  der  Norm,  d.  h.  des  Zweckes  richten.  Sofern 
man  dem  Gegenstand  auf  den  ersten  Blick  und  unwillküriich  ansieht, 
daß  er  zweckmäßig  ist,  empfindet  man  ihn  als  schön:  ein  Weinglas 
soll  sogleich  zeigen,  daß  sich  aus  ihm  trinken  läßt.  Keine  Frage, 
daß  bei  solchen  Urteilen  die  persönlichen  Erfahrungen,  die  Erziehung 
und  die  Umgebung  entscheidend  eingreifen:  In  Gegenden,  wo  die  Be- 
wohner von  kriechendem  Gewürm,  reißenden  Tieren  und  namentlich 
von  Erdbeben  bedroht  sind,  werden  leicht  bew^liche  Häuser  und 
Pfahlbauten  als  zweckvoll  empfunden;  bei  uns  würde  das  Gefühl  der 
Sinnlosigkeit  keinen  Schönheitseindruck  aufkommen  lassen.  Höchst 
wahrscheinlich  ist  femer,  daß  in  den  Nutzkünsten  praktische  Notwen- 
digkeiten zu  gewissen  Formen  führen,  die  jetzt,  wo  ihre  niedere  Ge- 
burt längst  vergessen  ist,  als  schön  anmuten.  Endlich  scheint  es 
nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Schönheit  der  menschlichen  Gestalt 
mit  den  Zwecken  der  Gattungserhaltung  etwas  zu  schaffen  habe.  Auf 
alle  Fälle  fließt  irgend  etwas  von  Zweck  und  Nutzen  zum  Schönen 
hinüber. 


202  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Mit  dieser  Einsicht  erreicht  die  Selbstbewegung  der  Gedankenarbeit 
jenen  Punkt,  an  dem  die  letzte  von  den  in  Aussicht  gestellten  drei 
Theorien  ihren  natürlichen  Ort  hat.  Die  biologische  Erkenntnistheorie 
erklärt  das  Wissen  für  den  feinsten  Extrakt  aus  zweckmäßigen  Vor- 
stellungsverbindungen und  gesteht  den  Wahrheiten  nur  den  Wert 
haltbarer  und  brauchbarer  Einsichten  zu;  sie  nennt  wahr,  was  im  Zu- 
sammenhang des  Denkens  geschichtlich  sich  bewährt  Eine  ent- 
sprechende Auffassung  des  Schönen,  mit  der  wir  in  einen  neuen  Ge- 
dankenkreis eintreten,  beruft  sich  gleichfalls  auf  die  zeitliche  Dauer- 
haftigkeit. Schön  ist  ein  Gesicht,  das  einer  griechischen  Bildsäule 
entlehnt  scheint,  sind  würdige  Gegenstände  oder  die  allegorischen 
Darstellungen  der  niederen  Dinge.  Schön  ist  alles,  was  lange  geübten 
Regeln  sich  fügt,  sind  Farben  wie  auf  alten  italienischen  Bildern  — 
beiläufig  gesagt:  in  ihrem  gegenwärtigen  Zustand  — ,  Lichtverteilungen 
wie  hell  auf  dunkel  an  der  einen,  dunkel  auf  hell  an  der  andern  Seite  — 
kurz,  schön  sind  die  akademisch  befestigten  Inhalte  und  Formen.  Die 
ständige  Verweisung  auf  das  Mustergültige  und  die  unveränderte 
Brauchbarkeit  kann  jedoch  durch  die  gerade  entgegengesetzte  Betonung 
anderer  Momente  der  Lehre  bekämpft  werden.  Es  läßt  sich  mit 
stärkerer  Beweiskraft  der  Wechsel  daraus  ableiten.  Wenn  die  Schön- 
heit in  der  Tat  bloß  eine  Zweckmäßigkeitsbildung  der  menschlichen 
Auffassung  ist,  so  muß  sie  sich  nicht  minder  schnell  umwandeln  wie 
die  wissenschaftliche  Wahrheit.  Wir  würden  demgemäß  schön  nennen, 
was  dem  durchschnittlichen  Geschmack  einer  bestimmten  Zeit  störungs- 
freien ästhetischen  Genuß  ermöglicht.  In  dieser  Fassung  verrät  sich 
die  Theorie  als  mit  einer  anderen  einhellig,  von  der  beim  Problem  der 
Methode  das  Nötige  gesagt  worden  ist. 

Ohne  Frage  beeinflußt  die  geschichtliche  Entwicklung  Inhalt  und 
Grenzen  der  ästhetischen  Kategorien.  Erst  in  unserer  Zeit  und  im 
Zusammenhang  mit  der  modernen  Kunst  kommt  ein  Begriff  zu  Ehren, 
der  vielleicht  in  späteren  Tagen  als  besondere  Kategorie  wird  geführt 
werden  können.  Ich  meine  die  Vornehmheit.  Sie  ist  dem  Schönen 
nahe  verwandt,  ja  ist  im  Grunde  nur  die  Unauffälligkeit  jener  Harmonie, 
die  im  Schönen  waltet;  anders  ausgedrückt:  sie  ist  die  Selbständigkeit 
des  ästhetischen  Lebens,  abgeschattet  als  Verhaltenheit  oder  Un- 
bekümmertheit  So  wurde  das  Wort  stets  für  Gesinnungs-  und  Hand- 
lungsweise oder  für  Abstammung  und  Familienzugehörigkeit  gebraucht; 
jetzt  legen  wir  es  auch  Kunstwerken  bei.  Das  Schöne  wird  dann 
vornehm,  wenn  es  unter  Bewahrung  seines  Gepräges  auf  die  ge- 
schichtlich mit  ihm  verwachsenen  Inhalte  und  Formen  verzichtet  Es 
gibt  eine  oberflächliche  Schönheit  für  alle  Welt,  und  ihr  fehlt  kein 
einziges  Merkmal.    Aber  diese  anerkannte,  durch  der  Zeiten  und  Massen 


DAS  SCHÖNE.  203 


Gunst  befestigte  Schönheit  bietet  sich  gleichsam  aus:  mit  dem  Be- 
hagen des  Besitzenden  ruft  sie  uns  zu,  wie  tadellos  ihre  Farben, 
Formen,  Klänge,  Reime  sind.  Mehr  noch  lieben  wir  den  Erwerb, 
freuen  wir  uns  an  der  stillen  Notwendigkeit,  mit  der  ein  Künstler  die 
Linie  ganz  anders  führt,  als  es  üblich  ist,  ohne  ihr  die  formale  Oe- 
fälligkeit  zu  rauben.  Wir  nennen  solche  Kunstweise  wohl  auch  apart; 
doch  unterscheiden  wir  sie  vom  absichtlich  Bizarren  mit  jener  instink- 
tiven Sicherheit,  die  feiner  arbeitet  als  die  begriffliche  Abschätzung. 
Hinter  der  Anspruchslosigkeit  verbirgt  sich  echte  Kraft:  oft  verlangt 
Stillschweigen  mehr  Mut  und  Entschlossenheit  als  Dreinschlagen. 
Wo  Zurückhaltung  und  Sicherheit  vereint  sind,  da  entsteht  Vornehm- 
heit Alles  Laute  und  Prahlerische  ist  ihrem  Ernst  zuwider,  sie  wirkt 
durch  Nuancen  und  sanfte  Färbungen,  überhaupt  durch  alle  Mittel  der 
Ruhe  und  Delikatesse. 

Sobald  die  Vornehmheit  sich  auf  kleine  Formate  und  schwache 
Intensitäten  beschränkt,  nähert  sie  sich  dem  Zieriichen.  Die  japanische 
Kunst  bietet  eriesene  Beispiele.  Und  vom  Zieriichen  führt  dann  ein 
kurzer  Weg  zu  der  in  unserem  Schema  aufgeführten  Kategorie  der 
Niedlichkeit. 

In  Edmund  Burkes  Untersuchungen  über  das  Schöne  und  das 
Erhal>ene  findet  sich  ein  Kapitel  mit  der  Überschrift:  Beautiful  ob- 
jects  smalL  Der  Gedankengang  darin  ist  folgender.  Was  uns  zuerst 
an  einem  Gegenstand  auffällt,  ist  seine  Ausdehnung;  welche  Ausdeh- 
nung bei  schönen  Objekten  die  Regel  ist,  kann  man  aus  den  für  sie 
üblichen  Ausdrücken  entnehmen.  Nun  bezeichnen  die  meisten  Sprachen 
geliebte  Wesen  mit  Diminutiven,  also  auch  die  schönen  Objekte. 
Denn  zwischen  Bewunderung  und  Liebe  besteht  ein  Unterschied. 
>  The  Sublime,  which  is  the  cause  of  the  former,  always  dwells  on  great 
objects,  and  terrible;  the  latter  on  small  ones  and  pleasing;  we  submit 
to  what  we  admire,  but  we  love  what  submits  to  us:  in  one  case  we 
are  forced,  in  the  other  we  are  flattered,  into  compliance.*  Dieser  Satz 
enthüllt  uns  den  einen  Grund  für  die  auffällige  Kapitelüberschrift.  Da 
Burke  in  der  Hauptsache  nur  zwei  ästhetische  Kategorien,  nämlich  das 
Schöne  und  das  Erhabene,  anerkennt,  und  da  das  Erhabene  zweifellos 
an  besondere  Größe  geknüpft  ist,  so  gewinnt  er  durch  den  Gegensatz 
jene  Bestimmung:  beautiful  objects  small.  Zweitens  hatte  er  vorher 
nachzuweisen  versucht,  daß  der  Sinn  fürs  Schöne  in  einer  Lust  be- 
stehe, die  mit  unseren  sozialen  Trieben,  letztlich  mit  der  Geschlechts- 
liebe zusammenhangt.  Folglich  kann  die  Verwendung  der  Diminutiva 
zum  Ausdruck  der  Zärtlichkeit  einfach  auf  schöne  Gegenstände  über- 
tragen werden. 

Um    zu   erkennen,   daß   der  Sachverhalt   zusammengesetzter   ist, 


204  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

braucht  man  sich  bloß  daran  zu  erinnern,  wie  oft  Diminutiva  einem 
anderen  Gefühle  dienen,  nämlich  dem  Spott  und  der  Verachtung, 
Kleines  Format  gefällt  einerseits  durch  seine  Anspruchslosigkeit  und 
weil  es  dem  Betrachter  ein  Wohlgefühl  der  Überlegenheit  einflößt,  es 
macht  aber  anderseits  auch  den  Eindruck,  als  ob  es  nicht  ernst  ge- 
nommen zu  werden  brauchte.  Es  entstehen  also  aus  der  gleichen 
quantitativen  Beschaffenheit  des  Objekts  zwei  recht  verschiedene 
Nuancen  eines  subjektiven  Überlegenheitsgefühls.  Hieraus  erklärt  sich, 
daß  an  die  Kleinheit  des  Kunstwerkes  sowohl  das  Prädikat  des  Nied- 
lichen wie  das  des  Komischen  geknüpft  werden  kann.  Niedlich  heißt 
etwas  ästhetisch  Wertvolles,  das  auf  ein  geringes  Volumen  beschränkt 
ist;  komisch  wirkt  etwas  Kleines,  nachdem  wir  an  seiner  Stelle  Großes 
erwarten  mußten.  Mit  dem  bloß  Schönen  haben  Zierliches  und  Nied- 
liches dies  gemein,  daß  sie  ohne  sonderliche  Tiefe  sind.  Kommt  noch 
eine  spielerische,  launisch-neckende  Neigung  hinzu,  so  entsteht  Grazie 
in  dem  Sinn,  wie  ihn  die  Bergerettes  und  Pastourelles  der  Rokoko- 
zeit am  köstlichsten  offenbaren. 

Ehe  wir  nun  den  Blick  nach  der  anderen  Richtung,  nämlich  zum 
Erhabenen  lenken,  sei  nochmals  an  den  Gegensatz  von  Kallikratie 
und  Panästhetizismus  erinnert.  Wir  übersehen  ihn  jetzt  besser  als 
vordem.  Wir  wissen  jetzt,  daß  Schönheit  lediglich  eine  von  den 
ästhetischen  Kategorien  ist,  kennen  ihre  bezeichnenden  Merkmale  und 
die  ihr  benachbarten  Auffassungsweisen.  Umso  deutlicher  wird  nun, 
daß  Kunst  nicht  eine  Konzentration  von  alleriei  Annehmlichkeiten, 
sondern  eine  umfassende  Bearbeitung  des  Erfahrungsstoffes  ist 


2.  Das  Erhabene  und  das  Tragische. 

Am  Erhabenheitsgefühl  fällt  zuerst  der  Einfluß  der  Objektgröße 
auf.  Pyramiden  und  gotische  Dome,  Gewitterstürme  und  wilder 
Massenaufruhr,  Todesverachtung  und  heroische  Leidenschaft  erscha- 
uen durch  ihr  extensives  oder  intensives  Quantum  als  erhaben.  Diese 
Ergriffenheit  angesichts  von  Kraft  und  Kampf  unterscheidet  sich  un- 
verkennbar vom  beglückenden  Hinnehmen  des  Schönen.  Es  fragt 
sich  nur,  worin  ihre  ästhetische  Besonderheit  wurzelt  Doch  wohl 
darin,  daß  eine  gewisse  Grenzenlosigkeit  und  Unerschöpflichkeit  uns 
die  Brust  weiten.  Äußerlich  betrachtet  sind  Kunstwerke  natürlich  eng 
begrenzt;  selbst  der  Anblick  des  gestirnten  Himmels  oder  der  Gehörs- 
eindruck des  grollenden  Gewitters  finden  schnell  ihr  Ende.  Aber  in 
der  Gleichförmigkeit  und  Größe  solcher  ästhetischer  G^enstände  li^ 
etwas,   was   sie  über   sich    und    uns    über    uns    selbst   hinaushebt 


DAS  ERHABENE  UND  DAS  TRAGISCHE.  205 

Wesentlich  sind  und  bleiben  die  quantitativen  Momente.  Beschränkt 
sich  das  Nachdenken  auf  sie,  so  findet  es  innerhalb  des  Kunstgebietes 
eine  Tatsache  bestätigt,  die  seit  dem  Altertum  das  philosophische 
Denken  beschäftigt  hat  Es  ist  die  Tatsache,  daß  durch  bloße  Ver- 
mehrung eine  neue  Qualität  entstehen  kann,  daß  ein  einziges  Weizen- 
kom,  zu  fünf  anderen  hinzugefügt,  diesen  die  Qualität  eines  '-Haufens^ 
verleiht,  die  sie  vordem  nicht  besaßen.  Zwar  kommen  auch  hier 
andere  Umstände  in  Betracht  (die  Dinge  müssen  nahe  und  ohne 
Ordnung  beieinander  liegen),  aber  die  Hauptsache  bleibt  doch  die 
Anzahl,  die  in  der  Tat  durch  Hinzufügung  eines  einzigen  Kornes  zu 
einer  nicht  mehr  unmittelbar  aufzufassenden  werden  kann.  Der  eine 
Zentimeter,  den  ich  zu  neunundneunzig  anderen  hinzufüge,  ist  nicht 
mehr  wert  als  der,  der  zu  zwanzig  anderen  hinzutritt,  und  dennoch 
schafft  er  den  neuen  Begriff  des  Meters.  Aus  ähnlichen  Beispielen 
hat  Hegel  eine  »Knotenlinie  von  Maßverhältnissen c  abstrahiert  Indem 
er  von  den  drei  Aggregatzuständen  des  Wassers  spricht,  bemerkt  er: 
>diese  verschiedenen  Zustände  treten  nicht  allmählich  ein,  sondern  eben 
das  bloß  allmähliche  Fortgehen  der  Temperaturänderung  wird  durch 
diese  Punkte  mit  einem  Male  unterbrochen  und  gehemmt,  und  der 
Eintritt  eines  anderen  Zustandes  ist  ein  Sprung.^  (Wiss.  der  Logik  I, 
313.)  In  unseren  Gedankengang  würde  besser  passen  die  Vergleichung 
eines  Wassertropfens  mit  dem  Meere:  jener  dasselbe  wie  dieses  und 
dennoch  unfähig  einen  Sturm  zu  zeigen.  Oder  wir  könnten  mit  Hegel 
an  das  Moralische  denken:  >Es  ist  ein  Mehr  oder  Weniger,  wodurch 
das  Maß  des  Leichtsinns  überschritten  wird,  und  etwas  ganz  anderes, 
Verbrechen,  hervortritt,  wodurch  Recht  in  Unrecht,  Tugend  in  Laster 
übergeht^  (314). 

Doch  kehren  wir  zum  Thema  zurück.  Der  Begriff  des  Erhabenen 
ist  im  18.  Jahrhundert  immer  als  gleichwertig  neben  den  Begriff  des 
Schönen  gestellt  worden.  Aus  seiner  Geschichte  sind  vor  allem  die 
Schrift  ::spl  ^o^>^  und  Burkes  Untersuchung  bekannt.  Das  namenlose 
Buch  beschäftigt  sich  mit  dem,  was  wir  pathetische  Schreite  und 
Sprechweise  nennen  würden,  und  wendet  sich  gegen  die  Schrift- 
steller, die  vom  Stil  ängstliche  Genauigkeit  verlangten.  Die  allge- 
meinen Betrachtungen  sind  nicht  besonders  wertvoll.  Dagegen  ver- 
danken wir  Burke  eine  sehr  wichtige  Einsicht,  nämlich  die,  daß  in  dem 
Erhabenheitsgefühl  stets  Staunen  und  Furcht,  also  Unlust  enthalten 
ist  und  daß  daraus  eine  Erhebung  hervorgehen  kann.  Erhabenheit 
bedeutet  eine  solche  Übermacht  des  Objekts,  so  wollen  wir  sagen, 
daß  kleinliche  Empfindungen  der  persönlichen  Furcht  aus  der  Seele 
entschwinden,  und  es  ist  deutlich,  daß  dies  von  der  Gewalt  des  Ol>- 
jekts  bewirkte  Vergessen  seiner  selbst  gegenül>er  dem  kunstgeformten 


206  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Erhabenen  am  leichtesten  und  sichersten  auftreten  kann.  Denn  die 
negative  Bedingung  ist  doch  das  mehr  oder  weniger  unbewußte 
Oeffihl  der  Sicherheit  vor  einer  überlegenen  Macht  Die  Klugheit,  mit 
der  wir  uns  gegen  die  kleinen  und  großen  Gefahren  des  Lebens 
wehren,  würde  hier  nichts  ausrichten.  Die  Orundstimmung  ist  daher 
nicht  nur  die  der  Überwältigung,  sondern  auch  die  des  Vertrauens, 
und  sie  muß,  wie  gesagt,  beim  Kunstwerk  leichter  auftreten  als  beim 
Naturschönen. 

Ursprünglich  mag  die  Körperkraft  eines  Menschen  der  dnzige 
Gegenstand  der  ästhetischen  Bewunderung  gewesen  sein.  Allmählich 
hat  sich  dies  beschränkte  Gefühl  zu  einem  Gefühl  für  die  Erhabenheit 
auf  allen  Gebieten  erweitert.  Es  lohnt  nicht,  die  Formen  des  subjektiv 
und  objektiv  Erhabenen  nach  dem  Vorbild  der  Vischerschen  Ästhetik 
aufzuzählen.  Alle  Arten  körperlicher  sowie  geistiger  Größe,  die  (im 
Leben  imponieren,  bewirken  in  der  Kunstform  eine  genußvolle  Er- 
hebung des  Aufnehmenden.  Das  extensive  oder  intensive  Quantum 
bedarf  indes  einer  gewissen  absoluten  Größe,  um  als  erhaben  wirken 
zu  können.  Es  genügt  nicht,  um  einen  Gegenstand  erhaben  zu  machen, 
daß  er  viel  größer  sei  als  seine  Umgebung,  sondern  er  muß  so  groß 
sein,  daß  er  an  das  Unendliche  grenzt;  und  das  ist  nur  von  einer 
gewissen  Quantität  ab  möglich.  Kein  Dichter  kann  dem  Leben  eines 
dreijährigen  Kindes  Erhabenheit  verieihen,  obwohl  es  im  Verhältnis 
zum  Leben  einer  Fliege  eine  außerordentliche  Zeitgröße  besitzt;  ein 
hundertjähriger  Greis  jedoch,  dessen  Alter  in  die  Ewigkeit  hinüberzu- 
reichen scheint,  flößt  bei  geeigneter  künstlerischer  Darstellung  un- 
bedingte Ehrfurcht  ein.  Freilich  gelten  diese  Größen  nur  für  die 
menschliche  Auffassung  und  sind  insofern  relativ.  Indessen  der 
anthropozentrische  Standpunkt  bildet  ja  bei  allen  unseren  Erwägungen 
die  selbstverständliche  Voraussetzung.  Er  muß  sogar  im  Sinne  einer 
geschichtlich  wechselnden  Relativität  eingeschränkt  werden.  In  unserer 
Zeit,  wo  verhältnismäßig  viele  das  Meer  und  die  Alpen  kennen  lernen 
und  schon  frühzeitig  an  die  weitesten  Dimensionen  sich  gewöhnen, 
heutzutage  gehört  ein  besonders  großes  Maß  zu  den  Eigenschaften 
des  Erhabenen.  Frühere  Geschlechter  konnten  wohl  aus  kleineren 
Eindrücken  die  gleiche  innere  Erregung  gewinnen,  wir  aber  brauchen 
Weitblicke.  —  Fernerhin  scheint  es,  als  ob  das  Erhabene  in  der  Kunst 
immer  mehr  sich  von  der  Formenschönheit  lossagt.  Formlose  Kolosse 
zieht  unser  Gefühl  deshalb  schon  in  das  Erhabene  hinein,  weil  wir 
bei  Formen  —  selbst  bei  den  gewaltigsten  —  zu  deutlich  die  Kon- 
struktion, d.  h.  etwas  rational  Schönes,  herausfühlen.  Die  Schulung 
des  Auges  hat  derart  zugenommen,  daß  die  unausgesprochenen  Angst- 
gefühle, die  ganz  leise  in  den  B^nn  eines  erhebenden  Eindruckes 


DAS  ERHABKNE  TND  DAS  TRAGISTUK.  207 

hineinspielen,  auch  bei  den  mächtigsten  Bauwerken  der  Eisenkon- 
struktion fehlen.  Daher  ist  uns  mehr  Massenhaftigkeit  vonnöten  als 
dem  Kunstsinn  der  Vergangenheit.  Endlich  gelten  —  heute  wie  jeder- 
zeit —  die  Erhabenheitswerte  nur  für  die  Anschauung,  nicht  für  den 
Begriff.  Logisch  angesehen  bedeuten  sie  eine  Unfähigkeit  des  Sul>- 
jektes,  scharfe  Grenzen  zu  ziehen,  eine  Niederlage  des  Gedankens,  dem 
bei  der  Übermacht  schwindelt.  Doch  wo  dem  Denken  Ohnmacht 
droht,  winkt  der  Anschauung  ein  GenuB.  Dieser  Genuß  erhält  eine 
physiologisch  bedingte  Färbung  durch  das  Auftreten  von  Empfindun- 
gen in  den  Gelenken  —  sie  lösen  sich  —  und  von  Hautempfindungen 
des  Schauers.  Wichtiger  indessen  ist  das  rein  Geistige  des  Vorganges. 
Wir  bezeichneten  es  als  Erhebung.  Man  kann  der  Übergewalt  feige 
ausweichen  oder  sie  leichtfertig  mißachten.  In  keinem  dieser  beiden 
Fälle  tritt  der  Eindruck  der  Erhabenheit  auf,  sondern  dazu  gehört,  daß 
der  Mensch  über  sich  selbst  hinausgelangt,  ohne  sich  selbst  zu  ver- 
gessen. Wer  wirklichen  Sinn  für  die  Erhabenheit  besitzt,  der  darf 
sich  nicht  als  ein  harmonisches  Wesen  in  einem  harmonischen  Welt- 
ganzen fühlen,  sondern  er  muß  das  Außerordentliche,  das  ihm  ent- 
gegentritt, als  das  eigentlich  Menschliche  in  ihm  selber  erfassen.  Daß 
der  Mensch  als  Mensch  ein  maßloses  Wesen  ist,  das  lehrt  der  ge- 
waltige Eindruck  des  Erhabenen  und  auch  der  ähnlich  geartete  Ein- 
druck des  Tragischen.  Und  sie  sind  ein  Hinweis  darauf,  wie  einseitig 
der  freundliche  Optimismus  der  Schönheitsanbeter  den  Sinn  des  Welt- 
alls darstellt,  indem  er  über  die  Rätsel  hinweggleitet  und  nichts  als 
seligen  Frieden  anschaut.  Tragisches  Bewußtsein  ist  das  Wissen 
von  der  unentrinnbaren  Leidensbestimmung  alles  Guten,  vermählt  mit 
der  Kraft,  aus  dieser  Zwiespältigkeit  einen  erhöhten  Endzustand  zu 
gewinnen.  * 

Unsere  Bemühungen  um  das  Wesen  des  Tragischen  sehen  sich 
gleich  anfangs  durch  zwei  Hindemisse  gehemmt.  Das  eine  war  uns 
schon  früher  entgegengetreten:  es  liegt  in  der  Frage,  ob  das  Tragische 
ausschließlich  in  einem  subjektiven  Vorgang  bestehe  oder  nachweislich 
den  objektiven  Ereignissen  anhafte.  Das  andere  Problem  ist  dahin  zu 
bestimmen:  Gibt  es  ein  Tragisches  im  allgemeinen,  und  in  welcher 
Beziehung  steht  es  zur  dramatischen  Tragik?  -  In  der  aristotelischen 
Theorie  ist  die  subjektive  Seite  verbunden  mit  einer  Bestimmung,  durch 
die  das  Tragische  in  die  Wirklichkeit  hineingesenkt  wird.  Aristoteles 
begründet  sozusagen  in  psychologischer  und  realistischer  Art;  denn 
das  Kennzeichen  der  Tragödie,  die  erleichternde  Entladung,  ist  ein 
psychologisches  Moment,  und  um  ihr  Auftreten  zu  erklären,  nimmt 
Aristoteles  an,  daß  im  gewöhnlichen  außerästhetischen  Seelenzustand 
stets  eine  in   Furcht  und  Mitleid   bestehende  Spannung  vorherrscht« 


208  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Unsere  Psychologie  weiß  freilich  nichts  davon,  daß  Furcht  und  Mitleid 
als  dauernde  Oemütsstimmungen  den  dunklen  Hintergrund  der  Seele 
bilden;  trotzdem  ist  die  Behauptung  nicht  völlig  aus  der  Luft  g^^ffen. 
Manche  Menschen,  zumal  Kinder  und  Kunstler,  stehen  beständig  unter 
dem  Druck  einer  anscheinend  durch  nichts  gerechtfertigten  primitiven 
Angst  Was  andere  nur  aus  den  Schreckensstunden  schlafloser  Nächte 
kennen,  die  Furcht  vor  dem  Unerkennbaren  und  Unnennbaren,  das 
vibriert  bei  solchen  Naturen  fortgesetzt  in  der  Seele.  Auch  eine  weiche, 
überfließende  Stimmung,  eine  Zärtlichkeit,  die  Menschen  und  Tiere, 
Pflanzen  und  Steine  liebkosen  möchte,  erfüllt  gewisse  Menschen  in 
dem  Maße,  daß  man  sie  vom  Mitleid  beherrscht  nennen  könnte.  Aber 
es  läßt  sich  kein  Übergang  finden  von  diesen  übrigens  wohl  seltenen 
Gemütsbeschaffenheiten  zu  der  ästhetischen  Kategorie.  Denn  beim 
Genuß  der  Tragödie  kommen  solche  Stimmungen  doch  nicht  zu  einer 
wirklichen,  das  Gemüt  tatsächlich  befreienden  Entladung.  Man  kann 
eine  Dissonanz  von  Geräuschen  der  wirklichen  Umgebung  nicht  durch 
eine  musikalische  Harmonie  zur  Lösung  bringen.  Jene  Spannungen 
von  Furcht  und  Mitleid  werden  allenfalls  frei,  wenn  wir  von  schreck- 
lichen Leiden  Schiffbrüchiger  in  der  Zeitung  lesen,  aber  sie  betätigen 
und  entladen  sich  nicht,  wenn  wir  Tristans  Schicksal  miterleben. 
Furcht  und  Mitleid  gleichen  der  Sorge:  sie  knüpfen  den  Menschen  an 
das  Irdische,  sie  hemmen  das  höhere  Ich  in  uns,  anstatt  es,  wie  die 
Theorie  will,  zu  befreien. 

Wollte  man  uns  damit  vertrösten,  daß  man  eine  später  eintretende 
besänftigende  Nachwirkung  behauptet,  so  müßten  wir,  übrigens  im 
Einklang  mit  älteren  Ästhetikern,  von  neuem  darauf  aufmerksam 
machen,  daß  der  Genuß  doch  zugleich  mit  dem  Auftreten  schmerz- 
lichster Gefühle  empfunden  wird.  •  Die  tragischen  Err^^ungswerte 
können  ihre  Bedeutung  nicht  durch  das  erhalten,  was  etwa  späterhin 
sich  einstellt.  Aber  es  genügt,  an  das  Prinzip  der  Funktionslust  zu 
erinnern,  um  verständlich  zu  machen,  daß  auch  die  sogenannten  tragi- 
schen Erregungswerte  die  ästhetische  Freude  nicht  hindern.  Die  be- 
gründende psychologische  Tatsache  ist  das  Wohlgefühl,  mit  dem  wir 
unsere  Phantasie  durch  alle  Weiten  und  Tiefen  des  Lebens  spielen 
lassen.  Die  Seele  will  in  der  von  ihr  geschaffenen  Vorstellungsweit 
sich  ungehindert  ausleben.  Sie  scheut  nicht  vor  dem  Schrecklichsten 
zurück,  ja  sie  sucht  es  auf,  um  eine  gewaltige  Erregung  genießen  zu 
können.  Wie  gewisse  Todesarten,  Krankheiten  und  Schicksalsschläge 
in  Wahrheit  schmerzloser  sind,  als  die  Phantasie  sie  träumt,  so  wird 
umgekehrt  das  Schmerzhafteste  erträglich  oder  sogar  lustspendend, 
wenn  es  in  die  Phantasiewelt  eintritt  Man  lasse  sich  nicht  durch 
den  Wortgebrauch  blenden.    Was  im  gewöhnlichen  Leben  tragisch 


DAS  ERHABENE  UND  DAS  TRAGISCHE.  209 

haßt,  ist  wohl  traurig,  doch  nicht  im  künstlerischen  Sinne  tragisch. 
Das  künstlerisch  Tragische  besitzt  Olanz  und  Herrlichkeit  Tragisch 
ist  es,  wenn  der  Dichter  ein  starkes  und  erfülltes  Leben  auf  seiner 
Höhe  zu  Ende  kommen  läBL  Aber  es  fordert  unser  Mitleid  doch  nur 
dann  heraus,  wenn  wir  unberechtigterweise  die  bürgeriichen  Begriffe 
ins  Ästhetische  einmengen.  In  Todesanzeigen  spricht  man  davon, 
daß  jemand  im  »ehrenvollen«  Alter  von  80  Jahren  gestorben  sei.  Aus 
dem  gleichen  Gesichtspunkt  heraus  mag  man  den  Helden  der  Tragödie 
bedauern,  weil  er  frühzeitig  abberufen  wird.  Aber  Held  und  Dichter 
wollen  gar  kein  Bedauern  hervorrufen.  Sie  finden  es  ebenso  natür- 
Ikh  wie  erhebend,  daß  eine  Kerze,  die  brennt,  sich  selber  verzehrt; 
Kerzen,  die  nicht  zur  leuchtenden  Flamme  werden,  können  freilich  un- 
gezählte Jahre  dauern.  Soll  man  dies  etwa  ein  ß(oc  tiXitoc  nennen? 
Schon  Aristoteles  hat  darunter  nicht  ein  hohes  Alter,  sondern  eine 
ungestörte  Selbstentwickelung  verstanden.  Die  Lebensvollendung  des 
tragischen  Helden  besteht  doch  auch  darin,  wie  er  zu  Grunde  geht. 
Wenn  wir  nur  nach  den  Gefühlen  fragen,  die  aus  der  persönlichen 
Sympathie  mit  dem  Helden  stammen,  so  melden  sich  Neid  und  Be- 
wunderung eher  als  Furcht  und  Mitleid.  Hiermit  soll  die  Bedeutung 
des  Leidens  keineswegs  geleugnet  werden.  Wir  werden  späterhin 
-  bei  der  Betrachtung  des  künstlerischen  Menschen  —  eindringlichst 
darauf  hingewiesen  werden,  daß  gerade  das  Leiden  den  Wert  der 
Persönlichkeit  erhöht,  fast  möchte  ich  sagen,  daß  es  ihn  überhaupt 
erst  bchafft.  Durch  die  Art  des  Leidens  wird  der  Mensch  wahrhaft 
zu  dem,  wozu  er  berufen  ist,  und  keine  Verschuldung,  die  zum  Leiden 
führt,  vermag  ihm  sein  Menschentum  zu  rauben.  Aber  allerdings 
kommt  es  darauf  an,  worunter  er  leidet.  Sind  es  Nichtigkeiten,  so 
lächeln  wir  über  seine  Verzweiflung;  sind  es  Vorschriften  einer  uns 
unverständlich  gewordenen  Etikette  —  wie  manchmal  im  spanischen 
Drama  -,  so  schütteln  wir  den  Kopf;  handelt  es  sich  dagegen  um 
Dinge,  die  das  Leben  lebenswert  machen,  so  fühlen  wir  mit. 

Noch  schlimmer  verfahren  wird  die  Theorie,  sobald  die  Maßstäbe 
bourgeoiser  Ethik  ohne  Scheu  angelegt  werden.  Wenn  die  gehobene 
Stimmung  daraus  erklärt  wird,  daß  wir  das  Unheil,  das  wir  im  Leben 
fürchten,  in  der  höchsten  Steigerung,  aber  auf  unschädliche  Weise, 
weil  in  der  Seele  eines  andern,  durchleben«,  so  heißt  das  doch  im 
Grunde  nichts  besseres  als:  Gott  sei  Dank,  daß  ich*s  nicht  bin.  Das 
ist  die  Art,  wie  alte  Weit>er  Kriminalromane  lesen.  Derselbe  Ästhe- 
tiker sagt:  Im  Tragischen  soll  das  allgemeine  Wohl,  das  Wohl  der 
Gesellschaft,  gerettet  werden.^  Hier  wird  die  Majestät  des  Allgeistes, 
vor  dem  jede  endliche  Größe  verschwindet,  gelassenen  Gemüts  auf 
die  bürgerliche  Gesellschaft  übertragen.    Die  Gesellschaftsordnung  als 

Dc«»oir.  Atthrtik  und  tilg  KonttwiMcaschaft.  14 


210  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

verkleinertes  Abbild  der  ewigen  Weltordnung  erlaubt  uns  einen  Ein- 
blick in  ihre  Größe  und  gewährt  uns  ehrfurchterfüllten  Genuß! 

Wir  kommen  damit  bereits  zur  objektiven  Seite  der  Tragik.  Die 
übliche  Darstellung  beschränkt  die  hier  erörterte  Kat^orie  auf  eine 
bestimmte  Dichtungsart  Sie  verlangt  femer  in  der  Tragödie  einen 
Helden  und  seine  Verschuldung,  die  in  einseitiger  Hingabe  an  etwas 
Gutes  bestehen  und  zu  Leiden  und  Sturz  führen  soll. 

Sicherlich  ist  für  die  Kategorie  des  Tragischen  der  bevorzugte  Ort 
eine  bestimmte  Form  des  Dramas.  Immerhin  können  wir  mit  einer 
gewissen  Berechtigung  dies  Prädikat  auch  auf  andere  Kunstgebiete, 
z.  B.  auf  die  Musik  übertragen;  mehrfach  sind  Ouvertüren  und  Sinfo- 
nien :»tragische«  genannt  worden.  Ob  in  der  Baukunst  ähnliches  sich 
findet,  ist  fraglich,  dag^en  gibt  es  genug  Werke  der  Malerei  und 
Plastik,  die  tragische  Gegenstände  darstellen.  Kein  Wort  ist  darüber 
zu  verlieren,  daß  in  jeder  Kunstart  das  Tragische  in  besonderer  Weise 
und  gemäß  den  Mitteln  der  Einzelkunst  sich  ausdrückt:  es  vermag 
beispielsweise  die  bildende  Kunst  niemals  das  allmähliche  Werden  des 
tragischen  Vorgangs  auseinanderzufalten.  Das  leistet  mit  unübertreff- 
licher Klarheit  der  Roman,  ilm  Drama  hinwiederum  gelangt  die  Seite 
des  Kampfes  zur  vollendeten  Ausprägung.  Dieser  Kampf  ist  mensch- 
lich umso  wertvoller  und  künstlerisch  umso  wirksamer,  je  entschie- 
dener die  gleiche  Berechtigung  und  Stärke  der  streitenden  Kräfte 
hervortritt.  Durch  die  so  zugespitzte  Antithese  wird  unsere  Teilnahme 
am  lebhaftesten  gereizt.  Ein  Held  scheint  nicht  unbedingt  nötig; 
denn  die  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  kann  auch  ohne  Mittel- 
figur erreicht  werden,  wie  manche  tragische  Romane  und  Gerhart 
Hauptmanns  »Weber«  lehren.  Mit  Bestimmtheit  ist  femer  zu  sagen:  Die 
Einseitigkeit  des  Handelns,  die  leidenschaftliche  Hingabe  schlecht  zu 
nennen  und  durch  den  Untergang  zu  bestrafen  ist  niemals  der  Sinn 
einer  echten  Tragödie  gewesen.  Alle  die  Ausdrücke:  tragische  Schuld, 
innere  Reinigung,  poetische  Gerechtigkeit  wollen  das  Tragische  zu 
einem  Niederschlag  dichterischer  Moral  machen.  Die  unbefangene  Be- 
trachtung findet  indessen  gerade  bei  den  größten  Dichtem  keine  ethi- 
sche Rechtsprechung.  Im  »Lear«  ist  ebensowenig  Moral  enthalten 
wie  in  einer  Bachschen  Fuge;  Macbeth  wird,  bevor  das  Schicksal  sich 
an  ihm  erfüllt,  eher  entschuldigt  als  vemrteilt.  Shakespeares  Sinn  für 
den  Tatbestand,  zumal  für  die  Tatsachen  der  Leidenschaft  und  des 
Willens,  ist  viel  zu  stark,  als  daß  er  Stellung  nehmen  könnte;  vor- 
nehmlich die  Helden  seiner  Jugenddramen  folgen  so  triebmäßig  ihren 
Begehmngen,  sie  sind  solche  Naturgewächse  des  Egoismus  und  sie 
tauschen  so  schnell  mit  ihren  Gefühlen  und  Ansichten,  daß  eine  feste 
Norm,  etwa  gar  die  der  Nächstenliebe,  in  ihnen  nicht  Wurzel  schlägt. 


DAS  ERHABENE  UND  DAS  TRAGISCHE.  21 1 

Sie  haben  kein  Gefühl  für  Unrecht  und  besitzen  kein  Gewissen.  Ihr 
Schöpfer  verurteilt  sie  nirgends.  Ich  wüßte  nicht  zu  sagen,  wie 
das  ethische  Schema  der  üblichen  Tragödientheorie  auf  Heinrich  VI. 
anzuwenden  wäre.  Dennoch  ist,  mag  man  auch  das  Ganze 
nicht  als  Tragödie  im  Schulsinne  gelten  lassen,  die  Richtung  darin 
tragisch. 

Gleichfalls  auf  Verkennung  beruht  die  Forderung,  daß  jede  Tragödie 
zur  Versöhnung  führen  müsse.  Das  ethische  Ideal  eines  harmonischen 
Oleichgewichtes  aller  Kräfte  und  die  Vorbildlichkeit  des  Idealschönen 
haben  zu  der  Meinung  Anlaß  gegeben,  es  müßten  auch  in  der  Tra- 
gödie die  Disharmonien  aufgelöst  werden.  Für  das  ernste  Schauspiel 
mag  es  zutreffen;  die  echte  Tragödie  jedoch  läßt  den  Konflikt  ungelöst. 
Sie  zeigt,  daß  es  in  der  Welt  und  im  Leben  Gegensätze  gibt,  die 
durch  nichts  zum  Ausgleich  gebracht  werden  können,  durch  keine 
Größe  des  Charakters,  durch  keinen  Heldenmut  des  Kampfes,  durch 
keine  Schuld-  und  Fehleriosigkeit,  ja  selbst  nicht  durch  den  Tod. 
Gerade  in  den  höchsten  Werten  des  Menschen  liegen  Bedingungen 
des  Leids  und  des  Untergangs.  Über  der  Gottheit  und  ihrer  ver- 
zeihenden Milde  steht  das  unerbittliche  Schicksal.  Es  gibt  in  dieser 
Welt  etwas  Gewaltiges  und  Hartes,  eine  grausame  Gerechtigkeit.  Sie 
bildet  den  dunklen  Kern  der  Tragödie,  die  deshalb  im  allgemeinen 
Schicksalstragödie  heißen  könnte.  Da  uns  das  Schicksal  immer  erst 
zum  Bewußtsein  kommt,  wenn  es  gegen  uns  ist,  so  ist  die  Tragödie, 
die  das  Walten  des  Schicksals  enthüllt,  auf  Unglück  gestellt  Wir 
spüren  es,  sobald  menschliche  Begrenztheit  an  großen  Fragen  in  die 
Erscheinung  tritt.  Gibt  es  etwas  Furchtbareres  als  die  abenteueriiche 
Vorstellung  von  dem  in  einen  Tierkörper  eingeschlossenen  Menschen- 
getst?  Und  doch  sind  wir  alle  in  ähnlicher  Lage.  Wir  fühlen  unsere 
Schwäche,  und  das  Verhängnis  gestattet  nicht,  jemals  die  Grenze  zu 
überschreiten.  Weder  eine  äußere  Lage  noch  eine  Seelenbeschaffen- 
heit wird  uns  Menschen  vergönnt,  die  es  dem  aufwärts  Steigenden 
gestattete,  sich  völlig  auszuwirken.  Diese  Gegenstrebung  zwischen 
Ich  und  Welt  oder  auch  im  Ich  selber,  als  unaufhebbar  erkannt  und 
als  die  gewaltige  Grunddissonanz  der  Welt  bewundert,  sie  macht  den 
objektiven  Gehalt  des  Tragischen  aus.  Das  Tragische  ist  nur  zu  ver- 
stehen, wenn  man  zugibt,  daß  Mensch  und  Welt  disharmonisch 
sind.  Wer  ein  Leben  in  reiner  Schönheit  führen  und  in  die  fried- 
lichen Vorstellungen  durchgehender  Harmonie  sich  flüchten  will,  der 
muß  das  Tragische  überhaupt  vernichten.  Mit  dem  Kultur-  und  Mensch- 
heitsideal, das  den  Feinsten  vorschwebt,  scheint  die  Tragödie  nicht 
vereinbar.  Gewiß  ist  Lärm  und  Schwertergeklirr,  Mord  und  Blut- 
geruch nur  für  die  bisherige  geschichtliche  Entwickelung  der  Tragödie 


212  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

und  nicht  für  ihr  bleibendes  Wesen  von  Bedeutung.  Aber  alle  inner- 
liche Tragik  bleibt  doch,  wenn  sie  ihren  Namen  verdienen  soll,  an 
Härte,  Grausamkeit,  Dissonanz  gefesselt. 

Dieser  grundsätzlichen  Auffassung  steht  eine  andere  entgegen,  auf 
die  schon  mehrmals  hingedeutet  wurde.  Adalbert  Stifter  hat  sie  mit 
folgenden  Worten  ausgedrückt:  »So  wie  es  in  der  äußeren  Natur  ist, 
so  ist  es  auch  in  der  inneren,  in  der  des  menschlichen  Geschlechtes. 
Ein  ganzes  Leben  voll  Gerechtigkeit,  Einfachheit  und  Bezwingung 
seiner  selbst,  Verstandesgemäßheit,  Wirksamkeit  in  seinem  Kreise,  Be- 
wunderung des  Schönen,  verbunden  mit  einem  heiteren,  gelassenen 
Streben,  halte  ich  für  groß:  mächtige  Bewegungen  des  Gemütes,  furcht- 
bar einherrollender  Zorn,  die  Begier  nach  Rache,  den  entzündeten 
Geist,  der  nach  Tätigkeit  strebt,  umreißt,  ändert,  zerstört  und  in  der 
Erregung  oft  das  eigene  Leben  hinwirft,  halte  ich  nicht  für  größer, 
sondern  kleiner,  da  diese  Dinge  so  gut  nur  Hervorbringungen  einzel- 
ner und  einseitiger  Kräfte  sind  wie  Stürme,  feuerspeiende  Berge,  Erd- 
beben. Wir  wollen  das  sanfte  Gesetz  zu  erblicken  suchen,  wodurch 
das  menschliche  Leben  geleitet  wird.«  (Vorrede  zu  den  »Bunten 
Steinen«.)  Auf  die  Tragödie  angewendet  würde  es  besagen,  daß  nicht 
der  in  der  Dramenform  gipfelnde  Konflikt  und  die  Zerschmetterung 
durch  das  Schicksal,  sondern  die  Überwindung  solcher  tödlichen  G^en- 
sätze  den  eigentlichen  Kern  des  Tragischen  bilden.  Soweit  der  Wider- 
spruch sich  gegen  die  groben  und  altertümlichen  Formen  des  Tragi- 
schen wendet,  scheint  er  mir  vollauf  berechtigt.  Zu  einem  schweren 
Irrtum  aber  wächst  er  sich  aus,  indem  er  die  Stimmung  des  Genießenden 
zu  einem  sanften  humoristischen  Lächeln  abdämpft  Von  den  neuesten 
Erforschern  des  Problems  ^)  wird  der  Formenreiz  tragischer  Dinge  mit 
dem  Epigramm  und  dem  witzigen  Paradoxon  verglichen.  Darin  steckt 
viel  Wahres.  Aber  hier  wird  der  Widerspruch  nicht  in  Widerspruchs- 
losigkeit  aufgelöst,  und  das  von  diesem  antithetischen  Spiel  geweckte 
Lachen  ist  das  Lachen  der  Verzweiflung. 

Der  soeben  berührte  Unterschied  läßt  sich  noch  durchsichtiger 
machen.  Die  künstlerisch  aufgefaßten  Disharmonien  des  Menschen- 
daseins wirken  bei  geringer  Stärke  humoristisch  und  erst  bei  ener- 
gischer Steigerung  tragisch:  wiederum  ändert  sich  mit  dem  Grad  die 
Beschaffenheit.  Oft  möchte  angesichts  derselben  Tatsache  der  hera- 
klitische  Mensch  in  uns  weinen  und  der  demokritische  lachen.  Man 
kann  sich  vorstellen,  daß  die  Vorgänge  in  Hauptmanns  »Einsamen 
Menschen«  auch  den  Gegenstand  eines  humoristischen  Romans  bilden; 
erst  für  die  gesteigerte  Empfindlichkeit  solcher  »modernen«  Menschen 
werden  sie  zum  lebengefährdenden  Verhängnis.  Zwischen  Humor 
und  Tragik  liegt  sozusagen  eine  Schwelle.    Nur  indem  die  Reize  eine 


DAS  HÄSSLICHE  UND  DAS  KOMISCHE,  213 

gewisse  Höhe  überschreiten,  erzielen  sie  mit  Sicherheit  eine  tragische 
Wirkung.  Dazu  dient  femer,  daB  sie  nicht  allmählich  kommen,  son- 
dern plötzlich  einbrechen.  Mit  gutem  Orund  hat  die  Praxis  von  alters 
her  Katastrophen  d.  h.  plötzlich  und  gewaltig  auftretende  Ereignisse 
bevorzugt  Löst  man  sie  in  kleinste  Bestandteile  und  lange  Zeitreihen 
auf,  so  überschreiten  sie  schwerer  die  Schwelle  des  Tragischen. 


3.  Das  Häßliche  und  das  Komische. 

Wie  die  Tragik,  so  bemht  die  ästhetische  Kategorie  der  Häßlich- 
keit auf  Disharmonien.  Da  Ober  den  Wert  der  Häßlichkeit  bereits  bei 
der  Erörterung  des  Naturalismus  gesprochen  worden  ist,  so  brauchen 
hier  nur  noch  einige  systematische  Fragen  erörtert  zu  werden.  Zu- 
nächst ist  klar,  daß  das  Häßliche  nicht  dem  Unästhetischen  gleich- 
gesetzt werden  darf.  Einerseits  ist  ja  das  Häßliche  ästhetisch  genieß- 
bar und  kflnstlerisch  verwendbar,  wie  die  Tatsachen  mit  größter  Ein- 
dringlichkeit zeigen  ^),  anderseits  braucht  Außerästhetisches  keineswegs 
häßlich  zu  sein.  Obszöne  Bilder  stellen  die  schönsten  Figuren  dar 
und  fallen  doch  außerhalb  des  ästhetischen  Kreises;  ferner  existieren 
tausend  nicht  häßliche  Oegenstände  und  Vorgänge  des  täglichen 
Lebens,  die  kaum  jemals  zur  ästhetischen  Kontemplation  Anlaß  geben. 
Mit  einem  Wort,  das  Häßliche  ist  ein  ästhetischer  Stammb^;riff,  einer 
neben  den  andem,  und  es  fragt  sich  in  der  Hauptsache,  wohin  er  zu 
stellen  sei.  Sonst  faßt  unsere  Ästhetik  die  Probleme  nicht  mehr  dem 
Orte  nach  auf,  bei  den  Kategorien  indessen  interessiert  die  Stelle  im 
Ganzen  beinahe  ebenso  wie  die  Sache  selbst. 

Daß  Erhabenes  und  Tragisches  durch  einen  Zusatz  von  Häßlich- 
keit einen  überwältigenden  Charakter  erhalten,  zeigen  bildende  Künste 
und  Drama  häufig  genug.  Das  Häßliche  dieser  Art  zeichnet  sich 
durch  große  Intensität  aus.  Es  gibt  Dinge,  die  man  nicht  ansehen 
kann,  und  die  trotzdem  immer  wieder  das  Auge  auf  sich  lenken.  Dies 
Häßliche  besitzt  die  Anziehungskraft  des  Abgrundes.  Auch  im  gewöhn- 
lichen Leben  kann  die  Verzerrung  des  Häßlichen,  nämlich  das  Ekel- 
hafte, eine  geradezu  faszinierende  Gewalt  ausüben,  nicht  nur  als 
Pdtschenschlag  für  die  erregte  Sinnlichkeit,  sondem  auch  als  schmerz- 
haftes Erregungsmittel  der  gesamten  Lebendigkeit.  Kranke  werden 
nicht  müde,  ihre  Entstellungen  im  Spiegel  zu  betrachten,  ja  sie  können 
einen  gewissen  Stolz  darin  finden,  daß  ihre  widerliche  Erscheinung 
auf  andere  eine  verhängnisvolle  Anziehungskraft  ausübt  Solche  Er- 
regungswerte, wenn  sie  nur  künstlerisch  verwendet  sind,  werden  mit 
Recht  von  den  Meistern  der  Kunst  in  ihre  Werke  übernommen.    Keine 


214  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

jener  Lebenserscheinungen  ist  unfähig,  der  Träger  einer  Kunstform 
zu  sein.  Man  denke  an  die  Blutschande  im  Sophokleischen  Ödipus 
oder  an  den  Philoktet.  Man  sehe  die  mit  Geschwüren  bedeckten  aus- 
sätzigen Krüppel  auf  Holbeins  Bild  von  der  heiligen  Elisabeth. 

Eine  zweite  Art  des  Häßlichen  entsteht,  sobald  es  durch  geringe 
Abweichung  vom  Wohlgefälligen  und  Idealschönen  gewonnen  wird. 
Die  leichte  Verschiebung  in  einem  Quadrat  oder  an  einem  Krdse,  die 
Zusammenstellung  schlecht  passender  Farben  wirkt  häßlich.  Sofern 
derartiges  auf  Ungeschicklichkeit  des  Künstlers  beruht,  kommt  es  für 
uns  nicht  in  Betracht;  die  sinnlose  Störung  eines  natüriichen  Ablaufs 
ist  niemals  zu  rechtfertigen.  Es  kann  jedoch  künstlerisch  beabsichtigt 
und  erlaubt  sein.  Erstens  als  Gegengehalt  g^en  das  Schöne,  als  das 
Dunkel,  von  dem  das  Licht  strahlend  sich  abhebt,  oder  als  der  Sumpf- 
boden, in  dem  wundervoll  leuchtende  und  duftende  Blumen  gedeihen, 
oder  als  die  finstere  Macht,  mit  der  das  Gute  kämpft  Wichtiger  noch 
ist  die  Fähigkeit  des  Häßlichen,  aus  sich  heraus  ästhetische  Werte  zu 
treiben.  Wo  nämlich  Auge  und  Ohr  sich  an  gewohnten  Formen  oder 
Inhalten  erfreuen,  da  läßt  sich  der  in  ihnen  verborgene  seelische  Kern 
nur  schwer  aus  der  Schale  lösen.  Unsere  Auffassung  geht  gemäch- 
lich an  diesen  Dingen  entlang,  ohne  ein  in  ihrem  Innern  flammendes 
Feuer  zu  verspüren.  In  dem  Augenblick,  wo  das  Gewohnte  und  Har- 
monische verfassen  und  durch  eine  von  der  Norm  abweichende  Form- 
wahl  unsere  Aufmerksamkeit  aufs  stärkste  gereizt  wird,  da  ergreifen 
wir  das  Sinnliche  als  den  Ausdruck  eines  in  ihm  verborgenen  wert- 
vollen seelischen  Lebens.  Das  konventionell  Schöne  wird  allzu  schnell 
ausdruckslos,  das  unerwartet  Häßliche  ist  meist  ausdrucksvoll.  Daher 
weichen  Künstler  dort  am  stärksten  von  dem  sinnlich  Befriedigenden 
und  ästhetisch  Wohlgefälligen  ab,  wo  sie  bewußt  den  Ausdruck 
steigern  wollen.  Zumal  wenn  es  sich  darum  handelt,  jenes  Reich  zu 
enthüllen,  das  nicht  von  dieser  Welt  ist;  dann  muß  die  Schönheit  ver- 
mieden und  darf  durch  die  armen  und  stummen  Formen  der  Häßlich- 
keit ersetzt  werden.  Alle  Arten  der  Schönheit,  die  strenge  Schönhdt 
der  Formen,  die  jubelnde  Schönheit  der  Farben,  die  wohllautende  Schön- 
heit musikalischer  Harmonien,  alle  diese  Schönheiten  verbrauchen  ge- 
wissermaßen so  viel  Kraft  für  ihre  prangende  Außenseite,  daß  für  das 
Innere  nichts  mehr  übrig  bleibt  Sie  bekennen  sich  als  Kinder  des 
Diesseits.  Das  ist  ihr  Recht  und  ihr  eigentlicher  Zweck.  Dort  aber,  wo 
die  tiefste  Not  eines  Künstlerherzens  sich  aussprechen  und  das  Heim- 
lichste und  Geistigste  zu  Tage  treten  will,  da  bietet  sich  neben  der 
Vornehmheit  das  Häßliche  als  zureichendes  Ausdrucksmittel  dar. 

In  den  Lehrbüchern  der  Ästhetik  wird  mit  besonderem  Behagen 
ausgeführt,  daß  die  Schönheit  des  menschlichen  Körpers  ein  Durch- 


DAS  HÄSSLiaiE  UND  DAS  KOMISCHE,  215 

scheinen  der  Gesundheit  sei,  daß  die  Kraft  und  Oelenkigkeit  der  Glied- 
maßen [ihnen  die  dynamische  Schönheit  sichere,  die  über  der  rein 
formalen  steht  Nun  trifft  das  offenbar  nach  der  positiven  Seite  hin 
nicht  zu,  denn  es  laufen  genug  Menschen  herum,  die  rote  Backen  und 
stramme  Muskeln  haben  und  überhaupt  kerngesund  sind,  ohne  daß 
sie  dadurch  zu  Schönheiten  werden«  Ein  aufgestülptes  Naschen  über 
einem  breiten  Männermund,  kleine  Auglein  neben  großen  Ohren,  ein 
kurzer  Hals  und  eine  viereckige  Hand  werden  auch  durch  die  in- 
tensivste Gesundheit  des  Besitzers  nicht  ästhetisch  wohlgefällig.  Trotz- 
dem könnte  Gesundheit  die  negative  Bedingung  bilden.  Es  wäre  also 
ein  kranker  Körper  unter  allen  Umständen  häßlich,  ein  gesunder  die 
unentl>ehrliche  Voraussetzung  eines  angenehmen  Äußern,  obgleich  es 
zur  Schönheit  noch  des  Hinzutretens  anderer  Momente  bedürfte.  In- 
dessen auch  in  dieser  Wendung  bleibt  der  Gedanke  unzulänglich. 
Unter  den  Krankheiten  gibt  es  einige,  die  entstellend  heißen  dürfen 
und  in  der  Kunst  als  Beispiele  für  das  gegensätzlich  Häßliche  ver- 
wertet worden  sind:  so  die  Pest  in  Hermann  Linggs  »Schwarzem 
Tod<  und  die  Wassersucht  in  Zolas  >Joie  de  vivre<.  Es  gibt  andere 
Krankheiten,  die  lange  Zeit  hindurch  und  vielleicht  niemals  sichtbar 
werden,  Störungen  des  physiologischen  Betriebes,  die  den  plötzlichen 
Tod  herbeiführen.  Endlich  aber  kennen  wir  auch  Leiden,  die  für  eine 
vorurteilslose  Betrachtung  manchmal  verschönernd  wirken.  Selbst  an 
Schwindsüchtigen  kann  man  diese  verklärte  Schönheit  sehen:  eine 
schlanke  Gestalt,  durchsichtige,  gleichmäßig  blasse  Haut,  leuchtende 
Augen.  Das  ist  eine  naturunabhängige,  seelenenthüllende  Schönheit, 
die  höher  steht  als  der  Formen-  und  Farbenjubel  eines  in  Fülle  pran- 
genden Leibes.  Wer  die  Körpergesundheit  für  das  ästhetische  Mini- 
mum hält,  wird  als  Maler  das  Mutterglück  etwa  so  darstellen,  daß  er 
ein  Rubenssches  Frauenzimmer  malt  mit  breit  ausladenden  Hüften 
und  milchstrotzenden  Brüsten,  wie  es  sein  Kind  säugt  Sensible  Künstler 
hingegen  sehen  mit  leichtem  Widerwillen  oder  Mitleid  auf  dieses  Glück 
des  gesunden  Muttertieres  hinab,  das  sie  für  animalisch  und  mit 
geistiger  Entwicklung  nicht  notwendig  verbunden  halten.  Quand  je 
ferai  ane  mere,  sagte  Millet,  je  tächerai  de  la  faire  belle  de  son  seul 
retard  sur  son  enfant 

Die  letzte  Stätte  des  Häßlichen  liegt  beim  Komischen.  Insofern 
Häßlichkeit  eine  Abweichung  von  der  Norm  bedeutet,  kann  sie  unter 
gewissen  Umständen  in  Komik  umschlagea  Bereits  Aristoteles  wies 
darauf  hin,  indem  er  das  Komische  definierte  als  das  unschädliche 
Häßliche;  Rousseau  verwarf  die  Komödie,  weil  sie  die  Teilnahme  für 
niedrige  Handlungen  und  Charaktere  beanspruche  (für  das  Ta(>>.ov, 
wie  es  Aristoteles  in  ähnlichem  Zusammenhange  nennt).    Empfindliche 


216  V,  NE  ÄSTHETISCHEX  KATEGORIEN. 

Naturen  sind  deshalb  unfähig,  vieles  von  dem  mit  Heiterkeit  zu  be- 
grüßen, was  der  Mehrzahl  als  komisch  erscheint  Sie  vermögen  nicht 
zu  lachen,  wenn  sie  in  den  ilhistrierten  Witzblättern  von  dem  argen 
Schabernack  lesen,  der  diesem  oder  jenem  gespielt  wird.  Sind  wirk- 
Ikh  alle  Streiche,  die  Reineke  Fuchs  vollfuhrt,  zur  Bdust^^ui^  des 
Lesers  geeignet?  Kann  man  Ober  Moliä-es  George  Dandin  und  seinen 
Misanthropen  lachen?  Im  »Kranken  aus  Einbildung«  rfihmt  der  Doktor 
Diaphorus  seinen  trottelhaften  Sohn  Thomas:  >Er  hat  nie  eine  sdir 
tätige  Einbildungskraft  noch  jenes  Feuer  besessen,  das  man  an  anderen 
wahrnimmt  Als  er  kidn  war,  ist  er  nie,  wie  man  so  sagt,  aufgeweckt 
und  mutwillig  gewesen.  Man  sah  ihn  immer  sanft,  friedsel^  und 
schweigsam.  Er  sprach  nie  dn  Wort  und  betaligte  sich  niemals  an 
den  sogenannten  Knabenspielea  Man  hatte  schwere  Muhe,  ihn  lesen 
zu  lehren,  und  mit  neun  Jahren  kannte  er  sdne  Buchstaben  noch  nicht 
Out,  sprach  ich  zu  mir,  die  späten  Bäume  tragen  die  besten  Frfichte 
Es  gr^t  sich  in  dem  Marmor  schwerer  als  im  Sand  — €.  Diese  Be- 
schrdbung  weckt  mdst  wieherndes  Gelächter.  Ich  werde  durch  solche 
Vaterh'ebe  gerührt,  nicht  erhdtert,  und  die  grausame  Lust  des  Dichters, 
die  aus  dieser  Verzerrung  des  Menschlichen  höhnisch  hervorgrinst, 
schafft  mir  eher  den  Eindruck  von  Ldd  und  Häßlichkeit  als  unter- 
haltender Komik.  Ein  gut  Teil  dessen,  was  als  komisch  gilt,  bidbt  auf 
ebenso  tiefer  Stufe  wie  das  brutal  Tragische,  das  den  G^[aipol  bildet 
Einst  hielten  sich  die  Fürsten  Idioten,  Zwerge  und  Monstra  als  G^[en- 
stand  ihrer  Lachlust  Einestdls  freilich  fanden  sie  dn  intdldduelles 
Vergnügen  an  den  gel^entlich  aufblitzenden  und  von  jedem  Hofzwang 
befreiten  Urteilen  dieser  armseligen  Wesen.  Zum  anderen  Tal  je- 
doch machte  ihnen  die  groteske  Erscheinung  Spaß.  Kinder  und  rohe 
Menschen  lachen  noch  heute  über  Betrunkene,  Bucklige,  Verkrfippdte 
Das  Kasperletheater,  in  dem  der  Narr  Prügel  austeilt  und  empfängt, 
rechnet  auf  die  im  unentwickelten  Geiste  herrschende  Lust  an  der 
Grausamkeit  Auch  an  diesem  Punkte  enthüllt  sich  die  gehdme  und 
grauenerweckende  Verwandtschaft  zwischen  dem  Tragischen  und 
dem  Komischen.  In  beiden  Kat^orien  stecken  Momente,  die  die 
innere  Disharmonie  unseres  Wesens  grell  beleuchten.  Wiederum  muß 
gesagt  werden:  auch  das  Komische  ist  in  seinem  ganzen  Umfange  nur 
verständlich,  wenn  man  die  Maßlosigkeit  des  Menschen  sich  vor 
Augen  hält  Das  Erhabene  und  das  Häßliche,  das  Tragische  und  das 
Komische  kann  gleicherweise  groteske  Züge  enthalten,  in  denen  Un- 
geheuerliches zum  Ausdruck  kommt 

Sehen  wir  doch  einmal  den  Menschen,  wie  er  wirklich  ist  Die 
Befriedigung  seiner  Lüste  steht  ihm  obenan.  Um  von  Hunger  und 
Liebe  nicht  zu  reden,  so  wären  zunächst  Schaulust  und  Machtstreben 


DAS  HÄSSLICHE  UND  DAS  KOMISOIE.  217 


ZU  nennen.  Der  Drang,  bei  allem  dabei  zu  sein,  macht  ehrwflrdige 
Greise  zu  ungeduldigen  Kindern  und  verwandelt  die  sanftesten  Frauen 
in  Bestien:  sie  ertragen  es  schlechterdings  nicht,  wenn  sie  dort  fehlen 
sollen,  wo  etwas  vorgeht.  Keine  Mühsal  ist  ihnen  zu  groB  und  keine 
Gefahr  schreckt  sie,  sobald  es  gilt,  einem  Festzug  oder  einem  Volks- 
aufruhr beizuwohnen;  die  gleiche  Schaulust  treibt  sie  in  die  Theater 
und  Kunstausstellungen.  Und  das  Gefühl  einer  ausgeübten  Macht 
tröstet  sie  über  alle  Unzulänglichkeiten  des  Daseins.  Es  veranlaßt  den 
Kranken,  seine  Umgebung  zu  quälen,  es  versöhnt  den  Beamten  mit 
seinem  kärglichen  Los,  es  stachelt  den  Vorgesetzten  zu  körperlichen 
oder  geistigen  Mißhandlungen  derer,  die  von  ihm  abhangen;  das 
äußere  sowie  das  innere  Leben  des  Künstlers  ist  voll  von  der  Sehn- 
sucht nach  Einfluß.  Aber  eine  letzte  allgemein-menschliche  Lust  ent- 
zündet sich  auch  an  jeglicher  Verkehrtheit.  Es  gibt  eine  aktive  Freude 
daran,  über  die  Stränge  zu  schlagen,  und  eine  passive  Freude  am  Un- 
sinn; sie  ist  es,  die  dem  Komischen  die  kräftigste  Resonanz  leiht. 
Ein  ganzes  Heer  der  Possenfabrikanten,  Theaterdirektoren  und  Schau- 
spieler lebt  von  dieser  Freude  am  Unsinn.  In  einem  Witzblatt  las  ich 
ein  Märchen,  das  folgendermaßen  anhebt:  ^Es  war  einmal  ein  Prinz, 
der  hieß  Agnes  und  ging  um  Mittemacht  auf  den  Kirchhof,  um  dort 
zu  regieren  und  sich  einen  Bart  stehen  zu  lassen.  Da  begegnete  ihm 
dn  Mann,  der  sich  für  den  mit  Recht  so  verstorbenen  Cromwell  aus- 
gab, iind  rief:  O  kehr'  um!  kehr'  um!  Jener  aber  verstand:  O  jerum, 
jerum!  und  weinte  und  wurde  zur  Nelke.  In  dem  Kelch  der  Nelke 
sammelte  sich  alsbald  ein  Tautropfen,  den  man  für  einen  Flamingo 
ansehen  konnte,  und  als  dieser  Basilisk  sich  im  Spiegel  betrachtete, 
erschrak  er  förmlich,  so  ähnlich  war  er.^  Das  ist  blanker  Unsinn« 
ohne  jede  Spur  von  Witz.  Dennoch  wirkt  diese  souveräne  Verachtung 
aller  Logik  auf  die  meisten  Menschen  belustigend.  Und  in  der  Be- 
freiung vom  Wirklichkeitszwang  steckt  etwas,  was  die  Sinnlosigkeit 
mit  Witz  und  Spiel  und  Kunst  verbindet.  Vor  allem  mit  der  Komik, 
da  sie  wohl  die  lebhafteste  Lust,  aber  keine  tiefgreifende,  innige  Freude 
zu  bereiten  vermag. 

Seit  langem  sucht  man  das  Komische  aus  dem  Lachen  zu  erklären. 
Das  wird  nie  gelingen,  denn  Lachen  wird  einerseits  auch  durch  son- 
stige körperliche  und  seelische  Vorgänge  hervorgerufen  und  fehlt 
anderseits  oft  bei  komischen  Eindrücken.  Lachen  steckt  an  wie 
Gähnen  (s.  S.  189):  an  Tafel  VIII  kann  der  Leser  für  sich  selber  unter- 
suchen, wieviel  die  vermutlich  eintretende  Lachwirkung  der  Ansteckung 
und  unwillküriichen  Nachahmung,  wieviel  sie  dem  gegenständlich 
Komischen  verdankt.  Aussichtsreicher  ist  die  Beschreibung  des  inneren 
Erlebnisses  und  des  äußeren  Anlasses.    Das  Komische  kann,  wie  jede 


218  V.   DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

der  anderen  Kat^orien,  zunächst  als  eine  eigenartige  Stimmung  be- 
trachtet werden,  der  eine  Beschaffenheit  des  Gegenstandes  zu  Gründe 
liegt.  Es  hat  also  eine  subjektive  und  eine  objektive  Seite.  Der  subjek- 
tive Vorgang  wird  je  nach  der  psychologischen  Grundanschauung  ver- 
schiedentlich gedeutet  ^).  Eine  Theorie,  die  lange  Zeit  in  Geltung  war, 
beschrieb  den  Eindruck  der  Komik  als  einen  Wettstreit  von  Gefühlen. 
Da  aber  die  neuere  Psychologie  eine  Gleichzeitigkeit  mehrerer  Gefühle 
nicht  anerkennen  will,  so  reduziert  sie  die  Komik  auf  die  Unterscheid- 
barkeit mehrerer  Seiten  an  einem  einheitlichen  Selbstgefühl  Des 
näheren  soll  der  Vorgang  darin  bestehen,  daß  der  Betrachter  ein  Großes 
oder  Bedeutungsvolles  erwartet  und  durch  das  Eintreten  eines  Kleinen 
oder  Nichtigen  zur  Heiterkeit  gereizt  wird.  Komisch  ist  —  nach  den 
Darlegungen  von  Lipps  —  ein  Kleines,  das  sich  wie  ein  Großes  ge- 
bärdet und  dann  plötzlich  in  sein  Nichts  zergeht;  unser  Eindruck  setzt 
sich  zusammen  aus  Verblüffung  und  darauf  folgender  Erleuchtung, 
und  diese  Vorstellungsbewegung  wiederholt  sich,  bis  sie  schließlich 
abklingt.  Es  würde  demnach  das  spezifische  Gefühl  der  Komik  so 
aufzufassen  sein,  daß  die  seelische  Vorbereitung  auf  einen  starken 
Eindruck  durch  das  Auftreten  eines  schwachen  Eindrucks  enttäuscht 
wird,  und  der  Lustcharakter  würde  sich  daraus  erklären,  daß  die  über- 
schüssige psychische  Kraft,  wie  überhaupt  jedes  Übergewicht  an  innerer 
Energie,  als  lustvoll  empfunden  wird.  Etwas  anders  ausgedrückt 
wäre  die  komische  Lust  eine  Lust  aus  der  Überspannung  der'  Auf- 
merksamkeit ^).  Daß  eine  momentane  Überspannung  des  Bewußtseins 
vorliegt,  könnte  man  von  anderen  psychologischen  Gesichtspunkten 
aus  mit  gleichem  Rechte  sagen.  Aber  es  scheint  einer  weiteren  Unter- 
suchung bedürftig,  ob  die  Verwandlung  des  Gewichtigen  in  ein  Ge- 
ringfügiges ein  Hin  und  Her  der  Vorstellungsbewegung  und  eine  so- 
genannte psychische  Stauung  hervorruft  Was  sich  beobachten  läßt, 
ist  von  anderer  Seite  als  eine  Intensitätsschwankung  des  ganzen 
komischen  Bildes  aufgefaßt  worden,  als  ein  Schwächer-  und  Stärker- 
werden, wie  es  auch  beim  Nachdenken  oder  beim  Anhören  von  Musik 
vorkommt  und  womit  nur  der  Zeitverlauf,  nicht  die  qualitative  Eigen- 
art des  Vorgangs  berührt  würde.  Am  übersichtlichsten  wird  dieser 
(aus  der  Lehre  vom  Zeitverlauf  uns  schon  bekannte)  Vorgang  überall 
da,  wo  Text  und  Zeichnung  zusammenwirken.  In  dem  Scherz  vom 
fidelen  Gefängnis  (Tafel  IX)  tritt  manchmal  der  in  Worten  ausge- 
drückte Sachverhalt,  manchmal  der  von  Oberländers  Meisterstift  ge- 
schaffene Ewigkeitshumor  in  den  Vordergrund  des  Bewußtseins.  Die 
zweite  Theorie  dürfte  der  unbefangenen  Beobachtung  mehr  zusagen 
als  die  erste.  Jedenfalls  kann,  da  die  Beschreibung  und  Erklärung  des 
seelischen   Vorganges   durchaus   von    der    psychologischen   Gesamt- 


DAS  HÄSSLICHE  UND  DAS  KOMISCHE.  219 

anschauung  abhangt,  die  Frage  innerhalb  einer  nach  Selbständigkeit 
strebenden  Ästhetik  schwerlich  entschieden  werden. 

Wichtiger  ist  auch  für  die  Ästhetik  einmal  die  Erkenntnis  der  ob- 
jektiven Umstände,  die  außerhalb  und  innerhalb  der  Kunst  zum  Ein- 
druck des  Komischen  führen,  und  alsdann  eine  Einsicht  in  die  tiefere 
Bedeutung  der  Komik  überhaupt  —  Die  erste  Aufgabe  wird  dadurch 
erschwert,  daB  individuelle  und  geschichtliche  Verschiedenheiten  wohl 
nirgends  spürt)arer  sind  als  gerade  auf  dem  Oebiete  der  Komik.  Wir 
haben  schon  vorhin  erörtert,  weshalb  dem  verfeinerten  Kulturmenschen 
der  Kreis  des  Komischen  sich  verengen  muB.  Jetzt  wollen  wir  uns 
daran  erinnern,  wie  auBerordentlich  schnell  Komisches  veraltet  Der 
Reiz  des  intellektuell  Komischen,  also  der  Witze  und  Wortspiele,  ver- 
blaßt in  wenigen  Jahren,  und  auch  die  zeichnerische  Darstellung  wird 
mit  erstaunlicher  Schnelligkeit  aus  dem  Wertgebiet  des  Komischen  in 
das  Reich  des  Oleichgültigen  und  Abgeschmackten  verwiesen.  Immer- 
hin gibt  es  einige  bleibende  Typen.  Unter  Anschauungskomik  ver- 
stehen wir  alle  diejenigen  Dinge  und  Vorgänge,  die  durch  bloBe  sinn- 
liche Wahrnehmung  das  Gefühl  des  Komischen  hervorrufen.  Zwei  Fälle 
sind  zu  unterscheiden.  Erstens.  Wir  lachen  dort,  wo  wir  einen  harm- 
losen und  unberechtigten  VerstoB  gegen  eine  bekannte  OesetzmäBig- 
keit  wahrnehmen,  oder  wo  Bedeutungsloses  sich  an  die  Stelle  des  er- 
warteten Wichtigen  drängt.  Auf  den  Spezialitätenbühnen  sieht  man 
manchmal  folgenden  Scherz.  Es  versucht  jemand,  ein  hinter  der 
Kulisse  befindliches  Pferd  auf  die  Bühne  zu  ziehen.  Es  gelingt  ihm 
nicht  So  ruft  er  sich  zur  Hilfe  einen  Zweiten,  einen  Dritten,  bis 
schlieBlich  sechs  Mann  vorgespannt  sind,  die  prustend  und  schwitzend 
an  einem  gewaltigen  Tau  ziehen.  Hinter  der  Szene  hört  man  das 
Wiehern  des  Rosses  und  das  Donnern  seiner  Hufe.  Endlich,  nach- 
dem der  Sechste,  ein  Herkules  von  Oestalt,  sich  vorgespannt  hat,  be- 
wegt sich  das  Tau,  und  es  erscheint  ein  ganz  kleines  Holzpferdchen. 
Das  ist  spaBhaft,  weil  die  OesetzmäBigkeit  zwischen  Kraftaufwendung 
und  Erfolg  gestört  und  etwas  relativ  OroBes  durch  ein  relativ  Kleines 
für  die  unmittelbare  Anschauung  ersetzt  wird*).  Bedingung  ist,  daB 
die  mit  der  Anschauung  des  Falschen  oder  Nichtigen  verbundenen 
Unlustgefühle  schwach  bleiben,  daB  femer  jenes  Wertlose  mit  schein- 
barer Berechtigung  auftritt  und  die  Assoziation  seines  Gegenteils,  also 
des  Passenden,  schnell  und  sicher  herbeiführt.  Würde  es  sich  in 
Oberländers  Zeichnung  anstatt  um  Landstreicher  und  geringe  Haft- 
strafen vielmehr  um  Raubmörder  und  lebenslängliches  Zuchthaus 
handeln,  so  vermöchten  wir  nicht  zu  lachen;  so  aber  hat  das  *En  avant 
trois  ein  gewisses  Recht,  und  die  Erinnerung  an  den  sonst  üblichen 
Kontertanz  erhält  Würze  durch  die  vielen  graphischen  Feinheiten:  wie 


220  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

der  versoffene  Dickbauch  links  das  Umschlagetuch  zur  Schleppe  macht, 
wie  die  Fuße  kräftig  vorwärts  geschleudert  werdai  und  vor  aOem, 
mit  welcher  unendlich  komischen  Ruckenbeugung  der  Stromer  seine 
^Riverence^  vollführt 

Solche  Fälle  kann  man,  wie  französische  Autorai  es  getan  haben, 
dadurch  erklären,  daß  die  Zertrfimmerung  einer  Schranke  zu  dnem 
OefiihI  eigener  Oberl^enheit  und  Freiheit  führt  Doch  vermag  auch 
der  entg^engesetzte  Vorgang  den  Eindruck  des  Komischen  hervor- 
zurufen. Wenn  ein  Mensch,  sei  es  absichtlich,  sei  es  aus  Zerstreut- 
heit, maschinenmäßige  Bew^[ungen  macht,  so  mutet  er  uns  als  komisch 
an.  Treffen  wir  jemand,  von  dem  wir  eben  sprachai  und  doi  wir 
weitab  glaubten,  so  sagen  wir:  Wie  komisch!  Hier  ist  es  wohl  die 
Mechanisierung  des  sonst  Unberechenbaren  oder  das  an  die  Stelle  der 
Lebendigkeit  tretende  automatenhafte  Wesen,  das  in  sdner  relativen 
Wertlosigkeit  und  Nichtigkeit  dem  Betrachter  als  komisch  erschdnt 
Die  Unmittelbarkeit  der  Wahrnehmung  bleibt  für  bdde  Artai  dn 
Hauptmoment  Daher  läßt  sich  die  Anschauungskomik  schwer  schil- 
dern und  in  Worten  mitteilen.  Man  muß  sie  erleben  oder  durch  doi 
Griffel  des  Zeichners  dargestellt  erhalten.  In  diesem  Fall  kann  dne 
Mehrzahl  von  Zeichnungen  dem  Ablauf  eines  Erdgnisses  in  dai  Haupt- 
punkten folgen  und  es  kann  ebensogut  der  ganze  Vorgang  zu  dner 
einzigen  entscheidenden  Szene  verdichtet  werden.  Der  in  den  Tafdn  X 
und  XI  wiedergegebene  Scherz  entspricht  seinem  Wortlaut  nach  ge- 
nau der  heute  üblichen  Erklärung:  der  B^'nn  des  emsthaftai  Waffen- 
ganges wird  jäh  unterbrochen,  ein  Mäuschen  ruft  unter  den  Hddinnen 
ratlose  Verzweiflung  hervor.  Aber  was  wollen  Worte  besagen  g^[en 
die  beiden  von  Kirchner  gezeichneten  Szenen!  Die  gehaltene  Ruhe 
im  ersten  Bild  und  die  wilde  Bew^ung  im  zweiten,  der  durchgreifende 
und  aufs  feinste  differenzierte  Umschlag  der  Stimmung,  der  wdse 
Verzicht  auf  Darstellung  der  Maus,  die  verschiedene  Richtung  der 
Blicke,  die  breite  Rückseite  als  Abschluß  nach  rechts  —  das  sind  die 
unwiederholbaren  Meisterzüge,  die  den  Betrachter  immer  von  neuem 
mit  Heiterkeit  erfüllen. 

Vom  Witz,  dem  wir  uns  als  der  zweiten  Klasse  des  Komischen 
zuwenden,  gilt  wiederum  die  Regel:  so  lebhaft  er  im  Augenblick  zu 
belustigen  vermag,  so  schnell  wird  er  doch  auch  vergessen.  Mit  jeder 
Wiederholung  verliert  er  an  Reiz,  ausgenommen  für  den,  der  ihn  er- 
zählt und  mit  dem  Lacherfolg  einen  Triumph  seiner  Eitelkeit  fdert 
Die  witzigen  Aussagen  veranlassen  zur  Bildung  von  Bedeutungs- 
vorstellungen, die  plötzlich  vernichtet  werden.  Ober  dem  Bette  dnes 
ländlichen  Wirtshauses  fand  ich  einmal  in  großen  Lettern  den  folgen- 
den wohlgemeinten  Rat:  »Und  steigst  du  in  dies  Bett  hinein,  So  zieh 


DAS  HÄSSLICHE  UND  DAS  KOMISCHE.  221 

auch  nach  das  andre  Bein.^  Dieses  Wort,  das  von  der  Anschauungs- 
komik zur  Wortkomik  überleitet,  verlangt  die  Bildung  einer  anschau- 
lichen Vorstellung,  die,  sobald  sie  vollzogen  ist,  sogleich  ihr  psychi- 
sches Gewicht  einbQBt.  Der  Gedanke  nämlich,  daß  jemand  ver- 
gessen könnte,  das  zweite  Bein  mit  ins  Bett  zu  nehmen,  ist,  besonders 
wenn  er  als  optisches  Bild  auftritt,  durch  seinen  Widerspruch  gegen 
alles  Gewohnte  unmittelbar  komisch.  Nun  ein  Beispiel  des  reinen 
Witzes.  Ein  Akademiker  hat  einmal  die  Universitätsdozenten  eingeteilt 
in  Ordinarien,  Extraordinarien  und  Dinarien,  worunter  er  die  reichen 
Privatdozenten  verstand,  die  üppige  Gastmähler  herrichten  können. 
WQrde  das  Wort  Dinarius  existieren,  auch  nur  in  dem  Sinne  des 
Gastgebers  Oberhaupt,  so  wäre  es  in  diesem  Falle  vielleicht  treffend 
angewendet,  aber  nicht  komisch.  Die  freie  und  doch  durch  klangliche 
Vorbilder  bedingte  Wortbildung  zusammen  mit  dem  boshaften  Neben- 
sinn macht  die  Komik  des  Satzes  aus.  Es  gehört  also  zur  witzigen 
Veranlagung  eine  sprachliche  Herrschaft,  ja  Schöpferkraft,  die  der  Wort- 
kunst des  Poeten  verwandt  ist.  Und  zur  Wirkung  trägt  die  Tendenz 
bei,  die  meist  ein  mehr  oder  weniger  versteckter  Angriff  ist  (auch  bei 
den  unanständigen  Witzen).  Verweilen  wir  jedoch  bei  der  Technik 
des  Witzes. 

Die  spielende  Herstellung  eines  unerwarteten  Zusammenhanges 
zeigt  sich  zunächst  in  der  Benutzung  bloßer  Klangähnlichkeiten.  So, 
wenn  Hans  v.  BQlow  die  beiden  ersten,  durch  leibliche  Fülle  ausge- 
zeichneten Sängerinnen  an  seiner  Buhne  die  beiden  »Primatonnen« 
nannte  oder  von  dem  Intendanten  und  seiner  komponierenden  Gattin 
als  von  »Kulisses  und  Mausikaa<  sprach.  Von  anderen  Wortspielen 
sei  die  Benutzung  des  Doppelsinns  erwähnt.  Ein  Schulmädchen,  das 
in  einem  Aufsatz  über  die  Jungfrau  von  Ori^ans  deren  Ekstasen  und 
Visionen  geschildert  hat,  schließt  mit  den  Worten:  Hieraus  ersehen 
wir,  daß  die  Jungfrau  ein  Qbernatflriicher  Zustand  ist.^  Der  Doppel- 
sinn liegt  in  dem  Worte    Obernatüriich^. 

Anders  geartet  sind  die  Witze,  die  nicht  mit  Worten  und  Klängen 
spielen,  sondern  mit  den  Dingen  und  Einrichtungen  dieser  Well  Ein 
Witzbold  läßt  ein  Kind  seinen  im  Konzert  empfangenen  Eindruck 
folgendermaßen  schildern:  Eine  Dame  schrie,  weil  sie  ihre  Ärmel  ver- 
gessen hatte,  und  ein  Kellner  spielte  dazu  Klavier. <  Der  erste  Teil  des 
Satzes  enthält  eine  falsche  Kausaldeutung,  und  der  zweite  einen  auf  der 
Wahrnehmung  des  Frackes  beruhenden  falschen  Analogieschluß.  Diese 
Verkehrung  aller  natOriichen  und  gesellschaftlichen  Zusammenhänge 
weckt  ein  Gefühl  subjektiver  Oberiegenheit,  das  jene  blitzschnell  im 
Denken  erfaßten  Diskrepanzen  zur  Quelle  einer  Funktionslust  macht. 
Wenn  der  Lehrer   seine  Beschreibung  der  Klapperschlange  mit  der 


222  V.   DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Frage  schließt:  >Wer  kennt  ein  ähnliches  Tier,  dem  man  nicht  trauen 
darf?«  und  der  Schuler  darauf  antwortet:  »Der  Klapperstorchc,  so  ist 
nicht  nur  die  Klangähnlichkeit  die  gleichsam  anschauliche  Ursache 
des  Lachens,  sondern  einen  großen  Anteil  hat  auch  die  frei  waltende 
Einbildungskraft.  Witzig  nennen  wir  Menschen  mit  der  Fähigkeit, 
fiberall  unerwartete  Analogien  zu  sehen  und  sie  mit  stilistischer  Prä- 
gnanz, sogar  mit  lautlicher  Sinnenfälligkeit  wiederzugeben.  Es  war 
deshalb  nicht  so  verkehrt,  daß  man  im  18.  Jahrhundert  ein  ganzes 
intellektuelles  Seelenvermögen  mit  der  Bezeichnung  Witz  bd^e. 
Denn  von  der  Beweglichkeit  eines  witzigen  Geistes  in  der  uns  ge- 
läufigen Wortbedeutung  bis  zu  der  Fähigkeit,  durch  das  Aufdecken 
überraschender  Ähnlichkeiten  und  durch  die  Herstellung  von  Zusammen- 
hängen zwischen  entlegensten  Dingen  Wissenschaft  wie  Kunst  zu 
fördern,  von  dort  bis  hier  läuft  eine  stetig  aufsteigende  Linie. 

Darin  scheint  mir  nun  der  Lebenswert  des  Witzes  zu  bestehen, 
daß  er  uns  wenigstens  für  Augenblicke  aus  der  gleichmäßigen  Ord- 
nung der  Wirklichkeit  heraushebt.  Er  bedeutet  eine  Umformung  der 
Wirklichkeit,  die  ebenso  sehr  hinter  ihr  zurückbleibt  wie  sie  anderseits 
überschreitet.  Deshalb  sind  gute  Witze  nicht  verächtlich,  sondern 
für  den,  der  sie  macht,  eine  Art  künstlerischer  Produktion,  und  für 
den  Hörer  eine  Art  ästhetischen  Genusses.  Einst  galt  das  Wunder- 
bare als  ein  wesentliches  Bestandstück  der  Kunst  Noch  Baumgarten 
hat  unter  dem  Titel  »Ästhetische  Thaumaturgie«  reichlich  darüber  sich 
ausgesprochen.  Uns  ist  nicht  viel  mehr  zurückgeblieben  als  die  künst- 
lerische Verwertung  des  Überraschenden,  und  in  der  Komik  besitzen 
wir  das  sicherste  und  vertrauteste  Mittel  dazu.  Wer  die  Kunst  aus 
dem  Spieltriebe  ableitet,  kann  alle  tätige  Komik  als  eine  Etappe  auf 
dem  Wege  zur  höchsten  Kunst  ansehen,  und  dies  um  so  mehr,  als 
sie  auf  das  Anschauliche  angewiesen  ist  Bei  der  Zeichnung  versteht 
es  sich  von  selbst.  Auch  bei  der  Musik;  denn  das  plötzliche  Um- 
biegen einer  Melodie  oder  eines  Rhythmus,  das  Eintreten  einer  uner- 
warteten Klangfarbe,  alle  die  tausend  schillernden  musikalischen  Mittet, 
durch  die  die  größten  musikalischen  Humoristen  —  Jacques  Offenbach 
und  Richard  Strauß  —  wirken,  dies  alles  ist  doch  nur  für  das  Ohr 
da.  Aber  auch  beim  sprachlich  geformten  Komischen  kommt  sehr 
viel,  oft  alles,  auf  die  Wahl  der  Worte  und  Klänge  an  ^®). 

Verfolgt  man  die  Linie  bis  zu  ihrem  Ende,  so  stößt  man  auf  einen 
Begriff,  der  dem  das  Tragische  b^^ndenden  Schicksalsb^^ff  gegen- 
übersteht und  ebenso  wie  dieser  der  philosophischen  Erörterung  ent- 
fremdet ist  Ich  meine  den  Zufall.  Man  könnte  sagen,  alles 
Komische  ist  eine  konzentrierte  und  sinnenfällige  Darstellung  des 
Zufallwaltens;  denn  es  bringt  das  Unähnliche  zusammen  und  vertauscht 


DAS  HÄSSLICHE  UND  DAS  KOMISCHE.  223 

Übermütig  Sinnvolles  mit  Sinnlosem.  Drei  Akrobaten,  die  im  Frack 
stecken  und  mit  hohen  Hüten  in  der  Hand  dem  verehrten  Publikum 
sich  empfehlen,  werden  durch  Thomas  Theodor  Heine  zu  einem  kräf- 
tigen Ornament  verschlungen:  das  Unmögliche  verwirklicht  sich  durch 
die  Laune  des  Schicksals  und  seines  künstlerischen  Anwalts.  Wie 
nun  aber  jeder  Zufall  doch  schließlich  Jn  einer  verborgenen  Gesetz- 
mäßigkeit begründet  sein  muß,  so  ist  auch  jede  komische  Situation 
und  jeder  Witz  ursächlich  begründet  und  gerechtfertigt.  jVon  den 
zahllosen  willküriichen  Verknüpfungen,  die  wir  den  in  der  Wirklichkeit 
vorliegenden  entgegensetzen  könnten,  sind  doch  nur  einige  wenige 
komisch,  eben  diejenigen,  die  im  tiefsten  Grunde  wieder  einen  Zu- 
sammenhang aufweisen.  Auch  der  strengste  Beurteiler  wird  daher 
dem  Witz  nicht  jedes  Lebensrecht  absprechen  wollen.  Er  verdient 
und  behält  es,  ähnlich  so  wie  der  Aberglaube.  Die  abergläubischen 
Maßnahmen,  denen  selbst  die  Aufgeklärtesten  ein  verborgenes  Opfer 
zu  bringen  pflegen  (ich  denke  an  das  Wörtchen  »unberufen«),  sie 
ruhen  auf  der  halb  bewußten  Überzeugung,  daß  einerseits  der  Mensch 
den  Gang  der  scheinbar  unabhängigen  Ereignisse  zu  beeinflussen  ver- 
möge, und  daß  anderseits  zwischen  den  entlegensten  Dingen  ein 
geheimer  Zusammenhang  walte.  Der  Aberglaube  baut  gleich  dem 
Witz  eine  Welt  auf,  in  der  des  Menschen  Subjektivität  fessellos  sich 
entfaltet,  und  in  der  es  keine  Abstandsunterschiede  gibt,  wo  vielmehr 
das  Entfernteste  ebenso  leicht  zusammenkommt  wie  das  Benachbarte. 
Des  Märchens  Phantasiespiel  ist  hiermit  innig  verschwistert  Deshalb 
duldet  das  Märchen  die  platteste  Vorgangskomik  und  die  tollste  sprach- 
liche Verkröpf ung,  wie  wenn  die  Prinzessin  zum  Narren  sagt:  »Störe 
mich  nicht  in  meinen  Betrachtungen«  und  er  antwortet:  »Ich  bin  kein 
Stör,  ich  bin  der  Reisemarschall.«  In  einem  Märchen  Brentanos  werden 
den  Altvordern  die  —  Junghintern  gegenübergestellt!  Solchen  Keck- 
heiten zum  Trotz  haben  gerade  unsere  Romantiker  den  Witz  mit  der 
Mystik  verglichen.  Mir  scheint  der  wesentliche  Vergleichungspunkt, 
daß  auch  die  Mystik  eine  Auflösung  aller  üblichen  Formen  und  Ver- 
bindungen bedeutet,  aber  eine  bis  in  die  letzten  Tiefen  reichende. 

Mit  solchen  Analogien  ist  freilich  die  psychologische  Zergliederung 
kaum  gefördert.  Haben  sie  einen  Wert,  so  besteht  er  darin,  daß  sie 
die  Stellung  der  Kategorie  im  Lebensgefühl  der  Menschen  bezeichnen. 

Von  den  höheren  Formen  des  Komischen  sind  ästhetisch  am 
wichtigsten  die  Karikatur  und  der  Humor.  Maler  und  Dichter 
können  nur  karikieren,  was  bereits  einen  leisen  Hauch  des  Komischen 
trägt;  der  Hohlspiegel,  in  dem  der  Karikaturist  eine  ausgeprägte  Ge- 
stalt auffängt,  wirkt  mit  seinen  Verzerrungen  da  am  sichersten  komisch, 
wo   bereits   ein  Ansatz   zum   Komischen   vorhanden   ist.    Am   deut- 


224  V.   DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

liebsten  sieht  man  es  an  den  karikierenden  Zeichnungen,  die  eine 
phantastische  Umgestahung  des  menschlichen  Kopfes  in  einen  Tier- 
kopf vornehmen.  Eine  besondere  Technik  hat  sich  in  den  politischen 
Karikaturenzeichnungen  entwickelt.  Sie  stellen  Ereignisse  und  Pläne, 
überhaupt  alles  Abstrakte  dar,  indem  sie  entweder  nach  dem  Vorbild 
der  großen  Kunst  oder  mit  eigenen  Symbolen  arbeiten.  Diese  Symbole 
sind  meist  aus  bildlichen  Redewendungen*  entnommen.  Da  wir  bei- 
spielsweise »Abhängigkeit«  mit  der  Phrase  bezeichnen  »an  jemandes 
Rockschößen  hängen«,  so  zeichnet  es  der  Karikaturist  so.  Auch  be- 
kannte Tierfabeln  und  Parabeln  müssen  seinen  Zwecken  dienen.  Die 
echt  künstlerischen  Beziehungen  innerhalb  des  Bildes,  also  die  Raum- 
werte und  Formverhältnisse,  treten  zu  Gunsten  des  sachlichen  Inhaltes 
und  der  belehrenden  Absicht  zurück.  Qilt  es  etwa,  die  Größe  eines 
Reiches  und  die  Kleinheit  eines  anderen  zu  verdeutlichen,  so  scheut 
der  Zeichner  nicht  davor  zurück,  den  Herrscher  des  ersten  Landes 
dreifach  so  groß  zu  zeichnen  wie  den  des  anderen  ^^).  Von  Parodie 
und  Travestie  spricht  man,  wenn  durch  Versetzung  in  ähnliche,  aber 
veränderte  Verhältnisse  entweder  —  wie  in  der  Parodie  —  die  Form, 
oder  —  wie  in  der  Travestie  —  der  Inhalt  durch  ihre  Beibehaltung 
verspottet  werden.  Mahlers  erste  Sinfonie  enthält  einen  ulkigen  Trauer- 
marsch, worin  die  beiden  Möglichkeiten  musikalisch  ausgemünzt 
werden.  Während  die  Groteske  in  frei  schöpferischer  Phantasie  jedes 
Vorbild  hinter  sich  läßt,  wird  in  den  genannten  Formen  der  Burleske 
entweder  das  Gemeine  in  erhabene  Höhen  befördert  oder  das  Helden- 
hafte ins  platt  Bürgerliche  hinabgezogen.  Hinzu  treten  natürlich  alle 
Hilfsmittel,  die  ein  Lachen  erregen  können.    Ein  Vers  wie 


Italiam  primus  conclamat  Achates, 

Italiam  laeto  socü  clamore  saliäant 


lautet  in  Blumauers  Äneis  so: 


(Äneis  III,  523  f.). 


Auf  einmal  schrie:  Italien! 
Achat  aus  der  Kajüte. 
Italien!  scholls  im  Vorderteil, 
Italien!  scholls  im  Hinterteil, 
Italien!  in  der  Mitte. 

Unter  Humor  verstehen  wir  eine  Gemütsstimmung,  in  der  ein 
Mensch  sich  seiner  Bedeutung  und  zugleich  seiner  Bedeutungslosig- 
keit bewußt  ist  Man  hat  als  die  zwei  Seiten  des  religiösen  Gefühls 
bezeichnet  das  Bewußtsein  eines  eigenen  ewigen  Wertes  und  das 
darin  verflochtene  Gefühl  der  eigenen  Kleinheit  Die  gleiche  Ver- 
schmelzung von  Überi^enheit  und  Beschränktheit  zeichnet  den  Humo- 
risten und  seine  Leistungen  aus.    Als  Dichter  schildert  er  Geschicke 


DAS  HASSLICHE  UND  DAS  KOMISCHE.  225 

und  Personen,  die  durch  einen  lächerlichen  Beisatz  in  ihrer  Bedeut- 
samkeit nicht  zerstört,  sondern  mittels  eines  indirekten  Verfahrens  ge- 
hoben werden.  In  einer  merkwürdigen  Mischung  von  Selbstaufhebung 
und  Selbstbestärkung  fahren  die  beiden  Anblicke  des  Lebens  sich 
ad  absurdum  und  lösen  jenes  schmerzlich-friedliche  Oefflhl  aus,  das 
der  Mensch  empfinden  muB,  der  vor  der  endgültig  letzten  Ober- 
windung des  Daseins  steht  Die  bildende  Kunst  kennt  ähnliche  Ver- 
quickungen. Wenn  der  Künstler  einen  Mops  mit  seiner  Wurst  so 
zeichnet,  daß  die  Linien  zu  wundervollen  Arabesken  sich  zusammen- 
finden, oder  wenn  dem  im  höchsten  Prunk  einherschreitenden  Märchen- 
könig die  Nase  tropft,  so  besteht  der  Humor  darin,  daß  auch  das 
Niedrigste  in  die  reine  Sphäre  schöner  Kunstformen  hineinreicht  und 
das  Erhabenste  des  Lebens  in  jedem  Augenblick  ins  Lächeriiche  ver- 
fallen kann.  Oar  fröhlich  schließt  eins  der  Adärchen  von  Clemens 
Brentano:  »Der  König  Pumpan  nahm  ein  großes  Messer  und  schnitt 
sein  Königreich  in  zwei  Teile  und  fragte  den  Schulmeister  Klopfstock : 
Rücken  oder  Schneide?  Da  sagte  er:  Schneide.  Und  Pumpan  gab 
ihm  die  Hälfte,  die  an  der  Schneide  des  Messers  lag.«  Im  Märchen- 
land wohnt  der  Humor  am  liebsten;  wird  er  in  Länder  geringerer 
Freiheit  verwiesen,  so  lugt  er  immer  noch  nach  jenem  Reiche  aus. 
Carlyles  >  Sartor  resartus^  enthält  die  Vorstellung,  daß  ,bei  einer 
fderiichen  Staatshandlung  plötzlich  allen  Beteiligten  die  Kleider  entführt 
würden.  Der  König  wäre  nicht  mehr  vom  Lakaien  zu  unterscheiden, 
alle  Bande  frommer  Scheu  würden  reißen.  In  diesem  märchenhaften 
Bild,  das  die  Macht  der  Kleidung  verherrlicht  und  verhöhnt,  steckt 
echter  Humor.  Denn  auch  bei  Carlyle  strahlt  hinter  allem  Spott 
eine  große  Liebe  zu  den  Menschen  leuchtend  hervor.  Wahres  Un- 
glück wird  vom  Humor  nie  angetastet,  der  Witz  dagegen  schont  es 
nicht  Wer  die  Kleinheit  des  Oroßen  schildert,  ohne  die  Größe  herab- 
zusetzen, wer  den  unlogischen  Charakter  des  Lebens  darstellt,  ohne 
seine  Vemünftigkeit  zu  leugnen,  eben  dieser  Zauberer  ist  ein  humo- 
ristischer Künstler.  In  Zeiten,  wo  die  Kläglichkeit  des  Daseins  gar 
kein  Gegengewicht  aufweisen  konnte,  hat  es  auch  keinen  Humor  ge- 
geben; denn  ohne  eine  Freude  am  Leben  und  an  der  Welt  vermag 
er  nicht  zu  atmen;  und  umgekehrt  fehlt  den  Zeiten  und  Völkern,  die 
in  toller  Lebenslust  ihr  Dasein  verbrauchen,  die  humoristische  Kunst  — 
Der  Humor  sieht  hinter  dem  Zufall  das  Schicksal.  Er  verknüpft 
Endliches  mit  dem  Unendlichen,  und  er  lehrt,  wie  man  mit  einem 
Lächeln  das  Schicksal  besiegen  kann.  Deshalb  ist  wahrer  Humor  ein 
unentbehriicher  Notgroschen  für  die  sonderbare  Haushaltung,  die 
wir  zwischen  Himmel  und  Erde  führen. 

Dcttoir.  Attbeük  and  allf.  KunMwiMciiKliafl.  15 


226  V.  DIE  ÄSTHETISCHEN  KATEGORIEN. 

Anmerkungen. 

0  Am  bequemsten  nachzulesen  in  dem  Philosophischen  Lesebuch,  herausgegeben 
von  Max  Dessoir  und  Paul  Menzer,  2.  Aufl.,  1905,  S.  31  ff. 

»)  Karl  Köstlin,  Ästhetik,  1869,  S.  69  u.  75. 

')  Ich  gebe  hier  die  im  Text  angedeutete  Stelle  wortgetreu  wieder.  Des 
Herrn  Gerhard  de  Lairesse,  Welt-belobten  Kunst-Mahlers ,  Großes  Mahler-Bucfa  etc. 
Aus  dem  Holländischen  in  das  hoch-Teutsche  übersetzt  Nürnberg  1728.  Erster 
Teil,  VI.  Buch,  15.  Kapitel  (S.  183  ff.).  »Eine  Landschafft  mit  gantzen  und  gerade 
aufgewachsenen  Bäumen,  welche  von  runden  Stämmen,  auch  wohlgestaltem  Laub 
und  Gipfeln  seynd;  gleiche  und  ebene  Gründe,  mit  allmählich  auf-  und  abgehenden 
Hügeln  versehen;  Wasser-Bäche  mit  klaren  und  stillen  Strömen;  lustige  Prospede; 
wohlgeordnete  Couleunn,  nebst  einer  angenehmen  Lasurblauen  Lufft,  so  einige 
trübe  Wolcken  führt;  nicht  weniger,  zierliche  Fontainen,  prächtige  Häuser  und 
Palläste,  welche  nach  der  Bau-Ordnung  verständig  ordinirt,  und  mit  schönen 
Ornamenten  ausgeziret  seynd ;  Leute  mit  proportionirten  Gestalten  und  Gliedmassen, 
von  lieblichen  Wirckungen,  auch  über  dieses  ein  jedes  nach  seiner  Eigenschafft 
eolorirt  und  bekleidet;  Kühe,  Schafe  und  andere  gefütterte  Thiere:  alle  diese  erst- 
gemeldte  Dinge  können  mit  Recht  den  Namen  mahlerisch  führen. 

Herentgegen,  ein  Stück  voll  ungestalter  Bäume,  deren  Laub  und  Aeste  sich  wüst 
und  unschicklich  von  Osten  nach  Westen  von  einander  spreitzen;  krumme,  alte  und 
gespaltete  Stämme,  mit  vielen  Knorren  und  Löchern  bewachsen;  ungleiche  und  ab- 
geschnittene Gründe  ohne  Wege;  scharffe  Hügel  und  ungemein-hohe  Berge,  die 
den  Prospect  ausfüllen;  rauhe  oder  verfallene  Gebäude,  davon  die  Stüdce  und 
Trümmer  unordentlich  und  über  dem  Hauff en  liegen;  morastige  Wasser-Bäche;  eine 
Lufft  voll  schwartzer  Wolcken;  das  Feld  mit  magern  Thieren  und  ungeschickten 
Landläuffem,  oder  einem  Hauffen  wilder  Leute  staffiret  etc.  kan  unmöglich  vor  eine 
schöne  Landschafft  angenommen  werden.« 

*)  Werner  Fite,  Art,  Indastry  and  Science.   PsychoL  Review,  1901,  VIII,  128—144. 

^)  Wilhelm  von  Scholz,  Gedanken  zum  Drama,  1905.  Von  älteren  Werken  ist 
namentlich  Volkelts  Ästhetik  des  Tragischen  zu  Rate  zu  ziehen.  Einige  Reflexionen 
in  meinen  Ausführungen  sind  durch  die  Schriften  von  Paul  Mongr^  angeregt 

*)  Früher  hielt  man  allerdings  daran  fest,  daß  die  Künste  nicht  mit  gleicher 
Leichtigkeit  dem  Häßlichen  Raum  gönnen.  Adam  Smith  z.  B.  meinte:  *The  piäure 
of  a  very  ugly  and  deformed  man  such  as  Aesop  or  Scarron  might  not  make  a 
disagreeable  piece  offumiture.  The  stcUue  certainiy  would.  Even  a  vulgär  ordinwy 
man  or  woman,  engaged  in  a  vulgär  ordinary  aäion,  like  what  we  see  with  so  mndi 
pleasure  in  the  piäures  of  Rembrandt,  would  be  to  mean  a  subjed  for  statuary.^ 
The  Works  of  Adam  Smäh,  1811,  V,  250. 

^)  Vgl.  Th.  Lipps,  Komik  und  Humor,  1898  und  Sigmund  Freud,  Der  Witz  und 
seine  Beziehungen  zum  Unbewußten,  1905. 

")  Heymans,  Ästhetische  Untersuchungen  im  Anschluß  an  die  Lippssche  Theorie 
des  Komischen.    Zeitschrift  für  Psychologie,  1896,  Bd.  XI,  S.  351. 

*)  Andere  Beispiele  und  ähnliche  Erwägungen  bei  H.  Bergson,  Le  Rire,  1900, 
und  A.  Penjon,  Le  rire  et  la  liberti,  Revue  philosophique,  1893,  Nr.  VIII,  S.  113—140. 

***)  Vortreffliches  darüber  in  Richard  M.  Meyers  Abhandlung  über  den  Namen- 
witz.  Neue  Jahrbücher,  1903,  XI,  2,  S.  122  ff. 

**)  Ich  mache  auf  die  nützliche  Untersuchung  von  Emil  Fichte,  Osterprogramm 
des  Beriiner  Klostergymnasiums  1892,  aufmerksam. 


J 


ZWEITER  HAUPTTEIL 
ALLGEMEINE 

KUNSTWISSENSCHAFT. 


l.  Das  Schaffen  des  Kfinstlers. 


1.  Zeitveriauf  und  Gesamtcharakten 

Kunst  ist  nicht  Reinkultur  des  Schönen.  Der  Naturalismus  der 
Schönheit,  so  geschmackvoll  und  angenehm  er  sein  kann,  bleibt  ebenso 
wie  der  Naturalismus  der  Häßlichkeit  vor  den  Toren  der  Kunst  Kunst 
entsteht  durch  keine  Verdichtung  des  Ästhetischen.  Diese  unschuldige 
Wahrheit,  leider  von  den  treuesten  und  empfindlichsten  Seelen  ver- 
urteilt, ist  nunmehr  aus  dem  Wesen  des  Kflnstlers,  der  Entstehung, 
Beschaffenheit  und  Wirkung  der  Kunst  zu  rechtfertigen.  Wir  begin- 
nen unseren  Weg  mit  der  Untersuchung  des  künstlerischen  Schaffens, 
weil  das  Dasein  einer  solchen  Tätigkeit  nicht  nur  die  Kunst  ermög- 
licht, sondern  auch  an  sich  selbst,  als  unterschieden  vom  ästhetischen 
Leben,  zuerst  die  Aufmerksamkeit  erheischt  Niemand  kann  leugnen, 
daß  (neben  Formensinn  und  Geschmack)  an  der  Erzeugung  von  Kunst- 
werken Geist,  GefflhI,  Gewissenhaftigkeit  und  andere  Persönlichkeits- 
elemente t>eteiligt  sind.  Der  ästhetische  Geschmack  allein  taugt  nicht 
als  Gradmesser  fOr  die  Höhe  des  Kflnstlertums:  während  Liebhaber 
und  Kunstrichter  den  feinsten  Geschmack  entwickeln  können,  haben 
so  große  Künstler  wie  Grabt>e  und  Böcklin  gel^entlich  eine  groteske 
Geschmacklosigkeit  zu  Tage  gelegt,  pie  Freude  des  Sehens  und  das 
GlOck  des  Vergessens  eignen  freilich  auch  dem  Künstler,  aber  Drang 
nach  Wahrheit  und  Nützlichkeit  fehlen  deshalb  nicht  Und  wir,  die 
wir  ein  Kunstwerk  genießen,  erfreuen  uns  an  der  Eigenart  des  Schöpfers, 
an  seinem  sichtbaren  Sieg  .über  die  Sprödigkeit  des  Stoffes,  an  der 
Treffsicherheit,  mit  der  er  in  den  Herzpunkt  der  Wirklichkeiten  dringt, 
an  der  Fülle  und  Lebendigkeit  des  Gehaltes,  mit  einem  Wort:  an 
Qualitäten,  die  bei  der  Erforschung  des  Ästhetischen  ganz  außer  acht 
bleiben  konnten. 

Der  Vorgang  des  künstlerischen  Schaffens  verläuft  zeitlich  derart, 
daß  die  wissenschaftliche  Abstraktion  mehrere  Ptuisen  voneinander 
abheben  darf.  Die  erste  bezeichnen  wir  mit  einem  Worte  Eduard 
V.  Hartmanns  ^)  als  produktive  Stimmung.  Meist  überfällt  diese  Stim- 
mung den  Künstler,  ohne  daß  er  sie  aufgesucht  hätte:  zu  jeder  Stunde^ 
an  jedem  Orte  kann  sie  eintreten.   Nicht  als  beglückender  Gast  pflegt 


230  L  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

sie  ZU  nahen,  sondern  schwer  und  unvennutet  wirft  sie  sidi  auf  die 
Seele  —  »Wie  Tranen,  die  uns  plötzlich  kommen,  so  kommen  plötz- 
lich auch  die  Lieder c.  Die  Analyse  findä  nicht  viel  Sie  entdedct 
wohl  irgendwelche  unbestimmten  Sinnesvorstellungen,  doch  ohne  Zu- 
sammenhang mit  dem  spateren  Werk.  Häufig  gdiören  diese  Vorstel- 
lung^ einer  anderen  Sphäre  an  als  der  des  fertigen  OebDdes,  und 
vielleicht  sind  die  nicht  sdten^i  Irrtumer  der  Kunstler  Ober  das  Gd>iet, 
auf  dem  ihre  Stärke  li^,  zuräcksniführen  auf  eine  solche  sinnliche 
ErsatztätigkeiL  Wenn  einem  Musiker  keine  Melodien  auftauchen,  son- 
dern Verse  sich  bilden,  oder  wenn  ein  Maler  in  dieser  Stimmung  nicht 
Farl>en  sieht,  sondern  Klänge  hört,  so  kann  man  begreifen,  daß  sie 
ihrer  eigensten  Bestimmung  nach  sich  für  etwas  anderes  halten,  als 
was  sie  äußerlich  und  in  Wahrheit  sind 

Im  Ganzen  angesehen  ist  diese  Vorba-dtung  vor  der  Schöpfung 
dn  Wogen  von  Gefühlen  und  Lddenschaften.  Im  Innern  der  Sede 
kämpfen  Kräfte  mitdnander;  das  Werk  befindet  sich  noch  im  Zu- 
stande vor  der  Geburt  Der  Schaffende  fühlt  die  Verfassung  des  Be- 
wußtsdns  ähnlich  so,  wie  der  vor  dner  sittlichoi  Entscheidung 
Stehende  die  seinige.  Es  ist  ein  unbestimmtes  Hin  und  Her,  das  bis 
zu  physischem  Schmerz  sich  stdgem  kann.  Verwirrung  und  Unord- 
nung unterscheiden  den  geistigen  Zustand  des  künstierischen  Menschen 
von  dem  des  instinktmäßig  handdnden.  Die  früher  so  gewöhnliche 
Vergleichung  mit  dem  Instinkt  ist  mdnes  Erachtens  nicht  nur  nutzlos, 
sondern  auch  verkehrt  Nutzlos  ist  sie,  wdl  sie  etwas  schwer  Ver- 
ständliches auf  etwas  noch  schwerer  B^jeifliches  zurückführt;  und 
sie  versieht  es  darin,  daß  der  Instinkt  mit  unbedingter  Sicherhdt,  aber 
auch  mit  großer  Gldchförmigkeit  arbdtet  In  dem  Frühstadium  der 
künstlerischen  Produktion  hing^en  ist  alles  unsicher  und  ungidch. 
Die  Qual  dieser  Stimmung  stdgert  sich  durch  die  Angst,  ob  wohl 
irgend  etwas  Brauchbares  aus  der  Verwirrung  entstehen  möge.  Sdbst 
der  Künstler,  der  schon  oft  von  ähnlichen  Err^[ungai  durchschüttdt 
worden  ist,  zweifelt  immer  wieder  von  neuem,  ob  aus  dem  Chaos 
etwas  sich  formen  werde.  Tröstlich  ist  ihm  indessen  jenes  Gefühl 
der  Erwartung,  das  ihn  nie  getäuscht  hat  Schon  vernimmt  er  von 
der  Feme  leise  Stimmen,  doch  den  Sinn  ihrer  Reden  kann  er  noch 
nicht  ergründen.  Er  hört  noch  nicht  die  bestimmte  Mdodie,  er  faßt 
noch  nicht  völlig  den  Farben-  und  Formenzusammenhang.  Aber  in 
leisen  Anzeichen  erblickt  er  eine  Verhdßung.  Es  kommt  vor,  daß 
ein  Traum  die  Lösung  dieser  Spannung  bringt,  daß  beim  Erwachen 
plötzlich  alles  klar  vor  der  Sede  steht  und  eilends  festgel^  werden 
muß. 

Dieser  ganze  ungeheure  Aufruhr  des  Organismus  erinnert  an  die 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  231 

geschlechtliche  Erregung.  Desw^en  hat  man  die  künstlerischen 
Fähigkeiten  als  eine  Ausstrahlung  und  Verselbständigung  des  ge- 
schlechtlichen Erethismus  aufgefaßt  und  sie  mit  dem  Kultus  der  soge- 
nannten phallischen  Religionen  in  Beziehung  gebracht  An  diesem 
Punkte  unserer  Erörterung  handelt  es  sich  jedoch  lediglich  um  die 
Tatsache,  daß  eine  Verzückung  als  Vorläufer  der  künstlerischen  Lei- 
stung und  auch  der  Zeugung  auftritt.  Auch  insofern  scheint  die  Ver- 
gleichung  richtig,  als  der  endlich  geglückten  Oestaltung  ein  Zeitraum 
innerer  Leere  und  Erschöpftheit  folgt  Wenn  das  Begattungsbedürfnis 
drängt,  erhalten  alle  Wahrnehmungen  eine  besondere  Farbe  Der 
Mensch  beachtet  das  Schwellen  und  Befruchten  in  der  Natur,  er 
lauscht  dem  sehnsüchtig  werbenden  Oesang  der  Vögel,  und  alles f 
was  an  Erinnerungen  und  Zukunftsträumen  in  der  Seele  ruht,  das 
stürmt  empor.  Hernach  ist  der  seelische  Zustand  wie  umgetauscht. 
Die  Vorstellungen,  die  uns  keine  ruhige  Minute  gönnten,  fallen  jetzt 
fort,  und  wenn  wir  uns  bemühen,  sie  wiederzuerwecken,  so  sehen 
sie  grau  und  gleichgültig  aus.  Was  vorher  bis  zum  Wahnsinn  quälte, 
ist  nun  ein  schattenhaftes  Etwas,  das  erstaunlich  schnell  unter  die 
Bewußtseinsschwelle  sinkt.  Da  die  Verhältnisse  beim  künstlerischen 
Schaffen  ganz  ähnlich  liegen,  so  kann  man  sagen,  daß  die  zweite  Phase 
im  Schaffensvorgang  eine  Befreiung  von  dem  darstellt,  was  allzu  stark 
die  Seele  erfüllte,  vergleichbar  der  im  Frühling  eintretenden  Lösung 
von  Schneemassen,  wenn  diese  von  der  Höhe  des  Berges  gewaltig  ins 
Tal  rauschen.  Indessen  der  hier  zur  Betrachtung  stehende  Vorgang 
vollzieht  sich  nicht  so  plötzlich,  sondern  zertegt  sich  wiederum  in 
mehrere  Stufen.  Vorerst  müssen  zwei  Auffassungen,  die  in  älteren 
Beschreibungen  der  künstlerischen  Produktivität  herrschen,  als  fehler- 
haft abgewiesen  werden.  Jene  Selbstbefreiung  bedeutet  noch  nicht 
Mitteilung  an  andere.  Es  ist  denkbar  und  vorgekommen,  daß  der 
Künstler  vor  der  Veröffentlichung  der  endlich  klar  herausgestellten  Idee 
seines  Kunstwerkes  ängstlich  zurückscheut  Wohl  gibt  es  einen  Drang, 
der  aus  der  Einsamkeit  zur  Mitteilung  zwingt;  aber  er  stellt  sich 
später  ein,  und  das  Bedürfnis,  das  in  diesem  Zeitpunkt  auftritt,  hat 
nichts  gemeinsam  mit  dem  Verlangen  nach  Wirkung  auf  andere. 
Zweitens  ist  die  Selbstbefreiung  etwas,  was  überhaupt  bei  geistigem 
Art>eiten  sich  findet  und  nicht  auf  künstlerisches  Schaffen  l>eschränkt 
ist  Auch  philosophische  Gedanken  können  den  Schlaf  der  Nächte 
stören  und  den  ganzen  Menschen  so  mitnehmen,  daß  er  erst  wieder 
gesundet,  nachdem  sie  in  ihm  reif  geworden  und  zur  Klarheit  des 
Begriffs  aufgestiegen  sind.  Die  Notwendigkeit  des  Sichentäußems 
ist  eine  allgemeine.  Es  scheint,  als  ob  man  inneriich  nicht  eher  mit 
etwas  fertig  ist,  als  bis  man  es  aus  der  Haft  des  Bewußtseins  ent- 


232  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

lassen  und  ihm  feste  Form  gegeben  hat.  Das  spezifisch  Künstlerische 
ist  demnach  nicht  hierin  enthalten,  sondern  in  der  besonderen  Art  des 
verdeutlichenden  Ausdrucks.  Die  produktive  Stimmung  verbindet  den 
künstlerisch  Schaffenden  mit  allen,  die  im  höheren  Sinne  des  Wortes 
geistig  tätig  sind.  Allein  die  Natur  des  Gestalteten,  das  aus  dem 
Vorbereitungsstadium  hervorspringt,  entscheidet  darüber,  ob  es  sich 
um  künstlerisches  oder  anderes  Schaffen  handelt 

Wir  bezeichnen  den  Augenblick,  in  dem  der  Vorgang  konkrete 
Erscheinungsform  gewinnt  und  sich  dadurch  als  künstlerischen  Oe- 
staltungsprozeB  bekundet,  mit  dem  überiieferten  Ausdruck  als  Kon- 
zeption. Nach  den  Selbstzeugnissen  der  Künstler  kann  die  Empfängnis 
nicht  erzwungen,  wohl  aber  gefördert  werden,  und  zwar  durch  Arbeits- 
versuche. Merkwürdig  genug:  die  in  dieser  Zeit  vorgenommene 
Arbeit  hat  durchschnittlich  nicht  an  den  Punkten  Erfolg,  auf  welche 
die  Aufmerksamkeit  gerichtet  ist,  sondern  läßt  an  ganz  anderen,  unbe- 
achteten Stellen  klare  Gebilde  auftauchen.  Indem  der  Künstler  schon 
jetzt  tastet  und  probiert,  glückt  es  ihm  wohl,  dies  oder  jenes  einzu- 
fangen,  doch  meist  etwas  anderes  als  das  Erwartete.  Das  Schaffen 
vollzieht  sich  vorläufig  planlos  oder,  wenn  man  lieber  will:  unbewußt 
Denn  noch  hat  das  Ganze  keine  Form  gefunden.  Diese  Planlosigkeit 
ist  aber  keineswegs  unzweckmäßig.  Wollte  der  Künstler  in  philister- 
hafter Geringschätiiung  der  Unsicherheit  die  Arbeitsversuche  unter- 
lassen, so  würde  er  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  den  Prozeß  verlang- 
samen, ja  sogar  seine  Vollendung  in  Frage  stellen.  Die  Arbeit  dient 
dazu,  solche  Gel^enheiten  herbeizuschaffen,  durch  die  das  bisher 
Zusammenhanglose  zusammenhängend  werden  kann.  Seelische  Ele- 
mente streben  einer  bestimmten  Gruppierung  zu.  Nun  bedarf  es  noch 
einer  neuen  Erfahrung,  damit  die  verhältnismäßig  freie  und  launenhafte 
Tätigkeit  des  Bewußtseins  zu  einer  sicheren  Einheit  erstarke.  Der 
Brennstoff  ist  vorbereitet,  jetzt  muß  ein  Funke  hineinfallen,  und  zauber- 
haft plötzlich  steht  das  ausgewachsene  Drama  vor  dem  Geiste  des 
Dichters,  das  Bild  vor  dem  Auge  des  Malers,  die  Figur  vor  dem  Auge 
des  Bildhauers,  der  Melodienzusammenhang  vor  dem  Ohr  des  Musikers. 

Die  Vollständigkeit  ist  freilich  eine  scheinbare.  Sie  wäre  ebenso- 
wenig zu  begreifen  wie  eine  Schöpfung  aus  dem  Nichts.  In  Wahrheit 
hatte  sich  alles  vorbereitet,  und  nur  der  letzte  Anstoß  kam  noch  hinzu. 
Die  äußere  Tatsache,  mit  der  angeblich  die  Erfindung  b^'nnt,  setzt 
schon  eine  bestimmte  Verfassung  des  Geistes  als  die  zu  seiner  Wirk- 
samkeit nötige  Vorbereitung  voraus.  Storm  nannte  den  Impuls  treffend 
den  Perpendikelanstoß  und  erläuterte  ihn  an  einem  eigenen  Erlebnis 
seiner  dichterischen  Laufbahn.  Denn  was  der  Künstler  nunmehr  zu- 
fällig sieht  oder  hört  —  Weber  gewann  ein  musikalisches  Motiv  aus 


ZEITVERLArF  UND  GESAMTCHARAKTER.  233 


dem  Anblick  aufeinandergeschichteter  Stfihle  — ,  das  besagt  etwas 
bloß  für  dies  so  besonders  vorbereitete  Gemfit.  Max  Halbe  hat  ein- 
mal die  Umstände  erzählt,  unter  denen  die  Konzeption  seines  Dramas 
»Jugend <  vor  sich  ging.  »Es  waren  die  allergeringfQgigsten  Umstände, 
fast  ein  Nichts,  und  doch  genfigte  es,  um  mit  einem  Schlage  das  ganze 
Bild  des  nachmaligen  Dramas  lebendig  zu  machen.«  Der  Anblick 
eines  Februarhimmels,  der  ferne,  halb  winselnde,  halb  sehnsfichtige 
Klang  eines  Leierkastens  ließen  die  Erinnerung  an  ein  neun  Jahre 
zurückliegendes  Eriebnis  auftauchen,  und  dies  wurde  jetzt  mit  blitz- 
artiger Geschwindigkeit  zum  dichterischen  Ereignis.  Offenbar  wird 
eine  an  Erinnerungen  reiche  Phantasie  geeigneter  sein,  aus  kleinsten 
Anregungen  Nutzen  zu  ziehen,  als  eine,  die  wenig  Stoff  zur  Verfügung 
hat  Undeutliche  Entwickelungen  streben  nach  ihrer  Vollendung  und 
finden  sie  durch  eine  in  jedem  anderen  Fall  gleichgültige  Gelegenheit. 
So  wiederholt  sich  im  Individuum,  was  in  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit sich  abspielt.  Die  Entwicklung  einer  Kunst  und  ihr  gegen- 
wärtiger Zustand  sind  die  unbestimmte  und  unvollständige  Organi- 
sation; der  große  Künstler,  der  dann  auftritt  und  eine  neue  Epoche 
begründet,  gleicht  dem  Perpendikelanstoß,  der  das  Vorhandene  in 
fruchtbare  Bewegung  setzt. 

Übrigens  kann  auch  jetzt  der  Künstler  noch  nicht  mit  unbedingter 
Sicherheit  sagen,  was  aus  seinem  Werk  werden  wird.  Es  kommt 
darauf  an,  was  im  weiteren  Verlauf  innertich  aus  anderen  Motiven  und 
zu  anderen  Zwecken  wach  wird,  und  was  von  außen  noch  dazustößt. 
Denn  es  treten  ja  immer  neue  Hilfskonzeptionen  auf.  Wir  werden 
zwar  den  weiteren  Verlauf  des  Schaffens  so  schildern,  als  sei  er  nur 
ein  Ausführen;  aber  es  ist  ein  —  allerdings  begreiflicher  —  Irrtum, 
wenn  schaffende  Künstler  behaupten,  ein  ganzes  großes  Werk  von 
Anfang  an  genau  so  vor  sich  gesehen  zu  haben,  wie  es  später  wurde. 
In  Wahrheit  bleiben  viele  Wege  offen,  die  von  dem  gefundenen  Aus- 
gangspunkte weiterführen.  Infolgedessen  kann  es  vorkommen,  daß 
die  ursprüngliche  Idee  sich  mehr  oder  weniger  ändert,  ja  manchmal 
in  ihr  Gegenteil  umschlägt.  Irgend  ein  frisches  Moment  drängt  sich 
so  vor,  daß  die  alte  Einheit  zersprengt  und  eine  neue  gebildet  wird; 
oder  der  erste  Plan  bleibt,  aber  spätere  Konzeptionen  wachsen  sich 
zu  eigenen  Lebewesen  aus.  So  entstehen  die  Episoden  im  Kunst- 
werk, die  Doppelhandlungen,  die  Abschweifungen  und  vor  allem  die 
so  häufigen  Längen.  Schließlich  kann  es  auch  geschehen,  daß 
Anarchie  eintritt  und  das  Werk  überhaupt  nicht  zu  Ende  kommt'). 

Auf  die  Empfängnis  folgt  beim  regelmäßigen  Veriauf  die  Skizze, 
d.  h.  jene  setzt  sich  in  etwas  Äußeres  um;  ja  in  vielen  Fällen  erwächst 
überhaupt  erst  an  der  Skizze  die  Konzeption.    Manche  künstlerische 


234  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Naturen  schöpfen  aus  dem  äußeren  Anblick  alle  Lebenskraft  für  den 
entstehenden  Organismus.  Der  Musiker,  der  am  Klavier  die  Themen 
zu  formen  versucht,  wird  durch  den  wirklichen  Klang  zu  neuen  Ge- 
staltungen veranlaßt  Indem  der  Maler  eine  Skizze  hinwirft,  belehren 
ihn  die  Linien.  Der  Dichter  fühlt  plötzlich  die  Gedanken  sich  los- 
ringen, wenn  Worte  vor  ihm  auf  dem  Papier  stehen.  Man  legt  sich 
das  Verhältnis  gewöhnlich  dahin  zurecht,  daß  die  fertige  Komposition 
in  der  Skizze  nur  festgehalten  zu  werden  brauche.  Allein  bei  vielen, 
wenngleich  nicht  bei  allen  Künstlern  hat  die  Skizze  doch  noch  den 
Wert,  daß  sie  auf  das  innerlich  Geschaute  zurückwirkt.  Dies  Zusam- 
mentreffen der  schöpferischen  Kraft  mit  einer  Anregung,  die  von  der 
Skizze  ausgeht,  wird  meist  als  freudvoll  empfunden:  in  solchen  Stun- 
den gewährt  das  künstlerische  Schaffen  den  reinsten  und  stärksten 
Genuß.  Wenn  subjektiv  Vorgestelltes  und  objektiv  Dargestelltes  sich 
nähern,  so  entzünden  sich  Machtgefühl  und  Bewußtsein  der  Leistung. 
Der  unvergleichliche  Kunsterforscher  Friedrich  Hebbel  hat  einmal  die- 
selbe Erkenntnis  ausgesprochen:  »Die  Begeisterung,  die  ein  Künstler 
für  seine  Ideale  hegt,  kann  er  nur  dadurch  beweisen,  daß  er  sie  mit 
allen  ihm  und  der  Kunst  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  zu  verieiblichen 
sucht;  dadurch,  daß  jemand  verzückt  in  die  Wolken  schaut  und  aus- 
ruft: welch  eine  Göttin  erblick'  ich!  kommt  keine  Göttin  auf  die  Lein- 
wand. Ja,  es  ist  nicht  einmal  wahr,  daß  er  selbst  eine  sieht,  er  er- 
obert sie  sich  erst  durchs  Malen,  er  würde  in  seinem  ganzen  Ld>en 
nicht  zum  Pinsel  greifen,  wenn  sie  vor  ihm  schon  alle  Schleier  abge- 
legt hätte«  (Werke  X,  175).  Mit  dem  Wort:  der  Maler  erobert  sich 
seine  Göttin  erst  durchs  Malen,  wird  eine  Grundeigentümlichkeit  des 
höheren  geistigen  Lebens  berührt:  die  Abhängigkeit  der  Schöpfung 
von  der  Äußerung.  Wenn  eine  alte,  aus  der  Schule  stammende  R^^el 
verlangt,  der  Mensch  solle  erst  fertig  gedacht  haben,  ehe  er  spreche 
oder  schreibe,  so  verfangt  sie  etwas  gewissen  Naturen  oft  schlecht- 
weg Unmögliches.  Die  Gestaltung  des  Gedankens  wird  durch  den 
Ausdruck  im  Sprechen  oder  Schreiben  zum  mindesten  gefördert,  manch- 
mal überhaupt  erst  ermöglicht  Man  versuche,  durch  bloßes  Hinblicke 
einen  fein  gegliederten  Gegenstand  in  seinen  Einzelheiten  aufzufassen 
—  es  gelingt  nur  zur  Hälfte;  erst  indem  man  ihn  zeichnet,  sieht  man 
ihn  wahrhaft  So  lernen  wir  alle,  indem  wir  lehren,  so  binnen  wir 
zu  zweifeln,  indem  wir  kühn  behaupten,  so  erkennt  der  Dichter  eine 
Seele,  indem  er  sie  schafft.  Die  scheinbar  selbstverständliche  Aufein- 
anderfolge von  Erkennen  als  dem  Früheren  und  Darstellen  als  dem 
Späteren  ist  keineswegs  immer  die  tatsächliche,  sondern  beide  Funk- 
tionen fließen  zeitlich  ineinander  über  und  können  ihre  Plätze  tauschen. 
Bei   Kunstwerken   kleinsten   Umfanges    mag   mit  der  Skizze  der 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  235 


Schaffensvorgang  eriedigt  sein,  weil  hier  die  Skizze  etwas  Fertiges  be- 
deuten kann,  d.  h.  etwas,  was  einer  Vert>esserung  weder  fähig  noch 
bedürftig  und  der  endgültige  Extrakt  des  KQnstlertums  ist  Bei  größeren 
Werken  at>er  folgt  die  Ausführung  oder  besser:  die  innere  Durch- 
führung. Das  Oesamtbild  steht  jetzt  vor  dem  Oeist  des  Schaffenden. 
Jede  Linie,  die  er  aufs  Papier  wirft,  jede  musikalische  Phrase,  die  er 
erfindet,  jede  dramatische  Szene,  die  er  niederschreibt,  sie  sind  ein  Teil 
des  schon  vorhandenen  Oanzen;  aus  dem  Verhältnis  zum  Ganzen 
erhalten  sie  ihr  Gepräge  Fortwährend  wird  das  neu  Entstehende  mit 
dem  Zielpunkt  verglichen.  Diese  Durchführungsarbeit,  so  gern  sie 
von  schwärmerischen  Ästhetikern  als  nebensächlich  abgetan  wird,  ist 
dennoch  dermaßen  wesentlich,  daß  gerade  an  ihr  die  Größe  des 
Künstlers  offenbar  wird.  Talente,  denen  > Erleuchtungen«  beschieden 
sind,  finden  sich  nicht  allzu  selten.  Namentlich  in  der  Jugend  stellen 
produktive  Stimmung,  ja  auch  diese  und  jene  glänzende  Konzeption 
sich  leidlich  oft  ein.  Aber  damit  ist  noch  kein  Kunstwerk  gegeben. 
Es  heißt  nun  verwirklichen,  was  bisher  in  der  Phantasie  schwebte, 
und  zwar  mit  gewissenhaftem  handwerklichen  Können.  In  den  Lebens- 
beschreibungen aller  großen  Künstler  sind  tausend  Züge  überliefert, 
aus  denen  die  Notwendigkeit  einer  solchen  unablässigen  Arl)eit  her- 
vorgeht. Jeder  hat  es  an  sich  erfahren,  daß  er  sich  in  Zucht  nehmen 
muß,  wenn  überhaupt  etwas  zu  stände  kommen  soll;  er  darf  nicht 
auf  die  Augenblicke  warten,  in  denen  er  gut  gestimmt  ist,  sondern  er 
muß  sie  herbeiführen,  ohne  Rücksicht  auf  Widerstände  der  Umgebung 
und  des  Objektes. 

Mit  dem  alten  Glauben,  daß  die  Künstler  durch  sogenannte  Inspi- 
ration schafften  —  als  ob  sie  plötzlich  wie  durch  einen  Akt  göttlicher 
Gnade  das  fertige  Werk  in  sich  vorfänden  —  verbindet  sich  die  Vor- 
stellung, die  in  Lessings  Wort  ihren  packendsten  Ausdruck  gefunden 
hat:  »Raffael  ohne  Hände^.  Nach  diesem  verhängnisvollen  ästhetischen 
Dogma  ist  in  dem  durch  Erleuchtung  gewonnenen  inneren  Bild  das 
eigentliche  Kunstwerk  enthalten.  Alles,  was  vorausgeht  und  nachfolgt, 
wird  in  der  noch  heute  volkstümlichen  Auffassung  vernachlässigt,  und 
damit  nicht  nur  die  Technik  mißachtet,  sondern  auch  jede  psycho- 
logische Erklärung  zu  nichte  gemacht  Es  unterliegt  aber  keinem 
Zweifel,  daß  die  schöpferische  Einbildungskraft  allein  wenig  ausrichten 
würde,  wenn  nicht  der  ordnende  und  leitende  Verstand  hinzuträte. 
Der  Künstler  muß  jede  bezeichnende  Nuance,  die  auftaucht,  sofort 
festhalten  und  an  den  rechten  Platz  stellen.  Die  Notizbücher  der 
Dichter  und  Musiker  und  die  Skizzenbücher  der  Maler  sind  der  Beweis 
für  diese  Annahme.  Freilich  wirkt  etwas  Unbewußtes  oder  besser 
wohl  Unterbewußtes  im  künstlerischen  Schaffen:  Die  Ideen  arbeiten 


236  I-  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

gleichsam  auf  eigene  Kosten  und  ohne  fortgesetzt  das  Bewußtsein  zu 
belästigen.  Aber  von  Zeit  zu  Zeit  muß  der  Künstler  nachsehen,  wie 
weit  sie  gediehen  sind,  um  den  Zeitpunkt  richtig  zu  fassen,  an  dem 
sie  gerade  reif  werden.  Eine  höchst  geschärfte  Urteilskraft  gehört 
dazu/  um  aus  allem  dem,  was  inzwischen  an  Bildern,  Worten,  Ver- 
gleichungen,  Melodienstückchen,  Formzusammenhängen  sich  gesammelt 
hat,  das  Gute  und  Verwertbare  herauszufinden  und  das  andere  recht- 
zeitig abzustoßen,  damit  es  die  weitere  Arbeit  nicht  hindert  Außer 
ihrer  besonderen  Begabung  brauchen  die  Künstler  die  weitere  Fähig- 
keit, aus  ihr  den  größten  Nutzen  zu  ziehen;  und  darin  versehen  es 
die  meisten.  Das  Talent  würde  schon  ausreichen,  wenn  nur  mehr 
Ernst  in  seiner  Ausnutzung  vorhanden  wäre.  So  mancher  Künstler, 
der  nie  fertig  wird  und  intreriich  nicht  vorwärts  kommt,  will  nicht 
zugeben,  wie  nachlässig  er  seine  Gaben  verwendet.  Aber  beobachtet 
man  ihn,  so  merkt  man,  daß  er  die  besten  Einfälle  verpuffen  läßt,  sie 
nicht  zusammenhalten  kann  und  die  Anstrengung  der  ordnenden 
Arbeit  scheut.  Die  Einfälle  allein  machen  es  nicht  Ein  kurzer  melo- 
discher Zusammenhang  mag  sehr  schön  sein;  aber  sechs  Takte  bilden 
noch  kein  Kunstwerk.  Aphorismen  haben  Glanz  und  Wert  in  sich; 
allein  auch  mehrere  Dutzend  davon,  wenn  sie  nicht  innerlich  zusam- 
menhangen, bilden  noch  kein  System.  Der  motivische  Stoff  großer 
Künstler  kann  sehr  gering  sein;  ihre  Kraft  wurzelt  darin,  daß  sie  das 
freiwillige  und  von  starken  Gefühlen  begleitete  Spiel  überwachen  und 
durch  das  Zusammenwirken  von  Willen  und  Verstand  zu  ernsthafter 
Leistung  steigern. 

Der  soeben  geschilderte  Vorgang  läßt  sich  auf  allen  Gebieten  gei- 
stiger Tätigkeit  beobachten.  Er  mußte  nur  deshalb  betont  werden, 
weil  die  Künstler  oft  weich  geartet  und  mehr  als  andere  Menschen  der 
Versuchung  ausgesetzt  sind,  sich  mit  freiem  Phantasieren  zu  b^[nfigen. 
Hat  ihnen  ja  die  Ästhetik  seit  alters  eingeredet,  daß  sie  besonders  be- 
gnadete Wesen  seien,  denen  von  selbst  alles  zuströmen  müsse  In 
Wahrheit  liegt  ihre  Begabung  teils  in  dem  Auftreten  von  produktiven 
Stimmungen  und  Konzeptionen,  teils  in  der  verhältnismäßigen  Leichtig- 
keit und  Schnelligkeit!,  mit  der  die  innere  Durchführung  von  statten 
geht.  Doch  überhebt  Talent  niemand  der  Arbeit  Ich  habe  schon  an- 
gedeutet, daß  mit  »Widerständen  des  Objekts«  zu  kämpfen  ist  Dies 
Objekt  nämlich  führt,  kaum  daß  es  da  ist,  sein  eigenes  Leben  und 
zeigt  sich  oft  stärker  als  sein  Schöpfer;  es  zwingt  ihn  dorthin,  wohin 
es  selber  will.  Bücher  haben  nicht  nur  ihre  Schicksale,  sondern  auch 
ihre  persönlichen  Charaktere;  die  Folge  der  Kapitel  z.  B.  scheint  der 
Bestimmung  des  Urhebers  fast  so  entzogen,  wie  die  Folge  von  Mädchen 
und  Knaben  der  Entscheidung  des  Vaters.    Durch  solche  unabhängige 


ZEITVERLAITF  UND  GESAMTCHARAKTER.  237 


Eigenart  geraten  gelegentlich  die  reifenden  Kunstwerke  in  Widerstreit 
mit  dem  Künstler,  erlangen  keine  rechte  Einheit  und  bleiben  dunkel. 
Wieviel  Mut  gehört  dazu,  ein  großes  Kunstwerk  auszuführen!  Wieviel 
echte  Leidenschaft  muß  vorhanden  sein,  um  immer  von  neuem  nach 
der  endgültigen  Leistung  zu  strd)en,  jener  Leistung,  die  gleich  dem 
Aristotelischen  Ootte  den  Zielpunkt  der  Weltbew^^ng  bedeutet  oder 
gleich  Hegels  absolutem  Oeist  die  Erlösung  für  die  sich  aufwärts 
ringende  Vernunft  des  Künstlers  darstellt! 

Wir  hätten  endlich  von  der  Objektivierung  zu  sprechen.  Aber  ihre 
Erörterung  gehört  in  die  spezielle  Kunstwissenschaft,  da  sie  verschie- 
dentlich vollzogen  wird,  je  nach  der  Kunstgattung.  Deshalb  sei  ledig- 
Ikh  angemerkt,  daß  die  Musik  eine  Ausnahmestellung  einnimmt. 
Während  jedes  literarische  Werk  mit  der  Niederschrift  fertig  ist  - 
über  das  Drama  werden  wir  uns  später  verständigen  —  und  die  Er- 
zeugnisse der  bildenden  Kunst  gleichfalls  mit  ihrer  Fixierung  vollendet 
sind,  gibt  der  Musiker  in  seiner  Partitur  doch  nicht  viel  mehr  als  eine 
Anweisung.  Er  bedarf  der  Ausführenden,  damit  das  wirkliche  Kunst- 
werk entstehe.  Die  Noten  verhalten  sich  zur  Musik  anders  als  die 
Buchstaben  zur  Poesie.  — 

Im  Oesamtcharakter  des  künstlerischen  Schaffens  li^en  einige  Züge, 
die  in  unserer  Übersicht  noch  nicht  genügend  hervortraten.  Zunächst 
das  Verhältnis  zur  Wirklichkeit  Ein  reiches  Erleben  bildet  die  Orund- 
lage  für  alle  Leistungen  des  Künstlers.  Darunter  verstehen  wir  nicht 
jene  quantitative  Ausdehnung,  die  etwa  durch  Reisen  bezeichnet  wird: 
diese  äußeriiche  Methode,  Menschenkenntnis  zu  erwerben,  hat  nichts 
gemein  mit  der  Art  des  Künstlers,  der  vom  stillen  Winkel  aus  genug 
des  Mannigfaltigen  erspähen  kann.  Vor  allem  lebt  ja  in  ihm  selber 
eine  Wunderwelt  der  Gestalten.  Seine  hervorragendsten  Abenteuer 
sind  einfach  seine  Werke.  Aber  auch  qualitativ  unterscheidet  sich  die 
künstlerische  Lebenserfahrung  von  dem,  was  gewöhnlich  so  genannt 
wird.  Sie  ist  kein  eigentliches  Beobachten,  sondern  viel  unwillkür- 
licher, ein  instinktives  Sehen  und  Erinnern.  Beobachtungsgabe  im 
Sinne  aufmerksamen  und  absichtsvollen  Hinblickens  dürfte  für  den 
Arzt  oder  den  Kriminalbeamten  wichtiger  sein  als  für  den  Künstler. 
Erwägen  wir  doch  folgendes.  Die  Beol)achtung  der  Natur  ist  t>ei  den 
primitiven  Menschen  aufs  erstaunlichste  ausgebildet,  ohne  daß  sie  ihre 
Umgebung  in  gleicher  Intensität  künstlerisch  aufzufassen  verstünden; 
erst  wenn  der  Mensch  sich  von  der  Natur  abwendet,  kann  er  sie  im 
ästhetischen  Sinne  beherrschen;  nicht  aus  der  Arbeit  an  dem  Gegebenen, 
sondern  aus  den  Mußestunden  werden  die  künstlerischen  Einsichten 
geboren.  Es  begegnet  uns  wohl,  daß  wir,  auf  einer  Hochtour  in 
Lebensgefahr  geraten,  alle  noch  so  gleichgültigen  Eindrücke  unbewußt 


238  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

aufnehmen  und  festhalten,  oder  daß  wir,  ganz  in  einen  Schmerz  ver- 
sunken, die  geringsten  Kleinigkeiten  sehen  und  uns  einprägen.  Diese 
Vorgänge  stehen  der  besonderen  Wahrnehmungsfähigkeit  des  Dichters 
näher  als  alles  absichtliche  Beobachten,  das  auf  bestimmte  Ziele  ge- 
richtet ist  Gerade  weil  der  Dichter  nicht  unter  bestimmten  Voraus- 
setzungen und  nicht  zu  bestimmten  Zwecken  hinsieht  oder  hinhört, 
bleibt  ein  unverfälschter  und  ganzer  Eindruck  zurück,  der  späterhin 
beliebig  verwertet  werden  kann.  Taine  sagt  einmal  von  Shakspere: 
»//  pensait  par  blocs,  et  nous  pensons  par  morceaux^.  Das  bedeutet, 
daß  jedes  sogenannte  Beobachten  die  O^enstände  verändert  und  zer- 
stückelt, während  sie  in  die  Seele  des  absichtslos  erlebenden  Kunstlers 
in  Vollständigkeit  eintreten.  Es  bedeutet  femer,  daß  die  kfinstlerische 
Konzeption  durch  Geburtsrecht  ein  Einklang  von  Wahrnehmen  und 
Fühlen  ist  und  daß  sie  sich  nur  frei  zu  bekennen  braucht,  um  gleich- 
zeitig zu  den  Sinnen  und  zu  den  Sympathien  der  Menschen  zu 
sprechen. 

Sobald  nun  das  eigentliche  Schaffen,  d.  h.  das  Umformen  des  Er- 
lebten beginnt,  erweist  sich  die  Vol.lständigkeit  des  Erinnerungs- 
bildes als  besonders  wertvoll.  Denn  infolge  dieser  Totalität  kann 
jede  beliebige  Einordnung  und  Umbildung  vorgenommen  werden;  bald 
dieser  bald  jener  Bestandteil  springt  zuerst  heraus,  erscheint  als  der 
wesentliche  Zug.  Eine  verhältnismäßig  geringe  Anzahl  solcher  Er- 
fahrungen enthält  daher  einen  unendlich  reichen  Stoff,  in  dem  jede 
Einzelheit  Beziehungen  zu  den  anderen  Einzelheiten  hat  Gleichwie 
die  erste  Linie,  die  der  Zeichner  sicher  aufsetzt,  Sinn  und  Berechti- 
gung nur  aus  dem  unsichtbaren  Vorstellungszusammenhang  im 
Künstler  erhält,  so  fällt  der  erste  Charakterzug,  den  der  Dichter 
vorstellt  und  verwendet,  in  ein  Gesamtbild  oder  in  eine  »innere  Forme. 
Das  spezifisch  Künstlerische  ist  kein  Kombinieren,  Komponieren,  Kal- 
kulieren. Dergleichen  darf  nicht  fehlen,  gehört  aber  im  Grunde  ge- 
nommen unter  die  wissenschaftlichen  Verfahrungsweisen  %  Wir  können 
uns  (mit  J.  Milsand)  einen  Maler  denken,  der  eine  tüchtige  Leistung 
zu  Stande  bringt,  indem  er  eine  ihm  gestellte  Aufgabe  durch  Hervor- 
suchen geeigneter  Erfahrungen  aus  dem  angesammelten  Vorstellungs- 
stoff zu  lösen  versucht  Er  zeichnet  einen  Baum  mit  der  Absicht, 
ihm  eine  gefällige  Form  zu  geben;  nachdem  er  den  einen  Ast  konstruiert 
hat,  schafft  er  ihm  ein  Gegengewicht  durch  einen  zweiten,  bildet  aber 
diesen  mit  Überi^^ng  anders  als  den  ersten,  auf  daß  Abwechslung 
hineinkomme  u.  s.  f.  Indessen,  so  arbeitet  die  rein  künstlerische  Ein- 
bildungskraft niemals.  Für  sie  ist  das  Ganze  früher  als  die  Teile,  sie 
schafft  mit  einem  Schlage,  sie  setzt  ein  organisches  Ganze  in  die  Welt, 
aus  dem  erst  allmählich  die  Glieder  heraustreten.    Die  Übereinstimmung 


ZEITVERLAUF  UND  GESAMTCHARAKTER.  239 

der  Teile  entsteht  nicht  durch  Urteil  und  Vergleichung,  sondern  sie 
ist  vorher  da,  sie  macht  alle  Unvollkommenheiten  im  einzelnen  ver- 
zeihlich, weil  sie  sich  gegenseitig  aufheben  kraft  der  lebendigen  Ein- 
heit, in  der  sie  alle  beschlossen  sind.  Es  ist  mehr  als  ein  Metapher, 
wenn  man  von  der  Geburt  eines  Kunstwerkes  spricht  Oder  um 
eine  näher  liegende  Analogie  zu  gebrauchen:  der  Vorgang  gleicht  dem 
Vorgang  des  Sprechens.  Wenn  ich  einen  Satz  beginne,  so  schwebt 
mir  der  Gedanke  im  ganzen  vor,  aber  von  den  einzelnen  Worten  weiß 
ich  noch  nichts,  denn  sie  entfalten  sich  erst  während  des  Redens  und 
klären  mich  selber  wie  den  Hörer  über  die  inhaltlichen  Bestandteile 
des  Gedankens  auf.  Wäre  es  anders,  wäre  das  Sprechen  ein  bewußtes 
Aneinandersetzen  von  vorherbedachten  Einzelworten,  so  würde  kaum  je 
ein  Satz  abgerundet  und  beendet  werden.  Die  Bedeutung  der  Sprach- 
gewalt für  den  Dichter  erweist  sich  auch  durch  diese  Ähnlichkeit  des 
Sprechens  mit  dem  Prozeß  des  künstlerischen  Schaffens.  Die  Sicher- 
heit, mit  der  die  Seele  in  beiden  Fällen  ein  vorher  ungeahntes  Ende 
erreicht,  wurzelt  in  dem  Umstand,  daß  es  sich  sozusagen  um  eine 
Bemühung  zur  Selbsterkenntnis  handelt. 

Diese  Einsicht  trägt  noch  eine  andere  Folgerung  in  sich.  Wenn 
eine  Gesamtvorstellung  sich  in  einen  von  Worten  getragenen  Vor- 
stellungsveriauf  auseinanderlegt,  so  ist  klar,  daß  dieser  Verlauf  sich 
mit  den  zeitlichen  Folgen  oder  räumlichen  Elementen  im  Objekt  nicht 
zu  decken  braucht.  Die  rationalisierende  Klarlegung  der  Zusammen- 
gesetztheit in  einem  chemischen  Körper  ist  kein  Spiegelbild  der  in  ihm 
enthaltenen  Verbindungen  oder  an  ihm  auftretenden  Erscheinungen; 
die  Worte  haben  keine  Ähnlichkeit  mit  den  wirklichen  Elementen; 
sondern  die  in  uns  sich  entwickelnde  Begriffswelt  bedeutet  eine  Um- 
formung des  Gegebenen.  Mit  der  künstlerischen  Darstellung  von 
Stimmungen,  Begebenheiten,  Charakteren  steht  es  nicht  anders. 
Sie  ist  ein  allmähliches  Entwickeln  einer  Totalanschauung,  ein  rein 
innerlicher  Prozeß,  dessen  einzelne  Glieder  und  Ver- 
bindungsgesetze unabhängig  vom  Außen  sind.  Die  inten- 
sive, nach  Verdeutlichung  drängende  Seelenenergie  entzündet  sich 
an  einem  Gegenstand;  unter  dem  Anschein  einer  getreu  wiedergege- 
gebenen  Wirklichkeit  entfaltet  sich  ein  aus  intimstem  Selbstgenuß 
hervorg^angenes  Phantasiegebilde.  An  der  Tatsache,  daß  dies  Ge- 
bilde zunächst  nichts  mit  der  Außenwelt  zu  tun  hat,  braucht  seine 
anschauliche  Beschaffenheit  nicht  irre  zu  machen;  denn  erstens  ist 
diese  Sinnlichkeit  eine  andere  als  die  der  Natur,  und  zweitens  sind 
Wahrnehmungen  und  die  ihnen  entsprechenden  Erinnerungsvorstellun- 
gen nicht  nur  Zeichen  für  ein  Außen,  sondern  auch  Symbole  für  ein 
Innen.    Wo  ein  Modell  echt  künstlerisch  verwertet  wird,  da  ist  es 


240  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

lediglich  das  Mittel,  an  dem  eine  seelische  Tatsache  zum  Ausdruck 
gelangt;  dieser  Satz  gilt  von  der  Poesie  nicht  minder  als  von  der 
Malerei.  Jede  Schöpfung,  die  G^enständen  der  Wirklichkeit  ähnUch 
ist,  erscheint  unserer  Ästhetik  als  Nachbildung,  während  wir  doch  von 
der  Musik  her  wissen  sollten,  daß  der  künstlerische  Vorgang  ebenso 
sehr  Umsetzung  eines  Seelischen  in  ein  Körperliches  ist  Das  Seiende 
hat  für  den  Kunstler  den  Wert,  ihn  zu  wecken,  sobald  es  mit  dem 
inneriich  Vorbereiteten  zusammenstößt;  es  ist  ein  Mittel,  freilich  ein 
fast  allen  Künsten  unentbehriiches  und  durchw^  bedeutsames. 


2.  Die  Unterschiede  der  Anlagen. 

Die  Erörterung  der  künstlerischen  Anlagen  hat  mit  einem  Wort- 
gebrauch zu  kämpfen,  der  unter  verschiedenen  Schwankungen  seit 
einigen  hundert  Jahren  besteht.  Die  Sprache,  auch  die  der  Ästhetiker, 
neigt  dazu,  den  Künstler  als  Genie  zu  bezeichnen.  Darin  li^  teils 
eine  übermäßig  gesteigerte  Wertschätzung  des  Künstlers,  teils  eine 
Vernachlässigung  der  ihm  eigentümlichen  Fähigkeiten.  Genie  bekundet 
sich  auf  allen  Gebieten  geistiger  Tätigkeit  und  zeigt  überall  die  gidchen 
Charakterzüge;  die  Formen  des  Genies  aber  wechseln  nach  den  G^en- 
ständen,  an  denen  es  sich  offenbart 

Mit  Genie  bezeichnen  wir  eine  überragende  geistige  Kraft  Während 
das  Talent  mit  Leichtigkeit  vollbringt,  wozu  die  minder  B^[abten  großer 
Anstrengung  bedürfen,  schafft  das  Genie  etwas,  was  die  anderen, 
auch  die  Besten  unter  ihnen,  niemals  leisten  könnten.  Es  beherrscht, 
sozusagen,  noch  eine  Oktave  mehr,  als  wir  auf  unserer  seelischen 
Klaviatur  besitzen.  Das  gewöhnliche  Arbeiten  in  Wissenschaft  und 
Kunst  geht  langsam  und  sicher  eine  Linie  entlang.  Die  Arbeit  des 
Genies  aber  ist  dreidimensional,  zieht  immerfort  Kräfte  von  rechts  und 
links,  strahlt  aus  nach  oben  und  unten.  Im  Genie  ist  sozusagen  die 
Fähigkeit  des  Körpers,  alles  auf  ihn  Einströmende  sich  anzupass^i 
und  zu  organisieren,  bis  zur  höchsten  Vollkommenheit  gelangt  Wirk- 
lich große  Geister  besitzen  eine  gewisse  Allg^enwart,  indem  sie  über 
eine  Weite  der  Kenntnisse,  einen  Umkreis  des  Erfaßten  und  eine 
Sicherheit  des  Urteils  verfügen,  die  den  anderen  fehlt  Insbesondere 
haben  sie  Ursprünglichkeit  Es  gibt  eine  geistige  Veranlagung,  die 
an  die  Eriebnisse,  an  Natur-  und  Geistestatsachen  anknüpft,  und  eine 
andere,  die  aus  der  Kulturverarbeitung  dieser  Tatsachen  ihre  Anr^[ung 
schöpft  So  in  der  Wissenschaft  Die  unmittelbaren  Talente  gewinnen 
ihre  Einsichten  aus  der  Berührung  mit  der  Wirklichkeit,  die  mittel- 
baren, indem  sie  an  den  Vorgänger,  an  den  Stand  der  Probleme  inner- 


DIE  UNTERSCHIEDE  DER  ANLAGEN.  241 

halb  der  Forschung  anknöpfen.  .So  in  der  Kunst  Die  einen  schaffen 
aus  Natur  und  Leben  heraus,  die  anderen  durch  ältere  Meister  be- 
dingt in  einer  Fortbildung  ihrer  Formensprache  oder  in  bewußtem 
Gegensatz  dazu.  Jene  können  auch  im  Urzustände,  diese  nur  auf 
einer  bestimmten  Kulturstufe  gedacht  werden.  Jene  sagen  wohl  gleich- 
falls Altes,  aber  sie  sagen  es,  ohne  es  zu  wissen,  als  neu  gefunden, 
von  sich  aus;  diese  sagen  es,  indem  sie  wiederholen.  Entscheidend 
ist  für  das  Genie  die  direkte  Berührung  mit  der  Wirklichkeit  und  die 
doppelte  Gabe,  ohne  Zögern  sich  des  Mittelpunkts  einer  Sache  zu 
bemächtigen  und  ohne  viel  Geschäftigkeit  aus  dem  beherrschenden 
Eindruck  etwas  Großes  zu  gestalten.  Das  Genie  schwirrt  wie  ein 
Vogel  aus,  greift  sich  aus  der  Fälle  des  Lebens  ein  Brosam  und  eilt 
dann  damit  in  das  stille  Nest,  um  es  langsam  zu  verzehren. 

