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ÄSTHETIK
UND
ALLGEMEINE KUNSTWISSENSCHAFT
ÄSTHETIK
UND
ALLGEMEINE
KUNSTWISSENSCHAFT
IN DEN ORUNDZÜOEN DARGESTELLT
VON
MAX DESSOIR
MIT 16 TEXTABBILDUNGEN UND 19 TAFELN
^k
STUTTGART
VERLAG VON FERDINAND ENKE
1906
Druck der Union Deutsche VerUgsgesellschaft in Stuttgart.
vv
John Newbold Hazard^
ZUM GEDÄCHTNIS.
Vorwort.
Dies Buch ist eigentlich schon seit zwei Jahren fertig. Hem-
mungen und Ablenkungen haben die Veröffenth'chung bis heute hint-
angehalten. Inzwischen sind einige Systeme der Ästhetik und sehr
viele Einzeluntersuchungen hervorgetreten. Sie wurden mit dem leb-
haftesten Oeffihl der Erkenntlichkeit benutzt , soweit der schon ge-
spannte Rahmen es erlaubte; aber gemäß dem Charakter dieser Dar-
stellung, die nur Orundzfige bietet, habe ich es vermieden, mich des
näheren mit den zufällig jüngsten und gerade jetzt bekanntesten
Theorien auseinanderzusetzen. Für die bis ins Einzelste dringende
Erörterung scheint mir eine Zeitschrift geeigneter: die soeben begrün-
dete > Zeitschrift ffir Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft« wird
sokrhen Forderungen des Tages besser dienen können.
Femer habe ich mir im Hinblick auf jene Bücher ernstlich die
Frage vorgelegt, ob mein Versuch überflüssig geworden sei. Aus
mehreren Orfinden glaubte ich doch, verneinend antworten zu dürfen.
Zunächst tritt die Bemühung um das Ganze des Gegenstandes hier
offenkundiger hervor als m den übrigen Werken der neueren Literatur.
Im vollen Bewußtsein der Tatsaoie, daß ^eine umfassende Ästhetik aus
der Feder eines Mannes ebenso lückenhaft ausfallen muß wie etwa
die von einem und demselben Autor geschriebene > Kunstgeschichte«,
wagte ich das Unternehmen, weil der Vorteil einheitlicher Auffassung
mir größer schien als die unvermeidlichen Schäden. Jetzt, wo ich
denselben Gegenstand in anderer Gliederung vortrage, sehe ich, an
wie vielen Stellen mir nicht alles nach Wunsch geglückt ist Man
vollbringt eben selten die Bücher, die man will. Man denkt sie sich
bergan, und nachher bleiben sie unbeweglich auf der Ebene. Die
Hauptschuld trägt der Geist unseres Zeitalters der Mittelbarkeit, in dem
die Beziehung zum Leben zusammenschrumpft und fast nur noch
über Gelesenes gelesen, über Geschriebenes geschrieben, über Ge-
sprochenes gesprochen wird. Wenngleich ich mich stark von dieser
19866:?
VIII VORWORT.
Last bedrückt fühle, hoffe ich dennoch, daß eine persönliche Anschau-
ung der Probleme spürbar geblieben ist und als förderlich empfunden
werden wird.
Was die sachliche Einheit des Versuches anlangt, so liegt sie nicht
darin, daß er als Stück eines philosophischen Systems auftritt. Zwar
sind einige der Hilfsbegriffe, die sich mir in anderen Untersuchungs-
gebieten dargeboten hatten, von neuem verwertet worden. Der Leser
wird die Begriffe des Unterbewußtseins, der Psychognosis, des Leistungs-
menschen und andere mehr wiederfinden, obwohl sie vielfach bei den
Fachgenossen auf ebenso vornehme wie vollständige Abwesenheit des
Verständnisses gestoßen sind; und die beiden ersten Abschnitte über
Geschichte und Prinzipien der Ästhetik bleiben von der in meinem
geschichtlichen Werk durchgeführten Ansicht beherrscht, daß eigent-
lich historische und doxographische Behandlung miteinander verbunden
werden sollen. Aber dies Buch besteht nicht in schonungsloser Ver-
folgung eines einzigen Erklärungsgrundsatzes. Ich finde ein solches
Verfahren für die Ästhetik in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht
minder ungeeignet als für die Psychologie oder Ethik. Die allumfassen-
den Theorien erinnern mich immer an das Tote Meer: jedes Lebewesen,
das in die klar aussehende Salzflut sich wagt, schwimmt an der Ober-
fläche und muß sterben; im Toten Meer des begrifflichen Absolutismus
gelangen die lebendigen Einzelerkenntnisse niemals zur Tiefe, sondern
werden vergiftet. Forschung und Lehre haben sich nach den Gesichts-
punkten zu richten, die jeweilig vom Stoff verlangt werden, sie sollen
feststellen, ordnen und möglichst unbefangen aus der Sache heraus
erklären.
Über das Äußeriiche gestatte ich mir zwei Bemerkungen. Die erste
betrifft die Beispiele. Bei einem Unternehmen wie dem voriiegenden
kann man ihrer kaum entraten. Zitate, kurze Gedichte und Noten-
beispiele sind leicht einzufügen. Gegenüber Werken der bildenden
Kunst besagen einfache Hinweise nicht viel, da der Leser selten Zeit
und Gelegenheit hat, ihnen zu folgen; ich habe daher mit freundlicher
Bewilligung des Veriegers und der übrigen Beteiligten Tafeln bei-
gegeben, die den nötigsten Anschauungsstoff enthalten und mehrere
allgemeine Sätze zu eriäutern geeignet sind. Zweitens möchte ich den
Leser auf die Darstellungsweise vorbereiten, die der Bequemlichkeit
keine Zugeständnisse macht, vielmehr auf den Beziehungszwang des
mit einer gewissen Genauigkeit Ausgesprochenen vertraut. An Über-
gangsstellen finden sich öfters Zusammenfassungen; nützlich dürfte
VORWORT. IX
auch das Verzeichnis sein, da es statt einer vollständigen, aber mecha-
nischen Zusammenstellung eine Auswahl von Begriffen und von Ver-
weisungen bietet.
Schließlich ein Wort ganz persönlicher Art. Sonst schmückt man',
wissenschaftliche Werke gern mit dem Namen eines berühmten Ge-
lehrten. Dies Buch ist dem Andenken eines amerikanischen Privat-
manns gewidmet. Ein eifriger Verehrer deutscher Wissenschaft und
Kunst wurde J. N. Hazard am stärksten, immer wieder, von der Philo-
sophie angezogen. Kein Wunder: Er selbst war ein Vorbild echt
philosophischen Geistes. Und mehr: Er war einer von den so selte-
nen wirklich vornehmen und gütigen Menschen, die - bei aller
Leidenschaft für Großes und Allgemeines - - dem Kleinen und Ein-
zelnen ein Herz bewahren. Daß ich dem väteriichen Freunde über
das Grab hinaus die Treue halte, dessen soll die Widmung ein Zeug-
nis sein.
Berlin, im November 1905.
Max Dessoin
Inhaltsfibersicht.
Erster Haupttetl. Ästhetik.
Seite
Einleitung 3—8
I. Die Geschichte der neueren Ästhetik 9—59
1. Grundlegung im Altertum 9—12
2. Französische Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts 12—15
3. Engh'sche und schottische Ästhetik des 18. Jahrhunderts . . . 15 — 23
4. Die Ästhetik der deutschen Aufklärung 24—31
5. Die Ästhetik der deutschen Klassiker 31—38
6. Romantische und spekulative Ästhetik 38—51
7. Formalistische und eklektische Ästhetik 51—58
Anmerkungen 58—59
II. Die Prinzipien der Ästhetik 60—103
1. Der Objektivismus 60—75
2. Der Subjektivismus 75—89
3. Das Problem der Methode 89—101
Anmerkungen 101—103
III. Der ästhetische Gegenstand 104—153
1. Der Umkreis ästhetischer Gegenstände 104—117
2. Harmonie und Proportion 117—131
3. Rhythmus und Metrum 131—141
4. Größe und Grad 141—151
Anmerkimgen 151—153
IV. Der ästhetische Eindruck 154—194
1. Zeitverlauf und Gesamtcharakter 154—166
2. Die Sinnesgefühle 166—172
3. Die Formgefühle 172—183
4. Die Inhaltsgefühle 183—193
Anmerkungen 193—194
V. Die ästhetischen Kategorien 195—226
1. Das Schöne 195—204
2. Das Erhabene und das Tragische 204—213
3. Das Häßliche und das Komische 213—225
Anmerkungen 226
XI I INHALTSÜBERSICHT.
Zweiter Hauptteil. Allgemeine Kunstwissenschaft.
Seite
I. Das Schaffen des Künstlers 229—275
1. Zeitverlauf und Oesamtcharakter 229—240
2. Die Unterschiede der Anlagen 240—250
3. Die Seelenkenntnis des Künstlers 250—262
4. Die Seelenverfassung des Künstlers 262 — 273
Anmerkungen 273—275
II. Entstehung und Gliederung der Kunst 276—311
1. Die Kunst des Kindes 276—282
2. Die Kunst der Naturvölker 282—294
3. Der Ursprung der Kunst 294—301
4. Das System der Künste 302—310
Anmerkungen 310 — 311
III. Tonkunst und Mimik 312—352
1. Die Mittel der Musik 312—322
2. Die Formen der Musik 322—328
3. Der Sinn der Musik 328—338
4. Mimik und Bühnenkunst 338—350
Anmerkungen 350—352
IV. Die Wortkunst 353—388
1. Die Anschaulichkeit der Sprache 353—368
2. Rede und Drama 368—379
3. Erzählung und Gedicht 379—387
Anmerkungen 388
V. Raumkunst und Bildkunst 389—422
1. Mittel und Arten der Raumkunst 389—399
2. Die plastische Bildkunst 399—405
3. Die malerische Bildkunst 405—414
4. Die graphische Bildkunst 414—420
Anmerkungen 420—422
VI. Die Funktion der Kunst 423—465
1. Die geistige Funktion 423—439
2. Die gesellschaftliche Funktion 439—452
3. Die sittliche Funktion 452—463
Anmerkungen 463—465
Sachverzeichnis 466—476
ERSTER HAUPTTEIL
ÄSTHETIK.
Dessoir, Asflietik nnd tilg. Kanstwissaisdiaft
Einleitung.
^n der Entwickelung, die unsere Wissenschaft von ihrer Geburt
an bis auf den heutigen Tag erlebt hat, ist ein Gedanke ihr
treu geblieben, nämlich der, daß ästhetisches Genießen und
Schaffen, Schönheit und Kunst unabtrennbar zusammengehören. Der
Gegenstand dieser Wissenschaft sei vielgestaltig zwar, doch einheitlich.
Kunst gilt als die Darstellung des Schönen, die aus einem ästhetischen
Zustand heraus zu stände kommt und in einem ähnlichen Verhalten auf-
genommen wird; die Wissenschaft von diesen beiden Verfassungen
der Seele sowie vom Schönen nebst seinen Modifikationen und von
der Kunst nebst ihren Arten wird, da sie eine Einheit bildet, mit
dem einen Namen Ästhetik belegt.
Die Skepsis der Gegenwart beginnt daran zu zweifeln, ob wirklich
das Schöne, das Ästhetische und die Kunst in einem Verhältnis zu-
einander stehen, das fast eine Identität genannt werden kann. Schon
früher ist die Alleinherrschaft des Schönen angegriffen worden: da die
Kunst doch auch das Tragische und das Komische, das Zieriiche und
das Erhabene, ja selbst das Häßliche in ihren Kreis einbezieht, und
da an alle diese Kat^orien das ästhetische Gefallen anzuknüpfen ver-
mag, so ist deutlich, daß mit dem Schönen etwas Engeres gemeint
sein muß als mit dem künstlerisch und ästhetisch Wertvollen. Immer-
hin könnte Schönheit den Endzweck und Mittelpunkt der Kunst bilden,
und es könnten die übrigen Kategorien den Weg zur Schönheit be-
zeichnen, gleichsam werdende Schönheit sein.
Selbst diese Anschauung, die in der Schönheit den eigentlichen
Inhalt der Kunst und den zentralen Gegenstand der ästhetischen Vor-
gänge erblickt, ist gewichtigen Bedenken ausgesetzt Vor allen Dingen
steht ihr die Tatsache entgegen, daß die im Leben genossene Schön-
heit und die in der Kunst genossene nicht dasselbe sind. Die künst-
lerische Nachbildung des Naturschönen gewinnt einen ganz neuen
Charakter: Raumobjekte werden in der Malerei zu Flächengebilden,
Seiendes verwandelt sich in der Dichtkunst zu Sprachlichem, und so
wird allerorten umgeformt Trotz der objektiven Verschiedenheit ver-
möchte ja der subjektive Eindruck derselbe zu bleiben. Allein auch
das trifft nicht zu. Lebendige Körperschönheit — ein anerkannter
Freibrief für den Besitzer — spricht zu allen unseren Sinnen; sie ver-
EINLEITUNG.
setzt häufig das Geschlechtsgefühl in Schwingungen, wenn auch nur
in die zartesten und kaum bemerkten; sie beeinflußt unwillkürlich
unsere Handlungen. Hing^en liegt auf der Marmorstatue eines
nackten Menschen jene gewisse Kühle, die uns nicht daran denken
läßt, ob wir Mann oder Weib vor uns sehen: selbst der schönste
Leib wird hier als geschlechtloses Bild genossen, vergleichbar der
Schönheit einer Landschaft oder einer Melodie. Zum ästhetischen
Eindruck des Waldes gehört sein würziger Duft, zum Eindruck einer
tropischen Vegetation die glühende Hitze, während aus dem künst-
lerischen Genuß die Empfindungen der niederen Sinne verbannt sind.
Gleichsam zum Ersatz für das Fehlende enthält der Kunstgenuß die
Freude an der Persönlichkeit des Künstlers und an seiner Kraft,
Schwierigkeiten zu überwinden, und so manche andere Lustmomente,
die niemals von der natürtichen Schönheit ausgelöst werden. Es
unterscheidet sich demnach, was wir in der Kunst schön nennen, von
dem, was im Leben so heißt, sowohl dem G^enstand als auch dem
Eindruck nach.
Aus unseren Beispielen ergibt sich aber noch etwas anderes. Vor-
ausgesetzt, daß wir die reine, lustvolle Betrachtung wirklicher Dinge
und Vorgänge ästhetisch nennen dürfen — und welcher Gegengrund
könnte aus dem gewohnten Wortgebrauche abgeleitet werden? — , so
erhellt, daß der Kreis des Ästhetischen weiter reicht als der des Künst-
lerischen. Unsere bewundernde und liebende Hingabe an Natur-
erscheinungen trägt alle Merkmale des ästhetischen Verhaltens und
braucht dennoch von der Kunst nicht berührt zu sein. Noch mehr.
Auf allen geistigen und sozialen Gebieten lebt sich ein Teil der
schaffenden Kraft in ästhetischer Formung aus; diese Erzeugnisse, die
keine Kunstwerke sind, werden ästhetisch genossen. Da ungezählte
Tatsachen täglicher Erfahrung uns vor Augen stellen, daß der Ge-
schmack unabhängig von der Kunst sich entwickein und auswirken
kann, so müssen wir der Sphäre des ästhetischen Seins einen weiteren
Umfang zuerkennen als der Sphäre der Kunst.
Damit ist nicht behauptet, daß der Kreis der Kunst ein enger Aus-
schnitt sei. Im Gegenteil: das ästhetische Moment erschöpft nicht den
Inhalt und Zweck jenes Gebietes menschlicher Produktion, das wir
zusammenfassend »die Kunst« nennen. Jedes wahrhafte Kunstwerk
ist nach Motiven und Wirkungen außerordentlich zusammengesetzt,
es entspringt nicht bloß aus ästhetischer Spielseligkeit und dringt
nicht nur auf ästhetische Lust, geschweige denn auf reinen Schönheits-
ertrag. Die Bedürfnisse und Kräfte, in denen die Kunst ihr Dasein
hat, sind keineswegs mit dem ruhigen Wohlgefallen erschöpft, das
nach der Überiieferung den ästhetischen Eindruck sowie den ästhe-
EINLEITITNG.
tischen Gegenstand kennzeichnet In Wahrheit haben die Künste im
geistigen und gesellschaftlichen Leben eine Funktion, durch die sie
mit unserem gesamten Wissen und Wollen verbunden sind.
Es ist daher die Pflicht einer allgemeinen Kunstwissenschaft, der
großen Tatsache der Kunst in allen ihren Bezügen gerecht zu werden.
Die Ästhetik vermag diese Aufgabe nicht zu lösen, wenn anders sie
einen bestimmten, in sich geschlossenen und deutlich abgrenzbaren
Inhalt besitzen soll Wir dürfen nicht mehr die Unterschiede der
beiden Disziplinen wegtäuschen, sondern müssen sie durch immer
feinere Differenzierung so scharf herausheben, daß die wirklich vor-
handenen Zusammenhänge sichtbar werden^). Das Verhältnis der
früher geübten zu der jetzt eintretenden Betrachtungsweise ist dem-
jenigen zwischen Materialismus und Positivismus zu vergleichen. Wäh-
rend der Materialismus eine reichlich grobe Aufhebung des Geistigen
in das Körperliche wagte, stellte der Positivismus eine Ordnung von
Naturkräften auf, in der die Beziehung der Abhängigkeit die Folge
bestimmt Der Mechanismus, die physikalisch-chemischen Tatsachen,
die biologische und die geschichtlich-gesellschaftliche Gruppe werden
nicht inhaltlich aufeinander zurückgeführt, sondern derart verknüpft,
daß die höheren Ordnungen als abhängig von den niederen erscheinen.
So soll nunmehr auch die Kunst mit dem Ästhetischen methodologisch
verkettet werden. Und vielleicht noch enger, denn vielfach arbeiten
schon jetzt Ästhetik und Kunstwissenschaft einander in die Hände
wie die Tunnelarbeiter, die von entgegengesetzten Punkten aus in
einen Berg eindringen, um in seiner Mitte sich zu treffen.
Vielfach geschieht es, nicht durch w^. An manchen Stellen voll-
zieht sich die Forschung gänzlich unbekümmert um das, was an
anderen Orten vor sich geht Das Gebiet ist eben zu groß und die
Interessen sind zu verschieden. Künstler berichten von ihren Erfah-
rungen beim Schaffen, Kenner belehren uns über die Technik der
einzelnen Künste; Soziologen untersuchen die gesellschaftliche Funk-
tion, Ethnologen den Ursprung der Kunst; Psychologen ergründen
teils durch Versuche teils durch begriffliche Analyse den ästhetischen
Eindruck, Philosophen erörtern die Methoden und Prinzipien; die Ge-
schkhtschreiber der Literatur, Musik und bildenden Kunst haben eine
ungeheure Stoffmenge aufgehäuft — und die Gesamtheit dieser wissen-
schaftlichen Forschungen bildet den festesten, jedoch nicht größten
Bestandteil der öffentlichen Diskussionen, die von allerhand Gesichts-
punkten aus in Zeitschriften und Zeitungen von statten gehen. >Da
bleibt nun für den ernst Betrachtenden nichts übrig als daß er sich ent-
schließt, irgendwo den Mittelpunkt hinzusetzen und alsdann zu sehen
und zu suchen, wie er das übrige peripherisch behandle. < (Goethe.)
EINLEITUNG.
Nur durch Grenzsetzung kann aus dem geschäftigen Durcheinander
ein Zusammenwirken entstehen. Der Widersprüche und Fremdheiten
sind augenblicklich noch recht viele. Wer eine glatte b^riffliche
Einheit herzustellen unternimmt, der tötet das Leben, das in B^eg-
nungen, Kreuzungen und Kämpfen sich bekundet, und verstümmelt
die volle Erfahrung, die in den mannigfaltigen Einzeluntersuchungen
sich ausbreitet. System und Methode bedeuten für uns: frei sein von
einem System und einer Methode Es fragt sich jedoch, ob ein
einzelner so weit Herr der verschiedentlichen Verfahrungsweisen
werden kann, um sie mit Nutzen anzuwenden. Zwar scheint nach
allgemeiner Ansicht der Philosoph berechtigt, Ästhetik im engeren
Sinn zu treiben, aber seine Befugnis, über allgemeine Kunstwissen-
schaft sich auszusprechen, dürfte angefochten werden. Der Philosoph,
der über alles und jedes mitreden will, mag wie ein berufsmäßiger
Dilettant ausschauen, wie ein Schwätzer und Besserwisser, ohne rechte
Vorstellung und gründliche Kenntnis von den Dingen, über die er
phantasiert. Sollten nicht die Kunstgelehrten einerseits, die schaffen-
den Künstler anderseits den Gegenstand ausschließlich für sich be-
anspruchen dürfen?
Die Theorie der einzelnen Künste wird durchschnittlich in Ver-
bindung mit der Erforschung ihrer Geschichte gepfl^ An den Uni-
versitäten vertritt der Kunsthistoriker zugleich die systematische Wissen-
schaft von den bildenden Künsten; der Literarhistoriker in sozusagen
offizieller Form soll auch Sprachforscher sein; Musikgeschichte und
Musikwissenschaft werden d)enfalls in Personalunion betrieben. Daß
beide Arbeitsrichtungen einander stützen können, daß namentlich der
Historiker ohne systematische Kenntnisse bis zur Bew^ungslosigkeit
gefesselt wäre, ist ohne weiteres zuzugeben. Aber die rein theore-
tische Beschäftigung mit Formen und Gesetzen jeder Kunst kann, wie
die Erfahrung zeigt, in gründlicher und förderiicher Weise vollzogen
werden, obgleich die geschichtliche Entwickelung nicht näher unter-
sucht wird. So entstehen die besonderen systematischen Wissen-
schaften, die man Poetik, Musiktheorie und Kunstwissenschaft zu
nennen pflegt. Ihre Voraussetzungen, Methoden und Ziele erkenntnis-
theoretisch zu prüfen sowie ihre bedeutsamsten Ergebnisse zusammen-
zufassen und zu vergleichen, scheint mir die Aufgabe einer allgemeinen
Kunstwissenschaft zu sein; daneben besitzt diese in den Problemen,
die das künstlerische Schaffen und der Ursprung der Kunst, die Ein-
teilung und die Funktion der Künste dem Nachdenken stellen, Gebiete,
die sonst keine Stätte finden könnten. Und vorläufig wenigstens ist
der Philosoph berufen, sie zu verwalten.
Doch ein anderer Zweifel muß noch behoben werden. Sind nicht
EINLEITUNG.
vielleicht die schaffenden Künstler diejenigen, die uns andere über das
Wesen der Kunst belehren sollten? Mit welchem Recht darf der
Philosoph, der nicht selber Kunstler ist, über Kunst urteilen? Ist er
nicht den gleichen Vorwürfen ausgesetzt wie ein Nationalökonom, der
über den Börsenhandel schreibt, ohne jemals im Getriebe der Börse
gestanden zu haben?
Gewiß verdankt unsere Wissenschaft den Künstlern, sofern sie
Theoretiker und Schriftsteller sind, manches Gute. Zunächst sind die
Selbstzeugnisse über ihr Schaffen ganz unentbehriich. Alsdann haben
sie über die Technik ihrer Kunst viel Schönes gesagt Aber ihre Teil-
nahme für die Theorie hat doch der R^el nach ein anderes Aussehen
als unsere Bemühung. Künstler wollen durch Nachsinnen das eigene
Schaffen fördern oder wenigstens dem natürlichen Bedürfnis nach
Einsicht in die Bedingungen ihrer Kunst genügen. Ihr Absehen ist
also entweder auf die künstlerische Leistung gerichtet oder auf die
persönliche Bildung. Die wissenschaftliche Untersuchung jedoch darf
nicht Mittel zu einem dieser beiden an sich berechtigten Ziele bleiben,
sondern ist sich selber Zweck; und für sie pfl^ bei der schön-
geistigen Beschäftigung mit der Kunst wenig herauszukommen. Ich
will nicht von der Unzulänglichkeit der Künstler sprechen, die sich
zum Reden aufgel^ fühlen, ohne an abstraktes und systematisches
Denken gewöhnt zu sein, ja ohne überhaupt das Problematische des
Selbstverständlichen zu ahnen; sondern ich möchte auch Kunstbetrach-
tung*) und Kunstkritik von der reinen Wissenschaft ausgeschlossen
wissen. Indem jene das eigentümliche Leben einzelner Kunstwerke
nachfühlen, diese Idee und Form an der einzelnen Schöpfung trennen
lehrt, leisten sie etwas für die Bildung und Genußfähigkeit der Indi-
viduen. Aber alle philosophischen Ewigkeitswerte dienen hier dem
Augenblicklichen. Mit Sainte-Beuve sehen Kenner und Kritiker ihre
Aufgabe darin, »flfe se bomer ä connaitre de pres les heiles choses et
ä s'en nourrir en exquis amateurSy en humanistes accomplis.^ Dazu
können allerdings Beschreibung und Erklärung einen Beitrag liefern,
und es gehört zu unseren Obli^enheiten, Recht und Umfang dieses
Anteils erkenntnistheoretisch festzulegen; indessen mit Verständnis und
Genuß des einzelnen Gebildes haben wir es nicht zu tun.
Unsere Wissenschaft entspringt wie jede andere dem Bedürfnis
nach klarer Einsicht und der Notwendigkeit, eine Gruppe von Tat-
sachen zu erklären. Da das Erfahrungsgebiet, das sie erkennbar zu
machen hat, das der Kunst ist, so entsteht die besondere und ärger-
liche Schwierigkeit, die freiste, subjektivste, am meisten synthetische
Betätigung des Menschen in der Richtung der Notwendigkeit, Objek-
tivität, Analysis umzuformen. Diese gewaltsame Veränderung muß
8 EINLEITUNG.
erfolgen, oder es gibt keine Wissenschaft von der Kunst. Alles Launen-
hafte, Unzweckmäßige j Irrationale ist unweigerlich zu tilgen. Denn
mit der oft geschehenen bloßen Anerkennung seines Daseins ist es
ja noch nicht begriffen. Auf diesem Wege entfernt man sich freilich
oft von der erlebten Wirklichkeit und vom Bewußtsein der Künstler.
Hört irgend ein Musiker alles das, was die Musikwissenschaft fest-
stellt? Weiß der Leser, ja selbst der Dichter, daß die besondere
Stimmung, die eine Strophe hervorruft, durch die ausnahmslos dunklen
Vokale bedingt ist? Indem die Wissenschaft von solchen Dingen
spricht, stößt sie auf einen Widerstand von selten der Künstler: da
sie, die Schaffenden, fast nichts von allem dem klar zu sehen brauchen,
so empfinden sie es als eine wunderliche Entstellung und ziehen sich
schließlich ganz auf ihr Gefühl zurück. Der Schaffende wird daher
immer nur im Schaffenden einen Ebenbürtigen anerkennen, wenn er
ihn auch meist als einen Nebenbuhler haßt; selbst der große Dichter
wird dem ungebildeten Erfinder eines Couplets sich ähnlicher fühlen
als dem gelehrtesten Denker. Eben darin li^ aber unser Recht
Wir wollen die Vorgänge erkennen und haben nicht den Ehrgeiz, sie
herstellen zu können. Folglich ist unsere Absicht auch nicht darauf
gerichtet, den Künstler zu beeinflussen. Wie man es anfängt, ein
Kunstwerk zu schaffen, das vermögen wir im einzelnen und mit Erfolg
nicht zu sagen. Wissen und Können ist zweierlei. Und die allge-
meine Kunstwissenschaft gehört zu der weiten Sphäre des Wissens.
Dürfte ich ins Land der Wünsche ausschwärmen, so möchte ich
wohl ein Bild dessen entwerfen, dem einst die Krone jenes Reiches
zufallen soll. Zum König wäre geboren, wer künstlerisch zu empfin-
den und wissenschaftlich zu denken in gleichem Masse veranlagt ist:
die Kunst in allen ihren Erscheinungen müßte seine Leidenschaft, die
Wissenschaft mit allen ihren Methoden müßte seine Fähigkeit bilden.
Wir harren seiner.
\. Die Geschichte der neueren Ästhetik.
!• Grundlegung im Altertum.
Wenn es gilt auszusprechen, wie wir heute die Fragen beantworten,
die dem wissenschaftlichen Nachdenken von den Tatsachen des ästhe-
tischen Lebens und der Kunst entg^engeworfen werden, so erwdst
sich die Besinnung auf ältere Theorien als nützlich. Unter dieser Zweck-
bestimmung kann es aber nicht die Aufgabe sein, eine Geschichte des
Geschmacks und des Kunsturteils zu schreiben. Ebensowenig wie die
Entwickelung des Moralismus zusammenfällt mit der Entwickelung der
Ethik oder der Fortschritt des Seelenverständnisses gleichzusetzen ist
dem Fortschritt der wissenschaftlichen Psychologie, ebensowenig deckt
sich die Geschichte der ästhetischen Wertungen Oberhaupt mit der
Geschichte der wissenschaftlichen Ästhetik. Die ungezählten, in loser
Form dargebotenen Einsichten, die unmittelbar oder mittelbar geäußerten
Kunstanschauungen haben zweifellos eine starke Bedeutung: es ist wohl
wichtig, zu erfahren, worin ein Geschlecht den Gipfel der Kunst erblickte,
und in welchem Maße die herrschende Geschmacks- und Produktions-
richtung auch auf die Theorie Einfluß gewann. Indessen in einer vor-
bereitenden Betrachtung kann von diesem großen Kulturzusammenhang
abgesehen und der Bericht auf die jeweiligen systematischen B^^'ffe
eingeschränkt werden*).
Die Ästhetik besteht als dgenes Forschungsgebiet erst seit verhält-
nismäßig kurzer Zeit, doch sind die in ihr möglichen Richtungen schon
früher von Philosophen festgel^ worden. Vor allem ist die Erkenntnis
eines Unterschiedes zwischen der Theorie des Schönen und der Theorie
der Künste bereits von den Griechen gefaßt worden. Sie haben mit
einer gewissen natürlichen Sicherheit Philosophie des Schönen und
Kunstwissenschaft voneinander getrennt
Die philosophische Betrachtung wendet sich der Schönheit zu, die
im Kosmos, in Natur und Leben sich bekundet Plato nennt die Har-
monie der Klänge und die abgemessene Ordnung der Weltkörper, um
den Charakter des Schönen zu verdeutlichen; dieser li^ im vollendeten
Sichselbstgenügen, in ruhender Vollkommenheit, in Gleichmäßigkeit und
Klarheit, in der das Vielfältige verknüpfenden Einheit Da nur den
Ideen d. h. den im Sollen gipfelnden objektivierten Gattungsb^jiffen
10 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
wahre Wesenheit zukommt, so tritt in Piatos Auffassung der sinnliche,
individuelle Bestandteil des Schönen zurück, anderseits wird derjenigen
Kunst, die das Soll oder das Oute darstellt, der höchste Wert zuge-
sprochen. Die innere, seelische Schönheit, die fast mit dem Guten
zusammenfällt, überragt alle körperliche Schönheit
Nachdem auf solche Art das Ästhetische nicht nur zum Weltall,
sondern auch mit der verborgenen Geistigkeit und dem Sittlichen in
Beziehung gesetzt war, nahm Aristoteles eine Verschiebung vor. In
allen Einzeldingen, so lehrte er, ist eine formende und den Stoff in
typischer Gestalt zusammenhaltende Kraft (Entelechie): sie nachzuahmen
sei die eigentliche Aufgabe der Kunst So soll auch die Poesie —
philosophischer als die Geschichte — anstatt der zufälligen Einzel-
erscheinung das Allgemeine und Notwendige an ihr zur Darstellung
bringen, und im ästhetischen Genuß müßte die Entelechie eines Natur-
gegenstandes oder ihre deutlichere Wiederholung durch Kunstmittel
erfaßt werden. Hier jedoch drängt sich ein anderes Moment der aristo-
telischen Philosophie dazwischen, nämlich die Überzeugung, daß jedes
einzelne Ding der Erfahrung durchaus Wirklichkeit im gesättigten Sinne
des Wortes besitze. Mit dieser Oberzeugung ist die Lehre verwandt,
daß das Wiederfinden eines Einzelg^enstandes in dem vom Künstler
gebotenen Nachbilde eine ästhetische Freude gewähre.
In der soeben angedeuteten Theorie der Nachahmung (Mimesis)
greift Aristoteles auf die Tatsache zurück, daß Lernen Freude macht
Wer Kunst genießt, erfreut sich an der Übereinstimmung zwischen
Original und Nachbild; auch die Dichtung gilt der aristotelischen Poetik
als Nachahmung und zwar von handelnden Menschen im Darstellungs-
mittel der Rede. Das Wirkliche und seine Wiederholung decken sich
so vollständig, wie die den Dingen immanente »Form« und der wissen-
schaftliche Begriff. Diese natüriiche Auffassung des Verhältnisses von
Vorbild und Abbild verbindet sich mit der ebenso natürlichen Ansicht,
daß ein solches Verhältnis die Lust am Schauen und Lernen wecken
muß. Die Freude an der Kunst soll also darin bestehen, daß unser Lern-
bedürfnis befriedigt wird durch die Beobachtung, wie das Kunstwerk
seinem Vorbilde gleicht — Man könnte ohne Beziehung auf das Lernen
den Ursprung des ästhetischen Genusses dann einfach in das Ver-
gnügen an der Gleichheit setzen. Dies Vergnügen an der Gleichheit
oder Ähnlichkeit führt zur Nachahmung. Schon Kinder unterhalten
sich mit Nachahmungsversuchen, sei es, daß sie selber pantomimisch
nachahmen oder in einem beliebigen Material Naturgegenstände nach-
formen. Femer scheint die Tatsache, daß häßliche Objekte in künst-
lerischer Nachbildung Gefallen erregen können, für die Gleichsetzung
der ästhetischen und der Erkenntnislust zu sprechen. Denn welches
GRUNDLEGUNG IM ALTERTUM. 1 1
andere Vergnügen kann an die Darstellung eines häßlichen Objektes
geknüpft sein als die Freude am Wiedererkennen oder auch am Kennen-
lernen?
Vollständig verlassen wurde die Theorie der Mimesis von Plotin.
Die Spekulation Plotins nimmt mit dem Schönen eine Vergeistigung
vor, durch die das Stoffliche fast jede selbständige Bedeutung vertiert
Das Schöne rückt in die Nähe der ausstrahlenden göttlichen Kraft, des
Einen; seine vielfältige Beschaffenheit erklärt sich daraus, daß es viele
Ideen gibt, die im Nus, in der ersten Ausstrahlung des Einen, ihre
Stätte haben. Mit dem lebendigen göttlichen Prinzip in der Natur muß
die schaffende Phantasie verglichen werden. Wie im Weltall Gottes
Spuren überall erkannt werden können und sollen, so lassen wir uns
im Kunstgenuß von der überströmenden Kraft des Künstlers ergreifen;
wie das Absolute nicht in B^friffen und Sinnesanschauungen erschöpfend
aufzunehmen ist, so bedarf es einer Intuition, einer Ekstase, einer
ahnungserfüllten Versenkung, um den Reichtum sich aufzuschließen,
den das Kunstwerk in seinen einigermaßen unzulänglichen Formen
enthält.
Auch für Augustin steht die überirdische Abstammung des Schönen
fest: »die Schönheit selbst, aus der alles was schön ist diese seine
Eigenschaft ableitet, kann auf keine Weise sichtbar werden, c Als äußere
Anzeichen der Schönheit nennt er sowohl die Zusammenstimmung des
Verschiedenen als auch die Übereinstimmung mit einem natürlichen
Vorbild; doch scheint er dies letzte Merkmal nur als ein relatives zu
betrachten. In die Ästhetik des kosmisch Schönen bringt er ein erbau-
liches Moment hinein. Die Ordnung der Gestirne, der Reichtum der
Tier- und Pflanzenwelt, die Gewalt des Großen und der Liebreiz des
Kleinen — dies alles soll unsere Blicke und Gedanken zu dem ewigen
Schöpfer lenken. Insbesondere sind es Maß und Proportion, durch
die anbetende Bewunderung geweckt wird.
Die griechische Philosophie hat wie dem Schönen so auch der
Kunst ihr Nachdenken zugewandt Aber mit einer gewissen Zurück-
haltung. Die Kunst wird zumeist nicht als etwas das Leben Erfüllen-
des, als ein Höchstes in den geistigen Bestrebungen anerkannt, und
der Künstler erscheint nicht als ein frei Schaffender. Nur Plotins Idealis-
mus erhebt sich zu der Vorstellung, daß des Künstlers Phantasie dem
Walten Gottes in der Natur entspreche. Plato läßt zwar die Begeiste-
rung als Quelle der Produktivität gelten, urteilt aber im allgemeinen
recht nüchtern über die Stellung der Kunst im Gemeinschaftsleben.
Er verlangt strenge Regelung, da die Kunstübung unter die öffentliche
Erziehung gehört und den sittlichen Zwecken des Staates nicht wider-
sprechen darf.
12 L DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Die Kunstlehren im besonderen sind Techniken, analytische Unter-
suchungen über die vorhandenen Gattungen und Arten. Sie werden
im großen Ganzen nicht einmal der griechischen Kunst gerecht, ge-
schweige denn, daß sie für alle spätere Entwickelung ausreichten. Wir
denken etwa an die aristotelische Poetik. Sie scheidet die Dichtungen
— mit einer moralisierenden Bewertung ihres Inhalts — in zwei Klassen:
in solche, die Edles darstellen, von den Dithyramben bis zu den Tra-
gödien, und in andere, die Niedriges darstellen, anfangend mit phallischen
Liedern und hinaufreichend bis zur Komödie. Am höchsten steht die
Tragödie. Sie soll eine kunstvoll aufgebaute Handlung enthalten und
durch diese auf das Unterhaltungsbedürfnis, die sittliche Bildung und
den intellektuellen Tätigkeitsdrang wirken. Vor allem aber soll sie die
»Katharsis« herbeiführen, eine Befreiung von Furcht und Mitleid, dadurch,
daß diese beiden Affekte sich in gesetzmäßiger Form und im Hinblick
auf das allgemein Menschliche entladen: ihre Erregung wird zur Be-
freiung von ihnen, sobald sie in kunstvoller Art und in der Richtung
auf ewige Schicksalsbestimmungen erfolgt.
2. Französische Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts.
Wie bei ständiger Anlehnung an die Grundgedanken griechischer
Denker eine selbständige und vorwärts weisende Auffassung sich bilden
kann, das zeigt erst die in Frankreich begründete rationalistische Ästhetik.
Ihre Höhepunkte hat sie in Boileaus Artpoitique (1674) und d'Alemberts
Discours prüiminaire (1751).
Boileaus allgemeinstes ästhetisches Prinzip ist die Deutlichkeit
Gleich Aristoteles betont er das intellektuelle Vergnügen, aber nicht mit
so nachdrücklichem Hinweis auf den Gegenstand. Für ihn stellten
sich die antiken Theorien von dem idealen Gehalt des Schönen, von
der Nachahmung und der Freude am Lernen folgendermaßen dar. Alle
Aufklärung von Vorstellungen gewährt Lust. Die Aufklärung erfolgt
nicht durch Einfälle von unerhörter Neuheit, sondern durch Einsichten,
die in den verworrenen Vorstellungen des Belehrten eigentlich schon
vorhanden waren. Ein Meister, der Unklares klärt. Undeutliches ver-
deutlicht, ist der Künstler; von ihm und seinen Werken spricht fast
ausschließlich diese Ästhetik, die den kennzeichnenden Namen thiorie
des beaux-arts führt Der berühmte Satz: T^Rien n'est beau que le
vraU besagt demnach, daß Klarheit und Bestimmtheit — die beiden
Hauptmerkmale des Wahren — auch im Kunstwerk nicht fehlen dürfen.
Er hat außerdem die Bedeutung, daß im Inhalt eines Kunstwerks nur
Wahrheit sich verkünden soll, und insofern drückt er das Bewußtsein
FRANZÖSISCHE ÄSTHETIK DES 17. UND 18. JAHRHUNDERTS. 13
vom hohen Wert der Kunst aus. Damit Kunst nicht für Kunstfertig-
keit oder Handwerk gehalten werde, muß sie auf das gleiche Niveau
mit der Wissenschaft gehoben werden. Auch die Känstler studieren
und denken, auch sie sind fähig und verpflichtet, das Wahre mitzuteilen
und dadurch den Geist des Hörers aufzuklären und zu erfreuen.
Es ist lediglich eine — allerdings folgenschwere — Ausfuhrung
dieser Grundsätze, wenn Crousaz {Tratte du beau 1712) das Gesetz
des Geschmacks dahin formuliert: die Gegenstände so zu empfinden,
daß die Vernunft die Empfindung rechtfertigen würde, wenn sie die
Dinge näher untersuchte. Daneben stellt er ein objektives Prinzip auf,
und zwar das uns schon bekannte der Einheit in der Mannigfaltigkeit
Sein Anwendungsbezirk reicht über den Kreis der Künste hinaus.
Wissenschaften sind schön, da sie eine Vielheit von Objekten um-
spannen und alle mit gleicher Klarheit durchdringen; Tugenden sind
schön, da sie des Menschen Handeln in Einhelligkeit mit seinem Wesen
und seiner Zweckbestimmung zeigen; Gott ist schön, obwohl wir ihn
nur dunkel zu ahnen vermögen : T^Personne ne disconviendra, que Dieu
ne soit essentiellement beau€ (S. 125).
Die subjektive Seite des Ästhetischen bildet den Gegenstand für
die Reflexions critiques von Dubos (1719). Die Kunst, so sagt er,
entspringt aus dem Trieb, die Seelenkräfte in angenehme Tätigkeit zu
setzen. Aus der gleichen Wurzel erwächst der ästhetische Genuß.
Nichts sei dem Menschen unerträglicher, als wenn seine geistigen
Kräfte brach liegen. So können selbst die unangenehmen Gefühle, die
beim Eindruck des Tragischen notwendig sich einstellen, willkommen
sein, zumal da sie nicht ununterbrochen andauern, sondern reineren
Wirkungen auf Verstand und Sittlichkeit immer wieder weichen. Dubos
hat ähnlich wie Batteux starken Einfluß auf die deutsche Ästhetik
gewonnen.
Batteux geht von der aristotelischen Lehre der Mimesis aus. Sein
Hauptwerk, das ausschließlich mit der Kunst sich beschäftigt {Les
beaux arts ridults ä un mime principe 1746), handelt vom Prinzip der
Natumachahmung. Gemeint ist freilich eine auswählende und ver-
schönernde Wiedergabe des Natüriichen *). Der bildende Kunstler soll
die vollkommensten Exemplare einer Art sich vor Augen stellen und
durch die Verknüpfung solcher Erscheinungen, die der Natur sozusagen
am besten gelungen sind, ein vollendetes Gemälde zu stände bringen.
Desgleichen wählt der Dichter die erlesensten Charaktere, die bedeut-
samsten Vorgänge, die erfreuendsten Zusammenhänge und bildet daraus
ein Ganzes. Übrigens ist die Poesie aus Beredsamkeit, Musik und
Malerei zusammengesetzt, sie verfügt über alle Wissenschaften und
die ganze Welt Daher ist sie keine reine Kunst, sondern eine »schöne
14 L DIE GESCfflCHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Wissenschaft«. In der Einteilung der Künste und Kunstfertigkeiten
stehen nach dem Zeitgebrauch auf der einen Seite als »mechanische
Künste«: körperliche Fertigkeiten, Handwerk, Maschinenbau, überhaupt
Leistungen, die praktischen Bedürfnissen dienen. Davon werden ge-
trennt die »schönen Künste«, deren Endzweck im Vergnügen liegt,
und außerdem Beredsamkeit und Architektur, die Nutzen und Ergötzen
zugleich zur Absicht haben.
Ganz im Geiste Batteux' hat (1751) d'Alembert im Discours pr6-
liminaire zur Enzyklopädie die Kunst behandelt. Er weist auf die
Schwierigkeit hin, Wissenschaft und Kunst sauber voneinander zu
scheiden. Schließlich entscheidet er sich dahin, daß die Wissenschaften
theoretisch und die Künste praktisch seien. Wenn man frage, ob die
Logik zur Kunst oder zur Wissenschaft gehöre, so müsse geantwortet
werden, sie sei beides zugleich. »Im allgemeinen kann man den Namen
Kunst jedem System von Kenntnissen beilegen, das man auf positive,
unveränderiiche und von Willkür und Meinung unabhängige Regeln
zurückführen kann, und in diesem Sinne dürfte man mehrere unserer
Wissenschaften, wenn man sie von ihrer praktischen Seite betrachtet,
als Künste bezeichnen.« Aus diesem allgemeinen Begriff von Kunst
überhaupt heben sich nun die »schönen Künste« ab. Schöne Künste
entstehen dadurch, daß die Phantasie Dinge bildet, die den Gegen-
ständen unserer unmittelbaren Vorstellungen ähnlich sind. In der Ähn-
lichkeit der Phantasievorstellungen mit den Sinneswahrnehmungen liegt
beschlossen, was man sonst Nachahmung der Natur nennt, und zwar
werden Dinge nachgeahmt, die lebhafte oder angenehme Gefühle er-
regen. Handelt es sich um die Nachbildung von Objekten, mit denen
Lust verknüpft ist, so kann zwar die Darstellung hinter der Wirklich-
keit an Lustwirkungen zurückbleiben, aber dieser Mangel wird aus-
geglichen durch den Genuß, den das hinzukommende Vergnügen der
Nachahmung gewährt. Handelt es sich jedoch um traurige Dinge, so
ist ihre Nachahmung angenehmer als die Wirklichkeit, weil sie uns in
den richtigen Abstand setzt, wo wir den Genuß der Erregung empfinden,
ohne die Unruhe davon zu verspüren.
An die Spitze der Künste, die auf der Nachahmung beruhen, stellt
d'Alembert die Malerei und die Bildhauerkunst. Dann folgt die Bau-
kunst, »aus der Not geboren, durch die Prachtliebe vervollkommnet«,
die von der Natur die ebenmäßige Anordnung als ihr Prinzip über-
nimmt. Es schließen sich an Dichtkunst und Musik. Hier gerät
d'Alembert in Verlegenheit mit seinem Grundsatz der Nachahmung.
Bei der Poesie muß er zugestehen, daß sie die Dinge eher zu erschaffen
als zu kopieren scheint, und die Musik definiert er als eine Sprache,
mittels deren man die verschiedenen Empfindungen der Seele und noch
ENGLISCHE UND SCHOTTISCHE ÄSTHETIK DES i8. JAHRHUNDERTS. 15
mehr ihre Leidenschaften ausdruckt. Aber er kehrt zu seinem Thema
zurück, indem er fragt, warum dieser Ausdruck von Gefühlen nicht
auch auf die Sinneswahmehmungen selbst ausgedehnt werden solle.
Die Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne besitzen manches ge-
meinsam, insbesondere das Vergnügen oder die Unruhe, die sie erzeugen.
Ein erschreckender Gegenstand und ein furchtbares Geräusch haben
fast die gleichen Folgen für das Gemüt. »Ich sehe also gar nicht ein,
weshalb ein Musiker, der einen erschreckenden Gegenstand zu schil-
dern hätte, nicht in der Natur mit Erfolg die Art von Geräusch sollte
finden können, die in uns die gleiche Erregung erzeugt, wie sie der
erschreckende Gegenstand hervorbringt.« So kommt denn diese Theorie
schließlich zu dem Ergebnis, das freilich mehr Forderung an eine zu-
künftige Musik war als Abstraktion aus den vorhandenen Tonwerken:
jede Musik sei bloß Geräusch, wenn sie nicht beschreibe. —
Wir haben nur einige Grundzüge der älteren französischen Ästhetik
kennen gelernt. Sie zeigen zur Genüge, wie stark griechische Auf-
fassungen, namentlich der Begriff der Mimesis, nachwirkten. Auch die
Hinwendung zur psychologischen Betrachtung war von alters her vor-
bereitet, wurde nunmehr jedoch mit größerer Entschiedenheit vollzogen.
Die kosmische Schönheit wurde aus der Untersuchung ausgeschaltet,
die Ästhetik aber insofern über ihr »eigentliches Gebiet« — die Kunst —
ausgedehnt, als man das Schöne auch im sittlichen Leben und in der
Wissenschaft suchte. So entstand als eine neue Aufgabe die Ab-
grenzung und Einteilung der Künste.
3. Englische und schottische Ästhetik des 18. Jahrhunderts.
Während Boileaus reglementierende Ästhetik sich von »neuen Ein-
fällen« der Künstler nichts verspricht, hat der Führer der englischen
Ästhetik, Addison (1711), die lebhafteste Empfänglichkeit für den
ästhetischen Wert des Neuen und Unvermuteten. Er liebt nicht die
feste Regel, sondern das Überraschende. Neben den Reiz der Neuheit
stellt er die Gewalt der Größe als einen Eindruck, der von bk)ßer
Verständigkeit nicht aufgefaßt wird ; daher kann Kunst weder geschaffen
noch genossen werden ohne rege Tätigkeit der gesamten Seele und
zumal der Einbildungskraft.
An diesem Gedankenzusammenhang ist bedeutsam und eigenartig,
wenngleich nicht ohne Vorgänger, die Richtung ins Regellose und ins
Gebiet der Phantasie. Sie verstärkt sich bei Burke (1756), dessen wir
darum schon hier gedenken. Originell scheint Burkes Versuch zu sein,
ästhetische Kategorien ätiologisch zu erklären. Während der Sinn für
16 L DIE GESCfflCHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
das Schöne ihm zufolge in einer Lust besteht, die mit unseren sozialen
Trieben, ja mit der Geschlechtsliebe zusammenhängt, entspringt das
Gefühl des Erhabenen aus der Unlust gegenüber drohender Gefahr,
im Grunde also aus dem Selbsterhaltungstrieb, und wird sowohl ästhe-
tisch wie Lust erst dadurch, daß die Gefahr nur in der Vorstellung
als Schein existiert. In einem Einzelfalle führt somit die psychologische
Zergliederung zur Erkenntnis, daß ästhetisch Wertvolles den Schein-
charakter besitze.
Umfassender und systematischer gibt sich Shaftesburys Ästhetik
(1711). Shaftesbury erklärt einmal, die Literatur sei der Vorhof zu
seiner Philosophie. Der Grund ist, daß die Literatur nicht eine schöne
Anordnung sinnlicher Gegenstände, sondern die Vereinheitlichung von
zerstreuten Bestandteilen des menschlichen Einzellebens und der mensch-
lichen Gemeinschaft darstellt. Auf die Lebensinhalte kam es dem Ethiker
an. Indem Shaftesbury — an den echten Plato so weit sich erinnernd
wie Addison an den plotinisch umgedeuteten Plato — alle Schönheit
als Ausdruck einer inneren geistigen Größe faßte, vertrat er eine Inhalts-
ästhetik; da er jedoch den mind für eine formende Kraft erklärte, so
näherte er sich auch dem Formalismus. Der Begriff der Schönheit
wird nach antikem Vorbild sehr weit ausgedehnt: ihm sind unter-
geordnet die von Natur und Kunst gebildeten »toten Formen«, alsdann
die in menschlichen Gestalten vorhandenen »formenden Formen«, in
denen der Geist die Form als seine Wirkung emporwachsen läßt, und
schließlich die göttliche Schönheit, die als zwar höchste, aber rein
geistige Schönheit sich in Gesinnungen und Handlungen erweist
»Kunst und Tugend sind sich gegenseitig befreundet, die Kenntnis des
Kunstkenners und die Kenntnis der sittlichen Vollkommenheit schmilzt
in eine zusammen« (Selbstgespräch III, 2). Vom Künstler und seinem
Werk ist vor allem innere Harmonie zu fordern. Shaftesbury hat keinen
Sinn für die Entwickelungskräfte, die in der schaffenden Persönlichkeit
und in ihrem Erzeugnis (wie etwa in der Tragödie) der glatten Aus-
geglichenheit im Wege stehen. Auch den unbeteiligten Beobachter
des sozialen Kräftespiels denkt er sich mit Freude an Symmetrie und
Proportion erfüllt und schließt deshalb Ethik und Ästhetik fest zu-
sammen. Die ästhetischen Begriffe aller quantitativen Wohlverhältnisse,
die in der eingeborenen Beschaffenheit des Geistes ruhen, sollen gerade-
zu den moralischen Sinn ausmachen.
Die schottischen Ästhetiker haben in dieser Beziehung schärfer
gesehen und gesondert Was bei Burke bereits hervortrat, die Unter-
scheidung des beschaulichen und des tätigen Verhaltens, wurde
von Home (1762) zum Mittelpunkt einer psychologischen Zeri^[ung
des ästhetischen Genießens gemacht Die Emotionen, in denen das
ENGLISCHE UND SCHOTTISCHE ÄSTHETIK DES 18. JAHRHUNDERTS. 17
ästhetische Aufnehmen besteht, sind als interesselos von den Passionen
zu trennen, die in Willenshandlungen übergehen. Die Freude an der
Schönheit ist ein ruhiges Wohlgefallen. Sonach gibt es zwischen der
ästhetischen und der ethischen Betrachtungsweise einen Unterschied.
Dennoch nennt Home den guten ästhetischen Geschmack die beste
Vorbereitung für Moral. »Einem Menschen, der sich diesen zarten
und vollkommenen Geschmack erworben hat, muß jede Handlung, die
unrecht oder unschicklich ist, äußerst unangenehm sein.« Hinzu kommt
die von Home fein entwickelte Erkenntnis, daß ästhetische Gefühle
sowohl durch wirkliche Gegenstände als auch durch die nur ideale
Gegenwart des Objektes hervorgerufen werden können. Die Kunst
beruht darauf, daß an die ideale Gegenwart oder, wie wir sagen würden,
an den ästhetischen Schein sich die gleichen Emotionen anschließen
wie an eine wirkliche Anwesenheit.
Eine weitere Errungenschaft ist Homes Lehre, daß die Schönheit,
d. h. ein sanfter und heiterer Eindruck, zusammengesetzt sei. Es gibt
eine sinnliche Schönheit Sie besteht aus Farben, Formen und ihrem
Zusammenwirken. Es gibt aber auch eine assoziative Schönheit Die
Zweckmäßigkeit des Gegenstandes beispielsweise gefällt nicht unmittel-
bar, sondern durch hinzutretende Vorstellungen. Kants Unterscheidung
der freien und der anhängenden Schönheit, sowie Fechners Sonderung
des direkten und des assoziativen Faktors gehen auf Homes Fest-
stellung zurück. Homes Worte sind: intrinsic und relative beauty. Die
dgene Schönheit wird an einem einzelnen Gegenstand ohne Beziehung
auf anderes und durch die Sinne aufgefaßt Die Verhältnisschönheit
setzt eine Denkhandlung voraus und beruht auf den Beziehungen der
Gegenstände oder auf Übertragung der Eigenschaften von dem einen
auf das andere Objekt Ein Hauptbeispiel der relativen Schönheit ist
die Zweckschönheit; der schlanke Wuchs eines Rennpferdes gefällt
teils wegen der Symmetrie, teils wegen der Nützlichkeit Beide Quali-
täten stimmen darin überein, daß sie als unmittelbar und objektiv ge-
geben vom Betrachter aufgefaßt werden.
Wir haben also folgende Hauptpunkte der Homeschen Ästhetik
festzuhalten: die Einordnung der ästhetischen Gefühle unter die Emo-
tionen, die von den Passionen getrennt sind; der Begriff der idealen
Gegenwart und die Unterscheidung der eigentlichen und der relativen
Schönheit Dazu kommen freilich noch ungezählte Einzelerkenntnisse.
Sie sind stets auf analytisch-psychologischem Wege gewonnen, aber
sie sollen doch letztlich dazu dienen, ästhetische Normen, T>the Standard
of taste<ii (Kap. 25) festzulegen.
Auch Reid (1785) geht von der ästhetischen Rezeptivität aus und
streift kaum die Produktivität Der Geschmack ist das Vermögen des
Dessoir, Ästhetik und aUg. Kunstwissenschaft. 2
18
L DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Geistes, Schönheiten der Natur und der Kunst zu bemerken und zu
genießen. Nicht ohne Grund nennen die Sprachen ihn mit demselben
Wort wie den Geschmackssinn der Zunge. Von den Ähnlichkeiten
des ästhetischen Geschmacks mit einem der fünf Sinne ist folgende die
wichtigste: In beiden Sphären gibt es zunächst nur subjektive Emp-
findungen, aber in den Körpern ist eine wirkliche Eigenschaft als Ur-
sache dieser Empfindungen enthalten. So muß es in der Melodie eine
reale Beschaffenheit geben, durch die das freilich in sich selbst sub-
jektive Oefühl der Schönheit entsteht.
Doch handelt es sich nicht nur um Empfindungen und Gefühle,
sondern auch um ein Urteil Denn die Behauptung, dieser oder jener
Gegenstand sei schön, bedeutet eine bejahende Aussage, die Zuord-
nung eines Prädikates zu einem Subjekte Wenn schon in jeder äußeren
Wahrnehmung ein Urteil eingeschlossen ist, so erst recht in der ästhe-
tischen Betrachtung. Die Qrundtheorie der schottischen Philosophen,
in der Empfindung bereits ein Urteil zu sehen, führt also dahin, daß
der ästhetische Vorgang als ein ästhetisches Urteil verstanden wird.
Aber natürlich ist das ästhetische Urteil nicht rein intellektuell, sondern
von einer angenehmen Erregung des Gefühls begleitet, und es verhält
sich zur bloßen Wahrnehmung so, daß diese die Voraussetzung bildet:
erst muß das ästhetische Objekt irgendwie durch den Gesichts- oder
Oehörssinn wahrgenommen werden, dann kann die Empfänglichkeit
für Schönheit als ein sekundärer Sinn ihre Tätigkeit entfalten.
Die Untersuchung des ästhetischen Gegenstandes beginnt Reid mit
der Feststellung p daß es einen ästhetischen Objektivismus und einen
ästhetischen Subjektivismus gibt Er erläutert den Unterschied durch
den nützlichen Hinweis auf Plato und Aristoteles einerseits, Descartes
und Locke anderseits. Hutcheson hatte im Sinne der Subjektivisten
gesagt: Es bedeuten kalt, heiß, süß, bitter die Empfindungen in unserem
Geist, mit denen die Gegenstände, die diese Ideen in uns hervorrufen,
vielleicht in keinem Punkte eine Ähnlichkeit haben, ob wir uns gleich
die Sache gemeiniglich anders vorstellen. Wäre kein Geist da, ausge-
stattet mit dem Schönheitssinn, der die Gegenstände betrachtete, so
sehe ich nicht, wie sie schön genannt werden könnten.« Eine solche
Subjektivierung steht nach Reids Meinung nicht im Einklang mit der
göttlichen Weisheit. Auch zeige der Gebrauch aller Sprachen, daß der
Name Schönheit sich nicht nur auf die Gefühle des Betrachters beziehe,
sondern auf etwas Reales, Es muß also fortgeschritten werden von
der Analyse des ästhetischen Eindrucks zur Feststellung jener objektiven
Beschaffenheiten, die den Gegenstand zum ästhetisch wohlgefälligen
machen.
Die Attribute der gefallenden Dinge sind für Reid dieselben, die
i
4
ENGLISCHE UND SCHOTTISCHE ÄSTHETIK DES 18. JAHRHUNDERTS. 19
schon Addison genannt hatte, nämlich Neuheit, Größe und Schönheit
Die Neuheit freilich ist nicht schlechtweg eine objektive Qualität. Aber
sie ist auch nicht nur subjektiv. Vielmehr besteht sie in einer Beziehung
zwischen dem Ding und den Kenntnissen des Betrachters. Was dem
Ich zum ersten Male entg^entritt und nicht gerade unangenehm ist,
gewährt Vergnügen. Denn der lebhafte Gebrauch der seelischen Kräfte,
den Reid mit Dubos für sehr erfreulich und begehrenswert erachtet,
wird durch das Neue stark angeregt Tätigkeit und Freude gehen
Hand in Hand; der Trieb nach Abwechslung gehört zu den Grund--
trieben der menschlichen Natur. Eine wirkliche Bedeutung indessen ge-
winnt die Neuheit bloß, wenn sie sich mit nützlichen oder wertvollen
Eigenschaften verbindet Hier erwartet man eine nähere Auseinander-^
Setzung Ober Gewohnheit, Überraschung, zufällige Gedankenverbin-
dungen und dergleichen mehr: diese Momente nämlich werden von
Reid als bedeutsam erwähnt Aber er begnügt sich damit, sie zu
nennen, ohne sie im einzelnen zu untersuchen.
Die Größe im ästhetischen Sinne, d. h. die Erhabenheit ist ihrer
objektiven Beschaffenheit nach ein Grad der Vollkommenheit, der Be-
wunderung verdient Der Gegenstand besitzt diese Vollkommenheit
durch seine eigene Verfassung und nicht durch die unserige. Erhaben
sind demnach solche Vollkommenheiten des Geistes, wie Macht, Kennt-
nis, Weisheit, Tugend, Edelmut oder ein Charakter wie der Catos. Nun
macht Reid, ohne es zu merken, einen großen Sprung, indem er die
Darstellung solcher Vorzüge in gleichem Sinne für erhaben erklärt Er
sagt: »Wie die Gottheit von allen Objekten des Denkens das erhabenste
ist, so gelten die Beschreibungen ihrer Attribute und Werke, wie die
Heilige Schrift sie gibt, selbst in schlichten Ausdrücken als erhaben.«
Denn der Ausdruck der Bewunderung und Begeisterung, der in solchen
Schilderungen liegt, reißt den Leser mit fort Besonders hebt Reid die
dabei gebrauchten Metaphern hervor, weil sie auch den unbeseelten
Dingen, den Werken Gottes, eine Art Würde leihen. Die beiden Seiten
der Symbolisierung, die Möglichkeit, Seelisches sinnlich darzustellen
und Sinnliches zu beseelen, werden richtig erkannt und im Kapitel
über die Erhabenheit erwähnt Gegenüber Burkes Behauptung, daß
im Eindruck des Erhabenen ein Gefühl von Schrecklichem enthalten
sei, wendet Reid ein, daß wir nur Objekte von ungewöhnlicher Voll-
endung bewundem, während die Objekte, die wir fürchten, nicht voll-
kommen zu sein brauchen. »Die Erhabenheit«, so schließt Reid seine
Ausführungen, ^»findet sich ursprünglich und eigentlich in Eigenschaften
des Geistes. Sie ist an Objekten der Sinne nur im Widerschein zu
beobachten, gleichwie das Licht, das wir am Mond und an den Planeten
wahrnehmen, in Wahrheit das Licht der Sonne ist Diejenigen, die
20
I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Erhabenheit am bloßen Stoffe suchen, suchen das Lebendige im Reich
des Todes.«
Erhaben im eigentlichen Sinne ist demnach alles Geistige, was Be-
wunderung verdient. Schön dagegen heißt, was Liebe weckt. Auch
beim Schönen handelt es sich um eine im Ding vorhandene Voll-
kommenheit Der Glaube an die Vollkommenheit des Gegenstandes
macht also den einen Faktor im Gefühl des Schönen aus. Der andere
Faktor besteht in einem Lustgefühl, das als heiter und angenehm, wie
bei Home, charakterisiert wird. Fragt man nun^ welche Dinge durch
ihre Vollkommenheit ein solches Lustgefühl hervorrufen, so nennt Reid
in einem Atem: ^die Schönheit einer Beweisführung, eines Gedichtes,
eines Palastes, eines Musikstückes, eines schönen Weibes , und er be-
hauptet, daß man die Verschiedenheit nur durch Beziehung auf die
Objekte bezeichnen kann, zu denen diese Schönheiten gehören. Es
gibt moralische Schönheiten und solche der Natur, körperliche und
geistige, leblose und lebendige Schönheiten. Keine irgendwie hervor-
ragende reale Eigenschaft wäre aufzuzeigen, die nicht, vom richtigen
Gesichtspunkt aus betrachtet, für ein aufmerksames Auge ihre Schön-
heit hätte. Aber auch unser Philosoph muß gestehen, daß zwischen
der Schönheit eines Theorems und der eines Musikstückes keine Ähn-
lichkeit vorhanden zu sein scheint. Und so bleibt ihm nichts anderes
übrig, als auf die Oleichartigkeit des Eindrucks oder auf das Verhältnis
von Objekt und Subjekt zu verweisen, um die gleichmäßige Verwen-
dung des Wortes schön zu rechtfertigen.
Wenn Reid weiterhin von einer ursprünglichen und einer abge-
leiteten Schönheit spricht, so fühlt sich der Leser an Homes Aufstellung
erinnert. Reid meint aber nicht genau das Gleiche wie sein Vorgänger*
Abgeleitet ist die Schönheit dann, wenn sie vom Dinge selbst auf sein
Zeichen, von der Ursache auf die Wirkung, vom Zweck aufs Mittel,
vom Handelnden aufs Werkzeug übertragen wird* Das Hauptbeispiel
ist sehr charakteristischerweise die Schönheit der guten Erziehung,
Sie liege ursprünglich nicht im äußeren Benehmen, sondern sei her-
genommen von den Eigenschaften des Geistes, die sie ausdrückt. So
verhält es sich nun überhaupt* Nur die Eigenschaften des Geistes
haben ursprüngliche Schönheit. Die freundlichen Tugenden sind schön^
die Ehrfurcht gebietenden Tugenden sind erhaben* In den moralischen
und intellektuellen Vollkommenheiten des Geistes und in seinen Kräften
wohnt ursprünglich das Schöne. Aus dieser Quelle fließt alles, was
wir in der sichtbaren Welt ästhetisch genießen. Bei der sichtbaren
Welt denkt Reid zunächst an den Kosmos, jenes großartige Schauspiel,
mit dem die erhabensten und schönsten Werke menschlicher Kunst
keinen Vergleich aushalten. Hier finden sich Töne, Farben, Formen
ENGUSCHE UND SCHOTTISCHE ÄSTHETIK DES 18. JAHRHUNDERTS. 21
von erlesenster Schönheit Doch li^ Ihr Wert nur darin, daß sie
Zeichen von einer Vollkommenheit sind oder als Hinweis auf einen
Zweck oder als Ausdruck eines Geistigen auftreten. So sind die Farben
der Naturdinge gewöhnlich Zeichen irgend einer guten oder schlechten
Eigenschaft des Gegenstandes. Schöne Formen und Bewegungen in
der Natur gefallen durch das, was sie ausdrücken; nicht anders kann
es in der Kunst sich verhalten. Dementsprechend wird das Grund-
problem der Musikästhetik dahin entschieden, daß eine schöne Melodie
eine Nachahmung von Tönen ist, die die menschliche Stimme beim
Ausdruck eines Gefühls oder einer Leidenschaft verwendet. Mit einem
Wort: es gibt keine bloß sinnliche Schönheit, sondern nur Symbole
geistiger Schönheit.
Reids Ästhetik mußte deshalb eingehender betrachtet werden, weil
sie ein umfassendes, gedankenreiches System bildet und zu Unrecht
in Vergessenheit geraten ist Von den übrigen schottischen Philosophen
verdienen namentlich Adam Smith und Dugald Stewart unsere Auf-
merksamkeit
Unter den Versuchen über philosophische G^enstände, die Adam
Smith im Manuskript bewahrt hatte und die nach seinem Tode ver-
öffentlicht wurden, ist einer »den nachahmenden Künsten« gewidmet
Diese Abhandlung gleicht darin den meisten ästhetischen Untersu-
chungen der englischen und schottischen Schule, daß sie alle meta-
physischen Fragen beiseite läßt und in der fruchtbaren Niederung
erfahrungsmäßiger Kunstbetrachtung sich ansiedelt; sie zeichnet sich
aber dadurch aus, daß sie einige von uns für modern gehaltene Ein-
sichten vorwegnimmt*).
Smith bemerkt richtig, daß getreue Nachahmung als solche keinen
ästhetischen Wert besitzt Wir würden einen Architekten, der die
Peterskirche zum zweiten Male baut, oder einen Techniker, der einen
Naturgegenstand aus den gleichen Bestandteilen, die die Natur ver-
wendet, mühsam zusammensetzt, allenfalls geschickt, aber auch erfin-
dungsarm und sicheriich nicht einen »Künstler« nennen. Nun sind
jedoch die meisten Kunstwerke Nachahmungen einer Wirklichkeit
Wodurch also mögen sie ihre Bedeutung gewinnen? Smith geht für
die Erklärung nicht auf irgendwelche »Ideen« zurück, er beruft sich
nicht auf eine Schöpferkraft des Künstlers, die der göttlichen vergleich-
bar wäre, — vielmehr stellt er einfach fest, daß der Stoff oder das
Mittel jeder Kunst eine Eigenart besitzt Daß in dieser besonderen
Materie z. B. im Marmor ein lebender Körper abgebildet wird oder
daß auf einer Fläche räumliche Gegenstände sich darzustellen scheinen,
das macht die Nachahmung zu einer künstlerischen. In der Verschieden-
heit der Dinge und nicht zum mindesten in der Überwindung der
22 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
dadurch bedingten Schwierigkeiten wurzelt die Freude des Schaffenden
und Genießenden. — Über die bildenden Künste stellt Smith die Musik,
weil sie ein Reich für sich bildet. Die Schönheit des gemalten Sonnen-
unterganges hat in dem Zauber des wirklichen Sonnenunterganges
einen gefährlichen Nebenbuhler, aber die Melodie hat nichts ihr Ähn-
liches in der Natur. Die Melodie entspringt aus dem Rhythmus. Wenn
sich ihr nicht mehr gleichgültige Laute, sondern sinnvolle Worte an-
schließen, so müssen sie dem Rhythmus folgen, d. h. die Form von
Versen annehmen. Und da die Melodie von Anfang an einen fröhlichen
oder traurigen Charakter hatte, so müssen die Worte den entsprechen-
den Sinn, die etwa mit der Musik verknüpften mimischen Bewegungen
den entsprechenden Inhalt bekommen. Allmählich differenzieren sich
die Künste, mit Ausnahme des Tanzes, der stets auf eine zweite Kunst,
nämlich die Musik, angewiesen bleibt, weil der Rhythmus nur dem
Ohre sich erschließt. Hiermit ist also Spencers Theorie und außerdem
ein gut Teil von dem vorweggenommen, was heutzutage als neue Er-
rungenschaft gilt.
Dugald Stewart begründet seinen ästhetischen Skeptizismus mit
einer Assoziationentheorie. Die »schön« genannten Dinge haben nicht
mit Notwendigkeit etwas Gemeinsames. Aus ihrer gleichartigen Benen-
nung läßt sich kein konstitutives Prinzip der Schönheit ableiten. Der
Vorgang, durch den es möglich wird, ganz verschiedenartige Dinge
mit dem einen Worte »schön« zu belegen, scheint folgender zu sein.
Wegen einer bestimmten Eigenschaft nenne ich A schön. Finde ich
dieselbe Eigenschaft bei B, so nenne ich auch B schön. Jetzt stoße
ich auf C, das eine andere Eigenschaft mit B teilt, und übertrage nun-
mehr das Epitheton »schön« von A auf C, obgleich die gemeinsame
Eigenschaft von B und C nicht die gemeinsame Eigenschaft von A
und B ist, also zwischen A und C keine Ähnlichkeit besteht. Da eine
solche Reihe ins Unendliche gehen kann, so wird ersichtlich, daß es
kein gleichbleibendes Merkmal der Schönheit zu geben braucht. Dem-
nach müssen wir die subjektiven Gründe des Schönen aufzufinden
versuchen. Weshalb nannte ich denn A schön? Hier hat noch keine
Übertragung hineinspielen können. Der Grund der Schönheit muß
also ein anderer als bloße Assoziation sein. Als schön empfinden wir
das Objekt A, weil es uns früher eine sinnliche oder intellektuelle Lust
verschafft hat. Eine Frucht z. B., die mich früher erquickt hat, wird
später, wenn es sich nicht um Essen und Trinken handelt, durch die
Erinnerung an jene Lust den Eindruck des Schönen hervorrufen. Hierin
steckt ein Verständnis für die Ähnlichkeit der ästhetischen Vorstellung mit
der Erinnerungsvorstellung, und außerdem der Versuch, wiederum durch
Assoziation das ästhetische Gefallen zu erklären. Der Mondschein übt
ENGLISCHE UND SCHOTTISCHE ÄSTHETIK DES 18. JAHRHUNDERTS. 23
eine schöne Wirkung aus, wenn er uns an ein glückliches Ereignis
denken läßt, das wir beim Mondenschein hatten. Er wird häßlich und
kalt, wenn er uns an Unglück erinnert. So können dieselben G^en-
stände und Vorgänge bald schön, bald häßlich erscheinen, je nach der
Art von Vorstellungen, die sie in der Seele des Betrachters wecken.
Nunmehr verstehen wir, weshalb unsere eigenen Urteile sich so häufig
widersprechen, und wieso die verschiedenen Beobachter in ihren Mei-
nungen voneinander abweichen.
Ähnliche Gedanken hat bald danach (1826) Jouffroy in seiner
Ästhetik ausgesprochen. Jouffroy, einer der besten Kenner und Er-
forscher der schottischen Ästhetik, ist auch in seinen eigenen Theorien
von ihr abhängig. Er greift auf jenen Begriff zurück, der bei Hume,
Adam Smith und überhaupt in der schottischen Ethik einen so bevor-
zugten Platz eingenommen hatte, auf den Begriff der Sympathie. Interesse,
so sagt er, empfinden wir für Dinge, die uns nützlich sind, Sympathie
dagegen für Dinge, die uns ähnlich sind. Es ist kein Zweifel, daß
unsere Freude am Schönen nicht auf Interesse beruht Daher wird
sie wohl auf Sympathie ruhen müssen. Das Schöne ist dasjenige,
womit wir in der menschlichen Natur sympathisieren, sofern es durch
natürliche Symbole ausgedrückt wird, die unsere Sinne treffen. (Cours
(T Esthetique, 3. Aufl., 1875, S. 243.) In dieser grundl^enden Definition
tritt zu der Sympathie oder, wie wir wohl sagen dürfen, zur Einfühlung
noch hinzu der Begriff des natüriichen Symbols, das sinnlich aufgefaßt
wird. Natürlich sind diejenigen Zeichen, die so mit den sie bedingen-
den Gefühlen verknüpft sind, daß die Assoziation unmittelbar und ohne
vorausgehende Erfahrung eintritt Jouffroy meint: bereits Kinder und
Naturmenschen assoziieren richtig mit bestimmten gesehenen Ausdrucks-
bewegungen bestimmte Vorstellungen. Diese ohne Erfahrung und
Bildung auftretenden Assoziationen sind angeboren oder a priori, und
die Zeichen, durch die sie zu stände kommen, sind jene natürlichen
Symbole, in denen das Schöne erscheint Hier ist also an einen be-
stimmten Vorgang immer nur eine bestimmte Vorstellung geknüpft
Schreitet man nun mit Jouffroy fort zu den allgemeinen, aber empirischen
Assoziationen, dann zu weit verbreiteten, weniger verbreiteten, und
schließlich bis zu den ganz individuellen, so erkennt man, daß die
künstlerische Phantasie sich keinesfalls auf die natüriichen Symbole zu
beschränken braucht Denn sie ist doch gerade eine Einbildungskraft,
in der Sichtbares sehr viele Assoziationen weckt. Jouffroy hat das
auch nicht verkannt, vielmehr hier wie in seiner interessanten Kritik
der Einheit-Mannigfaltigkeit-Formel (a. a. O. S. 145) wertvolle Einsichten
gewonnen. Unser geschichtlicher Vorbericht kann darauf leider nicht
mehr eingehen.
24 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
4. Die Ästhetik der deutschen Aufklärung.
Der wesentliche Vorzug der englischen und schottischen Ästhetik
besteht darin, daß sie ihre Sätze als Folgerungen aus der Beobachtung
von Tatsachen zu gewinnen sucht. Diese Tatsachen sind zunächst
die der inneren Erfahrung. Aber auf sie bleibt die Untersuchung nur
bei wenigen Philosophen beschränkt, bei der Mehrzahl setzt sie sich
fort in einer Untersuchung der Gegenstände. Hierbei tritt die Nach-
ahmungstheorie durchaus zurück; wo sie sich jedoch findet, wird sie
vertieft, indem auf die Besonderheit und Beschränktheit der künst-
lerischen Mittel aufmerksam gemacht wird. Als Hauptbegriff dient jetzt
die Vollkommenheit des Objekts. Da sie an sich eine geistige, ethische
Eigenschaft ist, und da alles Sinnliche ästhetisch wertvoll nur dadurch
werden soll, daß es auf die verborgene Vollkommenheit hindeutet, so
wird einerseits eine innige Verbindung zwischen dem Ästhetischen
und Ethischen hergestellt, anderseits jede Schönheit als Ausdrucks-
schönheit aufgefaßt. Diese Ästhetik ist in ihren gegenständlichen Par-
tien eine Inhaltsästhetik.
In den ausgedehnteren Forschungen, die dem Zustand des Subjekts
gewidmet werden, verhalten sich Engländer und Schotten nicht rein
beschreibend und analysierend. Gleich der antiken und französischen
Wissenschaft streben sie Normen zu, die in mustergültigen Vorbildern
verkörpert sind. Aber der Weg, auf dem sie dies Ziel erreichen wollen,
ist ein neuer und schweriich der geeignete. Ein innerer Widerstand
gegen die Starrheit technischer Regeln, eine Neigung für die in ihrer
Gesetzmäßigkeit kaum faßbare Phantasie, eine Empfänglichkeit für die
Unterschiede in den Eindrücken wirken als stärkste Hemmnisse. An
dem Eindruck des Erhabenen — als von dem Schönheitsgefühl ver-
schieden — bemerkt man zuerst den Scheincharakter der ästhetischen
Welt. Die fortschreitende Analyse trennt dann das ästhetisch-beschau-
liche und das moralisch-tätige Verhalten. Homes Sonderung der sinn-
lichen (wesentlichen) Eigenschönheit und der assoziativen (meist dem
Zweckgedanken untergeordneten) Beziehungsschönheit führt bei Reid
zur Zeri^^ng des ästhetischen Verhaltens überhaupt, bei Stewart zu
einer sinnreichen Assoziationentheorie.
Mit dieser Mannigfaltigkeit verglichen erscheint die freilich ältere
Ästhetik unseres Baumgarten als einförmig. Immerhin birgt sie mehr
als gewöhnlich vermutet wird. Beginnen wir mit dem grundlegenden
Paragraphen 116 der ^Meditationes^ (1735). »Schon die griechischen
Philosophen und Kirchenväter haben scharf geschieden zwischen
alodr^A und voTjxdt. Es steht hinreichend fest, daß bei ihnen alaftrjtd
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG. 25
nicht lediglich gleichbedeutend mit den Sinnesdingen ist. Denn sie
begreifen unter dieser Benennung auch die auf Abwesendes bezogenen
Sinnesvorstellungen (also Phantasmen). So wollen wir also die voYjTd,
deren Erkenntnis einem höheren Seelen vermögen verdankt wird, als
den Gegenstand der Logik, die alo^Tjtdt als den der iTctorjJiJLY] alo^ttxTj,
d. h. der Ästhetik betrachten.« Mit anderen Worten : die Ästhetik hat
es mit dem anschaulichen — nicht etwa nur sinnlichen — Erkennen
zu tun. Von ihm und seiner Eigenart ist auszugehen. Worin li^
sie? Wir erhalten nicht die erwartete Analyse der Anschauung, son-
dem erfahren nur: So sicher dies Erkennen niedriger stehe als das
begriffliche Erkennen, so sicher sei es doch ein Erkennen. Demnach
behandelt Baumgarten die ästhetischen Vorgänge ganz nach der Ana-
logie der logischen Prozesse. Er nennt den ästhetischen Verstand ein
y>analogon rationis<s^. Er spricht von einer ^evidentia aesthetica^, sobald
ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit aufs anschaulichste und leb-
hafteste erkannt wird. Er läßt ästhetische Beweise gelten. Nur sind
es eben ^demonstrationes ad oculum<^ oder ^demonstrationes palpabUes<^.
Der gute Geschmack, heißt es in Gottscheds »Ausführlicher Rede-
kunst«, die ein Jahr nach Baumgartens ^Meditationes<^ erschien, ist »der
von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig
urteilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründ-
liches Erkenntnis hat.« Mit einem Wort: es handelt sich um eine
Erkenntnis, wo es Beweise und Evidenz gibt Aber sie bleibt im
Anschaulichen, d. h. unterhalb der begrifflichen Klarheit.
An diesen ersten Gedankenzusammenhang schließt sich ein zweiter,
der die Eigentümlichkeit der ästhetischen Seelenvorgänge in ihrer Be-
rührung mit dem Gefühl aufsucht. Da das Anschauliche immer »ver-
worren« ist, d. h. keine Zergliederung und Abstraktion kennt, so muß
es lebhafter wirken als die deutliche Erkenntnis. Der Sinn für das
Schöne wird, indem er von der logischen Erkenntnis abgelöst wird,
dem Gefühlsmäßigen genähert. Bei einer solchen unbestimmten Ver-
wandtschaft der Anschauung und des Gefühls brauchte aber Baum-
garten nicht stehen zu bleiben, weil in der zeitgenössischen Gefühls-
theorie eine Hilfe für genauere Bestimmungen dargeboten war. Man
hatte nämlich damals jede Freude für das Anschauen irgend einer Voll-
kommenheit erklärt. Diese Erklärung ließ sich am ehesten noch bei
der ästhetischen Lust rechtfertigen. Denn das Vergnügen am Essen
und Trinken dürfte kaum durch die Vorstellung irgend einer Voll-
kommenheit eriäutert werden können. Aber daß wir bei der ästheti-
schen Lust eine Vollkommenheit anschaulich und gefühlsmäßig auf-
fassen, vermöchte man schon zu begreifen.
Nur ergeben sich auch hier zwei Schwierigkeiten, die Baumgarten
26 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
nicht überwunden hat. Er vermochte einerseits nicht den ästhetischen
Wert des Häßlichen zu erklären, anderseits das Folgeverhältnis von
Lust und Vollkommenheit nicht klarzustellen. Zu dem ersten Punkt
vergleiche man die folgende Stelle: »Ziel der Ästhetik ist Vollkommen-
heit der anschaulichen Erkenntnis als solcher (d. h. insofern sie an-
schaulich ist). Diese Vollkommenheit heißt Schönheit. Zu meiden ist
die Unvollkommenheit der anschaulichen Erkenntnis als solcher. Diese
Unvollkommenheit heißt Häßlichkeit« (Aesth. 1750 I, § 14). Was den
andern Punkt betrifft, so hat bereits der Dichter Bürger in seinen
ästhetischen Vorlesungen *) darauf aufmerksam gemacht, daß es richtiger
sei, die Vorstellung der Vollkommenheit aus den ästhetischen Lust-
gefühlen abzuleiten. Man strebe nach der Vollkommenheit, sagt er,
weil man weiß, daß sie Vergnügen gewährt. Gerade deswegen werde
sie für ein Gut gehalten. Also sei das Vergnügen die Ursache jener
Vorstellung, nicht aber die Vorstellung die Quelle des Vergnügens.
Ein dritter Gedankenzusammenhang in diesem System der Ästhetik
sucht dem Zentralbegriff der Vollkommenheit auf einem neuen Wege
beizukommen. Zwischen niederer und höherer Erkenntnis gibt es
noch diesen Unterschied, daß wir bei der anschauenden Erkenntnis
die Sache, dagegen bei der symbolischen Erkenntnis des deutlichen
Vorstellens mehr die Worte als die Sache denken. Baumgarten
meint, daß unsere begrifflichen Operationen immer in der Sphäre der
Worte bleiben und selten auf Anschauungen gehen oder von solchen
begleitet sind. Das eigentliche Denken heißt also ein symbolisches
Erkennen, weil es nur mit Begriffsworten oder Symbolen zu tun hat.
Das ästhetische oder anschauliche Denken, das die Sache selbst an-
schaut und nicht nur mit Zeichen operiert, soll eine nähere Verwandt-
schaft mit den Gefühlen besitzen. Denn die Gefühle schließen sich
an Sachvorstellungen und nicht an symbolische Vorstellungen an.
Anderseits jedoch geht die Erkenntnis durch Begriffe und Zeichen eben
auf den Inhalt der Dinge, während die Erkenntnis durch Anschauungen
und Gefühle die »Form« der Dinge zum Gegenstand hat. Die Form,
um die es sich hier handeh, heißt Vollkommenheit und wird näher
definiert als Übereinstimmung in der Verschiedenheit. Das Geschmacks-
urteil bezieht sich nicht wie das intellektuelle Urteil auf Wahrheit und
Güte, sondern auf Schönheit, und Schönheit oder anschaulich auf-
gefaßte Vollkommenheit ist die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen
zu einer Einheit Deshalb nennt Baumgarten die Schönheit auch ^per-
fecta) phaenomenon<f^ (Metaphysik, § 662). Das Einfache, z. B. eine
einzelne Farbe, ist nicht schön. Auch die bloße Vielheit gleicher Teile
gilt noch nicht als schön, sondern Schönheit liegt nur in der Zusam-
menstimmung zu einem Ganzen. Die Mannigfaltigkeit wird veriangt,
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG. 27
damit die Seele Oberhaupt err^ werde, was eine der Grundbedingungen
für das Auftreten von Lust sein soll. Die Zusammenstimmung ist ge-
boten, weil nur das wohl Geordnete und leicht Übersichtliche gefällt.
Die sinnliche Erkenntnis der beiden Momente endlich erscheint als
notwendig, weil nur sie eindrucksvoll ist.
In seiner ästhetischen Heuristik wendet sich Baumgarten dem Schaffen
des Künstlers und den Kunstwerken zu. Er will die »Auffindung,
Anordnung und Bezeichnung schöner Gedanken« lehren und beginnt
mit der Aufzählung der Bedingungen, die zur Entstehung eines schönen
Kunstwerks unentbehrlich sind. In sehr vielen, meist zweigliedrigen
Abteilungen schildert er die speziellen Veranlagungen des Künstlers,
die Übung, die theoretische Bildung, die B^eisterung und den Fleiß.
In dieser »Logik der schöpferischen Einbildungskraft« wird nach-
drücklich hervorgehoben, daß die deutliche Erkenntnis der Voll-
kommenheit, also eine Erkenntnis, die auf Bildung von B^^ffen und
Worten geht, für das künstlerische Schaffen entbehrt werden kann.
Angeschlossen werden dann Untersuchungen über die objektiven Be-
dingungen der Schönheit, namentlich über die Fülle und Größe beim
Erhabenen. Aus der T>Aestheticorum pars altera<^ (1758) seien schließlich
einige von den Handwerksworten erwähnt, mit denen Baumgarten gern
operiert Unter »ästhetischem Horizont« versteht er die Grenzen der
für die Kunst verwendbaren Objekte. Mit der ^parsimonia^ oder
^sobrietas aesthetica<^ ist die Beschränkung gemeint, in der sich der
Meister zeigt. Die Anschaulichkeit und Faßlichkeit des Kunstwerks
oder die »Lebhaftigkeit der Gedanken«, wie G. F. Meier zu sagen
pflegte, heißt hier »das ästhetische Licht« (§ 614). Wenn die sinnliche
Klarheit auf ihren höchsten Punkt gelangt, so entsteht der »ästhetische
Glanz«, der indessen nicht ausschließlich angestrebt werden darf.
Auf diesen Grundlagen für eine Beschreibung der allgemeinen
Kunstformen hat Gottfried August Bürger weitergebaut Als Beispiel
sei die Abhandlung über den ästhetischen Reichtum angezogen. »Ein
G^enstand besitzt ästhetischen Reichtum, wenn er sehr viele Be-
stimmungen und Teile enthält, die sinnlich gedacht werden können
und auf das Gemüt zu wirken im stände sind. Solche sind es vor-
nehmlich, die der ästhetischen Darstellung fähig erfunden werden«
(Schriften S. 31). Der Relativsatz des ersten Satzes enthält eine Ein-
schränkung, die Bürger im Anschluß an Baumgartens B^jiff des
ästhetischen Horizontes ausführiich behandelt. Unter dem ästhetischen
Horizont liegen Gegenstände, die uns täglich umgeben und keine Ge-
fühle wecken. Über dem ästhetischen Horizont li^en Objekte, die
nicht mehr sinnlich dargestellt werden können. Außerhalb des Hori-
zonts li^en alle abstrakten, vor allem die mathematischen Wahrheiten.
28 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Ein innerhalb des ästhetischen Gesichtskreises befindliches Objekt ist
umso geeigneter zur Darstellung, je mehr Sinnen es zugänglich ist
und je lebhafter es die Sinne beschäftigt. — Solche Sätze werden,
nicht nur als beschreibende Feststellungen, sondern auch als Vor-
schriften für den Künstler vorgetragen. Und die gleiche Absicht ist
überall bemerkbar, sehr deutlich z. B. in Sulz er s Allgemeiner Theorie
der schönen Künste.
In den Grundbegriffen der Baumgartenschen Ästhetik vollzog sich
allmählich eine Umformung und zwar nach mehreren Seiten hin. In
die Vollkommenheitsformel wurde der Zweckbegriff eingefügt: schon
G. F. Meier definierte (1758) Vollkommenheit als »die Zusammen-
stimmung des Mannigfaltigen in einer Sache zu einem Zwecke«. Daraus
erwuchs die Notwendigkeit, das Schöne vom Nützlichen abzugrenzen.
Hierum machte sich Karl Philipp Moritz verdient: das Schöne, so ver-
kündete er, ist das in sich Vollendete, das keinem andern Zwecke
nützlich zu sein braucht, um seine Existenz zu rechtfertigen; man be-
trachtet das Schöne nicht, insofern man es brauchen kann, sondern
man braucht es nur, insofern man es betrachten kann. — Auch nach
einer andern Richtung hin wurde das Vollkommenheitsprinzip um-
gebogen. Es erhielt eine subjektivistische Fassung: der Nachdruck
wurde nicht mehr auf die objektive Vollkommenheit gelegt, die ja zu-
gleich das Wahre und Gute umspannt, sondern auf den besonderen
Zustand der undeutlichen Erkenntnis, durch den das Vollkommene erst
den ästhetischen Wert gewinnt. Viele von den Popularphilosophen,
Sulzer voran, haben sich femer bemüht, gegenüber der fast unvermeid-
lichen »engen« Fassung jenes Begriffs dem Häßlichen zu seinem Recht
zu verhelfen.
Die psychologische Untersuchung gelangte dahin, die anschauliche
Erkenntnis gänzlich in das Gefühl aufzuheben. Nachdem eine Zeitlang
die Fähigkeiten des Schaffens und des Genießens, Genie und Geschmack
sehr absichtlich voneinander getrennt worden waren, blieb der Unter-
schied nur noch als der von Passivität und Aktivität bestehen. Auch
er verschwand schließlich in dem allumfassenden Gefühl. Der letzte
Systematiker dieser Schule, Heydenreich, bezeichnete als Wesen der
Kunst Darstellung eines bestimmten Zustandes der Empfindsamkeit. Als
erkennendes Wesen besitze der Mensch den Trieb, seine Kenntnisse
zu erweitern, als fühlendes Wesen den Trieb, seine Gefühle darzustellen
und mitzuteilen; jenes Bedürfnis erzeuge die Werke der Wissenschaft,
dieses die Werke der Kunst (System der Ästh. I, 150). In derselben
Richtung, aber mit maßloser Übertreibung hatten die Vertreter des
Sturms und Dranges sich geäußert. Sie sehen in der Kunst die ur-
sprüngliche Betätigung des Menschen, betonen ihre Bildlichkeit und
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG. 2Q
Göttlichkeit und lehnen alle begrifflichen Untersuchungen ab. Ihre
Ästhetik ist daher in keinem Sinne des Wortes eine Wissenschaft.
Hatten ehemals die Kunstler, etwa Alberti und Dürer, ihre Kunst zu
dem Range einer Wissenschaft emporheben wollen, um sie recht
deutlich von bloßer Fertigkeit abzusondern, so wird hier die Kunst
ganz ins Gefühlsmäßige gesteigert und selbst der Ästhetik nicht ver-
stattet, mit B^jiffen zu arbeiten. In Klingers »Leidendem Weib« spricht
die Hauptperson gar verächtlich von den »Keris, die sich da hinstellen,
Schönheit suchen, Ideal, was weiß ich, dann Regeln schreiben, definieren
und schwatzen, und das all' ohne Gefühl.«
Es erübrigt noch, mit wenigen Worten Winckelmanns und Herders
zu gedenken. Winckelmann hat durch kunstgeschichtliche Unter-
suchungen die Ästhetik und die allgemeine Kunstwissenschaft beein-
flußt, und nicht nur das, er hat sie auch bewußt zu fördern versucht
Die Entwickelung der griechischen Skulptur, an der die Deutschen
damals den Eigenwert der bildenden Kunst überhaupt erst kennen
lernten, ist Entwickelung eines Ideals. Es folgen verschiedene Stile
aufeinander, und ihre Entstehung weist auf den Einfluß von Klima,
Rasse, Nationalität, politischen Einrichtungen u. dergl. zurück. Aber
in diesem Werd^[ang wird auch ein absolutes Ideal verwirklicht.
Diese Tatsache läßt sich induktiv erweisen daraus, daß fast alle Kultur-
völker in der Bevorzugung der allgemeinen Formen griechischer Plastik
übereinstimmen, und daß die unbegründete Abweichung von der
Symmetrie und ähnliche Verbildungen objektiv häßlich sind. Aus
solchen Erfahrungstatsachen gelangt man zu einer besseren Einsicht
in das Wesen des Schönen, als wenn man es mit der Vollkommen-
heit zusammenfallen läßt, von der wir doch kaum etwas Näheres
wissen. Immerhin läßt sich so viel von der Vollkommenheit oder
idealischen Schönheit mit den beiden Merkmalen der edlen Einfalt und
stillen Größe sagen, daß sie nichts Verstandesmäßiges und kein meta-
physischer Begriff ist Sie gleicht vielmehr dem Wasser, das aus dem
Schoß der Quelle geschöpft wird; Unbezeichnung ist eine ihrer wesent-
lichen Eigenschaften. So zeigt Winckelmanns Lehre manche Oberein-
stimmungen mit der Kunsttheorie der Genieleute, und zwar deshalb,
weil Winckelmann ein sehr ursprüngliches und leidenschaftliches Ge-
fühl für die Schönheit besaß.
Herder ist mit Winckelmann darin einig, daß die Kunst eine ge-
schichtliche Entwickelung durchlaufe und mit den allgemeinen Kultur-
bedingungen zusammenhange. Ebenso wie Winckelmann gründet er
seine Theorien meist auf Betrachtung der bildenden Künste. Doch ist
es ihm gelungen, auch für die Poetik neue Grundlagen zu schaffen.
Mit den Stürmern und Drängem verbindet ihn der Glaube an das
30 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Genie, mit den Aufklärern die Berücksichtigung der Anschaulichkeit
und der Gefühle, wobei er namentlich den Tastsinn als bedeutsam
heraushebt. Im Gegensatz zu Kant ist er ästhetischer Objektivist; er
bekämpft femer die strenge Scheidung zwischen theoretischer Vernunft,
praktischer Vernunft und Urteilskraft, und endlich will er von dem
Unterschied einer freien und einer anhängenden Schönheit nichts
wissen. Als wichtig und in ihrer Art auch original bezeichnet man
mit Recht Herders Ableitung der ästhetischen Grundauffassungen aus
einer Weltanschauung überhaupt. Diese Weltanschauung faßt das
Seiende als ein System lebendiger Kräfte auf, die von dem göttlichen
Wesen als von der schaffenden und ursprünglichen Naturkraft überall
zusammengehalten werden. Gleichfalls bedeutsam ist eine andere
(psychogenetische) Ableitung: Der Geschmack entsteht allmählich; nach
allerhand Vorstufen gelangt der Mensch mit Hilfe von Übung und
Gewöhnung zum Vollkommenheits- und Schönheitsbegriff. Endlich
hat Herder über die gesellschaftliche Stellung und Wirksamkeit der
Kunst sich mit einer vorher noch nicht erreichten Deutlichkeit ausge-
sprochen. Sein Ideal ist das der Humanität, der sympathetischen Ge-
meinsamkeit, und er faßt die Kunst als Helferin zur Verwirklichung
dieses Ideals.
Von den Einzelbestimmungen der Herderschen Ästhetik seien nur
zwei erwähnt. Herder geht aus von der Lust, d. h. von der Empfin-
dung unseres Daseins. Diese Lust ist organisches Gefühl. Sonach
wurzelt auch die Freude am Schönen schließlich in körperlichen Vor-
gängen oder im sinnlich Angenehmen. Das höchste subjektive Wohl-
sein entspricht einem Maximum von Vollkommenheit in der Natur,
eben jener sinnlichen Vollkommenheit, die wir Schönheit nennen.
(Suphans Ausgabe Bd. XX, S. 27 ff.) Also ist die Schönheit selbst
durchw^ Ausdrucksschönheit, d. h. Dinge sind nicht schön durch ihre
Form oder das bloß Sinnliche ihrer Erscheinung, sondern durch das,
woran sie mit Notwendigkeit erinnern; beim Menschen etwa ist die
Gestalt im ganzen und im einzelnen schön, insofern in ihr Gesundheit,
Kraft und Wohlsein sich ausprägen. »Schönheit ist also nur immer
Durchschein, Form, sinnlicher Ausdruck der Vollkommenheit ... Je
mehr ein Glied bedeutet, was es bedeuten soll, desto schöner ist es.«
(VIII, S. 56.) Die Ordnung und Harmonie der Teile, die Herder in
der Kalligone (im 2. Kapitel des ersten Teils) als eine Bedingung der
Schönheit nennt, ist eben auch mehr als bloße Form, ist ein Gleich-
maß der wirkenden Kräfte.
Der Fortschritt der systematischen Erörterungen in diesem Zeit-
raum läßt sich in nunmehr verständlicher Kürze folgendermaßen dar-
stellen. Baumgarten weist der Ästhetik ein bestimmtes Gebiet zu.
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN KLASSIKER. 31
nämlich ein Erkennen, das zum Unterschied von dem in Worten und
B^^ffen verlaufenden (symbolischen oder logischen) Erkennen als ein
niederes, anschauliches und dem Fühlen verwandtes gekennzeichnet
wird. Das Gefühl der Lust, zumal der ästhetischen, ist die Reaktion
auf eine g^enständliche Vollkommenheit Diese besteht in der Zu-
sammenstimmung des Mannigfaltigen zur Einheit — Von da ab wurde
das Vollkommenheitsprinzip der Mittelpunkt unserer Wissenschaft Es
entwickelte sich teils durch Abgrenzung g^en das Nützliche und Er-
weiterung zu Gunsten des Häßlichen, teils durch eine Subjektivierung,
die der späteren spekulativen Schule den Boden bereitete. Bei Winckel-
mann bildete dieser Zentralb^^ff ein G^engewicht g^en die rein ent-
wickelungsgeschichtliche Auffassung, bei Herder den Stützpunkt einer
Inhaltsästhetik. Gemeinsam war allen so wirr durcheinanderlaufenden
Theorien, daß die anschauliche Erkenntnis ins Gefühlsmäßige hinüber-
geleitet wurde
5. Die Ästhetik der deutschen Klassiker.
Kants Ästhetik ist eine künstliche Zusammenfügung und Fortbil-
dung der uns bekannt gewordÄien Prinzipien. Ihren einheitlichen
Charakter gewinnt sie aus dem Zusammenhang der kritischen Philo-
sophie überhaupt; nicht als einzelne, selbständige Wissenschaft, son-
dern als Einordnung eines Tatsachengebietes in ein philosophisches
System ist sie aufzufassen.
Aus Gründen der Systembildung, die hier nicht ausgebreitet werden
können, gilt bei Kant als das obere Gefühlsvermögen die reflektierende
Urteilskraft, die nach dem Zweckb^^ff das Dargebotene bewertet
Die Einführung dieses B^^ffs nötigt nun zu einer Unterscheidung
zwischen der wirklichen Zweckmäßigkeit und der Schönheit Diese
erscheint als formale und subjektive Zweckmäßigkeit, die nicht der
Erkenntnis des G^enstandes dient, sondern der Beschaffenheit des
aufnehmenden Gemütes entspricht Auch die Erhabenheit ist in keinem
Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüt enthalten, »sofern
wir der Natur in uns und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns
dnfließt) außer uns überl^en zu sein uns bewußt werden können.«
Mit Rücksicht darauf, daß die Empfindung ja auch logisch verwertet
wird und mit dem logischen B^^fif eines G^enstandes seine objektive
Natur und Bestimmung erfaßt wird, erscheint das Ästhetische als eine
Verwendung der Empfindung, die im Subjektiven bleibt Wenn die
Erkenntnis der Zweckmäßigkeit eines Objekts als Ausgangspunkt ge-
nommen war, so ist demnach hinzuzufügen, daß nicht die objektive
32 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
oder wirkliche Zweckmäßigkeit, d. h. die Vollkommenheit, in Frage
kommt, sondern nur die zweckmäßige Beeinflussung des aufnehmenden
Subjektes, d. h. eine Beeinflussung, die der Natur und Bestimmung
des Ich angemessen ist. Genauer gesprochen besteht diese Einwir-
kung darin, daß Phantasie und Verstand des Betrachters in lustvollen
Einklang gesetzt werden. So stellt sich die Schönheit dar als Form
der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung
eines Zweckes an ihm wahrgenommen wird. Eine dünne, winzige
Säule, die ein großes Dach trägt, ist unschön. Die Tulpe wird schön
gefunden, ohne daß wir den Begriff des Gegenstandes oder das
Logische uns vorstellen.
Es ist klar, wie durch solche Erwägungen die Formel von der
Einheit in der Mannigfaltigkeit in die Subjektivität hineinverlegt, aber
allerdings nicht exakt psychologisch behandelt wird. Nach Kants
Darstellung entspricht die einheitliche Verknüpfung des Mannigfaltigen
unserer allgemeinen Vorstellung einer Zweckmäßigkeit. Ohne daß wir
den bestimmten Zweck des Gegenstandes in unserem Bewußtsein
haben, fühlen wir aus der harmonischen Gliederung des Ganzen eine
Zweckmäßigkeit überhaupt heraus. Diese objektive Gestaltung kommt
der Anlage unserer Seele entgegen: dadurch also, daß der G^enstand
der Struktur unserer Geisteskräfte und ihren Tätigkeitsgesetzen gemäß
ist, soll das Lustgefühl der Schönheit entstehen. Offenbar steckt in
solchen (heute wieder üblichen) Ausführungen dasselbe, was Dubos
und andere als lustvolle Beschäftigung der Seele schon vorher zum
ästhetischen Prinzip erhoben hatten. Das Ästhetische gleicht dem
Angenehmen darin, subjektiv und gefühlsmäßig zu sein. Es ist un-
abhängig von der Wahrheit und ebenso unabhängig vom Sittlichen*).
Denn beide setzen Denken voraus. Es ist ferner keine objektive Be-
schaffenheit. Müßte doch sonst, da Schönheit auf Zweckmäßigkeit
zurückführt, die Natur Zwecke verfolgen und durch die Verwirklichung
ihrer Zwecke Naturschönes hervorbringen. Diese Annahme ist absurd.
Naturschönes aber existiert. Folglich kann die Schönheit nur im Ich
liegen, nämlich in der subjektiven Auffassung, als habe der Gegen-
stand die Bestimmung, eine zweckmäßige Harmonie in unserer Seele
zu erzeugen. Den Grund der falschen Objektivierung des Schönen
erblickt Kant in der Mitteilbarkeit des Genusses. Weil die Menschen
darin übereinstimmen, was schön ist, wenigstens der Hauptsache nach,
so vermuten sie einen Grund in den Gegenständen; in Wahrheit findet
*) Doch bezeichnet Kant in anderem Zusammenhang das Schöne als »Symbol
des sittlich Outen«, als »Versinnlichung sittlicher Ideen« und als »nur in dieser
Rücksicht gefallend«.
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN KLASSIKER. 33
er sich in jenem harmonischen Verhältnis zwischen Einbildungskraft
und Verstand, das bei allen Menschen hergestellt werden kann.
Dies Ergebnis hat für Kant die große Bedeutung, daß nunmehr
eine Ästhetik als Wissenschaft möglich wird. Er argumentiert nämlich
so. Wäre die Schönheit etwas Objektives, so könnten wir sie nur
empirisch bestimmen. Es gäbe also nur eine Erfahrungskenntnis
davon, und diese ist nach den Lehren der kritischen Philosophie keine
wahre Wissenschaft Die Wissenschaft mit ihrer Notwendigkeit und
Allgemeingültigkeit darf sich nicht auf Erfahrbares stützen, das immer
wieder durch neue Erfahrung widert^ werden kann, sondern beruht
auf dem Apriori in uns. So wie die Geometrie eine echte Wissen-
schaft dadurch ist, daß sie sich auf die apriorische Raumanschauung
stützt, so wird die Ästhetik dadurch zu einer echten Wissenschaft,
daß Schönheit und Erhabenheit in uns ihren Ort haben. Freilich ist
die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Gesetzes nicht genau dieselbe
wie die des Sittengesetzes. Wir sind zufrieden, wenn jemand sagt:
Das wird gewiß schön sein, aber ich verstehe nichts davon; unzu-
frieden mit derselben Antwort in Bezug auf Sittliches. Denn in die
Einhelligkeit von Einbildungskraft und Verstand dringen doch immer
wieder die Verschiedenheiten der beiden Faktoren ein. Phantasie und
Verstand sind bei den einzelnen anders geartet Nur ihre Proportion
bleibt dieselbe, ist in allen Menschen gleichmäßig angelegt Hiermit
ist die Frage der Kritik der Urteilskraft beantwortet: Wie sind synthe-
tische Urteile a priori möglich hinsichtlich unseres Wohlgefallens an
wahrgenommener Zweckmäßigkeit? Das heißt: Können wir, und
warum können wir hinsichtlich der Lust daran etwas unabhängig von
aller Erfahrung bestimmen?
Zu den beiden abgrenzenden Merkmalen, die wir soeben be-
sprochen haben, zur Begriffslosigkeit und der Allgemeingültigkeit und
Notwendigkeit treten nun noch hinzu die Festsetzungen, daß das
Schöne durch die bloße Form des Gegenstandes und ohne Interesse
gefällt Der erste Punkt bedarf keiner längeren Erläuterung. Nach
den Grundlehren des Kantischen Systems bezieht sich Apriorisches
niemals auf die Materie, sondern immer nur auf die Form. Das reine
Geschmacksurteil, das unabhängig von der Erfahrung mit allgemein-
gültiger Notwendigkeit vollzogen wird, kann daher nicht den Stoff,
sondern bloß die Form oder die formale Zweckmäßigkeit oder die
Zweckmäßigkeit der Form betreffen. Wo in die freie Schönheit, die
es mit der reinen Form zu tun hat. Materielles hineintritt, etwa
durch den Begriff der Vollkommenheit eines Dinges, da entsteht die
anhängende Schönheit, zu der natüriich fast die ganze Kunstschönheit
gehören muß. Reine Schönheit zeigen einige Blumen und Tiere,
Dessoir, Ästhetik und al\g. Kunstwissenschaft. 3
34 I. DIE GESCfflCHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Tapetenmuster, Arabesken, thematische Verarbeitungen einer Melodie.
Im übrigen Kunstleben haben wir es mit Mischungszuständen zu tun.
Wenn nun schon die innere objektive Zweckmäßigkeit, d. h. die
Vollkommenheit, die ja vom Begriff des Gegenstandes abhangt, aus
der reinen Schönheit ausgeschlossen wird, so natüriich um so mehr
die Nützlichkeit oder äußere Zweckmäßigkeit. Sie ist besonders des-
halb zu verbannen, weil sie ein wirkliches Interesse am O^enstand
erweckt Oeschmack aber »ist das Beurteilungsvermögen eines G^en-
standes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Miß-
fallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohl-
gefallens heißt schön.« Der Geschmack betrachtet lediglich. Er spielt
mit dem Objekt Sein Erzeugnis, das Kunstprodukt, ist nur Schein.
Jede Lust an der Existenz des Objektes und an seinem Besitz, alles
Habenwollen stört die kontemplative Natur des ästhetischen Gefühls.
Hiermit ist nicht jegliches Bewerten ausgeschlossen, sondern nur das
an das Dasein eines Gegenstandes sich knüpfende Wohlgefallen und
Begehren. Die Existenz des Gegenstandes außerhalb des Bewußtseins
soll gleichgültig sein.
Nunmehr sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir Schillers
Formeln für das Schöne verstehen können. Die erste These lautet,
das Schöne sei Schein, nicht Wirklichkeit Es ist unnötig, daß der
Schein ein realitätsloser sei, um schön gefunden werden zu können,
aber nötig, daß wir bei seiner Beurteilung von der Realität, an welcher
er haftet, abstrahieren. Denn es gibt auch einen unreinen und falschen
Schein. »Nur soweit er aufrichtig ist und nur soweit er selbständig
ist, ist der Schein ästhetisch.« Dem ästhetischen Schein verwandt ist
das Spiel. Das Spiel des Kindes formt Dinge der Wirklichkeit, nicht
nach logischer Notwendigkeit, sondern nur aus subjektivem Bedürfnis.
Und dies beseelende Schauen des Kindes ist der Typus aller künst-
lerischen Weltauffassung. Der Spieltrieb (eine Verbindung von Stoff-
und Formtrieb) liegt auch der erhabensten Kunst zu Grunde, denn
der Mensch »spielt nur da, wo er in der vollsten Bedeutung des
Wortes Mensch ist«. — Ein zweiter Ausdruck Schillers bezeichnet das
Schöne als Existenz aus bloßer Form. Form aber enthüllt uns einen
Gehalt, und Gehalt entsteht, wenn ein Gemüt instinktiv sich gedrängt
fühlt, einen bestimmten Eindruck künstlerisch darzustellen. Die Form
ist nichts Äußeriiches — Goethe verspottet die Deutschen, weil sich
ihr Begriff von Form nicht über das Silbenmaß hinaus erstrecke — ,
sondern sie ist notwendige Bestimmtheit An diesem mehr inneriichen
B^ff der Form hat übrigens Schiller nicht festgehalten. Wenn er
die Personen der griechischen Tragödie als idealische Masken rühmt
und die Grenze des Wilhelm Meister in seiner Prosaform erblickt, so
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN KLASSIKER. 35
denkt er an die äußere Form. Ursprünglich aber ist Form ein Inhalt,
der frei ist von allen subjektiven und allen objektiv zufälligen Bestim-
mungen. (An Kömer, III, 117.)
Ein drittes Prinzip lehrt die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen
zum Einen — »unbestimmt, was es sein solle« — als Merkmal des
Schönen. Der eingeschobene Satz ist das Wichtige: Zweckmäßigkeit
ohne Zweck; wie wenn ich mitten im Walde einen von gleichmäßigen
Baumkolonnen umrahmten Rasenplatz bewundere, ohne zu wissen,
daß er zum Tanze bestimmt ist. Hier folgt Schiller den Spuren Kants.
Originaler ist er in der Fassung desselben Prinzips, die sich im fünf-
zehnten ästhetischen Brief findet Dort heißt es vom Menschen: »Nur
indem seine Form in unserer Empfindung lebt und sein Leben in
unserem Verstände sich formt, ist er lebende Gestalt, und dies wird
überall der Fall sein, wo wir ihn als schön beurteilen.« Schön ist
alles, was gleich der Natur eine von Kraft erfüllte organische Einheit
aufweist
Das Gesetz von der lebendigen Gestalt ist aus zwei Gründen sehr
wichtig. Einmal, weil es eine psychologische Begründung durch
Mittel der modernen Wissenschaft zuläßt, alsdann, weil es die ästhe-
tische Weltanschauung späterer Geschlechter bestimmt hat Es fordert
Lebendigkeit der Anschauung, eine Wechselwirkung im Schönen,
welche von der Verschiedenheit der G^enstände (Leben) zu einem
sie durchdringenden Prinzip (Gestalt) hinüberieiten soll. Schon die
lebendige Verknüpfung des einzelnen in der Anschauung ist eine
Formgebung im Sinne der Kantischen Philosophie. Wird nun in diese
Form noch ein Gefühlsinhalt hineingesehen, also das Äußere beseelt
oder organisch aufgefaßt, so entsteht jenes Leben, das dem Schönen
innewohnt Hier verbindet Schiller mit Kantischen Gedanken Herders
Vorstellung von dem Organischen und der lebendigen Naturkraft ^).
Schillers Ansicht von dem Beruf des Künstlers und vom Wesen
des Genies enthält bloß die Nutzanwendung der dargelegten Grund-
anschauungen. Indem der Künstler die innere Natur oder, mit anderen
Worten, das rein Menschliche wiedergibt, idealisiert er. Er hebt in
eine reinere Potenz, was bislang an irdische Unvollkommenheiten ge-
bunden war. Diese Idealisierung seines Gegenstandes ist eine not-
wendige Operation des Dichters, und ohne diese Veredelung hört er
auf, seinen Namen zu verdienen. Denn nur die Empfindungen, die
frei sind von jedem zufälligen Zusatz und gleichsam aus dem Schöße
veredelter Menschheit hervorströmen, sind einer allgemeinen Mitteilung
fähig. Will daher der Künstler, wie die Genieperiode es verlangt
hatte, seine eigene Persönlichkeit im Werke kundgeben, so muß er
sie vorher zu reinster Menschlichkeit hinaufläutern.
36 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
»Die Dichter sind die Bewahrer der Natur. Entweder ist nun der
Dichter Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven,
dieses den sentimentalischen Dichter.« Der naive Dichter findet
wenigstens in der Kunst die antike Naivität wieder und vermag, wie
Goethe zeigt, in seinen Bildungen Natur und Sittlichkeit des Menschen
zu einer Einheit zusammenzuschließen, die der des Naturzustandes
gleicht und ihr als eine bewußte Schöpfung dennoch unendlich fiber-
legen ist. Der Idealist dagegen bleibt bei der Entgegensetzung beider
Welten stehen*). Aber die eigentliche Vollendung und Verrichtung
der Kunst, wodurch sie zum Medium der Kunst wird, ist die Ver-
söhnung des Sinnlichen und des Übersinnlichen im Menschen. In
solchen Antithesen lebt ja Schillers Ästhetik. Körper und Geist, Trieb
und Pflicht, Sinnlichkeit und Vernunft sind Feinde. Indem die Schön-
heit beide Mächte zu einem formalen Ausgleich zwingt, indem die
künstlerische Formengebung den Widerstand des Geistigen gegen die
Leiblichkeit überwindet, — so entsteht jene wundervolle Harmonie
zwischen den streitenden Kräften des inneren Daseins, auf der der
Wert der Schönheit beruht.
Was Schiller in den ästhetischen Briefen von der inneren Voll-
endung des Menschen lehrt, verkünden Goethes »Faust« und »Meister«.
Auch sonst vereinigen sich ihre Ansichten. Vorweg muß aber fest-
gehalten werden: Goethe und Schiller treiben Kunsttheorie sowie
Ästhetik nicht aus dem Geist und zu dem Zweck reiner Wissenschaft
Sondern sie wollen sich durch theoretische Sicherheit ihr Schaffen ver-
festigen. Sie hoffen, daß ihr Künstlertum seiner selbst gewisser und
seiner grundsätzlichen Bedeutsamkeit bewußter werde, sobald sie das
Wesen der Kunst verstanden und in den Zusammenhang von Welt
und Leben eingeordnet haben. Deshalb ist es ihr erstes Anli^en,
die Lehre, Kunst sei dürftige Nachahmung des schon Bestehenden,
als eine grundfalsche abzulehnen. Goethes »Sammler und die Sei-
nigen« bringt das Problem zur Verhandlung. Der »Philosoph«, mit
dem Schiller gemeint ist, exemplifiziert an dem Schoßhündchen der
Julie und schließt: allenfalls hätten wir bei völlig geglückter Nach-
ahmung zwei Beilos für einen. Auch die Rede, der Künstler solle
über den einzelnen Gegenstand hiqaus die Gattung verkörpern, genüge
nicht. Denn würde er wohl einen zoologischen Musteradler, der den
Gattungsbegriff vollkommen ausdrückte, auf den Szepter Jupiters setzen?
Nein, vielmehr müsse die bildende Kunst selbst diesem Adler etwas
•) Friedrich Schlegel hat den Gegensatz, zum Teil schon vor Schiller, dahin
bestimmt, daß der naive (klassische) Dichter hinter seinem Stoff verschwinde, und
der Sentimentalische (romantische) mit seinem Ich das Feld beherrsche. Otto Lud-
wig unterscheidet in ähnlicher Absicht zwischen Sach-Dichter und Ich-Dichter.
DIE ÄSTHETIK DER DEUTSCHEN KLASSIKER. 37
Göttliches, Bedeutendes, Geisterhebendes verleihen. Übertragen wir
das vom Einzelnen aufs Allgemeine, vom Kleinen aufs Große, so
dürfen wir sagen: in einem Kunstwerk höchsten Ranges soll sich eine
Lebens- und Weltanschauung aussprechen. Die klassische Ästhetik
fordert danach ein inneres Erlebnis, das sie den Gehalt nennt Der
Gehalt muß sich an einem Stoff, d. h. an dem bereits künstlerisch be-
trachteten Gegenstand versinnlichen. Wird der Gehalt eines Stoffes
Herr, dann gibt er ihm Form, d. h. er macht aus ihm ein zusammen-
hangvolles Ganzes, in dem etwas Umfassendes und im höheren Sinne
Wahres zur deutlichen Erscheinung wird.
Über die Anerkennung dieser Prinzipien herrscht in der Hauptzeit
zwischen Goethe und Schiller kein Zweifel, wohl aber über den W^,
auf dem man zu ihnen gelangt. Denn hier tritt die Verschiedenheit
der Individualitäten beider Dichter in ihre Rechte. Goethe sieht bereits
in der Natur das Typische angedeutet, das die Kunst reiner herzu-
stellen versucht. Er geht auf Urphänomene zurück, die der Intuition
das Gesetz der Erscheinungen enthüllen, und er will bedeutsame
Objektivität der Kunst. Schiller betrachtet das Naturschöne nur als
einen Abglanz vom Subjekt Er kümmert sich nicht so sehr um die
Beschaffenheit des Objektes. Er geht von sich, vom ästhetischen Zu-
stande und vom Ideale aus. Das Bestehen des Besseren in uns bürgt
für die Ewigkeit der Welt. Goethe fordert Stil, Schiller Idealität
Das Grundthema der ganzen Goetheschen Ästhetik lautet demnach:
»Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erschei-
nung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äuße-
rungen des schaffenden Geistes sichtbar wird.« Die Schönheit ist ein
Urphänomen, sie betätigt sich in einer Erscheinung, die uns auf einen
Blick eine große Geschichte mitzuteilen vermag. »Ich glaubte,« sagt
Goethe, »der Natur abgemerkt zu haben, wie sie gesetzlich zu Werke
gehe, um lebendiges Gebild als Muster alles Künstlichen hervor-
zubringen.« Folgt das Kunstwerk diesem Muster, ist es mit Gehalt
gesättigt, so besitzt es Stil. »Der Stil in der Kunst,« lautet ein anderer
Satz, »ruht auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem
Wesen der Dinge, insofern uns ertaubt ist, es in sichtbaren und greif-
lichen Gestalten zu erkennen.« Das Wesen der Dinge fällt mit dem
Gesetzlichen in der Natur zusammen. Naturdinge werden schön,
wenn sie der Anschauung ihre Gesetze offenbaren. Eine Pflanze, die
von dem ihre Bildung bestimmenden organisierenden Gesetz nichts
verrät, ist unschön. Deutliche Begriffsbestimmungen dieser Gesetze
oder Typen oder Urbilder finden sich bei Goethe nicht Unsere Er-
fahrungen dessen, was schön sei, kann wohl der Verstand zu einer
»summa«, einem »Begriff«, zusammenstellen, nicht aber kann die Ver-
38 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
nunft in ihnen ein gemeinsames »Resultat«, die »Idee« erfassen. (Vgl.
Sprüche Nr. 336.) Der Künstler steht vor der Aufgabe, diesen Sinn
der Natur aufzufassen und auszudrücken. Er soll nicht das sogenannte
Natürliche zu gemeiner Täuschung suchen, sondern Werke schaffen,
die die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit haben.
(Vgl. Eckermann III, 86. Zur Kunst S. 465.)
Es bedarf nur weniger Worte, um die Hauptpunkte der geschilderten
Lehren nochmals vor Augen zu stellen. Kant muß, aus Gründen der
Systembildung, den Gesichtspunkt der Zweckbeurteilung verwenden,
will aber die Vollkommenheit, die ja vom Begriff des Gegenstandes
abhangt, aus der reinen (nicht anhangenden) Schönheit ausschließen.
Das Schöne, das durch die bloße Form des Gegenstandes und ohne
Interesse gefällt, wird im allgemeinen in die Subjektivität hineinverl^
und seine Allgemeingültigkeit aus dem gleich bleibenden Verhältnis
zwischen Phantasie und Verstand erklärt. Hieraus soll erhellen, wieso
wissenschaftliche d. h. die Erkenntnis erweiternde und von der Erfah-
rung unabhängige Urteile über das ästhetische Fühlen d. h. über unser
Wohlgefallen an wahrgenommener Zweckmäßigkeit möglich sind. —
Während Kants Ästhetik nicht aus einer Ergriffenheit von der Kunst,
sondern aus dem Zwang systematischer Vollständigkeit hervorgeht, ist
die Ästhetik bei Schiller und Goethe eine Besinnung über eigenes
Schaffen. Im Gegensatz zur Nachahmungstheorie wird die erste Be-
dingung in einem Gehalt oder inneren Erlebnis gesehen. Goethe nennt
Dinge dann schön, wann sie der Anschauung ihre Gesetze offenbaren,
und verlangt vom Künstler, daß er diesen Sinn der Natur oder die
höchste Wahrheit durch Stilisieren oder Idealisieren zum Ausdruck
bringe. Schiller erklärt das Schöne für einen aufrichtigen und selb-
ständigen Schein, für bloße Form, für begriffslose Vereinheitlichung,
für die lebendige Verknüpfung des Einzelnen in der Anschauung. Der
Spieltrieb, der die Dinge aus innerem Bedürfnis beseelt und gestaltet,
liegt der Kunst zu Grunde. Von Schiller stammt die Unterscheidung
des naiven und des sentimentalischen Dichters, sowie die hohe Vor-
stellung von der Kunst, daß sie das Medium der Kultur sei, indem
sie Sinnliches und Übersinnliches im Menschen versöhne.
Hiermit sind zugleich die Ausgangspunkte für eine neue Richtung
in unserer Wissenschaft bezeichnet.
6. Romantische und spekulative Ästhetik.
Nachdem schon das Ende des 18. Jahrhunderts eine Reihe von
Schriften hervorgebracht hatte, in denen die Ästhetik der romantischen
Schule sich ankündigte — Wackenroders Herzensergießungen« (17Q7)
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 39
sind die »Urzelle der Romantik« genannt worden — , b^[ann im No-
vember 1801 August Wilhelm Schlegel seine Vorlesungen über schöne
Literatur und Kunst, worin das Schöne als symbolische Darstellung
des Unendlichen definiert wird. Seine und seines Bruders gesamte
Lehre ruht auf dem G^ensatz des Objektiven und Subjektiven, des
Antiken und Romantischen. Dieser schon erwähnte G^ensatz empfängt
von den Schlegel eine geschichtliche Begründung und etwa diese Fas-
sung: während die antike Kunst sich ganz in den G^enstand als in
ein Fertiges versenkt habe, gehe die romantische Poesie über das Wirk-
liche hinaus und zwar zu Ideen hin, deren Leben nur in Beziehungen
sich äußert. Damit wird die Kategorie der Dinglichkeit, die bislang
in der Ästhetik herrschte, einer sowohl geschichtlichen als auch meta-
physischen Aktualitäts- und Relativitätsauffassung geopfert Zu dieser
Auffassung haben — in verschiedenen Abschattungen — Ludwig Tieck,
Novalis, Jean Paul und Solger sich bekannt
»Alles ist in ewigem Werden b^jiffen, und dieses Werden, diese
urewige Schöpfung muß der Mensch nach psychologischen Gesetzen
zu einer einheitlichen und systematischen Idee zusammenfassen. Dieses
lebendige und organische Ganze der Natur, dieses in sich vollendete
und sich selbst fortwährend schaffende Wesen soll dem Kunstler als
Vorbild und Muster dienen, und in diesem Sinne soll die Kunst die
Natur nachahmen, d. h. die Kunst soll die innere, tiefere und nicht
die äußere, oberflächliche Beschaffenheit der Natur studieren und wieder-
erzeugen.« Da die Kunst eine verklärte und zusammengedrängte Natur
ist, nämlich die durch das Medium eines vollendeten Geistes hindurch-
gegangene Natur, so ist der Mensch in der Kunst Norm der Natur.
(A. W. Schl^el, IX, 305—308.) Diese Worte bedeuten zunächst den
endgültigen Bruch mit der Nachahmungstheorie. Köstlich hat Jean
Paul die »poetischen Materialisten, die gemeinen Nachdrucker der Wirk-
lichkeit« verspottet und mit Entschiedenheit von der Kunst verlangt,
sie solle schöne, geistige Nachahmung der Wirklichkeit oder noch
besser: Darstellung der Ideen durch Natumachahmung sein. Ferner
kommt in jenen Worten das spekulative Prinzip oder die metaphysische
Uberausdehnung der älteren Lehren zum Vorschein. Bereits Schellings
System der Philosophie (1801) erklärt die Welt wie ein Kunstwerk, als
das Erzeugnis eines Genius. Wenn wir in der Natur Schönheit finden
(meinte später Solger), ohne dabei an unsere Kunst zu denken, so be-
greift es sich daraus, daß die Natur als das Produkt einer göttlichen
Kunst betrachtet werden kann. Hiermit ist zugleich angedeutet, welcher
hohe Wert der Kunst zukommt: sie ist der Schlüssel zum innersten
Wesen des Seienden. Wie einst im Altertum die Mathematik, so war
nunmehr die Kunst der Vorhof zum Tempel der Philosophie, denn
40 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Mathematik und Kunst haben das gemeinsam, daß ihre Erscheinungen
die Begriffe zur unmittelbaren Anschauung darbieten und dadurch das
philosophische Nachdenken in Bewegung setzen.
Über eine solche Auffassung, die doch die Wirklichkeit noch be-
stehen läßt, ist Fichte hinausgegangen. Für ihn und die durch ihn
Beeinflußten können daher der Künstler und das Kunstwerk nur die
Aufgabe haben, das absolute Ich zu verwirklichen. Man verlangt von
dem Genie vor allem Universalität, von dem Kunstwerk vor allem kos-
mische Unerschöpflichkeit®). Die schöpferische Phantasie soll so ge-
steigert und geweitet werden, daß sie dem Ursubjekt sich nähert;
ihr Erzeugnis soll die Unendlichkeit der ganzen Welt erreichen. Die
Folgen daraus sind mannigfaltig, teils gute, teils schädliche. Es ver-
schwinden die Grenzen zwischen den sozialen Kräften. Alle Sphären
und Elemente der Bildung werden aufgehoben in das künstlerische
Leben. Auch das Ethische ist dem Ästhetischen unterzuordnen. Während
Frühere, namentlich Lessing, die Grenzen der Künste erforscht hatten,
will man nunmehr das Gemeinsame feststellen und die Kunst mit
Wissenschaft und Weltanschauung verschmelzen. Die Phantasie gilt
als die oberste und notwendigste Qualität, als jenes Göttliche, ohne
das jedes Schaffen und Genießen armselig wird. Sie hat nichts mehr
gemein mit der bloßen Einbildungskraft, von der die Ästhetik des
18. Jahrhunderts sprach. Jene ist nur Prosa der Bildungskraft oder
Phantasie, wie Jean Paul bemerkt. Phantasie ist ein wirkliches Schaffen,
ein Totalisieren, so wie Poesie Bildung der Außenwelt durch das
Individuum bedeutet: »Die Willkür des Dichters findet kein Gesetz
über sich.«
Es ist klar, daß aus dieser Ablehnung aller Wirklichkeit und objek-
tiven Gebundenheit die Auflösung des Künstlerischen in das Reich
subjektivster Gefühle sich ergeben muß. Alles wird zur Stimmung
und zum Märchen, zum Spiel und Traum. Dunkle Gefühle gelten als
der eigentliche Inhalt der Kunst, nicht ohne daß Auffassungen des
katholischen Mystizismus hineinspielten. Allegorie und Symbol sind
die allgemeinen Formen der Kunst. Hier tritt uns zum ersten Male
ein Verständnis für die große Tragweite des Symbolbegriffes und der
Metapher entgegen. Und zwar bedeutet Symbol nicht etwa Bild oder
Zeichen, sondern die Daseinsart, worin die Idee als erscheinende und
wirkliche erkannt wird. Das Gesetz der Einfühlung wird, wenn auch
nicht in exakten Untersuchungen, so doch in philosophischer Ver-
tiefung ausgesprochen. Deutlich genug sagt Jean Paul von der Natur,
sie enthalte nichts, was lediglich Sache sei, sondern jedes Ding bedeute
und bezeichne: >wie im Menschen das göttliche Ebenbild, so in der
Natur das menschliche« (Vorsch. der Ästh. § 49); minder deutlich er-
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 41
klärt Solger den Menschen für den Hauptg^enstand der Kunst und
die übrigen Objekte teilweise für künstlerisch verwertbar, »insofern sie
sich auf das menschliche Selbstbewußtsein beziehen« (Vorl. über Ästh.,
gehalten 181Q, veröffentl. 182Q, S. 158). In den Lehriingen zu SaTs
hat Novalis die »Beziehung der Natur auf das Gemüt« geradezu wissen-
schaftlich dargestellt; bei Tieck ist die Einfühlung auch das Erklärungs-
prinzip für die Schauspielkunst und für die in uns tätige Lust zur
Mimik, »uns selbst ganz in ein anderes Wesen hinein verloren zu
geben, indem wir es mit aller Anstrengung unserer geistigen Stimmung
darzustellen suchen«. (Sehr. 1828, IV, 100.)
Schon im Jahre 1800 hatte A. W. Schl^el (freilich mit besonderer
Rücksicht auf die Volksdichtung) gesagt: »Unser Dasein ruht auf dem
Unbegreiflichen, und die Poesie, die aus dessen Tiefen hervorgeht,
kann es nicht auflösen wollen. Alles zu verstehen, alles dem Verstände
b^^eiflich zu machen, wäre nicht nur ein Widerspruch gegen diese
Hauptbedingung der Poesie überhaupt, sondern auch ein Herabziehen
des Hohen und Unzulänglichen zum Platten und Alltäglichen.« (VIII,
78.) Die eigentliche Kunstform ist danach das Märchen, weil in ihm
Wirklichkeit und Nicht- Wirklichkeit ineinanderfließen. Für einen anderen
Gedankenkreis jedoch, der mit Fichtes Philosophie zusammenhangt,
bei Tieck und Jean Paul hervor-, bei A. W. Schl^el und Schelling
dag^en zurücktritt, wäre die Komödie die höchste und bezeichnendste
Dichtungsart Denn die Komödie »spieU gewissermaßen mit sich selber
Theater und hebt sich selbst auf«, sie gleicht einer »Zirkellinie, die zu
nichts als zu sich selber zurückführt«. (Tiecks Sehr. 1828 V, 280 ff.)
Bei Shakespeare — man denke an den Schluß des »Sommemachts-
traum«! — , Gozzi, Holberg ist vorgebildet, was Tieck in seinem »Ge-
stiefelten Kater« vollendet hat. Eine solche Komödie bleibt nicht inner-
halb einer Sphäre, sondern sie verläßt den Schein, um in die Wirklich-
keit überzuspringen, und sie gibt die Wirklichkeit preis, um zum Schein
zu gelangen. Mit einem Wort: sie ironisiert sich selber, sie ist sozu-
sagen die künstlerische Methode, um vom Endlichen zum Unendlichen
zu gelangen. Durch Negation alles Bestimmten gewinnt sie das Un-
bestimmte. Die Allmacht des Künstlers zeigt sich darin, daß er seine
eigenen Erzeugnisse nach Belieben wieder zerstört und so von dem
Stoff nichts und von dem Ich nur die Willkür bestehen läßt. Die
romantische Ironie bedeutet den schärfsten G^ensatz zum Prinzip der
klassischen Form. Keine bestimmte abgeschlossene Bildung, sondern
ein endloser Prozeß von Setzung und Aufhebung. Solche Kunstwerke
zeigen die pragmatisierte Formlosigkeit, die auch in Richard Wagners
Musikdramen herrscht, und es ist merkwürdig genug, daß zwar das
18. Jahrhundert in seiner Ästhetik vielfach ein Musikdrama verlangt
42 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
hatte, die Romantiker aber, die ein ähnliches Verfahren befolgen wie
das Verfahren der unendlichen Melodie, theoretisch sich wenig um
das Musikdrama kümmern. Wenn Friedrich Schlegel sagt, der Künstler
müsse im stände sein, den G^enstand, den er sich zum Vorwurf ge-
nommen habe, beständig zu vernichten und neu zu schaffen, so ist
diese beliebige Verwandlung des Stoffes und die damit verbundene
Verachtung jeder festen Form die Verwirklichung dessen, was Fichte
gefordert hatte, nämlich eines »Tun des Tuns«.
Bei denjenigen Ästhetikern indessen, die sich nicht auf die dialek-
tische Methode beziehen, bedeutet die Ironie eine im Kunstwerk sich
offenbarende Grundfähigkeit des Künstlers, die gleichwertig neben der
»Begeisterung« des Künstlers steht. Der Schaffende durchdringt zwar
sein Werk völlig mit Liebe und Hingabe, aber er muß doch auch
— gleich dem Genießenden — unbefangen über dem Ganzen schweben.
Erst dann ist ein Gebilde vollendet, wenn es so von der Höhe her
geschaffen worden ist. Dies Darüberstehen heißt Ironie. Damit es
möglich werde, scheint den Romantikern ein besonderes Verhältnis
zur Realität erforderiich. Wir müssen die Nichtigkeit der Welt erkennen,
begreifen, daß sie erst wieder Wahrheit wird, wenn sie sich in die
Idee auflöst; und auch diese Stimmung, die zusammen mit der Be-
geisterung den Mittelpunkt der künstlerischen Tätigkeit ausmacht, wird
Ironie genannt. Unter der Begeisterung hingegen ist jene Erfülltheit
des Gemütes zu verstehen, wodurch der Künstler gezwungen wird,
die Idee an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen. Dazu gehört neue
Welt- und Lebens-Anschauung. Während das Talent nur Teile darzu-
stellen weiß, gibt das Genie das Ganze des Lebens: »eine Melodie
geht durch alle Absätze des Lebensliedes«. Aber auch das Genie be-
darf der Besonnenheit, um die Teile zu gestalten, jener göttlichen,
philosophischen Besonnenheit, die das 18. Jahrhundert verleugnet
hatte, wenn es die künstlerische Beschaffenheit in eine »merkliche
Stärke der unteren Seelenkräfte« setzte. Anderseits ließ die Ästhetik
der Aufklärung noch zu viel begriffliche Reflexion bestehen, indem
sie die Vollkommenheit als Wurzel der Schönheit betrachtete. Denn
vollkommen sollte sein ein Ding, das seinem Begriff entspricht; die
Romantiker jedoch sind der Meinung, daß der Begriff von der Erschei-
nung ins Unendliche geschieden ist und bleibt, daher mit b^fflichen
Operationen das Schöne weder geschaffen noch restlos aufgefaßt
werden kann.
Zur »Intuition« bekennt sich auch Schelling, der das Kunstwerk
aus einem Ineinanderwirken von unbewußter und bewußter geistiger
Tätigkeit entstehen läßt Seine Ästhetik betrachtet von innen her und
vom schaffenden Künstler aus. Daß die Seele eins werden kann mit
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 43
der Natur, daß unser Bewußtsein uns von der Natur abtrennt, das
Unbewußte in uns aber uns mit der Natur vereinigt, diese Anschauung
fuhrt zu der Annahme, daß in der Durchdringung des Traumhaften
und des Wachen in uns das künstlerische Tun wurzelt Das Genie
ist die bewußtlos bewußte Tätigkeit des Ich. Seine Funktion ist ästhe-
tisch, sein Produkt ist die Kunst Während die Wissenschaft auf die
theoretische Reihe beschränkt bleibt und die Moral ein einseitiges Er-
zeugnis der praktischen Reihe ist, bietet die Kunst eine Vereinigung
beider Tätigkeitsformen. Das Theoretische und das Praktische, die
Vernunft und die Sittlichkeit, Natur und Geist, Unbewußtsein und Be-
wußtsein, sie verlieren ihren G^ensatzcharakter in der Kunst als in
der höchsten Tätigkeit des Ich. Ober die theoretische Erkenntnis und
Ober die praktische Befriedigung hinaus geht der selige Genuß der
Schönheit als über beide Formen der Endlichkeit erhaben.
Man sieht, wie eine überschwengliche Anschauung von der Bedeu-
tung der Kunst hier systematisch b^ründet wird. Diese Ästhetik will
philosophische Lehre vom Schönen, d. h. von der Kunst sein, da es
nichts vollgültig Schönes außerhalb der Kunst gibt Sie strebt danach,
der Kunst ihre richtige Stellung im System des Ganzen anzuweisen.
Sie ist keine Analyse des ästhetischen Eindrucks, keine technische
Formenlehre, auch keine eigentlich psychologische Untersuchung der
künstlerischen Produktivität, sondern sie ist eine aus starkem Gefühl
entstandene Metaphysik der Kunst So verkehrt sich nun die An-
schauung, die das Altertum hatte, in ihr Gegenteil. Damals war die
Natur die höchste Schönheit, jetzt wird die Kunst zum Höchsten. Die
Natur wird ein Gedicht genannt, und die intellektuelle Anschauung,
die Kant nur für Gott gelten ließ, wird allen genialen Geistern beige-
legt. Durch die Kunst kommt der Geist zur Natur, im Kunstwerk
offenbart sich die Idee. Die Idee, als Einheit des Allgemeinen und
Besonderen, »hat ihre Existenz in uns in einer Region, die dem ge-
meinen Verstände unzugänglich ist und von welcher nur gewisse Offen-
barungen in unserer zeitlichen Existenz kund werden; und zu diesen
Offenbarungen gehört auch das Schöne«. (Solger, Vori. S. 55.)
Schleiermacher hat 1832 — 33 Vorlesungen über Ästhetik gehalten,
in denen sie als ein Teil der Ethik erscheint Sie hat es mit Gefühlen
und Leistungen des Menschen zu tun. Alles soll aus der produktiven
Tätigkeit des Künstlers verständlich werden. Demnach wird das Natur-
schöne gar nicht beachtet und die ästhetische Rezeptivität nur gestreift
Das künstlerische Schaffen bedeutet einen Fortschritt vom individuellen
Bewußtsein zum Gattungsbewußtsein. Wie die Natur nach vorbe-
stimmten Formen oder Typen schafft und daher bei aller Vereinzelung
und Besonderheit immer gesetzmäßig und gleichartig bleibt, so ent-
44 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
faltet auch der Künstler Urbilder oder Schemata im Stoff. Diese wirk-
samen Schaffenskräfte im künstlerischen Bewußtsein sind die erste Be-
dingung. Nötig ist ferner die Begeisterung und die abgrenzende Be-
sonnenheit. Schließlich hebt sich der künstlerische Genius auch durch
seine Freiheit von den übrigen Menschen ab. »Es gehört zur Natur
des Geistes, daß wir diejenigen Tätigkeiten, die durch die Affektion
von außen gebunden werden und in dieser Bestimmtheit ein äußerlich
Gegebenes darstellen, von dieser Gebundenheit befreien und sie zu
einer selbständigen Darstellung erheben. Und dies ist die Kunst«
(Schleiermachers Ästhetik, herausgegeben von Lommatzsch, S. 116.)
Schopenhauers Ästhetik ruht auf der metaphysischen Grund-
ansicht: das Wesen von Welt und Mensch sei der Wille. Seine Objek-
tivationsstufen sind die Ideen, die beharrenden Gattungen. Die reine
Anschauung dieser Ideen ist das ästhetische Betrachten, die Darstellung
dieser Ideen das künstlerische Schaffen. Mit Kant lehrt Schopenhauer,
daß Interesse haben und Beziehung zum Willen haben dasselbe sei.
Mit Kant meint er, daß im Ästhetischen diese Beziehung zum Willen
fortfalle. Die durch das Genie vermittelte Ideenwelt schauen wir an
als etwas, was außerhalb unseres Begehrens liegt. Es findet also eine
Beziehung statt von der sinnlichen Anschauung auf die übersinnliche
Idee. Aus dem Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit einerseits und der
Intuition zum Willen anderseits gehen die vier Grade der Schönheit
hervor, als welche Schopenhauer bezeichnet das Erhabene, das Schöne,
das Reizende und das Häßliche. Sie gelten von der Natur wie von der
Kunst. Wie also Schopenhauer dazu neigt, das Naturschöne und das
Künstlerische in Einklang zu bringen, so nähert er auch ästhetische
Anschauung und künstlerisches Schaffen aneinander. In Wahrheit aber
lebt nicht nur die reine Anschauung des Wesenhaften in den Genies,
sondern auch jene verzehrende Gewalt, die das Leben bis ins Mark
trifft.
In diesen ganzen Gedankenzusammenhang gehört nun auch Richard
Wagners Ästhetik. Sie ist am deutlichsten beeinflußt von Schopen-
hauer; sie hat aber auch mit Schelling und Schleiermacher viele Be-
rührungspunkte, und indem sie das Kunstwerk als eine vom Volk
ausgehende und für das Volk bestimmte Schöpfung auffaßt, nähert sie
sich den Grundzügen der theistischen Ästhetik eines Theodor Mundt.
Die theoretischen Schriften Wagners, dieser geistig wachen und
stark treibenden Künstlerpersönlichkeit, haben vor allem den Zweck,
die Geheimnisse des eigenen Schaffens zu enthüllen. So finden wir
in seiner Lehre vom Genie dieselben Züge, wie sie das Leben des
Mannes überhaupt zeigte. Eine unverkennbare Hinneigung zur Sinnes-
welt wäre an erster Stelle zu nennen. »Das Erste, der Anfang und
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIIC 45
Grund alles Vorhandenen und Denkbaren ist das wirkliche sinnliche
Sein.c »Auch der Gedanke ist von der Empfindung anger^ und muß
sich notwendig wieder in die Empfindung ergießen.« Wagner hebt
femer den unbezwinglichen Schaffensdrang des Kunstlers hervor, und
er gibt dem Kunstler aus seiner eigenen Erfahrung heraus als Merkmal
ein glühendes Mitgefühl für die Leiden der Menschheit In ihm selber
war stark vorhanden das Gemeinfühl, das den Künstler sich als Teil
des Ganzen auffassen ließ. Deshalb sagt er, die Kunst bringe die
allgemeine Not des Volkes zum Ausdruck. Nicht der Dichter schafft,
sondern das Volk, und zum Volk gehören alle diejenigen, »welche Not
empfinden und ihre eigene Not als die gemeinsame Not erkennen oder
sie in ihr einbegriffen fühlen«. Nun aber fragt sich weiter: Weshalb
drängt das Genie — Genie ist für Wagner stets künstlerische Fähig-
keit — mit Gewalt den stumpfen Menschen ein unsägliches Glück
auf? Nicht aus Pflichtgefühl. Denn mehr als dem Mann die Ehre,
dem Weibe die Schamhaftigkeit, ist das Genie eben sich selbst Aber
der Künstler ist von dem unvertilgbaren Sehnen durchdrungen, die
Möglichkeit eines besseren Daseins in Wirklichkeit zu verwandeln und
der Idee der reinen Menschlichkeit, die ihn beherrscht, zum Siege zu
verhelfen. Wie sich Wagner hier auf Schiller stützt, so nähert er sich
Schleiermacher mit der Behauptung, daß der Künstler frei sei. Freiheit
ist befriedigtes notwendiges Bedürfnis und ein Hauptmerkmal der künst-
lerischen Veranlagung. Denn die Freiheit, mit der das Stoffliche be-
arbeitet wird, beruht gerade darauf, daß aus dem Stoffe nur das heraus-
geholt wird, wozu er seiner innersten Empfänglichkeit nach gebildet
werden kann, daß also etwas absolut Notwendiges geschieht
An der Kunst kann man mit unseren klassischen Dichtem Gehalt,
Stoff und Form unterscheiden. Der Gehalt, der in der Kunst zur
Aussprache drängt, ist nichts anderes als das sich zum Bewußtsein
gelangende unbewußte Leben des Volkes. Das Kunstwerk der Zu-
kunft freilich soll den Geist der freien Menschheit über alle Schranken
der Nationalitäten hinaus umfassen. Das nationale Wesen in ihm
darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht
eine hemmende Schranke sein. Was Stoff und Form betrifft, so ver-
weist Wagner auf das Altertum. Das griechische Drama war der
vereinfachte und verdichtete Mythos des Volkes. Der Mythos aber
hat diese Vorzüge, daß er den Hörern vertraut ist und auf so ele-
mentare Gefühle zurückgeht, wie sie zu allen Zeiten des Menschen
Herz bew^ haben. Auch insofern war das griechische Drama vor-
bildlich, als zur Dichtung Musik und Tanz hinzutraten. Nun ist es
nach Richard Wagner die musikalische Harmonie, die den Tanz mit
der Poesie verbinden kann. Zwischen den beiden Kontinenten des
46 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Tanzes und der Wortkunst li^ der Ozean der Musik. Beethoven
war vom Festland des Tanzes durch den Ozean der Harmonie hin-
durch nach dem gelobten Lande des Wortes gefahren, als er seine
neunte Symphonie schuf. :»Die letzte Symphonie Beethovens ist die
Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allge-
meinsamen Kunst.« Nur eine solche Kunst kann eine große und er-
habene Wirkung ausüben. Was oft in dem ganzen wirklichen Leben
eines Menschen nicht zur Erfahrung gelangt, das siegesgewisse Gefühl,
eins zu sein mit dem Ganzen der Welt, und der daraus folgende
Anreiz zur Betätigung der edelsten Kräfte, das vermag uns die Kunst
zu offenbaren. Und sie leistet noch mehr. Indem sie die Empfäng-
lichkeit des Genießenden auf die höchste Stufe hebt, führt sie auch
jenen vollkommensten Kulturzustand herbei: den Zustand künstlerischen
Menschentums.
Die eigentliche spekulative Ästhetik wurzelt und gipfelt in Hegels
System. Hegels Grundbestimmung lautet: Schönheit ist das sinnliche
Scheinen der Idee. »Idee« meint die Weltvemunft, aus deren Ent-
wickelung Natur, Mensch und objektive Geistigkeit entstehen. Sonach
wäre die Schönheit nur eine bestimmte Form der Äußerung und Dar-
stellung des Logos. Nicht dem subjektiven Eindruck, sondern der
Wirklichkeit nach bedeutet der schöne Gegenstand die sinnliche Ge-
staltung des geistigen Prinzips. Wenn ein Naturgegenstand die im
ganzen Naturreich ihm zukommende Stellung und Bedeutung mit Voll-
kommenheit zum sichtbaren Ausdruck bringt, so gewinnt er unsere
ästhetische Wertschätzung; seine Schönheit beruht keineswegs darauf,
daß ihm menschliches Seelenleben geliehen wird, wie einige Romantiker
behaupteten. Man kann dies die metaphysische Form des ästhetischen
Objektivismus nennen.
Mit solchen allgemeinen Aufstellungen verbindet nun Hegels Ästhe-
tik eine Untersuchung der besonderen Kunstformen. Er nennt die
symbolische, die klassische und die romantische Kunst. Die symbo-
lische Kunst will das Göttliche durch Erhabenheit erreichen, wie in
den orientalischen Bauten sichtbar wird; indessen aller Kraftaufwand
und alle Überschwenglichkeit kommen nicht bis an die gestaltete
geistige Individualität heran. Erst der Grieche, dessen Götter Personen
waren, hat sie plastisch darstellen können in der ruhigen Form der
Schönheit. Doch auch hier fehlt etwas. Zwar hat die griechische
Plastik die Natur völlig bewältigt. Aber die Göttergestalten enthielten
nichts von der Tätigkeit des Geistes, nichts von der Subjektivität, dem
Fürsichsein, dem Wissen und Wollen seiner selbst. Das Christentum
und seine Kunst haben diese Momente herausgebracht. Allein sie
haben anderseits das Geistige so gesteigert, daß keine äußere Form
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 47
ihm mehr völlig gerecht werden konnte. Daher ist in der Malerei, der
Hauptkunst dieser dritten Periode, Gott der Vater nicht so dargestellt,
wie der Grieche den Zeus bildete, sondern nur gleichsam im Reflex
auf gläubige Herzen. Übrigens gehören zu den romantischen Künsten
außer der Malerei auch noch Musik und Poesie. Denn die griechische
Poesie war ihrem Wesen nach mehr plastisch als wirklich poetisch.
Wir haben also drei Arten von Schönheit: die erhabene des Orients,
die eigentliche Schönheit der klassischen Zeit und die geistige Schön-
heit des modernen oder romantischen Wesens.
Vieles, was Hegel über die romantische Kunst sagt, trifft auf die
g^enwärtige Neuromantik nicht zu. Aber wie schön und beachtens*
wert ist etwa folgende Ausführung: »Das äußerlich Erscheinende ver-
mag die Inneriichkeit nicht mehr auszudrücken, und wenn es dazu
doch noch berufen wird, so erhält es nur die Aufgabe, darzutun, daß
das Äußere das nicht befriedigende Dasein sei und auf das Innere, auf
Gemüt und Empfindung, als auf das wesentlichste Element, zurück-
deuten müsse. Eben deshalb aber läßt die romantische Kunst die
Äußeriichkeit sich nun auch ihrerseits wieder frei für sich ergehen und
erlaubt in dieser Rücksicht allem und jedem Stoff, bis auf Blumen,
Bäume und gewöhnlichste Hausgeräte herunter, auch in der natürlichen
Zufälligkeit des Daseins ungehindert in die Darstellung einzutreten«
(Voriesungen über die Ästhetik, herausgegeben von Hotho 1837, II,
133/34). »Fassen wir daher dies Verhältnis des Inhalts und der Form
im Romantischen, wo es sich in seiner Eigentümlichkeit erhält, zu
einem Worte zusammen, so können wir sagen, der Grundton des
Romantischen, weil eben die immer vergrößerte Allgemeinheit und
rastlos arbeitende Tiefe des Gemüts das Prinzip ausmacht, sei musi-
kalisch, und mit bestimmtem Inhalte der Vorstellung, lyrisch« (S. 134).
Die drei Kunstformen wiederholen sich in jeder der einzelnen Künste
und zwar so, daß zeitliche Folge in der Geschichte der Kunst und
begriffliche Wertigkeit sich decken. In der Architektur ist die unterste
Stufe die symbolische (Monument), dann folgt die klassische (Tempel),
dann die romantische (Dom). Und so in allen anderen Künsten. Musik
und Malerei, die beiden romantischen Künste, verhalten sich wiederum
zueinander wie Symbolisches und Klassisches oder wie Architektur
und Plastik. In der Poesie, in der höchsten, alle anderen zusammen-
fassenden Kunst, gibt es eine malerische Richtung, das Epos, eine
musikalische Richtung, die Lyrik, und als höchste, vollendetste Stufe
das Drama.
Es ist leicht zu sehen, wie künstlich die begrifflichen Distinktionen
und Verbindungen sind. Aber es ist nicht leicht zu sagen, mit welcher
Kraft des Denkens und mit welcher Fülle von Wissen H^el diese
48 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
Kombination durchgeführt hat. H^els Empfänglichkeit für Kunst ist
eine sehr große und sicher urteilende gewesen, und sie hat sogleich
eine ins Allgemeine fließende Form erhalten. Die künstlerischen Ein-
drücke, die einer spekulativen Ästhetik zu Grunde liegen, können die-
selben sein wie die, die einer unserer heutigen Psychologen oder einer
von den schriftstellernden Künstlern unserer Tage erhält. Aber je nach
der Richtung der Verwertung entstehen ganz andere Theorien, und es
gäbe ein fast aussichtsloses Unternehmen, wenn diese drei Personen
sich miteinander verständigen wollten. Ein Schüler Hegels hat die
runde Körperiichkeit der antiken Statuen mit der Abgeschlossenheit
des griechischen Wesens in Beziehung gebracht. Ein anderer hat ein-
mal gesagt, daß erst eine Weltanschauung, die einen Spinoza möglich
machte, den Lebenskeim der Landschaftsmalerei in sich tragen könne.
Beide Aussprüche zeigen, wie eine richtige künstlerische Beobachtung —
in dem einen Fall das Verständnis für die körperiiche Abgeschlossen-
heit antiker Statuen, in dem anderen Fall das Wissen davon, daß die
Landschaftsmalerei erst spät sich gebildet hat — wie also eine richtige
Detailbeobachtung sofort zu den allerweitesten Spekulationen Anlaß gibt
Das unmittelbare Verknüpfen entlegener Dinge gewährt einen sehr
großen Reiz. Was man im guten Sinne des Wortes geistreich nennt,
besteht zumeist darin. Überraschende Ähnlichkeiten, plötzlich auf-
leuchtende und erieuchtende Gedanken stellen sich ein. Auch heute
sind wieder Erörterungen beliebt, in denen das Speziellste unmittelbar
mit dem Allgemeinsten verbunden wird. Diese Darstellungen können
wahr sein, d. h. es mag der in ihnen behauptete Zusammenhang wirklich
bestehen. Trotzdem enthalten sie keine wissenschaftliche Wahrheit
Denn dazu gehört die von Punkt zu Punkt fortschreitende Nachweisung
eines stetigen Zusammenhanges. Alle Zwischenglieder müssen auf-
gedeckt und in ihrer notwendigen Zugehörigkeit gezeigt werden. Sonach
besitzen wir auch kein Mittel, um die Richtigkeit oder die Unrichtig-
keit derartiger Behauptungen im Augenblick zu erkennen. Diese ästhe-
tischen Reflexionen blenden, ohne zu wärmen. Sie überraschen, ohne
zu beweisen. Sie setzen den Leser oder Hörer in einen Zustand
unfruchtbarer Erregtheit, der gar zu leicht mit dem Zustand wissen-
schaftlichen Forschens und gründlicher Überzeugung verwechselt wird.
Hegel ist durch die außerordentlich umfangreichen und sicher be-
herrschten Kenntnisse, die er besaß*), und durch die geniale Fein-
fühligkeit, die ihm eigen war, vor groben Fehlern im allgemeinen ge-
*) Man halte dagegen, was Solger in einem Brief über Michel Angelo sagt:
>Das ist auch ein Gegenstand, den ich mir eigentlich nur konstruiere, und den ich
doch gar zu gern aus eigener Anschauung kennen möchte. c (Nachgelassene Sehr.
I, 494.)
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 4Q
schätzt gewesen. Seine geringeren Nachfolger haben nur das Prinzip
und nicht die Fähigkeiten des Meisters übernommen. So kommt es,
daB sie sehr häufig genial klingende, aber sicher falsche Behauptungen
aufstellen, und daB sie Geringfügiges durch dialektische Ausdrucks-
formen zu Wichtigem aufbauschen. Für den, der die Terminologie
der Schule l>eherrscht, ist es ein Leichtes, das Triviale zum Ungemeinen
zu steigern. Blickt man scharf hin, so bemerkt man hinter diesen teils
erhabenen, teils geistreichen Wendungen simple Wahrheiten oder un-
beweisbare Analogien oder kühne Oedankensprünge. Und auch die
Einheitlichkeit des Systems ist bei den Nachfolgern des Meisters oft
nur scheint)ar. Mancher unter ihnen gleicht dem Schneider, der ein
groBes Kleid nähte ohne Knopf am Faden: zog man an einem Ende,
so zog man alles heraus und die Lappen fielen auseinander.
Von den größeren Werken Ober Ästhetik, die unter Hegels Einfluß
stehen, ist vor allen Dingen Friedrich Theodor Vischers Ästhetik
(1846—1857) zu nennen. Vischer hat sein Buch später selbst preis-
gegeben; wir müssen uns daher an das halten, was nach eigenem
Urteil wertvoll und bleibend ist. Dazu gehört nun nicht die Metaphysik
des Schönen. Denn die Art, wie dort ein lnb^[riff des Schönen kon-
struiert wird aus der Gesamtheit der Momente, die in jedem wirklichen
Schönen hervortreten, wie dieser Inbegriff dann in Idee und Bild zer-
legt wird, diese Art ist überwunden. Ebenso verschmähen wir die
dialektischen Konstruktionen. Zwar ist es auch eine Tatsache der
inneren Erfahrung, daß das Gefühl der Schönheit konfliktlos oder
störungsfrei ist, während das Gefühl des Erhabenen einen Widerstreit
in sich selber enthält. Aber die metaphysische Erklärung dafür, die
Vischer gibt, sagt uns nichts. Die Idee, so behauptet er, reißt sich
aus der ruhigen Einheit, worin sie mit dem Gebilde verschmolzen war,
los, greift über das Bild hinaus und hält ihm, dem Endlichen, ihre
Unendlichkeit gegenüber. So soll der erste Widerstreit im Schönen
entstehen, das Erhabene. An dieser Dariegung ist so lehrreich, daß
sie zeigt, wie eine ursprüngliche und richtige Empfindung ins Meta-
physische übersetzt wird.
Vischers Verdienste um die Ästhetik li^en also auf einem anderen
Gebiete Er hat eine Theorie des Komischen geschaffen, die ihre Ent-
stehung aus dem zersetzten Hegelianismus ebensowenig verieugnen
kann wie die Rosenkranzsche Theorie des Häßlichen, die aber ein wirk-
licher Fortschritt in der Ästhetik war. Das gleiche gilt von seinem
Prinzip der direkten und der indirekten Idealisierung. Das Gesetz der
direkten Idealisierung besagt, daß die einzelne Gestalt schön sein müsse,
während die indirekte Idealisierung das Schöne aus der Gesamtwirkung
einer Vielheit von Gestalten hervorgehen läßt, die im einzelnen nicht
Dcftoir, Atthcük ond aUg. Kanttwitscmdiaft. 4
50 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
schön zu sein brauchen. Der direkt idealisierende Künstler, vor allem
also der klassische Künstler, gibt dem Sinn nicht auf, von solchem,
was unmittelbar unschön oder häßlich ist, fortzugehen zu einem wei-
teren und schließlich zu einer Gesamtwirkung, worin es sich zur Schön-
heit aufhebt. Das Prinzip der indirekten Idealisierung aber ist das Stil-
gesetz der Erzielung vorherrschender Tiefe des Eindrucks durch natura-
listische und individualisierende Behandlung der Formen, demnach das
Stilgesetz der neueren Kunst.
Durch die verschiedenen Künste hindurch verfolgt Vischer seine
Unterscheidung mit großem Glück. Er hat ferner den B^jiff des
ästhetischen Symbols im Zusammenhang mit der Einfühlung sehr
schön dargestellt. Endlich ist in den von dem Sohn herausg^ebenen
Vorträgen (Das Schöne und die Kunst, 1898) neben vielem Fremd-
artigen und uns gleichgültig Gewordenen doch auch vieles Ausge-
zeichnete. Wie vortrefflich ist, was über das pure Stimmungsbild mit
wenig Gegenstand oder über die notwendige Kühle und Gelassenheit
im Kunstwerk gesagt wird! Aber welche Begriffsspielerei mit aus-
drucksvoller Form und Form gewordenem Ausdruck tritt da ein, wo
wir eine Einzeluntersuchung erwarten ! Auch in diesen Vortragen wird
vorausgesetzt, daß die Ästhetik nur inmitten einer philosophischen, und
zwar einer Hegeischen Weltanschauung ihre Aufgabe lösen könne,
>daß die Ästhetik ihre Stelle in der höchsten Sphäre der wissenschaft-
lichen Gebiete hat, deren Gegenstand der Geist ist, wie er sich der
Wahrheit versichert, daß alle Gegensätze und Widersprüche sich in
Einheit auflösen« (S. 152).
Als eine besondere Abart der spekulativen Richtung lernen wir die
theistische Ästhetik kennen. Chr. H. Weiße (1830) kann als ihr Be-
gründer gelten. Er ist der Meinung, daß die Wahrheit als das Not-
wendige der Schönheit als dem Freien unterzuordnen sei. Doch fügt
er nun hinzu, daß man noch über die Schönheit hinausgehen müsse
zum persönlichen Gott. Ober der Wissenschaft und der Kunst stehe
die Religion. — Ähnliche Gedanken finden sich außer bei Carriere,
Zeising und Ulrici auch bei Ludwig Eckardt (Vorschule der Äs-
thetik, 1864). An die Stelle der spekulativen Ästhetik soll eine Psycho-
logie des schöpferischen Genius treten, der Versuch einer Wissenschaft
der Phantasie. Dabei muß der Ausgangspunkt li^en in dem höchsten
schöpferischen Genius, in Gott, und in der die Gottheit beherrschenden
Urkraft, nämlich in der Phantasie. Die von der göttlichen Phantasie
geschaffene Schönheit ist ein Weltgesetz. So kann man also von der
Schönheit der Natur ausgehen und zur Kunst fortschreiten.
In Theodor Mundts Ästhetik (1845) sind zu diesen Ansichten
ethisch-soziologische Erwägungen hinzugetreten. Die Kunst gilt für
ROMANTISCHE UND SPEKULATIVE ÄSTHETIK. 51
Mundt als ^»das Zusammentreffen aller wesentlichen Schöpferkräfte der
Nation«. Er will nicht von einem philosophischen System mit seinen
bestimmten Kategorien ausgehen, sondern von der lebendigen Unmittel-
barkeit des Völkerdaseins. Der Lebenspunkt aber, an dem die Kunst
wahrhaft zu b^^eifen ist, soll in der christlichen Idee liegen: die Kunst
als die Verkündigerin der Wahrheit, daß die Wirklichkeit überall Gottes
ist. Die Philosophie verhält sich zum Wissen immer nur n^ativ: »sie
hat niemals diese volle, plastische Lebenskraft aufzuweisen gehabt wie
die Kunst, in welcher dieser göttliche Trieb, sich selbst zu wissen,
sogleich als der sich äußert, sich selbst zu schaffen und zu gestalten«
(S. 34). —
Zu der ganzen Richtung, mit der wir uns jetzt beschäftigen, und
zu vielen von ihr vertretenen Einzellehren werden wir späterhin Stellung
nehmen müssen. Es genügt jetzt, einige Punkte von vornehmlich ge-
schichtlichem Interesse nochmals zu betonen. Die idealistische Ästhetik
steht inmitten einer Weltanschauung. Ihr eigentlicher Gegenstand ist
die philosophische Erklärung der Tatsache, daß es eine Kunst gibt.
Daher nehmen in den Lehrbüchern die Reflexion über das Wesen des
Genies und der kunstgeschichtliche Stoff mehr Raum ein als je zuvor;
der Ehrenplatz wird der Dichtkunst zu teil, weil sie die geistigste unter
den Künsten und von aller Naturschönheit in der ganzen Breite ab-
getrennt ist. Während vordem die Erörterungen meist nur dem Schönen
und Erhabenen geölten hatten, gewinnen jetzt das Tragische und das
Komische, ja selbst das Häßliche eine Anziehungskraft für den Philo-
sophen. Der ästhetische Wert überhaupt wird teils subjektivistisch
darein gesetzt, daß der Mensch dem Gegenstand Beseelung leihe, teils
aus einer wirklichen Verschmelzung einer Einzelerscheinung mit ihrem
(konkreten) B^riff abgeleitet. Die platonische Idee, die unter dem
Namen des sittlich Guten und der Vollkommenheit deutlich erkennbar
geblieben war, tritt wieder offen hervor. Aber auch in ihrer neuen
Gestalt ist sie kein Lichtbringer. Daß die zufällige Einzelheit in Ewiges
und Notwendiges sich wandelt, daß ihre Mannigfaltigkeit eine Einheit
gewinnt, die doch nicht die des Begriffes ist, — das bleibt schließlich
trotz aller Spekulation für den wissenschaftlichen Verstand ein Wunder.
7. Formah'stische und eklektische Ästhetik.
Wenn wir uns den geschichtlichen Vertretern des Formalismus zu-
wenden, so erhält die Ästhetik sogleich ein ganz anderes Antlitz. Sie
ist nun nicht mehr eine b^eisterte Würdigung der Kunst, ein Ver-
such, vom Mittelpunkt der Kunst aus, nämlich vom genialen Schaffen
52 r. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
her, die ganze Welt zu verstehen. Während die romantische und
spekulative Ästhetik — fast scheut man sich, das Wort in so ver-
schiedenen Bedeutungen immer wieder anzuwenden — die höchsten
Prinzipien des Schönen mit den letzten Prinzipien der Welt überhaupt
verschmolz und die gewaltige Bedeutung der Kunst für das Leben der
Völker und für die Sittlichkeit des Einzelnen hervorhob, haben wir es
jetzt nur mit einer genauen Untersuchung ästhetischer Elementar-
eindrücke und ihres Zusammenhanges im Kunstwerk zu tun.
Der Urheber der ganzen Richtung ist Her bar t. Eine wirklich
meisterhafte Darstellung bietet Zimmermanns »Allgemeine Ästhetik
als Formwissenschaft« (1865). Aus gewissen Gründen der Herbartischen
Metaphysik, insbesondere aus der Unerkennbarkeit der eigentlichen
Realen, ergibt sich, daß die ästhetische Auffassung es nie mit einem
Was, d. h. mit einem Inhalt, sondern es immer nur mit einem Wie,
d. h. mit der Form zu tun haben kann. Es handelt sich also darum,
die wohlgefälligen und mißfälligen Formen aufzufinden und ihre An-
wendung auf die Gebiete der Natur und des Geistes zu untersuchen.
Während Schelling und Hegel die Form nur als symbolisch, als Zeichen,
als Ausdruck eines Inhaltes, zumal eines geistigen, gelten lassen, wird
hier alles Inhaltliche, die bloße Sinnesempfindung ebensogut wie die
höchste Weltanschauung, verworfen. Die Schönheit hat mit der Materie
nichts zu schaffen. Sie beruht lediglich auf dem Ebenmaß in Formen
und Folgen und auf der Harmonie von Farben und Tönen. Die Ele-
mente eines Gegenstandes bleiben stets gleichgültig und ästhetisch
wertlos. Erst ihre Verbindung oder das Verhältnis zwischen ihnen
läßt ein ästhetisches Werturteil entstehen. Bezeichnet man die Ver-
bindung von an sich gleichgültigen Gliedern als ihre Form, so ergibt
sich, daß die Ästhetik Formwissenschaft ist.
Diese Morphologie des Schönen verfährt demgemäß nach folgenden
Leitsätzen. Erstens: Kein Einfaches gefällt oder mißfällt ästhetisch.
Zweitens: An dem Zusammengesetzten gefällt und mißfällt nur die
Form. Drittens: Die Teile außerhalb der Form (die Materie) sind gleich-
gültig. Daneben hat Zimmermann noch einige allgemeine Regeln auf-
gestellt, von denen die wichtigsten also lauten: »Die stärkere gefällt
neben der schwächeren Vorstellung, die schwächere mißfällt neben der
stärkeren Vorstellung.« »Die überwiegende Identität der Formglieder
gefällt, der überwiegende Gegensatz mißfällt unbedingt.«
Von den Anhängern des Formalismus ist niemand erheblich über
die Ansichten hinausgelangt, die Zimmermann so scharfsinnig und aus-
führiich entwickelt hatte. Wo ein Fortschritt vorzuliegen scheint, be-
deutet er entweder nur eine Anwendung auf einzelne Probleme oder
eine Abkehr von formalistischer Strenge. Der letzte Fall ist bei J. H.
FORMALISTISCHE UND EKLEKTISCHE ÄSTHETIK. 53
V. Kirchmann zu beobachten. Kirchmann nennt zwar seine Ästhetik
eine solche auf realistischer, d. h. wohl Herbartischer Grundlage, setzt
aber an Stelle des Formalismus eine Gefühlsästhetik. Er definiert das
Schöne als das idealisierte, sinnlich angenehme Bild eines von Gefühlen
erfüllten Realen. Das Schöne wie die Kunst können nur verstanden
werden aus dem Seelenvollen, nämlich aus dem Gefühl im Gegensatz
zu den Vorstellungen und B^ehrungen. Denn gerade das Fühlen ist
ein wahrhaft seiender Zustand der Seele; aus Beziehungen und Ähnlich-
keiten mit ihm leitet alles Natürliche seine Schönheit her. Im G^en-
satz zur ästhetischen Ideenlehre wäre also zu sagen: nicht das wirkliche,
sondern das geglaubte Seelische macht die Naturgegenstände schön.
Wie in Kirchmanns Werk, so zeigt sich in den meisten Schriften
nach 1840 ein Eklektizismus. Ihn in seinen Verzweigungen zu ver-
folgen, liegt für uns kein Anlaß vor. Daher begnügen wir uns mit
der Kenntnisnahme jener Theorien, die als die verhältnismäßig am
meisten selbständigen und fruchtbaren bezeichnet werden können. Sie
stammen von Lotze, Fechner und Hartmann.
Lotze hat unserem Gegenstand mehrmals eigene Erörterungen ge-
widmet. Bedeutender als seine Geschichte der Ästhetik und seine
Grundzüge der Ästhetik sind die frühzeitig erschienenen Abhandlungen
über den B^riff der Schönheit und über Bedingungen der Kunst-
schönheit (1845 und 1847). Zum Ausgangspunkt wird hier wieder
einmal der ästhetische Eindruck. Wenn ein Gegenstand uns mehr zu
leisten scheint, als wir von ihm erwarten dürfen, und durch diesen
Überschuß der Vollkommenheit Lust erweckt, so nennen wir ihn schön.
Denn die drei Reiche oder Gewalten, die es gibt: die wertbestimmenden
Gesetze, die wirklichen Stoffe und Kräfte und der Plan, durch den der
Mechanismus mit der Norm zweckmäßig sich vereinigt, diese drei Ge-
walten sind in einem solchen Gegenstand in wundervollem Ausgleich
miteinander vereinigt. Demnach ist es ein wirklicher Wert der Objekte,
den wir ästhetisch genießen. Mag auch das ästhetische Wohlgefallen
das erste sein, — der Grund, der diese Tätigkeit anregt, liegt doch in
dem Gegenstand selbst. »Schönheit finden wir dann, wo eine Über-
einstimmung, die nicht allgemein stattzufinden braucht, in einzelnen
begünstigten Erscheinungen zwischen dem, was sie der Idee nach sein
sollen, und dem stattfindet, wozu die Notwendigkeit des Mechanismus
sie macht.« Die Bedingungen nun, die erfüllt sein müssen, wenn die
Welt der Werte in die Welt der Formen aufgeht, entsprechen drei in
uns vorhandenen Maßstäben. Zunächst muß das Objekt den Sinnen
gefallen. Dies ist die physiologische Bedingung. Dann muß es den
Gesetzen unseres Seelenlebens genügen. Dies ist die psychologische
Bedingung. Schließlich aber muß es auch unsere Vorstellungen von
54 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
dem Gehalt und Zusammenhang der Welt befriedigen. Dies ist die
metaphysische Bedingung.
In Fechners Vorschule der Ästhetik lesen wir, alle Ästhetik habe
es nur mit rezeptiver Tätigkeit zu tun (I, 54). Denn das Schaffen sei
sekundäre Reproduktion der im früheren Oenießen gewonnenen Ein-
drücke. Diese ästhetische Rezeptivität muß zergliedert werden. Dazu
dient das Experiment. Vorausgesetzt wird, daß der ästhetische Ein-
druck durch bloßes Zusammentreten der wirkungskräftigen Elemente
sich bilde. Die Gesetze, nach denen die Bestandteile zusammentreten,
sind bei Fechner sehr zahlreich und so schlecht geordnet und ungleich-
artig, daß eine wirkliche Übersicht nicht g^eben werden kann. Man
könnte diese Prinzipien auf eine viel geringere Anzahl einschränken,
aber mit gleichem Recht noch ebensoviel weitere Prinzipien daneben
setzen. In der Bemühung, an Stelle metaphysischer Allgemeinheiten
bestimmte Erfahrungssätze aufzufinden, ist Fechner zu einer Vielheit
von Regeln gelangt, von denen nur wenige auf die weitere Entwicke-
lung der Ästhetik Einfluß ausgeübt haben. Die Prinzipien der Ueber-
einstimmung, der Abstumpfung, des Kontrastes u. s. w. haben sich nicht
als durchgreifende Kennzeichen des ästhetischen Lebens bewährt, son-
dern nur als psychologische Mitbedingungen. Das Assoziationenprinzip
aber, das Fechner oft neben diese Regeln stellt und gleichfalls psycho-
logisch und nicht nur auf ästhetischem Gebiete untersucht, dies Prinzip
hat die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Dort, wo Fechner den assoziativen Faktor als etwas Wesentliches
bezeichnet und dem direkten Faktor des ästhetischen Eindrucks gegen-
überstellt, werden wir an die englische und schottische Ästhetik des
18. Jahrhunderts erinnert. Was in dem Sinneseindruck selbst enthalten
ist, Farbe, Ton, Symmetrie, Rhythmus u. s. w., das gehört zum direkten
Faktor. Was aber zur Beseelung des sinnlich Wahrgenommenen hinzu-
gedacht werden muß, und wessen Gefühlstöne sich mit den Gefühls-
tönen der Empfindung verbinden, das gehört zum assoziativen Faktor.
Die Wahrnehmung führt gewisse Gefühle mit sich. Aber die assoziierten
Erinnerungsbilder, die selber sogar im Bewußtsein fortfallen können,
haben auch eine bestimmte Gefühlsseite, und indem diese Gefühle der
assoziierten Erinnerungsbilder zu den direkten Gefühlstönen hinzutreten,
entsteht erst das Ganze des ästhetischen Gefühls. Fechner läßt deshalb
die Freude an reinen Formen nicht gelten, weil ja immerwährend
Assoziationen hineinspielen und der Form eine Bedeutung leihen, durch
die sie etwas ausdrückt. Gewohnheit, Erinnerung und Erwartung ver-
anlassen den Menschen zu Deutungen dessen, was er sieht; an solchen
Deutungen, wodurch etwa die Orange von einer gelben Holzkugel
sich unterscheidet, gewinnen die Dinge Leben und Schönheit.
ij- .^.1 ^^^.
FORMALISTISCHE UND EKLEKTISCHE ÄSTHETIK. 55
Mit den Einzelheiten der experimentellen Präzisionsästhetik werden
wir später noch zu tun haben. Ich erinnere nur daran, daß Fechner
drei Methoden aufführt, die der Wahl, der Herstellung und der Ver-
wendung. Nach der ersten sammelt man die Urteile möglichst vieler
Personen über diejenigen Formen, die sie als die wohlgefälligsten aus
einer Anzahl gleichartiger herausgewählt haben. Nach dem zweiten
Verfahren läßt man die Versuchspersonen die ihnen am schönsten
scheinende Form selber herstellen, und nach der dritten Methode unter-
sucht man die am meisten verwendeten, d. h. im täglichen Leben und
im Gebrauch vorkommenden einfachen Formen.
Das abschließende Lehrbuch der Ästhetik war zu seiner Zeit
Eduard v. Hartmanns »Philosophie des Schönen« (1887). Hartmann
geht von Hegel aus, überschreitet aber dessen Bestimmungen an drei
Hauptpunkten. Ihm gilt nicht die Idee selber als schön. Vielmehr
wird nur dem sinnlichen Scheinen des idealen Gehalts Schönheit zu-
gesprochen. Da dieser sinnliche Schein völlig konkret ist, so bezeichnet
Hartmann seine Lehre als den konkreten Idealismys und stellt ihn
dem abstrakten Idealismus H^els gegenüber. Jedes Plus von idealem
Gehalt, das nicht völlig in Schein aufgeht, würde das Schöne ver-
mindern. Ein Gegenstand ist umso schöner, je konkreter er ist
Alsdann wird von Hartmann die Auffassung des idealen Gehaltes
als ein Akt des Gefühls bezeichnet. Denn die Idee bleibt ja dem Be-
trachter oder Hörer unbewußt. Wesentlich ist dabei die Feststellung,
daß sehr verschiedene Gefühle im ästhetischen Verhalten auftreten und
zwar verschieden teils durch ihr Verhältnis zum Gegenstand, teils durch
ihr Verhältnis zum genießenden Subjekt. In den Gegenstand gehen
ein die »sympathischen Gefühle«, im Ich verharren die »reaktiven Ge-
fühle« und die »Lust am Schönen«. Die beiden ersten Arten gehören
zu den »Scheingefühlen«, die Lust am Schönen indessen ist ein »reales
Gefühl«. Die Lehre von den Scheingefühlen ist durch Hartmann in
einer ganz ausgezeichneten Weise durchgeführt worden, was neueste
Ästhetiker, die unter anderm Namen die gleiche Lehre wiederholen,
nicht gebührend gewürdigt haben. Das Grundgesetz lautet: Der ästhe-
tische Schein ruft diejenigen idealen oder Scheingefühle hervor, deren
wirkliches Analogon durch das dem Schein entsprechende wirkliche
Objekt hervorgerufen wird.
Endlich hat Hartmann mit der Aufstellung von Konkretionsstufen
des Schönen eine begriffliche Ordnung des ästhetischen Gebietes vor-
genommen, die als bedeutsam anerkannt werden muß. Die Idee als
immanentes Formgesetz entfaltet sich in sieben Sphären, die vom Ab-
strakteren zum Konkreteren sich erheben. Die niedrigste Stufe ist die
des sinnlich Angenehmen, die höchste ist das konkret Schöne oder
56 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
mikrokosmisch Individuelle. Auf der obersten Stufe muß die Idee, die
im Schein sich versinnlicht, konkret-individuell sein, und dadurch wird
sie unserem abstrakten und mit Gattungsbegriffen arbeitenden Denken
durchaus unfaßlich. Das Ganze dieser Ästhetik ordnet sich dem meta*
physischen System Hartmanns unter. Der ideale Gehalt im Schönen
ist nur ein Teil der absoluten Weltidee, und diese ist wiederum bloß
die logische Seite des Absoluten, das im Willen ein zweites, außer«
logisches Attribut besitzt.
Ich erwähne schließlich noch einige ausländische Ästhetiker des
19. Jahrhunderts, die zur Vergangenheit unserer Wissenschaft gehören;
für die neuesten Forschungen und die letzte Gestaltung der Ästhetik,
die ihr bisher zu teil wurde, verweise ich auf die Ausführungen, die
in dem systematischen Teil dieses Buches beiläufig enthalten sind. —
In unserer gegenwärtigen Ästhetik lebt Herbert Spencers Name mit
der Theorie fort, daß die ästhetische Tätigkeit auf den Spieltrieb zurück-
zuführen sei. Spiel ist nach ihm das Entladen überschüssiger Nerven-
kraft. Es führt daher zu der Freude an der Betätigung. Die gleiche
Freude, wenn auch in abgeschwächter und anderer Form, besitzen wir
beim Kunstgenuß. Man müsse unterscheiden zwischen Vorgängen,
die dem Leben dienen und solchen Tätigkeiten, die nur um der Lust
willen ausgeübt werden; das ästhetische Vergnügen ist die subjektive
Begleiterscheinung eines normalen Aufwandes von Aktivität, die nicht
direkt mit Lebensfunktionen verknüpft ist.
John Ruskin (1843). Nur weniges soll an dieser Stelle aus seiner
Philosophie und Pädagogik der Kunst mitgeteilt werden. Er überschätzt
das Gedankliche in der Kunst. Die Malerei, der sein Herz gehört,
will er dadurch erneuern, daß er die Bilder den Büchern annähert. Den
Künstlern möchte er helfen, indem er zeigt, unter welcher sittlichen Ver-
fassung allein die natürlichen Gaben sich frei entfalten können. Seine
Grundlehre ist echt englisch, im Sinne des 18. Jahrhunderts. Jede Art
Schönheit nämlich erklärt Ruskin für einen Reflex göttlicher Vollkommen-
heit, von der der Schöpfer eine Spur in seinem Werk gelassen hat
Schön ist jedes Ding, das in seiner Beschaffenheit eine Ähnlichkeit mit
einem Attribute Gottes bewahrt hat und das infolge hiervon die Macht
besitzt, den göttlichen Teil unserer Natur an sich zu ziehen. So ist
die Einheit ein Bild der allumfassenden Natur Gottes, die Ruhe ein
Bild seiner Stetigkeit und Ewigkeit, die Symmetrie ein Bild seiner
Gerechtigkeit, die Reinheit ein Bild seines Willens. Wer diese gött-
lichen Vollkommenheiten ohne Trübung aufzufassen und wiederzugeben
vermag, der ist der große Künstler. Sonach gehört Gläubigkeit, lauterste
Innigkeit der religiösen Überzeugung zu den Grundeigenschaften des
Künstlers. Bete einen Pfau an, sagt Ruskin, und du wirst ihn malen,
FORMALISTISCHE UND EKLEKTISCHE ÄSTHETIK. 57
wie niemand ihn malen kann, der nur einen Vogel darin sieht Immer
wiederholt er, die Künstler sollten sich an die Werke Gottes und ihre
göttlichen Eigenschaften halten. Wo das nicht möglich scheint, wie
in der Baukunst, da wird die Theorie gewaltsam zurecht gebogen. Wenn
das wahre Schöne ein Ergreifen göttlicher Vollkommenheiten ist, so
kann das Architektonische an sich keine Schönheit besitzen, sondern
allein der den Naturformen nachgebildete und dem Gebäude aufgelegte
Skulpturenschmuck. Das Gebäude ist demnach nur der Träger für
den Skulpturenschmuck, und wer es nach der Wirkung seiner Massen
und seiner Verhältnisse betrachtet, hat einen schlechten Geschmack.
Von den französischen Ästhetikern, die wir nicht zur modernen
Ästhetik rechnen können, seien Taine und Guyau genannt. Taine ist
einerseits Idealist: die Kunst hat zum Zweck, den Gattungscharakter
oder den herrschenden Typus der Dinge vollständiger und klarer dar-
zustellen, als es die Wirklichkeit vermag. Anderseits ist er Positivist
und zwar als der Begründer der Milieulehre. Er erklärt die Kunst-
werke wie alle anderen menschlichen Werke aus drei Faktoren: der
Rasse, dem eigentlichen Milieu und dem Zeitmoment. Am wertvollsten
ist die kunstgeschichtliche Durchführung des Grundsatzes. So be-
hauptet Taine etwa: zwischen einem Buchenplatz im Versailler Park,
einer philosophischen Folgerung Malebranches, einer Poetenvorschrift
Boileaus, einem Hy|>othekengesetz Colberts und einer Sentenz Bossuets
über das Gottesreich könne der tiefer dringende Blick einen Zusammen-
hang spüren, eine Kollektivstimmung, weil ^les/aits communiquent entre
eux par les d^finitions des groupes ou Us sont compris^. Aber der
positivistische Geist hat bei Schriftstellern, die unter Taines Einfluß
stehen, zu einer Überschätzung des Exakten geführt, die am liebsten
den lebendigen Menschen ausschalten, die Wissenschaft zu einem Tat-
sachenballen und die Kunst zu einer Rechenknechtsübung herab-
würdigen möchte.
Das Kennzeichen der Ästhetik Guy aus ist der Widerspruch gegen
die Lehre vom interesselosen Gefallen. Das ästhetische Verhalten soll
auf den Lebensbedürfnissen und der Lebenslust ruhen; die Freude
besteht darin, daß der Schaffende wie der Genießende sich in Ver-
bindung mit den Wesen und den Dingen wissen; ^die ästhetische
Erregung ist das zum Bewußtsein seiner selbst und des Zusammen-
hangs mit dem Weltall gelangte Leben. —
Die Systeme der gegenwärtigen Ästhetik entziehen sich einer ge-
schichtlichen Darstellung, denn der Zeitabstand fehlt uns, ohne den
eine Ordnung und Heraushebung des Wesentlichen nie gelingt Die
hauptsächlichen Forschungen und Theorien sollen jedoch in den nun
folgenden Erörterungen berücksichtigt werden. Wenn es verstattet ist.
58 I. DIE GESCHICHTE DER NEUEREN ÄSTHETIK.
einem persönlichen Eindruck Worte zu leihen, so möchte ich sagen:
dem Arbeitsaufwand, der jetzt mit der Ästhetik getrieben wird, ent-
spricht der innere Gewinn nicht völlig. Die einen stehen dem O^en-
stand ohne innere Anteilnahme gegenüber, die anderen überlassen sich
mit neidenswerter Siegesgewißheit ein paar Leitbegriffen und Methoden,
wiederum andere glauben mit neuen Benennungen und Umschreibungen
alter Erkenntnisse einen großen Fortschritt gemacht zu haben. Trotz-
dem — lebendige Bewegung ist da und strebt vorwärts^).
Anmerkungen.
*) Den ersten Schritt dazu hat Hugo Spitzer getan in dem verdienstvollen
Buche: Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge, 1903.
^) Lehrreiche und durch viele Beispiele belegte Untersuchungen enthält Richard
M. Meyers Aufsatz »Über das Verständnis von Kunstwerken«. (Neue Jahrbücher
1901, Bd. VII, S. 362 ff.) Meyer unterscheidet sechs Methoden zur Deutung und
Würdigung der Kunstwerke. Drei davon, nämlich die allegorische, die philosophische
und die ästhetische Methode gehen vom Allgemeinen aus, drei andere betonen die
Individualität des einzelnen Werks und erklären genetisch, nämlich die historisdie,
die technische und die psychologische Methode. Das allegorische Verfahren sucht
nach der höheren Bedeutung des Kunstwerks und glaubt mit der Erkenntnis dieses
höheren Sinns das Kunstwerk erledigt zu haben. Die philosophische Methode faßt
das Kunstwerk symbolisch auf und hat daher mehr Verständnis für den selbstän-
digen Wert der Kunstform. Die ästhetische Interpretation endlich fragt nach der
künstlerischen Art des Gegenstandes. Auf ihr ruht das Kunstrichtertum, das, speku-
lativ oder empirisch verfahrend, an allgemeine Gesetze und ebenso gut an geschicht-
lich wechselnde Regeln sich halten kann. »Für die wissenschaftliche Stellung der
Ästhetik sind das alles hochwichtige Hauptfragen, für die Praxis der Kunsterklärung
sind es nur Nebenfragen.« Gegenüber diesen drei systematischen Methoden gehen
die anderen von der Voraussetzung aus, daß das fertige Kunstwerk noch nicht das
ganze Kunstwerk sei. Sie betrachten unter dem Gesichtspunkt des Werdens und
untersuchen teils historisch die Vorgeschichte des Objekts, teils psychologisch seine
Entstehung aus dem Geist des Künstlers, teils technisch, »wie der Bildhauer seinem
Stein, der Maler seinen Farben, der Dichter seiner Sprache abgewann, was vnr nun
bewundem«. Die Einheit des Kunstwerkes erschließt sich nicht der Zusammen-
fassung dieser sechs Methoden, sondern lediglich der Anschauung, dieser ältesten,
einfachsten und natürlichsten Art der Kunstbetrachtung.
Ich zitiere femer noch ein recht charakteristisches Bekenntnis aus der Vorrede
zu Walter Paters Buch The Renaissance (6. Aufl., London 1902): *MiUiy aäempts
have been made by writers on art and poetry to define beauty in the absfraet, to
express it in the most genercU terms, to find a universal formiüa of it. The vaiue
of these attempts has most aßen been in the suggestive and penetrating things saiä
by the way. Such discussions help us very little to enjoy what has been wdl done
in art or poetry, to discriminate, what is more and what is less excellent in than or
to use words like beauty, excellence, art, poetry with a more predse meaning than
they would otherwise have, Beauty, like all other qualities presented to human ex»
perience, is relative; and the definition of it becomes unmeaning and useless in Pro-
portion to its abstradness. To define beauty, not in the most abstract, bat in the
most conerete terms possible, to find, not a universal formula for it, but the formula
ANMERKUNGEN. 59
which expresses most adequately this or that special manifestation of ity is the aim
qf the true Student of aesthetics.^
') Ich habe die Partien, die in den mir bekannten geschichtlichen Darstellungen
ausreichend behandelt sind, auf das zweifellos Wesentliche zusammengedrängt,
und auch dasjenige, was ich selbst in der »Geschichte der neueren deutschen Psy-
chologie« (Bd. I, 2. Aufl., 19Q2) von der »Aufklärung« in allen Ländern, von Hut-
cheson, Alison u. a. mitgeteilt habe, nicht von neuem abdrucken lassen. Aber
den noch nicht erforschten Tatsachen und Beziehungen ist ein etwas breiterer
Raum gegönnt worden; und das gilt namentlich von solchen Lehren, die uns heute
interessieren, weil sie unserer eigenen Betrachtungsweise nahestehen. — Die aus-
gedehnte Literatur über geschichtliche Einzelerscheinungen kann hier nicht ange-
geben werden. Die letzten Darstellungen der gesamten geschichtlichen Entwicke-
lung stammen von R. Zimmermann (1858), M. Schasler (1871) und C. Hermann
(Die Ästhetik in ihrer Geschichte und als wissensdiaftliches System 1876); in eng-
lischer Sprache liegt vor: B. Bosanquet, A history of aestßtetic {London 1892, 2. Aufl.,
1904). Von größeren Werken nenne ich wenigstens die folgenden: J.Walter, Die
Geschichte der Ästhetik im Altertum, ihrer begrifflichen Entwickelung nach (1893);
H. Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland (1868); H. v. Stein, Die Entstehung
der neueren Ästhetik (1886); O. Hamack, Die klassische Ästhetik der Deutschen
(1892); E. V. Hartmann, Ästhetik L Die deutsche Ästhetik seit Kant (1886).
*) Die von Johann Adolf Schlegel bearbeitete deutsche Ausgabe des Batteuxschen
Buches enthält eine Erläuterung, worin nicht die Ausbesserung der Natur, sondern
der freie Ausdruck inneren Gefühls vom Künstler verlangt wird. Damit ist der
Standpunkt der französischen Ästhetik überschritten und der unserer deutschen
Ästhetik erreicht
») The works of Adam Smith London 1811, V, 243—318: Of the imitative arts.
Ich gebe einige (auf S. 249 stehende) Sätze wieder: »//z Painting, a piain surface
of one kind is made to resemble, not only a piain surface of another, but all the
three dimensions of a solid substance. In Statuary and Sculpture^ a solid substance
of one kind, is made to resemble a solid substance of another, The disparity bet-
ween the objed imitating, and the object imitated, is mach greater in the one art
than in the other; and the pleasure arising from the Imitation seems to be greater in
Proportion as this disparity is greater,^
*) Bürgers Lehrbuch der Ästhetik ist zwar erst 1825 von Karl v. Reinhard
herausgegeben worden, besteht aber aus Vorlesungen der Jahre 1784 bis 1794.
Übrigens sind einige der im Text stehenden Mitteilungen aus Bürgers »Ästhetischen
Schriften« (1832) entnommen.
^ Näheres bei Robert Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen
Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, 1892.
*) Vgl. Novalis, Werke herausgegeben von C. Meißner 1898, III, 31 und auch
Chr. H. Weiße, System der Ästhetik 1830, I, 97 ff.
') Die widitigsten selbständig erschienenen Schriften, die das Ganze oder dodi
die Grundlagen der Ästhetik behandeln, sind nach meiner Kenntnis die folgenden:
J. Cohn, Allgemeine Ästhetik, 1901; K. Groos, Der ästhetische Genuß, 1902; Konrad
Lange, Das Wesen der Kunst, 1901; Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik, 1903;
R. Marshall, Aesthetic Prindples^ 1895; Volkelt, Ästhetische Zeitfragen, 1895; Volkelt,
System der Ästhetik Bd. I, 1905; Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, 1904.
II. Die Prinzipien der Ästhetik.
1. Der Objektivismus.
Die allgemeinen Grundsätze, die einer Ästhetik ihre Richtung zu
geben vermögen, treten in den geschichtlich vorliegenden Systemen
nicht unzweideutig zu Tage, weil sie fast in jedem miteinander ver-
mischt sind. Daher ist es notwendig, die Prinzipien als solche zu
prüfen. Auch lohnt es erst hier, das Messer der Kritik anzusetzen.
Denn welchen Wert soll es haben, daß man weitschweifig Lehren
widerlegt, die längst eines natürlichen Todes gestorben sind? Die be-
liebten Auseinandersetzungen mit dem, was X vor hundert oder Y vor
zweihundert Jahren gesagt hat, sind ein leichtes Spiel des Scharfsinns
und ohne dauernden Nutzen. Nur mit dem Lebendigen läßt sich
wahrhaft kämpfen, und zum Lebendigen gehören auch einige der in
der geschichtlichen Entwickelung aufgetauchten Prinzipien.
Freilich zeigen sie ihre Lebenskraft vor allem dort, wo sie sich auf
das Kunstschöne beziehen. Zum mindesten giU das von dem ästhe-
tischen Objektivismus. Hierunter verstehen wir den Inbegriff aller
Theorien, die das Eigentümliche des Untersuchungsgebietes hauptäch-
lich in der Beschaffenheit des Gegenstandes, nicht im Verhalten des
genießenden Subjekts finden. Jene Beschaffenheit des ästhetisch Wert-
vollen ist am leichtesten festzustellen, indem man sie durch Beziehung
auf die übrige Wirklichkeit von ihr abhebt. In der geschichtlichen
Betrachtung sind uns schon solche Prinzipien entgegengetreten, die
»das Schöne« und die Kunst nach ihrem Verhältnis zur natürlichen
Gegebenheit erklären; und zwar behauptet der Naturalismus, Kunst sei
Wirklichkeit, während die verschiedenen Arten des Idealismus die
Kunst für mehr als Wirklichkeit, und umgekehrt Formalismus, Ilhisio-
nismus, Sensualismus sie für weniger als Wirklichkeit ausgeben.
Mit der ehrwürdigen und unverwüstlichen Theorie der Nachah-
mung hangt jene andere zusammen, die Naturalismus, Verismus,
Akzidentialismus, Impressionismus genannt worden ist. Sie findet eine
Stütze in den Bekenntnissen der Künstler selbst. Denn diese werden
nicht müde, zu versichern, daß sie schlechthin das Wahrgenommene
wiedergeben. Außerdem reiht sie sich leicht in eine allgemeine Rich-
tung des Denkens ein.
DER OBJEKTIVISMUS. 61
Als philosophische Voraussetzung des Naturalismus dient vielfach
die Überzeugung: nur die sinnliche Welt des Einzelnen besitze Wirk-
lichkeit und an sie sei wie jede andere geistige Bestrebung auch die
Kunst gebunden. Der Positivismus in allen seinen Spielarten fuhrt
demnach mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu der Lehre, daß
die Kunst sich streng an das Gegebene halten solle. Doch besitzt
das jetzt in Frage stehende Prinzip auch in der praktischen Philosophie
einen Anhalt Welcher Optimist, der die wirkliche Welt als die beste
der möglichen erklärt, kann ein realitätsfremdes Spiel der Einbildungs-
kraft billigen, ohne von der Folgerichtigkeit abzuweichen? Ein zwar
nicht notwendiger, aber begreiflicher Zusammenhang besteht schließ-
lich zwischen Optimismus und Naturalismus einerseits und der from-
men Olaubensüberzeugung anderseits. Denn wenn die Welt ein Ab-
glanz Gottes ist, so kann es keine höhere Schönheit als ihre, keine
bessere Kunst als die treulich nachahmende geben. Naturalistisch
schaffen heißt dann den Schöpfer in seinen Werken ehren. Bleibt
man sich dieser Zusammenhänge bewußt, so versteht man, weshalb
die Anhänger der idealistischen und die Vertreter der pessimistischen
Weltanschauung nicht anerkennen dürfen, daß eine Kunst von einiger
Bedeutsamkeit in bloßer Wiedergabe ihr Ziel erblicke.
Dazu kommt, daß die Musik höchstens auf sehr wunderlichen Um-
wegen naturalistisch gedeutet werden kann. Beim Naturschönen end-
lich scheint das Prinzip ganz zu versagen. Ein älterer französischer
Ästhetiker hat darauf hingewiesen, daß die Übereinstimmung gleich-
artiger Naturgegenstände z. B. die Übereinstimmung der Eichen mit-
einander, und ebenso die Ähnlichkeit zwischen künstlichen Erzeug-
nissen der gleichen Gattung z. B. die Ähnlichkeit der Tische unter-
einander, keinen Reiz besitze; hingegen gefalle die Ähnlichkeit einer
gemalten Eiche mit einer wirklichen, eines gemalten Tisches mit einem
wirklichen. In Wahrheit kann die Übereinstimmung gleichartiger
Gegenstände ein gewisses, wenngleich recht schwaches Wohlgefallen
hervorrufen, aber es ist schwerlich ein ästhetisches.
Wir sehen indessen sowohl von der Begründung in einer Welt-
anschauung, als auch von Musik und natürlicher Schönheit ab. Als-
dann sprechen gegen den Naturalismus die folgenden Überlegungen.
Erstens: Bei einer genauen Wiedergabe eines Stückes Natur treten
außerästhetische und in der Betrachtung des Originals nicht vorhandene
Gefühle auf. Eine täuschend ähnliche Wachsfigur flößt Schrecken ein,
also ein nicht ästhetisches Gefühl, das bei der Wahrnehmung des
wirklichen Menschen nicht aufgetreten wäre. Zweitens: Alles was
noch irgend Kunstwerk heißen kann, bleibt hinter der Wirklichkeit
zurück. Dem Panorama fehlt Sonnenlicht, Geräusch, Bewegung, frische
62 11- DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Luft, der Wachsfigur der Flaum auf Wange und Hand, dem Gips-
abdruck das geöffnete Auge und die unaufhörliche Veränderung im
Volumen der Körperteile, die mit seelischen Vorgängen zusammen-
hangt Die Ruhelosigkeit des Sichtbaren läßt sich in der Kunst nicht
wiedergeben. Die Bilder des Kinematographen gelten uns als ein
Erfolg der wissenschaftlichen Technik und nicht als Kunstwerk. Drit-
tens: Ähnlichkeit fällt mit Naturwahrheit keineswegs zusammen. Die
Karikatur und die Skizze eines Zeichners, der zu treffen versteht, zeigen
vielleicht eine überraschende Ähnlichkeit mit dem Vorbild, aber sie
sind nicht naturgetreu. Die Karikatur übertreibt gewisse Eigentüm-
lichkeiten, und die Skizze schweigt von vielem, was die Ausführung
mitteilen müßte. Wir kennen Bilder, aus denen uns Gesichter mit
vollster Lebendigkeit entgegentreten, obwohl der Künstler Nase und
Ohren, ja selbst die Augen fortgelassen und lediglich einen Farben-
fleck hingesetzt hat. Ein Maler ^) erinnert daran, daß man eine Por-
zellanvase mit Holzkohle auf Papier wiederzugeben vermag. Das ist
offenbar eine Übertragung und nicht eine Nachahmung. Viertens und
endlich: Bei einem durchgeführten Kopieren müßte der maßgebende
Faktor, nämlich die Individualität des Künstlers, ganz ausgeschaltet
werden. Es hieße aber das Leben aus der Kunst austreiben, wollte
man die persönlichen Unterschiede der Künstler vertilgen.
Wenn dennoch fortgesetzt naturalistische Lehren verkündet und
anscheinend befolgt werden, so müssen teils in der Theorie, teils in
der Praxis Gründe vorhanden sein, die bisher noch nicht erörtert
wurden. Von den theoretischen Gründen kommt zunächst in Betracht
die naheliegende Verwechslung anscheinender Naturtreue mit wirk-
licher Nachahmung. Schon Skizze und Karikatur können klarstellen,
wie verschieden der Eindruck der Natüriichkeit und die wirkliche
Nachahmung sind. Solche unausgeführten oder verzerrenden Kunst-
leistungen erweisen sich als Schöpfungen im stärksten Sinne des
Wortes, und trotzdem geben sie den lebhaftesten Eindruck von Natur-
treue. Der Naturalismus hat darin recht, daß er diesen Eindruck ver-
langt. Aber er irrt, wenn er meint, ein solcher Eindruck sei nur durch
sklavische Nachahmung des Gegebenen zu erreichen. Eindruck der
Natur ist nicht gleichzusetzen mit Reproduktion der Natur. Die n^^-
tive Fassung wäre daher der positiven vorzuziehen. Man würde
richtiger sagen, es müssen diejenigen Abweichungen von der Natur
vermieden werden, die dem Beschauer den Chok geben, der mit Un-
wahrheit verbunden ist Eine Formulierung dieser Art, die nicht so
streng ist wie die positive, läßt der Kunst den ihr nötigen Spielraum.
Vielleicht darf man behaupten, daß es hier ähnlich liegt wie beim Ver-
hältnis des Menschen zum Glück. Alle Menschen wollen glücklich
DER OBJEKTIVISMUS. 63
werden. Dennoch würde ihnen das Erreichen dieses Zieles keines-
w^s die erstrebte Vollkommenheit sichern. So will alle Kunst zur
Wirklichkeit hin, aber mit der gewonnenen Identität wäre niemals die
Kunst vollendet
Eine andere Hilfe sucht der Naturalismus in dem Umstand, daß
auch das geistig vertiefteste Kunstwerk sich aus Lebensmomenten zu-
sammensetzt Wo die Bestandteile des Kunstwerkes nicht der Wirk-
lichkeit entnommen worden sind, da fühlen wir es schmerzlich heraus;
die Elemente des Künstlerischen sind keine anderen als Wirklichkeits-
elementa Aus diesem Tatbestand kann indessen dem Naturalismus
ein Retter nicht erstehen. Denn die Bestandteile werden zu etwas
Neuem, zum gefühlsgesättigten Bild verarbeitet, und gerade auf die
Verarbeitung kommt es an. Allerdings scheint diese — zum mindesten
solange sie sich auf ein Wählen, Verstärken und Vermindern be-
schränkt — auch ihrerseits an die Wirklichkeit gebunden zu sein. Kein
noch so energisches Vorgehen darf zu Gebilden führen, die als Er-
fahrung unmöglich wären. Aber man verstehe recht: Solche Gebilde
brauchen kein Analogon in der Erfahrung zu haben, nur müßten sie,
wenn sie existierten, für unsere Auffassungsfähigkeit möglich sein.