Eine  fernere  Abgrenzung  ist  notwendig.  Wir  sprechen  jetzt  nur 
von  den  schaffenden  Künstlern.  Wie  verhält  es  sich  nun  mit  den 
sogenannten  reproduzierenden  Künstlern?  Auch  hier  besteht  eine 
sprachliche  Schwierigkeit.  Während  wir  vorhin  davon  ausgingen,  daß 
die  ältere  Ästhetik  das  Könstlertum  mit  Genie  gleichsetzt,  müssen  wir 
jetzt  daran  denken,  daß  in  der  gewöhnlichen  Redeweise  meist  nur 
die  Reproduzierenden  —  die  Schauspieler  und  Sänger,  die  Geiger  und 
Pianisten  Künstler  genannt  werden.  Was  sie  brauchen,  ist  ein 
Doppeltes.  Einmal  die  feinste  Empfänglichkeit  für  die  Kunstabsicht 
des  ihnen  anvertrauten  Werkes  und  alsdann  die  technische  Fähigkeit 
zur  Darbietung.  Aber  das  Schaffen  oder,  wenn  der  Ausdruck  erlaubt 
ist,  das  Erfinden  kann  ihnen  völlig  fehlen,  ohne  daß  es  irgendwie 
merklich  wird. 

Aus  Geschmack  und  Virtuosität  allein  wird  kein  Kunstwerk.  Das 
unbeschreibliche  Dritte,  das  hinzukommen  muß,  sucht  man  gern  in 
einer  Größe  der  Persönlichkeit.  Hierzu  wäre  zu  bemerken,  daß  eine 
vielseitige  und  erfüllte  Persönlichkeit  in  ihrem  Kunstschaffen  Momente 
herausbringen  wird,  an  denen  Mit-  und  Nachwelt  sich  erfreuen.  In- 
dessen für  den  Kunstcharakter  des  Werkes  kommt  es  nicht  auf  Per- 
sönlichkeit in  diesem  Sinne  an,  vielmehr  auf  die  musikalische,  male- 
rische und  dichterische  Sonderpersönlichkeit.  Wir  wissen  doch,  daß 
höchst  eigenartige  und  bedeutende  Charaktere  der  Kunst  völlig  fem 
bleiben,  und  anderseits,  daß  viele  ausgezeichnete  produktive  Künstler 
auf  die  Zeitgenossen  keineswegs  den  Eindruck  einer  bedeutenden 
Individualität  machen.  Dies  verstehen  wir  bei  Musikern  und  Adalern 
sehr  wohl.  Wenn  der  ganze  Mensch  hingenommen  wird  von  einer 
Seite  des  Daseins,  so  kann  er  nicht  nach  anderen  Seiten  sich  aus- 
geben, oder  es  bleiben  für  den  Alltag  nur  die  verneinenden  Kräfte 
übrig,  zumal  alles  kleinliche  Wesen,  das  aus  der  künstlerischen  Existenz 

Dcttoir,   Auhetik  nnd  aJI^.  KttiistwiM«nichift.  16 


242  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

verbannt  ist  Am  eindrucksvollsten  und  erfreulichsten  sind  der  R^el 
nach  die  Dichter,  da  der  von  ihnen  zu  durchdringende  Stoff  mit  der 
Fülle  des  Lebens  den  gleichen  Umfang  hat  Immerhin  gibt  es  auch 
unter  ihnen  viele  weiche  und  zerfließende  Naturen  von  so  allgemeiner 
Erregungsfähigkeit,  daß  jede  Individualität  ausgelöscht  scheint  In  der 
Liebe  zur  Welt  der  Farben  und  Töne  und  zu  den  närrischen  Menschen- 
kindern wurzelt  das  künstlerische  Verhalten;  die  Kunst  entsteht  aus 
einem  Ergriffensein  vom  Leben,  aus  einer  unbestimmten  Sehnsucht, 
die  schließlich  Handhabe  und  Form  findet:  sie  gleicht  der  Liebe,  die 
ja  zunächst  ein  ganz  allgemeines  Verlangen  ist  und  erst  nach  längerer 
verborgener  Dauer  sich  auf  den  einen  Menschen  sammelt  Künstler 
können  sich  im  Leben  deshalb  so  schwer  bewahren,  weil  ihre  Anlage  da- 
hin neigt,  sich  hinzugeben  oder  anderes  durch  sich  hindurchtreten  zu 
lassen.  Der  Schaffende  soll  alles  verstehen;  Charakter  haben  aber 
heißt  mißverstehen.  Daher  brauchen  gerade  die  echtesten  Künstler  am 
nötigsten  das  Gegengewicht  der  Selbstbewahrung;  wir  werden  es 
prüfen,  wenn  wir  die  Seelenkenntnis  des  Künstlers  untersuchen. 

Die  persönliche  Note  des  Kunstwerks  bezieht  sich  demgemäß  auf 
die  artistische  Sonderpersönlichkeit  Diese  allerdings  lebt  im  Kleinsten 
wie  im  Größten  des  Werkes.  Swedenborg  sagt  einmal  inmitten 
einer  seltsamen  Homöomerienlehre:  »Jeder  besondere  Einfall  eines 
Menschen,  jede  Gemütsbewegung,  ja  jeder  kleinste  Teil  seiner  Ge- 
mütsbewegung ist  ein  Bild  und  Ebenbild  des  Menschen.  Ein  Geist 
läßt  sich  schon  aus  einem  einzigen  Gedanken  erkennen.«  Das  ist  eine 
echte  Wahrheit  Aus  einem  einzigen  Takt  oder  mindestens  aus  einer 
melodischen  Phrase  vermag  man  den  Komponisten  herauszuhören, 
wenige  Zeilen  eines  Gedichtes  genügen,  damit  der  Urheber  erkannt 
wird.  Ein  paar  Striche,  flüchtig  hingeworfen,  verraten  den  Zeichner 
und  seine  Persönlichkeit  Für  den  Schmuck  der  Baptisterientüren  in 
Florenz  war  1401  ein  Wettbewerb  ausgeschrieben;  Brunellesco  und 
Ghiberti  lieferten  gleichwertige  Arbeiten,  die  auf  den  Tafeln  XII  und  XIII 
einzusehen  sind.  »Hier  war  die  Situation,  die  Zahl  der  Figuren,  das 
Motiv  der  Handlung,  sogar  die  Umrahmung  der  Fläche  g^eben.  Und 
doch  sind  die  Werke  von  einer  G^ensätzlichkeit,  die  geradezu  erstaun- 
lich ist,  die  sich  bis  in  die  nebensächlichsten  Einzelheiten  erstreckt 
Alle  aber  erklären  sich  aus  der  G^ensätzlichkeit  der  beiden  Künstler- 
naturen. In  Brunellesco  arbeitet  ein  konstruktiver  Sinn,  eine  harte 
Energie,  ein  Wahrheitsfanatismus,  in  Ghiberti  sehen  wir  —  neben  aller 
Gründlichkeit  des  anatomischen  Studiums,  neben  aller  Offenheit  des 
Blickes  —  eine  Hinneigung  zu  schönen  Linien,  zu  formaler  Äußerlich- 
keit Daher  zeigt  Brunellesco  den  Moment,  da  Abraham  bereits  den 
Hals  Isaaks  mit  dem  Opfermesser  berührt,  zeigt  das  Zusammenzucken 


DIE  UNTERSCHIEDE  DER  ANLAGEN.  243 


des  Entsetzten  und  im  gleichen  Moment  den  festen  Griff  des  Engels, 
der  das  Äußerste  verhütet  Ghiberti  geht  zeitlich  nur  um  eine  Sekunde 
weiter  zurück.  Das  Messer  ist  noch  um  Handbreite  vom  Halse  ent- 
fernt, der  Engel  ist  nahe,  aber  noch  nicht  in  Aktion  getreten.  Infolge- 
dessen kann  Isaak  noch  fragend  aufblicken  und  die  ganze  Pracht  der 
jungen  Glieder  in  gelassener  Ruhe  zeigen.  Hier  sprach  die  Emp- 
findung des  Künstlers  das  entscheidende  Wort  Dem  einen  war  die 
dramatische  Spannung  alles,  dem  anderen  die  Schönheit  des  jugend- 
lichen Körpers  und  die  Möglichkeit,  im  Wohllaut  der  Linien  zu 
schwelgen. «^  (Th.  Volbehr,  Bau  und  Leben  der  bildenden  Kunst  1905, 
S.  95.6.)  Aber  auch  in  einem  anderen  Sinne  ist  Persönlichkeit  im 
Kunstwerk.  Die  Persönlichkeit,  die  wir  freilich  kaum  jemals  antreffen, 
jedoch  als  Ideal  uns  vorstellen,  besteht  in  der  vollkommenen  Wechsel- 
wirkung ihrer  geistigen  Teile.  Wenn  alles  Seelische  so  übereinstimmt, 
daß  die  gleiche  Richtung  in  jedem  Vorgang  sich  äußert,  so  reden  wir 
von  einer  ausgesprochenen  Individualität  Gleicher  Art  ist  ein  gutes 
Kunstwerk.  Es  zeigt  den  vollendeten  Zusammenhang  alles  Einzelnen 
miteinander  und  die  Unterordnung  des  Besonderen  unter  das  All- 
gemeine. Und  zwar  zeigt  dies  jedes  Kunstwerk  in  seiner  Art,  welche 
die  Art  des  Künstlers  ist  Daher  hat  man  seit  alters  ein  Kunstwerk 
einen  Mikrokosmos  genannt  und  damit  dem  Makrokosmos  jener  gött- 
lichen Persönlichkeit  angenähert,  die  nach  pantheistischer  Anschauung 
die  umfassende  Substanz  ist  Denn  es  ist  kein  Widerspruch,  pan- 
theistisch  zu  empfinden  und  zugleich  an  der  Persönlichkeit  Gottes  fest- 
zuhalten. Sofern  man  nur  vermeidet,  die  göttliche  Persönlichkeit  nach 
Art  der  menschlichen  anzusehen,  muß  man  erkennen,  daß  es  keine 
vollkommenere  Einheit  und  Beziehbarkeit  gibt  als  die  in  der  Welt, 
daß  also  das  wesentliche  Merkmal  der  Persönlichkeit  in  ihr  enthalten 
ist  Das  Göttliche  des  Kunstwerkes  liegt  darin,  daß  es  so  umfassend 
ist  wie  die  ganze  Welt  und  dabei  doch  persönlich. 

Nunmehr  ist  die  Frage  nicht  länger  zu  umgehen,  wie  die  künst- 
lerische Eigenart  sich  zur  Überiieferung  stellt  Diese  Frage  bedeutet 
etwas  Verschiedenes  für  Musiker,  bildende  Künstler  und  Dichter. 
Während  der  Musiker  in  einer  Welt  lebt,  in  der  die  Überlieferung 
ausschließlich  mit  der  eigenen  Erfindung  wetteifert,  haben  Adaler  und 
Poet  außerdem  noch  mit  der  Wirklichkeit  zu  tun.  Doch  auch  sie  mit 
Unterschieden.  Die  körperliche  Wirklichkeit  des  bildenden  Künstlers 
ist  bereits  endgültig  geformt,  Handlungen  und  Charaktere  indessen  — 
die  Stoffe  des  Poeten  verfließen.  Bloß  dort  besitzen  sie  Geschlossen- 
heit, wo  die  Sage  oder  die  Geschichte  sich  ihrer  bemächtigt  haben. 
Solche  überlieferten  Formungen  hemmen  des  schreibenden  Künstlers 
Erfindungskraft    keineswegs:    sein   Künstlertum    liegt    darin,   daß    er 


244  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

wertvolle  und  zwar  teleologisch  wertvolle  Abänderungen  vornimmt. 
Man  mache  sich  keine  übertriebenen  Vorstellungen  von  Originali- 
tät. Das  verzweifelte  Suchen  nach  neuen  und  unerhörten  Stoffen 
kennzeichnet  das  geringe  Talent,  das  außerdem  darauf  rechnet,  die 
Neugier  oder  die  Sensationslust  des  Publikums  zu  entfachen.  Wei- 
bisches Jammern  darüber,  daß  alles  schon  verbraucht  sei,  verrät 
die  Schwäche  des  Klagenden.  Der  Fortschritt  besteht  ja  nicht  im 
Herausfinden  eines  annoch  Unerhörten,  sondern  in  der  sinnvollen 
Belebung  des  Gewohnten.  Je  vertrauter  der  Stoff  ist,  desto  größer 
kann  die  Kunstgestaltung  werden.  Jede  literargeschichtliche  Quellen- 
analyse, jede  musikgeschichtliche  Melodienvergleichung,  jede  kunst- 
geschichtliche Untersuchung  zeigen,  in  welchem  Maße  auch  die  Größten 
von  der  Mitgift  der  Vergangenheit  gelebt  haben.  Kunstler  sind  darin 
weniger  ängstlich  als  Gelehrte.  Diese  können  sich  nicht  genug  tun 
in  Prioritätsstreitigkeiten  und  Plagiatzänkereien;  jene  verhalten  sich  un- 
befangener und  unbekümmerter.  In  der  Tat  ist  nicht  derjenige  der 
Vater  eines  künstlerischen  Motivs,  der  es  zum  ersten  Male  zufällig  be- 
nutzt hat,  sondern  derjenige,  der  etwas  daraus  zu  machen  verstand. 
Der  eine  gleicht  dem  Schiffbrüchigen,  der  an  die  Küste  eines  unbe- 
kannten Landes  verschlagen  wurde,  der  andere  dem  zielbewußten 
Seefahrer,  der  das  Land  wahrhaft  entdeckte. 

Wenn  früher  gesagt  wurde,  nicht  die  guten  Einfälle  machten  den 
großen  Künstler  aus,  sondern  vielmehr  die  Fähigkeit  des  systematischen 
Zusammenschlusses,  der  Verwertung  und  des  Aufbaus,  so  übersehen 
wir  jetzt  noch  besser  als  vorher  die  Gründe.  In  Richard  Wagners 
Briefen  an  Mathilde  Wesendonck  (4.  Aufl.,  1904,  S.  189)  nennt  der 
Schreibende  als  eine  seiner  Eigentümlichkeiten  das  äußerst  empfind- 
liche Gefühl,  das  ihn  :»auf  Vermittlung  und  innige  Verbindung  aller 
Momente  des  Überganges  der  äußersten  Stimmungen  ineinander  hin- 
weist«. Er  erzählt,  wie  dieses  Bedürfnis  nach  Oberleitung  ihn  im 
Leben  und  in  der  Unterhaltung  beherrsche.  Es  ist  das  Bedürfnis  des 
echten  Systematikers,  der  nicht  nur  durch  Einteilung  und  Abgrenzung, 
sondern  durch  Verflüssigung  und  Übergänge  zu  wirken  strebt  Wag- 
ners Verfahren  gleicht  dem  Hegeischen.  Beide  Männer  haben  nichts 
Unvermitteltes  vertragen;  sie  mußten  aus  ihrer  Natur  heraus  überall 
Zusammenhänge  herstellen,  die  den  Anschein  der  wirklichen  Folgen 
erwecken.  Man  darf  ihr  Verfahren  außerdem  auch  ein  deduktives 
nennen.  Unsere  Lehrbücher  freilich  wissen  vom  induktiven  Künstler- 
tum  mehr  zu  erzählen.  Denn  dem  Geist  des  modernen  Forschers 
sind  diejenigen  Begabungen  verwandter,  die  durch  Beobachten  der 
gegenübertretenden  Wirklichkeit  und  durch  Sammeln  von  Tatsachen 
zu  Kunstleistungen  gelangen.    Aber  es  gibt  auch  ein  von  der  Erfah- 


DIE  UNTERSCHIEDE  DER  ANLAGEN.  245 

ning  weniger  abhängiges  Genie.  Goethe  sagte  zu  Eckermann,  er  habe 
von  der  Welt  noch  so  gut  wie  nichts  gewußt,  als  er  Götz  und  Werther 
schrieb,  und  doch  habe  er  sie  richtig  dargestellt;  und  daran  schloß  er 
den  prägnanten  Satz,  man  bringe  als  Dichter  sein  Weltbild  schon  mit 
ins  Leben.  Balzac  besaß  das  gleiche  deduktive  Genie  wie  Cuvier,  ja 
noch  mehr,  er  besaß  ein  apriorisches  Weltbild,  das  durch  die  Wirk- 
lichkeit nur  ergänzt  und  gesteigert  werden  konnte.  Hieraus  wird  femer 
mit  geringer  Beugung  des  Gedankens  deutlich,  worin  wir  den  Unter- 
schied des  sentimentalen  und  naiven  oder  —  nach  Otto  Ludwigs  Be- 
nennung (Ges.  Sehr.  V,  320)  —  des  Ich-  und  des  Sachdichters  finden 
möchten.  Der  Ichdichter  kann  eine  seelische  Wirklichkeit  nur  so  zum 
Ausdruck  bringen,  daß  er  sein  beharrendes  Subjekt  mit  zum  Ausdruck 
bringt.  Alle  von  diesen  Dichtem  geschaffenen  Menschen  tragen  un- 
verkennbare Familienähnlichkeit,  Züge  der  Blutsverwandtschaft,  sie  sind 
von  ihnen  wie  von  einem  Gott  nach  ihrem  Ebenbild  geformt.  Andere 
Künstler  derselben  Gruppe  enthöllen  mehr  noch  ihr  Komplementär- 
wesen: aus  ihren  sehnsuchtigen  Wünschen  erbauen  sie  sich  einen 
bestimmten  Typus  und  stellen  ihn  in  leichten  Abändemngen  immer 
wieder  hinaus.  Zum  Sachdichter  dagegen  gehört  eine  Unerschöpflich- 
keit, kraft  deren  die  anscheinend  verschiedensten  Figuren  zu  stände 
kommen.  Während  der  Ichdichter  in  seinen  beiden  Formen  im  Gmnde 
genommen  andere  Charaktere  nur  darstellt,  um  sich  selber  zu  erkennen, 
begreift  der  Sachdichter  Menschen,  die  über  ihn  selbst  hinausgewachsen 
und  zu  eigentumlichem  Leben  gelangt  sind.  Indessen  die  Grenze  ist 
fließend,  und  niemand  kann  sagen,  wo  das  Geschaffene  so  weit  von 
der  Herrschaft  des  Eigenseelischen  befreit  ist,  daß  man  im  Emst  von 
objektiver  Dichtung  reden  möchte.  An  dem  Schwert,  mit  dem  der 
Poet  sich  die  Welt  erobert,  hangen  stets  Tropfen  des  eigenen  Blutes. 
Ein  fernerer  Unterschied  liegt  in  dem  Anteil,  den  die  Technik  an 
Leistungen  bei  den  verschiedenen  Künsten  hat.  Früher  hat  man  über- 
haupt Kunstleistungen  nach  dem  Prinzip  der  überwundenen  Schwierig- 
keit beurteilt.  Künstler  war  jemand,  der  etwas  kann,  ein  Mensch  von 
großer  Kunstfertigkeit,  der  Schwierigkeiten  anscheinend  spielend  be- 
siegt. Noch  heute  werden  reproduzierende  Künstler  vielfach  nach 
diesem  Maßstäbe  gemessen:  Pianisten  oder  Geiger,  die  haarsträubende 
Schwierigkeiten  elegant  nehmen,  erringen  einen  Weltruf.  Beim  schaffen- 
den Künstler  tritt  dies  Moment  gegenwärtig  etwas  zurück,  obgleich 
es  als  Unterscheidungsmerkmal  gegen  das  bloß  Ästhetische  immer 
seinen  Wert  behält.  Wir  haben  eingesehen,  daß  beispielsweise  Ge- 
dichte nicht  nur  dazu  da  sind,  um  metrische  und  sprachliche  Schwierig- 
keiten vorzuführen  und  die  Möglichkeit  ihrer  Überwindung  zu  zeigen. 
Wir  lassen   nicht  Dichter  miteinander  wettdichten,  wie  wir  etwa  in 


246  I-  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

einem  Mischmaschkonzert  Kunstler  miteinander  wetteifem  lasset.  Aber 
nach  zwei  Seiten  hin  steht  das  Prinzip  doch  noch  heute  in  Ansehen. 
Improvisierende  Maler,  die  in  ein  paar  Tagen  ein  Pferd  oder  eine 
»Harmonie«  auf  die  Leinwand  werfen  (wie  Fromentin  und  Whistler) 
und  dann  dafär  mehrere  tausend  Mark  fordern,  werden  erstaunt  ange- 
sehen, weil  die  leichte  und  kurze  Arbeit  kein  Verhältnis  zum  Preis 
aufweist  Zweitens  folgt  das  Publikum  jenem  Grundsatz,  indem  ihm 
—  gegenüber  allem  Handwerks-  und  MaschinenmaB^nen  —  die  be- 
wußte Ot>erwindung  von  Schwiaigkeiten  als  ein  kennzeiduieiides 
Merkmal  von  Kunst  Ql)erhaupt  gilt  Deshalb  bevorzugen  die  meisten 
Menschen  die  mit  der  Hand  geschaffenen  Gewd)e  oder.  Veizienii^nen 
oder  Ausschmäckui^^en  vor  den  mechanisch  bervorgebracfaien.  Sie 
schätzen  es  sehr  hoch,  daß  in  der  Handari)eit  die  au^ewendete  Mähe 
erkennbar  bleibt  und  eine  bewußte  Kunstfert^;keit  zu  Tage  tritt,  viel- 
leicht so^güar  ein  persönliches  Gefühl  oder  ein  imfividueBes  Empfinden, 
\^*ihrend  die  Maschinenarbeit  schon  dadurch  verfiert,  daß  sie  gieich- 
zeit^  ihr  Erzeugnis  in  vielen  Exemplaren  hersleflt  Ein  Kunstwerk 
soll  ja  immer  etwas  Einz^artiges«  ein  hKfividuum«  etwas  ine  Wieder- 
kehrendes sein.  Maschinenarbeit  aber,  mag  sie  noch  so  exakt  und 
noch  so  geschmackvoO  sein«  hat  stets  den  Nachteil  gieicfamiBigcr  Viel- 
heit Da  hierüber  spiler  noch  einmal  zu  sprechen  sein  wvd,  so  er- 
wähne ich  jetzt  als  Ergänzung  zum  ersten  Punkte.  daB  Schwierigketai 
und  Technflc  m  den  verschiedenen  Künsten  versdriedenes 
haben.  Zeichner.  Maier.  Bidhauer  und  Banmcisier  bedBiieB 
muhevoOen  Lehrzeit,  um  aies  dis  zu  lemen.  was  dfe 
Vocausseczuit^  tees  KusstsdiaftaKs  ksl  Auch  der  Masioer 
di^  naturiche  Veraniagui:^  lanauES  sehr  vieles  dnrch 
Studtttm  sich  errir^en.  Bern  Dichter  d^g^gca  ist  dfe 
nicht  $o  ans^eMdet  und  so  wesendkh.  cbS  ;ae 
uad  in  phrelii^^  svssesnaabcher  Cbue^  eiuiCubiaBi 
kx  den  ngproALüwgendeg  KäiKs^en  gvbc  es  eiKfi  ikaEcia  Li 
Man  ^iff^feidie  den  Schaospieier  mit  dem  Mnker.  Diesv 
aaää9iy%di  omi  vcwt  ärüfaer  Jug^eied  an  seine  Tec&iisS^ 
k^mnic  ant  escKnt  sehr  g^ni^cs  sKcsBBssoies  Aimsl 

CVxh   w«er.     Die   BescinäerteBt  der 
kunsderschen    Asia^est    bat   'jexr&A    aar 
L  rscrun^.     Asr  lekäroessea  erfasxnx  maa  Nam  ArrfttttHoML 
^pEfiscMsr  Kunsdbi^ifnm^ies  3n:äxs  itcffi^  L  nseriö-aes 
^^einir  Simr  ^  rnedifflicsc^  K^nsa-araciiL  dea  der  Btemnessaer 
ist  ^nstsT  nett  ans  ä^jäot«:  >>3er  w^sx^üsqsxs  iterscaniSdt^ 
*ä^  Fejmeic  oer  SmK  mc  Äs  T-eai*  jer  ErraKran^.  A^ 
«tii  Maier  ^^snhi^iesr.  it^  «»mnsfft  in  ^eöesr  UeoscäiBL    Amt 


DIE  UNTERSCHIEDE  DER  ANLAGEN.  247 

fehlt  diese  EigentQmlichkeit,  daß  alles,  was  in  den  Oeist  eindringt,  den 
Weg  durch  die  Augen  nehmen  muß  und  alles,  was  aus  dem  Bewußt- 
seinsinhalt sich  klarer  gestaltet,  unwillkQriich  zu  Linie  und  Farbe  wird. 
BAcklin  soll  einmal  gesagt  haben:  was  in  einer  Adalerseele  klinge,  das 
verbinde  sich  mit  Form  und  Farbe  und  gewinne  dadurch  die  be- 
stimmte Gestalt.  Auch  ein  poetischer  Vorgang  wird  vom  Maler  so- 
gleich als  Bild  empfangen,  d.  h.  mit  allem  Wesentlichen  von  Form  und 
Farbe,  keineswegs  wird  er  nachträglich  in  eine  räumliche  Anschauung 
eingekleidet.  Wenn  ein  Maler  und  ein  Dichter  die  gleiche  Idee  zur 
AusfQhrung  bringen  wollen,  so  hat  sie  bei  diesem  nicht  die  bildmäßige 
Bestimmtheit,  sondern  die  Richtung  auf  Mitteilbarkeit  durch  Worte; 
beim  Maler  indessen  sind  sofort  Raumgestaltung  und  Farbengebung 
da  als  die  natüriiche  und  unmittelbare  Ausdrucksweise  der  Stimmung. 
Deshalb  beginnt  der  bildende  Künstler  zu  zeichnen,  sobald  er  seine 
Hände  gebrauchen  kann.  Wir  haben  uns  Form-  und  Farbensinn  aus- 
geprägter, das  Gedächtnis  schärfer  und  die  Hand  geschickter  vorzu- 
stellen, als  es  bei  uns  der  Fall  ist.  Nichts  Wunderbares  läßt  sich 
nachweisen,  wofür  wir  in  uns  keinen  Ansatz  finden  könnten.  Auch 
wir  sehen  bei  geschlossenen  Augen  allerhand  launische  Figuren.  Sie 
wechseln  mit  äußerster  Schnelligkeit.  Ihre  Formen  und  ihre  Fart)en 
können  entzückend  sein,  aber  sie  haften  nicht,  und  in  dem  Augenblick, 
wo  wir  sie  wiedergeben  wollen,  sind  sie  uns  entschwunden.  Der 
unvollkommen  Veranlagte  leidet  schwer  darunter,  daß  der  Weg  vom 
Kopf  zur  Hand  veriegt  ist.  Was  durchlebt  er  nicht  alles  und  wie 
wenig  davon  tritt  zu  Tage!  Oft  scheint  es  ihm,  als  brauche  er  nur 
in  seine  Seele  hineinzugreifen,  um  die  herriichsten  Bilder  herauszuholen. 
Aber  in  dem  Augenblick,  wo  er  die  Hand  ausstreckt,  sind  sie  dahin. 
Sie  eriangen  nicht  die  Festigkeit,  die  zur  Veräußeriichung  nötig  ist. 
Im  Künstler  sind  diese  inneren  Anschauungen  gleichsam  zu  einem 
höheren  Aggregatzustand  gelangt:  deshalb  können  sie  verwirklicht 
werden. 

In  ähnlicher  Art  begreifen  wir  das  Gedächtnis  des  Malers.  Daß 
er  bestimmte  Worte  für  Formen  und  Farben  hat,  die  uns  vielleicht 
fehlen,  macht  keinen  merklichen  Unterschied.  Dies  technische  Wissen 
ist  zwar  nützlich,  aber  nicht  von  entscheidender  Bedeutung.  Auch 
glaube  man  nicht,  daß  der  Künstler  ein  ungewöhnlich  starkes  Gedächt- 
nis haben  müsse;  vielmehr  dienen  ihm  seine  Erinnerungen  immer  nur 
bis  zur  Schöpfung;  nachher  muß  er  vergessen,  was  vorausgegangen 
war,  damit  der  Kopf  für  neue  Eindrücke  und  neue  Produktionen  frei 
wird.  Nein,  ein  anderes  Merkmal  kennzeichnet  die  Erinnerung  des 
Künstlers.  Das  Gedächtnis  des  Schaffenden  hält  fest,  was  brauchbar 
für  seine  Zwecke  ist;  wir  dagegen  l)ewahren  alles,  was  zufällig  im 


248  ^  I>AS  SCHAFFEN  DES  KONSTLEKS. 

Eindruck  vorhanden  war.  Die  Erinnerung  des  Künstlers  ist  nicht  nur 
assoziativ,  sondern  auch  dissoziativ.  Wir  würden  uns  ängstUch  an 
das  Idammem,  was  wir  gesdien  haben,  wenn  anders  wir  es  in  allen 
feinen  Zügen  aufzubewahren  und  wiederzugeben  wüßten.  Der  Maler 
aber  studiert  die  Natur,  ohne  sie  unmittelbar  zu  verwenden.  In  dem 
bekannten  Buch  von  Stratz  über  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers 
sind  verglichen  Klingers  Statue  der  Badenden  und  sein  Modell  Der 
Betrachter  sieht  sofort,  daß  die  Körperhaare  fortgelassai,  die  Haupt- 
haare stilisiert  und  kleine  Mangel  ausg^chen  sind.  Aba*  er  banerkt 
auch,  um  wie  viel  einheitlicher  und  ungezwungener  die  gewagte  Stel- 
lung unter  des  Künstlers  Hand  geworden  ist  Die  Haltung  ist  in 
Natur  gequält  und  der  Leib  sozusagen  zerrissen;  in  dem  Kunstwerk 
dag^en,  das  aus  einer  Vorstellung  entsprang  und  dem  das  Modell 
nur  als  Hilfsmittel  diente,  wirkt  der  Körper  anmutig  und  als  ge- 
schlossenes Ganze;  Ruhe  und  eine  gewisse  Zielstrebigkeit  sind  unver- 
kennbar. —  Wenn  in  des  Künstlers  Seele  Visionai  aufsteigen,  so  ist 
immer  an  wesentlicher  Zug  dabei,  dem  alles  andere  sich  unterordnet 
Unsae  Erinnerungs-  und  Phantasievorsteflungen  sind  im  Vahältnis 
dazu  ungeformt  Wie  der  Rechenkünstia  des  visuellen  Typus  eine 
Tafel  in  sich  hat,  auf  der  die  Zahlen  gleichsam  von  selbst  sich  ordnen 
und  erklären,  so  hat  der  Maler  eine  Tafel  in  sich,  auf  da  die  Formen 
und  Farben  zu  den  erstaunlichsten  Verknüpfungen,  aber  ihra  inneren 
Gesetzmäßigkeit  nach,  zusammentreten. 

Schwieriger  li^en  die  Verhältnisse  bei  der  Musik,  und  zwar  des- 
halb, weil  es  Menschen  gibt  ohne  jede  musikalische  Anlage.  Zwischen 
ihnen  und  jenen  Künstlern,  die  gleichsam  die  Musikidee  mit  auf  die 
Welt  gebracht  haben,  klafft  ein  Abgrund.  Wir  haben  hia  zufälliga- 
und  glücklicherweise  ein  Wort,  für  das  es  auf  den  andaen  Kunst- 
gebieten leida  kein  Analogon  gibt:  wir  nennen  musikalisch  sowohl 
die  Empfänglichen  als  auch  die  Schaffenden.  Ja  wir  können  einen 
Virtuosen  trotz  seiner  ungewöhnlichen  Technik  unmusikalisch  schelten 
und  für  uns  selbst,  die  wir  vielleicht  nie  ein  Instrument  berührt  haben, 
eine  höhere  musikalische  Fähigkeit  beanspruchen.  Diese  Anlage  ist 
eine  geistige  Disposition.  Die  Schärfe  des  Gehörs  bildet  nur  die  Unter- 
lage, denn  es  gibt  Komponisten,  die  schlecht  hören  und  schließlich 
zur  Taubheit  verurteilt  sind,  die  des  absoluten  Tonbewußtseins  a- 
mangeln  und  selbst  für  Unzulänglichkeiten  der  Ausführung,  insbe- 
sondere für  Unreinheit,  sehr  wenig  empfindlich  sind.  Das  braucht 
ebensowenig  Erstaunen  zu  wecken  wie  die  Tatsache,  daß  so  viele 
unserer  besten  Maler  kurzsichtig,  einige  sogar  von  den  leichteren  Graden 
der  Farbenblindheit  befallen  sind.  Wissen  wir  doch,  daß  die  Sinnlich- 
keit der  Kunst  eine  andere  ist  als  die  des  Lebens,  und  daß  hier  mit 


DIE  UNTERSCHIEDE  DER  ANLAGEN.  249 

Sinnesschärfe  nicht  genau  dasselbe  gemeint  ist  wie  in  Psychologie  und 
Medizin.  Um  jedoch  wieder  zu  unserem  Gegenstand  zurückzukehren: 
Das  musikalische  Talent  ist  dadurch  gekennzeichnet,  daß  sein  Besitzer 
für  alles,  was  er  erlebt,  den  unwillkürlichen  Ausdruck  in  Klängen  und 
musikalischen  Formen  findet.  Namentlich  das,  was  sein  Gefühl  erregt, 
gelangt  nicht  in  Worten,  sondern  in  Melodien  zum  Ausdruck  %  Daher 
hat  er  ein  Bedürfnis  nach  Musik,  und  er  würde  sie  aus  sich  heraus 
erfinden,  wenn  sie  nicht  schon  da  wäre.  Sein  Bewußtsein  ist  voll 
von  musikalischen  Formen.  Eine  Melodie  lebt  Tag  und  Nacht  in  ihm, 
sie  durchzieht  die  Seele,  während  er  liest  oder  schreibt,  sie  verläßt  ihn 
auch  nicht  im  Schlafe:  erwacht  er  plötzlich,  so  bemerkt  er  sie  inmitten 
ihres  Verlaufes.  Schwerlich  kann  ein  Bild  oder  ein  Vers  mit  solcher 
anschaulichen  und  b^ffslosen  Kraft,  daher  so  ungestört  von  allen 
anderen  Vorstellungen,  sich  in  die  Seele  einnisten.  Die  Musik  ist  die 
haftendste  und  hartnäckigste  aller  Künste.  Sie  duldet  nicht  viel  neben 
sich.  Die  ganzen  Kräfte  der  Seele  saugt  sie  an  sich.  Ein  reiches  und 
konkretes  Vorstellungsleben  ist  der  musikalischen  Begabung  nicht 
günstig,  oder  besser  gesagt:  dem  musikalischen  Schaffen.  Denn  die 
Gefahr  droht,  daß  die  Tonbilder  durch  allerhand  Assoziationen  ver- 
deckt werden,  so  wie  es  oft  bei  weniger  Musikalischen  geschieht, 
deren  einzige  Freude  darin  besteht,  daß  sie  durch  Klänge  zu  beliebigen 
Vorstellungen  angeregt  werden. 

Wir  wenden  uns  nun  dem  Dichter  zu.  Hier  ist  die  Gefahr  be- 
sonders groß,  daß  die  menschliche  Persönlichkeit  als  Ganzes  verwechselt 
werde  mit  dem  spezifischen  Talent.  Dieses  jedoch  besteht  in  dem 
Reichtum  der  Ausdrucksmittel,  in  der  ungewöhnlichen  Entwickelung  des 
Wortgedächtnisses.  Während  die  Erinnerung  des  bildenden  Künstlers 
von  Formen  und  Farben  zehrt,  während  des  Musikers  Bewußtsein  im- 
merfort angefüllt  ist  mit  auftauchenden  und  gegenseitig  sich  stützenden 
Harmonien,  lebt  die  Phantasie  des  Dichters  in  den  Worten  und  Formen 
der  Sprache.  Allerdings  kann  die  Disposition  der  Dichter  —  unbeschadet 
ihrer  Eigenart  —  mehr  zum  Malerischen  oder  mehr  zum  Musikalischen 
neigen.  Schon  ein  äußeres  Merkmal  gibt  es  dafür.  Dichter,  die  ihre 
Werke  selber  schreiben  und  das  Manuskript  immer  von  neuem  durch- 
lesen, finden  an  dem  Aussehen  der  Worte  und  an  dem  sichtbaren 
Rhythmus  der  Sätze  einen  Anhalt  für  ihre  schaffende  Tätigkeit.  Andere, 
die  diktieren  und  sich  wieder  vorlesen  lassen,  werden  durch  den 
Klang  und  den  hörbaren  Rhythmus  zur  Schönheit  des  Wortes  hin- 
geleitet. Flaubert  war  auf  nichts  so  stolz  wie  auf  gewisse  deklama- 
torische Wirkungen  in  seinen  Schriften;  gelegentlich  erzählte  er  den 
Goncourts,  er  sei  mit  seinem  Roman  »Salammbo«  beinahe  fertig,  nur 
die   letzten   zehn  Seiten   fehlten   noch,   und  da   habe  er   schon   die 


250  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Schlüsse  sämtlicher  Sätze.  Ist  es  nicht  äußerst  kennzeichnend,  daß 
Schlußtonfall,  Kadenz  und  Rhythmus  eine  solche  Rolle  spielen  können? 
Der  Umkreis  der  künstlerischen  Fähigkeiten  ist  mit  den  bisher  er- 
örterten Anlagen  noch  nicht  geschlossen.  Beim  Dichter  tritt  etwas 
hinzu,  was  allerdings  auch  den  Vertretern  der  übrigen  Künste  nicht 
völlig  abgehen  darf:  Der  Künstler  und  zumal  der  Dichter  muß  die 
Menschen  kennen.  Denn  von  ihren  Freuden  und  Sorgen  haben  sie 
in  Bildern,  Tönen,  Worten  zu  berichten. 


3.  Die  Seelenkenntnis  des  Künstlers. 

Unsem  bisher  vorgenommenen  Betrachtungen  zunächst  steht  die 
Tatsache,  daß  viele  Künstler  eine  ungewöhnlich  lebhafte  und  treue  Er- 
innerung an  frühe  Lebensalter  haben.  Man  lese  beispielsweise  die 
ersten  zwölf  Seiten  in  Hofmannsthals  Biographie  von  Victor  Hugo, 
um  zu  bemerken,  daß  Örtlichkeiten,  Personen  und  Vorgänge,  die  in 
des  Dichters  Kindheit  auftauchten,  sich  zu  Bestandteilen  seiner  Dich- 
tungen ausgewachsen  haben.  Aber  damit  ist  der  Einfluß  jugendlicher 
Eriebnisse  nicht  beendet.  Wer  sich  seiner  Stimmungen  aus  den  Tagen 
der  Kindheit  erinnert,  der  versteht  Kinder  und  die  ihnen  verwandten 
unentwickelten  Naturen.  Auch  die  Seele  des  Weibes  öffnet  sich  von 
hier  aus:  manche  der  unliebenswürdigen  Eigenschaften  der  Frau  haben 
wir  als  heranreifende  Jünglinge  besessen  und  auch  der  scheue  Aufblick 
zum  Mann  ist  uns  aus  den  Entwickelungsjahren  bekannt.  Was  den 
Dichter  in  seiner  Menschenkenntnis  auszeichnet,  ist  zunächst  das  zu- 
veriässige  und  bereite  Gedächtnis  für  alle  die  Möglichkeiten,  die  er  in 
seinem  Werden  durchlaufen  hat;  der  Durchschnittsmensch  vergißt  zum 
Erstaunen  schnell,  wie  ihm  unter  früheren  Bedingungen  zu  Mute  war. 
—  Doch  als  ob  die  vielen  vom  Leben  geschaffenen  Möglichkeiten 
dürftig  und  unzureichend  seien,  so  strebt  nun  die  Phantasie  weit  über 
sie  hinaus.  Dem  Bedürfnis,  ab  und  zu  ein  anderer  zu  sein,  wird 
durch  die  Wiederbelebung  des  Früheren  nicht  genügt.  Aus  dem  Stück- 
chen Leben,  das  der  Dichter  offensichtlich  durchlebt,  gewinnt  er  noch 
nicht  die  Fülle  und  Vielzahl  der  Individualitäten.  So  schafft  die  Ein- 
bildungskraft neue  Erlebnisse  und  Persönlichkeiten.  Bei  leb- 
hafter angeregten  Menschen  beobachtet  man  öfter,  daß  sie  Ansichten 
vertreten,  die  ihrer  eigentlichen  Überzeugung  aufs  schärfste  wider- 
sprechen; außer  in  einem  spirit  of  contradiction  ist  dies  Verhalten  in 
dem  Wunsch  begründet,  von  Zeit  zu  Zeit  eine  andere  Rolle  zu  spielen 
als  die  von  Anlage  und  Erziehung  auferlegte.  Indem  solche  fremd- 
artigen  Meinungen   aufgegriffen   und   verteidigt   werden,    bildet   sich 


rä 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  251 

bereits  der  Keim  eines  neuen  Ich:  sie  werden  daher  gern  einem 
anderen  in  den  Mund  gelegt.  Friedrich  Hebbel  berichtet  von  sich 
selber:  »Oft  schon  erzählte  ich  Oeschichten  von  Menschen,  die  nie 
vorgefallen  sind,  legte  ihnen  Redensarten  unter,  die  sie  nie  gebrauch- 
ten u.  s.  w.  Dies  geschieht  aber  nicht  aus  Bosheit  oder  schnöder 
Lust  an  der  Löge.  Es  ist  vielmehr  eine  Äußerung  meines  dichte- 
rischen Vermögens;  wenn  ich  von  Leuten  spreche,  die  ich  kenne,  be- 
sonders dann,  wenn  ich  sie  anderen  bekannt  machen  will,  geht  in 
mir  derselbe  Prozeß  vor,  wie  wenn  ich  auf  dem  Papier  Charaktere 
darstelle;  es  fallen  mir  Worte  ein,  die  das  Innerste  solcher  Personen 
bezeichnen  und  an  diese  Worte  schließt  sich  dann  auf  die  natöriichste 
Weise  sogleich  eine  Geschichte  ...  Ich  will  jene  Eigenheit  übrigens 
nicht  loben.  (Tagebücher  1885,  I,  120.)  In  diesem  Bekenntnis  wird 
die  erwähnte  Erfahrung  von  einer  anderen  Seite  her  zum  Bewußtsein 
gebracht  und  weiter  entwickelt. 

Ist  man  einmal  auf  solche  Zusammenhänge  aufmerksam  geworden, 
so  stellen  die  Analogien  in  überraschender  Fülle  sich  ein.  Die  be- 
kanntesten sind  für  den  Nichtkünstler  an  das  Kindesalter  geknüpft; 
der  Poet,  der  ja  Zeit  seines  Lebens  ein  Kind  bleibt,  erhält  sich  in  der 
ursprünglichen  Ausdehnung  eine  bei  uns  allmählich  verkümmernde 
Innenwelt.  Diese  innerste  Seelenwelt  verrät  sich  bei  jedermann  in 
unzähligen  dramatisch  geformten  Träumen,  in  den  phantastischen 
Wünschen,  die  uns  gelegentlich  durchzucken,  in  gewissen  automati- 
schen Handlungen,  in  Stimmungsänderungen,  Angstgefühlen,  Ahnungen 
—  genug,  in  dumpf  empfundenen  Tatsachen,  die  wir  gewöhnlich  un- 
beachtet lassen,  wie  es  sich  für  die  Zwecke  des  realen  Lebens  schickt. 
Die  Wissenschaft  ist  dieser  ablehnenden  Haltung  gefolgt,  da  sie  mit 
den  Tatsachen  deutlichsten  Bewußtseins  und  unmittelbarsten  Lebens- 
wertes genug  zu  tun  hat.  Allein,  schon  der  Versuch,  die  seelische 
Eigenart  von  Kindern  und  Heranwachsenden  zu  verstehen,  führt 
zwingend  zur  Berücksichtigung  jener  Vorgänge.  Zu  ihnen  rechne  ich 
das  Träumen  mit  wachen  Augen,  die  Freude,  sich  in  alle  möglichen 
Lagen  hineinzudenken,  die  Lust,  sich  als  Helden  romantischer  Aben- 
teuer zu  fühlen.  Etwas  davon  verbleibt  wohl  auch  dem  Nüchternsten: 
wer  spielt  nicht  einmal  inneriich  mit  Schicksal  und  Charakter,  wann 
er  des  Schlafes  harrt  oder  wann  eine  rein  mechanische  Tätigkeit  den 
Vorstellungen  ein  beliebiges  Wandern  erlaubt?  Solche  Träumereien 
finden  selten  einen  Abschluß,  häufig  aber  eine  Fortsetzung.  Immer 
wieder  nimmt  der  Knabe  den  Gedanken  auf,  er  sei  ein  unbarmherziger 
Tyrann  oder  ein  vom  Unglück  verfolgter,  sich  selbst  aufs  herzlichste 
bemitleidender  Mensch  die  einmal  begonnene  Selbstverwandlung 
beharrt  dann  jahrelang,  wenngleich  unter  Abänderungen,  wie  sie  der 


252  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

wechselnde  Lebensinhalt  naturgemäß  herbeifährt.  Diese  Bildung  von 
phantastischen  Persönlichkeiten,  deren  Ichwert  sich  von  einer  ersonne- 
nen  Umgebung  abhebt,  kann  in  das  WirklichkeitsbewuBtsein  so  tiefe 
Lücken  reißen,  daß  die  wirklichen  Beziehungen,  z.  B.  zu  den  Eltern, 
angezweifelt  werden.  Mehr  Kinder  als  man  ahnt  hegen  im  sorgsam 
gehüteten  Heiligtum  der  Seele  die  so  entstandene  Überzeugung,  sie 
seien  in  Wahrheit  Fürstenkinder;  und  gleichfalls  hierin  wurzeln  der 
Völkergedanke  von  der  Präexistenz  und  der  Spiritistenwahn  von  den 
»geistigen  Führern«. 

Der  Übergang  zur  Kunst  ist  unschwer  zu  erkennen.  Wenn  so 
viele  in  vorüberziehenden  Bildern  sich  von  ihrem  Ich  und  ihrer  Um- 
gebung zu  befreien  streben,  so  beginnen  sie,  was  die  Kunst  herrlich 
vollendet,  denn  in  sie  hat  sich  schließlich  geflüchtet,  wovon  der  Mensch 
träumt  und  schweigt.  Die  großen  Tragödien  wurzeln  fast  alle  in  dem 
Kampf  eines  höheren  Menschen  mit  den  Verhältnissen,  die  ihn  hindern, 
sich  in  der  Fülle  seiner  Natur  auszuleben:  so  schildern  sie  zugleich 
das  Schicksal  des  Dichters  selbst.  Niemand  leidet  schmerzlicher  als 
er  unter  den  platten  Geschicken  und  der  Ungunst  der  Umstände,  unter 
der  grauen  Einförmigkeit  und  gesetzmäßigen  Trägheit  des  Gegebenen, 
kurz,  unter  dem  Zwang  der  Nähe.  Und  das  Nächste,  das  Unentrinn- 
barste ist  der  eigene  Charakter.  Wie  das  launische  Spiel  unserer  müßigen 
Stunden  sich  vornehmlich  in  Umformungen  des  Ich  gefällt,  so  ist  es 
dem  Dichter  Bedürfnis  und  Freude,  sich  gänzlich  umzufühlen.  Er 
protestiert  gleichsam  gegen  das  Schicksal,  das  ihn  für  Lebenszeit  an 
dasselbe  bürgeriiche  Individuum,  an  sein  »Ich«,  gekettet  hat 

Hier  beginnen  wir  nun  zu  begreifen.  Die  antirealistischen 
Phantasieschöpfungen  bilden  den  tatsächlichen  Ausgangs- 
punkt für  die  Seelenkenntnis  des  Dichters.  Mehr  noch  als  das 
Gedächtnis  für  den  wirklich  durchlaufenen  Persönlichkeitswechsel  ver- 
mag die  Lust  am  Anderssein  Sinn  und  Blick  für  fremde  Seelen  zu 
schärfen.  Als  das  Ursprüngliche  behaupten  wir  demnach  die  Freude 
an  der  Metamorphose,  an  der  Loslösung,  und  nicht  etwa  den  Wunsch, 
fremde  Individualitäten  zu  durchschauen.  Wenn  man  bisher  diesen 
Punkt  als  selbstverständlichen  Ausgangspunkt  behandelte,  so  ließ  man 
sich  teils  durch  die  Verwechselung  mit  theoretischen  Interessen  teils 
durch  die  Lehre  von  der  Nachahmung  verführen,  das  letztere,  insofern 
man  die  innerliche  Nachbildung  erschlossener  Seelenvorgänge  zur 
Grundlage  nahm.  Aber  in  phantasievollen  Naturen  steht  neben  der 
handelnden  Persönlichkeit  noch  eine  andere.  Nimmt  man  auf  diese 
keine  Rücksicht,  so  erwächst  ein  unmöglicher  Anspruch  an  den  Dichter: 
er  muß  zugleich  Choleriker  und  Phlegmatiker  sein,  er  muß  ein  Held 
sein,  um  einen  Helden  schaffen  zu  können!    Ich  möchte  im  G^en- 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  253 

teil  glauben,  daß  gerade  der  Schwächling  ein  feineres  Gefühl  für  Hel- 
denart haben  kann  als  der  Held  selber,  weil  diesem  seine  Art  so  natür- 
lich ist  wie  der  Rhythmus  des  Herzschlages,  während  jener  in  den 
Stunden  der  Muße  oft  sich  als  Willensmenschen  geträumt  hat.  Es 
läßt  sich  nachweisen,  daß  Künstler,  die  dem  unheimlichen  Reiz  des 
moralisch  Gemeinen  erliegen,  die  im  Schmutz  waten  und  Pestluft  ein- 
atmen, die  reinsten  und  zartesten  Gebilde  zu  schaffen  vermögen. 
Nicht  derjenige  schildert  die  Liebe  am  schönsten,  der  am  häufigsten 
oder  aufs  lebhafteste  geliebt  hat:  wie  stark  muß  die  Leidenschaft  in 
denen  sein,  die  sich  aus  Liebeskummer  das  Leben  nehmen,  und  wie 
wenige  davon  sind  wirkliche  Dichter!  Nein,  die  Beschaffenheit  der 
äußeren  Erlebnisse  und  des  erscheinenden  Charakters  sind  nicht  das 
Wesentliche  —  aus  Jugend  und  Phantasiespiel  ist  geflossen,  was  <ler 
Dichter  von  den  Menschen  zu  sagen  weiß.  Und  eben  deshalb  ist  es 
so  aussichtslos,  den  Lauf  der  poetischen  Einbildungskraft  wie  den 
Flug  eines  Geschosses  berechnen  zu  wollen. 

Beobachtet  man  die  Entwicklung  der  oben  geschilderten  Phantasie- 
tätigkeit, so  bemerkt  man,  daß  ihre  Gebilde  im  Lauf  der  Jahre  immer 
konkreter  werden.  Das  verdankt  der  Dichter  einmal  der  gesteigerten 
Technik,  die  er  infolge  poetischer  Erfahrungen  an  seiner  und  anderer 
Kunst  sich  angeeignet  hat,  noch  mehr  aber  dem  Einfluß  des  Lebens. 
Die  wachsende  Lebenserfahrung  dringt  auch  in  diese  Sphäre  ein  und 
bewirkt,  daß  die  früher  unbestimmten  Vorstellungen  allmählich  mit 
wirklichen  Gegenständen  die  größte  Ähnlichkeit  erhalten.  Die  blassen 
Ideale  bekommen  kräftigere  Farben,  die  ai!s  der  Umgebung  stammen, 
und  werden  dadurch  zu  Zeichen  von  seienden  Objekten.  Mit  einem 
Wort:  das  Sichausleben  wird  zugleich  zu  einem  Sicheinleben  in  andere. 
Was  ursprünglich  nur  als  Umdenken  der  eigenen  Persönlichkeit  an- 
gelegt war,  erweitert  sich  zu  einem  Einfühlen  in  gegebene  Individuali- 
täten. Doch  auch  hierbei  bleibt  der  Dichter  nicht  stehen.  Mit  der 
subjektiven  Anpassungsfähigkeit  muß  sich  vielmehr  die  äußerste  Ob- 
jektivität des  Urteils  verbinden,  damit  ein  künstlerisches  Verständnis 
und  ein  Werk  herausspringe.  Ohne  diese  hinzukommende  Verrichtung 
bliebe  der  Dichter  ein  Mensch,  der  gern  in  charakterologischen  Ver- 
änderungen schwelgt  und  leicht  unter  den  Bann  eines  anderen  gerät, 
jedoch  weder  abschätzen  noch  gestalten  kann. 

Die  Forderung,  die  wir  jetzt  erheben,  läßt  sich  am  kürzesten  dahin 
aussprechen,  daß  die  fremde  Individualität  ein  Objekt  bleiben  muß. 
Nicht  nur  setzt  der  Begriff  des  Objektes  den  eines  Subjektes  voraus, 
sondern  auch  das  Erleben  eines  Objektes  beruht  auf  einem  unmittel- 
bar erfahrenen  Gegensatz  zum  Subjekt:  die  ins  Ich  aufgenommene 
fremde  Seele  muß  in  einem  gewissen  Widerstreit  mit  dem  bleibenden 


254  I-  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Ich  sich  befinden,  damit  sie  als  ein  Objekt  bdiandelt  werden  kann, 
das  Untergehen  in  einen  anderen  muß  ergänzt  und  berichtigt  werden 
durch  die  Bewahrung  der  eigenen  Persönlichkeit*).  Wenn  früher  be- 
merkt wurde,  der  Dichter  verstehe  nicht  durch  wissenschaftliches  Zer- 
stückeln, sondern  durch  Sympathisieren,  so  sollte  in  dem  gewählten 
Ausdruck  angedeutet  werden,  daß  etwas  anda-es  vorli^  als  ein  Sich- 
verlieren;  und  wenn  soeben  behauptet  wurde,  daß  gerade  der  Schwäch- 
ling ein  sehr  feines  Gefühl  für  HeldengröBe  entwickeln  könne,  so 
schwebte  dies  G^enspiel  von  Objekt  und  Subjekt  vor.  Im  Grunde 
handelt  es  sich  ja  nur  um  eine  Verschärfung  jener  letzten  Tatsache, 
die  den  menschlichen  Geist  von  allen  anderen  Dingen  der  Weh  son- 
dert: des  Selbstbewußtsein  oder  der  Fähigkeit,  sich  selbst  zum  Objekt 
z\\  machen.  —  Gesetzt  den  Fall,  es  drehe  sich  um  wieder  erneuerte 
Vorstellungen  aus  früheren  Lebensaltem.  Indem  solche  Erinnerungs- 
komplexe ohne  unmittelbaren  Zusammenhang  mit  der  g^enwärtigen 
Seelenverfassung  dastehen,  bilden  sie  gesonderte  Synthesen  und  wachsen 
sich  wie  von  selbst  zu  imaginären  Personen  aus^.  Der  Dichter  be- 
müht sich  schweriich,  alle  so  erfaßten  Potenzen  zu  einer  Einheit  zu 
verschmelzen.  Ein  richtiger  Instinkt  warnt  ihn,  denn  jeder  Versuch 
dazu  schwächt  seine  Individualität  und  macht  ihn  unfruchtbar.  Wie 
die  Mischung  aller  Farben  Weiß  erzeugt,  so  erzeugt  die  Mischung 
aller  im  Künstler  angelegten  Persönlichkeiten  eine  leere  und  blanke 
Apathie.  Das  gilt  selbstverständlich  auch  von  den  aus  der  Einbil- 
dungskraft geborenen  Persönlichkeiten.  Der  ganze  Figurenreichtum, 
der  aus  unterirdischer  Seelenarbeit  entspringt,  besteht  nur  im  G^;en- 
satz  zu  dem  ständigen,  herrschenden  Ober-Ich*).  Wie  das  spielende 
Kind  nicht  völlig  in  seine  Illusion,  wie  der  Schauspieler  nicht  völlig 
in  seine  Rolle  aufgeht,  so  verharrt  auch  der  Dichter  in  einer  Trennung 
von  jenem  einheitlichen  psychischen  Komplex,  der  eine  fremde  Seele 
bedeutet  Man  hatte  früher  gedacht,  daß  Hypnotisierte,  die  durch 
Suggestion  in  andere  Menschen  »verwandelt«  werden,  oder  daß  spiri- 
tistische Medien  und  hysterische  Kranke,  die  sich  von  einem  Geist 
besessen  wähnen,  daß  sie  alle  eine  restlose,  wenngleich  nur  zeitweise 
Umformung  empfinden  müßten.  Aus  neuen  Untersuchungen  wissen 
wir,  daß  auch  sie  nicht  gänzlich  das  Bewußtsein  ihrer  selbst  verlieren. 
Alles  psychognostische  Mitfühlen  gleicht  einer  Taufe:  du  wirst  in  ein 
neues  Leben  aufgenommen  und  brauchst  dich  doch  nicht  zu  verleug- 
nen. Mancheriei  im  dichterischen  Schaffen  läßt  sich  nur  aus  dieser 
Zwiespältigkeit  erklären.  Man  beachte,  daß  in  der  Regel  der  Darstel- 
lung unberührter  jugendlicher  Seelen  ein  melancholischer  Zug  bei- 
gemischt wird,  der  bei  wirklicher  Metamorphose  in  den  Seelenzustand 
fehlen  müßte  und  teils  aus  sentimentaler  Rückbetrachtung  teils  aus 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  255 

unserem  Wissen  von  der  Zukunft  entspringt  Wenn  die  Poeten  Oe- 
heimnisse  in  einem  sehr  einfachen  Gemüt,  Schönheiten  in  einem 
dumpfen  Dasein  zu  finden  behaupten,  so  ist  das  ein  Echo  ihres 
eigenen  Innern.  Hiermit  ist  zugleich  die  ethische  Bedeutung  des  Vor- 
ganges ausgesprochen.  Alle  echten  Künstler  genießen  des  Glücks, 
daß  ihnen  die  Menschen  als  wunderl>ar  erscheinen  und  nicht  als 
schmutzige  und  gemeine  Seelen,  in  denen  Gewöhnliches  neben  Ge* 
wohnlichem  steht.  So  denkt  von  seinem  Nächsten  der  Philister,  und 
darunter  leidet  er  selbst,  ohne  es  zu  wissen.  Aber  in  der  Kunst  ist 
auch  die  Seelenkenntnis  heiter,  denn  Heiterkeit  bedeutet  ein  freies  Spiel 
der  Kräfte,  wie  es  weder  der  Zwang  des  Lebens  noch  der  Ernst  der 
Wissenschaft  verstatten,  und  in  solchem  freien  Spiel  erwacht  der  Sinn 
für  anderer  Menschen  Art. 

Die  bisher  vollzogene  Oberiegung  betraf  ein  bestimmtes  Eriebnis 
und  seine  Geschichte.  Jenes  Eriebnis  ist  das  unmittelbare  Verstehen 
fremder  Seelenvorgänge,  wobei  wir  uns  keiner  Rückschlüsse  von  kör- 
perlichen »Äußerungen«  auf  seelische  ^Ursachen«  bewußt  zu  sein 
pflegen.  Im  Dichter  ist  es  zur  Vollkommenheit  gediehen.  Zur  Ent- 
wickelung  der  poetischen,  der  schöpferischen  Seelenkenntnis  tragen 
wesentlich  bei  die  treue  Erinnerung  an  frühere  Phasen  der  Persön- 
lichkeit und  das  Bedürfnis  der  Einbildungskraft,  aus  dem  Selbst  einen 
anderen  zu  machen.  Träume  und  Wünsche,  mit  denen  wir  die  Wirk- 
lichkeit überfliegen,  ziehen  beim  reifen  Künstler  so  viele  Bestandteile 
der  Wirklichkeit  an  sich,  daß  sie  aus  willkürlichen  Gebilden  zu  Sym- 
bolen von  möglichen  Menschen  werden.  Und  dazu  kommt  eine  zweite 
einschränkende  Bedingung:  bei  aller  Leichtigkeit  der  Selbstverwand- 
lung l)ehält  der  Dichter  dennoch  ein  Bewußtsein  seiner  selbst  und 
kann  daher  dem  fremden  Charakter  wie  einem  Objekt  sich  gegenüber- 
stellen. 

Wenn  wir  nunmehr  den  einzelnen  psychognostischen  Vor- 
gang aus  seinen  Elementen  wissenschaftlich  erklären  wollen,  so  müs- 
sen wir  die  bislang  ausgeschaltete  Beteiligung  des  Körperlichen 
schärfer  ins  Auge  fassen.  Wir  erieben  es  zwar  nicht  so,  aber  wissen- 
schaftlich verhält  es  sich  doch  so,  daß  dem  Beobachter  zunächst  phy- 
sische Tatsachen  gegeben  sind.  Wollen  wir  rational  erklären,  so 
müssen  wir  uns  fragen:  wie  kommt  es,  daß  ein  Tonfall,  ein  Muskel- 
spiel im  Beobachter  einen  ähnlichen  Zustand  hervorruft,  wie  er  den 
Tonfall  und  das  Muskelspiel  verursacht  hat?  Außerdem  halten  wir 
von  dem  Problem  möglichst  fern,  was  uns  von  Vorstufen  und  Ana- 
logien bekannt  geworden  ist,  da  nur  durch  solche  künstliche  Abson- 
derung eine  eingeschränkte,  aber  klare  und  streng  wissenschaftliche 
Erkenntnis  gewonnen  werden  kann.    Übrigens  ruhen  die  bisherigen 


256  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

psychologischen  Untersuchungen  dieses  Gegenstandes  fast  durchweg 
auf  solcher  Auffassungsweise.  So  auch  die  bekannte  Theorie,  die 
kürzlich  von  Lipps  durchgeführt  und  schon  Vorjahren  von  Sully  fol- 
gendermaßen angedeutet  worden  ist:  »When  a  person  witnesses  the 
manifestation  of  a  pleasurable  feeling  in  another,  he  reexperiences,  in 
an  ideal  form,  some  element  of  his  own  happiness;  that  is  to  say,  his 
perception  of  another  joy  is  in  itself  a  consciousness  of  joy.^ 

Von  neuem  sei  an  jene  Theorie  der  Affekte  erinnert,  wonach  die 
Gemütserregung  nicht  nur  von  den  Empfindungen  der  körperiichen 
Äußerung  begleitet  sein,  sondern  gerade  in  solchen  Organempfindungen 
bestehen  soll.  Ich  will  nicht  untersuchen,  wie  es  sich  im  allgemeinen 
damit  verhält.  Aber  für  den  Vorgang  im  Künstler  glaube  ich  eine 
feinere  Differenzierung  beanspruchen  zu  müssen.  Aus  mancheriei 
Selbstzeugnissen  der  Künstler  erfährt  man,  daß  sie  unwillküriich  zum 
mimischen  oder  sonstigen  Ausdrucke  der  darzustellenden  Gefühle  ge- 
trieben werden,  daß  sie  beim  Gedanken  an  den  Zorn  ihres  Helden 
nun  selbst  die  Fäuste  ballen  u.  s.  f.  Das  Ballen  der  Fäuste  bei  der 
Vorstellung  des  Zorns  bedeutet  zunächst  nichts  anderes  als  die  ver- 
erbte und  gewohnte  Assoziation  einer  Bewegung  mit  einem  seelischen 
Vorgang;  beim  Dichter  aber  gewinnt  es  dazu  noch  einen  eigentüm- 
lichen Folgewert:  es  setzt  nämlich  eine  seelische  Erregung  ins  Spiel, 
die  sehr  intensiv  sein  kann  und  trotzdem  den  Prozeß  des  künstleri- 
schen Schaffens  nicht  stört.  Diese  Erregung  deckt  sich  nicht  mit  dem 
eriebten,  wirklichen  Affekt  des  Zorns.  Von  ihm  mag  es  unentschieden 
bleiben,  ob  er  die  Organempfindungen  hervorruft  oder  in  ihnen  be- 
steht. Die  künstlerische  Erregung  aber  ist  ihrerseits  eine  Folge  der 
Bewegungen,  hat  diese  gleichsam  schon  verdaut  und  wird  daher  durch 
sie  und  die  damit  verknüpften  Organempfindungen  in  der  Produktion 
nicht  mehr  gestört.  Die  körperiichen  Vorgänge  lassen  genug  Wärme 
zurück,  damit  eine  lebensvolle  Darstellung  zu  stände  kommt,  aber  sie 
haben  die  Hitze  eingebüßt,  unter  der  dichterische  Tätigkeit  und  Frei- 
heit verdorren  müßten.  Die  kennzeichnenden  Gemütsbewegungen  des 
Dichters  entstehen  also  durch  Reaktion  auf  die  empfundenen  Zeichen. 
Wem  das  wunderiich  vorkommt,  der  denke  an  verwandte  Erscheinun- 
gen auf  den  Nachbargebieten.  Einige  Schauspieler  vergießen  an  rühren- 
den Stellen  wirkliche  Tränen.  Daraus  einen  Rückschluß  auf  tiefinnere 
Erregung  zu  ziehen  wäre  grundverkehrt:  es  liegt  nichts  anderes  vor 
als  eine  besonders  leichte  Funktion  des  gewohnten  Zusammenhanges; 
die  Tränen  sitzen  ihnen  locker,  wie  man  zu  sagen  pflegt.  Das  hat 
aber  seine  Vorteile,  denn  diese  Tränen  wirken  nun  zurück  und  er- 
zeugen ihrerseits  eine  Ergriffenheit,  die  dem  Schauspieler  zwar  nicht 
wie  ein  wahrhafter  Schmerz  die  Selbstbeherrschung  raubt,  ihm  jedoch 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  257 

die  2Iaubergewalt  Ober  den  Zuhörer  verleiht.  Wenn  ein  Meister  der 
Geige  unsere  Herzen  erschüttert,  so  wiederholt  sich  in  uns  derselbe 
Vorgang  wie  in  ihm:  die  Töne  sind  es,  die  auch  ihn  rühren.  Der 
Maler  berauscht  sich  nicht  nur  an  der  Farbe,  die  er  sieht  oder  er- 
innert, sondern  auch  an  der,  die  er  aufträgt.  Und  dem  Dichter  eignet 
vor  allem  die  Gewalt  Ober  die  Sprache;  in  dem  Maße,  wie  die  Worte 
ihm  zufließen,  steigern  sich  seine  Gedanken;  im  Wort  erwachen  Bilder, 
die  bis  dahin  schliefen;  durch  das  Wort  erst  erobert  er  die  innerste 
Burg  einer  anderen  Seele  und  erlebt  seine  eigenen  psychischen  Vor- 
ginge völlig  zu  Ende.  Demnach  darf  man  schließen:  des  Künstlers 
Beziehung  zur  Natur  ist  weniger  Anschauungsvermögen  als  Ausdrucks- 
verhältnis, die  Lehre  vom  künstlerischen  Schaffen  gehört  zum  guten 
Teil  in  die  Psychologie  der  zentrifugalen  Funktionen. 

Aber  immerhin  nur  zum  Teil.  So  gesteigerte  Seelenzustände,  wie 
wir  sie  bisher  voraussetzten,  kommen  nicht  bei  allen  Künstlern  vor  und 
sind  auch  dort,  wo  sie  sich  finden,  schwerlich  die  Regel.  Vielfach 
verläuft  der  Vorgang  ohne  die  geschilderte  starke  Anteilnahme  des 
Körperlichen.  Nehmen  wir  als  Beispiel  das  Verständnis  eines  nicht 
sichtbar  werdenden  seelischen  Zusammenhanges,  also  eines  erinnerten 
oder  erdachten,  dessen  Träger  nicht  leibhaftig  vor  uns  steht  In  diesem 
Fall  schafft  die  Phantasie  das  entsprechende  Bild:  vor  meinem  geistigen 
Auge  steht  der  Mensch,  ich  höre  seine  Stimme,  sehe  seine  Bewegungen 
und  schließe  daran  Urteile  und  Beurteilungen  an  etwa  wie:  ja,  das  ist 
echte  Freude,  es  gibt  noch  fröhliche  Menschen,  oder  ähnliches.  Hier- 
bei brauchen  die  motorischen  Vorgänge  und  die  durch  sie  ausgelösten 
Empfindungen  nur  in  zartesten  Ansätzen  vorhanden  zu  sein.  Der 
konkrete  Charakter,  die  psychophysische  Einheitlichkeit  bleiben  ja  auch 
in  diesem  Fall  gewahrt,  da  nicht  der  Begriff  Lustigkeit,  sondern  ein 
anschauliches  Bild  der  Lustigkeit  die  Seele  erfüllt.  Indessen  wegen 
der  geringeren  Beteiligung  der  Organempfindungen  und  der  Affekte 
können  in  einem  solchen  Fall  erstens  beträchtlich  mehr  Vorstellungen 
sich  anschließen  und  zweitens  -  was  ebenso  wichtig  sein  dürfte  - 
leichter  Hemmungen  eintreten. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  muß  mit  Nachdruck  darauf  hin- 
gewiesen werden,  daß  an  den  anschaulichen  Bewußtseinsinhalt  auch 
t>eim  künstlerischen  Schaffen  abstrakte  Vorstellungen  sich  angliedern. 
Der  in  dem  Bilde  eines  Zornigen  anschaulich  werdende  Charakter 
braucht  nicht  in  allen  seinen  Zügen  eigentlich  vorgestellt  zu  werden, 
sondern  kann  auch  uneigentlich,  in  Worten  und  Begriffen,  sich  dar- 
stellen. Manche  Feinheiten  der  aufgefaßten  Individualität  werden  nicht 
einmal  mit  den  entsprechenden  Wort-  und  Begriffsvorstellungen,  son- 
dern nur  durch  schattenhaft  auftretende  Analogien  das  heißt  durch  un- 

Dcttolr,  Attketik  und  allf.  KaitttwittcasduifL  17 


258  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

deutliche  Beziehung  zu  etwas  ähnlichem  im  Bewußtsein  repräsentiert. 
Auch  inadäquate  Zeichen  stellen  sich  ein,  unter  denen  Melodien  und 
Farbenverbindungen  am  häufigsten  in  den  Selbstzeugnissen  der  Dichter 
erwähnt  werden.  Die  außerordentliche  Leichtigkeit  und  Beweglichkeit 
der  dichterischen  Phantasie  wäre  undenkbar,  wenn  diese  alles  wie 
Illustrationen  in  einem  Buch  eigentlich  und  konkret  vorstellen  mußte. 
—  Als  zweiten  Punkt  bezeichnete  ich  die  Hemmungen.  Sie  sind  es, 
die  aus  der  bloßen  Erregtheit  der  Seele  einen  geschlossenen  Bewußt- 
seinszusammenhang hervortreten  lassen.  Zur  Erläuterung  erinnere  ich 
an  die  entgegengesetzte  psychische  Disposition  des  Berauschten.  Durch 
den  Alkoholgenuß  fallen  Hemmungen  weg,  die  sonst  regulierend  wir- 
ken, und  so  werden  die  (hier  wie  sonst)  auftauchenden  Vorstellungen 
anders  bewertet  als  gewöhnlich.  Ähnlich  so  mag  es  sich  beim  Dichter 
in  den  Hochmomenten  stärkster  Ergriffenheit  verhalten:  alle  berich- 
tigenden, hemmenden  Bewußtseinsinhalte  treten  zurück  und  nur  auf 
einen  Punkt  hin  strömt  die  seelische  Energie.  In  den  übrigen  Stadien 
der  Arbeit  jedoch  betätigen  sich  Gegenvorstellungen  und  helfen  an 
der  Vielseitigkeit,  ja  Unerschöpflichkeit  des  Werkes,  das  trotzdem  ein- 
heitlich bleibt  und  sich  nicht  zersprengen  läßt 

Diese,  der  Besonnenheit  entstammenden  Gegenvorstellungen  bilden 
zugleich  ein  Anzeichen  für  die  wache  Tätigkeit  des  Ich.  Wir  haben 
uns  schon  oben  darüber  verständigt,  daß  der  Dichter  nicht  ganz  und 
gar  in  das  Fremdwesen  aufgeht  —  völlige  Selbstvergessenheit  ist 
pathologisch.  Vielmehr  nimfnt  er  Stellung  zu  den  von  unzähligen 
Beziehungen  umspielten  Bildern  eines  heiter  sprechenden  oder  zornig 
sich  bewegenden  Menschen.  Durch  die  Vermittelung  von  Nachahmungs- 
bewegungen hat  er  teil  an  der  Freude  oder  an  dem  Zorn,  stets  aber 
im  Zusammenhang  mit  Urteilen,  die  auf  ein  Objekt  weisen:  »wie 
glücklich  ist  doch  eine  solche  Natur!«  Je  lebhafter  die  von  derartigen 
Urteilen  getragenen  Gefühle  auftreten,  desto  entschiedener  hindern  sie 
eine  wahrhafte  Selbstverwandlung,  denn  diese  Gefühle  beziehen  sich 
auf  das  ständige  Ich,  und  eine  Lust  oder  Unlust  ohne  Ichbeziehung 
bestehen  nicht.  Im  gleichen  Zuge  wirken  die  Pausen  des  Seelenvor- 
ganges, von  deren  Bedeutung  schon  bei  der  Analyse  des  ästhetischen 
Eindruckes  die  Rede  war.  Alles  Sicheinleben  verläuft  mit  Unterbrechun- 
gen, da  ich  unwillküriich  von  Zeit  zu  Zeit  zu  mir  selbst  zurückkehre. 
Und  auch  während  der  anderen  Zeiträume  des  Ablaufs  behalte  ich  in 
der  Regel  ein  Bewußtsein  meiner  eigentümlichen  Körperverfassung 
und  Umgebung,  worüber  zuerst  die  Beobachtung  Hypnotisierter  bei 
der  sogenannten  objeäivation  des  types  beweisenden  Aufschluß  ge- 
geben hat,  und  werde  eben  dadurch  vor  einer  Auflösung  des  Subjekts 
In  das  Objekt  bewahrt. 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  259 

Bisher  hatten  wir  angenommen,  daß  der  Gegenstand  des  psycho- 
gnostischen  Verständnisses  eine  einzelne  GemQtsstimmung  sei.  Mit 
dem  Verständnis  fOr  eine  augenbhcidiche  Heitericeit  oder  Wut  ist  aber 
noch  nicht  viel  erreicht  Die  Hauptsache  bleibt  doch  der  ganze 
Charakter,  von  dem  nur  fragmentarische  Äußerungen  voriiegen.  Er 
erschließt  sich  —  wie  Dilthey  und  Lipps  nachgewiesen  haben  —  aus 
einzelnen  Äußerungen  kraft  des  Zusammenhanges,  in  dem  sie  alle 
stehen.  Worüber  und  wann  der  andere  gelacht  hat,  das  muß  ich 
wissen,  die  Feinheiten  und  Besonderheiten  seiner  Fröhlichkeit  muß  ich 
in  mich  aufnehmen,  damit  ich  eine  umfassende  Vorstellung  gewinnen 
kann.  Dabei  gelten  die  bewußten  Äußerungen  weniger  als  die  un- 
bewußten. Nur  in  Bewegungen,  Mienen,  Akzenten  kann  das  intimste 
P»^önlichkeitsleben  sich  verraten.  Lew  Tolstoj  schildert  die  Begeg- 
nung zweier  Geschwister,  die  sich  seit  Jahren  nicht  gesehen  und  ein- 
ander entfremdet  haben,  mit  einem  sehr  treffenden  Satze:  >So  ging 
jener  geheimnisvolle,  mit  Worten  nicht  auszudrückende,  bedeutsame 
Austausch  von  Blicken  vor  sich,  in  dem  alles  wahr  ist;  dann  begann 
der  Austausch  von  Worten,  in  denen  diese  Wahrheit  schon  nicht 
mehr  enthalten  war.«  (Auferstehung,  übers,  von  A.  Heß,  S.  473.)  Die 
Vorgänge  im  Innersten  der  Seele  haben  in  ihrer  Beschaffenheit  etwas, 
was  die  Umsetzung  in  Worte  unmöglich  macht.  Aber  außer  der  Un- 
fähigkeit des  Menschen,  alles  Feine  des  Gemütes  willküHich  auszu- 
drücken, besteht  auch  ein  Widerwille  dagegen.  »Das  ausgesprochne 
Wort  ist  ohne  Scham,  Das  Schweigen  ist  der  Liebe  keusche  Blflte^, 
singt  Heinrich  Heine.  Wir  zeigen  so  wenig  die  ganze  Seele  wie  den 
ganzen  Leib,  das  eine  erscheint  uns  so  schamlos  wie  das  andere. 
Wir  merken  femer  instinktiv,  daß  die  offene  Aussprache  den  Heim- 
lichkeiten der  Seele  allsogleich  ihren  Wert  rauben  würde.  Und  end- 
lich nötigt  uns  der  Selbsterhaltungstrieb,  diese  oder  jene  Lebenslüge 
aufrecht  zu  erhalten,  die  mit  der  rückhaltlosen  Selbstenthüllung  hin- 
fällig werden  müßte. 

Die  Gesamtheit  der  unbewußten  Äußerungen,  in  denen  Verborgenes 
zu  Tage  tritt,  gilt  uns  als  die  sichtbare  Seite  der  Individualität  Die 
seelische  Individualität  wird  am  bequemsten  erklärt  aus  der  ver- 
änderlichen Verknüpfung  allgemein -seelischer  Bestandteile  und  aus 
Steigerung  sowie  Schwächung  solcher  Bestandteile.  Indem  der  Dichter 
den  Kombinationen,  Verstärkungen  und  Minderungen  nachgeht,  wird 
er  der  Verwalter  des  seelischen  Reichtums  der  Menschennatur.  Ihm 
sind  gleich  wertvoll  die  mannigfaltig  wechselnden  Verbindungen  in 
den  Durchschnittsmenschen,  die  herabgestimmten  Funktionen  des  Ab- 
normen und  die  höchst  gesteigerten  Leistungen  des  Helden.  Die 
natüriiche  Neigung  führt  freilich  den  Dichter  wie  den  Historiker  zum 


260  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Helden,  und  zwar  mit  Recht,  da  Erhebung  zum  Großen  etwas  spezi- 
fisch Menschliches  und  die  Tatsache  des  Außerordentlichen  ein  Kenn- 
zeichen des  Geistigen  ist,  das  der  Natur  (und  daher  auch  der  Natur- 
wissenschaft) fehlt.  Aber  auch  der  unentwickelte  oder  falsch  gebildete, 
der  Unlust  weckende  oder  häßliche  Charakter  kann  ihn  anziehen.  Nicht 
nur  weil  er  bei  Ergrundung  auch  dieser  Eigenschaften  sich  über  sich 
selbst  »hinausgemutet«  —  um  einen  Goetheschen  Ausdruck  zu  ge- 
brauchen — ,  sondern  vornehmlich,  weil  die  starke  Erregung,  die  mit 
der  Erkenntnis  derartiger  Naturen  verkoppelt  ist,  alle  etwa  auftauchen- 
den Gefühle  der  Antipathie  sofort  neutralisiert.  Es  ist  eine  Verleum- 
dung des  Menschen,  zu  behaupten,  daß  er  überall  das  Ideal-Schöne 
und  Harmonische  suche;  was  er  will,  das  ist  nicht  die  bloße  Lust, 
sondern  Leben,  d.  h.  Erregung  und  Kampf.  Aus  einem  solchen  Ge- 
fühl heraus  gestaltete  Shakespeare  die  unsittlichen  und  die  halbtieri- 
schen Naturen.  Er  vermochte  es  um  so  leichter,  als  er  die  Seele 
offenbar  aus  verhältnismäßig  wenigen  Elementen  zusammengesetzt 
dachte  und  die  Welt  von  jedem  Standpunkt  aus  zu  beurteilen  ver- 
stand. 

Mit  den  genannten  drei  Typen  ist  indessen  dem  Bedürfnis  nach 
Individuenverständnis  noch  nicht  genügt  und  ebensowenig  mit  der 
Berufung  auf  das  wechselreiche  Verknüpfen,  Verstärken  und  Ab- 
schwächen von  Bewußtseinsinhalten  in  einer  einzelnen  Seele,  die  in 
bestimmter  Richtung  unentwickelt,  in  anderen  Beziehungen  durch- 
schnittlich, ja  heldenhaft  sein  kann.  Es  müssen  noch  weitere  Gesichts- 
punkte hinzugenommen  werden  und  zwar,  wie  ich  denke,  die,  die  in 
der  Hauptsache  schon  von  Bahnsen  aufgestellt  worden  sind.  Der 
erste  betrifft  den  Inhalt  der  Einzelseele  in  seiner  Abhängigkeit  von 
den  Reizen  und  zeriegt  sich  für  unsere  Betrachtung  in  zwei  unter- 
geordnete Gesichtspunkte.  Einmal  nämlich  wirken  Anlage  und  Um- 
gebung im  allgemeinen  auf  die  Individuen  mit  verschiedener  Stärke. 
Große  Dichter  unterscheiden  sehr  genau  zwischen  rezeptiven  Naturen, 
die  den  vererbten  Trieben  und  den  Einflüssen  der  Umgebung  geringen 
Widerstand  entgegensetzen,  und  den  aktiven  Naturen,  die  sich  und 
die  Welt  zu  überwinden  vermögen.  Hiermit  verknüpfen  sie  mdst  eine 
Einteilung  in  veränderiiche  und  stetige  Charaktere,  wobei  der  konstante 
Faktor  im  ersten  Fall  mit  der  Anlage,  im  zweiten  Fall  mit  dem  Ziel- 
streben zusammenzufallen  pflegt  —  eine  Deckung,  die  in  der  dichteri- 
schen Überiieferung  ausgebildet,  aber  logisch  nicht  erschöpfend  ist 
Für  Shakespeare  gelten  als  konstant  durch  die  ihnen  mitgegebene  An- 
lage die  rezeptiven  Frauennaturen:  ihre  undifferenzierte  Seele  kommt 
immer  wieder  in  die  Gleichgewichtslage  und  ändert  sich  im  Lauf  des 
Lebens  nicht  erheblich.    Zu  dieser  Auffassung  haben  zweifellos  Er- 


DIE  SEELENKENNTNIS  DES  KÜNSTLERS.  261 

inneningen  an  das  psychische  Leben  des  Knaben  beigetragen,  da  dies 
sich  nur  unter  Verlust  seiner  weiblichen  Eigenschaften  zu  ändern 
vermag.  Der  variable  Faktor  dag^en  überwiegt  bei  jenen  Männern, 
die  ohne  Rücksicht  auf  Vergangenheit  oder  Zukunft  den  Eindrücken 
des  Augenblicks  folgen;  als  Erklärungsgrund  fügt  Shakespeare  die 
Stärke  des  Reaktionsgefühls  hinzu,  denn  je  intensiver  ein  Gefühl  ist, 
desto  kürzere  Zeit  pflegt  es  zu  dauern.  Bei  den  aktiven  Naturen  gilt 
ihm  Schwäche  als  die  größte  Sünde.  In  seinen  geschichtlichen  Bilder- 
rdhen  ist  den  großen  Willensmenschen  ihre  konstante  Richtung  damit 
gegeben,  daß  sie  einen  äußern  Erfolg  in  der  wirklichen  Welt  zu  er- 
reichen streben.  In  den  späteren  Werken,  vom  Hamlet  ab,  hat  Shake- 
speare ein  edleres  Ziel  verkörpert:  die  Vervollkommnung  der  eigenen 
Seele;  sie  bildet  nunmehr  Endpunkt  und  Maßstab  für  das  Tun  des 
hohem  Menschen. 

Zweitens  nun  besitzen  einzelne  Eindrücke  für  den  einen  eine 
andere  erregende  Kraft  als  für  den  anderen;  man  denke  an  die  ange- 
borenen Begabungen.  Dementsprechend  enthüllt  sich  im  Epos  und 
Drama  die  besondere  Beschaffenheit  eines  Charakters  mit  Hilfe  der 
Wertbetonung,  die  ein  einzelnes  Erlebnis  von  selten  des  Erlebenden 
erfährt.  Die  beiden  hieraus  gewonnenen  Kunstgriffe  des  Dichters  be- 
stehen darin,  daß  entweder  das  gleiche  Motiv  in  seiner  mit  den  Indi- 
viduen wechselnden  Wirksamkeit  oder  eine  Vielfältigkeit  von  Motiven 
in  ihrer  Bedeutung  für  einen  einzelnen  gezeigt  werden.  So  ist  es  für 
die  Differenzen  der  Individuen  höchst  kennzeichnend,  wie  diese  z.  B. 
denselben  äußeren  Widerstand  verschiedentlich  beantworten,  während 
anderseits  ein  Mensch  auch  geschildert  werden  kann  durch  den  Er- 
regungswert, den  verschiedenartige  Eindrücke  für  ihn  besitzen. 

Wenn  mit  allen  diesen  Mitteln  die  Einzelseele  inhaltlich  bestimmt 
werden  kann,  so  läßt  sie  sich  auch  in  Rücksicht  auf  ihre  Funktion 
verdeutlichen.  Und  zwar  wird  der  Vollzug  seelischer  Leistungen  in 
doppelter  Weise  interpretiert.  Zunächst  betrachtet  die  Psychognosis 
die  zeitliche  Aufeinanderfolge  und  die  Verhältnisse  der  ablaufenden 
Vorgänge  als  bedeutsam  für  persönliche  Eigenart,  und  femer  be- 
stimmt sie  die  Intensität  der  Vorgänge.  Da  nämlich  stets  nur  eine 
bestimmte  Gesamtsumme  von  psychischer  Energie  verfügbar  ist,  so 
charakterisiert  es  den  einzelnen,  welches  Maß  davon  er  für  diese  oder 
für  jene  Verrichtung  aufwendet,  ja  selbst  jene  individuell  verschie- 
dene Gesamtsumme  kann  als  wesentliches  Merkmal  verwertet  werden. 
Für  alle  die  genannten  Zusammenhänge  liefern  die  Hauptpersonen  in 
Shakespeares  Dramen  die  anschaulichsten  Beispiele.  Auf  die  Form 
und  das  Verhältnis  der  ablaufenden  Seelenvorgänge  bezieht  sich 
Goethes  Wort,   die  Menschen  Shakespeares   glichen   Uhren »    »deren 


262  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Zifferblatt  und  Gehäuse  man  von  Kristall  gebildet  hätte«.  In  Bezug 
auf  die  Verteilung  der  seelischen  Energie  befolgt  Shakespeare  den 
Grundsatz,  daß  Leidenschaften  die  größte  Menge  der  vorhandenen 
Kraft  an  sich  ziehen  und  beschreibt  nun  sowohl  durch  die  Qualität 
der  Leidenschaft  (Ehrgeiz,  Liebe)  als  auch  durch  die  Verteilung  der 
übrig  bleibenden  Kraft  auf  die  anderen  Richtungen  der  Seele. 


4.  Die  Seelenverfassung  des  Künstlers. 

Nachdem  über  die  Psychologie  des  künstlerischen  Schaffens  und 
außerdem  über  das  beim  Künstler  vorhandene  Verständnis  für  den 
Menschen  so  vieles  gesagt  wurde,  scheint  nichts  zu  bleiben,  was  die 
Überschrift  rechtfertigen  könnte.  Und  doch  ist  die  dauernde  Seelen- 
verfassung des  Künstlers,  zumal  in  Rücksicht  auf  sittliche  und  gesell- 
schaftliche Verhältnisse,  keineswegs  hinlänglich  erörtert.  Ja,  selbst  an 
dieser  Stelle  läßt  sich  noch  nicht  alles  aussprechen,  sondern  manches 
muß  für  die  Schlußabschnitte  des  Buches  aufgespart  werden. 

Zu  allen  Zeiten  hat  man  den  Künstler  mit  dem  durchschnittlichen 
Menschen  verglichen,  und  stets  hat  man  zwischen  zwei  Auffassungen 
geschwankt.  Die  eine,  von  den  Romantikem  zum  Weltgesetz  erhoben, 
sieht  im  künstlerischen  Genius  den  wahren  Menschen  oder  mindestens 
eine  erfreuliche,  nach  oben  gerichtete  Ausnahme;  die  andere  rückt  ihn 
in  die  Nähe  der  Geisteskranken  und  behandelt  ihn  deshalb  auch  in 
der  Praxis  wie  einen  leicht  Verrückten,  mit  Nachsicht  nämlich  und 
mit  einem  gewissen  fettigen  Wohlwollen.  In  der  Tat  kann  er  vor  den 
Augen  des  Arztes  und  des  Soziologen  kaum  bestehen,  wenn  der 
Dutzendmensch  den  Maßstab  bilden  soll.  Bereits  in  die  soeben  er- 
örterte Erkenntnisbeziehung  zu  den  Charakteren  mischen  sich  vielfach 
Züge,  die  an  die  absonderiiche  Seelendurchleuchtung  mahnen,  wie  sie 
von  »Sehern«  eriebt  und  geschildert  wird^).  Darüber  hilft  auch  nicht 
die  freundliche  Erklärung  hinweg,  daß  die  krankhaften  Erscheinungen 
in  keinem  ursächlichen  Zusammenhang  mit  der  geistigen  Größe  stehen 
und  weite  Gebiete  der  seelischen  Fähigkeiten  unberührt  lassen.  Natür- 
lich ist  es  Unfug,  Zolas  »mystische  Neigung,  dem  leblosen  Stoff  Leben 
einzuflößen«  als  »nicht  unbedenklich«  zu  brandmarken.  Aber  lesen 
wir  von  Zolas  Abnormitäten,  dem  Zwang  zu  zählen,  Schubladen  und 
Türen  wieder  und  wieder  zu  schließen,  Hindemisse  nur  mit  dem 
rechten  Fuß  zu  überschreiten  und  dergleichen  mehr,  so  werden  wir 
es  Lombroso  zugeben  können,  daß  der  Dichter,  medizinisch  angesehen, 
ein  Hystero-Epileptischer  war.  Das  Träumen  und  die  primitiven  Schreck- 
gefühle, das  innere  Lauschen  und  die  geheime  Angst,  die  Ruhelosig- 


DIK  SEELENVERFASSUNG  DES  KÜNSTLERS.  263 

keit  und  die  schweren  Störungen  des  Nervensystems  lassen  viele  unter 
den  Künstlern ,  wenngleich  nicht  alle,  als  krank  erscheinen.  Man  hat 
das  traurig  genannt  oder  es  auch  wohl  wegzutäuschen  versucht,  um 
einem  so  bedenklichen  Ergebnis  zu  entgehen.  Umso  nötiger  ist  es, 
daB  wir  uns  Ober  die  Auffassung  verständigen,  die  hier  eintreten  muß. 
Einer  äußerlichen  Betrachtung  mögen  Genie  und  Wahnsinn  als  Brüder 
erscheinen.  Aber  im  Wesen  liegt  ein  Unterschied,  und  zwar  ein 
teleologischer:  Das  Genie  weist  nach  vorwärts,  der  Geisteskranke  nach 
rückwärts.  Nennen  wir  normal  nicht  das  zahlenmäßige  Mittel,  sondern 
das  teleologisch  Bedeutsame,  so  können  wir  den  genialen  Menschen 
trotz  aller  seiner  Krankheitserscheinungen  und  Wunderlichkeiten  als 
normal  bezeichnen.  Denn  es  kommt  nicht  darauf  an,  wie  jemand  ge- 
baut ist  oder  sich  fühlt,  sondern  darauf,  was  er  leistet. 

Es  gibt  einen  Unterschied  unter  den  Menschen.  In  den  ethischen 
Religionen,  also  auch  im  Christentum,  ist  er  durch  den  Gegensatz  des 
Gläubigen  und  des  Ungläubigen  bezeichnet.  Plato  spricht  von  einem 
sinnlichen  und  von  einem  geistigen  Eros,  von  dem  Drange  zum  Kör- 
perlichen und  von  der  Sehnsucht  nach  dem  Geistigen.  Antike  wie 
christliche  Denkweise  beurteilen  die  Menschen  nach  ihrem  Verhältnis 
zu  einer  höheren  Macht  und  selbständigen  Geisteswelt.  Dieser  Gegen- 
satz besteht  noch  heute  zu  Recht.  Er  ist  nicht  notwendigerweise 
quantitativ,  so  daß  auf  der  einen  Seite  die  Masse,  auf  der  anderen 
Seite  eine  kleine  Anzahl  sich  befindet,  sondern  vornehmlich  qualitativ. 
Menschen  kommen  auf  die  Welt,  um  sich  und  ihre  Gattung  zu  er- 
halten; andere  werden  geboren,  um  eine  Leistung  zu  vollbringen. 
Jene  urteilen  von  diesen,  sie  seien  närrisch;  diese  meinen  von  jenen, 
sie  seien  minderwertig.  Man  mag  beide  Stellungen  des  Lebens  für 
gleichberechtigt  halten,  wenn  man  nur  ihre  gründliche  Verschieden- 
heit zugibt.  Es  ist  eine  Verschiedenheit  im  Sinne  des  konträren  Gegen- 
satzes, d.  h.  es  finden  sich  unzählige  Übergänge  und  Vermischungen. 
Aber  bleiben  nicht  Weiß  und  Schwarz  entgegengesetzt,  obgleich  sie 
in  Grau  sich  verschmelzen?  So  wie  Schwarz  und  Weiß  stehen  sich 
Zeugungsmensch  und  Leistungsmensch  gegenüber;  die  durchhaltende 
Richtung  ihres  Lebens,  Ziel  und  Aufgabe  ihres  Daseins  weichen  un- 
verkennbar auseinander. 

Wenn  wir  uns  zum  Standpunkt  des  Leistungsmenschen  erheben, 
so  müssen  wir  vorerst  einsehen,  daß  die  Forderung  der  Gesundheit 
von  ihm  nicht  erfüllt  werden  kann.  Mindestens  werden  wir  wohl 
darin  einig  sein,  daß  körperliche  und  geistige  Kraft  in  keiner  unmittel- 
baren Proportion  zueinander  stehen.  Mit  dem  Anwachsen  der  einen 
braucht  die  andere  noch  nicht  zu  steigen.  Nun  kann  man  einwerfen, 
das   eben   sei   ein  Unglück:  das  Ideal  fordere  die  völlige  Deckung. 


264  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

Gewiß  streben  mächtige  Oefühlsmotive  nach  dem  Oleichgewicht  beider 
Seiten  der  Lebenseinheit,  aber  schon  die  folgerichtige  Fortbildung  des 
Gedankens  erschüttert  seine  Zuverlässigkeit:  ich  wenigstens  kann  mir 
nicht  die  Seele  eines  Kant  im  Körper  eines  Preisringkämpfers  vorstellen. 
In  jedem  Betrieb,  so  auch  in  dem  unseres  Organismus,  kommt  die 
Mehrleistung  eines  Teiles  nur  auf  Kosten  anderer  Teile  zu  stände. 
Die  übermäßige  Gehimtätigkeit,  ohne  die  es  keinen  Fortschritt  gibt, 
schädigt  andere  Körperfunktionen,  so  wie  die  Ausbildung  eines  Ge- 
weihes die  Schneidezähne  beeinträchtigt,  wie  keine  Hypertrophie  ent- 
stehen kann  ohne  entsprechende  Atrophie.  Der  Geist  ist  ein  Schma- 
rotzer des  Leibes.  Man  darf  biologisch  das  Bewußtsein  auffassen  als 
eine  allmählich  entstandene  Schädigung  des  belebten  Körpers,  als  eine 
zum  Tode  führende  Krankheit,  von  der  das  reine  Leben  frei  ist,  und 
man  darf  vermuten,  daß  dem  Regenwurm  bereits  der  Hund  als  ein 
Gehirnneurastheniker  erscheint.  Ja,  es  muß  ausgesprochen  werden, 
daß  wir  nicht  nach  gleichmäßig  entwickelten  Körper-Geist-Einheiten 
streben  sollen.  Lediglich  auf  die  höhere  Entfaltung  des  Geistes  kommt 
es  an,  und  diese  ist  mit  körperlichen  Mehrleistungen  unvereinbar. 
Alles  Große  entsteht  unter  krankhaften  Erscheinungen,  weshalb  oft 
genug  das  Große  selbst  für  krankhaft  erklärt  worden  ist.  Denken 
wir  uns  des  Beispiels  halber  ein  Weib,  das  in  völliger  Unwissenheit 
seiner  physiologischen  Bestimmung  empfangen  hat;  muß  es  nicht  alle 
Anzeichen  seines  Zustandes,  vom  ersten  Obelbefinden  an  bis  zu  den 
Wehen,  für  die  Anzeichen  einer  schweren  Krankheit  halten?  Aber 
nur  so  kann  ein  Kind  geboren  werden.  Auch  das  geistige  Erzeugnis 
reift  unter  ähnlichen  Störungen  der  normalen  Verfassung,  Störungen 
des  Temperamentes  und  des  Nervensystems,  die  nicht  eher  nachlassen, 
als  bis  das  Werk  vollendet  ist.  Wer  der  unangetasteten  Gesundheit 
zuliebe  auf  künstlerisches  oder  wissenschaftliches  Schaffen  verzichtet, 
der  gleicht  einem  Kinde,  das  aus  Angst  vor  dem  Durchbruch  der 
Zähne  lieber  keine  Zähne  haben  will;  und  wer  das  höhere  geistige 
Leben  wegen  seiner  Durchbruchserscheinungen  abnorm  nennt,  der 
müßte  ebenso  die  Zähne  als  krankhaft  bezeichnen,  da  ja  doch  das 
Zahnen  unter  Schmerz  und  Fieber  vor  sich  geht.  Und  weil  der  Lei- 
stungsmensch nicht  aufhört,  zu  denken  und  zu  bilden,  so  hört  er 
auch  nicht  auf  zu  leiden.  Die  Lebensbeschreibungen  unserer  großen 
Männer  reden  eine  deutliche  Sprache.  Wahrhaftig  —  »ein  Ding,  das 
keiner  voll  aussinnt  und  viel  zu  grauenvoll  als  daß  man  klage«. 

Es  mag  widersinnig  klingen,  von  der  Gesundheit  als  Übel  zu 
sprechen,  und  ist  doch  nicht  unbegründet.  Zum  mindesten  steht  fest, 
daß  sie  kein  unbedingtes,  sondern  nur  ein  verhältnismäßiges  Gut  ist, 
und  man  kann  wahrscheinlich  machen,  daß  Leiden  und  Schmerzen 


DIE  SEELENVERFASSUNG  DES  KÜNSTLERS.  265 


als  notwendige  Begleiterscheinungen  geistiger  Entfaltung  wünschens- 
wert und  auch  im  Hinblick  auf  seelische  Verinnerlichung  von  Nutzen 
sind.  Die  Schlußfolgerung  hieraus  liegt  nahe.  Während  der  Zeugungs- 
mensch um  jeden  Preis  gesund  sein  will,  ist  das  Absehen  des  Lei- 
stungsmenschen darauf  gerichtet,  die  körperliche  Gesundheit  auf  das 
unentbehrliche  Minimum  zu  beschränken.  Der  Körper  darf  nicht 
völlig  versagen,  wenn  irgend  ein  fruchtbares  Geisteswerk  möglich 
werden  soll,  aber  er  darf  anderseits  nur  so  viele  Rechte  beanspruchen, 
als  ihm  unter  der  angedeuteten  Zielbestimmung  zukommen.  Dem 
Zeugungsmenschen  ist  die  robuste  Gesundheit  ein  Zweck,  dem  sich 
die  meisten  anderen  seiner  Lebenszwecke  unterordnen.  Der  Ober- 
schuß an  Lebenskraft  wird  nicht  vergeistigt,  sondern  immer  wieder 
nur  zu  Gunsten  körperlicher  Verrichtungen  aufgebraucht,  also  in  der 
Richtung  nach  unten  und  nicht  in  der  nach  oben  verwertet.  Neue 
Gestaltungen  und  höhere  Differenzierungen  fallen  fort,  da  die  ängst- 
liche Sorge  vor  jeder  Trübung  des  Wohlbefindens  die  seelische  Trieb- 
kraft hemmt.  Die  Berufskrankheiten  der  Geistesmenschen  -  -  deren 
es  ebensogut  gibt  wie  Berufskrankheiten  von  Grubenarbeitern  — 
ließen  sich  freilich  vermeiden,  wenn  diese  Menschen  dem  ärztlichen 
Rat  entsprechen  und  ihr  Schaffen  einstellen  wollten,  wenn  sie  im  Sinne 
der  Erstarrung  anstatt  im  Sinne  der  Entwicklung  leben  wollten.  Es  ist 
aber  nicht  unter  allen  Umständen  sittlich  empfehlenswert,  körperliche 
Leiden  an  sich  selber  zu  vermeiden  und  an  anderen  zu  beheben.  Das 
übliche  Rezept  der  Moralärzte:  schaffe  Krankheit,  Not  und  Elend  aus 
der  Welt,  so  handelst  du  gut,  ist  unangenehm  naiv. 

In  einem  modernen  Roman,  der  das  Jeremiaslied  der  Entartung 
genannt  worden  ist,  sagt  die  Hauptperson  von  sich,  sie  leide  unter 
einer  häßlichen  Farbenstimmung  ebenso,  wie  andere  Menschen  unter 
Familienkatastrophen.  Eine  solche  mimosenhafte  Empfindlichkeit  hat 
in  unserer  Welt  der  Disharmonien  gar  böse  Folgen,  und  Ärzte  wie 
Publikum  werden  nicht  müde,  diese  Nervenschwäche  zu  bekämpfen. 
Aber  sie  ist  wirklich  die  Bedingung  dafür,  daß  unser  Leben  vor- 
nehmer gestaltet  werden  kann.  Wer  aus  einer  Zimmereinrichtung  Freund 
oder  Feind  herausfühlt,  wer  durch  einen  falschen  Ton  im  vertrauten 
Geplauder  sich  von  einer  Leidenschaft  heilen  läßt,  der  entgeht  wenigstens 
der  Vergröberung.  Der  Übergang  vom  Erhaltungs-  zum  Erhöhungs- 
lehen vollzieht  sich  nun  einmal  für  den  modernen  Menschen  durch 
eine  feinere  Reizbarkeit  des  Nervensystems.  Die  hiermit  verknüpften 
Leiden  werden  selten  richtig  beurteilt.  Für  die  einen  sind  sie  krank- 
hafte Erscheinungen,  denen  durch  Abstumpfung  und  Verhärtung  ent- 
gegengearbeitet werden  muß,  wie  man  etwa  ein  musikalisches  Ohr  so 
lange  mißhandeln  kann,  bis  es  auch  mit  dem  unreinsten  Gesang  zu- 


266  L  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

frieden  ist;  den  anderen  gilt  das  leise  Seufzen  empfindlicher  Naturen 
wenig  im  Vergleich  zu  dem  Jammern  der  Hungernden  und  Frierenden. 
Die  Frage  ist  aber  ausschließlich  die,  ob  mit  einer  solchen  körper- 
lichen und  geistigen  Beschaffenheit  etwas  geleistet  werden  kann.  Diese 
Frage  darf,  wie  ich  denke,  bejaht  werden.  Manche  der  von  Lombroso 
gesammelten  Tatsachen  aus  der  Vergangenheit  und  femer  die  Beob- 
achtungen, die  wir  in  unserer  Zeit  machen,  sprechen  dafür. 

Indem  ich  nun  die  seelische  Eigentümlichkeit  des  Leistungsmenschen 
darzulegen  versuche,  gehe  ich  von  einem  Worte  Gottfried  Kellers  aus: 
»Mehr  oder  weniger  traurig  sind  am  Ende  alle,  die  über  die  Brotfrage 
hinaus  noch  etwas  kennen  und  sind;  aber  wer  wollte  am  Ende  ohne 
diese  stille  Orundtrauer  leben,  ohne  die  es  keine  rechte  Freude  gibt? 
Selbst  wenn  sie  der  Reflex  eines  körperlichen  Leidens  ist,  kann  sie 
eher  vielleicht  eine  Wohltat  als  ein  Übel  sein,  ein  Schutz  mehr  gegen 
triviale  Ruchlosigkeit«.  Der  gleiche  Gedanke  ist  ungezählte  Male  von 
den  Edelsten  ausgesprochen  worden.  Jesus  lehrt,  daß  wir  dem  Schmerz 
und  der  Not  nicht  ausweichen,  sondern  sie  durch  Vertiefung  über- 
winden sollen.  Meister  Eckhart  mahnt:  »Das  schnellste  Tier,  das  euch 
trägt  zur  Vollkommenheit,  ist  Leiden.«     In  der  »Iphigenie«   heißt  es: 

Die  Schmerzen  sind's,  die  ich  zu  Hilfe  rufe, 
Denn  Freunde  sind  sie,  Gutes  raten  sie. 

Selbst  aus  einem  Bekenntnis  Nietzsches  klingt  derselbe  Ton  heraus: 
»Meine  Humanität«,  so  sagte  er  1888,  »besteht  nicht  darin,  mitzufühlen, 
wie  der  Mensch  ist,  sondern  es  auszuhalten,  daß  ich  ihm  mitfühle.« 
Mit  einem  Wort:  die  Leidensfähigkeit  kennzeichnet  den  Geistesmen- 
schen. Der  Tiermensch  hat  tausend  Vergnügungen  und  Entschädi- 
gungen, die  jenem  fehlen  —  er  »amüsiert«  sich  — ;  des  Geistesmen- 
schen Weg  führt  weit,  doch  nicht  zum  Glück.  Ganz  dem  Werke 
hingegeben,  von  körperlichen  Beschwerden  gequält,  der  Behaglichkeit 
des  animalisch  lebenden  Zeugungsmenschen  beraubt,  unzufrieden  mit 
der  eigenen  Leistung,  von  stiller  Melancholie  erfüllt  —  so  lebt  er  ein 
Leben,  das  sich  gründlich  von  der  gemeinen  Lebenshaltung  unter- 
scheidet und  dennoch  unendlich  wertvoll  ist 

Im  Leiden  der  Mutter  werden  wir  zum  ersten  Male,  im  eigenen  Lei- 
den zum  zweiten  Male  geboren.  Das  inneriiche  Leiden  des  höheren 
Menschen  unserer  Zeit  liegt  unaufhebbar  darin  begründet,  daß  seinen 
vielfältigen  Bedürfnissen  und  Bestrebungen  nicht  genügt  werden  kann. 
Seine  Seele  ist  so  zeriegt,  so  fein  differenziert,  daß  er  jede  Beschrän- 
kung auf  eine  Fähigkeit  und  ein  Ziel  als  eine  Beeinträchtigung  seiner 
reichen  Natur  empfindet  Sein  Wissen  ist  zu  schmerzhafter  Größe 
angewachsen.  Seine  Affekte  quälen  ihn,  denn  sie  stürmen  aus  dunkler 
Tiefe  herauf  und  sind  nicht  Plagiate  wie  die  der  meisten;  Richard 


DIE  SEELENVERFASSUNG  DES  KÜNSTLERa  267 

Wagner  nannte  sich  einen  exklamatorischen  Menschen  und  fügte  hinzu, 
das  Ausrufungszeichen  sei  im  Grunde  die  einzige  ihm  genügende 
Interpunktion,  sobald  er  die  Welt  der  Töne  verlasse.  Was  soll  ein 
solcher  Mensch  in  unserer  geregelten,  nüchternen  Gesellschaft?  Er 
leidet,  weil  ihm  der  Widerstreit  des  wirklich  gelebten  und  des  ge- 
dachten Lebens  niemals  aus  dem  Bewußtsein  kommt.  Aber  gerade 
die  seelischen  Widersprüche  und  die  Art,  wie  man  sich  zu  ihnen  stellt, 
sind  das  Entscheidende  beim  Menschen.  Die  Feindseligkeiten,  die 
zwischen  Anlage,  Erziehung  und  Umgebung,  zwischen  der  gegebenen 
und  der  zu  erringenden  Welt,  zwischen  dem  Tierischen  und  dem  Hei- 
ligen im  künstlerischen  Wesen  unausbleiblich  auftreten,  können  durch 
Wegsehen  scheinbar  ausgeglichen  werden.  So  verfährt  der  Alltags- 
mensch. Er  teilt  sich  seinen  Kopf  in  mehrere  Fächer  ein,  stopft  in 
jedes  eine  anders  gerichtete  Fähigkeit  und  gelangt  zu  der  Behaglich- 
keit, die  ihm  über  alles  geht.  Naturtriebe  und  Geistesregungen  wider- 
sprechen in  ihm  sich  nicht,  weil  sie  sich  nicht  begegnen.  Ein  vor- 
nehmer Geist  jedoch  sucht  nach  seiner  eigenen  Synthese.  Er  fürchtet 
sich  nicht,  allgemein  verbreitete  und  ihm  selber  lieb  gewordene  Vor- 
urteile abzustoßen,  obgleich  sie  ihn  auch  später  noch  wie  amputierte 
Gliedmaßen  schmerzen;  er  sucht  den  inneren  Kampf,  da  er  ohne  ihn 
sich  nicht  entwickeln  kann.  Alle  Leiden  dieser  Art  sind  gut,  denn 
sie  bringen  vorwärts.  Deshalb  ist  es  so  grundfalsch,  die  Künstler  zu 
bedauern  und  in  die  Reihe  der  nur  Kranken  einzuordnen.  >  The  worlds 
work  is  done  by  its  invalids.'^ 

Eine  ähnliche  Verkehrtheit  macht  sich  geltend,  wenn  die  Künstler 
wegen  ihrer  oft  geringen  sozialen  Betätigung  als  sittlich  minderwertig 
behandelt  werden.  Alle  diejenigen,  die  wahrhaft  der  Kunst  zugehören, 
stehen  in  Einsamkeit:  ruhelose  Überfülle  und  qualvolles  Leiden  schei- 
den sie  aus  der  vergnüglichen  Gemeinschaft  ab.  Ich  meine  nicht  die 
vielen  ehrenwerten  Handwerker,  die  mit  der  Perspektive  oder  dem 
Kontrapunkt  arbeiten,  sondern  ausschließlich  solche,  die  vom  Eros  zu 
den  Ideen  geleitet  werden.  Der  Wert  ihres  Daseins  liegt  in  ihren 
Werken.  Das  Beste,  was  sie  geben  können,  spenden  sie  nicht  dem 
Nachbar  oder  der  Gattin,  sondern  der  Mit-  und  Nachwelt.  Offen- 
kundig ist,  daß  von  allen  fragen  und  Zerstreuungen  des  Tages  nichts 
in  das  Kunstwerk  übergeht;  femer  läßt  sich  feststellen,  daß  die  wichtig- 
sten Ereignisse  im  Leben  der  meisten  bildenden  Künstler  und  Musiker, 
ja  auch  vieler  Dichter  keinen  beträchtlichen  Einfluß  auf  ihre  Kunst 
ausgeübt  haben:  ihre  Kunstweise  bleibt  fest  oder  ändert  sich  unab- 
hängig von  Geschehnissen,  die  den  Menschen  selbst  aufs  tiefste  be- 
trafen. Das  Ich ,  das  im  Werk  sich  ausgibt  und  zur  Allgemeingültig- 
keit entfaltet,  ist  ebensowenig  das  soziale  Ich  wie  seine  Geltung  eine 


268  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

soziale.  Die  Künstler  als  Künstler  kommen  nicht  aus  unserer  ge- 
wöhnlichen Welt,  daher  verlangen  sie  vom  Leben  nichts,  als  daß  es 
ihnen  Ruhe  zu  ihrer  Arbeit  läßt.  Brauchbar  im  gewöhnlichen  Sinne 
sind  solche  Naturen  nicht;  unter  Umständen  können  ein  paar  Last- 
träger viel  brauchbarer  sein.  Aber  wessen  Blick  auf  Ewiges  geheftet, 
wessen  Seele  von  einer  Welt  des  Geistes  erfüllt  ist,  der  kann  am 
Treiben  der  Zeugungsmenschen  nur  teilnehmen  «atStdc  x^P^^i  wie 
Sokrates  sagte,  des  Spieles  halber;  ingleichen  der  Künstler.  Um  wieder 
mit  Gottfried  Keller  zu  sprechen:  »Ruhe  zieht  das  Leben  an,  Unruhe 
verscheucht  es.  Gott  hält  sich  mäuschenstill,  darum  bewegt  sich  die 
Welt  um  ihn.  Für  den  künstlerischen  Menschen  nun  wäre  dies  so 
anzuwenden,  daß  er  sich  eher  leidend  und  zusehend  verhalten  und 
die  Dinge  an  sich  vorüberziehen  lassen  als  ihnen  nachjagen  soll. 
Denn  wer  in  einem  festlichen  Zuge  mitzieht,  kann  denselben  nicht  so 
beschreiben  wie  der,  welcher  am  Wege  steht«.  Der  in  einer  über- 
persönlichen Sphäre  Lebende  verliert  gar  leicht  die  Fähigkeit,  den  Er- 
fordernissen des  Tages,  den  Wünschen  der  Umgebung,  den  natür- 
lichen und  sozialen  Bedingungen  des  äußeren  Daseins  gerecht  zu 
werden.  Verschwenderische  Hingabe  an  die  üblichen  Pflichten  würde 
ihn  mit  Unfruchtbarkeit  bedrohen  und  den  Dämon  ertöten,  ohne  den 
er  nicht  wäre  was  er  ist.  Künstlertum  und  Beamtentum  sind  der 
Regel  nach  Gegensätze  und  müssen  es  sein.  Ein  dämonischer  Be- 
amter —  nicht  wahr,  lieber  Leser,  du  lächelst? 

Goethe  hat  den  schönen  Ausdruck:  die  Fortifikationslinien  meines 
Daseins.  Darunter  versteht  er  die  Begrenzung  seiner  besonderen  An- 
lagen und  Kräfte.  Das  Wissen  von  dem,  wozu  man  berufen  ist,  be- 
deutet die  Tugend  des  Schaffenden.  Das  Altertum  lehrte  einen  Zu- 
sammenhang zwischen  sittlicher  und  intellektueller  Bildung  und  ge- 
brauchte dafür  den  Satz,  Tugend  sei  Wissen.  Hierin  steckt  die  richtige 
Erkenntnis,  daß  es  keine  instinktive  Sittlichkeit  gibt.  In  jenen  halb  er- 
hellten Räumen,  die  der  Instinkt  bewohnt,  kann  wahre  Sittlichkeit  nicht 
leben,  denn  sie  hat  immer  die  Einsicht  in  den  Unterschied  von  Out 
und  Böse  zur  Voraussetzung.  Unterhalb  dieser  Einsicht  mag  Unschuld 
liegen,  doch  niemals  Sittlichkeit.  So  gibt  es  auch  eine  Sittlichkeit,  die 
darin  besteht,  daß  die  Erkenntnis  der  eigenen  Fähigkeiten  sich  ver- 
bindet mit  dem  ernsthaften  Versuch,  aus  ihnen  zu  machen,  was  nur 
irgend  gemacht  werden  kann.  Wir  können  das  die  Gewissenhaftigkeit 
des  Künstlers  nennen;  obgleich  der  Ausdruck  etwas  Kleinbürgeriiches 
und  einen  dumpfen  Geruch  an  sich  hat.  Gewissenhaftigkeit  meint 
hier  nicht:  irgend  welchen  Vorschriften  treuherzig  folgen,  sondern  ehr- 
lich mit  sich  und  aus  sich  heraus  arbeiten.  Der  geistig  Schaffende 
empfindet  stets  Gewissensunruhe,  wenn   er  mit  Dingen  sich  abgibt, 


DIE  SEELENVERFASSUNG  DES  KÜNSTLERS.  260 


die  nicht  zur  Aufgabe  seines  Lebens  gehören.  Ein  zeitweiliges  Ver- 
gessen der  Aufgaben,  für  die  er  da  ist,  kommt  freilich  vor,  aber  kaum 
hat  die  Ruhe  eine  Zeit  gewährt,  so  beginnt  das  aufgeregte  Spiel  im 
Innern  von  neuem  und  das  böse  Gewissen  ist  es,  das  ihn  zu  weiterem 
Schaffen  antreibt.  Daher  ist  das  »böse^  Gewissen  so  segensreich, 
und  nichts  Großes  würde  ohne  seine  Strafen  zu  stände  kommen. 
Ganz  anders  verhält  sich  das  Gewissen  bei  den  Versuchen  der  Un- 
reife, Ober  das  Niveau  oder  die  Fortifikationslinien  des  Ich  hinauszu- 
schreiten. Denn  das  Mißlingen  dieses  Versuchs  führt  eine  Selbstver- 
achtung geringerer  Grade  und  anderer  Betonung  herbei.  Man  soll 
sich  eben  die  Fahnen  hoch  stecken,  man  soll  das  Unmögliche  wagen, 
um  das  Mögliche  zu  erreichen,  das  Unglaubhafte  erstreben,  damit 
Glaubhaftes  geschehe.  Der  Kunstler,  der  Großes  erreichen  will,  darf 
sich  nicht  als  vergänglich,  sondern  muß  sich  als  endgültig  betrachten. 
Bisher  haben  wir  die  Seelenverfassung  des  Künstlers  gleichsam  in 
der  Vereinzelung  betrachtet;  wir  haben  den  Menschen  als  ein  für  sich 
stehendes  Wesen  und  seine  Künstlerschaft  als  eine  frei  schwebende 
Daseinsrichtung  aufgefaßt.  Da  jedoch  in  Wirklichkeit  der  Künstler 
nie  völlig  losgelöst  existiert,  sondern  an  Umgebung,  Stamm  und  Fa- 
milie gebunden  bleibt,  so  sind  jetzt  diese  die  Gesamthaltung  mit- 
bedingenden Momente  zu  untersuchen.  Der  Einfluß  der  Umgebung 
erfolgt  so  unwillküriich,  wie  etwa  des  Kindes  Sprache  beeinflußt  wird 
durch  den  Dialekt  der  mit  ihm  Verkehrenden;  ja  selbst  wenn  die 
nächste  Umgebung  des  Kindes  ein  ganz  reines  Deutsch  spricht  und 
das  Kind  sonst  wenig  mit  Leuten  zusammenkommt,  erhält  und  behält 
doch  seine  Sprache  die  Färbung  des  Milieus.  So  ist  es  hier.  In  einer 
ganz  rätselhaften  Weise  wirken  feinste  Ströme  und  unsichtbare  Strahlen 
aus  der  Außenwelt  auf  die  Innenwelt  des  Künstlers  ein,  namentlich 
in  den  Jugendjahren.  Allein  es  wäre  ganz  unmöglich,  hieraus  die 
Persönlichkeit  berechnen  zu  wollen,  so  wie  man  ein  Dreieck  berechnet 
aus  zwei  Seiten  und  dem  eingeschlossenen  Winkel.  Denn  immer  ist 
eine  angeborene  Beschaffenheit  als  unbekannte,  aber  wirksame  Größe 
beteiligt.  Auf  die  vererbte  Anlage  kommen  wir  gleich  zurück.  Vor- 
her jedoch  ist  nach  dem  Verhältnis  zur  künstlerischen  Umgebung 
zu  fragen.  Gewöhnlich  liegen  die  Dinge  so,  daß  in  der  Kunstübung 
der  bestimmten  Zeit  zwei  entgegengesetzte  Strömungen  sich  nach- 
weisen lassen,  zwischen  denen  der  junge  Künstler  zu  wählen  hat.  Ist 
er  einer  von  den  Echten  und  ein  Glückskind  dazu,  so  schließt  er  sich 
der  Partei  an,  der  die  Zukunft  gehört,  und  führt  sie  zum  Siege.  In 
einer  gewissen  Auffassung  erscheint  dieser  Zustand  der  Umgebung 
als  eine  zweckmäßige  und  fast  beabsichtigte  Vorbereitung  auf  das  Auf- 
treten des  Genies.  Nach  einer  anderen  Auffassung  verdankt  der  Künstler 


270  ^-  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

seine  Größe  dem  zufälligen  Umstände,  daß  er  in  einer  bewegten  und 
von  Keimen  erfüllten  Zeit  geboren  wurde.  Gleichviel  —  Tatsache  ist, 
daß  wir  Männer  wie  Shakespeare  oder  Raffael  von  zahlreichen  Talenten 
umgeben  sehen,  und  daß  sich  keine  Lebensbeschreibung  denken  läßt, 
in  der  dieser  Faktor  übersehen  würde. 

Aus  den  Lebensbeschreibungen  vieler  Dichter,  Maler,  Musiker  er- 
hellt, daß  sie  anfänglich  bestimmten  Vorbildern  folgten,  um  schließlich 
einen  neuen,  ihren  eigenen  Stil  zu  finden.  Das  Neue  ist  zunächst 
eine  Abweichung  von  der  individuellen  Gewohnheit,  braucht  aber  für 
die  Umgebung  nichts  Unerhörtes  zu  sein.  Umgekehrt  li^  es  bei  dem 
gleichfalls  vorkommenden  Tatbestand,  daß  eine  künstlerische  Persön- 
lichkeit von  Anfang  an  einen  Weg  einschlägt,  der  der  herrschenden 
Geschmacksrichtung  entgegengesetzt  ist  und  trotzdem  durch  Anregung 
und  Vorbild  entsteht.  Was  das  Individuum  während  seines  Lebens 
leistet,  braucht  in  ihm  selber  nicht  als  neu  empfunden  zu  werden  und 
ist  es  dennoch  für  die  Zeitgenossen.  In  beiden  Fällen  darf  die  Ab- 
weichung von  dem  Durchschnittlichen  nicht  überschätzt  werden:  es 
ist  und  bleibt  doch  eine  verhältnismäßig  geringe  Abänderung.  Der 
durchschnittliche  Künstler  wenigstens  setzt  nur  insoweit  seine  Persön- 
lichkeit und  seine  Erfindungskraft  durch,  als  er  das  Vorhandene  ein 
wenig  umbiegt. 

Daß  die  Persönlichkeit,  soweit  sie  im  Kunstwerke  sich  verrät,  Züge 
der  Volksart  zeigt,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Aber  Umfang  und  Gesetze 
dieser  Abhängigkeit  entziehen  sich  jeder  allgemein  theoretischen  Be- 
stimmung. Denn  eine  Nation  ist  immer  ein  Gemisch  von  vielen  Rassen, 
und  Fehler  in  der  Zurückführung  von  individuellen  Eigenschaften  auf 
nationale  oder  auf  Rasseneigentümlichkeiten  sind  an  der  Tagesordnung. 
Was  die  Familie  angeht,  so  ist  namentlich  davor  zu  warnen,  daß  die 
natürliche  Familie  nicht  mit  der  engeren  Namensfamilie  verwechselt 
werde.  Dieser  Fehler  wird  dadurch  so  bedenklich,  daß  die  den  Namen 
ändernden  Frauen  gleichfalls  verantwortlich  sind  für  das  Blut,  das  in 
den  Adern  der  von  ihnen  abstammenden  Künstler  rinnt.  Ein  neuerer 
Forscher  behauptet  freilich,  das  Kunsttalent  werde  vom  Vater  ererbt 
und  könne  als  männliche  Eigenschaft,  als  sekundäres  Geschlechts- 
merkmal gelten^").  Aber  daß  eine  hervorragende  Frau  einen  Sohn 
hat,  dessen  Genie  gemäß  den  veränderten  Umständen  deutlicher  in 
die  Erscheinung  tritt,  gehört  keineswegs  zu  den  Seltenheiten.  Ob  das 
künstlerische  Talent  leichter  auf  Erstgeborene  oder  Nachgeborene  über- 
geht, läßt  sich  mit  Sicherheit  nicht  entscheiden.  Die  volkstümliche 
Ansicht  billigt  den  Erstgeborenen  ein  Mehr  an  vererbtem  Talent  zu. 
Allein  Mozart  war  das  siebente  und  Boileau  gar  das  fünfzehnte  Kind 
seiner  Eltern. 


DIE  SEELEN  VERFASSUNG  DES  KÜNSTLERS.  271 


Wie  nun  das  Reellste  und  das  Geistigste,  vererbte  Anlage  und 
Lebensschicksale,  Zufälligkeiten  der  Abstammung  und  der  persönlichen 
Begegnung,  —  wie  dies  alles  zu  einer  künstlerisch  einheitlichen  Seele 
zusammenfließt,  das  vermag  nur  die  Kunst  des  Biographen  im  einzelnen 
Falle  deutlich  zu  machen;  die  allgemeine  Kunstwissenschaft  muß  sich 
mit  der  Erkenntnis  des  Problems  begnügen.  Einiges  sehen  freilich 
auch  wir.  Wir  bemerken,  daß  äußere  Umstände  verschiedentlich  ein- 
wirken. Armut  und  Not  brechen  die  Einen  und  stählen  die  Anderen. 
Es  gibt  Talente,  die  die  Peitschenhiebe  der  Not  so  unbedingt  brauchen 
wie  ein  Kreisel,  der  sonst  auch  nicht  auf  der  Spitze  stehen  kann. 
Manche  dagegen  gleichen  dem  Reifen,  der,  durch  einen  Schlag  getrieben, 
rund  und  sicher  seine  Bahn  durchläuft,  um  erst  am  Ende  niederzufallen. 
Die  einen  entwickeln  sich  unaufhörlich,  entfalten  immer  neue  Seiten 
ihres  Talentes,  versuchen  sich  bald  hier,  bald  dort,  und  es  kann 
ihnen,  wenn  sie  groß  veranlagt  sind,  wohl  gelingen,  daß  sie  auf  allen 
Feldern  fruchtbaren  Samen  ausstreuen  und  reiche  Ernte  gewinnen. 
Wiederum  andere  bleiben  so,  wie  sie  anfangs  waren:  sie  verfolgen 
stets  den  gleichen  Weg  und  bringen  es  auf  ihm  zur  höchsten  Voll- 
endung; aber  sie  dürfen  nie  ihre  Bahn  verlassen.  Talente  dieser 
letzten  Art  bringen  es  sicherer  und  schneller  zu  Erfolgen,  weil  das 
Publikum  sich  leichter  an  sie  als  an  die  schwankenden  Begabungen 
gewöhnt.  Unnötig  auszuführen,  daß  Erfolg  und  Ruhm,  unmittelbare 
Anerkennung  und  Ewigkeitswert  recht  häufig  auseinandergehen:  traurige 
Erfahrungen  zeigen  immer  von  neuem,  daß  der  Tageserfolg  solchen 
zu  teil  wird,  von  denen  nach  ihrem  Tod  niemand  mehr  spricht,  und 
daß  für  Bessere  die  Sonne  des  Ruhms  erst  am  Grabstein  aufgeht.  Und 
das  muß  beklagt  werden,  weil  die  alsbald  eintretende,  leidlich  allgemeine 
und  intensive  Anerkennung  gewöhnlich  die  Leistungsfähigkeit  erhöht. 
Allerdings  können  Erfolge,  namentlich  frühzeitige  und  übertriebene, 
den  Träger  des  Erfolges  zum  Leichtsinn,  zur  Faulheit  verleiten.  Aber 
in  der  Regel  wird  die  gefundene  Anerkennung  ein  Sporn  sein,  der 
nach  vorwärts  treibt.  Außerdem  sichert  sie  dem  mit  ihr  Bedachten 
mehr  Muße  und  Pause,  mehr  ausgeruhte  Kraft,  als  Konkurrenz  und 
hastendes  Tagestreiben  dem  noch  Ringenden  gewöhnlich  gönnen. 
Diejenigen,  die  Jahre  hindurch  vergebens  sich  bemühen,  ermatten 
schließlich  und  leisten  -  ihr  Leben  im  ganzen  betrachtet  -  kaum 
ein  Zehntel  dessen,  wozu  sie  befähigt  gewesen  wären.  Und  dies 
scheint  mir  das  Schmerzlichste  an  der  oft  ungerechten  Verteilung  des 
Erfolges:  es  geht  so  viel  geistige  Kraft,  so  viel  objektive  Leistung  da- 
durch verloren.  Teils  deshalb,  weil  gewisse  Dinge  eben  nur  mit  einem 
größeren  Vermögen  oder  in  einer  leitenden  Stellung  oder  unter  Teil- 
nahme weiterer  Kreise  zu   stände  gebracht  werden  können,  teils  aus 


272  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

dem  Grunde,  daß  der  dauernd  an  das  Pult  der  zweiten  Geiger  Ge- 
bannte die  notwendige  Frische,  den  Aufschwung  schließlich  einbüßt 

Es  gibt  freilich  ein  Verfahren,  sich  trotz  allen  Mißgeschicken  eine 
ausreichende  Spannkraft  zu  erhalten.  Man  muß  sich  durch  gesteigerte 
Selbstschätzung  über  die  Anerkennung  der  Mitlebenden  gleichsam 
hinausheben.  Indessen  ist  diese  Schutzmaßregel  für  die  übrigen  wenig 
erfreulich,  und  in  bestimmten  Formen  wird  sie  zur  lächerlichen  An- 
maßung. Ich  möchte  nur  psychologisch  begreiflich  machen,  warum 
so  viele,  die  es  —  wie  man  sagt  —  im  Leben  zu  nichts  gebracht 
haben,  von  sich  sehr  eingenommen  sind  und  über  die  Begünstigten 
mit  Verachtung  aburteilen.  Ohne  solchen  Glauben  an  sich  selbst  und 
ohne  die  ausgesprochene  Geringschätzung  der  Nebenbuhler  vermöchten 
sie  schlechterdings  nicht  weiter  zu  leben;  die  einzige  Wirkungsmög- 
lichkeit, die  ihnen  verbleibt,  ruht  auf  dieser  biologischen  Schutzmaß- 
regel. Außerdem  ist  tatsächlich  ein  unerschütteriiches  Selbstvertrauen 
eine  der  für  den  Erfolg  wichtigsten  Eigenschaften.  Die  großen  Er- 
folge schafft  nur,  wer  das  Leben  sich  dienstbar  und  die  Mitwelt  sich 
gefügig  glaubt;  wer  diesen  Glauben  nicht  aufbringt,  der  trete  zur  Seite. 
Es  liegt  etwas  Wahres  in  der  Vorstellung  kugelfest  zu  sein  —  sie 
trägt  den  Kämpfer  durch  Gefahren,  die  er  sonst  nicht  überwinden 
würde.  Denn  auf  allen  Schlachtfeldern  des  sozialen  Lebens  sind  Siege 
erfochten  worden,  die  nur  der  rücksichtslosesten  Verachtung  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  zufallen.  Auf  derselben  Reihe  steht  die 
Zähigkeit.  Ein  oberstes  Gebot  für  den  nach  Erfolg  Strebenden  lautet: 
lasse  dich  nicht  entmutigen,  denn  sonst  gibst  du  denen  recht,  die 
nichts  von  dir  halten  und  dir  nichts  gönnen.  Allerdings  gehört  viel 
Mut  und  Kraft  dazu,  tagaus  tagein,  jahraus  jahrein  unermüdlich  um 
den  Erfolg  zu  ringen.  Indessen,  wer  das  vermag,  eriebt  auch  in  ver- 
hältnismäßig vielen  Fällen  das  Gelingen:  plötzlich,  oft  ohne  daß  man 
einsieht,  weshalb  die  langsame  Häufung  gerade  jetzt  zum  Ziele  führt, 
stellt  der  Erfolg  sich  ein. 

Zu  diesen  Eigenschaften  der  Person  müssen  äußere  Umstände 
begünstigend  hinzutreten.  In  erster  Linie  die  »Protektion«,  wie  wir 
gern  mit  einem  Fremdwort  sagen.  Sie  wird  denen  am  sichersten  zu 
teil,  die  über  die  genannten  Eigenschaften  verfügen,  und  kann  von 
ihnen  auch  ohne  Scheu  angenommen  werden.  Schließlich  sind  wir 
Menschen  ja  alle,  ausnahmslos,  aufeinander  angewiesen  und  die  per- 
sönlichen Beziehungen  werden  sich  niemals  ausschalten  lassen.  Man 
muß  zufrieden  sein,  wenn  die  Protektion  nicht  so  weit  geht,  gänzlich 
Unwürdigen  einen  Erfolg  zu  verschaffen.  Das  erfüllte  Ideal  einer  un- 
persönlichen Gerechtigkeit  würde  viele  feine  und  wertvolle  Verhält- 
nisse einer  maschinenmäßigen  Gleichförmigkeit  aufopfern.    Empfindlich 


ANMERKUNGEN.  273 


werden  Bevorzugung  und  Zurücksetzung  eigentlich  erst  dort,  wo  eine 
Behörde  oder  eine  Institution  entscheidend  mitwirken;  denn  hier  er- 
wartet man  völlige  Unparteilichkeit.  Dazu  kommt,  daß  solche  Insti- 
tutionen in  der  Struktur  unserer  heutigen  Oesellschaft  widerrechtlich 
zu  Mittelpunkten  geworden  sind.  Von  staatlichen  Verwaltungen  er- 
trägt die  schaffende  Persönlichkeit  allenfalls  noch  einen  maßgebenden 
Einfluß,  obwohl  sie  es  ist,  die  Werte  schafft,  und  nicht  die  nur  ord- 
nende, administrative  Behörde.  Aber  daß  der  Erfolg  einer  kflnstleri- 
schen  Leistung  wesentlich  von  der  Gunst  jener  Geschäftsleute  abhangt, 
die  als  Theaterdirektoren,  Verleger,  Kunsthändler  u.  s.  w.  von  der  Tätig- 
keit der  Künstler  leben  —  und  nicht  gerade  kümmerlich  — ,  das  ist 
in  der  Mehrheit  der  Fälle  ein  arges  Mißverhältnis. 

Durch  das  Zusammenwirken  vieler  günstiger  Umstände,  insbeson- 
dere aber  durch  ausführliche  und  begeisterte  Mitteilungen  in  der  Presse 
entstehen  jene  seltenen,  triumphierenden  Erfolge,  die  den  Beglückten  ein 
für  allemal  aus  der  Reihe  der  Mitstrebenden  herausheben.  Ein  einziger 
durchschlagender  Erfolg  sichert  seinem  Träger  für  Jahrzehnte  die  Auf- 
merksamkeit des  Publikums;  auch  Mißerfolge  können  ihm  wenig  an- 
haben. Dem,  der  dieses  große  Los  gezogen  hat,  fliegt  alles  übrige  zu. 
Er  kann  fordern,  was  er  will:  ihm  wird  alles  gewährt,  und  zwar  auf 
Kosten  der  anderen.  Am  leichtesten  hat  er  es,  wenn  er  eine  -- Speziali- 
tät' ist  d.  h.  irgend  etwas,  an  sich  vielleicht  Minderwertiges  zu  bieten 
vermag,  worin  er  einzig  dasteht.  Würde  heute  ein  Fuhrknecht  aus 
seiner  Kehle  Akkorde  hervorbringen,  er  wäre  morgen  der  gefeiertste 
Sänger  auf  dem  Erdenrund.  Und  je  weiter  der  Kreis  möglicher  Konsu- 
menten ist,  desto  lohnender  ist  der  Erfolg.  Doch  genug  von  diesen 
Fällen,  die  fast  zur  Pathologie  des  Gemeinschaftslebens  gehören. 

Anmerkungen. 

M  Hartmanns  Ausfühningen  im  zweiten  Teil  seiner  Ästhetik  (Philosophie  des 
Schönen  S.  522—585)  erscheinen  mir  als  so  geschickt  und  überzeugend,  daß  ich 
ihnen  mehrfach  folgen  konnte. 

''  Näheres  in  den  Aufsätzen  von  F.  Paulhan,  Uinvention  und  Le  dhdopptmeni 
de  rinvention,  Revue  philosophiqiu  18Q8,  Bd.  45,  S.  225-258  und  Bd.  46,  S.  569  608. 
Femer:  Josiah  Royce,  The  psychoiogy  of  invention.  Psycho!.  Review  1898,  Bd.  5, 
S.  113    144. 

N  Zu  den  im  Text  vorangegangenen  und  folgenden  Betrachtungen  vergleicht 
man  mit  Nutzen  J.  Milsand,  UesthAique  anglaiu  1864  und  Karl  Spitteler,  Lachende 
Wahrheiten  1899. 

*\  Übrigens  bezweifelt  Spitzer  (H.  Hettners  Kunstphilos.  Anfänge  1903,  I,  327)» 
daß  diese  natürliche  Anlage  für  Konstruktion  dem  Baumeister  unentbehrlich  sei, 
und  meint,  die  ohne  Spezialbegabung  zu  erwerbende  reine  Technik  zusammen 
mit  entwickeltem  Geschmack  könne  für  die  Künstlerschaft  auf  diesem  Gebiete 
ausreichen. 

Dcitoir,  AtHietik  «ad  allf.  KmilwistemclMft.  18 


274  I.  DAS  SCHAFFEN  DES  KÜNSTLERS. 

*)  Wallaschek  hat  in  der  Vierteljahrsscfarift  für  Musikwissenschaft  1891  (Bd.  VII, 
Heft  1)  nachgewiesen,  daß  zu  gewissen  Gruppen  von  Sprachstörungen  Parallel- 
gruppen von  Störungen  des  musikalischen  Ausdrucks  zu  finden  sind,  und  daß  zwi- 
schen Sprechen  und  Singen  ein  ähnlicher  Unterschied  besteht  wie  zwischen  Schreiben 
und  Zeichnen,  der  schließlich  auf  die  Verschiedenheit  des  intellektuellen  vom  ge- 
fühlsmäßigen Ausdruck  zurückgeführt  werden  kann. 

')  Das  gleiche  gilt  von  Genuß  und  Kritik  eines  Dichtwerkes.  Nur  wird  hier 
der  erste  Vorgang,  der  der  »Einfühlung«,  meist  noch  zerlegt:  der  Leser  versetzt 
sich  in  das  Seelenleben  der  dichterischen  Gestalten  (oder  was  dasselbe  ist:  in  das 
des  Bekenntnislyrikers)  und  er  versetzt  sich  außerdem  (bei  Epen  und  Dramen)  in 
das  Seelenleben  des  Dichters,  insofern  dieser  als  von  seinen  Geschöpfen  verschieden 
hervortritt 

^  »Der  normale  Seelenverlauf  scheint  nun  darin  zu  bestehen,  daß  gemäß  dem 
ersten  Gesetz  Inhalte  sich  zusammenfinden,  und  zwar  verwandte  Inhalte,  die  sich 
in  einer  herrschenden  Synthese  vereinigen,  und  daß  zweitens  jede  Einheitbildung 
so  lange  beharrt,  bis  ein  Teil  ihrer  Faktoren  mit  neuen  Elementen  zu  einer  neuen 
Gruppe  verwachsen  ist«  (Das  Doppel-Ich,  2.  Aufl.,  S.  48.)  Vgl.  W.  James,  Prin- 
ciples  ofPsychology  1890,  I,  225  ff.  (*Thougfä  tends  to  personal  fomu^)  —  Hill  Tout 
in  den  Proceedings  of  the  Society  for  Psychical  Research  XI,  309.  —  Th.  Floumoy, 
Des  Indes  ä  la  planHe  Mars.  Etüde  sar  an  cas  de  somnambalisme  avec  giossoiaäe. 
1900,  S.  88  u.  öfter.  —  Th.  Poppe,  Friedrich  Hebbel  und  sein  Drama,  1900,  S.  103  ff. 

—  Schöne  Beobachtungen  und  Aphorismen  in  den  Tagebüchern  von  Amiel  und 
den  Goncourt.  An  vielen  Stellen  meiner  Dariegung  dürfte  ich  auch  Goethe  zu 
Zeugen  anrufen,  der  in  seinem  Aufsatz  »Shakspeare  und  kein  Ende«  über  Menschen- 
kenntnis und  dichterische  Seelenkenntnis,  über  Wortgewalt  und  Phantasie  mit 
wundervoller  Deutlichkeit  sich  ausgesprochen  hat 

*)  »Auch  die  Hypothese  des  Doppel-Ich  ist  eine  verallgemeinernde  Abstraktion 
aus  zahlreichen  Beobachtungen,  von  denen  vielleicht  jede  ihre  besondere  Erklärung 
verlangt«  »Ich  denke  bei  Ober-  und  Unterbewußtsein  nicht  an  eine  Art  geo- 
logischer Schichten  im  Gehirn,  sondern  wähle  die  Benennung  bloß  als  ein  leicht- 
verständliches Bild.«    (Das  Doppel-Ich,  2.  Aufl.,  S.  48  u.  13.) 

*)  »Ich  habe  in  meinem  ganzen  Leben  ein  eigentümliches  Gefühl  gehabt  in  der 
Gesellschaft  von  menschlichen  Wesen.  Ich  vergaß  ganz  mich  selbst  und  häufig  meine 
Umgebung,  und  hinter  den  Worten  und  Handlungen  der  Menschen  um  mich  schien 
ich  ein  anderes  Selbst  zu  sehen,  das  an  den  Drähten  zieht  und  die  Puppen  tanzen 
läßt  Die  Aussprüche,  die  von  ihren  Lippen  kamen,  sind  sonderbar  untermischt 
mit  anderen  Aussprüchen,  die  klanglos  sind.  Das  Ari>eiten  des  Gehirns  scheint 
vor  mir  zu  liegen  wie  ein  Uhrwerk,  und  Sprache,  Geste  und  Erscheinung  von 
Menschen  in  Gesellschaft  sind  nur  die  Bewegungen  der  Zeiger  auf  einem  Ziffer- 
blatt Ich  fühle  eine  wunderliche  Zuneigung  oder  Abneigung,  wie  es  gerade  kommt, 
im  Zusammensein  mit  solchen,  mit  denen  das  Leben  mich  in  Berührung  bringt 
Ja  noch  mehr:  ich  kann  nicht  auf  der  Straße  gehen,  in  einem  Eisenbahnwagen 
sitzen,  mich  unter  die  Menge  mischen  in  Theatern  und  auf  anderen  öffentlichen 
Sammelplätzen,  ohne  die  Hoffnung  und  die  Furcht,  die  Freude  und  den  Kummer 
von  menschlichen  Wesen  zu  empfinden.  Es  ist,  als  wenn  ich  den  Pulsschlag  ihrer 
Seelen  fühlte.  Manchmal  entrollt  sich  vor  mir  eine  ganze  Gesdiichte  gleich  der 
Druckseite  eines  Buches,  mit  dem  Unterschiede,  daß  ich  höre  (wodurch?)  und  sehe 

—  mit  anderen  Augen  —  Worte,  Töne,  Farben,  Formen,  Plätze,  von  denen  ich 
nie  gehört,  Gesichter,  die  ich  nie  gesehen,  Kleider  in  einem  Schnitt  und  einer 
Mode,  die   ich  nie  erblickte.     Eine  Reihenfolge  von  Bildern,  mannigfacher  und 


ANMERKUNGEN.  275 


fldmener  tis  im  Panoramt  oder  beim  Kinemttogniphen,  gleitet  vor  mir  vorfiber, 
nnd  sie  hat  sich  in  jedem  Falle,  in  dem  ich  untersuchen  konnte,  verknöpft  gezeigt 
mit  der  Person  oder  den  Personen,  in  deren  Gegenwart  die  Vision  kam.« 
tK.  C  Henry  Anderson,  Experiences  of  a  Seer,  The  Occult  Review,  1905,  I,  2,  S.  68.) 
'•)  Vgl.  P.  J.  Möbius,  Über  Kunst  und  Könstler,  1901,  S.  71  f.  Das  Beweis- 
verfahren durch  Beispiele  ist  nicht  sehr  fiberzeugend,  zumal  wenn  man,  wie  Möbius, 
annimmt,  daß  der  Vater  die  nämliche  Veranlagung  im  Latenzzustande  besessen 
haben  könne.  So  laßt  sich  schließlich  alles  beweisen.  Auch  L  Löwenfeld  scheint 
mir  zu  ausgiebig  mit  Vermutungen  zu  wirtschaften,  wenn  er  sagt:  »Die  Annahme 
der  kombinierten  Vererbung  latenter  väterlicher  und  mütterlicher  Fähigkeiten  ist 
von  großer  Tragweite,  da  sie  uns  das  Auftauchen  eines  Genies  in  einer  Familie 
erklärt,  deren  Glieder  sich  bisher,  soweit  bekannt,  in  keiner  Weise  auszeichneten. 
Sie  ist  aber  zugleich  notwendig,  da  das  Genie  nicht  ein  Produkt  der  Erziehung 
oder  Übung,  sondern  lediglich  der  ererbten  Anlage  ist,  die  hinwiederum  bei  den 
Vorfahren  zu  irgend  einer  Zeit  und  in  irgend  einer  Form  existiert  haben  muß.« 
(Über  die  geniale  Geistestätigkeit,  1903,  S.  102.) 


IL  Entstehung  und  Gliederung  der  Kunst 


1.  Die  Kunst  des  Kindes. 

Anfänge  der  Kunst  werden  aus  Funden  der  vorgeschichtlichen  Zeit 
der  Beobachtung  zugänglich.  Femer  erhalten  sie  Licht  von  den  Tat- 
sachen, die  sich  noch  jetzt  an  Kindern  und  Naturmenschen  feststellen 
lassen.  Diese  Tatsachen  sollen  zunächst  untersucht  und  aus  ihnen 
Folgerungen  über  den  Ursprung  der  Kunst  abgeleitet  werden. 

Die  Kunst  des  Kindes  kann  nur  derjenige  einigermaßen  verstehen, 
der  den  Dämmerzustand  der  Jugendjahre  nachzubilden  vermag.  In 
diesem  Lebensalter  geht  alles  ineinander  über:  Ich  und  Außenwelt, 
Traum  und  Wachen,  Wirklichkeit  und  Täuschung,  Gestern  und  Morgen, 
Begriff  und  Zeichen,  Denken  und  Versinnlichen.  Lebhafter  angeregten 
Kindern  sind  die  geometrischen  Figuren  sowohl  sichtbar  gewordene 
Begriffe  als  auch  Gegenstände  der  Außenwelt  als  auch  Symbole  ge- 
heimnisvoller Kräfte.  Der  Erwachsene  begreift  nur  noch  schwer, 
welche  unerhörte  Gewalt  ein  paar  sinnvolle  Linien  haben  können. 
Aber  für  den  aufwachsenden  Menschen  bedeutet  der  einfache  Umriß, 
den  er  im  Gegensatz  zu  allen  Tieren  hervorbringt,  eine  ganze  Welt 
Freude  an  der  exakten  Übereinstimmung  mit  dem  Original  und  an 
Genauigkeit  überhaupt  entwickelt  sich  erst  später.  Das  Undeutliche 
ist  vielmehr  zunächst  die  unerschöpfliche  Quelle  von  Reizen  für  das 
kindliche  Gemüt.  Denn  des  Kindes  lebhafte  Phantasie  findet  mehr 
Anregung  und  Beschäftigung  am  verheißungsvoll  Unbestimmten  als 
am  endgültig  Bestimmten.  Hierin  li^  etwas  wahrhaft  Künstlerisches. 
Diese  Vertrautheit  mit  dem  Geheimnisvollen  schließt  jede  intellektuelle 
Wißbegierde  aus,  so  wie  sie  vom  Ästhetischen  ausgeschlossen  ist 
Daher  deuten  Kinder  das  ihre  Sinne  Entzückende  aus  dem  eigenen 
Seelenleben  heraus  durch  ein  Assimilieren,  das  die  Grenzen  der  Wirk- 
lichkeit überschreitet.  Sie  erwärmen  und  beleben  alles  nach  Maßgabe 
ihrer  geringen  Erfahrung,  sprechen  in  Metaphern,  sehen  in  dem  Mütz- 
chen einen  alten  lieben  Freund,  bestrafen  den  Tisch,  an  dem  sie  sich 
gestoßen  haben,  bedauern  die  Steine,  die  immer  an  demselben  Platz 
liegen  müssen  u.  dergl.  mehr.  Sie  schaffen  Welten  und  bevölkern  sie 
mit  Gestalten,  die  ebenso  lebendig  sind  wie  wirkliche  Menschen  und 


DIE  KUNST  DES  KINDES.  277 

Menschen  der  Kunst;  sie  lassen  diese  Menschen  geboren  werden  und 
sterben,  glQckh'ch  und  unglücklich  sein.  Die  Grenzen  zwischen  den 
Lebensgebieten  sind  verwischt,  oder  vielmehr  sie  haben  sich  noch 
nicht  herausgebildet.  Daher  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  fast  die 
Hälfte  aller  Kinder  auch  die  Fähigkeit  des  Farbenhörens  besitzt,  d.  h. 
bestimmte  Klänge  mit  bestimmten  Farbenvorstellungen  begleitet. 

Eine  Folge  dieser  Verschwommenheit  ist  aber  auch  das  gerade 
entgegengesetzte  Verhalten  der  Kinder.  Da  Sein  und  Schein  durch- 
einander laufen,  so  werden  an  die  Erzeugnisse  der  Einbildungskraft 
dieselben  Anforderungen  gestellt  wie  an  die  Wirklichkeiten.  Märchen 
dürfen  um  keinen  Preis  in  den  Einzelheiten  abgeändert  werden,  gleich- 
viel ob  sie  von  den  Kindern  erfunden  sind  (ein  seltener  und  schwer 
festzustellender  Fall)  oder  ob  sie  ihnen  vorher  erzählt  worden  waren. 
Bilder  werden  genau  so  betrachtet  wie  außerkOnstlerische  Gegenstände. 
Für  das  noch  nicht  erzogene  Kind  hat  nur  das  Gegenständliche  und 
Benennbare  Interesse;  Stimmung,  Farbenreiz,  Komposition,  Linienfüh- 
rung sind  seinen  ursprünglichen  Instinkten  ebenso  fremd  wie  Aufbau 
eines  Dichtwerkes  und  Feinheit  der  Charakteristik.  Frische  Heiterkeit 
und  friedliche  Naivität,  die  uns  an  Kindergeschichten  und  -bildern 
entzücken,  sind  dem  jungen  Erdenbürger  selbstverständlich  und  daher 
gleichgültig.  Nach  Handlung  und  zwar  nach  der  abenteuerlichsten, 
nach  neuen  Eindrücken  und  Aufklärungen  lechzt  er  —  ein  hungriger 
Vorstellungshascher,  ein  rastloses  Wissenstier.  Ist  es  ja  doch  das 
Neue,  das  seinem  Bedürfnis  nach  Tätigkeit  entspricht.  Die  Kunst, 
der  das  unverbildete  Kind  seine  Neigung  entgegenbringt  und  seine 
schwachen  Kräfte  zur  Verfügung  stellt,  ist  eine  besondere  Kunst. 
Kinder  brauchen  ihre  eigene  körperiiche  und  auch  geistige  Kost,  sie 
haben  ihre  Art  des  Genießens  und  des  Schaffens.  Was  wissen  sie 
vom  Tragischen?  Was  sollen  sie  mit  dem  Komplizierten  anfangen? 
Man  hat  beobachtet,  daß  Kinder  sich  eher  an  Blumen  als  an  Land- 
schaften ergötzen,  daß  sie  nicht  einem  ganzen  Bild,  sondern  den 
Teilen  ihre  Aufmerksamkeit  schenken,  daß  sie  Farben  sehr  gern  sehen 
und  gleichmäßig  bewerten  (nur  die  Neuheit  einer  Farbe,  nicht  ihre 
Qualität  setzt  einen  Wertunterschied).  Das  entspricht  der  Beschränkt- 
heit der  Erfahrung  und  des  Bewußtseins.  Ferner.  Der  kindliche 
Egoismus  verleugnet  sich  auch  hier  nicht;  ein  kleines  Mädchen  z.  B. 
sagte:  Dieser  Engel  ist  der  schönste,  denn  er  hat  Locken  wie  ich  ^). 
Endlich.  Überall  spürt  man  das  Tätigkeitsverlangen  durch,  das  die 
Kinder  im  Durchschnitt  zu  übermütigen,  lärmenden  und  ungebärdigen 
Geschöpfen  macht  kurzum,  die  Kunst  des  Kindes  ist  eine  der  ihnen 
eigentümlichen  Lebens-  und  Lustformen. 

Wenn  Kinder  aus  eigenem  Antrieb  zeichnen'),  so  bilden  sie  keine 


278  H-  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

vorhandenen  Objekte  nach  —  denn  welchen  Grund  hätten  sie  dazu, 
etwas  Gegenwärtiges  zu  wiederholen?  — ,  sondern  sie  versuchen,  das 
Erinnerungsbild  eines  Gegenstandes  auf  das  Papier  zu  bringen.  Ihre 
Gedächtnisvorstellung  aber  ist  keine  getreue  Kopie,  vielmehr  ein  ab- 
gekürztes Schema,  das  aus  großen,  durchgehenden  Linien  besteht  und 
dem  vereinfachenden  Auffassungsvorgang  entstammt.  Sie  geben  dem 
vierbeinigen  Tisch  immer  vier  Beine,  obwohl  sie  oft  genug  nur  zwei 
gesehen  haben,  sie  machen  den  Stiefel  möglichst  schwarz,  weil  sie 
wissen,  daß  er  schwarz  ist,  und  vergessen  haben,  wie  viel  helle,  ja 
weiße  Lichter  darauf  liegen.  Ihre  Absicht  nähert  sich  selten  dem 
Streben  des  Künstlers,  das  Gesehene  mit  den  Forderungen  des 
Gefühls  in  Übereinstimmung  zu  bringen.  Im  Gegenteil,  Kinder  sind 
die  eigentlichen  Ideenmaler:  sie  geben  in  wenigen  Strichen  den  B^^ff 
eines  Dinges  —  und  gerade  desw^en  kein  Bild.  Wie  nach  der 
Überiieferung  der  Logik  Begriffe  und  Worte  das  Wesen  der  Sachen 
ausdrücken  und  daher  in  der  Beschränkung  auf  feststehende  »wesent- 
liche Merkmale«  sich  rein  darstellen  sollen  (offenbar  weil  aus  diesen 
»wesentlichen  Merkmalen«  die  übrigen  sich  nach  festen  Beziehungen 
ableiten  lassen),  so  könnte  man  auch  von  den  Mittellinien  der  primi- 
tiven Malerei  sagen,  sie  seien  die  graphisch  fixierten  wesentlichen 
Merkmale.  Erst  allmählich  erwacht  das  Verständnis  für  die  Form-  und 
Farbenwerte  unserer  Umgebung,  und  es  löst  sich  die  ästhetische 
Anschauung  ab  von  den  ihr  im  Keime  beigegebenen  wissenschaft- 
lichen Momenten.  Auch  gelangen  Kinder  —  hier  übrigens  in  Über- 
einstimmung mit  jugendlichen  Völkern  —  erst  langsam  dazu,  die 
Einzelheiten  dem  Ganzen  richtig  unterzuordnen.  Kinder  zeichnen 
Häuser,  durch  deren  Fassade  hindurch  das  Innere  sichtbar  wird,  sie 
machen  die  Menschen  höher  als  die  Zimmer,  sie  geben  dem  Profil- 
gesicht ein  Enface-Auge.  Solche  Zusammenhanglosigkeit  findet  sich 
außer  in  der  Kunst  der  primitiven  Völker  auch  noch  in  der  ägypti- 
schen und  griechischen  Kunst  Es  werden  eben  gewisse  Elemente 
gleichsam  für  sich  behandelt  und  nicht  ernsthaft  genug  mit  den 
übrigen  verknüpft 

Das  Zeichnen  der  Kinder  ist  verhältnismäßig  genau  durchforscht  *). 
Es  fällt  nicht  schwer,  die  Gründe  für  diese  anscheinend  tadelnswerte 
Einseitigkeit  der  Wissenschaft  zu  erkennen.  Die  Kinderzeichnungen 
haben  vor  den  Kinderdichtungen  voraus,  daß  sie  unbeeinflußt  ent- 
stehen und  sich  entwickeln  können,  während  wir  bei  den  von  unseren 
Kleinen  ersonnenen  Abzählverschen,  Liedern  und  Geschichten  niemals 
genau  wissen,  wieviel  wirklich  von  ihnen  stammt  Dem  Trällern, 
Singen  und  sonstigen  Musikmachen  ist  das  »Malen«  dadurch  über- 
legen, daß  seine  Leistungen  bleibende  sind  und  sich  ohne  Abände- 


DIE  KUNST  DES  KINDES.  279 

ning  vervielfältigen  lassen.  Daher  lohnt  es  in  der  Tat,  den  Werde- 
gang der  kindlichen  Bilderproduktion  etwas  näher  zu  verfolgen;  bei- 
läufig  gesagt:  dieses  Problem  hat  gamichts  zu  tun  mit  der  Erziehung 
durch  die  Kunst  und  zur  Kunst,  obgleich  die  drei  Dinge  meist  mit- 
einander vermengt  werden. 