Was als Gesichtsempfindung unmöglich ist, etwa daß entfernte G^en-
stände dieselbe Größe haben wie naheliegende G^enstände der
gleichen Art, das darf als »unwahr« in keinem noch so phantastischen
Gemälde sich finden. Es nützt femer dem Naturalismus nichts, wenn
jede geklärte Kunsttheorie verfangt, daß die Verbindung der Elemente
einen Zusammenhang aufweise, durch den der Beschauer oder Leser
oder Hörer mit Notwendigkeit von dem Vorangehenden zum Folgen-
den hingeführt wird. Wiederum ist ja nicht die empirische Zusammen-
gehörigkeit entscheidend, sondern eine innere Konsequenz. Unwahr
nennen wir ein Kunstwerk, dessen Teile auseinanderfallen. Die Natur-
nachahmung kann dem Zwecke der künstlerfsch-systematischen Ver-
einheitlichung wohl dienen. Aber nicht sie, sondern die Stileinheit ist
Wahrheit im ästhetischen Sinne des Wortes.
Wenn es hiemach scheinen könnte, als bestehe die Kunst nur in
einer anderen Kombination von Lebenselementen, so wie das Flügel-
roß oder der Zentaur aus realen Bestandteilen zusammengesetzt sind,
so würde diese, eine eigentliche Schöpferkraft des Menschen leugnende
Auffassung dem Sachverhalt doch nicht gerecht werden. Denn mit
dem bloßen Wählen und Verknüpfen ist es nicht immer geschehen.
Es kann die Wirklichkeit in einem Kunstwerk so aufgezehrt oder ver-
ändert sein, daß sie nur für den feinsten Sinn noch spürbar bleibt
Selbst überfli^ende, mystische, symbolistische Kunstwerke mhen
schließlich auf irgend welchen Erfahmngen. Aber ihr Haupt hat sich
64 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
SO hoch erhoben, daß wir die Füße nicht mehr gewahren, mit denen
sie auf festem Boden stehen.
Wenn bisher dem Naturalismus eine immanente Beziehung zur Außen-
wirklichkeit untergelegt worden ist, so muß nun wenigstens ergänzend
bemerkt werden, daß es auch ein getreues Abschildern der seelischen
Vorgänge gibt, das grundsätzlich zur gleichen Stufe gehört. Nament-
lich GefOhlsvorgänge werden gern in realistischer Treue beschrieben,
und es sind gerade die Gegner der naturalistischen Kunst, die an der
ungeläuterten Wiedergabe von Affekten und Stimmungen ihre Freude
haben. Der Lyriker, der sein Gefühl möglichst deutlich und unverändert
ausspricht, ahnt meist ebenso wenig wie sein Bewunderer, daß er dem
Naturalismus näher steht als dem Idealismus. Nämlich dem Naturalis-
mus als einem ästhetischen Prinzip im Gegensatz zu dem Naturalismus
als einer künstlerischen Richtung. Dieser Unterschied ist sehr wichtig.
Die kunstgeschichtliche Erscheinung, die wir naturalistischen
Stil nennen, hangt nur lose mit den theoretischen Oberiegungen zu-
sammen. Vielmehr bedeutet der Naturalismus — als eine zeitweilig
auftretende Praxis — vornehmlich Auflehnung gegen absterbende An-
schauungen und Formen. Nicht um naturgetreues Abschildern von
Wirklichkeitsausschnitten handelt es sich also, sondern zunächst um
eine neue, zeitgemäße Technik. Die bisherigen Formen, deren Zeit
abgelaufen ist, erscheinen als konventionell, abstrakt, unwahr, und indem
an die Stelle dieser alten Schönheit eine neue Schönheit gesetzt wird,
entsteht begreiflicherweise die Vorstellung, daß ein idealistischer Schön-
heitswahn durch die Wahrheit verdrängt worden sei. Da die Menschen
geschichtliche Wesen sind und mit der wechselnden Ordnung der Dinge
veränderte Kulturkreise und neue Anschauungen von Wert und Sinn
des Daseins sich schaffen, so versuchen alle Künste, diesen Wandlungen
zu folgen. Jeder Künstler, der die Dinge mit den Augen der Gegen-
wart anzusehen und das Geschaute in der seiner Zeit entsprechenden
Form auszudrücken vermag, kommt sich als Naturalist vor. Naturalis-
mus in diesem Sinne ist ein derber Protest gegen abgestorbene Ideale.
Wie die Opposition gegen herrschende staatliche und kirchliche Ein-
richtungen sich gern in materialistischen und atheistischen Lehren Luft
macht, so bedient sich auch die künstlerische Opposition mit Vorliebe
der naturalistischen Denk- und Formweise.
In der geschichtlichen Entwickelung ist also das erste der Bruch mit
der Überiieferung. Daraus ergibt sich dann an zweiter Stelle die Rück-
kehr zur Natur. Je freier man sich nämlich von einer Tradition macht,
desto sicherer greift man auf die Natur zurück; und umgekehrt verliert
man desto schneller die Berührung mit der Natur, je ausschließlicher
man in den gewohnten Formen fühlt. Diesem Gesetze entsprechend
DER OBJEKTIVISMUS. 65
kommen die von der alten Kunst Unbefriedigten fast willenlos zur
Nachahmung der Natur. Dabei ist es von Bedeutung, daß die Träger
der Bew^ung r^elmäßig der jungen Generation angehören. Die Jugend
hat das Vorrecht ungeschichtlichen Fühlens. Sie besitzt auch jenen
Optimismus, von dem schon vorher gezeigt wurde, wie leicht er mit
dem Naturalismus Hand in Hand geht Mit dem jugendlichen Trieb
nach Verbesserung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhält-
nisse verbindet sich dann auch das Bewußtsein, in künstlerischen Formen
ein Lehrmeister und Helfer des Menschengeschlechtes werden zu können.
Daher haben in unserer Zeit naturalistische Maler und Dichter sich ge-
wöhnlich zu einer sozialistischen, ja oft zur sozialdemokratischen Ten-
denz bekannt
Je älter man wird, desto kühler steht man gewaltsamen Verände-
rungen g^enOber. Das unbesonnene Wagnis, sich ganz auf sich
selber zu verfassen und alle erworbene Weisheit zu mißachten, ist für
mein Gefühl eine Verzerrung des fortschrittlichen Geistes, der im
Naturalismus lebt Die g^enwärtige Kunstkritik verhätschelt aussichts-
lose Schreier, weil sie selber unsicher und ängstlich in die Zukunft
blickt Es gibt eine freche Jugendlichkeit, deren absprecherisches und
großmäuliges Wesen sich in Anklagereden und Programmentwürfen
erschöpft: wie vielen Umstürzlern bin ich im Lauf meines Lebens be-
g^[net und wie wenige davon haben es zu wirklichen Leistungen
gebracht! Solche vorlauten Burschen, die leider auch in unserem
wissenschaftlichen Nachwuchs nicht fehlen, glauben ihrerseits sich der
Verpflichtung überhoben, Talent und Fleiß zu zeigen. Die wahrhaft
großen Neuerer sind zu ihrer Unabhängigkeit gelangt, indem sie rast-
los und mit Ehrfurcht die Meister der Vergangenheit studierten; manche
wußten kaum, wie revolutionär sie handelten; alle waren mit der Be-
scheidenheit b^[nadet, die auch den Widerspruch erfreulich macht
Völlig von vom beginnen ist seit Jahrtausenden eigentlich nicht mehr
möglich und ganz gewiß kein fruchtbarer Anfang. Unterscheiden wir
also aufs peinlichste zwischen Theorie und Praxis und suchen wir
die Erklärung nicht in Redensarten, sondern in der Analyse. Einige
Andeutungen sind bereits gegeben.
Aus den erwähnten Faktoren wird femer verständlich, weshalb der
Naturalist so leicht zur Wahl von häßlichen und unanständigen Vor-
gängen getrieben wird. Der sachliche Gmnd ist der, daß diese Momente
in der überlieferten und schon erstarrten Kunstweise entweder gar nicht
mehr vorhanden oder doch außerordentlich umgebildet, d. h. verschönert
waren. Das Kontrast- und Selbständigkeitsgefühl lenkt die Aufmerk-
samkeit gerade auf das Ungewöhnliche und Untertypische. Ein anderer
Gmnd ist formaler Art Er li^ in dem Wunsch des jungen Künstler-
Dessoir, Ästhetik und allg. Kanstwisscnschaft. 5
66 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
geschlechtes, seine technische Geschicklichkeit zu zeigen. Denn eine
neu entwickelte Technik läßt sich besonders virtuos an entlegenen und
gleichsam widerstrebenden Stoffen üben. Zur Rechtfertigung des Ver-
fahrens hat man außerdem die Erkenntnis angezogen, daß der Inhalt,
nicht die künstlerische Funktion berührt. Ebensowenig wie das Aus-
sagen einer Ungewißheit ein ungewisses Aussagen ist, bedeutet die
Darstellung des Abnormen ein abnormes Darstellen. Es wird darauf
ankommen, ob des Künstlers Individualität stark genug ist, um die
natürlichen Unlustgefühle, die an den Inhalt sich knüpfen, zu künst-
lerischen Lustgefühlen zu erheben. Die Natur weiß durch ihre Unend-
lichkeit und Ewigkeit alle Mißklänge zu mildem. Das Kunstwerk, das
nur einen Ausschnitt geben kann, muß eine ähnliche kosmische Weite
oder Tiefe besitzen, um das an sich Häßliche erträglich zu machen. —
Doch läßt sich auch eine abweichende Auffassung begründen. Denn
es scheint nicht widersinnig, daß große Vorwürfe und schöne Modelle^
erhabene Ereignisse und wohltuende Formen der künstlerischen Phan-
tasietätigkeit eine bessere Unterlage geben als das Niedrige, Häßliche,
Verächtliche der Wirklichkeit. Daher möchte wohl derjenige Künstler
am höchsten stehen, der den gewaltigsten und ergreifendsten G^en-
stand in gewaltigen und ergreifenden Formen darzubieten vermag.
So argumentiert wenigstens der Essentialismus (Idealismus^
um der Kunst einen über die gemeine Wirklichkeit hinausgehenden
Inhah und Zweck zu sichern. Die philosophische Voraussetzung —
vom Relativismus und Positivismus bestritten — besagt, daß hinter den
Dingen etwas Übersinnliches throne: die Welt ist mit den Erscheinungen
nicht erschöpft, sondern besitzt einen idealen Gehalt, eine ^essentia^.
Will man unter dieser allgemeinen Annahme den besonderen ästhetischen
Standpunkt festigen, so empfiehlt es sich, von dem Unterschied des
Schönen und des Angenehmen auszugehen. Im Vorgang der ästhe-
tischen Rezeptivität ist enthalten ein G^enstand, ein aufnehmendes
Subjekt und die zunächst sinnlich erfolgende Berührung zwischen beiden.
Ein einzelner Gegenstand und ein einzelner Mensch treffen zusammen;
hieraus entsteht ein Lustgefühl. Offenbar jedoch gilt das Gleiche von
jeder sinnlichen Lust. Demnach muß in dem Schönen neben der durch
die Sinne vermittelten und lusterfüHten Beziehung noch etwas anderes
enthalten sein. Und dies ist eben das durchleuchtende Wesen des
Gegenstandes. Kunst ist nicht Nachahmung des Einzelnen, sondern
das Sinnlichmachen seines tieferen Gehaltes; schön heißt: das Absolute
in anschaulicher Form, das Unendliche im Endlichen, die Idee in be-
grenzter Erscheinung. Während die Dinge der Erfahrung nur unvoll-
kommen hindeuten auf die ihnen zu Grunde liegende Idee, zeigt die
Kunst unverhüllt die Bedeutung des Wirklichen. Sofern nun unter Idee
DER OBJEKTIVISMUS. 67
nichts anderes verstanden wird als ein objektivierter allgemeiner B^ff,
läuft die Lehre darauf hinaus, in der Veranschaulichung des Begriffs
die Aufgabe des Schönen zu erblicken. Erleichtert wird diese Auf-
fassung dadurch, daß B^ffe nicht lediglich allgemeine Ausdrucke oder
gedankliche Abkürzungen sind, sondern etwas vom Ideal an sich haben.
Wenn Shakespeare sagt: He was a man, take him for all in all, so
ist mit »Mann« etwas Bedeutungsvolles gemeint, was wir vielleicht
einen »echten Mann« nennen wurden. Unter dem echten Mann aber
b^jeifen wir nicht lediglich das logisch Allgemeine, das alle Männer
verbindet, sondern das Wort hat auch einen Forderungscharakter: der
echte Mann ist der Mann, wie er sein soll, hinter dem die meisten wirk-
lichen zurückstehen. Gelingt es einem Natur- oder Kunstgegenstand,
diese Fülle des B^^ffs restlos auszudrücken, so weckt er ein Gefühl
von Befriedigung. Wir sympathisieren mit dem Einzelg^enstand, der
den Normen seines B^rrfffes so vollkommen entspricht. Hieraus würde
sich verstehen lassen, weshalb die sinnlich erscheinende Idee gefällt*).
Noch durchsichtiger wird die Erklärung bei der subjektivistischen Wen-
dung des Gedankens. Dann kommt das außermenschliche Dasein der
Idee nicht in Betracht, sondern sie gilt als das höhere geistige Leben,
das in bevorzugten Menschen waltet. Die Freude daran ist ohne weiteres
zu b^^eifen.
Auf die Verzweigungen des Essentialismus können wir nicht noch-
mals eingehen. Je nach dem philosophischen System erscheint als ver-
borgener Inhalt eine außerordentlich hohe Idee, ein vollkommenes, die
Schönheit in sich selbst tragendes Sein, oder bloß ein Gattungswesen,
ein dominierender Charakter, wie Taine gesagt hat. Gleichviel, ob das
eine oder das andere, es wird nicht nur auf die Tatsache des Gedanken-
ausdruckes, sondern auch auf den Inhalt des ausgedrückten Ge-
dankens ankommen. Deshalb wird man immer auf Schwierigkeiten
treffen, sobald man das übersinnliche Etwas oder die geniale Weltan-
schauung oder den vorherrschenden Gattungscharakter im einzelnen
Kunstwerk nachzuweisen unternimmt Wir hören beispielsweise, daß
die Idee eines beliebigen Romans in dem Satz bestehe: jede Freund-
schaft zwischen Mann und Weib wird zur Liebe. Aber dieser Satz ist
einerseits zu umfassend; denn ihm lassen sich hundert andere Romane
gleichfalls unterordnen. Anderseits ist er zu eng; denn er verrät nichts
von dem lebendigen Reichtum des Dichtwerkes. Die Unterschiede der
Interpretation von Kunstwerken, namentlich von so erfüllten Kunst-
werken, wie es Hamlet und Faust sind, wurzeln in der Schwierigkeit,
den Reichtum eines solchen Gebildes auf eine einzige Formel, einen
einzigen Gedanken zu bringen. Und hierbei kann die Theorie nicht
einmal stehen bleiben. Sie muß doch wohl zugeben, daß Schillers
68 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Wallenstein nicht nur typisches Menschenstreben, sondern auch eine
geschichtliche Figur in höchster Wahrheit darstellen will. Delaroche
hat sogar von seinen Historienbildern gerühmt, daß ein einziges unter
ihnen mehr lehre als zehn Bände geschichtlicher Forschung. Zweifellos
wird damit das künstlerische Bedürfnis als Unterart des allgemeineren
Bedürfnisses nach klarer Erkenntnis überhaupt verstanden und durch
dies Aufgehenlassen in einen weiteren Kreis anscheinend erklärt. Oenug
Philosophen haben der Kunst ausschließlich die Aufgabe zuerteilt, das
Typische gegenüber den zufälligen und unregelmäßigen Naturg^en-
ständen oder -ereignissen darzustellen, und von ihr verlangt, sie solle
wie eine Sprache besonderer Art Gedanken vermitteln, sie solle sich
entleiben, um ihre Innern Schätze aufzudecken.
In dem Lehrbuch eines idealistischen Ästhetikers findet sich folgende
Erörterung über die sogenannten Stillleben: »Nehmen wir an, es sei
ein Tisch mit Büchern, Gläsern, ein Zigarrenkistchen u. s. w. dargestellt
Das ist, wenn das Buch zugeschlagen, die Kiste geschlossen ist, wenn
die Gläser leer sind, ein totes Bild ... hat man das Buch aufgeschlagen
und gibt nur den Titel eines Kapitels, so wird der Beschauer unwill-
küriich diesen Titel lesen, er wird wissen wollen, welche Zeitung das
ist.« Diese köstliche Anweisung zeigt, wohin eine idealistische Theorie
führen kann; wahrhaft verhängnisvoll wird sie, wenn sie von den schaf-
fenden Künstlern aufgenommen wird. Schließlich wagen die Schwächeren
unter ihnen nicht mehr so zu bilden, wie sie empfinden, sondern streben
nach einer Wahrheit, die ihren Werken die innere Glaubwürdigkeit
raubt. Wirkliche Künstler jedoch haben sich stets dahin ausgesprochen,
daß die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht in geradem Verhältnis steht
zur Zahl und Bedeutung der Lehren, die es uns über die Wirklichkeit
und ihre letzten Gründe liefert. Als Philipp Otto Runge über seinen
Zyklus der Tageszeiten von den ratlosen Beschauern gefragt wurde,
was diese Bilder sagen wollten, da antwortete er: »Wenn ich es sagen
könnte, brauchte ich es nicht zu malen.« Und ähnlich so hat Mendels-
sohn in einem seiner Briefe geschrieben, er würde keine Note mehr
setzen, wenn man Musik mit Worten schildern könnte.
Trotz allem dem sind bis heute literarisch gebildete und interessierte
Ästhetiker dabei geblieben, die Kunst als Ausdruck einer begrifflichen
Konzeption und einer intellektuellen Fertigkeit aufzufassen; auch die
Pädagogen sehen leicht den Wert eines Kunstwerkes in seinen ver-
nünftigen und verwendbaren Inhalten. Vor allen Dingen: das Publikum
kommt solchen Lehren willig entgegen. Denn sein ästhetisches Be-
dürfnis besteht meist darin, daß es etwas in künstlerischer Form mit-
geteilt erhalten will. Ein solches Kunstbedürfnis ist Gier nach flüchtigem
Wissen, in mittlerer Lage derselbe Wissensdrang, der in niederster
DER OBJEKTIVISMUS. 6Q
Form als Neugier, in höchster Form als Entdeckerlust sich äußert. Zu
gewissen Zeiten hat daher die Volksseele ihren erschöpfenden Aus-
druck in der Schrift statt in Klang oder Bild gefunden, und in den
Kämpfen der Völker blieben zumeist diejenigen Kunstwerke vor der
Zerstörung bewahrt, die den Verstand oder die Neugier fesselten; außer-
dem freilich auch solche, die — wie gewisse Melodien — eine starke
sozialisierende Wirkung ausübten oder — wie gewisse Bauten — einem
praktischen Bedürfnis entgegenkamen.
Es wäre jedoch Unrecht, aus solchen Erwägungen heraus den Ra-
tionalismus, der sich gern mit dem Essentialismus verbrüdert, verächtlich
beiseite zu werfen. So beklagenswert es ist, wenn die Gelehrtheit die
süßesten Früchte der Kunst ungenießbar macht, so bleibt es doch zu-
lässig, das in jedem zusammengesetzten Werk enthaltene intellektuelle
Moment als solches herauszuheben. Es sei verstattet, eine Probe zu
machen. Wir lesen folgende Strophen von Stefan George:
Schmerzbrüder
So zieht ihr im düster und euer geleit
Ist lächelnder strahl — ihr die sinkende zeit.
Da alles gesagt ist in stummem verein
Ihr fühlet gefaßt die unwendbare pein:
Wer ganz sich verschenkt wie er wenig empfingt
Und blühende stim in die fernen nur drangt
So zieht ihr im düster und euer geleit
Ist lächelnder strahl — ihr die sinkende zeit
Und manchmal noch wenn euch ein milderer ton
Ein engeres schmiegen wie rührung und lohn
Und wenn euch ein deutendes schweigen umfließt
Erscheint es daß leis eine hoffnung euch sprießt:
Mit zitternden armen am busen gepreßt
So haltet den ziehenden abend ihr fest
Ob er für die einzige stunde nun säumt . .
Doch euer geleit hat vom morgen geträumt
Der Leser wird vermutlich einen sehr unbestimmten Eindruck emp-
fangen haben. Jetzt dringt er in den geistigen Gehalt ein: Schmerz-
brüder sind die langsam alternden Männer, deren Liebe den unabwend-
baren Gegensatz von Morgen und Abend erfahren muß, deren leiden-
schaftlich starke Umarmung nicht mehr des Mädchens bebende Err^^ung
weckt, deren Kuß mit verflattemder Zärtlichkeit erwidert wird. Ich
bitte den Leser, nun nochmals das Gedicht durchzugehen: er wird einen
Zuwachs an Klarheit und, was mehr gilt, an Genuß empfinden. —
Namentlich die größeren Werke epischer und dramatischer Poesie
rechnen auf die beziehende Urteilstätigkeit, sie wollen nicht nur ge-
70 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
fallen, sondern auch die Einsicht erhöhen, nicht nur erquicken , son-
dern auch nähren.
Man darf also über die Lehre: Im Kunstwerk soll Wesentliches
sichtbar werden, nicht schlechthin den Stab brechen. Man muß nur
einsehen, daß sie hinter dem Ganzen des ästhetischen Lebens zurück-
bleibt. Insbesondere aus folgenden Überlegungen geht das hervor.
Nach allen Zeugnissen entstehen echte Kunstwerke niemals aus ab-
strakten Gedanken. Wo es anscheinend der Fall ist, da gibt nicht das
Logische des Gedankens, sondern sein Stimmungswert den Anreiz.
Ideen sind meist unentbehrlich, aber sie stellen sich sofort als Bild,
Form, Farbe, Klang dar und teilen sich dem am sichersten mit, der
mit Versenken und nicht mit Denken auffaßt. Auch führt der Ratio-
nalismus zu einer Oberschätzung des Stofflichen und geistig Bedeuten-
den. Sachliche Inhalte sind mit Begriffsworten zu decken. Aber daneben
gibt es in jedem wahren Kunstwerk noch etwas anderes, was man, wie
gewöhnlich gesagt wird, nur fühlen kann. Vielleicht sind die Probleme
des im Kunstwerk verarbeiteten äußeren und inneren Stoffes überhaupt
keine ästhetischen, sondern Kulturfragen.
Solche Bedenken hat der ästhetische Formalismus mit Recht ge-
äußert. Nach seiner Behauptung spricht der Künstler in und durch
Formen und genießt der Betrachter eine Ordnung, wodurch die Vielheit
von Stoffen zur Einheit gesammelt wird. Form ist nach dieser Lehre
ein lebendiges Verhältnis von Teilen und bekundet sich beispielsweise
im strengen Maß des Rhythmus oder in der harmonischen Anordnung
der Klänge. Gegenstand des ästhetischen Genusses bilden nicht die
stofflichen Einheiten, sondern ihre Beziehungen, der quantitative oder
qualitative Zusammenhang, der grundsätzlich mit der inhaltlichen Be-
schaffenheit nichts zu tun hat. Zur inhaltlichen Beschaffenheit gehören
auch alle seelischen Ereignisse, die künstlerisch ausgedrückt werden.
Deshalb sagte Hanslick, daß Gefühle weder Zweck noch Inhalt der
Musik sein können, daß vielmehr ihr Wesen in tönend bewegten Formen
besteht, die mit den ruhenden Formen der Arabesken zu vergleichen sind.
Fragt man die Formalisten nach dem Rechtsgrund, der gewisse
Formen wohlgefällig, andere mißfällig macht, so erhält man gewöhnlich
eine rationalistische Antwort, nämlich den Hinweis auf die Klarheit und
leichte Auffaßbarkeit bestimmter Verhältnisse. Die Zahlenverhältnisse
harmonischer Klänge, die Symmetrie zwischen Raumteilen, der leichte
Ablauf rhythmischer Gebilde, dies alles gefällt ohne Beziehung auf einoi
Inhalt durch die Angemessenheit an den erkennenden Geist Jede War
erkennbare Einheit einer Mannigfaltigkeit ist ästhetisch wohlgefällig. Und
da sie nur einen Teil der Wirklichkeit darstellt, so würde demnach das
Schöne weniger sein als die Wirklichkeit.
DER OBJEKTIVISMUS. 71
Wie sollen wir uns dazu stellen? Daß die Ästhetik als abstrahie-
rende Wissenschaft das Recht hat, sich auf Formverhältnisse zu be-
schränken, darf nicht bestritten werden. Aber allerdings bietet die schroffe
Scheidung von Form und Stoff den Nachteil, daß die immerfort tätigen
Einflüsse, die von dem einen Faktor zum anderen hinübergleiten, in
einer strengen Formwissenschaft nicht zu ihrem Recht gelangen. Die
Fülle formaler Beziehungen ist wesentlich mitbedingt durch den im
Kunstwerk dargestellten Sachverhalt. Es fragt sich, ob man jene er-
schöpfend begreifen kann, ohne diesen zu berücksichtigen. Indessen
auch wenn man sich auf die Formverhältnisse zurückzieht, so bietet
die zentrale Formel von der Einheit in der Mannigfaltigkeit manche An-
griffspunkte. Es gibt Fälle, wo ein Vielfaches vereinheitlicht ist, ohne
daß ästhetische Freude eintritt. Wir werden später davon reden. Auch
ist erst klarzulegen, weshalb die synthetische Tätigkeit des Bewußt-
seins, die doch sonst noch tausendfach tätig ist, nicht immer ästhetische
Lustgefühle hervorruft. Vorläufig wäre zu sagen, daß künstlerische
Gestaltung dann voriiegt, sobald kein Teil ohne empfindliche Störung
des Ganzen ausgelassen werden kann und die Teile zugleich mit an-
schaulicher Überzeugungskraft auf einander verweisen.
Das formalistische Prinzip macht einen Teil der Realität, nämlich die
Form, zum Ganzen des ästhetisch Wertvollen. Im Unterschiede hiervon
stellt der Illusionismus die Weh der Kunst als eine Welt des Scheins
der Wirklichkeit gegenüber. Die Kunst, so belehrt man uns, bietet
weder das Gegebene in neuer Auflage noch verborgene Wahrheit noch
reine Form; sie ist vielmehr eine Welt des Scheins und als solche frei
von Not und Zwang, ein ewiger Frühling, unabhängig von den grau-
samen Gesetzen der Natur. Das ästhetische Objekt soll ohne Rücksicht
auf Lebenszusammenhänge und etwa eintretende Folgen genossen
werden. Während wir sonst die Gegenstände darauf hin betrachten,
was sie unseren Interessen bieten und welche Stellung sie im aktiven
Verbände aller Dinge besitzen, wird im ästhetischen Leben von dieser
doppelten Wirkung abgesehen. Es kommt weder in Betracht, was die
Dinge für uns, noch was sie untereinander erwirken. Ihre Wirklichkeit
verschwindet, und der schöne Schein tritt in seine Rechte. Den vom
Scheinhaften ausgehenden seelischen Erregungen fehlen Momente, die
sonst im Bewußtsein da sind, namentlich die Beziehungen auf Willens-
handlungen entfallen. Es muß also in der Seele des Genießenden das
Gefühl entstehen, als habe er es mit etwas zu tun, was weniger ist
als die Wirklichkeit. Dieses Unterhalb der Realität, wenn wir die seelische
Erfahrung so bezeichnen dürfen, wird mit der Beziehung auf eine Schein-
welt recht glücklich umschrieben; auch läßt sich allenfalls begreifen,
daß aus dem Unterhalb für unser Urteil ein Oberhalb wird, daß wir
72 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
die durch Abzug entstandene Welt des Scheins als eine der Realität
überlegene Welt des Idealen lieben.
Vielleicht aber gestaltet sich die Theorie noch einleuchtender, wenn
die Schelnlehre In einen ästhetischen Sensualismus übergeführt wird.
Die Vertreter der Scheinlehre pflegen neben der Unabhängigkeit des
ästhetischen Verhaltens die Wichtigkeit der Wahrnehmung zu betonen,
sie verlangen nicht nur, daß die ästhetische Tätigkeit Selbstzweck sei,
sondern auch daß der Gegenstand durch sich selbst Wohlgefallen err^e
und seine Bedeutung In der Welse ausdrücke, daß sie durch die Wahr-
nehmung als solche erfaßt werden kann. Von hier aus läßt sich eine
Erklärung entwickeln, die neuerdings namentlich durch den Kunstkenner
Fiedler und den Bildhauer Hlldebrand gefördert worden ist
Ich würde etwa von einer Überlegung ausgehen, die Descartes in
seinen »Betrachtungen« angestellt hat. Ein Stück Wachs ändert sich
durch Erwärmung In Form, Farbe, Geruch; dennoch bleibt es dasselbe
Ding. Also kann seine Dinglichkeit, die das Bleibende an ihm ausmacht,
nicht zu dem gehören, was mit den Sinnen erfaßt wird: die Realität
hangt nicht vom Anschaulichen, sondern vom Denken ab und zwar von
einem auf Grund der Sinneseindrücke gefällten Urteil. Wo wir lediglich
die Sinneswahrnehmungen walten lassen, da haben wir auch nicht das
Gefühl einer unabhängigen, objektiven Gegebenheit; dies ist der Fall
im Ästhetischen. — Eine andere Ableitung. Des Menschen äußere
Welt kann als ein unbestimmtes Etwas angesetzt werden, aus dem die
Sinne und der Verstand Verschiedenartiges auswählen oder das sie
unter dem Anschein einer Auslese verschiedenartig gestalten. Nun
weiß jedermann, daß die Wahrnehmungen immer in einer Unsicherheit
verharren, und noch mehr die hin und her schwankenden, nie faßbaren
Erinnerungsvorstellungen. Wir verfestigen diese beiden Arten der An-
schauung, indem wir sie in den Aggregatzustand der B^ffe hinüber-
leiten. Dieser zuerst von Sokrates aufgezeigte Weg, aus der Unbe-
stimmtheit zur Bestimmtheit zu gelangen, hat aber den Nachteil, daß
dabei alles Anschauliche verloren geht. Der Begriff liegt nicht in der
Verlängerung der Anschauung, sondern bedeutet einen ganz anders
gearteten Wirklichkeitsbesitz. Wir gewinnen die Sicherheit des B^jiff-
lichen bloß durch den Verzicht auf das Anschauliche. Es fragt sich
also, ob nicht das Anschauliche selber zu jener Klarheit und Ruhe
emporgehoben werden kann, die ihm im Leben abgeht Der Sensua-
lismus bejaht die Frage eben mit dem Hinweis auf die Künste. Sie
sind es, die das Vergängliche der Anschauung befestigen, halten, was
flieht, unsterblich machen, was vergeht und allem Angenehmen, was
mit der Anschauung verknüpft ist, Dauerhaftigkeit verieihen. Was leistet
die Malerei? Aus den Forderungen des Auges entstanden, hat sie ledig-
DER OBJEKTIVISMUS. 73
lieh die Aufgabe, den unbestimmten Formen- und Farbeneindrücken
der Wirklichkeit zu einer geschlossenen und festen Existenz zu ver-
helfen. Um Fiedlers Worte zu gebrauchen: der bildende Künstler hat
»die uns versagte Fähigkeit, den Vorgang der Wahrnehmung durch
das Auge nach Seite des sichtbaren Ausdrucks einer selbständigen Ent-
wicklung zuzuführen.« (Schriften über Kunst 1896, S. 2Q0.) Wenn der
Bildhauer einen Menschen in Marmor nachbildet, so entnimmt er aus
der komplexen Beschaffenheit seines Modells nur die Form und aus
dem Material nur, was für die sichere Entwicklung des Oesichtsbildes
in Betracht kommt.
Mit einiger Abweichung läßt sich diese Theorie auch auf die Musik
als auf eine Entfaltung des Hörvorganges übertragen. Bei der Anwen-
dung auf die sehr zusammengesetzte Kunst der Poesie ergeben sich
freilich Schwierigkeiten. Bleiben wir daher mit unseren Beispielen lieber
im Gebiet der bildenden Kunst. Hier soll die vom Künstler vollzogene
selbständige Entwicklung der sichtbaren Welt vornehmlich darin be-
stehen, daß unsere Raumanschauung gefördert wird. Jedes Werk der
bildenden Kunst muß eine Raumeinheit darstellen, etwa in dem Sinne,
wie entfernte G^enstände als Raumeinheiten wahrgenommen werden.
Der Maler muß einen Ausschnitt aus seinem Sehfeld gleichsam mit
einem Rahmen umgeben und mit einem räumlichen Mittelpunkt ver-
sehen, und er darf femer die Farben darin nicht als getrennte Flecken,
sondern muß sie als zusammenklingende Werte schauen. Eine Synthese
des räumlichen und farbigen Eindrucks, wie sie in der Wahrnehmung
entfernter G^enstände und bei der Erinnerungsvorstellung b^nnt,
kennzeichnet das Gemälde und seine ästhetische Auffassung. Wie der
begrifflich Denkende aus den ständig wechselnden Daseinsformen der
Wirklichkeit durch Abstraktion eine Denkform gewinnt, so entnimmt
der Künstler das Anschaulich-allgemeine als Kunstform aus den unruhig
wechselnden und weder in Wahrnehmung noch Erinnerung festzu-
haltenden Erscheinungen. Er benutzt die ihm von der Natur gelieferten
Wirkungsakzente, sofern sie nur das räumliche Wesen einer Form ener-
gisch zum Ausdruck bringen. Anderseits verwertet er auch die Be-
schränktheit seines Materials, z. B. den flächenhaften Charakter der
Leinwand oder die tote Beschaffenheit des Marmors, um aus dieser
b^renzten Eigentümlichkeit seines Mittels die Vorstellungen des Raumes
oder der Bew^^ung hervorzuzaubern. Durch die Umbildung der Natur
und durch die scheinbare Unzulänglichkeit der künstlerischen Technik
gewährt er eine uns sonst versagte unmittelbare Erkenntnis des Sicht-
baren*).
Fragen wir nach der Berechtigung dieses Prinzips, so bemerken
wir zunächst, daß es sich leicht einer heute vielfach anerkannten er-
74 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
kenntnistheoretischen Grundüberzeugung einfügt Das Problem von
dem Verhältnis des Ich zur Außenwelt wird meist dahin aufgelöst, daß
man sagt: wir erleben die Dinge nicht als Objekte, denen Vorstellungen
entsprechen, sondern der gehörte Ton beispielsweise ist zugleich phy-
sisch sowie psychisch. Auch wird nicht etwa der Bewußtseinsinhalt
zunächst als etwas Subjektives, sondern ununterschieden hiervon als
greifbare Wirklichkeit erfahren. Diese Identität im Vorstellungsobjekt,
die ursprüngliche Einheit des Fremden und Eigenen in der Wahrneh-
mung, weist darauf hin, welche große Rolle im Ästhetischen der Sinnes-
wahmehmung zufällt Ein weiterer Vorzug dieser Theorie liegt in ihrer
Übereinstimmung mit den Ansichten, die die Künstler selbst von ihrer
Fähigkeit und ihrer Aufgabe besitzen. So sagte einmal Thdophile
Gautier: ^Critiques et louanges me louent et nCabiment sans comprendre
un mot de ce que je suis. Toute ma valeur, äs n'ont Jamals padi de
cela, ifest que je suis un homme pour qui le monde visible existe.^
Vor allem behaupten alle Maler, daß sie nur besser sehen als wir
übrigen und das mit den Augen Erkannte in der Form wiedergd)en,
die seinem Wesen entspricht Zugleich gestehen sie damit zu, wie
weit auch die beste Kunstleistung von der Fülle der Wirldichkdt über-
troffen wird. Sie erkennen die Richtigkeit der Einwände an, die geg^xi
den Naturalismus zu erheben sind, und übernehmen doch vom Naturalis-
mus das intensive Empfinden für den Wert der Realität.
Unzweifelhaft besitzt der künstlerische Mensch ein leidenschaftliches
Streben zur Wirklichkeit hin. Anderseits jedoch lebt in ihm auch eine
Sehnsucht nach dem Unwirklichen. Ein neuerer französischer Mala*
hat einmal gesagt: ^Mon idial est de poetiser la nature en nCen rap-
prochant le plus possible< , und ein französischer Dichter erklärt als den
kennzeichnenden Zug des Künstlers ^de joindre ä radoration de la
nature, source intarissable d" Images, un secretmepris deFetre^*). Logisch
genommen scheint die Forderung unerfüllbar, daß der Künstler der
Wirklichkeit treu und zugleich untreu sein solL Er soll dienen und
herrschen, sich hingeben und sich loslösen. Aber dieser logische Wider-
spruch ist dennoch der genaueste in B^riffen mögliche Ausdruck für
den verwickelten Sachverhalt Wie in jedem i>ersönlichen LAea die
beiden Tendenzen, sich an die Gesellschaft anzuschließen und sich von
ihr zu befreien, Hand in Hand gehen, so kann auch das Wesen der
Kunst nicht damit erschöpfend bezeichnet werden, daß man es natura-
listisch deutet, sondern man muß die Oberwindung der Wirklichkeit als
einen Orundzug der Kunst anerkennen. Diese Überwindung aber be-
wegt sich nach zwei Richtungen: sie macht die Kunst zu einem Mehr
und gleichzeitig zu einem Weniger als die Natur. Indem die Kunst
zum wahrhaft Wahren vordringt und dabei von allem absieht, was nicht
DER SUBJEKTIVISMUS. 75
scheinhaft oder anschaulich ist, erhalten wir durch sie Vorstellungen,
deren Beschaffenheit uns ganz unabhängig von ihrer sonstigen Bedeu-
tung gefangen nimmt und erquickt Kunst zeigt uns das verborgene
Wesen von Welt und Leben und zugleich die zum Genuß zubereitete
Oberfläche der Dinge, den auf Grund des Sinnlichen zu gewinnenden
rein seelischen Genußwert der Objekte. Sie bedeutet eine Erhebung
über die Natur und zugleich die Erziehung und Vollendung der Sinn-
lichkeit. Durch Verbildlichung befreit sie uns von der Umgebung und
beläßt uns dennoch in ihr.
Sonach ist die Kunst etwas qualitativ ganz Eigenartiges. Dennoch
läßt sie sich, da sie zur Wirklichkeit in einem Plus- und in einem Minus-
verhältnis steht, von dieser Seite her als ein Intensitätsphänomen auf-
fassen. Einerseits nämlich besagt sie die Schaffung bloßer Möglich-
keiten, die hinter der gegebenen Erfahrungswirklichkeit zurückbleiben,
anderseits enthält sie eine anschauliche Notwendigkeit, die über alle
Realität hinausgeht. Sie bietet Möglichkeit und Notwendigkeit in wun-
dervollem Ausgleich. Bei einem Landschaftsgemälde fragen wir nicht,
ob es einem Naturvorbild treulich entspricht, ja wir lassen uns Formen
und Farben gefallen, die in der Natur ganz sicher niemals vorkommen.
Dafür verlangen wir aber, daß im Gemälde eine Notwendigkeit sich
ausdrückt, die mit solcher Deutlichkeit in den zufälligen Erscheinungen
der Erfahrungswelt nicht vorkommt. Künstlerische Idealisierung besteht
sowohl im Hinabtauchen zum Möglichen als auch im Hinaufsteigen
zum Unbedingten. Nun ist jedes bloß Mögliche im Verhältnis zum
Seienden eine Intensitätsherabsetzung, jedes Notwendige eine Intensitäts-
steigerung. Die Möglichkeit ist schwächer, die Notwendigkeit stärker
als die Wirklichkeit. Indem die Kunst nach beiden Modalitätsrichtungen
hin sich vom schlechthin Seienden abhebt, kann sie als ein Intensitäts-
phänomen betrachtet werden.
2. Der Subjektivismus.
Unter ästhetischem Subjektivismus verstehen wir den Inb^^ff der-
jenigen Prinzipien, die mit einer allgemeinen Charakteristik des ästhe-
tischen Verhaltens das Rätsel des Schönen zu lösen streben. Viele
davon sind den objektivistischen Theorien aufs engste verwandt, einige
— wie die Einfühlungslehre — stehen selbständig da; hat ja auch der
Naturalismus kein Gegenstück auf der anderen Seite. Immerhin: was
wir bisher besprochen haben, muß als bekannt vorausgesetzt werden,
da der zurückgelegte Teil und der vor uns li^ende Teil des W^es
in den Hauptpartien zusammengehören.
76 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Das Prinzip des »Scheins« nimmt sehr leicht eine subjektivistische
Wendung. Die Frage lautet alsdann: Worin besteht die Eigentümlich-
keit der Bewußtseinsprozesse, die durch den Schein ausgelöst werden?
Offenbar in dem Freisein von allen heftigen Willenserregungen. Man
hat deshalb von interesselosem Wohlgefallen und von willensfreier Be-
trachtung gesprochen und hiermit das Verhältnis des ästhetischen Zu-
standes zu anderen Seelenverfassungen angedeutet Die Bezeichnung
des interesselosen Wohlgefallens dient in einer Beziehung dazu, den
ästhetischen Genuß von dem sinnlichen zu trennen. Die Gegenstände
des sinnlichen Genusses, so lehrt man, erwecken die Begierde nach
ihrem Besitz, während ästhetische Gegenstände ohne einen solchen
Wunsch betrachtet werden. Das ist im großen ganzen richtig, aber
vielleicht einfacher zu deuten als gemeinhin geschieht. Der Grund
dürfte doch wohl der sein, daß die bloß angenehmen Objekte eben
nicht anders als durch Besitzergreifung genossen werden können. Bei
dem oft gebrauchten Beispiel der wohlschmeckenden Speise überblickt
es jeder sofort. Indessen es gilt auch von einem der Haut wohltuenden
Kleidungsstoff und von den Annehmlichkeiten eines Landhauses, die
ich nur als Besitzer wirklich auskosten kann. Demnach würde die
Interesselosigkeit sich nicht auf das Spezifische des ästhetischen Ge-
nusses beziehen, sondern auf die Bedingung seines Auftretens, nämlich
darauf, daß er auch ohne Besitz des Objektes in voller Stärke sich ein-
stellen kann.
In einem anderen Sinne wird »Interesse haben« gleichgesetzt mit
»Beziehung auf den Willen haben«. Alsdann lassen sich die ästhetischen
Gefühle dahin kennzeichnen: sie stören nicht im geringsten die Freiheit
des Subjektes und beeinflussen sein Handeln wenigstens unmittelbar
niemals. Da sie fernerhin jenes Zusammenhangs mit ihren Objekten
entbehren, der beim »realen« Genüsse vorliegt, so sind sie gleichsam
auf sich selbst beschränkt. Die ätiologische Erklärung billigt daher den
ästhetischen Gefühlen eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber der
Außenwelt zu. So verwies Dubos auf das Beschäftigungsbedfirfnis
des Menschen; und im Grunde hat bereits Aristoteles, als er von der
Betätigung einer Anlage sprach und das Ausklingenlassen der Affekte
ohne böse Folgen von der Tragödie verlangte, den ästhetischen Seelen-
vorgang als die Freude an der Funktion selber bezeichnet Denn dies
würde sich doch wohl aus dem Freisein von Willensvorgängen einer-
seits, von der Bindung an Wirklichkeit anderseits als gemeinsames Er-
gebnis herausstellen: Im ästhetischen Genießen freut sich die Seele an
dem Ablauf ihrer Prozesse. Die Scheinwelt hat nur die Bedeutung,
seelisches Funktionieren auszulösen, und sie ist um so schöner, je ener-
gischer sie dies zu leisten vermag.
DER SUBJEKTIVISMUS. ^^
In dem, was wir eben erörtert haben, ist eine größere Anzahl
von Theorien zusammengefaßt*). Die nun folgende Lehre von den
Scheingefühlen verdanken wir in der Hauptsache J. v. Kirchmann und
E. V. Hartmann. Ausgehend von der Tatsache, daß ästhetische Eindrucke
sehr schnell verdrängt werden können, haben diese Forscher den in
ihnen enthaltenen Gefühlen eine geringere Intensität als den realen Ge-
fühlen zugesprochen. Das geringe Beharrungsvermögen der idealen
Gefühle läßt sie als schwächer erscheinen als die entsprechenden realen
Gefühle. Somit wäre der Unterschied der ästhetischen und der übrigen
Gefühle hauptsächlich ein quantitativer. Andere Denker haben das be-
zweifelt. Denn daß ästhetische Erregungen, die den ganzen Menschen
aufs tiefste erschüttern, eine geringe Intensität besitzen sollen, wäre nur
dann zuzugeben, wenn jede andere Erklärungsmöglichkeit für die zum
Ausgang genommene Tatsache fehlen sollte. Es ist freilich bequem,
einen nicht leicht definierbaren Unterschied der Qualität als einen Unter-
schied der Quantität auszugeben. Hat man es so doch auch mit den
Wahrnehmungen und den Erinnerungsbildern gemacht, indem man
annahm, diese seien Reproduktionen von jenen, nur außerordentlich
viel schwächer. Die unleugbare Flüchtigkeit der ästhetischen Gefühle
kann aber auch darin zu suchen sein, daß sie wesentlich an Eindrücke
der höheren Sinne gebunden und an deren Beweglichkeit angenähert
sind. Femer mögen die zu Grunde liegenden Vorstellungen ihren Anteil
an der schnellen Vergänglichkeit und leichten Wiederholbarkeit besitzen:
sie sind ja eine Einheit in sich und der sofortigen Vernichtung durch
neu einstürmende Lebenseindrücke ausgesetzt Die »realenc Gefühle
entstehen nämlich aus Vorgängen, die im Ganzen des Lebenszusammen-
hangs sich ereignen, während die »idealen« eine Welt für sich bilden;
der Unterschied in der Dauerhaftigkeit erklärt sich demnach nicht aus
einer besonderen Beschaffenheit der Gefühle, sondern aus dem Zwang
der Lebensbedingungen, also aus begleitenden Umständen. Gewiß ist
es auffällig, wie nach den letzten Worten einer Tragödie oder nach
den letzten Klängen einer Symphonie alle Welt zur Garderobe drängt
und miteinander schwatzt und streitet Darin sehen wir jedoch keinen
Grund zu der Annahme von Scheingefühlen, sondern lediglich den Aus-
druck dafür, daß jene Gefühle aus besonderem Anlaß und losgelöst
aus der Kontinuität unseres Eriebens aufgetreten sind.
Eine weitere übliche Bestimmung der subjektiven Vorgänge, die dem
objektiven Schein entsprechen, mündet in die Behauptung: jedes Schein-
gefühl sei ein Gegenstück zu einem realen Gefühl. Schon ältere Ästhe-
tiker meinten, daß in der Seele zwei Reihen parallel laufen, vergleichbar
der primären und sekundären Reihe, die Fichtes Wissenschaftslehre
der Erfahrung zu Grunde 1^. In unseren Tagen ist eine ähnliche
78 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Ansicht wieder aufgetaucht: Meinong hat sie ausführlich begründet.
Sie geht — nach Witaseks Darstellung — davon aus, daß die Gesamt-
heit der psychischen Tatsachen in zwei Hälften zerfalle. Jeder Vorgang
in der einen Hälfte besitzt sein Spiegelbild in der anderen Hälfte. Der
Wahrnehmung entspricht die Phantasievorstellung, dem Urteil die An-
nahme, dem realen Gefühl das ideale Gefühl, dem ernsthaften Begehren
ein Phantasiebegehren. Von allen diesen sekundären seelischen Tat-
beständen ist die Phantasievorstellung am besten bekannt. Behauptet
wird nun, daß ähnlich so wie sie auch die Annahme aufzufassen sei,
d. h. als etwas dem Urteil Gegenüberstehendes, das den gleichen In-
halt mit dem Urteil haben kann. »Die Annahme ist ein psychischer
Tatbestand, der in allem Wesentlichen dem Urteil gleicht, nur daß er
die Überzeugung des Subjekts gänzlich unberührt läßt und außerhalb
des Gebietes von allem Glauben und Wissen liegt, also kein wirkliches,
sondern nur ein gleichsam phantasiertes Urteil darstellt.« (Witasek, All-
gemeine Ästhetik, S. 111/2.) Die an Annahmen angeschlossenen ästhe-
tischen Gefühle, d. h. Scheingefühle, sollen sich, was das Fühlen be-
trifft, von den übrigen Gefühlen kaum unterscheiden, höchstens vielleicht
durch geringe Stärke. Die Hauptdifferenz liegt vielmehr in der Voraus-
setzung; und diese ist eben eine bloße Annahme oder Fiktion. Nur
insoweit das Fühlen von seinem Antezedens den Unterschied des Pri-
mären und Sekundären übernimmt, kann man von Wirklichkeitsgefühlen
und Scheingefühlen oder von Ernst- und Phantasiegefühlen sprechen.
Übrigens sind sich die Vertreter dieser Modifikation der Scheinlehre
nicht ganz einig. Die einen lassen die Scheingefühle nur durch die
Art der Voraussetzung zu Scheingefühlen werden, die anderen glauben
auch in dem emotionalen Faktor eine Differenz annehmen zu dürfen.
Ich würde der letzteren Theorie den Vorzug geben, wenn ich mich
überhaupt zur Anerkennung der ganzen Konstruktion entschließen
könnte. Denn sicherlich reihen sich auch an Urteile Phantasiegefühle
an und nicht nur an Annahmen. Wenn es also eine besondere Gruppe
von Phantasiegefühlen gibt, die die wirklichen mit leiserem Nachklange
wiederholen, so sind sie wohl in sich schon etwas Besonderes und
nicht lediglich durch den intellektuellen Tatbestand, der ihnen voraus-
geht. Auch der Fall ist nicht selten, daß auf Annahmen wirkliche
Gefühle von größter Intensität gestützt werden. Die Lust oder Unlust,
die auf einer bloßen Fiktion beruht, kann den ganzen Menschen mit-
reißen und braucht nicht in der Sphäre des Phantastischen, Vergäng-
lichen, Flüchtigen zu verbleiben. Dafür, daß im rein emotionalen Moment
Unterschiede vorliegen, spricht die von anderer Seite mit Recht ange-
zogene Tatsache, daß wir in einem gewissen Gefühlszustand nur sehr
schwer ein entgegengesetztes Phantasiegefühl aktualisieren, während
DER SUBJEKTIVISMUS. 79
wir bei einem Urteile die entgegengesetzte Annahme sehr leicht zu stände
bringen. Es ist das Phantasiegefühl doch soweit echtes Gefühl, daß es
sich mit einem entgegenstehenden anderen Gefühl bei Gleichzeitigkeit
oder sehr schneller Aufeinanderfolge nicht verträgt. Aber ob der Unter-
bau der ganzen Theorie ganz fest steht? Für die Selbstbeobachtung
zeigt sich zwischen Urteil und Annahme keine so deutliche Differenz,
wie zwischen Wahmehmungs- und Phantasievorstellungen. In einer
bestimmten erkenntnistheoretischen Überzeugung kann man zwar von
Urteilen und Annahmen als von Gegensätzen sprechen, aber schweriich,
sobald man in den Grenzen der inneren Erfahrung bleibt. Das Urteil
»dieser Gegenstand ist grün« und die Annahme »gesetzt dieser Gegen-
stand sei grün« bieten für den psychologischen Befund keinen nach-
weisbaren Unterschied. Für das Verhältnis des Denkens zur Außenwelt
ist freilich das erste etwas anderes als das zweite, für die Beschaffenheit
des Bewußtseinsvorganges aber gibt es hier keine scharfe Grenze.
Mir scheint, daß vom Prinzip des Sensualismus aus der Schein-
theorie eine bessere, weil mit dem inneren Befund übereinstimmende
Begründung gegeben werden kann. Erinnern wir uns daran, daß die
Kunstwerke fast immer nur für einen Sinn, selten für mehrere bestimmt
sind. Wirklich hingegen heißt, was wirkt, und das Wirken geht auf
die ganze Empfänglichkeit des Menschen. Die Rose ist wirklich, weil
sie einer Vielheit von Sinnen zugänglich ist, weil sie gesehen, getastet,
gerochen und geschmeckt werden kann. Eine gemalte Rose hingegen
existiert nur für den Gesichtssinn. Eben dadurch verliert sie den
Wirklichkeitscharakter. Schein nennen wir alles, was durch andere
Sinne nicht nachzuprüfen ist. Schein ist die plötzlich auftauchende
Gestalt eines Gespenstes; denn wir sehen sie nur und fühlen sie nicht;
wir erblicken ihren gleitenden Schritt und hören ihn nicht; wir schauen
die Bewegung und spüren nicht den leisesten Windhauch. Es hat
demnach einen psychologisch begreiflichen Sinn, die Musik eine Schein-
kunst zu nennen, denn sie ist nur für das Hören und allenfalls für
die Mitbewegung da. — Kurz zusammengefaßt: die Einsinnigkeit jeder
Kunstart sichert ihr den Scheincharakter. Ähnlich so wie die Funktion
eines gesonderten Sinnes sich zum Zusammenwirken mehrerer Sinne
verhält, so wie Schein zur Wirklichkeit steht, so wie das Spiegelbild
dem gespiegelten Gegenstande gleicht, ähnlich so, sage ich, verhält sich
die Phantasievorstellung zu der ihr entsprechenden Wahrnehmung. Die
Wahrnehmung besitzt eine Fülle, die der Phantasievorstellung abgeht.
Wenn ich an einen Menschen denke, sehe ich etwa einen Teil seines
Gesichtes oder im nächsten Augenblick eine ihn charakterisierende
Körperbewegung. Aber ich erblicke innerlich nichts von seiner Um-
gebung, die in der Wirklichkeit doch stets zugleich mit dem Menschen
80 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
wahrgenommen wird, und ich höre nicht den Klang seiner Stimme.
Auch eine Phantasievorstellung von nicht mißzudeutender Schärfe
bleibt doch viel einseitiger, beschränkter, ärmer als eine verhältnismäßig
undeutliche Wahrnehmung. Gesetzt, ich beabsichtigte, etwas vregzu-
legen, so stelle ich mir nur die Armbewegung vor, aber nicht die kleinen
Unterstützungsbewegungen, die bei wirklicher Ausführung im ganzen
Leibe vor sich gehen. Nicht selten bildet man sich früh im Halbschlaf
ein, daß man nach der Uhr gesehen habe. Tut man es nun beim Er-
wachen wirklich, so bemerkt man, daß man vorher die Zeiger zu sehen
vermeint hatte, ohne das Ticken der Uhr zu hören, daß man nach der
Uhr zu greifen glaubte, ohne den Oberkörper zu erheben, mit einem
Wort, daß die bloße Vorstellung wenn nicht schwächer, so doch
sicherlich unvollständiger gewesen war als die Wahrnehmung. Daher
besitzen Phantasiebilder in vielen Fällen mehr Reiz und Verführungs-
kraft. Denn in ihnen fallen alle Unbequemlichkeiten der Realität fort.
Diese eigentümliche Lustqualität macht die Wohlgefälligkeit des Schein-
haften zum großen Teil verständlich.
Wir haben schließlich noch jener neuerdings durchgeführten Modifi-
kation der Scheinlehre zu gedenken, die sich selbst als Illusions-
ästhetik bezeichnet. Ihr zufolge kommt alles auf den seelischen Zu-
stand bei der Aufnahme an, und zwar bestehe dieser in einer bewußten
Selbsttäuschung, in einer fortgesetzten und absichtlichen Vertauschung
von Wirklichkeit und Schein. Der ästhetische Genuß soll ein freies
und bewußtes Schweben zwischen Realität und Irrealität sein, oder auch
anders ausgedrückt: der nie gelingende Versuch der Verschmelzung
von Original und Kopie. Das Vergnügen an einer guten graphischen
Darstellung einer Kugel würde darauf beruhen, daß der Betrachter bald
eine wirkliche Kugel zu sehen meint, bald darüber sich klar ist, daß
er nur eine Flächenzeichnung betrachtet. Das Schaukelspiel geht also
zwischen Urteilen hin und her, zwischen zwei gleich echten Ober-
zeugungen, nicht etwa zwischen einem Urteil und einer bloßen Annahme.
Was nun das Oszillieren anlangt, so scheint mir, daß der Genießende
von einem solchen Hin- und Herpendeln nichts bemerkt und daß, wo
es wirklich als Bewußtseinsinhalt nachweisbar ist — wie bei der Un-
entschlossenheit — , es nicht angenehm zu sein pflegt. Tatsächlich
glaubt der Betrachter eines Porträts auch nicht für einen Augenblick,
daß er den lebendigen Menschen vor sich sehe. Soll dennoch von
einer Illusion gesprochen werden können, so wäre sie keine andere
als die so häufige, mit der wir unter etwas Uneigentlichem etwas
Eigentliches verstehen. Wenn man gesagt hat, ein Bild bestehe eigentlich
nur aus Ölflecken, und diese Wirklichkeit werde durch bewußte Selbst-
täuschung zu der Illusion einer Landschaft umgewandelt, so kann man
DER SUBJEKTIVISMUS. 81
doch auch mit gleichem Recht behaupten, daß der Leser jetzt nur ge-
druckte Buchstaben sehe, aber sich der Täuschung hingebe, Worte
und Gedanken zu bemerken. Der Hauptvertreter dieser Theorie meint,
im Theater wüßten wir wohl, daß der Schauspieler N. N. auf der Buhne
spräche, aber wir vergäßen es absichtlich, um an seine Stelle eine
dichterische Figur zu setzen. Verhält es sich nicht ähnlich so, wenn
der Student vergißt, daß der Professor N. N. zu ihm spricht, und die
Gedanken rein als solche aufnimmt? So gut, wie wir manchmal aus
der ästhetischen Illusion heraustreten können, treten wir überhaupt aus
Illusionen heraus. In der Ermüdung beim Lesen apperzipieren wir
schließlich nur Worte, beim Korrigieren sogar nur Lettern. Es fragt
sich also, ob nicht das Verhältnis des Eigentlichen zum Uneigentlichen,
des Repräsentierenden und des Repräsentierten auch den Sonderfall
der ästhetischen Illusion einschließt.
Eine Entscheidung hierüber drängt nicht Denn vielleicht sind wir
selbst bei jener allgemeinsten und farblosesten Sonderung des Schein-
haften vom Wirklichen noch immer auf falscher Fährte. Die Trennung
zwischen Sein und Schein ist möglicherweise gerade bei unserem
Gegenstand nicht berechtigt; gerade das ästhetische Leben mag sich
in einer Sphäre abspielen, die diesen Dualismus nicht kennt Der
Gegensatz von Ja und Nein, von Wahrheit und Unwahrheit, von Wirklich-
keit und NichtWirklichkeit gehört in die Urteilssphäre, aber nicht in
den logisch indifferenten Zustand des ästhetischen Genusses. Dieser
Auffassung gemäß ist eben das Schöne fähig, einen Zusammenklang
der seelischen Kräfte untereinander und mit der Außenwelt herzustellen.
Erst wenn der Mensch vom Baum der Erkenntnis gekostet hat, dann
tritt der Zwiespalt ein zwischen Innen und Außen. Das künstlerische
Genie aber ist gleich dem Kinde noch im Stande der Unschuld: es
führt uns wieder zu der Einheit, die wir verloren haben, und läßt uns
mit Goethe bekennen:
»Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen.c
(Epirrhema, in »Gott und Welt«.)
Indem das »Außen« mit der Natur, das »Innen« mit dem Geiste
gleichgesetzt wird, leuchtet nunmehr Fichtes Satz ein: »Die Kunst
macht den transzendentalen Standpunkt zum gemeinen.« Deutlicher
nämlich läßt er sich dahin aussprechen, daß das Identitätsbewußtsein
der Metaphysik unwillkürlich und anschaulich im Künstlerischen sich
darstelle. In der Tat stimmen Künstler und idealistische Metaphysiker
in dem Gefühl überein, daß Geist und Natur eins ist Die spekulative
Philosophie stellt über allen Teilbetätigungen des Menschen eine Ein-
Dessoir, Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft. 6
82 II- DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
heit her, die der Kunstler gleich dem Kind und dem Naturmenschen
von vornherein hat, da er noch nicht differenziert ist Durch das
gleiche Identitätsstreben sind Kunst und Metaphysik formal miteinander
verwandt Aber indem man den Künstler zum Metaphysiker machte,
b^ng man denselben Fehler wie Friedrich Schlegel, der den Tiefsinn
der Sprachwurzeln und primitiven Gebräuche durch ein Wunder er-
klären wollte. Weder hat die Menschheit mit einem Zustand der Voll-
kommenheit ihr Dasein begonnen, noch ist der Künstler vom Onaden-
schein offenbarter Weisheit becf^^ahlt Vielmehr ist bei beiden noch
nicht jene Zeriegung eingetreten, deren Zusammenschluß späterhin als
neue Aufgabe auftritt.
Auch die sogenannte Gefühlsästhetik läßt sich von hier aus
verstehen und vertiefen. Man muß sich freilich den folgenden Tat-
bestand vergegenwärtigen. So oft Gefühle als das Zentrum des ästhe-
tischen Lebens behauptet werden, handelt es sich nicht nur um den
G^ensatz von Lust und Unlust, sondern darum, daß das Gefühl als
die fruchtbare Anlage erscheint, aus der sich die übrigen Äußerungen
unseres seelischen Wesens erheben. Es scheint keine seelische Fähig-
keit zu geben, die nicht ins Gefühlsmäßige ausstrahlen, und keine, die
nicht vom Gefühlsmäßigen ausgehen kann. Zwischen dem zentripetalen
Erkennen und dem zentrifugalen Wollen steht das zentrale Fühlen in
der beherrschenden Mitte. Daher soll die ganze Summe unseres
geistigen Wesens im Gefühl, also auch nach dieser Theorie im Ästhe^
tischen befaßt sein. Der ungeheure Gegensatz, in dem das ästhetische
Dasein zum wissenschaftlichen und praktischen Dasein sich befindet,
wird ausgedrückt durch den Versuch, die Gesamtheit der ästhetischen
Vorgänge auf Gefühlen aufzubauen. Wie das Urteil — nach alter Lehre
ein Mittleres zwischen Begriff und Schluß und zugleich eine vis aesti-
mativa — den Herzpunkt der Logik bildet, so das Gefühl — nach
alter Lehre ein Mittleres zwischen Verstand und Wille und zugleich
eine vis aestimativa — den Herzpunkt der Ästhetik.
Doch würde dies alles zur Rechtfertigung einer Gefühlsästhetik
kaum ausreichen, wenn das Gefühl bloß subjektiver Zustand wäre.
Das Gefühl hat aber seinen Gegenstand in sich, allerdings in anderer
Weise, als die Wahrnehmung ihren Gegenstand in sich hat Für das
unmittelbare Erieben gilt das Gefühl nicht als die innere Wahrneh-
mung eines nur persönlichen Befindens, sondern es wird so lebhaft
und sicher auf Objekte bezogen, daß in einer unbefangenen Philo-
sophie regelmäßig Gefühlsqualitäten den Gegenständen, ja sogar den
Dingen an sich beigel^ werden. So geschah es selbst bei den
griechischen Skeptikern. Mit dem Gefühl ist fürs Erleben das Be-
wußtsein verbunden, daß hier die Seele völlig sich verschmilzt mit
DER SUBJEKTIVISMUS. 83
einem äußeren Objekt; und gerade dies Verschmolzensein hatten wir
vorher als ein Kennzeichen des ästhetischen Zustandes herausgefunden.
Vorausgesetzt, daß künstlerisches Leben in der Vereinheitlichung wur-
zelt, so li^ es auch im Gefühl beschlossen, da dieses sowohl eine
Vereinheitlichung aller sonst in der Auffassung getrennten seelischen
Erscheinungen als auch des Subjektes mit dem Objekt bedeutet
Von der ästhetischen Identitätstheorie ist nur noch ein Schritt zum
Prinzip der Einfühlung. Wir wollen versuchen, ihn mit Hilfe
spekulativer Philosopheme zu vollziehen. Die Urtatsache unseres
Wesens, die immer ein Rätsel bleiben wird, ist das Selbstbewußtsein.
Indem wir uns beobachten, spalten wir unsere Ich-Einheit in Subjekt
und Objekt. Wir stellen, wie Fichte sagt, zwei Reihen in uns her,
von denen die eine die Inhalte unseres Bewußtseins, die andere das
Wissen von diesen Inhalten bezeichnet Nehmen wir mit dem deut-
schen Idealismus an, daß die Welt Vernunft ist gleich der in uns, so
kann auch das Erfahrungsding, ja sogar das Ding an sich als zur
primären Reihe gehörig betrachtet werden. Alles, was wir Objekt
nennen, ist aus der ursprünglichen Teilbarkeit des Ich entstanden: es
ist durch jene Urfähigkeit des Ich vom Subjekt abgespalten. Sofern
sich nun der Geist des subjektiven Ursprungs auch der Objekte be-
wußt bleibt, sie als geistbeseelt und lebendig weiß und sich selber in
ihnen wiederfindet, entsteht das Gefühl des Schönen. Wir genießen
ästhetisch durch Einfühlung, d. h. also nach dieser hier nur um-
schatteten metaphysischen Theorie: wir werden uns bewußt, daß auch
die Gegenstände Vorstellungen des Ich sind, von denen das Ich weiß,
weil es Subjekt und Objekt zugleich ist — Diese etwas komplizierte
Rückführung kann indessen durch eine einfachere Oberi^ung ersetzt
werden. Wir brauchen, um der Einfühlungslehre philosophischen Halt
zu geben, uns nur der Weltanschauung des Anthropomorphismus zu
erinnern. Die Welt kann b^^ffen werden, indem wir sie nach uns
selbst deuten, und ihre Schönheit sowie die Schöpfung der Kunst
sind dann der prägnanteste Ausdruck dieser Weltinterpretation. Wie
Narkissos sich im Quell bespiegelt und liebt, so bespiegelt sich das
anthropomorphe Denken in der ganzen Natur. Dieser Narkissos ist
das Vorbild und das Symbol des Künstlers. Denn wo an der äußeren
Welt die menschliche Persönlichkeit zur Selbstempfindung gelangt, da
tritt sie ein in den ästhetischen Zustand. Die Schönheit kommt mehr
von innen heraus als von außen hinein. Wir ergreifen das Schöne
von den Formen unserer Seele aus, durch ihr Leben, Wachsen, Ver-
gehen.
Unabhängig von Identitätsphilosophie und Anthropomorphismus
hat die Einfühlungstheorie sich während der letzten Jahrzehnte ent-
84 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
wickelt Doch der Grundgedanke ist derselbe geblieben: der ästhe-
tische Genuß wird nach wie vor in dem Einklang des Eigenen und
des Fremden gefunden. Sobald ein objektiv Gegebenes uns die Mög-
lichkeit gewährt, uns frei an ihm auszuleben, empfinden wir eine be-
sondere Freude. Wie aber kann uns ein Gegenstand diese Möglich-
keit darbieten? Ältere Ästhetiker antworteten mit bloßen Beschrei-
bungen. Robert Vischer z. B. schildert, wie der Blick mit einer
betrachteten Windung vorwärts gleitet, bald träumerisch zögernd, bald
hastig fortschießend. »Die mit der angeschauten Form zusammen-
hängende Richtung und das Zeitmaß dieser Bewegung bekommen so
den Charakter von menschlichen Intentionen und Wallungen.c (Das
optische Formgefühl, S. 24.) »Die Symbolisierungskraft der Phantasie
braucht nicht einmal durch die äußere Form der Gegenstände sich an
menschliche Gestaltung gemahnen zu lassen. Bloße Töne und Farben
genügen oft, daß eine Stimmung aus ihnen uns entgegenspricht«
»Des Dichters Feinfühligkeit beseelt ein Objekt, wo es auch nur von
fern an Menschliches gemahnt« (Carl du Prel, Psychologie der Lyrik,
1887, S. 88.) Zu einer Erklärung ist, wenigstens in Bezug auf die
Musik, Hermann Lotze fortgeschritten. Die Übertragung seelischer
Vorgänge auf die Klanggebilde wird, wie er richtig bemerkt, durch
mancherlei Eigentümlichkeiten des Klanges erleichtert. Das organische
Wachsen und Vergehen in uns wiederholt sich in den unzähligen
Abstufungen der Intensität, die mit Tönen herzustellen sind. Alle die
Arten des Übergangs von einem Bewußtseinsinhalt zum anderen, alle
Nuancen vom allmählichen Hinübergleiten bis zum Sprung finden sich
in den musikalischen Formen wieder. Der Zeitcharakter des Seelischen
haftet auch den Tönen an. Beiden gemeinsam ist schließlich der Er-
eignischarakter. Wenn demnach Bestimmtheiten des Ich leicht als Be-
stimmtheiten der musikalischen Wirklichkeit auftreten können, so soll
der Genuß eben in dieser Gleichartigkeit und Gleichstimmigkeit zu
finden sein. Die Musik gefällt, weil sie eine Art seelischer Bewe-
gung ist.
Der bedeutendste unter den neueren Vertretern des Einfühlungs-
prinzips, Theodor Lipps, glaubt sogar den aus der Einfühlung stam-
menden Genuß am Rhythmus auf Assoziation der Ähnlichkeit zurQck-
führen zu können. Da im Rhythmus die Gleichartigkeit der Elemente
und der Gruppen den Hörer vorwärtsdrängt, so entspricht der objektive
Verlauf der jedem psychischen Geschehen zukommenden Tendenz, in
gleichartiger Weise fortzugehen. Diese Tendenz, das Gesetz der
Ähnlichkeitsassoziation, wird zu einem Gesetz der psychischen Reso-
nanz des Ähnlichen erweitert. Jede besondere Rhythmik einer psychi-
schen Bewegung sucht die Gesamtheit der Bewußtseinsvorgänge sich
. J
DER SUBJEKTIVISMUS. 85
ZU unterwerfen. Der Charakter des Rhythmus liegt in einer allge-
meinen Freiheit oder Leichtigkeit oder Schwere oder Gebundenheit,
so daß seelische Vorgänge von beliebigem Inhalt, ja alle möglichen
Inhalte zum Mitschwingen gebracht werden können. Indem auf solche
Weise eine Oesamtstimmung der Persönlichkeit entsteht, wird sie doch
auch dem Objekt zugesprochen, weil sie durch den gehörten Rhythmus
aufgenötigt und unmittelbar an ihn gebunden ist*). Die Voraus-
setzung bildet Lippsens Meinung, daß die Aufgabe der Psychologie
darin bestehe, »aus den Bewußtseinsinhalten die [unbewußten] psy-
chischen Vorgänge und ihre Wechselwirkung zu erschließen und so
die Bewußtseinsinhalte verständlich zu machen.«
Die ausführlichsten Untersuchungen besitzen wir Ober das Ver-
hältnis der Einfühlung zu den räumlichen Formen. An dem Beispiel
der für die Betrachtung sich aufrichtenden und zusammenfassenden
dorischen Säule hat Lipps klarzustellen versucht, wie gegebene Raum-
formen zunächst dynamisch, alsdann anthropomorphistisch gedeutet
werden. Wir legen in das geometrische Gebilde nicht nur Kraft-
entwickelung hinein, sondern auch freie Zwecktätigkeit. Indem wir es
im Licht des eigenen Tuns betrachten und demgemäß mit ihm sympa-
thisieren, empfinden wir es als schön. Und genauer: in den bestimm-
ten räumlichen Formen entfalten sich für ein nachfühlendes Verständnis
bestimmte Wirkungsmöglichkeiten. Sobald diese Wirkungsmöglich-
keiten Ideen genannt werden, wird von neuem ersichtlich, daß die
Einfühlungstheorie nicht allzu weit abliegt von den Erklärungsprin-
zipien der metaphysischen Ästhetik. Der Hauptunterschied wäre
schließlich der, daß der empirische Ursprung und die reflexionslose
Beschaffenheit solcher Ideen behauptet wird. Aber ob nun die Ideen,
die z. B. innerhalb der Architektur den Kampf von Kraft und Last,
von Druck und Gegendruck im einzelnen bedeuten, bei Schopenhauer
als platonisch gefaßte Objektivationsstufen des Willens behandelt
werden oder in der gegenwärtigen Ästhetik als Erfahrungen auftreten,
die jedermann besitzt und durch die ihm die Formen sinnvoll er-
scheinen, — in den Grundzügen bleibt doch eine unverkennbare Ver-
wandtschaft.
Noch durch ein anderes Moment wird der Grundsatz der Einfüh-
lung einer früher besprochenen anderen Hypothese angenähert. Die
sympathische Einfühlung, so hören wir, gefällt als ein Akt der Frei-
heit, d. h. als ein sich Entgegenkommen von Subjekt und Objekt.
Objektivität und Aktivität, erfahrenes und eigenes Tun schließen sich
zusammen. In den gegebenen Formen der Architektur eriebe ich mich
als einen leicht Spielenden oder Hemmungen kraftvoll Überwindenden
und hierdurch fühle ich mich beglückt. Dies Glücksgefühl besteht
86 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
also letzten Endes in der Freude an einer seelischen Tätigkeit als
solcher. Das Entgegenkommen des ästhetischen Objekts erleichtert
mir ein befreites und ins Größere gehobenes Seelenleben, Offenbar
ist diese Erklärung jener bereits erörterten verwandt, nach der der
ästhetische Genuß in der Funktionslust zu finden ist. Um einer solchen,
sehr entschiedenen Subjektivierung nicht anheimzufallen, läßt Volkelts
Ästhetik der Einfühlung, die in der Verschmelzung von Gefühl und
Anschauung bestehen soll, auf der gegenständlichen Seite etwas ent-
sprechen, nämlich die Einheit von Gehalt und Form.
War bisher angenommen worden, daß wirkliche Gefühle eingefühlt
werden, so darf nicht verschwiegen werden, daß andere Forscher nur
die anschaulichen Vorstellungen der Gefühle zur Einschmelzung in
das Objekt gelangen lassen'). Der Inhalt einer anschaulichen Vor-
stellung ist ebenso reich an Bestimmungen wie das Gefühl selbst,
dessen Abbild sie ist; aber der Akt des Gefühls geht verloren. Wenn
z. B. die in den ästhetisch erfreuenden Gegenstand eingeschmolzene
Trauer nicht wirkliche Trauer, sondern nur die anschauliche Vorstel-
lung davon ist, so unterscheidet sich ästhetisches Mitfühlen von der
gewöhnlichen Sympathie wie anschauliches vom unanschaulichen Vor-
stellen. Unter der Voraussetzung, daß ästhetisches Verhalten in einem
wirklichen Fühlen besteht, folgt allerdings daraus, daß die Einfühlung
— als bloße Vorstellung von Gefühlen — nicht den Kern des ästhe-
tischen Verhaltens ausmachen kann. Diese Folgerung ergibt sich, wie
wir bald sehen werden, auch aus anderen kritischen Überlegungen.
Die soeben wiedergegebene Begründung unterliegt indessen dem
Zweifel, ob überhaupt anschauliche Vorstellungen von Gefühlen exi-
stieren. Bei den Versuchen, solche Vorstellungen zu beobachten oder
gar zu erzeugen, hat sich mir wenigstens ergeben, daß entweder ein
wirkliches Gefühl wieder eintritt, oder doch etwas, was ich nicht
anders zu bezeichnen wüßte, oder daß es sich um vorgestellte Aus-
drucksformen der Gefühle handelt, oder schließlich um bloße Wort-
vorstellungen. Man kann, wie mir scheint, von der Vorstellung eines
Gefühls nur in dem Sinne sprechen, daß man entweder darunter ver-
steht anschauliche Vorstellungen von Gefühlsäußerungen aller Art oder
begriffliche Umschreibungen der Gefühle selbst. In beiden Fällen wäre
es irreleitend, von einem Vorstellen des Gefühlsmäßigen zu sprechen,
da der eigentliche Inhalt des Gefühls und nicht nur sein Akt dem
Bewußtsein fern bleibt. Alle die Gemeinempfindungen, namentlich
auch die Spannungsempfindungen, die beim Einfühlen auftreten, sind
sehr real und nicht bloß vorgestellt.
Nun zu den anderen Gegengründen. Es unterliegt keinem Zweifel,
daß die Einfühlung für weite Gebiete des Ästhetischen eine entschei-
DER SUBJEKTIVISMUS. 87
dende Rolle spielt, und daß überall an die anthropomorphisierende
Betrachtung sich künstlerisches Interesse anschließen kann. Aber es
fragt sich, ob jeglicher ästhetischer Genuß im beglückenden Sympathie-
gefühl besteht. Einfache Muster und Ornamente erregen ästhetisches
Gefallen, ohne daß man die wohlgefällige Regelmäßigkeit auf eine von
uns ausgehende Beseelung zurückzuführen brauchte. Von den archi-
tektonischen Formen sind die gleichsam organischen Bindeglieder
gewiß in der Hauptsache durch personifizierende Auffassung ein
Gegenstand ästhetischer Freude^). Das spezifisch Architektonische
jedoch, die starre Gesetzlichkeit der monumentalen Formen, steht
unserem Anempfinden ganz fremd gegenüber. Was an solchen Ge-
bilden den Erfahrungen des Ich analog und daher auch allen wechseln-
den individuellen Dispositionen unterworfen ist, wird mit dem Worte
Stimmung am treffendsten bezeichnet. Gotische Dome, Rokokosalons
u. dergl. sind stimmungsvoll, weil eine gewisse Totalität des Seelen-
lebens in ihnen zum Ausdruck gelangt Es ist in dem Objekt alles
Einzelne zu einem harmonischen Ganzen von der Art zusammengefaßt,
wie auch unsere Seele manchmal alles Einzelne zu einer ungestörten
Bewegung vereinigt Stimmung legen wir in solchen Fällen dem Sub-
jekt und dem Objekt bei. Indessen Stimmung fällt ebenso wenig wie
etwa das Malerische mit dem weiten Begriff des Ästhetischen zusam-
men. Ja man möchte die Behauptung wagen, daß die Gleichnissprache
des Schönen ihren unerschöpflichen Reiz dadurch gewinnt, daß sie
ähnlich und doch andersartig wie unser Gemüt spricht Der unauf-
höriiche Kampf zwischen der Einheit mit uns und dem G^ensatz zu
uns gibt der Kunst ihre Lebendigkeit und Macht
In der Wurzel wird das ganze Einfühlungsprinzip angegriffen, wenn
man sowohl Gefühlsübertragung als auch das Auftreten anschaulicher
Gefühlsvorstellungen leugnet Skeptische Gemüter könnten zu der
Meinung gelangen, daß der wirkliche innere Vorgang ganz anders ver-
läuft und der Anschein einer anthropomorphisierenden Beseelung, eines
Leihens und Sichhineinfühlens aus der Verwendung von Worten ent-
steht, mit denen wir das ästhetische Objekt und unseren Zustand
bezeichnen. Der Einwand ist beachtenswert, daß wir der Sprach-
verführung zum Opfer fallen, wenn wir uns einbilden, den Genuß
einer Beseelung des Gegenstandes zu verdanken. Denn wir beschrei-
ben wohl ein eindrucksvolles Objekt mit solchen lebendigen Worten,
aber nur deshalb, weil diese Worte uns zunächst liegen und die
größte Bedeutung besitzen. Wäre es möglich, den beim ästhetischen
Genuß vorhandenen Seelenzustand anders als in den Sprachformen
wiederzugeben, so würden wir erkennen, daß er seinem Wesen nach
nichts mit einer Verschmelzung oder gar mit einer Vertauschung zu
88 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
tun hat. Die Metaphern, mit denen die Ästhetiker arbeiten, sind nicht
der unverfälschte Abdruck des wahrhaften Vorganges, sondern ihr
sprachliches Rüstzeug*). In einer gewissen Weise gehen solche Ana-
lysen auf den Urzustand zurück. Indem sie hinter der Außenseite des
Dinges Bewegung und Kräftespiel suchen, stellen sie die primitive
Vorherrschaft des Tätigkeitswortes wieder her, drücken sich so aus
wie es vermutlich in vorgeschichtlichen Zeiten überall geschah. Sie
ziehen Nutzen aus der Armut der Sprache. Es wird erzählt, daß ein
Negerkind, das zum ersten Male Schneeflocken sah, entzückt ausrief:
»Ach, die vielen weißen Schmetterlinge, die dort miteinander spielen!«
Das ist kein Bild, sondern entspringt einer Beschränktheit im Erfah-
rungs- und Sprachstoff; man darf von der anscheinend so liebens-
würdigen und poetischen Redewendung nicht auf eine ihr wahrhaft
gemäße Auffassung schließen. Alle Mythen schildern Naturvorgänge
wie menschliche Handlungen, aber sie bezeichnen damit lediglich das
Gegebene auf die ihnen ausschließlich zu Gebote stehende Art. Wenn
ich keine deutliche Vorstellung von tektonischen Verhältnissen habe,
so fehlen mir auch die entsprechenden Worte und ich kann die Ver-
richtung der Teile nicht anders bezeichnen als mit den mir geläufigen
Worten für das Leben in seinen wohlbekannten Tätigkeitsformen.
Dadurch nun scheint der wirkliche Vorgang der ästhetischen Bewer-
tung getroffen zu sein, weil das Fremde in den Kreis des Vertrauten
übergeführt worden ist; diese Behandlungsart wirkt umso bestechender,
je ausgedehnter und feiner zerlegt der Wortschatz ist, der das Bew^-
liche. Dynamische, Lebendige, Organische umfaßt. Die neuere Lite-
ratur über Einfühlung hat uns mit einer Fülle von Redewendungen
überschüttet und in ihnen unverkennbar das Verhalten der Seele ge-
kennzeichnet, wie es in manchen Fällen dunkel gefühlt und instinktiv
erfahren wird. Aber die Theorie droht zu einer schablonenhaften
Versprachlichung sich auszuwachsen und namentlich in den Händen
von Nachahmern zu einer Terminologie zu werden, von der fast das
nämliche gilt, was oben (S. 48/9) von der Hegeischen Schule und von
den modernen Stilkünstlern geistreicher Verallgemeinerung bemerkt
wurde.
Somit zeigt sich auch bei dem Einfühlungsprinzip, daß es gleich
seinen Genossen berechtigten Angriffen ausgesetzt ist. Der Glaube
an eine alles erklärende Formel ist ein Irrwahn. In Wahrheit hat jeder
der aufgezählten Grundsätze seine relative Berechtigung. Und da sie
alle untereinander Ähnlichkeitspunkte besitzen, so fällt es den Virtuosen
der Begriffstechnik und der Sprachgestaltung nicht schwer, das Ge-
meinsame in einen einzigen Satz zusammenzupressen. Doch ist mit
einer so allgemeinen Formel gegenüber der Fülle des Tatsächlichen
DAS PROBLEM DER METHODE. 8Q
nichts gewonnen; ebensowenig — wie wir nunmehr nachweisen
müssen — mit der bündigen Aufstellung einer einzigen Methode für
unsere Wissenschaft.
3. Das Problem der Methode,
Eine Ästhetik, die ihre Prinzipien auf irgendwelche Beschaffenheiten
des Gegenstandes begründet, wird leicht zu der methodologischen
Folgerung fortgetrieben, daß die Reaktion des Ich etwas verhältnismäßig
Gleichgültiges ist. In ihrem Sinne könnte man die folgende Erwägung
anstellen. Bei den Empfänglichen tritt der R^el nach Genuß ein; aber
würde er ausbleiben, so verlöre darum der Gegenstand noch nicht
seinen ästhetischen Wert. Ein farbenglühender Sonnenuntergang ist
schön — mögen Menschen davon ergriffen werden oder nicht; der
»Faust« oder Beethovens Heroische Sinfonie sind unvergängliche Kunst-
werke, und es tut ihnen keinen Abbruch, daß so viele ihnen stumpf
gegenüberstehen. Wie will sich eine subjektivistische Ästhetik vor
vollkommener Zersplitterung bewahren? Die Unterschiede der Indivi-
duen in der Beurteilung des ästhetischen Gegenstandes, die Unter-
schiede der Zeit und der nationalen Geschmacksrichtung entziehen ihr
schließlich den festen Boden. Also muß auch das Verfahren der Äs-
thetik ein gegenständliches sein.
Die Partei der Subjektivisten jedoch fühlt sich nicht geschlagen,
da sie mehrere Auswege aus ihrer anscheinend bedenklichen Lage sieht.
Sie gewinnt sogleich dadurch einen sicheren Standpunkt, daß sie dem
gefühlsmäßig wertenden Individuum das Recht zugesteht, in ästhetischen
Dingen ganz nach Belieben zu urteilen. Solange jemand behauptet:
das dort gefällt mir oder mißfällt mir, ist er weder einem Angriff noch
einer Belehrung ausgesetzt Erst wenn er eine Begründung geben
oder andere zu seinem Eindruck bekehren will, beginnt die Diskussion.
Freilich entsteht nun Willkür und Zügellosigkeit Aber sie bezieht sich
doch bloß auf die Gegenstände der ästhetischen Lust und nicht auf
diese selbst; denn ihre eigentümliche Beschaffenheit und innere Gesetz-
mäßigkeit bleibt dieselbe. Das richtige Verfahren bestünde daher in
der psychologischen Zergliederung des Genusses, gleichgültig wodurch
er hervorgerufen wird. Das Objekt des Genusses fällt gar nicht in
die Wagschale, da alles auf die Neigung des Individuums ankommt,
einen ästhetischen Zustand herzustellen. Niemand vermöchte mit Sicher-
heit zu sagen, ob ein bestimmter natürlicher oder künstlich hergestellter
Gegenstand ästhetischen Wert besitzt: es gibt — so lesen wir in einem
jüngst erschienenen Buch — kein objektives Merkmal, das, in jeder
90 II. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Dichtung auftretend, mir immer mit Sicherheit ermöglichte, sie als
Dichtung zu erkennen; vielmehr ist jedes sprachliche Werk für mich
eine Dichtung, sobald und solange ich mich ihm gegenüber in dem
eigentümlichen, mir wohlbekannten Zustand der ästhetischen An-
schauung befinde^®). Die psychologische Wissenschaft von diesem
Zustand heißt Ästhetik.
Wer vor der Atomisierung des ästhetischen Lebens zurückschreckt
und dennoch im Subjektiven verharren will, kann eine Wertreihe der
Empfänglichkeiten aufstellen. Sie dürfte etwa so aussehen: Zu unterst
steht diejenige Seelenverfassung, in der ein Sinn für das Schöne völlig
fehlt. Eine solche Oeisteskonstitution muß krankhaft oder abnorm
genannt werden. Wie es einen moralischen Irrsinn gibt, nämlich Un-
fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, so gibt es auch
einen ästhetischen Irrsinn. Häufiger ist die Unempfindlichkeit gegen-
über einem Gebiet, z. B. dem der Musik. — Dann folgt die große
Anzahl derer, die einen groben und durchschnittlichen Geschmack be-
sitzen. Wenigstens würden wir es so ausdrücken. Aber mehrere
Umstände lassen diese Ausdrucksweise als eine immerhin einseitige
erscheinen. Der naive Geschmack kann ebenso starke (wenn auch
anders geartete) Freuden erleben wie die verfeinerte Empfänglichkeit;
ja, für die nicht ästhetischen Bestandteile des Kunstwerks hat er sogar
meist das frischere Verständnis. Deshalb bevorzugen Künstler, die
nach breiter und unmittelbarer Wirkung streben, die ästhetisch weniger
Gebildeten. Nur für eine bestimmte aristokratische Anschauung tritt
das Urteil der Masse zurück hinter das Urteil der Kenner. Die Ent-
scheidung derer, die in eine solche Idealgruppe gehören, würde dem-
gemäß das Richtmaß bilden, obgleich auch von ihr im Sinne des
Subjektivismus anerkannt werden mag, daß sie sich nicht auf nach-
weisbare objektive Verhältnisse stützt.
Die Einfühlungstheorie gibt dem gleichen Gedanken eine neue
Wendung. Der Mensch, der durch Beseelung den Gegenstand zu
einem ästhetischen gestaltet, soll ihn nicht mit seinem augenblicklichen
und zufälligen seelischen Leben anfüllen, sondern mit einem idealen
Ich. Diese Anteilnahme des idealen Ich erhebt die ästhetische Sym-
pathie über jedwede beliebige. Oder um mit Hegel zu sprechen: die
Forderung läuft darauf hinaus, das Subjektive zu objektivieren, und
zwar das allgemein Subjektive, nicht das beschränkt Persönliche. »In
allen Sphären des absoluten Geistes enthebt der Geist sich den be-
engenden Schranken seines Daseins, indem er sich aus den zufälligen
Verhältnissen seiner Weltlichkeit und dem endlichen Gehalte seiner
Zwecke und Interessen zu der Betrachtung seines An- und FOrsich-
seins erschließt« (Vories. über die Ästh. 1835 I, 123). Mit dieser Voraus-
DAS PROBLEM DER METHODE. 91
Setzung ist die Gefahr eines unwissenschaftlichen Individualismus ein
für allemal zurückgeschlagen, anderseits aber auch der Subjektivismus
für die innigste Verbindung mit dem Objektivismus vorbereitet.
Die Hauptsache bleibt, daß wir einsehen : eine streng objektivistische
Ästhetik braucht sich um den Eindruck des Schönen nicht zu kümmern,
während die subjektivistische Richtung zum Verfahren der Psychologie
hinstrebt. Es scheint so natürlich, in seelischen Vorgängen den eigent-
lichen Gegenstand der Ästhetik zu sehen, daß man unsere Wissen-
schaft neuerdings geradezu als Psychologie des ästhetischen Genusses
und des künstlerischen Schaffens bestimmt hat. Sicherlich gibt es eine
Beschreibung und Erklärung derjenigen seelischen Verrichtungen, mit
denen ästhetisch aufgefaßt wird, und derjenigen seelischen Energien,
durch die Kunst geschaffen wird. So haben wir ja auch eine Psycho-
logie des Erkennens, d. h. derjenigen Vorgänge, die zum Wissen führen.
Aber wir dürfen das Erkennen sowie das Betrachten und Gestalten
auch noch anders als psychologisch behandeln, wenn in seinem Tat-
bestand die Aufforderung dazu liegt; und diese Aufforderung wird
von den Kritizisten in dem Unterschied von wahr und falsch, schön
und häßlich gefunden. Die Ästhetik hat die einander widersprechenden
Geschmacksurteile und Kunstgebilde auf die Berechtigung ihres An-
spruchs hin^^) zu prüfen; hiermit verläßt sie den Machtbereich der
Psychologie und wird zu einer Wertwissenschaft Diese will nicht die
tatsächlichen Bedingungen darl^en, unter denen ästhetische Seelen-
prozesse entspringen, verlaufen und wirken, sondern die Frage be-
antworten: wie beschaffen sollen die Akte des Aufnehmens und Er-
zeugens sein, damit ihre Aussagen und Leistungen wertvoll oder
allgemeingültig werden. Vor den Augen des Psychologen sind alle
inneren Tatsachen gleich bedeutsam, die kritische Ästhetik jedoch hat
es nur mit solchen zu tun, die Wert oder Gültigkeit besitzen.
Eine besondere Schwierigkeit erwächst der psychologischen Be-
handlung ästhetischer Fragen aus dem Widerspruch zwischen der
wirklich vorhandenen und der theoretisch vorauszusetzenden Bewußt-
seinsbeschaffenheit. Da sie an logischen Verhältnissen am deutlichsten
wird, will ich sie an ihnen erläutern. Es ist neuerdings mit einem
gewissen Erstaunen berichtet und vernommen worden, daß experi-
mentell hervorgerufene Urteilsäußerungen (Worte, Sätze, Gebärden) von
gesetzlos wechselnden und zusammenhangslosen inneren Erlebnissen
begleitet werden. Spezifische Bewußtseinsvorgänge, die den Urteils-
charakter eines Urteils bedingen, konnten durch den Versuch nicht
entdeckt werden. Etwas Ähnliches findet sich im Gebiet der Begriffe.
Man sagt, daß Eigenschafts- und Zustandsbegriffe durch Abstraktion
aus dem Gegenstandsbegriff gewonnen werden. Aber wer hat jemals
g2 IL DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
diesen Vorgang des Abstrahierens in sich wahrgenommen, als Bewußt-
seinsfatsache beobachten und nachher beschreiben können? Dennoch
bleibt die genannte »Abstraktion« ein notwendiger wissenschaftlicher
Hilfsbegriff. Desgleichen ist es eine für die Logik unentbehrliche For-
derung, daß dem Urteil seine Eigenart belassen wird, selbst wenn sie
mit unseren mangelhaften psychologischen Bemühungen und innerhalb
der schnell und durcheinander spielenden Seelentätigkeiten als Bewußt-
seinstatsache nicht zu entdecken ist Eine brauchbare Urteilstheorie
darf nicht nur die Bewußtseinsbeschaffenheit zu Grunde l^[en. Sollte
es sich mit der ästhetischen Theorie nicht ähnlich verhalten?
Wenn man sich und andere beim Betrachten komischer Zeichnungen
beobachtet, so nimmt man öfters wahr, daß Teile des Bildes ein Lächeln
hervorrufen, die mit dem eigentlich Komischen darin gar nichts zu tun
haben: es genügt, daß ein lachendes Gesicht oder ein Affe auf der
Zeichnung apperzipiert werden, damit der Eindruck des Komischen
entsteht, zumal wenn man voraussetzen kann, daß es sich um eine
lustige Illustration handelt Dies geschieht, bevor die wirkliche Komik
des G^enstandes, die anderwärts liegt, aufgefaßt wird. Menschen,
denen lachend ein Scherz erzählt wird, lachen mit, noch ehe sie wissen,
warum. Die Theorie des Komischen scheint sich doch um diese realen
Bewußtseinszustände nicht kümmern zu sollen, während sie für die
streng und richtig verstandene Psychologie ihren Wert haben; die
ästhetische Theorie scheint vielmehr der Annahme zu benötigen, daß
der den Reiz des Komischen enthaltende Eindruck dem komischen
Gegenstand aufs genaueste entspricht — Ein anderes Beispiel. Wir
werden späterhin erfahren, daß poetische Beschreibungen sichtbarer
G^enstände oder Vorgänge keineswegs die ihnen gemäßen inneren
Gesichtsbilder mit Notwendigkeit und Klarheit hervorrufen. Soll nun
diese Unzulänglichkeit des wirklichen Bewußtseinszustandes zu Grunde
gel^ werden? In solchem Falle könnte man doch auch sagen: die
Schwäche des sinnlichen Vorstellens und die Schnelligkeit der Auf-
nahme verhindere beim Kulturmenschen der G^;enwart das Entstehen
vieler und deutlicher Gesichtsbilder ; in der Theorie jedoch dürften alle
Bilder, die überhaupt entstehen können, auch als vorhanden angesetzt
werden. Ästhetik als Wissenschaft brauchte sich nicht auf den durch-
schnittlichen Tatbestand zu stützen, sondern könnte, um zu festen
Ergebnissen zu gelangen, ohne Bedenken voraussetzen, daß alles Vor-
stelll)are wirklich vorgestellt würde.
Allein damit wäre dem Problem ausgewichen. Denn die Theorie
ist vielmehr davon abhängig, ob und inwieweit sinnlich vorgestellt
wird. Man kann nicht einfach das annehmen, was entschieden werden
soll. In der Logik liegt es anders. Hier aber könnte man doch ebenso
DAS PROBLEM DER METHODE. 93
gut behaupten: die anschaulichen Bilder, die beim Lesen oder Hören
von Dichtwerken auftauchen, sind Rudimente oder außerästhetische
Bestandteile des Genusses. Es ließe sich der Satz b^[ründen, daß bei
steigender Verfeinerung des poetischen Empfindens das wesentliche
Vorstellungssubstrat das Wort an sich sei und diesem eine völlig ent-
sprechende Repräsentation in sinnlicher Form fehle. Wie die allgemein-
sten Beziehungsb^^ffe, mit denen strenge Wissenschaft arbeitet, dem
Inhalte nach nicht adäquat vorgestellt werden können, so können die
höchsten Gebilde der Poesie nur durch Minderung ins Sinnliche über-
setzt werden. Ich sage nicht, daß es so sei, aber ich entnehme daraus
die Nötigung, an einer späteren Stelle den Tatbestand genau zu prüfen.
Und vorläufig möchte ich bemerken: es kommt schließlich auf den
B^^riff an, den man sich von der Psychologie gemacht hat Wer unter
Psychologie ein wahlloses Registrieren der Bewußtseinsvorgänge ver-
steht, muß freilich eine sichtende, bewertende, auslesende und ver-
werfende Behandlung einer anderen Wissenschaft zuschreiben. Indessen,
eine solche Behandlung kann wohl auch mit dem Namen einer psycho-
logischen gedeckt werden.
Mir scheint demnach ein wohl verstandener Psychologismus nicht
aussichtslos zu sein. Darüber kann kaum ein Zweifel bestehen, daß
die streng durchgeführte Scheidung einer kritischen Ästhetik und einer
Psychologie des Genießens und Schaffens für die Praxis unserer Wissen-
schaft unzweckmäßig wäre. Ebenso sicher ist, daß die allgemeine
Kunstwissenschaft niemals in bloße Psychologie aufgelöst werden kann.
Auch für die Ästhetik im engeren Sinn werden, wie sich bald zeigen
soll, gelegentlich andere als psychologische Gesichtspunkte verwertet
werden müssen. Immerhin — die grundsätzlichen Fragen, um die es
sich hier dreht, lassen sich ausreichend mit Hilfe der Psychologie er-
örtern, solange jeder Ausflug in die Höhen der Metaphysik vermieden
werden solL Schon der Grundbegriff des Wertes erlaubt eine psycho-
logische Erklärung, etwa dahin, daß darunter die Bedeutung zu ver-
stehen sei, die ein Bewußtseinsinhalt durch die irgendwie mit ihm
verbundenen Gefühle für das Ich erhält Insbesondere ist es das Gefühl
der Überzeugung, das schließlich als einziges Merkmal für die Gültig-
keit übrig bleibt: das Bewußtsein der Evidenz muß eben als Kennzeichen
der Richtigkeit hingenommen werden.
Wenn wir hierg^en von neuem uns in die Erinnerung rufen, daß
solche Wertüberzeugungen sich mit allen nur denkbaren Eindrücken
verbinden können, so vermögen wir sie doch auch daraufhin zu prüfen,
was sie enthalten. Jemand findet die Sixtinische Madonna abscheulich.
Es stellt sich heraus, daß er vielerlei in das Bild hineingesehen hat,
was nicht darin ist, und unzähliges andere einfach nicht bemerkt hat
94 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
In solchen Fällen hat auch der Psycholog das Recht, von »verkehrten«
Urteilen zu sprechen. Wenn nun aber aus genauester Auffassung des-
selben Gegenstandes bei zwei Betrachtern Anerkennung und Verwer-
fung entstehen? Dieses recht seltene Vorkommnis zwingt dann zur
Untersuchung des individuellen Seelenzustandes. Das Ergebnis zeigt,
daß der eine die inhaltlichen, der andere die formalen Bestandteile als
die Hauptsache angesehen hat; infolge dieser verschiedenen Akzen-
tuierung sind verschiedene Bewertungen des gleichmäßig aufgefaßten
Tatbestandes herausgekommen. Gesetzt, die psychologische Ästhetik
nähme im Sinn einer Hypothese an, daß die von der Form ausgehenden
Eindrücke die entscheidenden sein sollen, so hat sie einen Maßstab,
um den Streit der Meinungen zu schlichten. Die Berechtigung aber
zu jener Hypothese liegt in der Folgerichtigkeit, mit der aus ihr eine
zusammenhangende Ansicht über das Schöne, Ästhetische und Künst-
lerische entwickelt werden kann. —
Eine andere Seite des bisher behandelten Problems offenbart sich
in dem Gegensatz zwischen der beschreibenden und der gesetzgebenden
Ästhetik. Die Psychologisten wollen die Erfahrungstatsachen beschreiben
und das Normative nur als einen Bewußtseinsinhalt bestehen lassen;
sie verzichten auf den Anspruch, daß die ästhetische Wirklichkeit sich
ihren Forderungen unterwerfe. Andere — nicht bloß die Kritizisten —
stellen Gesetze auf, von denen die Fürsorglichen übrigens bemerken,
daß sie »für das hochentwickelte Gefühl der Gegenwart«, also in zwie-
facher Weise beschränkt, gelten und nicht eher wirksam sind, als bis
sie sich in lebendiges Fühlen und Schaffen umgesetzt haben. Diese
Normen gehören nach der herrschenden Überzeugung insofern zur
Wissenschaft, als sie auf wissenschaftlich festgestellten Theorien ruhen.
Nicht alle Theorien führen zu exakten Forderungen, beispielsweise nicht
die Einfühlungslehre, aber die meisten der besprochenen Prinzipien und
der später zu erörternden allgemeinen Beschaffenheiten des ästhetischen
Gegenstandes lassen sich in die Sprache von Geboten und Verboten
übersetzen.
Die Frage betrifft nicht allein die Ästhetik, sondern ist eine allge-
meinere. Häufig genug werden von den reinen oder theoretischen
Wissenschaften die praktischen Wissenschaften abgetrennt, die statt
bloßer Erkenntnisse eine Anwendung der Erkenntnis auf die Gestal-
tung der Lebensverhältnisse bieten, die mehr in einem Können als
in logischer Überiegung wurzeln sollen. Man spricht in diesem Sinne
von »Kunst< , nennt also beispielsweise die Erziehungslehre und die
Therapie Künste, und behauptet, daß sie auf den eigentlichen Wissen-
schaften ruhen: die Kunst des Erziehers auf der Psychologie, die ärzt-
liche Kunst auf der Pathologie, die Kunst des Gärtners auf der Botanik,
DAS PROBLEM DER METHODE. 95
die Kriegskunst auf der Militärwissenschaft — Das Wort Kunst ist
nicht sinnlos. Denn die praktischen Disziplinen stehen wie die schönen
Künste dem Leben näher als die Wissenschaften, und zu ihrer Hand-
habung sind gewisse künstlerische Fähigkeiten erforderiich. An dem
Beispiel der »Seelenkunst« ist das anderwärts gezeigt, die Notwendig-
keit des Hinausgehens über wissenschaftliche Sicherheit begründet und
die Beziehung zur schönen Kunst erörtert worden. Aber bereits in
jenem Zusammenhang habe ich vorgeschlagen, für die systematische
Betrachtung die Verwendung des doppeldeutigen und schließlich für
jedes Können verwertbaren Wortes »Kunst« zu meiden. Der Ausdruck
bezeichnet doch in einer recht unzureichenden Art, daß die betreffende
Disziplin auf andere als bloß intellektuelle Momente Rücksicht zu nehmen
hat. Mehr empfiehlt sich zur Oruppenbenennung das Wort Techne.
Ganz zu verwerfen ist der Gebrauch des Beiwortes »angewandt«. Nur
eine gelehrtenhafte Überschätzung der Wissenschaft kann zu der An-
nahme verleiten, daß die Technen angewandte Wissenschaften seien.
Offenbar ist der wirkliche Verlauf umgekehrt: erst bestanden Technen,
ehe aus ihren Zufallsentdeckungen und Überlieferungen die theore-
tischen Verhaltungsweisen sich entwickelten. Lange vor aller wissen-
schaftlichen Didaktik gab es eine Techne der Erziehung, vor dem Beginn
der Chemie wurden Scheidekunst und Mischkunst getrieben, und die
Geologie hat ursprünglich vom Bergmann gelernt. Daß in einem späteren
Stadium die Praxis von der Theorie befruchtet werden kann, ohne
deshalb ihre Selbständigkeit zu verlieren, soll gewiß nicht bestritten
werden.
Zu Unrecht also wird die Techne in unbedingte Abhängigkeit von
der Wissenschaft gesetzt. Den entgegengesetzten Fehler einer allzu
schroffen Trennung begeht anderseits unsere Methodologie, indem sie
das Wesen der Techne darin findet, zu leiten anstatt zu erklären.
Während die Wissenschaft das Tatsächliche herauszufinden und zu
verstehen suche, gebe die Techne Anweisungen zu einem Eingreifen
in die Verhältnisse; dieses Vorschreiben sei aber keine Aufgabe der
Wissenschaft, denn man könne — im eigentlichen Sinn des Worts —
nicht wissen, was nur sein soll. — Indessen, selbst wenn der Unter-
schied richtig getroffen sein sollte, ist er bei weitem nicht so wesent-
lich wie er nach der wiederg^ebenen Auffassung neuerer Pädagogen
und Ethiker zu sein scheint. Es spielt die falsche Vorstellung einer
Wirkliches beschreibenden Wissenschaft hinein. Wissenschaft aber
kann nicht beschreiben, sondern will den Dingen ihre Vernunft vor-
schreiben; sie kann die Eriebnisse nicht nachbilden, sondern muß sie
umbilden; jede Erkenntnis der Welt gestaltet diese auch zugleich. Der
Unterschied zur Techne liegt also nur im Zwecke, der dort in der
96 II. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
logischen Durchsichtigkeit, hier in der praktischen Beherrschung besteht
Wissenschaft und Techne sind gleichermaßen normativ: sie stellen Ideale
auf und suchen die Erlebnisse ihnen entsprechend einzurichten. Ob
die von ihnen erlassenen Anweisungen auf den Verstand oder auf den
Willen gehen, ob die sogenannten theoretischen Wissenschaften vor-
schreiben, in einer gewissen Weise zu denken, oder ob die praktischen
Disziplinen lehren: so sollst du handeln — das macht methodologisch
keinen grundsätzlichen Unterschied. Das Ziel ist für die Orundl^ung
sowohl der Naturwissenschaft als auch der Lebenshaltung dasselbe:
ein lückenloser Zusammenhang. Wir denken und wir handeln richtig
in dem Maße als wir vollkommen konsequent denken und handeln;
in dem einen Fall entsteht Wahrheit, im anderen entsteht Sittlichkeit;
in beiden Fällen werden einzelne Akte, die des Denkens und die des
Wollens, zu einer Ordnung zusammengefaßt. Infolge dieser Verwandt-
schaft zwischen Theorie und Praxis läßt sich die Summe b^^iffener
Tatsachen nicht von der Norm, das rationalisierte Sein nicht vom Sollen
loslösen. Das Seinsollende ist eben das Seiende, insofern es einem
Zweck vollkommen angepaßt ist. In die Aufnahme und Rationalisierung
von Tatbeständen mischen sich ständig Vollkommenheitsvorstellungen,
und umgekehrt verwandelt sich sehr oft das Durchschnittliche in das
Erstrebenswerte. Demnach verwischt sich die Grenze zwischen fak-
tischen Urteilen und Werturteilen. Wenn wir z. B. vieleriei Merkmale
eines Objektes wesentlich nennen, so stützen wir uns (abgesehen von
der metaphysischen Vorstellung eines verborgenen Wesens) teils auf
ideale teils auf durchschnittliche Beschaffenheiten des Gegenstandes;
ferner: Die Gattungsbegriffe sind nicht nur mittlere Zahlen im Denken
als Rechnen, sondern auch Werte in der persönlichen Schätzung des
Gegebenen. Überall in den Geisteswissenschaften spielen Beziehungen
zwischen Tatsachen, Gesetzen, Werten, Zwecken und drängen zur
Regelgebung.
Es ergibt sich also, daß zwischen reinen und angewandten,
beschreibenden und normativen Wissenschaften theoretisch
nicht sicher zu scheiden ist. Auch verteilen sich die Technen,
z. B. Therapie und Pädagogik, inhaltlich auf die Gebiete der Natur-
wissenschaften und der Geisteswissenschaften. Wir folgern hieraus,
daß die Geisteswissenschaften unmöglich als Technen den exakten
Wissenschaften zur Seite gestellt werden können, etwa die Geschichte
als eine praktische Anwendung der Psychologie zu verstehen wäre.
Die Geschichte ist zwar ein taugliches Rüstzeug für die Kunst der
Diplomaten, aber nicht selber eine Kunst, Lebensverhältnisse zu ge-
stalten und Handlungen zu vollführen. Höchst selten hat die blasse
Erinnerung an vergangene Ereignisse Völker oder führende Männer zu
DAS PROBLEM DER METHODE. 97
ihren Taten bestimmt Die Ergebnisse geschichtlicher Forschung ent-
halten keine unmittelbare Lehre für die Zukunft, da das Neue niemals
eine Wiederholung des Alten ist; möchten doch namentlich die Kunst-
historiker sich davor hüten, alte Erfahrungen leichthin auf werdende
Kunstwerke zu übertragen.
Wir kehren zum Verfahren der Ästhetik zurück. Auch für die
Ästhetik gilt und ist später noch des näheren zu erörtern, daß jede Be-
schreibung eine Normengebung und jede normative Wissenschaft eine
beschreibende ist Deshalb braucht der manchmal so herausgetriebene
Gegensatz uns nicht weiter zu ängstigen. Doch sei hinzugefügt, daß
die Tendenz einer Ästhetik freilich mehr nach der einen oder nach
der anderen Seite gehen kann. Es gibt ästhetische Lehrzusammen-
hänge, die wirklich nur klarstellen wollen, was schönes, ästhetisches
und künstlerisches Sein bedeuten; und es gibt andere, die die Ent-
wickelung des ästhetischen Urteils und des Kunstschaffens beeinflussen
möchten. Aber die eine Richtung kann nicht ohne die andere leben.
Erst muß man begreifen, ehe man eingreifen kann, und jedes Erklären
ist zugleich Abschätzen, Bewerten, Befehlen. —
Unter einem dritten Gesichtspunkt erscheint das methodologische
Grundproblem in der Frage: herrscht auf unserem Gebiete Allgemein-
gültigkeit oder geschichtlicher Wechsel? Für viele ist die Frage damit
erledigt, daß sie von den so großen Unterschieden der zeitlich ge-
trennten Kunstwerke einen lebhaften Eindruck empfangen. Indessen
auch die tiefer dringende Forschung kann bei dem Ergebnis stehen
bleiben, daß die ungeheuren Veränderungen und Gegensätze nur der
historischen Darstellung, nicht der systematischen, namentlich nicht
der normativen Wissenschaft ein Feld eröffnen. Die Geschichte jeder
Kunst zeigt ein Vergehen und Werden; Ausdrucksformen, ja ganze
Kunstarten gehen zu Grunde, und andere entstehen. Wie verschieden-
artig ist der menschliche Körper, der sich doch seit dem Beginn der
geschichtlichen Zeit kaum verändert hat, und dessen natürliche Unter-
schiede verhältnismäßig gering sind, von der bildenden Kunst darge-
stellt worden! Die ersten drei Tafeln, die unserem Buche beigegeben
sind, enthalten ein paar Beispiele dafür. Gewöhnlich erklärt man
diese Stilunterschiede aus allgemeinen Kulturfaktoren oder auch aus
soziologischen Verhältnissen ^2). Für uns haben sie nur den Wert,
daß sie die außerordentliche Wandelbarkeit der Kunstmittel und des
Geschmacks an sichtbaren Beispielen zeigen. Selbst ein und dieselbe
Art künstlerischen Gestaltens ist der historischen Veränderlichkeit
unterworfen. — Nehmen wir der Einfachheit halber ein einzelnes
Kunstwerk als Beispiel. Scheinbar ist es fertig und steht dem fluten-
den Leben wie etwas Vollendetes oder Totes g^[enuber. Aber seine
Dessoir, Ästhetik und allg. Kmistwissenschaft. 7
98 II. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
Wirkung ist nicht eindeutig noch unveränderlich. Die Vorstellungen
und Gefühle, die es im Geist der Genießenden weckt, sind gar ver-
schiedenartig. So durchlebt jedes Kunstwerk unzählige Gestalten; es
verwandelt sich unablässig, entfaltet sich oder verkümmert Der Faust
oder die Sixtinische Madonna sind nichts Bleibendes und Gleichartiges,
sondern sie sind der Ausgangspunkt für zahllose lebendige Vorgänge,
die so voneinander differieren, daß Ästhetik und Kritik immer nur mit
Schrecken daran gedacht haben. Wünscht der Leser einen Beleg?
Raffaels »Transfiguration« gilt als ein Meisterwerk. Die Goncourts
gehören sicherlich nicht zur Masse der kunstfremden Individuen. Was
schreiben sie von der Transfiguration? »Es ist unmöglich, sofern man
überhaupt Augen hat, eine schreiendere Farbendisharmonie zu sehen
als dies Nebeneinander von häßlich blauen, gelben, roten und grünen
Tönen, ein Grün vor allem, ein gräuliches Sergegrün, das nicht zum
Ansehen ist. Und alle diese Farbentöne sind so nebeneinandergesetzt,
daß sie sich geradezu anheulen, dazu durch zinkartig glänzende Lichter
hervorgehoben, die niemals mit der Tonalität des Stoffes harmo-
nieren . . . Aber sehen wir von der Erbärmlichkeit des Kolorits ab
und studieren wir dies »Meisterwerk der Zeichnung und der Kompo-
sition«. Christus erscheint als ein gewöhnlicher Frater mit rosiger
Fleischfarbe, gemalt, wie die Scholiasten des Bildes sagen, mit den
Farben eines anderen Lebens. Er steigt schwerfällig gen Himmel, seine
Füße mahnen an das Modell, wonach sie gemalt sind. Mit ihm erheben
sich Moses und Elias, sie halten nach der Art der Tänzer ihre Hände
gegen die Hüften. Und bei alledem nichts von dem Glanz und der
Herrlichkeit, womit selbst die phantasielosesten Maler den Himmel der
Seligen zu erfüllen wissen. Auf dem Tabor darunter, einem runden,
dem Deckel einer Pastete ähnelnden Hügel, liegen, als wären ihnen
alle Knochen aus dem Leibe genommen, drei Marionetten von Aposteln,
wahre Karikaturen der Verblüfftheit. Weiter unten dann eine Menge
von Akademiestudien, von ausdruckslosen Köpfen, wie man sie den
Schülern zum Kopieren gibt, dazu Arme in Haltungen aus der Tra-
gödie und Augen, in die der Professor den letzten Pinselstrich getan
zu haben scheint ... Bei Raffael erscheint die Verklärung vollständig
akademisch und durch und durch heidnisch. So z. B. diese knieende
Frau, sie scheint nach einer antiken Statue gemalt zu sein, sie ist eine
Heidin, zu der das Evangelium nie gesprochen hat ... Dies Bild christ-
lich! Ich kenne kein Bild, welches das Christentum materieller dar-
stellte als dies, kein Bild, in dem es in einer so gewöhnlichen Prosa
und in einer so vulgären Schönheit zum Ausdruck käme« "). (Tafel IV.)
Machen wir die phantastische Annahme, daß in hundert Jahren alle
Welt jener Verurteilung sich angeschlossen hätte, so würde also das
DAS PROBLEM DER METHODE. gg
Gemälde vernichtet sein; zwar nicht in seiner äußeren Erscheinung,
wohl aber in seiner lebendigen Wirksamkeit. Alle Regeln, die eine
frühere Ästhetik aus diesem Bild abgelesen oder doch an ihm be-
währt gefunden hätte, wären durch die geschichtliche Entwickelung
überwunden, die keinen dauernden Zwang erträgt. Es gäbe mithin
keine allgemeingültige Ästhetik.
Dieser Schluß ist voreilig, weil die ästhetischen Normen beweglich
genug sein können, um jeden Inhalt in sich aufzunehmen. Wenn die
normative Ästhetik vom Kunstwerk fordert, daß es den Eindruck der
Wahrhaftigkeit machen solle, so schreibt sie doch nicht alle einzelnen
Mittel zur Erreichung dieses Eindrucks vor. Sie verlangt nichts anderes
als was sie auch als regelmäßige Wirkung zu schildern das Recht hat.
Auch kann durch keinerlei methodologische Bedenken die Tatsache
aus der Welt geschafft werden, daß unsere Wissenschaft über Be-
standteile von allgemeiner Gültigkeit verfügt. Dazu kommen noch
zwei andere Erwägungen. Wir müssen uns gegenwärtig halten, daß
man von dem jeweihgen Zustand einer Kunst nicht unmittelbar und
mit Sicherheit auf die vorwaltenden Neigungen schließen darf. Es mag
sein, daß eine unentwickelte Technik die vorhandenen Ideale zu kei-
nem deutlichen und reinen Ausdruck gelangen läßt. Ja, von gewissen
Künsten und Zeiten vermögen wir es sogar mit Sicherheit nachzu-
weisen. Der Geschmack des Publikums und die Leistungsfähigkeit
des Künstlers müssen sich nach der Decke strecken, beide müssen
mit dem vorlieb nehmen, was eine mangelhafte Technik in einem un-
vollkommenen Material herstellen kann. Würde man einen Menschen
des 16. Jahrhunderts plötzlich in unsere Zeit versetzen, so möchte er
vielleicht sofort den überlegenen Wert unserer Kunstwerke empfinden.
Dennoch — obwohl wir nur zaghaft aus Mitteilungen von Zeitgenossen
uns konstruieren können, wie die Werke einer Kunst zu ihrer Zeit
gewirkt haben, — dürfen wir vermuten, daß die tüchtigen Leistungen
in einem zu einer bestimmten Zeit herrschenden Stil die damals Leben-
den genau so stark ergriffen und erfreut haben, wie die guten Werke
der gegenwärtigen Kunstweise uns beeinflussen. Unser Empfinden
ist nicht maßgebend. Indem wir alte Kunst zu genießen versuchen,
beschwören wir in den meisten Fällen nur Larven der Vergangenheit
herauf. Gewisse Reize des Altertümlichen ^^) oder auch die Sehnsucht
nach entschwundenen Verhältnissen mag in den Genuß eingehen. Der
Kenner kann geschichtliche Freuden empfinden; indessen echt künst-
lerisch fassen wir nur lebendige Kunst auf und die seltenen Werke,
die etwa über der Geschichtlichkeit stehen. Denn es scheint, als ob
einige wenige Kunstleistungen innerhalb unserer Kultur bisher den
zeitlichen Schwankungen der Beurteilung nicht erlegen sind^*). Viel-
100 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
leicht gibt es eine Schwelle des objektiv Schönen, die von auserlese-
nen Leistungen überschritten wird, während das meiste im geschicht-
lich begrenzten und subjektiv begründeten Gefallen verharrt.
Den Fatalitäten, die sich aus dem Wirrsal der geschichtlichen und
persönlichen Geschmacksverschiedenheiten ergeben, kann die Wissen-
schaft doch wohl erfolgreich begegnen. Zunächst muß man einsehen,
worin diese Verschiedenheiten begründet sind. Ich habe versucht, es
anzudeuten. Einmal ist wichtig der Stand der Technik in jeder Zeit,
alsdann die ganze Kulturlage. Bei den individuellen Unterschieden
sind Höhe der Vorbildung und Weite der Erfahrung die wesentlichen
Momente. Es sei nochmals daran erinnert, daß die Stärke und Leb-
haftigkeit des Genusses nicht für das Wesen der Sache gehalten
werden darf. Denn Werke, die uns unerträglich sind, haben in ihrer
Zeit selbst die Besten begeistert, und bildungslose Geschöpfe der
Gegenwart können an den erbärmlichsten Werken ein aufrichtiges und
tiefgehendes Gefallen empfinden. — Wie in einer früheren Phase der
Überlegung, so helfen wir uns auch jetzt mit einer Voraussetzung.
Wir nehmen an, daß in der Entwickelung der geschichtlichen Welt
die Vorstellungs- und Gefühlselemente zusammengesetzter und feiner
geworden sind. Wir erklären das für einen Fortschritt und folgern:
Je mannigfaltiger das Kunstwerk und das von ihm ausgelöste Gefühl
ist, und je feiner die Bestandteile sind, desto höher stehen Werk und
Wirkung. Hiermit ist gegen die anprallende Masse der geschichtlichen
Tatsachen ein Halt von ähnlicher Beschaffenheit und relativer Festig-
keit gefunden wie gegen die Flut der persönlichen Unterschiede. Ver-
steht man das ästhetische Leben als in einer aufsteigenden Entwicke-
lung begriffen, so lassen sich seine Prinzipien festhalten, da die ge-
schichtliche Änderung nur die Entfaltung des Inhalts treffen würde. —
Ich bekenne, daß Fragen der Methodenlehre in besonderer Anwen-
dung auf ein einzelnes Wissensgebiet mir nicht übermäßig wichtig
scheinen. Die Grundprobleme, die aus der Unterscheidung von Natur-
und Geisteswissenschaft hervorgehen, sind deshalb von äußerster Be-
deutung, weil der Sinn von Wissenschaft überhaupt in der Methode
der Wirklichkeitsbearbeitung liegt. Bei einer einzelnen Disziplin jedoch
genügt ein Hinweis auf die Gesichtspunkte. Wer sich tiefer einläßt,
der kommt aus den voriäufigen Erwägungen nicht heraus und an die
Sache nicht heran. Die Abgrenzung des Stoffes und die Auswahl
der Methoden bleibt unvermeidlich von praktischen Rücksichten mit-
bedingt, es sei denn, daß der Forscher auch alle benachbarten Gebiete
allmählich zur Darstellung bringe und dabei zeige, daß er in Ausdeh-
nung und Beschränkung jedesmal das Richtige getroffen habe So-
lange ein solches System nicht voriiegt, fehlt die letzte Rechtfertigung
ANMERKUNGEN. IQl
für die Zuteilung des Stoffes und des Verfahrens an das einzelne
Wissensgebiet. Im Grunde genommen stehen sich in der Ästhetik,
da sie nur noch selten als Teil eines philosophischen Systems auf-
tritt, zwei Verfahrungsweisen gegenüber, die beide nicht bloß aus
methodologischen Grübeleien emporwachsen und auch anderen Wissen-
schaften an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung zu dienen
pflegen. Auf der einen Seite absichtliche Herstellung einer Einheit,
die Durchführung eines einzigen (inhaltlichen oder methodologischen)
Gedankens; auf der anderen Seite Anpassung an die Vielfältigkeit der
Tatsachen und ihrer Beziehungen und das Zutrauen, daß die einheit-
liche Persönlichkeit des Denkers den Bau vorm Auseinanderfallen be-
wahren werde. Zwischen diesen beiden Richtungen kann niemals
sicher und endgültig entschieden werden.
Anmerkungen.
*) N. M. Hunt, Kurze Gespräche über Kunst Deutsche Übersetzung. 2. Aufl.
1900, S. 84. Vgl. S. 131.
') Vgl. Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft. Bd. II, S. 90 ff.
*) Vgl. A. Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst. 3. Aufl.
1901.
*) Victor Cherbuliez, Uart ä la nature 1892, S. 16. — Viel Schönes dazu in
Kurt Breysigs Kulturgeschichte der Neuzeit Bd. I, 1900.
*) Dazu gehören J. Cohns Ausführungen über den rein intensiven (nicht konse-
kutiven) Wert des Schönen und O. Külpes Bezeichnung des ästhetischen Wertes
als eines Kontemplationswertes (in der Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. 1899).
*) Diese Ausführungen sind einem Aufsatz von Theodor Lipps entnommen, der
in der Zeitschr. f. Psychologie Bd. XXII, S. 415 ff. erschienen ist Das im Text
folgende Zitat auf S. 448.
^) Witasek, Zeitschr. f. Psychologie Bd. XXV, S. 1—49. Derselbe, Grundzüge
der allg. Ästhetik, S. 133. Die Einfühlung »besteht darin, daß das Subjekt die im
Gegenstande ausgedrückten psychischen Tatsachen durch — meist phantasiemäßiges —
Nacherleben und innere Wahrnehmung anschaulich vorstellt und den Gegenstand
dieser anschaulichen Vorstellung mit dem der äußeren Wahrnehmung vom aus-
drucksvollen Objekte durch Annahme oder Urteil in der Art verbindet, daß daraus
ein im ganzen anschaulich vorgestellter, mit körperlichen und seelischen Eigen-
schaften zugleich begabter komplexer Gegenstand entsteht« Was das Fühlen in
dem Vorgang der Einfühlung betrifft, »so erlebt das Subjekt tatsächlich in sich den
vom Objekt zum Ausdruck gebrachten psychischen Zustand (der übrigens keines-
wegs nur in Gefühlen zu bestehen braucht), wenn auch zumeist nur in der Phan-
tasie, also nicht als wirkliche Gefühle, sondern als Phantasiegefühle.«
®) Vgl. Heymans in der Zeitschr. f. Psychol. Bd. XI und die später, im Ab-
schnitt über die Baukunst, zu nennende Literatur.
») Vgl. R. Hamann, Das Symbol. Beriiner Diss. 1902.
»•) Hubert Rötteken, Poetik I, 1902.
*') Vgl. J. Cohn im Arch. f. System. Philos. 1904, S. 136 und die vortreffliche
Übersicht von Karl Groos in der Sammelschrift »Die Philosophie im Beginn des
20. Jahrhunderts« (1905, II, 135—174). Ich habe mich z. T. an Groos angeschlossen.
102 n. DIE PRINZIPIEN DER ÄSTHETIK.
*') Diesem historisch-soziologischen Verfahren hat Friedrich Carstanjen eine
bio-psychologische Betrachtungsweise gegenübergestellt Er zeigt , daß ein Über-
schuß an Kraft, der in den überlieferten Formen nicht genügend sich betätigen
kann und demnach zur Unlust führt, Änderungen hervorrufen muß, und behauptet,
daß diese Änderung in der reicheren Ausschmückung bestehe. »Jeder ursprung-
liche Kunstfortschritt geht von der Ausschmückung aus.« Diese Vermehrung des
Details führt zu einer Annäherung an die Natur und zugleich zur stärkeren Indi-
vidualisierung. Vgl. F. Carstanjen, Entwickelungsfaktoren der niederländischen Fröh-
renaissance. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1896, Bd. XX,
S. 1—44, 143—190.
") Für Leser, die einen Seitensprung nicht scheuen, möchte ich notieren, daß
eine merkwürdige, als Parodie teils unterhaltende teils abstoßende Nachbildung der
Raffaelschen Transfiguration sich in Karl Vogts Reisebriefen »Ozean und Mittel-
meer« 1848, II, 112 ff. findet. Viele wunderiiche Urteile in dem einst gelesenen
Buch der Gräfin Ida Hahn-Hahn »Jenseits der Berge«, namentlich über Midiel
Angelo (1840, I, 137). Was Raffaels Gemälde anlangt (dessen größerer unterer
Teil nach des Meisters Tod von einem unfeinen und farbenblinden Schuler ausge-
führt wurde), so sei daran erinnert, daß es bereits 1808 von Friedrich Schlegel sehr
heftig getadelt wurde. Eine Beschreibung und Würdigung gab Karl Justi (1870).
") Essays towards a critical method, By John M. Robertson. London 1889,
S. 74: ». . . we have coUedively abandoned wigs and powder and swords, tfioagk
mostly holding piously to stiff coUars. Yet we can recognize in the wigs and friüs
and swords a certain grace and decorum, not witkout fascination; just as, whäe we
prefer waltzing, we discover that the minuet was in its way a diffiailt dance enough,
caliing for physical poise and command of carriage; and thus add critical applause
to our pleased sense of its careful grace . . . Indeed, in our Classification of aspeds
of literature, we should keep room for the strictly historic or technic-historie interest
of every past art form to those interested in art. Liking or disliking a given style,
we stUl read to see how they wrote in those days,*
^^) Aus der Idealvorstellung der griechischen Kunst ist uns die Betraditungs-
weise geläufig, daß vollendete Kunstwerke möglich sind, die eine solche zeitlose
Schönheit enthalten, wie etwa die Sätze der Euklidischen Mathematik eine zeitlose
Wahrheit in sich bergen. Doch berührt es recht eigentümlich, daß Plato von der
Kunstweise, die lange vor seiner Zeit herrschte, behauptet, sie sei sdion das un-
übertroffene und nur geduldig nachzuahmende Vorbild. Man lese selbst:
Der Athener: Wir sprechen von einem Lande, wo vernünftige Gesetze
herrschen oder auch in Zukunft einmal herrschen werden. Meinen wir wohl, daß
es da, wenn es sich um die Ausbildung in den schönen Künsten und um die
Freude daran handelt, den schaffenden Künstlern freistehen kann, diejenigen rfaytfa-
mischen, melodischen oder sprachlichen Gebilde, an denen jeweilig der Künstler
beim Schaffen sein Gefallen findet, auch den Knaben und Jünglingen im wohl-
geordneten Gemeinwesen für chorische Aufführungen beizubringen und sie damit,
wie es sich eben trifft, zu löblichen oder verwerflichen Manieren anzuhalten?
Kleinias: Nein, das hätte keinen Sinn; wie sollte es auch?
Der. Athener: Heutzutage ist aber eben dieses Treiben man darf wohl sagen
in allen Staaten erlaubt, ausgenommen in Ägypten.
Kleinias: Wie erklärst du nun, daß in Ägypten gesetzliche Bestimmungen ge-
troffen worden sind?
Der Athener: Das ist wunderiich anzuhören. Der Satz, den wir gegenwirtig
behandeln, ist ihnen, so scheint es, von alter Zeit her geläufig, nämlich daß die
ANMERKUNGEN. 103
jungen Leute in den Staaten an schöne Bewegungen und schöne Tonreihen in
ihren geselligen Vereinigungen zu gewöhnen sind. Muster dieses Schönen hat man
dort in den Tempeln und bei religiösen Feierlichkeiten zur Schau gebracht, und es
war weder den Malern noch sonst einem unter denen, die Gestalten und dergleichen
herstellen, gestattet, Neuerungen vorzunehmen oder sich sonst etwas vom Her-
kömmlichen Abweichendes auszudenken; auch heute noch ist es weder in diesem
noch in irgend einem anderen Gebiete der schönen Künste gestattet Und siehst
du genauer zu, so wirst du finden, daß dort was vor zehntausend Jahren gemalt
oder gemeißelt worden ist — und zehntausend Jahre meine ich nicht im sprich-
wörtlichen, sondern im eigentlichen Sinne — , weder höher noch niedriger steht als
das was man jetzt macht, sondern ganz in derselben Kunstform gearbeitet ist.
Kleinias: Höchst merkwürdig, was du sagst
Der Athener: Jedenfalls eine gesetzliche staatserhaltende Anordnung von höch-
stem Werte. Du kannst eben dort manches andere finden, was recht bedenklich ist
Diese Bestimmung aber, die schöne Kunst betreffend, ist vernünftig, und es ist wohl
der Beachtung wert, daß es möglich war über diese Dinge feste Anordnungen mit
Entschiedenheit zu treffen und Singweisen vorzuschreiben, die das Gepräge der
Angemessenheit von Natur an sidi tragen. Allerdings dürfte es das Werk eines
Gottes oder eines göttlichen Mannes sein, und wirklich erzählt man dort, die von
so langer Zeit her überlieferten Tonweisen seien als Schöpfung der Isis entstanden.
Darum dürfte man wohl, wie gesagt, unter der Voraussetzung allerdings, daß
jemand im stände wäre das Angemessene darin festzuhalten, es kühnlich in Gesetzes-
form bringen und feste Ordnungen darüber vorschreiben. Denn die Jagd nach
frohen und schmerzlichen Erregungen, die immer neue Kunstformen zu ersinnen
antreibt, hat doch eigentlidi keine besondere Macht, die geheUigten Weisen durch
den Vorwurf, sie seien veraltet, zu beseitigen. Jedenfalls dort, scheint es, hat sie
sie keineswegs zu beseitigen vermocht, sondern gerade das Gegenteil ist eingetreten.
(Gesetze II, S. 656 D/E.)
ilL Der ästhetische Gegenstand.
1. Der Umkreis ästhetischer Gegenstände,
Ob es erlaubt ist, zwischen ästhetischem G^enstand und ästheti-
schem Eindruck zu unterscheiden? Wir wissen bereits, daß nach einer
lebhaft verteidigten Ansicht gerade in dieser Sphäre die sonst fiberall
herrschende Sonderung des Subjektiven und Objektiven fortfallen soll.
Beim ästhetischen Genuß empfinde der Mensch das Ding oder den
Vorgang nicht mehr als etwas Äußeres und seine Gefühle nicht als
etwas rein Subjektives ; sondern in einer unbegreiflichen Mitte, in einem
gar nicht beschreibbaren Zusammenfließen bestehe die Bildhaftigkeit
oder die besondere Daseinsart des Schönen. Daß hierin etwas Richtiges
liegt, kommt namentlich beim Hören von Musik zum Bewußtsein: wir
vermögen kaum zu sagen, was außen und was innen ist, und wir
haben während des Erlebnisses keinen Anlaß, eine solche Trennung
vorzunehmen.
Dennoch kann die Ästhetik als Sonderwissenschaft und als philo-
sophische Betrachtung den im tiefsten der Seele verankerten Dualismus
von Subjekt und Objekt nicht fortspulen. Sie hat sich vielmehr zu
entscheiden, ob sie die Beschaffenheit von Gegenständen für wesent-
lich oder gleichgültig zur Entstehung des ästhetischen Genusses er-
achtet. Und dies umsomehr, als die Grundfrage nach dem Verhältnis
des Schönen, Ästhetischen und Künstlerischen zueinander mit der An-
erkennung oder Verwerfung objektiver Merkmale zusammenhangt. Hier-
von sei zunächst die Rede.
Tatsache ist, daß ein gewisser Kreis von Gegenständen, dessen
Inhalt auch mit leidlicher Sicherheit angegeben werden kann, den
Umfang des »Schönen« abgrenzt. Über das, was — außerhalb der
Kunst und oft unbeeinflußt von ihr — schön genannt wird, gehen
die Meinungen nicht erheblich auseinander, wie denn überhaupt der
Einzelne in seinen natüriichen Lustgefühlen durchaus Gattungsexem-
plar ist. Ästhetischer Individualismus und Skeptizismus haben in dieser
Rücksicht weit geringere Macht als man glauben sollte: Das be-
trachtende Wohlbehagen, das einige Erscheinungen der Natur und
des Lebens hervorrufen, wird Gerechten wie Ungerechten zu teil.
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. 105
Die eine Körperform gilt allgemein als häBlichy eine zweite als gleich-
gültig, eine dritte als schön. Übertragen wir diese uns so geläufige
Vorstellung auf die Wirklichkeit insgesamt, so entsteht ein Stufenbau:
Auf der untersten Stufe befindet sich das Häßliche, dann folgt die weite
Sphäre des Gleichgültigen und schließlich das Gebiet des Schönen.
Um eine kurze Bezeichnung zur Hand zu haben, sei es gestattet, eine
solche Auffassung, die der theokratischen verwandt ist, Kallikratie
zu nennen. Der Kallikratie zufolge hätte die Kunst eine Aufgabe von
entzückender Einfachheit, nämlich die, das überhaupt Schöne oder an
sich Wohlgefällige durch Wiederholung eindringlicher und zugänglicher
zu machen. Naive Gemüter pflegen die Kunst so anzusehen. Sie
haben im Leben Dinge angetroffen, die (hauptsächlich auf Grund von
Gesichts- und Gehörseindrücken) ein störungsfreies Genießen hervor-
rufen, und sie verlangen nun von der Kunst, daß sie solche Annehm-
lichkeiten gesammeh und gereinigt darbiete. Wie im Leben, so suchen
sie auch in der Kunst das Schöne und fliehen alles Häßliche. »Schön-
heit ist der höchste Endzweck und der Mittelpunkt der Kunst« ^).
Zwei Vorzüge dieser Betrachtungsweise sind unverkennbar. Sie
zeichnet sich dadurch aus, daß sie Abstände, Ober- und Unterordnung
zugesteht, und sie erleichtert die Führung der Theorie, indem sie
Natur- und Kunstschönes zu einer Einheit zusammenschließt. Aber
die Nachteile überwiegen. Wie würden Umfang und Bedeutung der
Kunst zusammenschrumpfen, wenn wir sie auf eine höhere Annehm-
lichkeit einschränken wollten! Überhaupt darf die Kunst nicht mit
einem bestimmten Inhalt in eins gesetzt werden. Einer der ersten
Schritte zum Kunstverständnis besteht ja darin, daß man lernt. Gleich-
gültiges zu genießen, weil es in künstlerischer Darstellung auftritt, sich
weder durch die im Kunstwerk enthaltenen sachlichen Schönheiten
verleiten noch durch die Häßlichkeiten abstoßen zu lassen. Kunst hat
nicht das Schöne, sondern höchstens schön darzustellen ; die Ästhetik
ist nicht ein Verzeichnis aller schönen Gegenstände, sondern die
Wissenschaft von den äußeren und inneren Bedingungen gewisser
Wertvorgänge. Femer scheint der stetige Fortschritt von dem leib-
haftig Schönen zur Kunst im Grunde nur einer idealistischen Meta-
physik zu gelingen. Der Zusammenhang nämlich, der vom ästhetischen
Stufenbau der Welt ohne Sprung zur Kunst hinüberführt, erhält seine
größte Festigkeit durch die Annahme, daß Ideen sowohl erzeugende
Ursachen von Naturobjekten als auch von Kunstwerken sind. Wenn
ein Ding derart von Idee erfüllt ist, daß es bloß als Symbol oder
bildhafte Äußerung dieser Idee gefällt, dann ist allerdings seine Schön-
heit in ihrem Kern gleichzusetzen mit dem, was man gemeinhin auch
in der Kunst unter Schönheit versteht.
106 m. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Man wage folgende, dem Plotinismus abgelauschte Spekulation.
Gottes Wesen verkündet sich am freiesten in den Schönheiten der
Natur. Mit der weiteren Entfernung vom Absoluten nimmt auch die
Schönheit ab; an der letzten, dunkeln Grenze wohnt der Dämon des
Häßlichen. Die bevorzugten Punkte des Kosmos zeigen eine Schön-
heit, an die keine Kunst heranreicht. Plotin bleibt dabei freilich nicht
stehen: seine Philosophie ist ebensosehr ein dynamischer Pantheismus
wie eine Emanationenlehre; neben der Unnahbarkeit des göttlichen
Einen wird auch die Erfüllung der ganzen Welt durch den höchsten
Geist verkündet. Wir hatten vorhin ein Weltbild entworfen, das einen
Stufenaufbau ästhetischer Werte darstellt. Es drängen jedoch starke
Motive zu einer Betrachtungsweise nach der Art des Pantheismus und
Panlogismus. Wie es nichts gibt, was ganz von Gott losgelöst ist,
nichts, was völlig geistfrei ist, so läßt sich nichts aufweisen, was der
ästhetischen Bedeutung gänzlich entbehrte. In diesen drei Sphären
vermag der Geist sich zu dem Gedanken zu erheben, daß der Wert,
der nur vereinzelt vorzukommen scheint, in Wahrheit allen Dingen
gebührt. Daher kann der empfängliche Sinn an dem Niedrigsten und
Dürftigsten nicht geringere Schönheit entdecken als an jenen glänzenden
Erscheinungen, die mit der Marke »Schönheit« versehen sind: der Be-
trachter muß nur sorgsam nachspüren und andächtig sich versenken.
Die Kunst ist dazu da, daß dieser Charakter der Welt ebenso deut-
lich zum Ausdruck gelange, wie der Logos der Wirklichkeit durch die
geläuterte Religion und die spekulative Philosophie ans Licht gezogen
wird. Den so gewonnenen Standpunkt wollen wir gleichfalls mit
einem besonderen Wort benennen: er heiße von jetzt ab Pa nästheti-
z i s m u s.
Der Panästhetizismus besitzt die verführerische Kraft des Panthe-
ismus. Doch treibt er zu einer Herabwürdigung der Kunst. Jedes
vom Künstler vollzogene Auswählen erscheint als dreiste Anmaßung,
jedes Idealisieren als Gotteslästerung. Ein Herumbessern an der Natur
steht auf gleicher Höhe mit jener kümmerlichen Malerei, die in die
Photographien toter Kinder farbige Engelsflügel einfügt. Daher be-
hauptet Ruskin: »Keine griechische Göttin ist jemals halb so schön
gewesen wie eine junge Engländerin von reinem Blut.« In der Tat
ist für Menschen mit Beobachtungssinn und dem angeborenen Ge-
mütsverhältnis zur Natur das Naturschöne nicht mehr ein Äquivalent
der Kunst, sondern ihr völliger, vielleicht die Kunst übertreffender Er-
satz. Wilhelm Heinse schildert den Rheinfall und fügt hinzu: »daß
alle Tiziane, Rubens' und Vemets vor der Natur müssen zu kleinen
Kindern und lächeriichen Affen werden.« »Kommt und laßt euch die
Natur eine andere Oper vorstellen, mit anderer Architektur und anderer
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. 107
Feenmalerei und anderer Harmonie und Melodie, als die von jämmer-
licher Verschneidung mit einem winzigen Messer euch entzückt« *).
Der begeisterte Verfasser einer Forstästhetik') hat herausgerechnet, »daß
die Naturschätze, welche unsere Forsten bergen, allein schon durch
ihren Schönheitswert den Wert aller Kunstsammlungen unermeßlich
übersteigen, und in den ersteren sind wir die Museumsdirektoren.«
Für diese etwas naive Denkweise ist es allerdings eine notwendige
Folgerung, daß Farben und Formen der Außenwelt an ästhetischem
Wert jeden künstlerischen Versuch überstrahlen. Im Walde mischen,
verbinden und trennen sich die Farben mit einer unnachahmlichen
Zartheit. Durch die nie fehlende Bewegung entstehen fortgesetzt neue
und reizvolle Harmonien; das Licht, das auf den Gegenständen spielt,
und die Luft, die zwischen ihnen und dem Betrachter liegt, geben
ihren Beitrag. Das Ganze erscheint als unbegrenzt oder in jedem
Augenblick beliebig begrenzbar. Es ist aber nicht nur räumlich größer,
sondern auch inhaltlich reicher als jegliches Gebilde von Künstlerhand,
denn es erfreut die niederen Sinne durch Wärme und Duft. Damit
leistet es möglicherweise etwas Bedeutsames; wenigstens behauptet ein
älterer Ästhetiker vom Geruch, er gewähre »gleichsam aus dem innersten
Herzen der Pflanze heraus von ihrer Art eine einfachere, schnellere,
schärfere Erkenntnis als ihre Gestalten und alle Versuche einer künst-
lichen Beschreibung« *).
Indessen selbst wer die Akzentverschiebung von der Kunst auf die
Natur billigt, kann im Panästhetizismus kaum die unbedingte Sicherheit
und Ruhe finden, die dem Erklärungsbedürfnis vorschweben. Sowohl
der Anblick der Welt als auch der Anblick der Kunst erhält unter
diesem Gesichtspunkte etwas Zerfließendes und Verschwimmendes.
Wenn alles gleichwertig wird, so bleibt keine Möglichkeit fester Ord-
nung, entfällt jede Gliederung des Weltbildes. Wir kommen dahin,
die Schönheit eines dürren Grashalmes ebenso laut zu preisen wie die
Schönheit des Weibes. Und nicht genug damit, nein, wir müssen
schließlich auf jede objektive Nachweisung verzichten und alles dem
subjektiven Belieben überlassen. Nirgends zeigt sich eine sichere
Grenze zwischen dem, was objektiv schön ist, und dem, was mich
persönlich interessiert: wenn ich empfänglich gestimmt bin, dann finde
ich überall die erlesensten Reize heraus, und es liegt an meiner Stumpf-
heit, daß ich gewöhnlich nur die eine oder andere auffallende Schön-
heit bemerke.
Die Wahl zwischen Kallikratie und Panästhetizismus ist nicht auf
Ja oder Nein gestellt. Man muß nur auseinanderhalten das ästhetische
Weltbild einerseits und das Verhältnis von Natur und Kunst ander-
seits; außerdem muß auf beiden Seiten die Zeri^^ng rücksichtslos bis
108 in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
ZU Ende geführt werden. Innerhalb des Weltbildes unterscheiden wir
das Schöne und das Ästhetische: jenes als einen wichtigen Einzelfall
von diesem. Unleugbar die Err^ungskraft einer jeden, auch der an-
scheinend gleichgültigen, ja häßlichen Erscheinung, unleugbar die be-
sondere Stellung schöner Gebilde und Geschehnisse. Eine ästhetische
Wertauffassung sieht ihr Ziel darin, nach festen Maßen eine Rang-
ordnung herzustellen und auch auf ihrem Gebiet ein inhaltlich be-
stimmtes »höchstes Gut«, das Schöne, nachzuweisen. Allein, hiermit
darf nicht die engherzige Forderung verknüpft werden, daß die Kunst
— eine Schöpfung des menschlichen Geistes — lediglich vom Schönen
sich nähre. Überhaupt ist die Vergleichung des Schönen und des
künstlerisch Wertvollen unerlaubt, da sie sozusagen auf verschiedenen
Ebenen liegen. Im tiefsten Grunde hangt freilich alles zusammen,
vollends dasjenige, was in der Entwicklung der Kultur und des Denkens
stets als einheitlich betrachtet worden ist. Für die Zwecke der zer-
legenden und sichtenden Erkenntnis jedoch und für den von dieser
Erkenntnis mitbedingten Fortschritt wird nunmehr notwendig, die Ver-
schiedenheit mit aller verfügbaren Kraft herauszuheben. Und zwar
kann das auf doppelte Weise geschehen: einmal durch die Einsicht,
daß Kunst weder aus der Nachahmung des Schönen entstanden ist
noch in ihren Leistungen und Wirkungen ausschließlich von ihr be-
dingt wird, und alsdann durch den Nachweis, daß es ästhetische
Gegenstände und Eindrücke gibt, die mit der Kunst schlechterdings
nichts zu tun haben. Der zweite Punkt steht hier zur Verhandlung,
wo wir vom Umkreis der ästhetischen Gegenstände sprechen.
Gönnen wir nochmals dem Naturschönen, der crux der Ästhetiker,
ein wenig Aufmerksamkeit. In der Gegenwart leben viele, denen die
naturwüchsige Freude am lebendig Schönen ebenso fehlt wie die
Kenntnis seiner Beschaffenheit. Wenn sie trotzdem genießen, so ge-
schieht es, weil sie aus dem Natürlichen einen Nachhall der Kunst
heraushören. Sie freuen sich an Farbenstimmungen, die sie von Ge-
mälden her kennen, sie bewundern die Maßverhältnisse, die durch
Bildner aus der Fülle der wirklichen Formen herausgehoben sind —
mit einem Wort, sie verdanken den Künstlern ihre Freude an der
Natur. Ihre Sympathien und Antipathien sind ihnen von Malern und
Dichtem eingegeben, ihre Netzhaut und ihr Trommelfell ist von Bild-
hauern und Musikern zu ästhetischen Verrichtungen erzogen. Andere
dagegen haben ein ursprüngliches, von der Kunst nicht berührtes Ge-
mütsverhältnis zur Natur; zumeist finden sie die Schönheit in ihren
natürlichen Gestalten herrlicher als die Schönheit, die in einen Rahmen
gespannt oder zwischen Buchdeckel gepreßt wurde. Zu den bedeut-
samen Ereignissen ihres Lebens gehören die unbeeinflußten B^eg-
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. lOg
nungen mit der Natur, jene Stunden, Tage, Wochen, in denen nicht
Erholungsbedürfnis, sondern aufgespeicherte seelische Energie den Ge-
nuß herbeiführte.
Beide Beziehungen werden gar leicht mit der Lebensauffassung an
sich verquickt und einer moralischen Wertung unterworfen. Einer von
den Ooncourts notiert gelegentlich: »Wenn am Morgen, wo du noch
in deinem Halbschlummer liegst, Heuwagen an die Mauern streifen,
bekommst du den Eindruck, als hörtest du eine Frau, die, zu Füssen
deines Bettes sitzend, seidene Strümpfe anzieht.« In solchen Assozia-
tionen stellt die Kultur, und nicht nur die künstlerische, der natür-
lichen Empfindungsweise den Totenschein aus. Klagen darüber sind
ebenso alt wie zwecklos. Bereits im Jahre 1770 schreibt Oarve die
Worte, die in unserer Zeit Tolstoi hätte äußern können: »Wir werden
von Kindheit an erst durch unsere Erziehung, dann durch unsere
Lebensart und Geschäfte von dem Anblicke der Natur abgehalten . . .
Nur gelegentlich, nur auf Augenblicke werden unsere Menschen in
das freie Feld hinausgeführt . . . Viele Dinge geschehen täglich vor
unseren Augen oder sind nur wenig Schritte von uns, die wir doch
kaum eher bemerken, als bis wir sie in Büchern gefunden haben. Die
Dichter müssen uns erst sagen, was eine schöne Gegend sei und wie
die Sonne auf- und untergeht.« Selbst diese Art der Anschauung
wird getrübt, weil unsere Seele der völligen Sammlung entbehrt, ohne
die weder eine große Leistung noch ein großer Eindruck entstehen,
weil wir ablenkbar und aufs Vergängliche gestimmt, Liebhaber der
Anekdote und nicht Bewunderer des Heldenepos sind. Inmitten der
zauberhaftesten Aussicht klammert sich das Interesse des Durchschnitts-
menschen an irgendwelche Auffälligkeiten seines Nachbarn, gleichwie
die Besucher einer Künstlerwerkstatt gewöhnlich nicht von den Bildern,
die die Wand schmücken, angezogen werden, sondern sich gierig auf
das Photographienalbum stürzen.
Die in der Wirklichkeit enthaltenen ästhetischen Gegenstände bieten
sich einer Mehrheit von Auffassungen dar. Wo sie mit echter Naivi-
tät genossen werden, da fehlt selten eine inneriich tätige Abneigung
gegen wissenschaftliche Naturerklärung. Dem so Gestimmten scheint
es, als ob der herumstreifende Botaniker, indem er die Blume zerpflückt,
zugleich ihren Zauber zerstört. Die Wissenschaft schweigt nicht nur
von allen den Tröstungen und Verheißungen, die der abendlich ge-
färbte Himmel uns zuflüstert — nein, sie mordet, was für den Menschen
und sein Leben von äußerster Bedeutung ist. Oder bedeutet es etwa
nichts, wenn die Erinnerung an deutsche Wälder dem in die Ferne
Verschlagenen immer von neuem die Anhänglichkeit an das Vaterland
stärkt? Ästhetische Eindrücke sind es, an welche die Liebe zur heimi-
110 in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
sehen Erde sich heftet. In dies rein menschliche Gefühl darf kein
wissenschaftlicher Gedanke sich eindrängen. Gleichwie die Schönheit
einer Bewegung oder eines Sprachklangs sicherer aufgenommen und
voller genossen wird, solange ihr Sinn verborgen bleibt, so werden
die Reize der Natur und des Lebens von der Unkenntnis am eindring-
lichsten empfunden.
Fast unmerklich vollzieht sich der Übergang zu einer hiervon ab-
weichenden Schätzung. Während jener Standpunkt den Grundsatz
Vart pour Vart in seiner Weise vertritt, zeigt sich eine andere ästhe-
tische Auffassung der Naturerscheinungen mit Nützlichkeitserwägungen
vermischt. Das Naturgefühl dürfe nicht spielerisch und ein Luxus der
Bevorzugten sein, sondern die Quellen des Schönen in der Natur
müssten jedermann fließen, daher zugänglich gemacht und rein ge-
halten werden. Wird ein unveräußerliches Menschenrecht auf Natur-
genuß behauptet, so wird dieser selbst in seinem Charakter umgedeutet
Allerhand soziale Maßnahmen gehen von hier aus; die Annäherung
des Ästhetischen an die Kunst wird im Hinblick auf die gesellschaft-
liche Verrichtung vollzogen. Dazu kommt nun, daß das Verhalten des
Aufnehmenden das nämliche — mit den alten Ausdrücken: ein kon-
templatives und interesseloses Wohlgefallen — zu sein scheint. Um
so ernstlicher ist vor einer Gleichsetzung der in Natur und Kunst ent-
haltenen Bedingungen des ästhetischen Genusses zu warnen. Ich er-
innere voriäufig an die rastlose Unruhe und an die Grenzenlosigkeit
des Wirklichen, sowie an die Mitwirkung der niederen Sinne In
diesen drei Beziehungen ist die Kunst ärmer. Aber eben in der Be-
schränkung liegt ihre Stärke. Die Poesie bietet stets nur Worte und
die Malerei stets nur Bilder, und das macht ihren Sinn aus.
Bewußtheit und Reflexion dringen noch von einer anderen Seite
in die von der Kunst unabhängigen ästhetischen Gegenstände ein.
Zeugnis dafür sind die Reisebeschreibungen: auch die unbefangensten
prunken mit Namen, Zahlen und Tatsachen. Femer gehören hierher
die Schilderungen der Naturkundigen. Manchmal verdichten sie sich
zu ästhetischen Untersuchungen. So besitzen wir z. B. mehrere Ab-
handlungen eines vortrefflichen Zoologen über die Schönheit der Tiere.
Für die Schönheit der Säugetiere soll die Gliederung des Körpers ent-
scheidend sein; diese entspricht jedoch weder einem mathematischen
Gesetz noch dem erhaltungsmäßigen Bau, sondern bedeutet einen Si^
der Kraft über die Schwere der Körpermasse. Daneben betont der
Zoolog den Einfluß, der von dem gewohnten Anblick der mensch-
lichen Gestalt und der Haustiere unwillküriich ausgeht, der den Mandrill
als Karikatur des Menschen, die Giraffe als ein mißratenes Pferd er-
scheinen läßt Bei den Vögeln liegen die ästhetischen Eigenschaften
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. m
in der Form, der Farbe und in den Bew^ungsweisen. Namentlich
die Zusammenstellung und der Olanz der Farben erzeugen starke und
in Regeln zu fassende ästhetische Gefühle. Dasselbe gilt von den
Schmetterlingen *).
Die innige Beziehung zur Natur, von Wissen durchzogen und für
die Wissenschaft fruchtbar gemacht, führt zu Betätigungen, die trotz
ihres Zusammenhangs mit dem ästhetischen Leben nicht eigentlich zum
Kunstschaffen gerechnet werden. Die Topographie gibt die leblose
Natur wieder und zwar mit den Hilfsmitteln des Zeichners: Papier,
Blei, Tusche, Farben. Von dem mechanischen Teil der Arbeit kann
hier abgesehen werden. Aber nachdem die Koten gelegt sind, muß
jeder zwischen den gemessenen Punkten befindliche Gegenstand in
seinen Raumbeziehungen sorgsam aufgefaßt und nach Form und Größe
richtig eingezeichnet werden; die ganze Karte endlich soll nicht nur
leicht lesbar und getreu, sondern auch anschaulich und wohlgefällig
werden. Moltke nannte das: »dem Boden das Geheimnis seiner
Szenenkunst ablauschen«. Für diese Tätigkeit ist also zunächst eine
Vertrautheit mit allen Einzelheiten der Bodengestaltung, mit Feld, Wald,
Fluß, Berg erforderlich, und alsdann muß die Technik des Zeichners
in einem gewissen Umfang beherrscht werden. Dennoch bezeichnet
niemand die Ortsbeschreibung als Kunst im gleichen Sinne wie Malerei
und Plastik.
Fragt man nach dem Grunde, so wird kaum ein Zweifel darüber
herrschen, daß er in dem Mangel freier Gestaltung zu suchen ist.
Das erste Gebot der Topographie: Genauigkeit schließt die Betätigung
schöpferischer Einbildungskraft aus, die mit unserem Begriff von Kunst
und Künstler unlöslich verschmolzen ist Anders verhält es sich mit
dem zweiten Beispiel, das wir betrachten wollen. Die Ziergärtnerei
nämlich, von der gesprochen werden soll, läßt dem Schaffensdrang
einen Spielraum. Um sie aus dem geheiligten Kreise der Künste zu
verbannen, hat man daher andere Erwägungen herangezogen. Man
hat geltend gemacht, daß der Gartenkünstler keine solche Hindernisse
zu bekämpfen brauche wie der bildende Künstler. Doch trifft das kaum
zu. Die Schwierigkeit, aus einem öden Gefild oder aus einem wirren
Wald ein wohlgegliedertes Ganzes zu gestalten, wo jede Farbe und
Form für jede Stellung des Betrachters und jede Jahreszeit am rich-
tigen Fleck sich befindet, wo die Übersicht des Ganzen und die Freude
am Einzelnen sich nicht stören, diese Schwierigkeit ist wohl anders
geartet, aber nicht geringer als der Durchschnitt dessen, was ein
Künstler zu überwinden hat. Vielleicht liegt in der Beschränktheit
auf das natürliche Material ein Moment, das den weitabgewandten
Charakter reiner Kunst nicht aufkommen läßt; vielleicht fühlen wir
112 m. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
instinktiv, daß die Besonderheit und Fremdheit des Künstlerischen in
der Hortikultur unmöglich ist. So möchten wir wohl einen Grund
dafür haben, die Gartenkunst aus der Reihe der Künste zu streichen.
Sie ist eine ästhetische Fertigkeit, wenn man so will, aber deshalb
noch nicht Kunst. Das unwillkürliche Empfinden des Sprachgebrauchs
hat sicherer geleitet als die Theorie der Ästhetiker^).
Übrigens sind bei allen solchen Abgrenzungen und Titelverleihungen
soziale Vorgänge maßgebend, die in der reinen Theorie nicht genügend
berücksichtigt werden. Wie hoch man den Künstler in der gesell-
schaftlichen Stufenordnung stellt, welche Künste in einer Zeit am
meisten begehrt werden, welchem Gebiet die größte Anzahl der her-
vorragenden Talente sich zuwendet'), solche Vorgänge bestimmen
ganz wesentlich die Bewertung eines besonderen Tätigkeitsgebietes
als einer Kunst. Die Grenzen zwischen Gewerbe und Kunst sind
fließend und unterliegen dem geschichtlichen Wechsel. Da keine be-
griffliche Bestimmung der Vielfältigkeit des Inhaltes und der Anwen-
dung gerecht werden kann, so muß auch die Theorie die Verschieb-
barkeit der Grenze zugeben. Offenbar stehen wir jetzt wieder vor
einer Zeit, in der es der Architekt nicht verschmähen wird, seine Kraft
der Anlage eines Parks zu widmen, und wo die Künstler ebenso leb-
haft für den Blumenschmuck des Balkons sich interessieren werden,
wie sie jetzt schon für die Herstellung von Tapeten sich einsetzen.
Wir können beobachten, daß die Wandlung des Geschmackes von
der Substanzialität zur Aktualität, vom räumlich Ruhigen zum zeitlich
Bewegten bereits in die Gartenbaukunst eingedrungen ist. Früher hat
man Pflanzen wie z. B. die Taxushecken nach festen Formtypen zu-
geschnitten und in den Sträußen die Blumen zu einem bestimmten
Schema zusammengepreßt; jetzt behandelt der Gärtner im großen wie
im kleinen alle Pflanzen als zeitliche Gebilde, als wachsende und
lebendige Einzelwesen. Einst schuf der Architekt des Gartenbaues
Wasserterrassen, die wie eine Raumform wirkten; jetzt sucht er in
der Bewegung des Wassers den Reiz. Also Wandlungen der künst-
lerischen Produktion spielen auch in die Betätigungen des Geschmacks
hinein.
Schon in der Einleitung ist angedeutet worden, daß der Drang
nach Schönheit nicht die spezifische Form der Kunst zu gewinnen
braucht. Im Gegenteil, das ästhetische Bedürfnis ist so mächtig, daß
es auf nahezu alle Leistungen des Menschen sich ausdehnt Der
Mensch strebt nicht ausschließlich nach einem in der Kunst etwa
vorhandenen Intensitätsmaximum ästhetischer Lust, vielmehr treibt er
auch sozusagen extensive Wirtschaft mit dem Ästhetischen. Auf sämt-
lichen geistigen und wirtschaftlichen Gebieten setzt sich die Lebens-
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. II3
energie teilweise in ästhetische Formung um. Wenn wir eine Ma-
schine, die Lösung einer mathematischen Aufgabe, die Organisation
irgend einer sozialen Gruppe schön nennen, so ist das mehr als eine
Redensart. Denn in der unbedingten Zweckmäßigkeit des Ganzen
und der hiernach zu bemessenden Übereinstimmung der Bestandteile
finden wir den rationalen Faktor der Kunst wieder. Die Geschlossen-
heit des Kunstwerkes und die in ihm herrschende Vereinheitlichung
des Mannigfaltigen werden zum Vorbild für die Einrichtung von Dingen
und Vorgängen. Indem wir das von uns Gestaltete derart geistig
durchdringen, daß es durch seine wohltuende Ordnung sich von der
unberechenbaren Mannigfaltigkeit des natürlichen Seins abhebt, machen
wir unser Erzeugnis erst zu einem voll befriedigenden. Daher konnte
Dugald Stewart die Grundzüge einer Ästhetik entwerfen, fast ohne
sich um die Kunst zu kümmern. Unserer wissenschaftlichen Gewöh-
nung scheint das widersinnig. Vollends glauben wir den Boden unter
den Füßen zu vertieren, wenn wir bei Alexander Bain lesen, daß die
Freude an der Machtstellung des eigenen Volkes, das Standesbewußt-
sein und der Familienstolz zu den ästhetischen Gefühlen gehören
sollen. Nachträglich aber erkennen wir in dieser paradoxen Ansicht
eine gewisse Berechtigung. Denn das Aktivitätsgefühl, das den künst-
lerisch Genießenden mit dem künstlerisch Schaffenden verbindet, ver-
mag sich auch in jenen Emotionen auszuleben. Ferner wird durch
die Überordnung, nämlich des Volkes, Standes und der Familie, denen
der Denker angehört, eine leichte Übersicht erzeugt und eine sym-
metrische Anordnung getroffen, die dem geistigen Auge Befriedigung
gewährt. Da in diesem Falle das Ich im Mittelpunkt steht, so ist die
erfreuende Regelmäßigkeit offenbar auch stofflich bedingt. Unter
solchen Umständen kommt der Inhalt der Teile und ihre Teilbeschaffen-
heit überhaupt zu größerem Recht Wertsteigerungen und Verschie-
bungen treten ein, die schließlich den Einheitsbezug sprengen und
zur Asymmetrie führen können. In der Entwickelung der Völker und
der Einzelnen gibt es Zeiten, wo diese Befreiung von einem Zwang
den so gewonnenen asymmetrischen Formen einen starken Reiz verleiht.
Soziale Ordnungen und Lebensformen gehören zweifellos in den
Umkreis ästhetischer Gegenstände. Jede Regelung der gesellschaft-
lichen Beziehungen, alle Sitten und Bräuche sind auch dieser Be-
dingung unterworfen, daß sie den Geschmack nicht verletzen dürfen,
ja sogar ästhetische Gefühle auslösen sollen. Leider zeigt die ästhe-
tische Gestaltung unseres Lebens einen erschreckenden Tiefstand. Im
geselligen Verkehr herrscht Formlosigkeit, die man mit dem bezeich-
nenden Worte »Gemütlichkeit« verhüllt, wird immer noch geschrieen
statt gesprochen und ohne den gedeckten Tisch oder einen bestimmten
Dessoir, Ästhetik und allg. Kunstvrissenschaft. 8
114 in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Vereinszweck keine Zusammenkunft veranstaltet. Man hält es für eine
Forderung guter Sitte, sich im Salon gegenseitig vorzustellen und mit
dem Gebrauch der Titel sogar die dritte Person zur Anrede zu ver-
wenden; man setzt Verlobungen und Entlobungen d. h. Verkündi-
gungen und Nichtigkeitserklärungen ausgetauschter Küsse in die Zei-
tung. Wer recht deutlich sehen will, wie arg der Formensinn selbst
bei den geistig Hochstehenden verkümmert ist, der höre den Vorträgen
oder Gesprächen berühmter Männer zu: er wird dann zugeben müssen,
daß die ästhetische Vollendung auf diesen Gebieten nicht angestrebt,
geschweige denn erreicht wird. Wenn wir Konversation machen,
sind wir teils langweilig teils gemein. Die Kunst des anr^enden
Gesprächs, das weder in eisige Höhen hinaufreicht noch in schmutzige
Niederungen versinkt, liegt schmählich darnieder. —
Nachdem wir uns jetzt im weiten Felde der ästhetischen Objekte
einigermaßen zurechtgefunden haben, wird die Behauptung nicht mehr
allzu gewagt klingen: es könnte jemand ein vollständiges System der
Ästhetik aufstellen, ohne von der Existenz einer Dichtkunst, einer
Musik, einer Malerei zu wissen. Er würde den ästhetischen Eindruck
erschöpfend beschreiben und zergliedern, da dieser Eindruck durch
Gegenstände unserer Umgebung in aller Intensität hervorgerufen wird,
und er vermöchte das Schöne wie das Erhabene, das Komische wie
das Tragische, das Liebliche wie das Häßliche den äußeren Be-
dingungen nach an Objekten und Geschehnissen des täglichen Lebens
hinreichend zu erklären. Und nicht genug damit. Auch für die ästhe-
tische Umbildung und Gestaltung des natürlichen Seins hätte er in
allerhand Fertigkeiten und Organisationen die lehrreichsten Beispiele.
Der Satz mag folglich als bewiesen gelten, daß der Geschmack
sich unabhängig von der Kunst entwickeln und auswirken
kann.
Wir lassen nunmehr das Verhältnis des Schönen und Ästhetischen
zum Künstlerischen beiseite und kehren zu der jetzt einfacher ge-
wordenen Frage zurück: Mit welchem Recht behandelt die (dem
Sprachgebrauch frei gegenüberstehende) Wissenschaft die objektive
Seite des ästhetischen Erlebens als etwas Gesondertes? Ästhetisches
Erleben trägt eine doppelte Notwendigkeit in sich: eine innere, die
Selbstgewißheit des Nichtandersseinkönnens, und eine nach außen
gerichtete: die Gebundenheit an das Objekt oder das Bewußtsein, daß
eine gegenständliche Wirklichkeit restlos aufgenommen ist in das Er-
lebnis. Dies Bewußtsein erweist sich als abhängig von der Beschaffen-
heit des Dinges und führt daher zu einer selbständigen Untersuchung
desselben. Zwar scheint es so als werde in jeder Wahrnehmung
das Objekt ohne Abzug dem Subjekt übermittelt. Aber die nähere
DER UMKREIS ÄSTHETISCHER GEGENSTÄNDE. II5
Überlegung, wie sie Theodor Lipps angeregt hat, deckt einen Mangel
auf. In solchem Falle nämlich sind die Teile oder Beschaffenheiten
nur tatsächlich miteinander da; wenn ich an der als Einheit sich dar-
bietenden Zitrone unterscheide: Farbe, Form, Gewicht, Säure, so habe
ich dabei das Gefühl, es könnte jede dieser Eigenschaften auch anders
sein, ohne die Verbindung mit den übrigen zu stören. Wäre die Zi-
trone zufällig eine rote Frucht, so würde sie gleichfalls ohne Abzug
und Widerstreben wahrgenommen werden. Im ästhetischen Gegen-
stand hingegen fordern und fördern sich die Teile gegenseitig und
ebenso die Qualitäten; dadurch entsprechen die von ihm gesetzten
seelischen Inhalte dem Gesamtzustand des Bewußtseins in besonders
hohem Maße. Unter der Voraussetzung, daß Lust im allgemeinen
begründet ist in einer mit lebhafter Betätigung einhergehenden Leichtig-
keit des seelischen Ablaufs, versteht man, daß ein Ding, dessen Be-
standstucke und Eigenschaften trotz aller Verschiedenheit sichtlich
aufeinander angewiesen sind, eine lebhafte Funktionslust hervorrufen
muß. Denn diese notwendige Zusammengehörigkeit des Unterscheid-
baren gibt der seelischen Tätigkeit Schwungkraft und erzeugt im
weiteren Verlauf das Gefühl, daß die Seele des Objekts gänzlich inne
werde.
Der ästhetische Eindruck ist demnach — theoretisch angesehen —
der notwendige Erfolg eines objektiven Tatbestandes. Diesen be-
zeichnen wir dem entscheidenden Merkmale nach als eine anschau-
liche Notwendigkeit. Eine Figur, deren Einzelheiten sich gegen-
seitig unterstützen, ein Akkord, dessen Klänge aus innerer Verwandt-
schaft sich entgegenkommen, besitzen anschauliche Notwendigkeit.
Wenn Kinder und Ungebildete, die nichts vom Versmaß wissen, das
Metrum richtig auffassen und mit Entzücken genießen, so liegt es
daran, daß dem Vers eben nicht nach Belieben ein Fuß zugesetzt oder
abgezogen werden kann. Warum gefällt die Rundung einer vollen
Baumkrone oder die Silhouette einer lagernden Kuh? Weil sie »bien
enveloppi^ sind, d. h. durch die Gesetzmäßigkeit der Einschließung
der in Fluß gebrachten psychischen Energie eine sichere Richtung
anweisen. Aus Klängen, die sich folgen, entsteht ein ästhetisches
Gebilde erst dann, wann sie der unmittelbaren Auffassung als not-
wendig zueinander gehörend sich darstellen; bei ungewohnten Arten
der Führung vernehmen wir anfänglich noch keine Melodie, sondern
nur Töne: die Einheit wird durch die Vordringlichkeit oder übermäßige
Beachtung der Elemente am Aufkommen verhindert — man sieht den
Wald vor Bäumen nicht.
Der ästhetische G^enstand zeigt also ausnahmslos eine Gemein-
samkeit in den wirkenden Reizen, wodurch ihm die — späterhin noch
^.-
116 m. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
einmal zu erörternde — anschauliche Notwendigkeit zu teil wird. Über
dies Zugeständnis an die Überlieferung darf aber nicht hinausg^[angen
werden. Es wäre schon bedenklich, von jedem Objekt eine Gliederung
zu verlangen. Ein künstlerisches Ganzes freilich muß Anfang, Mitte
und Ende haben. Das Naturschöne indessen kann gelegentlich auch
ohne Brennpunkt sein. Desgleichen würden wir voreilig urteilen, wenn
wir die erwähnte Bedingung zur einzigen oder auch nur zur zentralen
stempelten. Sie ist nichts als die Voraussetzung für jede das Seelen-
leben ästhetisch berührende Gegenstands Wirkung. Mit einer Formel
ist dem Ästhetischen nicht beizukommen, auch nicht mit der scheinbar
umfassendsten. Denn wird sie so weit, daß sie alles deckt, so ver-
flüchtigt sie sich ins Inhaltslose.
Die Aufgabe besteht darin, den Gegenstand und alsdann den Ein-
druck in ihren Hauptmomenten zu beschreiben. Das ist durch Zer-
legung möglich. Obgleich gerade der ästhetische Gegenstand ein
Ganzes ist, in dem jeder Teil auf den anderen verweist, kann er doch
nur durch Analyse wissenschaftlich dargestellt werden. Im tierischen
Organismus vollziehen sich Verdauung, Bewegung, Kreislauf, Atmung,
Sinneswahrnehmung im engsten Zusammenhang miteinander, aber der
Physiolog muß diese Verrichtungen nacheinander behandeln. So ver-
fahren auch wir. Zur Verfügung stehen uns einerseits die ästhetischen
Eindrücke, anderseits als objektive Gegebenheiten die Eigenschaften
der Gegenstände und die fest gewordenen Bezeichnungen der Sprache.
Indem Art und Recht der ästhetischen Wertschätzung untersucht werden
soll, darf die in den allmählich geschaffenen sprachlichen Kategorien,
in den lobenden und tadelnden Beiwörtern enthaltene Weisheit sicher
nicht mißachtet werden. Der Besitzstand unserer Fachausdrücke ent-
hält Hinweise darauf, welche Qualitäten, von den einfachen bis zu den
zusammengesetzten, und welche Intensitäten, von den schwächsten bis
zu den stärksten, im ästhetischen Leben eine Rolle spielen. Daß ganz
geringe und sehr hohe Stärkegrade ausgeschlossen sind, bemerkt man
sogleich an den Benennungen solcher Begriffspaare wie: eisig-brennend,
un wahrnehmbar-betäubend, fade-ätzend; ebenso deutlich sieht man am
Wortgebrauch, wie sinnliche Erfahrungen in eine andere Tonart ver-
setzt werden (ein Kolorit heißt beispielsweise »warm«) und Feststel-
lungen sich mit Bewertungen verschmelzen®). Bei allen diesen Vor-
gängen übt der Geist der Sprache eine Herrschaft aus, deren wir
bereits bei Gelegenheit des Einfühlungsproblems gedacht haben und
uns weiterhin stets erinnern werden. Aber sobald die naive Sicherheit
dessen, der in den Worten den unverfälschten Abdruck des inneren oder
gar des äußeren Befundes zu besitzen wähnt, grundsätzlich überwun-
den ist, kann auch die Hilfe der Sprache dankbar angenommen werden.
HARMONIE UND PROPORTION. 1 1 7
Aus dem ästhetischen G^enstand lösen wir bloß die wichtigsten
und allgemeinsten Bestimmungen heraus. Die Kunstarten sind mit viel
weiter gehender Vereinzelung zu zergliedern. Dazu haben die be-
sonderen Kunstwissenschaften Veranlassung genug, denn sie wollen
den Aufbau der von ihnen erforschten Werke kenntlich machen und
damit die geschichtliche Untersuchung erleichtem*). Das Werden einer
musikalischen Formengattung läßt sich mit der wünschenswerten Ge-
nauigkeit erst dann darstellen, wenn ihre Elemente voneinander ge-
sondert und nun in ihrer teils unabhängigen, teils zusammenwirkenden
Entwickelung geprüft worden sind. Die Geschichte der Ballade ist des-
halb noch nicht geschrieben, weil die Literarhistoriker die Form als
Einheit zurückverfolgen und darum nicht bis auf die Wurzeln dringen.
Die speziellen Theorien der Künste, die in fruchtbarer Wechselwirkung
mit der Geschichtswissenschaft stehen, bedürfen der detaillierten Zer-
l^^ng. Aber Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft können viel
früher Halt machen.
2. Harmonie und Proportion.
Zu den r^elmäßigsten Eigenschaften ästhetischer G^enstände ge-
hört ein mit anschaulicher Notwendigkeit sich darbietendes und Lust
weckendes Zusammenwirken von Faktoren, die derselben Ordnungs-
reihe angehören und gleichzeitig aufgefaßt werden. Diese Verknüpfung
wird, wenn es sich um Qualitäten handelt, Harmonie genannt; bei
Quantitäten und Maßen spricht man von Proportion. Eine Harmonie
kann zwischen Klängen und zwischen Farben bestehen; aber von der
Klangharmonie, die nur der einen Kunst Musik und den von ihr ab-
hängigen Teilen der Poesie zukommt, wird ein weniges späterhin zu
sagen sein*).
Zwischen Klang- und Farbenharmonie waltet ein wesentlicher Unter-
schied. Jene findet sich in der Natur äußerst selten, diese hing^en
recht häufig. Daher leidet die ästhetische Beurteilung der Farben-
zusammenstellungen unter zwei Einflüssen: unter Abstumpfung und
Assoziation. Während wir auf dem Gebiet der Klangharmonie freie
Herren sind, müssen wir bei der Farbenkombination immer daran
denken, daß naturwirkliche Verbindungen, obgleich ohne Rücksicht auf
die ästhetische Empfänglichkeit entstanden, an dieser doch nicht wir-
kungslos abgleiten. An sich mißfällige Zusammenhänge können also,
wenn sie in der Natur oft vorkommen, gleichgültig oder selbst an-
*) Die umgekehrte Reiheiifolge scheint mir nicht das natürliche Verhältnis zu
sein. Vgl S. 6.
118 m. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
genehm werden; und es kann zweitens die assoziierte Vorstellung des
Gegenstandes, an dem jener Zusammenhang regelmäßig bemerkt wird,
in den Eindruck Oberhaupt eingehen. Gesetzt, es paßten das Rot
dunkler Rosen und das Blattgrün nicht zueinander, so wurde doch
durch die häufige Wiederkehr dieser Zusammenstellung das Gefühl für
die Mißfälligkeit sich abstumpfen; femer würde dort, wo die beiden
Farben in ganz anderer inhaltlicher Beziehung auftreten, die Erinnerung
an den bekanntesten Träger der Kombination unwillkürlich hinein-
spielen. Die zweite Gefahr ist, wenn ich es richtig überblicke, mehr
ersonnen als in der Erfahrung nachzuweisen: der Unterschied der
Gegenstände verhindert fast stets das Auftauchen oder auch nur ge-
fühlsmäßige Nachschwingen der Assoziation. Und der Macht der Ge-
wohnheit erliegen wir gleichfalls bloß bei der künstlerischen Darstel-
lung der aus der Wirklichkeit vertrauten Objekte, also etwa der von
Blättern umgebenen Rosen.
Selbst in solchen Fällen darf nicht ohne weiteres verglichen werden,
weil die in der Natur gegebenen und die von der Kunst verwendeten
Farben erheblich voneinander abweichen. Die Beschaffenheit der ein-
zelnen Farbe hat aber große Bedeutung. Aus psychologischen Unter-
suchungen wissen wir, daß gesättigte Farben anders wirken als die
mit neutralem Grau stark versetzten Farben, daß glänzende, leuchtende
Kolorite den stumpfen, schmutzigen Tönen vorgezogen, den diskreten,
feinen Färbungen jedoch nachgesetzt werden. Das letzte Moment, das
meist vernachlässigt wird, scheint mir wichtig zu sein. Buntheit ist
barbarisch, nicht harmonisch, zumal wenn sie sich, wie beim Farben-
spiel blitzender Diamanten, regellos verändert. Oder vorsichtiger aus-
gedrückt: das Gefieder eines Pfauen, der Glanz des Email, das Funkeln
der irisierenden Kunstgläser, die Pracht des Feuerwerks — sie wirken
nur auf das lichtdurstige Auge und nicht auf den Sinn für Harmonie.
All dies blendende Durcheinander darf wohl zum Ästhetischen ge-
rechnet, muß jedoch vom Harmoniegefühl abgesondert werden. Aus
seiner unleugbaren Wirksamkeit entnehmen wir, daß, je größer die
Leuchtkraft der Farben ist, umso willküriicher und wechselnder die
Zusammenstellung sein kann, weil der Betrachter dem Reiz der bunten
Pracht sich hingibt und auf Harmonie geringen Anspruch macht. Das
sind Eindrücke, die auch von Kindern und Naturmenschen in voller
Stärke genossen werden können, Eindrücke ungezügelter, rücksichts-
loser Lebendigkeit.
Die Harmonie der Farben wird zum entscheidenden Gesichtspunkt,
wenn die Pigmente nicht zu glänzend und die von ihnen bedeckten
Flächen nicht zu klein sind. Gewiß darf die räumliche Ausdehnung
auch nicht zu groß sein, denn gleichmäßig gefärbte Flächen erheb-
HARMONIE UND PROPORTION. HQ
liehen Formats ermüden das Auge und lassen die benachbarten Stellen
leicht in der Komplementärfarbe erscheinen. Aber an farbigen Punkten
entwickelt sich kein Harmoniegefühl. Die in der üblichen Maltechnik
gegebenen Bedingungen, nämlich eine gewisse Stumpfheit der meist
durch Mischung gewonnenen Farben und eine gewisse räumliche Aus-
dehnung jeder einzelnen von ihnen, sind daher die für das Entstehen
von Harmoniegefühlen günstigsten. Nur lassen Bilder sich nicht an
einem Platze beurteilen, wo helles Tageslicht ungehindert flutet. Aber
daß ein von diesen störenden Einflüssen befreites, auf sich selbst be-
schränktes Bild von der lichtdurchströmten und funkelnden Wirklich-
keit nicht zu weit abzuliegen scheint, verdankt es einigen wohl be-
kannten Kunstmitteln. Das erste ist die Verwendung des Helligkeits-
kontrastes. Das einfache Experiment, das man immer wählt, um ihn
deutlich zu machen, besteht darin, daß ein kleines weißes Viereck auf
ein ähnlich geformtes, aber größeres Papier aufgeklebt wird, und zwar
dreimal: das eine Mal auf Papier von der gleichen weißen Farbe, das
Fig. 1.
andere Mal auf ein graues Quadrat, und das dritte Mal auf ein schwarzes
Quadrat.
Es ist sofort zu beobachten, wie die Helligkeit des Papiers durch
den Gegensatz zur Umrandung wächst; daher werden Umrahmungen
oder wenigstens Randlinien von den Malern zur Darstellung weit aus-
einander liegender Lichtintensitäten benutzt werden dürfen, unbekümmert
um die »Erkenntnis«, daß in der Natur nirgends Konturen vorkommen.
Wo der Helligkeitskontrast unverwertbar erscheint, kann der Maler
mittels der Farbe Lichtstärkenunterschiede gleich den natürlichen vor-
täuschen. Über diesen zweiten Kunstgriff geben alle Lehrbücher ge-
nauere Auskunft.
In der freien Natur, unter Umständen aber auch in geschlossenen
Räumen, wirkt das flutende Licht als eine ästhetische Eigenschaft des
Objektes. Große Maler haben es durch Unterschiede in den Hellig-
keitsverhältnissen der Farbenqualitäten wiederzugeben verstanden, in-
dem sie als Einheitfaktor den sogenannten »Ton« schufen; ihre Technik
der ^valeurs^ leidet jedoch darunter, daß der Eindruck des Lichtes so-
gleich verschwunden ist, wenn die Farben brüchig und glanzlos werden,
ja schon, wenn der Betrachter im größeren Abstände sich befindet.
Das ist — wie man an Gemälden Claude Lorrains sehen kann —
120 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
deshalb so bedenklich, weil die geforderte zu geringe Entfernung des
Auges von der Bildfläche die richtig ausgeführte Perspektive als Ver-
zerrung erscheinen läßt. Tritt der Betrachter weiter zurück, so ordnet
sich wohl die Raumverteilung, aber das Leben des Lichtes wird er-
tötet. Deshalb ist seit alters ein anderes Verfahren geübt worden, das
die Lichtfülle gerade bei weiter Entfernung vom Bilde hervorzaubert
Man analysiert gleichsam auf der Leinwand die Farben und überläßt
es dem Auge, sie zu einer Einheit zu verschmelzen. Mit gewissen
Abänderungen haben Jan van Eyck und Constable, Watteau und Turner,
schließlich die Impressionisten so gearbeitet und lebhafte Helligkeits-
eindrücke erzielt; doch kommt für den Erfolg viel darauf an, daß keine
neutralen, sondern möglichst lebhafte, glänzende, reine, den Spektral-
farben nacheifernde Pigmente gewählt werden. Wir müssen uns dar-
über noch einmal (im Kapitel von der Malerei) unterhalten. Immerhin
läßt sich schon bei der Erörterung der elementaren Fragen eine lehr-
reiche Anwendung auf das Allgemeine machen. Es kann ebensowenig
der Erfolg dieser wie jener anderen Technik sein, daß die farbige
Wirklichkeit getreu wiedergegeben wird. Was man erreicht, ist eine
neue Umformung der Natur in eine Gesetzmäßigkeit von Farben. In
gewissen Schulen, beispielsweise im niederiändischen Quattrocento und
bei denen um Böcklin, haben die Einzelfarben und allenfalls die Zu-
sammenklänge auf kleineren Gebieten der Bildfläche so sehr die Kraft
des Künstlers in Anspruch genommen, daß die höchste Vereinheit-
lichung nicht entsteht. Wo jedoch eine Ganzheit erzielt wird — ob
bei Rembrandt oder bei Monet — , da muß die Farbe irgendwie stili-
siert werden. Selbst der einzelnen Farbe kann nicht auf dem W^e
der Natur, sondern nur durch eine Vielzahl von Abschattungen ein
höherer Grad der Leuchtkraft gesichert werden: Glanz und Lebens-
kraft werden künstlich gewonnen.
Aus allen diesen Gründen ist es schlechterdings unmöglich zu
sagen: zwei Farben — Rot und Grün, Gelb und Blau, Rot und Blau
— passen zusammen oder passen nicht zusammen. Auch die übliche
Beschränkung auf den Farbenzweiklang ist eine überstarke Verein-
fachung des Problems, da der Dreiklang in Natur und Kunst die
Grunderscheinung zu sein pflegt. Die Versuche, die neuerdings In
psychologischen Arbeitsstätten vorgenommen worden sind, können also
nur einen voriäufigen Anhalt für weitere Forschung geben. So viel
scheint immerhin festzustehen, daß reine Komplementärfarben im Neben-
einander selten gefallen. Wir ziehen ihnen Farbenpaare von geringerem
Qualitätsunterschied vor^®). Komplementärfarben, nebeneinander ge-
setzt, erhalten leicht (jedoch nicht immer, wie ein Blick in unsere Um-
gebung und auf gute Bilder lehrt!) den Charakter des Nüchternen und
i^j
HARMONIE UND PROPORTION. 121
Grellen, denn Nachbild- und Kontrastwirkungen können schädigend
sich einstellen. Der tiefere Grund der so häufigen Mißfälligkeit liegt
wohl darin, daß die Komplementärfarbe einerseits nicht unabhängig
genug von der ersten Farbe, anderseits durch keinen Einheitbezug mit
ihr verbunden ist Daher harmoniert mit einer gegebenen Farbe eine
weit abstehende, aber nicht komplementäre Farbe als selbständige Größe,
und die benachbarten Farben harmonieren, weil sie eine Auflichtung
oder Abschattung jener ersten, also mit ihr im Grunde einheitlich zu
sein scheinen. Gewöhnliches Rot, Hellrot und Dunkelrot sind angenehm
als Differenzierungen der gleichen Farbe; gewöhnliches Rot und
Dunkelblau verdanken ihre durchschnittliche Wohlgefälligkeit bei räum-
licher Berührung dem Umstände, daß ihr Gegensatz kein physiologisch
erzwungener ist wie in dem Fall, wo das von einer Farbe ermüdete
Auge die Umgebung mit der Komplementärfarbe überzieht. Nebenbei
bemerkt, liegt in dem ersten Verhältnis die Erkenntnis von der Farbig-
keit der Schatten eingeschlossen: wirkt doch Dunkelrot neben dem
Normalrot meist wie ein beschatteter Teil von diesem.
Wir wenden uns jetzt der Proportionenlehre zu. Proportion heiße
ein mit anschaulicher Notwendigkeit sich darstellendes und Lust
weckendes Verhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Teilen oder
zwischen den Teilen, und zwar in Bezug auf ihre Quanta. Man spricht
sowohlbei Raumformen wie bei Zeitverläufen, beim Sichtbaren wie
beim Hörbaren von Proportion. Auf beiden Gebieten handelt es sich
um Beziehungen innerhalb eines gegenständlichen Ganzen; diese Be-
ziehungen treten bei Raumgestalten entweder in der Gliederung oder
in der Begrenzung zu Tage.
Wenn wir altem Brauche folgend die Symmetrie als einfachste
Gliederung bezeichnen, so müssen wir hinzufügen, daß die Gleichheit
der beiden Teile in Rücksicht auf eine senkrechte Mittellinie verstanden
werden soll. Im engsten Sinne symmetrisch heißt ein Gebilde, das
durch senkrechte Zweiteilung in Hälften zerfällt, die, aufeinander gelegt,
sich völlig decken: Zahl, Lage, Form und Größe der Teile sind auf
beiden Seiten der Achse gleich. Von dem Vorhandensein dieser Teile
ist aber die Wohlgefälligkeit der Figur bedingt, denn z. B. ein durch
einen vertikalen Durchmesser symmetrisch zerlegter Kreis macht wegen
seiner inhaltlichen Armut fast gar keinen Eindruck. Überhaupt ist die
Wirkung der Ebenmäßigkeit als solcher ziemlich schwach; deshalb
liest man meist nicht von ihrer Schönheit, sondern bloß von einer
»Wohlgefälligkeit«. Der ästhetische Wert einer Kongruenz haftet an
einer Mehrheit von Gliedern, wobei es zunächst auf ihre formale Voll-
endung und sachliche Bedeutung nicht ankommt Wenn ich an der
Teilungslinie eines Blattes Papier meinen Namenszug mit Tinte schreibe
122 HL DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
und dann das Blatt zusammenfalte, so verwischt er sich und liefert
auf der anderen Seite einen entsprechenden Abdruck. Es entsteht an
symmetrisches Gebilde, in dem die Schriftzüge sozusagen das Knochen-
gerüst bilden; betrachtet man es so, daß der Schriftzug oder sein
Spiegelbild oben ist, dann bleibt man gleichgültig, während die Be-
trachtung in der anderen Richtung ein schwaches Lustgefühl hervorruft
Dies Gefühl kann verschieden getönt sein, weil Assoziationen gar leicht
sich einmischen (bei manchen Schriften bilden sich Formen, die so
gesetzmäßig und zugleich grotesk sind wie etwa die von der »F-Sprachec
unserer Kinder gelegentlich erzeugten komischen Mißbildungen der
Wörter), immer jedoch ist es ein ästhetisches Behagen, das die Hälfte
für sich niemals hervorrufen wird. Demnach bleibt zweierlei zu er-
klären, nämlich, weshalb die Kongruenz nur in wagerechter Anordnung
gefällt und femer welchen Wert die Verdoppelung einem ästhetisch
unwirksamen Gegenstand hinzuzufügen vermag.
Zur Beantwortung der ersten Frage dient einmal die Tatsache, daß
die meisten der uns ästhetisch interessierenden Naturgebilde die seit-
liche Symmetrie zeigen. An sie sind wir gewöhnt, ihre Übertragung
auf Kunsterzeugnisse gewährt den Genuß, eine vertraute Gesetzmäßigkeit
wiederzufinden. Doch wurde der bilateral symmetrische Bau von Mensch
und Tier nicht zur Erklärung dafür ausreichen, daß beim Schaffen und
Genießen von Kunstwerken diese Ordnung offensichtlich bevorzugt
wird; denn die bei der Farbenharmonie aufgestellten Gesichtspunkte
gelten auch hier. Zur Unterstützung dient ein zweiter Umstand. Tech-
nische Notwendigkeiten sind es, die häufiger zur Herstellung zweier
kongruenten Teile in wagerechter als in senkrechter Richtung führen«
Bei einfachen Bauten und Gebrauchsobjekten zwingt die Logik des
Gegenstandes zu dieser Übung. Wo ein Material sich selbst bekennt
und ein der Verwendung unterworfenes Kunstwerk seine Bestimmung
zeigt — hierin werden wir eine der Wurzeln für die ästhetische
Wertigkeit erkennen — , da stellt sich von selbst die geometrische
Ebenmäßigkeit ein. Ein Speer, der sich gut werfen lassen soll, darf
nur nach rechts und links gleich gestaltet sein, erhält aber eben da-
durch einen Teil seiner Formenschönheit. Endlich gibt es einen der
Psychologie entnommenen Grund. Wir wissen, daß die Gleichhdt
zweier senkrecht abzumessenden Teile infolge von Augentäuschungen
nicht richtig als solche aufgefaßt wird. Wenn wir eine Senkrechte im
Verhältnis von 1:1 teilen sollen, so werden wir regelmäßig die obere
Hälfte etwas zu klein machen d. h. wir überschätzen die oberhalb des
Mittelpunktes liegenden Strecken; ein S und eine 8 erscheinen uns
fast als symmetrisch, obwohl sie, wie die Umkehrung (§ g) zeigt, in
ihrem unteren Teil viel größer sind; versuchen wir nach dem Augen-
HARMONIE UND PROPORTION. 123
maß ein Quadrat oder ein rechtschenkliges Kreuz zu zeichnen, so be-
gehen wir fast stets den entsprechenden Fehler. Eine wirkliche Kon-
gruenz, die in der anderen Richtung als solche empfunden wird, kann
demnach hier kein Lustgefühl hervorrufen.
Mit dieser Erkenntnis ist der Obergang zu unserem zweiten Problem
hergestellt. Aus ihr nämlich ergibt sich, daß wir den Begriff der
Symmetrie nicht mit demjenigen einer mathematisch genauen Deckung
gleichsetzen dürfen. In der Kongruenz kann demnach der Grund für
die Wohlgefälligkeit nicht gesucht werden; unsere Frage war zu eng
gefaßt, als wir von einer Verdoppelung der Hälfte sprachen. Auch
wäre ja unverständlich, wie asymmetrische Bildungen so häufig die
ästhetische Befriedigung hervorrufen können. Die Uebereinstimmung
in allen Maß- und Formverhältnissen ist doch tatsächlich nicht nötig,
um den Eindruck einer ebenmäßigen Gestaltung zu gewähren. Viel-
mehr läßt sich die ästhetische Gleichwertigkeit zweier Hälften noch
auf andere Weise erzielen. Ein Gemälde, auf dessen linker Seite zwei
Menschen abgebildet sind, während rechts nur einer steht, oder wo
eine Figur von links ziemlich dicht an den Mittelpunkt heranrückt,
während eine Figur rechts sich weiter vom Zentrum fernhält, vermag
als eine symmetrische Komposition zu wirken. Oder besser gesagt:
es herrscht in einem solchen Bild ein Gleichgewicht der beiden Hälften.
Wir werden bei der Theorie des ästhetischen Eindrucks diese Be-
nennung zu rechtfertigen haben. Entweder müssen wir daher den
Begriff der ästhetischen Symmetrie weiter fassen als es bisher geschah,
oder wir müssen, wenn wir ihn lediglich für die vollständige Kongruenz
brauchen wollen, von einer Isodynamie sprechen. Die Symmetrie ist
das einfachste, aber keineswegs einzige Verfahren, um eine ästhetische
Isodynamie zu stände zu bringen: das auf Taf el V wiedergegebene
Bild diene als Beispiel für die anderen Möglichkeiten, deren Einzelheiten
auseinander zu legen hier zu weit führen würde. Von den Haltungen
des menschlichen Körpers, wie sie im Leben und in der Kunst sich
finden, sind nicht nur diejenigen ästhetisch wertvoll, die eine wirkliche
Symmetrie aufweisen und von der frühen Kunst bevorzugt werden.
Sondern uns gefallen mindestens ebensosehr jene Stellungen, bei
denen ein Mehr auf der einen Seite durch ein Weniger auf der anderen
Seite ausgeglichen wird. Das zur formalen Wohlgefälligkeit nötige
Gleichgewicht wird erzielt, indem die Belastung bestimmter Muskel-
gruppen durch Entlastung anderer entsprechender Muskelgruppen ge-
rechtfertigt scheint
Die hier vorliegende Isodynamie bewährt sich auch noch in zwei
anderen Beziehungen. Eine Haltung, die die Körperhälften in sehr ver-
schiedene Tätigkeiten zwingt, hat die Neigung, entweder den Körper
124 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
in die Primärstellung (das ist eine Stellung vorherrschender leichter
Beugungen) zurücktreten zu lassen oder in die entgegengesetzte Haltung
überzugehen, wie es bei Freiübungen und beim Tanz zu geschehen
pflegt. In diesem zweiten Fall stellt also die Bewegung durch Ab-
wechselung ein erneutes Oleichgewicht her, das allerdings bloß im
Zeitverlauf sich geltend machen kann. Ein anderer Ausgleich vollzieht
sich, wie mir scheint, nicht selten zwischen der im Kunstwerk dar-
gestellten und der vom Betrachter in leichten Andeutungen ein-
genommenen Haltung. Wenn ich mich richtig beobachtet habe, so
wird der Oenuß manchmal durch einen Gegensatz zwischen Objekt
und Subjekt erhöht: man empfindet eine bildlich dargestellte sehr
energische Haltung besonders lebhaft, indem man selbst lässig steht
oder sitzt, und man richtet sich unwillkürlich auf, wenn man die Statue
eines gebückten Menschen sieht. Natürlich handelt es sich um ganz
feine motorische Einstellungen und deshalb ist ein Irrtum nicht aus-
geschlossen. Doch glaube ich bemerkt zu haben, daß das Mitfühlen
gelegentlich nicht durch Nachahmung, sondern durch unwillkürliche
Herstellung des Ausgleichs bedingt wird.
Wir wenden uns jetzt den Verhältnissen zu, die der vertikalen
Oliederung die ästhetische Wertigkeit verleihen. Aus vielfachen Unter-
suchungen hat sich ergeben, daß die Einteilung einer senkrechten Linie,
die den einen Teil kleiner als ein Zehntel des Oanzen macht, höchstens
durch assoziative Einflüsse irgend eine Wohlgefälligkeit gewinnen kann.
Die Zweiteilung, selbst wenn sie nach unserer optischen Auffassung,
also mit Verkürzung der oberen Strecke, vorgenommen wird, ruft keine
günstige Wirkung hervor, solange der Teilungsstrich nur die Funktion
erfüllt, die vertikale Oliederung zum Bewußtsein zu bringen. Dag^en
erweist sich das Verhältnis 1 : 2 an der einfachen Oeraden für fast
alle Versuchspersonen als wohlgefällig; immerhin gehen auch hier die
Meinungen auseinander, indem die einen den längeren Teil oben, die
anderen ihn unten wünschen. Endlich soll die Proportion nach dem
goldenen Schnitt a : b = b : (a + b) eine unbedingt schöne sein.
Hier müssen wir etwas länger verweilen. Seit Oiotto haben die
Künstler nach einem Proportionenschlüssel gesucht. Ihre unablässigen
Bemühungen sind wohl verständlich. Wundervoll wäre es, wenn man
Zeichnern und Malern, Bildhauern und Baumeistern einen Maßstab in
die Hand geben und zu ihnen sprechen könnte: Ordne alles nach
diesem geometrischen Verhältnis und du darfst mindestens dessen
gewiß sein, daß keine Form in deiner Schöpfung das Auge beleidigen
wird. Noch berauschender ist der Oedanke, daß alle Formenschönheit
in der Natur und in den Künsten, auch in Poesie und Musik, auf der
gleichen Zahlenharmonie beruhe, daß dem nämlichen großen Oesetze
HARMONIE UND PROPORTION.
125
Flg. 2.
untergeordnet seien: die Zentralabstände der Planeten, die Verhältnisse
der Atomgewichte, die Schwingungszahlen des Durakkords, die Normal-
formen des menschlichen Körpers. Auch recht besonnene Forscher
glauben in dem goldenen Schnitt die Hauptproportion für Menschen,
Tiere und Pflanzen einerseits, Gebrauchsgegenstände, Bauten und
Kunstwerke anderseits zu besitzen. Sie erklären jede Form für schön,
die so gegliedert ist, daß der kleinere Teil zum größeren sich verhält
wie der größere Teil zum Ganzen, also in den einfachsten Maßen
3 : 5 = 5 : (3 + 5). (Die beistehende Figur zeigt, wie man von einer
so geteilten Grundlinie aus sich leicht andere ebenso geteilte Linien
konstruieren kann.) Allerdings hat
Fechner schon vor vierzig Jahren
zu finden g^laubt, daß die Ver-
hältnisse einer so g^liederten Ge-
stalt keineswegs überall und jeder-
mann gefallen. Er ließ den Quer-
balken eines Kreuzes so lange hin
und her schieben, bis die gefälligste
Stellung erreicht war; diese war
nicht durchweg die dem Prinzip des
goldenen Schnittes entsprechende.
Er konstruierte zwei Rechtecke, die
nicht nur beide selbst nach jenem
Maßverhältnis hergestellt waren,
sondern auch ihm gemäß ineinander
geschachtelt wurden; anstatt den
Gipfel formaler Schönheit zu bilden,
sind sie den meisten Versuchsper-
sonen gleichgültig, andern geradezu
mißfällig. Bei der Ausmessung von Grab- und Schmuckkreuzen, Kästen
u. s. w., denen der Verfertiger doch gewiß unwillküriich die angenehm-
ste Form gibt, entdeckte Fechner zahlreiche Abweichungen vom Prin-
zip des goldenen Schnittes. Mit Fechners Ergebnissen stimmen in-
dessen neuere Versuche, die an einer vollständigen d. h. möglichst
stetig verlaufenden Reihe von Größenverhältnissen vorgenommen wur-
den, nicht völlig überein: sie taten dar, daß eine vom goldenen Schnitt
nicht erheblich abweichende Proportion Wohlgefallen hervorruft Aber
mit der Berechnung solcher Mittelwerte ist nur gezeigt, daß die ästhe-
tisch wertvollen Formen innerhalb gewisser Zahlengrenzen li^en^^).
Wäre das mathematische Verhältnis der Grund unserer Freude an den
Formen, so müßte es mit aller Strenge gelten: es müßten die ihm
genau nachgebildeten Gliederungen die wohlgefälligsten sein und die
126 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
anderen Gliederungen umsomehr an Schönheit einbüßen, je weiter sie
sich von der genannten Gleichung entfernen. In Wahrheit werden
Verhältnisse gebilligt, die in einiger Entfernung um das Maßsystem
des goldenen Schnittes herumliegen. Einer der besten Kenner dieser
Fragen ist schließlich zu der recht unbestimmten Ansicht gelangt, daß
die Bevorzugung solcher Formen nicht auf die mathematische Pro-
portion, sondern auf den Wunsch nach einer gewissen Unterschieden-
heit der Teile zurückgeht und daß »die Höhe der Ungleichheit oder
Mannigfaltigkeit, die gefällt, abhangen wird von dem allgemeinen Cha-
rakter des Gegenstandes und von dem Grade der persönlichen Intel-
ligenz und des Geschmacks.« (Witmer, Analyt Psych) Damit sind
wir rettungslos in jene Unsicherheit zurückgefallen, aus der wir uns
mittels des Satzes vom goldenen Schnitt erheben wollten.
Von den übrigen Bedenken, die neuerdings geäußert worden sind,
kommen hauptsächlich zwei in Betracht. Die Auffassung der Maß-
verhältnisse ist eine verschiedene, je nachdem das Gebilde in gleich
bleibender Richtung geteilt ist oder der kleinere Teil, der Minor, in
einer anderen Richtung liegt als der größere Teil, der Maior. In jenem
Fall, also etwa bei einer Wagerechten, kann unschwer der linke Ab-
schnitt mit dem rechten und im gleichen Sinne der rechte, größere
Abschnitt mit der ganzen Linie verglichen werden. Aber bei einem
Rechteck sind nur die beiden Seiten sofort von der Wahrnehmung
in ihrem Größenunterschied aufzufassen, während die Summe der
Seiten nicht in dieser Weise eine gegebene Größe darstellt — Eine
zweite Schwierigkeit erwächst aus der Aufgabe, bei Teilgliedern den
Maßstab von einem bestimmten Punkt aus anzulegen. Wenn man
behauptet hat, am menschlichen Kopf reiche der Maior von der Mitte
des Halses bis zu den Augenbrauen und von da ab der Minor bis
zum Scheitel, so muß doch gefragt werden: mit welchem Recht be-
ginnt die Messung in der Mitte des Halses? Und wie steht es mit
bärtigen Gesichtern?
Allen diesen Einwendungen entzieht sich Bocheneks neues System^*).
Hier wird versucht, aus einem besonders konstruierten Rechteck durch
Eintragung der Maße des goldenen Schnitts in die vier Seiten des
Rechtecks und durch die lineare Verbindung der so entstandenen
Punkte ein Liniennetz zu schaffen, das die Umrisse der Gestalt ge-
wissermaßen von selbst entstehen läßt. Neben den Maßen des goldenen
Schnittes werden Halbteilung, Verdoppelung und quadratische Ein-
ordnung ausgiebig benutzt, und die Unterschiede der männlichen und
weiblichen Gestalt, der Ruhe und der Bewegung, des Skelettes und
des Leibes, der kindlichen und der reifen Formen — um nur ein paar
Beispiele zu nennen — erfahren volle Berücksichtigung. Die so ge-
HARMONIE UND PROPORTION.
127
wonnenen und Regeln gebenden Konstruktionen mögen für den Ge-
brauch des Künstlers nützlich, für die naturwissenschaftliche Erkenntnis
lehrreich sein, aber sie lösen das ästhetische Problem nicht Denn
niemand kann nachweisen, welcher Zusammenhang zwischen den
außerordentlich wechselnden und zusammengesetzten Maßverhältnissen
Fig. 3.
ng.4.
und unserer Formenfreude besteht, niemand
vermag diese aus jenen wahrhaft zu er-
klären.
Es muß endlich noch von einer Eigen-
schaft des ästhetischen Gegenstandes ge-
sprochen werden, die seine Gliederung nach
beiden Raumdimensionen zu bestimmen ver-
mag: das ist die Wiederholung. Welchen
Anteil sie an dem Aufbau von Kunstwerken
aller Gattungen hat, werden wir späterhin
untersuchen; augenblicklich handelt es sich
um die elementaren Bedingungen räumlicher
Formen. Das Prinzip der Wiederholung ist
uns bereits in der Symmetrie entgegengetreten. Über die Vervielfälti-
gung des Gleichen hinaus erstreckt es aber seine Wirksamkeit, indem
es durch eine gesetzmäßig abstufende Wiederholung von nur ähn-
lichen Teilgebilden das ästhetische Wohlgefallen hervorruft Die oben-
stehende Zeichnung 3, die auch als horizontal verlaufend zu betrach-
ten sich empfiehlt, macht das Gesetz an einem einfachen Beispiele
deutlich. Der stetige Vorgang des Sichausbreitens oder Sichverjüngens,
das durch die Schenkel des Winkels festgelegte Anwachsen oder
128
in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Abnehmen der Teilgrößen führt zu einer Wiederholung, die keine
wörtliche sein kann. Sobald nun eine Grundform des Gegenstandes
in solcher freieren Art sich wiederholt, entsteht eine ästhetisch wert-
volle Gliederung: ich erinnere an Wirbelsäule und Rippen (Fig. 4 u. 5),
Fluge! und Tannenzapfen, an die Struktur eines Baumblattes und die
zahllosen Anwendungen in der Bildkunst. Überall ist damit noch
etwas weiteres gewonnen, nämlich eine gefallende Begrenzungslinie.
Der Rahmen für jede nach unserem Prinzip gestaltete Figur wird, auch
wenn der Inhalt daraus entfernt ist, niemals mißfällig und oft wohl-
gefällig werden. Die Hilfeleistung der sich wiederholenden Teile kommt
auch dem Umriß zu gute.
Begrenzungslinien besitzen eine Bürgschaft der ästhetischen
Wertigkeit, indem sie einer wohlgegliederten Gestalt den festen Halt
verieihen. Ein Kontur gewinnt Folgerichtigkeit und Wohlgefälligkdt
durch das, was er umschließt, durch die von Punkt zu Punkt fort-
leitende und von der Struktur des Inhalts bedingte Gesetzmäßigkeit
Die innere Gliederung erwirkt die äußere Form. Hiermit erwdst sich
die von innen her bestimmte Einschlußlinie als Sonderfall der allge-
iä.:. jtM
HARMONIE UND PROPORTION. 129
meinen Abhängigkeit der Form von der Funktion. Eine kurze Ab-
schweifung auf andere Gebiete wird den Gedanken verständlich
machen. Wenn die Extremitäten der Tiere sich in den drei Formen
der Flosse, des Fußes und des Flugeis entwickeln, je nachdem die
Tiere im Wasser, auf dem Boden oder in der Luft leben, so sind
diese Formen ein Erzeugnis der Funktion. Da nun manche Teile
unseres Körpers genau die gleiche Aufgabe erfüllen wie gewisse mecha-
nische Gebilde, so müssen sie mit diesen in der durch die Verrichtung
geforderten Form übereinstimmen. Der Oberschenkelknochen, der
stärkste und längste Röhrenknochen des menschlichen Skeletts, hat
für seine Hauptbeanspruchung, diejenige beim Stehen und Gehen, die
Architektur eines kranartig tragenden Balkens. Die Knochenbälkchen
in seiner schwammigen Substanz stimmen der Richtung nach genau
überein mit den Zug- und Drucklinien im belasteten Kran. Dasselbe
Gesetz bewährt sich hier wie bei den Bauwerken der Ingenieure, bei
der St. Peters-Kuppel in Rom (nach der Berechnung eines französischen
Mathematikers aus dem 18. Jahrhundert) und bei den (mit Bewußtsein
zuerst von Georg von Reichenbach so konstruierten) physikalischen
und Meßinstrumenten: es wird durch den Bau des Knochens die
zweckmäßigste Form mit dem geringsten Materialaufwand erreicht;
und da auch das letzte Bälkchen, die Abgrenzung des ganzen Bälkchen-
systems, d. h. die äußere Gestalt des Knochens, der Funktion dient,
so hat der Knochen eine funktionelle Gestalt "). Ähnlich so sind alle
ästhetisch zulässigen Einschlußlinien von der Wirksamkeit des Einge-
schlossenen abhängig und zwar von dessen Aufbau, sei er nun
mechanisch bedingt oder bloß von anderen Formgesetzen beherrscht.
Die Bedeutsamkeit, die der eingeschlossene Raumteil überhaupt für
die lineare Abgrenzung besitzt, ergibt sich aus folgendem kleinen Ver-
such. Man zeichne zweimal die Umrisse einer menschlichen Gestalt
auf Papier und schneide das eine Mal die Figur sorgfältig aus: in
diesem Falle wird sie nicht aufgefaßt. Die Konturen sind die gleichen,
aber wo wir eine Lücke vor uns haben, da erkennen wir sie nicht;
erst wenn die Lücke mit schwarzem Papier ausgefüllt, zu einer Sil-
houette verwandelt, also für den Blick ein Halt geschaffen wird, dann
tritt die ästhetische Apperzeption wieder ein. Daraus scheint doch
hervorzugehen, daß der Rauminhalt mindestens als eine irgendwie be-
schaffene Masse uns entgegentreten muß, um den Begrenzungslinien
eine Wirksamkeit zu sichern. Aus dem gleichen Grunde macht die
Hälfte eines Achtecks einen unvollständigen und mißfälligen Ein-
druck, obwohl die Linien in guter Ordnung zueinander stehen.
Das zentrale Sehen ist in dem Maße ausgebildet, daß wir an
Stelle der Umrißlinien (etwa von Auge, Nase und Mund) unwirk-
Dessoir, Asflietik und allg. Kunstwissenschaft 9
n \_
130
in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
liehe, höchst stilisierende Mittellinien setzen und damit den lebhaftesten
Eindruck erzielen können. Man betrachte die drei Figuren des
Humbert de Superville, die Ruhe, Traurigkeit und Freude ausdrucken.
Fig. 6.
Fig. 7.
Wir ziehen jetzt die Folgerung aus dem, was wir ermittelt haben.
Da die Begrenzungslinien objektiv bestimmt sind durch Inhalt, Funk-
tion und Gliederung des Eingeschlossenen und da jede Gestalt zentral
betrachtet wird, so ist der ästhetische Wert des Umrisses aus diesem
selbst und ausschließlich nicht abzuleiten. Die übliche Theorie, die
es trotzdem versucht, scheint aber nicht nur unvollständig, sondern
auch für sich beurteilt anfechtbar zu sein. Sie geht aus von der Ab-
messung eines durch keine Linie verbundenen Punktabstandes. Wenn
das Auge die Strecke zwischen zwei Punkten durchlaufen soll, so
wählt es nicht den kürzesten Weg der Geraden, sondern beschreibt
eine schwach gekrümmte Bogenlinie. Demgemäß sind solche Bogen-
linien, wo auch immer sie in Kunst und Natur auftreten, die wohl-
gefälligsten, denn sie entsprechen der natürlichen, ungezwungenen
Bewegung des Auges. Aus demselben Grunde erklärt sich, daß wir
lange, namentlich horizontale Linien nicht als völlig gerade sehen.
Eine Wagerechte z. B., die über dem Blickpunkt liegt, erscheint an den
Enden als leicht nach unten gebogen; wenn sie unter dem Blickpunkt
liegt, scheint sie an den Enden ein wenig aufzusteigen. Am deut-
lichsten bemerkt man es, wenn die Linien an den Häuserfassaden
durch Beleuchtung hervorgehoben sind: hier wird der optische Ein-
druck der Krümmung so stark, daß selbst das Wissen von der Oerad-
linigkeit und Gleichläufigkeit dagegen nicht aufzukommen vermag^*).
Zugegeben, alles dies verhalte sich so. Unter der Annahme, daß
es den ästhetischen Wert bedinge oder wenigstens berühre, müßten
dann bei großen Gegenständen die geraden Linien vermieden und nur
bei kleinen verwendet werden. In Wahrheit benutzt die Baukunst mit
Vorliebe lange gerade Linien und die Keramik benutzt Kurven. Also
RHYTHMUS UND METRUM. 131
können jene optischen Täuschungen von keinem Einfluß auf die Wohl-
gefälligkeit sein; aus der naturlichen Bewegung des Auges läßt sich
die formale Schönheit von Umrissen nicht begreifen. Rechtwinklige
Verbindungen, die der spontanen Blickwanderung so völlig entgegen
sein sollen, haben im großen wie im kleinen Maßstab die Fähigkeit,
ästhetische Lust frei zu machen. Kurz, diese Theorie ist nicht bloß
durch die früher vollzogenen Überlegungen zu ergänzen, sondern
überhaupt zu verwerfen.
3. Rhythmus und Metrum.
Rhythmus und Metrum sind zwei objektive Eigenschaften eines
ästhetisch wertvollen Vorgangs. Als solche, und nur als solche,
werden sie in diesem Abschnitt behandelt. Auszugehen ist vom
Rhythmus, als von dem umfassenderen Begriff; und zwar von der nur
scheinbar einen Umweg bedeutenden Frage: unter welcher Bedingung
sicher kein Gefühl des Rhythmus entsteht.
Ein gleichmäßig fortdauernder Ton führt nicht zu rhythmischer
Auffassung. Das kann einen doppelten Grund haben. Entweder ver-
missen wir die Zeiteinteilung oder es fehlt uns der Betonungsunter-
schied, denn diese beiden Merkmale sind uns von den rhythmischen
Gebilden her bekannt. In der Tat, ein unveränderlich li^ender Klang
nötigt uns ebensowenig zu einer Zeitvorstellung wie das Papier, das
wir vor uns sehen. Er muß in Stücke zerbrochen, seine Linie muß
in Punkte aufgelöst werden, so daß leere Momente oder Pausen ent-
stehen: alsdann tritt das Zeitbewußtsein in seine Rechte und nun ent-
wickelt sich auch ein Rhythmus. Obwohl nämlich die einzelnen
Stücke des Klanges keinerlei Unterschied in der Betonung zeigen,
werden sie subjektiv, vom Hörer aus mit Akzenten versehen. Der
Versuch kann jeden Augenblick darüber belehren, daß gleichmäßig
starke Schalleindrücke auf die Dauer nicht als solche gehört, vielmehr
in eine regelmäßige Folge von stärkeren und schwächeren Lauten
umgewandelt werden. Voraussetzung ist nur, daß die Pausen eine
gewisse Zeitlänge haben, die sie weder nach oben noch nach unten
überschreiten dürfen: sind sie zu lang, so versagt sich uns die Zu-
sammenfassung der Töne, sind sie zu kurz, so wird die gesetzmäßige
Folge subjektiver Betonungen unmöglich. Es scheinen demnach zeit-
liche Verhältnisse im Gegenstand die unerläßliche Vorbedingung für
den Rhythmus zu sein.
Wenn wir in den konstanten Ton Intensitätsunterschiede einschalten,
so kann es auf zweifache Weise geschehen. Die eine Art liefert uns
132 HL DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
kdn Ergd>nis: Ein stetig erfolgoides Anwachsen und Abndimen, das
für seinen Rundlauf geraume Zeit braucht, fuhrt nicht zu einer rhyth-
mischen Gliederung. Der Ton wird durch Steigerung und Rud^ang
zwar objektiv und in seiner ästhetischen Bedeutung erhd>lich ver-
ändert, aber kdnesw^^s zu einem rhythmischen Gd)ilde gemacht
Verfahren wir also auf andere Art Wir lassen die Stärkeunterschiede
ohne ausgldchenden Übergang aufeinander folgen, wie Gdger bd
dner bestimmten Vorübung zum Staccato zu tun pfl^en. Durch den
G^ensatz dieser unvermittelten Betonungsverschiedenhdten dessdben
Klanges entsteht Rhythmus. Obwohl nämlich der Klang ununter-
brochen fortdauert, glauben wir doch Pausen zu hören — wie oft
und an welcher Stelle ist nebensächlich, genug, wir machen subjektive
Einschnitte und gewinnen auf diese Art die rhythmische Gliederung.
Es scheinen demnach dynamische Verhältnisse die notwendige Unter-
lage zu bilden.
Nach den Erfahrungen der ersten Gruppe wäre Rhythmus zu be-
stimmen als eine Folge von Zeitabschnitten, die aus psychologischen
Gründen zu einem Betonungssystem wird; nach den anderen Beob*
achtungen als eine Folge von Gewichtsverschiedenheiten, die aus sich
selber heraus das Bewußtsein einer zeitlichen Bew^^ng g^ensdtiga"
Ergänzung zu stände bringt In unserem Verhältnis zur Musik gibt
es Augenblicke, wo dieser G^ensatz dne mehr als theoretische Be-
deutung eriangt Der Orgelspieler hat keine Möglichkeit, die Intensität
der Töne (etwa durch den Anschlag) abzustufen, sondern kann dne
solche Abstufung lediglich durch Wechsel von Tonqualität und Klang-
farbe vortäuschen. Trotzdem fügen wir auch hier die Betonungen zur
zeitlichen Ordnung hinzu. Anderseits ist — wenigstens für mich —
Palästrinas vielstimmige Gesangsmusik ein so zeitloses, von jeder Bin-
dung an Takt und Metrum freies Gebilde, daß der ger^dte Zeitverlauf
erst aus den Betonungen, namentlich aus dem Eintreten neuer Stim-
men sich erschließen läßt. Im allgemeinen indessen hangen Zdt-
Rhythmus und Betonungs-Rhythmus eng zusammen; wdcher von
beiden als der ursprüngliche anzusehen ist, läßt sich durch die syste-
matische Betrachtung mit unbedingter Sicherheit nicht ausmachen.
Wenn die Theoretiker sich gewöhnlich zu Gunsten des Zdtmomoits
entscheiden, so tun sie es unwillküriich deshalb, weil die rdative
Zeitdauer wenigstens in der Tonschrift genau bestimmbar ist, wäh-
rend das Stärkeverhältnis weder in Musik noch in Poesie mit ent-
sprechender Schärfe festgelegt werden kann. Zweckmäßiger schdnt
es, die zeitliche Ordnung und die Akzentuierung als gleichwertig zu
behandeln.
B^enzte Zeitteile samt verschiedenen Betonungsgraden sind auf
RHYTHMUS UND METRUM. 133
unserem Gebiet mit demjenigen Faktor der Raumgegenstände ästhe-
tischer Beschaffenheit zu vergleichen, den wir als die Einschlußlinie
bezeichnet haben. Die rhythmische Einschlußlinie besteht in einfachen
Geräuschen; sie gewinnt eine körperhafte und im höheren Sinn pro-
portionierte Form erst durch Ausfüllung mit Klängen oder Worten,
d. h. mit Elementen der Musik und der Sprache. Wir nennen diesen
Rahmen, in den das doppelte Material eingepaßt werden kann, das
Metrum.
Das Metrum ist nach zwei Richtungen veränderlich. Denken wir
es uns durch Schläge angegeben. Offenbar entsteht dann durch Ab-
wechslung von starken und schwachen Schlägen eine Mannigfaltigkeit
Im weiteren Sinne des Wortes kann freilich schon die einfache Wieder-
holung desselben Stärk^^ades als eine extensive Mannigfaltigkeit
gelten, und da wir wissen, daß die bloße Wiederholung ästhetisch
wirksam zu werden vermag, so muß sie hier ausdrücklich ausge-
schlossen werden. Eine andere Richtungsmöglichkeit liegt vor, sobald
in gleicher erheblicher Abstufung die Stärkegrade vom schwächsten
bis zum stärksten empor- oder umgekehrt hinabschreiten. Auch dies
gesetzmäßige An- und Absteigen über eine von der Unterschieds-
empfindlichkeit bestimmte Anzahl von Stufen hinweg (symbolisiert
durch die Reihe a b c d e f . . .), entspricht nicht der metrisch-dyna-
mischen Veränderlichkeit Vielmehr handelt es sich nur um folgende
R^elmäßigkeit: Starke und schwache Schläge wechseln ab und dieser
Wechsel wiederholt sich (ab ab ab . . . oder abb abb abb . . . oder
aab aab aab ... bis zu einer uns noch unbekannten Grenze der
Zusammensetzung). Die einfachsten Formen dieser dynamischen
Regelmäßigkeit sind ohne Zweifel die folgenden: fj ff oder anders
geschrieben j, ^ ^ j,. Darf man den Beobachtungen an Kindern
trauen, so ist der Mensch für die erste Form, den Trochäus*), am
frühesten und sichersten empfänglich. Jedenfalls haben die beiden
entgegengesetzt geschwungenen metrischen Linien des Trochäus und
Jambus schon vor ihrer Ausfüllung mit Klängen oder Worten einen
Gefühlscharakter, der zu Kunstzwecken ausgenutzt werden kann. Das
fallende Metrum, das von der Betonung zur Nichtbetonung übergeht,
macht den Eindruck einer straffen Ordnung, während das steigende
Metrum etwas Err^endes an sich hat Durch Verdoppelung der un-
betonten Schläge (f f f ClP verstärkt sich diese Eigenschaft Na-
mentlich der Anapäst w w vL wirkt in unverkennbarer Art, gleichsam
•) Von der Kürze und Länge der Silben im antiken Versmaß wird bei der Ver-
wendung dieser Bezeidinungen abgesehen.
134 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
wie ein Angriff. Wo in altdeutschen Versen noch mehr als zwei
tonfreie Silben dem Akzent vorausgehen, da ist es als ob jemand vor
dem entscheidenden Sprung einen Anlauf nimmt oder als ob aus einem
Wettergrollen ein Donnerschlag hervorgeht. Indessen schon bei dem
dreischlägigen Schallmetrum wirkt der dritte Schlag, wenn auf ihm der
Ton liegt, wie die Vollendung eines Beginnens oder wie die Erlösung
aus einer Ungewißheit.
Die andere Veränderlichkeitstendenz des Metrums ist die zeitliche.
Denkerr wir uns die Teile des Metrums durch gleich starke und gleich
beschaffene Töne angedeutet, so kommt eine Unterscheidung in sie
hinein, indem sie eine verschiedene Dauer erhalten. Ein solcher
Quantitätswechsel mag ohne jede Betonung stattfinden. Natürlicher
jedoch ist die Vereinigung beider Belebungen, so daß die Indifferenz-
lage zugleich in der Richtung der Betonung und der Verlängerung
verlassen wird. Aus */0 J Q J Ij I ^'^^ '^'^'^* '/* J J I J J i J^l
In diesem Beispiel sind wohl die Zeitmaße verschoben, aber die Ikten
geblieben. Wir entnehmen daraus, daß die Taktänderung (von */* zu ^ji)
wenig besagt, solange die metrischen Akzente nicht geändert sind.
Ein dritter möglicher Fall besteht in dem Widerstreit zwischen Dauer
und Betonung, etwa folgendermaßen: J ^1 oder J J. In allen drei
r p Pf
Fällen kommt es auf die absolute Zeitdauer des metrischen Gebildes
gar nicht an; die verwendeten Notenzeichen mag man sich in so lang-
samem oder so schnellem Tempo denken, daß gerade noch die Be-
ziehungen untereinander deutlich bleiben. Aber die Frage, wieviele
solcher relativen Beziehungen ästhetisch erfreulich sind, muß aufge-
worfen werden. In den Notenbildem der Musik haben wir die Ant-
wort für die Zeitwerte. Für die Betonungsverhältnisse indessen geben
uns weder Musik noch Poesie eine in festen Symbolen unzweideutig
niedergel^e Auskunft. Nach der üblichen Theorie sind die verwert-
baren Beziehungen der Akzentstärke viel geringer an Zahl als die Zeit-
maßbeziehungen — sofern diese gleichgesetzt werden dürfen mit allen
in der Musik vorkommenden Zerl^ungen einer ganzen Note — , denn
sie sollen nur die Abstufung von nichtbetonten, schwach, mittelstark
und sehr stark betonten Werten zulassen. Femer wird angenommen,
daß die Metrik zwischen zwei Betonungen höchstens zwei unbetonte
Schläge, niemals mehr verstattet, folglich ist die erreichbare obere
Grenze dieses Gebilde: i£f i±J i±J tlS* Beide Behauptungen
scheinen jedoch mit der lebendigen Musik nicht in Übereinstimmung.
In der einfachen .Folge
RHYTHMUS UND METRUM.
135
^ — ^/^
o
^ ^ m
m ^
ß ^
ß ^
• a
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fi \ ^
r .•
r f
-F t-H
-....4 1 -
-4-
1 .
1
1 1
VPP —
m
kommen mehr als die üblichen vier Stärk^^ade zur Verwendung,
wobei das zweite Viertel jedes Taktes deutlich schwächer bleibt als
das erste und die ganze Phrase als eine Einheit aufgefaßt wird.
Ebenso widerspricht es den Erfahrungen der Tonkunst sowie der
Verskunst, daß nur zwei schlechte Teile zwischen zwei guten Teilen
stehen könnten. Im Auftakt altdeutscher Verse finden sich, wie er-
wähnt wurde, viele unbetonte Silben nacheinander und in der musi-
kalischen Figur
J i
spielt und hört man die Sechzehntel als gleichmäßig unbetonte oder
schwach betonte Werte.
Die rhythmische Einschlußlinie oder das Metrum, d. h. eine Anzahl
begrenzter und verschieden betonter Zeitteile wird in der Tonschrift
unserer Musik durch Takte dargestellt. Diese Darstellung (die schon
oben einmal leicht eingeschränkt wurde) ist nicht vollkommen zuver-
lässig, weil nach der uns geläufigen Übung der volle Takt stets mit
der stärksten Betonung beginnt Damach würde es so aussehen,
als ob es nur fallende Metra gäbe, denen unter Umständen ein Auf-
takt vorausgeschickt ist In Wahrheit muß, wer nicht vom konventio-
nellen Schriftbild, sondern vom hörbaren Vorgang ausgeht, ohne
Zaudern feststellen, daß auch in der Musik ganz echte steigende
Metra zu finden sind. Ja, es ist keine Frage: die vom leichten zum
schweren Schlag aufsteigende metrische Gruppe ^J* oder in Takt-
form */8 7 j^lj" 7) ist die bei weitem wirksamere, weil die Bewegung
darin schnell ihren Höhepunkt erreicht und mit ihm abschließt Der
Charakter einer Einheit kommt dieser Form im höheren Grade zu als
der anderen. Wenn die Notierung in Takten bloß fallende Metra
kennt, so erklärt es sich daraus, daß bei jeder Verlangsamung der
Zeitteile — es werden z. B. aus den Achteln Viertel oder eine zweite
langsamer schreitende Stimme tritt hinzu — die Veränderung bei dem
guten Taktteil einsetzen muß. Die Takte sind aber im Grunde nichts
als ein Hilfsmittel für die Niederschrift Freilich, die musikalische Er-
ziehung und gewisse Notwendigkeiten des Zusammenspiels machen
mehr daraus. Für uns stehen die Takte doch nicht bloß auf dem
Papier: wir hören, wann das erste und wann das dritte Viertel im
Viervierteltakt erklingt, wir empfinden eine gewisse Unruhe, so oft ein
136 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
unbekanntes Musikstück seine Taktgliederung nicht gleich zu erkennen
gibt, sei es weil es in einer nicht gewohnten Taktart geschrieben ist
oder weil rhythmische Komplikationen anfänglich den Takt verdecken.
Ist aber der Takt erfaßt, so wird er auch bald automatisiert und das
Bewußtsein von der Aufmerksamkeit auf ihn befreit Eine mecha-
nische Fußbewegung und ein lautloses Zählen sind die gebräuch-
lichen und selbst von Musikern nicht verschmähten Mittel; Dirigenten,
die mit der einen Hand die rhythmische Kurve beschreiben, schlagen
manchmal zu gleicher Zeit mit der anderen Hand oder dem Fuß
den Takt.
Die Verskunst benutzt keine Taktstriche und folgt nicht der durch
Taktzeichen veranlaßten Einschränkung des Metrums auf den fallenden
Typus. Hat sie nun wenigstens überall ein Metrum? Für den deut-
schen Vers hat man eine Unterscheidung einzuführen versucht. Solche
Verse — so heißt es — , die mit der Musik im Bunde sind, nament-
lich die gesungenen oder geträllerten Kinderverse, nehmen an der me-
trischen Bestimmtheit der Schwesterkunst teil; sie werden skandiert
Von diesen kleinen und vulgären Gebilden weicht die Kunstpoesie
jedoch ab: die Kunstpoesie kennt nicht Glieder von zahlenmäßig be-
stimmbarer Zeitdauer und einer fast berechenbaren Druckabstufung,
sondern sie rezitiert ihre Verse anstatt zu skandieren, sie enthält Sprech-
verse an Stelle der Gesangverse. Es gibt wohl Größenunterschiede,
aber sie sind so verfließender Art, daß sie lediglich durch die folgen-
den beiden Symbole sich andeuten lassen : ^ Viertelnote, vermehrt um
ein Unbestimmtes; ^ Viertelnote, vermindert um ein Unbestimmtes.
Die entgegenstehende Theorie betrachtet den Unterschied des Skan-
dierens und Rezitierens als eine Angelegenheit des Vortrags, die als
solche mit der objektiven metrischen Form nichts zu tun hat Tausend
Möglichkeiten gibt es, angefangen von dem einfältigen Taktsprechen
des Schülers bis hinauf zu der ganz freien Deklamation des »modernen«
Schauspielers. Aber sie bestehen eben überall, sowohl gegenüber dem
Abzählverschen der Kinder als auch gegenüber »Wanderers Nachtlied«.
Diese Vortragsverschiedenheiten ändern nichts an der wirklichen Be-
schaffenheit der poetischen Form, sie sind vielmehr ihre subjektiven
Deutungen. Ich kann ein Gedicht so sprechen, daß jede Länge und
jede Betonung scharf herausgehoben wird, und anderseits auch so,
daß diese Werte vollständig verschwinden — deshalb gehört doch
das Gedicht nicht gleichzeitig zum Gesangvers und zum Sprechvers!
Die Gründe vermögen wohl zu überzeugen, und sie l^en die Auf-
fassung nahe, daß jedes poetische Erzeugnis im Gegensatz zur Prosa
sein Metrum besitze Wie sollte sonst die reimlose Poesie g^en die
RHYTHMUS UND METRUM. 137
Prosa abgegrenzt werden können? Ist ferner nicht alle Poesie ur-
sprünglich ein streng metrischer Chorgesang einer Horde von Natur-
menschen gewesen? Sollte schon vor den Zeiten der ältesten uns auf-
bewahrten germanischen Dichtkunst jede Erinnerung an die Nahrung
spendende Wurzel der Poesie verschwunden gewesen sein? Selbst
wenn wir uns auf eigene Erfahrungen beschränken wollen, so tritt
uns als ein Beweis die Tatsache entgegen, daß gerade die besten
Sprecher bei aller sinngemäßen Freibeweglichkeit des Vortrags den
metrischen Aufbau der Verse durchklingen lassen. Und auch aus
einer ganz willküriichen Deklamation hören wir das objektiv vor-
handene Metrum heraus, gleichwie das geübte Ohr den Takt eines
Ton Werks sich herzustellen weiß, obwohl der Spieler die Zeitmaße
bald dehnt, bald verkürzt, die Betonungen bald hervortreibt, bald fallen
läßt Gerade dieser Widerstreit zwischen der festen rhythmischen Ein-
schlußlinie und der unabhängig wechselnden Vortragsbewegung gibt
der musikalischen und der poetischen Strophe den Reiz höchster
Lebendigkeit Jede Tempoverschiebung ändert die Zeitwerte, aber sie
läßt die metrische Struktur unberührt: sie macht den Viervierteltakt so
schnell wie den Zweivierteltakt, ohne daß der eine mit dem anderen
verwechselt würde, sie läßt den einen Vers doppelt so rasch sprechen
als den anderen, ohne daß aus Anapästen Jamben, aus steigenden Metren
fallende entstünden.
Jetzt endlich sind wir zur Prüfung der Frage berechtigt, was da
wird, wenn musikalische Klänge oder Worte in die metrische Außen-
form eingesenkt werden. In beiden Fällen tritt zu den zeitlichen und
dynamischen Verhältnissen eine Mannigfaltigkeit von Klängen ver-
schiedener Höhe und Färbung. Die Klangfarbe, die zur sinnlichen
Schönheit des ästhetischen Gegenstandes so erheblich beiträgt, hat für
den Rhythmus keine Bedeutung. Die Tonhöhe kommt für den rhyth-
mischen Aufbau im kleinen wie im großen ganz wesentlich in Be-
tracht, doch nur in der Musik. Denn die philologische Unart, immer-
fort von Hochton und Tiefton zu sprechen, darf nicht zu der Ansicht
verieiten, als ob in unserer gegenwärtigen Verskunst die wechselnde
Stimmlage einen gesetzmäßig auftretenden Anteil am rhythmischen Ein-
druck hätte; ihre Bedeutung ruht vielmehr im Ausdruck der Affekte
Allein der Hauptunterschied des musikalischen und des sprachlichen
Stoffs wurde noch nicht berührt: die Tatsache, daß Klänge sich j^-
licher metrischen Verwendung willig fügen, während einsilbige Wörter
durch die Länge ihrer Vokale, mehrsilbige außerdem durch ihre Be-
tonung in sich selber schon die Elemente eines rhythmischen Gefüges
tragen. Der Dichter steht daher vor der Aufgabe, zwischen dem Wort-
rhythmus und dem Rhythmus des Versschemas die wohlgefälligste
138 in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Verbindung herzustellen. Ein ausnahmsloses Zusammenfallen von
Wort- und Versfuß wirkt eintönig und beschränkt den Dichter nutzlos
in der Wahl der Worte; wie nun aber im einzelnen verfahren wird,
um diesen Bedenken zu entgehen, der Sprache nicht Gewalt anzutun
und dem Metrum genügenden Einfluß zu belassen, das haben Literatur-
geschichte und spezielle Poetik zu zeigen. Eine letzte Schwierigkeit
entwickelt sich aus der gedanklichen Zusammengehörigkeit mehrerer
Worte, die jedes Zerrissenwerden verbietet, Unterordnung unter eine
Atemeinheit fordert und merkliche Abtrennung von dem nächsten Sach-
und Satzzusammenhang verlangt. Die Lösung des Problems erfolgt
durch die Cäsur. Wo das Versgefüge bestimmte Cäsurstellen hat, da
muß der Dichter seine Sätze und Satzteile nach ihnen richten; in den
meisten Versen bleibt glücklicherweise die Wahl der Stelle offen. Der
volle Eindruck des Gedichtes rührt davon her, daß alle kleinen und
großen, äußeren und inneren Synthesen zu einer umfassenden Einheit
verschmelzen.
Wir nennen die soeben berührten Zeit- und Betonungsverhältnisse
von Worten und Sätzen den sprachlichen Rhythmus (im engeren Sinne).
Dieser Rhythmus hat sich also mit dem metrischen Schema ausein-
anderzusetzen. Oder anders ausgedrückt: der metrische Rahmen wird
mit einem bereits rhythmischen Material ausgefüllt. Oder in der bei
den Raumgestalten verwendeten Redeweise, aber mit Umkehrung des
Folgeverhältnisses: in die Begrenzungslinie treten proportionierte In-
halte ein.
Sind nun vielleicht auch die von der Musik dem Metrum ein-
zupassenden Klangfolgen bereits rhythmisiert? Besteht wenigstens
ein vom Metrum unabhängiger Rhythmus? Die Antwort kann nicht
zweifelhaft sein. Jede in synkopierten und ähnlichen Bildungen ver-
verlaufende Melodie spricht ein lautes Ja, denn sie zeigt einen ihr
innewohnenden Rhythmus, der an sich gar nichts mit dem Metrum
zu schaffen hat. Der Kern eines musikalischen Gedankens ist ein
rhythmisches Motiv; dieses Motiv, dem natüriich die Gestaltqualität
durch verschiedene Tonschritte alsbald veriiehen wird, hat Anfang,
Mitte und Ende ohne jede Rücksicht auf die metrischen Einheiten.
In unserer Notenschrift wird es höchst unzulänglich angedeutet,
da der Tonsetzer sich darauf verläßt, daß die innere Logik des Motivs
dem Vortragenden und dem Genießenden von selbst zum Bewußtsein
kommt. Das kleinste rhythmische Motiv entspricht dem Rhythmus
eines Wortes, etwa JJ^ J dem Worte »Metaphysik«. Größere
musikalische Phrasen haben in sich einen Zusammenhang, der dem
eines Satzes in der Sprache zu vergleichen ist. In Liszts sinfonischer
RHYTHMUS UND METRUM.
139
Dichtung »Hunnenschlacht« werden die zu Pferde heranstürmenden
und dann blitzartig in die feindliche Masse hineinfahrenden Hunnen
durch folgende, rhythmisch scharf ausgeprägte Figur gemalt:
^
'Sm> .t
^^
lU^ ^
±1
§
n
±
sr^
Dieser Rhythmus lebt sich aus in Freiheit von Takt und Metrum, so
wie der lyrische Geföhlszusammenhang nicht Sklave der Verszeile ist
Alle bisher einzeln besprochenen Faktoren verknüpfen sich mitein-
ander in Arie und Lied. Musikalisches und sprachliches Metrum,
Motivrhythmus und Satzrhythmus gehen die verwickeltsten Verbin-
dungen ein. Am einfachsten liegt es beim Reigen und dem davon
abstammenden Kinderiied, beim Gesang der Naturmenschen und beim
Volkslied. Hier nämlich tritt uns der Regel nach eine metrische Ge-
sangsmusik entgegen. Weiterhin überblickt man leicht, daß die Vers-
zeilen, so oft sie sich mit einer inhaltlichen Einheit des Gedichtes
decken, ihren natürlichen Ausdruck in einem rhythmischen Motiv
finden, das aber seinerseits von Takt und Metrum abweicht. So ver-
hält es sich beispielsweise mit den beiden Arien »Keine Ruh' bei Tag
und Nacht« und »In diesen heil'gen Hallen«. Wollte man sie takt-
mäßig singen, so würde der Text folgendermaßen sich darbieten:
Keine Ruh' bei Tag und
Nacht, nichts was mir Vergnügen
Macht, schmale Kost und wenig
Geld, das ertrage, wem's ge^lt
In diesen heil'gen Hallen kennt
Man die Rache nicht, und
Ist der Mensch gefallen, führt
Tugend ihn zur Pflicht
Ein weiteres Beispiel:
k
P
^ P
P=^
g
-^
-^
u. s. w.
Wir win- den dir den Jung- fem- kränz
Das rhythmische Motiv deckt sich nicht mit dem Metrum; die Vers-
metrik zeigt zwei jambische Dipodien. H. Rietsch bemerkt dazu:
»Wort- und Versfüße verhalten sich wie folgt: Wir win— den dir—
140 in. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
den Jung — femkranz. Die Dipodie fällt also je mit dem rhythmischen
Motiv zusammen, im großen ganzen auch der Wortfuß.« Übrigens
ist gerade die Tatsache, daß die Silben in »winden« und »Jungffem«
auf je zwei Noten verteilt werden, ein Hinweis auf eine Fülle von
Ausgleichsmöglichkeiten. So erklären sich die sogenannten ungleichen
Strophen im Ludwigslied und in den Leichen unschwer daraus, daß
etwa die erste Zeile der kürzeren Strophe zweimal gesungen und auf
solche Art die Gleichheit der Strophen im musikalischen Vortrag her-
gestellt wurde.
Die ausgedehnteren rhythmischen Einheiten erhalten ihre Wirksam-
keit, indem alle in ihnen unterscheidbaren Glieder aufeinander bezogen
und von der Erinnerung festgehalten werden. Dasselbe gilt von den
Metren. Metren wie Rhythmen werden, wenn sie noch nicht bekannt
sind, erst durch Wiederholung in ihrer Ganzheit verständlich. Sie ent-
stehen nicht durch Zusammensetzung, sondern ergehen sich in Aus-
einandersetzung, sie bilden sich nicht durch Gruppierung von Atomen,
sondern differenzieren sich in Einzelmomente. Wenn wir die gebräuch-
liche Theorie ernsthaft bis zum Äußersten treiben wollten, so würde
des Dichters Tätigkeit der eines Maurers gleichen, der Stein auf Stein
setzt Der Dichter begänne sein Werk mit den Elementen, nämlich
mit den Lautgruppen, die unmittelbar als Einheiten empfunden werden,
d. h. mit den Silben. Aus Silben setze er Versfüße (und Worte) zu-
sammen. Sie nun würden als das Mannigfaltige zu dem Einheitsbezug
der Verse, die Verse zur Strophe, die Strophen zum Gedicht vereinigt
Diese Konstruktion entspricht jedoch in der Hauptsache weder dem
Vorgehen des Künstlers noch dem Gefühl des Genießenden. Die
Individualität oder Unteilbarkeit des Ganzen kommt nicht genügend
zu ihrem Recht Was der Wissenschaft als ästhetischer G^enstand
gegeben ist, das ist die Totalität Wir müssen sie freilich zergliedern,
dürfen aber nicht aus dem Auge vertieren, daß wir mit der Zerlegung
immer weiter vom Konkreten ins Abstrakte, vom Wirklichen ins Er-
schlossene geraten. Die Erkenntnistheorie hat längst eingesehen, daß
nicht die Eigenschaften des Dinges die Wirklichkeiten sind, aus denen
es sich zusammensetzt, sondern daß vom Dinge ausgegangen werden
muß; die logische Elementariehre beginnt nicht mehr mit den B^[riffen,
sondern mit dem Urteil. Demgemäß könnte eine ausgeführte Lehre
von der Rhythmik bei der Periode (Strophe oder musiktheoretisch
Phrase) einsetzen, dann zu der tieferstehenden Einheit der Reihe (Vers
oder Absatz) fortschreiten und beim »Fuß« enden. Bei solcher Be-
handlung würde dem Umstand besser als bisher Rechnung getragen
werden, daß wir über ein metrisches Gebilde immer erst nach seiner
Vollendung im klaren sind. Beginnt ein jambischer Vers, so können
GRÖSSE UND GRAD. Hl
wir nicht wissen, ob er ein Drei- oder Vierfüßler oder ob er ein
Senarius oder ein Octonarius werden wird; vorzeitiges Abbrechen der
ttngeren Reihe ergibt — vorausgesetzt, daß diese Reihe die erste ist
— kdne Verstflmmelung, sondern eben nur die kürzere Fona Wenn
der Restbetrag sich nicht einstellt, so wird anders vereinheitlicht Des-
halb hat der Reim seinen Platz am Ende, denn er betont aufs Olflck-
lichste die Schlußkraft dieser Stelle.
Aber diese Dinge im einzelnen zu verfolgen scheint nicht nötig,
da uns hier nur die allgemeine rhythmische Beschaffenheit des Ssthe-
tischen O^enstandes kümmert. Ergänzungen werden sich bei der
Behandlung der rhythmischen Gefühle und später an verschiedenen
Punkten der allgemeinen Kunstwissenschaft einstellend^).
4. Größe und Grad
Wie alle Wirklichkeit, so ist auch die ästhetische ein undefinier-
bares Zusammen von qualitativen und quantitativen Bestimmtheiten.
Keine Eigenschaft an einem Kunstwerke entbehrt einer Größe oder
Stärke, und diese wiederum sind unter allen Umständen an Qualitäten
gebunden. Dennoch vermag die wissenschaftliche Abstraktion zu
trennen, was tatsächlich für- und miteinander da ist Der Formalismus
hat daher seit langer Zeit die Größe- und Stärkeverhältnisse innerhalb
von Kunstwerken untersucht FQr diesen Standpunkt liegt die Schön-
heit im Verhältnis von Teilen oder Formgliedem. Wenn alles Schöne
in Form besteht und Form eine zur Einheit irgendwie gesammelte
Mannigfaltigkeit bedeutet, so kommt es bloß darauf an, daß die Glieder
zueinander in quantitative Beziehung gesetzt sind. Aber das absolute
Quantum sowohl der Teile als auch des Ganzen gilt als ästhetisch
bedeutungslos. Für diese Auffassung ist, kurz gesagt, 10:20 dasselbe
wie 1 : 2. Und da wir auch von der Psychologie belehrt werden, daß
im Seelenleben Oberhaupt die Verhältnisse eine entscheidende, die
Größen an sich eine geringe Rolle spielen, so neigen wir von vorn-
herein zur entsprechenden ästhetischen Ansicht
Zum gleichen Urteil drängt die Theorie des schönen Scheins.
Gesetzt, wir hätten es in der Kunst mit bloßem Schein zu tun. Dann
ist es offenbar gleichgültig, inwiefern die Maße der Wirklichkeit bd-
behalten oder abgeändert werden : ob ein Mensch in Naturgröße oder
um ein beliebiges kleiner abgebildet, ob ein dramatischer Vorgang in
der wirklichen oder in einer verkürzten Zeit vollzogen wird In jener
hohen Lage des Seelischen, in der die Kunst sich bewegt, scheint es
schließlich gar nicht mehr auf quantitative Bestimmtheit, sondern nur
noch auf Qualität und Wertcharakter anzukommen.
142 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
In Wahrheit li^ es nicht so. Schon die Naturg^enstände, die
wir als schöne auffassen, sind nach ihrer absoluten Größe und In-
tensität festgel^ Und zwar gilt im Ld)en das Gattungsmäßige als
die Norm: alles, was allzu stark nach oben oder unten davon abweicht,
pfl^ zu mißfjdlen. Wenn minder empfindliche Betrachter an Riesen
und Zwergen eine gewisse Freude haben, so mag es mehr die Lust
an der Seltenheit als an der Länge oder Kleinheit sein. Dabei kann
außer acht bleiben, ob die herrschende Vorstellung von der gattungs-
mäßigen quantitativen Beschaffenheit dem statistischen Durchschnitt
gemäß ist oder nicht. Der Schwerpunkt liegt darin, daß ein Quantum
als solches für das Eintreten des ästhetischen Genusses erforderlich ist
Wichtiger und schwieriger scheint mir die Frage: Inwiefern kommt
bei der künstlerischen Umformung der Wirklichkeit das vom Künstler
gewählte Maß oder die von ihm hergestellte Intensität in Betracht?
Der Durchschnitt unserer Lebenserfahrungen, der dem Naturschönen
zur Stütze dient, versagt hier seinen Dienst Denn das Bild eines
Menschen kann ebensoviele Zentimeter wie Meter g^roß sein. Daß
trotzdem diese absolute Größe des Bildes ihre ästhetische Bedeutung
besitzt, wird schon durch die eine Tatsache nahegel^ daß die Ver-
größerung oder Verkleinerung eines Formates bei vollkommen erhaltener
Formgleichheit einen verschiedenen ästhetischen Eindruck hervorrufen
kann. Man vergleiche ein Kartonbild mit seiner um vieles kleineren
Photographie: der Abstand ist erstaunlich. Das Originalbild hat durch
seine tatsächlichen Maße eine Wertnüance, die der verkleinernden
Wiedergabe — auch der vollkommensten — fehlt Es gibt ja genug
Gemälde, die beliebig gereckt oder beliebig verkürzt werden können.
Was aber als Monumentalbild gedacht ist, kann nicht zusammen-
schrumpfen, was als Miniaturbild geplant ist, nicht ins Große gedehnt
werden, ohne die wesentlichen Momente seines Reizes einzubüßen.
In berühmten Domen sind nicht selten Modelle ausgestellt, die zum
näheren Studium der Einzelheiten dienen. Der Betrachter empfindet
sofort, daß z. B. der Kölner Dom ganz anders wirkt als sein Modell
Sobald man auf die Bedeutsamkeit solcher allbekannten Erfahrungen
aufmerksam geworden ist, bemerkt man auch, daß das Raumverhältnis
eines Kunstwerkes zur Umgebung seinen ästhetischen Wert nicht nur
aus der Beziehung, sondern auch aus der für sich betrachteten Eigen-
größe erhält Freilich erscheint eine Kirche zwischen großen Bau-
werken nicht so stattlich wie zwischen niedrigen Häusern; aber auch
bei den günstigsten Bedingungen darf sie hinter einem gewissen Maß
nicht zurückbleiben, um imponierend zu wirken, und sie darf ander-
seits — unbeschadet des Umgebungseinflusses — eine obere Grenze
nicht überschreiten, damit sie als künstlerische Einheit apperzipier-
GRÖSSE UND GRAD. 143
bar bleibt. Wenn ein Bild aus einem kleinen Wohnraum in einen
Museumssaal versetzt wird, so kann dieser Wechsel der Umgebung
(beispielsweise bei sehr großen Formaten) gflnstig einwirken. Den-
noch ist der objektive Raumverbrauch, der sich ja nicht geändert hat,
die Grundlage fflr den Anteil des Quantums an der ästhetischen
Wirkung.
Ähnlich steht es mit einem Bedenken, das sich der Oberl^[ung
sehr bald aufdrängt, nämlich, daß wir ja vielfach von der absoluten
Größe des Kunstwerkes nichts wissen. Ich meine natürlich nicht, daß
uns die bestimmten Zahlenwerte unbekannt bleiben, sondern nur, daß
wir die Quantität des Ganzen und seiner Teile Oberhaupt nicht mit
Bewußtsein auffassen. Selbst in diesen Fällen braucht sie nicht un-
wirksam zu sein, was schon daraus hervorgeht, daß sie in der Er-
innerung annähernd reproduziert werden kann, obgleich sie bei der
Wahrnehmung nicht beachtet worden war. Wenn nun gar die Raum-
größe von den gewohnten Mittelwerten abweicht, Qbt sie eine deutlich
zu sparende Wirkung aus. So ist bei Bildern ein allzu kleines Format
der Vertiefung meistens hinderlich, vor allem, wenn viele Bilder dieser
Art nebeneinander hangen. Noch ehe wir das Bild selber betrachtet
haben, erhalten wir durch das Format den Eindruck: es lohne nicht
recht Wir sehen eine ganze Anzahl vor uns und verlieren von vorn-
herein den Mut Dieses Vorurteil beeinflußt dann den Genuß, sei es
im Sinne der Bestätigung, sei es im Sinne einer erfreulichen Wider-
legung, durch die dem Kunstwerk mehr zugeschrieben wird als es
durch Inhalt und Ausführung verdient Eine andere Disposition ent-
steht aus der Wahrnehmung beträchtlicher Größe, die der Wahrneh-
mung des Bildinhaltes vorauszugehen pflegt. Eine solche Größe ist
wie ein Alarm : ihm muß das Gemälde durch bedeutsamen Inhalt und
großzügige Technik, durch Vermeidung des Kleinlichen, durch derbe
Linien und wuchtige Farben entsprechen^^).
Es ist von Kunstkennern darauf hingewiesen worden, daß Ver-
fehlungen in der Wahl des absoluten Quantums innerhalb der ver-
schiedenen Künste eine verschiedene Richtung zeigen. Von Malern
wird eher ein zu kleines als ein zu großes Format gewählt, sofern sie
das Richtige nicht treffen. Das mag darin seinen Grund haben, daß
der Maler der Phantasie des Betrachters zutraut, auch über das ge-
gebene Adaß die Bestandteile des Bildes zu dehnen, während er im
entgegengesetzten Falle fürchtet, es werde der richtige Abstand ver-
fehlt und daher die Einheit des Kunstwerkes nicht aufgefaßt werden.
Wenigstens wäre eine solche Erwägung im durchschnittlichen Ver-
halten des Publikums hinreichend begründet Hingegen pflegen Dichter
und Musiker sich eher durch Überausdehnung zu versündigen. Selten
144 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
bleibt ihr Werk hinter dem erforderlichen Maße zurück, oft genug
fiberschreitet es dasselbe und wird dadurch ermüdend.
Diese Beobachtung führt nun bereits zur zweiten Kkisse des ex-
tensiven Quantums, zur ZeitgröBe, hinüba*. Auch in Rücksicht auf
sie muB zunächst einmal der ästhetische Tatbestand, waingldch nur
in einigen Grundzügen, aufgenommen werden.
Ich rede jetzt wieder nicht von dem Verhältnis der ZdtgröÜen^
sondern ich spreche lediglich von der objektiv zu messenden Zeit-
spanne. Da sei vorerst an die Bedeutung der objektiven Zeit für
menschliche Verhältnisse erinnert In Fontanes »Effi Briest« entdeckt
der Baron Instetten nach mehr als sechs Jahren eine Untreue sdner
Gattin. Er gesteht sich, daß er weder Haß noch Rachedurst empfinde.
->Und wenn ich mich frage, warum nicht?, so kann ich zunächst
nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht immer von unsühn-
barer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den Menschen
auch. Ich hätte nie gedacht, daß die Zeit rein als Zeit so wirken
könne« (9. Aufl., 1900, S. 411). Nach dem Duell: »Schuld, wenn sie
überhaupt 'was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann
nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne,
das hat einen Sinn. Aber Verzeihung ist etwas Halbes, etwas Schwäch-
liches, zum mindesten etwas Prosaisches« (425). Ich würde sagen,
es widerstrebt uns anfänglich, daß sittliche Eigenschaften durch bloBe
Zeitgrößen verändert werden können. Das hat etwas Prosaisches, ja
etwas Brutales. Es dürfte an die Qualität einer Handlung gar nicht
heranreichen, ob sie vor zehn Minuten geschehen ist oder vor zehn
Jahren. Aber tritt aus der Wiederholung, die an sich doch nur zahlen-
mäßig vermehrt, nicht eine ähnliche Wirkung hervor? Der rein ästhe-
tische Erfolg pflegt allerdings in ziemlich engen Grenzen zu bleiben.
Wiederholungen stehen in der Mitte zwischen dem extensiven Quantum,
das wir bisher besprochen haben, und einer anderen Art des exten-
siven Quantums, nämlich der Zeitgröße. Werke der Raumkunst
können dies Moment enthalten. Die einfache Wiederholung findet
sich bei allen Mustern, in den meisten dekorativen Gebilden, an Häuser-
fassaden und Säulenbauten und zwar im Sinne einer quantitativen Ver-
stärkung. An sich wäre die zahlenmäßige Mehrheit des Gleichen für
den entwickelten Geschmack ebenso unerträglich wie die plumpen
Mittel, die man zur Hervorhebung und Kennzeichnung in Schrift und
Druck verwendet, wie das Unterstreichen, Sperren oder gar das ein-
geklammerte Ausrufungszeichen am Schluß von Zitaten. Indessen da-
durch, daß in dem »oft« eine neue ästhetische Qualität sich andeutet,
wird es erträglich. Der Säulenwald ist von der einzelnen Säule eben
nicht nur so unterschieden wie n: 1. Er hat in seiner gleichförmigen
GRÖSSE UND GRAD. I45
Vielheit etwas Überwältigendes, das der fOr sich stehenden Säule ab-
geht. Wenn der Künstler die allgemeine Beschaffenhat eines Gebildes
verdeutlichen will, so kann er kein einfacheres Mittel wählen.
Noch deutlicher wird die gleiche didaktische Absicht in der zeit-
lichen Verwendung der Wiederholung. Uns allen ist der Vorgang aus
der Redekunst am vertrautesten. Obwohl ein Redner meist verschiedene
Formen wählen dürfte, um den Hörern mehrere Zugangswege zum
Verständnis zu öffnen, so kann er doch auch bei besonders gut ge-
troffenen Formulierungen der direkten Wiederholung nicht entraten.
Die eindimensionale Beschaffenheit des Zeitverlaufes gibt kein besseres
Mittel der Betonung an die Hand als die Wiederholung. Gleichsam
auf der Mitte zwischen Raumkunst und Zeitkunst steht das Ballett mit
seinen Reihen von gleichen Bewegungen : indem viele dasselbe machen,
verliert es zwar an individuellem Reiz, prägt sich aber in seinen großen
ZQgen dem Auge und dem Gedächtnis besser ein. Die Poesie hat in
ringförmigen Gedichten, wo die Schlußworte den Anfang wiederholen,
im Refrain und dergleichen eine Technik der Wiederholung ausgebildet;
die ältere Musik rechnet ganz wesentlich auf die Freude an der Wieder-
holung, sowohl wenn sie schulgerechte Durchführungen als auch
wenn sie Variationen bietet.
Femer herrscht darüber seit alters Einigkeit, daß quantitative
Momente zur Unterscheidung von Kunstformen gebraucht werden
können. Innerhalb der kleinsten musikalischen Organismen sondern
skrh Motiv und Thema hauptsächlich durch die Länge; beim Thema
weiterhin Fugenthema und Sonatenthema: das Fugenthema zwei bis
vier Takte lang, das Sonatenthema in der Regel eine achttaktige Periode.
Die Sonatine zeigt geringere Gesamtdauer als die Sonate^ und daher
in ihren Teilen ein verkürztes Maß. Alsdann in der Dichtkunst. Die
Lyrik, die überhaupt auf kleinere Formen beschränkt ist, gestattet dem
Herkommen gemäß der Romanze größere Ausführiichkeit als der Ballade;
die Novelle sondert sich u. a. auch durch stärkere Beschränkung von
dem Roman. Epigramm und Aphorismus, Skizze und Fragment ver-
danken ihrer Kürze jene Besonderheit, die mit weiterer Ausdehnung
und Vervollständigung schwinden würde. Mit einem Wort: der Ein-
fluß des Quantitätsprinzipes ist unverkennbar.
Wir wenden uns jetzt dem intensiven Quantum zu. Jeder prak-
tische Musiker macht die Erfahrung, daß für gewisse künstlerische
Wirkungen eine Macht, sei es des Instrumentes, sei es der Behand-
hing, notwendig ist. Man denke sich Liszts E-Dur-Polonaise auf dem
Spinett gespielt ! Auch bei sorgsamster Abstufung im Spiel kommt kein
Fortissimo heraus, wie es dem Wesen des Stückes gemäß ist: es ge-
nfigt d>en nicht, daß der höchste Grad erreicht werde, der auf einem
Dcttoir, Attbetik und allg. Kunttwitsciucluft. 10
146 HL DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Spinett zu erzielen ist, sondern eine gewisse absolute Stärke. Wir ur-
teilen nicht ausschließlich nach der Proportion. Es gibt Klavierspieler^
deren Anschlag eines klingenden Pianissimo unfähig ist Wenngleich
sie nun ihre Wiedergabe eines Stückes so anl^en können, daß alles
sorgsam abschattiert wird bis hinunter zu der geringsten ihnen mög-
lichen Intensität, so bleibt diese doch noch zu groß. Ausgezeichnete
Sänger sind in der Wahl ihrer Lieder beschränkt, weil ihnen gewisse
Akzente fehlen. Könnte man das Requiem von Beriioz auf einer Mund-
harmonika nachblasen, und zwar so, daß die ganze musikalische Struktur
erhalten bliebe, so wäre der Eindruck dennoch ein ganz anderer. Im
vierten Satz dieser Grande Messe des Morts sind neben dem Haupt-
orchester noch vier kleine Bläserorchester verzeichnet; für jenes ver-
langt der Komponist zwölf Pauken und außerdem noch allerhand
Schlaginstrumente; er schreibt für das Streichquartett eine Besetzung
von 108 Mann vor, für den Chor verlangt er 70 Soprane, 60 Tenöre,
70 Bässe Dieser ganze Aufwand an Intensität wird nicht umsonst
getrieben. Denn die Reduktion auf ein Zehntel der Besetzung würde
zwar die Verhältnisse unberührt lassen, aber das absolute (intensive)
Quantum so herabsetzen, daß das Werk unkenntlich würde.
Ähnliches beobachten wir im Gebiet der bildenden Künste. Es ist
neuerdings gegen die Scheintheorie eingewendet worden, daß in der
Architektur und im Kunsthandwerk die realen Eigenschaften des ver-
wendeten Materials eine Bedeutung haben. Das feste, massige Holz
der Eiche bestimmt es für schwere Kunstgegenstände; ein Palast muß
aus massivem Stoffe, darf nicht aus Pappe hergestellt werden. Also
handelt es sich auch hier um ästhetische Quantitäten. Denn die Eigen-
tümlichkeiten von Schwere und Festigkeit sind ja wohl solche des
Grades, des intensiven Quantums. Die angezogene Erkenntnis bildet
demnach nicht nur einen Einwand gegen den ästhetischen Fliäno-
menalismus, sondern zugleich eine Stütze für die hier vertretene An-
sicht. Ferner gehört hierher die Erscheinung der Anmut Spencer
hat sie auf das Gesetz des kleinsten Kraftmaßes zurückgeführt: Be-
wegungen sollen dann anmutig sein, wenn sie ihr Ziel mit dem ge-
ringsten Kraftaufwand erreichen. Doch unterii^ diese Bestimmung
einigen Zweifeln. Denn der Morsetelegraphist löst seine Aufgabe mit
solchen Bewegungen, ohne daß sie deshalb graziös zu sein brauchten.
Die kleinen, schnellen, leichten Bewegungen erfüllen offenbar noch
nicht alle Anforderungen. Anderseits sind manche unzweifelhaft an-
mutige Bewegungen mühevoll, wie von Berufstänzem und Akrobaten
bezeugt wird. Nicht auf die objektive Leichtigkeit und Kraftersparung;
sondern auf den Eindruck der Ungezwungenheit kommt es an. Die
Anstrengung darf weder sichtbar noch hörbar werden: von dem
GRÖSSE UND GRAD. 147
Spielen der Sonnenstrahlen auf dem Wasser werden wir bezaubert, weil
der Vorgang sich lautlos und ohne sichtbare Bemühung vollzieht Dazu
kommt, daß die Bewegung gleichsam mit aller Freiheit von statten geht
Ihr Rhythmus ist ungeordnet und unberechenbar. Ein Stein, der gerades-
w^s hinabfällt, entschlossen nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes
zur Erde strebt, entbehrt der Anmut; wie anders das Blatt, das vom
Winde gewiegt launisch hin und her geht, bis es den Boden erreicht^')!
Freilich können Vertreter einer relativistischen Weltanschauung dabei
beharren, daß alle unsere Beispiele schließlich doch auf g^enseitige
Beziehungen, mindestens auf eine Beziehung zu den anschaulichen
Grenzwerten zurückzuführen sind. Wer überhaupt nichts Absolutes
als erfahrbar anerkennt, wird auch das, was wir absolutes Quantum
nannten, in bloße Relativität auflösen. Allein diese Grundauffassung
steht nicht zur Diskussion. Nur unter der Voraussetzung, daß der
übliche Unterschied beibehalten wird, sprechen wir von einem abso-
luten Quantum und seiner ästhetischen Bedeutung. —
Indem wir von der Aufnahme des Tatbestandes zu seiner Erklärung
übergehen, entwickeln wir zunächst einen Gesichtspunkt, den Fechners
»Vorschule der Ästhetik« aufgebracht hat Die inhaltliche Ästhetik
bemißt den Rang eines Kunstwerkes vornehmlich nach der Bedeutsam-
keit des darin ausgesprochenen Inhaltes. Vielleicht darf man dieser
Auffassung so weit nachgeben, daß man die Beschaffenheit des mit-
geteilten G^enstandes als nicht gleichgültig für die Gesamtwirkung
bezeichnet Alsdann wird die Forderung aufgesteUt werden können,
daß die äußere Größe des Kunstwerks seiner »inneren Größe« pro-
portional sein müsse in dem Sinne, wie eben etwas Äußeres einem
Inneren entsprechen kann. Wir haben, wie Fechner sagt, keinen eigent-
lichen Maßstab, aber ein sehr sicheres durchschnittliches Gefühl dafür,
daß bestimmte Vorgänge, Tatsachen, Handlungen eine größere Ge-
wichtigkeit und Mächtigkeit besitzen als andere. Und auf Grund da-
von erwarten wir bei Kunstwerken, die gewichtige Gegenstände be-
handeln, eine andere Raum- oder Zeitgröße als bei Werken, die mit
minderwertigen und nebensächlichen Gegenständen angefüllt sind.
So beurteilen wir es als angemessen, daß der Maler für die Auf-
erstehung oder für die Orsblegütig ein großes, für eine Genreszene
aber ein kleines Format wählt Es ist, als ob wir eine notwendige
Proportionalität empfänden zwischen der sachlichen Bedeutung und
der Erscheinungsform. Aus diesem instinktiven Takt erwächst der
religiösen Malerei ein schweres Problem. Wie kann das Christuskind
als Träger des Heils dargestellt werden, eine kleine Figur den geistigen
Mittelpunkt des Gemäldes bilden? Viele Bilder ersten Ranges versagen
hier. Ich finde, daß z. B. die »Anbetung der Hirten« von Hugo van
148 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
der Goes (Portinarialtar in den Uffizien zu Florenz) jener Schwierig-
keit unteri^en ist. Dagegen wird sie in der »Sixtinischen Madonna«
glänzend überwunden. Der Aufbau des Bildes, die Kraftverteilung,
Haltung und Blick des Kindes, das mit seinen wirren Haaren einem
Propheten, mit seinem ruhigen Sitz einem Fürsten gleicht — das alles
trägt dazu bei; entscheidend jedoch ist, daß die Größe des Kindes
über die Wirklichkeit hinaus ins Heldenhafte gesteigert ist Raffael
konnte eine unrealistische Vergrößerung vornehmen, weil sie bei dem
natüriichen Wunsch des Betrachters, den Eriöser der Menschheit trotz
der Kindesgestalt adäquat verkörpert zu sehen, durchaus nicht auffällt
Ich bitte die beigefügte Abbildung der Madonna Raffaels mit der in
der Haltung ähnlichen Maria eines Meisters der Schwäbischen Schule
in Bezug auf die Größe des Kindes zu vergleichen. (Tafeln VI u. VII.)
Überhaupt sollte kirchliche Kunst immer monumental sein. Vom
Einzelnen abgesehen: Kleines Format ziemt sich eben nicht für welt-
bewegende Ereignisse. Anderseits wäre es über alle Maßen geschmack-
los, wollte jemand einem Stillleben den gleichen Raumverbrauch zu-
billigen. Eine Zitrone in der Größe eines mäßigen Bierfasses ist
absurd. Nicht deshalb, weil sie in Wirklichkeit kleiner ist, sondern
weil ihre Bedeutungslosigkeit ein solches Steigern nicht verstattet Bei
plastischen Bildwerken größeren Formates muß daher totes Nebengerät
sehr vorsichtig behandelt werden, namentlich wenn die Gefahr vorli^
daß die gesehene Größe in der Auffassung noch übertrieben werden
könnte. An den Tafelaufsätzen und Ehrengaben, die unter der Flagge
von Kunstwerken segeln, prangen oft Silberpüppchen von wenigen
Zentimetern Höhe, die das Vaterland oder die Treue darstellen sollen,
schließlich aber neben Süßigkeiten und Studentenfutter stehen. Das
ist unschicklich.
Der Parallelismus von äußerer und innerer Größe ist durch Fechner
weiterhin aber eingeschränkt worden. In der Tat muß man ihm zu-
geben, daß die äußere Größe eines Kunstwerkes langsamer wächst
als die innere — insoweit beides in Bezug auf fortschreitende Ver-
änderung zu vergleichen ist Gemeint ist folgendes. Wenn man einen
glaubensgeschichtlichen Vorgang größter Wucht neben eine beliebige
Schenkszene hält, so ist der Abstand ein unendlicher. Das Format
der beiden Bilder aber ist nicht unendlich verschieden. Das eine mag
um sehr vieles größer sein als das andere; auf keinen Fall aber ist
es in dem Maße größer, wie die innere Bedeutung des ersten Bildes
die des zweiten übertrifft. Einen Grund dieser Diskrepanz erblicke
ich in der Zusammengesetztheit des ästhetischen Objektes, also in
dem Umstand, daß die Tragweite des dargestellten Vorwurfes ja nicht
lediglich durch den Umfang ausgedrückt wird. Da dem Künstler noch
GRÖSSE UND GRAD. UQ
andere Mittel zur Verfügung stehen, durch die er die innere OröBe
verdeutlicht, so braucht die Veränderung der Quantität mit der Ver-
änderung des Oehaltes nicht gleichen Schritt zu halten. Einen zweiten
Orund liefert das Prinzip des kleinsten KraftmaBes: innerhalb jedes
Kunstwerkes soll nicht mehr Kraft aufgewendet werden, als zur Er-
reichung des gesetzten Ziels eben notwendig ist Die geringsten
Quanta, die gerade noch zureichen, sind die besten; sie li^en, gemäß
der ersten Erklärung, unter der Linie der inneren OröBe.
Von hier aus hilft nun die Theorie der Einfühlung weiter. Wenn
ich selbst eine Bew^[ung gern ausführe und als erfreulich empfinde,
die ihren Zweck mit dem geringsten Kraftaufwand erreicht, so be-
urteile ich auch assoziativ eine künstlerisch dargestellte Bew^[ung als
schön, sofern sie der gleichen ökonomischen Bedingung genügt
Damit ist schon ausgesprochen, daB das Kunstwerk durch seine MaBe
eine Nachbildung unsererseits nicht unmöglich machen darf. Gesetzt,
ich versuche mich in eine Statue hineinzufühlen. Dann lassen sich
Figuren von so riesenhafter Ausdehnung denken, daB ich mit ihnen
mich innerlich zu verschmelzen nicht mehr im stände bin. Ich erinnere
an die Freiheitsstatue, die man erblickt, wenn das Schiff in den Hafen
von New York einläuft Dabei kann man beobachten, an welchem
Zeitpunkt die Einfühlungsmöglichkeit aufhört Zuerst sieht die Statue
klein und unbestimmt aus. Indem man sich nähert, kommt ein Augen-
blick, wo man den emporgereckten Arm mitfühlt, das stolze Sichauf-
richten nachempfindet, und wenige Minuten später schwindet das
OefflhL Dann wächst die Statue durch die weitere Annäherung des
Schiffes so ins UnermeBliche, daB wir nicht mehr mitmachen. Ander-
seits gibt es so kleine Püppchen, daB ein Mitempfinden und ül>erhaupt
ein reiner künstlerischer OenuB ausgeschlossen ist Die innere Nach-
ahmung, wie man es genannt hat, kann bei zu groBen und bei zu
kleinen MaBen nicht ins Spiel treten. Die vermenschlichende Auf-
fassung ist kraft unserer Organisation an gewisse Orenzwerte ge-
bunden. Obwohl diese Grenzwerte normativ nicht bestimmt werden
können, so sind sie doch für die einzelnen Völker und Zeiten mit
leidlicher Genauigkeit festgel^ Auch in Musik und Poesie, natüriich
hier als ZeitgröBen. Während Bachs Variationen uns oft zu lang er-
scheinen, vertragen wir Wagners Tonwortdramen und Mahlersche
Sinfonien; unsere Väter lasen Gutzkows und Sues vielbändige Romane,
wir besitzen jetzt eine Depeschenlyrik. Aus dem ZusammenfluB vieler
Momente ergibt sich ein geschichtlich wechselndes MaB, innerhalb
dessen die Einfühlung am sichersten von statten geht Die genauere
Umgrenzung und Erklärung muB die Ästhetik also der Kunstgeschichte
(im weitesten Sinn) überlassen.
150 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
Wir blicken noch einmal zurück. Es war zunächst festgestellt
worden, daß extensives und intensives Quantum eine künstlerische
Bedeutung besitzen. Als einen Grund dafür fanden wir, daß der
ästhetisch Genießende ein immanentes Verhältnis von innerer und
äußerer Größe verfangt. Die Grenzen sind tatsächlich (wenn auch
nicht logisch) festgelegt durch die Beschränktheit der Einfühlung auf
gewisse Maße.
Nun ist aber hinzuzufügen , daß auch die künstlerische Formen-
gebung eine Beziehung zur Größe enthält. Beispielsweise ist der vom
Zeichner gewählte Grad der Linie nichts Zufälliges. Wenn wir Laien
auf einem Oktavblatt einen Kopf zu zeichnen versuchen, so probieren
wir verschiedene Strichstärken, bis wir bei zwei oder drei stehen
bleiben. Diese Stärken sind natüriich nicht unabhängig von dem
Papier, von dem Material, mit dem wir zeichnen, von dem Winkel,
den die Hand bildet u. s. w. Aber sie sind doch wesentlich bedingt
vom Format und von der künstlerischen Aufgabe. Große Gegen-
stände und große Flächen erheischen eine eigene Technik. Und zwar
ist die Beziehung eine so innige, daß von jedem der drei Faktoren
ausgegangen werden kann: es mag die Fläche g^eben sein, etwa
wenn es sich um bildliche Ausfüllung von Wänden handelt, es mag
der Gegenstand den Künstler bestimmen oder es kann schließlich ein
technisches Problem zur Wahl des Sujets und des Formates führen.
Diese Gegenseitigkeit braucht sich indessen nicht auf die bisher vor-
ausgesetzte einfachste Form zu beschränken. Es findet sich auch das
wunderliche Verhältnis, daß absichtliche Verkleinerung den Effdct
einer Vergrößerung erzielt. Ein Inserat, das in kleiner Schrift inmitten
einer sonst ganz leeren Seite steht, wirkt auffälliger als wenn die ganze
Seite zur Anzeige verwendet wird. Man hat die Empfindung von
etwas besonders Wichtigem und Kostbarem. Der gleiche Erfolg tritt
ein, sobald eine kleine Zeichnung auf ein großes weißes Blatt auf-
geklebt oder durch einen übermäßig breiten Rand vom Rahmen ge-
trennt ist Der Größeneindruck des Bildchens wird mit Absicht ver-
ringert und eben dadurch seine Bedeutung für unser Gefühl gesteigert
Offenbar deshalb, weil wir den Raumverbrauch des Ganzen als Maß-
stab für den Wert des allein künstlerischen Mittelteils unwillkürlich
ansetzen. Eine Parallele zu diesem ästhetischen Verfahren bietet auf
logischem Gebiet das sogenannte hypothetische (besser konsekutive)
Urteil. Indem es die unentwickelte Aussage des Vordersatzes ins
bloß Mögliche hinabdrückt, erhebt es sich in der Verbindung von
Vordersatz und Nachsatz zu einer Notwendigkeit strengster Art: der
Verzicht auf die Realität der mit »wenn« eingeleiteten Unbestimmtheit
wird durch den Gewinn einer notwendigen Folge belohnt
ANMERKUNGEN. 151
Endlich fragen wir, von welcher Art denn die Gefühle sind, die
lurch bestimmte Größen innerhalb einer ästhetischen Empfänglichkeit
lervorgerufen werden. Die Objekte können bekanntlich so groß, so
eitlich ausgedehnt, so stark sein, oder auch in ihrer Quantität so
;eringfügig sein, daß ein ästhetischer Genuß nicht eintritt. Aus Fällen
ler ersten Art schöpft die Theorie von den irrealen oder Schein-
;efühlen ihre Berechtigung, auf Fälle der zweiten Gruppe stützt sich
ie Behauptung, daß ein Reiz eine gewisse Schwelle übersteigen
lüsse, um aus der bloßen Merklichkeit in die ästhetische Wertigkeit
u gelangen. Aber Genaues läßt sich nur bei Einzeluntersuchungen
ind nicht in der Form einer allgemeinen Regel sagen. Denn die
Quantität jeder neu eintretenden Vorstellung hangt ja ganz wesentlich
b von der Disposition des Aufnehmenden und von der Vorbereitung,
lie ihr vorausg^angen ist. Diese beiden Momente kommen auch
Qr diejenigen Quantitätsunterschiede in Betracht, die noch innerhalb
[es Feldes der ästhetischen Rezeptivität liegen und mit denen allein
rfr es hier zu tun haben. Vielleicht aber läßt sich ermitteln, welchen
lesonderen Charakter ein erhebliches, welchen anderen Charakter ein
inerhebliches Quantum dem ästhetischen Gefühl aufzuprägen pflegt,
i^obei die Erheblichkeit von subjektiver Disposition und von der Vor-
bereitung im Kunstwerke mit abhängig gedacht wird. Davon wird
>ei Gelegenheit der ästhetischen Kategorien gesprochen werden.
Anmerkungen.
*) Zu diesem bekannten Worte Winckelmanns vgl. Friedrich Koppen, Darstel-
ing des Wesens der Philosophie, 1810, S. 262: »Was in der Ethik der tugendhafte
Iharakter ist, das ist in der Ästhetik das Genie. Gleichwie der tugendhafte Cha-
ikter die Idee des Guten in den Lebensverhältnissen darstellt, so das Genie die
lee des Schönen in den Werken der Kunst Ästhetik wäre sonach die Wissen-
diaft der Prinzipien der genialen Produktion des Schönen ... Es findet vielleicht
renig Widerspruch, wenn wir die Ästhetik in diesem Sinne als Wissenschaft un-
löglich nennen.«
*) Heinses Werke, herausg. von Laube 1838, IX, 43.
») Heinrich v. Salisch, Forstästhetik, 2. Aufl., 1902, S. 38.
*) Aus Schelvers Lebens- und Formgeschichte der Pflanze, zitiert von Franz
homas Bratranek, Beiträge zu einer Ästhetik der Pflanzenwelt, 1853, S. 154.
*) K. Möbius, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften,
5. März 1900, 18. Februar 1904, 9. Februar 1905. Daß die Wohlgefälligkeit der
ögel in Eigenschaften ruht, die zum Teil überhaupt nicht, zum Teil wenigstens
icht in dieser Verbindung von der Kunst geschaffen werden können, erhellt auch
US der folgenden Zusammenfassung: »Die Anmut ihrer Gestalt, die Schönheit der
arben, die Schnelligkeit und Behendigkeit ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer
timme, die Liebenswürdigkeit ihres Wesens ziehen uns unwiderstehlich an.«
V. Brehm, Die Vögel, 3. Aufl., 1891, I, 33.)
*) Näheres in dem schon genannten Buch von Spitzer über Hermann Hettner.
152 ni. DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.
') Genaue Angaben vermag ich nicht zu machen, da die vorhandenen Unter-
suchungen über die im Text erwähnten Probleme spärlich und unzuverlässig sind.
Ich hoffe, daß einige im Gange befindliche Arbeiten zum Ziele führen werden.
Vielleicht interessiert eine statistische Feststellung, die ich selber vorgenommen
habe. Während mehrerer Jahre ließ ich die Hörer meiner ästhetischen Vorlesungen
den Grad ihrer Teilnahme für die verschiedenen Künste zum Ausdruck bringen und
bezeichnete ein starkes Interesse mit 1, ein mittleres mit 2, ein geringes mit 3.
Mit diesem recht groben Verfahren wurde immerhin deutlich nachweisbar, daß die
Gebildeten der Gegenwart am meisten für die Poesie, am wenigsten für das Kunst-
gewerbe übrig haben. Das arithmetische Mittel aus fünfhundert Angaben zeigt
folgende Zahlen: Dichtkunst 1,5; Malerei 1,7; Schauspielkunst 1,75; Musik 1,8;
Plastik 2; Architektur 2; Kunstgewerbe 2,2.
^) Man vergleiche das krause, aber nicht wertlose Buch von Maurice Griveau,
Les iUments du Beau. Analyse et synthhe des faits esth^ues d'apris les damments
du langage . . . 1892.
*) Eine gute Übersicht über die elementaren Verhältnisse in Wundts Orund-
zügen der physiologischen Psychologie. In diesem Buch findet der Leser auch
andere Literatur aufgeführt
*^) Gegen die anregenden Untersudiungen von Jonas Cohn (Philos. Stud. 1894,
X, 562—603) sprechen ältere Erfahrungen von Helmholtz und neuere Experimente
von Wundt und Emma S. Baker (University of Toronto Studles, PsychoL Series 1903).
»») Witmer in Wundts Philos. Studien 1893, IX, 76—114 u. 207—263. — Witmer,
Analytlcal Psychology 1902, S. 74. — Konrad Lange in der Zeitschr. f. Psych. 1898,
XVI, 409-417.
>^) Johannes Bochenek, Das Gesetz der Formenschönheit, 1903. Ich zitiere als
einfachstes Beispiel die »Konstruktion der Vomansicht der männlichen Gestalt« •
»Die Länge der Gestalt bezeichnen wir mit der Zahl 89. Teilt man diese nadi dem
goldenen Schnitt, so ist der Minor 34. Teilt man 34 in gleicher Weise, so ist der
Minor 13. Zweimal das Maß 13 genommen ergibt die Breite des Rechtecks
der aus zwei gleichen Hälften bestehenden Vomansicht. (Der Körper ist bilateral
symmetrisch.) Teilt man alle Seiten des Rechtecks von den Ecken des Einschlusses
aus in gleicher Weise, so entstehen zuerst die Maße 34 und 55. Verbindet man
diese Maße durch Linien miteinander, so kreuzen sich diese an denjenigen Punkten
der Gestalt, wo die Trennpunkte, die Ausladungen und die Einschnitte der Glieder
sich befinden.« Über andere Arten, einen Kanon der menschlichen Gestalt zu
finden, vgl. C. H. Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers, 16. Aufl., 1904.
'•) Diese Ausführungen folgen mehr oder weniger genau der Schrift von Julius
Wolff, Über die Wechselbeziehungen zwischen der Form und der Funktion der
einzelnen Gebilde des Organismus, 1901.
>^) Über diesen Widerspruch zwischen dem Kollinearitäts* und dem Konformi-
tätsprinzip vgl. Guido Hauck, EHe subjektive Perspektive und die horizontalen Kur-
vaturen des dorischen Stils, 1879. Vortrefflich ist auch die kürzere Darstellung in
Wundts Grundzügen der physiologischen Psychologie. Die Gegengründe sind von
Lipps entwickelt worden.
") Für ein genaueres Studium verweise ich auf das Buch von Heinrich Rietsdi,
Die deutsche Lied weise 1904 und die darin aufgeführte Literatur. Femer: H. Rie-
mann, Die Elemente der musikalischen Ästhetik (1900); R. Mac-Dougall, TheStmC'
tun of simple Rhythm Forms u. R H. Stetson, Rhythm and Rhyme^ beide Aufsatze
in den Harvard Psychological Studies, Bd. I, 1903; C. R. Squire, A genetic study of
rhythm. Amerie. fourn. of Psych. 1901, XII, 493—589; E. Sievers, Altgermanisdie
ANMERKUNGEN. 153
Metrik 1893 und in den »Beitragen zur Oesdi. der deutschen Sprache u. Liter.«
XIII, 121; Saran in diesen »Beitragen« XXIV, 72; J. Minor, Neuhochdeutsche Metrik,
2. Aufl., 1902; A. Heusler, Über germanischen Versbau, 1894 und im Anzeiger für
deutsches Altertum, XXI, 169 ff. — In dem Wunsch, die Darstellung möglichst knapp
zu halten, habe ich drei Behauptungen so ausgesprochen, daß sie zu MiBverstind-
nissen führen könnten. Ich möchte mich daher zunächst Qber das Beispiel »Keine
Ruh' bei Tag und Nacht« deutlicher iuBem. Die Melodie beginnt mit dem dritten
Viertel eines Taktes; bei »und« ist der zweite Takt zu Ende. Wollte man also
nach den Taktstrichen phrasieren, so käme ein Unsinn heraus. Dies ist gemeint
und mit den Worten »taktmißig singen« etwas unklar ausgedruckt Auf S. 137
steht, daß die Klangfarbe ffir den Rhythmus keine Bedeutung habe. In der Regel
verhilt es sich so, doch kann ausnahmsweise eine Abinderung der Klangfarbe als
ein so empfindliches Heraustreten aus der Indifferenzlage wirken, daß rhythmische
Gliederung die Folge ist Mit dem auf S. 138 erwähnten »Zusammenfallen von
Wort* und Versfuß« habe ich mich zu eng an die Oberiieferung angeschlossen;
richtiger sollte von der Wiederholung lauter gleicher Wortffiße gesprochen werden.
Darüber näheres im Abschnitt über Lyrik, der ebenso wie die spezielle Darstellung
der musikalischen Rhythmik die allgemeinen Theorien ergänzt
'*) Ich stütze mich hier auf Untersuchungen, die Herr stud. phil. Everth in den
von mir geleiteten ästhetischen Übungen angestellt hat Übrigens sagt schon
Th. Couture in seinen Entreiiens (Taiilier (1867, I, 271): *Le grand cadn demamde
ks gramds senUments desquds dieoule une fafon iarge, ile^fit ä des colorations
kiniqais.*
■^ Diese Gesichtspunkte sind zum Teil entnommen dem Buche von Paul Sou-
fian, UisthAiqae du mouvement, 1889.
IV. Der ästhetische Eindrack.
1. Zeitverlauf und Gesamtcharakter.
Untersuchungen wie die augenblicklich von uns verfolgten er-
scheinen Künstlern und Schöngeistern meist als überflüssig: sie emp-
finden nicht das Bedürfnis nach langatmigen Aufklarungen fiber cÜe
einfachsten Verhältnisse. Die Wissenschaft kann nicht umhin, gerade
bei ihnen länger zu verweilen. Sie wird auch, soweit es irgend an-
geht, die auf Genauigkeit gerichtete Beobachtung und den kunstlichen
Versuch zu Hilfe nehmen, und das mit gutem Recht, da das Wohl-
gefallen und Mißfallen bei ästhetischen Elementarvorgangen viel sicherer
eintritt als bei allen anderen auf das Gefühl wirkenden Geschehnissen.
Ganz zutreffend ist gesagt worden: Wir können in Arbeitszimmern
und Versuchsstätten zwar nicht auf Befehl vergnügt oder traurig
sein, aber die schwache, ruhige Lust an Proportion und Rhythmus
willküriich erzeugen, außerdem die an ihr bemerkbaren Veränderungen
auf Einflüsse der Ermüdung, Aufmerksamkeit, Übung und ähnlicher
Bedingungen gesetzmäßig zurückführen. Allein, was darüber hinaus
von der experimentellen Erforschung der einfachsten ästhetischen Vor-
gänge gerühmt wird, das trifft nicht zu. Sie leistet uns nicht dasselt)e
wie dem Physiker. Dieser kann die Ergebnisse seiner Versuche mit
schwachen elektrischen Entladungen auf das Gewitter übertragen, er
kann die Bewegung des Ozeans an der Wellenbewegung in einem
Waschbecken erforschen. Den ästhetischen Eindruck des Gewitters
und des starken Seeganges hingegen erhalten wir eben nicht von der
Influenzmaschine und dem i^Sturm im Glase Wasser«. Dort ist nur
ein Unterschied der Stärke, hier ein solcher der Art Wir müssen
daher, je näher wir an die wirklichen ästhetischen Erlebnisse heran-
treten, desto vorsichtiger in der Anwendung der beim Experimentieren
gewonnenen Resultate sein; wir dürfen die reine Selbstbeobachtung
und die Vergleichung vieler Selbstbeobachtungen nicht als Nebensache
behandeln.
Der ästhetische Eindruck erfordert eine zweifache Betrachtung. Die
eine, schon seit Jahrhunderten ausgeübt, sucht die in ihm enthaltenen
Bestandteile nachzuweisen; die andere knüpft an die Tatsache an, daß
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 155
jeder einigermaßen bedeutungsvolle Eindruck sich in einem Zeitverlauf
entfaltet Wenn der ästhetische Gegenstand selber ein zeitlicher Vor-
gang ist, so wird einerseits seine Aufnahme in allen Phasen von dem
objektiven Geschehen bestimmt, anderseits der freien Auswahl, der
Erinnerung und Voraussicht, Oberhaupt der beziehenden Tätigkeit ein
weites Feld eröffnet« Wir folgen ja nicht ganz getreu allen Einzel-
heiten, sondern schaffen uns auf Grund des objektiven Zeitverlaufs
einen subjektiven. Femer werden die reicheren Raumgebilde ästheti-
schen Werts in einem Nacheinander aufgefaßt, in dem vielleicht Regeln
sich entdecken lassen. Sonach stehen wir vor der Aufgabe, uns über
die Sukzession der Bewußtseinstätigkeiten in diesen verschiedenen
Fällen klar zu werden. Ich habe versucht, durch Einzeluntersuchungen,
von denen erst einige veröffentlicht sind>), die Frage der Beantwortung
nahe zu bringen. Das Verfahren bestand in der Hauptsache darin,
daß die gleichen Gegenstände den Versuchspersonen in verschiedener
Zettdauer dargeboten wurden und daß bei den Werken der Zeitkunst
durch alleriei Hilfsmittel die Beobachtung des inneren Verlaufs er-
leichtert wurde. Die kürzeste Zeit, die verwendet wurde, betrug zehn
Sekunden; die Anordnung im übrigen braucht hier nicht mitgeteilt zu
werden.
Um den Zeitveriauf beim Genuß eines Bildwerkes (oder eines ein-
drucksvollen Naturobjektes) zu erforschen, tut man also gut, die Be-
trachtung an verschiedenen Zeitpunkten abzubrechen und festzustellen,
was nach zehn oder zwanzig oder dreißig Sekunden im Bewußtsein
vorhanden war. Es zeigt sich, daß gleich zu Anfang ein gewisser
Oesamteindruck da ist, daß der Reiz sofort mit einem bestimmt ge-
firt>ten Wohlgefallen oder Mißfallen beantwortet wird. Wir nehmen
ohne Zaudern Stellung zu dem Dargebotenen. So viel auch die Vor-
bereitung der Versuchsperson und die Beschaffenheit des Gegenstandes
an dem Inhalt des Eriebnisses ändern mögen, stets zeigt das Eriebnis
Totalität und Bestimmtheit Der erste Eindruck hat im ästhetischen
wie in allem übrigen Sein eine spezifische Wertigkeit: er bedeutet etwas
ganz Eigenartiges, Unwiederholbares, etwas, das unwiederbringlich nur
einmal vorkommt, das in der weiteren Folge aufgehoben oder vertieft,
berichtigt oder ergänzt, aber nimmermehr ersetzt werden kann. Wenn
es so scheint, als ob die ästhetische Lust dem Zwange der Zeit über-
hoben sei — denn sie stumpft sich nur langsam ab und kann von
denselben Gegenständen oft erneuert werden — , so herrscht in Wahr-
heit auch über sie die unerbittliche Grausamkeit der rastlos und nur
nach vorwärts eilenden Zeit. Jede Wiederholung des Genusses, jeder
weitere Zeitpunkt in der Entwicklung entbehrt der köstlichen Frische
des ersten Augenblicks. Wir alle haben erfahren, was es bedeutet,
156 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
einem Menschen zum ersten Male zu beg^^en, wir alle kennen Orte,
bei deren erstem Anblick wir zu uns sprachen: Hierhin will ich zurück-
kehren, wenn ich des Friedens bedarf — vorbei! nie wieder verspfiren
wir jenen Zauber der allerersten B^egnung, nie finden wir das ge-
lobte Land.
Das Besondere, wodurch der Beginn der Freude am ruhenden
Schönen sich auszeichnet, liegt in einer unmittelbaren Oefuhlsreaktion.
Ohne Besinnen sagen wir Ja oder Nein — wie den Menschen g^[en-
über, die uns sofort sympathisch oder antipathisch sind. Prüfen wir
nun durch vorbedachte Abkürzungen des Zeitverlaufs, was in diesem
Augenblick von dem Gegebenen aufgenommen ist und was an rein
subjektiven Zuständen vorliegt, so ergibt sich: Entscheidend wirken
die sinnlichen Eigenschaften des Dinges und die organischen Empfin-
dungen im Betrachter, und daraus erklärt sich auch die instinktive
Sicherheit und Stärke des ersten Eindrucks. Zunächst nämlich sieht
und genießt der unbefangene Betrachter nur Räumliches und Farbiges;
der Eindruck der Bedeutung der dunklen und lichten Flecken, bei
manchen Personen mit der Einfühlung verbunden, kommt der Regel
nach später. Ob die Formen oder die Farben eher ins Bewußtsein
treten, hangt vom Gegenstande ab, immerhin lassen verhältnismäßig
viele Naturobjekte und Kunstwerke sofort die HarmoniegefOhle auf-
leuchten. Mit ihnen scheint die Stimmung verknüpft, die sich über-
raschend schnell einstellt, übrigens meist ohne Bedenken auf den
Gegenstand übertragen wird. Hernach geht die Beobachtung auf das
Sachliche ein. Dabei kommt dann in Betracht, ob der Inhalt leicht
oder schwer zu erkennen und ob er Ausdruck einer die Anteilnahme
heischenden Idee ist. Assoziationen aus der individuellen Erfahrung
pflegen sich wiederum später hinzuzugesellen. Diese Reihenfolge, die
an vielen Versuchspersonen und an recht verschiedenen Gegenständen
als der durchschnittliche Verlauf festgestellt wurde, gilt dennoch ver-
mutlich bloß für besonders geschulte — oder wenn man will beein-
flußte — Beobachter und für farbige Objekte. Das Hauptergebnis
allerdings dürfte feststehen: Ehe deutlich gesehen wird, was alles da
ist, ja ehe überhaupt ein Wissen möglich wird, bilden sich Stimmung
und Urteil auf Grund wahrgenommener sinnlicher Eigenschaften. Fast
möchte ich diese Tatsache als einen ästhetischen Reflex bezeichnen.
Eine beinahe physiologische Reaktion findet statt, deren höherer Grad
ganz deutlich in organischen Empfindungen sich äußert: im Be-
schleunigtwerden oder Stocken des Atmens, oder in einem Schauer,
der über den Rücken läuft, oder im Gefühl, daß man rot und blaß
wird. Bei größter Steigerung kann das erste Erblicken eines schönen
Gegenstandes Krampf oder Ohnmacht hervorrufen. Wenn eine Stimme
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 157
ZU singen anhebt, fühlen wir uns wohl im Innersten getroffen, lange
bevor wir Wort und Weise verstehen. Klangfarben gibt es, die un-
mittelbar erregen oder unmittelbar beruhigen, die uns aufpeitschen oder
gleich einem sanften Wind umspielen. So wirken sie vielleicht nur
fär wenige Sekunden, ein sinnlicher Reiz für das LebensgefQhl. Aber
gerade diese anfängliche Wirkung kümmert uns hier.
Über den Eindruck poetischer Werke läßt sich bei den Unter-
schieden der Arten nicht viel Allgemeines aussagen. Heinzeis »Be-
schreibung des geistlichen Schauspiels im deutschen Mittelalter« be-
rücksichtigt den Zeitverlauf und geht von der Annahme aus, daß »dem
ersten ästhetischen Genuß, der wesentlich in einer Befriedigung der
Schau- und Höriust bestand, ein anderer folge(n), der das volle Ver-
ständnis vor allem der Zusammenhänge zur Voraussetzung hat«. In
dieser Weise, nämlich wie ein Gemälde, wirkt der Bühnenvorgang,
meiner Erfahrung und meinen Umfragen gemäß, höchstens in den
ersten fünf Minuten; man muß daher in der Theorie der Künste die
Entscheidung suchen, ob jene Befriedigung der Schau- und Höriust
dem Drama zugerechnet oder in Abzug gebracht werden soll. Denn
sonst wird Poesie im Durchschnitt so aufgenommen, daß anfänglich
intellektuelle Gefühle entstehen; der Genuß der Form und die Versinn-
Ikhung des Gelesenen oder Gehörten — sofern sie überhaupt eintritt —
bikien der Regel nach den zeitlichen Abschluß. Ich besitze g^en
hundert Aufzeichnungen über den frischen Eindruck kleiner Gedichte:
sie stimmen darin überein, daß sie die Bemühung um das Verständnis
des Inhalts als den Ausgangspunkt hinstellen. Vielleicht sollte es
anders sein, müßte auch hier aus der Wurzel sinnlicher Ergriffenheit
die Blume innerlichen Begreifens emporwachsen ^ an der Tatsache,
daß gewöhnlich anders reagiert wird, kann nicht gerüttelt werden. Für
alles übrige bleiben wir auf Vermutungen angewiesen, weil die Aus-
sagen erheblich schwanken. Und wir können voraussehen, daß gerade
das künstlerische Genießen keine bleibende Spur zurückläßt, daß auch
bei einer möglichst naturgetreuen Beschreibung, die dem Erklärenden
das Eriebnis vermitteln und seiner wissenschaftlichen Arl>eit als Unter-
lage dienen soll, eine Zerstücklung der Kontinuität, eine ungerechte
Bevorzugung der Eindrucksgipfel und ähnliches kaum zu vermeiden
sein wird. Vom ästhetischen Eindruck gilt, daß er umso schwerer
zu fassen ist, je länger er dauert. Wenn man eine Minute lang sich
beobachtet hat, glaubt man klar zu sehen; nach zwei Minuten zögert
man; nach drei Minuten verzweifelt man. Der innere Vorgang ist wie
eine Flamme: er bleibt sich niemals gleich, er erneuert sich unaufhör-
lich, und er ist immer derselbe. Die ganze Zusammenhanglosigkeit
des Wirklichen scheint sich an diesem einen Punkt zu sammeln. Auch
158 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
fühlt jeder die hoffnungslose Vereinzelung, in der er sich befindet,
sobald er die aufspritzenden Wassertropfen der inneren Flut an das
Ohr eines anderen klingen läßt
G^enOber größeren Werken der Dichtkunst sowie gel^entlich bei
Musikstucken stellt sich im Zeitverlauf des Eindrucks die sogenannte
Spannung ein. Ober sie ist einiges zu bemerken. Zusammen mit der
Lösung bezeichnet sie eine der zeitlich bedingten Richtungen des Ge-
fühls: Physiologen behaupten, daß der Spannung eine Verkürzung, der
Lösung eine Verlängerung des Pulses entspricht, wozu noch gegen-
sätzliche Veränderungen in der Dikrotie treten. Dieser stärkste Grad
der Erwartung — es gibt auch eine schlummernde Erwartung, der wir
uns erst bei ihrer nachträglichen Befriedigung bewußt werden! —
knüpft an die Beziehungen an, die dem ästhetischen Vorgang die Viel-
seitigkeit des Lebendigen und den Zusammenhang des logisch Ver-
bundenen sichern. Ober Dicht- und Tonwerke ist ein Netz von Be-
ziehungen ausgebreitet, in welchem uns die Spannung weiterführt Wir
ahnen ungewiß das Kommende und drängen nach ihm hin, und hier-
durch schließen wir das Einzelne aufs festeste zusammen. Unsere Er-
wartung kann derart zunehmen, daß wir wie in niederen Arten des
Genusses gierig zum Ende eilen, obwohl wir wissen, es ist das Ende.
Wenn der Tonsetzer sein Thema durch abweichende Tonarten leitet
oder in scheinbar unlösliche Akkorde verstrickt, so entzückt und quält
er uns zu gleicher Zeit Oft gönnen wir uns nicht mehr die ruhige
Freude an der Führung dessen, was geschieht, sondern jagen vorwärts,
nur immer vorwärts; wir verwechseln ästhetisches und wirkliches Sein;
wir überschlagen ganze Kapitel oder klappen das Buch zu, weil die Err^rung
nicht länger zu ertragen ist Nichtsdestoweniger: diese Intensität be-
rauscht Der Dichter rechnet mit ihr, wenn er mit der Schilderung unklarer
Lagen beginnt oder die Aufhebung einer Schwierigkeit künstlich ver-
zögert. Vor allem auch da, wo die Bereitwilligkeit des Mitfühlens aufs
äußerste gesteigert werden soll. Die Anteilnahme am Schicksal einer
Romanfigur wächst sich zu einem menschlichen Interesse aus, das Ver-
langen nach Befreiung führt dazu, daß der Leser absichtlich die Dauer
der Aufnahme verkürzt oder durch Vorwegnehmen des Schlusses die
Pein beseitigt, die von dem noch Unbekannten und Neuen hervor-
gerufen wird. Darüber schweben nun zahllose Hoffnungen und Be-
fürchtungen, Wünsche und Vermutungen. Alles dies li^ an sich
außerhalb der ästhetischen Sphäre. Aber an die Einfühlung kann,
sofern sie unter einer gewissen Grenzlinie der Leidenschaftlichkeit
bleibt, die ästhetische Funktionslust sich anschließen. Wäre undiffe-
renzierte Einfühlung ohne weiteres das Wesen des ästhetischen Ge-
nusses, so müßte ihre lebhafteste Intensität mit dem reinsten Kunst-
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. I59
genuB sich decken; aus der bei den Spannungsvorgängen ersichtlichen
Abweichung ergibt sich, daß die Dinge anders liegen. Wir können
der Spannung nicht entraten, denn einerseits verkittet sie die Teile des
Oanzen, anderseits hält sie unser Interesse an den geschilderten Per-
sonen wach; gefährlich jedoch scheint es, sie zum Ziel und Maßstab
zu erheben. Immerhin erinnern wir uns daran, daß die Mehrzahl nichts
anderes von dem ästhetischen Gegenstand erwartet als stoffliche Reizung
(vcrgl. & 90).
Abgesehen von der Spannung bekunden sich im zeitlichen Verlauf
des Eindrucks nur wenige Gesetzmäßigkeiten. Was zuerst ins Auge
fällt, ist die Unstetigkeit, die nicht als Schwanken der Aufmerksamkeit,
sondern als ein Hin- und Herwogen des gesamten Bewußtseins zu
bezeichnen ist Einige Genießende erblicken in dem AktivitätsgefQhl,
in der Erhöhung der seelischen Kräfte, in dem, was das Kunstwerk
uns gibt, sobald wir mit Bewußtsein uns seiner bemächtigen, sie er-
blicken darin das Kennzeichnende des Vorgangs; andere halten für
wesentlich jenen träumerischen Zustand, während dessen wir allen mög-
lichen anderen Vorstellungen nachhangen und gel^entlich einen Schauer
verspüren, wie wenn das Kunstwerk ein Stück von uns w^^reiße.
Gleichviel welche der beiden Stimmungen die Hauptsache ist —
zwischen beiden schwankt die Seele. — Zweitens scheint sicher,
daß Vorstellungen und Gefühlsrichtungen die Tendenz haben, sich bis
zum Intensitätsgipfel fortzusetzen. Eine vorher eintretende Hemmung
steigert ihre Energie, sofern es gelingt, die Hemmung zu überwinden;
andernfalls wendet sich die Aufmerksamkeit zum eigenen Ich und es
entstehen autopathische Gefühle, die die Einheit des Kunstwerks zer-
stören und aus dem ästhetischen Genuß herausbrechen. Wird das
Intensitätsmaximum erreicht, so schlägt das Gefühl leicht in sein Kon-
trastgefühl um. — Zu der ersten allgemeinen Feststellung ist als
wichtige Einzeleriahrung hinzuzufügen, daß sich zwischen den aktiven
und den passiven Seelenzustand öfters eine Pause einschiebt, gewisser-
maßen ein Atemholen der Seele, eine tatsächliche, wenngleich kurze
Unterbrechung. Ist das passive Stadium vorausgegangen, so rafft sich
die Aufmerksamkeit sozusagen mit einem Ruck zusammen und die
Sinnesvorstellungen setzen mit großer Stärke ein. Ist das aktive Stadium
abgelaufen, so tritt entweder Ermüdung oder eine Art schamhafter Be-
freiung ein; meist geht dann die seelische Bewegung in die intellektuelle
Sphäre über. — In der zweiten allgemeinen Feststellung ist die Anteil-
nahme des individuellen Faktors berührt und gezeigt worden, daß sie
eher zur Zerbröckelung als zur Vertiefung des Eindrucks dient. Dies
ist aber nur dann der Fall, wenn die persönlichen Vorstellungen lust-
oder unlustbetont sind und außerhalb der Sphäre des individuell ge-
160 rv. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
färbten Mitfühlens verharren; wird hingegen bloß die vorstellende
Erinnerung an eigene frühere Erfahrungen miterregt, so kann das Be-
wußtsein in der ästhetischen Anschauung bleiben.
Die Hauptzüge des Eindrucksveriaufes decken sich nicht mit den
Regeln, die man für die Abfolge der Teile in Werken der Dicht- und
Tonkunst aufgestellt hat. Nicht nur weil diese Regeln für die ver-
schiedenen Arten jedesmal andere und auch dann noch von Ausnahmen
durchlöchert sind, sondern weil der Zeitverlauf in uns von der Ord-
nung in den Erzeugnissen der sogenannten Zeitkünste erheblich ab-
weicht. Die innere Bewegung verhält sich zur objektiv gegebenen
keineswegs wie das Spiegelbild zum Gegenstand. Immerhin fehlt es
nicht an sich entsprechenden Punkten. Wir sahen, daß Tätigkeit und
angespannte Aufmerksamkeit nicht ununterbrochen auf gleicher Höhe
bleiben können; die Technik der Dichter und Musiker kommt dem
entgegen, indem sie den ausgedehnten Gebilden manche weniger
wichtige oder dem freien Phantasiespiel entgegenkommende Stellen
beläßt. Auf dargestellte Handlungen oder auf musikalische Ausdrucks-
formen, die uns im Innersten aufwühlen, gewissermaßen das ästhetische
Feld in der Tiefe bearbeiten, folgen andere, die eine Sonntagstille des
Gemütes hervorzaubern, das ästhetische Feld weiten und die Seele auch
wohl über seine Grenze hinaus schweifen lassen. Dem Streben zum
Intensitätsgipfel entspricht die Steigerung, der glücklich überwundenen
Hemmung das »retardierende Moment«. Ähnliche Übereinstimmungen
dürfen aber, um es nochmals zu sagen, nicht zu der Meinung verleiten,
daß der subjektive und der objektive Ablauf überall und aufs genaueste
zusammenfallen. —
Was die Struktur des ästhetischen Eindrucks betrifft, so können
wir bereits aus dem Umstand, daß es mehrere gleichberechtigte Prin-
zipien gibt, die Zusammengesetztheit des seelischen Vorgangs ableiten.
Zum Erstaunen verschieden und mannigfaltig sind die Kräfte, die hier
zusammentreffen; Formeln, die mit einem Begriff das Ganze in sich
aufnehmen wollen, verfehlen es gründlich von Anfang an. Ich bekenne
mich also zu einer Vielheitslehre. Aber ich wage nicht zu hoffen, daß
es gelingt, allen Verknüpfungen und Verschmelzungen nachzugehen,
die durch Schönes, Ästhetisches und Künstlerisches hervorgerufen
werden, ja, ich fürchte, daß zwischen den philosophischen Normen,
den Beschaffenheiten des ästhetischen Gegenstandes und des Kunst-
werks, den Bestandteilen des ästhetischen und künstlerischen Genießens
wie Schaffens Abstände bestehen bleiben.
Um deutlich zu machen, weshalb weder die strenge Einheitslehre
der ersten Art noch die freiere Einheitslehre der zweiten Art den Er-
fordernissen einer Ästhetik genügen, die sich möglichst nahe an die
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 161
Tatsachen hält, sei zunächst eine Probe mit einem formalen Orundsatz
vorgenommen. Die Einheit in der Mannigfaltigkeit bildet, wie mehr-
mals gezeigt wurde, eine der am längsten und allgemeinsten anerkannten
Bestimmungen Ober das Wesen des Ästhetischen. Aus ihr scheint
der formale Aufbau des Gegenstandes ganz verständlich, zumal wenn
der erschlossene Charakter der Seele als der gleiche behauptet und
aus der Obereinstimmung von Subjekt und Objekt die Lust erklärt
wird. Was liegt nun vor? Die Teile, z. B. die Versfüße, Verse,
Strophen, sind so weit verschieden, daß sie eine Mannigfaltigkeit er-
geben, und so weit ähnlich, daß sie zu einer Einheit verwachsen können.
Dasselbe Doppelverhältnis besteht zwischen einem Kunstwerk und dem
natOrlichen Vorbild: sie sind einhellig, aber weichen auch voneinander
ab. Der Stein, in dem ein menschlicher Körper nachgeahmt wird, ist
eben nicht der lebendige und warme Leib; trotzdem besteht zwischen
Mensch und Statue eine Einheit Also paßt auch hier unsere Formel.
Sie umfaßt femer die Beziehung zwischen Inhalt und Form. Denn
die äußere Gestaltung, in der Lebensgefühl, Idee oder irgend ein anderer
innerer Wert sich ausdrücken, muß mit dem in ihr Verborgenen
gleich und dennoch von ihm verschieden sein. Wo ein ästhetischer
Gegenstand als Symbol aufgefaßt wird, da wird zwischen dem Sicht-
baren und dem Unsichtbaren das Verhältnis der Einheit in der Mannig-
faltigkeit aufgerichtet.
Wir können hier abbrechen. Die Anwendbarkeit der Formel kennt
keine Grenze. Al)er die psychologische Analyse vollzieht sich un-
abhängig davon, ob schließlich das Ergebnis noch einem so allgemeinen
Grundsatz untergeordnet wird oder nicht Und ebenso steht es mit
der Oberführung der Normengebung in die Beschreibung oder dieser
in jene. Denn der Zusammenhang zwischen ihnen erweist sich nirgends
als ein unbedingter und unvermeidlicher. In der gegenwärtigen Lage
unserer Wissenschaft scheint es zum mindesten noch erlaubt, die Ana-
lyse des Genießens und Schaffens für sich vorzunehmen. Die zer-
gKedemde Einzeluntersuchung gewinnt vielleicht sogar an Durch-
schlagskraft, wenn sie von den allgemeinen philosophischen Grund-
oischauungen abgesondert wird; sie verträgt sich dann mit mehreren
Auffassungen Ober das, was als das Eigentümliche des ästhetischen
Lebens und der Kunst anzusehen sei. Ober die Gültigkeit der Prin-
zipien entscheiden ganz andere Gesichtspunkte als über die Richtigkeit
der psychologischen Zerlegung.
Wenn man ohne Rücksicht auf die zeitliche Abwickelung typische
Eindrücke prüft, so findet man mit seltenen Ausnahmen drei Gruppen
von Bedingungen. Schon Kari von Rumohr') unterscheidet erstens
>die Veranlassungen eines bloß sinnlichen Wohlgefallens am Schauenc,
Dcttoir, AstiMtik trad allg. Kiufitwifsciitchift. 11
162 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
zweitens »die bestimmten Verhältnisse und Fügungen von Formen und
Linien«, drittens eine Klasse von Vorgängen, die er folgendermaßen
beschreibt: »Die wichtigste Schönheit beruht aber auf jener gegebenen,
in der Natur, nicht in menschlicher Willkür gegründeten Symbolik der
Formen, durch welche diese in bestimmten Verbindungen zu Merk-
malen und Zeichnungen gedeihen, bei deren Anblick wir uns not-
wendig teils bestimmter Vorstellungen und Begriffe erinnern, tdls auch
bestimmter in uns schlummernder Gefühle bewußt werden.« Wenn
diese Einteilung etwas erweitert und abgeändert wird, so entspricht
sie dem inneren Befunde. Tatsächlich haben wir mit und in dem
ästhetischen Genießen sinnliche Gefühle, die sowohl mit Gemein-
empfindungen als auch mit den Empfindungen aller spezifischen Sinne
verwachsen sind. Daneben bemerken wir Gefühle, die an Raum- und
Zeitverhältnisse geknüpft, von Ähnlichkeiten oder Berührungen inner-
halb beider Anschauungsformen bedingt sind. Endlich reiht sich an
alle diese Vorstellungen und die unmittelbar damit gegebenen Gefühle
die große Schar deutender Auffassungen, assoziierter Vorstellungen und
beziehender Urteile. Nicht durch Zufall, sondern weil sie halb sinn-
lich, halb logisch-affektiv sind, stehen in der Mitte die meist elementar
genannten ästhetischen Formengefühle; genauer gesprochen: die Ge-
fühle, die da ausgelöst werden von der Verwandtschaft oder von der
Ordnung der Inhalte, außerdem natüriich auch von der Verbindung des
inneriich und äußeriich aufeinander Bezogenen. Das qualitative Ver-
hältnis von Klängen und Farben erzeugt Harmoniegefühle; die Ord-
nung in Raum und Zeit weckt Proportionalgefühle; aus dem Zusammen
dieser beiden Richtungen erwachsen die ästhetischen Komplikations-
gefühle. Die letzte fiauptklasse bezeichnen wir als die der Inhalts-
gefühle.
Indem wir die nähere Ausführung dieser Angaben auf die nächsten
Kapitel verschieben, fragen wir jetzt nur noch: was entsteht aus dem
Zusammenfließen aller dieser Quellen des ästhetischen Genusses?
Es bildet sich ein Strom, der nur durch die Verschiedenheit von
Färbungen dem schärfer blickenden Auge die Mehrheit der Ursprünge
verrät. Oft verschmelzen alle jene seelischen Vorgänge bis zur völligen
Unterschiedslosigkeit. Dabei ist, wie man seit langer Zeit bemerkt hat,
die Gesamtwirkung in ihrer Stärke und Beschaffenheit durch bloßes
Zusammenlegen der einzelnen Kreise nicht zu erklären. Die Auf-
zählung der Teilvorgänge und die Herstellung logischer Beziehungen
zwischen ihnen erfüllt den wissenschaftlichen Zweck nur dadurch, daß
in die besonderen seelischen Inhalte mehr hineingelegt wird, als ihnen
nach allen psychologischen Möglichkeiten zukommt Das besagt:
Wenn den genannten Klassen stillschweigend ein Überschuß von
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER, 163
Wirkungsfähigkeit zugemessen wird, der ihnen sonst nicht gebührt,
so schanen sie allerdings in ihrer Verbindung das Lebensgefühl ästhe-
tischen Aufnehmens durchsichtig zu machen. Vermeidet man jedoch
die Überlastung der Elemente, weil sie mit den übrigen Lehren der
Psychologie nicht übereinstimmt, so kommt auch das Ganze nicht
heraus. Hiemit ist ein allgemeiner Mißstand der konstruierenden
Psychologie berührt. Doch die Gerechtigkeit erfordert, auch die andere
Seite des Sachverhaltes zu zeigen. Die Unfähigkeit, das lebendige
Ganze aus den unterscheidbaren Gliedern hervorgehen zu lassen, trifft
alle Geisteswissenschaften; daß sie auf unserem Gebiet und für dieses
Problem so besonders empfindlich ist, darf der Behandlung des ästhe-
tischen Eindrucks nicht vorgeworfen werden. Außerdem behält die
Untersuchung der Bedingungsgruppen jedenfalls einen Sonderwert
Da es sich hier um den Gesamtcharakter des ästhetischen Genusses
handelt, muß zunächst gefragt werden, ob er der Uberiieferung gemäß
als eine ^Lust< zu bezeichnen ist Im Hinblick auf das Häßliche und
die Tragödie hat man häufig daran gezweifelt, denn ihre Wirkung
scheint mehr Schmerz als Freude zu enthalten. Das ist ein Streit um
Worte. Gewiß wäre es vollendete Torheit, wollte jemand die tragische
Ergriffenheit mit der kleinen Lust an einer süßen Speise gleichsetzen;
selbst das Wohlgefallen an einfacher Symmetrie und der ekstatische
Genuß des Tristanvorspiels sind durch Welten voneinander getrennt
Möge man also den Gebrauch des Wortes Lust auf die schwächeren
und kleineren Eindrücke beschränken, im übrigen aber von einer Er-
höhung des Lebensgefühls sprechen — wie ich selbst vor Jahren vor-
geschlagen habe. Doch ist auch eine andere Bezeichnungsweise zu-
lässig. Wenn man nämlich den Begriff Lust so erweitert, daß er Stufen
und Arten umfaßt, dann darf ihm der uns interessierende Gefühls-
zustand gleichfalls untergeordnet werden. Das Erieben einer inner-
lichen Bereicherung und das erhöhte Bewußtsein des eigenen Seins —
obgleich keine abgezirkelte und abgestempelte Lust — bleibt schließ-
lich in höherem Sinne lustvoll. Sowohl das mehr passive als auch
das mehr aktive Genießen, das wir bei der Erörterung des Zeitverlaufs
unterschieden, verdient dieses Prädikat Wir rechtfertigen es natüriich
nkht durch den aussichtslosen Versuch, die vorhandenen Lust- und
Unlustbeträge gegeneinander aufzurechnen. Vielmehr suchen wir durch
mittelbare Uberiegung Klarheit zu gewinnen. Anzuknüpfen ist an die
Tatsache, daß Lust mit Unlust verwachsen ist Schon die Psycho-
gnostiker ältester Zeit und später die wissenschaftlichen Psychologen
haben bemerkt, wie in Kummer und Leid ein Tropfen Lust enthalten
ist Wer kennt nicht die Wonne des Schmerzes, des körperiichen und
des seelischen? Ein Lebensgefühl niederster Art pfl^ sich darin zu
164 rv. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
betätigen, daß einem anderen Schmerz zugefügt wird; doch bloß des-
halb, weil er nachgefühlt d. h. gefühlt wird. Das in einem anderen
erlebte Leid besitzt ohne Frage in vielen Fällen und für die meisten
Menschen Lustqualität, denn es spendet die Freude der Uberl€^[enheiL
Der Mensch wird sich seines Daseins gleichsam erst bewußt, indem
er schmäht, beleidigt, verwundet Und so wendet er sich auch g^en
den eigenen Leib und die eigene Seele Wer körperliche Unempfind-
lichkeit fürchtet, der schlägt sich einen Pflock ins Fleisch, wer unter
der Leere des Gemütes leidet, der zerquält sich mit Ängsten und Vor-
würfen. Durch nichts wird die Lebenslaaft so stark gerdzt wie durch
die Unlust. Der Erfolg, die lebhafte innere Aktivität, kann nun nach
Sprachgebrauch und Psychologie eine Lust heißen, da ja nichts im
W^e steht, mehrere Grade und Beschaffenheiten von Lust anzunehmen.
Wollen wir dies vorläufige Ergebnis, daß der konkrete sedische
Zustand des ästhetischen Genießens ebensogut Lust wie erhöhtes
Lebensgefühl genannt werden darf, noch vertiefen, so bieten sich zwei
Wege dar. Der eine ist der einer Zusammensetzung aus Vorstellungen
oder Empfindungen. Er hat die meisten Ästhetiker gdührt und wir
sprachen bereits davon. Anderseits greift die psychologische Ästhetik
unserer Tage auf Fichte zurück; Fichtes Wissenschaftslehre nämlich
beruht auf dem »Ingrediens der reellen Wirksamkeit meines Selbst
in einem Bewußtsein, das außerdem nur das Bewußtsein einer Folge
meiner Vorstdlungen sein würdet. Unter Seele ist nicht ein Bfindd
von Vorstdlungen, auch nicht dn Tummelplatz für selbstand^
Vermögen zu verstehen, sondern dne Krafttätigkdt, genauer ein In-
b^riff von Tätigkdtsrichtungen. Sicherlich bleibt die Psychologie
näher bei dem unmittdbar Erfahrenen und wird dem, was wir efld>en
oder wie wir uns erleben, mehr ga^cht, wenn sie von dnem schöpfe-
rischen Subjdct ausgeht als wenn sie aus Vorstdlungen aufbaut Das
alldn aber würde nicht entschdden. Vidmehr kommt es darauf an,
ob aus dem sdbsttätigen Urheber der Vorstdlungen jede Art von Lust
und Unlust (sowie jede übrige Grui>pe sedischer Zustände) als seine
besondere Bestimmthdt verständlich zu machen ist Darüber jedodi
kann die Ästhetik nicht urtdlen. Ihr steht lediglkh der Versuch zu,
sokhe Grundsätze auf ihrem Gd>iete anzuwenden; und dieser Versuch
ist vor kurzem gemacht worden'). Auch wir wollen das Wesentliche
der Betrachtungswdse uns andgnai, sofern sie die Zusammei^nesetzt-
hdt des ästhetischen Eindrucks durchleuchtet
Das Ich gldcht dem Herzen. Großer und kidner Krdslauf strömen
von ihm aus; der dne belebt den ganzen Umfong des Bewußtsdns,
der andere krdst im Mittdpunkte. Ohne BiM gesprochen: die Tit^-
kdt des Ich, die von jener Psychok)gie mit dem Seelenleben gleich-
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 165
gesetzt wird, erstreckt sich einerseits auf die an der Peripherie ein-
setzenden Beziehungen zur Außenwelt, anderseits auf die inneren Be-
ziehungen. Diese haben die auszeichnende Eigentflmlichkeit, daß der
zwischen ihnen waltende Zusammenhang für die unmittelbare Selbst-
auffaissung g^eben ist: in welchem Verhältnis die Lösung eines Rätsels
und die Freude darüber oder die Angst und die daraus fließende Tat
zueinander stehen, das braucht man nicht zu konstruieren, weil es da
ist In solchen notwendigen Zugehörigkeiten erweist sich die Spon-
taneität des Ich; Hegel hat von Notwendigkeit und Freiheit als von
den Bestimmungen des konkreten Geistes gesprochen. Sieht man hier
den Kern des Seelischen und nennt ihn »Gefühl < — worüber schon
(auf S. 82) einiges gesagt ist — , so erübrigt noch die Frage, auf welche
Art das Gefühl sich äußerer Objekte bemächtige. Für gewöhnlich
dringen Gegenstände in beliebigem Wechsel, zufälliger Beschaffenheit
und mit äußerem Zwange in uns ein. Wir nehmen sie mit Lust oder
Unlust hin. Und ähnlich so in der Burg unseres Selbst: für gewöhn-
lich sind wir bloß in inneren Beziehungen tätig und fühlen Lust oder
Unlust, je nachdem sie frei, sicher und vielseitig sich vollziehen lassen
oder dürftig und widerspruchsvoll sind. Die im günstigen Falle auf-
tretende Funktionslust kann nun aber eine eigentümliche Verbindung
mit einem Gegenstande eingehen. Im Grunde genommen bedeuten
die früher beschriebenen und beurteilten Prinzipien verschiedene Aus-
drucksformen für ein solches ganz eigenartiges Verhältnis zwischen
Subjekt und Objekt. Es ist ein Ineinander. Mit welchen Worten man
es schildern will und welche Darstellung die Wißb^erigen am ehesten
befriedigt, das hangt von der allgemeinen Richtung des wissenschaft-
lichen Geistes ab. Eine bindende Vorschrift läßt sich nicht geben.
Wohl aber kann behauptet werden, daß die Funktionslust ein nie
fehlendes Merkmal ist^). Und nicht minder sicher ist, daß im eriebten
ästhetischen Glück rein subjektive Momente eine wichtige Rolle spielen.
Gegenstand und Eindruck decken sich niemals. Gerade deshalb sind
sie gesondert zu behandeln. Es empfiehlt sich kaum, die Beschreibung
der Rezeptivität dadurch zu verstümmeln, daß alle aus der Gegenstands-
l)eziehung nicht unmittelbar zu erklärenden Seelenvorgänge ausgeschaltet
werden.
Der ästhetische Eindruck kann also in zweifacher Perspektive be-
trachtet werden. Entweder als ein konkreter Seelenzustand, dessen
durch Abstraktion herauszulösende Bestandteile von unten her gesehen
werden, oder als eine Tätigkeit des Ich, die von oben her angeschaut
und in ihren einzelnen Richtungen verfolgt werden muß. Das erste
Verfahren scheint im großen und ganzen zweckmäßiger zu sein; wir
bedienen uns seiner und verwenden die andere psychologische Methode
166 rv. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
zur Ergänzung dort, wo sie von der Struktur des innerlichen Befundes
gefordert wird*
2. Die Sinnesgefühle.
Ein hell erleuchteter Konzertsaal. Die meisten Hörer gleichgültig,
gelangweilt oder durch irgendwelche Dummheiten abgelenkt — ein
widerwärtiger Anblick. Aber dazwischen Menschen mit allen Merk-
malen der Inbrunst und Verzückung. Sie schließen die Augen oder
starren ins Weite, lassen die Muskeln err^ spielen oder fallen in sich
zusammen. Von Zeit zu Zeit greift diese nervöse Verfassung auf die
anderen über: es ist als ob an elektrischer Schlag Seele und Lab
durchzuckt
Der ästhetische Reflex besteht aus Gemeinempfindungen; der Name
meint nicht eine Bew^[ung, sondern ist gewählt worden, um den An-
tal des körperlichen Gemeingefühls hervorzuheben. Hie und da freilich
treten Muskelkontraktionen in den Vordergrund. Wenn wir einen eüig
Schreitenden plötzlich hinfallen sehen, beantworten wir den Gesichts-
eindruck reflexmäBig mit Lachen; überhaupt reagieren wir auf das
Komische der Anschauung gern mit Lachen oder anderen plötzlichen
Bew^[ungen. Die ganze Dumpfheit und Instinktmäßigkat des Mai-
schen lebt in diesen ursprünglichsten Wirkungen. Aus der Tiefe steigt
alles übrige allmählich hervor, vom Tierischen bis zum Göttlichen rach^
was wir ästhetisch erld>en. So wurzelt das künstlerische Schaffen in
leiblichen Zuständen, Vorahnungen, Err^^ungen, unklaren Stimmen und
Bildern; langsam erhebt es sich über den Untergrund zu Reinheit und
Klarheit Was bedeutet jene physische Resonanz für dai Genuß? Zu-
vörderst ist vemanend festzustellen, daß sie in das Tätigkeitsgefuhl
des Genießenden nicht eingeht Der Schauer, der übar den Rüdcen
rieselt, der Lachreiz, das Feuchtwerdai der Augen, der Zwang zum
Schlucken, Beklemmung oder Ausweitung der Brust, Kalt- und Heißer-
werden — wir empfinden es als an Vorkommnis in unserem Körper.
Das bewußte Selbst ist nicht der Urheber. Alsdann gibt jeder zu, daß
wir die so gearteten Empfindungen nicht über die Grenze unseres
Leibes hinaustreten lassen, d. h. sie nicht unmittelbar zu den Eigen-
schaften des Außendinges rechnen. Kurzum, die Erfahrung kennt sie
als psychophysische Vorgänge, die in dem Grenzland zwischen Ich und
Welt ihre Stätte haben.
Die Theorie indessen hat die Organempfindungen sowohl dem
Subjekt als auch dem Objekt genähert Das erste geschidit im Ver-
folg einer viel besprochenen Auffassung der Gemütsbewegungen^.
Früher war der Zusammenhang zwischen Organempfindungen und
DIE SINNESGEFOHLEL 167
Affekten dahin verstanden worden, daß jene B^leiterscheinungen von
diesen seien; die Objektvorstellung dessen, worüber der Mensch sich
freut oder wovor er sich fürchtet, galt als die Hauptsache und die
Änderung in der Pulsation, Atmung, Körpertemperatur u. s. w. als Neben-
erfolg. Da kam vor nicht allzu langer Zeit die Meinung auf, es be-
stünden die Gemütsbewegungen in den genannten Oemeinempfindungen.
Der verhältnismäBig beste Beweis dafür liegt in einem Abzugsverfahren,
ähnlich dem, das einst englische und schottische Philosophen anwandten,
um den Begriff der Substanz zu zerstören. Denken wir uns nSmlich
aus einem Affektzustand alle Organempfindungen weg, so bleibt nur
eine gleichgültige Vorstellung übrig; die Oemütserr^^ung verflüchtigt
sich ohne die Gefühle körperiicher Symptome. Dennoch ist diese Be-
weisführung brüchig. Aus den Organempfindungen allein wird kein
Affekt, geschweige der ästhetische. Es muB, wie sich im folgenden
näher zeigen wird, noch sehr viel anderes hinzutreten. Zwar vermag
eine physiologische Bedrückung sich beispielsweise zur Angst zu ent-
falten, aber das entwickelte Gebilde besteht dann nicht mehr aus-
schließlich in ihr. Vollends der ästhetische GenuB ist so weit über
die bloBe Passivität hinausgehoben, daB die Theorie für ihn nicht fest-
gehalten werden kann.
Andere Forscher*) haben die allgemeinen Körpergefühle gewisser-
maßen nach außen versetzt, indem sie zu zeigen unternahmen, daß
sie nicht etwa die Grundlage des ästhetischen Urteils bilden, sondern
es ohne Rest ausmachen. Wenn wir uns einer Raumform lebhaft er-
freuen, so sollen namentlich Veränderungen in Atmung und Gleich-
gewichtsgefühl spürbar sein. Ein symmetrisch gebauter Krug weckt
das wohltuende Gefühl sicheren Gleichgewichts, die Kuppelform be-
wirkt Muskelkontraktionen im Kopfe — ich will nicht alles aufzählen,
weil nach meiner Erfahrung solche Empfindungen wohl vorhanden,
jedoch ganz regellos sind. Die gesetzmäßige Wirkung der bestimmten
Gestalten läßt sich nicht aus launisch wechselnden Symptomen er-
klären. Ja, wenn sie dauerhaft und stets dieselben wären! Dann
könnten wir wohl b^jeifen, daß sie wegen ihrer großen Häufigkeit
objektiviert werden, während die in anderen Affekten tätigen Organ-
empfindungen infolge der Seltenheit ihres Auftretens subjektiv bleiben.
Aber sie sind nun einmal nicht konstant. Schließlich verirrt sich die
Theorie vollständig, indem sie der Kunst eine biologische B^[ründung
unterschiebt Da das Kunstwerk unsere ursprünglichsten Empfindungen
in einen wohltätigen Zusammenhang bringe, erhöhe es unser Lebens-
gefuhl und erweise sich als biologisch nützlich. Mir scheint, daß die
Kunst hierdurch auf gleiche Stufe mit Nahrungs- und Arzneimitteln
gestellt wird.
168 rv. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
Es wird also bei der Auffassung sein Bewenden haben müssen,
die wir zuvor besprachen. Ein neuer Gesichtspunkt eröffnet sich,
wenn wir die spezifischen Empfindungen der niederen Sinne auf ihren
ästhetischen Wert hin prüfen. Während ehedem das OenieBen ganz
auf die Wahrnehmungen der höheren Sinne beschränkt wurde, neigt
man jetzt zu einer Überschätzung der Empfindungen aus dem Gebiete
des Geruchs, Geschmacks, Temperatur- und Muskelsinns. Den Vor-
stellungen der ersten drei Sinne vermag ich Bedeutung nur für das
Aufnehmen des Naturschönen beizumessen — worüber bereits an
mehreren Orten das Nötige gesagt worden ist. Ich kann nicht zu-
geben, daß beim Anblick eines Bildes, das eine tropische Landschaft
darstellt, oder beim Anhören einer »warmen« Melodie eine Tempe-
raturerhöhung gefühh wird; wenn ich von einer poetischen Schilde-
rung frisch gemachten Heus den lebendigsten Eindruck habe, so ver-
spüre ich trotzdem keine Geruchshalluzination. Anders verhält es sich
mit dem Muskelsinn. Leicht nachzuprüfen ist die Beobachtung, daß,
sobald wir die Augen schließen und an einen fügenden Vogel denken,
unser Körper sich sacht und unbemerkt in die vorgestellte Flugrich-
tung wendet, und daß, sobald wir an einem reißenden Strom stehen,
wir den nicht bewußt werdenden Antrieb empfinden, uns in der Rich-
tung seines Laufes zu bewegen. Doch kommt bei ästhetischen Ein-
drücken noch etwas anderes in Betracht. Eine ziemlich große Gruppe
von Menschen begleitet alle ästhetischen Erfahrungen mit Bew^^ngs-
andeutungen. Ansätze zu Muskeleinstellungen und Nachahmungs-
bewegungen sind so häufig und wichtig, daß wir ihrer schon oft
gedenken mußten. Der Hauptgrund dafür liegt in der ihnen Inne-
wohnenden stellvertretenden Kraft. Ein Zusammenballen der Faust
genügt, um zahllose körperiiche und geistige Tätigkeiten zu ersetzen,
in denen eine Zusammengefaßtheit oder Gespanntheit irgendwelches
Inhaltes sich bekundet; wo also der Genuß an das Auftreten oder
Vorstellen eines solchen Seelenzustandes geknüpft scheint, wird er in
jenem unscheinbaren Körpervorgang eine vielen Menschen genügende
Handhabe finden. Es ist über alle Maßen erstaunlich, welchen Ersatz-
wert die kleinsten Bewegungen des Kehlkopfes gewinnen können,
doch ebenso über alle Maßen nutzlos, sie weitschweifig zu schildern.
Der Muskelsinn ist demgemäß den sogenannten höheren Sinnen
verwandter als den niederen Modalitäten. Gesicht und Gehör gelten
deshalb als festeste Träger des ästhetischen Lebens, weil sie im stände
sind, einheitliche Gebilde größerer Ausdehnung zu schaffen. Denn
weder Geruchs- noch Geschmacksarten bilden in dem Sinne ein un-
abhängiges und bleibendes Ganzes wie es Melodie oder Form sind,
ihre Leistungen werden für sich allein nie zu objektiven Beschaffen-
D!E SINNESGEFÜIILE. 169
heiten ästhetischen Wertes, sondern helfen nur bei Naturdingen zur
ästhetischen Bedeutung mit. Gesichts- und Oehörsvorstellungen haben
femer den Vorzug leichter Reproduzierbarkeit. Sie zeichnen sich end-
lich dadurch aus, daß sie sich frei halten können von den unmittel-
baren Lebensbedürfnissen und den Beziehungen zur persönlichen
Wohlfahrt; ihre Lust- und Unlusttöne sind weniger aufdringlich als
die des Oeruchs und Geschmacks. Übrigens haben diese Gefflhls-
ftrbungen bloß eine beschränkte Bedeutung. Wenn auch jeder, der
sie nicht voll aufnimmt, Einbuße an seinem ästhetischen Eindruck er-
leidet, so entsteht doch keineswegs aus ihnen das Ganze: die Freude
an einer r^elmäßigen Figur ist durch keine Analyse aus den Lust-
qualitäten der einzelnen Lichtempfmdungen herauszuholen, die Freude
am Rhythmus nicht aus den einzelnen Klängen.
Ein Problem, das mit den Sinnesgefflhien zusammenhangt und
schon gestreift wurde, verdient noch eine besondere Erörterung. Die
Frage ist nämlich, inwieweit durch Worte und zumal durch dichte-
rische Beschreibungen reproduzierte Vorstellungen der verschiedenen
Sinne geweckt werden. Bedenkt man, wie Zola in der Schilderung von
Oerflchen schwelgt, oder wie Hauff erzählt, der arme Feinschmecker
würze sein kärgliches Mahl durch Lesen Claurenscher Tafeleischilde»
rungen, so möchte man annehmen, daß auf diese Art sinnliche Vor-
stellungen des Riechens und Schmeckens entstehen. Bei genauer
Prüfung indessen bemerkt man teils nur Muskeleinstellungen des
Mundes und der Nase, teils Wortbilder, die im Bewußtsein umher-
schwirren. Zum eigenen Versuch biete ich dem Leser die Beschrei-
bung, die in Jacobsens ^Niels Lyhne« von dem Vorderhaus eines
Landgutes g^eben wird und die — wenn irgend eine — zu Geruchs-
vorstellungen veranlassen müßte. >ln dem dunklen Winkel l>efand
sich die Hintertür zum Laden, der zugleich mit der Bauernstube, dem
Kontor und der Leutestube eine kleine, dunkle Welt für sich bildete,
wo ein gemischter Geruch von billigem Tabak, stockfleckigen Fuß-
böden, von Spezereien und herben, getrockneten Fischen und feuchtem
Fries die Luft so dick machte, daß man sie fast schmeckte. Aber
wenn man dann durch das Kontor mit seinem durchdringenden Qualm
von Siegellack gelangt und in den Gang gekommen war, der die
Grenze zwischen Geschäft und Familie bildete, so wurde man durch
den hier herrschenden Duft von neuem Damenputz auf die milde
Bhimenluft der Zimmer vorbereitet. Es war nicht der Duft eines Bu-
ketts, nicht einer wirklichen Blume, es war die erinnerungweckende,
mystische Atmosphäre, die auf jedem Heim lagert, von der niemand
btttimmt sagen kann, woher sie kommt. Jedes Heim hat seine eigene,
sie erinnert an tausend Dinge, an den Geruch alter Handschuhe, an
170 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
neue Spielkarten oder offenstehende Klaviere, aber stets ist sie anders;
sie kann mit Räucherwerk, Parfüm und Zigarren fibertäubt werden,
aber sie kann nicht getötet werden, sie kommt immer wieder und ist
wieder da, unverändert wie sie war. Hier herrschte sie wie Blumen,
nicht Levkojen oder Rosen, keine Blüte, die existiert, aber so wie man
sich den Duft dieser phantastischen, saphirmatten Lilienranken denkt,
die sich auf Vasen aus altem Porzellan entlang schlängeln.« Selbst
beim ersten Teil der so eindringlichen Schilderung versagt die sinn-
liche Phantasie. Besser arbeitet sie auf akustischem Gebiet. Knarren,
Zischen, Rauschen, Poltern kann schattenhaft vor das innere Ohr
treten; Klänge werden nach Höhe, Stärke und Färbung wenigstens
von einigen Menschen auf Grund der Worte anschaulich verg^en-
wärtigt.
In Bezug auf den Gesichtssinn muß man die Beschreibung ruhen-
der Gegenstände und zeitlicher Vorgänge sondern. Von unveränder-
lich gedachten Dingen (Landschaften, Interieurs, Aussehen eines Men-
schen) wird ein klares und umfassendes Bild bei einmaligem Anhören
fast nie gewonnen. Selbst bei einfachen Dingen entstehen zureichende
optische Bilder — unwillkfirlich — nur selten. Zu einer deutlichen
Vorstellung des Beschriebenen mit allen Einzelheiten muß man sich
zwingen und erreicht das Ziel gelegentlich, soweit eben überhaupt
Phantasievorstellungen klar genannt werden können. Dagegen treten
vielfach schwebende, lückenhafte und schnell verschwindende Bilder
auf; oft sind die von einzelnen Wortzusammenhängen geweckten Vor-
stellungen überraschend deutlich. Wie ich neulich las: »Draußen
dehnte sich ein wunderbares Schneegefild vor unseren Augen. Alles
weiß, blendend, groß und erhaben«, da war der Eindruck der Farbe,
wohl durch den optischen Reiz der Buchseite unterstützt, so stark,
daß ich fast wie geblendet den Kopf etwas mehr vom weißen Papier
weghob. Fontane sagt in »Effi Briest« von den Giraffen: sie sähen
aus wie adlige alte Jungfern. Ich glaube, man bemerkt die Treffsicher-
heit und den Humor dieser Äußerung nicht, es sei denn, daß ein
flüchtiges optisches Bild der Giraffe auftaucht, mit dem vornehm ge-
reckten langen Hals und dem gleichgültigen Blick der stupiden Augen.
Nun gibt es jedoch viele scheinbar anschauliche Beschreibungen, die
in Wahrheit dem Visualisieren widerstreben. Wenn ich bei Jean Paul
lese: »Der Rittmeister, dessen Gesicht eine Ätzplatte des Schmerzes
war«, so werde ich mir gewiß keine Ätzplatte vorstellen. Vielmehr
sage ich mir im Geiste: tief und unverlierbar ist der Schmerz auf die
Fläche des Antlitzes eingegraben, wie mit einer scharfen Flüssigkeit
auf die eisenharte Platte. Also ich umschreibe mit Worten und genieße
die Prägnanz des Jean Panischen Ausdruckes. Der Vorgang spielt sich
DIE SINNESGEFÜHLE. 171
durchweg im Sprachlichen ab. Ich wandre nicht von Bildern zu Bil-
dern, sondern von Worten zu Worten, und werde dabei gefflhIsmäBig
bewegt Daher verwenden Dichter auch Sätze, die einen Anschauungs-
wert gar nicht besitzen können, mit Erfolg zum Ausdruck von Stim-
mungen.
Etwas Ahnliches ist es, wenn die Anschaulichkeit zu Gunsten einer
adlgemdnen Einsicht aufgehoben und trotzdem den Worten ihre ästhe-
tische Bedeutung nicht geraubt wird. FQr die Art, wie ein konkreter
Kern von allerhand abstrakten Umhüllungen umgeben, ja von Re-
flexionen durchsetzt wird, bietet wiederum Jean Paul die besten Bei-
spiele. Seine Beschreibungen beginnen gern mit allgemeinen Er-
wägungen und enden wieder in solchen, wie es z. B. (im 6. Sektor
der Unsichtbaren Loge) von Oustavs Schönheit zum Schlüsse heißt:
>Alles Schöne aber ist sanft; daher sind die schönsten Völker die
ruhigsten; daher verzerret heftige Arbeit arme Kinder und arme Völker.«
Doch auch in ihrem Verlauf spielen die Beschreibungen leicht ins
Nachdenkliche hinüber; dazu gehört an gleicher Stelle die Wendung:
>Sein Auge war der offene Himmel, den ihr in tausend fünfjährigen
und nur in zehn fünfzigjährigen Augen antrefft . . .« Wer diese wenigen
Worte mit empfänglichem Sinn liest, dem weitet sich dabei das Herz,
gidch als ob eine einstimmige Melodie plötzlich zur Harmonie sich
ausdehnt, als ob das Einzelne eriöst und an seinen Platz geführt wird.
Aber eine zureichende Anschauung ist ihm schweriich zu teil geworden.
Wir kommen nunmehr zum zweiten Punkt, zu der Schilderung
eines sichtbaren Geschehens. Es ist eine alte Lehre, daß die Schil-
derung des Aufeinanderfolgenden dem Veriauf der Bewußtseinsvor-
gänge besser entspricht als die eines Zusammen. Der Grund liegt
nicht in der zeitlichen Beschaffenheit der Sprech-, Schreib- und Lese-
tätigkeit, sondern in dem Vorgangscharakter des Bewußtseins über-
haupt und in der Nötigung, bei der Apperzeption größerer Gebilde
dnen Teil nach dem anderen in den Blickpunkt zu rücken, da das
Ganze nicht zugleich aufgefaßt werden kann. Wenn aber das Spezi-
fische der Poesie im Sprachlichen zu finden ist — was im zweiten
Hauptteil dieses Buches zu beweisen sein wird — , so kann die Eigenart
des Bewußtseins im ganzen, das zeitliche Abrollen sämtlicher Seelen-
vorgänge nicht als entscheidend betrachtet werden. Indem ich mit
dem Blick über die Einzelheiten eines größeren Gemäldes wandere,
mache ich das Simultane gleichfalls zum Sukzessiven, genau so, wie
wenn ich es mit Worten schildere. Doch zur Sache. Bei der dichte-
rischen Beschreibung von Geschehnissen pflegen Gesichtsbilder seltener
aufzutreten als bei der Beschreibung des Ruhenden. Der Drang, den
Ere^issen schnell zu folgen, scheint zu stark zu sein, als daß viele
172 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK,
sinnliche Bedeutungen aufgebracht werden könnten. Besonders deut-
lich wird das, wenn der Dichter oder seine Person in lebhafter Er-
regung zu uns sprechen. Gerade bei packenden Stellen, in den Augen-
blicken größter Spannung, verschlingen wir die Worte, ohne uns Zeit
zu optischen Vorstellungen zu lassen. Dennoch ist die Reaktion des
gesamten seelischen und körperlichen Zustandes so stark, als ob man
alles aufs schärfste sähe. Dieser Aufwand von Worten — und man
liest darüber hin und hat den richtigen Eindruck und die richtige
Stimmung. Es ist wie mit der Musik. Alles mögliche steckt in der
Partitur, aber wir hören nur ungefähr ein Ergebnis heraus und werden
im allgemeinen davon berührt.
Die meisten Personen geben an, daß die Beschreibung sichtbarer
Handlungen weit häufiger als zu Gesichtsbildem vielmehr zu moto-
rischen Empfindungen und Empfindungsreproduktionen führe. Beides,
eine wirkliche, wenngleich unbedeutende Bewegung sowie ihre bloße
Vorstellung, kann entweder die geschilderte Handlung nachahmen
oder ihrer Rückwirkung auf das Subjekt entsprechen. Wenn wir eine
eindrucksvolle Beschreibung gewaltig anstürmender Wogen lesen, so
machen wir (tatsächlich oder reproduzierend) entweder die Bew^[ung
mit, oder prallen zurück, als ob die Wogen auf uns eindrängen. In
keinem dieser vier Fälle braucht ein Gesichtsbild entstanden zu sein.
Und noch darüber hinaus reicht der Wirkungskreis von motorischen
Einstellungen und Anpassungen, wie vorhin gezeigt wurde. Trotzdem
darf man nicht behaupten, daß voller künstlerischer Genuß nur durch
das Zwischenglied wirklicher oder reproduzierter Bewegungsempfin-
dungen zu Stande komme '). Wenn ich von den Ausdrucksbewegungen
eines Gefühls lese, so braucht sich keine nachahmende Bew^^ng,
selbst nicht im leisesten Ansatz, bei mir zu regen. Ich weiß ja aus
vielfacher Erfahrung, was der beschriebene Muskelvorgang seelisch
bedeutet, und fühle daher mit hinreichender Lebendigkeit den Seelen-
zustand nach. Das allgemeine Wissen um diese Dinge bringt ohne
kinästhetisches Mittelglied die Assoziation zwischen den Worten und
der gemeinten seelischen Tatsache zuwege. Es ist also kein unerbitt-
liches Gesetz, daß eine sichtbare Aufeinanderfolge innerhalb dichte-
rischer Beschreibung an die Mithilfe unseres Muskelsinns appelliert
3. Die Formgefühle.
Wir haben früher mehrere Eigenschaften ästhetischer Gegenstände
kennen gelernt Die einen bestehen in den Verhältnissen der Har-
monie, der Proportion und des Rhythmus, die anderen in dem abso-
DIE FORMGEFOHLE. 173
hiten Quantum der Raum- und ZeitgröBe sowie des Grades. Wenn
wir die Gesamtheit dieser Erscheinungen unter die Bezeichnung »Forme
unterordnen dürfen, so sind die von ihnen ausgelösten GefOhle Form-
gefOhle zu nennen. Jedenfalls meinen wir mit Formgeffihlen solche
Gefühle und außerdem ihre Verbindungen, sofern sie als von inhalt-
lichen Einflüssen frei gedacht werden können.
An den Harmoni^efühlen sind die einzelnen Tatbestände genau
untersucht worden. Namentlich die Tonpsychologie kämpft wacker
mit den Schwierigkeiten, die aus den Harmonien und Disharmonien
der Klänge der Erklärung entg^entreten. Für uns ist die Hauptfrage
jetzt nur diese: ob die Harmoniegeffihle aus der Verknüpfung der
sinnlichen Einzelgefühle oder unabhängig von ihnen sich bilden. Da
die Wahrnehmung einer schmutzigen Farbe durchschnittlich unlustvoll,
diejenige einer leuchtenden Farbe lustvoll zu sein pflegt, so könnte
aus der Gleichzeitigkeit beider Gefühle ein drittes Gefühl, nämlich das
der Dissonanz, sich entwickeln. Oder es entstünde das Harmonie-
gefflhl, indem die Lustqualitäten zweier leuchtenden Farben sich ver-
einigten. An diesem Beispiel wird klar, daß es sich nicht so verhalten
kann. Denn nicht beliebige zwei Farben, auch wenn sie noch so
gesättigt und strahlend sind, wecken durch ihr räumliches Neben-
einander das Harmoniegefühl, sondern nur bestimmte Farben (s. S. 121).
Es haftet also das Harmoniegefühl an der bloßen Wahrnehmung, ge-
nauer gesagt, an einer Verwandtschaft der Teilfaktoren, die mit ihnen
selbst zugleich aufgefaßt wird. Und nur weil es so ist, haben wir
das Recht, die Harmoni^efühle theoretisch von den Sinnesgefühlen
ateulösen; im anderen Fall wären sie komplizierte Sinnesgefühle. Das-
selbe gilt von den Verhältnissen bei Klängen. Leider sind sie im
Qbr^n so verwickelt und umstritten, daß eine ausreichende Darstel-
lung einen ungebühriich großen Raum beanspruchen müßte. So ge-
nüge der Hinweis darauf, daß die besonderen Gesetze der sichtbaren
und der höri>aren Harmonie recht verschiedene sind. Zwei Klänge
etwa, die nur wenig voneinander abstechen, ergeben bei gleichzeitiger
Auffassung eine Dissonanz, während zwei nahe verwandte Farben
zueinander passen. Linien hingegen verhalten sich wieder wie Klänge:
die geringfügige Verschiebung einer Seite eines Quadrats wirkt miß-
fällig, die erhebliche macht eine neue Form aus der alten und läßt das
Unlustgefühl einer nicht erreichten Gleichläufigkeit dieser Gegenseiten
nicht aufkommen.
Bei den Proportiongefühlen interessiert vornehmlich der Umstand,
daß die Hälften einer Raumgestalt trotz sehr verschiedenartiger Aus-
füllung als symmetrisch empfunden werden können*). Man hat das
Problem in die Sprache des psychologischen Versuchs übersetzt und
174 rV'. DER JVSTHETISCHE EINDRUCK.
folgende Fragen aufgeworfen: Wenn in einer beliebigen Entfemung
vom Mitteipunkt eines Quadrats auf der einen Seite eine Linie von
bestimmter Lange sich befindet, wohin muß eine doppelt so lange
Linie auf der anderen Seite gestellt werden, damit die Anordnung
wohlgefällig wird? Wenn links eine Linie ist, wohin kommen dann
rechts zwei oder mehr Linien? Wie verteilen sich am besten UmeOy
die verschiedene Richtung haben? Wie die Farben ihrer Leucfaflcraft
nach, ganz abgesehen von qualitativer Übereinstimmung und quali-
tativem Widerspruch? — Die Fragen lassen sich ins Unendliche ver-
mehren. Für die Beantwortung kommt es darauf an, was man vom
ästhetischen Gegenstand verlangt Will man, daß er recht bequeme
Augenbewegungen hervorruft, so urteilt man anders, als wenn man
dauernde Anziehungskraft wünscht Deshalb sei ausdrücklich betont:
im Augenblick kümmert uns nur die psychologische Seite der früher
geschilderten Isodynamie, d. h. wir nehmen an, daß die rechte und
linke Hälfte eines Bildes ungeachtet mangelnder Kongruenz als gleicb-
wertig empfunden werden und fragen nach der Erklärung. Ob das
Bild auch ohne diese Gleichwertigkeit der Hälften schön bliebe, geht
uns hier nichts an. Die ausführlichste Theorie, die wir besitzen, be-
ruft sich auf die zum Betrachten nötigen Augenbew^;ui^;en, deren
Stärke wir unwillkürlich auf die Linien und Flächelformen als ihr Ge-
wicht übertragen sollen. Ein Beispiel Nahe dem Mittelpunkt, auf
den unser Auge eingestellt ist, sehen wir eine lange Linie, machen
also eine ziemlich ausgiebige Augenbewegung. Dadurch balanciert
diese Linie eine andere, weit entfernte, aber kleine Linie, denn um sie
mit dem Blick zu erreichen ist eine ebenso ausgiebige Augenbew^^ung
erforderlich und nicht die Richtung, sondern bloß die Stärke der
Augenbewegungen wird verglichen. Die Anordnung ist demnach
wohlgefällig, weil auf beiden Seiten die gleichen Bew^^ungsanreize
hervorgerufen werden.
So sollen nun überhaupt alle Inhalte sich kompensieren, da auch
andere Spannungsempfindungen, zumal die mit der Aufmerksamkdt
zusammenhangenden, in Rechnung zu seteen sind. Je weiter etwa
eine Farbe vom Mittelpunkt entfernt ist, desto heller muß sie sein, um
die Aufmerksamkeit zu fesseln und dadurch den Formen und Farben
des anderen Raumteils das Gleichgewicht zu halten. Selbst das sach-
liche Interesse, das eine dargesteUte Szene weckt, kann sie ausgleichen,
denn jede die Aufmerksamkeit erregende inhaltliche Beschaffenheit hat
in Muskelsinnvorgängen ihre physiologische Unterlage. Wir haben
uns die Bildfläche einer Zielscheibe ähnlich zu denken, auf der jeder
Fleck einen Zählwert hat, aber nicht nur entsprechend der Entfernung
vom Zentrum, sondern auch entsprechend der Ausfüllung. Diese Vor-
DIE FORMGEFÜHLE. 175
' Stellung stimmt trefflich zu einer später zu entwickelnden Theorie, der-
• zufolge die Wohlgefälligkeit eines Bildes an ein ihm zu Grunde li^en-
• des formal schönes Muster geknüpft ist Schade nur, daß über die
• Zählweise feste Vorschriften nicht bestehen. Man kann sowohl den
• mittleren Partien als auch den Außenteilen der Fläche den größeren
^ Wert beilegen. Denn wenn man vom Bild erwartet, daß es von einem
f Brennpunkt aus scheinbar ins Grenzenlose verfließe, so wird der
I Künstler alle starken Linien und leuchtenden Farben sowie alles sach-
I lieh Wichtige in der Mitte zusammenfassen und nach den Rändern
I zu immer schwächere Farben und unbedeutendere Gestalten anordnen
f müssen. Verlangt man hingegen, daß der Blick mit gleicher Stärke
I nach jedem Punkt der Fläche gezogen werde, so muß als Anreiz dieser
i Blickwanderung gerade in den Außenteilen der scharf begrenzten
t Fläche die leuchtende Farbe und die gewichtige Form stehen. Tat-
• sächlich gibt es in Meisterwerken der Malerei Beispiele für das eine
r und für das andere Verfahren; zur Entscheidung der Frage, sofern sie
I überhaupt möglich ist, sind also noch andere Gesichtspunkte nötig
i als die uns hier zur Verfügung stehenden.
Jedenfalls sollte unterschieden werden zwischen der Leichtigkeit
der Augenbewegungen und dem Gleichgewicht der Komposition. Zum
ästhetischen Wert gehört eine (zufällig vorhandene oder künstlich her-
gestellte) Raumanordnung, in der das Auge leicht und sicher sich
zurechtfindet. Aber diese Orientierungsarbeit des Auges fällt nicht in
vollem Umfang mit der mehr oder weniger großen Bequemlichkeit der
Augenbewegungen zusammen. Sonst müßte ja jede Senkrechte häß-
licher sein als jede Wagerechte; der uns vom Schreiben her geläufige
Bewegungszug von links nach rechts müßte wohlgefälliger sein als
die umgekehrte Richtung; ein rechtwinkeliger Mäander müßte hinter
der Wellenlinie erheblich an ästhetischem Wert zurückbleiben. Dies
alles ist nicht der Fall, und so scheint Lotze im Recht zu sein, wenn
er behauptet, wir brächten die Mühe der Augenbewegungen von vorn-
herein in Abzug. Ein weiterer, übrigens schon geltend gemachter
Grund liegt darin, daß der Betrachter nur selten mit dem Blick Punkt
für Punkt den Linien folgt. Es dürfte also höchstens der Ansatz zu
solchen abtastenden Augenbew^ungen in die elementarästhetische
Rechnung eingestellt werden, und das würde die Frage vom physio-
logischen aufs psychologische Gebiet verschieben. Alsdann nämlich
handelt es sich nicht um ausgeführte Augenbewegungen, sondern um
Richtungen der Aufmerksamkeit oder allgemeiner: der auffassenden
Tätigkeit Und darum dreht es sich wohl wirklich letzten Endes.
Wir gehen weiter. Von der Symmetrie war schon gesagt worden,
daß sie infolge unvermeidlicher Augentäuschung für senkrechte Linien
176
IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
keine gefallende Einteilung bildet Jetzt fugen wir ergänzend hmzu,
daß auch bei einem ungenauen mathematischen Verhältnis, das aber
uns als das Verhältnis 1:1 erscheint, an starker Dndruck nidit sidi
einstellt Vielmehr werden das Verhältnis 1:2 und die GBedenii^
nach dem goldenen Schnitt vorgezogen. Wir Oberzeugen uns an den
folgenden vier Linien, von denen a nach der mathematischen Mitten
b nach dem Augenmaß halb geteilt ist, während c das Verhältnis des
goldenen Schnittes, d das von 1 :2 aufweist
Hg. 9.
a
Warum behagt uns die subjektiv richtige Halbteilung hier nicht?
Sie ist bei einfachen Linien langweilig, bei reicheren ästhetischen
Gegenständen geradezu unschön. Nach den früheren Darlegungen
dürfen wir die Erklärung darin vermuten, daß die Teile in senkrechter
Richtung nie den Charakter des Gleichgewichts empfangen; dar Ein-
fluß der Erfahrung, daß nur nebeneinander wirkende Kräfte sich die
Wage halten, verrät sich in der ästhetischen Beurteilung des überein-
ander Stehenden. Warum gefallen die anderen Proportionen? Nicht
durch Gleichgewicht, sondern durch eine Gliederung, die beide Teile
deutlich abtrennt und mit dem größeren Teil den Grundcharakter des
Gebildes bestimmt Neuere Analysen*) legen die Auffassung nahe,
Flg. 10.
daß, wenn in einem nach dem goldenen Schnitt konstruierten Recht-
eck die wagerechten Seiten den Maior bilden, der Eindruck einer
ruhenden Gestalt entsteht, in der indessen die anderen Seiten als kon-
trastierende Gegenglieder mit einer gewissen Selbständigkeit auftreten.
DIE FORMGEFÜHLE.
177
Verkürzt man sie, so entsteht eine Schmächtigkeit, die anscheinend fOr
vfde Beobachter mißfällig, für mich persönlich nicht ohne formalen
Reiz ist Das Rechteck, dessen Maior die Senkrechte ist, erhebt oder
streckt sich; nur steht es nicht so dünn und verlassen da wie eine
schmale Doppellinie (die übrigens auch ihren ästhetischen Wert hat),
Flg. 11.
sondern gewinnt durch die unverkennbare Kraft der breiten Seite eine
gewisse Fülle oder Körpertichkeit
Nach allem dem wird die Wissenschaft recht behutsam in ihren
theoretischen Feststellungen sein müssen. Es ist wohl nicht mehr zu
sagen als was gesagt worden ist: Wenn Rechtecke der ästhetischen
DoppeKorderung, einen bestimmten Typus und eine Mannigfaltigkeit
zu haben, nachkommen sollen, so können sie nicht anders, als sich
dem goldenen Schnitt nähern. Dies bedeutet wiederum, daß nicht das
mathematische Verhältnis, sondern ein allgemeineres ästhetisches Oesetz
dk Oestaltform bestimmt. Da aber, wie früher gezeigt wurde, die
Summe der zwei verschiedenen Rechteckseiten nicht ebenso unmittel-
\m dem Bewußtsein gegeben ist wie jede einzelne von ihnen, so nähert
sich der gesamte Formeneindruck solchen Gestalten, die man kom-
binierte nennt Das einfachste und bekannteste Beispiel für den Ein-
floß der Kombination ist die Zusammenstellung eines Kreises mit einem
Hg. 12.
QitadraL Steht der Kreis im Quadrat, so gefällt die Figur sehr viel
whr, als wenn das Quadrat dem Kreise eingeschrieben wird. Das
cingdchriebene Quadrat nämlich wirkt steif w^en der aufdringlich
Dtstoir, AflClMtik oad tilg. KaMtwiuensduft. 12
l
178 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
hervortretenden geraden Linien und weil der umschließende Kreis als
zu wenig fest empfunden wird; im anderen Fall dagegen werden die
scharfen Ecken des Quadrates für die Auffassung gewissermaßen ab-
gestumpft. Unter allen Umständen wirkt jeder der beiden Teile auf
den anderen ein und erzeugt durch die verschiedene Raumanordnung
ein besonderes ästhetisches Gefühl. Das gilt auch von den in Zeichnung
beigefügten Kombinationen zwischen Kreis und Dreieck.
Fig. 13.
Wir müssen nunmehr die Formgefühle kennen lernen, die von
Rhythmus und Metrum hervorgerufen werden. Sie werden meist mit
der Freude an der Bewegung in einen Zusammenhang gebracht
Bewegungen in den Sinnesorganen sowie im übrigen Körper können
leicht einen Lustwert erhalten; doch hat er nichts mit dem ästhetischen
zu tun. Nach langer Ruhe ist jede Bewegung lustvoll; im körperlichen
und im seelischen Schmerz erweist sich heftige Körperbewegung als
brauchbares Anästhetikum: Byron betäubte den Schmerz um den Tod
seiner Mutter, indem er boxte — echt englisch und doch zugleich echt
menschlich. Bewegung, die schnell und sicher auf ein Ziel hinfuhrt,
ja selbst das passive Bewegtwerden in einem dahinsausenden Oefährt
wird lebhaft genossen. Weil wir uns vom Gesetz der Trägheit be-
freit fühlen und über die Schwere triumphieren, deshalb erfreuen wir
uns an solchen Bewegungen und ebenso an den Träumen, worin wir
die Kunst des Fliegens üben. Aber alle diese Gefühle sind keine
ästhetischen Formgefühle. Das Formgefühl bezieht sich ausschließlich
auf die rhythmische Bewegung. Es gibt genug rhythmische Be-
wegungen außerhalb der Kunst, vor allem beim Arbeiten und beim
Sprechen. Ihr Rhythmus wird als eine das Objekt ordnende und die
Seelentätigkeit erieichtemde Formung genossen und kann in Kunst-
rhythmus übergeführt werden. Haben wir nun in ihm den ursprüng-
lichen Rhythmus zu erblicken? Ich frage nicht nach jenen periodisch
ablaufenden Bewegungen des tierischen Organismus, aus denen man
früher den Rhythmus ableiten wollte. Denn von der Periodizität in
Atmung und Pulsschlag weiß der natüriiche Mensch so wenig, daß
er sie schweriich zur Grundlage seiner rhythmischen Schöpfungen
DIE FORMGEFÜHLE. HQ
machen kann. Aber wie steht es mit den unwillkürlich im Rhythmus
verlaufenden und bewußt aufgefaßten Bewegungen bei Arbeit und
Spiel? Liegt in ihnen der Ursprung des akustischen Rhythmus? Ist
der eigentliche Ort des Rhythmus innerhalb des Bewegungssinnes zu
suchen? Wir besitzen darüber zwar Theorien, aber keine wirklich
entscheidenden Untersuchungen. Wir wissen also nicht, ob der Be-
wegungsrhythmus die Ursache und der Tonrhythmus seine Wirkung
ist Nur das eine steht fest, daß beide Reihen teils parallel nebeneinander
laufen, teils miteinander verschmelzen. Und ebenso sicher ist, daß es
unzweckmäßig wäre, von dem Bewegungsrhythmus auszugehen, da er
nur in der eigenen Körperbewegung voll empfunden wird und diese
Identität eines genießenden und schaffenden Ich unsere Betrachtung
aus ihrem gewohnten Lauf ablenken würde. Wir sprechen also zu-
nächst und vornehmlich vom Tonrhythmus.
Es ist gefragt worden, ob der akustische Rhythmus am deutlichsten
aufgefaßt werde in den elementaren Formen des psychologischen Ver-
suchs oder in den von der Kunst geschaffenen Gebilden. Anscheinend
müßte der Rhythmus an Eindringlichkeit vertieren, sobald neue Momente
zu ihm hinzutreten, wie etwa in der Musik die gleichzeitige und auf-
einander folgende Harmonie. In Wahrheit genießt man gerade an musi-
kalischen und poetischen Formen den Rhythmus am sichersten und
längsten, denn gegenüber einer Folge von bloßen Schalleindrücken ver-
sagen sehr bald Aufmerksamkeit und Genuß. Prüfen wir uns also
beim Hören von Musik und Poesie
Als das Wesentliche des rhythmischen Eindrucks hat man den zeit-
lichen Ablauf in Spannung und Lösung bezeichnet Doch ist diese
Behauptung nur bedingt richtig. Der Regel nach wird die nächste
Betonung nicht mit vollem Bewußtsein erwartet und als eine Lösung
der Spannung empfunden, sondern man findet in sich nur eine an-
schwellende und nachlassende allgemeine Tätigkeit Die innere Akti-
vität kennt Höhe- und Tiefpunkte — bei weitergehender Zeriegung
würde sich das rhythmische Gebilde auflösen und in zusammenhang-
k>$e Teile zerfallen. Dieses Auf und Nieder des rhythmischen Verlaufs
verführt zu einer Vergleichung mit der Wellenbewegung im Ablauf
mancher Affekte, zu einer Vergleichung, die aus der formalen Ähnlich-
keit im zeitlichen Abrollen von Rhythmus und Affekt den ästhetischen
Erregungswert der rhythmischen Formen unschwer verständlich macht
Trotzdem muß sie beanstandet werden und zwar erstens deshalb, weil
Rhythmus ohne jede stärkere Gemütserregung genossen werden kann,
zweitens, weil die strenge Ordnung dieses Ablaufs mit dem B^[riff
des Affektes schwer vereinbar ist
Ein weiteres, ebenfalls strittiges Problem berühren wir t>ei der Frage
180 rv. DER ÄSTHETISCHE EINE«UCK.
nach dem Eindrucks wert , den die Geschwindigkeit der rhythmischen
Form haben mag. Jedermann weiß, daß eine natürliche Neigung be-
steht, das Tempo beim Vortrag musikalischer und poetischer Werke
zu beschleunigen. Natur- und Kulturmenschen pfl^en beim Tanzen
in immer größere Geschwindigkeit überzugehen. Die Musik wird
diesem Bedürfnis nach wachsender Schnelligkeit dadurch gerecht, daß
sie an den Schluß mehrsitziger Gebilde fast stets einen raschen Satz
stellt. Solche Tempoänderungen beeinflussen außerordentlich stark den
ästhetischen Charakter, stärker als jede Veränderung in der Intensität
der Töne. Man spiele ein Musikstück erst leise und dann laut; der
Abstand ist erheblich. Aber er erweitert sich noch viel mehr, sobald
eine Änderung im Tempo vorgenommen wird: das Stück ist nicht
wieder zu erkennen, wenn es um sehr viel schneller oder langsamer
vorgetragen wird. Nicht anders beim Sprechen. Auf der Bühne ent-
scheidet durchaus das Tempo der Rede, und jedem Schauspieler der
älteren sowie der allemeusten Richtung dürfte b^reiflich sein, weshalb
vor hundert Jahren Theaterleiter die Aufführungen von Versdramen mit
dem Taktstock in der Hand dirigierten. Für die Musik kommt nun
allerdings noch ein Zusammenhang zwischen Tempo und Tonstärke
in Betracht. Namhafte Theoretiker sind der Ansicht, »daß sich der
Tonstärkesteigerung, der positiven Entwickelung der Dynamik die zu-
nehmende Verkürzung der Werte, die Beschleunigung geselle, der
Gipfelung der Dynamik eine plötzliche Hemmung und dem Rückgange
der Dynamik das Wiedereinlenken von der Dehnung zur normalen
Geltung der Werte ^®).« Doch ist nachdrücklich darauf hinzuweisen,
daß dieser eintönige Verlauf sowohl vom vorschreibenden Tonsetzer
als auch vom ausführenden Künstler oft genug durchbrochen wird.
Wir kehren nun wieder zum eigentlichen Rhythmus zurück. Die
synthetische Kraft des Rhythmus, von der oben bereits die Rede war,
macht ihn zu einem Mittel, wodurch eine Anzahl von Eindrücken zu
einer Einheit zusammengefaßt und die Folge in der Zeit richtig wahr-
genommen wird, ohne daß doch jedem einzelnen Taktschlag die gleiche
Bedeutung veriiehen, d. h. die gleiche Aufmerksamkeit zugewendet
würde. Zweifellos ist für das rhythmische Gefühl sehr wesentlich der
Umstand, daß die Ordnung sicher aufgefaßt wird trotz ungleicher Ver-
teilung der Aufmerksamkeit; die unbetonten Klänge oder Silben ver-
langen keine Anstrengung von uns, und dennoch bleibt der Zusammen-
hang der Gruppe in sich und mit anderen Gruppen vollkommen
übersichtlich. In der täglichen Erfahrung fassen wir wohl auch zu-
sammen, was objektiv ganz ungleichartig und lediglich durch die Ein-
heit des Bewußtseinsaktes zusammengehalten ist Bei rhythmischen Ge-
bilden fühlen wir uns nicht von der Zufälligkeit beliebiger Erdg-
DIE FORMGEFOliLE. 181
nisse beherrscht, da der Ablauf unseren natürlichen Erwartungen ent-
spricht Im Hinblick hierauf und unter Benutzung einer bestimmten
Theorie der Aufmerksamkeit kann jedes rhythmische Olied als eine
Spannung und Entspannung der Aufmerksamkeit gelten. Wenn die
Psychologen recht haben, die der durchschnittlichen Aufmerksamkeits-
periode eine Dauer von einer Sekunde beimessen, und wenn die ex-
perimentelle Ästhetik mit Recht dem rhythmischen Oliede gleichfalls
eine Dauer von einer Sekunde zuschreibt, so würden beide Tatsachen
aufs glücklichste übereinstimmen. Aber es ist nicht zu verkennen, daß
alle diese Aufstellungen erheblich von theoretischen Voraussetzungen
beeinflußt sind: sowohl über die Perioden der Aufmerksamkeit als auch
über die Länge rhythmischer Glieder sind die Untersuchungen nicht
ganz einhellig. Zu der Bewegung der Aufmerksamkeit gesellt sich femer
das Verhältnis des Rhythmus zum Gedächtnis. Schon aus unserer täg-
lichen Erfahrung wissen wir, daß Poesie leichter und schneller gelernt
sowie treuer und dauerhafter behalten wird als ein in Prosa geschrie-
benes Stück. Außerdem aber hat auch die experimentelle Psychologie
den Beweis geliefert, indem sie feststellte, daß wir beim Lernen sinn-
k>ser Silben unwillküriich ein (trochäisches) Metrum uns bilden und
durch diesen subjektiv-rhythmischen Zusammenhang eine Ersparnis an
Wiederholungen erzielen, die zur Einprägung der Sill>en notwendig
sind. Der Wortrhythmus besitzt also einen gedächtnistechnischen
Wert Das Gleiche kann ohne weiteren Beweis vom Klangrhythmus
angenommen werden. —
Ober die besonderen Gefühle, die sich an das absolute Quantum
anschließen, ist das meiste bereits im Abschnitt über den ästhetischen
Gegenstand gesagt worden. Raumverbrauch, zeitliche Ausdehnung und
Intensität werden mit besonderen Gefühlen beantwortet, die sich schließ-
lich zu dauernden ästhetischen Stimmungen auswachsen können. Je
beträchtlicher die Quanta sind, desto heftiger arbeitet der Regel nach
unsere Auffassungstätigkeit, weil es ihr nur mit Mühe gelingt, das Ob-
jekt zu einem Ganzen abzuschließen. Immerhin nehmen auch kleine,
kurz dauernde, wenig intensive Dinge oder Vorgänge die den Genuß
bedingende Hinwendung der Seele in bestimmter Weise in Anspruch,
wenn sie üt>erhaupt als frisch sprudelnde Quellen ästhetischer Freude
gelten können. Nun ist aber femer zu untersuchen, soweit es in ele-
mentarer Weise hier geschehen kann, welcher Eindruck aus dem Zu-
sammen von Harmonie- und Gestaltgefühlen sich ergibt Die Harmonie
der Klänge vermählt sich mit dem Rhythmus, die Harmonie der Farben
mit der Proportion. Wir nennen diesen Verknüpfungsvorgang eine
Komplikation und das daraus entstehende Gefühl ein Komplikations-
geffihl. Wo jene zwei Faktoren sich zusammenfinden, da pflegt der
182 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
qualitative Bestandteil die Mannigfaltigkeit, der Rhythmus aber und die
Gestalt die Einheit zu liefern. Während die Töne wechsdn, bleibt der
Rhythmus derselbe, und in der Vielheit der Fsshen ist Aen die Raum-
anordnung das Mittel der Verbindung. Nd>en den aus MusQc und
Malerei bekannten Verknüpfungen steht die Verknüpfung zwisdiai
Rhythmus und Proportion, die den Eindruck der schönen Bew^[ung
hervorbringt Überall dort, wo Körperstellungai geBlliger Art in
deutlich rhythmischer Weise aufeinander folgen, arhaltai sie einen
starken ästhetischen Wert, der dem Wert des Omamaites oder der
abstrakteren Musikformen nahesteht Ein solcher Reigen oder Tanz
gefällt, auch ohne daß er Seelenvorgänge, zumal Affekte zum Ausdruck
bringt In den genannten drei Komplikationen bewahren die Bestand-
teile im allgemeinen ihre selbständige Wirkungskraft und gewinnen
durch ihre Vereinigung den schon häufig erwähnten OberschuB an
ästhetischer Wertigkeit Das ist das dürftige, doch wenigstens sichere
Ergebnis. Wir haben freilich weiter spannende Theorien, aber sie
gelten nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Gefuhlspsycho-
logie. So wird beispielsweise angenommen, daß das Gefühl nach drei
Dimensionen hin sich in G^ensäteen bew^e: als Lust — Unlust, Er-
regüng — Beruhigung und Spannung — Lösung. Nun sollen die Ab-
stufungen von Lust — Unlust sich durch die Klangharmonien und -dis-
harmonien herstellen, während vom Rhythmus Err^[ung — Beruhigung
ausgehen und Spannung— Lösung sowohl durch rhythmische wie durch
harmonische Vorgänge zu stände kommen, im letzten Fall nämlich
durch die Aufhebung von Dissonanzen. So sinnreich diese Zeri^[ung
auch ist, sie wird bei der Durchführung zu einem hinderiichen Schema
und verfährt gewaltsam mit den Tatsachen der Musik. Vor allem jedoch:
die Mannigfaltigkeit unterscheidbarer Gefühle läßt sich nicht unter das
dreigeteilte Joch beugen. Wir werden uns davon überführen, wenn
wir uns späterhin mit der Musik beschäftigen.
Hier nur noch eine nötige Ergänzung. Die Töne in einer Melodie,
die Linien in einer Figur, kurz die Teile des ästhetischen Gegenstandes,
soweit er lediglich Form ist, stehen in gewissen Verhältnissen zu-
einander: der soeben gehörte Ton ist höher als der voraufgehende und
tiefer als der nachfolgende, der obere Abschnitt einer Senkrechten ist
gleich ihrem unteren Abschnitt (nicht für die Messung, sondern für
den Eindruck) und so fort. Ist nun in den einzelnen Vorstellungen
selber schon das Verhältnis zu den Mitinhalten g^^eben oder bedarf
es eines Vergleichungsurteils, um seiner habhaft zu werden? Mir
scheint, daß Erfahrung und wissenschaftliche Notwendigkeit gleicher-
maßen zur zweiten Deutung drängen. In einem gehörten Klange a^
li^ vieleriei, aber nicht, daß er höher ist als as \ Niemand kann der
DIE INHALTSGEFÜHLE. 183
Farbe Grün ansehen, daß sie nicht rot ist (wie ihre Nachbarfarbe),
sondern sie ist und bleibt ausschließlich grün, und durch einen Denk-
akt wird die Abweichung innerlich festgestellt Die Gleichheit oder
Ungleichheit von Größen und Stärken erschließt sich erst einem Ver-
gleichungsurteil. Auf absoluten Inhalten bauen sich die Beziehungen
als davon unterscheidbare Tatsachen anderer Ordnung auf. Wahr-
nehmungs- und Vergleichungsurteile, oft von sehr zarter und schwe-
bender Beschaffenheit, ziehen sich durch alle Teile des ästhetischen
Eindrucks hindurch; oft werden sie erlebt, oft freilich nur erschlossen.
Jedenfalls sind diese intellektuellen Vorgänge unentbehrlich für die
Formgefühle.
Blicken wir zurück, so bemerken wir, daß sich das magnetische
Feld der Formgefühle weithin ausdehnt In den einzelnen Künsten
kann es eine Kraft gewinnen, von der nachdenkliche Künstler ebenso
wie philosophische Ästhetiker hingerissen werden. Flaubert schrieb
einmal: ^Je me souviens (Tavoir eu des battements de coeur, d*avoir
ressenti an plaisir violent en contemplant an mar de racropole, an
mar tout na (celui qai est ä gauche quand on monte aux Propylees).
Eh bien, je me demande, si un livre independamment de ce qa'il dit,
ne peut pas produire le mime effet? Dans la pridsion des assem-
blages, la rarete des elements, le poU de la sarface, Vharmonie de
Censemble, n'y a-t-U pas ane verta üitrinseqae, ane esphce de force
divine, qaelqae chose d^iternel comme an principe ?<^ (Lettres ä Oeorge
Sand p. 274.) Unter den Ästhetikern von Fach haben wir manche an-
getroffen, die den ästhetischen Genuß völlig oder doch in der Haupt-
sache an die Formen binden. Wenn nun ihre Gegner auch alles auf
eine Karte setzen und behaupten, daß Formen bloß durch den Inhalt
gefallen, der sich in ihnen ausdrückt, oder durch die Bedeutung, die
sie haben, so sind sie gleich den Formalisten von der jetzt vorwalten-
den Ansicht überwunden worden, und diese geht dahin, daß eine
mehrfache ästhetische Wirkung besteht
4. Die Inhaltsgefühle.
Goethe spricht im Spinozaaufsatz vom Jahre 1785 beiläufig und
abschätzig über die Messung der Körperproportionen. Der bloß räum-
liche und von außen stammende Maßstab lasse das Verhältnis des
Kopfes zum ganzen Leib zu einem simplen Zahlenverhältnis verküm-
mern. Einen ähnlichen Vorwurf erhebt auch Friedrich Theodor Vischer
gegen die Anwendung des goldenen Schnittes: der Kopf falle in den
Minor, und das sei widersinnig. Ich ziehe diese Beispiele heran, um
184 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
ZU zeigen, wie das Gefühl für Inhalt und Sinn von Gd>ilden sich
g^en die genaueste, das ist die mathematische Art formaler Betrach-
tung empört
Sehen wir uns einmal unter dem neuen Gesichtspunkt die Teile
des menschlichen Körpers an. Eine kleine Hand geßllL Sie gefallt
aber nicht als schmale, gestreckte Form, sondern wdl sie vornehm
erscheint, unfähig zu Gewaltakten, durchgebildet von einem mit höha-em
Leben vertrauten Geist Sie umspannt nichts Plumpes und tragt keine
schweren Lasten. Der leichte, zierlich gebaute Fuß gefallt, weil er
nicht mehr als ein Stützpunkt ist, eher zum Schwd>en geeignet als
zum Stampfen. Große und abstehende Ohren sind häßlich, denn sie
beanspruchen gewissermaßen eine Bedeutung, die ihnen nicht zu-
kommt, sie laden dazu ein, den Kopf wie einen Krug an den Henkeln
anzupacken. Die Nase bildet den Obergang von Stirn zu Mund.
Springt sie dreist und klobig hervor, so schiebt sie sich nicht nur aus
der ganzen Linienführung heraus, sondern scheint einen ihr nicht ge-
bührenden Rang zu fordern. Es gefallen uns Formen am männlichen
Körper, die am weiblichen häßlich sind, und umgekehrt Der Grund
ist vielleicht der, daß unsere Auffassung von der Natur des Mannes
gewisse eckige, harte, stark betonte Formen erlaubt, die mit unserer
Vorstellung vom weiblichen Charakter nicht übereinstimmen. Aus
solchen Inhaltsgefühlen heraus reden wir von der kühn geschwungenen
Nase, der stolzen Stirn, dem melancholischen Auge (dem >Spi^[el der
Seele«), indem viele sachliche Erfahrungen sich zu einer im einzelnen
Fall anwendbaren Gesetzmäßigkeit verdichtet haben. Diese instinktive
Beurteilung der Formen, dem Sprachgefühl vergleichbar, geht immer
auf den Sinn der Formen und wird sehr schnell und sicher vollzogen«
Sobald sie sich aber verlangsamt und mit bewußtem Nachdenken
füllt, verliert die Form ihren Charakter als natürliches Zeichen eines
seelischen Gehaltes und wird — wie einige Philosophen sagen —
symbolisch oder — wie andere sich ausdrücken — all^orisch. Das
zweite Wort ist wohl geeigneter als das erste. Was gemeint ist,
zeigen alle Personifikationen von Begriffen z. B. die der Verleumdung
durch Apelles, zeigt noch klarer die Analyse eines Falles, wo ndben
natüriicher Symbolik künstliche Allegorie ^^) sich findet Carriere hat
einmal die Attribute zergliedert, die Lysipp dem Kairos, der Darstel-
lung des günstigen Augenblicks, gegeben hat Die Statue hat fHügd
und ist in eiligem Laufe begriffen, vom an der Stirn ist das Haupt-
haar voll, hinten dagegen kurz geschoren. Daß das Glück vorüber
eilt und beim Schopf ergriffen werden muß, mag vielleicht griechischen
Betrachtern gegenwärtig gewesen und daher als etwas objektiv in dem
Kunstwerk Liegendes erschienen sein — obgleich auch dies recht
DIE INHALTSGEFÜHLE. 185
zweifelhaft ist Ganz gewiß aber haben selbst hellenische Kenner
darüber nachdenken müssen, was Rasiermesser und Wage in der Hand
des Jünglings bedeuten. Denn sie sollen ihn ja nicht als Barbier
oder Krämer kennzeichnen, sondern an das Sprichwort erinnern, daß
das Glück auf des Messers Schneide steht und seine Wage selten im
Gleichgewicht schwebt.
im ästhetischen Eindruck sind also Sachvorstellungen und inhalt-
liche Gefühle tätig, und zwar entweder in inniger Verschmelzung mit
der Form des Gegenstandes oder in loser Verknüpfung. Zur Sicher-
heit sei aber nochmals darauf hingewiesen, daß mit dieser Erkenntnis
die Sinnes- und Formgefühle nicht abgedankt werden sollen. Die
Farbe eines Haars und seine Harmonie mit Teint und Auge entzücken
uns, ohne daß wir darin ein Zeichen der Gesundheit oder Treue er-
blicken; Ohr und Nase sind abgesehen von ihrer Größe gut oder
schlecht geformt, und dabei wird kein seelischer Inhalt in sie hinein-
versetzt Nun ergibt sich aber nach dieser flüchtigen Vorschau die
Aufgabe, tiefer in das Geheimnis dieser Seelenvorgänge einzudringen
und namentlich Einfühlung sowie Assoziation als psychologische Er-
klärungsmittel eines bestimmt umgrenzten Tatsachenkreises näher zu
betrachten. Von beiden Begriffen ist übrigens schon im geschicht-
lichen Teil und bei Behandlung der Prinzipien vieles mitgeteilt worden,
was jetzt nicht wiederholt werden soll.
Ein Rechteck mit verhältnismäßig langen wagerechten Seiten fliegt«.
Betrachten wir das daneben stehende anders geartete Rechteck, so ist
es, als ob jenes liegende sich aufgerichtet hat. Ein weiter, nach unten
offener Winkel wird nicht nur in seiner Größe und nach der Länge
der Schenkel ästhetisch aufgefaßt, sondern die beiden Linien drängen
zueinander hin oder halten sich als zwei Pfosten das Gleichgewicht.
Wie eine Linie aus Bewegung entsteht, so bleibt sie auch Bewegung
und fortgesetzte Kräfteentfaltung. Das in ihr enthaltene Ausdehnungs-
bedürfnis hat jedoch bald ein Ende erreicht, sei es durch Überführung
in andere Linienzüge oder durch die Gegentendenz einer Begrenzung.
In beiden Fällen und in allen den Gelegenheiten, wo wir Linien,
Flächen, Räume nicht mechanisch, sondern dynamisch ansehen, da
sind die Formen Willenstätigkeiten. Wir werden unwillküriich zu An-
hängern Schopenhauers. Selbst zu Fichte bekennen wir uns, denn
wir fühlen außer der die Raumwirkung erzeugenden expansiven^
Tätigkeit bei allem, was Gleichgewicht hat, eine kontrahierende
oder Schranken setzende Tätigkeit. Dieses ganze Kräftespiel bleibt
sozusagen abstrakt, es bietet immer nur verschiedene Formen von
Willensstrebung und Willenshemmung, nicht konkrete Vorgänge. Daher
hat neuerdings ein hervorragender Künstler^') einen Feldzug gegen
186 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
die naturalistische Ausfüllung von Ornamenten eröffnet Ornamente
sind eben Zusammenhänge von Linien d. h. von Kraftrichtungen , sie
haben die wesentlichen Eigenschaften des Lebens in sich und ver-
schmähen die Berührung mit einer zufälligen Tier- oder Pflanzenform.
Die Tätigkeiten, von denen wir sprechen, sind in die objektiven
Gebilde eingeschmolzen, keineswegs als Vorstellungen neben ihnen
vorhanden. Freude wecken sie aber, weil die in den Formen liegende
Tätigkeit von uns vollzogen und dadurch zur ästhetischen Funktions-
lust wird. Und die in uns wirkende Aktivität ist eine doppelte: eines-
teils die Aktivität von Bewegungen der Aufmerksamkeit und Apper-
zeption nebst Organ- und Muskelempfindungen, andemteils die seelische
Arbeit metaphorischer Benennungen. Die dadurch entstehenden Ge-
fühle sind schwach und von sehr allgemeiner Natur. Beim Rhythmus
etwa haben sie das Gepräge erregten Vorwärtsdringens oder der Be-
ruhigung. Allein, sie können weit tiefer ins Besondere tauchen, etwa
zum Gefühl feindselig -ärgerlichen oder siegreich -kühnen Angriffs
werden. Ebenso bei linearen Formen. Wenn ich in der Mitte einer
Wagerechten eine Senkrechte errichte, so erhält diese einfache mathe-
matische Form den Gefühlston der nicht wankenden Beständigkeit;
die umgekehrte Figur ist schon von den alten Ägyptern verwendet
worden, um die Herrschaft über Leben und Tod anzudeuten: die Ge-
rade nämlich, die hier aufstrebt, wird mit einem Male abgeschnitten,
und zwar mit einer ruhigen Sicherheit, gegen die es gar keinen Wider-
stand gibt. Auch in solchen Fällen stärkerer Besonderung meint das
Inhaltsgefühl nicht, daß neben der Wahrnehmung der rhythmischen
oder linearen Form die Sachvorstellung einer wilden Reiterattacke oder
eines Gerichtssaales im Bewußtsein auftauche; ebensowenig wie wir
beim Betrachten des sich aufrichtenden Rechtecks innerlich die Gestalt
eines sich aufrichtenden Mannes oder Hundes erblicken. Vielmehr ist
nur der gleiche Antrieb des Bewußtseinsvorgangs und die aus der
Natur der Sprache verständliche Neigung zu den oben gebrauchten
Worten vorhanden. Von dem Mittellot auf der Basis kann ich be-
einflußt werden wie von einem im weiten Felde einsam stehenden
Baum, nämlich in dem Sinne, daß die aus dem Boden aufwachsende
Linie als ein stolz sich emporrichtendes Einzelwesen gefühlt wird.
Jedesmal ist das gleiche Verhältnis zwischen einem Untergrund und
einem davon Abgehobenen da; die eine Konkretion dieses Verhältnisses
klingt an, sobald die andere gegeben ist; man erinnert sich nicht etwa
ihrer, sondern man besitzt sie mit und in dem anderen. Weil nun
die Sprache alles aus den Erfahrungen unseres körperlich-seelischen
Ich zu benennen und zu verdeutlichen liebt, weil sie zur Verlebendi-
gung einer Sache vermenschlichen muß, deshalb drückt sie Äußeres
DIE INHALTSGEFÜHLE. 187
durch Inneres aus. Goethe sagt, der Mensch begreife nie, wie anthropo
morphisch er ist Richtiger muß es heißen: wie anthropomorphisch
er redet Man gibt dem von uns Erlebten nicht die genaueste wissen-
schaftliche Beschreibung, indem man eine tatsächliche Einfühlung
schildert Jene Linie wächst nicht, hebt sich nicht stolz empor. Sie
ist und bleibt lineare Form. Aber die Beziehung zwischen ihr und
der unter ihr befindlichen Wagerechten entspricht anderen uns vertrauten
Beziehungen. So holt sie, wenn sie wahrgenommen wird, gewisser-
maßen alles ihr Ahnliche aus dem gesamten Schatz der Erfahrungen
heran, oder sie klingt in den ihr verwandten Vorstellungen aus. In
dem Kampf ums Dasein, den auch die Bewußtseinsvorgänge führen,
sucht jeder Vorgang nach Hilfe; er ergänzt und verfestigt sich durch
das ihm Ähnliche. Und durch nichts wird ein bestimmter Seelen-
vorgang erfolgreicher gesichert und lebhafter betont als durch ein
Wort, das inneriichstes Leben bezeichnet
Wenn wirklich die ästhetisch betrachteten Raumformen gewissen
Zielen zustrebten, sich lagerten, sich emporrichteten, sich zusammen-
faßten, so würden wir anstatt zu genießen von Illusionen gefoppt
werden. Das kann nicht der Sinn der Einfühlung, nicht die Ansicht
der Einfühlungstheoretiker sein. Wir verwandeln kein ruhendes Ding
in eine Bewegung und wir machen keine mechanische Bewegung zu
einem Zweckgeschehen. Dennoch liegt im Ganzen des ästhetischen
Verhaltens ein Zug, der jener Art der Beschreibung einen Rückhalt
gibt Ich meine das Gefühlsmäßige überhaupt und die Beziehung des
Gefühls auf einen Gegenstand (s. S. 82 u. 165). Bei Schleiermacher
steht ungefähr folgendes zu lesen: :>Das gleichzeitige Sichhingeben
und Sichfinden ist das Wesen der Frömmigkeit, in welcher der sich
an das All Hingebende zugleich den Genuß dieser Hingabe hat
Darum ist die Religion weder ein Wissen noch ein Tun, sondern ein
Fühlen, ist Gefühl des gemeinschaftlichen Lebens von All und Ich.«
Gottesdienst und reinstes Gefühl kann in diesem Sinne auch das
ästhetische Auffassen genannt werden; hierin liegt ein gut Teil seiner
Würde. Wie von allen höheren geistigen Bestrebungen, so gilt auch
vom Dienst der Schönheit und der Kunst, daß die Hingabe an den
G^enstand zugleich eine Erhöhung des Ich bedeutet. Das Wunder
der Liebe verwirklicht sich auch hier: wer sich an Liebenswertes an-
schließt, gewinnt sich doppelt wieder. In diesem Sinne läßt sich bei
den höchsten ästhetischen und künstlerischen Werten von Einfühlung
sprechen.
Doch bleiben wir jetzt bei der Betrachtung einzelner Tatsachen.
Um den Sinn der Einfühlung schärfer zu fassen, hat man sie mit den
Vorgängen verglichen, die als »Bedeutung« und »Ausdruck« bekannt
188 rv. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
sind. Ober den ersten B^^riff, wenigstens über eine bestimmte Ver-
wendung seiner, genügen ein paar Worte. Die perspektivische Zeich-
nung eines Hauses »bedeutet<i: ein um vieles größa-es und dreidimen-
sionales Haus, aber es drückt das Gebäude nicht aus und das Ge-
bäude wird in die Zeichnung nicht eingefühlt Der Unterschied ist
klar. Bei jener Zeichnung handelt es sich um die sichtbare Wieder-
gabe eines sichtbaren Gegenstandes, bei Ausdruck und Einfühlung
hing^en um die Verschmelzung eines Sichtbaren mit einem Unsicht-
baren. Verwickelter sind die Verhältnisse dort, wo Seelisches in
Worten zu Tage tritt; davon wurde schon gesprochen und wird
fernerhin zu reden sein.
Nun zum Ausdruck. Das beste Beispiel haben wir in den wohl-
bekannten Ausdrucksbew^^ngen der Verwunderung, des Zorns, der
Freude u. s. w. Denken wir sie uns so verlaufend, daß dadurch weder
ein praktisches Ziel erreicht noch irgend etwas absichtlich mitgeteilt
werden soll. Als unwillküriiche Entladungen einer Gemütserr^^ung
haben sie sowohl den Erfolg diese zu steigern als auch sie zu
schwächen. Wenn ich von Wut übermannt meinem G^^er an die
Kehle springe oder einen Brief in tausend Fetzen zerreiße, so soll
damit der Feind bestraft oder die unpersönliche Ursache des Zorns
vernichtet werden — solche Ausdrucksbewegungen gehen uns nichts
an. Aber wenn ich in rasender Wut um mich schlage und alles, was
in der Nähe ist, zertrümmere, wenn ich laut schreie, ohne daß es
jemand hören kann und soll, dann wird der Affekt durch eine solche
Nachgiebigkeit ebenso leicht zur höchsten Stärke aufgepeitscht wie
er abgeschwächt und vernichtet werden mag. Beides verstehen
wir psychognostisch aus der eigenen Erfahrung und psychologisch
durch Analyse. Immerhin besitzen diese äußeren Zeichen noch keinen
ästhetischen Wert Sie erhalten ihn erst, indem der Ausdruck um
seiner selbst willen gesucht und dargeboten wird. Das Äußere darf
nicht Nebenerscheinung bleiben, sondern muß die Hauptsache werden.
So fordert es die sinnliche Natur der Ästhetischen. Es muß vom
inneren Vorgang abzulösen sein, wie das Wort vom Gedanken; es
muß zum Bewußtsein kommen, daß die beiden Seiten des Geschehens
zwei verschiedenen Kreisen oder Ordnungsreihen angehören. Ein
wütender Mensch ist durch und durch Einheit und als solche ver-
ächtlich, furchtbar, komisch — je nachdem. Der ästhetische Genuß
aber haftet an der Trennbarkeit dessen, was wir erblicken, und dessen,
was wir dahinter wissen. Verwechseln wir beides, so b^ehen wir
eine naturalistische Mißdeutung des ästhetischen Ausdrucks: aus dem
Symbol wird rohe Wirklichkeit (oder auch magische Vertauschung).
Jetzt prüfen wir genauer, wie wir uns beim lebendigen Auffassen
DIE INHALTSGEFÜHLE. 189
der Ausdrucksbewegungen verhalten, freilich ohne die von anderen
Ästhetikern^') entdeckten Unterarten im einzelnen zu scheiden. Kein
Zweifel kann darüber herrschen, daß wir meist den Affektausdruck
wie eine Frage empfinden und mit echter GefQhlsreaktion beantworten,
beispielsweise die äußerlich hervortretende Trauer eines anderen mit
Mitleid. Solche Anteilnahme braucht aber nicht etwas in der Seelen-
verfassung des anderen Vorhandenes zu wiederholen, d. h. jenes Mit-
leid braucht der andere nicht mit sich selber zu fflhien. Insofern wir
ihn bedauern — ein OefflhI, das er sowohl haben wie nicht haben
kann — , bleiben wir Zuschauer oder werden Helfer. Außerdem, ja
vermutlich vorher machen wir seine in Bewegungen ausgedrückte
Trauer zur unsrigen. Der eigentliche Vorgang hierbei wird folgender-
maßen beschrieben: »Ich sehe die Gebärde und erlebe in der Wahr-
nehmung derselben eine Tendenz oder einen Antrieb zu einer be-
stimmten Art des inneren Verhaltens oder der psychischen Einstellung,
nämlich derjenigen, die jedermann mit dem Namen Trauer bezeichnet.^
Das bekannte, triviale, doch lehrreiche Beispiel des ansteckenden
Gähnens in der gleichen Beleuchtung: ^Der körperliche Vorgang des
Gähnens vollzieht sich bei mir, weil die innere Zuständlichkeit, Ver-
fassung, Einstellung, Verhaltungs weise in mir da ist, aus welcher
dieser körperiiche Vorgang, die äußeriich sichtbare Gähnbewegung
naturgemäß hervorgeht. Dieser innere Zustand wird in mir durch die
optische Wahrnehmung des Gähnens eines anderen ins Dasein ge-
rufen. Ich stelle diesen inneren Zustand nicht vor, sondern ich erlebe
ihn * 0.« Das trifft schwerlich zu. Genaueste Selbstbeobachtung findet
kein Eriebnis von Langweile oder Ermüdung, wenn das Gähnen eines
gegenüber Sitzenden nachgeahmt wird. Man gähnt reflexmäßig mit
und sagt sich bestenfalls nachher: es ist doch verzweifelt langweilig.
Reflex und Worte sind nachzuweisen, aber eriebte innere Zustände
nkrht. Ist dieser Sachverhalt dem Leser durch eigene Nachprüfung
deutlich geworden, so wird er auch dem ersten Beispiel Zweifel ent-
gegenbringen. Ich sehe Mienen und Bewegungen tiefsten Kummers.
Bei eigener Benommenheit, ebenso bei absichtlich festgehaltener eigener
Objektivität sind jene Ausdrucksformen nur Formen, gleichwie das vor
mir Stehende, träumerisch oder lediglich auf den Sichtbarkeitswert hin
betrachtet, etwas Helles, teils Gelbes, teils Grünes ist - ich meine die
Schreibtischlampe. Bei lebhafter und natüriicher Auffassung indessen
deuten sich Nachbildungen der Gesten an, in leisesten, oft noch nicht
körperlichen Strebungen, es treten reflexmäßig hinzu innerleibliche
Vorgänge, und eine Schar von Vorstellungen wirbelt durchs Bewußt*^
sein. Ob es eine glückliche Wendung ist, daß dies Miterleben, das
weder die ganze Persönlichkeit noch ihren gegenwärtigen Zustand wahr-
190 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK,
haft packt, ein Einfühlen genannt wird? Die sympathetische Gemein-
samkeit zwischen Menschen ist in ihrer Grundlage durchaus nur
organischer Vorgang — eine Reflexverbindung zwischen tierischen
Wesen der gleichen Gattung: eins erregt sich, schreit, lacht, gähnt,
wenn es ein anderes das gleiche tun sieht, und zwar ohne Dazwischen-
treten der vorauszusetzenden Gefühlszustände. Dieselbe Unmittelbar-
keit findet sich noch im ästhetischen Genuß: deshalb sprachen wir
vom ästhetischen Reflex (s. S. 156 u. 166).
Allerdings vermag das Wissen um den äußeriich sich bekundenden
Gemütszustand zu einem Miterleben im Nebenmenschen zu werden,
wobei das Miterleben im anderen zeitlich später einzutreten pflegt als
der Reflex. Denn alles Wissen hat die natüriiche Neigung, ein volles
Erleben zu werden ^^). Unsere ursprüngliche seelische Anlage geht
dahin, jede Behauptung zu glauben und jedem Befehl zu gehorchen;
sie ist von der Art, daß alles bloß Vorgestellte die Tendenz besitzt,
sich zu einer kräftigen Nachbildung des in ihm gegebenen sinnlichen
und namentlich seelischen Inhalts zu entfalten. Aber dies lebendige
Streben des Bewußtseins setzt sich doch nur in Kindern, Naturmen-
schen und abnormen Zuständen des Kulturmenschen durch. Für ge-
wöhnlich sind so viele und starke Hemmungen vorhanden, daß Vor-
stellung eben Vorstellung bleibt. Die Einfühlung im Sinne ungehemmten
Mitlebens des Affektes, den ich im Schauspieler oder in der Statue
weiß, findet ausschließlich dann statt, wann ich selber in höchst ge-
steigerter, ekstatischer Stimmung bin. Es hangt von der allgemeinen
Auffassung ab, ob diese Stimmung als Ziel oder als Vergröberung des
ästhetischen Verhaltens bewertet wird. Ich sehe darin einen Abfall, da
die Rückkehr zu primitiven Seelenverfassungen und das schrankenlose
Aufgehen in einen anderen die eigene Persönlichkeit empfindlich ver-
letzt. Auch die ästhetische Einfühlung muß die feine Grenzlinie inne-
halten, die zwischen fördernder Hingabe und Verlust der Persönlich-
keit läuft. —
Während wir beim Einfühlen in das Innenleben eines Gegenstandes
oder Menschen hineingezogen werden, spielen die vom ästhetischen
Objekt hervorgerufenen Assoziationen gleichsam neben dem Objekt
Der Dualismus, der uns überall b^egnete, wird hier offenkundig:
jedermann spürt, daß wir bei assoziativen Zusätzen aus dem Eigenen
ergänzen. Deshalb ist seit dem 18. Jahrhundert von »relativere oder
»anhängender« Schönheit so oft die Rede. Fechner unterscheidet,
woran erinnert sei, einen direkten und einen assoziativen Faktor. Der
direkte Faktor umfaßt außer den wohlgefälligen Formverhältnissen
sowohl die sinnlich angenehmen Eindrücke als auch die inhaltlich be-
gründeten Lustgefühle, sofern sie nicht mehr als ein instinktives Ver-
DIE inhaltsgefChle. \g\
ständnis zu ihrem Auftreten voraussetzen. Der assoziative Faktor
gründet sich auf Beobachtung und Erfahrung. Alle Empfindungen,
Gedanken, GefOhle, die von einem Stoffbestandteil oder vom inhalt-
lichen Ganzen eines schönen Objektes aufgerufen werden, erneuern
in uns GefOhle, die den ästhetischen Eindruck mit bedingen. Gegen
diese psychologische Unterscheidung hat man mit Recht eingewendet,
daß die beiden Faktoren allzu eng miteinander zusammenhangen, um
ihre theoretische Trennung fruchtbar erscheinen zu lassen. Der Ein-
druck der Musik z. B. soll nach Fechner ganz wesentlich dem direkten
Faktor zu danken sein. Ohne jede Assoziation stimme uns die traurige
Musik traurig, die lustige heiter. Aber da zu manchen Zeiten und bei
manchen Völkern eine uns traurig scheinende Melodie als Kampf- oder
Tanzlied galt, so handelt es sich wohl auch hier um Assoziationen,
die durch Gewohnheit und Vererbung besonders fest geworden sind.
Jedenfalls dürfte es hier wie überhaupt sehr schwer sein, den Anteil
des assoziativen von dem des direkten Faktors sicher zu trennen.
Abgesehen von diesem methodologischen Bedenken sind aber auch
zwei andere Vorwürfe erhoben worden. Unter den von Fechner ge-
machten Voraussetzungen müßten alle an reproduzierten Vorstellungen
haftenden Gefühle, insbesondere die Lustgefühle, ästhetischer Natur
sein. Der assoziative Anschluß bedeutsamer Vorstellungen kann jedoch
lehrreich oder sogar lustvoll sein, ohne auch nur im geringsten ästhe-
tischen Charakter anzunehmen. Beim Anblick eines lange nicht ge-
sehenen wichtigen Briefes steigen tausend Erinnerungen auf, aber sie
vermögen nicht den Brief in ein malerisches oder plastisches Kunst-
werk umzuwandeln. Alsdann müßten Vorgänge wie der eben er-
wähnte mit ähnlichen Vorgängen beim ästhetischen Genuß nähere
Verwandtschaft haben, als die verschiedenartigen ästhetischen Erre-
gungen sie untereinander besitzen. Diese unvermeidliche Konsequenz
entspricht nicht dem Sachverhalt. Denn tatsächlich sind die ästheti-
schen Eindrücke einander ähnlicher als die bedeutsamen Erinnerungs-
vorstellungen im allgemeinen und der assoziative Faktor innerhalb des
ästhetischen Eindrucks.
Die anderen Probleme, die gewöhnlich in der Assoziationenästhetik
behandelt werden, sind rein psychologischer Art und können deshalb
zur Seite bleiben. Für unsere Zwecke ist die Hauptsache, daß der
Unterschied zwischen der festen Einfühlung und der freien Assoziation
zum Bewußtsein gelangt. Zweifelhaft wird er nur, wenn die soge-
nannten unvermeidlichen Assoziationen in Betracht gezogen werden.
Die grüne Farbe, so scheint es, weckt unvermeidlich die Assoziation
an Frühling und beginnendes Leben. Dennoch ist es nicht der Fall.