Das  Zeichnen  beginnt  als  Muskelubung  und  Bewegungsspiel. 
Krumme  Linien  werden  planlos  durcheinander  gewirrt,  und  zwar  in- 
folge des  physiologischen  Bedürfnisses,  die  Muskeln  der  Hand  spielen 
zu  lassen.  Wenn  wir  Erwachsenen  einen  Bleistift  mit  der  Spitze  aufs 
Papier  halten  und  gleichzeitig  an  beliebige  andere  Dinge  denken,  so 
werden  wir  in  der  Regel  nach  zwei,  drei  Minuten  von  einer  scheinbar 
selbsttätigen  Bewegung  des  Bleis  überrascht.  Geben  wir  ihr  nach, 
so  entstehen  ineinander  laufende  Kurven,  und  bei  manchen  Menschen 
entwickelt  sich  daraus  das  »automatische«  Schreiben.  Denselben  Vor- 
gang kann  man  gelegentlich  auch  bei  Kindern  beobachten.  Meistens 
jedoch  wird  die  Bewegung  bewußt  herbeigeführt  und  genossen. 
Weniger  die  geringfügige  Tätigkeit  als  ihr  sichtbarer  Erfolg  locken 
das  Kind,  und  der  nächste  Schritt  ist  der,  daß  diesen  Zufallsgebilden, 
die  durch  Ermüdung  der  Hand  ein  Ende  erreicht  haben,  eine  willkür- 
liche Bedeutung  beigelegt  wird.  Mit  der  Zauberkraft  seiner  üppigen 
Phantasie  sieht  unser  kleiner  Freund  in  dem  Gekrakel  jetzt  eine  Kuh 
und  fünf  Minuten  später  ein  Haus  -  wir  müssen  beides  ihm  glauben. 
Aber  es  dauert  nicht  lange,  da  geht  eine  Idee  dem  Kritzeln  und 
Schmieren  voraus.  Das  Kind  will  nunmehr  eine  Vorstellung  zum  Aus- 
druck bringen.  Es  bildet  zu  diesem  Zweck  keineswegs  den  der  Vor- 
stellung zu  Grunde  liegenden  wirklichen  Gegenstand  nach;  selbst 
wenn  er  ihm  vorgezeichnet  wurde,  entnimmt  es  daraus  lediglich  das 
Was  und  nicht  das  Wie.  Sondern  es  gibt  seine  Sachkenntnis  in 
linearen  Symbolen  wieder. 

Die  Folgen  davon,  daß  ein  Wissen  bekundet  und  alles  Gewußte 
mit  dem  Griffel  erzählt,  ja  aufgezählt  werden  soll,  sind  zahlreich  und 
bedeutsam,  zumal  in  Verbindung  mit  der  naturgemäß  ungelenken 
Technik.  Einmal  erklären  sich  daraus  gewisse  ständige  Wunderiich- 
keiten  solcher  Zeichnungen:  ich  nannte  schon  vorher  die  Vierbeinig- 
keit eines  Tisches  in  solcher  Stellung,  wo  nur  zwei  zu  sehen  sind. 
Oder  es  wird  die  Vornansicht  eines  Menschenantlitzes  gezeichnet  und 
eine  zweite  Nase  links  in  der  Seitenansicht  hinzugefügt,  weil  das  Kind 
weiß,  daß  die  Nase  hervorragt  und  dies  Hervorragen  nicht  anders 
darstellen  kann.  Zwei  Beispiele  dafür  finden  sich  auf  Tafel  XIV; 
K  bedeutet  Knabe,  M  Mädchen,  und  die  Zahl  gibt  das  Lebensalter. 
Die  Ohren  werden  schnöde  vernachlässigt,  Arme  und  Beine  an  be- 
liebigen Stellen  angesetzt  oder  auch  zu  Händen  und  FOBen  verkum- 


280  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

mert,  überhaupt  nur  einige  Teile  durch  die  jeweils  bequemsten  Striche 
angedeutet,  wie  wenn  der  kleine  Zeichner  sagen  wollte:  ich  weiß,  da 
ist  etwas.  (Vgl.  Tafel  XIV.)  Hierher  gehört  femer  die  Durchsichtig- 
keit der  Körper:  unter  dem  Hut  sieht  man  den  Schädelumriß,  durch 
den  Frauenrock  hindurch  die  Beine,  hinter  der  Hauswand  die  Möbel. 
Den  Kindern  fehlt  eben  die  Einsicht  für  das  Besondere  der  Malerei 
und  für  die  Beschränktheit  der  Mittel,  mit  der  gerade  der  Kunst- 
charakter der  Malerei  verknüpft  ist.  Deshalb  nehmen  sie  keine  Rück- 
sicht auf  Schönheit  und  wagen  in  glücklicher  Unkenntnis  aller  Schwie- 
rigkeiten das  Unmögliche.  Bis  zum  neunten  Lebensjahr  (nach  anderen 
Angaben  sogar  bis  zum  vierzehnten)  scheint  ihrem  Griffel  nichts  un- 
erreichbar; sie  sind  sehr  stolz  auf  ihre  Werke  und  lieben  es  nicht, 
daß  man  daran  herumbessert.  Sobald  aber  Geschmack  sich  einstellt, 
schämt  sich  der  kleine  Künstler  seiner  Leistungen,  gibt  gewöhnlich 
das  Zeichnen  für  Jahre  auf  und  beginnt  nach  dieser  Pause  von  neuem. 
Das  ist  dann  aber  nicht  mehr  Kindeskunst. 

Zwei  Punkte  verdienen  die  besondere  Aufmerksamkeit  des  Ästhe- 
tikers. Wenn  es  wahr  ist,  daß  Kinder  stets  »aus  dem  Kopf«  zeichnen, 
so  sind  wir  hier  auf  einen  ähnlichen  Vorgang  gestoßen  wie  bei  der 
Seelenkenntnis  des  Künstlers,  nämlich  auf  die  Tatsache,  daß  Phantasie- 
erzeugnisse und  Gestaltungstrieb  am  Anfang  stehen  (s.  S.  252).  Die 
Lehre  von  der  Mimesis  wird  wiederum  erschüttert.  Allerdings  finden 
sich  einige  Berichte,  die  zu  ihren  Gunsten  sprechen.  Eckermann  er- 
zählt (in  der  Einleitung  zu  seinen  Gesprächen  mit  Goethe),  daß  er  als 
Knabe  auf  einem  Tabakpaketchen  das  Bild  eines  Pferdes  gesehen  und 
den  unwiderstehlichen  Drang  zum  Nachzeichnen  empfunden  habe. 
»Als  ich  fertig  war,  kam  es  mir  vor,  als  sei  meine  Nachbildung  dem 
Vorbilde  vollkommen  ähnlich,  und  ich  genoß  ein  mir  bisher  unbe- 
kanntes Glück  . . .  Von  dieser  Zeit  an  veriieß  mich  der  einmal  erwachte 
Trieb  der  sinnlichen  Nachbildung  nicht  wieder.«  Indessen,  solche 
Selbstbeobachtungen  sind  späriich  und  vielleicht  in  der  Erinnerung 
verfälscht;  meistens  nämlich  kommt  Freude  an  der  Ähnlichkeit  zu 
Stande,  indem  durch  bloßen  Zufall  die  schematisch  gemeinten  Linien 
mit  der  Wirklichkeit  oder  der  Vortage  genauer  übereinstimmen.  —  Das 
zweite  Ergebnis  von  allgemeinerem  Wert  beruht  in  den  »gezeichneten 
Mitteilungen«.  Sie  eröffnen  uns  einen  Ausblick  auf  den  Zusammen- 
hang zwischen  Zeichnen  und  Schreiben,  Sprache  und  BildkunsL 
Kinderzeichnungen  sind  Mitteilungen,  in  denen  die  Linien  teils  als 
allgemeine  Begriffe  oder  Worte,  teils  als  Schriftzeichen  auftreten;  sie 
verdeutlichen  eine  ursprüngliche  Beziehung  zwischen  diesen  Größen, 
deren  Tragweite  wir  erst  später  (S.  288)  würdigen  können.  Ein  hüb- 
sches Beispiel,  freilich  nicht  von  Kindern,  sondern  für  Kinder  ersonnen, 


DIE  KUNST  DES  KINDES. 


281 


ist  das  durch  graphische  Erzählung  allmählich  entstehende  Bild  eines 
Tieres:  ich  gebe  zwei  Proben  dieser  unschuldigen  und  sinnvollen 
Scherze,  Walter  Cranes  Buch  über  Linie  und  Form  entnommen. 


Die  Zeichnungen  werden  nacheinander  s:emacht,  wie  es  durch  die  Zahlen  ange- 
deutet  ist  Zu  Flg.  14  gehört  folgendes  Oeschichtchen.  (I)  Der  kleine  Mann  baut 
sich  ein  kleines  Haus,  das  ein  Fenster  (2)  hat  Außerdem  macht  er  sich  einen 
breiten  Weg  (3)^  der  zu  einem  schönen  See  (4)  fuhrt  Darin  sind  viele  Fische  (5). 
Dies  herrliche  Besitztum  erregt  den  Neid  der  ärmeren  Nachbarn;  sie  beraten  mit* 
einander  in  der  Nähe  des  Teiches  in  Gruppen  zu  je  drei  Mann  (6).  Dann  schleichen 
sie  auf  zwei  verschiedenen  Pfaden  (7  u.  8)  zum  Teich.  Aber  bei  ihrer  Ankunft  be- 
kommen die  Fische  einen  furchtbaren  Schreck,  springen  aus  dem  Wasser  heraus  (9)^ 
und  der  kleine  Mann,  der  den  Lärm  hört,  flieht  entsetzt  aus  dem  Hause  (W)  — 
and  so  U  may  ht  said^  *the  goose  is  caokid*.  —  In  Fig.  15  steht  T  fi)  für  Thomas 
und  das  darunter  gelegte  C  (2)  für  Charies.  Das  waren  zwei  Freunde;  die  bauten 
ein  Haus  mit  zwei  Schornsteinen  (3)  und  zwei  Fenstern  (4),  Vor  der  Tur  pflanzten 
sie  Gras  (5),  Als  nun  das  Haus  fertig  war,  da  gingen  Thomas  und  Charies  auf 
Reisen  (6).  Nach  langer  Wanderung  erreichten  sie  das  Ende  der  Welt  (7).  Da 
schien  es  ihnen  gut  heimzukehren,  aber  erst  nach  vier  bedenklichen  Abenteuern 
gelangten  sie  in  ihr  Häuschen  zurück  —  and  live  happUy  eter  afler  in  the  form  wesee. 


Wenn  bislang  ausschließlich  vom  Zeichnen  gesprochen  wurde»  so 
hatte  diese  Vernachlässigung  von  Fart>e  und  Plastik  ihren  Orund  in 


282  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

den  Tatsachen.  Bei  den  unserer  Beobachtung  unterworfenen  Kindern 
treten  der  Gebrauch  der  Farbe  und  das  Modellieren  auffällig  zurück; 
bei  Kindern  anderer  Zeiten  und  Völker  mag  es  anders  gewesen  sein. 
Es  scheint  keine  ursprungliche  Sehnsucht  nach  farbigen  Wirkungen 
vorhanden:  Schwarz  und  Weiß  genügen  dem  Kinde.  Erst  allmählich 
entsteht  Neigung  zum  Tuschen,  und  zwar  werden  zunächst  die  Farben 
dekorativ,  dann  realistisch,  endlich  in  künstlerischen  Abstufungen  ver- 
wendet. Doch  läßt  sich  kaum  sagen,  wie  viel  Schuld  die  Erziehung 
daran  hat.  Ich  möchte  wohl  glauben,  daß  den  Kleinen  z.  B.  das 
Modellieren  in  Ton  noch  besser  liegen  würde  als  das  Zeichnen,  aber 
die  Unbequemlichkeiten  verhindern  ausgedehnte  Versuche.  Es  scheint 
mir  femer  sicher,  obgleich  im  Widerspruch  mit  verbreiteten  Theorien, 
daß  der  Ursprung  der  recht  dürftigen  Kindermusik  nicht  in  Zuständen 
der  Erregung,  sondern  in  den  schwächeren  Gemütsbew^^ngen  zu 
suchen  ist.  Wenigstens  das  Singen  pfl^  sich  einzustellen,  wenn 
Kinder  stillvergnügt  in  einer  Ecke  sitzen  oder  behaglich  sich  ergehen: 
dann  trällern  und  summen  sie.  Hingegen  hört  man  Schmerz  und 
Freude  weit  seltener  zum  musikalischen  Ausdruck  gelangen.  Sehr 
begreiflich,  denn  dabei  kommt  es  auf  schnelle  und  sichere  Übermitte- 
lung des  Affektes  an.  In  jenen  ruhigeren  Stimmungen  und  in  dem 
beneidenswerten  Gefühl  überschüssiger  Jugendkraft  wurzelt  ja  auch 
das  Spiel,  und  von  seinem  Zusammenhang  mit  der  Kunst  ist  heute 
jedermann  überzeugt. 


2.  Die  Kunst  der  Naturvölker. 

Können  wir  überhaupt  wissen,  ob  es  eine  primitive  Kunst  gibt? 
Wenn  ein  Naturmensch  sein  Werkzeug  schön  rundet  und  glättet,  so 
mag  ihn  die  Erhöhung  der  Gebrauchsfähigkeit  leiten;  wenn  er  tanzt 
und  singt,  so  ist  er  vielleicht  bloß  vom  Gemeinsamkeitsgefühl  be- 
stimmt. Solche  Bedenken  verschwinden  bei  näherer  Betrachtung. 
Denn  schon  die  äußere  Ähnlichkeit  aller  dieser  Leistungen  mit  unseren 
Kunstwerken  ertaubt  die  Unterordnung  unter  den  Begriff  der  Kunst 
Dazu  kommt,  daß  Kunst  zu  allen  Zeiten  und  unter  allen  Umständen 
mehr  als  eine  Anhäufung  von  Schönheiten  oder  Verewigung  von 
ästhetischen  Reizen  bedeutet.  Sie  ist  eine  Form  des  geistigen 
und  gesellschaftlichen  Lebens,  und  als  solche  bei  den  Natur- 
völkern ebenso  gut  vorauszusetzen  wie  Religion,  Wissenschaft,  Recht 
Uns  liegt  nur  ob,  von  der  besonderen  Beschaffenheit  der  primitiven 
Kunst  ein  zutreffendes  Bild  zu  erhalten.  Wie  schwer  das  ist,  lehrt 
ein  Blick  auf  die  uns  stammesfremde,  im  übrigen  jedoch  hochentwickelte 


DIE  KUNST  DER  NATURVÖLKER.  283 

und  bereits  seit  Jahrzehnten  von  unserer  Kultur  aufgenommene  japa- 
nische Kunst.  Wir  kennen  und  lieben  einen  zarten,  launischen  Japo- 
nismus,  der  manchmal  in  eine  technisch  meisterhafte  Wiedergabe 
scharf  beobachteter  Wirklichkeit  umschlägt.  Kluge  Japaner  jedoch  er- 
klären diese  Auffassung  für  ein  grobes  Mißverständnis.  Sie  selbst 
sehen  in  ihrer  Kunst  den  gewaltigen  Ausdruck  des  asiatischen  Geistes, 
genauer  der  chinesischen  Wissenschaft  und  des  indischen  Glaubens. 
Nicht  das  köstliche  Kunstgewerbe,  nicht  Vögel  und  Blumen,  nicht 
Pflaumenblöten  seien  der  Sinn,  sondern  der  Drache,  die  Todesverach- 
tung, die  buddhistische  Selbstaufopferung  bildeten  die  allgemeinen  und 
zugleich  die  künstlerischen  Ideale^).  Ich  persönlich  kann  mir  kein 
Urteil  anmaßen;  ich  meine  aber,  daß  das  Bestehen  so  grundverschie- 
dener Ansichten  über  etwas,  was  offen  zu  Tage  liegt,  unserem  Urteil 
Ober  primitive  Kunst  nur  schwachen  Wahrscheinlichkeitswert  beläßt. 
Nichtsdestoweniger  müssen  wir  versuchen,  den  von  der  Völkerkunde 
gesammelten  und  teils  von  Geschichtsforschern  teils  von  Philosophen 
durchleuchteten  Stoff  zu  beschreiben^). 

Wir  besprechen  fürs  erste  alles,  was  von  der  Hand  gefertigt  und 
für  das  Auge  bestimmt  ist.  Ihrem  Inhalte  nach  ist  die  bildende 
Kunst  Darstellung  der  Menschen-  und  Tierwelt,  mit  der  ja  der  Mensch 
niederer  Kulturstufe  viel  enger  sich  verbunden  fühlt  als  mit  der  übrigen 
Umgebung.  Dies  gilt  von  Jäger-  und  Fischerstämmen,  von  Australiern, 
Buschmännern  und  Polarvölkern  des  Nordens.  Als  Gegenstand,  an 
dem  die  künstlerische  Tätigkeit  ausgeübt  wird,  dient  vorzugsweise 
der  eigene  Körper.  Der  erste  und  einfachste  Körperschmuck  ist  die 
abwaschbare  und  veränderiiche  Bemalung,  dann  folgt  die  dauernde 
Aufprägung  von  Mustern  durch  Narbenzeichnung  und  Tätowierung,  und 
schließlich  allerhand  beweglicher  Schmuck  und  Putz.  Durch  keine  der 
drei  Arten  wird  die  gattungsmäßige  Schönheit  des  nackten  Leibes  ge- 
hoben; diese  kosmetische  Kunst  hat  nichts  mit  Schönheit  zu  tun.  Sie 
entspringt  als  Besitzschmuck  der  Freude  am  Eigentum  und  an  der 
Unterscheidung,  wirkt  als  Reiz  auf  das  andere  Geschlecht  und  als 
Abschreckungsmittel  auf  die  Feinde,  besonders  aber  als  Schutzschmuck 
im  Sinne  von  Amuletten.  So  sicher  nun  diese  Vornahmen  mit  aber- 
gläubischen Vorstellungen  zusammenhangen,  so  zweifellos  kommt  in 
ihnen  ein  Suchen  nach  einem  Jenseits  des  Gegebenen  zum  Ausdruck. 
Denn  keineswegs  herrscht  hier  die  Nachbildung  von  Menschen-  und 
Tierformen,  sondern  die  scheinbar  willküriiche  Verzierung  und  das 
Muster.  In  der  Ausschmückung  wie  überhaupt  in  der  bildenden  Kunst 
der  Naturvölker  finden  sich  gewisse  ornamentale  Urmotive,  die  bei 
Völkern  aller  Erdteile  nachgewiesen  sind,  ohne  daß  an  eine  Wande- 
rung  des   Motivs  gedacht   werden   könnte.     Da  es  ausgeschlossen 


2S4  ^   E^nrSTEHUKG  UXD  GLIEDERU31G  IKK  KL35T. 


schemt,  daB  etwa  dk  turanischen  Hirten  von  den  penarascbeB  bMSat- 
tum  odtr  diese  von  jenen  gewisse  Ornamente  enffiefaen  hatten^  so 
laben  wir  es  hier  mit  Mustern  zu  tun,  die  gieicfamäflig  ood  dennoch 
selbständig  äberaO  entstanden  sind  Solche  Wurzeifonncs  der  Oma- 
mentik,  die  sich  in  Geweben  am  deutlichsten  ze^en,  gehen  esdgcn 
For^hem  als  Symbole  für  dnen  allgemdnai  Feuerkuftus^  der  einst 
über  die  ganze  Erde  verbreitet  war.  Diese  Annahme  wurde  damh 
gut  übereinstimmen,  daß  die  ursprünglichen  Myttien  und  Epen  gicidi- 
falls  den  Licht-  und  Sonnenkultus  zum  Ausdruck  bringen.  Aber  nur 
in  sehr  gezwungener  Wdse  lassen  sich  die  dnzdnen  Formen  and 
Farmenketten  auf  Nachbiklungen  der  Sonne,  des  Feuerahars  u.  dergL 
zurückfuhren,  und  noch  viel  schwerer  ist  es,  alle  oder  ein^  von 
ihnen  aus  den  Verrichtungen  bdm  Feuerkultus  abzuldten. 

Es  ist  deshalb  dne  genauere  Prüfung  nötig.  Die  Figuren,  auf  die 
hier  angespidt  wurde,  machen  vielfach  den  Eindruck  geometrischer 
Figuren«  Es  sind  Drdecke,  Krdse,  Rechtecke,  paraUde  Lim'en,  Winkel 
in  gidchmäßiger  Folge  von  vielen  Exemplaren  dner  Form  oder  in 
Abwechslung  mitdnander.  Angesichts  dieser  Gebilde  haben  wir 
zwderld  zu  tun:  wir  müssen  die  dnzelnen  Formen  beurteilen  und 
außerdem  ihr  Rdhungsprinzip.  Wenn  bd  diesem  dne  gewisse  RQ[d- 
mäßfgkdt,  ja  vidlekrht  üne  starke  Gldchförmigkdt  sich  findet,  so  ist 
sie  wohl  aus  der  Freude  an  Symmetrie  und  Rhythmus,  an  der  r^el- 
mäßigen  Wiederholung  dner  Einhdt,  zu  verstehen.  Symmetrische 
Formung  findet  sich  oft  genug  da,  wo  weder  dn  Zwang  des  Stoffes 
noch  (in  Einfluß  des  Naturvorbildes  anzunehmen  ist;  es  läßt  sich  ver- 
folgen, daß  ursprünglich  asymmetrische  Muster  in  ihrer  Entwickdung 
oder  Entartung  ganz  gidchmäßig  werden.  Sollte  also  nicht  doch  dne 
Lust  an  der  die  Vielheit  bändigenden  Einheit  mitwirken?  Auch  die 
so  häufige  Zickzacklinie  ist  der  graphische  Ausdruck  einer  rhythmi- 
schen Gliederung,  und  wenn  es  eine  natürliche  Freude  daran  gibt,  so 
sind  solche  Rdhenbildungen  sehr  leicht  zu  verstehen.  Aber  die  ein- 
zelnen in  der  Wiederholung  auftretenden  Formen  werden  dadurch 
noch  nicht  begreiflich. 

Ober  sie  sind  drei  Theorien  aufgestellt  worden.  Der  ersten  zufolge 
besitzt  der  Mensch  einen  ursprünglichen  Sinn  für  die  geometrische 
Form.  Aus  diesem  Sinn  heraus  bildet  er  seine  Ornamente.  Wie  das 
Kind  ganz  von  selbst  gerade  Linien  und  Parallelen,  Kreise,  Vierecke, 
Dreiecke  zeichnen  soll,  so  wird  auch  vom  primitiven  Menschen  be- 
hauptet, daß  er  unwillkürlich  zu  solchen  Linien  sich  veranlaßt  finde, 
wenn  er  seinen  Körper  schmückt  oder  mit  einem  Stabe  im  Sand  eine 
Furche  zieht.  Aus  diesen  Figuren,  so  behauptet  man  femer,  haben 
sich  dann  die  Bilder  natürlicher  Gegenstände,  namentlich  der  mensch- 


DIE  KUNST  DER  NATURVÖLKER.  285 

liehen  Gestalt  entwickelt  Ein  Kreis  wurde  zum  Gesicht,  ein  Kegel 
zum  Rumpf,  ein  Querbalken  mit  aufgerichteten  Haken  an  beiden  Enden 
bedeutete  die  Arme  und  versinnlichte  die  Stellung  des  Betens.  Erst 
allmählich  sind  diese  geometrischen  Zeichen  naturiicher  und  flüssiger 
geworden. 

Eine  andere  Theorie  behauptet  den  umgekehrten  Veriauf.  Die 
scheinbar  geometrischen  Formen,  so  sagt  sie,  sind  ursprünglich  rea- 
listisch gewesen.  Man  hat  die  Sonnenscheibe  nachbilden  wollen  und 
einen  Kreis  gezogen.  Man  hat  die  Riesenschlange  abzuzeichnen  ver- 
sucht, und  es  ist  eine  Wellenlinie  mit  dazwischen  gelagerten  schwarzen 
Punkten  daraus  geworden.  Man  wollte  den  Schurz  der  Weiber  dar- 
stellen und  erfand  gewissermaßen  das  Dreieck.  Es  wäre  also  der 
geometrische  Stil  eine  schematisch  erstarrte  Spätform  naturalistischer 
Kunstweise.  Die  geringe  Technik  der  ältesten  Kunstler  und  die  Not- 
wendigkeit einer  häufigen  Wiederholung  hätten  einen  solchen  Formen- 
schatz zu  Stande  gebracht.  Für  Neu-Guinea  ist  der  genaue  Nachweis 
gefuhrt  worden,  daß  die  so  wirklichkeitsfremden  Fragezeichen  und 
Flammen  in  den  Mustern  eigentlich  Menschen-  und  Krokodilgestalten 
bedeuten.      Vogelköpfe  werden  zu  Trapezen,  Halbkreisen,  Dreiecken 

und   Spiralansätzen Bei   der   Umwandlung   von   Menschen   sieht 

man  an  verschiedenen  Zwischenstufen  deutlich,  wie  allmählich  der 
Kopf  verschwindet,  der  Leib  zur  Rhombe  wird,  die  Arme  und  Beine 
zu  geraden  Linien  werden,  die  einander  im  Winkel  berühren.«  (Wör- 
mann,  I,  53.)  Doch  bleibt  zweieriei  zu  beachten.  Es  ist  sehr  merk- 
würdig, daß  bei  verschiedenen  Völkern,  ja  innerhalb  eines  und  des- 
selben Stammes  die  abweichendsten  Naturgegenstände  zu  den  gleichen 
Mustern  verkümmern.  Eine  solche  gesetzmäßige  Abwandlung  oder 
Auflösung  in  nur  wenige  geometrische  Formen  scheint  einer  natür- 
Ikrhen  Anlage  für  eben  diese  Formen  das  Wort  zu  reden.  Und  zwei- 
tens dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  in  der  Übertragung  auf  die 
Fläche  eine  schöpferische  Leistung  liegt,  für  die  es  gar  kein  Vorbild 
gibt.  Denn  Dreiecke  und  Quadrate  werden  uns  von  der  Natur  auf  der 
Fläche  wohl  niemals  gezeigt,  wenigstens  nicht  in  jenem  Bezirk  der 
Naturerscheinungen,  der  den  primitiven  Menschen  bekannt  ist.  Die 
bedeutungsvolle  Linie,  die  in  den  Sand  gezogen  oder  auf  den  Leib 
gemalt  oder  in  Gestein  gegraben  wird,  ist  etwas  Geistiges,  das  ebenso 
zur  Schrift  wie  zum  Bilde  führt;  selbst  die  Zerstückelung  und  Ver- 
zerrung der  Gebilde  deutet  auf  eine  eigenwillige  SeelentätigkeiL 
Grosse  hat  gezeigt,  daß  eine  naturalistische  Bildnerei  auf  zwei  Eigen- 
schaften beruht:  auf  scharfer  Auffassung  und  sicherer  Hand,  und  daß 
diese  Eigenschaften  bei  den  Jägervölkem  vorhanden  sein  müssen,  weil 
sie  sonst  den  Kampf  ums  Dasein  nicht  bestehen  könnten.   Aber  damit 


286  n   ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

ist  noch  nicht  erklärt,  wieso  die  sichere  Nachahmung  des  Gesehenen 
so  schnell  und  allgemein  zu  einem  geometrisch  anmutenden  Linien- 
spiele führt 

Die  Untersuchung  dieser  Frage  ist  dadurch  besonders  interessant, 
daß  in  Mykenai  Funde  gemacht  worden  sind,  aus  denen  man  eine 
dem  geometrischen  Stil  zeitlich  vorausgehende  Kunstweise  erschließen 
muß.  Diese  Nationalkunst  des  östlichen  Griechenlands  und  der  Inseln 
wurde  in  der  Zeit  vor  der  dorischen  Wanderung  von  den  Pelasgem, 
Homers  Achäern,  geübt.  Die  ihr  zugehörigen  Tonvasen  sind  mit 
Bildern  von  Vögeln  und  Vierfüßlern  geschmückt,  vor  allem  aber  auch 
mit  Pflanzenranken  verziert;  sie  sind,  um  mit  Conze  zu  reden,  gekenn- 
zeichnet durch  das  »dem  geometrischen  Stil  so  gut  wie  ganz  fehlende 
Pflanzenornament,  durch  eine  bis  zur  Meisterschaft  gesteigerte  künst- 
lerische Beherrschung  der  Tierdarstellung,  durch  reichliches  Vorkom- 
men nicht  wie  im  griechischen  geometrischen  Stile  schematisierter 
Menschendarstellung,  in  der  Ornamentik  durch  ein  Vorherrschen  mannig- 
fach frei  bewegter  Kurven  gegenüber  dem  einförmig-strengen  Linien- 
spiele einfacher  geometrischer  Zierformen.«  Allein  diese  Funde  be- 
weisen nichts  dafür,  daß  notwendigerweise  und  überall  dem  geo- 
metrischen Stil  ein  naturalistischer  vorausgegangen  sein  muß.  Durch 
Böhlaus  Forschungen  ist  wahrscheinlich  geworden,  daß  noch  vor  der 
mykenischen  Kultur  an  derselben  Stätte  eine  alteuropäische  Bauem- 
kunst  mit  mathematisch  geformten  Ornamenten  bestanden  hat  Ob 
nun  aus  ihr  durch  selbständige  Entwicklung  oder  durch  den  Ober 
Kreta  hin  einströmenden  Einfluß  Ägyptens  und  Phönikiens  dieser  vor- 
nehme und  reiche  pelasgische  Stil  entstand,  das  ist  unter  den  Fach- 
gelehrten noch  immer  strittig.  Folgende  Vermutung  hat  eine  gewisse 
Wahrscheinlichkeit  für  sich.  Vor  der  ägäischen  Kunstweise  mögen 
die  Pelasger  nur  eine  beschränkte  Anzahl  geometrischer  Ornamente 
besessen  haben.  Dann  kamen  die  Phöniker  mit  ihrer  hoch  entwickel- 
ten Kunst  und  ihren  figüriichen  Darstellungen;  sie  hätten  die  Kunst 
der  Pelasger  sich  völlig  unterworfen,  wenn  nicht  mit  der  sogenannten 
dorischen  Wanderung  ein  Kriegszustand  eingetreten  wäre,  in  dem 
diese  Anregung  durch  phönikische  Einfuhrartikel  verloren  ging.  So 
traten  nun  wieder  die  einheimischen  Dekorationssysteme  hervor. 

Die  dritte  und  letzte  Anschauung  über  den  Sachverhalt  ruht  auf 
der  Tatsache,  daß  bei  den  Naturvölkern  die  Kleinkünste  vorherrschen, 
namentlich  die  Künste,  die  es  mit  den  Gebrauchsg^enständen  zu  tun 
haben.  Der  Gedanke  läßt  sich  nicht  abweisen,  daß  der  praktische 
Zweck  der  Dinge  auf  ihre  Gestalt  und  auf  die  Form  ihres  Schmuckes 
eingewirkt  habe,  oder  anders  gewendet;  daß  diese  Form  ein  unbeab- 
sichtigtes Nebenerzeugnis  der  Arbeit  war  und  nach  dem  Gesetz  der 


DIE  KUNST  DER  NATURVÖLKER.  287 


Trägheit  sich  auf  andere  Gebiete  übertrug.  Demnach  wurde  weder 
Nachahmung  von  wirklichen  Gegenständen  noch  ursprüngliche  Freude 
an  geometrischen  Formen  den  Ursprung  bilden,  sondern  wir  müßten 
ihn  in  den  technischen  Notwendigkeiten  suchen.  Hier  käme  also  zu 
Ehren,  was  bereits  Gottfried  Semper  behauptet  hat:  das  Material  und 
seine  Beschaffenheit  zwingt  zu  einer  bestimmten  Formengebung,  an 
die  sich  alsdann  das  ästhetische  Gefühl  schließt.  Die  bekanntesten 
Beispiele  sind  der  Flechttechnik  entnommen.  Aber  auch  beim  Weben 
des  Stoffes,  beim  spiralförmigen  Aufrollen  von  Metalldraht  und  beim 
Schichten  der  Mauer  entstehen  Muster,  die  dann  auf  Tongeräte 
(Schnurkeramik  )  und  später  auch  auf  Metallarbeiten  übertragen  und 
in  gewissen  Abänderungen  weiter  gebildet  wurden.  Wenn  zwei  Felle 
vereinigt  werden  sollen,  so  müssen  Löcher  in  die  Ränder  gebohrt  und 
Fäden  oder  Riemen  hindurchgezogen  werden;  diese  Punkte  und  Quer- 
linien gewinnen  vielleicht  für  den  Naturmenschen  den  Wert  der  Sell>- 
ständigkeit  und  Anwendbarkeit.  Doch  bleibt  es  bei  dem  »Vielleicht«, 
da  wir  keine  Beweise  und  manche  widersprechende  Tatsachen  kennen 
wie  z.  B.,  daß  der  Bauch  der  Tongefäße,  die  den  älteren  Körben  nach- 
gebildet sein  sollen,  oft  von  allen  linearen  Verzierungen  frei  ist.  Es 
dürfte  kaum  möglich  werden,  beim  gegenwärtigen  Stande  des  Wissens 
eine  sichere  Entscheidung  zu  treffen.  Unzweifelhaft  jedoch  ist  bereits 
jetzt  die  Theorie  widerlegt,  daß  das  geometrische  Ornament  ausschließ- 
lich auf  Naturnachahmung  zurückzuführen  sei;  und  ebenso  sicher 
scheint  mir,  daß  von  Anfang  an  eine  Freude  an  Symmetrie  und  Rhyth- 
mus bestanden  und  sich  in  den  Kunstversuchen  der  Naturvölker 
geltend  gemacht  hat. 

Die  bekannteste  Vorstufe  unserer  Malerei  darf  man  in  den  Ruß- 
zeichnungen sehen,  die  die  Eingeborenen  Australiens  auf  Baumrinde 
anbringen.  Sie  sind  namentlich  in  der  Wiedergabe  der  Bewegung 
sehr  lebendig,  aber  ungenau  in  den  Einzelheiten  und  ohne  Perspektive 
und  Schattcngebung.  Zuerst  wird  gezeichnet,  was  zunächst  steht;  die 
Gegenstände  der  Tiefe  werden  mit  ihrer  zunehmenden  Entfernung  in 
Reihen  übereinander  geordnet,  ohne  in  ihrer  Größe  sich  zu  ändern. 
Denn  der  Malende  erzählt  die  Dinge  so,  wie  er  sie  weiß,  und  er 
erzählt  sie  mit  seinen  künstlerischen  Mitteln  zu  außerästhetischen 
Zwecken.  Von  der  Zeichnung  gilt  jedenfalls,  daß  sie  mit  intellektuellen 
Momenten  zusammenhangt;  wissenschaftliche  und  künstlerische  An- 
sätze scheinen  hier  fest  verbunden.  Ein  paar  FVoben.  fremder  Mit- 
teilung entnommen.  Kari  v.  d.  Steinen  berichtet  von  einer  malenden 
Gebärde  beim  Sprechen,  die  zu  Zeichnungen  im  Sande  führt,  Mallery 
beschreibt  ein  Zwiegespräch  zwischen  Alaskaindianem,  wobei  der 
rechte  ZeiMhiger  Linien  in  die  als  Tafel  gedachte  linke  Hand  zieht. 


288  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

Andere  Reisende  sind  erstaunt  darüber,  mit  welcher  Sicherheit  primitive 
Menschen  durch  Zeichnung  das  ausdrucken,  worüber  sie  sich  münd- 
lich nicht  verständigen  können,  wie  oft  ihre  Bilder  Vorstellungsausdruck 
und  nicht  Nachahmung  eines  Gegenstandes  sind.  Von  solchen  »sicht- 
baren Worten«  geht  die  Entwickelung  zur  ideographischen  Schrift, 
zum  demonstrierenden  Zeichnen,  zu  Miniaturen  und  zur  Buchillustra- 
tion, ja  bis  zum  Porträt,  das  uns  Alter,  Konstitution,  Begäbung  und 
Stimmung  des  Originals  in  Formen-  und  Farbensprache  erzählt 
Übrigens  führt  der  Gedankengang  auch  nach  dem  früher  Besprochenen 
zurück.  Die  rohen  Verzierungen  nämlich,  mit  denen  der  Naturmensch 
seinen  Körper  schmückt,  sollen  nicht  nur  Eindruck  machen,  sondern 
haben  außerdem  den  Wert  eines  Eigennamens;  sich  verschönem  heißt 
sich  unterscheiden.  Die  ganze  Heraldik  wurzelt  hierin.  Eine  indische 
Legende  (von  der  Verbindung  Prajäpatis  mit  Wak)  weist  auf  die  Be- 
deutung der  Bilderschrift  für  die  Unterscheidung  der  Häuser  und  ihrer 
Bewohner  voneinander;  und  was  war  das  ursprünglich  so  dürftige 
Relief  am  Giebel  des  korinthischen  Tempels  anderes  als  eine  den 
Eigentümer  bezeichnende  Hausmarke?  Auch  die  meisten  plastischen 
Ornamente  haben  sich  aus  unbehilflichen  Wappenbildem  oder  plasti- 
schen Epigrammen  entwickelt  Endlich  sei  daran  erinnert,  daß  Zeichen- 
schöpfung und  Bilderschrift  zusammengehören.  Bei  vielen  Völkern 
sind  die  ersten  Malereien  Hieroglyphen  und  als  solche  auch  Schrift- 
zeichen gewesen;  so  hat  nach  chinesischer  Sage  ein  (angeblich 
2700  Jahre  v.  Chr.  lebender)  Mann  namens  Ssehoang  zugleich  die 
Malerei  und  die  Schrift  »erfunden«.  Diesen  beliebig  zu  vermehrenden 
Tatsachen  aus  der  Urzeit  entspricht  die  geschichtliche  Erfahrung,  daß 
bei  den  großen  Erneuerungen  der  bildenden  Künste  die  künstle- 
rische Bewegung  immer  mit  einer  intellektuell-literarischen  zusammen- 
hing. Der  Renaissance  erschien  nicht  nur  die  Wissenschaft  als  »freie 
Kunst«,  sondern  auch  die  Kunst  als  ein  gelehrtes  Studium.  Lionardo 
und  Alberti  waren  Gelehrte,  Dürer  sah  das  Wesen  seiner  Kunst  in 
der  Perspektive  und  in  den  berechenbaren  Verhältnissen  der  Körperteile 
Wir  unterrichten  uns  nunmehr  über  die  Poesie  der  Naturvölker 
und  beginnen  mit  ihren  Epen.  Sie  sind  von  geringem  Umfang  und 
erzählen  in  raschem  Tempo  Handlungen,  deren  Stoff  aus  Beobachtung 
und  Überiieferung  stammt;  bevorzugt  werden  Abenteuer,  in  denen 
Kraft,  Mut  und  Schlauheit  ihre  Si^e  feiern.  So  ist  offenbar  die  Epik 
in  ihren  Anfängen  mit  der  Geschichte  verknüpft;  aber  nicht  nur  mit 
ihr,  sondern  auch  mit  der  Naturkenntnis.  Während  dramatische  Spiele 
zusammen  mit  Tanz  und  Musik  eine  Gruppe  rhythmischer  Künste 
gebildet  und  einen  ursprünglichen  Zusammenhang  mit  religiösem 
Kultus  besessen  haben,  gehören  die  primitiven  Erzählungen  ersichtlich 


DIE  KUNST  DER  NATURVÖLKER,  280 

in  die  Nähe  von  Geschichts-  und  Naturforschung.  Der  Naturmensch 
vermag  Welterklärung  und  Weltverklärung  so  wenig  voneinander  zu 
trennen  wie  Wachen  und  Träumen,  Erlebtes  und  Erfundenes.  Wenn 
er  erzählt,  so  berichtet  er  sowohl  zum  Zweck  der  Kenntnisnahme  und 
Einsicht  als  auch  zum  Zwecke  eigener  und  fremder  Erregung.  Von 
dem  Standpunkt  unserer  Kultur  aus  kann  man  sich  so  ausdrücken: 
Jene  Naturauffassung  ist  phantastisch,  insofern  sie  objektive  Vorgänge 
nach  menschlichen  Wünschen  deutet;  sie  ist  personalistisch ,  da  sie 
alle  Gegenstände  als  beseelte  Wesen  auffaßt  und  krankhafte  sowie 
normale  Erfahrungen  auf  Dämonen  zurückfahrt.  Beide  Anschauungs- 
weisen wirken  noch  heute  in  Sprache  und  Poesie  fort,  und  das  schon 
bei  den  rohesten  Dichtungsversuchen  auftauchende  Verständnis  für 
die  Wunderkraft  des  Wortes  macht  tatsächlich  das  Wesen  der  Wort- 
kunst aus.  Namen  und  Worte  scheinen  dem  primitiven  Sinn  der  wesent- 
liche Teil  jenes  Geistigen,  das  in  den  Menschen  und  in  den  Dingen 
wirkt  Wenn  man  das  Wort  besitzt,  so  besitzt  man  die  Sache.  Mit 
dem  Wort  ist  es  wie  mit  dem  Schatten  eines  Menschen:  hat  man  es 
aufgerollt  und  zu  sich  gesteckt,  so  verfügt  man  über  diesen  Menschen, 
gleich  als  ob  man  ein  Bild  von  ihm  habe.  Auch  mit  dem  Besitz  eines 
Bildes  ist  ja  ein  zauberhaftes  Besitzrecht  über  den  Abgebildeten  ver- 
bunden. Diese  wunderbare  Kraft,  die  in  den  Worten  und  in  den 
Zeichnungen  liegt,  machte  Priester  und  Künstler  zu  Herren  über  die 
Welt        und  so  ist  es  bis  auf  den  heutigen  Tag  geblieben. 

Außer  der  Erzählung  gelten  Gedicht  und  Drama  als  Grundarten 
der  Poesie.  Indem  wir  uns  vorläufig  dieser  Auffassung  fügen,  halten 
wir  Ausschau  nach  den  Vorformen  der  Lyrik.  Eine  früher  beliebte 
Ableitung  suchte  den  Keim  lyrischer  Dichtung  in  der  Wiederholung. 
Wenn  ein  Naturmensch  in  der  Erregung  spricht,  so  tut  er  dasselbe, 
was  auch  wir  heute  noch  oft  tun:  er  wiederholt,  er  unterstreicht  so- 
zusagen, und  erhöht  dadurch  sowohl  die  Gefühlswirkung  als  auch  die 
Beweiskraft  seiner  Behauptung.  Desgleichen  ist  der  Chorgesang  der 
Horde  nichts  als  eintönige  Wiederholung  desselben  dürftigen  Satzes. 
Sehr  leicht  nun  verflüchtigt  sich  die  Wiederholung  des  ganzen  Ge- 
dankens zur  Wiederholung  der  Anfänge  oder  der  Schlüsse,  sie  wird 
auch  wohl  eine  Erneuerung  des  Inhalts  in  anderer  Form.  So  entsteht 
der  Parallelismus.  Dieser  wird  dann  weiterhin  abgeschliffen  zu  Reim 
und  Rhythmus.  —  Indessen  mit  einer  solchen  Deduktion  (vornehmlich 
aus  Entwickelungen  innerhalb  der  europäischen  Dichtkunst)  werden 
andere  Tatsachen  der  Völkerkunde  vergewaltigt.  Denn  sie  lehren  mit 
allcrstärkster  Deutlichkeit,  daß  neben  der  Wiederholung,  die  allerdings 
dem  anfänglichen  Kommunismus  dichterischen  Schaffens  zugehört, 
weil  sie  der  Masse  Übereinstimmung,  der  Sache  Ordnung  leiht,  mit 

De  «tot  r,  A%thctik  und  allg.  Kmittwiuciitduft.  19 


290  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

mindestens  gleicher  Selbständigkeit  Rhythmus  und  Metrum  als  Ur- 
erzeugnisse  gastiger  Tätigkeit  auftreten.  Rhythmische  Ordnung 
ist  kein  später  Nachkömmling,  sondern  entspringt  einer  der  originalsten 
Anlagen  des  Menschengeistes;  sie  ist  vielleicht  der  ursprunglichste 
Ausdruck  menschlicher  Schöpfungskraft  Wo  Menschentum  sich  bildet, 
da  entfaltet  sich  zusamt  mit  sozialer  Gemeinschaft,  Gdsterglaubai  und 
Sprache  auch  die  rhythmische  Kraft  ^).  Die  bodenständige  Verwachsung 
zwischen  Rhythmus,  Sprache,  Gesang,  Spielmusik,  Tanz,  Kultus,  Drama 
ist  uns  von  der  griechischen  Tragödie  und  von  der  gesungenen  Dichtung 
der  alten  Germanen  her  wohlvertraut  Sie  ist  der  Menschheit  so  ins 
Herz  geschrieben,  daß  sie  nie  gänzlich  verloren  ging  und  durch  Neuerer 
wie  Richard  Wagner  immer  nur  aus  zeitweiliger  Verdunkdung  hervor- 
geholt wurde  Anderseits  gibt  es  zu  allen  Zeiten  und  bd  allen  Völkern 
die  genannten  Künste  und  seelischen  Richtungen  auch  in  der  Ver- 
einzelung, was  vorw^  betont  werden  muß. 

Nach  einer  Theorie,  die  viel  Anklang  gefunden  hat,  soll  die 
engste  Beziehung  walten  zwischen  Rhythmus  und  Arbdt  Alle 
gebundenen  Arbeitsformen  nämlich,  die  sich  unablässig  in  glei- 
chem Takt  wiederholen,  gewinnen  durch  rhythmische  Regdung  an 
Sicherheit,  sie  werden  leichter  und  gehen  bequemer  von  der  Hand 
So  singen  denn  auf  der  ganzen  Welt  diejenigen,  die  einen  schweren 
G^enstand  ruckweise  emporziehen  oder  auf  dem  Felde  gldchmäßig 
die  Sichel  schwingen.  Wo  Arbeitsverrichtungen  am  Schluß  der  dn- 
zelnen  Bew^ung  oder  Bew^ungsgruppe  von  sdbst  einen  Ton  er- 
klingen lassen,  da  stellt  sich  eben  ein  hörbares  Metrum  ein;  fehlt  der 
eigentliche  Taktschall,  so  wird  er  durch  ausgestoßene  Rufe  ersetzt 
Hände  oder  Fuße  sind  beim  Arbeiten  immer  in  Tätigkeit:  jene  klatschen 
und  schlagen,  diese  stampfen  und  treten.  Daher  die  Schlag-  und 
Stampfrhythmen  in  der  primitiven  Musik  und  Poesie.  Die  ältesten  Ge- 
sänge sind  Arbeitslieder,  d.  h.  sie  dienen  der  Erleichterung  der  Arbdt,  der 
Kraftersparnis.  —  Diese  Erklärung  des  Rhythmus  aus  den  von  ihm  zu 
gewinnenden  ökonomischen  Vorteilen  scheitert  an  der  Härte  unbestrdt- 
barer  Tatsachen.  Vielleicht  ist  es  dem  Leser  schon  aufgefallen,  daß 
die  angezogenen  Beispiele  der  Arbeitsgemeinschaft  auf  die  Ld>ens- 
weise  der  Jäger-  und  Nomadenvölker  nicht  passen.  Auch  die  Vieh- 
züchter kennen  solche  Arbeiten  kaum.  Und  selbst  wenn  sie  von  ihnen 
vollzogen  würden,  dann  käme  das  wirtschaftliche  Moment  der  Kraft- 
ersparnis gewiß  nicht  in  Frage,  da  Menschen  dieser  Kulturstufe  ihre 
Kräfte  vergeuden.  Erst  nachdem  Musik  und  Poesie  in  ihren  rhyth- 
mischen Grundlagen  da  waren,  sind  sie  für  jene  Zwecke  verwertet 
worden.  Sofern  taktmäßige  Gruppenbewegungen  einen  sozialen  Nutzen 
haben,  sind  sie  Einübung,  Zuchtmittel  und  hauptsächlich  Kri^^schule; 


DIE  KUNST  DER  NATURVÖLKER.  201 

erst  mit  dem  Bewegungsluxus,  wenn  man  so  sagen  darf,  b^nnt  die 
ästhetische  Freiheit,  und  erst  mit  rhythmischen  Formen,  die  festgehalten 
und  verewigt  werden  können,  hebt  die  Kunst  an. 

Dazu  nehme  man  folgendes.  Die  Naturmenschen  singen  doch 
auch  in  der  MuBe.  Sie  haben  bereits  auf  der  niedrigsten  Stufe  die 
Fähigkeit,  den  rhythmisch-musikalischen  Ausdruck  sauber  von  allen 
übrigen  Tätigkeiten  abzutrennen  und  in  Unabhängigkeit  zu  pflegen. 
Es  muß  sich  also  auch  schon  bei  ihnen  in  Klängen  bestimmter  Ord- 
nung ein  Oefuhl  äußern  können,  und  es  muß  diese  Gefühlsäußerung 
ohne  Rücksicht  auf  alle  Arbeitsinteressen  den  Hörern  Freude  l)ereiten. 
Nicht  anders  liegt  es  beim  Tanz.  Taktmäßig  bewegte  Menschenmassen 
sieht  man  bei  arbeitenden  Primitiven  viel  seltener,  als  wenn  sie  zur 
Erholung  und  Schaustellung  tanzen.  Nach  allen  Berichten  der  Reisen- 
den haben  die  Massentänze  etwas  Exaltiertes.  Sie  scheinen  in  orgia- 
stischen  Bewegungen  zu  bestehen,  in  denen  übermächtige  Gefühle 
sich  auszutoben  und  immer  stärker  zu  reizen  streben.  Die  Kriegs- 
und Liebestänze  können  nicht  aus  dem  Arbeitsrhythmus  abgeleitet 
werden,  ebensowenig  die  mimischen  Tänze  und  solche,  durch  die 
gewisse  Tierbewegungen  nachgeahmt  werden,  wie  etwa  die  Bewegun- 
gen des  Känguruhs.  Freude  an  Nachahmung  und  Darstellung,  Wunsch, 
sich  auszudrücken  und  Eindruck  zu  machen,  sind  also  von  Anfang 
an  im  Werke.  Nicht  anders  kann  es  bei  der  Musik  sein.  Wären  nicht 
jene  Momente  wirksam,  von  denen  soeben  gesprochen  worden  ist, 
dann  hätten  Musik,  Tanz  und  Drama  sich  niemals  aus  der  Gemein- 
samkeit mit  allerhand  Arbeits-  und  Lebensverrichtungen  losgelöst. 
Daß  sie  überhaupt  als  etwas  Einzelnes  und  Besonderes  sich  heraus- 
gebildet haben,  verdanken  sie  andern  Ursachen.  Selbstverständlich 
kam  es  bei  Kulturvölkern  öfters  vor  und  ereignet  sich  noch  heute, 
daß  ein  Arbeitsrhythmus  absichtlich  oder  unwillküriich  im  Kunst- 
rhythmus wiederholt  wird.  In  Heinrich  Seidels  Sammlung  Glocken- 
spiel   lautet  ein  Gedichtchen: 

Weiße  Rose,  weiße  Rose!  Weiße  Rose,  weiße  Rose! 

Träumerisch  Dunkel 

Neif^st  du  das  Haupt.  Drohet  der  Sturm. 

Weiße  Rose,  weiße  Rose,  Im  Merzen  heimlich, 

Halde  Heimlich 

Bist  du  entlaubt.  Naget  der  Wurm. 

Dazu  bemerkt  Seidel,  er  habe  das  Gedicht  als  Lehriing  beim  Schrau- 
benschneiden gemacht  und  den  Rhythmus  dieser  Tätigkeit  völlig  in  die 
Verse  aufgenommen.  Ein  anderer  Autor,  der  einst  selbst  den  Hammer 
geschwungen  hat,  gibt  den  Dreischlag  beim  Schmieden  folgendermaßen 
wieder: 


292  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

»Komm,  Sonntag!    Komm,  Sonntag!« 
Dumpf  tönt  es  im  Schlagen 
Der  Hämmer  wie  Klagen: 
»Komm,  Sonntag!    Komm,  Sonntag!« 
»Komm,  Ruhe!    Komm,  Sonntag !<: 
So  tönt's  auch  im  Herzen 
Beim  Hämmern  der  Schmerzen; 
»Komm,  Sonntag!    Komm,  Sonntag !<: 

Zugegeben,  daß  rein  mechanische  Verrichtungen  zu  metrischen  Ge- 
bilden sich  erhöhen  können  —  jede  bedeutsamere  Handarbeit  versagt 
sich  der  automatischen  Regelung.  Bei  dem,  was  wir  Arbeit  nennen 
und  womit  die  Tätigkeit  des  Primitiven  nur  geringe  Ähnlichkeit  hat, 
steht  außerdem  das  Ziel  immer  vor  Augen,  während  der  Kunstrhythmus 
keiner  solchen  Zielvorstellung  unterworfen  ist. 

Ein  weiterer  Oegengrund  gegen  die  volkswirtschaftliche  Theorie 
liegt  in  den  gut  beglaubigten  Beobachtungen  der  Reisenden,  wonach 
Naturmenschen,  wenn  sie  zusammengekommen  sind  und  niederkauemd 
ihren  Chorgesang  anstimmen,  ersichtlich  der  Tätigkeit  entfliehen  und 
ihr  wirkliches  Leben  vergessen  wollen.  Wir  stoßen  von  neuem  auf 
den  Punkt,  den  wir  so  oft,  zuletzt  bei  der  Besprechung  kindlicher 
Kunst,  ins  Auge  fassen  mußten:  Kunst  ist  eine  vertiefte  Art  des  Da- 
seins, die  aus  der  Abwendung  vom  gewöhnlichen  Dasein  erwächst 
Aber  wohlgemerkt:  primitive  Poesie  setzt  immer  noch  den  offenkundi- 
gen und  empfundenen  Zusammenhang  mit  den  Stammesgenossen  vor- 
aus. Wir  verstehen  die  singende  und  tanzende  Horde,  wenn  wir  an 
den  volkstümlichen  Ursprung  von  Reimsprüchen  und  Schnaderhüpfeln 
oder  an  die  improvisierten  Trauergesänge  der  Korsen  (die  »Voceri«) 
denken.  Zunächst  wird  von  der  ihrer  Gemeinsamkeit  bewußten  Masse, 
die  da  lagert  oder  taktmäßig  sich  bewegt,  der  rhythmische  Rohstoff 
gebildet;  im  Zusammenhang  mit  der  Wiederholung  bestimmter  Laute 
entwickeln  sich  begrenzte  Formen  (Verse,  Strophen);  aus  den  dumpfen, 
engen  Stammesinteressen  tritt  der  Inhalt  hinzu.  Freilich  ist  neuerdings 
die  wesentliche  Bedeutung  der  gemeinsamen  und  instinktiven  Gefühle 
angefochten  worden.  Nach  der  Ansicht  eines  französischen  Soziologen  ^ 
soll  Rhythmus  im  weitesten  Sinne  von  besonders  begabten  Individuen 
erfunden  und  von  den  andern  nur  nachgeahmt  worden  sein;  nicht 
aus  der  Masse  und  der  Gleichmäßigkeit,  sondern  aus  persönlichem 
Genie  und  der  Urkraft  der  Nachahmung  sei  er  hervorgegangen.  Hier- 
auf ist  zu  antworten:  Wie  es  ehemals  beim  Beginn  der  Dichtkunst 
war,  wissen  wir  nicht.  Für  die  Naturvölker  jedoch  trifft  diese  An- 
nahme ganz  gewiß  nicht  zu,  denn  Willkür  des  Einzelnen  vermag  bei 
ihnen  niemals  die  Grundlagen  einer  Lebensform  zu  schaffen,  sie  ist 
ausschließlich  im  stände,  die  Äußerungen  im  besonderen  zu  ändern  und 


DIE  KUNST  DKR  NATURVÖLKKR.  293 

planmäBig  zu  leiten.  Das  zeitliche  Verhältnis  muß  also  das  umge- 
kehrte sein:  aus  dem  Kommunismus  der  festlich  erregten  Horde  löst 
sich  ein  Individuum  ab,  um  allein  ein  paar  Worte  zu  singen  oder  zu 
sprechen.  Doch  setzt  es  nur  fort,  was  die  Menge  begonnen  hatte» 
und  bleibt  durchaus  ein  Glied  des  sozialen  Körpers.  Die  Zähigkeit, 
mit  der  dieser  Werdegang  sich  auch  in  der  europäischen  Entwickelung 
erhalten  hat,  weist  darauf  hin,  wie  fest  er  in  der  menschlichen  Natur 
wurzelt. 

Die  auf  diesem  Gebiet  festgestellten  Stufenunterschiede  scheinen 
von  der  Kulturhöhe  des  Volkes  ziemlich  unabhängig  zu  sein.  Dagegen 
besteht  für  das  primitive  Drama,  dem  unsere  Betrachtung  sich 
näherte,  eine  solche  Verbindung.  Bei  den  Jägervölkem  ist  das  Drama 
nichts  anderes  als  eine  wortlose,  musikalische  Tierpantomime;  bei  den 
seßhafteren  Stämmen  wird  die  Handlung  reicher,  obwohl  sie  immer 
noch  in  den  Gewohnheiten  der  wichtigsten  Tiere  ihren  Mittelpunkt 
behält,  wie  selbst  noch  bei  den  griechischen  Viehzüchtern  im  Bock 
(tragos).  Der  Chor  spaltet  sich  in  zwei  Parteien,  Schauspieler  halten 
kurze  Zwischenreden,  ein  Teil  der  Versammlung  sieht  der  szenischen 
Darstellung  zu,  anfänglich  im  vollen  Kreise,  dann  im  Halbkreise  sitzend. 
Diese  Entwickelung  zeigt  das  Drama  ferner  mit  festlichen  Anlässen 
und  Kulthandlungen  verknüpft;  die  griechische  Szenenkunst  gehört 
mit  dem  Dionysosdienst,  das  mittelalterlich-christliche  Drama  mit  Weih- 
nachts-  und  Osterspielen  zusammen.  Bis  auf  die  deutsche  Stegreif- 
komödie hin  behält  das  Theater  volle  Selbständigkeit  gegenüber  der 
Dichtung.  Gar  nun  in  seinen  ursprünglichen  Formen  ist  es  gänzlich 
von  der  Sprache  abgetrennt.  Seine  nächsten  Verwandten  sind  das 
soziale  Leben  einerseits,  der  musikalische  Rhythmus  anderseits,  denn 
ohne  jenes  hätte  es  keinen  Inhalt,  ohne  diesen  keine  Form.  Wenn 
die  Völkerkunde  von  einem  Drama  der  Naturmenschen  redet,  so  meint 
sie  eine  Angelegenheit  des  ganzen  Stammes,  in  der  die  ihm  wichtig- 
sten Lebensvorgänge  vor-  oder  nachgebildet  werden  und  bei  der  ein 
fester  Schallrhythmus  gemeinsame  Handlungen  ermöglicht  und  lust- 
voll macht.  Und  dieser  Rhythmus  kann  weder  aus  Wiederholungen 
von  Worten  noch  aus  kraftsparender  Gestaltung  der  Arbeit  erklärt 
werden,  sondern  ist  als  eine  ursprüngliche  Schöpfung  des  sozialen 
Menschen  anzuerkennen. 

Wie  die  Kunst  überhaupt,  so  ist  auch  die  Musik  auf  ihren  nie- 
deren Stufen  lediglich  Bestandstück  des  öffentlichen  Lebens.  Schon 
vor  dem  Aufkommen  der  wissenschaftlichen  Völkerkunde  nahm  man 
an,  daß  die  primitive  Musik  in  überwiegendem  Maße  Gesang  sei,  da 
ja  der  Mensch  in  seiner  Stimme  das  zugänglichste  Instrument  besitzt. 
Auch  ahnte  man  von  dieser  Musik,  daß  sie  stark  sozialisierend  wirkt 


294  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

und  von  der  Absicht  eines  gemeinsamen  Genusses  durchzogen  ist 
Alle  ursprOngh'chen  Gefühle  verstärken  sich  durch  Rückschlag;  wie 
die  Sittlichkeit  einst  ganz  mit  der  Sitte  verschmolzen  war,  so  die  Kunst 
mit  dem  Gemeinsamkeitsgefühl,  und  es  hat  langer  Zeit  bedurft,  bis 
diese  Verknüpfung  sich  lockerte.  Endlich  ist  der  große  Einfluß  der 
Musik  auf  den  Naturmenschen,  die  teils  lindernde,  teils  aufreizende 
Wirkung  stets  bekannt  gewesen.  Indessen  alle  näheren  Kenntnisse 
verdanken  wir  der  Forschungsarbeit  der  letzten  Jahrzehnte;  namentlich 
Wallascheks  Buch  hat  uns  mit  erschöpfenden  Nachweisungen  und  in 
mustergültiger  Beweisführung  belehrt.  So  wissen  wir  jetzt,  daß  selbst 
Stämme  niedrigster  Kulturstufe  nicht  nur  die  Keime  der  Melodie,  son- 
dern auch  der  Harmonie  besitzen;  der  Mangel  an  Harmoniegefühl,  den 
asiatische  Völker  uralter  Kultur,  insbesondere  die  Chinesen  verraten, 
bedeutet  demnach  nicht  ein  Haftenbleiben  an  früheren  Entwickelungs- 
formen.  Muß  hier  mit  einem  alten  Vorurteil  gebrochen  werden,  so 
auch  mit  Bezug  auf  die  Mollakkorde:  sie  sind  nämlich  in  der  Tat 
neben  der  großen  und  der  sogenannten  neutralen  Terz  bei  Natur- 
völkern beobachtet  worden.  Ich  hebe  geflissentlich  das  Tatsächliche 
dieser  Beobachtung  hervor.  Denn  vielfache  Erfahrungen,  zu  denen 
jedermann  in  Europa  Gelegenheit  hat,  machen  gegenüber  manchen 
Versicherungen  der  Reisenden  bedenklich.  Vor  allem  darf  nie  ver- 
gessen werden,  daß  die  Instrumente  der  primitiven  Künstler  sorglos 
eingestimmt  und  meist  schon  abgenutzt  sind,  und  daß  die  Sänger 
noch  seltener  rein  singen  als  unsere  Berufssänger.  Zieht  man  solche 
Momente  in  Betracht,  so  wird  man  sagen  dürfen:  Harmonie  und  Ton- 
leiter der  Naturmenschen  gleichen  der  unsrigen.  Der  Ganzton  ist 
stets  die  Grundlage  der  Tonleiter  gewesen.  Im  Zusammenhang  mit 
den  Naturtönen  der  Blasinstrumente  sind  Tonfolgen  entstanden,  die 
als  zerlegter  und  dann  nach  beiden  Richtungen  erweiterter  Dreiklang 
angesprochen  werden  können.  »Das  diatonische  System  entsteht  durch 
Ableitung  aus  den  Obertönen  (harmonischen  Akkorden)  in  allen  Teilen 
der  Erde  seit  den  ältesten  Zeiten.«     (Wallaschek  S.  310.) 

Aber  wie  ist  der  Gesang  geworden?  War  er  Nachahmung  der 
Tiermusik?  Oder  Fortbildung  einer  erregten  Sprechweise?  Diese 
Fragen  können  erst  in  den  nächsten  beiden  Abschnitten  ihre  Ant- 
wort finden. 

3.  Der  Ursprung  der  Kunst 

Nachdem  wir  die  künstlerischen  Tatsachen  durchmustert  haben, 
die  im  Leben  des  Kindes  und  des  Naturmenschen  auftreten,  forschen 
wir  jetzt,  aus  welchen  Bedingungen  die  Kunst  ursprünglich   hervor- 


DER  URSPRr.NG  DER  KUNST.  295 


gegangen  sein  mag.  Denn  die  einfache  Oleichsetzung  kindlicher  und 
primitiver  Kunst  mit  den  Anfängen  der  Kunst  Oberhaupt  versagt  schon 
deshalb,  weil  jene  beiden  Entwickelungen  und  Formengruppen  in  sich 
nicht  hinlänglich  übereinstimmen.  Ein  Rückblick  auf  das  weitschich- 
tige Material  der  Völkerkunde  zeigt,  daß  die  Naturvölker  in  einer  ganz 
anderen  Lage  sind  und  deshalb  nicht  denselben  Gang  gehen  können, 
auf  dem  unsere  Kinder  sich  bewegen.  Vor  allem  fehlen  doch  der 
Kinderkunst  alle  die  Beziehungen  auf  Nutzen,  Besitz,  Krieg,  Aber- 
glauben, religiöse  Symbole  und  primitive  GemeinsamkeitsgefOhle,  von 
denen  die  Kunst  der  Wilden  lebt.  Und  so  ließen  sich  bis  zum  Über- 
druß Abweichungen  aufzählen,  die  bei  der  beliebten  Deckung  der 
Phylo-  und  Ontogenese  außer  acht  bleiben**).  Aus  diesem  Orunde 
kann  auch  nicht  ohne  weiteres  ein  Rückschluß  auf  die  früheste  Ge- 
staltung und  Bedeutung  der  künstlerischen  Tätigkeit  gezogen  werden. 
Die  Urmenschen  haben  vielleicht  über  künstlerische  Ausdrucksmöglich- 
keiten verfügt,  für  die  bei  den  jetzt  lebenden  wilden  Stämmen  keine 
Analogie  aufzufinden  ist.  Selbst  wenn  sie  unter  ähnlichen  Bedingun- 
gen gestanden  haben,  so  wird  doch  zwischen  der  Gefühls-  und  Aus- 
drucksweise der  frisch  aufstrebenden  Völkerjugend  und  derjenigen  der 
entarteten,  versumpften,  jeder  Entwicklung  unzugänglichen  Rassen  ein 
beträchtlicher  Unterschied  herrschen.  Einer  der  besten  Kenner  nennt 
die  Primitiven  der  Gegenwart  verarmte  Überreste  älterer  Generationen «. 
In  der  Hauptsache  sind  wir  auf  Vermutungen  angewiesen.  Wirk- 
liche Belege  für  die  frühesten  Spuren  des  Kunstsinns  besitzen  wir 
natüriich  nur  aus  dem  Gebiet  der  bildenden  Kunst*).  Ausgra- 
bungen in  den  Höhlen  der  vorgeschichtlichen  Zeit  haben  das  Ergeb- 
nis zu  Tage  gefördert,  daß  der  Körperschmuck  den  Anfang  der  Kunst 
bezeichnet.  In  der  freien  Bildnerci  ist  allen  Zeichnungen  und  Ver- 
zierungen die  Herstellung  von  Rundfiguren  vorausgegangen.  Weib- 
liche Statuetten  aus  Elfenbein  sind  in  der  untersten  Kulturschicht  durch 
Hinwegnehmen  gefertigt  worden.  Das  scheint  erwiesen  sowohl 
für  die  Jägerzeit  als  auch  für  die  von  Hörnes  so  genannte  Zeit  der 
progressiven  Wirtschaftsformen.  Aus  diesen  Idolen  oder  Werkzeugen 
der  Geisterbannung  wurde,  vermutlich  unter  dem  Zwang  schwer  be- 
arbeitbarer Stoffe,  das  erste  Relief,  dann  die  Umrißzeichnung  und 
schließlich  die  geometrische  Zierkunst;  daß  jene  Frauengestalten  aus 
der  Mammutzeit,  deren  Bruchstücke  übrigens  strenge  Symmetrie  in 
Rumpf  und  Kopf  zeigen,  von  liebeerfüllten  Männern  geschnitzt  worden 
seien,  wird  gern  behauptet,  aber  allerdings  durch  nichts  bezeugt.  Die 
jüngere  Steinzeit  hat  gleichfalls  nackte  Frauenfiguren  in  plastischer 
Ausführung  hinterlassen,  daneben  Felsenzeichnungen,  die  weder  Arme 
noch  Beine  kennen  und  sich  auf  einige  Rundungen,  Punkte,  Linien 


296  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

beschränken.  Reicher  wird  die  Ausbeute  aus  der  Zeit,  die  Kupfer, 
Erz  und  Gold  verarbeitete,  denn  hier  stellen  sich  nun  naturalistische 
Wiedergaben  des  ganzen  Zeitlebens  und  bilderschriftliche  Ornamente 
ein;  doch  geht  der  Streit  über  die  Reihenfolge  sachlicher  und  geome- 
trischer Gebilde  unentschieden  hin  und  her.  Jedenfalls  haben  in  der 
nordischen  Bronzekunst  die  gebogenen  Linien,  besonders  die  Spiralen, 
eine  führende  Rolle. 

Die  ältesten  Wohngruben  und  Hütten  waren  kreisrund  angel^^t, 
aber  sicher  nicht  aus  ästhetischer  Vorliebe  für  die  Kreisform.  Auch  die 
Pfahlbauten  entsprangen  aus  ZweckmäBigkeitsgründen  (s.  S.  201), 
während  die  nebeneinander  gelagerten  Riesensteine,  frommen  Erinne- 
rungen geweiht,  die  Kraft  des  Menschen  und  die  großen  G^ensätze 
von  Last  und  Träger  verherrlichten.  Dagegen  sind  künstlerische  Ab- 
sichten unverkennbar  an  den  Töpfen  und  Tongefäßen,  die  aus  der 
europäischen  Steinzeit  erhalten  sind,  und  sie  werden  noch  sichtbarer  an 
den  Gebilden,  die  in  die  schmiegsamere  Bronzezeit  gehören.  Das  lebhaf- 
teste Interesse  gebührt  den  Gesichtsumen,  die  in  den  prähistorischen 
Schichten  Trojas,  in  Mittelitalien  und  westwärts  der  Weichsel  gefunden 
worden  sind.  Denn  die  Verknüpfung  der  Gefäßform  mit  mensch- 
lichen Körperformen,  zusammen  mit  solchen  Benennungen  wie  Hals, 
Bauch,  Fuß  der  Urne,  scheint  ein  ganz  ursprüngliches  Zeugnis  zu 
Gunsten  der  Einfühlungstheorie  zu  sein.  Aber  in  Wirklichkeit  hat 
unsere  Ausdrucksweise  nichts  gemeinsam  mit  dem  keramischen 
Bildungsgesetz,  und  dieses  wiederum  macht  nicht  etwa  den  Bauch 
des  Gefäßes  einem  menschlichen  Bauche  ähnlich,  sondern  läßt  ihn  als 
beliebig  verwertete  Schmuckfläche,  gel^entlich  sogar  als  Kopf  er- 
scheinen. — 

Indem  wir  von  den  Tatsachen  vorgeschichtlicher  Bildnerei  zu  Er- 
wägungen übergehen,  die  das  Ganze  der  Kunst  betreffen,  bemerken 
wir  zunächst,  wie  sehr  durch  die  Entwickelungslehre  die  stofflichen 
Schwierigkeiten  gewachsen  sind.  Das  Untersuchungsgebiet  hat  sich 
ins  Unendliche  ausgedehnt,  und  die  so  tröstliche  Anschauung  von 
einer  in  ewigen  Hauptformen  ruhenden  Einheit  des  Schönen,  Ästhe- 
tischen und  Künstlerischen  hat  ihre  Kraft  eingebüßt.  Der  zer- 
gliedernden und  gesetzgebenden  Betrachtungsweise  stellt  sich  die 
vergleichend-geschichtliche  zur  Seite;  während  die  eine  »analytisch 
vorgeht  und  vom  gesitteten  Menschen  anfängt«,  nach  Kants  Worten, 
versucht  die  andere  auf  ihrem  Feld  eine  Entwickelungsgeschichte  des 
Geistes  zu  entwerfen.  Hierbei  sind  zwei  Aufgaben  zu  lösen.  Die 
erste  liegt  in  der  Frage,  aus  welchem  Zusammenhang  und  nach  welcher 
Reihenfolge  die  verschiedenen  Künste  sich  zeitlich  entfaltet  haben;  und 
damit  verbindet  sich  das  andere  Problem  von  den  inneren  Bedingungen 


DER  URSPRUNCi  DER  KUNST.  207 

der  ursprünglichsten  Kunsttätigkeit.  Als  solche  Bedingungen  sind 
besonders  folgende  Funktionen  in  Anspruch  genommen  worden: 
Spielinstinkt,  Nachahmung,  Ausdrucks-  und  Mitteilungsbedürfnis,  Ord- 
nungssinn, der  Trieb,  andere  anzulocken  und  der  entgegengesetzte 
Trieb,  andere  zu  erschrecken.  Für  jede  Ableitung  ist  es  offenbar  not- 
wendig, sich  einer  der  beim  vorher  genannten  Problem  möglichen 
Theorien  anzuschließen;  denn  wäre  z.  B.  beim  ersten  Anfang  Musik 
in  unserem  Sinn  und  für  sich  allein  dagewesen,  so  würde  man  schwer- 
lich die  Nachahmung  als  psychologische  Wurzel  urzeitlicher  Kunst 
betrachten  können.  Trotzdem  soll  hier,  aus  Gründen  des  Darstellungs- 
zusammenhanges, die  Ordnung  der  Aufgaben  umgekehrt  werden,  und 
es  hat  kein  Bedenken,  weil  viele  von  den  einschlägigen  Erwägungen 
in  früheren  Abschnitten  vorweggenommen  sind. 

Das  gilt  von  der  Ableitung  des  Schönen  aus  dem  Nützlichen  (siehe 
S.  201).  Es  liegt  nahe,  alles  Ästhetische  und  die  ganze  Kunst  durch 
eine  Läuterungswirkung  der  Jahrtausende  aus  dem  Förderiichen  ent- 
stehen zu  lassen.  Dagegen  aber  spricht,  daß  in  einigen  Fällen  der 
Selbstzweck  früher  war  als  die  Nützlichkeit,  so  etwa,  wenn  Bedeckun- 
gen des  Leibes  als  Schmuck  und  Siegesbeute  getragen  wurden,  bevor 
die  (seit  der  Oletscherperiode  kälter  werdende)  Temperatur  Kleidung 
zur  Notwendigkeit  machte.  Außerdem  müßte  scharf  unterschieden 
werden  zwischen  Dingen  oder  Handlungen,  die  dem  Einzelnen,  und 
solchen,  die  der  Horde  nützlich  waren.  Nach  der  oben  begründeten 
Ansicht  käme  es  mehr  auf  die  letzten  an.  Schließlich  wäre  zu  trennen, 
was  den  Urmenschen  selber  als  brauchbar  bewußt  gewesen  sein  mag, 
und  was  die  philosophische  Betrachtung  als  biologisch  zweckmäßig 
erschließt.  Da  diese  Momente  nicht  auseinanderzuhalten  sind,  so 
bleibt  die  Theorie  grobe  Verallgemeinerung  oder  willküriiche  Ver- 
zerrung eines  im  beschränkten  Maß  gewiß  gültigen  Oedankens. 

Noch  schlimmer  ist  es  mit  der  Behauptung  bestellt,  Kunst  sei 
ein  Nebenerzeugnis  der  Bewerbungs Vorgänge.  Diese  Ansicht  der 
Darwinisten  schafft  f^obleme,  die  man  in  der  Umgangssprache  mit 
Schnürieber  und  Fettherz  vergleichen  könnte:  erst  haben  wir  sie  durch 
unzweckmäßige  Behandlung  hervorgerufen  und  dann  mühen  wir  uns, 
sie  fortzubringen.  So  verhält  es  sich  mit  der  Musik  der  Tiere.  Bei 
den  Vögeln  soll  die  Fähigkeit  zu  musikalischen  Äußerungen  als  Reiz- 
mittel für  das  andere  Geschlecht  erworben  worden  sein.  Aber  es 
muß  doch  stutzig  machen,  daß  der  Vogelgesang  nicht  auf  die  Brunst- 
zeit beschränkt  ist.  Ist  er  überhaupt  Musik?  Dem  Tongewirr  der 
zwitschernden  Vögel,  an  dessen  Erzeugung  und  Wahrnehmung  eine 
bloß  sinnliche  Lust  geknüpft  ist,  fehlt  der  Rhythmus,  also  der  Grund- 
pfeiler aller  menschlichen  Musik.    Wir  können  eine  ununterbrochene 


298  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

Reihe  verfolgen,  die  von  der  primitiven  Musik  fortläuft  bis  zur  Ton- 
kunst unserer  Tage,  denn  alles,  was  innerhalb  dieser  Entwickelung 
hinzugekommen  ist,  bedeutet  nur  eine  ohne  Sprung  mögliche  Steigerung 
und  zwar  teils  in  der  Ausbildung  der  Technik,  teils  im  Instrumenten- 
bau, teils  im  musikalischen  Gedächtnis,  teils  in  der  geistigen  Ver- 
fassung überhaupt.  Dahingegen  sieht  man  gar  keinen  Übergang  von 
der  sogenannten  Tiermusik  zum  Tonrhythmus  der  Naturvölker.  Vor 
allen  Dingen  muß  auffallen,  daß  die  Vögel,  die  doch  einer  verhältnis- 
mäßig niedrigen  Stufe  in  der  Tierreihe  zugehören,  die  reichste  Musik 
haben.  Häckel  erzählt  freilich  von  einer  indischen  Art  der  Menschen- 
affen, sie  verstehe  eine  Oktave  in  vollkommen  reinen  und  klangvollen 
Tönen  zu  singen.  Was  aber  will  eine  solche  Ausnahme  besagen!  — 
Wir  ziehen  es  vor,  den  Zusammenhang  geschlechtlicher  und  künst- 
lerischer Triebe  an  dem  Stoff  der  Völkerkunde  zu  prüfen.  Die  rühren- 
den und  schwungvollen  Darstellungen  älterer  Wissenschaft  sind  zer- 
bröckelt. Einst  vermutete  man  in  Liebesgedichten  den  Anfang  aller 
Poesie,  wie  man  noch  früher  von  der  paradiesischen  Unschuld  und 
reinen  Güte  der  »Wilden«  geschwärmt  hatte;  die  gegenwärtige  For- 
schung findet  nur  spärliche  Erotik.  Einst  glaubte  man,  Liebe  habe 
die  Hand  des  ersten  Zeichners  geführt,  als  er  den  Schattenumriß  seines 
Mädchens  an  der  Felswand  zog;  auch  dieser  Traum  ist  zerronnen. 
Allerdings  sind  die  ältesten  bisher  aufgefundenen  Rundfiguren  weib- 
liche Statuetten.  Trotzdem  kann  daraus  ein  sexueller  Ursprung  mit 
Bestimmtheit  nicht  erschlossen  werden,  da  es  sich  um  Götzenbilder 
handeln  mag,  die  aus  anderen  Gründen  weibliche  Formen  erhielten. 
Kleidung  und  Verzierung  haben  vielleicht  dem  Wettbewerb  um  die 
Gunst  der  Frauen  gedient,  doch  keineswegs  ausschließlich  und  selbst 
nicht  in  der  Mehrzahl  der  Fälle. 

Es  kommt  alles  darauf  an,  daß  wir  den  dumpfen,  unzerlegten  Be- 
wußtseinszustand des  Naturmenschen  nachfühlen.  Die  geheimnis- 
vollen Vorgänge  der  Pubertät,  des  Geschlechtsunterschiedes,  der 
Begattung  und  des  Gebarens  sind  für  sein  Empfinden  fest  mit  Zauber- 
mächten verwoben.  Männer  fürchten  den  gefährlichen  Anblick  fremder 
Zeugungsorgane  und  die  Entblößung  der  eigenen,  Frauen  glauben, 
daß  sie  von  Sonnenschein  und  strömendem  R^en  befruchtet  werden, 
wenn  sie  sich  nicht  durch  Bedeckung  oder  Amulette  schützen.  Ander- 
seits wirkt  doch  der  Geschlechtsdrang  so  gewaltig,  daß  jede  Ver- 
hüllung der  Geschlechtsteile  und  jeder  Hinweis  auf  sie  zur  Beachtung, 
ja  zur  Betätigung  reizen  muß.  Nur  steht  niemals  eine  rein  physio- 
logische Verrichtung  zur  Frage,  sondern  ein  magisches  Etwas.  Die 
Zeit  der  Reife  und  die  Augenblicke  der  Begattung  sind  femer  in  dner 
ganz  anderen  Weise  auf  soziale  Veränderungen  angelegt  als  bei  uns. 


DKR  URSPRUNG  DER  KUNST.  29Q 

Mit  einem  Wort:  wenn  von  solchen  Motiven  die  Rede  ist,  so  dürfen 
wir  nicht  unsere  Vorstellungen  in  sie  hineintragen. 

Die  geschlechtliche  Anlockung  nimmt  oft  die  Form  des  Spiels 
an.  Der  entgegen  gerichtete  Trieb,  die  anderen  zu  erschrecken,  findet 
sich  noch  in  den  Spielen  unserer  Kinder  und  ist  sogar  bei  Erwach- 
senen eins  der  beliebtesten  Mittel,  das  in  tausend  Graden  -  von  der 
spaßhaften  Überraschung  bis  zur  rohen  Gewalt  —  abgewandelt  und 
in  die  Kunst  übergeführt  wird.  Im  Spiel  steckt  die  Freude  an  der 
Überlegenheit,  und  zwar  entweder  über  lebende  Wesen,  so  in  Liebes- 
und Kampf  spielen,  oder  über  leblose  Dinge,  in  Sinnes-  und  Bau- 
spielcn.  Mit  der  Bewältigung  des  Widerstandes,  so  hat  man  gesagt, 
empfangen  Spiel  und  Kunst  einen  Wert  biologischer  Art:  sie  dienen 
der  Einübung  und  Ergänzung  solcher  Fähigkeiten,  die  im  Kampf  ums 
Dasein  den  Sieg  sichern.  Das  ist  richtig,  aber  nicht  mehr  als  ein 
Aperiju.  Die  gewichtigen  Folgerungen,  die  daraus  gezogen  werden, 
haben  keine  Stütze;  sie  sind  ebenso  übertrieben  wie  die  Schlußsätze 
einer  anderen  biologischen  Kunsterklärung,  die  bereits  zurückgewiesen 
wurde  (s.S.  167).  Am  Kind  kann  man  beobachten,  daß  der  Mensch 
beim  Spiel  ganz  mit  sich  und  für  sich  beschäftigt  ist,  während  künst- 
lerisches Schaffen  meist  zur  Mitteilung  wird;  das  spielende  Kind  emp- 
findet den  Zuschauer  als  störend,  das  sich  schmückende  oder  sin- 
gende oder  zeichnende  Kind  will  Eindruck  machen.  Das  Ziel  des 
Spiels  wird  mit  der  augenblicklichen  Tätigkeit  erreicht,  die  Kunst 
strebt  Dauer,  ja  Ewigkeit  an^').  Schließlich  noch  eins.  Man  sollte 
denken,  daß  bei  einer  notwendigen  Abhängigkeit  der  Kunst  vom  Spiel 
die  großen  Künstler  in  ihrer  Jugend  die  eifrigsten  Freunde  der  Spiele 
sein  müßten.  Im  allgemeinen  sind  sie  es  nicht,  obgleich  frisches  und 
mutwilliges  Temperament  sich  natürlich  auch  in  lebhaften  Spielen 
austobt.  Sobald  die  Kunst  in  den  Gesichtskreis  dieser  Kinder  tritt, 
pflegen  sie  sehr  ernsthaft  sich  mit  ihr  zu  beschäftigen.  Vom  jungen 
Beethoven  wird  berichtet:  Musik  und  immer  Musik,  das  war  sein 
Tagewerk.  Auch  von  Mozart  wird  erzählt:  Von  der  Zeit  an,  wo  er 
mit  der  Musik  bekannt  wurde,  verlor  er  allen  Geschmack  an  den 
gewöhnlichen  Spielen  und  Zerstreuungen  der  Kindheit,  und  wenn  ihm 
ja  noch  diese  Zeitvertreibe  gefallen  sollten,  so  mußten  sie  mit  Musik 
begleitet  sein.  Übrigens  scheint  gerade  bei  Mozart  die  lebhafte 
Phantasietätigkeit  außer  auf  musikalischem  Gebiet  auch  auf  anderen 
Gebieten  sich  bekundet  zu  haben,  und  zwar  mit  gewissen  Neigungen 
zur  Systematisierung.  Hebbels  Einbildungskraft  war  von  Anfang  an 
poetisch  und  nicht  spielerisch.  Von  Mörike  heißt  es  wohl:  ^ Musik 
wollte  er  nicht  lernen,  umso  ausgedehnter  aber  unter  dem  Einflüsse 
einer  nie  rastenden  I^hantasie  wurden   alle  Knabcnspiele  getrieben.« 


300  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

Immerhin  erzählt  er  im  »Maler  Nolten«  von  sich  selbst:  »Mit  welcher 
Behaglichkeit  konnte  ich,  wenn  die  andern  sich  im  Hofe  tummelten, 
ganz  oben  an  einer  Dachluke  sitzen,  mein  Vesperbrot  verzehren  und 
eine  neue  Zeichnung  vornehmen.«  Bei  Mörike  wie  bei  Hebbel  finden 
wir  Zeugnisse  dafür,  daß  die  Märchen  eine  Verbindung  herstellten 
zwischen  den  Knabenspielen  und  dem  Beginn  der  dichterischen  Pro- 
duktion. Die  Teilnahme  der  Kinder  an  Nachahmungs-  und  Illusions- 
spielen wird  durchschnittlich  so  geschildert,  daß  man  nicht  sehen  kann, 
ob  ein  allgemeines  gesellschaftliches  Bedürfnis  oder  eine  erste  Regung, 
dem  Innern  nach  außen  Worte  zu  leihen,  die  Teilnahme  veranlaßt  hat 
Ziemlich  früh,  etwa  zwischen  dem  10.  und  15.  Lebensjahre,  kommt 
dann  bei  fast  allen  Künstlern  der  Augenblick,  wo  sie  sich  von  den 
Spielen  zurückziehen  und  in  die  Kunstsphäre  eintreten.  Nur  bei  den 
Schauspielern  scheint  ein  ganz  stetiger  Übergang  vom  kindlichen  zum 
mimischen  Spiel  sich  zu  vollziehend^). 

Der  Spieltrieb  hat  gleich  der  Freude  an  Nachahmung  den  Vorzug, 
daß  er  eine  allgemein  menschliche  Anlage  ist  und  daher  den  Kunst- 
sinn durch  Aufhebung  in  eine  wesentliche  und  verbreitete  Eigenschaft 
erklären  würde.  Indessen,  obgleich  er  ein  Letztes  darstellt,  bedeutet 
seine  ethnologische  Form  weder  das  Ganze  noch  dasjenige,  was  wir 
mit  Spielinstinkt  meinen,  denn  im  Spiel  der  Naturmenschen  betätigen 
sich  Kräfte,  die  dem  kindlichen  Spiel  mangeln.  Vornehmlich  die 
magischen  Kräfte.  Wer  sich  je  in  den  Kreisen  unserer  Okkultisten, 
Spiritisten  und  Halbtheosophen  bewegt,  wer  je  den  grauenvollen 
Spielereien  einer  schwarzen  Messe  und  den  Exteriorisationsversuchen 
gewisser  Magnetopathen  beigewohnt  hat,  wer  die  Lehren  der  Psycho- 
metrie  kennt,  die  vergrübelte  Köpfe  aus  der  Hellseherei  entwickelt 
haben,  der  wird  Yrjoe  Hirn  beipflichten,  daß  alle  pantomimischen 
Spiele  mit  abergläubischen  Vorstellungen  versetzt  sind.  Wir  dürfen 
nicht  »einen  bloßen  Jagdzauber  für  das  Muster  reiner  dramatischer 
Kunst  halten«,  sondern  müssen  uns  mit  der  Voraussetzung  vertraut 
machen,  ;>daß  die  Nachbildung  eines  Dinges  auf  jede  Entfernung  das 
Ding  selbst  beeinflussen  kann  und  daß  auf  diese  Weise  ein  Büffel- 
tanz, sogar  im  Lager  ausgeführt,  die  Büffel  zwingen  kann,  in  den 
Bereich  der  Jäger  zu  kommen.«  Die  Grundsätze  der  Hexerei,  wenn 
man  so  sagen  soll,  sind  Verfratzungen  von  naturphilosophischen  Prin- 
zipien. Die  magische  Fernwirkung  karikiert  den  Zusammenhang  aller, 
auch  der  entferntesten  Gegenstände  und  Vorgänge;  der  Glaube,  daß 
aus  Haaren,  Kleidungsstücken  u.  s.  w.  die  körperiiche  und  geistige 
Verfassung  des  Trägers  herauszufühlen  sei,  übertreibt  den  Einfluß, 
den  die  ständige  Berührung  ausübt;  die  Zwangsmacht  von  Abbildungen 
und  Zaubersprüchen  vergröbert  die  rein  geistige  Gewalt,  die  in  Bild 


DER  URSPRUNG  DKR  KUNST.  301 


und  Wort  lebt.  Unsere  Kunst  hat  sich  in  einem  LäuterungsprozeB 
entwickelt,  der  diese  Bestandteile  in  Hochglut  aufgehen  ließ.  Aber 
verloren  sind  sie  nicht.  Ich  nenne  ein  Beispiel,  das  bis  in  die  ge- 
schichtliche Zeit  der  Bildnerei  reicht.  Aus  ägyptischen  und  griechischen 
Darstellungen,  desgleichen  aus  literarischen  Quellen  kennt  jedermann 
den  menschenköpfigen  Vogel,  die  Sirene.  Eine  Gottheit  oder  die 
Seele  wird  vom  volkstumlichen  Glauben  in  Tiergestalt  gedacht  und 
da  diese  Gestalt  im  Bilde  nicht  vom  gewöhnlichen  Tier  zu  unter- 
scheiden wäre,  so  muß  sie  als  besonderes  Kennzeichen  das  Haupt 
eines  Menschen  erhalten.  Der  künstlerische  Typus,  der  so  eigenartig 
wirkt  und  so  viele  wertvolle  Abänderungen  ertaubt,  ist  also  nicht  aus 
ästhetischen  Rucksichten  geschaffen  worden,  sondern  wurzelt  in  der 
religiösen  Verehrung  der  Totengeister  und  in  der  Beschränktheit  der 
bildenden  Kunst,  die  nur  sichtbar  machen,  nicht  erläutern  kann^'). 
Wenn  die  Kleinplastik  die  Haltung  der  Flügel  und  Arme  verändert, 
so  verfährt  sie  wiederum  nicht  zu  Gunsten  des  ästhetischen  Wohl- 
gefallens, sondern  weil  die  Eiform  des  Rahmens  sie  dazu  zwingt. 
An  der  Geschichte  einer  ähnlichen  Grundgestalt,  nämlich  der  Sieges- 
göttin, und  an  allen  Wandlungen  der  Baukunst  läßt  sich  beobachten, 
daß  tatsächliche  Bedürfnisse  den  Anstoß  zum  Fortschreiten  geben. 

Damit  sind  wir  von  neuem  bei  dem  Nutzen  angelangt,  der  bestim- 
mend in  Anfang  und  Fortführung  der  Kunst  eingreift.  Der  Nutzen  er- 
streckt sich  entweder  auf  das  Willens-  oder  auf  das  Vernunftleben.  Eine 
Wechselwirkung  verbindet  Musik  und  Krieg:  Lieder  und  Tänze  steigern 
die  Kampfeslust  und  werden  anderseits  von  ihr  geschaffen.  Schon  früh- 
zeitig finden  sich  militärische  Abzeichen,  hervorgegangen  aus  dem 
Schreckschmuck;  in  Pantomimen  übt  sich  der  Stamm  für  seine  kriege- 
rischen Unternehmungen  oder  feiert  die  Erinnerung  daran.  Was  zweitens 
die  Verstandesforderungen  betrifft,  so  genügt  ihnen  die  mimische  Sprache 
ebenso  wie  die  verwandte  bildliche  Darstellung,  indem  sie  nach  klarem 
Ausdruck  des  Inhalts  strebt.  Denn  sie  sind  doch  oft  deutlicher  als 
Worte,  zumal  wenn  Angehörige  verschiedener  Sprache  sich  treffen  oder 
lautlose  Stille  bewahrt  werden   muß  oder  die  Stimme  nicht  ausreicht. 

Genug  und  übergenug.  Das  Gesamtergebnis  steht  vor  unseren 
Augen:  aus  vielen  Wurzeln  zieht  die  Kunst  ihre  Nahrung.  Darunter 
sind  ursprüngliche  ästhetische  Kräfte  -  Freude  an  sinnlichen  und  for- 
malen Reizen  in  erster  Linie  doch  auch  sie  in  anderer  Färbung  und 
Verbindung,  als  wir  es  gewöhnt  sind.  Die  zergliedernde  und  rationali- 
sierende Wissenschaft  wird  ihnen  am  wenigsten  gerecht.  Sofern  sie 
nun  das  System  der  Künste  auf  dieser  Grundlage  aufbaut,  verfällt  sie 
dem  gleichen  Schicksal,  und  erst  indem  sie  zur  Kulturkunst  zurück- 
kehrt, gelangt  sie  auf  festeren  Boden. 


302  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 


4.  Das  System  der  Künste. 

Die  entwickelungsgeschichtliche  Betrachtungsweise,  deren  wir  uns 
bis  hierher  bedienten,  kann  schließh'ch  dazu  helfen,  daß  eine  Übersicht 
über  das  natürliche  Verwandtschaftsverhältnis  der  Künste  gewonnen 
wird.  Dieser  Stammbaum  braucht  nicht  mit  einem  Paar  von  Künsten 
zu  beginnen,  mit  einer  männlichen  und  einer  weiblichen  Kunst  —  wie 
Richard  Wagner  sich  ausdrücken  würde  — ,  sondern  darf  ein  Einzel- 
wesen an  seine  Spitze  steilen,  das  durch  Sprossung  oder  Teilung  die 
ganze  Familie  ins  Leben  ruft.  Nehmen  wir  an,  daß  die  verschiedenen 
Künste  geschichtlicher  Zeit  sich  durch  Differenzierung  aus  einer  keim- 
haften Anlage  gebildet  haben,  so  fragt  sich,  wie  diese  Anlage  vorzu- 
stellen sei  und  mit  welcher  von  unseren  Künsten  sie  die  größte  Ähn- 
lichkeit zeige.  Bereits  Adam  Smith  entschied  sich  für  den  Tanz, 
Denn  der  Tanz,  so  meinte  er,  werde  bei  allen  wilden  Völkerschaften 
gefunden  und  zwar  in  unlöslicher  Gemeinschaft  mit  Musik  und  Poesie 
Gerade  weil  er  ohne  diese  Schwesterkünste  nicht  zu  denken  ist,  des- 
halb liegt  in  ihm  der  Ausgangspunkt.  Nun  finden  wir  tatsächlich  im 
Tanz  viele  der  Momente  vereinigt,  die  an  der  ältesten  Kunst  hervor- 
treten. Die  Liebestänze  weisen  auf  Erotik  hin  und  auf  die  in  sie 
einfließenden  abergläubischen  Ideen  (man  denke  an  die  phallischen 
Fruchtbarkeitsdämonen  der  alten  Mexikaner),  die  Kri^stänze  beleuchten 
den  sozialen  Hintergrund  der  Kunst,  die  Tiertänze  lassen  den  Zu- 
sammenhang mit  der  umgebenden  Natur  erkennen,  und  alle  insgesamt 
sind  Schauspiele,  hervorgegangen  aus  des  »Wirkens  süßer  Lüste. 
Der  Tanz,  zumal  der  Massen  tanz,  bedarf  des  Rhythmus,  daher  mag 
aus  und  an  ihm  zunächst  die  Musik,  dann  die  Poesie  sich  entfaltet 
haben.  Seine  mimische  Ausdruckskraft  hat  sich  vielleicht  auf  Be- 
wegungen übertragen,  die  an  einem  dauerhaften  Stoff  plastische  Formen 
und  Umrißzeichnungen  hervorzauberten.  Mit  besonderem  Nachdruck 
ist  behauptet  worden,  daß  die  Ornamentik  aus  der  Mimik  entstanden 
sei  als  bleibender  Niederschlag  augenblicks  zerrinnender  Ausdrucks- 
bewegung. So  hübsch  der  Gedanke  ist,  beispielsweise  die  Halskette 
als  verewigte  Umarmung  zu  begreifen,  so  unwahrscheinlich  ist  mir, 
daß  der  primitive  Mann  Liebkosungen  zart  zu  bewerten  und  dauernd 
festzuhalten  sich  gedrungen  fühlte.  Femer  wird  vermutet,  daß  der 
ursprüngliche  Sprachlaut  eine  Lautgebärde  war  und  Sacheindrücke  in 
der  Art  mimischer  Bewegungen  wiedergab.  Wir  können  uns  also  aus 
der  Mimik  das  Entstehen  aller  Verzweigungen  begreiflich  machen. 
Aber  wir  besitzen  umsoweniger  einen  zwingenden  Beweis  für  diese 
Ableitung  als  die  Urgeschichte  nichts  von  dem  vorausgesetzten  Tanz 


DAS  SYSTEM  DER  KÜNSTE.  303 


aufbewahrt  und  die  Völkerkunde  nur  von  getrennten  fertigen  Künsten 
berichtet. 

Nach  der  Meinung  anderer  Forscher  sind  die  Hauptkunste  von 
Anfang  an  geschieden  gewesen  und  unabhängig  voneinander  ent- 
standen. Diese  Vermutung  wurde  nicht  ausschließen,  daß  die  eine 
Kunst  später  geworden  sei  als  die  andere,  sondern  lediglich  behaupten, 
daß  die  zweite  sich  nicht  aus  der  ersten  entwickelt  habe.  Wenn  mit 
P.  J.  Möbius  drei  Urkfinste  angenommen  werden,  die  Mechanik  (Bau- 
kunst) einerseits,  Musik  und  Mimik  anderseits,  so  ist  Gleichzeitigkeit 
und  Ungleichzeitigkeit  zwischen  ihnen  denkbar.  Übrigens  pflegt  man 
mehrere  unserer  Künste  zu  einer  Gruppe  zusammenzufassen,  entweder 
im  Sinn  einer  Vervielfältigung  der  Keimtheorie  oder  in  freierer  Be- 
ziehung. Als  Beispiel  für  das  erste  Verfahren  erwähne  ich  Spencers 
vermittelnde  Ansicht,  wonach  Poesie,  Musik  und  Tanz  eine  gemein- 
same Wurzel  haben  und  ebenso  Schrift,  Malerei  und  Skulptur.  Diese 
Theorie  besticht,  denn  die  innere  Verwandtschaft  in  jeder  der  beiden 
Klassen  macht  uns  der  Annahme  eines  gemeinsamen  Ursprungs  ge- 
neigt, und  wir  möchten  Darwins  Grundsatz  aller  ätiologischen  For- 
schung auch  auf  unserem  Gebiet  bewahrheitet  finden,  nämlich  den 
Satz:  :Von  gleicher  Art  ist,  was  gleichen  Ursprungs  ist.«  Indessen 
die  Verkettung  der  zweiten  Gruppe  mit  der  ersten  durch  das  Binde- 
glied der  mimischen  Gebärde  bleibt  möglich.  Von  der  Mimik  aus 
hat  Schmarsow  eine  Wesensbestimmung  der  Künste  entworfen,  die 
sowohl  den  Unterschieden  als  auch  den  Übergängen  gerecht  zu  werden 
strebt.  Daß  die  Ornamentik,  die  nur  Werte  auszuzeichnen  und  zu 
umspielen,  nicht  selber  darzustellen  weiß',  als  Niederschlag  mimischen 
Gebarens  gelten  kann,  wurde  schon  erwähnt.  Mit  der  beweglichen 
Mimik  ist  aber  auch  die  ruhende  Kunst  der  Plastik  verwandt,  denn 
auf  dem  greifbaren  Zusammenhang  unseres  Leibes  beruhen  sie  beide  . 
Zur  Plastik  als  Körperbildnerin  tritt  Architektur  als  Raumgestalterin. 
Eine  weitere  Entwickelungsstufe  im  menschlichen  Schaffen  ist  die 
Malerei,  da  sie  den  Erscheinungszusammenhang  zwischen  Körper  und 
Raum  zum  Gegenstand  hat.  Dem  Bild  als  dem  höchsten  Ergebnis 
sinnlicher  Anschauung  steht  das  Wort  (die  Poesie)  als  seelische 
Leistung  höheren  Rangs  gegenüber,  denn  dem  Drang  nach  bestimmter 
Äußerung  genügen  stumme  Gebärde  und  Laut  der  Stimme  bald  nicht 
mehr.  -  Eine  künstlichere  Klassifikation  ist  von  Hörnes  entworfen 
worden.  Er  gliedert  in  drei  F^aare,  von  welchen  sich  das  eine 
(Leibesschmuck  und  Tanz)  auf  den  Körper  bezieht,  das  zweite  l^r 
(Gerätschmuck  und  freie  Bildnerei)  im  Raum  für  das  Auge,  das  dritte 
(Musik  und  Poesie)  in  der  Zeit  für  den  Gehörssinn  darstellt.  Inner- 
halb jedes  einzelnen  dieser  drei  F^aare  herrscht  zwischen  den  beiden 


304  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

Künsten  Verwandtschaft  des  äußeren  Wesens  und  O^ensätzlichkeit 
der  inneren  Art,  weshalb  sie  sich  in  der  so  vielfach  kombinierenden 
Wirklichkeit  am  häufigsten  zusammenfinden.  Die  äußerliche  Verwandt- 
schaft liegt  in  materiellen  Beziehungen  (1.  Darstellung  an  und  mit 
dem  menschlichen  Körper,  2.  Darstellung  an  und  in  einem  toten 
Stoff,  3.  Darstellung  durch  Laute),  —  die  innere  G^ensätzlichkeit  li^ 
darin,  daß  die  erstgenannten  Künste  in  jedem  Paare  vorwiegend  Künste 
der  abstrakten  ästhetischen  Form,  des  Rhjrthmus  u.  s.  w.,  die  zweit- 
genannten in  jedem  Paar  vorwiegend  Künste  der  konkreten  Natumach- 
ahmung  sind«  (a.  a.  O.  S.  13).  —  Ein  neuer  Gesichtspunkt  beherrscht 
den  Versuch  Konrad  Langes,  auf  Grundlage  der  tierischen  und  kind- 
lichen Spiele  ein  System  der  Künste  aufzubauen.  Den  Bew^^ungs-, 
Bau-  und  Sinnenspielen  entsprechen  Tanz,  Musik,  Lyrik,  Architektur 
und  Ornamentik;  den  Illusions-  und  Nachahmungsspielen  entsprechen 
beim  Kulturmenschen  die  Illusionskünste,  nämlich  Schauspielkunst, 
Drama,  Epos,  Plastik,  Malerei.  Diese  Zurückführung  ist  geistreich, 
aber  gewaltsam;  sie  scheint  mir  außerdem  nicht  fruchtbarer  als  wenn 
ein  Anatom  den  menschlichen  Körper  einteilen  wollte  nach  dem  Vor- 
bild eines  Amöbenorganismus. 

Seit  alters  hat  ein  einzelnes  Problem  unter  den  hier  verhandelten 
die  allgemeinste  und  lebhafteste  Aufmerksamkeit  gefunden.  Es  ist  das 
Verhältnis  von  Rede  und  Musik  oder  bestimmter  ausgedrückt  die 
Geburt  der  Musik  aus  dem  Geist  der  Sprache.  Rousseau  erklärt  die 
Musik  als  gefühlsmäßige  Erhöhung  der  Sprache  und  Dubos,  ein 
anderer  Vertreter  desselben  echt  rhetorischen  und  schwach  musika- 
lischen Volks,  behauptet:  ^De  la  parole  parlee  ou  ecrite  tout  art  df- 
nve.<<  Spencer  wiederholt,  »daß  die  Musik  ihre  wesentliche  Quelle  in 
den  Kadenzen  der  leidenschaftlich  erregten  Rede  habe,  daß  der  Gesang 
durch  die  Ausprägung  und  Verstärkung  von  Eigenschaften  der  geffihls- 
erregten  Rede  sich  bilden  mußte.«  Bei  uns  hat  zuerst  Jakob  Grimm 
den  gleichen  Weg  eingeschlagen:  »denn  aus  betonter,  gemessener 
Rezitation  der  Worte  entsprangen  Gesang  und  Lied,  aus  dem  Lied 
die  andere  Dichtkunst,  aus  dem  Gesang  durch  gesteigerte  Abstraktion 
alle  übrige  Musik.«  Dann  lehrte  Wilhelm  Jordan,  daß  es  in  der  Natur 
der  Sprache  liege,  bei  jeder  Steigerung  des  Innenlebens  und  beim 
feieriichen  Prosavortrag  einen  gehobenen  Rhythmus,  also  das  Element 
der  Musik,  anzunehmen;  ohne  die  Gedächtnishilfen  des  Rhythmus 
hätten  sich  auch  die  Rhapsoden  ihre  Sagen  nicht  merken  und  über- 
liefern können.  Hiermit  ist  ferner  ein  Satz  aufgestellt,  der  einigen  Philo- 
logen der  Gegenwart  als  Beweisthema  erscheint,  nämlich  der  Ursprung 
metrischer  Poesie  aus  der  Prosa.  Es  soll  beispielsweise  bei  den 
Griechen  eine  melodische  Prosa  vorhanden  gewesen  sein,  die  unserem 


DAS  SYSTEM  DER  KCNSTE.  305 


an  andere  Sprechweise  gewöhnten  Ohr  nicht  mehr  kenntlich  ist  und 
aus  der  einerseits  regelrechte  Poesie,  anderseits  die  leidenschaftslosere 
Rhythmik  des  Kunstredners  sich  entwickelte.  —  Beide  Annahmen  sind 
von  der  jüngsten  Forschung  über  Bord  geworfen  worden.  Als  über- 
zeugendste Gründe  gegen  die  Auffassung  der  Musik  als  erhöhter  Rede 
seien  angemerkt,  daß  vielen  Stämmen  die  vorauszusetzende  älteste 
Form,  das  Rezitativ,  gänzlich  fehlt,  und  daß  die  Musik  der  Jägervölker 
oft  nur  rhythmische  Bewegung  eines  Tons  ist,  demnach  aus  keiner 
Abänderung  der  Klanghöhe,  auch  aus  keiner  Modulation  der  Sprech- 
stimme entsteht.  Schwerlich  hatten  die  ersten  Menschen  »Unter- 
redung« in  unserem  Sinne;  sie  vermochten  also  nicht,  aus  der  Affekt- 
betonung die  Musik  und  aus  dem  gewöhnlichen  Gesprächsstil  einen 
gesteigerten  d.  h.  poetischen  Stil  zu  gewinnen.  Der  Scharfblick  von 
Adam  Smith  hat  den  wirklichen  Sachverhalt  erkannt.  Smith  durch- 
schaut den  Ursprünglichkeitswert  der  in  den  Balladen  fortlebenden 
sinnlosen  Refrain worte  und  gelangt  zu  dem  Ergebnis:  In  the  suc- 
cession  of  ages  it  could  not  fall  to  occur,  t/tat  in  the  room  of  those 
unmeaning  or  musical  words,  if  I  may  call  them  so,  might  be  sulh 
stituted  words  which  expressed  some  sense  or  meaning,  and  of  which 
the  pronunciation  might  coincide  as  exactly  with  the  time  and  measure 
of  the  tune,  as  that  of  the  musical  word  had  done  before.  Hence  the 
origin  of  Verse  or  Poetry.^^  {Works,  1811,  V,  267.)  In  der  Tat  ist  es 
so:  die  ältesten  Gesänge  sowie  die  einfachsten  Kinderlieder  haben  gar 
keinen  Text,  sondern  benutzen,  ähnlich  wie  wir  es  beim  Trällern  tun, 
bedeutungslose  Laute,  um  die  Artikulation  des  Tons  zu  erleichtem. 
Gesangstexte  und  Rezitative  kommen  erst  auf  höherer  Kulturstufe 
vor^^).  Folglich  stammt  Musik  nicht  aus  dem  naturlichen  Tonfall  der 
erregten  Sprechweise. 

Die  andere  Seite  des  Problems  fällt  mit  der  Frage  zusammen,  wie 
der  Umfang  von  Poesie  abzugrenzen  sei.  Betrachtet  man  die  rhyth- 
mische Verwertung  der  Sprache  als  Kennzeichen  eigentlicher  Poesie 
und  die  Wortkunst  als  den  ihr  übergeordneten  Begriff,  so  muß  ge- 
sagt werden,  daß  Poesie  nicht  aus  der  Prosa,  sondern  eher  aus  der 
Musik  herzuleiten  ist.  Das  wirkliche  Folgeverhältnis  ist  dem  gemein- 
hin angenommenen  entgegengesetzt.  Wir  dürfen  es  uns  ungefähr  so 
vorstellen  wie  es  früher  (S.  133  ff.)  systematisch  zeriegt  wurde:  von 
Anfang  an  waren  metrische  Einschlußlinien  da,  und  in  sie  sind  Klänge 
und  Worte  eingezeichnet  worden.  Und  zwar  sprechen  Beol)achtungen 
an  Kindern  gleichermaßen  wie  Erfahrungen  mit  Naturmenschen  dafür, 
daß  die  musikalische  Ausfüllung  der  sprachlichen  vorangegangen  ist. 
Die  Frage,  wo  Poesie  als  rhythmische  Sprachkunst  am  besten  ein- 
geordnet wird,  läßt  sich  freilich  nicht  vom  entwickelungsgeschichtlichen 

Destoir.  Ästhetik  niid  allff.  KunitwitMmclitft.  20 


306  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

Standort  aus  erledigen.  Denn  die  von  der  primitiven  Masseneinheit 
geschaffene  Poesie  ist  ja  eine  ganz  andere  als  die  vom  einsamen 
Dichter  für  den  einsamen  Leser  bestimmte. 

Überhaupt  scheint  es  jetzt  an  der  Zeit,  daß  wir  die  Zusammen- 
gehörigkeit und  Unterscheidbarkeit  der  Künste  von  der  Rücksicht  auf 
den  Ursprung  befreien.  Zu  diesem  Zweck  erinnern  wir  uns  der  aus 
dem  klassischen  Altertum  überiieferten  Bemühungen,  durch  Gliederung 
eine  Übersicht  über  die  Gesamtheit  der  Künste  zu  gewinnen.  Ein 
Aristoteliker  der  späteren  Zeit  unterschied  zwei  Kunsttriaden:  die  a«o- 
teXeoTixat,  d.  h.  die  ein  fertiges  Werk  herausstellenden  Künste  sind 
Architektur,  Malerei  und  Plastik;  die  Tcpaxtixai,  die  Künste  der  Bewe- 
gung und  der  Zeit,  zerfallen  in  Musik,  Poesie  und  Orchestik.  Jene 
bildenden  Künste  bedürfen  keines  Ausführenden,  der  das  Werk  immer 
von  neuem  entstehen  läßt,  während  Musik  und  Tanz,  ja  auch  die  zum 
Anhören  bestimmte  Poesie  ohne  einen  Ausführenden  nicht  in  die  Er- 
scheinung treten.  Die  bildenden  sowie  die  musischen  Künste  unter- 
li^en  dem  allgemeinen  formalen  Gesetz  der  Gleichmäßigkeit,  das  man 
dort  Symmetrie,  hier  Rhythmus  nennt  Subjektiv  heißen  Architektur 
und  Musik,  weil  sie  kein  Vorbild  in  der  Natur  haben,  objektiv  oder 
nachahmend  werden  Plastik  und  Orchestik  genannt,  und  dazwischen 
stehen  als  subjektiv-objektive  Künste  Malerei  und  Poesie. 

Von  diesen  sehr  feinen  und  vielseitigen  Bestimmungen  ist  dgent- 
lich  nur  der  G^ensatz  zwischen  Künsten  der  Ruhe  und  der  Bewe- 
gung und  der  andere  G^ensatz  zwischen  subjektiven  und  nach- 
ahmenden Künsten  lebendig  geblieben  ^*).  Aber  mit  der  ersten  Unter- 
scheidung ist  doch  nicht  mehr  angegeben  als  das  Sinnengebiet,  an 
das  die  Künste  sich  wenden,  oder  die  Bedingung,  unter  der  ihre 
Werke  zur  Wahrnehmung  gelangen.  Mit  dem  Worte  Zeitkünste  be- 
zeichnet man  sehr  allgemein  das  Wirkungsmittel  der  Künste,  verknüpft 
sie  mit  einer  der  Kantischen  Anschauungsformen  und  deutet  an,  für 
welche  Sinne  sie  bestimmt  sind.  Aber  ins  Einzelne  dringt  die  Defi- 
nition natüriich  nicht,  und  die  beim  Schaffen  beteiligten  Geisteskräfte 
läßt  sie  fast  völlig  außer  Acht.  Anhänger  der  Einfühlungstheorie 
können  einwenden,  daß  durch  echt  ästhetische  Betrachtung  alles  Räum- 
liche verzeitlicht  wird;  umgekehrt  kann  man  darauf  hinweisen,  daß  wir 
bei  der  Zeitkunst  Musik  mit  Notwendigkeit  von  hohen  und  tiefen 
Tönen,  weiten  und  engen  Lagen,  vom  Hinauf  und  Herunter,  Zusam- 
men und  Auseinander  sprechen.  —  Was  die  Unterscheidung  nach 
Subjektivität  und  Objektivität  betrifft,  so  ist  sie  in  zweifacher  Weise 
abgeändert  worden.  Assoziationenästhetiker  unterscheiden  Künste  mit 
unbestimmten  und  mit  bestimmten  Assoziationen.  Zu  jenen  gehören 
Architektur,  Ornamentik  und  Musik,  zu  diesen  Plastik,  Malerei,  Mimik 


DAS  SYSTEM  DER  KÜNSTE.  307 


und  Poesie.  Die  Behauptung  hat  einen  Sinn.  Denn  architektonische 
und  musikalische  Formen  lassen  sehr  viele  Assoziationen  zu,  während 
etwa  an  die  plastische  Darstellung  eines  Löwenkopfes  oder  an  die 
malerische  Darstellung  einer  Frauenhand  nur  verhältnismäßig  wenige 
Assoziationen  sich  anschließen  können.  Im  Grunde  bedeutet  diese 
Distinktion  aber  nicht  mehr  als  die  alte  Scheidung  zwischen  nach- 
ahmenden und  nicht  nachahmenden  Künsten  und  besagt  nur  in  psycho- 
logischer Verhüllung,  daß  Architektur,  Ornamentik  und  Musik  kein 
bestimmtes  Vorbild  in  der  Wirklichkeit  haben.  Der  andere  Neuerungs- 
versuch legt  das  Schwergewicht  auf  den  Gegensatz  der  ungehemmten, 
frei  schaffenden  Künste  und  der  angewandten  Künste  (Architektur, 
Kunstgewerbe  und  Dekoration). 

Aus  einer  Vermischung  der  beiden  Hauptgedanken,  denen  wir  be- 
gegneten, ist  Richard  Wagners  Theorie  entstanden.  Danach  gibt  es 
drei  rein  menschliche  Kunstarten:  Mimik,  Musik,  Dichtkunst,  und  drei 
an  die  Natur  gebundene  Kunstarten:  Architektur,  Plastik,  Malerei.  Da 
die  bildenden  Künste  die  Bewegung  in  der  Zeit  —  das  wichtigste 
Moment,  weil  es  der  Ausdruck  des  inneren  Menschen  ist  —  nur  durch 
Anrufung  der  Phantasie  herstellen,  so  bieten  sie  nicht  frisches  Leben, 
sondern  bloßen  Schein.  >Erst  wenn  der  Drang  des  künstlerischen 
Bildhauers  in  die  Seele  des  mimischen  Darstellers,  des  Singenden  und 
Sprechenden  übergegangen  ist,  kann  dieser  Drang  als  wirklich  gestillt 
erscheinen.-  In  anderem  Zusammenhang  unterscheidet  Wagner  übrigens 
nur  zwei  große  Kunstgattungen,  die  weibliche,  deren  Empfängniskraft 
durch  rein  künstlerische  Eindrücke  vollständig  erschöpft  wird  (Malerei 
und  Musik),  und  die  männliche,  die  durch  Aufnahme  von  Lebens- 
wirklichkeiten so  gestärkt  ist,  daß  sie  zeugungsfähig  wird  und  dem 
Leben  selbst  gestaltend  beizukommen  vermag  (Dichtkunst). 

Ein  neuer  Gedanke  setzt  sich  in  der  Hegeischen  Schule  durch. 
Max  Schasler  ordnet  nach  dem  Mischungsverhältnis  des  geistigen 
Gehalts  und  der  sinnlichen  Erscheinung.  Er  glaubt  an  eine  bestimmte 
Stufenfolge  in  der  Akzentverteilung  zwischen  Gehalt  und  Stoff,  eine 
Folge,  die  von  der  Architektur  als  der  mit  dem  schwersten  und 
räumlich  umfangreichsten  Material,  aber  mit  den  ärmsten  Ideen  arbei- 
tenden Kunst  angefangen  bis  hinauf  zur  Poesie  als  der  ideenreichsten 
und  zugleich  mit  dem  leichtesten  Material,  dem  artikulierten  Laut, 
arbeitenden  Kunst  führt.  Wenn  mit  dieser  Klassifikation  Ernst  ge- 
macht wird,  so  müssen  immerfort  Werke  aus  den  nach  allgemeiner 
Anschauung  verschiedenen  Künsten  durcheinander  gewirrt  werden. 
Es  soll  die  Plastik  über  der  Architektur  stehen.  Zugegeben.  Indessen, 
da  zweifellos  zahlreiche  Bildhauerarbeiten  ideenärmer  sind  als  die 
Meisterwerke  der  Baukunst   und  da  das  Verhältnis   statistisch   nicht 


308  n.  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 

festzustellen  ist,  so  versagt  der  Grundsatz,  sobald  er  mit  den  Tat- 
sachen in  Berührung  gebracht  wird.  Demnach  ist  dieser  Gesichts- 
punkt vielleicht  für  Wertreihen  innerhalb  jeder  einzigen  von  den  üb- 
lichen Künsten  verwendbar,  aber  nicht  als  Einteilungsgrund  eines 
Systems  der  Künste  Was  in  ihm  sich  andeutet  und  auch  in  den 
übrigen  Schemata  durchklingt,  das  ist  wohl  der  Unterschied  von  Frei- 
heit und  Gebundenheit.  Die  meisten  Künste,  so  wäre  zu  sagen,  sind 
auf  Formen  und  Inhalte  der  Wirklichkeit  angewiesen;  Architektur  und 
Musik  dagegen  schaffen  sich  neue  Formen.  Doch  sogleich  erhebt 
sich  Widerspruch.  Zeichnung  und  Malerei,  Skulptur  und  Kunsthand- 
werk kennen  Formverbindungen,  die  in  der  Wirklichkeit  sich  nicht 
finden,  und  sie  vermögen  selbst  reale  Formen  und  Farben  ihrer  natür- 
lichen Bestimmung  zu  entfremden.  Gehören  sie  also  unter  die  ge- 
bundenen Künste?  Ist  die  Poesie,  insofern  sie  Metrum,  Reim  und 
Wohlklang  schafft,  nicht  gleichfalls  zu  den  Künsten  der  irrealen  Formen 
zu  rechnen?  Immer  schlüpfriger  wird  der  Boden.  Man  b^nne  mit 
der  freien  Architektur,  zeige  dann,  wie  in  Malerei  und  Plastik  Stoff- 
bestandteile der  äußeren  und  auch  der  inneren  Wirklichkeit  eintreten, 
wie  in  der  Poesie  die  Verinneriichung  zunimmt  und  schließlich  in  der 
Musik  nur  noch  seelisches  Leben  zu  uns  spricht  Man  ziehe  eine 
Linie,  stelle  an  ihren  Anfang  die  Architektur  (die  gefrorene  Musik),  an 
ihr  Ende  die  Musik  und  falte  nun  die  Linie  zum  Kreis  zusammen. 
Aus  dieser  Symbolisierung  werden  dann  zwei  Anschauungen  b^^eif- 
lich,  die  sich  feindlich  gegenüber  stehen:  die  Erklärung  der  Musik  als 
einer  reinen  Formenkunst  und  der  Architektur  als  einer  Darstellung 
wertvollen  seelischen  Lebens. 

So  vielfältig  und  flüssig  sind  die  Verhältnisse.  Es  scheint  kein 
System  zu  geben,  das  allen  Ansprüchen  genügte.  Weder  unter  den 
genetischen  noch  unter  den  anderen  Einteilungen  ist  uns  eine  einzige 
unanfechtbare  begegnet.  Und  gar  schlimm  wird  es,  wenn  die  Misch- 
formen berücksichtigt  werden  sollen.  Es  ist  leicht  gesagt,  sie  kämen 
nicht  in  Betracht.  Aber  wer  z.  B.  das  Melodrama  verurteilt,  darf  auch 
die  musikalische  Vemunftehe  zwischen  Hammerton  und  Saitenstrich 
nicht  billigen.  Ja,  er  muß  die  ganze  Kunst  des  Theaters  austilgen,  da 
die  Dichtung  nur  andeutet,  was  eine  Schar  von  anderen  Künsten  aus- 
führt. Im  Grunde  sind  eben  alle  unsere  Künste  in  einigen  ihrer  Unter- 
arten dermaßen  mit  anderen  Künsten  verschmolzen,  daß  die  Zuordnung 
schwer  fällt,  und  die  Schwierigkeit  wird  gesteigert  durch  den  Hang 
der  Ästhetiker,  sinnreiche  Analogien  zwischen  den  verschiedenen  Ge- 
bieten aufzufinden  und  das  scheinbar  Gleiche  durch  feine  Zergliede- 
rung in  Ungleiches  zu  zerlegen  ^^).  Die  Praxis  unserer  Zeit  ergänzt 
ebenfalls  sehr  gern  die  Ausdrucksmittel  einer  Kunst  durch  Hilfstruppen 


j 


DAS  SYSTEM  DER  KÜNSTE.  30Q 


aus  einer  anderen,  sie  gleicht  dem  Bilde,  das  schon  vor  140  Jahren 
von  »der  Moderne«  entworfen  wurde:  »Ein  Jahrhundert,  wo  man  an 
Worten  drechselt,  kleine  und  große  Versuche  macht,  Gedanken  zu 
empfinden  und  Empfindungen  mit  Händen  zu  greifen,  wo  man  Kupfer- 
stiche baut,  Holzschnitte  schreibt,  nach  Noten  ficht,  wird  das  philo- 
sophische genannt.  Will  man  unsere  Zeit  oder  die  Philosophie  am 
Pranger  stellen  ***)?« 

Doch  erst  die  Gegenwart  beschäftigt  sich  wieder  eingehend  mit 
der  Verbrüderung  mehrerer  Künste  zu  einer  Gesamtwirkung.  Das 
musische  Gesamtkunstwerk  Richard  Wagners  ruht  auf  der  Annahme, 
daß  die  Dichtung  als  der  Weg  zur  Bildlichkeit  vom  Untergrunde  der 
Musik  zur  Sichtbarkeit  der  Szene  überleite,  daß  die  Musik  ein  Haupt- 
mittel des  Ausdrucks  und  das  Drama  der  Zweck  sei.  In  dem  unbe- 
weglichen und  lautlosen  Kunstwerk  werden  der  Regel  nach  alle  plasti- 
schen und  malerischen  Erzeugnisse  der  Bedeutung  des  Gebäudes 
geistig  angeschlossen  und  bloß  für  seine  eindringliche  und  wechsel- 
reiche Ausgestaltung  verwendet;  indessen  sind  auch  einige  Versuche 
gelungen.  Bauten  lediglich  nach  malerischen  Gesichtspunkten  herzu- 
stellen. Für  die  meisten  Verknüpfungen  gilt  der  Grundsatz,  daß  die 
Kunst  mit  unbestimmteren  Assoziationen,  also  bei  den  Künsten  der 
Ruhe  die  Architektur,  bei  den  Künsten  der  Bewegung  die  Musik  das 
Hauptgewicht  erhalten  soll.  Dagegen  ist  die  früher  übliche  Lehre, 
wonach  nur  die  niederen  Arten  einer  Lebensgemeinschaft  fähig  seien, 
kaum  ernst  zu  nehmen,  wenn  man  an  Lied  und  Worttondrama  denkt. 

Es  handelte  sich  soeben  um  zwei  Möglichkeiten  des  Zusammen- 
wirkens von  Künsten:  entweder  gehen  einzelne  Methoden  und  Ziele 
von  der  Kunst,  der  sie  ursprünglich  und  scheinbar  ausschließlich  an- 
gehören, in  eine  andere  Kunst  über,  oder  die  Künste  als  ganze  ope- 
rieren gemeinsam,  wobei  eine  vorzuherrschen  pflegt.  Aber  wie  viele 
Künste  sind  da  und  worin  bestehen  die  Eigentümlichkeiten,  nach 
denen  wir  sie  abgrenzen  können?  Als  wir  die  Mannigfahigkeit  der 
Einteilungsversuche  überblickten,  da  stießen  wir  auf  Kunstgewerbe, 
Dekoration,  Ornamentik.  Dürfen  sie  als  Sonderkünste  den  übrigen 
zur  Seite  gestellt  werden?  Ich  sage  zunächst:  Nein  und  verspare  mir 
nähere  Bestimmungen  für  eine  gelegenere  Zeit.  Denn  schon  damit 
die  Künste  von  den  zahllosen  ästhetischen  Fertigkeiten  abgesondert 
und  die  Künstler  vom  Kleiderkünstler  und  seinesgleichen  unterscheid- 
bar werden,  wollen  wir  uns  vorläufig  mit  den  eingesessenen  Künsten 
begnügen.  Es  bleiben  demgemäß  Mimik,  Musik,  Poesie,  Architektur, 
Plastik,  Malerei.  Lassen  wir  alle  Nebenbestimmungen  bei  seite  und 
ordnen  wir  sie  nach  den  Hauptgesichtspunkten  der  Überiieferung,  so 
ergibt  sich  folgendes  Schema: 


310 


IL  ENTSTEHUNG  UND  GLIEDERUNG  DER  KUNST. 


Raumkünste  Zeitkfinste 

(Künste  der  Ruhe    und  des  (Künste  der  Bewegung  und 

Nebeneinander)  des  Nacheinander) 

Plastik  Mimik 

Malerei  Poesie 


Künste    der    Nadiah- 
mung,  der  bestimniten 
Assoziationen,  der  rea- 
len Formen 


Architektur 


Musik 


Freie  Künste  der  unbe- 
stimmten Assoziationen 
und  irrealen  Formen 


Bildende  Künste 
(Wirkungsmittel  [Raum-]  Bild) 


Musische  Künste 
(Wirkungsmittel  [Laut-]  Gebärde) 


In  der  letzten  Zeile  ist  der  Einteilungsgrund  genannt,  den  wir  für  die 
Anordnung  im  Großen  bevorzugen  werden,  nachdem  wir  erkannt 
haben,  daß  weder  die  entwickelungsgeschichtliche  Methode  noch  die 
b^^ffliche  Kombination  Endgültiges  zu  schaffen  vermag.  In  Gebärden, 
Tönen,  Worten,  abstrakten  Raumformen  und  Bildern  haben  wir  die 
Sprachen  zusammen,  die  die  Kunst  redet  Diese  Ausdrucksmittel  sind 
es,  in  denen  ihre  Eigenart  zum  größten  Teil  beschlossen  ist;  was 
daraus  des  weiteren  folgt,  wird  sich  nunmehr  herausstellen. 

Anmerkungen. 

')  Mary  W.  Calkins,  An  atUmpted  experiment  in  psychological  aestheties,  Psy- 
Chol  Review,  1900,  VII,  580—591.  —  Kristian  B.  R.  Aars,  Der  ästhetische  Farben- 
sinn bei  Kindern.    Zeitschr.  f.  pädag.  Psych.  1899,  I,  173—179. 

*)  James  Sully,  Untersuchungen  über  die  Kindheit  Übersetzt  von  Stimpfl,  1897. 
Ferner  zu  vergleichen:  H.  Perez,  Uari  chez  VenfanU  Rev.  philos^  1888.  XXV,  280. 

')  Siegfried  Levinstein,  Kinderzeichnungen  bis  zum  14.  Lebensjahr,  1905.  Darin 
auch  ein  Verzeichnis  der  Literatur.  Am  aufklärendsten  finde  ich  außer  verschiede- 
nen Arbeiten  von  Karl  Pappenheim  den  Aufsatz  von  A.  J.  Schreuder  in  der  Zeit- 
schrift >Die  Kinderfehler«,  1902,  VII,  216  ff. 

^)  Vergl.  Kakasu  Okakura,  The  Ideals  of  the  East    2.  Aufl.,  London  1904. 

*)  Eduard  Grosse,  EMe  Anfänge  der  Kunst,  1894.  —  Alexander  Conze,  Ober 
den  Ursprung  der  bildenden  Kunst  Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  der  Wissensch., 
1897.  —  Selenka,  Der  Schmuck  des  Menschen,  1900.  —  Yrjoe  Hirn,  The  origins 
of  art:  a  psychological  and  sodological  inquiry,  London  und  New  York,  1900. 
Deutsch  Leipzig,  1904.  —  Karl  Wörmann,  Geschichte  der  Kunst  aller  Zeiten  und 
Völker,  Bd.  1,  1900.  —  Richard  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst,  1903.  —  Francis 
B.  Gummere,  The  beginnings  of  poetry,  New  York,  1901. 

*)  Karl  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,  3.  Aufl.,  1902.  —  Margaret  Keiver  Smith, 
Rhythmus  und  Arbeit  in  Wundts  Philos.  Stud.,  1900,  XVI,  71—134  u.  197-306.  Außer- 
dem die  in  der  vorigen  Anmerkung  genannten  Werke  von  Wallaschek  und  Gummere. 

')  Tarde,  Les  lois  sociales,  1898. 

")  Die  Analogie  zwischen  Kindern  und  Naturmenschen  zu  ziehen  ist  ein  alter 
Gedanke.    Vergl.  Gottsched,  Kritische  Dichtkunst,  1737,  S.  87. 

')  M.  Hömes,  Urgeschichte  der  bildenden  Kunst  in  Europa,  1898.  Außerdem 
hat  mir  Wörmanns  Geschichte  der  Kunst  als  Quelle  gedient  In  beiden  Werken 
sind  zahlreiche  Abbildungen  enthalten;   ich  hätte  von  ihnen  aber  zu  viele  über- 


ANMERKUNGEN.  311 


nehmen  müssen,  um  die  gedrängte  Dtrstellung  im  Text  wirklich  zu  erläutern,  und 
so  habe  ich  lieber  für  diese  Abschnitte  auf  Anschauungsstoff  verzichtet  Aus  dem 
gleichen  Grunde  fehlen  Proben  der  primitiven  Musik  und  Poesie. 

**i  Kari  Qroos,  Die  Spiele  der  Tiere,  1896.  Die  Spiele  der  Menschen,  1899. 
Konrad  Lange,  Das  Wesen  der  Kunst,  1901. 

*')  Ich  habe  einmal  untersucht,  was  in  den  Lebensbeschreibungen  großer  Kunst- 
ler etwa  über  die  Spiellust  und  Spielfähigkeit  aus  den  Kinderjahren  berichtet  wird. 
Hier  die  interessantesten  Stellen.  Joseph  Haydn,  von  C.  F.  Pohl,  1875,  Bd.  I,  S.  13, 
67,  70,  78.  -  W.  A.  Mozart,  von  O.  N.  v.  Nissen,  1828,  S.  16.  —  W.  A.  Mozart, 
von  Otto  Jahn,  1856,  Bd.  I,  S.  29.  —  L  van  Beethoven,  von  J.  W.  v.  Wasielewski, 
1888,  i.  32,  36.  —  Beethovens  Leben,  von  A.  W.  Thayer,  1891,  Bd.  I,  S.  117  H.  - 
Richard  Wagner,  Autobiographische  Skizze.  Gesammelte  Schriften,  2.  Aufl.,  1887, 
Bd.  I,  S.  4  ff.  ~  Hebbel,  von  E.  Kuh,  1877,  Bd.  I,  S.  9,  11.  27.  -  Eduard  Mörikes 
Leben  und  Werke,  von  Kari  Fischer,  1901,  S.  5,  6,  8,  24.  --  Schillers  Jugendjahre, 
von   Eduard  Boas,  herausgegeben  von  W.  v.  Maltzahn,  1856,  S.  53,  57,  59,  66,  71. 

-  Iffland,  Meine  theatralische  Laufbahn.  Dramatische  Werke,  1798,  Bd.  I,  S.  4,  7  ff., 
21,  22.  26.  27.  29.  31.  33.  35.  -  F.  L  Schröder,  von  Berthold  ützmann,  1890,  S.  50, 
70,  96.  —  Leben  Michel  Angelos,  von  Hermann  Grimm,  8.  Aufl.,  1898.  Bd.  I,  S.  73  ff. 

—  Arnold  Böcklin,  von  H.  A.  Schmid.  1898.  S.  7.  -  Böcklin.  von  H.  Mendelsohn,  1901, 
S.  20.  -  Wilhelm  Kaulbach,  von  Hans  Müller.  1893,  S.  13  ff.  —  Überblickt  man 
diese  freilich  etwas  willküriich  herausgenommenen  und  vielleicht  nicht  immer  ganz 
zuverlässigen  Angaben,  so  gewinnt  man  die  im  Text  zusammengestellten  Ergebnisse. 

")  Vergl.  Georg  Wcickcr.  Der  Scelenvogel.  1902. 

''»  Wallaschek.  Anfänge  der  Tonkunst.  S.  310.  Vergl.  Gummere,  The  beginnings 
of  poetry,  S.  54.  79,  108.  138.  156.  161. 

**)  Der  Unterschied  der  ti/voii  «ircottXt^Tixat  und  icpaxt'.xa:  wurde  von  Harris  auf- 
genommen, indem  er  die  Künste,  deren  Wirkungen  Werke  sind,  und  solche, 
deren  Wirkungen  Energien  sind,  fürsorglich  trennte.  Erst  während  des  Druckes 
dieses  Buches  erschienen  zwei  Werke,  die  sich  ausführlich  mit  der  Unterscheidung 
und  dem  Zusammenhang  der  Künste  beschäftigen:  A.  Schmarsow,  Grundt>egriffe 
der  Kunstwissenschaft  und  H.  Dinger,  Dramaturgie  als  Wissenschaft,  Bd.  II:  Die 
dramatische  Kunst  im  System  der  Künste.  In  diesem  Buch  findet  sich  auch  eine 
Geschichte  des  Problems;  ich  habe  nur  gelegentlich  (auf  S.  14  u.  17)  von  den 
älteren  Versuchen  zur  Abgrenzung  und  Einteilung  gesprochen.  Schmarsow  lehrt 
jetzt  nicht  nur  einen  Parallelismus  je  zweier  Künste,  sondern  auch  eine  Kom- 
plementärv^'irkung.  Diese  besteht  zunächst  wieder  zwischen  Mimik  und  Plastik, 
dann  aber  zwischen  Architektur  und  Poesie.  Sie  fordern  einander  und  ergänzen 
sich  zu  einer  einheitlichen  und  in  sich  vollständigen  Weltanschauung  im  künstle- 
rischen Sinn.  Das  dritte  Paar,  Malerei  und  Musik,  ergibt  sich  darnach  von  selbst, 
und  dieses  Verhältnis  lenkt  schon  alle  die  Vergleiche  von  Architektur  und  Musik 
einerseits  und  Malerei  und  Poesie  anderseits,  die  so  häufig  beklagte  Fehlgeburten 
der  Analogiensucht  hervorgebracht  hatten,  auf  einen  anderen  richtigeren  Weg.  Nicht 
Parallelismus  der  Erscheinungen  ist  allein  vorhanden;  wo  er  versagt,  wird  die 
Komplementäru'irkung  weiterführen    (S.  345). 

"  Ludwig  Eckardt,  Vorschule  der  Ästhetik,  1865,  II,  223.  Orillparzer,  Ges. 
Werke,  4.  Auf!,  XII,  204.  M.  Lazarus.  Das  Leben  der  Seele,  3  Auff.,  111,2,  S.  69 
bis  240:  Die  Vermischung  und  Zusammenwirkung  der  Künste.  Th.  A.  Meyer,  Das 
StiJgcselz  der  Poesie,  1901.  S.  120  ff. 

'•   J.  G.  Hamann,  Kreuzzüge  des  Philologen,  1762.  S.  69. 


III.  Tonkunst  und  Mimik. 


1.  Die  Mittel  der  Musik. 

Ich  stelle  drei  Sätze  älterer  Philosophen  voran:  Das  Allgemeine  ist 
das  Prius  des  Besonderen.  Die  Sprache  entspringt  aus  dem  Drama 
Die  Musik  Ist  eine  Handlung  Im  Zeltpunkt  ihres  Entstehens. 

Wenn  wir  den  ersten  Lehrsatz  unseren  Absichten  anpassen  dürfen, 
so  würde  er  bedeuten,  daß  die  Kunstwerke  aus  einer  allgemeinen 
Richtung  der  künstlerischen  Kraft  hervorgehen  und  erst  allmählich  in 
die  Einzelheiten  sich  ausbreiten.  Die  zweite  Behauptung  fügt  hinzu, 
daß  innerilch  angeschaute  Szenen  nach  einer  Darstellung  drängen  und 
diese  in  den  Worten  finden.  Drittens  wird  der  Zusammenhang  zwi- 
schen Musik  und  den  teils  künstlerischen,  teils  gesellschaftlichen  Hand- 
lungen uns  ins  Gedächtnis  gerufen.  Aber  nicht  nur  auf  primitiven 
Stufen  sind  Ton-  und  Oebärdenkunst  mit-  und  füreinander  da,  son- 
dern sie  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  verbündet  geblieben.  Musik 
und  Tanz,  Klang  und  Bewegung,  Freude  für  das  Ohr  und  Lust  an 
der  Mitbewegung  —  wie  könnte  man  das  zerreißen?  Die  klassischen 
Formen  der  Spielmusik  sowie  die  Liedformen  des  18.  Jahrhunderts 
zeigen  ganz  deutlich  die  Spuren  des  Tanzrhythmus.  Und  abgesehen 
von  allem  Geschichtlichen:  Die  Mehrzahl  musikalischer  Menschen  ge- 
hört zum  sogenannten  motorischen  Typus;  der  Kapellmeister  ist  die 
sichtbare  Erscheinung  dieser  urwüchsigen  Verbindung.  Sonach  eriaubt 
eine  innere  Gemeinschaft  die  Zusammenstellung  beider  Kunstarten. 
Weiterhin  führt  die  Mimik  dann  zum  Drama  und  zur  Wortkunst  über- 
haupt hinüber.  Und  bei  allen  diesen  Betrachtungen  werden  wir  des 
Satzes  eingedenk  sein,  daß  nirgends  die  Elemente  den  Ursprung  oder 
gar  das  Ganze  der  Wirklichkeit  ausmachen.  Auch  was  wir  jetzt  in 
den  Grundzügen  kennen  lernen,  soll  als  die  Mannigfaltigkeit  der 
Mittel  verstanden  werden,  mit  denen  die  Musik  wirkt,  nicht  als  eine 
Aufzählung  der  Bestandteile,  aus  denen  sie  ohne  Rest  bestehe. 

Das  elementare  Wirkungsmittel  der  Musik  ist  der  Rhythmus.  In 
der  Musikwissenschaft  pflegt  die  Lehre  von  Ihm  einen  Hauptteil  zu 
bilden  und  näher  bestimmt  zu  werden  als  die  Zusammenfassung  und 
Erklärung  aller  die  zeitlichen  Eigenschaften  des  Werkes  betreffenden 


DIE  MITTEL  DER  MUSIK.  313 


Regeln;  besser,  aber  mit  starker  Einschränkung  befassen  wir  darunter 
das  Zeit-  und  Betonungsverhältnis  der  Tonwerte  innerhalb  einer  musi- 
kalischen Einheit.  Diese  Einheit  und  folglich  jenes  Verhältnis  werden 
nicht  durch  die  Taktstriche  festgelegt  Bach  hat  in  durchgeführter 
Unabhängigkeit  vom  Takt  einen  unermeßlichen  Reichtum  rhythmischer 
Gebilde  geschaffen;  weder  er  noch  irgend  einer  der  Klassiker  kann 
gewürdigt  werden,  so  lange  man  die  senkrechten  Trennungslinien  für 
künstlerisch  bedeutsam  hält  In  dem  bekannten  Thema  der  Kreutzer- 
sonate  sind  die  Zusammenhänge  und  die  in  ihnen  waltenden  Zeit- 
beziehungen so,  wie  durch  die  unter  dem  System  stehenden  Linien 
angegeben  wird: 


^ 


ej-i^il^^-^H^; 


-4 u- 

f # 


Oder  in   der  C-dur  Sinfonie   Beethovens   lautet   die   sinngemäße 
Gliederung: 


Mit  den  Taktstrichen  wird  also  nicht  gezeigt,  daß  hier  ein  Ab- 
schnitt aufhört  und  ein  anderer  anfängt,  vielmehr  nur,  daß  der  Regel 
nach  die  zuerst  hinter  dem  Taktstrich  stehende  Note  die  stärkste  Be- 
tonung hat  und  die  innerhalb  der  Striche  verfließende  Zeit  der  Regel 
nach  die  nämliche  ist.  Daher  wurde  schon  früher  vor  Überschätzung 
des  Taktes  gewarnt.  Taktmäßige  Wiedergabe  von  Musikstücken  gleicht 
eher  der  Lösung  einer  arithmetischen  Aufgabe  als  dem  wahrhaft  rhyth- 
mischen Vortrag.  Während  die  durchschnittlichen  Kapellmeister  wie 
die  Maschinen  arbeiten,  zuveriässig,  aber  unlebendig  und  unfrei,  besten- 
falls jede  Veränderung  des  Zeitmaßes  alsbald  durch  die  entgegen- 
gesetzte abglättend  und  bei  jedem  Gegenriiythmus  ängstlich  auf  die 
Hervorhebung  der  Hauptikten  bedacht,  legen  gute  Dirigenten  geringen 
Wert  auf  das  Beibehalten  derselben  Zeitabstände  und  das  Betonen 
des  guten  Teils,  wenn  nicht  etwa  die  musikalische  Logik  es  erfordert. 

Das  ist  freilich  aus  dem  Geist  der  Gegenwart  heraus  gesprochen. 
Aber  auch  andere  Musiktheoretiker  sehen  in  der  Abkehr  von  einfacher, 
strammer  Taktgemäßheit  zu  rhythmischen  Dissonanzen  einen  Fort- 
schritt ').  Robert  Schumann,  der  so  überzeugend  gegen  die  Tyrannei 
des  Taktes  geschrieben  hat,  schuf  im  letzten  Satz  seines  Klavierkonzerts, 
im  i Faschingsschwank«  und  anderwärts  Gebilde,  zu  deren  Auffassung 
ein  sehr  sicheres  rhythmisches  Gefühl  gehört:  ich  meine  jene  Stellen, 


314 


in.  TONKUNST  UND  MIMIK. 


WO  die  Synkopen  so  lange  andauern,  daß  die  Wiederaufnahme  der 
Taktbetonung  fast  als  Störung  wirkt    Zum  Beispiel  die  folgende: 


I 


* 


4 


PeSe«2 


^^^^^ 


i=:CP^ 


isa 


-P^WT 


:p=t 


gff 


±=t 


I 


S 


:|=Ti^ 


H  ^^   -4^ 


a-* 


s^ 


3i: 


u.  s.  w. 


u.  s.  w. 


Die  Ausdruckskraft  solcher  taktwidrigen  Gewichtsverteilungen  ist 
ungemein  vielseitig  und  keineswegs  bloß  der  übermäßig  verfeinerten 
Auffassung  zugänglich;  Synkopen  und  Hemiolen  werden  schon  in  der 
Volksmusik,  beispielsweise  in  derjenigen  der  Neger  und  der  von  ihnen 
beeinflußten  amerikanischen  Tonsetzer,  durchaus  gewürdigt  Die  zu- 
sammengesetzten Taktarten  sind  gleichfalls  aus  einem  entwickelten 
rhythmischen  Gefühl  hervorgegangen  und  stellen  sich  mit  Natur- 
notwendigkeit ein;  so  gibt  es  einen  spanischen  Nationaltanz,  der  im 
Fünfvierteltakt  geht  Wer  diese  Taktarten  so  auffaßt,  daß  entweder 
die  eine  Hälfte  beschleunigt  oder  die  andere  veriangsamt  werden  muß, 
damit  Gleichheit  der  sinnlich  meßbaren  Zeitabstände  eintrete,  der  be- 
greift nicht  den  Reiz  der  Asymmetrie,  der  gerade  darauf  beruht,  daß 
Zwei  und  Drei  zusammentreten  und  in  ihrer  Eigenart  ständig  ab- 
wechseln. Das  Ansammeln  und  Aufbauen  der  Eindrücke,  durch  das 
die  Erinnerung  immer  höhere  Einheiten  herstellt-),  läßt  sich  bei  un- 
gleichen und  taktwidrigen  Bildungen  mit  unbedingter  Sicherheit  voll- 
ziehen. Jede  sinnvolle  Ordnung  der  Zeit-  und  Betonungsverhältnisse, 
mag  sie  mit  dem  Takt  gehen  oder  nicht,  bietet  dem  Melodienaufbau 
das  feste  Gerüst  Die  Meister  in  der  Handhabung  des  so  aufgefaßten 
Rhythmus  stehen  den  Melodienschöpfem  nahe,  da  rhythmische  Ver- 
änderung (natüriich  aber  nicht  die  bloße  Umschreibung  eines  Drei- 
vierteltaktes in  einen  Viervierteltakt  oder  dergleichen)  ausnahmslos 
Veränderung  der  Melodie  nach  sich  zieht  Auch  von  dieser  Seite  ge- 
sehen erweist  sich  der  Rhythmus  als  grundlegend. 


DIE  MITTEI.  DER  MUSIK.  315 


Hinzu  tritt  als  zweites  Werkzeug  der  Musik  die  Höhe  und  Tiefe 
der  Töne.  Ich  glaube  nicht,  daß  wir  die  zum  Maßstab  dienende 
mittlere  Lage  aus  dem  Umfang  der  menschlichen  Stimme  abstrahieren; 
wir  tun  das  ebensowenig  wie  wir  nach  der  Häufigkeit  des  Pulsschlages 
das  Zeitmaß  eines  Stückes  schnell  oder  langsam  nennen.  Denn  die 
Unterschiede  zwischen  Baß  und  Sopran  sind  zu  groß,  als  daß  aus 
dem  Gesamtumfang  der  Menschenstimme  der  Begriff  einer  Indifferenz- 
lage abgeleitet  werden  könnte.  Femer:  wir  empfinden  Klänge  wie  a» 
und  h',  wenn  sie  von  einer  Geige  oder  F\öte  ausgehen,  nicht  als 
hoch,  während  sie  uns  beim  Sopran  als  ziemlich,  beim  Violoncell  als 
außerordentlich  hoch  erscheinen.  Gar  merkwürdig  ist  der  Hinweis 
darauf,  daß  der  Singende,  um  einen  hohen  Ton  zu  bilden,  die  höher 
gelegenen  Teile  seines  Stimmapparates  innervieren  muß.  Das  einzige, 
was  jedermann  erfährt,  ist  das  Zunehmen  einer  Spannung  bei  hohen, 
das  Nachlassen  der  Spannung  bei  tiefen  Tönen,  und  das  mag,  nament- 
lich bei  aufsteigenden  Folgen,  zur  qualitativen  Bedeutung  der  hohen 
Lage  beitragen.  Aber  in  der  Hauptsache  ist  es  die  eigenartige  Be- 
schaffenheit der  Klänge,  nach  der  sie  in  die  zwei  Gruppen  geordnet 
werden,  und  diese  hangt  ab  teils  vom  hervorbringenden  Instrument, 
teils  vom  Einfluß  der  Umgebung.  Klänge  mit  dem  Gepräge  der 
Leichtigkeit,  Dunnheit,  Beweglichkeit  gelten  als  hoch,  schwere,  breite, 
auf  eine  gewisse  Langsamkeit  angewiesene  Klänge  als  tief;  die  Merk- 
male der  einen  wie  der  anderen  Richtung  können  denselt)en  Tönen 
etwa  innerhalb  zweier  Oktaven  zukommen,  je  nach  der  uns  vertrauten 
allgemeinen  Beschaffenheit  der  Klangquelle  und  nach  dem  Verhältnis 
zum  Vorausgegangenen  oder  Gleichzeitigen. 

Die  wichtigste  Abstufung  der  Tonhöhen  erfolgt  durch  die  Tonleiter. 
Ihre  Gesetzmäßigkeit  ist  keine  mechanische,  da  die  Abstände  ja  nicht 
durchweg  dieselben  bleiben,  und  keine  allgemein-ästhetische,  da  kleinere 
als  Halbstufen,  obwohl  in  der  Musik  verpönt,  der  ästhetischen  Wertig- 
keit nicht  ermangeln.  Sondern  die  Tonleiter  gehört  lediglich  der  Kunst 
an.  Sie  fordert,  daß  die  in  ihr  festgelegten  Unterschiede  scharf  und  hart- 
näckig aufgefaßt  werden;  die  stetige  Veränderung  der  Tonhöhe  (das 
l'ortament  des  Sängers  und  das  Gleiten  auf  der  Saite)  bildet  offen- 
kundig eine  Ausnahme.  Ihr  größtes  Wunder  ist  die  Oktave,  ein 
Oleichklang,  der  beide  Töne  als  verschieden  bestehen  läßt.  Hinzu 
treten  Quinte  und  Terz  sowie  die  anderen  Töne  in  den  bekannten 
Anordnungen.  Schon  die  Naturvölker  gebrauchen  Molltonleitem,  die 
also  ebenso  ursprünglich  sind  wie  die  Durtonleitem  und  nur  in  der 
Entwicklung  unserer  Musikinstrumente  eine  gewisse  Schwierigkeit 
und  Seltenheit  erhalten  haben,  was  Wallaschek  gegen  Helmholtz  dar- 
tun konnte.    Demgemäß  bekamen  wohl  erst  in  geschichtlicher  Zeit  die 


316  in.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

Tongeschlechter  ihre  Gefühlswerte;  die  Volksmusik  steht  noch  heute 
bei  mehreren  Nationen  außerhalb  des  strengen  G^ensatzes.  Während 
bei  den  Skandinaviern  die  Molltonarten  und  die  leeren  Quinten  vor- 
herrschen, sind  Eigentümlichkeiten  des  slawischen  Tonsatzes  das  ge- 
legentliche Fehlen  der  Terz,  der  Gebrauch  übermäßiger  Intervalle  und 
eine  abweichende  Stellung  des  Halbtons  in  der  Leiter.  Die  spanischen 
Malaguefios  und  Boleros  schließen  oft  in  der  Dominante  ab  oder 
eigentlich  in  einer  uns  verloren  gegangenen  Tonart;  allerdings  werden 
diese  Tänze  von  manchen  Spaniern  als  maurisch  gebrandmarkt.  Ein 
Kennzeichen  der  ungarischen  Musik  sind  übermäßige  Sekunde  und 
übermäßige  Quart:  in  Liszts  dritter  Rhapsodie  findet  sich  die  unga- 
rische,   eigentlich    indische    Molltonleiter   vollständig    wieder.     Diese 


H 1- 


i 


V- 


*^Bs3^y 


i:= 


Skala  darf  als  harmonische  Molltonleiter  mit  übermäßiger  Quart  be- 
zeichnet werden.  Es  gibt  also  mancheriei  Tonarten,  deren  besondere 
Gefühlsbedeutung  durch  gewohnheitsmäßige  Assoziation  mit  Vorstel- 
lungen von  einem  Volkscharakter  bestimmt  wird.  Wenn  darüber 
hinaus  nun  von  der  älteren  Musikästhetik  den  üblichen  Tonarten  ge- 
wisse Gefühlssphären  zugewiesen  wurden^),  so  legte  man  allzuviel 
in  sie  hinein.  Das  zeigt  sich  deutlich,  sobald  ein  Sänger,  der  ohne 
Begleitung  singt,  seine  Melodie  in  dem  Ausmaße  transponiert,  daß  er 
keinen  Registerwechsel  vorzunehmen  braucht.  Wer  das  absolute  Ge- 
hör nicht  hat,  wird  auch  nicht  die  geringste  Abweichung  im  Charakter 
der  vorgetragenen  Weise  wahrnehmen.  Das  ändert  sich  freilich  in 
der  Spielmusik.  Aber  der  Grund  ist  der,  daß  die  Beschaffenheit  der 
Instrumente  jede  Verschiebung  durch  eine  Änderung  der  Klangfarben 
erkennen  läßt.  Legt  man  ein  in  D-dur  geschriebenes  Stück  um  einen 
halben  Ton  tiefer,  so  sind  z.  B.  von  den  Streichern  die  heller  klingen- 
den leeren  Saiten  fast  gar  nicht  mehr  zu  benutzen. 

Überhaupt  hat  die  Klangfarbe,  das  nächste  Ausdrucksmittel  der 
Musik,  einen  weiteren  Wirkungskreis  als  man  glauben  sollte.  In  der 
allgemeinen  Ästhetik  pflegt  man  sich  hiermit  weniger  zu  beschäftigen 
als  mit  dem  Begriffe  selber.  Viel  Scharfsinn  ist  für  die  doch  bloß 
terminologische  Frage  aufgewendet  worden,  weshalb  die  Sprache  das 
die    wesentliche   Beschaffenheit    des  Gesichtseindrucks    bezeichnende 


DIE  MITTEL  DER  MUSIK.  3|7 

Wort  »Farbe«  nicht  auf  die  entscheidende  Qualität  des  Tons,  nämlich 
auf  seine  Höhe,  sondern  auf  eine  seiner  Nebenbestimmungen  überträgt. 
Einige  Theoretiker  stützen  sich  auf  die  Beobachtung,  daß  Zeichnungen 
ohne  Farbenunterschiede  möglich  sind  und  ebenso  Melodien  ohne 
Klangfarbenunterschiede  (jedoch  niemals  ohne  Wechsel  der  Tonhöhe): 
wegen  ihrer  Unentbehrlichkeit  dürfe  die  Klangfarbe  nicht  mit  der  sicht- 
baren Farbe  verglichen  werden.  Ausdrucksvoll  und  formgebend  sei 
die  Modifikation  der  Tonhöhe  im  Gegensatz  zu  der  mehr  nebensäch- 
lichen Modifikation  der  Farben  im  Bild.  Schließlich  wird  behauptet, 
daß  die  Abwesenheit  des  Timbres,  wie  etwa  bei  den  obertonfreien 
Tönen  der  Flöte,  und  die  Abwesenheit  der  Farbe  auf  einer  Zeichnung 
denselben  schwachen  und  zarten  Eindruck  hervorrufen  soll.  Um  gleich 
hierbei  mit  der  Kritik  einzusetzen:  Kräftige  Werke  der  schwarz-weißen 
Flächenkunst  und  hingehauchte  Pastellbilder  widerlegen  sofort  den 
künstlich  geschaffenen  Gegensatz  zwischen  einer  Stärke  des  Farbigen 
und  einer  Schwäche  des  Farblosen.  Überhaupt  aber  liegt  das  Miß- 
verständnis zu  Grunde,  als  sei  ein  Bild  im  wesentlichen  mit  den  Um- 
rissen fertig  und  könne  nun  entweder  koloriert  werden  oder  nicht. 
Zeichnung  und  Gemälde  sind  zwei  verschiedene  Arten  der  Bildkunst, 
also  mit  zwei  Merkmalen  am  Wirkungsmittel  einer  einzigen  anderen 
Kunst  keineswegs  gleichzusetzen;  für  den  Maler  jedoch  bedeutet  die 
Farbe  eben  das  Ausdrucks-  und  Formprinzip.  Der  Versuch  einer  Er- 
klärung ist  also  gescheitert  Mir  persönlich  scheint  sie  auch  weniger 
wichtig  als  die  allgemeinere  Einsicht,  daß  alle  solche  Analogien  für  die 
Musik,  nicht  für  die  anderen  Künste  ausgenutzt  werden.  Man  nennt 
das  Timbre  des  Klangs  seine  Farbe,  aber  niemals  die  Farbe  des  Ge- 
mäldes sein  Timbre;  man  vergleicht  die  Melodie  mit  einer  Zeichnung 
und  die  Harmonie  mit  dem  Kolorit,  verfährt  aber  schweriich  umge- 
kehrt; man  gebraucht  die  Raumbezeichnungen  von  Höhe  und  Tiefe, 
von  Tonleiter  u.  s.  f.  ohne  entsprechende  Übertragungen  aus  dem 
Musikalischen  ins  Räumliche  und  Bildhafte.  Aus  allem  dem  ergibt 
sich:  die  Unbestimmtheit  und  Losgelöstheit  der  Musik  hat  von  Anfang 
an  den  Anlaß  dazu  geboten,  daß  Hilfsbezeichnungen  aus  anderen 
Gebieten  herangezogen  wurden.  Das  ist  entscheidend;  unwichtig  hin- 
gegen, nämlich  für  die  allgemeine  Kunstwissenschaft,  welche  Ausdrücke 
jeweils  im  Bedeutungswandel  der  Worte  als  die  geeignetsten  er- 
schienen •). 