Es braucht gar keine Vorstellung aus diesem Gebiet reproduziert zu
192 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
werden. Wird aber etwas Derartiges hinzugedacht, so kann es auch
das entgegenstehende assoziative Gefühl sein: nach Oskar Wilde ist
Grün ein Zeichen des Verfalls für jene, die es lieben. Rot gilt als die
Farbe des Bluts und der glühenden Daseinsfreude; wer an die roten
Blätter des Herbstwaldes denkt, muß anders empfinden. Beim Be-
trachten eines Bildes, das eine in tiefer Nacht liegende Landschaft
darstellt, mögen die von schwerem Gefühl durchzogenen Vorstellungen
an Tod und Schrecken auftauchen oder die behaglichen Vorstellungen
friedlicher Ruhe. Kurzum, es dürfte schwer halten, irgendwelche ein-
deutige und notwendige Assoziationen innerhalb des ästhetischen Ein-
drucks nachzuweisen. Wenigstens kennen wir kein Prinzip, nach dem
aus den möglichen Assoziationen die für ästhetische Zwecke unent-
behrliche Assoziation ausgelesen werden könnte. Um die entscheidende
Szene eines Bühnenstücks beim Anhören vollauf zu würdigen, muß
freilich das Bühnenbild durch Assoziationen aus dem Vorveriauf des
Dramas ergänzt werden. Nur läßt sich nicht sagen, welche von den
vielen zweckdienlichen Vorstellungen zu reproduzieren seien. Am auf-
fälligsten ist es bei der Musik. Wäre die Musik Ausdruck in dem
Sinne, wie die Mimik Ausdruck ist, so würde sie den Schrei des
Menschen und den Naturiaut des tierischen Geschöpfes nachahmen.
Ihre Ausdruckskraft ist also eine andere. Nicht wenig trägt dazu
bei, daß Musik unsere Einbildungskraft beflügelt und jenen wunder-
lich-wundervollen Zustand hervorruft, in dem die buntesten Assozia-
tionen durchs Bewußtsein flattern.
Wir folgern aus allem dem, daß für den ästhetischen Genuß
Assoziationen sehr viel bedeuten. Gerade die persönlichsten Asso-
ziationen, als deren einzige Besitzer wir uns fühlen, gerade sie erhöhen
den Reiz des Eindrucks. Es verhält sich damit, wie mit der Wirkung
der Serenaden in Venedig: nicht die triviale Musik ergreift uns, son-
dern der Zauber der Umgebung. So wirkt bei den individuellen Auf-
fassungen (und was sonst aus dem Vorrat eigener Erfahrungen und
Kunsteindrücke lebendig wird) nicht der ästhetische Gegenstand, son-
4 dem die freie Assoziationentätigkeit des Ich. Die Assoziationen sind
demnach wesentlich für Eindruck und Genuß, nicht für G^[enstand
und sachliches Urteil. Weil wir bei einiger Ausbildung des Ge-
schmacks zu trennen vermögen, was im Objekt liegt, und was unser
persönlicher Faktor leistet, deshalb haben wir neben dem Bericht des
subjektiv Empfundenen auch ein Urteil über das objektiv Vorhandene.
Der ästhetische Eindruck ist in seinem allgemeinen Gefühlscharakter
wohl einheitlich, und zwar einheitlich in sich und in der innigen Ver-
bindung mit dem G^enstand, aber er behält in den Hauptteilen eine
Doppelheit, und zwar die Trennbarkeit von Objekt und Subjekt, die
ANMERKUNGEN. 193
in der Unta^cheidung des von der Kritik dem Gegenstand zuzurech-
nenden Wertes und der eigenen Reaktion gipfelt Einer ähnlichen
Zwiespältigkeit werden wir beim künstlerischen Schaffen b^[^[nen.
Anmerkungen«
>) In den »Beitrigen zur Ästhetik« (Archiv för tyttenutitche Philosophie 1809
bU 1902).
*) Karl von Rumohr, Ittlienische Forschungen 1S27, I, 138 ff.
') In den t>ereits genannten Schriften von Theodor Upps. Die Darstellung im
Text ist allerdings keine genaue Wiedergabe» sondern freie Umschreibung, gelegent*
lieh wohl selbst im Widerspruch mit den Anschauungen, die dieser bewegliche und
schnell fortschreitende Geist geäußert hat. Sie verdankt femer gar vieles den
neueren Untersuchungen Wilhelm Diltheys (zu finden in den Sitzungsberichten der
Beniner Akademie der Wissenschaften).
*) Richtig gesehen von A. Döring, Zeitschr. für Psychol. Bd. I.
*) Die beste Darstellung und Kritik in der Abhandlung von Kari Stumpf, Ober
den Begriff der Gemütsbewegung, Zeitschr. für Psychol. Bd. XXI.
*) Vemon Lee und Anstruther Thomas, Beaufy and UgUness, in Coniemporary
Rßfiew 1897, Bd. 72.
') So sagt Volkelt (Zeitschr. für Psychol. Bd. 32) mit Recht gegen Groos, dem
das Verdienst zukommt, diese Verhiltnisse sorgsam untersucht zu haben.
*) Untersuchungen darüber sind im Psychologischen Institut der Harvard-Uni-
vereltit angestellt worden. Die Ergebnisse entnimmt man am bequemsten aus den
folgenden zwei Büchern: Hugo Münsterberg, PrindpUs of Ärt-idacation, Boston
1905 und Ethel D. Puffer, Psyehology of Beaufy, Boston 1905.
*) Theodor Upps, Raumlsthetik und geometrisch-optische Täuschungen, 1897,
sowie Ästhetik, Bd. I (Gnindlegung der Ästhetik), 1903.
>*) H. Riemann, Die Elemente der musikalischen Ästhetik, 1900, S. 76.
**) Eine Zeitlang ist es Mode gewesen, alles Künstlerische allegorisch zu deuten,
hinter jedem, was sich unmittelbar dart>ot, einen verborgenen Inhalt zu suchen,
und zwar einen solchen, der nur durch Nachdenken oder besondere, höchst künst-
Kcfae Methoden herausgefunden werden kann. In Dantes Briefen findet sich eine
charakteristische Ausführung; es handelt sich um die »Göttliche Komödie«. 7. »Ad
mdentiam Uaque dicendorum, sciendam est quod istius (der Göttlichen Komödie)
wm est Simplex senssis, immo did potest polysemum, hoc est plurium sensaum; nam
alias sensus est qui habetur per Uteram, aiius est qui habetur per significata per
liUram, Et primus dicitur literaiis, seatndus wero aUegpricus, sire mystieus. Qui
modus tradandi, ut melius pateat, potest considerari in his versibus: »In exitu Israel
de Ae$ypto, domus Jacob de populo barbaro, facta est Judaea saneUficatio eins,
israei potestas eins*. Nam si literam solam inspiciamus, signißeatur nobis exitus
ßUorum Israel de Aegypto, tempore Moysis; si allegoriam, nobis signifleatur nostra
redemptio facta per Christum; si moraiem sensum, significaiur nobis conrersio animae
de luctu et miseria peccati ad statum gratiae; si anagogicum, significatur exitus
animae sanctae ab huius corruptionis Servitute ad aetemae gloriae libertatem,^
{Epistola Domino Kani Qrandi de Scala, in der Ausgabe Tutte le opere di Dante
Aleghieri, Oxford 1897, Nr. X der Episteln und S. 414 ff.) Dann folgt noch die
Bemerkung, daß man alle diese Sinnbedeutungen allegorisch nennen könne von
aüegorein »anders sagen«. (*Et quamquam isti sensus mystid rarUs appellentur
nominibus, generaiiter omnes did possunt aUegprid, quum sint a liierali sive kisto^
Dettoir, Attiictik md allf. KuntwittCBSchaft. 13
194 IV. DER ÄSTHETISCHE EINDRUCK.
riali diversL Nam allegoria dieitur ab aUeon graece^ quod in latintun dicUur alie-
num sive diversum^ a. a. O.) Vgl. S. 58, Anm. 2.
^') Henry van de Velde, Kunstgewerbliche Laienpredigten, 1904. Die im Text
wiedergegebene Meinung schießt über das Ziel hinaus. Selbstverständlich ist es
lunkünstlerisch , in dekorative Unienzusammenhänge unsere üblichen Schriftzeichen
einzufügen, denn diese sind nicht lebendig; die Verknüpfung aber mit der Lebendig-
keit der Tier- und Fflanzenfiguren ist umsoweniger verwerflich als wir die köst-
lichsten Muster solcher Art bereits besitzen und gegen die Verbindung des Kon-
kreten mit dem Abstrakten keinen berechtigten Einwand haben.
1*) Volkelt, System der Ästhetik I, 282: >Das ästhetische Einfühlen kann ...
nicht auf dieselbe Orundformel gebracht werden. Das Ziel ist überall das £^eiche:
Verschmelzung der sinnlichen Anschauung mit Stimmung, Strebung, Affekt, Leiden-
schaft Die Wege dahin aber sind verschiedenartig. Das menschliche Seelenleben
bietet für das Zustandekommen dieser Verschmelzung mehrere wesentlich verschie-
dene Möglichkeiten dar. Diese verschiedenen Wege habe ich als leiblich vermittelte,
als assoziative und als unmittelbare Einfühlung bezeichnet Auch in der Ästhetik
von Lipps (I, 150 ff.) finde ich, wenn auch unter anderen Ausdrücken, diese Drei-
teilung.«
»*) Th. Lipps im Archiv für Psychol. 1905, IV, 467 u. 482/3.
") Das im Text kurz angedeutete »Grundgesetz« des Seelenlebens hat zuletzt
Th. Lipps in seinem »Leitfaden der Psychologie« und anderwärts erörtert Der
erste, der diese Vermutung durchführte, war wohl H. Taine; bei ihm erscheint es
geradezu als die natürliche Verfassung der Seele, daß jedes Wort und jede Erinne-
rung zu einer Halluzination wird. Alsdann habe ich selber im Jahre 1889 eine
ähnliche Ansicht ausgesprochen. Sie war mir entstanden als ich beobachtete, mit
welcher Regelmäßigkeit gegenüber Taschenspieler- und Spiritistenkunststückdien
das bloß Behauptete in Erlebtes sich umwandelt Solche Erfahrungen sdiärften
den Blick für bekanntere Tatsachen des Seelenlebens und begründeten schließlich
eine Theorie der seelischen Struktur, die sich an der Hypnose erprobte. Ich gebe
sie wieder, wie sie damals zusammengefaßt wurde: »Der Normalmensch ist aktuell
ein Einfaches, potentiell ein Mehrfaches, da er in sich die Möglichkeit einer ver-
schiedenen Gruppierung von Persönlichkeitselementen birgt. Diese Elemente lassen
sich in zwei große Klassen scheiden. Den triebkräftigen Mutterboden unseres
Innenlebens bildet eine Seelenregion, die uns dem Naturmenschen und dem Kinde
mit ihrer Beeinflußbarkeit und instinktmäßigen Gefühlsart nähert; über ihr erhebt
sich der erworbene Zusammenhang der Hemmungszentren als regulierender Apparat,
dessen Wirksamkeit in allen jenen Zuständen versagt, die von der Norm des wachen
Lebens abweichen.« »Hebt man die positive Seite hervor, so bemerkt man bei
den Somnambulen Unversehrtheit der meisten seelischen Fähigkeiten, kindliche
Gläubigkeit und die Neigung, alles ins Sinnliche zu wandeln; rückt
man die negative Seite in den Vordergrund, so erscheint die aktive Aufmerksamkeit
verändert und die willkürliche Erzeugung von Hemmungsvorstellungen erschwert«
(Das Doppel-Ich, 2. Aufl., 1896, S. 34 u. 33.)
V. Die ästhetischen Kategorien.
1. Das Schöne.
Die qualitativen Unterschiede zusammengesetzter ästhetischer Oe-
fühle sind sachlich und sprachlich in gewissen Kationen festgelegt.
Es kann das ganze von uns betrachtete Oewebe sozusagen mehrere
Färbungen erhalten: wir nennen sie die ästhetischen Stimmungen oder
— mit minder psychologischem Namen ~ die Kategorien; sie ließen
sich auch als Kardinalschönheiten bezeichnen. Darunter verstehen
wir die möglichen Formen der ästhetischen Apperzeption im allge-
meinen oder die umfassendsten Prädikate, die von einem ästhetischen
Gegenstand ausgesagt werden. Sie bieten sich dar als kennzeichnende
seelische Verhaltungsweisen, zu deren Auftreten der Gegenstand nur
die Bedingung oder Anweisung liefert Doch sind sie keinesfalls un-
abhängig von aller Erfahrung, sondern aus ihr und aus der Stetigkeit
künstlerischer Technik hervorgegangen, durch die gewisse Auffassungs-
arten von besonderer Energie bevorzugt werden.
Für Einteilung und Anordnung der Kategorien kann man (mit Dil-
theys Poetik) ausgehen vom Schönen als von dem Zustand, in dem
das Objekt in völliger Angemessenheit an die innere Tätigkeit die
Seele ganz befriedigt, und nun nach der einen Seite Gefühlsaggregate
anschließen, >die durch die fiberragende Größe des Gegenstandes ihr
Gepräge erhalten, während in den Seelenzuständen der anderen Seite
das Subjekt sich fiber dem Gegenstande fühlt«. Die beiden Hälften
der Linie, deren Mitte das Idealschöne bildet, weisen einen Beisatz
von Unlust auf. Die ältere Ästhetik hat gewöhnlich das Schöne und
Erhabene an die Spitze gestellt und das Komische aus dem Erhabenen
durch Umschlagen abgeleitet; nebenbei bemerkt eine Anwendung dia-
lektischer Technik, die nach dem Muster des Umschlagens des reinen
Seins in das Nichts auch noch in modernen Theorien den Satz aus-
nutzt, daß vom Erhabenen zum Lächeriichen nur ein Schritt sei. Ebenso
gut mag man das Erhabene und Komische ffir die Grundkategorien
erklären und das Schöne als den Übergang von der einen zur anderen
Kategorie ansehen. Am zweckmäßigsten dürfte es sein, die Kardinal-
196 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Schönheiten so anzuordnen, daß von jeder einzelnen der Übergang zu
den beiden benachbarten begrifflich leicht von statten geht und die
inhaltlich entgegengesetzten sich gegenüberstehen. Diesen Anforde-
rungen entspricht vielleicht das folgende Schema.
Schön
Erhaben / \ Niedlidi
Tragisch \ J Komisch
Häßlich
Das Schöne soll zunächst mit Rucksicht auf seine Leistung für
den Genießenden bestimmt werden. Obgleich die Freude am Ideal-
schönen durchaus an die Beschaffenheit des Gegenstandes gebunden
ist, wüßten wir doch von keiner objektiven Beschaffenheit, daß sie
den eigentümlichen Eindruck reiner Schönheit hervorrufe, bevor nicht
einmal der Eindruck stattgefunden hat. Ich sage, es sei ein eigentüm-
licher Eindruck. Die Besonderheit besteht darin, daß das auffassende
Ich ohne Störung und Unlust genießt. Wenn man die b^eisterte
Schilderung, die Aristoteles der reinen Betrachtung widmet^), auf das
Gefühlsleben anwendete, so würde sich ein leidlich zutreffendes Bild
dieses inneren Verhaltens ergeben. Denn der von Aristoteles hervor-
gehobene Gegensatz zu allen praktischen Tätigkeiten, das Freisein von
allen schmerzenden Lasten und Wünschen, die Loslösung aus den
Fesseln einer widerspruchsvollen Wirklichkeit — das sind Merkzeichen
des Schönheitsgenusses. Das Schöne erweitert sich fast unwidersteh-
lich zum Begriff des Ästhetischen, weil es von allen Kat^orien am
wenigsten mit dem realen Sinn der Dinge zu schaffen hat; ebenso
kräftig strebt es zur Einheit mit der Kunst hin, weil es im höchsten
Maße die anschauliche Notwendigkeit besitzt, in der die Kunst als
Form sich auslebt. Dies Gefühl atmet freudige Selbstgewißheit, innere
Geschlossenheit, frei schwebende, wunschlose Übereinstimmung mit
sich selbst. Vortrefflich schildert ein älterer Ästhetiker*) das ruhig
Faßliche und belebend Anziehende des Schönen: »Was auf uns mit
Vollbefriedigung wirken, uns unbedingtes Wohlgefallen einflößen soll,
das muß unsere Vermögen und Kräfte erstens nicht stören und zwei-
tens sie lebendig in Tätigkeit setzen.€ Das Gleiche meint Börne,
wenn er in der Denkrede auf Jean Paul von der Dichtkunst rühmt,
was in Wahrheit nur vom Idealschönen gilt, sie biete »eine goldene
Zeit, die nicht rostet, einen Frühling, der nicht abblüht, wolkenloses
Glück und ewige Jugend«.
DAS SCHÖNE. 197
Leider gebrauchen wir das Wort > schönt nicht ausschließlich fflr
diesen ganz bestimmten Oefflhistypus und die ihr entsprechende Be-
schaffenheit des Gegenstandes. Wir nennen ein Porträt schön, ob-
gleich wir das lebendige Urbild nie so bezeichnen würden. Hier
meinen wir augenscheinlich den Kunstwert Allein auch in dem Urteil
über den Kunstwert, das wir gern in das eine Wort »schön« zu-
sammenfassen, lassen sich mehrere Nuancen bemerken. Erstaunlich
oft bezieht sich das lobende Prädikat nur auf einen Teil oder eine
Rkrhtung des Werkes, wird aber unwillkürlich auf das Ganze ausge-
dehnt Dies entspricht einem der freundlichen Züge unseres Wesens,
daß wir — wie man in der Rhetorik sagt — den Teil für das Ganze
nehmen, etwa über der Pracht der Farben die Mängel der Zeichnung,
über dem Schwung der Melodie die Dürftigkeit der Instrumentierung
vergessen, oder daß wir eine glänzend geglückte Episode in Erinne-
rung behalten und dem Ganzen anrechnen. Starke Einzeleindrücke
kommen ihrer Umgebung zu gute, so wie einige eingetroffene Weis-
sagungen allen Fehlsprüchen zum Trotz den Propheten mit Ruhm
krönea Sind zu viel Einzelschönheiten angehäuft, so büßt das Ganze
meist an Wirkung ein, weil es die Ruhe und Einheitlichkeit vertiert.
Zweitens bedeutet »schön«, daß ein Werk unter den Werken
gleicher Art das relativ beste sei. Erfolgt dies beziehende Urteil auf
Grund geschichtlichen Wissens, so trifft es auch solche Werke, die
dem gegenwärtigen Geschmack gleichgültig oder sogar unangenehm
sind Wir erleben täglich Beispiele dafür, daß die Historiker jeder
Kunst oder auch die Sammler von Werken der bildenden Kunst
ärmlichste und gleichgültigste Produkte mit Begeisterung als schön
rühmen. In derselben Richtung wirken technische Kenntnisse, indem
sie die Grenzen einer besonderen Kunst kennen lehren. Gewisse
Klangfärbungen, die von der Geige ausgehen, sind schön, während
sie bei der menschlichen Stimme nicht schön wären. Gewisse Effekte
werden beim Steinschnitt bewundert, bei der Radierung verworfen.
Kurz, »schön« ist in diesem Falle ein zusammengefaßtes Vergleichungs-
urteiL Und endlich kann dem Worte »schön« die Vorstellung einer
Norm zu Grunde liegen, eines absoluten Maßstabes, der überhaupt
noch nicht verwirklicht worden ist Schön würde dann eine starke
Annäherung an das Ideal, im besten Falle seine Erfüllung meinen.
Wir verweisen hierüber auf spätere Auseinandersetzungen (S. 199).
Da also »schön« als unklarer und verschwimmender Ausdruck für
verschiedene Arten ästhetischer Wertschätzung dient, so ist es kein
Wunder, daß dies vielsagende Wort auch für andere Bewertungen ver-
wendet wird. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch übertragen wir es auf
das, was wir schmecken, riechen , tasten, während die Ausdehnung
198 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
auf ethische Eigenschaften unserer Sprache nicht mehr so geläufig ist
wie früher.
Fragen wir nunmehr, ob das Wort »schön« für bestimmte Natur-
gegenstände und ihre Nachbildung vorbehaUen ist und ob ein Inventar
der Schönheit aufgenommen werden kann, so müssen wir — mit ge-
ringen, durch geschichtlichen Wandel bedingten Einschränkungen —
die Frage bejahen. G^rard de Lairesse hat sich offenherzig darüber
ausgesprochen. Auch er enthüllt (wie Helvetius, der Ethiker des
Egoismus, nach der Behauptung der geistreichen Frau von Defferand
getan hat) »fe secret de tout le monde<i. Was ist schön? »Eine Land-
schaft mit geraden Bäumen, hübschen Durchsichten, azurblauer Luft,
zierlichen Fontänen, stattlichen Palästen in wissenschaftlichem Baustil,
mit wohlgebauten Menschen und wohlgefütterten Kühen und Schafen.«
Was ist häßlich? »Mißgestaltete Bäume, die Stämme krumm, alt und
geborsten, unebener Boden, ohne Wege, scharfkantige Hügel und zu
hohe Berge, rohe Gebäude oder verfallene, deren Ruinen über Häuf
li^en, morastige Wässer, eine Luft voll schwerer Wolken, auf dem
Felde mageres Vieh und ungeschickte Landstreicher — das kann un-
möglich für eine schöne Landschaft gelten« % Für den Durchschnitts-
geschmack hat Lairesse zweifellos recht. Denn an die aufgezählten
und an ähnliche Wirklichkeiten schließt sich der R^el nach ein stö-
rungsfreier ästhetischer Genuß an. — Geht man von der bloßen Be-
schreibung zur Zergliederung über, so findet man durchw^ Bestand-
teile, die an sich und in Verknüpfung ohne Widerstreit sind. Eine
leuchtende Farbe, ein gesättigter Klang, eine reizvolle Kurve wecken
konfliktlose Lust. Harmonische Raum- und Tongestalten besitzen in
sich eine als schön zu bezeichnende Selbstverständlichkeit, einen natür-
lichen Fluß, der keine Hemmungen, keine Kämpfe, keine rauhen Unter-
brechungen, keine Unsicherheit kennt Eingefühlt werden nur lustvolle
Inhalte, assoziiert nur angenehme Vorstellungen; gerade wegen dieses
Mangels an j^licher Störung bleibt der Wert bloßer Schönheit durch-
aus ein Oberflächenwert Dazu kommt — doch nicht als tadelnswerte
Eigenschaft — , daß er im schönen G^enstand beschlossen ist, wäh-
rend die Werte der Wahrheit und des Guten über sich selbst hinaus
in einen Zusammenhang (von Erkenntnis und von sittlichem Handein)
weisen.
Immerhin zeigt sich zwischen dem Schönen und dem Wahren dne
Ähnlichkeit methodologischer Art. Beide B^ffe nämlich lassen sich
einer mehrfachen Betrachtungsweise unterordnen. Wahr, so hat man
gemeint, ist jeder Gedanke, der mit dem wirklichen Ding, oder jede
Gedankenverkettung, die mit dem wirklichen Zusammenhang überein-
stimmt Diese realistische Theorie, unhaltbar schon für eine kritische
DAS SCHÖNE. 199
Auffassung der Erkenntnis, versagt t>eim Schönen völlig. Wir dürfen
allerdings das Schöne als etwas Objektives t>ehandeln, weil wir sicher
sind» M erneuter Wahrnehmung des Gegenstandes den gleichen Oe-
mQtszustand zu erleben. Aber die sachliche Zugehörigkeit bidbt
grundverschieden von der Annahme, daß die Stimmung den Gegen-
stand genauestens wiederhole. Auch zwischen Naturvorbild und künst-
lerischer Nachahmung besteht inhaltliche Verwandtschaft, jedoch kein
Verhältnis der Abspiegelung. Und sollte es selbst vorhanden sein,
so sind wir Genießenden ja weder befähigt noch geneigt, Bild oder
poetische Beschreibung Zug um Zug mit dem Original zu vergleichen.
Wer bekommt das Modell je zu Gesicht? Oder wer außer den Fach-
gelehrten kümmert sich um die literarischen Modelle? Die Berufung
auf typische Vorstellungen nützt gleichfalls nichts, da sie der An-
schaulichkeit und einer im einzelnen klaren Bestimmbarkeit entt>ehren.
So selbstverständlich es klingt, daß nur aus der Vergleichung zweier
aktuellen Vorstellungen ein Urteil über das Verhältnis beider sich er-
geben könne, so sicher ist, daß die Wahrnehmung eine deutlich ge-
sonderte, scharfe Erinnerungs- und Phantasievorstellung nicht auf-
kommen läßt Umsoweniger die des Typus.
Mit dem Hilfsbegriff des Typus ist eine zweite Auffassung der
Schönheit verbunden, nämlich die idealistische. Gleichwie Wahrheit
im begrifflichen Erfassen der Weltideen sich entschleiert, so wird im
Anschauen Schönheit als Sinn einer Erscheinung offenbar. Alles
Schöne muß daher typisch sein, denn typisch nennen wir einen
Gegenstand, in dem die Gattung und der Gattungszweck deutlich
hervortreten. Wir haben, so sagt man, von jedem Objekt eine Gattungs-
vorstellung; die vollkommene Ol>ereinstimmung des angeschauten
Objekts mit dieser Vorstellung erziele die ästhetische Befriedigung.
Es wäre daher das Typische ein Gattungsmäßig-Charakteristisches. -
Diese Auffassung begegnet einigen Schwierigkeiten. Die Natur enthält
Erscheinungen, die trotz der vollendetsten Ausprägung ihrer Gattungs-
merkmale häßlich bleit>en, ja sogar dem ästhetischen Genießen, das
auch l>eim Häßlichen möglich ist, Widerstand leisten. Femer bedeutet
die Theorie nahezu eine Aufhebung der Individualität: je weniger
Persönlichkeit und je mehr Artcharakter, desto größer der Wert Ist
nun wirklich das Durchschnittliche jenes Gesteigerte, das wir Schön-
heit nennen? Sind Michel Angelos potenzierte Menschen arithmetische
Mittelwerte? Können der konstruierte Begriff von Art und Gattung
und die verbrauchte Vorstellung des Mittleren starke ästhetische Ein-
drücke hervorrufen? Solche Bedenken ruhen auf einem Mißverständ-
nis. Unter Typen begreift die Ästhetik keineswegs leere Gattungs-
formen. Vielmehr sind sie das Ergebnis ausgedehntester Erfahrung
200 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
und bis an den Rand gefüllt Schönheit wurde im 18. Jahrhundert
gel^entlich als ein äußerer Vorgang bestimmt, der größte Ideenzahl
in kleinster Zeit gewähre; Typus ist in der Tat dne jede Gestalt, die
außerordentlich viele Vorstellungen derselben Art voraussetzt und be-
wirkt Freilich müssen die zusammen schwingenden Einzelheiten alle
zu einer bestimmten Gruppe von Merkmalen gehören. Es sind ent-
weder sichtbare oder hörbare oder Merkmale sprachlicher Natur, die
sich zu einem Vorstellungskomplex verfestigen. Aber gerade durch
diese Besonderheiten bleibt der ästhetische Typus vom logischen Be-
griff unterschieden. Wenn wir urteilen: dieser Zug an einer Statue
widerspreche dem Typus etwa eines Ringkämpfers, so vergleichen wir
nicht mit dem Gattungsb^ff des Ringkämpfers was wir sehen,
sondern wir nehmen Anstoß am Widerspruch dieses Zuges zu allen
übrigen Einzelheiten der Figur. Verletzt wird der typische Zusammen-
hang sichtbarer Formen oder das Einheitsstrdjen der Gesichtsvor-
stellungen.
Das Normgemäße ist aufs engste verknüpft mit dem Zweckgemäßen.
Die eben erwähnten Einzelheiten sind jedesmal zur Erreichung des
Eindruckszweckes ausgewählt Vergleichen wir wiederum mit dem
Logischen. Verkehrssprache und Wissenschaft vermöchten Tausende
von logisch unanfechtbaren Gattungsbegriffen zu schaffen, wenn sie
nur nicht den Nachteil hätten — sinn- und zwecklos zu sein. Aus
dem Spiel der Möglichkeiten das Wesentiiche herausgreifen heißt
das Zweckvolle hervorheben. Dieser Satz gilt auch vom ästhetischen
Typus. Wenn in der Philosophie des Schönen vor und besonders
seit Kant der Zweckbegriff gelegentiich eine erste Rolle zugewiesen
erhielt, so verstehen wir das unter dem eben aufgestellten Gesichts-
punkt Die Verkoppelung der beiden B^jiffe Schönheit und Zweck-
mäßigkeit hat einen wissenschaftlichen Nutzen, der über den Wert
einer Bequemlichkeitsauskunft hinausgeht Denn aus anderen Gedanken-
kreisen heraus wissen wir, daß die Zweckbetrachtung erlaubt, das Soll
mit dem Sein, das Ideal mit der Wirklichkeit zu verknüpfen und diese
zwei Welten, die ohne einander bedeutungslos wären, entweder in
dauerndem Zusammenhang zu zeigen oder die eine als Entwickelung
zu den in der anderen enthaltenen Zielen zu erklären. Eigentlich ästhe-
tisch aber wird der Zweck, sobald er — ohne selbst sich vorzu-
drängen — ; den Teilen des von ihm beherrschten Ganzen einen
organischen Zusammenhang verleiht Wie der Mensch liebt, obgleich
er keinen Rechtsgrund an der geliebten Person nachzuweisen vermag,
so bewundert er die Einstimmigkeit des Schönen, obgleich ihm die
Ursache entgeht, nämlich die Unterordnung unter einen Zweck. Das
ist Kants »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«.
DAS SaiÖNE 201
Treten wir nun aus dem Reich der Philosophie in den Kreis des
täglichen Lebens, so stoßen wir auf eine Beziehung des Schönen zum
Nützlichen. Wir werden sie in der allgemeinen Kunstwissenschaft
niher kennen lernen. Vorläufig nur die Bemerkung, daß in vielen
Fällen das Schöne aus dem Nützlichen hervorgegangen ist Man hat
aber auch umgekehrt argumentiert *). Da die Entwickelung des Seelen-
lebens in einer ständigen Ausbildung von Bedürfnissen besteht -- was
freilich dem ärmlichen Sittenideal des Bedürfnislosen widerspricht — ,
so kann als eine Seite dieser Entwickelung die Umbildung von ästhe-
tischen Trieben in praktische Triebe vorkommen. Wünschen wir etwas
Neues zum ersten Male, so erscheint es uns als schön, als ein Ideal;
nach wiederholtem Auftreten des Impulses und nach seiner mehr-
fachen Erfüllung tritt das Objekt in die Gruppe der notwendigen
Lebensbedingungen. In dem Maße, wie ein Ding den Charakter des
unerreichten Ziels hat, besitzt es auch Schönheitswert; sobald es aber
das Merkmal der Interesselosigkeit einbüßt, weil es in das System
der praktischen Bedürfnisse übergeht, verliert es auch das Spielartige,
Freie, Feiertägliche, Subjektive, Illusionshafte, also die übrigen Merk-
male, die dem Ästhetischen nach allgemeiner Meinung zukommen.
Gleichgültig, ob es in der Mehrzahl der Fälle sich so verhält, oder ob
umgekehrt das Schöne aus dem Nützlichen geworden ist, jedenfalls
liegt in dem fertigen Erzeugnis der Zweckgedanke, sei es als die Ver-
gangenheit des Gegenwärtigen oder als seine Zukunft oder als beides
zugleich. Das gilt ersichtlich von allen künstlerisch gestalteten Ge-
brauchsgegenständen. Der Künstler muß bei ihrer Erzeugung sich
nach den Forderungen der Norm, d. h. des Zweckes richten. Sofern
man dem Gegenstand auf den ersten Blick und unwillküriich ansieht,
daß er zweckmäßig ist, empfindet man ihn als schön: ein Weinglas
soll sogleich zeigen, daß sich aus ihm trinken läßt. Keine Frage,
daß bei solchen Urteilen die persönlichen Erfahrungen, die Erziehung
und die Umgebung entscheidend eingreifen: In Gegenden, wo die Be-
wohner von kriechendem Gewürm, reißenden Tieren und namentlich
von Erdbeben bedroht sind, werden leicht bew^liche Häuser und
Pfahlbauten als zweckvoll empfunden; bei uns würde das Gefühl der
Sinnlosigkeit keinen Schönheitseindruck aufkommen lassen. Höchst
wahrscheinlich ist femer, daß in den Nutzkünsten praktische Notwen-
digkeiten zu gewissen Formen führen, die jetzt, wo ihre niedere Ge-
burt längst vergessen ist, als schön anmuten. Endlich scheint es
nicht ausgeschlossen, daß die Schönheit der menschlichen Gestalt
mit den Zwecken der Gattungserhaltung etwas zu schaffen habe. Auf
alle Fälle fließt irgend etwas von Zweck und Nutzen zum Schönen
hinüber.
202 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Mit dieser Einsicht erreicht die Selbstbewegung der Gedankenarbeit
jenen Punkt, an dem die letzte von den in Aussicht gestellten drei
Theorien ihren natürlichen Ort hat. Die biologische Erkenntnistheorie
erklärt das Wissen für den feinsten Extrakt aus zweckmäßigen Vor-
stellungsverbindungen und gesteht den Wahrheiten nur den Wert
haltbarer und brauchbarer Einsichten zu; sie nennt wahr, was im Zu-
sammenhang des Denkens geschichtlich sich bewährt Eine ent-
sprechende Auffassung des Schönen, mit der wir in einen neuen Ge-
dankenkreis eintreten, beruft sich gleichfalls auf die zeitliche Dauer-
haftigkeit. Schön ist ein Gesicht, das einer griechischen Bildsäule
entlehnt scheint, sind würdige Gegenstände oder die allegorischen
Darstellungen der niederen Dinge. Schön ist alles, was lange geübten
Regeln sich fügt, sind Farben wie auf alten italienischen Bildern —
beiläufig gesagt: in ihrem gegenwärtigen Zustand — , Lichtverteilungen
wie hell auf dunkel an der einen, dunkel auf hell an der andern Seite —
kurz, schön sind die akademisch befestigten Inhalte und Formen. Die
ständige Verweisung auf das Mustergültige und die unveränderte
Brauchbarkeit kann jedoch durch die gerade entgegengesetzte Betonung
anderer Momente der Lehre bekämpft werden. Es läßt sich mit
stärkerer Beweiskraft der Wechsel daraus ableiten. Wenn die Schön-
heit in der Tat bloß eine Zweckmäßigkeitsbildung der menschlichen
Auffassung ist, so muß sie sich nicht minder schnell umwandeln wie
die wissenschaftliche Wahrheit. Wir würden demgemäß schön nennen,
was dem durchschnittlichen Geschmack einer bestimmten Zeit störungs-
freien ästhetischen Genuß ermöglicht. In dieser Fassung verrät sich
die Theorie als mit einer anderen einhellig, von der beim Problem der
Methode das Nötige gesagt worden ist.
Ohne Frage beeinflußt die geschichtliche Entwicklung Inhalt und
Grenzen der ästhetischen Kategorien. Erst in unserer Zeit und im
Zusammenhang mit der modernen Kunst kommt ein Begriff zu Ehren,
der vielleicht in späteren Tagen als besondere Kategorie wird geführt
werden können. Ich meine die Vornehmheit. Sie ist dem Schönen
nahe verwandt, ja ist im Grunde nur die Unauffälligkeit jener Harmonie,
die im Schönen waltet; anders ausgedrückt: sie ist die Selbständigkeit
des ästhetischen Lebens, abgeschattet als Verhaltenheit oder Un-
bekümmertheit So wurde das Wort stets für Gesinnungs- und Hand-
lungsweise oder für Abstammung und Familienzugehörigkeit gebraucht;
jetzt legen wir es auch Kunstwerken bei. Das Schöne wird dann
vornehm, wenn es unter Bewahrung seines Gepräges auf die ge-
schichtlich mit ihm verwachsenen Inhalte und Formen verzichtet Es
gibt eine oberflächliche Schönheit für alle Welt, und ihr fehlt kein
einziges Merkmal. Aber diese anerkannte, durch der Zeiten und Massen
DAS SCHÖNE. 203
Gunst befestigte Schönheit bietet sich gleichsam aus: mit dem Be-
hagen des Besitzenden ruft sie uns zu, wie tadellos ihre Farben,
Formen, Klänge, Reime sind. Mehr noch lieben wir den Erwerb,
freuen wir uns an der stillen Notwendigkeit, mit der ein Künstler die
Linie ganz anders führt, als es üblich ist, ohne ihr die formale Oe-
fälligkeit zu rauben. Wir nennen solche Kunstweise wohl auch apart;
doch unterscheiden wir sie vom absichtlich Bizarren mit jener instink-
tiven Sicherheit, die feiner arbeitet als die begriffliche Abschätzung.
Hinter der Anspruchslosigkeit verbirgt sich echte Kraft: oft verlangt
Stillschweigen mehr Mut und Entschlossenheit als Dreinschlagen.
Wo Zurückhaltung und Sicherheit vereint sind, da entsteht Vornehm-
heit Alles Laute und Prahlerische ist ihrem Ernst zuwider, sie wirkt
durch Nuancen und sanfte Färbungen, überhaupt durch alle Mittel der
Ruhe und Delikatesse.
Sobald die Vornehmheit sich auf kleine Formate und schwache
Intensitäten beschränkt, nähert sie sich dem Zieriichen. Die japanische
Kunst bietet eriesene Beispiele. Und vom Zieriichen führt dann ein
kurzer Weg zu der in unserem Schema aufgeführten Kategorie der
Niedlichkeit.
In Edmund Burkes Untersuchungen über das Schöne und das
Erhal>ene findet sich ein Kapitel mit der Überschrift: Beautiful ob-
jects smalL Der Gedankengang darin ist folgender. Was uns zuerst
an einem Gegenstand auffällt, ist seine Ausdehnung; welche Ausdeh-
nung bei schönen Objekten die Regel ist, kann man aus den für sie
üblichen Ausdrücken entnehmen. Nun bezeichnen die meisten Sprachen
geliebte Wesen mit Diminutiven, also auch die schönen Objekte.
Denn zwischen Bewunderung und Liebe besteht ein Unterschied.
> The Sublime, which is the cause of the former, always dwells on great
objects, and terrible; the latter on small ones and pleasing; we submit
to what we admire, but we love what submits to us: in one case we
are forced, in the other we are flattered, into compliance.* Dieser Satz
enthüllt uns den einen Grund für die auffällige Kapitelüberschrift. Da
Burke in der Hauptsache nur zwei ästhetische Kategorien, nämlich das
Schöne und das Erhabene, anerkennt, und da das Erhabene zweifellos
an besondere Größe geknüpft ist, so gewinnt er durch den Gegensatz
jene Bestimmung: beautiful objects small. Zweitens hatte er vorher
nachzuweisen versucht, daß der Sinn fürs Schöne in einer Lust be-
stehe, die mit unseren sozialen Trieben, letztlich mit der Geschlechts-
liebe zusammenhangt. Folglich kann die Verwendung der Diminutiva
zum Ausdruck der Zärtlichkeit einfach auf schöne Gegenstände über-
tragen werden.
Um zu erkennen, daß der Sachverhalt zusammengesetzter ist,
204 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
braucht man sich bloß daran zu erinnern, wie oft Diminutiva einem
anderen Gefühle dienen, nämlich dem Spott und der Verachtung,
Kleines Format gefällt einerseits durch seine Anspruchslosigkeit und
weil es dem Betrachter ein Wohlgefühl der Überlegenheit einflößt, es
macht aber anderseits auch den Eindruck, als ob es nicht ernst ge-
nommen zu werden brauchte. Es entstehen also aus der gleichen
quantitativen Beschaffenheit des Objekts zwei recht verschiedene
Nuancen eines subjektiven Überlegenheitsgefühls. Hieraus erklärt sich,
daß an die Kleinheit des Kunstwerkes sowohl das Prädikat des Nied-
lichen wie das des Komischen geknüpft werden kann. Niedlich heißt
etwas ästhetisch Wertvolles, das auf ein geringes Volumen beschränkt
ist; komisch wirkt etwas Kleines, nachdem wir an seiner Stelle Großes
erwarten mußten. Mit dem bloß Schönen haben Zierliches und Nied-
liches dies gemein, daß sie ohne sonderliche Tiefe sind. Kommt noch
eine spielerische, launisch-neckende Neigung hinzu, so entsteht Grazie
in dem Sinn, wie ihn die Bergerettes und Pastourelles der Rokoko-
zeit am köstlichsten offenbaren.
Ehe wir nun den Blick nach der anderen Richtung, nämlich zum
Erhabenen lenken, sei nochmals an den Gegensatz von Kallikratie
und Panästhetizismus erinnert. Wir übersehen ihn jetzt besser als
vordem. Wir wissen jetzt, daß Schönheit lediglich eine von den
ästhetischen Kategorien ist, kennen ihre bezeichnenden Merkmale und
die ihr benachbarten Auffassungsweisen. Umso deutlicher wird nun,
daß Kunst nicht eine Konzentration von alleriei Annehmlichkeiten,
sondern eine umfassende Bearbeitung des Erfahrungsstoffes ist
2. Das Erhabene und das Tragische.
Am Erhabenheitsgefühl fällt zuerst der Einfluß der Objektgröße
auf. Pyramiden und gotische Dome, Gewitterstürme und wilder
Massenaufruhr, Todesverachtung und heroische Leidenschaft erscha-
uen durch ihr extensives oder intensives Quantum als erhaben. Diese
Ergriffenheit angesichts von Kraft und Kampf unterscheidet sich un-
verkennbar vom beglückenden Hinnehmen des Schönen. Es fragt
sich nur, worin ihre ästhetische Besonderheit wurzelt Doch wohl
darin, daß eine gewisse Grenzenlosigkeit und Unerschöpflichkeit uns
die Brust weiten. Äußerlich betrachtet sind Kunstwerke natürlich eng
begrenzt; selbst der Anblick des gestirnten Himmels oder der Gehörs-
eindruck des grollenden Gewitters finden schnell ihr Ende. Aber in
der Gleichförmigkeit und Größe solcher ästhetischer G^enstände li^
etwas, was sie über sich und uns über uns selbst hinaushebt
DAS ERHABENE UND DAS TRAGISCHE. 205
Wesentlich sind und bleiben die quantitativen Momente. Beschränkt
sich das Nachdenken auf sie, so findet es innerhalb des Kunstgebietes
eine Tatsache bestätigt, die seit dem Altertum das philosophische
Denken beschäftigt hat Es ist die Tatsache, daß durch bloße Ver-
mehrung eine neue Qualität entstehen kann, daß ein einziges Weizen-
kom, zu fünf anderen hinzugefügt, diesen die Qualität eines '-Haufens^
verleiht, die sie vordem nicht besaßen. Zwar kommen auch hier
andere Umstände in Betracht (die Dinge müssen nahe und ohne
Ordnung beieinander liegen), aber die Hauptsache bleibt doch die
Anzahl, die in der Tat durch Hinzufügung eines einzigen Kornes zu
einer nicht mehr unmittelbar aufzufassenden werden kann. Der eine
Zentimeter, den ich zu neunundneunzig anderen hinzufüge, ist nicht
mehr wert als der, der zu zwanzig anderen hinzutritt, und dennoch
schafft er den neuen Begriff des Meters. Aus ähnlichen Beispielen
hat Hegel eine »Knotenlinie von Maßverhältnissen c abstrahiert Indem
er von den drei Aggregatzuständen des Wassers spricht, bemerkt er:
>diese verschiedenen Zustände treten nicht allmählich ein, sondern eben
das bloß allmähliche Fortgehen der Temperaturänderung wird durch
diese Punkte mit einem Male unterbrochen und gehemmt, und der
Eintritt eines anderen Zustandes ist ein Sprung.^ (Wiss. der Logik I,
313.) In unseren Gedankengang würde besser passen die Vergleichung
eines Wassertropfens mit dem Meere: jener dasselbe wie dieses und
dennoch unfähig einen Sturm zu zeigen. Oder wir könnten mit Hegel
an das Moralische denken: >Es ist ein Mehr oder Weniger, wodurch
das Maß des Leichtsinns überschritten wird, und etwas ganz anderes,
Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster
übergeht^ (314).
Doch kehren wir zum Thema zurück. Der Begriff des Erhabenen
ist im 18. Jahrhundert immer als gleichwertig neben den Begriff des
Schönen gestellt worden. Aus seiner Geschichte sind vor allem die
Schrift ::spl ^o^>^ und Burkes Untersuchung bekannt. Das namenlose
Buch beschäftigt sich mit dem, was wir pathetische Schreite und
Sprechweise nennen würden, und wendet sich gegen die Schrift-
steller, die vom Stil ängstliche Genauigkeit verlangten. Die allge-
meinen Betrachtungen sind nicht besonders wertvoll. Dagegen ver-
danken wir Burke eine sehr wichtige Einsicht, nämlich die, daß in dem
Erhabenheitsgefühl stets Staunen und Furcht, also Unlust enthalten
ist und daß daraus eine Erhebung hervorgehen kann. Erhabenheit
bedeutet eine solche Übermacht des Objekts, so wollen wir sagen,
daß kleinliche Empfindungen der persönlichen Furcht aus der Seele
entschwinden, und es ist deutlich, daß dies von der Gewalt des Ol>-
jekts bewirkte Vergessen seiner selbst gegenül>er dem kunstgeformten
206 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Erhabenen am leichtesten und sichersten auftreten kann. Denn die
negative Bedingung ist doch das mehr oder weniger unbewußte
Oeffihl der Sicherheit vor einer überlegenen Macht Die Klugheit, mit
der wir uns gegen die kleinen und großen Gefahren des Lebens
wehren, würde hier nichts ausrichten. Die Orundstimmung ist daher
nicht nur die der Überwältigung, sondern auch die des Vertrauens,
und sie muß, wie gesagt, beim Kunstwerk leichter auftreten als beim
Naturschönen.
Ursprünglich mag die Körperkraft eines Menschen der dnzige
Gegenstand der ästhetischen Bewunderung gewesen sein. Allmählich
hat sich dies beschränkte Gefühl zu einem Gefühl für die Erhabenheit
auf allen Gebieten erweitert. Es lohnt nicht, die Formen des subjektiv
und objektiv Erhabenen nach dem Vorbild der Vischerschen Ästhetik
aufzuzählen. Alle Arten körperlicher sowie geistiger Größe, die (im
Leben imponieren, bewirken in der Kunstform eine genußvolle Er-
hebung des Aufnehmenden. Das extensive oder intensive Quantum
bedarf indes einer gewissen absoluten Größe, um als erhaben wirken
zu können. Es genügt nicht, um einen Gegenstand erhaben zu machen,
daß er viel größer sei als seine Umgebung, sondern er muß so groß
sein, daß er an das Unendliche grenzt; und das ist nur von einer
gewissen Quantität ab möglich. Kein Dichter kann dem Leben eines
dreijährigen Kindes Erhabenheit verieihen, obwohl es im Verhältnis
zum Leben einer Fliege eine außerordentliche Zeitgröße besitzt; ein
hundertjähriger Greis jedoch, dessen Alter in die Ewigkeit hinüberzu-
reichen scheint, flößt bei geeigneter künstlerischer Darstellung un-
bedingte Ehrfurcht ein. Freilich gelten diese Größen nur für die
menschliche Auffassung und sind insofern relativ. Indessen der
anthropozentrische Standpunkt bildet ja bei allen unseren Erwägungen
die selbstverständliche Voraussetzung. Er muß sogar im Sinne einer
geschichtlich wechselnden Relativität eingeschränkt werden. In unserer
Zeit, wo verhältnismäßig viele das Meer und die Alpen kennen lernen
und schon frühzeitig an die weitesten Dimensionen sich gewöhnen,
heutzutage gehört ein besonders großes Maß zu den Eigenschaften
des Erhabenen. Frühere Geschlechter konnten wohl aus kleineren
Eindrücken die gleiche innere Erregung gewinnen, wir aber brauchen
Weitblicke. — Fernerhin scheint es, als ob das Erhabene in der Kunst
immer mehr sich von der Formenschönheit lossagt. Formlose Kolosse
zieht unser Gefühl deshalb schon in das Erhabene hinein, weil wir
bei Formen — selbst bei den gewaltigsten — zu deutlich die Kon-
struktion, d. h. etwas rational Schönes, herausfühlen. Die Schulung
des Auges hat derart zugenommen, daß die unausgesprochenen Angst-
gefühle, die ganz leise in den B^nn eines erhebenden Eindruckes
DAS ERHABKNE TND DAS TRAGISTUK. 207
hineinspielen, auch bei den mächtigsten Bauwerken der Eisenkon-
struktion fehlen. Daher ist uns mehr Massenhaftigkeit vonnöten als
dem Kunstsinn der Vergangenheit. Endlich gelten — heute wie jeder-
zeit — die Erhabenheitswerte nur für die Anschauung, nicht für den
Begriff. Logisch angesehen bedeuten sie eine Unfähigkeit des Sul>-
jektes, scharfe Grenzen zu ziehen, eine Niederlage des Gedankens, dem
bei der Übermacht schwindelt. Doch wo dem Denken Ohnmacht
droht, winkt der Anschauung ein GenuB. Dieser Genuß erhält eine
physiologisch bedingte Färbung durch das Auftreten von Empfindun-
gen in den Gelenken — sie lösen sich — und von Hautempfindungen
des Schauers. Wichtiger indessen ist das rein Geistige des Vorganges.
Wir bezeichneten es als Erhebung. Man kann der Übergewalt feige
ausweichen oder sie leichtfertig mißachten. In keinem dieser beiden
Fälle tritt der Eindruck der Erhabenheit auf, sondern dazu gehört, daß
der Mensch über sich selbst hinausgelangt, ohne sich selbst zu ver-
gessen. Wer wirklichen Sinn für die Erhabenheit besitzt, der darf
sich nicht als ein harmonisches Wesen in einem harmonischen Welt-
ganzen fühlen, sondern er muß das Außerordentliche, das ihm ent-
gegentritt, als das eigentlich Menschliche in ihm selber erfassen. Daß
der Mensch als Mensch ein maßloses Wesen ist, das lehrt der ge-
waltige Eindruck des Erhabenen und auch der ähnlich geartete Ein-
druck des Tragischen. Und sie sind ein Hinweis darauf, wie einseitig
der freundliche Optimismus der Schönheitsanbeter den Sinn des Welt-
alls darstellt, indem er über die Rätsel hinweggleitet und nichts als
seligen Frieden anschaut. Tragisches Bewußtsein ist das Wissen
von der unentrinnbaren Leidensbestimmung alles Guten, vermählt mit
der Kraft, aus dieser Zwiespältigkeit einen erhöhten Endzustand zu
gewinnen. *
Unsere Bemühungen um das Wesen des Tragischen sehen sich
gleich anfangs durch zwei Hindemisse gehemmt. Das eine war uns
schon früher entgegengetreten: es liegt in der Frage, ob das Tragische
ausschließlich in einem subjektiven Vorgang bestehe oder nachweislich
den objektiven Ereignissen anhafte. Das andere Problem ist dahin zu
bestimmen: Gibt es ein Tragisches im allgemeinen, und in welcher
Beziehung steht es zur dramatischen Tragik? - In der aristotelischen
Theorie ist die subjektive Seite verbunden mit einer Bestimmung, durch
die das Tragische in die Wirklichkeit hineingesenkt wird. Aristoteles
begründet sozusagen in psychologischer und realistischer Art; denn
das Kennzeichen der Tragödie, die erleichternde Entladung, ist ein
psychologisches Moment, und um ihr Auftreten zu erklären, nimmt
Aristoteles an, daß im gewöhnlichen außerästhetischen Seelenzustand
stets eine in Furcht und Mitleid bestehende Spannung vorherrscht«
208 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Unsere Psychologie weiß freilich nichts davon, daß Furcht und Mitleid
als dauernde Oemütsstimmungen den dunklen Hintergrund der Seele
bilden; trotzdem ist die Behauptung nicht völlig aus der Luft g^^ffen.
Manche Menschen, zumal Kinder und Kunstler, stehen beständig unter
dem Druck einer anscheinend durch nichts gerechtfertigten primitiven
Angst Was andere nur aus den Schreckensstunden schlafloser Nächte
kennen, die Furcht vor dem Unerkennbaren und Unnennbaren, das
vibriert bei solchen Naturen fortgesetzt in der Seele. Auch eine weiche,
überfließende Stimmung, eine Zärtlichkeit, die Menschen und Tiere,
Pflanzen und Steine liebkosen möchte, erfüllt gewisse Menschen in
dem Maße, daß man sie vom Mitleid beherrscht nennen könnte. Aber
es läßt sich kein Übergang finden von diesen übrigens wohl seltenen
Gemütsbeschaffenheiten zu der ästhetischen Kategorie. Denn beim
Genuß der Tragödie kommen solche Stimmungen doch nicht zu einer
wirklichen, das Gemüt tatsächlich befreienden Entladung. Man kann
eine Dissonanz von Geräuschen der wirklichen Umgebung nicht durch
eine musikalische Harmonie zur Lösung bringen. Jene Spannungen
von Furcht und Mitleid werden allenfalls frei, wenn wir von schreck-
lichen Leiden Schiffbrüchiger in der Zeitung lesen, aber sie betätigen
und entladen sich nicht, wenn wir Tristans Schicksal miterleben.
Furcht und Mitleid gleichen der Sorge: sie knüpfen den Menschen an
das Irdische, sie hemmen das höhere Ich in uns, anstatt es, wie die
Theorie will, zu befreien.
Wollte man uns damit vertrösten, daß man eine später eintretende
besänftigende Nachwirkung behauptet, so müßten wir, übrigens im
Einklang mit älteren Ästhetikern, von neuem darauf aufmerksam
machen, daß der Genuß doch zugleich mit dem Auftreten schmerz-
lichster Gefühle empfunden wird. • Die tragischen Err^^ungswerte
können ihre Bedeutung nicht durch das erhalten, was etwa späterhin
sich einstellt. Aber es genügt, an das Prinzip der Funktionslust zu
erinnern, um verständlich zu machen, daß auch die sogenannten tragi-
schen Erregungswerte die ästhetische Freude nicht hindern. Die be-
gründende psychologische Tatsache ist das Wohlgefühl, mit dem wir
unsere Phantasie durch alle Weiten und Tiefen des Lebens spielen
lassen. Die Seele will in der von ihr geschaffenen Vorstellungsweit
sich ungehindert ausleben. Sie scheut nicht vor dem Schrecklichsten
zurück, ja sie sucht es auf, um eine gewaltige Erregung genießen zu
können. Wie gewisse Todesarten, Krankheiten und Schicksalsschläge
in Wahrheit schmerzloser sind, als die Phantasie sie träumt, so wird
umgekehrt das Schmerzhafteste erträglich oder sogar lustspendend,
wenn es in die Phantasiewelt eintritt Man lasse sich nicht durch
den Wortgebrauch blenden. Was im gewöhnlichen Leben tragisch
DAS ERHABENE UND DAS TRAGISCHE. 209
haßt, ist wohl traurig, doch nicht im künstlerischen Sinne tragisch.
Das künstlerisch Tragische besitzt Olanz und Herrlichkeit Tragisch
ist es, wenn der Dichter ein starkes und erfülltes Leben auf seiner
Höhe zu Ende kommen läBL Aber es fordert unser Mitleid doch nur
dann heraus, wenn wir unberechtigterweise die bürgeriichen Begriffe
ins Ästhetische einmengen. In Todesanzeigen spricht man davon,
daß jemand im »ehrenvollen« Alter von 80 Jahren gestorben sei. Aus
dem gleichen Gesichtspunkt heraus mag man den Helden der Tragödie
bedauern, weil er frühzeitig abberufen wird. Aber Held und Dichter
wollen gar kein Bedauern hervorrufen. Sie finden es ebenso natür-
Ikh wie erhebend, daß eine Kerze, die brennt, sich selber verzehrt;
Kerzen, die nicht zur leuchtenden Flamme werden, können freilich un-
gezählte Jahre dauern. Soll man dies etwa ein ß(oc tiXitoc nennen?
Schon Aristoteles hat darunter nicht ein hohes Alter, sondern eine
ungestörte Selbstentwickelung verstanden. Die Lebensvollendung des
tragischen Helden besteht doch auch darin, wie er zu Grunde geht.
Wenn wir nur nach den Gefühlen fragen, die aus der persönlichen
Sympathie mit dem Helden stammen, so melden sich Neid und Be-
wunderung eher als Furcht und Mitleid. Hiermit soll die Bedeutung
des Leidens keineswegs geleugnet werden. Wir werden späterhin
- bei der Betrachtung des künstlerischen Menschen — eindringlichst
darauf hingewiesen werden, daß gerade das Leiden den Wert der
Persönlichkeit erhöht, fast möchte ich sagen, daß es ihn überhaupt
erst bchafft. Durch die Art des Leidens wird der Mensch wahrhaft
zu dem, wozu er berufen ist, und keine Verschuldung, die zum Leiden
führt, vermag ihm sein Menschentum zu rauben. Aber allerdings
kommt es darauf an, worunter er leidet. Sind es Nichtigkeiten, so
lächeln wir über seine Verzweiflung; sind es Vorschriften einer uns
unverständlich gewordenen Etikette — wie manchmal im spanischen
Drama -, so schütteln wir den Kopf; handelt es sich dagegen um
Dinge, die das Leben lebenswert machen, so fühlen wir mit.
Noch schlimmer verfahren wird die Theorie, sobald die Maßstäbe
bourgeoiser Ethik ohne Scheu angelegt werden. Wenn die gehobene
Stimmung daraus erklärt wird, daß wir das Unheil, das wir im Leben
fürchten, in der höchsten Steigerung, aber auf unschädliche Weise,
weil in der Seele eines andern, durchleben«, so heißt das doch im
Grunde nichts besseres als: Gott sei Dank, daß ich*s nicht bin. Das
ist die Art, wie alte Weit>er Kriminalromane lesen. Derselbe Ästhe-
tiker sagt: Im Tragischen soll das allgemeine Wohl, das Wohl der
Gesellschaft, gerettet werden.^ Hier wird die Majestät des Allgeistes,
vor dem jede endliche Größe verschwindet, gelassenen Gemüts auf
die bürgerliche Gesellschaft übertragen. Die Gesellschaftsordnung als
Dc«»oir. Atthrtik und tilg KonttwiMcaschaft. 14
210 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
verkleinertes Abbild der ewigen Weltordnung erlaubt uns einen Ein-
blick in ihre Größe und gewährt uns ehrfurchterfüllten Genuß!
Wir kommen damit bereits zur objektiven Seite der Tragik. Die
übliche Darstellung beschränkt die hier erörterte Kat^orie auf eine
bestimmte Dichtungsart Sie verlangt femer in der Tragödie einen
Helden und seine Verschuldung, die in einseitiger Hingabe an etwas
Gutes bestehen und zu Leiden und Sturz führen soll.
Sicherlich ist für die Kategorie des Tragischen der bevorzugte Ort
eine bestimmte Form des Dramas. Immerhin können wir mit einer
gewissen Berechtigung dies Prädikat auch auf andere Kunstgebiete,
z. B. auf die Musik übertragen; mehrfach sind Ouvertüren und Sinfo-
nien :»tragische« genannt worden. Ob in der Baukunst ähnliches sich
findet, ist fraglich, dag^en gibt es genug Werke der Malerei und
Plastik, die tragische Gegenstände darstellen. Kein Wort ist darüber
zu verlieren, daß in jeder Kunstart das Tragische in besonderer Weise
und gemäß den Mitteln der Einzelkunst sich ausdrückt: es vermag
beispielsweise die bildende Kunst niemals das allmähliche Werden des
tragischen Vorgangs auseinanderzufalten. Das leistet mit unübertreff-
licher Klarheit der Roman, ilm Drama hinwiederum gelangt die Seite
des Kampfes zur vollendeten Ausprägung. Dieser Kampf ist mensch-
lich umso wertvoller und künstlerisch umso wirksamer, je entschie-
dener die gleiche Berechtigung und Stärke der streitenden Kräfte
hervortritt. Durch die so zugespitzte Antithese wird unsere Teilnahme
am lebhaftesten gereizt. Ein Held scheint nicht unbedingt nötig;
denn die Konzentration der Aufmerksamkeit kann auch ohne Mittel-
figur erreicht werden, wie manche tragische Romane und Gerhart
Hauptmanns »Weber« lehren. Mit Bestimmtheit ist femer zu sagen: Die
Einseitigkeit des Handelns, die leidenschaftliche Hingabe schlecht zu
nennen und durch den Untergang zu bestrafen ist niemals der Sinn
einer echten Tragödie gewesen. Alle die Ausdrücke: tragische Schuld,
innere Reinigung, poetische Gerechtigkeit wollen das Tragische zu
einem Niederschlag dichterischer Moral machen. Die unbefangene Be-
trachtung findet indessen gerade bei den größten Dichtem keine ethi-
sche Rechtsprechung. Im »Lear« ist ebensowenig Moral enthalten
wie in einer Bachschen Fuge; Macbeth wird, bevor das Schicksal sich
an ihm erfüllt, eher entschuldigt als vemrteilt. Shakespeares Sinn für
den Tatbestand, zumal für die Tatsachen der Leidenschaft und des
Willens, ist viel zu stark, als daß er Stellung nehmen könnte; vor-
nehmlich die Helden seiner Jugenddramen folgen so triebmäßig ihren
Begehmngen, sie sind solche Naturgewächse des Egoismus und sie
tauschen so schnell mit ihren Gefühlen und Ansichten, daß eine feste
Norm, etwa gar die der Nächstenliebe, in ihnen nicht Wurzel schlägt.
DAS ERHABENE UND DAS TRAGISCHE. 21 1
Sie haben kein Gefühl für Unrecht und besitzen kein Gewissen. Ihr
Schöpfer verurteilt sie nirgends. Ich wüßte nicht zu sagen, wie
das ethische Schema der üblichen Tragödientheorie auf Heinrich VI.
anzuwenden wäre. Dennoch ist, mag man auch das Ganze
nicht als Tragödie im Schulsinne gelten lassen, die Richtung darin
tragisch.
Gleichfalls auf Verkennung beruht die Forderung, daß jede Tragödie
zur Versöhnung führen müsse. Das ethische Ideal eines harmonischen
Oleichgewichtes aller Kräfte und die Vorbildlichkeit des Idealschönen
haben zu der Meinung Anlaß gegeben, es müßten auch in der Tra-
gödie die Disharmonien aufgelöst werden. Für das ernste Schauspiel
mag es zutreffen; die echte Tragödie jedoch läßt den Konflikt ungelöst.
Sie zeigt, daß es in der Welt und im Leben Gegensätze gibt, die
durch nichts zum Ausgleich gebracht werden können, durch keine
Größe des Charakters, durch keinen Heldenmut des Kampfes, durch
keine Schuld- und Fehleriosigkeit, ja selbst nicht durch den Tod.
Gerade in den höchsten Werten des Menschen liegen Bedingungen
des Leids und des Untergangs. Über der Gottheit und ihrer ver-
zeihenden Milde steht das unerbittliche Schicksal. Es gibt in dieser
Welt etwas Gewaltiges und Hartes, eine grausame Gerechtigkeit. Sie
bildet den dunklen Kern der Tragödie, die deshalb im allgemeinen
Schicksalstragödie heißen könnte. Da uns das Schicksal immer erst
zum Bewußtsein kommt, wenn es gegen uns ist, so ist die Tragödie,
die das Walten des Schicksals enthüllt, auf Unglück gestellt Wir
spüren es, sobald menschliche Begrenztheit an großen Fragen in die
Erscheinung tritt. Gibt es etwas Furchtbareres als die abenteueriiche
Vorstellung von dem in einen Tierkörper eingeschlossenen Menschen-
getst? Und doch sind wir alle in ähnlicher Lage. Wir fühlen unsere
Schwäche, und das Verhängnis gestattet nicht, jemals die Grenze zu
überschreiten. Weder eine äußere Lage noch eine Seelenbeschaffen-
heit wird uns Menschen vergönnt, die es dem aufwärts Steigenden
gestattete, sich völlig auszuwirken. Diese Gegenstrebung zwischen
Ich und Welt oder auch im Ich selber, als unaufhebbar erkannt und
als die gewaltige Grunddissonanz der Welt bewundert, sie macht den
objektiven Gehalt des Tragischen aus. Das Tragische ist nur zu ver-
stehen, wenn man zugibt, daß Mensch und Welt disharmonisch
sind. Wer ein Leben in reiner Schönheit führen und in die fried-
lichen Vorstellungen durchgehender Harmonie sich flüchten will, der
muß das Tragische überhaupt vernichten. Mit dem Kultur- und Mensch-
heitsideal, das den Feinsten vorschwebt, scheint die Tragödie nicht
vereinbar. Gewiß ist Lärm und Schwertergeklirr, Mord und Blut-
geruch nur für die bisherige geschichtliche Entwickelung der Tragödie
212 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
und nicht für ihr bleibendes Wesen von Bedeutung. Aber alle inner-
liche Tragik bleibt doch, wenn sie ihren Namen verdienen soll, an
Härte, Grausamkeit, Dissonanz gefesselt.
Dieser grundsätzlichen Auffassung steht eine andere entgegen, auf
die schon mehrmals hingedeutet wurde. Adalbert Stifter hat sie mit
folgenden Worten ausgedrückt: »So wie es in der äußeren Natur ist,
so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes.
Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit und Bezwingung
seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Be-
wunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen
Streben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furcht-
bar einherrollender Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten
Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der
Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer,
sondern kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzel-
ner und einseitiger Kräfte sind wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erd-
beben. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch
das menschliche Leben geleitet wird.« (Vorrede zu den »Bunten
Steinen«.) Auf die Tragödie angewendet würde es besagen, daß nicht
der in der Dramenform gipfelnde Konflikt und die Zerschmetterung
durch das Schicksal, sondern die Überwindung solcher tödlichen G^en-
sätze den eigentlichen Kern des Tragischen bilden. Soweit der Wider-
spruch sich gegen die groben und altertümlichen Formen des Tragi-
schen wendet, scheint er mir vollauf berechtigt. Zu einem schweren
Irrtum aber wächst er sich aus, indem er die Stimmung des Genießenden
zu einem sanften humoristischen Lächeln abdämpft Von den neuesten
Erforschern des Problems ^) wird der Formenreiz tragischer Dinge mit
dem Epigramm und dem witzigen Paradoxon verglichen. Darin steckt
viel Wahres. Aber hier wird der Widerspruch nicht in Widerspruchs-
losigkeit aufgelöst, und das von diesem antithetischen Spiel geweckte
Lachen ist das Lachen der Verzweiflung.
Der soeben berührte Unterschied läßt sich noch durchsichtiger
machen. Die künstlerisch aufgefaßten Disharmonien des Menschen-
daseins wirken bei geringer Stärke humoristisch und erst bei ener-
gischer Steigerung tragisch: wiederum ändert sich mit dem Grad die
Beschaffenheit. Oft möchte angesichts derselben Tatsache der hera-
klitische Mensch in uns weinen und der demokritische lachen. Man
kann sich vorstellen, daß die Vorgänge in Hauptmanns »Einsamen
Menschen« auch den Gegenstand eines humoristischen Romans bilden;
erst für die gesteigerte Empfindlichkeit solcher »modernen« Menschen
werden sie zum lebengefährdenden Verhängnis. Zwischen Humor
und Tragik liegt sozusagen eine Schwelle. Nur indem die Reize eine
DAS HÄSSLICHE UND DAS KOMISCHE, 213
gewisse Höhe überschreiten, erzielen sie mit Sicherheit eine tragische
Wirkung. Dazu dient femer, daB sie nicht allmählich kommen, son-
dern plötzlich einbrechen. Mit gutem Orund hat die Praxis von alters
her Katastrophen d. h. plötzlich und gewaltig auftretende Ereignisse
bevorzugt Löst man sie in kleinste Bestandteile und lange Zeitreihen
auf, so überschreiten sie schwerer die Schwelle des Tragischen.
3. Das Häßliche und das Komische.
Wie die Tragik, so bemht die ästhetische Kategorie der Häßlich-
keit auf Disharmonien. Da Ober den Wert der Häßlichkeit bereits bei
der Erörterung des Naturalismus gesprochen worden ist, so brauchen
hier nur noch einige systematische Fragen erörtert zu werden. Zu-
nächst ist klar, daß das Häßliche nicht dem Unästhetischen gleich-
gesetzt werden darf. Einerseits ist ja das Häßliche ästhetisch genieß-
bar und kflnstlerisch verwendbar, wie die Tatsachen mit größter Ein-
dringlichkeit zeigen ^), anderseits braucht Außerästhetisches keineswegs
häßlich zu sein. Obszöne Bilder stellen die schönsten Figuren dar
und fallen doch außerhalb des ästhetischen Kreises; ferner existieren
tausend nicht häßliche Oegenstände und Vorgänge des täglichen
Lebens, die kaum jemals zur ästhetischen Kontemplation Anlaß geben.
Mit einem Wort, das Häßliche ist ein ästhetischer Stammb^;riff, einer
neben den andem, und es fragt sich in der Hauptsache, wohin er zu
stellen sei. Sonst faßt unsere Ästhetik die Probleme nicht mehr dem
Orte nach auf, bei den Kategorien indessen interessiert die Stelle im
Ganzen beinahe ebenso wie die Sache selbst.
Daß Erhabenes und Tragisches durch einen Zusatz von Häßlich-
keit einen überwältigenden Charakter erhalten, zeigen bildende Künste
und Drama häufig genug. Das Häßliche dieser Art zeichnet sich
durch große Intensität aus. Es gibt Dinge, die man nicht ansehen
kann, und die trotzdem immer wieder das Auge auf sich lenken. Dies
Häßliche besitzt die Anziehungskraft des Abgrundes. Auch im gewöhn-
lichen Leben kann die Verzerrung des Häßlichen, nämlich das Ekel-
hafte, eine geradezu faszinierende Gewalt ausüben, nicht nur als
Pdtschenschlag für die erregte Sinnlichkeit, sondem auch als schmerz-
haftes Erregungsmittel der gesamten Lebendigkeit. Kranke werden
nicht müde, ihre Entstellungen im Spiegel zu betrachten, ja sie können
einen gewissen Stolz darin finden, daß ihre widerliche Erscheinung
auf andere eine verhängnisvolle Anziehungskraft ausübt Solche Er-
regungswerte, wenn sie nur künstlerisch verwendet sind, werden mit
Recht von den Meistern der Kunst in ihre Werke übernommen. Keine
214 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
jener Lebenserscheinungen ist unfähig, der Träger einer Kunstform
zu sein. Man denke an die Blutschande im Sophokleischen Ödipus
oder an den Philoktet. Man sehe die mit Geschwüren bedeckten aus-
sätzigen Krüppel auf Holbeins Bild von der heiligen Elisabeth.
Eine zweite Art des Häßlichen entsteht, sobald es durch geringe
Abweichung vom Wohlgefälligen und Idealschönen gewonnen wird.
Die leichte Verschiebung in einem Quadrat oder an einem Krdse, die
Zusammenstellung schlecht passender Farben wirkt häßlich. Sofern
derartiges auf Ungeschicklichkeit des Künstlers beruht, kommt es für
uns nicht in Betracht; die sinnlose Störung eines natüriichen Ablaufs
ist niemals zu rechtfertigen. Es kann jedoch künstlerisch beabsichtigt
und erlaubt sein. Erstens als Gegengehalt g^en das Schöne, als das
Dunkel, von dem das Licht strahlend sich abhebt, oder als der Sumpf-
boden, in dem wundervoll leuchtende und duftende Blumen gedeihen,
oder als die finstere Macht, mit der das Gute kämpft Wichtiger noch
ist die Fähigkeit des Häßlichen, aus sich heraus ästhetische Werte zu
treiben. Wo nämlich Auge und Ohr sich an gewohnten Formen oder
Inhalten erfreuen, da läßt sich der in ihnen verborgene seelische Kern
nur schwer aus der Schale lösen. Unsere Auffassung geht gemäch-
lich an diesen Dingen entlang, ohne ein in ihrem Innern flammendes
Feuer zu verspüren. In dem Augenblick, wo das Gewohnte und Har-
monische verfassen und durch eine von der Norm abweichende Form-
wahl unsere Aufmerksamkeit aufs stärkste gereizt wird, da ergreifen
wir das Sinnliche als den Ausdruck eines in ihm verborgenen wert-
vollen seelischen Lebens. Das konventionell Schöne wird allzu schnell
ausdruckslos, das unerwartet Häßliche ist meist ausdrucksvoll. Daher
weichen Künstler dort am stärksten von dem sinnlich Befriedigenden
und ästhetisch Wohlgefälligen ab, wo sie bewußt den Ausdruck
steigern wollen. Zumal wenn es sich darum handelt, jenes Reich zu
enthüllen, das nicht von dieser Welt ist; dann muß die Schönheit ver-
mieden und darf durch die armen und stummen Formen der Häßlich-
keit ersetzt werden. Alle Arten der Schönheit, die strenge Schönhdt
der Formen, die jubelnde Schönheit der Farben, die wohllautende Schön-
heit musikalischer Harmonien, alle diese Schönheiten verbrauchen ge-
wissermaßen so viel Kraft für ihre prangende Außenseite, daß für das
Innere nichts mehr übrig bleibt Sie bekennen sich als Kinder des
Diesseits. Das ist ihr Recht und ihr eigentlicher Zweck. Dort aber, wo
die tiefste Not eines Künstlerherzens sich aussprechen und das Heim-
lichste und Geistigste zu Tage treten will, da bietet sich neben der
Vornehmheit das Häßliche als zureichendes Ausdrucksmittel dar.
In den Lehrbüchern der Ästhetik wird mit besonderem Behagen
ausgeführt, daß die Schönheit des menschlichen Körpers ein Durch-
DAS HÄSSLiaiE UND DAS KOMISCHE, 215
scheinen der Gesundheit sei, daß die Kraft und Oelenkigkeit der Glied-
maßen [ihnen die dynamische Schönheit sichere, die über der rein
formalen steht Nun trifft das offenbar nach der positiven Seite hin
nicht zu, denn es laufen genug Menschen herum, die rote Backen und
stramme Muskeln haben und überhaupt kerngesund sind, ohne daß
sie dadurch zu Schönheiten werden« Ein aufgestülptes Naschen über
einem breiten Männermund, kleine Auglein neben großen Ohren, ein
kurzer Hals und eine viereckige Hand werden auch durch die in-
tensivste Gesundheit des Besitzers nicht ästhetisch wohlgefällig. Trotz-
dem könnte Gesundheit die negative Bedingung bilden. Es wäre also
ein kranker Körper unter allen Umständen häßlich, ein gesunder die
unentl>ehrliche Voraussetzung eines angenehmen Äußern, obgleich es
zur Schönheit noch des Hinzutretens anderer Momente bedürfte. In-
dessen auch in dieser Wendung bleibt der Gedanke unzulänglich.
Unter den Krankheiten gibt es einige, die entstellend heißen dürfen
und in der Kunst als Beispiele für das gegensätzlich Häßliche ver-
wertet worden sind: so die Pest in Hermann Linggs »Schwarzem
Tod< und die Wassersucht in Zolas >Joie de vivre<. Es gibt andere
Krankheiten, die lange Zeit hindurch und vielleicht niemals sichtbar
werden, Störungen des physiologischen Betriebes, die den plötzlichen
Tod herbeiführen. Endlich aber kennen wir auch Leiden, die für eine
vorurteilslose Betrachtung manchmal verschönernd wirken. Selbst an
Schwindsüchtigen kann man diese verklärte Schönheit sehen: eine
schlanke Gestalt, durchsichtige, gleichmäßig blasse Haut, leuchtende
Augen. Das ist eine naturunabhängige, seelenenthüllende Schönheit,
die höher steht als der Formen- und Farbenjubel eines in Fülle pran-
genden Leibes. Wer die Körpergesundheit für das ästhetische Mini-
mum hält, wird als Maler das Mutterglück etwa so darstellen, daß er
ein Rubenssches Frauenzimmer malt mit breit ausladenden Hüften
und milchstrotzenden Brüsten, wie es sein Kind säugt Sensible Künstler
hingegen sehen mit leichtem Widerwillen oder Mitleid auf dieses Glück
des gesunden Muttertieres hinab, das sie für animalisch und mit
geistiger Entwicklung nicht notwendig verbunden halten. Quand je
ferai ane mere, sagte Millet, je tächerai de la faire belle de son seul
retard sur son enfant
Die letzte Stätte des Häßlichen liegt beim Komischen. Insofern
Häßlichkeit eine Abweichung von der Norm bedeutet, kann sie unter
gewissen Umständen in Komik umschlagea Bereits Aristoteles wies
darauf hin, indem er das Komische definierte als das unschädliche
Häßliche; Rousseau verwarf die Komödie, weil sie die Teilnahme für
niedrige Handlungen und Charaktere beanspruche (für das Ta(>>.ov,
wie es Aristoteles in ähnlichem Zusammenhange nennt). Empfindliche
216 V, NE ÄSTHETISCHEX KATEGORIEN.
Naturen sind deshalb unfähig, vieles von dem mit Heiterkeit zu be-
grüßen, was der Mehrzahl als komisch erscheint Sie vermögen nicht
zu lachen, wenn sie in den ilhistrierten Witzblättern von dem argen
Schabernack lesen, der diesem oder jenem gespielt wird. Sind wirk-
Ikh alle Streiche, die Reineke Fuchs vollfuhrt, zur Bdust^^ui^ des
Lesers geeignet? Kann man Ober Moliä-es George Dandin und seinen
Misanthropen lachen? Im »Kranken aus Einbildung« rfihmt der Doktor
Diaphorus seinen trottelhaften Sohn Thomas: >Er hat nie eine sdir
tätige Einbildungskraft noch jenes Feuer besessen, das man an anderen
wahrnimmt Als er kidn war, ist er nie, wie man so sagt, aufgeweckt
und mutwillig gewesen. Man sah ihn immer sanft, friedsel^ und
schweigsam. Er sprach nie dn Wort und betaligte sich niemals an
den sogenannten Knabenspielea Man hatte schwere Muhe, ihn lesen
zu lehren, und mit neun Jahren kannte er sdne Buchstaben noch nicht
Out, sprach ich zu mir, die späten Bäume tragen die besten Frfichte
Es gr^t sich in dem Marmor schwerer als im Sand — €. Diese Be-
schrdbung weckt mdst wieherndes Gelächter. Ich werde durch solche
Vaterh'ebe gerührt, nicht erhdtert, und die grausame Lust des Dichters,
die aus dieser Verzerrung des Menschlichen höhnisch hervorgrinst,
schafft mir eher den Eindruck von Ldd und Häßlichkeit als unter-
haltender Komik. Ein gut Teil dessen, was als komisch gilt, bidbt auf
ebenso tiefer Stufe wie das brutal Tragische, das den G^[aipol bildet
Einst hielten sich die Fürsten Idioten, Zwerge und Monstra als G^[en-
stand ihrer Lachlust Einestdls freilich fanden sie dn intdldduelles
Vergnügen an den gel^entlich aufblitzenden und von jedem Hofzwang
befreiten Urteilen dieser armseligen Wesen. Zum anderen Tal je-
doch machte ihnen die groteske Erscheinung Spaß. Kinder und rohe
Menschen lachen noch heute über Betrunkene, Bucklige, Verkrfippdte
Das Kasperletheater, in dem der Narr Prügel austeilt und empfängt,
rechnet auf die im unentwickelten Geiste herrschende Lust an der
Grausamkeit Auch an diesem Punkte enthüllt sich die gehdme und
grauenerweckende Verwandtschaft zwischen dem Tragischen und
dem Komischen. In beiden Kat^orien stecken Momente, die die
innere Disharmonie unseres Wesens grell beleuchten. Wiederum muß
gesagt werden: auch das Komische ist in seinem ganzen Umfange nur
verständlich, wenn man die Maßlosigkeit des Menschen sich vor
Augen hält Das Erhabene und das Häßliche, das Tragische und das
Komische kann gleicherweise groteske Züge enthalten, in denen Un-
geheuerliches zum Ausdruck kommt
Sehen wir doch einmal den Menschen, wie er wirklich ist Die
Befriedigung seiner Lüste steht ihm obenan. Um von Hunger und
Liebe nicht zu reden, so wären zunächst Schaulust und Machtstreben
DAS HÄSSLICHE UND DAS KOMISOIE. 217
ZU nennen. Der Drang, bei allem dabei zu sein, macht ehrwflrdige
Greise zu ungeduldigen Kindern und verwandelt die sanftesten Frauen
in Bestien: sie ertragen es schlechterdings nicht, wenn sie dort fehlen
sollen, wo etwas vorgeht. Keine Mühsal ist ihnen zu groB und keine
Gefahr schreckt sie, sobald es gilt, einem Festzug oder einem Volks-
aufruhr beizuwohnen; die gleiche Schaulust treibt sie in die Theater
und Kunstausstellungen. Und das Gefühl einer ausgeübten Macht
tröstet sie über alle Unzulänglichkeiten des Daseins. Es veranlaßt den
Kranken, seine Umgebung zu quälen, es versöhnt den Beamten mit
seinem kärglichen Los, es stachelt den Vorgesetzten zu körperlichen
oder geistigen Mißhandlungen derer, die von ihm abhangen; das
äußere sowie das innere Leben des Künstlers ist voll von der Sehn-
sucht nach Einfluß. Aber eine letzte allgemein-menschliche Lust ent-
zündet sich auch an jeglicher Verkehrtheit. Es gibt eine aktive Freude
daran, über die Stränge zu schlagen, und eine passive Freude am Un-
sinn; sie ist es, die dem Komischen die kräftigste Resonanz leiht.
Ein ganzes Heer der Possenfabrikanten, Theaterdirektoren und Schau-
spieler lebt von dieser Freude am Unsinn. In einem Witzblatt las ich
ein Märchen, das folgendermaßen anhebt: ^Es war einmal ein Prinz,
der hieß Agnes und ging um Mittemacht auf den Kirchhof, um dort
zu regieren und sich einen Bart stehen zu lassen. Da begegnete ihm
dn Mann, der sich für den mit Recht so verstorbenen Cromwell aus-
gab, iind rief: O kehr' um! kehr' um! Jener aber verstand: O jerum,
jerum! und weinte und wurde zur Nelke. In dem Kelch der Nelke
sammelte sich alsbald ein Tautropfen, den man für einen Flamingo
ansehen konnte, und als dieser Basilisk sich im Spiegel betrachtete,
erschrak er förmlich, so ähnlich war er.^ Das ist blanker Unsinn«
ohne jede Spur von Witz. Dennoch wirkt diese souveräne Verachtung
aller Logik auf die meisten Menschen belustigend. Und in der Be-
freiung vom Wirklichkeitszwang steckt etwas, was die Sinnlosigkeit
mit Witz und Spiel und Kunst verbindet. Vor allem mit der Komik,
da sie wohl die lebhafteste Lust, aber keine tiefgreifende, innige Freude
zu bereiten vermag.
Seit langem sucht man das Komische aus dem Lachen zu erklären.
Das wird nie gelingen, denn Lachen wird einerseits auch durch son-
stige körperliche und seelische Vorgänge hervorgerufen und fehlt
anderseits oft bei komischen Eindrücken. Lachen steckt an wie
Gähnen (s. S. 189): an Tafel VIII kann der Leser für sich selber unter-
suchen, wieviel die vermutlich eintretende Lachwirkung der Ansteckung
und unwillküriichen Nachahmung, wieviel sie dem gegenständlich
Komischen verdankt. Aussichtsreicher ist die Beschreibung des inneren
Erlebnisses und des äußeren Anlasses. Das Komische kann, wie jede
218 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
der anderen Kat^orien, zunächst als eine eigenartige Stimmung be-
trachtet werden, der eine Beschaffenheit des Gegenstandes zu Gründe
liegt. Es hat also eine subjektive und eine objektive Seite. Der subjek-
tive Vorgang wird je nach der psychologischen Grundanschauung ver-
schiedentlich gedeutet ^). Eine Theorie, die lange Zeit in Geltung war,
beschrieb den Eindruck der Komik als einen Wettstreit von Gefühlen.
Da aber die neuere Psychologie eine Gleichzeitigkeit mehrerer Gefühle
nicht anerkennen will, so reduziert sie die Komik auf die Unterscheid-
barkeit mehrerer Seiten an einem einheitlichen Selbstgefühl Des
näheren soll der Vorgang darin bestehen, daß der Betrachter ein Großes
oder Bedeutungsvolles erwartet und durch das Eintreten eines Kleinen
oder Nichtigen zur Heiterkeit gereizt wird. Komisch ist — nach den
Darlegungen von Lipps — ein Kleines, das sich wie ein Großes ge-
bärdet und dann plötzlich in sein Nichts zergeht; unser Eindruck setzt
sich zusammen aus Verblüffung und darauf folgender Erleuchtung,
und diese Vorstellungsbewegung wiederholt sich, bis sie schließlich
abklingt. Es würde demnach das spezifische Gefühl der Komik so
aufzufassen sein, daß die seelische Vorbereitung auf einen starken
Eindruck durch das Auftreten eines schwachen Eindrucks enttäuscht
wird, und der Lustcharakter würde sich daraus erklären, daß die über-
schüssige psychische Kraft, wie überhaupt jedes Übergewicht an innerer
Energie, als lustvoll empfunden wird. Etwas anders ausgedrückt
wäre die komische Lust eine Lust aus der Überspannung der' Auf-
merksamkeit ^). Daß eine momentane Überspannung des Bewußtseins
vorliegt, könnte man von anderen psychologischen Gesichtspunkten
aus mit gleichem Rechte sagen. Aber es scheint einer weiteren Unter-
suchung bedürftig, ob die Verwandlung des Gewichtigen in ein Ge-
ringfügiges ein Hin und Her der Vorstellungsbewegung und eine so-
genannte psychische Stauung hervorruft Was sich beobachten läßt,
ist von anderer Seite als eine Intensitätsschwankung des ganzen
komischen Bildes aufgefaßt worden, als ein Schwächer- und Stärker-
werden, wie es auch beim Nachdenken oder beim Anhören von Musik
vorkommt und womit nur der Zeitverlauf, nicht die qualitative Eigen-
art des Vorgangs berührt würde. Am übersichtlichsten wird dieser
(aus der Lehre vom Zeitverlauf uns schon bekannte) Vorgang überall
da, wo Text und Zeichnung zusammenwirken. In dem Scherz vom
fidelen Gefängnis (Tafel IX) tritt manchmal der in Worten ausge-
drückte Sachverhalt, manchmal der von Oberländers Meisterstift ge-
schaffene Ewigkeitshumor in den Vordergrund des Bewußtseins. Die
zweite Theorie dürfte der unbefangenen Beobachtung mehr zusagen
als die erste. Jedenfalls kann, da die Beschreibung und Erklärung des
seelischen Vorganges durchaus von der psychologischen Gesamt-
DAS HÄSSLICHE UND DAS KOMISCHE. 219
anschauung abhangt, die Frage innerhalb einer nach Selbständigkeit
strebenden Ästhetik schwerlich entschieden werden.
Wichtiger ist auch für die Ästhetik einmal die Erkenntnis der ob-
jektiven Umstände, die außerhalb und innerhalb der Kunst zum Ein-
druck des Komischen führen, und alsdann eine Einsicht in die tiefere
Bedeutung der Komik überhaupt — Die erste Aufgabe wird dadurch
erschwert, daB individuelle und geschichtliche Verschiedenheiten wohl
nirgends spürt)arer sind als gerade auf dem Oebiete der Komik. Wir
haben schon vorhin erörtert, weshalb dem verfeinerten Kulturmenschen
der Kreis des Komischen sich verengen muB. Jetzt wollen wir uns
daran erinnern, wie auBerordentlich schnell Komisches veraltet Der
Reiz des intellektuell Komischen, also der Witze und Wortspiele, ver-
blaßt in wenigen Jahren, und auch die zeichnerische Darstellung wird
mit erstaunlicher Schnelligkeit aus dem Wertgebiet des Komischen in
das Reich des Oleichgültigen und Abgeschmackten verwiesen. Immer-
hin gibt es einige bleibende Typen. Unter Anschauungskomik ver-
stehen wir alle diejenigen Dinge und Vorgänge, die durch bloBe sinn-
liche Wahrnehmung das Gefühl des Komischen hervorrufen. Zwei Fälle
sind zu unterscheiden. Erstens. Wir lachen dort, wo wir einen harm-
losen und unberechtigten VerstoB gegen eine bekannte OesetzmäBig-
keit wahrnehmen, oder wo Bedeutungsloses sich an die Stelle des er-
warteten Wichtigen drängt. Auf den Spezialitätenbühnen sieht man
manchmal folgenden Scherz. Es versucht jemand, ein hinter der
Kulisse befindliches Pferd auf die Bühne zu ziehen. Es gelingt ihm
nicht So ruft er sich zur Hilfe einen Zweiten, einen Dritten, bis
schlieBlich sechs Mann vorgespannt sind, die prustend und schwitzend
an einem gewaltigen Tau ziehen. Hinter der Szene hört man das
Wiehern des Rosses und das Donnern seiner Hufe. Endlich, nach-
dem der Sechste, ein Herkules von Oestalt, sich vorgespannt hat, be-
wegt sich das Tau, und es erscheint ein ganz kleines Holzpferdchen.
Das ist spaBhaft, weil die OesetzmäBigkeit zwischen Kraftaufwendung
und Erfolg gestört und etwas relativ OroBes durch ein relativ Kleines
für die unmittelbare Anschauung ersetzt wird*). Bedingung ist, daB
die mit der Anschauung des Falschen oder Nichtigen verbundenen
Unlustgefühle schwach bleiben, daB femer jenes Wertlose mit schein-
barer Berechtigung auftritt und die Assoziation seines Gegenteils, also
des Passenden, schnell und sicher herbeiführt. Würde es sich in
Oberländers Zeichnung anstatt um Landstreicher und geringe Haft-
strafen vielmehr um Raubmörder und lebenslängliches Zuchthaus
handeln, so vermöchten wir nicht zu lachen; so aber hat das *En avant
trois ein gewisses Recht, und die Erinnerung an den sonst üblichen
Kontertanz erhält Würze durch die vielen graphischen Feinheiten: wie
220 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
der versoffene Dickbauch links das Umschlagetuch zur Schleppe macht,
wie die Fuße kräftig vorwärts geschleudert werdai und vor aOem,
mit welcher unendlich komischen Ruckenbeugung der Stromer seine
^Riverence^ vollführt
Solche Fälle kann man, wie französische Autorai es getan haben,
dadurch erklären, daß die Zertrfimmerung einer Schranke zu dnem
OefiihI eigener Oberl^enheit und Freiheit führt Doch vermag auch
der entg^engesetzte Vorgang den Eindruck des Komischen hervor-
zurufen. Wenn ein Mensch, sei es absichtlich, sei es aus Zerstreut-
heit, maschinenmäßige Bew^[ungen macht, so mutet er uns als komisch
an. Treffen wir jemand, von dem wir eben sprachai und doi wir
weitab glaubten, so sagen wir: Wie komisch! Hier ist es wohl die
Mechanisierung des sonst Unberechenbaren oder das an die Stelle der
Lebendigkeit tretende automatenhafte Wesen, das in sdner relativen
Wertlosigkeit und Nichtigkeit dem Betrachter als komisch erschdnt
Die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung bleibt für bdde Artai dn
Hauptmoment Daher läßt sich die Anschauungskomik schwer schil-
dern und in Worten mitteilen. Man muß sie erleben oder durch doi
Griffel des Zeichners dargestellt erhalten. In diesem Fall kann dne
Mehrzahl von Zeichnungen dem Ablauf eines Erdgnisses in dai Haupt-
punkten folgen und es kann ebensogut der ganze Vorgang zu dner
einzigen entscheidenden Szene verdichtet werden. Der in den Tafdn X
und XI wiedergegebene Scherz entspricht seinem Wortlaut nach ge-
nau der heute üblichen Erklärung: der B^'nn des emsthaftai Waffen-
ganges wird jäh unterbrochen, ein Mäuschen ruft unter den Hddinnen
ratlose Verzweiflung hervor. Aber was wollen Worte besagen g^[en
die beiden von Kirchner gezeichneten Szenen! Die gehaltene Ruhe
im ersten Bild und die wilde Bew^ung im zweiten, der durchgreifende
und aufs feinste differenzierte Umschlag der Stimmung, der wdse
Verzicht auf Darstellung der Maus, die verschiedene Richtung der
Blicke, die breite Rückseite als Abschluß nach rechts — das sind die
unwiederholbaren Meisterzüge, die den Betrachter immer von neuem
mit Heiterkeit erfüllen.
Vom Witz, dem wir uns als der zweiten Klasse des Komischen
zuwenden, gilt wiederum die Regel: so lebhaft er im Augenblick zu
belustigen vermag, so schnell wird er doch auch vergessen. Mit jeder
Wiederholung verliert er an Reiz, ausgenommen für den, der ihn er-
zählt und mit dem Lacherfolg einen Triumph seiner Eitelkeit fdert
Die witzigen Aussagen veranlassen zur Bildung von Bedeutungs-
vorstellungen, die plötzlich vernichtet werden. Ober dem Bette dnes
ländlichen Wirtshauses fand ich einmal in großen Lettern den folgen-
den wohlgemeinten Rat: »Und steigst du in dies Bett hinein, So zieh
DAS HÄSSLICHE UND DAS KOMISCHE. 221
auch nach das andre Bein.^ Dieses Wort, das von der Anschauungs-
komik zur Wortkomik überleitet, verlangt die Bildung einer anschau-
lichen Vorstellung, die, sobald sie vollzogen ist, sogleich ihr psychi-
sches Gewicht einbQBt. Der Gedanke nämlich, daß jemand ver-
gessen könnte, das zweite Bein mit ins Bett zu nehmen, ist, besonders
wenn er als optisches Bild auftritt, durch seinen Widerspruch gegen
alles Gewohnte unmittelbar komisch. Nun ein Beispiel des reinen
Witzes. Ein Akademiker hat einmal die Universitätsdozenten eingeteilt
in Ordinarien, Extraordinarien und Dinarien, worunter er die reichen
Privatdozenten verstand, die üppige Gastmähler herrichten können.
WQrde das Wort Dinarius existieren, auch nur in dem Sinne des
Gastgebers Oberhaupt, so wäre es in diesem Falle vielleicht treffend
angewendet, aber nicht komisch. Die freie und doch durch klangliche
Vorbilder bedingte Wortbildung zusammen mit dem boshaften Neben-
sinn macht die Komik des Satzes aus. Es gehört also zur witzigen
Veranlagung eine sprachliche Herrschaft, ja Schöpferkraft, die der Wort-
kunst des Poeten verwandt ist. Und zur Wirkung trägt die Tendenz
bei, die meist ein mehr oder weniger versteckter Angriff ist (auch bei
den unanständigen Witzen). Verweilen wir jedoch bei der Technik
des Witzes.
Die spielende Herstellung eines unerwarteten Zusammenhanges
zeigt sich zunächst in der Benutzung bloßer Klangähnlichkeiten. So,
wenn Hans v. BQlow die beiden ersten, durch leibliche Fülle ausge-
zeichneten Sängerinnen an seiner Buhne die beiden »Primatonnen«
nannte oder von dem Intendanten und seiner komponierenden Gattin
als von »Kulisses und Mausikaa< sprach. Von anderen Wortspielen
sei die Benutzung des Doppelsinns erwähnt. Ein Schulmädchen, das
in einem Aufsatz über die Jungfrau von Ori^ans deren Ekstasen und
Visionen geschildert hat, schließt mit den Worten: Hieraus ersehen
wir, daß die Jungfrau ein Qbernatflriicher Zustand ist.^ Der Doppel-
sinn liegt in dem Worte Obernatüriich^.
Anders geartet sind die Witze, die nicht mit Worten und Klängen
spielen, sondern mit den Dingen und Einrichtungen dieser Well Ein
Witzbold läßt ein Kind seinen im Konzert empfangenen Eindruck
folgendermaßen schildern: Eine Dame schrie, weil sie ihre Ärmel ver-
gessen hatte, und ein Kellner spielte dazu Klavier. < Der erste Teil des
Satzes enthält eine falsche Kausaldeutung, und der zweite einen auf der
Wahrnehmung des Frackes beruhenden falschen Analogieschluß. Diese
Verkehrung aller natOriichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge
weckt ein Gefühl subjektiver Oberiegenheit, das jene blitzschnell im
Denken erfaßten Diskrepanzen zur Quelle einer Funktionslust macht.
Wenn der Lehrer seine Beschreibung der Klapperschlange mit der
222 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Frage schließt: >Wer kennt ein ähnliches Tier, dem man nicht trauen
darf?« und der Schuler darauf antwortet: »Der Klapperstorchc, so ist
nicht nur die Klangähnlichkeit die gleichsam anschauliche Ursache
des Lachens, sondern einen großen Anteil hat auch die frei waltende
Einbildungskraft. Witzig nennen wir Menschen mit der Fähigkeit,
fiberall unerwartete Analogien zu sehen und sie mit stilistischer Prä-
gnanz, sogar mit lautlicher Sinnenfälligkeit wiederzugeben. Es war
deshalb nicht so verkehrt, daß man im 18. Jahrhundert ein ganzes
intellektuelles Seelenvermögen mit der Bezeichnung Witz bd^e.
Denn von der Beweglichkeit eines witzigen Geistes in der uns ge-
läufigen Wortbedeutung bis zu der Fähigkeit, durch das Aufdecken
überraschender Ähnlichkeiten und durch die Herstellung von Zusammen-
hängen zwischen entlegensten Dingen Wissenschaft wie Kunst zu
fördern, von dort bis hier läuft eine stetig aufsteigende Linie.
Darin scheint mir nun der Lebenswert des Witzes zu bestehen,
daß er uns wenigstens für Augenblicke aus der gleichmäßigen Ord-
nung der Wirklichkeit heraushebt. Er bedeutet eine Umformung der
Wirklichkeit, die ebenso sehr hinter ihr zurückbleibt wie sie anderseits
überschreitet. Deshalb sind gute Witze nicht verächtlich, sondern
für den, der sie macht, eine Art künstlerischer Produktion, und für
den Hörer eine Art ästhetischen Genusses. Einst galt das Wunder-
bare als ein wesentliches Bestandstück der Kunst Noch Baumgarten
hat unter dem Titel »Ästhetische Thaumaturgie« reichlich darüber sich
ausgesprochen. Uns ist nicht viel mehr zurückgeblieben als die künst-
lerische Verwertung des Überraschenden, und in der Komik besitzen
wir das sicherste und vertrauteste Mittel dazu. Wer die Kunst aus
dem Spieltriebe ableitet, kann alle tätige Komik als eine Etappe auf
dem Wege zur höchsten Kunst ansehen, und dies um so mehr, als
sie auf das Anschauliche angewiesen ist Bei der Zeichnung versteht
es sich von selbst. Auch bei der Musik; denn das plötzliche Um-
biegen einer Melodie oder eines Rhythmus, das Eintreten einer uner-
warteten Klangfarbe, alle die tausend schillernden musikalischen Mittet,
durch die die größten musikalischen Humoristen — Jacques Offenbach
und Richard Strauß — wirken, dies alles ist doch nur für das Ohr
da. Aber auch beim sprachlich geformten Komischen kommt sehr
viel, oft alles, auf die Wahl der Worte und Klänge an ^®).
Verfolgt man die Linie bis zu ihrem Ende, so stößt man auf einen
Begriff, der dem das Tragische b^^ndenden Schicksalsb^^ff gegen-
übersteht und ebenso wie dieser der philosophischen Erörterung ent-
fremdet ist Ich meine den Zufall. Man könnte sagen, alles
Komische ist eine konzentrierte und sinnenfällige Darstellung des
Zufallwaltens; denn es bringt das Unähnliche zusammen und vertauscht
DAS HÄSSLICHE UND DAS KOMISCHE. 223
Übermütig Sinnvolles mit Sinnlosem. Drei Akrobaten, die im Frack
stecken und mit hohen Hüten in der Hand dem verehrten Publikum
sich empfehlen, werden durch Thomas Theodor Heine zu einem kräf-
tigen Ornament verschlungen: das Unmögliche verwirklicht sich durch
die Laune des Schicksals und seines künstlerischen Anwalts. Wie
nun aber jeder Zufall doch schließlich Jn einer verborgenen Gesetz-
mäßigkeit begründet sein muß, so ist auch jede komische Situation
und jeder Witz ursächlich begründet und gerechtfertigt. jVon den
zahllosen willküriichen Verknüpfungen, die wir den in der Wirklichkeit
vorliegenden entgegensetzen könnten, sind doch nur einige wenige
komisch, eben diejenigen, die im tiefsten Grunde wieder einen Zu-
sammenhang aufweisen. Auch der strengste Beurteiler wird daher
dem Witz nicht jedes Lebensrecht absprechen wollen. Er verdient
und behält es, ähnlich so wie der Aberglaube. Die abergläubischen
Maßnahmen, denen selbst die Aufgeklärtesten ein verborgenes Opfer
zu bringen pflegen (ich denke an das Wörtchen »unberufen«), sie
ruhen auf der halb bewußten Überzeugung, daß einerseits der Mensch
den Gang der scheinbar unabhängigen Ereignisse zu beeinflussen ver-
möge, und daß anderseits zwischen den entlegensten Dingen ein
geheimer Zusammenhang walte. Der Aberglaube baut gleich dem
Witz eine Welt auf, in der des Menschen Subjektivität fessellos sich
entfaltet, und in der es keine Abstandsunterschiede gibt, wo vielmehr
das Entfernteste ebenso leicht zusammenkommt wie das Benachbarte.
Des Märchens Phantasiespiel ist hiermit innig verschwistert Deshalb
duldet das Märchen die platteste Vorgangskomik und die tollste sprach-
liche Verkröpf ung, wie wenn die Prinzessin zum Narren sagt: »Störe
mich nicht in meinen Betrachtungen« und er antwortet: »Ich bin kein
Stör, ich bin der Reisemarschall.« In einem Märchen Brentanos werden
den Altvordern die — Junghintern gegenübergestellt! Solchen Keck-
heiten zum Trotz haben gerade unsere Romantiker den Witz mit der
Mystik verglichen. Mir scheint der wesentliche Vergleichungspunkt,
daß auch die Mystik eine Auflösung aller üblichen Formen und Ver-
bindungen bedeutet, aber eine bis in die letzten Tiefen reichende.
Mit solchen Analogien ist freilich die psychologische Zergliederung
kaum gefördert. Haben sie einen Wert, so besteht er darin, daß sie
die Stellung der Kategorie im Lebensgefühl der Menschen bezeichnen.
Von den höheren Formen des Komischen sind ästhetisch am
wichtigsten die Karikatur und der Humor. Maler und Dichter
können nur karikieren, was bereits einen leisen Hauch des Komischen
trägt; der Hohlspiegel, in dem der Karikaturist eine ausgeprägte Ge-
stalt auffängt, wirkt mit seinen Verzerrungen da am sichersten komisch,
wo bereits ein Ansatz zum Komischen vorhanden ist. Am deut-
224 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
liebsten sieht man es an den karikierenden Zeichnungen, die eine
phantastische Umgestahung des menschlichen Kopfes in einen Tier-
kopf vornehmen. Eine besondere Technik hat sich in den politischen
Karikaturenzeichnungen entwickelt. Sie stellen Ereignisse und Pläne,
überhaupt alles Abstrakte dar, indem sie entweder nach dem Vorbild
der großen Kunst oder mit eigenen Symbolen arbeiten. Diese Symbole
sind meist aus bildlichen Redewendungen* entnommen. Da wir bei-
spielsweise »Abhängigkeit« mit der Phrase bezeichnen »an jemandes
Rockschößen hängen«, so zeichnet es der Karikaturist so. Auch be-
kannte Tierfabeln und Parabeln müssen seinen Zwecken dienen. Die
echt künstlerischen Beziehungen innerhalb des Bildes, also die Raum-
werte und Formverhältnisse, treten zu Gunsten des sachlichen Inhaltes
und der belehrenden Absicht zurück. Qilt es etwa, die Größe eines
Reiches und die Kleinheit eines anderen zu verdeutlichen, so scheut
der Zeichner nicht davor zurück, den Herrscher des ersten Landes
dreifach so groß zu zeichnen wie den des anderen ^^). Von Parodie
und Travestie spricht man, wenn durch Versetzung in ähnliche, aber
veränderte Verhältnisse entweder — wie in der Parodie — die Form,
oder — wie in der Travestie — der Inhalt durch ihre Beibehaltung
verspottet werden. Mahlers erste Sinfonie enthält einen ulkigen Trauer-
marsch, worin die beiden Möglichkeiten musikalisch ausgemünzt
werden. Während die Groteske in frei schöpferischer Phantasie jedes
Vorbild hinter sich läßt, wird in den genannten Formen der Burleske
entweder das Gemeine in erhabene Höhen befördert oder das Helden-
hafte ins platt Bürgerliche hinabgezogen. Hinzu treten natürlich alle
Hilfsmittel, die ein Lachen erregen können. Ein Vers wie
Italiam primus conclamat Achates,
Italiam laeto socü clamore saliäant
lautet in Blumauers Äneis so:
(Äneis III, 523 f.).
Auf einmal schrie: Italien!
Achat aus der Kajüte.
Italien! scholls im Vorderteil,
Italien! scholls im Hinterteil,
Italien! in der Mitte.
Unter Humor verstehen wir eine Gemütsstimmung, in der ein
Mensch sich seiner Bedeutung und zugleich seiner Bedeutungslosig-
keit bewußt ist Man hat als die zwei Seiten des religiösen Gefühls
bezeichnet das Bewußtsein eines eigenen ewigen Wertes und das
darin verflochtene Gefühl der eigenen Kleinheit Die gleiche Ver-
schmelzung von Überi^enheit und Beschränktheit zeichnet den Humo-
risten und seine Leistungen aus. Als Dichter schildert er Geschicke
DAS HASSLICHE UND DAS KOMISCHE. 225
und Personen, die durch einen lächerlichen Beisatz in ihrer Bedeut-
samkeit nicht zerstört, sondern mittels eines indirekten Verfahrens ge-
hoben werden. In einer merkwürdigen Mischung von Selbstaufhebung
und Selbstbestärkung fahren die beiden Anblicke des Lebens sich
ad absurdum und lösen jenes schmerzlich-friedliche Oefflhl aus, das
der Mensch empfinden muB, der vor der endgültig letzten Ober-
windung des Daseins steht Die bildende Kunst kennt ähnliche Ver-
quickungen. Wenn der Künstler einen Mops mit seiner Wurst so
zeichnet, daß die Linien zu wundervollen Arabesken sich zusammen-
finden, oder wenn dem im höchsten Prunk einherschreitenden Märchen-
könig die Nase tropft, so besteht der Humor darin, daß auch das
Niedrigste in die reine Sphäre schöner Kunstformen hineinreicht und
das Erhabenste des Lebens in jedem Augenblick ins Lächeriiche ver-
fallen kann. Oar fröhlich schließt eins der Adärchen von Clemens
Brentano: »Der König Pumpan nahm ein großes Messer und schnitt
sein Königreich in zwei Teile und fragte den Schulmeister Klopfstock :
Rücken oder Schneide? Da sagte er: Schneide. Und Pumpan gab
ihm die Hälfte, die an der Schneide des Messers lag.« Im Märchen-
land wohnt der Humor am liebsten; wird er in Länder geringerer
Freiheit verwiesen, so lugt er immer noch nach jenem Reiche aus.
Carlyles > Sartor resartus^ enthält die Vorstellung, daß ,bei einer
fderiichen Staatshandlung plötzlich allen Beteiligten die Kleider entführt
würden. Der König wäre nicht mehr vom Lakaien zu unterscheiden,
alle Bande frommer Scheu würden reißen. In diesem märchenhaften
Bild, das die Macht der Kleidung verherrlicht und verhöhnt, steckt
echter Humor. Denn auch bei Carlyle strahlt hinter allem Spott
eine große Liebe zu den Menschen leuchtend hervor. Wahres Un-
glück wird vom Humor nie angetastet, der Witz dagegen schont es
nicht Wer die Kleinheit des Oroßen schildert, ohne die Größe herab-
zusetzen, wer den unlogischen Charakter des Lebens darstellt, ohne
seine Vemünftigkeit zu leugnen, eben dieser Zauberer ist ein humo-
ristischer Künstler. In Zeiten, wo die Kläglichkeit des Daseins gar
kein Gegengewicht aufweisen konnte, hat es auch keinen Humor ge-
geben; denn ohne eine Freude am Leben und an der Welt vermag
er nicht zu atmen; und umgekehrt fehlt den Zeiten und Völkern, die
in toller Lebenslust ihr Dasein verbrauchen, die humoristische Kunst —
Der Humor sieht hinter dem Zufall das Schicksal. Er verknüpft
Endliches mit dem Unendlichen, und er lehrt, wie man mit einem
Lächeln das Schicksal besiegen kann. Deshalb ist wahrer Humor ein
unentbehriicher Notgroschen für die sonderbare Haushaltung, die
wir zwischen Himmel und Erde führen.
Dcttoir. Attbeük and allf. KunMwiMciiKliafl. 15
226 V. DIE ÄSTHETISCHEN KATEGORIEN.
Anmerkungen.
0 Am bequemsten nachzulesen in dem Philosophischen Lesebuch, herausgegeben
von Max Dessoir und Paul Menzer, 2. Aufl., 1905, S. 31 ff.
») Karl Köstlin, Ästhetik, 1869, S. 69 u. 75.
') Ich gebe hier die im Text angedeutete Stelle wortgetreu wieder. Des
Herrn Gerhard de Lairesse, Welt-belobten Kunst-Mahlers , Großes Mahler-Bucfa etc.
Aus dem Holländischen in das hoch-Teutsche übersetzt Nürnberg 1728. Erster
Teil, VI. Buch, 15. Kapitel (S. 183 ff.). »Eine Landschafft mit gantzen und gerade
aufgewachsenen Bäumen, welche von runden Stämmen, auch wohlgestaltem Laub
und Gipfeln seynd; gleiche und ebene Gründe, mit allmählich auf- und abgehenden
Hügeln versehen; Wasser-Bäche mit klaren und stillen Strömen; lustige Prospede;
wohlgeordnete Couleunn, nebst einer angenehmen Lasurblauen Lufft, so einige
trübe Wolcken führt; nicht weniger, zierliche Fontainen, prächtige Häuser und
Palläste, welche nach der Bau-Ordnung verständig ordinirt, und mit schönen
Ornamenten ausgeziret seynd ; Leute mit proportionirten Gestalten und Gliedmassen,
von lieblichen Wirckungen, auch über dieses ein jedes nach seiner Eigenschafft
eolorirt und bekleidet; Kühe, Schafe und andere gefütterte Thiere: alle diese erst-
gemeldte Dinge können mit Recht den Namen mahlerisch führen.
Herentgegen, ein Stück voll ungestalter Bäume, deren Laub und Aeste sich wüst
und unschicklich von Osten nach Westen von einander spreitzen; krumme, alte und
gespaltete Stämme, mit vielen Knorren und Löchern bewachsen; ungleiche und ab-
geschnittene Gründe ohne Wege; scharffe Hügel und ungemein-hohe Berge, die
den Prospect ausfüllen; rauhe oder verfallene Gebäude, davon die Stüdce und
Trümmer unordentlich und über dem Hauff en liegen; morastige Wasser-Bäche; eine
Lufft voll schwartzer Wolcken; das Feld mit magern Thieren und ungeschickten
Landläuffem, oder einem Hauffen wilder Leute staffiret etc. kan unmöglich vor eine
schöne Landschafft angenommen werden.«
*) Werner Fite, Art, Indastry and Science. PsychoL Review, 1901, VIII, 128—144.
^) Wilhelm von Scholz, Gedanken zum Drama, 1905. Von älteren Werken ist
namentlich Volkelts Ästhetik des Tragischen zu Rate zu ziehen. Einige Reflexionen
in meinen Ausführungen sind durch die Schriften von Paul Mongr^ angeregt
*) Früher hielt man allerdings daran fest, daß die Künste nicht mit gleicher
Leichtigkeit dem Häßlichen Raum gönnen. Adam Smith z. B. meinte: *The piäure
of a very ugly and deformed man such as Aesop or Scarron might not make a
disagreeable piece offumiture. The stcUue certainiy would. Even a vulgär ordinwy
man or woman, engaged in a vulgär ordinary aäion, like what we see with so mndi
pleasure in the piäures of Rembrandt, would be to mean a subjed for statuary.^
The Works of Adam Smäh, 1811, V, 250.
^) Vgl. Th. Lipps, Komik und Humor, 1898 und Sigmund Freud, Der Witz und
seine Beziehungen zum Unbewußten, 1905.
") Heymans, Ästhetische Untersuchungen im Anschluß an die Lippssche Theorie
des Komischen. Zeitschrift für Psychologie, 1896, Bd. XI, S. 351.
*) Andere Beispiele und ähnliche Erwägungen bei H. Bergson, Le Rire, 1900,
und A. Penjon, Le rire et la liberti, Revue philosophique, 1893, Nr. VIII, S. 113—140.
***) Vortreffliches darüber in Richard M. Meyers Abhandlung über den Namen-
witz. Neue Jahrbücher, 1903, XI, 2, S. 122 ff.
**) Ich mache auf die nützliche Untersuchung von Emil Fichte, Osterprogramm
des Beriiner Klostergymnasiums 1892, aufmerksam.
J
ZWEITER HAUPTTEIL
ALLGEMEINE
KUNSTWISSENSCHAFT.
l. Das Schaffen des Kfinstlers.
1. Zeitveriauf und Gesamtcharakten
Kunst ist nicht Reinkultur des Schönen. Der Naturalismus der
Schönheit, so geschmackvoll und angenehm er sein kann, bleibt ebenso
wie der Naturalismus der Häßlichkeit vor den Toren der Kunst Kunst
entsteht durch keine Verdichtung des Ästhetischen. Diese unschuldige
Wahrheit, leider von den treuesten und empfindlichsten Seelen ver-
urteilt, ist nunmehr aus dem Wesen des Kflnstlers, der Entstehung,
Beschaffenheit und Wirkung der Kunst zu rechtfertigen. Wir begin-
nen unseren Weg mit der Untersuchung des künstlerischen Schaffens,
weil das Dasein einer solchen Tätigkeit nicht nur die Kunst ermög-
licht, sondern auch an sich selbst, als unterschieden vom ästhetischen
Leben, zuerst die Aufmerksamkeit erheischt Niemand kann leugnen,
daß (neben Formensinn und Geschmack) an der Erzeugung von Kunst-
werken Geist, GefflhI, Gewissenhaftigkeit und andere Persönlichkeits-
elemente t>eteiligt sind. Der ästhetische Geschmack allein taugt nicht
als Gradmesser fOr die Höhe des Kflnstlertums: während Liebhaber
und Kunstrichter den feinsten Geschmack entwickeln können, haben
so große Künstler wie Grabt>e und Böcklin gel^entlich eine groteske
Geschmacklosigkeit zu Tage gelegt, pie Freude des Sehens und das
GlOck des Vergessens eignen freilich auch dem Künstler, aber Drang
nach Wahrheit und Nützlichkeit fehlen deshalb nicht Und wir, die
wir ein Kunstwerk genießen, erfreuen uns an der Eigenart des Schöpfers,
an seinem sichtbaren Sieg .über die Sprödigkeit des Stoffes, an der
Treffsicherheit, mit der er in den Herzpunkt der Wirklichkeiten dringt,
an der Fülle und Lebendigkeit des Gehaltes, mit einem Wort: an
Qualitäten, die bei der Erforschung des Ästhetischen ganz außer acht
bleiben konnten.
Der Vorgang des künstlerischen Schaffens verläuft zeitlich derart,
daß die wissenschaftliche Abstraktion mehrere Ptuisen voneinander
abheben darf. Die erste bezeichnen wir mit einem Worte Eduard
V. Hartmanns ^) als produktive Stimmung. Meist überfällt diese Stim-
mung den Künstler, ohne daß er sie aufgesucht hätte: zu jeder Stunde^
an jedem Orte kann sie eintreten. Nicht als beglückender Gast pflegt
230 L DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
sie ZU nahen, sondern schwer und unvennutet wirft sie sidi auf die
Seele — »Wie Tranen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötz-
lich auch die Lieder c. Die Analyse findä nicht viel Sie entdedct
wohl irgendwelche unbestimmten Sinnesvorstellungen, doch ohne Zu-
sammenhang mit dem spateren Werk. Häufig gdiören diese Vorstel-
lung^ einer anderen Sphäre an als der des fertigen OebDdes, und
vielleicht sind die nicht sdten^i Irrtumer der Kunstler Ober das Gd>iet,
auf dem ihre Stärke li^, zuräcksniführen auf eine solche sinnliche
ErsatztätigkeiL Wenn einem Musiker keine Melodien auftauchen, son-
dern Verse sich bilden, oder wenn ein Maler in dieser Stimmung nicht
Farl>en sieht, sondern Klänge hört, so kann man begreifen, daß sie
ihrer eigensten Bestimmung nach sich für etwas anderes halten, als
was sie äußerlich und in Wahrheit sind
Im Ganzen angesehen ist diese Vorba-dtung vor der Schöpfung
dn Wogen von Gefühlen und Lddenschaften. Im Innern der Sede
kämpfen Kräfte mitdnander; das Werk befindet sich noch im Zu-
stande vor der Geburt Der Schaffende fühlt die Verfassung des Be-
wußtsdns ähnlich so, wie der vor dner sittlichoi Entscheidung
Stehende die seinige. Es ist ein unbestimmtes Hin und Her, das bis
zu physischem Schmerz sich stdgem kann. Verwirrung und Unord-
nung unterscheiden den geistigen Zustand des künstierischen Menschen
von dem des instinktmäßig handdnden. Die früher so gewöhnliche
Vergleichung mit dem Instinkt ist mdnes Erachtens nicht nur nutzlos,
sondern auch verkehrt Nutzlos ist sie, wdl sie etwas schwer Ver-
ständliches auf etwas noch schwerer B^jeifliches zurückführt; und
sie versieht es darin, daß der Instinkt mit unbedingter Sicherhdt, aber
auch mit großer Gldchförmigkeit arbdtet In dem Frühstadium der
künstlerischen Produktion hing^en ist alles unsicher und ungidch.
Die Qual dieser Stimmung stdgert sich durch die Angst, ob wohl
irgend etwas Brauchbares aus der Verwirrung entstehen möge. Sdbst
der Künstler, der schon oft von ähnlichen Err^[ungai durchschüttdt
worden ist, zweifelt immer wieder von neuem, ob aus dem Chaos
etwas sich formen werde. Tröstlich ist ihm indessen jenes Gefühl
der Erwartung, das ihn nie getäuscht hat Schon vernimmt er von
der Feme leise Stimmen, doch den Sinn ihrer Reden kann er noch
nicht ergründen. Er hört noch nicht die bestimmte Mdodie, er faßt
noch nicht völlig den Farben- und Formenzusammenhang. Aber in
leisen Anzeichen erblickt er eine Verhdßung. Es kommt vor, daß
ein Traum die Lösung dieser Spannung bringt, daß beim Erwachen
plötzlich alles klar vor der Sede steht und eilends festgel^ werden
muß.
Dieser ganze ungeheure Aufruhr des Organismus erinnert an die
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 231
geschlechtliche Erregung. Desw^en hat man die künstlerischen
Fähigkeiten als eine Ausstrahlung und Verselbständigung des ge-
schlechtlichen Erethismus aufgefaßt und sie mit dem Kultus der soge-
nannten phallischen Religionen in Beziehung gebracht An diesem
Punkte unserer Erörterung handelt es sich jedoch lediglich um die
Tatsache, daß eine Verzückung als Vorläufer der künstlerischen Lei-
stung und auch der Zeugung auftritt. Auch insofern scheint die Ver-
gleichung richtig, als der endlich geglückten Oestaltung ein Zeitraum
innerer Leere und Erschöpftheit folgt Wenn das Begattungsbedürfnis
drängt, erhalten alle Wahrnehmungen eine besondere Farbe Der
Mensch beachtet das Schwellen und Befruchten in der Natur, er
lauscht dem sehnsüchtig werbenden Oesang der Vögel, und alles f
was an Erinnerungen und Zukunftsträumen in der Seele ruht, das
stürmt empor. Hernach ist der seelische Zustand wie umgetauscht.
Die Vorstellungen, die uns keine ruhige Minute gönnten, fallen jetzt
fort, und wenn wir uns bemühen, sie wiederzuerwecken, so sehen
sie grau und gleichgültig aus. Was vorher bis zum Wahnsinn quälte,
ist nun ein schattenhaftes Etwas, das erstaunlich schnell unter die
Bewußtseinsschwelle sinkt. Da die Verhältnisse beim künstlerischen
Schaffen ganz ähnlich liegen, so kann man sagen, daß die zweite Phase
im Schaffensvorgang eine Befreiung von dem darstellt, was allzu stark
die Seele erfüllte, vergleichbar der im Frühling eintretenden Lösung
von Schneemassen, wenn diese von der Höhe des Berges gewaltig ins
Tal rauschen. Indessen der hier zur Betrachtung stehende Vorgang
vollzieht sich nicht so plötzlich, sondern zertegt sich wiederum in
mehrere Stufen. Vorerst müssen zwei Auffassungen, die in älteren
Beschreibungen der künstlerischen Produktivität herrschen, als fehler-
haft abgewiesen werden. Jene Selbstbefreiung bedeutet noch nicht
Mitteilung an andere. Es ist denkbar und vorgekommen, daß der
Künstler vor der Veröffentlichung der endlich klar herausgestellten Idee
seines Kunstwerkes ängstlich zurückscheut Wohl gibt es einen Drang,
der aus der Einsamkeit zur Mitteilung zwingt; aber er stellt sich
später ein, und das Bedürfnis, das in diesem Zeitpunkt auftritt, hat
nichts gemeinsam mit dem Verlangen nach Wirkung auf andere.
Zweitens ist die Selbstbefreiung etwas, was überhaupt bei geistigem
Art>eiten sich findet und nicht auf künstlerisches Schaffen l>eschränkt
ist Auch philosophische Gedanken können den Schlaf der Nächte
stören und den ganzen Menschen so mitnehmen, daß er erst wieder
gesundet, nachdem sie in ihm reif geworden und zur Klarheit des
Begriffs aufgestiegen sind. Die Notwendigkeit des Sichentäußems
ist eine allgemeine. Es scheint, als ob man inneriich nicht eher mit
etwas fertig ist, als bis man es aus der Haft des Bewußtseins ent-
232 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
lassen und ihm feste Form gegeben hat. Das spezifisch Künstlerische
ist demnach nicht hierin enthalten, sondern in der besonderen Art des
verdeutlichenden Ausdrucks. Die produktive Stimmung verbindet den
künstlerisch Schaffenden mit allen, die im höheren Sinne des Wortes
geistig tätig sind. Allein die Natur des Gestalteten, das aus dem
Vorbereitungsstadium hervorspringt, entscheidet darüber, ob es sich
um künstlerisches oder anderes Schaffen handelt
Wir bezeichnen den Augenblick, in dem der Vorgang konkrete
Erscheinungsform gewinnt und sich dadurch als künstlerischen Oe-
staltungsprozeB bekundet, mit dem überiieferten Ausdruck als Kon-
zeption. Nach den Selbstzeugnissen der Künstler kann die Empfängnis
nicht erzwungen, wohl aber gefördert werden, und zwar durch Arbeits-
versuche. Merkwürdig genug: die in dieser Zeit vorgenommene
Arbeit hat durchschnittlich nicht an den Punkten Erfolg, auf welche
die Aufmerksamkeit gerichtet ist, sondern läßt an ganz anderen, unbe-
achteten Stellen klare Gebilde auftauchen. Indem der Künstler schon
jetzt tastet und probiert, glückt es ihm wohl, dies oder jenes einzu-
fangen, doch meist etwas anderes als das Erwartete. Das Schaffen
vollzieht sich vorläufig planlos oder, wenn man lieber will: unbewußt
Denn noch hat das Ganze keine Form gefunden. Diese Planlosigkeit
ist aber keineswegs unzweckmäßig. Wollte der Künstler in philister-
hafter Geringschätiiung der Unsicherheit die Arbeitsversuche unter-
lassen, so würde er in der Mehrzahl der Fälle den Prozeß verlang-
samen, ja sogar seine Vollendung in Frage stellen. Die Arbeit dient
dazu, solche Gel^enheiten herbeizuschaffen, durch die das bisher
Zusammenhanglose zusammenhängend werden kann. Seelische Ele-
mente streben einer bestimmten Gruppierung zu. Nun bedarf es noch
einer neuen Erfahrung, damit die verhältnismäßig freie und launenhafte
Tätigkeit des Bewußtseins zu einer sicheren Einheit erstarke. Der
Brennstoff ist vorbereitet, jetzt muß ein Funke hineinfallen, und zauber-
haft plötzlich steht das ausgewachsene Drama vor dem Geiste des
Dichters, das Bild vor dem Auge des Malers, die Figur vor dem Auge
des Bildhauers, der Melodienzusammenhang vor dem Ohr des Musikers.
Die Vollständigkeit ist freilich eine scheinbare. Sie wäre ebenso-
wenig zu begreifen wie eine Schöpfung aus dem Nichts. In Wahrheit
hatte sich alles vorbereitet, und nur der letzte Anstoß kam noch hinzu.
Die äußere Tatsache, mit der angeblich die Erfindung b^'nnt, setzt
schon eine bestimmte Verfassung des Geistes als die zu seiner Wirk-
samkeit nötige Vorbereitung voraus. Storm nannte den Impuls treffend
den Perpendikelanstoß und erläuterte ihn an einem eigenen Erlebnis
seiner dichterischen Laufbahn. Denn was der Künstler nunmehr zu-
fällig sieht oder hört — Weber gewann ein musikalisches Motiv aus
ZEITVERLArF UND GESAMTCHARAKTER. 233
dem Anblick aufeinandergeschichteter Stfihle — , das besagt etwas
bloß für dies so besonders vorbereitete Gemfit. Max Halbe hat ein-
mal die Umstände erzählt, unter denen die Konzeption seines Dramas
»Jugend < vor sich ging. »Es waren die allergeringfQgigsten Umstände,
fast ein Nichts, und doch genfigte es, um mit einem Schlage das ganze
Bild des nachmaligen Dramas lebendig zu machen.« Der Anblick
eines Februarhimmels, der ferne, halb winselnde, halb sehnsfichtige
Klang eines Leierkastens ließen die Erinnerung an ein neun Jahre
zurückliegendes Eriebnis auftauchen, und dies wurde jetzt mit blitz-
artiger Geschwindigkeit zum dichterischen Ereignis. Offenbar wird
eine an Erinnerungen reiche Phantasie geeigneter sein, aus kleinsten
Anregungen Nutzen zu ziehen, als eine, die wenig Stoff zur Verfügung
hat Undeutliche Entwickelungen streben nach ihrer Vollendung und
finden sie durch eine in jedem anderen Fall gleichgültige Gelegenheit.
So wiederholt sich im Individuum, was in der Geschichte der Mensch-
heit sich abspielt. Die Entwicklung einer Kunst und ihr gegen-
wärtiger Zustand sind die unbestimmte und unvollständige Organi-
sation; der große Künstler, der dann auftritt und eine neue Epoche
begründet, gleicht dem Perpendikelanstoß, der das Vorhandene in
fruchtbare Bewegung setzt.
Übrigens kann auch jetzt der Künstler noch nicht mit unbedingter
Sicherheit sagen, was aus seinem Werk werden wird. Es kommt
darauf an, was im weiteren Verlauf innertich aus anderen Motiven und
zu anderen Zwecken wach wird, und was von außen noch dazustößt.
Denn es treten ja immer neue Hilfskonzeptionen auf. Wir werden
zwar den weiteren Verlauf des Schaffens so schildern, als sei er nur
ein Ausführen; aber es ist ein — allerdings begreiflicher — Irrtum,
wenn schaffende Künstler behaupten, ein ganzes großes Werk von
Anfang an genau so vor sich gesehen zu haben, wie es später wurde.
In Wahrheit bleiben viele Wege offen, die von dem gefundenen Aus-
gangspunkte weiterführen. Infolgedessen kann es vorkommen, daß
die ursprüngliche Idee sich mehr oder weniger ändert, ja manchmal
in ihr Gegenteil umschlägt. Irgend ein frisches Moment drängt sich
so vor, daß die alte Einheit zersprengt und eine neue gebildet wird;
oder der erste Plan bleibt, aber spätere Konzeptionen wachsen sich
zu eigenen Lebewesen aus. So entstehen die Episoden im Kunst-
werk, die Doppelhandlungen, die Abschweifungen und vor allem die
so häufigen Längen. Schließlich kann es auch geschehen, daß
Anarchie eintritt und das Werk überhaupt nicht zu Ende kommt').
Auf die Empfängnis folgt beim regelmäßigen Veriauf die Skizze,
d. h. jene setzt sich in etwas Äußeres um; ja in vielen Fällen erwächst
überhaupt erst an der Skizze die Konzeption. Manche künstlerische
234 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Naturen schöpfen aus dem äußeren Anblick alle Lebenskraft für den
entstehenden Organismus. Der Musiker, der am Klavier die Themen
zu formen versucht, wird durch den wirklichen Klang zu neuen Ge-
staltungen veranlaßt Indem der Maler eine Skizze hinwirft, belehren
ihn die Linien. Der Dichter fühlt plötzlich die Gedanken sich los-
ringen, wenn Worte vor ihm auf dem Papier stehen. Man legt sich
das Verhältnis gewöhnlich dahin zurecht, daß die fertige Komposition
in der Skizze nur festgehalten zu werden brauche. Allein bei vielen,
wenngleich nicht bei allen Künstlern hat die Skizze doch noch den
Wert, daß sie auf das innerlich Geschaute zurückwirkt. Dies Zusam-
mentreffen der schöpferischen Kraft mit einer Anregung, die von der
Skizze ausgeht, wird meist als freudvoll empfunden: in solchen Stun-
den gewährt das künstlerische Schaffen den reinsten und stärksten
Genuß. Wenn subjektiv Vorgestelltes und objektiv Dargestelltes sich
nähern, so entzünden sich Machtgefühl und Bewußtsein der Leistung.
Der unvergleichliche Kunsterforscher Friedrich Hebbel hat einmal die-
selbe Erkenntnis ausgesprochen: »Die Begeisterung, die ein Künstler
für seine Ideale hegt, kann er nur dadurch beweisen, daß er sie mit
allen ihm und der Kunst zu Gebote stehenden Mitteln zu verieiblichen
sucht; dadurch, daß jemand verzückt in die Wolken schaut und aus-
ruft: welch eine Göttin erblick' ich! kommt keine Göttin auf die Lein-
wand. Ja, es ist nicht einmal wahr, daß er selbst eine sieht, er er-
obert sie sich erst durchs Malen, er würde in seinem ganzen Ld>en
nicht zum Pinsel greifen, wenn sie vor ihm schon alle Schleier abge-
legt hätte« (Werke X, 175). Mit dem Wort: der Maler erobert sich
seine Göttin erst durchs Malen, wird eine Grundeigentümlichkeit des
höheren geistigen Lebens berührt: die Abhängigkeit der Schöpfung
von der Äußerung. Wenn eine alte, aus der Schule stammende R^^el
verlangt, der Mensch solle erst fertig gedacht haben, ehe er spreche
oder schreibe, so verfangt sie etwas gewissen Naturen oft schlecht-
weg Unmögliches. Die Gestaltung des Gedankens wird durch den
Ausdruck im Sprechen oder Schreiben zum mindesten gefördert, manch-
mal überhaupt erst ermöglicht Man versuche, durch bloßes Hinblicke
einen fein gegliederten Gegenstand in seinen Einzelheiten aufzufassen
— es gelingt nur zur Hälfte; erst indem man ihn zeichnet, sieht man
ihn wahrhaft So lernen wir alle, indem wir lehren, so binnen wir
zu zweifeln, indem wir kühn behaupten, so erkennt der Dichter eine
Seele, indem er sie schafft. Die scheinbar selbstverständliche Aufein-
anderfolge von Erkennen als dem Früheren und Darstellen als dem
Späteren ist keineswegs immer die tatsächliche, sondern beide Funk-
tionen fließen zeitlich ineinander über und können ihre Plätze tauschen.
Bei Kunstwerken kleinsten Umfanges mag mit der Skizze der
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 235
Schaffensvorgang eriedigt sein, weil hier die Skizze etwas Fertiges be-
deuten kann, d. h. etwas, was einer Vert>esserung weder fähig noch
bedürftig und der endgültige Extrakt des KQnstlertums ist Bei größeren
Werken at>er folgt die Ausführung oder besser: die innere Durch-
führung. Das Oesamtbild steht jetzt vor dem Oeist des Schaffenden.
Jede Linie, die er aufs Papier wirft, jede musikalische Phrase, die er
erfindet, jede dramatische Szene, die er niederschreibt, sie sind ein Teil
des schon vorhandenen Oanzen; aus dem Verhältnis zum Ganzen
erhalten sie ihr Gepräge Fortwährend wird das neu Entstehende mit
dem Zielpunkt verglichen. Diese Durchführungsarbeit, so gern sie
von schwärmerischen Ästhetikern als nebensächlich abgetan wird, ist
dennoch dermaßen wesentlich, daß gerade an ihr die Größe des
Künstlers offenbar wird. Talente, denen > Erleuchtungen« beschieden
sind, finden sich nicht allzu selten. Namentlich in der Jugend stellen
produktive Stimmung, ja auch diese und jene glänzende Konzeption
sich leidlich oft ein. Aber damit ist noch kein Kunstwerk gegeben.
Es heißt nun verwirklichen, was bisher in der Phantasie schwebte,
und zwar mit gewissenhaftem handwerklichen Können. In den Lebens-
beschreibungen aller großen Künstler sind tausend Züge überliefert,
aus denen die Notwendigkeit einer solchen unablässigen Arl)eit her-
vorgeht. Jeder hat es an sich erfahren, daß er sich in Zucht nehmen
muß, wenn überhaupt etwas zu stände kommen soll; er darf nicht
auf die Augenblicke warten, in denen er gut gestimmt ist, sondern er
muß sie herbeiführen, ohne Rücksicht auf Widerstände der Umgebung
und des Objektes.
Mit dem alten Glauben, daß die Künstler durch sogenannte Inspi-
ration schafften — als ob sie plötzlich wie durch einen Akt göttlicher
Gnade das fertige Werk in sich vorfänden — verbindet sich die Vor-
stellung, die in Lessings Wort ihren packendsten Ausdruck gefunden
hat: »Raffael ohne Hände^. Nach diesem verhängnisvollen ästhetischen
Dogma ist in dem durch Erleuchtung gewonnenen inneren Bild das
eigentliche Kunstwerk enthalten. Alles, was vorausgeht und nachfolgt,
wird in der noch heute volkstümlichen Auffassung vernachlässigt, und
damit nicht nur die Technik mißachtet, sondern auch jede psycho-
logische Erklärung zu nichte gemacht Es unterliegt aber keinem
Zweifel, daß die schöpferische Einbildungskraft allein wenig ausrichten
würde, wenn nicht der ordnende und leitende Verstand hinzuträte.
Der Künstler muß jede bezeichnende Nuance, die auftaucht, sofort
festhalten und an den rechten Platz stellen. Die Notizbücher der
Dichter und Musiker und die Skizzenbücher der Maler sind der Beweis
für diese Annahme. Freilich wirkt etwas Unbewußtes oder besser
wohl Unterbewußtes im künstlerischen Schaffen: Die Ideen arbeiten
236 I- DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
gleichsam auf eigene Kosten und ohne fortgesetzt das Bewußtsein zu
belästigen. Aber von Zeit zu Zeit muß der Künstler nachsehen, wie
weit sie gediehen sind, um den Zeitpunkt richtig zu fassen, an dem
sie gerade reif werden. Eine höchst geschärfte Urteilskraft gehört
dazu/ um aus allem dem, was inzwischen an Bildern, Worten, Ver-
gleichungen, Melodienstückchen, Formzusammenhängen sich gesammelt
hat, das Gute und Verwertbare herauszufinden und das andere recht-
zeitig abzustoßen, damit es die weitere Arbeit nicht hindert Außer
ihrer besonderen Begabung brauchen die Künstler die weitere Fähig-
keit, aus ihr den größten Nutzen zu ziehen; und darin versehen es
die meisten. Das Talent würde schon ausreichen, wenn nur mehr
Ernst in seiner Ausnutzung vorhanden wäre. So mancher Künstler,
der nie fertig wird und intreriich nicht vorwärts kommt, will nicht
zugeben, wie nachlässig er seine Gaben verwendet. Aber beobachtet
man ihn, so merkt man, daß er die besten Einfälle verpuffen läßt, sie
nicht zusammenhalten kann und die Anstrengung der ordnenden
Arbeit scheut. Die Einfälle allein machen es nicht Ein kurzer melo-
discher Zusammenhang mag sehr schön sein; aber sechs Takte bilden
noch kein Kunstwerk. Aphorismen haben Glanz und Wert in sich;
allein auch mehrere Dutzend davon, wenn sie nicht innerlich zusam-
menhangen, bilden noch kein System. Der motivische Stoff großer
Künstler kann sehr gering sein; ihre Kraft wurzelt darin, daß sie das
freiwillige und von starken Gefühlen begleitete Spiel überwachen und
durch das Zusammenwirken von Willen und Verstand zu ernsthafter
Leistung steigern.
Der soeben geschilderte Vorgang läßt sich auf allen Gebieten gei-
stiger Tätigkeit beobachten. Er mußte nur deshalb betont werden,
weil die Künstler oft weich geartet und mehr als andere Menschen der
Versuchung ausgesetzt sind, sich mit freiem Phantasieren zu b^[nfigen.
Hat ihnen ja die Ästhetik seit alters eingeredet, daß sie besonders be-
gnadete Wesen seien, denen von selbst alles zuströmen müsse In
Wahrheit liegt ihre Begabung teils in dem Auftreten von produktiven
Stimmungen und Konzeptionen, teils in der verhältnismäßigen Leichtig-
keit und Schnelligkeit!, mit der die innere Durchführung von statten
geht. Doch überhebt Talent niemand der Arbeit Ich habe schon an-
gedeutet, daß mit »Widerständen des Objekts« zu kämpfen ist Dies
Objekt nämlich führt, kaum daß es da ist, sein eigenes Leben und
zeigt sich oft stärker als sein Schöpfer; es zwingt ihn dorthin, wohin
es selber will. Bücher haben nicht nur ihre Schicksale, sondern auch
ihre persönlichen Charaktere; die Folge der Kapitel z. B. scheint der
Bestimmung des Urhebers fast so entzogen, wie die Folge von Mädchen
und Knaben der Entscheidung des Vaters. Durch solche unabhängige
ZEITVERLAITF UND GESAMTCHARAKTER. 237
Eigenart geraten gelegentlich die reifenden Kunstwerke in Widerstreit
mit dem Künstler, erlangen keine rechte Einheit und bleiben dunkel.
Wieviel Mut gehört dazu, ein großes Kunstwerk auszuführen! Wieviel
echte Leidenschaft muß vorhanden sein, um immer von neuem nach
der endgültigen Leistung zu strd)en, jener Leistung, die gleich dem
Aristotelischen Ootte den Zielpunkt der Weltbew^^ng bedeutet oder
gleich Hegels absolutem Oeist die Erlösung für die sich aufwärts
ringende Vernunft des Künstlers darstellt!
Wir hätten endlich von der Objektivierung zu sprechen. Aber ihre
Erörterung gehört in die spezielle Kunstwissenschaft, da sie verschie-
dentlich vollzogen wird, je nach der Kunstgattung. Deshalb sei ledig-
Ikh angemerkt, daß die Musik eine Ausnahmestellung einnimmt.
Während jedes literarische Werk mit der Niederschrift fertig ist -
über das Drama werden wir uns später verständigen — und die Er-
zeugnisse der bildenden Kunst gleichfalls mit ihrer Fixierung vollendet
sind, gibt der Musiker in seiner Partitur doch nicht viel mehr als eine
Anweisung. Er bedarf der Ausführenden, damit das wirkliche Kunst-
werk entstehe. Die Noten verhalten sich zur Musik anders als die
Buchstaben zur Poesie. —
Im Oesamtcharakter des künstlerischen Schaffens li^en einige Züge,
die in unserer Übersicht noch nicht genügend hervortraten. Zunächst
das Verhältnis zur Wirklichkeit Ein reiches Erleben bildet die Orund-
lage für alle Leistungen des Künstlers. Darunter verstehen wir nicht
jene quantitative Ausdehnung, die etwa durch Reisen bezeichnet wird:
diese äußeriiche Methode, Menschenkenntnis zu erwerben, hat nichts
gemein mit der Art des Künstlers, der vom stillen Winkel aus genug
des Mannigfaltigen erspähen kann. Vor allem lebt ja in ihm selber
eine Wunderwelt der Gestalten. Seine hervorragendsten Abenteuer
sind einfach seine Werke. Aber auch qualitativ unterscheidet sich die
künstlerische Lebenserfahrung von dem, was gewöhnlich so genannt
wird. Sie ist kein eigentliches Beobachten, sondern viel unwillkür-
licher, ein instinktives Sehen und Erinnern. Beobachtungsgabe im
Sinne aufmerksamen und absichtsvollen Hinblickens dürfte für den
Arzt oder den Kriminalbeamten wichtiger sein als für den Künstler.
Erwägen wir doch folgendes. Die Beol)achtung der Natur ist t>ei den
primitiven Menschen aufs erstaunlichste ausgebildet, ohne daß sie ihre
Umgebung in gleicher Intensität künstlerisch aufzufassen verstünden;
erst wenn der Mensch sich von der Natur abwendet, kann er sie im
ästhetischen Sinne beherrschen; nicht aus der Arbeit an dem Gegebenen,
sondern aus den Mußestunden werden die künstlerischen Einsichten
geboren. Es begegnet uns wohl, daß wir, auf einer Hochtour in
Lebensgefahr geraten, alle noch so gleichgültigen Eindrücke unbewußt
238 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
aufnehmen und festhalten, oder daß wir, ganz in einen Schmerz ver-
sunken, die geringsten Kleinigkeiten sehen und uns einprägen. Diese
Vorgänge stehen der besonderen Wahrnehmungsfähigkeit des Dichters
näher als alles absichtliche Beobachten, das auf bestimmte Ziele ge-
richtet ist Gerade weil der Dichter nicht unter bestimmten Voraus-
setzungen und nicht zu bestimmten Zwecken hinsieht oder hinhört,
bleibt ein unverfälschter und ganzer Eindruck zurück, der späterhin
beliebig verwertet werden kann. Taine sagt einmal von Shakspere:
»// pensait par blocs, et nous pensons par morceaux^. Das bedeutet,
daß jedes sogenannte Beobachten die O^enstände verändert und zer-
stückelt, während sie in die Seele des absichtslos erlebenden Kunstlers
in Vollständigkeit eintreten. Es bedeutet femer, daß die kfinstlerische
Konzeption durch Geburtsrecht ein Einklang von Wahrnehmen und
Fühlen ist und daß sie sich nur frei zu bekennen braucht, um gleich-
zeitig zu den Sinnen und zu den Sympathien der Menschen zu
sprechen.
Sobald nun das eigentliche Schaffen, d. h. das Umformen des Er-
lebten beginnt, erweist sich die Vol.lständigkeit des Erinnerungs-
bildes als besonders wertvoll. Denn infolge dieser Totalität kann
jede beliebige Einordnung und Umbildung vorgenommen werden; bald
dieser bald jener Bestandteil springt zuerst heraus, erscheint als der
wesentliche Zug. Eine verhältnismäßig geringe Anzahl solcher Er-
fahrungen enthält daher einen unendlich reichen Stoff, in dem jede
Einzelheit Beziehungen zu den anderen Einzelheiten hat Gleichwie
die erste Linie, die der Zeichner sicher aufsetzt, Sinn und Berechti-
gung nur aus dem unsichtbaren Vorstellungszusammenhang im
Künstler erhält, so fällt der erste Charakterzug, den der Dichter
vorstellt und verwendet, in ein Gesamtbild oder in eine »innere Forme.
Das spezifisch Künstlerische ist kein Kombinieren, Komponieren, Kal-
kulieren. Dergleichen darf nicht fehlen, gehört aber im Grunde ge-
nommen unter die wissenschaftlichen Verfahrungsweisen % Wir können
uns (mit J. Milsand) einen Maler denken, der eine tüchtige Leistung
zu Stande bringt, indem er eine ihm gestellte Aufgabe durch Hervor-
suchen geeigneter Erfahrungen aus dem angesammelten Vorstellungs-
stoff zu lösen versucht Er zeichnet einen Baum mit der Absicht,
ihm eine gefällige Form zu geben; nachdem er den einen Ast konstruiert
hat, schafft er ihm ein Gegengewicht durch einen zweiten, bildet aber
diesen mit Überi^^ng anders als den ersten, auf daß Abwechslung
hineinkomme u. s. f. Indessen, so arbeitet die rein künstlerische Ein-
bildungskraft niemals. Für sie ist das Ganze früher als die Teile, sie
schafft mit einem Schlage, sie setzt ein organisches Ganze in die Welt,
aus dem erst allmählich die Glieder heraustreten. Die Übereinstimmung
ZEITVERLAUF UND GESAMTCHARAKTER. 239
der Teile entsteht nicht durch Urteil und Vergleichung, sondern sie
ist vorher da, sie macht alle Unvollkommenheiten im einzelnen ver-
zeihlich, weil sie sich gegenseitig aufheben kraft der lebendigen Ein-
heit, in der sie alle beschlossen sind. Es ist mehr als ein Metapher,
wenn man von der Geburt eines Kunstwerkes spricht Oder um
eine näher liegende Analogie zu gebrauchen: der Vorgang gleicht dem
Vorgang des Sprechens. Wenn ich einen Satz beginne, so schwebt
mir der Gedanke im ganzen vor, aber von den einzelnen Worten weiß
ich noch nichts, denn sie entfalten sich erst während des Redens und
klären mich selber wie den Hörer über die inhaltlichen Bestandteile
des Gedankens auf. Wäre es anders, wäre das Sprechen ein bewußtes
Aneinandersetzen von vorherbedachten Einzelworten, so würde kaum je
ein Satz abgerundet und beendet werden. Die Bedeutung der Sprach-
gewalt für den Dichter erweist sich auch durch diese Ähnlichkeit des
Sprechens mit dem Prozeß des künstlerischen Schaffens. Die Sicher-
heit, mit der die Seele in beiden Fällen ein vorher ungeahntes Ende
erreicht, wurzelt in dem Umstand, daß es sich sozusagen um eine
Bemühung zur Selbsterkenntnis handelt.
Diese Einsicht trägt noch eine andere Folgerung in sich. Wenn
eine Gesamtvorstellung sich in einen von Worten getragenen Vor-
stellungsveriauf auseinanderlegt, so ist klar, daß dieser Verlauf sich
mit den zeitlichen Folgen oder räumlichen Elementen im Objekt nicht
zu decken braucht. Die rationalisierende Klarlegung der Zusammen-
gesetztheit in einem chemischen Körper ist kein Spiegelbild der in ihm
enthaltenen Verbindungen oder an ihm auftretenden Erscheinungen;
die Worte haben keine Ähnlichkeit mit den wirklichen Elementen;
sondern die in uns sich entwickelnde Begriffswelt bedeutet eine Um-
formung des Gegebenen. Mit der künstlerischen Darstellung von
Stimmungen, Begebenheiten, Charakteren steht es nicht anders.
Sie ist ein allmähliches Entwickeln einer Totalanschauung, ein rein
innerlicher Prozeß, dessen einzelne Glieder und Ver-
bindungsgesetze unabhängig vom Außen sind. Die inten-
sive, nach Verdeutlichung drängende Seelenenergie entzündet sich
an einem Gegenstand; unter dem Anschein einer getreu wiedergege-
gebenen Wirklichkeit entfaltet sich ein aus intimstem Selbstgenuß
hervorg^angenes Phantasiegebilde. An der Tatsache, daß dies Ge-
bilde zunächst nichts mit der Außenwelt zu tun hat, braucht seine
anschauliche Beschaffenheit nicht irre zu machen; denn erstens ist
diese Sinnlichkeit eine andere als die der Natur, und zweitens sind
Wahrnehmungen und die ihnen entsprechenden Erinnerungsvorstellun-
gen nicht nur Zeichen für ein Außen, sondern auch Symbole für ein
Innen. Wo ein Modell echt künstlerisch verwertet wird, da ist es
240 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
lediglich das Mittel, an dem eine seelische Tatsache zum Ausdruck
gelangt; dieser Satz gilt von der Poesie nicht minder als von der
Malerei. Jede Schöpfung, die G^enständen der Wirklichkeit ähnUch
ist, erscheint unserer Ästhetik als Nachbildung, während wir doch von
der Musik her wissen sollten, daß der künstlerische Vorgang ebenso
sehr Umsetzung eines Seelischen in ein Körperliches ist Das Seiende
hat für den Kunstler den Wert, ihn zu wecken, sobald es mit dem
inneriich Vorbereiteten zusammenstößt; es ist ein Mittel, freilich ein
fast allen Künsten unentbehriiches und durchw^ bedeutsames.
2. Die Unterschiede der Anlagen.
Die Erörterung der künstlerischen Anlagen hat mit einem Wort-
gebrauch zu kämpfen, der unter verschiedenen Schwankungen seit
einigen hundert Jahren besteht. Die Sprache, auch die der Ästhetiker,
neigt dazu, den Künstler als Genie zu bezeichnen. Darin li^ teils
eine übermäßig gesteigerte Wertschätzung des Künstlers, teils eine
Vernachlässigung der ihm eigentümlichen Fähigkeiten. Genie bekundet
sich auf allen Gebieten geistiger Tätigkeit und zeigt überall die gidchen
Charakterzüge; die Formen des Genies aber wechseln nach den G^en-
ständen, an denen es sich offenbart
Mit Genie bezeichnen wir eine überragende geistige Kraft Während
das Talent mit Leichtigkeit vollbringt, wozu die minder B^[abten großer
Anstrengung bedürfen, schafft das Genie etwas, was die anderen,
auch die Besten unter ihnen, niemals leisten könnten. Es beherrscht,
sozusagen, noch eine Oktave mehr, als wir auf unserer seelischen
Klaviatur besitzen. Das gewöhnliche Arbeiten in Wissenschaft und
Kunst geht langsam und sicher eine Linie entlang. Die Arbeit des
Genies aber ist dreidimensional, zieht immerfort Kräfte von rechts und
links, strahlt aus nach oben und unten. Im Genie ist sozusagen die
Fähigkeit des Körpers, alles auf ihn Einströmende sich anzupass^i
und zu organisieren, bis zur höchsten Vollkommenheit gelangt Wirk-
lich große Geister besitzen eine gewisse Allg^enwart, indem sie über
eine Weite der Kenntnisse, einen Umkreis des Erfaßten und eine
Sicherheit des Urteils verfügen, die den anderen fehlt Insbesondere
haben sie Ursprünglichkeit Es gibt eine geistige Veranlagung, die
an die Eriebnisse, an Natur- und Geistestatsachen anknüpft, und eine
andere, die aus der Kulturverarbeitung dieser Tatsachen ihre Anr^[ung
schöpft So in der Wissenschaft Die unmittelbaren Talente gewinnen
ihre Einsichten aus der Berührung mit der Wirklichkeit, die mittel-
baren, indem sie an den Vorgänger, an den Stand der Probleme inner-
DIE UNTERSCHIEDE DER ANLAGEN. 241
halb der Forschung anknöpfen. .So in der Kunst Die einen schaffen
aus Natur und Leben heraus, die anderen durch ältere Meister be-
dingt in einer Fortbildung ihrer Formensprache oder in bewußtem
Gegensatz dazu. Jene können auch im Urzustände, diese nur auf
einer bestimmten Kulturstufe gedacht werden. Jene sagen wohl gleich-
falls Altes, aber sie sagen es, ohne es zu wissen, als neu gefunden,
von sich aus; diese sagen es, indem sie wiederholen. Entscheidend
ist für das Genie die direkte Berührung mit der Wirklichkeit und die
doppelte Gabe, ohne Zögern sich des Mittelpunkts einer Sache zu
bemächtigen und ohne viel Geschäftigkeit aus dem beherrschenden
Eindruck etwas Großes zu gestalten. Das Genie schwirrt wie ein
Vogel aus, greift sich aus der Fälle des Lebens ein Brosam und eilt
dann damit in das stille Nest, um es langsam zu verzehren.
Eine fernere Abgrenzung ist notwendig. Wir sprechen jetzt nur
von den schaffenden Künstlern. Wie verhält es sich nun mit den
sogenannten reproduzierenden Künstlern? Auch hier besteht eine
sprachliche Schwierigkeit. Während wir vorhin davon ausgingen, daß
die ältere Ästhetik das Könstlertum mit Genie gleichsetzt, müssen wir
jetzt daran denken, daß in der gewöhnlichen Redeweise meist nur
die Reproduzierenden — die Schauspieler und Sänger, die Geiger und
Pianisten Künstler genannt werden. Was sie brauchen, ist ein
Doppeltes. Einmal die feinste Empfänglichkeit für die Kunstabsicht
des ihnen anvertrauten Werkes und alsdann die technische Fähigkeit
zur Darbietung. Aber das Schaffen oder, wenn der Ausdruck erlaubt
ist, das Erfinden kann ihnen völlig fehlen, ohne daß es irgendwie
merklich wird.
Aus Geschmack und Virtuosität allein wird kein Kunstwerk. Das
unbeschreibliche Dritte, das hinzukommen muß, sucht man gern in
einer Größe der Persönlichkeit. Hierzu wäre zu bemerken, daß eine
vielseitige und erfüllte Persönlichkeit in ihrem Kunstschaffen Momente
herausbringen wird, an denen Mit- und Nachwelt sich erfreuen. In-
dessen für den Kunstcharakter des Werkes kommt es nicht auf Per-
sönlichkeit in diesem Sinne an, vielmehr auf die musikalische, male-
rische und dichterische Sonderpersönlichkeit. Wir wissen doch, daß
höchst eigenartige und bedeutende Charaktere der Kunst völlig fem
bleiben, und anderseits, daß viele ausgezeichnete produktive Künstler
auf die Zeitgenossen keineswegs den Eindruck einer bedeutenden
Individualität machen. Dies verstehen wir bei Musikern und Adalern
sehr wohl. Wenn der ganze Mensch hingenommen wird von einer
Seite des Daseins, so kann er nicht nach anderen Seiten sich aus-
geben, oder es bleiben für den Alltag nur die verneinenden Kräfte
übrig, zumal alles kleinliche Wesen, das aus der künstlerischen Existenz
Dcttoir, Auhetik nnd aJI^. KttiistwiM«nichift. 16
242 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
verbannt ist Am eindrucksvollsten und erfreulichsten sind der R^el
nach die Dichter, da der von ihnen zu durchdringende Stoff mit der
Fülle des Lebens den gleichen Umfang hat Immerhin gibt es auch
unter ihnen viele weiche und zerfließende Naturen von so allgemeiner
Erregungsfähigkeit, daß jede Individualität ausgelöscht scheint In der
Liebe zur Welt der Farben und Töne und zu den närrischen Menschen-
kindern wurzelt das künstlerische Verhalten; die Kunst entsteht aus
einem Ergriffensein vom Leben, aus einer unbestimmten Sehnsucht,
die schließlich Handhabe und Form findet: sie gleicht der Liebe, die
ja zunächst ein ganz allgemeines Verlangen ist und erst nach längerer
verborgener Dauer sich auf den einen Menschen sammelt Künstler
können sich im Leben deshalb so schwer bewahren, weil ihre Anlage da-
hin neigt, sich hinzugeben oder anderes durch sich hindurchtreten zu
lassen. Der Schaffende soll alles verstehen; Charakter haben aber
heißt mißverstehen. Daher brauchen gerade die echtesten Künstler am
nötigsten das Gegengewicht der Selbstbewahrung; wir werden es
prüfen, wenn wir die Seelenkenntnis des Künstlers untersuchen.
Die persönliche Note des Kunstwerks bezieht sich demgemäß auf
die artistische Sonderpersönlichkeit Diese allerdings lebt im Kleinsten
wie im Größten des Werkes. Swedenborg sagt einmal inmitten
einer seltsamen Homöomerienlehre: »Jeder besondere Einfall eines
Menschen, jede Gemütsbewegung, ja jeder kleinste Teil seiner Ge-
mütsbewegung ist ein Bild und Ebenbild des Menschen. Ein Geist
läßt sich schon aus einem einzigen Gedanken erkennen.« Das ist eine
echte Wahrheit Aus einem einzigen Takt oder mindestens aus einer
melodischen Phrase vermag man den Komponisten herauszuhören,
wenige Zeilen eines Gedichtes genügen, damit der Urheber erkannt
wird. Ein paar Striche, flüchtig hingeworfen, verraten den Zeichner
und seine Persönlichkeit Für den Schmuck der Baptisterientüren in
Florenz war 1401 ein Wettbewerb ausgeschrieben; Brunellesco und
Ghiberti lieferten gleichwertige Arbeiten, die auf den Tafeln XII und XIII
einzusehen sind. »Hier war die Situation, die Zahl der Figuren, das
Motiv der Handlung, sogar die Umrahmung der Fläche g^eben. Und
doch sind die Werke von einer G^ensätzlichkeit, die geradezu erstaun-
lich ist, die sich bis in die nebensächlichsten Einzelheiten erstreckt
Alle aber erklären sich aus der G^ensätzlichkeit der beiden Künstler-
naturen. In Brunellesco arbeitet ein konstruktiver Sinn, eine harte
Energie, ein Wahrheitsfanatismus, in Ghiberti sehen wir — neben aller
Gründlichkeit des anatomischen Studiums, neben aller Offenheit des
Blickes — eine Hinneigung zu schönen Linien, zu formaler Äußerlich-
keit Daher zeigt Brunellesco den Moment, da Abraham bereits den
Hals Isaaks mit dem Opfermesser berührt, zeigt das Zusammenzucken
DIE UNTERSCHIEDE DER ANLAGEN. 243
des Entsetzten und im gleichen Moment den festen Griff des Engels,
der das Äußerste verhütet Ghiberti geht zeitlich nur um eine Sekunde
weiter zurück. Das Messer ist noch um Handbreite vom Halse ent-
fernt, der Engel ist nahe, aber noch nicht in Aktion getreten. Infolge-
dessen kann Isaak noch fragend aufblicken und die ganze Pracht der
jungen Glieder in gelassener Ruhe zeigen. Hier sprach die Emp-
findung des Künstlers das entscheidende Wort Dem einen war die
dramatische Spannung alles, dem anderen die Schönheit des jugend-
lichen Körpers und die Möglichkeit, im Wohllaut der Linien zu
schwelgen. «^ (Th. Volbehr, Bau und Leben der bildenden Kunst 1905,
S. 95.6.) Aber auch in einem anderen Sinne ist Persönlichkeit im
Kunstwerk. Die Persönlichkeit, die wir freilich kaum jemals antreffen,
jedoch als Ideal uns vorstellen, besteht in der vollkommenen Wechsel-
wirkung ihrer geistigen Teile. Wenn alles Seelische so übereinstimmt,
daß die gleiche Richtung in jedem Vorgang sich äußert, so reden wir
von einer ausgesprochenen Individualität Gleicher Art ist ein gutes
Kunstwerk. Es zeigt den vollendeten Zusammenhang alles Einzelnen
miteinander und die Unterordnung des Besonderen unter das All-
gemeine. Und zwar zeigt dies jedes Kunstwerk in seiner Art, welche
die Art des Künstlers ist Daher hat man seit alters ein Kunstwerk
einen Mikrokosmos genannt und damit dem Makrokosmos jener gött-
lichen Persönlichkeit angenähert, die nach pantheistischer Anschauung
die umfassende Substanz ist Denn es ist kein Widerspruch, pan-
theistisch zu empfinden und zugleich an der Persönlichkeit Gottes fest-
zuhalten. Sofern man nur vermeidet, die göttliche Persönlichkeit nach
Art der menschlichen anzusehen, muß man erkennen, daß es keine
vollkommenere Einheit und Beziehbarkeit gibt als die in der Welt,
daß also das wesentliche Merkmal der Persönlichkeit in ihr enthalten
ist Das Göttliche des Kunstwerkes liegt darin, daß es so umfassend
ist wie die ganze Welt und dabei doch persönlich.
Nunmehr ist die Frage nicht länger zu umgehen, wie die künst-
lerische Eigenart sich zur Überiieferung stellt Diese Frage bedeutet
etwas Verschiedenes für Musiker, bildende Künstler und Dichter.
Während der Musiker in einer Welt lebt, in der die Überlieferung
ausschließlich mit der eigenen Erfindung wetteifert, haben Adaler und
Poet außerdem noch mit der Wirklichkeit zu tun. Doch auch sie mit
Unterschieden. Die körperliche Wirklichkeit des bildenden Künstlers
ist bereits endgültig geformt, Handlungen und Charaktere indessen —
die Stoffe des Poeten verfließen. Bloß dort besitzen sie Geschlossen-
heit, wo die Sage oder die Geschichte sich ihrer bemächtigt haben.
Solche überlieferten Formungen hemmen des schreibenden Künstlers
Erfindungskraft keineswegs: sein Künstlertum liegt darin, daß er
244 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
wertvolle und zwar teleologisch wertvolle Abänderungen vornimmt.
Man mache sich keine übertriebenen Vorstellungen von Originali-
tät. Das verzweifelte Suchen nach neuen und unerhörten Stoffen
kennzeichnet das geringe Talent, das außerdem darauf rechnet, die
Neugier oder die Sensationslust des Publikums zu entfachen. Wei-
bisches Jammern darüber, daß alles schon verbraucht sei, verrät
die Schwäche des Klagenden. Der Fortschritt besteht ja nicht im
Herausfinden eines annoch Unerhörten, sondern in der sinnvollen
Belebung des Gewohnten. Je vertrauter der Stoff ist, desto größer
kann die Kunstgestaltung werden. Jede literargeschichtliche Quellen-
analyse, jede musikgeschichtliche Melodienvergleichung, jede kunst-
geschichtliche Untersuchung zeigen, in welchem Maße auch die Größten
von der Mitgift der Vergangenheit gelebt haben. Kunstler sind darin
weniger ängstlich als Gelehrte. Diese können sich nicht genug tun
in Prioritätsstreitigkeiten und Plagiatzänkereien; jene verhalten sich un-
befangener und unbekümmerter. In der Tat ist nicht derjenige der
Vater eines künstlerischen Motivs, der es zum ersten Male zufällig be-
nutzt hat, sondern derjenige, der etwas daraus zu machen verstand.
Der eine gleicht dem Schiffbrüchigen, der an die Küste eines unbe-
kannten Landes verschlagen wurde, der andere dem zielbewußten
Seefahrer, der das Land wahrhaft entdeckte.
Wenn früher gesagt wurde, nicht die guten Einfälle machten den
großen Künstler aus, sondern vielmehr die Fähigkeit des systematischen
Zusammenschlusses, der Verwertung und des Aufbaus, so übersehen
wir jetzt noch besser als vorher die Gründe. In Richard Wagners
Briefen an Mathilde Wesendonck (4. Aufl., 1904, S. 189) nennt der
Schreibende als eine seiner Eigentümlichkeiten das äußerst empfind-
liche Gefühl, das ihn :»auf Vermittlung und innige Verbindung aller
Momente des Überganges der äußersten Stimmungen ineinander hin-
weist«. Er erzählt, wie dieses Bedürfnis nach Oberleitung ihn im
Leben und in der Unterhaltung beherrsche. Es ist das Bedürfnis des
echten Systematikers, der nicht nur durch Einteilung und Abgrenzung,
sondern durch Verflüssigung und Übergänge zu wirken strebt Wag-
ners Verfahren gleicht dem Hegeischen. Beide Männer haben nichts
Unvermitteltes vertragen; sie mußten aus ihrer Natur heraus überall
Zusammenhänge herstellen, die den Anschein der wirklichen Folgen
erwecken. Man darf ihr Verfahren außerdem auch ein deduktives
nennen. Unsere Lehrbücher freilich wissen vom induktiven Künstler-
tum mehr zu erzählen. Denn dem Geist des modernen Forschers
sind diejenigen Begabungen verwandter, die durch Beobachten der
gegenübertretenden Wirklichkeit und durch Sammeln von Tatsachen
zu Kunstleistungen gelangen. Aber es gibt auch ein von der Erfah-
DIE UNTERSCHIEDE DER ANLAGEN. 245
ning weniger abhängiges Genie. Goethe sagte zu Eckermann, er habe
von der Welt noch so gut wie nichts gewußt, als er Götz und Werther
schrieb, und doch habe er sie richtig dargestellt; und daran schloß er
den prägnanten Satz, man bringe als Dichter sein Weltbild schon mit
ins Leben. Balzac besaß das gleiche deduktive Genie wie Cuvier, ja
noch mehr, er besaß ein apriorisches Weltbild, das durch die Wirk-
lichkeit nur ergänzt und gesteigert werden konnte. Hieraus wird femer
mit geringer Beugung des Gedankens deutlich, worin wir den Unter-
schied des sentimentalen und naiven oder — nach Otto Ludwigs Be-
nennung (Ges. Sehr. V, 320) — des Ich- und des Sachdichters finden
möchten. Der Ichdichter kann eine seelische Wirklichkeit nur so zum
Ausdruck bringen, daß er sein beharrendes Subjekt mit zum Ausdruck
bringt. Alle von diesen Dichtem geschaffenen Menschen tragen un-
verkennbare Familienähnlichkeit, Züge der Blutsverwandtschaft, sie sind
von ihnen wie von einem Gott nach ihrem Ebenbild geformt. Andere
Künstler derselben Gruppe enthöllen mehr noch ihr Komplementär-
wesen: aus ihren sehnsuchtigen Wünschen erbauen sie sich einen
bestimmten Typus und stellen ihn in leichten Abändemngen immer
wieder hinaus. Zum Sachdichter dagegen gehört eine Unerschöpflich-
keit, kraft deren die anscheinend verschiedensten Figuren zu stände
kommen. Während der Ichdichter in seinen beiden Formen im Gmnde
genommen andere Charaktere nur darstellt, um sich selber zu erkennen,
begreift der Sachdichter Menschen, die über ihn selbst hinausgewachsen
und zu eigentumlichem Leben gelangt sind. Indessen die Grenze ist
fließend, und niemand kann sagen, wo das Geschaffene so weit von
der Herrschaft des Eigenseelischen befreit ist, daß man im Emst von
objektiver Dichtung reden möchte. An dem Schwert, mit dem der
Poet sich die Welt erobert, hangen stets Tropfen des eigenen Blutes.
Ein fernerer Unterschied liegt in dem Anteil, den die Technik an
Leistungen bei den verschiedenen Künsten hat. Früher hat man über-
haupt Kunstleistungen nach dem Prinzip der überwundenen Schwierig-
keit beurteilt. Künstler war jemand, der etwas kann, ein Mensch von
großer Kunstfertigkeit, der Schwierigkeiten anscheinend spielend be-
siegt. Noch heute werden reproduzierende Künstler vielfach nach
diesem Maßstäbe gemessen: Pianisten oder Geiger, die haarsträubende
Schwierigkeiten elegant nehmen, erringen einen Weltruf. Beim schaffen-
den Künstler tritt dies Moment gegenwärtig etwas zurück, obgleich
es als Unterscheidungsmerkmal gegen das bloß Ästhetische immer
seinen Wert behält. Wir haben eingesehen, daß beispielsweise Ge-
dichte nicht nur dazu da sind, um metrische und sprachliche Schwierig-
keiten vorzuführen und die Möglichkeit ihrer Überwindung zu zeigen.
Wir lassen nicht Dichter miteinander wettdichten, wie wir etwa in
246 I- DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
einem Mischmaschkonzert Kunstler miteinander wetteifem lasset. Aber
nach zwei Seiten hin steht das Prinzip doch noch heute in Ansehen.
Improvisierende Maler, die in ein paar Tagen ein Pferd oder eine
»Harmonie« auf die Leinwand werfen (wie Fromentin und Whistler)
und dann dafär mehrere tausend Mark fordern, werden erstaunt ange-
sehen, weil die leichte und kurze Arbeit kein Verhältnis zum Preis
aufweist Zweitens folgt das Publikum jenem Grundsatz, indem ihm
— gegenüber allem Handwerks- und MaschinenmaB^nen — die be-
wußte Ot>erwindung von Schwiaigkeiten als ein kennzeiduieiides
Merkmal von Kunst Ql)erhaupt gilt Deshalb bevorzugen die meisten
Menschen die mit der Hand geschaffenen Gewd)e oder. Veizienii^nen
oder Ausschmäckui^^en vor den mechanisch bervorgebracfaien. Sie
schätzen es sehr hoch, daß in der Handari)eit die au^ewendete Mähe
erkennbar bleibt und eine bewußte Kunstfert^;keit zu Tage tritt, viel-
leicht so^güar ein persönliches Gefühl oder ein imfividueBes Empfinden,
\^*ihrend die Maschinenarbeit schon dadurch verfiert, daß sie gieich-
zeit^ ihr Erzeugnis in vielen Exemplaren hersleflt Ein Kunstwerk
soll ja immer etwas Einz^artiges« ein hKfividuum« etwas ine Wieder-
kehrendes sein. Maschinenarbeit aber, mag sie noch so exakt und
noch so geschmackvoO sein« hat stets den Nachteil gieicfamiBigcr Viel-
heit Da hierüber spiler noch einmal zu sprechen sein wvd, so er-
wähne ich jetzt als Ergänzung zum ersten Punkte. daB Schwierigketai
und Technflc m den verschiedenen Künsten versdriedenes
haben. Zeichner. Maier. Bidhauer und Banmcisier bedBiieB
muhevoOen Lehrzeit, um aies dis zu lemen. was dfe
Vocausseczuit^ tees KusstsdiaftaKs ksl Auch der Masioer
di^ naturiche Veraniagui:^ lanauES sehr vieles dnrch
Studtttm sich errir^en. Bern Dichter d^g^gca ist dfe
nicht $o ans^eMdet und so wesendkh. cbS ;ae
uad in phrelii^^ svssesnaabcher Cbue^ eiuiCubiaBi
kx den ngproALüwgendeg KäiKs^en gvbc es eiKfi ikaEcia Li
Man ^iff^feidie den Schaospieier mit dem Mnker. Diesv
aaää9iy%di omi vcwt ärüfaer Jug^eied an seine Tec&iisS^
k^mnic ant escKnt sehr g^ni^cs sKcsBBssoies Aimsl
CVxh w«er. Die BescinäerteBt der
kunsderschen Asia^est bat 'jexr&A aar
L rscrun^. Asr lekäroessea erfasxnx maa Nam ArrfttttHoML
^pEfiscMsr Kunsdbi^ifnm^ies 3n:äxs itcffi^ L nseriö-aes
^^einir Simr ^ rnedifflicsc^ K^nsa-araciiL dea der Btemnessaer
ist ^nstsT nett ans ä^jäot«: >>3er w^sx^üsqsxs iterscaniSdt^
*ä^ Fejmeic oer SmK mc Äs T-eai* jer ErraKran^. A^
«tii Maier ^^snhi^iesr. it^ «»mnsfft in ^eöesr UeoscäiBL Amt
DIE UNTERSCHIEDE DER ANLAGEN. 247
fehlt diese EigentQmlichkeit, daß alles, was in den Oeist eindringt, den
Weg durch die Augen nehmen muß und alles, was aus dem Bewußt-
seinsinhalt sich klarer gestaltet, unwillkQriich zu Linie und Farbe wird.
BAcklin soll einmal gesagt haben: was in einer Adalerseele klinge, das
verbinde sich mit Form und Farbe und gewinne dadurch die be-
stimmte Gestalt. Auch ein poetischer Vorgang wird vom Maler so-
gleich als Bild empfangen, d. h. mit allem Wesentlichen von Form und
Farbe, keineswegs wird er nachträglich in eine räumliche Anschauung
eingekleidet. Wenn ein Maler und ein Dichter die gleiche Idee zur
AusfQhrung bringen wollen, so hat sie bei diesem nicht die bildmäßige
Bestimmtheit, sondern die Richtung auf Mitteilbarkeit durch Worte;
beim Maler indessen sind sofort Raumgestaltung und Farbengebung
da als die natüriiche und unmittelbare Ausdrucksweise der Stimmung.
Deshalb beginnt der bildende Künstler zu zeichnen, sobald er seine
Hände gebrauchen kann. Wir haben uns Form- und Farbensinn aus-
geprägter, das Gedächtnis schärfer und die Hand geschickter vorzu-
stellen, als es bei uns der Fall ist. Nichts Wunderbares läßt sich
nachweisen, wofür wir in uns keinen Ansatz finden könnten. Auch
wir sehen bei geschlossenen Augen allerhand launische Figuren. Sie
wechseln mit äußerster Schnelligkeit. Ihre Formen und ihre Fart)en
können entzückend sein, aber sie haften nicht, und in dem Augenblick,
wo wir sie wiedergeben wollen, sind sie uns entschwunden. Der
unvollkommen Veranlagte leidet schwer darunter, daß der Weg vom
Kopf zur Hand veriegt ist. Was durchlebt er nicht alles und wie
wenig davon tritt zu Tage! Oft scheint es ihm, als brauche er nur
in seine Seele hineinzugreifen, um die herriichsten Bilder herauszuholen.
Aber in dem Augenblick, wo er die Hand ausstreckt, sind sie dahin.
Sie eriangen nicht die Festigkeit, die zur Veräußeriichung nötig ist.
Im Künstler sind diese inneren Anschauungen gleichsam zu einem
höheren Aggregatzustand gelangt: deshalb können sie verwirklicht
werden.
In ähnlicher Art begreifen wir das Gedächtnis des Malers. Daß
er bestimmte Worte für Formen und Farben hat, die uns vielleicht
fehlen, macht keinen merklichen Unterschied. Dies technische Wissen
ist zwar nützlich, aber nicht von entscheidender Bedeutung. Auch
glaube man nicht, daß der Künstler ein ungewöhnlich starkes Gedächt-
nis haben müsse; vielmehr dienen ihm seine Erinnerungen immer nur
bis zur Schöpfung; nachher muß er vergessen, was vorausgegangen
war, damit der Kopf für neue Eindrücke und neue Produktionen frei
wird. Nein, ein anderes Merkmal kennzeichnet die Erinnerung des
Künstlers. Das Gedächtnis des Schaffenden hält fest, was brauchbar
für seine Zwecke ist; wir dagegen l)ewahren alles, was zufällig im
248 ^ I>AS SCHAFFEN DES KONSTLEKS.
Eindruck vorhanden war. Die Erinnerung des Künstlers ist nicht nur
assoziativ, sondern auch dissoziativ. Wir würden uns ängstUch an
das Idammem, was wir gesdien haben, wenn anders wir es in allen
feinen Zügen aufzubewahren und wiederzugeben wüßten. Der Maler
aber studiert die Natur, ohne sie unmittelbar zu verwenden. In dem
bekannten Buch von Stratz über die Schönheit des weiblichen Körpers
sind verglichen Klingers Statue der Badenden und sein Modell Der
Betrachter sieht sofort, daß die Körperhaare fortgelassai, die Haupt-
haare stilisiert und kleine Mangel ausg^chen sind. Aba* er banerkt
auch, um wie viel einheitlicher und ungezwungener die gewagte Stel-
lung unter des Künstlers Hand geworden ist Die Haltung ist in
Natur gequält und der Leib sozusagen zerrissen; in dem Kunstwerk
dag^en, das aus einer Vorstellung entsprang und dem das Modell
nur als Hilfsmittel diente, wirkt der Körper anmutig und als ge-
schlossenes Ganze; Ruhe und eine gewisse Zielstrebigkeit sind unver-
kennbar. — Wenn in des Künstlers Seele Visionai aufsteigen, so ist
immer an wesentlicher Zug dabei, dem alles andere sich unterordnet
Unsae Erinnerungs- und Phantasievorsteflungen sind im Vahältnis
dazu ungeformt Wie der Rechenkünstia des visuellen Typus eine
Tafel in sich hat, auf der die Zahlen gleichsam von selbst sich ordnen
und erklären, so hat der Maler eine Tafel in sich, auf da die Formen
und Farben zu den erstaunlichsten Verknüpfungen, aber ihra inneren
Gesetzmäßigkeit nach, zusammentreten.
Schwieriger li^en die Verhältnisse bei der Musik, und zwar des-
halb, weil es Menschen gibt ohne jede musikalische Anlage. Zwischen
ihnen und jenen Künstlern, die gleichsam die Musikidee mit auf die
Welt gebracht haben, klafft ein Abgrund. Wir haben hia zufälliga-
und glücklicherweise ein Wort, für das es auf den andaen Kunst-
gebieten leida kein Analogon gibt: wir nennen musikalisch sowohl
die Empfänglichen als auch die Schaffenden. Ja wir können einen
Virtuosen trotz seiner ungewöhnlichen Technik unmusikalisch schelten
und für uns selbst, die wir vielleicht nie ein Instrument berührt haben,
eine höhere musikalische Fähigkeit beanspruchen. Diese Anlage ist
eine geistige Disposition. Die Schärfe des Gehörs bildet nur die Unter-
lage, denn es gibt Komponisten, die schlecht hören und schließlich
zur Taubheit verurteilt sind, die des absoluten Tonbewußtseins a-
mangeln und selbst für Unzulänglichkeiten der Ausführung, insbe-
sondere für Unreinheit, sehr wenig empfindlich sind. Das braucht
ebensowenig Erstaunen zu wecken wie die Tatsache, daß so viele
unserer besten Maler kurzsichtig, einige sogar von den leichteren Graden
der Farbenblindheit befallen sind. Wissen wir doch, daß die Sinnlich-
keit der Kunst eine andere ist als die des Lebens, und daß hier mit
DIE UNTERSCHIEDE DER ANLAGEN. 249
Sinnesschärfe nicht genau dasselbe gemeint ist wie in Psychologie und
Medizin. Um jedoch wieder zu unserem Gegenstand zurückzukehren:
Das musikalische Talent ist dadurch gekennzeichnet, daß sein Besitzer
für alles, was er erlebt, den unwillkürlichen Ausdruck in Klängen und
musikalischen Formen findet. Namentlich das, was sein Gefühl erregt,
gelangt nicht in Worten, sondern in Melodien zum Ausdruck % Daher
hat er ein Bedürfnis nach Musik, und er würde sie aus sich heraus
erfinden, wenn sie nicht schon da wäre. Sein Bewußtsein ist voll
von musikalischen Formen. Eine Melodie lebt Tag und Nacht in ihm,
sie durchzieht die Seele, während er liest oder schreibt, sie verläßt ihn
auch nicht im Schlafe: erwacht er plötzlich, so bemerkt er sie inmitten
ihres Verlaufes. Schwerlich kann ein Bild oder ein Vers mit solcher
anschaulichen und b^ffslosen Kraft, daher so ungestört von allen
anderen Vorstellungen, sich in die Seele einnisten. Die Musik ist die
haftendste und hartnäckigste aller Künste. Sie duldet nicht viel neben
sich. Die ganzen Kräfte der Seele saugt sie an sich. Ein reiches und
konkretes Vorstellungsleben ist der musikalischen Begabung nicht
günstig, oder besser gesagt: dem musikalischen Schaffen. Denn die
Gefahr droht, daß die Tonbilder durch allerhand Assoziationen ver-
deckt werden, so wie es oft bei weniger Musikalischen geschieht,
deren einzige Freude darin besteht, daß sie durch Klänge zu beliebigen
Vorstellungen angeregt werden.
Wir wenden uns nun dem Dichter zu. Hier ist die Gefahr be-
sonders groß, daß die menschliche Persönlichkeit als Ganzes verwechselt
werde mit dem spezifischen Talent. Dieses jedoch besteht in dem
Reichtum der Ausdrucksmittel, in der ungewöhnlichen Entwickelung des
Wortgedächtnisses. Während die Erinnerung des bildenden Künstlers
von Formen und Farben zehrt, während des Musikers Bewußtsein im-
merfort angefüllt ist mit auftauchenden und gegenseitig sich stützenden
Harmonien, lebt die Phantasie des Dichters in den Worten und Formen
der Sprache. Allerdings kann die Disposition der Dichter — unbeschadet
ihrer Eigenart — mehr zum Malerischen oder mehr zum Musikalischen
neigen. Schon ein äußeres Merkmal gibt es dafür. Dichter, die ihre
Werke selber schreiben und das Manuskript immer von neuem durch-
lesen, finden an dem Aussehen der Worte und an dem sichtbaren
Rhythmus der Sätze einen Anhalt für ihre schaffende Tätigkeit. Andere,
die diktieren und sich wieder vorlesen lassen, werden durch den
Klang und den hörbaren Rhythmus zur Schönheit des Wortes hin-
geleitet. Flaubert war auf nichts so stolz wie auf gewisse deklama-
torische Wirkungen in seinen Schriften; gelegentlich erzählte er den
Goncourts, er sei mit seinem Roman »Salammbo« beinahe fertig, nur
die letzten zehn Seiten fehlten noch, und da habe er schon die
250 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Schlüsse sämtlicher Sätze. Ist es nicht äußerst kennzeichnend, daß
Schlußtonfall, Kadenz und Rhythmus eine solche Rolle spielen können?
Der Umkreis der künstlerischen Fähigkeiten ist mit den bisher er-
örterten Anlagen noch nicht geschlossen. Beim Dichter tritt etwas
hinzu, was allerdings auch den Vertretern der übrigen Künste nicht
völlig abgehen darf: Der Künstler und zumal der Dichter muß die
Menschen kennen. Denn von ihren Freuden und Sorgen haben sie
in Bildern, Tönen, Worten zu berichten.
3. Die Seelenkenntnis des Künstlers.
Unsem bisher vorgenommenen Betrachtungen zunächst steht die
Tatsache, daß viele Künstler eine ungewöhnlich lebhafte und treue Er-
innerung an frühe Lebensalter haben. Man lese beispielsweise die
ersten zwölf Seiten in Hofmannsthals Biographie von Victor Hugo,
um zu bemerken, daß Örtlichkeiten, Personen und Vorgänge, die in
des Dichters Kindheit auftauchten, sich zu Bestandteilen seiner Dich-
tungen ausgewachsen haben. Aber damit ist der Einfluß jugendlicher
Eriebnisse nicht beendet. Wer sich seiner Stimmungen aus den Tagen
der Kindheit erinnert, der versteht Kinder und die ihnen verwandten
unentwickelten Naturen. Auch die Seele des Weibes öffnet sich von
hier aus: manche der unliebenswürdigen Eigenschaften der Frau haben
wir als heranreifende Jünglinge besessen und auch der scheue Aufblick
zum Mann ist uns aus den Entwickelungsjahren bekannt. Was den
Dichter in seiner Menschenkenntnis auszeichnet, ist zunächst das zu-
veriässige und bereite Gedächtnis für alle die Möglichkeiten, die er in
seinem Werden durchlaufen hat; der Durchschnittsmensch vergißt zum
Erstaunen schnell, wie ihm unter früheren Bedingungen zu Mute war.
— Doch als ob die vielen vom Leben geschaffenen Möglichkeiten
dürftig und unzureichend seien, so strebt nun die Phantasie weit über
sie hinaus. Dem Bedürfnis, ab und zu ein anderer zu sein, wird
durch die Wiederbelebung des Früheren nicht genügt. Aus dem Stück-
chen Leben, das der Dichter offensichtlich durchlebt, gewinnt er noch
nicht die Fülle und Vielzahl der Individualitäten. So schafft die Ein-
bildungskraft neue Erlebnisse und Persönlichkeiten. Bei leb-
hafter angeregten Menschen beobachtet man öfter, daß sie Ansichten
vertreten, die ihrer eigentlichen Überzeugung aufs schärfste wider-
sprechen; außer in einem spirit of contradiction ist dies Verhalten in
dem Wunsch begründet, von Zeit zu Zeit eine andere Rolle zu spielen
als die von Anlage und Erziehung auferlegte. Indem solche fremd-
artigen Meinungen aufgegriffen und verteidigt werden, bildet sich
rä
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 251
bereits der Keim eines neuen Ich: sie werden daher gern einem
anderen in den Mund gelegt. Friedrich Hebbel berichtet von sich
selber: »Oft schon erzählte ich Oeschichten von Menschen, die nie
vorgefallen sind, legte ihnen Redensarten unter, die sie nie gebrauch-
ten u. s. w. Dies geschieht aber nicht aus Bosheit oder schnöder
Lust an der Löge. Es ist vielmehr eine Äußerung meines dichte-
rischen Vermögens; wenn ich von Leuten spreche, die ich kenne, be-
sonders dann, wenn ich sie anderen bekannt machen will, geht in
mir derselbe Prozeß vor, wie wenn ich auf dem Papier Charaktere
darstelle; es fallen mir Worte ein, die das Innerste solcher Personen
bezeichnen und an diese Worte schließt sich dann auf die natöriichste
Weise sogleich eine Geschichte ... Ich will jene Eigenheit übrigens
nicht loben. (Tagebücher 1885, I, 120.) In diesem Bekenntnis wird
die erwähnte Erfahrung von einer anderen Seite her zum Bewußtsein
gebracht und weiter entwickelt.
Ist man einmal auf solche Zusammenhänge aufmerksam geworden,
so stellen die Analogien in überraschender Fülle sich ein. Die be-
kanntesten sind für den Nichtkünstler an das Kindesalter geknüpft;
der Poet, der ja Zeit seines Lebens ein Kind bleibt, erhält sich in der
ursprünglichen Ausdehnung eine bei uns allmählich verkümmernde
Innenwelt. Diese innerste Seelenwelt verrät sich bei jedermann in
unzähligen dramatisch geformten Träumen, in den phantastischen
Wünschen, die uns gelegentlich durchzucken, in gewissen automati-
schen Handlungen, in Stimmungsänderungen, Angstgefühlen, Ahnungen
— genug, in dumpf empfundenen Tatsachen, die wir gewöhnlich un-
beachtet lassen, wie es sich für die Zwecke des realen Lebens schickt.
Die Wissenschaft ist dieser ablehnenden Haltung gefolgt, da sie mit
den Tatsachen deutlichsten Bewußtseins und unmittelbarsten Lebens-
wertes genug zu tun hat. Allein, schon der Versuch, die seelische
Eigenart von Kindern und Heranwachsenden zu verstehen, führt
zwingend zur Berücksichtigung jener Vorgänge. Zu ihnen rechne ich
das Träumen mit wachen Augen, die Freude, sich in alle möglichen
Lagen hineinzudenken, die Lust, sich als Helden romantischer Aben-
teuer zu fühlen. Etwas davon verbleibt wohl auch dem Nüchternsten:
wer spielt nicht einmal inneriich mit Schicksal und Charakter, wann
er des Schlafes harrt oder wann eine rein mechanische Tätigkeit den
Vorstellungen ein beliebiges Wandern erlaubt? Solche Träumereien
finden selten einen Abschluß, häufig aber eine Fortsetzung. Immer
wieder nimmt der Knabe den Gedanken auf, er sei ein unbarmherziger
Tyrann oder ein vom Unglück verfolgter, sich selbst aufs herzlichste
bemitleidender Mensch die einmal begonnene Selbstverwandlung
beharrt dann jahrelang, wenngleich unter Abänderungen, wie sie der
252 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
wechselnde Lebensinhalt naturgemäß herbeifährt. Diese Bildung von
phantastischen Persönlichkeiten, deren Ichwert sich von einer ersonne-
nen Umgebung abhebt, kann in das WirklichkeitsbewuBtsein so tiefe
Lücken reißen, daß die wirklichen Beziehungen, z. B. zu den Eltern,
angezweifelt werden. Mehr Kinder als man ahnt hegen im sorgsam
gehüteten Heiligtum der Seele die so entstandene Überzeugung, sie
seien in Wahrheit Fürstenkinder; und gleichfalls hierin wurzeln der
Völkergedanke von der Präexistenz und der Spiritistenwahn von den
»geistigen Führern«.
Der Übergang zur Kunst ist unschwer zu erkennen. Wenn so
viele in vorüberziehenden Bildern sich von ihrem Ich und ihrer Um-
gebung zu befreien streben, so beginnen sie, was die Kunst herrlich
vollendet, denn in sie hat sich schließlich geflüchtet, wovon der Mensch
träumt und schweigt. Die großen Tragödien wurzeln fast alle in dem
Kampf eines höheren Menschen mit den Verhältnissen, die ihn hindern,
sich in der Fülle seiner Natur auszuleben: so schildern sie zugleich
das Schicksal des Dichters selbst. Niemand leidet schmerzlicher als
er unter den platten Geschicken und der Ungunst der Umstände, unter
der grauen Einförmigkeit und gesetzmäßigen Trägheit des Gegebenen,
kurz, unter dem Zwang der Nähe. Und das Nächste, das Unentrinn-
barste ist der eigene Charakter. Wie das launische Spiel unserer müßigen
Stunden sich vornehmlich in Umformungen des Ich gefällt, so ist es
dem Dichter Bedürfnis und Freude, sich gänzlich umzufühlen. Er
protestiert gleichsam gegen das Schicksal, das ihn für Lebenszeit an
dasselbe bürgeriiche Individuum, an sein »Ich«, gekettet hat
Hier beginnen wir nun zu begreifen. Die antirealistischen
Phantasieschöpfungen bilden den tatsächlichen Ausgangs-
punkt für die Seelenkenntnis des Dichters. Mehr noch als das
Gedächtnis für den wirklich durchlaufenen Persönlichkeitswechsel ver-
mag die Lust am Anderssein Sinn und Blick für fremde Seelen zu
schärfen. Als das Ursprüngliche behaupten wir demnach die Freude
an der Metamorphose, an der Loslösung, und nicht etwa den Wunsch,
fremde Individualitäten zu durchschauen. Wenn man bisher diesen
Punkt als selbstverständlichen Ausgangspunkt behandelte, so ließ man
sich teils durch die Verwechselung mit theoretischen Interessen teils
durch die Lehre von der Nachahmung verführen, das letztere, insofern
man die innerliche Nachbildung erschlossener Seelenvorgänge zur
Grundlage nahm. Aber in phantasievollen Naturen steht neben der
handelnden Persönlichkeit noch eine andere. Nimmt man auf diese
keine Rücksicht, so erwächst ein unmöglicher Anspruch an den Dichter:
er muß zugleich Choleriker und Phlegmatiker sein, er muß ein Held
sein, um einen Helden schaffen zu können! Ich möchte im G^en-
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 253
teil glauben, daß gerade der Schwächling ein feineres Gefühl für Hel-
denart haben kann als der Held selber, weil diesem seine Art so natür-
lich ist wie der Rhythmus des Herzschlages, während jener in den
Stunden der Muße oft sich als Willensmenschen geträumt hat. Es
läßt sich nachweisen, daß Künstler, die dem unheimlichen Reiz des
moralisch Gemeinen erliegen, die im Schmutz waten und Pestluft ein-
atmen, die reinsten und zartesten Gebilde zu schaffen vermögen.
Nicht derjenige schildert die Liebe am schönsten, der am häufigsten
oder aufs lebhafteste geliebt hat: wie stark muß die Leidenschaft in
denen sein, die sich aus Liebeskummer das Leben nehmen, und wie
wenige davon sind wirkliche Dichter! Nein, die Beschaffenheit der
äußeren Erlebnisse und des erscheinenden Charakters sind nicht das
Wesentliche — aus Jugend und Phantasiespiel ist geflossen, was <ler
Dichter von den Menschen zu sagen weiß. Und eben deshalb ist es
so aussichtslos, den Lauf der poetischen Einbildungskraft wie den
Flug eines Geschosses berechnen zu wollen.
Beobachtet man die Entwicklung der oben geschilderten Phantasie-
tätigkeit, so bemerkt man, daß ihre Gebilde im Lauf der Jahre immer
konkreter werden. Das verdankt der Dichter einmal der gesteigerten
Technik, die er infolge poetischer Erfahrungen an seiner und anderer
Kunst sich angeeignet hat, noch mehr aber dem Einfluß des Lebens.
Die wachsende Lebenserfahrung dringt auch in diese Sphäre ein und
bewirkt, daß die früher unbestimmten Vorstellungen allmählich mit
wirklichen Gegenständen die größte Ähnlichkeit erhalten. Die blassen
Ideale bekommen kräftigere Farben, die ai!s der Umgebung stammen,
und werden dadurch zu Zeichen von seienden Objekten. Mit einem
Wort: das Sichausleben wird zugleich zu einem Sicheinleben in andere.
Was ursprünglich nur als Umdenken der eigenen Persönlichkeit an-
gelegt war, erweitert sich zu einem Einfühlen in gegebene Individuali-
täten. Doch auch hierbei bleibt der Dichter nicht stehen. Mit der
subjektiven Anpassungsfähigkeit muß sich vielmehr die äußerste Ob-
jektivität des Urteils verbinden, damit ein künstlerisches Verständnis
und ein Werk herausspringe. Ohne diese hinzukommende Verrichtung
bliebe der Dichter ein Mensch, der gern in charakterologischen Ver-
änderungen schwelgt und leicht unter den Bann eines anderen gerät,
jedoch weder abschätzen noch gestalten kann.
Die Forderung, die wir jetzt erheben, läßt sich am kürzesten dahin
aussprechen, daß die fremde Individualität ein Objekt bleiben muß.
Nicht nur setzt der Begriff des Objektes den eines Subjektes voraus,
sondern auch das Erleben eines Objektes beruht auf einem unmittel-
bar erfahrenen Gegensatz zum Subjekt: die ins Ich aufgenommene
fremde Seele muß in einem gewissen Widerstreit mit dem bleibenden
254 I- DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Ich sich befinden, damit sie als ein Objekt bdiandelt werden kann,
das Untergehen in einen anderen muß ergänzt und berichtigt werden
durch die Bewahrung der eigenen Persönlichkeit*). Wenn früher be-
merkt wurde, der Dichter verstehe nicht durch wissenschaftliches Zer-
stückeln, sondern durch Sympathisieren, so sollte in dem gewählten
Ausdruck angedeutet werden, daß etwas anda-es vorli^ als ein Sich-
verlieren; und wenn soeben behauptet wurde, daß gerade der Schwäch-
ling ein sehr feines Gefühl für HeldengröBe entwickeln könne, so
schwebte dies G^enspiel von Objekt und Subjekt vor. Im Grunde
handelt es sich ja nur um eine Verschärfung jener letzten Tatsache,
die den menschlichen Geist von allen anderen Dingen der Weh son-
dert: des Selbstbewußtsein oder der Fähigkeit, sich selbst zum Objekt
z\\ machen. — Gesetzt den Fall, es drehe sich um wieder erneuerte
Vorstellungen aus früheren Lebensaltem. Indem solche Erinnerungs-
komplexe ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der g^enwärtigen
Seelenverfassung dastehen, bilden sie gesonderte Synthesen und wachsen
sich wie von selbst zu imaginären Personen aus^. Der Dichter be-
müht sich schweriich, alle so erfaßten Potenzen zu einer Einheit zu
verschmelzen. Ein richtiger Instinkt warnt ihn, denn jeder Versuch
dazu schwächt seine Individualität und macht ihn unfruchtbar. Wie
die Mischung aller Farben Weiß erzeugt, so erzeugt die Mischung
aller im Künstler angelegten Persönlichkeiten eine leere und blanke
Apathie. Das gilt selbstverständlich auch von den aus der Einbil-
dungskraft geborenen Persönlichkeiten. Der ganze Figurenreichtum,
der aus unterirdischer Seelenarbeit entspringt, besteht nur im G^;en-
satz zu dem ständigen, herrschenden Ober-Ich*). Wie das spielende
Kind nicht völlig in seine Illusion, wie der Schauspieler nicht völlig
in seine Rolle aufgeht, so verharrt auch der Dichter in einer Trennung
von jenem einheitlichen psychischen Komplex, der eine fremde Seele
bedeutet Man hatte früher gedacht, daß Hypnotisierte, die durch
Suggestion in andere Menschen »verwandelt« werden, oder daß spiri-
tistische Medien und hysterische Kranke, die sich von einem Geist
besessen wähnen, daß sie alle eine restlose, wenngleich nur zeitweise
Umformung empfinden müßten. Aus neuen Untersuchungen wissen
wir, daß auch sie nicht gänzlich das Bewußtsein ihrer selbst verlieren.
Alles psychognostische Mitfühlen gleicht einer Taufe: du wirst in ein
neues Leben aufgenommen und brauchst dich doch nicht zu verleug-
nen. Mancheriei im dichterischen Schaffen läßt sich nur aus dieser
Zwiespältigkeit erklären. Man beachte, daß in der Regel der Darstel-
lung unberührter jugendlicher Seelen ein melancholischer Zug bei-
gemischt wird, der bei wirklicher Metamorphose in den Seelenzustand
fehlen müßte und teils aus sentimentaler Rückbetrachtung teils aus
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 255
unserem Wissen von der Zukunft entspringt Wenn die Poeten Oe-
heimnisse in einem sehr einfachen Gemüt, Schönheiten in einem
dumpfen Dasein zu finden behaupten, so ist das ein Echo ihres
eigenen Innern. Hiermit ist zugleich die ethische Bedeutung des Vor-
ganges ausgesprochen. Alle echten Künstler genießen des Glücks,
daß ihnen die Menschen als wunderl>ar erscheinen und nicht als
schmutzige und gemeine Seelen, in denen Gewöhnliches neben Ge*
wohnlichem steht. So denkt von seinem Nächsten der Philister, und
darunter leidet er selbst, ohne es zu wissen. Aber in der Kunst ist
auch die Seelenkenntnis heiter, denn Heiterkeit bedeutet ein freies Spiel
der Kräfte, wie es weder der Zwang des Lebens noch der Ernst der
Wissenschaft verstatten, und in solchem freien Spiel erwacht der Sinn
für anderer Menschen Art.
Die bisher vollzogene Oberiegung betraf ein bestimmtes Eriebnis
und seine Geschichte. Jenes Eriebnis ist das unmittelbare Verstehen
fremder Seelenvorgänge, wobei wir uns keiner Rückschlüsse von kör-
perlichen »Äußerungen« auf seelische ^Ursachen« bewußt zu sein
pflegen. Im Dichter ist es zur Vollkommenheit gediehen. Zur Ent-
wickelung der poetischen, der schöpferischen Seelenkenntnis tragen
wesentlich bei die treue Erinnerung an frühere Phasen der Persön-
lichkeit und das Bedürfnis der Einbildungskraft, aus dem Selbst einen
anderen zu machen. Träume und Wünsche, mit denen wir die Wirk-
lichkeit überfliegen, ziehen beim reifen Künstler so viele Bestandteile
der Wirklichkeit an sich, daß sie aus willkürlichen Gebilden zu Sym-
bolen von möglichen Menschen werden. Und dazu kommt eine zweite
einschränkende Bedingung: bei aller Leichtigkeit der Selbstverwand-
lung l)ehält der Dichter dennoch ein Bewußtsein seiner selbst und
kann daher dem fremden Charakter wie einem Objekt sich gegenüber-
stellen.
Wenn wir nunmehr den einzelnen psychognostischen Vor-
gang aus seinen Elementen wissenschaftlich erklären wollen, so müs-
sen wir die bislang ausgeschaltete Beteiligung des Körperlichen
schärfer ins Auge fassen. Wir erieben es zwar nicht so, aber wissen-
schaftlich verhält es sich doch so, daß dem Beobachter zunächst phy-
sische Tatsachen gegeben sind. Wollen wir rational erklären, so
müssen wir uns fragen: wie kommt es, daß ein Tonfall, ein Muskel-
spiel im Beobachter einen ähnlichen Zustand hervorruft, wie er den
Tonfall und das Muskelspiel verursacht hat? Außerdem halten wir
von dem Problem möglichst fern, was uns von Vorstufen und Ana-
logien bekannt geworden ist, da nur durch solche künstliche Abson-
derung eine eingeschränkte, aber klare und streng wissenschaftliche
Erkenntnis gewonnen werden kann. Übrigens ruhen die bisherigen
256 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
psychologischen Untersuchungen dieses Gegenstandes fast durchweg
auf solcher Auffassungsweise. So auch die bekannte Theorie, die
kürzlich von Lipps durchgeführt und schon Vorjahren von Sully fol-
gendermaßen angedeutet worden ist: »When a person witnesses the
manifestation of a pleasurable feeling in another, he reexperiences, in
an ideal form, some element of his own happiness; that is to say, his
perception of another joy is in itself a consciousness of joy.^
Von neuem sei an jene Theorie der Affekte erinnert, wonach die
Gemütserregung nicht nur von den Empfindungen der körperiichen
Äußerung begleitet sein, sondern gerade in solchen Organempfindungen
bestehen soll. Ich will nicht untersuchen, wie es sich im allgemeinen
damit verhält. Aber für den Vorgang im Künstler glaube ich eine
feinere Differenzierung beanspruchen zu müssen. Aus mancheriei
Selbstzeugnissen der Künstler erfährt man, daß sie unwillküriich zum
mimischen oder sonstigen Ausdrucke der darzustellenden Gefühle ge-
trieben werden, daß sie beim Gedanken an den Zorn ihres Helden
nun selbst die Fäuste ballen u. s. f. Das Ballen der Fäuste bei der
Vorstellung des Zorns bedeutet zunächst nichts anderes als die ver-
erbte und gewohnte Assoziation einer Bewegung mit einem seelischen
Vorgang; beim Dichter aber gewinnt es dazu noch einen eigentüm-
lichen Folgewert: es setzt nämlich eine seelische Erregung ins Spiel,
die sehr intensiv sein kann und trotzdem den Prozeß des künstleri-
schen Schaffens nicht stört. Diese Erregung deckt sich nicht mit dem
eriebten, wirklichen Affekt des Zorns. Von ihm mag es unentschieden
bleiben, ob er die Organempfindungen hervorruft oder in ihnen be-
steht. Die künstlerische Erregung aber ist ihrerseits eine Folge der
Bewegungen, hat diese gleichsam schon verdaut und wird daher durch
sie und die damit verknüpften Organempfindungen in der Produktion
nicht mehr gestört. Die körperiichen Vorgänge lassen genug Wärme
zurück, damit eine lebensvolle Darstellung zu stände kommt, aber sie
haben die Hitze eingebüßt, unter der dichterische Tätigkeit und Frei-
heit verdorren müßten. Die kennzeichnenden Gemütsbewegungen des
Dichters entstehen also durch Reaktion auf die empfundenen Zeichen.