Die  künstlerische  Verwendung  der  Klangfarben  erfolgt  zumeist  auf 
Grund  ihres  allgemein  verständlichen  Charakters.  Der  Sänger  färbt 
die  Stimme  heller  bei  heiteren  Stücken,  dunkler  bei  ernsten  Liedern; 
der  Tonsetzer  braucht  Instrumente  mit  vielen  und  zumal  hohen  Ober- 
tönen, um  lebhafte,  strahlende,  erregte  Vorstellungen  auszudrucken;  zu 


318  KI.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

den  verschiedensten  Zwecken  benutzt  er  schnarrende,  näselnde,  nüch- 
terne, glanzlose,  grelle  Klangfarben.  Obwohl  nun  der  Ausdruck  des 
Seelischen  bei  weitem  die  wichtigste  Aufgabe  darstellt,  ist  doch  auch 
die  Nachahmung  von  anderen  Musikinstrumenten  und  Naturiauten  mit 
Hilfe  des  Timbres  zu  nennen.  Was  den  ersten  Punkt  anlangt,  so  er- 
wähne ich  folgendes:  Auf  der  Geige  lassen  sich  dünne,  obertonfreie 
Töne  herstellen,  die  in  der  technischen  Anweisung  für  den  Spieler 
häufig  als  ^quasi  flautato^  gekennzeichnet  werden;  zu  Anfang  der 
elften  Lisztschen  Rhapsodie  für  Klavier  steht  T^quasi  cimbalo^.  Bei 
der  Nachbildung  von  Geräuschen  und  Naturklängen  spricht  man  von 
Tonmalerei,  meint  aber  allerdings  damit  auch  alle  die  Hilfen,  die  von 
den  übrigen  Mitteln  der  Musik  geliehen  werden.  Wenn  wir  diesen 
Gegenstand  sogleich  im  Zusammenhang  behandeln  wollen,  so  sei 
vorerst  betont,  daß  es  sich  stets  um  Übersetzung  in  die  fremde  Sprache 
der  Tonleiter,  also  um  eine  Beschreibung  handelt,'  die  zur  Wieder- 
erkennung des  Gegenstandes  führen  kann.  Das  Klappern  der  Mühle, 
das  Pferdegetrappel,  das  Hämmern  in  einer  Schmiede,  Sturm  und 
Wind,  das  Wogen  der  Wellen,  der  Gesang  der  Vögel,  das  alles  wird 
nicht  unbesehen  von  der  Wirklichkeit  übernommen,  sondern  nur  an- 
nähernd durch  Übertragung  nachgebildet.  Sehr  häufig  erfolgt  die 
Übertragung  durch  den  Rhythmus.  Er  muß  auch  dort  helfen,  wo 
Unhörbares  musikalisch  wiedergegeben  werden  soll.  Denn  der 
Schaffende  vermag  wohl,  das  einer  fremden  Sinnessphäre  oder  der 
Seele  Zugehörende  in  Bewegung  umzusetzen  und  damit  dem  Rhyth- 
mus zuzuführen.  Wenn  in  Brahmsens  »Deutschem  Requiemc  das 
Wort:  »Denn  alles  Fleisch  ist  wie  Gras«  versinnlicht  und  die  Schnitter- 
tätigkeit des  Todes  vertont  wird,  so  geschieht  es  durch  metrische 
Nachahmung  der  Bewegung:  der  Schnitter  Tod  holt  im  dritten  Viertel 
des  Dreivierteltaktes  aus  und  mäht  in  den  ersten  zwei  Vierteln;  das 
Zeitmaß  ist  als  »Langsam,  marschmäßig«  angegeben.  Allein  die  Musik 
hat  auch  die  Möglichkeit,  anders  als  durch  den  Rhythmus  gewisse 
Arten  der  Bewegung,  beispielsweise  durch  Anwachsen  oder  Abnehmen 
des  Stärkegrades  eine  herankommende  oder  abziehende  Bewegung  zu 
verdeutlichen,  da  die  Assoziation,  daß  alles  Feme  leise,  alles  Nahe 
laut  klingt,  sofort  bei  dem  Hörer  sich  einstellt.  Auch  ist  die  Raum- 
symbolik der  Tonleiter  uns  so  geläufig,  daß  wir  jede  aufsteigende 
Tonbewegung  als  ein  wirkliches  Aufsteigen,  jedes  Hinabgehen  von 
hohen  zu  tiefen  Tönen  als  ein  räumliches  Hinabschreiten  verstehen. 
Fast  scheint  es,  als  ob  die  Weite  der  Intervalle  eine  freilich  sehr  dunkle 
Beziehung  zu  unseren  Gleichgewichtsempfindungen  habe,  ja  als  ob  es 
statthaft  sei,  Schwere  und  Leichtigkeit  in  Noten  wiederzugeben.  In- 
folge einer  ähnlichen  unwillküriichen  Übertragung   fassen   wir  einen 


DIE  MITTEL  DER  MUSIK.  319 


lang  anhaltenden  Ton  wie  etwas  Stillstehendes  auf.  In  Liszts  >Christus< 
bezeichnet  das  hohe  As  den  feststehenden  Abendstem.  Später,  wo 
der  gleiche  Inhalt  wiederkehrt,  wird  den  Tönen  eis*  und  fis*  ein  Triller 
beigefugt,  offenbar  in  der  Absicht  und  sicherlich  auch  mit  dem  Erfolg, 
daß  wir  das  Funkeln  des  Sterns  wahrzunehmen  glauben.  Nebenbei 
bemerkt  ist  dies  einer  der  seltenen  Fälle,  wo  der  Triller  als  solcher 
künstlerische  Berechtigung  besitzt.  Allzu  häufig  dient  er  nur  der 
Virtuosität,  und  dann  wirkt  dies  schnelle  Durcheinanderschwirren  zweier 
benachbarten  Klänge  etwa  so,  wie  ein  Feuerwerk. 

Jetzt  sollte  ich  den  Leser  einladen,  in  den  Irrgarten  der  Harmonie- 
probleme einzutreten.  Aber  ich  darf  ihn  nur  so  weit  fuhren,  daß  er 
mit  Leichtigkeit  sich  zurechtfindet,  auch  wenn  er  der  Musiktheorie  fem 
steht.  Der  Leser  weiß,  daß  der  einzelne  Klang  aus  bestimmten  Tönen 
zusammengesetzt  ist,  die  im  Bewußtsein  meist  nicht  lebendig  sind, 
aber  unter  Umständen  herausgelockt  werden  können.  Auf  diese  Ober- 
töne und  die  Schwebungen  hat  man  eine  Erklärung  der  Konsonanz 
und  Dissonanz  gegründet;  ihr  Vorzug  ist«  daß  sie  sich  auf  unbestreit- 
bare Tatsachen  stützt,  ihr  Nachteil,  daß  sie  in  Wahrheit  nicht  erklärt, 
was  erklärt  werden  soll.  Angenommen  jedoch,  daß  Obertöne,  Diffe- 
renztöne, Schwebungen  den  maßgebenden  Einfluß  ausüben,  so  würden 
die  Harmoniegefühle  zurückzuführen  sein  auf  ganz  ursprüngliche  Ge- 
fühlswirkungen der  Töne.  Eine  zweite  Theorie  hingegen  baut  nicht 
aus  physikalischen  Verhältnissen  und  elementaren  Gefühlen  auf,  son- 
dern läßt  aus  der  Annahme  einer  größeren  oder  geringeren  Ver- 
schmelzung sogleich  den  Wahrnehmungs-  und  Gefühlsgegensatz  ent- 
stehen. Wenn  zwei  oder  mehr  Klänge  gleichzeitig  hervorgebracht 
werden,  so  verbinden  sie  sich  zu  einer  Einheit,  in  der  sie  mehr  oder 
minder  leicht  erkennbar  bleiben:  verschmelzen  sie  innig  miteinander, 
wie  bei  der  Oktave,  so  ist  vollkommene  Konsonanz  vorhanden,  setzen 
sie  der  Verschmelzung  starken  Widerstand  entgegen,  so  heißen  sie 
dissonant.  Es  scheint  nun  sehr  begreiflich,  daß  an  die  Einheitlichkeit 
des  Gesamteiiidruckes  Lust,  an  die  Zwiespältigkeit  Unlust  sich  an- 
schließt. Eine  dritte  Erklärung  sucht  den  Grund  des  Gefühls  in  intel- 
lektuellen Vorgängen.  Die  Ansicht,  daß  die  Seele  beim  Hören  unbe- 
wußt die  Schwingungen  zähle  und  an  den  einfachen  Zahlenverhält- 
nissen Freude,  an  den  schwierigen  Mißvergnügen  empfinde,  war  eine 
dtT  besten  Proben  des  älteren  ästhetischen  Rationalismus;  gegenwärtig 
wird  sie  dahin  gewendet,  daß  man  sagt:  die  regelmäßigen  Schwingungs- 
folgen, die  in  klarer  fVoportion  stehen,  oder  diejenigen  Zusammen- 
klänge, deren  Tonstöße  einen  einfachen  Rhythmus  miteinander  bilden, 
besitzen  eine  innere  rhythmische  Verwandtschaft,  durch  die  sie  als 
übereinstimmend   und   wohltuend   aufgefaßt   werden.     Schließlich    sei 


320  in.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

noch  die  Theorie  erwähnt,  nach  der  die  Beziehung  der  einzelnen 
Klänge  auf  eine  Klangeinheit  maßgebend  sein  soll:  ist  die  Beziehung 
fest  und  wird  sie,  wenn  nicht  mit  der  Wahrnehmung  gegeben,  wenig- 
stens unter  allen  Umständen  sicher  assoziiert,  so  tritt  der  Eindruck 
der  Konsonanz  ein. 

Es  lohnt  sich,  hierbei  einen  Augenblick  zu  verweilen.  Denn  unter 
diesem  Gesichtspunkt  erscheint  die  Konsonanz  nicht  mehr  als  unmittel- 
bare Begleiterin  des  Tonempfindungsinhaltes,  sondern  als  Haupt- 
bedingung der  sogenannten  Schlußfähigkeit.  Die  Harmonie  wird  nicht 
auf  die  Konsonanz  gestützt,  sondern  umgekehrt  eine  Konsonanz  da 
gefunden,  wo  Töne  zur  gleichen  Harmonie  gehören  d.  h.  zu  dem  näm- 
lichen Dur-  oder  Mollakkord.  Aus  dem  Wesen  der  musikalischen 
Kunstübung  heraus  lassen  sich  diesem  Gedanken  zwei  Vorzüge  nach- 
rühmen. Erstens  nämlich  wird  er  der  Tatsache  des  latenten  Harmonie- 
gefühls gerecht.  Wie  auch  immer  eine  Melodie  vorgetragen  wird 
—  einstimmig,  vielstimmig,  mit  Begleitung  — ,  sie  hat  eine  Harmonie 
der  Aufeinanderfolge.  Die  ungleichzeitige  Harmonie  oder  die  Tonalität 
bedeutet,  daß  alle  Bestandteile  der  Weise  auf  einen  dem  Ganzen  zu 
Grunde  liegenden  Ton  oder  Akkord  bezogen  werden:  bei  jeder  als 
Einheit  apperzipierten  Weise  wird  ein  Hauptton  oder  -akkord  in  Er- 
innerung behalten.  Deshalb  nannte  schon  Rameau  die  Melodie  eine 
auseinander  gezogene  Harmonie,  darum  kennen  Naturvölker,  die  Melo- 
dien haben,  auch  die  harmonische  Begleitung.  Indem  nun  gelehrt 
wird:  Töne  sind  konsonant,  wenn  sie  zum  gleichen  Grundakkord  ge- 
hören, wird  die  Konsonanz  auf  das  von  der  Musik  unzertrennlich^ 
soeben  beschriebene  »latente  Harmoniegefühl«  zurückgeführt  Ein 
zweiter  Vorzug  liegt  in  der  sich  darbietenden  Rechtfertigung  der  Dis- 
sonanz. Dissonanzen  sind  ja  keineswegs  sinnlose  Tonanhäufungea 
Sie  sind  musikalische  Bildungen,  die  teils  den  Nebenzwecken  des 
Häßlichen  dienen,  teils  einen  Eigenwert  besitzen.  Beide  Verrichtungen 
lassen  sich  leicht  im  einzelnen  beschreiben,  wenn  man  den  dissonieren- 
den Ton  als  zur  Harmonie  nicht  zugehörig,  aber  ihr  in  verständlicher 
Weise  widersprechend  erklärt.  In  den  dissonanten  Zusammenklängen 
ereignet  sich  ein  Konflikt  zwischen  den  zur  harmonischen  Einheit  ver- 
knüpfbaren Einzelklängen  und  dem  als  fremd  begriffenen  letzten  Ton; 
sonst  wären  sie  kaum  erträglich,  geschweige  denn  notwendig.  Auch 
wenn  es  sich  nicht  um  typische  Akkorde  handelt,  sondern  um  das 
Zusammentreffen  mehrerer  kontrapunktisch  geführten  Stimmen,  so  ist 
doch  eben  in  der  Auffassung  des  mehrfachen  Stimmverlaufs  eine 
rationale  Linderung  des  dem  Ohr  unangenehmen  Eindrucks  vorbereitet 
Gegenüber  jeder  bedeutsamen  Dissonanz  nimmt  das  Bewußtsein  dne 
Stellung  ein,  mit  der  sie  die  Zusammengehörigkeit  verneint    Wie  die 


DIE  MITTEL  DER  MUSIK.  321 


Wahrheit  geknöpft  ist  an  die  im  Urteil  erfolgende  Ineinssetzung  von 
Subjekt  und  Prädikat,  so  ist  lautere  Schönheit  an  die  Ineinssetzung  der 
Klänge  gebunden;  und  wie  im  verneinenden  Urteil  das  Prädikat  als 
dem  Inhalt  des  Subjektbegriffes  fremd  erkannt  wird,  so  weisen  wir 
beim  Hören  einer  großen  Septime  die  Zumutung  ab,  den  zweiten  Ton 
als  zur  Harmonie  des  ersten  passend  aufzunehmen.  Weder  Bejahung 
noch  Konsonanz  bedeuten  Aufgehen  des  einen  ins  andere,  weder  Ver- 
neinung noch  Dissonanz  bedeuten  Vertilgung  des  einen  durch  das 
andere  —  in  allen  vier  Fällen  bleiben  die  Bestandteile  erhalten.  Und 
die  Dissonanz  ähnelt  noch  in  anderer  Beziehung  der  entsprechenden 
k>gischen  Form:  nur  diejenigen  Dissonanzen  sind  wertvoll,  deren  Prä- 
dikat (wenn  ich  so  sprechen  darf)  zwar  abgelehnt  werden  muß,  aber 
doch  nicht  ohne  jeden  Grund  hinzugedacht  war.  Wenn  ich  zu  den 
Tönen  d  f  a  weiterhin  c  zufüge,  so  hat  das  einen  Wert,  gleich  als  ob 
ich  das  inhaltvolle  negative  Urteil  fälle  »Glückseligkeit  verbürgt  nicht 
Sittlichkeit«;  wenn  ich  hingegen  b  zufüge,  so  ist  das  so  sinnlos,  daß 
ich  ein  Pendant  aus  dem  Gebiet  der  wertlosen  Verneinungen  auszu- 
schreiben mich  schämen  müßte. 

Der  unserer  Betrachtung  eng  verwandte  Grundsatz,  daß  ein  Musik- 
stück die  Einheit  der  Tonika  festhalten  soll  -  man  hat  ihn  mit  dem 
Gesetz  der  Teufel  und  Gespenster  verglichen,  die  hinaus  müssen,  wo 
sie  hereingekommen  sind  — ,  hat  trotz  der  Beschränkung  auf  die 
temperierte  Stimmung  und  trotz  vielen  Abweichungen  alle  Rechte  einer 
künstlerischen  Forderung.  Denn  der  Zwang,  zur  Ausgangsharmonie 
zurückzukehren,  bedingt  eine  Bewegung  der  Aufmerksamkeit,  durch 
die  das  Kunstwerk  zusammengefaßt  und  das  Einzelne  in  eine  für  das 
Ohr  festgelegte  Richtung  eingeordnet  wird.  Die  Ausnahmen  von  dieser 
Regel  bedürfen  dann  eben  anderer  Mittel,  um  die  Beziehbarkeit  auf 
die  Tonalitat  aufrecht  zu  erhalten.  Die  Verflüssigung  kann  niemals  so 
weit  gehen,  daß  jede  Form  verschwindet.  Wenn  also  sachlich  unter- 
schiedene Tonwerte  vertauscht  werden,  beispielsweise  Gis  in  As  sich 
verwandelt,  so  weicht  das  Stück  in  eine  neue  Tonart  aus  und  ruft 
Überraschung  hervor,  aber  dies  Zusammenbringen  des  Entferntesten 
setzt  einen  höchst  geschärften  Musiksinn  voraus.  Die  Anwendung 
leiterfremder  Akkordtöne  veriangt  eine  erhöhte  Fähigkeit  des  Hörenden, 
die  Einheit  des  Ganzen  im  Bewußtsein  zu  bewahren.  Anderseits  läßt 
sich  durch  die  Chromatik  das  Nahe  noch  mehr  einander  nähern,  die 
Melodie  gewissermaßen  ins  unendlich  Kleine  versenken.  Würde  in- 
dessen die  Tonhöhe  sich  stetig  in  ganz  allmählichem  Übergang  ver- 
ändern, würde  die  chromatische  Führung  gleich  einer  Linie  alle  ihre 
Tonpunkte  zusammenschmelzen,  so  wäre  Verwirrung  die  Folge,  Der 
geteilte  Maßstab  bleibt  für  alle  Zeit  der  Musik  unentbehriich,  genau 

Dr««oir,   Ästhetik  und  allg  Kun«twt««rn«chAft.  21 


322  3L  TCNKI35T  C3D  MDfEKL 

SO  >¥ie  die  Tätigkeit  des  RIiytiiiini&  N'ur  sollte  emgesefaen  werden, 
daß  Harmonie  und  Rhydmms  im  Fartsdnitt  der  Miis&  skh  als  wdt- 
spannende  und  dasdsdK  Mütei  erwiesen  haben. 


Z  Die  Formen  der  MiisIl 

Wie  Harmonie  und  Rbytimms  sind  aich  <&  Formen  der  Musflc 
der  Erwdterung  fähig:    Von  den  vielen  Ani&sen  zum  Wandd  brauchen 
bloß  wenige,  don  Zwecke  unso»*  Erörterung  gemaB^  beräcksicht^ 
zu  werden.    Einoi  Ted  tr%t  die  zuneimieide  TechnSc  der  instrmnente 
bei     Das  gilt  schon  von  der  Geige.  obwoU  sie  ach  rni  Laufe  der 
Zeit  nur  wenig  verändert  haL     [Me  Ladnigkeit  unserer  Bogen  macht 
das  geworfene  Stakkato  mogüch«  das  für  C7>argange  von  einer  Haupt- 
note zur  anderen  und  zum  Ausdruck  launisdier  Stimmongai  so  außer- 
ordentlich gedgnet  ist,   unsere   sicher  ansprechencfen  Saiten  ermög- 
lichen  eine  beliebige  Verwoidung  des  Flag^Ietts  u.  d^  m.    Beim 
Klavier  wird  der  Einfluß  noch  eriiebtidier.    Ich  erinnere  led^[lich  an 
die  Erfindung  des  Pedals.    W«n  das  Pedal  gebratKht  dl  h.  der  Druck 
beseitigt  wird,   so  klingen  cfie  Ob«atone  mit  und  der  Ton  gewinnt 
soglekh  Farbe    Daher  hebt  die  Benutzung  des  Pedals  aufs  glfick- 
Ik±ste  die  Melodie  hervor,  erzielt  eine  weichte  Verbindung  der  Töne, 
macht  unter  Umständen  alle  zehn  Finger  für  (fie  Begleitung  frei»  er- 
laubt tonmalerische  Effekte,  wie  das  bieinanderschwingen  von  Glocken 
oder  das  wirre  Heulen  des  Sturmes,  und  sxdiert  dem  Instrument  eine 
Vielstimmigkeit,  die  an  das  Orchester  gemahnt    Am  Orchester  sdbst 
kann   man  die  Wirkung,  die  der  Apparat  auf  die  Ausdehnung  der 
musikalischen  Formen  übt,  am  klarsten  erkennen.    Die  Sonderwirkungen 
der  KIangfart)en  werden  heutzutage  ganz  and^s  ausgebeutet  als  ehe- 
dem.   Die  Tonsetzer  der  G^^enwart  schaffen  von  vornherein  im  Geiste 
eines   ungemein   zerl^en  Orchesterkianges   und   können  daher  mit 
Wiederholungen  und  Gegensätzen  in  neuer  Weise  arl>eiten.    Hittai 
sie  nicht  alle  die  Hilfsmittel,  die  das  moderne  Orchester  bietet,  so 
würde  ihre  Einbildungskraft  üt>erhaupt  nkhts  ausrichten,  sie  wfiidai 
in  die  Reihe  jener  Bedauernswerten  geraten,  die  Unerhörtes  sinnen 
und  Unmögliches  verlangen. 

Zum  anderen  hat  die  Verflüssigung  der  musikalischen  Formen  zu- 
genommen, weil  die  Tonkunst  sich  immer  mehr  von  den  Formai  der 
Lyrik  und  des  Tanzes  losgelöst  hat  Während  in  unserer  klassischen 
Musik  die  dem  Gedicht  nachgebildeten  vierzeiligen  Strophen  mit  yttr 
Takten  in  jeder  Zeile  vorwiegen  ^),  ist  jetzt  die  Sonaten-  und  Arienförm 
zerbröckelt,  um  freieren,  namentlich  leitmotivischen  Gestaltungen  I^tz 


DIE  FORMEN  DER  NRTSIK.  323 


ZU  machen.  Will  man  von  formloser  Form  sprechen,  so  sei  es  drum; 
jedenfalls  ist  eine  Form  vorhanden,  wenn  sie  auch  nicht  der  abge- 
zirkelten Form  der  Überlieferung  entspricht  Klagt  man  doch  auch 
über  die  pragmatisierte  Formlosigkeit  der  heutigen  Kunstrede,  obgleich 
sie  bloß  die  Form  geändert,  keineswegs  verioren  hat  Die  ältere  Rhe- 
torik veriangt  vom  Redner,  daß  er  bestimmte  Teile  und  bestimmte 
Übergänge  zwischen  ihnen  mache;  unserer  Art  entspricht  ein  frei  sich 
entfaltender  Vortrag  besser,  vorausgesetzt,  daß  der  Zusammenhang  be- 
wahrt bleibt.  In  diesem  Sinne  erklärt  auch  Combarieu  von  der  groß- 
rhythmischen Gliederung:  Ich  erachte  den  Rhythmus,  dessen  sämt- 
liche Teile  (Takt,  Motiv,  Satz,  Strophe  u.  s.  f.)  stark  herausgehoben 
sind,  als  das  Werk  einer  noch  unentwickelten  künstlerischen  Auffas- 
sung, die,  zu  schwach,  um  die  Dinge  im  Zusammenhang  und  in  ihrer 
Gesamtheit  zu  erfassen,  sie  auf  kleinere  Verhältnisse  zurückführt,  sie 
zerstückelt,  um  sie  besser  zu  begreifen,  gewisse  Teile  wiederholt,  damit 
das  Gedächtnis  mit  ihnen  leichteres  Spiel  hat,  kurz,  für  ihre  Sprache 
künstliche  Beziehungen  schafft.«  (ThA>rie  S.  3.)  Allerdings  möchte 
ich  die  Wiederholung  höher  stellen.  Nicht  nur  wegen  ihrer  schon 
erwähnten  ästhetischen  Brauchbarkeit  (s.  S.  145),  sondern  zunächst 
deshalb,  weil  die  Wiederkehr  des  gleichen  Themas  -  und  zwar  in 
völliger  Übereinstimmung  mit  seiner  ersten  Form  dem  Ausführen- 
den die  reizvolle  Aufgabe  zuweist,  durch  leichte  Unterschiede  in  Stärke, 
Zeitmaß,  Klangfärbung  eine  eben  wahrnehmbare  Andersartigkeit  hinein- 
zutragen. Ferner  ist  musikalische  Wiederholung  höchst  ausdrucksvoll: 
sie  vermag  anzudeuten,  wie  ein  nachdenkliches  Gemüt  immer  wieder 
auf  denselben  Gedanken  zurückkommt,  oder  wie  die  stolze  Freude 
sich  nicht  genug  daran  tun  kann,  ihr  Motiv  sich  vorzuhalten,  oder 
wie  die  im  Innersten  aufgewühlte  Seele  ohne  Unteriaß  auf  die  gleiche 
Vorstellung  zurückgeschleudert  wird.  Was  uns  in  der  Poesie  gesucht 
erscheint,  die  wörtliche  Wiederholung,  das  läßt  sich  in  Verbindung 
mit  der  Musik  schon  eher  ertragen,  da  eben  die  musikalische  Form 
unmittelbarer  den  seelischen  Vorgang  widerspiegelt.  Aber  die  Musik 
leistet  mehr  als  daß  sie  Vergleichung  und  Erinnerung  beschäftigt:  sie 
nimmt  der  Erneuerung  des  Gleichen  alle  Plattheit  und  Schärfe.  Denn 
bei  empfindlichen  Menschen  bewirkt  jedes  Eintauchen  in  die  eigene 
Vergangenheit  Atemnot,  und  die  Lust  der  Erinnerung  entsteht  für  sie 
nur  mit  Hilfe  solcher  Kunstformen. 

Der  einfachen  Wiederholung  gesellt  sich  die  Abwechslung  in  den 
bekannten  Formen  der  Nachahmung,  Umkehrung  und  der  unerschöpf- 
lichen, unbeschreiblichen  Variation.  Das  kunstwissenschaftliche  Inter- 
esse haftet  an  der  Verteilung  der  übereinstimmenden  und  abweichen- 
den Eigenschaften,  etwa  daran,  daß  Rhythmus  und  Intervalle  beibe- 


324  DI   TONKUNST  UND  MIMIK. 

halten  y  Höhenlage  und  harmonischer  Sinn  verändert  werden.  Denn 
in  der  Musik  läßt  sich  genau  zeigen,  was  bleibt  und  was  nich^  wäh- 
rend wir  in  den  übrigen  Künsten  dem  Geheimnis  der  Ähnlichkeit 
nicht  so  scharf  ins  Einzelne  zu  folgen  vermögen.  Auch  Spiel  und 
G^enspiel  enthüllen  sich  in  der  üblichen  G^^ensefeung  zweier  ver- 
schiedenen melodischen  Charaktere  viel  freier  als  im  Drama.  Die 
Vielstimmigkeit  des  Dramas  entspringt  aus  der  Einbildungskraft  eines 
Dichters  mit  derselben  Notwendigkeit  wie  die  Vielstimmigkeit  eines 
Musikstückes:  die  Phantasie  kann  sich  in  beiden  Fällen  mit  einem 
Bew^^ngszug  nicht  begnügen.  Beide  Zeitkünste  haben  die  Möglich- 
keity  daß  sie  in  der  Aufeinanderfolge  G^ensätze  zur  Wirksamkeit 
bringen,  da  ja  das  Frühere  in  der  Erinnerung  verharrt;  die  Musik  allein 
besitzt  den  doppelten  Vorteil,  daß  sie  erstens  durch  gleichzeitiges 
Zusammentreffen  des  Widerstreitenden  Kontrast  und  Kampf  steigert 
und  zweitens  im  Durchführungsteil  die  Elemente  ihrer  Themen  in  den 
buntesten  Mischungen  kunstreich  miteinander  verwebt  Durch  eine 
weitere  Ausnutzung  dieser  Vorteile  gedeiht  neben  der  begleiteten  oder 
harmonisch  ausgefüllten  Melodie  jene  Kunstweise,  die  mehreren  Stimmen 
ihr  eigenes  und  für  sich  beachtenswertes  Dasein  sichert  Sie  stellt  die 
größten  Ansprüche  an  die  Aufnahmefähigkeit:  wer  Fugen  zu  hören 
weiß  und  in  ihnen  mehr  als  ein  wirres  Durcheinander  vernimmt,  der 
besitzt  auch  Verständnis  für  die  Eigenart  einer  Kunst,  die  so  lebens- 
fremde Formen  ausbilden  kann.  Doch  wird  gar  leicht  die  Durchfüh- 
rung kontrapunktischer  Probleme  zu  einer  wissenschaftlichen  Aufgabe. 
Der  Tonsetzer,  an  die  Regeln  seiner  Wissenschaft  gebunden  und  durch 
sie  ebenso  gehemmt  und  gefördert  wie  der  Schachspieler  durch  die 
Regeln  seines  königlichen  Spiels,  kümmert  sich  kaum  noch  um  die 
Forderungen  des  Auges,  sondern  führt  die  Stimmen  so,  daß  der  Ver- 
stand und  das  lesende  Auge  befriedigt  werden.  Vielleicht  deshalb  er- 
scheinen uns  Kanon  und  Fuge  so  oft  als  künstlich.  Fugierte  Sätze 
neuester  Musik,  wie  etwa  das  Rondo  in  der  Symphonie  fantastique 
oder  der  Schluß  vom  zweiten  Akt  der  »Meistersinger«  rechtfertigen 
sich  ausdrücklich  durch  Ort  und  Zweck.  An  anderen  Stellen  bevor- 
zugen unsere  Komponisten  eine  Form,  die  übrigens  schon  in  Bachs 
Kantaten,  z.  B.  im  Actus  tragicus,  sich  ankündigt,  nämlich  das  Zusam- 
men von  zwei  Melodien,  die  unabhängig  sind  und  sich  nicht  aus- 
schließen. Die  Fugentechnik  wird  geflissentlich  vermieden  sowohl 
am  Ende  der  rOötterdämmerung^  und  in  der  Einleitung  zu  den 
» Meistersingern <:  als  auch  in  Liszts  Opemphantasien  über  »Norma: 
und   >  Robert  der  Teufel  <. 

Immer  wieder  stoßen  wir  bei  unserem  Rundgang  auf  die  Melodie. 
Dies  eigentümliche  Gebilde  ist  deshalb   so  wichtig,  weil  es  allen  Be- 


DIE  FORMEN  DER  Ml-SIK.  325 


dingungen  ästhetischer  Wertigkeit  genügt  und  aufs  vollkommenste  die 
harmonische  und  rhythmische  Ordnung  verbindet.  Ein  scharfer  und 
geschulter  Verstand  erlernt  zwar  die  Feinheiten  des  Kontrapunkts,  er- 
findet jedoch  niemals  eine  quellende  Melodie,  die  uns  sogleich  das 
Herz  wärmt  und  den  ganzen  Menschen  mit  fortreißt  Es  ist  etwas 
Wunderbares  um  die  Unmittelbarkeit  und  Unwiderstehlichkeit  einer 
ursprunglichen  Weise.  Sie  ist  kein  musikalischer  Gedanke,  wie  irre- 
leitend gesagt  zu  werden  pflegt;  abgesehen  von  ihrer  Begriff slosigkeit 
liegt  dieser  Unterschied  vor,  daß  der  Inhalt  eines  Gedankens  zur  Not 
mit  anderen  Worten  zu  wiederholen  ist,  während  in  der  Musik  die 
bestimmte  Form  unter  keinen  Umständen  sich  abstreifen  läßt  Viel- 
mehr bedeutet  die  echte  Melodie  eine  Schöpfung,  die  mit  nichts  ver- 
glichen, durch  nichts  erklärt  werden  kann;  voriäufig  bleibt  sie  einer 
der  seltenen  Grenzfälle,  wo  die  Forschung  ein  Ende  findet.  Indem 
ein  Thema  in  die  noch  lebensfähigen  Bestandstücke  zeriegt  wird, 
werden  diese  kleineren  Teile  zu  fruchtbaren  Keimen.  Man  nennt  sie 
Motive.  Wir  verstehen  darunter  wirklich  vorhandene  Gebilde,  in  denen 
alle  Mittel  der  Musik  zusammenarbeiten,  keine  Abstraktionen  oder  gar 
Einzeltakte.  In  der  Tat  haben  sie  sich  zur  Selbständigkeit  ausge- 
wachsen; die  Melodie  alten  Stils  kann  durch  die  Verwendung  von 
Motiven  im  Sinne  der  Leitmotive  ersetzt  werden:  man  möchte  den 
Vorgang  fast  mit  der  Ablösung  des  breiten  Farbenauftrags  durch  die 
Punktmanier  vergleichen.  Das  ganze  Tonstöck  wird  vom  Architek- 
tonischen ins  Organische  übergeführt,  sobald  es  sich  aus  den  kleinen 
Zellen  nach  Lebensgesetzen  aufbaut  Die  Einheit  ruht  auf  der  Wieder- 
kehr der  Motive,  die  Mannigfaltigkeit  auf  den  Umgestaltungsmöglich- 
keiten; die  Verwebung  der  Motive  dient  dazu,  die  innersten  Vorgänge 
und  geheimsten  Beziehungen  eines  seelischen  Ablaufs  auszudrücken. 
Wagners  Worttondrama  läßt  sich  daher  zweifach  auffassen,  entweder 
als  ein  von  der  Musik  erweitertes  Drama  oder  als  eine  Sinfonie,  deren 
r^ogramm  gleichzeitig  sichtbar  wird.  Daß  Wagner  selbst  von  der 
Dichtung  aus  verstanden  sein  wollte,  hat  er  an  zahlreichen  Stellen 
seiner  Schriften  ausgesprochen,  aber  in  den  mehr  unwillküriichen 
Äußerungen  der  Briefe  kommen  doch  auch  Hinweise  auf  einen 
größeren  Anteil  des  Musikalischen  vor").  Und  tatsächlich  ist  der 
Wortlaut  der  Musikdramen  ohne  die  Rücksicht  auf  Singen  und  Spielen 
des  öfteren  anfechtbar.  Zur  Vorsicht  sei  bemerkt,  daß  dieses  (häufig 
unbewußte)  Ineinanderwirken  der  beiden  Künste  beim  Schaffen  nichts, 
schlechterdings  gar  nichts  gemein  hat  mit  der  altfränkischen  Übung, 
Verse  einer  gegebenen  Melodie  unterzulegen,  wie  es  im  1 7.  Jahrhundert 
mit  Klavier-  und  Violinsonaten,  aber  selbst  noch  im  IQ.  Jahrhundert 
mit  Beethovenschen  Adagios  geschah. 


326  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

Das  umgekehrte  Verfahren,  also  das  Anpassen  einer  sangbaren 
Welse  an  einen  Text,  bestimmte  lange  Zeit  hindurch  in  einigen  Haupt- 
punkten die  Form  des  Liedes'').  Jede  Strophe  wurde  ohne  tiefer 
greifende  Beachtung  des  Sinns  in  dreigliedrige  Musik  gesetzt  und  das 
Wort  des  Dichters  gekürzt,  ausgedehnt,  wiederholt,  je  nach  der  Be- 
quemlichkeit des  Komponisten.  Kein  Wunder,  daß  ein  Engländer  vor 
zwanzig  Jahren  die  Worte  der  Vokalmusik  als  »Unterstützung  für  den 
Ton«  erklärte  und  von  den  Sängern  zu  behaupten  sich  erdreistete: 
»Nicht  einer  hat  die  Absicht,  die  Gedanken  auszudrücken,  die  in  den 
Worten  des  Liedes  enthalten  sind;  die  Worte  werden  automatisch  ge- 
braucht . . .« ®)  Das  ist  eine  arge  Verleumdung  des  modernen  Liedes 
und  der  ihm  nötigen  Vortragsweise.  Wir  dürfen  beim  Lied  nicht 
immer  an  das  Strophenlied  im  alten  Sinne  denken,  das  heißt  an  eine 
ursprünglich  erfundene  und  unverändert  wiederkehrende  Melodie,  die 
kaum  der  Begleitung  bedarf  und  zu  dem  Text  allenfalls  in  der  ersten 
Strophe  paßt.  Heutzutage  wünscht  man  keine  abgeschlossene  Melo- 
die, der  zuliebe  der  Hörer  die  Wortdichtung  vernachlässigt;  vielmehr 
soll  die  Musik,  indem  sie  dem  Klavier  die  gleiche  Berechtigung  wie 
der  Singstimme  zuerkennt,  die  innersten  Gefühle  des  Dichters,  die 
zartesten  Geheimnisse  des  Wortes  laut  erklingen  lassen.  Das  Kunst- 
lied, wie  es  sich  allmählich  entwickelt  hat,  legt  entweder  die  Melodie 
in  die  Instrumente  und  läßt  eine  frei  deklamierende  Singstimme  hinzu- 
treten, oder  es  benutzt  die  Kunst  der  motivischen  Gestaltung  und  der 
thematischen  Durchführung;  es  gibt  die  Vers-  und  Strophengliederung 
preis,  wird  aber  der  Bedeutung  der  Worte  nach  ihrem  inneren  Zu- 
sammenhang aufs  schönste  gerecht.  Die  Dichtung  entscheidet  inso- 
weit, als  nichts  gegen  sie  unternommen  wird.  Trotzdem  bedeutet  die 
Musik  nicht  die  Vollendung  der  Lyrik  als  einer  Unterart  der  Poesie, 
denn  diese  ist  in  sich  selber  fertig.  Wohl  aber  gewinnen  beide  Künste 
durch  den  Bund.  Die  musikalische  Phantasie  erlangt  den  Vorteil  einer 
reichen  Anregung  und  bestimmten  Unterstützung,  und  die  Poesie  zieht 
zum  mindesten  den  sozialen  Nutzen,  daß  glücklich  vertonte  Lieder 
sich  schnell  verbreiten  und  lange  lebendig  erhalten.  Wobei  es  dann 
vorkommt,  besonders  im  Strophenlied  des  Volksgesanges,  daß  die 
Melodie  von  dem  ihr  ursprünglich  zugehörenden  Text  zu  anderen 
Texten  wandert 

Soeben  war  gesagt  worden,  daß  musikalisches  Schaffen  durch 
Dichtungen  angeregt  und  in  bestimmte  Bahnen  gewiesen  werden 
kann.  Das  gilt  nicht  nur  von  Gesängen,  bei  denen  die  zwei  Künste 
Hand  in  Hand  vorwärts  schreiten,  sondern  auch  vom  ungleichzeitigen 
Zusammenwirken.  Im  gesellschaftlichen  Leben  lassen  wir  Musik  dem 
Wort  vorausgehen  oder  auch  folgen.   Bedeutungsvolle  Stunden  werden 


DIE  FORMEN  DER  MUSIK.  327 

gern  durch  Musik  eröffnet;  bei  weihevollen  Akten  ist  der  Redner  für 
vorausgehende,  Stimmung  schaffende  Musik  stets  dankbar:  aus  ihren 
feierlichen  Klängen  steigt  dann  die  Bestimmtheit  der  Rede  hervor. 
Aber  auch  nach  dem  Wort  bewahren  Töne  ihre  Zauberkraft,  ei^nzen 
und  steigern,  was  gesprochen  war.  Dieser  letzte  Fall  nähert  sich  der 
Lage  der  Programmmusik').  Aus  der  Überschrift  oder  aus  einem  vor 
uns  liegenden  Text  haben  wir  erfahren,  was  dem  Komponisten  die 
Anregung  gab,  und  nun  folgen  wir  diesem  Hinweise,  indem  wir  in 
den  Aufbau  des  Werkes  eindringen.  NatQriich  ist  der  Aufbau  durch- 
weg nach  den  Gesetzen  der  Tonkunst  gestaltet,  gleichwie  im  Bilde 
Raum-,  Form-  und  Farben  Verhältnisse  zum  Konstruktionsprinzipe 
werden.  Dennoch  trägt  hier  wie  dort  der  Gegenstand  zur  Formen- 
gebung  bei;  ist  ja  kein  musikalischer  Grundsatz  so  ausschließend  und 
unnachgiebig,  daß  nicht  eine  Sachvorstellung  ihn  beeinflussen  könnte. 
Wer  von  der  Musik  alles  anders  Geartete  abscheiden  will,  der  muß 
die  Sonaten  und  Sinfonien  verdammen,  die  aus  einer  Folge  von  Tänzen 
entstanden  sind,  er  muß  die  Messen  und  Kantaten  zurückweisen,  die 
auf  bloßen  Formeln  ruhen,  kurz,  er  sollte  die  ganze  Fülle  wunder- 
barster Musik  der  letzten  Jahrhunderte  ablehnen.  Ein  Eriebnis  (etwa 
die  Abreise  eines  lieben  Bruders),  der  Anblick  eines  Gemäldes  (etwa 
der  Kaulbachschen  Hunnenschlacht  oder  des  Bildes  von  Steinle,  das 
den  über  die  Wogen  schreitenden  hl.  Franziskus  darstellt),  ein  poe- 
tischer Eindruck  (Dramen  und  Verse),  selbst  ein  Gedankenzusammen- 
hang (Ev.  Joh.  4, 1 4 ;  Nietzsches  Zarathustra  und  anderes)  können  für 
den  Tonsetzer  zum  Weckruf  werden;  ihn  mitzuteilen  fühlt  er  sich  ver- 
pflichtet. Denn  aus  der  unendlichen  Vieldeutigkeit  der  Erfahrungen 
entnimmt  er  sich  die  Leitvorstellungen,  um  sich  hernach  frei  im  Reiche 
der  Musik  zu  bewegen. 

Bleiben  wir  bei  einem  Beispiel  der  Tonmalerei,  bei  der  so  häufigen 
Darstellung  des  Gewitters.  Der  unbefangene  Hörer  kann  sie  richtig 
deuten,  aber  auch  für  den  Zomesausbruch  eines  Menschen  oder  für 
Kriegsgetümmel  halten.  Gerade  in  dem  Umstand,  daß  die  Musik  alles 
mehr  symbolisch  als  realistisch  meint,  mehr  inneriich  als  äußeriich 
empfindet,  mehr  unbestimmt  anregt  als  bestimmt  mitteilt,  hat  die  meta- 
physische Ästhetik  den  Beweis  dafür  erblickt,  daß  sie  bis  in  den  Kern 
der  Welt  hineinreiche.  Denn  im  Absoluten  ist  ja  Natur  und  Geist 
eins.  Wenn  die  Musik  also  diese  Einheit  der  natüriichen  und  der 
seelischen  Vorgänge  wiederherstellt,  so  enthüllt  sie  uns  das  An-sich 
der  Dinge.  Bleibt  man  bei  den  Tatsachen  und  ihrer  Beschreibung 
stehen,  so  läßt  sich  kaum  mehr  sagen,  als  daß  allgemeine  Richtungen 
dem  Naturgeschehen  und  dem  seelischen  Vorgange  gemeinsam  sind. 
Indem  diese  musikalisch  dargestellt  werden,  tritt  notwendigerweise  eine 


328  in.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

gewisse  Unbestimmtheit  ein;  niemand  jedoch  wird  einen  solchen  musi- 
kalischen Satz  wie  den  oben  genannten  als  den  Tanz  junger  Mädchen 
auffassen  oder  als  das  Frohlocken  der  Seele  oder  als  friedliche  Szene 
auf  dem  Lande.  Es  ist  also  durch  die  Töne  wohl  ein  umgrenzter 
Kreis  deutlich  ang^eben,  aber  nicht,  was  innerhalb  dieses  Kreises  an 
vielfältigen  Vorgängen  sich  abspielen  kann.  Eben  daraus  folgt  die 
Berechtigung  des  Tonsetzers,  den  besonderen  Umstand,  der  ihm  An- 
trieb war,  durch  Worte  festzul^en.  Der  Fall  gleicht  dem  in  der 
experimentellen  Psychologie  untersuchten,  daß  unter  der  Fuhrung  eines 
Begriffs  an  Eindrucke  verhältnismäßig  wenige  Assoziationen  sich  an- 
schließen, weil  das  vorbereitende  Wort  den  Bezirk  möglicher  Assozia- 
tionen erheblich  verengt;  kommt  ein  zweites  Wort  hinzu,  so  wird  die 
Auswahl  noch  geringer.  Das  Programm  bedeutet  also  die  zweite  Er- 
gänzung oder  Besonderung.  Dagegen  kann  es  nie  einen  Zwang  auf 
den  Hörer  ausüben,  nun  unter  allen  Umständen  genau  dasselbe  nach- 
zufühlen, was  der  Künstler  vorgefühlt  hat 

Noch  eins.  Setzen  wir  voraus,  daß  wirklich  Erinnerungen  an  ein 
Gewitter  auftauchen,  etwa  in  der  Art,  wie  auch  durch  poetische  Be- 
schreibung hier  und  da  einmal  ein  anschauliches  Bild  von  einem  Ge- 
witter hervorgerufen  werden  kann,  so  ist  klar,  daß  der  Hörer  dann 
nicht  nur  von  der  Musik  selbst  zu  Gefühlen  angeregt  wird,  sondern 
auch  von  der  inhaltlichen  Vorstellung.  Das  heißt  also,  es  greift  die 
Musik  tatsächlich  über  ihren  engsten  Bezirk  hinaus  und  rechnet  auf 
emotionelle  Wirkungen,  die  an  Sachvorstellungen  geknüpft  sind.  Wenn 
ich  bei  der  früher  erwähnten  Stelle  aus  Liszts  »Christusc  nicht  nur 
einen  lang  ausgehaltenen  hohen  Ton  höre,  sondern  auch  das  Bild  des 
dunklen  Nachthimmels  und  des  strahlenden  Sterns  vor  mir  habe,  so 
kann  dieses  mich  fast  so  ergreifen,  wie  die  Wirklichkeit  oder  ein  Ge- 
mälde. Der  Ausdruckswert  der  Musik  verstärkt  sich  demnach  durch 
die  von  ihrem  Programm  aufgeregten  Sachvorstellungen;  ein  Inhalt- 
liches wird  hier  wie  in  den  bildenden  Künsten  ein  Mittel  zum  Aufbau 
des  Werks  und  zur  Beeinflussung  des  Genießenden. 


3.  Der  Sinn  der  Musik. 

Die  Betrachtung  der  Mischformen  erlaubt  noch  weiter  reichende 
Ausblicke.  Früher  war  gesagt  worden,  daß  in  allem  Wirklichen  und 
Künstlerischen  Momente  sich  finden,  die  musikalisch  zu  nennen  oder 
wenigstens  als  natüriiche  Anknüpfungspunkte  für  die  Vertonung  zu 
bezeichnen  sind.  Doch  bilden  sie  nicht  das  Ganze  des  Tonweiks. 
Vielmehr  entfaltet       -  Schaffende  neue,  vordem  nie  geöffnete  Selten, 


DER  SINN  DER  MUSIK.  329 


indem  er  in  seiner  Art  und  mit  den  Mitteln  seiner  Kunst  die  Sache 
weiterfahrt  Vergleicht  man  Durers  heimliche  Offenbarung  Johannis 
(1498)  mit  dem  Wortlaut  der  Apokalypse,  so  entdeckt  man,  daß  der 
Zeichner  sozusagen  ein  neues  Buch  geschrieben  hat:  so  voll  von 
eigenen  Anschauungen,  ja  Gedanken  sind  die  Bilder.  Auf  S.  139  habe 
ich  ein  paar  Takte  aus  Liszts  ^ Hunnenschlacht'  wiedei^gegeben.  Der 
Rhythmus  kennzeichnet  fraglos  die  Hunnen  als  Reiter,  während  Kaul- 
bachs Gemälde  sie  als  Fußkämpfer  darstellt;  es  wird  also  der  Maler 
verbessert  oder  wenigstens  der  Inhalt  seines  Bildes  weitergedacht. 
Verse  werden  oft  aus  dem  Geist  der  Musik  geboren.  Das  bedeutet 
aber  keineswegs  eine  genaue  Übereinstimmung  mit  allen  Gesetzen  oder 
Ansprüchen  der  Musik,  sondern  es  steht  folgendermaßen  damit.  Ein 
rhythmisch-klangliches  Etwas,  das  einer  GemOtsstimmung  entspricht, 
bewegt  sich  seit  Stunden  oder  Wochen  in  der  Seele  des  Dichters;  bei 
einem  Musiker,  der  rhythmisch  und  zugleich  in  Tonhöhen  phantasiert, 
wurde  daraus  eine  in  Noten  aufzuzeichnende  Melodie  entstehen;  beim 
Dichter  artikuliert  sich  die  innere  Bewegung  in  Worten  und  gewinnt 
durch  die  Worte  ein  durchaus  besonderes,  nach  allen  Seiten  sich 
geltend  machendes  Gepräge.  Freilich  bleibt  die  gemeinsame  Wurzel 
spurbar,  der  Rhythmus  als  Ausdruck  des  Zusammengehörigkeitsgefühls. 
Aber  auch  hier  hat  sich  ein  Tal  zwischen  die  Künste  gelagert,  das 
jedes  unmerkliche  Fortschreiten  von  der  einen  zur  anderen  Höhe  ver- 
hindert. Keine  Mischform  hebt  die  Grenzen  zwischen  zwei  Künsten 
auf,  da  jede  ihr  eigenes  Wesen  hat  und  behält 

Wir  fragen  nach  dem  besonderen  Sinn  der  Musik.  Er  versagt  sich 
natüriich  demjenigen,  der  Töne  verschiedener  Qualität  nicht  unter- 
scheiden kann,  selbst  noch  demjenigen,  der  die  Einheit  richtig  wahr- 
genommener Klänge  nicht  zu  erfassen,  bestimmte  Tonfolgen  von  anders 
gearteten  Tonfolgen  nicht  zu  trennen  weiß.  Mit  einem  Wort,  er  ent- 
hüllt sich  nur  dem  Musikalischen.  Musikalisch  im  höheren  Sinne 
nennen  wir  einen  Menschen,  für  den  Ton  werke  eine  ganz  bekannte 
Sprache,  gewissermaßen  eine  zweite  Muttersprache  reden.  Aber  musi- 
kalisch im  allgemeinen  heißt  auch  jemand,  wenn  er  Freude  an  rhyth- 
mischen und  harmonischen  Klängen  in  der  Weise  wie  an  schönen 
Formen  und  leuchtenden  Farben  hat.  Die  sinnenfällige  Melodie  und 
der  einfache  straffe  Rhythmus,  der  zu  Bewegungen  herausfordert, 
werden  mit  körperiichem  Wohlbehagen,  etwa  wie  ein  laues  Bad,  ge- 
nossen. Eine  Musik,  die  diesen  Bedingungen  entspricht,  ist  kaum 
schon  als  reine  Kunst  zu  bezeichnen.  Im  Grunde  genommen  bleibt 
sie  eine  feinere  und  organisierte  Form  des  Geräusches.  Die  Stille  hat 
auf  die  Dauer  etwas  Totes,  Unnatüriiches.  Wer  Wortspiele  liebt,  mag 
die  Ruhe  beunruhigend,  die  Unruhe  beruhigend  nennen.    Denn  in  der 


330  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

Unruhe  ist  Leben,  und  dies  Gefühl,  von  Leben  umflutet  zu  sein,  wirkt 
wohltätig  und  beruhigend.  Die  Teile  des '  Geräusches  brauchen  nicht 
genau  unterschieden  zu  werden:  jedes  tosende  und  schwirrende  Ganze, 
jedes  stetige  Brausen  gibt  uns  die  Gewißheit,  daß  wir  leben  und  von 
Leben  umfangen  sind.  Die  so  bedingte  Freude  am  Geräusch  als  am 
Zeichen  des  Lebens  ist  der  letzte  Ursprung  unserer  Freude  an  der 
Musik.  Wir  alle  kennen  sie  von  jenen  Gelegenheiten  her,  wo  wir  im 
Kurpark  unter  kichernden  Mädchen  vergnüglich  wandelnd  oder  bei 
festlicher  Tafel  lose  Reden  führend  uns  von  den  Klängen  leichter 
Musik  umschmeicheln  ließen.  In  solchen  Fällen  ist  Musik  in  der  Tat 
nichts  anderes  als  ein  angenehmes  Geräusch.  Man  hört  sie,  aber  man 
hört  ihr  nicht  zu.  Man  genießt  Rhythmen  und  Schalleffekte  nicht  viel 
anders  als  sonst  das  Rauschen  der  Welt;  nur  ist  schon  alles  stilisiert, 
nach  bestimmten  Gesetzen  zusammengefaßt  und  daher  auch  für  das 
kaum  bewußte  Aufnehmen  erfreulicher  als  der  Laut-  und  Taktvorgang 
in  der  Natur.  Die  Wirkung,  die  von  der  kaum  beachteten  und  sicher 
nicht  »verstandenen«  Musik  ausgeht,  wird  für  das  ganze  LebensgefOhl 
des  Menschen  außerordentlich  wichtig:  wir  fühlen  uns  durch  die  Töne 
befreit  und  erquickt,  von  der  summenden  und  wiegenden  Tanzmelodie 
in  glückliche  Sorglosigkeit  versetzt,  von  der  urwüchsigen  Gewalt  der 
Militärmusik  zu  jugendlicher  Straffheit  aufgerüttelt  Die  Musik  als 
gesellige  Geräuschkunst  bedeutet  eine  regelmäßig  erfolgende  Bewe- 
gung der  Luft,  die  uns  wohl  tut  Sie  durchdringt  gleichsam  unsere 
Umgebung  an  jedem  Punkte  und  erregt  im  gleichen  Augenblick  und 
mit  gleicher  Unvermeidlichkeit  alle  im  selben  Raum  vorhandenen  Men- 
schen ^^). 

Der  Sinn  der  Musik  erweitert  sich,  sobald  die  tätige  Beschäftigung 
mit  ihr  einbezogen  wird.  Zunächst  kommt  nun  der  gesamte  mecha- 
nische Teil  der  Kunstausübung  in  Betracht  Ein  Gegenstand  herber 
Klage  für  den  Beobachter  und  noch  mehr  für  uns,  die  wir  im  Beruf 
stehen  oder  standen  und  unterrichten  mußten:  »Wär's  mir  vergönnt, 
das  Innere  meines  Kerkers  zu  enthüllen,  ich  hübe  eine  Klage  an,  von 
der  das  kleinste  Wort  die  Seele  euch  zermalmte!«  Unter  den  an  dieser 
Stelle  wichtigen  Gesichtspunkten  erscheint  die  ausgeübte  Musik  als 
eine  Bewegungstechnik;  sie  erhält  die  Bedeutung  einer  zeitraubenden 
Dressur  der  Finger-  oder  Kehlkopfmuskeln.  Diese  Schulung  des 
körperiichen  Apparates  ist  gewiß  dem  Dilettanten  so  unentbehriich  wie 
dem  Künstler  und  man  sollte  von  ihr  nicht  viel  Wesens  machen,  viel- 
mehr dem  Künstler  (wie  dem  Gelehrten)  das  kränkende  Lob  des 
Fleißes  ersparen  —  Arbeit  versteht  sich  immer  von  selbst  Aber  sie 
wird  gefähriich,  indem  sie  einen  Lebensinhalt  vorspi^elt,  wo  keiner 
vorhanden  ist    Wenn  schon  das  leidenschaftliche,  unersättliche  An- 


DER  SINN  DER  MUSIK.  331 


hören  der  Musik  von  ernsteren  Aufgaben  ablenkt,  so  verführt  das 
Betreiben  der  Musik  in  noch  stärkerem  Maße  zur  Vernachlässigung 
dringlicher  Pflichten,  zu  geistiger  Leere  und  Mflßiggängerei.  Der  nie 
rastende  Kampf  mit  der  unbotmäßigen  Hand  und  Stimme  nimmt 
schließlich  den  ganzen  Menschen  gefangen.  Kein  Sport,  keine  Ver- 
gnügungssucht, kein  Beruf  verengt  den  Gesichtskreis  in  so  gefähr- 
lichem Maße. 

Doch  erklärt  die  scheinbare  Ffillkraft  der  musikalischen  Technik 
noch  nicht  ausreichend  die  Anziehung,  die  von  der  aktiven  Beschäfti- 
gung mit  der  Tonkunst  ausgeht  Dahinter  wirkt  noch  etwas  anderes 
als  Grund,  weshalb  wir  so  gern  und  unter  Aufopferung  der  übrigen 
Interessen  musizieren.  Wir  vermögen  uns  nämlich  dabei  in  voll- 
kommenster Freiheit,  mit  stärkster  Ursprünglichkeit  auszuleben.  Jeder 
Aufschwung,  den  wir  im  Tonwerk  herbeiführen,  weckt  etwas  von  der 
sinnlichen  Heldenhaftigkeit  früherer  Menschen  in  uns:  alle  Muskeln 
spannen  sich,  kühn  hebt  sich  das  Haupt  und  Schauer  fließen  den 
Rücken  entlang,  als  stünde  eine  große,  sicher  zu  überwindende  Ent- 
scheidung bevor.  Ein  Knabe  spielt  seine  eigene  ärmliche  Komposition, 
worin  dem  Schluß  eine  Dissonanz  im  Fortissimo  vorausgeht.  >Er 
verweigerte  sich  die  Auflösung,  er  enthielt  sie  sich  und  den  Hörern 
vor.  Was  würde  sie  sein,  diese  Auflösung,  dieses  entzückende  und 
l>efreite  Hineinsinken  in  H-dur?  Ein  Glück  ohnegleichen,  eine  Genug- 
tuung von  überschwenglicher  Süßigkeit.  Der  Friede!  Die  Seligkeit! 
Das  Himmelreich!  ...  Noch  nicht  ...  noch  nicht!  Noch  ein  Augen- 
blick des  Aufschubs,  der  Verzögerung,  der  Spannung,  die  unerträglich 
werden  mußte,  damit  die  Befriedigung  desto  köstlicher  sei . . .  Noch 
ein  letztes,  allerietztes  Auskosten  dieser  drängenden  und  treibenden 
Sehnsucht,  dieser  Begierde  des  ganzen  Wesens,  dieser  äußersten  und 
krampfhaftesten  Anspannung  des  Willens,  der  sich  dennoch  die  Er- 
füllung und  EHösung  noch  verweigerte,  weil  er  wußte:  das  Glück  ist 
nur  ein  Auj^enblick .  . .  *»)  Ja  wahrhaftig,  wir  werden  zu  Königen, 
zu  Herren  der  Welt,  wenn  wir  die  Klänge  anschwellen  oder  abnehmen 
lassen,  die  Rhythmen  und  Harmonien  gegeneinander  ausspielen;  wir 
schaffen  Wesen  durch  simple  Betonung  und  vernichten  sie  durch 
j^leich^ültiges  Verschleifen,  wir  erieben  die  wunderbarsten  Abenteuer, 
stürmen  vorwärts,  schrecken  zurück,  l)efreien  verzauberte  Prinzessinnen 

wer  vermöchte  all  dies  Tun  und  Treiben  aufzuzählen?  Und  dazu 
ilas  Bewußtsein,  der  Seele  des  Tondichters  bis  in  die  letzten  Tiefen 
j^'cschaut  zu  haben.  Dazu  femer  ein  Verschmelzen  mit  der  gegen- 
wärti^^'cn  Seele  des  f^artners:  eine  köstliche  Begegnung  bei  den  nicht 
vor/uschrcibenden  Feinheiten  des  Vortrags,  als  da  sind  die  selbstver- 
ständliche Beschleunigung  und  Veriangsamung,  die  Oemeinsamkeit  der 


332  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

kurzen  Atempausen,  die  gegenseitige  Bestärkung  in  jedem  Augenblick. 
Wer  im  Orchester  gesessen  hat,  weiß,  daß  man  sich  dort  wie  in  der 
kämpfenden  Truppe  fühh.  Oben  steht  der  Führer:  seine  Mienen  und 
Bewegungen  verdeutlichen  das  Tonwerk  wie  der  Schauspieler  das 
Dichterwort  erklärt.  Vor,  neben,  hinter  mir  die  Mitstreiter,  von  einem 
Willen  beseelt.  Seitwärts  die  selbständigen  Bundesgenossen.  Drüben 
der  Feind,  bald  siegreich,  bald  geschlagen,  bald  trotzig  und  überlegen, 
bald  demütig  und  verzagt.  Die  Bogen  der  Geiger  sind  zum  Hinunter- 
strich  angesetzt  —  ist  es  nicht,  als  ob  die  Lanzen  eines  Fähnleins 
Ulanen  in  der  Sonne  blitzen?  Lebt  nicht  der  soziale  Ursinn  aller 
Kunst  wieder  auf? 

Auch  in  der  künstlerisch  vollwertigen  Musik  und  selbst  für  hoch- 
geartete Hörer  und  Spieler  fehlt  es  nicht  an  solchen  Wirkungen. 
Streckenweise  wenigstens  achten  wir  nicht  eigentlich  auf  das  Kunst- 
werk, sondern  lassen  uns  instinktmäßig  von  der  Bewegung  und  der 
Klangschönheit  erregen  oder  schwelgen  in  rein  persönlichen  Vorstel- 
lungen. (Vgl.  S.  158  ff.)  Die  motorische  Mittätigkeit,  die  bei  den 
Marschrhythmen  der  Militärmusik  unsere  Füße  in  den  gleichen  Takt 
zwingt,  wird  sogar  manchmal  lebendig,  wenn  wir  der  Oeistersprache 
von  vier  Stimmen  im  Quartett  lauschen;  hört  man  eine  der  anmutigen 
Suiten  Bachs,  etwa  die  Flötensuite  in  H-moll,  so  werden  die  rhythmi- 
schen und  klanglichen  Genüsse  von  willküriichen  Assoziationen  um- 
rankt, beispielsweise  von  Oesichtsbildem  eines  Rokokomenuetts.  Wohl 
sind  Oesellschaftsmusik  und  Kunstmusik  im  Wesen  und  in  der  Wir- 
kung gründlich  verschieden.  Jene  ein  vergnüglicher  Zeitvertreib,  diese 
etwas  bitter  Ernstes,  jene  eine  Wohltat  für  den  Ärmsten  und  Un- 
kundigsten, diese  ohne  Einfluß  auf  den  mit  den  Sorgen  des  Lebens 
Kämpfenden,  jene  die  gefühlsmäßig  einfachste  und  volkstümlichste, 
diese  die  undurchdringlichste  und  abstrakteste  von  allen  Künsten. 
Und  dennoch  lehrt  die  Beobachtung  der  Schaffenden,  Ausführenden 
und  Genießenden,  daß  sie  auf  allen  Stufen  ihrer  Tätigkeit  miteinander 
verwandt  bleiben.  Namentlich  Menschen,  bei  denen  alle  Kunst  so- 
gleich ins  Wirkliche  überschlägt  und  zu  einer  dramatischen  Handlung 
sich  auswächst,  machen  sich  die  Rhythmen  der  Parsifalmusik  grund- 
sätzlich ebenso  lebendig  wie  die  eines  Gassenhauers.  Wer  so  auf- 
faßt, braucht  gar  nicht  zu  erkennen,  was  rein  musikalisch  vorgeht, 
sondern  läßt  sich  nur  durch  die  Klänge  aufstacheln  oder  beruhigen. 
Bekannt  ist  Shakespeares  mehrfach  ausgesprochenes  Lob  der  Tonkunst, 
ist  femer  Nietzsches  Mitteilung  über  seine  Erfahrungen  mit  Bizets 
Carmen-Musik.  Etwa  im  gleichen  Sinne  gesteht  Stendhal:  »Gestern 
abend  erfuhr  ich,  daß  eine  vollkommene  Musik  das  Herz  in  dieselbe 
Lage  versetzt,  in  der  es  sich  befindet,  wenn  es  die  Gegenwart  eines 


DER  SINN  DKR  MUSIK.  333 


geliebten  Wesens  genießt,  das  heißt,  daß  sie  das  scheinl)ar  lebhafteste 
auf  Erden  mögliche  Glück  gewährt.  Sollte  es  sich  ffir  alle  Menschen 
so  verhalten,  dann  würde  nichts  auf  der  Welt  mehr  zur  Liebe  geneigt 
machen.  Aber  ich  habe  schon  im  letzten  Jahr  in  Neapel  bemerkt,  daß 
die  vollkommene  Musik  wie  die  vollkommene  Pantomime  mich  an  das 
denken  läßt,  was  augenblicklich  den  Gegenstand  meiner  Träumereien 
bildet,  und  daß  sie  mich  auf  vortreffliche  Gedanken  bringt:  in  Neapel 
handelte  es  sich  um  das  Mittel  zur  Bewaffnung  der  Griechen.« 
{Lamour,  chap.  XVI.)  Man  wird  zugeben,  daß  dem  so  Genießenden 
schließlich  die  Musik  selbst  entschwinden  muß.  Herbe  und  strenge 
Kunst  läßt  uns  nicht  die  Freiheit,  über  politische  Fragen  nachzudenken. 
Im  Grunde  bleibt  für  solche  Musikfreunde  die  Tonkunst  auf  jener 
ersten  Stufe  des  stilisierten  Geräusches,  nur  daß  sie  nicht  bloß  als 
Nachtischspaß  oder  leichtfertiger  Ohrenschmaus,  sondern  wie  ein  Be- 
täubungs-  oder  Erregungsmittel  genossen  wird. 

Wo  der  andere  Sinn  der  Musik  zu  suchen  ist,  darauf  deutet  bereits 
eine  allgemein  bekannte  Tatsache  hin.  Ich  meine  die  unerhörte  Früh- 
reife  musikalischer  Genies.  Achtjährige  Kinder  können  im  Verstehen, 
Ausüben,  ja  Schaffen  von  Musik  das  Erstaunlichste  leisten,  ein  so 
völlig  kulturioses  Volk  wie  das  der  Zigeuner  bringt  bemerkenswerte 
musikalische  Leistungen  hervor.  In  den  übrigen  Künsten  gibt  es 
kaum  etwas  dieser  Art,  denn  das  Welt-  und  Menschenverständnis,  das 
Dichter  und  Maler  brauchen,  kann  auch  vom  Begabtesten  erst  allmäh- 
lich erworben  werden.  Die  Musik  aber  bedarf  in  ihrem  Inhalt  keiner 
Beziehungen  zur  Wirklichkeit.  Wegen  ihrer  scheinbar  überirdischen 
Herkunft  wurden  die  Klänge  schon  früh  der  Mittelpunkt  einer  tief- 
sinnigen Symbolik.  In  der  Tat  sind  sie  selbstwertige  Ereignisse  eigener 
Art  und  nicht  wie  Farben  und  Formen  Eigenschaften,  die  an  den 
Dingen  vorkommen.  Sie  haben  ihre  Gesetzmäßigkeit  für  sich  selber, 
veriassen  sich  nicht  auf  Vorbilder  der  Natur  oder  der  Seele,  offenbaren 
sich  mit  allen  ihren  Regeln  dem  vorherbestimmten  Gemüt  und  ver- 
sagen sich  häufig  dem  feinsten  ästhetischen  Geschmack.  Gute  Musik 
ist  vielfach  nur  ein  Zusammenhang  tönend  bewegter  Formen.  Ich 
wüßte  nicht,  welche  Wirklichkeitsvorstellungen  und  welche  Gefühls- 
erregungen der  Hörer  mit  gegenständlicher  Berechtigung  aus  Bach- 
schen  Fugen  gewinnen  sollte.  Solche  Meisterwerke  drücken  keineriei 
Stimmung  aus;  wer  will  aus  ihnen  entnehmen,  in  welcher  Seelen- 
verfassung der  Urheber  sich  befand?  Sie  wirken  durch  die  Gliederung 
ihrer  Abschnitte  und  die  Gesetzmäßigkeit  ihrer  Stimmführung.  Wäh- 
rend die  angenehmen  und  geselligen  Geräusche  gleich  physiologischen 
Reizen  hingenommen  werden,  ist  die  Kunst  der  Geistigkeit  und  Ein- 
samkeit zu  verstehen  und  soll  verstanden  werden.   Wir  sollen  wissen, 


334 


ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 


ob  Tonart  und  Tongeschlecht,  Rhythmus  und  Takt  beibehalten  oder 
gewechselt  werden,  wir  sollen  das  Thema  festhalten  und  die  Verände- 
rung als  solche  erkennen,  wir  sollen  die  Verteilung  der  Stimmen  auf- 
fassen, die  Bewegung  verfolgen,  das  Ziel  begrüßen,  kurz,  wir  sollen 
die  Aufmerksamkeit  rege  spielen  lassen.  Dann  genießen  wir  Ton- 
kombinationen in  ihrer  Reinheit,  die  Wiederkehr  der  Melodie,  das  Auf- 
tauchen älterer  Motive,  Fortbildung,  Verknüpfung,  Übergang,  das  Ein- 
setzen der  verschiedenen  Instrumente  und  tausend  andere  Reize,  die 
mit  behaglichem  Dabeisitzen  oder  unter  dem  Druck  ganz  anderer  Oe- 
dankenmassen  schwerlich  ergriffen  werden.  Nicht  nur  das  Tonwerk, 
auch  der  Hörer  muß  gewisse  Bedingungen  erfüllen,  damit  die  Kunst 
vollauf  zu  ihrem  Recht  gelange. 

Wir  haben  von  der  sinnlichen  Gewalt  und  von  der  formalen  Selb- 
ständigkeit der  Musik  gesprochen.  Es  fehlt  aber  noch  ein  Drittes. 
Wir  erkennen  es  an  einem  oft  benutzten  Beispiel.  In  Beethovens  länd- 
licher Sinfonie  wird  der  Tanz  der  Bauern  plötzlich  abgebrochen  und 
ganz  leise  intonieren  die  Bässe  eine  aus  der  Tonart   fallende  Note. 


^     ^     ^ 


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Dieser  Umschlag,  für  das  Ohr  eine  Pein,  zerstört  den  formalen  Auf- 
bau; aus  keiner  der  uns  geläufigen  Auffassungen  ist  er  zu  recht- 
fertigen. Dennoch  gehört  die  Stelle  zu  den  wundervollsten  der  ganzen 
Sinfonie.  Zur  Begründung  ihrer  erhabenen  Schönheit  bietet  sich  die 
Theorie  dar,  daß  Musik  Ausdruck  sei.  Der  Hörer  begreife  und  ge- 
nieße den  Vorgang,  indem  er  sich  einfühle,  das  Seelenleben  aus  den 
Klängen  herausspüre  und  diese  als  Symbole  eines  tieferen  Sinns  be- 
urteile.   Der  schaffende  Künstler  höheren  Rangs  ist  gewiß  zunächst 


.J 


DKR  SINN  DER  MISIK.  335 

ein  Herrscher  im  rhythmisch-akustischen  Reich,  dann  der  Kenner  einer 
Fomienwelt,  drittens  aber  auch  jemand,  der  seinen  Stimmungen  die 
befreienden  Töne  findet.  Und  da  wir  alle  eine  primitive  Fähigkeit  be- 
sitzen, Gemütsbewegungen  in  Lauten  auszudrucken,  so  vermögen  wir 
nachzufühlen,  was  in  vielen,  obwohl  nicht  allen,  Kompositionen  als 
seelische  Erregung,  selbst  als  allgemeine  geistige  Richtung  sich  offen- 
bart. Indessen,  das  eigentliche  I^oblem  steht  noch  aus.  Es  liegt  in 
der  Frage,  ob  und  inwiefern  die  seelischen  Unteriagen  und  Wirkungen 
durch  die  besondere  Beschaffenheit  der  Musik  bedingt  sind,  wieso 
dem  sinnlich  Reizvollen  und  der  tönend  bewegten  Form  außerdem 
eine  übertragene  Bedeutung  zukommt.  Nicht  jede  beliebige  Erregung, 
die  von  Klängen  ausgelöst  wird,  ist  als  Gegenstand  der  Kunstwissen- 
schaft anzuerkennen.  Sondern  es  handelt  sich  um  die  nachweislich 
im  Objekt  begründete  Ergriffenheit  oder  um  das  Rätsel,  daß  im  Zu- 
sammenhang von  Rhythmen  und  Harmonien  Seelisches  ein  äußeres 
Dasein  gewinnen  kann.  Da  im  üiuf  der  Gesamtdarstellung  bereits 
mancheriei  unmittelbar  und  mittelbar  zur  Aufklärung  beigetragen  wurde, 
so  wollen  wir  jetzt  lediglich  den  Hauptpunkt  scharf  ins  Auge  fassen. 

Man  fühlt  sich  anfänglich  ganz  ratlos,  wenn  man  von  der  Musik- 
geschichte erfährt,  daß  dieselben  Melodien  zu  den  verschiedensten 
Texten  benutzt  worden  sind  und  in  allen  Fällen  ihrer  Verwendung  als 
ausdrucksvoll  und  kennzeichnend  gegolten  haben.  Die  Ratlosigkeit 
steigert  sich,  sobald  man  die  Hörer  eines  Stückes  nach  ihrem  Eindruck 
fragt.  Die  Auskünfte  scheinen  schwankend  und  widerspruchsvoll. 
Ist  zufällig  die  Stimmung  bekannt,  aus  der  heraus  und  für  deren  Über- 
mittlung der  Tonsetzer  geschaffen  hat,  so  scheint  wiedenim  kaum 
einer  unter  tausend  Hörern  ihr  wirklich  auf  die  Spur  gekommen 
zu  sein. 

Ganz  gewiß  ist  die  Gleichnissprache  der  Musik  äußerst  vieldeutig. 
Doch  wäre  es  töricht,  darüber  zu  jammern.  Die  Eigenart  jeder  Kunst 
haftet  ja  gerade  an  den  Grenzlinien  oder  Mängeln,  und  wenn  die 
Musik  dadurch  an  Bestimmtheit  einbüßt,  daß  sie  mit  demselben  Er- 
zeugnis entgegengesetzten  Gemütszuständen  entsprechen  kann,  so  ist 
anderseits  die  Poesie  beschränkt,  indem  sie  das  Unaussprechliche, 
dessen  Gepräge  in  der  Unaussagharkeit  besteht,  zu  Worten  herab- 
mindern muß.  Aber  welcher  Gewinn  wird  zugleich  erzielt!  Aus  der 
Flüssigkeit  des  Mittels  folgt  das  Vermögen  der  Tonkunst,  die  Schranken, 
mit  denen  wir  gern  besondere  Teile  der  Seele  gegeneinander  absperren, 
siegreich  /u  durchbrechen,  folgt  die  Fähigkeit,  das  einheitliche  Wesen 
des  Gemütes  in  allen  seinen  Äußerungen  durchleuchten  zu  lassen. 
rx*n  Ciruiul  für  die  Willfährigkeit  der  Musik  hat  Lotze  in  folgenden 
Beispielen  angedeutet:     Nicht  die  Gerechtigkeit,  wohl  aber  die  unver- 


336  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

rückbare  Konsequenz  des  Handelns,  die  ihr  formelles  Symbol  ist,  läßt 
sich  musikalisch  darstellen,  nicht  das  bestimmte  unablässige  Streben 
des  menschlichen  Gemütes  nach  irgend  einem  Ziel,  wohl  aber  der 
Wechsel  von  Anspannung  und  Ermüdung  und  die  beständige  Rück- 
kehr zu  demselben  sich  doch  immer  steigernden  Aufschwung;  nicht 
Wohlwollen  und  Hoffnung,  aber  das  nachgiebige  Eingehen  auf  Um- 
stände, die  der  ursprünglichen  Richtung  der  Entwickelung  fremdartig, 
nun  doch  harmonisch  von  ihr  aufgenommen  und  verklärt  werden  . . .« 
(Kl.  Sehr.  1891,  III,  213.)  Allgemeiner  gesprochen:  Tonreihen  bilden 
die  Gefühle  nicht  in  allen  ihren  Ausmessungen  nach.  Statt  dessen 
begnügen  sie  sich  mit  einem  Hinweis  auf  das,  was  man  ihre  Form 
nennen  kann,  also  auf  Stetigkeit  und  Unruhe,  Geschwindigkeit  und 
Langsamkeit,  Reichtum  an  Bestandteilen  und  Leere  —  um  einige  Bei- 
spiele zu  nennen.  In  Rücksicht  auf  diese  Momente  ist  Musik  von 
äußerster  Bestimmtheit.  Vergleicht  man  unter  diesem  Gesichtspunkt 
Beethovens  heroische  Sinfonie  mit  dem  von  Wagner  ihr  geliehenen 
Programm,  so  muß  man  zugeben,  daß  die  Melodien  charaktervoller 
sind  als  die  gestaltlose  Erläuterung.  Ich  kann  freilich  erzählen,  daß 
eine  Melodie  fest  aufs  Ziel  losgeht  oder  sich  im  Raum  verliert,  lang- 
sam erstirbt  oder  plötzlich  abgebrochen  wird,  ich  kann  sie  mit  tief- 
sinnigen Betrachtungen  umkleiden  oder  mit  den  zartesten  Vei^gleichungen 
berühren,  trotz  allem  dem  bleibe  ich  von  ihrer  Bestimmtheit  unend- 
lich entfernt.  Es  ist  aber  eine  ganz  besondere  Bestimmtheit,  nicht 
diejenige  einer  Gesichtswahmehmung  oder  eines  Begriffes.  Robert 
Schumann  berichtet  von  seinem  Klavierstück  »In  der  Nacht«:  »Später, 
als  ich  fertig  war,  habe  ich  zu  meiner  Freude  die  Geschichte  von  Hero 
und  Leander  darin  gefunden  . . .  Spiel  ich  ,die  Nachf ,  so  kann  ich 
das  Bild  nicht  vergessen  —  erst,  wie  er  sich  ins  Meer  stürzt  —  sie 
ruft  —  er  antwortet  —  er  durch  die  Wellen  glücklich  ans  Land  — 
dann  die  Cantilena,  wo  sie  sich  in  den  Armen  haben  —  dann  wie  er 
wieder  fort  muß,  sich  nicht  trennen  kann  —  bis  die  Nacht  wieder 
alles  in  Dunkel  einhüllt.  Sage  mir  doch,  ob  auch  Dir  dies  Bild  zur 
Musik  paßt«  üugendbriefe,  21.  April  1838.)  J.  D.  Rogers  nun  teilt 
in  seinem  höchst  wertvollen  Anhang  zu  Bosanquets  Geschichte  der 
Ästhetik  mit,  daß  er  ohne  Kenntnis  jenes  Schumannschen  Briefes  bei 
demselben  Stück  eine  andere  Phantasieszene  vor  sich  gesehen  habe. 
Ihm  war,  als  kämpfe  in  einer  stürmischen  Nacht  der  Mond  mit  den 
Wolken;  bald  tauchte  er  hervor,  bald  verschwand  er;  erst  lag  ein 
silberner  Schleier  über  dem  Mond,  dann  hüllten  ihn  undurchdringliche 
schwarze  Wolken  ein;  wohl  blitzte  er  gelegentlich  noch  hervor,  aber 
schließlich  eriosch  sein  Licht.  Aus  einer  Gegenüberstellung  des  Wort- 
lauts beider  Schilderungen  ergibt  sich  augenscheinlich  ihre  Vereinbar- 


DER  SINN  DER  Ml'SIK.  337 


keit:  die  Wolken  entsprechen  den  Wellen,  der  Mond  entspricht  dem 
Schwimmer.  Eben  dies  gemeinsame  Element  lebt  in  der  Musik.  (Vgl. 
S.  186  ff.) 

Besäßen  wir  in  der  wissenschaftlichen  Sprache  ein  gefühlsmäßiges 
Gegenstück  zum  allgemeinen  Begriff,  so  durften  wir  sagen:  das  ist  es, 
was  die  Musik  ausdrückt.  Ich  mag  bei  dem  Allgemeinbegriff  »Ware« 
die  verschiedensten  Anschauungen  aufbringen,  denn  es  gibt  ungezählte 
Warenarten;  die  eine  Anschauung  ist  so  gut  oder  schlecht  wie  die 
andere.  Der  eigentliche  Sinn  jedoch  des  Begriffs  entfaltet  sich  ledig- 
lich in  einem  Urteil,  nämlich  in  der  logisch  genauen  Bestimmung 
seines  Inhalts.  So  kann  ich  an  ein  Tonwerk  die  buntesten  Bilder  an- 
schlielten,  aber  seine  wahrhafte  Ausdrucksbedeutung  liegt  in  der  musi- 
kalisch genauen  Entwicklung  der  Oefühlsform.  Bei  näherer  Betrach- 
tung werden  zwei  Umstände  kenntlich,  die  diesen  Satz  durchsichtiger 
machen.  In  unserer  wunderreichen  Sprache  wird  hie  und  da  durch 
bloßen  Umlaut  der  Sinn  eines  Wortes  völlig  verändert:  man  denke 
an  ^achten  und  >ächten<.  Viel  häufiger  schaffen  in  der  Musik  win- 
zige Umbildungen  des  gleichen  thematischen  Stammes  Verzweigungen, 
die  nach  entgegengesetzten  Seiten  zeigen.  Und  zwar  braucht  das 
nicht  Zufall  zu  sein.  Vielmehr  kann  die  Weisheit  des  Künstlers  mit 
Bewußtsein  die  Stammesgemeinschaft  des  Auseinanderstrebenden  her- 
vorheben. Wenn  dasselbe,  kaum  merklich  nuancierte  Motiv  den 
freudigen  Beginn  und  das  wehmütige  Ende  einer  Heldenlaufbahn 
schildert,  so  fühlen  wir,  daß  stolzer  Jugendmut  und  die  Selbstbeschei- 
dung des  Alters  in  der  Wurzel  zusammenhangen.  Das  aber  ist  wahr- 
haftig die  Natur  unserer  Seele.  Wer  will  abzirkeln,  wo  leidenschaft- 
liche Liebe  aufhört  und  Haß  anfängt?  wo  edle  Treue  lebt  oder 
stumpfe  Gewohnheit  herrscht?  wo  die  Kraft  größer  ist,  im  Tun  oder 
Lassen?  wo  wir  männlich  oder  weiblich,  sachlich  oder  persönlich 
empfinden? 

Im  Deutschen  Requiem  von  Brahms  beginnt  der  Text  eines  ge- 
sungenen fugierten  Satzes  mit  den  Worten:  »Der  Gerechten  Seelen 
^irui  in  Gottes  Hand  und  keine  Qual  rühret  sie  an.<  Der  bergenden 
Hand  Gottes  gleicht  in  der  Komposition  ein  Klang  -  ein  tiefes  D, 
von  Pauken  und  Bässen  angegeben  — ,  der  während  der  ganzen  Dauer 
der  h'uge  durchgehalten  wird.  Daß  Gott  Anfang  und  Ende  aller 
Dinare,  daß  er  allgegenwärtig  und  überall  spürbar  ist,  daß  auf  diesem 
Grunde  jegliches  Sein  sich  aufbaut,  daß  er  von  Kampf  und  Ruhe, 
\X\Tilen  und  Vergehen  nicht  berührt  wird  -  dies  und  noch  viel  mehr 
wird  musikalisch  solcher  Art  ausgesprochen.  Aus  diesem  Beispiel  soll 
nicht  nur  von  neuem  entnommen  werden,  daß  ein  formales  Vorgehen 
iler  Musik  im  Gefühl  ein  geistiges  Verhältnis  anklingen  lassen  kann, 


338  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

sondern  es  soll  auch  noch  eine  weitere  Einsicht  gewonnen  werden. 
Ob  wir  nämlich  beim  Hören  jene  Gedanken  ausspinnen  oder  nicht, 
das  ist  gewissermaßen  eine  persönliche  Angel^enheit  Zur  Sache 
indessen  gehört  das  Mitschwingen  ähnlicher  seelischen  Tendenzen  in 
völliger  Verschmelzung  mit  dem,  was  musikalisch  geschieht  Bilder 
und  Begriffe,  die  ihrer  Natur  nach  außerhalb  des  tönenden  Voiigangs 
bleiben  müssen,  machen  nicht  den  psychologischen  Kern  der  Musik 
aus.  Das  Entscheidende  ist  vielmehr,  daß  die  psychischen  Antriebe 
—  Erinnerungen,  Gedanken,  Gefühle,  Assoziationen  —  eine  beim  Ge- 
nießen anderer  Kunstwerke  fehlende  Färbung  empfangen«  Sie  werden 
erweicht  und  ins  Musikalische  unwiderstehlich  hineingezogen.  Dadurch 
erst  gewinnen  sie  den  Anschluß  an  die  sinnlichen  und  formalen  Eigen- 
schaften des  Stückes  und  nur  dadurch  erhaschen  sie  ein  Teilchen  von 
dem  Ganzen,  das  einst  die  Seele  des  Tondichters  erfüllte  Es  ist 
schwer,  in  Worten  von  dieser  Umfärbung  der  Seelentätigkeit  Rechen- 
schaft abzulegen.  Aber  sie  läßt  sich  jederzeit  im  inneren  Befunde 
nachweisen.  Wie  das  Pfingstwehen  des  heiligen  Geistes  kommt  Musik 
über  uns  und  befähigt  uns,  in  fremden  Zungen  zu  reden.  So  dehnt 
sich  die  Freuden-  und  Leidenskala  der  Musik  von  körperiicher  Er- 
r^^ng  bis  zu  jenem  Reich,  das  nicht  von  dieser  Welt  ist,  vom  organi- 
sierten Geräusch  bis  zur  »Kunst  des  tönenden  Schweigens«. 


4.  Mimik  und  Bühnenkunst 

Das  Theater  ist  eine  Welt  für  sich  ^*).  Die  Täuschungsmacht  der 
Bühne  ruht  auf  Dekoration  und  Kostüm,  Frauenschönheit  und  Männer- 
talent, daneben  freilich  auch  auf  dem  Werte  der  dargestellten  Stücke. 
Wenn  man  die  mit  dem  Theater  verknüpften  Künste  als  bloß  aus- 
führende einschätzt,  den  Dichter  mit  dem  Tonsetzer,  Spielleiter  und 
Schauspieler  mit  Kapellmeister  und  Tonkünstler  vergleicht,  so  verkennt 
man  den  wahren  Sachverhalt.  Das  Theater  steht  dem  Drama  weit 
selbstherrlicher  gegenüber  als  der  reproduzierende  Musiker  der  seiner 
Kunstfertigkeit  anvertrauten  Partitur.  Anderseits  ist  die  dramatische 
Dichtkunst  durchaus  nicht  in  dem  Maße  auf  die  Bühne  angewiesen 
wie  die  geschriebene  Musik  auf  die  Umsetzung  in  gehörte  Musik. 
Aus  beiden  Gründen  gebührt  der  Kunst  der  Menschendarstellung  eine 
gesonderte  Betrachtung,  während  für  die  eigentlich  reproduktiven 
Tätigkeiten  in  diesem  Buch  kein  Platz  ist 

Aber  dürfen  wir  wirklich  Drama  und  Theater  so  voneinander 
trennen?  Ernst  von  Wildenbruch  behauptet:  »Erst  wenn  der  Dra- 
matiker als  Zuschauer  unter  Zuschauem  die  eigenen  Gestalten  an  sich 


MIMIK  INI)  III  lINfcNKrNST.  339 

vorüberwandeln  sieht,  ist  er  in  die  perspektivisch  richtige  Entfernung 
von  seinem  Werk  gerückt . . .  Mit  der  Stunde  der  Aufführung  beginnt 
für  den  Dramatiker  ...  die  eigentliche  Tätigkeit . .  .<  (Vorwort  zur 
2.  Aufl.  der  ^Karolingern.)  Gewiß  kann  der  Dichter  durch  die  Proben 
und  die  Aufführung  so  gefördert  werden  wie  der  komponierende  An- 
fänger durch  den  verwirklichten  Orchesterklang  seines  Werkes  oder 
der  junge  Schriftsteller  durch  das  fremdartige  Aussehen  des  gedruckten 
Wortes  und  die  ungeahnte  Verkürzung  des  Umfangs.  Was  der 
Schaffende  vorher  nicht  ahnte,  das  steht  jetzt  greifbar  vor  ihm:  über- 
mäfiige  Längen  werden  ihm  empfindlich,  ein  unvermitteltes  Abspringen 
macht  sich  bemerkbar,  Sätze,  die  auf  dem  Papier  herrlich  ausschauen, 
fallen  rettungslos  zu  Boden,  anderc  gewinnen  merkwürdigerweise  an 
Bedeutung  und  so  fort.  Ein  Dramatiker  ohne  Bühne  scheint  dem 
Bildhauer  zu  gleichen,  der  beim  Tonmodell  stehen  bleibt,  weil  ihm 
der  Mannor  fehlt.  Seine  einzige  Aufgabe  scheint,  der  Bühne  Substrate 
zu  schaffen,  aus  dem  Herzen  der  Schauspielkunst  heraus  zu  schreiben. 
Indessen:  entweder  bleibt  er  dann  auf  der  Stufe  des  Tonsetzers, 
der  dem  Virtuosen  zu  Dank  komponieren  will,  oder  er  erkennt  an,  daß 
die  Bühne  mehr  als  ein  Ausführungsmechanismus  ist.  Überhaupt  aber 
dürfen  die  bisher  aufgestellten  Behauptungen  nicht  unangefochten 
bleiben.  Es  gibt  Dichter,  deren  I^hantasie  so  reichlich  und  sicher 
arbeitet,  daß  der  ganze  äußere  Apparat  von  ihrem  Geist  vorweggenom- 
men wird,  gleichwie  die  geborenen  Komponisten  aus  der  Orchester- 
auf führung  ihrer  Schöpfung  nichts  Wesentliches  neu  lernen,  weil  alle 
Klangfarben  ihrem  geistigen  Ohr  gegenwärtig  waren.  Ja,  wir  kennen 
Dichter,  die  sich  ernstlich  gegen  die  Anmaßung  der  Bühne  sträuben 
und  nicht  zugeben  wollen,  daß  ein  Drama  erst  durch  die  Darstellung 
fertig  werde.  Fast  fürchten  sie  sich  vor  der  Verieiblichung  der  in  den 
NX'nrten  frei  schwebenden  Seele.  Und  sie  haben  guten  Grund  dazu, 
denn  jeder  Kenner  weiß  es  das  Theater  steht  in  einem  not- 
wendigen (iegensatz  zum  Dichter.  Immer  von  neuem  wagen  junge 
INuti-n  einen  Angriff  auf  diese  Hochburg  der  Konvention,  und  immer 
wilder  müssen  sie  erkennen,  daß  das  Theater  seine  eigenen  Wege 
w.iiulelt.  daß  Regisseure  und  Schauspieler  das  Drama  fast  nur  wie 
eifu*  beliebig  /u  kür/ende  und  zu  ändernde  Skizze  betrachten,  aus  der 
sii-  kraft  eigener  Machtvollkommenheit  das  Kunstwerk  gestalten.  Nir- 
L^i-tuls  hat  man  so  viel  konservativen  Sinn,  ein  so  treues  Gedächtnis 
\Mt'  heim  Theater;  der  alte  Schlendrian  ist  ein  guter,  lieber  Kulissen- 
;^risi;  jider  Neuemng  und  jedem  Wunsch  des  Dichters  stellt  sich 
NtiirTi[ifer  Widerstand  hartnäckig  entgegen.  Aber  diese  ewige  ROck- 
NtjndiLrkeit  des  Theaters  muß  ihre  tieferen  Gründe  haben.  Es  kann 
nicht  IWt)ße  Trägheit  die  Ursache  dafür  sein,  daß  dem  »Faust    immer 


340  "I   TONKUNST  UND  MIMIK. 

wieder  eine  Ungestalt  verliehen  oder  den  Dichtem,  die  durch  die 
natürliche  Breite  des  Stoffes  und  ihre  eigene  gewaltige  Phantasie  zu 
Doppeldramen  gedrängt  werden,  die  Gefolgschaft  versagt  wird.  In 
Wahrheit  beanspruchen  Mimik  und  Buhnenkunst  ihre  eigenen  Rechte, 
und  deshalb  muß  der  Dramatiker  das  Theater  fürchten,  auch  wenn  er 
es  liebt.  Das  Verhältnis  der  Dichtung  zur  Szene  nähert  sich  dem 
Verhältnis  des  Glaubens  zur  Kirche.  Die  stille,  vergeistigte  Frömmig- 
keit neigt  dazu,  sich  von  den  Formen  eines  gebundenen,  gemeinsamen 
Gottesdienstes  scheu  zurückzuziehen;  sie  empfindet  jede  Veräußer- 
lichung  als  einen  Abbruch  an  der  Innerlichkeit.  Auch  der  Dichter, 
dessen  Lebensgefühl  in  Handlungen,  Charakteren  und  Zwiegesprächen 
ausstrahlt,  braucht  deshalb  noch  kein  Freund  des  Theaters  zu  sein. 
Sondern  das,  was  dem  Theater  nun  einmal  immer  anhaftet  und  was 
man  recht  eigentlich  theatralisch  nennt,  der  ganze  äußerliche  Putz  und 
die  Roheit  bretterrechter  Darstellung,  das  stößt  manche  ebenso  stark 
zurück  wie  es  andere  anzieht.  Der  Widerspruch  verliert  an  Schärfe 
durch  die  Erkenntnis,  daß  in  der  Bühnenaufführung  und  im  Theater- 
bedürfnis andere  als  poetisch-künstlerische  Momente  tätig  sind.  Die 
Kulturgewalt  des  Theaters  gleicht  der  der  Kirche:  Sie  zieht  ihre  Nah- 
rung nicht  lediglich  aus  den  Tiefen  der  Dichtkunst,  so  wie  die  Kirche 
niemals  nur  jener  persönlichen  Gemütshaltung  dienen  kann,  die  wir 
religiöse  Ergriffenheit  nennen.  Das  Theater  hat  eben  auch  in  langen 
Zeiten  zum  Kultus  gehört;  und  Kultus  beschränkt  sich  nicht  auf  per- 
sönliche Glaubensentscheidung.  Da  wir  von  den  primitiven  Formen 
des  Theaters  schon  sprachen,  so  sei  jetzt  an  die  mittelalteriichen  Mi- 
sterien  oder  Ministerien  (Kirchendienst)  erinnert,  die  von  der  Geist- 
lichkeit gedichtet  und  geleitet  und  einer  volkstümlichen  Aufführung 
der  evangelischen  Erzählungen  vorbehalten  wurden;  auch  an  Calderons 
autos  sacramentales  und  an  Festspiele  unserer  Zeit  dürfen  wir  denken, 
um  uns  klar  zu  machen,  wie  tief  dieser  Zusammenhang  in  die  Herzen 
der  Menschheit  gesenkt  ist^*).  Die  Wahrheit  ist:  Das  Theater  bietet 
sich  zur  Lebensgemeinschaft  mit  mancheriei  anderen  Kräften  dar, 
bleibt  aber  ein  Wesen  für  sich. 

Somit  entsteht  die  Aufgabe,  das  Besondere  der  Schauspiel-  und 
Bühnenkunst  zu  erfassen.  Theorie  und  Praxis  der  Schauspielkunst 
bewegen  sich  seit  den  Zeiten  der  griechischen  Tragiker  in  dem  zwie- 
fachen Gegensatz  von  Idealismus  und  Realismus,  Sprach-  und  Ge- 
bärdenmimik. Gewöhnlich  bevorzugen  idealistische  Darsteller  das 
Rhetorische,  während  die  Realisten  die  Schönheit  der  Rede  vernach- 
lässigen und  in  der  Ausdrucksfähigkeit  des  Körpers  schwelgen.  Ich 
stehe  nicht  an,  in  dieser  Gruppe  die  Hauptvertreter  einer  selbständigen 
mimischen  Kunst  zu  sehen.    Denn  der  ganze  geistige  Zustand  und 


MIMIK  UND  BÜHNENKUNST.  341 

nicht  bloß  eine  flüchtige  Einzelregung  drückt  sich  im  Körper  aus,  als 
ob  wahrhaftig  die  Seele  eine  idea  corporis  wäre.  Hingegen  die  vom 
Leiblichen  ganz  losgelösten  seelischen  Vorgänge,  die  das  klingende 
Wort  nicht  viel  anders  als  das  stumme  Schriftzeichen  zum  Ausdruck 
bringt,  gehören  der  Dichtkunst,  grundsätzlich  aber  nicht  der  Spiel- 
kunst an.  Allerdings  sind  zwei  Einschränkungen  sofort  vorzunehmen. 
Der  Schauspieler  und  er  allein  schafft  das  für  den  Geist  der  Person 
so  wichtige  Zeitmaß  der  Rede,  nur  er  verfügt  über  alle  Nuancierungen 
der  Tonhöhe  und  -stärke  sowie  über  die  Abänderungen  der  Klangfarbe. 
Fast  in  jeder  Rolle  findet  sich  Gelegenheit,  unartikulierte  Laute  einzu- 
schieben; in  ihnen  kann  ebenso  wie  im  gesprochenen  Wort  der  Schau- 
spieler die  ihm  eigene  Kunst  des  Seelenausdrucks  bewähren.  Alles 
dies  ist  in  der  Dichtung  nicht  vorgezeichnet,  sondern  dem  freien 
Schalten  des  Künstlers  überlassen.  Demnach  darf  sehr  wohl  von 
einer  Sprachmimik  geredet  werden.  Femer  steht  der  eindringliche 
Vortrag  des  Textes  geistig  auf  hoher  Stufe  und  dem  Gehalt  der 
dramatischen  Dichtung  am  nächsten.  Als  Persönlichkeiten  sind  die 
guten  Redner  unter  den  Schauspielern  aufs  höchste  einzuschätzen. 
Trotzdem  war  es  zu  kühn,  als  Riccoboni  im  18.  Jahrhundert  zuerst 
den  schauspielerischen  Stil  dahin  bestimmte,  daß  die  Seele  allein 
wirken  solle  und  die  Aufmerksamkeit  des  Zuschauers  vom  Äußeren 
gänzlich  abgelenkt  werden  müsse.  Denn  wo  bleibt  dann  der  Unter- 
schied zwischen  der  Lesung  mit  verteilten  Rollen  und  einer  richtigen 
Bühnenaufführung?  Wo  der  zweifellos  vorhandene  Gegensatz  zwi- 
schen dem  Mimen  und  einem  Manne  wie  Tieck  oder  Werder?  Ehe- 
dem war  körperiiche  Gewandtheit  sogar  wichtiger  als  die  Gabe  der 
Seelenmalerei:  Tanz  und  Tanzlied  sind  ein  wesentliches  Bestandstück 
der  Bühnenspiele  bis  zum  »Sommemachtstraum«  hin.  Schlachten,  Ge- 
fechte, Zweikämpfe  durchziehen  die  Tragödie,  Rüpelspiele  und  Kunst- 
stücke schneller  Maskenänderung  kommen  in  den  Possen  vor.  Noch 
heute  ist  die  Beredsamkeit  des  Körpers  in  der  leidenschaftlichen  Kunst 
der  Italiener  und  in  der  frauenhaften  Kunst  der  Japaner  so  gesteigert, 
daß  die  Darstellung  fast  zur  Pantomime  wird  und  das  Dichterwort 
nicht  mehr  zu  brauchen  scheint. 

Unsere  moderne  Schauspielkunst  wird  nicht  in  die  Pantomime  auf- 
gehen; ihre  Aufgaben  sind  dafür  zu  vielseitig  und  zu  vertieft.  Aber 
in  der  Gebärdensprache  ist  durchaus  die  eigentliche  und  eigentümliche 
Sprache  des  Schauspielers  zu  erblicken.  Sie  kann  auf  wenige  stehende 
Redensarten  beschränkt  sein  —  die  Tenoristen  liefern  die  lustigsten 
Beispiele  — ,  und  sie  kann  zu  Reichtum  und  Selbständigkeit  sich  ent- 
wickeln. Wir  verdanken  der  Wissenschaft  gewissermaßen  alle  Regeln 
der    physiognomischen    Rechtschreibung,    innerhalb    deren    sich    der 


342  HL  TOXKUXST  UyO  MDIIK. 

Schauspider  mit  Freiheit  bewegen  soIL  Zu  den  sicheren  Gesetzen 
der  Physiognomik  und  Mimik  treten  aber  in  der  künstlerischen  Ver- 
wendung noch  zwei  Grundsätze  hinzu.  Es  ist  erstens  nicht  nötig, 
mit  lebhaften  Körperbewegungen  auch  stärkere  Gesichtsveränderungen 
zu  verbinden,  sondern  einerseits  wirkt  eine  mächtige  Bewegung  stark 
genug,  um  den  Betrachter  zur  Ergänzung  des  vorauszusetzenden 
physiognomischen  Vorgangs  zu  zwingen,  anderseits  vermag  dne  Er- 
schütterung der  Gesichtszüge,  ja  berdts  die  Zusammenziehung  eines 
dnzigen  Muskels  am  Auge  oder  Mund  bd  übrigens  ruhigem  Körper 
den  lebhaftesten  Eindruck  zu  erziderL  Das  gih  von  der  Kunst,  nicht 
von  der  Wirklichkdt  Das  andere  Prinzip  stdit  fest,  was  die  stumme 
Sprache  des  Leibes  für  die  Aufdeckung  verborgener  dramatischer  Zu- 
sammenhänge leistet,  nämlich  nicht  weniger  als  was  die  Ldtmotive 
im  Orchester  des  Musikdramas  erreichen.  Wie  diese  auch  dort,  wo 
nicht  davon  gesprochen  wird,  die  Erinnerung  an  bestimmte  Personen 
oder  Vorgänge  wecken,  so  kann  der  Schauspieler,  indem  er  z.  B.  dort- 
hin blickt,  wo  eine  Person  von  der  Bühne  abgetreten  ist,  anzeigen, 
was  sdnen  Geist  beschäftigt  Dadurch  erwdtert  der  Künstler  die 
Handlung  gleichsam  über  die  Grenzen  der  Bühne  hinaus.  Er  ver- 
knüpft den  sichtbaren  Vorgang  mit  den  unsichtbaren  Geschehnissen, 
die  hinter  die  Kulissen  verl^  sind.  Er  läßt  Assoziationen  und  Er- 
innerungen zur  rechten  Zeit  in  der  Seele  des  Hörers  aufsteigen,  und 
dieses  alles  erreicht  er  durch  die  Zauberkraft  einer  knappen  Bew^[ung 
oder  eines  Zackens  im  Antlitz. 

Ober  den  Ursprung  der  Fähigkeit,  durch  Stimme  und  Bew^[ung 
ein  Ereignis  so  zu  formen,  wie  es  in  keiner  anderen  Kunst  geschieht, 
also  über  den  Ursprung  schauspielerischer  Fähigkeit,  hat  man  die  An- 
sicht geäußert,  daß  sie  im  Trieb  zum  Anderssein  wurzde.  Nietzsche 
nennt  diesen  Trieb  >die  Lust  an  der  Verstellung  und  die  Falschhdt 
mit  gutem  Gewissen,  das  innere  Verlangen  in  eine  Rolle  und  Maske, 
in  einen  Schein  hinein <::,  und  er  vermutet  diesen  Trieb  am  mdsten  bd 
Familien  des  niederen  Volkes,  die  »sich  geschmeidig  nach  ihrer  Decke 
zu  strecken,  auf  neue  Umstände  immer  neu  einzurichten,  immer  wieder 
anders  zu  geben  und  zu  stellen  hatten  . . .«  Deshalb  sieht  Nietzsche 
auch  in  der  Geschichte  der  Juden  »gleichsam  eine  welthistorische 
Veranstaltung  zur  Züchtung  von  Schauspielern,  eine  eigentliche  Schau- 
spielerbrutstätte«. Wir  haben  bereits  früher  erkannt,  daß  die  Lust  am 
Anderssein  überhaupt  zu  den  Bedingungen  des  Künstlertums  gehört, 
und  wir  begreifen  daher,  daß  der  dem  nüchternen  Verstände  unwürdig 
scheinende  Mummenschanz  des  Komödiespielens  dennoch  dem  allge- 
meinen Gefühl  nicht  verächtlich  vorkommt  Aber  die  kindliche  Freude 
am  Verkleiden  und  Verstellen,  der  Hochgenuß,  wenigstens  für  zwei 


MIMIK  INI)  HCHNENKrN.ST.  343 

Stunden  den  Könif?  spielen  zu  dürfen,  kann  doch  nicht  eine  zureichende 
Erklärung  für  die  Richtung;  und  Leistung  des  schauspielerischen  Genies 
abgeben.  Der  geborene  Schauspieler  ist  vielmehr  der,  dem  alles  Er- 
lebte unwillküHich  in  Tonfall  und  Gebärde  sich  ausdrückt,  gleichwie 
der  geborene  Musiker  unwillküHich  in  Tönen  sich  auslebt.  Der  wenig 
bedeutende  Unterschied  liegt  darin,  dalt  der  Musiker  es  mit  einem 
unabhängigen  Vorgang,  nämlich  mit  den  Klängen  und  ihren  Verbin- 
dungen zu  tun  hat,  während  des  Schauspielers  Objekt  seine  eigene 
I\*rsönlichkeit  ist.  Der  schauspielerische  Künstler  ist  zugleich  schaffen- 
des Subjekt  und  bearbeitetes  Objekt.  Damit  rückt  er  in  die  Nähe  der 
Tänzer  und  der  Artisten,  und  vielleicht  täte  man  ihm  geschichtlich  wie 
sachlich  kein  Unrecht,  wenn  man  ihn  als  den  höchsten  Ihmkt  in  dieser 
Reihe  auffassen  wollte. 

Hier  nun  stoßen  wir  auf  ein  neues  Problem.  Soll  der  Darsteller  sich 
selbst  v()llig  vergessen,  ganz  in  die  dargestellte  F^erson  aufgehen,  oder 
soll  er  über  seiner  Rolle  stehen?  Ist  er  von  solcher  Wandlungsfähig- 
keit, dalt  er  unter  dem  Zwang  von  Stunde  und  Umgebung  Liebe  und 
Halt  in  sich  erzeugen,  als  König  und  als  Knecht  sich  fühlen  kann, 
oder  ist  alles  nur  äuiieriich  angenommen?  Anders  gewendet:  wie  weit 
vermag  der  Schauspieler  seine  Leistung  vorzubereiten,  und  wie  weit 
ist  er  auf  die  Eingebung  des  Augenblicks  angewiesen?  In  der  letzten 
Fassung  ist  die  Frage  eine  allgemein  fragenswerte.  Sie  ist  von  den 
Besten  der  ausübenden  Künstler  dahin  beantwortet  worden,  daß  die 
sorgsamste  Vorbereitung  uneriälilich,  Fleiß  nicht  sowohl  eine  Tugend 
als  vielmehr  eine  Notwendigkeit  ist.  daß  aber  anderseits  durch  innere 
Anteilnahme  bei  der  Ausfühnnig  der  Schein  des  Augenblicklichen  er- 
weckt und  die  erkältende  Wirkung,  die  so  leicht  vom  planmäßig  An- 
gelegten ausgeht,  vemiieden  werden  muß.  Auf  den  Brettern  soll  man 
da>  tiefste  (jefühl  im  Zaum  halten  können*').  Wer  wirklich  weint, 
vermag  nur  undeutlich  oder  überhaupt  nicht  zu  sprechen.  Wer  vom 
Augenblick  sich  hinreißen  läßt,  ist  unfähig,  ein  Ganzes  wie  aus  einem 
(juß  hinzustellen.  Tief  fühlen  können  auch  Dilettanten;  aber  das  Ge- 
fühl künstlerisch  formen  ist  Aufgabe  des  Meisters.  Um  früher  (auf 
S.  25(>)  Gesagtes  kurz  zu  wiederholen:  die  inneriiche  Ergriffenheit,  das 
Milleben  ist  nicht  so  sehr  Voraussetzung  als  vielmehr  Folge  des  rich- 
tigen Spiels.  Frau  Talma  erzählt  von  sich,  daß  sie  als  Andromachc 
wirklich  Tränen  vergossen  habe.  Aber,  wohl  zu  beachten,  sie  fugt 
hin/u:  (.e  qui  nie  touchait,  cvtait  t'rxprrssion  que  ma  voix  donnait 
aiix  i/tuilnirs  iF  Amiromaqui\  non  pas  irs  ilouleurs  rl/rs-mrmes  . . .« 
In  der  Praxis  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  der  Träger  der  Rolle  völlig 
vom  frcnulen  (ieist  durchdrungen  ist.  So  kümmert  es  den  Leser  nicht, 
ob  der  Dichter  sich  hingerissen  und  verwandelt  fühlte,  als  er  schrieb. 


344  ni-  TONKUNST  UND  MIMIK. 

Wenn  nur  wir  ergriffen  werden.  Trotzdem  ist  die  aufgeworfene  Frage 
keine  Müßigkeit  gelehrter  Grübelei,  denn  sie  weist  auf  das  allgemeinere 
Problem  des  Kunstschaffens  hin  und  verzeichnet  einen  Unterschied 
des  ästhetisch  Fühlenden  vom  künstlerisch  Könnenden. 

Wir  gingen  davon  aus,  daß  die  in  der  Bühnenkunst  vereinigten 
Wirksamkeiten  mehr  als  ein  bloß  ausführender  Mechanismus  sind. 
Das  Drama  ist  in  sich  selbst  so  fertig  wie  das  Gedicht,  und  es  kommt 
etwas  verhältnismäßig  Selbständiges  hinzu  wie  mit  der  Komposition 
etwas  Neues  sich  dem  lyrischen  Gebilde  anschließt.  Während  manche 
Werte  der  dramatischen  Dichtung,  weil  sie  ausschließlich  der  Wort- 
kunst eignen,  sich  nur  in  der  Rede  enthüllen,  vollbringen  Maske, 
Mienenspiel  und  Geste,  sodann  der  ganze  übrige  Apparat  der  Bühne 
eine  besondere  Ausgestaltung  der  künstlerischen  Absichten.  Daher 
unterscheiden  sich  die  Leistungen  großer  Menschendarsteller  so  stark 
voneinander,  daß  man  nicht  sagen  kann,  es  sei  derselbe  Hamlet,  der 
von  diesem  und  jenem  gespielt  werde.  Den  Personen  des  Dramas 
steht  der  Schauspieler  beinahe  so  frei  gegenüber,  wie  der  Dichter  der 
Wirklichkeit.  Nur  hieraus  ist  die  Tatsache  zu  begreifen,  daß  schema- 
tische Figuren  wertloser  Stücke  oft  zu  den  glänzendsten  Leistungen 
der  Mimik  Anlaß  geben.  Kann  ja  auch  ein  der  Wirklichkeit  entnom- 
mener schmächtiger  Vorwurf  zu  herriichen  Dichtwerken  sich  umformen. 
Außerdem  ist  die  marktgängige  Ansicht  abzulehnen,  das  schauspiele- 
rische Talent  bestehe  in  der  Fähigkeit,  » Menschen  c  zu  kopieren.  Das 
ist  vielmehr  die  Kunstfertigkeit  der  Komödianten.  Diese  ergötzen,  er- 
staunen und  beleidigen  durch  Nachahmungs-  und  Verstellungskfinste. 
Aber  in  den  Großen  lebt  Ursprünglichkeit;  wie  sollte  sie  identisch 
sein  mit  der  Fähigkeit  des  Nachahmens?  Das  wäre  ja  nicht  nur  ein 
Widerspruch  in  sich  selbst,  sondern  auch  ein  Widerspruch  gegen  alle 
künstlerische  Gesetzmäßigkeit.  Die  Mimik  würde,  wenn  es  so  stunde, 
eine  Ausnahme  von  den  übrigen  Künsten  bilden,  da  keine  von  diesen 
eine  bloß  nachahmende  Tätigkeit  ist.  Auch  der  schauspielerische  Stil 
verfangt  ein  Aufschwellen  der  Wahrheit,  ein  Erfinden  von  Bewegungen 
und  Tönen,  wie  sie  die  bloße  Beobachtung  nirgends  zeigt;  der  Schau- 
spieler weiß  durch  eine  Wendung  seines  Körpers,  durch  einen  Zug 
seines  Gesichtes,  durch  ein  leises  Vibrieren  der  Stimme  das  Unge- 
sagte zu  sagen.  Wohl  jedermann  hat  es  eriebt,  daß  seinen  aus  der 
Lektüre  gewonnenen  Vorstellungen  in  der  Darbietung  des  Schau- 
spielers etwas  gänzlich  Neues  entgegentrat  Kein  Wunder.  Dasselbe 
Lied  kann  zehnmal  und  alle  zehn  Male  schön  komponiert  werden; 
dieselbe  dramatische  Figur  kann  zehnfältig  verschieden  und  jedesmal 
kunstgerecht  gespielt  werden.  Namentlich  moderne  Dramen,  in  denen 
sozusagen  das  Wesentliche  mehr  verschwiegen  als  ausgesprochen  wird. 


i 


MIMIK  IM)  ia'HNhNKl\N>T.  345 

verlangen  vom  Schauspieler  die  volle  BeherrschutiK  seiner  eindring- 
lichsten und  eigenartigsten  Kunstmittel. 

Die  Besonderheit  des  schauspielerischen  Talentes  ist  der  musika- 
lischen Aniaf^e  vergleichbar.  Wäre  sein  Wirken  daran  gebunden,  daß 
der  Künstler  über  ein  gediegenes  Verständnis  des  Literarischen  und 
über  eine  umfassende  Menschenkenntnis  verfügt,  so  wäre  ja  unbegreif- 
lich, dali  junge  Leute  mit  mangeltiafter  Bildung,  die  nichts  als  ihre  Rollen 
im  Kopfe  haben,  so  Außerordentliches  leisten  können.  Ich  meine 
natürlich  nicht,  daß  Lebenskenntnis  und  allgemeine  [Bildung,  nament- 
lich auch  literarisches  Verständnis,  dem  Mimen  nutzlos  wären.  Aber 
ich  finde  durch  die  Tatsachen  der  Erfahrung  bewiesen,  daß  sie  nicht 
unbedingt  erforderlich  sind.  Vielleicht  liegt  hierin  der  geheime  Grund 
für  die  noch  nicht  ganz  ausgerottete  soziale  Mißachtung  des  Skrhau- 
spielerstandes.  Der  Gesichtskreis  des  Durchschnittsschauspielers  ist 
gleich  dem  des  gewöhnlichen  Musikers  sehr  eng  begrenzt.  Daher 
sind  beide  im  gesellschaftlichen  Verkehr  wenig  verwendbar;  auch  aus 
anderen  Gründen  werden  sie  in  der  Regel  nicht  als  vollwertig  ange- 
sehen *  ).  Wie  kann  es  anders  sein!  Das  Reich  der  Schauspielkunst 
mit  seinem  launenhaften  Völkchen  liegt  wie  die  Enclave  einer  freien 
Republik  mitten  in  einem  streng  geordneten  monarchischen  Staat.  Die 
Geschichtslosigkeit,  das  Freisein  von  einer  staatlich  geregelten  und 
geforderten  Vorbildung,  die  Unabhängigkeit  von  wissenschaftlichen 
Festsetzungen,  sie  haben  sich  auch  in  unserer  ausgleichenden  Zeit 
noch  erhalten. 

Ich  möchte  an  diesen  allgemein  anerkannten  Tatbestand  eine  ent- 
sprechende theoretische  Bemerkung  anschließen.  Unsere  Schauspieler, 
so  scheint  mir,  brauchen  keine  Rücksicht  darauf  zu  nehmen,  wie  in 
Shakespeares  oder  Goethes  Tagen  die  Werke  dieser  Dichter  dargestellt 
wurden.  Man  muß  den  Hamlet  so  spielen,  daß  er  den  Mitlebenden 
leibhaftig  vor  die  Augen  tritt;  gerade  der  getreue  Dolmetsch  des  Dichters 
hat  den  Kern  der  Gestalt  in  einer  dem  Zeitbewußtsein  angemessenen 
Weise  herauszuschälen.  Für  das  Publikum  der  Gegenwart  gehört  wohl 
zweierlei  zur  Erfüllung  des  Verlangens.  Erstens  die  sorgsamste  Rück- 
sicht auf  die  Mitspielenden,  die  unablässige  Betonung  dessen,  daß  die 
eigene  Rolle  nur  ein  Glied  in  einem  organischen  Ganzen  ist.  Heut- 
zutage weiß  man  allzu  gut,  daß  jedes  Individuum  von  seiner  Umgebung 
abhängig  ist,  und  da  wir  gewohnt  sind,  die  Persönlichkeit  an  das 
Milieu  zu  binden  und  die  sozialen  Interessen  den  einzelnen  voranzu- 
stellen, so  wollen  wir  auch  auf  der  Bühne  die  gegenseitige  Beein- 
flussung besonders  hervorgehoben  sehen.  Die  früher  erlaubte  Los- 
lösung der  Hauptrolle  von  den  Mitspielenden  ist  für  das  Zeitalter  des 
sozialen  Gedankens  schlechthin  unerträglich.    Aus  dem  ganzen  Drama 


346  ni.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

soll  eine  bestimmte  geistige  Sphäre  uns  entgegenschlagen  und  inner- 
halb dieser  Luftströmung  ein  Faktor  wichtiger  als  der  andere,  jeder 
aber  an  den  anderen  geknüpft  sein.  Das  Publikum  entwöhnt  sich  jetzt 
der  Virtuosen,  die  einen  Solopart  spielen  und  sich  um  das  Orchester- 
gesindel der  Genossen  nicht  bekümmern,  die  keine  Dramen-,  sondern 
nur  Bombenrollen  kennen,  die  im  Augenblick  verblüffen  und  nicht 
auf  die  Dauer  erwärmen.  Vornehme  Schauspielkunst  erfreut  durch  ein 
gewisses  Ansichhalten  und  Insichverschließen.  —  Zweitens  verlangen 
wir,  dem  darwinistischen  Zuge  unserer  Zeit  folgend,  daß  der  Künstler 
uns  die  Entwicklung  eines  Charakters  in  ihrer  völligen  Breite  vorführe. 
Die  biologische  Betrachtungsweise  ist  uns  gleichfalls  in  Fleisch  und 
Blut  eingedrungen;  nicht  nur  die  Naturprozesse,  sondern  auch  die 
Vorgänge  des  gesellschaftlichen  und  individuellen  Lebens  betrachten 
wir  unter  Gesichtspunkten  der  Entwicklungslehre.  Daher  verstößt  es 
gegen  moderne  Denkgewohnheiten,  wenn  ein  Künstler  mit  starrer  Maske 
und  mit  feststehender  Charakterisierung  zu  spielen  b^nnt,  anstatt 
eine  langsame  und  folgerichtige  Entfaltung  anzustreben,  mit  allen  den 
Wendungen  und  Feinheiten,  die  der  Dichter  hineingelegt  hat. 

Von  den  Mitteln  der  Bühnenkunst  kommen  neben  der  Mimik  noch 
in  Betracht  d i e  Inszenierung  und  die  Regie.  Unter  Inszenierung 
verstehen  wir  die  Verwendung  des  gesamten  toten  Apparates,  unter 
Regie  die  Leitung  des  lebenden  Apparates  zu  dem  Zweck,  das  Drama 
zu  verkörpern.  Die  Inszenierung  hat  den  äußeren  Schauplatz  herzu- 
stellen und  findet  ihre  Hauptschwierigkeit  in  der  praktischen  Ausfuh- 
rung. Immerhin  müssen  auch  wir  uns  die  Frage  vorlegen,  ob  eine 
möglichst  täuschende  Natüriichkeit  anzustreben  sei  oder  nicht  Ein 
Praktikus  hat  darauf  geantwortet:  lieber  echte  Menschen  in  falscher 
Umgebung  als  umgekehrt  Gewiß;  aber  läßt  sich  überhaupt  eine  echte 
Umgebung  herstellen?  Fehlt  nicht  immer  die  vierte  Wand  des  Zimmers, 
eilt  nicht  häufig  die  Zeit  der  dramatischen  Handlung  schneller  als  der 
Zeiger  der  Uhr?  Es  gibt  sozusagen  eine  besondere  Optik  der  Szene, 
die  den  Wirklichkeitsgesetzen  des  Sehens  Gewalt  antut  Sofern  es 
die  Bühnenbedingungen  eriauben,  ist  eine  echte  Ausstattung  und 
eine  möglichst  naturgetreue  Dekoration  deshalb  dem  Gegenteil  vorzu- 
ziehen, weil  die  Illusion  des  Zuschauers  dann  nicht  gestört  wird.  Damit 
jedoch  nicht  genug.  Das  Auge  des  Betrachters  soll  auch  rein  malerisch 
erfreut  werden,  und  zwar  mit  jener  Zurückhaltung,  die  die  Aufmerk- 
samkeit von  der  dargestellten  dramatischen  Handlung  nicht  ablenkt, 
aber  zugleich  jede  Verietzung  empfindlicher  Augen  vermeidet  Daher 
sollte  z.  B.  der  verantwortliche  Leiter  der  Aufführung  die  Kleider  der 
Spielenden  in  ihren  Farben  gegeneinander  abstufen.  Im  Leben  läßt 
es  sich  nicht  vermeiden,  daß  neben  einer  knallblau  gekleideten  Dame 


MIMIK  INI)  lU-HNKSKlNST.  347 

eine  andere  in  zeisiggrunem  Kostüm  einherwandelt;  auf  der  Buhne 
sollte  unseren  Augen  ein  solcher  Schmerz  erspart  bleiben.  Was  die 
geschichtliche  Treue  des  Kostüms  anlangt,  so  darf  man  nicht  so  ängst- 
lich sein  wie  moderne  Regisseure  und  die  echten  Trachten  auch  dann 
auf  die  Bühne  bringen,  wenn  sie  auf  uns  komisch  wirken.  Unter 
Wiederholung  unseres  alten  Grundsatzes  wäre  zu  sagen:  Eindruck 
der  Natürlichkeit  muß  erreicht  werden,  aber  er  besteht  nicht  in  skla- 
vischer Nachahmung  des  Wirklichen. 

An  der  Regie  interessiert  theoretisch  zunächst  die  Frage,  wie  es 
möglich  sei,  verschiedene  Raumgrößen  auf  der  gleichen  Bühne  sichtbar 
werden  zu  lassen.  Manchmal  stellt  ja  die  Bühne  ein  kleines  Zimmer, 
manchmal  eine  unabsehbare  Landschaft  dar.  Gelegentlich  ist  nur  ein 
Schauspieler  auf  der  Bühne,  und  bei  anderen  Gelegenheiten  sollen  wir 
das  Getümmel  einer  großen  Schlacht  vor  uns  sehen.  Die  eigentüm- 
lichen Hilfsmittel  der  Regie  liegen  teils  in  der  Verkleinerung  der  Bühne, 
teils  in  der  Benutzung  bestimmter  Hintergründe,  teils  in  der  Anfüllung 
des  Raumes  mit  Gegenständen  oder  in  seiner  Befreiung  von  ihnen. 
Wenn  eine  kleine  Bühne  mit  wenig  Personal  die  Täuschung  hervor- 
rufen will,  daß  ein  von  vielen  Menschen  erfüllter  weiter  f^atz  da  sei, 
so  muß  die  Bühne  verbaut  und  müssen  die  paar  Statisten  zusammen- 
gepfercht werden;  alsdann  entsteht  der  Eindmck  räumlicher  Größe  und 
zahlenmäßiger  Massenhaftigkeit.  In  der  Darstellung  von  Zeitgrößen 
ist  die  Regie  nicht  so  glücklich:  Das  sogenannte  Gesetz  des  bewegten 
Bühnenbildes,  wonach  die  Darsteller  mit  verhältnismäßiger  Schnellig- 
keit ihre  Mätze  wechseln  und  ihre  Stellungen  ändern  müssen,  würde 
außer  Kraft  treten  können,  wenn  immer  von  innen  heraus  Handlung 
und  Dialog  lebendig  gestaltet  würden.  Denn  es  gilt  nur  aus  dem 
Grunde  als  unverbrüchlich,  weil  ohne  seine  Befolgung,  wie  man 
meint,  die  Aufmerksamkeit  des  I^iblikums  erlahmen  müßte.  Für  das 
Auge  aber  ist  das  stets  sich  ändernde  Bühnenbild  wenig  angenehm; 
eine  ruhige  ßildwirkung  kann  nicht  zustande  kommen  und  ein  künst- 
lerisches Ineinanderfließen  der  sich  folgenden  Stellungen  wird  gleich- 
falls meist  vermißt. 

Indem  der  Dramatiker  seiner  Dichtung  Bühnenanweisungen 
beizufügen  pflegt,  scheint  er  den  Ausführenden  eine  Hilfe  zu  bieten. 
Gewöhnlich  gelten  diese  [Bemerkungen  als  Nebenvorschriften  und  nicht 
als  Bestandteile  des  Dramas.  Aber  ganz  so  einfach  liegt  es  nicht. 
Man  wird  mir  beipflichten,  wenn  ich  behaupte,  daß  die  Bühnenanwei- 
sungen den  musikalischen  Vortragsbezeichnungen  entsprechen;  und 
hei  diesen  ist  wenigstens  ein  Zweifel  daran  möglich,  ob  sie  wirklich 
außerhalb  des  Kunstwerkes  stehen.  Natüriich  Musik  sind  sie  nicht. 
Aber  sie  dienen  dtKh  nicht  bloß  dem  Ausführenden,  sondern  auch  dem, 


348  ni-  TONKUNST  UND  MIMIK. 

der  die  Partitur  liest.  Wenn  nun  der  dramatische  Dichter  auf  Leser 
rechnet,  so  kann  er  die  Bühnenanweisungen  derart  erweitem,  daß  sie 
nicht  mehr  praktische  Winke  für  den  Regisseur  und  den  Schauspieler 
bleiben,  sondern  sich  wie  eine  Art  Kommentar  dem  Leser  des  Stuckes 
darbieten.  In  Hauptmanns  naturalistischem  Drama  »Vor  Sonnenaufgange 
heißt  es  unter  anderem:  »Es  ist  der  Bauer  Krause,  welcher,  wie  immer, 
als  letzter  Gast  das  Wirtshaus  verlassen  hat.«  Natürlich  kann  kein 
Schauspieler  den  Zuschauem  zeigen,  daß  er  das  Wirtshaus  »wie  immer« 
als  letzter  verläßt.  Diese  in  Klammem  stehende  Bemerkung  des  Dichters 
ist  also  nur  scheinbar  eine  Bühnenanweisung.  In  den  »Webem«  heißt 
es:  »Ein  Reisender  am  Säulentisch  kaut  mit  Eifer  an  einem  deutschen 
Beefsteak.«  Der  Regisseur  mag  wohl  einen  eifrig  kauenden  Schau- 
spieler an  den  Säulentisch  setzen,  aber  die  nähere  Beschaffenheit  des 
Beefsteaks  dürfte  selbst  der  genialste  Virtuose  der  Regie  nicht  zum 
Ausdruck  bringen  können.  Zwischen  dem,  was  dem  Dichter  vor- 
schwebt, und  dem,  was  die  Sonderkunst  leisten  kann,  besteht  ein  Ab- 
stand, den  er  ausfüllen  möchte.  Wir  finden  den  gleichen  Grund  und 
das  gleiche  unzulängliche  Aushilfsmittel  in  der  modemen  Musik.  In 
Richard  Straußens  »Häuslicher  Symphonie«  steht  in  die  Partitur  ein- 
gedruckt über  einem  Thema:  »Die  Tanten:  Ganz  der  Papa!«  und  über 
der  musikalischen  Umkehrung  des  gleichen  Themas  stehen  die  Worte: 
»Die  Onkels:  Ganz  die  Mama!«  Das  ist  natüriich  keine  Vortrags- 
bezeichnung für  den  biederen  Trompeter,  sondem  ein  launiger  Protest 
gegen  die  Begrenztheit  der  Musik.  Übrigens:  Was  von  den  R^e- 
novellen  des  naturalistischen  Dramas  gilt,  läßt  sich  auch  auf  die  Buhnen- 
anweisungen in  den  Stücken  Maeteriinks  und  d'Annunzios  übertragen. 
Beide  scheinen  diese  ursprünglichen  Hilfsmittel  der  szenischen  Technik 
fast  als  zur  Dichtung  gehörig  zu  betrachten.  Daher  verieihen  sie  ihnen 
poetischen  Glanz  und  ergehen  sich  in  Landschaftsbeschreibungen,  die 
dem  Spielleiter  nichts  nützen,  und  in  unausführbaren  Eriäuterungen 
zum  Charakter  der  dramatischen  Personen.  Fast  möchte  man  glauben, 
daß  diese  Neigung  zu  epischen  Eriäuterungen  einst  das  Drama  in 
eine  Mischform  hinüberführen  wird. 

Schließlich  ist  noch  Sinn  und  Zweck  der  Bühnenkunst  zu  unter- 
suchen. Von  der  Stellung  des  genießenden  Hörers  aus  hat  Wilhelm 
Schlegel  in  seinen  Voriesungen  über  griechisches  und  römisches  Theater 
die  Frage  erörtert.  Er  verweist  darauf,  daß  die  meisten  Menschen,  in 
einen  engen  Kreis  festgebannt,  das  Spiel  der  Bühne  als  eine  willkommene 
Abwechslung  betrachten.  Da  es  ein  verjüngtes  Bild  des  Lebens  ist, 
»ein  Auszug  des  Beweglichen  und  Fortrückenden  im  menschlich^i 
Dasein«,  so  ist  es  nicht  nur  den  geistig  Hochstehenden  zugänglich^ 
sondem  so  eng  mit  der  Wirklichkeit  verbunden,  daß  einerseits  manche 


MIMIK  INI)  lUIINKNKl'Nsr  34Q 

naive  Zuhörer  zu  einer  Verwechslung  zwischen  Schein  und  Sein  fort- 
f;erissen  werden  und  anderseits  die  Vergleichun^  des  Lehens  mit  dem 
Schauspiel  als  eine  zutreffende  und  tiefe  Erkenntnis  erscheint.  För 
Kulturla^en,  in  denen  die  sozialen  und  politischen  Bestrebungen  der 
Masse  an  freier  Entfaltung  gehindert  sind,  wird  deshalb  das  Theater 
leicht  zum  Mittelpunkt  des  Lebens.  Für  uns  Deutsche  ist  lange  Zeiten 
hindurch  die  Buhne  eine  Grundlage  der  Kulturentwicklung  gewesen. 
Sie  stand  neben  Kirche  und  Schule  gleichberechtigt  als  Bildungsanstalt 
da.  Sie  wirkte  auf  das  politische  Leben  ein  und  war  ein  Ventil  für 
die  an  wirtschaftlichen  Fragen  entzündeten  Leidenschaften.  Seit  dem 
Aufkommen  der  IVesse  und  der  Einrichtung  von  Parlamenten  hat  die 
Bühne  viel  von  dieser  beherrschenden  Stellung  verloren.  Nur  noch 
die  Ältesten  unter  uns  sprechen  von  dem  Theater  so  feieriich  wie  von 
den  letzten  Dingen.  Was  die  Gebildeten  jetzt  von  der  Bühne  herab 
empfangen,  ist  teils  ästhetischer  Natur:  Es  sind  lebendige  Schönheits- 
ideale, die  auf  die  meisten  stärker  wirken  als  die  in  den  Totenkammem 
der  Museen  aufgestapelten  Schönheitsideale.  Teils  aber  ist  es  ein  Ein- 
druck rein  geselliger  Art.  Da  das  Theater  seine  einstige  Bedeutung 
sei  es  als  Mittelpunkt  des  Kultus,  sei  es  als  moralische  Anstalt,  sei  es 
als  Betätigungsfeld  für  sonst  brachliegende  Kräfte  ein  für  allemal  ein- 
gebüßt hat,  und  da  es  dennoch  nicht  völlig  in  die  Kunstsphäre  auf- 
gehen kann,  so  bleibt  es  mit  der  Geselligkeit  als  solcher  verknüpft. 
Vor  unserem  geistigen  Auge  tauchen  die  Volksfeste  der  Griechen  auf, 
an  denen  Theater  gespielt  wurde,  wir  sehen  die  geputzte  Menge  In 
einem  französischen  oder  italienischen  Opernhaus,  wir  erinnern  uns 
der  köstlichen  I^roben  auf  der  Liebhaberbühne  unserer  Jugendzeit.  Ist 
das  Theater  nur  zur  geselligen  Unterhaltung  und  als  Schaubühne  da? 
Es  steht  vor  der  Entscheidung,  entweder  ins  Äußerliche  oder  ins  Inner- 
liche aufzugehen.  Tut  es  das  erste,  so  wird  die  Dichtung  zum  Aus- 
lösungsmittel für  bildliche  und  mimische  Eindrücke  hinabsinken.  Wir 
werden  wundervolle  Bühnenbilder  von  großer  stilistischer  Strenge  er- 
halten, so  daß  aus  dem  Theater  eine  wahrhafte  Schaubühne  wird,  auf 
der  das  Leben  zu  bildhafter  Vollendung  aufsteigen  kann.  Das  f^oetische 
mag  seinen  Beitrag  dazu  liefern,  aber  einen  bescheidenen.  Wendet 
man  sich  nach  der  anderen  Richtung,  so  muß  die  Vergeistigung  des 
Theaters  zum  Verzicht  auf  alle  Ausstattung  und  auf  alle  schauspielerische 
Virtuosität  führen.  Die  Szene  wird  schließlich  entbehriich  und  durch 
die  Vorlesung  des  Dramas  ersetzt  werden  können,  bei  der  die  Phan- 
tasie des  Hörers  sich  die  ganze  äußere  Gestaltung  viel  persönlicher 
und  bezwingender  vorstellen  kann,  als  sie  je  zu  verwirklichen  wäre. 
Viele  unserer  feinsten  Geister  verschmähen  es  deshalb,  ein  Theater  zu 
besuchen,  weil  sie  vor  der  Roheit  und  Unzulänglichkeit  des  Buhnen- 


350  UI.  TONKUNST  UND  MIMIK. 

haften  zurückschrecken.     Aber  dies  bedeutet  offensichtlich  den  Tod 
des  Theaters. 

Es  mag  wunderlich  klingen  und  ist  doch  so:  gerade  aus  diesem 
scheinbar  vernichtenden  Dilemma,  daraus,  daß  das  Buhnendrama  eigent- 
lich nur  zwischen  zwei  Todesarten  zu  wählen  hat,  ergibt  sich  die  Be- 
rechtigung der  Bühnenkunst  als  einer  selbständigen  Kunst.  Wir  haben 
schon  früher  gesehen,  daß  jede  Kunst  gekennzeichnet  wird  durch  einen 
Gegensatz  ihrer  Mittel  und  ihres  Ziels.  Eine  Aufgabe  der  Malerei  Ist, 
Räumliches  darzustellen;  ihr  Mittel,  die  Fläche,  befindet  sich  in  unauf- 
hebbarem  Gegensatz  zu  dieser  Aufgabe.  Eben  das  aber  macht  eine 
Eigentümlichkeit  der  Malerei  aus,  sonst  wäre  sie  ja  nur  eine  Wieder- 
holung der  Natur,  und  man  vermöchte  nicht  zu  sagen,  warum  diese 
Wiederholung  vorgenommen  werden  soll.  So  liegt  die  künstlerische 
Eigenart  der  Bühnenkunst  darin,  daß  sie  die  Veranschaulichung  dra- 
matischer Seelenvorgänge  mit  Werkzeugen  und  unter  Umstanden  ver- 
sucht, die  eine  restlose  Verkörperung  unmöglich  erzielen  kann.  Die 
Buhnenkunst  muß  entweder  etwas  von  dem  Gehalt  preisgeben,  oder 
sie  muß  etwas  von  der  Veräußeriichung  opfern.  Eben  hierin  li^  ihr 
Reiz  und  ihr  Charakter  als  einer  selbständigen  Kunst 

Anmerkungen. 

*)  J.  Combarieu,  ThäorU  da  rhytkme  1897,  S.  3  und  in  der  Revüe  masicaU  I, 
219  f.  H.  Rietsch,  Die  Tonkunst  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  1900, 
S.  94  und  Die  deutsche  Liedweise,  1904,  S.  8  f.  P.  Moos,  Die  Musikästhetik  in 
Deutschland,  1900,  S.  437. 

')  H.  Riemann,  Die  Elemente  der  musikalischen  Ästhetik,  1900,  S.  140. 

')  So  sagte  Mattheson  in  seinem  »Neu  eröfhieten  Orchester«:  >C-dur  (Jonicus) 
hat  eine  ziemlich  rüde  und  freche  Eigenschaft,  wird  aber  zu  Rejouissancen  und  wo 
man  sonst  der  Freude  ihren  Lauf  läßt,  nicht  ungeschickt  sein,  demungeachtet  kann 
ihn  ein  habiler  Komponist,  wenn  er  insonderheit  die  accompagnierenden  Instrumente 
wohl  choisirt,  zu  gar  was  Charmantes  umtaufen  und  fuglich  auch  in  tendren  Fallen 
anbringen.  —  F-dur  (Jonicus  transpositus)  ist  capable,  die  schönsten  Sentiments  von 
der  Welt  zu  exprimiren,  es  sei  nun  Großmuth,  Standhaftigkeit,  Liebe,  oder  was 
sonst  in  dem  Tugendregister  obenansteht«  u.  s.  w. 

*)  Für  nähere  Beschäftigung  mit  diesen  und  verwandten  Fragen  sei  verwiesen 
auf  die  Tonpsychologie  von  Karl  Stumpf. 

^)  Vgl.  die  Angaben  und  Untersuchungen  bei  Th.  Vogt,  Form  und  Oehalt  in 
der  Ästhetik,  1865.  Während  im  kleinen  der  einfache  Takt  aus  zwei  oder  drei  Takt- 
teilen besteht,  scheint  doch  im  großen  der  einfache  Satz  am  natüriichsten  sich  aus 
vier  Takten  zusammenzusetzen. 

*)  »Denken  Sie,  als  ich  kürzlich  den  lustigen  Hirtenreigen  bei  Isoldes  Schiffahrt 
ausarbeitete,  fällt  mir  plötzlich  eine  melodische  Wendung  ein,  die  noch  viel  jubeln- 
der, fast  heroisch  jubelnd  und  doch  dabei  ganz  volkstümlich  ist  Fast  wollt'  ich 
schon  alles  wieder  umwerfen,  als  ich  endlich  gewahr  wurde,  daß  diese  Mekxlie 
nicht  dem  Hirten  Tristans  zugehöre,  sondern  dem  leibhaftigen  Siegfried.    Sogleich 


ANMERKUNGEN.  351 

sah  ich  die  Schlußverse  Siegfrieds  mit  Brünnhilde  nach  und  erkannte,  daß  meine 
Melodie  den  Worten 

>Sie  ist  mir  ewig, 
Ist  mir  immer, 
Erb'  und  eigen 
Ein  und  All«  u.  s.  w. 
angehört.    Das  wird  sich  unglaublich  kühn  und  jubelnd  ausnehmen.«    Richard  Wag- 
ner an  Mathilde  Wesendonk.  4.  Aufl.,  1904,  S.  161.     »Zu  den  Walther-Liedem  fehlt 
Ihnen  die  Melodie:  die  ist  hier  allerdings  die  unumgängliche  Hauptsache:  ich  hab' 
die  Verse  nach  der  Melodie  im  Kopf  gemacht:  die  können  Sie  sich  nun  allerdingt 
nicht  denken.'     Ebenda  S.  301. 

')  Immerhin  kennt  schon  die  italienische  Oper  des  17.  Jahrhunderts  Arien,  in 
denen  die  Form  nicht  schematisch  angewendet,  sondern  jeweilig  durch  den  Inhalt 
bedingt  wird. 

*)  W.  R.  Qowers,  Lectures  an  the  diagnosis  of  diseases  of  ihe  brain,  1885, 
S.  122  u.  127.  Unbegreiflich  und  bedaueriich  ist  es,  daß  Wallaschek  dieser  Ansicht 
beitritt,  vgl.  f Psychologie  und  Pathologie  der  Vorstellung,  1905,  S.  30.  Ich  habe  seit 
Jahren  Gelegenheit,  die  Vorbereitung  von  Qesangsvorträgen  aus  nächster  Nähe,  vom 
ersten  Schritt  bis  zur  endgültigen  Darbietung  zu  beobachten,  und  ich  kann  bezeugen, 
daß  jene  Ansicht  eine  grobe  Verkennung  ist.  Der  gebildete  Sänger  beginnt  in  der 
Regel,  bei  modernen  Liedern  und  beim  Musikdrama  ohne  Ausnahme,  sein  Studium 
damit,  daß  er  den  Text  deklamiert;  kurz  vor  dem  Vortragen  vergegenwärtigt  er 
sich  stets  den  Inhalt  und  die  Stimmung  des  Gedichtes ;  während  des  Singens  bleibt 
er  sich  der  Bedeutung  der  Worte  genau  so  sehr  oder  wenig  bewußt,  wie  ein  Rezi- 
utor  oder  Schauspieler;  auf  die  Deutlichkeit  der  Aussprache  legt  er  den  größten 
Wert. 

*)  Ed.  von  Wölfflin,  Zur  Geschichte  der  Tonmalerei.  Sitzungsber.  der  Mönche- 
ner  Akad.  (philos.  Klasse),  1897,  II,  221  258.  Rudolf  Louis,  Franz  üszt  S.  51  H. 
Jules  Combarieu,  Uexprtssion  objtctive  en  musique  d'aprh  U  langage  instifutif, 
Rfv.  phiL  1893,  Bd.  35,  S.  124-144.  Edmond  Goblot,  La  musique  deseriptive,  ebenda 
1901,  Bd.  52,  S.  58-77.  Eine  eigentümliche  Verbindung  von  Wort  und  Klang  findet 
sich  in  den  Oberschriften  und  Vortragsbezeichnungen.  Da  ich  sie  in  einer  beson- 
deren Untersuchung  habe  behandeln  lassen,  so  deute  ich  hier  nur  die  Hauptpunkte 
an.  Die  sprachlichen  Anweisungen  über  den  Stärkegrad  beziehen  sich  auf  die  dem 
Tonwerk  innewohnende  Kraftmenge  und  die  Intensität  von  Gefühlen;  die  Erläute- 
rung des  Zeitmaßes  geht  auf  Fühlen  und  Wollen  in  den  Phasen  des  Ablaufs;  die 
nur  den  Ausdnick  betreffenden  Vorschriften  bezeichnen  den  Hauptaffekt  oder  die 
herrschende  Stimmung. 

'*)  Vgl.  Oskar  ßie.  Von  der  dekorativen  Musik.    Der  Kunstwart,  15.  Sept.  1894. 

*')  Thomas  Mann,  Buddenbrooks,  1901.  II,  1689.    Vgl.  II.  522  ff. 

**)  Von  deutschen  Schriften  über  das  Theater  sind  mir  die  folgenden  am  betten 
bekannt:  Heinrich  Theodor  Rötscher,  r>ie  Kunst  der  dramatischen  Darstellung,  in 
ihrem  organischen  Zusammenhang  wissenschaftlich  entwickelt.  2.  Aufl.,  1864;  Her- 
mann Bahr,  Studien  zur  Kritik  der  Moderne,  1894;  Max  Martersteig,  Der  Schau- 
spieler, ein  künstlerisches  Problem,  1900;  Hugo  Dinger,  Dramaturgie  als  Wissenschaft, 
2  Bde.,  1904  u.  1905.  Die  Bemerkungen  über  die  Eigentümlichkeit  der  modernen 
Sptclweise  sind  durch  Bahrs  Studien  angeregt. 

'*)  Lehrreiche  Belege  zum  Gegensatz  von  Drama  und  Theater  in  Max  Herrmannt 
Schrift  über  das  'Jahrmarktsfest  zu  Plundersweilem  • ,  1900.  Verwandte  Ausfüh- 
rungen in  Zeitschriftenartikeln  von  Julius  Hart,  im  Text  benutzt. 


352  HL  TONKUNST  UND  MIMIK. 

^*)  August  Klingemann  erzählt  von  einem  seiner  Schauspieler  in  Braunschweig, 
daß  »sein  eigenes  Nervensystem  ...  in  sein  Kunstwerk  übergegangen  wäre,  »wes- 
halb ich  denn  auch  bei  szenischen  Mordmomenten  keinen  scharfen  Dolch  oder  ein 
geschliffenes  Messer  als  Requisit  für  ihn  hinlegen  lassen  durfte,  da  er  selbst  be- 
sorgte, in  leidenschaftlicher  Ekstase  einmal  den  Schein  mit  der  Tat  selbst  zu  ver- 
wechseln.«    Kunst  und  Natur,  1828,  III,  326. 

")  Ein  wenig  bekanntes  Beispiel  dafür,  daß  ein  Vertreter  der  Wissenschaft  sich 
zur  gesellschaftlichen  Würdigung  eines  Schauspielers  bequemte,  liegt  in  der  Wid- 
mung vor,  die  O.  W.  Becker  dem  1803  erschienenen  zweiten  Bande  seines  Buches 
»Neue  Untersuchungen  über  die  Lebenskraft«  vorausgeschickt  hat:  »Seinem  biedern 
Freunde  dem  Herrn  Ochsenheimer,  Mitglied  der  Churfürstlich-Sächsischen  Hofschau- 
spielergesellschaft aus  wahrer  Hochachtung  zugeeignet«. 


IV.  Die  Wortkunst 


1,  Die  Anschaulichkeit  der  Sprache. 

Musik  und  Mimik  haben  uns  mehrfach  auf  die  Poesie  hingewiesen. 
Die  Vertonung  von  lyrischen  und  dramatischen  Texten  sowie  die 
Bühnendarstellung  der  Dramen  lenkten  den  Blick  auf  die  Kunst  des 
Dichters.  Wenn  wir  sie  mit  jenen  beiden  anderen  Künsten  vergleichen, 
so  bemerken  wir  sofort,  daß  sie  nicht  im  selben  Sinne  auf  Anschau- 
lichkeit rechnet,  denn  sie  wirkt  doch  nicht  unmittelbar  auf  Ohr  oder 
Auge.  Vielmehr  bedient  sie  sich  de3  geistig  aufzufassenden  Wortes 
als  ihres  eigentümlichen  Mittels.  Daher  ist  unsere  erste  Aufgabe,  das 
in  der  Poesie  gegebene  Verhältnis  zwischen  Anschauung  und  Sprache 
klarzustellen. 

Im  Leben  findet  sich  reine  Anschauung  selten.  Wir  sehen  und 
hören  meist  nur  ein  paar  wichtige  Punkte  und  einige  herumgelagerte 
Details,  nehmen  flüchtig  und  mangelhaft  wahr:  wir  ergänzen  das 
wirklich  Angeschaute  durch  Vorstellungsreproduktion  und  gedank- 
liche Zutat.  Bei  der  Erinnerung  tritt  die  Hilflosigkeit  des  bloß  An- 
schaulichen noch  schärfer  heraus.  Die  Wahrnehmung  kann  allenfalls 
ruhende  Gegenstände  geringer  Größe  im  ganzen  und  mit  leidlicher 
Genauigkeit  erfassen;  die  Erinnerung  jedoch  zeigt  immer  nur  Teile, 
dazu  mit  einem  Schwanken  und  Flimmern,  mit  einer  Unruhe  in  den 
Einzelheiten,  als  ob  das  Bild  zwischen  Licht  und  Schatten  hindurch 
huschte.  Ein  Dichter,  der  zugleich  mit  dem  Malen  Bescheid  wußte, 
hat  einmal  das  leidvolle  Schicksal  des  Sinnengedächtnisses  geschildert  ^). 
Ich  setze  seine  Worte  hierher.  »Sali  fühlte  sich  an  diesem  Tage 
weder  müßig  noch  unglücklich,  weder  arm  noch  hoffnungslos;  viel- 
mehr war  er  vollauf  beschäftigt,  sich  Vrenchens  Gesicht  und  Gestalt 
vorzustellen,  unaufhörlich  eine  Stunde  wie  die  andere;  über  dieser  auf- 
geregten Tätigkeit  aber  verschwand  ihm  der  Gegenstand  derselben 
fast  vollständig,  das  heißt,  er  bildete  sich  endlich  ein,  nun  doch  nicht 
zu  wissen,  wie  Vrenchen  recht  genau  aussehe,  er  habe  wohl  ein  allge- 
meines Bild  von  ihr  im  Gedächtnis,  aber  wenn  er  sie  beschreiben 
sollte,  so  könnte  er  es  nicht    Er  sah  fortwährend  dies  Bild,  als  ob 

Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Konstwissensdiaft.  23 


354  IV.  DIE  WORTKUNST. 


es  vor  ihm  stände  und  fühlte  seinen  angenehmen  Eindruck,  und  doch 
sah  er  es  nur  wie  etwas,  das  man  eben  nur  einmal  gesehen,  in  dessen 
Gewalt  man  liegt  und  das  man  doch  nicht  kennt  Er  erinnerte  sich 
genau  der  Gesichtszuge,  welche  das  kleine  Dimchen  einst  gehabt,  mit 
großem  Wohlgefallen,  aber  nicht  eigentlich  derjenigen,  welche  er 
gestern  gesehen.  Hätte  er  Vrenchen  nie  wieder  zu  sehen  bekommen, 
so  hätten  sich  seine  Erinnerungskräfte  schon  behelfen  müssen,  und 
das  liebe  Gesicht  säuberiich  wieder  zusammengetragen,  daß  nicht  ein 
Zug  daran  fehlte.  Jetzt  aber  versagten  sie  schlau  und  hartnäckig  ihren 
Dienst,  weil  die  Augen  nach  ihrem  Recht  und  ihrer  Lust  verlangten . . .« 

Vielleicht  sollte  man  den  Zweifel  noch  weiter  treiben  als  hier  ge- 
schehen ist.  Allein  wir  brauchen  nicht  alle  Feinheiten  zu  prüfen,  son- 
dern unseren  Zwecken  genügt  die  Einsicht,  daß  schon  die  Wahrneh- 
mung kein  zuverlässiges  und  lückenloses  Bewußtsein  alles  Wahrnehm- 
baren ist,  geschweige  denn  die  Erinnerung.  Wenn  ich  den  Federhalter 
in  meiner  Rechten  aufmerksam  und  lange  betrachtet  habe,  alsdann  die 
Augen  schließe  und  nun  sogleich  sein  Spiegelbild  in  mir  zu  wecken 
suche,  so  erhalte  ich  ein  verschwommenes,  immerfort  zerrinnendes 
und  doch  unverwechselbares  Bild.  In  diese  Nacht  des  anschaulichen, 
wortlosen  Erinnems  fällt  etwas  Licht,  sobald  der  Sprache  die  Eingangs- 
pforte geöffnet  wird.  Ich  sage  mir:  rechts  an  der  Spitze  waren  einige 
Flecken,  in  der  Mitte  bog  die  Linie  nach  links  aus  —  und  indem  ich 
so  das  vorher  Betrachtete  mit  Worten  auseinander  l^e,  erleichtere 
ich  mir  das  Auftreten  der  Einzelheiten  in  sinnlicher  Form.  Von  einer 
zureichenden  anschaulichen  Vorstellung  des  Ganzen  bleibe  !ch  freilich 
entfernt  genug. 

In  die  reine  Anschauung  ist  damit  etwas  Neues  eingetreten.  Man 
pflegt  diese  Mitwirkung  der  Sprache  als  eine  b^jiffliche  Zutat  unter 
den  Gesichtspunkten  der  Logik  abzuhandeln,  sofern  man  es  nicht  bei 
der  psychologischen  Untersuchung  bewenden  läßt  Indessen  auch  für 
uns  erhält  der  Vorgang  einen  Wert  Es  scheint  doch  aus  ihm  her- 
vorzugehen, daß  die  Sprache  eine  ähnliche  Bedeutung  hat  wie  sie  das 
Zeichnen  als  Hilfsmittel  für  ein  genaues  Sehen  und  Erinnern  besitzt 
Menschen,  die  für  die  bildende  Kunst  veranlagt  sind,  bringen  sich  ein 
Ding  oder  ein  Geschehnis  dadurch  zu  deutlichem  Bewußtsein,  daß 
sie  es  zeichnen:  mit  jedem  Strich  wächst  ihnen  die  Klarheit  ihrer  Er- 
innerung. Personen,  deren  Neigung  und  Verständnis  der  Poesie  zu- 
gehört, fassen  die  Bestimmtheit  des  Wirklichen,  indem  sie  es  auszu- 
sprechen bemüht  sind.  Ohne  Wortvorstellungen  vermögen  sie  weder 
scharf  zu  beobachten  noch  treulich  zu  erinnern.  Die  geistige  Kraft 
der  Sprache  muß  ihnen  die  Sinnenwelt  erschließen.  Nun  li^  es  in 
der  —  fürs  Denken  unnachahmlichen  —  Verkettung  aller  Wirklichkeit, 


DIK  ANSiUAri.ICHKKIT  DKR  SI'RACHK.  355 

dali  umgekehrt  die  sinnliche  Seite  der  Sprache  wiederum  die  Geistes- 
weit  öffnen  kann.  Es  sind  die  Laute  der  Sprache,  selbst  ihre  Schrift- 
zeichen, aus  denen  das  Verständnis  des  Innerlichsten  seine  Nahrung 
zieht.  Wir  alle  wissen,  wie  sehr  die  geistige  Tätigkeit  von  den  Sinnes- 
eindrücken  unserer  Umgebung  abhangt.  Ein  gewohntes  Geräusch, 
der  Anblick  bestimmter,  gleichbleibender  Gegenstände,  kurz  die  Ver- 
knüpfung des  schaffenden  Geistes  mit  vertrauten  und  verständlichen 
Wahmehmungsreizen  fördert  ihn  in  seiner  Arbeit.  Wenn  beim  Dichter 
ein  enger  Zusammenhang  des  Schaffens  mit  dem  Aussehen  und  Klang 
der  Worte  besteht,  so  bedeutet  das  nur  die  Zuspitzung  jenes  breiteren 
Tatbestandes.  Im  Grunde  ist  die  Anregungskraft  des  Wortklanges 
oder  -bildes  die  gleiche  wie  die  Anregungskraft  einer  beliebigen  An- 
schauung und  nur  deshalb  um  so  viel  stärker,  weil  die  Assoziation 
zwischen  Wort  und  Gedanken  fester  und  unendlich  eingeschränkter  ist. 

Man  darf  demnach  sagen,  daii  die  Sprache  eine  doppelte  Verrich- 
tung erfüllt:  durch  das  Geistige  in  ihr  wird  die  Sinnenwelt,  durch  das 
Sinnliche  in  ihr  wird  die  Geisteswelt  bewegt  und  erleuchtet  Indessen 
gilt  beides  nur  innerhalb  einer  Grenzlinie.  Wo  sie  liegt,  läiit  sich  am 
einfachsten  für  die  erste  jener  beiden  Funktionen  zeigen  und  ist  zum 
guten  Teil  schon  in  Fiedlers  Schriften  Ober  Kunst«  und  in  Mauthners 
Kritik  der  Sprache    dargelegt  worden. 

Das  Auge  gewinnt  Anregungen  von  außen  her,  die  es  zu  Formen 
und  Farben  gestaltet;  eine  neue  Welt  entnimmt  sich  das  Ohr.  Diese 
beiden  Reiche,  das  des  Sichtbaren  und  das  des  Hörbaren,  haben  ver- 
schiedene Inhalte  und  verschiedene  Gesetze.  Nicht  die  Wirklichkeit 
schlechthin  offenbart  sich  dem  einen  oder  dem  anderen  Sinn,  sondern 
jeder  gestaltet  durch  Auswahl  sich  eine  eigene  Wirklichkeit.  Ganz 
so  verhält  es  sich  mit  der  Sprache.  Sie  ist  weder  die  Fortsetzung 
der  optischen  noch  die  der  akustischen  Welt,  vielmehr  eine  Welt  für 
sich,  die  zwar  Verbindungen  mit  jenen  Besitzformen  eingehen,  jedoch 
nie  in  deren  Verlängerungslinie  liegen  kann.  Wir  vermögen  die  Wahr- 
ni'hnuing  einer  Farbe,  eines  Klanges  bis  zur  höchsten  Schärfe  zu 
steigern,  ohne  dali  eine  Benennung  sich  einstellt  Oder,  um  das 
frühere  Beispiel  richtig  einzuschränken:  die  Unbestimmtheit  sinnlicher 
Oedächtnisvorstellungen  wird  dadurch  nicht  eigentlich  behoben,  daB 
man  sie  in  Worte  überführt,  denn  die  Worte  vernichten  ja  zugleich 
die  Eigentümlichkeit  jener  Vorstellungen.  Sinnliche  Vorstellungen 
konru'n  den  Wortvorstellungen  vorangehen  (oder  ihnen  folgen),  aber 
niemals  zu  Bestandteilen  von  ihnen  werden.  Nur  durch  das  unab- 
las>ige  und  überaus  schnelle  Zusammenwirken  beider  Sphären  entsteht 
der  Anschein  ihrer  Gleichartigkeit.  Ich  sehe  eine  gleichmäßig  rote 
Fläche  und  sage:  das  ist  rot')-    Zwischen  der  Oesichtswahmehmung 


356  IV.  DIE  WORTKUNST. 


und  dem  sprachlichen  Ausdruck,  zwischen  dem  wirklich  Empfundenen 
und  dem  Urteil  besteht  keine  auffaBbare  Ähnlichkeit  Dennoch  ge- 
hören sie  eng  zusammen.  Sonach  fragt  sich,  wie  diese  Zusammen- 
gehörigkeit zu  verstehen  sei.  Wie  kommt  es,  daß  die  Welt  der  Worte, 
obwohl  unabhängig,  ja  künstlich  und  konventionell,  dennoch  sich  mit 
dem  sinnlichen  Sein  in  einem  gewissen  Umfange  zu  decken  scheint? 
Man  kann  die  Frage  auf  ein  allgemeineres  Problem  zurückschieben, 
nämlich  auf  das  Verhältnis  von  Natur  und  Geist  überhaupt  Aber 
wollte  ich  hier  die  von  Schelling  so  genannte  Tendenz  der  Natur 
»aufs  Intelligente  zu  kommen«  einer  metaphysischen  Erörterung  unter- 
werfen, ich  käme  mir  vor  wie  jemand,  der  ein  Bächlein  durchfahren 
soll  und  sich  zwischendurch  aufs  hohe  Meer  wagt.  So  muß  dem- 
nach mit  bescheideneren  Mitteln  vorg^angen  werden.  Und  zwar  zu- 
nächst mit  der  einfachen,  übrigens  längst  anerkannten  Erwägung,  daß 
Worte  und  Sätze  für  das  Bewußtsein  des  Sprechenden  zumeist  sich 
auf  einzelne  anschauliche  Gegenstände  oder  Vorgänge  beziehen.  Bei 
einer  Aussage  sind  wir  uns  gewöhnlich  dessen  nicht  bewußt,  daß  sie 
sich  auch  auf  anderes  anwenden  läßt  als  auf  das  Besondere,  woran 
wir  gerade  denken.  »Im  Anfang  seiner  Bedeutungsentwickelung  kann 
daher  das  Wort  immer  nur  einem  individuellen,  durch  Gliederung 
irgend  einer  sinnlichen  Gesamtvorstellung  entstandenen  B^jiff  als  sein 
lautliches  Äquivalent  entsprechen.«  (Wundt,  Völkerpsych.  I,  2,  S.  456.) 
Dieser  individuelle  Begriff  und  der  ihm  entsprechende  Name  treffen 
ihren  Gegenstand  in  der  Regel  nur  an  einem  Punkte,  nämlich  an  dem, 
der  —  wegen  der  sogenannten  Enge  der  Apperzeption  —  am  deut- 
lichsten aufgefaßt  worden  ist.  Die  Möglichkeit  aber,  überhaupt  Gegen- 
stand oder  Eigenschaft  oder  Zustand  zu  treffen,  all  in  ihrer  sinnlichen 
Beschaffenheit,  erklärt  man  gegenwärtig  daraus,  daß  der  ursprüngliche 
Sprachlaut  eine  Lautgebärde  und  demgemäß  gleich  anderen  Gebärden 
die  Äußerung  des  vom  Objekt  gewonnenen  Eindrucks  sein  soll.  Eine 
unzweideutige  Beziehung  zwischen  Laut  und  Bedeutung  fällt  damit 
fort.    (Wundt,  a.  a.  O.  607.) 

Aus  allem  dem  scheint  mir  folgendes  sich  zu  ergeben:  Die  Worte 
haben  anfänglich  und  vielfach  auch  in  ihrer  späteren  Entwickelung  und 
Verwendung  je  einen  ganz  bestimmten,  auf  einzelnes  bezüglichen 
Sinn;  sie  geben  einen  anschaulichen  Eindruck  oder  eine  anschauliche 
Vorstellung  wieder,  so,  wie  mimische  Bew^^ngen  überhaupt  dazu 
im  Stande  sind.  Was,  metaphysisch  betrachtet,  die  Erhebung  der 
Natur  zum  Geiste  ist,  das  stellt  sich,  psychologisch  angesehen,  als 
Umsetzung  einer  sinnlichen  Vorstellung  in  eine  (Laut-)Gebärde  dar. 
Sobald  diese  Umsetzung  erfolgt  ist,  hört  auch  die  Wirksamkeit  der 
sinnlichen  Vorstellung  auf:  an  ihre  Statt  ist  nun  eben  etwas  anderes 


DIE  ANSaiAUUCHKEIT  DER  SPRACHE.  357 

getreten,  wovon  wir  gleichfiüls  ein  Bewußtsein  hibea  Nicht  jede 
Anschauung  lIBt  sich  so  umbilden,  daß  sie  eines  wörtlichen  Ausdrucks 
fähig  wird,  der  den  Redenden  befriedigt  und  dem  Hörenden  verstind* 
lieh  ist;  schon  wenn  wir  die  Sprache  als  Verkehrsmittel  gebrauchen, 
beobachten  wir  doch  manchmal,  wie  famge  an  einer  Anschauung  ge- 
formt werden  muB,  bis  wir  irgend  dn  Wort  —  noch  keineswegs  das 
beste  —  dafür  finden.  Grundfalsch  ist  demnach  die  mechanistische 
Auffassung:  jeder  beliebige  anschauliche  BewuBtsdnsinhaH  ziehe  durch 
Assoziation  das  entsprechende  Wort  hert>eL  Denn  dne  assoziative 
Verkoppelung  zwder  unverinderlichen  Vorstdiungcn  liBt  sich  fai  den 
Tatsachen  nicht  nachwdsen. 

Doch  dien  wir  zu  den  Dingen,  die  uns  hier  wichtiger  sind  Zu- 
nächst  und  zumeist  dient  die  Sprache  als  Verkehrsmittd.  Fragt  man, 
wodurch  sie  zur  Aiisdrucksform  dner  Kunst  geworden  ist,  so  erhilt 
man  von  der  alteren  Poetik  zwd  Antworten.  Die  dne  wdst  darauf 
hin,  daß  die  Sprache,  in  der  fast  alles  mitgetdit  werden  kann,  der  ihrer 
skh  bedienenden  Kunst  den  rekhsten  Inhalt  gewihrldsteL  Die  andere 
beruft  skh  darauf,  daß  die  Dichtkunst  ihre  dgene  Sprache  habe,  dne 
konkrete,  in  OefOhl  und  Anschauung  wurzelnde,  in  Biklem  und  Rhyth* 
men  lebende  Sprache  Man  sagt  uns  also,  die  poetische  Sprache 
wende  skh  an  die  Einbildungskraft  und  das  OdOhl;  ihr  Stoff  sden 
äußere  und  innere  Vorginge;  ihr  höchstes  Streben  gehe  auf  Anschau* 
lichkdt;  hingegen  habe  es  der  Oedankenstil  mit  Ansichten  und  Ur- 
teilen, mit  Klarhdt  und  scharfem  Unterschdden  zu  tun;  dort  herrsche 
der  Rhythmus,  hier  die  Logik.  Ich  fürchte,  diese  Theorie  flbersieht, 
wieviel  nicht  Anschauliches  und  nkht  Odflhlsmißiges  in  allen  größeren 
Werken  der  Poesie  zum  Ausdruck  dringt  Sie  macht  femer  dne  zu 
einfache  und  zu  derbe  Unterschddung.  In  viden  Beziehungen  bleibt 
die  Redeweise  des  Dkhters  die  des  täglichen  Verkehrs  und  der  wissen- 
schaftlichen Darstellung.  Und  umgekehrt:  wo  zum  Zwedc  der  Ver- 
ständigung gesprochen  wird,  werden  oft  Figuren  und  Formen  ver- 
wendet -  man  denke  an  die  namentlich  bd  Frauen  so  bdiebte  Hy- 
perbel ,  die  der  Dichter  zu  Kunstzwecken  gebraucht  Schließlkh 
ist  etwas  ganz  Wesentikhes  in  jener  Auftessung  flbersehen,  wovon 
bereits  die  Rede  war.  Die  isthetische  Stdiung  der  Sprache  ist  nicht 
die,  daß  sie  einen  fertigen  Seelenvorgang  in  bestimmter  Art  ausdrucke; 
sondern  daß  sie  skh  als  sdbstfitige  Macht  im  kflnstlerischen  Schaffen 
erweise.  Hdnrich  von  KIdst  mag  aus  eigener  Erfahrung  gesprochen 
haben,  als  er  sagte:  Vidie  vient  en  partant 

Aber  nicht  nur  um  dk  Sprache  als  Mittd  der  BewuBtsdnsste|ge- 
runf;,  als  Förderin  der  OedankenbiMung  und  Sdbstdnsicht  handelt  es 
skh  hier.    Nach  der  herrschenden  Ansteht  dient  die  Sprache  ledigUch 


358  IV.  DIE  WORTKUNST. 


dazu,  daß  Bilder,  die  im  Geist  des  Dichters  entstanden  waren,  in  den 
Geist  eines  anderen  übergeführt  werden  können.  Während  etwa  die 
Malerei  von  der  Farbe  abhängig  ist  und  bleibt,  sei  die  Dichtkunst 
nicht  in  gleicher  Weise  an  die  Sprachlaute  gebunden,  an  diese  bloßen 
»Vehikel«  oder  Mittel  der  »Zuführung«  von  Phantasiebildem.  Eduard 
von  Hartmann  behauptet,  »daß  es  nur  der  Wortsinn  ist,  von  welchem 
die  poetische  Wirkung  als  solche  abhängt,  nicht  die  schöne  Sprache 
und  deren  schöner  Vortrag;  wo  die  Wirkung  durch  die  beiden  letzteren 
verstärkt  wird,  haben  wir  es  mit  dem  Hinzutreten  einer  außerpoetischen 
ästhetischen  Wirkung  zu  der  poetischen,  also  mit  der  zusammen- 
gesetzten Wirkung  eines  aus  mehreren  Künsten  zusammengesetzten 
Kunstwerkes  zu  tun  . . .«  (Phil,  des  Schönen  S.  715—716.)  Und  der 
Wortsinn  erschließe  sich  in  der  Dichtkunst  von  der  Seite  der  An- 
schauung. Deshalb  müsse  der  Dichter  auf  die  Grundbedeutung  der 
Worte  zurückgehen  und  die  Worte  so  miteinander  verbinden,  daß  die 
in  jedem  Einzelwort  verschlossen  liegenden  Anschauungen  sich  er- 
gänzen und  steigern.  Es  soll  in  der  Poesie  ein  Maximum  der  An- 
schaulichkeit erreicht  werden.  Die  Sprache  ist  nur  das  technische 
Hilfsmittel  für  das  Entstehen  des  Phantasiescheins,  als  in  welchem 
der  ideale  Gehalt  des  Kunstwerks  lebt  Nicht  ein  Wahmehmungs- 
schein,  sondern  der  sprachlich  festgelegte  Phantasieschein  gilt  dieser 
Ästhetik  als  die  konkrete  Erscheinungsform  der  Poesie:  das  Wort  ist 
zwar  unentbehrlich,  wird  aber  in  jenem  Schein  zum  aufgehobenen 
Moment 

Diese  Theorie  ist  allmählich  umgebogen  worden.  Am  entschie- 
densten hat  Th.  A.  Meyer  in  seinem  Buch  »Das  Stilgesetz  der  Poesiec 
die  Ansicht  vertreten,  daß  die  Sprache  das  Darstellungsmittel  der  Poesie 
ist  »Denn  nicht  in  Sinnenbildem,  die  durch  die  Sprache  suggeriert 
wären,  sondern  in  der  Sprache  selber  und  in  den  durch  sie  geschaf- 
fenen, ihr  allein  eigentümlichen  Gebilden  bekämen  wir  den  Gehaitc 
(S.  8.)  Die  Poesie  sei  ungeeignet  für  die  Veranschaulichung,  durch  die 
Rede  würden  der  Regel  nach  keine  Wahmehmungsbilder  ausgelöst; 
demnach  seien  die  Worte  und  Gedanken  der  Sprache  selber  das  Dar- 
stellungsmittel der  Dichtkunst  Durch  diese  Auffassung  wird  es  mög- 
lich, die  Poesie  nach  den  Grundsätzen  zu  erklären,  die  sich  gegen- 
wärtig für  die  anderen  Künste  durchzusetzen  beginnen.  Wir  begreifen 
jetzt  die  Sonderart  jeder  Kunst  aus  dem  kennzeichnenden  und  die  Ge- 
staltung bedingenden  Mittel.  Wie  man  gern  von  Tonkunst  und  neuer- 
dings auch  von  Raumkunst  spricht,  so  sollte  man  statt  Dichtkunst 
lieber  Wortkunst  sagen.  Denn  so  wie  das  Tongefühl  von  der  Musik, 
das.  Raumgefühl  von  der  Architektur  err^  wird,  ähnlich  so  das 
Sprachgefühl   von  der  Wortkunst    Die  Absicht  der  Poesie  ist  der 


DIK  ANSiHAriJCUKMT  DKR  STÄCHE.  350 

Oenuti  durch  Worte  (manche  Neuere  meinen  sogar:  der  Oenuß  am 
Worte),  und  das  Könstlertum  eines  Dichters  (manche  Neuere  meinen 
sogar:  die  Weltanschauung  eines  Dichters)  besteht  in  der  Macht  Ober 
die  Sprache.  Der  Sinn  und  die  Sprache  gehören  hier  so  eng  zu- 
sammen wie  Sinn  und  Klang  in  der  Musik:  die  Sprache  stellt  nicht 
nur  etwas  Innerliches  dar,  sondern  stellt  auch  sich  selbst  dar. 

Es  muß  also  nochmals  auf  die  schon  (S.  16Q)  untersuchte  Frage 
zurückgegriffen  werden,  wie  des  Dichters  Kunstmittel,  die  Sprache, 
sich  zur  Veranschaulichung  verhält  und  ob  die  davon  ausgelöste  Ge- 
fühlswirkung der  zwischentretenden  sinnlichen  Phantasiebilder  bedarf. 
Allerhand  Fälle  sind  ja  möglich.  Man  könnte  denken,  daß  an  die 
Worte  als  solche,  ohne  daß  sie  zum  Entstehen  sinnlicher  Vorstellungen 
führen,  nur  vorgestellte  Gefühle  sich  knüpfen:  eine  schattenhafte  Freude, 
ein  blasser  Zorn,  und  daß  ein  wirkliches  Gefühl  erst  auf  Grund  opti- 
scher, motorischer,  akustischer  Sinnesvorstellungen  eintritt.  Je  nach- 
dem man  nun  glaubt,  mit  vorgestellten  Gefühlen  auskommen  zu  können, 
oder  wirkliche  Gefühle  verlangt,  wird  man  die  bloßen  Wortgebilde  als 
zureichend  oder  unzureichend  bezeichnen.  Wie  man  sich  auch  ent- 
scheide: diese  Fragestellung  mit  ihrem  einfachen  entweder  oder 
müßte  zu  einer  vorschnellen  Antwort  verleiten.  Denn  die  f^oesie  er- 
zeugt zweifellos  die  Gefühle  beider  Arten.  Es  fragt  sich  nur,  was  man 
als  das  Spezifische  ansehe.  Denken  wir  uns  den  Zorn  durch  Be- 
schreibung des  Aussehens  verdeutlicht  und  nehmen  wir  an,  daß  der 
eine  mitfühlende  Leser  einen  vorgestellten,  der  andre  einen  realen  Zorn 
in  sich  empfinde.  Hier  wird  wohl  vom  Dichter  das  Auftreten  der 
entsprechenden  Gesichtsvorstellungen  erwartet  (nicht  notwendigerweise 
er/ielt),  selbst  wenn  eres  nur  auf  das  Hervorrufen  schattenhafter  Gefühle 
angelegt  hat.  Aber  es  gibt  auch  eine  mittelbare')  Beschreibung.  Sie 
wählt  Sinnliches,  um  durch  sein  Verhältnis  zum  Gemütlichen  dieses  zu 
kennzeichnen,  wie  wenn  der  Dichter  jemand  von  der  Schönheit  seiner 
(jclichten  in  überschwenglichen  Schilderungen  sprechen  läßt,  damit 
seine  Liebe  dem  Leser  zum  Bewußtsein  gelange.  Der  Nachdruck  liegt 
dann  nicht  darauf,  daß  die  Nachbildung  der  gepriesenen  Schönheit 
vollzogen  werde,  sondern  daß  der  Seelenzustand  des  Helden  indirekt 
lebendig  und  zum  Inhalte  eines  mehr  oder  minder  lebhaften  Gefühles 
werde.    (Vgl.  Meyer,  Stilgesetz  S.  115.) 

Schon  aus  diesem  letzten  Beispiel  erhellt:  es  gibt  poetische  Schilde- 
rungen, bei  denen  es  nicht  auf  Versinnlichung  ankommt  und  dennoch 
der  Zweck  nämlich  meist  das  Nachfühlen  eines  Seelenzustandes  — 
erreicht  wird.  Bei  direkter  Beschreibung  treten  freilich  oft  genug  an- 
schauliche Vorstellungen  auf  und  ziehen  bestimmte  Gefühle  nach  sich. 
Indessen,  dadurch  wird  die  Poesie  noch  nicht  die  Kunst  des  Phantasie- 


360  rV.  DIE  WORTKUNST. 


Scheins.  Sie  wendet  sich  vielmehr  im  wesentlichen  an  unsere  sprach- 
liche Vorstellungstätigkeit:  das  Spezifische  ist  nicht  dies  Phantasiebild, 
sondern  sein  Ursprung  aus  der  Sprache.  Der  Beweis  li^  darin,  daß 
mindestens  die  sogenannten  vorgestellten,  vielleicht  aber  auch  die 
realsten  Gefühle  ohne  Anschauungstätigkeit  an  das  Wort  selber  sich 
anschließen.  Und  verständlich  kann  dies  daraus  werden,  daß  Worte 
einen  Ersatzwert  für  die  Wirklichkeit  besitzen,  daß  sie,  kunstgerecht 
zusammengestellt,  einen  Tatbestand  zu  vertreten  fähig  sind.  Unser 
seelisches  Leben  ist  so  eigentümlich  entwickelt,  daß  an  Worte  die- 
selben Folgen  sich  anschließen,  wie  an  das  Erleben  einer  Wirklich- 
keit, der  die  Worte  entsprechen;  ja,  es  gibt  Menschen,  bei  denen  der 
durch  die  Rede  hervorgerufene  Eindruck  stärker  ist  als  der  aus  der 
Realität  stammende  Eindruck.  So  wird  beispielsweise  die  tierische 
Sinnlichkeit  in  uns  durch  Beschreibungen,  selbst  nur  durch  einzelne 
Worte,  ebenso  leicht  erregt  wie  durch  den  Anblick  gewisser  Dinge 
und  Vorgänge.  Gefühle,  von  den  niedersten  bis  zu  den  höchsten, 
schließen  sich  nunmehr  direkt  an  die  Worte  an.  Wenn  Heine  aus 
dem  Balsamkraut  einen  »Leichenduft«  hervorsteigen  läßt,  so  entsteht 
bei  niemand  die  Geruchshalluzination,  sondern  der  Ausdruck  ist  des- 
halb künstlerisch  wirksam,  weil  das  Wort  für  sich  alle  seelischen  Er^ 
regungen,  die  an  die  Wahrnehmung  oder  ihre  Reproduktion  geknüpft 
wären,  sogleich  hervorruft.  Damach  braucht  die  Schilderung  eines 
Menschen  oder  einer  Gegend  keineswegs  optische  Vorstellungen  zu 
wecken  und  kann  doch  so  eindrucksvoll  sein  wie  ein  Gemälde. 
Metaphern  und  Allegorien  veriangen  nicht  unbedingt,  daß  tatsächlich 
verglichen  werde,  sondern  können  wie  Akkordfolgen  oder  Farben- 
harmonien auf  ein  empfängliches  Gemüt  einwirken.  War  vielldcht 
anfänglich  die  Wortwirkung  auf  das  Eintreten  einer  sinnlichen  Vor- 
stellung angewiesen,  so  ist  diese  bei  uns  nahezu  überflüssig  geworden: 
die  Sprache  hat  sich  zu  einer  Welt  verdichtet,  an  die  alle  seelischen 
Folgen  sich  ebenso  leicht  heften  wie  an  die  Welt  dort  draußen. 

Um  diese  Behauptung  zu  bekräftigen,  sei  vorerst  ein  ganz  ein- 
faches Beispiel  zu  Hilfe  genommen.  Beim  Worte  »Hunde  kann  ich 
ein  optisches,  beim  Wort  »Oboe«  ein  akustisches  Erinnerungsbild 
haben;  es  ist  aber  auch  möglich,  daß  sinnliche  Vorstellungen  anderer 
Sinnesmodalitäten  auftreten,  ich  also  beispielsweise  bei  »Hund«  inner- 
lich ein  Bellen  höre,  bei  »Oboe«  das  Instrument  mit  geistigem  Auge 
vor  mir  sehe.  Eine  notwendige  Bewußtseinsrepräsentation  der  einzelnen 
Worte  läßt  sich  nicht  nachweisen.  Man  prüfe  sich  daraufhin,  ob  etwas 
ganz  Festes  und  Gleichbleibendes  bei  der  Vorstellung  »Hund«  derart 
im  Bewußtsein  ist,  daß  es  deutlich  aufgefaßt  und  ang^eben  werden 
kann.    Die  logische  Begriffsbestimmung  fällt  nicht  mit  dem  psycho- 


I»IK  .\NS(  HAn.KIIKKIT  DKR  SPRAi  IIK.  361 

logischen  Bestand  zusammen:  was  sich  tatsächlich  in  uns  beobachten 
lältt,  ist  eine  sehr  schwankende  und  wechselnde  Tätigkeit.  Schon 
wenn  ich  Hund*  deutlich  und  wenn  ich  Hund^  undeutlich  vorstelle, 
sind  das  zwei  (;anz  verschiedene  I^ozesse,  die  dem  Gebrauch  desselben 
Wortes  zwar  keinen  Abbruch  tun,  in  ihm  aber  auch  nicht  hervortreten: 
der  VorstellunKsmÖKÜchkeiten  bleiben  sehr  viele.  Das  Zerstückeln  der 
ununterbrochenen  seelischen  Arbeit,  das  Herauslösen  von  logisch  be- 
stimmbaren und  sicher  umgrenzten  Einheiten,  das  Verselbständigen 
dieser  Einheiten  derart,  daß  sie  nun  als  Träger  jedes  seelischen  Vor- 
gangs erscheinen  -  dies  alles  mag  für  die  Zwecke  der  Wissenschaft 
unentbehrlich  sein,  gibt  aber  kein  der  inneren  Wirklichkeit  entsprechen* 
des  Bild.  Obgleich  also  bei  der  Apperzeption  eines  Wortes  vielerlei 
Einzelbilder  auftreten  können,  ist  nun  jedes  Wort  dennoch  ein  Inhalt, 
der  mit  keinem  andern  verwechselt  wird.  Das  ist  zum  Teil  darin  be- 
gründet, daß  die  Vorstellungsmöglichkeiten  immerhin  begrenzt  sind, 
zum  Teil  darin,  dali  wir  den  Begriffsinhalt  in  Urteilsform  auseinander- 
legen können.  Der  Bedeutendste  unter  den  Kunstphilosophen  von 
gestern,  Hippolyte  Taine,  hat  einmal  den  zweiten  Punkt  herausgehoben 
und  etwas  uberdeutlich  gesagt:  Es  ist  nicht  mehr  natürlich,  wenn 
wir  Maler  sind.  Sprechen  Sie  z.  B.  vor  einem  Modernen  das  Wort 
,Baiim'  aus;  er  wird  wissen,  daß  es  sich  weder  um  einen  Hund  noch 
um  einen  Hammel  noch  um  ein  Möbelstück  handelt;  er  wird  diese 
Bezeichnung  in  seinem  Kopf  in  einen  besonderen,  mit  einer  Aufschrift 
versehenen  Kasten  niederlegen;  das  ist  es,  was  wir  heute  «schauen* 
nennen.  Sicheriich  findet  in  der  Regel  ein  sinnliches  Nacherieben 
nicht  statt,  selbst  wenn  wie  in  der  neuesten  I^oesie  so  oft  ein 
markantes  Wort,  durch  Gedankenstriche  oder  Zeilenabstände  vereinzelt, 
mit  aller  Wucht  vor  den  Leser  hingestellt  wird.  Wir  erhalten  keinen 
Linpfindungs-,  sondern  bloß  einen  Wortbesitz.  Und  ganz  gewiß  steht 
die  Starke  des  ästhetischen  Eindrucks  in  keinem  Verhältnis  zum  etwa 
vorhandenen  anschaulichen  Bild,  denn  dies  pflegt  so  zart  und  undeut- 
lich /u  sein,  daß  eine  intensive  Erregung  dadurch  nicht  zu  stände 
kommen  kann. 

Nur  die  ersten  Anfänge  im  Leben  eines  Wortes  sind  wie  ein  Sonnen- 
blick. Da  ist  das  Wort  noch  frisch  und  kraftvoll,  unverblaßt  und 
unverbraucht;  da  wirkt  es  mit  seinem  ganzen  Inhalt  und  auf  jedermann. 
Aus  dieser  Einsicht  heraus  haben  Dichter  auf  die  ursprungikhen  Be- 
deutungen der  Worte,  auf  urwüchsige  Dialektformen  und  natüriiche 
Metaphern  zurückgegriffen.  Ich  fand  einmal  eine  Darstellung  H.  D.  Tho- 
rcaus  erwähnt,  die  noch  dazu  ein  Musterbeispiel  heißen  kann:   >Der 

wäre  ein  Dichter,  der  die Wörter  zu  ihrem  ursprünglichen  Sinn 

/urückbefestigen  könnte,  so  wie  der  Landmann  im  Frühling  Zaunpflhle, 


362  rv.  DIE  WORTKUNST. 


die  der  Winterfrost  gehoben  hat,  in  den  Boden  zurückschlägt;  bei  dem 
man  im  Gebrauch  der  Wörter  sofort  deren  Herkunft  und  Ableitung 
verspürt;  der  sie  auf  die  Seite  seines  Buches  verpflanzt  mitsamt  der 
Erde,  die  noch  an  ihren  Wurzeln  hangt . . .«  Das  ist  schön  gesagt, 
bedeutet  aber  eine  unerfüllbare  Forderung.  Denn  welcher  durch- 
schnittliche Leser  hat  ein  solches  Wurzelgefühl?  Auch  der  poetische 
Wert  altertümlicher  Ausdrücke  liegt  nicht  in  der  Anschaulichkeit,  denn 
diese  pflegt  gerade  bei  ihnen  recht  schwach  zu  sein.  Vielmehr  erfahren 
wir  durch  sie  eine  rein  sprachliche  Gefühlswirkung.  Um  sie  zu  ver- 
stehen, vergegenwärtige  man  sich  die  lautsymbolische  Bedeutung  und 
überlieferte  Kraft  der  Eigennamen.  Es  gibt  Namen,  die  wie  eine  Fanfare 
dem  Ruhm  des  Trägers  vorausschallen  (»Sarasate«),  andere,  die  komisch 
klingen  (»Bemperlein«),  andere  wiederum,  die  vornehm,  gleichgültig, 
schwer  merkbar  u.  s.  w.  sind.  Goethe  hat  recht,  wenn  er  in  »Wahr- 
heit und  Dichtung«  von  den  Vornamen  bemerkt:  »Auch  der  Trid>, 
sein  Kind  durch  einen  wohlklingenden  Namen,  wenn  er  auch  sonst 
nichts  weiter  hinter  sich  hätte,  zu  adeln,  ist  löblich,  und  diese  Ver- 
knüpfung einer  eingebildeten  Welt  mit  der  wirklichen  verbreitet  sogar 
über  das  ganze  Leben  der  Person  einen  anmutigen  Schimmer.«  Ich 
frage  nun:  hat  das  irgend  etwas  mit  der  von  der  älteren  Poetik  ver- 
langten optischen  Anschauung  zu  tun?  Nein,  vielmehr  haftet  die  Ge- 
fühlswirkung am  Klang,  an  tausend  Assoziationen  und  Beziehungen, 
die,  fernab  von  aller  Wirklichkeit,  lediglich  innerhalb  des  sprachlichen 
Kosmos  auftreten. 

Mit  der  Metapher  ist  es  folgendermaßen  bestellt  Lautmetapher 
heißt  eine  »Beziehung  des  Sprachlauts  zu  seiner  Bedeutung,  die  sich 
dadurch  dem  Bewußtsein  aufdrängt,  daß  der  Gefühlston  des  Lautes 
dem  an  die  bezeichnete  Vorstellung  gebundenen  Gefühl  verwandt  isLc 
(Wundt,  Völkerpsych.  I,  1,  S.  326.)  Worte  mit  dumpfen  oder  hellen 
Vokalen,  gewählt,  um  dumpfen  Schmerz  oder  helle  Freude  auszudrücken, 
wären  hierher  zu  rechnen,  aber  auch  —  wie  Wundt  mit  einem  Beispiel 
wohl  andeuten  will  —  solche  Wortgefüge,  deren  Rhythmus  einer  zu 
schildernden  wirklichen  Bewegung  entspricht.  In  jenem  Fall  wird  man 
nur  von  mittelbarer,  in  diesem  Fall  unumwunden  von  Anschaulichkat 
sprechen  können.  Aber  die  eigentliche  Metapher  als  Anschauungs- 
steigerung zu  bezeichnen,  wie  es  geschieht,  liegt  ein  zwingender  Grund 
kaum  vor.  Wenn  der  Dichter  die  Körperwelt  beseelt  und  das  Seelische 
verkörpert,  so  entspringt  das  nicht  aus  einer  besonders  starken  An- 
schauungskraft, sondern  daraus,  daß  unsere  arme  Sprache  Seelisches 
selten  anders  als  in  Bezeichnungen  aus  der  Sinneswelt  ausdrücken 
und  dann  wieder  das  Körperliche  nicht  anders  als  mit  Worten  aus 
dem  Vorstellungsleben   benennen  kann  (s.  S.  88).    Die  Metapho-  ist 


Jk 


IHK  ANSCHAriJCUKKIT  DKR  SPRACIIh;  363 

aus  dem  Grunde  kein  Zierat,  sondern  eine  Grundform  der  Poesie, 
weil  sie  tief  im  Wesen  der  Sprache  wurzelt*). 

Über  die  anschauunKserzeugende  Kraft  der  einzelnen  Worte  wlre 
also  zu  sa^en:  sie  ist  im  allgemeinen  recht  schwach  und  niemals  ein- 
deutig bestimmt.  Aus  der  Tatsache,  daß  neuK:eprä{i[te  Worte  leichter 
Sinnesvorstellungen  wecken,  darf  man  nicht  schließen,  daß  beim  Zurück- 
greifen auf  ursprungliche  Bedeutungen,  altertümliche  und  dialektische 
Worte  sowie  Metaphern  eine  stärkere  Anschaulichkeit  Zweck  und  Folge 
sei;  denn  in  allen  diesen  Fällen  steht  es  anders.  Was  geschieht 
nun,  wenn  Worte  zu  einem  Gefuge  vereinigt  werden?  Indem  die 
Worte  zu  Sätzen  (und  diese  zu  höheren  Einheiten)  zusammentreten, 
entstehen  Beziehungen  zwischen  ihnen,  durch  die  sie  an  Bestimmtheit 
und  auch  an  Anschauungskraft  gewinnen.  Jeder  Satz  bildet  eine  Einheit. 
Daß  er  in  der  Zeit  abrollt,  hindert  nicht  seine  völlige  Vereinheitlichung 
im  Bewußtsein.  Denn  der  ganze  Umfang  des  darin  Geschilderten 
wird  aufgefaßt,  mag  auch  nach  der  Folge  der  Wörter  diese  oder  jene 
Vorstellung  zeitweilig  deutlicher  hervortreten.  Und  das  Ganze  wirkt 
auf  die  Teile  ein.  Diese  sind  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  keine  um- 
grenzten Vorstellungen  mit  festem  Inhalt,  sondern  fugen  sich  in  Bedeu- 
tung und  Bewertung  dem  Zusammenhang,  in  dem  sie  sich  befinden. 
Des  Dichters  Kunst  besteht  nun  darin,  die  Worte  so  einzuengen  und 
zu  heben,  daß  gerade  diejenigen  ihrer  Seiten  erfaßt  werden,  auf  die  es 
im  Interesse  der  Wirkung  ankommt.  Wie  für  das  begriffliche  Denken 
die  wesentlichen  Merkmale  eines  Begriffs,  die  keineswegs  immer  die- 
selben bleiben,  erst  durch  den  jeweiligen  Zweck  der  Begriffsbildung 
bestimmt  werden,  so  sind  die  wirksamen  Momente  in  den  Worten 
des  Dichters  durch  den  kunstvoll  geschaffenen  Zusammenhang  bedingt 
Der  synthetische  Charakter  aller  Kunst  bringt  es  mit  sich,  daß  wir 
solche  poetischen  Beschreibungen  als  lebendig  empfinden,  die  zu  einer 
unreflektierten  Einheit  zusammengehen.  Die  künstlerische  Wahrheit 
einer  Beschreil)ung  besteht  nicht  in  der  Übereinstimmung  mit  der  Wirk- 
liclikeit,  nicht  in  der  anschaulichen  Nachbildung  aller  Einzelvorstellungen 
nach  ihrer  Reihenfolge,  sondern  in  der  vorliegrifflichen  Einheit  eines 
sich  gliedernden  und  bedingenden  Vorstellens. 

Dem  Inhalte  nach  läßt  sich  diese  Einheit  nur  schwer  im  allgemeinen 
bestimmen.  Das  wichtigste  ist  wohl,  daß  der  Dichter  vor  dem  bilden- 
den Künstler  die  Möglichkeit  voraus  hat,  alle  inneren  Gründe  und 
wirkenden  Ursachen  sowie  die  seelischen  Folgen  und  äußeren  Wir- 
kungen eines  Geschehens  darzulegen,  und  zwar  mit  einer  Feinheit  und 
Genauigkeit,  die  eben  nur  das  Wort  gewähren  kann.  Der  so  ent- 
stehende Zusammenhang  ist  weder  mit  dem  logischen,  noch  mit  dem 
wirklichen  gleichzusetzen.    Die  syllogistische  Verknüpfung  dreier  Ur- 


364  IV.  DIE  WORTKUNST. 


teile  kann  durch  kahle  Buchstaben  dargestellt,  ja  sogar  durch  eine  Art 
Rechenmaschine  vorgenommen  werden;  der  Dichter  ist  auf  die  kunst* 
volle  Verwendung  der  Sprache  angewiesen.  Während  im  Leben  alles 
sinnvolle  Zusammensein  und  Auseinanderfolgen  vom  Zufall  durch- 
kreuzt wird,  oder  Kleinigkeiten  und  Unsinnigkeiten  als  Bindeglieder 
auftreten,  schafft  der  Künstler  einen  reinlichen  Zusammenhang  dessen, 
was  ihm  wesentlich  erscheint  und  die  Stimmung  unmittelbar  übertragt. 
Daraus  gewinnen  die  Leser  jenes  erhöhte  Kraftgefühl,  das  die  Wirk- 
lichkeit zumeist  versagt.  Verstärkt  wird  es  dadurch,  daß  die  Wort- 
kunst dem  Genießenden  Spielraum  läßt,  denn  er  ist  kein  passiv  Auf- 
nehmender, sondern  einer,  der  auch  tätig  gestaltet,  der  den  Anweisungen 
der  Worte  in  seiner  besonderen  Art  folgen  kann.  Bereits  E.  v.  Hart- 
mann hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  Phantasie  des  Hörers  unvermerkt 
aus  dem  Eigenen  Ergänzungen  hinzufügt,  z.  B.  die  Landschaft  ausmalt, 
in  der  die  Handlung  spielt,  vorausgesetzt,  »daß  die  vom  Dichter  unbe- 
stimmt gelassenen  Ausführungen  in  ihrer  näheren  Beschaffenheit  un- 
wesentlich für  die  poetische  Wirkung  der  Handlung  sind«  (a.  a.  O. 
S.  717).  Man  muß  sogar  noch  weitergehen  und  sagen:  sehr  lebhafte 
Vorstellungen  heften  sich  an  das  Gehörte  oder  Gelesene  auf  Grund 
von  eigenen  Erfahrungen,  die  mit  der  Beschreibung  des  Dichters  nur 
durch  eine  gewisse  Ähnlichkeit  verbunden  sind.  Eine  genaue  Auf- 
fassung des  Dichterwortes  wird  natürlich  dadurch  erschwert,  daß  mir 
ähnliche  Landschaften  oder  Häuser  oder  Menschen  einfallen  (nicht  selten 
auch  Gemälde  oder  Bühnenszenen),  aber  die  Versinnlichung  wird  leichter 
und  stärker.  Eine  Aufzählung  von  Beispielen,  sowie  die  genauere 
psychologische  Untersuchung,  wie  weit  die  Ähnlichkeit  geht,  würde 
wenig  Wert  haben.  Der  Vorgang  ist  meist  der,  daß  ein  paar  Worte, 
irgendwelche  Einzelheiten,  uns  zu  einer  willkürlichen,  auf  persönlicher 
Erinnerung  beruhenden  Gestaltung  Anlaß  geben. 

Demnach  bleibt  die  Bestimmtheit,  die  durch  sprachliche  Beschrei- 
bung erreicht  werden  kann,  stets  hinter  der  Genauigkeit  einer  bildlichen 
Wiedergabe  zurück:  denn  selbst  die  gehäuftesten  Schilderungen  er- 
reichen niemals,  daß  der  Genießende  genau  die  gleiche  Vorstellung 
nachbildet,  die  der  Dichter  gehabt  hat  In  der  1887  geschriebenen  und 
Le  Roman  betitelten  Vorrede  zu  Pierre  et  Jean  erzählt  Maupassant, 
was  Flaubert  ihn  gelehrt  hat  Das  Geringste  enthalte  etwas  Unbe- 
kanntes und  Eigentümliches,  wodurch  es  sich  von  allen  ähnlichen 
Gegenständen  unterscheide;  um  diese  Nuance  zu  fassen,  bedürfe  der 
Dichter  einer  hellseherischen  Erkenntnis  für  alle  Wertunterschiede,  die 
die  Worte  je  nach  ihrem  Platz  gewinnen.  >//  meforgait  ä  exprimer,  en 
quelques  phraseSy  un  etre  ou  un  objet  de  maniere  ä  le  particulariser 
nettement Quelle  que  soit  la  chose  qu'on  veut  dire,  U  n'y  a  gu^an 


lUK  ANS('IIAIIIJCHKKIT  DKR  SPRACHK,  365 

mot  pour  rexprimer,  qu'un  vcrbe  pourVanimer  et  qu'un  adjcctif  pour 
la  qualifier,''  Diese  Anweisung  muß  so,  wie  K<^zeigt  wurde,  ergänzt 
und  berichtigt  werden.  Außerdem  aber  •  und  zum  OIQcke  -  steht 
ihr  die  Vieldeutigkeit  selbst  der  genauesten  sprachlichen  Darlegung 
entgegen,  sofern  diese  künstlerisch  bleibt  Allen  wahrhaft  poetischen 
Beschreibungen  eignet  jenes  Schwebende,  Unbestimmte,  das  wir  jetzt 
so  lebhaft  als  notwendigen  Bestandteil  des  Kunstlerischen  empfinden« 
Was  die  gute  Malerei  durch  Auflösung  der  Umrisse,  durch  dämmernde 
Farbenübergänge  mühsam  erreicht,  das  hat  die  Dichtkunst  von  selber 
durch  die  Unbestimmtheit  der  Worte  und  ihrer  Verbindungen.  Die 
Schildcrungsweise  des  Dichters  steht  eben  zwischen  der  des  bildenden 
Künstlers  und  der  des  Musikers  in  der  Mitte.  An  das  Bild  müssen 
bestimmte  optische  Vorstellungen  vom  Oenieftenden  angeschlossen 
werden,  an  das  Wort  können  sich  schon  mehrere  Vollziehungsmög- 
lichkeiten knüpfen,  an  die  Töne  werden  sehr  viele  angelehnt.  Das 
Bildwerk  drängt  den  Betrachter  in  eine  Bahn,  das  Dichtwerk  läßt  ihm 
einige  Wege,  das  Ton  werk  beflügelt  die  f^hantasie  zu  einem  Auf- 
schwung ins  Unendliche.  Der  Maler  hat  Darstellungsfälligkeit,  der 
Dichter  besitzt  Ausdruckskraft,  der  schaffende  Musiker  verfügt  über 
Suggeriervermögen. 

Werfen  wir  daher  einen  Seitenblick  auf  das  Musikalische  in  der 
Sprache.  Wortverbindungen  gewinnen  einen  Glanz,  indem  ihr  Klang 
und  Rhythmus  gefällt  und  die  hiermit  verbundenen  Oefühlstöne  sich 
harmonisch  ineinander  fügen.  Rein  klangliche  Ähnlichkeiten  werden 
zum  Kunstmittel  in  der  Beschreibung.  Die  Worte  locken  sich  gleich- 
sam hervor: 

Und  hat  ein  Wort  zum  Ohre  sich  gesellt. 
Ein  andres  kommt,  dem  ersten  liebzukosen. 

(Faust  II.) 

Und  der  Rhythmus,  der  durchhaltende  Zug  aller  Musik,  spielt  fiberall 
hinein.  Sein  I'rinzip  findet  sich  in  jedem  künstlerisch  aufgebauten 
Satz  und  in  jeder  poetischen  Verbindung  von  Sätzen.  Durch  die 
Stellung  der  Worte,  die  allein  ein  Dichter  entdecken  kann,  wird  der 
Lesende  oder  Hörende  zu  gewissen  Akzenten  gereizt,  durch  die  fast 
i-ine  Melodie  entsteht:  Näheres  mag  man  in  Arno  Holzens  > Revo- 
lution der  Lyrik  und  in  den  ästhetischen  Verkündigungen  der  >  Blätter 
für  die  Kunst  nachlesen.  Schon  in  einer  bestimmten  Behandlung  der 
IVosa  sind  Rhythmen  unverkennt)ar  und  selbst  nach  der  Eigenart  des 
Diihtcrs  als  ihm  zugehörig  festzustellen.  Stärker  treten  sie  Inder  ge- 
Inindcnen  Rede  hervor.  Ihr  gegenüber  empfindet  wohl  jeder  durch  den 
melodischen  Fall  sich  in  eine  Stimmung  gerückt:  in  diejenige  ruhiger 
(jleichmäfiigkeit  oder  in  die  einer  lebhaften  Erregung  beispielsweise. 


366  rv.  DIE  WORTKUNST. 


Unsere  Auffassung  ist  —  unabhängig  von  allen  etwa  entstehenden 
Sachvorstellungen  —  an  diesen  Gefühlswert  des  Rhythmus  gebunden, 
weshalb  man  lieber  von  »bindender  Rede«  sprechen  sollte,  und  zumal 
dann,  wann  gehört  und  nicht  gelesen  wird.  Die  harmonische  Gesamt- 
anschauung, die  wir  dem  echten  Kunstwerk  verdanken,  wurzelt  hier 
im  Rhythmus  als  in  einem  konstruktiven  Prinzip  der  Dichtkunst 
Mit  Ausnahme  des  Prosaromans  erhalten  alle  Unterarten  der  Poesie 
ihre  organische  Geschlossenheit  durch  den  rhythmischen  Aufbau,  der 
nicht  nur  Satz  für  Satz,  sondern  auch  das  Ganze  des  Werkes  um- 
spannt. Reim  und  Refrain  sind  dem  g^enüber  Nebenmittel  der  Wort- 
kunst, immerhin  aber  beachtenswert,  weil  sie  ausschließlich  beim  Worte 
möglich  und  in  ihrer  Gefühlswirkung  kaum  analysierbar  sind  Für 
unsere  Betrachtung  scheint  die  Tatsache  höchst  lehrreich,  daß  im  Alter- 
tum der  Reim  in  der  Rede  verstattet,  in  der  Poesie  verpönt  war,  daß 
Gleichklang  zu  Beginn  und  zum  Schluß  der  Sätze  seit  Gorgias  der 
Rhetorik  —  aber  auch  nur  dieser  —  als  erlaubtes  Mittel  galt.  So  stark 
also  wirkt  hier  die  eigentümliche  Beschaffenheit  der  Sprache,  und  aus 
ihr,  nicht  aus  anderen  Bedingungen,  sollte  dieses  Formmittel  der  lyrischen 
Dichtung  abgeleitet  werden. 

Indessen  wir  wollen  uns  nicht  in  Einzelheiten  vertieren,  sondern 
lieber  zur  Hauptsache  zurückkehren.  Daß  die  Vorstellungsbew^[ung 
ohne  Anschauung  nicht  künstlerisch  wirken  könne,  war  die  zu  zer- 
störende Fabel.  Die  regierende  Wahrheit  lautet:  des  Dichters  Worte 
veranlassen  im  Hörer  oder  Leser  innere  Bilder,  an  die  der  ästhetische 
Genuß  geknüpft  ist;  die  Kronprinzen- Wahrheit,  der  die  Zukunft  gehört, 
besagt  hiergegen:  an  den  Wort-  und  Satzvorstellungen  selber  haftet 
der  Genuß.  Früher  lehrte  man,  daß  nichts  in  der  Idee  sein  dürfe,  was 
nicht  zugleich  auch  sinnlich  erscheint,  und  daß  alles  sinnlich  Er- 
scheinende völlig  mit  der  Idee  erfüllt  sein  müsse.  Jetzt  beginnt  man 
einzusehen,  daß  diese  allgemeine  Theorie  nur  mit  starken  Einschrän- 
kungen und  Abänderungen  auf  die  Poesie  anzuwenden  Ist  Die  Be- 
schaffenheit und  Wirksamkeit  der  Poesie  ist  viel  zu  kompliziert,  als 
daß  sie  mit  einem  Schlagwort  bezeichnet  werden  könnte.  Für  unseren 
Gedankenzusammenhang  lag  der  Nachdruck  auf  folgender  Erwägung. 
Wenn  Kunst  eine  Form  des  geistigen  Lebens  ist,  durch  die  unser 
Fühlen  befreit  und  gesteigert  wird,  so  ist  das  Mittel  der  Poesie,  wo- 
durch sie  dieses  Ziel  erreicht,  die  Sprache  mit  allen  ihren  Eigentüm- 
lichkeiten, angefangen  vom  Wesen  des  einzelnen  Wortes  bis  hin  zum 
Rhythmus  eines  zusammengesetzten  Ganzen.  Wenn  Kunst  im  richtig 
verstandenen  Idealisieren  besteht,  so  geschieht  das  in  der  Poesie  nicht 
so  sehr  durch  absichtliches  Verändern  der  Wirklichkeit,  als  vielmehr 
schon  durch  ihre  Umsetzung  in  Worte.    Wie  viele  unter  unseren  Er- 


DIE  ANSCHAULICHKEIT  DER  SPRACHE.  367 

lebnissen,  die  uns  ziemlich  gleichgültig  und  gewöhnlich  erscheinen, 
werden  förmlich  verklärt,  sobald  wir  sie  in  unserer  noch  unterkänst- 
lerischen  Weise  erzählen!  Die  bloße  Übertragung  des  Geschehenen 
ins  Gesprochene  enthält  bereits  den  Keim  jener  Umformung,  die  diese 
Kunst  mit  dem  Seienden  vornimmt;  und  wenn  das  so  leicht  übersehen 
wird,  so  li^  es  eben  daran,  daß  das  Wort  unser  profanes  Ausdrucks- 
mittel ist  Beim  Anblick  einfacher  Umrißlinien  und  bdm  Hören  musi- 
kalischer Klangfolgen  empfinden  wir:  hier  tut  sich  eine  neue  Welt  auf. 
Die  Sprache  aber  scheint  uns  identisch  mit  dem  Wesen  der  Dinge, 
während  sie  in  Wahrheit  eine  ganz  besondere  Form  der  Wirklichkeits- 
auffassung darstellt 

Zunächst  war  ohne  Rücksicht  auf  die  Poesie  zu  fragen,  welche 
Beziehung  zwischen  der  Sprache  und  der  sinnlichen  Wirklichkeit  be- 
steht Da  die  Sprache  aus  der  Umsetzung  einer  sinnlichen  Vorstellung 
in  eine  Lautgebärde  entstanden  ist,  so  wird  es  sich  wohl  auch  heute 
noch  beim  Reden  oft  um  die  Übertragung  einzelner  Anschaulichkeiten 
in  Wortvorstellungen  handeln.  Für  den  Dichter  mag  dieser  Vorgang 
sogar  als  R^el  angesetzt  werden.  Aber  er  verläuft  nicht  so,  daß  die 
sinnliche  Vorstellung  in  der  Wortvorstellung  erhalten  bliebe.  Und 
ebensowenig  kann  umgekehrt  ein  Wort  zu  einem  Anschauungsakte 
werden:  das  Wort  vermag  lediglich,  nachdem  es  aus  dem  Bewußtsein 
geschwunden  ist,  eine  sinnliche  Vorstellung  hervorzulocken.  Die  Frage 
ist  nun,  ob  der  Sinn  der  Dichtkunst  darin  besteht,  Gedächtnis-  und 
Phantasievorstellungen  möglichster  Anschauungskraft  durch  ihre  Sprache 
anzur^en. 

Tatsächlich  und  mit  Notwendigkeit  treten  manchmal  (besonders  bei 
Vergleichungen)  Bilder  im  Bewußtsein  des  Lesers  auf;  häufiger  und 
gefühlswirksamer,  weil  mit  der  sinnlichen  Seite  des  Gefühls  zusammen- 
hangend, sind  motorische  Err^^ngen,  zumal  bei  geschilderten  Hand- 
lungen (s.  S.  172).  Da  aber  beim  Einzelwort  vieleriei  Bilder  denkbar 
sind  und  an  jeden  Satz  sich  verschiedene  Vollziehungsmöglichkeiten 
knüpfen  können,  so  bringen  wir  gern  anschauliche  Vorstellungen  aus 
unserer  persönlichen  Erfahrung  hinzu  und  treffen  wohl  niemals  —  was 
in  der  bildenden  Kunst  Bedingung  ist  —  das  Bild,  das  dem  Künstler 
vorschwebte.  Überhaupt  sind  diese  optischen  Vorstellungen  viel  zu 
schwach,  um  die  Stärke  des  ästhetischen  Eindrucks  zu  erklären.  Gerade 
bei  spannenden  Stellen  hastet  der  Leser  weiter,  ohne  sich  Zeit  zu 
Sinnesvorstellungen  zu  lassen,  und  von  Sätzen,  die  einen  Anschauungs- 
wert unmöglich  besitzen  können,  werden  poetische  Stimmungen  erzeugt 
Daher  kommt  es  für  den  Eindruck  nicht  auf  die  durch  die  Sprache 
gel^entlich  suggerierten  Sinnesbilder  an,  sondern  auf  die  Sprache  selbst 
und  die  ihr  eigentümlichen  Gebilde.  Einerseits  auf  Klang  und  Rhythmus, 


368  rv.  DIE  WORTKUNST. 


die,  abgesehen  von  etwa  auftretenden  Sachvorstellungen,  für  das  Sprach- 
gefühl Wert  besitzen.  Anderseits  ist  der  Umstand  entscheidend,  daß 
das  Wissen  von  der  Bedeutung  der  Worte  genügt,  um  —  ohne 
Zwischentreten  von  Anschauungen  —  eine  poetische  Beschreibung  zu 
genießen.  Schilderungen  in  Worten  vertreten  die  Wirklichkeit  in  dem 
Sinne,  daß  sich  ähnliche  seelische  Folgen  an  sie  wie  an  das  Erleben 
des  Geschilderten  anschließen  können.  Die  Aufgabe  des  Dichters  liegt 
darin,  der  Beschreibung  den  höchsten  Ersatzwert  zu  sichern;  der 
Abstand  von  der  Wirklichkeit  bleibt  ja  immer  groß  genug. 
Das  geschieht  teils  durch  die  Wahl  der  Worte  —  die  Metapher  ist  keine 
Anschauungssteigerung,  sondern  etwas  spezifisch  Sprachliches  —  teils 
durch  den  Aufbau  und  die  Zusammenfügung  der  Sätze,  durch  die  eine 
unreflektierte  Einheit  entstehen  muß. 


2.  Rede  und  Drama. 

Worte  gleichen  den  Spukerscheinungen,  die  man  nur  ahnen,  aber 
nicht  greifen  kann.  Ihre  Art  des  Seins  und  Wirkens  hat  etwas  Un- 
heimliches an  sich.  Sie  besitzen  weder  die  ehrliche  Sichtbarkeit  der 
Farben  noch  die  sich  voll  ausgebende  Hörbarkeit  der  Klänge.  Ein 
Name  bezeichnet  das  Wesen  eines  Dinges  keineswegs  In  derselben 
Annäherung  wie  die  Abbildung  es  vermag,  noch  signalisiert  er  gleich 
unartikulierten  Tönen  das  zu  Grunde  liegende  Gefühl.  Während  alle 
andern  Künste  Weltbürger  sind,  bleibt  die  Wortkunst  auf  den  Kreis 
der  Volksgenossen,  letzten  Endes  sogar  auf  räumlich  und  zeitlich 
kleinere  Kreise  beschränkt  Die  Sprache  läßt  sich  nicht  beliebig  kneten 
wie  Ton.  So  scheint  der  auf  diesen  Stoff  angewiesene  Künstler  von 
allen  Seiten  umbaut  und  eingeschränkt 

Dessenungeachtet  vermag  freie  Stärke  sich  auch  hier  auszuleben. 
Ein  echter  Sprachkünstler  —  man  fasse  den  Begriff  mit  Ernst  auf  — 
bekundet  seine  geistige  Kultur  ohne  Rest  in  dem  Grade  seiner  sprach- 
lichen Kultur.  Denn  Stil  entsteht,  wenn  jemand  etwas  sagt,  das  heißt: 
wenn  eine  Persönlichkeit  einen  Inhalt  mitteilt  Oder  noch  genauer: 
Jeder  Säte  muß  inhaltsvoll  sein,  gedrungen,  angefüllt,  frei  von  leeren 
Plätzen,  streng  gebaut  oder  von  gewollter  Asymmetrie,  in  sich  befestigt 
durch  Rhythmus  und  Zeitmaß,  durch  Färbung  der  Klänge  und  der 
inneren  Wortwerte,  sicher  eingestellt  gegen  Vorhergehendes  und  Fol- 
gendes. Und  aus  jedem  Säte  muß  die  Individualität  sichtbar  werden, 
so  daß  kein  anderer  Mensch  je  wieder  diesen  Säte  zu  schreiben  ver- 
möchte. Da  Seele  und  Sprachkörper  für  die  künstlerische  Herrschaft 
über  dies   scheinbare  Freiland  ganz  in  eins   fallen  (wie  Seele  und 


RKDK  rsn  DRAMA.  36Q 

KlanKform,  Seele  und  Farbe,  Seele  und  Stoffform  in  den  Qbrifren 
Gebieten),  so  läßt  sich  der  Kunstler  nichts  Fremdes  aufdrängen,  sondern 
behält  unweigerlich  die  eigene  Handschrift.  Es  wäre  ein  arger  Miß- 
griff,  wollte  man  glauben,  daß  kunstgerechte  Sprachbehandlung  immer 
ins  Anschauliche  führe  und  das  persönliche  Gepräge  aus  der  Beson- 
derung  dieses  allgemeinen  Zuges  empfange.  Einige  der  sogenannten 
Figuren  (Kontrast,  Ironie,  Steigerung,  Wiederholung)  können  sehr  wohl 
sich  aufs  Logische  beziehen,  andere  (wie  die  Vertauschung  von  Art 
und  Gattung,  Teil  und  Ganzem)  müssen  sogar  außerhalb  der  Ver- 
sinnlichung  bleiben. 

Vor  allem  deshalb  ist  die  übliche  Ansicht  verkehrt,  weil  sie  das 
weite  Gebiet  der  Redekunst  auszuschalten  droht.  Von  früh  an  und 
mit  Recht  wurde  die  Rhetorik  neben  die  Poesie  gestellt;  erst  im  Lauf 
des  IQ.  Jahrhunderts  verengte  sich  der  Umfang  der  Wortkunst  auf 
den  Durchmesser  der  Poesie  und  verlor  seinen  wahren  Charakter. 
Im  Altertum  blieb  der  Zusammenhang  schon  dadurch  fest,  daß  Schrift- 
und  Redestil  dieselben  waren;  bei  uns  besteht  der  Reiz  einer  guten 
Prosa  zum  Teil  darin,  daß  immerfort  dem  Rhetorischen  einerseits,  dem 
Poetischen  anderseits  ausgewichen  wird.  Gegenwärtig  liegt  die  Rede- 
kunst darnieder,  und  eben  deshalb  muß  sie  aus  dem  Sinn  der  Mehr- 
heit heraus  als  eine  Fertigkeit  mit  ästhetischen  Beisätzen,  aber  nicht 
als  Form  des  geistigen  Lebens  oder  wahrhafte  Kunst  bezeichnet  werden. 
Dennoch  möchte  ich  der  Rhetorik  ihren  alten  Ehrenplatz  wiederum 
einräumen.  Die  Wortkunst  scheint  mir  drei  Unterarten  zu  besitzen: 
erstens  die  Rede  und  das  Drama,  die  innerlich  zusammengehören  und 
äußerlich  beide  mit  der  Mimik  verknüpft  sind,  zweitens  die  Prosa  in 
den  bekannten  Erscheinungen  des  Epos,  drittens  die  Poesie,  die  auf 
den  Rhythmus  begründet  ist  und  am  reinsten  in  der  Lyrik  sich  darstellt. 

Das  Instrument  des  Redners,  die  klingende  Sprache,  bestimmt  seine 
Technik.  Die  mögliche  Dauer  der  Ausatmung  schafft  ihm  die  Einheiten, 
die  Verständlichkeit  für  den  lauschenden  Hörer  zwingt  ihm  den  Auf- 
bau der  Sät/e,  die  Wahl  der  Worte,  die  Verwendung  von  Wieder- 
holungen, die  Beschränkung  des  Zeitmaßes  und  vieles  andre  auf. 
Wahrend  der  Schauspieler  dem  Grundzug  nach  Gebärdenmimiker  Ist, 
darf  der  Vortragende  auch  der  Rezitator  von  Gedichten,  Erzählungen, 
Dramen  dieses  Hilfsmittel  nur  sparsam  benutzen.  Es  ist  ungefähr 
ilas  Verhältnis  des  Liedersängers  zum  Opernsänger.  Jener  wird,  wenn 
er  in  seiner  Aufgabe  lebt,  sinngemäße  Wandlungen  des  Gesichtsaus- 
drucks schwerlich  vermeiden  können.  Aber  Gesten  und  Ortsverände- 
run^jen  des  Köqiers  sind  ihm  untersagt.  Denn  er  stellt  nicht  einen 
Menschen  dar,  sondern  eine  in  Töne  gesetzte  Dichtung.  Der  Sänger 
auf  der  Bühne  hingegen  gibt  vor,  ein  anderer  zu  sein,  u       *      :t  zu- 

t)cttoir,   A«thrtik  nnd  alle.  KonttwiitcmKlufl. 


370  IV.  DIE  WORTKUNST. 


sammen  mit  Maske,  Kostöm,  Dekoration  und  der  gleichartigen  Ergän- 
zungstätigkeit der  übrigen  Schauspieler.  Deshalb  darf  der  singende 
oder  sprechende  Vortragskünstler  die  Rede  eines  Mädchens  oder  ein 
Zwiegespräch  zwischen  Mann  und  Frau  wiedergeben,  was  beim  Schau- 
spieler undenkbar  ist.  Des  Vortragenden  leibhaftige  Persönlichkeit  tritt 
ja  gänzlich  hinter  der  Sache  zurück.  Er  gleicht  dem  reproduzierenden 
Musiker  und  im  Falle  einer  dramatischen  Vorlesung  dem  Kapellmeister, 
der  die  Partitur  auf  dem  Klavier  spielt. 

Doch  wenden  wir  uns  nunmehr  dem  Redner  als  dem  Schöpfer 
einer  Kunstform  zu.  Die  antike  Beredsamkeit  war  ein  Höhepunkt 
Die  ihr  entsprechende  besondere  Kunstwissenschaft  bestand  in  einer 
Beschreibung  der  von  der  Praxis  entwickelten  Formen  und  in  daraus 
abgezogenen  Vorschriften.  Somit  kann  sie  weder  dem  modernen 
wissenschaftlichen  Vortrag  noch  der  Predigt  noch  der  parlamentarischen 
Rede  genügen.  Es  ist  kennzeichnend  für  die  alte  Rhetorik,  daß  sie 
neben  der  schlichten  Art  der  Rede  noch  eine  bewegte  und  eine  erhabene 
Art  lehrte:  submisse,  temperate,  granditer,  sagt  Cicero.  Zu  oberst 
steht  das  gründe  genus  dicendl,  die  wörtlich  vorbereitete  und  ein- 
geprägte Rede,  die  von  der  Architektur  den  wohlgeordneten  Aufbau, 
von  der  Poesie  die  Fülle  vergleichender  Bilder,  von  der  Musik  die 
Klangwirkung  entleiht.  Wundervolle  Reden  dieser  Art  haben  Altertum 
und  Renaissance  geschaffen.  Viele  unter  ihnen  sind  von  andern  als 
von  den  Vortragenden  verfertigt  worden,  manche  niemals  gehalten 
worden.  Als  im  15.  Jahrhundert  die  Beredsamkeit  bei  den  Humanisten 
einen  neuen  Höhepunkt  erreicht  hatte,  wurde  die  Prunkrede  zur  Mode- 
sache. Bei  Hoffestlichkeiten,  Hochzeiten,  Totenfeiern,  aber  auch  bei 
fürstlichen  Besuchen  und  Friedensschlüssen  durfte  die  Kunst  des  Hof- 
redners nicht  fehlen :  eine  glanzvolle  rhetorische  Leistung  veriieh  für  das 
Gefühl  der  Zeitgenossen  dem  Vorgang  eine  besondere  Weihe.  Etwas 
von  diesem  Geist  lebt  jetzt  in  Deutschland  wieder  auf;  im  allgemeinen 
aber  hat  heute  die  Musik  die  gleiche  Verrichtung  übernommen.  Nun 
scheint  mir:  wenn  man  gegenwärtig  der  Rhetorik  mit  Kälte  begegnet, 
so  liegt  der  Grund  darin,  daß  man  an  solche  mehr  künstliche  als 
künstlerische  Beredsamkeit  denkt.  Das  ist  der  Sinn  von  Pascals  Wort: 
La  vraie  eloquence  se  moque  d'iloquence;  deshalb  lehnte  Bismarck  die 
Bezeichnung  Redner  von  sich  ab.  Aber  sollte  nicht  diese  Kunst  in 
freieren  Formen  und  demnach  eine  dem  veränderten  Bewußtsein  ent- 
sprechende Rhetorik  auch  heutzutage  möglich  sein?  Könnten  nicht 
auch  wir,  die  wir  alle  die  Macht  des  gesprochenen  Wortes  bekennen, 
unserer  Praxis  die  ihr  gemäße  Theorie  nachschaffen?  Ich  denke,  es  ist 
vor  allem  nötig,  daß  wir  eine  lebendigere  Vorstellung  der  Rede  aus 
den  Tatsachen  des  Gesprächs  und  der  Mitteilung  ableiten;  übrigens 


REDE  IND  DRAMA.  371 

verzichte  ich  darauf,  die  Ableitung  hier  durchzuführen,  und  beschränke 
mich  auf  einige  Hinweise. 

Ihren  Charakter  als  eine  zwischen  zwei  Seiten  stattfindende  Aus- 
einandersetzung bekundet  die  freie  Rede  äußerlich  durch  die  (direkte 
oder  indirekte)  Anrede.  Doch  ist  dies  Merkmal  so  farblos,  daß  es 
ohne  Schaden  fortfallen  kann;  berechtigter  erscheint  mir,  wenn  inner- 
halb der  Rede  ein  lebhafter  Appell  an  die  Hörenden  Einschaltungen 
veranlaßt.  Überhaupt  aber  sind  die  innerlich  Redner  und  Hörer  ver- 
bindenden Mittel  von  größerem  Wert.  Hierher  rechne  ich  Zitate  und 
Beispiele  aus  dem  täglichen  Leben  oder  aus  bestimmten  Berufskreisen. 
Mit  ihnen  tritt  die  Rede  auf  gemeinsamen  und  vertrauten  Boden  zurOck; 
die  ältere  Rhetorik  hat  sie  zu  Unrecht  als  bloßen  Schmuck  behandelt. 
Am  festesten  jedoch  knüpft  der  Redner  sein  I^iblikum  dadurch  an  sich, 
daß  er  die  vermutlich  oder  ersichtlich  vorhandenen  Einwürfe  und 
Bedenken  sofort  ausspürt  und  widerlegt,  oder  dadurch,  daß  er  ihm 
Zugeständnisse  macht,  die  seiner  Beweisführung  nicht  erheblich  schaden. 
Auch  die  sogenannte  rhetorische  Frage  ist  eine  auf  die  Rede  über- 
tragene Form  des  Gesprächs,  durch  die  die  Selbsttätigkeit  der  Hörer 
angeregt  wird.  In  das  Herz  des  Rhetorischen  dringen  wir  endlich, 
indem  wir  erkennen,  daß  die  Rede  mit  dem  Gespräch  nicht  nur  die 
lebendige  Beweglichkeit  ihrer  Form,  sondern  auch  die  Vielseitigkeit 
des  Inhalts  teilt.  Der  Widerstreit  des  Wirklichen  mit  dem  Denknot- 
wendigen, die  Mannigfaltigkeit  und  Relativität  aller  Erfahrung  bildet  die 
gemeinsame  Voraussetzung,  denn  das  unbedingt  Sichere  kann  auf  die 
rhetorische  Seite  der  Wortkunst  verzichten.  Das  Fragliche  jedoch 
harrt  des  klingenden  Wortes.  So  wendet  sich  der  Redner  zunächst  an 
den  Verstand,  da  dieser  am  leichtesten  zu  überzeugen  und  durch 
Beweisführung  von  Vorurteilen  abzubringen  ist.  Dann  aber  gilt  es, 
das  langsam  folgende  Gefühl  der  Hörer  sich  geneigt  zu  machen. 
Wahrend  dort  alle  Künste  wissenschaftlicher  Dialektik  aufzubieten  sind, 
iniisNcn  hier  die  Wirkungsmittel  des  Dramas  verwendet  werden. 

Linst  ließen  feindliche  Völker  zwischen  ihren  Ländern  ein  ver- 
wüstetes Gebiet,  damit  Grenzstreitigkeiten  vermieden  würden.  Fast  so 
(odiT  wenigstens  wie  ein  I\jfferstaat)  liegt  die  Rhetorik  zwischen 
Wissenschaft  und  Kunst.  Sie  nimmt  die  Ausläufer  der  Methodenlehre 
in  sich  auf,  jene  l^artien,  in  denen  es  sich  nicht  mehr  um  das  Finden 
von  Tatsachen  und  Gesetzen,  sondern  um  die  überzeugende  Darstel- 
lung: des  bereits  Gewußten  handelt.  Klarheit  und  Bündigkeit  der 
Bcwcisfülming  sind  indessen  bloß  die  eine  Seite  der  Sache.  Jeder 
gute  wissenschaftliche  Vortrag  ist  ein  Gespräch  des  Denkers  mit  sich 
und  anderen  Denkenden,  jede  gute  Predigt  ist  ein  Kampf  des  Geist- 
lichen mit  sich  und  anderen  sündigen  Menschen;  dramatisches  Innen- 


372  IV.  DIE  WORTKUNST. 


leben  und  dialogische  Äußerung  sind  nur  verhüllt.  Ein  längst 
vergessener  Philosoph  aus  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  definierte 
die  Seele  als  ein  fragendes  Wesen  und  traf  damit  den  Punkt,  wo  drei 
Kreise  sich  schneiden:  geistig- wissenschaftliches,  geschichtlich-gesell- 
schaftliches und  künstlerisch-dramatisches  Leben  berühren  sich  in  den 
Grundformen  der  Frage  und  Antwort,  Rede  und  O^enrede.  Verfolgen 
wir  nun  die  Ähnlichkeit  zwischen  Rede  und  Drama,  so  wäre  zunächst 
die  Steigerung  in  der  Anlage  des  Ganzen  zu  nennen.  Auf  der  Kanzel 
wie  auf  der  Bühne  gilt  es  als  Fehler,  entscheidende  Gedanken,  zün- 
dende Worte  gleich  anfangs  vorzubringen.  Ein  Schulbeispiel  dieses 
Fehlers  ist  die  Leichenrede  Massillons  auf  Ludwig  XIV.,  die  mit  dem 
Satz  begann:  ^Dieu  seul  est  grand,  mes  freres<a;  Laboulaye  bemerkte 
richtig  dazu:  ^Vexorde  a  tue  le  discours.^n  Was  an  einer  früheren  Stelle 
(S.  157)  von  der  anfänglichen  Wirkung  des  Bühnenbildes  gesagt  war, 
wäre  auf  die  ersten  Sätze  einer  Rede  so  zu  übertragen:  ihr  Inhalt  kommt 
nicht  zu  vollem  Bewußtsein,  weil  die  Aufmerksamkeit  der  Hörer  noch 
nicht  richtig  eingestellt,  sondern  zerstreut  oder  durch  Äußerlichkeiten 
gefesselt  ist.  Jede  Handwerkslehre  der  dramatischen  Dichtkunst  erzählt 
von  dem  Kunstgriff,  ein  Stück  durch  »Bedientenszenen«  einzuleiten  das 
heißt  durch  Szenen,  die  das  Auge  beschäftigen  und  in  denen  lediglich 
Nebenpersonen  auftreten.  In  der  Folge  aber  muß  stätig  fortgeschritten 
werden,  retardierende  Momente  und  auffrischende  Episoden  sind  in 
Reden  genau  ebenda  erlaubt  wo  sie  auch  im  Drama  ihren  rechten  Platz 
haben  (s.  S.  160  und  233).  Für  die  Redekunst  scheint  die  Erkenntnis 
wichtig,  daß  ein  Gedanke  an  der  Stelle,  wo  er  logisch  statthaft  ist, 
dennoch  rhetorisch  unangemessen  erscheinen  kann,  weil  er  den  Schwung 
der  Rede  aufhält.  Das  Verschmelzen  der  in  der  Vorbereitung  her- 
gestellten einzelnen  Stückchen  und  das  Gewinnen  äußerster  Lebendig- 
keit ist  auf  beiden  Seiten  notwendig;  Spiel  und  G^enspiel,  Wechsel 
und  Widerspruch,  Kampf  und  Sieg  bestimmen  diese  bew^lichsten 
Formen  der  Wortkunst  Daher  wirkt  die  Beredsamkeit  wie  das 
literarische  Drama  wesentlich  auf  den  Willen,  und  Tendenz,  die  viel 
geschmähte,  dürfte  beim  rhetorischen  und  dramatischen  Schaffen  gleich- 
mäßig oft  beteiligt  sein. 

Für  die  nun  folgenden  Erwägungen  bitte  ich  zu  beachten,  daß  wir 
jetzt  mit  dem  Drama  als  einer  Unterart  der  Wortkunst  zu  tun  haben. 
Die  Rücksicht  auf  die  Bühne  vergröbert  den  Ton,  beschränkt  Umfang 
und  Inhalt  (da  doch  der  Verbreitung  durch  den  Druck  mehr  Freiheit 
erlaubt  ist  als  der  Aufführung)  und  verlangt  einen  Aufbau,  der  die 
Höhepunkte  bereits  aus  dem  stummen  Szenenbild  erkennen  läßt 
Dagegen  hat  das  mit  Unrecht  abschätzig  bewertete  Lesedrama  reiche 
Mittel  an  der  Hand,  um  seine  Eigenart  auch  ohne  die  Hilfe  des  Theaters 


RFPK  TNn  DRAMA.  373 

ZU  bewahren.  Hierzu  gehört  namentlich  die  Vorliebe  für  die  vorwärts 
schreitenden  Motive  und  femer  die  Get^enwärtigkeit  der  Handlung. 
Das  ist  aber  zugleich  das  Verfahren  der  Redekunst,  daß  alles  Mitgeteilte 
als  gegenwärtig  erscheint  und  unablässig  vorwärts  dringt.  Notwendig 
ist  beiden  Formen  die  Ichrede  ohne  Nennung  des  Sprechers  und  die 
unmittelbare  Wechselrede,  bei  der  die  Verteilung  auf  zwei  Personen 
nur  als  hinzukommendes  Moment  aufgefattt  werden  sollte.  Keine 
andere  Technik  hält  die  Spannung  auf  den  Ausgang  so  wach  wie  die 
des  erregten  Gesprächs:  die  ganz  ursprungliche  Freude  an  dem,  was 
geschieht,  wird  durch  rhetorisch-dramatische  Unterredung  in  den  Kreis 
der  Wortkunst  versetzt. 

Wenn  in  der  Seele  des  dramatischen  Dichters  die  Wogen  aneinander 
prallen,  so  fluten  gleichzeitig  die  Worte  in  ungehemmtem  Bilderreich- 
tum, denn  alle  Hilfen  der  Sprache  werden  aufgeboten.  An  Shakespeare 
bewundern  wir  auch  diese  Fähigkeit,  daß  er  ebenso  sicher  auf  den 
Sprachsinn  wie  auf  den  Theatersinn  zu  wirken  versteht.  Das  rein 
ästhetische  Gefühl  wird  durch  Shakespeare  allerdings  häufig  verletzt. 
Käme  es  im  Drama  auf  Schönheit  an,  so  mußten  alle  einzelnen  Glieder 
der  Handlung  schon  in  sich  lauteres  Wohlgefallen  wecken  abgesehen 
davon,  wieviel  sie  zum  Aufbau  des  Ganzen  beitragen  und  das 
Gleiche  würde  von  der  Folge  der  Worte  zu  verlangen  sein.  (Vgl. 
S.  40  50  und  S.  106.)  Aber  dieser  Beschränkung  ist  das  literarische 
Drama  v(')llig  überhoben.  Die  Sprache  muß  ihm  viel  mehr  leisten  als 
blofk*  Wohlgefälligkeit.  Zunächst  zeigt  sie  das  Gepräge  des  dichte- 
rischen Inhalts.  Sie  ist  leichtflüssig  in  Konversationsstücken,  derb  in 
Volksstücken;  unmittelbar  kann  aus  tändelnden,  witzigen  Wortspielen 
die  Heiterkeit  der  Komödie  und  ebenso  unmittelbar  aus  wuchtigen, 
schweren  Versen  des  Schicksals  Tragik  uns  anwehen.  Alsdann  dient 
dem  Dichter  die  Sprache  zur  Charakteristik.  Er  schildert  außer  durch 
Tati-n  auch  durch  die  Rede.  Freilich  nicht  von  sich  aus.  Er  sagt 
niilit.  mein  Held  ist  ein  frischer  Naturmensch  ,  aber  er  legt  ihm  un- 
verbrauchte Worte,  Redefiguren  in  den  Mund,  die  nur  einem  in  Wald 
und  i  i'ld  Aufgewachsenen  zur  Verfügung  stehen;  die  I\*rsonen  eines 
|)rama>  würden  an  Bestimmtheit  und  Lebendigkeit  veriieren,  sobald 
sie  alle  denselben  Stil  und  die  gleichen  Bilder  gebrauchten.  Auch  der 
Monolog  dient  nicht  dazu,  die  Anschauungen  und  Gefühle  des  Dichters 
auszudrücken.  Nur  als  Mittel  direkter  Darstellung  ist  er  erlaubt;  die 
l'nnatürlichkeit  ,  die  man  ihm  so  gern  vorhält,  teilt  er  mit  den  Akt- 
schlüssen und  /ahllosen  anderen  Notwendigkeiten  des  Dramas.  Was 
uns  (beispielsweise  an  Schillers  Monologen)  befremdet,  ist  wohl  weniger 
der  Abstand  von  der  Wirklichkeit  als  die  glatte  und  logische  Form. 
Dennoch  darf  diese  Stilisierung  als  kunstgemäßer  Ausdruck  dafür  gelten. 


374  IV.  DIE  WORTKUNST. 


daß  in  höher  stehenden  Menschen  der  einzelne  Entschluß  mit  der 
ganzen  Ausdehnung  ihrer  seelischen  Natur  zusammenhangt:  die  begriff- 
lich entwickelte  Mannigfaltigkeit  bedeutet  eines  erfüllten  Gemütes  An- 
teilnahme am  Augenblick.  Nun  steht  freilich  nie  eine  vereinzelte 
Persönlichkeit  vor  uns,  sondern  jemand,  der  sich  in  gewissen  Bezie- 
hungen befindet.  Daher  vermag  die  Sprache  diese  Beziehungen  als 
Angriffspunkte  zu  benutzen,  um  auf  ihren  Wegen  ins  Seeleninnerste 
einzuführen.  Zu  Grunde  liegt  folgende  Tatsache.  Die  meisten  Menschen 
verändern  sich,  je  nachdem  ihnen  ein  bestimmter  Charakter  entgegen- 
tritt; sie  betrachten  sich  dann  selbst  mit  den  Augen  des  anderen;  was 
ihnen  in  der  Gesellschaft  des  einen  natürlich  scheint,  wird  gegenüber 
einem  anderen  als  uneriaubt  empfunden.  Diese  auf  mittelbaren  Einfluß 
zurückgehenden  Schwankungen  oder  die  unwillkürlichen  Aufnahmen 
fremder  Gesichtspunkte  spiegeln  sich  in  der  Redeweise.  Wenn  auch 
der  Inhalt  derselbe  bleibt,  so  wechseln  doch  Form  und  Farbe  der  Sätze. 
Somit  leiht  die  Wortkunst  des  Dramatikers  der  in  Grad  und  Art  der 
unbewußten  Anpassungen  sich  verratenden  Individualität  einen  Aus- 
druck, der  dem  feineren  Ohr  Bedeutungsvolles  sagt.  Die  Sprache  wird 
schließlich  zum  Symbol  in  dem  Sinn,  daß  sich  ein  Gehalt  in  einer 
grundsätzlich  unangemessenen  Form  darstellt,  aber  gerade  dadurch 
eine  eigentümliche  Verkörperung  gewinnt. 

Dem  Drama  als  solchen  billigen  gemeinhin  Ästhetik  und  verglei- 
chende Literaturgeschichte  nur  eine  begrenzte  Anzahl  tragender  Motive 
und  möglicher  Formen  zu.  Seitdem  Gozzi  drei  Dutzend  herrschender 
Motive  aufgedeckt  und  Goethe  gesprächsweise  in  ähnlichem  Sinn  sich 
geäußert  hat,  scheint  die  Zählbarkeit  dramatischer  Grundgedanken  zum 
Glaubenssatz  der  meisten  Theoretiker  geworden  zu  sein.  In  Wahrheit 
lassen  sie  sich  unendlich  teilen  und  erweitem ;  die  scheinbare  Vollstän- 
digkeit einer  Typensammlung  beruht  darin,  daß  kahle  Abstraktionen  an 
die  Stelle  feiner  und  vieldeutiger  Wirksamkeit  treten  (vgl.  S.  67).  Ander- 
seits soll  man  der  Wissenschaft  solche  Bemühungen  nicht  verwehren. 
Nur  gegen  die  endgültige  Festlegung  auf  eine  bestimmte,  nie  Ober- 
schreitbare  Zahl  ist  im  Sinne  der  Geisteswissenschaften  Einspruch  zu 
erheben.  Desgleichen  wäre  es  verkehrt,  den  Formenreichtum  des 
Dramas  in  einen  unbeweglichen  Rahmen  einzuspannen.  Die  indische 
Kunstlehre  mit  ihrer  an  Mathematik  und  Schachspiel  geschulten  Spitz- 
findigkeit hat  zwei  Hauptklassen  unterschieden,  deren  eine  acht,  deren 
andere  achtzehn  Unterarten  zählt  ^).  Aber  wer  möchte  sich  noch  zu 
dieser  Einteilung  bekennen? 

Man  erwäge  für  einen  Augenblick,  welche  geschichtlichen  Wand- 
lungen das  Drama  durchlebt  hat  Wir  kennen  ein  indisches  Schau- 
spiel, dessen  beschauliche  und  ergebene  Menschen  für  unser  Gefühl 


REDE  rsn  DRAMA.  375 

der  dramatischen  Härte  entbehren,  worin  jedoch  Tragisches  und  Komi* 
sches  so  gemischt  wird,  daß  unser  den  starren  Grenzsetzungen  ab- 
geneigter Sinn  sich  dessen  freut.  Vertrauter  ist  uns  die  griechische 
Trag(')die,  in  ihren  Formen  durchaus  rhetorisch,  in  ihrem  Kern  ein 
Abbild  des  Kampfes,  den  die  Götteruberlieferung  mit  der  Erkenntnis 
einer  höheren  Wehordnung  führte.  Nach  Gustav  Freytag  soll  die 
Handlung  etwa  in  der  Mitte  einen  Gipfel  erreichen,  von  dem  ab  sie 
wieder  fällt.  Herrscht  in  der  ersten  Hälfte  das  vom  Helden  getragene 
Spiel,  so  leitet  in  der  zweiten  Hälfte  das  Gegenspiel;  überwiegt  anfangs 
dieses,  so  treibt  es  den  Helden  bis  zur  Spitze  hinauf  und  weicht  dann 
dem  Spiel.  Indessen  schon  Freytag  mußte  zugestehen,  daß  die  Sopho- 
kleischen  Tragödien  etwa  da  beginnen,  wo  wir  den  Höhepunkt  unserer 
Stücke  ansetzen  würden.  Meist  ist  ihr  Gegenstand  die  Wiederherstel- 
lung einer  bereits  gestörten  Ordnung;  Missetat  und  Verwirrung  liegen 
vor  dem  Beginn;  die  Enthüllung  des  Unheils  und  die  Rache  bilden 
den  eigentlichen  Inhalt.  Wiederum  anders  formt  Shakespeare,  da  er  an 
äußeren  Umständen  die  bleibenden,  zumal  die  seelischen  Verhältnisse 
verdeutlichen  will:  an  einem  verschenkten  Schnupftuch  Eifersucht  und 
Mißtrauen,  an  Wahrsagerei  und  Frauenmacht  geheimen  Ehrgeiz.  Sein 
Verfahren  der  Charakterbildung:  die  Verwertung  widersprechender 
Züge  aus  den  Quellen,  um  äußerste  Lebendigkeit  zu  erzielen,  sein  Sinn 
für  Individualität,  seine  moralfreie  Behandlung  des  Tragischen  bedingen 
eine  neue  Form.  Vom  spanischen  Nationaldrama  hingegen,  das  dem 
ein/igen  Lope  de  Vega  seine  Ausrüstung  verdankt,  erhält  man  den 
Eindruck,  daß  es  zwar  reich  in  der  Erfindung  und  Lösung  von  Intrigen, 
aber  arm  in  der  Charakteristik  ist.  Eine  verwickelte  Fabel  lockt  den 
Oichter;  die  fertigen  Gestalten  sollen  in  die  aufregendsten  Lagen 
gebracht  und  die  Hörer  durch  listige  Schürzung  des  Knotens  in 
Spannung  versetzt  werden.  Die  f^hantasie  verfügt  nicht  über  Mittel- 
stimnningen.  Der  Theaterzettel  dieser  Degen-  und  Mantelstücke  kann 
die  I  iguren  als  Typen  benennen:  ßalancs,  vicjos,  graciosos.  In  Cal- 
derons  heiligen  Aufführungen  gibt  es  Allegorien  aller  möglichen  Dinge 
und  Beziehungen.  Was  den  Spaniern  fehlt  (und  zum  Teil  auch 
Siliiller,  der  so  gern  in  die  Nebenhandlung  sich  veriiert),  das  ist  die 
Gabe  der  Einfachheit.  Racine  besaß  sie.  Sein  Kunstgeheimnis  lag  in 
der  Fähigkeit,  durch  bloße  Abstufung  am  Einfachsten  ein  Mannigfal- 
tiges /u  enthüllen,  den  Kampf  einer  Leidenschaft  gegen  ein  Gesetz 
logisch  klarzustellen.  Die  von  ihm  gezeichneten  Menschen  setner  Zeit 
verfügten  über  eine  Härte,  die  alle  Sentimentalität  ausschloß,  aber  in 
den  gehaltenen  Formen  des  Umgangs  und  der  Mitteilung  geschmei- 
diger erschien;  die  gesuchte  Höflichkeit  im  Verkehr  und  die  glatte 
Kälte  in  den  Künsten  waren  nichts  anderes  als  Gegengewichte  gegen 


376  rv.  DIE  WORTKUNST. 


die  an  sich  maßlose  Energie  des  Auffassens  und  WoIIens^).  Schließ- 
lich sei  noch  Ibsens  Ideendrama  gestreift.  Seine  Tendenz  li^  in  der 
Forderung,  daß  die  Persönlichkeit  sich  selbst  ergreifen  müsse,  damit 
sie  sich  anderen  geben  könne;  allein  in  vielen  Symbolen  kehrt  auch 
das  Gefühl  wieder  und  wird  zum  Eindruckspunkt  des  Werkes,  daß 
wir  solche  Höhen  wohl  im  Vorstellen,  aber  nicht  durch  den  Willen 
erreichen  können.  Um  diese,  an  Gesellschaftskritik  angeknüpften  Haupt- 
motive rund  herauszubringen,  hat  Ibsen  die  Anordnung  um  eine  Peri- 
petie herum  fallen  lassen  und  eine  analystische  Technik  ausgebildet, 
die  wie  eine  Rückkehr  zu  den  drei  Einheiten  aussieht,  in  Wahrheit 
aber  die  breite  psychologische  Ausgestaltung  des  letzten  Aktes  eines 
nach  alter  Formel  gefügten  Dramas  bedeutet. 

Schon  diese  flüchtige  Umschau  läßt  erkennen,  wie  schwer  es  sein 
muß,  aus  der  Vielheit  widerspruchsvoller  Besonderungen  grundsätz- 
liche Einsichten  herzuleiten.  Es  ist  wohl  auch  der  Dramaturgie  nicht 
so  recht  geglückt.  Schließlich  läuft  es  auf  eine  Einteilung  nach  ästhe- 
tischen, technischen  und  stofflichen  Gesichtspunkten  hinaus.  Ästhetisch 
wichtig  ist  der  Unterschied  zwischen  Tragödie  und  Komödie,  worüber 
wir  uns  bei  Erörterung  der  Kategorien  verständigt  haben.  Technisch 
kommt  hauptsächlich  das  Verhältnis  der  Handlung  zu  den  Charakteren 
in  Betracht.  Da  beide  Bestandteile  einander  fordern,  so  handelt  es 
sich  nur  um  die  Lage  des  Schwerpunktes,  wenn  ein  Stück  dieser  oder 
jener  Gruppe  zugeteilt  werden  soll.  Dichter  und  Beurteiler  sind  sich 
nicht  immer  einig,  worauf  im  Einzelfalle  der  Hauptton  liegt').  Meistens, 
so  darf  man  sagen,  versetzt  das  Charakterdrama  die  in  jedem  Schau- 
spiel aufgeworfene  Machtfrage  in  die  Seele  der  Menschen.  Damit  wird 
das  eigentlich  Dramatische  keineswegs  verfassen.  Denn  Gustav  Freytag 
hat  ganz  recht:  dramatisch  ist  nicht  die  eigentliche  Handlung,  sondern 
ihr  Werden  und  ihre  Wirkung,  die  Vorbereitung  einer  Tat  und  ihre 
Folge.  Absolute  Tat  ist  unpersönlich  und  gleichgültig  wie  absolute 
Ruhe;  der  Mord  im  Augenblick  des  Geschehens  besitzt  keinen  größeren 
Kunstwert  als  ein  unbew^licher  Felsblock.  Die  Aufgabe  besteht  viel- 
mehr darin,  Voraussetzungen  für  den  Weg  von  der  Ruhe  zur  Tat  oder 
von  der  Tat  zur  Ruhe  zu  schaffen.  Weniger  kommt  es  darauf  an,  ob 
die  Entwicklung  an  äußeren  Ereignissen  oder  an  Seelenvorgängen,  an 
Staatsaktionen  oder  an  intimen  Gemütsregungen  sich  darstellt  Im 
zweiten  Falle  ist  sogar  der  Zusammenhang  das  heißt  das  stätig  sich 
fortbewegende  Bedürfnis  und  seine  Befriedigung  leichter  zu  bewahren. 
Folglich  kann  man  diesem  Zusammenhang  mit  der  Theorie,  an  die 
jeder  sogleich  denkt,  nämlich  mit  der  Lehre  von  den  drei  Einheiten 
nicht  beikommen,  da  sie  außer  Ort  und  Zeit  nur  die  Fabel  berück- 
sichtigt.    Die   ^Pratique  du  theätre^y   die  H^d^lin  Abbi  d'Aubignac 


REDK  l-NI)  DRAMA.  377 


1660  veröffentlichte,  überlieferte  den  Kanon  der  klassischen  Tragödie 
in  den  Versen: 

Neos  vouions  qu*  avec  ort  Paftion  se  mAiage, 
Qtt*en  un  Heu,  en  un  jour,  an  seul  fait  accompU 
Tienne  jusqu*d  ia  /in  U  thMln  rempli. 

Gewiß  sind  Ort-  und  Zeitwechsel,  sobald  sie  den  Zusammenhang 
stören,  verwerflich.  Insbesondere  verurteilen  wir  die  zeitliche  Unter- 
brechung, da  wir  zwar  Ortsverschiedenheiten  schnell  Oberwinden 
können,  jedoch  für  den  Zeitverlauf  kein  Verkurzungsmittel  haben,  und 
da  die  Entfaltung  der  Charaktere  sprunghaft  werden  muß.  Aber  die 
Festlegung  auf  einen  Tag  und  einen  Schauplatz  bedeutet  eine  gewalt- 
same, ganz  äußerliche  Abkehr  von  jenem  Fehler.  Und  dasselbe  gilt 
von  der  Forderung  einer  einzigen  fertigen  Tat. 

Sofern  nun  endlich  die  Arten  des  Dramas  von  der  Stoffwahl  ab- 
hangen, wäre  zunächst  das  geschichtliche  Schauspiel  zu  nennen.  Das 
tragische  Geschick  pflegt  hier  von  der  >in  der  Geschichte  schwanken- 
den ,  vieldeutigen  Persönlichkeit  bis  in  den  weitesten  Umfang  sich 
auszudehnen  oder  wie  der  ins  Wasser  geworfene  Stein  schließlich  in 
leiseste  Wellenbewegungen  sich  aufzulösen.  Das  Schicksal  rollt  mit 
dialektischer  Notwendigkeit  ab.  Stets  handelt  es  sich  um  die  Männer 
der  Tat,  die  nach  der  Volksmeinung  die  Machtkämpfe  der  Geschichte 
entscheiden.  Weder  die  verhältnismäßige  Selbständigkeit  der  Masse 
noch  die  Bedeutung  der  Denker  und  Kunstler  tritt  in  historischen 
Dramen  hervor;  wenigstens  ist  es  bisher  nur  einmal  gelungen,  die 
Menge  als  geschichtlichen  Helden  erfolgreich  zu  behandeln,  und  die 
stille  Arbeit  der  Forschenden  und  Bildenden  hat  sich  dieser  Darstel- 
lung gleichfalls  entzogen.  Wenn  nun  die  Träger  der  Geschichtsdramen 
jene  Willensmenschen  sind,  die  wir  aus  der  politischen  Geschichte 
kennen,  so  fragt  sich,  durch  welche  Behandlung  sie  selbst  sowie  das 
t.nt>tehen  und  Wirken  ihrer  Taten  zum  Inhalt  eines  Kunstwerkes 
^'einacht  werden  können.  Man  hat  geglaubt,  es  geschehe  dadurch,  daß 
der  Dichter  sich  von  der  geschichtlichen  Wahrheit  befreie  und  an 
Stelle  des  Wirklichen  das  Wahrscheinliche  setze.  Begreiflich  genug, 
daü  man  durch  diese  theoretisch  gerechtfertigte  Unabhängigkeit  gegen- 
über dem  Stoff  das  Drama  zum  reinen  Kunstwerk  machen  wollte.  Es 
\i\h\  ja  freie  Charaktergemälde  auf  historischer  Grundlage  wie  Schillers 
Don  Orlos  ,  die  außerordentliche  Kunstwerke  sind.  Weshalb  soll 
auch  nicht  ein  aus  der  Geschichte  bekannter  Einzelmensch  gewisse 
Richtungen  vorbildlich  und  typisch  verkörpert  haben?  Hat  nicht 
Shakespeares  Cisar  gleichsam  seine  f'ersönlichkeit  an  eine  Idee  ab- 
getreten, wie  noch  heute  der  fViester  seinen  Namen  aufgibt,  wenn  er 
Papst  wird?  Dennoch  ist  zu  sagen:  Shakespeares  geschichtliche  Bilder- 


378  rV.  DIE  WORTKUNST. 


reihen,  Schillers  Phantasien  über  Ereignisse  der  Vergangenheit  und  das 
griechische  Sagendrama  sind  eben  keine  echten  geschichtlichen  Dramen. 
Wenn  anders  ein  Drama  unserer  durch  Schulung  empfindlich  gewor- 
denen Auffassung  als  historisches  Schauspiel  erscheinen  soll,  darf  die 
poetische  Freiheit  von  der  Aristotelischen  Empfehlung  dessen,  »was 
hätte  geschehen  können«,  keinen  Gebrauch  machen.  Ich  bestreite  ent- 
schieden die  Richtigkeit  des  so  oft  nachgesprochenen Ooetheschen  Satzes: 
»Für  den  Dichter  ist  keine  Person  historisch,  es  beliebt  ihm,  seine  sitt- 
liche Welt  darzustellen,  und  er  erweist  zu  diesem  Zwecke  gewissen 
Personen  aus  der  Geschichte  die  Ehre,  ihren  Namen  seinen  Geschöpfen 
zu  leihen.«  (Hempelsche  Ausg.  29,  636.)  Unser  Respekt  vor  den  Tat- 
sachen ist  in  solchen  Fällen  vielmehr  so  stark,  daß  wir  jede  wesent- 
liche Veränderung  des  überiieferten  Stoffes  als  eine  uneriaubte  Willkür 
empfinden.  Ist  der  geschichtliche  Stoff  in  seinen  tatsächlichen  Grund- 
zügen für  den  Dramatiker  nicht  brauchbar,  so  vermeide  er  ihn. 
Schiller  in  seinem  »Wallenstein«,  Kleist,  Grillparzer,  Otto  Ludwig  und 
Grabbe  haben  die  Zeitumstände  mit  einer  recht  großen  Genauigkeit 
bewahrt  und  eben  dadurch  eine  Charakterentwicklung  veranschaulicht 
Die  straffe  Bindung  an  die  Wirklichkeit  ist  hier  uneriäßlich,  eine  Grenze 
mehr  zu  den  vielen  anderen ,  die  die  Kunst  sich  setzen  muß,  obgleich 
sie  über  alle  Grenzen  hinausdrängt. 

Der  vom  Dramatiker  verarbeitete  Stoff  kann  nun  aber  femer  oder 
näher  liegen  als  ein  geschichtlicher  Tatbestand.  Näher  liegt  das  Leben 
der  Gegenwart.  Es  bildet  den  Hintergrund  der  zahllosen  Stücke,  die 
gewohnheitsmäßig  als  »bürgeriiche«  Schauspiele  (Lustspiele,  Trauer- 
spiele) bezeichnet  werden.  Aus  der  ästhetischen  Prinzipienlehre  wissen 
wir,  daß  sie  unmittelbarer  und  selbstverständlicher  wirken,  aber  gerade 
deshalb  der  kräftigsten  Durchdringung  bedürfen,  um  nicht  dem  rohen 
Naturalismus  zu  verfallen.  Wir  begreifen  unschwer,  daß  die  Liebe  als 
des  Schicksals  Stimme  in  der  Verwertung  der  so  äußerlich  gewor- 
denen, geregelten,  gefühlsarmen  modernen  Wirklichkeit  fast  niemals 
fehlt  wie  schon  im  vorbildlichen  Lustspiel  der  Römer;  und  wir  be- 
wundem die  Dichter,  die  den  Hörer  aus  dem  kleinlichen  Interesse  an 
Einzelheiten  des  Stoffs  durch  Vereinfachung  herauszuheben  vermögen. 
Am  anderen  Endpunkt  stehen  die  Sagendramen.  In  ihnen  ist  alles 
weit  entrückt  und  überpersönlich.  Aufmerksamkeit  und  herzliche  An- 
teilnahme eriahmen  leicht  und  werden  daher  in  Richard  Wagners 
Werken  durch  die  stets  wechselnde  Musik  wach  erhalten. 

Vielleicht  darf  man  noch  vom  stilisierten  Drama  als  von  einer  be- 
sonderen Form  sprechen.  Wenn  wir  an  Goethes  Tasso  oder  an  den 
Schlußteil  des  Euripideischen  Herakles  denken,  so  brauchen  wir  nicht 
einmal  die  neuesten  Versuche  in  die  Rechnung  einzusetzen,  die  allzu 


ERZÄin-UNG  ITND  GEDICHT.  379 


sehr  einem  Schattenzuge  gleichen.  Die  Handlung  hat  geringes  Aus- 
maß und  Gewicht;  das  bloß  Fallartige  ist  Oberwunden,  das  Was  gänz- 
lich in  das  Wie  aufgegangen;  die  Personen  sind  so  unbedingte  Indi- 
viduen, daß  ihre  Beziehungen  zurücktreten  hinter  dem,  was  in  ihnen 
allein  und  bei  ihrem  Ringen  mit  der  Natur  sich  abspielt.  Man  wird 
solchen  Dramen  nur  gerecht,  sofern  man  ihren  gewollten  Gegensatz 
zum  Freskostil  der  Buhne  billigt 


3.  Erzählung  und  Gedicht 

Wenn  wir  epische  Werke  zunächst  wieder  unter  sprachlichen  Ge- 
sichtspunkten betrachten  wollen,  so  müssen  wir  uns  von  der  abge- 
standenen Lehre  befreien:  sie  sollten  vorgetragen  und  gehört  werden. 
In  Wahrheit  schreibt  und  liest  man  sie.  Auf  die  so  gestalteten  Sprach- 
vorstellungen kommt  es  an.  Weder  die  Gesichtsbilder  noch  die  starken 
Sachgcfuhle  bestimmen  den  ästhetischen  Wert  des  Stils.  Sondern  die- 
jenigen unter  den  vielen  Schwingungen  des  Gefühls  sind  entscheidend» 
die  nur  durch  das  gelesene,  also  nach  persönlicher  Art  innerlich  er- 
klingende Wort  ausgelöst  werden.  Es  mögen  ganz  einfache  Worte 
sein,  aber  so  wie  sie  dastehen  zwingen  sie  uns  Tränen  in  die  Augen; 
der  Inhalt  mag  ein  nichtssagender  Ausschnitt  aus  dem  grauen  Leben 
eines  gewöhnlichen  Menschen  sein,  aber  durch  das  königliche  Recht 
sprachlicher  Meisterschaft  wird  er  geweiht.  Wie  man  von  einem  Maler 
nichts  Höheres  sagen  kann  als  daß  er  zu  malen  versteht,  so  ist  das 
spezifische  Lob  für  den  Schriftsteller,  daß  er  zu  schreiben  weiß.  Flau- 
bert, der  fast  tiefsinnig  wurde,  weil  er  in  Ermangelung  einer  besseren 
Form  ein  einziges  Mal  zwei  Genetive  unmittelbar  aufeinander  folgen 
lassen  mußte,  er  würde  ein  geschüttelt  und  gerüttelt  Maß  von  Ver- 
achtung für  die  sorglose  Gewöhnlichkeit  übrig  haben,  die  sich  heut- 
zutage in  den  besten  Romanen  breit  macht.  Mindestens  sollte  die 
Muttersprache  reinlich  behandelt  werden  (was  der  auf  Handwerks- 
ausdrücke  angewiesene  Gelehrte  nie  erreicht)  und  jedes  Wort  sicher 
sit/en.  Der  Erzähler  hat  aber  noch  schwerere  Verpflichtungen.  Seine 
künstlerische  Rechtschaffenheit  besteht  darin,  daß  er  mit  unverstellter 
Stimme  redet,  von  sich  aus,  in  überzeugender  Eigenart.  Und  zugleich 
muß  der  Wortkörper  mit  der  in  ihm  verborgenen  Seele  eins  werden. 
Das  will  besagen,  daß  frohe  Ereignisse  in  jubelnden  Tönen,  Sorge 
und  Kummer  in  matten  Farben,  Zweifel  in  Wendungen,  die  stutzig 
machen,  Sicherheit  in  fest  einherschreitenden  Sätzen  zu  übermitteln 
sind.  Das  bedeutet,  daß  in  einem  Roman  aus  den  goldenen  Tagen 
Griechenlands  die  Unruhe  wohl  mit  dem  bewegten  Meer,  aber  nicht 


380  IV.  DIE  WORTKUNST. 


mit  dem  überspringenden  und  eilenden  elektrischen  Strom  verglichen 
werden  darf.  Das  meint,  daß  je  nach  dem  Gegenstände  die  Worte 
glatt  fließen  oder  sich  gegeneinander  auftürmen  oder  tropfenweise 
sickern  sollen.  Denn  in  allen  diesen  Beziehungen  ist  der  epische 
Dichter  viel  ungebundener  als  der  Dramatiker  und  der  Lyriker. 

Da  die  Phantasie  des  Erzählers  nicht  mit  allgemeinen  Baffen  ar- 
beitet, da  sie  nicht  einen  Selbstmörder,  sondern  diesen  Werther  kennt, 
da  sie  auch  der  Allegorie,  nämlich  der  Veranschaulichung  eines  ab- 
strakten Verhältnisses  durch  logisch  zureichende  Gestalten  zaudernd 
gegenübersteht,  so  strebt  sie  freilich  nach  einer  Sinnenfälligkeit  Die 
äußere  Ähnlichkeit  zweier  Dinge  genügt  ihr  zur  Vergleichung,  was  In 
der  Wissenschaft  unzulässig  wäre,  und  zwar  meist  in  der  Weise,  daß 
nur  ein  Teil  des  Verglichenen  die  Übereinstimmung  herstellt,  wobei 
sie  allerdings  sehr  vorsichtig  verfahren  muß,  um  schwülstige  und  ge- 
schmacklose Wendungen  zu  meiden.  Indessen,  keine  Novelle  und 
kein  Roman  besteht  lediglich  aus  Bildern  und  Gleichnissen.  Menschen 
mit  der  Einbildungskraft  eines  Malers,  wie  Ruskin  und  Fromentin, 
schreiben  viel  farbiger,  gewissermaßen  mit  dem  Pinsel  in  der  Hand, 
obgleich  sie  nicht  dichten.  In  unseren  besten  Erzählungen  hingegen 
wird  vieles  eigentlich  und  begrifflich  ausgedrückt.  Wir  haben  Wort- 
werke eriesenster  Qualität,  die  beinahe  ohne  jede  Metapher  auskommen. 
Der  Dichter,  der  aus  dem  Herzen  der  Sprache  heraus  schreibt,  lid)t 
das  lebendige  Zeitwort  und  hält  dem  Stil  das  unnütze  Fett  schmückender 
Beiwörter  fern ;  denn  er  spricht  ebenso  bestimmt  (nur  anders)  wie  ein 
militärischer  Befehlshaber  ®). 

Von  den  Formen  des  Epos  sind  unserer  Zeit  die  vertrautesten 
und  wichtigsten  Novelle  und  Roman.  Dichter,  die  über  ihre  Kunst  nach- 
gedacht haben,  belehren  uns  dahin,  daß  die  Novelle  einen  einzelnen, 
übrigens  entscheidenden  Lebensvorgang  darstellen  solle,  daß  sie,  um 
diesen  Mittelpunkt  angeordnet,  eine  ausbreitende  Entwicklung  und 
wesentliche  Veränderung  der  Charaktere  nicht  bieten  könne.  Sie  hat 
vielmehr  fertige  Menschen  zum  Inhalt,  die  in  einer  gewissen  Ver- 
kettung der  Umstände  ihre  Natur  offenbaren  und  die  Verhältnisse  ge- 
stalten^). Ganz  anders  der  Roman.  Wir  rechnen  ihn  zur  Gattung 
der  Erzählungen,  obgleich  Friedrich  Schl^el  die  »Darstellung  eines 
werdenden  und  wollenden  großen  Geistes«  auch  mit  Gesang  und 
Wechselrede  verquicken  wollte.  Für  ihn  kam  es  nicht  auf  den  ob- 
jektiven Inhalt  an,  sondern  auf  das  Ich  des  Dichters  und  seine  Be- 
kenntnisse; ähnlich  äußerte  sich  Novalis  über  die  Form  seines  Heinrich 
von  Ofterdingen:  »Äußerst  simpler  Stil,  aber  höchst  kühne,  romanzen- 
ähnliche, dramatische  Anfänge,  Übergänge,  Folgen  —  bald  Gespräch, 
dann  Rede,  dann  Erzählung,  dann  Reflexion,  dann  Bild  und  so  fort. 


j 


ERZÄHLUNG  UND  GEDICHT.  381 

Ganz  Abdruck  des  Gemüts,  wo  Empfindung,  Gedanke,  Anschauung, 
Bild,  Gespräch  und  Musik  unaufhörlich  schnell  wechselt  und  sich  in 
hellen,  klaren  Massen  nebeneinander  stellt.«  Das  führt  doch  wohl  in 
die  losere  Form  der  Märchen  hinüber  und  zu  dem  fruchtbaren  Boden 
des  Wunders  hinab.  In  der  Tat  meint  Novalis:  »Das  Märchen  ist 
gleichsam  der  Kanon  der  Poesie,  alles  Poetische  muß  märchenhaft 
sein;  der  Dichter  betet  den  Zufall  an.«  (Sehr.  Ill,  165.)  Kaum  nötig 
zu  sagen,  daß  jeder  Roman,  der  ein  Bild  vergangener  oder  gegen- 
wärtiger Zeit  entwirft,  abweichenden  Bedingungen  genügen  muß.  Hier 
fordern  wir  Achtung  vor  den  Tatsachen.  Hier  genießen  wir  auch  eine 
unpersönliche,  gewissermaßen  kommunistische,  an  die  Dichtkunst  der 
Naturvölker  erinnernde  Darstellungsweise,  wie  sie  Walter  Scott  zur 
Verfügung  hatte.  Außerdem  sind  episches  und  geschichtliches  Schaffen 
—  von  Urzeiten  an  —  darin  verwandt,  daß  sie  sich  gleichmäßig  zur 
Willensbestimmung  eignen.  Keine  andere  Wissenschaft  und  keine 
andere  Kunst  beeinflussen  unsere  Lebenshaltung  so  unwillkürlich  und 
so  sicher,  sind  so  persönlich  mit  uns  verbunden.  Dies  tätige,  mensch- 
liche Moment  gibt  großen  Geschichtswerken  und  großen  Dichtungen 
den  hinreißenden  Zug;  so  betrachtet,  sind  Historie  und  Poesie  stark 
durch  ihre  Tendenz.  Jeder  Geschichtschreiber  muß  nach  menschlichen 
und  sittlichen  Richtpunkten  die  erklärten  Tatsachen  würdigen,  muß 
Licht  und  Schatten  verteilen,  muß  auf  den  Willen  des  Lesers  wirken, 
der  ja  auch  aufs  engste  mit  dem  Verstehen  zusammenhangt.  Partei- 
nahme ist  unvermeidlich,  sie  spielt  ebensogut  in  die  Darstellung  der 
gegenwärtigen  Wirtschaftsbewegungen  hinein  wie  in  die  Schilderung 
altgriechischer  Zustände,  über  die  wir  objektiv  zu  urteilen  wähnen. 
Ranke  glaubte  sich  erfüllt  von  strenger  Sachlichkeit  und  schrieb  eine 
protestantische  Geschichte  der  Päpste,  Mommsen  machte  —  nach  einem 
bekannten  Wort  —  Cäsar  zu  dem  demokratischen  Kaiser  von  Deutsch- 
land (der  nie  kommen  wird),  Treitschke  verwendete  geradezu  die 
Vaterlandsliebe  als  Erklärungsprinzip.  Treitschkes  sittlich-nationale  und 
rhetorische  Behandlung  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  erscheint  mir 
immer  als  eine  glänzende  Probe  dafür,  daß  wissenschaftlicher  Stand- 
punkt und  Wertmaßstab  zusammenfallen  müssen,  wenn  die  Geschichte 
ihre  soziale  Wirksamkeit  voll  entfalten  will.  Und  bedarf  es  noch  des 
Hinweises  auf  Schiller,  um  klarzumachen,  daß  es  sich  mit  der  Dicht- 
kunst nicht  anders  verhält? 

Der  Roman  eignet  sich  am  vorzüglichsten  dafür,  ein  Mitgänger  im 
Getriebe  des  Lebens  zu  werden.  Denn  gegenwärtig  hat  er  sich  zu 
einer  Form  entwickelt,  in  die  jede  beliebige  Erfahrung  aufgenommen 
werden  kann.  Ihr  auszeichnendes  Merkmal  ist,  daß  so  viel  in  sie 
hineingeht,  daß  sie  ein  so  bequemes  Vehikel  der  Mitteilung  und  An- 


382  IV.  DIE  WORTKUNST. 


eignung  aller  möglichen  Interessen  bildet.  In  den  meisten  Fällen  wird 
die  Form  des  Romans  nicht  aus  den  Forderungen  des  inneren  Er- 
lebens heraus,  sondern  mit  Willkür  gewählt;  der  Inhalt  bekundet  wohl 
den  Scharfsinn  und  die  geistige  Bedeutung  des  Verfassers,  selten  je- 
doch seine  Gestaltungskraft  Die  Romane  gleichen  Sammelbecken,  in 
denen  alles  Platz  findet:  Seelenvorgänge  und  Schlachten,  Metaphysik 
und  Reiseabenteuer;  sie  sind  Auskunftstätten  für  Tagesfragen  und 
Ewigkeitsprobleme.  Falsche  Angaben  kulturgeschichtlicher  Art,  be- 
denkliche moralische  Urteile  in  einem  Roman  fordern  die  Kritik  ebenso 
heraus,  als  stunden  sie  in  Lehrbüchern  der  Geschichte  und  der  Ethik. 
Auch  die  Schriftsteller,  die  den  lehrhaften  oder  anekdotischen  Stoff 
psychognostisch  vertiefen  wollen,  erreichen  streckenweise  ihr  Ziel  nur 
dadurch,  daß  sie  Kräfte  zergliedern,  anstatt  sie  durch  ihre  Wirkung 
sichtbar  zu  machen,  und  daß  sie,  namentlich  im  Ichroman,  Reflexionen 
an  Stelle  von  Ereignissen  und  Gestalten  bieten.  Das  alles  begreifen 
und  rechtfertigen  wir  ohne  weiteres,  indem  wir  den  Unterschied  des 
Kunstwerkes  vom  bloß  ästhetischen  Gebilde  uns  in  die  Erinnerung 
rufen.  Bedenklicher  ist  bereits  der  Thesenroman,  selbst  der  unseres 
ehrenfesten  Volksschulmeisters  Gustav  Freytag,  noch  angreifbarer  der 
ausgesprochen  didaktische  Roman,  dieser  Bastard  von  Wissenschaft 
und  Moral.  Aber  über  alles  erlaubte  Maß  schwillt  der  Beisatz  an  in 
dem  »naturalistischen«  Roman.  Schriftsteller  dieser  Richtung  behandeln 
selbst  die  Liebe  dergestalt,  daß  sie  —  als  Vorbereitung  einer  späteren 
Theorie  —  eine  fleißige  und  gründliche  Kasuistik  aller  Formen  zu- 
sammenstellen. Sie  sind  wissenschaftlich  durch  ihr  Ziel:  die  Wahr- 
heit; durch  ihre  Methode:  Anhäufung  von  Zeugnissen,  logische  Seelen- 
analyse, Ausschaltung  der  eigenen  Persönlichkeit;  und  endlich  durch 
ihre  Form:  Genauigkeit  der  Beschreibung  und  Vorliebe  für  abstrakte 
sowie  technische  Ausdrücke.  Ich  erinnere  an  Balzac,  den  Doctor 
socialis,  dem  immer  die  Macht  des  Geldes  und  des  Willens  und  die 
daraus  stammenden  Kämpfe  vor  Augen  stehen,  an  Zola,  den  paite 
malgre  lui,  der  nur  durch  sein  Temperament  von  der  nüchternen 
Durchführung  lehrhafter  Absichten  abgelenkt  wird,  namentlich  aber  an 
das,  was  Edmond  de  Goncourt  in  der  Vorrede  zu  ^La  fille  EUsat. 
(1878)  bekennt:  »  . . .  //  m'a  ite  impossible  parfois  de  ne  pas  parier 
comme  un  m^deciriy  comme  un  savant,  comme  un  historien<>^  ^  oder  was 
er  schon  13  Jahre  früher  mit  seinem  Bruder  an  den  Anfang  von 
»Germinie  Lacerteux«  gesetzt  hatte:  ^Aujourd*hui  que  le  roman  s'elargit 
et  grandit,  qu' il  commence  ä  etre  la  gründe  forme  serieuse,  passionnee^ 
vivante  de  Vetude  litteraire  et  de  Venquete  sociale y  qu'il  devient  par 
Vanalyse  et  la  recherche  psychologique  Vhistoire  morale  contemporaine, 
aujourd'hui  que  le  roman  s'est  impose  les  Stades  et  les  devoirs  de  la 


KKZAllLrNCi  IM)  CiRDICHT.  383 

science,  il  peut  en  revcnJiqtur  les  Ubertvs  et  les  franchises.  Mit  diesen 
Worten  dekretierte  l'aris  ein  Verhältnis  zwischen  Kunst  und  Wissen- 
schaft, wie  Rom  ein  Verhähnis  zwischen  Kunst  und  kirchlichem  Dogma 
fest^elcKt  hat.  In  beiden  Fällen  soll  etwas  Aulierästhetisches  das 
Mafij^ehende  sein :  dort  die  Denk-  und  Lebenswahrheit,  hier  die  Heils- 
wahrheit. 

Welchen  Eigenschaften  verdankt  der  russische  Roman  seinen 
europäischen  Erfolg?  Der  tiefen  Gläubigkeit,  verbündet  mit  kommunis- 
tischer üesellschaftslehre.  Dostojewski  faiit  das  Christentum  als  eine 
persönliche  Entscheidung,  die  instinktmäliig  erfolgen  soll,  und  er 
glaubt  an  eine  weltgeschichtliche  Sendung  der  Russen  deshalb,  weil 
sie  freiwillig  Schuld  zu  bekennen  und  Schuld  zu  verzeihen  vermögen. 
Die  Wucht  der  Dostojewskischen  Romane  liegt  in  dieser  ursprung- 
lichen Moral.  Der  Dichter  hat  sich  zwar  gegen  grobe  Tendenz  aus- 
gesfirochen,  aber  doch  als  sein  Ziel  angegeben  das  Verkünden  des 
wahren  Christus  auf  dem  Umwege  der  Kunst <.  So  entströmt  auch 
der  Seele  Tolstois  die  Wahrheit  des  Evangeliums  und  der  Brüderlichkeit; 
ohne  diesen  Inhalt  wurde  sein  ganzes  Schreiben  ihm  zwecklos  und 
verwerflich  erscheinen.  Selbst  mit  unseren  deutschen  Romanschrift- 
stellern verhält  es  sich  ähnlich.  Die  meisten  wollen  ihre  Kunst  er- 
zieherischen Zwecken  dienstbar  machen.  Sie  wollen  Leiter  der  Jugend 
oder  Beichtväter  ohne  Talar  sein.  Alles  Einzelne  und  Farbige  des 
Lebens,  aller  ülanz  und  Reiz  der  Sprache  sinkt  zum  Werte  eines 
Mittels  hinab.  Es  bleibt  bei  dem,  was  Schiller  über  Wilhelm  Meister 
sagte:  Die  Form  des  Meisters  wie  überhaupt  jede  Romanform  ist 
schlechterdings  nicht  poetisch.  Sie  liegt  ganz  nur  im  Gebiete  des 
Verstandes,  steht  unter  allen  seinen  Forderungen  und  partizipiert  auch 
an  allen  seinen  Grenzen.  (Brief  an  Goethe  vom  20.  Oktober  1797.) 
Vielleicht  kann  der  Gedanke  richtiger  so  gewendet  werden:  der  Roman- 
schreiber JNt  deshalb  ein  Halbbruder  des  Dichters  wiederum  ein 
NX'ort  Schillers  ,  weil  er  mit  Notwendigkeit  in  die  Gefahr  getrieben 
wini.  dali  die  (unentbehrlichen)  aulierästhetischen  Bestandteile  die 
anderen  überwuchern. 

Indem  wir  uns  jetzt  der  allgemeinsten  Kennzeichen  des  Gedichts 
versichern  wollen,  treffen  wir  auf  eine  Übereinstimmung  mit  dem,  was 
wir  von  der  Wirksamkeit  der  Erzählung  wissen.  Auch  Gedichte 
iKiinliih  werden  im  Durchschnitt  so  genossen,  dalt  zuerst  ihr  Inhalt 
aiif^icnorninen  wird  (vgl.  S.  157).  Mit  dieser  Tatsache  ist  die  Theorie 
nicht  einverstanden.  Theodor  Storm  sagt  in  der  für  die  Technik  des 
lii-ik>  bedeutsamen  Vorrede  zum  *  Hausbuch  aus  deutschen  Dichtem 
siit  Claudius  :  Vl'ie  ich  in  der  Musik  hören  und  empfinden,  in  den 
bildenden  Künsten   schauen   und  empfinden  will,  so  will  ich  in  der 


384  rV.  DIE  WORTKUNST. 


Poesie  womöglich  alles  drei  zugleich.  Von  einem  Kunstwerk  will  ich 
wie  vom  Leben  unmittelbar  und  nicht  erst  durch  die  Vermittelung  des 
Denkens  berührt  werden;  am  vollendetsten  erscheint  mir  daher  das 
Gedicht,  dessen  Wirkung  zunächst  eine  rein  sinnliche  ist,  aus  der  sich 
dann  die  geistige  von  selbst  ergibt,  wie  aus  der  Blute  die  Fruchte 
Vom  Standpunkt  der  Soll-Ästhetik  aus  vortrefflich  gesprochen,  im  Sinne 
der  Ist-Ästhetik  unrichtig.  Unsere  Beziehung  zur  Sprache  ist  so  inhalt- 
licher Art,  daß  ein  unbefangenes  Verhältnis  zu  Gedichten  als  erstes 
Gegenglied  die  Meinung  des  Werkes  vor  sich  sieht.  Erst  an  zweiter 
Stelle  kommt  den  Lesern  mit  nicht  besonders  geschärftem  Kunstgeffihl 
das  sinnlich-musikalische  Moment  zum  Bewußtsein.  Nun  aber  haben 
die  Melodie  des  einzelnen  Gedichts,  einer  Arie  vergleichbar,  und  die 
unendliche  Melodie,  die  in  der  großen  lyrischen  Form  von  Gedicht  zu 
Gedicht  sich  fortspinnt,  eine  Beschaffenheit,  die  ausschließlich  der 
Sprache  gelingt.  Es  gibt  hier  Harmonien  und  Disharmonien,  ent- 
sprungen aus  den  Klangmöglichkeiten  des  Wortes,  Färbungen,  ge- 
bunden an  die  Wahl  der  Selbst-  und  Mitlauter,  und  insbesondere  die- 
jenigen rhythmischen  und  metrischen  Formen,  die  mit  der  Sprache 
verwachsen  sind. 

Der  Wortklang  und  sein  Gefühlswert  kann  zwiefach  verstanden 
werden.  Einige  Dichter  sind  ängstlich  darauf  bedacht,  daß  die  von 
ihnen  kunstvoll  gefügten  Worte  in  keiner  Nuance  von  der  ihnen  sonst 
zukommenden  Bedeutung  abweichen.  »Meer«  soll  nicht  wirken  wie 
»Amphitrite«,  sonst  hätte  eben  der  Dichter  bereits  »Amphitrite«  ge- 
sagt. Andere  dagegen  wollen  das  Wort  aus  seiner  gemeinen  Lage 
befreien  und  in  eine  leuchtende  Sphäre  hinaufheben,  sie  möchten  die 
Worte  wie  verschlafene  Kinder  aufrütteln.  »Kuß«  darf  nicht  klingen 
wie  »Schmatz«,  sondern  muß  alle  Zartheit  und  Innigkeit  atmen,  die 
der  keuschen  Berührung  jungfräulicher  Lippen  eignet  Soll  in  der  Tat 
die  lyrische  Sprache  jeden  Erdenrest  abstreifen?^®)  Ich  meine:  da  mit 
beiden  Verfahrungs weisen  Kunstwerke  geschaffen  worden  sind,  so 
steht  es  uns  nicht  an,  die  eine  zu  preisen  und  die  andere  in  den  Ab- 
grund zu  stürzen.  Wir  haben  von  den  Möglichkeiten  Kenntnis  zu 
nehmen.  —  Für  die  Klangfärbungen  gebe  ich  als  Probe  einige  Zeilen 
aus  Veriaines  Herbstlied: 

Les  sanglots  längs  BUssent  mon  coeur 

Des  violons  D'ane  langumr 

De  Vautomne  Monotone, 

Die  Tonmalerei  dieser  Verse  wirkt  umso  auffallender,  als  der  Sinn 
ihnen  geopfert  ist;  denn  auch  der  Dichter  dürfte  keine  bestimmte  Vor- 
stellung mit  den  »Geigen  des  Herbstes«  verbunden  haben.  Die  Worte 
besitzen,  abgesehen  von  ihrer  Bedeutung,  Schönheit  und  Eigenwert^ 


hj<zAni.rNr,  rxn  gedicht.  355 

und  zwar  als  KlanKeinheiten,  innerhalb  deren  zumeist  die  Selbstlauter 
den  Oefühlston  bestimmen.  Diese  ihnen  zukommende  Klangbeschaffen- 
heit setzt  sich  auch  im  Reime  durch.  Indessen,  der  Reim  ist  nicht 
nur  zufälliger  Oleichklang,  sondern  er  erfüllt  die  Aufgabe,  für  das  Ohr 
die  Verszeilen  voneinander  zu  trennen;  er  unterstützt  das  Metrum 
etwa  so  wie  die  Farbe  die  l^oportionen  eines  räumlichen  Kunstwerks 
hervorzuheben  vermag.  Er  arbeitet  gleichsam  als  ein  Stanzapparat, 
der  dem  MetallstQck  in  regelmäßigen  Zeitabständen  ein  Gepräge  auf- 
druckt. Da  der  Reim  den  Versen  größere  Festigkeit  gibt  und  da  er 
aus  der  Substanz  der  Sprache  seine  Nahrung  zieht,  so  begreift  man, 
daß  er  unverwüstlich  ist.  Aber  zur  Poesie  gehört  mit  unbedingter 
Notwendigkeit  nicht  der  Reim,  selbst  nicht  der  Vers,  vielmehr  lediglich 
der  Rhythmus. 

Auf  dem  vorgeschobensten  Posten  unserer  gegenwärtigen  deutschen 
Lyrik  verlangt  man  nach  einem  Rhythmus,  der  sich  nie  durch  ein  vor- 
gefaßtes Schema  behindern  läßt.  Im  Qegensatz  hierzu  erklären  andere 
Künstler  den  freien  Rhythmus  für  einen  Widerspruch  in  sich  selber: 
ein  [)ichter,  der  sich  durch  die  Formen  gefesselt  fühlt,  der  sich  nicht 
in  den  strengsten  Maßen  vollkommen  frei  bewegen  kann,  besitzt  eben 
ncKh  nicht  die  Meisterschaft.  Die  Formen  sind  willig,  aber  auch 
heilig*').  In  dem  Bewußtsein,  daß  gerade  der  Kraftvollste  den  Zwang 
strenger  Formen  aufsucht,  haben  die  Parnassiens  ihre  Schulforderungen 
erhoben:  sie  verzichteten  auf  die  Beweglichkeit  der  Cäsur  und  be- 
dienten sich  des  klassischen  Alexandriners,  ja  sie  erschwerten  den 
Reim  durch  die  Bedingung,  daß  auch  der  die  Reimsilbe  einleitende 
Konsonant  in  beiden  Worten  derselbe  sein  müsse.  Zwei  Bedenken 
hiergegen  lassen  sich  schon  innerhalb  der  allgemeinen  Kunstwissen- 
schaft deutlich  machen.  Wenn  ein  Dichter  von  irgendwelchen  Vor- 
stellungen ausgeht,  die  ihm  den  Kern  des  künftigen  Liedes  bedeuten, 
so  werden  inhaltliche  Assoziationen  und  Worte  ihm  in  sehr  ver- 
schiedenem Maße  zuströmen,  je  nach  der  Dehnbarkeit  der  ihm  vor- 
schwebenden Form.  Dieser  Zwang,  im  Walzertakt  des  Hexameters 
oder  in  der  Wortbeschränkung  des  Stabreims  zu  sprechen,  ist  not- 
wendig und  wohltätig.  Dennoch  gibt  es  eine  Grenze  seines  Nutzens, 
seihst  für  den  größten  sprachlichen  Reichtum  und  für  die  gewandteste 
flandhahung  der  Verse.  Wir  können  zwar  nicht  mit  dem  Finger  auf 
die  (irenzlinie  zeigen,  müssen  aber  grundsätzlich  ihr  Dasein  anerkennen. 
Der  andere  Zweifel  entspringt  aus  der  schon  oft  getadelten  Ver- 
wechselung von  Form  mit  Schema.  Sie  wird  durch  die  Theorie  der 
fhirnu^siens  und  der  ihnen  folgenden  Dichter  genährt.  Einen  Gegen- 
beweis (um  diesen  scharfen  Ausdruck  zu  gebrauchen)  liefern  die  freien 
Rhythmen.    Obwohl  sie  der  strophischen  Gliederung  entbehren,  den 

Drtioir.  Atthrtik  «id  allf.  KuitwiMcmdufl.  25 


386  IV.  DIE  WORTKUNST. 


bestimmten  Wechsel  von  Hebung  und  Senkung  und  einen  numerus 
clausus  der  Betonungen  verschmähen,  haben  sie  doch  die  äußerste 
rhythmische  Sicherheit.  Namentlich  aber  droht  von  der  Oberschätzung 
des  Schemas  die  Gefahr,  daß  die  Kunstübung  in  überlieferten  Rich- 
tungen festgehahen  und  die  Wissenschaft  zu  Mißverständnissen  ge- 
trieben wird.  So  ist  es  beispielsweise  ein  Irrtum  der  alten  Formen- 
lehre, von  Versfüßen  zu  sprechen.  Der  Versfuß  ist  ein  in  den  Auf- 
bauversuchen angewandter  Hilfsbegriff,  der  bei  einem  mit  den  g^ebenen 
großen  Einheiten  beginnenden  und  dann  zurückschreitenden  Verfahren 
entbehrt  werden  kann.  In  der  Regel  nämlich  endet  die  gehörte  Wirk- 
lichkeit bei  den  Wortfüßen  d.  h.  wir  hören  bei  den  Worten  »o  stille, 
sanfte,  silberhelle  Tage . . .«  keineswegs  Jamben,  sondern  Trochäen, 
deren  erstem  ein  Auftakt  vorausgeht  Wird  diese  natürliche  Wortreihe 
dem  Schema  zuliebe  jambisch  umgedeutet,  so  entstehen  Schwierigkelten 
für  Praxis  und  Theorie  (s.  S.  153). 

Lassen  wir  es  bei  diesen  Andeutungen  bewenden.  Noch  harrt  die 
Frage  der  Antwort,  wie  es  mit  dem  Inhalt  der  Lyrik  steht  Nicht  zum 
besten.  In  der  älteren  Lyrik  herrschen  neben  den  gleich  bleibenden 
Ausdrucksformen  auch  unverändert  wiederkehrende  Sachvorstellungen ; 
das  Versgeklimper  und  Reimgeschwätz  der  Epigonen  ist  deshalb  so 
unerträglich,  weil  sie  keinen  neuen  Inhalt  einzusetzen  haben.  Selbst 
fortgeschrittenen  Ästhetikern  galt  es  bis  vor  kurzem  als  ein  Verrat  an 
echter  Lyrik,  wenn  ein  Dichter  etwas  anderes  als  Liebe  und  Natur 
besingen  wollte.  Dann  wäre  allerdings  Lyrik  die  Kunst  jener  jugend- 
lichen Geschöpfe,  die  nur  in  einem  Punkte  reif  sind,  die  in  der  Brunst- 
zeit von  Männchen  und  Weibchen  den  Sinn  der  Welt  erblicken.  Des 
weiteren  erwartete  man  von  dieser  Dichtungsart,  daß  sie  dem  un- 
gebrochenen Fühlen  unmittelbar  zur  Äußerung  verhelfe.  Der  Dichter 
sage  in  fast  zeitloser  Augenblicklichkeit,  daß  und  weshalb  er  traurig 
oder  fröhlich  sei;  je  lebhafter  das  Gefühl,  desto  besser  sei  das  Ge- 
dicht Endlich  hat  man  gefordert,  jedes  echte  Gedicht  müsse  gesungen 
werden  können,  gleich  als  ob  es  vor  der  Ergänzung  durch  Musik  un- 
vollständig wäre. 

Von  diesen  drei  Leitsätzen  der  älteren  Poetik  ist  der  erste  schon 
dadurch  über  den  Haufen  geworfen  worden,  daß  die  lyrischen  Dichter 
gegenwärtig  ihr  Stoffgebiet  sehr  ausgiebig  erweitem  und  dennoch  in 
den  Grenzen  ihrer  Kunst  bleiben.  Da  es  zu  allen  Zeiten  so  gewesen 
ist,  da  jene  Freiheitsdichter,  die  in  der  Sprache  entfesselter  Sklaven 
redeten,  und  jene  Lebensdichter,  die  alle  Gebiete  des  wirklichen  Lebens 
in  das  Lied  hineinbezogen,  sich  stets  als  echte  Lyriker  gefühlt  haben, 
so  wird  man  mit  lehrhafter  Abgrenzung  nicht  weiter  kommen.  Sofern 
etwas  ein  gutes  Kunstwerk  ist  und  in  den  Formen  des  Gedichtes 


KRZAHI.r.V;  TM)  GEim  IIT.  387 

sich  darstellt,  müssen  wir  es  als  Lyrik  anerkennen.  Jede  stoffliche 
Einschränkung  wäre  eine  Sünde  gcaen  den  Oeist  der  Kunstwissen- 
schaft. Gerade  aus  diesem  allgemeinen  Grunde  werden  aber  Gedichte 
abgelehnt  werden  müssen,  in  denen  das  [Persönliche  schrankenlos 
herrscht  und  die  ursprüngliche  Leidenschaft  des  Gefühls  den  Lebens- 
nerv bildet.  Es  gibt  keine  Kunstart,  in  der  elementares  Fühlen  aus- 
reichen könnte.  Wird  die  Intensität  der  Gefühle  so  groß,  daß  die 
Bildgrenze  der  Kunst  überschritten  wird,  so  sind  diese  Gefühle  auch 
lyrisch  nicht  mehr  zusammenzuhalten.  Starke  Bewegungen  sind  immer 
kunstfremd.  Sie  mögen  durch  die  Individualität  des  sich  in  ihnen 
Bekennenden  und  von  ihnen  Befreienden  interessieren;  indessen  darüber 
hinaus  ist  zu  verlangen  Formung  des  ausströmenden  Gefühls,  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  daß  solche  Leistungen  kalt  gescholten  werden 
gegenüber  jenen  Gedichten,  in  denen  der  Naturstoß  der  Leidenschaft 
vorwärtsdrängt.  Die  stammelnde  und  wild  sich  gebärdende  Bekenntnis- 
lyrik erinnert  an  die  weinenden  und  schreienden  Kinder.  Erst  wenn 
ihre  schwächliche  Heftigkeit  überwunden  ist,  beginnt  die  Kunstlyrik. 
Damit  soll  natüriich  die  persönliche  Anteilnahme  des  Dichters  nicht 
geleugnet  werden.  Schon  Goethes  Ausspruch,  jedes  gute  Gedicht  sei 
eine  Gelegenheitsdichtung,  hebt  dies  persönliche  Moment  in  der  Ent- 
stehung hervor.  Aber  das  gilt  von  der  Lyrik  in  keinem  andern  Sinne 
als  von  den  übrigen  Künsten.  -  Was  schließlich  das  Verhältnis  des 
Gedichtes  zur  Musik  betrifft,  so  haben  wir  uns  damit  ja  schon  be- 
schäftigt (s.  S.  139  u.  326).  Das  Gedicht  als  solches  soll  wie  Gesang 
klingen  und  die  ganze  unbestimmte  Rührung  und  Erregung,  die  Musik 
wecken  kann,  auch  schon  durch  sich  gewähren.  Tritt  die  Vertonung 
hinzu,  so  ist  und  bleibt  die  Hauptsache,  daß  ein  musikalisches  Kunst- 
werk entsteht.  Denn  Musik  ist  die  zudringlichste  Kunst  und  behält 
sogar  in  der  Unterordnung  ihre  nie  auszurottende  Selbständigkeit. 

Die  Wahrheit  tritt  manchmal  an  Orten  hervor,  wo  man  sie  nicht 
vermutet.  Wer  würde  in  John  Stuart  Mills  Schriften  die  Wahrheit 
ühcr  die  Lyrik  suchen?  Dennoch  liest  man  bei  diesem  englischen 
Utilitarier,  daß  reine  Lyrik  den  Gipfel  der  Poesie  erreiche  und  der 
Geschichtenerzähler  gar  nicht  zu  den  Poeten  gerechnet  werden  dürfe. 
Wir  schließen  unsere  Betrachtung  mit  den  Worten  Mills:  'Wenn 
anders  meine  oben  entwickelte  Ansicht  richtig  ist,  so  ist  die  lyrische 
f\>esie,  ebenso  wie  sie  die  erste  Art  von  Poesie  war,  auch  in  einem 
hcihcren  und  eigentümlicheren  Grade  f^oesie  als  irgend  eine  andere 
Art;  sie  ist  die  Poesie,  welche  einem  von  Natur  poetischen  Tempe- 
rament am  meisten  entspricht,  und  kann  von  einem  Geist,  dem  die 
Natur  diese  Gabe  versagt  hat,  am  wenigsten  mit  Erfolg  nachgeahmt 
werden*  '*). 


388  IV.  DIE  WORTKUNST. 


Anmerkungen. 

1)  Gottfried  Kellers  Ges.  Werice  IV.  (Beriin  1902.)  Die  Leute  von  Seldwyla  I, 
28.  Aufl.,  S.  105  f. 

2)  Eine  vergleichbare  Verknüpfung  liegt  schon  in  der  Gehörswahmehmung  des 
Wortes  »rot«.  Denn  zumeist  sind  in  ihr  ein  akustischer  und  ein  kinästhetischer 
Vorgang  miteinander  verflochten.  Diese  Vorgänge  sind  sich  keineswegs  derart 
ähnlich  wie  ein  Gegenstand  und  sein  Spiegelbild  oder  ein  Ton  und  seine  Oktave, 
aber  allerdings  gehören  auch  sie  zusammen. 

')  Die  Überiieferung  nennt  eine  Schilderung  direkt,  wenn  kennzeichnende  Merk- 
male angegeben  werden,  indirekt,  wenn  sie  den  Gegenstand  mit  bereits  bekannten 
anderen  Dingen  vergleicht  und  durch  diese  Rückführung  auf  Gewohntes  die  An- 
eignung des  Neuen  erleichtert  Die  im  Text  gegebene  Unterscheidung  ist  indessen 
für  unsere  Zwecke  wichtiger. 

*)  Enger  gehört  die  Hyperbel  zum  Sinnfälligen.  Denn  Verstärkung  und  Er- 
weiterung von  Vorstellungen  erfahren  wir  oft  genug,  fast  allnächtlich  im  Traum 
und  alltäglich  beim  willkürlichen  Erinnern.  Mit  >Übertreibungc  oder  gar  mit 
»Täuschung«  läßt  sich  die  Hyperbel  nur  dann  eridären,  wenn  man  den  wissen- 
schaftlich gereinigten  Wirklichkeitsbesitz  des  normalen  Denkmensdien  als  Wahr- 
heitsbestand ansetzt  Das  natürliche  Vorstellen  ist  nicht  genau,  sondern  einer  Nei- 
gung zum  Anwachsen  ebenso  preisgegeben  wie  einer  Neigung  zum  Abblassen. 

^)  Näheres  in  J.  L  Kleins  Geschichte  des  Dramas,  1865—76,  III,  55.  Zum 
folgenden  vgl.  Prölß,  Geschichte  des  neueren  Dramas,  1880  und  Ebert,  Entwicke- 
lungsgeschichte  der  französischen  Tragödie,  1856. 

')  Vgl.  meine  Geschichte  der  neueren  deutschen  Psychologie,  1902,  I,  137. 

^  In  dem  Aufsatz  »Bei  Gerhart  Hauptmann;  von  einem  Freunde«  (Deutsdie 
Revue,  März  1895)  habe  ich  auf  solche  Zweifel  hingedeutet  Übrigens  ist  eine  Be- 
merkung noch  heute  von  Interesse;  Hauptmann  berichtete  damals,  daß  eine  Per- 
sönlichkeit ihm  mit  der  Art  ihrer  Sprache  am  treuesten  in  der  Erinnerung  haften 
bleibt:  er  wisse,  mit  welchem  kennzeichnenden  Tonfall  —  und  hiemadi  auch  mit 
welchen  Worten  —  sie  ihre  Freude  und  Trauer,  ihre  Zustimmung  oder  Mißbilligung 
ausdrücken  würde.  Der  so  beschaffene  Gedächtnisstoff  wirkt  auf  die  Erfindung 
und  Kennzeichnung  der  dramatischen  Figuren. 

^)  ^0-  Jakob  Wassermann,  Die  Kunst  der  Erzählung,  1904. 

*)  Näheres  in  Spielhagens  Beiträgen  zur  Theorie  und  Technik  des  Romans, 
1883,  S.  245. 

^^)  Es  ist  zu  beachten,  daß  mit  der  Trennung  der  poetischen  Sprache  von  der 
des  Alltags  nicht  eine  Rückkehr  zur  ursprünglichen  Bedeutung  der  Wörter  stattzn* 
finden  braucht  Die  unmittelbare,  in  lyrischen  Gesang  ausströmende  Erregung  einer 
Horde  kennt  zwar  die  Metapher,  vermeidet  aber  sonst  jeden  Umweg  des  Ausdrucks; 
im  Verhältnis  hierzu  ist  persönliche  Lyrik  immer  künstlich. 

**)  Die  eine  Richtung  wird  von  Arno  Holz  in  seinem  Buche  Revolution  der 
Lyrik  (1899),  die  andere  Richtung  von  den  Gründern  und  Mitarbeitern  der  »Blatter 
für  die  Kunst«  (seit  1892)  vertreten. 

**)  John  Stuart  Mills  Gesammelte  Werke.  Autorisierte  Übersetzung  unter  Re- 
daktion von  Theodor  Gomperz,  1874,  Bd.  IX,  S.  197—222.  (»Gedanken  über  Poesie 
und  ihre  verschiedenen  Arten.«) 


V.  Raumkunst  und  Bildkunst 


1.  Mittel  und  Arten  der  Raumkunst 

Wenn  wir  von  bildender  Kunst  hören,  so  denken  wir  unwillkürlich 
an  ein  farbiges  Gemälde,  das  eingerahmt  an  der  Wand  hängt,  und  an 
eine  Bildsäule,  die  von  allen  Seiten  sichtbar  auf  einem  Sockel  dasteht. 
Doch  schon  in  dieser  Beschränkung  mißfällt  uns  das  Wort  bildende 
Kunst«,  da  es  ja  schließlich  die  Aufgabe  aller  Künste  ist  zu  bilden. 
Und  bei  weiterer  Überlegung  bemerken  wir,  daß  irgendwie  auch  das 
Kunstgewerbe  dazu  gehört,  daß  Illustrationen  und  Zeichnungen  zu 
nennen  wären,  daß  die  von  der  Hand  geformten  und  vom  Auge  zu 
genießenden  Gebilde  oft  nur  Schmuckflächen  auszufüllen  haben,  daß 
die  Menge  der  Reliefdarstcllungen  wohl  größer  ist  als  die  Anzahl  von 
Werken  der  Rundplastik. 

Gibt  es  ein  alle  Arten  umfassendes  gemeinsames  Merkmal?  Nach 
Adolf  Hildebrand  *)  handelt  es  sich  in  der  bildenden  Kunst  um  Dar- 
stellung der  körperlichen  Welt.  Körper  erhalten  erst  aus  einer  ge- 
wissen Entfernung  den  Charakter  der  Einheit  und  zwar  dadurch,  daß 
das  Fernbild  zugleich  Flächenbild  ist;  die  Tiefenverhältnisse  werden 
auf  Grund  von  Kenntnissen  erschlossen,  die  wir  bei  nahen  Gegen- 
ständen durch  Augenbewegungen  und  Akkommodation  gewonnen  haben. 
Bei  der  Wahrnehmung  aus  der  Nähe,  so  würde  ich  sagen,  tritt  das 
Nacheinander  des  Sehvorganges  zu  lebhaft  ins  Bewußtsein,  als  daß 
die  über  der  Zeit  erhabene  einheitliche  Auffassung  des  Entfernten 
/u  Stande  kommen  könnte.  Je  weiter  man  die  Raumkünste  von  den 
Zeitkünsten  abrückt,  desto  energischer  muß  man  auf  dem  Gesetz  des 
Fernhildes  bestehen.  Denn  nur  beim  Fembild  gibt  es  die  anscheinend 
/citfreie  Auffassung  in  einem  Augenblick.  Demnach  wären  Zeichner 
und  Maler  gegenüber  den  Bildhauern  begünstigt,  da  sie  auf  der  Fläche 
arbeiten  und  nur  der  Natur  des  Fernbildes,  das  selbst  flächenhaft  ist, 
/u  folgen  brauchen.  Die  gleiche  Ergänzungsarbeit,  die  wir  beim  An- 
schauen entfernter  Gegenstände  vornehmen,  leihen  wir  auch  dem 
flächenhaften  Bild.  Durch  gewisse  Kunstmittel  vermag  nun  der  Maler 
sein  Flächenbild  ebenso  zu  gestalten,  wie  die  Natur  das  Fembild  aus- 


3g0  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

stattet,  so  daß  die  Vorstellung  der  räumlichen  Form  mit  Sicherheit 
entsteht.  Das  Bild  wird  nach  dieser  Auffassung  zu  einem  Gesamt- 
organismus von  Raum  und  Form.  Es  hat  nicht  die  Aufgabe,  einen 
Vorgang  zu  erzählen,  sondern  eine  räumlich-anschauliche  Notwendig- 
keit der  Erscheinung  zu  schaffen.  Diese  künstlerische  Metamorphose 
der  Gegenstandsvorstellung  soll  auch  bei  der  Plastik  auftreten:  die 
Figur  soll  als  Fembild  wirken,  ist  sie  ja  nach  demselben  Gesetz  des 
künstlerischen  Sehens  geschaffen  worden. 

Es  ist  geradezu  behauptet  worden,  daß  Malerei  und  Plastik  gleich- 
mäßig darauf  bedacht  seien,  die  Tiefe  anschaulich  zu  machen.  Aber 
die  Kunst  der  Malerei  hat  bestanden,  lange  bevor  die  Darstellungs- 
mittel der  Verkürzung  und  Perspektive  gefunden  waren;  Kinder  und 
Naturmenschen,  noch  unfähig.  Tiefe  auf  einer  Fläche  vorzutäuschen^ 
verlangen  nach  Malerei  und  freuen  sich  daran.  Die  dritte  Dimension 
tritt  erst  in  der  Entwicklung  dieser  Kunst  hinzu,  freilich  mit  derselben 
Notwendigkeit,  mit  der  die  Muskelbewegung  der  Sehfähigkeit  des 
Auges  sich  anschließt.  Auch  wir  können  noch  Bilder  genießen,  bei 
denen  die  Ebenheit  völlig  gewahrt  wird;  und  von  ihnen  unterscheidet 
jedermann  sofort  die  plastische  Kunst,  die  voll  bestimmte  Körper 
schafft. 

Die  Gelegenheit  zur  künstlerischen  Flächenbehandlung  mit  und 
ohne  Farbe  ist  gar  nicht  selten.  Man  denke  an  die  Schutzmarken  der 
Fabrikerzeugnisse,  die  Buchdmcker-  und  Veriegerzeichen,  die  Exlibris 
und  die  Monogramme.  Da  werden  aus  Buchstaben  Naturformen  oder 
umgekehrt,  Schrift  und  Wirklichkeit  führen  zusammen  ein  Tänzchen 
auf,  selbst  leere  Stellen  des  Papiers  werden  geschickt  in  die  fast  ab- 
strakten Gebilde  einbezogen.  Der  Künstler  zielt  nicht  auf  Bildwirkung 
und  gewiß  nicht  auf  Körperiichkeit;  das  Ganze  bleibt  eine  Fläche 
und  nimmt  nur  so  viel  Tiefe  —  meist  durch  Schattengebung  —  auf, 
wie  zur  Verdeutlichung  der  Teile  nötig  scheint  Die  Mitteilungskraft 
der  Linie,  die  uns  schon  früher  (s.  S.  281)  entgegentrat,  steigert  sich 
in  den  Bilderrätseln  aufs  äußerste.  Die  Heraldik  kennt  das  Wort 
»redende  Wappen«  und  meint  damit  Wappenschilder,  die  den  Träger 
gleichsam  mit  Namen  bezeichnen  z.  B.  eine  Henne  auf  einem  Berge 
zeigen  und  so  das  Geschlecht  der  »Henneberg«  im  Bilde  festhalten. 
Solche  armes  parlantes  sind  keine  Gemälde  und  können  trotzd^n 
Kunstwert  hat)en.  Oberhaupt  bleibt  die  Linienkunst  auch  in  der 
Gegenwart  mit  der  Schrift  verwandt,  ihrem  Ursprung  getreu.  Auf 
japanischen  Blättern  findet  man  Schriftzeichen  teils  als  malerische  Bei- 
hilfe teils  als  Grundlage  einer  Ornamentik,  außerdem  beobachtet  man, 
daß  die  so  häufig  gesehene  und  geübte  Bewegungslinie  der  Kalli- 
graphie den  Linienschwung  der  Zeichnung  im  ganzen  beeinflußt;  die 


MITTEI-  UNI)  ARTEN  DER  RAUMKUNST.  301 


flQchtiK  K^rundeten  Formen,  mit  dem  Pinsel  auf  Papier  gesetzt  oder 
mit  dem  Griffel  ins  l^lmenblatt  geritzt,  sind  der  Hand  vertraut  ge- 
worden. In  unserer  Schrift  herrschen  andere  Oesetze.  Und  was 
wichtiger  ist:  während  das  Zeichnen  immer  neue  laichten  auferlegt 
und  immer  neue  Reize  gewinnt,  begnügt  sich  der  Schreibende  mit  dem 
praktischen  Ziel  der  Lesbarkeit  (und  erreicht  auch  dies  nicht  immer). 
Dennoch  kann  die  Handschrift  von  einer  kQnstlerischen  Vollendung 
sein,  der  gegenüber  jede  Druckschrift  einen  gleichgültigen  Eindruck 
hervorruft,  und  dies  nicht  etwa  weil  sie  den  Handwerksregeln  der 
Schönschreibekunst  folgt,  sondern  weil  sie  ohne  mechanische  Glätte 
und  Genauigkeit  den  Anforderungen  persönlicher  Bestimmtheit,  Zweck- 
mäiiigkeit,  Einheitlichkeit  genügt').  Wenn  Künstler  in  Glasfenster  oder 
Gitter  oder  Zeichnungen  Worte  einzufügen  haben,  so  begnügen  sie 
sich  selten  mit  den  Buchstaben  des  Setzerkastens;  sie  verändern  die 
Formen  jeweilig  nach  der  Umgebung.  Dürer  hat  in  seiner  Geo- 
metrie Anweisung  zum  Entwerfen  zweier  Alphabete  gegeben,  und 
neuerdings  sind  tüchtige  Kräfte  dabei,  unsere  Drucktypen  zu  veredeln 
und  zu  bereichem. 

Aus  allen  solchen  Tatsachen  ersieht  man  sofort,  daß  eine  vielseitige 
Kunsttätigkeit  besteht,  die  mit  der  Wiedergabe  der  dritten  Raumaus- 
messung gar  nichts  zu  schaffen  hat.  Indem  wir  ihrer  einfachsten  Form 
theoretischen  Ausdruck  leihen,  sprechen  wir  von  abstrakter  Linien- 
und  Flächenkunst  Inhaltlich  deckt  sie  sich  der  Hauptsache  nach 
mit  Ornamentik  und  Dekoration,  die  in  der  Entwickelung  der  Kunst 
die  Anfänge  beherrschen  und  alle  späteren  Phasen  in  bescheidener 
Nebenstellung  begleiten.  Formal  handelt  es  sich  um  ein  Linienspiel, 
das  in  keinem  Sinn  ein  Bild  der  Wirklichkeit  sein  soll,  vielmehr 
mit  der  ästhetischen  Wohlgefälligkeit  der  Begrenzungen  und  Gliede- 
rungen einerseits,  mit  Anpassung  an  lehrhafte  und  praktische  Zwecke 
anderseits  sich  begnügt.  (Vgl.  S.  121  ff.,  174  ff.,  283  ff.)  Als  Mittel 
kommen  vornehmlich  in  Betracht  Bleistift  und  Feder,  Grabstichel  und 
kalte  Nadel,  Ätzplatte  und  Holzstock. 

Linien  haben  ihre  besondere  Sprache  und  Mundarten.  Wie  in  der 
Musik  die  Klänge,  so  können  sie  sich  zu  abgeschlossenen  Formen 
vereinigen  oder  der  unendlichen  Melodie  vergleichbar  rastlos  inein- 
ander übergehen,  so  daß  sie  grundsätzlich  kein  Ende  zu  finden 
brauchen.  Ein  entwickeltes  Formengefühl  findet  auch  in  solchen  Bil- 
dungen das  bestimmte  Gesetz,  das  ein  stumpferes  Auge  nur  in  der 
deutlichen  Abgeschlossenheit  erkennt.  Die  freien  Rhythmen  der  Linien- 
führung haben  sich,  entsprechend  dem  Verlauf  der  Musik-  und  Lite- 
raturgeschichte, erst  in  der  neueren  Zeit  bewußt  entfaltet;  ihre  Formen- 
lehre ist  noch  nicht  geschrieben.    Gebundene  und  freie  lineare  Ver- 


392  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

knupfungen  unterliegen  den  Gesetzen  der  Einheit,  der  Strahlung  und 
der  Wiederholung,  während  der  mechanische  Ausgleich  von  groß  und 
klein,  rechts  und  links,  oben  und  unten  sich  auf  die  festeren,  der 
Symmetrie  zustrebenden  Gefüge  beschränkt.  Im  Grunde  bedeuten 
Strahlung  und  Wiederholung  gleichfalls  eine  Vereinheitlichung.  Jene 
läßt  von  einem  Mittelpunkt  oder  einem  Stamme  Verzweigungen  aus- 
gehen, diese  setzt  Gleiches  nebeneinander  und  zwar  ohne  Scheu,  da 
sie  keine  Wirklichkeiten  als  Bestandteile  enthält;  denn  Wirklichkeiten 
widerstreben  der  Wiederholung  und  umso  entschiedener,  je  inhalts- 
voller sie  sind.  Das  Hauptverfahren  indessen,  die  Einheit  herzustellen, 
ist  das  der  Hilfsumrahmungen.  Wenn  ein  Muster  in  eine  einfache 
geometrische  Figur  eingezeichnet  wird,  die  man  nachher  natürlich 
tilgen  kann,  so  wird  ihm  ein  sicherer  Zusammenhalt  gegeben.  Fast 
möchte  ich  diese  Geschlossenheit  mit  derjenigen  einer  Bildsäule  ver- 
gleichen, die  aus  dem  Marmorblock  ausgehauen  wird.  —  Gerade 
Linien  innerhalb  geschlossener  oder  aufgelöster  Muster  haben  zumeist 
tektonischen  Wert.  Als  Senkrechte  tragen  sie  (metaphorisch  ge- 
sprochen) oder  stehen  sie  fest,  als  Wagerechte  verbinden  oder  trennen 
sie;  die  Wirksamkeit  der  Wagerechten  ist  geringer  und  pfl^  daher 
durch  Wiederholung,  Verdickung  und  betonte  Einbeziehung  in  das 
Ganze  verstärkt  zu  werden.  An  durchgehende  Horizontallinien  knüpft 
sich  nicht  nur  der  Gefühlston  der  Breite,  sondern  auch  derjenige  des 
Lastens,  der  Ruhe,  ja  sogar  der  Traurigkeit.  Kurven  wecken  leicht  die 
Assoziation  einer  Bewegung,  weil  wir  unzählige  Male  gesehen  haben, 
daß  die  langsam  herabfallende  Hand  oder  der  geworfene  Ball  Kurven 
beschreiben. 

Das  Wesen  dekorativer  Flächenfüllung  kann  erhalten  bleiben,  auch 
wenn  die  Farbe  hinzutritt.  Ob  eine  Tapete  farblos  oder  farbig  ist  — 
die  Wand  muß  fester  Abschluß  sein  und  erlaubt  keine  Tiefenbilder 
an  ihrer  Oberfläche.  Die  Teppichzeichnung  verlor  an  Kraft  und 
Eigenart,  als  man  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  perspektivische 
Effekte  einführte.  Ich  habe  einmal  ein  Meisterstück  der  Gobelintechnik 
gesehen  {Heliodore,  chassi  du  templey  1682),  das  vier  Säulenreihen  in 
vier  Ebenen  hintereinander  zeigte:  diese  Nachahmung  des  Tafelbildes 
verdarb  alles.  Außer  Tapeten  und  Teppichen  wären  die  Schrift-  und 
Bildplakate  zu  nennen,  die  mit  einer  weithin  wirkenden  Farbenanord- 
nung die  Augen  fesseln  wollen. 