Wem das wunderiich vorkommt, der denke an verwandte Erscheinun-
gen auf den Nachbargebieten. Einige Schauspieler vergießen an rühren-
den Stellen wirkliche Tränen. Daraus einen Rückschluß auf tiefinnere
Erregung zu ziehen wäre grundverkehrt: es liegt nichts anderes vor
als eine besonders leichte Funktion des gewohnten Zusammenhanges;
die Tränen sitzen ihnen locker, wie man zu sagen pflegt. Das hat
aber seine Vorteile, denn diese Tränen wirken nun zurück und er-
zeugen ihrerseits eine Ergriffenheit, die dem Schauspieler zwar nicht
wie ein wahrhafter Schmerz die Selbstbeherrschung raubt, ihm jedoch
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 257
die 2Iaubergewalt Ober den Zuhörer verleiht. Wenn ein Meister der
Geige unsere Herzen erschüttert, so wiederholt sich in uns derselbe
Vorgang wie in ihm: die Töne sind es, die auch ihn rühren. Der
Maler berauscht sich nicht nur an der Farbe, die er sieht oder er-
innert, sondern auch an der, die er aufträgt. Und dem Dichter eignet
vor allem die Gewalt Ober die Sprache; in dem Maße, wie die Worte
ihm zufließen, steigern sich seine Gedanken; im Wort erwachen Bilder,
die bis dahin schliefen; durch das Wort erst erobert er die innerste
Burg einer anderen Seele und erlebt seine eigenen psychischen Vor-
ginge völlig zu Ende. Demnach darf man schließen: des Künstlers
Beziehung zur Natur ist weniger Anschauungsvermögen als Ausdrucks-
verhältnis, die Lehre vom künstlerischen Schaffen gehört zum guten
Teil in die Psychologie der zentrifugalen Funktionen.
Aber immerhin nur zum Teil. So gesteigerte Seelenzustände, wie
wir sie bisher voraussetzten, kommen nicht bei allen Künstlern vor und
sind auch dort, wo sie sich finden, schwerlich die Regel. Vielfach
verläuft der Vorgang ohne die geschilderte starke Anteilnahme des
Körperlichen. Nehmen wir als Beispiel das Verständnis eines nicht
sichtbar werdenden seelischen Zusammenhanges, also eines erinnerten
oder erdachten, dessen Träger nicht leibhaftig vor uns steht In diesem
Fall schafft die Phantasie das entsprechende Bild: vor meinem geistigen
Auge steht der Mensch, ich höre seine Stimme, sehe seine Bewegungen
und schließe daran Urteile und Beurteilungen an etwa wie: ja, das ist
echte Freude, es gibt noch fröhliche Menschen, oder ähnliches. Hier-
bei brauchen die motorischen Vorgänge und die durch sie ausgelösten
Empfindungen nur in zartesten Ansätzen vorhanden zu sein. Der
konkrete Charakter, die psychophysische Einheitlichkeit bleiben ja auch
in diesem Fall gewahrt, da nicht der Begriff Lustigkeit, sondern ein
anschauliches Bild der Lustigkeit die Seele erfüllt. Indessen wegen
der geringeren Beteiligung der Organempfindungen und der Affekte
können in einem solchen Fall erstens beträchtlich mehr Vorstellungen
sich anschließen und zweitens - was ebenso wichtig sein dürfte -
leichter Hemmungen eintreten.
Was den ersten Punkt betrifft, so muß mit Nachdruck darauf hin-
gewiesen werden, daß an den anschaulichen Bewußtseinsinhalt auch
t>eim künstlerischen Schaffen abstrakte Vorstellungen sich angliedern.
Der in dem Bilde eines Zornigen anschaulich werdende Charakter
braucht nicht in allen seinen Zügen eigentlich vorgestellt zu werden,
sondern kann auch uneigentlich, in Worten und Begriffen, sich dar-
stellen. Manche Feinheiten der aufgefaßten Individualität werden nicht
einmal mit den entsprechenden Wort- und Begriffsvorstellungen, son-
dern nur durch schattenhaft auftretende Analogien das heißt durch un-
Dcttolr, Attketik und allf. KaitttwittcasduifL 17
258 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
deutliche Beziehung zu etwas ähnlichem im Bewußtsein repräsentiert.
Auch inadäquate Zeichen stellen sich ein, unter denen Melodien und
Farbenverbindungen am häufigsten in den Selbstzeugnissen der Dichter
erwähnt werden. Die außerordentliche Leichtigkeit und Beweglichkeit
der dichterischen Phantasie wäre undenkbar, wenn diese alles wie
Illustrationen in einem Buch eigentlich und konkret vorstellen mußte.
— Als zweiten Punkt bezeichnete ich die Hemmungen. Sie sind es,
die aus der bloßen Erregtheit der Seele einen geschlossenen Bewußt-
seinszusammenhang hervortreten lassen. Zur Erläuterung erinnere ich
an die entgegengesetzte psychische Disposition des Berauschten. Durch
den Alkoholgenuß fallen Hemmungen weg, die sonst regulierend wir-
ken, und so werden die (hier wie sonst) auftauchenden Vorstellungen
anders bewertet als gewöhnlich. Ähnlich so mag es sich beim Dichter
in den Hochmomenten stärkster Ergriffenheit verhalten: alle berich-
tigenden, hemmenden Bewußtseinsinhalte treten zurück und nur auf
einen Punkt hin strömt die seelische Energie. In den übrigen Stadien
der Arbeit jedoch betätigen sich Gegenvorstellungen und helfen an
der Vielseitigkeit, ja Unerschöpflichkeit des Werkes, das trotzdem ein-
heitlich bleibt und sich nicht zersprengen läßt
Diese, der Besonnenheit entstammenden Gegenvorstellungen bilden
zugleich ein Anzeichen für die wache Tätigkeit des Ich. Wir haben
uns schon oben darüber verständigt, daß der Dichter nicht ganz und
gar in das Fremdwesen aufgeht — völlige Selbstvergessenheit ist
pathologisch. Vielmehr nimfnt er Stellung zu den von unzähligen
Beziehungen umspielten Bildern eines heiter sprechenden oder zornig
sich bewegenden Menschen. Durch die Vermittelung von Nachahmungs-
bewegungen hat er teil an der Freude oder an dem Zorn, stets aber
im Zusammenhang mit Urteilen, die auf ein Objekt weisen: »wie
glücklich ist doch eine solche Natur!« Je lebhafter die von derartigen
Urteilen getragenen Gefühle auftreten, desto entschiedener hindern sie
eine wahrhafte Selbstverwandlung, denn diese Gefühle beziehen sich
auf das ständige Ich, und eine Lust oder Unlust ohne Ichbeziehung
bestehen nicht. Im gleichen Zuge wirken die Pausen des Seelenvor-
ganges, von deren Bedeutung schon bei der Analyse des ästhetischen
Eindruckes die Rede war. Alles Sicheinleben verläuft mit Unterbrechun-
gen, da ich unwillküriich von Zeit zu Zeit zu mir selbst zurückkehre.
Und auch während der anderen Zeiträume des Ablaufs behalte ich in
der Regel ein Bewußtsein meiner eigentümlichen Körperverfassung
und Umgebung, worüber zuerst die Beobachtung Hypnotisierter bei
der sogenannten objeäivation des types beweisenden Aufschluß ge-
geben hat, und werde eben dadurch vor einer Auflösung des Subjekts
In das Objekt bewahrt.
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 259
Bisher hatten wir angenommen, daß der Gegenstand des psycho-
gnostischen Verständnisses eine einzelne GemQtsstimmung sei. Mit
dem Verständnis fOr eine augenbhcidiche Heitericeit oder Wut ist aber
noch nicht viel erreicht Die Hauptsache bleibt doch der ganze
Charakter, von dem nur fragmentarische Äußerungen voriiegen. Er
erschließt sich — wie Dilthey und Lipps nachgewiesen haben — aus
einzelnen Äußerungen kraft des Zusammenhanges, in dem sie alle
stehen. Worüber und wann der andere gelacht hat, das muß ich
wissen, die Feinheiten und Besonderheiten seiner Fröhlichkeit muß ich
in mich aufnehmen, damit ich eine umfassende Vorstellung gewinnen
kann. Dabei gelten die bewußten Äußerungen weniger als die un-
bewußten. Nur in Bewegungen, Mienen, Akzenten kann das intimste
P»^önlichkeitsleben sich verraten. Lew Tolstoj schildert die Begeg-
nung zweier Geschwister, die sich seit Jahren nicht gesehen und ein-
ander entfremdet haben, mit einem sehr treffenden Satze: >So ging
jener geheimnisvolle, mit Worten nicht auszudrückende, bedeutsame
Austausch von Blicken vor sich, in dem alles wahr ist; dann begann
der Austausch von Worten, in denen diese Wahrheit schon nicht
mehr enthalten war.« (Auferstehung, übers, von A. Heß, S. 473.) Die
Vorgänge im Innersten der Seele haben in ihrer Beschaffenheit etwas,
was die Umsetzung in Worte unmöglich macht. Aber außer der Un-
fähigkeit des Menschen, alles Feine des Gemütes willküHich auszu-
drücken, besteht auch ein Widerwille dagegen. »Das ausgesprochne
Wort ist ohne Scham, Das Schweigen ist der Liebe keusche Blflte^,
singt Heinrich Heine. Wir zeigen so wenig die ganze Seele wie den
ganzen Leib, das eine erscheint uns so schamlos wie das andere.
Wir merken femer instinktiv, daß die offene Aussprache den Heim-
lichkeiten der Seele allsogleich ihren Wert rauben würde. Und end-
lich nötigt uns der Selbsterhaltungstrieb, diese oder jene Lebenslüge
aufrecht zu erhalten, die mit der rückhaltlosen Selbstenthüllung hin-
fällig werden müßte.
Die Gesamtheit der unbewußten Äußerungen, in denen Verborgenes
zu Tage tritt, gilt uns als die sichtbare Seite der Individualität Die
seelische Individualität wird am bequemsten erklärt aus der ver-
änderlichen Verknüpfung allgemein -seelischer Bestandteile und aus
Steigerung sowie Schwächung solcher Bestandteile. Indem der Dichter
den Kombinationen, Verstärkungen und Minderungen nachgeht, wird
er der Verwalter des seelischen Reichtums der Menschennatur. Ihm
sind gleich wertvoll die mannigfaltig wechselnden Verbindungen in
den Durchschnittsmenschen, die herabgestimmten Funktionen des Ab-
normen und die höchst gesteigerten Leistungen des Helden. Die
natüriiche Neigung führt freilich den Dichter wie den Historiker zum
260 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Helden, und zwar mit Recht, da Erhebung zum Großen etwas spezi-
fisch Menschliches und die Tatsache des Außerordentlichen ein Kenn-
zeichen des Geistigen ist, das der Natur (und daher auch der Natur-
wissenschaft) fehlt. Aber auch der unentwickelte oder falsch gebildete,
der Unlust weckende oder häßliche Charakter kann ihn anziehen. Nicht
nur weil er bei Ergrundung auch dieser Eigenschaften sich über sich
selbst »hinausgemutet« — um einen Goetheschen Ausdruck zu ge-
brauchen — , sondern vornehmlich, weil die starke Erregung, die mit
der Erkenntnis derartiger Naturen verkoppelt ist, alle etwa auftauchen-
den Gefühle der Antipathie sofort neutralisiert. Es ist eine Verleum-
dung des Menschen, zu behaupten, daß er überall das Ideal-Schöne
und Harmonische suche; was er will, das ist nicht die bloße Lust,
sondern Leben, d. h. Erregung und Kampf. Aus einem solchen Ge-
fühl heraus gestaltete Shakespeare die unsittlichen und die halbtieri-
schen Naturen. Er vermochte es um so leichter, als er die Seele
offenbar aus verhältnismäßig wenigen Elementen zusammengesetzt
dachte und die Welt von jedem Standpunkt aus zu beurteilen ver-
stand.
Mit den genannten drei Typen ist indessen dem Bedürfnis nach
Individuenverständnis noch nicht genügt und ebensowenig mit der
Berufung auf das wechselreiche Verknüpfen, Verstärken und Ab-
schwächen von Bewußtseinsinhalten in einer einzelnen Seele, die in
bestimmter Richtung unentwickelt, in anderen Beziehungen durch-
schnittlich, ja heldenhaft sein kann. Es müssen noch weitere Gesichts-
punkte hinzugenommen werden und zwar, wie ich denke, die, die in
der Hauptsache schon von Bahnsen aufgestellt worden sind. Der
erste betrifft den Inhalt der Einzelseele in seiner Abhängigkeit von
den Reizen und zeriegt sich für unsere Betrachtung in zwei unter-
geordnete Gesichtspunkte. Einmal nämlich wirken Anlage und Um-
gebung im allgemeinen auf die Individuen mit verschiedener Stärke.
Große Dichter unterscheiden sehr genau zwischen rezeptiven Naturen,
die den vererbten Trieben und den Einflüssen der Umgebung geringen
Widerstand entgegensetzen, und den aktiven Naturen, die sich und
die Welt zu überwinden vermögen. Hiermit verknüpfen sie mdst eine
Einteilung in veränderiiche und stetige Charaktere, wobei der konstante
Faktor im ersten Fall mit der Anlage, im zweiten Fall mit dem Ziel-
streben zusammenzufallen pflegt — eine Deckung, die in der dichteri-
schen Überiieferung ausgebildet, aber logisch nicht erschöpfend ist
Für Shakespeare gelten als konstant durch die ihnen mitgegebene An-
lage die rezeptiven Frauennaturen: ihre undifferenzierte Seele kommt
immer wieder in die Gleichgewichtslage und ändert sich im Lauf des
Lebens nicht erheblich. Zu dieser Auffassung haben zweifellos Er-
DIE SEELENKENNTNIS DES KÜNSTLERS. 261
inneningen an das psychische Leben des Knaben beigetragen, da dies
sich nur unter Verlust seiner weiblichen Eigenschaften zu ändern
vermag. Der variable Faktor dag^en überwiegt bei jenen Männern,
die ohne Rücksicht auf Vergangenheit oder Zukunft den Eindrücken
des Augenblicks folgen; als Erklärungsgrund fügt Shakespeare die
Stärke des Reaktionsgefühls hinzu, denn je intensiver ein Gefühl ist,
desto kürzere Zeit pflegt es zu dauern. Bei den aktiven Naturen gilt
ihm Schwäche als die größte Sünde. In seinen geschichtlichen Bilder-
rdhen ist den großen Willensmenschen ihre konstante Richtung damit
gegeben, daß sie einen äußern Erfolg in der wirklichen Welt zu er-
reichen streben. In den späteren Werken, vom Hamlet ab, hat Shake-
speare ein edleres Ziel verkörpert: die Vervollkommnung der eigenen
Seele; sie bildet nunmehr Endpunkt und Maßstab für das Tun des
hohem Menschen.
Zweitens nun besitzen einzelne Eindrücke für den einen eine
andere erregende Kraft als für den anderen; man denke an die ange-
borenen Begabungen. Dementsprechend enthüllt sich im Epos und
Drama die besondere Beschaffenheit eines Charakters mit Hilfe der
Wertbetonung, die ein einzelnes Erlebnis von selten des Erlebenden
erfährt. Die beiden hieraus gewonnenen Kunstgriffe des Dichters be-
stehen darin, daß entweder das gleiche Motiv in seiner mit den Indi-
viduen wechselnden Wirksamkeit oder eine Vielfältigkeit von Motiven
in ihrer Bedeutung für einen einzelnen gezeigt werden. So ist es für
die Differenzen der Individuen höchst kennzeichnend, wie diese z. B.
denselben äußeren Widerstand verschiedentlich beantworten, während
anderseits ein Mensch auch geschildert werden kann durch den Er-
regungswert, den verschiedenartige Eindrücke für ihn besitzen.
Wenn mit allen diesen Mitteln die Einzelseele inhaltlich bestimmt
werden kann, so läßt sie sich auch in Rücksicht auf ihre Funktion
verdeutlichen. Und zwar wird der Vollzug seelischer Leistungen in
doppelter Weise interpretiert. Zunächst betrachtet die Psychognosis
die zeitliche Aufeinanderfolge und die Verhältnisse der ablaufenden
Vorgänge als bedeutsam für persönliche Eigenart, und femer be-
stimmt sie die Intensität der Vorgänge. Da nämlich stets nur eine
bestimmte Gesamtsumme von psychischer Energie verfügbar ist, so
charakterisiert es den einzelnen, welches Maß davon er für diese oder
für jene Verrichtung aufwendet, ja selbst jene individuell verschie-
dene Gesamtsumme kann als wesentliches Merkmal verwertet werden.
Für alle die genannten Zusammenhänge liefern die Hauptpersonen in
Shakespeares Dramen die anschaulichsten Beispiele. Auf die Form
und das Verhältnis der ablaufenden Seelenvorgänge bezieht sich
Goethes Wort, die Menschen Shakespeares glichen Uhren » »deren
262 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte«. In Bezug
auf die Verteilung der seelischen Energie befolgt Shakespeare den
Grundsatz, daß Leidenschaften die größte Menge der vorhandenen
Kraft an sich ziehen und beschreibt nun sowohl durch die Qualität
der Leidenschaft (Ehrgeiz, Liebe) als auch durch die Verteilung der
übrig bleibenden Kraft auf die anderen Richtungen der Seele.
4. Die Seelenverfassung des Künstlers.
Nachdem über die Psychologie des künstlerischen Schaffens und
außerdem über das beim Künstler vorhandene Verständnis für den
Menschen so vieles gesagt wurde, scheint nichts zu bleiben, was die
Überschrift rechtfertigen könnte. Und doch ist die dauernde Seelen-
verfassung des Künstlers, zumal in Rücksicht auf sittliche und gesell-
schaftliche Verhältnisse, keineswegs hinlänglich erörtert. Ja, selbst an
dieser Stelle läßt sich noch nicht alles aussprechen, sondern manches
muß für die Schlußabschnitte des Buches aufgespart werden.
Zu allen Zeiten hat man den Künstler mit dem durchschnittlichen
Menschen verglichen, und stets hat man zwischen zwei Auffassungen
geschwankt. Die eine, von den Romantikem zum Weltgesetz erhoben,
sieht im künstlerischen Genius den wahren Menschen oder mindestens
eine erfreuliche, nach oben gerichtete Ausnahme; die andere rückt ihn
in die Nähe der Geisteskranken und behandelt ihn deshalb auch in
der Praxis wie einen leicht Verrückten, mit Nachsicht nämlich und
mit einem gewissen fettigen Wohlwollen. In der Tat kann er vor den
Augen des Arztes und des Soziologen kaum bestehen, wenn der
Dutzendmensch den Maßstab bilden soll. Bereits in die soeben er-
örterte Erkenntnisbeziehung zu den Charakteren mischen sich vielfach
Züge, die an die absonderiiche Seelendurchleuchtung mahnen, wie sie
von »Sehern« eriebt und geschildert wird^). Darüber hilft auch nicht
die freundliche Erklärung hinweg, daß die krankhaften Erscheinungen
in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der geistigen Größe stehen
und weite Gebiete der seelischen Fähigkeiten unberührt lassen. Natür-
lich ist es Unfug, Zolas »mystische Neigung, dem leblosen Stoff Leben
einzuflößen« als »nicht unbedenklich« zu brandmarken. Aber lesen
wir von Zolas Abnormitäten, dem Zwang zu zählen, Schubladen und
Türen wieder und wieder zu schließen, Hindemisse nur mit dem
rechten Fuß zu überschreiten und dergleichen mehr, so werden wir
es Lombroso zugeben können, daß der Dichter, medizinisch angesehen,
ein Hystero-Epileptischer war. Das Träumen und die primitiven Schreck-
gefühle, das innere Lauschen und die geheime Angst, die Ruhelosig-
DIK SEELENVERFASSUNG DES KÜNSTLERS. 263
keit und die schweren Störungen des Nervensystems lassen viele unter
den Künstlern , wenngleich nicht alle, als krank erscheinen. Man hat
das traurig genannt oder es auch wohl wegzutäuschen versucht, um
einem so bedenklichen Ergebnis zu entgehen. Umso nötiger ist es,
daB wir uns Ober die Auffassung verständigen, die hier eintreten muß.
Einer äußerlichen Betrachtung mögen Genie und Wahnsinn als Brüder
erscheinen. Aber im Wesen liegt ein Unterschied, und zwar ein
teleologischer: Das Genie weist nach vorwärts, der Geisteskranke nach
rückwärts. Nennen wir normal nicht das zahlenmäßige Mittel, sondern
das teleologisch Bedeutsame, so können wir den genialen Menschen
trotz aller seiner Krankheitserscheinungen und Wunderlichkeiten als
normal bezeichnen. Denn es kommt nicht darauf an, wie jemand ge-
baut ist oder sich fühlt, sondern darauf, was er leistet.
Es gibt einen Unterschied unter den Menschen. In den ethischen
Religionen, also auch im Christentum, ist er durch den Gegensatz des
Gläubigen und des Ungläubigen bezeichnet. Plato spricht von einem
sinnlichen und von einem geistigen Eros, von dem Drange zum Kör-
perlichen und von der Sehnsucht nach dem Geistigen. Antike wie
christliche Denkweise beurteilen die Menschen nach ihrem Verhältnis
zu einer höheren Macht und selbständigen Geisteswelt. Dieser Gegen-
satz besteht noch heute zu Recht. Er ist nicht notwendigerweise
quantitativ, so daß auf der einen Seite die Masse, auf der anderen
Seite eine kleine Anzahl sich befindet, sondern vornehmlich qualitativ.
Menschen kommen auf die Welt, um sich und ihre Gattung zu er-
halten; andere werden geboren, um eine Leistung zu vollbringen.
Jene urteilen von diesen, sie seien närrisch; diese meinen von jenen,
sie seien minderwertig. Man mag beide Stellungen des Lebens für
gleichberechtigt halten, wenn man nur ihre gründliche Verschieden-
heit zugibt. Es ist eine Verschiedenheit im Sinne des konträren Gegen-
satzes, d. h. es finden sich unzählige Übergänge und Vermischungen.
Aber bleiben nicht Weiß und Schwarz entgegengesetzt, obgleich sie
in Grau sich verschmelzen? So wie Schwarz und Weiß stehen sich
Zeugungsmensch und Leistungsmensch gegenüber; die durchhaltende
Richtung ihres Lebens, Ziel und Aufgabe ihres Daseins weichen un-
verkennbar auseinander.
Wenn wir uns zum Standpunkt des Leistungsmenschen erheben,
so müssen wir vorerst einsehen, daß die Forderung der Gesundheit
von ihm nicht erfüllt werden kann. Mindestens werden wir wohl
darin einig sein, daß körperliche und geistige Kraft in keiner unmittel-
baren Proportion zueinander stehen. Mit dem Anwachsen der einen
braucht die andere noch nicht zu steigen. Nun kann man einwerfen,
das eben sei ein Unglück: das Ideal fordere die völlige Deckung.
264 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
Gewiß streben mächtige Oefühlsmotive nach dem Oleichgewicht beider
Seiten der Lebenseinheit, aber schon die folgerichtige Fortbildung des
Gedankens erschüttert seine Zuverlässigkeit: ich wenigstens kann mir
nicht die Seele eines Kant im Körper eines Preisringkämpfers vorstellen.
In jedem Betrieb, so auch in dem unseres Organismus, kommt die
Mehrleistung eines Teiles nur auf Kosten anderer Teile zu stände.
Die übermäßige Gehimtätigkeit, ohne die es keinen Fortschritt gibt,
schädigt andere Körperfunktionen, so wie die Ausbildung eines Ge-
weihes die Schneidezähne beeinträchtigt, wie keine Hypertrophie ent-
stehen kann ohne entsprechende Atrophie. Der Geist ist ein Schma-
rotzer des Leibes. Man darf biologisch das Bewußtsein auffassen als
eine allmählich entstandene Schädigung des belebten Körpers, als eine
zum Tode führende Krankheit, von der das reine Leben frei ist, und
man darf vermuten, daß dem Regenwurm bereits der Hund als ein
Gehirnneurastheniker erscheint. Ja, es muß ausgesprochen werden,
daß wir nicht nach gleichmäßig entwickelten Körper-Geist-Einheiten
streben sollen. Lediglich auf die höhere Entfaltung des Geistes kommt
es an, und diese ist mit körperlichen Mehrleistungen unvereinbar.
Alles Große entsteht unter krankhaften Erscheinungen, weshalb oft
genug das Große selbst für krankhaft erklärt worden ist. Denken
wir uns des Beispiels halber ein Weib, das in völliger Unwissenheit
seiner physiologischen Bestimmung empfangen hat; muß es nicht alle
Anzeichen seines Zustandes, vom ersten Obelbefinden an bis zu den
Wehen, für die Anzeichen einer schweren Krankheit halten? Aber
nur so kann ein Kind geboren werden. Auch das geistige Erzeugnis
reift unter ähnlichen Störungen der normalen Verfassung, Störungen
des Temperamentes und des Nervensystems, die nicht eher nachlassen,
als bis das Werk vollendet ist. Wer der unangetasteten Gesundheit
zuliebe auf künstlerisches oder wissenschaftliches Schaffen verzichtet,
der gleicht einem Kinde, das aus Angst vor dem Durchbruch der
Zähne lieber keine Zähne haben will; und wer das höhere geistige
Leben wegen seiner Durchbruchserscheinungen abnorm nennt, der
müßte ebenso die Zähne als krankhaft bezeichnen, da ja doch das
Zahnen unter Schmerz und Fieber vor sich geht. Und weil der Lei-
stungsmensch nicht aufhört, zu denken und zu bilden, so hört er
auch nicht auf zu leiden. Die Lebensbeschreibungen unserer großen
Männer reden eine deutliche Sprache. Wahrhaftig — »ein Ding, das
keiner voll aussinnt und viel zu grauenvoll als daß man klage«.
Es mag widersinnig klingen, von der Gesundheit als Übel zu
sprechen, und ist doch nicht unbegründet. Zum mindesten steht fest,
daß sie kein unbedingtes, sondern nur ein verhältnismäßiges Gut ist,
und man kann wahrscheinlich machen, daß Leiden und Schmerzen
DIE SEELENVERFASSUNG DES KÜNSTLERS. 265
als notwendige Begleiterscheinungen geistiger Entfaltung wünschens-
wert und auch im Hinblick auf seelische Verinnerlichung von Nutzen
sind. Die Schlußfolgerung hieraus liegt nahe. Während der Zeugungs-
mensch um jeden Preis gesund sein will, ist das Absehen des Lei-
stungsmenschen darauf gerichtet, die körperliche Gesundheit auf das
unentbehrliche Minimum zu beschränken. Der Körper darf nicht
völlig versagen, wenn irgend ein fruchtbares Geisteswerk möglich
werden soll, aber er darf anderseits nur so viele Rechte beanspruchen,
als ihm unter der angedeuteten Zielbestimmung zukommen. Dem
Zeugungsmenschen ist die robuste Gesundheit ein Zweck, dem sich
die meisten anderen seiner Lebenszwecke unterordnen. Der Ober-
schuß an Lebenskraft wird nicht vergeistigt, sondern immer wieder
nur zu Gunsten körperlicher Verrichtungen aufgebraucht, also in der
Richtung nach unten und nicht in der nach oben verwertet. Neue
Gestaltungen und höhere Differenzierungen fallen fort, da die ängst-
liche Sorge vor jeder Trübung des Wohlbefindens die seelische Trieb-
kraft hemmt. Die Berufskrankheiten der Geistesmenschen - - deren
es ebensogut gibt wie Berufskrankheiten von Grubenarbeitern —
ließen sich freilich vermeiden, wenn diese Menschen dem ärztlichen
Rat entsprechen und ihr Schaffen einstellen wollten, wenn sie im Sinne
der Erstarrung anstatt im Sinne der Entwicklung leben wollten. Es ist
aber nicht unter allen Umständen sittlich empfehlenswert, körperliche
Leiden an sich selber zu vermeiden und an anderen zu beheben. Das
übliche Rezept der Moralärzte: schaffe Krankheit, Not und Elend aus
der Welt, so handelst du gut, ist unangenehm naiv.
In einem modernen Roman, der das Jeremiaslied der Entartung
genannt worden ist, sagt die Hauptperson von sich, sie leide unter
einer häßlichen Farbenstimmung ebenso, wie andere Menschen unter
Familienkatastrophen. Eine solche mimosenhafte Empfindlichkeit hat
in unserer Welt der Disharmonien gar böse Folgen, und Ärzte wie
Publikum werden nicht müde, diese Nervenschwäche zu bekämpfen.
Aber sie ist wirklich die Bedingung dafür, daß unser Leben vor-
nehmer gestaltet werden kann. Wer aus einer Zimmereinrichtung Freund
oder Feind herausfühlt, wer durch einen falschen Ton im vertrauten
Geplauder sich von einer Leidenschaft heilen läßt, der entgeht wenigstens
der Vergröberung. Der Übergang vom Erhaltungs- zum Erhöhungs-
lehen vollzieht sich nun einmal für den modernen Menschen durch
eine feinere Reizbarkeit des Nervensystems. Die hiermit verknüpften
Leiden werden selten richtig beurteilt. Für die einen sind sie krank-
hafte Erscheinungen, denen durch Abstumpfung und Verhärtung ent-
gegengearbeitet werden muß, wie man etwa ein musikalisches Ohr so
lange mißhandeln kann, bis es auch mit dem unreinsten Gesang zu-
266 L DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
frieden ist; den anderen gilt das leise Seufzen empfindlicher Naturen
wenig im Vergleich zu dem Jammern der Hungernden und Frierenden.
Die Frage ist aber ausschließlich die, ob mit einer solchen körper-
lichen und geistigen Beschaffenheit etwas geleistet werden kann. Diese
Frage darf, wie ich denke, bejaht werden. Manche der von Lombroso
gesammelten Tatsachen aus der Vergangenheit und femer die Beob-
achtungen, die wir in unserer Zeit machen, sprechen dafür.
Indem ich nun die seelische Eigentümlichkeit des Leistungsmenschen
darzulegen versuche, gehe ich von einem Worte Gottfried Kellers aus:
»Mehr oder weniger traurig sind am Ende alle, die über die Brotfrage
hinaus noch etwas kennen und sind; aber wer wollte am Ende ohne
diese stille Orundtrauer leben, ohne die es keine rechte Freude gibt?
Selbst wenn sie der Reflex eines körperlichen Leidens ist, kann sie
eher vielleicht eine Wohltat als ein Übel sein, ein Schutz mehr gegen
triviale Ruchlosigkeit«. Der gleiche Gedanke ist ungezählte Male von
den Edelsten ausgesprochen worden. Jesus lehrt, daß wir dem Schmerz
und der Not nicht ausweichen, sondern sie durch Vertiefung über-
winden sollen. Meister Eckhart mahnt: »Das schnellste Tier, das euch
trägt zur Vollkommenheit, ist Leiden.« In der »Iphigenie« heißt es:
Die Schmerzen sind's, die ich zu Hilfe rufe,
Denn Freunde sind sie, Gutes raten sie.
Selbst aus einem Bekenntnis Nietzsches klingt derselbe Ton heraus:
»Meine Humanität«, so sagte er 1888, »besteht nicht darin, mitzufühlen,
wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, daß ich ihm mitfühle.«
Mit einem Wort: die Leidensfähigkeit kennzeichnet den Geistesmen-
schen. Der Tiermensch hat tausend Vergnügungen und Entschädi-
gungen, die jenem fehlen — er »amüsiert« sich — ; des Geistesmen-
schen Weg führt weit, doch nicht zum Glück. Ganz dem Werke
hingegeben, von körperlichen Beschwerden gequält, der Behaglichkeit
des animalisch lebenden Zeugungsmenschen beraubt, unzufrieden mit
der eigenen Leistung, von stiller Melancholie erfüllt — so lebt er ein
Leben, das sich gründlich von der gemeinen Lebenshaltung unter-
scheidet und dennoch unendlich wertvoll ist
Im Leiden der Mutter werden wir zum ersten Male, im eigenen Lei-
den zum zweiten Male geboren. Das inneriiche Leiden des höheren
Menschen unserer Zeit liegt unaufhebbar darin begründet, daß seinen
vielfältigen Bedürfnissen und Bestrebungen nicht genügt werden kann.
Seine Seele ist so zeriegt, so fein differenziert, daß er jede Beschrän-
kung auf eine Fähigkeit und ein Ziel als eine Beeinträchtigung seiner
reichen Natur empfindet Sein Wissen ist zu schmerzhafter Größe
angewachsen. Seine Affekte quälen ihn, denn sie stürmen aus dunkler
Tiefe herauf und sind nicht Plagiate wie die der meisten; Richard
DIE SEELENVERFASSUNG DES KÜNSTLERa 267
Wagner nannte sich einen exklamatorischen Menschen und fügte hinzu,
das Ausrufungszeichen sei im Grunde die einzige ihm genügende
Interpunktion, sobald er die Welt der Töne verlasse. Was soll ein
solcher Mensch in unserer geregelten, nüchternen Gesellschaft? Er
leidet, weil ihm der Widerstreit des wirklich gelebten und des ge-
dachten Lebens niemals aus dem Bewußtsein kommt. Aber gerade
die seelischen Widersprüche und die Art, wie man sich zu ihnen stellt,
sind das Entscheidende beim Menschen. Die Feindseligkeiten, die
zwischen Anlage, Erziehung und Umgebung, zwischen der gegebenen
und der zu erringenden Welt, zwischen dem Tierischen und dem Hei-
ligen im künstlerischen Wesen unausbleiblich auftreten, können durch
Wegsehen scheinbar ausgeglichen werden. So verfährt der Alltags-
mensch. Er teilt sich seinen Kopf in mehrere Fächer ein, stopft in
jedes eine anders gerichtete Fähigkeit und gelangt zu der Behaglich-
keit, die ihm über alles geht. Naturtriebe und Geistesregungen wider-
sprechen in ihm sich nicht, weil sie sich nicht begegnen. Ein vor-
nehmer Geist jedoch sucht nach seiner eigenen Synthese. Er fürchtet
sich nicht, allgemein verbreitete und ihm selber lieb gewordene Vor-
urteile abzustoßen, obgleich sie ihn auch später noch wie amputierte
Gliedmaßen schmerzen; er sucht den inneren Kampf, da er ohne ihn
sich nicht entwickeln kann. Alle Leiden dieser Art sind gut, denn
sie bringen vorwärts. Deshalb ist es so grundfalsch, die Künstler zu
bedauern und in die Reihe der nur Kranken einzuordnen. > The worlds
work is done by its invalids.'^
Eine ähnliche Verkehrtheit macht sich geltend, wenn die Künstler
wegen ihrer oft geringen sozialen Betätigung als sittlich minderwertig
behandelt werden. Alle diejenigen, die wahrhaft der Kunst zugehören,
stehen in Einsamkeit: ruhelose Überfülle und qualvolles Leiden schei-
den sie aus der vergnüglichen Gemeinschaft ab. Ich meine nicht die
vielen ehrenwerten Handwerker, die mit der Perspektive oder dem
Kontrapunkt arbeiten, sondern ausschließlich solche, die vom Eros zu
den Ideen geleitet werden. Der Wert ihres Daseins liegt in ihren
Werken. Das Beste, was sie geben können, spenden sie nicht dem
Nachbar oder der Gattin, sondern der Mit- und Nachwelt. Offen-
kundig ist, daß von allen fragen und Zerstreuungen des Tages nichts
in das Kunstwerk übergeht; femer läßt sich feststellen, daß die wichtig-
sten Ereignisse im Leben der meisten bildenden Künstler und Musiker,
ja auch vieler Dichter keinen beträchtlichen Einfluß auf ihre Kunst
ausgeübt haben: ihre Kunstweise bleibt fest oder ändert sich unab-
hängig von Geschehnissen, die den Menschen selbst aufs tiefste be-
trafen. Das Ich , das im Werk sich ausgibt und zur Allgemeingültig-
keit entfaltet, ist ebensowenig das soziale Ich wie seine Geltung eine
268 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
soziale. Die Künstler als Künstler kommen nicht aus unserer ge-
wöhnlichen Welt, daher verlangen sie vom Leben nichts, als daß es
ihnen Ruhe zu ihrer Arbeit läßt. Brauchbar im gewöhnlichen Sinne
sind solche Naturen nicht; unter Umständen können ein paar Last-
träger viel brauchbarer sein. Aber wessen Blick auf Ewiges geheftet,
wessen Seele von einer Welt des Geistes erfüllt ist, der kann am
Treiben der Zeugungsmenschen nur teilnehmen «atStdc x^P^^i wie
Sokrates sagte, des Spieles halber; ingleichen der Künstler. Um wieder
mit Gottfried Keller zu sprechen: »Ruhe zieht das Leben an, Unruhe
verscheucht es. Gott hält sich mäuschenstill, darum bewegt sich die
Welt um ihn. Für den künstlerischen Menschen nun wäre dies so
anzuwenden, daß er sich eher leidend und zusehend verhalten und
die Dinge an sich vorüberziehen lassen als ihnen nachjagen soll.
Denn wer in einem festlichen Zuge mitzieht, kann denselben nicht so
beschreiben wie der, welcher am Wege steht«. Der in einer über-
persönlichen Sphäre Lebende verliert gar leicht die Fähigkeit, den Er-
fordernissen des Tages, den Wünschen der Umgebung, den natür-
lichen und sozialen Bedingungen des äußeren Daseins gerecht zu
werden. Verschwenderische Hingabe an die üblichen Pflichten würde
ihn mit Unfruchtbarkeit bedrohen und den Dämon ertöten, ohne den
er nicht wäre was er ist. Künstlertum und Beamtentum sind der
Regel nach Gegensätze und müssen es sein. Ein dämonischer Be-
amter — nicht wahr, lieber Leser, du lächelst?
Goethe hat den schönen Ausdruck: die Fortifikationslinien meines
Daseins. Darunter versteht er die Begrenzung seiner besonderen An-
lagen und Kräfte. Das Wissen von dem, wozu man berufen ist, be-
deutet die Tugend des Schaffenden. Das Altertum lehrte einen Zu-
sammenhang zwischen sittlicher und intellektueller Bildung und ge-
brauchte dafür den Satz, Tugend sei Wissen. Hierin steckt die richtige
Erkenntnis, daß es keine instinktive Sittlichkeit gibt. In jenen halb er-
hellten Räumen, die der Instinkt bewohnt, kann wahre Sittlichkeit nicht
leben, denn sie hat immer die Einsicht in den Unterschied von Out
und Böse zur Voraussetzung. Unterhalb dieser Einsicht mag Unschuld
liegen, doch niemals Sittlichkeit. So gibt es auch eine Sittlichkeit, die
darin besteht, daß die Erkenntnis der eigenen Fähigkeiten sich ver-
bindet mit dem ernsthaften Versuch, aus ihnen zu machen, was nur
irgend gemacht werden kann. Wir können das die Gewissenhaftigkeit
des Künstlers nennen; obgleich der Ausdruck etwas Kleinbürgeriiches
und einen dumpfen Geruch an sich hat. Gewissenhaftigkeit meint
hier nicht: irgend welchen Vorschriften treuherzig folgen, sondern ehr-
lich mit sich und aus sich heraus arbeiten. Der geistig Schaffende
empfindet stets Gewissensunruhe, wenn er mit Dingen sich abgibt,
DIE SEELENVERFASSUNG DES KÜNSTLERS. 260
die nicht zur Aufgabe seines Lebens gehören. Ein zeitweiliges Ver-
gessen der Aufgaben, für die er da ist, kommt freilich vor, aber kaum
hat die Ruhe eine Zeit gewährt, so beginnt das aufgeregte Spiel im
Innern von neuem und das böse Gewissen ist es, das ihn zu weiterem
Schaffen antreibt. Daher ist das »böse^ Gewissen so segensreich,
und nichts Großes würde ohne seine Strafen zu stände kommen.
Ganz anders verhält sich das Gewissen bei den Versuchen der Un-
reife, Ober das Niveau oder die Fortifikationslinien des Ich hinauszu-
schreiten. Denn das Mißlingen dieses Versuchs führt eine Selbstver-
achtung geringerer Grade und anderer Betonung herbei. Man soll
sich eben die Fahnen hoch stecken, man soll das Unmögliche wagen,
um das Mögliche zu erreichen, das Unglaubhafte erstreben, damit
Glaubhaftes geschehe. Der Kunstler, der Großes erreichen will, darf
sich nicht als vergänglich, sondern muß sich als endgültig betrachten.
Bisher haben wir die Seelenverfassung des Künstlers gleichsam in
der Vereinzelung betrachtet; wir haben den Menschen als ein für sich
stehendes Wesen und seine Künstlerschaft als eine frei schwebende
Daseinsrichtung aufgefaßt. Da jedoch in Wirklichkeit der Künstler
nie völlig losgelöst existiert, sondern an Umgebung, Stamm und Fa-
milie gebunden bleibt, so sind jetzt diese die Gesamthaltung mit-
bedingenden Momente zu untersuchen. Der Einfluß der Umgebung
erfolgt so unwillküriich, wie etwa des Kindes Sprache beeinflußt wird
durch den Dialekt der mit ihm Verkehrenden; ja selbst wenn die
nächste Umgebung des Kindes ein ganz reines Deutsch spricht und
das Kind sonst wenig mit Leuten zusammenkommt, erhält und behält
doch seine Sprache die Färbung des Milieus. So ist es hier. In einer
ganz rätselhaften Weise wirken feinste Ströme und unsichtbare Strahlen
aus der Außenwelt auf die Innenwelt des Künstlers ein, namentlich
in den Jugendjahren. Allein es wäre ganz unmöglich, hieraus die
Persönlichkeit berechnen zu wollen, so wie man ein Dreieck berechnet
aus zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel. Denn immer ist
eine angeborene Beschaffenheit als unbekannte, aber wirksame Größe
beteiligt. Auf die vererbte Anlage kommen wir gleich zurück. Vor-
her jedoch ist nach dem Verhältnis zur künstlerischen Umgebung
zu fragen. Gewöhnlich liegen die Dinge so, daß in der Kunstübung
der bestimmten Zeit zwei entgegengesetzte Strömungen sich nach-
weisen lassen, zwischen denen der junge Künstler zu wählen hat. Ist
er einer von den Echten und ein Glückskind dazu, so schließt er sich
der Partei an, der die Zukunft gehört, und führt sie zum Siege. In
einer gewissen Auffassung erscheint dieser Zustand der Umgebung
als eine zweckmäßige und fast beabsichtigte Vorbereitung auf das Auf-
treten des Genies. Nach einer anderen Auffassung verdankt der Künstler
270 ^- DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
seine Größe dem zufälligen Umstände, daß er in einer bewegten und
von Keimen erfüllten Zeit geboren wurde. Gleichviel — Tatsache ist,
daß wir Männer wie Shakespeare oder Raffael von zahlreichen Talenten
umgeben sehen, und daß sich keine Lebensbeschreibung denken läßt,
in der dieser Faktor übersehen würde.
Aus den Lebensbeschreibungen vieler Dichter, Maler, Musiker er-
hellt, daß sie anfänglich bestimmten Vorbildern folgten, um schließlich
einen neuen, ihren eigenen Stil zu finden. Das Neue ist zunächst
eine Abweichung von der individuellen Gewohnheit, braucht aber für
die Umgebung nichts Unerhörtes zu sein. Umgekehrt li^ es bei dem
gleichfalls vorkommenden Tatbestand, daß eine künstlerische Persön-
lichkeit von Anfang an einen Weg einschlägt, der der herrschenden
Geschmacksrichtung entgegengesetzt ist und trotzdem durch Anregung
und Vorbild entsteht. Was das Individuum während seines Lebens
leistet, braucht in ihm selber nicht als neu empfunden zu werden und
ist es dennoch für die Zeitgenossen. In beiden Fällen darf die Ab-
weichung von dem Durchschnittlichen nicht überschätzt werden: es
ist und bleibt doch eine verhältnismäßig geringe Abänderung. Der
durchschnittliche Künstler wenigstens setzt nur insoweit seine Persön-
lichkeit und seine Erfindungskraft durch, als er das Vorhandene ein
wenig umbiegt.
Daß die Persönlichkeit, soweit sie im Kunstwerke sich verrät, Züge
der Volksart zeigt, ist nicht zu bezweifeln. Aber Umfang und Gesetze
dieser Abhängigkeit entziehen sich jeder allgemein theoretischen Be-
stimmung. Denn eine Nation ist immer ein Gemisch von vielen Rassen,
und Fehler in der Zurückführung von individuellen Eigenschaften auf
nationale oder auf Rasseneigentümlichkeiten sind an der Tagesordnung.
Was die Familie angeht, so ist namentlich davor zu warnen, daß die
natürliche Familie nicht mit der engeren Namensfamilie verwechselt
werde. Dieser Fehler wird dadurch so bedenklich, daß die den Namen
ändernden Frauen gleichfalls verantwortlich sind für das Blut, das in
den Adern der von ihnen abstammenden Künstler rinnt. Ein neuerer
Forscher behauptet freilich, das Kunsttalent werde vom Vater ererbt
und könne als männliche Eigenschaft, als sekundäres Geschlechts-
merkmal gelten^"). Aber daß eine hervorragende Frau einen Sohn
hat, dessen Genie gemäß den veränderten Umständen deutlicher in
die Erscheinung tritt, gehört keineswegs zu den Seltenheiten. Ob das
künstlerische Talent leichter auf Erstgeborene oder Nachgeborene über-
geht, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden. Die volkstümliche
Ansicht billigt den Erstgeborenen ein Mehr an vererbtem Talent zu.
Allein Mozart war das siebente und Boileau gar das fünfzehnte Kind
seiner Eltern.
DIE SEELEN VERFASSUNG DES KÜNSTLERS. 271
Wie nun das Reellste und das Geistigste, vererbte Anlage und
Lebensschicksale, Zufälligkeiten der Abstammung und der persönlichen
Begegnung, — wie dies alles zu einer künstlerisch einheitlichen Seele
zusammenfließt, das vermag nur die Kunst des Biographen im einzelnen
Falle deutlich zu machen; die allgemeine Kunstwissenschaft muß sich
mit der Erkenntnis des Problems begnügen. Einiges sehen freilich
auch wir. Wir bemerken, daß äußere Umstände verschiedentlich ein-
wirken. Armut und Not brechen die Einen und stählen die Anderen.
Es gibt Talente, die die Peitschenhiebe der Not so unbedingt brauchen
wie ein Kreisel, der sonst auch nicht auf der Spitze stehen kann.
Manche dagegen gleichen dem Reifen, der, durch einen Schlag getrieben,
rund und sicher seine Bahn durchläuft, um erst am Ende niederzufallen.
Die einen entwickeln sich unaufhörlich, entfalten immer neue Seiten
ihres Talentes, versuchen sich bald hier, bald dort, und es kann
ihnen, wenn sie groß veranlagt sind, wohl gelingen, daß sie auf allen
Feldern fruchtbaren Samen ausstreuen und reiche Ernte gewinnen.
Wiederum andere bleiben so, wie sie anfangs waren: sie verfolgen
stets den gleichen Weg und bringen es auf ihm zur höchsten Voll-
endung; aber sie dürfen nie ihre Bahn verlassen. Talente dieser
letzten Art bringen es sicherer und schneller zu Erfolgen, weil das
Publikum sich leichter an sie als an die schwankenden Begabungen
gewöhnt. Unnötig auszuführen, daß Erfolg und Ruhm, unmittelbare
Anerkennung und Ewigkeitswert recht häufig auseinandergehen: traurige
Erfahrungen zeigen immer von neuem, daß der Tageserfolg solchen
zu teil wird, von denen nach ihrem Tod niemand mehr spricht, und
daß für Bessere die Sonne des Ruhms erst am Grabstein aufgeht. Und
das muß beklagt werden, weil die alsbald eintretende, leidlich allgemeine
und intensive Anerkennung gewöhnlich die Leistungsfähigkeit erhöht.
Allerdings können Erfolge, namentlich frühzeitige und übertriebene,
den Träger des Erfolges zum Leichtsinn, zur Faulheit verleiten. Aber
in der Regel wird die gefundene Anerkennung ein Sporn sein, der
nach vorwärts treibt. Außerdem sichert sie dem mit ihr Bedachten
mehr Muße und Pause, mehr ausgeruhte Kraft, als Konkurrenz und
hastendes Tagestreiben dem noch Ringenden gewöhnlich gönnen.
Diejenigen, die Jahre hindurch vergebens sich bemühen, ermatten
schließlich und leisten - ihr Leben im ganzen betrachtet - kaum
ein Zehntel dessen, wozu sie befähigt gewesen wären. Und dies
scheint mir das Schmerzlichste an der oft ungerechten Verteilung des
Erfolges: es geht so viel geistige Kraft, so viel objektive Leistung da-
durch verloren. Teils deshalb, weil gewisse Dinge eben nur mit einem
größeren Vermögen oder in einer leitenden Stellung oder unter Teil-
nahme weiterer Kreise zu stände gebracht werden können, teils aus
272 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
dem Grunde, daß der dauernd an das Pult der zweiten Geiger Ge-
bannte die notwendige Frische, den Aufschwung schließlich einbüßt
Es gibt freilich ein Verfahren, sich trotz allen Mißgeschicken eine
ausreichende Spannkraft zu erhalten. Man muß sich durch gesteigerte
Selbstschätzung über die Anerkennung der Mitlebenden gleichsam
hinausheben. Indessen ist diese Schutzmaßregel für die übrigen wenig
erfreulich, und in bestimmten Formen wird sie zur lächerlichen An-
maßung. Ich möchte nur psychologisch begreiflich machen, warum
so viele, die es — wie man sagt — im Leben zu nichts gebracht
haben, von sich sehr eingenommen sind und über die Begünstigten
mit Verachtung aburteilen. Ohne solchen Glauben an sich selbst und
ohne die ausgesprochene Geringschätzung der Nebenbuhler vermöchten
sie schlechterdings nicht weiter zu leben; die einzige Wirkungsmög-
lichkeit, die ihnen verbleibt, ruht auf dieser biologischen Schutzmaß-
regel. Außerdem ist tatsächlich ein unerschütteriiches Selbstvertrauen
eine der für den Erfolg wichtigsten Eigenschaften. Die großen Er-
folge schafft nur, wer das Leben sich dienstbar und die Mitwelt sich
gefügig glaubt; wer diesen Glauben nicht aufbringt, der trete zur Seite.
Es liegt etwas Wahres in der Vorstellung kugelfest zu sein — sie
trägt den Kämpfer durch Gefahren, die er sonst nicht überwinden
würde. Denn auf allen Schlachtfeldern des sozialen Lebens sind Siege
erfochten worden, die nur der rücksichtslosesten Verachtung des ge-
sunden Menschenverstandes zufallen. Auf derselben Reihe steht die
Zähigkeit. Ein oberstes Gebot für den nach Erfolg Strebenden lautet:
lasse dich nicht entmutigen, denn sonst gibst du denen recht, die
nichts von dir halten und dir nichts gönnen. Allerdings gehört viel
Mut und Kraft dazu, tagaus tagein, jahraus jahrein unermüdlich um
den Erfolg zu ringen. Indessen, wer das vermag, eriebt auch in ver-
hältnismäßig vielen Fällen das Gelingen: plötzlich, oft ohne daß man
einsieht, weshalb die langsame Häufung gerade jetzt zum Ziele führt,
stellt der Erfolg sich ein.
Zu diesen Eigenschaften der Person müssen äußere Umstände
begünstigend hinzutreten. In erster Linie die »Protektion«, wie wir
gern mit einem Fremdwort sagen. Sie wird denen am sichersten zu
teil, die über die genannten Eigenschaften verfügen, und kann von
ihnen auch ohne Scheu angenommen werden. Schließlich sind wir
Menschen ja alle, ausnahmslos, aufeinander angewiesen und die per-
sönlichen Beziehungen werden sich niemals ausschalten lassen. Man
muß zufrieden sein, wenn die Protektion nicht so weit geht, gänzlich
Unwürdigen einen Erfolg zu verschaffen. Das erfüllte Ideal einer un-
persönlichen Gerechtigkeit würde viele feine und wertvolle Verhält-
nisse einer maschinenmäßigen Gleichförmigkeit aufopfern. Empfindlich
ANMERKUNGEN. 273
werden Bevorzugung und Zurücksetzung eigentlich erst dort, wo eine
Behörde oder eine Institution entscheidend mitwirken; denn hier er-
wartet man völlige Unparteilichkeit. Dazu kommt, daß solche Insti-
tutionen in der Struktur unserer heutigen Oesellschaft widerrechtlich
zu Mittelpunkten geworden sind. Von staatlichen Verwaltungen er-
trägt die schaffende Persönlichkeit allenfalls noch einen maßgebenden
Einfluß, obwohl sie es ist, die Werte schafft, und nicht die nur ord-
nende, administrative Behörde. Aber daß der Erfolg einer kflnstleri-
schen Leistung wesentlich von der Gunst jener Geschäftsleute abhangt,
die als Theaterdirektoren, Verleger, Kunsthändler u. s. w. von der Tätig-
keit der Künstler leben — und nicht gerade kümmerlich — , das ist
in der Mehrheit der Fälle ein arges Mißverhältnis.
Durch das Zusammenwirken vieler günstiger Umstände, insbeson-
dere aber durch ausführliche und begeisterte Mitteilungen in der Presse
entstehen jene seltenen, triumphierenden Erfolge, die den Beglückten ein
für allemal aus der Reihe der Mitstrebenden herausheben. Ein einziger
durchschlagender Erfolg sichert seinem Träger für Jahrzehnte die Auf-
merksamkeit des Publikums; auch Mißerfolge können ihm wenig an-
haben. Dem, der dieses große Los gezogen hat, fliegt alles übrige zu.
Er kann fordern, was er will: ihm wird alles gewährt, und zwar auf
Kosten der anderen. Am leichtesten hat er es, wenn er eine -- Speziali-
tät' ist d. h. irgend etwas, an sich vielleicht Minderwertiges zu bieten
vermag, worin er einzig dasteht. Würde heute ein Fuhrknecht aus
seiner Kehle Akkorde hervorbringen, er wäre morgen der gefeiertste
Sänger auf dem Erdenrund. Und je weiter der Kreis möglicher Konsu-
menten ist, desto lohnender ist der Erfolg. Doch genug von diesen
Fällen, die fast zur Pathologie des Gemeinschaftslebens gehören.
Anmerkungen.
M Hartmanns Ausfühningen im zweiten Teil seiner Ästhetik (Philosophie des
Schönen S. 522—585) erscheinen mir als so geschickt und überzeugend, daß ich
ihnen mehrfach folgen konnte.
'' Näheres in den Aufsätzen von F. Paulhan, Uinvention und Le dhdopptmeni
de rinvention, Revue philosophiqiu 18Q8, Bd. 45, S. 225-258 und Bd. 46, S. 569 608.
Femer: Josiah Royce, The psychoiogy of invention. Psycho!. Review 1898, Bd. 5,
S. 113 144.
N Zu den im Text vorangegangenen und folgenden Betrachtungen vergleicht
man mit Nutzen J. Milsand, UesthAique anglaiu 1864 und Karl Spitteler, Lachende
Wahrheiten 1899.
*\ Übrigens bezweifelt Spitzer (H. Hettners Kunstphilos. Anfänge 1903, I, 327)»
daß diese natürliche Anlage für Konstruktion dem Baumeister unentbehrlich sei,
und meint, die ohne Spezialbegabung zu erwerbende reine Technik zusammen
mit entwickeltem Geschmack könne für die Künstlerschaft auf diesem Gebiete
ausreichen.
Dcitoir, AtHietik «ad allf. KmilwistemclMft. 18
274 I. DAS SCHAFFEN DES KÜNSTLERS.
*) Wallaschek hat in der Vierteljahrsscfarift für Musikwissenschaft 1891 (Bd. VII,
Heft 1) nachgewiesen, daß zu gewissen Gruppen von Sprachstörungen Parallel-
gruppen von Störungen des musikalischen Ausdrucks zu finden sind, und daß zwi-
schen Sprechen und Singen ein ähnlicher Unterschied besteht wie zwischen Schreiben
und Zeichnen, der schließlich auf die Verschiedenheit des intellektuellen vom ge-
fühlsmäßigen Ausdruck zurückgeführt werden kann.
') Das gleiche gilt von Genuß und Kritik eines Dichtwerkes. Nur wird hier
der erste Vorgang, der der »Einfühlung«, meist noch zerlegt: der Leser versetzt
sich in das Seelenleben der dichterischen Gestalten (oder was dasselbe ist: in das
des Bekenntnislyrikers) und er versetzt sich außerdem (bei Epen und Dramen) in
das Seelenleben des Dichters, insofern dieser als von seinen Geschöpfen verschieden
hervortritt
^ »Der normale Seelenverlauf scheint nun darin zu bestehen, daß gemäß dem
ersten Gesetz Inhalte sich zusammenfinden, und zwar verwandte Inhalte, die sich
in einer herrschenden Synthese vereinigen, und daß zweitens jede Einheitbildung
so lange beharrt, bis ein Teil ihrer Faktoren mit neuen Elementen zu einer neuen
Gruppe verwachsen ist« (Das Doppel-Ich, 2. Aufl., S. 48.) Vgl. W. James, Prin-
ciples ofPsychology 1890, I, 225 ff. (*Thougfä tends to personal fomu^) — Hill Tout
in den Proceedings of the Society for Psychical Research XI, 309. — Th. Floumoy,
Des Indes ä la planHe Mars. Etüde sar an cas de somnambalisme avec giossoiaäe.
1900, S. 88 u. öfter. — Th. Poppe, Friedrich Hebbel und sein Drama, 1900, S. 103 ff.
— Schöne Beobachtungen und Aphorismen in den Tagebüchern von Amiel und
den Goncourt. An vielen Stellen meiner Dariegung dürfte ich auch Goethe zu
Zeugen anrufen, der in seinem Aufsatz »Shakspeare und kein Ende« über Menschen-
kenntnis und dichterische Seelenkenntnis, über Wortgewalt und Phantasie mit
wundervoller Deutlichkeit sich ausgesprochen hat
*) »Auch die Hypothese des Doppel-Ich ist eine verallgemeinernde Abstraktion
aus zahlreichen Beobachtungen, von denen vielleicht jede ihre besondere Erklärung
verlangt« »Ich denke bei Ober- und Unterbewußtsein nicht an eine Art geo-
logischer Schichten im Gehirn, sondern wähle die Benennung bloß als ein leicht-
verständliches Bild.« (Das Doppel-Ich, 2. Aufl., S. 48 u. 13.)
*) »Ich habe in meinem ganzen Leben ein eigentümliches Gefühl gehabt in der
Gesellschaft von menschlichen Wesen. Ich vergaß ganz mich selbst und häufig meine
Umgebung, und hinter den Worten und Handlungen der Menschen um mich schien
ich ein anderes Selbst zu sehen, das an den Drähten zieht und die Puppen tanzen
läßt Die Aussprüche, die von ihren Lippen kamen, sind sonderbar untermischt
mit anderen Aussprüchen, die klanglos sind. Das Ari>eiten des Gehirns scheint
vor mir zu liegen wie ein Uhrwerk, und Sprache, Geste und Erscheinung von
Menschen in Gesellschaft sind nur die Bewegungen der Zeiger auf einem Ziffer-
blatt Ich fühle eine wunderliche Zuneigung oder Abneigung, wie es gerade kommt,
im Zusammensein mit solchen, mit denen das Leben mich in Berührung bringt
Ja noch mehr: ich kann nicht auf der Straße gehen, in einem Eisenbahnwagen
sitzen, mich unter die Menge mischen in Theatern und auf anderen öffentlichen
Sammelplätzen, ohne die Hoffnung und die Furcht, die Freude und den Kummer
von menschlichen Wesen zu empfinden. Es ist, als wenn ich den Pulsschlag ihrer
Seelen fühlte. Manchmal entrollt sich vor mir eine ganze Gesdiichte gleich der
Druckseite eines Buches, mit dem Unterschiede, daß ich höre (wodurch?) und sehe
— mit anderen Augen — Worte, Töne, Farben, Formen, Plätze, von denen ich
nie gehört, Gesichter, die ich nie gesehen, Kleider in einem Schnitt und einer
Mode, die ich nie erblickte. Eine Reihenfolge von Bildern, mannigfacher und
ANMERKUNGEN. 275
fldmener tis im Panoramt oder beim Kinemttogniphen, gleitet vor mir vorfiber,
nnd sie hat sich in jedem Falle, in dem ich untersuchen konnte, verknöpft gezeigt
mit der Person oder den Personen, in deren Gegenwart die Vision kam.«
tK. C Henry Anderson, Experiences of a Seer, The Occult Review, 1905, I, 2, S. 68.)
'•) Vgl. P. J. Möbius, Über Kunst und Könstler, 1901, S. 71 f. Das Beweis-
verfahren durch Beispiele ist nicht sehr fiberzeugend, zumal wenn man, wie Möbius,
annimmt, daß der Vater die nämliche Veranlagung im Latenzzustande besessen
haben könne. So laßt sich schließlich alles beweisen. Auch L Löwenfeld scheint
mir zu ausgiebig mit Vermutungen zu wirtschaften, wenn er sagt: »Die Annahme
der kombinierten Vererbung latenter väterlicher und mütterlicher Fähigkeiten ist
von großer Tragweite, da sie uns das Auftauchen eines Genies in einer Familie
erklärt, deren Glieder sich bisher, soweit bekannt, in keiner Weise auszeichneten.
Sie ist aber zugleich notwendig, da das Genie nicht ein Produkt der Erziehung
oder Übung, sondern lediglich der ererbten Anlage ist, die hinwiederum bei den
Vorfahren zu irgend einer Zeit und in irgend einer Form existiert haben muß.«
(Über die geniale Geistestätigkeit, 1903, S. 102.)
IL Entstehung und Gliederung der Kunst
1. Die Kunst des Kindes.
Anfänge der Kunst werden aus Funden der vorgeschichtlichen Zeit
der Beobachtung zugänglich. Femer erhalten sie Licht von den Tat-
sachen, die sich noch jetzt an Kindern und Naturmenschen feststellen
lassen. Diese Tatsachen sollen zunächst untersucht und aus ihnen
Folgerungen über den Ursprung der Kunst abgeleitet werden.
Die Kunst des Kindes kann nur derjenige einigermaßen verstehen,
der den Dämmerzustand der Jugendjahre nachzubilden vermag. In
diesem Lebensalter geht alles ineinander über: Ich und Außenwelt,
Traum und Wachen, Wirklichkeit und Täuschung, Gestern und Morgen,
Begriff und Zeichen, Denken und Versinnlichen. Lebhafter angeregten
Kindern sind die geometrischen Figuren sowohl sichtbar gewordene
Begriffe als auch Gegenstände der Außenwelt als auch Symbole ge-
heimnisvoller Kräfte. Der Erwachsene begreift nur noch schwer,
welche unerhörte Gewalt ein paar sinnvolle Linien haben können.
Aber für den aufwachsenden Menschen bedeutet der einfache Umriß,
den er im Gegensatz zu allen Tieren hervorbringt, eine ganze Welt
Freude an der exakten Übereinstimmung mit dem Original und an
Genauigkeit überhaupt entwickelt sich erst später. Das Undeutliche
ist vielmehr zunächst die unerschöpfliche Quelle von Reizen für das
kindliche Gemüt. Denn des Kindes lebhafte Phantasie findet mehr
Anregung und Beschäftigung am verheißungsvoll Unbestimmten als
am endgültig Bestimmten. Hierin li^ etwas wahrhaft Künstlerisches.
Diese Vertrautheit mit dem Geheimnisvollen schließt jede intellektuelle
Wißbegierde aus, so wie sie vom Ästhetischen ausgeschlossen ist
Daher deuten Kinder das ihre Sinne Entzückende aus dem eigenen
Seelenleben heraus durch ein Assimilieren, das die Grenzen der Wirk-
lichkeit überschreitet. Sie erwärmen und beleben alles nach Maßgabe
ihrer geringen Erfahrung, sprechen in Metaphern, sehen in dem Mütz-
chen einen alten lieben Freund, bestrafen den Tisch, an dem sie sich
gestoßen haben, bedauern die Steine, die immer an demselben Platz
liegen müssen u. dergl. mehr. Sie schaffen Welten und bevölkern sie
mit Gestalten, die ebenso lebendig sind wie wirkliche Menschen und
DIE KUNST DES KINDES. 277
Menschen der Kunst; sie lassen diese Menschen geboren werden und
sterben, glQckh'ch und unglücklich sein. Die Grenzen zwischen den
Lebensgebieten sind verwischt, oder vielmehr sie haben sich noch
nicht herausgebildet. Daher ist es nicht zu verwundern, daß fast die
Hälfte aller Kinder auch die Fähigkeit des Farbenhörens besitzt, d. h.
bestimmte Klänge mit bestimmten Farbenvorstellungen begleitet.
Eine Folge dieser Verschwommenheit ist aber auch das gerade
entgegengesetzte Verhalten der Kinder. Da Sein und Schein durch-
einander laufen, so werden an die Erzeugnisse der Einbildungskraft
dieselben Anforderungen gestellt wie an die Wirklichkeiten. Märchen
dürfen um keinen Preis in den Einzelheiten abgeändert werden, gleich-
viel ob sie von den Kindern erfunden sind (ein seltener und schwer
festzustellender Fall) oder ob sie ihnen vorher erzählt worden waren.
Bilder werden genau so betrachtet wie außerkOnstlerische Gegenstände.
Für das noch nicht erzogene Kind hat nur das Gegenständliche und
Benennbare Interesse; Stimmung, Farbenreiz, Komposition, Linienfüh-
rung sind seinen ursprünglichen Instinkten ebenso fremd wie Aufbau
eines Dichtwerkes und Feinheit der Charakteristik. Frische Heiterkeit
und friedliche Naivität, die uns an Kindergeschichten und -bildern
entzücken, sind dem jungen Erdenbürger selbstverständlich und daher
gleichgültig. Nach Handlung und zwar nach der abenteuerlichsten,
nach neuen Eindrücken und Aufklärungen lechzt er — ein hungriger
Vorstellungshascher, ein rastloses Wissenstier. Ist es ja doch das
Neue, das seinem Bedürfnis nach Tätigkeit entspricht. Die Kunst,
der das unverbildete Kind seine Neigung entgegenbringt und seine
schwachen Kräfte zur Verfügung stellt, ist eine besondere Kunst.
Kinder brauchen ihre eigene körperiiche und auch geistige Kost, sie
haben ihre Art des Genießens und des Schaffens. Was wissen sie
vom Tragischen? Was sollen sie mit dem Komplizierten anfangen?
Man hat beobachtet, daß Kinder sich eher an Blumen als an Land-
schaften ergötzen, daß sie nicht einem ganzen Bild, sondern den
Teilen ihre Aufmerksamkeit schenken, daß sie Farben sehr gern sehen
und gleichmäßig bewerten (nur die Neuheit einer Farbe, nicht ihre
Qualität setzt einen Wertunterschied). Das entspricht der Beschränkt-
heit der Erfahrung und des Bewußtseins. Ferner. Der kindliche
Egoismus verleugnet sich auch hier nicht; ein kleines Mädchen z. B.
sagte: Dieser Engel ist der schönste, denn er hat Locken wie ich ^).
Endlich. Überall spürt man das Tätigkeitsverlangen durch, das die
Kinder im Durchschnitt zu übermütigen, lärmenden und ungebärdigen
Geschöpfen macht kurzum, die Kunst des Kindes ist eine der ihnen
eigentümlichen Lebens- und Lustformen.
Wenn Kinder aus eigenem Antrieb zeichnen'), so bilden sie keine
278 H- ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
vorhandenen Objekte nach — denn welchen Grund hätten sie dazu,
etwas Gegenwärtiges zu wiederholen? — , sondern sie versuchen, das
Erinnerungsbild eines Gegenstandes auf das Papier zu bringen. Ihre
Gedächtnisvorstellung aber ist keine getreue Kopie, vielmehr ein ab-
gekürztes Schema, das aus großen, durchgehenden Linien besteht und
dem vereinfachenden Auffassungsvorgang entstammt. Sie geben dem
vierbeinigen Tisch immer vier Beine, obwohl sie oft genug nur zwei
gesehen haben, sie machen den Stiefel möglichst schwarz, weil sie
wissen, daß er schwarz ist, und vergessen haben, wie viel helle, ja
weiße Lichter darauf liegen. Ihre Absicht nähert sich selten dem
Streben des Künstlers, das Gesehene mit den Forderungen des
Gefühls in Übereinstimmung zu bringen. Im Gegenteil, Kinder sind
die eigentlichen Ideenmaler: sie geben in wenigen Strichen den B^^ff
eines Dinges — und gerade desw^en kein Bild. Wie nach der
Überiieferung der Logik Begriffe und Worte das Wesen der Sachen
ausdrücken und daher in der Beschränkung auf feststehende »wesent-
liche Merkmale« sich rein darstellen sollen (offenbar weil aus diesen
»wesentlichen Merkmalen« die übrigen sich nach festen Beziehungen
ableiten lassen), so könnte man auch von den Mittellinien der primi-
tiven Malerei sagen, sie seien die graphisch fixierten wesentlichen
Merkmale. Erst allmählich erwacht das Verständnis für die Form- und
Farbenwerte unserer Umgebung, und es löst sich die ästhetische
Anschauung ab von den ihr im Keime beigegebenen wissenschaft-
lichen Momenten. Auch gelangen Kinder — hier übrigens in Über-
einstimmung mit jugendlichen Völkern — erst langsam dazu, die
Einzelheiten dem Ganzen richtig unterzuordnen. Kinder zeichnen
Häuser, durch deren Fassade hindurch das Innere sichtbar wird, sie
machen die Menschen höher als die Zimmer, sie geben dem Profil-
gesicht ein Enface-Auge. Solche Zusammenhanglosigkeit findet sich
außer in der Kunst der primitiven Völker auch noch in der ägypti-
schen und griechischen Kunst Es werden eben gewisse Elemente
gleichsam für sich behandelt und nicht ernsthaft genug mit den
übrigen verknüpft
Das Zeichnen der Kinder ist verhältnismäßig genau durchforscht *).
Es fällt nicht schwer, die Gründe für diese anscheinend tadelnswerte
Einseitigkeit der Wissenschaft zu erkennen. Die Kinderzeichnungen
haben vor den Kinderdichtungen voraus, daß sie unbeeinflußt ent-
stehen und sich entwickeln können, während wir bei den von unseren
Kleinen ersonnenen Abzählverschen, Liedern und Geschichten niemals
genau wissen, wieviel wirklich von ihnen stammt Dem Trällern,
Singen und sonstigen Musikmachen ist das »Malen« dadurch über-
legen, daß seine Leistungen bleibende sind und sich ohne Abände-
DIE KUNST DES KINDES. 279
ning vervielfältigen lassen. Daher lohnt es in der Tat, den Werde-
gang der kindlichen Bilderproduktion etwas näher zu verfolgen; bei-
läufig gesagt: dieses Problem hat gamichts zu tun mit der Erziehung
durch die Kunst und zur Kunst, obgleich die drei Dinge meist mit-
einander vermengt werden.
Das Zeichnen beginnt als Muskelubung und Bewegungsspiel.
Krumme Linien werden planlos durcheinander gewirrt, und zwar in-
folge des physiologischen Bedürfnisses, die Muskeln der Hand spielen
zu lassen. Wenn wir Erwachsenen einen Bleistift mit der Spitze aufs
Papier halten und gleichzeitig an beliebige andere Dinge denken, so
werden wir in der Regel nach zwei, drei Minuten von einer scheinbar
selbsttätigen Bewegung des Bleis überrascht. Geben wir ihr nach,
so entstehen ineinander laufende Kurven, und bei manchen Menschen
entwickelt sich daraus das »automatische« Schreiben. Denselben Vor-
gang kann man gelegentlich auch bei Kindern beobachten. Meistens
jedoch wird die Bewegung bewußt herbeigeführt und genossen.
Weniger die geringfügige Tätigkeit als ihr sichtbarer Erfolg locken
das Kind, und der nächste Schritt ist der, daß diesen Zufallsgebilden,
die durch Ermüdung der Hand ein Ende erreicht haben, eine willkür-
liche Bedeutung beigelegt wird. Mit der Zauberkraft seiner üppigen
Phantasie sieht unser kleiner Freund in dem Gekrakel jetzt eine Kuh
und fünf Minuten später ein Haus - wir müssen beides ihm glauben.
Aber es dauert nicht lange, da geht eine Idee dem Kritzeln und
Schmieren voraus. Das Kind will nunmehr eine Vorstellung zum Aus-
druck bringen. Es bildet zu diesem Zweck keineswegs den der Vor-
stellung zu Grunde liegenden wirklichen Gegenstand nach; selbst
wenn er ihm vorgezeichnet wurde, entnimmt es daraus lediglich das
Was und nicht das Wie. Sondern es gibt seine Sachkenntnis in
linearen Symbolen wieder.
Die Folgen davon, daß ein Wissen bekundet und alles Gewußte
mit dem Griffel erzählt, ja aufgezählt werden soll, sind zahlreich und
bedeutsam, zumal in Verbindung mit der naturgemäß ungelenken
Technik. Einmal erklären sich daraus gewisse ständige Wunderiich-
keiten solcher Zeichnungen: ich nannte schon vorher die Vierbeinig-
keit eines Tisches in solcher Stellung, wo nur zwei zu sehen sind.
Oder es wird die Vornansicht eines Menschenantlitzes gezeichnet und
eine zweite Nase links in der Seitenansicht hinzugefügt, weil das Kind
weiß, daß die Nase hervorragt und dies Hervorragen nicht anders
darstellen kann. Zwei Beispiele dafür finden sich auf Tafel XIV;
K bedeutet Knabe, M Mädchen, und die Zahl gibt das Lebensalter.
Die Ohren werden schnöde vernachlässigt, Arme und Beine an be-
liebigen Stellen angesetzt oder auch zu Händen und FOBen verkum-
280 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
mert, überhaupt nur einige Teile durch die jeweils bequemsten Striche
angedeutet, wie wenn der kleine Zeichner sagen wollte: ich weiß, da
ist etwas. (Vgl. Tafel XIV.) Hierher gehört femer die Durchsichtig-
keit der Körper: unter dem Hut sieht man den Schädelumriß, durch
den Frauenrock hindurch die Beine, hinter der Hauswand die Möbel.
Den Kindern fehlt eben die Einsicht für das Besondere der Malerei
und für die Beschränktheit der Mittel, mit der gerade der Kunst-
charakter der Malerei verknüpft ist. Deshalb nehmen sie keine Rück-
sicht auf Schönheit und wagen in glücklicher Unkenntnis aller Schwie-
rigkeiten das Unmögliche. Bis zum neunten Lebensjahr (nach anderen
Angaben sogar bis zum vierzehnten) scheint ihrem Griffel nichts un-
erreichbar; sie sind sehr stolz auf ihre Werke und lieben es nicht,
daß man daran herumbessert. Sobald aber Geschmack sich einstellt,
schämt sich der kleine Künstler seiner Leistungen, gibt gewöhnlich
das Zeichnen für Jahre auf und beginnt nach dieser Pause von neuem.
Das ist dann aber nicht mehr Kindeskunst.
Zwei Punkte verdienen die besondere Aufmerksamkeit des Ästhe-
tikers. Wenn es wahr ist, daß Kinder stets »aus dem Kopf« zeichnen,
so sind wir hier auf einen ähnlichen Vorgang gestoßen wie bei der
Seelenkenntnis des Künstlers, nämlich auf die Tatsache, daß Phantasie-
erzeugnisse und Gestaltungstrieb am Anfang stehen (s. S. 252). Die
Lehre von der Mimesis wird wiederum erschüttert. Allerdings finden
sich einige Berichte, die zu ihren Gunsten sprechen. Eckermann er-
zählt (in der Einleitung zu seinen Gesprächen mit Goethe), daß er als
Knabe auf einem Tabakpaketchen das Bild eines Pferdes gesehen und
den unwiderstehlichen Drang zum Nachzeichnen empfunden habe.
»Als ich fertig war, kam es mir vor, als sei meine Nachbildung dem
Vorbilde vollkommen ähnlich, und ich genoß ein mir bisher unbe-
kanntes Glück . . . Von dieser Zeit an veriieß mich der einmal erwachte
Trieb der sinnlichen Nachbildung nicht wieder.« Indessen, solche
Selbstbeobachtungen sind späriich und vielleicht in der Erinnerung
verfälscht; meistens nämlich kommt Freude an der Ähnlichkeit zu
Stande, indem durch bloßen Zufall die schematisch gemeinten Linien
mit der Wirklichkeit oder der Vortage genauer übereinstimmen. — Das
zweite Ergebnis von allgemeinerem Wert beruht in den »gezeichneten
Mitteilungen«. Sie eröffnen uns einen Ausblick auf den Zusammen-
hang zwischen Zeichnen und Schreiben, Sprache und BildkunsL
Kinderzeichnungen sind Mitteilungen, in denen die Linien teils als
allgemeine Begriffe oder Worte, teils als Schriftzeichen auftreten; sie
verdeutlichen eine ursprüngliche Beziehung zwischen diesen Größen,
deren Tragweite wir erst später (S. 288) würdigen können. Ein hüb-
sches Beispiel, freilich nicht von Kindern, sondern für Kinder ersonnen,
DIE KUNST DES KINDES.
281
ist das durch graphische Erzählung allmählich entstehende Bild eines
Tieres: ich gebe zwei Proben dieser unschuldigen und sinnvollen
Scherze, Walter Cranes Buch über Linie und Form entnommen.
Die Zeichnungen werden nacheinander s:emacht, wie es durch die Zahlen ange-
deutet ist Zu Flg. 14 gehört folgendes Oeschichtchen. (I) Der kleine Mann baut
sich ein kleines Haus, das ein Fenster (2) hat Außerdem macht er sich einen
breiten Weg (3)^ der zu einem schönen See (4) fuhrt Darin sind viele Fische (5).
Dies herrliche Besitztum erregt den Neid der ärmeren Nachbarn; sie beraten mit*
einander in der Nähe des Teiches in Gruppen zu je drei Mann (6). Dann schleichen
sie auf zwei verschiedenen Pfaden (7 u. 8) zum Teich. Aber bei ihrer Ankunft be-
kommen die Fische einen furchtbaren Schreck, springen aus dem Wasser heraus (9)^
und der kleine Mann, der den Lärm hört, flieht entsetzt aus dem Hause (W) —
and so U may ht said^ *the goose is caokid*. — In Fig. 15 steht T fi) für Thomas
und das darunter gelegte C (2) für Charies. Das waren zwei Freunde; die bauten
ein Haus mit zwei Schornsteinen (3) und zwei Fenstern (4), Vor der Tur pflanzten
sie Gras (5), Als nun das Haus fertig war, da gingen Thomas und Charies auf
Reisen (6). Nach langer Wanderung erreichten sie das Ende der Welt (7). Da
schien es ihnen gut heimzukehren, aber erst nach vier bedenklichen Abenteuern
gelangten sie in ihr Häuschen zurück — and live happUy eter afler in the form wesee.
Wenn bislang ausschließlich vom Zeichnen gesprochen wurde» so
hatte diese Vernachlässigung von Fart>e und Plastik ihren Orund in
282 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
den Tatsachen. Bei den unserer Beobachtung unterworfenen Kindern
treten der Gebrauch der Farbe und das Modellieren auffällig zurück;
bei Kindern anderer Zeiten und Völker mag es anders gewesen sein.
Es scheint keine ursprungliche Sehnsucht nach farbigen Wirkungen
vorhanden: Schwarz und Weiß genügen dem Kinde. Erst allmählich
entsteht Neigung zum Tuschen, und zwar werden zunächst die Farben
dekorativ, dann realistisch, endlich in künstlerischen Abstufungen ver-
wendet. Doch läßt sich kaum sagen, wie viel Schuld die Erziehung
daran hat. Ich möchte wohl glauben, daß den Kleinen z. B. das
Modellieren in Ton noch besser liegen würde als das Zeichnen, aber
die Unbequemlichkeiten verhindern ausgedehnte Versuche. Es scheint
mir femer sicher, obgleich im Widerspruch mit verbreiteten Theorien,
daß der Ursprung der recht dürftigen Kindermusik nicht in Zuständen
der Erregung, sondern in den schwächeren Gemütsbew^^ngen zu
suchen ist. Wenigstens das Singen pfl^ sich einzustellen, wenn
Kinder stillvergnügt in einer Ecke sitzen oder behaglich sich ergehen:
dann trällern und summen sie. Hingegen hört man Schmerz und
Freude weit seltener zum musikalischen Ausdruck gelangen. Sehr
begreiflich, denn dabei kommt es auf schnelle und sichere Übermitte-
lung des Affektes an. In jenen ruhigeren Stimmungen und in dem
beneidenswerten Gefühl überschüssiger Jugendkraft wurzelt ja auch
das Spiel, und von seinem Zusammenhang mit der Kunst ist heute
jedermann überzeugt.
2. Die Kunst der Naturvölker.
Können wir überhaupt wissen, ob es eine primitive Kunst gibt?
Wenn ein Naturmensch sein Werkzeug schön rundet und glättet, so
mag ihn die Erhöhung der Gebrauchsfähigkeit leiten; wenn er tanzt
und singt, so ist er vielleicht bloß vom Gemeinsamkeitsgefühl be-
stimmt. Solche Bedenken verschwinden bei näherer Betrachtung.
Denn schon die äußere Ähnlichkeit aller dieser Leistungen mit unseren
Kunstwerken ertaubt die Unterordnung unter den Begriff der Kunst
Dazu kommt, daß Kunst zu allen Zeiten und unter allen Umständen
mehr als eine Anhäufung von Schönheiten oder Verewigung von
ästhetischen Reizen bedeutet. Sie ist eine Form des geistigen
und gesellschaftlichen Lebens, und als solche bei den Natur-
völkern ebenso gut vorauszusetzen wie Religion, Wissenschaft, Recht
Uns liegt nur ob, von der besonderen Beschaffenheit der primitiven
Kunst ein zutreffendes Bild zu erhalten. Wie schwer das ist, lehrt
ein Blick auf die uns stammesfremde, im übrigen jedoch hochentwickelte
DIE KUNST DER NATURVÖLKER. 283
und bereits seit Jahrzehnten von unserer Kultur aufgenommene japa-
nische Kunst. Wir kennen und lieben einen zarten, launischen Japo-
nismus, der manchmal in eine technisch meisterhafte Wiedergabe
scharf beobachteter Wirklichkeit umschlägt. Kluge Japaner jedoch er-
klären diese Auffassung für ein grobes Mißverständnis. Sie selbst
sehen in ihrer Kunst den gewaltigen Ausdruck des asiatischen Geistes,
genauer der chinesischen Wissenschaft und des indischen Glaubens.
Nicht das köstliche Kunstgewerbe, nicht Vögel und Blumen, nicht
Pflaumenblöten seien der Sinn, sondern der Drache, die Todesverach-
tung, die buddhistische Selbstaufopferung bildeten die allgemeinen und
zugleich die künstlerischen Ideale^). Ich persönlich kann mir kein
Urteil anmaßen; ich meine aber, daß das Bestehen so grundverschie-
dener Ansichten über etwas, was offen zu Tage liegt, unserem Urteil
Ober primitive Kunst nur schwachen Wahrscheinlichkeitswert beläßt.
Nichtsdestoweniger müssen wir versuchen, den von der Völkerkunde
gesammelten und teils von Geschichtsforschern teils von Philosophen
durchleuchteten Stoff zu beschreiben^).
Wir besprechen fürs erste alles, was von der Hand gefertigt und
für das Auge bestimmt ist. Ihrem Inhalte nach ist die bildende
Kunst Darstellung der Menschen- und Tierwelt, mit der ja der Mensch
niederer Kulturstufe viel enger sich verbunden fühlt als mit der übrigen
Umgebung. Dies gilt von Jäger- und Fischerstämmen, von Australiern,
Buschmännern und Polarvölkern des Nordens. Als Gegenstand, an
dem die künstlerische Tätigkeit ausgeübt wird, dient vorzugsweise
der eigene Körper. Der erste und einfachste Körperschmuck ist die
abwaschbare und veränderiiche Bemalung, dann folgt die dauernde
Aufprägung von Mustern durch Narbenzeichnung und Tätowierung, und
schließlich allerhand beweglicher Schmuck und Putz. Durch keine der
drei Arten wird die gattungsmäßige Schönheit des nackten Leibes ge-
hoben; diese kosmetische Kunst hat nichts mit Schönheit zu tun. Sie
entspringt als Besitzschmuck der Freude am Eigentum und an der
Unterscheidung, wirkt als Reiz auf das andere Geschlecht und als
Abschreckungsmittel auf die Feinde, besonders aber als Schutzschmuck
im Sinne von Amuletten. So sicher nun diese Vornahmen mit aber-
gläubischen Vorstellungen zusammenhangen, so zweifellos kommt in
ihnen ein Suchen nach einem Jenseits des Gegebenen zum Ausdruck.
Denn keineswegs herrscht hier die Nachbildung von Menschen- und
Tierformen, sondern die scheinbar willküriiche Verzierung und das
Muster. In der Ausschmückung wie überhaupt in der bildenden Kunst
der Naturvölker finden sich gewisse ornamentale Urmotive, die bei
Völkern aller Erdteile nachgewiesen sind, ohne daß an eine Wande-
rung des Motivs gedacht werden könnte. Da es ausgeschlossen
2S4 ^ E^nrSTEHUKG UXD GLIEDERU31G IKK KL35T.
schemt, daB etwa dk turanischen Hirten von den penarascbeB bMSat-
tum odtr diese von jenen gewisse Ornamente enffiefaen hatten^ so
laben wir es hier mit Mustern zu tun, die gieicfamäflig ood dennoch
selbständig äberaO entstanden sind Solche Wurzeifonncs der Oma-
mentik, die sich in Geweben am deutlichsten ze^en, gehen esdgcn
For^hem als Symbole für dnen allgemdnai Feuerkuftus^ der einst
über die ganze Erde verbreitet war. Diese Annahme wurde damh
gut übereinstimmen, daß die ursprünglichen Myttien und Epen gicidi-
falls den Licht- und Sonnenkultus zum Ausdruck bringen. Aber nur
in sehr gezwungener Wdse lassen sich die dnzdnen Formen and
Farmenketten auf Nachbiklungen der Sonne, des Feuerahars u. dergL
zurückfuhren, und noch viel schwerer ist es, alle oder ein^ von
ihnen aus den Verrichtungen bdm Feuerkultus abzuldten.
Es ist deshalb dne genauere Prüfung nötig. Die Figuren, auf die
hier angespidt wurde, machen vielfach den Eindruck geometrischer
Figuren« Es sind Drdecke, Krdse, Rechtecke, paraUde Lim'en, Winkel
in gidchmäßiger Folge von vielen Exemplaren dner Form oder in
Abwechslung mitdnander. Angesichts dieser Gebilde haben wir
zwderld zu tun: wir müssen die dnzelnen Formen beurteilen und
außerdem ihr Rdhungsprinzip. Wenn bd diesem dne gewisse RQ[d-
mäßfgkdt, ja vidlekrht üne starke Gldchförmigkdt sich findet, so ist
sie wohl aus der Freude an Symmetrie und Rhythmus, an der r^el-
mäßigen Wiederholung dner Einhdt, zu verstehen. Symmetrische
Formung findet sich oft genug da, wo weder dn Zwang des Stoffes
noch (in Einfluß des Naturvorbildes anzunehmen ist; es läßt sich ver-
folgen, daß ursprünglich asymmetrische Muster in ihrer Entwickdung
oder Entartung ganz gidchmäßig werden. Sollte also nicht doch dne
Lust an der die Vielheit bändigenden Einheit mitwirken? Auch die
so häufige Zickzacklinie ist der graphische Ausdruck einer rhythmi-
schen Gliederung, und wenn es eine natürliche Freude daran gibt, so
sind solche Rdhenbildungen sehr leicht zu verstehen. Aber die ein-
zelnen in der Wiederholung auftretenden Formen werden dadurch
noch nicht begreiflich.
Ober sie sind drei Theorien aufgestellt worden. Der ersten zufolge
besitzt der Mensch einen ursprünglichen Sinn für die geometrische
Form. Aus diesem Sinn heraus bildet er seine Ornamente. Wie das
Kind ganz von selbst gerade Linien und Parallelen, Kreise, Vierecke,
Dreiecke zeichnen soll, so wird auch vom primitiven Menschen be-
hauptet, daß er unwillkürlich zu solchen Linien sich veranlaßt finde,
wenn er seinen Körper schmückt oder mit einem Stabe im Sand eine
Furche zieht. Aus diesen Figuren, so behauptet man femer, haben
sich dann die Bilder natürlicher Gegenstände, namentlich der mensch-
DIE KUNST DER NATURVÖLKER. 285
liehen Gestalt entwickelt Ein Kreis wurde zum Gesicht, ein Kegel
zum Rumpf, ein Querbalken mit aufgerichteten Haken an beiden Enden
bedeutete die Arme und versinnlichte die Stellung des Betens. Erst
allmählich sind diese geometrischen Zeichen naturiicher und flüssiger
geworden.
Eine andere Theorie behauptet den umgekehrten Veriauf. Die
scheinbar geometrischen Formen, so sagt sie, sind ursprünglich rea-
listisch gewesen. Man hat die Sonnenscheibe nachbilden wollen und
einen Kreis gezogen. Man hat die Riesenschlange abzuzeichnen ver-
sucht, und es ist eine Wellenlinie mit dazwischen gelagerten schwarzen
Punkten daraus geworden. Man wollte den Schurz der Weiber dar-
stellen und erfand gewissermaßen das Dreieck. Es wäre also der
geometrische Stil eine schematisch erstarrte Spätform naturalistischer
Kunstweise. Die geringe Technik der ältesten Kunstler und die Not-
wendigkeit einer häufigen Wiederholung hätten einen solchen Formen-
schatz zu Stande gebracht. Für Neu-Guinea ist der genaue Nachweis
gefuhrt worden, daß die so wirklichkeitsfremden Fragezeichen und
Flammen in den Mustern eigentlich Menschen- und Krokodilgestalten
bedeuten. Vogelköpfe werden zu Trapezen, Halbkreisen, Dreiecken
und Spiralansätzen Bei der Umwandlung von Menschen sieht
man an verschiedenen Zwischenstufen deutlich, wie allmählich der
Kopf verschwindet, der Leib zur Rhombe wird, die Arme und Beine
zu geraden Linien werden, die einander im Winkel berühren.« (Wör-
mann, I, 53.) Doch bleibt zweieriei zu beachten. Es ist sehr merk-
würdig, daß bei verschiedenen Völkern, ja innerhalb eines und des-
selben Stammes die abweichendsten Naturgegenstände zu den gleichen
Mustern verkümmern. Eine solche gesetzmäßige Abwandlung oder
Auflösung in nur wenige geometrische Formen scheint einer natür-
Ikrhen Anlage für eben diese Formen das Wort zu reden. Und zwei-
tens dürfen wir nicht vergessen, daß in der Übertragung auf die
Fläche eine schöpferische Leistung liegt, für die es gar kein Vorbild
gibt. Denn Dreiecke und Quadrate werden uns von der Natur auf der
Fläche wohl niemals gezeigt, wenigstens nicht in jenem Bezirk der
Naturerscheinungen, der den primitiven Menschen bekannt ist. Die
bedeutungsvolle Linie, die in den Sand gezogen oder auf den Leib
gemalt oder in Gestein gegraben wird, ist etwas Geistiges, das ebenso
zur Schrift wie zum Bilde führt; selbst die Zerstückelung und Ver-
zerrung der Gebilde deutet auf eine eigenwillige SeelentätigkeiL
Grosse hat gezeigt, daß eine naturalistische Bildnerei auf zwei Eigen-
schaften beruht: auf scharfer Auffassung und sicherer Hand, und daß
diese Eigenschaften bei den Jägervölkem vorhanden sein müssen, weil
sie sonst den Kampf ums Dasein nicht bestehen könnten. Aber damit
286 n ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
ist noch nicht erklärt, wieso die sichere Nachahmung des Gesehenen
so schnell und allgemein zu einem geometrisch anmutenden Linien-
spiele führt
Die Untersuchung dieser Frage ist dadurch besonders interessant,
daß in Mykenai Funde gemacht worden sind, aus denen man eine
dem geometrischen Stil zeitlich vorausgehende Kunstweise erschließen
muß. Diese Nationalkunst des östlichen Griechenlands und der Inseln
wurde in der Zeit vor der dorischen Wanderung von den Pelasgem,
Homers Achäern, geübt. Die ihr zugehörigen Tonvasen sind mit
Bildern von Vögeln und Vierfüßlern geschmückt, vor allem aber auch
mit Pflanzenranken verziert; sie sind, um mit Conze zu reden, gekenn-
zeichnet durch das »dem geometrischen Stil so gut wie ganz fehlende
Pflanzenornament, durch eine bis zur Meisterschaft gesteigerte künst-
lerische Beherrschung der Tierdarstellung, durch reichliches Vorkom-
men nicht wie im griechischen geometrischen Stile schematisierter
Menschendarstellung, in der Ornamentik durch ein Vorherrschen mannig-
fach frei bewegter Kurven gegenüber dem einförmig-strengen Linien-
spiele einfacher geometrischer Zierformen.« Allein diese Funde be-
weisen nichts dafür, daß notwendigerweise und überall dem geo-
metrischen Stil ein naturalistischer vorausgegangen sein muß. Durch
Böhlaus Forschungen ist wahrscheinlich geworden, daß noch vor der
mykenischen Kultur an derselben Stätte eine alteuropäische Bauem-
kunst mit mathematisch geformten Ornamenten bestanden hat Ob
nun aus ihr durch selbständige Entwicklung oder durch den Ober
Kreta hin einströmenden Einfluß Ägyptens und Phönikiens dieser vor-
nehme und reiche pelasgische Stil entstand, das ist unter den Fach-
gelehrten noch immer strittig. Folgende Vermutung hat eine gewisse
Wahrscheinlichkeit für sich. Vor der ägäischen Kunstweise mögen
die Pelasger nur eine beschränkte Anzahl geometrischer Ornamente
besessen haben. Dann kamen die Phöniker mit ihrer hoch entwickel-
ten Kunst und ihren figüriichen Darstellungen; sie hätten die Kunst
der Pelasger sich völlig unterworfen, wenn nicht mit der sogenannten
dorischen Wanderung ein Kriegszustand eingetreten wäre, in dem
diese Anregung durch phönikische Einfuhrartikel verloren ging. So
traten nun wieder die einheimischen Dekorationssysteme hervor.
Die dritte und letzte Anschauung über den Sachverhalt ruht auf
der Tatsache, daß bei den Naturvölkern die Kleinkünste vorherrschen,
namentlich die Künste, die es mit den Gebrauchsg^enständen zu tun
haben. Der Gedanke läßt sich nicht abweisen, daß der praktische
Zweck der Dinge auf ihre Gestalt und auf die Form ihres Schmuckes
eingewirkt habe, oder anders gewendet; daß diese Form ein unbeab-
sichtigtes Nebenerzeugnis der Arbeit war und nach dem Gesetz der
DIE KUNST DER NATURVÖLKER. 287
Trägheit sich auf andere Gebiete übertrug. Demnach wurde weder
Nachahmung von wirklichen Gegenständen noch ursprüngliche Freude
an geometrischen Formen den Ursprung bilden, sondern wir müßten
ihn in den technischen Notwendigkeiten suchen. Hier käme also zu
Ehren, was bereits Gottfried Semper behauptet hat: das Material und
seine Beschaffenheit zwingt zu einer bestimmten Formengebung, an
die sich alsdann das ästhetische Gefühl schließt. Die bekanntesten
Beispiele sind der Flechttechnik entnommen. Aber auch beim Weben
des Stoffes, beim spiralförmigen Aufrollen von Metalldraht und beim
Schichten der Mauer entstehen Muster, die dann auf Tongeräte
(Schnurkeramik ) und später auch auf Metallarbeiten übertragen und
in gewissen Abänderungen weiter gebildet wurden. Wenn zwei Felle
vereinigt werden sollen, so müssen Löcher in die Ränder gebohrt und
Fäden oder Riemen hindurchgezogen werden; diese Punkte und Quer-
linien gewinnen vielleicht für den Naturmenschen den Wert der Sell>-
ständigkeit und Anwendbarkeit. Doch bleibt es bei dem »Vielleicht«,
da wir keine Beweise und manche widersprechende Tatsachen kennen
wie z. B., daß der Bauch der Tongefäße, die den älteren Körben nach-
gebildet sein sollen, oft von allen linearen Verzierungen frei ist. Es
dürfte kaum möglich werden, beim gegenwärtigen Stande des Wissens
eine sichere Entscheidung zu treffen. Unzweifelhaft jedoch ist bereits
jetzt die Theorie widerlegt, daß das geometrische Ornament ausschließ-
lich auf Naturnachahmung zurückzuführen sei; und ebenso sicher
scheint mir, daß von Anfang an eine Freude an Symmetrie und Rhyth-
mus bestanden und sich in den Kunstversuchen der Naturvölker
geltend gemacht hat.
Die bekannteste Vorstufe unserer Malerei darf man in den Ruß-
zeichnungen sehen, die die Eingeborenen Australiens auf Baumrinde
anbringen. Sie sind namentlich in der Wiedergabe der Bewegung
sehr lebendig, aber ungenau in den Einzelheiten und ohne Perspektive
und Schattcngebung. Zuerst wird gezeichnet, was zunächst steht; die
Gegenstände der Tiefe werden mit ihrer zunehmenden Entfernung in
Reihen übereinander geordnet, ohne in ihrer Größe sich zu ändern.
Denn der Malende erzählt die Dinge so, wie er sie weiß, und er
erzählt sie mit seinen künstlerischen Mitteln zu außerästhetischen
Zwecken. Von der Zeichnung gilt jedenfalls, daß sie mit intellektuellen
Momenten zusammenhangt; wissenschaftliche und künstlerische An-
sätze scheinen hier fest verbunden. Ein paar FVoben. fremder Mit-
teilung entnommen. Kari v. d. Steinen berichtet von einer malenden
Gebärde beim Sprechen, die zu Zeichnungen im Sande führt, Mallery
beschreibt ein Zwiegespräch zwischen Alaskaindianem, wobei der
rechte ZeiMhiger Linien in die als Tafel gedachte linke Hand zieht.
288 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Andere Reisende sind erstaunt darüber, mit welcher Sicherheit primitive
Menschen durch Zeichnung das ausdrucken, worüber sie sich münd-
lich nicht verständigen können, wie oft ihre Bilder Vorstellungsausdruck
und nicht Nachahmung eines Gegenstandes sind. Von solchen »sicht-
baren Worten« geht die Entwickelung zur ideographischen Schrift,
zum demonstrierenden Zeichnen, zu Miniaturen und zur Buchillustra-
tion, ja bis zum Porträt, das uns Alter, Konstitution, Begäbung und
Stimmung des Originals in Formen- und Farbensprache erzählt
Übrigens führt der Gedankengang auch nach dem früher Besprochenen
zurück. Die rohen Verzierungen nämlich, mit denen der Naturmensch
seinen Körper schmückt, sollen nicht nur Eindruck machen, sondern
haben außerdem den Wert eines Eigennamens; sich verschönem heißt
sich unterscheiden. Die ganze Heraldik wurzelt hierin. Eine indische
Legende (von der Verbindung Prajäpatis mit Wak) weist auf die Be-
deutung der Bilderschrift für die Unterscheidung der Häuser und ihrer
Bewohner voneinander; und was war das ursprünglich so dürftige
Relief am Giebel des korinthischen Tempels anderes als eine den
Eigentümer bezeichnende Hausmarke? Auch die meisten plastischen
Ornamente haben sich aus unbehilflichen Wappenbildem oder plasti-
schen Epigrammen entwickelt Endlich sei daran erinnert, daß Zeichen-
schöpfung und Bilderschrift zusammengehören. Bei vielen Völkern
sind die ersten Malereien Hieroglyphen und als solche auch Schrift-
zeichen gewesen; so hat nach chinesischer Sage ein (angeblich
2700 Jahre v. Chr. lebender) Mann namens Ssehoang zugleich die
Malerei und die Schrift »erfunden«. Diesen beliebig zu vermehrenden
Tatsachen aus der Urzeit entspricht die geschichtliche Erfahrung, daß
bei den großen Erneuerungen der bildenden Künste die künstle-
rische Bewegung immer mit einer intellektuell-literarischen zusammen-
hing. Der Renaissance erschien nicht nur die Wissenschaft als »freie
Kunst«, sondern auch die Kunst als ein gelehrtes Studium. Lionardo
und Alberti waren Gelehrte, Dürer sah das Wesen seiner Kunst in
der Perspektive und in den berechenbaren Verhältnissen der Körperteile
Wir unterrichten uns nunmehr über die Poesie der Naturvölker
und beginnen mit ihren Epen. Sie sind von geringem Umfang und
erzählen in raschem Tempo Handlungen, deren Stoff aus Beobachtung
und Überiieferung stammt; bevorzugt werden Abenteuer, in denen
Kraft, Mut und Schlauheit ihre Si^e feiern. So ist offenbar die Epik
in ihren Anfängen mit der Geschichte verknüpft; aber nicht nur mit
ihr, sondern auch mit der Naturkenntnis. Während dramatische Spiele
zusammen mit Tanz und Musik eine Gruppe rhythmischer Künste
gebildet und einen ursprünglichen Zusammenhang mit religiösem
Kultus besessen haben, gehören die primitiven Erzählungen ersichtlich
DIE KUNST DER NATURVÖLKER, 280
in die Nähe von Geschichts- und Naturforschung. Der Naturmensch
vermag Welterklärung und Weltverklärung so wenig voneinander zu
trennen wie Wachen und Träumen, Erlebtes und Erfundenes. Wenn
er erzählt, so berichtet er sowohl zum Zweck der Kenntnisnahme und
Einsicht als auch zum Zwecke eigener und fremder Erregung. Von
dem Standpunkt unserer Kultur aus kann man sich so ausdrücken:
Jene Naturauffassung ist phantastisch, insofern sie objektive Vorgänge
nach menschlichen Wünschen deutet; sie ist personalistisch , da sie
alle Gegenstände als beseelte Wesen auffaßt und krankhafte sowie
normale Erfahrungen auf Dämonen zurückfahrt. Beide Anschauungs-
weisen wirken noch heute in Sprache und Poesie fort, und das schon
bei den rohesten Dichtungsversuchen auftauchende Verständnis für
die Wunderkraft des Wortes macht tatsächlich das Wesen der Wort-
kunst aus. Namen und Worte scheinen dem primitiven Sinn der wesent-
liche Teil jenes Geistigen, das in den Menschen und in den Dingen
wirkt Wenn man das Wort besitzt, so besitzt man die Sache. Mit
dem Wort ist es wie mit dem Schatten eines Menschen: hat man es
aufgerollt und zu sich gesteckt, so verfügt man über diesen Menschen,
gleich als ob man ein Bild von ihm habe. Auch mit dem Besitz eines
Bildes ist ja ein zauberhaftes Besitzrecht über den Abgebildeten ver-
bunden. Diese wunderbare Kraft, die in den Worten und in den
Zeichnungen liegt, machte Priester und Künstler zu Herren über die
Welt und so ist es bis auf den heutigen Tag geblieben.
Außer der Erzählung gelten Gedicht und Drama als Grundarten
der Poesie. Indem wir uns vorläufig dieser Auffassung fügen, halten
wir Ausschau nach den Vorformen der Lyrik. Eine früher beliebte
Ableitung suchte den Keim lyrischer Dichtung in der Wiederholung.
Wenn ein Naturmensch in der Erregung spricht, so tut er dasselbe,
was auch wir heute noch oft tun: er wiederholt, er unterstreicht so-
zusagen, und erhöht dadurch sowohl die Gefühlswirkung als auch die
Beweiskraft seiner Behauptung. Desgleichen ist der Chorgesang der
Horde nichts als eintönige Wiederholung desselben dürftigen Satzes.
Sehr leicht nun verflüchtigt sich die Wiederholung des ganzen Ge-
dankens zur Wiederholung der Anfänge oder der Schlüsse, sie wird
auch wohl eine Erneuerung des Inhalts in anderer Form. So entsteht
der Parallelismus. Dieser wird dann weiterhin abgeschliffen zu Reim
und Rhythmus. — Indessen mit einer solchen Deduktion (vornehmlich
aus Entwickelungen innerhalb der europäischen Dichtkunst) werden
andere Tatsachen der Völkerkunde vergewaltigt. Denn sie lehren mit
allcrstärkster Deutlichkeit, daß neben der Wiederholung, die allerdings
dem anfänglichen Kommunismus dichterischen Schaffens zugehört,
weil sie der Masse Übereinstimmung, der Sache Ordnung leiht, mit
De «tot r, A%thctik und allg. Kmittwiuciitduft. 19
290 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
mindestens gleicher Selbständigkeit Rhythmus und Metrum als Ur-
erzeugnisse gastiger Tätigkeit auftreten. Rhythmische Ordnung
ist kein später Nachkömmling, sondern entspringt einer der originalsten
Anlagen des Menschengeistes; sie ist vielleicht der ursprunglichste
Ausdruck menschlicher Schöpfungskraft Wo Menschentum sich bildet,
da entfaltet sich zusamt mit sozialer Gemeinschaft, Gdsterglaubai und
Sprache auch die rhythmische Kraft ^). Die bodenständige Verwachsung
zwischen Rhythmus, Sprache, Gesang, Spielmusik, Tanz, Kultus, Drama
ist uns von der griechischen Tragödie und von der gesungenen Dichtung
der alten Germanen her wohlvertraut Sie ist der Menschheit so ins
Herz geschrieben, daß sie nie gänzlich verloren ging und durch Neuerer
wie Richard Wagner immer nur aus zeitweiliger Verdunkdung hervor-
geholt wurde Anderseits gibt es zu allen Zeiten und bd allen Völkern
die genannten Künste und seelischen Richtungen auch in der Ver-
einzelung, was vorw^ betont werden muß.
Nach einer Theorie, die viel Anklang gefunden hat, soll die
engste Beziehung walten zwischen Rhythmus und Arbdt Alle
gebundenen Arbeitsformen nämlich, die sich unablässig in glei-
chem Takt wiederholen, gewinnen durch rhythmische Regdung an
Sicherheit, sie werden leichter und gehen bequemer von der Hand
So singen denn auf der ganzen Welt diejenigen, die einen schweren
G^enstand ruckweise emporziehen oder auf dem Felde gldchmäßig
die Sichel schwingen. Wo Arbeitsverrichtungen am Schluß der dn-
zelnen Bew^ung oder Bew^ungsgruppe von sdbst einen Ton er-
klingen lassen, da stellt sich eben ein hörbares Metrum ein; fehlt der
eigentliche Taktschall, so wird er durch ausgestoßene Rufe ersetzt
Hände oder Fuße sind beim Arbeiten immer in Tätigkeit: jene klatschen
und schlagen, diese stampfen und treten. Daher die Schlag- und
Stampfrhythmen in der primitiven Musik und Poesie. Die ältesten Ge-
sänge sind Arbeitslieder, d. h. sie dienen der Erleichterung der Arbdt, der
Kraftersparnis. — Diese Erklärung des Rhythmus aus den von ihm zu
gewinnenden ökonomischen Vorteilen scheitert an der Härte unbestrdt-
barer Tatsachen. Vielleicht ist es dem Leser schon aufgefallen, daß
die angezogenen Beispiele der Arbeitsgemeinschaft auf die Ld>ens-
weise der Jäger- und Nomadenvölker nicht passen. Auch die Vieh-
züchter kennen solche Arbeiten kaum. Und selbst wenn sie von ihnen
vollzogen würden, dann käme das wirtschaftliche Moment der Kraft-
ersparnis gewiß nicht in Frage, da Menschen dieser Kulturstufe ihre
Kräfte vergeuden. Erst nachdem Musik und Poesie in ihren rhyth-
mischen Grundlagen da waren, sind sie für jene Zwecke verwertet
worden. Sofern taktmäßige Gruppenbewegungen einen sozialen Nutzen
haben, sind sie Einübung, Zuchtmittel und hauptsächlich Kri^^schule;
DIE KUNST DER NATURVÖLKER. 201
erst mit dem Bewegungsluxus, wenn man so sagen darf, b^nnt die
ästhetische Freiheit, und erst mit rhythmischen Formen, die festgehalten
und verewigt werden können, hebt die Kunst an.
Dazu nehme man folgendes. Die Naturmenschen singen doch
auch in der MuBe. Sie haben bereits auf der niedrigsten Stufe die
Fähigkeit, den rhythmisch-musikalischen Ausdruck sauber von allen
übrigen Tätigkeiten abzutrennen und in Unabhängigkeit zu pflegen.
Es muß sich also auch schon bei ihnen in Klängen bestimmter Ord-
nung ein Oefuhl äußern können, und es muß diese Gefühlsäußerung
ohne Rücksicht auf alle Arbeitsinteressen den Hörern Freude l)ereiten.
Nicht anders liegt es beim Tanz. Taktmäßig bewegte Menschenmassen
sieht man bei arbeitenden Primitiven viel seltener, als wenn sie zur
Erholung und Schaustellung tanzen. Nach allen Berichten der Reisen-
den haben die Massentänze etwas Exaltiertes. Sie scheinen in orgia-
stischen Bewegungen zu bestehen, in denen übermächtige Gefühle
sich auszutoben und immer stärker zu reizen streben. Die Kriegs-
und Liebestänze können nicht aus dem Arbeitsrhythmus abgeleitet
werden, ebensowenig die mimischen Tänze und solche, durch die
gewisse Tierbewegungen nachgeahmt werden, wie etwa die Bewegun-
gen des Känguruhs. Freude an Nachahmung und Darstellung, Wunsch,
sich auszudrücken und Eindruck zu machen, sind also von Anfang
an im Werke. Nicht anders kann es bei der Musik sein. Wären nicht
jene Momente wirksam, von denen soeben gesprochen worden ist,
dann hätten Musik, Tanz und Drama sich niemals aus der Gemein-
samkeit mit allerhand Arbeits- und Lebensverrichtungen losgelöst.
Daß sie überhaupt als etwas Einzelnes und Besonderes sich heraus-
gebildet haben, verdanken sie andern Ursachen. Selbstverständlich
kam es bei Kulturvölkern öfters vor und ereignet sich noch heute,
daß ein Arbeitsrhythmus absichtlich oder unwillküriich im Kunst-
rhythmus wiederholt wird. In Heinrich Seidels Sammlung Glocken-
spiel lautet ein Gedichtchen:
Weiße Rose, weiße Rose! Weiße Rose, weiße Rose!
Träumerisch Dunkel
Neif^st du das Haupt. Drohet der Sturm.
Weiße Rose, weiße Rose, Im Merzen heimlich,
Halde Heimlich
Bist du entlaubt. Naget der Wurm.
Dazu bemerkt Seidel, er habe das Gedicht als Lehriing beim Schrau-
benschneiden gemacht und den Rhythmus dieser Tätigkeit völlig in die
Verse aufgenommen. Ein anderer Autor, der einst selbst den Hammer
geschwungen hat, gibt den Dreischlag beim Schmieden folgendermaßen
wieder:
292 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
»Komm, Sonntag! Komm, Sonntag!«
Dumpf tönt es im Schlagen
Der Hämmer wie Klagen:
»Komm, Sonntag! Komm, Sonntag!«
»Komm, Ruhe! Komm, Sonntag !<:
So tönt's auch im Herzen
Beim Hämmern der Schmerzen;
»Komm, Sonntag! Komm, Sonntag !<:
Zugegeben, daß rein mechanische Verrichtungen zu metrischen Ge-
bilden sich erhöhen können — jede bedeutsamere Handarbeit versagt
sich der automatischen Regelung. Bei dem, was wir Arbeit nennen
und womit die Tätigkeit des Primitiven nur geringe Ähnlichkeit hat,
steht außerdem das Ziel immer vor Augen, während der Kunstrhythmus
keiner solchen Zielvorstellung unterworfen ist.
Ein weiterer Oegengrund gegen die volkswirtschaftliche Theorie
liegt in den gut beglaubigten Beobachtungen der Reisenden, wonach
Naturmenschen, wenn sie zusammengekommen sind und niederkauemd
ihren Chorgesang anstimmen, ersichtlich der Tätigkeit entfliehen und
ihr wirkliches Leben vergessen wollen. Wir stoßen von neuem auf
den Punkt, den wir so oft, zuletzt bei der Besprechung kindlicher
Kunst, ins Auge fassen mußten: Kunst ist eine vertiefte Art des Da-
seins, die aus der Abwendung vom gewöhnlichen Dasein erwächst
Aber wohlgemerkt: primitive Poesie setzt immer noch den offenkundi-
gen und empfundenen Zusammenhang mit den Stammesgenossen vor-
aus. Wir verstehen die singende und tanzende Horde, wenn wir an
den volkstümlichen Ursprung von Reimsprüchen und Schnaderhüpfeln
oder an die improvisierten Trauergesänge der Korsen (die »Voceri«)
denken. Zunächst wird von der ihrer Gemeinsamkeit bewußten Masse,
die da lagert oder taktmäßig sich bewegt, der rhythmische Rohstoff
gebildet; im Zusammenhang mit der Wiederholung bestimmter Laute
entwickeln sich begrenzte Formen (Verse, Strophen); aus den dumpfen,
engen Stammesinteressen tritt der Inhalt hinzu. Freilich ist neuerdings
die wesentliche Bedeutung der gemeinsamen und instinktiven Gefühle
angefochten worden. Nach der Ansicht eines französischen Soziologen ^
soll Rhythmus im weitesten Sinne von besonders begabten Individuen
erfunden und von den andern nur nachgeahmt worden sein; nicht
aus der Masse und der Gleichmäßigkeit, sondern aus persönlichem
Genie und der Urkraft der Nachahmung sei er hervorgegangen. Hier-
auf ist zu antworten: Wie es ehemals beim Beginn der Dichtkunst
war, wissen wir nicht. Für die Naturvölker jedoch trifft diese An-
nahme ganz gewiß nicht zu, denn Willkür des Einzelnen vermag bei
ihnen niemals die Grundlagen einer Lebensform zu schaffen, sie ist
ausschließlich im stände, die Äußerungen im besonderen zu ändern und
DIE KUNST DKR NATURVÖLKKR. 293
planmäBig zu leiten. Das zeitliche Verhältnis muß also das umge-
kehrte sein: aus dem Kommunismus der festlich erregten Horde löst
sich ein Individuum ab, um allein ein paar Worte zu singen oder zu
sprechen. Doch setzt es nur fort, was die Menge begonnen hatte»
und bleibt durchaus ein Glied des sozialen Körpers. Die Zähigkeit,
mit der dieser Werdegang sich auch in der europäischen Entwickelung
erhalten hat, weist darauf hin, wie fest er in der menschlichen Natur
wurzelt.
Die auf diesem Gebiet festgestellten Stufenunterschiede scheinen
von der Kulturhöhe des Volkes ziemlich unabhängig zu sein. Dagegen
besteht für das primitive Drama, dem unsere Betrachtung sich
näherte, eine solche Verbindung. Bei den Jägervölkem ist das Drama
nichts anderes als eine wortlose, musikalische Tierpantomime; bei den
seßhafteren Stämmen wird die Handlung reicher, obwohl sie immer
noch in den Gewohnheiten der wichtigsten Tiere ihren Mittelpunkt
behält, wie selbst noch bei den griechischen Viehzüchtern im Bock
(tragos). Der Chor spaltet sich in zwei Parteien, Schauspieler halten
kurze Zwischenreden, ein Teil der Versammlung sieht der szenischen
Darstellung zu, anfänglich im vollen Kreise, dann im Halbkreise sitzend.
Diese Entwickelung zeigt das Drama ferner mit festlichen Anlässen
und Kulthandlungen verknüpft; die griechische Szenenkunst gehört
mit dem Dionysosdienst, das mittelalterlich-christliche Drama mit Weih-
nachts- und Osterspielen zusammen. Bis auf die deutsche Stegreif-
komödie hin behält das Theater volle Selbständigkeit gegenüber der
Dichtung. Gar nun in seinen ursprünglichen Formen ist es gänzlich
von der Sprache abgetrennt. Seine nächsten Verwandten sind das
soziale Leben einerseits, der musikalische Rhythmus anderseits, denn
ohne jenes hätte es keinen Inhalt, ohne diesen keine Form. Wenn
die Völkerkunde von einem Drama der Naturmenschen redet, so meint
sie eine Angelegenheit des ganzen Stammes, in der die ihm wichtig-
sten Lebensvorgänge vor- oder nachgebildet werden und bei der ein
fester Schallrhythmus gemeinsame Handlungen ermöglicht und lust-
voll macht. Und dieser Rhythmus kann weder aus Wiederholungen
von Worten noch aus kraftsparender Gestaltung der Arbeit erklärt
werden, sondern ist als eine ursprüngliche Schöpfung des sozialen
Menschen anzuerkennen.
Wie die Kunst überhaupt, so ist auch die Musik auf ihren nie-
deren Stufen lediglich Bestandstück des öffentlichen Lebens. Schon
vor dem Aufkommen der wissenschaftlichen Völkerkunde nahm man
an, daß die primitive Musik in überwiegendem Maße Gesang sei, da
ja der Mensch in seiner Stimme das zugänglichste Instrument besitzt.
Auch ahnte man von dieser Musik, daß sie stark sozialisierend wirkt
294 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
und von der Absicht eines gemeinsamen Genusses durchzogen ist
Alle ursprOngh'chen Gefühle verstärken sich durch Rückschlag; wie
die Sittlichkeit einst ganz mit der Sitte verschmolzen war, so die Kunst
mit dem Gemeinsamkeitsgefühl, und es hat langer Zeit bedurft, bis
diese Verknüpfung sich lockerte. Endlich ist der große Einfluß der
Musik auf den Naturmenschen, die teils lindernde, teils aufreizende
Wirkung stets bekannt gewesen. Indessen alle näheren Kenntnisse
verdanken wir der Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte; namentlich
Wallascheks Buch hat uns mit erschöpfenden Nachweisungen und in
mustergültiger Beweisführung belehrt. So wissen wir jetzt, daß selbst
Stämme niedrigster Kulturstufe nicht nur die Keime der Melodie, son-
dern auch der Harmonie besitzen; der Mangel an Harmoniegefühl, den
asiatische Völker uralter Kultur, insbesondere die Chinesen verraten,
bedeutet demnach nicht ein Haftenbleiben an früheren Entwickelungs-
formen. Muß hier mit einem alten Vorurteil gebrochen werden, so
auch mit Bezug auf die Mollakkorde: sie sind nämlich in der Tat
neben der großen und der sogenannten neutralen Terz bei Natur-
völkern beobachtet worden. Ich hebe geflissentlich das Tatsächliche
dieser Beobachtung hervor. Denn vielfache Erfahrungen, zu denen
jedermann in Europa Gelegenheit hat, machen gegenüber manchen
Versicherungen der Reisenden bedenklich. Vor allem darf nie ver-
gessen werden, daß die Instrumente der primitiven Künstler sorglos
eingestimmt und meist schon abgenutzt sind, und daß die Sänger
noch seltener rein singen als unsere Berufssänger. Zieht man solche
Momente in Betracht, so wird man sagen dürfen: Harmonie und Ton-
leiter der Naturmenschen gleichen der unsrigen. Der Ganzton ist
stets die Grundlage der Tonleiter gewesen. Im Zusammenhang mit
den Naturtönen der Blasinstrumente sind Tonfolgen entstanden, die
als zerlegter und dann nach beiden Richtungen erweiterter Dreiklang
angesprochen werden können. »Das diatonische System entsteht durch
Ableitung aus den Obertönen (harmonischen Akkorden) in allen Teilen
der Erde seit den ältesten Zeiten.« (Wallaschek S. 310.)
Aber wie ist der Gesang geworden? War er Nachahmung der
Tiermusik? Oder Fortbildung einer erregten Sprechweise? Diese
Fragen können erst in den nächsten beiden Abschnitten ihre Ant-
wort finden.
3. Der Ursprung der Kunst
Nachdem wir die künstlerischen Tatsachen durchmustert haben,
die im Leben des Kindes und des Naturmenschen auftreten, forschen
wir jetzt, aus welchen Bedingungen die Kunst ursprünglich hervor-
DER URSPRr.NG DER KUNST. 295
gegangen sein mag. Denn die einfache Oleichsetzung kindlicher und
primitiver Kunst mit den Anfängen der Kunst Oberhaupt versagt schon
deshalb, weil jene beiden Entwickelungen und Formengruppen in sich
nicht hinlänglich übereinstimmen. Ein Rückblick auf das weitschich-
tige Material der Völkerkunde zeigt, daß die Naturvölker in einer ganz
anderen Lage sind und deshalb nicht denselben Gang gehen können,
auf dem unsere Kinder sich bewegen. Vor allem fehlen doch der
Kinderkunst alle die Beziehungen auf Nutzen, Besitz, Krieg, Aber-
glauben, religiöse Symbole und primitive GemeinsamkeitsgefOhle, von
denen die Kunst der Wilden lebt. Und so ließen sich bis zum Über-
druß Abweichungen aufzählen, die bei der beliebten Deckung der
Phylo- und Ontogenese außer acht bleiben**). Aus diesem Orunde
kann auch nicht ohne weiteres ein Rückschluß auf die früheste Ge-
staltung und Bedeutung der künstlerischen Tätigkeit gezogen werden.
Die Urmenschen haben vielleicht über künstlerische Ausdrucksmöglich-
keiten verfügt, für die bei den jetzt lebenden wilden Stämmen keine
Analogie aufzufinden ist. Selbst wenn sie unter ähnlichen Bedingun-
gen gestanden haben, so wird doch zwischen der Gefühls- und Aus-
drucksweise der frisch aufstrebenden Völkerjugend und derjenigen der
entarteten, versumpften, jeder Entwicklung unzugänglichen Rassen ein
beträchtlicher Unterschied herrschen. Einer der besten Kenner nennt
die Primitiven der Gegenwart verarmte Überreste älterer Generationen «.
In der Hauptsache sind wir auf Vermutungen angewiesen. Wirk-
liche Belege für die frühesten Spuren des Kunstsinns besitzen wir
natüriich nur aus dem Gebiet der bildenden Kunst*). Ausgra-
bungen in den Höhlen der vorgeschichtlichen Zeit haben das Ergeb-
nis zu Tage gefördert, daß der Körperschmuck den Anfang der Kunst
bezeichnet. In der freien Bildnerci ist allen Zeichnungen und Ver-
zierungen die Herstellung von Rundfiguren vorausgegangen. Weib-
liche Statuetten aus Elfenbein sind in der untersten Kulturschicht durch
Hinwegnehmen gefertigt worden. Das scheint erwiesen sowohl
für die Jägerzeit als auch für die von Hörnes so genannte Zeit der
progressiven Wirtschaftsformen. Aus diesen Idolen oder Werkzeugen
der Geisterbannung wurde, vermutlich unter dem Zwang schwer be-
arbeitbarer Stoffe, das erste Relief, dann die Umrißzeichnung und
schließlich die geometrische Zierkunst; daß jene Frauengestalten aus
der Mammutzeit, deren Bruchstücke übrigens strenge Symmetrie in
Rumpf und Kopf zeigen, von liebeerfüllten Männern geschnitzt worden
seien, wird gern behauptet, aber allerdings durch nichts bezeugt. Die
jüngere Steinzeit hat gleichfalls nackte Frauenfiguren in plastischer
Ausführung hinterlassen, daneben Felsenzeichnungen, die weder Arme
noch Beine kennen und sich auf einige Rundungen, Punkte, Linien
296 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
beschränken. Reicher wird die Ausbeute aus der Zeit, die Kupfer,
Erz und Gold verarbeitete, denn hier stellen sich nun naturalistische
Wiedergaben des ganzen Zeitlebens und bilderschriftliche Ornamente
ein; doch geht der Streit über die Reihenfolge sachlicher und geome-
trischer Gebilde unentschieden hin und her. Jedenfalls haben in der
nordischen Bronzekunst die gebogenen Linien, besonders die Spiralen,
eine führende Rolle.
Die ältesten Wohngruben und Hütten waren kreisrund angel^^t,
aber sicher nicht aus ästhetischer Vorliebe für die Kreisform. Auch die
Pfahlbauten entsprangen aus ZweckmäBigkeitsgründen (s. S. 201),
während die nebeneinander gelagerten Riesensteine, frommen Erinne-
rungen geweiht, die Kraft des Menschen und die großen G^ensätze
von Last und Träger verherrlichten. Dagegen sind künstlerische Ab-
sichten unverkennbar an den Töpfen und Tongefäßen, die aus der
europäischen Steinzeit erhalten sind, und sie werden noch sichtbarer an
den Gebilden, die in die schmiegsamere Bronzezeit gehören. Das lebhaf-
teste Interesse gebührt den Gesichtsumen, die in den prähistorischen
Schichten Trojas, in Mittelitalien und westwärts der Weichsel gefunden
worden sind. Denn die Verknüpfung der Gefäßform mit mensch-
lichen Körperformen, zusammen mit solchen Benennungen wie Hals,
Bauch, Fuß der Urne, scheint ein ganz ursprüngliches Zeugnis zu
Gunsten der Einfühlungstheorie zu sein. Aber in Wirklichkeit hat
unsere Ausdrucksweise nichts gemeinsam mit dem keramischen
Bildungsgesetz, und dieses wiederum macht nicht etwa den Bauch
des Gefäßes einem menschlichen Bauche ähnlich, sondern läßt ihn als
beliebig verwertete Schmuckfläche, gel^entlich sogar als Kopf er-
scheinen. —
Indem wir von den Tatsachen vorgeschichtlicher Bildnerei zu Er-
wägungen übergehen, die das Ganze der Kunst betreffen, bemerken
wir zunächst, wie sehr durch die Entwickelungslehre die stofflichen
Schwierigkeiten gewachsen sind. Das Untersuchungsgebiet hat sich
ins Unendliche ausgedehnt, und die so tröstliche Anschauung von
einer in ewigen Hauptformen ruhenden Einheit des Schönen, Ästhe-
tischen und Künstlerischen hat ihre Kraft eingebüßt. Der zer-
gliedernden und gesetzgebenden Betrachtungsweise stellt sich die
vergleichend-geschichtliche zur Seite; während die eine »analytisch
vorgeht und vom gesitteten Menschen anfängt«, nach Kants Worten,
versucht die andere auf ihrem Feld eine Entwickelungsgeschichte des
Geistes zu entwerfen. Hierbei sind zwei Aufgaben zu lösen. Die
erste liegt in der Frage, aus welchem Zusammenhang und nach welcher
Reihenfolge die verschiedenen Künste sich zeitlich entfaltet haben; und
damit verbindet sich das andere Problem von den inneren Bedingungen
DER URSPRUNCi DER KUNST. 207
der ursprünglichsten Kunsttätigkeit. Als solche Bedingungen sind
besonders folgende Funktionen in Anspruch genommen worden:
Spielinstinkt, Nachahmung, Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis, Ord-
nungssinn, der Trieb, andere anzulocken und der entgegengesetzte
Trieb, andere zu erschrecken. Für jede Ableitung ist es offenbar not-
wendig, sich einer der beim vorher genannten Problem möglichen
Theorien anzuschließen; denn wäre z. B. beim ersten Anfang Musik
in unserem Sinn und für sich allein dagewesen, so würde man schwer-
lich die Nachahmung als psychologische Wurzel urzeitlicher Kunst
betrachten können. Trotzdem soll hier, aus Gründen des Darstellungs-
zusammenhanges, die Ordnung der Aufgaben umgekehrt werden, und
es hat kein Bedenken, weil viele von den einschlägigen Erwägungen
in früheren Abschnitten vorweggenommen sind.
Das gilt von der Ableitung des Schönen aus dem Nützlichen (siehe
S. 201). Es liegt nahe, alles Ästhetische und die ganze Kunst durch
eine Läuterungswirkung der Jahrtausende aus dem Förderiichen ent-
stehen zu lassen. Dagegen aber spricht, daß in einigen Fällen der
Selbstzweck früher war als die Nützlichkeit, so etwa, wenn Bedeckun-
gen des Leibes als Schmuck und Siegesbeute getragen wurden, bevor
die (seit der Oletscherperiode kälter werdende) Temperatur Kleidung
zur Notwendigkeit machte. Außerdem müßte scharf unterschieden
werden zwischen Dingen oder Handlungen, die dem Einzelnen, und
solchen, die der Horde nützlich waren. Nach der oben begründeten
Ansicht käme es mehr auf die letzten an. Schließlich wäre zu trennen,
was den Urmenschen selber als brauchbar bewußt gewesen sein mag,
und was die philosophische Betrachtung als biologisch zweckmäßig
erschließt. Da diese Momente nicht auseinanderzuhalten sind, so
bleibt die Theorie grobe Verallgemeinerung oder willküriiche Ver-
zerrung eines im beschränkten Maß gewiß gültigen Oedankens.
Noch schlimmer ist es mit der Behauptung bestellt, Kunst sei
ein Nebenerzeugnis der Bewerbungs Vorgänge. Diese Ansicht der
Darwinisten schafft f^obleme, die man in der Umgangssprache mit
Schnürieber und Fettherz vergleichen könnte: erst haben wir sie durch
unzweckmäßige Behandlung hervorgerufen und dann mühen wir uns,
sie fortzubringen. So verhält es sich mit der Musik der Tiere. Bei
den Vögeln soll die Fähigkeit zu musikalischen Äußerungen als Reiz-
mittel für das andere Geschlecht erworben worden sein. Aber es
muß doch stutzig machen, daß der Vogelgesang nicht auf die Brunst-
zeit beschränkt ist. Ist er überhaupt Musik? Dem Tongewirr der
zwitschernden Vögel, an dessen Erzeugung und Wahrnehmung eine
bloß sinnliche Lust geknüpft ist, fehlt der Rhythmus, also der Grund-
pfeiler aller menschlichen Musik. Wir können eine ununterbrochene
298 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Reihe verfolgen, die von der primitiven Musik fortläuft bis zur Ton-
kunst unserer Tage, denn alles, was innerhalb dieser Entwickelung
hinzugekommen ist, bedeutet nur eine ohne Sprung mögliche Steigerung
und zwar teils in der Ausbildung der Technik, teils im Instrumenten-
bau, teils im musikalischen Gedächtnis, teils in der geistigen Ver-
fassung überhaupt. Dahingegen sieht man gar keinen Übergang von
der sogenannten Tiermusik zum Tonrhythmus der Naturvölker. Vor
allen Dingen muß auffallen, daß die Vögel, die doch einer verhältnis-
mäßig niedrigen Stufe in der Tierreihe zugehören, die reichste Musik
haben. Häckel erzählt freilich von einer indischen Art der Menschen-
affen, sie verstehe eine Oktave in vollkommen reinen und klangvollen
Tönen zu singen. Was aber will eine solche Ausnahme besagen! —
Wir ziehen es vor, den Zusammenhang geschlechtlicher und künst-
lerischer Triebe an dem Stoff der Völkerkunde zu prüfen. Die rühren-
den und schwungvollen Darstellungen älterer Wissenschaft sind zer-
bröckelt. Einst vermutete man in Liebesgedichten den Anfang aller
Poesie, wie man noch früher von der paradiesischen Unschuld und
reinen Güte der »Wilden« geschwärmt hatte; die gegenwärtige For-
schung findet nur spärliche Erotik. Einst glaubte man, Liebe habe
die Hand des ersten Zeichners geführt, als er den Schattenumriß seines
Mädchens an der Felswand zog; auch dieser Traum ist zerronnen.
Allerdings sind die ältesten bisher aufgefundenen Rundfiguren weib-
liche Statuetten. Trotzdem kann daraus ein sexueller Ursprung mit
Bestimmtheit nicht erschlossen werden, da es sich um Götzenbilder
handeln mag, die aus anderen Gründen weibliche Formen erhielten.
Kleidung und Verzierung haben vielleicht dem Wettbewerb um die
Gunst der Frauen gedient, doch keineswegs ausschließlich und selbst
nicht in der Mehrzahl der Fälle.
Es kommt alles darauf an, daß wir den dumpfen, unzerlegten Be-
wußtseinszustand des Naturmenschen nachfühlen. Die geheimnis-
vollen Vorgänge der Pubertät, des Geschlechtsunterschiedes, der
Begattung und des Gebarens sind für sein Empfinden fest mit Zauber-
mächten verwoben. Männer fürchten den gefährlichen Anblick fremder
Zeugungsorgane und die Entblößung der eigenen, Frauen glauben,
daß sie von Sonnenschein und strömendem R^en befruchtet werden,
wenn sie sich nicht durch Bedeckung oder Amulette schützen. Ander-
seits wirkt doch der Geschlechtsdrang so gewaltig, daß jede Ver-
hüllung der Geschlechtsteile und jeder Hinweis auf sie zur Beachtung,
ja zur Betätigung reizen muß. Nur steht niemals eine rein physio-
logische Verrichtung zur Frage, sondern ein magisches Etwas. Die
Zeit der Reife und die Augenblicke der Begattung sind femer in dner
ganz anderen Weise auf soziale Veränderungen angelegt als bei uns.
DKR URSPRUNG DER KUNST. 29Q
Mit einem Wort: wenn von solchen Motiven die Rede ist, so dürfen
wir nicht unsere Vorstellungen in sie hineintragen.
Die geschlechtliche Anlockung nimmt oft die Form des Spiels
an. Der entgegen gerichtete Trieb, die anderen zu erschrecken, findet
sich noch in den Spielen unserer Kinder und ist sogar bei Erwach-
senen eins der beliebtesten Mittel, das in tausend Graden - von der
spaßhaften Überraschung bis zur rohen Gewalt — abgewandelt und
in die Kunst übergeführt wird. Im Spiel steckt die Freude an der
Überlegenheit, und zwar entweder über lebende Wesen, so in Liebes-
und Kampf spielen, oder über leblose Dinge, in Sinnes- und Bau-
spielcn. Mit der Bewältigung des Widerstandes, so hat man gesagt,
empfangen Spiel und Kunst einen Wert biologischer Art: sie dienen
der Einübung und Ergänzung solcher Fähigkeiten, die im Kampf ums
Dasein den Sieg sichern. Das ist richtig, aber nicht mehr als ein
Aperiju. Die gewichtigen Folgerungen, die daraus gezogen werden,
haben keine Stütze; sie sind ebenso übertrieben wie die Schlußsätze
einer anderen biologischen Kunsterklärung, die bereits zurückgewiesen
wurde (s.S. 167). Am Kind kann man beobachten, daß der Mensch
beim Spiel ganz mit sich und für sich beschäftigt ist, während künst-
lerisches Schaffen meist zur Mitteilung wird; das spielende Kind emp-
findet den Zuschauer als störend, das sich schmückende oder sin-
gende oder zeichnende Kind will Eindruck machen. Das Ziel des
Spiels wird mit der augenblicklichen Tätigkeit erreicht, die Kunst
strebt Dauer, ja Ewigkeit an^'). Schließlich noch eins. Man sollte
denken, daß bei einer notwendigen Abhängigkeit der Kunst vom Spiel
die großen Künstler in ihrer Jugend die eifrigsten Freunde der Spiele
sein müßten. Im allgemeinen sind sie es nicht, obgleich frisches und
mutwilliges Temperament sich natürlich auch in lebhaften Spielen
austobt. Sobald die Kunst in den Gesichtskreis dieser Kinder tritt,
pflegen sie sehr ernsthaft sich mit ihr zu beschäftigen. Vom jungen
Beethoven wird berichtet: Musik und immer Musik, das war sein
Tagewerk. Auch von Mozart wird erzählt: Von der Zeit an, wo er
mit der Musik bekannt wurde, verlor er allen Geschmack an den
gewöhnlichen Spielen und Zerstreuungen der Kindheit, und wenn ihm
ja noch diese Zeitvertreibe gefallen sollten, so mußten sie mit Musik
begleitet sein. Übrigens scheint gerade bei Mozart die lebhafte
Phantasietätigkeit außer auf musikalischem Gebiet auch auf anderen
Gebieten sich bekundet zu haben, und zwar mit gewissen Neigungen
zur Systematisierung. Hebbels Einbildungskraft war von Anfang an
poetisch und nicht spielerisch. Von Mörike heißt es wohl: ^ Musik
wollte er nicht lernen, umso ausgedehnter aber unter dem Einflüsse
einer nie rastenden I^hantasie wurden alle Knabcnspiele getrieben.«
300 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Immerhin erzählt er im »Maler Nolten« von sich selbst: »Mit welcher
Behaglichkeit konnte ich, wenn die andern sich im Hofe tummelten,
ganz oben an einer Dachluke sitzen, mein Vesperbrot verzehren und
eine neue Zeichnung vornehmen.« Bei Mörike wie bei Hebbel finden
wir Zeugnisse dafür, daß die Märchen eine Verbindung herstellten
zwischen den Knabenspielen und dem Beginn der dichterischen Pro-
duktion. Die Teilnahme der Kinder an Nachahmungs- und Illusions-
spielen wird durchschnittlich so geschildert, daß man nicht sehen kann,
ob ein allgemeines gesellschaftliches Bedürfnis oder eine erste Regung,
dem Innern nach außen Worte zu leihen, die Teilnahme veranlaßt hat
Ziemlich früh, etwa zwischen dem 10. und 15. Lebensjahre, kommt
dann bei fast allen Künstlern der Augenblick, wo sie sich von den
Spielen zurückziehen und in die Kunstsphäre eintreten. Nur bei den
Schauspielern scheint ein ganz stetiger Übergang vom kindlichen zum
mimischen Spiel sich zu vollziehend^).
Der Spieltrieb hat gleich der Freude an Nachahmung den Vorzug,
daß er eine allgemein menschliche Anlage ist und daher den Kunst-
sinn durch Aufhebung in eine wesentliche und verbreitete Eigenschaft
erklären würde. Indessen, obgleich er ein Letztes darstellt, bedeutet
seine ethnologische Form weder das Ganze noch dasjenige, was wir
mit Spielinstinkt meinen, denn im Spiel der Naturmenschen betätigen
sich Kräfte, die dem kindlichen Spiel mangeln. Vornehmlich die
magischen Kräfte. Wer sich je in den Kreisen unserer Okkultisten,
Spiritisten und Halbtheosophen bewegt, wer je den grauenvollen
Spielereien einer schwarzen Messe und den Exteriorisationsversuchen
gewisser Magnetopathen beigewohnt hat, wer die Lehren der Psycho-
metrie kennt, die vergrübelte Köpfe aus der Hellseherei entwickelt
haben, der wird Yrjoe Hirn beipflichten, daß alle pantomimischen
Spiele mit abergläubischen Vorstellungen versetzt sind. Wir dürfen
nicht »einen bloßen Jagdzauber für das Muster reiner dramatischer
Kunst halten«, sondern müssen uns mit der Voraussetzung vertraut
machen, ;>daß die Nachbildung eines Dinges auf jede Entfernung das
Ding selbst beeinflussen kann und daß auf diese Weise ein Büffel-
tanz, sogar im Lager ausgeführt, die Büffel zwingen kann, in den
Bereich der Jäger zu kommen.« Die Grundsätze der Hexerei, wenn
man so sagen soll, sind Verfratzungen von naturphilosophischen Prin-
zipien. Die magische Fernwirkung karikiert den Zusammenhang aller,
auch der entferntesten Gegenstände und Vorgänge; der Glaube, daß
aus Haaren, Kleidungsstücken u. s. w. die körperiiche und geistige
Verfassung des Trägers herauszufühlen sei, übertreibt den Einfluß,
den die ständige Berührung ausübt; die Zwangsmacht von Abbildungen
und Zaubersprüchen vergröbert die rein geistige Gewalt, die in Bild
DER URSPRUNG DKR KUNST. 301
und Wort lebt. Unsere Kunst hat sich in einem LäuterungsprozeB
entwickelt, der diese Bestandteile in Hochglut aufgehen ließ. Aber
verloren sind sie nicht. Ich nenne ein Beispiel, das bis in die ge-
schichtliche Zeit der Bildnerei reicht. Aus ägyptischen und griechischen
Darstellungen, desgleichen aus literarischen Quellen kennt jedermann
den menschenköpfigen Vogel, die Sirene. Eine Gottheit oder die
Seele wird vom volkstumlichen Glauben in Tiergestalt gedacht und
da diese Gestalt im Bilde nicht vom gewöhnlichen Tier zu unter-
scheiden wäre, so muß sie als besonderes Kennzeichen das Haupt
eines Menschen erhalten. Der künstlerische Typus, der so eigenartig
wirkt und so viele wertvolle Abänderungen ertaubt, ist also nicht aus
ästhetischen Rucksichten geschaffen worden, sondern wurzelt in der
religiösen Verehrung der Totengeister und in der Beschränktheit der
bildenden Kunst, die nur sichtbar machen, nicht erläutern kann^').
Wenn die Kleinplastik die Haltung der Flügel und Arme verändert,
so verfährt sie wiederum nicht zu Gunsten des ästhetischen Wohl-
gefallens, sondern weil die Eiform des Rahmens sie dazu zwingt.
An der Geschichte einer ähnlichen Grundgestalt, nämlich der Sieges-
göttin, und an allen Wandlungen der Baukunst läßt sich beobachten,
daß tatsächliche Bedürfnisse den Anstoß zum Fortschreiten geben.
Damit sind wir von neuem bei dem Nutzen angelangt, der bestim-
mend in Anfang und Fortführung der Kunst eingreift. Der Nutzen er-
streckt sich entweder auf das Willens- oder auf das Vernunftleben. Eine
Wechselwirkung verbindet Musik und Krieg: Lieder und Tänze steigern
die Kampfeslust und werden anderseits von ihr geschaffen. Schon früh-
zeitig finden sich militärische Abzeichen, hervorgegangen aus dem
Schreckschmuck; in Pantomimen übt sich der Stamm für seine kriege-
rischen Unternehmungen oder feiert die Erinnerung daran. Was zweitens
die Verstandesforderungen betrifft, so genügt ihnen die mimische Sprache
ebenso wie die verwandte bildliche Darstellung, indem sie nach klarem
Ausdruck des Inhalts strebt. Denn sie sind doch oft deutlicher als
Worte, zumal wenn Angehörige verschiedener Sprache sich treffen oder
lautlose Stille bewahrt werden muß oder die Stimme nicht ausreicht.
Genug und übergenug. Das Gesamtergebnis steht vor unseren
Augen: aus vielen Wurzeln zieht die Kunst ihre Nahrung. Darunter
sind ursprüngliche ästhetische Kräfte - Freude an sinnlichen und for-
malen Reizen in erster Linie doch auch sie in anderer Färbung und
Verbindung, als wir es gewöhnt sind. Die zergliedernde und rationali-
sierende Wissenschaft wird ihnen am wenigsten gerecht. Sofern sie
nun das System der Künste auf dieser Grundlage aufbaut, verfällt sie
dem gleichen Schicksal, und erst indem sie zur Kulturkunst zurück-
kehrt, gelangt sie auf festeren Boden.
302 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
4. Das System der Künste.
Die entwickelungsgeschichtliche Betrachtungsweise, deren wir uns
bis hierher bedienten, kann schließh'ch dazu helfen, daß eine Übersicht
über das natürliche Verwandtschaftsverhältnis der Künste gewonnen
wird. Dieser Stammbaum braucht nicht mit einem Paar von Künsten
zu beginnen, mit einer männlichen und einer weiblichen Kunst — wie
Richard Wagner sich ausdrücken würde — , sondern darf ein Einzel-
wesen an seine Spitze steilen, das durch Sprossung oder Teilung die
ganze Familie ins Leben ruft. Nehmen wir an, daß die verschiedenen
Künste geschichtlicher Zeit sich durch Differenzierung aus einer keim-
haften Anlage gebildet haben, so fragt sich, wie diese Anlage vorzu-
stellen sei und mit welcher von unseren Künsten sie die größte Ähn-
lichkeit zeige. Bereits Adam Smith entschied sich für den Tanz,
Denn der Tanz, so meinte er, werde bei allen wilden Völkerschaften
gefunden und zwar in unlöslicher Gemeinschaft mit Musik und Poesie
Gerade weil er ohne diese Schwesterkünste nicht zu denken ist, des-
halb liegt in ihm der Ausgangspunkt. Nun finden wir tatsächlich im
Tanz viele der Momente vereinigt, die an der ältesten Kunst hervor-
treten. Die Liebestänze weisen auf Erotik hin und auf die in sie
einfließenden abergläubischen Ideen (man denke an die phallischen
Fruchtbarkeitsdämonen der alten Mexikaner), die Kri^stänze beleuchten
den sozialen Hintergrund der Kunst, die Tiertänze lassen den Zu-
sammenhang mit der umgebenden Natur erkennen, und alle insgesamt
sind Schauspiele, hervorgegangen aus des »Wirkens süßer Lüste.
Der Tanz, zumal der Massen tanz, bedarf des Rhythmus, daher mag
aus und an ihm zunächst die Musik, dann die Poesie sich entfaltet
haben. Seine mimische Ausdruckskraft hat sich vielleicht auf Be-
wegungen übertragen, die an einem dauerhaften Stoff plastische Formen
und Umrißzeichnungen hervorzauberten. Mit besonderem Nachdruck
ist behauptet worden, daß die Ornamentik aus der Mimik entstanden
sei als bleibender Niederschlag augenblicks zerrinnender Ausdrucks-
bewegung. So hübsch der Gedanke ist, beispielsweise die Halskette
als verewigte Umarmung zu begreifen, so unwahrscheinlich ist mir,
daß der primitive Mann Liebkosungen zart zu bewerten und dauernd
festzuhalten sich gedrungen fühlte. Femer wird vermutet, daß der
ursprüngliche Sprachlaut eine Lautgebärde war und Sacheindrücke in
der Art mimischer Bewegungen wiedergab. Wir können uns also aus
der Mimik das Entstehen aller Verzweigungen begreiflich machen.
Aber wir besitzen umsoweniger einen zwingenden Beweis für diese
Ableitung als die Urgeschichte nichts von dem vorausgesetzten Tanz
DAS SYSTEM DER KÜNSTE. 303
aufbewahrt und die Völkerkunde nur von getrennten fertigen Künsten
berichtet.
Nach der Meinung anderer Forscher sind die Hauptkunste von
Anfang an geschieden gewesen und unabhängig voneinander ent-
standen. Diese Vermutung wurde nicht ausschließen, daß die eine
Kunst später geworden sei als die andere, sondern lediglich behaupten,
daß die zweite sich nicht aus der ersten entwickelt habe. Wenn mit
P. J. Möbius drei Urkfinste angenommen werden, die Mechanik (Bau-
kunst) einerseits, Musik und Mimik anderseits, so ist Gleichzeitigkeit
und Ungleichzeitigkeit zwischen ihnen denkbar. Übrigens pflegt man
mehrere unserer Künste zu einer Gruppe zusammenzufassen, entweder
im Sinn einer Vervielfältigung der Keimtheorie oder in freierer Be-
ziehung. Als Beispiel für das erste Verfahren erwähne ich Spencers
vermittelnde Ansicht, wonach Poesie, Musik und Tanz eine gemein-
same Wurzel haben und ebenso Schrift, Malerei und Skulptur. Diese
Theorie besticht, denn die innere Verwandtschaft in jeder der beiden
Klassen macht uns der Annahme eines gemeinsamen Ursprungs ge-
neigt, und wir möchten Darwins Grundsatz aller ätiologischen For-
schung auch auf unserem Gebiet bewahrheitet finden, nämlich den
Satz: :Von gleicher Art ist, was gleichen Ursprungs ist.« Indessen
die Verkettung der zweiten Gruppe mit der ersten durch das Binde-
glied der mimischen Gebärde bleibt möglich. Von der Mimik aus
hat Schmarsow eine Wesensbestimmung der Künste entworfen, die
sowohl den Unterschieden als auch den Übergängen gerecht zu werden
strebt. Daß die Ornamentik, die nur Werte auszuzeichnen und zu
umspielen, nicht selber darzustellen weiß', als Niederschlag mimischen
Gebarens gelten kann, wurde schon erwähnt. Mit der beweglichen
Mimik ist aber auch die ruhende Kunst der Plastik verwandt, denn
auf dem greifbaren Zusammenhang unseres Leibes beruhen sie beide .
Zur Plastik als Körperbildnerin tritt Architektur als Raumgestalterin.
Eine weitere Entwickelungsstufe im menschlichen Schaffen ist die
Malerei, da sie den Erscheinungszusammenhang zwischen Körper und
Raum zum Gegenstand hat. Dem Bild als dem höchsten Ergebnis
sinnlicher Anschauung steht das Wort (die Poesie) als seelische
Leistung höheren Rangs gegenüber, denn dem Drang nach bestimmter
Äußerung genügen stumme Gebärde und Laut der Stimme bald nicht
mehr. - Eine künstlichere Klassifikation ist von Hörnes entworfen
worden. Er gliedert in drei F^aare, von welchen sich das eine
(Leibesschmuck und Tanz) auf den Körper bezieht, das zweite l^r
(Gerätschmuck und freie Bildnerei) im Raum für das Auge, das dritte
(Musik und Poesie) in der Zeit für den Gehörssinn darstellt. Inner-
halb jedes einzelnen dieser drei F^aare herrscht zwischen den beiden
304 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Künsten Verwandtschaft des äußeren Wesens und O^ensätzlichkeit
der inneren Art, weshalb sie sich in der so vielfach kombinierenden
Wirklichkeit am häufigsten zusammenfinden. Die äußerliche Verwandt-
schaft liegt in materiellen Beziehungen (1. Darstellung an und mit
dem menschlichen Körper, 2. Darstellung an und in einem toten
Stoff, 3. Darstellung durch Laute), — die innere G^ensätzlichkeit li^
darin, daß die erstgenannten Künste in jedem Paare vorwiegend Künste
der abstrakten ästhetischen Form, des Rhjrthmus u. s. w., die zweit-
genannten in jedem Paar vorwiegend Künste der konkreten Natumach-
ahmung sind« (a. a. O. S. 13). — Ein neuer Gesichtspunkt beherrscht
den Versuch Konrad Langes, auf Grundlage der tierischen und kind-
lichen Spiele ein System der Künste aufzubauen. Den Bew^^ungs-,
Bau- und Sinnenspielen entsprechen Tanz, Musik, Lyrik, Architektur
und Ornamentik; den Illusions- und Nachahmungsspielen entsprechen
beim Kulturmenschen die Illusionskünste, nämlich Schauspielkunst,
Drama, Epos, Plastik, Malerei. Diese Zurückführung ist geistreich,
aber gewaltsam; sie scheint mir außerdem nicht fruchtbarer als wenn
ein Anatom den menschlichen Körper einteilen wollte nach dem Vor-
bild eines Amöbenorganismus.
Seit alters hat ein einzelnes Problem unter den hier verhandelten
die allgemeinste und lebhafteste Aufmerksamkeit gefunden. Es ist das
Verhältnis von Rede und Musik oder bestimmter ausgedrückt die
Geburt der Musik aus dem Geist der Sprache. Rousseau erklärt die
Musik als gefühlsmäßige Erhöhung der Sprache und Dubos, ein
anderer Vertreter desselben echt rhetorischen und schwach musika-
lischen Volks, behauptet: ^De la parole parlee ou ecrite tout art df-
nve.<< Spencer wiederholt, »daß die Musik ihre wesentliche Quelle in
den Kadenzen der leidenschaftlich erregten Rede habe, daß der Gesang
durch die Ausprägung und Verstärkung von Eigenschaften der geffihls-
erregten Rede sich bilden mußte.« Bei uns hat zuerst Jakob Grimm
den gleichen Weg eingeschlagen: »denn aus betonter, gemessener
Rezitation der Worte entsprangen Gesang und Lied, aus dem Lied
die andere Dichtkunst, aus dem Gesang durch gesteigerte Abstraktion
alle übrige Musik.« Dann lehrte Wilhelm Jordan, daß es in der Natur
der Sprache liege, bei jeder Steigerung des Innenlebens und beim
feieriichen Prosavortrag einen gehobenen Rhythmus, also das Element
der Musik, anzunehmen; ohne die Gedächtnishilfen des Rhythmus
hätten sich auch die Rhapsoden ihre Sagen nicht merken und über-
liefern können. Hiermit ist ferner ein Satz aufgestellt, der einigen Philo-
logen der Gegenwart als Beweisthema erscheint, nämlich der Ursprung
metrischer Poesie aus der Prosa. Es soll beispielsweise bei den
Griechen eine melodische Prosa vorhanden gewesen sein, die unserem
DAS SYSTEM DER KCNSTE. 305
an andere Sprechweise gewöhnten Ohr nicht mehr kenntlich ist und
aus der einerseits regelrechte Poesie, anderseits die leidenschaftslosere
Rhythmik des Kunstredners sich entwickelte. — Beide Annahmen sind
von der jüngsten Forschung über Bord geworfen worden. Als über-
zeugendste Gründe gegen die Auffassung der Musik als erhöhter Rede
seien angemerkt, daß vielen Stämmen die vorauszusetzende älteste
Form, das Rezitativ, gänzlich fehlt, und daß die Musik der Jägervölker
oft nur rhythmische Bewegung eines Tons ist, demnach aus keiner
Abänderung der Klanghöhe, auch aus keiner Modulation der Sprech-
stimme entsteht. Schwerlich hatten die ersten Menschen »Unter-
redung« in unserem Sinne; sie vermochten also nicht, aus der Affekt-
betonung die Musik und aus dem gewöhnlichen Gesprächsstil einen
gesteigerten d. h. poetischen Stil zu gewinnen. Der Scharfblick von
Adam Smith hat den wirklichen Sachverhalt erkannt. Smith durch-
schaut den Ursprünglichkeitswert der in den Balladen fortlebenden
sinnlosen Refrain worte und gelangt zu dem Ergebnis: In the suc-
cession of ages it could not fall to occur, t/tat in the room of those
unmeaning or musical words, if I may call them so, might be sulh
stituted words which expressed some sense or meaning, and of which
the pronunciation might coincide as exactly with the time and measure
of the tune, as that of the musical word had done before. Hence the
origin of Verse or Poetry.^^ {Works, 1811, V, 267.) In der Tat ist es
so: die ältesten Gesänge sowie die einfachsten Kinderlieder haben gar
keinen Text, sondern benutzen, ähnlich wie wir es beim Trällern tun,
bedeutungslose Laute, um die Artikulation des Tons zu erleichtem.
Gesangstexte und Rezitative kommen erst auf höherer Kulturstufe
vor^^). Folglich stammt Musik nicht aus dem naturlichen Tonfall der
erregten Sprechweise.
Die andere Seite des Problems fällt mit der Frage zusammen, wie
der Umfang von Poesie abzugrenzen sei. Betrachtet man die rhyth-
mische Verwertung der Sprache als Kennzeichen eigentlicher Poesie
und die Wortkunst als den ihr übergeordneten Begriff, so muß ge-
sagt werden, daß Poesie nicht aus der Prosa, sondern eher aus der
Musik herzuleiten ist. Das wirkliche Folgeverhältnis ist dem gemein-
hin angenommenen entgegengesetzt. Wir dürfen es uns ungefähr so
vorstellen wie es früher (S. 133 ff.) systematisch zeriegt wurde: von
Anfang an waren metrische Einschlußlinien da, und in sie sind Klänge
und Worte eingezeichnet worden. Und zwar sprechen Beol)achtungen
an Kindern gleichermaßen wie Erfahrungen mit Naturmenschen dafür,
daß die musikalische Ausfüllung der sprachlichen vorangegangen ist.
Die Frage, wo Poesie als rhythmische Sprachkunst am besten ein-
geordnet wird, läßt sich freilich nicht vom entwickelungsgeschichtlichen
Destoir. Ästhetik niid allff. KunitwitMmclitft. 20
306 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Standort aus erledigen. Denn die von der primitiven Masseneinheit
geschaffene Poesie ist ja eine ganz andere als die vom einsamen
Dichter für den einsamen Leser bestimmte.
Überhaupt scheint es jetzt an der Zeit, daß wir die Zusammen-
gehörigkeit und Unterscheidbarkeit der Künste von der Rücksicht auf
den Ursprung befreien. Zu diesem Zweck erinnern wir uns der aus
dem klassischen Altertum überiieferten Bemühungen, durch Gliederung
eine Übersicht über die Gesamtheit der Künste zu gewinnen. Ein
Aristoteliker der späteren Zeit unterschied zwei Kunsttriaden: die a«o-
teXeoTixat, d. h. die ein fertiges Werk herausstellenden Künste sind
Architektur, Malerei und Plastik; die Tcpaxtixai, die Künste der Bewe-
gung und der Zeit, zerfallen in Musik, Poesie und Orchestik. Jene
bildenden Künste bedürfen keines Ausführenden, der das Werk immer
von neuem entstehen läßt, während Musik und Tanz, ja auch die zum
Anhören bestimmte Poesie ohne einen Ausführenden nicht in die Er-
scheinung treten. Die bildenden sowie die musischen Künste unter-
li^en dem allgemeinen formalen Gesetz der Gleichmäßigkeit, das man
dort Symmetrie, hier Rhythmus nennt Subjektiv heißen Architektur
und Musik, weil sie kein Vorbild in der Natur haben, objektiv oder
nachahmend werden Plastik und Orchestik genannt, und dazwischen
stehen als subjektiv-objektive Künste Malerei und Poesie.
Von diesen sehr feinen und vielseitigen Bestimmungen ist dgent-
lich nur der G^ensatz zwischen Künsten der Ruhe und der Bewe-
gung und der andere G^ensatz zwischen subjektiven und nach-
ahmenden Künsten lebendig geblieben ^*). Aber mit der ersten Unter-
scheidung ist doch nicht mehr angegeben als das Sinnengebiet, an
das die Künste sich wenden, oder die Bedingung, unter der ihre
Werke zur Wahrnehmung gelangen. Mit dem Worte Zeitkünste be-
zeichnet man sehr allgemein das Wirkungsmittel der Künste, verknüpft
sie mit einer der Kantischen Anschauungsformen und deutet an, für
welche Sinne sie bestimmt sind. Aber ins Einzelne dringt die Defi-
nition natüriich nicht, und die beim Schaffen beteiligten Geisteskräfte
läßt sie fast völlig außer Acht. Anhänger der Einfühlungstheorie
können einwenden, daß durch echt ästhetische Betrachtung alles Räum-
liche verzeitlicht wird; umgekehrt kann man darauf hinweisen, daß wir
bei der Zeitkunst Musik mit Notwendigkeit von hohen und tiefen
Tönen, weiten und engen Lagen, vom Hinauf und Herunter, Zusam-
men und Auseinander sprechen. — Was die Unterscheidung nach
Subjektivität und Objektivität betrifft, so ist sie in zweifacher Weise
abgeändert worden. Assoziationenästhetiker unterscheiden Künste mit
unbestimmten und mit bestimmten Assoziationen. Zu jenen gehören
Architektur, Ornamentik und Musik, zu diesen Plastik, Malerei, Mimik
DAS SYSTEM DER KÜNSTE. 307
und Poesie. Die Behauptung hat einen Sinn. Denn architektonische
und musikalische Formen lassen sehr viele Assoziationen zu, während
etwa an die plastische Darstellung eines Löwenkopfes oder an die
malerische Darstellung einer Frauenhand nur verhältnismäßig wenige
Assoziationen sich anschließen können. Im Grunde bedeutet diese
Distinktion aber nicht mehr als die alte Scheidung zwischen nach-
ahmenden und nicht nachahmenden Künsten und besagt nur in psycho-
logischer Verhüllung, daß Architektur, Ornamentik und Musik kein
bestimmtes Vorbild in der Wirklichkeit haben. Der andere Neuerungs-
versuch legt das Schwergewicht auf den Gegensatz der ungehemmten,
frei schaffenden Künste und der angewandten Künste (Architektur,
Kunstgewerbe und Dekoration).
Aus einer Vermischung der beiden Hauptgedanken, denen wir be-
gegneten, ist Richard Wagners Theorie entstanden. Danach gibt es
drei rein menschliche Kunstarten: Mimik, Musik, Dichtkunst, und drei
an die Natur gebundene Kunstarten: Architektur, Plastik, Malerei. Da
die bildenden Künste die Bewegung in der Zeit — das wichtigste
Moment, weil es der Ausdruck des inneren Menschen ist — nur durch
Anrufung der Phantasie herstellen, so bieten sie nicht frisches Leben,
sondern bloßen Schein. >Erst wenn der Drang des künstlerischen
Bildhauers in die Seele des mimischen Darstellers, des Singenden und
Sprechenden übergegangen ist, kann dieser Drang als wirklich gestillt
erscheinen.- In anderem Zusammenhang unterscheidet Wagner übrigens
nur zwei große Kunstgattungen, die weibliche, deren Empfängniskraft
durch rein künstlerische Eindrücke vollständig erschöpft wird (Malerei
und Musik), und die männliche, die durch Aufnahme von Lebens-
wirklichkeiten so gestärkt ist, daß sie zeugungsfähig wird und dem
Leben selbst gestaltend beizukommen vermag (Dichtkunst).
Ein neuer Gedanke setzt sich in der Hegeischen Schule durch.
Max Schasler ordnet nach dem Mischungsverhältnis des geistigen
Gehalts und der sinnlichen Erscheinung. Er glaubt an eine bestimmte
Stufenfolge in der Akzentverteilung zwischen Gehalt und Stoff, eine
Folge, die von der Architektur als der mit dem schwersten und
räumlich umfangreichsten Material, aber mit den ärmsten Ideen arbei-
tenden Kunst angefangen bis hinauf zur Poesie als der ideenreichsten
und zugleich mit dem leichtesten Material, dem artikulierten Laut,
arbeitenden Kunst führt. Wenn mit dieser Klassifikation Ernst ge-
macht wird, so müssen immerfort Werke aus den nach allgemeiner
Anschauung verschiedenen Künsten durcheinander gewirrt werden.
Es soll die Plastik über der Architektur stehen. Zugegeben. Indessen,
da zweifellos zahlreiche Bildhauerarbeiten ideenärmer sind als die
Meisterwerke der Baukunst und da das Verhältnis statistisch nicht
308 n. ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
festzustellen ist, so versagt der Grundsatz, sobald er mit den Tat-
sachen in Berührung gebracht wird. Demnach ist dieser Gesichts-
punkt vielleicht für Wertreihen innerhalb jeder einzigen von den üb-
lichen Künsten verwendbar, aber nicht als Einteilungsgrund eines
Systems der Künste Was in ihm sich andeutet und auch in den
übrigen Schemata durchklingt, das ist wohl der Unterschied von Frei-
heit und Gebundenheit. Die meisten Künste, so wäre zu sagen, sind
auf Formen und Inhalte der Wirklichkeit angewiesen; Architektur und
Musik dagegen schaffen sich neue Formen. Doch sogleich erhebt
sich Widerspruch. Zeichnung und Malerei, Skulptur und Kunsthand-
werk kennen Formverbindungen, die in der Wirklichkeit sich nicht
finden, und sie vermögen selbst reale Formen und Farben ihrer natür-
lichen Bestimmung zu entfremden. Gehören sie also unter die ge-
bundenen Künste? Ist die Poesie, insofern sie Metrum, Reim und
Wohlklang schafft, nicht gleichfalls zu den Künsten der irrealen Formen
zu rechnen? Immer schlüpfriger wird der Boden. Man b^nne mit
der freien Architektur, zeige dann, wie in Malerei und Plastik Stoff-
bestandteile der äußeren und auch der inneren Wirklichkeit eintreten,
wie in der Poesie die Verinneriichung zunimmt und schließlich in der
Musik nur noch seelisches Leben zu uns spricht Man ziehe eine
Linie, stelle an ihren Anfang die Architektur (die gefrorene Musik), an
ihr Ende die Musik und falte nun die Linie zum Kreis zusammen.
Aus dieser Symbolisierung werden dann zwei Anschauungen b^^eif-
lich, die sich feindlich gegenüber stehen: die Erklärung der Musik als
einer reinen Formenkunst und der Architektur als einer Darstellung
wertvollen seelischen Lebens.
So vielfältig und flüssig sind die Verhältnisse. Es scheint kein
System zu geben, das allen Ansprüchen genügte. Weder unter den
genetischen noch unter den anderen Einteilungen ist uns eine einzige
unanfechtbare begegnet. Und gar schlimm wird es, wenn die Misch-
formen berücksichtigt werden sollen. Es ist leicht gesagt, sie kämen
nicht in Betracht. Aber wer z. B. das Melodrama verurteilt, darf auch
die musikalische Vemunftehe zwischen Hammerton und Saitenstrich
nicht billigen. Ja, er muß die ganze Kunst des Theaters austilgen, da
die Dichtung nur andeutet, was eine Schar von anderen Künsten aus-
führt. Im Grunde sind eben alle unsere Künste in einigen ihrer Unter-
arten dermaßen mit anderen Künsten verschmolzen, daß die Zuordnung
schwer fällt, und die Schwierigkeit wird gesteigert durch den Hang
der Ästhetiker, sinnreiche Analogien zwischen den verschiedenen Ge-
bieten aufzufinden und das scheinbar Gleiche durch feine Zergliede-
rung in Ungleiches zu zerlegen ^^). Die Praxis unserer Zeit ergänzt
ebenfalls sehr gern die Ausdrucksmittel einer Kunst durch Hilfstruppen
j
DAS SYSTEM DER KÜNSTE. 30Q
aus einer anderen, sie gleicht dem Bilde, das schon vor 140 Jahren
von »der Moderne« entworfen wurde: »Ein Jahrhundert, wo man an
Worten drechselt, kleine und große Versuche macht, Gedanken zu
empfinden und Empfindungen mit Händen zu greifen, wo man Kupfer-
stiche baut, Holzschnitte schreibt, nach Noten ficht, wird das philo-
sophische genannt. Will man unsere Zeit oder die Philosophie am
Pranger stellen ***)?«
Doch erst die Gegenwart beschäftigt sich wieder eingehend mit
der Verbrüderung mehrerer Künste zu einer Gesamtwirkung. Das
musische Gesamtkunstwerk Richard Wagners ruht auf der Annahme,
daß die Dichtung als der Weg zur Bildlichkeit vom Untergrunde der
Musik zur Sichtbarkeit der Szene überleite, daß die Musik ein Haupt-
mittel des Ausdrucks und das Drama der Zweck sei. In dem unbe-
weglichen und lautlosen Kunstwerk werden der Regel nach alle plasti-
schen und malerischen Erzeugnisse der Bedeutung des Gebäudes
geistig angeschlossen und bloß für seine eindringliche und wechsel-
reiche Ausgestaltung verwendet; indessen sind auch einige Versuche
gelungen. Bauten lediglich nach malerischen Gesichtspunkten herzu-
stellen. Für die meisten Verknüpfungen gilt der Grundsatz, daß die
Kunst mit unbestimmteren Assoziationen, also bei den Künsten der
Ruhe die Architektur, bei den Künsten der Bewegung die Musik das
Hauptgewicht erhalten soll. Dagegen ist die früher übliche Lehre,
wonach nur die niederen Arten einer Lebensgemeinschaft fähig seien,
kaum ernst zu nehmen, wenn man an Lied und Worttondrama denkt.
Es handelte sich soeben um zwei Möglichkeiten des Zusammen-
wirkens von Künsten: entweder gehen einzelne Methoden und Ziele
von der Kunst, der sie ursprünglich und scheinbar ausschließlich an-
gehören, in eine andere Kunst über, oder die Künste als ganze ope-
rieren gemeinsam, wobei eine vorzuherrschen pflegt. Aber wie viele
Künste sind da und worin bestehen die Eigentümlichkeiten, nach
denen wir sie abgrenzen können? Als wir die Mannigfahigkeit der
Einteilungsversuche überblickten, da stießen wir auf Kunstgewerbe,
Dekoration, Ornamentik. Dürfen sie als Sonderkünste den übrigen
zur Seite gestellt werden? Ich sage zunächst: Nein und verspare mir
nähere Bestimmungen für eine gelegenere Zeit. Denn schon damit
die Künste von den zahllosen ästhetischen Fertigkeiten abgesondert
und die Künstler vom Kleiderkünstler und seinesgleichen unterscheid-
bar werden, wollen wir uns vorläufig mit den eingesessenen Künsten
begnügen. Es bleiben demgemäß Mimik, Musik, Poesie, Architektur,
Plastik, Malerei. Lassen wir alle Nebenbestimmungen bei seite und
ordnen wir sie nach den Hauptgesichtspunkten der Überiieferung, so
ergibt sich folgendes Schema:
310
IL ENTSTEHUNG UND GLIEDERUNG DER KUNST.
Raumkünste Zeitkfinste
(Künste der Ruhe und des (Künste der Bewegung und
Nebeneinander) des Nacheinander)
Plastik Mimik
Malerei Poesie
Künste der Nadiah-
mung, der bestimniten
Assoziationen, der rea-
len Formen
Architektur
Musik
Freie Künste der unbe-
stimmten Assoziationen
und irrealen Formen
Bildende Künste
(Wirkungsmittel [Raum-] Bild)
Musische Künste
(Wirkungsmittel [Laut-] Gebärde)
In der letzten Zeile ist der Einteilungsgrund genannt, den wir für die
Anordnung im Großen bevorzugen werden, nachdem wir erkannt
haben, daß weder die entwickelungsgeschichtliche Methode noch die
b^^ffliche Kombination Endgültiges zu schaffen vermag. In Gebärden,
Tönen, Worten, abstrakten Raumformen und Bildern haben wir die
Sprachen zusammen, die die Kunst redet Diese Ausdrucksmittel sind
es, in denen ihre Eigenart zum größten Teil beschlossen ist; was
daraus des weiteren folgt, wird sich nunmehr herausstellen.
Anmerkungen.
') Mary W. Calkins, An atUmpted experiment in psychological aestheties, Psy-
Chol Review, 1900, VII, 580—591. — Kristian B. R. Aars, Der ästhetische Farben-
sinn bei Kindern. Zeitschr. f. pädag. Psych. 1899, I, 173—179.
*) James Sully, Untersuchungen über die Kindheit Übersetzt von Stimpfl, 1897.
Ferner zu vergleichen: H. Perez, Uari chez VenfanU Rev. philos^ 1888. XXV, 280.
') Siegfried Levinstein, Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr, 1905. Darin
auch ein Verzeichnis der Literatur. Am aufklärendsten finde ich außer verschiede-
nen Arbeiten von Karl Pappenheim den Aufsatz von A. J. Schreuder in der Zeit-
schrift >Die Kinderfehler«, 1902, VII, 216 ff.
^) Vergl. Kakasu Okakura, The Ideals of the East 2. Aufl., London 1904.
*) Eduard Grosse, EMe Anfänge der Kunst, 1894. — Alexander Conze, Ober
den Ursprung der bildenden Kunst Sitzungsber. der Berl. Akad. der Wissensch.,
1897. — Selenka, Der Schmuck des Menschen, 1900. — Yrjoe Hirn, The origins
of art: a psychological and sodological inquiry, London und New York, 1900.
Deutsch Leipzig, 1904. — Karl Wörmann, Geschichte der Kunst aller Zeiten und
Völker, Bd. 1, 1900. — Richard Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, 1903. — Francis
B. Gummere, The beginnings of poetry, New York, 1901.
*) Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus, 3. Aufl., 1902. — Margaret Keiver Smith,
Rhythmus und Arbeit in Wundts Philos. Stud., 1900, XVI, 71—134 u. 197-306. Außer-
dem die in der vorigen Anmerkung genannten Werke von Wallaschek und Gummere.
') Tarde, Les lois sociales, 1898.
") Die Analogie zwischen Kindern und Naturmenschen zu ziehen ist ein alter
Gedanke. Vergl. Gottsched, Kritische Dichtkunst, 1737, S. 87.
') M. Hömes, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, 1898. Außerdem
hat mir Wörmanns Geschichte der Kunst als Quelle gedient In beiden Werken
sind zahlreiche Abbildungen enthalten; ich hätte von ihnen aber zu viele über-
ANMERKUNGEN. 311
nehmen müssen, um die gedrängte Dtrstellung im Text wirklich zu erläutern, und
so habe ich lieber für diese Abschnitte auf Anschauungsstoff verzichtet Aus dem
gleichen Grunde fehlen Proben der primitiven Musik und Poesie.
**i Kari Qroos, Die Spiele der Tiere, 1896. Die Spiele der Menschen, 1899.
Konrad Lange, Das Wesen der Kunst, 1901.
*') Ich habe einmal untersucht, was in den Lebensbeschreibungen großer Kunst-
ler etwa über die Spiellust und Spielfähigkeit aus den Kinderjahren berichtet wird.
Hier die interessantesten Stellen. Joseph Haydn, von C. F. Pohl, 1875, Bd. I, S. 13,
67, 70, 78. - W. A. Mozart, von O. N. v. Nissen, 1828, S. 16. — W. A. Mozart,
von Otto Jahn, 1856, Bd. I, S. 29. — L van Beethoven, von J. W. v. Wasielewski,
1888, i. 32, 36. — Beethovens Leben, von A. W. Thayer, 1891, Bd. I, S. 117 H. -
Richard Wagner, Autobiographische Skizze. Gesammelte Schriften, 2. Aufl., 1887,
Bd. I, S. 4 ff. ~ Hebbel, von E. Kuh, 1877, Bd. I, S. 9, 11. 27. - Eduard Mörikes
Leben und Werke, von Kari Fischer, 1901, S. 5, 6, 8, 24. -- Schillers Jugendjahre,
von Eduard Boas, herausgegeben von W. v. Maltzahn, 1856, S. 53, 57, 59, 66, 71.
- Iffland, Meine theatralische Laufbahn. Dramatische Werke, 1798, Bd. I, S. 4, 7 ff.,
21, 22. 26. 27. 29. 31. 33. 35. - F. L Schröder, von Berthold ützmann, 1890, S. 50,
70, 96. — Leben Michel Angelos, von Hermann Grimm, 8. Aufl., 1898. Bd. I, S. 73 ff.
— Arnold Böcklin, von H. A. Schmid. 1898. S. 7. - Böcklin. von H. Mendelsohn, 1901,
S. 20. - Wilhelm Kaulbach, von Hans Müller. 1893, S. 13 ff. — Überblickt man
diese freilich etwas willküriich herausgenommenen und vielleicht nicht immer ganz
zuverlässigen Angaben, so gewinnt man die im Text zusammengestellten Ergebnisse.
") Vergl. Georg Wcickcr. Der Scelenvogel. 1902.
''» Wallaschek. Anfänge der Tonkunst. S. 310. Vergl. Gummere, The beginnings
of poetry, S. 54. 79, 108. 138. 156. 161.
**) Der Unterschied der ti/voii «ircottXt^Tixat und icpaxt'.xa: wurde von Harris auf-
genommen, indem er die Künste, deren Wirkungen Werke sind, und solche,
deren Wirkungen Energien sind, fürsorglich trennte. Erst während des Druckes
dieses Buches erschienen zwei Werke, die sich ausführlich mit der Unterscheidung
und dem Zusammenhang der Künste beschäftigen: A. Schmarsow, Grundt>egriffe
der Kunstwissenschaft und H. Dinger, Dramaturgie als Wissenschaft, Bd. II: Die
dramatische Kunst im System der Künste. In diesem Buch findet sich auch eine
Geschichte des Problems; ich habe nur gelegentlich (auf S. 14 u. 17) von den
älteren Versuchen zur Abgrenzung und Einteilung gesprochen. Schmarsow lehrt
jetzt nicht nur einen Parallelismus je zweier Künste, sondern auch eine Kom-
plementärv^'irkung. Diese besteht zunächst wieder zwischen Mimik und Plastik,
dann aber zwischen Architektur und Poesie. Sie fordern einander und ergänzen
sich zu einer einheitlichen und in sich vollständigen Weltanschauung im künstle-
rischen Sinn. Das dritte Paar, Malerei und Musik, ergibt sich darnach von selbst,
und dieses Verhältnis lenkt schon alle die Vergleiche von Architektur und Musik
einerseits und Malerei und Poesie anderseits, die so häufig beklagte Fehlgeburten
der Analogiensucht hervorgebracht hatten, auf einen anderen richtigeren Weg. Nicht
Parallelismus der Erscheinungen ist allein vorhanden; wo er versagt, wird die
Komplementäru'irkung weiterführen (S. 345).
" Ludwig Eckardt, Vorschule der Ästhetik, 1865, II, 223. Orillparzer, Ges.
Werke, 4. Auf!, XII, 204. M. Lazarus. Das Leben der Seele, 3 Auff., 111,2, S. 69
bis 240: Die Vermischung und Zusammenwirkung der Künste. Th. A. Meyer, Das
StiJgcselz der Poesie, 1901. S. 120 ff.
'• J. G. Hamann, Kreuzzüge des Philologen, 1762. S. 69.
III. Tonkunst und Mimik.
1. Die Mittel der Musik.
Ich stelle drei Sätze älterer Philosophen voran: Das Allgemeine ist
das Prius des Besonderen. Die Sprache entspringt aus dem Drama
Die Musik Ist eine Handlung Im Zeltpunkt ihres Entstehens.
Wenn wir den ersten Lehrsatz unseren Absichten anpassen dürfen,
so würde er bedeuten, daß die Kunstwerke aus einer allgemeinen
Richtung der künstlerischen Kraft hervorgehen und erst allmählich in
die Einzelheiten sich ausbreiten. Die zweite Behauptung fügt hinzu,
daß innerilch angeschaute Szenen nach einer Darstellung drängen und
diese in den Worten finden. Drittens wird der Zusammenhang zwi-
schen Musik und den teils künstlerischen, teils gesellschaftlichen Hand-
lungen uns ins Gedächtnis gerufen. Aber nicht nur auf primitiven
Stufen sind Ton- und Oebärdenkunst mit- und füreinander da, son-
dern sie sind bis auf den heutigen Tag verbündet geblieben. Musik
und Tanz, Klang und Bewegung, Freude für das Ohr und Lust an
der Mitbewegung — wie könnte man das zerreißen? Die klassischen
Formen der Spielmusik sowie die Liedformen des 18. Jahrhunderts
zeigen ganz deutlich die Spuren des Tanzrhythmus. Und abgesehen
von allem Geschichtlichen: Die Mehrzahl musikalischer Menschen ge-
hört zum sogenannten motorischen Typus; der Kapellmeister ist die
sichtbare Erscheinung dieser urwüchsigen Verbindung. Sonach eriaubt
eine innere Gemeinschaft die Zusammenstellung beider Kunstarten.
Weiterhin führt die Mimik dann zum Drama und zur Wortkunst über-
haupt hinüber. Und bei allen diesen Betrachtungen werden wir des
Satzes eingedenk sein, daß nirgends die Elemente den Ursprung oder
gar das Ganze der Wirklichkeit ausmachen. Auch was wir jetzt in
den Grundzügen kennen lernen, soll als die Mannigfaltigkeit der
Mittel verstanden werden, mit denen die Musik wirkt, nicht als eine
Aufzählung der Bestandteile, aus denen sie ohne Rest bestehe.
Das elementare Wirkungsmittel der Musik ist der Rhythmus. In
der Musikwissenschaft pflegt die Lehre von Ihm einen Hauptteil zu
bilden und näher bestimmt zu werden als die Zusammenfassung und
Erklärung aller die zeitlichen Eigenschaften des Werkes betreffenden
DIE MITTEL DER MUSIK. 313
Regeln; besser, aber mit starker Einschränkung befassen wir darunter
das Zeit- und Betonungsverhältnis der Tonwerte innerhalb einer musi-
kalischen Einheit. Diese Einheit und folglich jenes Verhältnis werden
nicht durch die Taktstriche festgelegt Bach hat in durchgeführter
Unabhängigkeit vom Takt einen unermeßlichen Reichtum rhythmischer
Gebilde geschaffen; weder er noch irgend einer der Klassiker kann
gewürdigt werden, so lange man die senkrechten Trennungslinien für
künstlerisch bedeutsam hält In dem bekannten Thema der Kreutzer-
sonate sind die Zusammenhänge und die in ihnen waltenden Zeit-
beziehungen so, wie durch die unter dem System stehenden Linien
angegeben wird:
^
ej-i^il^^-^H^;
-4 u-
f #
Oder in der C-dur Sinfonie Beethovens lautet die sinngemäße
Gliederung:
Mit den Taktstrichen wird also nicht gezeigt, daß hier ein Ab-
schnitt aufhört und ein anderer anfängt, vielmehr nur, daß der Regel
nach die zuerst hinter dem Taktstrich stehende Note die stärkste Be-
tonung hat und die innerhalb der Striche verfließende Zeit der Regel
nach die nämliche ist. Daher wurde schon früher vor Überschätzung
des Taktes gewarnt. Taktmäßige Wiedergabe von Musikstücken gleicht
eher der Lösung einer arithmetischen Aufgabe als dem wahrhaft rhyth-
mischen Vortrag. Während die durchschnittlichen Kapellmeister wie
die Maschinen arbeiten, zuveriässig, aber unlebendig und unfrei, besten-
falls jede Veränderung des Zeitmaßes alsbald durch die entgegen-
gesetzte abglättend und bei jedem Gegenriiythmus ängstlich auf die
Hervorhebung der Hauptikten bedacht, legen gute Dirigenten geringen
Wert auf das Beibehalten derselben Zeitabstände und das Betonen
des guten Teils, wenn nicht etwa die musikalische Logik es erfordert.
Das ist freilich aus dem Geist der Gegenwart heraus gesprochen.
Aber auch andere Musiktheoretiker sehen in der Abkehr von einfacher,
strammer Taktgemäßheit zu rhythmischen Dissonanzen einen Fort-
schritt '). Robert Schumann, der so überzeugend gegen die Tyrannei
des Taktes geschrieben hat, schuf im letzten Satz seines Klavierkonzerts,
im i Faschingsschwank« und anderwärts Gebilde, zu deren Auffassung
ein sehr sicheres rhythmisches Gefühl gehört: ich meine jene Stellen,
314
in. TONKUNST UND MIMIK.
WO die Synkopen so lange andauern, daß die Wiederaufnahme der
Taktbetonung fast als Störung wirkt Zum Beispiel die folgende:
I
*
4
PeSe«2
^^^^^
i=:CP^
isa
-P^WT
:p=t
gff
±=t
I
S
:|=Ti^
H ^^ -4^
a-*
s^
3i:
u. s. w.
u. s. w.
Die Ausdruckskraft solcher taktwidrigen Gewichtsverteilungen ist
ungemein vielseitig und keineswegs bloß der übermäßig verfeinerten
Auffassung zugänglich; Synkopen und Hemiolen werden schon in der
Volksmusik, beispielsweise in derjenigen der Neger und der von ihnen
beeinflußten amerikanischen Tonsetzer, durchaus gewürdigt Die zu-
sammengesetzten Taktarten sind gleichfalls aus einem entwickelten
rhythmischen Gefühl hervorgegangen und stellen sich mit Natur-
notwendigkeit ein; so gibt es einen spanischen Nationaltanz, der im
Fünfvierteltakt geht Wer diese Taktarten so auffaßt, daß entweder
die eine Hälfte beschleunigt oder die andere veriangsamt werden muß,
damit Gleichheit der sinnlich meßbaren Zeitabstände eintrete, der be-
greift nicht den Reiz der Asymmetrie, der gerade darauf beruht, daß
Zwei und Drei zusammentreten und in ihrer Eigenart ständig ab-
wechseln. Das Ansammeln und Aufbauen der Eindrücke, durch das
die Erinnerung immer höhere Einheiten herstellt-), läßt sich bei un-
gleichen und taktwidrigen Bildungen mit unbedingter Sicherheit voll-
ziehen. Jede sinnvolle Ordnung der Zeit- und Betonungsverhältnisse,
mag sie mit dem Takt gehen oder nicht, bietet dem Melodienaufbau
das feste Gerüst Die Meister in der Handhabung des so aufgefaßten
Rhythmus stehen den Melodienschöpfem nahe, da rhythmische Ver-
änderung (natüriich aber nicht die bloße Umschreibung eines Drei-
vierteltaktes in einen Viervierteltakt oder dergleichen) ausnahmslos
Veränderung der Melodie nach sich zieht Auch von dieser Seite ge-
sehen erweist sich der Rhythmus als grundlegend.
DIE MITTEI. DER MUSIK. 315
Hinzu tritt als zweites Werkzeug der Musik die Höhe und Tiefe
der Töne. Ich glaube nicht, daß wir die zum Maßstab dienende
mittlere Lage aus dem Umfang der menschlichen Stimme abstrahieren;
wir tun das ebensowenig wie wir nach der Häufigkeit des Pulsschlages
das Zeitmaß eines Stückes schnell oder langsam nennen. Denn die
Unterschiede zwischen Baß und Sopran sind zu groß, als daß aus
dem Gesamtumfang der Menschenstimme der Begriff einer Indifferenz-
lage abgeleitet werden könnte. Femer: wir empfinden Klänge wie a»
und h', wenn sie von einer Geige oder F\öte ausgehen, nicht als
hoch, während sie uns beim Sopran als ziemlich, beim Violoncell als
außerordentlich hoch erscheinen. Gar merkwürdig ist der Hinweis
darauf, daß der Singende, um einen hohen Ton zu bilden, die höher
gelegenen Teile seines Stimmapparates innervieren muß. Das einzige,
was jedermann erfährt, ist das Zunehmen einer Spannung bei hohen,
das Nachlassen der Spannung bei tiefen Tönen, und das mag, nament-
lich bei aufsteigenden Folgen, zur qualitativen Bedeutung der hohen
Lage beitragen. Aber in der Hauptsache ist es die eigenartige Be-
schaffenheit der Klänge, nach der sie in die zwei Gruppen geordnet
werden, und diese hangt ab teils vom hervorbringenden Instrument,
teils vom Einfluß der Umgebung. Klänge mit dem Gepräge der
Leichtigkeit, Dunnheit, Beweglichkeit gelten als hoch, schwere, breite,
auf eine gewisse Langsamkeit angewiesene Klänge als tief; die Merk-
male der einen wie der anderen Richtung können denselt)en Tönen
etwa innerhalb zweier Oktaven zukommen, je nach der uns vertrauten
allgemeinen Beschaffenheit der Klangquelle und nach dem Verhältnis
zum Vorausgegangenen oder Gleichzeitigen.
Die wichtigste Abstufung der Tonhöhen erfolgt durch die Tonleiter.
Ihre Gesetzmäßigkeit ist keine mechanische, da die Abstände ja nicht
durchweg dieselben bleiben, und keine allgemein-ästhetische, da kleinere
als Halbstufen, obwohl in der Musik verpönt, der ästhetischen Wertig-
keit nicht ermangeln. Sondern die Tonleiter gehört lediglich der Kunst
an. Sie fordert, daß die in ihr festgelegten Unterschiede scharf und hart-
näckig aufgefaßt werden; die stetige Veränderung der Tonhöhe (das
l'ortament des Sängers und das Gleiten auf der Saite) bildet offen-
kundig eine Ausnahme. Ihr größtes Wunder ist die Oktave, ein
Oleichklang, der beide Töne als verschieden bestehen läßt. Hinzu
treten Quinte und Terz sowie die anderen Töne in den bekannten
Anordnungen. Schon die Naturvölker gebrauchen Molltonleitem, die
also ebenso ursprünglich sind wie die Durtonleitem und nur in der
Entwicklung unserer Musikinstrumente eine gewisse Schwierigkeit
und Seltenheit erhalten haben, was Wallaschek gegen Helmholtz dar-
tun konnte. Demgemäß bekamen wohl erst in geschichtlicher Zeit die
316 in. TONKUNST UND MIMIK.
Tongeschlechter ihre Gefühlswerte; die Volksmusik steht noch heute
bei mehreren Nationen außerhalb des strengen G^ensatzes. Während
bei den Skandinaviern die Molltonarten und die leeren Quinten vor-
herrschen, sind Eigentümlichkeiten des slawischen Tonsatzes das ge-
legentliche Fehlen der Terz, der Gebrauch übermäßiger Intervalle und
eine abweichende Stellung des Halbtons in der Leiter. Die spanischen
Malaguefios und Boleros schließen oft in der Dominante ab oder
eigentlich in einer uns verloren gegangenen Tonart; allerdings werden
diese Tänze von manchen Spaniern als maurisch gebrandmarkt. Ein
Kennzeichen der ungarischen Musik sind übermäßige Sekunde und
übermäßige Quart: in Liszts dritter Rhapsodie findet sich die unga-
rische, eigentlich indische Molltonleiter vollständig wieder. Diese
H 1-
i
V-
*^Bs3^y
i:=
Skala darf als harmonische Molltonleiter mit übermäßiger Quart be-
zeichnet werden. Es gibt also mancheriei Tonarten, deren besondere
Gefühlsbedeutung durch gewohnheitsmäßige Assoziation mit Vorstel-
lungen von einem Volkscharakter bestimmt wird. Wenn darüber
hinaus nun von der älteren Musikästhetik den üblichen Tonarten ge-
wisse Gefühlssphären zugewiesen wurden^), so legte man allzuviel
in sie hinein. Das zeigt sich deutlich, sobald ein Sänger, der ohne
Begleitung singt, seine Melodie in dem Ausmaße transponiert, daß er
keinen Registerwechsel vorzunehmen braucht. Wer das absolute Ge-
hör nicht hat, wird auch nicht die geringste Abweichung im Charakter
der vorgetragenen Weise wahrnehmen. Das ändert sich freilich in
der Spielmusik. Aber der Grund ist der, daß die Beschaffenheit der
Instrumente jede Verschiebung durch eine Änderung der Klangfarben
erkennen läßt. Legt man ein in D-dur geschriebenes Stück um einen
halben Ton tiefer, so sind z. B. von den Streichern die heller klingen-
den leeren Saiten fast gar nicht mehr zu benutzen.
Überhaupt hat die Klangfarbe, das nächste Ausdrucksmittel der
Musik, einen weiteren Wirkungskreis als man glauben sollte. In der
allgemeinen Ästhetik pflegt man sich hiermit weniger zu beschäftigen
als mit dem Begriffe selber. Viel Scharfsinn ist für die doch bloß
terminologische Frage aufgewendet worden, weshalb die Sprache das
die wesentliche Beschaffenheit des Gesichtseindrucks bezeichnende
DIE MITTEL DER MUSIK. 3|7
Wort »Farbe« nicht auf die entscheidende Qualität des Tons, nämlich
auf seine Höhe, sondern auf eine seiner Nebenbestimmungen überträgt.
Einige Theoretiker stützen sich auf die Beobachtung, daß Zeichnungen
ohne Farbenunterschiede möglich sind und ebenso Melodien ohne
Klangfarbenunterschiede (jedoch niemals ohne Wechsel der Tonhöhe):
wegen ihrer Unentbehrlichkeit dürfe die Klangfarbe nicht mit der sicht-
baren Farbe verglichen werden. Ausdrucksvoll und formgebend sei
die Modifikation der Tonhöhe im Gegensatz zu der mehr nebensäch-
lichen Modifikation der Farben im Bild. Schließlich wird behauptet,
daß die Abwesenheit des Timbres, wie etwa bei den obertonfreien
Tönen der Flöte, und die Abwesenheit der Farbe auf einer Zeichnung
denselben schwachen und zarten Eindruck hervorrufen soll. Um gleich
hierbei mit der Kritik einzusetzen: Kräftige Werke der schwarz-weißen
Flächenkunst und hingehauchte Pastellbilder widerlegen sofort den
künstlich geschaffenen Gegensatz zwischen einer Stärke des Farbigen
und einer Schwäche des Farblosen. Überhaupt aber liegt das Miß-
verständnis zu Grunde, als sei ein Bild im wesentlichen mit den Um-
rissen fertig und könne nun entweder koloriert werden oder nicht.
Zeichnung und Gemälde sind zwei verschiedene Arten der Bildkunst,
also mit zwei Merkmalen am Wirkungsmittel einer einzigen anderen
Kunst keineswegs gleichzusetzen; für den Maler jedoch bedeutet die
Farbe eben das Ausdrucks- und Formprinzip. Der Versuch einer Er-
klärung ist also gescheitert Mir persönlich scheint sie auch weniger
wichtig als die allgemeinere Einsicht, daß alle solche Analogien für die
Musik, nicht für die anderen Künste ausgenutzt werden. Man nennt
das Timbre des Klangs seine Farbe, aber niemals die Farbe des Ge-
mäldes sein Timbre; man vergleicht die Melodie mit einer Zeichnung
und die Harmonie mit dem Kolorit, verfährt aber schweriich umge-
kehrt; man gebraucht die Raumbezeichnungen von Höhe und Tiefe,
von Tonleiter u. s. f. ohne entsprechende Übertragungen aus dem
Musikalischen ins Räumliche und Bildhafte. Aus allem dem ergibt
sich: die Unbestimmtheit und Losgelöstheit der Musik hat von Anfang
an den Anlaß dazu geboten, daß Hilfsbezeichnungen aus anderen
Gebieten herangezogen wurden. Das ist entscheidend; unwichtig hin-
gegen, nämlich für die allgemeine Kunstwissenschaft, welche Ausdrücke
jeweils im Bedeutungswandel der Worte als die geeignetsten er-
schienen •).
Die künstlerische Verwendung der Klangfarben erfolgt zumeist auf
Grund ihres allgemein verständlichen Charakters. Der Sänger färbt
die Stimme heller bei heiteren Stücken, dunkler bei ernsten Liedern;
der Tonsetzer braucht Instrumente mit vielen und zumal hohen Ober-
tönen, um lebhafte, strahlende, erregte Vorstellungen auszudrucken; zu
318 KI. TONKUNST UND MIMIK.
den verschiedensten Zwecken benutzt er schnarrende, näselnde, nüch-
terne, glanzlose, grelle Klangfarben. Obwohl nun der Ausdruck des
Seelischen bei weitem die wichtigste Aufgabe darstellt, ist doch auch
die Nachahmung von anderen Musikinstrumenten und Naturiauten mit
Hilfe des Timbres zu nennen. Was den ersten Punkt anlangt, so er-
wähne ich folgendes: Auf der Geige lassen sich dünne, obertonfreie
Töne herstellen, die in der technischen Anweisung für den Spieler
häufig als ^quasi flautato^ gekennzeichnet werden; zu Anfang der
elften Lisztschen Rhapsodie für Klavier steht T^quasi cimbalo^. Bei
der Nachbildung von Geräuschen und Naturklängen spricht man von
Tonmalerei, meint aber allerdings damit auch alle die Hilfen, die von
den übrigen Mitteln der Musik geliehen werden. Wenn wir diesen
Gegenstand sogleich im Zusammenhang behandeln wollen, so sei
vorerst betont, daß es sich stets um Übersetzung in die fremde Sprache
der Tonleiter, also um eine Beschreibung handelt,' die zur Wieder-
erkennung des Gegenstandes führen kann. Das Klappern der Mühle,
das Pferdegetrappel, das Hämmern in einer Schmiede, Sturm und
Wind, das Wogen der Wellen, der Gesang der Vögel, das alles wird
nicht unbesehen von der Wirklichkeit übernommen, sondern nur an-
nähernd durch Übertragung nachgebildet. Sehr häufig erfolgt die
Übertragung durch den Rhythmus. Er muß auch dort helfen, wo
Unhörbares musikalisch wiedergegeben werden soll. Denn der
Schaffende vermag wohl, das einer fremden Sinnessphäre oder der
Seele Zugehörende in Bewegung umzusetzen und damit dem Rhyth-
mus zuzuführen. Wenn in Brahmsens »Deutschem Requiemc das
Wort: »Denn alles Fleisch ist wie Gras« versinnlicht und die Schnitter-
tätigkeit des Todes vertont wird, so geschieht es durch metrische
Nachahmung der Bewegung: der Schnitter Tod holt im dritten Viertel
des Dreivierteltaktes aus und mäht in den ersten zwei Vierteln; das
Zeitmaß ist als »Langsam, marschmäßig« angegeben. Allein die Musik
hat auch die Möglichkeit, anders als durch den Rhythmus gewisse
Arten der Bewegung, beispielsweise durch Anwachsen oder Abnehmen
des Stärkegrades eine herankommende oder abziehende Bewegung zu
verdeutlichen, da die Assoziation, daß alles Feme leise, alles Nahe
laut klingt, sofort bei dem Hörer sich einstellt. Auch ist die Raum-
symbolik der Tonleiter uns so geläufig, daß wir jede aufsteigende
Tonbewegung als ein wirkliches Aufsteigen, jedes Hinabgehen von
hohen zu tiefen Tönen als ein räumliches Hinabschreiten verstehen.
Fast scheint es, als ob die Weite der Intervalle eine freilich sehr dunkle
Beziehung zu unseren Gleichgewichtsempfindungen habe, ja als ob es
statthaft sei, Schwere und Leichtigkeit in Noten wiederzugeben. In-
folge einer ähnlichen unwillküriichen Übertragung fassen wir einen
DIE MITTEL DER MUSIK. 319
lang anhaltenden Ton wie etwas Stillstehendes auf. In Liszts >Christus<
bezeichnet das hohe As den feststehenden Abendstem. Später, wo
der gleiche Inhalt wiederkehrt, wird den Tönen eis* und fis* ein Triller
beigefugt, offenbar in der Absicht und sicherlich auch mit dem Erfolg,
daß wir das Funkeln des Sterns wahrzunehmen glauben. Nebenbei
bemerkt ist dies einer der seltenen Fälle, wo der Triller als solcher
künstlerische Berechtigung besitzt. Allzu häufig dient er nur der
Virtuosität, und dann wirkt dies schnelle Durcheinanderschwirren zweier
benachbarten Klänge etwa so, wie ein Feuerwerk.
Jetzt sollte ich den Leser einladen, in den Irrgarten der Harmonie-
probleme einzutreten. Aber ich darf ihn nur so weit fuhren, daß er
mit Leichtigkeit sich zurechtfindet, auch wenn er der Musiktheorie fem
steht. Der Leser weiß, daß der einzelne Klang aus bestimmten Tönen
zusammengesetzt ist, die im Bewußtsein meist nicht lebendig sind,
aber unter Umständen herausgelockt werden können. Auf diese Ober-
töne und die Schwebungen hat man eine Erklärung der Konsonanz
und Dissonanz gegründet; ihr Vorzug ist« daß sie sich auf unbestreit-
bare Tatsachen stützt, ihr Nachteil, daß sie in Wahrheit nicht erklärt,
was erklärt werden soll. Angenommen jedoch, daß Obertöne, Diffe-
renztöne, Schwebungen den maßgebenden Einfluß ausüben, so würden
die Harmoniegefühle zurückzuführen sein auf ganz ursprüngliche Ge-
fühlswirkungen der Töne. Eine zweite Theorie hingegen baut nicht
aus physikalischen Verhältnissen und elementaren Gefühlen auf, son-
dern läßt aus der Annahme einer größeren oder geringeren Ver-
schmelzung sogleich den Wahrnehmungs- und Gefühlsgegensatz ent-
stehen. Wenn zwei oder mehr Klänge gleichzeitig hervorgebracht
werden, so verbinden sie sich zu einer Einheit, in der sie mehr oder
minder leicht erkennbar bleiben: verschmelzen sie innig miteinander,
wie bei der Oktave, so ist vollkommene Konsonanz vorhanden, setzen
sie der Verschmelzung starken Widerstand entgegen, so heißen sie
dissonant. Es scheint nun sehr begreiflich, daß an die Einheitlichkeit
des Gesamteiiidruckes Lust, an die Zwiespältigkeit Unlust sich an-
schließt. Eine dritte Erklärung sucht den Grund des Gefühls in intel-
lektuellen Vorgängen. Die Ansicht, daß die Seele beim Hören unbe-
wußt die Schwingungen zähle und an den einfachen Zahlenverhält-
nissen Freude, an den schwierigen Mißvergnügen empfinde, war eine
dtT besten Proben des älteren ästhetischen Rationalismus; gegenwärtig
wird sie dahin gewendet, daß man sagt: die regelmäßigen Schwingungs-
folgen, die in klarer fVoportion stehen, oder diejenigen Zusammen-
klänge, deren Tonstöße einen einfachen Rhythmus miteinander bilden,
besitzen eine innere rhythmische Verwandtschaft, durch die sie als
übereinstimmend und wohltuend aufgefaßt werden. Schließlich sei
320 in. TONKUNST UND MIMIK.
noch die Theorie erwähnt, nach der die Beziehung der einzelnen
Klänge auf eine Klangeinheit maßgebend sein soll: ist die Beziehung
fest und wird sie, wenn nicht mit der Wahrnehmung gegeben, wenig-
stens unter allen Umständen sicher assoziiert, so tritt der Eindruck
der Konsonanz ein.