Die  meisten  Werke  der  Nutzkunst  gestalten  allerdings  den  Raum 
nach  seinen  drei  Dimensionen.  Da  sie  hierin  mit  den  Bauwerken 
übereinstimmen,  so  wollen  wir  zuerst  lieber  die  ihnen  eigentümlichen 
oder  wenigstens  am  schärfsten  an  ihnen  hervortretenden  Prinzipien 
kennen  lernen.    Also  sprechen  wir  von  der  Rücksicht  auf  das  Material 


H..d 


MITTKL  INI)  AkTKN  DER  RAUMKUNST.  303 

als  von  einem  IVinzip,  das  hier  am  besten  zu  erfassen  ist.  Zwei  Fälle 
sind  zu  unterscheiden.  Die  Betonung;  des  in  abstrakten  Raumformen 
verarbeiteten  Stoffes  kann  sich  auf  seine  Kostbarkeit  beziehen.  Da- 
t^e^en  ist  nichts  einzuwenden,  vorausgesetzt  daß  gleichzeitig  auch  die 
Erscheinung  gewürdigt  wird;  denn  alles  Kostbare  ist  selten  und  nähert 
sich  der  Einzigkeit  eines  künstlerischen  Wertes.  Aus  einer  ähnlichen 
Achtung  vor  dem  Gegebenen,  wie  wir  sie  im  geschichtlichen  Schau- 
spiel verlangen  und  zu  den  berechtigten  Wirkungen  des  Naturalismus 
zählen,  werden  selbst  Zufälligkeiten  in  der  Beschaffenheit  des  behan- 
delten Stoffes  geschont.  Das  launische  Spiel  auf  irisierenden  Gefäßen 
und  die  wunderiichen  Unberechenbarkeiten,  die  bei  Schmelz-  und  Guß- 
arbeiten in  der  Glashütte  ihr  Wesen  treiben,  entwickeln  sich  zu  einer 
Quelle  vornehmsten  Kunstschaffens.  Femer  zeigt  gute  gewerbliche 
Kunst  die  Neigung,  das  Wesen  des  benutzten  Stoffes  im  allgemeinen 
zur  Geltung  zu  bringen.  Es  ist  wahr,  daß  die  Vorliebe  für  billige 
Imitationen  nicht  nur  ästhetische,  sondern  sittliche  Verwüstungen  an- 
richtet, weil  sie  den  Sinn  für  alles  Echte,  sich  selbst  Bekennende  zer- 
stört. Und  es  ist  bedaueriich,  daß  die  ästhetische  Scheinlehrc  der 
Mißachtung  des  Stoffes  Vorschub  geleistet  hat  Anderseits  darf  doch 
auch  die  Beschaffenheit  des  Stoffes  nicht  engherzig  aufgefaßt  werden. 
Holz  beispielsweise  erlaubt  durchaus  die  geschwungenen  Linien  des 
Rokoko.  Zu  allen  Zeiten  sind  Wasserfahrzeuge  oder  wenigstens  ihre 
Innenräume  durch  Biegen  des  Holzes  hergestellt  worden.  Ein  Stuhl 
hält,  stützt  und  umspannt,  wenn  er  der  Elastizität  des  Holzes  Rech- 
nung trägt.  Nebenbei  bemerkt:  jeder  von  uns  Sklaven  des  Schreib- 
tisches sollte  sich  den  Arbeitssitz  nicht  vom  Tischler,  sondern  vom 
Muskelphysiologen  bauen  lassen,  damit  er  aufs  genauste  den  Aiaßen 
und  Formen  des  Körpers  sich  anpasse.  Gerade  für  das  Holz  hat 
Semper  (Der  Stil  II,  254  ff.)  überzeugend  nachgewiesen,  daß  seine 
Mängel  (die  verhältnismäßig  geringe  Dauerhaftigkeit,  die  faserige  und 
hygrometrische  Beschaffenheit)  der  kunstgerechten  Verwertung  nicht 
geringere  Dienste  leisten  als  seine  Vorzüge.  Das  stimmt  gut  mit  der 
allgeineinen  Einsicht  zusammen,  daß  die  Begrenztheit  des  Mittels  die 
künstlerische  Leistung  bedingt  und  fördert. 

Ein  zweites  Merkmal  kunstgewerblicher  Leistungen  pflegt  ihre  Ge- 
hrauchsfähigkeit  zu  sein.  Spangen,  Broschen,  Arml)änder,  die  zusam- 
menhalten, heften,  umschließen  sollen,  erhalten  ihre  Form  aus  dem 
Zweck.  Das  Hauptproblem  der  Kleidung  ruht  in  den  Friedens- 
hcdingungen  zwischen  Brauchbarkeit  und  Gefälligkeit.  Wiederum 
dürfen  wir  nicht  zu  ängstlich  auf  unmittelbare  Verwertbarkeit  bedacht 
sein.  Welcher  Damenhut  schützt  den  Kopf,  ohne  selbst  Schutz  zu 
fordern?    Aber  er  bildet  einen  Abschluß  nach  oben,  verleiht  dem  Kopf 


394  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

der  Trägerin  eine  Größe,  die  ihm  meist  und  zum  Schaden  der  Oesamt- 
wirkung  der  Figur  abgeht,  kurz  er  krönt  sozusagen  den  Aufbau  des 
Körpers  als  seine  Kuppel.  Auch  diese  ist  ja  unter  bloß  praktischen 
Gesichtspunkten  eine  verschwenderische  Dachform.  Dennoch  besteht 
in  beiden  Fällen  eine  symbolische  Zweckmäßigkeit,  und  sie  hat  ihr 
künstlerisches  Recht.  Überhaupt  schließt  Zweckmäßigkeit  den  Schmuck 
nicht  aus.  An  der  rohen  Brauchbarkeit  gemessen  sind  Mutze  und 
flaches  Dach  vortrefflich.  Wir  wissen  jedoch,  daß  Körperzierat  und 
Tracht  Steigerungen  sein  wollen.  So  kommt  in  ihre  Kunstgestalt  ein 
Übertreibungsmoment  hinein,  das  zu  den  abenteuerlichsten,  aber  auch 
reizvollsten  Erfindungen  führt.  Nicht  dieser  Umstand  darf,  wie  es 
fälschlich  so  oft  geschieht,  als  unkünstlerisch  getadelt  werden.  Son- 
dern bedenklich  ist  bloß,  daß  das  Werk  ganz  und  gar  an  den  Ge- 
brauch des  Menschen  gebunden  bleibt  und  jene  Selbstgenügsamkeit 
nicht  erreichen  kann,  die  bereits  Aristoteles  richtig  als  Kennzeichen 
des  Vollendeten  angegeben  hat  Nun  würde  es  ein  recht  naiver  Aus- 
weg sein,  wenn  man  die  Unabhängigkeit  hoher  Kunst  dadurch  zu 
Stande  bringen  wollte,  daß  man  die  Gegenstände  in  unverwendbaren 
Formen  bildet.  Leider  geschieht  es  ja:  wir  staunen  heutzutage  über 
Stühle,  auf  denen  man  nicht  sitzen,  Gläser,  aus  denen  man  nicht 
trinken  kann,  und  die  auf  diese  kindliche  Weise  höchste  Kunstvoll- 
kommenheit vorspiegeln.  Aber  wer  im  Gebrauchsgegenstand  nur  einen 
Vorwand  für  die  Entfaltung  ästhetischer  Reize  erblickt,  irrt  ebenso  wie 
sein  Gegner,  der  mit  der  platten  Zweckmäßigkeit  alles  erledigt  glaubt 
In  Wahrheit  hat  der  Kunsthandwerker  vom  Zwecklichen  auszugehen 
und  es  so  zu  stilisieren,  daß  der  Zwang  des  Praktischen  aufgehoben 
scheint.  Sofern  ein  Zierat  dieser  Aufgabe  dient,  sollte  man  ihn  nicht 
mit  puritanischer  Strenge  ablehnen.  Ein  Blick  in  die  Geschichte  der 
Metallkunst  lehrt,  daß  niemals  und  nirgends  die  Verfertiger  von  Ge- 
räten, Beschlägen,  Gittern,  Wandarmen,  Brunnenhauben  etwas  Unver- 
ziertes  ertrugen.  Oder  um  ein  uns  näher  liegendes  Beispiel  zu  nehmen: 
Der  Einband  eines  Buches,  ein  Schutz  und  Zusammenhalt  der  Blätter 
und  für  gewöhnlich  nur  an  der  Schmalseite  sichtbar,  bedarf  vom  Nfltz- 
lichkeitsstandpunkt  aus  keines  Schmucks  der  breiten  Fläche.  Ich 
möchte  ihn  trotzdem  in  besonderen  Fällen  nicht  missen.  Oder  in 
der  Innenausstattung  bleiben  gutes  Papier,  lesbare  Type  und  schwarzer 
Druck  gewiß  die  Hauptsache,  nur  würde  ich  sie  mehr  einen  Beginn 
als  einen  Abschluß  der  Aufgabe  nennen.  Es  muß  versucht  werden, 
das  Bild  der  gedruckten  Seite  zu  einer  Raumeinheit  zu  machen,  sei  es 
nach  Art  der  alten  Meisterdrucke  mit  schwarzem  Spiegel  und  schmalem 
Rand,  sei  es  nach  unserer  Art  mit  hellerem  Spiegel  und  breitem  Rand; 
jedenfalls  müssen  Papier,  Format,  Lettern  einheitlich  zusammenklingen. 


MITTEL  UND  ARTEN  DER  RAUMKUNST.  395 

Das  gleiche  gilt  von  der  erfreuenden  Mannigfaltigkeit  der  Kopf-  und 
Zierleisten,  Vignetten  und  Initialen. 

Die  dritte  und  letzte  Norm,  von  der  nun  zu  sprechen  ist,  betrifft 
die  sinngemäße  Übernahme  naturiicher  Urformen.  Es  handelt  sich 
nicht  um  die  sofort  ins  Auge  springende  Ähnlichkeit  (des  geschnitzten, 
an  der  Stuhllehne  befindlichen  Löwenkopfes  mit  einem  wirklichen), 
denn  solche  Übereinstimmungen  gehören  theoretisch  in  die  Bildkunst. 
Anstatt  der  deutlichen  Beziehungen  ist  eine  geheime  Verwandtschaft 
da  Um  aristotelisch  zu  reden:  nicht  das  besondere  Erzeugnis,  son- 
dern die  Entelechie,  die  in  den  Naturformen  wirksame  bildende  Kraft, 
wird  vom  gewerblichen  Künstler  übernommen.  In  dem  Maße  wie  die 
Ausladungen  und  Einziehungen  eines  Säulenkapitäls  der  Gesetzmäßig- 
keit von  Fruchtkelchen  und  Blattbildungen  abgelauscht  sind,  richtet 
sich  die  Konstruktion  eines  Möbels  oder  eines  Gerätes  nach  der  Natur- 
anregung. Die  Natur  zeigt,  daß  gesetzmäßig  zusammenlaufende  Linien 
eine  bestimmte  Führung  haben  müssen,  daß  dort,  wo  Drehbeweglich- 
keit verfangt  wird,  Gelenkformen  am  Platz  sind,  daß  es  nur  einige 
Weisen  gibt,  Teile  auseinander  hervorwachsen  zu  lassen.  Durch  Er- 
fassen des  in  der  Natur  lebenden  Geistes  haben  die  Meister  der 
modernen  Nutzkunst  für  die  ihnen  gestellten  neuen  Aufgaben  die 
neuen  Formen  gefunden.  In  den  Grundzügen  bleiben  allerdings  die 
Formen  immer  die  alten,  nämlich  die  durch  Arbeitsverrichtung  und 
Naturanleitung  gebotenen.  So  hat  Gottfried  Semper  die  vier  Urformen 
der  Keramik  auf  die  vier  Haupttätigkeiten  des  Fassens,  Schöpf ens, 
Einfüllens,  Ausgießens  und  auf  vier  Naturvorbilder  zurückgeführt:  Der 
Kürbis,  das  Ei,  die  hohle  Hand  und  das  an  der  Spitze  durchbohrte 
Hom  sind  »die  barsten  Ausdrücke  dieser  vier  Konzeptionen  der  Töpfer- 
kunst«.   (Der  Stil,  1863,  II,  7.) 

Die  Baukunst,  der  wir  uns  nunmehr  zuwenden,  enthält  in  ihren 
Hauptzügen  keine  Nachahmung  naturiicher  Bildungen.  Oder  glaubt 
heute  noch  jemand,  daß  die  hochstrebende  gotische  Architektur  den 
Fichten  und  Buchen  der  deutschen  Wälder  ihre  Entstehung  verdanke? 
Selbst  dort,  wo  anscheinend  Pflanzenformen  wiedergegeben  werden, 
sind  sie  aus  anderen  Bedingungen  hervorgegangen;  und  die  meisten 
Beispiele,  an  die  man  denken  würde,  liegen  innerhalb  des  plastischen 
oder  rein  ornamentalen  Schmucks.  Hingegen  scheint  auch  auf  diesem 
Gebiet  das  tätige  Prinzip  der  Natur  sich  durchzusetzen,  der  unorga- 
nische Stoff  ins  Lebendige  umgewandelt  zu  werden.  Die  Säule,  die 
ihr  Gewicht  hebt  und  nicht  trägt,  sowie  die  Wiederholung  dieses 
dynamischen  Vorgangs  im  Säulen wald,  ist  das  beliebteste  Beispiel 
(s.  S.  85) ').  G^en  die  theoretische  Ausnutzung  dieser  dünnen  Stützen 
spricht  jedoch,  daß  sie  nicht  eigentlich  konstruktive  Bestandstücke  des 


396  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

Gebäudes  sind;  wo  wirklich  außer  dem  Architrav  eine  Last  zu  tragen 
ist,  da  tritt  der  Pfeiler  ein.    Ferner  dürfte  die  Täuschung,  daß  die  so 
oft  am  Säulenkopf  sichtbaren  Blätter  die  Decke  heben,  dem  natürlichen 
Gefühl  als  grobe  Vorspiegelung  erscheinen.    Nur  die  Trommel  des 
Schaftes  kann  tragen,  während  die  Blätter  einen  Schmuck  bilden.    Aber 
selbst  sie  trägt  nicht  so  wie  wir  tragen.    Das  gleiche  Wort  darf  nicht 
zur  Vermenschlichung  verführen.     Wer  durchgehends  anthropomor- 
phistisch  empfindet,  der  muB  das  Geradlinigkeits-  und  Rechtwinklig- 
keitsdogma    der   Architekten    als    verhängnisvolle    Erschwerung    bcs 
kämpfen.     Diesem  Gefühl   hat,   freilich   gegenüber  der  Bauart    einer 
ganzen  Stadt,  Baggesen  den  lebhaftesten  und  witzigsten  Ausdruck  gcs 
liehen,  als  er  eine  »Stadt  in  ungebundenem  und  gebundenem  Stil« 
schilderte.    »Die  letztere,«   sagt  er,  »ist  nicht  nur  zusammengepackt 
und   zusammengepreßt,   sondern  zugeschnitten  und   zugespitzt.     Ich 
weiß  nicht,  ob  es  nicht  im  geheimen  zu  meinem  Abscheu  vor  diesen 
geraden  Linien,  Quadraten  und  Würfeln  beiträgt,  daß  nichts  in  der 
menschlichen  Gestalt  rechtwinklig  oder  viereckig  ist.     Man  fürchtet, 
daß  die  Einwohner  einer  solchen  Stadt  sich  täglich  stoßen  müssen . . . 
Ich  friere  hier  in  Mannheim,  ich  werde  steif,  ich  kann  nicht  springen, 
ich  könnte  mich  unmöglich  hier  verlieben,  wenigstens  nicht  auf  der 
Straße,  was  hingegen  in  irgendwie  krummen  Gassen  möglich  ist.    Alle 
Wärme,  alle  Bewegung,  alle  Liebe  ist  rund  oder  wenigstens  oval,  geht 
in  Spiralen  oder  anderen  Bogenlinien!    Nur  das  Kalte,  Unbewegliche, 
Gleichgültige  und  Hassenswerte  ist  schnurgerade  und  kantig.    Wenn 
man  Soldaten  in  Rondellen  anstatt  in  Gliedern  aufstellte,  würden  sie 
tanzen,   nicht   sich   schlagen.     Darum   beruht  die  ganze  Taktik   auf 
Winkeln  . . .  das  einzige  Gerade  am  Menschen  sind  seine  kalten,  un- 
beweglichen, beißenden  Zähne,  und  selbst  die  hat  die  Natur  in  einem 
Halbkreis  angeordnet!   Das  Leben  ist  rund,  und  der  Tod  ist  eckig . .  .*)€ 
Mag  sein.    Doch  dann  ist  eben  die  Architektur  eine  Kunst  des 
Todes.    Da  wir  nicht  wegdekretieren,  sondern  Vorhandenes  erklären 
sollen,  suchen  wir  nach   einer  anderen,  den  Tatsachen   besser  ent- 
sprechenden Auffassung  der  Architektur.    Schopenhauer  findet  ihren 
Sinn  in  der  Veranschaulichung  jener  Ideen,   »welche  die  niedrigsten 
Stufen  der  Objektivität  des  Willens  sind,<   nämlich  vor  allem  Schwere, 
Kohäsion,  Starrheit,  Härte.    Diese  Ideen  haben  aber  kein  Leben,  das 
dem  unseren  ähnlich  wäre.    Selbst  abgesehen  von   ihrem  Sein  oder 
Nichtsein,  abgesehen  von  der  Frage,  wie  weit  sie  in  Absicht  und 
Arbeit  der  Bauleute  als  Leitgedanken  tätig  zu  sein  vermögen  —  jeder 
Blick  auf  ein  Gebäude  überzeugt  uns,  daß  die  rücksichtslose  stoffliche 
Härte  dem  Betrachter  einen  Widerstand  entgegensetzt,  den  keine  Ein- 
fühlung aufzulösen   vermag.     Alles  Architektonische  zeigt   uns   eine 


MITTEL  UND  ARTEN  DER  RAUMKUNST.  397 

starre  und  feste  Beständigkeit,  mit  der  weder  unser  Leib  noch  unsere 
Seele  etwas  gemeinsam  hat.  Es  bleibt  unbeweglich  auf  demselben 
Fleck,  während  unsere  Füße  und  unsere  Gedanken  schnell  von  Ort 
zu  Ort  tragen.  Es  ist  sichtbarlich  durch  mathematische  Gesetze  be- 
stimmt, die  in  unserem  eigenen  Lebensgefühl  keine  Stätte  haben;  das 
»gebundene  System«  des  romanischen  Stils  beruht  auf  der  Vierung 
d.  h.  die  uns  ganz  fremde  Form  des  Quadrates  bildet  die  maßgebende 
Raumeinheit.  Schließlich  sind  auch  die  Maße  der  Regel  nach  zu  groß, 
als  daß  wir  uns  einfühlen  könnten.  —  Bloß  in  einer  Beziehung  finden 
wir  das  Bauwerk  uns  verwandt.  Das  Verhältnis  der  Teile  nämlich 
bietet  (neben  den  fremdartigen  Momenten)  in  der  Auseinandersetzung 
zwischen  niederziehender  Schwere  und  aufstrebender  Kraft  die  Form 
eines  uns  vertrauten  Gefühls.  Ein  solcher  Kampf  ist  etwas,  das  wir 
aus  den  Erfahrungen  unserer  psycho-physischen  Lebenseinheit  kennen. 
Denn  es  gehört  zu  den  Bedingungen  menschlichen  Seins,  daß  wir  bei 
jeder  Körperbewegung  und  bei  allen  seelischen  Willensimpulsen  hem- 
mende Gegenrichtungen  verspüren.  Die  Sprache  jedoch,  in  der  die 
Baukunst  davon  redet,  ist  nicht  die  unsere.  Namentlich  alle  Stein- 
architektur bleibt,  wenn  sie  sich  ehrlich  zu  ihrem  Stoff  bekennt,  fest 
und  unnachgiebig.  Sie  kann  äußerst  zart  werden,  bewahrt  aber  trotz- 
dem selbst  in  den  dünnsten  Ausläufern  die  Härte  ihres  Materials;  wo 
das  Strebesystem  der  Gotik  die  natürliche  Härte  des  Steins  verieugnet, 
da  kann  nur  der  sittliche  Wert,  der  jeder  Überwindung  des  Irdischen 
zukommt,  über  die  Verietzung  der  stofflichen  Wahrhaftigkeit  hinweg- 
helfen^). Auch  wird  die  Baukunst  dabei  meist  in  die  Weichheit  der 
Bildkünste  gezogen.  Sofern  der  eben  erwähnte  Kampf  zwischen  Druck 
und  Gegendruck  ohne  Hilfe  anderer  Künste  sich  abspielt,  veriäuft  er 
als  starres  Aneinanderprallen,  oder  besser  gesagt,  er  bleibt  auf  dem- 
selben Fleck  stehen  als  unausgleichbarer  Gegensatz  blinder  Natur- 
mächte. 

Selbst  hierbei  dürfen  wir  uns  nicht  beruhigen.  Die  Wahrheit  zu 
sagen :  in  zahllosen  Fällen  wollen  wir  von  einem  solchen  Streit  zwischen 
Kraft  und  Last  nichts  wissen.  Unsere  Wohnräume  gleichen  weder 
dem  Spiel  im  Drama  noch  dem  Konflikte  musikalischer  Stimmführung; 
wir  wollen  durch  Wand  und  Decke,  Fenster  und  Tür  nicht  an  tätige 
Kräfte  und  ihren  Zwiespalt  erinnert  werden^).  Ein  Zimmer  ist  sozu- 
sagen die  letzte,  äußerste  Umschließung  des  Körpers,  es  muß  sich  so 
ruhig  und  schützend  um  den  Leib  lagern  wie  die  Kleidung.  Daher 
kann  selbst  der  Bestand  und  Gegensatz  unorganischer  Gewalten  nicht 
als  erschöpfende  Erklärungsformel  gelten.  Es  liegt  nahe,  die  Vervoll- 
ständigung in  der  Zweckdienlichkeit  zu  finden.  Das  trifft  zu,  sofern 
damit  gesagt   werden   soll,   daß   Vernunft-   und  bestimmungsgemäße 


398  V.  RAUMKUNST  UXD  BUJHCUXST. 

Raumverwalung  den   leitenden  Gedanken  bfldeL     Bei  allen  großen 
Geschäftsbauten  und  Warenhäusern  gibt  die  Gestaltung  und  Beleuch- 
tung der  Innenräume  den  Ausschlag.   Unverzeihlich,  daß  nnmer  noch 
die  Theater  nach  dem  Vorbild  der  italienischen  Lx^gensäle  aufgeführt 
und  nach  außen  hin  nicht  hinlänglich  als  das  gekennzeichnet  werden, 
was  sie  sind;  Gottfried   Semper   hat  als   erster   ^nach  den  Orund- 
anschauungen  der  architektonischen  Wahrhaftigkeit c  die  Überzeugung 
vertreten,    ^daß   ein   so   wesentlicher  Teil   des  Baues,  wie  das  den 
Bfihnenraum  umschließende  Hinterhaus   mit   seinen   Nebenräumen  in 
vollster   Selbständigkeit    ausgesprochen    und    charakterisiert   werden 
mfisse.«    Von  Lichtwark  stammt  der  Nachweis,  wie  unsinnig  die  meisten 
Museen  gebaut  sind:   Da  man  alle  Liebe  an  Glanz  und  Größe  der 
Fassade  verschwendet,  so  werden  die  Museen  sogar  als  Speicherräume 
untauglich  und  die  Säle  zu  Wandelgängen  entwürdigt,  in  denen  man 
so  wenig  Ruhe  und  Sammlung  findet  wie  auf  einer  belebten  Straße. 
Beachtenswert  scheint  mir  Christian  Rangs  Darl^;ung,  inwiefern   die 
Form  der  evangelischen  Prunkkirchen  geändert  werden  sollte;    Rang 
wfinscht   Einheit    des    ungeteilten    Raums    und    zentrale  Anlage   mit 
dem  Altar  in  der  Mitte  und  mit  einer  überall  sichtbaren  Kanzel;  ich 
dächte,  daß  auch  Orgel  und  Sängertribüne  anders  angeordnet  werden 
sollten  als  üblich,  denn  es  macht  den  Hörer  unruhig,  wenn  er  der 
Klangquelle  den  Rücken  kehrt.  —  In  den  letzten  drei  Beispielen,  die 
aus  einer  Fülle  ähnlicher  herausgegriffen  sind,  hindert  ein  überlieferter 
Typus  die  freie,  sachgemäße  Gestaltung.     Bei  den  zuvor  genannten 
>3&^arenhäusern  ist  das   nicht   der  Fall.     Hier  jedoch  droht  die  Not- 
wendigkeit reichlichster  Lichtzuführung  den  Eindruck  eines  geschlos- 
senen Raumes  überhaupt  aufzuheben.    Der  Skelettstil  des  Eisenbaues 
erlaubt,  die  ausgefüllten  Bestandteile  des  Gebäudes  auf  ein  Mindest- 
maß zu  beschränken  und  in  der  Hauptsache  leere  Stellen  zu  zeigen. 
Schon  diese  Vorherrschaft  der  unruhig  geschmückten  oder  verhangenen 
Fenster    verträgt    sich    nicht    mit    künstlerischer   Architektur.     Dazu 
kommt,  daß  das  Eisen,  biegsam  und  beliebig  verwertbar,  dem  Bau- 
meister keineriei  Zwang  auferlegt ;  und  das  ist  lebensgefährlich  für  jede 
Kunstart '). 

Um  in  zwei  Worten  zusammenzufassen:  die  Zweckvorstellung  soll 
zunächst  die  Raumgestaltung  im  Innern  und  dadurch  mittelbar  den 
Außenbau  bestimmen.  Hier  stehen  wir  nun  am  Zielpunkt.  Wir  be- 
greifen jetzt,  daß  es  auf  die  Bildung  des  Raumes  und  die  Beeinflussung 
des  Raumgefühls  ankommt.  Mit  Recht  sagt  Schmarsow:  »Das  Raum- 
volumen, das  den  Menschen  als  Spielraum  umgibt,  ist  das  zunächst 
Gewollte,  nicht  die  Aufrichtung  körperiicher  Massen,  die  wir  zu  dessen 
Verwirklichung  brauchen.     Alle    statischen    und   mechanischen  Vor- 


MITTEL  UND  ARTEN  DER  RAUMKUNST.  399 

kehrungen,  wie  alle  materielle  Durchführung  des  Wandverschlusses 
sind  nur  Mittel  zum  Zweck  . . .«  (a.  a.  o.  S.  184).  Die  abstrakte  Raum- 
gestaltung, von  Menschen  für  Menschen  geschaffen,  kann  von  der 
Horizontalachse  beherrscht  werden.  In  diesem  Fall  zieht  die  Längs- 
perspektive Auge  und  Raumgefühl  an  sich.  Oder  es  kann,  wie  im 
gotischen  Stil,  die  Höhendimension  betont  sein.  Oder  endlich  kann 
im  Zentralbau  gleichsam  eine  Kapsel  geformt  werden,  die  sich  um  den 
Mittelpunkt  (den  Betrachter,  das  Grabdenkmal,  die  Statue)  kreisförmig 
herumlegt.  Alle  drei  Möglichkeiten  lassen  sich  durch  Wiederholungen 
und  Gliederungen  in  ihrer  Wirkung  verstärken.  Wird  dabei  individua- 
listisch vorgegangen  —  das  geschah  in  der  romanischen  Baukunst  — 
so  entsteht  eine  andere  Stimmung  als  in  der  Gotik,  die  jede  Willkür 
ausschließt  und  die  Gesetzmäßigkeit  des  Gef üges  folgerichtig  durchführt. 

Trotzdem  ist  zu  beobachten,  daß  die  aus  dem  Zweckgedanken 
hervorgegangene  und  einheitlich  gestaltete  Formung  des  Raums  er- 
gänzender Hilfen  bedarf,  um  der  Architektur  einen  festen  Platz  in  der 
Reihe  der  Künste  zu  sichern.  Die  Kraft  des  Bedürfnisses  allein  macht 
noch  kein  Kunstwerk.  Es  ist  mit  dem  Gebäude  wie  mit  dem  mensch- 
lichen Körper:  das  Knochengerüst,  der  verborgene  Träger  des  Ganzen, 
bedarf  des  füllenden  Fleisches.  An  der  Rundung  der  Formen,  an  ihrer 
Harmonie  und  Eleganz,  erfreuen  wir  uns,  ohne  etwas  von  der  Ver- 
richtung zu  spüren.  Von  der  Ferne  betrachtet  tritt  die  Struktur  nie 
deutlich  hervor:  da  wirkt  das  Verhältnis  zu  den  Nachbarbauten,  der 
Fleck  oder  die  Silhouette.  Namentlich  auch  die  Farbe,  die  in  der 
feuchten  Luft  des  Nordens  bedeckter  sein  muß  als  im  sonnigen  Süden, 
während  für  die  Innenausstattung  der  Morgenländer  kühle,  der  Abend- 
länder warme  Farben  bevorzugt  Die  romanischen  Baudenkmale  haben 
wir  uns  bekanntlich  mit  durchgeführter  Bemalung  vorzustellen. 

Indem  wir  den  Gesamteindruck  des  mit  einem  Blick  umfaßten 
Bauwerkes  überprüfen,  werden  wir  an  das  zu  Anfang  besprochene 
Gesetz  des  Fernbildes  erinnert  Denn  die  großen  Linien  und  die 
Farben  des  Gebäudes,  das  sich  dem  unbelehrten  Auge  als  Fläche  dar- 
stellt, geben  einen  bildmäßigen  Eindruck.  Doch  selbst  in  dieser  Rück- 
sicht bleibt  die  Architektur  eine  Kunst  der  unwirklichen  Formen  und 
daher  von  dem  verschieden,  was  wir  Bildkunst  nennen;  und  in  ihren 
wesentlichen  Zügen  ist  sie  die  Kunst  der  abstrakten  Raumbehandlung. 


2.  Die  plastische  Bildkunst 

Von  der  Mathematik  her  sind  wir  gewohnt,  Körper  und  Raum  als 
dasselbe  anzusehen;  auch  die  Erkenntnistheorie  pfl^  mit  dem  B^friff 


400  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

der  Ausdehnung  beides  zu  umfassen.  Aber  in  der  Kunst  ist  der 
Raum  ein  umgrenztes  Leeres,  gleichsam  nur  der  mögliche  Ort  fOr 
Körper,  während  der  Körper  selbst  die  Ausfällung  eines  Raumteils  ist; 
in  der  Architektur  entscheidet  der  Innenraum,  dessen  Gestalt  man  von 
der  Außenseite  ablesen  kann,  in  der  Skulptur  entscheidet  die  AuBen- 
form  des  Körpers,  den  wir  uns  stets  als  fest  vorstellen,  auch  wenn 
er  in  Wahrheit  hohl  sein  sollte.  Dort  handelt  es  sich  um  abstrakte 
Raumwirkung,  hier  um  konkrete  Bildwirkung.  Jene  Kunst  hat  mit  der 
organischen  Natur  wenig,  diese  sehr  viel  gemeinsam.  Zwischen  beiden 
steht  eine  »Kunst  körperlicher  Massen«,  die  wir  beispielsweise  an 
Obelisken  und  Grabmalen  bewundem.  Sie  ist  mit  den  Formen  der 
unlebendigen  Wirklichkeit  verwandt,  zeigt  das  ihnen  zukommende 
starre  und  beharrende  Wesen,  bleibt  bei  der  Abstraktion  stehen  — 
und  ist  dennoch  nicht  Schöpferin  von  Raum-,  sondern  von  Körper- 
werten. Mit  den  Monumenten  verbindet  sich  gern  das  Relief.  Als 
Flachrelief  hat  es  einen  festen  Rückhalt  an  der  Wandfläche,  die  ihm 
das  Mal  bietet,  und  bedeutet  nicht  mehr  als  einen  leicht  hervortreten- 
den Schmuck  dieser  Ebene;  als  Hochrelief  löst  es  sich  stärker  ab  und 
nähert  sich  der  Rundplastik;  als  Tiefrelief  strebt  es  malerische  Wir- 
kungen an.  Die  verbreitetste  und  zugleich  intimste  Art  der  Relief- 
plastik, worunter  wir  Medaillen,  Münzen  und  Plaketten  verstehen,  wird 
leider  nur  noch  von  Fachgelehrten  und  Sammlern  hinlänglich  gewür- 
digt; diese  Kleinplastik  ist  eine  volkstümliche  Ideenkunst,  die  trotzdem 
zum  einsamen,  sich  versenkenden  Genuß  auffordert. 

Indessen,  selbst  wenn  Monumente  und  Reliefs  an  Zahl  die  Rund- 
werke übertreffen  sollten,  die  Eigenart  der  Bildhauerei  tritt  an  diesen 
deutlicher  zu  Tage.  Man  kann  sie  zunächst  in  formaler  Hinsicht  be- 
stimmen und  die  Frage  auf  werfen,  für  welche  Art  der  Betrachtung 
Bildsäulen  geschaffen  seien.  Einige  Theoretiker  meinen,  der  nahe 
Standpunkt  sei  zu  fordern.  Im  weiteren  Abstände  nämlich  entsteht, 
wie  wir  bei  Erörterung  des  Fembildes  besprachen,  ein  flächenhafter 
Eindruck,  der  der  angestrebten  Körperiichkeit  der  Statue  entgegen  ist; 
dem  Körpercharakter  wird  der  Beschauer  nur  gerecht,  indem  er  sich 
in  einem  so  nahen  Umkreis  hält,  daß  er,  die  Bildsäule  umschreitend, 
sie  gewissermaßen  mit  den  Augen  abtastet.  Hiergegen  wäre  zu  be- 
merken, daß  Beschränkung  auf  die  Tastnähe  und  Voriiebe  für  das 
Umkreisen  die  Einheitlichkeit  der  Statue  zu  zerstören  drohen.  Diese 
Abgeschlossenheit  aber  sucht  der  Künstler  ausdrücklich  mit  Hilfe  einer 
Unteriage  herzustellen.  Was  bei  Bildern  der  Rahmen  ist  und  bei 
schauspielerischen  Darbietungen  die  Bühne,  das  leistet  bei  plastischen 
Werken  der  Sockel.  Durch  ihn  wird  die  Statue  von  der  Umgd)ung 
losgelöst  und  als  für  sich  bestehend  schon  rein   äußeriich   gekenn- 


DIE  PLASTISCHE  BILDKUNST.  401 

zeichnet  Dabei  pflegt  eine  gewisse  Höhe,  also  der  Zwang,  nach  oben 
von  der  normalen  Gesichtslinie  abzuweichen,  gute  Dienste  zu  leisten. 
Mimische  Vorführungen  auf  der  Fußebene  des  Zuschauers  machen 
einen  leeren,  unkünstlerischen  Eindruck:  die  Schauspieler  erscheinen 
nicht  als  Vertreter  einer  anderen  Welt,  sondern  als  Menschen,  die  zu 
uns  gehören.  Ebenso  befremdet  es,  oder  besser,  es  erweckt  eine  un- 
angemessene Vertraulichkeit,  wenn  Bilder  in  Augenhöhe  aufgehängt 
sind.  Nicht  anders  also  bei  Statuen,  deren  Sohle  dort  ruht,  wo  auch 
die  unserige  im  nächsten  Augenblick  sich  befinden  könnte.  Da  so 
viel  Wert  auf  die  abgetrennte,  in  sich  beschlossene  Einheitlichkeit  ge- 
1^  wird,  darf  der  nahe  Standpunkt  des  tastenden  Sehens  und  das 
Umherwandeln  kaum  als  angemessen  zugestanden  werden. 

In  dieser  Überlegung  ist  ein  weiteres  Bedenken  inbegriffen,  das 
ich  nur  noch  deutlicher  auszusprechen  habe.  Schon  im  Jahre  184Q 
zeigte  Ruskin,  daß  der  Bildhauer  nicht  die  Form  eines  Dinges  aus 
dem  Stein  herausholt,  sondern  die  Wirkung  dieses  Dinges,  und  zwar 
deshalb,  weil  die  im  Marmor  festgehaltene  wahre  Form  einen  ganz 
anderen  als  den  natürlichen  Eindruck  hervorruft®).  Ein  Standbild  ist 
nicht  ein  versteinerter  Mensch,  eine  Büste  nicht  eine  ausgefüllte  Toten- 
maske. Höhlung  und  Vorsprung  im  Kunstwerk  brauchen  keinesw^s 
Wirklichkeiten  darzustellen,  sondern  sind  dazu  da,  um  Licht  und 
Schatten  richtig  zu  verteilen.  Daher  finden  sich  an  mustergültigen 
Erzeugnissen  der  antiken  Skulptur  die  stärksten  Abweichungen  vom 
realen  Vorbild:  die  unmögliche  »Qötterstim«  ist  ein  bekanntes  Bei- 
spiel; auch  die  Neigung  der  besten  griechischen  Künstler,  den  Knochen 
etwas  von  ihrer  Starrheit  zu  nehmen,  die  Wirkung  einer  Bewegung 
über  die  Endpunkte  in  den  Gelenken  hinaus  zu  steigern,  ist  seit  Jahr- 
zehnten oft  erörtert  worden^).  Moderne  Bildhauer  greifen  zu  den 
auffallendsten  Mitteln,  um  der  Verwechslung  sichtbarer  mit  tastbarer 
Form  vorzubeugen.  Noch  kann  man  nicht  entscheiden,  ob  die  Manier, 
eine  Gestalt  aus  dem  Block  herauswachsen  zu  lassen,  die  inhaltlich 
überall  da  gerechtfertigt  wäre,  wo  wir  irgend  ein  Schöpf ungs wunder 
vermuten  dürften,  einen  bleibenden  Gewinn  darstellt.  Aber  wir  billigen 
den  damit  geäußerten  Widerspruch  gegen  die  Gleichsetzung  künstle- 
rischer und  natüriicher  Körperiichkeit.  Wir  begrüßen  die  technischen 
Errungenschaften,  durch  die  das  Wissen  von  den  Dingen  dem  Ge- 
sichtseindruck untergeordnet  und  dem  plastischen  Werk  aller  Reiz  des 
Verschleierten,  des  Stimmungs-  und  Geheimnisvollen  zugeführt  wer- 
den kann. 

Der  Unterschied  der  beiden  Körperiichkeiten  hat  mit  dem  in  der 
älteren  Ästhetik  gern  behandelten,  viel  auffälligeren  Unterschied  der 
farblosen  Plastik  und  der  farbigen  Natur  dies  gemeinsam,  daß  seine 

Detsoir,  Ästhetik  und  allg.  Kanstwissenschaft.  26 


402  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

Erkenntnis  vor  der  Verfauschung  von  Wirklichkeit  und  Bild  bewahrt 
Vischer  wies  ausführlich  nach,  daß  eine  bemalte  Statue  der  minder- 
wertigen Wachsfigur  gleiche  und  daß  auf  diese  Art  die  Grenzen  zwi- 
schen Bildhauerei  und  Malerei  verwischt  wurden.    Andere  Fachleute 
hingegen  erinnerten  an  die  vielfarbige  Plastik  der  Griechen  und   be- 
stritten auch  grundsätzlich  dem  Kreideton  der  Oberfläche  die  Allein- 
herrschaft: die  sogenannte  farblose  Skulptur  habe   mindestens  eine, 
Licht  auffangende  und  zurückwerfende,  Farbe;  außerdem  kämen  durch 
das  nie  fehlende  Kolorit  des   Marmors  und  seine  kristallinische  Be- 
schaffenheit (das  »Korn«)  sowie  durch  den  Rost  des  Erzes  und  Kupfers 
(die   »Patina<^)   immerfort   diskrete   Farbenwirkungen   zu   stände.     Ich 
habe  mich  von  der  Richtigkeit  dieses  Beweisganges  nie  fiberzeugen 
können.    Denn  mir  scheint,  solche  unvermeidlichen  und  noch  dazu 
naturwidrigen    Farbenanklänge    haben    mit    dem   Problem    nichts    zu 
schaffen:  man  erklärt  doch  die  Graphik  deshalb  nicht  für  eine  Kunst 
der  Farben,  weil  das  Papier  zufällig  oder  absichtlich  getönt  ist    Soll 
nun  gar  die  Erinnerung  an  die  griechische  Kunst,  wie  sie  einst  sich 
dargeboten  haben  mag,  unser  gegenwärtiges  Empfinden  beeinflussen? 
Unsere  besten  Bildhauer,  selbst  die  mit  der  Malerei  vertrauten,  stehen 
der  Buntheit  zaudernd   gegenüber,   und  wenn   sie  einmal  ein    poly- 
chromes Werk  schaffen,  so  bleibt  der  Erfolg  gering.    Die  Eigen vt 
der    Plastik    liegt    in    der    künstlerischen    Umgestaltung    organischer 
Körper^®),  als  welche  sich  auf  die  reine  Form  und  hiermit  —  aristo- 
telisch und  wahrhaftig  gesprochen  —  auf  den  Gott  im  Menschen  be- 
schränkt.   Was  zur  vollkommenen  Ausführung  dieser  Absicht  nicht 
nötig  ist,  das  kann  ohne  Schaden  fortfallen;  so  die  Farbe.    Gewiß 
hat  schon  früh  die  Bildhauerei  der  Farbe  einen  Spielraum  eingeräumt, 
jedoch  mehr  im  Sinne  einer  Gewohnheit  und  religiösen  Konvention 
als  aus  dem  inneren  Zwang  der  Überzeugung.    Den  Gemütszustand 
griechischer  Künstler  und  Betrachter  müssen  wir  nun  wohl  ähnlich 
wie    den    der  Holzschnitzer    in    den    Alpenländem    und    der  Käufer 
ihrer  Figuren  vorstellen.     Indem  die  Farbe  zum  Reichtum   und  zur 
Wärme  des  Gebildes  beiträgt,  vielleicht  mit  einem  Einschlag  asiatischer 
Buntheitslust,  umfaßt  sie  doch  auch  den  Glanz  des  geglätteten  Steins 
und  des  gehämmerten  Goldes,  also  Stoffeigenschaften,  die  der  Farben- 
verwertung in  der  Bildmalerei  nicht  zukommen.    Rot  und  Blau,  vom 
Weiß  sich  abhebend,  sind  reine,  starke  Farben  von  nahezu  abstrakter 
Beschaffenheit;  ihre  Wirkung  sehen  wir  an  den  Tanagrafigürchen,  die 
den  ursprünglichen  Zusammenhang  mit  der  Töpferei  verioren  und  die 
engste  Verbindung  mit  der  Plastik  gefunden  hatten. 

Wir  gingen  davon  aus,  daß  Plastik  nicht  für  tastende  Nahbetrach- 
tung geschaffen   sein  kann:  die  Einheitlichkeit  wird  fast   unmöglich 


DIE  PLASTISCHE  BELDKUNST.  403 

und  die  wirkliche  Form  des  Körpers  wird  anstatt  der  künstlerisch 
umgebildeten  zum  Gegenstand  der  Betrachtung.  Weil  der  nackte 
Körper  ästhetisch  genossen  und  ästhetisches  Genießen  mit  künstleri- 
schem Auffassen  von  der  Oberlieferung  schlechthin  gleichgesetzt  wird, 
deshalb  hält  sich  diese  Irrlehre.  In  Wahrheit  aber  meint  das  Wort 
Bildhauer,  daß  der  Künstler  aus  dem  Stoff  ein  Bild  heraushaut;  und 
»Bild«  setzt  zwar  die  Berührung  mit  konkreter  Wirklichkeit  voraus 
—  im  Gegensatz  zur  abstrakten  Raumkunst  — ,  bedeutet  jedoch  zu- 
gleich eine  energische  Unterscheidung  von  den  Seinsformen.  Wo- 
durch in  dieser  Kunst  der  Bildcharakter  erzielt  wird,  läßt  sich  nur  aus 
der  Beobachtung  plastischer  Meisterwerke  entnehmen.  Mehrere  Mittel 
lernen  wir  aus  der  Geschichte  kennen.  Eins  der  ursprünglichsten  und 
durchgreifendsten  besteht  darin,  das  Höhenlot  als  Hauptbahn  für  den 
Blick  besonders  zu  betonen:  die  aufrechte  Haltung,  die  wir  Menschen 
als  die  uns  natürliche  empfinden,  sichert  ein  Gleichgewicht  aller  Teile; 
unter  Umständen  vermag  allerdings  auch  die  Hervorhebung  der  wage^ 
rechten  Achse  die  einander  entgegengesetzten  Partien  vor  dem  Zerfall 
zu  schützen.  Dies  indessen  bleibt  nötig,  daß  irgendwie  eine  ge- 
schlossene, bildhafte  Körpereinheit  zu  stände  kommt  Deshalb  haben 
die  Griechen  ihre  Statuen  unmittelbar  aus  dem  rechteckig  zugehauenen 
Block  herausgemeißelt;  deshalb  sagte  Michel  Angelo  (wenn  wir  aus 
einer  etwas  verdächtigen  Quelle  schöpfen  dürfen),  man  müsse  eine 
Bildsäule  den  Berg  hinabrollen  können,  ohne  daß  ein  Stückchen  ab- 
bricht. Dieselbe  Zentriertheit  und  Rundheit  wohnt  den  plastischen 
Gruppen  inne,  wofür  die  Ringergruppe  in  Florenz  ein  schönes  Beispiel 
abgibt.  Gerade  an  den  Gruppen  bemerkt  man,  daß  die  zusammen- 
fassende Kraft  sich  nicht  der  Abtastung  mit  Hand  und  Auge,  sondern 
der  eigentlichen  Gesichtswahrnehmung  erschließt,  ja  im  Grunde  nur 
der  ergänzenden  Vorstellung,  die  die  Mehrheit  der  vorhandenen 
Körper  als  Glieder  eines  nicht  vorhandenen  Gesamtkörpers  auffaßt. 

Die  Arbeitsweise  der  Neueren  weicht  von  derjenigen  der  klassi- 
schen Meister  ab.  Sie  ist  ein  Modellieren,  sie  fördert  die  Wirkung 
des  Schattenrisses,  sie  belebt  die  Innenzeichnung  durch  flächenhafte 
Lichtverteilung.  Am  besten  zeigen  die  Bronzen,  wie  die  Form  aus 
der  umfassenden  Einheit  der  kräftigen  Silhouette  zusammen  mit  der 
Mannigfaltigkeit  der  nebeneinander  gestellten  Flächen  sich  bilden  kann, 
ohne  daß  nach  alter  Art  gerundet  wird.  Immerhin  bleibt  der  Erfolg 
derselbe:  der  Eindruck  künstlerischer  Körperlichkeit.  Ob  er  sich  aus 
dem  vorherbestimmten  Spiel  von  Licht  und  Schatten,  aus  einer  fast 
impressionistischen  Bildnerfähigkeit  ergibt,  oder  ob  er  aus  der  statua- 
rischen Ruhe  der  Formen  selbst  hervorgeht,  das  ändert  nichts  an  der 
Zielbestimmung.    Die  Theorie  braucht  sich  daher  auch  nicht  mehr  an 


404  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

die  inhaltlichen  Kennzeichen  zu  binden,  die  man  ehedem  in  Überein- 
stimmung mit  der  formalen  Eigenart  der  griechisch-römischen  Bild- 
hauerei von  dieser  Kunst  Oberhaupt  verlangte.  Während  die  ältere 
Ästhetik  den  Stoffkreis  der  Skulptur  auf  das  rein  Schöne  d.  h.  das 
Geläuterte,  Typische,  Generelle,  direkt  Idealisierte  beschränkte  (Vischer, 
Ästh.  §  603),  erkennt  unsere  Wissenschaft  auch  die  Entzweiung  des 
Geistigen  mit  dem  Körperiichen  an.  Sie  hat  gegen  die  Darstellung 
des  Häßlichen  nichts  einzuwenden  und  billigt  es,  daß  der  arbeitende 
Mensch  nebst  einer  Fülle  alltäglicher  Verrichtungen  für  die  Rundplastik 
gleichsam  entdeckt  worden  ist.  Höchstens  an  einem  Punkt  trennen 
sich  gegenwärtig  die  Ansichten.  Es  fragt  sich  nämlich,  ob  unsere 
Kleidung  ein  möglicher  Gegenstand  der  bildnerischen  Tätigkeit  sd. 
Wer  bejahend  entscheidet,  darf  sich  nicht  auf  die  geglückte  Verwer- 
tung des  Arbeitsgewandes  berufen,  denn  Arbeitskleider  haben  etwas 
Zeitloses,  Unveränderiiches,  insofern  sie  stets  derselben  Zweckmäßig- 
keit dienen  und  alles  Überflüssige  ausschließen.  Im  übrigen  scheint 
mir  nur  die  Hose  einigermaßen  geeignet,  eine  künstlerisch  erfreuliche 
Form  zu  erhalten:  sie  läßt  die  Linien  des  Beines  erkennen  und  be- 
sitzt trotzdem  die  nötige  Selbständigkeit  in  den  Falten  und  Kniffen, 
die  an  sich  Formwert  haben  und  außerdem  auf  die  häufigsten  Bewe- 
gungen hinweisen.  Alle  übrigen  Teile  unserer  Männer-  und  Frauen- 
tracht verhüllen  in  willküriichen  Abmessungen  die  Gliederung  des 
Leibes;  ja,  was  noch  schlimmer  ist,  sie  verhalten  sich  ganz  gleich- 
gültig zu  den  Unterschieden  unter  den  Menschen,  den  gesellschaft- 
lichen und  zumal  den  seelischen.  Dennoch  ist  es  eine  sehr  kummer- 
liche Hilfe,  wenn  Bildhauer  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  ihre  Zeit- 
genossen nackt  darstellen.  Die  Widersinnigkeit  des  Verfahrens  wird 
dadurch  nicht  gemildert,  daß  die  in  Steinmassen  eingebetteten  Figuren 
manchmal  mit  menschlichen  Körpern  keine  größere  Ähnlichkeit  haben 
als  die  launischen  Felsbildungen,  die  aus  solcher  Ähnlichkeit  Namen 
und  Ruhm  erhalten.  Sentimentale  Verkünder  einer  Rückkehr  zur  Natur 
tadeln  unsere  Zeit,  weil  sie  die  Schönheit  des  nackten  Körpers  nicht 
zu  würdigen  wisse.  Sie  übersehen,  daß  in  der  Bekleidung  der  Mensch 
etwas  geschaffen  hat,  was  ihn  vom  Tier  unterscheidet  und  was  schon  aus 
diesem  Grunde  in  der  Kunst  eine  Stätte  finden  muß.  Femer  vermag 
die  Tracht,  die  sich  dem  Körper  anschmiegt,  die  Formen  des  Leibes, 
und  jene  andere  Tracht,  die  in  großen  Falten  herabsinkt  oder  im 
Winde  flattert,  die  Bewegung  des  Leibes  sichtbar  zu  machen.  Es 
kommt  nur  darauf  an,  daß  unsere  Künstler  diejenige  Stilisierung  des 
modernen  Gewandes  entdecken,  welche  körperliche  Form  und  Bewe- 
gung einerseits,  seelische  Verfassung  anderseits  zum  Ausdruck  bringt, 
ohne  das  Auge  zu  stören  oder  zu  verwirren. 


DIE  MALKRIS(  IIK  BILDKUNST.  405 

In  der  griechischen  Skulptur  fehlt  die  überzeugende  Darstellung 
starker  geistiger  Erregungen.  Um  den  Abstand  zwischen  Natur  und 
Kunst  festzuhalten,  ist  die  unmittelbare  Wirksamkeit  mimischer  Aus- 
prägung durch  vieldeutiges  Typisieren  ersetzt  worden.  Man  betrachte 
das  Antlitz  des  Antinous  auf  dem  Albanirelief  (s.  Tafel  XV).  Welche 
Gemütsbewegung  spricht  sich  darin  aus?  Die  Deutungen  der  hervor- 
ragendsten Kunstkenner  sind  gesammelt  worden  ^ ').  Hier  das  Ergeb- 
nis: Der  eine  spricht  von  Unschuld,  der  andere  von  Wollust,  von 
Naivität  der  eine,  von  Koketterie  und  bewuliter  Scham  der  andere, 
dieser  von  Leidenschaftslosigkeit,  jener  von  Wildheit.  Sanftmut  und 
Milde  erblickt  der  eine  in  seinen  Zügen,  etwas  Kühnes,  Rohes,  Stolz, 
Ilosheit,  ja  Grausamkeit  der  andere.  Süßes  Behagen  findet  man  aus- 
geprägt in  seinem  Gesicht,  stille  Gemütsruhe,  Träumerei,  Entzücken 
und  Liebeswonne,  dann  wieder  etwas  Ernsthaftes,  Nachdenkliches» 
eine  leise  Melancholie,  einen  Zug  von  Schwermut,  tiefe  Traurigkeit, 
ziellose  Sehnsucht,  schmerzliche  Resignation,  etwas  Düsteres,  Todes- 
starres, eine  Hoffnungslosigkeit,  innere  Zerrissenheit,  Lebensüberdruß, 
die  wirkliche  Verzweiflung,  den  Weltschmerz,  Entsagung  und  Abtötung, 
düsteren  Fanatismus.^  Diese  Meinungsverschiedenheit  beruht  nicht 
nur  darauf,  daß  jeder  Kunsthistoriker  die  Grundstimmung  seiner  Gegen- 
wart und  die  Gefühlsrichtung  der  eigenen  Persönlichkeit  in  den  Gegen- 
stand hineinträgt  davon  war  schon  die  Rede  (s.  S  98)  und  wird 
noch  im  letzten  Hauptteil  zu  sprechen  sein  — ,  sondern  vor  allem  auf 
der  Unbestimmtheit  des  zum  Typus  geformten  Gesichtes.  Die  Auf- 
gabe, die  einer  anders  beschaffenen  Bildnerei  vorgesetzt  ist,  liegt  darin, 
die  Anziehungskraft  ohne  die  Undeutlichkeit  im  Gemütsausdruck,  die 
ßildgrenze  ohne  das  Opfer  der  Individualität  zu  bewahren.  Den  Fort- 
schritt der  Plastik  erblicken  wir  vornehmlich  in  der  Art,  wie  von  der 
Wirklichkeit  abgewichen  und  der  organisierte  Körper  aus  den  Fesseln 
der  Notdurft  und  Vergänglichkeit  befreit  wird;  der  unvertilgliche  Zu- 
sammenhang mit  den  erfahrungsmäßigen  Äußerungen  der  lebendigen 
Körperwclt  sichert  die  Skulptur  vor  dem  Aufgehen  in  ein  bloßes  Spiel 
der  Linien. 

3.  Die  malerische  Bildkunst 

Zunächst  sollen  einige  Grundsätze  berührt  werden,  die  von  der 
Zeichnung  ebenso  wie  von  der  Malerei  gelten.  Was  die  Malerei  vor 
den  graphischen  Künsten  auszeichnet,  wird  dabei  von  selbst  ersicht- 
lich werden. 

Wir  sprachen  schon  über  die  Malerei  als  Flächendekoration  (siehe 
S.  3<}2).     Wenn   der  Künstler  auf  der  Fläche  nun   ein  Bild  entwirft 


406  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

d  h.  die  umgeformte  Wirklichkeit  in  seine  Leistung  einbezieht»  so  ist 
dasjenige  Verfahren  das  einfachste  und  nächstliegende,  das  außer  auf 
die  Tiefendimension  auch  auf  die  Ausgestaltung  des  Hintergrundes 
verzichtet.  Zwischen  den  Figuren,  über  und  unter  ihnen,  steht  der 
leere  Raum  oder  die  ganz  unzulängliche  Andeutung  der  umgebenden 
Wirklichkeiten.  Vortreffliche  Beispiele  für  diesen  Abschnitt  in  der  Ent- 
wickelung  finden  sich  in  der  griechischen  Vasenmalerei.  Auf  der 
Fran?ois-Vase  (575  v.  Chr.),  auf  der  Schale  des  Euphronios  (500),  auf 
der  Hydria  des  Meidias  (425)  —  überall  werden  die  den  Künstler  aus- 
schließlich beschäftigenden  Gestalten  ohne  Perspektive  und  ohne  Aus- 
füllung der  Zwischenräume  in  einen  Zusammenhang  gebracht  Den- 
noch sind  es  ebenso  oft  technische  wie  sachliche  Probleme,  die  den 
Maler  gereizt  haben:  die  anmutige  Bewegtheit  tanzender  Frauen  und 
die  große  Linie  heldenhafter  Taten,  nicht  nur  die  Vorgänge  und  die 
Menschen,  deren  Namen  beigeschrieben  sind^*).  Femer  bietet  die 
mittelalterliche  Buchmalerei  vorzügliche  Beispiele:  Die  Tiefenwirkung 
ist  ausgeschaltet  oder  durch  die  Überordnung  zweier  Pläne  ersetzt, 
die  Komposition  gleicht  etwa  der  eines  Teppichs,  Luft  und  Wolken 
sind  kaum  jemals  angelegt.  Indem  die  dritte  Dimension  mehr  oder 
weniger  fehlt  und  zwischen  die  positiven  Werte  negative,  zwischen 
die  Töne  sozusagen  Pausen  eingeschoben  werden,  entsteht  eine  sehr 
reizvolle  Unvollständigkeit.  Sie  erinnert  einigermaßen  an  den  eigen- 
tümlichen Wert  der  Skizzen,  die  oft  künstlerischer  erscheinen  als  die 
ausgeführten  Gemälde,  und  lehrt  von  neuem,  daß  die  Fähigkeit  des 
Fortlassens  nur  von  einer  verkehrten  Gewissenhaftigkeit  unterschätzt 
wird. 

Die  flächenhafte  Darstellung  von  Gestalten  und  dazwischen  Uzen- 
den Raumteilen  hat  vielfach  die  Aufgabe,  einen  Zeitverlauf  zu  verdeut- 
lichen. Obgleich  diese  Aufgabe  auch  der  plastischen  Bildkunst  nicht 
fem  liegt,  wird  sie  doch  erst  in  den  anderen  Arten  der  Bildkunst  zu 
einer  wahrhaft  drängenden.  Und  hier  nun  zeigt  sich  sofort,  welchen 
Vorzug  Musik,  Mimik  und  Poesie  besitzen.  Um  mit  Kant  zu  reden: 
Die  Zeit  ist  die  Form  des  inneren  Sinns  und  alles  lebendig  Wirk- 
lichen. Sofern  Seelisches  oder  ein  Lebensvorgang  den  eigentlichen 
Inhalt  bilden,  scheinen  die  Künste  jener  Gruppe  die  angemesseneren 
Ausdrucksmittel  zu  haben.  Allerdings  wird  auch  das  Räumliche 
größerer  Ausdehnung  nacheinander  vom  Betrachter  aufgenommen;  aber 
er  unterscheidet  solche  sukzessiven  Bewußtseinsinhalte,  die  einem  ob- 
jektiven Zeitvorgang  entsprechen,  von  denjenigen,  denen  eine  Raum- 
ordnung zu  Grunde  liegt.  Der  Übereinstimmung  zwischen  äußerem 
und  innerem  Ablauf  widerspricht,  daß  die  Malerei  nur  ein  paar  Punkte 
einer  stetig  sich  entwickelnden  Linie  festzuhalten  vermag  und  in  ihren 


DIK  MA!,ERIS(*HE  lill.DKUNST.  407 

neueren  Formen  sich  sogar  mit  der  Wiedergabe  eines  einzigen  Augen- 
blicks begnügt.  Aus  diesem  Widerspruch  werden  wir  erlöst  teils 
durch  unser  eigenes  Verhalten  teils  durch  stilistische  Mittel  der  Bild- 
kunst. Die  subjektive  Ergänzung  besteht  nicht,  wie  vermutet  werden 
könnte,  im  Aufbringen  von  Gesichtsvorstellungen,  die  die  voraus- 
gehenden und  folgenden  Teile  der  Handlung  spiegeln,  sondern  ent- 
weder in  begrifflichen  Zusätzen  oder  in  motorischen  Einstellungen. 
Wenn  der  Leser  einige  der  unserem  Buch  beigegebenen  Tafeln  auf 
sich  wirken  läßt,  so  dürfte  er  sich  schnell  von  der  Richtigkeit  der  Be- 
hauptung überzeugen;  und  sollte  er  von  einer  sprachlich-begrifflichen 
Fortführung  des  Gegebenen  nichts  bemerken,  so  wird  er  wenigstens 
Muskelspannungen  und  Bewegungsantriebe  wahrnehmen,  die  den 
starren  Gegenstand  verflüssigen;  ich  finde  sie  besonders  ausgeprägt 
gegenüber  den  drastischen  Zeichnungen  auf  der  neunten,  zehnten  und 
elften  Tafel.  Eine  Folge  dieser  früher  (S.  168  ff.)  gewürdigten  Vorgänge 
ist,  dafi  das  ruhende  Bild  aus  seinem  Domröschenschlaf  geweckt  wird. 
Wie  kommt  nun  der  Künstler  unserem  Vertangen  und  Verhalten 
entgegen?  In  so  verschiedener  Weise,  daß  der  Versuch  einer  Antwort 
etwas  weiter  ausholen  muß.  Bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein  gab  es 
chronikartige  Darstellungen,  meist  wagerecht  getrennte  Bildstreifen,  in 
denen  möglichst  ohne  Unterbrechung  und  möglichst  vollständig  er- 
zählt wurde;  indem  alsdann  der  Künstler  die  Hauptteile  der  Handlung 
in  einen  Rahmen  einschloß,  entstanden  optische  Unmöglichkeiten: 
dieselbe  Gestalt  war  auf  derselben  Fläche  mehrfach  vorhanden,  die 
lebhafte  Bewegung  nach  rechts  und  links  wurde  durch  zwei  Köpfe 
oder  vier  Hände  veranschaulicht  u.  dgl.  m.  Diese  kaum  vermeidlichen 
Schäden  eines  fortlaufenden  Vortrags,  der  für  das  Auge  bestimmt  ist, 
können  nur  von  einer  sehr  lebhaften  und  freundwilligen  [Fantasie  als 
stilistische  Hilfen  hingenommen  werden.  Die  Übertragung  ins  Be- 
grifflich-Sprachliche vollzieht  sich  fast  mit  Notwendigkeit,  da  Illustrator 
und  Maler  eben  davon  ausgegangen  sind  und  ihre  andersartigen  Be- 
richtmittel gleichsam  aus  Veriegenheit  benutzen.  Höher  steht  das 
Verfahren,  die  Vorbereitungen  und  Folgen  einer  Tat  neben  dieser 
selbst  7U  schildern,  so  daß  mehrere  Hauptszenen  herausgegriffen,  die 
erwähnten  Wunderiichkeiten  aber  vermieden  werden.  Indessen,  diese 
Form  bietet  nichts  Neues.  Erst  wo  die  Auswahl  so  verengt,  die 
Handlung  so  verkürzt  wird,  daß  ein  einziger  Augenblick  übrig  bleibt, 
aus  dem  alles  Vorher  und  Nachher  erraten  werden  soll,  da  stellen 
sich  neue  IVobleme  ein.  Der  einfachste  Fall  ist  der  folgende:  Eine 
Bewegung  werde  nicht  durch  Wiedergabe  mehrerer  Anblicke  ihres  Ver- 
laufs, sondern  mit  einem  Schlage  dargestellt.  Greift  nun  der  Maler 
einen   beliebigen  Zeitpunkt   heraus  und   kopiert  das  sich   dann   dar- 


408  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

bietende  Bild  nach  Art  der  Schnellphotographie?  Er  wurde  oft  die 
ungeschicktesten  und  unkenntlichsten  Stellungen  festhalten.  Er  wählt 
also  aus  und  zwar  —  wie  längst  erkannt  ist  —  diejenige  Phase,  in 
der  die  Bewegung  verhältnismäßig  langsam  von  statten  geht  Von  ihr 
nämlich  behält  der  Wahrnehmende  die  deutlichste  Erinnerung;  wenn 
z.  B.  vor  seinen  Augen  eine  beschriebene  Rolle  ausgebreitet  oder  ein 
Spiel  Karten  auseinander  gefaltet  wird,  so  prägen  sich  dasjenige  Wort 
oder  diejenige  Karte  ein,  bei  der  die  Bewegung  stockte.  Da  die 
meisten  Bewegungen  einige  natüriiche  Hemmungspunkte  zeigen,  so 
sind  damit  die  fruchtbaren  Momente  vorgezeichnet.  Lediglich  die  sehr 
langsamen  und  die  sehr  schnellen  Bewegungen  uberiassen  dem  bilden- 
den Künstler  völlig  die  Wahl.  Ausgeschlossen  sind  stets  der  erste 
Anfang  und  das  letzte  Ende,  weil  in  beiden  Fällen  der  Vorgang  sich 
nicht  deutlich  genug  anzeigt,  wenigstens  nicht  ohne  eriäutemde  Neben- 
umstände. 

Die  Sachlage  wird  verwickelter,  sobald  es  sich  nicht  mehr  um  eine 
einfache  Bewegung,  sondern  um  einen  inhaltlich  zusammengesetzten 
Zeitablauf  handelt.  Auf  den  Tafeln  XII  und  XIII  sind  zwei  verschie- 
dene Zeitpunkte  des  gleichen  Stoßes  zu  beobachten,  dort  das  Berühren 
des  Halses,  hier  das  vorhergehende  Einstellen  des  Arms,  das  seiner- 
seits wieder  Ergreifen  und  Emporheben  des  Messers  voraussetzt  Als 
Hemmungspunkte  der  gesamten  Bewegung  haben  sie  denselben  Wert; 
inwiefern  sie  jedoch  für  den  darzustellenden  Vorgang  und  den  for- 
malen Aufbau  sich  eignen,  das  läßt  sich  mit  einem  allgemeinen  Grund- 
satz nicht  abtun.  Eins  nur  ist  hervorzuheben:  der  sogenannte  frucht- 
bare Moment  muß  außer  der  sachlichen  Verweisungskraft  auch  die 
Fähigkeit  haben,  die  Komposition  kunstgerecht  zu  gestalten.  Da  nun 
selbst  bei  starker  stilistischer  Anspannung  ein  noch  so  prägnanter 
Augenblick  wirklicher  Zeit  jenen  beiden  Ansprüchen  nicht  zu  genügen 
pflegt,  so  zeigen  Figurenbilder  meist  eine  Mehrheit  von  realen  Augen- 
blicken oder  anders  ausgedrückt  eine  künstlerische  Augenblicklichkeit 
Erst  in  modernen  Bildern,  deren  Schöpfer  von  der  Photographie  ge- 
lernt haben,  und  in  gewissen  Erzeugnissen  der  japanischen  Kunst 
wird  die  vorüberhuschende  Gegenwart  eingefangen.  Unsere  ältere 
Kunst  hingegen  breitet  den  Augenblick  aus,  indem  sie  zeitlich  ver- 
schiedene Wirkungen  des  Geschehens  zum  Schein  der  Gleichzeitigkeit 
verbindet  Ein  Beispiel,  das  wir  zur  Hand  haben,  steht  auf  der  elften 
Tafel:  die  Gruppe  rechts  befindet  sich  in  einem  späteren  Stadium  als 
die  Gruppe  links.  In  Wahrheit  bleibt  also  auch  hier  die  Erzählung 
kontinuieriich  und  täuscht  die  Augenblicklichkeit  vor.  Bei  allen  größeren 
Vorwürfen  muß  der  Maler  so  verfahren,  weil  das  Dramatische  eines 
Vorgangs  im  Werden  und  Verklingen  sich  offenbart  (s.  S.  376),  und 


DIE  MALERISCHE  BILDKUNST.  409 

auch  bei  minder  gewichtigen  Stoffen  verlangt  das  Gesetz  der  Mannig- 
faltigkeit meist  eine  unwirkliche  Zeitordnung  der  Dinge.  Der  Künstler 
hat  gegenüber  der  Zeit  dieselbe  Freiheit  wie  gegenüber  dem  Raum. 
In  Raffaels  »Verklärung«  (Tafel  IV)  ist  aus  einem  entfernten,  hohen 
Berge  eine  nahe,  niedrige  Erhöhung  geworden;  Christus,  der  darüber 
schwebt,  wird  von  niemand  gesehen,  selbst  nicht  von  den  zwei 
Aposteln,  die  in  diese  Richtung  weisen;  die  realen  Raumverhältnisse 
sind  gänzlich  umgestaltet  zu  Gunsten  der  künstlerischen  Absicht. 
Trotzdem  —  und  das  scheint  das  Wunderbarste  —  bleibt  das  Ge- 
mälde eine  bildliche  Raumeinheit  und  eine  ideale  Zeiteinheit 

Um  die  Einheitlichkeit  des  Raumes  zu  gewinnen,  des  flachen  und 
des  körperhaften,  können  zwei  Wege  beschritten  werden.  Der  eine 
führt  durch  Licht  und  Schatten,  der  andere  durch  das  Reich  der  Farben. 
Sie  schließen  sich  nicht  aus,  denn  jede  helle  Farbe  ist  ein  Licht  gegen- 
über einer  dunklen  und  ein  Schatten  gegenüber  einer  noch  helleren. 
Die  Meister  der  venezianischen  Schule  hellen  ihr  Rot  durch  weißliches 
Rosa  auf  und  dunkeln  es  mit  tiefem  Karmin  ab^*).  Holbeins  ernste 
und  schwere  Kunst  dagegen  legt  allen  Nachdruck  auf  Licht  und 
Schatten  als  solche;  Rembrandt  vereinheitlicht  Raum  wie  Körper  durch 
das  Licht  selber  und  seine  bis  in  tiefe  Schwärze  hinabreichenden  Ab- 
stufungen, oft  ohne  jede  Schonung  für  den  dargestellten  Gegenstand 
(vgl.  Tafel  V).  Überhaupt  haben  die  alten  Maler  die  Lokalfarben  ge- 
mildert, indem  sie  Hinter-  und  Mittelgrund  herrschen  und  den  Vorder- 
grund verhältnismäßig  zurücktreten  ließen.  Vornehmlich  an  hollän- 
dischen Bildern  des  17.  Jahrhunderts  kann  man  beobachten,  wie  die 
matten  Farben,  die  der  Femsicht  im  Unterschied  zur  Nahsicht  zu- 
kommen, in  die  Lichtverteilung  aufgehen  und  wie  diese  den  Blick  von 
der  ersten  Sehebene  zur  letzten,  vom  Rande  zur  Mitte  führt.  Schaltet 
man  die  Qualität  der  Farbe  aus  und  prüft  die  Helligkeitsgrade,  so  er- 
hält man  von  manchen  Bildern  den  Eindruck  eines  unregelmäßigen 
Musters,  worin  Hell  gegen  Dunkel  steht  Meist  gibt  es  ein  Haupt- 
licht, dem  die  anderen  untergeordnet  sind,  und  die  Dunkelheit  nimmt 
nach  außen  hin  zu;  auch  wenn  die  Grundlage,  auf  der  der  Maler  ähn- 
lich dem  Architekten  seinen  Bau  aufführt,  hell  angelegt  ist,  ruhen  der 
Regel  nach  die  Schattenmassen  an  den  Rändern^*). 

Der  echte  Kolorist  setzt  alle  Lichtwerte  in  Farben  werte  um,  jeden 
Gegensatz  sucht  er  durch  einen  Farbenkontrast  auszudrücken.  Eine 
Farbenverbindung  vermag  an  und  für  sich  unzweideutige  Raumgefühle 
hervorzubringen:  die  lebhaften  Nuancen  treiben  die  anderen  zurück, 
Rot  scheint  nach  dem  Beschauer  zu  drängen,  während  Blau  den  Blick 
in  die  Tiefe  des  Bildes  hineinzieht  Die  Farbe  spannt  und  bindet  jene 
Teile,  die  in  der  Zeichnung  sich  nicht  gesellen  würden;  sie  läßt  inein- 


410  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

andergehen,  was  zusammengehört;  sie  trennt,  was  sonst  verfließen 
würde;  sie  bettet  in  einen  Hintergrund  ein  oder  löst  aus  ihm  heraus. 
Kurz,  der  Farbenwechsel  hat  raumbildende  Kraft,  er  veranlaßt  bei 
schwierigen  Verhältnissen  das  Auge  gewissermaßen  zu  unbewußten 
Schlüssen,  aus  denen  die  gewollte  Raumwirkung  wie  ein  fertiger 
Schlußsatz  herausspringt. 

Die  Meister  der  Palette  schätzen  aber  den  Zusammenklang  der 
Farben  auch  ohne  Rücksicht  auf  seinen  Beitrag  zur  Gliederung  und 
Ordnung.  In  der  Tat  gefallen  Farbenverbindungen  unabhängig  von 
der  Form,  an  der  sie  auftreten,  und  von  der  Wirklichkeitsbedeutung, 
die  sie  besitzen  mögen.  In  Glasmalerei  und  bunter  Buchillustration 
finden  wir  die  festliche  Verwendung  von  Gold  und  Silber,  sehen  wir 
grüne  Haare,  blaue  Pferde,  purpurrote  Blätter.  Botticelli  soll  kühn  be- 
hauptet haben,  man  brauche  Landschaft  nicht  zu  studieren:  ein  mit 
Farben  getränkter  Schwamm,  an  die  Mauer  geworfen,  gebe  Landschaft 
genug;  sicher  überiiefert  ist  Whistlers  Wort  von  einer  glücklichen  Zeit, 
»wenn  einmal  das  Publikum  gar  nicht  mehr  Gegenstände  verlangt, 
sondern  an  Farbenkombinationen  sich  sättigt  —  keine  Figuren,  keine 
Landschaften  mehr,  nur  Klänge«.  Es  wird  erzählt,  daß  Böcklin  in  den 
Bildern  seiner  Spätzeit  einen  Grundsatz  befolgt  habe,  der  wahrhaftig 
aus  dem  Bild  ein  Rechenexempel  des  Kolorismus  machen  würde:  drei 
Farbengruppen,  vielleicht  Grün  im  Vordergrund,  Rot  in  der  Mitte, 
Blau  im  Himmel,  und  in  diese  Hauptgruppen  kommen  jedesmal  die 
zwei  anderen  fehlenden  Farben  auf  kleineren  Flächen  hinein,  z.  B.  in 
eine  Wiese  rote  und  blaue  Blumen,  in  den  wolkenlosen  Himmel  griine 
Blätter  und  rote  Blüten  ^•'^).  Die  Gesetzmäßigkeit  des  Fart^enmusters, 
die  in  der  bewußten  Abweichung  vom  Naturvorbild  am  lebhaftesten 
sich  bekundet,  beruht  auf  ästhetischen  Elementarvorgängen,  die  früher 
(S.  117—121)  besprochen  wurden.  In  der  Technik  der  Malerei  wird 
die  Harmonie  entweder  durch  Verwendung  der  ganzen  Farbenskaia 
oder  durch  Auswahl  eines  Dreiklanges  erzielt.  Der  Dreiklang  wirkt 
aber  im  Grunde  ebenso  wie  das  Ganze,  weil  wir  die  fehlenden  Farben 
mit  ziemlicher  Anschaulichkeit  ergänzen.  Schließt  man  Schwarz  und 
Weiß  aus,  so  ist  wohl  die  Zusammenstellung  Gelb-Rot-Blau  als  älteste 
zu  nennen;  recht  häufig  tritt  uns  der  Dreiklang  Orange-Grün-Violett 
entgegen.  Doch  trägt  zur  Wirkung  viel  bei,  welche  Pigmente  gewählt 
und  wie  sie  behandelt  werden.  Namentlich  der  Unterschied  des  glatten 
und  des  körnigen  Auftragen s  führt  zu  abweichenden  Erfolgen.  Wer 
darauf  besteht,  daß  Bilder  auch  mit  der  Lupe  betrachtet  werden 
können,  muß  den  Farbstoff  dünn  auftragen.  Größere  Leuchtkraft 
kommt  durch  dickes  Aufsetzen  zu  stände,  und  die  rauhe  Oberfläche 
des  Bildes  schadet  nicht,  sobald  der  Betrachter  den  rechten  Abstand 


DIE  MALERISCHE  BILDKUNST. .  41 1 

zwischen  sich  und  dem  Bilde  läßt,  d.  h.  einen  größeren  als  den  von 
der  Schulregel  geforderten  (der  Ausdehnung  des  Bildes  genau  ent- 
sprechenden) Abstand.  In  der  Nähe  versagen  auch  alle  diejenigen 
Gemälde,  die  durch  ein  Nebeneinander  der  Farbenelemente  hergestellt 
werden  und  die  Mischung  der  kleinen  Tupfen  oder  Rechtecke  dem 
Auge  überlassen.  Indessen,  welche  ästhetische  oder  moralische  Vor- 
schrift verlangt,  daß  der  Genuß  bei  der  Nahbetrachtung  eintreten  soll? 

Die  roten  und  blauen  Punkte,  die  sich  auf  der  Netzhaut  zum  Violett 
vermischen,  sind  allerdings  unnatüriich.  Aber  jede  Pinselführung,  ob 
sie  nun  mit  breiten  Strichen  oder  mit  Haken  und  Schweifen  arbeitet, 
verfährt  anders  als  die  Natur.  Für  die  Bewertung  der  Farbenteilung 
und  der  Fleckchenmanier  kommt  also  lediglich  in  Frage,  was  damit 
geleistet  werden  kann.  Das  ist  nicht  wenig.  Die  leuchtende  Atmo- 
sphäre, die  Farben  und  Formen  ändert,  sie  in  strahlende  Stückchen 
zeriegt  und  von  jeder  Seite  anders  zeigt,  sie  läßt  sich  durch  kein  Mittel 
sicherer  auf  die  Leinwand  bannen.  Wenn  zwischen  den  farbigen 
Punkten  weiße  Punkte  angebracht  oder  durch  Aussparen  des  hellen 
Grundes  erzeugt  werden,  so  entsteht  der  höchste  Grad  der  Leucht- 
kraft und  der  lebendigste  Eindruck  flimmernden  Lichtes.  Da  wird 
alles  beweglich,  veränderlich,  pulsierend,  flatternd,  die  Gegenstände  und 
ihre  Eigenfarben  verschwinden  fast  im  flutenden  und  zitternden  Licht 
Diese  Aufhebung  aller  Grenzen,  diese  Verflüchtigung  der  Dinge  in 
eine  höchste  Einheit,  die  ihrerseits  doch  nur  Beziehung  und  Bewegung 
ist  —  das  gleicht  dem  philosophischen  Bekenntnis  eines  Gegenwarts- 
menschen. Auch  das  Auflösen  des  Gegebenen  in  die  kleinsten  Be- 
standteile ist  dem  Zeitalter  des  Mikroskopes  und  der  Bakterienkunde 
wohl  angemessen.  Endlich  gewährt  es  einen  großen  Reiz,  daß  der 
Betrachter  durch  Veränderung  des  Standortes  aus  dem  Bilde  bald  ein 
Chaos  bald  einen  Kosmos  machen  kann.  —  Trotzdem  bedeutet  die 
geschilderte  Malweise  kein  Allheilmittel  für  die  Kunst.  Wo  es  auf 
bestimmte  Linienführung  ankommt,  wie  bei  der  Wand-  und  Decken- 
malerei, wo  das  Gesicht  eines  Menschen  mit  erkennbarer  Ähnlichkeit 
wiedergegeben  und  aus  der  Umgebung  losgelöst  werden  soll,  wo 
starre  Felsen  deutlich  hervortreten,  Dämmerung  und  Nacht  geschildert 
werden  sollen,  da  versagt  der  Impressionismus.  — 

Als  Einteilungsgrund  für  die  Unterarten  der  Bildmalerei  wird  nach 
altem  Brauch  der  Inhalt  des  Dargestellten  verwendet  Ich  finde  diese 
Klassifikation  keineswegs  verächtlich.  Da  Kunst  mehr  als  ein  Formen- 
spiel ist,  so  kann  sowohl  der  äußere  Stoff  als  auch  die  zum  Ausdruck 
strebende  Inneriichkeit  maßgebend  für  das  einzelne  Gebilde,  somit  für 
seine  Einordnung  werden.  Das  religiöse  Bild  ist  wirklich  eine  Art 
für  sich,  denn  die  Beschaffenheit  seiner  Stoffe  beeinflußt  die  Form 


412  V.  RAU^nO^'ST  UND  BILDKUNST. 

nach  jeder  Hinsicht  (vgl.  S.  148).  Der  Maler,  der  den  Gegenstand  aus 
der  heiligen  Geschichte  nimmt,  interessiert  nicht  durch  Neuheit  des 
Stoffes.  Er  hat  bloß  zwei  Möglichkeiten:  entweder  \irirkt  er  durch  die 
technische  Ausfuhrung,  durch  den  Geschmack,  mit  dem  er  die  Line 
führt,  die  fHäche  dehnt,  die  Farbe  setzt,  oder  durch  die  Rfihrung,  die 
aus  der  Erinnerung  an  unvergleichliche  Ereignisse  hervorquillt  In 
jenem  Fall  droht  spielerische  Behandlung  des  Höchsten,  in  diesen 
Fall  ein  frommes  Handwerkertum.  Die  Mehrzahl  der  Heiligenbilder, 
ja  sogar  der  Altargemälde  gehört  unter  die  Hilfsleistungen  des  Gottes- 
dienstes und  erfüllt  ihren  Zweck  umso  besser,  je  weniger  der  Kunst- 
wert die  Aufmerksamkeit  fesselt;  deshalb  verwerfen  Anhänger  der 
kirchlichen  Kunst  jede  Neuerung  und  halten  an  der  geheiligten  Über- 
lieferung fest.  Daß  aber  auf  diesem  Gebiet  Meisterwerke  möglidi 
sind,  ursprünglich  in  Form  und  Wesen,  lebendig  und  doch  gehalten, 
stolz  und  demütig  zugleich,  das  lehrt  schon  ein  Blick  auf  die  vierte 
und  sechste  der  beigegebenen  Tafeln. 

Von  der  religiösen  zur  geschichtlichen  Malerei  ist  kein  weiter  Schritt, 
und  diese  wiederum  berührt  sich  vielfach  mit  Genre  und  Landschaft. 
Auch  die  Geschichtsmalerei  steht  zum  guten  Teil  außerhalb  der 
Kunst.  Historisches  Einzelwissen  darf  sicheriich  einem  Bilde  zu  gute 
kommen.  Aber  es  ist  doch  traurig,  wenn  ein  Ästhetiker  alten  Schlages 
von  einem  bekannten  Gemälde  rühmend  erzählt:  »Der  Generalstabsdbef 
der  dritten  Armee,  General  v.  Blumenthal,  der  gerade  in  jenen  Tagen 
arg  von  einem  hartnäckigen  Schnupfen  geplagt  wurde,  steht  zur  Rechten 
des  Kronprinzen  und  verrät  jenen  unleidlichen  Zustand  durch  Gesichts- 
ausdruck und  Haltung  mit  dem  großen  weißen  Taschentuch  in  der 
Hand  in  unverkennbarster,  genau  beobachteter  und  wiedergegebener 
Weise.":  Für  die  Darstellung  solcher  Zufälligkeiten  genügt  wohl  die 
Photographie.  Die  künstlerische  Aufgabe  liegt  darin,  die  sachlich  zu- 
sammengehörenden Figuren  so  anzuordnen,  daß  sie  zusammen  gesehen 
werden  müssen  oder  wenigstens  die  Blickbahn  mit  Notwendigkeit  von 
der  einen  zur  anderen  Gestalt  gelenkt  wird.  Wir  sollen  sogleich  merken, 
daß  gewisse  Gruppen  vorhanden  sind  und  sich  in  bestimmten  see* 
lischen  Verhältnissen  befinden;  wir  sollen  femer  fühlen,  wo  der  Ein- 
heitspunkt liegt;  wir  sollen  schließlich  uns  freuen  an  Kurven  mensch» 
lieber  Körper,  Linien  des  Faltenwurfs,  architektonischen  Einrahmungen, 
landschaftlichen  Hintergründen.  Freilich  besitzen  manche  Oc^[enstinde 
eine  Sprödigkeit,  die  ihre  Auflösung  ins  Künstlerische  ausschlieSL 
Eine  Schlacht  aus  dem  20.  Jahrhundert  kann  nicht  mit  dem  Pinsd 
geschildert  werden,  denn  die  Kämpfenden  sind  heutzutage  entweder 
denkende  Wesen  oder  Maschinen,  daher  immer  malerisch  uninter- 
essant.    Schlachtenbilder  zeigen  nur   Episoden,  sie  sind  im    Grande 


niK  MALERISCHE  BILDKl^NST.  413 

Genrebilder  besonderer  Art.  So  gelten  auch  von  ihnen  meist  die 
Vorwürfe,  die  man  seit  einiger  Zeit  gegen  das  »Anekdotenunkraut'  in 
der  Genremalerei  erhebt.  Gewiß  ist  nicht  das  stofflich  bemerkens- 
werteste und  detailreichste  Bild  zugleich  das  wertvollste.  Aber  nur 
verstiegener  Ästhetizismus  verurteilt  die  Erzählerlust,  die  von  allem 
Anfang  an  mit  der  Malerei  verbunden  ist.  Die  Hauptsache  bleibt,  daß 
der  Künstler  sich  die  Einfachheit  bewahrt.  Die  bedeutendsten  Novel- 
listen des  f^nsels,  die  alten  holländischen  Maler,  haben  mit  köstlicher 
Naivität  das  bunte  Leben  ihrer  Zeit  geschildert  und  dabei  kaum  jemals 
>  Anekdoten     vorgetragen. 

Ich  mcKhte  schließlich  noch  auf  die  besonderen  FVobleme  aufmerk- 
sam machen,  die  mit  der  Porträtmalerei  verknüpft  sind.  Wider- 
spruchsvolle Anforderungen  erschweren  dem  Künstler  seine  Arbeit. 
Jeder  Auftraggeber  will  sehr  schön  und  zugleich  sehr  ähnlich  erscheinen. 
Das  Bedürfnis  nach  sichtbarer  Unsterblichkeit  gibt  ihm  diese  Wünsche 
ein.  Im  alten  Ägypten  ließen  die  Vornehmen  Granitstatuen  von  sich 
machen;  im  Italien  des  16.  Jahrhunderts  schwärmte  man  für  Bronze- 
medaillons, im  Frankreich  des  17.  Jahrhunderts  für  den  Kupferstich;  wir 
haben  meist  zwischen  Photographie  und  Ölbild  zu  wählen  und  bevor- 
zugen dies  wegen  seiner  größeren  Dauerhaftigkeit.  Nun  ist  es  begreif- 
lich, daß  das  Äußere  so  erhalten  werden  soll  wie  es  tatsächlich  ist. 
Indessen,  auf  diese  Art  verliert  das  durchschnittliche  Porträt  des  durch- 
schnittlichen Menschen  mit  den  Jahren  an  Wert:  die  Übereinstimmung 
mit  dem  Modell  schwindet,  der  anscheinend  verjüngte  Kopf  und  die 
altmodische  Tracht  sehen  lächerlich  aus.  Nach  dem  Ableben  gar  kann 
der  Maßstab  der  Ähnlichkeit  überhaupt  nicht  mehr  angelegt  werden. 
Und  dennoch  sagen  wir  von  einem  Porträt,  dessen  Urbild  längst  ver- 
storben und  uns  nie  bekannt  gewesen  ist:  das  muß  ähnlich  sein. 
Damit  meinen  wir  den  Eindruck  der  Lebendigkeit  und  individuellen 
Bestimmtheit.  Um  dieses  Eindrucks  willen  verdenken  wir  es  dem  Modell 
und  dem  Maler,  wenn  sie  auf  flache  Schönheit  hinstreben,  wenn  sie 
die  schmeichelhaftere  Vornansicht,  die  alle  gefährlichen  Linien  meidet, 
der  kennzeichnenderen  Seitenansicht  vorziehen,  wenn  sie  die  Wirklich- 
keit einem  unpersönlichen  Ideal  opfern.  Das  Typische  eines  Gesichtes 
soll  allerdings  herausgearbeitet  werden,  damit  das  für  Ausdruck  und 
Form  Unwesentliche  fortfalle.  Wo  Gelegenheit  dazu  ist,  versäume  man 
nicht,  einen  Menschen  neben  eine  Büste  und  ein  Ölbild  von  ihm  zu 
stellen:  der  Eindruck  ist  nicht  der  von  drei  gleichen,  sondern  von  drei 
verschiedenen  Dingen,  zwischen  denen  Ähnlichkeit  besteht 

Sehen  wir  das  Porträt  an,  das  Whistler  von  Carlyle  gemalt  hat 
(Tafel  XVI).  Wir  glauben  dem  Künstler  ohne  weiteres  die  Ähnlichkeit. 
Das  IV\\{\  prägt  sich  in  der  Art  ein,  wie  uns  der  Mensch  selber  un- 


414  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

vergeßlich  geworden  wäre,  hätten  wir  ihm  einmal  im  Leben  gegenüber 
gesessen.  Keine  Frage,  daß  dieser  Mann  ein  kostbares  Out  für  die 
Menschheit  war,  weil  er  gedacht  und  gelitten  hat;  das  Signum  repro- 
bationis  des  vertieften  Seins  ist  ihm  aufgeprägt;  die  Geistigkeit  dieses 
Menschen  muß  dem  blödesten  Auge  sichtbar  werden.  Wir  brauchen 
nicht  zu  wissen,  wer  er  war,  um  von  Teilnahme  erwärmt  zu  werden; 
unwillkürlich  fragen  wir:  was  hat  das  Leben  dir  angetan?  Mit  welchen 
Problemen  hast  du  den  Kampf  ausgefochten,  der  schwerer  ist  als  der 
Kampf  mit  dem  Lindwurm?  Gegen  welche  Sorgen  hast  du  helden- 
mütig gefochten?  Mit  welchen  Menschen  hat  das  Schicksal  dich  ver- 
kettet? Das  wirre  Haar  und  der  ungepflegte  Bart,  der  eigentümliche^ 
rätselhafte  Blick  und  die  hervorleuchtende  weiße  Hand  lassen  den 
Betrachter  so  leicht  nicht  los.  Erst  allmählich  merkt  er,  wie  sorgsam 
das  Bild  gemacht  und  mit  wie  schöner  Sparsamkeit  jedes  Mittel  ver- 
wendet ist.  Die  Umsetzung  ins  Bildhafte  erfolgt  bei  aller  Entschieden- 
heit doch  mit  den  zartesten  Maßnahmen.  Nirgends  prahlt  der  Künstler 
mit  seiner  Fertigkeit,  nirgends  verschwendet  er,  nirgends  verläßt  er  den 
Weg  der  Einfachheit.  Die  Anordnung  im  Raum,  die  Haltung  des 
Körpers,  die  wunderliche  Ausbuchtung  an  der  Brust  —  so  eigenartig 
und  dennoch  selbstverständlich  — ,  kurz,  die  ganze  Anlage  des  Bildes 
ist  nicht  nach  einer  oft  benutzten  Formel  gestaltet,  sondern  gewisser- 
maßen mit  einem  neuen  Pinsel  gemalt  Es  ist  demnach  weder  der 
Gesichtspunkt  der  Ähnlichkeit  noch  derjenige  eines  klassischen  Schön- 
heitsideals, unter  dem  wir  anschauen.  Vielmehr  liegt  der  Kunstwert 
teils  in  der  stillen  Gewalt,  mit  der  wir  in  die  Tiefe  persönlichen  Seelen- 
daseins geführt  werden,  teils  in  der  köstlichen  Sicherheit,  die  den  Auf- 
bau des  Bildes  beherrscht.  Der  erste  Punkt  bezeichnet  den  Ort,  wo 
die  Besonderheit  der  Porträtmalerei  zu  suchen  ist.  Die  Photographie 
(man  vergleiche  die  an  sich  so  vortreffliche  Aufnahme  der  Nonne  auf 
Tafel  XVII)  besitzt  niemals  die  seelenerweckende  Zauberkraft  einer 
malerisch  bildenden  Menschenhand. 


4.  Die  graphische  Bildkunst 

Von  allen  Seiten  wird  darüber  geklagt,  daß  den  Deutschen  der 
Gegenwart  ein  unmittelbares  Verhältnis  zur  Farbe  abgehe.  Die  meisten 
müssen  sich  zur  Farbe  zwingen,  während  ihnen  »das  Schwarz- WeiB 
am  natürlichsten  zu  Gesichte  steht«  ^^).  Ihre  Liebe  gehört  der  graphi- 
schen Bildkunst,  deren  Reich  sich  vom  Holzschnitt  bis  zum  Kupfer- 
stich, von  der  Arabeske,  die  mit  Wirklichkeiten  spielt,  bis  zum  figuren- 
reichen Bilde  ausdehnt 


DIE  (JRAmiSCHE  BII.DKrNST.  415 

Sei  CS  nun  so  oder  nicht,  jedenfalls  unterscheiden  sich  malerische 
und  f^phische  Bildkunst  sehr  deutlich  voneinander.  Diese  Erkennt- 
nis ist  erst  neuerdings  all(;emein  angenommen  worden.  Winckelmann 
sagte:  »Kolorit,  Licht  und  Schatten  machen  ein  Gemälde  nicht  so 
schätzbar  wie  allein  die  edle  Kontur  ,  und  Ingres  behauptete:  Je  metU 
rai  sur  ma  porte:  Ecole  de  Dessin,  et  je  formerai  des  peintres.<^ 
Damit  wurde  der  Umriß,  der  vielleicht  eine  Grundlage  der  Malerei  ist, 
zum  Wesen  der  Malerei  gemacht  und  die  Grenze  gegen  die  Zeichnung 
völlig  verwischt.  Jetzt  ist  die  Überzeugung  fast  überall  durchgedrungen, 
dali  etwas  für  die  Farbe  Bestimmtes  nicht  in  gleich  vollkommener 
Weise  graphisch  dargestellt  werden  kann.  Um  die  eigene  Gesetz- 
mäfiigkeit  der  farblosen  Bildkunst  recht  scharf  herauszustellen,  hat  so- 
gar ein  theoretisierender  Künstler*«)  die  Griffelkunst  aus  dem  Bunde 
mit  Malerei  und  F^lastik  loslösen  und  sie  der  Poesie  nähern  wollen. 
Daß  man  mit  dem  Stift  wie  mit  der  Kehle  Gedanken  ausdrücken  und 
Tatsachen  berichten  kann,  steht  über  jedem  Zweifel  fest.  Aber  der 
Gegensatz  der  Mittel  verbietet  die  Vereinigung.  Es  bleibt  doch  eine 
vor  jeder  theoretischen  Anfechtung  geschützte  Erfahrung,  daß  die 
Graphiker  die  Dinge  um  ihrer  sichtbaren  Erscheinung  willen  wieder- 
geben. Das  Herstellen  räumlichen  Gleichgewichtes,  die  Überteitung 
zu  Hauptformen  durch  Hilfslinien,  die  Gruppierung  um  einen  Strahlen- 
kegel alle  solche  Notwendigkeiten  kennt  man  im  Reiche  der  Wort- 
kunst nicht.  Man  denke  sich  in  Prosaform  oder  im  Gedicht  geschil- 
dert, wie  drei  Gentleman -Akrobaten  zum  Schluß  ihrer  Vorführung 
eine  Apotheose  stellen  s  und  dagegen  halte  man  das  (schon  auf  S.  223 
erwähnte)  Ornament,  dessen  Wirklichkeitsbestandteile  erst  allmählich 
zum  Bewußtsein  kommen. 

n«.  16. 


Dennoch  steckt  in  jener  Auffassung  ein  richtiger  Kern.  Die  Um- 
formung des  Wirklichen,  ohne  die  Kunst  nicht  Kunst  ist,  wird  in  der 
Graphik  und  zumal  in  der  Zeichnung  besonders  energisch  vollzogen. 
Der  Zeichner  kann  sich  noch  heute  erlauben,  was  dem  Maler  nur  auf 
sehr  frühen  Stufen  allgemein  nachgesehen  wurde,  er  kann  die  Raum- 
einheit verietzen,  zwei  Schauplätze  miteinander  verbinden  und  ihnitche 


416  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

Freiheiten  sich  nehmen.  Denn  bei  der  wirklichkeitsfremden  Beschaffen- 
heit des  Umrisses  sind  Absicht  und  Eindruck  diejenigen  einer  Zeichen- 
sprache. In  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  Graphik  ^^  haben 
sich  Symbole  ausgebildet,  durch  die  der  Betrachter  sogleich  an  die  der 
Darstellung  unteriiegenden  Naturdinge  erinnert,  außerdem  aber  auch 
mit  Sicherheit  in  den  sachlichen  Zusammenhang  und  geistigeir  Oehait 
hineingezogen  wird.  Das  auf  Tafel  III  wiedergegebene  Blatt  aus  dem 
sogenannten  Gebetbuch  der  heiligen  Hildegard  ist  in  vielen  Beziehungen 
recht  lehrreich.  Die  Größenverhältnisse  zwischen  Baum  und  Mensch 
entsprechen  nicht  der  Wirklichkeit,  der  Erdboden  wird  durch  ein  gleich- 
sam stenographisches  Sigel  angedeutet,  die  Fruchte  in  der  Baumkrone 
zeigen  zweimal  dieselbe  geometrische  Anordnung,  der  Hintergrund  ist 
eine  leere,  dunkel  umrahmte  Fläche.  Wir  verstehen  leicht,  daß  solche 
Strichbilder  zur  Illustration  geschriebener  und  gedruckter  Bflcher  am 
besten  sich  eignen.  Der  einfache  Linienstil  verträgt  sich  mit  der  Flächen- 
haftigkeit  der  Buchseite,  der  ins  Abstrakte  spielende  Inhalt  mit  der  ganz 
abstrakten  Raumform  der  Letter;  wie  auf  diesem  Wege  des  Dichters 
Absicht  in  Handtätigkeit  und  Augenfreude  umgesetzt,  ja  sogar  selb- 
ständig fortgeführt  und  ergänzt  werden  kann,  das  hat  am  meister- 
haftesten Menzel  gezeigt  (Vgl.  S.  329.)  Ein  anderes  Verfahren  um- 
rankt den  Text  mit  flüssigen  Ornamenten,  die  nur  gel^entlich  ins 
Figürliche  übergehen.  Dürer  hat  das  Gebetbuch  des  Kaisers  Maxi- 
milian in  dieser  Art  geschmückt  Versuche,  die  in  ihrer  manchmal 
dilettantischen  Ungeschicklichkeit  sehr  belehrend  sind,  stammen  von 
William  Blake,  jenem  Dichter  und  Maler,  der  in  tiefsinnigen  Apho- 
rismen Swedenborgs  Geist  zurückbeschwor  und  seinem  Glaubens- 
bekenntnis ^all  things  exist  in  the  human  Imagination  alone^  dadurch 
Ausdruck  lieh,  daß  er  die  höchsten  Begriffe  in  menschliche  Formen 
zwang  und  die  niedrigsten  Wirklichkeiten  zu  schattenhaften  Symbolen 
verflüchtigte.  Sein  i^Book  of  Job^  (1825)  trägt  die  Bezeichnung:  »//i- 
vented  and  engraved  by  William  Blaken.  Die  von  dem  Kunstler  selbst 
gestochenen  Kupferplatten  enthalten  außer  den  Zeichungen  auch  den 
meist  dazwischen  gelagerten  Text  und  an  manchen  Zeilen  primitive 
Ansätze  zu  Zierieisten.  Man  sieht  hier  sehr  deutlich,  wie  weit  Schrift, 
abstrakte  Raumform  und  graphische  Bildkunst  zusammengehören  und 
an  welchem  Punkt  sie  sich  scheiden. 

Mit  den  bisher  gebotenen  Bestimmungen  scheint  nicht  im  Einklang; 
daß  so  häufig  die  schwarz-weißen  Verfahrungsarten  dem  NaturgefQhl 
und  der  Freude  am  Leben  gedient  haben.  Vom  Aussehen  unserer 
Straßen  und  Zimmer,  von  unseren  Trachten  und  Verkehrsformen  be- 
richten dem  zukünftigen  Kulturhistoriker  nicht  die  Gemälde,  sondern  die 
Zeichnungen  und  namentlich  die  Photographien.  Das  erklärt  sich  wohl 


DIK  GRAPHISCHE  BILDKl^NST.  417 

aus  zwei  Gründen.  Erstens  sind  die  Werke  dieser  Kunstarten  fast 
ohne  Veränderung  und  in  beliebig  großer  Anzahl  zu  vervielfältigen. 
Alsdann  lassen  sich  auf  farblosen  Blättern  die  gleichgflitigen  und  die 
häßlichen  Erscheinungen  ohne  jedes  Zögern  festhalten.  Da  Schil- 
derungen des  gegenwärtigen  Lebens  auf  weite  Verbreitung  rechnen 
und  notwendigerweise  mit  trivialen,  ja  abstoßenden  Dingen  zu  tun 
haben,  so  finden  sie  in  der  Graphik  den  natflriichen  Bundesgenossen, 
etwa  wie  innerhalb  der  Wortkunst  in  der  Erzählung^*).  Die  graphi- 
schen Künstler  erfreuen  sich  deshalb  einer  bemerkenswerten  Volks- 
tümlichkeit.    Und  vor  allen  Dingen:  sie  fühlen  sich  als  selbständig. 

Bei  diesem  Punkt  müssen  wir  ein  wenig  verweilen.  Altere  Theorien 
schätzen  in  der  Handzeichnung  das  Werkzeug  des  Malers,  der  vor- 
bereitende Entwürfe  macht,  in  Stich,  Radierung,  Holzschnitt  und  Litho- 
graphie die  Reproduktionsweisen  von  Gemälden.  Die  neuere  Kunst- 
wissenschaft hingegen  gesteht  ihnen  das  Recht  von  Kunstwerken  zu, 
die  sich  selber  genügen  und  in  sich  vollendet  sein  können.  Dies  um- 
somehr,  als  unzählige  Kupferstiche  und  Holzschnitte  ganz  so  wie  ein 
farbiges  Vollbild  wirken  wollen.  Hier  werden  Umrisse  und  Töne, 
Flächen  und  Gestalten,  modellierte  Formen  und  fart>enähnliche  Ab- 
stufungen möglich.  Es  gibt  eine  Lichttonleiter  von  Schwarz  zu  Weiß, 
die  mit  dem  Reichtum  der  Palette  wetteifert  Aber  ihre  Verwendung 
bedeutet  stets  eine  Unabhängigkeitserklärung  gegenüber  den  Farben 
der  Wirklichkeit.  Die  Phantasie  der  besten  Kupferstecher  und  Radierer 
erbaut  sich  eine  eigene  Welt.  Diese  Künstler  ziehen  nicht  in  die 
Wälder,  um  dort  den  Baumschlag  abzuzeichnen,  sie  stellen  nicht  ein 
Modell  neben  die  Staffelei,  sondern  über  den  Tisch  gebückt  schaffen 
sie,  dem  zeichnenden  Architekten,  dem  Musiker  und  dem  Dichter  ver- 
gleichbar. Sie  rechnen  daher  in  hohem  Maße  auf  eine  entgegen- 
kommende Einbildungskraft.  Der  Radierer  hat  die  lotrechte  Seitenlinie 
eines  Hauses  darzustellen.  Man  sollte  denken,  er  würde  wie  ein  Bau- 
meister eine  feste  Linie  hinsetzen.  Weit  gefehlt.  Er  löst  die  Gerade 
in  Krümmungen  auf  oder  duldet  Lücken  in  ihr  oder  macht  zwei  gleich- 
laufende Zitterlinien  daraus.  Die  feine  Nadel  geht  ihre  eigenen  Wege. 
Ebenso  selbstbewußt  ist  der  Tonschnitt  des  Holzschneiders,  der  mannig- 
faltig abgestufte  Flächen  auf  schwarzem  Untergrunde  herstellt  und  aus 
dem  Gegensatz  heller  und  dunkler  Flächen  einen  besonderen  Stil  des 
Bildmäßigen  hervorbringt. 

Ob  das  Hinzutreten  von  Farbe  Kupferdruck,  Radierung  und  Holz- 
schnitt aus  der  Reihe  der  graphischen  Künste  in  die  Gruppe  der 
Malerei  überfuhrt,  diese  Frage  wird  verschiedentlich  beantwortet  werden 
können.  Da  es  sich  um  wenige  Farben  handelt,  pflegen  sie  ohne 
Modellierung,  rein  dekorativ  verwendet  zu  werden.    Die  bewußte  Ab- 

Dcftioir,  Aithctik  und  Allf.  KnwtwiMcatduft.  27 


418  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

kehr  von  der  Wirklichkeit  erscheint  manchen  Theoretikern  als  genügen- 
der Grund,  um  den  Buntdruck  in  jeder  Form  von  der  Malerei  auszu- 
schließen. Ich  finde  es  nicht  zweckmäßig,  das  so  einfache  und  sichere 
Unterscheidungsmittel  der  Farbigkeit  preiszugeben,  weil  die  realistische 
Absicht  fehlt.  Eher  möchte  ich  die  malerische  Bildkunst  auf  diejenigen 
Leistungen  beschränken,  die  aus  dem  Geist  der  Farbe  heraus  ent- 
standen sind,  während  der  Graphiker  niemals  mit  dem  Herzen  bei  der 
Farbengebung  ist.  Doch  stößt  die  Anwendung  dieses  Grundsatzes 
auf  erhebliche  Schwierigkeiten.  Denn  wohin  gehören  beispielsweise 
die  zart  getönten  Tafelbilder  der  englischen  Präraffaeliten,  die  dem 
Rhythmus  der  Linienführung  und  dem  omamentalen  Wesen  so  außer- 
ordentlich viel  verdanken?  Das  Bildleben,  in  seiner  Mitte  Farbe  und 
echteste  Malerei,  verklingt  in  zarter,  fast  nur  noch  linearer  Farblosig- 
keit  oder  läuft  gar  in  einen  Schmuck  des  Rahmens  aus.  Immerhin  — 
jenes  Prinzip  bleibt  das  brauchbarste,  obwohl  es  der  Einsicht  des 
Kunstkenners  in  jedem  Einzelfall  mehr  Spielraum  läßt  als  wünschens- 
wert ist. 

Wenn  ehedem  die  graphische  Bildkunst  bloß  als  Vorspiel  und  Ab- 
gesang  der  Malerei  geschätzt  wurde,  so  gilt  die  Photographie  heutzu- 
tage noch  vielfach  als  Hilfsmittel  und  Wiedergabeverfahren.   In  der  Tat 
kann  man  daran  zweifeln,  ob  sie  irgendwie  zur  Kunst  zu  rechnen  sei. 
Ihre  Verbreitung  und  Bedeutung  verdankt  sie  ja  anderen  Momenten 
als  der  künstlerischen  Qualität.    Sie   dient   (als  genaue  Nachbildung 
eines  flächenhaft  gesehenen  Dinges  oder  Vorganges)  wissenschaftlichen 
Zwecken,  weil  sie  der  verhältnismäßig  beste  Ersatz  der  aus  irgend 
welchen  Gründen  unzugänglichen  Wirklichkeit  ist.    Ihre  Reproduktion 
von  Steinen,  Pflanzen,  Tieren  ist  ebenso  nützlich  wie  ihre  Wiedergabe 
von  Urkunden,  geographischen  Karten,  Häuserfassaden.    In  den  aller- 
meisten   Fällen    entstehen    nicht    Kunstwerke,    sondern    Dokumente. 
Namentlich  die  Augenblicksphotographie  und  die  kinematographischen 
Aufnahmen    sind   Erfolge   der  Technik.    Die  Beurteilung   der  Photo- 
graphie erfolgt  daher  meist  von  einem  außerkünstlerischen  Standpunkte 
aus.    Angenommen,  daß  die  auf  der  Platte  notwendig  erscheinenden 
optischen  Fehler  durch   den  Verstand  des  Photographen   vermieden 
oder  verbessert  worden   sind,  entstehen  Darstellungen  von  äußerster 
Genauigkeit.   Das  Lichtbild  erzählt  alle  Details.  Es  ist  zuveriässig  wie 
die  Statistik,  analytisch   und  unparteiisch  wie  die  Wissenschaft.    Ein 
innerer  Widerstand  aber  gegen  diese  graphische  Methode  stellte  sich 
ein,  als  man  bei  der  Porträtphotograph ie   höhere  Ansprüche  erhob. 
Nicht   nur   daß   die    üblichen    Aufnahmen    im   Wettstreit   mit   Zeich- 
nungen  und  Gemälden  zurückstehen  mußten,  nein,  sie  waren  auch 
in  der  Hauptsache  mangelhaft  und  ließen  die  abgebildeten  Personen 


DIE  GRAPHISCHE  BILDKUNST.  419 

kaum  wiedererkennen.  Der  Grund  dafür  lag  und  liegt  in  Mängeln 
der  Technik  einerseits,  anderseits  in  den  verkehrten  Ansprüchen  derer, 
die  sich  photographieren  lassen.  Die  Kunden  der  Ateliers  nehmen  die 
unnatürlichsten  Stellungen  ein,  verändern  oder,  wie  sie  glauben,  ver- 
schönem ihr  Aussehen  und  stellen  sich  in  eine  Umgebung,  die  ihnen 
nicht  im  geringsten  zukommt.  Vor  allem  aber:  sie  verlangen,  auf  der 
Photographie  schön  auszusehen,  im  Sinne  eines  sehr  allgemeinen 
Schönheitsideals;  die  Retusche  muß  dann  alle  eigentümlichen  Züge 
aus  dem  Gesicht  entfernen. 

So  schien  denn  das  Lichtbild,  sobald  es  der  Sphäre  der  Kunst  sich 
nähert,  als  untergeordnetes  Verfahren  der  eingehenden  Betrachtung 
unwert.  Indessen  schon  vor  zehn  Jahren  bemerkten  Kenner,  daß  das 
bis  dahin  Erreichte  nicht  das  überhaupt  Erreichbare  sei,  daß  man  nicht 
die  ganze  Photographie  ästhetisch  zu  mißbilligen  brauche,  indem  man 
ihre  durchschnittlichen  Leistungen  als  unkünstlerisch  verwerfe.  Sie 
versuchten,  sich  von  der  Maschinenhaftigkeit  des  Apparates  zu  befreien, 
aus  einem  nützlichen  Vervielfältigungsverfahren  ein  künstlerisch  wert- 
volles Mittel  des  Ausdrucks  zu  machen.  Die  Fortschritte  der  Photo- 
graphie, die  zu  einer  eigentümlichen  schwarz-weißen  Flächenkunst 
führten,  waren  etwa  die  folgenden.  Ältere  Blätter  glichen  den  Defini- 
tionen: sie  bestimmten  alles  aufs  genaueste.  In  der  Kunst  aber  wün- 
schen wir  einen  ungewissen,  Hoffnung  weckenden  Rest  für  unsere 
Einbildungskraft.  Die  Photographie  entwickelte  sich  also  nach  der 
Richtung,  daß  die  minutiöse  Genauigkeit  geopfert  und  ein  durch  An- 
näherung an  richtig  erzogenes  Sehen  malerisch  wirkendes  Bild  her- 
gestellt wurde.  Die  Technik  wurde  befähigt,  alles  Bewegliche  wieder- 
zugeben: die  Wolken  und  das  Wasser,  den  Blick  und  das  Lächeln. 
Die  Kunstphotographen  begannen  Naturstudien  von  außerordentlicher 
Eindringlichkeit  und  Ausdehnung  zu  machen.  Um  weniger  Aufnahmen 
willen  beobachteten  sie  ein  halbes  Jahr  hindurch  eine  Landschaft  oder 
einen  Menschen.  Sie  warteten  mit  der  Aufnahme,  bis  die  Wirklichkeit 
ihren  Vorstellungen  von  ihr  entgegenkam.  Denn  wie  jedermann  das 
Glück  hie  und  da  einmal  sich  anbietet,  so  auch  der  Kunstwert.  Nur 
bemerken  wir  ihn  nicht  immer  und  lassen  den  seltenen  Augenblick 
unbenutzt  vorüberziehen. 

Die  fortschrittliche  Bew^^ng  hat  eine  Technik  ausgebildet,  mit  der 
sich  Bildwirkungen  erreichen  lassen.  In  Bezug  auf  Behandlung  der 
empfindlichen  Schicht,  der  Anordnung,  der  Expositionsdauer  und  der 
Ausgestaltung  des  Abzuges  gibt  die  Technik  an  Schwierigkeit  und 
Komplikation  den  übrigen  graphischen  Verfahrungsweisen  wenig  nach. 
Zumal  mit  den  orthochromatischen  Linsen  für  die  Aufnahme  und  mit 
dem  Gummidruck  für  die  Vervielfältigung  sind  Faktoren  geschaffen, 


420  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

die  eine  bildmäßige  Photographie  ermöglichen.  Doch  zugleich  damit 
ist  eine  Verführung  ins  Leben  getreten:  die  Verführung  zur  unphoto- 
graphischen  Photographie.  Ich  erkläre  mich  deutlicher.  Die  meisten 
von  denen,  die  ihre  Kunst  nicht  berufsmäßig  treiben,  sehen  ihr  Ziel 
darin,  die  Hericunft  der  Leistung  zu  verbergen:  sie  sind  überglücklich^ 
wenn  ihre  Abzüge  für  Radierungen  oder  Aquatintablätter  gehalten 
werden,  sie  kopieren  die  Technik  und  die  Auffassungsweise  von  Gra- 
phikern und  Malern.  So  entstehen  Lichtbilder,  die  mit  den  N^;ativen 
nur  noch  eine  gewisse  Familienähnlichkeit  haben.  Mit  der  Verleugnung 
des  eigentümlichen  photographischen  Charakters  aber  begibt  sich  die 
Photographie  des  Rechtes,  eine  besondere  Kunst  genannt  zu  werden. 
Denn,  wie  schon  oft  gesagt  wurde,  jede  Kunst  will  und  soll  mit  einer 
spezifischen  Technik,  in  einer  sonst  nicht  vorhandenen  Art  die 
Wirklichkeit  umformen  und  ein  Innenleben  ausdrücken.  Ob  das  durch 
Lichtbilder  möglich  ist  oder  nicht,  entscheidet  über  ihre  Zugehörigkeit 
zur  Kunst.  In  der  Tat  ist  es  möglich.  Es  sind  Lichtbilder  vorhanden, 
die  sich  als  reine  Photographie  geben,  ohne  an  malerischen  Eigen- 
schaften einzubüßen.  Der  Leser  findet  zwei  Belege  dafür  auf  den 
Tafeln  XVII  und  XVIll.  Jeder  Maler  müßte  das  Kloster  näher  an  die 
Bäume  heranrücken  und  diese  flacher,  mehr  dekorativ  behandeln;  der 
Lichtstreif  des  Weges  wäre  auszuweiten  und  zu  betonen ;  jeder  Kunst- 
photograph der  heute  herrschenden  Richtung  würde  die  Fenster  und 
Türen  des  Klosters  zu  verschleiern  suchen.  Indem  auf  alle  solche 
Änderungen  verzichtet  und  trotzdem  die  Naturstimmung  eingefangen 
wird,  entsteht  eine  vollwertige  Photographie,  die  sich  ihrer  selbst  nicht 
schämt.  An  dem  Bild  der  Nonne  fällt  namentlich  die  schon  (S.  408) 
erwähnte  Augenblicklichkeit  auf.  Niemand  wird  daran  zweifeln,  daß 
die  Photographie  nach  der  Natur  aufgenommen  wurde,  denn  weder 
malerische  noch  graphische  Technik  spricht  zu  uns.  Keinerlei  üble  Re- 
tusche hat  sich  darüber  hergemacht.  Und  doch  wird  durch  die  Hal- 
tung, die  Lichtverteilung  und  die  Abtönung  ein  bildhafter  Eindruck 
erzielt,  der  diese  Photographie  weit  über  die  handwerksmäßige  Ge- 
wöhnlichkeit hinaushebt. 

Anmerkungen. 

*)  Adolf  Hildebrand,  Das  Problem  der  Form  in  der  bildenden  Kunst  3.  Aufl.,  1903. 

')  Vgl.  Lewis  F.  Day,  Alte  und  neue  Alphabete.    Deutsch,  1900. 

*)  Den  Gedanken,  daß  die  Säule  etwas  Seelisches  darstellt,  ein  Ausdrucks- 
mittel ist,  hat  schon  Baumgarten  in  einen  allgemeinen  Zusammenhang  gesetzt  mit 
den  künstlerischen  Ausdrucksmitteln  überhaupt.  Er  führt  die  Unterscheidung  eines 
rauhen  und  eines  blühenden  Kunststiles  durch  und  wendet  sie  an  auf  die  Fart>en 
beim  Malen  und  die  Wortfärbungen  beim  Dichten.  Es  kommt  in  der  Malerei  nicht 
darauf  an,  das  Bild  möglichst  bunt  zu  machen,  sondern  entscheidend  ist  die  richtige 


ANMERKUNGEN.  421 


Verteilung  von  Licht  und  Schatten.  Eine  einzige  Farbe  kann  genügen,  wenn  sie 
nur  in  sorgfältigen  Schattierungen  durchgeführt  ist  (§§  688  ff.).  Schon  Plinius  sagte: 
sant  enim  colores  out  austeri  aut  floridi.  Keiner  von  beiden  StUen  darf  ausschließ- 
lich benutzt  werden,  sonst  entsteht  ein  facus  aestheticus  (§  704).  Der  »rauhe  Um* 
riß«  des  Herakles  und  der  »blühende«  des  Antinous  sollen  sich  lediglich  als 
Äußerungen  des  ästhetischen  Lichtes  voneinander  unterscheiden.  Der  Dichter  wird 
gut  tun,  die  Außenseite  der  Tugend  mit  rauhen,  ihre  Innenseite  mit  den  blühend- 
sten Farben  zu  schildern.  Und  endlich,  auf  die  Säule  übertragen:  die  dorische 
Säule  ist  rauh,  die  korinthische  blühend,  die  ionische  ein  Mittelding  zwischen  beiden; 
gerade  Linien  machen  einen  harten,  krumme  einen  lieblichen  Eindruck  u.  s.  w. 
Dieser  Gedankengang  ist  wohl  auch  noch  heute  verständlich,  obgleich  nicht  leicht 
mit  der  Lehre  von  der  verworrenen  Erkenntnis  zu  vereinigen.  Aber  seine  Ver- 
knüpfung mit  der  Theorie  vom  ästhetischen  Licht  beruht  lediglich  auf  der  Verfüh- 
rung durch  die  Naturwissenschaft  Wie  nämlich  die  Farben  nur  Modifikationen  des 
Sonnenlichtes  sind,  so  sollen  auch  die  ästhetischen  Farben  nur  Modifikationen  des 
ästhetischen  Lichtes  darstellen.  Die  Säulen,  von  denen  oben  die  Rede  war,  sind 
Versinnlichungen  von  Stützen,  ihre  Idee  ist  sinnlich  faßbar.  Aber  daß  nun  die 
Unterschiede  der  ionischen,  dorischen  und  korinthischen  Säule  bloße  Abänderungen 
dieser  sinnlichen  Klarheit  darstellen,  behauptet  Baumgarten  auf  Grund  der  natur- 
wissenschaftlichen Analogie,  ohne  es  zu  beweisen. 

*)  Entnommen  aus  Dien  Keys  Buch  »Die  Wenigen  und  die  Vielen«.  Deutsch, 
3.  Aufl.,  1905,  S.  269  f. 

*)  J.  Ruskin,  Die  sieben  Leuchter.    Deutsch,  1900,  S.  112. 

^)  Wir  haben  Tür  und  Fenster,  um  mit  der  Außenwelt  in  Verbindung  zu  treten; 
alle  festen  Flächen  der  Stube  sollen  uns  einfriedigen  und  schützen.  Daher  hat 
Edgar  Poe  (in  seiner  von  Baudelaire  übersetzten  »Philosophie  der  Zimmerausstat- 
tung«) gegen  die  damals  beliebten  Prunkspiegel  Einspruch  erhoben.  Vortrefflich 
schildert  Poe  die  ebene,  farblose  und  eintönige  Oberfläche  des  Spiegels  in  ihrer 
ganzen  Mißfälligkeit,  sehr  geistvoll  zeigt  er,  daß  ein  großer  Spiegel  als  lichtreflek- 
tierende Fläche  und  nun  gar  eine  Anzahl  solcher  Spiegel  die  Formen  und  Grenzen 
eines  Zimmers  aufhebt  Übrigens  ist  Poe  auch  darin  ein  Vorläufer  modemer  An- 
schauungen, daß  er  die  angewandte  Kunst  überschätzt  »Eine  Autorität  in  Rechts- 
fragen kann  ein  gewöhnlicher  Mensch  sein,  eine  Autorität  in  Teppichen  muß  ein 
Genie  sein.  Und  doch  haben  wir  die  Menschen  über  Teppiche  sprechen  sehen  mit 
der  Miene  eines  träumenden  Rindes  . . .« 

^)  Sehr  nützlich  ist,  um  die  Vergleichung  mit  älteren  Bauten  vorzunehmen  und 
einen  Standpunkt  zu  gewinnen,  das  anspruchslose  Büchlein  von  Adelbert  Matthäi: 
Deutsche  Baukunst  im  Mittelalter,  1904.  Anregungen,  ja  Anreizungen  gewähren: 
Robert  de  la  Sizeranne,  Les  Questions  esth^iques  conUmporaines,  1904  und  Alfred 
Lichtwark,  Palastfenster  und  Flügeltür,  3.  Aufl.,  1905.  Auf  Schmarsows  Grundbegriffe 
der  Kunstwissenschaft  sei  nochmals  nachdrücklich  hingewiesen. 

^)  J.  Ruskin,  EHe  sieben  Leuchter,  Kap.  5,  §  21.  Man  vergleiche  auch  das  leider 
wenig  gekannte  Büchlein  von  Johannes  Merz,  Das  ästhetische  Formgesetz  der 
Plastik,  1892. 

^)  Zuerst  wohl  von  W.  Henke,  EHe  Menschen  des  Michelangelo  im  Veigleich 
mit  der  Antike,  1871,  S.  11. 

>•)  Vgl.  Walter  Pater,  Greek  Studies,  1901,  S.  238  und  The  Renaissance,  6.  Aufl., 
1902,  S.  212.  Weshalb  es  in  der  Skulptur  kein  Gegenstück  zu  der  so  reichen  Blumen- 
und  Früchtemalerei  gibt,  soll  gelegentlich  in  einer  besonderen  Betrachtung  unter- 
sucht werden. 


422  V.  RAUMKUNST  UND  BILDKUNST. 

**)  Ferdinand  Laban,  Der  Gemütsausdruck  des  Antinous,  189L  Die  zitierte  Stelle 
auf  S.  68. 

**)  Für  die  Art,  wie  hier  technische  Schwierigkeiten  bewältigt  werden,  sei  eine 
Beschreibung  angeführt:  »Es  folgen  drei  Frauen,  eng  nebeneinander  gestellt,  jede 
in  verschieden  geziertem  Peplos;  der  Einfachheit  wegen  ist  der  Mantel,  der  bei 
allen  dreien  um  die  Schultern  gelegt  gedacht  ist,  nur  auf  der  rechten  Schulter  der 
vordersten  und  vor  der  linken  Schulter  der  hintersten  angegeben ;  es  ist  damit  durdi- 
aus  nicht  gemeint,  daß  die  drei  sich  mit  einem  gemeinsamen  Mantel  begnügen, 
sondern  es  ist  nur  eine  leicht  verständliche  Konvention  (den  Malern  dieser  alten 
Zeit  geläufig).  Nur  auf  diese  Weise  war  es  möglich,  die  Figuren  so  eng  hinter- 
einander darzustellen ;  sonst  hätte  immer  der  Mantel  der  einen  die  andere  verdeckt« 
Furtwängler  und  Reichhold,  Griechische  Vasenmalerei,  1904,  S.  4. 

")  John  Ruskin,  Voriesungen  über  Kunst.    Deutsch,  Leipzig,  Redam,  S.  99  ff. 

^*)  Th.  Couture,  Methode  et  entretiens  d^ateüer,  I,  231:  ^Faisons  notre  addition: 
La  base  avant  tout 

[Uaccord  des  contraires  (rouge  vert,  jaune  bleu)] 
La  dominante  lumineuse  et  centrale 
Les  Couleurs  sombres  s^augmentant  vers  les  extrimitA 
Total:  De  bonnes  conditions  d^harmonie,^ 

Vgl.  die  Ausführungen  auf  S.  175  unseres  Buches. 

**)  So  zu  lesen  bei  Ernst  Würtenberger,  Arnold  Böcklin;  einiges  über  seine  Art 
zu  schaffen,  seine  Technik  und  seine  Person,  1902,  S.  6  f. 

»•)  Hermann  Gottschalk,  Weltwesen  und  Wahrheitwille,  1905,  S.  344. 

^')  Max  Klinger,  Malerei  und  Zeichnung,  2.  Aufl.,  1895.  Die  Gegengründe  vor- 
weggenommen in  Walter  Cranes  Schrift  Linie  und  Form,  Deutsch,  1901.  Ich  hebe 
hervor  S.  16,  82,  97,  106,  251,  274. 

*^)  Oskar  Bie,  Die  moderne  Zeichenkunst,  Beriin,  o.  J.  —  Rudolf  Kautzsch,  Die 
deutsche  Illustration,  1904. 

*»)  Die  erotischen  Zeichnungen  von  F^liden  Rops,  oft  freilich  in  unbestimmte 
Fleckenwirkung  übergehend,  und  diejenigen  von  Aubrey  Beardsley  wären  als  Ge- 
mälde nie  gewagt  worden  und  gänzlich  ungenießbar. 


VI.  Die  Funktion  der  Kunst. 


1.  Die  geistige  Funktion. 

Kunst,  als  Schöpfung  des  menschlichen  Geistes,  ist  mit  dem  ge- 
samten Wissen  und  Wollen  der  Menschen  verbunden.  Im  Zusammen- 
hang der  Leistungen,  die  zu  dauernden  Formen  sich  verfestigt  haben, 
gebührt  ihr  ein  bestimmter  Platz.  Diese  besondere  Verrichtung  läßt 
sich  am  ehesten  feststellen,  wenn  ihr  Verhältnis  zu  Wissenschaft,  Ge- 
sellschaft und  Sittlichkeit  als  zu  den  nächst  verwandten  Bildungen 
untersucht  wird. 

Was  das  Verhältnis  der  Kunst  zur  Wissenschaft  anlangt,  so  wird 
die  Erörterung,  wie  mir  scheint,  am  besten  nicht  mit  Allgemeinheiten, 
sondern  zweckmäßiger  mit  der  Prüfung  eines  besonderen  Falles  b^onnen. 
Als  einen  lehrreichen  Fall  betrachte  ich  die  Versuche  der  Kunsthisto- 
riker, in  wissenchaftlicher  Art  Werke  der  Raum-  und  Bildkunst  zu  be- 
schreiben, aus  dem  Augenschein  des  künstlerischen  Lebens  in  die 
Sprache  der  wissenschaftlichen  Begriffe  zu  übertragen^).  Erklärung 
und  Bewertung  pflegen  auf  solche  Schilderungen  gestützt  zu  werden; 
wir  können  also  hier  an  der  Wurzel  prüfen,  wie  weit  Kunstwerke  dem 
einfachsten  Verfahren  der  Wissenschaft  sich  zugänglich  erweisen.  Am 
reizvollsten  und  schwierigsten  ist  die  Aufgabe,  die  gel^entlich  dem 
Kunsthistoriker  erwächst,  die  Aufgabe,  durch  seine  Beschreibung  ein 
der  Beobachtung  nicht  zugängliches  Werk  möglichst  vollkommen  zu 
ersetzen.  Meist  hat  er  freilich  nur  die  sichtbare  Erscheinung  durch 
das  Wort  zu  eriäutem  und  zu  beleben,  manchmal  aber  muß  er  doch 
auch  sie  herzustellen  versuchen.  Hermann  Grimms  Anweisung:  »alle 
Werke  nur  in  Beschreibungen  sichtbar«  zeigt  gerade  in  ihrer  Über- 
treibung aufs  deutlichste,  daß  unser  Problem  auch  ein  solches  der 
Kunstwissenschaft,  und  zwar  ein  ihre  Praxis  bestimmendes  ist  Sind 
nicht  ferner  in  den  täglich  erscheinenden  Berichten  über  Kunstaus- 
stellungen jedesmal  Schilderungen  von  Bildern  oder  Büsten  enthalten, 
die  der  Leser  noch  nicht  erblickt  hat  oder  überhaupt  nicht  zu  sehen 
bekommen  kann?  Daher  ist  es  erstaunlich  genug,  daß  weder  in  der 
Vergangenheit  noch  in  der  G^enwart  erschöpfende  Untersuchungen 


424  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

Über  die  Grenzen  solcher  Beschreibungen  angestellt  worden  sind 
Immerhin  gibt  es  schätzenswerte  Beiträge,  namentlich  aus  älterer  Zeit 

Blicken  wir  auf  die  deutsche  Kunstwissenschaft  der  letzten  hundert- 
undfünfzig Jahre  zurück,  so  begegnet  uns  zuerst  Goethes  erlauchter 
Name.  Der  Aufsatz  über  den  Triumphzug  des  Mantegna  enthält  eine 
belebte,  das  Wesentliche  gut  vermerkende  Beschreibung;  sie  schließt 
mit  dem  Geständnis,  daß  »man  mit  noch  so  viel  gehäuften  Worten 
den  Wert  der  flüchtig  beschriebenen  Blätter  doch  nicht  ausdrücken 
könnte«.  Vasaris  Schilderung  wird  als  unzulänglich  abgelehnt  »Wir 
wollen  ihn  aber  deshalb  nicht  schelten,  weil  er  von  Bildern  spricht, 
die  ihm  vor  Augen  stehen,  von  denen  er  glaubt,  daß  jedermann  sie 
sehen  wird.  Auf  seinem  Standpunkte  konnte  die  Absicht  nicht  sein, 
sie  den  Abwesenden  oder  gar  Künftigen,  wenn  die  Bilder  verioren 
gegangen,  zu  vergegenwärtigen.  Ist  dieses  doch  auch  die  Art  der 
Alten,  die  uns  oft  in  Verzweiflung  bringt  Wie  anders  hätte  Pausanias 
verfahren  müssen,  wenn  er  sich  des  Zweckes  hätte  bewußt  sein 
können,  uns  durch  Worte  über  den  Verlust  herriicher  Kunstwerke  zu 
trösten!  Die  Alten  sprachen  als  gegenwärtig  zu  Gegenwärtigen,  und 
da  bedarf  es  nicht  vieler  Worte.  Den  absichtlichen  Redekünsten 
Philostrats  sind  wir  schuldig,  daß  wir  uns  einen  deutlicheren  Begriff 
von  veriorenen  köstlichen  Bildern  aufzubauen  wagen.«  —  Während 
an  dieser  Stelle  der  Abstand  des  Wortes  vom  Augenschein  hervor- 
gehoben und  zwischen  ergänzender  und  ersetzender  Beschreibung  be- 
deutsam unterschieden  wird,  kommen  in  den  Anmerkungen  zu  Dide- 
rots  Versuch  über  die  Malerei  andere  Gedanken  zur  Geltung.  Bei 
Diderot  war  zu  lesen:  »Ich  vollende  mit  einer  Zeile,  was  der  Künstler 
in  einer  Woche  kaum  entwirft,  und  zu  seinem  Unglück  weiß  er,  sieht 
er,  fühlt  er  wie  ich  und  kann  sich  durch  seine  Darstellung  nicht  genug 
tun.«  Hiezu  meint  nun  Goethe:  »Freilich  ist  die  Malerei  sehr  weit  von 
der  Redekunst  entfernt,  und  wenn  man  auch  annehmen  könnte,  der 
bildende  Künstler  sehe  die  Gegenstände  wie  der  Redner,  so  wird  doch 
bei  jenem  ein  ganz  anderer  Trieb  erweckt  als  bei  diesem.  Der  Redner 
eilt  von  Gegenstand  zu  Gegenstand,  von  Kunstwerk  zu  Kunstwerk, 
um  darüber  zu  denken,  sie  zu  fassen,  sie  zu  übersehen,  sie  zu  ordnen 
und  ihre  Eigenschaften  auszusprechen.  Der  Künstler  hingegen  ruht 
auf  dem  Gegenstande,  er  vereinigt  sich  mit  ihm  in  Liebe,  er  teilt  ihm 
das  Beste  seines  Geistes,  seines  Herzens  mit,  er  bringt  ihn  wieder 
hervor.«  Man  beachte,  wie  die  Wahrnehmung  des  Künstlers  und  des 
Redners  doch  nicht  unbedingt  als  die  gleiche  und  der  Forscher  als 
im  Gegensatz  zum  Künstler  hingestellt  wird. 

Wilhelm  Heinse,  der  so  begeistert  über  bildende  Kunst  und  Musik 
zu  sprechen   wußte,  hat  in  seinem  Briefwechsel  (herausgegeben  von 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  425 

Körte)  mehrfach  unser  Problem  beriihrt.  An  einer  Stelle  (I,  243)  heißt 
es :  »Außerdem  hat  jede  Kunst  ihre  Grenzen,  über  welche  keine  andere 
Eroberungen  machen  kann.  Malerei,  Bildhauerei  und  Musik  spotten 
in  ihren  eigentümlichen  Schönheiten  jeder  Obersetzung,  selbst  die 
Poesie,  die  allergroßmächtigste,  muß  draußen  bleiben.«  In  einem  an- 
deren Zusammenhang  (I,  332)  sind  die  wichtigsten  Sätze  die  folgen- 
den: :»Gemalt  und  beschrieben  ist  schier  so  sehr  voneinander  ver- 
schieden, wie  sehen  und  blind  sein:  wie  der  Zeiger  einer  Uhr  im 
Julius  auf  der  Ziffer  Vier  —  von  dem  Morgenrot  auf  der  Höhe  des 
Brocken.  Selbst  die  Beschreibungen  Winckelmanns  sind  nur  Brillen; 
und  zwar  Brillen  nur  für  diese  und  jene  Augen.  . . .  Jedoch  gebe  ich 
Ihnen  aus  keinem  Gemälde  mehr  als  die  Idee  und  das  Malerische  der- 
selben, so  wie  ich's  erkenne;  weil  ich  zu  überzeugt  bin,  daß  alles 

andere  mit  eigenen  Augen  gesehen  werden  muß «2)    Über  solche 

beweglichen  Klagen  geht  um  ein  weniges  hinaus  George  Forster,  der 
die  Kunst  der  Beschreibung  nicht  bloß  an  der  Natur,  sondern  auch 
an  Bauten  und  Gemälden  übte.  Seine  Beschreibungen  behagen  uns 
nicht  immer,  sein  Grundsatz  jedoch  ist  der  Erwähnung  wert  »Meines 
Erachtens«,  so  sagt  er,  »erreicht  man  besser  seinen  Endzweck,  indem 
man  wiedererzählt,  was  man  bei  einem  Kunstwerk  empfand  und  dachte, 
also,  wie  und  was  es  bewirkte,  als  wenn  man  es  ausführlich  be- 
schreibt Bei  einer  noch  so  umständlichen  Beschreibung  bedarf  man 
einer  höchstgespannten  Aufmerksamkeit,  um  allmählich,  wie  man  weiter 
hört  oder  liest,  die  Phantasie  in  Tätigkeit  zu  versetzen  und  ein  Schein- 
bild formen  zu  lassen,  welches  für  den  Sinn  einiges  Interesse  hat 
Ungern  läßt  sich  die  Phantasie  zu  diesem  Frondienst  herab;  denn  sie 
ist  gewohnt,  von  innen  heraus,  nicht  fremdem  Machwerk  nachzubilden. 
Ästhetisches  Gefühl  ist  die  freie  Triebfeder  ihres  Wirkens,  und  gerade 
dieses  wird  gegeben,  wenn  man,  statt  einer  kalten  Beschreibung  eines 
Kunstwerks,  die  Schwingungen  mitzuteilen  und  fortzupflanzen  versucht, 
die  sein  Anblick  im  inneren  Sinn  erregte.  Durch  diese  Fortpflanzung 
der  Empfindungen  ahnen  wir  dann  —  nicht  wie  das  Kunstwerk  wirk- 
lich gestaltet  war  — ,  aber  gleichwohl,  wie  reich  oder  arm  es  sein 
mußte,  um  diese  oder  jene  Kräfte  zu  äußern;  und  im  Augenblick  des 
Affekts  dichten  wir  vielleicht  eine  Gestalt,  der  wir  jene  Wirkungen  zu- 
trauen und  in  der  wir  nun  die  Schatten  jener  unmittelbaren  Eindrücke 
nachempfinden.«  Ich  möchte  meinen,  daß  dies  Verfahren  bei  der  Musik 
noch  besser  am  Platze  ist,  wie  es  denn  auch  von  Nietzsche  g^enüber 
Bizets  »Carmen«  geübt  worden  ist 

Von  den  Romantikem  ist  Wilhelm  Schlegel  am  tiefsten  in  das 
Problem  eingedrungen.  Seine  Übersetzerkunst  befähigte  ihn  dazu. 
Einmal  heißt  es:  »Für  die  so  oft  verfehlte  Kunst,  Gemälde  mit  Worten 


426  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

ZU  malen,  läßt  sich  im  allgemeinen  wohl  keine  andere  Vorschrift  erteilen 
als  mit  der  Manier,  den  Gegenständen  gemäß,  aufs  mannigfaltigste  zu 
wechseln.  Manchmal  kann  der  dargestellte  Moment  aus  einer  Erzäh- 
lung lebendig  hervorgehen.  Zuweilen  ist  eine  fast  mathematische  Ge- 
nauigkeit in  lokalen  Angaben  nötig.  Meistens  muß  der  Ton  der  Be- 
schreibung das  Beste  tun,  um  den  Leser  über  das  Wie  zu  verständigen. 
Hierin  ist  Diderot  Meister:  er  musiziert  viele  Gemälde  wie  der  Abt 
Vogler«  ^).  Ein  anderes  Mal  läßt  Wilhelm  Schlegel  zwei  Personen  wie 
folgt  miteinander  reden:  »Waller: Das  einzelne  Wort  tut  es  frei- 
lich nicht,  ebensowenig  als  der  Zauber  der  Malerei  in  den  abgeson- 
derten Farben  auf  ihrer  Palette  liegt.  Aber  aus  der  Verbindung  und 
Zusammenstellung  der  Worte  gehen  nicht  nur  Gestalten  hervor:  die 
Rede  gibt  ihnen  auch  ein  Kolorit  und  kann  stärker  und  sanfter  be- 
leuchten. —  Luise:  Brav!  Diesmal  reden  Sie  ganz  nach  meinem 
Herzen.  —  Waller:  Freilich  muß  sie,  um  hierin  die  höchste  Vollkommen- 
heit zu  erreichen,  auch  die  Töne  mit  Wahl  zusammenstellen  und  die 
Bewegungen  nach  Gesetzen  ordnen.  —  Luise:  O  weh!  es  soll  also 
förmlich  gedichtet  werden.  Mit  den  Silbenmaßen  habe  ich  mich  nie- 
mals abgegeben «*)    Diese  Gespräche   spielten   sich  1798  in  der 

Dresdener  Galerie  ab.  Die  Fiktion  ist,  daß  für  die  abwesende  Schwester 
der  einen  Unterrednerin  durch  Gemäldebeschreibungen  eine  Art  Ersatz 
geschaffen  werden  soll.  Daher  kann  eine  Untersuchung  Ober  Mög- 
lichkeit und  Art  solches  Ersatzes  nicht  umgangen  werden.  Und  August 
Wilhelm  Schlegel  war  dazu  vorherbestimmt  als  Kunstliebhaber  und 
Wortkünstler,  als  der  geborene  Aneigner  und  Übersetzer.  — 

Wir  gehen  nun  von  geschichtlichen  Erinnerungen  zu  eigenen  Be- 
trachtungen über.  Wenn  man  die  Ausdrucksfähigkeit  des  Wortes  fGr 
die  Zwecke  der  Kunstwissenschaft  prüfen  will,  und  zwar  an  dem  jetzt 
üblichen  Verfahren,  so  bieten  sich  zwei  Wege  als  die  kürzesten  dar. 
Man  kann  die  Schilderungen,  die  verschiedene  Gelehrte  von  einem  und 
demselben  Werk  entworfen  haben,  miteinander  vergleichen,  und  man 
kann  die  Beschreibung  verschiedener  Werke  durch  denselben  Autor 
daraufhin  ansehen,  ob  sie  zur  unterscheidenden  Kennzeichnung  aus- 
reichen. Aus  der  ersten  Vergleichung  ergibt  sich  sofort,  daß  unsere 
Kataloge  und  kunstgeschichtlichen  Handbücher  die  abweichendsten 
Darstellungen  desselben  Bildes  enthalten.  Zum  Erweis  stelle  ich  zwei 
Schilderungen  der  Sixtinischen  Madonna  nebeneinander,  die  durch  Kürze 
ausgezeichnet  und  in  vornehmer  Umgebung  zu  finden  sind.  »Maria 
schwebt  in  ganzer  Gestalt  auf  weißen  Wolken  in  goldduftiger  Glorie  von 
Engelsköpfchen.  Der  nackte  Jesusknabe  thront  auf  ihrem  rechten 
Arme.  Beide  blicken  den  Beschauer  gerade  von  vom  mit  ernsten  großen 
Augen  an.    Zu  ihren  Füßen  knien  zwei   verehrende  Heiligengestalten 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  427 

auf  den  Wolken:  links  der  heilige  Papst  Sixtus  II.,  der  die  dreifache 
Krone  vom  auf  die  Brüstung  niedergel^  hat  und  entzuckt  zur  Mutter 
Gottes  emporblickt;  rechts  die  demütig  zur  Seite  schauende  heilige 
Barbara,  die  an  dem  Turm  zu  ihrer  Rechten  kenntlich  ist  Vom  in 
der  Mitte  blicken  zwei  Engelsknaben  hinter  der  Brüstung  hervor.  Ein 
grüner  Vorhang  schließt  oben  die  Erscheinung  von  der  Erdenwelt  ab.« 
—  »Die  weiten  Augen  der  Sixtina  haben  es  der  Welt  angetan.  Ein 
breiter  Nasenrücken  und  das  Hilfsmittel,  die  Augen  dadurch  weit  aus- 
einander zu  rücken,  trotzdem  aber  ihren  Blick  sich  nicht  kreuzen  zu 
lassen,  sondem  gleichlinig  in  die  Feme  zu  lenken,  bedingen  den  Aus- 
dmck;  der  Kopf  von  vollendeter  Rundung,  die  Haltung  groß  über  das 
Leben  hinaus,  der  Aufbau  in  Beziehung  zu  den  beiden  anbetenden 
Heiligen  ebenso  streng  in  den  Hauptmaßen  wie  flüssig  in  der  Linien- 
fühmng;  die  Gestalten  umgeben  von  silbemem  hellen  Licht,  wie  dies 
schon  Sebastiano  del  Piombo  angestrebt  hatte,  die  kraftvollste  Farbe 
im  Licht  weißlich,  nicht  von  der  alten  sonst  hier  beliebten  Leucht- 
kraft.c     (Vgl.  Tafel  VI.) 

In  beiden  Beschreibungen  fehlen  wichtige  Momente  —  beispiels- 
weise wird  das  Bew^ungsmotiv  nicht  erklärt  —  und  anderseits  sind 
in  ihnen  Phrasen  und  Beiwörter  enthalten,  die  zum  Verständnis  nichts 
beitragen.  Selbst  ein  Widersprach  fällt  auf:  der  Dresdener  Katalog 
spricht  von  »gold duftiger  Glorie«,  die  Guriittsche  Kunstgeschichte 
von  »silbernem  hellen  Licht«.  Was  aber  das  Wichtigste  ist:  würde 
ein  nicht  Unterrichteter  die  beiden  Beschreibungen  mit  Sicherheit  und 
Notwendigkeit  auf  dasselbe  Gemälde  beziehen?  Fördem  und  vertiefen 
sie  die  Anschauung? 

Recht  unzulänglich  ist  die  Sprache  unserer  Kunstgelehrten,  wenn 
es  gilt,  die  Art  eines  Meisters  zu  beschreiben,  durch  die  alle  seine 
Werke  (oder  wenigstens  alle  Werke  einer  bestimmten  Schaffenszeit) 
ihr  eigentümliches  Gesicht  erhalten.  Wölfflin  z.  B.  erkennt  bei  Giotto 
überall  »lebendiges,  überzeugendes  Geschehen«.  Er  habe  ein  Auge 
für  »das  Sprechende«,  sei  ein  Mann  der  »Wirklichkeit«,  ein  »Be- 
obachter«. Masaccio  scheint  ihm  mit  Nachdmck  »das  Sein«  zu  geben, 
»die  Körperiichkeit  in  der  ganzen  Kraft  der  Naturwirkung«.  —  Solche 
Wendungen  entspringen  wohl  einer  zutreffenden  und  durchgebiWeten 
Anschauung  und  erhalten  im  Zusammenhang  auch  einen  gewissen 
Wert;  dennoch  kann  niemand  aus  ihnen  eine  Differenziemng  der 
Künstlerprofile  gewinnen.  Ebensowenig  leisten  die  von  Wölfflin  gern 
gebrauchten  Beiwörter,  weil  sie  ihrer  Natur  nach  unzuverlässig  und 
farblos  sind.  Auch  Zusammenstellungen  wie  »von  schöner  Linie«,  »von 
melodiösem  Linienschwung«,  »von  grandiosem  Ernst«  besagen  doch 
nichts.     Nur  wenn  im  Hörer  oder  Leser  bereits  ein  Besitz  an  Vor- 


428  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

Stellungen  vorhanden  ist,  können  durcheinanderschwirrende  Bildfrag- 
mente  auftreten,  und  nur  wo  der  Forscher  zum  Dichter  wird,  erzidt 
er  einen  Innen  mit  Innen  verknüpfenden  Eindruck;  so  wenn  er  von 
einem  Bilde  sagt,  darin  herrsche  »ein  allerffiUendes  Schweigen,  daß 
man  glaubt,  man  würde  es  lispeln  hören,  wenn  der  Abendhauch  an 
den  schlanken  Bäumchen  die  Blätter  bewegt«.  Die  Worte  dag^en, 
die  vorangehen:  »vollkommene  Ruhe,  lauter  stille  Linien,  eine  edle 
Architektur  mit  weitem  Ausblick  in  die  Feme,  eine  schön  verklingende 
Berglinie  am  Horizont«,  könnten  nicht  minder  gut  auf  ein  Schwind- 
sches  Märchenbild  passen  als  auf  die  Madonna  von  Perugino,  von 
der  sie  gesagt  sind.  —  Endlich  ein  letztes  Beispiel.  Mit  folgenden 
vierzehn  Wendungen  schildert  Wölfflin  die  Frührenaissance:  fdnglied- 
rige  mädchenhafte  Figuren  mit  bunten  Gewändern,  blühende  Wiesen, 
wehende  Schleier,  luftige  Hallen  mit  weitgespannten  Bogen  auf  schlanken 
Säulen,  alle  frische  Kraft  der  Jugend,  alles  Helle  und  Muntere,  alles 
Natüriiche  und  Mannigfaltige,  schlichte  Natur  und  doch  ein  wenig 
Märchenpracht  dabei.  Das  ist  gewiß  schön  und  treffend.  Dennoch 
ließe  sich  die  Beschreibung  auf  ein  halbes  Dutzend  anderer  Zdten 
und  Künstler  anwenden.  Als  vor  Jahren  eine  Geschichte  der  neuesten 
Kunst  heftig  angegriffen  wurde,  warf  man  ihrem  Verfasser  vor,  daß 
er  Schilderungen,  die  von  Kennern  und  Künstlern  stammen,  wörtlich 
entlehnt  und  auf  ganz  andere  Werke  übertragen  habe,  als  für  wdche 
sie  ursprünglich  bestimmt  waren.  Solche  Plagiate  sind  doch  nur  da- 
durch möglich,  daß  auch  den  glänzendsten  sprachlichen  Darstdiungen 
jene  Genauigkeit  mangelt,  durch  die  sie  unlöslich  an  die  eine  Kunst- 
oder Künstlererscheinung  gekittet  wären.  Denn  daß  jener  Kunsthisto- 
riker widersinnige  Übertragungen  vorgenommen  hätte,  kann  nicht  be- 
hauptet werden.  — 

Wenn  bisher  untersucht  wurde,  inwieweit  eine  nichtkfinstlerische 
Beschreibung  die  Anschauung  eines  Werkes  der  bildenden  Kunst  zu 
unterstützen  und  auf  die  Höhe  einer  genauen  Erkenntnis  zu  hebm 
vermag,  so  fragen  wir  nunmehr,  ob  Worte  das  Bild  zu  ersetzen  ver- 
mögen. Um  eine  Grundlage  zu  gewinnen,  habe  ich  öfter  Beschreibungen 
von  einfachen  Kunstwerken  vorgelesen  oder  auch  vorgelegt  und  die 
Hörer  angehalten,  nach  dieser  Beschreibung  eine  schematische  Zdch- 
nung  zu  entwerfen.  Die  Einzelheiten  des  Verfahrens  brauche  ich  wohl 
nicht  zu  erörtern.  Sehr  selten  versagte  jemand  so  vollständig,  daß  er 
keine  einzige  optische  Vorstellung  erhalten  zu  haben  angab.  Aber  dne 
unverhältnismäßig  große  Zahl  (fast  40%)  erklärte  sich  zu  zdchneri- 
scher  Wiedergabe  unfähig.  Da  weder  künstlerische  Darstellung  noch 
Berücksichtigung  der  Einzelheiten  verlangt,  hingegen  eine  gewisse 
Fähigkeit  zum  Zeichnen  nach  Vortagen  festgestellt  wurde,   so   wird 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  429 

man  annehmen  därfen,  daß  die  flüchtig  auftauchenden  Gesichtsvor- 
stellungen sehr  undeutlich,  wahrscheinlich  überhaupt  keine  echten 
Sinnesvorstellungen  waren.  Von  den  gelieferten  Versuchen,  die  natur- 
lich meist  in  rohen  Umrissen  bestehen,  waren  nur  wenige  ganz  un- 
brauchbar; im  großen  ganzen  zeigen  sie  doch,  daß  eine  verhältnis- 
mäßig genaue  wörtliche  Schilderung  von  den  HauptzOgen  eines  Bild- 
werks —  nicht  von  den  Feinheiten  und  künstlerischen  Eigenschaften 

—  eine  leidlich  genügende  Vorstellung  erwecken  kann.  Ich  gebe  als 
Beispiel  eine  Beschreibung  aus  Grimms  Michelangelo  (6.  Aufl.  1890  I, 
153/4)  und  die  Zergliederung  der  Versuchsergebnisse,  die  im  Seminar 
vorgenommen  wurde  Es  handelt  sich  um  die  Madonna  des  National- 
museums in  London.    (Vgl.  Tafel  XIX.) 

»Die  Komposition  zerfällt  in  drei  Teile:  in  der  Mitte  die  Madonna, 
rechts  und  links  von  ihr  je  zwei  jugendliche  Gestalten  dicht  neben- 
einander, Engel,  wenn  man  will.  Die  zur  Linken  sind  nur  in  Umrissen 
da,  die  auf  der  anderen  Seite  aber  vollendet  und  von  so  rührender 
Schönheit,  daß  sie  zu  dem  Besten  gehören,  was  Michelangelo  hervor- 
gebracht hat.  Sie  stehen  dicht  nebeneinander,  zwei  Knaben  zwischen 
14  und  15  Jahren  etwa,  der  vom  stehende  im  Profil  sichtbar  —  die 
ganze  Gestalt  herab  — ,  der  hinter  ihm  en  face;  dieser  hat  seinem 
Genossen  beide  Hände  auf  die  Schulter  gel^  und  blickt  mit  ihm  zu- 
gleich auf  ein  Pergamentblatt,  das  derselbe  mit  beiden  Händen  vor 
sich  hält,  als  läse  er  darin,  auch  hat  er  den  Kopf  etwas  vorgeneigt 
und  die  Augen  darauf  niedergeheftet  Ein  Notenblatt  vielleicht,  von 
dem  beide  singen;  die  halbgeöffneten  Lippen  könnten  es  andeuten. 
Die  nackten  Arme,  die  Hände,  die  das  Blatt  halten,  von  jugendlicher 
Magerkeit  beide,  aber  mit  einer  Naturbeobachtung  gemalt,  die  zu  loben 
oder  zu  beschreiben  unmöglich  ist,  reichten  allein  hin,  um  dieser  Ge- 
stalt den  höchsten  Wert  zu  geben.  Dazu  aber  den  Kopf,  die  köstlich 
schlanke  Figur,  das  leichte  Gewand  in  anliegenden,  vielfach  geknickten 
Falten  bis  über  die  Knie  herab,  dann  das  Knie  und  das  Bein  und  der 
Fuß;  —  es  gibt  eine  Darstellung  der  Natur,  die  etwas  fast  zu  Er- 
greifendes hat,  —  man  fühlt  tief  im  Herzen  eine  Liebe  zu  diesem 
Kinde  und  möchte  die  Hand  ins  Feuer  legen,  daß  es  rein  und  un- 
schuldig sei.  Das  Gewand  des  anderen  ist  dunkel,  es  li^  ein  Schatten 
über  den  Augen,  und  im  Auge  ein  ganz  anderer  Charakter,  doch  nicht 
weniger  liebenswürdig.  Auch  das  Haar  anders,  die  Locken  dichter, 
dunkler  und  in  Häkchen  ausfahrend,  während  die  des  ersten,  sanfter 
und  voller  hinter  das  Ohr  zurückgestrichen,  auf  dem  Nacken  li^en. 

—  Die  Jungfrau  sehen  wir  ganz  von  vom.  Ein  heller  Mantel  ist  auf 
der  linken  Schulter  mit  den  Zipfeln  zu  einem  starken  Knoten  zusammen- 
gebunden, verhüllt  den  rechten  Arm  beinahe  und  ist  unten  weitfaltig 


430  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

um  und  über  die  Knie  geschlagen.  Auf  dem  dunklen  Haar  li^  ein 
weißer  Schleier,  doch  so,  daß  er  ringsum  sichtbar  bleibt.  Ober  ihren 
Schoß  hin  greift  das  Jesuskind  nach  dem  Buche,  das  die  Mutter  in 
der  Linken  haltend,  ihm  entzieht,  wobei  die  Rechte  unter  dem  Mantel 
vorkommend  ihr  behilflich  wird.  Es  ist,  als  hätte  auch  sie  selbst  im 
Chor  mitgesungen  und  eben  das  Blatt  umwenden  wollen,  als  das  Kind 
ihr  ins  Buch  griff,  das  sie  leise  nach  links  emporhebt  Johannes  steht 
rechts  neben  dem  Jesuskinde,  mehr  im  Hintergrunde;  ein  Tierfell  ist 
um  das  kleine  Körperchen  geschlagen,  doch  fast  ohne  es  irgendwo  zu 
verhüllen.  Das  Licht  kommt  von  der  Linken,  dadurch  fällt  der  Schatten, 
den  die  GestaU  der  hl.  Jungfrau  wirft,  ein  geringes  über  ihn.« 

Auch  diese  ausführiiche  Beschreibung  bleibt  doch  gelegentlich  so 
ungenau,  daß  sie  grobe  Irrtümer  nicht  ausschließt.  Wenn  zu  Anfang 
gesagt  wird:  »Die  Komposition  zerfällt  in  drei  Teile«,  so  fehlt  die  Er- 
gänzung, daß  diese  drei  Teile  vom  Maler  ganz  eng  zusammengenommen 
sind.  Daher  sind  in  vielen  der  Skizzen  die  drei  Gruppen  durch 
Zwischenräume  geschieden  worden.  Von  der  Beschaffenheit  des  Thron- 
sitzes hören  wir  durch  Grimm  gar  nichts,  die  Stellung  des  Jesuskindes 
und  des  Johannes  sind  in  der  Beschreibung  vernachlässigt,  auch  wird 
nicht  angegeben,  daß  die  Madonna  sitzt.  Auf  solche  Mängel  sind  wir 
durch  Fehler  in  den  Zeichnungen  aufmerksam  geworden;  diese  Fehler 
waren  gewissermaßen  berechtigt,  weil  durch  die  Beschreibung  nicht 
ausgeschlossen:  ein  bedenkliches  Ergebnis  bei  einem  Buche,  das  auf 
alle  bildlichen  Hilfsmittel  verzichtet.  Nur  innerhalb  enger  Grenzen  und 
ohne  unbedingte  Sicherheit  vermag  also  das  Wort  den  Erscheinungs- 
gehalt demjenigen  vor  das  innere  Auge  zu  stellen,  der  das  Kunstweric 
noch  nicht  kennt.  Dagegen  leistet  die  Beschreibung  der  Erinnerung 
vortreffliche  Dienste  und  lehrt,  sobald  sie  durch  den  Anblick  des 
Werkes  oder  einer  guten  Reproduktion  ergänzt  wird,  sehen,  was  da 
ist.  Für  alle  drei  Verrichtungen  wäre  das  natürliche  Schema  wohl 
dies:  zuerst  zu  schildern,  was  dem  Auge  sich  darbietet,  alsdann,  wenn 
die  sichtbare  Erscheinung  als  solche  festgelegt  ist,  die  stofflichen  In- 
halte und  Zusammenhänge  zu  beschreiben;  schließlich  die  zum  Gemüt 
sprechenden  Vorzüge  hervorzuheben,  die  geschichtlichen  Beziehungen 
darzulegen  und  eine  kritische  Würdigung  anzureihen.  Grimm  hält  in 
seinem  Michelangelo  sich  manchmal  (in  20  näher  geprüften  Fällen 
viermal)  ziemlich  genau  an  das  Schema,  meist  jedoch  ist  Formales, 
Stoffliches  und  Kritisches  kunstvoll,  ja  künstlerisch  miteinander  ver- 
webt; und  da  er  auf  die  geschichtlichen  Bezüge  und  Kulturzusammen- 
hänge großen  Wert  legt,  so  fehlt  mehrere  Male  die  Beschreibung, 
mehrere  Male  das  ästhetische  Urteil.  Die  Ordnung,  überhaupt  die  Ge- 
staltung  einer   kunstwissenschaftlichen  Beschreibung   hangt  indessen 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  431 

nicht  nur  von  der  Persönlichkeit  des  Schildernden,  sondern  mindestens 
ebensosehr  von  der  Eigenart  des  zu  schildernden  Gegenstandes  ab. 
Bei  Zeichnungen,  deren  Formverhältnisse  die  mit  ihnen  verknüpften 
Ideen  im  Betrachter  wecken  sollen,  wie  bei  aller  Gedankenmalerei,  ist 
eine  bewußt  rationalisierende,  die  gedanklichen  Absichten  entsprechend 
ausdrückende  Beschreibung  durchaus  am  Platze.  Die  vorzunehmende 
Transposition  aus  der  Tonart  des  Sinnlichen  in  die  des  Begrifflichen 
erscheint  hier  als  ein  natürliches  Beginnen.  Eine  zweite  Klasse  bilden 
die  gemalten  Anekdoten  und  Historien  aller  Grade.  Auch  ihnen  kann 
eine  Nacherzählung  im  wesentlichen  gerecht  werden.  In  etwas  anderem 
Sinne  selbst  den  Bildern,  die  ohne  sonderliche  Auslese,  aber  mit  starker 
Hingabe  an  das  Detail  möglichst  viel  von  einem  Stückchen  Außenwelt 
festzuhalten  streben^).  Denn  ähnlich  so  wie  der  Beschauer  die  An- 
sammlung der  genau  durchgebildeten  Einzelheiten  nacheinander  in  sich 
aufnimmt,  vermag  die  treulich  folgende  Feder  den  Inhalt  und  den  an 
ihn  gebundenen  Eindruck  objektiv  zu  beschreiben.  Indessen,  in  solchen 
Werken  ist  noch  nicht  der  ganze  Reichtum  und  das  letzte  Geheimnis 
des  Künstlerischen  enthalten.  Die  Kunstwissenschaft  und  die  Ästhetik 
neigen  naturgemäß  dazu,  das  als  das  Normale  und  Wesentliche  anzu- 
sehen, was  leicht  zu  beobachten  und  gut  zu  beschreiben  ist  Ja,  sie 
legitimieren  mancherlei  malerisch  Sinnloses  oder  wenigstens  technisch 
Ungeschicktes,  wenn  es  nur  aus  einem  verständigen  Grunde  in  das 
Bild  hineingesetzt  ist  und  einen  Berichtwert  besitzt. 