Es lohnt sich, hierbei einen Augenblick zu verweilen. Denn unter
diesem Gesichtspunkt erscheint die Konsonanz nicht mehr als unmittel-
bare Begleiterin des Tonempfindungsinhaltes, sondern als Haupt-
bedingung der sogenannten Schlußfähigkeit. Die Harmonie wird nicht
auf die Konsonanz gestützt, sondern umgekehrt eine Konsonanz da
gefunden, wo Töne zur gleichen Harmonie gehören d. h. zu dem näm-
lichen Dur- oder Mollakkord. Aus dem Wesen der musikalischen
Kunstübung heraus lassen sich diesem Gedanken zwei Vorzüge nach-
rühmen. Erstens nämlich wird er der Tatsache des latenten Harmonie-
gefühls gerecht. Wie auch immer eine Melodie vorgetragen wird
— einstimmig, vielstimmig, mit Begleitung — , sie hat eine Harmonie
der Aufeinanderfolge. Die ungleichzeitige Harmonie oder die Tonalität
bedeutet, daß alle Bestandteile der Weise auf einen dem Ganzen zu
Grunde liegenden Ton oder Akkord bezogen werden: bei jeder als
Einheit apperzipierten Weise wird ein Hauptton oder -akkord in Er-
innerung behalten. Deshalb nannte schon Rameau die Melodie eine
auseinander gezogene Harmonie, darum kennen Naturvölker, die Melo-
dien haben, auch die harmonische Begleitung. Indem nun gelehrt
wird: Töne sind konsonant, wenn sie zum gleichen Grundakkord ge-
hören, wird die Konsonanz auf das von der Musik unzertrennlich^
soeben beschriebene »latente Harmoniegefühl« zurückgeführt Ein
zweiter Vorzug liegt in der sich darbietenden Rechtfertigung der Dis-
sonanz. Dissonanzen sind ja keineswegs sinnlose Tonanhäufungea
Sie sind musikalische Bildungen, die teils den Nebenzwecken des
Häßlichen dienen, teils einen Eigenwert besitzen. Beide Verrichtungen
lassen sich leicht im einzelnen beschreiben, wenn man den dissonieren-
den Ton als zur Harmonie nicht zugehörig, aber ihr in verständlicher
Weise widersprechend erklärt. In den dissonanten Zusammenklängen
ereignet sich ein Konflikt zwischen den zur harmonischen Einheit ver-
knüpfbaren Einzelklängen und dem als fremd begriffenen letzten Ton;
sonst wären sie kaum erträglich, geschweige denn notwendig. Auch
wenn es sich nicht um typische Akkorde handelt, sondern um das
Zusammentreffen mehrerer kontrapunktisch geführten Stimmen, so ist
doch eben in der Auffassung des mehrfachen Stimmverlaufs eine
rationale Linderung des dem Ohr unangenehmen Eindrucks vorbereitet
Gegenüber jeder bedeutsamen Dissonanz nimmt das Bewußtsein dne
Stellung ein, mit der sie die Zusammengehörigkeit verneint Wie die
DIE MITTEL DER MUSIK. 321
Wahrheit geknöpft ist an die im Urteil erfolgende Ineinssetzung von
Subjekt und Prädikat, so ist lautere Schönheit an die Ineinssetzung der
Klänge gebunden; und wie im verneinenden Urteil das Prädikat als
dem Inhalt des Subjektbegriffes fremd erkannt wird, so weisen wir
beim Hören einer großen Septime die Zumutung ab, den zweiten Ton
als zur Harmonie des ersten passend aufzunehmen. Weder Bejahung
noch Konsonanz bedeuten Aufgehen des einen ins andere, weder Ver-
neinung noch Dissonanz bedeuten Vertilgung des einen durch das
andere — in allen vier Fällen bleiben die Bestandteile erhalten. Und
die Dissonanz ähnelt noch in anderer Beziehung der entsprechenden
k>gischen Form: nur diejenigen Dissonanzen sind wertvoll, deren Prä-
dikat (wenn ich so sprechen darf) zwar abgelehnt werden muß, aber
doch nicht ohne jeden Grund hinzugedacht war. Wenn ich zu den
Tönen d f a weiterhin c zufüge, so hat das einen Wert, gleich als ob
ich das inhaltvolle negative Urteil fälle »Glückseligkeit verbürgt nicht
Sittlichkeit«; wenn ich hingegen b zufüge, so ist das so sinnlos, daß
ich ein Pendant aus dem Gebiet der wertlosen Verneinungen auszu-
schreiben mich schämen müßte.
Der unserer Betrachtung eng verwandte Grundsatz, daß ein Musik-
stück die Einheit der Tonika festhalten soll - man hat ihn mit dem
Gesetz der Teufel und Gespenster verglichen, die hinaus müssen, wo
sie hereingekommen sind — , hat trotz der Beschränkung auf die
temperierte Stimmung und trotz vielen Abweichungen alle Rechte einer
künstlerischen Forderung. Denn der Zwang, zur Ausgangsharmonie
zurückzukehren, bedingt eine Bewegung der Aufmerksamkeit, durch
die das Kunstwerk zusammengefaßt und das Einzelne in eine für das
Ohr festgelegte Richtung eingeordnet wird. Die Ausnahmen von dieser
Regel bedürfen dann eben anderer Mittel, um die Beziehbarkeit auf
die Tonalitat aufrecht zu erhalten. Die Verflüssigung kann niemals so
weit gehen, daß jede Form verschwindet. Wenn also sachlich unter-
schiedene Tonwerte vertauscht werden, beispielsweise Gis in As sich
verwandelt, so weicht das Stück in eine neue Tonart aus und ruft
Überraschung hervor, aber dies Zusammenbringen des Entferntesten
setzt einen höchst geschärften Musiksinn voraus. Die Anwendung
leiterfremder Akkordtöne veriangt eine erhöhte Fähigkeit des Hörenden,
die Einheit des Ganzen im Bewußtsein zu bewahren. Anderseits läßt
sich durch die Chromatik das Nahe noch mehr einander nähern, die
Melodie gewissermaßen ins unendlich Kleine versenken. Würde in-
dessen die Tonhöhe sich stetig in ganz allmählichem Übergang ver-
ändern, würde die chromatische Führung gleich einer Linie alle ihre
Tonpunkte zusammenschmelzen, so wäre Verwirrung die Folge, Der
geteilte Maßstab bleibt für alle Zeit der Musik unentbehriich, genau
Dr««oir, Ästhetik und allg Kun«twt««rn«chAft. 21
322 3L TCNKI35T C3D MDfEKL
SO >¥ie die Tätigkeit des RIiytiiiini& N'ur sollte emgesefaen werden,
daß Harmonie und Rhydmms im Fartsdnitt der Miis& skh als wdt-
spannende und dasdsdK Mütei erwiesen haben.
Z Die Formen der MiisIl
Wie Harmonie und Rbytimms sind aich <& Formen der Musflc
der Erwdterung fähig: Von den vielen Ani&sen zum Wandd brauchen
bloß wenige, don Zwecke unso»* Erörterung gemaB^ beräcksicht^
zu werden. Einoi Ted tr%t die zuneimieide TechnSc der instrmnente
bei Das gilt schon von der Geige. obwoU sie ach rni Laufe der
Zeit nur wenig verändert haL [Me Ladnigkeit unserer Bogen macht
das geworfene Stakkato mogüch« das für C7>argange von einer Haupt-
note zur anderen und zum Ausdruck launisdier Stimmongai so außer-
ordentlich gedgnet ist, unsere sicher ansprechencfen Saiten ermög-
lichen eine beliebige Verwoidung des Flag^Ietts u. d^ m. Beim
Klavier wird der Einfluß noch eriiebtidier. Ich erinnere led^[lich an
die Erfindung des Pedals. W«n das Pedal gebratKht dl h. der Druck
beseitigt wird, so klingen cfie Ob«atone mit und der Ton gewinnt
soglekh Farbe Daher hebt die Benutzung des Pedals aufs glfick-
Ik±ste die Melodie hervor, erzielt eine weichte Verbindung der Töne,
macht unter Umständen alle zehn Finger für (fie Begleitung frei» er-
laubt tonmalerische Effekte, wie das bieinanderschwingen von Glocken
oder das wirre Heulen des Sturmes, und sxdiert dem Instrument eine
Vielstimmigkeit, die an das Orchester gemahnt Am Orchester sdbst
kann man die Wirkung, die der Apparat auf die Ausdehnung der
musikalischen Formen übt, am klarsten erkennen. Die Sonderwirkungen
der KIangfart)en werden heutzutage ganz and^s ausgebeutet als ehe-
dem. Die Tonsetzer der G^^enwart schaffen von vornherein im Geiste
eines ungemein zerl^en Orchesterkianges und können daher mit
Wiederholungen und Gegensätzen in neuer Weise arl>eiten. Hittai
sie nicht alle die Hilfsmittel, die das moderne Orchester bietet, so
würde ihre Einbildungskraft üt>erhaupt nkhts ausrichten, sie wfiidai
in die Reihe jener Bedauernswerten geraten, die Unerhörtes sinnen
und Unmögliches verlangen.
Zum anderen hat die Verflüssigung der musikalischen Formen zu-
genommen, weil die Tonkunst sich immer mehr von den Formai der
Lyrik und des Tanzes losgelöst hat Während in unserer klassischen
Musik die dem Gedicht nachgebildeten vierzeiligen Strophen mit yttr
Takten in jeder Zeile vorwiegen ^), ist jetzt die Sonaten- und Arienförm
zerbröckelt, um freieren, namentlich leitmotivischen Gestaltungen I^tz
DIE FORMEN DER NRTSIK. 323
ZU machen. Will man von formloser Form sprechen, so sei es drum;
jedenfalls ist eine Form vorhanden, wenn sie auch nicht der abge-
zirkelten Form der Überlieferung entspricht Klagt man doch auch
über die pragmatisierte Formlosigkeit der heutigen Kunstrede, obgleich
sie bloß die Form geändert, keineswegs verioren hat Die ältere Rhe-
torik veriangt vom Redner, daß er bestimmte Teile und bestimmte
Übergänge zwischen ihnen mache; unserer Art entspricht ein frei sich
entfaltender Vortrag besser, vorausgesetzt, daß der Zusammenhang be-
wahrt bleibt. In diesem Sinne erklärt auch Combarieu von der groß-
rhythmischen Gliederung: Ich erachte den Rhythmus, dessen sämt-
liche Teile (Takt, Motiv, Satz, Strophe u. s. f.) stark herausgehoben
sind, als das Werk einer noch unentwickelten künstlerischen Auffas-
sung, die, zu schwach, um die Dinge im Zusammenhang und in ihrer
Gesamtheit zu erfassen, sie auf kleinere Verhältnisse zurückführt, sie
zerstückelt, um sie besser zu begreifen, gewisse Teile wiederholt, damit
das Gedächtnis mit ihnen leichteres Spiel hat, kurz, für ihre Sprache
künstliche Beziehungen schafft.« (ThA>rie S. 3.) Allerdings möchte
ich die Wiederholung höher stellen. Nicht nur wegen ihrer schon
erwähnten ästhetischen Brauchbarkeit (s. S. 145), sondern zunächst
deshalb, weil die Wiederkehr des gleichen Themas - und zwar in
völliger Übereinstimmung mit seiner ersten Form dem Ausführen-
den die reizvolle Aufgabe zuweist, durch leichte Unterschiede in Stärke,
Zeitmaß, Klangfärbung eine eben wahrnehmbare Andersartigkeit hinein-
zutragen. Ferner ist musikalische Wiederholung höchst ausdrucksvoll:
sie vermag anzudeuten, wie ein nachdenkliches Gemüt immer wieder
auf denselben Gedanken zurückkommt, oder wie die stolze Freude
sich nicht genug daran tun kann, ihr Motiv sich vorzuhalten, oder
wie die im Innersten aufgewühlte Seele ohne Unteriaß auf die gleiche
Vorstellung zurückgeschleudert wird. Was uns in der Poesie gesucht
erscheint, die wörtliche Wiederholung, das läßt sich in Verbindung
mit der Musik schon eher ertragen, da eben die musikalische Form
unmittelbarer den seelischen Vorgang widerspiegelt. Aber die Musik
leistet mehr als daß sie Vergleichung und Erinnerung beschäftigt: sie
nimmt der Erneuerung des Gleichen alle Plattheit und Schärfe. Denn
bei empfindlichen Menschen bewirkt jedes Eintauchen in die eigene
Vergangenheit Atemnot, und die Lust der Erinnerung entsteht für sie
nur mit Hilfe solcher Kunstformen.
Der einfachen Wiederholung gesellt sich die Abwechslung in den
bekannten Formen der Nachahmung, Umkehrung und der unerschöpf-
lichen, unbeschreiblichen Variation. Das kunstwissenschaftliche Inter-
esse haftet an der Verteilung der übereinstimmenden und abweichen-
den Eigenschaften, etwa daran, daß Rhythmus und Intervalle beibe-
324 DI TONKUNST UND MIMIK.
halten y Höhenlage und harmonischer Sinn verändert werden. Denn
in der Musik läßt sich genau zeigen, was bleibt und was nich^ wäh-
rend wir in den übrigen Künsten dem Geheimnis der Ähnlichkeit
nicht so scharf ins Einzelne zu folgen vermögen. Auch Spiel und
G^enspiel enthüllen sich in der üblichen G^^ensefeung zweier ver-
schiedenen melodischen Charaktere viel freier als im Drama. Die
Vielstimmigkeit des Dramas entspringt aus der Einbildungskraft eines
Dichters mit derselben Notwendigkeit wie die Vielstimmigkeit eines
Musikstückes: die Phantasie kann sich in beiden Fällen mit einem
Bew^^ngszug nicht begnügen. Beide Zeitkünste haben die Möglich-
keity daß sie in der Aufeinanderfolge G^ensätze zur Wirksamkeit
bringen, da ja das Frühere in der Erinnerung verharrt; die Musik allein
besitzt den doppelten Vorteil, daß sie erstens durch gleichzeitiges
Zusammentreffen des Widerstreitenden Kontrast und Kampf steigert
und zweitens im Durchführungsteil die Elemente ihrer Themen in den
buntesten Mischungen kunstreich miteinander verwebt Durch eine
weitere Ausnutzung dieser Vorteile gedeiht neben der begleiteten oder
harmonisch ausgefüllten Melodie jene Kunstweise, die mehreren Stimmen
ihr eigenes und für sich beachtenswertes Dasein sichert Sie stellt die
größten Ansprüche an die Aufnahmefähigkeit: wer Fugen zu hören
weiß und in ihnen mehr als ein wirres Durcheinander vernimmt, der
besitzt auch Verständnis für die Eigenart einer Kunst, die so lebens-
fremde Formen ausbilden kann. Doch wird gar leicht die Durchfüh-
rung kontrapunktischer Probleme zu einer wissenschaftlichen Aufgabe.
Der Tonsetzer, an die Regeln seiner Wissenschaft gebunden und durch
sie ebenso gehemmt und gefördert wie der Schachspieler durch die
Regeln seines königlichen Spiels, kümmert sich kaum noch um die
Forderungen des Auges, sondern führt die Stimmen so, daß der Ver-
stand und das lesende Auge befriedigt werden. Vielleicht deshalb er-
scheinen uns Kanon und Fuge so oft als künstlich. Fugierte Sätze
neuester Musik, wie etwa das Rondo in der Symphonie fantastique
oder der Schluß vom zweiten Akt der »Meistersinger« rechtfertigen
sich ausdrücklich durch Ort und Zweck. An anderen Stellen bevor-
zugen unsere Komponisten eine Form, die übrigens schon in Bachs
Kantaten, z. B. im Actus tragicus, sich ankündigt, nämlich das Zusam-
men von zwei Melodien, die unabhängig sind und sich nicht aus-
schließen. Die Fugentechnik wird geflissentlich vermieden sowohl
am Ende der rOötterdämmerung^ und in der Einleitung zu den
» Meistersingern <: als auch in Liszts Opemphantasien über »Norma:
und > Robert der Teufel <.
Immer wieder stoßen wir bei unserem Rundgang auf die Melodie.
Dies eigentümliche Gebilde ist deshalb so wichtig, weil es allen Be-
DIE FORMEN DER Ml-SIK. 325
dingungen ästhetischer Wertigkeit genügt und aufs vollkommenste die
harmonische und rhythmische Ordnung verbindet. Ein scharfer und
geschulter Verstand erlernt zwar die Feinheiten des Kontrapunkts, er-
findet jedoch niemals eine quellende Melodie, die uns sogleich das
Herz wärmt und den ganzen Menschen mit fortreißt Es ist etwas
Wunderbares um die Unmittelbarkeit und Unwiderstehlichkeit einer
ursprunglichen Weise. Sie ist kein musikalischer Gedanke, wie irre-
leitend gesagt zu werden pflegt; abgesehen von ihrer Begriff slosigkeit
liegt dieser Unterschied vor, daß der Inhalt eines Gedankens zur Not
mit anderen Worten zu wiederholen ist, während in der Musik die
bestimmte Form unter keinen Umständen sich abstreifen läßt Viel-
mehr bedeutet die echte Melodie eine Schöpfung, die mit nichts ver-
glichen, durch nichts erklärt werden kann; voriäufig bleibt sie einer
der seltenen Grenzfälle, wo die Forschung ein Ende findet. Indem
ein Thema in die noch lebensfähigen Bestandstücke zeriegt wird,
werden diese kleineren Teile zu fruchtbaren Keimen. Man nennt sie
Motive. Wir verstehen darunter wirklich vorhandene Gebilde, in denen
alle Mittel der Musik zusammenarbeiten, keine Abstraktionen oder gar
Einzeltakte. In der Tat haben sie sich zur Selbständigkeit ausge-
wachsen; die Melodie alten Stils kann durch die Verwendung von
Motiven im Sinne der Leitmotive ersetzt werden: man möchte den
Vorgang fast mit der Ablösung des breiten Farbenauftrags durch die
Punktmanier vergleichen. Das ganze Tonstöck wird vom Architek-
tonischen ins Organische übergeführt, sobald es sich aus den kleinen
Zellen nach Lebensgesetzen aufbaut Die Einheit ruht auf der Wieder-
kehr der Motive, die Mannigfaltigkeit auf den Umgestaltungsmöglich-
keiten; die Verwebung der Motive dient dazu, die innersten Vorgänge
und geheimsten Beziehungen eines seelischen Ablaufs auszudrücken.
Wagners Worttondrama läßt sich daher zweifach auffassen, entweder
als ein von der Musik erweitertes Drama oder als eine Sinfonie, deren
r^ogramm gleichzeitig sichtbar wird. Daß Wagner selbst von der
Dichtung aus verstanden sein wollte, hat er an zahlreichen Stellen
seiner Schriften ausgesprochen, aber in den mehr unwillküriichen
Äußerungen der Briefe kommen doch auch Hinweise auf einen
größeren Anteil des Musikalischen vor"). Und tatsächlich ist der
Wortlaut der Musikdramen ohne die Rücksicht auf Singen und Spielen
des öfteren anfechtbar. Zur Vorsicht sei bemerkt, daß dieses (häufig
unbewußte) Ineinanderwirken der beiden Künste beim Schaffen nichts,
schlechterdings gar nichts gemein hat mit der altfränkischen Übung,
Verse einer gegebenen Melodie unterzulegen, wie es im 1 7. Jahrhundert
mit Klavier- und Violinsonaten, aber selbst noch im IQ. Jahrhundert
mit Beethovenschen Adagios geschah.
326 ni. TONKUNST UND MIMIK.
Das umgekehrte Verfahren, also das Anpassen einer sangbaren
Welse an einen Text, bestimmte lange Zeit hindurch in einigen Haupt-
punkten die Form des Liedes''). Jede Strophe wurde ohne tiefer
greifende Beachtung des Sinns in dreigliedrige Musik gesetzt und das
Wort des Dichters gekürzt, ausgedehnt, wiederholt, je nach der Be-
quemlichkeit des Komponisten. Kein Wunder, daß ein Engländer vor
zwanzig Jahren die Worte der Vokalmusik als »Unterstützung für den
Ton« erklärte und von den Sängern zu behaupten sich erdreistete:
»Nicht einer hat die Absicht, die Gedanken auszudrücken, die in den
Worten des Liedes enthalten sind; die Worte werden automatisch ge-
braucht . . .« ®) Das ist eine arge Verleumdung des modernen Liedes
und der ihm nötigen Vortragsweise. Wir dürfen beim Lied nicht
immer an das Strophenlied im alten Sinne denken, das heißt an eine
ursprünglich erfundene und unverändert wiederkehrende Melodie, die
kaum der Begleitung bedarf und zu dem Text allenfalls in der ersten
Strophe paßt. Heutzutage wünscht man keine abgeschlossene Melo-
die, der zuliebe der Hörer die Wortdichtung vernachlässigt; vielmehr
soll die Musik, indem sie dem Klavier die gleiche Berechtigung wie
der Singstimme zuerkennt, die innersten Gefühle des Dichters, die
zartesten Geheimnisse des Wortes laut erklingen lassen. Das Kunst-
lied, wie es sich allmählich entwickelt hat, legt entweder die Melodie
in die Instrumente und läßt eine frei deklamierende Singstimme hinzu-
treten, oder es benutzt die Kunst der motivischen Gestaltung und der
thematischen Durchführung; es gibt die Vers- und Strophengliederung
preis, wird aber der Bedeutung der Worte nach ihrem inneren Zu-
sammenhang aufs schönste gerecht. Die Dichtung entscheidet inso-
weit, als nichts gegen sie unternommen wird. Trotzdem bedeutet die
Musik nicht die Vollendung der Lyrik als einer Unterart der Poesie,
denn diese ist in sich selber fertig. Wohl aber gewinnen beide Künste
durch den Bund. Die musikalische Phantasie erlangt den Vorteil einer
reichen Anregung und bestimmten Unterstützung, und die Poesie zieht
zum mindesten den sozialen Nutzen, daß glücklich vertonte Lieder
sich schnell verbreiten und lange lebendig erhalten. Wobei es dann
vorkommt, besonders im Strophenlied des Volksgesanges, daß die
Melodie von dem ihr ursprünglich zugehörenden Text zu anderen
Texten wandert
Soeben war gesagt worden, daß musikalisches Schaffen durch
Dichtungen angeregt und in bestimmte Bahnen gewiesen werden
kann. Das gilt nicht nur von Gesängen, bei denen die zwei Künste
Hand in Hand vorwärts schreiten, sondern auch vom ungleichzeitigen
Zusammenwirken. Im gesellschaftlichen Leben lassen wir Musik dem
Wort vorausgehen oder auch folgen. Bedeutungsvolle Stunden werden
DIE FORMEN DER MUSIK. 327
gern durch Musik eröffnet; bei weihevollen Akten ist der Redner für
vorausgehende, Stimmung schaffende Musik stets dankbar: aus ihren
feierlichen Klängen steigt dann die Bestimmtheit der Rede hervor.
Aber auch nach dem Wort bewahren Töne ihre Zauberkraft, ei^nzen
und steigern, was gesprochen war. Dieser letzte Fall nähert sich der
Lage der Programmmusik'). Aus der Überschrift oder aus einem vor
uns liegenden Text haben wir erfahren, was dem Komponisten die
Anregung gab, und nun folgen wir diesem Hinweise, indem wir in
den Aufbau des Werkes eindringen. NatQriich ist der Aufbau durch-
weg nach den Gesetzen der Tonkunst gestaltet, gleichwie im Bilde
Raum-, Form- und Farben Verhältnisse zum Konstruktionsprinzipe
werden. Dennoch trägt hier wie dort der Gegenstand zur Formen-
gebung bei; ist ja kein musikalischer Grundsatz so ausschließend und
unnachgiebig, daß nicht eine Sachvorstellung ihn beeinflussen könnte.
Wer von der Musik alles anders Geartete abscheiden will, der muß
die Sonaten und Sinfonien verdammen, die aus einer Folge von Tänzen
entstanden sind, er muß die Messen und Kantaten zurückweisen, die
auf bloßen Formeln ruhen, kurz, er sollte die ganze Fülle wunder-
barster Musik der letzten Jahrhunderte ablehnen. Ein Eriebnis (etwa
die Abreise eines lieben Bruders), der Anblick eines Gemäldes (etwa
der Kaulbachschen Hunnenschlacht oder des Bildes von Steinle, das
den über die Wogen schreitenden hl. Franziskus darstellt), ein poe-
tischer Eindruck (Dramen und Verse), selbst ein Gedankenzusammen-
hang (Ev. Joh. 4, 1 4 ; Nietzsches Zarathustra und anderes) können für
den Tonsetzer zum Weckruf werden; ihn mitzuteilen fühlt er sich ver-
pflichtet. Denn aus der unendlichen Vieldeutigkeit der Erfahrungen
entnimmt er sich die Leitvorstellungen, um sich hernach frei im Reiche
der Musik zu bewegen.
Bleiben wir bei einem Beispiel der Tonmalerei, bei der so häufigen
Darstellung des Gewitters. Der unbefangene Hörer kann sie richtig
deuten, aber auch für den Zomesausbruch eines Menschen oder für
Kriegsgetümmel halten. Gerade in dem Umstand, daß die Musik alles
mehr symbolisch als realistisch meint, mehr inneriich als äußeriich
empfindet, mehr unbestimmt anregt als bestimmt mitteilt, hat die meta-
physische Ästhetik den Beweis dafür erblickt, daß sie bis in den Kern
der Welt hineinreiche. Denn im Absoluten ist ja Natur und Geist
eins. Wenn die Musik also diese Einheit der natüriichen und der
seelischen Vorgänge wiederherstellt, so enthüllt sie uns das An-sich
der Dinge. Bleibt man bei den Tatsachen und ihrer Beschreibung
stehen, so läßt sich kaum mehr sagen, als daß allgemeine Richtungen
dem Naturgeschehen und dem seelischen Vorgange gemeinsam sind.
Indem diese musikalisch dargestellt werden, tritt notwendigerweise eine
328 in. TONKUNST UND MIMIK.
gewisse Unbestimmtheit ein; niemand jedoch wird einen solchen musi-
kalischen Satz wie den oben genannten als den Tanz junger Mädchen
auffassen oder als das Frohlocken der Seele oder als friedliche Szene
auf dem Lande. Es ist also durch die Töne wohl ein umgrenzter
Kreis deutlich ang^eben, aber nicht, was innerhalb dieses Kreises an
vielfältigen Vorgängen sich abspielen kann. Eben daraus folgt die
Berechtigung des Tonsetzers, den besonderen Umstand, der ihm An-
trieb war, durch Worte festzul^en. Der Fall gleicht dem in der
experimentellen Psychologie untersuchten, daß unter der Fuhrung eines
Begriffs an Eindrucke verhältnismäßig wenige Assoziationen sich an-
schließen, weil das vorbereitende Wort den Bezirk möglicher Assozia-
tionen erheblich verengt; kommt ein zweites Wort hinzu, so wird die
Auswahl noch geringer. Das Programm bedeutet also die zweite Er-
gänzung oder Besonderung. Dagegen kann es nie einen Zwang auf
den Hörer ausüben, nun unter allen Umständen genau dasselbe nach-
zufühlen, was der Künstler vorgefühlt hat
Noch eins. Setzen wir voraus, daß wirklich Erinnerungen an ein
Gewitter auftauchen, etwa in der Art, wie auch durch poetische Be-
schreibung hier und da einmal ein anschauliches Bild von einem Ge-
witter hervorgerufen werden kann, so ist klar, daß der Hörer dann
nicht nur von der Musik selbst zu Gefühlen angeregt wird, sondern
auch von der inhaltlichen Vorstellung. Das heißt also, es greift die
Musik tatsächlich über ihren engsten Bezirk hinaus und rechnet auf
emotionelle Wirkungen, die an Sachvorstellungen geknüpft sind. Wenn
ich bei der früher erwähnten Stelle aus Liszts »Christusc nicht nur
einen lang ausgehaltenen hohen Ton höre, sondern auch das Bild des
dunklen Nachthimmels und des strahlenden Sterns vor mir habe, so
kann dieses mich fast so ergreifen, wie die Wirklichkeit oder ein Ge-
mälde. Der Ausdruckswert der Musik verstärkt sich demnach durch
die von ihrem Programm aufgeregten Sachvorstellungen; ein Inhalt-
liches wird hier wie in den bildenden Künsten ein Mittel zum Aufbau
des Werks und zur Beeinflussung des Genießenden.
3. Der Sinn der Musik.
Die Betrachtung der Mischformen erlaubt noch weiter reichende
Ausblicke. Früher war gesagt worden, daß in allem Wirklichen und
Künstlerischen Momente sich finden, die musikalisch zu nennen oder
wenigstens als natüriiche Anknüpfungspunkte für die Vertonung zu
bezeichnen sind. Doch bilden sie nicht das Ganze des Tonweiks.
Vielmehr entfaltet - Schaffende neue, vordem nie geöffnete Selten,
DER SINN DER MUSIK. 329
indem er in seiner Art und mit den Mitteln seiner Kunst die Sache
weiterfahrt Vergleicht man Durers heimliche Offenbarung Johannis
(1498) mit dem Wortlaut der Apokalypse, so entdeckt man, daß der
Zeichner sozusagen ein neues Buch geschrieben hat: so voll von
eigenen Anschauungen, ja Gedanken sind die Bilder. Auf S. 139 habe
ich ein paar Takte aus Liszts ^ Hunnenschlacht' wiedei^gegeben. Der
Rhythmus kennzeichnet fraglos die Hunnen als Reiter, während Kaul-
bachs Gemälde sie als Fußkämpfer darstellt; es wird also der Maler
verbessert oder wenigstens der Inhalt seines Bildes weitergedacht.
Verse werden oft aus dem Geist der Musik geboren. Das bedeutet
aber keineswegs eine genaue Übereinstimmung mit allen Gesetzen oder
Ansprüchen der Musik, sondern es steht folgendermaßen damit. Ein
rhythmisch-klangliches Etwas, das einer GemOtsstimmung entspricht,
bewegt sich seit Stunden oder Wochen in der Seele des Dichters; bei
einem Musiker, der rhythmisch und zugleich in Tonhöhen phantasiert,
wurde daraus eine in Noten aufzuzeichnende Melodie entstehen; beim
Dichter artikuliert sich die innere Bewegung in Worten und gewinnt
durch die Worte ein durchaus besonderes, nach allen Seiten sich
geltend machendes Gepräge. Freilich bleibt die gemeinsame Wurzel
spurbar, der Rhythmus als Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls.
Aber auch hier hat sich ein Tal zwischen die Künste gelagert, das
jedes unmerkliche Fortschreiten von der einen zur anderen Höhe ver-
hindert. Keine Mischform hebt die Grenzen zwischen zwei Künsten
auf, da jede ihr eigenes Wesen hat und behält
Wir fragen nach dem besonderen Sinn der Musik. Er versagt sich
natüriich demjenigen, der Töne verschiedener Qualität nicht unter-
scheiden kann, selbst noch demjenigen, der die Einheit richtig wahr-
genommener Klänge nicht zu erfassen, bestimmte Tonfolgen von anders
gearteten Tonfolgen nicht zu trennen weiß. Mit einem Wort, er ent-
hüllt sich nur dem Musikalischen. Musikalisch im höheren Sinne
nennen wir einen Menschen, für den Ton werke eine ganz bekannte
Sprache, gewissermaßen eine zweite Muttersprache reden. Aber musi-
kalisch im allgemeinen heißt auch jemand, wenn er Freude an rhyth-
mischen und harmonischen Klängen in der Weise wie an schönen
Formen und leuchtenden Farben hat. Die sinnenfällige Melodie und
der einfache straffe Rhythmus, der zu Bewegungen herausfordert,
werden mit körperiichem Wohlbehagen, etwa wie ein laues Bad, ge-
nossen. Eine Musik, die diesen Bedingungen entspricht, ist kaum
schon als reine Kunst zu bezeichnen. Im Grunde genommen bleibt
sie eine feinere und organisierte Form des Geräusches. Die Stille hat
auf die Dauer etwas Totes, Unnatüriiches. Wer Wortspiele liebt, mag
die Ruhe beunruhigend, die Unruhe beruhigend nennen. Denn in der
330 ni. TONKUNST UND MIMIK.
Unruhe ist Leben, und dies Gefühl, von Leben umflutet zu sein, wirkt
wohltätig und beruhigend. Die Teile des ' Geräusches brauchen nicht
genau unterschieden zu werden: jedes tosende und schwirrende Ganze,
jedes stetige Brausen gibt uns die Gewißheit, daß wir leben und von
Leben umfangen sind. Die so bedingte Freude am Geräusch als am
Zeichen des Lebens ist der letzte Ursprung unserer Freude an der
Musik. Wir alle kennen sie von jenen Gelegenheiten her, wo wir im
Kurpark unter kichernden Mädchen vergnüglich wandelnd oder bei
festlicher Tafel lose Reden führend uns von den Klängen leichter
Musik umschmeicheln ließen. In solchen Fällen ist Musik in der Tat
nichts anderes als ein angenehmes Geräusch. Man hört sie, aber man
hört ihr nicht zu. Man genießt Rhythmen und Schalleffekte nicht viel
anders als sonst das Rauschen der Welt; nur ist schon alles stilisiert,
nach bestimmten Gesetzen zusammengefaßt und daher auch für das
kaum bewußte Aufnehmen erfreulicher als der Laut- und Taktvorgang
in der Natur. Die Wirkung, die von der kaum beachteten und sicher
nicht »verstandenen« Musik ausgeht, wird für das ganze LebensgefOhl
des Menschen außerordentlich wichtig: wir fühlen uns durch die Töne
befreit und erquickt, von der summenden und wiegenden Tanzmelodie
in glückliche Sorglosigkeit versetzt, von der urwüchsigen Gewalt der
Militärmusik zu jugendlicher Straffheit aufgerüttelt Die Musik als
gesellige Geräuschkunst bedeutet eine regelmäßig erfolgende Bewe-
gung der Luft, die uns wohl tut Sie durchdringt gleichsam unsere
Umgebung an jedem Punkte und erregt im gleichen Augenblick und
mit gleicher Unvermeidlichkeit alle im selben Raum vorhandenen Men-
schen ^^).
Der Sinn der Musik erweitert sich, sobald die tätige Beschäftigung
mit ihr einbezogen wird. Zunächst kommt nun der gesamte mecha-
nische Teil der Kunstausübung in Betracht Ein Gegenstand herber
Klage für den Beobachter und noch mehr für uns, die wir im Beruf
stehen oder standen und unterrichten mußten: »Wär's mir vergönnt,
das Innere meines Kerkers zu enthüllen, ich hübe eine Klage an, von
der das kleinste Wort die Seele euch zermalmte!« Unter den an dieser
Stelle wichtigen Gesichtspunkten erscheint die ausgeübte Musik als
eine Bewegungstechnik; sie erhält die Bedeutung einer zeitraubenden
Dressur der Finger- oder Kehlkopfmuskeln. Diese Schulung des
körperiichen Apparates ist gewiß dem Dilettanten so unentbehriich wie
dem Künstler und man sollte von ihr nicht viel Wesens machen, viel-
mehr dem Künstler (wie dem Gelehrten) das kränkende Lob des
Fleißes ersparen — Arbeit versteht sich immer von selbst Aber sie
wird gefähriich, indem sie einen Lebensinhalt vorspi^elt, wo keiner
vorhanden ist Wenn schon das leidenschaftliche, unersättliche An-
DER SINN DER MUSIK. 331
hören der Musik von ernsteren Aufgaben ablenkt, so verführt das
Betreiben der Musik in noch stärkerem Maße zur Vernachlässigung
dringlicher Pflichten, zu geistiger Leere und Mflßiggängerei. Der nie
rastende Kampf mit der unbotmäßigen Hand und Stimme nimmt
schließlich den ganzen Menschen gefangen. Kein Sport, keine Ver-
gnügungssucht, kein Beruf verengt den Gesichtskreis in so gefähr-
lichem Maße.
Doch erklärt die scheinbare Ffillkraft der musikalischen Technik
noch nicht ausreichend die Anziehung, die von der aktiven Beschäfti-
gung mit der Tonkunst ausgeht Dahinter wirkt noch etwas anderes
als Grund, weshalb wir so gern und unter Aufopferung der übrigen
Interessen musizieren. Wir vermögen uns nämlich dabei in voll-
kommenster Freiheit, mit stärkster Ursprünglichkeit auszuleben. Jeder
Aufschwung, den wir im Tonwerk herbeiführen, weckt etwas von der
sinnlichen Heldenhaftigkeit früherer Menschen in uns: alle Muskeln
spannen sich, kühn hebt sich das Haupt und Schauer fließen den
Rücken entlang, als stünde eine große, sicher zu überwindende Ent-
scheidung bevor. Ein Knabe spielt seine eigene ärmliche Komposition,
worin dem Schluß eine Dissonanz im Fortissimo vorausgeht. >Er
verweigerte sich die Auflösung, er enthielt sie sich und den Hörern
vor. Was würde sie sein, diese Auflösung, dieses entzückende und
l>efreite Hineinsinken in H-dur? Ein Glück ohnegleichen, eine Genug-
tuung von überschwenglicher Süßigkeit. Der Friede! Die Seligkeit!
Das Himmelreich! ... Noch nicht ... noch nicht! Noch ein Augen-
blick des Aufschubs, der Verzögerung, der Spannung, die unerträglich
werden mußte, damit die Befriedigung desto köstlicher sei . . . Noch
ein letztes, allerietztes Auskosten dieser drängenden und treibenden
Sehnsucht, dieser Begierde des ganzen Wesens, dieser äußersten und
krampfhaftesten Anspannung des Willens, der sich dennoch die Er-
füllung und EHösung noch verweigerte, weil er wußte: das Glück ist
nur ein Auj^enblick . . . *») Ja wahrhaftig, wir werden zu Königen,
zu Herren der Welt, wenn wir die Klänge anschwellen oder abnehmen
lassen, die Rhythmen und Harmonien gegeneinander ausspielen; wir
schaffen Wesen durch simple Betonung und vernichten sie durch
j^leich^ültiges Verschleifen, wir erieben die wunderbarsten Abenteuer,
stürmen vorwärts, schrecken zurück, l)efreien verzauberte Prinzessinnen
wer vermöchte all dies Tun und Treiben aufzuzählen? Und dazu
ilas Bewußtsein, der Seele des Tondichters bis in die letzten Tiefen
j^'cschaut zu haben. Dazu femer ein Verschmelzen mit der gegen-
wärti^^'cn Seele des f^artners: eine köstliche Begegnung bei den nicht
vor/uschrcibenden Feinheiten des Vortrags, als da sind die selbstver-
ständliche Beschleunigung und Veriangsamung, die Oemeinsamkeit der
332 ni. TONKUNST UND MIMIK.
kurzen Atempausen, die gegenseitige Bestärkung in jedem Augenblick.
Wer im Orchester gesessen hat, weiß, daß man sich dort wie in der
kämpfenden Truppe fühh. Oben steht der Führer: seine Mienen und
Bewegungen verdeutlichen das Tonwerk wie der Schauspieler das
Dichterwort erklärt. Vor, neben, hinter mir die Mitstreiter, von einem
Willen beseelt. Seitwärts die selbständigen Bundesgenossen. Drüben
der Feind, bald siegreich, bald geschlagen, bald trotzig und überlegen,
bald demütig und verzagt. Die Bogen der Geiger sind zum Hinunter-
strich angesetzt — ist es nicht, als ob die Lanzen eines Fähnleins
Ulanen in der Sonne blitzen? Lebt nicht der soziale Ursinn aller
Kunst wieder auf?
Auch in der künstlerisch vollwertigen Musik und selbst für hoch-
geartete Hörer und Spieler fehlt es nicht an solchen Wirkungen.
Streckenweise wenigstens achten wir nicht eigentlich auf das Kunst-
werk, sondern lassen uns instinktmäßig von der Bewegung und der
Klangschönheit erregen oder schwelgen in rein persönlichen Vorstel-
lungen. (Vgl. S. 158 ff.) Die motorische Mittätigkeit, die bei den
Marschrhythmen der Militärmusik unsere Füße in den gleichen Takt
zwingt, wird sogar manchmal lebendig, wenn wir der Oeistersprache
von vier Stimmen im Quartett lauschen; hört man eine der anmutigen
Suiten Bachs, etwa die Flötensuite in H-moll, so werden die rhythmi-
schen und klanglichen Genüsse von willküriichen Assoziationen um-
rankt, beispielsweise von Oesichtsbildem eines Rokokomenuetts. Wohl
sind Oesellschaftsmusik und Kunstmusik im Wesen und in der Wir-
kung gründlich verschieden. Jene ein vergnüglicher Zeitvertreib, diese
etwas bitter Ernstes, jene eine Wohltat für den Ärmsten und Un-
kundigsten, diese ohne Einfluß auf den mit den Sorgen des Lebens
Kämpfenden, jene die gefühlsmäßig einfachste und volkstümlichste,
diese die undurchdringlichste und abstrakteste von allen Künsten.
Und dennoch lehrt die Beobachtung der Schaffenden, Ausführenden
und Genießenden, daß sie auf allen Stufen ihrer Tätigkeit miteinander
verwandt bleiben. Namentlich Menschen, bei denen alle Kunst so-
gleich ins Wirkliche überschlägt und zu einer dramatischen Handlung
sich auswächst, machen sich die Rhythmen der Parsifalmusik grund-
sätzlich ebenso lebendig wie die eines Gassenhauers. Wer so auf-
faßt, braucht gar nicht zu erkennen, was rein musikalisch vorgeht,
sondern läßt sich nur durch die Klänge aufstacheln oder beruhigen.
Bekannt ist Shakespeares mehrfach ausgesprochenes Lob der Tonkunst,
ist femer Nietzsches Mitteilung über seine Erfahrungen mit Bizets
Carmen-Musik. Etwa im gleichen Sinne gesteht Stendhal: »Gestern
abend erfuhr ich, daß eine vollkommene Musik das Herz in dieselbe
Lage versetzt, in der es sich befindet, wenn es die Gegenwart eines
DER SINN DKR MUSIK. 333
geliebten Wesens genießt, das heißt, daß sie das scheinl)ar lebhafteste
auf Erden mögliche Glück gewährt. Sollte es sich ffir alle Menschen
so verhalten, dann würde nichts auf der Welt mehr zur Liebe geneigt
machen. Aber ich habe schon im letzten Jahr in Neapel bemerkt, daß
die vollkommene Musik wie die vollkommene Pantomime mich an das
denken läßt, was augenblicklich den Gegenstand meiner Träumereien
bildet, und daß sie mich auf vortreffliche Gedanken bringt: in Neapel
handelte es sich um das Mittel zur Bewaffnung der Griechen.«
{Lamour, chap. XVI.) Man wird zugeben, daß dem so Genießenden
schließlich die Musik selbst entschwinden muß. Herbe und strenge
Kunst läßt uns nicht die Freiheit, über politische Fragen nachzudenken.
Im Grunde bleibt für solche Musikfreunde die Tonkunst auf jener
ersten Stufe des stilisierten Geräusches, nur daß sie nicht bloß als
Nachtischspaß oder leichtfertiger Ohrenschmaus, sondern wie ein Be-
täubungs- oder Erregungsmittel genossen wird.
Wo der andere Sinn der Musik zu suchen ist, darauf deutet bereits
eine allgemein bekannte Tatsache hin. Ich meine die unerhörte Früh-
reife musikalischer Genies. Achtjährige Kinder können im Verstehen,
Ausüben, ja Schaffen von Musik das Erstaunlichste leisten, ein so
völlig kulturioses Volk wie das der Zigeuner bringt bemerkenswerte
musikalische Leistungen hervor. In den übrigen Künsten gibt es
kaum etwas dieser Art, denn das Welt- und Menschenverständnis, das
Dichter und Maler brauchen, kann auch vom Begabtesten erst allmäh-
lich erworben werden. Die Musik aber bedarf in ihrem Inhalt keiner
Beziehungen zur Wirklichkeit. Wegen ihrer scheinbar überirdischen
Herkunft wurden die Klänge schon früh der Mittelpunkt einer tief-
sinnigen Symbolik. In der Tat sind sie selbstwertige Ereignisse eigener
Art und nicht wie Farben und Formen Eigenschaften, die an den
Dingen vorkommen. Sie haben ihre Gesetzmäßigkeit für sich selber,
veriassen sich nicht auf Vorbilder der Natur oder der Seele, offenbaren
sich mit allen ihren Regeln dem vorherbestimmten Gemüt und ver-
sagen sich häufig dem feinsten ästhetischen Geschmack. Gute Musik
ist vielfach nur ein Zusammenhang tönend bewegter Formen. Ich
wüßte nicht, welche Wirklichkeitsvorstellungen und welche Gefühls-
erregungen der Hörer mit gegenständlicher Berechtigung aus Bach-
schen Fugen gewinnen sollte. Solche Meisterwerke drücken keineriei
Stimmung aus; wer will aus ihnen entnehmen, in welcher Seelen-
verfassung der Urheber sich befand? Sie wirken durch die Gliederung
ihrer Abschnitte und die Gesetzmäßigkeit ihrer Stimmführung. Wäh-
rend die angenehmen und geselligen Geräusche gleich physiologischen
Reizen hingenommen werden, ist die Kunst der Geistigkeit und Ein-
samkeit zu verstehen und soll verstanden werden. Wir sollen wissen,
334
ni. TONKUNST UND MIMIK.
ob Tonart und Tongeschlecht, Rhythmus und Takt beibehalten oder
gewechselt werden, wir sollen das Thema festhalten und die Verände-
rung als solche erkennen, wir sollen die Verteilung der Stimmen auf-
fassen, die Bewegung verfolgen, das Ziel begrüßen, kurz, wir sollen
die Aufmerksamkeit rege spielen lassen. Dann genießen wir Ton-
kombinationen in ihrer Reinheit, die Wiederkehr der Melodie, das Auf-
tauchen älterer Motive, Fortbildung, Verknüpfung, Übergang, das Ein-
setzen der verschiedenen Instrumente und tausend andere Reize, die
mit behaglichem Dabeisitzen oder unter dem Druck ganz anderer Oe-
dankenmassen schwerlich ergriffen werden. Nicht nur das Tonwerk,
auch der Hörer muß gewisse Bedingungen erfüllen, damit die Kunst
vollauf zu ihrem Recht gelange.
Wir haben von der sinnlichen Gewalt und von der formalen Selb-
ständigkeit der Musik gesprochen. Es fehlt aber noch ein Drittes.
Wir erkennen es an einem oft benutzten Beispiel. In Beethovens länd-
licher Sinfonie wird der Tanz der Bauern plötzlich abgebrochen und
ganz leise intonieren die Bässe eine aus der Tonart fallende Note.
^ ^ ^
=* z:^
Dieser Umschlag, für das Ohr eine Pein, zerstört den formalen Auf-
bau; aus keiner der uns geläufigen Auffassungen ist er zu recht-
fertigen. Dennoch gehört die Stelle zu den wundervollsten der ganzen
Sinfonie. Zur Begründung ihrer erhabenen Schönheit bietet sich die
Theorie dar, daß Musik Ausdruck sei. Der Hörer begreife und ge-
nieße den Vorgang, indem er sich einfühle, das Seelenleben aus den
Klängen herausspüre und diese als Symbole eines tieferen Sinns be-
urteile. Der schaffende Künstler höheren Rangs ist gewiß zunächst
.J
DKR SINN DER MISIK. 335
ein Herrscher im rhythmisch-akustischen Reich, dann der Kenner einer
Fomienwelt, drittens aber auch jemand, der seinen Stimmungen die
befreienden Töne findet. Und da wir alle eine primitive Fähigkeit be-
sitzen, Gemütsbewegungen in Lauten auszudrucken, so vermögen wir
nachzufühlen, was in vielen, obwohl nicht allen, Kompositionen als
seelische Erregung, selbst als allgemeine geistige Richtung sich offen-
bart. Indessen, das eigentliche I^oblem steht noch aus. Es liegt in
der Frage, ob und inwiefern die seelischen Unteriagen und Wirkungen
durch die besondere Beschaffenheit der Musik bedingt sind, wieso
dem sinnlich Reizvollen und der tönend bewegten Form außerdem
eine übertragene Bedeutung zukommt. Nicht jede beliebige Erregung,
die von Klängen ausgelöst wird, ist als Gegenstand der Kunstwissen-
schaft anzuerkennen. Sondern es handelt sich um die nachweislich
im Objekt begründete Ergriffenheit oder um das Rätsel, daß im Zu-
sammenhang von Rhythmen und Harmonien Seelisches ein äußeres
Dasein gewinnen kann. Da im üiuf der Gesamtdarstellung bereits
mancheriei unmittelbar und mittelbar zur Aufklärung beigetragen wurde,
so wollen wir jetzt lediglich den Hauptpunkt scharf ins Auge fassen.
Man fühlt sich anfänglich ganz ratlos, wenn man von der Musik-
geschichte erfährt, daß dieselben Melodien zu den verschiedensten
Texten benutzt worden sind und in allen Fällen ihrer Verwendung als
ausdrucksvoll und kennzeichnend gegolten haben. Die Ratlosigkeit
steigert sich, sobald man die Hörer eines Stückes nach ihrem Eindruck
fragt. Die Auskünfte scheinen schwankend und widerspruchsvoll.
Ist zufällig die Stimmung bekannt, aus der heraus und für deren Über-
mittlung der Tonsetzer geschaffen hat, so scheint wiedenim kaum
einer unter tausend Hörern ihr wirklich auf die Spur gekommen
zu sein.
Ganz gewiß ist die Gleichnissprache der Musik äußerst vieldeutig.
Doch wäre es töricht, darüber zu jammern. Die Eigenart jeder Kunst
haftet ja gerade an den Grenzlinien oder Mängeln, und wenn die
Musik dadurch an Bestimmtheit einbüßt, daß sie mit demselben Er-
zeugnis entgegengesetzten Gemütszuständen entsprechen kann, so ist
anderseits die Poesie beschränkt, indem sie das Unaussprechliche,
dessen Gepräge in der Unaussagharkeit besteht, zu Worten herab-
mindern muß. Aber welcher Gewinn wird zugleich erzielt! Aus der
Flüssigkeit des Mittels folgt das Vermögen der Tonkunst, die Schranken,
mit denen wir gern besondere Teile der Seele gegeneinander absperren,
siegreich /u durchbrechen, folgt die Fähigkeit, das einheitliche Wesen
des Gemütes in allen seinen Äußerungen durchleuchten zu lassen.
rx*n Ciruiul für die Willfährigkeit der Musik hat Lotze in folgenden
Beispielen angedeutet: Nicht die Gerechtigkeit, wohl aber die unver-
336 ni. TONKUNST UND MIMIK.
rückbare Konsequenz des Handelns, die ihr formelles Symbol ist, läßt
sich musikalisch darstellen, nicht das bestimmte unablässige Streben
des menschlichen Gemütes nach irgend einem Ziel, wohl aber der
Wechsel von Anspannung und Ermüdung und die beständige Rück-
kehr zu demselben sich doch immer steigernden Aufschwung; nicht
Wohlwollen und Hoffnung, aber das nachgiebige Eingehen auf Um-
stände, die der ursprünglichen Richtung der Entwickelung fremdartig,
nun doch harmonisch von ihr aufgenommen und verklärt werden . . .«
(Kl. Sehr. 1891, III, 213.) Allgemeiner gesprochen: Tonreihen bilden
die Gefühle nicht in allen ihren Ausmessungen nach. Statt dessen
begnügen sie sich mit einem Hinweis auf das, was man ihre Form
nennen kann, also auf Stetigkeit und Unruhe, Geschwindigkeit und
Langsamkeit, Reichtum an Bestandteilen und Leere — um einige Bei-
spiele zu nennen. In Rücksicht auf diese Momente ist Musik von
äußerster Bestimmtheit. Vergleicht man unter diesem Gesichtspunkt
Beethovens heroische Sinfonie mit dem von Wagner ihr geliehenen
Programm, so muß man zugeben, daß die Melodien charaktervoller
sind als die gestaltlose Erläuterung. Ich kann freilich erzählen, daß
eine Melodie fest aufs Ziel losgeht oder sich im Raum verliert, lang-
sam erstirbt oder plötzlich abgebrochen wird, ich kann sie mit tief-
sinnigen Betrachtungen umkleiden oder mit den zartesten Vei^gleichungen
berühren, trotz allem dem bleibe ich von ihrer Bestimmtheit unend-
lich entfernt. Es ist aber eine ganz besondere Bestimmtheit, nicht
diejenige einer Gesichtswahmehmung oder eines Begriffes. Robert
Schumann berichtet von seinem Klavierstück »In der Nacht«: »Später,
als ich fertig war, habe ich zu meiner Freude die Geschichte von Hero
und Leander darin gefunden . . . Spiel ich ,die Nachf , so kann ich
das Bild nicht vergessen — erst, wie er sich ins Meer stürzt — sie
ruft — er antwortet — er durch die Wellen glücklich ans Land —
dann die Cantilena, wo sie sich in den Armen haben — dann wie er
wieder fort muß, sich nicht trennen kann — bis die Nacht wieder
alles in Dunkel einhüllt. Sage mir doch, ob auch Dir dies Bild zur
Musik paßt« üugendbriefe, 21. April 1838.) J. D. Rogers nun teilt
in seinem höchst wertvollen Anhang zu Bosanquets Geschichte der
Ästhetik mit, daß er ohne Kenntnis jenes Schumannschen Briefes bei
demselben Stück eine andere Phantasieszene vor sich gesehen habe.
Ihm war, als kämpfe in einer stürmischen Nacht der Mond mit den
Wolken; bald tauchte er hervor, bald verschwand er; erst lag ein
silberner Schleier über dem Mond, dann hüllten ihn undurchdringliche
schwarze Wolken ein; wohl blitzte er gelegentlich noch hervor, aber
schließlich eriosch sein Licht. Aus einer Gegenüberstellung des Wort-
lauts beider Schilderungen ergibt sich augenscheinlich ihre Vereinbar-
DER SINN DER Ml'SIK. 337
keit: die Wolken entsprechen den Wellen, der Mond entspricht dem
Schwimmer. Eben dies gemeinsame Element lebt in der Musik. (Vgl.
S. 186 ff.)
Besäßen wir in der wissenschaftlichen Sprache ein gefühlsmäßiges
Gegenstück zum allgemeinen Begriff, so durften wir sagen: das ist es,
was die Musik ausdrückt. Ich mag bei dem Allgemeinbegriff »Ware«
die verschiedensten Anschauungen aufbringen, denn es gibt ungezählte
Warenarten; die eine Anschauung ist so gut oder schlecht wie die
andere. Der eigentliche Sinn jedoch des Begriffs entfaltet sich ledig-
lich in einem Urteil, nämlich in der logisch genauen Bestimmung
seines Inhalts. So kann ich an ein Tonwerk die buntesten Bilder an-
schlielten, aber seine wahrhafte Ausdrucksbedeutung liegt in der musi-
kalisch genauen Entwicklung der Oefühlsform. Bei näherer Betrach-
tung werden zwei Umstände kenntlich, die diesen Satz durchsichtiger
machen. In unserer wunderreichen Sprache wird hie und da durch
bloßen Umlaut der Sinn eines Wortes völlig verändert: man denke
an ^achten und >ächten<. Viel häufiger schaffen in der Musik win-
zige Umbildungen des gleichen thematischen Stammes Verzweigungen,
die nach entgegengesetzten Seiten zeigen. Und zwar braucht das
nicht Zufall zu sein. Vielmehr kann die Weisheit des Künstlers mit
Bewußtsein die Stammesgemeinschaft des Auseinanderstrebenden her-
vorheben. Wenn dasselbe, kaum merklich nuancierte Motiv den
freudigen Beginn und das wehmütige Ende einer Heldenlaufbahn
schildert, so fühlen wir, daß stolzer Jugendmut und die Selbstbeschei-
dung des Alters in der Wurzel zusammenhangen. Das aber ist wahr-
haftig die Natur unserer Seele. Wer will abzirkeln, wo leidenschaft-
liche Liebe aufhört und Haß anfängt? wo edle Treue lebt oder
stumpfe Gewohnheit herrscht? wo die Kraft größer ist, im Tun oder
Lassen? wo wir männlich oder weiblich, sachlich oder persönlich
empfinden?
Im Deutschen Requiem von Brahms beginnt der Text eines ge-
sungenen fugierten Satzes mit den Worten: »Der Gerechten Seelen
^irui in Gottes Hand und keine Qual rühret sie an.< Der bergenden
Hand Gottes gleicht in der Komposition ein Klang - ein tiefes D,
von Pauken und Bässen angegeben — , der während der ganzen Dauer
der h'uge durchgehalten wird. Daß Gott Anfang und Ende aller
Dinare, daß er allgegenwärtig und überall spürbar ist, daß auf diesem
Grunde jegliches Sein sich aufbaut, daß er von Kampf und Ruhe,
\X\Tilen und Vergehen nicht berührt wird - dies und noch viel mehr
wird musikalisch solcher Art ausgesprochen. Aus diesem Beispiel soll
nicht nur von neuem entnommen werden, daß ein formales Vorgehen
iler Musik im Gefühl ein geistiges Verhältnis anklingen lassen kann,
338 ni. TONKUNST UND MIMIK.
sondern es soll auch noch eine weitere Einsicht gewonnen werden.
Ob wir nämlich beim Hören jene Gedanken ausspinnen oder nicht,
das ist gewissermaßen eine persönliche Angel^enheit Zur Sache
indessen gehört das Mitschwingen ähnlicher seelischen Tendenzen in
völliger Verschmelzung mit dem, was musikalisch geschieht Bilder
und Begriffe, die ihrer Natur nach außerhalb des tönenden Voiigangs
bleiben müssen, machen nicht den psychologischen Kern der Musik
aus. Das Entscheidende ist vielmehr, daß die psychischen Antriebe
— Erinnerungen, Gedanken, Gefühle, Assoziationen — eine beim Ge-
nießen anderer Kunstwerke fehlende Färbung empfangen« Sie werden
erweicht und ins Musikalische unwiderstehlich hineingezogen. Dadurch
erst gewinnen sie den Anschluß an die sinnlichen und formalen Eigen-
schaften des Stückes und nur dadurch erhaschen sie ein Teilchen von
dem Ganzen, das einst die Seele des Tondichters erfüllte Es ist
schwer, in Worten von dieser Umfärbung der Seelentätigkeit Rechen-
schaft abzulegen. Aber sie läßt sich jederzeit im inneren Befunde
nachweisen. Wie das Pfingstwehen des heiligen Geistes kommt Musik
über uns und befähigt uns, in fremden Zungen zu reden. So dehnt
sich die Freuden- und Leidenskala der Musik von körperiicher Er-
r^^ng bis zu jenem Reich, das nicht von dieser Welt ist, vom organi-
sierten Geräusch bis zur »Kunst des tönenden Schweigens«.
4. Mimik und Bühnenkunst
Das Theater ist eine Welt für sich ^*). Die Täuschungsmacht der
Bühne ruht auf Dekoration und Kostüm, Frauenschönheit und Männer-
talent, daneben freilich auch auf dem Werte der dargestellten Stücke.
Wenn man die mit dem Theater verknüpften Künste als bloß aus-
führende einschätzt, den Dichter mit dem Tonsetzer, Spielleiter und
Schauspieler mit Kapellmeister und Tonkünstler vergleicht, so verkennt
man den wahren Sachverhalt. Das Theater steht dem Drama weit
selbstherrlicher gegenüber als der reproduzierende Musiker der seiner
Kunstfertigkeit anvertrauten Partitur. Anderseits ist die dramatische
Dichtkunst durchaus nicht in dem Maße auf die Bühne angewiesen
wie die geschriebene Musik auf die Umsetzung in gehörte Musik.
Aus beiden Gründen gebührt der Kunst der Menschendarstellung eine
gesonderte Betrachtung, während für die eigentlich reproduktiven
Tätigkeiten in diesem Buch kein Platz ist
Aber dürfen wir wirklich Drama und Theater so voneinander
trennen? Ernst von Wildenbruch behauptet: »Erst wenn der Dra-
matiker als Zuschauer unter Zuschauem die eigenen Gestalten an sich
MIMIK INI) III lINfcNKrNST. 339
vorüberwandeln sieht, ist er in die perspektivisch richtige Entfernung
von seinem Werk gerückt . . . Mit der Stunde der Aufführung beginnt
für den Dramatiker ... die eigentliche Tätigkeit . . .< (Vorwort zur
2. Aufl. der ^Karolingern.) Gewiß kann der Dichter durch die Proben
und die Aufführung so gefördert werden wie der komponierende An-
fänger durch den verwirklichten Orchesterklang seines Werkes oder
der junge Schriftsteller durch das fremdartige Aussehen des gedruckten
Wortes und die ungeahnte Verkürzung des Umfangs. Was der
Schaffende vorher nicht ahnte, das steht jetzt greifbar vor ihm: über-
mäfiige Längen werden ihm empfindlich, ein unvermitteltes Abspringen
macht sich bemerkbar, Sätze, die auf dem Papier herrlich ausschauen,
fallen rettungslos zu Boden, anderc gewinnen merkwürdigerweise an
Bedeutung und so fort. Ein Dramatiker ohne Bühne scheint dem
Bildhauer zu gleichen, der beim Tonmodell stehen bleibt, weil ihm
der Mannor fehlt. Seine einzige Aufgabe scheint, der Bühne Substrate
zu schaffen, aus dem Herzen der Schauspielkunst heraus zu schreiben.
Indessen: entweder bleibt er dann auf der Stufe des Tonsetzers,
der dem Virtuosen zu Dank komponieren will, oder er erkennt an, daß
die Bühne mehr als ein Ausführungsmechanismus ist. Überhaupt aber
dürfen die bisher aufgestellten Behauptungen nicht unangefochten
bleiben. Es gibt Dichter, deren I^hantasie so reichlich und sicher
arbeitet, daß der ganze äußere Apparat von ihrem Geist vorweggenom-
men wird, gleichwie die geborenen Komponisten aus der Orchester-
auf führung ihrer Schöpfung nichts Wesentliches neu lernen, weil alle
Klangfarben ihrem geistigen Ohr gegenwärtig waren. Ja, wir kennen
Dichter, die sich ernstlich gegen die Anmaßung der Bühne sträuben
und nicht zugeben wollen, daß ein Drama erst durch die Darstellung
fertig werde. Fast fürchten sie sich vor der Verieiblichung der in den
NX'nrten frei schwebenden Seele. Und sie haben guten Grund dazu,
denn jeder Kenner weiß es das Theater steht in einem not-
wendigen (iegensatz zum Dichter. Immer von neuem wagen junge
INuti-n einen Angriff auf diese Hochburg der Konvention, und immer
wilder müssen sie erkennen, daß das Theater seine eigenen Wege
w.iiulelt. daß Regisseure und Schauspieler das Drama fast nur wie
eifu* beliebig /u kür/ende und zu ändernde Skizze betrachten, aus der
sii- kraft eigener Machtvollkommenheit das Kunstwerk gestalten. Nir-
L^i-tuls hat man so viel konservativen Sinn, ein so treues Gedächtnis
\Mt' heim Theater; der alte Schlendrian ist ein guter, lieber Kulissen-
;^risi; jider Neuemng und jedem Wunsch des Dichters stellt sich
NtiirTi[ifer Widerstand hartnäckig entgegen. Aber diese ewige ROck-
NtjndiLrkeit des Theaters muß ihre tieferen Gründe haben. Es kann
nicht IWt)ße Trägheit die Ursache dafür sein, daß dem »Faust immer
340 "I TONKUNST UND MIMIK.
wieder eine Ungestalt verliehen oder den Dichtem, die durch die
natürliche Breite des Stoffes und ihre eigene gewaltige Phantasie zu
Doppeldramen gedrängt werden, die Gefolgschaft versagt wird. In
Wahrheit beanspruchen Mimik und Buhnenkunst ihre eigenen Rechte,
und deshalb muß der Dramatiker das Theater fürchten, auch wenn er
es liebt. Das Verhältnis der Dichtung zur Szene nähert sich dem
Verhältnis des Glaubens zur Kirche. Die stille, vergeistigte Frömmig-
keit neigt dazu, sich von den Formen eines gebundenen, gemeinsamen
Gottesdienstes scheu zurückzuziehen; sie empfindet jede Veräußer-
lichung als einen Abbruch an der Innerlichkeit. Auch der Dichter,
dessen Lebensgefühl in Handlungen, Charakteren und Zwiegesprächen
ausstrahlt, braucht deshalb noch kein Freund des Theaters zu sein.
Sondern das, was dem Theater nun einmal immer anhaftet und was
man recht eigentlich theatralisch nennt, der ganze äußerliche Putz und
die Roheit bretterrechter Darstellung, das stößt manche ebenso stark
zurück wie es andere anzieht. Der Widerspruch verliert an Schärfe
durch die Erkenntnis, daß in der Bühnenaufführung und im Theater-
bedürfnis andere als poetisch-künstlerische Momente tätig sind. Die
Kulturgewalt des Theaters gleicht der der Kirche: Sie zieht ihre Nah-
rung nicht lediglich aus den Tiefen der Dichtkunst, so wie die Kirche
niemals nur jener persönlichen Gemütshaltung dienen kann, die wir
religiöse Ergriffenheit nennen. Das Theater hat eben auch in langen
Zeiten zum Kultus gehört; und Kultus beschränkt sich nicht auf per-
sönliche Glaubensentscheidung. Da wir von den primitiven Formen
des Theaters schon sprachen, so sei jetzt an die mittelalteriichen Mi-
sterien oder Ministerien (Kirchendienst) erinnert, die von der Geist-
lichkeit gedichtet und geleitet und einer volkstümlichen Aufführung
der evangelischen Erzählungen vorbehalten wurden; auch an Calderons
autos sacramentales und an Festspiele unserer Zeit dürfen wir denken,
um uns klar zu machen, wie tief dieser Zusammenhang in die Herzen
der Menschheit gesenkt ist^*). Die Wahrheit ist: Das Theater bietet
sich zur Lebensgemeinschaft mit mancheriei anderen Kräften dar,
bleibt aber ein Wesen für sich.
Somit entsteht die Aufgabe, das Besondere der Schauspiel- und
Bühnenkunst zu erfassen. Theorie und Praxis der Schauspielkunst
bewegen sich seit den Zeiten der griechischen Tragiker in dem zwie-
fachen Gegensatz von Idealismus und Realismus, Sprach- und Ge-
bärdenmimik. Gewöhnlich bevorzugen idealistische Darsteller das
Rhetorische, während die Realisten die Schönheit der Rede vernach-
lässigen und in der Ausdrucksfähigkeit des Körpers schwelgen. Ich
stehe nicht an, in dieser Gruppe die Hauptvertreter einer selbständigen
mimischen Kunst zu sehen. Denn der ganze geistige Zustand und
MIMIK UND BÜHNENKUNST. 341
nicht bloß eine flüchtige Einzelregung drückt sich im Körper aus, als
ob wahrhaftig die Seele eine idea corporis wäre. Hingegen die vom
Leiblichen ganz losgelösten seelischen Vorgänge, die das klingende
Wort nicht viel anders als das stumme Schriftzeichen zum Ausdruck
bringt, gehören der Dichtkunst, grundsätzlich aber nicht der Spiel-
kunst an. Allerdings sind zwei Einschränkungen sofort vorzunehmen.
Der Schauspieler und er allein schafft das für den Geist der Person
so wichtige Zeitmaß der Rede, nur er verfügt über alle Nuancierungen
der Tonhöhe und -stärke sowie über die Abänderungen der Klangfarbe.
Fast in jeder Rolle findet sich Gelegenheit, unartikulierte Laute einzu-
schieben; in ihnen kann ebenso wie im gesprochenen Wort der Schau-
spieler die ihm eigene Kunst des Seelenausdrucks bewähren. Alles
dies ist in der Dichtung nicht vorgezeichnet, sondern dem freien
Schalten des Künstlers überlassen. Demnach darf sehr wohl von
einer Sprachmimik geredet werden. Femer steht der eindringliche
Vortrag des Textes geistig auf hoher Stufe und dem Gehalt der
dramatischen Dichtung am nächsten. Als Persönlichkeiten sind die
guten Redner unter den Schauspielern aufs höchste einzuschätzen.
Trotzdem war es zu kühn, als Riccoboni im 18. Jahrhundert zuerst
den schauspielerischen Stil dahin bestimmte, daß die Seele allein
wirken solle und die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Äußeren
gänzlich abgelenkt werden müsse. Denn wo bleibt dann der Unter-
schied zwischen der Lesung mit verteilten Rollen und einer richtigen
Bühnenaufführung? Wo der zweifellos vorhandene Gegensatz zwi-
schen dem Mimen und einem Manne wie Tieck oder Werder? Ehe-
dem war körperiiche Gewandtheit sogar wichtiger als die Gabe der
Seelenmalerei: Tanz und Tanzlied sind ein wesentliches Bestandstück
der Bühnenspiele bis zum »Sommemachtstraum« hin. Schlachten, Ge-
fechte, Zweikämpfe durchziehen die Tragödie, Rüpelspiele und Kunst-
stücke schneller Maskenänderung kommen in den Possen vor. Noch
heute ist die Beredsamkeit des Körpers in der leidenschaftlichen Kunst
der Italiener und in der frauenhaften Kunst der Japaner so gesteigert,
daß die Darstellung fast zur Pantomime wird und das Dichterwort
nicht mehr zu brauchen scheint.
Unsere moderne Schauspielkunst wird nicht in die Pantomime auf-
gehen; ihre Aufgaben sind dafür zu vielseitig und zu vertieft. Aber
in der Gebärdensprache ist durchaus die eigentliche und eigentümliche
Sprache des Schauspielers zu erblicken. Sie kann auf wenige stehende
Redensarten beschränkt sein — die Tenoristen liefern die lustigsten
Beispiele — , und sie kann zu Reichtum und Selbständigkeit sich ent-
wickeln. Wir verdanken der Wissenschaft gewissermaßen alle Regeln
der physiognomischen Rechtschreibung, innerhalb deren sich der
342 HL TOXKUXST UyO MDIIK.
Schauspider mit Freiheit bewegen soIL Zu den sicheren Gesetzen
der Physiognomik und Mimik treten aber in der künstlerischen Ver-
wendung noch zwei Grundsätze hinzu. Es ist erstens nicht nötig,
mit lebhaften Körperbewegungen auch stärkere Gesichtsveränderungen
zu verbinden, sondern einerseits wirkt eine mächtige Bewegung stark
genug, um den Betrachter zur Ergänzung des vorauszusetzenden
physiognomischen Vorgangs zu zwingen, anderseits vermag dne Er-
schütterung der Gesichtszüge, ja berdts die Zusammenziehung eines
dnzigen Muskels am Auge oder Mund bd übrigens ruhigem Körper
den lebhaftesten Eindruck zu erziderL Das gih von der Kunst, nicht
von der Wirklichkdt Das andere Prinzip stdit fest, was die stumme
Sprache des Leibes für die Aufdeckung verborgener dramatischer Zu-
sammenhänge leistet, nämlich nicht weniger als was die Ldtmotive
im Orchester des Musikdramas erreichen. Wie diese auch dort, wo
nicht davon gesprochen wird, die Erinnerung an bestimmte Personen
oder Vorgänge wecken, so kann der Schauspieler, indem er z. B. dort-
hin blickt, wo eine Person von der Bühne abgetreten ist, anzeigen,
was sdnen Geist beschäftigt Dadurch erwdtert der Künstler die
Handlung gleichsam über die Grenzen der Bühne hinaus. Er ver-
knüpft den sichtbaren Vorgang mit den unsichtbaren Geschehnissen,
die hinter die Kulissen verl^ sind. Er läßt Assoziationen und Er-
innerungen zur rechten Zeit in der Seele des Hörers aufsteigen, und
dieses alles erreicht er durch die Zauberkraft einer knappen Bew^[ung
oder eines Zackens im Antlitz.
Ober den Ursprung der Fähigkeit, durch Stimme und Bew^[ung
ein Ereignis so zu formen, wie es in keiner anderen Kunst geschieht,
also über den Ursprung schauspielerischer Fähigkeit, hat man die An-
sicht geäußert, daß sie im Trieb zum Anderssein wurzde. Nietzsche
nennt diesen Trieb >die Lust an der Verstellung und die Falschhdt
mit gutem Gewissen, das innere Verlangen in eine Rolle und Maske,
in einen Schein hinein <::, und er vermutet diesen Trieb am mdsten bd
Familien des niederen Volkes, die »sich geschmeidig nach ihrer Decke
zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder
anders zu geben und zu stellen hatten . . .« Deshalb sieht Nietzsche
auch in der Geschichte der Juden »gleichsam eine welthistorische
Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern, eine eigentliche Schau-
spielerbrutstätte«. Wir haben bereits früher erkannt, daß die Lust am
Anderssein überhaupt zu den Bedingungen des Künstlertums gehört,
und wir begreifen daher, daß der dem nüchternen Verstände unwürdig
scheinende Mummenschanz des Komödiespielens dennoch dem allge-
meinen Gefühl nicht verächtlich vorkommt Aber die kindliche Freude
am Verkleiden und Verstellen, der Hochgenuß, wenigstens für zwei
MIMIK INI) HCHNENKrN.ST. 343
Stunden den Könif? spielen zu dürfen, kann doch nicht eine zureichende
Erklärung für die Richtung; und Leistung des schauspielerischen Genies
abgeben. Der geborene Schauspieler ist vielmehr der, dem alles Er-
lebte unwillküHich in Tonfall und Gebärde sich ausdrückt, gleichwie
der geborene Musiker unwillküHich in Tönen sich auslebt. Der wenig
bedeutende Unterschied liegt darin, dalt der Musiker es mit einem
unabhängigen Vorgang, nämlich mit den Klängen und ihren Verbin-
dungen zu tun hat, während des Schauspielers Objekt seine eigene
I\*rsönlichkeit ist. Der schauspielerische Künstler ist zugleich schaffen-
des Subjekt und bearbeitetes Objekt. Damit rückt er in die Nähe der
Tänzer und der Artisten, und vielleicht täte man ihm geschichtlich wie
sachlich kein Unrecht, wenn man ihn als den höchsten Ihmkt in dieser
Reihe auffassen wollte.
Hier nun stoßen wir auf ein neues Problem. Soll der Darsteller sich
selbst v()llig vergessen, ganz in die dargestellte F^erson aufgehen, oder
soll er über seiner Rolle stehen? Ist er von solcher Wandlungsfähig-
keit, dalt er unter dem Zwang von Stunde und Umgebung Liebe und
Halt in sich erzeugen, als König und als Knecht sich fühlen kann,
oder ist alles nur äuiieriich angenommen? Anders gewendet: wie weit
vermag der Schauspieler seine Leistung vorzubereiten, und wie weit
ist er auf die Eingebung des Augenblicks angewiesen? In der letzten
Fassung ist die Frage eine allgemein fragenswerte. Sie ist von den
Besten der ausübenden Künstler dahin beantwortet worden, daß die
sorgsamste Vorbereitung uneriälilich, Fleiß nicht sowohl eine Tugend
als vielmehr eine Notwendigkeit ist. daß aber anderseits durch innere
Anteilnahme bei der Ausfühnnig der Schein des Augenblicklichen er-
weckt und die erkältende Wirkung, die so leicht vom planmäßig An-
gelegten ausgeht, vemiieden werden muß. Auf den Brettern soll man
da> tiefste (jefühl im Zaum halten können*'). Wer wirklich weint,
vermag nur undeutlich oder überhaupt nicht zu sprechen. Wer vom
Augenblick sich hinreißen läßt, ist unfähig, ein Ganzes wie aus einem
(juß hinzustellen. Tief fühlen können auch Dilettanten; aber das Ge-
fühl künstlerisch formen ist Aufgabe des Meisters. Um früher (auf
S. 25(>) Gesagtes kurz zu wiederholen: die inneriiche Ergriffenheit, das
Milleben ist nicht so sehr Voraussetzung als vielmehr Folge des rich-
tigen Spiels. Frau Talma erzählt von sich, daß sie als Andromachc
wirklich Tränen vergossen habe. Aber, wohl zu beachten, sie fugt
hin/u: (.e qui nie touchait, cvtait t'rxprrssion que ma voix donnait
aiix i/tuilnirs iF Amiromaqui\ non pas irs ilouleurs rl/rs-mrmes . . .«
In der Praxis ist es ganz gleichgültig, ob der Träger der Rolle völlig
vom frcnulen (ieist durchdrungen ist. So kümmert es den Leser nicht,
ob der Dichter sich hingerissen und verwandelt fühlte, als er schrieb.
344 ni- TONKUNST UND MIMIK.
Wenn nur wir ergriffen werden. Trotzdem ist die aufgeworfene Frage
keine Müßigkeit gelehrter Grübelei, denn sie weist auf das allgemeinere
Problem des Kunstschaffens hin und verzeichnet einen Unterschied
des ästhetisch Fühlenden vom künstlerisch Könnenden.
Wir gingen davon aus, daß die in der Bühnenkunst vereinigten
Wirksamkeiten mehr als ein bloß ausführender Mechanismus sind.
Das Drama ist in sich selbst so fertig wie das Gedicht, und es kommt
etwas verhältnismäßig Selbständiges hinzu wie mit der Komposition
etwas Neues sich dem lyrischen Gebilde anschließt. Während manche
Werte der dramatischen Dichtung, weil sie ausschließlich der Wort-
kunst eignen, sich nur in der Rede enthüllen, vollbringen Maske,
Mienenspiel und Geste, sodann der ganze übrige Apparat der Bühne
eine besondere Ausgestaltung der künstlerischen Absichten. Daher
unterscheiden sich die Leistungen großer Menschendarsteller so stark
voneinander, daß man nicht sagen kann, es sei derselbe Hamlet, der
von diesem und jenem gespielt werde. Den Personen des Dramas
steht der Schauspieler beinahe so frei gegenüber, wie der Dichter der
Wirklichkeit. Nur hieraus ist die Tatsache zu begreifen, daß schema-
tische Figuren wertloser Stücke oft zu den glänzendsten Leistungen
der Mimik Anlaß geben. Kann ja auch ein der Wirklichkeit entnom-
mener schmächtiger Vorwurf zu herriichen Dichtwerken sich umformen.
Außerdem ist die marktgängige Ansicht abzulehnen, das schauspiele-
rische Talent bestehe in der Fähigkeit, » Menschen c zu kopieren. Das
ist vielmehr die Kunstfertigkeit der Komödianten. Diese ergötzen, er-
staunen und beleidigen durch Nachahmungs- und Verstellungskfinste.
Aber in den Großen lebt Ursprünglichkeit; wie sollte sie identisch
sein mit der Fähigkeit des Nachahmens? Das wäre ja nicht nur ein
Widerspruch in sich selbst, sondern auch ein Widerspruch gegen alle
künstlerische Gesetzmäßigkeit. Die Mimik würde, wenn es so stunde,
eine Ausnahme von den übrigen Künsten bilden, da keine von diesen
eine bloß nachahmende Tätigkeit ist. Auch der schauspielerische Stil
verfangt ein Aufschwellen der Wahrheit, ein Erfinden von Bewegungen
und Tönen, wie sie die bloße Beobachtung nirgends zeigt; der Schau-
spieler weiß durch eine Wendung seines Körpers, durch einen Zug
seines Gesichtes, durch ein leises Vibrieren der Stimme das Unge-
sagte zu sagen. Wohl jedermann hat es eriebt, daß seinen aus der
Lektüre gewonnenen Vorstellungen in der Darbietung des Schau-
spielers etwas gänzlich Neues entgegentrat Kein Wunder. Dasselbe
Lied kann zehnmal und alle zehn Male schön komponiert werden;
dieselbe dramatische Figur kann zehnfältig verschieden und jedesmal
kunstgerecht gespielt werden. Namentlich moderne Dramen, in denen
sozusagen das Wesentliche mehr verschwiegen als ausgesprochen wird.
i
MIMIK IM) ia'HNhNKl\N>T. 345
verlangen vom Schauspieler die volle BeherrschutiK seiner eindring-
lichsten und eigenartigsten Kunstmittel.
Die Besonderheit des schauspielerischen Talentes ist der musika-
lischen Aniaf^e vergleichbar. Wäre sein Wirken daran gebunden, daß
der Künstler über ein gediegenes Verständnis des Literarischen und
über eine umfassende Menschenkenntnis verfügt, so wäre ja unbegreif-
lich, dali junge Leute mit mangeltiafter Bildung, die nichts als ihre Rollen
im Kopfe haben, so Außerordentliches leisten können. Ich meine
natürlich nicht, daß Lebenskenntnis und allgemeine [Bildung, nament-
lich auch literarisches Verständnis, dem Mimen nutzlos wären. Aber
ich finde durch die Tatsachen der Erfahrung bewiesen, daß sie nicht
unbedingt erforderlich sind. Vielleicht liegt hierin der geheime Grund
für die noch nicht ganz ausgerottete soziale Mißachtung des Skrhau-
spielerstandes. Der Gesichtskreis des Durchschnittsschauspielers ist
gleich dem des gewöhnlichen Musikers sehr eng begrenzt. Daher
sind beide im gesellschaftlichen Verkehr wenig verwendbar; auch aus
anderen Gründen werden sie in der Regel nicht als vollwertig ange-
sehen * ). Wie kann es anders sein! Das Reich der Schauspielkunst
mit seinem launenhaften Völkchen liegt wie die Enclave einer freien
Republik mitten in einem streng geordneten monarchischen Staat. Die
Geschichtslosigkeit, das Freisein von einer staatlich geregelten und
geforderten Vorbildung, die Unabhängigkeit von wissenschaftlichen
Festsetzungen, sie haben sich auch in unserer ausgleichenden Zeit
noch erhalten.
Ich möchte an diesen allgemein anerkannten Tatbestand eine ent-
sprechende theoretische Bemerkung anschließen. Unsere Schauspieler,
so scheint mir, brauchen keine Rücksicht darauf zu nehmen, wie in
Shakespeares oder Goethes Tagen die Werke dieser Dichter dargestellt
wurden. Man muß den Hamlet so spielen, daß er den Mitlebenden
leibhaftig vor die Augen tritt; gerade der getreue Dolmetsch des Dichters
hat den Kern der Gestalt in einer dem Zeitbewußtsein angemessenen
Weise herauszuschälen. Für das Publikum der Gegenwart gehört wohl
zweierlei zur Erfüllung des Verlangens. Erstens die sorgsamste Rück-
sicht auf die Mitspielenden, die unablässige Betonung dessen, daß die
eigene Rolle nur ein Glied in einem organischen Ganzen ist. Heut-
zutage weiß man allzu gut, daß jedes Individuum von seiner Umgebung
abhängig ist, und da wir gewohnt sind, die Persönlichkeit an das
Milieu zu binden und die sozialen Interessen den einzelnen voranzu-
stellen, so wollen wir auch auf der Bühne die gegenseitige Beein-
flussung besonders hervorgehoben sehen. Die früher erlaubte Los-
lösung der Hauptrolle von den Mitspielenden ist für das Zeitalter des
sozialen Gedankens schlechthin unerträglich. Aus dem ganzen Drama
346 ni. TONKUNST UND MIMIK.
soll eine bestimmte geistige Sphäre uns entgegenschlagen und inner-
halb dieser Luftströmung ein Faktor wichtiger als der andere, jeder
aber an den anderen geknüpft sein. Das Publikum entwöhnt sich jetzt
der Virtuosen, die einen Solopart spielen und sich um das Orchester-
gesindel der Genossen nicht bekümmern, die keine Dramen-, sondern
nur Bombenrollen kennen, die im Augenblick verblüffen und nicht
auf die Dauer erwärmen. Vornehme Schauspielkunst erfreut durch ein
gewisses Ansichhalten und Insichverschließen. — Zweitens verlangen
wir, dem darwinistischen Zuge unserer Zeit folgend, daß der Künstler
uns die Entwicklung eines Charakters in ihrer völligen Breite vorführe.
Die biologische Betrachtungsweise ist uns gleichfalls in Fleisch und
Blut eingedrungen; nicht nur die Naturprozesse, sondern auch die
Vorgänge des gesellschaftlichen und individuellen Lebens betrachten
wir unter Gesichtspunkten der Entwicklungslehre. Daher verstößt es
gegen moderne Denkgewohnheiten, wenn ein Künstler mit starrer Maske
und mit feststehender Charakterisierung zu spielen b^nnt, anstatt
eine langsame und folgerichtige Entfaltung anzustreben, mit allen den
Wendungen und Feinheiten, die der Dichter hineingelegt hat.
Von den Mitteln der Bühnenkunst kommen neben der Mimik noch
in Betracht d i e Inszenierung und die Regie. Unter Inszenierung
verstehen wir die Verwendung des gesamten toten Apparates, unter
Regie die Leitung des lebenden Apparates zu dem Zweck, das Drama
zu verkörpern. Die Inszenierung hat den äußeren Schauplatz herzu-
stellen und findet ihre Hauptschwierigkeit in der praktischen Ausfuh-
rung. Immerhin müssen auch wir uns die Frage vorlegen, ob eine
möglichst täuschende Natüriichkeit anzustreben sei oder nicht Ein
Praktikus hat darauf geantwortet: lieber echte Menschen in falscher
Umgebung als umgekehrt Gewiß; aber läßt sich überhaupt eine echte
Umgebung herstellen? Fehlt nicht immer die vierte Wand des Zimmers,
eilt nicht häufig die Zeit der dramatischen Handlung schneller als der
Zeiger der Uhr? Es gibt sozusagen eine besondere Optik der Szene,
die den Wirklichkeitsgesetzen des Sehens Gewalt antut Sofern es
die Bühnenbedingungen eriauben, ist eine echte Ausstattung und
eine möglichst naturgetreue Dekoration deshalb dem Gegenteil vorzu-
ziehen, weil die Illusion des Zuschauers dann nicht gestört wird. Damit
jedoch nicht genug. Das Auge des Betrachters soll auch rein malerisch
erfreut werden, und zwar mit jener Zurückhaltung, die die Aufmerk-
samkeit von der dargestellten dramatischen Handlung nicht ablenkt,
aber zugleich jede Verietzung empfindlicher Augen vermeidet Daher
sollte z. B. der verantwortliche Leiter der Aufführung die Kleider der
Spielenden in ihren Farben gegeneinander abstufen. Im Leben läßt
es sich nicht vermeiden, daß neben einer knallblau gekleideten Dame
MIMIK INI) lU-HNKSKlNST. 347
eine andere in zeisiggrunem Kostüm einherwandelt; auf der Buhne
sollte unseren Augen ein solcher Schmerz erspart bleiben. Was die
geschichtliche Treue des Kostüms anlangt, so darf man nicht so ängst-
lich sein wie moderne Regisseure und die echten Trachten auch dann
auf die Bühne bringen, wenn sie auf uns komisch wirken. Unter
Wiederholung unseres alten Grundsatzes wäre zu sagen: Eindruck
der Natürlichkeit muß erreicht werden, aber er besteht nicht in skla-
vischer Nachahmung des Wirklichen.
An der Regie interessiert theoretisch zunächst die Frage, wie es
möglich sei, verschiedene Raumgrößen auf der gleichen Bühne sichtbar
werden zu lassen. Manchmal stellt ja die Bühne ein kleines Zimmer,
manchmal eine unabsehbare Landschaft dar. Gelegentlich ist nur ein
Schauspieler auf der Bühne, und bei anderen Gelegenheiten sollen wir
das Getümmel einer großen Schlacht vor uns sehen. Die eigentüm-
lichen Hilfsmittel der Regie liegen teils in der Verkleinerung der Bühne,
teils in der Benutzung bestimmter Hintergründe, teils in der Anfüllung
des Raumes mit Gegenständen oder in seiner Befreiung von ihnen.
Wenn eine kleine Bühne mit wenig Personal die Täuschung hervor-
rufen will, daß ein von vielen Menschen erfüllter weiter f^atz da sei,
so muß die Bühne verbaut und müssen die paar Statisten zusammen-
gepfercht werden; alsdann entsteht der Eindmck räumlicher Größe und
zahlenmäßiger Massenhaftigkeit. In der Darstellung von Zeitgrößen
ist die Regie nicht so glücklich: Das sogenannte Gesetz des bewegten
Bühnenbildes, wonach die Darsteller mit verhältnismäßiger Schnellig-
keit ihre Mätze wechseln und ihre Stellungen ändern müssen, würde
außer Kraft treten können, wenn immer von innen heraus Handlung
und Dialog lebendig gestaltet würden. Denn es gilt nur aus dem
Grunde als unverbrüchlich, weil ohne seine Befolgung, wie man
meint, die Aufmerksamkeit des I^iblikums erlahmen müßte. Für das
Auge aber ist das stets sich ändernde Bühnenbild wenig angenehm;
eine ruhige ßildwirkung kann nicht zustande kommen und ein künst-
lerisches Ineinanderfließen der sich folgenden Stellungen wird gleich-
falls meist vermißt.
Indem der Dramatiker seiner Dichtung Bühnenanweisungen
beizufügen pflegt, scheint er den Ausführenden eine Hilfe zu bieten.
Gewöhnlich gelten diese [Bemerkungen als Nebenvorschriften und nicht
als Bestandteile des Dramas. Aber ganz so einfach liegt es nicht.
Man wird mir beipflichten, wenn ich behaupte, daß die Bühnenanwei-
sungen den musikalischen Vortragsbezeichnungen entsprechen; und
hei diesen ist wenigstens ein Zweifel daran möglich, ob sie wirklich
außerhalb des Kunstwerkes stehen. Natüriich Musik sind sie nicht.
Aber sie dienen dtKh nicht bloß dem Ausführenden, sondern auch dem,
348 ni- TONKUNST UND MIMIK.
der die Partitur liest. Wenn nun der dramatische Dichter auf Leser
rechnet, so kann er die Bühnenanweisungen derart erweitem, daß sie
nicht mehr praktische Winke für den Regisseur und den Schauspieler
bleiben, sondern sich wie eine Art Kommentar dem Leser des Stuckes
darbieten. In Hauptmanns naturalistischem Drama »Vor Sonnenaufgange
heißt es unter anderem: »Es ist der Bauer Krause, welcher, wie immer,
als letzter Gast das Wirtshaus verlassen hat.« Natürlich kann kein
Schauspieler den Zuschauem zeigen, daß er das Wirtshaus »wie immer«
als letzter verläßt. Diese in Klammem stehende Bemerkung des Dichters
ist also nur scheinbar eine Bühnenanweisung. In den »Webem« heißt
es: »Ein Reisender am Säulentisch kaut mit Eifer an einem deutschen
Beefsteak.« Der Regisseur mag wohl einen eifrig kauenden Schau-
spieler an den Säulentisch setzen, aber die nähere Beschaffenheit des
Beefsteaks dürfte selbst der genialste Virtuose der Regie nicht zum
Ausdruck bringen können. Zwischen dem, was dem Dichter vor-
schwebt, und dem, was die Sonderkunst leisten kann, besteht ein Ab-
stand, den er ausfüllen möchte. Wir finden den gleichen Grund und
das gleiche unzulängliche Aushilfsmittel in der modemen Musik. In
Richard Straußens »Häuslicher Symphonie« steht in die Partitur ein-
gedruckt über einem Thema: »Die Tanten: Ganz der Papa!« und über
der musikalischen Umkehrung des gleichen Themas stehen die Worte:
»Die Onkels: Ganz die Mama!« Das ist natüriich keine Vortrags-
bezeichnung für den biederen Trompeter, sondem ein launiger Protest
gegen die Begrenztheit der Musik. Übrigens: Was von den R^e-
novellen des naturalistischen Dramas gilt, läßt sich auch auf die Buhnen-
anweisungen in den Stücken Maeteriinks und d'Annunzios übertragen.
Beide scheinen diese ursprünglichen Hilfsmittel der szenischen Technik
fast als zur Dichtung gehörig zu betrachten. Daher verieihen sie ihnen
poetischen Glanz und ergehen sich in Landschaftsbeschreibungen, die
dem Spielleiter nichts nützen, und in unausführbaren Eriäuterungen
zum Charakter der dramatischen Personen. Fast möchte man glauben,
daß diese Neigung zu epischen Eriäuterungen einst das Drama in
eine Mischform hinüberführen wird.
Schließlich ist noch Sinn und Zweck der Bühnenkunst zu unter-
suchen. Von der Stellung des genießenden Hörers aus hat Wilhelm
Schlegel in seinen Voriesungen über griechisches und römisches Theater
die Frage erörtert. Er verweist darauf, daß die meisten Menschen, in
einen engen Kreis festgebannt, das Spiel der Bühne als eine willkommene
Abwechslung betrachten. Da es ein verjüngtes Bild des Lebens ist,
»ein Auszug des Beweglichen und Fortrückenden im menschlich^i
Dasein«, so ist es nicht nur den geistig Hochstehenden zugänglich^
sondem so eng mit der Wirklichkeit verbunden, daß einerseits manche
MIMIK INI) lUIINKNKl'Nsr 34Q
naive Zuhörer zu einer Verwechslung zwischen Schein und Sein fort-
f;erissen werden und anderseits die Vergleichun^ des Lehens mit dem
Schauspiel als eine zutreffende und tiefe Erkenntnis erscheint. För
Kulturla^en, in denen die sozialen und politischen Bestrebungen der
Masse an freier Entfaltung gehindert sind, wird deshalb das Theater
leicht zum Mittelpunkt des Lebens. Für uns Deutsche ist lange Zeiten
hindurch die Buhne eine Grundlage der Kulturentwicklung gewesen.
Sie stand neben Kirche und Schule gleichberechtigt als Bildungsanstalt
da. Sie wirkte auf das politische Leben ein und war ein Ventil für
die an wirtschaftlichen Fragen entzündeten Leidenschaften. Seit dem
Aufkommen der IVesse und der Einrichtung von Parlamenten hat die
Bühne viel von dieser beherrschenden Stellung verloren. Nur noch
die Ältesten unter uns sprechen von dem Theater so feieriich wie von
den letzten Dingen. Was die Gebildeten jetzt von der Bühne herab
empfangen, ist teils ästhetischer Natur: Es sind lebendige Schönheits-
ideale, die auf die meisten stärker wirken als die in den Totenkammem
der Museen aufgestapelten Schönheitsideale. Teils aber ist es ein Ein-
druck rein geselliger Art. Da das Theater seine einstige Bedeutung
sei es als Mittelpunkt des Kultus, sei es als moralische Anstalt, sei es
als Betätigungsfeld für sonst brachliegende Kräfte ein für allemal ein-
gebüßt hat, und da es dennoch nicht völlig in die Kunstsphäre auf-
gehen kann, so bleibt es mit der Geselligkeit als solcher verknüpft.
Vor unserem geistigen Auge tauchen die Volksfeste der Griechen auf,
an denen Theater gespielt wurde, wir sehen die geputzte Menge In
einem französischen oder italienischen Opernhaus, wir erinnern uns
der köstlichen I^roben auf der Liebhaberbühne unserer Jugendzeit. Ist
das Theater nur zur geselligen Unterhaltung und als Schaubühne da?
Es steht vor der Entscheidung, entweder ins Äußerliche oder ins Inner-
liche aufzugehen. Tut es das erste, so wird die Dichtung zum Aus-
lösungsmittel für bildliche und mimische Eindrücke hinabsinken. Wir
werden wundervolle Bühnenbilder von großer stilistischer Strenge er-
halten, so daß aus dem Theater eine wahrhafte Schaubühne wird, auf
der das Leben zu bildhafter Vollendung aufsteigen kann. Das f^oetische
mag seinen Beitrag dazu liefern, aber einen bescheidenen. Wendet
man sich nach der anderen Richtung, so muß die Vergeistigung des
Theaters zum Verzicht auf alle Ausstattung und auf alle schauspielerische
Virtuosität führen. Die Szene wird schließlich entbehriich und durch
die Vorlesung des Dramas ersetzt werden können, bei der die Phan-
tasie des Hörers sich die ganze äußere Gestaltung viel persönlicher
und bezwingender vorstellen kann, als sie je zu verwirklichen wäre.
Viele unserer feinsten Geister verschmähen es deshalb, ein Theater zu
besuchen, weil sie vor der Roheit und Unzulänglichkeit des Buhnen-
350 UI. TONKUNST UND MIMIK.
haften zurückschrecken. Aber dies bedeutet offensichtlich den Tod
des Theaters.
Es mag wunderlich klingen und ist doch so: gerade aus diesem
scheinbar vernichtenden Dilemma, daraus, daß das Buhnendrama eigent-
lich nur zwischen zwei Todesarten zu wählen hat, ergibt sich die Be-
rechtigung der Bühnenkunst als einer selbständigen Kunst. Wir haben
schon früher gesehen, daß jede Kunst gekennzeichnet wird durch einen
Gegensatz ihrer Mittel und ihres Ziels. Eine Aufgabe der Malerei Ist,
Räumliches darzustellen; ihr Mittel, die Fläche, befindet sich in unauf-
hebbarem Gegensatz zu dieser Aufgabe. Eben das aber macht eine
Eigentümlichkeit der Malerei aus, sonst wäre sie ja nur eine Wieder-
holung der Natur, und man vermöchte nicht zu sagen, warum diese
Wiederholung vorgenommen werden soll. So liegt die künstlerische
Eigenart der Bühnenkunst darin, daß sie die Veranschaulichung dra-
matischer Seelenvorgänge mit Werkzeugen und unter Umstanden ver-
sucht, die eine restlose Verkörperung unmöglich erzielen kann. Die
Buhnenkunst muß entweder etwas von dem Gehalt preisgeben, oder
sie muß etwas von der Veräußeriichung opfern. Eben hierin li^ ihr
Reiz und ihr Charakter als einer selbständigen Kunst
Anmerkungen.
*) J. Combarieu, ThäorU da rhytkme 1897, S. 3 und in der Revüe masicaU I,
219 f. H. Rietsch, Die Tonkunst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1900,
S. 94 und Die deutsche Liedweise, 1904, S. 8 f. P. Moos, Die Musikästhetik in
Deutschland, 1900, S. 437.
') H. Riemann, Die Elemente der musikalischen Ästhetik, 1900, S. 140.
') So sagte Mattheson in seinem »Neu eröfhieten Orchester«: >C-dur (Jonicus)
hat eine ziemlich rüde und freche Eigenschaft, wird aber zu Rejouissancen und wo
man sonst der Freude ihren Lauf läßt, nicht ungeschickt sein, demungeachtet kann
ihn ein habiler Komponist, wenn er insonderheit die accompagnierenden Instrumente
wohl choisirt, zu gar was Charmantes umtaufen und fuglich auch in tendren Fallen
anbringen. — F-dur (Jonicus transpositus) ist capable, die schönsten Sentiments von
der Welt zu exprimiren, es sei nun Großmuth, Standhaftigkeit, Liebe, oder was
sonst in dem Tugendregister obenansteht« u. s. w.
*) Für nähere Beschäftigung mit diesen und verwandten Fragen sei verwiesen
auf die Tonpsychologie von Karl Stumpf.
^) Vgl. die Angaben und Untersuchungen bei Th. Vogt, Form und Oehalt in
der Ästhetik, 1865. Während im kleinen der einfache Takt aus zwei oder drei Takt-
teilen besteht, scheint doch im großen der einfache Satz am natüriichsten sich aus
vier Takten zusammenzusetzen.
*) »Denken Sie, als ich kürzlich den lustigen Hirtenreigen bei Isoldes Schiffahrt
ausarbeitete, fällt mir plötzlich eine melodische Wendung ein, die noch viel jubeln-
der, fast heroisch jubelnd und doch dabei ganz volkstümlich ist Fast wollt' ich
schon alles wieder umwerfen, als ich endlich gewahr wurde, daß diese Mekxlie
nicht dem Hirten Tristans zugehöre, sondern dem leibhaftigen Siegfried. Sogleich
ANMERKUNGEN. 351
sah ich die Schlußverse Siegfrieds mit Brünnhilde nach und erkannte, daß meine
Melodie den Worten
>Sie ist mir ewig,
Ist mir immer,
Erb' und eigen
Ein und All« u. s. w.
angehört. Das wird sich unglaublich kühn und jubelnd ausnehmen.« Richard Wag-
ner an Mathilde Wesendonk. 4. Aufl., 1904, S. 161. »Zu den Walther-Liedem fehlt
Ihnen die Melodie: die ist hier allerdings die unumgängliche Hauptsache: ich hab'
die Verse nach der Melodie im Kopf gemacht: die können Sie sich nun allerdingt
nicht denken.' Ebenda S. 301.
') Immerhin kennt schon die italienische Oper des 17. Jahrhunderts Arien, in
denen die Form nicht schematisch angewendet, sondern jeweilig durch den Inhalt
bedingt wird.
*) W. R. Qowers, Lectures an the diagnosis of diseases of ihe brain, 1885,
S. 122 u. 127. Unbegreiflich und bedaueriich ist es, daß Wallaschek dieser Ansicht
beitritt, vgl. f Psychologie und Pathologie der Vorstellung, 1905, S. 30. Ich habe seit
Jahren Gelegenheit, die Vorbereitung von Qesangsvorträgen aus nächster Nähe, vom
ersten Schritt bis zur endgültigen Darbietung zu beobachten, und ich kann bezeugen,
daß jene Ansicht eine grobe Verkennung ist. Der gebildete Sänger beginnt in der
Regel, bei modernen Liedern und beim Musikdrama ohne Ausnahme, sein Studium
damit, daß er den Text deklamiert; kurz vor dem Vortragen vergegenwärtigt er
sich stets den Inhalt und die Stimmung des Gedichtes ; während des Singens bleibt
er sich der Bedeutung der Worte genau so sehr oder wenig bewußt, wie ein Rezi-
utor oder Schauspieler; auf die Deutlichkeit der Aussprache legt er den größten
Wert.
*) Ed. von Wölfflin, Zur Geschichte der Tonmalerei. Sitzungsber. der Mönche-
ner Akad. (philos. Klasse), 1897, II, 221 258. Rudolf Louis, Franz üszt S. 51 H.
Jules Combarieu, Uexprtssion objtctive en musique d'aprh U langage instifutif,
Rfv. phiL 1893, Bd. 35, S. 124-144. Edmond Goblot, La musique deseriptive, ebenda
1901, Bd. 52, S. 58-77. Eine eigentümliche Verbindung von Wort und Klang findet
sich in den Oberschriften und Vortragsbezeichnungen. Da ich sie in einer beson-
deren Untersuchung habe behandeln lassen, so deute ich hier nur die Hauptpunkte
an. Die sprachlichen Anweisungen über den Stärkegrad beziehen sich auf die dem
Tonwerk innewohnende Kraftmenge und die Intensität von Gefühlen; die Erläute-
rung des Zeitmaßes geht auf Fühlen und Wollen in den Phasen des Ablaufs; die
nur den Ausdnick betreffenden Vorschriften bezeichnen den Hauptaffekt oder die
herrschende Stimmung.
'*) Vgl. Oskar ßie. Von der dekorativen Musik. Der Kunstwart, 15. Sept. 1894.
*') Thomas Mann, Buddenbrooks, 1901. II, 1689. Vgl. II. 522 ff.
**) Von deutschen Schriften über das Theater sind mir die folgenden am betten
bekannt: Heinrich Theodor Rötscher, r>ie Kunst der dramatischen Darstellung, in
ihrem organischen Zusammenhang wissenschaftlich entwickelt. 2. Aufl., 1864; Her-
mann Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, 1894; Max Martersteig, Der Schau-
spieler, ein künstlerisches Problem, 1900; Hugo Dinger, Dramaturgie als Wissenschaft,
2 Bde., 1904 u. 1905. Die Bemerkungen über die Eigentümlichkeit der modernen
Sptclweise sind durch Bahrs Studien angeregt.
'*) Lehrreiche Belege zum Gegensatz von Drama und Theater in Max Herrmannt
Schrift über das 'Jahrmarktsfest zu Plundersweilem • , 1900. Verwandte Ausfüh-
rungen in Zeitschriftenartikeln von Julius Hart, im Text benutzt.
352 HL TONKUNST UND MIMIK.
^*) August Klingemann erzählt von einem seiner Schauspieler in Braunschweig,
daß »sein eigenes Nervensystem ... in sein Kunstwerk übergegangen wäre, »wes-
halb ich denn auch bei szenischen Mordmomenten keinen scharfen Dolch oder ein
geschliffenes Messer als Requisit für ihn hinlegen lassen durfte, da er selbst be-
sorgte, in leidenschaftlicher Ekstase einmal den Schein mit der Tat selbst zu ver-
wechseln.« Kunst und Natur, 1828, III, 326.
") Ein wenig bekanntes Beispiel dafür, daß ein Vertreter der Wissenschaft sich
zur gesellschaftlichen Würdigung eines Schauspielers bequemte, liegt in der Wid-
mung vor, die O. W. Becker dem 1803 erschienenen zweiten Bande seines Buches
»Neue Untersuchungen über die Lebenskraft« vorausgeschickt hat: »Seinem biedern
Freunde dem Herrn Ochsenheimer, Mitglied der Churfürstlich-Sächsischen Hofschau-
spielergesellschaft aus wahrer Hochachtung zugeeignet«.
IV. Die Wortkunst
1, Die Anschaulichkeit der Sprache.
Musik und Mimik haben uns mehrfach auf die Poesie hingewiesen.
Die Vertonung von lyrischen und dramatischen Texten sowie die
Bühnendarstellung der Dramen lenkten den Blick auf die Kunst des
Dichters. Wenn wir sie mit jenen beiden anderen Künsten vergleichen,
so bemerken wir sofort, daß sie nicht im selben Sinne auf Anschau-
lichkeit rechnet, denn sie wirkt doch nicht unmittelbar auf Ohr oder
Auge. Vielmehr bedient sie sich de3 geistig aufzufassenden Wortes
als ihres eigentümlichen Mittels. Daher ist unsere erste Aufgabe, das
in der Poesie gegebene Verhältnis zwischen Anschauung und Sprache
klarzustellen.
Im Leben findet sich reine Anschauung selten. Wir sehen und
hören meist nur ein paar wichtige Punkte und einige herumgelagerte
Details, nehmen flüchtig und mangelhaft wahr: wir ergänzen das
wirklich Angeschaute durch Vorstellungsreproduktion und gedank-
liche Zutat. Bei der Erinnerung tritt die Hilflosigkeit des bloß An-
schaulichen noch schärfer heraus. Die Wahrnehmung kann allenfalls
ruhende Gegenstände geringer Größe im ganzen und mit leidlicher
Genauigkeit erfassen; die Erinnerung jedoch zeigt immer nur Teile,
dazu mit einem Schwanken und Flimmern, mit einer Unruhe in den
Einzelheiten, als ob das Bild zwischen Licht und Schatten hindurch
huschte. Ein Dichter, der zugleich mit dem Malen Bescheid wußte,
hat einmal das leidvolle Schicksal des Sinnengedächtnisses geschildert ^).
Ich setze seine Worte hierher. »Sali fühlte sich an diesem Tage
weder müßig noch unglücklich, weder arm noch hoffnungslos; viel-
mehr war er vollauf beschäftigt, sich Vrenchens Gesicht und Gestalt
vorzustellen, unaufhörlich eine Stunde wie die andere; über dieser auf-
geregten Tätigkeit aber verschwand ihm der Gegenstand derselben
fast vollständig, das heißt, er bildete sich endlich ein, nun doch nicht
zu wissen, wie Vrenchen recht genau aussehe, er habe wohl ein allge-
meines Bild von ihr im Gedächtnis, aber wenn er sie beschreiben
sollte, so könnte er es nicht Er sah fortwährend dies Bild, als ob
Dessoir, Ästhetik und allg. Konstwissensdiaft. 23
354 IV. DIE WORTKUNST.
es vor ihm stände und fühlte seinen angenehmen Eindruck, und doch
sah er es nur wie etwas, das man eben nur einmal gesehen, in dessen
Gewalt man liegt und das man doch nicht kennt Er erinnerte sich
genau der Gesichtszuge, welche das kleine Dimchen einst gehabt, mit
großem Wohlgefallen, aber nicht eigentlich derjenigen, welche er
gestern gesehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu sehen bekommen,
so hätten sich seine Erinnerungskräfte schon behelfen müssen, und
das liebe Gesicht säuberiich wieder zusammengetragen, daß nicht ein
Zug daran fehlte. Jetzt aber versagten sie schlau und hartnäckig ihren
Dienst, weil die Augen nach ihrem Recht und ihrer Lust verlangten . . .«
Vielleicht sollte man den Zweifel noch weiter treiben als hier ge-
schehen ist. Allein wir brauchen nicht alle Feinheiten zu prüfen, son-
dern unseren Zwecken genügt die Einsicht, daß schon die Wahrneh-
mung kein zuverlässiges und lückenloses Bewußtsein alles Wahrnehm-
baren ist, geschweige denn die Erinnerung. Wenn ich den Federhalter
in meiner Rechten aufmerksam und lange betrachtet habe, alsdann die
Augen schließe und nun sogleich sein Spiegelbild in mir zu wecken
suche, so erhalte ich ein verschwommenes, immerfort zerrinnendes
und doch unverwechselbares Bild. In diese Nacht des anschaulichen,
wortlosen Erinnems fällt etwas Licht, sobald der Sprache die Eingangs-
pforte geöffnet wird. Ich sage mir: rechts an der Spitze waren einige
Flecken, in der Mitte bog die Linie nach links aus — und indem ich
so das vorher Betrachtete mit Worten auseinander l^e, erleichtere
ich mir das Auftreten der Einzelheiten in sinnlicher Form. Von einer
zureichenden anschaulichen Vorstellung des Ganzen bleibe !ch freilich
entfernt genug.
In die reine Anschauung ist damit etwas Neues eingetreten. Man
pflegt diese Mitwirkung der Sprache als eine b^jiffliche Zutat unter
den Gesichtspunkten der Logik abzuhandeln, sofern man es nicht bei
der psychologischen Untersuchung bewenden läßt Indessen auch für
uns erhält der Vorgang einen Wert Es scheint doch aus ihm her-
vorzugehen, daß die Sprache eine ähnliche Bedeutung hat wie sie das
Zeichnen als Hilfsmittel für ein genaues Sehen und Erinnern besitzt
Menschen, die für die bildende Kunst veranlagt sind, bringen sich ein
Ding oder ein Geschehnis dadurch zu deutlichem Bewußtsein, daß
sie es zeichnen: mit jedem Strich wächst ihnen die Klarheit ihrer Er-
innerung. Personen, deren Neigung und Verständnis der Poesie zu-
gehört, fassen die Bestimmtheit des Wirklichen, indem sie es auszu-
sprechen bemüht sind. Ohne Wortvorstellungen vermögen sie weder
scharf zu beobachten noch treulich zu erinnern. Die geistige Kraft
der Sprache muß ihnen die Sinnenwelt erschließen. Nun li^ es in
der — fürs Denken unnachahmlichen — Verkettung aller Wirklichkeit,
DIK ANSiUAri.ICHKKIT DKR SI'RACHK. 355
dali umgekehrt die sinnliche Seite der Sprache wiederum die Geistes-
weit öffnen kann. Es sind die Laute der Sprache, selbst ihre Schrift-
zeichen, aus denen das Verständnis des Innerlichsten seine Nahrung
zieht. Wir alle wissen, wie sehr die geistige Tätigkeit von den Sinnes-
eindrücken unserer Umgebung abhangt. Ein gewohntes Geräusch,
der Anblick bestimmter, gleichbleibender Gegenstände, kurz die Ver-
knüpfung des schaffenden Geistes mit vertrauten und verständlichen
Wahmehmungsreizen fördert ihn in seiner Arbeit. Wenn beim Dichter
ein enger Zusammenhang des Schaffens mit dem Aussehen und Klang
der Worte besteht, so bedeutet das nur die Zuspitzung jenes breiteren
Tatbestandes. Im Grunde ist die Anregungskraft des Wortklanges
oder -bildes die gleiche wie die Anregungskraft einer beliebigen An-
schauung und nur deshalb um so viel stärker, weil die Assoziation
zwischen Wort und Gedanken fester und unendlich eingeschränkter ist.
Man darf demnach sagen, daii die Sprache eine doppelte Verrich-
tung erfüllt: durch das Geistige in ihr wird die Sinnenwelt, durch das
Sinnliche in ihr wird die Geisteswelt bewegt und erleuchtet Indessen
gilt beides nur innerhalb einer Grenzlinie. Wo sie liegt, läiit sich am
einfachsten für die erste jener beiden Funktionen zeigen und ist zum
guten Teil schon in Fiedlers Schriften Ober Kunst« und in Mauthners
Kritik der Sprache dargelegt worden.
Das Auge gewinnt Anregungen von außen her, die es zu Formen
und Farben gestaltet; eine neue Welt entnimmt sich das Ohr. Diese
beiden Reiche, das des Sichtbaren und das des Hörbaren, haben ver-
schiedene Inhalte und verschiedene Gesetze. Nicht die Wirklichkeit
schlechthin offenbart sich dem einen oder dem anderen Sinn, sondern
jeder gestaltet durch Auswahl sich eine eigene Wirklichkeit. Ganz
so verhält es sich mit der Sprache. Sie ist weder die Fortsetzung
der optischen noch die der akustischen Welt, vielmehr eine Welt für
sich, die zwar Verbindungen mit jenen Besitzformen eingehen, jedoch
nie in deren Verlängerungslinie liegen kann. Wir vermögen die Wahr-
ni'hnuing einer Farbe, eines Klanges bis zur höchsten Schärfe zu
steigern, ohne dali eine Benennung sich einstellt Oder, um das
frühere Beispiel richtig einzuschränken: die Unbestimmtheit sinnlicher
Oedächtnisvorstellungen wird dadurch nicht eigentlich behoben, daB
man sie in Worte überführt, denn die Worte vernichten ja zugleich
die Eigentümlichkeit jener Vorstellungen. Sinnliche Vorstellungen
konru'n den Wortvorstellungen vorangehen (oder ihnen folgen), aber
niemals zu Bestandteilen von ihnen werden. Nur durch das unab-
las>ige und überaus schnelle Zusammenwirken beider Sphären entsteht
der Anschein ihrer Gleichartigkeit. Ich sehe eine gleichmäßig rote
Fläche und sage: das ist rot')- Zwischen der Oesichtswahmehmung
356 IV. DIE WORTKUNST.
und dem sprachlichen Ausdruck, zwischen dem wirklich Empfundenen
und dem Urteil besteht keine auffaBbare Ähnlichkeit Dennoch ge-
hören sie eng zusammen. Sonach fragt sich, wie diese Zusammen-
gehörigkeit zu verstehen sei. Wie kommt es, daß die Welt der Worte,
obwohl unabhängig, ja künstlich und konventionell, dennoch sich mit
dem sinnlichen Sein in einem gewissen Umfange zu decken scheint?
Man kann die Frage auf ein allgemeineres Problem zurückschieben,
nämlich auf das Verhältnis von Natur und Geist überhaupt Aber
wollte ich hier die von Schelling so genannte Tendenz der Natur
»aufs Intelligente zu kommen« einer metaphysischen Erörterung unter-
werfen, ich käme mir vor wie jemand, der ein Bächlein durchfahren
soll und sich zwischendurch aufs hohe Meer wagt. So muß dem-
nach mit bescheideneren Mitteln vorg^angen werden. Und zwar zu-
nächst mit der einfachen, übrigens längst anerkannten Erwägung, daß
Worte und Sätze für das Bewußtsein des Sprechenden zumeist sich
auf einzelne anschauliche Gegenstände oder Vorgänge beziehen. Bei
einer Aussage sind wir uns gewöhnlich dessen nicht bewußt, daß sie
sich auch auf anderes anwenden läßt als auf das Besondere, woran
wir gerade denken. »Im Anfang seiner Bedeutungsentwickelung kann
daher das Wort immer nur einem individuellen, durch Gliederung
irgend einer sinnlichen Gesamtvorstellung entstandenen B^jiff als sein
lautliches Äquivalent entsprechen.« (Wundt, Völkerpsych. I, 2, S. 456.)
Dieser individuelle Begriff und der ihm entsprechende Name treffen
ihren Gegenstand in der Regel nur an einem Punkte, nämlich an dem,
der — wegen der sogenannten Enge der Apperzeption — am deut-
lichsten aufgefaßt worden ist. Die Möglichkeit aber, überhaupt Gegen-
stand oder Eigenschaft oder Zustand zu treffen, all in ihrer sinnlichen
Beschaffenheit, erklärt man gegenwärtig daraus, daß der ursprüngliche
Sprachlaut eine Lautgebärde und demgemäß gleich anderen Gebärden
die Äußerung des vom Objekt gewonnenen Eindrucks sein soll. Eine
unzweideutige Beziehung zwischen Laut und Bedeutung fällt damit
fort. (Wundt, a. a. O. 607.)
Aus allem dem scheint mir folgendes sich zu ergeben: Die Worte
haben anfänglich und vielfach auch in ihrer späteren Entwickelung und
Verwendung je einen ganz bestimmten, auf einzelnes bezüglichen
Sinn; sie geben einen anschaulichen Eindruck oder eine anschauliche
Vorstellung wieder, so, wie mimische Bew^^ngen überhaupt dazu
im Stande sind. Was, metaphysisch betrachtet, die Erhebung der
Natur zum Geiste ist, das stellt sich, psychologisch angesehen, als
Umsetzung einer sinnlichen Vorstellung in eine (Laut-)Gebärde dar.
Sobald diese Umsetzung erfolgt ist, hört auch die Wirksamkeit der
sinnlichen Vorstellung auf: an ihre Statt ist nun eben etwas anderes
DIE ANSaiAUUCHKEIT DER SPRACHE. 357
getreten, wovon wir gleichfiüls ein Bewußtsein hibea Nicht jede
Anschauung lIBt sich so umbilden, daß sie eines wörtlichen Ausdrucks
fähig wird, der den Redenden befriedigt und dem Hörenden verstind*
lieh ist; schon wenn wir die Sprache als Verkehrsmittel gebrauchen,
beobachten wir doch manchmal, wie famge an einer Anschauung ge-
formt werden muB, bis wir irgend dn Wort — noch keineswegs das
beste — dafür finden. Grundfalsch ist demnach die mechanistische
Auffassung: jeder beliebige anschauliche BewuBtsdnsinhaH ziehe durch
Assoziation das entsprechende Wort hert>eL Denn dne assoziative
Verkoppelung zwder unverinderlichen Vorstdiungcn liBt sich fai den
Tatsachen nicht nachwdsen.
Doch dien wir zu den Dingen, die uns hier wichtiger sind Zu-
nächst und zumeist dient die Sprache als Verkehrsmittd. Fragt man,
wodurch sie zur Aiisdrucksform dner Kunst geworden ist, so erhilt
man von der alteren Poetik zwd Antworten. Die dne wdst darauf
hin, daß die Sprache, in der fast alles mitgetdit werden kann, der ihrer
skh bedienenden Kunst den rekhsten Inhalt gewihrldsteL Die andere
beruft skh darauf, daß die Dichtkunst ihre dgene Sprache habe, dne
konkrete, in OefOhl und Anschauung wurzelnde, in Biklem und Rhyth*
men lebende Sprache Man sagt uns also, die poetische Sprache
wende skh an die Einbildungskraft und das OdOhl; ihr Stoff sden
äußere und innere Vorginge; ihr höchstes Streben gehe auf Anschau*
lichkdt; hingegen habe es der Oedankenstil mit Ansichten und Ur-
teilen, mit Klarhdt und scharfem Unterschdden zu tun; dort herrsche
der Rhythmus, hier die Logik. Ich fürchte, diese Theorie flbersieht,
wieviel nicht Anschauliches und nkht Odflhlsmißiges in allen größeren
Werken der Poesie zum Ausdruck dringt Sie macht femer dne zu
einfache und zu derbe Unterschddung. In viden Beziehungen bleibt
die Redeweise des Dkhters die des täglichen Verkehrs und der wissen-
schaftlichen Darstellung. Und umgekehrt: wo zum Zwedc der Ver-
ständigung gesprochen wird, werden oft Figuren und Formen ver-
wendet - man denke an die namentlich bd Frauen so bdiebte Hy-
perbel , die der Dichter zu Kunstzwecken gebraucht Schließlkh
ist etwas ganz Wesentikhes in jener Auftessung flbersehen, wovon
bereits die Rede war. Die isthetische Stdiung der Sprache ist nicht
die, daß sie einen fertigen Seelenvorgang in bestimmter Art ausdrucke;
sondern daß sie skh als sdbstfitige Macht im kflnstlerischen Schaffen
erweise. Hdnrich von KIdst mag aus eigener Erfahrung gesprochen
haben, als er sagte: Vidie vient en partant
Aber nicht nur um dk Sprache als Mittd der BewuBtsdnsste|ge-
runf;, als Förderin der OedankenbiMung und Sdbstdnsicht handelt es
skh hier. Nach der herrschenden Ansteht dient die Sprache ledigUch
358 IV. DIE WORTKUNST.
dazu, daß Bilder, die im Geist des Dichters entstanden waren, in den
Geist eines anderen übergeführt werden können. Während etwa die
Malerei von der Farbe abhängig ist und bleibt, sei die Dichtkunst
nicht in gleicher Weise an die Sprachlaute gebunden, an diese bloßen
»Vehikel« oder Mittel der »Zuführung« von Phantasiebildem. Eduard
von Hartmann behauptet, »daß es nur der Wortsinn ist, von welchem
die poetische Wirkung als solche abhängt, nicht die schöne Sprache
und deren schöner Vortrag; wo die Wirkung durch die beiden letzteren
verstärkt wird, haben wir es mit dem Hinzutreten einer außerpoetischen
ästhetischen Wirkung zu der poetischen, also mit der zusammen-
gesetzten Wirkung eines aus mehreren Künsten zusammengesetzten
Kunstwerkes zu tun . . .« (Phil, des Schönen S. 715—716.) Und der
Wortsinn erschließe sich in der Dichtkunst von der Seite der An-
schauung. Deshalb müsse der Dichter auf die Grundbedeutung der
Worte zurückgehen und die Worte so miteinander verbinden, daß die
in jedem Einzelwort verschlossen liegenden Anschauungen sich er-
gänzen und steigern. Es soll in der Poesie ein Maximum der An-
schaulichkeit erreicht werden. Die Sprache ist nur das technische
Hilfsmittel für das Entstehen des Phantasiescheins, als in welchem
der ideale Gehalt des Kunstwerks lebt Nicht ein Wahmehmungs-
schein, sondern der sprachlich festgelegte Phantasieschein gilt dieser
Ästhetik als die konkrete Erscheinungsform der Poesie: das Wort ist
zwar unentbehrlich, wird aber in jenem Schein zum aufgehobenen
Moment
Diese Theorie ist allmählich umgebogen worden. Am entschie-
densten hat Th. A. Meyer in seinem Buch »Das Stilgesetz der Poesiec
die Ansicht vertreten, daß die Sprache das Darstellungsmittel der Poesie
ist »Denn nicht in Sinnenbildem, die durch die Sprache suggeriert
wären, sondern in der Sprache selber und in den durch sie geschaf-
fenen, ihr allein eigentümlichen Gebilden bekämen wir den Gehaitc
(S. 8.) Die Poesie sei ungeeignet für die Veranschaulichung, durch die
Rede würden der Regel nach keine Wahmehmungsbilder ausgelöst;
demnach seien die Worte und Gedanken der Sprache selber das Dar-
stellungsmittel der Dichtkunst Durch diese Auffassung wird es mög-
lich, die Poesie nach den Grundsätzen zu erklären, die sich gegen-
wärtig für die anderen Künste durchzusetzen beginnen. Wir begreifen
jetzt die Sonderart jeder Kunst aus dem kennzeichnenden und die Ge-
staltung bedingenden Mittel. Wie man gern von Tonkunst und neuer-
dings auch von Raumkunst spricht, so sollte man statt Dichtkunst
lieber Wortkunst sagen. Denn so wie das Tongefühl von der Musik,
das. Raumgefühl von der Architektur err^ wird, ähnlich so das
Sprachgefühl von der Wortkunst Die Absicht der Poesie ist der
DIK ANSiHAriJCUKMT DKR STÄCHE. 350
Oenuti durch Worte (manche Neuere meinen sogar: der Oenuß am
Worte), und das Könstlertum eines Dichters (manche Neuere meinen
sogar: die Weltanschauung eines Dichters) besteht in der Macht Ober
die Sprache. Der Sinn und die Sprache gehören hier so eng zu-
sammen wie Sinn und Klang in der Musik: die Sprache stellt nicht
nur etwas Innerliches dar, sondern stellt auch sich selbst dar.
Es muß also nochmals auf die schon (S. 16Q) untersuchte Frage
zurückgegriffen werden, wie des Dichters Kunstmittel, die Sprache,
sich zur Veranschaulichung verhält und ob die davon ausgelöste Ge-
fühlswirkung der zwischentretenden sinnlichen Phantasiebilder bedarf.
Allerhand Fälle sind ja möglich. Man könnte denken, daß an die
Worte als solche, ohne daß sie zum Entstehen sinnlicher Vorstellungen
führen, nur vorgestellte Gefühle sich knüpfen: eine schattenhafte Freude,
ein blasser Zorn, und daß ein wirkliches Gefühl erst auf Grund opti-
scher, motorischer, akustischer Sinnesvorstellungen eintritt. Je nach-
dem man nun glaubt, mit vorgestellten Gefühlen auskommen zu können,
oder wirkliche Gefühle verlangt, wird man die bloßen Wortgebilde als
zureichend oder unzureichend bezeichnen. Wie man sich auch ent-
scheide: diese Fragestellung mit ihrem einfachen entweder oder
müßte zu einer vorschnellen Antwort verleiten. Denn die f^oesie er-
zeugt zweifellos die Gefühle beider Arten. Es fragt sich nur, was man
als das Spezifische ansehe. Denken wir uns den Zorn durch Be-
schreibung des Aussehens verdeutlicht und nehmen wir an, daß der
eine mitfühlende Leser einen vorgestellten, der andre einen realen Zorn
in sich empfinde. Hier wird wohl vom Dichter das Auftreten der
entsprechenden Gesichtsvorstellungen erwartet (nicht notwendigerweise
er/ielt), selbst wenn eres nur auf das Hervorrufen schattenhafter Gefühle
angelegt hat. Aber es gibt auch eine mittelbare') Beschreibung. Sie
wählt Sinnliches, um durch sein Verhältnis zum Gemütlichen dieses zu
kennzeichnen, wie wenn der Dichter jemand von der Schönheit seiner
(jclichten in überschwenglichen Schilderungen sprechen läßt, damit
seine Liebe dem Leser zum Bewußtsein gelange. Der Nachdruck liegt
dann nicht darauf, daß die Nachbildung der gepriesenen Schönheit
vollzogen werde, sondern daß der Seelenzustand des Helden indirekt
lebendig und zum Inhalte eines mehr oder minder lebhaften Gefühles
werde. (Vgl. Meyer, Stilgesetz S. 115.)
Schon aus diesem letzten Beispiel erhellt: es gibt poetische Schilde-
rungen, bei denen es nicht auf Versinnlichung ankommt und dennoch
der Zweck nämlich meist das Nachfühlen eines Seelenzustandes —
erreicht wird. Bei direkter Beschreibung treten freilich oft genug an-
schauliche Vorstellungen auf und ziehen bestimmte Gefühle nach sich.
Indessen, dadurch wird die Poesie noch nicht die Kunst des Phantasie-
360 rV. DIE WORTKUNST.
Scheins. Sie wendet sich vielmehr im wesentlichen an unsere sprach-
liche Vorstellungstätigkeit: das Spezifische ist nicht dies Phantasiebild,
sondern sein Ursprung aus der Sprache. Der Beweis li^ darin, daß
mindestens die sogenannten vorgestellten, vielleicht aber auch die
realsten Gefühle ohne Anschauungstätigkeit an das Wort selber sich
anschließen. Und verständlich kann dies daraus werden, daß Worte
einen Ersatzwert für die Wirklichkeit besitzen, daß sie, kunstgerecht
zusammengestellt, einen Tatbestand zu vertreten fähig sind. Unser
seelisches Leben ist so eigentümlich entwickelt, daß an Worte die-
selben Folgen sich anschließen, wie an das Erleben einer Wirklich-
keit, der die Worte entsprechen; ja, es gibt Menschen, bei denen der
durch die Rede hervorgerufene Eindruck stärker ist als der aus der
Realität stammende Eindruck. So wird beispielsweise die tierische
Sinnlichkeit in uns durch Beschreibungen, selbst nur durch einzelne
Worte, ebenso leicht erregt wie durch den Anblick gewisser Dinge
und Vorgänge. Gefühle, von den niedersten bis zu den höchsten,
schließen sich nunmehr direkt an die Worte an. Wenn Heine aus
dem Balsamkraut einen »Leichenduft« hervorsteigen läßt, so entsteht
bei niemand die Geruchshalluzination, sondern der Ausdruck ist des-
halb künstlerisch wirksam, weil das Wort für sich alle seelischen Er^
regungen, die an die Wahrnehmung oder ihre Reproduktion geknüpft
wären, sogleich hervorruft. Damach braucht die Schilderung eines
Menschen oder einer Gegend keineswegs optische Vorstellungen zu
wecken und kann doch so eindrucksvoll sein wie ein Gemälde.
Metaphern und Allegorien veriangen nicht unbedingt, daß tatsächlich
verglichen werde, sondern können wie Akkordfolgen oder Farben-
harmonien auf ein empfängliches Gemüt einwirken. War vielldcht
anfänglich die Wortwirkung auf das Eintreten einer sinnlichen Vor-
stellung angewiesen, so ist diese bei uns nahezu überflüssig geworden:
die Sprache hat sich zu einer Welt verdichtet, an die alle seelischen
Folgen sich ebenso leicht heften wie an die Welt dort draußen.
Um diese Behauptung zu bekräftigen, sei vorerst ein ganz ein-
faches Beispiel zu Hilfe genommen. Beim Worte »Hunde kann ich
ein optisches, beim Wort »Oboe« ein akustisches Erinnerungsbild
haben; es ist aber auch möglich, daß sinnliche Vorstellungen anderer
Sinnesmodalitäten auftreten, ich also beispielsweise bei »Hund« inner-
lich ein Bellen höre, bei »Oboe« das Instrument mit geistigem Auge
vor mir sehe. Eine notwendige Bewußtseinsrepräsentation der einzelnen
Worte läßt sich nicht nachweisen. Man prüfe sich daraufhin, ob etwas
ganz Festes und Gleichbleibendes bei der Vorstellung »Hund« derart
im Bewußtsein ist, daß es deutlich aufgefaßt und ang^eben werden
kann. Die logische Begriffsbestimmung fällt nicht mit dem psycho-
I»IK .\NS( HAn.KIIKKIT DKR SPRAi IIK. 361
logischen Bestand zusammen: was sich tatsächlich in uns beobachten
lältt, ist eine sehr schwankende und wechselnde Tätigkeit. Schon
wenn ich Hund* deutlich und wenn ich Hund^ undeutlich vorstelle,
sind das zwei (;anz verschiedene I^ozesse, die dem Gebrauch desselben
Wortes zwar keinen Abbruch tun, in ihm aber auch nicht hervortreten:
der VorstellunKsmÖKÜchkeiten bleiben sehr viele. Das Zerstückeln der
ununterbrochenen seelischen Arbeit, das Herauslösen von logisch be-
stimmbaren und sicher umgrenzten Einheiten, das Verselbständigen
dieser Einheiten derart, daß sie nun als Träger jedes seelischen Vor-
gangs erscheinen - dies alles mag für die Zwecke der Wissenschaft
unentbehrlich sein, gibt aber kein der inneren Wirklichkeit entsprechen*
des Bild. Obgleich also bei der Apperzeption eines Wortes vielerlei
Einzelbilder auftreten können, ist nun jedes Wort dennoch ein Inhalt,
der mit keinem andern verwechselt wird. Das ist zum Teil darin be-
gründet, daß die Vorstellungsmöglichkeiten immerhin begrenzt sind,
zum Teil darin, dali wir den Begriffsinhalt in Urteilsform auseinander-
legen können. Der Bedeutendste unter den Kunstphilosophen von
gestern, Hippolyte Taine, hat einmal den zweiten Punkt herausgehoben
und etwas uberdeutlich gesagt: Es ist nicht mehr natürlich, wenn
wir Maler sind. Sprechen Sie z. B. vor einem Modernen das Wort
,Baiim' aus; er wird wissen, daß es sich weder um einen Hund noch
um einen Hammel noch um ein Möbelstück handelt; er wird diese
Bezeichnung in seinem Kopf in einen besonderen, mit einer Aufschrift
versehenen Kasten niederlegen; das ist es, was wir heute «schauen*
nennen. Sicheriich findet in der Regel ein sinnliches Nacherieben
nicht statt, selbst wenn wie in der neuesten I^oesie so oft ein
markantes Wort, durch Gedankenstriche oder Zeilenabstände vereinzelt,
mit aller Wucht vor den Leser hingestellt wird. Wir erhalten keinen
Linpfindungs-, sondern bloß einen Wortbesitz. Und ganz gewiß steht
die Starke des ästhetischen Eindrucks in keinem Verhältnis zum etwa
vorhandenen anschaulichen Bild, denn dies pflegt so zart und undeut-
lich /u sein, daß eine intensive Erregung dadurch nicht zu stände
kommen kann.
Nur die ersten Anfänge im Leben eines Wortes sind wie ein Sonnen-
blick. Da ist das Wort noch frisch und kraftvoll, unverblaßt und
unverbraucht; da wirkt es mit seinem ganzen Inhalt und auf jedermann.
Aus dieser Einsicht heraus haben Dichter auf die ursprungikhen Be-
deutungen der Worte, auf urwüchsige Dialektformen und natüriiche
Metaphern zurückgegriffen. Ich fand einmal eine Darstellung H. D. Tho-
rcaus erwähnt, die noch dazu ein Musterbeispiel heißen kann: >Der
wäre ein Dichter, der die Wörter zu ihrem ursprünglichen Sinn
/urückbefestigen könnte, so wie der Landmann im Frühling Zaunpflhle,
362 rv. DIE WORTKUNST.
die der Winterfrost gehoben hat, in den Boden zurückschlägt; bei dem
man im Gebrauch der Wörter sofort deren Herkunft und Ableitung
verspürt; der sie auf die Seite seines Buches verpflanzt mitsamt der
Erde, die noch an ihren Wurzeln hangt . . .« Das ist schön gesagt,
bedeutet aber eine unerfüllbare Forderung. Denn welcher durch-
schnittliche Leser hat ein solches Wurzelgefühl? Auch der poetische
Wert altertümlicher Ausdrücke liegt nicht in der Anschaulichkeit, denn
diese pflegt gerade bei ihnen recht schwach zu sein. Vielmehr erfahren
wir durch sie eine rein sprachliche Gefühlswirkung. Um sie zu ver-
stehen, vergegenwärtige man sich die lautsymbolische Bedeutung und
überlieferte Kraft der Eigennamen. Es gibt Namen, die wie eine Fanfare
dem Ruhm des Trägers vorausschallen (»Sarasate«), andere, die komisch
klingen (»Bemperlein«), andere wiederum, die vornehm, gleichgültig,
schwer merkbar u. s. w. sind. Goethe hat recht, wenn er in »Wahr-
heit und Dichtung« von den Vornamen bemerkt: »Auch der Trid>,
sein Kind durch einen wohlklingenden Namen, wenn er auch sonst
nichts weiter hinter sich hätte, zu adeln, ist löblich, und diese Ver-
knüpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar
über das ganze Leben der Person einen anmutigen Schimmer.« Ich
frage nun: hat das irgend etwas mit der von der älteren Poetik ver-
langten optischen Anschauung zu tun? Nein, vielmehr haftet die Ge-
fühlswirkung am Klang, an tausend Assoziationen und Beziehungen,
die, fernab von aller Wirklichkeit, lediglich innerhalb des sprachlichen
Kosmos auftreten.
Mit der Metapher ist es folgendermaßen bestellt Lautmetapher
heißt eine »Beziehung des Sprachlauts zu seiner Bedeutung, die sich
dadurch dem Bewußtsein aufdrängt, daß der Gefühlston des Lautes
dem an die bezeichnete Vorstellung gebundenen Gefühl verwandt isLc
(Wundt, Völkerpsych. I, 1, S. 326.) Worte mit dumpfen oder hellen
Vokalen, gewählt, um dumpfen Schmerz oder helle Freude auszudrücken,
wären hierher zu rechnen, aber auch — wie Wundt mit einem Beispiel
wohl andeuten will — solche Wortgefüge, deren Rhythmus einer zu
schildernden wirklichen Bewegung entspricht. In jenem Fall wird man
nur von mittelbarer, in diesem Fall unumwunden von Anschaulichkat
sprechen können. Aber die eigentliche Metapher als Anschauungs-
steigerung zu bezeichnen, wie es geschieht, liegt ein zwingender Grund
kaum vor. Wenn der Dichter die Körperwelt beseelt und das Seelische
verkörpert, so entspringt das nicht aus einer besonders starken An-
schauungskraft, sondern daraus, daß unsere arme Sprache Seelisches
selten anders als in Bezeichnungen aus der Sinneswelt ausdrücken
und dann wieder das Körperliche nicht anders als mit Worten aus
dem Vorstellungsleben benennen kann (s. S. 88). Die Metapho- ist
Jk
IHK ANSCHAriJCUKKIT DKR SPRACIIh; 363
aus dem Grunde kein Zierat, sondern eine Grundform der Poesie,
weil sie tief im Wesen der Sprache wurzelt*).
Über die anschauunKserzeugende Kraft der einzelnen Worte wlre
also zu sa^en: sie ist im allgemeinen recht schwach und niemals ein-
deutig bestimmt. Aus der Tatsache, daß neuK:eprä{i[te Worte leichter
Sinnesvorstellungen wecken, darf man nicht schließen, daß beim Zurück-
greifen auf ursprungliche Bedeutungen, altertümliche und dialektische
Worte sowie Metaphern eine stärkere Anschaulichkeit Zweck und Folge
sei; denn in allen diesen Fällen steht es anders. Was geschieht
nun, wenn Worte zu einem Gefuge vereinigt werden? Indem die
Worte zu Sätzen (und diese zu höheren Einheiten) zusammentreten,
entstehen Beziehungen zwischen ihnen, durch die sie an Bestimmtheit
und auch an Anschauungskraft gewinnen. Jeder Satz bildet eine Einheit.
Daß er in der Zeit abrollt, hindert nicht seine völlige Vereinheitlichung
im Bewußtsein. Denn der ganze Umfang des darin Geschilderten
wird aufgefaßt, mag auch nach der Folge der Wörter diese oder jene
Vorstellung zeitweilig deutlicher hervortreten. Und das Ganze wirkt
auf die Teile ein. Diese sind ja, wie wir gesehen haben, keine um-
grenzten Vorstellungen mit festem Inhalt, sondern fugen sich in Bedeu-
tung und Bewertung dem Zusammenhang, in dem sie sich befinden.
Des Dichters Kunst besteht nun darin, die Worte so einzuengen und
zu heben, daß gerade diejenigen ihrer Seiten erfaßt werden, auf die es
im Interesse der Wirkung ankommt. Wie für das begriffliche Denken
die wesentlichen Merkmale eines Begriffs, die keineswegs immer die-
selben bleiben, erst durch den jeweiligen Zweck der Begriffsbildung
bestimmt werden, so sind die wirksamen Momente in den Worten
des Dichters durch den kunstvoll geschaffenen Zusammenhang bedingt
Der synthetische Charakter aller Kunst bringt es mit sich, daß wir
solche poetischen Beschreibungen als lebendig empfinden, die zu einer
unreflektierten Einheit zusammengehen. Die künstlerische Wahrheit
einer Beschreil)ung besteht nicht in der Übereinstimmung mit der Wirk-
liclikeit, nicht in der anschaulichen Nachbildung aller Einzelvorstellungen
nach ihrer Reihenfolge, sondern in der vorliegrifflichen Einheit eines
sich gliedernden und bedingenden Vorstellens.
Dem Inhalte nach läßt sich diese Einheit nur schwer im allgemeinen
bestimmen. Das wichtigste ist wohl, daß der Dichter vor dem bilden-
den Künstler die Möglichkeit voraus hat, alle inneren Gründe und
wirkenden Ursachen sowie die seelischen Folgen und äußeren Wir-
kungen eines Geschehens darzulegen, und zwar mit einer Feinheit und
Genauigkeit, die eben nur das Wort gewähren kann. Der so ent-
stehende Zusammenhang ist weder mit dem logischen, noch mit dem
wirklichen gleichzusetzen. Die syllogistische Verknüpfung dreier Ur-
364 IV. DIE WORTKUNST.
teile kann durch kahle Buchstaben dargestellt, ja sogar durch eine Art
Rechenmaschine vorgenommen werden; der Dichter ist auf die kunst*
volle Verwendung der Sprache angewiesen. Während im Leben alles
sinnvolle Zusammensein und Auseinanderfolgen vom Zufall durch-
kreuzt wird, oder Kleinigkeiten und Unsinnigkeiten als Bindeglieder
auftreten, schafft der Künstler einen reinlichen Zusammenhang dessen,
was ihm wesentlich erscheint und die Stimmung unmittelbar übertragt.
Daraus gewinnen die Leser jenes erhöhte Kraftgefühl, das die Wirk-
lichkeit zumeist versagt. Verstärkt wird es dadurch, daß die Wort-
kunst dem Genießenden Spielraum läßt, denn er ist kein passiv Auf-
nehmender, sondern einer, der auch tätig gestaltet, der den Anweisungen
der Worte in seiner besonderen Art folgen kann. Bereits E. v. Hart-
mann hat darauf hingewiesen, daß die Phantasie des Hörers unvermerkt
aus dem Eigenen Ergänzungen hinzufügt, z. B. die Landschaft ausmalt,
in der die Handlung spielt, vorausgesetzt, »daß die vom Dichter unbe-
stimmt gelassenen Ausführungen in ihrer näheren Beschaffenheit un-
wesentlich für die poetische Wirkung der Handlung sind« (a. a. O.
S. 717). Man muß sogar noch weitergehen und sagen: sehr lebhafte
Vorstellungen heften sich an das Gehörte oder Gelesene auf Grund
von eigenen Erfahrungen, die mit der Beschreibung des Dichters nur
durch eine gewisse Ähnlichkeit verbunden sind. Eine genaue Auf-
fassung des Dichterwortes wird natürlich dadurch erschwert, daß mir
ähnliche Landschaften oder Häuser oder Menschen einfallen (nicht selten
auch Gemälde oder Bühnenszenen), aber die Versinnlichung wird leichter
und stärker. Eine Aufzählung von Beispielen, sowie die genauere
psychologische Untersuchung, wie weit die Ähnlichkeit geht, würde
wenig Wert haben. Der Vorgang ist meist der, daß ein paar Worte,
irgendwelche Einzelheiten, uns zu einer willkürlichen, auf persönlicher
Erinnerung beruhenden Gestaltung Anlaß geben.
Demnach bleibt die Bestimmtheit, die durch sprachliche Beschrei-
bung erreicht werden kann, stets hinter der Genauigkeit einer bildlichen
Wiedergabe zurück: denn selbst die gehäuftesten Schilderungen er-
reichen niemals, daß der Genießende genau die gleiche Vorstellung
nachbildet, die der Dichter gehabt hat In der 1887 geschriebenen und
Le Roman betitelten Vorrede zu Pierre et Jean erzählt Maupassant,
was Flaubert ihn gelehrt hat Das Geringste enthalte etwas Unbe-
kanntes und Eigentümliches, wodurch es sich von allen ähnlichen
Gegenständen unterscheide; um diese Nuance zu fassen, bedürfe der
Dichter einer hellseherischen Erkenntnis für alle Wertunterschiede, die
die Worte je nach ihrem Platz gewinnen. >// meforgait ä exprimer, en
quelques phraseSy un etre ou un objet de maniere ä le particulariser
nettement Quelle que soit la chose qu'on veut dire, U n'y a gu^an
lUK ANS('IIAIIIJCHKKIT DKR SPRACHK, 365
mot pour rexprimer, qu'un vcrbe pourVanimer et qu'un adjcctif pour
la qualifier,'' Diese Anweisung muß so, wie K<^zeigt wurde, ergänzt
und berichtigt werden. Außerdem aber • und zum OIQcke - steht
ihr die Vieldeutigkeit selbst der genauesten sprachlichen Darlegung
entgegen, sofern diese künstlerisch bleibt Allen wahrhaft poetischen
Beschreibungen eignet jenes Schwebende, Unbestimmte, das wir jetzt
so lebhaft als notwendigen Bestandteil des Kunstlerischen empfinden«
Was die gute Malerei durch Auflösung der Umrisse, durch dämmernde
Farbenübergänge mühsam erreicht, das hat die Dichtkunst von selber
durch die Unbestimmtheit der Worte und ihrer Verbindungen. Die
Schildcrungsweise des Dichters steht eben zwischen der des bildenden
Künstlers und der des Musikers in der Mitte. An das Bild müssen
bestimmte optische Vorstellungen vom Oenieftenden angeschlossen
werden, an das Wort können sich schon mehrere Vollziehungsmög-
lichkeiten knüpfen, an die Töne werden sehr viele angelehnt. Das
Bildwerk drängt den Betrachter in eine Bahn, das Dichtwerk läßt ihm
einige Wege, das Ton werk beflügelt die f^hantasie zu einem Auf-
schwung ins Unendliche. Der Maler hat Darstellungsfälligkeit, der
Dichter besitzt Ausdruckskraft, der schaffende Musiker verfügt über
Suggeriervermögen.
Werfen wir daher einen Seitenblick auf das Musikalische in der
Sprache. Wortverbindungen gewinnen einen Glanz, indem ihr Klang
und Rhythmus gefällt und die hiermit verbundenen Oefühlstöne sich
harmonisch ineinander fügen. Rein klangliche Ähnlichkeiten werden
zum Kunstmittel in der Beschreibung. Die Worte locken sich gleich-
sam hervor:
Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt.
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.
(Faust II.)
Und der Rhythmus, der durchhaltende Zug aller Musik, spielt fiberall
hinein. Sein I'rinzip findet sich in jedem künstlerisch aufgebauten
Satz und in jeder poetischen Verbindung von Sätzen. Durch die
Stellung der Worte, die allein ein Dichter entdecken kann, wird der
Lesende oder Hörende zu gewissen Akzenten gereizt, durch die fast
i-ine Melodie entsteht: Näheres mag man in Arno Holzens > Revo-
lution der Lyrik und in den ästhetischen Verkündigungen der > Blätter
für die Kunst nachlesen. Schon in einer bestimmten Behandlung der
IVosa sind Rhythmen unverkennt)ar und selbst nach der Eigenart des
Diihtcrs als ihm zugehörig festzustellen. Stärker treten sie Inder ge-
Inindcnen Rede hervor. Ihr gegenüber empfindet wohl jeder durch den
melodischen Fall sich in eine Stimmung gerückt: in diejenige ruhiger
(jleichmäfiigkeit oder in die einer lebhaften Erregung beispielsweise.
366 rv. DIE WORTKUNST.
Unsere Auffassung ist — unabhängig von allen etwa entstehenden
Sachvorstellungen — an diesen Gefühlswert des Rhythmus gebunden,
weshalb man lieber von »bindender Rede« sprechen sollte, und zumal
dann, wann gehört und nicht gelesen wird. Die harmonische Gesamt-
anschauung, die wir dem echten Kunstwerk verdanken, wurzelt hier
im Rhythmus als in einem konstruktiven Prinzip der Dichtkunst
Mit Ausnahme des Prosaromans erhalten alle Unterarten der Poesie
ihre organische Geschlossenheit durch den rhythmischen Aufbau, der
nicht nur Satz für Satz, sondern auch das Ganze des Werkes um-
spannt. Reim und Refrain sind dem g^enüber Nebenmittel der Wort-
kunst, immerhin aber beachtenswert, weil sie ausschließlich beim Worte
möglich und in ihrer Gefühlswirkung kaum analysierbar sind Für
unsere Betrachtung scheint die Tatsache höchst lehrreich, daß im Alter-
tum der Reim in der Rede verstattet, in der Poesie verpönt war, daß
Gleichklang zu Beginn und zum Schluß der Sätze seit Gorgias der
Rhetorik — aber auch nur dieser — als erlaubtes Mittel galt. So stark
also wirkt hier die eigentümliche Beschaffenheit der Sprache, und aus
ihr, nicht aus anderen Bedingungen, sollte dieses Formmittel der lyrischen
Dichtung abgeleitet werden.
Indessen wir wollen uns nicht in Einzelheiten vertieren, sondern
lieber zur Hauptsache zurückkehren. Daß die Vorstellungsbew^[ung
ohne Anschauung nicht künstlerisch wirken könne, war die zu zer-
störende Fabel. Die regierende Wahrheit lautet: des Dichters Worte
veranlassen im Hörer oder Leser innere Bilder, an die der ästhetische
Genuß geknüpft ist; die Kronprinzen- Wahrheit, der die Zukunft gehört,
besagt hiergegen: an den Wort- und Satzvorstellungen selber haftet
der Genuß. Früher lehrte man, daß nichts in der Idee sein dürfe, was
nicht zugleich auch sinnlich erscheint, und daß alles sinnlich Er-
scheinende völlig mit der Idee erfüllt sein müsse. Jetzt beginnt man
einzusehen, daß diese allgemeine Theorie nur mit starken Einschrän-
kungen und Abänderungen auf die Poesie anzuwenden Ist Die Be-
schaffenheit und Wirksamkeit der Poesie ist viel zu kompliziert, als
daß sie mit einem Schlagwort bezeichnet werden könnte. Für unseren
Gedankenzusammenhang lag der Nachdruck auf folgender Erwägung.
Wenn Kunst eine Form des geistigen Lebens ist, durch die unser
Fühlen befreit und gesteigert wird, so ist das Mittel der Poesie, wo-
durch sie dieses Ziel erreicht, die Sprache mit allen ihren Eigentüm-
lichkeiten, angefangen vom Wesen des einzelnen Wortes bis hin zum
Rhythmus eines zusammengesetzten Ganzen. Wenn Kunst im richtig
verstandenen Idealisieren besteht, so geschieht das in der Poesie nicht
so sehr durch absichtliches Verändern der Wirklichkeit, als vielmehr
schon durch ihre Umsetzung in Worte. Wie viele unter unseren Er-
DIE ANSCHAULICHKEIT DER SPRACHE. 367
lebnissen, die uns ziemlich gleichgültig und gewöhnlich erscheinen,
werden förmlich verklärt, sobald wir sie in unserer noch unterkänst-
lerischen Weise erzählen! Die bloße Übertragung des Geschehenen
ins Gesprochene enthält bereits den Keim jener Umformung, die diese
Kunst mit dem Seienden vornimmt; und wenn das so leicht übersehen
wird, so li^ es eben daran, daß das Wort unser profanes Ausdrucks-
mittel ist Beim Anblick einfacher Umrißlinien und bdm Hören musi-
kalischer Klangfolgen empfinden wir: hier tut sich eine neue Welt auf.
Die Sprache aber scheint uns identisch mit dem Wesen der Dinge,
während sie in Wahrheit eine ganz besondere Form der Wirklichkeits-
auffassung darstellt
Zunächst war ohne Rücksicht auf die Poesie zu fragen, welche
Beziehung zwischen der Sprache und der sinnlichen Wirklichkeit be-
steht Da die Sprache aus der Umsetzung einer sinnlichen Vorstellung
in eine Lautgebärde entstanden ist, so wird es sich wohl auch heute
noch beim Reden oft um die Übertragung einzelner Anschaulichkeiten
in Wortvorstellungen handeln. Für den Dichter mag dieser Vorgang
sogar als R^el angesetzt werden. Aber er verläuft nicht so, daß die
sinnliche Vorstellung in der Wortvorstellung erhalten bliebe. Und
ebensowenig kann umgekehrt ein Wort zu einem Anschauungsakte
werden: das Wort vermag lediglich, nachdem es aus dem Bewußtsein
geschwunden ist, eine sinnliche Vorstellung hervorzulocken. Die Frage
ist nun, ob der Sinn der Dichtkunst darin besteht, Gedächtnis- und
Phantasievorstellungen möglichster Anschauungskraft durch ihre Sprache
anzur^en.
Tatsächlich und mit Notwendigkeit treten manchmal (besonders bei
Vergleichungen) Bilder im Bewußtsein des Lesers auf; häufiger und
gefühlswirksamer, weil mit der sinnlichen Seite des Gefühls zusammen-
hangend, sind motorische Err^^ngen, zumal bei geschilderten Hand-
lungen (s. S. 172). Da aber beim Einzelwort vieleriei Bilder denkbar
sind und an jeden Satz sich verschiedene Vollziehungsmöglichkeiten
knüpfen können, so bringen wir gern anschauliche Vorstellungen aus
unserer persönlichen Erfahrung hinzu und treffen wohl niemals — was
in der bildenden Kunst Bedingung ist — das Bild, das dem Künstler
vorschwebte. Überhaupt sind diese optischen Vorstellungen viel zu
schwach, um die Stärke des ästhetischen Eindrucks zu erklären. Gerade
bei spannenden Stellen hastet der Leser weiter, ohne sich Zeit zu
Sinnesvorstellungen zu lassen, und von Sätzen, die einen Anschauungs-
wert unmöglich besitzen können, werden poetische Stimmungen erzeugt
Daher kommt es für den Eindruck nicht auf die durch die Sprache
gel^entlich suggerierten Sinnesbilder an, sondern auf die Sprache selbst
und die ihr eigentümlichen Gebilde. Einerseits auf Klang und Rhythmus,
368 rv. DIE WORTKUNST.
die, abgesehen von etwa auftretenden Sachvorstellungen, für das Sprach-
gefühl Wert besitzen. Anderseits ist der Umstand entscheidend, daß
das Wissen von der Bedeutung der Worte genügt, um — ohne
Zwischentreten von Anschauungen — eine poetische Beschreibung zu
genießen. Schilderungen in Worten vertreten die Wirklichkeit in dem
Sinne, daß sich ähnliche seelische Folgen an sie wie an das Erleben
des Geschilderten anschließen können. Die Aufgabe des Dichters liegt
darin, der Beschreibung den höchsten Ersatzwert zu sichern; der
Abstand von der Wirklichkeit bleibt ja immer groß genug.
Das geschieht teils durch die Wahl der Worte — die Metapher ist keine
Anschauungssteigerung, sondern etwas spezifisch Sprachliches — teils
durch den Aufbau und die Zusammenfügung der Sätze, durch die eine
unreflektierte Einheit entstehen muß.
2. Rede und Drama.
Worte gleichen den Spukerscheinungen, die man nur ahnen, aber
nicht greifen kann. Ihre Art des Seins und Wirkens hat etwas Un-
heimliches an sich. Sie besitzen weder die ehrliche Sichtbarkeit der
Farben noch die sich voll ausgebende Hörbarkeit der Klänge. Ein
Name bezeichnet das Wesen eines Dinges keineswegs In derselben
Annäherung wie die Abbildung es vermag, noch signalisiert er gleich
unartikulierten Tönen das zu Grunde liegende Gefühl. Während alle
andern Künste Weltbürger sind, bleibt die Wortkunst auf den Kreis
der Volksgenossen, letzten Endes sogar auf räumlich und zeitlich
kleinere Kreise beschränkt Die Sprache läßt sich nicht beliebig kneten
wie Ton. So scheint der auf diesen Stoff angewiesene Künstler von
allen Seiten umbaut und eingeschränkt
Dessenungeachtet vermag freie Stärke sich auch hier auszuleben.
Ein echter Sprachkünstler — man fasse den Begriff mit Ernst auf —
bekundet seine geistige Kultur ohne Rest in dem Grade seiner sprach-
lichen Kultur. Denn Stil entsteht, wenn jemand etwas sagt, das heißt:
wenn eine Persönlichkeit einen Inhalt mitteilt Oder noch genauer:
Jeder Säte muß inhaltsvoll sein, gedrungen, angefüllt, frei von leeren
Plätzen, streng gebaut oder von gewollter Asymmetrie, in sich befestigt
durch Rhythmus und Zeitmaß, durch Färbung der Klänge und der
inneren Wortwerte, sicher eingestellt gegen Vorhergehendes und Fol-
gendes. Und aus jedem Säte muß die Individualität sichtbar werden,
so daß kein anderer Mensch je wieder diesen Säte zu schreiben ver-
möchte. Da Seele und Sprachkörper für die künstlerische Herrschaft
über dies scheinbare Freiland ganz in eins fallen (wie Seele und
RKDK rsn DRAMA. 36Q
KlanKform, Seele und Farbe, Seele und Stoffform in den Qbrifren
Gebieten), so läßt sich der Kunstler nichts Fremdes aufdrängen, sondern
behält unweigerlich die eigene Handschrift. Es wäre ein arger Miß-
griff, wollte man glauben, daß kunstgerechte Sprachbehandlung immer
ins Anschauliche führe und das persönliche Gepräge aus der Beson-
derung dieses allgemeinen Zuges empfange. Einige der sogenannten
Figuren (Kontrast, Ironie, Steigerung, Wiederholung) können sehr wohl
sich aufs Logische beziehen, andere (wie die Vertauschung von Art
und Gattung, Teil und Ganzem) müssen sogar außerhalb der Ver-
sinnlichung bleiben.
Vor allem deshalb ist die übliche Ansicht verkehrt, weil sie das
weite Gebiet der Redekunst auszuschalten droht. Von früh an und
mit Recht wurde die Rhetorik neben die Poesie gestellt; erst im Lauf
des IQ. Jahrhunderts verengte sich der Umfang der Wortkunst auf
den Durchmesser der Poesie und verlor seinen wahren Charakter.
Im Altertum blieb der Zusammenhang schon dadurch fest, daß Schrift-
und Redestil dieselben waren; bei uns besteht der Reiz einer guten
Prosa zum Teil darin, daß immerfort dem Rhetorischen einerseits, dem
Poetischen anderseits ausgewichen wird. Gegenwärtig liegt die Rede-
kunst darnieder, und eben deshalb muß sie aus dem Sinn der Mehr-
heit heraus als eine Fertigkeit mit ästhetischen Beisätzen, aber nicht
als Form des geistigen Lebens oder wahrhafte Kunst bezeichnet werden.
Dennoch möchte ich der Rhetorik ihren alten Ehrenplatz wiederum
einräumen. Die Wortkunst scheint mir drei Unterarten zu besitzen:
erstens die Rede und das Drama, die innerlich zusammengehören und
äußerlich beide mit der Mimik verknüpft sind, zweitens die Prosa in
den bekannten Erscheinungen des Epos, drittens die Poesie, die auf
den Rhythmus begründet ist und am reinsten in der Lyrik sich darstellt.
Das Instrument des Redners, die klingende Sprache, bestimmt seine
Technik. Die mögliche Dauer der Ausatmung schafft ihm die Einheiten,
die Verständlichkeit für den lauschenden Hörer zwingt ihm den Auf-
bau der Sät/e, die Wahl der Worte, die Verwendung von Wieder-
holungen, die Beschränkung des Zeitmaßes und vieles andre auf.
Wahrend der Schauspieler dem Grundzug nach Gebärdenmimiker Ist,
darf der Vortragende auch der Rezitator von Gedichten, Erzählungen,
Dramen dieses Hilfsmittel nur sparsam benutzen. Es ist ungefähr
ilas Verhältnis des Liedersängers zum Opernsänger. Jener wird, wenn
er in seiner Aufgabe lebt, sinngemäße Wandlungen des Gesichtsaus-
drucks schwerlich vermeiden können. Aber Gesten und Ortsverände-
run^jen des Köqiers sind ihm untersagt. Denn er stellt nicht einen
Menschen dar, sondern eine in Töne gesetzte Dichtung. Der Sänger
auf der Bühne hingegen gibt vor, ein anderer zu sein, u * :t zu-
t)cttoir, A«thrtik nnd alle. KonttwiitcmKlufl.
370 IV. DIE WORTKUNST.
sammen mit Maske, Kostöm, Dekoration und der gleichartigen Ergän-
zungstätigkeit der übrigen Schauspieler. Deshalb darf der singende
oder sprechende Vortragskünstler die Rede eines Mädchens oder ein
Zwiegespräch zwischen Mann und Frau wiedergeben, was beim Schau-
spieler undenkbar ist. Des Vortragenden leibhaftige Persönlichkeit tritt
ja gänzlich hinter der Sache zurück. Er gleicht dem reproduzierenden
Musiker und im Falle einer dramatischen Vorlesung dem Kapellmeister,
der die Partitur auf dem Klavier spielt.
Doch wenden wir uns nunmehr dem Redner als dem Schöpfer
einer Kunstform zu. Die antike Beredsamkeit war ein Höhepunkt
Die ihr entsprechende besondere Kunstwissenschaft bestand in einer
Beschreibung der von der Praxis entwickelten Formen und in daraus
abgezogenen Vorschriften. Somit kann sie weder dem modernen
wissenschaftlichen Vortrag noch der Predigt noch der parlamentarischen
Rede genügen. Es ist kennzeichnend für die alte Rhetorik, daß sie
neben der schlichten Art der Rede noch eine bewegte und eine erhabene
Art lehrte: submisse, temperate, granditer, sagt Cicero. Zu oberst
steht das gründe genus dicendl, die wörtlich vorbereitete und ein-
geprägte Rede, die von der Architektur den wohlgeordneten Aufbau,
von der Poesie die Fülle vergleichender Bilder, von der Musik die
Klangwirkung entleiht. Wundervolle Reden dieser Art haben Altertum
und Renaissance geschaffen. Viele unter ihnen sind von andern als
von den Vortragenden verfertigt worden, manche niemals gehalten
worden. Als im 15. Jahrhundert die Beredsamkeit bei den Humanisten
einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, wurde die Prunkrede zur Mode-
sache. Bei Hoffestlichkeiten, Hochzeiten, Totenfeiern, aber auch bei
fürstlichen Besuchen und Friedensschlüssen durfte die Kunst des Hof-
redners nicht fehlen : eine glanzvolle rhetorische Leistung veriieh für das
Gefühl der Zeitgenossen dem Vorgang eine besondere Weihe. Etwas
von diesem Geist lebt jetzt in Deutschland wieder auf; im allgemeinen
aber hat heute die Musik die gleiche Verrichtung übernommen. Nun
scheint mir: wenn man gegenwärtig der Rhetorik mit Kälte begegnet,
so liegt der Grund darin, daß man an solche mehr künstliche als
künstlerische Beredsamkeit denkt. Das ist der Sinn von Pascals Wort:
La vraie eloquence se moque d'iloquence; deshalb lehnte Bismarck die
Bezeichnung Redner von sich ab. Aber sollte nicht diese Kunst in
freieren Formen und demnach eine dem veränderten Bewußtsein ent-
sprechende Rhetorik auch heutzutage möglich sein? Könnten nicht
auch wir, die wir alle die Macht des gesprochenen Wortes bekennen,
unserer Praxis die ihr gemäße Theorie nachschaffen? Ich denke, es ist
vor allem nötig, daß wir eine lebendigere Vorstellung der Rede aus
den Tatsachen des Gesprächs und der Mitteilung ableiten; übrigens
REDE IND DRAMA. 371
verzichte ich darauf, die Ableitung hier durchzuführen, und beschränke
mich auf einige Hinweise.
Ihren Charakter als eine zwischen zwei Seiten stattfindende Aus-
einandersetzung bekundet die freie Rede äußerlich durch die (direkte
oder indirekte) Anrede. Doch ist dies Merkmal so farblos, daß es
ohne Schaden fortfallen kann; berechtigter erscheint mir, wenn inner-
halb der Rede ein lebhafter Appell an die Hörenden Einschaltungen
veranlaßt. Überhaupt aber sind die innerlich Redner und Hörer ver-
bindenden Mittel von größerem Wert. Hierher rechne ich Zitate und
Beispiele aus dem täglichen Leben oder aus bestimmten Berufskreisen.
Mit ihnen tritt die Rede auf gemeinsamen und vertrauten Boden zurOck;
die ältere Rhetorik hat sie zu Unrecht als bloßen Schmuck behandelt.
Am festesten jedoch knüpft der Redner sein I^iblikum dadurch an sich,
daß er die vermutlich oder ersichtlich vorhandenen Einwürfe und
Bedenken sofort ausspürt und widerlegt, oder dadurch, daß er ihm
Zugeständnisse macht, die seiner Beweisführung nicht erheblich schaden.
Auch die sogenannte rhetorische Frage ist eine auf die Rede über-
tragene Form des Gesprächs, durch die die Selbsttätigkeit der Hörer
angeregt wird. In das Herz des Rhetorischen dringen wir endlich,
indem wir erkennen, daß die Rede mit dem Gespräch nicht nur die
lebendige Beweglichkeit ihrer Form, sondern auch die Vielseitigkeit
des Inhalts teilt. Der Widerstreit des Wirklichen mit dem Denknot-
wendigen, die Mannigfaltigkeit und Relativität aller Erfahrung bildet die
gemeinsame Voraussetzung, denn das unbedingt Sichere kann auf die
rhetorische Seite der Wortkunst verzichten. Das Fragliche jedoch
harrt des klingenden Wortes. So wendet sich der Redner zunächst an
den Verstand, da dieser am leichtesten zu überzeugen und durch
Beweisführung von Vorurteilen abzubringen ist. Dann aber gilt es,
das langsam folgende Gefühl der Hörer sich geneigt zu machen.
Wahrend dort alle Künste wissenschaftlicher Dialektik aufzubieten sind,
iniisNcn hier die Wirkungsmittel des Dramas verwendet werden.
Linst ließen feindliche Völker zwischen ihren Ländern ein ver-
wüstetes Gebiet, damit Grenzstreitigkeiten vermieden würden. Fast so
(odiT wenigstens wie ein I\jfferstaat) liegt die Rhetorik zwischen
Wissenschaft und Kunst. Sie nimmt die Ausläufer der Methodenlehre
in sich auf, jene l^artien, in denen es sich nicht mehr um das Finden
von Tatsachen und Gesetzen, sondern um die überzeugende Darstel-
lung: des bereits Gewußten handelt. Klarheit und Bündigkeit der
Bcwcisfülming sind indessen bloß die eine Seite der Sache. Jeder
gute wissenschaftliche Vortrag ist ein Gespräch des Denkers mit sich
und anderen Denkenden, jede gute Predigt ist ein Kampf des Geist-
lichen mit sich und anderen sündigen Menschen; dramatisches Innen-
372 IV. DIE WORTKUNST.
leben und dialogische Äußerung sind nur verhüllt. Ein längst
vergessener Philosoph aus der Mitte des 19. Jahrhunderts definierte
die Seele als ein fragendes Wesen und traf damit den Punkt, wo drei
Kreise sich schneiden: geistig- wissenschaftliches, geschichtlich-gesell-
schaftliches und künstlerisch-dramatisches Leben berühren sich in den
Grundformen der Frage und Antwort, Rede und O^enrede. Verfolgen
wir nun die Ähnlichkeit zwischen Rede und Drama, so wäre zunächst
die Steigerung in der Anlage des Ganzen zu nennen. Auf der Kanzel
wie auf der Bühne gilt es als Fehler, entscheidende Gedanken, zün-
dende Worte gleich anfangs vorzubringen. Ein Schulbeispiel dieses
Fehlers ist die Leichenrede Massillons auf Ludwig XIV., die mit dem
Satz begann: ^Dieu seul est grand, mes freres<a; Laboulaye bemerkte
richtig dazu: ^Vexorde a tue le discours.^n Was an einer früheren Stelle
(S. 157) von der anfänglichen Wirkung des Bühnenbildes gesagt war,
wäre auf die ersten Sätze einer Rede so zu übertragen: ihr Inhalt kommt
nicht zu vollem Bewußtsein, weil die Aufmerksamkeit der Hörer noch
nicht richtig eingestellt, sondern zerstreut oder durch Äußerlichkeiten
gefesselt ist. Jede Handwerkslehre der dramatischen Dichtkunst erzählt
von dem Kunstgriff, ein Stück durch »Bedientenszenen« einzuleiten das
heißt durch Szenen, die das Auge beschäftigen und in denen lediglich
Nebenpersonen auftreten. In der Folge aber muß stätig fortgeschritten
werden, retardierende Momente und auffrischende Episoden sind in
Reden genau ebenda erlaubt wo sie auch im Drama ihren rechten Platz
haben (s. S. 160 und 233). Für die Redekunst scheint die Erkenntnis
wichtig, daß ein Gedanke an der Stelle, wo er logisch statthaft ist,
dennoch rhetorisch unangemessen erscheinen kann, weil er den Schwung
der Rede aufhält. Das Verschmelzen der in der Vorbereitung her-
gestellten einzelnen Stückchen und das Gewinnen äußerster Lebendig-
keit ist auf beiden Seiten notwendig; Spiel und G^enspiel, Wechsel
und Widerspruch, Kampf und Sieg bestimmen diese bew^lichsten
Formen der Wortkunst Daher wirkt die Beredsamkeit wie das
literarische Drama wesentlich auf den Willen, und Tendenz, die viel
geschmähte, dürfte beim rhetorischen und dramatischen Schaffen gleich-
mäßig oft beteiligt sein.
Für die nun folgenden Erwägungen bitte ich zu beachten, daß wir
jetzt mit dem Drama als einer Unterart der Wortkunst zu tun haben.
Die Rücksicht auf die Bühne vergröbert den Ton, beschränkt Umfang
und Inhalt (da doch der Verbreitung durch den Druck mehr Freiheit
erlaubt ist als der Aufführung) und verlangt einen Aufbau, der die
Höhepunkte bereits aus dem stummen Szenenbild erkennen läßt
Dagegen hat das mit Unrecht abschätzig bewertete Lesedrama reiche
Mittel an der Hand, um seine Eigenart auch ohne die Hilfe des Theaters
RFPK TNn DRAMA. 373
ZU bewahren. Hierzu gehört namentlich die Vorliebe für die vorwärts
schreitenden Motive und femer die Get^enwärtigkeit der Handlung.
Das ist aber zugleich das Verfahren der Redekunst, daß alles Mitgeteilte
als gegenwärtig erscheint und unablässig vorwärts dringt. Notwendig
ist beiden Formen die Ichrede ohne Nennung des Sprechers und die
unmittelbare Wechselrede, bei der die Verteilung auf zwei Personen
nur als hinzukommendes Moment aufgefattt werden sollte. Keine
andere Technik hält die Spannung auf den Ausgang so wach wie die
des erregten Gesprächs: die ganz ursprungliche Freude an dem, was
geschieht, wird durch rhetorisch-dramatische Unterredung in den Kreis
der Wortkunst versetzt.
Wenn in der Seele des dramatischen Dichters die Wogen aneinander
prallen, so fluten gleichzeitig die Worte in ungehemmtem Bilderreich-
tum, denn alle Hilfen der Sprache werden aufgeboten. An Shakespeare
bewundern wir auch diese Fähigkeit, daß er ebenso sicher auf den
Sprachsinn wie auf den Theatersinn zu wirken versteht. Das rein
ästhetische Gefühl wird durch Shakespeare allerdings häufig verletzt.
Käme es im Drama auf Schönheit an, so mußten alle einzelnen Glieder
der Handlung schon in sich lauteres Wohlgefallen wecken abgesehen
davon, wieviel sie zum Aufbau des Ganzen beitragen und das
Gleiche würde von der Folge der Worte zu verlangen sein. (Vgl.
S. 40 50 und S. 106.) Aber dieser Beschränkung ist das literarische
Drama v(')llig überhoben. Die Sprache muß ihm viel mehr leisten als
blofk* Wohlgefälligkeit. Zunächst zeigt sie das Gepräge des dichte-
rischen Inhalts. Sie ist leichtflüssig in Konversationsstücken, derb in
Volksstücken; unmittelbar kann aus tändelnden, witzigen Wortspielen
die Heiterkeit der Komödie und ebenso unmittelbar aus wuchtigen,
schweren Versen des Schicksals Tragik uns anwehen. Alsdann dient
dem Dichter die Sprache zur Charakteristik. Er schildert außer durch
Tati-n auch durch die Rede. Freilich nicht von sich aus. Er sagt
niilit. mein Held ist ein frischer Naturmensch , aber er legt ihm un-
verbrauchte Worte, Redefiguren in den Mund, die nur einem in Wald
und i i'ld Aufgewachsenen zur Verfügung stehen; die I\*rsonen eines
|)rama> würden an Bestimmtheit und Lebendigkeit veriieren, sobald
sie alle denselben Stil und die gleichen Bilder gebrauchten. Auch der
Monolog dient nicht dazu, die Anschauungen und Gefühle des Dichters
auszudrücken. Nur als Mittel direkter Darstellung ist er erlaubt; die
l'nnatürlichkeit , die man ihm so gern vorhält, teilt er mit den Akt-
schlüssen und /ahllosen anderen Notwendigkeiten des Dramas. Was
uns (beispielsweise an Schillers Monologen) befremdet, ist wohl weniger
der Abstand von der Wirklichkeit als die glatte und logische Form.
Dennoch darf diese Stilisierung als kunstgemäßer Ausdruck dafür gelten.
374 IV. DIE WORTKUNST.
daß in höher stehenden Menschen der einzelne Entschluß mit der
ganzen Ausdehnung ihrer seelischen Natur zusammenhangt: die begriff-
lich entwickelte Mannigfaltigkeit bedeutet eines erfüllten Gemütes An-
teilnahme am Augenblick. Nun steht freilich nie eine vereinzelte
Persönlichkeit vor uns, sondern jemand, der sich in gewissen Bezie-
hungen befindet. Daher vermag die Sprache diese Beziehungen als
Angriffspunkte zu benutzen, um auf ihren Wegen ins Seeleninnerste
einzuführen. Zu Grunde liegt folgende Tatsache. Die meisten Menschen
verändern sich, je nachdem ihnen ein bestimmter Charakter entgegen-
tritt; sie betrachten sich dann selbst mit den Augen des anderen; was
ihnen in der Gesellschaft des einen natürlich scheint, wird gegenüber
einem anderen als uneriaubt empfunden. Diese auf mittelbaren Einfluß
zurückgehenden Schwankungen oder die unwillkürlichen Aufnahmen
fremder Gesichtspunkte spiegeln sich in der Redeweise. Wenn auch
der Inhalt derselbe bleibt, so wechseln doch Form und Farbe der Sätze.
Somit leiht die Wortkunst des Dramatikers der in Grad und Art der
unbewußten Anpassungen sich verratenden Individualität einen Aus-
druck, der dem feineren Ohr Bedeutungsvolles sagt. Die Sprache wird
schließlich zum Symbol in dem Sinn, daß sich ein Gehalt in einer
grundsätzlich unangemessenen Form darstellt, aber gerade dadurch
eine eigentümliche Verkörperung gewinnt.
Dem Drama als solchen billigen gemeinhin Ästhetik und verglei-
chende Literaturgeschichte nur eine begrenzte Anzahl tragender Motive
und möglicher Formen zu. Seitdem Gozzi drei Dutzend herrschender
Motive aufgedeckt und Goethe gesprächsweise in ähnlichem Sinn sich
geäußert hat, scheint die Zählbarkeit dramatischer Grundgedanken zum
Glaubenssatz der meisten Theoretiker geworden zu sein. In Wahrheit
lassen sie sich unendlich teilen und erweitem ; die scheinbare Vollstän-
digkeit einer Typensammlung beruht darin, daß kahle Abstraktionen an
die Stelle feiner und vieldeutiger Wirksamkeit treten (vgl. S. 67). Ander-
seits soll man der Wissenschaft solche Bemühungen nicht verwehren.
Nur gegen die endgültige Festlegung auf eine bestimmte, nie Ober-
schreitbare Zahl ist im Sinne der Geisteswissenschaften Einspruch zu
erheben. Desgleichen wäre es verkehrt, den Formenreichtum des
Dramas in einen unbeweglichen Rahmen einzuspannen. Die indische
Kunstlehre mit ihrer an Mathematik und Schachspiel geschulten Spitz-
findigkeit hat zwei Hauptklassen unterschieden, deren eine acht, deren
andere achtzehn Unterarten zählt ^). Aber wer möchte sich noch zu
dieser Einteilung bekennen?
Man erwäge für einen Augenblick, welche geschichtlichen Wand-
lungen das Drama durchlebt hat Wir kennen ein indisches Schau-
spiel, dessen beschauliche und ergebene Menschen für unser Gefühl
REDE rsn DRAMA. 375
der dramatischen Härte entbehren, worin jedoch Tragisches und Komi*
sches so gemischt wird, daß unser den starren Grenzsetzungen ab-
geneigter Sinn sich dessen freut. Vertrauter ist uns die griechische
Trag(')die, in ihren Formen durchaus rhetorisch, in ihrem Kern ein
Abbild des Kampfes, den die Götteruberlieferung mit der Erkenntnis
einer höheren Wehordnung führte. Nach Gustav Freytag soll die
Handlung etwa in der Mitte einen Gipfel erreichen, von dem ab sie
wieder fällt. Herrscht in der ersten Hälfte das vom Helden getragene
Spiel, so leitet in der zweiten Hälfte das Gegenspiel; überwiegt anfangs
dieses, so treibt es den Helden bis zur Spitze hinauf und weicht dann
dem Spiel. Indessen schon Freytag mußte zugestehen, daß die Sopho-
kleischen Tragödien etwa da beginnen, wo wir den Höhepunkt unserer
Stücke ansetzen würden. Meist ist ihr Gegenstand die Wiederherstel-
lung einer bereits gestörten Ordnung; Missetat und Verwirrung liegen
vor dem Beginn; die Enthüllung des Unheils und die Rache bilden
den eigentlichen Inhalt. Wiederum anders formt Shakespeare, da er an
äußeren Umständen die bleibenden, zumal die seelischen Verhältnisse
verdeutlichen will: an einem verschenkten Schnupftuch Eifersucht und
Mißtrauen, an Wahrsagerei und Frauenmacht geheimen Ehrgeiz. Sein
Verfahren der Charakterbildung: die Verwertung widersprechender
Züge aus den Quellen, um äußerste Lebendigkeit zu erzielen, sein Sinn
für Individualität, seine moralfreie Behandlung des Tragischen bedingen
eine neue Form. Vom spanischen Nationaldrama hingegen, das dem
ein/igen Lope de Vega seine Ausrüstung verdankt, erhält man den
Eindruck, daß es zwar reich in der Erfindung und Lösung von Intrigen,
aber arm in der Charakteristik ist. Eine verwickelte Fabel lockt den
Oichter; die fertigen Gestalten sollen in die aufregendsten Lagen
gebracht und die Hörer durch listige Schürzung des Knotens in
Spannung versetzt werden. Die f^hantasie verfügt nicht über Mittel-
stimnningen. Der Theaterzettel dieser Degen- und Mantelstücke kann
die I iguren als Typen benennen: ßalancs, vicjos, graciosos. In Cal-
derons heiligen Aufführungen gibt es Allegorien aller möglichen Dinge
und Beziehungen. Was den Spaniern fehlt (und zum Teil auch
Siliiller, der so gern in die Nebenhandlung sich veriiert), das ist die
Gabe der Einfachheit. Racine besaß sie. Sein Kunstgeheimnis lag in
der Fähigkeit, durch bloße Abstufung am Einfachsten ein Mannigfal-
tiges /u enthüllen, den Kampf einer Leidenschaft gegen ein Gesetz
logisch klarzustellen. Die von ihm gezeichneten Menschen setner Zeit
verfügten über eine Härte, die alle Sentimentalität ausschloß, aber in
den gehaltenen Formen des Umgangs und der Mitteilung geschmei-
diger erschien; die gesuchte Höflichkeit im Verkehr und die glatte
Kälte in den Künsten waren nichts anderes als Gegengewichte gegen
376 rv. DIE WORTKUNST.
die an sich maßlose Energie des Auffassens und WoIIens^). Schließ-
lich sei noch Ibsens Ideendrama gestreift. Seine Tendenz li^ in der
Forderung, daß die Persönlichkeit sich selbst ergreifen müsse, damit
sie sich anderen geben könne; allein in vielen Symbolen kehrt auch
das Gefühl wieder und wird zum Eindruckspunkt des Werkes, daß
wir solche Höhen wohl im Vorstellen, aber nicht durch den Willen
erreichen können. Um diese, an Gesellschaftskritik angeknüpften Haupt-
motive rund herauszubringen, hat Ibsen die Anordnung um eine Peri-
petie herum fallen lassen und eine analystische Technik ausgebildet,
die wie eine Rückkehr zu den drei Einheiten aussieht, in Wahrheit
aber die breite psychologische Ausgestaltung des letzten Aktes eines
nach alter Formel gefügten Dramas bedeutet.
Schon diese flüchtige Umschau läßt erkennen, wie schwer es sein
muß, aus der Vielheit widerspruchsvoller Besonderungen grundsätz-
liche Einsichten herzuleiten. Es ist wohl auch der Dramaturgie nicht
so recht geglückt. Schließlich läuft es auf eine Einteilung nach ästhe-
tischen, technischen und stofflichen Gesichtspunkten hinaus. Ästhetisch
wichtig ist der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie, worüber
wir uns bei Erörterung der Kategorien verständigt haben. Technisch
kommt hauptsächlich das Verhältnis der Handlung zu den Charakteren
in Betracht. Da beide Bestandteile einander fordern, so handelt es
sich nur um die Lage des Schwerpunktes, wenn ein Stück dieser oder
jener Gruppe zugeteilt werden soll. Dichter und Beurteiler sind sich
nicht immer einig, worauf im Einzelfalle der Hauptton liegt'). Meistens,
so darf man sagen, versetzt das Charakterdrama die in jedem Schau-
spiel aufgeworfene Machtfrage in die Seele der Menschen. Damit wird
das eigentlich Dramatische keineswegs verfassen. Denn Gustav Freytag
hat ganz recht: dramatisch ist nicht die eigentliche Handlung, sondern
ihr Werden und ihre Wirkung, die Vorbereitung einer Tat und ihre
Folge. Absolute Tat ist unpersönlich und gleichgültig wie absolute
Ruhe; der Mord im Augenblick des Geschehens besitzt keinen größeren
Kunstwert als ein unbew^licher Felsblock. Die Aufgabe besteht viel-
mehr darin, Voraussetzungen für den Weg von der Ruhe zur Tat oder
von der Tat zur Ruhe zu schaffen. Weniger kommt es darauf an, ob
die Entwicklung an äußeren Ereignissen oder an Seelenvorgängen, an
Staatsaktionen oder an intimen Gemütsregungen sich darstellt Im
zweiten Falle ist sogar der Zusammenhang das heißt das stätig sich
fortbewegende Bedürfnis und seine Befriedigung leichter zu bewahren.
Folglich kann man diesem Zusammenhang mit der Theorie, an die
jeder sogleich denkt, nämlich mit der Lehre von den drei Einheiten
nicht beikommen, da sie außer Ort und Zeit nur die Fabel berück-
sichtigt. Die ^Pratique du theätre^y die H^d^lin Abbi d'Aubignac
REDK l-NI) DRAMA. 377
1660 veröffentlichte, überlieferte den Kanon der klassischen Tragödie
in den Versen:
Neos vouions qu* avec ort Paftion se mAiage,
Qtt*en un Heu, en un jour, an seul fait accompU
Tienne jusqu*d ia /in U thMln rempli.
Gewiß sind Ort- und Zeitwechsel, sobald sie den Zusammenhang
stören, verwerflich. Insbesondere verurteilen wir die zeitliche Unter-
brechung, da wir zwar Ortsverschiedenheiten schnell Oberwinden
können, jedoch für den Zeitverlauf kein Verkurzungsmittel haben, und
da die Entfaltung der Charaktere sprunghaft werden muß. Aber die
Festlegung auf einen Tag und einen Schauplatz bedeutet eine gewalt-
same, ganz äußerliche Abkehr von jenem Fehler. Und dasselbe gilt
von der Forderung einer einzigen fertigen Tat.
Sofern nun endlich die Arten des Dramas von der Stoffwahl ab-
hangen, wäre zunächst das geschichtliche Schauspiel zu nennen. Das
tragische Geschick pflegt hier von der >in der Geschichte schwanken-
den , vieldeutigen Persönlichkeit bis in den weitesten Umfang sich
auszudehnen oder wie der ins Wasser geworfene Stein schließlich in
leiseste Wellenbewegungen sich aufzulösen. Das Schicksal rollt mit
dialektischer Notwendigkeit ab. Stets handelt es sich um die Männer
der Tat, die nach der Volksmeinung die Machtkämpfe der Geschichte
entscheiden. Weder die verhältnismäßige Selbständigkeit der Masse
noch die Bedeutung der Denker und Kunstler tritt in historischen
Dramen hervor; wenigstens ist es bisher nur einmal gelungen, die
Menge als geschichtlichen Helden erfolgreich zu behandeln, und die
stille Arbeit der Forschenden und Bildenden hat sich dieser Darstel-
lung gleichfalls entzogen. Wenn nun die Träger der Geschichtsdramen
jene Willensmenschen sind, die wir aus der politischen Geschichte
kennen, so fragt sich, durch welche Behandlung sie selbst sowie das
t.nt>tehen und Wirken ihrer Taten zum Inhalt eines Kunstwerkes
^'einacht werden können. Man hat geglaubt, es geschehe dadurch, daß
der Dichter sich von der geschichtlichen Wahrheit befreie und an
Stelle des Wirklichen das Wahrscheinliche setze. Begreiflich genug,
daü man durch diese theoretisch gerechtfertigte Unabhängigkeit gegen-
über dem Stoff das Drama zum reinen Kunstwerk machen wollte. Es
\i\h\ ja freie Charaktergemälde auf historischer Grundlage wie Schillers
Don Orlos , die außerordentliche Kunstwerke sind. Weshalb soll
auch nicht ein aus der Geschichte bekannter Einzelmensch gewisse
Richtungen vorbildlich und typisch verkörpert haben? Hat nicht
Shakespeares Cisar gleichsam seine f'ersönlichkeit an eine Idee ab-
getreten, wie noch heute der fViester seinen Namen aufgibt, wenn er
Papst wird? Dennoch ist zu sagen: Shakespeares geschichtliche Bilder-
378 rV. DIE WORTKUNST.
reihen, Schillers Phantasien über Ereignisse der Vergangenheit und das
griechische Sagendrama sind eben keine echten geschichtlichen Dramen.
Wenn anders ein Drama unserer durch Schulung empfindlich gewor-
denen Auffassung als historisches Schauspiel erscheinen soll, darf die
poetische Freiheit von der Aristotelischen Empfehlung dessen, »was
hätte geschehen können«, keinen Gebrauch machen. Ich bestreite ent-
schieden die Richtigkeit des so oft nachgesprochenen Ooetheschen Satzes:
»Für den Dichter ist keine Person historisch, es beliebt ihm, seine sitt-
liche Welt darzustellen, und er erweist zu diesem Zwecke gewissen
Personen aus der Geschichte die Ehre, ihren Namen seinen Geschöpfen
zu leihen.« (Hempelsche Ausg. 29, 636.) Unser Respekt vor den Tat-
sachen ist in solchen Fällen vielmehr so stark, daß wir jede wesent-
liche Veränderung des überiieferten Stoffes als eine uneriaubte Willkür
empfinden. Ist der geschichtliche Stoff in seinen tatsächlichen Grund-
zügen für den Dramatiker nicht brauchbar, so vermeide er ihn.
Schiller in seinem »Wallenstein«, Kleist, Grillparzer, Otto Ludwig und
Grabbe haben die Zeitumstände mit einer recht großen Genauigkeit
bewahrt und eben dadurch eine Charakterentwicklung veranschaulicht
Die straffe Bindung an die Wirklichkeit ist hier uneriäßlich, eine Grenze
mehr zu den vielen anderen , die die Kunst sich setzen muß, obgleich
sie über alle Grenzen hinausdrängt.
Der vom Dramatiker verarbeitete Stoff kann nun aber femer oder
näher liegen als ein geschichtlicher Tatbestand. Näher liegt das Leben
der Gegenwart. Es bildet den Hintergrund der zahllosen Stücke, die
gewohnheitsmäßig als »bürgeriiche« Schauspiele (Lustspiele, Trauer-
spiele) bezeichnet werden. Aus der ästhetischen Prinzipienlehre wissen
wir, daß sie unmittelbarer und selbstverständlicher wirken, aber gerade
deshalb der kräftigsten Durchdringung bedürfen, um nicht dem rohen
Naturalismus zu verfallen. Wir begreifen unschwer, daß die Liebe als
des Schicksals Stimme in der Verwertung der so äußerlich gewor-
denen, geregelten, gefühlsarmen modernen Wirklichkeit fast niemals
fehlt wie schon im vorbildlichen Lustspiel der Römer; und wir be-
wundem die Dichter, die den Hörer aus dem kleinlichen Interesse an
Einzelheiten des Stoffs durch Vereinfachung herauszuheben vermögen.
Am anderen Endpunkt stehen die Sagendramen. In ihnen ist alles
weit entrückt und überpersönlich. Aufmerksamkeit und herzliche An-
teilnahme eriahmen leicht und werden daher in Richard Wagners
Werken durch die stets wechselnde Musik wach erhalten.
Vielleicht darf man noch vom stilisierten Drama als von einer be-
sonderen Form sprechen. Wenn wir an Goethes Tasso oder an den
Schlußteil des Euripideischen Herakles denken, so brauchen wir nicht
einmal die neuesten Versuche in die Rechnung einzusetzen, die allzu
ERZÄin-UNG ITND GEDICHT. 379
sehr einem Schattenzuge gleichen. Die Handlung hat geringes Aus-
maß und Gewicht; das bloß Fallartige ist Oberwunden, das Was gänz-
lich in das Wie aufgegangen; die Personen sind so unbedingte Indi-
viduen, daß ihre Beziehungen zurücktreten hinter dem, was in ihnen
allein und bei ihrem Ringen mit der Natur sich abspielt. Man wird
solchen Dramen nur gerecht, sofern man ihren gewollten Gegensatz
zum Freskostil der Buhne billigt
3. Erzählung und Gedicht
Wenn wir epische Werke zunächst wieder unter sprachlichen Ge-
sichtspunkten betrachten wollen, so müssen wir uns von der abge-
standenen Lehre befreien: sie sollten vorgetragen und gehört werden.
In Wahrheit schreibt und liest man sie. Auf die so gestalteten Sprach-
vorstellungen kommt es an. Weder die Gesichtsbilder noch die starken
Sachgcfuhle bestimmen den ästhetischen Wert des Stils. Sondern die-
jenigen unter den vielen Schwingungen des Gefühls sind entscheidend»
die nur durch das gelesene, also nach persönlicher Art innerlich er-
klingende Wort ausgelöst werden. Es mögen ganz einfache Worte
sein, aber so wie sie dastehen zwingen sie uns Tränen in die Augen;
der Inhalt mag ein nichtssagender Ausschnitt aus dem grauen Leben
eines gewöhnlichen Menschen sein, aber durch das königliche Recht
sprachlicher Meisterschaft wird er geweiht. Wie man von einem Maler
nichts Höheres sagen kann als daß er zu malen versteht, so ist das
spezifische Lob für den Schriftsteller, daß er zu schreiben weiß. Flau-
bert, der fast tiefsinnig wurde, weil er in Ermangelung einer besseren
Form ein einziges Mal zwei Genetive unmittelbar aufeinander folgen
lassen mußte, er würde ein geschüttelt und gerüttelt Maß von Ver-
achtung für die sorglose Gewöhnlichkeit übrig haben, die sich heut-
zutage in den besten Romanen breit macht. Mindestens sollte die
Muttersprache reinlich behandelt werden (was der auf Handwerks-
ausdrücke angewiesene Gelehrte nie erreicht) und jedes Wort sicher
sit/en. Der Erzähler hat aber noch schwerere Verpflichtungen. Seine
künstlerische Rechtschaffenheit besteht darin, daß er mit unverstellter
Stimme redet, von sich aus, in überzeugender Eigenart. Und zugleich
muß der Wortkörper mit der in ihm verborgenen Seele eins werden.
Das will besagen, daß frohe Ereignisse in jubelnden Tönen, Sorge
und Kummer in matten Farben, Zweifel in Wendungen, die stutzig
machen, Sicherheit in fest einherschreitenden Sätzen zu übermitteln
sind. Das bedeutet, daß in einem Roman aus den goldenen Tagen
Griechenlands die Unruhe wohl mit dem bewegten Meer, aber nicht
380 IV. DIE WORTKUNST.
mit dem überspringenden und eilenden elektrischen Strom verglichen
werden darf. Das meint, daß je nach dem Gegenstände die Worte
glatt fließen oder sich gegeneinander auftürmen oder tropfenweise
sickern sollen. Denn in allen diesen Beziehungen ist der epische
Dichter viel ungebundener als der Dramatiker und der Lyriker.
Da die Phantasie des Erzählers nicht mit allgemeinen Baffen ar-
beitet, da sie nicht einen Selbstmörder, sondern diesen Werther kennt,
da sie auch der Allegorie, nämlich der Veranschaulichung eines ab-
strakten Verhältnisses durch logisch zureichende Gestalten zaudernd
gegenübersteht, so strebt sie freilich nach einer Sinnenfälligkeit Die
äußere Ähnlichkeit zweier Dinge genügt ihr zur Vergleichung, was In
der Wissenschaft unzulässig wäre, und zwar meist in der Weise, daß
nur ein Teil des Verglichenen die Übereinstimmung herstellt, wobei
sie allerdings sehr vorsichtig verfahren muß, um schwülstige und ge-
schmacklose Wendungen zu meiden. Indessen, keine Novelle und
kein Roman besteht lediglich aus Bildern und Gleichnissen. Menschen
mit der Einbildungskraft eines Malers, wie Ruskin und Fromentin,
schreiben viel farbiger, gewissermaßen mit dem Pinsel in der Hand,
obgleich sie nicht dichten. In unseren besten Erzählungen hingegen
wird vieles eigentlich und begrifflich ausgedrückt. Wir haben Wort-
werke eriesenster Qualität, die beinahe ohne jede Metapher auskommen.
Der Dichter, der aus dem Herzen der Sprache heraus schreibt, lid)t
das lebendige Zeitwort und hält dem Stil das unnütze Fett schmückender
Beiwörter fern ; denn er spricht ebenso bestimmt (nur anders) wie ein
militärischer Befehlshaber ®).
Von den Formen des Epos sind unserer Zeit die vertrautesten
und wichtigsten Novelle und Roman. Dichter, die über ihre Kunst nach-
gedacht haben, belehren uns dahin, daß die Novelle einen einzelnen,
übrigens entscheidenden Lebensvorgang darstellen solle, daß sie, um
diesen Mittelpunkt angeordnet, eine ausbreitende Entwicklung und
wesentliche Veränderung der Charaktere nicht bieten könne. Sie hat
vielmehr fertige Menschen zum Inhalt, die in einer gewissen Ver-
kettung der Umstände ihre Natur offenbaren und die Verhältnisse ge-
stalten^). Ganz anders der Roman. Wir rechnen ihn zur Gattung
der Erzählungen, obgleich Friedrich Schl^el die »Darstellung eines
werdenden und wollenden großen Geistes« auch mit Gesang und
Wechselrede verquicken wollte. Für ihn kam es nicht auf den ob-
jektiven Inhalt an, sondern auf das Ich des Dichters und seine Be-
kenntnisse; ähnlich äußerte sich Novalis über die Form seines Heinrich
von Ofterdingen: »Äußerst simpler Stil, aber höchst kühne, romanzen-
ähnliche, dramatische Anfänge, Übergänge, Folgen — bald Gespräch,
dann Rede, dann Erzählung, dann Reflexion, dann Bild und so fort.
j
ERZÄHLUNG UND GEDICHT. 381
Ganz Abdruck des Gemüts, wo Empfindung, Gedanke, Anschauung,
Bild, Gespräch und Musik unaufhörlich schnell wechselt und sich in
hellen, klaren Massen nebeneinander stellt.« Das führt doch wohl in
die losere Form der Märchen hinüber und zu dem fruchtbaren Boden
des Wunders hinab. In der Tat meint Novalis: »Das Märchen ist
gleichsam der Kanon der Poesie, alles Poetische muß märchenhaft
sein; der Dichter betet den Zufall an.« (Sehr. Ill, 165.) Kaum nötig
zu sagen, daß jeder Roman, der ein Bild vergangener oder gegen-
wärtiger Zeit entwirft, abweichenden Bedingungen genügen muß. Hier
fordern wir Achtung vor den Tatsachen. Hier genießen wir auch eine
unpersönliche, gewissermaßen kommunistische, an die Dichtkunst der
Naturvölker erinnernde Darstellungsweise, wie sie Walter Scott zur
Verfügung hatte. Außerdem sind episches und geschichtliches Schaffen
— von Urzeiten an — darin verwandt, daß sie sich gleichmäßig zur
Willensbestimmung eignen. Keine andere Wissenschaft und keine
andere Kunst beeinflussen unsere Lebenshaltung so unwillkürlich und
so sicher, sind so persönlich mit uns verbunden. Dies tätige, mensch-
liche Moment gibt großen Geschichtswerken und großen Dichtungen
den hinreißenden Zug; so betrachtet, sind Historie und Poesie stark
durch ihre Tendenz. Jeder Geschichtschreiber muß nach menschlichen
und sittlichen Richtpunkten die erklärten Tatsachen würdigen, muß
Licht und Schatten verteilen, muß auf den Willen des Lesers wirken,
der ja auch aufs engste mit dem Verstehen zusammenhangt. Partei-
nahme ist unvermeidlich, sie spielt ebensogut in die Darstellung der
gegenwärtigen Wirtschaftsbewegungen hinein wie in die Schilderung
altgriechischer Zustände, über die wir objektiv zu urteilen wähnen.
Ranke glaubte sich erfüllt von strenger Sachlichkeit und schrieb eine
protestantische Geschichte der Päpste, Mommsen machte — nach einem
bekannten Wort — Cäsar zu dem demokratischen Kaiser von Deutsch-
land (der nie kommen wird), Treitschke verwendete geradezu die
Vaterlandsliebe als Erklärungsprinzip. Treitschkes sittlich-nationale und
rhetorische Behandlung der geschichtlichen Wirklichkeit erscheint mir
immer als eine glänzende Probe dafür, daß wissenschaftlicher Stand-
punkt und Wertmaßstab zusammenfallen müssen, wenn die Geschichte
ihre soziale Wirksamkeit voll entfalten will. Und bedarf es noch des
Hinweises auf Schiller, um klarzumachen, daß es sich mit der Dicht-
kunst nicht anders verhält?
Der Roman eignet sich am vorzüglichsten dafür, ein Mitgänger im
Getriebe des Lebens zu werden. Denn gegenwärtig hat er sich zu
einer Form entwickelt, in die jede beliebige Erfahrung aufgenommen
werden kann. Ihr auszeichnendes Merkmal ist, daß so viel in sie
hineingeht, daß sie ein so bequemes Vehikel der Mitteilung und An-
382 IV. DIE WORTKUNST.
eignung aller möglichen Interessen bildet. In den meisten Fällen wird
die Form des Romans nicht aus den Forderungen des inneren Er-
lebens heraus, sondern mit Willkür gewählt; der Inhalt bekundet wohl
den Scharfsinn und die geistige Bedeutung des Verfassers, selten je-
doch seine Gestaltungskraft Die Romane gleichen Sammelbecken, in
denen alles Platz findet: Seelenvorgänge und Schlachten, Metaphysik
und Reiseabenteuer; sie sind Auskunftstätten für Tagesfragen und
Ewigkeitsprobleme. Falsche Angaben kulturgeschichtlicher Art, be-
denkliche moralische Urteile in einem Roman fordern die Kritik ebenso
heraus, als stunden sie in Lehrbüchern der Geschichte und der Ethik.
Auch die Schriftsteller, die den lehrhaften oder anekdotischen Stoff
psychognostisch vertiefen wollen, erreichen streckenweise ihr Ziel nur
dadurch, daß sie Kräfte zergliedern, anstatt sie durch ihre Wirkung
sichtbar zu machen, und daß sie, namentlich im Ichroman, Reflexionen
an Stelle von Ereignissen und Gestalten bieten. Das alles begreifen
und rechtfertigen wir ohne weiteres, indem wir den Unterschied des
Kunstwerkes vom bloß ästhetischen Gebilde uns in die Erinnerung
rufen. Bedenklicher ist bereits der Thesenroman, selbst der unseres
ehrenfesten Volksschulmeisters Gustav Freytag, noch angreifbarer der
ausgesprochen didaktische Roman, dieser Bastard von Wissenschaft
und Moral. Aber über alles erlaubte Maß schwillt der Beisatz an in
dem »naturalistischen« Roman. Schriftsteller dieser Richtung behandeln
selbst die Liebe dergestalt, daß sie — als Vorbereitung einer späteren
Theorie — eine fleißige und gründliche Kasuistik aller Formen zu-
sammenstellen. Sie sind wissenschaftlich durch ihr Ziel: die Wahr-
heit; durch ihre Methode: Anhäufung von Zeugnissen, logische Seelen-
analyse, Ausschaltung der eigenen Persönlichkeit; und endlich durch
ihre Form: Genauigkeit der Beschreibung und Vorliebe für abstrakte
sowie technische Ausdrücke. Ich erinnere an Balzac, den Doctor
socialis, dem immer die Macht des Geldes und des Willens und die
daraus stammenden Kämpfe vor Augen stehen, an Zola, den paite
malgre lui, der nur durch sein Temperament von der nüchternen
Durchführung lehrhafter Absichten abgelenkt wird, namentlich aber an
das, was Edmond de Goncourt in der Vorrede zu ^La fille EUsat.
(1878) bekennt: » . . . // m'a ite impossible parfois de ne pas parier
comme un m^deciriy comme un savant, comme un historien<>^ ^ oder was
er schon 13 Jahre früher mit seinem Bruder an den Anfang von
»Germinie Lacerteux« gesetzt hatte: ^Aujourd*hui que le roman s'elargit
et grandit, qu' il commence ä etre la gründe forme serieuse, passionnee^
vivante de Vetude litteraire et de Venquete sociale y qu'il devient par
Vanalyse et la recherche psychologique Vhistoire morale contemporaine,
aujourd'hui que le roman s'est impose les Stades et les devoirs de la
KKZAllLrNCi IM) CiRDICHT. 383
science, il peut en revcnJiqtur les Ubertvs et les franchises. Mit diesen
Worten dekretierte l'aris ein Verhältnis zwischen Kunst und Wissen-
schaft, wie Rom ein Verhähnis zwischen Kunst und kirchlichem Dogma
fest^elcKt hat. In beiden Fällen soll etwas Aulierästhetisches das
Mafij^ehende sein : dort die Denk- und Lebenswahrheit, hier die Heils-
wahrheit.
Welchen Eigenschaften verdankt der russische Roman seinen
europäischen Erfolg? Der tiefen Gläubigkeit, verbündet mit kommunis-
tischer üesellschaftslehre. Dostojewski faiit das Christentum als eine
persönliche Entscheidung, die instinktmäliig erfolgen soll, und er
glaubt an eine weltgeschichtliche Sendung der Russen deshalb, weil
sie freiwillig Schuld zu bekennen und Schuld zu verzeihen vermögen.