Nun  aber  gibt  es  Kunstwerke,  in  denen  mit  dem  dargestellten 
Gegenstand  die  formalen  Eigenschaften  so  verschmolzen  sind,  daß  vor 
allem  von  diesen  eine  Vorstellung  erweckt  werden  muß.  Und  auf 
einer  gewissen  Stufe  der  Beschäftigung  mit  Kunst  wird  es  Bedürfnis, 
sich  solche  Qualitäten  durch  unterscheidendes  Denken  und  in  Worten 
zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Gegenüber  den  Farben  versagt  das  Wort, 
sobald  über  die  allgemeinsten  Bestimmungen  hinausgegangen  und  ein 
Hinweis  auf  die  Farbenskalen  der  Techniker  nicht  beliebt  wird.  Von 
dem  übrigen  Wie  der  Ausführung,  von  Ausnutzung  und  Gliederung 
des  Raums,  Anordnung  und  Führung  der  Hauptlinien,  kurz  von  den 
Elementen  des  künstlerischen  Gehaltes  kann  jedoch,  wie  gezeigt  wurde, 
Rechenschaft  abgelegt  werden.  Kunstschriftsteller  ersten  Ranges  er- 
reichen einen  ganz  brauchbaren  Annäherungswert  an  die  technische 
Weisheit  des  bildenden  Künstlers.  Freilich  erwächst  ihnen  und  ihren 
Lesern  eine  große  Gefahr.  Intimität  mit  der  Kunst  ist  bei  ihnen  des- 
halb so  selten,  weil  ihre  Anteilnahme  nicht  rein  künstlerisch  bleibt, 
sondern  allzu  leicht  rhetorisch  wird.  Der  Wortmensch  freut  sich  eines 
Bildes  erst  dann,  wenn  er  es  umgewandelt,  ins  Sprachliche  übersetzt 
hat:  er  wähnt,  mit  klingenden  und  erfüllten  Sätzen   das  Kunstwerk 


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'x.r:tc:r   ^tt^   'ie  ZK^yJzrtit^iniz  irnTTer  3!ir  äe  GramSaigea  der 
-  \r^o'K::tr.i'*'£\  i:-«-  ?^rir  «ir  e-drr  !tt  iire  Schäre.  ,äe  dem  esgemlidi 
^.ir-.:!»>r  v.:-**r  --^^r-i-:  --r.     zjn  Cerihi  rir   ras  X:zzzössane  des  Ge- 
-,iir><,  ^-;*>r-  *r-.-  r^-:.-   re-  L'er:«*r2  Xin    L'nsee  grodei  Kiinst- 
-";fr,r  i^-.^r   A/^-:»^r-  5Ut  rin.^'irr  z::  p-:«er  örr:  wo  m&ax  enxe  ivirk- 
irr»^    /',^tr.-5^f;^^;  s;-T  ie:^  A::i'tr5ciTen  in   ie  Scradie   g^emigr.  wo 
v»»:  '<-.  -:rr  ^^c?t:»^  c«  5':--Tr:»er7  hcrai:*  ien  Weit  üccn  ämnal  scfaafiau 
.-r:  /A/^r  -    r'*r-  ^^rr-f^r..  :r.  r»;r:  der  Scracne.    De*  Versdnedeii- 
r-^-fir.   \'^.'r/>^.    p.   r.c*'Jr.    ?*r:-j^.   ahe'  es    ist  wengsiKns   der   gleicfae 
^iifir.'r^r//..,'r:tr't   su-.  -r-^rr  cor  dr.  K'urirAerk  der  Fonncn  and  Farben 
^*Vkr<,^.    ßi<T  '^r/i  T.'.fr  *:-   KunsTAeri  der  Wor»  und  Rhythmen 
ruf.r///:nAr.^^^.    ß^r^t.    ^X'äre  es   rur  au:  diese  Art  mögfidi,   cfie  be- 
^^•"r^>  P.-vvr*:::-:-^-  a-fitefeen   rj  lassen!    Indessen  Justi  hat  ganz 
r'vj'.*     v/*r.r.  *r  von   'Jl'inckdrnanns  nach   1757   entstandenen  Kunst- 
P^v/r.rr.'/:r^-*n    vs^;::     D:e  neuen  Beschreibungen  sind  keine  gcgen- 
^•;^^/i:/.r.';r .  ^wa    Aie  die  namrwissenschaftlichen.  welche  der  Sache 
r.i**-r.-.  ^r*rr  ^-y.höpfenden  Terminologie  adäquat  zu  werden   streben, 
-/>; //-rrl /.r.  v/Qrde  e-,  gelingen,  aus  diesen  Beschreibungen  allein  sich 
«-in*:  Vor-/«:;:ur;5^  der  Statuen  zu  machen;  sondern  sie  sind  eme  Um- 
'/•^/-n;/  d':r  Ir.^.re-.sion,  welche  der  Geist  in  einem  Moment   weihe- 
voü'-r  f5':*rü!^h*unj(  empfing,  in  eine  Reihe  von  Bildern  und  B^riffcn, 
;/an/   .0  v/i':  der  Künstler   seine  schöpferische  Intuition  allmählich  in 
pl^  ,ti -/ihe  Realität  umsetzt    Und  da  dieser  Moment  schöpferischer  In- 
tuition die  ganze  nachfolgende  Arbeit  bis  zur  Vollendung,  ebenso  wie 
di^T  Wirkung  des  Vollendeten  auf  den  Beschauer  bedingt  und  bestimm^ 
<//  ist  di':ser  Weg  gewiß  möglich,  wiewohl  nicht  zur  Nachahmung  zu 
i-m[if':liU-n'  •). 

N;iivf:  O'rmüter  meinen  wohl,  es  sei  nichts  einfacher  als  die  Be^ 
','  lir^-ihung  eines  unveränderlichen  sichtbaren  Dinges.  Sie  vergessen, 
i\:\\\  ohne  Auswahl  und  Urteil  die  Schilderung  nie  ein  Ende  finden 
und  'Ay\\W.xi\i:xx\  niemand  nützen  würde.  Wenn  ich  ein  mikroskopisches 
I'r;i|i;fr;it  so  beschreiben  wollte  wie  ich  es  sehe:  mit  allen  Schmutz- 
fh'(kffi,  l.tiftbl;ischen  und  den  undeutlichen  Wahmehmungsbildem  der 
;iii(i<rh;ilb  der  Brennweite  liegenden  Teile,  dann  wäre  meine  Nachbil- 
(Intii^  ii:iturg('treu,  jedoch  völlig  unwissenschaftlich.  Wissenschaft  ist 
mit  der  Kunst  darin  einig,  daß  sie  die  erlebte  Wirklichkeit  verändert 
und   hierdurch  bewältigt.    Nachdem  ein  Einzelfall  uns  gezeigt   hatten 


DIE  CiEISTIGE  FUNKTION.  433 

wie  en);  der  beschreibenden  Wissenschaft  die  Orenzen  gezogen  sind 
^e^enüber  dem  besonderen  Kunstwerk,  mOssen  wir  jetzt  zu  der  all- 
gemeineren  Frage  aufsteigen,  wie  sich  die  Kunst  zur  Wissenschaft 
verhält,  demgemäß  uns  klarzumachen  suchen,  in  welcher  besonderen 
Weise  Wissenschaft  das  unmittelbar  Erfahrene  umformt  Der  Grund- 
zug ist  deutlich.  Gegen  die  widerspruchsvolle  und  unklare  Beschaffen- 
heit der  Erlebnisse  kämpft  das  Denken  an,  indem  es  ihren  Inhalt  mit 
einer  gewissen  Willkür  bearbeitet,  alles  Irrationale  ausscheidet  und 
überall  denknotwendige  Zusammenhänge,  verstandesmäßige  Konstruk- 
tionen herstellt.  Anstatt  die  Mannigfaltigkeit  des  Seienden  echoartig 
zu  wiederholen,  vergewaltigt  und  verfälscht  die  rationalisierende  Wissen- 
schaft die  Natur;  aber  ihr  Sinn  ist  ja  gerade  der,  in  das  Erlebte  Kau- 
salverbindungen und  andere  Beziehungen  hineinzutragen,  d.  h.  es  zu 
erklären.  Unsere  Einteilungen,  Hypothesen,  Betrachtungsweisen,  Ge- 
setze können  nun  und  nimmermehr  der  Weh,  wie  wir  sie  erleben, 
also  dem  Wirklichsten  und  Ursprünglichsten  als  etwas  noch  Ursprüng- 
licheres untergeschoben  werden.  Lotze  hat  treffend  den  Hang  des 
Menschen  geschildert,  ^die  zufälligen  Ansichten,  die  Zergliederungen, 
Hilfsbegriffe  und  Beziehungen,  durch  die  es  uns  gelingt  den  Zusam- 
menhang des  Wirklichen  zu  denken,  nachdem  es  da  ist,  als  reale 
Maschinerie  zu  betrachten,  durch  die  es  ihm  gelinge  zu  seins  er 
hat  die  Verwechselung  der  Verdeutlichung  unserer  Begriffe  mit  der 
sachlichen  Zergliederung  ihres  Inhaltes^  beleuchtet  und  darauf  hin- 
gewiesen, daß  an  der  Sache  die  Eigenschaften  ganz  anders  haf- 
ten und  zusammenhängen,  als  die  Merkmale  oder  Teilvorstellungen 
an  dem  Begriff  der  Sache-.  (Mikrokosmus  4.  Aufl.  1888  III,  542, 
206,  213.)  Aber  freilich  hat  er  von  vert>orgenen  Zusammenhängen 
und  Werten  gesprochen,  die  innerhalb  unseres  Gedankenganges  nicht 
erörtert  werden  können;  ob  es  überhaupt  in  der  Wirklichkeit  innere 
Beziehungen  gibt,  die  nun  unseren  Vorstellungen,  Begriffen,  Urteilen, 
Schlüssen  entprechen  mögen  oder  diesen  logisch-wissenschaftlichen  For- 
men völlig  inadäquat  sind,  das  soll  und  braucht  hier  nicht  erwogen 
zu  werden.  Sicher  ist  mir,  daß  weder  die  objektive  theoretische 
Erkenntnis,  noch  die  subjektive  künstlerische  Formung  solche  Fragen 
zu  beantworten  haben.  Denn  die  Grundüberzeugung,  daß  hinter  den 
Erscheinungen  eine  Geisteswelt  walte,  ist  weder  eine  beweisluire  Lehre 
noch  eine  spezifisch  künstlerische  Auffassung. 

Erst  an  zweiter  Stelle  stehen  Wissensdrang  und  Bildstreben.  Der 
Wissensdrang  führt  nicht  in  die  höhere  Heimat  des  Menschen:  wer 
das  innerste  Wesen  des  Seienden  zu  enthüllen  wünscht,  muß  wie  Faust 

den  Schelling  als  Verkünder  der  Identitätsmetaphysik  willkommen 
hieß        die  Wissenschaft  zur  Seite  werfen.    Sieht  er  nicht  die  Hand, 

De»«oir,   AMhctik  und  allg.  KaMtwiMcmdiaft.  28 


434  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

die  religiöse  und  philosophische  Weltanschauung  ihm  bieten,  so  wird 
er  sich  der  Zauberei  verschreiben  oder  dem  geistigen  Nihilismus  ver- 
fallen. Die  Verstandeswissenschaft  steht  Rätseln  kflhl  geg^n- 
über:  sie  arbeitet  gelassen  an  ihnen  fort  oder  weist  ihre  Unlösbarkeit 
nach  und  erklärt  sie  eben  damit  für  erledigt.  Diese  Haltung  ist  nur 
denkbar,  indem  die  Forschung  an  der  ihr  notwendigen  Einseitigkeit 
festhält.  Daher,  wenn  wir  so  oft  von  wissenschaftlicher  Objektivität 
hören,  dürfen  wir  nicht  an  eine  Beteuerung  des  profanen  Erlebens 
denken.  Diese  »Objektivität«  besteht  keineswegs  in  parteiloser  Hin- 
nahme der  Tatsachen,  sondern  in  einem  Verhalten,  das  neben  anderem 
auch  die  natärlichsten  Oefuhlsbeziehungen  zum  Objekt  abtötet  und 
demnach  nicht  selten,  z.  B.  beim  medizinischen  Menschenexperiment, 
zu  grausamer  Rücksichtslosigkeit  führt.  Immer  wieder  sagt  man  uns: 
die  exakte  Wissenschaft  liefere  Wirkliches.  Wir  wollen  hierg^en  nicht 
einmal  geltend  machen,  daß  ja  die  Beziehungen  jedes  O^enstandes 
zur  Allseitigkeit  des  Naturgegebenen  und  zum  einzelnen  Erlebenden 
fortfallen  müssen.  Sondern,  um  beim  Einfachsten  zu  bleiben,  fragen 
wir:  Sind  etwa  die  Empfindungskomplexe  der  Psychologie  das,  was 
wir  in  uns  beobachten  und  was  ohne  Frage  das  Wirkliche  ist?  Haben 
die  Atome  der  Physik  Farbe  und  Geruch?  Nein,  sondern  alle  diese 
Erklärungsbegriffe  sind  Umbildungen  des  unmittelbar  Erfahrenen.  Die 
gesamte  wissenschaftliche  Tätigkeit  ist  eine  Summe  von  distinctiones 
rationis.  Wie  jeder  Punkt  auf  der  Oberfläche  eines  Körpers  in  dnc 
Umrißlinie  eintreten  kann  und  somit  für  den  Zeichner  unendlich  vide 
Möglichkeiten  entstehen,  so  entspringen  auch  aus  jeder  Erfahrung  zahl- 
lose Möglichkeiten  rein  begrifflicher  Unterscheidungen  und  Einord- 
nungen. 

Der  logische  Charakter  der  wissenschaftlichen  Unterscheidungen 
bekundet  sich  bereits  bei  der  sogenannten  elementaren  Analyse,  denn 
auch  bei  ihr  werden  die  Teilerscheinungen  durch  denkende  Bear- 
beitung festgelegt  —  sonst  wäre  sie  ja  ein  rohes  Zerstückeln.  In 
einem  derartigen  Zerlegen  und  Begrenzen  offenbart  sich  die  eigentüm- 
liche Fähigkeit  des  echten  Forschers;  wie  könnte  er  jemals  wagen,  so 
die  Einheit  des  Lebens  auszudrücken  wie  große  Künstler  es  mit  we- 
nigen Rhythmen  getan  haben!  Ist  doch  seiner  Zergliederung  nicht 
nur  die  Schönheit,  sondern  auch  die  künstlerische  Wahrheit  der  Dinge 
zum  Opfer  gefallen.  Er  mag  von  jenem  Endziel  träumen,  erreicht  in- 
dessen immer  nur  auf  kleinen  Strecken  und  in  ganz  anderen  Dimen- 
sionen eine  rationale  Verbindung  des  analytisch  Gefundenen. 

Dies  nämlich  ist  das  Zweite.  Wenn  begrifflich  zerlegt  worden  ist, 
dann  können  und  sollen  die  Elemente  in  eine  gleichfalls  begriffliche 
Ordnung  gebracht  werden:  ^^nisi  in  ordines  redigantur  et  velut  castrth 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  435 

rum  acies  distribuantur  in  suas  classes,  omnia  fluctuari  necesse  esU, 
sagt  Caesalpinus  mit  einem  treffenden  Bilde  (von  dem  freilich,  um  ge- 
nau zu  bleiben,  alles  Anschauliche  abgezogen  werden  mußte,  denn 
die  Schlachtreihen  der  Wissenschaft  stehen  außerhalb  der  Erscheinungs- 
welt). Die  rationale  Anordnung  und  Verknüpfung  einfacher  Bestand- 
teile bildet  den  Abschluß  jeder  ausgereiften  Wissenschaft.  Dabei  kommt 
es  wesentlich  an  auf  den  logischen,  künstlichen  Charakter  der  Bezie- 
hungen. Schellings  Naturphilosophie  ist  an  manchen  Stellen  so  tief 
unwissenschaftlich,  weil  die  vorhergehende  Analyse  fehlt  und  nament- 
lich weil  die  Verwandtschaft  anschaulicher  Merkmale  zur  Reihen- 
bildung benutzt  wird.  Die  reine  Wissenschaft  verwendet  nicht  sicht- 
bare Ähnlichkeit,  sondern  logische  (bisher  meist  kausale)  Zusammen- 
gehörigkeit zur  Herstellung  der  dem  Denken  notwendigen  Kontinuität; 
die  vier  Sätze:  in  mundo  non  datur  hiatus,  non  datur  saltus,  non 
datur  casus,  non  datur  fatum  vereinigen  sich  alle  »lediglich  dahin, 
um  in  der  empirischen  Synthesis  nichts  zuzulassen,  was  dem  Ver- 
stände und  dem  kontinuieriichen  Zusammenhange  aller  Erscheinungen 
d.  i.  der  Einheit  seiner  Begriffe  Abbruch  oder  Eintrag  tun  könnte«. 
(Kant,  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Kehrbachs  Ausg.  S.  213.) 

Die  Technik  des  wissenschaftlichen  Denkens  beruht  auf  der  Technik 
des  Denkens  überhaupt  Denken  aber  als  Urteilen  ist  eine  zergliedernde 
Tätigkeit;  und  damit  aus  dem  Zerlegten  wieder  ein  Zusammenhang 
werde,  benutzt  die  Wissenschaft  gewisse  Hilfsvorstellungen,  die  zu 
ihren  unentbehriichen  Werkzeugen  gehören.  So  arbeitet  sie  mit  Not- 
wendigkeiten und  Möglichkeiten,  dergleichen  die  Natur  nicht  kennt. 
Denn  der  starre  Charakter  der  Natur  ist  der  des  Seins.  Das  Denken 
hat  sich  ferner  ein  der  Wirklichkeit  ganz  fremdes  Mittel  geschaffen  in 
der  Verneinung.  Während  alle  Sinneseindrücke  und  alle  Dinge  selbst- 
verständlicherweise nur  positiv  sind,  besitzen  wir  die  Negation  und 
vermögen  durch  sie  das  Positive  zu  erkennen.  Ja  selbst  das  tritt  ein, 
daß  wir  oftmals  durch  Verneinung  des  Möglichen,  d.  h.  durch  Auf- 
einandertürmen zweier  echt  menschlichen  Denkverrichtungen  zur  Wirk- 
lichkeit gelangen.  Hieraus  folgt  unmittelbar  ein  Satz  von  großer  Trag- 
weite. Die  Mittel  und  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft  sind  nicht 
anschaulich.  Die  Wissenschaft  bietet  Erkenntnisse  und  keine  Bilder. 
Wenn  man  botanische  und  zoologische  Bücher  mit  Abbildungen  aus- 
stattet, so  überschreitet  man  die  Grenzen  einer  wissenschaftlichen  Dar- 
stellung. Sehr  deutlich  hat  Linn6  seine  Ansicht  hierüber  ausgesprochen: 
^icones  . . .  absolute  reücio,  licet  fatear  has  magis  gratas  esse  pueris 
iisque  qui  plus  habent  capitis  quam  cerebri;  fateor  has  idiotis  aliquid 
imponere.<^  Auch  die  Demonstrationen  im  naturwissenschaftlichen  Unter- 
richt laufen  dem  eigentlichen  Sinn  der  Wissenschaft  zuwider.    Denn 


436  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

die  Naturforschung  geht  immer  aufs  Allgemeine,  und  die  Demonstration 
kann  immer  nur  einen  einzelnen  Fall  vor  die  Augen  stellen.  So  wenig 
gegen  die  Beobachtung  des  Besonderen  als  die  Grundlage  der  Arbeit 
einzuwenden  ist,  so  entschieden  muß  doch  gegen  das  neuerdings  be- 
liebte Übermaß  der  Veranschaulichung  Einspruch  erhoben  werden^  da 
auf  diese  Weise  das  Wesentliche  zurückgedrängt  und  die  Fähigkeit 
abstrakten  Denkens  im  Lernenden  ertötet  wird.  Wenn  der  Mathema- 
tiker den  Lauf  einer  Kurve  oder  die  Gestalt  einer  Fläche  durch  Zeich- 
nungen oder  Modelle  darstellt,  so  bedient  er  sich  eines  gewissermaßen 
unerlaubten  Hilfsmittels;  die  eigentliche  Form  seiner  Darstellung  ist  die 
Definition  durch  Gleichungen.  Der  Physiker  ist  durchaus  auf  Olei- 
chungssysteme  angewiesen,  denn  mit  der  Fallmaschine,  der  schiefen  Ebene 
und  der  Pendelschwingung  kann  er  weder  komplizierte  Bewegungen 
noch  die  Bewegung  an  sich,  die  nicht  an  Körper  gebundene  Bewe- 
gung anschaulich  machen.  Die  wissenschaftliche  Darstellung  der  Be- 
wegung ist  und  bleibt  das  Gleichungssystem,  d.  h.  eine  unanschauliche; 
begriffliche,  abstrakte  Darstellung.  Nur  durch  Abstraktion  gelangt  die 
Wissenschaft  zu  den  allgemeinen  Begriffen,  Bestimmungen  und  Ge- 
setzen, mit  deren  systematischer  Anordnung  sie  ihre  Aufgabe  löst 
Und  die  Begriffsbestimmung  als  Erzeugnis  des  unumschränkt  herr- 
schenden Denkens  ist  die  höchste  Instanz  der  reinen  Wissenschaft 

Wir  übersehen  bereits,  daß  das  Wesentliche  der  Wissenschaft  die 
besondere  Art  ist,  in  der  sie  die  Dinge  nimmt,  die  eigentumliche  Be- 
trachtung und  Behandlung  des  Gegebenen,  mit  einem  Wort:  die  Me- 
thode. Nun  wird  auch  ganz  klar,  worin  der  Wert  der  Wissenschaft 
beruht.  Offenbar  nicht  in  der  Übereinstimmung  unserer  Gedanken- 
verbindungen mit  der  Wirklichkeit,  sondern  in  der  Folgerichtigkeit  und 
Bewährung  für  die  Zukunft:  »Was  fruchtbar  ist  allein  istwahr.c  (Goethe.) 
Wenn  wir  Erfahrungen  auf  neue  Gebiete  übertragen,  unsere  in  der 
Vergangenheit  begründeten  Kenntnisse  für  die  Zukunft  verwerten  kön- 
nen, wenn  wir  zu  einer  praktischen  Genauigkeit  und  Weiterarbeit  ge- 
langen, so  ist  der  Zweck  der  Forschung  erreicht  Alle  höheren  An- 
sprüche haben  sich  im  Lauf  der  Geschichte  als  unerfüllbar  erwiesen. 
Der  Naturforscher  wie  der  Historiker  vermögen  im  besten  Fall  durch 
Ergänzung  oder  Unteriegung  in  die  Dinge  eine  verständliche  und  ver- 
wendbare Ordnung  hineinzubringen. 

Über  die  Eigentümlichkeit,  die  alle  Kunst  bei  ihrer  Umformung  des 
Gegebenen  zeigt,  kann  ich  mich  kürzer  fassen,  da  im  Laufe  des  Buches 
genugsam  davon  gesprochen  worden  ist.  Daß  die  Kunst  im  Gegen- 
satz zur  Wissenschaft  die  Erfahrungswelt  bejaht  oder  vielmehr  sie 
mit  dem  einen  oder  anderen  Teil  ihrer  Eigenschaften  in  neuartige  Ge- 
bilde aufnimmt,  daß  sie  Gebärden,  Klänge,  Worte,  Raumformen  gelten 


DIE  GEISTIGE  FUNKTION.  437 

läßt,  eben  dies  ist  ja  ein  Hauptgegenstand  der  Darstellung  gewesen. 
Dabei  wird  jedoch  der  sinnliche  Stoff  zu  anderen  Möglichkeiten  frei 
verbunden,  und  diese  Möglichkeiten  sind  nicht  ein  bloßes  Hilfsmittel, 
sondern  ein  Endergebnis.  Sie  unterscheiden  sich  von  dem  launischen 
Spiel  der  individuellen  Einbildungskraft  durch  eine  in  ihnen  mächtige 
Notwendigkeit  (s.  S.  75).  Man  kann  sie  als  anschauliche  Notwendig- 
keit (S.  115)  und  als  das  Apriori  der  Kunst  bezeichnen.  Kant  hat 
gezeigt,  daß  die  vorbewußten  Anschauungsformen  Verbindungen  er- 
lauben, die  nicht  logisch  und  trotzdem  zwingend  sind :  dasjenige,  wor- 
auf ich  mich  stütze,  wenn  ich  ohne  Hilfe  der  Erfahrung  zu  einem 
Subjektbegriff  etwas  Neues  allgemeingültig  hinzufüge,  z.  B.  von  zwei 
geraden  Linien  aussage,  sie  haben  nur  einen  Schnittpunkt,  das  ist  die 
Gesetzmäßigkeit  der  menschlichen  Raumauffassung.  Die  Notwendig- 
keit eines  solchen  Urteils  ist  nicht  begrifflich,  sondern  anschaulich. 
Ihr  scheint  die  Sicherheit  des  künstlerischen  verwandt  Die  unbedingte 
Überzeugungskraft,  mit  der  der  Maler  zu  einer  bestimmten  Stirn  eine 
bestimmte  Nase  hinzufügt,  beruht  auf  keinerlei  Denkgesetz;  der  Zwang, 
einen  Akkord  so  und  nicht  anders  aufzulösen,  bleibt  innerhalb  der 
Sinnenfälligkeit.  Allerdings  aber  läßt  sich  hier  auch  das  Gegenteil  her- 
stellen, während  wir  die  zwei  Geraden  nimmermehr  zu  zwei  Schnitt- 
punkten bringen.  Demnach  wäre  zu  sagen:  Die  verpflichtende  Kraft 
jener  Linienführung  oder  Akkordauflösung  erhält  ihre  Würde  durch 
sich  selbst  und  nicht  dadurch,  daß  sie  als  überall  befolgt  nachzuweisen 
wäre.  Sofern  wir  von  Unbedingtheit  reden,  meinen  wir  den  berech- 
tigten Anspruch  auf  allgemeine  Geltung. 

Das  Beiwort  »anschaulich«  hat  seine  Bedenken,  weil  es  auf  die 
Wortkunst  nicht  eigentlich  angewendet  werden  kann.  Es  bezeichnet 
aber  den  gemeinten  Gegensatz  zur  logisch -begrifflichen  Ordnung  so 
schlagend,  daß  es  durchschlüpfen  mag.  Das  nun  zu  erörternde  Merk- 
mal des  künstlerischen  Verhaltens,  nämlich  seine  synthetische  Kraft, 
dürfte  auch  strenger  Beurteilung  standhalten.  Natüriiches  wie  ge- 
schichtliches Leben  sind  grenzenlos  und  ungegliedert,  sie  zwingen  des 
Fadens  ewige  Länge  gleichgültig  drehend  auf  die  Spindel:  erst  die 
Kunst  faßt  die  Erfahrungstatsachen  zu  konkreten  Gruppen  zusammen 
und  verieiht  ihnen  dadurch  den  Einklang,  der  uns  entzückt. 

Wer  teilt  die  fließend  immer  gleiche  Reihe 
Belebend  ab,  daß  sie  sich  rhythmisch  regt? 


Des  Menschen  Kraft,  im  Dichter  offenbart 

(Faust,  Vorsp.  auf  d.  Theater.) 

Dieser  Sachverhalt  schließt  in  sich  ein,  daß  der  künstlerisch  wirk- 
same Gegenstand  durch  sich  allein  wirkt    Das  eriebte  und  das  wissen- 


438  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

schaftlich  umgeformte  Qbjekt  bedürfen  der  Beziehung  zu  anderen  Dingen, 
das  Kunstwerk  hingegen  steht  auf  sich  selbst  allein.  Wenn  zum  Ge- 
nuß eines  Tonstückes  oder  Dramas  oder  Gemäldes  etwas  nötig  ist, 
was  außerhalb  ihrer  liegt,  so  handelt  es  sich  um  eine  Komplikation. 
Dagegen  bedeutet  die  Vereinigung  zum  Ganzen  keinesw^s  die  Ableh- 
nung jeder  Zergliederung.  Sie  geht  vielmehr  oft  genug  durch  diese 
hindurch.  Denn  gerade  aus  der  Zerlegung  kann  die  sichtbarste  Ver- 
bindung erwachsen. 

Die  Irrlehre  ist  weit  verbreitet,  daß  Wissenschaft  und  Kunst, 
schwesterlich  Hand  in  Hand,  nach  demselben  Ziele  wandern:  dorthin, 
wo  die  ewigen  Gesetze  und  letzten  Gründe  ruhen.  Das  tatsäch- 
liche Verhältnis  ließe  sich  in  einer  ähnlichen  Vergleichung  etwa  so 
andeuten:  Bisweilen  kehren  sie  sich  den  Rücken  und  streben  verschie- 
denen Zielen  zu,  bisweilen  jedoch  umarmen  sie  sich  so  fest  und  innig, 
daß  es  aufmerksamen  Hinblickens  bedarf,  um  zu  erkennen,  welcher 
der  beiden  Schwestern  diese  Hand  oder  jener  Fuß  zukommen.  Zu 
dem  Gegensatz  zwischen  Wissenschaft  und  Kunst  —  den  der  Leser 
an  dem  Unterschied  zwischen  anatomischer  Beschreibung  und  kfinst- 
lerischer  Darstellung  des  Nackten  sich  schnell  in  Erinnerung  rufen 
kann  —  gehört  als  Ergänzung  der  unwillküriiche  und  schier  unlösbare 
Zusammenhang  zwischen  Wissenschaft  und  Kunst. 

Ein  solcher  Zusammenhang  besteht  in  der  Geschichtschreibung. 
Die  historische  Überiieferung  ist  nicht  auf  die  unanfechtbaren,  die 
wissenschaftlich  stichhaltigen  und  die  der  bloßen  Kunde  dienenden  Zeug- 
nisse beschränkt,  sondern  schließt  Heldensage  und  epische  Dichtung 
ein,  da  beide  an  große  Ereignisse  anknüpfen  und  einen  geschichtlichen 
Kern  haben.  Am  schönsten  zeigen  die  Wandersagen  den  Einfluß  des 
poetischen  Ersinnens  auf  die  volkstümliche  Geschichtsauffassung,  und 
die  germanischen  Epen  das  unbewußte  Eingreifen  der  Phantasie  in 
der  Verschmelzung  mythischer  mit  geschichtlichen  Personen.  Daß 
manche  moderne  Historiker  alle  geschichtlichen  Bewegungen  an  große 
Männer  gebunden  sehen,  ist  nicht  nur  ein  künstlerischer  Zug,  sondern 
auch  ein  Überbleibsel  aus  den  Tagen  der  Heldensage;  gerade  bei  ihnen 
findet  sich  öfters  die  idealisierende  Auffassung  dessen,  der  »seiner 
Väter  gern  gedenkt <.  Doch  wohlgemerkt:  das  Verhältnis  des  Oe- 
schichtschreibers  zu  seinen  Helden  gleicht  in  einem  Hauptpunkt  dem 
des  Dichters  zu  seinen  Modellen.  Die  Menschen  von  Athen  und 
Florenz  strecken  uns  keine  warme  Hand  entgegen  —  Schatten  sind 
sie,  durch  unser  eigenes  Blut  belebt;  die  Lebendigkeit,  die  sie  haben, 
ist  dramatische  und  nicht  natüriiche  Lebendigkeit.  —  Recht  eigentlich 
in  der  Mitte  zwischen  geschichtlichem  Bericht  und  dichterischer  Offen- 
barung stehen  dem  Inhalte  nach  Autobiographien,  wie  die  Confessüh 


DIK  r;KSELI^  HAFTLICHK  HTNKTION.  439 

nes,  Vita  nuova.  Wahrheit  und  Dichtung.  Ein  chronikartiger  Bericht 
aller  möglichen  Eriebnisse  würde  weder  wissenschaftlichen  noch 
künstlerischen  Wert  besitzen;  jener  liegt  in  der  Wahrhaftigkeit,  die  auch 
vor  Angabe  unpoetischer  Lebensstörungen  nicht  zurückschreckt,  sowie 
im  Nachweis  wesentlicher  Beziehungen  zwischen  dem  Ich  und  den 
physisch-geistigen  Umständen,  dieser  beruht  auf  Auswahl  und  Anord- 
nung der  Schicksale  und  auf  ihrer  Umformung  zu  Bildern,  die  schließ- 
lich aus  der  subjektivsten  Einseitigkeit  zur  Totalität  sich  erweitem 
können. 

Auf  eine  andere  Verbindung  zwischen  Wissenschaft  und  Kunst  sei 
bloK  hingedeutet.  Ich  meine  die  vollbewußte  Umwandlung  wissen- 
schaftlicher Erkenntnisse  in  künstlerische  Darbietungen;  die  Illustratio- 
nen zu  gelehrten  Werken,  die  Schaustücke  der  sogenannten  wissen- 
schaftlichen Theater,  die  Memorialverse  der  lateinischen  Grammatik 
können  ebensogut  hierher  gerechnet  werden  wie  die  wissenschaft- 
lichen Romane  eines  Jules  Veme  oder  die  Fabeln  Aesops.  Trotzdem 
bleibt  die  Kunst  als  eine  selbständige  und  selbstwertige  geistige  Funk- 
tion neben  der  Wissenschaft  bestehen.  In  Robert  Schumanns  Kinder- 
szenen findet  sich  ein  Stückchen  mit  der  Überschrift:  Der  Dichter  spricht. 
Wahrlich,  so  spricht  er:  Anfang  und  Ende  schließen  sich  zusammen; 
Scibstvcrsenkung  tönt  aus  der  fallenden  Melodie;  Aufschwung  folgt 
trotz  disharmonischen  Widerständen;  beruhigt  in  der  reinen  Anschau- 
ung kehren  wir  in  uns  selber  zurück. 


2.  Die  gesellschaftliche  Funktion. 

Die  Selbständigkeit  der  Kunst  scheint  freilich  in  Frage  gestellt,  so- 
bald man  die  Aufmerksamkeit  auf  ihre  Verrichtung  innerhalb  der  Oe- 
sellschaft  sammelt.  Wir  bezeichneten  früher  die  Kunstausübung  der 
Kinder  als  eine  besondere  Lebens-  und  Lustform  des  jugendlichen 
Cicistes,  wir  sahen,  daß  die  primitive  Kunst  schier  untrennbar  mit  Be- 
sitz und  Nutzen,  Anlockung  und  Abschreckung,  Schutzbedürfnis  und 
Anschlußhedürfnis,  Mitteilung  und  Belehrung,  Aberglauben  und  Krieg 
verschmolzen  ist.  Wo  also  liegt  bei  diesen  Frühformen  der  Kunst 
die  (irenzlinie  zu  den  übrigen  sozialen  Vorgängen?  Die  Antwort 
scheint  gegeben:  In  den  ästhetischen  Bestandteilen.  Umso  sicherer 
kann  diese  Antwort  erfolgen,  als  festgestellt  wurde,  daß  ästhetische 
Freude  an  sinnlichen  Reizen  sowie  an  den  Formen  der  Symmetrie  und 
des  Rhythmus  zu  den  ursprünglichen  Hausgesetzen  der  Kunst  gehört. 
Dennoch  darf  zweierlei  nicht  außer  Acht  gelassen  werden.  Einmal 
der  oft  erörterte  Unterschied  des  Kunstwerkes  und  eines  bloß  ästhe- 


440  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

tischen  Gebildes.  Alsdann  der  Umstand,  daß  nicht  jede  Beimengung 
ästhetischer  Momente  zu  anderen  Erzeugnissen  diese  Erzeugnisse  in 
Kunstwerke  umwandelt.  Allerdings  sind  die  trennenden  Merkmale  va*- 
schiebbar  nach  der  Gunst  der  Zeiten  und  der  Individuen  (s.  S.  112). 
So  wird  man  zweifeln  können,  ob  die  Tracht,  in  deren  Gestaltung  und 
Veränderung  immerfort  ästhetische  Motive  eindringen,  gelegentlich  als 
Kunstwerk  zu  bezeichnen  oder  ausnahmslos  als  ein  ästhetisch  beein- 
flußtes Gebilde  anderer  Art  zu  bewerten  sei;  naturlich  spreche  ich 
nicht  von  der  tyrannischen  Einförmigkeit  der  Mode,  sondem  von  Ge- 
wändern, die  der  eriesene  Geschmack  eines  ganz  persönlichen  Emp- 
findens hergestellt  hat.  Denn  hierbei  wie  bei  aller  AusschmQckung 
strebt  der  einzelne  nach  Wirkung  auf  die  übrigen  und  kehrt  zu  einer 
der  ältesten  Kunstabsichten  zurück.  Trotzdem  geht  William  Morris^ 
zu  weit,  wenn  er  jede  Leistung  und  jedes  Erzeugnis,  denen  eine  ästhe- 
tische Wendung  veriiehen  wird,  zur  Kunst  schlägt.  Kunst  meint  nicht 
eine  beliebige  Verkoppelung  des  Brauchbaren  oder  Lehrhaften  mit  dem 
Ästhetischen,  sondern  jene  feste  und  eigentumliche  Verschmelzung^ 
deren  Formen  im  geschichtlichen  Werden  herausgebildet  worden  sind. 

Wie  gegen  die  übermäßige  Ausdehnung  des  Begriffes  Kunst,  so 
walten  gegen  die  Umsetzung  dieser  Begriffserweiterung  in  die  Praxis 
erhebliche  Bedenken.  Mit  dem  jetzt  so  sturmisch  sich  äußernden  Ver- 
langen, die  Kunst  aus  einem  Vorrecht  weniger  zu  einem  Besitz  aller 
zu  machen,  verbindet  sich  der  Wunsch,  daß  die  Kunst  auch  aus  einer 
anderen  Abgeschiedenheit  heraustrete,  daß  sie  nicht  in  Museen  und 
Büchersammlungen,  in  Luxustheatem  und  Konzertsälen  sich  abspenre^ 
sondern  überall  mit  unserem  alltäglichen  und  häuslichen  Leben  ver- 
knüpft werde.  Der  Grundsatz,  Kunst  in  alles  hineinzutragen,  hat  in 
England  den  Umschwung  des  dekorativen  Stils  hervorgerufen:  »Unsere 
Werkleute  müssen  Künstler,  unsere  Künstler  Werkleute  werden c,  sagte 
der  Sozialist  Morris.  Da  Maschinenarbeit  durch  den  Mangel  persön- 
lichen Anteils  und  die  Gleichförmigkeit  vieler  Exemplare  minderwertig 
wird,  so  soll  auch  der  einfachste  Handwerker  Kunst  produzieren;  ja, 
selbst  wir  künstlerisch  Untätigen  werden  zu  eigenen  Versuchen  auf- 
gefordert. Ein  deutscher  Ästhetiker  behauptet  sogar,  »daß  Kunst  erst 
wirklich  Kunst  ist,  wenn  sie  als  künstlerische  Bildung  jeden  Handgriff 
jedes  Gelehrten,  jedes  Baumeisters,  jedes  Schusters,  Bauern  und  Ar* 
beiters  leitet  und  bestimmt«. 

Der  Versuch,  alles,  was  menschlicher  Beeinflussung  unterliegt,  künst- 
lerisch zu  gestalten,  hat  die  angewandten  Künste  gefördert  und  für 
kleinere  Talente  ein  Betätigungsfeld  geschaffen.  Die  Theorie  hat  dar- 
aus gelernt,  daß  die  äußere  Größe  und  konventionelle  Bewertung  der 
Werke  nicht  ausschließlich  entscheidet,  daß  eine  Zierleiste  nicht  minder 


DIK  CiKSKLLSCHAITIJCHE  FUNKTION.  441 

bedeutsam  sein  kann  als  ein  Kolossalgemälde.  Aber  diesen  Vorteilen 
stehen  schlimme  Nachteile  gegenüber.  Im  wirtschaftlichen  Leben  hat 
die  Kunstausdehnung  einen  verhängnisvollen  Dilettantismus  großgezo- 
gen. Ein  weise  beschränkter  Dilettantismus  mag  sich  nutzlich  zeigen; 
Goethe  meinte,  daß  er  >eine  notwendige  Folge  schon  verbreiteter  Kunst 
sein  und  auch  eine  Ursache  derselben  abgeben,  das  Kunsttalent  ent- 
wickeln, das  Handwerk  heben  kann^.  Dilettare  heißt  liebhaben  und 
bedeutet,  dem  Gemüt  durch  eigene  Betätigung  Freude  an  der  Kunst 
zuführen.  Sobald  jedoch  dem  Dilettanten  das  Bewußtsein  entschwin- 
det, daß  seine  gut  gemeinte  Leistung  nur  bis  an  die  Grenze  echter 
Kunst  reicht,  wird  ein  leidiger  Hochmut  gezüchtet.  Auch  neigen  die 
Amateure  dazu,  die  Kunst  als  ein  Hausmittelchen  des  Wohlbehagens 
zu  betrachten  und  den  Berufskünstlem  eine  wirtschaftliche  Konkurrenz 
schlimmster  Art  zu  bereiten.  Dazu  kommt  eine  Verfälschung  der  Auf- 
fassung. Wenn  unter  Wert  Eigenwert  d.  h.  Unterschiedensein  vom 
übrigen  oder  verhältnismäßige  Seltenheit  zu  verstehen  ist,  so  muß  die 
Durchdringung  des  ganzen  Lebens  mit  Kunst  dieser  selben  Kunst 
ihren  Sonderwert  rauben.  Wir  sprachen  bereits  davon,  als  wir  die 
Begriffe  der  Kallikratie  und  des  Panästhetizismus  kennen  lernten.  Die 
Gefahr  liegt  nahe,  daß  die  Unterscheidung  zwischen  wichtig  und  un- 
wichtig verioren  geht  und  die  Kunst  als  eine  selbständige  Funktion 
im  gesellschaftlichen  Leben  überflüssig  wird.  Derjenige,  der  in  einer 
Krawatte  oder  in  einem  Tapetenmuster  genügend  Kunst  findet,  braucht 
nicht  mehr  ins  Museum  zu  pilgern.  In  Wahrheit  gilt  von  Kunst  wie 
von  Wissenschaft  und  Religion,  daß  sie  eine  Kraft  ist,  die  im  Gemein- 
schaftsverbande  nicht  unbeschränkt  herrschen,  sondern  ein  Gleichge- 
wicht mit  den  anderen  Kräften  erreichen  soll.  Die  gesellschaftlichen 
Verrichtungen  sind  heutzutage  so  selbständig,  daß  ein  Aufgehen  in- 
einander dem  Verzicht  auf  alle  Kultur  gleichkäme.  Es  wäre  femer  ein 
Mißverständnis,  wollte  man  dem  Künstler  eine  der  Allgegenwart  der 
Kunst  entsprechende  göttliche  Vollständigkeit  beilegen.  Der  Künstler 
gehört  seinem  Berufe  mit  der  gleichen  Einseitigkeit  an,  mit  der  wir 
alle  an  unseren  Beruf  gebunden  sind. 

Nun  versucht  in  der  Gegenwart  die  Kunst  nicht  nur,  sich  aller 
Objekte,  sondern  auch  aller  Subjekte  zu  bemächtigen.  Das  heißt,  man 
strebt  danach,  alle  Volksklassen  und  Lebensalter  mit  denselben  Seg- 
nungen der  Kunst  zu  beglücken.  Hierzu  muß  Stellung  genommen 
werden.  Und  zwar  wäre,  um  dem  Problem  auf  den  Grund  zu  gehen, 
etwa  folgendes  zu  fragen:  Verbindet  oder  trennt  Kunst  die  Menschen? 
(jjeicht  sie  Gegensätze  aus  oder  verschärft  sie  diese?  Ist  sie  demo- 
kratisch oder  aristokratisch?  Bedeutet  sie  eine  Notwendigkeit  oder 
einen  Luxus?   Soll  sie  die  gleiche  sein  für  alle  oder  darf  es  für  die 


442  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

Masse  wie  für  die  aufwachsende  Jugend  eine  besondere  Art  von  Kunst 
geben?  Ich  will  nicht  mit  pedantischer  Genauigkeit  diese  Fragen  eine 
nach  der  anderen  abhandeln,  aber  doch  die  wichtigsten  Punkte  heraus- 
zuheben mich  bemühen. 

Darwinistisch  gesonnene  Theoretiker  haben  behauptet,  daß  künst- 
lerisches Genießen  und  Schaffen,  aus  überschüssiger  Lebenskraft  ent- 
sprungen, die  Gattung  erhalten  helfe.  Kunstgenuß  versetze  in  einen 
harmonischen  Gemütszustand,  der  für  die  Dauerhaftigkeit  des  einzel- 
nen und  der  Gemeinschaft  äußerst  nützlich  sei.  Kunstschaffen  stehe 
nicht  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Wirkung  auf  die  Menschen, 
sondern  sei  geradezu  eine  Form  der  Mitteilung  und  hierdurch  eine 
Form  menschlicher  Gemeinsamkeit.  Die  Austauschfähigkeit  seelischer 
Vorgänge  erhöhe  sich  im  Kunstwerk  zum  köstlichsten  Einverständnis, 
das  einer  Berührung  zwischen  den  Individuen  nicht  bedarf.  In  dieser 
Auffassung  erscheint  als  Herzpunkt  sowohl  der  Kunst  wie  des  so- 
zialen Lebens  die  Mitteilung.  Die  Kunst,  so  sagte  uns  Heinrich  von 
Stein  gern  in  seinen  Vorlesungen  über  Richard  Wagner  (s.  S.  45),  gibt 
einen  Begriff  davon,  was  Menschen  sich  sein  können.  Indem  der 
Genießende  mit  dem  sich  offenbarenden  Künstler  fühlt,  schließt  er  sich 
mit  ihm  und  vielen  anderen,  die  ihm  sonst  fremd  bleiben,  zu  einer 
höheren  Einheit  zusammen.  Die  so  erzeugte  einheitliche  Stimmung 
kann  praktischen  Wert  erhalten.  So  meinte  es  Gneisenau,  als  er  sei- 
nem Könige  zurief:  auf  Poesie  ist  die  Sicherheit  der  Throne  g^jündet; 
ähnlich  dachte  Treitschke,  als  er  aussprach,  daß  Goethe  keinen  ge- 
ringeren Anteil  an  der  Gründung  des  neuen  deutschen  Reiches  habe 
als  Bismarck.  Bei  allen  freudigen  und  traurigen  Anlässen,  die  eine 
Mehrheit  bewegen,  schlingt  sich  Musik  wie  ein  Band  um  die  Versam- 
melten —  namentlich  auch  religiöse  und  vateriändische  Begeisterung 
entzündet  sich  an  der  Musik.  Bildende  Kunst  dient  oft  dazu,  durch 
Erinnerung  an  nationale  Ehrentage  die  Volksgesinnung  zu  stärken  oder 
durch  Erinnerung  an  Unglück  und  Demütigung  die  Angehörigen  des- 
selben Stammes  zu  sozialisieren.  Menzels  beste  Bilder  gleichen  einem 
Fahnensaal;  wer  eins  dieser  Blätter  zerstört,  zerreißt  eine  preußische 
Fahne. 

Dieser  Anschauung  entspricht  gewöhnlich  eine  sehr  hohe  Vorstel- 
lung vom  Werte  des  Massenurteils.  Während  die  Gegner  in  den  Viel- 
zuvielen  eine  Herde  sehen,  die  mit  der  Peitsche  in  der  Hand  r^ert 
werden  muß,  bewundern  die  Anhänger  des  demokratischen  Grund- 
satzes die  Aufhöhung  mittelmäßiger  Intelligenzen  zu  einer  erstaunlichen 
Feinfühligkeit  ^).  Sie  erachten  die  Kunst,  die  nur  wenigen  zu  gute  kommt, 
für  einen  bloßen  Ausfluß  der  Spielseligkeit  und  neigen  dazu,  echte 
Kunst  mit  Volkskunst  gleichzusetzen.    In  England  und  Amerika,  wo 


DIE  GESELLSCHAFTLICHE  FUNKTION.  443 

alle  höheren  geistigen  Tätigkeiten  dem  öffentlichen  Leben  entschiedener 
untergeordnet  werden  als  bei  uns,  sind  zuerst  die  Kunstkritiker  zu 
Gesellschaftskritikern  geworden  und  haben  den  Kapitalismus  als  die 
Quelle  alles  Übels  bekämpft.  Doch  ist  es  der  Russe  Leo  Tolstoj,  der 
mit  den  schärfsten  Worten  die  Unterordnung  der  Kunst  unter  die  An- 
sprüche der  Masse  vertritt  Ich  kann  es  mir  nicht  versagen,  einige 
Stellen  aus  seiner  Schrift  Ȇber  die  Bedeutung  der  Wissenschaft  und 
Kunst«  herzusetzen,  die  ihre  Widerlegung  in  sich  selbst  tragen  und 
eine  ausführliche  Zurückweisung  unnötig  machen.  Tolstoj  lehrt:  »Die 
Wissenschaften  und  Künste  werden  erst  dann  dem  Volke  dienstbar 
sein,  wenn  ihre  Jünger  mitten  unter  dem  Volke  und  so  wie  das  Volk 
leben  und  ihm,  ohne  irgend  welche  besonderen  Rechte  geltend  zu 
machen,  ihre  wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Dienstleistungen 
darbieten  werden,  die  anzunehmen  oder  nicht  anzunehmen  vom  Willen 

des  Volkes  abhängen  wird Das  Produzieren  von  gelehrten  Werken 

und  Romanen  kann  so  lange  nicht  als  Wissenschaft  und  Kunst  betrachtet 
werden,  als  nicht  diejenigen  Menschen,  in  deren  Interesse  wir  vorgeb- 
lich alle  diese  Dinge  betreiben,  sie  mit  Freuden  entgegennehmen 

Man  sage  einem  unserer  Musikkünstler,  daß  er  auf  der  Harmonika 
spielen  und  die  Bauernweiber  Lieder  lehren  solle;  man  sage  einem 
Dichter,  daß  er  seine  Poeme  und  Romane  beiseite  werfen  und  statt 
dessen  Lieder,  Geschichten  und  Sagen  dichten  solle,  die  dem  ungebil- 
deten Volke  verständlich  sind  —  sie  werden  einfach  denjenigen,  der 
ihnen  solche  Dinge  zumutet,  für  verrückt  erklären.«  Mindestens  müßte 
alles,  was  wir  jetzt  im  eigentlichen  Sinne  Kunst  nennen,  als  eine  Ver- 
geudung von  Menschenarbeit  erscheinen,  und  jeder  kann  sich  aus- 
malen, was  bei  der  Anwendung  dieser  Grundsätze  von  der  Kunst 
noch  übrigbleiben  würde.  Man  hat  so  oft  behauptet,  die  Kunst  ent- 
arte, sobald  sie  sich  vom  Volke  abschließt;  aber  mir  scheint:  wenn 
sie  sich  dem  Volke  opfert,  so  geht  sie  völlig  zu  Grunde. 

In  Wahrheit  fühlen  sich  die  wenigsten  Künstler  als  Diener  oder 
Verkünder  des  Volkswillens.  Es  sind  nicht  die  schlechtesten,  die  ein- 
fach so  schaffen,  wie  es  ihnen  gefällt,  ohne  dabei  an  den  Nachbar  zu 
denken,  die,  unberührt  von  den  Wünschen  der  Masse,  ganz  den  zeit- 
losen Anforderungen  ihrer  Kunst  hingegeben,  eigene  Wege  wandeln; 
gerade  in  den  Blütezeiten  haben  die  Künstler  Korporationen  gebildet, 
die  nur  ihren  eigenen  Gesetzen  Untertan  waren  und  mit  Bewußtsein 
ein  Sonderieben  führten  ^).  Der  viel  gescholtene  Hochmut  der  Künstler 
beruht  zum  Teil  darauf,  daß  sie  sich  um  soziale  Ethik  nicht  im  ge- 
ringsten kümmern.  Ihre  eriesensten  Gaben  kommen  aus  der  Einsam- 
keit und  gehen  in  die  Einsamkeit.  Denn  auch  die  Freude  an  der 
Hochkunst  ist  eine  heimliche;  niemand  kann  sie  mit  dem  Genießenden 


444  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

teilen.  Bei  niederen  Erregungen  mag  es  die  Lust  erhöhen,  an  beiden 
Seiten  Ellbogen  zu  fühlen.  Aber  in  den  Weihestunden  tiefster  Er- 
griffenheit muß  der  einzelne  mit  sich  allein  sein  —  das  erste  Wort, 
das  ein  anderer  sagt,  wirkt  wie  ein  falscher  Ton.  (Vgl.  S.  110  und 
S.  332  ff.)  Wenn  man  von  der  weißen  Magie  einer  allgemein-mensch- 
lichen Kunst  schwärmt,  so  bezieht  man  sich  entweder  auf  Werke 
minderen  Wertes,  namentlich  auf  bloß  belehrende  und  bekehrende, 
oder  man  vereinheitlicht  Eindrücke,  die  in  Wahrheit  unendlich  ab- 
gestuft sind  und  vom  dumpfen  Verständnis  einiger  Äußerlichkeiten 
hinaufreichen  bis  zum  vollkommenen  Erfassen  des  Gebotenen.  Gewiß 
kann  die  Lust  am  Gegenstand,  ja  gelegentlich  selbst  der  Sinn  für 
die  nicht-ästhetischen  Bestandteile  bei  der  Masse  ebenso  lebhaft  sein 
wie  bei  den  wenigen  Kennern;  damit  jedoch  der  gesamte  geistige 
Reichtum  eines  Meisterwerkes  anspreche  und  die  Fülle  seiner  Reize 
wirksam  werde,  ist  ein  geschultes  und  bewegliches  Vermögen  nötig 
(s.  S.  90).  Der  Maler  Trübner  hat  einmal  festzustellen  versucht,  warum 
die  mittelmäßigsten  Bilder  gerade  das  größte  Publikum  haben,  und  ist 
schließlich  zu  der  Erklärung  gekommen,  daß  dieses  alle  die  Werke 
schätzt,  in  denen  es  das  ihm  geläufige  akademische  Können  zur  Dar- 
stellung eines  ihm  interessanten  Gegenstandes  aufgewendet  sieht  Die 
Gebrüder  Goncourt  stellten  sogar  den  Satz  auf:  Schön  ist  dasjenige, 
wovor  das  Publikum  eine  unwillkürliche  Abneigung  hat  In  den  Frei- 
maurerbund vollkommener  artistischer  Seelen  werden  gar  wenige  ein- 
gelassen. Wir  übrigen  helfen  uns,  indem  wir  Feinheit  und  Tiefe  w^- 
modifizieren.  Aber  wir  wissen  wenigstens:  es  gibt  eine  Höhenleistung^ 
die  aus  dem  Rohstoff  der  für  das  allgemeine  Urteil  hinlänglichen 
Kunst  noch  eine  Quintessenz  zu  ziehen  weiß.  Zum  Genießen  solcher 
Leistungen  gehört  eine  Willigkeit  etwa  wie  die,  vor  einer  asymmetri- 
schen Blumenform  Korins  in  Verzückung  zu  geraten;  dazu  gehört  die 
Fähigkeit,  aus  zartester  Verfeinerung,  aus  schmälster  Linienführung, 
aus  gedämpftester  Feieriichkeit  das  volle  Leben  herauszufühlen;  dazu 
gehört  die  Kraft,  sich  von  aller  irdischen  Roheit  und  Härte  loszulösen. 
Die  Rechtfertigung  der  Hochkunst  liegt  in  dem,  was  sie  zwei  oder 
drei  Menschen  gewährt    Ihr  Reich  ist  nicht  von  dieser  Welt 

Für  die  Massenernährung  bleibt  das  gesund  Vernünftige  und  wohl 
Geordnete  die  beste  Kost  Denn  die  sich  selbst  als  gleichartig  emp- 
findende Menge  braucht  zu  allen  ihren  Verrichtungen  diese  Leitseile: 
eine  gute  Lehre  und  einen  klaren  Rhythmus.  Es  ist  auch  nichts  da- 
gegen einzuwenden.  Der  alte  Sulzer  scheint  mir  im  Recht,  wenn  er 
von  der  Malerei  »Unterstützung  der  Andacht  in  Tempeln,  Erweckung 
patriotischer  Gesinnung  in  öffentlichen  Gebäuden  und  Nahrung  für 
die  Privattugend  in  Zimmern«   verlangt.     Nur  würde  ich   das  nicht 


DIE  GESELLSCHAFTLICHE  FUNKTION.  445 

»den  höheren  Gebrauch  der  Malerei«  nennen  1^).  Wo  immer  man  die 
Wunderwerke  der  Landschaftsmalerei  einordnen  mag  —  Wegsteine 
auf  der  breiten  Straße  der  Volkserziehung  sind  sie  nicht,  öffentliche 
Bauten  können  von  Macht  und  Vergangenheit  einer  Nation  erzählen, 
auch  wohl  als  Zweckmäßigkeitsbildungen  jedermann  verständlich  wer- 
den, aber  die  in  ihnen  enthaltene  Auseinandersetzung  des  Formwillens 
mit  der  Schwere  erschließt  sich  in  allen  Abstufungen  nur  der  beson- 
deren Empfänglichkeit.  Scheitert  demnach  die  Ausbreitung  edelster 
Kunst,  mindestens  vieler  ihrer  Inhalte  an  der  Unzulänglichkeit  der  Auf- 
nehmenden, so  erliegt  sie  anderseits  auch  einer  praktischen  Unmög- 
lichkeit. Woher  soll  man  so  viele  ausgezeichnete  Schauspieler  und 
Musiker  nehmen,  um  der  Menge  eine  wirklich  erschöpfende  Aus- 
führung von  Dramen  und  Tonwerken  zu  bieten?  Riesenräume  wären 
ferner  nötig,  und  sie  verschlingen  Wort  wie  Klang.  Ein  Blatt,  das 
die  Mona  Lisa  darstellt  und  für  ein  paar  Pfennige  verkauft  wird,  läßt 
von  den  Reizen  des  Gemäldes  kaum  etwas  ahnen.  Nur  die  Wort- 
kunst ist,  ihrem  eigentümlichen  Mittel  gemäß,  den  Verlusten  durch 
billige  Vervielfältigung  nicht  ausgesetzt.  Im  allgemeinen  indessen  bleibt 
auf  dem  Boden  der  Kunst  wie  überall  das  Oute  auch  teuer,  daher 
den  Armen  nicht  zugänglich.  Wir  möchten  verzweifeln,  wenn  wir  er- 
wägen, daß  reiche  Liebhaber  für  ein  Bildchen  so  viel  Geld  hingeben 
wie  der  Unterhalt  einer  Familie  erfordert,  daß  Staat  und  Gesellschaft 
reproduzierenden  Künstlern  für  ein  paar  Stunden  dasselbe  zahlen  was 
sie-  der  Jahresarbeit  eines  niederen  Beamten  mit  Not  und  Mühe  zu- 
billigen, daß  mit  den  Millionen,  die  für  Kunstzwecke  geopfert  werden, 
so  viele  armselige  Menschenkinder  vor  Verzweiflung,  Schande,  Selbst- 
mord gerettet  werden  könnten.  Aber  wir  müssen  uns  vor  Augen 
halten:  Kunst  und  abstrakte  Wissenschaft  würden  überhaupt  nicht  da- 
sein, wenn  man  mit  ihrer  Pflege  bis  zu  jenen  fernen  Zeiten  warten 
wollte,  wo  alles  Elend  verschwunden  ist. 

Nunmehr  versuchen  wir  eine  Übersicht  über  die  Maßnahmen  zu 
gewinnen,  die  gegenwärtig  zur  Popularisierung  der  Kunst  ergriffen 
werden.  Wenige  Worte  über  jeden  Hauptpunkt  dürften  ausreichen. 
Voran  stehen  die  Bemühungen  um  Massenverbreitung  guter  Literatur. 
Wenn  es  gelingt,  die  ausgezeichnet  arbeitenden  Einrichtungen  des 
Reise-  und  Kolportagebuchhandels  aus  dem  Dienstverhältnis  zur  Schand- 
lektüre zu  befreien,  so  wird  das  offenkundig  Schlechte  und  Gefähr- 
liche bekämpft  werden  können.  Dieser  Erfolg  wäre  unendlich  viel 
wert.  Aber  er  würde  nicht  bedeuten,  daß  die  höchste  Poesie  zum 
Gemeingut  wird.  Alle  Volksbüchereien  und  Schriftenverbreitungs- 
vereine müssen  innerhalb  eines  mäßigen  Wertumfanges  bleiben.  — 
Auf  dem  Gebiet  der  bildenden  Kunst  scheinen  mir  die  Versuche  mit 


446  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

farbigen  Künstler-Steinzeichnungen  am  aussichtsreichsten.  Denn  hier- 
bei handelt  es  sich  nicht  um  minderwertige  Nachahmungen,  sondern 
um  künstlerische  Urbilder,  die  von  dem  Künstler  in  dieser  Technik 
entworfen  und  bis  auf  den  Abschluß  des  Druckes  überwacht  werden. 
Wieviel  Abzüge  angefertigt  werden,  spielt  keine  Rolle:  das  Werk  bldbt 
stets  dasselbe  und  zwar  genau  so,  wie  es  der  Maler  gewollt  hat 
Immerhin  ist  der  Preis  dieser  Steindruckgemälde  zu  hoch ,  als  daß  er 
von  den  Armen  und  Ärmsten  gezahlt  werden  könnte.  Der  Umstand 
jedoch,  daß  auf  solche  Art  nur  lebende  Künstler  zu  Worte  konunen, 
stellt,  obwohl  er  bekrittelt  worden  ist,  eher  einen  Vorzug  als  einen 
Nachteil  dar.  Vollste  Wirkung  üben  nämlich  Kunstwerke  auf  die  Zeit 
aus,  in  der  sie  entstanden  sind,  oder  doch  auf  die  nächstfolgenden 
Geschlechter.  Liegen  Jahrhunderte  dazwischen,  so  ist  vieles  fremd 
geworden,  von  einem  Dunstkreis  umgeben,  in  dem  die  Gegenwan 
nicht  frei  atmet;  ältere  Werke  bedürfen  eines  zeitraubenden  Studiums 
und  einer  mühsamen  Erklärung,  enthüllen  daher  nicht  so  unmittelbar 
ihre  künstlerischen  Eigenschaften.  Nur  einem  so  fügsamen  Volke  we 
dem  deutschen  darf  man  zumuten,  Phidias  oder  Raffael  sich  näher  zu 
glauben  als  die  heimatlichen  Künstler  der  letzten  Jahrzehnte. 

Eben  hierin  wurzelt  ein  Bedenken,  das  gegen  die  Überschätzung 
der  jedermann  frei  zugänglichen  Museen  zu  erheben  ist  Hennann 
Orimm  behauptete  von  den  Berliner  Galerien,  sie  seien  nicht  einmal 
geeignet.  Studierende  in  die  Welt  der  bildenden  Kunst  einzuführea 
Beobachtet  man  gar  die  Masse  der  Besucher,  die  sich  rat-  und  zidkis 
durch  die  Säle  schiebt  und  in  den  Bildern  Hieroglyphen  anstaunt,  so 
wird  der  Abstand  des  Vorhandenen  und  des  Aufgefaßten  noch  deut- 
licher. Zwei  Auswege  sind  gewählt  worden.  Entweder  hat  man 
Gruppen  von  Besuchern  durch  einen  Fachmann  führen  lassen  oder 
man  hat  kleine,  einen  Lehrgang  darstellende  Sammlungen  b^[riindeL 
Für  diese  Sammlungen  müßte  der  leitende  Gesichtspunkt  darin  b^ 
stehen,  daß  nichts  künstlerisch  Wertloses  dargeboten  wird,  obgleidi 
nicht  alles  Wertvolle  gezeigt  werden  kann  und  soll.  Ober  die  Erfolp 
beider  Versuchsklassen  kann  ich  mir  kein  Urteil  erlauben ;  doch  möchte 
ich  der  zweiten  den  Vorzug  geben.  Jedenfalls  hat  sie  sich  auch  auf 
anderen  Gebieten  bewährt.  Beim  Theater  sicherlich  besser  als  das 
Verfahren  der  sogenannten  Conf&ence.  Trotzdem  können  selbst  die 
besten  Volkstheater  bei  planmäßig  eingerichteten  Folgen  nicht  jedm 
ausgezeichneten  Drama  eine  Stätte  bereiten,  da  sie  auf  Werte  an- 
gewiesen sind,  die  kraft  ihres  sozialen  oder  religiösen  Gehaltes  da 
Neigungen  der  Hörer  entgegenkommen.  Gar  nun  die  übrigen  Theater 
sind  und  bleiben  geschäftliche  Unternehmungen;  sie  mögen  aristo- 
kratisch gedacht  sein,  müssen  aber  demokratisch  betrieben 


DIE  GESELLSCHAFTLICHE  FUNKTION.  447 

Die  Klagen  darüber  sind  so  alt  wie  die  Bühne  selbst.  Recht  hübsch 
hat  jemand,  der  zum  Bau  gehört,  die  Nutzlosigkeit  des  Jammems  in 
dem  Witzwort  aufgedeckt:  seit  das  Theater  besteht,  verfällt  es.  Die 
Geschichte  des  griechischen  Volksschauspiels  ^^)  lehrt,  daß  Vari6t6- 
künste  und  naturalistisches  Drama  sich  nebeneinander  entwickelt  haben. 
Freude  an  bunten  Schilderungen  des  zeitgenössischen  Lebens,  an 
Clownspäßen  und  Couplets,  an  willkürlichem  Wechsel  zwischen  Nied- 
rigem und  Hohem  ist  als  die  Hauptanziehung  dieser  für  Bauern  und 
Proletarier  bestimmten  Bühnenkunst  erwiesen.  Zur  Zeit  des  römischen 
Kaiserreichs  herrschte  der  »Mimus«;  das  heroische  Drama  mit  seinen 
drei  handelnden  Personen  war  völlig  verdrängt.  Im  Mittelalter  zwang 
das  Volk  den  Misterien  possenhafte  Zwischenspiele  auf  und  blieb 
seiner  Liebe  zu  den  Gauklern  treu.  Harlekin  und  Pulcinell,  die  Haupt- 
figuren des  realistisch-komischen  Puppenspiels,  haben  einen  Siegeslauf 
durch  die  europäische  Welt  zurückgelegt;  auch  die  türkischen  Schatten- 
spiele besitzen  in  einem  tölpelhaften,  aber  durch  dreisten  Mutterwitz 
siegreichen  Kasperte  ihren  Mittelpunkt.  Seit  drei  Jahrtausenden  lebt 
der  Hanswurst,  und  zwar  in  ungezählten  Formen,  die  vom  Lustig- 
macher des  Zirkus  hinaufreichen  bis  zur  komischen  Figur  bei  Moliöre 
und  Shakespeare.  Immer  hat  das  Volk  von  der  Bühne  vertangt,  daß 
sie  ihm  derbe  Spaße  und  grobkörnige  Sittenschilderungen  vorsetze. 
Und  was  erwartet  heutzutage  das  gebildete  Publikum  vom  Theater? 
Es  sieht  in  ihm  einen  Versammlungsort  erhöhter  Geselligkeit.  Wozu 
bedienen  sich  Fürsten  ihrer  Hoftheater?  Zu  Repräsentationszwecken. 
Der  Trieb  nach  Zerstreuung  und  Schaugepränge  ist  so  mächtig 
in  der  Menschennatur,  daß  die  soziale  Funktion  der  Kunst  in  den 
meisten  Fällen  ihm  sich  unterordnen  muß.  Wenn  Schiller  die  Schau- 
bühne als  moralische  Anstalt  betrachtet  und  wenn  Humboldt  die  Frei- 
zügigkeit aller  künstlerischen  Äußerungen  mit  der  unendlichen  Güte 
und  Selbstheilungskraft  menschlichen  Wesens  begründet,  so  unter- 
schätzen sie  die  uns  allen  anhaftende  Flachheit  Und  weil  diese  Flach- 
heit so  gern  in  Gemeinheit  hinabsinkt,  deshalb  ist  das  Zensoramt  des 
Staates,  von  Humboldt  zu  Unrecht  verworfen,  nach  wie  vor  unent- 
behriich.  Fast  möchte  man  ihm  einen  weiteren  Wirkungskreis  wün- 
schen, sofern  man  zugibt,  daß  die  auf  sich  gestellte  Gesellschaft  tat- 
sächlich die  schlechteste  und  konventionellste  Kunst  am  zärtlichsten 
hätschelt.  Von  jenem  gesegneten  Zustand,  wo  die  eifrigste  Nachfrage 
auf  das  Wertvollste  sich  richtete,  sind  wir  außerordentlich  weit  ent- 
fernt, der  Kräfteaustausch  künstlerischen  Schaffens  und  Genießens 
steht  in  keinem  rechten  Gleichgewicht.  Besonderes  Unheil  stiften  die 
Zwischenhändler,  die  lediglich  ein  Geschäft  mit  der  Kunstvermittelung 
machen  wollen  und  den  größten  Gewinn  aus  Mittelmäßigkeit  einer- 


448  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

seits,  aus  Spezialität  anderseits  ziehen;  um  die  Kauflust  des  Publikums 
zu  stacheln,  lassen  sie  in  gemessenen  Abständen  Neues  zur  Mode 
werden,  eben  das,  was  im  Augenblick  ihnen  am  meisten  abwirft, 
nicht  das,  was  vor  der  Ewigkeit  bestehen  kann.  Dieser  ganze  Betrieb 
fällt  unter  den  Gesichtspunkt  des  Warenaustausches  und  hat  mit  wirk- 
licher Kunstpflege  nur  dadurch  einen  Berührungspunkt,  daß  er  ihr  ver- 
steckter und  unehrlicher  Gegner  ist.  Dem  Künstler  aber,  der  die 
Protektion  geriebener  Handelsleute  verschmäht,  bleiben  nur  drei  Mög- 
lichkeiten wirtschaftlicher  Existenz.  Er  kann  entweder  auf  irgend 
welche  Art  zur  materiellen  Sicherheit  gelangen  und  nun  in  der  Unab- 
hängigkeit der  Besitzenden  schaffen.  Oder  er  fügt  sich  den  An- 
sprüchen eines  Mäcens,  etwa  eines  Fürsten.  Oder  er  stellt  sich  außer- 
halb der  Gesellschaft  und  verzichtet  lieber  auf  alle  Wohltaten  des 
geregelten  Lebens,  als  daß  er  auch  nur  ein  Teilchen  von  dem  preis- 
gäbe, was  er  seine  Freiheit  nennt.  Die  BohSme  kann  sehr  wohl  ein 
Durchgangspunkt  sein;  junges  Blut  mischt  sich  gern  unter  die  Zi- 
geuner der  Kunst  und  mag  für  kurze  Zeit  den  Reiz  des  Vagabunden- 
lebens genießen;  das  Alter  braucht  »ein  Obdach  gegen  Sturm  und 
Regen  der  Winterzeit«.  Dauernde  Loslösung  rächt  sich  stets  dadurch, 
daß  der  Mensch  unfähig  zur  Leistung  wird. 

Bisher  war  die  gesetzlich  geordnete  Hilfe  des  Staates  nur  flüchtig 
erwähnt.  Auch  jetzt  sei  kurz  an  bekannte  Dinge  erinnert  Der  Staat 
beschränkt  sich  nicht  darauf,  geschichtlich  bedeutsame  und  schöne 
Kunstwerke  zu  sammeln,  die  Denkmäler  der  Vorzeit  (auch  literarische 
und  musikalische)  durch  die  Tätigkeit  von  Beamten  und  Kommissionen 
zu  erhalten,  sondern  er  gründet  Lehranstalten  zur  Ausbildung  von 
Künstlern,  fördert  diese  durch  Preise,  Reisestipendien,  Ehrengehälter 
und  tritt  selbst  als  Kunstunternehmer  und  Kunstbeurteiler  auf.  Ober 
diese  ganze  Tätigkeit  des  Staates  zu  spotten,  ist  ebenso  wohlfeil  wie 
abgeschmackt.  Gewiß  können  in  Anstalten  die  Genies  nicht  ge- 
züchtet und  die  etwa  vorhandenen  durch  Aufträge  oder  Ausschrei- 
bungen auf  die  »rechte  Bahn«  gelenkt  werden.  Aber  ihrer  Bestimmung 
nach  lehren  Kunstakademien  und  Musikhochschulen  etwas  Lehrbares, 
nämlich  die  technische  Bildung  nebst  den  angrenzenden  Fächern  all- 
gemeiner Bildung;  sie  sind  gleich  allen  Schulen  für  den  Durchschnitt 
bestimmt.  Desgleichen  gelten  die  übrigen  Maßnahmen  der  Verwaltung 
dem  Mehrheitsbetrieb  auf  dem  Kunstmarkt.  Hierbei  muß  freilich  ihr 
erstes  Anliegen  sein,  einer  übermäßigen  Erzeugung  und  Schätzung 
von  Kunst  entgegenzuarbeiten.  Die  Kunst  ist  eine  Kraft,  deren  Ge- 
brauch nicht  durch  sie  selbst  oder  ihre  Jünger  geregelt,  vielmehr  in 
das  Energienspiel  des  staatlichen  Organismus  eingefügt  werden  soll 
Wenn  Heißsporne  fordern,  daß  die  Kunst  zum  Ganzen  des  Lebens 


DIE  GESELLSCHAFTLICHE  FUNKTION.  449 

werde,  so  ist  daran  richtig,  daß  sie  eine  Anlage  zur  Totalität  besitzt. 
Aber  Religion  und  Wissenschaft  erheben  denselben  Anspruch.  Zu 
Unrecht,  denn  wir  leben  nicht  im  luftleeren  Raum.  Der  fromme  Christ 
will  kein  anderes  Gesetz  anerkennen  als  das  des  Evangeliums,  sollte 
es  ihm  auch  den  Schwur  und  den  Dienst  unter  den  Waffen  verbieten, 
der  Gelehrte  möchte  alles  Tun  und  Treiben  unter  die  Norm  bedingungs- 
loser Wahrheit  stellen.  Schon  dies  Nebeneinander  zeigt,  wie  unhaltbar 
das  Verlangen  ist,  aus  dem  Teil  das  Ganze  machen  zu  wollen:  würde 
die  Kunst  zum  ausschließlichen  Maßstab  im  sozialen  Dasein,  so 
müßten  Glaube  und  Wissenschaft  dagegen  sich  wehren,  von  den 
Männern  des  wirklichen  Lebens  ganz  zu  schweigen.  Die  Enthu- 
siasten, die  mit  künstlerischer  Kultur  die  Welt  aus  den  Angeln  heben 
möchten,  sollten  sich  Goethes  Wort  zu  Herzen  nehmen:  »Alles  oder 
nichts  ist  von  jeher  die  Devise  des  aufgeregten  Demos.«  Ruskins 
aussichtsloser  Versuch,  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  der  Gegen- 
wart durch  Kunstausdehnung  über  den  Haufen  zu  werfen,  war  toll- 
kühne Rückschrittlichkeit.  Schließlich  ist  noch  eine  Tatsache  wohl  zu 
beachten.  Jedesmal  wenn  Kunst  die  Alleinherrschaft  errungen  hat, 
ist  sie  selbst  schwächlich  und  gefallsüchtig  geworden.  Demokrati- 
sierung höchster  Ideale  bleibt  so  unmöglich  wie  Popularisierung  der 
Vornehmheit.  Als  in  der  Verfallzeit  des  Altertums  die  Kunst  alle 
Interessen  verschlang,  litt  nicht  nur  Kraft  und  Vielseitigkeit  des  Lebens, 
sondern  auch  die  Kunst  büßte  den  großen  Stil  ein  ^2).  Kurzum:  Ein- 
schränkung kommt  dem  Ganzen,  aber  auch  dem  scheinbar  beengten 
Teil  zu  gute.  — 

Das  Verhältnis  der  Kunst  zur  Jugenderziehung  ist  ein  drei- 
faches: man  kann  durch  die  Kunst  erziehen,  oder  zur  Kunst,  oder 
beides  zugleich.  Dieser  letzte  Fall,  dem  wir  uns  schon  bei  der  Be- 
sprechung der  Lehranstalten  für  bildende  Kunst  und  Musik  näherten, 
bedarf  keiner  Untersuchung;  daß  z.  B.  ernste  Beschäftigung  mit  der 
Musik  das  dafür  empfängliche  Kind  hauptsächlich  wieder  zur  Musik 
führt,  ist  ohne  weiteres  klar.  Bei  der  Erziehung  zur  Kunst  handelt 
es  sich  um  die  Frage,  inwieweit  der  Unterricht  zur  Erweckung  des 
ästhetischen  Sinnes  und  des  Kunstgefühls  beitragen  kann,  und  zwar 
zunächst  auf  mittelbare  Weise.  Offenbar  vermag  die  Ausbildung  der 
Beobachtungsgabe  reichen  Ertrag  zu  liefern,  wenn  die  scharf  erfaßte 
Wirklichkeit  mit  den  Darstellungen  der  Bildkunst  verglichen  wird; 
dem  Verständnis  von  Bild-  und  Literaturwerken  dienen  femer  alle 
Kulturelemente,  die  im  Religionsunterricht  sowie  in  den  sprachlichen 
und  geschichtlichen  Fächern  enthalten  sind.  Aber  der  Lehrer  soll 
auch  unmittelbar  auf  die  große  Tatsache  des  künstlerischen  Lebens 
verweisen.    Schon  deshalb,  um  einen  Begriff  von  Schöpferkraft  und 

Dessoir,  Ästhetik  und  a\\g.  Kunstwissenschaft.  29 


450  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

Selbstherrlichkeit  des  Menschen  zu  geben.  Freilich,  wie  selten  wissen 
Lehrer  davon!  Und  um  wieviel  seltener  gönnen  sie  dem  Schiller  einen 
Aufschwung  in  dieses  Reich!  Nicht  ohne  schmerzhaften  Druck  ge- 
denke ich  der  eigenen  Schuljahre,  der  ungezählten  sinnlos  vergeudeten 
Stunden,  der  Erziehung  zur  Routine  und  zur  Heuchelei,  zum  papa- 
geienhaften Nachsprechen,  zur  unehrlichen  Handhabung  von  Phrasen, 
zum  gewissenlosen  Scheinwesen.  Stolz,  Ehrliebe,  Streben  nach  Selb- 
ständigkeit und  Schaffensdrang,  jeder  Versuch,  gerade  emporzuwachsen, 
zur  vornehmen  und  freien  Gesinnung  eines  Gentleman  sich  heranzu- 
bilden, wurde  von  der  schäbigen,  übel  riechenden  Denkart  der  kleinen 
Despoten  unterdrückt.  Wir  lernten  stumm  sein  oder  wurden  gemein. 
Wo  wäre  unter  solchen  Verhältnissen  Platz  für  Herrlichkeit  und  Frei- 
heit der  Kunst  gewesen? 

Gewiß  ist  es  voreilig,  zu  verallgemeinem  und  die  gegenwärtigen 
Zustände  mit  vergangenen  schlechthin  gleichzusetzen.  Es  verbietet 
sich  schon  im  Hinblick  auf  die  lebhafte  Anteilnahme,  die  der  Erziehung 
durch  die  Kunst  seit  einigen  Jahren  von  einem  großen  Teil  der  Lehrer- 
schaft entgegengebracht  wird.  Am  seltensten  beschäftigen  sich  die 
Erörterungen  mit  dem  Schultheater,  obgleich  es  auf  eine  ehrenvolle 
Vergangenheit  zurückblickt,  für  die  nur  an  Holland  zur  Zeit  der 
Humanisten  und  Paris  zur  Zeit  der  Frau  von  Maintenon  erinnert  zu 
werden  braucht.  Könnten  wir  darauf  eingehen,  so  wäre  der  Haupt- 
punkt wohl  die  Abschätzung  der  Vorteile  und  Nachteile.  Die  Ver- 
führungskraft der  Bühne  ist  ebenso  groß  wie  gefährlich  (vgl.  S.  80 
u.  331).  Ob  nun  das  eingeschränkte  und  beaufsichtigte  Theaterspielen 
diese  Kraft  verstärkt  oder  im  Gegenteil  den  Drang  befriedigen,  vor  Ent- 
täuschungen bewahren,  Freude  wecken  und  veredelnd  wirken  kann 
—  darüber  wird  sich  grundsätzlich  nichts  ausmachen  lassen.  —  Die 
allgemein  bildende  Kraft  des  Musikunterrichtes  hangt  von  der  Art  ab^ 
wie  er  betrieben  wird.  Führt  er  zum  Genuß  an  Musik,  so  wäre  er 
freilich  jedem  einigermaßen  musikalischen  Kinde  zu  wünschen.  Dann 
müßte  er  aber  etwas  anderes  werden  als  technischer  Drill.  An  Stelle 
qualvoller  Fingerdressur  sollte  eine  planmäßige  Ausbildung  im  Zuhören 
und  in  der  Musiktheorie  treten  und  der  Erwerb  eigener  Geschicklichkeit 
den  besonders  Begabten  vorbehalten  bleiben.  Ähnlich  ließen  sich  auch 
die  Gesangsstunden  in  den  Schulen  gestalten.  —  Im  deutschen  Unter- 
richt pflegt  das  rein  ästhetische  Moment  hinter  den  anderen  Inhalten 
und  Zwecken  der  Dichtkunst,  namentlich  hinter  den  belehrenden, 
vateriändischen  und  moralischen,  erheblich  zurückzutreten.  Das  ist 
kaum  zu  vermeiden.  Aber  eben  darum  sollte  man  endlich  mit  zwei 
Vorurteilen  brechen.  Zu  Unrecht  hält  man  die  Mdsterwerke  unserer 
großen  Dichter  für  den  geeignetsten  Lehrstoff.    Es  ist  eine  ruchlose 


DIE  GESELLSCHAFTLICHE  FUNKTION.  451 

Lüge,  daß  für  Kinder  gerade  das  Beste  gut  genug  sei;  vielmehr  wird 
es  an  sie  verschwendet.  Die  höchsten  Leistungen  des  Genies  bilden 
ein  Ziel,  zu  dem  wir  die  Jugend  vorbereiten  dürfen,  aber  keinen 
Tummelplatz  ungelenker  Versuche.  Hinzu  kommt,  daß  die  übliche 
Lesung  von  Gedichten  und  Dramen  das  anmaßende  Bewußtsein  weckt, 
nun  kenne  man  sie  und  brauche  sich  nicht  mehr  um  sie  zu  kümmern. 
Ein  anderes  Vorurteil  sehe  ich  in  der  Abneigung  gegen  das  Aus- 
wendiglernen. In  Wahrheit  bedeutet  es  das  natürliche  Verfahren,  das 
dem  Kinde  die  unmittelbare  Verbindung  mit  dem  schaffenden  Künstler 
beläßt  und  es  vor  den  trockenen  Inhaltsangaben  und  Erklärungen 
schützen  kann.  Die  Schule  geht  in  der  Regel  nicht  sonderlich  schonend 
mit  der  Dichtung  um,  sie  verleitet  Lehrende  wie  Lernende  zu  einer 
gedanken-  und  gefühlsarmen,  dabei  hochmütigen  Behandlung,  die  doch 
auch  von  der  kühlen,  aber  reifen  wissenschaftlichen  Untersuchung 
fernab  bleibt  Soll  das  Kind  zum  lebendigen  Genuß  eines  künst- 
lerischen Ganzen  befähigt  werden,  so  muß  man  ihm  Nahrung  statt 
einer  Speisenkarte  geben.  Das  Herbart-Zillersche  Verfahren  macht  aus 
unseren  Märchen,  diesen  wahrhaftigen  Kulturgütern  des  deutschen 
Volkes,  lahme  und  lederne  Anwendungen  von  moralischen  Sätzen  als 
von  ihren  sogenannten  »Grundbestandteilen«;  dies  Verfahren  bringt 
es  zuwege,  ein  Spiel  mit  dem  Wunderbaren  in  philisterhafte  Be- 
lehrung, eine  grüne,  mit  Blumen  bestandene  Wiese  in  einen  staubigen 
Weg,  einen  glänzenden  Schatz  der  Einbildungskraft  in  wertlose  Papier- 
fetzen zu  verkehren. 

Als  wir  uns  über  den  Werdegang  des  kindlichen  Malens  unter- 
richteten, da  erfuhren  wir,  daß  die  unbeeinflußte  Bildererzeugung  zu- 
nächst eine  schematische,  fast  begriffliche  Niederschrift  gewußter  Merk- 
male ist.  Erst  allmählich  kommt  die  Erscheinung  zu  ihrem  Recht, 
und  zwar  so,  wie  sie  in  der  Vorstellung  sich  gestaltet  hat.  Schließ- 
lich wird  auch  die  Darstellung  des  Raums  versucht.  Über  die  Ent- 
wickelung  des  Sinnes  für  dekorative  Kunst  wissen  wir  nichts,  über 
die  des  Sinnes  für  Farbenschönheit  nur  wenig.  Nun  pflegt  der  Zeichen- 
unterricht erst  dann  einzusetzen,  wann  das  Kind  bereits  auf  Formen 
Rücksicht  nimmt.  Der  Lehrer  muß  also  versuchen,  den  erreichten 
Standpunkt  richtig  zu  verstehen,  hier  anzuschließen  und  den  Schüler 
weiter  zu  führen  ^^).  Daß  im  Veriauf  des  Unterrichtes  gute  künst- 
lerische Vorbilder,  gelegentlich  selbst  die  viel  geschmähten  Ornamente, 
nützlich  wirken  können,  scheint  mir  durch  das  einseitige  Lobpreisen 
des  Naturvorbildes  nicht  wideriegt.  Angestrebt  wird  ja  auch  hier 
nicht  die  Ausbildung  eigener  Künstlerschaft,  sondern  der  Fähigkeit, 
Kunst  zu  würdigen  und  voll  aufzufassen.  Das  Zeichnen  bietet  außer- 
dem alle  Vorteile  eines  graphischen  Verfahrens:  wer  es  einigermaßen 


452  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

beherrscht,  wird  sich  seiner  oft  zur  Mitteilung  und  als  Hilfe  des  For- 
schens  bedienen.  Wir  haben  früher  (S.  170  ff.)  festgestellt,  daß  die 
Sprache  an  die  Bestimmtheit  des  Wahrnehmbaren,  insbesondere  des 
Sichtbaren  nicht  heranreicht;  wir  erfuhren  (auf  S.  234),  wie  lebhaft 
das  Ausdrucksmittel  auf  Werden  und  Wesen  der  Vorstellungen  zu- 
rückwirken kann;  aus  diesen  beiden  Vordersätzen  folgt  unmittelbar 
ein  Schlußsatz,  der  den  Wert  des  Zeichnens  für  den  Gewinn  kon- 
kreter Vorstellungen  ausspricht.  Endlich  soll  nicht  übersehen  werden 
der  Beitrag,  den  eine  geordnete  Beschäftigung  mit  dem  Zeichnen  zur 
Entwickelung  des  Charakters  liefert.  Schon  indem  Sauberkeit  als  An- 
fang einer  bescheidenen  Schönheit  gepflegt  wird,  geschieht  etwas^ 
was  dem  Gefühl  für  Reinlichkeit  und  Sorgsamkeit  überhaupt  zu  gute 
kommt.  Der  Schüler  wird  gezwungen,  das  Tun  seiner  Hände  genau 
zu  überwachen;  durch  die  fortwährende  Vergleichung  mit  dem  Vor- 
bild wird  er  angehalten,  Schwierigkeiten  nicht  zu  vertuschen,  sondern 
ernsthaft  zu  überwinden;  er  lernt,  in  der  Unterordnung  unter  einen 
Gegenstand  und  trotzdem  schöpferisch  zu  arbeiten. 

Man  mag  in  der  Aufzählung  von  Einzelheiten  noch  weiter  gehen 
—  grundsätzlich  bleibt  man  eben  immer  bei  einer  Nennung  besonderer 
Beiträge.  Eine  allgemeine  Erziehung  nach  den  Gesichtspunkten  der 
Kunst  ist  ein  Unding.  Davon  fabeln  nur  die  Schwarmgeister,  die  da 
glauben,  mit  künstlerischer  Kultur  seien  alle  sozialen  Fragen  zu  lösen 
und  alle  Mängel  der  Erziehung  zu  tilgen.  Ihre  unklare  Begeisterung 
ist  am  schwersten  zu  ertragen,  wenn  sie  sich  an  Phrasen  berauscht, 
die  alles  Hohe  und  Edle  zu  einem  Sonderrecht  des  Deutschtums 
stempeln.  Anstatt  des  Überschwangs  brauchen  wir  —  und  zwar  bitter 
nötig  —  mehr  Wirklichkeitsgefühl  und  Zukunftsinstinkt  Es  wäre  ein 
Unheil,  wenn  die  Jugend  zur  ausschließlich  künstlerischen  Auffassung 
erzogen  würde,  zu  jener  Auffassung,  die  Flaubert  richtig  mit  den 
Worten  bezeichnete:  »Si  tous  les  evenements  de  la  vie  vous  apparaissaä 
comme  um  matiere  (Tart,  comme  des  elements  destinäs  ä  entrer  dans 
quelque  oeuvre  future,  vous  etes  artiste.<t^ 


3.  Die  sittliche  Funktion, 

Kunst  als  Verschmelzungsprodukt  ästhetischer  Gestaltungskräfte 
mit  Inhalten  und  Forderungen,  die  auf  anderen  Gebieten  erwachsen 
sind,  hat  auch  zu  sittlichen  Ansprüchen  und  Grundsätzen  die  innigsten 
Beziehungen.  Unsere  Ästhetik  verfällt  leicht  in  denselben  Fehler,  den 
einige  Nationalökonomen  der  Ricardo-Schule  b^[angen  haben:  Wie 
diese  einen  Menschen   sich   ersannen,  der  ausschließlich   von   wirt- 


DIE  SITTLICHE  FUNKTION.  453 

schaftlichen  Erwägungen  bewegt  wird,  der  nur  möglichst  billig  ein- 
kaufen und  möglichst  teuer  verkaufen  will,  und  wie  sie  dies  künst- 
liche Gebilde  ganz  ernsthaft  als  den  Menschen  der  Wirklichkeit  auf- 
faßten, so  konstruiert  unsere  Wissenschaft  einen  homo  aestheticus, 
der  selbst  unter  den  Anhängern  des  Schlagwortes  Lart  pour  Vart 
nicht  zu  finden  ist.  Kunstwerke  entstehen  aus  der  Vollkraft  eines 
Menschen  und  wenden  sich  an  alle  Seelentätigkeiten  des  Genießen- 
den; sie  werden  mit  dem  Übermut  des  Narren  entworfen  und  mit  der 
Ruhe  des  Weisen  ausgeführt;  sie  erschüttern  das  Gefühl  und  lassen 
die  Klarheit  des  Geistes  ungetrübt;  sie  erregen  und  besänftigen;  sie 
stehen  außerhalb  und  innerhalb  des  Lebens. 

Aus  dieser  Gegensätzlichkeit,  die  durch  keine  Formel  ausgeglichen 
werden  kann,  ergeben  sich  Schwierigkeiten  für  Staatsverwaltung  und 
Erziehung,  insofern  sie  die  sittlichen  Verhältnisse  zu  beaufsichtigen 
haben.  Künstler  und  Ästhetiker  wehren  sich  zumeist  gegen  das 
Zensorrecht  des  Beamtentums,  weil  es  einen  der  Kunst  fremden  Maß- 
stab anlegt.  Die  teils  lächerlichen  teils  traurigen  Mißgriffe  der  Zen- 
soren im  einzelnen  wären  noch  zu  verwinden,  aber  die  Grundsätze, 
die  jeden  Personenwechsel  überdauern,  sind  in  der  Tat  bedenklich: 
die  Behörde  pflegt  Machwerke,  die  mit  allem  Sittlichen  ein  freches 
Spiel  treiben,  wohlwollend  zu  schonen  und  ihre  Schärfe  gegen  wirk- 
liche Kunstleistungen  zu  kehren,  sie  ist  mißtrauischer  gegen  die  Un- 
erbittlichkeit eines  ehrlichen  Naturalismus  als  gegen  die  Gemeinheit 
der  Geschäftsspekulanten.  Dennoch  kann  nicht  bestritten  werden, 
daß  der  Staat,  als  im  Dienste  der  sittlichen  Idee  befindlich,  eine  Rege- 
lung aller  in  seiner  Organisation  vorhandenen  Tätigkeiten  bis  zu  einer 
gewissen  Grenze  beanspruchen  darf.  Ebenso  hat  der  Erzieher,  der 
Vater  wie  der  Lehrer,  ein  Recht,  innerhalb  eines  gewissen  Umfanges 
das  moralisch  Zweifelhafte  vom  Kinde  fernzuhalten.  Der  Einwand, 
dem  Reinen  sei  alles  rein,  ist  töricht  genug.  Was  man  gewöhnlich 
als  Gedankenreinheit  preist,  ist  nur  Gedankenlosigkeit;  aufgeweckte 
Kinder  werden  naturgemäß  über  Dinge  Aufklärung  verlangen,  die  ihnen 
in  Bild  oder  Wort  zum  ersten  Male  näher  treten.  Immerhin  dürfen 
wir  nicht  alles,  was  Fragen  und  Bedenken  hervorrufen  kann,  ängst- 
lich aus  dem  Gesichtskreis  der  Aufwachsenden  entfernen;  junge  Men- 
schen gehen  selten  aus  der  Unberührtheit  ohne  weiteres  in  einen 
Zustand  massiver  Tugend  über.  Vielmehr  müssen  wir  zur  rechten 
Zeit  solche  künstlerischen  Eindrücke  herbeiführen,  durch  die  die  be- 
drängenden Zweifel  auf  eine  höhere  Ebene  versetzt,  die  Schwierig- 
keiten sogleich  in  der  edelsten  Form  aufgezeigt  werden. 

Das  allgemeinere  Problem,  das  den  Beziehungen  zum  Staatsleben 
und  zur  Erziehung  übergeordnet  ist,  wird  manchmal  mit  einer  lässigen 


454  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST.' 

Handbewegung  zur  Seite  geschoben.  Man  sagt  etwa:  die  Kunst  sei 
sich  selbst  Zweck,  ihr  Reich  sei  das  der  reinen  Anschauung  und  gänz- 
lich vom  Reich  des  Willens  getrennt,  aus  dem  die  Handlungen  und 
ihre  sittlichen  Werte  stammen.  Aber  damit  verschwinden  diese  Werte 
oder  Unwerte  nicht  aus  dem  Inhalt  des  künstlerischen  Erzeugnisses. 
Vorgänge,  über  deren  Unsittlichkeit  alle  Welt  einig  ist,  werden  doch 
ohne  jede  Entschuldigung  dargestellt,  und  diese  Darstellung  wird  als 
berechtigt  anerkannt,  sobald  sie  vom  Zusammenhang  des  Ganzen  ge- 
fordert und  in  ihn  eingeschmolzen  ist.  Femer  bleiben  die  Menschen 
beim  Schaffen  und  Genießen  im  wesentlichen  dieselben,  die  sie  sonst 
sind.  Die  Bilder  wirken  weiter,  drängen  sich  als  bewußte  Vorstel- 
lungen oder  unbewußte  Nachklänge  in  Stimmungen  und  Gedanken 
ein.  Oder  sollte  es  anders  liegen?  Sollte  es  wahr  sein,  wie  ein  pessi- 
mistischer Dichter  behauptet  hat,  daß  selbst  die  schönsten  Träume^ 
die  edelsten  Wünsche  nicht  einen  einzigen  Zoll  hoch  zum  Wachstum 
des  Menschengeistes  beitragen?  Höchst  verfeinerte  Künstler  mögen 
mit  Ibsens  Rudek  (»Wenn  wir  Toten  erwachen«)  den  Gegensatz  zwi- 
schen der  Kunst  und  dem  blühenden  Leben  so  stark  empfinden,  daß 
sie  an  keine  Rückwirkung  von  jener  auf  dieses  glauben  können.  Ahn- 
lich geartete  Naturen  mögen  ein  Kunstwerk  in  seiner  vollen  Stärke 
genießen,  ohne  im  geringsten  ihre  Lebensauffassung  oder  gar  ihre 
Lebensführung  dadurch  beeinflussen  zu  lassen.  Im  allgemeinen  jedoch 
dürfte  es  sich  nicht  so  verhalten.  Wie  das  Kunstwerk  wohl  etwas 
anderes  ist  als  die  Wirklichkeit  und  trotzdem  aus  ihren  Elementen 
seine  Kraft  zieht,  so  ist  die  Wirkung  des  Kunstwerks  wohl  etwas 
anderes  als  eine  tendenziöse  und  sichtbarlich  nachzuweisende  Beein- 
flussung der  Willenshandlungen  und  trotzdem  eine  Bereicherung  und 
Erhöhung  des  ganzen  seelischen  Seins  (oder  das  Gegenteil).  Der 
immer  vorhandene  Rahmen  schließt  doch  nicht  völlig  ab,  die  Insd 
der  Kunst  steht  im  Verkehr  mit  dem  Festland  unseres  täglichen 
Daseins.  Allerdings  wird  durch  Beethovens  Pastoral-Sinfonie  ein  Groß- 
städter schweriich  zum  Schwärmer  für  das  Landleben  gemacht  werden. 
Aber  zumal  auf  den  unteren  Stufen  künstlerischer  Empfänglichkeit 
kann  der  Einfluß  der  Kunst  Stimmungen  und  Anschauungen  ändern. 
Beim  Kinde  haben  oft  die  Gebilde  der  Phantasie  dieselben  Folgen 
wie  die  Eriebnisse  der  Wirklichkeit  (s.  S.  251  u.  276),  und  man  ver- 
steht manche  seiner  Gedanken  oder  Handlungen  erst  von  diesem 
Ursprung  her.  Wenn  unsere  jungen  Damen  sich  so  leicht  in  Tenöre 
und  Darsteller  des  Kari  Moor  vernarren,  so  unterii^en  sie  den  Nach- 
wirkungen künstlerischer  Eindrücke.  Und  um  Höheres  zu  streifen:  es 
vermag  der  Anblick  der  von  Menschen  geschaffenen  Schönheit  uns 
in  einer  lange  nachhallenden  Ergriffenheit  zu  entlassen,  die  milde  und 


DIE  SITTLICHE  FUNKTION.  455 

ruhig  macht;  der  Humor  vermag  dauernd  zu  trösten  und  zu  versöh- 
nen; das  Tragische  vermag  aufzurütteln  und  ins  Größere  zu  steigern. 
Wo  immer  die  überredende  Kraft  der  Kunst  sich  mit  der  heischenden 
Kraft  des  Guten  verbündet,  da  kann  ein  bleibender  Erfolg  eintreten. 
Es  besteht  eine  Wechselwirkung:  sittliche  Forderungen  gebrauchen 
mit  Recht  die  Hilfe  der  Kunst,  und  die  Kunst  verwendet  jene  Forde- 
rungen als  einen  ihrer  Inhalte.  Oft  schreitet  sie,  mit  ihrer  Fülle,  Frei- 
heit und  Einsamkeit,  der  Entwickelung  voraus  und  kündet  die  Moral 
der  Zukunft  an.  Nicht  der  übermäßigen  Darstellung  von  Edelmut 
und  Frommheit  soll  das  Wort  geredet  werden,  denn  das  von  Künstler- 
hand geleitete  Eindringen  in  die  Tiefen  des  Lebens  dient  ebenfalls 
der  Versittlichung,  weckt  Verachtung  der  Gemeinheit,  Unabhängigkeits- 
sinn, Gefühl  der  Relativität  aller  Dinge.  Wohl  aber  soll  die  Wohltat 
anerkannt  werden,  die  mit  dem  Hinweis  auf  kommende  Morgenröte 
und  auf  leuchtende  Sphären  der  Gegenwart  gewährt  wird. 

Neben  der  Frage,  inwieweit  Sittliches  und  Unsittliches  als  Inhalt 
eines  Werks  nützt  oder  schadet,  steht  die  weiter  spannende  (weil  auch 
Musik  und  Architektur  einschließende)  Frage,  inwieweit  künstlerisches 
Schaffen  und  Genießen  als  Vorgänge  ethische  Bedeutung  erlangen. 
Prüfen  wir  zunächst  die  Verhältnisse  beim  Schaffen.  Dem  Künstler 
ist  die  äußere  Natur  zur  Nachbildung  wehrlos  preisgegeben.  Wie 
aber  liegt  es,  wenn  der  Maler  Gesicht  oder  Körper  eines  Lebenden, 
der  Dichter  Begebenheiten  und  Personen  der  Wirklichkeit  verwenden 
will?  Wahrscheinlich  wäre  jedermann  einverstanden,  als  Schönheit 
gemalt  oder  als  Held  beschrieben  zu  werden;  aber  jeder  sträubt  sich 
dagegen,  daß  seine  leiblichen  und  seelischen  Schwächen  enthüllt 
werden,  und  nicht  jede  Frau  ist  geneigt,  ihre  Reize  auch  nur  mittelbar 
der  Öffentlichkeit  auszuliefern.  So  kommt  es  denn  zu  den  sattsam 
bekannten  Gerichtsverhandlungen  über  Karikaturen,  Schlüsselromane 
und  Modellverwertung  überhaupt.  Für  wirkliche  Kunst  indessen  liegt 
keine  Schwierigkeit  vor.  Denn  der  Dichter  wird  stets  einen  zeitlichen 
Abstand  herstellen  zwischen  dem  Ereignis  und  der  Behandlung  durch 
ihn,  so  daß  die  Gefahren  der  sogenannten  Aktualität  zurücktreten;  und 
ein  gutes  Werk,  welchem  Gebiet  es  auch  angehöre,  bedeutet  stets  eine 
starke  Umformung  des  Urbildes,  nicht  eine  schlaue  Abänderung,  vor- 
genommen, um  der  Rache  oder  dem  Gesetz  zu  entgehen,  sondern 
eine  im  Wesen  der  Kunst  begründete  Umbildung.  Auch  ein  anderes 
Bedenken  zerstiebt,  solange  man  eben  mit  echten  Künstlern  zu  tun  hat 
Die  Beschäftigung  mit  verführerischen  Modellen,  bedenklichen  Ereig- 
nissen, sittenlosen  Naturen  führt  kaum  jemals  zu  unmoralischen  Ge- 
fühlen, weil  der  Zwang  der  Arbeit  und  die  reine  Freude  am  Vollbringen 
niedere  Begierden  nicht  aufkommen  lassen.    Wie  für  den  Arzt  der 


456  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

Kranke  nur  Kranker  ist,  so  sind  für  den  Kunstler  Menschen  und  Dinge 
nur  Gegenstand,  freilich  ein  mit  reinster  Liebe  umfaßter  0^[enstand 
Das  eben  ist  die  Macht  jeder  höheren  geistigen  Kultur,  daß  sie  die 
Selbsttätigkeit  ins  Spiel  setzt,  die  aus  natürlichen  Formen  künstlerische 
Gebilde,  aus  natürlichen  Instinkten  sittliche  Verhaltungsweisen  erzeugt 
Eine  solche  Kultur  erwarten  wir  beim  Künstler.  Wir  verlangen  von 
ihm  die  ernsteste  Hingabe  an  sein  Unternehmen,  einen  gerade  aufs 
Ziel  gerichteten  Blick,  der  nicht  abschweift  Schludrige  Machwerke  sind 
schlechterdings  unsittlich,  auch  wenn  sie  auf  den  frömmsten  Ton  ge- 
stimmt sind;  sehr  treffend  nennt  der  Sprachgebrauch  das  0^[enstück, 
nämlich  ein  durch  künstlerische  Überzeugung  bestimmtes  Werk:  :>ehriich  . 
Den  Sinn  für  solche  Ehriichkeit  sollen  wir  Genießende  in  uns  ent- 
wickeln. Ein  gewisses  Anständigkeitsgefühl  muß  vor  liederlichen  und 
verfälschten  Leistungen  warnen.  Die  geschulte  Empfänglichkeit  be- 
wundert selbst  an  inhaltlich  nicht  erfreulichen  Gaben  den  heiligen 
Eifer  und  die  Wahrhaftigkeit  des  Spenders.  Aber  von  bestochenen 
Seelen  und  unreinen  Händen  will  sie  nichts  annehmen,  selbst  kein 
Christusbild.  Diese  Läuterung  des  ästhetischen  Gewissens  erweiten 
sich  zu  einer  Läuterung  des  Gewissens  überhaupt  Indem  der  Be- 
trachter die  Gesinnung  vom  Stoff  trennen  lernt,  reift  er  zur  Gesin- 
nungsethik heran;  indem  er  sein  persönliches  Verantwortlichkeitsgefulii 
so  festigt,  daß  er  auf  die  bequeme  Anpassung  an  Durchschnittsurteile 
verzichten  kann,  stärkt  er  seine  innere  Freiheit  Der  Kunstmarkt  bicw 
jedem  Geschmack  etwas;  über  die  Auswahl  gibt  es  keine  Vorschrifi 
und  die  rechte  Wahl  wird  weder  belohnt  noch  die  verkehrte  bestraft 
Wer  also  hier  im  Sinne  des  Guten  handelt,  tut  es  mit  sittlicher  Selb- 
ständigkeit. Daher  hat  man  behauptet:  um  den  Wert  einer  mdit 
allgemein  anerkannten  Kunstübung  schätzen  zu  können,  bedarf  es  mdir 
als  des  Geschmackes,  bedarf  es  eines  Charakters.  Immerhin  soDte 
dies  Wort  nicht  dahin  mißdeutet  werden,  daß  es  den  einzdnen  ans 
allen  Beziehungen  loslösen  will.  Denn  in  Wahrheit  bleibt  der  Ge- 
nießende einerseits  der  Gesetzmäßigkeit  des  G^enstandes  unteIS^ 
ordnet,  anderseits  durch  den  in  ihm  lebenden  Anspruch  auf  Notwen- 
digkeit mit  einer  noch  höheren  Norm  verknüpft;  er  ist  nicht  auf  sidi 
allein  gestellt,  sondern  vom  Rhythmus  des  Kunstwerks  beherrscht  md 
den  Forderungen  objektiver  Geistigkeit  unterworfen.  Hierzu  tritt 
schließlich  noch  ein  Umstand.  Jedes  Eigentum  mag  ein  Raub  jgpmiii 
werden,  das  künstlerische  aber  kann  niemals  so  heißen.  Das  Brac 
das  ich  esse,  das  Gehalt,  das  ich  beziehe,  ist  im  gewissen  Same  i 
anderen  entzogen.  Wenn  ich  jedoch  mich  an  einem  GemSMe 
so  nehme  ich  niemand  eine  Freude  fort  Daher  sind  äsdielisdie 
Genüsse  auch  des  Empfindlichsten  würdig. 


DIE  SITTLICHE  FUNKTION.  457 

Wenn  die  innere  Verfassung  des  Künstlers  sittlich  zu  nennen  ist, 
so  darf  sie  auch  darüber  hinaus  noch  als  religiös  bezeichnet  werden. 
Echte  Kunst  und  Religion,  so  las  ich  irgendwo,  werden  daran  erkannt, 
daß  ihre  Vorbereitung  in  Schicksal  und  Leben,  nicht  in  Wissen  und 
Erwägen  liegt.  In  diesem  Betracht  gehören  sie  sicher  zusammen. 
Beide  Gebiete  entziehen  sich  an  ihren  Mittelpunkten  dem  wissenschaft- 
h'chen  Beweis  und  der  begrifflichen  Auflösung;  sie  machen  offenbar, 
daß  nicht  alles  Irrationale  gefähriiche  Schwärmerei  ist,  sondern  zu  einer 
Lebensform  mit  eigenen  Rechten  sich  entfalten  kann.  Femer  wurzeln 
sie  in  einer  Überwindung  des  Außen  durch  das  Innen:  sie  erreichen 
es  mit  vielfach  gemeinsamen  Symbolen,  aber  auch  in  verschiedenen 
Formen,  daß  das  Seiende  von  einem  Geistigen  durchschienen  wird. 
Schließlich  ist,  wie  wir  oft  erörterten,  die  Liebe  als  die  Einheit  in  der 
Getrenntheit,  als  der  lebendige  Vorgang,  den  Hegel  »das  im  anderen  bei 
sich  sein«  nennt,  eine  Grundbedingung  des  Künstlers.  Ich  hätte  nichts 
dawider,  wenn  man  in  diesem  Sinne  von  aller  wahren  Kunst  als  von 
einer  christlichen  Kunst  spräche.  Hingegen  würde  der  Untergang  der 
im  engeren  Sinne  christlich  geheißenen  Kunst  das  Wesen  des  Christen- 
tums unversehrt  lassen;  ja  —  in  Zeiten  gesteigerten  Glaubensemstes 
kann  jede  ästhetische  Gestaltung  für  unzulänglich  befunden  werden  ^*). 
Der  Kultus  als  solcher  steht  gleichfalls  in  regelmäßigen  Beziehungen 
mit  der  Kunstübung.  Von  den  Verhältnissen  bei  primitiven  Völkern 
haben  wir  bereits  das  Nötigste  erfahren.  Bei  den  Griechen  betätigt 
sich  in  der  Plastik  ein  religiöses  Gefühl,  das  mit  Diesseitigkeitsbewußt- 
sein,  Naturbetrachtung  und  Schönheitsdienst  Hand  in  Hand  ging. 
Während  im  Altertum  die  plastische  Bildkunst  begünstigt  wurde,  hat 
christliches  Empfinden  anderen  Kunstgattungen  vornehmlich  sich  zu- 
gewendet: man  denke  an  Kathedralen,  Heiligenbilder,  Misterienspiele, 
Kirchenmusik.  Übrigens  war  selbst  im  Mittelalter  die  Kunst  nicht 
eigentlich  durch  die  Kirche  geknechtet;  biblische  Geschichten  und 
Kultformen  bildeten  eine  so  unmittelbare  und  jedermann  vertraute 
Wirklichkeit,  daß  mit  Selbstverständlichkeit  aus  ihrem  Kreise  der  Stoff 
der  Werke  gewählt  wurde. 

Lassen  wir  es  bei  diesen  Andeutungen  bewenden.  Denn  Wichtigeres 
steht  noch  zur  Verhandlung.  Freilich  müssen  wir  uns  dabei  an  die 
gefürchtete  Hilfe  der  »ersten  Philosophie«  wenden;  wir  können  nun 
der  Metaphysik  nicht  mehr  entraten.  »So  muß  denn  doch  die  Hexe 
dran.«  Aber  wir  wollen  sie  nur  so  weit  bemühen  als  nötig  ist,  um 
die  sittliche  Funktion  der  Kunst  in  ihrer  Vollendung  zu  erkennen. 

Metaphysik  in  der  hier  gewagten  Gleichsetzung  mit  Weltanschauung 
wird  durch  das  Leben  geformt;  ein  inneres  Soll  veranlaßt  immer  wieder 
Menschen,  die  danaTdenhafte  Arbeit  fortzusetzen  und  nach  dem  Wesen 


458  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

der  Welt  und  dem  Zweck  des  Daseins  zu  forschen.  Sehnsucht  nach 
dem  Unvergänglichen  und  Wesenhaften  erfüllt  den  höher  gearteten 
Menschen  ^^).  Philosoph  im  gesättigten  Sinne  des  Wortes  ist  der,  der 
inmitten  des  lärmenden  Lebens  und  unter  blühenden  Sommerblumen 
das  Haupt  erhebt  und  fragt:  Wer  bin  ich  und  was  soll  ich?  Wozu 
ist  das  alles  und  was  meint  es?  Im  Endlichen  das  Unendliche,  im 
Nächsten  das  Entfernteste,  im  Flüchtigen  das  Unverlierbare  zu  suchen 
ist  Philosophenart.  Unter  der  Betrachtung  sub  specie  aetemi  verstehe 
man  nicht  einen  gelegentlich  auftauchenden  Gesichtspunkt,  sondern 
eine  Lebensform,  eine  ununterbrochene  Bemühung  um  höchste  Werte, 
eine  fortgesetzte  Bewegung  zum  Zeitlosen  hin;  man  b^[reife,  daß  sie 
vom  Metaphysiker  als  der  Kern  und  Rechtsgrund  seines  Daseins 
empfunden  wird.  Der  philosophierende  Mensch  lebt  sein  Ich  an  der 
ganzen  Welt  aus,  vielmehr  an  den  letzten  Gründen,  auf  denen  die 
Gesamtheit  der  Erfahrung  beruht  Das  Gefühl  der  Totalität,  das  auf 
diesem  Wege  sich  einstellt,  ist  dahin  mißdeutet  worden,  als  bestfinde 
Weltanschauung  in  einer  Zusammenfassung  wissenschaftlicher  All- 
gemeinerkenntnisse. Richtiger  führt  man  jenes  Gefühl  und  überhaupt 
die  Eigentümlichkeit  der  Metaphysik  auf  das  hierbei  angewandte  Ver- 
fahren zurück,  »die  überall  in  der  Form  fortlaufender  Entwickelungs- 
reihen  uns  gegebenen  Tatsachen  über  die  in  der  Erfahrung  sich  dar- 
bietenden Endpunkte  dieser  Entwickelungen  hinaus  zu  ergänzen«. 
(Wundt)  Da  nämlich  das  Absolute  nicht  durch  Verknüpfung  des 
Relativen  gewonnen  werden  kann,  so  wird  es  in  der  Verlängerung 
dieses  oder  jenes  Relativen  gesucht.  So  ist  beispielsweise  das  Ich 
immer  als  ein  bedingtes  Etwas  gegeben,  als  Glied  eines  Verhältnisses^ 
zu  dem  die  Außenwelt  das  Gegenglied  bildet;  aber  in  der  Metaphysik 
kann  es  zu  einem  Unbedingten  ausgedehnt  werden,  in  das  die  ganze 
Welt  einzugehen  scheint  Umgekehrt  kann  auch  die  gegenständliche 
Natur  über  das  erfahrungsmäßig  gegebene  Maß  so  wachsen,  daß  sie 
als  metaphysisches  Prinzip  alle  Zuständlichkeit  in  sich  aufnimmt,  die 
doch  für  das  Erieben  den  unvertilglichen  Widerspruch  zur  Außenwelt 
bildet.  Der  Materialismus  verallgemeinert  das  Körperliche,  der  Spiri- 
tualismus das  Geistige  Wegen  der  Mehrheit  solcher  Ausgangspunkte 
und  der  Vieldeutigkeit  dieser  Entwickelungsreihen,  von  denen  in  einer 
Weltanschauung  doch  nur  die  eine  oder  andere  ins  Unendliche  geffihrt 
werden  kann,  ergreifen  wir  nie  die  vollständige  Wahrheit  in  dncr 
endgültigen,  alle  Welt  befriedigenden  Form.  Das  ist  so  unmöglich, 
so  unmenschlich,  daß  man  sagen  darf:  wer  das  Leben  enträtselt  hätten 
der  würde  dadurch  aus  dem  Kreis  der  Lebendigen  ausscheiden.  Er 
wäre  ein  Zauberer,  aber  kein  Denker. 

Diese  Unabschließbarkeit  der  Philosophie  ist  als  Mangd  bddagt 


DIE  SITTLICHE  FUNKTION.  459 

worden.  Sie  ist  es  jedoch  nur  unter  zwei  Voraussetzungen,  die  nicht 
ganz  sicher  stehen.  Die  eine  ist  die  Zielvorstellung  einer  letzten 
Formel,  die  alle  Rätsel  lösen  und  alles  Handeln  sicher  bestimmen  soll. 
Hieran  gemessen  müssen  auch  die  höchsten  Leistungen  der  Metaphysik 
als  unzulänglich  erscheinen.  Wer  aber  gibt  uns  ein  Recht  zu  jenem 
Ideal?  Das  Leben  weist  uns  nicht  hierauf,  sondern  auf  eine  unab- 
lässige Bewegung.  Zumal  die  rein  geistigen  Werte  bieten  nichts 
Fertiges  und  Totes.  Religion  und  Metaphysik  heißen  die  beiden 
Formen,  die  persönliche  und  die  sachliche,  in  denen  die  Unvernunft 
der  Erlebnisse  zu  einer  feineren,  immer  neue  Entscheidungen  fordernden 
Paradoxie  emporgehoben  und  eben  hiermit  die  Lebendigkeit  bewahrt 
wird.  —  Unter  einer  zweiten  Voraussetzung  nennt  man  Weltanschau- 
ungen deshalb  bedeutungslos,  weil  sie  über  persönliches  Erleben  oder 
wenigstens  über  typische  Formen  nicht  hinausgelangen.  Hierdurch 
wird  der  Gesichtspunkt  des  gesellschaftlichen  Anwendungsbereiches 
hineingetragen,  der  mit  dem  inneren  Wert  nichts  zu  tun  hat.  Es  ist 
ganz  richtig,  aber  auch  ganz  gleichgültig,  daß  so  und  so  viele  Millionen 
Optimisten,  so  und  so  viele  Millionen  Pessimisten  sind  und  sich  gegen- 
seitig nicht  zu  bekehren  vermögen.  Dahinter  stehen  ja  Milliarden,  die 
überhaupt  ohne  innere  Entscheidung  dahinleben,  wie  der  Augenblick 
es  erfordert.  Metaphysik  hat  mit  Masse  und  Zahl  nichts  zu  schaffen. 
Sie  besitzt  weder  die  Allgemeingültigkeit  der  Erfahrung  noch  die  Über- 
zeugungskraft einer  glücklichen  Hypothese.  Indem  sie  von  gewissen 
großen  Orundtatsachen  ausgeht,  die  in  ihnen  liegende  Entwicklung 
über  die  erfahrbaren  Endpunkte  fortführt  und  so  zu  Prinzipien  gelangt, 
die  als  höchste  und  umfassendste  auftreten,  begibt  sie  sich  über  die 
Grenzen  dessen  hinaus,  was  wir  erfahren  oder  wenigstens  in  wissen- 
schaftlichen Vermutungen  als  vorhanden  nachweisen.  Metaphysik  ist 
Jenseitigkeitsphilosophie.  Daher  kommt  ihr  wahres  Wesen  am  deut- 
lichsten in  den  vieleriei  Arten  des  Idealismus  zum  Vorschein;  der 
Materialismus  gehört  nur  insofern  zur  Metaphysik,  als  er  alle  ihre 
Nachteile  trägt,  ohne  doch  ihre  Vorzüge  zu  besitzen. 

Bei  jener  Überschreitung  des  unmittelbaren  Daseins,  die  wir  Idealis- 
mus nennen,  handelt  es  sich  um  Veriängerung  und  Verabsolutierung 
der  Linie  des  Geistigen;  alsdann  darum,  daß  die  Inhalte  des  Geistigen 
zu  einer  überragenden  Daseinsart  und  Wirkungskraft  gesteigert  werden. 
Das  Geistige  ist  uns  zunächst  als  Individuell-Seelisches  g^eben,  d.  h. 
in  den  Bewußtseinsvorgängen,  die  jeder  in  sich  selbst  findet,  während 
er  dieselben  oder  ähnliche  Vorgänge  bei  anderen  Wesen  vermutet 
Neben  dem  Seelischen  ist  —  zwar  nicht  im  ursprünglichen  Eriebnis, 
das  diese  Scheidung  noch  nicht  kennt,  wohl  aber  für  eine  sehr  früh 
und  allgemein  auftauchende  Theorie  —  ein  Körperiiches  gegeben,  das 


460  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

den  Raum  erfüllt.  Außer  den  Vorstellungen  einerseits,  der  Körperwelt 
anderseits  ist  aber  noch  ein  Drittes  vorhanden,  freilich  nur  für  den 
Menschen.  Der  Mensch  hat  sich  eine  neue  Welt  geschaffen,  die  vom 
Einzelnen  nicht  zu  ändern  ist,  ein  Reich  der  Gesetzmäßigkeit,  das 
zwischen  Außenwelt  und  Ich  gelagert  ist.  Hegel  hat  dieser  Sphäre 
den  Namen  des  objektiven  Geistes  gegeben.  Wir  können  ihn  annehmen 
und  ihn  —  ohne  Röcksicht  auf  Hegels  System  —  dahin  deuten,  daS 
es  sich  um  Geist  handelt  gleich  dem  in  uns  lebenden,  der  jedoch 
zur  Höhe  und  Festigkeit  der  Objektivität  gelangt  ist  Ein  mathe- 
matischer Lehrsatz  oder  ein  Rechtsgrundsatz  sind  offenbar  nichts 
Körperliches,  sondern  etwas  Geistiges,  aber  von  jener  besonderen 
Gültigkeit,  die  sie  vom  Phantasiespiel  und  sogar  vom  wirklichen  Be- 
wußtseinsinhalt unterscheidet.  Ich  sinne  keinem  Leser  an,  allen  den 
Kreuz-  und  Querzügen  meines  augenblicklichen  Vorstellens  zu  folgen, 
allen  den  flöchtigen  Sinnesempfindungen  und  Gefühlen,  den  närrischen 
Assoziationen  und  unbrauchbaren  Einfällen,  die  sich  in  meinem  Kopfe 
jagen  —  das  wahrhaft  Gedachte  indessen,  das  nun  im  Drucke  vor- 
liegt, bedeutet  auch  für  andere  etwas,  obgleich  es  nicht  wie  ein  Feder- 
halter von  tausend  Händen  getastet  werden  kann.  Ein  solcher  Gedanke 
führt  ein  ganz  eigentümliches  Leben:  er  ist  unräumlich  und  an  keinen 
Ort  gebunden,  glaubst  du  aber,  er  sei  deshalb  bloß  ein  Hirngespinst, 
so  überzeugst  du  dich  bald,  wie  gewaltig  er  wirken  kann.  Sein  Dasein 
beschränkt  sich  auf  individuelle  Seelentätigkeiten  und  erschöpft  sich 
anderseits  niemals  darin;  sein  sachliches  Recht  bleibt  unberührt  von 
der  mehr  oder  minder  zutreffenden  Repräsentation  im  Einzelbewußtsein. 
Die  Tatsache  des  objektiven  Geistes,  die  Existenz  von  Gebilden, 
in  denen  seelische  Inhalte  eine  feste  und  überragende  Form  gefunden 
haben,  dies  ist  nun  das  Gegebene,  als  dessen  metaphysische  Fort- 
setzung der  Idealismus  betrachtet  werden  kann.  Denn  er  lehrt,  daß 
solche  geistigen  Werte  den  wahrhaften  Sinn  des  menschlichen  Lebens 
ausmachen  und  den  Grundplan  des  Seins  bedeuten.  Plato  erklärte 
die  geistigen  Inhalte  vorbildlicher  Gültigkeit  nicht  nur  für  vorhanden» 
sondern  als  von  der  dauerndsten  und  reinsten  Existenz.  Er  nannte 
sie  Ideen.  Er  machte  demnach  das  im  Lauf  der  menschheitlichen 
Entwickelung  allmählich  Entstandene  zum  Prius,  das  auf  Grund  der 
Tatsachen  Hinzugefügte  zum  Gesetz,  dem  die  Tatsachen  gehorchen, 
den  in  der  Kultur  groß  gewordenen  objektiven  Geist  zu  einer  not- 
wendigen und  ewigen  Weltordnung.  In  Hegels  System  gleicht  die 
Vernunft  dem  Feuer,  das  im  Innern  der  Erde  herrschen  soll  und  aus 
dem  durch  irgend  welche  Vorgänge  die  Erdoberfläche  mit  all  ihrer 
Mannigfaltigkeit  hervorgegangen  sein  mag.  Für  unsere  zaghaftere 
Gegenwart  ist  die  Vernunft  nur  der  Himmel,  der  sich  über  der  Erde 


DIE  SITTLICHE  FUNKTION.  461 

spannt;  kein  Ursprung,  sondern  ein  Abschluß,  keine  Weltkraft,  sondern 
etwas  Subjektiv-Objektives.  Was  in  diesem  Himmel  wohnt,  lebt  von 
unserer  Treue  und  bleibt  dennoch  unabhängig  von  unserer  Willkür, 
es  überwölbt  Außenwelt  und  Ich,  ohne  sie  zu  tragen;  es  entsteht  nur 
durch  den  höher  entwickelten  Menschen  und  lehnt  dennoch  spröde 
jede  menschliche  Vertraulichkeit  ab,  die  der  Masse  noch  scheuer  als 
die  des  Einsamen. 

Versuchen  wir  zu  überblicken,  was  eine  solche  idealistische  Meta- 
physik als  letztes  Ziel  der  Sittlichkeit  aufzuzeigen  und  wie  sie  den 
Anteil  der  Kunst  zu  bemessen  vermag.  Der  Mittelpunkt  ihrer  Ethik 
liegt  in  jenem  dritten  Reich.  Ihm  anzugehören,  ein  Kind  Gottes  zu 
werden,  scheint  ihr  ein  sittlicher  Zweck,  der  höher  steht  als  die  Zwecke 
der  persönlichen  Lust  oder  der  allgemeinen  Wohlfahrt.  Das  Reich 
der  absoluten  Werte  ist  die  Heimat  des  Leistungsmenschen.  Der 
Einzelne  und  die  Gesellschaft,  der  Mensch  und  die  Natur  bilden  nicht 
das  Ganze;  mit  der  eigenen  Eudämonie  und  der  Nächstenliebe  ist  die 
Aufgabe  des  Leistungsmenschen  kaum  berührt.  Fortschreitende  Be- 
wältigung der  Natur,  wachsender  Wohlstand  und  dauernder  Friede 
sind  bestenfalls  nur  Vorstufen  zur  Erfüllung  eines  höheren  Berufs. 
Dieser  liegt  in  der  Erschließung  und  Befestigung  einer  neuen  Wirk- 
lichkeit. Rudolf  Eucken,  der  in  unseren  Tagen  am  lebhaftesten  einen 
solchen  Idealismus  verteidigt,  sagt  mit  scharfer  Zuspitzung:  »Ethik, 
Religion  und  Metaphysik  sind  entweder  Zeugnisse  einer  neuen  Welt 
oder  leere  Illusionen.«  Es  spricht  gewiß  sehr  viel  dafür,  ein  Mindest- 
maß solcher  Metaphysik  zuzugeben.  Unbedingt  aber  und  von  jeder- 
mann ist  anzuerkennen,  daß  der  Idealismus  als  heuristischer  Grundsatz 
das  Außerordentlichste  geleistet  hat  und  noch  leistet  Denn  es  bleibt 
eine  Tatsache,  daß  jeder  höhere  Mensch,  selbst  wenn  er  das  Ziel 
leugnet,  einen  Weg  geht,  der  ihm  von  eben  jenem  Ziele  vorgeschrieben 
scheint,  daß  er  nicht  anders  vorwärtsschreiten  kann  und  will,  als  ob 
der  Endpunkt  vorhanden  wäre.  Neben  der  Sozialethik  des  diesseits 
gewendeten  Menschen  steht  die  Ethik  des  jenseits  gerichteten  als  eine 
allgemeine  Aufhöhung  des  geistigen  Lebens.  Auch  in  den  Gipfel- 
menschen wohnt  ein  sehr  tiefes  Mitgefühl  mit  den  Sorgen  und 
Kümmernissen,  die  wir  Kleineren  erdulden.  Allein,  es  gibt  sich  nicht 
in  den  viel  gerühmten  wohltätigen  Unternehmungen  aus.  Dies  Mitleid 
bezieht  sich  weniger  auf  das  Unglück  selbst  als  auf  die  moralischen 
Veränderungen,  die  es  hervorruft,  weniger  auf  veränderiiche  als  auf 
unveränderiiche  Dinge:  vor  allem  auf  das  unendliche  Mißverhältnis 
zwischen  dem  Erstrebten  und  dem  Erreichbaren,  das  durch  höhere 
EntWickelung  nur  noch  gesteigert  wird,  und  auf  die  furchtbare  Klage 
der  Angst,  auf  Hilflosigkeit  und  Hoffnungslosigkeit,  deren  Dasein  auch 


462  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

nur  in  einem  einzigen  Falle  die  Freude  an  der  Welt  dämpfen  muß. 
Über  diese  Abgründe  führt  keine  vom  Optimismus  oder  Pessimismus 
erbaute  Brücke;  sie  schließen  sich  erst,  sobald  der  dritte  Standpunkt 
gewonnen  ist:  das  Leben  zu  bejahen,  weil  es  in  Leid  und  Not 
besteht.  Wer  am  tiefsten  für  die  in  ihm  wohnende  Geistigkeit  lebt, 
der  lebt  am  weitesten  für  die  anderen.  Ein  vollkommenes  Leben  ist 
das  Leben,  das  den  objektiven  Geist  zur  Blüte  gelangen  läßt.  Durch 
die  innere  Wiedergeburt,  durch  den  Eintritt  in  eine  höhere  Ordnung 
wird  der  Mensch  zu  einer  Leistung  befähigt,  die  sein  Dasein  recht- 
fertigt. 

Und  was  vermag  die  Kunst  dieser  sittlichen  Bestimmung  des 
Menschen  zu  leisten?  Sie  zeigt,  daß  Äußeres  und  Inneres,  Irdisches 
und  Göttliches  im  tiefsten  Grunde  zusammenhangen.  Nicht  nur  in 
Bezug  auf  unsere  Auffassung,  sondern  an  sich  ist  Einheit  und  Zweck- 
mäßigkeit des  Kunstwerkes  ein  Zeugnis  für  die  durchdringende  Kraft 
der  Geistigkeit  ^%  Da  jedes  Werk,  um  den  Geist  zu  erreichen,  durch  die 
Tore  sinnlichen  Vergnügens  ziehen  muß,  da  das  Bild  Freude  fürs  Auge, 
die  Musik  Wollust  fürs  Ohr  enthalten  muß,  so  fehlt  nirgends  der 
Erdgeruch  unseres  natürlichen  Seins.  Indessen  das  Sinnenleben  gelangt 
hier  in  eine  höhere  Schicht  hinauf,  es  wird  so  verklärt,  daß  es  den 
der  Läuterung  widerstrebenden  Charakter  einbüßt  Wer  von  den 
Leistungsmenschen  der  Sinnlichkeit  nicht  ledig  wird,  der  verwandelt 
sie  in  die  hilfreiche  Form  der  Kunst.  Eben  hierdurch  vollbringt  die 
Kunst  dasjenige,  worin  Schiller  die  Aufgabe  der  ästhetischen  Erziehung 
erblickte:  sie  führt  die  Sinnlichkeit  und  die  Sittlichkeit  zusammen. 
Indem  das  Leiblich-Seelische  von  allen  niederen  Beisätzen  befreit  wird, 
gewinnt  es  die  Möglichkeit,  sich  mit  dem  unbedingt  Wertvollen  zu 
vermählen.  Das  Doppelwesen  des  Menschen  ist  es,  das  die  Aufgabe 
der  Selbsterziehung  erschwert  Schiller  spricht  von  dem  Gegensatz 
zwischen  Trieb  und  Vernunft  Paulus  sagt:  Der  Geist  ist  willig,  aber 
das  Fleisch  ist  schwach.  Von  Zeit  zu  Zeit  fühlt  auch  der  Eriesenste^ 
wie  er  gleich  Nebukadnezar  auf  allen  Vieren  kriechen  und  das  Gras 
des  Feldes  abweiden  möchte.  Zwischen  diesen  beiden  Seiten  unseres 
Wesens,  der  tierischen  und  der  göttlichen,  scheint  keine  Verständigung 
denkbar.  Dies  aber  ist  die  ungeheure  ethische  Kraft  der  Kunst,  daß 
sie  das  Unmögliche  hier  möglich  macht  Sie  kann  Sinnliches  so  ver- 
geistigen und  Geistiges  so  versinnlichen,  daß  beide  Sphären  anan- 
anderrücken.  Selbst  wenn  der  ersehnte  Friede  nicht  eintritt,  sondern 
ein  blutiger  Kampf  entbrennt,  so  ist  dieser  doch  herbeigeführt  worden, 
weil  die  Gegner  auf  gleicher  Ebene  sich  getroffen  haben.  Was  vorher 
zwei  verschiedenen  Ausmessungen  angehörte,  das  wird  solcherart  auf 
denselben  Raumteil  und  so  in   eine  wirkliche  Verbindung  gebracht 


ANMERKUNGEN.  463 


Die  Kunst  ist  freilich  nicht  im  stände,  sogleich  die  Gegensätze  zwi- 
schen dem  Niederen  und  dem  Höheren  des  menschlichen  Wesens  fort- 
zuwischen.  Es  wäre  schlimm  genug,  wenn  sie  es  täte,  denn  sittlich 
wird  man  nur  durch  Kampf.  Sie  versüßt  nicht  die  Bitterkeiten  des 
Lebens,  wie  das  Schöne  und  ästhetisch  Reizvolle.  Sondern  sie  ermutigt 
zur  Ausübung  aller  Kräfte.    Dank  ihr,  daß  sie  so  Großes  leistet. 

Die  Bedürfnisse  der  gattungsmäßigen  Natur  halten  auch  den  Vor- 
nehmen an  der  Erde  fest.  Und  seine  Sendung  ist  die,  in  die  Höhen- 
welt hinaufzusteigen.  Da  kündet  ihm  die  Kunst  ihr  letztes  Wort,  das 
auch  unser  letztes  sei:  Dein  Leben  werde  Läuterung,  transzendentale 
Umwandlung,  Wachstum  einer  höheren  Art  von  Wirklichkeit 

Anmerkungen. 

*)  EHe  wissenschaftliche  Beschreibung  musikalischer  und  poetischer  Werke  nebst 
den  sie  beherrschenden  Voraussetzungen  ist  meiner  Kenntnis  nach  gleichfalls  nicht 
genügend  aufgeklärt  Ein  bemerkenswerter  Versuch,  mit  naturwissenschaftlicher 
Genauigkeit  den  Inhalt  einer  Dichtung  und  das  Verfahren  eines  EHchters  zu  zer- 
gliedern, liegt  vor  in  Richard  Heinzeis  »Beschreibung  einer  Isländischen  Saga« 
(Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  1880).  Doch  scheint  mir  das  verwendete 
Schema  untauglich  und  die  durchgängige  Gleichsetzung  dichterischer  mit  wirklicher 
Betrachtung  unzulässig,  etwa  in  diesem  Beispiel:  »Wenn  zwei  Vorgänge  bei  zwei 
räumlich  getrennten  Personen  zur  Darstellung  kommen,  kann  der  Autor  wie  ein 
Zuschauer  des  wirklichen  Lebens  nur  die  eine  Person  beobachten;  was  mit  der 
anderen  inzwischen  vorgeht,  bleibt  undeutlich,  wenn  auch  im  allgemeinen  aus  den 
Folgen  erkennbar«  (S.  195,  vgl.  S.  143).  —  An  die  Erläuterung  des  einzelnen  Werks 
pflegt  man  eine  Vergleichung  mit  anderen  Werken,  femer  die  Einordnung  in  einen 
Typus  anzuschließen.  Dann  setzt  die  Kritik  ein.  Über  literary  critidsm  in  Amerika 
vgl.  Gh.  M.  Gayley  und  F.  N.  Scott,  An  Introduction  io  the  Method  and  Materials 
of  Literary  Critidsm^  Boston,  1899;  alsdann  auch  den  auf  meine  Veranlassung  hin 
entstandenen  Aufsatz  von  Florence  M.  Sylvester  in  der  Zeitschrift  für  deutschen 
Unterricht,  1903,  XVII,  745-766. 

*)  Vgl.  femer  in  Heinses  S.  W.,  herausg.  von  H.  Laube  1837,  II,  6—17,  58  ff., 
176  ff.;  VIII,  170—199,  225—250.  Charakteristisch  die  Stelle  über  die  Coeur-Dame 
in  Lichtenbergs  Ideen,  Maximen  und  Einfällen,  herausg.  von  G.  Jördens,  1827, 
S.  106. 

»)  J.  Minor,  F.  Schlegels  Jugendschriften  II,  231,  Nr.  177.  Weitere  Angaben, 
besonders  über  Brentano,  bei  Alfred  Kerr,  Godwi,  ein  Kapitel  deutscher  Romantik, 
1896,  S.  19  ff. 

^)  W.  Schlegel,  Die  Gemälde  (Aus  dem  Athenaeum  II);  siehe  Charakteristiken 
und  Kritiken  1828,  II,  151;  vgl.  II,  199. 

*)  Darüber  Gutes  in  H.  v.  Tschudis  Aufsatz  über  ein  Bild  des  Jan  van  Eyck. 
(Jahrb.  der  kgl.  Preuß.  Kunstsammlungen  1889,  X,  155  ff.)  »Das  Nächste  wie  das 
Femste  erfaßt  es  (das  Auge  Eycks)  mit  der  gleichen  Schärfe  und  Sicherheit  Tmnken 
von  dem  Reichtum  der  Erscheinungen  kennt  es  kein  höheres  Glück  als  die  Buch- 
staben der  Natur  nachzubuchstabieren.«     (S.  159.) 

«)  Justi,  Winckelmann  1872,  1, 1,  S.  45  f.  Übrigens  sagt  schon  Anselm  Feuerbach 
(Der  Vaticanische  Apollo,  1833,  S.  295):  »Es  hat  nicht  an  Männern  gefehlt,  welche 


464  VI.  DIE  FUNKTION  DER  KUNST. 

diese  Seite  Winckelmanns  mit  minder  günstigem  Auge  betrachteten.  Und  freihdi 
haben  die  begeisterten  Beschreibungen  desselben  eine  Menge  enthusiastischer  Schil- 
derungen veranlaßt,  welche  oft  nur  freien  musikalischen  Phantasien  über  ein  will- 
kürlich aufgegriffenes  Thema  gleichen.« 

^)  W.  Morris,  Kunsthoffnungen  und  Kunstsorgen.  Bd.  I:  Die  niederen  Künste; 
II:  Die  Kunst  des  Volkes.    Deutsch,  1891. 

^)  Dieser  Gegensatz  der  Auffassungen  durchzieht  die  Psychognosis  der  Misse 
überhaupt.  Sehr  lehrreich  ist  Bismarcks  Schilderung  des  Parlamentes:  »Die  Lerne 
sind,  einzeln  betrachtet,  zum  Teil  recht  gescheit,  meist  unterrichtet,  regelrechte 
deutsche  Universitätsbildung,  aber  von  der  Politik,  über  die  Kirchturminteressen 
hinaus,  wissen  sie  so  wenig  wie  wir  als  Studenten  wußten,  ja  noch  weniger,  in 
auswärtiger  Politik  sind  sie  auch  einzeln  genommen  Kinder;  in  allen  übrigen  Fragen 
aber,  sobald  sie  in  corpore  zusammentreten,  massenweis  dumm,  einzeln  verständig.« 
Bismarckbriefe,  herausg.  von  H.  Kohl,  6.  Aufl.,  1897,  S.  269. 

^)  ^Jusqu^au  XV^  sihle  Vartiste  pouvait  ein  lui-mime  un  poHe  ou  an  phäosophe, 
mais  comme  artiste  il  vivait  dans  une  sorte  de  sanduaire^  il  appartenaä  ä  tau  com- 
fririe  qui  avait  ses  secrets  et  formait  un  monde  ä  pari;  il  recevait  par  initiation  les 
traditions  de  ses  devanciers,  et  en  peignant  il  ne  reconnaissait  pour  Juges  que  ses 
maitres  et  ses  pairs  . . .  Dbs  la  renaissance,  la  rSftexion  et  le  raisonnement  avaied 
envahi  les  artistes  eux-memes,  et  depuis  un  stiele  surtout,  la  presse,  les  gouvenu- 
ments,  la  dissimination  de  la  pensie,  la  perfeäion  aussi  des  cheß-tPoeuvre  sortis  dt 
la  main  des  maitres  ont  largement  riussi  ä  tirer  la  peintare  de  sott  sartetuaire  paar 
la  placer  au  grand  jour  de  la  publicum . . .  Helasl  taut  ce  patrortage  ptibiie  ei  tauu 
cette  popularisatioiiy  ou  nous  mettons  pr^isiment  nos  espirattces  et  dottt  ttotts  attea- 
dons  pour  lui  un  futur  äge  d^or  plus  glorieux  que  ceux  du  passi,  sotit  loitt  de  nCap- 
paraitre  sous  des  couleurs  aussi  flatteuses.  Le  fait  certain,  dest  qtie  Part,  en  den- 
nant  un  fonäionnaire  de  P£tat,  est  tombe  sous  Pempire  da  droit  eontman,  et  que  U 
Corporation  autrefois  souveraine  a  perdu  de  plus  en  plus,  non-setilement  son  räle 
d^initiatrice,  mais  encore  son  indipendance,^  J.  Milsand,  Uesthitiqtu  angiaise»  ttede 
sur  M.  John  Ruskin,    Paris  1864,  S.  VIIlV/II. 

*<>)  Allgemeine  Theorie  der  schönen  Künste.    2.  Aufl.,  1779. 

^*)  Hermann  Reich,  Der  Mimus.  Ein  literar-entwickelungsgeschichtlicher  Ver- 
such.   I,  1903. 

i<)  Vgl.  Theodor  Birt,  Laienurteil  über  bildende  Kunst  bei  den  Alten.  Marbuiger 
Rektoratsrede  1903. 

^')  Die  1901  veröffentlichten  Lehrpläne  für  den  Zeichenunterricht  an  höheren 
Lehranstalten  beginnen  mit  den  Sätzen:  »Lehraufgabe  des  verbindlichen  Zeichnens 
ist  die  Ausbildung  im  Sehen  von  Formen  und  Farben  und  im  Darstellen  tmhxber 
Gegenstände.  In  dem  nicht  verbindlichen  Unterricht  in  den  oberen  Klassen  von 
U.  II.  an  erfolgt  die  weitere  Entwickelung  des  Formen-  und  Fart>ensinnes  dnrdi 
Wiedergabe  von  schwieriger  darzustellenden  Natur-  und  Kunstformen.«  Mechi- 
nisches  Kopieren  und  Benutzung  solcher  Hilfsmittel  wie  Zirkel  und  Lineal  ist  ver- 
boten. »Im  fakultativen  Unterricht  soll  Skizzieren  und  Zeichnen  aus  dem  Oedädrt- 
nis  geübt  werden,  damit  der  Schüler  lerne,  die  charakteristischen  Eigenschaften  eines 
Gegenstandes  rasch  zu  erfassen  und  in  klaren  Vorstellungen  zu  bewahren.«  Eine 
ministerielle  Verfügung  vom  3.  April  1902  gibt  u.  a.  folgende  Anweisungen.  »Im 
Freihandzeichnen  kommt  es  vor  allem  darauf  an,  daß  die  Sdiüler  selbstindig  bcob* 
achten  und  darstellen  lernen.«  »Vorlegeblätter  sind  ausgeschlossen.«  »Die  Sdmicr 
müssen  praktisch  unterwiesen  werden,  mit  dem  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Faibeih 
material  die  Farben  von  Gegenständen  (Blättern,  Schmetteriingen,  StoHen  a.s.w4 


ANMERKUNGEN.  465 


zu  treffen.«  »Beim  Zeichnen  und  Malen  nach  körperlichen  Gegenständen  sind  die 
perspektivischen  Beleuchtungs-  und  Farbenerscheinungen  . . .  durch  praktische  Übungen 
im  Beobachten  bestimmter  Gegenstände  den  Schülern  zum  Bewußtsein  zu  bringen.« 
Nebenbei  bemerkt:  der  Ausdruck  »perspektivische  Farbenerscheinungen«  ist  wohl 
nicht  sonderlich  glücklich  gewählt 

^*)  Sören  Kierkegaard  bespricht  in  seinem  Buch  »Entweder  —  oder«  (deutsch 
1885,  I,  147),  »weshalb  man  sich  immer  gescheut  hat,  Christi  Leben  eine  Tragödie 
zu  nennen:  man  fühlte,  daß  hier  ästhetische  Eindrücke  die  Sache  nicht  erschöpfen.« 

")  »Keiner  von  den  Göttern  philosophiert  oder  strebt  weise  zu  werden  —  denn 
er  ist  es;  so  wenig  wie  ein  anderer,  wenn  er  weise  ist,  philosophiert  Aber  auch 
die  Bildungslosen  philosophieren  nicht  oder  streben  weise  zu  werden.«  Plato,  Gast- 
mahl, 203/4. 

")  »Wir  machen  mit  unseren  rein  ästhetischen  Urteilen  Ansprüche  an  eine  eigene 
Gesetzgebung  im  Wesen  der  Dinge,  und  wenn  wir  diese  im  einzelnen  nicht  nach 
bestimmten  Begriffen  mit  objektiver  Gültigkeit  auszusprechen  vermögen,  so  setzen 
wir  den  Grund  dieser  nur  subjektiven  Bedeutung  des  Schönen  und  Erhabenen  nicht 
dahinein,  daß  die  Gesetze  der  Schönheit  und  Erhabenheit  selbst  keine  objektive 
Realität  hätten,  sondern  nur  in  unser  subjektives  Unvermögen,  ihre  objektive  Be- 
deutung anders  als  ästhetisch  anzuerkennen.  Wir  finden  in  der  Tat  auch  die  Welt 
dieser  Gesetzgebung  unterworfen.  Denn  Leben  und  Schönheit  erscheinen  uns  an 
den  Formen  des  Organisierten  ...  Wir  glauben  an  die  ewige  Wahrheit  der  Schön- 
heit, wir  glauben,  daß  die  Ideen  der  ewigen  Schönheit  die  urschöpferischen  Bildner 
des  Weltalls  seien.«  Ernst  Friedrich  Apelt,  Metaphysik,  1857,  S.  684/5.  —  Ich  brauche 
dem  Leser,  der  mir  bis  hierher  gefolgt  ist,  kaum  zu  sagen,  daß  ich  nicht  mit  jedem 
Wort  der  angezogenen  Stelle  einverstanden  bin. 


Dessoir,  Ästhetik  und  allg.  Kunstwissenschaft.  30 


Sachverzeichnis. 


Aberglaube  bei  den  Naturvölkern,  als 
Faktor  in  der  Entstehung  der  Kunst 
283.  289.  295.  298.  300/1.  302.  A., 
Märchen  und  Komik  223. 

Allegorie  40.  58,  Anm.  2.  184.  193, 
Anm.  11.  360.  380. 

Anschaulichkeit  Anschauliche  Er- 
kenntnis 25/6.  Intellektuelle  Anschau- 
ung 43.  Anschauen  und  Erkennen  s. 
Kunst  (geistige  Funktion  der  K.),  be- 
sonders 435  ff.  Anschauliche  Vorstel- 
lung von  Gefühlen  in  der  Einfühlungs- 
theorie 86.  —  Die  Kunst  als  Darstellung 
des  Anschaulichen  72—75.  Unterstüt- 
zung der  A.  durch  Zeichnen  354,  durch 
Illustrationen  435.  Anschauliche  Not- 
wendigkeit im  Kunstwerk  75. 115/^.  117. 
390. 

Die  Anschaulichkeit  der  Sprache  353 
bis  368.  Die  Frage  der  Reproduktion 
von  Sinnesvorstellungen  als  Bedingung 
der  Anschaulichkeit  92/3.  169—172. 
359  ff.  367/8. 
Anschauungskomik  219/20. 

Anthropomorphismus  83.  85.  87. 
149.  187.    Vgl.  Einfühlung. 

Assoziationen  im  ästhetischen  Ein- 
druck 156.  190  ff.  Bestimmte  und  un- 
bestimmte A.  306,7.  A.-Theorien  22/3. 
54.  84.  190/1. 

A.  beim  Anblick  von  Farbenzusam- 
menstellungen 117/8,  von  Proportionen 
124;  A.  bei  Einfühlung  in  Bewegungen 
149,  in  Kurven  392.  A.  zwischen  Aus- 
drucksbewegungen und  seelischen  Vor- 
gängen 256,  zwischen  Worten  und  den 


beschriebenen  (Ausdrudcs-)Bewegun- 
gen  172.  A.  in  der  Musik  192.  249. 
328.  338. 

Ästhetik.  Begriff  und  Richtungen  der 
Ä.  3  ff.  90.  91.  104  ff.  Spekulative  A. 
11.  13.  16.  19.  30.  39.  50/1.  5^.  61. 
106.  243.  457  ff.  Analytische  und  ex- 
perimentelle Ä.  54/5.  140.  154,5.  157. 
428  ff.  Gesetzgebende  und  besdirei- 
bende  Ä.  24.  28.  94—97. 

Vgl.  Ausdruck,  Form,  Gefühl,  Inhalt, 
Schein,  das  Schöne. 

Augenbewegungen  130/1.  174  ff. 
389. 

Augentäuschungen  12^.  130/1. 

Ausdruck  24  ff.  Die  Schönheit  als  A. 
innerer  Größe,  wertvollen  seelischen 
Lebens  u.  dgl.  16.  21.  30.  420,  Anm.  X 
A.  gesteigert  durch  Häßlichkeit  214. 
A.  in  der  Musik  14/5.  21.  192.  282. 
318.  334  ff.  A.  einer  besonderen  An- 
schaulichkeit in  den  Künsten  73. 

A.-Bedürfnis ,  Mitteilungsdrang  ab 
Faktor  des  Kunstschaffens  231/2.  257. 
299.  442,  bei  den  Primitiven  291.  Mit- 
teilung in  Kunstrede  und  Gespräch  371 
bis  373.  Ausdrucksfähigkeit  der  Sprache 
423—432.  Ausdruckskraft,  Darstellungs- 
fähigkeit und  Suggeriervennögen  365. 
—  A.  von  Vorstellungen  in  den  Zeich- 
nungen der  Kinder  279,  der  Primitiven 
288.  —  Unmöglichkeit  und  Widerstre- 
ben, Seelisches  in  Worten  201  auBem 
259.  335. 
i  Rückwirkung   des   Ausdrucksmittds 

'  auf  die  Vorstellungen  234.  256;7.  343. 
354  ff.  357.  45Z  A.  von  Affekten  in 
der  Einfühlungslehre  188—190. 


SAdIVERZEK  IIMS. 


467 


Die  Eigenart  der  Künste,  begründet 
in  der  Besonderheit  ihrer  A.-Mittel  310. 
Vgl.  Mittel. 

B. 

h.i II k linst  y^  3g().  445.  B.  bei  d*Alem- 
bert  14;  bei  Ruskin  57.  Ideen  in 
i\vT  Architektur  85.  Widerstand  des 
Architektonischen  gegen  die  Einfüh- 
lung' 87.  106  ff.  400;  Möglichkeit  der 
Einfühlung  3Q7.  Verschiebung  der 
(iren/rn  der  H.  mit  der  Wandlung  des 
(jcschniacks  112. 

Rücksicht  auf  das  Material  14ö.  397. 
Ausbildung     der    Technik    des     Bau- 
iiicisttTs   246.     Die    Farbe   in   der    B. 
JW.    Tragik  in  der  B.  210. 
Vgl.  Raumkunst. 

Bcgrenzungslinie  s.  Umrili. 

Bewegung.  Bewegungsrhythmus  und 
Tonrhythmus  I78Q.  B.-Luxus  und  Kraft- 
crspnrnis  200  I. 

Darstellung  der  Bewegung  in  der 
Beschreibung  172.  367,  in  der  Malerei 
A(N  in,  in  der  Musik  3180.  Zusammen- 
h.ing  di-r  B.  mit  der  Musik  312.  Ei. 
durch  die  Kleidung  sichtbar  gemacht 
4<M.  Vgl.  N.ichahmung  (N.- Bewe- 
gungen). 

Bildende  Kunst  s.  Bildkunst,  Nut/- 
kuriNt,  R.iumkunst. 

Bildkunst  380  422.  Anfänge  283  ff. 
2«r,  f>.  2t)s.  MM)  1.  B.  l>eim  Kinde  277  ff. 
r>Ti*  B.  im  System  der  Künste  303 
biN  no  B.,  r>ichtkunst  und  Musik 
W)5.  i67.  Abgrenzung  von  der  Raum- 
kiin<t  J8«) 00.  300  400.  403;  Übergangs- 
tT»;chcinungcn  300. 

Verhältnis  zur  Wirklichkeit  13.  38000. 
H.  .iN  Pi>rdening  der  Anschaulichkeit 
12  7ö.  Tragik  in  Malerei  und  Plastik 
210. 

D.i^.  Vhaffen  des  bildenden  Künst- 
lern 240  250.  besimders  241.  243.  247. 
24'*.  2f)7. 

V^:l.  lue  Intcrarten:  Plastik,  Malerei, 
(jr.iplnk. 

IWihnenkunst  (Theater)  338  340.  347 
htN    )V).     Selbständigkeit  des  Theaters 


gegenüber  der  Dichtung  203.  338.0. 
Bühnenanweisungen  3478.  Inszenie« 
ning  und  Regie  3467. 

Sinn  und  Zweck  der  Bühnenkunst 
348  350.  Kulturbedeutung  des  Thea- 
ters; Th.  und  Kirche  340.  340.  Das 
Theater  in  der  Jugenderziehung  450. 
Gesellschaftliche  Funktion  des  Th.  340. 

Eindruck  des  Bühnenvorganges  157. 
Bühnendrama  und  Lesedrama  372  3. 
Das  Theatergebaude  306.  Die  Not- 
wendigkeit des  erhöhten  Bühnenraums 
401. 

D. 

Dichtkunst  s.  Wortkunst. 

Dilettantismus  441,  in  der  Musik 
33a  1.  in  der  Schauspielkunst  343. 

Doppel-Ich  100  und  104,  Anm.  15;  254 
und  274,  Anm.  7  und  8. 

Drama  372  370.  Der  Begriff  des  Dra- 
matischen 376.  408.  Das  primitive 
Drama  288  203.  Das  griechische 
Drama  45.  Das  D.  im  S>'Stem  der 
Künste  304.  300. 

Spiel  und  Oegenspiel  in  Musik  und 
Drama  324.  Entwickelung  der  Charak- 
tere 261.  Der  Monolog  27374.  Funk- 
tion  der  Sprache  im  Wagnerschen 
Musikdrama  325.  Neigung  zu  epischen 
Erläuterungen  bei  den  Dramatikern 
348.  Tragik  im  D.  210  213.  Vgl. 
Redekunst    Wortkunst. 


Eindruck.  Ästhetischer  E.  und  Zustand 
17.  53.  75  ff.  81.  8000.  lOt.  154  l'M. 
106.  347.  361).  444.  Erster  E.  bei  U'er- 
ken  der  Wortkunst  157.  383.  Ästhe- 
tischer Reflex  156.  166.  100.  Asth. 
Irrsinn  00.  Verhältnis  des  E.  zum 
Ablauf  des  objektiven  Vorganges  1580. 
160.  372. 
Einfühlung  83  80.  156.  158.  206.  306. 
In  der  Geschichte  der  Ästhetik  2).  4a 
,  41.  E.  in  musikalisches  und  poetisches 
Metnim  1334,  in  musikalische  Formen 
334    338,    in    Raumformen    185    100. 


468 


SACHVERZEICHNIS. 