Die Wucht der Dostojewskischen Romane liegt in dieser ursprung-
lichen Moral. Der Dichter hat sich zwar gegen grobe Tendenz aus-
gesfirochen, aber doch als sein Ziel angegeben das Verkünden des
wahren Christus auf dem Umwege der Kunst <. So entströmt auch
der Seele Tolstois die Wahrheit des Evangeliums und der Brüderlichkeit;
ohne diesen Inhalt wurde sein ganzes Schreiben ihm zwecklos und
verwerflich erscheinen. Selbst mit unseren deutschen Romanschrift-
stellern verhält es sich ähnlich. Die meisten wollen ihre Kunst er-
zieherischen Zwecken dienstbar machen. Sie wollen Leiter der Jugend
oder Beichtväter ohne Talar sein. Alles Einzelne und Farbige des
Lebens, aller ülanz und Reiz der Sprache sinkt zum Werte eines
Mittels hinab. Es bleibt bei dem, was Schiller über Wilhelm Meister
sagte: Die Form des Meisters wie überhaupt jede Romanform ist
schlechterdings nicht poetisch. Sie liegt ganz nur im Gebiete des
Verstandes, steht unter allen seinen Forderungen und partizipiert auch
an allen seinen Grenzen. (Brief an Goethe vom 20. Oktober 1797.)
Vielleicht kann der Gedanke richtiger so gewendet werden: der Roman-
schreiber JNt deshalb ein Halbbruder des Dichters wiederum ein
NX'ort Schillers , weil er mit Notwendigkeit in die Gefahr getrieben
wini. dali die (unentbehrlichen) aulierästhetischen Bestandteile die
anderen überwuchern.
Indem wir uns jetzt der allgemeinsten Kennzeichen des Gedichts
versichern wollen, treffen wir auf eine Übereinstimmung mit dem, was
wir von der Wirksamkeit der Erzählung wissen. Auch Gedichte
iKiinliih werden im Durchschnitt so genossen, dalt zuerst ihr Inhalt
aiif^icnorninen wird (vgl. S. 157). Mit dieser Tatsache ist die Theorie
nicht einverstanden. Theodor Storm sagt in der für die Technik des
lii-ik> bedeutsamen Vorrede zum * Hausbuch aus deutschen Dichtem
siit Claudius : Vl'ie ich in der Musik hören und empfinden, in den
bildenden Künsten schauen und empfinden will, so will ich in der
384 rV. DIE WORTKUNST.
Poesie womöglich alles drei zugleich. Von einem Kunstwerk will ich
wie vom Leben unmittelbar und nicht erst durch die Vermittelung des
Denkens berührt werden; am vollendetsten erscheint mir daher das
Gedicht, dessen Wirkung zunächst eine rein sinnliche ist, aus der sich
dann die geistige von selbst ergibt, wie aus der Blute die Fruchte
Vom Standpunkt der Soll-Ästhetik aus vortrefflich gesprochen, im Sinne
der Ist-Ästhetik unrichtig. Unsere Beziehung zur Sprache ist so inhalt-
licher Art, daß ein unbefangenes Verhältnis zu Gedichten als erstes
Gegenglied die Meinung des Werkes vor sich sieht. Erst an zweiter
Stelle kommt den Lesern mit nicht besonders geschärftem Kunstgeffihl
das sinnlich-musikalische Moment zum Bewußtsein. Nun aber haben
die Melodie des einzelnen Gedichts, einer Arie vergleichbar, und die
unendliche Melodie, die in der großen lyrischen Form von Gedicht zu
Gedicht sich fortspinnt, eine Beschaffenheit, die ausschließlich der
Sprache gelingt. Es gibt hier Harmonien und Disharmonien, ent-
sprungen aus den Klangmöglichkeiten des Wortes, Färbungen, ge-
bunden an die Wahl der Selbst- und Mitlauter, und insbesondere die-
jenigen rhythmischen und metrischen Formen, die mit der Sprache
verwachsen sind.
Der Wortklang und sein Gefühlswert kann zwiefach verstanden
werden. Einige Dichter sind ängstlich darauf bedacht, daß die von
ihnen kunstvoll gefügten Worte in keiner Nuance von der ihnen sonst
zukommenden Bedeutung abweichen. »Meer« soll nicht wirken wie
»Amphitrite«, sonst hätte eben der Dichter bereits »Amphitrite« ge-
sagt. Andere dagegen wollen das Wort aus seiner gemeinen Lage
befreien und in eine leuchtende Sphäre hinaufheben, sie möchten die
Worte wie verschlafene Kinder aufrütteln. »Kuß« darf nicht klingen
wie »Schmatz«, sondern muß alle Zartheit und Innigkeit atmen, die
der keuschen Berührung jungfräulicher Lippen eignet Soll in der Tat
die lyrische Sprache jeden Erdenrest abstreifen?^®) Ich meine: da mit
beiden Verfahrungs weisen Kunstwerke geschaffen worden sind, so
steht es uns nicht an, die eine zu preisen und die andere in den Ab-
grund zu stürzen. Wir haben von den Möglichkeiten Kenntnis zu
nehmen. — Für die Klangfärbungen gebe ich als Probe einige Zeilen
aus Veriaines Herbstlied:
Les sanglots längs BUssent mon coeur
Des violons D'ane langumr
De Vautomne Monotone,
Die Tonmalerei dieser Verse wirkt umso auffallender, als der Sinn
ihnen geopfert ist; denn auch der Dichter dürfte keine bestimmte Vor-
stellung mit den »Geigen des Herbstes« verbunden haben. Die Worte
besitzen, abgesehen von ihrer Bedeutung, Schönheit und Eigenwert^
hj<zAni.rNr, rxn gedicht. 355
und zwar als KlanKeinheiten, innerhalb deren zumeist die Selbstlauter
den Oefühlston bestimmen. Diese ihnen zukommende Klangbeschaffen-
heit setzt sich auch im Reime durch. Indessen, der Reim ist nicht
nur zufälliger Oleichklang, sondern er erfüllt die Aufgabe, für das Ohr
die Verszeilen voneinander zu trennen; er unterstützt das Metrum
etwa so wie die Farbe die l^oportionen eines räumlichen Kunstwerks
hervorzuheben vermag. Er arbeitet gleichsam als ein Stanzapparat,
der dem MetallstQck in regelmäßigen Zeitabständen ein Gepräge auf-
druckt. Da der Reim den Versen größere Festigkeit gibt und da er
aus der Substanz der Sprache seine Nahrung zieht, so begreift man,
daß er unverwüstlich ist. Aber zur Poesie gehört mit unbedingter
Notwendigkeit nicht der Reim, selbst nicht der Vers, vielmehr lediglich
der Rhythmus.
Auf dem vorgeschobensten Posten unserer gegenwärtigen deutschen
Lyrik verlangt man nach einem Rhythmus, der sich nie durch ein vor-
gefaßtes Schema behindern läßt. Im Qegensatz hierzu erklären andere
Künstler den freien Rhythmus für einen Widerspruch in sich selber:
ein [)ichter, der sich durch die Formen gefesselt fühlt, der sich nicht
in den strengsten Maßen vollkommen frei bewegen kann, besitzt eben
ncKh nicht die Meisterschaft. Die Formen sind willig, aber auch
heilig*'). In dem Bewußtsein, daß gerade der Kraftvollste den Zwang
strenger Formen aufsucht, haben die Parnassiens ihre Schulforderungen
erhoben: sie verzichteten auf die Beweglichkeit der Cäsur und be-
dienten sich des klassischen Alexandriners, ja sie erschwerten den
Reim durch die Bedingung, daß auch der die Reimsilbe einleitende
Konsonant in beiden Worten derselbe sein müsse. Zwei Bedenken
hiergegen lassen sich schon innerhalb der allgemeinen Kunstwissen-
schaft deutlich machen. Wenn ein Dichter von irgendwelchen Vor-
stellungen ausgeht, die ihm den Kern des künftigen Liedes bedeuten,
so werden inhaltliche Assoziationen und Worte ihm in sehr ver-
schiedenem Maße zuströmen, je nach der Dehnbarkeit der ihm vor-
schwebenden Form. Dieser Zwang, im Walzertakt des Hexameters
oder in der Wortbeschränkung des Stabreims zu sprechen, ist not-
wendig und wohltätig. Dennoch gibt es eine Grenze seines Nutzens,
seihst für den größten sprachlichen Reichtum und für die gewandteste
flandhahung der Verse. Wir können zwar nicht mit dem Finger auf
die (irenzlinie zeigen, müssen aber grundsätzlich ihr Dasein anerkennen.
Der andere Zweifel entspringt aus der schon oft getadelten Ver-
wechselung von Form mit Schema. Sie wird durch die Theorie der
fhirnu^siens und der ihnen folgenden Dichter genährt. Einen Gegen-
beweis (um diesen scharfen Ausdruck zu gebrauchen) liefern die freien
Rhythmen. Obwohl sie der strophischen Gliederung entbehren, den
Drtioir. Atthrtik «id allf. KuitwiMcmdufl. 25
386 IV. DIE WORTKUNST.
bestimmten Wechsel von Hebung und Senkung und einen numerus
clausus der Betonungen verschmähen, haben sie doch die äußerste
rhythmische Sicherheit. Namentlich aber droht von der Oberschätzung
des Schemas die Gefahr, daß die Kunstübung in überlieferten Rich-
tungen festgehahen und die Wissenschaft zu Mißverständnissen ge-
trieben wird. So ist es beispielsweise ein Irrtum der alten Formen-
lehre, von Versfüßen zu sprechen. Der Versfuß ist ein in den Auf-
bauversuchen angewandter Hilfsbegriff, der bei einem mit den g^ebenen
großen Einheiten beginnenden und dann zurückschreitenden Verfahren
entbehrt werden kann. In der Regel nämlich endet die gehörte Wirk-
lichkeit bei den Wortfüßen d. h. wir hören bei den Worten »o stille,
sanfte, silberhelle Tage . . .« keineswegs Jamben, sondern Trochäen,
deren erstem ein Auftakt vorausgeht Wird diese natürliche Wortreihe
dem Schema zuliebe jambisch umgedeutet, so entstehen Schwierigkelten
für Praxis und Theorie (s. S. 153).
Lassen wir es bei diesen Andeutungen bewenden. Noch harrt die
Frage der Antwort, wie es mit dem Inhalt der Lyrik steht Nicht zum
besten. In der älteren Lyrik herrschen neben den gleich bleibenden
Ausdrucksformen auch unverändert wiederkehrende Sachvorstellungen ;
das Versgeklimper und Reimgeschwätz der Epigonen ist deshalb so
unerträglich, weil sie keinen neuen Inhalt einzusetzen haben. Selbst
fortgeschrittenen Ästhetikern galt es bis vor kurzem als ein Verrat an
echter Lyrik, wenn ein Dichter etwas anderes als Liebe und Natur
besingen wollte. Dann wäre allerdings Lyrik die Kunst jener jugend-
lichen Geschöpfe, die nur in einem Punkte reif sind, die in der Brunst-
zeit von Männchen und Weibchen den Sinn der Welt erblicken. Des
weiteren erwartete man von dieser Dichtungsart, daß sie dem un-
gebrochenen Fühlen unmittelbar zur Äußerung verhelfe. Der Dichter
sage in fast zeitloser Augenblicklichkeit, daß und weshalb er traurig
oder fröhlich sei; je lebhafter das Gefühl, desto besser sei das Ge-
dicht Endlich hat man gefordert, jedes echte Gedicht müsse gesungen
werden können, gleich als ob es vor der Ergänzung durch Musik un-
vollständig wäre.
Von diesen drei Leitsätzen der älteren Poetik ist der erste schon
dadurch über den Haufen geworfen worden, daß die lyrischen Dichter
gegenwärtig ihr Stoffgebiet sehr ausgiebig erweitem und dennoch in
den Grenzen ihrer Kunst bleiben. Da es zu allen Zeiten so gewesen
ist, da jene Freiheitsdichter, die in der Sprache entfesselter Sklaven
redeten, und jene Lebensdichter, die alle Gebiete des wirklichen Lebens
in das Lied hineinbezogen, sich stets als echte Lyriker gefühlt haben,
so wird man mit lehrhafter Abgrenzung nicht weiter kommen. Sofern
etwas ein gutes Kunstwerk ist und in den Formen des Gedichtes
KRZAHI.r.V; TM) GEim IIT. 387
sich darstellt, müssen wir es als Lyrik anerkennen. Jede stoffliche
Einschränkung wäre eine Sünde gcaen den Oeist der Kunstwissen-
schaft. Gerade aus diesem allgemeinen Grunde werden aber Gedichte
abgelehnt werden müssen, in denen das [Persönliche schrankenlos
herrscht und die ursprüngliche Leidenschaft des Gefühls den Lebens-
nerv bildet. Es gibt keine Kunstart, in der elementares Fühlen aus-
reichen könnte. Wird die Intensität der Gefühle so groß, daß die
Bildgrenze der Kunst überschritten wird, so sind diese Gefühle auch
lyrisch nicht mehr zusammenzuhalten. Starke Bewegungen sind immer
kunstfremd. Sie mögen durch die Individualität des sich in ihnen
Bekennenden und von ihnen Befreienden interessieren; indessen darüber
hinaus ist zu verlangen Formung des ausströmenden Gefühls, selbst
auf die Gefahr hin, daß solche Leistungen kalt gescholten werden
gegenüber jenen Gedichten, in denen der Naturstoß der Leidenschaft
vorwärtsdrängt. Die stammelnde und wild sich gebärdende Bekenntnis-
lyrik erinnert an die weinenden und schreienden Kinder. Erst wenn
ihre schwächliche Heftigkeit überwunden ist, beginnt die Kunstlyrik.
Damit soll natüriich die persönliche Anteilnahme des Dichters nicht
geleugnet werden. Schon Goethes Ausspruch, jedes gute Gedicht sei
eine Gelegenheitsdichtung, hebt dies persönliche Moment in der Ent-
stehung hervor. Aber das gilt von der Lyrik in keinem andern Sinne
als von den übrigen Künsten. - Was schließlich das Verhältnis des
Gedichtes zur Musik betrifft, so haben wir uns damit ja schon be-
schäftigt (s. S. 139 u. 326). Das Gedicht als solches soll wie Gesang
klingen und die ganze unbestimmte Rührung und Erregung, die Musik
wecken kann, auch schon durch sich gewähren. Tritt die Vertonung
hinzu, so ist und bleibt die Hauptsache, daß ein musikalisches Kunst-
werk entsteht. Denn Musik ist die zudringlichste Kunst und behält
sogar in der Unterordnung ihre nie auszurottende Selbständigkeit.
Die Wahrheit tritt manchmal an Orten hervor, wo man sie nicht
vermutet. Wer würde in John Stuart Mills Schriften die Wahrheit
ühcr die Lyrik suchen? Dennoch liest man bei diesem englischen
Utilitarier, daß reine Lyrik den Gipfel der Poesie erreiche und der
Geschichtenerzähler gar nicht zu den Poeten gerechnet werden dürfe.
Wir schließen unsere Betrachtung mit den Worten Mills: 'Wenn
anders meine oben entwickelte Ansicht richtig ist, so ist die lyrische
f\>esie, ebenso wie sie die erste Art von Poesie war, auch in einem
hcihcren und eigentümlicheren Grade f^oesie als irgend eine andere
Art; sie ist die Poesie, welche einem von Natur poetischen Tempe-
rament am meisten entspricht, und kann von einem Geist, dem die
Natur diese Gabe versagt hat, am wenigsten mit Erfolg nachgeahmt
werden* '*).
388 IV. DIE WORTKUNST.
Anmerkungen.
1) Gottfried Kellers Ges. Werice IV. (Beriin 1902.) Die Leute von Seldwyla I,
28. Aufl., S. 105 f.
2) Eine vergleichbare Verknüpfung liegt schon in der Gehörswahmehmung des
Wortes »rot«. Denn zumeist sind in ihr ein akustischer und ein kinästhetischer
Vorgang miteinander verflochten. Diese Vorgänge sind sich keineswegs derart
ähnlich wie ein Gegenstand und sein Spiegelbild oder ein Ton und seine Oktave,
aber allerdings gehören auch sie zusammen.
') Die Überiieferung nennt eine Schilderung direkt, wenn kennzeichnende Merk-
male angegeben werden, indirekt, wenn sie den Gegenstand mit bereits bekannten
anderen Dingen vergleicht und durch diese Rückführung auf Gewohntes die An-
eignung des Neuen erleichtert Die im Text gegebene Unterscheidung ist indessen
für unsere Zwecke wichtiger.
*) Enger gehört die Hyperbel zum Sinnfälligen. Denn Verstärkung und Er-
weiterung von Vorstellungen erfahren wir oft genug, fast allnächtlich im Traum
und alltäglich beim willkürlichen Erinnern. Mit >Übertreibungc oder gar mit
»Täuschung« läßt sich die Hyperbel nur dann eridären, wenn man den wissen-
schaftlich gereinigten Wirklichkeitsbesitz des normalen Denkmensdien als Wahr-
heitsbestand ansetzt Das natürliche Vorstellen ist nicht genau, sondern einer Nei-
gung zum Anwachsen ebenso preisgegeben wie einer Neigung zum Abblassen.
^) Näheres in J. L Kleins Geschichte des Dramas, 1865—76, III, 55. Zum
folgenden vgl. Prölß, Geschichte des neueren Dramas, 1880 und Ebert, Entwicke-
lungsgeschichte der französischen Tragödie, 1856.
') Vgl. meine Geschichte der neueren deutschen Psychologie, 1902, I, 137.
^ In dem Aufsatz »Bei Gerhart Hauptmann; von einem Freunde« (Deutsdie
Revue, März 1895) habe ich auf solche Zweifel hingedeutet Übrigens ist eine Be-
merkung noch heute von Interesse; Hauptmann berichtete damals, daß eine Per-
sönlichkeit ihm mit der Art ihrer Sprache am treuesten in der Erinnerung haften
bleibt: er wisse, mit welchem kennzeichnenden Tonfall — und hiemadi auch mit
welchen Worten — sie ihre Freude und Trauer, ihre Zustimmung oder Mißbilligung
ausdrücken würde. Der so beschaffene Gedächtnisstoff wirkt auf die Erfindung
und Kennzeichnung der dramatischen Figuren.
^) ^0- Jakob Wassermann, Die Kunst der Erzählung, 1904.
*) Näheres in Spielhagens Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans,
1883, S. 245.
^^) Es ist zu beachten, daß mit der Trennung der poetischen Sprache von der
des Alltags nicht eine Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung der Wörter stattzn*
finden braucht Die unmittelbare, in lyrischen Gesang ausströmende Erregung einer
Horde kennt zwar die Metapher, vermeidet aber sonst jeden Umweg des Ausdrucks;
im Verhältnis hierzu ist persönliche Lyrik immer künstlich.
**) Die eine Richtung wird von Arno Holz in seinem Buche Revolution der
Lyrik (1899), die andere Richtung von den Gründern und Mitarbeitern der »Blatter
für die Kunst« (seit 1892) vertreten.
**) John Stuart Mills Gesammelte Werke. Autorisierte Übersetzung unter Re-
daktion von Theodor Gomperz, 1874, Bd. IX, S. 197—222. (»Gedanken über Poesie
und ihre verschiedenen Arten.«)
V. Raumkunst und Bildkunst
1. Mittel und Arten der Raumkunst
Wenn wir von bildender Kunst hören, so denken wir unwillkürlich
an ein farbiges Gemälde, das eingerahmt an der Wand hängt, und an
eine Bildsäule, die von allen Seiten sichtbar auf einem Sockel dasteht.
Doch schon in dieser Beschränkung mißfällt uns das Wort bildende
Kunst«, da es ja schließlich die Aufgabe aller Künste ist zu bilden.
Und bei weiterer Überlegung bemerken wir, daß irgendwie auch das
Kunstgewerbe dazu gehört, daß Illustrationen und Zeichnungen zu
nennen wären, daß die von der Hand geformten und vom Auge zu
genießenden Gebilde oft nur Schmuckflächen auszufüllen haben, daß
die Menge der Reliefdarstcllungen wohl größer ist als die Anzahl von
Werken der Rundplastik.
Gibt es ein alle Arten umfassendes gemeinsames Merkmal? Nach
Adolf Hildebrand *) handelt es sich in der bildenden Kunst um Dar-
stellung der körperlichen Welt. Körper erhalten erst aus einer ge-
wissen Entfernung den Charakter der Einheit und zwar dadurch, daß
das Fernbild zugleich Flächenbild ist; die Tiefenverhältnisse werden
auf Grund von Kenntnissen erschlossen, die wir bei nahen Gegen-
ständen durch Augenbewegungen und Akkommodation gewonnen haben.
Bei der Wahrnehmung aus der Nähe, so würde ich sagen, tritt das
Nacheinander des Sehvorganges zu lebhaft ins Bewußtsein, als daß
die über der Zeit erhabene einheitliche Auffassung des Entfernten
/u Stande kommen könnte. Je weiter man die Raumkünste von den
Zeitkünsten abrückt, desto energischer muß man auf dem Gesetz des
Fernhildes bestehen. Denn nur beim Fembild gibt es die anscheinend
/citfreie Auffassung in einem Augenblick. Demnach wären Zeichner
und Maler gegenüber den Bildhauern begünstigt, da sie auf der Fläche
arbeiten und nur der Natur des Fernbildes, das selbst flächenhaft ist,
/u folgen brauchen. Die gleiche Ergänzungsarbeit, die wir beim An-
schauen entfernter Gegenstände vornehmen, leihen wir auch dem
flächenhaften Bild. Durch gewisse Kunstmittel vermag nun der Maler
sein Flächenbild ebenso zu gestalten, wie die Natur das Fembild aus-
3g0 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
stattet, so daß die Vorstellung der räumlichen Form mit Sicherheit
entsteht. Das Bild wird nach dieser Auffassung zu einem Gesamt-
organismus von Raum und Form. Es hat nicht die Aufgabe, einen
Vorgang zu erzählen, sondern eine räumlich-anschauliche Notwendig-
keit der Erscheinung zu schaffen. Diese künstlerische Metamorphose
der Gegenstandsvorstellung soll auch bei der Plastik auftreten: die
Figur soll als Fembild wirken, ist sie ja nach demselben Gesetz des
künstlerischen Sehens geschaffen worden.
Es ist geradezu behauptet worden, daß Malerei und Plastik gleich-
mäßig darauf bedacht seien, die Tiefe anschaulich zu machen. Aber
die Kunst der Malerei hat bestanden, lange bevor die Darstellungs-
mittel der Verkürzung und Perspektive gefunden waren; Kinder und
Naturmenschen, noch unfähig. Tiefe auf einer Fläche vorzutäuschen^
verlangen nach Malerei und freuen sich daran. Die dritte Dimension
tritt erst in der Entwicklung dieser Kunst hinzu, freilich mit derselben
Notwendigkeit, mit der die Muskelbewegung der Sehfähigkeit des
Auges sich anschließt. Auch wir können noch Bilder genießen, bei
denen die Ebenheit völlig gewahrt wird; und von ihnen unterscheidet
jedermann sofort die plastische Kunst, die voll bestimmte Körper
schafft.
Die Gelegenheit zur künstlerischen Flächenbehandlung mit und
ohne Farbe ist gar nicht selten. Man denke an die Schutzmarken der
Fabrikerzeugnisse, die Buchdmcker- und Veriegerzeichen, die Exlibris
und die Monogramme. Da werden aus Buchstaben Naturformen oder
umgekehrt, Schrift und Wirklichkeit führen zusammen ein Tänzchen
auf, selbst leere Stellen des Papiers werden geschickt in die fast ab-
strakten Gebilde einbezogen. Der Künstler zielt nicht auf Bildwirkung
und gewiß nicht auf Körperiichkeit; das Ganze bleibt eine Fläche
und nimmt nur so viel Tiefe — meist durch Schattengebung — auf,
wie zur Verdeutlichung der Teile nötig scheint Die Mitteilungskraft
der Linie, die uns schon früher (s. S. 281) entgegentrat, steigert sich
in den Bilderrätseln aufs äußerste. Die Heraldik kennt das Wort
»redende Wappen« und meint damit Wappenschilder, die den Träger
gleichsam mit Namen bezeichnen z. B. eine Henne auf einem Berge
zeigen und so das Geschlecht der »Henneberg« im Bilde festhalten.
Solche armes parlantes sind keine Gemälde und können trotzd^n
Kunstwert hat)en. Oberhaupt bleibt die Linienkunst auch in der
Gegenwart mit der Schrift verwandt, ihrem Ursprung getreu. Auf
japanischen Blättern findet man Schriftzeichen teils als malerische Bei-
hilfe teils als Grundlage einer Ornamentik, außerdem beobachtet man,
daß die so häufig gesehene und geübte Bewegungslinie der Kalli-
graphie den Linienschwung der Zeichnung im ganzen beeinflußt; die
MITTEI- UNI) ARTEN DER RAUMKUNST. 301
flQchtiK K^rundeten Formen, mit dem Pinsel auf Papier gesetzt oder
mit dem Griffel ins l^lmenblatt geritzt, sind der Hand vertraut ge-
worden. In unserer Schrift herrschen andere Oesetze. Und was
wichtiger ist: während das Zeichnen immer neue laichten auferlegt
und immer neue Reize gewinnt, begnügt sich der Schreibende mit dem
praktischen Ziel der Lesbarkeit (und erreicht auch dies nicht immer).
Dennoch kann die Handschrift von einer kQnstlerischen Vollendung
sein, der gegenüber jede Druckschrift einen gleichgültigen Eindruck
hervorruft, und dies nicht etwa weil sie den Handwerksregeln der
Schönschreibekunst folgt, sondern weil sie ohne mechanische Glätte
und Genauigkeit den Anforderungen persönlicher Bestimmtheit, Zweck-
mäiiigkeit, Einheitlichkeit genügt'). Wenn Künstler in Glasfenster oder
Gitter oder Zeichnungen Worte einzufügen haben, so begnügen sie
sich selten mit den Buchstaben des Setzerkastens; sie verändern die
Formen jeweilig nach der Umgebung. Dürer hat in seiner Geo-
metrie Anweisung zum Entwerfen zweier Alphabete gegeben, und
neuerdings sind tüchtige Kräfte dabei, unsere Drucktypen zu veredeln
und zu bereichem.
Aus allen solchen Tatsachen ersieht man sofort, daß eine vielseitige
Kunsttätigkeit besteht, die mit der Wiedergabe der dritten Raumaus-
messung gar nichts zu schaffen hat. Indem wir ihrer einfachsten Form
theoretischen Ausdruck leihen, sprechen wir von abstrakter Linien-
und Flächenkunst Inhaltlich deckt sie sich der Hauptsache nach
mit Ornamentik und Dekoration, die in der Entwickelung der Kunst
die Anfänge beherrschen und alle späteren Phasen in bescheidener
Nebenstellung begleiten. Formal handelt es sich um ein Linienspiel,
das in keinem Sinn ein Bild der Wirklichkeit sein soll, vielmehr
mit der ästhetischen Wohlgefälligkeit der Begrenzungen und Gliede-
rungen einerseits, mit Anpassung an lehrhafte und praktische Zwecke
anderseits sich begnügt. (Vgl. S. 121 ff., 174 ff., 283 ff.) Als Mittel
kommen vornehmlich in Betracht Bleistift und Feder, Grabstichel und
kalte Nadel, Ätzplatte und Holzstock.
Linien haben ihre besondere Sprache und Mundarten. Wie in der
Musik die Klänge, so können sie sich zu abgeschlossenen Formen
vereinigen oder der unendlichen Melodie vergleichbar rastlos inein-
ander übergehen, so daß sie grundsätzlich kein Ende zu finden
brauchen. Ein entwickeltes Formengefühl findet auch in solchen Bil-
dungen das bestimmte Gesetz, das ein stumpferes Auge nur in der
deutlichen Abgeschlossenheit erkennt. Die freien Rhythmen der Linien-
führung haben sich, entsprechend dem Verlauf der Musik- und Lite-
raturgeschichte, erst in der neueren Zeit bewußt entfaltet; ihre Formen-
lehre ist noch nicht geschrieben. Gebundene und freie lineare Ver-
392 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
knupfungen unterliegen den Gesetzen der Einheit, der Strahlung und
der Wiederholung, während der mechanische Ausgleich von groß und
klein, rechts und links, oben und unten sich auf die festeren, der
Symmetrie zustrebenden Gefüge beschränkt. Im Grunde bedeuten
Strahlung und Wiederholung gleichfalls eine Vereinheitlichung. Jene
läßt von einem Mittelpunkt oder einem Stamme Verzweigungen aus-
gehen, diese setzt Gleiches nebeneinander und zwar ohne Scheu, da
sie keine Wirklichkeiten als Bestandteile enthält; denn Wirklichkeiten
widerstreben der Wiederholung und umso entschiedener, je inhalts-
voller sie sind. Das Hauptverfahren indessen, die Einheit herzustellen,
ist das der Hilfsumrahmungen. Wenn ein Muster in eine einfache
geometrische Figur eingezeichnet wird, die man nachher natürlich
tilgen kann, so wird ihm ein sicherer Zusammenhalt gegeben. Fast
möchte ich diese Geschlossenheit mit derjenigen einer Bildsäule ver-
gleichen, die aus dem Marmorblock ausgehauen wird. — Gerade
Linien innerhalb geschlossener oder aufgelöster Muster haben zumeist
tektonischen Wert. Als Senkrechte tragen sie (metaphorisch ge-
sprochen) oder stehen sie fest, als Wagerechte verbinden oder trennen
sie; die Wirksamkeit der Wagerechten ist geringer und pfl^ daher
durch Wiederholung, Verdickung und betonte Einbeziehung in das
Ganze verstärkt zu werden. An durchgehende Horizontallinien knüpft
sich nicht nur der Gefühlston der Breite, sondern auch derjenige des
Lastens, der Ruhe, ja sogar der Traurigkeit. Kurven wecken leicht die
Assoziation einer Bewegung, weil wir unzählige Male gesehen haben,
daß die langsam herabfallende Hand oder der geworfene Ball Kurven
beschreiben.
Das Wesen dekorativer Flächenfüllung kann erhalten bleiben, auch
wenn die Farbe hinzutritt. Ob eine Tapete farblos oder farbig ist —
die Wand muß fester Abschluß sein und erlaubt keine Tiefenbilder
an ihrer Oberfläche. Die Teppichzeichnung verlor an Kraft und
Eigenart, als man zu Beginn des 16. Jahrhunderts perspektivische
Effekte einführte. Ich habe einmal ein Meisterstück der Gobelintechnik
gesehen {Heliodore, chassi du templey 1682), das vier Säulenreihen in
vier Ebenen hintereinander zeigte: diese Nachahmung des Tafelbildes
verdarb alles. Außer Tapeten und Teppichen wären die Schrift- und
Bildplakate zu nennen, die mit einer weithin wirkenden Farbenanord-
nung die Augen fesseln wollen.
Die meisten Werke der Nutzkunst gestalten allerdings den Raum
nach seinen drei Dimensionen. Da sie hierin mit den Bauwerken
übereinstimmen, so wollen wir zuerst lieber die ihnen eigentümlichen
oder wenigstens am schärfsten an ihnen hervortretenden Prinzipien
kennen lernen. Also sprechen wir von der Rücksicht auf das Material
H..d
MITTKL INI) AkTKN DER RAUMKUNST. 303
als von einem IVinzip, das hier am besten zu erfassen ist. Zwei Fälle
sind zu unterscheiden. Die Betonung; des in abstrakten Raumformen
verarbeiteten Stoffes kann sich auf seine Kostbarkeit beziehen. Da-
t^e^en ist nichts einzuwenden, vorausgesetzt daß gleichzeitig auch die
Erscheinung gewürdigt wird; denn alles Kostbare ist selten und nähert
sich der Einzigkeit eines künstlerischen Wertes. Aus einer ähnlichen
Achtung vor dem Gegebenen, wie wir sie im geschichtlichen Schau-
spiel verlangen und zu den berechtigten Wirkungen des Naturalismus
zählen, werden selbst Zufälligkeiten in der Beschaffenheit des behan-
delten Stoffes geschont. Das launische Spiel auf irisierenden Gefäßen
und die wunderiichen Unberechenbarkeiten, die bei Schmelz- und Guß-
arbeiten in der Glashütte ihr Wesen treiben, entwickeln sich zu einer
Quelle vornehmsten Kunstschaffens. Femer zeigt gute gewerbliche
Kunst die Neigung, das Wesen des benutzten Stoffes im allgemeinen
zur Geltung zu bringen. Es ist wahr, daß die Vorliebe für billige
Imitationen nicht nur ästhetische, sondern sittliche Verwüstungen an-
richtet, weil sie den Sinn für alles Echte, sich selbst Bekennende zer-
stört. Und es ist bedaueriich, daß die ästhetische Scheinlehrc der
Mißachtung des Stoffes Vorschub geleistet hat Anderseits darf doch
auch die Beschaffenheit des Stoffes nicht engherzig aufgefaßt werden.
Holz beispielsweise erlaubt durchaus die geschwungenen Linien des
Rokoko. Zu allen Zeiten sind Wasserfahrzeuge oder wenigstens ihre
Innenräume durch Biegen des Holzes hergestellt worden. Ein Stuhl
hält, stützt und umspannt, wenn er der Elastizität des Holzes Rech-
nung trägt. Nebenbei bemerkt: jeder von uns Sklaven des Schreib-
tisches sollte sich den Arbeitssitz nicht vom Tischler, sondern vom
Muskelphysiologen bauen lassen, damit er aufs genauste den Aiaßen
und Formen des Körpers sich anpasse. Gerade für das Holz hat
Semper (Der Stil II, 254 ff.) überzeugend nachgewiesen, daß seine
Mängel (die verhältnismäßig geringe Dauerhaftigkeit, die faserige und
hygrometrische Beschaffenheit) der kunstgerechten Verwertung nicht
geringere Dienste leisten als seine Vorzüge. Das stimmt gut mit der
allgeineinen Einsicht zusammen, daß die Begrenztheit des Mittels die
künstlerische Leistung bedingt und fördert.
Ein zweites Merkmal kunstgewerblicher Leistungen pflegt ihre Ge-
hrauchsfähigkeit zu sein. Spangen, Broschen, Arml)änder, die zusam-
menhalten, heften, umschließen sollen, erhalten ihre Form aus dem
Zweck. Das Hauptproblem der Kleidung ruht in den Friedens-
hcdingungen zwischen Brauchbarkeit und Gefälligkeit. Wiederum
dürfen wir nicht zu ängstlich auf unmittelbare Verwertbarkeit bedacht
sein. Welcher Damenhut schützt den Kopf, ohne selbst Schutz zu
fordern? Aber er bildet einen Abschluß nach oben, verleiht dem Kopf
394 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
der Trägerin eine Größe, die ihm meist und zum Schaden der Oesamt-
wirkung der Figur abgeht, kurz er krönt sozusagen den Aufbau des
Körpers als seine Kuppel. Auch diese ist ja unter bloß praktischen
Gesichtspunkten eine verschwenderische Dachform. Dennoch besteht
in beiden Fällen eine symbolische Zweckmäßigkeit, und sie hat ihr
künstlerisches Recht. Überhaupt schließt Zweckmäßigkeit den Schmuck
nicht aus. An der rohen Brauchbarkeit gemessen sind Mutze und
flaches Dach vortrefflich. Wir wissen jedoch, daß Körperzierat und
Tracht Steigerungen sein wollen. So kommt in ihre Kunstgestalt ein
Übertreibungsmoment hinein, das zu den abenteuerlichsten, aber auch
reizvollsten Erfindungen führt. Nicht dieser Umstand darf, wie es
fälschlich so oft geschieht, als unkünstlerisch getadelt werden. Son-
dern bedenklich ist bloß, daß das Werk ganz und gar an den Ge-
brauch des Menschen gebunden bleibt und jene Selbstgenügsamkeit
nicht erreichen kann, die bereits Aristoteles richtig als Kennzeichen
des Vollendeten angegeben hat Nun würde es ein recht naiver Aus-
weg sein, wenn man die Unabhängigkeit hoher Kunst dadurch zu
Stande bringen wollte, daß man die Gegenstände in unverwendbaren
Formen bildet. Leider geschieht es ja: wir staunen heutzutage über
Stühle, auf denen man nicht sitzen, Gläser, aus denen man nicht
trinken kann, und die auf diese kindliche Weise höchste Kunstvoll-
kommenheit vorspiegeln. Aber wer im Gebrauchsgegenstand nur einen
Vorwand für die Entfaltung ästhetischer Reize erblickt, irrt ebenso wie
sein Gegner, der mit der platten Zweckmäßigkeit alles erledigt glaubt
In Wahrheit hat der Kunsthandwerker vom Zwecklichen auszugehen
und es so zu stilisieren, daß der Zwang des Praktischen aufgehoben
scheint. Sofern ein Zierat dieser Aufgabe dient, sollte man ihn nicht
mit puritanischer Strenge ablehnen. Ein Blick in die Geschichte der
Metallkunst lehrt, daß niemals und nirgends die Verfertiger von Ge-
räten, Beschlägen, Gittern, Wandarmen, Brunnenhauben etwas Unver-
ziertes ertrugen. Oder um ein uns näher liegendes Beispiel zu nehmen:
Der Einband eines Buches, ein Schutz und Zusammenhalt der Blätter
und für gewöhnlich nur an der Schmalseite sichtbar, bedarf vom Nfltz-
lichkeitsstandpunkt aus keines Schmucks der breiten Fläche. Ich
möchte ihn trotzdem in besonderen Fällen nicht missen. Oder in
der Innenausstattung bleiben gutes Papier, lesbare Type und schwarzer
Druck gewiß die Hauptsache, nur würde ich sie mehr einen Beginn
als einen Abschluß der Aufgabe nennen. Es muß versucht werden,
das Bild der gedruckten Seite zu einer Raumeinheit zu machen, sei es
nach Art der alten Meisterdrucke mit schwarzem Spiegel und schmalem
Rand, sei es nach unserer Art mit hellerem Spiegel und breitem Rand;
jedenfalls müssen Papier, Format, Lettern einheitlich zusammenklingen.
MITTEL UND ARTEN DER RAUMKUNST. 395
Das gleiche gilt von der erfreuenden Mannigfaltigkeit der Kopf- und
Zierleisten, Vignetten und Initialen.
Die dritte und letzte Norm, von der nun zu sprechen ist, betrifft
die sinngemäße Übernahme naturiicher Urformen. Es handelt sich
nicht um die sofort ins Auge springende Ähnlichkeit (des geschnitzten,
an der Stuhllehne befindlichen Löwenkopfes mit einem wirklichen),
denn solche Übereinstimmungen gehören theoretisch in die Bildkunst.
Anstatt der deutlichen Beziehungen ist eine geheime Verwandtschaft
da Um aristotelisch zu reden: nicht das besondere Erzeugnis, son-
dern die Entelechie, die in den Naturformen wirksame bildende Kraft,
wird vom gewerblichen Künstler übernommen. In dem Maße wie die
Ausladungen und Einziehungen eines Säulenkapitäls der Gesetzmäßig-
keit von Fruchtkelchen und Blattbildungen abgelauscht sind, richtet
sich die Konstruktion eines Möbels oder eines Gerätes nach der Natur-
anregung. Die Natur zeigt, daß gesetzmäßig zusammenlaufende Linien
eine bestimmte Führung haben müssen, daß dort, wo Drehbeweglich-
keit verfangt wird, Gelenkformen am Platz sind, daß es nur einige
Weisen gibt, Teile auseinander hervorwachsen zu lassen. Durch Er-
fassen des in der Natur lebenden Geistes haben die Meister der
modernen Nutzkunst für die ihnen gestellten neuen Aufgaben die
neuen Formen gefunden. In den Grundzügen bleiben allerdings die
Formen immer die alten, nämlich die durch Arbeitsverrichtung und
Naturanleitung gebotenen. So hat Gottfried Semper die vier Urformen
der Keramik auf die vier Haupttätigkeiten des Fassens, Schöpf ens,
Einfüllens, Ausgießens und auf vier Naturvorbilder zurückgeführt: Der
Kürbis, das Ei, die hohle Hand und das an der Spitze durchbohrte
Hom sind »die barsten Ausdrücke dieser vier Konzeptionen der Töpfer-
kunst«. (Der Stil, 1863, II, 7.)
Die Baukunst, der wir uns nunmehr zuwenden, enthält in ihren
Hauptzügen keine Nachahmung naturiicher Bildungen. Oder glaubt
heute noch jemand, daß die hochstrebende gotische Architektur den
Fichten und Buchen der deutschen Wälder ihre Entstehung verdanke?
Selbst dort, wo anscheinend Pflanzenformen wiedergegeben werden,
sind sie aus anderen Bedingungen hervorgegangen; und die meisten
Beispiele, an die man denken würde, liegen innerhalb des plastischen
oder rein ornamentalen Schmucks. Hingegen scheint auch auf diesem
Gebiet das tätige Prinzip der Natur sich durchzusetzen, der unorga-
nische Stoff ins Lebendige umgewandelt zu werden. Die Säule, die
ihr Gewicht hebt und nicht trägt, sowie die Wiederholung dieses
dynamischen Vorgangs im Säulen wald, ist das beliebteste Beispiel
(s. S. 85) '). G^en die theoretische Ausnutzung dieser dünnen Stützen
spricht jedoch, daß sie nicht eigentlich konstruktive Bestandstücke des
396 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
Gebäudes sind; wo wirklich außer dem Architrav eine Last zu tragen
ist, da tritt der Pfeiler ein. Ferner dürfte die Täuschung, daß die so
oft am Säulenkopf sichtbaren Blätter die Decke heben, dem natürlichen
Gefühl als grobe Vorspiegelung erscheinen. Nur die Trommel des
Schaftes kann tragen, während die Blätter einen Schmuck bilden. Aber
selbst sie trägt nicht so wie wir tragen. Das gleiche Wort darf nicht
zur Vermenschlichung verführen. Wer durchgehends anthropomor-
phistisch empfindet, der muB das Geradlinigkeits- und Rechtwinklig-
keitsdogma der Architekten als verhängnisvolle Erschwerung bcs
kämpfen. Diesem Gefühl hat, freilich gegenüber der Bauart einer
ganzen Stadt, Baggesen den lebhaftesten und witzigsten Ausdruck gcs
liehen, als er eine »Stadt in ungebundenem und gebundenem Stil«
schilderte. »Die letztere,« sagt er, »ist nicht nur zusammengepackt
und zusammengepreßt, sondern zugeschnitten und zugespitzt. Ich
weiß nicht, ob es nicht im geheimen zu meinem Abscheu vor diesen
geraden Linien, Quadraten und Würfeln beiträgt, daß nichts in der
menschlichen Gestalt rechtwinklig oder viereckig ist. Man fürchtet,
daß die Einwohner einer solchen Stadt sich täglich stoßen müssen . . .
Ich friere hier in Mannheim, ich werde steif, ich kann nicht springen,
ich könnte mich unmöglich hier verlieben, wenigstens nicht auf der
Straße, was hingegen in irgendwie krummen Gassen möglich ist. Alle
Wärme, alle Bewegung, alle Liebe ist rund oder wenigstens oval, geht
in Spiralen oder anderen Bogenlinien! Nur das Kalte, Unbewegliche,
Gleichgültige und Hassenswerte ist schnurgerade und kantig. Wenn
man Soldaten in Rondellen anstatt in Gliedern aufstellte, würden sie
tanzen, nicht sich schlagen. Darum beruht die ganze Taktik auf
Winkeln . . . das einzige Gerade am Menschen sind seine kalten, un-
beweglichen, beißenden Zähne, und selbst die hat die Natur in einem
Halbkreis angeordnet! Das Leben ist rund, und der Tod ist eckig . . .*)€
Mag sein. Doch dann ist eben die Architektur eine Kunst des
Todes. Da wir nicht wegdekretieren, sondern Vorhandenes erklären
sollen, suchen wir nach einer anderen, den Tatsachen besser ent-
sprechenden Auffassung der Architektur. Schopenhauer findet ihren
Sinn in der Veranschaulichung jener Ideen, »welche die niedrigsten
Stufen der Objektivität des Willens sind,< nämlich vor allem Schwere,
Kohäsion, Starrheit, Härte. Diese Ideen haben aber kein Leben, das
dem unseren ähnlich wäre. Selbst abgesehen von ihrem Sein oder
Nichtsein, abgesehen von der Frage, wie weit sie in Absicht und
Arbeit der Bauleute als Leitgedanken tätig zu sein vermögen — jeder
Blick auf ein Gebäude überzeugt uns, daß die rücksichtslose stoffliche
Härte dem Betrachter einen Widerstand entgegensetzt, den keine Ein-
fühlung aufzulösen vermag. Alles Architektonische zeigt uns eine
MITTEL UND ARTEN DER RAUMKUNST. 397
starre und feste Beständigkeit, mit der weder unser Leib noch unsere
Seele etwas gemeinsam hat. Es bleibt unbeweglich auf demselben
Fleck, während unsere Füße und unsere Gedanken schnell von Ort
zu Ort tragen. Es ist sichtbarlich durch mathematische Gesetze be-
stimmt, die in unserem eigenen Lebensgefühl keine Stätte haben; das
»gebundene System« des romanischen Stils beruht auf der Vierung
d. h. die uns ganz fremde Form des Quadrates bildet die maßgebende
Raumeinheit. Schließlich sind auch die Maße der Regel nach zu groß,
als daß wir uns einfühlen könnten. — Bloß in einer Beziehung finden
wir das Bauwerk uns verwandt. Das Verhältnis der Teile nämlich
bietet (neben den fremdartigen Momenten) in der Auseinandersetzung
zwischen niederziehender Schwere und aufstrebender Kraft die Form
eines uns vertrauten Gefühls. Ein solcher Kampf ist etwas, das wir
aus den Erfahrungen unserer psycho-physischen Lebenseinheit kennen.
Denn es gehört zu den Bedingungen menschlichen Seins, daß wir bei
jeder Körperbewegung und bei allen seelischen Willensimpulsen hem-
mende Gegenrichtungen verspüren. Die Sprache jedoch, in der die
Baukunst davon redet, ist nicht die unsere. Namentlich alle Stein-
architektur bleibt, wenn sie sich ehrlich zu ihrem Stoff bekennt, fest
und unnachgiebig. Sie kann äußerst zart werden, bewahrt aber trotz-
dem selbst in den dünnsten Ausläufern die Härte ihres Materials; wo
das Strebesystem der Gotik die natürliche Härte des Steins verieugnet,
da kann nur der sittliche Wert, der jeder Überwindung des Irdischen
zukommt, über die Verietzung der stofflichen Wahrhaftigkeit hinweg-
helfen^). Auch wird die Baukunst dabei meist in die Weichheit der
Bildkünste gezogen. Sofern der eben erwähnte Kampf zwischen Druck
und Gegendruck ohne Hilfe anderer Künste sich abspielt, veriäuft er
als starres Aneinanderprallen, oder besser gesagt, er bleibt auf dem-
selben Fleck stehen als unausgleichbarer Gegensatz blinder Natur-
mächte.
Selbst hierbei dürfen wir uns nicht beruhigen. Die Wahrheit zu
sagen : in zahllosen Fällen wollen wir von einem solchen Streit zwischen
Kraft und Last nichts wissen. Unsere Wohnräume gleichen weder
dem Spiel im Drama noch dem Konflikte musikalischer Stimmführung;
wir wollen durch Wand und Decke, Fenster und Tür nicht an tätige
Kräfte und ihren Zwiespalt erinnert werden^). Ein Zimmer ist sozu-
sagen die letzte, äußerste Umschließung des Körpers, es muß sich so
ruhig und schützend um den Leib lagern wie die Kleidung. Daher
kann selbst der Bestand und Gegensatz unorganischer Gewalten nicht
als erschöpfende Erklärungsformel gelten. Es liegt nahe, die Vervoll-
ständigung in der Zweckdienlichkeit zu finden. Das trifft zu, sofern
damit gesagt werden soll, daß Vernunft- und bestimmungsgemäße
398 V. RAUMKUNST UXD BUJHCUXST.
Raumverwalung den leitenden Gedanken bfldeL Bei allen großen
Geschäftsbauten und Warenhäusern gibt die Gestaltung und Beleuch-
tung der Innenräume den Ausschlag. Unverzeihlich, daß nnmer noch
die Theater nach dem Vorbild der italienischen Lx^gensäle aufgeführt
und nach außen hin nicht hinlänglich als das gekennzeichnet werden,
was sie sind; Gottfried Semper hat als erster ^nach den Orund-
anschauungen der architektonischen Wahrhaftigkeit c die Überzeugung
vertreten, ^daß ein so wesentlicher Teil des Baues, wie das den
Bfihnenraum umschließende Hinterhaus mit seinen Nebenräumen in
vollster Selbständigkeit ausgesprochen und charakterisiert werden
mfisse.« Von Lichtwark stammt der Nachweis, wie unsinnig die meisten
Museen gebaut sind: Da man alle Liebe an Glanz und Größe der
Fassade verschwendet, so werden die Museen sogar als Speicherräume
untauglich und die Säle zu Wandelgängen entwürdigt, in denen man
so wenig Ruhe und Sammlung findet wie auf einer belebten Straße.
Beachtenswert scheint mir Christian Rangs Darl^;ung, inwiefern die
Form der evangelischen Prunkkirchen geändert werden sollte; Rang
wfinscht Einheit des ungeteilten Raums und zentrale Anlage mit
dem Altar in der Mitte und mit einer überall sichtbaren Kanzel; ich
dächte, daß auch Orgel und Sängertribüne anders angeordnet werden
sollten als üblich, denn es macht den Hörer unruhig, wenn er der
Klangquelle den Rücken kehrt. — In den letzten drei Beispielen, die
aus einer Fülle ähnlicher herausgegriffen sind, hindert ein überlieferter
Typus die freie, sachgemäße Gestaltung. Bei den zuvor genannten
>3&^arenhäusern ist das nicht der Fall. Hier jedoch droht die Not-
wendigkeit reichlichster Lichtzuführung den Eindruck eines geschlos-
senen Raumes überhaupt aufzuheben. Der Skelettstil des Eisenbaues
erlaubt, die ausgefüllten Bestandteile des Gebäudes auf ein Mindest-
maß zu beschränken und in der Hauptsache leere Stellen zu zeigen.
Schon diese Vorherrschaft der unruhig geschmückten oder verhangenen
Fenster verträgt sich nicht mit künstlerischer Architektur. Dazu
kommt, daß das Eisen, biegsam und beliebig verwertbar, dem Bau-
meister keineriei Zwang auferlegt ; und das ist lebensgefährlich für jede
Kunstart ').
Um in zwei Worten zusammenzufassen: die Zweckvorstellung soll
zunächst die Raumgestaltung im Innern und dadurch mittelbar den
Außenbau bestimmen. Hier stehen wir nun am Zielpunkt. Wir be-
greifen jetzt, daß es auf die Bildung des Raumes und die Beeinflussung
des Raumgefühls ankommt. Mit Recht sagt Schmarsow: »Das Raum-
volumen, das den Menschen als Spielraum umgibt, ist das zunächst
Gewollte, nicht die Aufrichtung körperiicher Massen, die wir zu dessen
Verwirklichung brauchen. Alle statischen und mechanischen Vor-
MITTEL UND ARTEN DER RAUMKUNST. 399
kehrungen, wie alle materielle Durchführung des Wandverschlusses
sind nur Mittel zum Zweck . . .« (a. a. o. S. 184). Die abstrakte Raum-
gestaltung, von Menschen für Menschen geschaffen, kann von der
Horizontalachse beherrscht werden. In diesem Fall zieht die Längs-
perspektive Auge und Raumgefühl an sich. Oder es kann, wie im
gotischen Stil, die Höhendimension betont sein. Oder endlich kann
im Zentralbau gleichsam eine Kapsel geformt werden, die sich um den
Mittelpunkt (den Betrachter, das Grabdenkmal, die Statue) kreisförmig
herumlegt. Alle drei Möglichkeiten lassen sich durch Wiederholungen
und Gliederungen in ihrer Wirkung verstärken. Wird dabei individua-
listisch vorgegangen — das geschah in der romanischen Baukunst —
so entsteht eine andere Stimmung als in der Gotik, die jede Willkür
ausschließt und die Gesetzmäßigkeit des Gef üges folgerichtig durchführt.
Trotzdem ist zu beobachten, daß die aus dem Zweckgedanken
hervorgegangene und einheitlich gestaltete Formung des Raums er-
gänzender Hilfen bedarf, um der Architektur einen festen Platz in der
Reihe der Künste zu sichern. Die Kraft des Bedürfnisses allein macht
noch kein Kunstwerk. Es ist mit dem Gebäude wie mit dem mensch-
lichen Körper: das Knochengerüst, der verborgene Träger des Ganzen,
bedarf des füllenden Fleisches. An der Rundung der Formen, an ihrer
Harmonie und Eleganz, erfreuen wir uns, ohne etwas von der Ver-
richtung zu spüren. Von der Ferne betrachtet tritt die Struktur nie
deutlich hervor: da wirkt das Verhältnis zu den Nachbarbauten, der
Fleck oder die Silhouette. Namentlich auch die Farbe, die in der
feuchten Luft des Nordens bedeckter sein muß als im sonnigen Süden,
während für die Innenausstattung der Morgenländer kühle, der Abend-
länder warme Farben bevorzugt Die romanischen Baudenkmale haben
wir uns bekanntlich mit durchgeführter Bemalung vorzustellen.
Indem wir den Gesamteindruck des mit einem Blick umfaßten
Bauwerkes überprüfen, werden wir an das zu Anfang besprochene
Gesetz des Fernbildes erinnert Denn die großen Linien und die
Farben des Gebäudes, das sich dem unbelehrten Auge als Fläche dar-
stellt, geben einen bildmäßigen Eindruck. Doch selbst in dieser Rück-
sicht bleibt die Architektur eine Kunst der unwirklichen Formen und
daher von dem verschieden, was wir Bildkunst nennen; und in ihren
wesentlichen Zügen ist sie die Kunst der abstrakten Raumbehandlung.
2. Die plastische Bildkunst
Von der Mathematik her sind wir gewohnt, Körper und Raum als
dasselbe anzusehen; auch die Erkenntnistheorie pfl^ mit dem B^friff
400 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
der Ausdehnung beides zu umfassen. Aber in der Kunst ist der
Raum ein umgrenztes Leeres, gleichsam nur der mögliche Ort fOr
Körper, während der Körper selbst die Ausfällung eines Raumteils ist;
in der Architektur entscheidet der Innenraum, dessen Gestalt man von
der Außenseite ablesen kann, in der Skulptur entscheidet die AuBen-
form des Körpers, den wir uns stets als fest vorstellen, auch wenn
er in Wahrheit hohl sein sollte. Dort handelt es sich um abstrakte
Raumwirkung, hier um konkrete Bildwirkung. Jene Kunst hat mit der
organischen Natur wenig, diese sehr viel gemeinsam. Zwischen beiden
steht eine »Kunst körperlicher Massen«, die wir beispielsweise an
Obelisken und Grabmalen bewundem. Sie ist mit den Formen der
unlebendigen Wirklichkeit verwandt, zeigt das ihnen zukommende
starre und beharrende Wesen, bleibt bei der Abstraktion stehen —
und ist dennoch nicht Schöpferin von Raum-, sondern von Körper-
werten. Mit den Monumenten verbindet sich gern das Relief. Als
Flachrelief hat es einen festen Rückhalt an der Wandfläche, die ihm
das Mal bietet, und bedeutet nicht mehr als einen leicht hervortreten-
den Schmuck dieser Ebene; als Hochrelief löst es sich stärker ab und
nähert sich der Rundplastik; als Tiefrelief strebt es malerische Wir-
kungen an. Die verbreitetste und zugleich intimste Art der Relief-
plastik, worunter wir Medaillen, Münzen und Plaketten verstehen, wird
leider nur noch von Fachgelehrten und Sammlern hinlänglich gewür-
digt; diese Kleinplastik ist eine volkstümliche Ideenkunst, die trotzdem
zum einsamen, sich versenkenden Genuß auffordert.
Indessen, selbst wenn Monumente und Reliefs an Zahl die Rund-
werke übertreffen sollten, die Eigenart der Bildhauerei tritt an diesen
deutlicher zu Tage. Man kann sie zunächst in formaler Hinsicht be-
stimmen und die Frage auf werfen, für welche Art der Betrachtung
Bildsäulen geschaffen seien. Einige Theoretiker meinen, der nahe
Standpunkt sei zu fordern. Im weiteren Abstände nämlich entsteht,
wie wir bei Erörterung des Fembildes besprachen, ein flächenhafter
Eindruck, der der angestrebten Körperiichkeit der Statue entgegen ist;
dem Körpercharakter wird der Beschauer nur gerecht, indem er sich
in einem so nahen Umkreis hält, daß er, die Bildsäule umschreitend,
sie gewissermaßen mit den Augen abtastet. Hiergegen wäre zu be-
merken, daß Beschränkung auf die Tastnähe und Voriiebe für das
Umkreisen die Einheitlichkeit der Statue zu zerstören drohen. Diese
Abgeschlossenheit aber sucht der Künstler ausdrücklich mit Hilfe einer
Unteriage herzustellen. Was bei Bildern der Rahmen ist und bei
schauspielerischen Darbietungen die Bühne, das leistet bei plastischen
Werken der Sockel. Durch ihn wird die Statue von der Umgd)ung
losgelöst und als für sich bestehend schon rein äußeriich gekenn-
DIE PLASTISCHE BILDKUNST. 401
zeichnet Dabei pflegt eine gewisse Höhe, also der Zwang, nach oben
von der normalen Gesichtslinie abzuweichen, gute Dienste zu leisten.
Mimische Vorführungen auf der Fußebene des Zuschauers machen
einen leeren, unkünstlerischen Eindruck: die Schauspieler erscheinen
nicht als Vertreter einer anderen Welt, sondern als Menschen, die zu
uns gehören. Ebenso befremdet es, oder besser, es erweckt eine un-
angemessene Vertraulichkeit, wenn Bilder in Augenhöhe aufgehängt
sind. Nicht anders also bei Statuen, deren Sohle dort ruht, wo auch
die unserige im nächsten Augenblick sich befinden könnte. Da so
viel Wert auf die abgetrennte, in sich beschlossene Einheitlichkeit ge-
1^ wird, darf der nahe Standpunkt des tastenden Sehens und das
Umherwandeln kaum als angemessen zugestanden werden.
In dieser Überlegung ist ein weiteres Bedenken inbegriffen, das
ich nur noch deutlicher auszusprechen habe. Schon im Jahre 184Q
zeigte Ruskin, daß der Bildhauer nicht die Form eines Dinges aus
dem Stein herausholt, sondern die Wirkung dieses Dinges, und zwar
deshalb, weil die im Marmor festgehaltene wahre Form einen ganz
anderen als den natürlichen Eindruck hervorruft®). Ein Standbild ist
nicht ein versteinerter Mensch, eine Büste nicht eine ausgefüllte Toten-
maske. Höhlung und Vorsprung im Kunstwerk brauchen keinesw^s
Wirklichkeiten darzustellen, sondern sind dazu da, um Licht und
Schatten richtig zu verteilen. Daher finden sich an mustergültigen
Erzeugnissen der antiken Skulptur die stärksten Abweichungen vom
realen Vorbild: die unmögliche »Qötterstim« ist ein bekanntes Bei-
spiel; auch die Neigung der besten griechischen Künstler, den Knochen
etwas von ihrer Starrheit zu nehmen, die Wirkung einer Bewegung
über die Endpunkte in den Gelenken hinaus zu steigern, ist seit Jahr-
zehnten oft erörtert worden^). Moderne Bildhauer greifen zu den
auffallendsten Mitteln, um der Verwechslung sichtbarer mit tastbarer
Form vorzubeugen. Noch kann man nicht entscheiden, ob die Manier,
eine Gestalt aus dem Block herauswachsen zu lassen, die inhaltlich
überall da gerechtfertigt wäre, wo wir irgend ein Schöpf ungs wunder
vermuten dürften, einen bleibenden Gewinn darstellt. Aber wir billigen
den damit geäußerten Widerspruch gegen die Gleichsetzung künstle-
rischer und natüriicher Körperiichkeit. Wir begrüßen die technischen
Errungenschaften, durch die das Wissen von den Dingen dem Ge-
sichtseindruck untergeordnet und dem plastischen Werk aller Reiz des
Verschleierten, des Stimmungs- und Geheimnisvollen zugeführt wer-
den kann.
Der Unterschied der beiden Körperiichkeiten hat mit dem in der
älteren Ästhetik gern behandelten, viel auffälligeren Unterschied der
farblosen Plastik und der farbigen Natur dies gemeinsam, daß seine
Detsoir, Ästhetik und allg. Kanstwissenschaft. 26
402 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
Erkenntnis vor der Verfauschung von Wirklichkeit und Bild bewahrt
Vischer wies ausführlich nach, daß eine bemalte Statue der minder-
wertigen Wachsfigur gleiche und daß auf diese Art die Grenzen zwi-
schen Bildhauerei und Malerei verwischt wurden. Andere Fachleute
hingegen erinnerten an die vielfarbige Plastik der Griechen und be-
stritten auch grundsätzlich dem Kreideton der Oberfläche die Allein-
herrschaft: die sogenannte farblose Skulptur habe mindestens eine,
Licht auffangende und zurückwerfende, Farbe; außerdem kämen durch
das nie fehlende Kolorit des Marmors und seine kristallinische Be-
schaffenheit (das »Korn«) sowie durch den Rost des Erzes und Kupfers
(die »Patina<^) immerfort diskrete Farbenwirkungen zu stände. Ich
habe mich von der Richtigkeit dieses Beweisganges nie fiberzeugen
können. Denn mir scheint, solche unvermeidlichen und noch dazu
naturwidrigen Farbenanklänge haben mit dem Problem nichts zu
schaffen: man erklärt doch die Graphik deshalb nicht für eine Kunst
der Farben, weil das Papier zufällig oder absichtlich getönt ist Soll
nun gar die Erinnerung an die griechische Kunst, wie sie einst sich
dargeboten haben mag, unser gegenwärtiges Empfinden beeinflussen?
Unsere besten Bildhauer, selbst die mit der Malerei vertrauten, stehen
der Buntheit zaudernd gegenüber, und wenn sie einmal ein poly-
chromes Werk schaffen, so bleibt der Erfolg gering. Die Eigen vt
der Plastik liegt in der künstlerischen Umgestaltung organischer
Körper^®), als welche sich auf die reine Form und hiermit — aristo-
telisch und wahrhaftig gesprochen — auf den Gott im Menschen be-
schränkt. Was zur vollkommenen Ausführung dieser Absicht nicht
nötig ist, das kann ohne Schaden fortfallen; so die Farbe. Gewiß
hat schon früh die Bildhauerei der Farbe einen Spielraum eingeräumt,
jedoch mehr im Sinne einer Gewohnheit und religiösen Konvention
als aus dem inneren Zwang der Überzeugung. Den Gemütszustand
griechischer Künstler und Betrachter müssen wir nun wohl ähnlich
wie den der Holzschnitzer in den Alpenländem und der Käufer
ihrer Figuren vorstellen. Indem die Farbe zum Reichtum und zur
Wärme des Gebildes beiträgt, vielleicht mit einem Einschlag asiatischer
Buntheitslust, umfaßt sie doch auch den Glanz des geglätteten Steins
und des gehämmerten Goldes, also Stoffeigenschaften, die der Farben-
verwertung in der Bildmalerei nicht zukommen. Rot und Blau, vom
Weiß sich abhebend, sind reine, starke Farben von nahezu abstrakter
Beschaffenheit; ihre Wirkung sehen wir an den Tanagrafigürchen, die
den ursprünglichen Zusammenhang mit der Töpferei verioren und die
engste Verbindung mit der Plastik gefunden hatten.
Wir gingen davon aus, daß Plastik nicht für tastende Nahbetrach-
tung geschaffen sein kann: die Einheitlichkeit wird fast unmöglich
DIE PLASTISCHE BELDKUNST. 403
und die wirkliche Form des Körpers wird anstatt der künstlerisch
umgebildeten zum Gegenstand der Betrachtung. Weil der nackte
Körper ästhetisch genossen und ästhetisches Genießen mit künstleri-
schem Auffassen von der Oberlieferung schlechthin gleichgesetzt wird,
deshalb hält sich diese Irrlehre. In Wahrheit aber meint das Wort
Bildhauer, daß der Künstler aus dem Stoff ein Bild heraushaut; und
»Bild« setzt zwar die Berührung mit konkreter Wirklichkeit voraus
— im Gegensatz zur abstrakten Raumkunst — , bedeutet jedoch zu-
gleich eine energische Unterscheidung von den Seinsformen. Wo-
durch in dieser Kunst der Bildcharakter erzielt wird, läßt sich nur aus
der Beobachtung plastischer Meisterwerke entnehmen. Mehrere Mittel
lernen wir aus der Geschichte kennen. Eins der ursprünglichsten und
durchgreifendsten besteht darin, das Höhenlot als Hauptbahn für den
Blick besonders zu betonen: die aufrechte Haltung, die wir Menschen
als die uns natürliche empfinden, sichert ein Gleichgewicht aller Teile;
unter Umständen vermag allerdings auch die Hervorhebung der wage^
rechten Achse die einander entgegengesetzten Partien vor dem Zerfall
zu schützen. Dies indessen bleibt nötig, daß irgendwie eine ge-
schlossene, bildhafte Körpereinheit zu stände kommt Deshalb haben
die Griechen ihre Statuen unmittelbar aus dem rechteckig zugehauenen
Block herausgemeißelt; deshalb sagte Michel Angelo (wenn wir aus
einer etwas verdächtigen Quelle schöpfen dürfen), man müsse eine
Bildsäule den Berg hinabrollen können, ohne daß ein Stückchen ab-
bricht. Dieselbe Zentriertheit und Rundheit wohnt den plastischen
Gruppen inne, wofür die Ringergruppe in Florenz ein schönes Beispiel
abgibt. Gerade an den Gruppen bemerkt man, daß die zusammen-
fassende Kraft sich nicht der Abtastung mit Hand und Auge, sondern
der eigentlichen Gesichtswahrnehmung erschließt, ja im Grunde nur
der ergänzenden Vorstellung, die die Mehrheit der vorhandenen
Körper als Glieder eines nicht vorhandenen Gesamtkörpers auffaßt.
Die Arbeitsweise der Neueren weicht von derjenigen der klassi-
schen Meister ab. Sie ist ein Modellieren, sie fördert die Wirkung
des Schattenrisses, sie belebt die Innenzeichnung durch flächenhafte
Lichtverteilung. Am besten zeigen die Bronzen, wie die Form aus
der umfassenden Einheit der kräftigen Silhouette zusammen mit der
Mannigfaltigkeit der nebeneinander gestellten Flächen sich bilden kann,
ohne daß nach alter Art gerundet wird. Immerhin bleibt der Erfolg
derselbe: der Eindruck künstlerischer Körperlichkeit. Ob er sich aus
dem vorherbestimmten Spiel von Licht und Schatten, aus einer fast
impressionistischen Bildnerfähigkeit ergibt, oder ob er aus der statua-
rischen Ruhe der Formen selbst hervorgeht, das ändert nichts an der
Zielbestimmung. Die Theorie braucht sich daher auch nicht mehr an
404 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
die inhaltlichen Kennzeichen zu binden, die man ehedem in Überein-
stimmung mit der formalen Eigenart der griechisch-römischen Bild-
hauerei von dieser Kunst Oberhaupt verlangte. Während die ältere
Ästhetik den Stoffkreis der Skulptur auf das rein Schöne d. h. das
Geläuterte, Typische, Generelle, direkt Idealisierte beschränkte (Vischer,
Ästh. § 603), erkennt unsere Wissenschaft auch die Entzweiung des
Geistigen mit dem Körperiichen an. Sie hat gegen die Darstellung
des Häßlichen nichts einzuwenden und billigt es, daß der arbeitende
Mensch nebst einer Fülle alltäglicher Verrichtungen für die Rundplastik
gleichsam entdeckt worden ist. Höchstens an einem Punkt trennen
sich gegenwärtig die Ansichten. Es fragt sich nämlich, ob unsere
Kleidung ein möglicher Gegenstand der bildnerischen Tätigkeit sd.
Wer bejahend entscheidet, darf sich nicht auf die geglückte Verwer-
tung des Arbeitsgewandes berufen, denn Arbeitskleider haben etwas
Zeitloses, Unveränderiiches, insofern sie stets derselben Zweckmäßig-
keit dienen und alles Überflüssige ausschließen. Im übrigen scheint
mir nur die Hose einigermaßen geeignet, eine künstlerisch erfreuliche
Form zu erhalten: sie läßt die Linien des Beines erkennen und be-
sitzt trotzdem die nötige Selbständigkeit in den Falten und Kniffen,
die an sich Formwert haben und außerdem auf die häufigsten Bewe-
gungen hinweisen. Alle übrigen Teile unserer Männer- und Frauen-
tracht verhüllen in willküriichen Abmessungen die Gliederung des
Leibes; ja, was noch schlimmer ist, sie verhalten sich ganz gleich-
gültig zu den Unterschieden unter den Menschen, den gesellschaft-
lichen und zumal den seelischen. Dennoch ist es eine sehr kummer-
liche Hilfe, wenn Bildhauer des 19. und 20. Jahrhunderts ihre Zeit-
genossen nackt darstellen. Die Widersinnigkeit des Verfahrens wird
dadurch nicht gemildert, daß die in Steinmassen eingebetteten Figuren
manchmal mit menschlichen Körpern keine größere Ähnlichkeit haben
als die launischen Felsbildungen, die aus solcher Ähnlichkeit Namen
und Ruhm erhalten. Sentimentale Verkünder einer Rückkehr zur Natur
tadeln unsere Zeit, weil sie die Schönheit des nackten Körpers nicht
zu würdigen wisse. Sie übersehen, daß in der Bekleidung der Mensch
etwas geschaffen hat, was ihn vom Tier unterscheidet und was schon aus
diesem Grunde in der Kunst eine Stätte finden muß. Femer vermag
die Tracht, die sich dem Körper anschmiegt, die Formen des Leibes,
und jene andere Tracht, die in großen Falten herabsinkt oder im
Winde flattert, die Bewegung des Leibes sichtbar zu machen. Es
kommt nur darauf an, daß unsere Künstler diejenige Stilisierung des
modernen Gewandes entdecken, welche körperliche Form und Bewe-
gung einerseits, seelische Verfassung anderseits zum Ausdruck bringt,
ohne das Auge zu stören oder zu verwirren.
DIE MALKRIS( IIK BILDKUNST. 405
In der griechischen Skulptur fehlt die überzeugende Darstellung
starker geistiger Erregungen. Um den Abstand zwischen Natur und
Kunst festzuhalten, ist die unmittelbare Wirksamkeit mimischer Aus-
prägung durch vieldeutiges Typisieren ersetzt worden. Man betrachte
das Antlitz des Antinous auf dem Albanirelief (s. Tafel XV). Welche
Gemütsbewegung spricht sich darin aus? Die Deutungen der hervor-
ragendsten Kunstkenner sind gesammelt worden ^ '). Hier das Ergeb-
nis: Der eine spricht von Unschuld, der andere von Wollust, von
Naivität der eine, von Koketterie und bewuliter Scham der andere,
dieser von Leidenschaftslosigkeit, jener von Wildheit. Sanftmut und
Milde erblickt der eine in seinen Zügen, etwas Kühnes, Rohes, Stolz,
Ilosheit, ja Grausamkeit der andere. Süßes Behagen findet man aus-
geprägt in seinem Gesicht, stille Gemütsruhe, Träumerei, Entzücken
und Liebeswonne, dann wieder etwas Ernsthaftes, Nachdenkliches»
eine leise Melancholie, einen Zug von Schwermut, tiefe Traurigkeit,
ziellose Sehnsucht, schmerzliche Resignation, etwas Düsteres, Todes-
starres, eine Hoffnungslosigkeit, innere Zerrissenheit, Lebensüberdruß,
die wirkliche Verzweiflung, den Weltschmerz, Entsagung und Abtötung,
düsteren Fanatismus.^ Diese Meinungsverschiedenheit beruht nicht
nur darauf, daß jeder Kunsthistoriker die Grundstimmung seiner Gegen-
wart und die Gefühlsrichtung der eigenen Persönlichkeit in den Gegen-
stand hineinträgt davon war schon die Rede (s. S 98) und wird
noch im letzten Hauptteil zu sprechen sein — , sondern vor allem auf
der Unbestimmtheit des zum Typus geformten Gesichtes. Die Auf-
gabe, die einer anders beschaffenen Bildnerei vorgesetzt ist, liegt darin,
die Anziehungskraft ohne die Undeutlichkeit im Gemütsausdruck, die
ßildgrenze ohne das Opfer der Individualität zu bewahren. Den Fort-
schritt der Plastik erblicken wir vornehmlich in der Art, wie von der
Wirklichkeit abgewichen und der organisierte Körper aus den Fesseln
der Notdurft und Vergänglichkeit befreit wird; der unvertilgliche Zu-
sammenhang mit den erfahrungsmäßigen Äußerungen der lebendigen
Körperwclt sichert die Skulptur vor dem Aufgehen in ein bloßes Spiel
der Linien.
3. Die malerische Bildkunst
Zunächst sollen einige Grundsätze berührt werden, die von der
Zeichnung ebenso wie von der Malerei gelten. Was die Malerei vor
den graphischen Künsten auszeichnet, wird dabei von selbst ersicht-
lich werden.
Wir sprachen schon über die Malerei als Flächendekoration (siehe
S. 3<}2). Wenn der Künstler auf der Fläche nun ein Bild entwirft
406 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
d h. die umgeformte Wirklichkeit in seine Leistung einbezieht» so ist
dasjenige Verfahren das einfachste und nächstliegende, das außer auf
die Tiefendimension auch auf die Ausgestaltung des Hintergrundes
verzichtet. Zwischen den Figuren, über und unter ihnen, steht der
leere Raum oder die ganz unzulängliche Andeutung der umgebenden
Wirklichkeiten. Vortreffliche Beispiele für diesen Abschnitt in der Ent-
wickelung finden sich in der griechischen Vasenmalerei. Auf der
Fran?ois-Vase (575 v. Chr.), auf der Schale des Euphronios (500), auf
der Hydria des Meidias (425) — überall werden die den Künstler aus-
schließlich beschäftigenden Gestalten ohne Perspektive und ohne Aus-
füllung der Zwischenräume in einen Zusammenhang gebracht Den-
noch sind es ebenso oft technische wie sachliche Probleme, die den
Maler gereizt haben: die anmutige Bewegtheit tanzender Frauen und
die große Linie heldenhafter Taten, nicht nur die Vorgänge und die
Menschen, deren Namen beigeschrieben sind^*). Femer bietet die
mittelalterliche Buchmalerei vorzügliche Beispiele: Die Tiefenwirkung
ist ausgeschaltet oder durch die Überordnung zweier Pläne ersetzt,
die Komposition gleicht etwa der eines Teppichs, Luft und Wolken
sind kaum jemals angelegt. Indem die dritte Dimension mehr oder
weniger fehlt und zwischen die positiven Werte negative, zwischen
die Töne sozusagen Pausen eingeschoben werden, entsteht eine sehr
reizvolle Unvollständigkeit. Sie erinnert einigermaßen an den eigen-
tümlichen Wert der Skizzen, die oft künstlerischer erscheinen als die
ausgeführten Gemälde, und lehrt von neuem, daß die Fähigkeit des
Fortlassens nur von einer verkehrten Gewissenhaftigkeit unterschätzt
wird.
Die flächenhafte Darstellung von Gestalten und dazwischen Uzen-
den Raumteilen hat vielfach die Aufgabe, einen Zeitverlauf zu verdeut-
lichen. Obgleich diese Aufgabe auch der plastischen Bildkunst nicht
fem liegt, wird sie doch erst in den anderen Arten der Bildkunst zu
einer wahrhaft drängenden. Und hier nun zeigt sich sofort, welchen
Vorzug Musik, Mimik und Poesie besitzen. Um mit Kant zu reden:
Die Zeit ist die Form des inneren Sinns und alles lebendig Wirk-
lichen. Sofern Seelisches oder ein Lebensvorgang den eigentlichen
Inhalt bilden, scheinen die Künste jener Gruppe die angemesseneren
Ausdrucksmittel zu haben. Allerdings wird auch das Räumliche
größerer Ausdehnung nacheinander vom Betrachter aufgenommen; aber
er unterscheidet solche sukzessiven Bewußtseinsinhalte, die einem ob-
jektiven Zeitvorgang entsprechen, von denjenigen, denen eine Raum-
ordnung zu Grunde liegt. Der Übereinstimmung zwischen äußerem
und innerem Ablauf widerspricht, daß die Malerei nur ein paar Punkte
einer stetig sich entwickelnden Linie festzuhalten vermag und in ihren
DIK MA!,ERIS(*HE lill.DKUNST. 407
neueren Formen sich sogar mit der Wiedergabe eines einzigen Augen-
blicks begnügt. Aus diesem Widerspruch werden wir erlöst teils
durch unser eigenes Verhalten teils durch stilistische Mittel der Bild-
kunst. Die subjektive Ergänzung besteht nicht, wie vermutet werden
könnte, im Aufbringen von Gesichtsvorstellungen, die die voraus-
gehenden und folgenden Teile der Handlung spiegeln, sondern ent-
weder in begrifflichen Zusätzen oder in motorischen Einstellungen.
Wenn der Leser einige der unserem Buch beigegebenen Tafeln auf
sich wirken läßt, so dürfte er sich schnell von der Richtigkeit der Be-
hauptung überzeugen; und sollte er von einer sprachlich-begrifflichen
Fortführung des Gegebenen nichts bemerken, so wird er wenigstens
Muskelspannungen und Bewegungsantriebe wahrnehmen, die den
starren Gegenstand verflüssigen; ich finde sie besonders ausgeprägt
gegenüber den drastischen Zeichnungen auf der neunten, zehnten und
elften Tafel. Eine Folge dieser früher (S. 168 ff.) gewürdigten Vorgänge
ist, dafi das ruhende Bild aus seinem Domröschenschlaf geweckt wird.
Wie kommt nun der Künstler unserem Vertangen und Verhalten
entgegen? In so verschiedener Weise, daß der Versuch einer Antwort
etwas weiter ausholen muß. Bis ins 16. Jahrhundert hinein gab es
chronikartige Darstellungen, meist wagerecht getrennte Bildstreifen, in
denen möglichst ohne Unterbrechung und möglichst vollständig er-
zählt wurde; indem alsdann der Künstler die Hauptteile der Handlung
in einen Rahmen einschloß, entstanden optische Unmöglichkeiten:
dieselbe Gestalt war auf derselben Fläche mehrfach vorhanden, die
lebhafte Bewegung nach rechts und links wurde durch zwei Köpfe
oder vier Hände veranschaulicht u. dgl. m. Diese kaum vermeidlichen
Schäden eines fortlaufenden Vortrags, der für das Auge bestimmt ist,
können nur von einer sehr lebhaften und freundwilligen [Fantasie als
stilistische Hilfen hingenommen werden. Die Übertragung ins Be-
grifflich-Sprachliche vollzieht sich fast mit Notwendigkeit, da Illustrator
und Maler eben davon ausgegangen sind und ihre andersartigen Be-
richtmittel gleichsam aus Veriegenheit benutzen. Höher steht das
Verfahren, die Vorbereitungen und Folgen einer Tat neben dieser
selbst 7U schildern, so daß mehrere Hauptszenen herausgegriffen, die
erwähnten Wunderiichkeiten aber vermieden werden. Indessen, diese
Form bietet nichts Neues. Erst wo die Auswahl so verengt, die
Handlung so verkürzt wird, daß ein einziger Augenblick übrig bleibt,
aus dem alles Vorher und Nachher erraten werden soll, da stellen
sich neue IVobleme ein. Der einfachste Fall ist der folgende: Eine
Bewegung werde nicht durch Wiedergabe mehrerer Anblicke ihres Ver-
laufs, sondern mit einem Schlage dargestellt. Greift nun der Maler
einen beliebigen Zeitpunkt heraus und kopiert das sich dann dar-
408 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
bietende Bild nach Art der Schnellphotographie? Er wurde oft die
ungeschicktesten und unkenntlichsten Stellungen festhalten. Er wählt
also aus und zwar — wie längst erkannt ist — diejenige Phase, in
der die Bewegung verhältnismäßig langsam von statten geht Von ihr
nämlich behält der Wahrnehmende die deutlichste Erinnerung; wenn
z. B. vor seinen Augen eine beschriebene Rolle ausgebreitet oder ein
Spiel Karten auseinander gefaltet wird, so prägen sich dasjenige Wort
oder diejenige Karte ein, bei der die Bewegung stockte. Da die
meisten Bewegungen einige natüriiche Hemmungspunkte zeigen, so
sind damit die fruchtbaren Momente vorgezeichnet. Lediglich die sehr
langsamen und die sehr schnellen Bewegungen uberiassen dem bilden-
den Künstler völlig die Wahl. Ausgeschlossen sind stets der erste
Anfang und das letzte Ende, weil in beiden Fällen der Vorgang sich
nicht deutlich genug anzeigt, wenigstens nicht ohne eriäutemde Neben-
umstände.
Die Sachlage wird verwickelter, sobald es sich nicht mehr um eine
einfache Bewegung, sondern um einen inhaltlich zusammengesetzten
Zeitablauf handelt. Auf den Tafeln XII und XIII sind zwei verschie-
dene Zeitpunkte des gleichen Stoßes zu beobachten, dort das Berühren
des Halses, hier das vorhergehende Einstellen des Arms, das seiner-
seits wieder Ergreifen und Emporheben des Messers voraussetzt Als
Hemmungspunkte der gesamten Bewegung haben sie denselben Wert;
inwiefern sie jedoch für den darzustellenden Vorgang und den for-
malen Aufbau sich eignen, das läßt sich mit einem allgemeinen Grund-
satz nicht abtun. Eins nur ist hervorzuheben: der sogenannte frucht-
bare Moment muß außer der sachlichen Verweisungskraft auch die
Fähigkeit haben, die Komposition kunstgerecht zu gestalten. Da nun
selbst bei starker stilistischer Anspannung ein noch so prägnanter
Augenblick wirklicher Zeit jenen beiden Ansprüchen nicht zu genügen
pflegt, so zeigen Figurenbilder meist eine Mehrheit von realen Augen-
blicken oder anders ausgedrückt eine künstlerische Augenblicklichkeit
Erst in modernen Bildern, deren Schöpfer von der Photographie ge-
lernt haben, und in gewissen Erzeugnissen der japanischen Kunst
wird die vorüberhuschende Gegenwart eingefangen. Unsere ältere
Kunst hingegen breitet den Augenblick aus, indem sie zeitlich ver-
schiedene Wirkungen des Geschehens zum Schein der Gleichzeitigkeit
verbindet Ein Beispiel, das wir zur Hand haben, steht auf der elften
Tafel: die Gruppe rechts befindet sich in einem späteren Stadium als
die Gruppe links. In Wahrheit bleibt also auch hier die Erzählung
kontinuieriich und täuscht die Augenblicklichkeit vor. Bei allen größeren
Vorwürfen muß der Maler so verfahren, weil das Dramatische eines
Vorgangs im Werden und Verklingen sich offenbart (s. S. 376), und
DIE MALERISCHE BILDKUNST. 409
auch bei minder gewichtigen Stoffen verlangt das Gesetz der Mannig-
faltigkeit meist eine unwirkliche Zeitordnung der Dinge. Der Künstler
hat gegenüber der Zeit dieselbe Freiheit wie gegenüber dem Raum.
In Raffaels »Verklärung« (Tafel IV) ist aus einem entfernten, hohen
Berge eine nahe, niedrige Erhöhung geworden; Christus, der darüber
schwebt, wird von niemand gesehen, selbst nicht von den zwei
Aposteln, die in diese Richtung weisen; die realen Raumverhältnisse
sind gänzlich umgestaltet zu Gunsten der künstlerischen Absicht.
Trotzdem — und das scheint das Wunderbarste — bleibt das Ge-
mälde eine bildliche Raumeinheit und eine ideale Zeiteinheit
Um die Einheitlichkeit des Raumes zu gewinnen, des flachen und
des körperhaften, können zwei Wege beschritten werden. Der eine
führt durch Licht und Schatten, der andere durch das Reich der Farben.
Sie schließen sich nicht aus, denn jede helle Farbe ist ein Licht gegen-
über einer dunklen und ein Schatten gegenüber einer noch helleren.
Die Meister der venezianischen Schule hellen ihr Rot durch weißliches
Rosa auf und dunkeln es mit tiefem Karmin ab^*). Holbeins ernste
und schwere Kunst dagegen legt allen Nachdruck auf Licht und
Schatten als solche; Rembrandt vereinheitlicht Raum wie Körper durch
das Licht selber und seine bis in tiefe Schwärze hinabreichenden Ab-
stufungen, oft ohne jede Schonung für den dargestellten Gegenstand
(vgl. Tafel V). Überhaupt haben die alten Maler die Lokalfarben ge-
mildert, indem sie Hinter- und Mittelgrund herrschen und den Vorder-
grund verhältnismäßig zurücktreten ließen. Vornehmlich an hollän-
dischen Bildern des 17. Jahrhunderts kann man beobachten, wie die
matten Farben, die der Femsicht im Unterschied zur Nahsicht zu-
kommen, in die Lichtverteilung aufgehen und wie diese den Blick von
der ersten Sehebene zur letzten, vom Rande zur Mitte führt. Schaltet
man die Qualität der Farbe aus und prüft die Helligkeitsgrade, so er-
hält man von manchen Bildern den Eindruck eines unregelmäßigen
Musters, worin Hell gegen Dunkel steht Meist gibt es ein Haupt-
licht, dem die anderen untergeordnet sind, und die Dunkelheit nimmt
nach außen hin zu; auch wenn die Grundlage, auf der der Maler ähn-
lich dem Architekten seinen Bau aufführt, hell angelegt ist, ruhen der
Regel nach die Schattenmassen an den Rändern^*).
Der echte Kolorist setzt alle Lichtwerte in Farben werte um, jeden
Gegensatz sucht er durch einen Farbenkontrast auszudrücken. Eine
Farbenverbindung vermag an und für sich unzweideutige Raumgefühle
hervorzubringen: die lebhaften Nuancen treiben die anderen zurück,
Rot scheint nach dem Beschauer zu drängen, während Blau den Blick
in die Tiefe des Bildes hineinzieht Die Farbe spannt und bindet jene
Teile, die in der Zeichnung sich nicht gesellen würden; sie läßt inein-
410 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
andergehen, was zusammengehört; sie trennt, was sonst verfließen
würde; sie bettet in einen Hintergrund ein oder löst aus ihm heraus.
Kurz, der Farbenwechsel hat raumbildende Kraft, er veranlaßt bei
schwierigen Verhältnissen das Auge gewissermaßen zu unbewußten
Schlüssen, aus denen die gewollte Raumwirkung wie ein fertiger
Schlußsatz herausspringt.
Die Meister der Palette schätzen aber den Zusammenklang der
Farben auch ohne Rücksicht auf seinen Beitrag zur Gliederung und
Ordnung. In der Tat gefallen Farbenverbindungen unabhängig von
der Form, an der sie auftreten, und von der Wirklichkeitsbedeutung,
die sie besitzen mögen. In Glasmalerei und bunter Buchillustration
finden wir die festliche Verwendung von Gold und Silber, sehen wir
grüne Haare, blaue Pferde, purpurrote Blätter. Botticelli soll kühn be-
hauptet haben, man brauche Landschaft nicht zu studieren: ein mit
Farben getränkter Schwamm, an die Mauer geworfen, gebe Landschaft
genug; sicher überiiefert ist Whistlers Wort von einer glücklichen Zeit,
»wenn einmal das Publikum gar nicht mehr Gegenstände verlangt,
sondern an Farbenkombinationen sich sättigt — keine Figuren, keine
Landschaften mehr, nur Klänge«. Es wird erzählt, daß Böcklin in den
Bildern seiner Spätzeit einen Grundsatz befolgt habe, der wahrhaftig
aus dem Bild ein Rechenexempel des Kolorismus machen würde: drei
Farbengruppen, vielleicht Grün im Vordergrund, Rot in der Mitte,
Blau im Himmel, und in diese Hauptgruppen kommen jedesmal die
zwei anderen fehlenden Farben auf kleineren Flächen hinein, z. B. in
eine Wiese rote und blaue Blumen, in den wolkenlosen Himmel griine
Blätter und rote Blüten ^•'^). Die Gesetzmäßigkeit des Fart^enmusters,
die in der bewußten Abweichung vom Naturvorbild am lebhaftesten
sich bekundet, beruht auf ästhetischen Elementarvorgängen, die früher
(S. 117—121) besprochen wurden. In der Technik der Malerei wird
die Harmonie entweder durch Verwendung der ganzen Farbenskaia
oder durch Auswahl eines Dreiklanges erzielt. Der Dreiklang wirkt
aber im Grunde ebenso wie das Ganze, weil wir die fehlenden Farben
mit ziemlicher Anschaulichkeit ergänzen. Schließt man Schwarz und
Weiß aus, so ist wohl die Zusammenstellung Gelb-Rot-Blau als älteste
zu nennen; recht häufig tritt uns der Dreiklang Orange-Grün-Violett
entgegen. Doch trägt zur Wirkung viel bei, welche Pigmente gewählt
und wie sie behandelt werden. Namentlich der Unterschied des glatten
und des körnigen Auftragen s führt zu abweichenden Erfolgen. Wer
darauf besteht, daß Bilder auch mit der Lupe betrachtet werden
können, muß den Farbstoff dünn auftragen. Größere Leuchtkraft
kommt durch dickes Aufsetzen zu stände, und die rauhe Oberfläche
des Bildes schadet nicht, sobald der Betrachter den rechten Abstand
DIE MALERISCHE BILDKUNST. . 41 1
zwischen sich und dem Bilde läßt, d. h. einen größeren als den von
der Schulregel geforderten (der Ausdehnung des Bildes genau ent-
sprechenden) Abstand. In der Nähe versagen auch alle diejenigen
Gemälde, die durch ein Nebeneinander der Farbenelemente hergestellt
werden und die Mischung der kleinen Tupfen oder Rechtecke dem
Auge überlassen. Indessen, welche ästhetische oder moralische Vor-
schrift verlangt, daß der Genuß bei der Nahbetrachtung eintreten soll?
Die roten und blauen Punkte, die sich auf der Netzhaut zum Violett
vermischen, sind allerdings unnatüriich. Aber jede Pinselführung, ob
sie nun mit breiten Strichen oder mit Haken und Schweifen arbeitet,
verfährt anders als die Natur. Für die Bewertung der Farbenteilung
und der Fleckchenmanier kommt also lediglich in Frage, was damit
geleistet werden kann. Das ist nicht wenig. Die leuchtende Atmo-
sphäre, die Farben und Formen ändert, sie in strahlende Stückchen
zeriegt und von jeder Seite anders zeigt, sie läßt sich durch kein Mittel
sicherer auf die Leinwand bannen. Wenn zwischen den farbigen
Punkten weiße Punkte angebracht oder durch Aussparen des hellen
Grundes erzeugt werden, so entsteht der höchste Grad der Leucht-
kraft und der lebendigste Eindruck flimmernden Lichtes. Da wird
alles beweglich, veränderlich, pulsierend, flatternd, die Gegenstände und
ihre Eigenfarben verschwinden fast im flutenden und zitternden Licht
Diese Aufhebung aller Grenzen, diese Verflüchtigung der Dinge in
eine höchste Einheit, die ihrerseits doch nur Beziehung und Bewegung
ist — das gleicht dem philosophischen Bekenntnis eines Gegenwarts-
menschen. Auch das Auflösen des Gegebenen in die kleinsten Be-
standteile ist dem Zeitalter des Mikroskopes und der Bakterienkunde
wohl angemessen. Endlich gewährt es einen großen Reiz, daß der
Betrachter durch Veränderung des Standortes aus dem Bilde bald ein
Chaos bald einen Kosmos machen kann. — Trotzdem bedeutet die
geschilderte Malweise kein Allheilmittel für die Kunst. Wo es auf
bestimmte Linienführung ankommt, wie bei der Wand- und Decken-
malerei, wo das Gesicht eines Menschen mit erkennbarer Ähnlichkeit
wiedergegeben und aus der Umgebung losgelöst werden soll, wo
starre Felsen deutlich hervortreten, Dämmerung und Nacht geschildert
werden sollen, da versagt der Impressionismus. —
Als Einteilungsgrund für die Unterarten der Bildmalerei wird nach
altem Brauch der Inhalt des Dargestellten verwendet Ich finde diese
Klassifikation keineswegs verächtlich. Da Kunst mehr als ein Formen-
spiel ist, so kann sowohl der äußere Stoff als auch die zum Ausdruck
strebende Inneriichkeit maßgebend für das einzelne Gebilde, somit für
seine Einordnung werden. Das religiöse Bild ist wirklich eine Art
für sich, denn die Beschaffenheit seiner Stoffe beeinflußt die Form
412 V. RAU^nO^'ST UND BILDKUNST.
nach jeder Hinsicht (vgl. S. 148). Der Maler, der den Gegenstand aus
der heiligen Geschichte nimmt, interessiert nicht durch Neuheit des
Stoffes. Er hat bloß zwei Möglichkeiten: entweder \irirkt er durch die
technische Ausfuhrung, durch den Geschmack, mit dem er die Line
führt, die fHäche dehnt, die Farbe setzt, oder durch die Rfihrung, die
aus der Erinnerung an unvergleichliche Ereignisse hervorquillt In
jenem Fall droht spielerische Behandlung des Höchsten, in diesen
Fall ein frommes Handwerkertum. Die Mehrzahl der Heiligenbilder,
ja sogar der Altargemälde gehört unter die Hilfsleistungen des Gottes-
dienstes und erfüllt ihren Zweck umso besser, je weniger der Kunst-
wert die Aufmerksamkeit fesselt; deshalb verwerfen Anhänger der
kirchlichen Kunst jede Neuerung und halten an der geheiligten Über-
lieferung fest. Daß aber auf diesem Gebiet Meisterwerke möglidi
sind, ursprünglich in Form und Wesen, lebendig und doch gehalten,
stolz und demütig zugleich, das lehrt schon ein Blick auf die vierte
und sechste der beigegebenen Tafeln.
Von der religiösen zur geschichtlichen Malerei ist kein weiter Schritt,
und diese wiederum berührt sich vielfach mit Genre und Landschaft.
Auch die Geschichtsmalerei steht zum guten Teil außerhalb der
Kunst. Historisches Einzelwissen darf sicheriich einem Bilde zu gute
kommen. Aber es ist doch traurig, wenn ein Ästhetiker alten Schlages
von einem bekannten Gemälde rühmend erzählt: »Der Generalstabsdbef
der dritten Armee, General v. Blumenthal, der gerade in jenen Tagen
arg von einem hartnäckigen Schnupfen geplagt wurde, steht zur Rechten
des Kronprinzen und verrät jenen unleidlichen Zustand durch Gesichts-
ausdruck und Haltung mit dem großen weißen Taschentuch in der
Hand in unverkennbarster, genau beobachteter und wiedergegebener
Weise.": Für die Darstellung solcher Zufälligkeiten genügt wohl die
Photographie. Die künstlerische Aufgabe liegt darin, die sachlich zu-
sammengehörenden Figuren so anzuordnen, daß sie zusammen gesehen
werden müssen oder wenigstens die Blickbahn mit Notwendigkeit von
der einen zur anderen Gestalt gelenkt wird. Wir sollen sogleich merken,
daß gewisse Gruppen vorhanden sind und sich in bestimmten see*
lischen Verhältnissen befinden; wir sollen femer fühlen, wo der Ein-
heitspunkt liegt; wir sollen schließlich uns freuen an Kurven mensch»
lieber Körper, Linien des Faltenwurfs, architektonischen Einrahmungen,
landschaftlichen Hintergründen. Freilich besitzen manche Oc^[enstinde
eine Sprödigkeit, die ihre Auflösung ins Künstlerische ausschlieSL
Eine Schlacht aus dem 20. Jahrhundert kann nicht mit dem Pinsd
geschildert werden, denn die Kämpfenden sind heutzutage entweder
denkende Wesen oder Maschinen, daher immer malerisch uninter-
essant. Schlachtenbilder zeigen nur Episoden, sie sind im Grande
niK MALERISCHE BILDKl^NST. 413
Genrebilder besonderer Art. So gelten auch von ihnen meist die
Vorwürfe, die man seit einiger Zeit gegen das »Anekdotenunkraut' in
der Genremalerei erhebt. Gewiß ist nicht das stofflich bemerkens-
werteste und detailreichste Bild zugleich das wertvollste. Aber nur
verstiegener Ästhetizismus verurteilt die Erzählerlust, die von allem
Anfang an mit der Malerei verbunden ist. Die Hauptsache bleibt, daß
der Künstler sich die Einfachheit bewahrt. Die bedeutendsten Novel-
listen des f^nsels, die alten holländischen Maler, haben mit köstlicher
Naivität das bunte Leben ihrer Zeit geschildert und dabei kaum jemals
> Anekdoten vorgetragen.
Ich mcKhte schließlich noch auf die besonderen FVobleme aufmerk-
sam machen, die mit der Porträtmalerei verknüpft sind. Wider-
spruchsvolle Anforderungen erschweren dem Künstler seine Arbeit.
Jeder Auftraggeber will sehr schön und zugleich sehr ähnlich erscheinen.
Das Bedürfnis nach sichtbarer Unsterblichkeit gibt ihm diese Wünsche
ein. Im alten Ägypten ließen die Vornehmen Granitstatuen von sich
machen; im Italien des 16. Jahrhunderts schwärmte man für Bronze-
medaillons, im Frankreich des 17. Jahrhunderts für den Kupferstich; wir
haben meist zwischen Photographie und Ölbild zu wählen und bevor-
zugen dies wegen seiner größeren Dauerhaftigkeit. Nun ist es begreif-
lich, daß das Äußere so erhalten werden soll wie es tatsächlich ist.
Indessen, auf diese Art verliert das durchschnittliche Porträt des durch-
schnittlichen Menschen mit den Jahren an Wert: die Übereinstimmung
mit dem Modell schwindet, der anscheinend verjüngte Kopf und die
altmodische Tracht sehen lächerlich aus. Nach dem Ableben gar kann
der Maßstab der Ähnlichkeit überhaupt nicht mehr angelegt werden.
Und dennoch sagen wir von einem Porträt, dessen Urbild längst ver-
storben und uns nie bekannt gewesen ist: das muß ähnlich sein.
Damit meinen wir den Eindruck der Lebendigkeit und individuellen
Bestimmtheit. Um dieses Eindrucks willen verdenken wir es dem Modell
und dem Maler, wenn sie auf flache Schönheit hinstreben, wenn sie
die schmeichelhaftere Vornansicht, die alle gefährlichen Linien meidet,
der kennzeichnenderen Seitenansicht vorziehen, wenn sie die Wirklich-
keit einem unpersönlichen Ideal opfern. Das Typische eines Gesichtes
soll allerdings herausgearbeitet werden, damit das für Ausdruck und
Form Unwesentliche fortfalle. Wo Gelegenheit dazu ist, versäume man
nicht, einen Menschen neben eine Büste und ein Ölbild von ihm zu
stellen: der Eindruck ist nicht der von drei gleichen, sondern von drei
verschiedenen Dingen, zwischen denen Ähnlichkeit besteht
Sehen wir das Porträt an, das Whistler von Carlyle gemalt hat
(Tafel XVI). Wir glauben dem Künstler ohne weiteres die Ähnlichkeit.
Das IV\\{\ prägt sich in der Art ein, wie uns der Mensch selber un-
414 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
vergeßlich geworden wäre, hätten wir ihm einmal im Leben gegenüber
gesessen. Keine Frage, daß dieser Mann ein kostbares Out für die
Menschheit war, weil er gedacht und gelitten hat; das Signum repro-
bationis des vertieften Seins ist ihm aufgeprägt; die Geistigkeit dieses
Menschen muß dem blödesten Auge sichtbar werden. Wir brauchen
nicht zu wissen, wer er war, um von Teilnahme erwärmt zu werden;
unwillkürlich fragen wir: was hat das Leben dir angetan? Mit welchen
Problemen hast du den Kampf ausgefochten, der schwerer ist als der
Kampf mit dem Lindwurm? Gegen welche Sorgen hast du helden-
mütig gefochten? Mit welchen Menschen hat das Schicksal dich ver-
kettet? Das wirre Haar und der ungepflegte Bart, der eigentümliche^
rätselhafte Blick und die hervorleuchtende weiße Hand lassen den
Betrachter so leicht nicht los. Erst allmählich merkt er, wie sorgsam
das Bild gemacht und mit wie schöner Sparsamkeit jedes Mittel ver-
wendet ist. Die Umsetzung ins Bildhafte erfolgt bei aller Entschieden-
heit doch mit den zartesten Maßnahmen. Nirgends prahlt der Künstler
mit seiner Fertigkeit, nirgends verschwendet er, nirgends verläßt er den
Weg der Einfachheit. Die Anordnung im Raum, die Haltung des
Körpers, die wunderliche Ausbuchtung an der Brust — so eigenartig
und dennoch selbstverständlich — , kurz, die ganze Anlage des Bildes
ist nicht nach einer oft benutzten Formel gestaltet, sondern gewisser-
maßen mit einem neuen Pinsel gemalt Es ist demnach weder der
Gesichtspunkt der Ähnlichkeit noch derjenige eines klassischen Schön-
heitsideals, unter dem wir anschauen. Vielmehr liegt der Kunstwert
teils in der stillen Gewalt, mit der wir in die Tiefe persönlichen Seelen-
daseins geführt werden, teils in der köstlichen Sicherheit, die den Auf-
bau des Bildes beherrscht. Der erste Punkt bezeichnet den Ort, wo
die Besonderheit der Porträtmalerei zu suchen ist. Die Photographie
(man vergleiche die an sich so vortreffliche Aufnahme der Nonne auf
Tafel XVII) besitzt niemals die seelenerweckende Zauberkraft einer
malerisch bildenden Menschenhand.
4. Die graphische Bildkunst
Von allen Seiten wird darüber geklagt, daß den Deutschen der
Gegenwart ein unmittelbares Verhältnis zur Farbe abgehe. Die meisten
müssen sich zur Farbe zwingen, während ihnen »das Schwarz- WeiB
am natürlichsten zu Gesichte steht« ^^). Ihre Liebe gehört der graphi-
schen Bildkunst, deren Reich sich vom Holzschnitt bis zum Kupfer-
stich, von der Arabeske, die mit Wirklichkeiten spielt, bis zum figuren-
reichen Bilde ausdehnt
DIE (JRAmiSCHE BII.DKrNST. 415
Sei CS nun so oder nicht, jedenfalls unterscheiden sich malerische
und f^phische Bildkunst sehr deutlich voneinander. Diese Erkennt-
nis ist erst neuerdings all(;emein angenommen worden. Winckelmann
sagte: »Kolorit, Licht und Schatten machen ein Gemälde nicht so
schätzbar wie allein die edle Kontur , und Ingres behauptete: Je metU
rai sur ma porte: Ecole de Dessin, et je formerai des peintres.<^
Damit wurde der Umriß, der vielleicht eine Grundlage der Malerei ist,
zum Wesen der Malerei gemacht und die Grenze gegen die Zeichnung
völlig verwischt. Jetzt ist die Überzeugung fast überall durchgedrungen,
dali etwas für die Farbe Bestimmtes nicht in gleich vollkommener
Weise graphisch dargestellt werden kann. Um die eigene Gesetz-
mäfiigkeit der farblosen Bildkunst recht scharf herauszustellen, hat so-
gar ein theoretisierender Künstler*«) die Griffelkunst aus dem Bunde
mit Malerei und F^lastik loslösen und sie der Poesie nähern wollen.
Daß man mit dem Stift wie mit der Kehle Gedanken ausdrücken und
Tatsachen berichten kann, steht über jedem Zweifel fest. Aber der
Gegensatz der Mittel verbietet die Vereinigung. Es bleibt doch eine
vor jeder theoretischen Anfechtung geschützte Erfahrung, daß die
Graphiker die Dinge um ihrer sichtbaren Erscheinung willen wieder-
geben. Das Herstellen räumlichen Gleichgewichtes, die Überteitung
zu Hauptformen durch Hilfslinien, die Gruppierung um einen Strahlen-
kegel alle solche Notwendigkeiten kennt man im Reiche der Wort-
kunst nicht. Man denke sich in Prosaform oder im Gedicht geschil-
dert, wie drei Gentleman -Akrobaten zum Schluß ihrer Vorführung
eine Apotheose stellen s und dagegen halte man das (schon auf S. 223
erwähnte) Ornament, dessen Wirklichkeitsbestandteile erst allmählich
zum Bewußtsein kommen.
n«. 16.
Dennoch steckt in jener Auffassung ein richtiger Kern. Die Um-
formung des Wirklichen, ohne die Kunst nicht Kunst ist, wird in der
Graphik und zumal in der Zeichnung besonders energisch vollzogen.
Der Zeichner kann sich noch heute erlauben, was dem Maler nur auf
sehr frühen Stufen allgemein nachgesehen wurde, er kann die Raum-
einheit verietzen, zwei Schauplätze miteinander verbinden und ihnitche
416 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
Freiheiten sich nehmen. Denn bei der wirklichkeitsfremden Beschaffen-
heit des Umrisses sind Absicht und Eindruck diejenigen einer Zeichen-
sprache. In der geschichtlichen Entwickelung der Graphik ^^ haben
sich Symbole ausgebildet, durch die der Betrachter sogleich an die der
Darstellung unteriiegenden Naturdinge erinnert, außerdem aber auch
mit Sicherheit in den sachlichen Zusammenhang und geistigeir Oehait
hineingezogen wird. Das auf Tafel III wiedergegebene Blatt aus dem
sogenannten Gebetbuch der heiligen Hildegard ist in vielen Beziehungen
recht lehrreich. Die Größenverhältnisse zwischen Baum und Mensch
entsprechen nicht der Wirklichkeit, der Erdboden wird durch ein gleich-
sam stenographisches Sigel angedeutet, die Fruchte in der Baumkrone
zeigen zweimal dieselbe geometrische Anordnung, der Hintergrund ist
eine leere, dunkel umrahmte Fläche. Wir verstehen leicht, daß solche
Strichbilder zur Illustration geschriebener und gedruckter Bflcher am
besten sich eignen. Der einfache Linienstil verträgt sich mit der Flächen-
haftigkeit der Buchseite, der ins Abstrakte spielende Inhalt mit der ganz
abstrakten Raumform der Letter; wie auf diesem Wege des Dichters
Absicht in Handtätigkeit und Augenfreude umgesetzt, ja sogar selb-
ständig fortgeführt und ergänzt werden kann, das hat am meister-
haftesten Menzel gezeigt (Vgl. S. 329.) Ein anderes Verfahren um-
rankt den Text mit flüssigen Ornamenten, die nur gel^entlich ins
Figürliche übergehen. Dürer hat das Gebetbuch des Kaisers Maxi-
milian in dieser Art geschmückt Versuche, die in ihrer manchmal
dilettantischen Ungeschicklichkeit sehr belehrend sind, stammen von
William Blake, jenem Dichter und Maler, der in tiefsinnigen Apho-
rismen Swedenborgs Geist zurückbeschwor und seinem Glaubens-
bekenntnis ^all things exist in the human Imagination alone^ dadurch
Ausdruck lieh, daß er die höchsten Begriffe in menschliche Formen
zwang und die niedrigsten Wirklichkeiten zu schattenhaften Symbolen
verflüchtigte. Sein i^Book of Job^ (1825) trägt die Bezeichnung: »//i-
vented and engraved by William Blaken. Die von dem Kunstler selbst
gestochenen Kupferplatten enthalten außer den Zeichungen auch den
meist dazwischen gelagerten Text und an manchen Zeilen primitive
Ansätze zu Zierieisten. Man sieht hier sehr deutlich, wie weit Schrift,
abstrakte Raumform und graphische Bildkunst zusammengehören und
an welchem Punkt sie sich scheiden.
Mit den bisher gebotenen Bestimmungen scheint nicht im Einklang;
daß so häufig die schwarz-weißen Verfahrungsarten dem NaturgefQhl
und der Freude am Leben gedient haben. Vom Aussehen unserer
Straßen und Zimmer, von unseren Trachten und Verkehrsformen be-
richten dem zukünftigen Kulturhistoriker nicht die Gemälde, sondern die
Zeichnungen und namentlich die Photographien. Das erklärt sich wohl
DIK GRAPHISCHE BILDKl^NST. 417
aus zwei Gründen. Erstens sind die Werke dieser Kunstarten fast
ohne Veränderung und in beliebig großer Anzahl zu vervielfältigen.
Alsdann lassen sich auf farblosen Blättern die gleichgflitigen und die
häßlichen Erscheinungen ohne jedes Zögern festhalten. Da Schil-
derungen des gegenwärtigen Lebens auf weite Verbreitung rechnen
und notwendigerweise mit trivialen, ja abstoßenden Dingen zu tun
haben, so finden sie in der Graphik den natflriichen Bundesgenossen,
etwa wie innerhalb der Wortkunst in der Erzählung^*). Die graphi-
schen Künstler erfreuen sich deshalb einer bemerkenswerten Volks-
tümlichkeit. Und vor allen Dingen: sie fühlen sich als selbständig.
Bei diesem Punkt müssen wir ein wenig verweilen. Altere Theorien
schätzen in der Handzeichnung das Werkzeug des Malers, der vor-
bereitende Entwürfe macht, in Stich, Radierung, Holzschnitt und Litho-
graphie die Reproduktionsweisen von Gemälden. Die neuere Kunst-
wissenschaft hingegen gesteht ihnen das Recht von Kunstwerken zu,
die sich selber genügen und in sich vollendet sein können. Dies um-
somehr, als unzählige Kupferstiche und Holzschnitte ganz so wie ein
farbiges Vollbild wirken wollen. Hier werden Umrisse und Töne,
Flächen und Gestalten, modellierte Formen und fart>enähnliche Ab-
stufungen möglich. Es gibt eine Lichttonleiter von Schwarz zu Weiß,
die mit dem Reichtum der Palette wetteifert Aber ihre Verwendung
bedeutet stets eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber den Farben
der Wirklichkeit. Die Phantasie der besten Kupferstecher und Radierer
erbaut sich eine eigene Welt. Diese Künstler ziehen nicht in die
Wälder, um dort den Baumschlag abzuzeichnen, sie stellen nicht ein
Modell neben die Staffelei, sondern über den Tisch gebückt schaffen
sie, dem zeichnenden Architekten, dem Musiker und dem Dichter ver-
gleichbar. Sie rechnen daher in hohem Maße auf eine entgegen-
kommende Einbildungskraft. Der Radierer hat die lotrechte Seitenlinie
eines Hauses darzustellen. Man sollte denken, er würde wie ein Bau-
meister eine feste Linie hinsetzen. Weit gefehlt. Er löst die Gerade
in Krümmungen auf oder duldet Lücken in ihr oder macht zwei gleich-
laufende Zitterlinien daraus. Die feine Nadel geht ihre eigenen Wege.
Ebenso selbstbewußt ist der Tonschnitt des Holzschneiders, der mannig-
faltig abgestufte Flächen auf schwarzem Untergrunde herstellt und aus
dem Gegensatz heller und dunkler Flächen einen besonderen Stil des
Bildmäßigen hervorbringt.
Ob das Hinzutreten von Farbe Kupferdruck, Radierung und Holz-
schnitt aus der Reihe der graphischen Künste in die Gruppe der
Malerei überfuhrt, diese Frage wird verschiedentlich beantwortet werden
können. Da es sich um wenige Farben handelt, pflegen sie ohne
Modellierung, rein dekorativ verwendet zu werden. Die bewußte Ab-
Dcftioir, Aithctik und Allf. KnwtwiMcatduft. 27
418 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
kehr von der Wirklichkeit erscheint manchen Theoretikern als genügen-
der Grund, um den Buntdruck in jeder Form von der Malerei auszu-
schließen. Ich finde es nicht zweckmäßig, das so einfache und sichere
Unterscheidungsmittel der Farbigkeit preiszugeben, weil die realistische
Absicht fehlt. Eher möchte ich die malerische Bildkunst auf diejenigen
Leistungen beschränken, die aus dem Geist der Farbe heraus ent-
standen sind, während der Graphiker niemals mit dem Herzen bei der
Farbengebung ist. Doch stößt die Anwendung dieses Grundsatzes
auf erhebliche Schwierigkeiten. Denn wohin gehören beispielsweise
die zart getönten Tafelbilder der englischen Präraffaeliten, die dem
Rhythmus der Linienführung und dem omamentalen Wesen so außer-
ordentlich viel verdanken? Das Bildleben, in seiner Mitte Farbe und
echteste Malerei, verklingt in zarter, fast nur noch linearer Farblosig-
keit oder läuft gar in einen Schmuck des Rahmens aus. Immerhin —
jenes Prinzip bleibt das brauchbarste, obwohl es der Einsicht des
Kunstkenners in jedem Einzelfall mehr Spielraum läßt als wünschens-
wert ist.
Wenn ehedem die graphische Bildkunst bloß als Vorspiel und Ab-
gesang der Malerei geschätzt wurde, so gilt die Photographie heutzu-
tage noch vielfach als Hilfsmittel und Wiedergabeverfahren. In der Tat
kann man daran zweifeln, ob sie irgendwie zur Kunst zu rechnen sei.
Ihre Verbreitung und Bedeutung verdankt sie ja anderen Momenten
als der künstlerischen Qualität. Sie dient (als genaue Nachbildung
eines flächenhaft gesehenen Dinges oder Vorganges) wissenschaftlichen
Zwecken, weil sie der verhältnismäßig beste Ersatz der aus irgend
welchen Gründen unzugänglichen Wirklichkeit ist. Ihre Reproduktion
von Steinen, Pflanzen, Tieren ist ebenso nützlich wie ihre Wiedergabe
von Urkunden, geographischen Karten, Häuserfassaden. In den aller-
meisten Fällen entstehen nicht Kunstwerke, sondern Dokumente.
Namentlich die Augenblicksphotographie und die kinematographischen
Aufnahmen sind Erfolge der Technik. Die Beurteilung der Photo-
graphie erfolgt daher meist von einem außerkünstlerischen Standpunkte
aus. Angenommen, daß die auf der Platte notwendig erscheinenden
optischen Fehler durch den Verstand des Photographen vermieden
oder verbessert worden sind, entstehen Darstellungen von äußerster
Genauigkeit. Das Lichtbild erzählt alle Details. Es ist zuveriässig wie
die Statistik, analytisch und unparteiisch wie die Wissenschaft. Ein
innerer Widerstand aber gegen diese graphische Methode stellte sich
ein, als man bei der Porträtphotograph ie höhere Ansprüche erhob.
Nicht nur daß die üblichen Aufnahmen im Wettstreit mit Zeich-
nungen und Gemälden zurückstehen mußten, nein, sie waren auch
in der Hauptsache mangelhaft und ließen die abgebildeten Personen
DIE GRAPHISCHE BILDKUNST. 419
kaum wiedererkennen. Der Grund dafür lag und liegt in Mängeln
der Technik einerseits, anderseits in den verkehrten Ansprüchen derer,
die sich photographieren lassen. Die Kunden der Ateliers nehmen die
unnatürlichsten Stellungen ein, verändern oder, wie sie glauben, ver-
schönem ihr Aussehen und stellen sich in eine Umgebung, die ihnen
nicht im geringsten zukommt. Vor allem aber: sie verlangen, auf der
Photographie schön auszusehen, im Sinne eines sehr allgemeinen
Schönheitsideals; die Retusche muß dann alle eigentümlichen Züge
aus dem Gesicht entfernen.
So schien denn das Lichtbild, sobald es der Sphäre der Kunst sich
nähert, als untergeordnetes Verfahren der eingehenden Betrachtung
unwert. Indessen schon vor zehn Jahren bemerkten Kenner, daß das
bis dahin Erreichte nicht das überhaupt Erreichbare sei, daß man nicht
die ganze Photographie ästhetisch zu mißbilligen brauche, indem man
ihre durchschnittlichen Leistungen als unkünstlerisch verwerfe. Sie
versuchten, sich von der Maschinenhaftigkeit des Apparates zu befreien,
aus einem nützlichen Vervielfältigungsverfahren ein künstlerisch wert-
volles Mittel des Ausdrucks zu machen. Die Fortschritte der Photo-
graphie, die zu einer eigentümlichen schwarz-weißen Flächenkunst
führten, waren etwa die folgenden. Ältere Blätter glichen den Defini-
tionen: sie bestimmten alles aufs genaueste. In der Kunst aber wün-
schen wir einen ungewissen, Hoffnung weckenden Rest für unsere
Einbildungskraft. Die Photographie entwickelte sich also nach der
Richtung, daß die minutiöse Genauigkeit geopfert und ein durch An-
näherung an richtig erzogenes Sehen malerisch wirkendes Bild her-
gestellt wurde. Die Technik wurde befähigt, alles Bewegliche wieder-
zugeben: die Wolken und das Wasser, den Blick und das Lächeln.
Die Kunstphotographen begannen Naturstudien von außerordentlicher
Eindringlichkeit und Ausdehnung zu machen. Um weniger Aufnahmen
willen beobachteten sie ein halbes Jahr hindurch eine Landschaft oder
einen Menschen. Sie warteten mit der Aufnahme, bis die Wirklichkeit
ihren Vorstellungen von ihr entgegenkam. Denn wie jedermann das
Glück hie und da einmal sich anbietet, so auch der Kunstwert. Nur
bemerken wir ihn nicht immer und lassen den seltenen Augenblick
unbenutzt vorüberziehen.
Die fortschrittliche Bew^^ng hat eine Technik ausgebildet, mit der
sich Bildwirkungen erreichen lassen. In Bezug auf Behandlung der
empfindlichen Schicht, der Anordnung, der Expositionsdauer und der
Ausgestaltung des Abzuges gibt die Technik an Schwierigkeit und
Komplikation den übrigen graphischen Verfahrungsweisen wenig nach.
Zumal mit den orthochromatischen Linsen für die Aufnahme und mit
dem Gummidruck für die Vervielfältigung sind Faktoren geschaffen,
420 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
die eine bildmäßige Photographie ermöglichen. Doch zugleich damit
ist eine Verführung ins Leben getreten: die Verführung zur unphoto-
graphischen Photographie. Ich erkläre mich deutlicher. Die meisten
von denen, die ihre Kunst nicht berufsmäßig treiben, sehen ihr Ziel
darin, die Hericunft der Leistung zu verbergen: sie sind überglücklich^
wenn ihre Abzüge für Radierungen oder Aquatintablätter gehalten
werden, sie kopieren die Technik und die Auffassungsweise von Gra-
phikern und Malern. So entstehen Lichtbilder, die mit den N^;ativen
nur noch eine gewisse Familienähnlichkeit haben. Mit der Verleugnung
des eigentümlichen photographischen Charakters aber begibt sich die
Photographie des Rechtes, eine besondere Kunst genannt zu werden.
Denn, wie schon oft gesagt wurde, jede Kunst will und soll mit einer
spezifischen Technik, in einer sonst nicht vorhandenen Art die
Wirklichkeit umformen und ein Innenleben ausdrücken. Ob das durch
Lichtbilder möglich ist oder nicht, entscheidet über ihre Zugehörigkeit
zur Kunst. In der Tat ist es möglich. Es sind Lichtbilder vorhanden,
die sich als reine Photographie geben, ohne an malerischen Eigen-
schaften einzubüßen. Der Leser findet zwei Belege dafür auf den
Tafeln XVII und XVIll. Jeder Maler müßte das Kloster näher an die
Bäume heranrücken und diese flacher, mehr dekorativ behandeln; der
Lichtstreif des Weges wäre auszuweiten und zu betonen ; jeder Kunst-
photograph der heute herrschenden Richtung würde die Fenster und
Türen des Klosters zu verschleiern suchen. Indem auf alle solche
Änderungen verzichtet und trotzdem die Naturstimmung eingefangen
wird, entsteht eine vollwertige Photographie, die sich ihrer selbst nicht
schämt. An dem Bild der Nonne fällt namentlich die schon (S. 408)
erwähnte Augenblicklichkeit auf. Niemand wird daran zweifeln, daß
die Photographie nach der Natur aufgenommen wurde, denn weder
malerische noch graphische Technik spricht zu uns. Keinerlei üble Re-
tusche hat sich darüber hergemacht. Und doch wird durch die Hal-
tung, die Lichtverteilung und die Abtönung ein bildhafter Eindruck
erzielt, der diese Photographie weit über die handwerksmäßige Ge-
wöhnlichkeit hinaushebt.
Anmerkungen.
*) Adolf Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst 3. Aufl., 1903.
') Vgl. Lewis F. Day, Alte und neue Alphabete. Deutsch, 1900.
*) Den Gedanken, daß die Säule etwas Seelisches darstellt, ein Ausdrucks-
mittel ist, hat schon Baumgarten in einen allgemeinen Zusammenhang gesetzt mit
den künstlerischen Ausdrucksmitteln überhaupt. Er führt die Unterscheidung eines
rauhen und eines blühenden Kunststiles durch und wendet sie an auf die Fart>en
beim Malen und die Wortfärbungen beim Dichten. Es kommt in der Malerei nicht
darauf an, das Bild möglichst bunt zu machen, sondern entscheidend ist die richtige
ANMERKUNGEN. 421
Verteilung von Licht und Schatten. Eine einzige Farbe kann genügen, wenn sie
nur in sorgfältigen Schattierungen durchgeführt ist (§§ 688 ff.). Schon Plinius sagte:
sant enim colores out austeri aut floridi. Keiner von beiden StUen darf ausschließ-
lich benutzt werden, sonst entsteht ein facus aestheticus (§ 704). Der »rauhe Um*
riß« des Herakles und der »blühende« des Antinous sollen sich lediglich als
Äußerungen des ästhetischen Lichtes voneinander unterscheiden. Der Dichter wird
gut tun, die Außenseite der Tugend mit rauhen, ihre Innenseite mit den blühend-
sten Farben zu schildern. Und endlich, auf die Säule übertragen: die dorische
Säule ist rauh, die korinthische blühend, die ionische ein Mittelding zwischen beiden;
gerade Linien machen einen harten, krumme einen lieblichen Eindruck u. s. w.
Dieser Gedankengang ist wohl auch noch heute verständlich, obgleich nicht leicht
mit der Lehre von der verworrenen Erkenntnis zu vereinigen. Aber seine Ver-
knüpfung mit der Theorie vom ästhetischen Licht beruht lediglich auf der Verfüh-
rung durch die Naturwissenschaft Wie nämlich die Farben nur Modifikationen des
Sonnenlichtes sind, so sollen auch die ästhetischen Farben nur Modifikationen des
ästhetischen Lichtes darstellen. Die Säulen, von denen oben die Rede war, sind
Versinnlichungen von Stützen, ihre Idee ist sinnlich faßbar. Aber daß nun die
Unterschiede der ionischen, dorischen und korinthischen Säule bloße Abänderungen
dieser sinnlichen Klarheit darstellen, behauptet Baumgarten auf Grund der natur-
wissenschaftlichen Analogie, ohne es zu beweisen.
*) Entnommen aus Dien Keys Buch »Die Wenigen und die Vielen«. Deutsch,
3. Aufl., 1905, S. 269 f.
*) J. Ruskin, Die sieben Leuchter. Deutsch, 1900, S. 112.
^) Wir haben Tür und Fenster, um mit der Außenwelt in Verbindung zu treten;
alle festen Flächen der Stube sollen uns einfriedigen und schützen. Daher hat
Edgar Poe (in seiner von Baudelaire übersetzten »Philosophie der Zimmerausstat-
tung«) gegen die damals beliebten Prunkspiegel Einspruch erhoben. Vortrefflich
schildert Poe die ebene, farblose und eintönige Oberfläche des Spiegels in ihrer
ganzen Mißfälligkeit, sehr geistvoll zeigt er, daß ein großer Spiegel als lichtreflek-
tierende Fläche und nun gar eine Anzahl solcher Spiegel die Formen und Grenzen
eines Zimmers aufhebt Übrigens ist Poe auch darin ein Vorläufer modemer An-
schauungen, daß er die angewandte Kunst überschätzt »Eine Autorität in Rechts-
fragen kann ein gewöhnlicher Mensch sein, eine Autorität in Teppichen muß ein
Genie sein. Und doch haben wir die Menschen über Teppiche sprechen sehen mit
der Miene eines träumenden Rindes . . .«
^) Sehr nützlich ist, um die Vergleichung mit älteren Bauten vorzunehmen und
einen Standpunkt zu gewinnen, das anspruchslose Büchlein von Adelbert Matthäi:
Deutsche Baukunst im Mittelalter, 1904. Anregungen, ja Anreizungen gewähren:
Robert de la Sizeranne, Les Questions esth^iques conUmporaines, 1904 und Alfred
Lichtwark, Palastfenster und Flügeltür, 3. Aufl., 1905. Auf Schmarsows Grundbegriffe
der Kunstwissenschaft sei nochmals nachdrücklich hingewiesen.
^) J. Ruskin, EHe sieben Leuchter, Kap. 5, § 21. Man vergleiche auch das leider
wenig gekannte Büchlein von Johannes Merz, Das ästhetische Formgesetz der
Plastik, 1892.
^) Zuerst wohl von W. Henke, EHe Menschen des Michelangelo im Veigleich
mit der Antike, 1871, S. 11.
>•) Vgl. Walter Pater, Greek Studies, 1901, S. 238 und The Renaissance, 6. Aufl.,
1902, S. 212. Weshalb es in der Skulptur kein Gegenstück zu der so reichen Blumen-
und Früchtemalerei gibt, soll gelegentlich in einer besonderen Betrachtung unter-
sucht werden.
422 V. RAUMKUNST UND BILDKUNST.
**) Ferdinand Laban, Der Gemütsausdruck des Antinous, 189L Die zitierte Stelle
auf S. 68.
**) Für die Art, wie hier technische Schwierigkeiten bewältigt werden, sei eine
Beschreibung angeführt: »Es folgen drei Frauen, eng nebeneinander gestellt, jede
in verschieden geziertem Peplos; der Einfachheit wegen ist der Mantel, der bei
allen dreien um die Schultern gelegt gedacht ist, nur auf der rechten Schulter der
vordersten und vor der linken Schulter der hintersten angegeben ; es ist damit durdi-
aus nicht gemeint, daß die drei sich mit einem gemeinsamen Mantel begnügen,
sondern es ist nur eine leicht verständliche Konvention (den Malern dieser alten
Zeit geläufig). Nur auf diese Weise war es möglich, die Figuren so eng hinter-
einander darzustellen ; sonst hätte immer der Mantel der einen die andere verdeckt«
Furtwängler und Reichhold, Griechische Vasenmalerei, 1904, S. 4.
") John Ruskin, Voriesungen über Kunst. Deutsch, Leipzig, Redam, S. 99 ff.
^*) Th. Couture, Methode et entretiens d^ateüer, I, 231: ^Faisons notre addition:
La base avant tout
[Uaccord des contraires (rouge vert, jaune bleu)]
La dominante lumineuse et centrale
Les Couleurs sombres s^augmentant vers les extrimitA
Total: De bonnes conditions d^harmonie,^
Vgl. die Ausführungen auf S. 175 unseres Buches.
**) So zu lesen bei Ernst Würtenberger, Arnold Böcklin; einiges über seine Art
zu schaffen, seine Technik und seine Person, 1902, S. 6 f.
»•) Hermann Gottschalk, Weltwesen und Wahrheitwille, 1905, S. 344.
^') Max Klinger, Malerei und Zeichnung, 2. Aufl., 1895. Die Gegengründe vor-
weggenommen in Walter Cranes Schrift Linie und Form, Deutsch, 1901. Ich hebe
hervor S. 16, 82, 97, 106, 251, 274.
*^) Oskar Bie, Die moderne Zeichenkunst, Beriin, o. J. — Rudolf Kautzsch, Die
deutsche Illustration, 1904.
*») Die erotischen Zeichnungen von F^liden Rops, oft freilich in unbestimmte
Fleckenwirkung übergehend, und diejenigen von Aubrey Beardsley wären als Ge-
mälde nie gewagt worden und gänzlich ungenießbar.
VI. Die Funktion der Kunst.
1. Die geistige Funktion.
Kunst, als Schöpfung des menschlichen Geistes, ist mit dem ge-
samten Wissen und Wollen der Menschen verbunden. Im Zusammen-
hang der Leistungen, die zu dauernden Formen sich verfestigt haben,
gebührt ihr ein bestimmter Platz. Diese besondere Verrichtung läßt
sich am ehesten feststellen, wenn ihr Verhältnis zu Wissenschaft, Ge-
sellschaft und Sittlichkeit als zu den nächst verwandten Bildungen
untersucht wird.
Was das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft anlangt, so wird
die Erörterung, wie mir scheint, am besten nicht mit Allgemeinheiten,
sondern zweckmäßiger mit der Prüfung eines besonderen Falles b^onnen.
Als einen lehrreichen Fall betrachte ich die Versuche der Kunsthisto-
riker, in wissenchaftlicher Art Werke der Raum- und Bildkunst zu be-
schreiben, aus dem Augenschein des künstlerischen Lebens in die
Sprache der wissenschaftlichen Begriffe zu übertragen^). Erklärung
und Bewertung pflegen auf solche Schilderungen gestützt zu werden;
wir können also hier an der Wurzel prüfen, wie weit Kunstwerke dem
einfachsten Verfahren der Wissenschaft sich zugänglich erweisen. Am
reizvollsten und schwierigsten ist die Aufgabe, die gel^entlich dem
Kunsthistoriker erwächst, die Aufgabe, durch seine Beschreibung ein
der Beobachtung nicht zugängliches Werk möglichst vollkommen zu
ersetzen. Meist hat er freilich nur die sichtbare Erscheinung durch
das Wort zu eriäutem und zu beleben, manchmal aber muß er doch
auch sie herzustellen versuchen. Hermann Grimms Anweisung: »alle
Werke nur in Beschreibungen sichtbar« zeigt gerade in ihrer Über-
treibung aufs deutlichste, daß unser Problem auch ein solches der
Kunstwissenschaft, und zwar ein ihre Praxis bestimmendes ist Sind
nicht ferner in den täglich erscheinenden Berichten über Kunstaus-
stellungen jedesmal Schilderungen von Bildern oder Büsten enthalten,
die der Leser noch nicht erblickt hat oder überhaupt nicht zu sehen
bekommen kann? Daher ist es erstaunlich genug, daß weder in der
Vergangenheit noch in der G^enwart erschöpfende Untersuchungen
424 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
Über die Grenzen solcher Beschreibungen angestellt worden sind
Immerhin gibt es schätzenswerte Beiträge, namentlich aus älterer Zeit
Blicken wir auf die deutsche Kunstwissenschaft der letzten hundert-
undfünfzig Jahre zurück, so begegnet uns zuerst Goethes erlauchter
Name. Der Aufsatz über den Triumphzug des Mantegna enthält eine
belebte, das Wesentliche gut vermerkende Beschreibung; sie schließt
mit dem Geständnis, daß »man mit noch so viel gehäuften Worten
den Wert der flüchtig beschriebenen Blätter doch nicht ausdrücken
könnte«. Vasaris Schilderung wird als unzulänglich abgelehnt »Wir
wollen ihn aber deshalb nicht schelten, weil er von Bildern spricht,
die ihm vor Augen stehen, von denen er glaubt, daß jedermann sie
sehen wird. Auf seinem Standpunkte konnte die Absicht nicht sein,
sie den Abwesenden oder gar Künftigen, wenn die Bilder verioren
gegangen, zu vergegenwärtigen. Ist dieses doch auch die Art der
Alten, die uns oft in Verzweiflung bringt Wie anders hätte Pausanias
verfahren müssen, wenn er sich des Zweckes hätte bewußt sein
können, uns durch Worte über den Verlust herriicher Kunstwerke zu
trösten! Die Alten sprachen als gegenwärtig zu Gegenwärtigen, und
da bedarf es nicht vieler Worte. Den absichtlichen Redekünsten
Philostrats sind wir schuldig, daß wir uns einen deutlicheren Begriff
von veriorenen köstlichen Bildern aufzubauen wagen.« — Während
an dieser Stelle der Abstand des Wortes vom Augenschein hervor-
gehoben und zwischen ergänzender und ersetzender Beschreibung be-
deutsam unterschieden wird, kommen in den Anmerkungen zu Dide-
rots Versuch über die Malerei andere Gedanken zur Geltung. Bei
Diderot war zu lesen: »Ich vollende mit einer Zeile, was der Künstler
in einer Woche kaum entwirft, und zu seinem Unglück weiß er, sieht
er, fühlt er wie ich und kann sich durch seine Darstellung nicht genug
tun.« Hiezu meint nun Goethe: »Freilich ist die Malerei sehr weit von
der Redekunst entfernt, und wenn man auch annehmen könnte, der
bildende Künstler sehe die Gegenstände wie der Redner, so wird doch
bei jenem ein ganz anderer Trieb erweckt als bei diesem. Der Redner
eilt von Gegenstand zu Gegenstand, von Kunstwerk zu Kunstwerk,
um darüber zu denken, sie zu fassen, sie zu übersehen, sie zu ordnen
und ihre Eigenschaften auszusprechen. Der Künstler hingegen ruht
auf dem Gegenstande, er vereinigt sich mit ihm in Liebe, er teilt ihm
das Beste seines Geistes, seines Herzens mit, er bringt ihn wieder
hervor.« Man beachte, wie die Wahrnehmung des Künstlers und des
Redners doch nicht unbedingt als die gleiche und der Forscher als
im Gegensatz zum Künstler hingestellt wird.
Wilhelm Heinse, der so begeistert über bildende Kunst und Musik
zu sprechen wußte, hat in seinem Briefwechsel (herausgegeben von
DIE GEISTIGE FUNKTION. 425
Körte) mehrfach unser Problem beriihrt. An einer Stelle (I, 243) heißt
es : »Außerdem hat jede Kunst ihre Grenzen, über welche keine andere
Eroberungen machen kann. Malerei, Bildhauerei und Musik spotten
in ihren eigentümlichen Schönheiten jeder Obersetzung, selbst die
Poesie, die allergroßmächtigste, muß draußen bleiben.« In einem an-
deren Zusammenhang (I, 332) sind die wichtigsten Sätze die folgen-
den: :»Gemalt und beschrieben ist schier so sehr voneinander ver-
schieden, wie sehen und blind sein: wie der Zeiger einer Uhr im
Julius auf der Ziffer Vier — von dem Morgenrot auf der Höhe des
Brocken. Selbst die Beschreibungen Winckelmanns sind nur Brillen;
und zwar Brillen nur für diese und jene Augen. . . . Jedoch gebe ich
Ihnen aus keinem Gemälde mehr als die Idee und das Malerische der-
selben, so wie ich's erkenne; weil ich zu überzeugt bin, daß alles
andere mit eigenen Augen gesehen werden muß «2) Über solche
beweglichen Klagen geht um ein weniges hinaus George Forster, der
die Kunst der Beschreibung nicht bloß an der Natur, sondern auch
an Bauten und Gemälden übte. Seine Beschreibungen behagen uns
nicht immer, sein Grundsatz jedoch ist der Erwähnung wert »Meines
Erachtens«, so sagt er, »erreicht man besser seinen Endzweck, indem
man wiedererzählt, was man bei einem Kunstwerk empfand und dachte,
also, wie und was es bewirkte, als wenn man es ausführlich be-
schreibt Bei einer noch so umständlichen Beschreibung bedarf man
einer höchstgespannten Aufmerksamkeit, um allmählich, wie man weiter
hört oder liest, die Phantasie in Tätigkeit zu versetzen und ein Schein-
bild formen zu lassen, welches für den Sinn einiges Interesse hat
Ungern läßt sich die Phantasie zu diesem Frondienst herab; denn sie
ist gewohnt, von innen heraus, nicht fremdem Machwerk nachzubilden.
Ästhetisches Gefühl ist die freie Triebfeder ihres Wirkens, und gerade
dieses wird gegeben, wenn man, statt einer kalten Beschreibung eines
Kunstwerks, die Schwingungen mitzuteilen und fortzupflanzen versucht,
die sein Anblick im inneren Sinn erregte. Durch diese Fortpflanzung
der Empfindungen ahnen wir dann — nicht wie das Kunstwerk wirk-
lich gestaltet war — , aber gleichwohl, wie reich oder arm es sein
mußte, um diese oder jene Kräfte zu äußern; und im Augenblick des
Affekts dichten wir vielleicht eine Gestalt, der wir jene Wirkungen zu-
trauen und in der wir nun die Schatten jener unmittelbaren Eindrücke
nachempfinden.« Ich möchte meinen, daß dies Verfahren bei der Musik
noch besser am Platze ist, wie es denn auch von Nietzsche g^enüber
Bizets »Carmen« geübt worden ist
Von den Romantikem ist Wilhelm Schlegel am tiefsten in das
Problem eingedrungen. Seine Übersetzerkunst befähigte ihn dazu.
Einmal heißt es: »Für die so oft verfehlte Kunst, Gemälde mit Worten
426 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
ZU malen, läßt sich im allgemeinen wohl keine andere Vorschrift erteilen
als mit der Manier, den Gegenständen gemäß, aufs mannigfaltigste zu
wechseln. Manchmal kann der dargestellte Moment aus einer Erzäh-
lung lebendig hervorgehen. Zuweilen ist eine fast mathematische Ge-
nauigkeit in lokalen Angaben nötig. Meistens muß der Ton der Be-
schreibung das Beste tun, um den Leser über das Wie zu verständigen.
Hierin ist Diderot Meister: er musiziert viele Gemälde wie der Abt
Vogler« ^). Ein anderes Mal läßt Wilhelm Schlegel zwei Personen wie
folgt miteinander reden: »Waller: Das einzelne Wort tut es frei-
lich nicht, ebensowenig als der Zauber der Malerei in den abgeson-
derten Farben auf ihrer Palette liegt. Aber aus der Verbindung und
Zusammenstellung der Worte gehen nicht nur Gestalten hervor: die
Rede gibt ihnen auch ein Kolorit und kann stärker und sanfter be-
leuchten. — Luise: Brav! Diesmal reden Sie ganz nach meinem
Herzen. — Waller: Freilich muß sie, um hierin die höchste Vollkommen-
heit zu erreichen, auch die Töne mit Wahl zusammenstellen und die
Bewegungen nach Gesetzen ordnen. — Luise: O weh! es soll also
förmlich gedichtet werden. Mit den Silbenmaßen habe ich mich nie-
mals abgegeben «*) Diese Gespräche spielten sich 1798 in der
Dresdener Galerie ab. Die Fiktion ist, daß für die abwesende Schwester
der einen Unterrednerin durch Gemäldebeschreibungen eine Art Ersatz
geschaffen werden soll. Daher kann eine Untersuchung Ober Mög-
lichkeit und Art solches Ersatzes nicht umgangen werden. Und August
Wilhelm Schlegel war dazu vorherbestimmt als Kunstliebhaber und
Wortkünstler, als der geborene Aneigner und Übersetzer. —
Wir gehen nun von geschichtlichen Erinnerungen zu eigenen Be-
trachtungen über. Wenn man die Ausdrucksfähigkeit des Wortes fGr
die Zwecke der Kunstwissenschaft prüfen will, und zwar an dem jetzt
üblichen Verfahren, so bieten sich zwei Wege als die kürzesten dar.
Man kann die Schilderungen, die verschiedene Gelehrte von einem und
demselben Werk entworfen haben, miteinander vergleichen, und man
kann die Beschreibung verschiedener Werke durch denselben Autor
daraufhin ansehen, ob sie zur unterscheidenden Kennzeichnung aus-
reichen. Aus der ersten Vergleichung ergibt sich sofort, daß unsere
Kataloge und kunstgeschichtlichen Handbücher die abweichendsten
Darstellungen desselben Bildes enthalten. Zum Erweis stelle ich zwei
Schilderungen der Sixtinischen Madonna nebeneinander, die durch Kürze
ausgezeichnet und in vornehmer Umgebung zu finden sind. »Maria
schwebt in ganzer Gestalt auf weißen Wolken in goldduftiger Glorie von
Engelsköpfchen. Der nackte Jesusknabe thront auf ihrem rechten
Arme. Beide blicken den Beschauer gerade von vom mit ernsten großen
Augen an. Zu ihren Füßen knien zwei verehrende Heiligengestalten
DIE GEISTIGE FUNKTION. 427
auf den Wolken: links der heilige Papst Sixtus II., der die dreifache
Krone vom auf die Brüstung niedergel^ hat und entzuckt zur Mutter
Gottes emporblickt; rechts die demütig zur Seite schauende heilige
Barbara, die an dem Turm zu ihrer Rechten kenntlich ist Vom in
der Mitte blicken zwei Engelsknaben hinter der Brüstung hervor. Ein
grüner Vorhang schließt oben die Erscheinung von der Erdenwelt ab.«
— »Die weiten Augen der Sixtina haben es der Welt angetan. Ein
breiter Nasenrücken und das Hilfsmittel, die Augen dadurch weit aus-
einander zu rücken, trotzdem aber ihren Blick sich nicht kreuzen zu
lassen, sondem gleichlinig in die Feme zu lenken, bedingen den Aus-
dmck; der Kopf von vollendeter Rundung, die Haltung groß über das
Leben hinaus, der Aufbau in Beziehung zu den beiden anbetenden
Heiligen ebenso streng in den Hauptmaßen wie flüssig in der Linien-
fühmng; die Gestalten umgeben von silbemem hellen Licht, wie dies
schon Sebastiano del Piombo angestrebt hatte, die kraftvollste Farbe
im Licht weißlich, nicht von der alten sonst hier beliebten Leucht-
kraft.c (Vgl. Tafel VI.)
In beiden Beschreibungen fehlen wichtige Momente — beispiels-
weise wird das Bew^ungsmotiv nicht erklärt — und anderseits sind
in ihnen Phrasen und Beiwörter enthalten, die zum Verständnis nichts
beitragen. Selbst ein Widersprach fällt auf: der Dresdener Katalog
spricht von »gold duftiger Glorie«, die Guriittsche Kunstgeschichte
von »silbernem hellen Licht«. Was aber das Wichtigste ist: würde
ein nicht Unterrichteter die beiden Beschreibungen mit Sicherheit und
Notwendigkeit auf dasselbe Gemälde beziehen? Fördem und vertiefen
sie die Anschauung?
Recht unzulänglich ist die Sprache unserer Kunstgelehrten, wenn
es gilt, die Art eines Meisters zu beschreiben, durch die alle seine
Werke (oder wenigstens alle Werke einer bestimmten Schaffenszeit)
ihr eigentümliches Gesicht erhalten. Wölfflin z. B. erkennt bei Giotto
überall »lebendiges, überzeugendes Geschehen«. Er habe ein Auge
für »das Sprechende«, sei ein Mann der »Wirklichkeit«, ein »Be-
obachter«. Masaccio scheint ihm mit Nachdmck »das Sein« zu geben,
»die Körperiichkeit in der ganzen Kraft der Naturwirkung«. — Solche
Wendungen entspringen wohl einer zutreffenden und durchgebiWeten
Anschauung und erhalten im Zusammenhang auch einen gewissen
Wert; dennoch kann niemand aus ihnen eine Differenziemng der
Künstlerprofile gewinnen. Ebensowenig leisten die von Wölfflin gern
gebrauchten Beiwörter, weil sie ihrer Natur nach unzuverlässig und
farblos sind. Auch Zusammenstellungen wie »von schöner Linie«, »von
melodiösem Linienschwung«, »von grandiosem Ernst« besagen doch
nichts. Nur wenn im Hörer oder Leser bereits ein Besitz an Vor-
428 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
Stellungen vorhanden ist, können durcheinanderschwirrende Bildfrag-
mente auftreten, und nur wo der Forscher zum Dichter wird, erzidt
er einen Innen mit Innen verknüpfenden Eindruck; so wenn er von
einem Bilde sagt, darin herrsche »ein allerffiUendes Schweigen, daß
man glaubt, man würde es lispeln hören, wenn der Abendhauch an
den schlanken Bäumchen die Blätter bewegt«. Die Worte dag^en,
die vorangehen: »vollkommene Ruhe, lauter stille Linien, eine edle
Architektur mit weitem Ausblick in die Feme, eine schön verklingende
Berglinie am Horizont«, könnten nicht minder gut auf ein Schwind-
sches Märchenbild passen als auf die Madonna von Perugino, von
der sie gesagt sind. — Endlich ein letztes Beispiel. Mit folgenden
vierzehn Wendungen schildert Wölfflin die Frührenaissance: fdnglied-
rige mädchenhafte Figuren mit bunten Gewändern, blühende Wiesen,
wehende Schleier, luftige Hallen mit weitgespannten Bogen auf schlanken
Säulen, alle frische Kraft der Jugend, alles Helle und Muntere, alles
Natüriiche und Mannigfaltige, schlichte Natur und doch ein wenig
Märchenpracht dabei. Das ist gewiß schön und treffend. Dennoch
ließe sich die Beschreibung auf ein halbes Dutzend anderer Zdten
und Künstler anwenden. Als vor Jahren eine Geschichte der neuesten
Kunst heftig angegriffen wurde, warf man ihrem Verfasser vor, daß
er Schilderungen, die von Kennern und Künstlern stammen, wörtlich
entlehnt und auf ganz andere Werke übertragen habe, als für wdche
sie ursprünglich bestimmt waren. Solche Plagiate sind doch nur da-
durch möglich, daß auch den glänzendsten sprachlichen Darstdiungen
jene Genauigkeit mangelt, durch die sie unlöslich an die eine Kunst-
oder Künstlererscheinung gekittet wären. Denn daß jener Kunsthisto-
riker widersinnige Übertragungen vorgenommen hätte, kann nicht be-
hauptet werden. —
Wenn bisher untersucht wurde, inwieweit eine nichtkfinstlerische
Beschreibung die Anschauung eines Werkes der bildenden Kunst zu
unterstützen und auf die Höhe einer genauen Erkenntnis zu hebm
vermag, so fragen wir nunmehr, ob Worte das Bild zu ersetzen ver-
mögen. Um eine Grundlage zu gewinnen, habe ich öfter Beschreibungen
von einfachen Kunstwerken vorgelesen oder auch vorgelegt und die
Hörer angehalten, nach dieser Beschreibung eine schematische Zdch-
nung zu entwerfen. Die Einzelheiten des Verfahrens brauche ich wohl
nicht zu erörtern. Sehr selten versagte jemand so vollständig, daß er
keine einzige optische Vorstellung erhalten zu haben angab. Aber dne
unverhältnismäßig große Zahl (fast 40%) erklärte sich zu zdchneri-
scher Wiedergabe unfähig. Da weder künstlerische Darstellung noch
Berücksichtigung der Einzelheiten verlangt, hingegen eine gewisse
Fähigkeit zum Zeichnen nach Vortagen festgestellt wurde, so wird
DIE GEISTIGE FUNKTION. 429
man annehmen därfen, daß die flüchtig auftauchenden Gesichtsvor-
stellungen sehr undeutlich, wahrscheinlich überhaupt keine echten
Sinnesvorstellungen waren. Von den gelieferten Versuchen, die natur-
lich meist in rohen Umrissen bestehen, waren nur wenige ganz un-
brauchbar; im großen ganzen zeigen sie doch, daß eine verhältnis-
mäßig genaue wörtliche Schilderung von den HauptzOgen eines Bild-
werks — nicht von den Feinheiten und künstlerischen Eigenschaften
— eine leidlich genügende Vorstellung erwecken kann. Ich gebe als
Beispiel eine Beschreibung aus Grimms Michelangelo (6. Aufl. 1890 I,
153/4) und die Zergliederung der Versuchsergebnisse, die im Seminar
vorgenommen wurde Es handelt sich um die Madonna des National-
museums in London. (Vgl. Tafel XIX.)
»Die Komposition zerfällt in drei Teile: in der Mitte die Madonna,
rechts und links von ihr je zwei jugendliche Gestalten dicht neben-
einander, Engel, wenn man will. Die zur Linken sind nur in Umrissen
da, die auf der anderen Seite aber vollendet und von so rührender
Schönheit, daß sie zu dem Besten gehören, was Michelangelo hervor-
gebracht hat. Sie stehen dicht nebeneinander, zwei Knaben zwischen
14 und 15 Jahren etwa, der vom stehende im Profil sichtbar — die
ganze Gestalt herab — , der hinter ihm en face; dieser hat seinem
Genossen beide Hände auf die Schulter gel^ und blickt mit ihm zu-
gleich auf ein Pergamentblatt, das derselbe mit beiden Händen vor
sich hält, als läse er darin, auch hat er den Kopf etwas vorgeneigt
und die Augen darauf niedergeheftet Ein Notenblatt vielleicht, von
dem beide singen; die halbgeöffneten Lippen könnten es andeuten.
Die nackten Arme, die Hände, die das Blatt halten, von jugendlicher
Magerkeit beide, aber mit einer Naturbeobachtung gemalt, die zu loben
oder zu beschreiben unmöglich ist, reichten allein hin, um dieser Ge-
stalt den höchsten Wert zu geben. Dazu aber den Kopf, die köstlich
schlanke Figur, das leichte Gewand in anliegenden, vielfach geknickten
Falten bis über die Knie herab, dann das Knie und das Bein und der
Fuß; — es gibt eine Darstellung der Natur, die etwas fast zu Er-
greifendes hat, — man fühlt tief im Herzen eine Liebe zu diesem
Kinde und möchte die Hand ins Feuer legen, daß es rein und un-
schuldig sei. Das Gewand des anderen ist dunkel, es li^ ein Schatten
über den Augen, und im Auge ein ganz anderer Charakter, doch nicht
weniger liebenswürdig. Auch das Haar anders, die Locken dichter,
dunkler und in Häkchen ausfahrend, während die des ersten, sanfter
und voller hinter das Ohr zurückgestrichen, auf dem Nacken li^en.
— Die Jungfrau sehen wir ganz von vom. Ein heller Mantel ist auf
der linken Schulter mit den Zipfeln zu einem starken Knoten zusammen-
gebunden, verhüllt den rechten Arm beinahe und ist unten weitfaltig
430 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
um und über die Knie geschlagen. Auf dem dunklen Haar li^ ein
weißer Schleier, doch so, daß er ringsum sichtbar bleibt. Ober ihren
Schoß hin greift das Jesuskind nach dem Buche, das die Mutter in
der Linken haltend, ihm entzieht, wobei die Rechte unter dem Mantel
vorkommend ihr behilflich wird. Es ist, als hätte auch sie selbst im
Chor mitgesungen und eben das Blatt umwenden wollen, als das Kind
ihr ins Buch griff, das sie leise nach links emporhebt Johannes steht
rechts neben dem Jesuskinde, mehr im Hintergrunde; ein Tierfell ist
um das kleine Körperchen geschlagen, doch fast ohne es irgendwo zu
verhüllen. Das Licht kommt von der Linken, dadurch fällt der Schatten,
den die GestaU der hl. Jungfrau wirft, ein geringes über ihn.«
Auch diese ausführiiche Beschreibung bleibt doch gelegentlich so
ungenau, daß sie grobe Irrtümer nicht ausschließt. Wenn zu Anfang
gesagt wird: »Die Komposition zerfällt in drei Teile«, so fehlt die Er-
gänzung, daß diese drei Teile vom Maler ganz eng zusammengenommen
sind. Daher sind in vielen der Skizzen die drei Gruppen durch
Zwischenräume geschieden worden. Von der Beschaffenheit des Thron-
sitzes hören wir durch Grimm gar nichts, die Stellung des Jesuskindes
und des Johannes sind in der Beschreibung vernachlässigt, auch wird
nicht angegeben, daß die Madonna sitzt. Auf solche Mängel sind wir
durch Fehler in den Zeichnungen aufmerksam geworden; diese Fehler
waren gewissermaßen berechtigt, weil durch die Beschreibung nicht
ausgeschlossen: ein bedenkliches Ergebnis bei einem Buche, das auf
alle bildlichen Hilfsmittel verzichtet. Nur innerhalb enger Grenzen und
ohne unbedingte Sicherheit vermag also das Wort den Erscheinungs-
gehalt demjenigen vor das innere Auge zu stellen, der das Kunstweric
noch nicht kennt. Dagegen leistet die Beschreibung der Erinnerung
vortreffliche Dienste und lehrt, sobald sie durch den Anblick des
Werkes oder einer guten Reproduktion ergänzt wird, sehen, was da
ist. Für alle drei Verrichtungen wäre das natürliche Schema wohl
dies: zuerst zu schildern, was dem Auge sich darbietet, alsdann, wenn
die sichtbare Erscheinung als solche festgelegt ist, die stofflichen In-
halte und Zusammenhänge zu beschreiben; schließlich die zum Gemüt
sprechenden Vorzüge hervorzuheben, die geschichtlichen Beziehungen
darzulegen und eine kritische Würdigung anzureihen. Grimm hält in
seinem Michelangelo sich manchmal (in 20 näher geprüften Fällen
viermal) ziemlich genau an das Schema, meist jedoch ist Formales,
Stoffliches und Kritisches kunstvoll, ja künstlerisch miteinander ver-
webt; und da er auf die geschichtlichen Bezüge und Kulturzusammen-
hänge großen Wert legt, so fehlt mehrere Male die Beschreibung,
mehrere Male das ästhetische Urteil. Die Ordnung, überhaupt die Ge-
staltung einer kunstwissenschaftlichen Beschreibung hangt indessen
DIE GEISTIGE FUNKTION. 431
nicht nur von der Persönlichkeit des Schildernden, sondern mindestens
ebensosehr von der Eigenart des zu schildernden Gegenstandes ab.
Bei Zeichnungen, deren Formverhältnisse die mit ihnen verknüpften
Ideen im Betrachter wecken sollen, wie bei aller Gedankenmalerei, ist
eine bewußt rationalisierende, die gedanklichen Absichten entsprechend
ausdrückende Beschreibung durchaus am Platze. Die vorzunehmende
Transposition aus der Tonart des Sinnlichen in die des Begrifflichen
erscheint hier als ein natürliches Beginnen. Eine zweite Klasse bilden
die gemalten Anekdoten und Historien aller Grade. Auch ihnen kann
eine Nacherzählung im wesentlichen gerecht werden. In etwas anderem
Sinne selbst den Bildern, die ohne sonderliche Auslese, aber mit starker
Hingabe an das Detail möglichst viel von einem Stückchen Außenwelt
festzuhalten streben^). Denn ähnlich so wie der Beschauer die An-
sammlung der genau durchgebildeten Einzelheiten nacheinander in sich
aufnimmt, vermag die treulich folgende Feder den Inhalt und den an
ihn gebundenen Eindruck objektiv zu beschreiben. Indessen, in solchen
Werken ist noch nicht der ganze Reichtum und das letzte Geheimnis
des Künstlerischen enthalten. Die Kunstwissenschaft und die Ästhetik
neigen naturgemäß dazu, das als das Normale und Wesentliche anzu-
sehen, was leicht zu beobachten und gut zu beschreiben ist Ja, sie
legitimieren mancherlei malerisch Sinnloses oder wenigstens technisch
Ungeschicktes, wenn es nur aus einem verständigen Grunde in das
Bild hineingesetzt ist und einen Berichtwert besitzt.
Nun aber gibt es Kunstwerke, in denen mit dem dargestellten
Gegenstand die formalen Eigenschaften so verschmolzen sind, daß vor
allem von diesen eine Vorstellung erweckt werden muß. Und auf
einer gewissen Stufe der Beschäftigung mit Kunst wird es Bedürfnis,
sich solche Qualitäten durch unterscheidendes Denken und in Worten
zum Bewußtsein zu bringen. Gegenüber den Farben versagt das Wort,
sobald über die allgemeinsten Bestimmungen hinausgegangen und ein
Hinweis auf die Farbenskalen der Techniker nicht beliebt wird. Von
dem übrigen Wie der Ausführung, von Ausnutzung und Gliederung
des Raums, Anordnung und Führung der Hauptlinien, kurz von den
Elementen des künstlerischen Gehaltes kann jedoch, wie gezeigt wurde,
Rechenschaft abgelegt werden. Kunstschriftsteller ersten Ranges er-
reichen einen ganz brauchbaren Annäherungswert an die technische
Weisheit des bildenden Künstlers. Freilich erwächst ihnen und ihren
Lesern eine große Gefahr. Intimität mit der Kunst ist bei ihnen des-
halb so selten, weil ihre Anteilnahme nicht rein künstlerisch bleibt,
sondern allzu leicht rhetorisch wird. Der Wortmensch freut sich eines
Bildes erst dann, wenn er es umgewandelt, ins Sprachliche übersetzt
hat: er wähnt, mit klingenden und erfüllten Sätzen das Kunstwerk
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irr»^ /',^tr.-5^f;^^; s;-T ie:^ A::i'tr5ciTen in ie Scradie g^emigr. wo
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.-r: /A/^r - r'*r- ^^rr-f^r.. :r. r»;r: der Scracne. De* Versdnedeii-
r-^-fir. \'^.'r/>^. p. r.c*'Jr. ?*r:-j^. ahe' es ist wengsiKns der gleicfae
^iifir.'r^r//..,'r:tr't su-. -r-^rr cor dr. K'urirAerk der Fonncn and Farben
^*Vkr<,^. ßi<T '^r/i T.'.fr *:- KunsTAeri der Wor» und Rhythmen
ruf.r///:nAr.^^^. ß^r^t. ^X'äre es rur au: diese Art mögfidi, cfie be-
^^•"r^> P.-vvr*:::-:-^- a-fitefeen rj lassen! Indessen Justi hat ganz
r'vj'.* v/*r.r. *r von 'Jl'inckdrnanns nach 1757 entstandenen Kunst-
P^v/r.rr.'/:r^-*n vs^;:: D:e neuen Beschreibungen sind keine gcgen-
^•;^^/i:/.r.';r . ^wa Aie die namrwissenschaftlichen. welche der Sache
r.i**-r.-. ^r*rr ^-y.höpfenden Terminologie adäquat zu werden streben,
-/>; //-rrl /.r. v/Qrde e-, gelingen, aus diesen Beschreibungen allein sich
«-in*: Vor-/«:;:ur;5^ der Statuen zu machen; sondern sie sind eme Um-
'/•^/-n;/ d':r Ir.^.re-.sion, welche der Geist in einem Moment weihe-
voü'-r f5':*rü!^h*unj( empfing, in eine Reihe von Bildern und B^riffcn,
;/an/ .0 v/i': der Künstler seine schöpferische Intuition allmählich in
pl^ ,ti -/ihe Realität umsetzt Und da dieser Moment schöpferischer In-
tuition die ganze nachfolgende Arbeit bis zur Vollendung, ebenso wie
di^T Wirkung des Vollendeten auf den Beschauer bedingt und bestimm^
<// ist di':ser Weg gewiß möglich, wiewohl nicht zur Nachahmung zu
i-m[if':liU-n' •).
N;iivf: O'rmüter meinen wohl, es sei nichts einfacher als die Be^
',' lir^-ihung eines unveränderlichen sichtbaren Dinges. Sie vergessen,
i\:\\\ ohne Auswahl und Urteil die Schilderung nie ein Ende finden
und 'Ay\\W.xi\i:xx\ niemand nützen würde. Wenn ich ein mikroskopisches
I'r;i|i;fr;it so beschreiben wollte wie ich es sehe: mit allen Schmutz-
fh'(kffi, l.tiftbl;ischen und den undeutlichen Wahmehmungsbildem der
;iii(i<rh;ilb der Brennweite liegenden Teile, dann wäre meine Nachbil-
(Intii^ ii:iturg('treu, jedoch völlig unwissenschaftlich. Wissenschaft ist
mit der Kunst darin einig, daß sie die erlebte Wirklichkeit verändert
und hierdurch bewältigt. Nachdem ein Einzelfall uns gezeigt hatten
DIE CiEISTIGE FUNKTION. 433
wie en); der beschreibenden Wissenschaft die Orenzen gezogen sind
^e^enüber dem besonderen Kunstwerk, mOssen wir jetzt zu der all-
gemeineren Frage aufsteigen, wie sich die Kunst zur Wissenschaft
verhält, demgemäß uns klarzumachen suchen, in welcher besonderen
Weise Wissenschaft das unmittelbar Erfahrene umformt Der Grund-
zug ist deutlich. Gegen die widerspruchsvolle und unklare Beschaffen-
heit der Erlebnisse kämpft das Denken an, indem es ihren Inhalt mit
einer gewissen Willkür bearbeitet, alles Irrationale ausscheidet und
überall denknotwendige Zusammenhänge, verstandesmäßige Konstruk-
tionen herstellt. Anstatt die Mannigfaltigkeit des Seienden echoartig
zu wiederholen, vergewaltigt und verfälscht die rationalisierende Wissen-
schaft die Natur; aber ihr Sinn ist ja gerade der, in das Erlebte Kau-
salverbindungen und andere Beziehungen hineinzutragen, d. h. es zu
erklären. Unsere Einteilungen, Hypothesen, Betrachtungsweisen, Ge-
setze können nun und nimmermehr der Weh, wie wir sie erleben,
also dem Wirklichsten und Ursprünglichsten als etwas noch Ursprüng-
licheres untergeschoben werden. Lotze hat treffend den Hang des
Menschen geschildert, ^die zufälligen Ansichten, die Zergliederungen,
Hilfsbegriffe und Beziehungen, durch die es uns gelingt den Zusam-
menhang des Wirklichen zu denken, nachdem es da ist, als reale
Maschinerie zu betrachten, durch die es ihm gelinge zu seins er
hat die Verwechselung der Verdeutlichung unserer Begriffe mit der
sachlichen Zergliederung ihres Inhaltes^ beleuchtet und darauf hin-
gewiesen, daß an der Sache die Eigenschaften ganz anders haf-
ten und zusammenhängen, als die Merkmale oder Teilvorstellungen
an dem Begriff der Sache-. (Mikrokosmus 4. Aufl. 1888 III, 542,
206, 213.) Aber freilich hat er von vert>orgenen Zusammenhängen
und Werten gesprochen, die innerhalb unseres Gedankenganges nicht
erörtert werden können; ob es überhaupt in der Wirklichkeit innere
Beziehungen gibt, die nun unseren Vorstellungen, Begriffen, Urteilen,
Schlüssen entprechen mögen oder diesen logisch-wissenschaftlichen For-
men völlig inadäquat sind, das soll und braucht hier nicht erwogen
zu werden. Sicher ist mir, daß weder die objektive theoretische
Erkenntnis, noch die subjektive künstlerische Formung solche Fragen
zu beantworten haben. Denn die Grundüberzeugung, daß hinter den
Erscheinungen eine Geisteswelt walte, ist weder eine beweisluire Lehre
noch eine spezifisch künstlerische Auffassung.
Erst an zweiter Stelle stehen Wissensdrang und Bildstreben. Der
Wissensdrang führt nicht in die höhere Heimat des Menschen: wer
das innerste Wesen des Seienden zu enthüllen wünscht, muß wie Faust
den Schelling als Verkünder der Identitätsmetaphysik willkommen
hieß die Wissenschaft zur Seite werfen. Sieht er nicht die Hand,
De»«oir, AMhctik und allg. KaMtwiMcmdiaft. 28
434 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
die religiöse und philosophische Weltanschauung ihm bieten, so wird
er sich der Zauberei verschreiben oder dem geistigen Nihilismus ver-
fallen. Die Verstandeswissenschaft steht Rätseln kflhl geg^n-
über: sie arbeitet gelassen an ihnen fort oder weist ihre Unlösbarkeit
nach und erklärt sie eben damit für erledigt. Diese Haltung ist nur
denkbar, indem die Forschung an der ihr notwendigen Einseitigkeit
festhält. Daher, wenn wir so oft von wissenschaftlicher Objektivität
hören, dürfen wir nicht an eine Beteuerung des profanen Erlebens
denken. Diese »Objektivität« besteht keineswegs in parteiloser Hin-
nahme der Tatsachen, sondern in einem Verhalten, das neben anderem
auch die natärlichsten Oefuhlsbeziehungen zum Objekt abtötet und
demnach nicht selten, z. B. beim medizinischen Menschenexperiment,
zu grausamer Rücksichtslosigkeit führt. Immer wieder sagt man uns:
die exakte Wissenschaft liefere Wirkliches. Wir wollen hierg^en nicht
einmal geltend machen, daß ja die Beziehungen jedes O^enstandes
zur Allseitigkeit des Naturgegebenen und zum einzelnen Erlebenden
fortfallen müssen. Sondern, um beim Einfachsten zu bleiben, fragen
wir: Sind etwa die Empfindungskomplexe der Psychologie das, was
wir in uns beobachten und was ohne Frage das Wirkliche ist? Haben
die Atome der Physik Farbe und Geruch? Nein, sondern alle diese
Erklärungsbegriffe sind Umbildungen des unmittelbar Erfahrenen. Die
gesamte wissenschaftliche Tätigkeit ist eine Summe von distinctiones
rationis. Wie jeder Punkt auf der Oberfläche eines Körpers in dnc
Umrißlinie eintreten kann und somit für den Zeichner unendlich vide
Möglichkeiten entstehen, so entspringen auch aus jeder Erfahrung zahl-
lose Möglichkeiten rein begrifflicher Unterscheidungen und Einord-
nungen.
Der logische Charakter der wissenschaftlichen Unterscheidungen
bekundet sich bereits bei der sogenannten elementaren Analyse, denn
auch bei ihr werden die Teilerscheinungen durch denkende Bear-
beitung festgelegt — sonst wäre sie ja ein rohes Zerstückeln. In
einem derartigen Zerlegen und Begrenzen offenbart sich die eigentüm-
liche Fähigkeit des echten Forschers; wie könnte er jemals wagen, so
die Einheit des Lebens auszudrücken wie große Künstler es mit we-
nigen Rhythmen getan haben! Ist doch seiner Zergliederung nicht
nur die Schönheit, sondern auch die künstlerische Wahrheit der Dinge
zum Opfer gefallen. Er mag von jenem Endziel träumen, erreicht in-
dessen immer nur auf kleinen Strecken und in ganz anderen Dimen-
sionen eine rationale Verbindung des analytisch Gefundenen.
Dies nämlich ist das Zweite. Wenn begrifflich zerlegt worden ist,
dann können und sollen die Elemente in eine gleichfalls begriffliche
Ordnung gebracht werden: ^^nisi in ordines redigantur et velut castrth
DIE GEISTIGE FUNKTION. 435
rum acies distribuantur in suas classes, omnia fluctuari necesse esU,
sagt Caesalpinus mit einem treffenden Bilde (von dem freilich, um ge-
nau zu bleiben, alles Anschauliche abgezogen werden mußte, denn
die Schlachtreihen der Wissenschaft stehen außerhalb der Erscheinungs-
welt). Die rationale Anordnung und Verknüpfung einfacher Bestand-
teile bildet den Abschluß jeder ausgereiften Wissenschaft. Dabei kommt
es wesentlich an auf den logischen, künstlichen Charakter der Bezie-
hungen. Schellings Naturphilosophie ist an manchen Stellen so tief
unwissenschaftlich, weil die vorhergehende Analyse fehlt und nament-
lich weil die Verwandtschaft anschaulicher Merkmale zur Reihen-
bildung benutzt wird. Die reine Wissenschaft verwendet nicht sicht-
bare Ähnlichkeit, sondern logische (bisher meist kausale) Zusammen-
gehörigkeit zur Herstellung der dem Denken notwendigen Kontinuität;
die vier Sätze: in mundo non datur hiatus, non datur saltus, non
datur casus, non datur fatum vereinigen sich alle »lediglich dahin,
um in der empirischen Synthesis nichts zuzulassen, was dem Ver-
stände und dem kontinuieriichen Zusammenhange aller Erscheinungen
d. i. der Einheit seiner Begriffe Abbruch oder Eintrag tun könnte«.
(Kant, Kritik der reinen Vernunft, Kehrbachs Ausg. S. 213.)
Die Technik des wissenschaftlichen Denkens beruht auf der Technik
des Denkens überhaupt Denken aber als Urteilen ist eine zergliedernde
Tätigkeit; und damit aus dem Zerlegten wieder ein Zusammenhang
werde, benutzt die Wissenschaft gewisse Hilfsvorstellungen, die zu
ihren unentbehriichen Werkzeugen gehören. So arbeitet sie mit Not-
wendigkeiten und Möglichkeiten, dergleichen die Natur nicht kennt.
Denn der starre Charakter der Natur ist der des Seins. Das Denken
hat sich ferner ein der Wirklichkeit ganz fremdes Mittel geschaffen in
der Verneinung. Während alle Sinneseindrücke und alle Dinge selbst-
verständlicherweise nur positiv sind, besitzen wir die Negation und
vermögen durch sie das Positive zu erkennen. Ja selbst das tritt ein,
daß wir oftmals durch Verneinung des Möglichen, d. h. durch Auf-
einandertürmen zweier echt menschlichen Denkverrichtungen zur Wirk-
lichkeit gelangen. Hieraus folgt unmittelbar ein Satz von großer Trag-
weite. Die Mittel und die Ergebnisse der Wissenschaft sind nicht
anschaulich. Die Wissenschaft bietet Erkenntnisse und keine Bilder.
Wenn man botanische und zoologische Bücher mit Abbildungen aus-
stattet, so überschreitet man die Grenzen einer wissenschaftlichen Dar-
stellung. Sehr deutlich hat Linn6 seine Ansicht hierüber ausgesprochen:
^icones . . . absolute reücio, licet fatear has magis gratas esse pueris
iisque qui plus habent capitis quam cerebri; fateor has idiotis aliquid
imponere.<^ Auch die Demonstrationen im naturwissenschaftlichen Unter-
richt laufen dem eigentlichen Sinn der Wissenschaft zuwider. Denn
436 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
die Naturforschung geht immer aufs Allgemeine, und die Demonstration
kann immer nur einen einzelnen Fall vor die Augen stellen. So wenig
gegen die Beobachtung des Besonderen als die Grundlage der Arbeit
einzuwenden ist, so entschieden muß doch gegen das neuerdings be-
liebte Übermaß der Veranschaulichung Einspruch erhoben werden^ da
auf diese Weise das Wesentliche zurückgedrängt und die Fähigkeit
abstrakten Denkens im Lernenden ertötet wird. Wenn der Mathema-
tiker den Lauf einer Kurve oder die Gestalt einer Fläche durch Zeich-
nungen oder Modelle darstellt, so bedient er sich eines gewissermaßen
unerlaubten Hilfsmittels; die eigentliche Form seiner Darstellung ist die
Definition durch Gleichungen. Der Physiker ist durchaus auf Olei-
chungssysteme angewiesen, denn mit der Fallmaschine, der schiefen Ebene
und der Pendelschwingung kann er weder komplizierte Bewegungen
noch die Bewegung an sich, die nicht an Körper gebundene Bewe-
gung anschaulich machen. Die wissenschaftliche Darstellung der Be-
wegung ist und bleibt das Gleichungssystem, d. h. eine unanschauliche;
begriffliche, abstrakte Darstellung. Nur durch Abstraktion gelangt die
Wissenschaft zu den allgemeinen Begriffen, Bestimmungen und Ge-
setzen, mit deren systematischer Anordnung sie ihre Aufgabe löst
Und die Begriffsbestimmung als Erzeugnis des unumschränkt herr-
schenden Denkens ist die höchste Instanz der reinen Wissenschaft
Wir übersehen bereits, daß das Wesentliche der Wissenschaft die
besondere Art ist, in der sie die Dinge nimmt, die eigentumliche Be-
trachtung und Behandlung des Gegebenen, mit einem Wort: die Me-
thode. Nun wird auch ganz klar, worin der Wert der Wissenschaft
beruht. Offenbar nicht in der Übereinstimmung unserer Gedanken-
verbindungen mit der Wirklichkeit, sondern in der Folgerichtigkeit und
Bewährung für die Zukunft: »Was fruchtbar ist allein istwahr.c (Goethe.)
Wenn wir Erfahrungen auf neue Gebiete übertragen, unsere in der
Vergangenheit begründeten Kenntnisse für die Zukunft verwerten kön-
nen, wenn wir zu einer praktischen Genauigkeit und Weiterarbeit ge-
langen, so ist der Zweck der Forschung erreicht Alle höheren An-
sprüche haben sich im Lauf der Geschichte als unerfüllbar erwiesen.
Der Naturforscher wie der Historiker vermögen im besten Fall durch
Ergänzung oder Unteriegung in die Dinge eine verständliche und ver-
wendbare Ordnung hineinzubringen.
Über die Eigentümlichkeit, die alle Kunst bei ihrer Umformung des
Gegebenen zeigt, kann ich mich kürzer fassen, da im Laufe des Buches
genugsam davon gesprochen worden ist. Daß die Kunst im Gegen-
satz zur Wissenschaft die Erfahrungswelt bejaht oder vielmehr sie
mit dem einen oder anderen Teil ihrer Eigenschaften in neuartige Ge-
bilde aufnimmt, daß sie Gebärden, Klänge, Worte, Raumformen gelten
DIE GEISTIGE FUNKTION. 437
läßt, eben dies ist ja ein Hauptgegenstand der Darstellung gewesen.
Dabei wird jedoch der sinnliche Stoff zu anderen Möglichkeiten frei
verbunden, und diese Möglichkeiten sind nicht ein bloßes Hilfsmittel,
sondern ein Endergebnis. Sie unterscheiden sich von dem launischen
Spiel der individuellen Einbildungskraft durch eine in ihnen mächtige
Notwendigkeit (s. S. 75). Man kann sie als anschauliche Notwendig-
keit (S. 115) und als das Apriori der Kunst bezeichnen. Kant hat
gezeigt, daß die vorbewußten Anschauungsformen Verbindungen er-
lauben, die nicht logisch und trotzdem zwingend sind : dasjenige, wor-
auf ich mich stütze, wenn ich ohne Hilfe der Erfahrung zu einem
Subjektbegriff etwas Neues allgemeingültig hinzufüge, z. B. von zwei
geraden Linien aussage, sie haben nur einen Schnittpunkt, das ist die
Gesetzmäßigkeit der menschlichen Raumauffassung. Die Notwendig-
keit eines solchen Urteils ist nicht begrifflich, sondern anschaulich.
Ihr scheint die Sicherheit des künstlerischen verwandt Die unbedingte
Überzeugungskraft, mit der der Maler zu einer bestimmten Stirn eine
bestimmte Nase hinzufügt, beruht auf keinerlei Denkgesetz; der Zwang,
einen Akkord so und nicht anders aufzulösen, bleibt innerhalb der
Sinnenfälligkeit. Allerdings aber läßt sich hier auch das Gegenteil her-
stellen, während wir die zwei Geraden nimmermehr zu zwei Schnitt-
punkten bringen. Demnach wäre zu sagen: Die verpflichtende Kraft
jener Linienführung oder Akkordauflösung erhält ihre Würde durch
sich selbst und nicht dadurch, daß sie als überall befolgt nachzuweisen
wäre. Sofern wir von Unbedingtheit reden, meinen wir den berech-
tigten Anspruch auf allgemeine Geltung.
Das Beiwort »anschaulich« hat seine Bedenken, weil es auf die
Wortkunst nicht eigentlich angewendet werden kann. Es bezeichnet
aber den gemeinten Gegensatz zur logisch -begrifflichen Ordnung so
schlagend, daß es durchschlüpfen mag. Das nun zu erörternde Merk-
mal des künstlerischen Verhaltens, nämlich seine synthetische Kraft,
dürfte auch strenger Beurteilung standhalten. Natüriiches wie ge-
schichtliches Leben sind grenzenlos und ungegliedert, sie zwingen des
Fadens ewige Länge gleichgültig drehend auf die Spindel: erst die
Kunst faßt die Erfahrungstatsachen zu konkreten Gruppen zusammen
und verieiht ihnen dadurch den Einklang, der uns entzückt.
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart
(Faust, Vorsp. auf d. Theater.)
Dieser Sachverhalt schließt in sich ein, daß der künstlerisch wirk-
same Gegenstand durch sich allein wirkt Das eriebte und das wissen-
438 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
schaftlich umgeformte Qbjekt bedürfen der Beziehung zu anderen Dingen,
das Kunstwerk hingegen steht auf sich selbst allein. Wenn zum Ge-
nuß eines Tonstückes oder Dramas oder Gemäldes etwas nötig ist,
was außerhalb ihrer liegt, so handelt es sich um eine Komplikation.
Dagegen bedeutet die Vereinigung zum Ganzen keinesw^s die Ableh-
nung jeder Zergliederung. Sie geht vielmehr oft genug durch diese
hindurch. Denn gerade aus der Zerlegung kann die sichtbarste Ver-
bindung erwachsen.
Die Irrlehre ist weit verbreitet, daß Wissenschaft und Kunst,
schwesterlich Hand in Hand, nach demselben Ziele wandern: dorthin,
wo die ewigen Gesetze und letzten Gründe ruhen. Das tatsäch-
liche Verhältnis ließe sich in einer ähnlichen Vergleichung etwa so
andeuten: Bisweilen kehren sie sich den Rücken und streben verschie-
denen Zielen zu, bisweilen jedoch umarmen sie sich so fest und innig,
daß es aufmerksamen Hinblickens bedarf, um zu erkennen, welcher
der beiden Schwestern diese Hand oder jener Fuß zukommen. Zu
dem Gegensatz zwischen Wissenschaft und Kunst — den der Leser
an dem Unterschied zwischen anatomischer Beschreibung und kfinst-
lerischer Darstellung des Nackten sich schnell in Erinnerung rufen
kann — gehört als Ergänzung der unwillküriiche und schier unlösbare
Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst.
Ein solcher Zusammenhang besteht in der Geschichtschreibung.
Die historische Überiieferung ist nicht auf die unanfechtbaren, die
wissenschaftlich stichhaltigen und die der bloßen Kunde dienenden Zeug-
nisse beschränkt, sondern schließt Heldensage und epische Dichtung
ein, da beide an große Ereignisse anknüpfen und einen geschichtlichen
Kern haben. Am schönsten zeigen die Wandersagen den Einfluß des
poetischen Ersinnens auf die volkstümliche Geschichtsauffassung, und
die germanischen Epen das unbewußte Eingreifen der Phantasie in
der Verschmelzung mythischer mit geschichtlichen Personen. Daß
manche moderne Historiker alle geschichtlichen Bewegungen an große
Männer gebunden sehen, ist nicht nur ein künstlerischer Zug, sondern
auch ein Überbleibsel aus den Tagen der Heldensage; gerade bei ihnen
findet sich öfters die idealisierende Auffassung dessen, der »seiner
Väter gern gedenkt <. Doch wohlgemerkt: das Verhältnis des Oe-
schichtschreibers zu seinen Helden gleicht in einem Hauptpunkt dem
des Dichters zu seinen Modellen. Die Menschen von Athen und
Florenz strecken uns keine warme Hand entgegen — Schatten sind
sie, durch unser eigenes Blut belebt; die Lebendigkeit, die sie haben,
ist dramatische und nicht natüriiche Lebendigkeit. — Recht eigentlich
in der Mitte zwischen geschichtlichem Bericht und dichterischer Offen-
barung stehen dem Inhalte nach Autobiographien, wie die Confessüh
DIK r;KSELI^ HAFTLICHK HTNKTION. 439
nes, Vita nuova. Wahrheit und Dichtung. Ein chronikartiger Bericht
aller möglichen Eriebnisse würde weder wissenschaftlichen noch
künstlerischen Wert besitzen; jener liegt in der Wahrhaftigkeit, die auch
vor Angabe unpoetischer Lebensstörungen nicht zurückschreckt, sowie
im Nachweis wesentlicher Beziehungen zwischen dem Ich und den
physisch-geistigen Umständen, dieser beruht auf Auswahl und Anord-
nung der Schicksale und auf ihrer Umformung zu Bildern, die schließ-
lich aus der subjektivsten Einseitigkeit zur Totalität sich erweitem
können.
Auf eine andere Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst sei
bloK hingedeutet. Ich meine die vollbewußte Umwandlung wissen-
schaftlicher Erkenntnisse in künstlerische Darbietungen; die Illustratio-
nen zu gelehrten Werken, die Schaustücke der sogenannten wissen-
schaftlichen Theater, die Memorialverse der lateinischen Grammatik
können ebensogut hierher gerechnet werden wie die wissenschaft-
lichen Romane eines Jules Veme oder die Fabeln Aesops. Trotzdem
bleibt die Kunst als eine selbständige und selbstwertige geistige Funk-
tion neben der Wissenschaft bestehen. In Robert Schumanns Kinder-
szenen findet sich ein Stückchen mit der Überschrift: Der Dichter spricht.
Wahrlich, so spricht er: Anfang und Ende schließen sich zusammen;
Scibstvcrsenkung tönt aus der fallenden Melodie; Aufschwung folgt
trotz disharmonischen Widerständen; beruhigt in der reinen Anschau-
ung kehren wir in uns selber zurück.
2. Die gesellschaftliche Funktion.
Die Selbständigkeit der Kunst scheint freilich in Frage gestellt, so-
bald man die Aufmerksamkeit auf ihre Verrichtung innerhalb der Oe-
sellschaft sammelt. Wir bezeichneten früher die Kunstausübung der
Kinder als eine besondere Lebens- und Lustform des jugendlichen
Cicistes, wir sahen, daß die primitive Kunst schier untrennbar mit Be-
sitz und Nutzen, Anlockung und Abschreckung, Schutzbedürfnis und
Anschlußhedürfnis, Mitteilung und Belehrung, Aberglauben und Krieg
verschmolzen ist. Wo also liegt bei diesen Frühformen der Kunst
die (irenzlinie zu den übrigen sozialen Vorgängen? Die Antwort
scheint gegeben: In den ästhetischen Bestandteilen. Umso sicherer
kann diese Antwort erfolgen, als festgestellt wurde, daß ästhetische
Freude an sinnlichen Reizen sowie an den Formen der Symmetrie und
des Rhythmus zu den ursprünglichen Hausgesetzen der Kunst gehört.
Dennoch darf zweierlei nicht außer Acht gelassen werden. Einmal
der oft erörterte Unterschied des Kunstwerkes und eines bloß ästhe-
440 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
tischen Gebildes. Alsdann der Umstand, daß nicht jede Beimengung
ästhetischer Momente zu anderen Erzeugnissen diese Erzeugnisse in
Kunstwerke umwandelt. Allerdings sind die trennenden Merkmale va*-
schiebbar nach der Gunst der Zeiten und der Individuen (s. S. 112).
So wird man zweifeln können, ob die Tracht, in deren Gestaltung und
Veränderung immerfort ästhetische Motive eindringen, gelegentlich als
Kunstwerk zu bezeichnen oder ausnahmslos als ein ästhetisch beein-
flußtes Gebilde anderer Art zu bewerten sei; naturlich spreche ich
nicht von der tyrannischen Einförmigkeit der Mode, sondem von Ge-
wändern, die der eriesene Geschmack eines ganz persönlichen Emp-
findens hergestellt hat. Denn hierbei wie bei aller AusschmQckung
strebt der einzelne nach Wirkung auf die übrigen und kehrt zu einer
der ältesten Kunstabsichten zurück. Trotzdem geht William Morris^
zu weit, wenn er jede Leistung und jedes Erzeugnis, denen eine ästhe-
tische Wendung veriiehen wird, zur Kunst schlägt. Kunst meint nicht
eine beliebige Verkoppelung des Brauchbaren oder Lehrhaften mit dem
Ästhetischen, sondern jene feste und eigentumliche Verschmelzung^
deren Formen im geschichtlichen Werden herausgebildet worden sind.
Wie gegen die übermäßige Ausdehnung des Begriffes Kunst, so
walten gegen die Umsetzung dieser Begriffserweiterung in die Praxis
erhebliche Bedenken. Mit dem jetzt so sturmisch sich äußernden Ver-
langen, die Kunst aus einem Vorrecht weniger zu einem Besitz aller
zu machen, verbindet sich der Wunsch, daß die Kunst auch aus einer
anderen Abgeschiedenheit heraustrete, daß sie nicht in Museen und
Büchersammlungen, in Luxustheatem und Konzertsälen sich abspenre^
sondern überall mit unserem alltäglichen und häuslichen Leben ver-
knüpft werde. Der Grundsatz, Kunst in alles hineinzutragen, hat in
England den Umschwung des dekorativen Stils hervorgerufen: »Unsere
Werkleute müssen Künstler, unsere Künstler Werkleute werden c, sagte
der Sozialist Morris. Da Maschinenarbeit durch den Mangel persön-
lichen Anteils und die Gleichförmigkeit vieler Exemplare minderwertig
wird, so soll auch der einfachste Handwerker Kunst produzieren; ja,
selbst wir künstlerisch Untätigen werden zu eigenen Versuchen auf-
gefordert. Ein deutscher Ästhetiker behauptet sogar, »daß Kunst erst
wirklich Kunst ist, wenn sie als künstlerische Bildung jeden Handgriff
jedes Gelehrten, jedes Baumeisters, jedes Schusters, Bauern und Ar*
beiters leitet und bestimmt«.
Der Versuch, alles, was menschlicher Beeinflussung unterliegt, künst-
lerisch zu gestalten, hat die angewandten Künste gefördert und für
kleinere Talente ein Betätigungsfeld geschaffen. Die Theorie hat dar-
aus gelernt, daß die äußere Größe und konventionelle Bewertung der
Werke nicht ausschließlich entscheidet, daß eine Zierleiste nicht minder
DIK CiKSKLLSCHAITIJCHE FUNKTION. 441
bedeutsam sein kann als ein Kolossalgemälde. Aber diesen Vorteilen
stehen schlimme Nachteile gegenüber. Im wirtschaftlichen Leben hat
die Kunstausdehnung einen verhängnisvollen Dilettantismus großgezo-
gen. Ein weise beschränkter Dilettantismus mag sich nutzlich zeigen;
Goethe meinte, daß er >eine notwendige Folge schon verbreiteter Kunst
sein und auch eine Ursache derselben abgeben, das Kunsttalent ent-
wickeln, das Handwerk heben kann^. Dilettare heißt liebhaben und
bedeutet, dem Gemüt durch eigene Betätigung Freude an der Kunst
zuführen. Sobald jedoch dem Dilettanten das Bewußtsein entschwin-
det, daß seine gut gemeinte Leistung nur bis an die Grenze echter
Kunst reicht, wird ein leidiger Hochmut gezüchtet. Auch neigen die
Amateure dazu, die Kunst als ein Hausmittelchen des Wohlbehagens
zu betrachten und den Berufskünstlem eine wirtschaftliche Konkurrenz
schlimmster Art zu bereiten. Dazu kommt eine Verfälschung der Auf-
fassung. Wenn unter Wert Eigenwert d. h. Unterschiedensein vom
übrigen oder verhältnismäßige Seltenheit zu verstehen ist, so muß die
Durchdringung des ganzen Lebens mit Kunst dieser selben Kunst
ihren Sonderwert rauben. Wir sprachen bereits davon, als wir die
Begriffe der Kallikratie und des Panästhetizismus kennen lernten. Die
Gefahr liegt nahe, daß die Unterscheidung zwischen wichtig und un-
wichtig verioren geht und die Kunst als eine selbständige Funktion
im gesellschaftlichen Leben überflüssig wird. Derjenige, der in einer
Krawatte oder in einem Tapetenmuster genügend Kunst findet, braucht
nicht mehr ins Museum zu pilgern. In Wahrheit gilt von Kunst wie
von Wissenschaft und Religion, daß sie eine Kraft ist, die im Gemein-
schaftsverbande nicht unbeschränkt herrschen, sondern ein Gleichge-
wicht mit den anderen Kräften erreichen soll. Die gesellschaftlichen
Verrichtungen sind heutzutage so selbständig, daß ein Aufgehen in-
einander dem Verzicht auf alle Kultur gleichkäme. Es wäre femer ein
Mißverständnis, wollte man dem Künstler eine der Allgegenwart der
Kunst entsprechende göttliche Vollständigkeit beilegen. Der Künstler
gehört seinem Berufe mit der gleichen Einseitigkeit an, mit der wir
alle an unseren Beruf gebunden sind.
Nun versucht in der Gegenwart die Kunst nicht nur, sich aller
Objekte, sondern auch aller Subjekte zu bemächtigen. Das heißt, man
strebt danach, alle Volksklassen und Lebensalter mit denselben Seg-
nungen der Kunst zu beglücken. Hierzu muß Stellung genommen
werden. Und zwar wäre, um dem Problem auf den Grund zu gehen,
etwa folgendes zu fragen: Verbindet oder trennt Kunst die Menschen?
(jjeicht sie Gegensätze aus oder verschärft sie diese? Ist sie demo-
kratisch oder aristokratisch? Bedeutet sie eine Notwendigkeit oder
einen Luxus? Soll sie die gleiche sein für alle oder darf es für die
442 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
Masse wie für die aufwachsende Jugend eine besondere Art von Kunst
geben? Ich will nicht mit pedantischer Genauigkeit diese Fragen eine
nach der anderen abhandeln, aber doch die wichtigsten Punkte heraus-
zuheben mich bemühen.
Darwinistisch gesonnene Theoretiker haben behauptet, daß künst-
lerisches Genießen und Schaffen, aus überschüssiger Lebenskraft ent-
sprungen, die Gattung erhalten helfe. Kunstgenuß versetze in einen
harmonischen Gemütszustand, der für die Dauerhaftigkeit des einzel-
nen und der Gemeinschaft äußerst nützlich sei. Kunstschaffen stehe
nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wirkung auf die Menschen,
sondern sei geradezu eine Form der Mitteilung und hierdurch eine
Form menschlicher Gemeinsamkeit. Die Austauschfähigkeit seelischer
Vorgänge erhöhe sich im Kunstwerk zum köstlichsten Einverständnis,
das einer Berührung zwischen den Individuen nicht bedarf. In dieser
Auffassung erscheint als Herzpunkt sowohl der Kunst wie des so-
zialen Lebens die Mitteilung. Die Kunst, so sagte uns Heinrich von
Stein gern in seinen Vorlesungen über Richard Wagner (s. S. 45), gibt
einen Begriff davon, was Menschen sich sein können. Indem der
Genießende mit dem sich offenbarenden Künstler fühlt, schließt er sich
mit ihm und vielen anderen, die ihm sonst fremd bleiben, zu einer
höheren Einheit zusammen. Die so erzeugte einheitliche Stimmung
kann praktischen Wert erhalten. So meinte es Gneisenau, als er sei-
nem Könige zurief: auf Poesie ist die Sicherheit der Throne g^jündet;
ähnlich dachte Treitschke, als er aussprach, daß Goethe keinen ge-
ringeren Anteil an der Gründung des neuen deutschen Reiches habe
als Bismarck. Bei allen freudigen und traurigen Anlässen, die eine
Mehrheit bewegen, schlingt sich Musik wie ein Band um die Versam-
melten — namentlich auch religiöse und vateriändische Begeisterung
entzündet sich an der Musik. Bildende Kunst dient oft dazu, durch
Erinnerung an nationale Ehrentage die Volksgesinnung zu stärken oder
durch Erinnerung an Unglück und Demütigung die Angehörigen des-
selben Stammes zu sozialisieren. Menzels beste Bilder gleichen einem
Fahnensaal; wer eins dieser Blätter zerstört, zerreißt eine preußische
Fahne.
Dieser Anschauung entspricht gewöhnlich eine sehr hohe Vorstel-
lung vom Werte des Massenurteils. Während die Gegner in den Viel-
zuvielen eine Herde sehen, die mit der Peitsche in der Hand r^ert
werden muß, bewundern die Anhänger des demokratischen Grund-
satzes die Aufhöhung mittelmäßiger Intelligenzen zu einer erstaunlichen
Feinfühligkeit ^). Sie erachten die Kunst, die nur wenigen zu gute kommt,
für einen bloßen Ausfluß der Spielseligkeit und neigen dazu, echte
Kunst mit Volkskunst gleichzusetzen. In England und Amerika, wo
DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION. 443
alle höheren geistigen Tätigkeiten dem öffentlichen Leben entschiedener
untergeordnet werden als bei uns, sind zuerst die Kunstkritiker zu
Gesellschaftskritikern geworden und haben den Kapitalismus als die
Quelle alles Übels bekämpft. Doch ist es der Russe Leo Tolstoj, der
mit den schärfsten Worten die Unterordnung der Kunst unter die An-
sprüche der Masse vertritt Ich kann es mir nicht versagen, einige
Stellen aus seiner Schrift Ȇber die Bedeutung der Wissenschaft und
Kunst« herzusetzen, die ihre Widerlegung in sich selbst tragen und
eine ausführliche Zurückweisung unnötig machen. Tolstoj lehrt: »Die
Wissenschaften und Künste werden erst dann dem Volke dienstbar
sein, wenn ihre Jünger mitten unter dem Volke und so wie das Volk
leben und ihm, ohne irgend welche besonderen Rechte geltend zu
machen, ihre wissenschaftlichen und künstlerischen Dienstleistungen
darbieten werden, die anzunehmen oder nicht anzunehmen vom Willen
des Volkes abhängen wird Das Produzieren von gelehrten Werken
und Romanen kann so lange nicht als Wissenschaft und Kunst betrachtet
werden, als nicht diejenigen Menschen, in deren Interesse wir vorgeb-
lich alle diese Dinge betreiben, sie mit Freuden entgegennehmen
Man sage einem unserer Musikkünstler, daß er auf der Harmonika
spielen und die Bauernweiber Lieder lehren solle; man sage einem
Dichter, daß er seine Poeme und Romane beiseite werfen und statt
dessen Lieder, Geschichten und Sagen dichten solle, die dem ungebil-
deten Volke verständlich sind — sie werden einfach denjenigen, der
ihnen solche Dinge zumutet, für verrückt erklären.« Mindestens müßte
alles, was wir jetzt im eigentlichen Sinne Kunst nennen, als eine Ver-
geudung von Menschenarbeit erscheinen, und jeder kann sich aus-
malen, was bei der Anwendung dieser Grundsätze von der Kunst
noch übrigbleiben würde. Man hat so oft behauptet, die Kunst ent-
arte, sobald sie sich vom Volke abschließt; aber mir scheint: wenn
sie sich dem Volke opfert, so geht sie völlig zu Grunde.
In Wahrheit fühlen sich die wenigsten Künstler als Diener oder
Verkünder des Volkswillens. Es sind nicht die schlechtesten, die ein-
fach so schaffen, wie es ihnen gefällt, ohne dabei an den Nachbar zu
denken, die, unberührt von den Wünschen der Masse, ganz den zeit-
losen Anforderungen ihrer Kunst hingegeben, eigene Wege wandeln;
gerade in den Blütezeiten haben die Künstler Korporationen gebildet,
die nur ihren eigenen Gesetzen Untertan waren und mit Bewußtsein
ein Sonderieben führten ^). Der viel gescholtene Hochmut der Künstler
beruht zum Teil darauf, daß sie sich um soziale Ethik nicht im ge-
ringsten kümmern. Ihre eriesensten Gaben kommen aus der Einsam-
keit und gehen in die Einsamkeit. Denn auch die Freude an der
Hochkunst ist eine heimliche; niemand kann sie mit dem Genießenden
444 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
teilen. Bei niederen Erregungen mag es die Lust erhöhen, an beiden
Seiten Ellbogen zu fühlen. Aber in den Weihestunden tiefster Er-
griffenheit muß der einzelne mit sich allein sein — das erste Wort,
das ein anderer sagt, wirkt wie ein falscher Ton. (Vgl. S. 110 und
S. 332 ff.) Wenn man von der weißen Magie einer allgemein-mensch-
lichen Kunst schwärmt, so bezieht man sich entweder auf Werke
minderen Wertes, namentlich auf bloß belehrende und bekehrende,
oder man vereinheitlicht Eindrücke, die in Wahrheit unendlich ab-
gestuft sind und vom dumpfen Verständnis einiger Äußerlichkeiten
hinaufreichen bis zum vollkommenen Erfassen des Gebotenen. Gewiß
kann die Lust am Gegenstand, ja gelegentlich selbst der Sinn für
die nicht-ästhetischen Bestandteile bei der Masse ebenso lebhaft sein
wie bei den wenigen Kennern; damit jedoch der gesamte geistige
Reichtum eines Meisterwerkes anspreche und die Fülle seiner Reize
wirksam werde, ist ein geschultes und bewegliches Vermögen nötig
(s. S. 90). Der Maler Trübner hat einmal festzustellen versucht, warum
die mittelmäßigsten Bilder gerade das größte Publikum haben, und ist
schließlich zu der Erklärung gekommen, daß dieses alle die Werke
schätzt, in denen es das ihm geläufige akademische Können zur Dar-
stellung eines ihm interessanten Gegenstandes aufgewendet sieht Die
Gebrüder Goncourt stellten sogar den Satz auf: Schön ist dasjenige,
wovor das Publikum eine unwillkürliche Abneigung hat In den Frei-
maurerbund vollkommener artistischer Seelen werden gar wenige ein-
gelassen. Wir übrigen helfen uns, indem wir Feinheit und Tiefe w^-
modifizieren. Aber wir wissen wenigstens: es gibt eine Höhenleistung^
die aus dem Rohstoff der für das allgemeine Urteil hinlänglichen
Kunst noch eine Quintessenz zu ziehen weiß. Zum Genießen solcher
Leistungen gehört eine Willigkeit etwa wie die, vor einer asymmetri-
schen Blumenform Korins in Verzückung zu geraten; dazu gehört die
Fähigkeit, aus zartester Verfeinerung, aus schmälster Linienführung,
aus gedämpftester Feieriichkeit das volle Leben herauszufühlen; dazu
gehört die Kraft, sich von aller irdischen Roheit und Härte loszulösen.
Die Rechtfertigung der Hochkunst liegt in dem, was sie zwei oder
drei Menschen gewährt Ihr Reich ist nicht von dieser Welt
Für die Massenernährung bleibt das gesund Vernünftige und wohl
Geordnete die beste Kost Denn die sich selbst als gleichartig emp-
findende Menge braucht zu allen ihren Verrichtungen diese Leitseile:
eine gute Lehre und einen klaren Rhythmus. Es ist auch nichts da-
gegen einzuwenden. Der alte Sulzer scheint mir im Recht, wenn er
von der Malerei »Unterstützung der Andacht in Tempeln, Erweckung
patriotischer Gesinnung in öffentlichen Gebäuden und Nahrung für
die Privattugend in Zimmern« verlangt. Nur würde ich das nicht
DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION. 445
»den höheren Gebrauch der Malerei« nennen 1^). Wo immer man die
Wunderwerke der Landschaftsmalerei einordnen mag — Wegsteine
auf der breiten Straße der Volkserziehung sind sie nicht, öffentliche
Bauten können von Macht und Vergangenheit einer Nation erzählen,
auch wohl als Zweckmäßigkeitsbildungen jedermann verständlich wer-
den, aber die in ihnen enthaltene Auseinandersetzung des Formwillens
mit der Schwere erschließt sich in allen Abstufungen nur der beson-
deren Empfänglichkeit. Scheitert demnach die Ausbreitung edelster
Kunst, mindestens vieler ihrer Inhalte an der Unzulänglichkeit der Auf-
nehmenden, so erliegt sie anderseits auch einer praktischen Unmög-
lichkeit. Woher soll man so viele ausgezeichnete Schauspieler und
Musiker nehmen, um der Menge eine wirklich erschöpfende Aus-
führung von Dramen und Tonwerken zu bieten? Riesenräume wären
ferner nötig, und sie verschlingen Wort wie Klang. Ein Blatt, das
die Mona Lisa darstellt und für ein paar Pfennige verkauft wird, läßt
von den Reizen des Gemäldes kaum etwas ahnen. Nur die Wort-
kunst ist, ihrem eigentümlichen Mittel gemäß, den Verlusten durch
billige Vervielfältigung nicht ausgesetzt. Im allgemeinen indessen bleibt
auf dem Boden der Kunst wie überall das Oute auch teuer, daher
den Armen nicht zugänglich. Wir möchten verzweifeln, wenn wir er-
wägen, daß reiche Liebhaber für ein Bildchen so viel Geld hingeben
wie der Unterhalt einer Familie erfordert, daß Staat und Gesellschaft
reproduzierenden Künstlern für ein paar Stunden dasselbe zahlen was
sie- der Jahresarbeit eines niederen Beamten mit Not und Mühe zu-
billigen, daß mit den Millionen, die für Kunstzwecke geopfert werden,
so viele armselige Menschenkinder vor Verzweiflung, Schande, Selbst-
mord gerettet werden könnten. Aber wir müssen uns vor Augen
halten: Kunst und abstrakte Wissenschaft würden überhaupt nicht da-
sein, wenn man mit ihrer Pflege bis zu jenen fernen Zeiten warten
wollte, wo alles Elend verschwunden ist.
Nunmehr versuchen wir eine Übersicht über die Maßnahmen zu
gewinnen, die gegenwärtig zur Popularisierung der Kunst ergriffen
werden. Wenige Worte über jeden Hauptpunkt dürften ausreichen.
Voran stehen die Bemühungen um Massenverbreitung guter Literatur.
Wenn es gelingt, die ausgezeichnet arbeitenden Einrichtungen des
Reise- und Kolportagebuchhandels aus dem Dienstverhältnis zur Schand-
lektüre zu befreien, so wird das offenkundig Schlechte und Gefähr-
liche bekämpft werden können. Dieser Erfolg wäre unendlich viel
wert. Aber er würde nicht bedeuten, daß die höchste Poesie zum
Gemeingut wird. Alle Volksbüchereien und Schriftenverbreitungs-
vereine müssen innerhalb eines mäßigen Wertumfanges bleiben. —
Auf dem Gebiet der bildenden Kunst scheinen mir die Versuche mit
446 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
farbigen Künstler-Steinzeichnungen am aussichtsreichsten. Denn hier-
bei handelt es sich nicht um minderwertige Nachahmungen, sondern
um künstlerische Urbilder, die von dem Künstler in dieser Technik
entworfen und bis auf den Abschluß des Druckes überwacht werden.