395  ff.  87.  Beseelung  mit  einem  idea- 
len Ich  90;  Erhöhung  des  Ich  187. 
Unterbrechung  der  E.,  Rückkehr  zum 
Ich  258.  Grenzen  der  E.-Möglichkeit 
149/50.  396/7.  E.  des  Dichters  in  ge- 
gebene Individualitäten  253. 
Vgl.  Metapher.  Nachahmung. 

Einheit  und  Mannigfaltigkeit  9. 13. 
23.  26/7.  31.  32.  35.  70/1.  113.  141.  161. 
182.  284. 

Epos  379—383.  E.  der  Naturvölker  284. 
288/9.  E.  im  System  der  Künste  304. 
Geschichte  und  Epik  438/9.  Entwicke- 
lung  der  Charaktere  261.  Roman  210. 
380—383.  Novelle  380.  —  Vgl.  Wort- 
kunst. 

Erhabene,  das  16.  19/20.  31.  49.  195/6. 
204  ff.  216.  —  Das  Abnorme,  Außer- 
ordentliche 259/^60. 

Erinnerung.  Mangel  an  Anschaulich- 
keit in  der  E.  353,  ihre  Unterstützung 
in  der  Beschreibung  von  Kunstwerken 
430.  Gedächtnisvorstellungen  der  Kin- 
der 278.  Gedächtnisschärfe  des  bilden- 
den Künstlers  247;  Eigenart  der  Er- 
innerungsbilder des  Künstlers  237/8. 
247,8.  Erinnerung  der  Künstler  an 
frühe  Lebensalter  250—255. 

Gedächtnistechnischer  Wert  des  Wort- 
rhythmus 181.  304.  Erinnerung  und 
Assoziation  als  Prinzip  der  Ästhetik 
22/23.  Persönliche  E.  im  ästhetischen 
Eindruck  159/60. 

Essentialismus  66  ff .  Vgl.  Idealismus. 

F. 

Farbe.  Farbenharmonie  117—121.410/1. 
Farbe  und  Licht  in  der  Malerei  409 
bis  411.  F.  in  Malerei  und  Zeichen- 
kunst 317,  in  der  Plastik  401/2,  in  Bau- 
kunst und  Innenausstattung  399.  F.  in 
den  Kinderzeichnungen  281/2.— Farben- 
hören der  Kinder  277. 

Form.  Formalistische  Ästhetik  51  ff. 
70/1.  93/4.  141.  183.  —  F.  der  Dinge 
=  Vollkommenheit  (Baumgarten)  26. 
Reine  F.  (Kant)  33.  Innere  F.,  Ge- 
samtbild des  Kunstwerks  238.  For- 
mende Kraft,  Entelechie  11.  395. 


Die  natüriichen  Urformen  der  Nntz- 
kunst  395.  —  Formlosig^keit  des  erilab^ 
nen  Gegenstandes  206.  Formlosigkeh 
in  der  romantischen  Dichtkunst  412. 
Freie  F.  und  Formlosigkeit  in  Musik 
und  Redekunst  322^3. 

Vgl.  Gehalt 
Funktionslust  (Beschaftigungsbedärf- 
nis,  Freude  an  seelischer  Tätigkeit,  Er- 
höhung des  Lebensgefühls)  13.  19.  32. 
56.  76.  85/6. 113.  115.  157—159.  163  ff. 
165.  167.  186.  208.  221.  Beim  Kinde 
277,  überscfaiissige  Kraft  282.  Daseins- 
empfindung  30.  —  Freude  am  Geiiusdi 
329/30. 

O. 

Gartenkunst  111/2. 

Gedächtnis  s.  Erinnerung. 

Gefühl  26.  28.  53.  55.  82/3.  165.  187. 
Harmoniegefuhle  s.  Harmonie.  Pro- 
portionsgefQhle  s.  Proportion.  Kom- 
plikationsgefuhle  162.  181/2.  Scfaein- 
gefühle  s. Schein.  Aktivitatsgefüfall59, 
s.  Funktionslust  —  Intensität  des  G^ 
fühls  159.  261.  387.  Vorgestellte  niid 
wirkliche  Gefühle  86.  359. 
Vgl.  Einfühlung.    Eindruck. 

Gehalt  Verborgener  Inhalt»  Idee,  idealer 
G.  55/^.  66  ff.  Der  Phantasicscfaein 
als  idealer  G.  der  Dichtung  358.  Ge- 
halt, Stoff  und  Form  34—37.  45.  86l 
Verhältnis  von  O.  und  Stoff  als  Ein- 
teilungsgnind  der  Künste  307. 

Genie  s.  Künstlerisches  Schaffen. 

Gesang  290 ff.  304. 315. 316. 326. 36970. 

Geschlechtstrieb  3/4.  —  Zusanuncn- 
hang  des  Sinnes  für  das  Sdiöne  nm 
der  Gesdilechtsliebe  16. 203^  der  Schön- 
heit der  menschlidien  Ocstah  mit  der 
Gattungserhaltung  201,  des  kmnde- 
rischen  Schaffens  mit  gesddecfafficlier 
Erregung  231 ,  der  Entstehung  der 
Kunst  mit  Beweibungsvoigingcn  2B1 
297—299. 

Geschmack  17/8.  25.  3a  34.  9a  99l 
100.  114.  229. 

Gewohnheit  54.  lia  lia  122.  191. 

Gleichgewichtsempfindnngen  m 


SACHVERZEICHNIS. 


469 


musikalischen  Eindruck  318.  Gleich- 
gewicht =  Isodynamie  123.  174—176. 
185. 

Goldener  Schnitt  124  ff.  176/7. 

Graphik  414—420.  Der  Umriß  115. 119. 
128—131.276.415/6.367.  Ursprung  der 
Umrißzeichnung  295.  Grenze  zwischen 
Graphik  und  Malerei  415.  417/8.  422, 
Anm.  19.  Zusammenhang  mit  der 
Schrift  s.  Schrift.  Verhältnis  zur  Poesie 
367.  415. 

Illustration;  selbständige  Ausgestal- 
tung der  dichterischen  Vortage  329. 
416.  Entwicklung  der  Technik  des 
Zeichners  246. 

Vgl.  Zeichenkunst.  Bildkunst.  Aus- 
druck.   Photographie. 

Grazie,  Zierlichkeit  203/4.  Anmut  146/7. 
Niedlichkeit  196. 


H. 

Harmonie  als  elementar -ästhetischer 
Begriff  117.  162.  Farbenh.  117  ff.  173. 
410.  Klangh.  173.  294.  319  ff.  H.  zwi- 
schen Ich  und  Gegenstand  84.  H.  als 
Hauptmerkmal  der  Schönheit  196.  198. 
H.  im  Menschen  ein  ästhetisch-ethi- 
scher Begriff  36.  43.  207.  211.  260.  264. 
266  f.  453.  462. 

Häßliche,  das  10/11.  26.  28.  65/6.  105. 
163.  196.  199.  213  ff.  320.  404. 

Heraldik  288.  390. 

Humor  224/5.  455.    Vgl.  das  Komisdie. 


L 

Idealisierung  der  Wirklichkeit  75,  in 
der  Dichtkunst  35/6.  366/7.  Direkte 
und  indirekte  I.  49/50.  404;  vgl.  373. 
Idealisierende  Schauspielkunst  340. 

Vgl.  die  Umformung  der  Wirklich- 
keit in  der  Kunst  unter  »Wirklichkeit« 
und  ;> Kunst«. 

Idealismus.  Plato  9/10.  Plotin  11. 
Romantische  und  spekulative  Ästhetik 
38—51 ,  besonders  39.  40.  42.  43.  44. 
46.  49.  51.  Hartmann  55/6.  —  Ideen 
=  Wirkungsmöglichkeiten  in  der  Ein- 


fuhlungslehre  85.  Das  ideale  Ich  in 
der  Einf. -Lehre  90.  187.  —  Zur  Lehre 
vom  idealen  Gehalt  vgl.  Gehalt  Ideale 
Gegenwart  17,  vgl.  Schein. 

Entwickelung  und  Kritik  der  ver- 
schiedenen Standpunkte  66  ff .  105. 
199/200.  457-463. 

Die  Idee  des  schaffenden  Künstlers 
231 ;  ihre  Veränderiichkeit  233.  Eintei- 
lung der  Künste  nach  ihrem  Verhältnis 
zwischen  Ideengehalt  und  Stoff  307. 
Veranschaulichung  von  Ideen  in  der 
Baukunst  85.  396,  in  der  Reliefplastik 
400,  in  Zeichnungen  431,  in  Kinder- 
zeichnungen 278.  —  Vgl.  Rationalis- 
mus.   Intellektuelles  Moment 

Das  Ideal  in  Wissenschaft  und  Techne 
96;  in  der  griechischen  Plastik  29. 

Illusionismus  71,  s.  Schein. 

Illusionsästhetik  (Lehre  von  der  be- 
wußten Selbsttäuschung)  80.  Vgl. 
Schein. 

Impressionismus  120.  411. 

Individualität  Die  künstlerische  L 
23.  66.  241—243.  254.  267.  269  ff.  368. 
Verständnis  des  Künstlers  für  I.  259  ff. 
375  ff.  Individueller  Faktor  im  ästhe- 
tischen Eindruck  159/60.  192.  219. 
Typus  und  I.  199. 

Inhalt  I.-Ästhetik  24.  93/4.  147.  Die 
Inhaltsgefühle  157.  183-193.  383. 

I.   der  Lyrik  3867,    der  primitiven 
Lyrik  292,  des  Romans  382,  der  Dicht- 
kunst 12.  450,  der  Bühnenkunst  446 J, 
der  Malerei  411 — 414. 
Vgl.  Gehalt 

Inspiration  42  ff.  235.  Vorbereitung 
und  Eingebung  des  Augenblicks  232  ff. 
236.  343. 

Intellektuelles  Moment  im  zusam- 
mengesetzten Kunstwerk  69/70,  in  kon- 
trapunktischen Durchführungen  324; 
int  Verständnis  als  Erfordernis  für  den 
Musikgenuß  333  4.  Int  Vorgänge  beim 
Eindruck  der  Harmonie  319.  Das  int 
Moment  in  den  Zeichnungen  der  Pri- 
mitiven 2878;  bei  den  Umwälzungen 
in  den  bildenden  Künsten  288.  — 
Gegensatz  zwischen  Intellektuellem  und 
Ästhetischem  109 10.  276.  278. 


470 


SACHVERZEICHNIS. 


Intellektuelle  Gefühle  157.  383. 

Vgl.  Rationalismus.    Idealismus. 
Interesse  167.  23.  34.  57.  76. 110.  201. 
Isodynamie  s.  Gleichgewicht 

K. 

Kallikratie  105  ff.  204.  441. 

Karikatur  62.  2234.  455. 

Katharsis  12.  207  f. 

Keramik  287.  395.  402. 

Kind  10.  23. 122. 190.  208.  2212.  250 ff. 
269.  276,7.  299  f.  454.  K.  und  Künstler 
82.  250  ff.  299,300.  333.  K.  und  Kunst 
34.  115.  118.  133.  136.  139.  276  ff .  295. 
299.  305.  451. 

Kirchliche  Kunst  1478.  411.  457.  — 
Die  Architektur  der  Kirche  398. 

Klangfarbe  137.  153,  Anm.  15.  157. 
316  ff.  322. 

Kleidung  393/4.  404.  440. 

Komische,  das  92.  195.6.  204.  212. 
215  ff. 

Komödie  41.  166.  376. 

Kunst,  Anfänge  der.  Das  Kind  und  die 
Kunst  276-282.  251.  449-452.  453,4. 
Der  Naturmensch  und  die  Kunst  282 
bis  294.  Vgl.  die  einzelnen  Künste 
über  ihre  Entstehung  und  ihre  primi- 
tiven Formen.  —  Desgl.  über  ihre  Stel- 
lung im  System  der  Künste;  sonst  14. 
15.  243.  302—310. 

Die  Umformung  der  Wirklichkeit  in 
der  Kunst,  Stellung  des  Künstlers  zur 
Wirklichkeit  60—75.  237  8.  240 1.  250  ff. 
(252.  255.)  3667.  436  ff.  Vgl.  insbe- 
sondere Wirklichkeit.    Mittel. 

Biologische  Begründung  der  Kunst 
167.  299.  Theorie  und  Geschichte  der 
Künste  6. 117.  —  Kunst  =  Techne  94  ff. 
K.  und  Mathematik  39  40. 

Kunstbetrachtung  und  Kunstkritik  7, 
58,  Anm.  2.  193,  Anm.  11. 

Geistige  Funktion  der  K.;  Kunst  und 
Wissenschaft,  das  Ästhetische  und  das 
Logische,  Anschauen  und  Erkennen 
12  3.  14.  25.  28a  30.1.  32.  43.  50.  68 
bis  70.  82.  95,6.  109  10.  111.  198,/9.  200. 
202.  238.  2401.  244.  382.  423—439.  449. 
Gesellschaftliche  Funktion  der  Kunst 


K.-Ausdehnung  112.  113  4.  439-451 
Vgl.  auch  282 — 294,  femer  die  einzel- 
nen Künste.  Einsamkeit  des  Kfinstiers 
2678.  4434,  des  Genießenden  3334. 
Kunsterziehung  des  Volkes  445—4«, 
der  Jugend  449—452.  4534.  StaatUdK 
Maßnahmen  11.  273.  4478.  4334. 
Volkskunst  und  Massenkunst  45.  Ken- 
nerkunst  (l'art  pour  Vati)  Oa  lia  444. 
453. 

SitÜiche  Funktion  der  K.  910.  11 
16. 17.  323.  40.  43.  198.  268.9.  452  bis 
463.    K.  und  Religion  s.  Religion. 

Die  Kunst,  das  Ästhetische  und  das 
Schöne  s.  das  Schöne. 
Kunstgewerbe  s.  Nutzkunst 
Künstlerisches  Schaffen;  Genie: 
Phantasie  11.  23.  27.  35.  40  ff .  sa  66l 
74.  81/2.  22g— 275.  Selbsizeugnisse 
von  Künstlern  7.  36.  44/5.  2323.  2445. 
249/5a  251. 266--26a  Oewissenhaiti^ 
keit  des  Künstlers  s.  WahrhaftigkeiL 
Lust  am  Anderssein  s.  Mimik.  Origi- 
nalität 244.  270. 

Der  reproduzierende  Kfinstier  24L 
245.  246.  338. 


Leistungsmensch  237. 263—266. 4612. 

Lyrik  383  ff.  Hypothese  über  den  Ur- 
sprung der  Poesie  298.  Vorfonncn 
der  L  288-2g3.  —  Die  L  Im  System 
der  Künste  304.  Romanze  und  BaDade 
145.  -  Der  Lyriker  als  Naturalist  64. 
Verhältnis  des  Oedidites  zur  Mnsik 
(das  komponierte  Lied)  1394a  326l 
344.  387.  Wirkung  des  Gedichtes  ifan- 
lich  der  Wirkung  der  Musik  172.  387. 
Rhythmus  und  Metrum  131  ff.  Wie- 
derholung 289. 

M. 

Malerei  405-414.  Vontufen  2878l 
M.  als  Flächendekoration  3Q0L  392.  Be- 
schränktheit der  Mittel  28a  Orenae 
zwischen  M.  und  QrapMk  415^  422, 
Anm.  19.  4178.  Die  M.  hl  der  Ge- 
schichte der  Ästhetik  47.  4445.  —  Der 


SACHVERZEICHNIS. 


471 


Begriff   des  Malerischen  87.  —  Vgl. 
Farbe. 

Das  Schaffen  des  Malers  239/40.  240 
bis  250,  besonders  241.  247.  248.  257. 
Seine  Technik  119/20.  246.  Technik 
der  älteren  M.  406.  422,  Anm.  12. 
Punktmanier  (Impressionismus)  120. 
411. 

Die  Unterarten  der  M.  411  ff.    Das 
religiöse  Bild  s.  auch  147^8.    Das  For- 
mat  des    Bildes    143.  —  Verbreitung 
von  Reproduktionen  445  6. 
Vgl.  Bildkunst 

Märchen  41.  223.  225.  277.  381. 

Material.  Abhängigkeit  der  Formgebung 
von  der  Beschaffenheit  des  Materials 
(Echtheit  des  M.)  122.  146.  150.  286/7. 
392/3.  Abhängigkeit  der  Kunstleistung 
von  der  Vollkommenheit  des  M.  99. 
Einteilung  der  Künste  nach  materiellen 
Rücksichten  304.  —  Vgl.  Mittel.  Technik. 

Melodie  22.  115.  249.  294.  314.  320. 
324/5. 

Melodrama  308. 

Metapher.  Die  M.  im  Wesen  der 
Sprache  wurzelnd  3623.  368.  Würdi- 
gung in  der  Geschichte  der  Ästhetik 
19.  40.  —  Die  M.  in  der  Sprache  des 
Kindes  276.  Unmittelbare  Gefühlswir- 
kung 360. 

Die  Armut  der  Sprache,  Notwendig- 
keit der  M.  87/8.  Untersuchung  der 
ästhetischen  Fachausdrücke  116.  Die 
M.  in  der  Beschreibung  der  Einfüh- 
lungsprozesse 186.7.  Die  Unbestimmt- 
heit der  metaphorischen  Benennungen 
und  die  Bestimmtheit  der  objektiven 
Gebilde  in  der  Raumkunst  185  ff.,  in 
der  Tonkunst  335  ff. 

Vgl.  Einfühlung.  Sprache.  Wort- 
kunst. 

Metrum  131.  133  ff.  290. 

Mimesis  s.  Nachahmung. 

Mimik  (Schauspielkunst)  340—347.  Ge- 
bärden- und  Sprachmimik  340—342. 
Tempo  der  Rede  180.  M.  bei  den 
Primitiven  288— 293.  300— 302.  M.  und 
Bühnenkunst  im  System  der  Künste 
303—310. 
Die  Einfühlung  als  Erklärungsprinzip 


der  Schauspielkunst  41.  Die  Lust  am 
Anderssein  41.  252.  342/3.  Inneriiche 
Ergriffenheit  des  Künstlers  als  Folge 
richtigen  Spiels  256^7.  343. 

Kindheit  des  Schauspielers  300.  An- 
lage zur  Schauspielkunst  241.  Schau- 
spieler und  Musiker  246.  Soziale  Miß- 
achtung des  Schauspielerstandes  345. 
Mittel,  künstlerisches  (Stoff,  Material). 
Die  Besonderheit  und  Beschränktheit 
der  künstlerischen  Mittel  bezeichnet 
die  Besonderheit  der  einzelnen  Künste, 
bedeutet  Förderung  und  Bedingung 
einer  künstlerischen  Leistung  21.  24. 

73.  110.  280.  310.  335.  420.  Fehlen 
dieses  Zwanges  in  der  Gartenkunst 
111/2,  bei  Eisenkonstruktionen  2067. 
398. 

Vgl.  Material.    Technik. 
Modell  199.  239/40.  248.  455/6. 
Musik  s.  Tonkunst 
Muskelsinn  123/4.  168.  172.  174.  186. 

N. 

Nachahmung.  Die  Theorie  der  Mi- 
mesis 10.  13.  14,5.  280.  N.-Bedürfnis 
als  Bedingung  der  ursprünglichsten 
Kunsttätigkeit  297.  300;  mimische 
Tänze  291.  Entstehung  des  Rhythmus 
durch  N.  292.  Wirkung  der  N.  auf 
den  nachgeahmten  Gegenstand  (magi- 
sche Femwirkung)  300.  Entwidcelung 
der  Freude  an  der  N.  beim  Kinde 
276—280. 

CHe  N.  der  Wirklichkeit  und  der 
Naturalismus  60—66.  Die  Theorie  der 
N.  nicht  ausreichend  zur  Eridärung 
des  ästhetischen  Wertes  21/2.  24.  36. 
39.  108.  199,  der  Entstehung  der  Kunst 
287,  des  künstlerischen  Schaffens  252, 
der  Schauspielkunst  252.  344,  der  Bau- 
kunst 395.  N.  in  Plastik  und  Orchestik 
306,  Musik  (Tonmalerei)  318/9,  Poesie 
10. 

N.-Bewegungen  und  Muskeleinstel- 
lungen 168.  172.  258.  407.  Innere  N. 
149;  vgl.  Einfühlung. 

Naturalismus  10  ff.  35—39.  43.  60  ff. 

74.  229.  393.    Naturalistischer  Stil  64. 


472 


SACHVERZEICHNIS. 


Nai  Roman  3S2,  nat  Drama  348,  nat. 
Ornament  186.  194,  Anm.  12.  284  ff. 
—  Vgl.  Wirklichkeit    Nachahmung. 

Naturschönheit  3/4.  11  ff.  223.  37. 
43.  44.  61. 105  ff.  108  ff.  116.  142.  204. 
206.    Vgl.  Niedere  Sinne. 

Neuheit  15.  19.  201,  im  Leben  des  Kin- 
des 277.    Vgl.  Originalität. 

Niedere  Sinne  4. 107. 110. 168,9.  Tast- 
sinn 30.    S.  Muskelsinn. 

Niedliche,  das  s.  Grazie. 

Novelle  145.  380.    Vgl.  Epik. 

Nutzkunst  146.  201.  392—394.  N.  bei 
den  Naturvölkern  286/7.  Japanisches 
Kunstgewerbe  283.  Kunsthandwerk 
und  Dekoration  im  System  der  Künste 
307—309.  Grenze  zwischen  Gewerbe 
und  Kunst  112.  Überschätzung  der 
angewandten  Kunst  421,  Anm.  6.  — 
Handarbeit  und  Maschinenarbeit  246. 
440. 
Vgl.  Raumkunst 

Nützlichkeit  s.  Zweckmäßigkeit 

O. 

Organempfindungen  156. 166  ff.  186. 
207.  256. 

Originalität  244.  270. 

Ornament  Urmotive  283  ff.  Die  Mi- 
mik als  Ursprung  des  Ornaments  302. 
303.  Das  O.  im  System  der  Künste 
303  ff.  Naturalistisches  O.  186.  194, 
Anm.  12.  284  ff.  Das  O.  im  Schul- 
unterricht 451. 

P. 

Panästhetizismus  106  ff.  204.  441. 
Vgl.  4489. 

Parodie  i224. 

Phantasie  des  Kindes  276.  Ph.-Tätig- 
keit  beim  Genuß  von  Dichtwerken 
364,  von  graphischen  Werken  417.  Ein- 
klang zwischen  Ph.  und  Verstand  32  3. 
Ph.-Gefühle  78,9,  vgl.  Scheingefühle. 
Ph.-Vorstellungen  78—80.  170. 

Das  Ph.-Gebilde  als  Ausgangspunkt 
im  künstlerischen  Schaffen  252,  bei  den 
Kinderzeichnungen  280.   Schöpferische 


Ph.    des    Künstiers    s.    künstleriscfaes 
Schaffen. 

Photographie    408.    414.    4167.  41S 
bis  420. 

Plastik  399—405.    Ursprung  2956.   P. 
des  Kindes  282. 

Plastische  Ornamente  288.  Relief 
400,  bei  den  Primitiven  295.  Hänfig- 
keitsverhaltnis  zwischen  Relief-  und 
Rundplastik  389.  40a  Monumentale 
Kunst  47.  87.  400.  —  Das  Format  des 
Bildwerks  148.  Der  Bildhauer  nnd 
sein  Modell  248. 
Vgl.  Bildkunst 

Poesie  s.  Lyrik. 

Porträt  288. 

Proportion  117.  121  ff.  P.-Oeffible  161 
173  ff. 

Psychognosis  (Seelenkunst)  95.  ISS. 
250-262.  382. 

Q. 

Quantum.  Absolutes  (extensives  nnd 
intensives)  Quantum  des  istiietisdien 
Gegenstandes  141  ff.,  seine  Gefühlswir- 
kung 181 ;  im  Eindruck  des  NiedUdicn 
203,  des  Erhabenen  206/7,  des  Komi- 
schen 219.  —  Das  Formst  143.  14a 
150. 


Rationalismus  12  fL  56.  57.  69.  319. 
Rationaler  Faktor  der  Kunst  113.  Di- 
seinsberechtigung  des  Imtionslen  457. 
—  Vgl.  Intellektuelles  JMoment 
Raumkunst  389— 399.  Orenze  zwisclMa 
Raumkunst  und  Biklknnst  3899a 
399/400.  Znsammeniuuisr  mit  Sdnüt 
und  Zeichnung  416.  —  Wicdeftoism 
in  der  R.  144.  392. 

Abstrakte  Unienkunst  390—392. 121  IL 
174  ff.  283  ff.    Vgl.  OmsmcDt 

Abstrakte  Ilachenkunst  391/2.  IMdd- 
ration  307—309. 

Vgl.  Nutzkunst    Baukunst  —  BU- 
kunst. 
Redekunst  14.  114.  323.  357.  369-371 
Erster  Eindrudc  des  Dnunas  «ad  der 


SACHVERZEICHNIS. 


473 


Rede  157.  372.  Die  Wirkungsmittel 
des  Dramas  in  der  R.  371.  Retardie- 
rende Momente  und  Episoden  372. 
Tendenz  in  Rede  und  Drama  372. 
Wiederholung  145.  —  Vgl.  Drama. 
Wortkunst. 

Reflex,  ästhetischer,  s.  Eindruck. 

Refrain  145.  366. 

Reim  141.  289.  366.  385. 

Relief  s.  Plastik. 

Religion  und  Kunst  50,1.56.263.340. 
457. 

Rhythmus.  Objektive  Beschaffenheit 
131—141.  Die  rhythmischen  Gefühle 
178—181.  Der  Rh.  in  der  primitiven 
Kunst  284.  287.  289—293.  Rh.  und 
Arbeit  290—293.  —  Der  Rh.  als  Grund- 
lage der  Melodie  22,  der  Musik  312  ff., 
der  Poesie  (freie  Rhythmen)  385.  Rh. 
in  Sprachkunst  und  Musik  304/5.  329, 
in  Poesie  und  Prosa  365  6. 

Erklärung    des   Genusses    am    Rh. 
durch  Ähnlichkeitsassoziation  84/5. 

Roman  145.  380—383.  Tragik  im  R. 
210.    Vgl.  Epik. 

S. 

Schauspielkunst  s.  Mimik. 

Scheinlehre  (Phänomenalismus,  Illusio- 
nismus) 16.  17.  24.  34.  41.  55.  71  2. 
76—82. 141.  151.  Mißachtung  des  Ma- 
terials 146.  393. 

Schmuck  283.  288.  295.  303.  394.  440. 

Schöne,  das.  Das  Schöne,  das  Ästhe- 
tische und  die  Kunst  3  ff.  9.  43.  97. 
104  ff.  160.  196.  229.  282.  296.  43940. 
Relative  Schönheit  17,  abgeleitete  Seh. 
20.  Kosmische  Seh.  9/10. 11.  20/1.  106. 
Das  Idealschöne  20.  195—204.  260. 
Vgl.  Naturschönheit 

Schrift.  Kunst  in  Handschrift  und  Druck- 
schrift 391.  Zusammenhang  zwischen 
Zeichnen  und  Schreiben  280.  285.  2878. 
390,1.  416. 

Schwierigkeit.  Überwindung  der  Seh. 
als  ästhetisches  Prinzip  21,2.  111.  229. 
245,6.  Widerstände  des  Objekts  236,7. 
Unkenntnis  der  Seh.  bei  den  Kindern 
280.    Vgl.  Technik. 


Sensualismus  445.  72.  75.  79.  230. 
239.  2489.  462  3. 

Sittlichkeit  s.  Kunst  (sittliche  Funktion 
der  K.). 

Skizze  62.  233—235.  406. 

Spannung.  Sp.  und  Lösung  179—182. 
Sp.  in  Furcht  und  Mitleid  2078.  Ver- 
schiedene Sp.-Empfindungen  bei  hohen 
und  tiefen  Tönen  315. 

Sp.  in  der  Dichtkunst  172.  373,  in 
Dicht-  und  Tonkunst  158,9.  367. 

Spiel  34.  56.  279.  282.  299300.  304. 

Sprache.  Die  Spr.  in  der  primitiven 
Kultur  290.  Zaubersprüche  300,1. 
Macht  und  Ersatzwert  des  Wortes  289. 
360.  368.  428  ff.  —  Zusammenhang 
zwischen  Spr.  und  Bildkunst  280. 

Die  Sprachgewalt  des  Dichters  239. 
Das  Sprachliche  als  Wesen  der  Poesie 
171.  Die  Anschaulichkeit  der  Spr.  353 
bis  368;  in  der  Beschreibung  von 
Kunstwerken  423 — 432.  Das  Musika- 
lische in  der  Spr.  365/6.  384/5.  S. 
Wortkunst 

Stil  37.  368.  Naturalistischer  Si  64. 
Rauher  und  blähender  Si  (Baumgarten) 
420,  Anm.  3.  —  Epischer  St.  37980. 
Dramatischer  St  373.  Stilisiertes  Dra- 
ma 3789.  —  Gotischer  und  romani- 
scher Stil  395—399.  Entwickelung  der 
Stile  in  der  griechischen  Plastik  29. 

Stimmung  in  Farben,  Formen  und 
Tönen  845.  156;  im  Architektonischen 
87;  in  der  Wortkunst  171.  —  St  im 
ästhetischen  Eindruck  40.  159.  Ästhe- 
tische Stimmungen  (Kategorien)  195. 
Ekstatische  St  190. 
Produktive  Stimmung  229  ff.  235. 

Stoff  1.  =  Material,  s.  d.  —  2.  =  Inhalt, 
s.  d. 

Symbol.  Die  sinnlichen  Erscheinungen 
als  Symbole  eines  tieferen  geistigen 
Gehaltes  21.  23.  32,  Anm.  39.  40.  105. 
239.  In  der  Musik  333.  334.  Im 
Drama  374.  Im  dichterischen  Schaffen 
255. 

Die  natürliche  Symbolik  der  Formen 
162.  184,  in  der  Karikatur  224,  in  der 
Graphik  416.  Symbolische  Zweck- 
mäßigkeit   394.   —   Gegenstand    und 


474 


SACHVERZEICHNIS. 


S.  als  Einheit  161.    Vertauschung  von 
S.  und  Wirklichkeit  188. 

Symbolische  Kunst  (Hegel)  467.  — 
Symbolisches  und  anschauliches  Erken- 
nen (Baumgarten)  26. 

Symmetrie  121  ff.  173  ff.  284.  287.  306. 
Asymmetrie  113.  123.  284.  314.  368. 

Sympathie  23.  67.  85  ff.  90.  190.  254. 
Vgl.  Einfühlung. 

T. 

Talent  42.  65.  235/6.  240.  270.  Die 
spezifischen  Kunstbegabungen  246  ff. 

Tanz  22.  45/6.  18Z  290  fL  301  ff.  312. 
341.    Ballett  145. 

Technik  66,  des  Malers  119,20,  der  älte- 
ren Malerei  406  ff.  422,  Anm.  12,  des 
Graphikers  417/8,  des  Photographen 
418—420,  des  Dichters  und  des  Mu- 
sikers 245/6.  253.  —  Abhängigkeit  der 
Kunstleistungen  von  der  Entwickelung 
der  Technik  der  älteren  Kunst  99/100, 
der  primitiven  Kunst  285,  der  kindlichen 
Kunst  279,  der  Musikinstrumente  322. 
Abhängigkeit  der  T.  von  dem  exten- 
siven Quantum  des  Werkes  150.  Ab- 
hängigkeit der  Formengebung  von 
technischen  Notwendigkeiten  287.  — 
Die  musikalische  T.  im  Dilettantismus 
330 1.  Besonderheit  der  T.  73.  420; 
Beschränktheit  der  künstlerischen  Mit- 
tel s.  Mittel.    Material. 

Tendenz  372.  381.  383.  454. 

Theater  s.  Bühnenkunst. 

Tonkunst  312—338.  Die  Musik  der 
Naturvölker  290—294.  305.  314.  315. 
320,  des  Kindes  282.  Die  sogenannte 
Musik  der  Tiere  297/8.  —  Die  Musik 
als  gesellige  Qeräuschkunst  329,30; 
ihre  Dienste  im  gesellschaftlichen  Leben 
3267.  370.  442.  Musikalische  Erzie- 
hung 449  50.  —  Musik  und  Krieg  301. 
Die  Musik  im  System  der  Künste  22. 
45  6.  302—310.  Zusammenhang  mit 
der  Mimik  312.  Musiker,  bildender 
Künstler  und  Dichter  365. 

Das  Wesen  der  M.  Die  M.  als 
Ausdruck  14  5.  21.  192.  282.  318.  334  ff. 
Metaphysische  Auffassung  327.  Tönend 


bewegte  Formen  70.  333;  seeUidK 
Bewegung  84.  M.  als  erhöhte  Rede 
304;'5.  Unbestimmtheit  und  WiiUid!- 
keitsfremdheit  243/4.  317.  3278.  m 
Die  Frage  der  Nachahmung  2Z  61. 
318.  Zudringlichkeit  387.  Funktion  ic 
den  Wagnerschen  Dramen  378. 

Der  Eindruck.  Empfingiidikei: 
329;  Unempfindlichkeit  90.  24a  Ver- 
sdimelzung  des  Voi^ganges  und  des 
Gefühls  im  musikalischen  Genuß  IM: 
Verlauf  des  Eindrucks  im  Verhiltins 
zum  Verlauf  des  musikalischen  Gebil- 
des 160. 180.  Assoziativer  Faktor  191 1 
338.  Die  Komplikationsgefiihle  1812 
Theorie  der  drei  Rfdhtm^ea  ISL 
Spannung;  außerästhetische  Erregimgen 
158.  33Z  Ähnlichkeit  mit  poetisdiem 
GenuB  172.  387. 

Das  musikalische  Gebilde. 
Rhythmus,  Metmm  und  Takt  132-14a 
Der  Rhythmus  als  Orundpfefler  der 
Musik  297/8.  312  ff.  Das  komponiene 
Ued  139,40.  326.  344.  387.  Extensives 
und  intensives  Quantum  143— 146l 
Wiederholung  145.  323.  Tragik  21(L 
Komik  222.  Vortragsbezeicfanimgeo 
347.  348.  EinfluB  von  Sachvocslri- 
lungen  auf  den  OenieBenden  und  anf 
den  Schaffenden  y  Einschränkung  dff 
möglichen  Assoziationen  durch  dea 
Gebrauch  von  Worten;  Progrunm- 
musik,  Tonmalerei  3189. 327. 8.  —  Wort- 
tondrama 41/2.  309.  3i25. 

Der  schaffende  Musiker  241. 241 
249.  267.  Frühreife  333.  AssoziatioB 
als  störendes  Moment  249.  Oberwia- 
dung  von  Schwierigkeiten,  Tcdmik  246l 
—  Notwendigkeit  der  Reproduktion  der 
Musik  237.  306.  338.  Der  ^eprod^Ii^ 
rende  Musiker  257;  Abhängigkeit  tob 
der  Partitur  338.  Tempo  and  Toa- 
starke  im  Vortrag  180.  Der  Otuagt' 
Vortrag  326.    Der  Dirigent  136l  3121 

Tragische,  das  13. 163. 196.  207fL  21& 
277.  455. 

Tragödie  IZ  16.  252.  29a  375  S. 

Travestie  224. 

Typus  (das  OathuigsmiBige)  37.  678 
96.  142.  199200,  245.  301.  4D49l 


i 


SACHVERZEICHNIS. 


475 


U. 


Umriß  128—131.  276.  4156.  367.  Ur- 
sprung der  U.-Zeichnung  295.  Hilfs- 
umrahmungen  392.    Vgl.  Graphik. 

Unterbewußtsein  s.  Doppel-Ich. 

Urteil  18.  96.  1823.  253.  258. 


Vererbung  191.  260.  26970.  Ange- 
borene  Begabungen  261. 

Versfuß  138.  153,  Anm.  15.  386. 

Vollkommenheit  19—21.  24—34.  42. 
394. 

Vornehmheit  2023.  214.  265.  267. 

Vorstellung  2578.  388,  Anm.  4.  403.  — 
Phantasievorstellungen  78—80.  170. 
Anschauliche  V.  86,  vgl.  Anschaulich- 
keit   Oattungs-V.  199,  vgl.  Typus. 


W. 

Wahrhaftigkeit  des  Künstlers  268,9. 
379.  Eindruck  der  W.  des  Kunstwerks 
99,  in  der  Architektur  3978.  Ehrlichkeit 
456.    Gewissenhaftigkeit  229. 

Wahrnehmung  15.  72.  74.  7980.  1145. 
21920.  354/5. 

Wert  91.  93.  96,7.  381.  393.  441. 

Wiederholung  als  Prinzip  der  elemen- 
taren Ästhetik  121  ff.  127/8.  140.  144,5. 
Abschwächung  des  ästhetischen  Ge- 
nusses durch  W.  155. 

W.  in  der  primitiven  Dichtkunst  289. 
292,  im  Ornament  der  Naturvölker  284. 
285,  in  der  Linienkunst  392,  in  der 
Redekunst  145.  369,  in  der  Musik  145. 
323. 

W.  vorhandener  Objekte  =  Nachah- 
mung, s.  d. 

Wirklichkeit  Verhältnis  der  Kunst  und 
der  Künste  zur  W.  38.  60  ff.  74;5.  79. 
110.  23940.  2434.  276.  308.  415.  436  ff. 
Vgl.  Kunst. 

W.-Beobachtung  in  der  japanischen 
Kunst  283.    Befreiung  vom  W.-Zwang 


beim  Komischen  217,  beim  Witz  222. 
W.-Fremdheit  der  graphischen  Kunst 
414  ff.,  des  Umrisses  416,  Widerstand 
der  W.  gegen  Wiederholung  392. 

Vgl.  Naturalismus.     Schein.     Nach- 
ahmung. 
Witz  220  ff. 

Wortkunst  353  ff.  Unterarten  12.  369. 
Quantitative  Unterscheidung  145.  — 
Die  W.  im  System  der  Künste  45/6. 
47.  302—310.  Erklärungen  der  W.  13. 
41.  47.  Die  W.  als  Nachahmung  10. 
Die  Umformung  der  Wirklichkeit  in 
der  Sprache  366/7  und  der  W.  14.  40. 
239/40.  Die  Sprache  eine  Welt  für 
sich  355  ff.;  das  Sprachliche  als  Wesen 
der  Poesie  171.  257.  289.  358/9.  Die 
Schwierigkeiten,  Seelisches  in  Worte 
umzusetzen  259.  335.  —  Vgl.  Anschau- 
lichkeit   Metapher.    Sprache. 

Der  Eindruck.  Die  intellektuellen 
und  Inhaltsgefühle  beim  ersten  Ein- 
druck 157.  383.  Spannung  158,9.  172. 
367.  Individueller  Faktor  159/60. 
Schwanken  der  Aufmerksamkeit  160. 
Phantasietätigkeit  des  Genießenden 
364.  —  Im  übrigen  154—194. 

Das  dichterische  Gebilde.  Intel- 
lektuelles Moment  69,70.  357;  seine 
Bewertung  beim  Publikum  68,9.  Mas- 
senverbreitung 445.  Essentialismus, 
Idealismus  35;  seine  Schwierigkeiten; 
Vieldeutigkeit  des  Kunstwerks  67.  374. 
Neigung  zur  Übertreibung  des  exten- 
siven Quantums  143/4;  Grenzen  der 
Einfühlungsmöglichkeit  149.  Die  Dicht- 
kunst im  deutschen  Unterricht  450/1. 
—  Im  übrigen  104—153. 

Der  Dichter  229—275.  Stellung 
zum  Leben  und  zu  den  Menschen  242. 
259/60.  Unabhängigkeit  vom  äußeren 
Leben  267.  Verhältnis  zur  Wirklich- 
keit 243  4.  Menschenkenntnis  250  ff. 
Der  naive  und  der  sentimentalische, 
der  klassische  und  der  romantische, 
der  Ich-  und  der  Sach-Dichter  36.  245. 
Malerische  und  musikalische  Dispo- 
sition 249,50.  Rezeptive  und  aktive 
Naturen,  veränderiiche  und  stetige  Cha- 
raktere 260/1.    Vergleich  mit  dem  bil- 


476 


SACHVERZEICHNIS. 


denden  Künstler  und  dem  Musiker  365. 
Überwindung  von  Schwierigkeiten;  Ent- 
wickelung  der  Technik  245  6.  253.  Sitt- 
lichkeit 4556.  Vgl.  die  Unterarten 
Redekunst,  Drama,  Lyrik,  Epik. 

Worttondrama  41.2.  309.  325. 

Wunderbare,  das  222.  247.  255.  276. 
Vgl.  Märchen. 


Zeichnen  der  Kinder  277  ff.  451 ,  der 
Naturvölker  287—289.  Mitteilungskraft 
der  Linie  390.   Förderung  der  Anschau- 


ung durch  Z.  354.     Z.  und  SchrdbeQ 
s.  Schrift  —  Vgl.  Oraphik. 

Zierlichkeit  s.  Grazie. 

Zufall  222/3.  381.  393. 

ZweckmäßigkeiL  Einfluß  des  Zwedes 
auf  die  Form  des  Kunstwerkes  121 
286/7.  301.  3Q34.  397—399.  Zwed- 
schönheit;  formale,  subjektive,  symbo- 
lische Zweckmäßigkeit  17.  31  ff.  111 
394.  Ableitung  des  Schönen  ans  der. 
Nutzlichen  200.1.  296.  Der  Nutzen  als 
Moment  in  der  Entstehung  der  Konsi 
301.  Nfitzlichkeitsbegriff  in  der  Natur- 
auffassung  110. 


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HERA  FARNESE 


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TAFEL  II. 


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RAFFAEL,  SIXTINISCHE  MADONNA 


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SCHWÄBISCHE  SCHULE, 
MARIA  MIT  KIND  UND  EINER  HEILIGEN 

iZ^  Seite  148  und  412J 


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Mit  gtügo  Erlaub !ii»  von  ßramn  ik  Schneider.  MüriLheti 


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^'s  Lachen  is  doch  a*  g'spassfge  Sach*!  .  ,  Wenn  i'  lach',  lachen  alle  mitl* 

{Zii  Seite  97  und  ^tj] 


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{Zu  Sem  345                                                                                        ^^^^^^^^^^^^^1 

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TAFEL  XIV. 


Mit  gütiger  Erlaubnis  von  R.  Voigtländers  Verlag,  Leipzig 


AUS  »LEVINSTEIN,  KINDERZEICHNUNGEN  BIS  ZUM  14.  LEBENSJAHR« 

(Zu  Seite  379  ff.) 


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TAFEL  XV. 


KtHtf  in  ffrr  i7lia  AiSm^tt  f^^m. 


ANTINOUS 


(Zu  Seite  4iTn   im<l  41.1511 


Aeape/f  Museo  S 0^1,1  na i€ 


HERA  FARNESE 


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TAFEL  II. 


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Fontaine  des  Innocents,  Paris 


WEIBLICHE  FIGUR 


15.  Jahrhundert 


JEAN  OOUJON,  NYMPHE 


(Zu  Seite  97  und  403  ff.) 


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TAFEL  IV. 


RAFFAEL.  DIE  VERKLÄRUNO  CHRISTI 


(Zu  Seite  98,  103,  409  und  413) 


TAFEL  V. 


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TAFEL  VI. 


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i'ff.'irffH^    Ayi.     Lfftfttliiiir^'rHef-t*- 


RAFFAEL,  SIXTINISCHE  MADONNA 


(Zu  Seile  14S,   412   mul  427) 


TAFEL  VII. 


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SCHWÄBISCHE  SCHULE, 
MARIA  MIT  KIND  UND  EINER  HEILIGEN 

(Zu  S<.ite  148  und  412) 


TAFEL  Vin. 


Mit  gütiger  Erlaubnis  von  Braun  &  Schneider,  München 


Aus  den  *  Fliegenden  Blattern* 


»'s  Lachen  is  doch  a'  g'spassige  SachM  .  .  Wenn  i*  lach',  lachen  alle  mit!« 

(Zu  Seite  93  und  317) 


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TAFEL  X. 


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TAFEL  XI. 


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TAFEL  XII. 


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BRUNELLESCO,  DIE  OPFERUNO  ISAAKS 


(Zu  Seite  242  und   408) 


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TAFEL  XIV. 


Mit  gütiger  Lrlaubm»  van   R»  Voigtl^tnden  V^eT}ii4\   t^fidif 

AUS  aEVlNSTEIN,  KINDERZEICHNUNGEN  BIS  ZUM  14.  LEBENSJAHR 

t2u  Seite  ^79^  Cl 


TAFEL  XV. 


Relief  in  lier   \  'illa  Albnui,  Rom. 


ANTINOUS 


(Zu  Seite  400  und  405  I 


TAFEL  XVI, 


Phot.  F.  Hanfstacngl,   München 


G/asj^(Ku 


J.  McNEILL  WHISTLER,  THOMAS  CARLYLE 


(Zu  Seite  414) 


TAFEL  XVII. 


BETENDE  NONNE 
Lichtbildshidie  von  Alfred  Enke 

(Zu  Seite  414  und  430) 


TAFEL  XVIII. 


SOMMERTAG 

Lichtbildstudie  von  Alfred  Enke 


(Zu  Seite  420) 


TAFEL  XIX. 


Phot.  F.  Hanfstaengl,  München 


London,   National  Galtet y 


MICHELANGELO,  MADONNA 


(Zyx  Seite  123,  174  und  429) 


My 


Verlagswerke. 


-~^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTOART.  -i- 

Soeben  beginnt  zn  ericheinen; 

Zeitschrift  für  Ästhetik 

und 

Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

Herausgegeben  von 

Max  Dessoir. 

Erster  Band. 
1.  Heft.    10  Bogen.    Lexikon-Format.    1906.    M.  5.— 

/)ü  Zeitschrift  erscheint  in  Heften  von  acht  bis  zehn  Druckbogen ^  wovon  je  vier  einen 

Bufid  bilden.    Der  Preis  der  Hefte  wechselt  nach  dem  Umfang,  die  Bereclmung  erfolgt 

heftweise.     Es  ist  alljährlich  die  Ausgabe  eines  Bandes  beabsichtigt. 

Prospekt. 

Der  Sinn  für  die  ästhetischen  Fragen  und  die  allgemeine  Theorie  der  Künste 
hat  in  den  letzten  Jahren  ebenso  zugenommen  wie  die  Zahl  derer,  die  auf  diesen 
Grebiet  wissenschaftlich  tätig  sind;  die  Probleme  besitzen  einen  Umfang  und  euu 
Tiefe,  die  ein  besonderes  literarisches  Organ  für  ihre  weitere  Bearbeitung  geradezu 
notwendig  machen.  Es  ist  ein  Übelstand,  daß  sachlich  Zusammengehöriges  gegen- 
wärtig in  viele  und  verschiedenartige  Zeitschriften  verzettelt  wird,  daß  jeder,  dei 
sich  mit  ästhetischen  und  künstlerischen  Dingen  beschäftigt,  die  neuen  Forschungei 
mühselig  sich  zusammensuchen  und  aus  der  Verbindung  mit  anderen  Angelegenheitei 
lösen  muß,  daß  nirgends  durch  Berichte  ein  umfassender  Überblick  über  die  s< 
mannigfaltigen  ästhetischen  Untersuchungen  geboten  werden  kann. 

Aus  solchen  Erwägungen  heraus  ist  die  oben  genannte  Zeitschrift  begründe 
worden.  Sie  wird  in  Heften  von  8 — 10  Bogen  Umfang  erscheinen;  jährlich  werdei 
etwa  vier  Hefbe,  die  einen  Band  bilden,  ausgegeben  werden.  Jedes  Hefl  enthäl 
außer  einem  systematisch  geordneten  Verzeichnis  der  neu  erschienenen  Bücher  un< 
Aufsätze  eine  Anzahl  von  Abhandlungen  und  Besprechungen.  Nur  wissenschafblicl 
wertvolle  Beiträge  kommen  in  Betracht,  doch  werden  sie  im  Hinblick  auf  die  er- 
hoffte Anteilnahme  aller  ernstlich  Interessierten  ohne  übertriebene  Gelehrtenhaftig- 
keit  abgefaßt  sein.  Studien  zur  Geschichte  der  Ästhetik,  experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  elementaren  Verhältnisse,  Analysen  der  ästhetischen  Wirkungen 
exakte  Forschungen  über  die  Kunst  der  Naturvölker  und  der  Kinder,  über  dai 
Schaffen  des  Künstlers  und  die  allgemeinen  Fragen  der  Poetik,  der  Musikästhetil 
und  der  Theorie  der  bildenden  Künste,  endlich  auch  inhaltreiche  Erörterungen  de; 
Stellung,  die  die  Kunst  im  geistlichen  und  gesellschaftlichen  Leben  einnimmt  —  dai 
wären  die  Arbeiten,  die  hier  gesammelt  werden  sollen.  Auf  dasselbe,  nur  ungefäk 
umschriebene  Feld  beziehen  sich  uuch  die  Berichte. 


-^^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART,  i--^ 

Der  INHALT  des  ersten  Heftes  ist  der  folgende: 

Prof.  Th.  Lipps-München,  Zur  , ästhetischen  Mechanik ^  —  Prof.  E.  Länge-Tübingen, 
Die  ästhetische  Illusion  im  18.  Jahrhundert.  —  Prof  H.  Riemann-Leipzig,  Die  Ausdrucks- 
kraft musikalischer  Motive.  —  Prof.  G.  Simmel-Berlin,  Über  die  dritte  Dimension  in  der 
Kunst.  —  Prof.  H.  Spitzer-Graz,  Apollinische  und  dionysische  Kunst.    (Fortsetzung  folgt.) 

—  Dr.  Th.  Poppe-Frankfurt  a.  M.,  Von  Form  und  Formung  in  der  Dichtkunst. 

BESPRECHUNGEN: 

Th.  Lipps,  Ästhetik.  Psychologie  des  Schönen  und  der  Kunst.  1.  Teil.  Bespr.  von 
Herrn.  Vahle  (Berlin).  —  Stephan  Witasek,  Grundzüge  der  allgemeinen  Ästhetik.  Bespr. 
von  Dr.  Edith  Landmann-Kalischer  (Basel). — Johannes  Volkelt,  System  der  Ästhetik. 
1.  Band.  Bespr.  von  Prof.  Dr.  H.  Dinger  (Jena).  —  Paul  Bjerre,  Der  geniale  Wahnsinn. 
Michael  Haberlandt,  Die  Welt  als  Schönheit.  Bespr.  von  Max  Hochdorf  (Berlin).  — 
Siegfried  Levinstein,  Kinderzeicbnungen  bis  zum  14.  Lebensjahr.  Besj)r.  von  Dr.  Max 
Osborn  (Berlin).  —  Kurt  Hey,  Die  Musik  als  tönende  Weltidee.  1.  Teil.  Bespr.  von 
J.  Vianna  da  Motta  (Berlin).  —  Emil  Geiger,  Beiträge  zu  einer  Ästhetik  der  Lyrik. 
Bespr.  von  Prof.  Dr.  R  M.  Werner  (Lemberg).  —  Rudolf  Borchardt,  Das  Gespräch  über 
Formen  und  Piatons  Lysis  deutsch.    Hespr.  von  Dr.  Edith  Landmann-Kali.scher  (Basel). 

—  Johanna  de  Jongh,  Die  holländische  Landschaftsmalerei.  Bespr.  von  Dr.  Paul  Kühn 
(Leipzig).  —  Heinrich  Wolgast,  Das  Elend  unserer  Jugendliteratur.  3.  Aufl.  Bespr.  von 
W.  Franz  (Berlin) 

SCHRIFTENVERZEICHNIS  für  1905.     Erste  Hälfte. 

Für  das  zweite  Heft  sind  folgende  Artikel  vorgesehen: 

Prof.  Joh.  Volkclt,  Sachliches  und  Persönliches  aus  meinen  ästhetischen  Arbeits- 
erfahrungen. —  Prof.  Jonas  Cohn,  Zur  Vorgeschichte  eines  Kantischen  Ausspruchs  über 
Natur  und  Kunst.  —  Prof.  E.  Große,  Der  Stil  der  japanischen  Lackkunst.  —  Dr.  Olga 
Stieglitz,   Die   sprachlichen  Hilfsmittel    für  Verständnis  und  Wiedergabe  von  Tonwerken. 

—  Dr.  R.  Ameseder,  Über  Wertschönheit.  —  Dr.  R.  Hamann,  Individualismus  und  Ästhetik. 

—  Prof.  H.  Spitzer,  Apollinische  und  dionysische  Kunst.  (Fortsetzung.)  —  Besprechungen. 
Bibliographie. 


Philosophisches  Lesebuch 

von 

Prof,  Dn  M.  Dessoir  und  Doz.  Dn  P.  Menzer. 

Zweite  vermehrte  Auflage. 

8^    1905.    geh.  M.  5.60;  in  Leinwand  gebunden  M.  6.40. 


Inhalt:  I.  Plato.  —  II.  Aristoteles.  —  III.  Sextus  Empiricus.  —  IV.  Seneca.  — 
V.  Plotin.  —  VI.  Thomas  von  Aquino.  —  VII.  Meister  Eckhart.  —  VIII.  Francis  Bacon.  — - 
IX.  Descartes.  —  X.  Spinoza.  —  XI.  Locke.  —  XII.  Berkeley.  -  XIII.  Leibniz.  —  XIV.  Hume. 
—  XV.  Kant.  —  XVI.  Fichte.  —  XVII.  Hegel.  —  XVIII.  Herbart.  —  XIX.  Schopenhauer.  — 
XX.  Comte.  —  XXI.  J.  St.  Mill.  —  Namenverzeichnis.  —  Sachregister. 


Das   Lesebuch    darf  man    als    ein    in   jeder    Hinsicht    glückliches  Unternehmen 

zur  Förderung  und  Vertiefung  der  philosophischen  Bildung  begrüfsen.  Ohne  Zweifel  wird  durch 
das  hier  angewendete  Verfahren,  Exzerpte  der  sachlich  bedeutsamen  und  für  den  Autor  und  die 
GedankenentwickeluDg  charakteristischen  Äufserungen  früherer  Philosophen  im  Original  bezw.  in 
getreuer  Übersetzung  vorzuführen,  pädagogisch  mehr  erreicht,  als  durch  eine  den  ursprünglichen 
Stoff  umformende  Geschichtsdarstellung.  Dem  verderblichen,  die  Halbbildung  zeitigenden  Einflufs 
der  Kompendien  von  Geschichte  der  Philosophie  zu  begegnen,  scheint  das  Lesebuch  ein  vortreff- 
liches Mittel.  Die  von  den  Herausgebern  den  Elxzerpten  beigegebenen  Anmerkungen  sind  teils 
sachliche  Kommentare  teils  bibliographische  Hinweise. 

Literarisches  Zentralblatt  1903,    Nr,  50, 


-^h  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART, 

Epictet  und  die  Stoa. 

Untersuchungen  zur  stoischen  Philosophie. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8».    1890.    geh.  M.  10.- 

Die  Ethik  des  Stoikers  Epictet. 

Anhang:  Exkurse  über  einige  wichtige  Punkte  der  stoischen  Ethik. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8^    1894.    geh.  M.  10.— 

Ludwig  Feuerbach. 

Von  Dr.  C.  N.  Starcke. 

gr.  8^    1885.    geh.  M.  9.— 

Die  soziale  Frage 
im  Lichte  der  Philosophie. 

Vorlesungen  über  Sozialphilosophie  und  ihre  Geschichte. 

Von  Prof.  Dr.  L.  Stein. 

Zweite  verbesserte  Auflage. 

gr.  8^    1903.    geh.  M.  13.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  14.40. 


Ethik. 

Eine  Untersuchung  der  Tatsachen  und  Gesetze 

des  sittlichen  Lebens. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Dritte  umgearbeitete  Auflage. 

Zwei  Bände,    gr.  8^    1903.    geh.  M.  21.— ;  in  Leinw.  geb.  M.  24.20. 


Logik. 

Eine  Untersuchung  der  Prinzipien  der  Erkenntnis  und  der 
Methoden  wissenschaftlicher  Forschung. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Zwei  Bände,    gr.  8^    1893—1895.    geh.  M.  43.— 

I.  Bd.    Erkenntnislehre.   Zweite,  umgearbeitete  Auflage,   gr.  8^  1893.  geh.  M.  15.- 

II.  Bd.   Methodenlehre.    I.Abteilung.   Allgemeine  Methodenlehre.    Logik  der  Mathemati 

und  der  Naturwissenschaften.     Zweite,   umgearbeitete   Auflage,     gr.  8 
1894.    geh.  M.  13.— 
11.  Bd.   Methodenlehre.    2.  Abteilung.     Logik  der  Geisteswissenschaften.     Zweite,   um 
gearbeitete  Auflage,    gr.  8^    1895.    geh.  M.  15.— 


Union  Deutsche  Verlagsgesellschafft  in  Stut^art,  Berlin,  Leipzig. 

Lichtbild-Studien. 

Dreißig  Heliogravüren  nach  Aufnahmen  von  Alfred  Enke. 

Folio.    In  eleganter  Mappe.    20  Mark. 

iuhalt :  1.  Eugadiner  Bäuoriu.  —  2.  Morgen  in  San  Martino.  —  3. Venezianischer  Muscbelhändler.  — 
4.  Schloü  am  Meer.  —  5.  Studie.  —  C  Vorfrühling.  —  7.  Auf  der  Weide.  —  8.  Italienische  Villa.  — 
9.  Studie.  —  10.  Gewitter  in  den  Borgen.  —  il.  Im  Klostergarten.  -  12.  Erwartung.  —  13.  Studie.  — 
14.  Villa  d'Este.  —  15.  Ave  Maria.  —  1«.  Bergsee.  —  17.  Orientalin.  --  18.  Herbatmorgen  am  KOnigssee.  — 
19.  Bergamaske.  -  20.  Mondnacht  in  Florenz.  —  21.  Bacchantin.  —  22.  Sonntagäfrleden.  —  28.  Bei  der 
Arbeit.  —  24.  Mühle  im  Gebirg.  —  26.  In  der  Kirche.  —  26.  Am  Waldbach  -  -  27.  Sehnsucht.  -  28.  Dorf- 
gasse. —  29.  Studie.  —  30.  Ein  stiller  Winkel. 

Der  bekannte  Schriftsteller  J.  C.  Heer  äußert  sich  über  das  Werk  in  der  „Neuen 
Züricher  Zeitung**  wie  folgt: 

Als  die  Kunst  der  Photographie  entdeckt  wurde,  trat  sie  zunächst  jahrzehntelang  in 
den  Dienst  der  reinen  Wiedergabe  der  Wirklichkeit,  war  sie  ein  durchaus  naturalistisches 
Konstgewerbe.  In  neuerer  Zeit  aber  liat  sich  zu  der  stetig  wachsenden  Ver\'ollkominnung 
der  technischen  Hilfsmittel  eine  außerordentliche  Verfeinerung  des  Geschmacks  und  der 
Auffassung  gesellt,  welche,  wie  die  auch  aus  der  Schweiz  viel  besuchte  photographische 
Ausstellung  in  Stuttgart  bewies,  die  Photographie  aus  dem  Rahmen  des  Kunstgewerbes  in 
die  Höhen  der  wirklichen  Kunst  erhebt.  Ein  glänzendes  Zeugnis  dafür  sind  die  Lichtbild- 
Studien  Alfred  Enkes  in  Stuttgart,  wahre  Kabinettstücke  der  photographischen  Kleinmalerei, 
Genres  und  Landschaften,  wie  sie  der  Künstler  auf  Ferienfahrten  in  Italien,  den  Schweizer- 
und  österreichischen  Alpen  entdeckt  hat.  Glückliches  Finden  und  feinfühlige  Wahl  des 
Motivs,  Schönheit  der  Belichtung  und  plastische  Modellierung  fesseln  uns,  ob  der  Künstler 
das  Figürliche  oder  Landschaftliche  bevorzugt,  und  Blatt  um  Blatt  überrascht  uns  lebhaft, 
wie  außerordentlich  fügsam  sich  ihm  die  Technik  erweist.  Die  Wiedergabe  der  einzelnen 
Stücke  durch  die  Verlagsanstalt  ist  tadellos  vollkommen,  der  Preis  im  Verhältnis  zum  Ge- 
botenen durchaus  billig,  und  wir  denken,  daß  das  schöne  Werk  nicht  nur  bei  den  Photo- 
graphen, die  darin  einen  Triumph  ihrer  Kunst  sehen  müssen,  sondern  auch  in  kunstfreund- 
lichen Familien  die  wärmste  Aufnahme  ßndet  .  .  . 


VERLAG  VON   FERDINAND   ENKE   IN  STUTTGART. 

Neue  Lichtbild-Studien. 

Vierzig  Blätter  von  A  L  F  R  E  D   ENKE. 

Folio.     In  eleganter  Mappe.     12  Mark. 

Inhalt:  Das  Marcbeu.  Im  FrUbling.  Des  Liedes  Ende.  Mondnacht  bei  Lindau.  Heimkehr  vom 
Feld.  Bergpfad  in  Südtirol.  Die  Gebieterin.  Alte  Schloßtreppe.  Das  Alter.  Gräberstraße  bei  Pompeji. 
Bildnis  des  Professors  K.  in  Berlin.  Sommerabend  am  Bodensce.  Luiginn.  Campo  Santo.  Madonnen- 
Studie.  Arven  im  Hochgebirg.  Trunkene  Bacchantin.  BuchenwaM  im  Sintherbbt.  Melancholie.  Schloß 
in  den  Bereen.  Weibliches  Bildnis.  Am  Weiher.  Bildnis  eines  jun^tMi  Kiinstlt-rs.  Kalvarienberg.  Lili. 
Sampliges  Ufer.  Dämmerung.  Das  PfOrtchfU.  Italienischer  Dorfwirt.  Nächtliche  Fahrt.  Junger  SUd- 
tiroler.  Gelände  am  Comersee.  Heimkehr  von  der  Alp.  Lesendes  Madchen.  Heuernte  am  Maloja. 
Sturmwind.    Abend  am  Canale  Grande.    Die  Wunderblume,    üsteria.    Abemlstunde. 

Kein  bloßer  Liebhaberphotograph,  ein  Künstler  hat  diese  Aufnahmen  gemacht. 

Ein  Künstler,  der  es  versteht,  mit  feinem  Geschmack  und  vertiefter  Auffassung  das  Hand- 
werk des  Photographen  auf  die  Höhe  echter  Kunst  zu  heben.  Zeigt  sich  der  feine  Ge- 
schmack im  Suchen  nach  Motiven,  die  er  zu  Bildern  voller  Poesie  und  Plastik  zu  verdichten 
vermag,  so  die  vertiefte  Auffassung  darin,  daß  man  mehr  als  einmal  an  den  einen  oder  den 
anderen  großen  Maler  unter  unseren  modernen  Meistern,  an  das  eine  oder  das  andere  be- 
dentende  Bild,  das  Enke  angeregt  zu  haben  scheint,  erinnert  wird.  Nimmt  man  dazu  die 
wechselreiche  Auswahl  an  Köpfen,  Porträts  und  Landschaften,  von  denen  wir  die  „Heim- 
kehr von  der  Alp*"  als  Muster  für  die  Würdigung  des  Verhältnisses  von  Landschaft  und 
Staffage  hinstellen  möchten,  so  wird  man  dem  bedingungslosen  Lobe  beistimmen,  das  wir 
schon  der  ersten  Sammlung  .Lichtbild-Studien'  von  Alfred  Enke  vor  zwei  Jahren  spenden 
konnten.  Das  Album  sei  jedem  empfohlen,  der,  ein  Freund  der  Knnst,  Verständnis  auch 
für  die  als  solche  zur  Genüge  erwiesene  Amateurphotographie  hat.  Auf  den  Weihnachts- 
tisch des  Liebhaberphotographen  passen  die  beiden  Enkeschen  Mappen 
besser  als  alles  andere  auf  diesem  Gebiete.  Kunst  für  Alle.   igo2ls-   Heft  6, 


^■^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART.  ^>^- 

Die  Karikatur  und  Satire  in  der  Medizin. 

Mediko-kunsthistorische  Studie  von  Dr.  Eugen  Holländer» 

Chimrg  in  Berlin. 

Mit  10  farbigen  Tafeln  and  223  Abbildungen  im  Text 

hoch  4\    1905.    Kartoniert  M.  24. — ,  in  Leinwand  gebanden  M.  *2T.— 

Inhalt:  Yerzetchnifl  der  Abbildungen.  —  Litentnrrenelchnii.  —  Einleitung.  —  Karikftscr  und  Satize 
mit  Bezog  eiif  Medizin.  Die  Karikator  bi«  zur  Beformation.  Settre  und  KArikatar  nn  Befurmationaseitalfier.  — 
Die  Kerlkatnr  der  Pathologie.  Die  Gicht.  Infektlonaknnkbeltea.  Nerröee  AffekUanett.  GraTidlcit.  Irrita- 
■MBta  externa  und  Varia.  —  Der  Arzt  ala  Menaeh  und  alz  Stand.  Dae  Arzthonorar.  —  Die  praktiache  Heil- 
kunde im  Blebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert.  Der  tierlache  Magnetlamos.  Jenner  und  die  Euhimpftm«. 
—  Die  Paraciten  der  Heilkunde  ^  Die  politieeh.medizlniache  Eartkatur  und  Satire.  —  Die  moderne  medul- 
nlaefa«  Karikatur. 

Holländer  hat  mit  diesem  seinem  neaesten  Pracht wceIe  nicht  nur  sein  erstes  in  idealer 
Weise  er^nzt.  sondern  auch  die  historische  Literatur  mit  einer  weiteren  Gabe  von  mona- 
mentaler Bedeutung  bereichert  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  dieses  neueste  Gegen- 
stQck  zu  dem  älteren  Werk  im  Verein  mit  ihm  dem  Verfasser  einen  hervorragenden  und 
daaemden  Platz  in  der  Literatur  der  medizinischen  Kulturgeschichte  sichert.  —  xfoch  mehr 
fast  als  das  vor  zwei  Jahren  erschienene  Werk  wird  die  ,  Karikatur  und  Satire  in  der 
Medizin*  das  Entzücken  der  kun^^tfreudi^en  und  kunstfreundlichen  Kollegen  erregen  und  als 
aberaas  gesdimackvolle  und  pausende  Weihnachtsgabe  in  ihren  Kreisen  weite  Verbreitung 
finden.    Prof.  Pagel-Berlin.  Deutic-s  Ärzte-Zeitung  i^s- 


Die  Medizin  in  der  klassischen  Malerei. 

Von  Dr.  Eugen  Holunder,  Chirurg  in  Berlin. 

Mit  16o  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 

hoch  4*.     1903.    geheftet  M.  16.—,  in  Leinwand  jrebunden  M.  13.— 

Inhalt:  Vorwort.    Einleitung.     Die  Anatomiegemäld*.    Sfedizinische  Oruppenbilder.    Kraakhei 
■teUungen.     Innere    Medizin.      Ch:rurgt<3      AIl*zorien,    Hoepltäl^r  ;i&l  Wochenstaben.    Hetlz^nbehaadlans. 
SchXnäwcrt. 

.  .  .  Wie  sehr  hat  der  Autor  die  sm  sein  Werk  geknüpften  Hoffnungen  und  Erwartungen 
zu  übertrumpfen  verstanden !  Denn  ebenso  glänzend  wie  die  äußere  A;:?stAttung. 
Auswahl,  photographische  Rejiroduktiun  der  Gemälde  und  die  sonsiis-e  tvpo- 
graphische  Technik  hervortritt,  ebenso,  ji  noch  glänzender,  ist  der^dieBil- 
der  begleitende  Text.     Prof.  Pagel-Berlin.  *  Deutsche  Ärzte-ZAtunr  —sj,  .W.  /. 


Die  Wochenstube  in  der  Kunst 

Eine  kulturhistorische  Studie  von  Dr.  med.  Robert  Mfillerheim. 

Mit  13S  Abbildungen. 

hoch  4*.     1904.     Kartoniert  M.  16.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  IS.— 

Inhalt:  Verlort.  Einfuhruns.  Die  Woehenätube.  Dae  Bftt.  GeburtHtuhl  PJece  der  Wö^mcu. 
Pfleae  de«  Klndee.  Kleidung  dee  Kinde!:.  Emihnmg  de«  Kindei  Bett  de«  Kin-iee.  GLub«  and  Abec^acbi» 
la  der  Wochenerab«.  Volkstümliche  und  gelehrte  Anschauungen.  Kultui  der  Wöchrer.a.  Ende  d«s  Wccbfs- 
bettc.    Anhang.    Quellen  und  Anmerkungen. 

Das  Buch  ist  ein  schönes  Zeugnis,  daß  unsere  Kunst  nicht  ganz  :n  dem  handwerks- 
mäßigen Broterwerb  aufgeht.  .  .  .  Umso  freudiger  begrüßen  wir  ein  AVerk  wie  das  vor- 
liegende, und  umso  herzlicher  danken  wir  dem  Autor  für  die  mühevolle,  von  tiefem  Ver- 
ständnisse tv:r  die  Kunst  und  die  WissensL-hat:  zeugende  Sammlung  «.le?  einsoblÄirigen 
Materidlef.  Der  Autor  hat  ganz  recht,  wenn  er  sag:,  daß  gerade  die  bildlichen  Dar^tellinÄen 
früherer  Sitten  und  Gebrauche  uns  am  besten  in  das  Familienleben  vergansener  Zeiten  ein- 
führen. .  .  .  Nicht  nur  die  zahlreichen  —  138  —  Abbildungen  wird  jeder  Geburtshelfer  t?II 
Interesse  betrachten,  auch  der  Text  i?t  außerordentlich  interessant  und  lesenswert. 

Zentral} 'at:  für   Gvnj-i^.'f^  icc<,   .V*-   -\ 


VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART,  }>^ 

Grundriß  der  Anatomie  für  Künstler. 

Von  M.  Duvaly 

Professor  der  Anatomie  an  der  Kunstakademie  zu  Paris. 

Autorisierte  deutsche  Übersetzung  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  med.  F.  Neelsen. 
Zweite  Auflage  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Erni^t  Gaupp. 

:\rit  78  Abbildungen. 
8".     1901.     geheftet  M.  0.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  7.-- 

Ein  auch  von  dor  deutschen  l^resse  warm  empfohlener,  an  verschiedenen  Kunstaka- 
demien eingeführter  Leitfaden,  der  mit  kna])per  Fassung  lebhafte,  anregende  und  leicht 
verständliche  Darstellungsweise  verbind('t.  Die  zweite  Auflage  ist  von  Herrn  Professor 
Gaupp  in  Freiburg  gründlich  durchgesehen  und  ergänzt  worden.  Auch  wurden  sämtliche 
Abbildungen  nach  neu  gezeichneten  Originalen  auf  das  Sorgfältigste  erneuert.  Demunge- 
achtet  wurde  zur  Erleichterung  der  Anschauung  der  bisherige,  billige  Preis  eingehalten. 
Der  Grundriß  sei  allen  jungen  Künstlern  wärmst ens  empfohlen. 


Geschichte  der  Metallkunst. 

Von 

Dr.  Hermann  Liier,  und  Dr.  Max  Creutz, 

Leiter  der  Fachschule  für  die  Solinger  Induptrie.  am  kgl.  Kunstgewerbemuseum,  Berlin. 

■     l  Zwei  Bände,  l     • 

Erster  Band:  Kunstgeschichte  der  unedlen  Metalle.    Schmiedeisen.  Gußeisen,  Bronze,  Zinn, 

Blei  und  Zink.    Bearbeitet  von  Dr.  Hermann  Lüer. 

Mit  445  Textabbildungen. 

gr.  8^.    1904.     geheftet  M.  28.—.  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  80.— 

Dem  Verfasser  kam  es  in  erster  Linie  darauf  an,  eine  für  die  Gebiete  der  Metallkunst 
bis  heute  fehlende  Zusammenstellung  der  bedeutsamsten  Werke  zu  geben  und  die  wichtigsten 
darüber  bekannten  Nachrichten  auf  Grundlage  der  bis  in  die  jüngste  Zeit  veröftentlicnten, 
sehr  verstreuten  Einzeluntersuchungen  vergleichend  beizufügen.  Die  wichtigeren  benützten 
Quellen  sind  im  Texte  angeführt.  Zum  Studium  der  äußerst  interessanten  Geschichte  der 
Metallkunst  ist  das  Werk  ein  ausgezeichnetes  Buch;  derjenige,  der  sich  nur  belehren  will, 
wird  mit  den  kurzen  Mitteilungen  und  den  vielen  guten  Abbildungen  genug  haben;  dem, 
der  tiefer  in  das  Gebiet  einzudringen  wünscht,  ist  es  ein  hochzuschätzender  Wegweiser. 

Deutsche  Kunst  und  Dekoration  igo4!igoSy  Heß  IV, 


Die  Frau  in  der  bildenden  Kunst 

Ein  kunstgeschichtliches  Hausbuch 
von  Anton  Hirsch, 

Direktor  der  großherzoglichen  Kunst-  und  Gewerbeschule  in  Luxemburg. 

Mit  330  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen  und  12  Tafeln, 
gr.  8°.    1904.    Geheftet  M.  18.—,  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  20.— 

Die  bildenden  Künstlerinnen  der  Neuzeit 

Von  Anton  Hirsch, 

Direktor  der  großbersoglfohen  Kunst-  nnd  Gewerbeichule  in  Luxemburg. 

Mit  104  Textabbildungen  und  8  Tafeln. 

gr.  8^    1905.    Geheftet  M.  9.20,  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  11.— 


-^^  VERLMI  VOM  FERPIIIAMP  EMKE  IM  STUITGART, 

Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  ^^JS 

Tob  De.  C  IL  Stralb    liHiiiiti  AiilmL  Kl  3?»  teEb  Ck^^ol  AbUr 
im  Tot,  6  Tafefai  m  DmgXSSSSSiSrSältaiA  m  Tmi^ernkmek.    gn  g«. 
.  IL  15u«t  degL  a  Icinr.  gebt  IL  ITjSQl 

i>  «rfcnntoftMft^iiiy  —  IL.  ] 

I  ka.  «er  Ijansr.  -  IT.r 

—  TÜL  Fhiififd  Tim   KnBUfli 
A»  Uaver&n.  —  X.  BcvtqbZosc  <■§   K3e9«B9   tn.  ■T^miiIihii     —    XI.   Eoff  ^aä 
,  litiif  ii.  Bnm,  Baodk.  Em'fcf ,  Hiftan  cul  flwgrt    —  XHL  Otart  wii 
.  —  XT.  ScUatefi  dR-  Fwfcfc  —  XVL  Se&i3«tett  «sr  Bipuhuj. 
Im  Ww'imaa  Kfcvcei.  —  XTH  r<fceihL<Ll>  Aar  j<cffiwi«n 
ZfIZI.  TwpoliiM  ta  «BT  Esas  «ad  KuMtferok.    Xo^rila  —  XZX.  Tae 


Die  Rassenschönheit  des  Weibes,  l^f^^^^^f^ 

gedinekta  Abbüdaagi»  ns«!   1  K&ne  m  Fvbflninxfc.    gr.  ?*■.     IS^>L   gtdk.  3L  14.—, 
ckg.  ä  LeiEv.  geb.  3L  Io.40. 

u    I.   iitnJIiTa— B.  SBd  SfgztZMi     i.  Vagio»   md  y^tBii^Miliiiiiiii      j_  WmUam  vb< 
S.  Dl«  KaCk.;.aa  nd  AkkM.     •<.  Z>to  MTilJuitoeiigi.  itSaanm^  —  LT   Ow 
JayaMvmB.  —  T.  Dt«  3B«rtatoefc»  1 
—  TL  Der  MiMtwte  Easpr^B^m  4sr  itTntriiMfcaete»  BsMt.    Htadoi.    FvaKSuioa  vad  Zc^tnoiT 
—  TU  D;*  ■miirttphiB  Ba««B.     L  Dfs  ^thfftan  mmMrfHitaeh. - auiagilbwgfatt  Ibadtnamtm: 
lamm,  «ad  Owfit—rht— .    D«  iiimhitii— fn     OcnafisK  —  SaodvafcaflBLa .    CariL-asa.    imsam^  '. 
äämtntnUmmnttn,  WimimdaLbrnttmamtla^  ^nii— iTi  i<  >Xiacm'     1.  E«r  v«fs:^t:äai  ¥  ■■  in  —ii    •>  ' 
wmkaK.  bi  Dte  ii^liSTfaefeB  HfiHn—  —  TEIL  Dt«  ±t«c  wreatTäiwImefttfa  rsoK-uHs.  L  Cto  aftä 

eb»  Sciaa«.     "Mihi  twAi   jtrinri«     i.    Du  ramaouKn«   B4m»7    SI^mbk.     TfT%rri_ 
B4l«tm.     Sl    Dm  omdlicb«  Bm»:   J-jideriaadL     L>wi«r'"ii  ft-ü^ 

-     -  —  rtT  -      —  — 


Die  Frauenkleidung  und  ihre  natürliche  Entwicklung. 

Von  Dr.  C  H.  Stnfz.   Dritte  TöDig  «■giarbritete  AxflaCT.   Mis  di^  Aböild^iigea  mid 

1  Tafd.    firr.  ^^    15»>L     ?*li.  M.  15.—,  el«.  ia  Leu».  g«b.  IL  l-S.!»}. 

UZ.   fi'-n^hid  <far  ftM»».    «äcr  j^.spatiiiaefcai    Latp?  oad  4«r  Ztjtzt  vxi    Lj»   I;rygL  ■^aüh.  i^f.   —   IT     I>sr 
KÄvp«ncii«artk     »•    EgmalTiny^    b<    9«ri)«c«cti3rx :k  X3i2  T^zc'9'jeri:xf  S-lcyta^irnnt     i.    um.  Z:r7«r  be» 

fcBJpft  3«km«efcK3ekc  —  T.  Zrjt  ;r.-sta*4  IlAiny  H  lAaeica-zck:  —  TL  Da?  s^iyoMb«  ZltHii-aif  SocIjl  — 
TIL  Dfft  arfcstarii«  XL^^izo^  H-sin».  Jacke*  —  Tm.  Du»  TiVkatsaAz  aa^anasQ^iime^ee  Kil-sxr-r iHir  1.  flfai 
■aeft«  4rapf«.  2.  T-rfhi*'hit  Grx;?«.  3  Iaii:<:iL:af!«si*Tte  läripp«.  4  LiLbbi-s*:!!«  t^np^.  —  O.  Di*  Tolk»- 
UMiiran  «cnpifeKbcr  XzIarvILk^r.  I.  Cr«»  ^ts^nzLi'zh'S  T:Llasntsb.^  S  Dt.«  SBadafiT^dt-aBB.  f.  Dfe  Ho«« 
tfa  «uffiTfi  ht  TotkKr«efc:.  —  X.  Dt«  Bi:<2«n«  r:r:;ÄLK:ä«  rrsaAÜEltfutexr  L  rszorkjssibr  t,  ObstUieider. 
—  XL  rtnihx-^  dar  d^dan^  ta£  dn  ««iborii«n.  KZrgmz.  —  XTT.  T  ihnwi  iiiin  Ar-  YrsaoBJkLaihoq; 

Der  Körper  des  Kindes.   yrnD-Tcksm.  z^^^j^jct 

1*7  m  den  T-=xt  gedmofcen  Abbüdüngen  ühi  2  Taf-In.    gr.  S*.     läO^i.    zfn.  IL  lö.— . 

riesz-,  is  Leinw.  geb.  M.  11.4*j. 

In  kalt:  ESalnssa;;.  —  L  Di«  «mbr^Qna:«  Zasw^eü^s^.  —  IZ.  Ti«  araftbors«  Tirf  —  m.  Dv 
fiafinii  das  Kx»i«a.  —  IV.  Waducaci  «ad  PrcpisnioBeix.  ~  T.  HmaMni«  ri  itlii  —  TL  Ew  aocKai» 
KatwtekXsac  das  ITfuiia  tai  an^vactacs.  —  TZZ.  Daa  HasfiinfßaJseT  «zal  ±«  «ne»  FiH«.  1.—^  Jakr.)  — 
TÜL  Dte  «nfet  SCnekaa«.  <3  —7.  .Xakr.)  -  EL  Dt«  rveCw  KIZ«.  i^.— l).  Jakr.>  —  X.  £i«  iwüae  flirsekasf. 
fU.— 15  laftr.;  —  XL  Du  Bcfft.  il5.— 10.  Jakr  r  —  XIL  Eaiamda«  BaaMA :  »^  Fncnfe  Sintis««,  bi  BmAsr 
daa  «tfdaa  BMasakraa«*.    •!>  L:ä'l<r  dea  fetbcc  Sa«a«akr«tjciw    d>  Kladtr  daa  ack-vaEaaa  TriaaaiiViif  imi. 

Die  Körperformen  in  Kunst  und  Leben  der  Japaner. 

Von  Dr.  C  H.  Stratz.    Zweite  AafUge.    iüt  112  i=.  den  T^x:  »ir^cceii  A'cci:i:3igen 
znd  4  firbi^-rTi  Täfeln,     gr.  ä'.    lyj4.    geh.  iL  S.«5«l'.  elec.  in  Lcfn^.  i«b.  iL  10  — 

Izh&:?:  El^>'.Tz^  —  I.  Dt«  Körp«rfora4n  dar  Jx^ms/iv.  I.  Tm  SksltfCt.  3  XjJ*»  -is-i  Fr:;*:r:::s«=. 
:.  'j^^iibStbCi-zz/f  l,  Kdrp«r%i!d.Ta4.  —  IL  JaFaatacb«r  Sehöc^rKSbecrtf  -zad  £:«Bt«i:ik.  L  Xif^iämi^i  dar 
x.':r;«rli.ti:«a  »t&^rbiKt  t.  Ei-at:t.-a«  i:r!i>:kaaa  d«r  5dl 3«^«::.  —  ZIL  r«t  y^itk»  .ai  ^Lr.  ::^-«!i  La!»». 
l.  Iz  iäT  OcfiiB^Iz-ikkirti.  f  Im  Eaoae.  —  IT  'Dansalliia«  <i-a  rackaaa  K3rp«r«  la  d^;  Exr«-:.  L  \I-j«- 
=«;£<*•  IL  Ii«»:-  -zcA  :X irxiJljpmMl'L  J.  Xjt!:o!c9*ack«  DanMÜ-z^^aa  i.  CarvwLlxsirnr  vu  i-Rn  ^i4::eaica 
L«fa«c  a.  BC7ad«a>b<a-  AxäRaeklrz-ja  Xid«fa«a.  Arbeiter.  Bta^cr.  b-  Eiulicftksn.  I>»kAbi--;  Tctjaoa. 
BAdar.  Tc«kl-van.  Kn^sk.  ■-  B<»:a'f«r*  £r«i.rilaa«  X3d  SzssJCioMn.  r«bRr«acb.7a^  tsi  Ba»if.  ywhtifc*«" 
^Tik.    B<rasb«af  «dl«r  Daaes.    JLviktä9oä«nksr*v 


ft-. 


TAFEL  XVI. 


UM  Wii- 


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TAFEL  VI. 


nmr    t-   llanftfacii^t,   llUbeh« 


i'r-fi,Uf'.    Af/.   tf^mtiM^^üifrU 


RAFFAEL,  SIXTINISCHE  MADONNA 


(Zu  Seite  148,  413  und  437) 


TAFEl  VII. 


SCHWÄBISCHE  SCHULE. 
MARIA  MIT  KIND  UND  EINER  HEILIGEN 


«/j  N.itc    14I   uoti   41« 


TAFEL  XVI. 


i^bol.   F    Jlimr€t.icnglj   Muuchtn 


C/ujrfUTO 


J.  McNEILL  WHISTLER,  THOMAS  CARLYLE 


{Zu  Seite  414) 


TAFEL  IX 


^     4 


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TAFEL  XVIII. 


TAFEL  XVI]  I 


^       ^  VI 

3   rf->  ^ 

^^^.. ';  ^^1 

SOMMERTAü 

Lichtbildstudte  voti  Alfred  Enke 


v:\ 


TAFEL  XIX, 


t*hßi,  F    HanTiii^engll,  Altincheta 


i^&ndeHt   NntiefHat  G&Üify 


MICHELANGELO,  MADONNA 


PZu  Sdie  133,  174  vmd  4,^^ 


TAFEL  XII. 


BRUNELLESCO,  DIE  OPFERUNO  ISAAKS 


Zu  Seite  242  und  408' 


^M-  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART.  }-^ 

Der  INHALT  des  ersten  Heftes  ist  der  folgende: 

Prof.  Th.  Lipps-München,  Zur  .ästhetischen  Mechanik".  —  Prof.  K.  Länge-Tübingen, 
Die  ästhetische  Dlusion  im  18.  Jahrhundert.  —  Prof  H.  Riemann-Leipzig,  Die  Ausdrucks- 
kraft musikalischer  Motive.  —  Prof  G.  Simmel-Berlin,  Über  die  dritte  Dimension  in  der 
Kunst.  —  Prof.  H.  Spitzer-Graz,  Apollinische  und  dionysische  Kunst.    (Fortsetzung  folgt.) 

—  Dr.  Th.  Poppe-Frankfurt  a.  M.,  Von  Form  und  Formung  in  der  Dichtkunst. 

BESPRECHUNGEN: 

Th.  Lipps,  Ästhetik.  Psycholojne  des  Schönen  und  der  Kunst.  L  Teil.  Bespr.  von 
Herrn.  Vahle  (Berlin).  —  Stephan  Witasek,  Grundzüge  der  allgemeinen  Ästhetik.  Bespr. 
von  Dr.  Edith  L an  dm  an n -Kaiisch er  (Basel).  —  Johannes  Volkelt,  System  der  Ästhetik. 
1.  Band.  Bespr.  von  Prof.  Dr.  H.  Dinger  (Jena).  —  Paul  Bjerre,  Der  geniale  Wahnsinn. 
Michael  Haberlandt,  Die  Welt  als  Schönheit.  Bespr.  von  Max  Hochdorf  (Berlin).  — 
Siegfried  Levinstein,  Kinderzeichnungen  bis  zum  14.  Lebensjahr.  Bespr.  von  Dr.  Max 
Osborn  (Berlin).  —  Kurt  Mey,  Die  Musik  als  tönende  Weltidee.  1.  Teil.  Bespr.  von 
J.  Vianna  da  Motta  (Berlin).  —  Emil  Geiger,  Beiträge  zu  einer  Ästhetik  der  Lyrik. 
Bespr.  von  Prof  Dr.  R  M.  Werner  (Lemberg).  —  Rudolf  Borchardt,  Das  Gespräch  über 
Formen  und  Piatons  Lysis  deutsch.    Bespr.  von  Dr.  Edith  Landmann-Kalischer  (Basel). 

—  Johanna  de  Jongh,  Die  holländische  Landschaftsmalerei.  Bespr.  von  Dr.  Paul  Kühn 
(Leipzig).  —  Heinrich  Wolgast,  Das  Elend  unserer  Jugendliteratur.  3.  Aufl.  Bespr.  von 
W.  Franz  (Berlin). 

SCHRIFTENVERZEICHNIS  für  1905.    Erste  Hälfte. 

Für  das  zweite  Heft  sind  folgende  Artikel  vorgesehen: 

Prof.  Joh.  Volkelt,  Sachliches  und  Persönliches  aus  meinen  ästhetischen  Arbeits- 
erfahrungen. —  Prof.  Jonas  Cohn,  Zur  Vorgeschichte  eines  Kantischen  Ausspruchs  über 
Natur  und  Kunst.  —  Prof.  E.  Große,  Der  Stil  der  japanischen  Lackkunst.  —  Dr.  Olga 
Stieglitz,  Die  sprachlichen  Hilfsmittel   für  Verständnis  und  Wiedergabe  von  Tonwerken. 

—  Dr.  R.  Arnes eder,  Über  Wertschönheit.  —  Dr.  R.  Hamann,  Indi3ädualismus  und  Ästhetik. 

—  Prof.  H.  Spitzer,  Apollinische  und  dionysische  Kunst.  (Fortsetzung.)  —  Besprechungen. 
Bibliographie. 


Philosophisches  Lesebuch 

von 

Prof,  Dn  M.  Dessoir  und  Doz.  Dn  P.  Menzen 

Zweite  vermehrte  Auflage. 

S\    1905.    geh.  M.  5.60;  in  Leinwand  gebunden  M.  6.40. 


Inhalt:  I.  Plato.  —  II.  Aristoteles.  --  III.  Sextus  Empiricus.  —  IV.  Seneca.  — 
V.  Plotin.  —  VI.  Thomas  von  Aquino.  —  VII.  Meister  Eckhart.  —  VIII.  Frands  Bacon.  — 
IX.  Descartes.  —  X.  Spinoza.  —  XI.  Locke.  —  XII.  Berkeley.  —  XIII.  Leibniz.  —  XIV.  Hume. 
—  XV.  Kant.  —  XVI.  Fichte.  -  XVII.  Hegel.  —  XVIII.  Herbart.  —  XIX.  Schopenhauer.  — 
XX.  Comte.  —  XXI.  J.  St.  Mill.  —  Namenverzeichnis.  —  Sachregister. 


Das   Lesebuch   darf  man   als   ein    in   jeder   Hinsicht   glückliches  Unternehmen 

zur  Förderung  und  Vertiefung  der  philosophischen  Bildung  begrtlfsen.  Ohne  Zweifel  wird  durch 
das  hier  angewendete  Verfahren,  Exzerpte  der  sachlich  bedeutsamen  und  für  den  Autor  und  die 
GedankenentwickeluDg  charakteristischen  Äufsenmgen  früherer  Philosophen  im  Original  bezw.  in 
getreuer  Übersetzung  vorzuführen,  pädagogisch  mehr  erreicht,  als  durch  eine  den  ursprünglichen 
Stoff  umformende  Geschichtsdarstellung.  Dem  verderblichen,  die  Halbbildung  zeitigenden  Einflufs 
der  Kompendien  von  Geschichte  der  Philosophie  zu  begegnen,  scheint  das  Lesebuch  ein  vortreff- 
liches Mittel.  Die  von  den  Herausgebern  den  Exzerpten  beigegebenen  Anmerkungen  sind  teils 
sachliche  Kommentare  teils  bibliographische  Hinweise. 

Literarisches  Zentralblatt  ipoj.    Nr,  SO. 


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1  I 


-H^t  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART, 

Epictet  und  die  Stoa. 

Untersuchungen  zur  stoischen  Philosophie. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8^    1890.    geh.  M.  10.- 

Die  Ethik  des  Stoikers  Epictet 

Anhang:  Exkurse  über  einige  wichtige  Punkte  der  stoischen  Ethik. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8°.    1894.    geh.  M.  10.— 

Ludwig  Feuerbach. 

Von  Dr.  C.  N.  Starcke. 

gr.  8».    1885.    geh.  M.  9.— 

Die  soziale  Frage 
im  Lichte  der  Philosophie. 

Vorlesungen  über  Sozialphilosophie  und  ihre  Geschichte. 

Von  Prof.  Dr.  L.  Stein. 

Zweite  verbesserte  Auflage. 

gr.  8^    1903.    geh.  M.  13.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  14.40. 

Ethik. 

Eine  Untersuchung  der  Tatsachen  und  Gesetze 

des  sittlichen  Lebens. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Dritte  umgearbeitete  Auflage. 

Zwei  Bände,    gr.  8^.    1903.    geh.  M.  21.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  24.20. 

Logik. 

Eine  Untersuchung  der  Prinzipien  der  Erkenntnis  und  der 
Methoden  wissenschaftlicher  Forschung. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Zwei  Bände,    gr.  8^    1893—1895.    geh.  M.  43.— 

I.  Bd.    Erkenntnislehre.   Zweite,  umgearbeitete  Auflage,   gr.  8*.  1893,  geh.  M. 

IL  Bd.   Methodenlehre.    1.  Abteilung.   Allgemeine  Methodenlehre.    Logik  der  Matiiei 
und  der  Naturwissenschaften.     Zweite,   umgearbeitete  Auflage,     g 

1894.    geh.  M.  13.— 

II.  Bd.  Methodenlehre.    2.  Abteilung.    Logik  der  Oeisteswissensdiaften.     Zweite, 

gearbeitete  Auflage,    gr.  8®.    1895.    geh.  M.  15.—  — — 


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^h  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART.  ^ 

Die  Karikatur  und  Satire  in  der  Medizin. 

Mediko-kunstliistorische  Studie  von  Dr.  Eugen  Holländer^ 

Chkujs  in  Berlin. 

Mit  10  fiirbigea  Tafeln  und  223  Abbildungen  im  Text 

boeh  4"*     1905.     Kartoniert  M.  24,—,  in  Leinwand  gebunden  M.  27*— 

lahalt:  VerzelchuU  der  Abbliautigea.  —  Ln«rfttorrei*elcfeöifl.  —  ElnMtung.  —  Kari^aiiur  uai  I 
ült  Beca^  inf  Mf^dl^iu,  Die  Karikatur  bla  zur  Eeformatloii.  ßi^tlre  nod  KarlV&tur  im  R6furm4ljQiigi«tiyi 
Die  KRTlkatiLr  df^r  Pathologie.  Die  Ülcht.  LnfftlCLtLoiiskriLnkLelteti.  KürvÖse  AtfetEUaueii.  armTidllM.  J 
ueutA  eitprna  und  V»na,  —  Wer  Ärst  als  Mansch  wuil  aU  eund.  Da*  Ar^thoöorar  —  Dl«  t*fmJitl««to 
kund»  itn  sipbEehnt«j3  und  acbUeliateD  JAlirbuDdc^ru  Dfif  tlorlieb?  Ua^fitlimuB.  JoLnDer  iii^d  die  Ealdai 
—  I>te  l'flriM»lt«u  d€!r  Hflilkubde.  --^  Die  palltiiob  medlztaiacho  Eaflk^lur  und  Sslire,  —  Die  m^odexn«  mtttl» 
niiclM»  Karikatur. 

Holländer  hat  mit  dieaeni  seinem  neuesten  Fmclitwerk  nicht  nar  sein  erstes  in  idedior 
Weise  ergSjizt,  sondern  auch  die  historiache  Literatur  mit  einer  weiteren  Gabe  von  mal» 
mentaler  Bedeutung  bereichert.  Ea  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  dieses  neued^  0<s^^ 
fltück  KU  dem  älteren  Werk  im  Verein  mit  ibm  dem  Verfasaer  einen  faenrorrafteD4€&  ol 
dauernden  Platz  in  der  Literatur  der  inedij&i machen  Kulturgeschichte  aicherL  — ^  Ifodl  to^ 
fast  als  das  vor  zwei  Jahren  erschienene  W%rk  wird  die  ,  Karikatur  und  Satire  tu  du 
Medizin'  das  Entaückeu  der  kunetfreudigen  und  kunstfrenndBcheri  Kollegen  erremn  nad  ili  , 
überaus  geschmackvolle  und  passende  Weihnachtsgabe  in  ihren  Kreiaen  weite  Verbrciti^ 
finden.     Prof.  Pagel- Berlin.  Dmtstki  Mrm-Zeitung^  jgos. 


Die  Medizin  in  der  klassischen  Malerei. 

Von  Dr.  Eugen  Holländer,  Chirurg  in  Berlin. 

Mit  165  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 

hoch  4".     1903-     geheftet  M.  16.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  18,— 

lohiltt  Vorwort,    EIiiIelt«zLg.     Die  AQ«Wmiee«mälde,    lfedlEiiil»(?be  aruppo&bttd#r« 
üteUtiQgvQ.     laaer«    Medlxln.      Ctilnir^a.     AUegoHaa»    BoipSUler  und  Wocbe&stubes.    Womg^mXm^amtim 
ScibluÜwort. 


.  . .  Wie  sehr  hat  der  Autor  die  an  sein  Werk  geknüpften  Hoffnungen  und  ErWÄrti 
zu  übertrumpfen  verstanden !  Denn  ebenso  glänzend  wie  die  äuBere  Au^stAttaa^ 
Auswahl,  photographische  Reproduktion  der  Gemälde  und  die  sonstigr  ijp^ 
graphiiche  Technik  hervortritti  ebenso,  ja  noch  glänzender,  id.  der  die  Öü- 
der  begleitende  Teatt     Prof,  Pagel- Berlin*  Dmische  Jrzie-Zntmtg  t^o^  Ar.  f. 


Die  Wochenstube  in  der  Kunst 

Eine  kulturhistorische  Studie  von  Dr.  med,  Robert  Mitllerheiin* 

Mit  188  Abbildungen, 
hoch  4*.    1904     Kartoniert  M.  16.—,  in  Leinwand  gebunden  iL  la— 

lull  alt:  Vgrwori.  EtuTührmig.  Die  Woch&iiBttibc.  DmM  BeiL  QaburiMttjJiI.  POte«  4i«  ViAvHls. 
Pfl«g«  äe»  Klsdoa,  Eleldung  d(^a  KlodeB.  Eraihinmg  ä^n  Eiodoi.  Batt  dM  EinJw,  dlttab«  «oi  kJ^&^a^f 
iD  der  Wocheiiatuti«.  VoIlijiQmUohB  und  ff«lehrt«  AijachäQuugflfi.  Kultus  dar  WdcbuertD,  EMI«  ^m  V«cteB- 
betls.    AQii&Qg.    Quälten  acd  AaraarkaiiffeQ. 

Das  Buch  ist  ein  schönes  Zeugnis,  daB  unsere  Kunst  nicht  ganz  In  dem  lumdwcffc»- 
mäßigen  Broterwerb  aufgeht.  . . .  Umso  freudiger  berußen  wir  ein  Werk  wt«  itm  xw^ 
liegende,  und  umso  herzlicher  danken  wir  dem  Autor  für  die  mühevone,  von  tief^ni  V«* 
ständnisae  für  die  Kunst  und  die  Wissenscbaft  zeugende  Sammlung  dea 
Materialesi    Der  Autor  hat  ganz  recht,  wenn  er  sagt,  daß  gerade  die  bildJicheti  ] 

früherer  Sitten  und  Gebräuche  uns  am  besten  in  das  Familienleben  vetgßMgmer  l 

führen. .  .  .  Nicht  nur  die  aablreichen  —  138  —  Abbildungen  wird  jeder  C&biirtdMilfttr  itf 
Interesse  betrachteui  auch  der  Text  ist  außerordentlich  intereisant  und  le 


Zinir^Mmit  für  QynäJt^hgU  ggcßj^  S^,  g^ 


VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART,  i>^ 

Grundriß  der  Anatomie  für  Künstler. 

Von  M.  Duval, 

Professor  der  Anatomie  an  der  Kunstakademie  zu  Paris. 

Autorisierte  deutsche  Übersetzung  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  med.  F.  Ne eisen. 
Zweite  Auflage  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Ernst  Gaupp. 

Mit  78  Abbildungen. 
S^.     1901.    geheftet  M.  6.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  7.— 

Ein  auch  von  der  deutschen  Presse  warm  empfohlener,  an  verschiedenen  Kunstaka- 
demien eingeführter  Leitfaden,  der  mit  knapper  Fassung  lebhafte,  anregende  und  leicht 
verständliche  Darstellungsweise  verbindet.  Die  zweite  Auflage  ist  von  Herrn  Professor 
Gaupp  in  Freiburg  gründlich  durchgesehen  und  ergänzt  worden.  Auch  wurden  sämtliche 
Abbildungen  nach  neu  gezeichneten  Originalen  auf  das  Sorgfältigste  erneuert.  Demunge- 
achtet  wurde  zur  Erleichterung  der  AnschafiPung  der  bisherige,  billige  Preis  eingehalten. 
Der  Grundriß  sei  allen  jungen  Künstlern  wärmstens  empfohlen. 

Geschichte  der  Metallkunst 

Von 

Dr.  Hermann  Lfier,  und  Dr.  Max  Creutz, 

Leiter  der  Fachschule  für  die  Solinger  Industrie.  am  kgl.  Kunstgewerbemuseum,  Berlin. 

-^-2  Zwei  Bände.  S— *- 

Erster  Band:  Kanstgeschichte  der  unedlen  Metalle.    Schmiedeisen,  Gußeisen,  Bronze,  Zinn, 

Blei  und  Zink.    Bearbeitet  von  Dr.  Hermann  Lüer. 

Mit  445  Textabbildungen. 

gr.  8°.    1904.    geheftet  M.  28.—,  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  30.— 

Dem  Verfasser  kam  es  in  erster  Linie  darauf  an,  eine  für  die  Gebiete  der  Metallkonst 
bis  heute  fehlende  Zusammenstellung  der  bedeutsamsten  Werke  zu  geben  und  die  wichtigsten 
darüber  bekannten  Nachrichten  auf  Grundlage  der  bis^  in  die  jüngste  Zeit  veröffentlicmten, 
sehr  verstreuten  Einzeluntersuchungen  vergleichend  beizufügen,  uie  wichtigeren  benützten 
Quellen  sind  im  Texte  angeführt.  Zum  Studium  der  äußerst  interessanten  Geschichte  der 
Metallkunst  ist  das  Werk  ein  ausgezeichnetes  Buch;  deijenige,  der  sich  nur  belehren  will, 
wird  mit  den  kurzen  Mitteilungen  und  den  vielen  guten  Abbildungen  genug  haben;  dem, 
der  tiefer  in  das  Gebiet  einzudringen  wünscht,  ist  es  ein  hochzuschätzender  Wegweiser. 

Deutsehe  Kunst  und  Dekoration  igo4\igos^  Heft  IV, 

Die  Frau  in  der  bildenden  Kunst 

Ein  kunstgeschichtliches  Hausbuch 
von  Anton  Hirsch) 

Direktor  der  großherzoglichen  Kunst-  und  Gewerbeschule  in  Luxemburg. 

Mit  330  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen  und  12  Tafeln. 

gr.  8^    1904.    Geheftet  M.  18.—,  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  20.— 

Die  bildenden  Künstlerinnen  der  Neuzeit 

Von  Anton  Hirsch, 

Direktor  der  großhersogUohen  Kunst-  und  Gewerbeschule  in  Luxemburg. 

Mit  104  Textabbildungen  und  8  Tafeln. 

gr.  8*.    1905.    Geheftet  M.  9.20,  elegant  in  Leinwand  gebunden  M.  11.— 


— !   VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART. 

Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  ^«.ITo^i^ 

l^ewidmet.  Von  Dr.  C  H-  Strato,  Achtzehnte  Auflage,  Mit  270  teils  f&rbi^en  A}M* 
dungen  im  Text,  6  Tafeln  in  Duplex- Autotypie  and  1  Tafel  in  FHrrbeadrucfc.  gr,  0*. 
1906.   geh.  M.  15.60*  eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  17.G0* 

Ilib»U:  EluloHun^* —  I.Dfir  iBQdertie  ScbüubältAbegfLIT, —  EI*  D^ritelltmg  w^bttelier  SebjAiiiiall  ttitf 
dts  bilde D da  Eiuut.  ^  I£I.  Welbtlcb«  ScbönbeU  in  der  Lit«»h3r.  -  VV.  FraportJo !»]«&»  nztd  Kaaoiu  —  ▼-  SMtf 
der  Entwlßlclting  und  Yät^rbuDg  auf  den  Körper.  —  Ytl  Elnfloö  Ton  Qeaetileobt  und  LebcriwaJ.t«r.  —  VtL  ^täd 
7on  ErnäbraDg  and  Leb'^DS^WQl^e  --  VII 1  El&flitß  voii  EruilbAtten  attf  die  Körpörform.  —  IX^  l^?l^^^n^  i^ 
Klßlder  ftuf  dte  KdrperfonzL  —  X.  Boiurtellniig  des  Körpers  im  &ltKem«liieii.  —  XI.  Eopf  und  üiJi  - 
Jll.  flumpf,  äobull^T,  BruBt,  B&uuh,  Rüeken,  Huftea  und  aeei&6-  --  £111.  Ob^ra  GHedmaflen.  ^  XIT.  |;sIb 
Ö 11  (>d maßen.  —  XV.  »cUöiibeit  di?r  Farbe.  ~  XV!.  Soböobeit  der  BtiVAETan^.  StellrangeQ  d««  rtibetid«!  EMrrm. 
SteliiiDgfla  des  bawßRteD  Eörpera.  —  XVll.  Üeberblieli:  der  geg^benea  Ztitihea  DarniAJer  KdrperblldiEQf  — 
IVIU..Ver*'ertttGa  la  det Kunst  und  Kimatltrltllc.  Modells.—  XII.  Voracbilftfitt  mr  Erlimltiing  ima  Fdi^iirs^ 
WMbllolier  BohoubelL  —  SuibTerEclcbnls^  —  NutP^nfer^eJehnls. 

Die  Rassenschönheit  des  Weibes.  ^"^ ""  *^  "•  ^*^*^  "* 


Attflftge.    Mit  271  im  dm  T^ 

gedruckten  Abbildungen   und    1  Karte   in  Farbendruck,    gr*  8**.     1904,     g^K  IL  14—, 

eleg.  in  LeLnw.  geb.  M.  15,40* 

iab»lt!   EliäeUwüg.  —  J.  Buieii  und  ]]U«euiii«rkiiule.  —  It.  Dh  «vlbllt^lke  B4Metiid£a|_  <— HL  Div 
protomurpbf^n    RitiHen,     1.    AuatraMerlDiiisa    und    Ne^rltDi.     ^.   Papuu    und    UelJiti««lerltitieit.      9. 
r>r*¥idaB*     4.   Aiiioii.     fi.  OJe   KülltoJaB   und   Akku.     fi.  X>i0  »niErUanl*cben   Stimiae.  —  IV.  Dl« 
Hanptrafläe.    CblneBlnneD.    JApaa»lniien.  —  V.  J>lo  KljcTltlscb»  Hsaptruse.  Ba&tnDegerttiiieia.    Bud 
—  VI,  D«p  aalaü^ebe  Hauptstwmm   di5r  tx^lttelläadi^cbeii   BuAe.     Hindus.     Per««i1iiaäti  und  r^ 
Tlantn.  —  VII    Die  metam^rpben  Busflen.     t    Dia  öittlchen  mlttcHÄadl^cb-iDoagollflelijea   II 
Slam,  Anam  und  CDcblufiblna.     Dia  diind«LuselD.     Oceaiilen  —  SandwicblmjialD  ,   CarDlljtwD  , 
liiil«ln»  AdmlralltütatnJ^eln,  Fr^ttndscbaftsInBeln,  Neufleelaüd  (UaQfla).    f.  Dlfr  weaUldib^  MlacliTSHea:  «jl^  1 
und  Tarauler.    b)  Dia  atbiopiRche  MMcbr^ea.  ^  YIll    Ble  drei  mit tal!ipd($cbe'Q  Unten%fl«eiz.   i.  Die  «fril] 
Easae:    A«<|^fpten.     Berbarigchft   Stänune,      Maarlicbe   Stämme.    9.    Dia  romanlftobft    Ri«ae:    Spaal«^ 
Griechenland.    Ffankrelcb.     Belgien,     ».    Di«    oordlBclie   Eaaga:    NiedeHanil.      Oest^rrvleh.'lJBcsni^ 
BetitBcbland.    Dümemark.    BkaudUiaviBn.  —  treb«rBicbt  der  wlcbUgaten  welbUcheii 


Die  Frauenl<Ieidung  und  ihre  natürliche  Entwicklung. 

Von  Dr.  C  H*  Stratz«.   Dritte  völlig  nmge arbeitete  Anflape.    Äüt  269  Alibilditagcii  mmi 

1  Tafel,    gr.  8^    1904*     geb.  M.  15.—,  eleg.  in  Leinw,  geb.  M.  16,40. 


Inbmlt:  EtotcHnng  -  I.  Die  Nacktheit.  —  IL  Ple  RörperveTilerune.  a)  Körp^raduaiiek  ftj  I 
III.  Elndnß  der  Baefien,  der  gaogr^ph lieben  Lage  und  der  Eultmr  %q1  die  EÖrperTerderuf.  —  t^  1>*^ 
X6irperH0bmD0k  a)  Bamalung.  b)  Narben^obmitck  und  Tätowlernng-  a)  ESrp^rpUsIlk.  d>  An  Eorp«r  b^ 
fsBti^te  Bcbmticlcatnük«-  —  Y.  Dia  primitive  Kleldnng  (HüftütihmiKjk).  —  VI,  Dl«  traplfifbe  Klttdaa«  Oto^ü.  ^ 
VIL  Die  arktlBotia  Kleidung  fBoae,  Jackel.  —  YIIL  Die  VolkatraAbt  aoÜaranropirlBober  Koltiur^lter.  L  Gi' 
ilHoli«  ßrnppe.  f.  Indlaolie  Ontpp«,  B.  ludocUüln^elistUie  Chruppe.  4.  lalatnltlaebe  Oruppei'.  —  E^  Pt»  T«l 
trapbt«»  earop&lücbör  Eultorvölket-,  1.  Die  etgentllcba  Tolkalrutlit.  3,  Dia  Staade»tra£2itsti,  S  tMi  fl 
alit  valbllohe  Vollutrjtcht.  —  X,  Dl«  modartie  «nrdpilauba  Frantenklaldnng.  I.  Untei-kleidKr.  1.  HfbtAMUm* 
—  XI.  Emfluß  dai-  Eleldiuig  auf  den  wegblieb  eD  Edipar,  ^  XU.  Vdrb«e«eTtmg  der  FFaaoikleidvBi. 

rV^r    k^rim^r    Hac    k^inrlac        ^^»^  Kltem,  Erzieher,   Aente  uad  E&wtkc. 

uer  ivorper  aes  ivinaes.   voiiDr.cH.strftte.  zwmt#  Amnmgi.  »t 

187  in  den  Text  gednietten  Abbildungen  und  2  Tafeln,    gr.  B\    1904.    geh,  ÄL  10.— 

eleg.  in  Leinw,  geb,  M,  11,40. 

Inbalt;  Elnloitnng.  —  l.  Die  embryonale  Entwiaklang.  -^  IL  Das  iteni«ber«ae  Ktod.  ^—  HI.  D» 
Llebretf  dea  ElndeB«  ^  IV.  Waicbstam  und  Proparllunen.  —  V,  MemmmAe  ElmAaü«  —  ¥L  lü*  samalv 
Entwicklung  dea  Eindea  im  allgamelnan.  —  VII.  Das  SätiRUngfiattar  und  dl«  «rat«  Fäll«.  <],— 4  i^hr^  — 
Vin.  Die  eratfl  Streckung.  (5.-7,  J*hr.>  -  IX.  Die  zweite  Fiille.  (S.— lü.  JUu.J  —  X.  IM»  Ew«il«  mrmtsMmg^ 
(ll.-'ia  Johf.)  -  XI,  Dia  Ealfe.  (Ifi.— 90.  Jabj-  >  —  XII.  Xlnder  anderer  BM«en^  a|  Frecade  &ia«ltlic«w  hi  F 
de»  welBea  Rai^ankTeisef,    a)  Ktudtr  daa  gdbesi  Baftaenkralai««.    d)  Eindeir  du  ecbwiA«!!  F 

Die  Körperformen  in  Kunst  und  Leben  der  Japaner» 

Von  Dr.  C  H,  Stratz,    Zweite  Auflage.    Mit  112  in  den  Text  gedmcktüa  AtUlIdimgCft 
und  4  farbigen  Tafeln,    gr.  8^    iy04,    geh,  M,  8.60*  eleg,  in  Leinw.  g^,  IL  lOi^ 


In  halt:  Eiplqjitang  —  L  Die  Eörperformeti  der  Japaner.    ].  Daa  Sk«|etl«   f. 
3.  GafildiUblltiDDg.     4.  KOrperbilduDg.  —  IL  JapinlBcbar  Bebönheiiibeirriir  nnd  Koasettk,    1.  Al 
körperlichen   Scb^nlieiC.     t.  Eünetllcbe   Erhöhung  der  Söbanbetl.   —    OU  I>a*   Hifiikto   tm 
I.  ID   der  OeHenÜlchkett.     f.   !m   Hfruae,  --IV.  DAt^tellnDg   dea   D*cM«m  KfiTp«r«  t«  4«t  Emm^    1. 
melnca,     S.  Ideal*  nnd  KofmalBestalL     5.  M^tbologtscbe  Daratellungau.    ft.  DaEfttelloilf 
Leben,   l)  8tra£enleben.     Auftoeaobärzte  Mädebea.     Arbeiter.     Ringer,    b)   BknmUtltikäiL 
Bidar.    YoflbivarA.    ErotUc.    a}  Ba@oi}d«re  l^rei^nlsa«  und  Sltuanoaen.     U^btmUi^nK 
flpnk.    Beraubuag  edler  DAm«n.    AwabtAseherlnaeti. 


TAFEL  XIV. 


M.     a    '  •.'^f    l>.aubo.t  «oo    k.   VuigUA»«!««  V«rU(.   Ijfkptkg 


AI  S    LEVINSTEIN.  KINDERZEICHNUNOEN  BIS  ZUM  14.  LEBENSJAHR 

(2«  S«c«  »79  f.l 


TAM  l    XV. 


,\  \ 


TAFEL  XV. 


Kflitf  im  ^tr  lliim  AH^ml,  Kmm. 


ANTINOUS 

«/tt  Sctt«   4#w»  ttnti    4o<  t 


•i^Il  l  h\    \\U  >M\-   K..\U[  S  l  I 


TAFEL  XVI. 


i  »        M.       .•.'-:.         M   .•      Kr 


tiisig^nv 


J.  McNEILL  WHISTLER,  THOMAS  CARLYLE 


UM      <  ^ 


BETENDE  NONNE 


/ 


TAFF.L  XVII. 


BETENDE  NONNE 
LichtNkisludie  von  Alfred  Enke 

/li   >rtle   41«   unij   4»>'» 


jMä 


ilM«r«t*lk 


TAFFL  XVIII. 


SOMMERT  Aü 

Lichthikisttiilic  von  Alfred  Lnkc 


i/»   ^.ir   4J 


m^jmi  MMutut 


TAFEL  XIX. 


I       H*^.*.-^»rfl      Ur«.  ^- 


MICHELANGELO.  MADONNA 


/ti    S*ifC     l»J       1*4     "«»*J    4» 


Verlagswerke. 


^--i^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTOART.  -i-^ 

Soeben  beginnt  zu  erscheinen; 

Zeitschrift  für  Ästhetiic 

und 

Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

Herausgegeben  von 

Max  Dessoir. 

Erster  Band. 
1.  Heft.    10  Bogen.    Lexikon-Format    1906.    M.  5.— 

Die  Zeitschrift  erscheint  in  Heften  von  acht  bis  zehn  Druckbogen,  wovon  je  vier  einen 

Band  bilden.    Der  Preis  der  Hefte  wecJiselt  ttach  dem  Umfang,  die  Berechnung  erfolgt 

heftweise.    Es  ist  alljährlich  die  Ausgabe  eines  Bandes  beabsichtigt. 

Prospekt. 

Der  Sinn  für  die  ästhetischen  Fragen  und  die  allgemeine  Theorie  der  Künste 
hat  in  den  letzten  Jahren  ebenso  zugenommen  wie  die  Zahl  derer,  die  auf  diesem 
Gebiet  wissenschafUich  tätig  sind;  die  Probleme  besitzen  einen  umfang  und  eine 
Tiefe,  die  ein  besonderes  literarisches  Organ  für  ihre  weitere  Bearbeitung  geradem 
notwendig  machen.  Es  ist  ein  Übelstand,  daß  sachlich  Znsammengehöriges  gegen- 
wärtig in  viele  und  verschiedenartige  Zeitschriften  verzettelt  wird,  daß  jeder,  der 
sich  mit  ästhetischen  und  künstlerischen  Dingen  besohäftigt,  die  neuen  Forschongen 
mühselig  sich  zusammensuchen  und  aus  der  Verbindung  mit  anderen  Angelegenheiten 
lösen  muß,  daß  nirgends  durch  Berichte  ein  umfassender  Überblick  über  die  so 
mannigfaltigen  ästhetischen  Untersuchungen  geboten  werden  kann. 

Aus  solchen  Erwägungen  heraus  ist  die  oben  genannte  Zeitschrift  begründet 
worden.  Sie  wird  in  Heften  von  8 — 10  Bogen  umfang  erscheinen;  jährlich  weideii 
etwa  vier  Hefte,  die  einen  Band  bilden,  ausgegeben  werden.  Jedes  Heft  enthält 
außer  einem  systematisch  geordneten  Verzeichnis  der  neu  erschienenen  Bücher  und 
Aufsätze  eine  Anzahl  von  Abhandlungen  und  Besprechungen.  Nur  wissenschaftlich 
wertvolle  Beiträge  kommen  in  Betracht,  doch  werden  sie  im  Hinblick  auf  die  er- 
hoffte Anteilnahme  aller  ernstlich  Interessierten  ohne  übertriebene  Gelehrtenhaftig- 
keit  abgefaßt  sein.  Studien  zur  Geschichte  der  Ästhetik,  experimentelle  Unter- 
suchungen über  die  elementaren  Verhältnisse,  Analysen  der  ästhetischen  Wirkungen, 
exakte  Forschungen  über  die  Kunst  der  Naturvölker  und  der  Kinder,  über  das 
Schaffen  des  Künstlers  imd  die  allgemeinen  Fragen  der  Poetik,  der  Hosikiathetik 
und  der  Theorie  der  bildenden  Künste,  endlich  auch  inhaltreiche  Erörtenmgen  der 
Stellung,  die  die  Kunst  im  geistlichen  und  gesellschaftlichen  Leben  einnimmt  —  das 
wären  die  Arbeiten,  die  hier  gesammelt  werden  sollen.  Auf  dasselbe,  nur  ongefthr 
umschriebene  Feld  beziehen  sich  auch  die  Berichte. 


■^^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTOART.  ^-»- 

I>tr  INHALT  ilm  mtm  Hcftrt  int  diT  fulgencJc: 

i'nif.  Th   Li |i|> ••München,  Zur  »iinthotiiohrn  Ml'^hanik^  -     Tnif.  K.  Lan{re-TiibioK(*tii 

I>i<-  iisthftiMrhe  Uluiion  im  IH.  .Uhrhundert.     -    iVnf  H.  Rirmnnu-Ijt-ipciir,  iHv  Auidntckt- 

kraft   inuiikKliM'hiT  Motivf.         Trof   (i.  SimmeMiiTlin,  Vhrr  dii*  dritte  Dimeniion  in  d«>r 

KuM*t.         Vrnf.  H.  S|>itier-(vra/,  AiKilliniichL*  und  diuiiyiiichr  Kumt.    (FortActxuuK  fnlf^t  ) 

l'r.  'Hl    Tu |i|M- Frankfurt  a.  M.,  Von  Funn  und  Formung  in  d«r  Dichtkunst. 

Th.  Lii'p«,  Äithi'tik.  riycholoffie  den  Sfhünen  und  der  Kunst.  L  Teil.  Bra|>r.  toii 
Hirtii  Vahlt*  'HiTÜn)  --  Strphan  Wita«*k,  (irund/ütrc  di*r  allf;t»niriDvn  Astliftik.  Boipr. 
von  I>r  Kdith  Landniann-Kaliacher  (BancU.  «Itihannrt  Volkelt,  Syitmi  drr  Anthetik. 
1.  Hüiid.     Hi'üpr    von  Prof.  Dr.  II    Dinirer  (.lena)  i'aul  Hjcm',    D«t  f^cnialu  Wahnsinn. 

Mii-)iai  I    llatirrlundt.    Dii>    Wvlt   als  Schönheit.     Hitpr.    von    Max    Hochdorf  (Berlin).    - 
Suu'frfd    LrvinNtrin.    Kindrr/cichnunffrn   bis   /.um    14.    liehrn^jahr.     Bi*8|>r.    von    Dr.    Max 

•  i^k...rn  'Hfrlui'.  Kurt  Mry,  Dir  Musik  als  tönrnde  WVltidce.  1.  Ti'il.  Bni|ir.  von 
.1  Viuniin  dn  Motta  iHitImi).  Kinil  Uciirer,  B<*itrüi;i*  zu  einer  Ästhetik  der  Lyrik. 
lirtpr.  villi  l'n.f  Dr  II  M  Werner  (liemberv».  —  Rudolf  Borchardt.  Da»  ircspräch  üImt 
KiTii.'ii  unil   I*Utoii.i  Iasih  drutju'h.    Ppspr.  von  Dr.  Kdith  Landmann-Kaliütrhr  r  (BaseD. 

.I<ihaiiii:i  di'  Jiinu'h.  I^ie  hollandiich«»  Landschaftsmalerei.  B«:spr.  von  Dr.  Taul  Kühn 
Lt-ij/ikM  —  llnriru'h  Wuti:aiit,  Das  Kleiid  unserer  .luf(i*ndliteratur.  I).  Aufl.  BeB|ir.  von 
\V     Kr:n:/    iMrrhii» 

srMKH.TK\VKK/K!('HXlH  für  I'.h»:,.     Knto  Hälfte 

Kur  il.i-  .'\%iitt«  Hl* fr  mwi  fnl^iMitlv  Artikel  voriresehen: 

rrof.   .I<«h    Vnlki-lt,    Sachliches  und  l'ersönlirhes   aun  nirinm  kuthetisi'hen  ArlK-its- 

•  rt'uhr:i:  L't'ti  Tp'f  Jonas  Tohn,  Zur  Vonrrschichto  einen  KantiH*hen  Aus^iiruchn  über 
N.iVii  i:.'!  Kurier  I*rof.  K.  (iroUi*.  Der  Stil  drr  ja|ianisi*hrn  Lackkunst.  ~~  Dr  Olfifa 
St:<  ^'i:*.'.    Do-    «prarMichin  llilf^niitttl    für  Verständnis  und  Wietlorirabe  von  T<inwcrken. 

I  ••    M   Alm  <ii<i«r.  I  Ixt  Wert^rhitnheit.  —  Dr   K.  Ilamann.  Individualismus  und  Ästhetik. 
\'T'i    \\    .S|.|t2rr.  .\iMilliiii^  )ii<  und  diiinvninche  Kunst.    (FortM't/iin};.i        Bes|iri*Ghunf(eii. 
\  .\  .i-..T:i|  lu.-. 


Philosophisches  Lesebuch 

von 

Prof.  Dr.  M.  Dessoir  und  Doz.  Dn  P.  Menzer. 

Zweite  vrrinchrtc  Auflage. 

S  .     1(N>5     K«h.  M.  5M);  in  Leinwand  gebunden  M.  6.40. 


InhAit:     I.   PUto.         li.  Aristoteles.  —    lli.  Sextus  Empiricus.        IV.  Seneca. 
V    IMotin.        VI.  Thr)ma«  von  Aquino.  —  VII.  Meister  Eckhart.        Vill.  Francis  Bacon.  - 
i\   lu seines        X  Spinn/A        XI.  Locke.       XII.  Berkeley.       Xlll.  Leibntz.       XIV.  Hume. 
W.  K.int        XVI  Fichte.       XVII.  Hegel.       XVIII.  Herbart.       XIX.  Schopenhauer.  - 
\\    Comtc         XXI.  J.  St.  Mill         Namenverzeichnis.        Sachregister. 


\r\\    I  r«e1>Uih    >\.\ri    nun    aU    rin    in    jrörr    Min«ichl    |*lUiklichrft  rntcrnchmrn 

:•  .:   un!   Vrr;:rlun^  ilcr    |>hiU>«<iphis«:hrn    lidilun}*    liCi^iuUrn.     Ohnr  /weitrl   wird  durch 

■  .:   -.«   ;i   1-r    \rrf«l.rrn.    I  «?rr|iTp    *\rT    vichlich   tietlraltJiinrn  und  f:>r  t)rn   Autur    und  die 

"r,Ki  M.t'.\in^   «.l.4rjk?rri«t.«\hrn    .\ar«rrun|;rn    (ruhrrcr    l'hila%uphcn    im  ( *rif;inal    lirzw.  m 

•  rw!.  :r.*    %«.r.-ufji:rrn .    )ia<!a|;fi|;i«ch  mehr  rrrcicht.    al«  f!urch  nne  den  ur«|'nin|*lichrn 

riu- n  ■•-   (f'««.r.:i.hl«<ljr«lrliun|;       H^m  YrrdrrMichcn.    ilic   lUIhbildunc    .'ritif^rndrn  Eiolluf« 

'!.  :.r:i   ti  n  (irtihitKir  «irr   l'!idi'V)phie  ru  l>e(r|pirn .    %cheint    tla^   I.e«rl>urh  ein  vurtreff- 

l>:r  «un    ilrn  llrrjiu«^rl>rm   den  Ksrerpten   bcigegehenen    Anmerkungen    sind    teds 

K   ninirnMrr  teiU  hihluigraphi^chc  lliawcise. 

Lüerarisfhft  /rniraiMatt  t^\i.     -Vr.  5<>. 


-i  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART. 

Epictet  und  die  Stoa. 

Untersuchungen  zur  stoischen  Philosophie. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8».    1890.    geh.  M.  10.- 

Die  Ethik  des  Stoikers  Epictet. 

Anhang:  Exkurse  Ober  einige  wichtige  Punkte  der  stoischen  Ethik. 
Von  A.  Bonhöffer. 

gr.  8°.    1894.    geh.  M.  10.— 

Ludwig  Feuerbach. 

Von  Dr.  C.  N.  Starcke. 

gr.  8^    1885.    geh.  M.  9.— 

Die  soziale  Frage 
im  Lichte  der  Philosophie. 

Vorlesungen  Ober  Sozialphilosophie  und  ihre  Geschichte. 

Von  Prof.  Dr.  L.  Stein. 

Zweite  verbesserte  Auflage. 

gr.  8^    1903.    geh.  M.  13.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  14.40. 


Ethik. 

Eine  Untersuchung  der  Tatsachen  und  Gesetze 

des  sittlichen  Lebens. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Dritte  umgearbeitete  Auflage. 

Zwei  Bände,    gr.  8*.    1903.    geh.  M.  21.—  ;  in  Leinw.  geb.  M.  24.20. 


Logik. 

Eine  Untersuchung  der  Prinzipien  der  Erkenntnis  und  der 
Methoden  wissenschaftlicher  Forschung. 

Von  Wilhelm  Wundt 

Zwei  Bände,    gr.  8'.    1893—1895.    geh.  M.  43.— 

I.  Bd.    Erkenntnislehre.  Zweite,  umgearbeitete  Auflage,   gr.  S\  1893.  geh.  M.  15.— 

II.  Bd.  Methodenlehre.    1.  Abteilung.  Allgemeine  Methodenlehre.    Logik  der  Matiieinaft 

und  der  Naturwissenschaften.     Zweite,  umgearbeitete  Auflage,     gr.  •*. 
1894.    geh.  M.  13.— 
II.  Bd.  Methodenlehre.   2.  Abteilung.    Logik  der  Geistes wissensdiaften.     Zweite,  ■■■ 
gearbeitete  Auflage,    gr.  8^    1895.    geh.  M.  15.— 


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Union  Deutsche  Verlassgesellschaft  in  Stuttgart»  Berlin,  Leipzig. 

Lichtbild-Studien. 

Dreißig  Heliogravüren  nach  Aufnahmen  von  Alfred  Enke. 

Folio.    In  eleganter  Mappe.    20  Mark. 

.t.'ii!'     1    KLiic-t  ■>»•■!  IUu>Tib        i   Mutfcn  lu  H^n  Martin«-     -  s  Vroi^zianiicber  Mu«ibflhjn<ni>i 
4    >• ).]   :.    ti-.    K'-T  btn<S>r  ■      \urfruhlinK  7.  Auf   li-r    Wi  i.!.  n     lulifniiiL-h«'    Villa 

f    >tul.  :      iMWitirr   m   t|»u   Itti^fii      -   11     lui   KI<>«lriKArti  n  li    Krwartiinc.   -     13    KluJif 

I«    \i.li    .  Kiti  l'    \\v  Vaii.i  14     lii-riCnr«*  17    I ntallD  !■•    llrri<«tlllürSf||  a:ii   Ki'DIK«!*''*' 

1^    It* .»!  tiiM^k-  io    MondDArltt   in  Flur*-»/.         ai    |t.i  cluntni  -^t.  SonnlaK^rrTpilpn  >S.  Ilri   drr 

\i    .1-  t\    M  ihl-  IUI  in-)>iri;         !.'•    lu   Jt   Kir- h-         i^    Am  W  aMi-h  !i         i7.  Srhn^urht         a«i    iKirl 

»:««<•-  .' •    >tkli<  si    Km  «'.iUpi   Winki'l 

P.i-  In  K:itiiit«*  SihnftAti'lUT  .1.  i\  HfiT  .luUtrt  sich   üU-r  dm  Werk   iii   litr  ,,Sfuen 

All  «ii«'  K<ini:  il«  r  l'hiit(i^a|ihii!  mtilti.-kt  wunli',  trat  aii'  zuiMthiit  jahr£vhnti-Uiif(  iii 
il<  :i  iKr:.-^  il-r  r'-itirii  WilmIi  ryuljf  <1*T  Wirklichkeit,  uur  hh*  fiii  ilurchaiii  iiiiturHlmtiKh» 
K  .ti -'k'* '•^■'<i"  ■  1>>  li-'i'-r*  r  Zril  ulx  r  \\\\\  ^irh  /u  licr  «itrti^  wtu'hinMitirii  ViT\'i>llk(iiiiinnuiif; 
•  i- r  *'clii.i  >  !i-:i  lli!t'>riiitf«-l  t-ifii*  milS«*rurilfntlichi*  VcrlriiiiTurit;  dri  (ii'iK'hiniick«  und  der 
AnM.i "«  .1:  '  ).'iH-I!'.  \v-lihi>.  vrii>  du-  auih  au«  der  »Si-hwi-u  vud  limurhte  phtitiifrraphiiichu 
A  j^<'- .i..:.^  iit  Stu'tk:art  hrMii-H.  ilii*  i'hiit>-ifrB|ihi>!  aun  diMu  Kahnifii  drs  KunBt^'i'Wi.Th<'i  in 
<!•  r  MirLliv  in  II  Kuimf  rrhfht.  Ki:i  ^iHit/i-iidi-^  /t'Utfiiis  dufiir  Aind  die  Kichthild- 
.  Ait:->1  KiiL'-i  III  Siutt^art,  \\;ihrr  KahiiiftlBtucke  ilrr  |ihiitu^ifc|i)ii9chi*ii  Klfiiimalvrei. 
III.  1  I..i:.<Uch:ifrfii,  \%if  Hi»  lt.  r  Kuii«it)fr  auf  KiTiriitahrtcii  in  ItalifU.  ilcn  St^hMciier- 
?•  ::>  ii  h;->Jii:i  AI{--ii  i-nttli'i-k(  hat  (iluL-k!:i'hiH  Kiiidm  und  tVintuhliir«-  Wahl  dea 
.   S-h-'i.hist  diT   lii-Iii-htii:i^  uit«l   |>hi>it:M-Ki>  M<>ilflIii*ruM;;  f«*i«iln   unn,  nh  di-r   KunitltT 

.'.:;..  h i«T   I.:ii.<l^ihiiftl:i  h'-   l-i-vi>r/UKt.   un-l   lUatt   um   Hlalt  uhi'rraH'ht   unn  It-hhaft, 

:i<  :  >r<ii-it!lii'h   fj;:iia:it    iR-h   ihm    ihi*  Te«  hink    i  rwi'iüt      iMv   WicdrrKAhi'    drr  i-in/cln«*n 

1'.:   )i  dit!  Vi-ruik'^tit«t»!t  mI  taih-lh'^   vi»Ilkonimrn.  dt-r  l'p'ia   im  ViThiiltm«   /um  (te- 

.:    (.Ulli  l'ili:.:.    Ulf!   w:r  il«':ik«-n.    daÜ  ilai  K'hnrir   Wi'rk    nicht  nur  hri  ilm   Thut^i 

:   ■  -:  inii  •'iiit-n  'rrt:i;ii|li  ilir'T  Kwii«t  •'••h"ii  muaii-n,  sondern  auch  in  kiiiiiitfr'*und- 

!"i    .  '..■■.   ii:«-   ■A.iMti'--  AMli.uhü.i'   tindrl 


^  .  VERLAG  VON   FERDINAND   ENKE   IN  STUTTGART. 

Neue  Lichtbild-Studien. 

==  Vierzig  Blatter  von  A  L  F  R  E  D   ENKE. 

Folio,     in  clef^antcr  Mappe.     12  Mark. 

':'.*■    '     'k-     l.r   i.-u      Im  Kr  ihln.i;       i'^«  Li"  l> «  Kn  )••      M.-niiitrht   l-n  I.in<Uu      llriinLphr   «uiii 

.:,?■:    .      ^.!:;-  ■    i."».».!»!!       Ml-  "»   f.:  ...ir.j.j  •■      :«a-    \ll.r      Ür  \i  rr«li  ai;«-   In  l'uiupiji 

••1       '•.■:.  K     .1:   .  ,  ^oii.ii.- r  I- •  n  )   4111    K<»1pii<<-       l.ui(Cina      i'*nitMi   >Aiit<i      ÜAiK-bapo- 

•' ■  \:.-.   .;ii  H-  {.^'-ri:»:       t   uiik«  m   h^-    h«h!!n      Hu>  hi-ni».«M  :ni  Mplhrrl-^l      M>  Ud>  hi>]f'      Srhlütt 

a  '       \V  ' .' M- ti"«  >>i:!'.i<       ^mWi-ih':      Mil  Inl«  •  m*  •  j  iiit;>  n  Kiii^thrü      KB]\.kri>  n!.trir      l.ili 

1' i:iiii>- r  in.;       '.'a%    l'fi:«.   }j<  d      It^limi»' Ii- r    Ii>ifiiirt      Si.htlwb«'   K.»hrt      .t.inCfr   Sili]. 

.i-.i    •    .'. ..!••«'       Il-irhkrhr    i..n    •!•  i     Mj-       I.*  <»  n  !•  «    M^.lihrii       ll'u^rnir    jm    Maloj« 

\    ■'..[  .i::.  '   .'  i:-    ••r4i.!        I'.-  Wuii  !•  r' luri.r      n.triiA      Alipn>Ulun-l<' 

K*  ;n  i>K>Ü<-r  !<:•  Muil-i-rphntoK'raidi .  rin  KünatliT  hat  ilieat-  Aut'nahmrn  k'tfiuucht. 
y..i:  K  .:.-*.  •  -.  df-r  r«  vrr-ti-ht.  mit  f**2nft:i  (it'üchmai'k  und  vertipft«*r  Auffu-ouni;  d.m  Hand- 
M'    r.  i':.   !.ik:r.i|ii>  II    a^it'   d:i*    )Ii'>i.f    rrh!iT    Kuiiüt    su   hidM'n      /«'ii^t    «k  li    di*i    iVme  (iv- 

-  -  :        .     :  .  ^  ;'(.(•!.  n.i>  h  MoMvfn.  du*  «T  /u  Üildvrn  vuIUt  iVtf-ii*  und  I'iiulik  /u  viTiliihten 
•.'•r:.   I..      .  ■.•:tii-:;c  Auff.iA«uni:  d.iriii.  daLl  n»an  mehr  uIr  ««innial  an  dm  rin<-ii  udt'r  dfn 

/:    .11   M.i!i-:    uri!«T  un^'Ti-n  iii"iifrn<-n  .Mii<«ti*rn  .    .in  «liu  rint>  «ider  da«  .iii>lfi**  hv- 
■:•-.'•  I.        !'  •!.!.«  F  r.ki*  anb^rnv*   '<i  h.ti'tii  »i  }'.*int .  •rinnert  wird.     Niini:.*   man   d.i/ii  dii* 

A  ;  «.li.!    .1:1   K   |-S-n.    r(»r:r.ir«    und   Land««  haOt-n.    \**n  d<*n*'n  wir  dif   .lleini- 
\{'        -   M  ;-r<-:    ;  .r    •!;*•  W  .irtliifun.;   des    Vi'rhiiltni«"t-s   \'*n    [..kit<i-i  haft   und 
'  <•'•    '-ii  :..     i.'.'ix.    *•'  *A:r>i    i:i:in   <i*-m  lifdincun^lu«*!!  I.oht»  Uiatimiin'n .  tia«  wir 
■    •••:;  >  t:  .::.!■!!  ^'   ,I.i  l.i 'r.i].i  ^tu-U«  n'   v-n   Alfred   Knkf  \.ir  iwri  J.ihn-n  ■{»fndfD 
\' :*     \.;>.i:.;     >•-:     '•   l>  ::i    •■i:i}itii|:.i  n .    diT.    i-in    Kri-UUiI    ii*T    Kun^t,    ViTH^tndm«    .lUCh 

4  '  \.-'  ;.i:  i  if-ii  .^•.<  •  rwiffui- Ama(i'ur]ihot4>^'raphie  hat.  Auf  licn  Wfihnarh  t  ^- 
I. . --h).  .i^tT]  li  -r  ii^iaphen  }iai«*Mi  tli«*  hi-idi-n  Kokt'»*  hf*n  Ma|ipru 
,.'.vt    .r.  Irr»'  .11!   ilif'-rr.!  tirbM'tv  A'mn  f  'mr   ./,',>     /<;..■  ■      //ff  ', 


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^^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTOART,  i-^ 

Die  Karikatur  und  Satire  in  der  Medizin. 

Mediko-kunsthistorische  Studie  von  Dr.  Eugen  Hollinder, 

Chirurg  in  Berlin. 

Mit  10  farbigen  Tafeln  und  223  Abbildungen  im  Text 

hoch  4°.    1905.    Kartoniert  M.  24. — ,  in  Leinwand  gebunden  M.  27.— 

Inhalt:  Verzeichnis  der  Abbildungen.  —  LiteratarTenelchnis.  —  Einleitung.  —  Karikatur  und  Satire 
mit  Bezug  auf  Medizin.  Die  Karikatur  bis  zur  Beformation.  Satire  und  Karikatur  Im  Reformationisaitalter.  — 
Die  Karikatur  der  Pathologie.  Die  Oicht.  Infektionskrankheiten.  Norröse  AffekUonen.  GraTiditit.  Irrlta- 
menta  externa  und  Varia.  ~  Der  Arzt  als  Mensch  und  als  Stand.  Das  Arzthonorar.  -^  Die  praktUche  Hell- 
künde  im  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert.  Der  tierische  Magnetismus.  Jenner  und  die  KnbimpftmiK. 
—  Die  Parasiten  der  Heilkunde.  —  Die  politisch-medizinUche  Karikatur  und  Satire.  —  Die  moderne  medizi- 
nische Karikatur. 

Holländer  hat  mit  diesem  seinem  neuesten  Prachtwerk  nicht  nur  sein  erstes  in  idealer 
Weise  ergänzt,  sondern  auch  die  historische  Literatur  mit  einer  weiteren  Gabe  von  mona- 
mentaler Bedeutung  bereichert.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  dieses  neueste  Gegen- 
stück zu  dem  älteren  Werk  im  Verein  mit  ihm  dem  Verfasser  einen  hervorragenden  und 
dauernden  Platz  in  der  Literatur  der  medizinischen  Kulturgeschichte  sichert  —  i¥och  mehr 
fast  als  das  vor  zwei  Jahren  erschienene  Werk  wird  die  „  Karikatur  und  Satire  in  der 
Medizin*  das  Entzücken  der  kunstfreudif^cn  und  kunstfreundlichen  Kollegen  erregen  and  als 
überaus  geschmackvolle  und  passende  Weihnachtsgabe  in  ihren  Kreisen  weite  Verbreitung 
finden.     Prof.  Pagel -Berlin.  Deutsche  Arzte-Ziitung  igoj. 


Die  Medizin  in  der  klassischen  Malerei. 

Von  Dr.  Eugen  Hollinder,  Chirurg  in  Berlin. 

Mit  165  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen. 

hoch  4^     1903.    geheftet  M.  16.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  18.— 

Inhalt:  Vorwort  Elnleitong.  Die  Anatomiegemälde.  IffediElnliche  Gruppenbilder.  KniiklMltad«r- 
Btellungen.     Innere    Medizin.      Chirurgie.     Allegorien,    Hoapit&ler  und  Woohenatuben.    HeHlgenbehaadlaBg. 

»chluDwort. 

.  .  .  Wie  sehr  hat  der  Autor  die  an  sein  Werk  geknüpften  Hoffnungen  und  Erwartungen 
zu  übertrumpfen  verstanden !  Denn  ebenso  glänzend  wie  die  äußere  Ausstattang. 
Auswahl,  photographische  Reproduktion  der  Gemälde  und  die  sonstige  typo- 
graphische Technik  hervortritt,  ebenso,  ja  noch  glänzender,  ist  der  die  Bil- 
der begleitende  Text.    Prof.  P  a g e  1  -  Berlin.  Deutsche  ArUe-Zeitung  1^04,  Kr.  /. 


Die  Wochenstube  in  der  Kunst 

Eine  kulturhistorische  Studie  von  Dr.  med.  Robert  Mfillerheim. 

Mit  138  Abbildungen. 

hoch  4^    1904.    Kartoniert  M.  16.—,  in  Leinwand  gebunden  M.  18.— 

Inhalt:  Vorwort.    Einführung.     Die  Woehenstnbe.    Das  Bett.    GebnrtHtnhl.    Pfltc*  der  Wi 

Pflege  des  Kindes.    Kleidung  des  KlndeK.    Ernährung  des  Kindes.    Bett  des    Kindes.  GUnbe  und  AI 

in  der  Wochenstube.    Volkstümliche  und  gelehrte  Anschauungen.    Kultus  der  Wöchnerin.    End«  des  Wi 
betts.    Anhang.    Quellen  und  Anmerkungen. 

Das  Buch  ist  ein  schönes  Zeugnis,  daß  unsere  Kunst  nicht  gans  in  dem  handwerk»- 
mäßigen  Broterwerb  aufgeht.  .  .  .  Umso  freudiger  begrüßen  wir  ein  Werk  wie  6mm  vor- 
liegende, und  umso  herzlicher  danken  wir  dem  Autor  für  die  mühevolle,  von  tiefem  Ver- 
ständnisse für  die  Kunst  und  die  Wissenschaft  zeugende  Sammlang  des  einicU&gigen 
Materiales.  Der  Autor  hat  ganz  recht,  wenn  er  sagt,  daß  gerade  die  bilSichen  DArateUnngea 
früherer  Sitten  und  Gebräuche  uns  am  besten  in  das  Familienleben  vergangener  Zeiten  ein- 
führen. .  .  .  Nicht  nur  die  zahlreichen  —  138  —  Abbildungen  wird  jeder  Gebnrtahelfer  voll 
Interesse  betrachten,  auch  der  Text  ist  außerordentlich  interessant  und  Jesentwert. 

'/entralbltttt  ßtr  Gynäkthgii  igos^  Ar.  J. 


^■^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART,  4>^ 

Grundriß  der  Anatomie  für  Kfinstlen 

Wm  NL  Duval, 

ProfMtur  «l#r  Aualomti  am  <Ur  KuaftAkAdmU  tu  V%ri9 

\'i'.»riii»Ttr  «Ifut-rh«»  ('lN*nioUiiDi;  lieniu«f^f^l»f*n  von  l'rof.  \h.  uicd.  K.  NcfUeii. 
Zweiti»  Auflage  bt'artM'itet  von  Prof.  I>r  Kriii-t  (laupi». 

Mit  78  Abbilditnf^en. 
Hr     l**ul.     k'«*)ieft«t  M.  Tl.— .  in  Leinwand  gebunden  M.  7  > 

Kin  .i'icli  von  d^r  dfiitüchen  I'rMj«*  warm  rninftddfner,  an  vert«-hieil«*n<*n  Kuniiaka- 
•  ifini'*n  t<iniireruhrt<*r  I«4'itf;i<l«'n .  der  mit  knapp«'r  i'aii'«ung  lehhafl«,  anregende  und  leicht 
^••r^t.iii-üirh«-  l)iir4t*lliing<»w»'ii«*  verbindet.  l)i«*  zwrite  Auflage  iit  von  Herrn  ProfcMor 
«i.iu).|>  tn  Krfiliiir^  u^nlndlich  diircligetehen  und  ergiknit  worden.  Auch  wurden  lAnitliebe 
\l>hiMi)iU'*-ii  n4i  h  neu  geteirhneten  <>nginal<*n  auf  dan  Sorfrfultigvte  erneuert.  I^munge- 
.i<  ht«*t  wiinl«*  zur  Krleirhtening  der  Antchaffung  der  bisherige,  billige  Preis  eingebalten. 
h<r  <ir;HiiiriÜ  itei  allrn  jungen  Künitlern  w.'krmutena  empfohlen. 

Geschichte  der  Metallkunst. 

Von 

Dr.  Hermann  Lfler,  und  Dr.  Max  Creutz, 

I  •  .trr  iS«r  FArbacbul«*  für  dl«»  Hi*llairtr  iDtluatrt*  am  k«!    Kaftft4tew«rb«niiia«iim«  B«rllo. 

■     t  Zwei   llilnde.  |     ■ 

Kr«trr  It.md ;   Kiatt|etolilolite  dir  nHiM  aftailt.    Sehmiedeijien .  GuSeiMen,  Hroni^e.  Zibiu 

Hl*'i  und  Zink.     Il«'arbeitet  von  Dr.  Hermann   I.Qer. 

Mit  445  Teitabbildungcn. 

;:r.  ""^     VjO\.     geheftet  M.  2^ --.  elegant  in  Leinwand  gebunden  11.  :iO. 

I»eiii  VerfoMer  kam  e«  in  enter  Linie  darauf  an,  eine  für  die  Gebiete  der  Metallkonat 
i-io  LeMti>  fehlende  Zu<i«immenatetlung  der  bedeutaanuten  Werke  lu  geben  and  die  wichtigftea 
•iAnihtr  tiekannten  NMchrichten  auf  Grundla^  der  bi«  in  die  jQngvte  Zeit  TerOflfeiitlichteii, 
i«*hr  Ter^tretiten  KinseluntemuchuBgen  vergleichend  beitufügen.  Die  wichtigeren  benOtstea 
iVueII*>n  «ind  im  Teite  angeführt.  Zum  Studium  der  änftemt  interewanten  Getchichte  der 
Me*;fcllkuniit  i«t  dju  Werk  ein  aujqreteichnetefl  Hueh:  deijeniire.  der  nch  nur  lielehren  will, 
wir<l  iii:t  ilfn  kürten  Mitteilungen  und  den  viiHen  guten  Abbildungen  genug  haben;  dem. 
*\ft  x.**{vT  in  «Im  Gehift  einsudringen  wOntcht,  int  e«*  ein  hi>rhiuichfttsender  Wegweiser. 

HemttfMt  Kmntt  mmJ  /^et**fati^m  1904, '9^^^  Hift  IV, 

Die  Frau  in  der  bildenden  Kunst 

Ein  kunstgeschichtliches  Hausbuch 
von  Anton  Hirsch, 

Direktor  4rf  tr»fib«rtof  licb»a  Bm»«t-  ii»4  (IwvrtMMll«!«  lo  I.aimbvrg . 

Mit  .'CiO  in  den  Teit  gedruckten  Abbildungen  und  12  Tafeln. 
gr  ^\     1904.    Gehefl<*t  M.  H.— .  elegant  in  Uinwaad  gebunden  M.  20.— 


Die  bildenden  Künstlerinnen  der  Neuzeit 

Von  Anton  Hirsch, 

[iir«aur  4«r  grofla^tmglwfcf  E«mC-  «»d  0«««tWica«to  !■  Lat«B%«r«. 

Mit  104  TeitAbbtldaBgen  und  8  Tafdlik 
gr  8*.    1905.    Geheftet  M.  9.20,  elegant  in  Lriswaad  gebondcn  M.  11.— 


-»^  VERLAG  VON  FERDINAND  ENKE  IN  STUTTGART,  -t-^ 

Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  '^Z'^K^ät" 

gewidmet.  Von  Dr.  C  H.  Stratz«  Achtzehnte  Auflage.  Mit  270  teils  farbigen  Abbfl- 
düngen  im  Text,  6  Tafeln  in  Duplex- Autotypie  und  1  Tafel  in  Farbendrack.  gr.  8*. 
1906.   geh.  M.  15.60,  eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  17.60. 

Inhalt:  Einleitung.  —  I.  Der  moderne  Schönbeitsbegriff.  —  II.  Darstellimg  w«lbUeher  Sohtoheii  taxcfa 
die  bildende  Kunst.  —  III.  Weibliche  Schönheit  in  der  Literstor.  -  lY.  Proportionalelire  nnd  Kanon.  —  Y.  XtataA 
der  Entwicklung  und  Vererbung  auf  den  Körper.  —  VII  Einfloß  von  Oeschlecht  und  Lebensalter.  —  YIL  Blatoft 
Ton  Ernährung  und  Lebt^nsweise.  —  VIII  Einfluß  von  Krankheiten  auf  die  Körperform.  —  IX.  Btnfloft  dir 
Kleider  auf  die  Körperform.  —  X.  Beurteilung  des  Körpers  im  allgemeinen.  —  XI.  Kopf  und  Hals.  — 
XII.  Rumpf,  Sohnlter,  Brust,  Bauch,  Rücken,  Hüften  und  Gesäß.  —  XIII.  Obere  OliedmaOen.  —  XIY.  Untaie 
Gliedmaßen.  —  XV.  Schönheit  der  Farbe.  —  XVI.  Schönheit  der  Bewegung.  Stellungen  des  ruhenden  Körpefi. 
Stellungen  des  bewegten  Körpers.  —  XVII.  Ueberbllck  der  gegebenen  Zeichen  normaler  Körperblldong.  — 
XVIII. .  Verwertung  in  der  Kunst  und  Kunstkritik.  Modelle.  —  XIX.  Vorschriften  zur  Erhaltung  und  Förderanc 
weiblicher  Schönheit  —  Sachverzeichnis.  —  Namenverzeichnis. 

Die  Rassenschönheit  des  Weibes.  ^j^^iJ^'lfde^ 

gedruckten  Abbildungen  und   1  Karte  in  Farbendruck,    gr.  8^     1904.    geh.  M.  14.— , 

eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  15.40. 

Inhalt:  Einleitung.  —  I.  Rassen  und  Rassenmerkmale.  —  II.  Das  weibliche  Baaaenideal.  —  III.  IMe 
protomorphen  Rassen.  1.  Australierinnen  und  Negritos.  S.  Papuas  und  Melaneeierlnnen.  8.  Weddaa  nnd 
Dravidas.  4.  Ainos.  5.  Die  Koikoins  und  Akkas.  H.  Die  amerikanischen  Stimme.  —  lY.  Die  mongollaehe 
Eauptrasse.  Chinesinnen.  Japanerinnen.  —  V.  Die  Nigritisohe  Hauptrasse.  Bantunegerinnoi.  Sudannegerinnen. 
—  VI.  Der  asiatische  Hauptstamm  der  mittelländischen  Rasse.  Hindus.  Perserinnen  und  Kurdinnen.  Arabe* 
rinnen.  —  VII.  Die  metamorphen  Rasiien.  1.  Die  östlichen  mittelländisch -mongolischen  Miachraasen:  Blrma, 
Siam.  Anam  und  Gochinchina.  Die  Sundainseln.  Oceauien  —  Sandwichinseln,  Carolinen,  Samoa,  Fftaefal- 
inseln,  Admiralitätsinseln,  Freundschaftsinseln,  Neuseeland  (Maorls).  S.  Die  westlichen  liischraaeen :  »)  Tataren 
und  Turanier.  b)  Die  äthiopische  Mlsohrasse.  —  VII L.  Die  drei  mittelländischen  ünterraasen.  1.  Die  afrikaniache 
Basse:  Aegypten.  Berberische  Stämme.  Maurische  Stämme.  9.  Die  romanische  Rasse:  Spanien.  Italien. 
Griechenland.  Frankreich.  Belgien.  8.  Die  nordische  Rasse:  Niederland.  Oesterreich- Ungarn.  Boßland. 
Deutschland.    Dänemark.    Skandinavien.  —  Uebersicht  der  wichtigsten  weiblichen  Bassenmerkmale. 

Die  Frauenkleidung  und  ihre  natürliche  Entwicklung. 

Von  Dr.  C.  H.  Stratz«  Dritte  völlig  nmgearbeitete  Auflage.  Mit  269  Abbildungen  und 
1  Tafel,    gr.  8^    1904.    geh.  M.  15.—,  eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  16.40. 


Inhalt:  Einleitung.  -  I.  Die  Nacktheit.  —  II.  Die  KörjMrverzierung.  a)  Körperschmnck.  b)  ] 
III.  Einfluß  der  Rassen,  der  geographischen  Lage  und  der  Kultur  auf  die  Körperrenieranf.  ~  IV.  Der 
Körperschmnck  a)  Bemalung.  b)  Narbenschmuck  und  Tätowierung,  c)  KörjMrplaatik.  d)  Am  K6rp«r  be- 
festigte Schmuckstücke.  —  V.  Die  primitive  Kleidung  (Hüftsohmuck).  —  VI.  Die  tropische  Kleidung  (Bock).  — 
VIL  Die  arkUsohe  Kleidung  (Hose,  Jacke).  —  VIII.  Die  Volkstracht  außereuropäischer  Kultorrölker.  I.  Chine- 
sische Gruppe.  2.  Indische  Gruppe.  8.  Indochinesische  Gruppe.  4.  Islamitische  Gruppe.  —  IX.  Die  Folka- 
trachten  europäischer  Kulturvölker.  1.  Die  eigentliche  Volkstracht.  S.  Die  Standeetraehten.  S.  Die  Hose 
als  weibliche  Volkstracht.  —  X.  Die  moderne  europäische  Frauenkleidnng.  1.  Unterkleider,  t.  Oberktetder. 
—  XI.  Einfluß  der  Kleidung  auf  den  weiblichen  Körper.  —  XII.  Verbesserang  der  Frauenkleidnng. 

rior    Wrirr\Pkr    rloo    WinAckc        Für  Eltern,  Erzieher,   Aerzte  und   KOnstler. 

uer  »vorper  aes  ivmaes.   vonDr.cH.stmtr.  zweite  Ainige.  ict 

187  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen  und  2  Tafeln,    gr.  8".    1904.    geh.  M.  10.—. 

eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  11.40. 

Inhalt:  Einleitung.  —  I.  Die  embryonale  Entwicklung.  —  II.  Das  neugeborene  Kind.  —  III.  Der 
Liebreiz  des  Kindes.  —  IV.  Wachstum  und  Proportionen.  —  V.  Hemmende  Einflüsse.  ~  FI.  Die  normale 
Entwicklung  des  Kindes  im  allgemeinen.  —  VII.  Das  Säuglingsalter  und  die  erste  Fülle.  (I.— 4.  Ja^.)  ~ 
VIII.  Die  erste  Streckung.  (5.-7.  Jahr.)  -  IX.  Die  zweite  Fülle.  (8.-10.  Jahr.)  —  X.  Die  swelte  Itreeknic. 
(11.— 15  Jahr.)  —  XI.  Die  Reife.  (15.— SO.  Jahr  )  —  XII.  Kinder  anderer  Rassen:  a)  Fremde  SingÜnc«,  b)  Kinder 
des  weißen  Rasseukroises.    c)  Kinder  des  gelben  Rassenkreises,    d)  Kinder  des  schwarzen  T 


Die  Körperformen  in  Kunst  und  Leben  der  Japaner. 

Von  Dr.  C  H.  Stratz.    Zweite  Auflage.    Mit  112  in  den  Text  gedruckten  Abbildongeii 
und  4  farbigen  Tafeln,    gr.  8^    1904.    geb.  M.  8.60,  eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  10.— 

Inhalt:  Einleitung.  —  I.  Die  Körperformen  der  Japaner.  1.  Das  Skelett,  t.  MaAe  nnd  Froportlo—i. 
S.  GesichtsbiMung.  4.  Körperbildang.  —  II.  Japanischer  Sohönheitsbegriff  und  Koemetlk.  L  Anffitint  4ar 
körperlichen  Schöohelt.  2.  Künstliche  Erhöhung  der  Schönheit.  —  ni.  Das  Naekte  la  tinUehen  I  ebsn 
I.  In  der  OefTentlichkeit.  9.  Im  Hause.  —  IV.  Darstellung  des  nackten  Körpers  in  der  Knnet.  1.  IHfe 
meines,  t.  Ideal-  und  Normalgestalt.  3.  Mythologische  Darstellungen.  4.  Darstellnnftn  mm  den  tAfP 
Leben,  a)  Straßenleben.  Aufgeschürzte  Mädehen.  Arbeiter.  Ringer,  b)  H&usliohkelt.  D^abebUM.  Toi 
Bäder.  Yoshiwara.  Erotik,  c)  Besondere  Ereignisse  und  Situationen,  üeberraschmif  tan  Bad*.  XlcM 
Spuk.    Beraubung  edler  Damen.    Awabiflscherinnen.