Wieviel Abzüge angefertigt werden, spielt keine Rolle: das Werk bldbt
stets dasselbe und zwar genau so, wie es der Maler gewollt hat
Immerhin ist der Preis dieser Steindruckgemälde zu hoch , als daß er
von den Armen und Ärmsten gezahlt werden könnte. Der Umstand
jedoch, daß auf solche Art nur lebende Künstler zu Worte konunen,
stellt, obwohl er bekrittelt worden ist, eher einen Vorzug als einen
Nachteil dar. Vollste Wirkung üben nämlich Kunstwerke auf die Zeit
aus, in der sie entstanden sind, oder doch auf die nächstfolgenden
Geschlechter. Liegen Jahrhunderte dazwischen, so ist vieles fremd
geworden, von einem Dunstkreis umgeben, in dem die Gegenwan
nicht frei atmet; ältere Werke bedürfen eines zeitraubenden Studiums
und einer mühsamen Erklärung, enthüllen daher nicht so unmittelbar
ihre künstlerischen Eigenschaften. Nur einem so fügsamen Volke we
dem deutschen darf man zumuten, Phidias oder Raffael sich näher zu
glauben als die heimatlichen Künstler der letzten Jahrzehnte.
Eben hierin wurzelt ein Bedenken, das gegen die Überschätzung
der jedermann frei zugänglichen Museen zu erheben ist Hennann
Orimm behauptete von den Berliner Galerien, sie seien nicht einmal
geeignet. Studierende in die Welt der bildenden Kunst einzuführea
Beobachtet man gar die Masse der Besucher, die sich rat- und zidkis
durch die Säle schiebt und in den Bildern Hieroglyphen anstaunt, so
wird der Abstand des Vorhandenen und des Aufgefaßten noch deut-
licher. Zwei Auswege sind gewählt worden. Entweder hat man
Gruppen von Besuchern durch einen Fachmann führen lassen oder
man hat kleine, einen Lehrgang darstellende Sammlungen b^[riindeL
Für diese Sammlungen müßte der leitende Gesichtspunkt darin b^
stehen, daß nichts künstlerisch Wertloses dargeboten wird, obgleidi
nicht alles Wertvolle gezeigt werden kann und soll. Ober die Erfolp
beider Versuchsklassen kann ich mir kein Urteil erlauben ; doch möchte
ich der zweiten den Vorzug geben. Jedenfalls hat sie sich auch auf
anderen Gebieten bewährt. Beim Theater sicherlich besser als das
Verfahren der sogenannten Conf&ence. Trotzdem können selbst die
besten Volkstheater bei planmäßig eingerichteten Folgen nicht jedm
ausgezeichneten Drama eine Stätte bereiten, da sie auf Werte an-
gewiesen sind, die kraft ihres sozialen oder religiösen Gehaltes da
Neigungen der Hörer entgegenkommen. Gar nun die übrigen Theater
sind und bleiben geschäftliche Unternehmungen; sie mögen aristo-
kratisch gedacht sein, müssen aber demokratisch betrieben
DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION. 447
Die Klagen darüber sind so alt wie die Bühne selbst. Recht hübsch
hat jemand, der zum Bau gehört, die Nutzlosigkeit des Jammems in
dem Witzwort aufgedeckt: seit das Theater besteht, verfällt es. Die
Geschichte des griechischen Volksschauspiels ^^) lehrt, daß Vari6t6-
künste und naturalistisches Drama sich nebeneinander entwickelt haben.
Freude an bunten Schilderungen des zeitgenössischen Lebens, an
Clownspäßen und Couplets, an willkürlichem Wechsel zwischen Nied-
rigem und Hohem ist als die Hauptanziehung dieser für Bauern und
Proletarier bestimmten Bühnenkunst erwiesen. Zur Zeit des römischen
Kaiserreichs herrschte der »Mimus«; das heroische Drama mit seinen
drei handelnden Personen war völlig verdrängt. Im Mittelalter zwang
das Volk den Misterien possenhafte Zwischenspiele auf und blieb
seiner Liebe zu den Gauklern treu. Harlekin und Pulcinell, die Haupt-
figuren des realistisch-komischen Puppenspiels, haben einen Siegeslauf
durch die europäische Welt zurückgelegt; auch die türkischen Schatten-
spiele besitzen in einem tölpelhaften, aber durch dreisten Mutterwitz
siegreichen Kasperte ihren Mittelpunkt. Seit drei Jahrtausenden lebt
der Hanswurst, und zwar in ungezählten Formen, die vom Lustig-
macher des Zirkus hinaufreichen bis zur komischen Figur bei Moliöre
und Shakespeare. Immer hat das Volk von der Bühne vertangt, daß
sie ihm derbe Spaße und grobkörnige Sittenschilderungen vorsetze.
Und was erwartet heutzutage das gebildete Publikum vom Theater?
Es sieht in ihm einen Versammlungsort erhöhter Geselligkeit. Wozu
bedienen sich Fürsten ihrer Hoftheater? Zu Repräsentationszwecken.
Der Trieb nach Zerstreuung und Schaugepränge ist so mächtig
in der Menschennatur, daß die soziale Funktion der Kunst in den
meisten Fällen ihm sich unterordnen muß. Wenn Schiller die Schau-
bühne als moralische Anstalt betrachtet und wenn Humboldt die Frei-
zügigkeit aller künstlerischen Äußerungen mit der unendlichen Güte
und Selbstheilungskraft menschlichen Wesens begründet, so unter-
schätzen sie die uns allen anhaftende Flachheit Und weil diese Flach-
heit so gern in Gemeinheit hinabsinkt, deshalb ist das Zensoramt des
Staates, von Humboldt zu Unrecht verworfen, nach wie vor unent-
behriich. Fast möchte man ihm einen weiteren Wirkungskreis wün-
schen, sofern man zugibt, daß die auf sich gestellte Gesellschaft tat-
sächlich die schlechteste und konventionellste Kunst am zärtlichsten
hätschelt. Von jenem gesegneten Zustand, wo die eifrigste Nachfrage
auf das Wertvollste sich richtete, sind wir außerordentlich weit ent-
fernt, der Kräfteaustausch künstlerischen Schaffens und Genießens
steht in keinem rechten Gleichgewicht. Besonderes Unheil stiften die
Zwischenhändler, die lediglich ein Geschäft mit der Kunstvermittelung
machen wollen und den größten Gewinn aus Mittelmäßigkeit einer-
448 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
seits, aus Spezialität anderseits ziehen; um die Kauflust des Publikums
zu stacheln, lassen sie in gemessenen Abständen Neues zur Mode
werden, eben das, was im Augenblick ihnen am meisten abwirft,
nicht das, was vor der Ewigkeit bestehen kann. Dieser ganze Betrieb
fällt unter den Gesichtspunkt des Warenaustausches und hat mit wirk-
licher Kunstpflege nur dadurch einen Berührungspunkt, daß er ihr ver-
steckter und unehrlicher Gegner ist. Dem Künstler aber, der die
Protektion geriebener Handelsleute verschmäht, bleiben nur drei Mög-
lichkeiten wirtschaftlicher Existenz. Er kann entweder auf irgend
welche Art zur materiellen Sicherheit gelangen und nun in der Unab-
hängigkeit der Besitzenden schaffen. Oder er fügt sich den An-
sprüchen eines Mäcens, etwa eines Fürsten. Oder er stellt sich außer-
halb der Gesellschaft und verzichtet lieber auf alle Wohltaten des
geregelten Lebens, als daß er auch nur ein Teilchen von dem preis-
gäbe, was er seine Freiheit nennt. Die BohSme kann sehr wohl ein
Durchgangspunkt sein; junges Blut mischt sich gern unter die Zi-
geuner der Kunst und mag für kurze Zeit den Reiz des Vagabunden-
lebens genießen; das Alter braucht »ein Obdach gegen Sturm und
Regen der Winterzeit«. Dauernde Loslösung rächt sich stets dadurch,
daß der Mensch unfähig zur Leistung wird.
Bisher war die gesetzlich geordnete Hilfe des Staates nur flüchtig
erwähnt. Auch jetzt sei kurz an bekannte Dinge erinnert Der Staat
beschränkt sich nicht darauf, geschichtlich bedeutsame und schöne
Kunstwerke zu sammeln, die Denkmäler der Vorzeit (auch literarische
und musikalische) durch die Tätigkeit von Beamten und Kommissionen
zu erhalten, sondern er gründet Lehranstalten zur Ausbildung von
Künstlern, fördert diese durch Preise, Reisestipendien, Ehrengehälter
und tritt selbst als Kunstunternehmer und Kunstbeurteiler auf. Ober
diese ganze Tätigkeit des Staates zu spotten, ist ebenso wohlfeil wie
abgeschmackt. Gewiß können in Anstalten die Genies nicht ge-
züchtet und die etwa vorhandenen durch Aufträge oder Ausschrei-
bungen auf die »rechte Bahn« gelenkt werden. Aber ihrer Bestimmung
nach lehren Kunstakademien und Musikhochschulen etwas Lehrbares,
nämlich die technische Bildung nebst den angrenzenden Fächern all-
gemeiner Bildung; sie sind gleich allen Schulen für den Durchschnitt
bestimmt. Desgleichen gelten die übrigen Maßnahmen der Verwaltung
dem Mehrheitsbetrieb auf dem Kunstmarkt. Hierbei muß freilich ihr
erstes Anliegen sein, einer übermäßigen Erzeugung und Schätzung
von Kunst entgegenzuarbeiten. Die Kunst ist eine Kraft, deren Ge-
brauch nicht durch sie selbst oder ihre Jünger geregelt, vielmehr in
das Energienspiel des staatlichen Organismus eingefügt werden soll
Wenn Heißsporne fordern, daß die Kunst zum Ganzen des Lebens
DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION. 449
werde, so ist daran richtig, daß sie eine Anlage zur Totalität besitzt.
Aber Religion und Wissenschaft erheben denselben Anspruch. Zu
Unrecht, denn wir leben nicht im luftleeren Raum. Der fromme Christ
will kein anderes Gesetz anerkennen als das des Evangeliums, sollte
es ihm auch den Schwur und den Dienst unter den Waffen verbieten,
der Gelehrte möchte alles Tun und Treiben unter die Norm bedingungs-
loser Wahrheit stellen. Schon dies Nebeneinander zeigt, wie unhaltbar
das Verlangen ist, aus dem Teil das Ganze machen zu wollen: würde
die Kunst zum ausschließlichen Maßstab im sozialen Dasein, so
müßten Glaube und Wissenschaft dagegen sich wehren, von den
Männern des wirklichen Lebens ganz zu schweigen. Die Enthu-
siasten, die mit künstlerischer Kultur die Welt aus den Angeln heben
möchten, sollten sich Goethes Wort zu Herzen nehmen: »Alles oder
nichts ist von jeher die Devise des aufgeregten Demos.« Ruskins
aussichtsloser Versuch, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegen-
wart durch Kunstausdehnung über den Haufen zu werfen, war toll-
kühne Rückschrittlichkeit. Schließlich ist noch eine Tatsache wohl zu
beachten. Jedesmal wenn Kunst die Alleinherrschaft errungen hat,
ist sie selbst schwächlich und gefallsüchtig geworden. Demokrati-
sierung höchster Ideale bleibt so unmöglich wie Popularisierung der
Vornehmheit. Als in der Verfallzeit des Altertums die Kunst alle
Interessen verschlang, litt nicht nur Kraft und Vielseitigkeit des Lebens,
sondern auch die Kunst büßte den großen Stil ein ^2). Kurzum: Ein-
schränkung kommt dem Ganzen, aber auch dem scheinbar beengten
Teil zu gute. —
Das Verhältnis der Kunst zur Jugenderziehung ist ein drei-
faches: man kann durch die Kunst erziehen, oder zur Kunst, oder
beides zugleich. Dieser letzte Fall, dem wir uns schon bei der Be-
sprechung der Lehranstalten für bildende Kunst und Musik näherten,
bedarf keiner Untersuchung; daß z. B. ernste Beschäftigung mit der
Musik das dafür empfängliche Kind hauptsächlich wieder zur Musik
führt, ist ohne weiteres klar. Bei der Erziehung zur Kunst handelt
es sich um die Frage, inwieweit der Unterricht zur Erweckung des
ästhetischen Sinnes und des Kunstgefühls beitragen kann, und zwar
zunächst auf mittelbare Weise. Offenbar vermag die Ausbildung der
Beobachtungsgabe reichen Ertrag zu liefern, wenn die scharf erfaßte
Wirklichkeit mit den Darstellungen der Bildkunst verglichen wird;
dem Verständnis von Bild- und Literaturwerken dienen femer alle
Kulturelemente, die im Religionsunterricht sowie in den sprachlichen
und geschichtlichen Fächern enthalten sind. Aber der Lehrer soll
auch unmittelbar auf die große Tatsache des künstlerischen Lebens
verweisen. Schon deshalb, um einen Begriff von Schöpferkraft und
Dessoir, Ästhetik und a\\g. Kunstwissenschaft. 29
450 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
Selbstherrlichkeit des Menschen zu geben. Freilich, wie selten wissen
Lehrer davon! Und um wieviel seltener gönnen sie dem Schiller einen
Aufschwung in dieses Reich! Nicht ohne schmerzhaften Druck ge-
denke ich der eigenen Schuljahre, der ungezählten sinnlos vergeudeten
Stunden, der Erziehung zur Routine und zur Heuchelei, zum papa-
geienhaften Nachsprechen, zur unehrlichen Handhabung von Phrasen,
zum gewissenlosen Scheinwesen. Stolz, Ehrliebe, Streben nach Selb-
ständigkeit und Schaffensdrang, jeder Versuch, gerade emporzuwachsen,
zur vornehmen und freien Gesinnung eines Gentleman sich heranzu-
bilden, wurde von der schäbigen, übel riechenden Denkart der kleinen
Despoten unterdrückt. Wir lernten stumm sein oder wurden gemein.
Wo wäre unter solchen Verhältnissen Platz für Herrlichkeit und Frei-
heit der Kunst gewesen?
Gewiß ist es voreilig, zu verallgemeinem und die gegenwärtigen
Zustände mit vergangenen schlechthin gleichzusetzen. Es verbietet
sich schon im Hinblick auf die lebhafte Anteilnahme, die der Erziehung
durch die Kunst seit einigen Jahren von einem großen Teil der Lehrer-
schaft entgegengebracht wird. Am seltensten beschäftigen sich die
Erörterungen mit dem Schultheater, obgleich es auf eine ehrenvolle
Vergangenheit zurückblickt, für die nur an Holland zur Zeit der
Humanisten und Paris zur Zeit der Frau von Maintenon erinnert zu
werden braucht. Könnten wir darauf eingehen, so wäre der Haupt-
punkt wohl die Abschätzung der Vorteile und Nachteile. Die Ver-
führungskraft der Bühne ist ebenso groß wie gefährlich (vgl. S. 80
u. 331). Ob nun das eingeschränkte und beaufsichtigte Theaterspielen
diese Kraft verstärkt oder im Gegenteil den Drang befriedigen, vor Ent-
täuschungen bewahren, Freude wecken und veredelnd wirken kann
— darüber wird sich grundsätzlich nichts ausmachen lassen. — Die
allgemein bildende Kraft des Musikunterrichtes hangt von der Art ab^
wie er betrieben wird. Führt er zum Genuß an Musik, so wäre er
freilich jedem einigermaßen musikalischen Kinde zu wünschen. Dann
müßte er aber etwas anderes werden als technischer Drill. An Stelle
qualvoller Fingerdressur sollte eine planmäßige Ausbildung im Zuhören
und in der Musiktheorie treten und der Erwerb eigener Geschicklichkeit
den besonders Begabten vorbehalten bleiben. Ähnlich ließen sich auch
die Gesangsstunden in den Schulen gestalten. — Im deutschen Unter-
richt pflegt das rein ästhetische Moment hinter den anderen Inhalten
und Zwecken der Dichtkunst, namentlich hinter den belehrenden,
vateriändischen und moralischen, erheblich zurückzutreten. Das ist
kaum zu vermeiden. Aber eben darum sollte man endlich mit zwei
Vorurteilen brechen. Zu Unrecht hält man die Mdsterwerke unserer
großen Dichter für den geeignetsten Lehrstoff. Es ist eine ruchlose
DIE GESELLSCHAFTLICHE FUNKTION. 451
Lüge, daß für Kinder gerade das Beste gut genug sei; vielmehr wird
es an sie verschwendet. Die höchsten Leistungen des Genies bilden
ein Ziel, zu dem wir die Jugend vorbereiten dürfen, aber keinen
Tummelplatz ungelenker Versuche. Hinzu kommt, daß die übliche
Lesung von Gedichten und Dramen das anmaßende Bewußtsein weckt,
nun kenne man sie und brauche sich nicht mehr um sie zu kümmern.
Ein anderes Vorurteil sehe ich in der Abneigung gegen das Aus-
wendiglernen. In Wahrheit bedeutet es das natürliche Verfahren, das
dem Kinde die unmittelbare Verbindung mit dem schaffenden Künstler
beläßt und es vor den trockenen Inhaltsangaben und Erklärungen
schützen kann. Die Schule geht in der Regel nicht sonderlich schonend
mit der Dichtung um, sie verleitet Lehrende wie Lernende zu einer
gedanken- und gefühlsarmen, dabei hochmütigen Behandlung, die doch
auch von der kühlen, aber reifen wissenschaftlichen Untersuchung
fernab bleibt Soll das Kind zum lebendigen Genuß eines künst-
lerischen Ganzen befähigt werden, so muß man ihm Nahrung statt
einer Speisenkarte geben. Das Herbart-Zillersche Verfahren macht aus
unseren Märchen, diesen wahrhaftigen Kulturgütern des deutschen
Volkes, lahme und lederne Anwendungen von moralischen Sätzen als
von ihren sogenannten »Grundbestandteilen«; dies Verfahren bringt
es zuwege, ein Spiel mit dem Wunderbaren in philisterhafte Be-
lehrung, eine grüne, mit Blumen bestandene Wiese in einen staubigen
Weg, einen glänzenden Schatz der Einbildungskraft in wertlose Papier-
fetzen zu verkehren.
Als wir uns über den Werdegang des kindlichen Malens unter-
richteten, da erfuhren wir, daß die unbeeinflußte Bildererzeugung zu-
nächst eine schematische, fast begriffliche Niederschrift gewußter Merk-
male ist. Erst allmählich kommt die Erscheinung zu ihrem Recht,
und zwar so, wie sie in der Vorstellung sich gestaltet hat. Schließ-
lich wird auch die Darstellung des Raums versucht. Über die Ent-
wickelung des Sinnes für dekorative Kunst wissen wir nichts, über
die des Sinnes für Farbenschönheit nur wenig. Nun pflegt der Zeichen-
unterricht erst dann einzusetzen, wann das Kind bereits auf Formen
Rücksicht nimmt. Der Lehrer muß also versuchen, den erreichten
Standpunkt richtig zu verstehen, hier anzuschließen und den Schüler
weiter zu führen ^^). Daß im Veriauf des Unterrichtes gute künst-
lerische Vorbilder, gelegentlich selbst die viel geschmähten Ornamente,
nützlich wirken können, scheint mir durch das einseitige Lobpreisen
des Naturvorbildes nicht wideriegt. Angestrebt wird ja auch hier
nicht die Ausbildung eigener Künstlerschaft, sondern der Fähigkeit,
Kunst zu würdigen und voll aufzufassen. Das Zeichnen bietet außer-
dem alle Vorteile eines graphischen Verfahrens: wer es einigermaßen
452 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
beherrscht, wird sich seiner oft zur Mitteilung und als Hilfe des For-
schens bedienen. Wir haben früher (S. 170 ff.) festgestellt, daß die
Sprache an die Bestimmtheit des Wahrnehmbaren, insbesondere des
Sichtbaren nicht heranreicht; wir erfuhren (auf S. 234), wie lebhaft
das Ausdrucksmittel auf Werden und Wesen der Vorstellungen zu-
rückwirken kann; aus diesen beiden Vordersätzen folgt unmittelbar
ein Schlußsatz, der den Wert des Zeichnens für den Gewinn kon-
kreter Vorstellungen ausspricht. Endlich soll nicht übersehen werden
der Beitrag, den eine geordnete Beschäftigung mit dem Zeichnen zur
Entwickelung des Charakters liefert. Schon indem Sauberkeit als An-
fang einer bescheidenen Schönheit gepflegt wird, geschieht etwas^
was dem Gefühl für Reinlichkeit und Sorgsamkeit überhaupt zu gute
kommt. Der Schüler wird gezwungen, das Tun seiner Hände genau
zu überwachen; durch die fortwährende Vergleichung mit dem Vor-
bild wird er angehalten, Schwierigkeiten nicht zu vertuschen, sondern
ernsthaft zu überwinden; er lernt, in der Unterordnung unter einen
Gegenstand und trotzdem schöpferisch zu arbeiten.
Man mag in der Aufzählung von Einzelheiten noch weiter gehen
— grundsätzlich bleibt man eben immer bei einer Nennung besonderer
Beiträge. Eine allgemeine Erziehung nach den Gesichtspunkten der
Kunst ist ein Unding. Davon fabeln nur die Schwarmgeister, die da
glauben, mit künstlerischer Kultur seien alle sozialen Fragen zu lösen
und alle Mängel der Erziehung zu tilgen. Ihre unklare Begeisterung
ist am schwersten zu ertragen, wenn sie sich an Phrasen berauscht,
die alles Hohe und Edle zu einem Sonderrecht des Deutschtums
stempeln. Anstatt des Überschwangs brauchen wir — und zwar bitter
nötig — mehr Wirklichkeitsgefühl und Zukunftsinstinkt Es wäre ein
Unheil, wenn die Jugend zur ausschließlich künstlerischen Auffassung
erzogen würde, zu jener Auffassung, die Flaubert richtig mit den
Worten bezeichnete: »Si tous les evenements de la vie vous apparaissaä
comme um matiere (Tart, comme des elements destinäs ä entrer dans
quelque oeuvre future, vous etes artiste.<t^
3. Die sittliche Funktion,
Kunst als Verschmelzungsprodukt ästhetischer Gestaltungskräfte
mit Inhalten und Forderungen, die auf anderen Gebieten erwachsen
sind, hat auch zu sittlichen Ansprüchen und Grundsätzen die innigsten
Beziehungen. Unsere Ästhetik verfällt leicht in denselben Fehler, den
einige Nationalökonomen der Ricardo-Schule b^[angen haben: Wie
diese einen Menschen sich ersannen, der ausschließlich von wirt-
DIE SITTLICHE FUNKTION. 453
schaftlichen Erwägungen bewegt wird, der nur möglichst billig ein-
kaufen und möglichst teuer verkaufen will, und wie sie dies künst-
liche Gebilde ganz ernsthaft als den Menschen der Wirklichkeit auf-
faßten, so konstruiert unsere Wissenschaft einen homo aestheticus,
der selbst unter den Anhängern des Schlagwortes Lart pour Vart
nicht zu finden ist. Kunstwerke entstehen aus der Vollkraft eines
Menschen und wenden sich an alle Seelentätigkeiten des Genießen-
den; sie werden mit dem Übermut des Narren entworfen und mit der
Ruhe des Weisen ausgeführt; sie erschüttern das Gefühl und lassen
die Klarheit des Geistes ungetrübt; sie erregen und besänftigen; sie
stehen außerhalb und innerhalb des Lebens.
Aus dieser Gegensätzlichkeit, die durch keine Formel ausgeglichen
werden kann, ergeben sich Schwierigkeiten für Staatsverwaltung und
Erziehung, insofern sie die sittlichen Verhältnisse zu beaufsichtigen
haben. Künstler und Ästhetiker wehren sich zumeist gegen das
Zensorrecht des Beamtentums, weil es einen der Kunst fremden Maß-
stab anlegt. Die teils lächerlichen teils traurigen Mißgriffe der Zen-
soren im einzelnen wären noch zu verwinden, aber die Grundsätze,
die jeden Personenwechsel überdauern, sind in der Tat bedenklich:
die Behörde pflegt Machwerke, die mit allem Sittlichen ein freches
Spiel treiben, wohlwollend zu schonen und ihre Schärfe gegen wirk-
liche Kunstleistungen zu kehren, sie ist mißtrauischer gegen die Un-
erbittlichkeit eines ehrlichen Naturalismus als gegen die Gemeinheit
der Geschäftsspekulanten. Dennoch kann nicht bestritten werden,
daß der Staat, als im Dienste der sittlichen Idee befindlich, eine Rege-
lung aller in seiner Organisation vorhandenen Tätigkeiten bis zu einer
gewissen Grenze beanspruchen darf. Ebenso hat der Erzieher, der
Vater wie der Lehrer, ein Recht, innerhalb eines gewissen Umfanges
das moralisch Zweifelhafte vom Kinde fernzuhalten. Der Einwand,
dem Reinen sei alles rein, ist töricht genug. Was man gewöhnlich
als Gedankenreinheit preist, ist nur Gedankenlosigkeit; aufgeweckte
Kinder werden naturgemäß über Dinge Aufklärung verlangen, die ihnen
in Bild oder Wort zum ersten Male näher treten. Immerhin dürfen
wir nicht alles, was Fragen und Bedenken hervorrufen kann, ängst-
lich aus dem Gesichtskreis der Aufwachsenden entfernen; junge Men-
schen gehen selten aus der Unberührtheit ohne weiteres in einen
Zustand massiver Tugend über. Vielmehr müssen wir zur rechten
Zeit solche künstlerischen Eindrücke herbeiführen, durch die die be-
drängenden Zweifel auf eine höhere Ebene versetzt, die Schwierig-
keiten sogleich in der edelsten Form aufgezeigt werden.
Das allgemeinere Problem, das den Beziehungen zum Staatsleben
und zur Erziehung übergeordnet ist, wird manchmal mit einer lässigen
454 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.'
Handbewegung zur Seite geschoben. Man sagt etwa: die Kunst sei
sich selbst Zweck, ihr Reich sei das der reinen Anschauung und gänz-
lich vom Reich des Willens getrennt, aus dem die Handlungen und
ihre sittlichen Werte stammen. Aber damit verschwinden diese Werte
oder Unwerte nicht aus dem Inhalt des künstlerischen Erzeugnisses.
Vorgänge, über deren Unsittlichkeit alle Welt einig ist, werden doch
ohne jede Entschuldigung dargestellt, und diese Darstellung wird als
berechtigt anerkannt, sobald sie vom Zusammenhang des Ganzen ge-
fordert und in ihn eingeschmolzen ist. Femer bleiben die Menschen
beim Schaffen und Genießen im wesentlichen dieselben, die sie sonst
sind. Die Bilder wirken weiter, drängen sich als bewußte Vorstel-
lungen oder unbewußte Nachklänge in Stimmungen und Gedanken
ein. Oder sollte es anders liegen? Sollte es wahr sein, wie ein pessi-
mistischer Dichter behauptet hat, daß selbst die schönsten Träume^
die edelsten Wünsche nicht einen einzigen Zoll hoch zum Wachstum
des Menschengeistes beitragen? Höchst verfeinerte Künstler mögen
mit Ibsens Rudek (»Wenn wir Toten erwachen«) den Gegensatz zwi-
schen der Kunst und dem blühenden Leben so stark empfinden, daß
sie an keine Rückwirkung von jener auf dieses glauben können. Ahn-
lich geartete Naturen mögen ein Kunstwerk in seiner vollen Stärke
genießen, ohne im geringsten ihre Lebensauffassung oder gar ihre
Lebensführung dadurch beeinflussen zu lassen. Im allgemeinen jedoch
dürfte es sich nicht so verhalten. Wie das Kunstwerk wohl etwas
anderes ist als die Wirklichkeit und trotzdem aus ihren Elementen
seine Kraft zieht, so ist die Wirkung des Kunstwerks wohl etwas
anderes als eine tendenziöse und sichtbarlich nachzuweisende Beein-
flussung der Willenshandlungen und trotzdem eine Bereicherung und
Erhöhung des ganzen seelischen Seins (oder das Gegenteil). Der
immer vorhandene Rahmen schließt doch nicht völlig ab, die Insd
der Kunst steht im Verkehr mit dem Festland unseres täglichen
Daseins. Allerdings wird durch Beethovens Pastoral-Sinfonie ein Groß-
städter schweriich zum Schwärmer für das Landleben gemacht werden.
Aber zumal auf den unteren Stufen künstlerischer Empfänglichkeit
kann der Einfluß der Kunst Stimmungen und Anschauungen ändern.
Beim Kinde haben oft die Gebilde der Phantasie dieselben Folgen
wie die Eriebnisse der Wirklichkeit (s. S. 251 u. 276), und man ver-
steht manche seiner Gedanken oder Handlungen erst von diesem
Ursprung her. Wenn unsere jungen Damen sich so leicht in Tenöre
und Darsteller des Kari Moor vernarren, so unterii^en sie den Nach-
wirkungen künstlerischer Eindrücke. Und um Höheres zu streifen: es
vermag der Anblick der von Menschen geschaffenen Schönheit uns
in einer lange nachhallenden Ergriffenheit zu entlassen, die milde und
DIE SITTLICHE FUNKTION. 455
ruhig macht; der Humor vermag dauernd zu trösten und zu versöh-
nen; das Tragische vermag aufzurütteln und ins Größere zu steigern.
Wo immer die überredende Kraft der Kunst sich mit der heischenden
Kraft des Guten verbündet, da kann ein bleibender Erfolg eintreten.
Es besteht eine Wechselwirkung: sittliche Forderungen gebrauchen
mit Recht die Hilfe der Kunst, und die Kunst verwendet jene Forde-
rungen als einen ihrer Inhalte. Oft schreitet sie, mit ihrer Fülle, Frei-
heit und Einsamkeit, der Entwickelung voraus und kündet die Moral
der Zukunft an. Nicht der übermäßigen Darstellung von Edelmut
und Frommheit soll das Wort geredet werden, denn das von Künstler-
hand geleitete Eindringen in die Tiefen des Lebens dient ebenfalls
der Versittlichung, weckt Verachtung der Gemeinheit, Unabhängigkeits-
sinn, Gefühl der Relativität aller Dinge. Wohl aber soll die Wohltat
anerkannt werden, die mit dem Hinweis auf kommende Morgenröte
und auf leuchtende Sphären der Gegenwart gewährt wird.
Neben der Frage, inwieweit Sittliches und Unsittliches als Inhalt
eines Werks nützt oder schadet, steht die weiter spannende (weil auch
Musik und Architektur einschließende) Frage, inwieweit künstlerisches
Schaffen und Genießen als Vorgänge ethische Bedeutung erlangen.
Prüfen wir zunächst die Verhältnisse beim Schaffen. Dem Künstler
ist die äußere Natur zur Nachbildung wehrlos preisgegeben. Wie
aber liegt es, wenn der Maler Gesicht oder Körper eines Lebenden,
der Dichter Begebenheiten und Personen der Wirklichkeit verwenden
will? Wahrscheinlich wäre jedermann einverstanden, als Schönheit
gemalt oder als Held beschrieben zu werden; aber jeder sträubt sich
dagegen, daß seine leiblichen und seelischen Schwächen enthüllt
werden, und nicht jede Frau ist geneigt, ihre Reize auch nur mittelbar
der Öffentlichkeit auszuliefern. So kommt es denn zu den sattsam
bekannten Gerichtsverhandlungen über Karikaturen, Schlüsselromane
und Modellverwertung überhaupt. Für wirkliche Kunst indessen liegt
keine Schwierigkeit vor. Denn der Dichter wird stets einen zeitlichen
Abstand herstellen zwischen dem Ereignis und der Behandlung durch
ihn, so daß die Gefahren der sogenannten Aktualität zurücktreten; und
ein gutes Werk, welchem Gebiet es auch angehöre, bedeutet stets eine
starke Umformung des Urbildes, nicht eine schlaue Abänderung, vor-
genommen, um der Rache oder dem Gesetz zu entgehen, sondern
eine im Wesen der Kunst begründete Umbildung. Auch ein anderes
Bedenken zerstiebt, solange man eben mit echten Künstlern zu tun hat
Die Beschäftigung mit verführerischen Modellen, bedenklichen Ereig-
nissen, sittenlosen Naturen führt kaum jemals zu unmoralischen Ge-
fühlen, weil der Zwang der Arbeit und die reine Freude am Vollbringen
niedere Begierden nicht aufkommen lassen. Wie für den Arzt der
456 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
Kranke nur Kranker ist, so sind für den Kunstler Menschen und Dinge
nur Gegenstand, freilich ein mit reinster Liebe umfaßter 0^[enstand
Das eben ist die Macht jeder höheren geistigen Kultur, daß sie die
Selbsttätigkeit ins Spiel setzt, die aus natürlichen Formen künstlerische
Gebilde, aus natürlichen Instinkten sittliche Verhaltungsweisen erzeugt
Eine solche Kultur erwarten wir beim Künstler. Wir verlangen von
ihm die ernsteste Hingabe an sein Unternehmen, einen gerade aufs
Ziel gerichteten Blick, der nicht abschweift Schludrige Machwerke sind
schlechterdings unsittlich, auch wenn sie auf den frömmsten Ton ge-
stimmt sind; sehr treffend nennt der Sprachgebrauch das 0^[enstück,
nämlich ein durch künstlerische Überzeugung bestimmtes Werk: :>ehriich .
Den Sinn für solche Ehriichkeit sollen wir Genießende in uns ent-
wickeln. Ein gewisses Anständigkeitsgefühl muß vor liederlichen und
verfälschten Leistungen warnen. Die geschulte Empfänglichkeit be-
wundert selbst an inhaltlich nicht erfreulichen Gaben den heiligen
Eifer und die Wahrhaftigkeit des Spenders. Aber von bestochenen
Seelen und unreinen Händen will sie nichts annehmen, selbst kein
Christusbild. Diese Läuterung des ästhetischen Gewissens erweiten
sich zu einer Läuterung des Gewissens überhaupt Indem der Be-
trachter die Gesinnung vom Stoff trennen lernt, reift er zur Gesin-
nungsethik heran; indem er sein persönliches Verantwortlichkeitsgefulii
so festigt, daß er auf die bequeme Anpassung an Durchschnittsurteile
verzichten kann, stärkt er seine innere Freiheit Der Kunstmarkt bicw
jedem Geschmack etwas; über die Auswahl gibt es keine Vorschrifi
und die rechte Wahl wird weder belohnt noch die verkehrte bestraft
Wer also hier im Sinne des Guten handelt, tut es mit sittlicher Selb-
ständigkeit. Daher hat man behauptet: um den Wert einer mdit
allgemein anerkannten Kunstübung schätzen zu können, bedarf es mdir
als des Geschmackes, bedarf es eines Charakters. Immerhin soDte
dies Wort nicht dahin mißdeutet werden, daß es den einzdnen ans
allen Beziehungen loslösen will. Denn in Wahrheit bleibt der Ge-
nießende einerseits der Gesetzmäßigkeit des G^enstandes unteIS^
ordnet, anderseits durch den in ihm lebenden Anspruch auf Notwen-
digkeit mit einer noch höheren Norm verknüpft; er ist nicht auf sidi
allein gestellt, sondern vom Rhythmus des Kunstwerks beherrscht md
den Forderungen objektiver Geistigkeit unterworfen. Hierzu tritt
schließlich noch ein Umstand. Jedes Eigentum mag ein Raub jgpmiii
werden, das künstlerische aber kann niemals so heißen. Das Brac
das ich esse, das Gehalt, das ich beziehe, ist im gewissen Same i
anderen entzogen. Wenn ich jedoch mich an einem GemSMe
so nehme ich niemand eine Freude fort Daher sind äsdielisdie
Genüsse auch des Empfindlichsten würdig.
DIE SITTLICHE FUNKTION. 457
Wenn die innere Verfassung des Künstlers sittlich zu nennen ist,
so darf sie auch darüber hinaus noch als religiös bezeichnet werden.
Echte Kunst und Religion, so las ich irgendwo, werden daran erkannt,
daß ihre Vorbereitung in Schicksal und Leben, nicht in Wissen und
Erwägen liegt. In diesem Betracht gehören sie sicher zusammen.
Beide Gebiete entziehen sich an ihren Mittelpunkten dem wissenschaft-
h'chen Beweis und der begrifflichen Auflösung; sie machen offenbar,
daß nicht alles Irrationale gefähriiche Schwärmerei ist, sondern zu einer
Lebensform mit eigenen Rechten sich entfalten kann. Femer wurzeln
sie in einer Überwindung des Außen durch das Innen: sie erreichen
es mit vielfach gemeinsamen Symbolen, aber auch in verschiedenen
Formen, daß das Seiende von einem Geistigen durchschienen wird.
Schließlich ist, wie wir oft erörterten, die Liebe als die Einheit in der
Getrenntheit, als der lebendige Vorgang, den Hegel »das im anderen bei
sich sein« nennt, eine Grundbedingung des Künstlers. Ich hätte nichts
dawider, wenn man in diesem Sinne von aller wahren Kunst als von
einer christlichen Kunst spräche. Hingegen würde der Untergang der
im engeren Sinne christlich geheißenen Kunst das Wesen des Christen-
tums unversehrt lassen; ja — in Zeiten gesteigerten Glaubensemstes
kann jede ästhetische Gestaltung für unzulänglich befunden werden ^*).
Der Kultus als solcher steht gleichfalls in regelmäßigen Beziehungen
mit der Kunstübung. Von den Verhältnissen bei primitiven Völkern
haben wir bereits das Nötigste erfahren. Bei den Griechen betätigt
sich in der Plastik ein religiöses Gefühl, das mit Diesseitigkeitsbewußt-
sein, Naturbetrachtung und Schönheitsdienst Hand in Hand ging.
Während im Altertum die plastische Bildkunst begünstigt wurde, hat
christliches Empfinden anderen Kunstgattungen vornehmlich sich zu-
gewendet: man denke an Kathedralen, Heiligenbilder, Misterienspiele,
Kirchenmusik. Übrigens war selbst im Mittelalter die Kunst nicht
eigentlich durch die Kirche geknechtet; biblische Geschichten und
Kultformen bildeten eine so unmittelbare und jedermann vertraute
Wirklichkeit, daß mit Selbstverständlichkeit aus ihrem Kreise der Stoff
der Werke gewählt wurde.
Lassen wir es bei diesen Andeutungen bewenden. Denn Wichtigeres
steht noch zur Verhandlung. Freilich müssen wir uns dabei an die
gefürchtete Hilfe der »ersten Philosophie« wenden; wir können nun
der Metaphysik nicht mehr entraten. »So muß denn doch die Hexe
dran.« Aber wir wollen sie nur so weit bemühen als nötig ist, um
die sittliche Funktion der Kunst in ihrer Vollendung zu erkennen.
Metaphysik in der hier gewagten Gleichsetzung mit Weltanschauung
wird durch das Leben geformt; ein inneres Soll veranlaßt immer wieder
Menschen, die danaTdenhafte Arbeit fortzusetzen und nach dem Wesen
458 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
der Welt und dem Zweck des Daseins zu forschen. Sehnsucht nach
dem Unvergänglichen und Wesenhaften erfüllt den höher gearteten
Menschen ^^). Philosoph im gesättigten Sinne des Wortes ist der, der
inmitten des lärmenden Lebens und unter blühenden Sommerblumen
das Haupt erhebt und fragt: Wer bin ich und was soll ich? Wozu
ist das alles und was meint es? Im Endlichen das Unendliche, im
Nächsten das Entfernteste, im Flüchtigen das Unverlierbare zu suchen
ist Philosophenart. Unter der Betrachtung sub specie aetemi verstehe
man nicht einen gelegentlich auftauchenden Gesichtspunkt, sondern
eine Lebensform, eine ununterbrochene Bemühung um höchste Werte,
eine fortgesetzte Bewegung zum Zeitlosen hin; man b^[reife, daß sie
vom Metaphysiker als der Kern und Rechtsgrund seines Daseins
empfunden wird. Der philosophierende Mensch lebt sein Ich an der
ganzen Welt aus, vielmehr an den letzten Gründen, auf denen die
Gesamtheit der Erfahrung beruht Das Gefühl der Totalität, das auf
diesem Wege sich einstellt, ist dahin mißdeutet worden, als bestfinde
Weltanschauung in einer Zusammenfassung wissenschaftlicher All-
gemeinerkenntnisse. Richtiger führt man jenes Gefühl und überhaupt
die Eigentümlichkeit der Metaphysik auf das hierbei angewandte Ver-
fahren zurück, »die überall in der Form fortlaufender Entwickelungs-
reihen uns gegebenen Tatsachen über die in der Erfahrung sich dar-
bietenden Endpunkte dieser Entwickelungen hinaus zu ergänzen«.
(Wundt) Da nämlich das Absolute nicht durch Verknüpfung des
Relativen gewonnen werden kann, so wird es in der Verlängerung
dieses oder jenes Relativen gesucht. So ist beispielsweise das Ich
immer als ein bedingtes Etwas gegeben, als Glied eines Verhältnisses^
zu dem die Außenwelt das Gegenglied bildet; aber in der Metaphysik
kann es zu einem Unbedingten ausgedehnt werden, in das die ganze
Welt einzugehen scheint Umgekehrt kann auch die gegenständliche
Natur über das erfahrungsmäßig gegebene Maß so wachsen, daß sie
als metaphysisches Prinzip alle Zuständlichkeit in sich aufnimmt, die
doch für das Erieben den unvertilglichen Widerspruch zur Außenwelt
bildet. Der Materialismus verallgemeinert das Körperliche, der Spiri-
tualismus das Geistige Wegen der Mehrheit solcher Ausgangspunkte
und der Vieldeutigkeit dieser Entwickelungsreihen, von denen in einer
Weltanschauung doch nur die eine oder andere ins Unendliche geffihrt
werden kann, ergreifen wir nie die vollständige Wahrheit in dncr
endgültigen, alle Welt befriedigenden Form. Das ist so unmöglich,
so unmenschlich, daß man sagen darf: wer das Leben enträtselt hätten
der würde dadurch aus dem Kreis der Lebendigen ausscheiden. Er
wäre ein Zauberer, aber kein Denker.
Diese Unabschließbarkeit der Philosophie ist als Mangd bddagt
DIE SITTLICHE FUNKTION. 459
worden. Sie ist es jedoch nur unter zwei Voraussetzungen, die nicht
ganz sicher stehen. Die eine ist die Zielvorstellung einer letzten
Formel, die alle Rätsel lösen und alles Handeln sicher bestimmen soll.
Hieran gemessen müssen auch die höchsten Leistungen der Metaphysik
als unzulänglich erscheinen. Wer aber gibt uns ein Recht zu jenem
Ideal? Das Leben weist uns nicht hierauf, sondern auf eine unab-
lässige Bewegung. Zumal die rein geistigen Werte bieten nichts
Fertiges und Totes. Religion und Metaphysik heißen die beiden
Formen, die persönliche und die sachliche, in denen die Unvernunft
der Erlebnisse zu einer feineren, immer neue Entscheidungen fordernden
Paradoxie emporgehoben und eben hiermit die Lebendigkeit bewahrt
wird. — Unter einer zweiten Voraussetzung nennt man Weltanschau-
ungen deshalb bedeutungslos, weil sie über persönliches Erleben oder
wenigstens über typische Formen nicht hinausgelangen. Hierdurch
wird der Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Anwendungsbereiches
hineingetragen, der mit dem inneren Wert nichts zu tun hat. Es ist
ganz richtig, aber auch ganz gleichgültig, daß so und so viele Millionen
Optimisten, so und so viele Millionen Pessimisten sind und sich gegen-
seitig nicht zu bekehren vermögen. Dahinter stehen ja Milliarden, die
überhaupt ohne innere Entscheidung dahinleben, wie der Augenblick
es erfordert. Metaphysik hat mit Masse und Zahl nichts zu schaffen.
Sie besitzt weder die Allgemeingültigkeit der Erfahrung noch die Über-
zeugungskraft einer glücklichen Hypothese. Indem sie von gewissen
großen Orundtatsachen ausgeht, die in ihnen liegende Entwicklung
über die erfahrbaren Endpunkte fortführt und so zu Prinzipien gelangt,
die als höchste und umfassendste auftreten, begibt sie sich über die
Grenzen dessen hinaus, was wir erfahren oder wenigstens in wissen-
schaftlichen Vermutungen als vorhanden nachweisen. Metaphysik ist
Jenseitigkeitsphilosophie. Daher kommt ihr wahres Wesen am deut-
lichsten in den vieleriei Arten des Idealismus zum Vorschein; der
Materialismus gehört nur insofern zur Metaphysik, als er alle ihre
Nachteile trägt, ohne doch ihre Vorzüge zu besitzen.
Bei jener Überschreitung des unmittelbaren Daseins, die wir Idealis-
mus nennen, handelt es sich um Veriängerung und Verabsolutierung
der Linie des Geistigen; alsdann darum, daß die Inhalte des Geistigen
zu einer überragenden Daseinsart und Wirkungskraft gesteigert werden.
Das Geistige ist uns zunächst als Individuell-Seelisches g^eben, d. h.
in den Bewußtseinsvorgängen, die jeder in sich selbst findet, während
er dieselben oder ähnliche Vorgänge bei anderen Wesen vermutet
Neben dem Seelischen ist — zwar nicht im ursprünglichen Eriebnis,
das diese Scheidung noch nicht kennt, wohl aber für eine sehr früh
und allgemein auftauchende Theorie — ein Körperiiches gegeben, das
460 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
den Raum erfüllt. Außer den Vorstellungen einerseits, der Körperwelt
anderseits ist aber noch ein Drittes vorhanden, freilich nur für den
Menschen. Der Mensch hat sich eine neue Welt geschaffen, die vom
Einzelnen nicht zu ändern ist, ein Reich der Gesetzmäßigkeit, das
zwischen Außenwelt und Ich gelagert ist. Hegel hat dieser Sphäre
den Namen des objektiven Geistes gegeben. Wir können ihn annehmen
und ihn — ohne Röcksicht auf Hegels System — dahin deuten, daS
es sich um Geist handelt gleich dem in uns lebenden, der jedoch
zur Höhe und Festigkeit der Objektivität gelangt ist Ein mathe-
matischer Lehrsatz oder ein Rechtsgrundsatz sind offenbar nichts
Körperliches, sondern etwas Geistiges, aber von jener besonderen
Gültigkeit, die sie vom Phantasiespiel und sogar vom wirklichen Be-
wußtseinsinhalt unterscheidet. Ich sinne keinem Leser an, allen den
Kreuz- und Querzügen meines augenblicklichen Vorstellens zu folgen,
allen den flöchtigen Sinnesempfindungen und Gefühlen, den närrischen
Assoziationen und unbrauchbaren Einfällen, die sich in meinem Kopfe
jagen — das wahrhaft Gedachte indessen, das nun im Drucke vor-
liegt, bedeutet auch für andere etwas, obgleich es nicht wie ein Feder-
halter von tausend Händen getastet werden kann. Ein solcher Gedanke
führt ein ganz eigentümliches Leben: er ist unräumlich und an keinen
Ort gebunden, glaubst du aber, er sei deshalb bloß ein Hirngespinst,
so überzeugst du dich bald, wie gewaltig er wirken kann. Sein Dasein
beschränkt sich auf individuelle Seelentätigkeiten und erschöpft sich
anderseits niemals darin; sein sachliches Recht bleibt unberührt von
der mehr oder minder zutreffenden Repräsentation im Einzelbewußtsein.
Die Tatsache des objektiven Geistes, die Existenz von Gebilden,
in denen seelische Inhalte eine feste und überragende Form gefunden
haben, dies ist nun das Gegebene, als dessen metaphysische Fort-
setzung der Idealismus betrachtet werden kann. Denn er lehrt, daß
solche geistigen Werte den wahrhaften Sinn des menschlichen Lebens
ausmachen und den Grundplan des Seins bedeuten. Plato erklärte
die geistigen Inhalte vorbildlicher Gültigkeit nicht nur für vorhanden»
sondern als von der dauerndsten und reinsten Existenz. Er nannte
sie Ideen. Er machte demnach das im Lauf der menschheitlichen
Entwickelung allmählich Entstandene zum Prius, das auf Grund der
Tatsachen Hinzugefügte zum Gesetz, dem die Tatsachen gehorchen,
den in der Kultur groß gewordenen objektiven Geist zu einer not-
wendigen und ewigen Weltordnung. In Hegels System gleicht die
Vernunft dem Feuer, das im Innern der Erde herrschen soll und aus
dem durch irgend welche Vorgänge die Erdoberfläche mit all ihrer
Mannigfaltigkeit hervorgegangen sein mag. Für unsere zaghaftere
Gegenwart ist die Vernunft nur der Himmel, der sich über der Erde
DIE SITTLICHE FUNKTION. 461
spannt; kein Ursprung, sondern ein Abschluß, keine Weltkraft, sondern
etwas Subjektiv-Objektives. Was in diesem Himmel wohnt, lebt von
unserer Treue und bleibt dennoch unabhängig von unserer Willkür,
es überwölbt Außenwelt und Ich, ohne sie zu tragen; es entsteht nur
durch den höher entwickelten Menschen und lehnt dennoch spröde
jede menschliche Vertraulichkeit ab, die der Masse noch scheuer als
die des Einsamen.
Versuchen wir zu überblicken, was eine solche idealistische Meta-
physik als letztes Ziel der Sittlichkeit aufzuzeigen und wie sie den
Anteil der Kunst zu bemessen vermag. Der Mittelpunkt ihrer Ethik
liegt in jenem dritten Reich. Ihm anzugehören, ein Kind Gottes zu
werden, scheint ihr ein sittlicher Zweck, der höher steht als die Zwecke
der persönlichen Lust oder der allgemeinen Wohlfahrt. Das Reich
der absoluten Werte ist die Heimat des Leistungsmenschen. Der
Einzelne und die Gesellschaft, der Mensch und die Natur bilden nicht
das Ganze; mit der eigenen Eudämonie und der Nächstenliebe ist die
Aufgabe des Leistungsmenschen kaum berührt. Fortschreitende Be-
wältigung der Natur, wachsender Wohlstand und dauernder Friede
sind bestenfalls nur Vorstufen zur Erfüllung eines höheren Berufs.
Dieser liegt in der Erschließung und Befestigung einer neuen Wirk-
lichkeit. Rudolf Eucken, der in unseren Tagen am lebhaftesten einen
solchen Idealismus verteidigt, sagt mit scharfer Zuspitzung: »Ethik,
Religion und Metaphysik sind entweder Zeugnisse einer neuen Welt
oder leere Illusionen.« Es spricht gewiß sehr viel dafür, ein Mindest-
maß solcher Metaphysik zuzugeben. Unbedingt aber und von jeder-
mann ist anzuerkennen, daß der Idealismus als heuristischer Grundsatz
das Außerordentlichste geleistet hat und noch leistet Denn es bleibt
eine Tatsache, daß jeder höhere Mensch, selbst wenn er das Ziel
leugnet, einen Weg geht, der ihm von eben jenem Ziele vorgeschrieben
scheint, daß er nicht anders vorwärtsschreiten kann und will, als ob
der Endpunkt vorhanden wäre. Neben der Sozialethik des diesseits
gewendeten Menschen steht die Ethik des jenseits gerichteten als eine
allgemeine Aufhöhung des geistigen Lebens. Auch in den Gipfel-
menschen wohnt ein sehr tiefes Mitgefühl mit den Sorgen und
Kümmernissen, die wir Kleineren erdulden. Allein, es gibt sich nicht
in den viel gerühmten wohltätigen Unternehmungen aus. Dies Mitleid
bezieht sich weniger auf das Unglück selbst als auf die moralischen
Veränderungen, die es hervorruft, weniger auf veränderiiche als auf
unveränderiiche Dinge: vor allem auf das unendliche Mißverhältnis
zwischen dem Erstrebten und dem Erreichbaren, das durch höhere
EntWickelung nur noch gesteigert wird, und auf die furchtbare Klage
der Angst, auf Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, deren Dasein auch
462 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
nur in einem einzigen Falle die Freude an der Welt dämpfen muß.
Über diese Abgründe führt keine vom Optimismus oder Pessimismus
erbaute Brücke; sie schließen sich erst, sobald der dritte Standpunkt
gewonnen ist: das Leben zu bejahen, weil es in Leid und Not
besteht. Wer am tiefsten für die in ihm wohnende Geistigkeit lebt,
der lebt am weitesten für die anderen. Ein vollkommenes Leben ist
das Leben, das den objektiven Geist zur Blüte gelangen läßt. Durch
die innere Wiedergeburt, durch den Eintritt in eine höhere Ordnung
wird der Mensch zu einer Leistung befähigt, die sein Dasein recht-
fertigt.
Und was vermag die Kunst dieser sittlichen Bestimmung des
Menschen zu leisten? Sie zeigt, daß Äußeres und Inneres, Irdisches
und Göttliches im tiefsten Grunde zusammenhangen. Nicht nur in
Bezug auf unsere Auffassung, sondern an sich ist Einheit und Zweck-
mäßigkeit des Kunstwerkes ein Zeugnis für die durchdringende Kraft
der Geistigkeit ^% Da jedes Werk, um den Geist zu erreichen, durch die
Tore sinnlichen Vergnügens ziehen muß, da das Bild Freude fürs Auge,
die Musik Wollust fürs Ohr enthalten muß, so fehlt nirgends der
Erdgeruch unseres natürlichen Seins. Indessen das Sinnenleben gelangt
hier in eine höhere Schicht hinauf, es wird so verklärt, daß es den
der Läuterung widerstrebenden Charakter einbüßt Wer von den
Leistungsmenschen der Sinnlichkeit nicht ledig wird, der verwandelt
sie in die hilfreiche Form der Kunst. Eben hierdurch vollbringt die
Kunst dasjenige, worin Schiller die Aufgabe der ästhetischen Erziehung
erblickte: sie führt die Sinnlichkeit und die Sittlichkeit zusammen.
Indem das Leiblich-Seelische von allen niederen Beisätzen befreit wird,
gewinnt es die Möglichkeit, sich mit dem unbedingt Wertvollen zu
vermählen. Das Doppelwesen des Menschen ist es, das die Aufgabe
der Selbsterziehung erschwert Schiller spricht von dem Gegensatz
zwischen Trieb und Vernunft Paulus sagt: Der Geist ist willig, aber
das Fleisch ist schwach. Von Zeit zu Zeit fühlt auch der Eriesenste^
wie er gleich Nebukadnezar auf allen Vieren kriechen und das Gras
des Feldes abweiden möchte. Zwischen diesen beiden Seiten unseres
Wesens, der tierischen und der göttlichen, scheint keine Verständigung
denkbar. Dies aber ist die ungeheure ethische Kraft der Kunst, daß
sie das Unmögliche hier möglich macht Sie kann Sinnliches so ver-
geistigen und Geistiges so versinnlichen, daß beide Sphären anan-
anderrücken. Selbst wenn der ersehnte Friede nicht eintritt, sondern
ein blutiger Kampf entbrennt, so ist dieser doch herbeigeführt worden,
weil die Gegner auf gleicher Ebene sich getroffen haben. Was vorher
zwei verschiedenen Ausmessungen angehörte, das wird solcherart auf
denselben Raumteil und so in eine wirkliche Verbindung gebracht
ANMERKUNGEN. 463
Die Kunst ist freilich nicht im stände, sogleich die Gegensätze zwi-
schen dem Niederen und dem Höheren des menschlichen Wesens fort-
zuwischen. Es wäre schlimm genug, wenn sie es täte, denn sittlich
wird man nur durch Kampf. Sie versüßt nicht die Bitterkeiten des
Lebens, wie das Schöne und ästhetisch Reizvolle. Sondern sie ermutigt
zur Ausübung aller Kräfte. Dank ihr, daß sie so Großes leistet.
Die Bedürfnisse der gattungsmäßigen Natur halten auch den Vor-
nehmen an der Erde fest. Und seine Sendung ist die, in die Höhen-
welt hinaufzusteigen. Da kündet ihm die Kunst ihr letztes Wort, das
auch unser letztes sei: Dein Leben werde Läuterung, transzendentale
Umwandlung, Wachstum einer höheren Art von Wirklichkeit
Anmerkungen.
*) EHe wissenschaftliche Beschreibung musikalischer und poetischer Werke nebst
den sie beherrschenden Voraussetzungen ist meiner Kenntnis nach gleichfalls nicht
genügend aufgeklärt Ein bemerkenswerter Versuch, mit naturwissenschaftlicher
Genauigkeit den Inhalt einer Dichtung und das Verfahren eines EHchters zu zer-
gliedern, liegt vor in Richard Heinzeis »Beschreibung einer Isländischen Saga«
(Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 1880). Doch scheint mir das verwendete
Schema untauglich und die durchgängige Gleichsetzung dichterischer mit wirklicher
Betrachtung unzulässig, etwa in diesem Beispiel: »Wenn zwei Vorgänge bei zwei
räumlich getrennten Personen zur Darstellung kommen, kann der Autor wie ein
Zuschauer des wirklichen Lebens nur die eine Person beobachten; was mit der
anderen inzwischen vorgeht, bleibt undeutlich, wenn auch im allgemeinen aus den
Folgen erkennbar« (S. 195, vgl. S. 143). — An die Erläuterung des einzelnen Werks
pflegt man eine Vergleichung mit anderen Werken, femer die Einordnung in einen
Typus anzuschließen. Dann setzt die Kritik ein. Über literary critidsm in Amerika
vgl. Gh. M. Gayley und F. N. Scott, An Introduction io the Method and Materials
of Literary Critidsm^ Boston, 1899; alsdann auch den auf meine Veranlassung hin
entstandenen Aufsatz von Florence M. Sylvester in der Zeitschrift für deutschen
Unterricht, 1903, XVII, 745-766.
*) Vgl. femer in Heinses S. W., herausg. von H. Laube 1837, II, 6—17, 58 ff.,
176 ff.; VIII, 170—199, 225—250. Charakteristisch die Stelle über die Coeur-Dame
in Lichtenbergs Ideen, Maximen und Einfällen, herausg. von G. Jördens, 1827,
S. 106.
») J. Minor, F. Schlegels Jugendschriften II, 231, Nr. 177. Weitere Angaben,
besonders über Brentano, bei Alfred Kerr, Godwi, ein Kapitel deutscher Romantik,
1896, S. 19 ff.
^) W. Schlegel, Die Gemälde (Aus dem Athenaeum II); siehe Charakteristiken
und Kritiken 1828, II, 151; vgl. II, 199.
*) Darüber Gutes in H. v. Tschudis Aufsatz über ein Bild des Jan van Eyck.
(Jahrb. der kgl. Preuß. Kunstsammlungen 1889, X, 155 ff.) »Das Nächste wie das
Femste erfaßt es (das Auge Eycks) mit der gleichen Schärfe und Sicherheit Tmnken
von dem Reichtum der Erscheinungen kennt es kein höheres Glück als die Buch-
staben der Natur nachzubuchstabieren.« (S. 159.)
«) Justi, Winckelmann 1872, 1, 1, S. 45 f. Übrigens sagt schon Anselm Feuerbach
(Der Vaticanische Apollo, 1833, S. 295): »Es hat nicht an Männern gefehlt, welche
464 VI. DIE FUNKTION DER KUNST.
diese Seite Winckelmanns mit minder günstigem Auge betrachteten. Und freihdi
haben die begeisterten Beschreibungen desselben eine Menge enthusiastischer Schil-
derungen veranlaßt, welche oft nur freien musikalischen Phantasien über ein will-
kürlich aufgegriffenes Thema gleichen.«
^) W. Morris, Kunsthoffnungen und Kunstsorgen. Bd. I: Die niederen Künste;
II: Die Kunst des Volkes. Deutsch, 1891.
^) Dieser Gegensatz der Auffassungen durchzieht die Psychognosis der Misse
überhaupt. Sehr lehrreich ist Bismarcks Schilderung des Parlamentes: »Die Lerne
sind, einzeln betrachtet, zum Teil recht gescheit, meist unterrichtet, regelrechte
deutsche Universitätsbildung, aber von der Politik, über die Kirchturminteressen
hinaus, wissen sie so wenig wie wir als Studenten wußten, ja noch weniger, in
auswärtiger Politik sind sie auch einzeln genommen Kinder; in allen übrigen Fragen
aber, sobald sie in corpore zusammentreten, massenweis dumm, einzeln verständig.«
Bismarckbriefe, herausg. von H. Kohl, 6. Aufl., 1897, S. 269.
^) ^Jusqu^au XV^ sihle Vartiste pouvait ein lui-mime un poHe ou an phäosophe,
mais comme artiste il vivait dans une sorte de sanduaire^ il appartenaä ä tau com-
fririe qui avait ses secrets et formait un monde ä pari; il recevait par initiation les
traditions de ses devanciers, et en peignant il ne reconnaissait pour Juges que ses
maitres et ses pairs . . . Dbs la renaissance, la rSftexion et le raisonnement avaied
envahi les artistes eux-memes, et depuis un stiele surtout, la presse, les gouvenu-
ments, la dissimination de la pensie, la perfeäion aussi des cheß-tPoeuvre sortis dt
la main des maitres ont largement riussi ä tirer la peintare de sott sartetuaire paar
la placer au grand jour de la publicum . . . Helasl taut ce patrortage ptibiie ei tauu
cette popularisatioiiy ou nous mettons pr^isiment nos espirattces et dottt ttotts attea-
dons pour lui un futur äge d^or plus glorieux que ceux du passi, sotit loitt de nCap-
paraitre sous des couleurs aussi flatteuses. Le fait certain, dest qtie Part, en den-
nant un fonäionnaire de P£tat, est tombe sous Pempire da droit eontman, et que U
Corporation autrefois souveraine a perdu de plus en plus, non-setilement son räle
d^initiatrice, mais encore son indipendance,^ J. Milsand, Uesthitiqtu angiaise» ttede
sur M. John Ruskin, Paris 1864, S. VIIlV/II.
*<>) Allgemeine Theorie der schönen Künste. 2. Aufl., 1779.
^*) Hermann Reich, Der Mimus. Ein literar-entwickelungsgeschichtlicher Ver-
such. I, 1903.
i<) Vgl. Theodor Birt, Laienurteil über bildende Kunst bei den Alten. Marbuiger
Rektoratsrede 1903.
^') Die 1901 veröffentlichten Lehrpläne für den Zeichenunterricht an höheren
Lehranstalten beginnen mit den Sätzen: »Lehraufgabe des verbindlichen Zeichnens
ist die Ausbildung im Sehen von Formen und Farben und im Darstellen tmhxber
Gegenstände. In dem nicht verbindlichen Unterricht in den oberen Klassen von
U. II. an erfolgt die weitere Entwickelung des Formen- und Fart>ensinnes dnrdi
Wiedergabe von schwieriger darzustellenden Natur- und Kunstformen.« Mechi-
nisches Kopieren und Benutzung solcher Hilfsmittel wie Zirkel und Lineal ist ver-
boten. »Im fakultativen Unterricht soll Skizzieren und Zeichnen aus dem Oedädrt-
nis geübt werden, damit der Schüler lerne, die charakteristischen Eigenschaften eines
Gegenstandes rasch zu erfassen und in klaren Vorstellungen zu bewahren.« Eine
ministerielle Verfügung vom 3. April 1902 gibt u. a. folgende Anweisungen. »Im
Freihandzeichnen kommt es vor allem darauf an, daß die Sdiüler selbstindig bcob*
achten und darstellen lernen.« »Vorlegeblätter sind ausgeschlossen.« »Die Sdmicr
müssen praktisch unterwiesen werden, mit dem ihnen zu Gebote stehenden Faibeih
material die Farben von Gegenständen (Blättern, Schmetteriingen, StoHen a.s.w4
ANMERKUNGEN. 465
zu treffen.« »Beim Zeichnen und Malen nach körperlichen Gegenständen sind die
perspektivischen Beleuchtungs- und Farbenerscheinungen . . . durch praktische Übungen
im Beobachten bestimmter Gegenstände den Schülern zum Bewußtsein zu bringen.«
Nebenbei bemerkt: der Ausdruck »perspektivische Farbenerscheinungen« ist wohl
nicht sonderlich glücklich gewählt
^*) Sören Kierkegaard bespricht in seinem Buch »Entweder — oder« (deutsch
1885, I, 147), »weshalb man sich immer gescheut hat, Christi Leben eine Tragödie
zu nennen: man fühlte, daß hier ästhetische Eindrücke die Sache nicht erschöpfen.«
") »Keiner von den Göttern philosophiert oder strebt weise zu werden — denn
er ist es; so wenig wie ein anderer, wenn er weise ist, philosophiert Aber auch
die Bildungslosen philosophieren nicht oder streben weise zu werden.« Plato, Gast-
mahl, 203/4.
") »Wir machen mit unseren rein ästhetischen Urteilen Ansprüche an eine eigene
Gesetzgebung im Wesen der Dinge, und wenn wir diese im einzelnen nicht nach
bestimmten Begriffen mit objektiver Gültigkeit auszusprechen vermögen, so setzen
wir den Grund dieser nur subjektiven Bedeutung des Schönen und Erhabenen nicht
dahinein, daß die Gesetze der Schönheit und Erhabenheit selbst keine objektive
Realität hätten, sondern nur in unser subjektives Unvermögen, ihre objektive Be-
deutung anders als ästhetisch anzuerkennen. Wir finden in der Tat auch die Welt
dieser Gesetzgebung unterworfen. Denn Leben und Schönheit erscheinen uns an
den Formen des Organisierten ... Wir glauben an die ewige Wahrheit der Schön-
heit, wir glauben, daß die Ideen der ewigen Schönheit die urschöpferischen Bildner
des Weltalls seien.« Ernst Friedrich Apelt, Metaphysik, 1857, S. 684/5. — Ich brauche
dem Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, kaum zu sagen, daß ich nicht mit jedem
Wort der angezogenen Stelle einverstanden bin.
Dessoir, Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft. 30
Sachverzeichnis.
Aberglaube bei den Naturvölkern, als
Faktor in der Entstehung der Kunst
283. 289. 295. 298. 300/1. 302. A.,
Märchen und Komik 223.
Allegorie 40. 58, Anm. 2. 184. 193,
Anm. 11. 360. 380.
Anschaulichkeit Anschauliche Er-
kenntnis 25/6. Intellektuelle Anschau-
ung 43. Anschauen und Erkennen s.
Kunst (geistige Funktion der K.), be-
sonders 435 ff. Anschauliche Vorstel-
lung von Gefühlen in der Einfühlungs-
theorie 86. — Die Kunst als Darstellung
des Anschaulichen 72—75. Unterstüt-
zung der A. durch Zeichnen 354, durch
Illustrationen 435. Anschauliche Not-
wendigkeit im Kunstwerk 75. 115/^. 117.
390.
Die Anschaulichkeit der Sprache 353
bis 368. Die Frage der Reproduktion
von Sinnesvorstellungen als Bedingung
der Anschaulichkeit 92/3. 169—172.
359 ff. 367/8.
Anschauungskomik 219/20.
Anthropomorphismus 83. 85. 87.
149. 187. Vgl. Einfühlung.
Assoziationen im ästhetischen Ein-
druck 156. 190 ff. Bestimmte und un-
bestimmte A. 306,7. A.-Theorien 22/3.
54. 84. 190/1.
A. beim Anblick von Farbenzusam-
menstellungen 117/8, von Proportionen
124; A. bei Einfühlung in Bewegungen
149, in Kurven 392. A. zwischen Aus-
drucksbewegungen und seelischen Vor-
gängen 256, zwischen Worten und den
beschriebenen (Ausdrudcs-)Bewegun-
gen 172. A. in der Musik 192. 249.
328. 338.
Ästhetik. Begriff und Richtungen der
Ä. 3 ff. 90. 91. 104 ff. Spekulative A.
11. 13. 16. 19. 30. 39. 50/1. 5^. 61.
106. 243. 457 ff. Analytische und ex-
perimentelle Ä. 54/5. 140. 154,5. 157.
428 ff. Gesetzgebende und besdirei-
bende Ä. 24. 28. 94—97.
Vgl. Ausdruck, Form, Gefühl, Inhalt,
Schein, das Schöne.
Augenbewegungen 130/1. 174 ff.
389.
Augentäuschungen 12^. 130/1.
Ausdruck 24 ff. Die Schönheit als A.
innerer Größe, wertvollen seelischen
Lebens u. dgl. 16. 21. 30. 420, Anm. X
A. gesteigert durch Häßlichkeit 214.
A. in der Musik 14/5. 21. 192. 282.
318. 334 ff. A. einer besonderen An-
schaulichkeit in den Künsten 73.
A.-Bedürfnis , Mitteilungsdrang ab
Faktor des Kunstschaffens 231/2. 257.
299. 442, bei den Primitiven 291. Mit-
teilung in Kunstrede und Gespräch 371
bis 373. Ausdrucksfähigkeit der Sprache
423—432. Ausdruckskraft, Darstellungs-
fähigkeit und Suggeriervennögen 365.
— A. von Vorstellungen in den Zeich-
nungen der Kinder 279, der Primitiven
288. — Unmöglichkeit und Widerstre-
ben, Seelisches in Worten 201 auBem
259. 335.
i Rückwirkung des Ausdrucksmittds
' auf die Vorstellungen 234. 256;7. 343.
354 ff. 357. 45Z A. von Affekten in
der Einfühlungslehre 188—190.
SAdIVERZEK IIMS.
467
Die Eigenart der Künste, begründet
in der Besonderheit ihrer A.-Mittel 310.
Vgl. Mittel.
B.
h.i II k linst y^ 3g(). 445. B. bei d*Alem-
bert 14; bei Ruskin 57. Ideen in
i\vT Architektur 85. Widerstand des
Architektonischen gegen die Einfüh-
lung' 87. 106 ff. 400; Möglichkeit der
Einfühlung 3Q7. Verschiebung der
(iren/rn der H. mit der Wandlung des
(jcschniacks 112.
Rücksicht auf das Material 14ö. 397.
Ausbildung der Technik des Bau-
iiicisttTs 246. Die Farbe in der B.
JW. Tragik in der B. 210.
Vgl. Raumkunst.
Bcgrenzungslinie s. Umrili.
Bewegung. Bewegungsrhythmus und
Tonrhythmus I78Q. B.-Luxus und Kraft-
crspnrnis 200 I.
Darstellung der Bewegung in der
Beschreibung 172. 367, in der Malerei
A(N in, in der Musik 3180. Zusammen-
h.ing di-r B. mit der Musik 312. Ei.
durch die Kleidung sichtbar gemacht
4<M. Vgl. N.ichahmung (N.- Bewe-
gungen).
Bildende Kunst s. Bildkunst, Nut/-
kuriNt, R.iumkunst.
Bildkunst 380 422. Anfänge 283 ff.
2«r, f>. 2t)s. MM) 1. B. l>eim Kinde 277 ff.
r>Ti* B. im System der Künste 303
biN no B., r>ichtkunst und Musik
W)5. i67. Abgrenzung von der Raum-
kiin<t J8«) 00. 300 400. 403; Übergangs-
tT»;chcinungcn 300.
Verhältnis zur Wirklichkeit 13. 38000.
H. .iN Pi>rdening der Anschaulichkeit
12 7ö. Tragik in Malerei und Plastik
210.
D.i^. Vhaffen des bildenden Künst-
lern 240 250. besimders 241. 243. 247.
24'*. 2f)7.
V^:l. lue Intcrarten: Plastik, Malerei,
(jr.iplnk.
IWihnenkunst (Theater) 338 340. 347
htN )V). Selbständigkeit des Theaters
gegenüber der Dichtung 203. 338.0.
Bühnenanweisungen 3478. Inszenie«
ning und Regie 3467.
Sinn und Zweck der Bühnenkunst
348 350. Kulturbedeutung des Thea-
ters; Th. und Kirche 340. 340. Das
Theater in der Jugenderziehung 450.
Gesellschaftliche Funktion des Th. 340.
Eindruck des Bühnenvorganges 157.
Bühnendrama und Lesedrama 372 3.
Das Theatergebaude 306. Die Not-
wendigkeit des erhöhten Bühnenraums
401.
D.
Dichtkunst s. Wortkunst.
Dilettantismus 441, in der Musik
33a 1. in der Schauspielkunst 343.
Doppel-Ich 100 und 104, Anm. 15; 254
und 274, Anm. 7 und 8.
Drama 372 370. Der Begriff des Dra-
matischen 376. 408. Das primitive
Drama 288 203. Das griechische
Drama 45. Das D. im S>'Stem der
Künste 304. 300.
Spiel und Oegenspiel in Musik und
Drama 324. Entwickelung der Charak-
tere 261. Der Monolog 27374. Funk-
tion der Sprache im Wagnerschen
Musikdrama 325. Neigung zu epischen
Erläuterungen bei den Dramatikern
348. Tragik im D. 210 213. Vgl.
Redekunst Wortkunst.
Eindruck. Ästhetischer E. und Zustand
17. 53. 75 ff. 81. 8000. lOt. 154 l'M.
106. 347. 361). 444. Erster E. bei U'er-
ken der Wortkunst 157. 383. Ästhe-
tischer Reflex 156. 166. 100. Asth.
Irrsinn 00. Verhältnis des E. zum
Ablauf des objektiven Vorganges 1580.
160. 372.
Einfühlung 83 80. 156. 158. 206. 306.
In der Geschichte der Ästhetik 2). 4a
, 41. E. in musikalisches und poetisches
Metnim 1334, in musikalische Formen
334 338, in Raumformen 185 100.
468
SACHVERZEICHNIS.
395 ff. 87. Beseelung mit einem idea-
len Ich 90; Erhöhung des Ich 187.
Unterbrechung der E., Rückkehr zum
Ich 258. Grenzen der E.-Möglichkeit
149/50. 396/7. E. des Dichters in ge-
gebene Individualitäten 253.
Vgl. Metapher. Nachahmung.
Einheit und Mannigfaltigkeit 9. 13.
23. 26/7. 31. 32. 35. 70/1. 113. 141. 161.
182. 284.
Epos 379—383. E. der Naturvölker 284.
288/9. E. im System der Künste 304.
Geschichte und Epik 438/9. Entwicke-
lung der Charaktere 261. Roman 210.
380—383. Novelle 380. — Vgl. Wort-
kunst.
Erhabene, das 16. 19/20. 31. 49. 195/6.
204 ff. 216. — Das Abnorme, Außer-
ordentliche 259/^60.
Erinnerung. Mangel an Anschaulich-
keit in der E. 353, ihre Unterstützung
in der Beschreibung von Kunstwerken
430. Gedächtnisvorstellungen der Kin-
der 278. Gedächtnisschärfe des bilden-
den Künstlers 247; Eigenart der Er-
innerungsbilder des Künstlers 237/8.
247,8. Erinnerung der Künstler an
frühe Lebensalter 250—255.
Gedächtnistechnischer Wert des Wort-
rhythmus 181. 304. Erinnerung und
Assoziation als Prinzip der Ästhetik
22/23. Persönliche E. im ästhetischen
Eindruck 159/60.
Essentialismus 66 ff . Vgl. Idealismus.
F.
Farbe. Farbenharmonie 117—121.410/1.
Farbe und Licht in der Malerei 409
bis 411. F. in Malerei und Zeichen-
kunst 317, in der Plastik 401/2, in Bau-
kunst und Innenausstattung 399. F. in
den Kinderzeichnungen 281/2.— Farben-
hören der Kinder 277.
Form. Formalistische Ästhetik 51 ff.
70/1. 93/4. 141. 183. — F. der Dinge
= Vollkommenheit (Baumgarten) 26.
Reine F. (Kant) 33. Innere F., Ge-
samtbild des Kunstwerks 238. For-
mende Kraft, Entelechie 11. 395.
Die natüriichen Urformen der Nntz-
kunst 395. — Formlosig^keit des erilab^
nen Gegenstandes 206. Formlosigkeh
in der romantischen Dichtkunst 412.
Freie F. und Formlosigkeit in Musik
und Redekunst 322^3.
Vgl. Gehalt
Funktionslust (Beschaftigungsbedärf-
nis, Freude an seelischer Tätigkeit, Er-
höhung des Lebensgefühls) 13. 19. 32.
56. 76. 85/6. 113. 115. 157—159. 163 ff.
165. 167. 186. 208. 221. Beim Kinde
277, überscfaiissige Kraft 282. Daseins-
empfindung 30. — Freude am Geiiusdi
329/30.
O.
Gartenkunst 111/2.
Gedächtnis s. Erinnerung.
Gefühl 26. 28. 53. 55. 82/3. 165. 187.
Harmoniegefuhle s. Harmonie. Pro-
portionsgefQhle s. Proportion. Kom-
plikationsgefuhle 162. 181/2. Scfaein-
gefühle s. Schein. Aktivitatsgefüfall59,
s. Funktionslust — Intensität des G^
fühls 159. 261. 387. Vorgestellte niid
wirkliche Gefühle 86. 359.
Vgl. Einfühlung. Eindruck.
Gehalt Verborgener Inhalt» Idee, idealer
G. 55/^. 66 ff. Der Phantasicscfaein
als idealer G. der Dichtung 358. Ge-
halt, Stoff und Form 34—37. 45. 86l
Verhältnis von O. und Stoff als Ein-
teilungsgnind der Künste 307.
Genie s. Künstlerisches Schaffen.
Gesang 290 ff. 304. 315. 316. 326. 36970.
Geschlechtstrieb 3/4. — Zusanuncn-
hang des Sinnes für das Sdiöne nm
der Gesdilechtsliebe 16. 203^ der Schön-
heit der menschlidien Ocstah mit der
Gattungserhaltung 201, des kmnde-
rischen Schaffens mit gesddecfafficlier
Erregung 231 , der Entstehung der
Kunst mit Beweibungsvoigingcn 2B1
297—299.
Geschmack 17/8. 25. 3a 34. 9a 99l
100. 114. 229.
Gewohnheit 54. lia lia 122. 191.
Gleichgewichtsempfindnngen m
SACHVERZEICHNIS.
469
musikalischen Eindruck 318. Gleich-
gewicht = Isodynamie 123. 174—176.
185.
Goldener Schnitt 124 ff. 176/7.
Graphik 414—420. Der Umriß 115. 119.
128—131.276.415/6.367. Ursprung der
Umrißzeichnung 295. Grenze zwischen
Graphik und Malerei 415. 417/8. 422,
Anm. 19. Zusammenhang mit der
Schrift s. Schrift. Verhältnis zur Poesie
367. 415.
Illustration; selbständige Ausgestal-
tung der dichterischen Vortage 329.
416. Entwicklung der Technik des
Zeichners 246.
Vgl. Zeichenkunst. Bildkunst. Aus-
druck. Photographie.
Grazie, Zierlichkeit 203/4. Anmut 146/7.
Niedlichkeit 196.
H.
Harmonie als elementar -ästhetischer
Begriff 117. 162. Farbenh. 117 ff. 173.
410. Klangh. 173. 294. 319 ff. H. zwi-
schen Ich und Gegenstand 84. H. als
Hauptmerkmal der Schönheit 196. 198.
H. im Menschen ein ästhetisch-ethi-
scher Begriff 36. 43. 207. 211. 260. 264.
266 f. 453. 462.
Häßliche, das 10/11. 26. 28. 65/6. 105.
163. 196. 199. 213 ff. 320. 404.
Heraldik 288. 390.
Humor 224/5. 455. Vgl. das Komisdie.
L
Idealisierung der Wirklichkeit 75, in
der Dichtkunst 35/6. 366/7. Direkte
und indirekte I. 49/50. 404; vgl. 373.
Idealisierende Schauspielkunst 340.
Vgl. die Umformung der Wirklich-
keit in der Kunst unter »Wirklichkeit«
und ;> Kunst«.
Idealismus. Plato 9/10. Plotin 11.
Romantische und spekulative Ästhetik
38—51 , besonders 39. 40. 42. 43. 44.
46. 49. 51. Hartmann 55/6. — Ideen
= Wirkungsmöglichkeiten in der Ein-
fuhlungslehre 85. Das ideale Ich in
der Einf. -Lehre 90. 187. — Zur Lehre
vom idealen Gehalt vgl. Gehalt Ideale
Gegenwart 17, vgl. Schein.
Entwickelung und Kritik der ver-
schiedenen Standpunkte 66 ff . 105.
199/200. 457-463.
Die Idee des schaffenden Künstlers
231 ; ihre Veränderiichkeit 233. Eintei-
lung der Künste nach ihrem Verhältnis
zwischen Ideengehalt und Stoff 307.
Veranschaulichung von Ideen in der
Baukunst 85. 396, in der Reliefplastik
400, in Zeichnungen 431, in Kinder-
zeichnungen 278. — Vgl. Rationalis-
mus. Intellektuelles Moment
Das Ideal in Wissenschaft und Techne
96; in der griechischen Plastik 29.
Illusionismus 71, s. Schein.
Illusionsästhetik (Lehre von der be-
wußten Selbsttäuschung) 80. Vgl.
Schein.
Impressionismus 120. 411.
Individualität Die künstlerische L
23. 66. 241—243. 254. 267. 269 ff. 368.
Verständnis des Künstlers für I. 259 ff.
375 ff. Individueller Faktor im ästhe-
tischen Eindruck 159/60. 192. 219.
Typus und I. 199.
Inhalt I.-Ästhetik 24. 93/4. 147. Die
Inhaltsgefühle 157. 183-193. 383.
I. der Lyrik 3867, der primitiven
Lyrik 292, des Romans 382, der Dicht-
kunst 12. 450, der Bühnenkunst 446 J,
der Malerei 411 — 414.
Vgl. Gehalt
Inspiration 42 ff. 235. Vorbereitung
und Eingebung des Augenblicks 232 ff.
236. 343.
Intellektuelles Moment im zusam-
mengesetzten Kunstwerk 69/70, in kon-
trapunktischen Durchführungen 324;
int Verständnis als Erfordernis für den
Musikgenuß 333 4. Int Vorgänge beim
Eindruck der Harmonie 319. Das int
Moment in den Zeichnungen der Pri-
mitiven 2878; bei den Umwälzungen
in den bildenden Künsten 288. —
Gegensatz zwischen Intellektuellem und
Ästhetischem 109 10. 276. 278.
470
SACHVERZEICHNIS.
Intellektuelle Gefühle 157. 383.
Vgl. Rationalismus. Idealismus.
Interesse 167. 23. 34. 57. 76. 110. 201.
Isodynamie s. Gleichgewicht
K.
Kallikratie 105 ff. 204. 441.
Karikatur 62. 2234. 455.
Katharsis 12. 207 f.
Keramik 287. 395. 402.
Kind 10. 23. 122. 190. 208. 2212. 250 ff.
269. 276,7. 299 f. 454. K. und Künstler
82. 250 ff. 299,300. 333. K. und Kunst
34. 115. 118. 133. 136. 139. 276 ff . 295.
299. 305. 451.
Kirchliche Kunst 1478. 411. 457. —
Die Architektur der Kirche 398.
Klangfarbe 137. 153, Anm. 15. 157.
316 ff. 322.
Kleidung 393/4. 404. 440.
Komische, das 92. 195.6. 204. 212.
215 ff.
Komödie 41. 166. 376.
Kunst, Anfänge der. Das Kind und die
Kunst 276-282. 251. 449-452. 453,4.
Der Naturmensch und die Kunst 282
bis 294. Vgl. die einzelnen Künste
über ihre Entstehung und ihre primi-
tiven Formen. — Desgl. über ihre Stel-
lung im System der Künste; sonst 14.
15. 243. 302—310.
Die Umformung der Wirklichkeit in
der Kunst, Stellung des Künstlers zur
Wirklichkeit 60—75. 237 8. 240 1. 250 ff.
(252. 255.) 3667. 436 ff. Vgl. insbe-
sondere Wirklichkeit. Mittel.
Biologische Begründung der Kunst
167. 299. Theorie und Geschichte der
Künste 6. 117. — Kunst = Techne 94 ff.
K. und Mathematik 39 40.
Kunstbetrachtung und Kunstkritik 7,
58, Anm. 2. 193, Anm. 11.
Geistige Funktion der K.; Kunst und
Wissenschaft, das Ästhetische und das
Logische, Anschauen und Erkennen
12 3. 14. 25. 28a 30.1. 32. 43. 50. 68
bis 70. 82. 95,6. 109 10. 111. 198,/9. 200.
202. 238. 2401. 244. 382. 423—439. 449.
Gesellschaftliche Funktion der Kunst
K.-Ausdehnung 112. 113 4. 439-451
Vgl. auch 282 — 294, femer die einzel-
nen Künste. Einsamkeit des Kfinstiers
2678. 4434, des Genießenden 3334.
Kunsterziehung des Volkes 445—4«,
der Jugend 449—452. 4534. StaatUdK
Maßnahmen 11. 273. 4478. 4334.
Volkskunst und Massenkunst 45. Ken-
nerkunst (l'art pour Vati) Oa lia 444.
453.
SitÜiche Funktion der K. 910. 11
16. 17. 323. 40. 43. 198. 268.9. 452 bis
463. K. und Religion s. Religion.
Die Kunst, das Ästhetische und das
Schöne s. das Schöne.
Kunstgewerbe s. Nutzkunst
Künstlerisches Schaffen; Genie:
Phantasie 11. 23. 27. 35. 40 ff . sa 66l
74. 81/2. 22g— 275. Selbsizeugnisse
von Künstlern 7. 36. 44/5. 2323. 2445.
249/5a 251. 266--26a Oewissenhaiti^
keit des Künstlers s. WahrhaftigkeiL
Lust am Anderssein s. Mimik. Origi-
nalität 244. 270.
Der reproduzierende Kfinstier 24L
245. 246. 338.
Leistungsmensch 237. 263—266. 4612.
Lyrik 383 ff. Hypothese über den Ur-
sprung der Poesie 298. Vorfonncn
der L 288-2g3. — Die L Im System
der Künste 304. Romanze und BaDade
145. - Der Lyriker als Naturalist 64.
Verhältnis des Oedidites zur Mnsik
(das komponierte Lied) 1394a 326l
344. 387. Wirkung des Gedichtes ifan-
lich der Wirkung der Musik 172. 387.
Rhythmus und Metrum 131 ff. Wie-
derholung 289.
M.
Malerei 405-414. Vontufen 2878l
M. als Flächendekoration 3Q0L 392. Be-
schränktheit der Mittel 28a Orenae
zwischen M. und QrapMk 415^ 422,
Anm. 19. 4178. Die M. hl der Ge-
schichte der Ästhetik 47. 4445. — Der
SACHVERZEICHNIS.
471
Begriff des Malerischen 87. — Vgl.
Farbe.
Das Schaffen des Malers 239/40. 240
bis 250, besonders 241. 247. 248. 257.
Seine Technik 119/20. 246. Technik
der älteren M. 406. 422, Anm. 12.
Punktmanier (Impressionismus) 120.
411.
Die Unterarten der M. 411 ff. Das
religiöse Bild s. auch 147^8. Das For-
mat des Bildes 143. — Verbreitung
von Reproduktionen 445 6.
Vgl. Bildkunst
Märchen 41. 223. 225. 277. 381.
Material. Abhängigkeit der Formgebung
von der Beschaffenheit des Materials
(Echtheit des M.) 122. 146. 150. 286/7.
392/3. Abhängigkeit der Kunstleistung
von der Vollkommenheit des M. 99.
Einteilung der Künste nach materiellen
Rücksichten 304. — Vgl. Mittel. Technik.
Melodie 22. 115. 249. 294. 314. 320.
324/5.
Melodrama 308.
Metapher. Die M. im Wesen der
Sprache wurzelnd 3623. 368. Würdi-
gung in der Geschichte der Ästhetik
19. 40. — Die M. in der Sprache des
Kindes 276. Unmittelbare Gefühlswir-
kung 360.
Die Armut der Sprache, Notwendig-
keit der M. 87/8. Untersuchung der
ästhetischen Fachausdrücke 116. Die
M. in der Beschreibung der Einfüh-
lungsprozesse 186.7. Die Unbestimmt-
heit der metaphorischen Benennungen
und die Bestimmtheit der objektiven
Gebilde in der Raumkunst 185 ff., in
der Tonkunst 335 ff.
Vgl. Einfühlung. Sprache. Wort-
kunst.
Metrum 131. 133 ff. 290.
Mimesis s. Nachahmung.
Mimik (Schauspielkunst) 340—347. Ge-
bärden- und Sprachmimik 340—342.
Tempo der Rede 180. M. bei den
Primitiven 288— 293. 300— 302. M. und
Bühnenkunst im System der Künste
303—310.
Die Einfühlung als Erklärungsprinzip
der Schauspielkunst 41. Die Lust am
Anderssein 41. 252. 342/3. Inneriiche
Ergriffenheit des Künstlers als Folge
richtigen Spiels 256^7. 343.
Kindheit des Schauspielers 300. An-
lage zur Schauspielkunst 241. Schau-
spieler und Musiker 246. Soziale Miß-
achtung des Schauspielerstandes 345.
Mittel, künstlerisches (Stoff, Material).
Die Besonderheit und Beschränktheit
der künstlerischen Mittel bezeichnet
die Besonderheit der einzelnen Künste,
bedeutet Förderung und Bedingung
einer künstlerischen Leistung 21. 24.
73. 110. 280. 310. 335. 420. Fehlen
dieses Zwanges in der Gartenkunst
111/2, bei Eisenkonstruktionen 2067.
398.
Vgl. Material. Technik.
Modell 199. 239/40. 248. 455/6.
Musik s. Tonkunst
Muskelsinn 123/4. 168. 172. 174. 186.
N.
Nachahmung. Die Theorie der Mi-
mesis 10. 13. 14,5. 280. N.-Bedürfnis
als Bedingung der ursprünglichsten
Kunsttätigkeit 297. 300; mimische
Tänze 291. Entstehung des Rhythmus
durch N. 292. Wirkung der N. auf
den nachgeahmten Gegenstand (magi-
sche Femwirkung) 300. Entwidcelung
der Freude an der N. beim Kinde
276—280.
CHe N. der Wirklichkeit und der
Naturalismus 60—66. Die Theorie der
N. nicht ausreichend zur Eridärung
des ästhetischen Wertes 21/2. 24. 36.
39. 108. 199, der Entstehung der Kunst
287, des künstlerischen Schaffens 252,
der Schauspielkunst 252. 344, der Bau-
kunst 395. N. in Plastik und Orchestik
306, Musik (Tonmalerei) 318/9, Poesie
10.
N.-Bewegungen und Muskeleinstel-
lungen 168. 172. 258. 407. Innere N.
149; vgl. Einfühlung.
Naturalismus 10 ff. 35—39. 43. 60 ff.
74. 229. 393. Naturalistischer Stil 64.
472
SACHVERZEICHNIS.
Nai Roman 3S2, nat Drama 348, nat.
Ornament 186. 194, Anm. 12. 284 ff.
— Vgl. Wirklichkeit Nachahmung.
Naturschönheit 3/4. 11 ff. 223. 37.
43. 44. 61. 105 ff. 108 ff. 116. 142. 204.
206. Vgl. Niedere Sinne.
Neuheit 15. 19. 201, im Leben des Kin-
des 277. Vgl. Originalität.
Niedere Sinne 4. 107. 110. 168,9. Tast-
sinn 30. S. Muskelsinn.
Niedliche, das s. Grazie.
Novelle 145. 380. Vgl. Epik.
Nutzkunst 146. 201. 392—394. N. bei
den Naturvölkern 286/7. Japanisches
Kunstgewerbe 283. Kunsthandwerk
und Dekoration im System der Künste
307—309. Grenze zwischen Gewerbe
und Kunst 112. Überschätzung der
angewandten Kunst 421, Anm. 6. —
Handarbeit und Maschinenarbeit 246.
440.
Vgl. Raumkunst
Nützlichkeit s. Zweckmäßigkeit
O.
Organempfindungen 156. 166 ff. 186.
207. 256.
Originalität 244. 270.
Ornament Urmotive 283 ff. Die Mi-
mik als Ursprung des Ornaments 302.
303. Das O. im System der Künste
303 ff. Naturalistisches O. 186. 194,
Anm. 12. 284 ff. Das O. im Schul-
unterricht 451.
P.
Panästhetizismus 106 ff. 204. 441.
Vgl. 4489.
Parodie i224.
Phantasie des Kindes 276. Ph.-Tätig-
keit beim Genuß von Dichtwerken
364, von graphischen Werken 417. Ein-
klang zwischen Ph. und Verstand 32 3.
Ph.-Gefühle 78,9, vgl. Scheingefühle.
Ph.-Vorstellungen 78—80. 170.
Das Ph.-Gebilde als Ausgangspunkt
im künstlerischen Schaffen 252, bei den
Kinderzeichnungen 280. Schöpferische
Ph. des Künstiers s. künstleriscfaes
Schaffen.
Photographie 408. 414. 4167. 41S
bis 420.
Plastik 399—405. Ursprung 2956. P.
des Kindes 282.
Plastische Ornamente 288. Relief
400, bei den Primitiven 295. Hänfig-
keitsverhaltnis zwischen Relief- und
Rundplastik 389. 40a Monumentale
Kunst 47. 87. 400. — Das Format des
Bildwerks 148. Der Bildhauer nnd
sein Modell 248.
Vgl. Bildkunst
Poesie s. Lyrik.
Porträt 288.
Proportion 117. 121 ff. P.-Oeffible 161
173 ff.
Psychognosis (Seelenkunst) 95. ISS.
250-262. 382.
Q.
Quantum. Absolutes (extensives nnd
intensives) Quantum des istiietisdien
Gegenstandes 141 ff., seine Gefühlswir-
kung 181 ; im Eindruck des NiedUdicn
203, des Erhabenen 206/7, des Komi-
schen 219. — Das Formst 143. 14a
150.
Rationalismus 12 fL 56. 57. 69. 319.
Rationaler Faktor der Kunst 113. Di-
seinsberechtigung des Imtionslen 457.
— Vgl. Intellektuelles JMoment
Raumkunst 389— 399. Orenze zwisclMa
Raumkunst und Biklknnst 3899a
399/400. Znsammeniuuisr mit Sdnüt
und Zeichnung 416. — Wicdeftoism
in der R. 144. 392.
Abstrakte Unienkunst 390—392. 121 IL
174 ff. 283 ff. Vgl. OmsmcDt
Abstrakte Ilachenkunst 391/2. IMdd-
ration 307—309.
Vgl. Nutzkunst Baukunst — BU-
kunst.
Redekunst 14. 114. 323. 357. 369-371
Erster Eindrudc des Dnunas «ad der
SACHVERZEICHNIS.
473
Rede 157. 372. Die Wirkungsmittel
des Dramas in der R. 371. Retardie-
rende Momente und Episoden 372.
Tendenz in Rede und Drama 372.
Wiederholung 145. — Vgl. Drama.
Wortkunst.
Reflex, ästhetischer, s. Eindruck.
Refrain 145. 366.
Reim 141. 289. 366. 385.
Relief s. Plastik.
Religion und Kunst 50,1.56.263.340.
457.
Rhythmus. Objektive Beschaffenheit
131—141. Die rhythmischen Gefühle
178—181. Der Rh. in der primitiven
Kunst 284. 287. 289—293. Rh. und
Arbeit 290—293. — Der Rh. als Grund-
lage der Melodie 22, der Musik 312 ff.,
der Poesie (freie Rhythmen) 385. Rh.
in Sprachkunst und Musik 304/5. 329,
in Poesie und Prosa 365 6.
Erklärung des Genusses am Rh.
durch Ähnlichkeitsassoziation 84/5.
Roman 145. 380—383. Tragik im R.
210. Vgl. Epik.
S.
Schauspielkunst s. Mimik.
Scheinlehre (Phänomenalismus, Illusio-
nismus) 16. 17. 24. 34. 41. 55. 71 2.
76—82. 141. 151. Mißachtung des Ma-
terials 146. 393.
Schmuck 283. 288. 295. 303. 394. 440.
Schöne, das. Das Schöne, das Ästhe-
tische und die Kunst 3 ff. 9. 43. 97.
104 ff. 160. 196. 229. 282. 296. 43940.
Relative Schönheit 17, abgeleitete Seh.
20. Kosmische Seh. 9/10. 11. 20/1. 106.
Das Idealschöne 20. 195—204. 260.
Vgl. Naturschönheit
Schrift. Kunst in Handschrift und Druck-
schrift 391. Zusammenhang zwischen
Zeichnen und Schreiben 280. 285. 2878.
390,1. 416.
Schwierigkeit. Überwindung der Seh.
als ästhetisches Prinzip 21,2. 111. 229.
245,6. Widerstände des Objekts 236,7.
Unkenntnis der Seh. bei den Kindern
280. Vgl. Technik.
Sensualismus 445. 72. 75. 79. 230.
239. 2489. 462 3.
Sittlichkeit s. Kunst (sittliche Funktion
der K.).
Skizze 62. 233—235. 406.
Spannung. Sp. und Lösung 179—182.
Sp. in Furcht und Mitleid 2078. Ver-
schiedene Sp.-Empfindungen bei hohen
und tiefen Tönen 315.
Sp. in der Dichtkunst 172. 373, in
Dicht- und Tonkunst 158,9. 367.
Spiel 34. 56. 279. 282. 299300. 304.
Sprache. Die Spr. in der primitiven
Kultur 290. Zaubersprüche 300,1.
Macht und Ersatzwert des Wortes 289.
360. 368. 428 ff. — Zusammenhang
zwischen Spr. und Bildkunst 280.
Die Sprachgewalt des Dichters 239.
Das Sprachliche als Wesen der Poesie
171. Die Anschaulichkeit der Spr. 353
bis 368; in der Beschreibung von
Kunstwerken 423 — 432. Das Musika-
lische in der Spr. 365/6. 384/5. S.
Wortkunst
Stil 37. 368. Naturalistischer Si 64.
Rauher und blähender Si (Baumgarten)
420, Anm. 3. — Epischer St. 37980.
Dramatischer St 373. Stilisiertes Dra-
ma 3789. — Gotischer und romani-
scher Stil 395—399. Entwickelung der
Stile in der griechischen Plastik 29.
Stimmung in Farben, Formen und
Tönen 845. 156; im Architektonischen
87; in der Wortkunst 171. — St im
ästhetischen Eindruck 40. 159. Ästhe-
tische Stimmungen (Kategorien) 195.
Ekstatische St 190.
Produktive Stimmung 229 ff. 235.
Stoff 1. = Material, s. d. — 2. = Inhalt,
s. d.
Symbol. Die sinnlichen Erscheinungen
als Symbole eines tieferen geistigen
Gehaltes 21. 23. 32, Anm. 39. 40. 105.
239. In der Musik 333. 334. Im
Drama 374. Im dichterischen Schaffen
255.
Die natürliche Symbolik der Formen
162. 184, in der Karikatur 224, in der
Graphik 416. Symbolische Zweck-
mäßigkeit 394. — Gegenstand und
474
SACHVERZEICHNIS.
S. als Einheit 161. Vertauschung von
S. und Wirklichkeit 188.
Symbolische Kunst (Hegel) 467. —
Symbolisches und anschauliches Erken-
nen (Baumgarten) 26.
Symmetrie 121 ff. 173 ff. 284. 287. 306.
Asymmetrie 113. 123. 284. 314. 368.
Sympathie 23. 67. 85 ff. 90. 190. 254.
Vgl. Einfühlung.
T.
Talent 42. 65. 235/6. 240. 270. Die
spezifischen Kunstbegabungen 246 ff.
Tanz 22. 45/6. 18Z 290 fL 301 ff. 312.
341. Ballett 145.
Technik 66, des Malers 119,20, der älte-
ren Malerei 406 ff. 422, Anm. 12, des
Graphikers 417/8, des Photographen
418—420, des Dichters und des Mu-
sikers 245/6. 253. — Abhängigkeit der
Kunstleistungen von der Entwickelung
der Technik der älteren Kunst 99/100,
der primitiven Kunst 285, der kindlichen
Kunst 279, der Musikinstrumente 322.
Abhängigkeit der T. von dem exten-
siven Quantum des Werkes 150. Ab-
hängigkeit der Formengebung von
technischen Notwendigkeiten 287. —
Die musikalische T. im Dilettantismus
330 1. Besonderheit der T. 73. 420;
Beschränktheit der künstlerischen Mit-
tel s. Mittel. Material.
Tendenz 372. 381. 383. 454.
Theater s. Bühnenkunst.
Tonkunst 312—338. Die Musik der
Naturvölker 290—294. 305. 314. 315.
320, des Kindes 282. Die sogenannte
Musik der Tiere 297/8. — Die Musik
als gesellige Qeräuschkunst 329,30;
ihre Dienste im gesellschaftlichen Leben
3267. 370. 442. Musikalische Erzie-
hung 449 50. — Musik und Krieg 301.
Die Musik im System der Künste 22.
45 6. 302—310. Zusammenhang mit
der Mimik 312. Musiker, bildender
Künstler und Dichter 365.
Das Wesen der M. Die M. als
Ausdruck 14 5. 21. 192. 282. 318. 334 ff.
Metaphysische Auffassung 327. Tönend
bewegte Formen 70. 333; seeUidK
Bewegung 84. M. als erhöhte Rede
304;'5. Unbestimmtheit und WiiUid!-
keitsfremdheit 243/4. 317. 3278. m
Die Frage der Nachahmung 2Z 61.
318. Zudringlichkeit 387. Funktion ic
den Wagnerschen Dramen 378.
Der Eindruck. Empfingiidikei:
329; Unempfindlichkeit 90. 24a Ver-
sdimelzung des Voi^ganges und des
Gefühls im musikalischen Genuß IM:
Verlauf des Eindrucks im Verhiltins
zum Verlauf des musikalischen Gebil-
des 160. 180. Assoziativer Faktor 191 1
338. Die Komplikationsgefiihle 1812
Theorie der drei Rfdhtm^ea ISL
Spannung; außerästhetische Erregimgen
158. 33Z Ähnlichkeit mit poetisdiem
GenuB 172. 387.
Das musikalische Gebilde.
Rhythmus, Metmm und Takt 132-14a
Der Rhythmus als Orundpfefler der
Musik 297/8. 312 ff. Das komponiene
Ued 139,40. 326. 344. 387. Extensives
und intensives Quantum 143— 146l
Wiederholung 145. 323. Tragik 21(L
Komik 222. Vortragsbezeicfanimgeo
347. 348. EinfluB von Sachvocslri-
lungen auf den OenieBenden und anf
den Schaffenden y Einschränkung dff
möglichen Assoziationen durch dea
Gebrauch von Worten; Progrunm-
musik, Tonmalerei 3189. 327. 8. — Wort-
tondrama 41/2. 309. 3i25.
Der schaffende Musiker 241. 241
249. 267. Frühreife 333. AssoziatioB
als störendes Moment 249. Oberwia-
dung von Schwierigkeiten, Tcdmik 246l
— Notwendigkeit der Reproduktion der
Musik 237. 306. 338. Der ^eprod^Ii^
rende Musiker 257; Abhängigkeit tob
der Partitur 338. Tempo and Toa-
starke im Vortrag 180. Der Otuagt'
Vortrag 326. Der Dirigent 136l 3121
Tragische, das 13. 163. 196. 207fL 21&
277. 455.
Tragödie IZ 16. 252. 29a 375 S.
Travestie 224.
Typus (das OathuigsmiBige) 37. 678
96. 142. 199200, 245. 301. 4D49l
i
SACHVERZEICHNIS.
475
U.
Umriß 128—131. 276. 4156. 367. Ur-
sprung der U.-Zeichnung 295. Hilfs-
umrahmungen 392. Vgl. Graphik.
Unterbewußtsein s. Doppel-Ich.
Urteil 18. 96. 1823. 253. 258.
Vererbung 191. 260. 26970. Ange-
borene Begabungen 261.
Versfuß 138. 153, Anm. 15. 386.
Vollkommenheit 19—21. 24—34. 42.
394.
Vornehmheit 2023. 214. 265. 267.
Vorstellung 2578. 388, Anm. 4. 403. —
Phantasievorstellungen 78—80. 170.
Anschauliche V. 86, vgl. Anschaulich-
keit Oattungs-V. 199, vgl. Typus.
W.
Wahrhaftigkeit des Künstlers 268,9.
379. Eindruck der W. des Kunstwerks
99, in der Architektur 3978. Ehrlichkeit
456. Gewissenhaftigkeit 229.
Wahrnehmung 15. 72. 74. 7980. 1145.
21920. 354/5.
Wert 91. 93. 96,7. 381. 393. 441.
Wiederholung als Prinzip der elemen-
taren Ästhetik 121 ff. 127/8. 140. 144,5.
Abschwächung des ästhetischen Ge-
nusses durch W. 155.
W. in der primitiven Dichtkunst 289.
292, im Ornament der Naturvölker 284.
285, in der Linienkunst 392, in der
Redekunst 145. 369, in der Musik 145.
323.
W. vorhandener Objekte = Nachah-
mung, s. d.
Wirklichkeit Verhältnis der Kunst und
der Künste zur W. 38. 60 ff. 74;5. 79.
110. 23940. 2434. 276. 308. 415. 436 ff.
Vgl. Kunst.
W.-Beobachtung in der japanischen
Kunst 283. Befreiung vom W.-Zwang
beim Komischen 217, beim Witz 222.
W.-Fremdheit der graphischen Kunst
414 ff., des Umrisses 416, Widerstand
der W. gegen Wiederholung 392.
Vgl. Naturalismus. Schein. Nach-
ahmung.
Witz 220 ff.
Wortkunst 353 ff. Unterarten 12. 369.
Quantitative Unterscheidung 145. —
Die W. im System der Künste 45/6.
47. 302—310. Erklärungen der W. 13.
41. 47. Die W. als Nachahmung 10.
Die Umformung der Wirklichkeit in
der Sprache 366/7 und der W. 14. 40.
239/40. Die Sprache eine Welt für
sich 355 ff.; das Sprachliche als Wesen
der Poesie 171. 257. 289. 358/9. Die
Schwierigkeiten, Seelisches in Worte
umzusetzen 259. 335. — Vgl. Anschau-
lichkeit Metapher. Sprache.
Der Eindruck. Die intellektuellen
und Inhaltsgefühle beim ersten Ein-
druck 157. 383. Spannung 158,9. 172.
367. Individueller Faktor 159/60.
Schwanken der Aufmerksamkeit 160.
Phantasietätigkeit des Genießenden
364. — Im übrigen 154—194.
Das dichterische Gebilde. Intel-
lektuelles Moment 69,70. 357; seine
Bewertung beim Publikum 68,9. Mas-
senverbreitung 445. Essentialismus,
Idealismus 35; seine Schwierigkeiten;
Vieldeutigkeit des Kunstwerks 67. 374.
Neigung zur Übertreibung des exten-
siven Quantums 143/4; Grenzen der
Einfühlungsmöglichkeit 149. Die Dicht-
kunst im deutschen Unterricht 450/1.
— Im übrigen 104—153.
Der Dichter 229—275. Stellung
zum Leben und zu den Menschen 242.
259/60. Unabhängigkeit vom äußeren
Leben 267. Verhältnis zur Wirklich-
keit 243 4. Menschenkenntnis 250 ff.
Der naive und der sentimentalische,
der klassische und der romantische,
der Ich- und der Sach-Dichter 36. 245.
Malerische und musikalische Dispo-
sition 249,50. Rezeptive und aktive
Naturen, veränderiiche und stetige Cha-
raktere 260/1. Vergleich mit dem bil-
476
SACHVERZEICHNIS.
denden Künstler und dem Musiker 365.
Überwindung von Schwierigkeiten; Ent-
wickelung der Technik 245 6. 253. Sitt-
lichkeit 4556. Vgl. die Unterarten
Redekunst, Drama, Lyrik, Epik.
Worttondrama 41.2. 309. 325.
Wunderbare, das 222. 247. 255. 276.
Vgl. Märchen.
Zeichnen der Kinder 277 ff. 451 , der
Naturvölker 287—289. Mitteilungskraft
der Linie 390. Förderung der Anschau-
ung durch Z. 354. Z. und SchrdbeQ
s. Schrift — Vgl. Oraphik.
Zierlichkeit s. Grazie.
Zufall 222/3. 381. 393.
ZweckmäßigkeiL Einfluß des Zwedes
auf die Form des Kunstwerkes 121
286/7. 301. 3Q34. 397—399. Zwed-
schönheit; formale, subjektive, symbo-
lische Zweckmäßigkeit 17. 31 ff. 111
394. Ableitung des Schönen ans der.
Nutzlichen 200.1. 296. Der Nutzen als
Moment in der Entstehung der Konsi
301. Nfitzlichkeitsbegriff in der Natur-
auffassung 110.
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SCHWÄBISCHE SCHULE,
MARIA MIT KIND UND EINER HEILIGEN
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Mit gtügo Erlaub !ii» von ßramn ik Schneider. MüriLheti
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Mit gütiger Erlaubnis von R. Voigtländers Verlag, Leipzig
AUS »LEVINSTEIN, KINDERZEICHNUNGEN BIS ZUM 14. LEBENSJAHR«
(Zu Seite 379 ff.)
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TAFEL XV.
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(Zu Seite 4iTn im<l 41.1511
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Fontaine des Innocents, Paris
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15. Jahrhundert
JEAN OOUJON, NYMPHE
(Zu Seite 97 und 403 ff.)
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(Zu Seite 98, 103, 409 und 413)
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RAFFAEL, SIXTINISCHE MADONNA
(Zu Seile 14S, 412 mul 427)
TAFEL VII.
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SCHWÄBISCHE SCHULE,
MARIA MIT KIND UND EINER HEILIGEN
(Zu S<.ite 148 und 412)
TAFEL Vin.
Mit gütiger Erlaubnis von Braun & Schneider, München
Aus den * Fliegenden Blattern*
»'s Lachen is doch a' g'spassige SachM . . Wenn i* lach', lachen alle mit!«
(Zu Seite 93 und 317)
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(Zu Seite 242 und 408)
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TAFEL XIV.
Mit gütiger Lrlaubm» van R» Voigtl^tnden V^eT}ii4\ t^fidif
AUS aEVlNSTEIN, KINDERZEICHNUNGEN BIS ZUM 14. LEBENSJAHR
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TAFEL XV.
Relief in lier \ 'illa Albnui, Rom.
ANTINOUS
(Zu Seite 400 und 405 I
TAFEL XVI,
Phot. F. Hanfstacngl, München
G/asj^(Ku
J. McNEILL WHISTLER, THOMAS CARLYLE
(Zu Seite 414)
TAFEL XVII.
BETENDE NONNE
Lichtbildshidie von Alfred Enke
(Zu Seite 414 und 430)
TAFEL XVIII.
SOMMERTAG
Lichtbildstudie von Alfred Enke
(Zu Seite 420)
TAFEL XIX.
Phot. F. Hanfstaengl, München
London, National Galtet y
MICHELANGELO, MADONNA
(Zyx Seite 123, 174 und 429)
My
Verlagswerke.
-~^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTOART. -i-
Soeben beginnt zn ericheinen;
Zeitschrift für Ästhetik
und
Allgemeine Kunstwissenschaft.
Herausgegeben von
Max Dessoir.
Erster Band.
1. Heft. 10 Bogen. Lexikon-Format. 1906. M. 5.—
/)ü Zeitschrift erscheint in Heften von acht bis zehn Druckbogen ^ wovon je vier einen
Bufid bilden. Der Preis der Hefte wechselt nach dem Umfang, die Bereclmung erfolgt
heftweise. Es ist alljährlich die Ausgabe eines Bandes beabsichtigt.
Prospekt.
Der Sinn für die ästhetischen Fragen und die allgemeine Theorie der Künste
hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie die Zahl derer, die auf diesen
Grebiet wissenschaftlich tätig sind; die Probleme besitzen einen Umfang und euu
Tiefe, die ein besonderes literarisches Organ für ihre weitere Bearbeitung geradezu
notwendig machen. Es ist ein Übelstand, daß sachlich Zusammengehöriges gegen-
wärtig in viele und verschiedenartige Zeitschriften verzettelt wird, daß jeder, dei
sich mit ästhetischen und künstlerischen Dingen beschäftigt, die neuen Forschungei
mühselig sich zusammensuchen und aus der Verbindung mit anderen Angelegenheitei
lösen muß, daß nirgends durch Berichte ein umfassender Überblick über die s<
mannigfaltigen ästhetischen Untersuchungen geboten werden kann.
Aus solchen Erwägungen heraus ist die oben genannte Zeitschrift begründe
worden. Sie wird in Heften von 8 — 10 Bogen Umfang erscheinen; jährlich werdei
etwa vier Hefbe, die einen Band bilden, ausgegeben werden. Jedes Hefl enthäl
außer einem systematisch geordneten Verzeichnis der neu erschienenen Bücher un<
Aufsätze eine Anzahl von Abhandlungen und Besprechungen. Nur wissenschafblicl
wertvolle Beiträge kommen in Betracht, doch werden sie im Hinblick auf die er-
hoffte Anteilnahme aller ernstlich Interessierten ohne übertriebene Gelehrtenhaftig-
keit abgefaßt sein. Studien zur Geschichte der Ästhetik, experimentelle Unter-
suchungen über die elementaren Verhältnisse, Analysen der ästhetischen Wirkungen
exakte Forschungen über die Kunst der Naturvölker und der Kinder, über dai
Schaffen des Künstlers und die allgemeinen Fragen der Poetik, der Musikästhetil
und der Theorie der bildenden Künste, endlich auch inhaltreiche Erörterungen de;
Stellung, die die Kunst im geistlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt — dai
wären die Arbeiten, die hier gesammelt werden sollen. Auf dasselbe, nur ungefäk
umschriebene Feld beziehen sich uuch die Berichte.
-^^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART, i--^
Der INHALT des ersten Heftes ist der folgende:
Prof. Th. Lipps-München, Zur , ästhetischen Mechanik ^ — Prof. E. Länge-Tübingen,
Die ästhetische Illusion im 18. Jahrhundert. — Prof H. Riemann-Leipzig, Die Ausdrucks-
kraft musikalischer Motive. — Prof. G. Simmel-Berlin, Über die dritte Dimension in der
Kunst. — Prof. H. Spitzer-Graz, Apollinische und dionysische Kunst. (Fortsetzung folgt.)
— Dr. Th. Poppe-Frankfurt a. M., Von Form und Formung in der Dichtkunst.
BESPRECHUNGEN:
Th. Lipps, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. 1. Teil. Bespr. von
Herrn. Vahle (Berlin). — Stephan Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik. Bespr.
von Dr. Edith Landmann-Kalischer (Basel). — Johannes Volkelt, System der Ästhetik.
1. Band. Bespr. von Prof. Dr. H. Dinger (Jena). — Paul Bjerre, Der geniale Wahnsinn.
Michael Haberlandt, Die Welt als Schönheit. Bespr. von Max Hochdorf (Berlin). —
Siegfried Levinstein, Kinderzeicbnungen bis zum 14. Lebensjahr. Besj)r. von Dr. Max
Osborn (Berlin). — Kurt Hey, Die Musik als tönende Weltidee. 1. Teil. Bespr. von
J. Vianna da Motta (Berlin). — Emil Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik.
Bespr. von Prof. Dr. R M. Werner (Lemberg). — Rudolf Borchardt, Das Gespräch über
Formen und Piatons Lysis deutsch. Hespr. von Dr. Edith Landmann-Kali.scher (Basel).
— Johanna de Jongh, Die holländische Landschaftsmalerei. Bespr. von Dr. Paul Kühn
(Leipzig). — Heinrich Wolgast, Das Elend unserer Jugendliteratur. 3. Aufl. Bespr. von
W. Franz (Berlin)
SCHRIFTENVERZEICHNIS für 1905. Erste Hälfte.
Für das zweite Heft sind folgende Artikel vorgesehen:
Prof. Joh. Volkclt, Sachliches und Persönliches aus meinen ästhetischen Arbeits-
erfahrungen. — Prof. Jonas Cohn, Zur Vorgeschichte eines Kantischen Ausspruchs über
Natur und Kunst. — Prof. E. Große, Der Stil der japanischen Lackkunst. — Dr. Olga
Stieglitz, Die sprachlichen Hilfsmittel für Verständnis und Wiedergabe von Tonwerken.
— Dr. R. Ameseder, Über Wertschönheit. — Dr. R. Hamann, Individualismus und Ästhetik.
— Prof. H. Spitzer, Apollinische und dionysische Kunst. (Fortsetzung.) — Besprechungen.
Bibliographie.
Philosophisches Lesebuch
von
Prof, Dn M. Dessoir und Doz. Dn P. Menzer.
Zweite vermehrte Auflage.
8^ 1905. geh. M. 5.60; in Leinwand gebunden M. 6.40.
Inhalt: I. Plato. — II. Aristoteles. — III. Sextus Empiricus. — IV. Seneca. —
V. Plotin. — VI. Thomas von Aquino. — VII. Meister Eckhart. — VIII. Francis Bacon. — -
IX. Descartes. — X. Spinoza. — XI. Locke. — XII. Berkeley. - XIII. Leibniz. — XIV. Hume.
— XV. Kant. — XVI. Fichte. — XVII. Hegel. — XVIII. Herbart. — XIX. Schopenhauer. —
XX. Comte. — XXI. J. St. Mill. — Namenverzeichnis. — Sachregister.
Das Lesebuch darf man als ein in jeder Hinsicht glückliches Unternehmen
zur Förderung und Vertiefung der philosophischen Bildung begrüfsen. Ohne Zweifel wird durch
das hier angewendete Verfahren, Exzerpte der sachlich bedeutsamen und für den Autor und die
GedankenentwickeluDg charakteristischen Äufserungen früherer Philosophen im Original bezw. in
getreuer Übersetzung vorzuführen, pädagogisch mehr erreicht, als durch eine den ursprünglichen
Stoff umformende Geschichtsdarstellung. Dem verderblichen, die Halbbildung zeitigenden Einflufs
der Kompendien von Geschichte der Philosophie zu begegnen, scheint das Lesebuch ein vortreff-
liches Mittel. Die von den Herausgebern den Elxzerpten beigegebenen Anmerkungen sind teils
sachliche Kommentare teils bibliographische Hinweise.
Literarisches Zentralblatt 1903, Nr, 50,
-^h VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART,
Epictet und die Stoa.
Untersuchungen zur stoischen Philosophie.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8». 1890. geh. M. 10.-
Die Ethik des Stoikers Epictet.
Anhang: Exkurse über einige wichtige Punkte der stoischen Ethik.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8^ 1894. geh. M. 10.—
Ludwig Feuerbach.
Von Dr. C. N. Starcke.
gr. 8^ 1885. geh. M. 9.—
Die soziale Frage
im Lichte der Philosophie.
Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte.
Von Prof. Dr. L. Stein.
Zweite verbesserte Auflage.
gr. 8^ 1903. geh. M. 13.— ; in Leinw. geb. M. 14.40.
Ethik.
Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze
des sittlichen Lebens.
Von Wilhelm Wundt
Dritte umgearbeitete Auflage.
Zwei Bände, gr. 8^ 1903. geh. M. 21.— ; in Leinw. geb. M. 24.20.
Logik.
Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der
Methoden wissenschaftlicher Forschung.
Von Wilhelm Wundt
Zwei Bände, gr. 8^ 1893—1895. geh. M. 43.—
I. Bd. Erkenntnislehre. Zweite, umgearbeitete Auflage, gr. 8^ 1893. geh. M. 15.-
II. Bd. Methodenlehre. I.Abteilung. Allgemeine Methodenlehre. Logik der Mathemati
und der Naturwissenschaften. Zweite, umgearbeitete Auflage, gr. 8
1894. geh. M. 13.—
11. Bd. Methodenlehre. 2. Abteilung. Logik der Geisteswissenschaften. Zweite, um
gearbeitete Auflage, gr. 8^ 1895. geh. M. 15.—
Union Deutsche Verlagsgesellschafft in Stut^art, Berlin, Leipzig.
Lichtbild-Studien.
Dreißig Heliogravüren nach Aufnahmen von Alfred Enke.
Folio. In eleganter Mappe. 20 Mark.
iuhalt : 1. Eugadiner Bäuoriu. — 2. Morgen in San Martino. — 3. Venezianischer Muscbelhändler. —
4. Schloü am Meer. — 5. Studie. — C Vorfrühling. — 7. Auf der Weide. — 8. Italienische Villa. —
9. Studie. — 10. Gewitter in den Borgen. — il. Im Klostergarten. - 12. Erwartung. — 13. Studie. —
14. Villa d'Este. — 15. Ave Maria. — 1«. Bergsee. — 17. Orientalin. -- 18. Herbatmorgen am KOnigssee. —
19. Bergamaske. - 20. Mondnacht in Florenz. — 21. Bacchantin. — 22. Sonntagäfrleden. — 28. Bei der
Arbeit. — 24. Mühle im Gebirg. — 26. In der Kirche. — 26. Am Waldbach - - 27. Sehnsucht. - 28. Dorf-
gasse. — 29. Studie. — 30. Ein stiller Winkel.
Der bekannte Schriftsteller J. C. Heer äußert sich über das Werk in der „Neuen
Züricher Zeitung** wie folgt:
Als die Kunst der Photographie entdeckt wurde, trat sie zunächst jahrzehntelang in
den Dienst der reinen Wiedergabe der Wirklichkeit, war sie ein durchaus naturalistisches
Konstgewerbe. In neuerer Zeit aber liat sich zu der stetig wachsenden Ver\'ollkominnung
der technischen Hilfsmittel eine außerordentliche Verfeinerung des Geschmacks und der
Auffassung gesellt, welche, wie die auch aus der Schweiz viel besuchte photographische
Ausstellung in Stuttgart bewies, die Photographie aus dem Rahmen des Kunstgewerbes in
die Höhen der wirklichen Kunst erhebt. Ein glänzendes Zeugnis dafür sind die Lichtbild-
Studien Alfred Enkes in Stuttgart, wahre Kabinettstücke der photographischen Kleinmalerei,
Genres und Landschaften, wie sie der Künstler auf Ferienfahrten in Italien, den Schweizer-
und österreichischen Alpen entdeckt hat. Glückliches Finden und feinfühlige Wahl des
Motivs, Schönheit der Belichtung und plastische Modellierung fesseln uns, ob der Künstler
das Figürliche oder Landschaftliche bevorzugt, und Blatt um Blatt überrascht uns lebhaft,
wie außerordentlich fügsam sich ihm die Technik erweist. Die Wiedergabe der einzelnen
Stücke durch die Verlagsanstalt ist tadellos vollkommen, der Preis im Verhältnis zum Ge-
botenen durchaus billig, und wir denken, daß das schöne Werk nicht nur bei den Photo-
graphen, die darin einen Triumph ihrer Kunst sehen müssen, sondern auch in kunstfreund-
lichen Familien die wärmste Aufnahme ßndet . . .
VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART.
Neue Lichtbild-Studien.
Vierzig Blätter von A L F R E D ENKE.
Folio. In eleganter Mappe. 12 Mark.
Inhalt: Das Marcbeu. Im FrUbling. Des Liedes Ende. Mondnacht bei Lindau. Heimkehr vom
Feld. Bergpfad in Südtirol. Die Gebieterin. Alte Schloßtreppe. Das Alter. Gräberstraße bei Pompeji.
Bildnis des Professors K. in Berlin. Sommerabend am Bodensce. Luiginn. Campo Santo. Madonnen-
Studie. Arven im Hochgebirg. Trunkene Bacchantin. BuchenwaM im Sintherbbt. Melancholie. Schloß
in den Bereen. Weibliches Bildnis. Am Weiher. Bildnis eines jun^tMi Kiinstlt-rs. Kalvarienberg. Lili.
Sampliges Ufer. Dämmerung. Das PfOrtchfU. Italienischer Dorfwirt. Nächtliche Fahrt. Junger SUd-
tiroler. Gelände am Comersee. Heimkehr von der Alp. Lesendes Madchen. Heuernte am Maloja.
Sturmwind. Abend am Canale Grande. Die Wunderblume, üsteria. Abemlstunde.
Kein bloßer Liebhaberphotograph, ein Künstler hat diese Aufnahmen gemacht.
Ein Künstler, der es versteht, mit feinem Geschmack und vertiefter Auffassung das Hand-
werk des Photographen auf die Höhe echter Kunst zu heben. Zeigt sich der feine Ge-
schmack im Suchen nach Motiven, die er zu Bildern voller Poesie und Plastik zu verdichten
vermag, so die vertiefte Auffassung darin, daß man mehr als einmal an den einen oder den
anderen großen Maler unter unseren modernen Meistern, an das eine oder das andere be-
dentende Bild, das Enke angeregt zu haben scheint, erinnert wird. Nimmt man dazu die
wechselreiche Auswahl an Köpfen, Porträts und Landschaften, von denen wir die „Heim-
kehr von der Alp*" als Muster für die Würdigung des Verhältnisses von Landschaft und
Staffage hinstellen möchten, so wird man dem bedingungslosen Lobe beistimmen, das wir
schon der ersten Sammlung .Lichtbild-Studien' von Alfred Enke vor zwei Jahren spenden
konnten. Das Album sei jedem empfohlen, der, ein Freund der Knnst, Verständnis auch
für die als solche zur Genüge erwiesene Amateurphotographie hat. Auf den Weihnachts-
tisch des Liebhaberphotographen passen die beiden Enkeschen Mappen
besser als alles andere auf diesem Gebiete. Kunst für Alle. igo2ls- Heft 6,
^■^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART. ^>^-
Die Karikatur und Satire in der Medizin.
Mediko-kunsthistorische Studie von Dr. Eugen Holländer»
Chimrg in Berlin.
Mit 10 farbigen Tafeln and 223 Abbildungen im Text
hoch 4\ 1905. Kartoniert M. 24. — , in Leinwand gebanden M. *2T.—
Inhalt: Yerzetchnifl der Abbildungen. — Litentnrrenelchnii. — Einleitung. — Karikftscr und Satize
mit Bezog eiif Medizin. Die Karikator bi« zur Beformation. Settre und KArikatar nn Befurmationaseitalfier. —
Die Kerlkatnr der Pathologie. Die Gicht. Infektlonaknnkbeltea. Nerröee AffekUanett. GraTidlcit. Irrita-
■MBta externa und Varia. — Der Arzt ala Menaeh und alz Stand. Dae Arzthonorar. — Die praktiache Heil-
kunde im Blebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Der tierlache Magnetlamos. Jenner und die Euhimpftm«.
— Die Paraciten der Heilkunde ^ Die politieeh.medizlniache Eartkatur und Satire. — Die moderne medul-
nlaefa« Karikatur.
Holländer hat mit diesem seinem neaesten Pracht wceIe nicht nur sein erstes in idealer
Weise er^nzt. sondern auch die historische Literatur mit einer weiteren Gabe von mona-
mentaler Bedeutung bereichert Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses neueste Gegen-
stQck zu dem älteren Werk im Verein mit ihm dem Verfasser einen hervorragenden und
daaemden Platz in der Literatur der medizinischen Kulturgeschichte sichert. — xfoch mehr
fast als das vor zwei Jahren erschienene Werk wird die , Karikatur und Satire in der
Medizin* das Entzücken der kun^^tfreudi^en und kunstfreundlichen Kollegen erregen und als
aberaas gesdimackvolle und pausende Weihnachtsgabe in ihren Kreisen weite Verbreitung
finden. Prof. Pagel-Berlin. Deutic-s Ärzte-Zeitung i^s-
Die Medizin in der klassischen Malerei.
Von Dr. Eugen Holunder, Chirurg in Berlin.
Mit 16o in den Text gedruckten Abbildungen.
hoch 4*. 1903. geheftet M. 16.—, in Leinwand jrebunden M. 13.—
Inhalt: Vorwort. Einleitung. Die Anatomiegemäld*. Sfedizinische Oruppenbilder. Kraakhei
■teUungen. Innere Medizin. Ch:rurgt<3 AIl*zorien, Hoepltäl^r ;i&l Wochenstaben. Hetlz^nbehaadlans.
SchXnäwcrt.
. . . Wie sehr hat der Autor die sm sein Werk geknüpften Hoffnungen und Erwartungen
zu übertrumpfen verstanden ! Denn ebenso glänzend wie die äußere A;:?stAttung.
Auswahl, photographische Rejiroduktiun der Gemälde und die sonsiis-e tvpo-
graphische Technik hervortritt, ebenso, ji noch glänzender, ist der^dieBil-
der begleitende Text. Prof. Pagel-Berlin. * Deutsche Ärzte-ZAtunr —sj, .W. /.
Die Wochenstube in der Kunst
Eine kulturhistorische Studie von Dr. med. Robert Mfillerheim.
Mit 13S Abbildungen.
hoch 4*. 1904. Kartoniert M. 16.—, in Leinwand gebunden M. IS.—
Inhalt: Verlort. Einfuhruns. Die Woehenätube. Dae Bftt. GeburtHtuhl PJece der Wö^mcu.
Pfleae de« Klndee. Kleidung dee Kinde!:. Emihnmg de« Kindei Bett de« Kin-iee. GLub« and Abec^acbi»
la der Wochenerab«. Volkstümliche und gelehrte Anschauungen. Kultui der Wöchrer.a. Ende d«s Wccbfs-
bettc. Anhang. Quellen und Anmerkungen.
Das Buch ist ein schönes Zeugnis, daß unsere Kunst nicht ganz :n dem handwerks-
mäßigen Broterwerb aufgeht. . . . Umso freudiger begrüßen wir ein AVerk wie das vor-
liegende, und umso herzlicher danken wir dem Autor für die mühevolle, von tiefem Ver-
ständnisse tv:r die Kunst und die WissensL-hat: zeugende Sammlung «.le? einsoblÄirigen
Materidlef. Der Autor hat ganz recht, wenn er sag:, daß gerade die bildlichen Dar^tellinÄen
früherer Sitten und Gebrauche uns am besten in das Familienleben vergansener Zeiten ein-
führen. . . . Nicht nur die zahlreichen — 138 — Abbildungen wird jeder Geburtshelfer t?II
Interesse betrachten, auch der Text i?t außerordentlich interessant und lesenswert.
Zentral} 'at: für Gvnj-i^.'f^ icc<, .V*- -\
VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART, }>^
Grundriß der Anatomie für Künstler.
Von M. Duvaly
Professor der Anatomie an der Kunstakademie zu Paris.
Autorisierte deutsche Übersetzung herausgegeben von Prof. Dr. med. F. Neelsen.
Zweite Auflage bearbeitet von Prof. Dr. Erni^t Gaupp.
:\rit 78 Abbildungen.
8". 1901. geheftet M. 0.—, in Leinwand gebunden M. 7.--
Ein auch von dor deutschen l^resse warm empfohlener, an verschiedenen Kunstaka-
demien eingeführter Leitfaden, der mit kna])per Fassung lebhafte, anregende und leicht
verständliche Darstellungsweise verbind('t. Die zweite Auflage ist von Herrn Professor
Gaupp in Freiburg gründlich durchgesehen und ergänzt worden. Auch wurden sämtliche
Abbildungen nach neu gezeichneten Originalen auf das Sorgfältigste erneuert. Demunge-
achtet wurde zur Erleichterung der Anschauung der bisherige, billige Preis eingehalten.
Der Grundriß sei allen jungen Künstlern wärmst ens empfohlen.
Geschichte der Metallkunst.
Von
Dr. Hermann Liier, und Dr. Max Creutz,
Leiter der Fachschule für die Solinger Induptrie. am kgl. Kunstgewerbemuseum, Berlin.
■ l Zwei Bände, l •
Erster Band: Kunstgeschichte der unedlen Metalle. Schmiedeisen. Gußeisen, Bronze, Zinn,
Blei und Zink. Bearbeitet von Dr. Hermann Lüer.
Mit 445 Textabbildungen.
gr. 8^. 1904. geheftet M. 28.—. elegant in Leinwand gebunden M. 80.—
Dem Verfasser kam es in erster Linie darauf an, eine für die Gebiete der Metallkunst
bis heute fehlende Zusammenstellung der bedeutsamsten Werke zu geben und die wichtigsten
darüber bekannten Nachrichten auf Grundlage der bis in die jüngste Zeit veröftentlicnten,
sehr verstreuten Einzeluntersuchungen vergleichend beizufügen. Die wichtigeren benützten
Quellen sind im Texte angeführt. Zum Studium der äußerst interessanten Geschichte der
Metallkunst ist das Werk ein ausgezeichnetes Buch; derjenige, der sich nur belehren will,
wird mit den kurzen Mitteilungen und den vielen guten Abbildungen genug haben; dem,
der tiefer in das Gebiet einzudringen wünscht, ist es ein hochzuschätzender Wegweiser.
Deutsche Kunst und Dekoration igo4!igoSy Heß IV,
Die Frau in der bildenden Kunst
Ein kunstgeschichtliches Hausbuch
von Anton Hirsch,
Direktor der großherzoglichen Kunst- und Gewerbeschule in Luxemburg.
Mit 330 in den Text gedruckten Abbildungen und 12 Tafeln,
gr. 8°. 1904. Geheftet M. 18.—, elegant in Leinwand gebunden M. 20.—
Die bildenden Künstlerinnen der Neuzeit
Von Anton Hirsch,
Direktor der großbersoglfohen Kunst- nnd Gewerbeichule in Luxemburg.
Mit 104 Textabbildungen und 8 Tafeln.
gr. 8^ 1905. Geheftet M. 9.20, elegant in Leinwand gebunden M. 11.—
-^^ VERLMI VOM FERPIIIAMP EMKE IM STUITGART,
Die Schönheit des weiblichen Körpers. ^^JS
Tob De. C IL Stralb liHiiiiti AiilmL Kl 3?» teEb Ck^^ol AbUr
im Tot, 6 Tafefai m DmgXSSSSSiSrSältaiA m Tmi^ernkmek. gn g«.
. IL 15u«t degL a Icinr. gebt IL ITjSQl
i> «rfcnntoftMft^iiiy — IL. ]
I ka. «er Ijansr. - IT.r
— TÜL Fhiififd Tim KnBUfli
A» Uaver&n. — X. BcvtqbZosc <■§ K3e9«B9 tn. ■T^miiIihii — XI. Eoff ^aä
, litiif ii. Bnm, Baodk. Em'fcf , Hiftan cul flwgrt — XHL Otart wii
. — XT. ScUatefi dR- Fwfcfc — XVL Se&i3«tett «sr Bipuhuj.
Im Ww'imaa Kfcvcei. — XTH r<fceihL<Ll> Aar j<cffiwi«n
ZfIZI. TwpoliiM ta «BT Esas «ad KuMtferok. Xo^rila — XZX. Tae
Die Rassenschönheit des Weibes, l^f^^^^^f^
gedinekta Abbüdaagi» ns«! 1 K&ne m Fvbflninxfc. gr. ?*■. IS^>L gtdk. 3L 14.—,
ckg. ä LeiEv. geb. 3L Io.40.
u I. iitnJIiTa— B. SBd SfgztZMi i. Vagio» md y^tBii^Miliiiiiiii j_ WmUam vb<
S. Dl« KaCk.;.aa nd AkkM. •<. Z>to MTilJuitoeiigi. itSaanm^ — LT Ow
JayaMvmB. — T. Dt« 3B«rtatoefc» 1
— TL Der MiMtwte Easpr^B^m 4sr itTntriiMfcaete» BsMt. Htadoi. FvaKSuioa vad Zc^tnoiT
— TU D;* ■miirttphiB Ba««B. L Dfs ^thfftan mmMrfHitaeh. - auiagilbwgfatt Ibadtnamtm:
lamm, «ad Owfit—rht— . D« iiimhitii— fn OcnafisK — SaodvafcaflBLa . CariL-asa. imsam^ '.
äämtntnUmmnttn, WimimdaLbrnttmamtla^ ^nii— iTi i< >Xiacm' 1. E«r v«fs:^t:äai ¥ ■■ in —ii •> '
wmkaK. bi Dte ii^liSTfaefeB HfiHn— — TEIL Dt« ±t«c wreatTäiwImefttfa rsoK-uHs. L Cto aftä
eb» Sciaa«. "Mihi twAi jtrinri« i. Du ramaouKn« B4m»7 SI^mbk. TfT%rri_
B4l«tm. Sl Dm omdlicb« Bm»: J-jideriaadL L>wi«r'"ii ft-ü^
- - — rtT - — —
Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung.
Von Dr. C H. Stnfz. Dritte TöDig «■giarbritete AxflaCT. Mis di^ Aböild^iigea mid
1 Tafd. firr. ^^ 15»>L ?*li. M. 15.—, el«. ia Leu». g«b. IL l-S.!»}.
UZ. fi'-n^hid <far ftM»». «äcr j^.spatiiiaefcai Latp? oad 4«r Ztjtzt vxi Lj» I;rygL ■^aüh. i^f. — IT I>sr
KÄvp«ncii«artk »• EgmalTiny^ b< 9«ri)«c«cti3rx :k X3i2 T^zc'9'jeri:xf S-lcyta^irnnt i. um. Z:r7«r be»
fcBJpft 3«km«efcK3ekc — T. Zrjt ;r.-sta*4 IlAiny H lAaeica-zck: — TL Da? s^iyoMb« ZltHii-aif SocIjl —
TIL Dfft arfcstarii« XL^^izo^ H-sin». Jacke* — Tm. Du» TiVkatsaAz aa^anasQ^iime^ee Kil-sxr-r iHir 1. flfai
■aeft« 4rapf«. 2. T-rfhi*'hit Grx;?«. 3 Iaii:<:iL:af!«si*Tte läripp«. 4 LiLbbi-s*:!!« t^np^. — O. Di* Tolk»-
UMiiran «cnpifeKbcr XzIarvILk^r. I. Cr«» ^ts^nzLi'zh'S T:Llasntsb.^ S Dt.« SBadafiT^dt-aBB. f. Dfe Ho««
tfa «uffiTfi ht TotkKr«efc:. — X. Dt« Bi:<2«n« r:r:;ÄLK:ä« rrsaAÜEltfutexr L rszorkjssibr t, ObstUieider.
— XL rtnihx-^ dar d^dan^ ta£ dn ««iborii«n. KZrgmz. — XTT. T ihnwi iiiin Ar- YrsaoBJkLaihoq;
Der Körper des Kindes. yrnD-Tcksm. z^^^j^jct
1*7 m den T-=xt gedmofcen Abbüdüngen ühi 2 Taf-In. gr. S*. läO^i. zfn. IL lö.— .
riesz-, is Leinw. geb. M. 11.4*j.
In kalt: ESalnssa;;. — L Di« «mbr^Qna:« Zasw^eü^s^. — IZ. Ti« araftbors« Tirf — m. Dv
fiafinii das Kx»i«a. — IV. Waducaci «ad PrcpisnioBeix. ~ T. HmaMni« ri itlii — TL Ew aocKai»
KatwtekXsac das ITfuiia tai an^vactacs. — TZZ. Daa HasfiinfßaJseT «zal ±« «ne» FiH«. 1.—^ Jakr.) —
TÜL Dte «nfet SCnekaa«. <3 —7. .Xakr.) - EL Dt« rveCw KIZ«. i^.— l). Jakr.> — X. £i« iwüae flirsekasf.
fU.— 15 laftr.; — XL Du Bcfft. il5.— 10. Jakr r — XIL Eaiamda« BaaMA : »^ Fncnfe Sintis««, bi BmAsr
daa «tfdaa BMasakraa«*. •!> L:ä'l<r dea fetbcc Sa«a«akr«tjciw d> Kladtr daa ack-vaEaaa TriaaaiiViif imi.
Die Körperformen in Kunst und Leben der Japaner.
Von Dr. C H. Stratz. Zweite AafUge. iüt 112 i=. den T^x: »ir^cceii A'cci:i:3igen
znd 4 firbi^-rTi Täfeln, gr. ä'. lyj4. geh. iL S.«5«l'. elec. in Lcfn^. i«b. iL 10 —
Izh&:?: El^>'.Tz^ — I. Dt« Körp«rfora4n dar Jx^ms/iv. I. Tm SksltfCt. 3 XjJ*» -is-i Fr:;*:r:::s«=.
:. 'j^^iibStbCi-zz/f l, Kdrp«r%i!d.Ta4. — IL JaFaatacb«r Sehöc^rKSbecrtf -zad £:«Bt«i:ik. L Xif^iämi^i dar
x.':r;«rli.ti:«a »t&^rbiKt t. Ei-at:t.-a« i:r!i>:kaaa d«r 5dl 3«^«::. — ZIL r«t y^itk» .ai ^Lr. ::^-«!i La!»».
l. Iz iäT OcfiiB^Iz-ikkirti. f Im Eaoae. — IT 'Dansalliia« <i-a rackaaa K3rp«r« la d^; Exr«-:. L \I-j«-
=«;£<*• IL Ii«»:- -zcA :X irxiJljpmMl'L J. Xjt!:o!c9*ack« DanMÜ-z^^aa i. CarvwLlxsirnr vu i-Rn ^i4::eaica
L«fa«c a. BC7ad«a>b<a- AxäRaeklrz-ja Xid«fa«a. Arbeiter. Bta^cr. b- Eiulicftksn. I>»kAbi--; Tctjaoa.
BAdar. Tc«kl-van. Kn^sk. ■- B<»:a'f«r* £r«i.rilaa« X3d SzssJCioMn. r«bRr«acb.7a^ tsi Ba»if. ywhtifc*«"
^Tik. B<rasb«af «dl«r Daaes. JLviktä9oä«nksr*v
ft-.
TAFEL XVI.
UM Wii-
U
TAFEL VI.
nmr t- llanftfacii^t, llUbeh«
i'r-fi,Uf'. Af/. tf^mtiM^^üifrU
RAFFAEL, SIXTINISCHE MADONNA
(Zu Seite 148, 413 und 437)
TAFEl VII.
SCHWÄBISCHE SCHULE.
MARIA MIT KIND UND EINER HEILIGEN
«/j N.itc 14I uoti 41«
TAFEL XVI.
i^bol. F Jlimr€t.icnglj Muuchtn
C/ujrfUTO
J. McNEILL WHISTLER, THOMAS CARLYLE
{Zu Seite 414)
TAFEL IX
^ 4
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TAFEL XVIII.
TAFEL XVI] I
^ ^ VI
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SOMMERTAü
Lichtbildstudte voti Alfred Enke
v:\
TAFEL XIX,
t*hßi, F HanTiii^engll, Altincheta
i^&ndeHt NntiefHat G&Üify
MICHELANGELO, MADONNA
PZu Sdie 133, 174 vmd 4,^^
TAFEL XII.
BRUNELLESCO, DIE OPFERUNO ISAAKS
Zu Seite 242 und 408'
^M- VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART. }-^
Der INHALT des ersten Heftes ist der folgende:
Prof. Th. Lipps-München, Zur .ästhetischen Mechanik". — Prof. K. Länge-Tübingen,
Die ästhetische Dlusion im 18. Jahrhundert. — Prof H. Riemann-Leipzig, Die Ausdrucks-
kraft musikalischer Motive. — Prof G. Simmel-Berlin, Über die dritte Dimension in der
Kunst. — Prof. H. Spitzer-Graz, Apollinische und dionysische Kunst. (Fortsetzung folgt.)
— Dr. Th. Poppe-Frankfurt a. M., Von Form und Formung in der Dichtkunst.
BESPRECHUNGEN:
Th. Lipps, Ästhetik. Psycholojne des Schönen und der Kunst. L Teil. Bespr. von
Herrn. Vahle (Berlin). — Stephan Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik. Bespr.
von Dr. Edith L an dm an n -Kaiisch er (Basel). — Johannes Volkelt, System der Ästhetik.
1. Band. Bespr. von Prof. Dr. H. Dinger (Jena). — Paul Bjerre, Der geniale Wahnsinn.
Michael Haberlandt, Die Welt als Schönheit. Bespr. von Max Hochdorf (Berlin). —
Siegfried Levinstein, Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr. Bespr. von Dr. Max
Osborn (Berlin). — Kurt Mey, Die Musik als tönende Weltidee. 1. Teil. Bespr. von
J. Vianna da Motta (Berlin). — Emil Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der Lyrik.
Bespr. von Prof Dr. R M. Werner (Lemberg). — Rudolf Borchardt, Das Gespräch über
Formen und Piatons Lysis deutsch. Bespr. von Dr. Edith Landmann-Kalischer (Basel).
— Johanna de Jongh, Die holländische Landschaftsmalerei. Bespr. von Dr. Paul Kühn
(Leipzig). — Heinrich Wolgast, Das Elend unserer Jugendliteratur. 3. Aufl. Bespr. von
W. Franz (Berlin).
SCHRIFTENVERZEICHNIS für 1905. Erste Hälfte.
Für das zweite Heft sind folgende Artikel vorgesehen:
Prof. Joh. Volkelt, Sachliches und Persönliches aus meinen ästhetischen Arbeits-
erfahrungen. — Prof. Jonas Cohn, Zur Vorgeschichte eines Kantischen Ausspruchs über
Natur und Kunst. — Prof. E. Große, Der Stil der japanischen Lackkunst. — Dr. Olga
Stieglitz, Die sprachlichen Hilfsmittel für Verständnis und Wiedergabe von Tonwerken.
— Dr. R. Arnes eder, Über Wertschönheit. — Dr. R. Hamann, Indi3ädualismus und Ästhetik.
— Prof. H. Spitzer, Apollinische und dionysische Kunst. (Fortsetzung.) — Besprechungen.
Bibliographie.
Philosophisches Lesebuch
von
Prof, Dn M. Dessoir und Doz. Dn P. Menzen
Zweite vermehrte Auflage.
S\ 1905. geh. M. 5.60; in Leinwand gebunden M. 6.40.
Inhalt: I. Plato. — II. Aristoteles. -- III. Sextus Empiricus. — IV. Seneca. —
V. Plotin. — VI. Thomas von Aquino. — VII. Meister Eckhart. — VIII. Frands Bacon. —
IX. Descartes. — X. Spinoza. — XI. Locke. — XII. Berkeley. — XIII. Leibniz. — XIV. Hume.
— XV. Kant. — XVI. Fichte. - XVII. Hegel. — XVIII. Herbart. — XIX. Schopenhauer. —
XX. Comte. — XXI. J. St. Mill. — Namenverzeichnis. — Sachregister.
Das Lesebuch darf man als ein in jeder Hinsicht glückliches Unternehmen
zur Förderung und Vertiefung der philosophischen Bildung begrtlfsen. Ohne Zweifel wird durch
das hier angewendete Verfahren, Exzerpte der sachlich bedeutsamen und für den Autor und die
GedankenentwickeluDg charakteristischen Äufsenmgen früherer Philosophen im Original bezw. in
getreuer Übersetzung vorzuführen, pädagogisch mehr erreicht, als durch eine den ursprünglichen
Stoff umformende Geschichtsdarstellung. Dem verderblichen, die Halbbildung zeitigenden Einflufs
der Kompendien von Geschichte der Philosophie zu begegnen, scheint das Lesebuch ein vortreff-
liches Mittel. Die von den Herausgebern den Exzerpten beigegebenen Anmerkungen sind teils
sachliche Kommentare teils bibliographische Hinweise.
Literarisches Zentralblatt ipoj. Nr, SO.
;IJ
1 I
-H^t VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART,
Epictet und die Stoa.
Untersuchungen zur stoischen Philosophie.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8^ 1890. geh. M. 10.-
Die Ethik des Stoikers Epictet
Anhang: Exkurse über einige wichtige Punkte der stoischen Ethik.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8°. 1894. geh. M. 10.—
Ludwig Feuerbach.
Von Dr. C. N. Starcke.
gr. 8». 1885. geh. M. 9.—
Die soziale Frage
im Lichte der Philosophie.
Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte.
Von Prof. Dr. L. Stein.
Zweite verbesserte Auflage.
gr. 8^ 1903. geh. M. 13.— ; in Leinw. geb. M. 14.40.
Ethik.
Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze
des sittlichen Lebens.
Von Wilhelm Wundt
Dritte umgearbeitete Auflage.
Zwei Bände, gr. 8^. 1903. geh. M. 21.— ; in Leinw. geb. M. 24.20.
Logik.
Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der
Methoden wissenschaftlicher Forschung.
Von Wilhelm Wundt
Zwei Bände, gr. 8^ 1893—1895. geh. M. 43.—
I. Bd. Erkenntnislehre. Zweite, umgearbeitete Auflage, gr. 8*. 1893, geh. M.
IL Bd. Methodenlehre. 1. Abteilung. Allgemeine Methodenlehre. Logik der Matiiei
und der Naturwissenschaften. Zweite, umgearbeitete Auflage, g
1894. geh. M. 13.—
II. Bd. Methodenlehre. 2. Abteilung. Logik der Oeisteswissensdiaften. Zweite,
gearbeitete Auflage, gr. 8®. 1895. geh. M. 15.— — —
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■f \- \tl'
^h VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART. ^
Die Karikatur und Satire in der Medizin.
Mediko-kunstliistorische Studie von Dr. Eugen Holländer^
Chkujs in Berlin.
Mit 10 fiirbigea Tafeln und 223 Abbildungen im Text
boeh 4"* 1905. Kartoniert M. 24,—, in Leinwand gebunden M. 27*—
lahalt: VerzelchuU der Abbliautigea. — Ln«rfttorrei*elcfeöifl. — ElnMtung. — Kari^aiiur uai I
ült Beca^ inf Mf^dl^iu, Die Karikatur bla zur Eeformatloii. ßi^tlre nod KarlV&tur im R6furm4ljQiigi«tiyi
Die KRTlkatiLr df^r Pathologie. Die Ülcht. LnfftlCLtLoiiskriLnkLelteti. KürvÖse AtfetEUaueii. armTidllM. J
ueutA eitprna und V»na, — Wer Ärst als Mansch wuil aU eund. Da* Ar^thoöorar — Dl« t*fmJitl««to
kund» itn sipbEehnt«j3 und acbUeliateD JAlirbuDdc^ru Dfif tlorlieb? Ua^fitlimuB. JoLnDer iii^d die Ealdai
— I>te l'flriM»lt«u d€!r Hflilkubde. --^ Die palltiiob medlztaiacho Eaflk^lur und Sslire, — Die m^odexn« mtttl»
niiclM» Karikatur.
Holländer hat mit dieaeni seinem neuesten Fmclitwerk nicht nar sein erstes in idedior
Weise ergSjizt, sondern auch die historiache Literatur mit einer weiteren Gabe von mal»
mentaler Bedeutung bereichert. Ea unterliegt keinem Zweifel, daß dieses neued^ 0<s^^
fltück KU dem älteren Werk im Verein mit ibm dem Verfasaer einen faenrorrafteD4€& ol
dauernden Platz in der Literatur der inedij&i machen Kulturgeschichte aicherL — ^ Ifodl to^
fast als das vor zwei Jahren erschienene W%rk wird die , Karikatur und Satire tu du
Medizin' das Entaückeu der kunetfreudigen und kunstfrenndBcheri Kollegen erremn nad ili ,
überaus geschmackvolle und passende Weihnachtsgabe in ihren Kreiaen weite Verbrciti^
finden. Prof. Pagel- Berlin. Dmtstki Mrm-Zeitung^ jgos.
Die Medizin in der klassischen Malerei.
Von Dr. Eugen Holländer, Chirurg in Berlin.
Mit 165 in den Text gedruckten Abbildungen.
hoch 4". 1903- geheftet M. 16.—, in Leinwand gebunden M. 18,—
lohiltt Vorwort, EIiiIelt«zLg. Die AQ«Wmiee«mälde, lfedlEiiil»(?be aruppo&bttd#r«
üteUtiQgvQ. laaer« Medlxln. Ctilnir^a. AUegoHaa» BoipSUler und Wocbe&stubes. Womg^mXm^amtim
ScibluÜwort.
. . . Wie sehr hat der Autor die an sein Werk geknüpften Hoffnungen und ErWÄrti
zu übertrumpfen verstanden ! Denn ebenso glänzend wie die äuBere Au^stAttaa^
Auswahl, photographische Reproduktion der Gemälde und die sonstigr ijp^
graphiiche Technik hervortritti ebenso, ja noch glänzender, id. der die Öü-
der begleitende Teatt Prof, Pagel- Berlin* Dmische Jrzie-Zntmtg t^o^ Ar. f.
Die Wochenstube in der Kunst
Eine kulturhistorische Studie von Dr. med, Robert Mitllerheiin*
Mit 188 Abbildungen,
hoch 4*. 1904 Kartoniert M. 16.—, in Leinwand gebunden iL la—
lull alt: Vgrwori. EtuTührmig. Die Woch&iiBttibc. DmM BeiL QaburiMttjJiI. POte« 4i« ViAvHls.
Pfl«g« äe» Klsdoa, Eleldung d(^a KlodeB. Eraihinmg ä^n Eiodoi. Batt dM EinJw, dlttab« «oi kJ^&^a^f
iD der Wocheiiatuti«. VoIlijiQmUohB und ff«lehrt« AijachäQuugflfi. Kultus dar WdcbuertD, EMI« ^m V«cteB-
betls. AQii&Qg. Quälten acd AaraarkaiiffeQ.
Das Buch ist ein schönes Zeugnis, daB unsere Kunst nicht ganz In dem lumdwcffc»-
mäßigen Broterwerb aufgeht. . . . Umso freudiger berußen wir ein Werk wt« itm xw^
liegende, und umso herzlicher danken wir dem Autor für die mühevone, von tief^ni V«*
ständnisae für die Kunst und die Wissenscbaft zeugende Sammlung dea
Materialesi Der Autor hat ganz recht, wenn er sagt, daß gerade die bildJicheti ]
früherer Sitten und Gebräuche uns am besten in das Familienleben vetgßMgmer l
führen. . . . Nicht nur die aablreichen — 138 — Abbildungen wird jeder C&biirtdMilfttr itf
Interesse betrachteui auch der Text ist außerordentlich intereisant und le
Zinir^Mmit für QynäJt^hgU ggcßj^ S^, g^
VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART, i>^
Grundriß der Anatomie für Künstler.
Von M. Duval,
Professor der Anatomie an der Kunstakademie zu Paris.
Autorisierte deutsche Übersetzung herausgegeben von Prof. Dr. med. F. Ne eisen.
Zweite Auflage bearbeitet von Prof. Dr. Ernst Gaupp.
Mit 78 Abbildungen.
S^. 1901. geheftet M. 6.—, in Leinwand gebunden M. 7.—
Ein auch von der deutschen Presse warm empfohlener, an verschiedenen Kunstaka-
demien eingeführter Leitfaden, der mit knapper Fassung lebhafte, anregende und leicht
verständliche Darstellungsweise verbindet. Die zweite Auflage ist von Herrn Professor
Gaupp in Freiburg gründlich durchgesehen und ergänzt worden. Auch wurden sämtliche
Abbildungen nach neu gezeichneten Originalen auf das Sorgfältigste erneuert. Demunge-
achtet wurde zur Erleichterung der AnschafiPung der bisherige, billige Preis eingehalten.
Der Grundriß sei allen jungen Künstlern wärmstens empfohlen.
Geschichte der Metallkunst
Von
Dr. Hermann Lfier, und Dr. Max Creutz,
Leiter der Fachschule für die Solinger Industrie. am kgl. Kunstgewerbemuseum, Berlin.
-^-2 Zwei Bände. S— *-
Erster Band: Kanstgeschichte der unedlen Metalle. Schmiedeisen, Gußeisen, Bronze, Zinn,
Blei und Zink. Bearbeitet von Dr. Hermann Lüer.
Mit 445 Textabbildungen.
gr. 8°. 1904. geheftet M. 28.—, elegant in Leinwand gebunden M. 30.—
Dem Verfasser kam es in erster Linie darauf an, eine für die Gebiete der Metallkonst
bis heute fehlende Zusammenstellung der bedeutsamsten Werke zu geben und die wichtigsten
darüber bekannten Nachrichten auf Grundlage der bis^ in die jüngste Zeit veröffentlicmten,
sehr verstreuten Einzeluntersuchungen vergleichend beizufügen, uie wichtigeren benützten
Quellen sind im Texte angeführt. Zum Studium der äußerst interessanten Geschichte der
Metallkunst ist das Werk ein ausgezeichnetes Buch; deijenige, der sich nur belehren will,
wird mit den kurzen Mitteilungen und den vielen guten Abbildungen genug haben; dem,
der tiefer in das Gebiet einzudringen wünscht, ist es ein hochzuschätzender Wegweiser.
Deutsehe Kunst und Dekoration igo4\igos^ Heft IV,
Die Frau in der bildenden Kunst
Ein kunstgeschichtliches Hausbuch
von Anton Hirsch)
Direktor der großherzoglichen Kunst- und Gewerbeschule in Luxemburg.
Mit 330 in den Text gedruckten Abbildungen und 12 Tafeln.
gr. 8^ 1904. Geheftet M. 18.—, elegant in Leinwand gebunden M. 20.—
Die bildenden Künstlerinnen der Neuzeit
Von Anton Hirsch,
Direktor der großhersogUohen Kunst- und Gewerbeschule in Luxemburg.
Mit 104 Textabbildungen und 8 Tafeln.
gr. 8*. 1905. Geheftet M. 9.20, elegant in Leinwand gebunden M. 11.—
— ! VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART.
Die Schönheit des weiblichen Körpers. ^«.ITo^i^
l^ewidmet. Von Dr. C H- Strato, Achtzehnte Auflage, Mit 270 teils f&rbi^en A}M*
dungen im Text, 6 Tafeln in Duplex- Autotypie and 1 Tafel in FHrrbeadrucfc. gr, 0*.
1906. geh. M. 15.60* eleg. in Leinw. geb. M. 17.G0*
Ilib»U: EluloHun^* — I.Dfir iBQdertie ScbüubältAbegfLIT, — EI* D^ritelltmg w^bttelier SebjAiiiiall ttitf
dts bilde D da Eiuut. ^ I£I. Welbtlcb« ScbönbeU in der Lit«»h3r. - VV. FraportJo !»]«&» nztd Kaaoiu — ▼- SMtf
der Entwlßlclting und Yät^rbuDg auf den Körper. — Ytl Elnfloö Ton Qeaetileobt und LebcriwaJ.t«r. — VtL ^täd
7on ErnäbraDg and Leb'^DS^WQl^e -- VII 1 El&flitß voii EruilbAtten attf die Körpörform. — IX^ l^?l^^^n^ i^
Klßlder ftuf dte KdrperfonzL — X. Boiurtellniig des Körpers im <Kem«liieii. — XI. Eopf und üiJi -
Jll. flumpf, äobull^T, BruBt, B&uuh, Rüeken, Huftea und aeei&6- -- £111. Ob^ra GHedmaflen. ^ XIT. |;sIb
Ö 11 (>d maßen. — XV. »cUöiibeit di?r Farbe. ~ XV!. Soböobeit der BtiVAETan^. StellrangeQ d«« rtibetid«! EMrrm.
SteliiiDgfla des bawßRteD Eörpera. — XVll. Üeberblieli: der geg^benea Ztitihea DarniAJer KdrperblldiEQf —
IVIU..Ver*'ertttGa la det Kunst und Kimatltrltllc. Modells.— XII. Voracbilftfitt mr Erlimltiing ima Fdi^iirs^
WMbllolier BohoubelL — SuibTerEclcbnls^ — NutP^nfer^eJehnls.
Die Rassenschönheit des Weibes. ^"^ "" *^ "• ^*^*^ "*
Attflftge. Mit 271 im dm T^
gedruckten Abbildungen und 1 Karte in Farbendruck, gr* 8**. 1904, g^K IL 14—,
eleg. in LeLnw. geb. M. 15,40*
iab»lt! EliäeUwüg. — J. Buieii und ]]U«euiii«rkiiule. — It. Dh «vlbllt^lke B4Metiid£a|_ <— HL Div
protomurpbf^n RitiHen, 1. AuatraMerlDiiisa und Ne^rltDi. ^. Papuu und UelJiti««lerltitieit. 9.
r>r*¥idaB* 4. Aiiioii. fi. OJe KülltoJaB und Akku. fi. X>i0 »niErUanl*cben Stimiae. — IV. Dl«
Hanptrafläe. CblneBlnneD. JApaa»lniien. — V. J>lo KljcTltlscb» Hsaptruse. Ba&tnDegerttiiieia. Bud
— VI, D«p aalaü^ebe Hauptstwmm di5r tx^lttelläadi^cbeii BuAe. Hindus. Per««i1iiaäti und r^
Tlantn. — VII Die metam^rpben Busflen. t Dia öittlchen mlttcHÄadl^cb-iDoagollflelijea II
Slam, Anam und CDcblufiblna. Dia diind«LuselD. Oceaiilen — SandwicblmjialD , CarDlljtwD ,
liiil«ln» AdmlralltütatnJ^eln, Fr^ttndscbaftsInBeln, Neufleelaüd (UaQfla). f. Dlfr weaUldib^ MlacliTSHea: «jl^ 1
und Tarauler. b) Dia atbiopiRche MMcbr^ea. ^ YIll Ble drei mit tal!ipd($cbe'Q Unten%fl«eiz. i. Die «fril]
Easae: A«<|^fpten. Berbarigchft Stänune, Maarlicbe Stämme. 9. Dia romanlftobft Ri«ae: Spaal«^
Griechenland. Ffankrelcb. Belgien, ». Di« oordlBclie Eaaga: NiedeHanil. Oest^rrvleh.'lJBcsni^
BetitBcbland. Dümemark. BkaudUiaviBn. — treb«rBicbt der wlcbUgaten welbUcheii
Die Frauenl<Ieidung und ihre natürliche Entwicklung.
Von Dr. C H* Stratz«. Dritte völlig nmge arbeitete Anflape. Äüt 269 Alibilditagcii mmi
1 Tafel, gr. 8^ 1904* geb. M. 15.—, eleg. in Leinw, geb. M. 16,40.
Inbmlt: EtotcHnng - I. Die Nacktheit. — IL Ple RörperveTilerune. a) Körp^raduaiiek ftj I
III. Elndnß der Baefien, der gaogr^ph lieben Lage und der Eultmr %q1 die EÖrperTerderuf. — t^ 1>*^
X6irperH0bmD0k a) Bamalung. b) Narben^obmitck und Tätowlernng- a) ESrp^rpUsIlk. d> An Eorp«r b^
fsBti^te Bcbmticlcatnük«- — Y. Dia primitive Kleldnng (HüftütihmiKjk). — VI, Dl« traplfifbe Klttdaa« Oto^ü. ^
VIL Die arktlBotia Kleidung fBoae, Jackel. — YIIL Die VolkatraAbt aoÜaranropirlBober Koltiur^lter. L Gi'
ilHoli« ßrnppe. f. Indlaolie Ontpp«, B. ludocUüln^elistUie Chruppe. 4. lalatnltlaebe Oruppei'. — E^ Pt» T«l
trapbt«» earop&lücbör Eultorvölket-, 1. Die etgentllcba Tolkalrutlit. 3, Dia Staade»tra£2itsti, S tMi fl
alit valbllohe Vollutrjtcht. — X, Dl« modartie «nrdpilauba Frantenklaldnng. I. Untei-kleidKr. 1. HfbtAMUm*
— XI. Emfluß dai- Eleldiuig auf den wegblieb eD Edipar, ^ XU. Vdrb«e«eTtmg der FFaaoikleidvBi.
rV^r k^rim^r Hac k^inrlac ^^»^ Kltem, Erzieher, Aente uad E&wtkc.
uer ivorper aes ivinaes. voiiDr.cH.strftte. zwmt# Amnmgi. »t
187 in den Text gednietten Abbildungen und 2 Tafeln, gr. B\ 1904. geh, ÄL 10.—
eleg. in Leinw, geb, M, 11,40.
Inbalt; Elnloitnng. — l. Die embryonale Entwiaklang. -^ IL Das iteni«ber«ae Ktod. ^— HI. D»
Llebretf dea ElndeB« ^ IV. Waicbstam und Proparllunen. — V, MemmmAe ElmAaü« — ¥L lü* samalv
Entwicklung dea Eindea im allgamelnan. — VII. Das SätiRUngfiattar und dl« «rat« Fäll«. <],— 4 i^hr^ —
Vin. Die eratfl Streckung. (5.-7, J*hr.> - IX. Die zweite Fiille. (S.— lü. JUu.J — X. IM» Ew«il« mrmtsMmg^
(ll.-'ia Johf.) - XI, Dia Ealfe. (Ifi.— 90. Jabj- > — XII. Xlnder anderer BM«en^ a| Frecade &ia«ltlic«w hi F
de» welBea Rai^ankTeisef, a) Ktudtr daa gdbesi Baftaenkralai««. d) Eindeir du ecbwiA«!! F
Die Körperformen in Kunst und Leben der Japaner»
Von Dr. C H, Stratz, Zweite Auflage. Mit 112 in den Text gedmcktüa AtUlIdimgCft
und 4 farbigen Tafeln, gr. 8^ iy04, geh, M, 8.60* eleg, in Leinw. g^, IL lOi^
In halt: Eiplqjitang — L Die Eörperformeti der Japaner. ]. Daa Sk«|etl« f.
3. GafildiUblltiDDg. 4. KOrperbilduDg. — IL JapinlBcbar Bebönheiiibeirriir nnd Koasettk, 1. Al
körperlichen Scb^nlieiC. t. Eünetllcbe Erhöhung der Söbanbetl. — OU I>a* Hifiikto tm
I. ID der OeHenÜlchkett. f. !m Hfruae, --IV. DAt^tellnDg dea D*cM«m KfiTp«r« t« 4«t Emm^ 1.
melnca, S. Ideal* nnd KofmalBestalL 5. M^tbologtscbe Daratellungau. ft. DaEfttelloilf
Leben, l) 8tra£enleben. Auftoeaobärzte Mädebea. Arbeiter. Ringer, b) BknmUtltikäiL
Bidar. YoflbivarA. ErotUc. a} Ba@oi}d«re l^rei^nlsa« und Sltuanoaen. U^btmUi^nK
flpnk. Beraubuag edler DAm«n. AwabtAseherlnaeti.
TAFEL XIV.
M. a ' •.'^f l>.aubo.t «oo k. VuigUA»«!«« V«rU(. Ijfkptkg
AI S LEVINSTEIN. KINDERZEICHNUNOEN BIS ZUM 14. LEBENSJAHR
(2« S«c« »79 f.l
TAM l XV.
,\ \
TAFEL XV.
Kflitf im ^tr lliim AH^ml, Kmm.
ANTINOUS
«/tt Sctt« 4#w» ttnti 4o< t
•i^Il l h\ \\U >M\- K..\U[ S l I
TAFEL XVI.
i » M. .•.'-:. M .• Kr
tiisig^nv
J. McNEILL WHISTLER, THOMAS CARLYLE
UM < ^
BETENDE NONNE
/
TAFF.L XVII.
BETENDE NONNE
LichtNkisludie von Alfred Enke
/li >rtle 41« unij 4»>'»
jMä
ilM«r«t*lk
TAFFL XVIII.
SOMMERT Aü
Lichthikisttiilic von Alfred Lnkc
i/» ^.ir 4J
m^jmi MMutut
TAFEL XIX.
I H*^.*.-^»rfl Ur«. ^-
MICHELANGELO. MADONNA
/ti S*ifC l»J 1*4 "«»*J 4»
Verlagswerke.
^--i^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTOART. -i-^
Soeben beginnt zu erscheinen;
Zeitschrift für Ästhetiic
und
Allgemeine Kunstwissenschaft.
Herausgegeben von
Max Dessoir.
Erster Band.
1. Heft. 10 Bogen. Lexikon-Format 1906. M. 5.—
Die Zeitschrift erscheint in Heften von acht bis zehn Druckbogen, wovon je vier einen
Band bilden. Der Preis der Hefte wecJiselt ttach dem Umfang, die Berechnung erfolgt
heftweise. Es ist alljährlich die Ausgabe eines Bandes beabsichtigt.
Prospekt.
Der Sinn für die ästhetischen Fragen und die allgemeine Theorie der Künste
hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie die Zahl derer, die auf diesem
Gebiet wissenschafUich tätig sind; die Probleme besitzen einen umfang und eine
Tiefe, die ein besonderes literarisches Organ für ihre weitere Bearbeitung geradem
notwendig machen. Es ist ein Übelstand, daß sachlich Znsammengehöriges gegen-
wärtig in viele und verschiedenartige Zeitschriften verzettelt wird, daß jeder, der
sich mit ästhetischen und künstlerischen Dingen besohäftigt, die neuen Forschongen
mühselig sich zusammensuchen und aus der Verbindung mit anderen Angelegenheiten
lösen muß, daß nirgends durch Berichte ein umfassender Überblick über die so
mannigfaltigen ästhetischen Untersuchungen geboten werden kann.
Aus solchen Erwägungen heraus ist die oben genannte Zeitschrift begründet
worden. Sie wird in Heften von 8 — 10 Bogen umfang erscheinen; jährlich weideii
etwa vier Hefte, die einen Band bilden, ausgegeben werden. Jedes Heft enthält
außer einem systematisch geordneten Verzeichnis der neu erschienenen Bücher und
Aufsätze eine Anzahl von Abhandlungen und Besprechungen. Nur wissenschaftlich
wertvolle Beiträge kommen in Betracht, doch werden sie im Hinblick auf die er-
hoffte Anteilnahme aller ernstlich Interessierten ohne übertriebene Gelehrtenhaftig-
keit abgefaßt sein. Studien zur Geschichte der Ästhetik, experimentelle Unter-
suchungen über die elementaren Verhältnisse, Analysen der ästhetischen Wirkungen,
exakte Forschungen über die Kunst der Naturvölker und der Kinder, über das
Schaffen des Künstlers imd die allgemeinen Fragen der Poetik, der Hosikiathetik
und der Theorie der bildenden Künste, endlich auch inhaltreiche Erörtenmgen der
Stellung, die die Kunst im geistlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt — das
wären die Arbeiten, die hier gesammelt werden sollen. Auf dasselbe, nur ongefthr
umschriebene Feld beziehen sich auch die Berichte.
■^^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTOART. ^-»-
I>tr INHALT ilm mtm Hcftrt int diT fulgencJc:
i'nif. Th Li |i|> ••München, Zur »iinthotiiohrn Ml'^hanik^ - Tnif. K. Lan{re-TiibioK(*tii
I>i<- iisthftiMrhe Uluiion im IH. .Uhrhundert. - iVnf H. Rirmnnu-Ijt-ipciir, iHv Auidntckt-
kraft inuiikKliM'hiT Motivf. Trof (i. SimmeMiiTlin, Vhrr dii* dritte Dimeniion in d«>r
KuM*t. Vrnf. H. S|>itier-(vra/, AiKilliniichL* und diuiiyiiichr Kumt. (FortActxuuK fnlf^t )
l'r. 'Hl Tu |i|M- Frankfurt a. M., Von Funn und Formung in d«r Dichtkunst.
Th. Lii'p«, Äithi'tik. riycholoffie den Sfhünen und der Kunst. L Teil. Bra|>r. toii
Hirtii Vahlt* 'HiTÜn) -- Strphan Wita«*k, (irund/ütrc di*r allf;t»niriDvn Astliftik. Boipr.
von I>r Kdith Landniann-Kaliacher (BancU. «Itihannrt Volkelt, Syitmi drr Anthetik.
1. Hüiid. Hi'üpr von Prof. Dr. II Dinirer (.lena) i'aul Hjcm', D«t f^cnialu Wahnsinn.
Mii-)iai I llatirrlundt. Dii> Wvlt als Schönheit. Hitpr. von Max Hochdorf (Berlin). -
Suu'frfd LrvinNtrin. Kindrr/cichnunffrn bis /.um 14. liehrn^jahr. Bi*8|>r. von Dr. Max
• i^k...rn 'Hfrlui'. Kurt Mry, Dir Musik als tönrnde WVltidce. 1. Ti'il. Bni|ir. von
.1 Viuniin dn Motta iHitImi). Kinil Uciirer, B<*itrüi;i* zu einer Ästhetik der Lyrik.
lirtpr. villi l'n.f Dr II M Werner (liemberv». — Rudolf Borchardt. Da» ircspräch üImt
KiTii.'ii unil I*Utoii.i Iasih drutju'h. Ppspr. von Dr. Kdith Landmann-Kaliütrhr r (BaseD.
.I<ihaiiii:i di' Jiinu'h. I^ie hollandiich«» Landschaftsmalerei. B«:spr. von Dr. Taul Kühn
Lt-ij/ikM — llnriru'h Wuti:aiit, Das Kleiid unserer .luf(i*ndliteratur. I). Aufl. BeB|ir. von
\V Kr:n:/ iMrrhii»
srMKH.TK\VKK/K!('HXlH für I'.h»:,. Knto Hälfte
Kur il.i- .'\%iitt« Hl* fr mwi fnl^iMitlv Artikel voriresehen:
rrof. .I<«h Vnlki-lt, Sachliches und l'ersönlirhes aun nirinm kuthetisi'hen ArlK-its-
• rt'uhr:i: L't'ti Tp'f Jonas Tohn, Zur Vonrrschichto einen KantiH*hen Aus^iiruchn über
N.iVii i:.'! Kurier I*rof. K. (iroUi*. Der Stil drr ja|ianisi*hrn Lackkunst. ~~ Dr Olfifa
St:< ^'i:*.'. Do- «prarMichin llilf^niitttl für Verständnis und Wietlorirabe von T<inwcrken.
I •• M Alm <ii<i«r. I Ixt Wert^rhitnheit. — Dr K. Ilamann. Individualismus und Ästhetik.
\'T'i \\ .S|.|t2rr. .\iMilliiii^ )ii< und diiinvninche Kunst. (FortM't/iin};.i Bes|iri*Ghunf(eii.
\ .\ .i-..T:i| lu.-.
Philosophisches Lesebuch
von
Prof. Dr. M. Dessoir und Doz. Dn P. Menzer.
Zweite vrrinchrtc Auflage.
S . 1(N>5 K«h. M. 5M); in Leinwand gebunden M. 6.40.
InhAit: I. PUto. li. Aristoteles. — lli. Sextus Empiricus. IV. Seneca.
V IMotin. VI. Thr)ma« von Aquino. — VII. Meister Eckhart. Vill. Francis Bacon. -
i\ lu seines X Spinn/A XI. Locke. XII. Berkeley. Xlll. Leibntz. XIV. Hume.
W. K.int XVI Fichte. XVII. Hegel. XVIII. Herbart. XIX. Schopenhauer. -
\\ Comtc XXI. J. St. Mill Namenverzeichnis. Sachregister.
\r\\ I r«e1>Uih >\.\ri nun aU rin in jrörr Min«ichl |*lUiklichrft rntcrnchmrn
:• .: un! Vrr;:rlun^ ilcr |>hiU>«<iphis«:hrn lidilun}* liCi^iuUrn. Ohnr /weitrl wird durch
■ .: -.« ;i 1-r \rrf«l.rrn. I «?rr|iTp *\rT vichlich tietlraltJiinrn und f:>r t)rn Autur und die
"r,Ki M.t'.\in^ «.l.4rjk?rri«t.«\hrn .\ar«rrun|;rn (ruhrrcr l'hila%uphcn im ( *rif;inal lirzw. m
• rw!. :r.* %«.r.-ufji:rrn . )ia<!a|;fi|;i«ch mehr rrrcicht. al« f!urch nne den ur«|'nin|*lichrn
riu- n ■•- (f'««.r.:i.hl«<ljr«lrliun|; H^m YrrdrrMichcn. ilic lUIhbildunc .'ritif^rndrn Eiolluf«
'!. :.r:i ti n (irtihitKir «irr l'!idi'V)phie ru l>e(r|pirn . %cheint tla^ I.e«rl>urh ein vurtreff-
l>:r «un ilrn llrrjiu«^rl>rm den Ksrerpten bcigegehenen Anmerkungen sind teds
K ninirnMrr teiU hihluigraphi^chc lliawcise.
Lüerarisfhft /rniraiMatt t^\i. -Vr. 5<>.
-i VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART.
Epictet und die Stoa.
Untersuchungen zur stoischen Philosophie.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8». 1890. geh. M. 10.-
Die Ethik des Stoikers Epictet.
Anhang: Exkurse Ober einige wichtige Punkte der stoischen Ethik.
Von A. Bonhöffer.
gr. 8°. 1894. geh. M. 10.—
Ludwig Feuerbach.
Von Dr. C. N. Starcke.
gr. 8^ 1885. geh. M. 9.—
Die soziale Frage
im Lichte der Philosophie.
Vorlesungen Ober Sozialphilosophie und ihre Geschichte.
Von Prof. Dr. L. Stein.
Zweite verbesserte Auflage.
gr. 8^ 1903. geh. M. 13.— ; in Leinw. geb. M. 14.40.
Ethik.
Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze
des sittlichen Lebens.
Von Wilhelm Wundt
Dritte umgearbeitete Auflage.
Zwei Bände, gr. 8*. 1903. geh. M. 21.— ; in Leinw. geb. M. 24.20.
Logik.
Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der
Methoden wissenschaftlicher Forschung.
Von Wilhelm Wundt
Zwei Bände, gr. 8'. 1893—1895. geh. M. 43.—
I. Bd. Erkenntnislehre. Zweite, umgearbeitete Auflage, gr. S\ 1893. geh. M. 15.—
II. Bd. Methodenlehre. 1. Abteilung. Allgemeine Methodenlehre. Logik der Matiieinaft
und der Naturwissenschaften. Zweite, umgearbeitete Auflage, gr. •*.
1894. geh. M. 13.—
II. Bd. Methodenlehre. 2. Abteilung. Logik der Geistes wissensdiaften. Zweite, ■■■
gearbeitete Auflage, gr. 8^ 1895. geh. M. 15.—
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Folio. In eleganter Mappe. 20 Mark.
.t.'ii!' 1 KLiic-t ■>»•■! IUu>Tib i Mutfcn lu H^n Martin«- - s Vroi^zianiicber Mu«ibflhjn<ni>i
4 >• ).] :. ti-. K'-T btn<S>r ■ \urfruhlinK 7. Auf li-r Wi i.!. n lulifniiiL-h«' Villa
f >tul. : iMWitirr m t|»u Itti^fii - 11 lui KI<>«lriKArti n li Krwartiinc. - 13 KluJif
I« \i.li . Kiti l' \\v Vaii.i 14 lii-riCnr«* 17 I ntallD !■• llrri<«tlllürSf|| a:ii Ki'DIK«!*''*'
1^ It* .»! tiiM^k- io MondDArltt in Flur*-»/. ai |t.i cluntni -^t. SonnlaK^rrTpilpn >S. Ilri drr
\i .1- t\ M ihl- IUI in-)>iri; !.'• lu Jt Kir- h- i^ Am W aMi-h !i i7. Srhn^urht a«i iKirl
»:««<•- .' • >tkli< si Km «'.iUpi Winki'l
P.i- In K:itiiit«* SihnftAti'lUT .1. i\ HfiT .luUtrt sich üU-r dm Werk iii litr ,,Sfuen
All «ii«' K<ini: il« r l'hiit(i^a|ihii! mtilti.-kt wunli', trat aii' zuiMthiit jahr£vhnti-Uiif( iii
il< :i iKr:.-^ il-r r'-itirii WilmIi ryuljf <1*T Wirklichkeit, uur hh* fiii ilurchaiii iiiiturHlmtiKh»
K .ti -'k'* '•^■'<i" ■ 1>> li-'i'-r* r Zril ulx r \\\\\ ^irh /u licr «itrti^ wtu'hinMitirii ViT\'i>llk(iiiiinnuiif;
• i- r *'clii.i > !i-:i lli!t'>riiitf«-l t-ifii* milS«*rurilfntlichi* VcrlriiiiTurit; dri (ii'iK'hiniick« und der
AnM.i "« .1: ' ).'iH-I!'. \v-lihi>. vrii> du- auih au« der »Si-hwi-u vud limurhte phtitiifrraphiiichu
A j^<'- .i..:.^ iit Stu'tk:art hrMii-H. ilii* i'hiit>-ifrB|ihi>! aun diMu Kahnifii drs KunBt^'i'Wi.Th<'i in
<!• r MirLliv in II Kuimf rrhfht. Ki:i ^iHit/i-iidi-^ /t'Utfiiis dufiir Aind die Kichthild-
. Ait:->1 KiiL'-i III Siutt^art, \\;ihrr KahiiiftlBtucke ilrr |ihiitu^ifc|i)ii9chi*ii Klfiiimalvrei.
III. 1 I..i:.<Uch:ifrfii, \%if Hi» lt. r Kuii«it)fr auf KiTiriitahrtcii in ItalifU. ilcn St^hMciier-
?• ::> ii h;->Jii:i AI{--ii i-nttli'i-k( hat (iluL-k!:i'hiH Kiiidm und tVintuhliir«- Wahl dea
. S-h-'i.hist diT lii-Iii-htii:i^ uit«l |>hi>it:M-Ki> M<>ilflIii*ruM;; f«*i«iln unn, nh di-r KunitltT
.'.:;.. h i«T I.:ii.<l^ihiiftl:i h'- l-i-vi>r/UKt. un-l lUatt um Hlalt uhi'rraH'ht unn It-hhaft,
:i< : >r<ii-it!lii'h fj;:iia:it iR-h ihm ihi* Te« hink i rwi'iüt iMv WicdrrKAhi' drr i-in/cln«*n
1'.: )i dit! Vi-ruik'^tit«t»!t mI taih-lh'^ vi»Ilkonimrn. dt-r l'p'ia im ViThiiltm« /um (te-
.: (.Ulli l'ili:.:. Ulf! w:r il«':ik«-n. daÜ ilai K'hnrir Wi'rk nicht nur hri ilm Thut^i
: ■ -: inii •'iiit-n 'rrt:i;ii|li ilir'T Kwii«t •'••h"ii muaii-n, sondern auch in kiiiiiitfr'*und-
!"i . '..■■. ii:«- ■A.iMti'-- AMli.uhü.i' tindrl
^ . VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART.
Neue Lichtbild-Studien.
== Vierzig Blatter von A L F R E D ENKE.
Folio, in clef^antcr Mappe. 12 Mark.
':'.*■ ' 'k- l.r i.-u Im Kr ihln.i; i'^« Li" l> « Kn )•• M.-niiitrht l-n I.in<Uu llriinLphr «uiii
.:,?■: . ^.!:;- ■ i."».».!»!! Ml- "» f.: ...ir.j.j •■ :«a- \ll.r Ür \i rr«li ai;«- In l'uiupiji
••1 '•.■:. K .1: . , ^oii.ii.- r I- • n ) 4111 K<»1pii<<- l.ui(Cina i'*nitMi >Aiit<i ÜAiK-bapo-
•' ■ \:.-. .;ii H- {.^'-ri:»: t uiik« m h^- h«h!!n Hu> hi-ni».«M :ni Mplhrrl-^l M> Ud> hi>]f' Srhlütt
a ' \V ' .' M- ti"« >>i:!'.i< ^mWi-ih': Mil Inl« • m* • j iiit;> n Kiii^thrü KB]\.kri> n!.trir l.ili
1' i:iiii>- r in.; '.'a% l'fi:«. }j< d It^limi»' Ii- r Ii>ifiiirt Si.htlwb«' K.»hrt .t.inCfr Sili].
.i-.i • .'. ..!••«' Il-irhkrhr i..n •!• i Mj- I.* <» n !• « M^.lihrii ll'u^rnir jm Maloj«
\ ■'..[ .i::. ' .' i:- ••r4i.! I'.- Wuii !• r' luri.r n.triiA Alipn>Ulun-l<'
K* ;n i>K>Ü<-r !<:• Muil-i-rphntoK'raidi . rin KünatliT hat ilieat- Aut'nahmrn k'tfiuucht.
y..i: K .:.-*. • -. df-r r« vrr-ti-ht. mit f**2nft:i (it'üchmai'k und vertipft«*r Auffu-ouni; d.m Hand-
M' r. i':. !.ik:r.i|ii> II a^it' d:i* )Ii'>i.f rrh!iT Kuiiüt su hidM'n /«'ii^t «k li di*i iVme (iv-
- - : . : . ^ ;'(.(•!. n.i> h MoMvfn. du* «T /u Üildvrn vuIUt iVtf-ii* und I'iiulik /u viTiliihten
•.'•r:. I.. . ■.•:tii-:;c Auff.iA«uni: d.iriii. daLl n»an mehr uIr ««innial an dm rin<-ii udt'r dfn
/: .11 M.i!i-: uri!«T un^'Ti-n iii"iifrn<-n .Mii<«ti*rn . .in «liu rint> «ider da« .iii>lfi** hv-
■:•-.'• I. !' •!.!.« F r.ki* anb^rnv* '<i h.ti'tii »i }'.*int . •rinnert wird. Niini:.* man d.i/ii dii*
A ; «.li.! .1:1 K |-S-n. r(»r:r.ir« und Land«« haOt-n. \**n d<*n*'n wir dif .lleini-
\{' - M ;-r<-: ; .r •!;*• W .irtliifun.; des Vi'rhiiltni«"t-s \'*n [..kit<i-i haft und
' <•'• '-ii :.. i.'.'ix. *•' *A:r>i i:i:in <i*-m lifdincun^lu«*!! I.oht» Uiatimiin'n . tia« wir
■ •••:; > t: .::.!■!! ^' ,I.i l.i 'r.i].i ^tu-U« n' v-n Alfred Knkf \.ir iwri J.ihn-n ■{»fndfD
\' :* \.;>.i:.; >•-: '• l> ::i •■i:i}itii|:.i n . diT. i-in Kri-UUiI ii*T Kun^t, ViTH^tndm« .lUCh
4 ' \.-' ;.i: i if-ii .^•.< • rwiffui- Ama(i'ur]ihot4>^'raphie hat. Auf licn Wfihnarh t ^-
I. . --h). .i^tT] li -r ii^iaphen }iai«*Mi tli«* hi-idi-n Kokt'»* hf*n Ma|ipru
,.'.vt .r. Irr»' .11! ilif'-rr.! tirbM'tv A'mn f 'mr ./,',> /<;..■ ■ //ff ',
■* • ■ ■
^^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTOART, i-^
Die Karikatur und Satire in der Medizin.
Mediko-kunsthistorische Studie von Dr. Eugen Hollinder,
Chirurg in Berlin.
Mit 10 farbigen Tafeln und 223 Abbildungen im Text
hoch 4°. 1905. Kartoniert M. 24. — , in Leinwand gebunden M. 27.—
Inhalt: Verzeichnis der Abbildungen. — LiteratarTenelchnis. — Einleitung. — Karikatur und Satire
mit Bezug auf Medizin. Die Karikatur bis zur Beformation. Satire und Karikatur Im Reformationisaitalter. —
Die Karikatur der Pathologie. Die Oicht. Infektionskrankheiten. Norröse AffekUonen. GraTiditit. Irrlta-
menta externa und Varia. ~ Der Arzt als Mensch und als Stand. Das Arzthonorar. -^ Die praktUche Hell-
künde im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Der tierische Magnetismus. Jenner und die KnbimpftmiK.
— Die Parasiten der Heilkunde. — Die politisch-medizinUche Karikatur und Satire. — Die moderne medizi-
nische Karikatur.
Holländer hat mit diesem seinem neuesten Prachtwerk nicht nur sein erstes in idealer
Weise ergänzt, sondern auch die historische Literatur mit einer weiteren Gabe von mona-
mentaler Bedeutung bereichert. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses neueste Gegen-
stück zu dem älteren Werk im Verein mit ihm dem Verfasser einen hervorragenden und
dauernden Platz in der Literatur der medizinischen Kulturgeschichte sichert — i¥och mehr
fast als das vor zwei Jahren erschienene Werk wird die „ Karikatur und Satire in der
Medizin* das Entzücken der kunstfreudif^cn und kunstfreundlichen Kollegen erregen and als
überaus geschmackvolle und passende Weihnachtsgabe in ihren Kreisen weite Verbreitung
finden. Prof. Pagel -Berlin. Deutsche Arzte-Ziitung igoj.
Die Medizin in der klassischen Malerei.
Von Dr. Eugen Hollinder, Chirurg in Berlin.
Mit 165 in den Text gedruckten Abbildungen.
hoch 4^ 1903. geheftet M. 16.—, in Leinwand gebunden M. 18.—
Inhalt: Vorwort Elnleitong. Die Anatomiegemälde. IffediElnliche Gruppenbilder. KniiklMltad«r-
Btellungen. Innere Medizin. Chirurgie. Allegorien, Hoapit&ler und Woohenatuben. HeHlgenbehaadlaBg.
»chluDwort.
. . . Wie sehr hat der Autor die an sein Werk geknüpften Hoffnungen und Erwartungen
zu übertrumpfen verstanden ! Denn ebenso glänzend wie die äußere Ausstattang.
Auswahl, photographische Reproduktion der Gemälde und die sonstige typo-
graphische Technik hervortritt, ebenso, ja noch glänzender, ist der die Bil-
der begleitende Text. Prof. P a g e 1 - Berlin. Deutsche ArUe-Zeitung 1^04, Kr. /.
Die Wochenstube in der Kunst
Eine kulturhistorische Studie von Dr. med. Robert Mfillerheim.
Mit 138 Abbildungen.
hoch 4^ 1904. Kartoniert M. 16.—, in Leinwand gebunden M. 18.—
Inhalt: Vorwort. Einführung. Die Woehenstnbe. Das Bett. GebnrtHtnhl. Pfltc* der Wi
Pflege des Kindes. Kleidung des KlndeK. Ernährung des Kindes. Bett des Kindes. GUnbe und AI
in der Wochenstube. Volkstümliche und gelehrte Anschauungen. Kultus der Wöchnerin. End« des Wi
betts. Anhang. Quellen und Anmerkungen.
Das Buch ist ein schönes Zeugnis, daß unsere Kunst nicht gans in dem handwerk»-
mäßigen Broterwerb aufgeht. . . . Umso freudiger begrüßen wir ein Werk wie 6mm vor-
liegende, und umso herzlicher danken wir dem Autor für die mühevolle, von tiefem Ver-
ständnisse für die Kunst und die Wissenschaft zeugende Sammlang des einicU&gigen
Materiales. Der Autor hat ganz recht, wenn er sagt, daß gerade die bilSichen DArateUnngea
früherer Sitten und Gebräuche uns am besten in das Familienleben vergangener Zeiten ein-
führen. . . . Nicht nur die zahlreichen — 138 — Abbildungen wird jeder Gebnrtahelfer voll
Interesse betrachten, auch der Text ist außerordentlich interessant und Jesentwert.
'/entralbltttt ßtr Gynäkthgii igos^ Ar. J.
^■^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART, 4>^
Grundriß der Anatomie für Kfinstlen
Wm NL Duval,
ProfMtur «l#r Aualomti am <Ur KuaftAkAdmU tu V%ri9
\'i'.»riii»Ttr «Ifut-rh«» ('lN*nioUiiDi; lieniu«f^f^l»f*n von l'rof. \h. uicd. K. NcfUeii.
Zweiti» Auflage bt'artM'itet von Prof. I>r Kriii-t (laupi».
Mit 78 Abbilditnf^en.
Hr l**ul. k'«*)ieft«t M. Tl.— . in Leinwand gebunden M. 7 >
Kin .i'icli von d^r dfiitüchen I'rMj«* warm rninftddfner, an vert«-hieil«*n<*n Kuniiaka-
• ifini'*n t<iniireruhrt<*r I«4'itf;i<l«'n . der mit knapp«'r i'aii'«ung lehhafl«, anregende und leicht
^••r^t.iii-üirh«- l)iir4t*lliing<»w»'ii«* verbindet. l)i«* zwrite Auflage iit von Herrn ProfcMor
«i.iu).|> tn Krfiliiir^ u^nlndlich diircligetehen und ergiknit worden. Auch wurden lAnitliebe
\l>hiMi)iU'*-ii n4i h neu geteirhneten <>nginal<*n auf dan Sorfrfultigvte erneuert. I^munge-
.i< ht«*t wiinl«* zur Krleirhtening der Antchaffung der bisherige, billige Preis eingebalten.
h<r <ir;HiiiriÜ itei allrn jungen Künitlern w.'krmutena empfohlen.
Geschichte der Metallkunst.
Von
Dr. Hermann Lfler, und Dr. Max Creutz,
I • .trr iS«r FArbacbul«* für dl«» Hi*llairtr iDtluatrt* am k«! Kaftft4tew«rb«niiia«iim« B«rllo.
■ t Zwei llilnde. | ■
Kr«trr It.md ; Kiatt|etolilolite dir nHiM aftailt. Sehmiedeijien . GuSeiMen, Hroni^e. Zibiu
Hl*'i und Zink. Il«'arbeitet von Dr. Hermann I.Qer.
Mit 445 Teitabbildungcn.
;:r. ""^ VjO\. geheftet M. 2^ --. elegant in Leinwand gebunden 11. :iO.
I»eiii VerfoMer kam e« in enter Linie darauf an, eine für die Gebiete der Metallkonat
i-io LeMti> fehlende Zu<i«immenatetlung der bedeutaanuten Werke lu geben and die wichtigftea
•iAnihtr tiekannten NMchrichten auf Grundla^ der bi« in die jQngvte Zeit TerOflfeiitlichteii,
i«*hr Ter^tretiten KinseluntemuchuBgen vergleichend beitufügen. Die wichtigeren benOtstea
iVueII*>n «ind im Teite angeführt. Zum Studium der änftemt interewanten Getchichte der
Me*;fcllkuniit i«t dju Werk ein aujqreteichnetefl Hueh: deijeniire. der nch nur lielehren will,
wir<l iii:t ilfn kürten Mitteilungen und den viiHen guten Abbildungen genug haben; dem.
*\ft x.**{vT in «Im Gehift einsudringen wOntcht, int e«* ein hi>rhiuichfttsender Wegweiser.
HemttfMt Kmntt mmJ /^et**fati^m 1904, '9^^^ Hift IV,
Die Frau in der bildenden Kunst
Ein kunstgeschichtliches Hausbuch
von Anton Hirsch,
Direktor 4rf tr»fib«rtof licb»a Bm»«t- ii»4 (IwvrtMMll«!« lo I.aimbvrg .
Mit .'CiO in den Teit gedruckten Abbildungen und 12 Tafeln.
gr ^\ 1904. Gehefl<*t M. H.— . elegant in Uinwaad gebunden M. 20.—
Die bildenden Künstlerinnen der Neuzeit
Von Anton Hirsch,
[iir«aur 4«r grofla^tmglwfcf E«mC- «»d 0«««tWica«to !■ Lat«B%«r«.
Mit 104 TeitAbbtldaBgen und 8 Tafdlik
gr 8*. 1905. Geheftet M. 9.20, elegant in Lriswaad gebondcn M. 11.—
-»^ VERLAG VON FERDINAND ENKE IN STUTTGART, -t-^
Die Schönheit des weiblichen Körpers. '^Z'^K^ät"
gewidmet. Von Dr. C H. Stratz« Achtzehnte Auflage. Mit 270 teils farbigen Abbfl-
düngen im Text, 6 Tafeln in Duplex- Autotypie und 1 Tafel in Farbendrack. gr. 8*.
1906. geh. M. 15.60, eleg. in Leinw. geb. M. 17.60.
Inhalt: Einleitung. — I. Der moderne Schönbeitsbegriff. — II. Darstellimg w«lbUeher Sohtoheii taxcfa
die bildende Kunst. — III. Weibliche Schönheit in der Literstor. - lY. Proportionalelire nnd Kanon. — Y. XtataA
der Entwicklung und Vererbung auf den Körper. — VII Einfloß von Oeschlecht und Lebensalter. — YIL Blatoft
Ton Ernährung und Lebt^nsweise. — VIII Einfluß von Krankheiten auf die Körperform. — IX. Btnfloft dir
Kleider auf die Körperform. — X. Beurteilung des Körpers im allgemeinen. — XI. Kopf und Hals. —
XII. Rumpf, Sohnlter, Brust, Bauch, Rücken, Hüften und Gesäß. — XIII. Obere OliedmaOen. — XIY. Untaie
Gliedmaßen. — XV. Schönheit der Farbe. — XVI. Schönheit der Bewegung. Stellungen des ruhenden Körpefi.
Stellungen des bewegten Körpers. — XVII. Ueberbllck der gegebenen Zeichen normaler Körperblldong. —
XVIII. . Verwertung in der Kunst und Kunstkritik. Modelle. — XIX. Vorschriften zur Erhaltung und Förderanc
weiblicher Schönheit — Sachverzeichnis. — Namenverzeichnis.
Die Rassenschönheit des Weibes. ^j^^iJ^'lfde^
gedruckten Abbildungen und 1 Karte in Farbendruck, gr. 8^ 1904. geh. M. 14.— ,
eleg. in Leinw. geb. M. 15.40.
Inhalt: Einleitung. — I. Rassen und Rassenmerkmale. — II. Das weibliche Baaaenideal. — III. IMe
protomorphen Rassen. 1. Australierinnen und Negritos. S. Papuas und Melaneeierlnnen. 8. Weddaa nnd
Dravidas. 4. Ainos. 5. Die Koikoins und Akkas. H. Die amerikanischen Stimme. — lY. Die mongollaehe
Eauptrasse. Chinesinnen. Japanerinnen. — V. Die Nigritisohe Hauptrasse. Bantunegerinnoi. Sudannegerinnen.
— VI. Der asiatische Hauptstamm der mittelländischen Rasse. Hindus. Perserinnen und Kurdinnen. Arabe*
rinnen. — VII. Die metamorphen Rasiien. 1. Die östlichen mittelländisch -mongolischen Miachraasen: Blrma,
Siam. Anam und Gochinchina. Die Sundainseln. Oceauien — Sandwichinseln, Carolinen, Samoa, Fftaefal-
inseln, Admiralitätsinseln, Freundschaftsinseln, Neuseeland (Maorls). S. Die westlichen liischraaeen : ») Tataren
und Turanier. b) Die äthiopische Mlsohrasse. — VII L. Die drei mittelländischen ünterraasen. 1. Die afrikaniache
Basse: Aegypten. Berberische Stämme. Maurische Stämme. 9. Die romanische Rasse: Spanien. Italien.
Griechenland. Frankreich. Belgien. 8. Die nordische Rasse: Niederland. Oesterreich- Ungarn. Boßland.
Deutschland. Dänemark. Skandinavien. — Uebersicht der wichtigsten weiblichen Bassenmerkmale.
Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung.
Von Dr. C. H. Stratz« Dritte völlig nmgearbeitete Auflage. Mit 269 Abbildungen und
1 Tafel, gr. 8^ 1904. geh. M. 15.—, eleg. in Leinw. geb. M. 16.40.
Inhalt: Einleitung. - I. Die Nacktheit. — II. Die KörjMrverzierung. a) Körperschmnck. b) ]
III. Einfluß der Rassen, der geographischen Lage und der Kultur auf die Körperrenieranf. ~ IV. Der
Körperschmnck a) Bemalung. b) Narbenschmuck und Tätowierung, c) KörjMrplaatik. d) Am K6rp«r be-
festigte Schmuckstücke. — V. Die primitive Kleidung (Hüftsohmuck). — VI. Die tropische Kleidung (Bock). —
VIL Die arkUsohe Kleidung (Hose, Jacke). — VIII. Die Volkstracht außereuropäischer Kultorrölker. I. Chine-
sische Gruppe. 2. Indische Gruppe. 8. Indochinesische Gruppe. 4. Islamitische Gruppe. — IX. Die Folka-
trachten europäischer Kulturvölker. 1. Die eigentliche Volkstracht. S. Die Standeetraehten. S. Die Hose
als weibliche Volkstracht. — X. Die moderne europäische Frauenkleidnng. 1. Unterkleider, t. Oberktetder.
— XI. Einfluß der Kleidung auf den weiblichen Körper. — XII. Verbesserang der Frauenkleidnng.
rior Wrirr\Pkr rloo WinAckc Für Eltern, Erzieher, Aerzte und KOnstler.
uer »vorper aes ivmaes. vonDr.cH.stmtr. zweite Ainige. ict
187 in den Text gedruckten Abbildungen und 2 Tafeln, gr. 8". 1904. geh. M. 10.—.
eleg. in Leinw. geb. M. 11.40.
Inhalt: Einleitung. — I. Die embryonale Entwicklung. — II. Das neugeborene Kind. — III. Der
Liebreiz des Kindes. — IV. Wachstum und Proportionen. — V. Hemmende Einflüsse. ~ FI. Die normale
Entwicklung des Kindes im allgemeinen. — VII. Das Säuglingsalter und die erste Fülle. (I.— 4. Ja^.) ~
VIII. Die erste Streckung. (5.-7. Jahr.) - IX. Die zweite Fülle. (8.-10. Jahr.) — X. Die swelte Itreeknic.
(11.— 15 Jahr.) — XI. Die Reife. (15.— SO. Jahr ) — XII. Kinder anderer Rassen: a) Fremde SingÜnc«, b) Kinder
des weißen Rasseukroises. c) Kinder des gelben Rassenkreises, d) Kinder des schwarzen T
Die Körperformen in Kunst und Leben der Japaner.
Von Dr. C H. Stratz. Zweite Auflage. Mit 112 in den Text gedruckten Abbildongeii
und 4 farbigen Tafeln, gr. 8^ 1904. geb. M. 8.60, eleg. in Leinw. geb. M. 10.—
Inhalt: Einleitung. — I. Die Körperformen der Japaner. 1. Das Skelett, t. MaAe nnd Froportlo—i.
S. GesichtsbiMung. 4. Körperbildang. — II. Japanischer Sohönheitsbegriff und Koemetlk. L Anffitint 4ar
körperlichen Schöohelt. 2. Künstliche Erhöhung der Schönheit. — ni. Das Naekte la tinUehen I ebsn
I. In der OefTentlichkeit. 9. Im Hause. — IV. Darstellung des nackten Körpers in der Knnet. 1. IHfe
meines, t. Ideal- und Normalgestalt. 3. Mythologische Darstellungen. 4. Darstellnnftn mm den tAfP
Leben, a) Straßenleben. Aufgeschürzte Mädehen. Arbeiter. Ringer, b) H&usliohkelt. D^abebUM. Toi
Bäder. Yoshiwara. Erotik, c) Besondere Ereignisse und Situationen, üeberraschmif tan Bad*. XlcM
Spuk. Beraubung edler Damen. Awabiflscherinnen.